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The University of Connecticut
Libraries, Storrs
t^
Immanuel Kant's
Grundlegung
zur
Metaphysik der Sitten,
Herausgegeben und erläutert
von
J. H. von Kirchmann,
Berlin, 1870.
Verlag von L. Heimann.
Wilhelms-Strasse No. 91.
Vorwort des Herausgebers.
Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erschien
zuerst 1785 in Riga bei Hartknoch. Sie ist die erste
bedeutende Schrift Kant's nach der 1781 erschienenen
Kritik der reinen Vernunft. Bei Kant's Lebzeiten er-
folgten noch drei Ausgaben; die zweite 1786, die vierte
1797. Sie stimmen im Text und in der Oekonomie des
^ Druckes genau überein ; wo noch eine kleine Abweichung
^ sich findet, ist der Text der letzten Ausgabe aufge-
in nommen und die Abweichung, wie bei den früheren
Bänden, in einer Anmerkung angegeben worden.
Die dem Texte beigefügten Zifi'ern beziehen sich auf
die in einem besonderen Bande folgenden Erläuterungen
des Unterzeichneten.
Berlin, im Januar 1870.
T. Kircluiiann.
3
Inhalt.
Seite.
Vorrede 3
I. Abschnitt. Uebergang von der gemeinen sitt-
lichen Yernunfterkenntniss zur philosophischen . 10
II. Abschnitt. Uebergang von der populären sitt-
lichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten . . 26
III. Abschnitt. Uebergang von der Metaphysik der
Sitten zur Kritik der praktischen Vernunft ... 74
G rundlegung
Metaphysik der Sitten.
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1
Y 0 r r e d e.
Die alte griechische Philosophie theilte sich in drei
Wissenschaften ab: die Physik, die Ethik, und die
Log-ik. Diese Eintheilung ist der Natur der Sache
vollkommen angemessen, und man hat an ihr nichts zu
verbessern, als etwa nur das Prinzip derselben hinzu-
zuthun, um sieh auf solche Art theils ihrer Vollständig-
keit zu versichern, theils die nothwendigen Unterabthei-
lungen richtig bestimmen zu können.
Alle Vernunfterkenntniss ist entweder material und
betrachtet irgend ein Objekt; oder formal und beschäf-
tigt sich bloss mit der Form des Verstandes und der
Vernunft selbst und den allgemeinen Regeln des Den-
kens überhaupt, ohne Unterschied der Objekte. Die
formale Philosophie heisst Log-ik, die materiale aber,
welche es mit bestimmten Gegenständen und den Ge-
setzen zu thun hat, denen sie unterworfen sind, ist
wiederum zwiefach. Denn diese Gesetze sind entweder
Gesetze der Natur, oder der Freiheit. Die Wissen-
schaft von der ersten heisst Physik, die der andern
ist Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre
genannt.
Die Logik kann keinen empirischen Theil haben,
d. i. einen solchen, da die allgemeinen und nothwendi-
gen Gesetze des Denkens auf Gründen beruhten, die von
der Erfahrung hergenommen wären; denn sonst wäre
sie nicht Logik, d, i. ein Kanon für den Verstand oder
die Vernunft, der bei allem Denken gilt und demonstrirt
werden muss. Dagegen können sowohl die natürliche,
als sittliche Weltweisheit, jede ihren empirischen Theil
haben, weil jene der Natur als einem Gegenstande der
1*
4 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
Erfahrung, diese aber dem Willen des Menschenj sofern
er durch die Natur affizirt wird, ihre Gesetze bestimmen
muss, die ersteren zwar als Gesetze, nach denen alles
geschieht, die zweiten als solche, nach denen alles gesche-
hen soll, aber doch auch mit Erwägung der Bedingun-
gen, unter denen es öfters nicht geschieht.
Man kann alle Philosophie, sofern sie sich auf Gründe
der Erfahrung fusst, empirische, die aber, so ledig-
lieh aus Prinzipien a iwiori ihre Lehren vorträgt, reine-
Philosophie nennen. Die letztere, w^enn sie bloss formal
ist, heisst Logik; ist sie aber auf bestimmte Gegen-
stände des Verstandes eingeschränkt, so heisst sie Me-
taphysik.
Auf solche Weise entspringt die Idee einer zwiefachen
Metaphysik, einer Metaphysik der Natur und einer
Metaphysik der Sitten. Die Physik wird also
ihren empirischen, aber auch einen rationalen Theil
haben; die Ethik gleichfalls; wiewohl hier der empirische
Theil besonders praktische Anthropologie, der
rationale aber eigentlich Moral heissen könnte.
Alle Gewerbe, Handwerke und Künste, haben durch
die Vertheilung der Arbeiten gewonnen, da nämlich nicht
Einer alles macht, sondern Jeder sich auf gewisse Ar-
beit, die sich ihrer Behandlungsweise nach von andern
merklich unterscheidet, einschränkt, um sie in der gröss-
ten Vollkommenheit und mit mehrerer Leichtigkeit leis-
ten zu können. Wo die Arbeiten so nicht unterschieden
und vertheilt w^erden, wo Jeder ein Tausendkünstler ist^
da liegen die Gewerbe noch in der grössten Barbarei.
Aber ob dieses zwar für sich ein der Erwägung nicht
unwürdiges Objekt wäre, zu tragen: ob die reine Philo-
sophie in allen ihren Theilen nicht ihren besondern Mann
erheische, und es um das Ganze des gelehrten Gewerbes
nicht besser stehen würde, wenn die, so das Empirische
mit dem Rationalen, dem Geschmacke des Publikums
gemäss, nach allerlei ihnen selbst unbekannten Verhält-
nissen gemischt, zu verkaufen gewohnt sind, die sich
Selbstdenker, Andere aber, die den bloss rationalen
Theil zubereiten, Grübler nennen, gewarnt würden, nicht
zwei Geschäfte zugleich zu treiben, die in der Art, sie
zu behandeln, gar sehr verschieden sind, zu deren jedem
vielleicht ein besonderes Talent erfordert wird, und deren.
Vorrede. 5
Verbindung in einer Person nur Stümper hervorbringt;
so frage ich hier doch nur, ob nicht die Natur der
Wissenschaft es erfordere, den empirischen von dem
rationalen Theil jederzeit sorgfältig abzusondern, und
vor der eigentliclien (empirischen) Physik eine Metaphy-
sik der Natur, vor der praktischen Anthropologie aber
eine Metaphysik der Sitten voranzuschicken, die von
allem Empirischen sorgfältig gesäubert sein miisste, um
zu wissen, wie viel reine Vernunft in beiden Fällen leis-
ten könne, und aus welchen Quellen sie selbst diese
ihre Belehrung a iwiori schöpfe, es mag übrigens das
letztere Geschäft von allen Sittenlehrern (deren Name
Legion heisst) oder nur von einigen, die Beruf dazu füh-
len, getrieben werden.
Da meine Absicht hier eigentlich auf die sittliche
Weltweisheit gerichtet ist, so schränke ich die vorgelegte
Frage nur darauf ein: ob man nicht meine, dass es von
der äussersten Nothwendigkeit sei, einmal eine reine
Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur
empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig
gesäubert wäre; denn dass es eine solche geben müsse,
leuchtet von selbst aus der gemeinen Idee der Pflicht
und der sittlichen Gesetze ein. Jedermann muss ein-
gestehen, dass ein Gesetz, wenn es moralisch d. i. als
Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Noth-
wendigkeit bei sich führen müsse; dass das Gebot: du
sollst nicht lügen, nicht etwa bloss für Menschen gelte,
andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu keh-
ren hätten; und so alle übrige eigentliche Sittengesetze;
dass mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in
der Natur des Menschen oder den Umständen in der
Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, son-
dern a priori lediglich in BegriÖen der reinen Vernunft,
und dass jede andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien
der blossen Erfahrung gründet, und sogar eine in ge-
wissem Betracht allgemeine Vorschrift, sofern sie sich
dem mindesten Theile, vielleicht nur einem Bewegungs-
grunde nach, auf empirische Gründe stützt, zwar eine
praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz
heissen kann.
Also unterscheiden sich die moralisclien Gesetze,
sammt ihren Prinzipien, unter allem praktischen Erkennt-
Q Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,
nisse von allem Uebrigen, darin irgend etwas Empiri-
sches istj nicht allein wesentlich, sondern alle Moral-
philosophie beruht gänzlich auf ihrem reinen Theil, und,
auf den Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das
Mindeste von der Kenntniss desselben (Anthropologie),
sondern giebt ihm, als vernünftigem Wesen, Gesetze
a ijriorij die freilich noch durch Erfahrung geschärfte
Urtheilskraft erfordern, um theils zu unterscheiden, in
welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, theils ihnen
Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck
zur Ausübung zu verschaffen, da dieser, als selbst mit
so viel Neigungen affizirt, der Idee einer praktischen
reinen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht ver-
mögend ist, sie in seinem Lebenswandel in concreto
wirksam zu machen.
Eine Metaphysik der Sitten ist also unentbehrlich,
noth wendig, nicht bloss aus einem Bewegungsgrunde der
Spekulation, um die Quelle der a i)riori in unserer Ver-
nunft liegenden praktischen Grundsätze zu erforschen,
sondern weil die Sitten selber allerlei Verderbniss unter-
worfen bleiben, so lange jener Leitfaden und oberste
Norm ihrer richtigen Beurtheilung fehlt. Denn bei dem,
was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, dass es
dem sittlichen Gesetze gemäss sei, sondern es muss
auch um desselben willen geschehen; widrigenfalls
ist jene Gemässheit nur sehr zufällig und misslich, weil
der unsittliche Grund zwar dann und wann gesetzmässige^
mehrmalen aber gesetzwidrige Handlungen hervorbringen
wird. Nun ist aber das sittliche Gesetz, in seiner Reinig-
keit und Aechtheit, (woran eben im Praktischen am
meisten gelegen ist) nirgend anders, als in einer reinen
Philosophie zu suchen, also muss diese (Metaphysik)
vorangehen, und ohne sie kann es überall keine Moral-
philosophie geben; selbst verdient diejenige, welche jene
reinen Prinzipien unter die empirischen mischt, den
Namen einer Philosophie nicht (denn dadurch unterschei-
det diese sich eben von der gemeinen Vernunfterkennt-
niss, dass sie, was diese nur vermengt begreift, in ab-
gesonderter Wissenschaft vorträgt), viel weniger einer
Moralphilosophie, weil sie eben durch diese Vermengung
sogar der Reinigkeit der Sitten selbst Abbruch thut und
ihrem eigenen Zwecke zuwider verfährt.
Vorrede. 7
Man denke doch ja nicht, dass man das, was hier
gefordert wird, schon an der Propädeutik des berühmten
Wolf vor seiner Moralphilosophie, nämlich der von ihm
so genannten allgemeinen praktischen Weltweis-
heit, habe, und hier also nicht eben ein ganz neues
Feld einzuschlagen sei. Eben darum, weil sie eine all-
gemeine praktische Weltweisheit sein sollte, hat sie kei-
nen Willen von irgend einer besondern Art, etwa einen
solchen, der ohne alle empirische Bewegungsgründe^
völlig aus Prinzipien a priori^ bestimmt werde und den
man einen reinen Willen nennen könnte, sondern das
Wollen überhaupt in Betrachtung gezogen, mit allen
Handlungen und Bedingungen, die ihm in dieser allge-
meinen Bedeutung zukommen, und dadurch unterschei-
det sie sich von einer Metaphysik der Sitten, ebenso wie
die allgemeine Logik von der Transscendentalphilosophie^
von denen die erstere die Handlungen und Regeln des
Denkens überhaupt, diese aber bloss die besondern
Handlungen und Regeln des reinen Denkens d. i. des-
jenigen, wodurch Gegenstände völlig a jwiori erkannt
werden, vorträgt. Denn die Metaphysik der Sitten soll
die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen
Willens untersuchen, und nicht die Handlungen und Be-
dingungen des menschlichen WoUens überhaupt, welche
grösstentheils aus der Psychologie geschöpft werden,
Dass in der allgemeinen praktischen AVeltweisheit (wie-
wohl wider alle Befugniss) auch von moralischen Ge-
setzen und Pflicht geredet wird, macht keinen Einwurf
wider meine Behauptung aus. Denn die Verfasser jener
Wissenschaft bleiben ihrer Idee von derselben auch hierin
treu; sie unterscheiden nicht die Bewegungsgründe, die, als
solche, völlig a j^riori bloss durch Vernunft vorgestellt
werden und eigentlich moralisch sind, von den empiri-
schen, die der Verstand bloss durch Vergleichung der
Erfahrungen zu allgemeinen Begriffen erhebt, sondern
betrachten sie, ohne auf den Unterschied ihrer Quellen
zu achten, nur nach der grösseren oder kleineren Summe
derselben (indem sie alle als gleichartig angesehen wer-
den) und machen sich dadurch ihren Begriff von Ver-
bindlichkeit, der freilich nichts weniger, als moralisch,
aber doch so beschaffen ist, als es in einer Philosophie,
die über den Ursprung aller möglichen praktischen
«g Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
begriffe, ob sie auch a j^'/'iori oder bloss a 2'>osteriori
stattfinden, gar nicht urtheilt, nur verlangt werden kann.
Im Vorsatze nun, eine Metaphysik der Sitten der-
einst zu liefern, lasse ich diese Grundlegung vorangehen.
Zwar giebt es eigentlich keine andere Grundlage dersel-
ben, als die Kritik einer reinen praktischen Ver-
nunft, so wie zur Metaphysik die schon gelieferte Kri-
tik der reinen spekulativen Vernunft. Allein theils ist
jene nicht von so äusserster Nothwendigkeit, als diese,
weil die menschliche Vernunft im Moralischen, selbst
beim gemeinsten Verstände, leicht zu grosser Richtig-
keit und Ausführlichkeit gebracht werden kann, da sie
hingegen im theoretischen, aber reinen Gebrauch ganz
und gar dialektisch ist; theils erfordere ich zur Kritik
einer reinen praktischen Vernunft, dass, wenn sie vollen-
det sein soll, ihre Einheit mit der spekulativen in einem
gemeinschaftlichen Prinzip zugleich müsse dargestellt
werden können, weil es doch am Ende nur eine und
dieselbe Vernunft sein kann, die bloss in der Anwen-
dung unterschieden sein muss. Zu einer solchen Voll-
ständigkeit konnte ich es aber hier noch nicht bringen,
ohne Betrachtungen von ganz anderer Art herbeizuziehen
und den Leser zu verwirren. Um deswillen habe ich
mich, statt der Benennung einer Kritik der reinen
praktischen Vernunft, der von einer Grund-
legung zur Metaphysik der Sitten bedient.
Weil aber drittens auch eine Metaphysik der Sitten,
ungeachtet des abschreckenden Titels, dennoch eines
grossen Grades der Popularität und Angemessenheit zum
gemeinen Verstände fähig ist, so finde ich für nützlich,
diese Vorarbeitung der Grundlage davon abzusondern,
um das Subtile, was darin unvermeidlich ist, künftig
nicht fasslicheren Lehren beifügen zu dürfen.
Gegenwärtige Grundlegung ist aber nichts mehr, als
die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prin-
zips der Moralität, welche aliein ein, in seiner Ab-
sicht, ganzes und von aller anderen sittlichen Unter-
suchung abzusonderndes Geschäft ausmacht. Zwar würden
meine Behauptungen über diese wichtige und bisher bei
weitem noch nicht zur Genugthuung erörterte Hauptfrage
durch Anwendung desselben Prinzips auf das ganze
System viel Licht, und durch die Zulänglichkeit, die es
Vorrede. 9
allenthaiben blicken lässt, grosse Bestätigung erbalten;
allein icb musste midi dieses Vortbeils begeben, der
auch im Grunde mehr eigenliebig, als gemeinnützig sein
wurde, weil die Leiclitigkeit im Gebrauche und die
scheinbare Zulänglichkeit eines Prinzips keinen ganz
sicheren Beweis von der Richtigkeit desselben abgiebt,
vielmehr eine gewisse Parteilichkeit erweckt, es nicht
für sich selbst, ohne alle Rücksicht auf die Folge, nach
aller Strenge zu untersuchen und zu wägen.
Ich habe meine Methode in dieser Schrift so genom-
men, wie ich glaube, dass sie die schicklichste sei, wenn
man vom gemeinen Erkenntnisse zur Bestimmung des
obersten Prinzips desselben analytisch und wiederum
zurück von der Prüfung dieses Prinzips und den Quel-
len desselben zur gemeinen Erkenntniss, darin sein Ge-
brauch angetroffen wird, synthetisch den Weg nehmen
will Die Eintheihmg ist daher so ausgefallen:
1) Erster Abschnitt: Uebergang von der gemeinen
sittlichen Vernunfterkenntniss zur philosophischen.
2) Zweiter Abschnitt: Uebeigang von der popu-
lären Moralphilosophie zur Metaphysik der Sitten.
3) Dritter Abschnitt: Letzter Schritt von der Me-
taphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen
Vernunft. -)
Erster Abschnitt.
ITebergang yon der gemeinen sittlichen Ter-
minfterkenntniss zur philosophischen.
Es ist liberall nichts in der Welt, ja überhaupt auch
ausser derselben zu denken möglich, was ohne Ein-
schränkung für gut könnte gehalten werden, als allein
ein guter A>'ille. Verstand, Witz und Urtheilskraft
und wie die Talente des Geistes sonst heissen mögen,
oder Muth, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze,
als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne
Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswerth ;
aber sie können auch äusserst böse und schädlich wer-
den, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Ge-
brauch machen soll und dessen eigenthümliche Beschaffen-
heit darum Charakter lieisst, nicht gut ist. Mit den
Glücksgaben ist es ebenso bewandt. Macht, Reich-
thum, Ehre, selbst Gesundheit und das ganze Wohlbe-
finden und Zufriedenheit mit seinem Zustande, unter
dem Namen der Glückseligkeit, machen Muth und
hierdurcli öfters auch Uebermuth, wo nicht ein guter
Wille da ist, der den Einfluss derselben aufs Gemüth,
und hiermit auch das ganze Prinzip zu handeln, berich-
tige und allgemein-zweckmässig mache; ohne zu er-
wähnen, dass ein vernünftiger und unparteiischer Zu-
schauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen
Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen
und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen
haben kann, und so der gute Wille die unerlassliche
Bedingung selbst der Würdigkeit, glücklich zu sein, aus-
zumachen scheint.
Ueberg. v. d.gem. sittl. Yernunfterkenntniss z. philosoph. H
Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Willen
selbst beförderlich und können sein Werk sehr erleich-
tern, haben aber demungeachtet keinen Innern unbe-
dingten Werth, sondern setzen immer noch einen guten
Willen voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens
mit Recht für sie trägt, einschränkt und es nicht erlaubt,
sie für schlechthin gut zu halten. Mässigiing in Afifekten
und J^eidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne.
peberlegüng sind nicht allein in vielerlei Absiclit gut,„
sondern scheinen sogar einen Theil vom Innern Werth_e
der Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um
sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbe-
dingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn
ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst
böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht
ihn nicht allein weit gefährlicher, sondern auch unmittel-
bar in unseren Augen noch verabscheuungswürdiger, als
er ohne dieses dafür würde gehalten werden.
Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt
oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Er-
reichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern
allein durch das Wollen, d. i. an sich gut, und, für sich
selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen,
als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Nei-
gung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen
nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn-
gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals,
oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen
Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte,
seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner grössten
Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde
und nur der gute Wille (freilich nicht etwa ein blosser
Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit
sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er
w^ie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas,
das seinen vollen Werth in sich selbst hat. Die Nütz-
lichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Wert'ie weder
etwas zusetzen, noch abnehmen. Sie würde gleichsam
nur die Einfassung sein, um ihn im gemeinen Verkehr
besser handhaben zu können, oder die Aufmerksamkeit
derer, die noch nicht genug Kenner sind, auf sich zu
12 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1. Abschn.
ziehen, nicht aber um ihn Kennern zu empfehlen und
seinen Werth zu bestimmen.
Es liegt gleichwohl in dieser Idee von dem absoluten
Werthe des blossen Willens, ohne einigen Nutzen bei
Schätzung desselben in Anschlag zu bringen, etwas so
Befremdliches, dass, unerachtet aller Einstimmung selbst
der gemeinen Vernunft mit derselben, dennoch ein Ver-
dacht entspringen muss, dass vielleicht bloss hochfliegende
Phantasterei ingeheim zum Grunde liege, und die Xatur
in ihrer Absicht, warum sie unserem Willen Vernunft
zur Regiererin beigelegt habe, falsch verstanden sein
möge. Daher wollen wir diese Idee aus diesem Ge-
sichtspunkte auf die Prüfung stellen."-)
In den Naturanlagen eines organisirteu, d. i. zweck-
mässig zum Leben eingerichteten Wesens nehmen wir
es als Grundsatz au, dass kein Werkzeug zu irgend
einem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was
auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten
angemessen ist. ^äre nun au einem Wesen, das Ver-
nunft und einen Willen hat, seine Erhaltung, sein
Wohlergehen, mit einem Worte seine Glückselig-
keit der eigentliche Zweck der Natur, so hätte sie
ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen , sich
die Vernunft des Geschöpfs zur Ausrichterin dieser ihrer
Absicht zu ersehen. Denn alle Handlungen, die es in
dieser Absicht auszuüben hat, und die ganze Regel
seines Verhaltens würden ihm weit genauer durch In-
stinkt vorgezeichnet und jener Zweck weit sicherer da-
durch haben erhalten werden können, als es jemals durch
Vernunft geschehen kann; und sollte diese ja obenein
dem begünstigten Geschöpf ertheilt worden sein , so
würde sie ihm nur dazu haben dienen müssen, um über
die glückliche Anlage seiner Natur Betrachtungen an-
zustellen, sie zu bewundern, sich ihrer zu erfreuen und
der wohlthätigen Ursache dafür dankbar zu sein, nicht
aber, um sein Begehrungsvermögen jener schwachen
und trüglichen Leitung zu unterwerfen und in der Na-
turabsicht zu pfuschen; mit einem Worte, sie würde
verhütet haben, dass Vernunft nicht in praktischen
Gebrauch ausschlüge und die Vermessenheit hätte,
mit ihren schwachen Einsichten ihr selbst den Entwurf
der Glückseligkeit und der Mittel, dazu zu gelangen,
Ueberg. v, d. gem. sittl. Verniinfterkemitniss z. philosoph. ^3
auszudenken; die Natur würde nicht allein die Wahl
der Zwecke, sondern auch der ]\Iittel selbst übernommen
und beide mit weiser Versorge lediglich dem Instinkte
anvertraut haben.
In der That finden wir auch, dass, jemehr eine kul-
tivirte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuss
des Lebens und der Glückseligkeit abgiebt, desto weiter
der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme,
woraus bei Vielen, und zwar den Versuchtesten im Ge-
brauche derselben, wenn sie nur aufrichtig genug sind,
es zu gestehen, ein gewisser Grad vonMisologie d.i.
Hass der Vernunft entspringt, weil sie nach dem Ueber-
sch.lage alles Vortheils, den sie, ich will nicht sagen
von der Erfindung aller Künste des gemeinen Luxus,
sondern sogar von den Wissenschaften (die ihnen am
Ende auch ein Luxus des Verstandes zu sein scheinen)
ziehen, dennoch finden, dass sie sich in der That nur.
mehr Mühseligkeit auf den Hals gezogen, als an Glück--
Seligkeit gew^onnen haben, und darüber endlicli den ge-
meineren Schlag der Menschen, welcher der Leitung
des blossen Naturinstinkts näher ist und der seiner Ver-
nunft nicht viel Einfluss auf sein Thun und Lassen ver-
stattet, eher beneiden, als geringschätzen. Und so w^eit
muss man gestehen, dass das Urtheil derer, die die
ruhmredigen Hochpreisungen der Vortheile, die uns die
Vernunft in Ansehung der Glückseligkeit und Zufrieden-
heit des Lebens verschafi'en sollte, sehr massigen und
sogar unter Null herabsetzen, keineswegs grämisch oder
gegen die Güte der Weltregierung undankbar sei, sondern
dass diesen Urtheilen ingeheim die Idee von einer andern
und viel würdigeren Absicht ihrer Existenz zum Grunde
liege, zu w^elcher, und nicht der Glückseligkeit, die Ver-
nunft ganz eigentlich bestimmt sei, und welcher darum,
als oberster Bedingung, die Privatabsicht des Menschen
grösstentheils nachstehen muss.
Denn da die Vernunft dazu nicht tauglich genug ist,
um den Willen in Ansehung der Gegenstände desselben
und der Befriedigung aller unserer Bedürfnisse (die sie
zum Theil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als zu
welchem Zwecke ein eingepflanzter Naturinstinkt viel
gewisser geführt haben w^irde, gleichwohl aber uns Ver-
nunft als praktisches Vermögen, d. i. als ein solches.
14 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1. Abschn.
das Einfluss auf den Willen haben soll, dennoch zu-
getheilt ist; so muss die wahre Bestimmung derselben
sein, einen nicht etwa in anderer Absicht als Mittel,
sondern an sich selbst guten Willen hervorzubrin-
gen, wozu schlechterdings Vernunft nöthig war, wo
anders die Natur überall in Austheilung ihrer Anlagen
zweckmässig zu Werke gegangen ist. Dieser Wille darf
also nicht das einzige und das ganze, aber er muss doch
das höchste Gut, und zu allem Uebrigen, selbst allem
Verlangen nach Glückseligkeit, die Bedingung sein, in
welchem Falle es sich mit der Weisheit der Natur gar
wohl vereinigen lässt, wenn man wahrnimmt, dass die
Kultur der Vernunft, die zur ersteren und unbedingten
Absicht erforderlich ist, die Erreichung der zweiten, die
jederzeit bedingt ist, nämlich der Glückseligkeit, wenig-
stens in diesem Leben, auf mancherlei Weise einschränke,
ja sie selbst unter Nichts herabbringen könne, ohne dass
die Natur darin unzweckmässig verfahre, weil die Ver-
nunft, die ihre höchste praktische Bestimmung in der
Gründung eines guten Willens erkennt, bei Erreichung
dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen
Art, nämlich aus der Erfüllung eines Zweckes, den
wiederum nur Vernunft bestimmt, fähig ist, sollte dieses
auch mit manchem Abbruch, der den Zwecken der Nei-
gung geschieht, verbunden sein.-^)
Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzu-
schätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens,
so wie er schon dem natürlichen gesunden Verstände
beiwohnt und nicht sowohl gelehrt, als vielmehr nur
aufgeklärt zu werden bedarf, diesen Begriff, der in der
Schätzung des ganzen Werthes unserer Handlungen immer
obenan steht und die Bedingung alles Uebrigen aus-
macht, zu entwickeln, wollen wir den Begriff der Pflicht
vor uns nehmen, der den eines guten Willens, obzwar
unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hin-
dernissen, enthält, die aber doch, weit gefehlt, dass sie
ihn verstecken und unkenntlich machen sollten, ihn viel-
mehr durch Abstechung heben und desto heller hervor-
scheinen lassen.
Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als
pflichtwidrig erkannt werden, ob sie gleich in dieser
oder jener Absicht nützlich sein mögen; denn bei denen
üeberg. v. d. gem. sittl. Vernimfterkenntniss z. philosoph. 15
ist gar nicht einmal die Frage, ob sie aus Pflicl.t
geschelien sein mögen, da sie dieser sogar widerstreiten.
Ich setze auch die Handlungen bei Seite, die wirldich
pflichtmässig sind, zu denen aber Menschen unmittelbar
keine Neigung haben, sie aber dennoch ausüben,
weil sie durch eine andere Neigung dazu getrieben wer-
den. Denn da lässt sich leicht unterscheiden, ob die
pflichtmässige Handlung aus Pflicht oder aus selbst-
süchtiger Absicht geschehen sei. Weit schwerer ist dieser
Unterschied zu bemerken, wo die Handlung pflichtmässig
ist und das Subjekt noch überdem unmittelbare Nei-
gung zu ihr hat. Z. B. es ist allerdings pflichtmässig,
dass der Krämer seinen unerfahrenen Käufer nicht über-
theuere, und, wo viel Verkehr ist, thut dieses auch der
kluge Kaufmann nicht, sondern hält einen festgesetzten
allgemeinen Preis für Jedermann, so dass ein Kind eben
so gut bei ihm kauft, als jeder Andere. Man wird also
ehrlich bedient; allein das ist lange nicht genug, um
deswegen zu glauben, der Kaufmann habe aus Pflicht
und Grundsätzen der Ehrlichkeit so verfahren; sein Vor-
theil erforderte es; dass er aber überdem noch eine un-
mittelbare Neigung zu den Käufern haben sollte, um
gleichsam aus Liebe keinem vor dem andern im Preise
den Vorzug zu geben, lässt sich hier nicht annehmen.
Also war die Handlung weder aus Pflicht, noch aus un-
mittelbarer Neigung, sondern bloss in eigennütziger Ab-
sicht geschehen.
Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und
überdem hat Jedermann dazu noch eine unmittelbare
Neigung. Aber um deswillen hat die oft ängstliche
Sorgfalt, die der grösste Theil der Menschen dafür trägt,
doch keinen Innern Werth und die Maxime derselben
keinen moralischen Gehalt. Sie bewahren ihr Leben
zwar pflichtmässig, aber nicht aus Pflicht. Da-
gegen wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram
den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben,
wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal
mehr entrüstet, als kleinmüthig oder niedergeschlagen,
den Tod wünscht und sein Leben doch erhält, ohne es
zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus
Pflicht; alsdenn hat seine Maxime einen moralischen
Gehalt.
IQ Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1. Abschn.
Wohlthätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und über-
dem giebt es manche so theilnehmend gestimmte Seelen,
dass sie, auch ohne einen andern Bewegungsgrund der
Eitelkeit oder des Eigennutzes, ein inneres Vergnügen
daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die
sich an der Zufriedenheit Anderer, sofern sie ihr Werk
ist, ergötzen können. Aber ich behaupte, dass in diesem
Falle dergleichen Handlung, so pflichtmässig, so liebens-
würdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen
Werth habe, sondern mit anderen Neigungen zu gleichen
Paaren gehe, z. E. der Neigung nach Ehre, die, wenn
sie glücklicher Weise auf das trifft, was in der That
gemeinnützig und pflichtmässig, mithin ehrenwerth ist,
Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung ver-
dient; denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, näm-
lich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus.
Pflicht zu thun. Gesetzt also, das Gemüth jenes
Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt,
der alle Theilnehmung an Anderer Schicksal auslöscht,
er hätte immer noch Vermögen, andern Noth leidenden
wohlzuthun, aber fremde Noth rührte ihn nicht, weil er
mit seiner eigenen genug beschäftigt ist, und nun, da
keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch
aus dieser tödthchen Unempfindlichkeit heraus und thäte
die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht,
alsdenn hat sie allererst ihren ächten moralischen Werth»
Noch mehr: wcDn die Natur diesem oder jenem über-
haupt wenig Sympathie ins Herz gelegt hätte, wenn er
(übrigens ein ehrlicher Mann) von Temperament kalt
und gleichgültig gegen die Leiden Anderer wäre, viel-
leicht, weil er selbst gegen seine eigenen mit der be-
sondern Gabe der Geduld und aushaltenden Stärke ver-
sehen, dergleichen bei jedem Andern auch voraussetzt
oder gar fordert; wenn die Natur einen solchen Mann
(welcher wahrlich nicht ihr schlechtestes Produkt sein
würde) nicht eigentlich zum Menschenfreunde gebildet
hätte, würde er denn nicht noch in sich einen Quell
finden, sich selbst einen weit höheren Werth zu geben,
als der eines gutartigen Temperaments sein mag? Aller-
dings! gerade da hebt der Werth des Charakters an,
der moralisch und ohne alle Vergleichung der höchste
Ueberg. y. d. gem. sittl. Vernunfterkenntniss z. philosoph. -^J
ist, nämlich dass er wobltbiie, nicht aus Neigung, sonderß
aus Pflicht.
Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenig-
stens indirekt); denn der Mangel der Zufriedenheit mit
seinem Zustande, in einem Gedränge von vielen Sorgen
und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen, könnte
leicht eine grosse Versuchung zu üebertretung
der Pflichten werden. Aber auch ohne hier auf
Pflicht zu sehen, haben alle Menschen schon von selbst
die mächtigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit,
weil sich gerade in dieser Idee alle Neigungen zu einer
Summe vereinigen. Nur ist die Vorschrift der GlUck-
sebgkeit mehrentheils so beschaffen, dass sie einigen.
Neigungen grossen Abbruch thut und doch der Mensch
sich von der Summe der Befriedigung aller, unter dem
Namen der Glückseligkeit, keinen bestimmten und sichern
Begriff machen kann; daher nicht zu verv/undern ist,
wie eine einzige, in Ansehung dessen, was sie verheisst,,
und der Zeit, worin ihre Befriedigung erhalten werden
kann, bestimmte Neigung eine schwankende Idee über-
wiegen könne, und der Mensch z. B. ein Podagrist
wählen könne, zu geniessen, was ihm schmeckt, und zu
leiden, was er kann, weil er, nach seinem Ueberschlage,
hier wenigstens, sich nicht durch vielleicht grundlose
Erwartungen eines Glücks, das in der Gesundheit stecken
soll, um den Genuss des gegenwärtigen Augenblicks
gebracht hat. Aber auch in diesem Falle, wenn die all-
gemeine Neigung zur Glückseligkeit seinen Willen nicht
bestimmte, wenn Gesundheit für ihn wenigstens nicht
so nothwendig in diesen Ueberschlag gehörte, so bleibt^
n^h hier, wie in allen andern Fällen, ein^jjlesetz übrige
nämlich seine Glückseligkeit zu befördern, nicht aus
Neigung, sondern aus Pflicht, und da hat sein Verhalten
allererst den eigentlichen moralischen Werth.
So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu ver-
stehen, darin geboten wird, seinen Nächsten, selbst
unseren Feind zu lieben. Denn Liebe als Neigung kann
nicht geboten werden, aber Wohlthun aus Pflicht selbst,
wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar na-
türliche und unbezwingliche Abneigung widersteht, ist
praktische und nicht pathologische Liebe, die im
Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2
J^3 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1. Absclin.
Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Theil-
nehmung; jene aber allein kann geboten werden.4)
Der zweite Satz ist: eine Handlung aus Pflicht liat
ihren moralischen Werth liT cTi t i n d e r A b s i c h t , welche
dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime,
nach der sie beschlossen wird, hängt also niclit von der
Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern
bloss von dem Prinzip des Wo Ileus, nach welchem
die Handlung, unangesehen aller Gegenstände des Be-
gehrungsvermögens, geschehen ist. Dass die Absichten,
die wir bei Handlungen haben mögen, und ihre Wir-
kungen, als Zwecke und Triebfedern des Willens, den
Handlungen keinen unbedingteirund;''möralischen Werth
ertheilen können, ist aus dem Vorigen klar. Worin
kann also dieser Wertli liegen, wenn er nicht im Willen,
in Beziehung auf deren verhoffte Wirkung, bestehen
soll? Er kann nirgend anders liegen, als im Prinzip
des Willens, unangesehen der Zwecke, die durch
solche Handlung bewirkt werden können; denn der Wille
ist mitten inne zwischen seinem Prinzip a "priori^ welches
formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a i^osteriori^
welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege,
und da er doch irgend wodurch muss bestimmt werden,
so wird er durch das formelle Prinzip des WoUens über-
haupt bestimmt werden müssen, wenn eine Handlung
aus Pflicht geschieht, da ihm alles materielle Prinzip
entzogen worden.
Den dritten Satz, als Folgerung aus beiden vorigen,
würde ich so ausdrücken : P f 1 i c h t i s t N o t h w e n dl g -
keit einer Handlung aus Achtung für's Gesetz.
Zum Objekte als Wirkung meiner vorhabenden Haiid-
lung kann ich zwar Neigung haben, aber niemals
Achtung, eben darum, weil sie bloss eine Wirkung
und nicht Thätigkeit eines Willens ist. Ebenso kann
ich für Neigung überhaupt, sie mag nun meine oder eines
Andern seine sein, nicht Achtung haben, ich kann sie
höchstens im ersten Falle billigen, im zweiten bisweilen
selbst lieben d. i. sie als meinem eigenen Vortheile
günstig ansehen. Nur das, was bloss als Grund, nie-
mals aber als Wirkung mit meinem Willen verknüpft
ist, was nicht meiner Neigung dient, sondern sie über-
wiegt, wenigstens diese von deren Ueberschlage bei der
Ueberg. v. d. gem. sittl. Vernimfterkenntuiss z. philosopli. 19
Wahl ganz ausschliesst, mithin das blosse G-esetz für
sich, kann ein Gegenstand der Achtung und hiemit ein
Gebot sein. Nun soll eine Handlung aus Pflicht den
Einfluss der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des
Willens ganz absondern^ also bleibt nichts für den, Wil-
len übrig, was ihn bestimmen könne, als objektiv das
Gesetz, und subj ektiv reine Achtung für dieses
praktische Gesetz, mithin die Maxime*), einem solchen
Gesetze, selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen,
Folge zu leisten.5)
Es liegt also der moralische Werth der Handlung
nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird, also
auch nicht in irgend einem Prinzip der Handlung, weiches
seinen Bewegungsgrund von dieser erwarteten Wirkung
zu entlehnen bedarf. Denn alle diese Wirkungen (An-
nehmlichkeit seines Zustandes, ja gar Beförderung frem-
der Glückseligkeit) konnten auch durch andere Ursachen
zu Stande gebracht werden, und es brauchte also dazu
nicht des Willens eines vernünftigen Wesens; worin
gleichwohl das höchste nnd unbedingte Gute allein an-
getroffen werden kann. Es kann daher nichts Anderes,
als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst,
die freilich nur im vernünftigen Wesen statt-
findet, sofern sie, nicht aber die verhoffte Wirkung,
der Bestimmungsgrund des Willens ist, das so vorzüg-
liche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen, wel-
ches in der Person selbst schon gegenwärtig ist, die
darnach handelt, nicht aber allererst aus der Wirkung
erwartet werden darf.**)
*; Maxime ist das subjektive Prinzip des Wollens;
das objektive Prinzip (d. i. dasjenige, was allen vernünfti-
gen Wesen auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen
würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehruugs-
vermögen hätte) ist das praktische Gesetz.
**) Man könnte mir vorwerfen, als suchte ich hinter
dem Worte Achtung nur Zuflucht in einem dunklen Ge-
fühle, anstatt durch einen Begriff der Vernunft in der
Frage deutliche Auskunft zu geben. Allein wenn Achtung
gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluss
■empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff
2*
20 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1. Abschn.
Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen
Vorstellung, auch ohne auf die daraus ^-wartete Wir-
kung Rücksicht zu nehmen, den Willen bestimmen
muss, damit dieser schlechterdings und ohne Einschrän-
kung gut heissen könne? Da ich den Willen aller An-
triebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgend
eines Gesetzes entspringen können, so bleibt nichts, al&
die allgemeine Gesetzmässigkeit der Handlungen über-
haupt übrig, welche allein dem Willen zum Prihzip
dienen soll, d.' i. ich soll niemals anders verfahren, als
so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime
solle ein allgemeines Gesetz werden. Hier ist
nun die blosse Gesetzmässigkeit überhaupt (ohne irgend
ein auf gewisse Handlungen bestimmtes Gesetz zum
sclbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen
der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen
lassen, spezifisch unterschieden. Was ich unmittelbar als
Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche
bloss das Bewusstsein der Unterordnung meines Willens
unter einem Gesetze, ohne Vermittelung anderer Einflüsse
auf meinen Sinn, bedeutet. Die unmittelbare Bestimmung
des Willens durchs Gesetz und Bewusstsein derselben heisst
Achtung, so dass diese als Wirkung des Gesetzes aufs
Subjekt und nicht als Ursache desselben angesehen wird.
Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werthe^
der meiner Selbstliebe Abbruch thut. Also ist es etwas,
was weder als Gegenstand der Neigung, noch der Furcht
betrachtet wird, obgleich es mit beiden zugleich etwas
Analogisches hat. Der Gegenstand der Achtung ist also
lediglich das Gesetz, und zwar dasjenige, das wir uns
selbst und doch als an sich nothwendig auferlegen. Als
Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne die Selbstliebe zu
befragen; als uns von uns selbst auferlegt, ist es doch eine
Folge unseres Willens, und hat in der ersten Rücksicht
Analogie mit Furcht, in der zweiten mit Neigung. Alle
Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs
Gesetz (der Kechtschaffenheit etc.}, wovon jene uns das Bei-
spiel giebt. Weil wir Erweiterung unserer Talente auch
als Pflicht ansehen, so stellen wir uns an einer Person von
Talenten auch gleichsam das Beispiel eines Gesetzes
vor (ihr durch Uebung hierin ähnlich zu werden), und das
macht unsere Achtung aus. Alles moralische so genannte
Interesse besteht lediglich in der Achtung fürs Gesetz.6)
Ueberg. v. d. gem. sittl. Verniinfterkenntnisa z. philosoph. 21
Grunde legen) das, was dem Willen zum Prinzip dient
>und ihm auch dazu dienen muss, wenn Pflicht nicht
überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff sein
soll; hiermit stimmt die gemeine Menschenvernunft in
ihrer praktischen Beurtheilung auch vollkommen übereiu
und hat das gedachte Prinzip jederzeit vor Augen.
Die Frage sei z. B. : darf ich, wenn ich im Gedränge
bin, nicht ein Versprechen thun, in der Absicht, es nicht
zu halten? Ich mache hier leicht den Unterschied, den
die Bedeutung der Frage haben kann, ob es klüglich,
oder ob es pflichtmässig sei, ein falsches Versprechen
zu thun. Das Erstere kann ohne Zweifel öfters statt-
finden. Zwar sehe ich wohl, dass es nicht genug sei,
mich vermittelst dieser Ausflucht aus einer gegenwärti-
gen Verlegenheit zu ziehen, sondern wohl überlegt wer-
den müsse, ob mir aus dieser Lüge nicht hinterher viel
grössere üngelegenheit entspringen könne, als die sind,
von denen ich mich jetzt befreie, und da die Folgen
bei aller meiner vermeinten Schlau igkeit nicht so
leicht vorauszusehen sind, dass nicht ein einmal ver-
lorenes Zutrauen mir weit nachtheiliger werden könnte,
als alles Uebel, das ich jetzt zu vermeiden gedenke, ob
-es nicht klug lieber gehandelt sei, hierbei nach einer
allgemeinen Maxime zu verfahren und es sich zur Ge-
wohnheit zu machen, nichts zu versprechen, als in der
Absicht, es zu halten. Allein es leuchtet mir hier bald
-ein, dass eine solche Maxime doch immer nur die be-
sorglichen Folgen zum Grunde habe. Nun ist es doch
etwas ganz Anderes, aus Pflicht wahrhaft zu sein, als
aus Besorgniss der nachtheiligen Folgen ; indem im ersten
Falle der Begriff der Handlung an sich selbst schon ein
Gesetz für mich enthält, im zweiten ich mich allererst
anderwärtsher umsehen muss, welche Wirkungen für
mich wohl damit verbunden sein möchten. Denn wenn
ich von dem Prinzip der Pflicht abweiche, so ist es
ganz gewiss böse; werde ich aber meiner Maxime der
Klugheit abtrünnig, so kann das mir manchmal sehr
vortheilhaft sein, wiewohl es freilich sicherer ist, bei ihr
zu bleiben. Um indessen mich in Ansehung der Beant-
wortung dieser Aufgabe, ob ein lügenhaftes Versprechen
pflichtmässig sei, auf die allerkürzeste und doch untrüg-
liche Art zu belehren, so frage ich mich selbst: würde
22 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1. Abschn.
ich wohl damit zufrieden sein, dass meine Maxime (micl'r
durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu
ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich,
als Andere) gelten solle? und würde ich wohl zu mir
sagen können: es mag Jedermann ein unwahres Ver-
sprechen thun, wenn er sich in Verlegenheit befindet,
daraus er sich auf andere Art nicht ziehen kann? So
werde ich bald inne, dass ich zwar die Lüge, aber ein
allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne;
denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein
Y.ersprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen
Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen An-
dern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glau-
ben, oder, wenn sie es übereilter Weise thäten, mich
doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine
Maxime, sobald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht
würde, sich selbst zerstören müsse.
Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen gut
sei, dazu brauche ich gar keine weit ausholende Scharf-
siunigkeit. Unerfahren in Ansehung des Weltlaufs, un-
fähig, auf alle sich ereignende Vorfälle desselben gefasst
zu sein, frage ich mich nur: kannst du auch wollen,
dass deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? wo
nicht, so ist sie verwerflich, und das zwar nicht um
eines dir, oder auch Anderen daraus bevorstehenden
Nachtheils willen, sondern weil sie nicht als Prinzip in
eine mögliche allgemeine Gesetzgebung passen kann;
für diese aber zwingt mir die Vernunft unmittelbare
Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht ein-
sehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph
untersuchen mag), wenigstens aber doch soviel verstehe :
dass es eine Schätzung des Werthes sei, welcher allen
Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird,
weit überwiegt, und dass die Nothwendigkeit meiner
Handlungen aus reiner Achtung fürs praktische Gesetz
dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der jeder an-
dere Bewegungsgrund weichen muss, weil sie die Bedin-
gung eines an sich guten Willens ist, dessen Werth
über alles geht."«)
So sind wir denn in der moralischen Erkenntnis»
der gemeinen Menschenvernunft bis ziu ihrem Prinzip
gelangt, welches sie sich zwar freilich nicht so in einer
Uebei-g . V. d. gem. sittl. Yernimfterkenütniss z. philosoph. 2B
allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jeder-
zeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaasse ihrer
Beurtlieilung braucht. Es wäre hier leicht zu zeigen,
wie sie, mit diesem Kompasse in der Hand, in allen
vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unter-
scheiden, was gut, w\as böse, pflichtmässig oder pflicht-
widrig sei, wenn man, ohne sie im mindesten etwas
Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates that, auf ihr
eigenes Prinzip aufmerksam macht, und dass es' also
keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu
wissen, was man zu thun habe, um ehrlich und gut, ja-
sogar um weise und tugendhaft zu sein. Das Hesse sich
auch wohl schon zum voraus vermutheu, dass die Kennt-
niss dessen, was zu thun, mithin auch zu wissen jedem
Menschen obliegt, auch jedes, selbst des gemeinsten
Menschen Sache sein werde. Hierf) kann man es doch
nicht ohne Bew^underung ansehen, wie das praktische
Beurtheilungsvermögen vor dem theoretischen im gemei-
nen Menschenverstände so gar viel voraus habe. In dem
letzteren, wenn die gemeine Vernunft es wagt, von den
Erfahrungsgesetzen und den Waiirnehmungen der Sinne
abzugehen, geräth sie in lauter Unbegreiflichkeiten und
Widersprüche mit sich selbst, wenigstens in ein Chaos
von Ungewissheit, Dunkelheit und Unbestand. Im Prakti-
schen aber fängt die Beurtheilungskraft denn eben aller-
erst an, sich recht vortheiihaft zu zeigen, wenn der ge-
meine Verstand alle sinnliche Triebfedern von praktischen
Gesetzen ausschliesst. Er wird alsdann sogar subtil, es
mag sein, dass er mit seinem Gewissen oder anderen
Ansprüchen in Beziehung auf das, was recht heissen
soll, chikaniren, oder auch den Werth der Handlungen
zu seiner eigenen Belehrung aufrichtig bestimmen will,
und, was das Meiste ist, er kann im letzteren Falle sich
eben so gut Hoffnung machen, es recht zu treften, als
es sich immer ein Philosoph versprechen mag, ja ist
beinahe noch sicherer hierin, als selbst der letztere, weil
dieser doch kein anderes Prinzip als jener haben, sein
ürtheil aber durch eine Menge fremder, nicht zur Sache
gehöriger Erwägungen leicht verwirren und von der ge-
t^ Erste Ausgabe: Gleichwohl.
24 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1. Abschn.
raden Richtung abweichend machen kann. Wäre es
demnach nicht rathsamer, es iii moralischen Dingen bei
dem gemeinen Vernunfturtheil bewenden zu lassen, und
höchstens nur Philosophie anzubringen, um das System
der Sitten desto vollständiger und fasslicher, imgleiehen
die Regeln derselben zum Gebrauche (noch mehr aber
zum Disputiren) bequemer darzustellen, nicht aber um
selbst in praktischer Absicht den gemeinen Menschen-
verstand von seiner glücklichen Einfalt abzubringen und
ihn durch Philosophie auf einen neuen Weg der Unter-
suchung und Belehrung zu bringen?
Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur ist
€S auch wiederum sehr schlimm, dass sie sich nicht wohl
Ibewahren lässt und leicht verführt wird. Deswegen be-
darf selbst die Weisheit — die sonst wohl mehr im
Thun und Lassen, als im Wissen besteht, — doch auch
der Wissenschaft, niclit um von ihr zu lernen, sondern
ihrer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu ver-
schaffen. Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtiges
Oegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die
Vernunft so hoch achtungs würdig vorstellt, au seinen Be-
dürfnissen und Neigungen, deren ganze Befriedigung er
unter dem isameu der Glückseligkeit zusammenfasst.
Nun gebietet die Vernunft, ohne doch dabei den Neigun-
gen etwas zu verheissen, unnachlasslich, mithin gleich-
sam mit Zurücksetzung und Nichtachtung jener so un-
gestümen und dabei so billig scheinenden Ansprüche
(die sich durch kein Gebot wollen aufheben lassen), ihre
Vorschriften. Hieraus entspringt aber eine natürliche
Dialektik, d. i. ein Hang, wider jene strengen Ge-
setze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit,
wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu
ziehen und sie, wo möglich, unsern Wünschen und Nei-
gungen angemessener zu machen, d. i. sie im Grunde
zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen,
welches denn doch selbst die gemeine praktische Ver-
nunft am Ende nicht gut heissen kann.
So wird also die gemeine Menschenvernunft
nicht durch irgend ein Bedürfniss der Spekulation (wel-
ches ihr, so lange sie sich gepügt, blosse gesunde Ver-
nunft zu sein, niemals anwandelt), sondern selbst aus
praktischen Gründen angetrieben, aus ihrem Kreise zu
üeberg. v. d. gem. sittl. Vernunfterkenntniss z. philosoph. 25
gehen und einen Schritt ins Feld der praktischen
Philosophie zu thun, um daselbst, wegen der Quelle
ihres Prinzips und richtigen Bestimmung desselben in
Gegenhaltung mit den Maximen, die sich auf Bedürfniss
und Neigung fussen, Erkundigung und deutliche Anwei-
sung zu bekommen, damit sie aus der Verlegenheit wegen
beiderseitiger Ansprüche herauskomme, und nicht Gefahr
laufe, durch die Zweideutigkeit, in die sie leicht geräth,
um alle ächte sittliche Grundsätze gebracht zu werden.
Also entspinnt sich ebensowohl in der praktischen ge-
meinen Vernunft, wenn sie sich kultivirt, unvermerkt
eine Dialektik, welche sie nöthigt, in der Philosophie
Hülfe zu suchen, als es ihr im theoretischen Gebrauche
widerfahrt, und die erstere wird daher wohl ebensowenig,
als die andere, irgendwo sonst, als in einer vollständigen
Kritik unserer Vernunft, Ruhe finden.^)
Zweiter Abscliuitt.
üebergaug yon der populären sittliclien Welt-
Weisheit zur Metapliysik der Sitten.
Wenn wir iinsern bisherigen Begriff der Pflicht aus
dem gemeinen Gebrauche unserer praktischen Vernunft
gezogen haben, so ist daraus keineswegs zu schliessen,
als hätten wir ihn als einen Eriahrungsbegriff behandelt.
Vielmehr, wenn wir auf die Erfahrung vom Thun und
Lassen der Menschen Acht haben, treffen wir häufige
und, wie wir selbst einräumen, gereclite Klagen an, dass
man von der Gesinnung, aus reiner Pflicht zu handeln,
so gar keine sicheren Beispiele anführen könne, dass,
wenngleich Manches dem, was Pflicht gebietet, gemäss
geschehen mag, dennoch es immer noch zweifelhaft sei,
ot) es eigentlich aus Pflicht geschehe und also einen
moralischen TTerth habe. Daher es zu aller Zeit Philo-
sophen gegeben hat, welche die Wirklichkeit dieser Ge-
sinnung in den menschlichen Handlungen schlechter-
dings abgeleugnet und alles der mehr oder weniger ver-
feinerten Selbstliebe zugeschrieben haben, ohne doch
deswegen die Richtigkeit des Begriff's von Sittlichkeit in
Zweifel zu ziehen, vielmehr mit inniglichem Bedauren
der Gebrechlichkeit und Unlauterkeit der mensclilichen
Natur Erwähnung thaten, die zwar edel genug sei,t)
t) Erste Ausgabe: ist.
Uebei'g. V. cl. popul. sittl. Weltweisb. z. Metapb. d. Sitten. 27
sich eine so achtungswürdige Idee zu ihrer Vorschrift
zu machen, aber zugleich zu schwach, um sie zu befol-
gen, und die Vernunft, die ihr zur Gesetzgebung dienen
sollte, nur dazu braucht, um das Interesse der Neigun-
gen, es sei einzeln, oder, wenn es hoch kommt, in ihrer
grössten Verträglichkeit unter einander zu besorgen.
In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch
Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewissheit
auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmässigen
Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf
der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe. Denn es ist
zwar bisweilen der Fall, dass wir bei der schärfsten
Selbstprüfung gar nichts antreffen, was ausser dem mo-
ralischen Grunde der Pflicht mächtig genug hätte sein
können, uns zu dieser oder jener guten Handlung und
so grosser Aufopferung zu bewegen ; es kann aber dar-
aus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, dass
wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe, unter
der blossen Vorspiegelung jener Idee, die eigentliche
bestimmende Ursache des Willens gewesen sei, dafür
wir denn gerne uns mit einem uns fälschlich angeraass-
ten edleren Bewegungsgrunde schmeicheln, Jn.xler That
aber selbst durch die angestrengteste Prüfung hinter die
■geheimen Triebfedern niemals völlig kommen können,
weil, wenn vom moralischen Werthe die Rede ist, es
niclit auf die Handlungen ankommt, die man sieht, son-
"clern auf jene inneren Prinzipien derselben, die man
liicht sieht.«)
Man kann auch denen, die alle Sittlichkeit als blosses
Hirngespinnst einer durch Eigendünkel sich selbst über-
steigenden menschlichen Einbildung verlachen, keinen
gewünschteren Dienst thun, als ihnen einzuräumen, dass
die Begriffe der Pflicht (so wie man sich auch aus Ge-
mächlichkeit gerne überredet, dass es auch mit allen
übrigen Begriflen bewandt sei) lediglich aus der Erfah-
rung gezogen werden mussten; denn da bereitet man
jenen einen sichern Triumph. Ich will aus Menschen-
liebe einräumen, dass noch die meisten unserer Hand-
lungen pflichtmässig seien; sieht man aber ihr Dichten
und Trachten näher an, so stösst man allenthalben auf
das liebe Selbst, was immer hervorsticht, worauf, und
nicht auf das strenge Gebot der Pflicht, welches mehr-
28 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
malen Selbstverleugnung erfordern würde, sich ihre Ab-
sicht stützt. Man braucht auch eben kein Feind der
Tugend, sondern nur ein kaltblütiger Beobachter zu sein,
der den lebhaftesten Wunsch für das Gute nicht sofort für
dessen Wirklichkeit hält, um (vornehmlich mit zuneh-
menden Jahren und einer durch Erfahrung theils ge-
witzigten, theils zum Beobachten geschärften ürtheils-
kraft) in gewissen Augenblicken zweifelhaft zu werden,
ob auch wirklich in der Welt irgend wahre Tugend an-
getroffen werde. Und hier kann uns nichts vor dem
gänzlichen Abfall von unseren Ideen der Pflicht bewah-
ren und gegründete Achtung gegen ihr Gesetz in der
Seele erhalten, als die klare Üeberzeugung, dass, wenn
es auch niemals Handhingen gegeben habe, die aus sol-
chen reinen Quellen entsprungen wären, dennoch hier
auch davon gar nicht die Rede sei, ob dies oder jenes
geschehe, sondern die Vernunft für sich selbst und un-
abhängig von allen Erscheinungen gebiete, was gesche-
hen soll, mithin Handlungen, von denen die Welt viel-
leicht bisher noch gar kein Beispiel gegeben hat, an
deren Thunlichkeit sogar der, so alles auf Erfahrung
gründet, sehr zweifeln möchte, dennoch durch Vernunft
unnachlasslich geboten seien, und dass z. B. reine Redlich-
keit in der Freundschaft um nichts weniger von jedem
Menschen gefordert werden könne, wenn es gleich bis
jetzt gar keinen redlichen Freund gegeben haben möchte,
weil diese Pflicht als Pflicht überhaupt, vor aller Erfah-
rung, in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori
bestimmenden Vernunft liegt. *^)
Setzt man hinzu, dass, wenn man dem Begriffe von
Sittlichkeit nicht gar alle Wahrheit und Beziehung auf
irgend ein mögliches Objekt bestreiten will, man nicht
in Abrede ziehen könne, dass sein Gesetz von so aus-
gebreiteter Bedeutung sei, dass es nicht bloss für Men-
schen, sondern alle vernünftige Wesen überhaupt,
nicht bloss unter zufälligen Bedingungen und mit Aus-
nahmen, sondern schlechterdings nothwendig gel-
ten müsse; so ist klar, dass keine Erfahrung, auch nur
auf die Möglichkeit solcher apodiktischen Gesetze zu
schliessen, Anlass geben könne. Denn mit welchem
Rechte können wir das, was vielleicht nur unter den zu-
fälligen Bedingungen der Menschheit gültig ist, als all-
üeberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metapb. d. Sitten. 29
gemeine Vorschrift für jede vernünftige Natur, in unbe-
schränkte Achtung bringen, und wie sollen Gesetze der
Bestimmung unseres Willens für Gesetze der Bestim-
mung des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt
und, nur als solche, auch für den unsrigen gehalten
werden, wenn sie bloss empirisch wären und nicht völ-
lig a priori aus reiner, aber praktischer Vernunft ihren
Ursprung nähmen? ^ i)
Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler rathen^
als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte. Denn
jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt wird, muss
selbst zuvor nach Prinzipien der Moralität beurtheilt
werden, ob es auch würdig sei, zum ursprünglichen Bei-
spiele,-!-) d. i. zum Muster zu dienen, keinesweges aber
kann es den Begriff derselben zu oberst an die Hand
geben. Selbst der Heilige des Evangelii muss zuvor mit
unserem Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen
werden, ehe man ihn dafür erkennt; auch sagt er von
sich selbst: was nennt ihr mich (den ihr sehet) gut;
Niemand ist gut (das Urbild des Guten), als der einige
Gott (den ihr nicht sehet). Woher haben wir aber den
Begriff von Gott, als dem höchsten Gut? l£cügli£h_.äUS^
der Idee, die die Vernunft, a pinori vqn_sitÜJiib^~Vell-
^^"IgSmeTnTgTregwIrrt und mit dßmllBegri^ff'e eines freien
Willen sunzeHrenn lieh jverknüpft. Nachahmung findet
lm~~SittTrcIien gar-'mclil stäT!7~^iincl Beispiele dienen nur
zur Aufmunterung, d. i. sie setzen die Thunlichkeit
dessen, was das Gesetz gebietet, ausser Zweifel, sie
machen das, was die praktische Regel allgemeiner aus-
drückt, anschaulich, können aber niemals berechtigen,
ihr wahres Original, das in der Vernunft liegt, bei Seite
zu setzen und sich nach Beispielen zu richten.
Wenn es denn keinen ächten obersten Grundsatz der
Sittlichkeit giebt, der nicht unabhängig von aller Erfah-
rung bloss auf reiner Vernunft beruhen müsste, so glaube
ich, es sei nicht nöthig, auch nur zu fi'agen, ob es gut
sei, diese Begriffe, so wie sie, sammt den ihnen zuge-
hörigen Prinzipien, a priori feststehen, im Allgemeinen
{in abstracto) vorzutragen, wofern das Erkenntniss sich
t) Erste Ausgabe: ächten Beispiele.
30 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Absclin.
vom gemeinen uutersclieiden und philosophisch heissen
soll. Aber in unsern Zeiten möchte dieses wohl nöthig
sein. Denn wenn man Stimmen sammelte, ob reine von
allem Empirischen abgesonderte Vernunfterkenntniss,
mithin Metaphysik der Sitten, oder populäre praktische
Philosophie vorzuziehen sei, so erräth man bald, auf
welche Seite das üebergewicht fallen werde.
Diese Herablassung zu Volksbegriffen ist allerdings
sehr rühmlich, wenn die Erhebung zu den Prinzipien
der freien Vernunft zuvor geschehen und zur völligen
Befriedigung erreicht ist, und das würde heissen, die
Lehre der Sitten zuvor auf Metaphj^sik gründen, ihr
aber, wenn sie feststeht, nachher durcii Popularität E i n-
gang verschaffen. Es ist aber äusserst ungereimt, die-
ser in der ersten Untersuchung, worauf alle Richtigkeit
der Grundsätze ankommt, schon willfahren zu wollen.
Isicht allein, dass dieses Verfahren auf das höchst sel-
tene Verdienst einer wahren philosophischen Popu-
larität niemals Anspruch machen kann, indem es gar
keine Kunst ist, gemeinverständlich zu sein, wenn man
dabei auf alle gründliche Einsicht Verzicht thut; so
bringt es einen ekelhaften Mischmasch von zusammen-
gestöppelten Beobachtungen und halbvernünftelnden Prin-
zipien zum Vorschein, daran sich schale Köpfe laben,
weil es doch etwas gar Brauchbares fürs alltägliche Ge-
schwätz ist, wo Einsehende aber Verwirrung fühlen und
unzufrieden, ohne sich doch helfen zu können, ihre Au-
gen wegwenden, obgleich Philosophen, die das Blend-
werk ganz wohl durchschauen, wenig Gehör linden,
wenn sie auf einige Zeit von der vorgeblichen Populari-
tät abrufen, um nur allererst nach erworbener bestimm-
ter Einsicht mit Ptecht populär sein zu dürfen.
Man darf nur die Versuche über die Sittlichkeit in
jenem beliebten Geschmacke ansehen, so wird man bald
die besondere Bestimmung der menschlichen Natur (mit-
unter aber auch die Idee von einer vernünftigen Natur
überhaupt), bald Vollkommenheit, bald Glückseligkeit,
hier moralisches Gefühl, dort Gottesfurcht, von diesem
etwas, von jenem auch etwas, in wunderbarem Gemische
antreffen, ohne dass man sich einfallen lässt zu fragen,
ob auch überall in der Kenntniss der menschlichen
Natur (die wir doch nur von der Erfahrung herhaben
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 3;[
können) die Prinzipien der Sittlichkeit zu suchen seien,
und, wenn dieses nicht ist, wenn die letzteren völlig
<i 2>rwri, frei von allem Empirischen, schlechterdings in
reinen Vernunftbegriffen und nirgend anders, auch nicht
dem mindesten Theile nach, anzutreffen sind, den An-
schlag zu fassen, diese Untersuchung als reine praktische
Weltweisheit oder (wenn man einen so verschrieenen
Kamen nennen darf), als Metaphysik*) der Sitten, lieber
ganz abzusondern, sie für sich allein zu ihrer ganzen
Vollständigkeit zu bringen, und das Publikum, das Po-
pularität verlangt, bis zum Ausgange dieses Unterneh-
mens zu vertröstend^)
Es ist aber eine solche völlig isolirte Metaphysik der
Sitten, die mit keiner Anthropologie, mit keiner Theolo-
gie, mit keiner Physik oder Hyperphysik, noch weniger
mit verborgenen Qualitäten (die man hypophysisch nen-
nen könnte) vermischt ist, nicht allein ein unentbehr-
liches Substrat aller theoretischen sicher bestimmten Er-
kenntniss der Pflichten, sondern zugleich ein Desiderat
von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung
ihrer Vorschriften. Denn die reine und mit keinem
fremden Zusätze von empirischen Anreizen vermischte
Vorstellung der Pflicht, und überhaupt des sittlichen Ge-
setzes, hat auf das menschliche Herz durch den Weg
der Vernunft allein (die hiebei zuerst inne wird, dass
sie für sich selbst auch praktisch sein kann) einen so
viel mächtigeren Einfluss, als alle anderen Triebfedern**),
*) Man kann, wenn man wifl, 'so wie die reine Mathe-
matik von der angewandten, die reine Logik von der an-
gewandten unterschieden wird, also) die reine Philosophie
der Sitten (Metaphysik) von der angewandten (nämlich auf
die menschliche Natur; unterscheiden. Durch diese Benen-
nung wird man auch sofort erinnert, dass die sittlichen
Prinzipien nicht auf die Eigenheiten der menschlichen Natur
gegründet, sondern für sich « prm-i bestehend sein müssen,
aus solchen aber, wie für jede vernünftige Natur, also auch
für die menschliche, praktische Regeln müssen abgeleitet
werden können.
**) Ich habe einen Brief vom sei. vortrefflichen Sul-
zer, worin er mich fragt : was doch die Ursache sein möge,
warum die Lehren der Tugend, so viel Ueberzeugendes sie
32 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
die man aus dem empirischen Felde aufbieten mag^
dass sie im Bewusstsein ihrer Würde die letzteren ver-
achtet imd nach und nach ihr Meister werden kann;
an dessen Statt eine vermischte Sittenlehre, die aus Trieb-
federn von Gefühlen und Neigungen und zugleich aus
Vernunftbegriffen zusammengesetzt ist, das Gemüth zwi-
schen Bewegursachen, die sich unter kein Prinzip brin-
gen lassen, die nur sehr zufällig zum Guten, öfters aber
auch zum Bösen leiten können, schwankend machen
muss.
Aus dem Angeführten erhellt : dass alle sittliche Be-
griffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ur-
sprung haben, und dieses zwar in der gemeinsten Men-
schenvernunft ebensowohl, als der im höchsten Maasse
spekulativen 5 dass sie von keinem empirischen und
darum bloss zufälligen Erkenntnisse abstrahirt werden
können ; dass in dieser Keinigkeit ihres Ursprunges eben
ihre Würde liege, um uns zu obersten praktischen Prin-
zipien zu dienen; dass man jedesmal so viel, als man
Empirisches hinzuthut, so viel auch ihrem ächten Ein-
flüsse und dem uneingeschränkten Werthe der Hand-
lungen entziehe; dass es nicht allein die grösste Noth-
wendigkeit in theoretischer Absicht, wenn es bloss auf
auch für die Vernunft haben, doch so wenig ausrichten.
Meine Antwort wurde durch die Zurüstung dazu, um sie
vollständig zu geben, verspätet. Allein es ist keine andere,,
als dass die Lehrer selbst ihre Begriffe nicht ins Reine
gebracht haben und indem sie es zu gut machen wollen,
dadurch, dass sie allerwärts Bewegursacben zum Sittlich-
guten auftreiben, um die Arznei recht kräftig zu machen,
die sie verderben. Denn die gemeinste Beobachtung zeigt,
dass, wenn man eine Handlung der Rechtschaffenheit vor-
stellt, wie sie von aller Absicht auf irgend einen Vortheil,
in dieser oder einer anderen Welt, abgesondert, selbst unter
den grössten Versuchungen der Noth oder Anlockung mit
standhafter Seele ausgeübt worden, sie jede ähnliche Hand-
lung, die nur im mindesten durch eine fremde Triebfeder
affizirt war, weit hinter sich lasse und verdunkle, die Seele
erhebe und den Wunsch errege, auch so handeln zu kön-
nen. Selbst Kinder von mittlerem Alter fühlen diesen Ein-
druck, und ihnen sollte man Pflichten auch niemals anders
vorstellen.
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 33
Spekulation ankommt, erfordere, sondern auch von der
grössten praktischen Wichtigkeit sei, ihre Begriffe und
Gesetze aus reiner Vernunft zu schöpfen, rein und un-
vermengt vorzutragen, ja den Umfang dieses ganzen
praktischen oder reinen Vernunfterkenntnisses, d. i. das
ganze Vermögen der reinen praktischen Vernunft zu be-
stimmen, hierin aber nicht, wie es wohl die spekulative
Philosophie erlaubt, ja gar bisweilen nothwendig findet,
die Prinzipien von der besondern Natur der mensch-
lichen Vernunft abhängig zu machen, sondern darum,
weil moralische Gesetze für jedes vernünftige Wesen
überhaupt gelten sollen, sie schon aus dem allgemei-
nen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt ab-
zuleiten, und auf solche Weise alle Moral, die zu ihrer
Anwendung auf Menschen der Anthropologie bedarf,
zuerst unabhängig von dieser als reine Philosophie, d. i.
als Metaphysik, vollständig (welches sich in dieser Art
ganz abgesonderter Erkenntnisse wohl thun lässt) vor-
zutragen, wohl bewusst, dass es, ohne im Besitze der-
selben zu sein, vergeblich sei, ich will nicht sagen, das
Moralische der Pflicht in allem, was pflichtmässig ist,
genau für die spekulative Beurtheilung zu bestimmen,
sondern sogar im bloss gemeinen und praktischen Ge-
brauche, vornehmlich der moralischen Unterweisung,
unmöglich sei, die Sitten auf ihre ächten Prinzipien
zu gründen und dadurch reine moralische Gesinnungen
zu bewirken und zum höchsten Weltbesten den Ge-
müthern einzupfropfen. 13)
Um aber in dieser Bearbeitung nicht bloss von der
gemeinen sittlichen Beurtheilung (die hier sehr achtungs-
würdig ist) zur philosophischen, wie sonst geschehen ist,
sondern von einer populären Philosophie, die nicht weiter
geht, als sie durch Tappen vermittelst der Beispiele
kommen kann, bis zur Metaphysik (die sich durch nichts
Empirisches weiter zurückhalten lässt und, indem sie
den ganzen Inbegriff der Vernunfterkenntniss dieser Art
ausmessen muss, allenfalls bis zu Ideen geht, wo selbst
die Beispielet) uns verlassen), durch die natürlichen
Stufen fortzuschreiten, müssen wir das praktische Ver-
nunftvermögen, von seinen allgemeinen Bestimmungs-
t) Iste Ausgabe: die Beispiele, die jenen adäquat wären.
Kant, Grundlage zur Metaphysik der Sitten. 3
34 Grundlegung der Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
regeln an bis dahin, wo aus ihm der Begriff der Pflicht
entspringt, verfolgen und deutlich darstellen.
Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur
ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der
Vorstellung der Gesetze d. i. nach Prinzipien, zu
handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der
Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird,
so ist der Wille nichts Anderes, als praktische Vernunft.
Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt,
so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als
objektiv nothwendig erkannt werden, auch subjektiv
nothwendig, d.i. der Willeist ein Vermögen, nur das-
jenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von
der Neigung als praktisch nothwendig d. i. als gut er-
kennt. Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den
Willen nicht hinlänglich, ist dieser noch subjektiven Be-
dingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht
immer mit den objektiven übereinstimmen, mit einem
Worte, ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft
gemäss (wie es bei Menschen wirklich ist), so sind die
Handlungen, die objektiv als nothwendig erkannt werden,
subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen
-Willens, objektiven Gesetzen gemäss, ist Nöthigung;
d. i. das Verhältniss der objektiven Gesetze zu einem
nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt als die
Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar
durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille
seiner Natur nach nicht nothwendig folgsam ist.
Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es
für^lnen Willen nöthigend ist, heisst ein Gebot (der Ter-
nunft) nnd die Formel des Gebots heisst Imperatll..^^)
Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausge-
drückt, und zeigen dadurch das Verhältniss eines objek-
tiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an, der
seiner subjektiven Beschaffenheit nach dadurch nicht
pothwendig bestimmt wird (eine Nöthigung). Sie sagen,
dass etwas zu thun oder zu unterlassen gut sein würde,
allein sie sagen es einem Willen, der nicht immer darum
etwas thut, weil ihEi vorgestellt wird, dass es zu thun
gut sei. Praktisch gut ist aber, was vermittelst der
Vorstellungen der Vernunft, mithin nicht aus subjektiven
Ursachen, sondern objektiv d. i. aus Gründen, die für
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 35
jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind, den
Willen bestimmt. Es wird vom Angenehmen unter-
schieden, als demjenigen, was nur vermittelst der Emi)fin-
dung aus bloss subjektiven Ursachen, die nur für dieses
oder jenes seinen Sinn gelten, und nicht als Prinzip
der Vernunft, das für Jedermann gilt, auf den Willen
Einfluss hat.*)
Ein vollkommen guter Wille würde also ebensowohl
unter objektiven Gesetzen (des Gutenj stehen, aber nicht
dadurch als zu gesetzmässigen Handlungen genöthigt
vorgestellt werden können, weil er von selbst, nach
seiner subjektiven Beschaffenheit, nur durch die Vor-
stellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten
für den g Ö 1 1 1 i c h e n und überhaupt für einen li e i 1 i g e n
Willen keine Imperativen; das Sollen ist hier am
uui^chtenOrte, w^eil das Wollen schon von selbst mit
dem Gesetz nothwendig einstimmig ist. Daher sind
Imperativen nur Formeln, das Verhältniss objektiver Ge-
") Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von
Empfindungen heisst Neigung, und diese beweist also jeder-
zeit ein Bedürfniss. Die Abhängigkeit eines zufällig
bestimmbaren Willens aberi von Prinzipien der Vernunft
heisst ein Interesse. Dieses findet also nur bei einem
abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der
Vernunft gemäss ist; beim göttlichen Willen kann man sich
kein Interesse gedenken. Aber auch der menschliche Wille
kann woran ein Interesse nehmen, ohne darum aus
Interesse zu handeln. Das erste bedeutet das prak-
tische Interesse an der Handlung, das zweite das patho-
logische Interesse am Gegenstaude der Handlung. Das
erste zeigt nur Abhängigkeit des Willens von Prin-
zipien der Vernunft an sich selbst, das zweite von den
Prinzipien derselben zum Behuf der Neigung an, da näm-
lich die Vernunft nur die praktische Regel angiebt, wie
dem Bedürfnisse der Neigung abgeholfen werde. Im ersten
Falle interessirt mich die Handlung, im zweiten der Gegen-
stand der Handlung sofern er mir angenehm ist). Wir
haben im ersten Abschnitte gesehen, dass bei einer Hand-
lung aus Pflicht nicht auf das Interesse am Gegenstande,
sondern bloss an der Handlung selbst und ihrem Prinzip
in der Vernunft (dem Gesetz; gesehen werden müsse.
t) Iste Ausgabe: Die Abhängigkeit des Willens aber.
3*
36 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
setze des Woilens überhaupt zu der subjektiven Unvoll-
kommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen
WesenSj z. B. des menschlichen Willens, auszudrücken.
Alle Imperativen nun gebieten entweder hypo-
thetisch, oder kategorisch. Jene stellen die prak-
tische Nothwendigkeit einer möglichen Handlung als-
Mittel zu etwas Anderem, was man will (oder doch
möglich ist, dass man es wolle) zu gelangen vor. Der,
kategorische Imperativ würde der sein, welcher 'eine
"ffindlung als für sich selbst, olme Beziehung auf einen^
andern Zweck, als objektiv-nothwendig vorstellte.
Well jedes praktische Gesetz eine mögliche Handlung
als gut und darum, für ein durch Vernunft praktisch
bestimmbares Subjekt, als nothwendig vorstellt, so sind
alle Imperativen Formeln der Bestimmung der Handlung,
die nach dem Prinzip eines in irgend einer Art guten
Willens nothwendig ist. Wenn nun die Handlung bloss
wozu anders, als Mittel, gut sein würde, so ist der
Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut
vorgestellt, mithin als nothwendig in einem an sich der
Vernunft gemässen Willen, als Prinzip desselben, so ist
er kategorisch. 15)
Der Imperativ sagt also, welche durch mich mög-
liche Handlung gut wäre, und stellt die praktische Regel
in Verhältniss auf einen Willen vor, der darum nicht
sofort eine Handlung thut, wxil sie gut ist, theils weil
das Subjekt nicht immer weiss, dass sie gut sei, theils
weil, wenn es dieses auch wüsste, die Slaximen des-
selben doch den objektiven Prinzipien einer praktischen
Vernunft zuwider sein könnten.
Der hypothetische Imperativ sagt also nur, dass die
Handlung zu irgend einer möglichen oder wirklichen
'Absicht gut sei. Im ersteren Falle ist er ein proble-
matisch, im zw^eiten assertorisch -praktisches Prin-
zip. Der kategorische Imperativ, der die Handlung ohne
Beziehung auf irgend eine Absicht, d. i. auch ohne irgend
einen andern Zweck für sich als objektiv nothwendig
erklärt, gilt als ein apodiktisch- (praktisches) Prinzip.
Man kann sich das, was nur durch Kräfte irgend
eines vernünftigen Wesens möglich ist, auch für irgend
einen Willen als mögliche Absicht denken, und daher
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 37
sind der Prinzipien der Handlung, sofern diese f) als
nothwendig vorgestellt wird, um irgend eine dadurch
zu bewirkende mögliche Absicht zu erreichen, in der
That unendlich viel. Alle Wissenschaften haben irgend
einen praktischen Theil, der aus Aufgaben besteht, dass
irgend ein Zweck für uns möglich sei, und aus Impera-
tiven, wie er erreicht werden könne. Diese können
daher überhaubt Imperativen der Greschicklichkeit
heissen. Ob der Zweck vernünftig und gut sei, da-
von ist hier gar nicht die Frage, sondern nur was
man thun müsse, um ihn zu erreichen. Die Vor-
schriften für den Arzt, um seinen Mann auf gründ-
liche Art gesund zu machen, und für einen Gift-
mischer, um ihn sicher zu tödten, sind insofern von
gleichem Werth, als eine jede dazu dient, ihre Ab-
sicht vollkommen zu bewirken. Weil man in der frühen
Jugend nicht weiss, welche Zwecke uns im Leben auf-
stossen dürften, so suchen Eltern vornehmlich ihre Kin-
der recht vielerlei lernen zu lassen und sorgen für
die Geschicklichkeit im Gebrauch der Mittel zu
allerlei beliebigen Zwecken, von deren keinem sie
bestimmen können, ob er nicht etwa wirklich künftig
eine Absicht ihres Zöglings werden könne, wovon es
indessen doch möglich ist, dass er sie einmal haben
möchte, und diese Sorgfalt ist so gross, dass sie darüber
gemeiniglich verabsäumen, ihnen das Urtheil über den
Werth der Dinge, die sie sich etwa zu Zwecken machen
möchten, zu bilden und zu berichtigen.
Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen ver-
nünftigen Wesen (sofern Imperative auf sie, nämlich als
abhängige Wesen, passen) als wirklich voraussetzen kann,
und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloss haben
können, sondern von der man sicher voraussetzen
kann, dass sie solche insgesammt nach einer Naturnoth-
wendigkeit haben, und das ist die Absicht aufGlU.ck-
s~eligkeit. Der hypothetische Imperativ, der die prak-
tische" Nbtliwendigkeit der Handlung, als Mittel zur Be-
förderung der Glückseligkeit vorstellt, ist assertorisch.
Man darf ihn nicht bloss als nothwendig zu einer unge-
wissen, bloss möglichen Absicht vortragen, sondern zu
einer Absicht, die man sicher und a jyrio^n bei jedem
t) Iste Ausgabe: sofern sie.
38 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Ab sehn.
Menschen voraussetzen kann, weil sie zu seinem Wesenf)
gehört. Nun kann man die Geschicklichkeit in der
Wahl der Mittel zu seinem eigenen grössten Wohlsein
Klugheit*) im engsten Verstände nennen. Also ist
der Imperativ, der sich auf die Wahl der Mittel zur
eigenen Glückseligkeit bezieht, d. i. die Vorschrift der
Klugheit, noch immer hypothetisch; die Handlung
wird nicht schlechthin, sondern nur als Mittel zu einer
andern Absicht geboten.
Endlich giebt es einen Imperativ, der, ohne irgend
eine andere durch ein gewisses Verhalten zu erreichende
Absicht als Bedingung zum Grunde zu legen, dieses
Verhalten unmittelbar gebietet. Dieser Imperativ ist
kate^oriscli. Er betriflft nicht die Materie derHapii-
lung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondexiL,äie
Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt, und das
Wesentlich-Gute derselben besteht in der Oesinuung,
der Erfolg mag sein, welcher er w^oUe. Dieser Imperativ
mag der der Sittlichkeit heissen.
Das Wollen nach diesen dreierlei Prinzipien wird
auch durch die Ungleichheit der Nöthigung des
Willens deutlich unterschieden. Um diese nun auch
merklich zu machen, glaube ich, dass man sie in ihrer
Ordnung am angemessensten so benennen würde, wenn
man sagte: sie wären entweder Regeln der Geschick-
lichkeit, oder Rathschläge der Klugheit, oder Ge-
bote (Gesetze) der Sittlichkeit. Denn nur das Ge-
setz führt den Begriff einer unbedingten und zwar
objektiven und mithin allgemein gültigen No thw endig-
t) Iste Ausgabe: zu seiner Natur.
*) Das Wort Klugheit wird in zwiefachem Sinn genom-
men, einmal kann es den Namen Weltklugheit, im zweiten
den der Frivatklugheit führen. Die erste ist die Geschick-
lichkeit eines Menschen, auf Andere Einfluss zu haben, um
sie zu seinen Absichten zu gebrauchen. Die zweite die
Einsicht, alle diese Absichten zu seinem eigenen dauernden
Vortheil zu vereinigen. Die letztere ist eigentlich diejenige^
worauf selbst der Werth der ersteren zurückgeführt wird,
und wer in der ersteren Art klug ist, nicht aber in der
zweiten, von dem könnte man besser sagen: er ist gescheut
und verschlagen, im Ganzen aber doch unklug.
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 39
keit bei sich, und Gebote sind Gesetze, denen gehorcht,
d. i. auch wider Neigung Folge geleistet werden muss.
Die Rathgebung enthält zwar Noth wendigkeit, die
aber bloss unter subjektiver zufälliger Bedingung, ob
dieser oder jener Mensch dieses oder jenes zu seiner
Glückseligkeit zähle, gelten kann; dagegen der kate-
gorische Imperativ durch keine Bedingung eingeschränkt
wird, und als absolut-, obgleich praktisch-nothwendig
ganz eigentlich ein Gebot heissen kann. Man könnte
die ersteren Imperative auch technisch (zur Kunst
gehörig), die zweiten pragmatisch*) (zur Wohlfahrt),
die dritten moralisch (zum freien Verhalten überhaupt,
d. L zu den Sitten gehörig) nennen. ^6)
Nun entsteht die Frage : wie sind alle diese Impera-
tive möglich? Diese Frage verlangt nicht zu wissen,
wie die Vollziehung der Handlung, welche der Imperativ
gebietet, sondern wie bloss die Nöthigung des Willens,
die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht
werden könne. Wie ein Imperativ der Geschicklichkeit
möglich sei, bedarf wohl keiner besonderen Erörterung.
Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine
Handlungen entscheidenden Einfluss hat) auch das dazu
unentbehrlich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt
ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch ;
denn in dem Wollen eines Objekts, als meiner Wirkung,
wird schon meine Kausalität, als handelnder Ursache,
d. i. der Gebrauch der Mittel gedacht, und der Imperativ
zieht den Begriff" nothwendiger Handlungen zu diesem
Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses
Zwecks heraus; (die Mittel selbst zu einer vorgesetzten
Absicht zu bestimmen, dazu gehören allerdings syn-
thetische Sätze, die aber nicht den Grund betreffen, den
*) Mich deucht, die eigentliche Bedeutung des Wort
pragmatisch könne so am genauesten bestimmt werden.
Denn pragmatisch werden die Sanktionen genannt, welche
eigentlich nicht aus dem Rechte der Staaten als noth-
wendige Gesetze, sondern aus der Vorsorge für die all-
gemeine Wohlfahrt fliessen. Pragmatisch ist eine Ge
schichte abgefasst, wenn sie klug macht, d. i. die Welt
belehrt, wie sie ihren Vortheil besser, oder wenigstens
ebenso gut, als die Vorwelt, besorgen könne.
40 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2, Abschn.
Aktus des Willens, sondern das Objekt wirklich zu
machen.) Dass, um eine Linie nach einem sichern Prinzip
in zwei gleiche Theile zu theilen, ich aus den Enden
derselben zwei Kreuzbogen machen müsse, das lehrt die
Mathematik freilich nur durch synthetische Sätze; aber
dass, wenn ich weiss, durch solche Handlung allein
könne die gedachte Wirkung geschehen, ich, wenn ich
die Wirkung vollständig will, auch die Handlung wolle,
die dazu erforderlich ist, ist ein analytischer Satz ; denn
etwas als eine auf gewisse Art durch mich mögliche
Wirkung, und mich, in Ansehung ihrer, auf dieselbe Art
handelnd vorstellen, ist ganz einerlei.
Die Imperativen der Klugheit würden, wenn es nur
so leicht wäre, einen bestimmten Begriff von Glückselig-
keit zu geben, mit denen der Geschicklichkeit ganz und
gar übereinkommen und ebensowohl analytisch sein.
Denn es würde ebensowohl hier, als dort, heissen: wer
den Zweck will, will auch (der Vernunft gemäss noth-
wendig) die einzigen Mittel, die dazu in seiner Gewalt
sind. Allein es ist ein Unglück, dass der Begriff der
Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, dass, ob-
gleich jeder Mensch zu fieser zu gelangen wünscht, er
doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig
sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die
Ursache davon ist: dass alle Elemente, die zum Begriff
der Glückseligkeit gehören, insgesammt empirisch sind,
d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, dass
gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes
Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens in meinem
gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforder-
lich ist. Nun ists unmöglich, dass das einsehendste und
zugleich allervermögend ste, aber doch endliche Wesen
sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er
hier eigentlich wolle. Will er Reichthum, wie viel Sorge,
Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht
auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntniss und Ein-
sicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes
Auge werden, um die Uebel, die sich für ihn jetzt noch
verbergen und doch nicht vermieden werden können,
ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen oder seinen
Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen,
noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 4X
Leben, wer steht ihm dafür, dass es nicht ein langes
Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie
oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Aus-
schweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit
würde haben fallen lassen u. s. w. Kurz, er ist nicht
vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger
Gewissheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich
machen werde, darum, weil hierzu Allwissenheit erfor-
derlich sein würde. Man kann also nicht nach be-
stimmten Prinzipien handeln, um glücklich zu sein,
sondern nur nach empirischen Rathschlägen, z. B. der
Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung
u. s. w., von welchen die Erfahrung lehrt, dass sie das
Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern.
Hieraus folgt, dass die Imperativen der Klugheit, genau
zu reden, gar nicht gebieten, d. i. Handlungen objektiv
als praktisch- noth wendig darstellen können, dass sie
eher für Anrathungeu (consilia), als Gebote [praeceiyta)
der Vernunft zu halten sind, dass die Aufgabe, sicher
und allgemein zu bestimmen, welche Handlung die
Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens befördern werde,
völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ in Ansehung
derselben möglich sei, der im strengen Verstände geböte,
das zu thun, was glücklich macht, weil Glückseligkeit
nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungs-
kraft ist, was bloss auf empirischen Gründen beruht,
von denen man vergeblich erwartet, dass sie eine Hand-
lung bestimmen sollten, dadurch die Totalität einer in
der That unendlichen Reihe von Folgen erreicht würde.
Dieser Imperativ der Klugheit würde indessen, wenn
mau annimmt, die Mittel zur Glückseligkeit Hessen sich
sicher aiigeben, ein analytisch-praktischer Satz sein.
Denn er ist von dem Imperativ der Geschicklichkeit
nur darin unterschieden, dass bei diesem der Zweck
bloss möglich, bei jenem aber gegeben ist; da beide
aber bloss die Mittel zu demjenigen gebieten, von dem
man voraussetzt, dass man es als Zweck w^oUte, so ist
<ler Imperativ, der das Wollen der Mittel für den, der
den Zweck will, gebietet, in beiden Fällen analytisch.
Es ist also in Ansehung der Möglichkeit eines solchen
Imperativs auch keine Schwierigkeit.*"*)
Dagegen wie der Imperativ der Sittlichkeit mög-
42 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
lieh sei, ist ohne Zweifel die einzige einer Auflösung^
bedürftige Frage, da er gar nicht hypothetisch ist und
also die objektiv-vorgestellte Nothwendigkeit sich auf
keine Voraussetzung stützen kann, wie bei den hypo-
thetischen Imperativen. Nur ist immer hierbei nicht aus der
Acht zu lassen, dass es durch k ein Beispiel, mithin
empirisch auszumachen sei, ob es überall irgend einen der-
gleichen Imperativ gebe, sondern zu besorgen, dass alle,
die kategorisch scheinen, doch versteckter Weise hypo-
thetisch sein mögen. Z. B. wenn es heisst: du sollst
nichts betrüglich versprechen, und man nimmt an, dass
die Nothwendigkeit dieser Unterlassung nicht etwa blosse
Rathgebung zur Vermeidung irgend eines andern Uebels
sei, so dass es etwa hiesse: du sollst nicht lügenhaft
versprechen, damit du nicht, wenn es offenbar wird,
dich um den Kredit bringest, sondern eine Handlung
dieser Art müsse für sich selbst als böse betrachtet
werden, der Imperativ des Verbots sei also kategorisch ;
so kann man doch in keinem Beispiel mit Gewissheit
darthun, dass der Wille hier ohne andere Triebfeder
bloss durchs Gesetz bestimmt werde, ob es gleich so
scheint; denn es ist immer möglich, dass insgeheim
Furcht vor Beschämung, vielleicht auch dunkle Besorg-
niss anderer Gefahren, Einfluss auf den Willen haben
möge. Wer kann das Nichtsein einer Ursache durch
Erfahrung beweisen, da diese nichts weiter lehrt, als
dass wir jene nicht wahrnehmen? Auf solchen Fall aber
würde der sogenannte moralische Imperativ, der als ein
solcher kategorisch und unbedingt erscheint, in der That
nur eine pragmatische Vorschrift sein, die uns auf unsern
Vortheil aufmerksam macht, und uns bloss lehrt, diesen
in Acht zu nehmen.*^)
Wir werden also die Möglichkeit eines kategorischen
Imperativs gänzlich a priori zu untersuchen haben, da
uns hier der Vortheil nicht zu Statten kommt, dass die
Wirklichkeit desselben in der Erfahrung gegeben, und
also die MögHchkeit nicht zur Festsetzung, sondern bloss
zur Erklärung nöthig wäre. So viel ist indessen vor-
läufig einzusehen : dass der kategorische Imperativ allein
als ein praktisches Gesetz laute, die übrigen insge-
sammt zwar Prinzipien des Willens, aber nicht Gesetze
heissen können; weil, was bloss zur Erreichung einer
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 43
beliebigen Absicht zu thun nothwendig ist, an sich als
zufällig betrachtet werden kann, und wir von der Vor-
schrift jederzeit los sein können, wenn wir die Absieht
aufgeben, dahingegen das unbedingte Gebot dem Willen
kein Belieben in Ansehung des Gegentheils frei lässt,
mithin allein diejenige Nothwendigkeit bei sich führt,
welche wir zum Gesetze verlangen.
Zweitens ist bei diesem kategorischen Imperativ oder
Gesetze der Sittlichkeit der Grund der Schwierigkeit
(die Möglichkeit desselben einzusehen) auch sehr gross.
Er ist ein synthetisch-praktischer Satz-) a 'priori^ und
da die Möglichkeit der Sätze dieser Art einzusehen so
viel Schwierigkeit im theoretischen Erkenntnisse hat, so
lässt sich leicht abnehmen, dass sie im praktischen
nicht weniger haben werde.
Bei dieser Aufgabe wollen wir zuerst versuchen, ob
nicht vielleicht der blosse Begriff eines kategorischen
Imperativs auch die Formel desselben an die Hand gebe,
die den Satz enthält, der allein ein kategorischer Im-
perativ sein kann; denn wie ein solches absolutes Ge-
bot möglich sei, wird noch besondere und schwere Be-
mühung erfordern, die wir aber zum letzten Abschnitte
aussetzen.
Wenn ich mir einen hypt befischen Imperativ
überhaupt denke, so weiss ich nicht zum voraus, was
er enthalten werde: bis mir die Bedingung gegeben ist.
Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ,
so weiss ich sofort, was er enthalte. Denn da der Im-
perativ ausser dem Gesetze nur die Nothwendigkeit der
Maxime**) enthält, diesem Gesetze gemäss zu sein, das
*) Ich verknüpfe mit dem Willen, ohne vorausgesetzte
Bedingung aus irgend einer Neigung, die That, a priori,
mithin nothwendig (obgleich nur objektiv d. i. unter der
Idee einer Vernunft, die über alle subjektive Bewegursachen
völlige Gewalt hätte). Dieses ist also ein praktischer Satz,
der das Wollen einer Handkmg nicht aus einem anderen
schon vorausgesetzten analytisch ableitet (denn wir haben
keinen so vollkommenen Willen), sondern mit dem Begriffe
des Willens als eines vernünftigen Wesens unmittelbar, als
etwas, das in ihm nicht enthalten ist, verknüpft.
**) Maxime ist das subjektive Prinzip zu handeln, und
muss vom objektiven Prinzip, nämhch dem praktischen
44 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es einge-
schränkt war, so bleibt nichts, als die Allgemeinheit
eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime
der Handlung gemäss sein soll, und welche Gemässheit
allein den Imperativ eigentlich als nothwendig vorstellt.
Der kategorische Imperativ ist also ein einziger, und
zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime,
durch die du zugleich wollen kannst, dass sie
ein allgemeines Gesetz werde.
Wenn nun aus diesem einigen Imperativ alle Impe-
rativen der Pflicht, als aus ihrem Prinzip, abgeleitet
werden können, so werden wir, ob wir es gleich unaus-
gemacht lassen, ob nicht überhaupt das, was man Pflicht
nennt, ein leerer Begrifi" sei, doch wenigstens anzeigen
können, was wir dadurch denken und was dieser Begriff
sagen wolle.
Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wonach Wir-
kungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich
Natur im allgemeinsten Verstände (der Form nach),
d. i. das Dasein der Dinge heisst, sofern .es nach all-
gemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allge-
meine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle
so, als ob die Maxime deiner Handlung durch
deinen Willen zum allg-euieiuen Xaturg:esetze
werden soUte.^y)
Nun wollen wir einige Pflichten herzählen, nach der
gewöhnlichen Eintheilung derselben, in Pflichten gegen
uns selbst und gegen andere Menschen, in vollkommene
und unvollkommene Pflichten.*)
Gesetze, unterschieden werden. Jene enthält die praktische
Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjekts ge-
mäss (öfters der Unwissenheit oder auch den Neigungen
desselben) bestimmt, und ist also der Grundsatz, nach wel-
chem das Subjekt handelt: das Gesetz aber ist das ob-
jektive Prinzip, gültig für jedes vernünftige Wesen, und der
Grundsatz, nach dem es handeln soll, d. i. ein Imperativ.
") Man muss hier wohl merken, dass ich die Eintheilung
der Pflichten für eine künftige Metaphysik der Sitten
mir gänzlich vorbehalte, diese hier also nur als beliebig
(um meine Beispiele zu ordnen) dastehe. Uebrigens ver-
stehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige,
die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet,
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish, z. Metapb. d. Sitten. 45
1) Einer, der durch eine Reihe von Uebeln, die bis
zur Hoifnungslosigkeit angewachsen ist, einen Ueberdruss
am Leben empfindet, ist noch so weit im Besitze seiner
Vernunft, dass er sich selbst fragen kann, ob es auch
nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich
das Leben zu nehmen. Nun versucht er : ob die Maxime
seiner Handlung wohl ein allgemeines Naturgesetz wer-
den könne. Seine Maxime aber ist: ich mache es mir
aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner
längern Frist mehr Uebel droht, als es Annehmlichkeit
verspricht, es mir abzukürzen. Es fragt sich nur noch,
ob dieses Prinzip der Selbstliebe ein allgemeines Natur-
gesetz werden könne. Da sieht man aber bald, dass
eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe Empfin-
dung, deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des
Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören, ihr
selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen
würde, mithin jene Maxime unmöglich als allgemeines
Naturgesetz stattfinden könne, und folglich dem obersten
Prinzip gänzlich widerstreite.
2) Ein Anderer sieht sich durch Noth gedrungen,
Geld zu borgen. Er weiss wohl, dass er nicht wird be-
zahlen können, sieht aber auch, dass ihm nichts geliehen
werden wird, Avenn er nicht festiglich verspricht, es zu
einer bestimmten Zeit zu bezahlen. Er hat Lust, ein
solches Versprechen zu thun; aber noch hat er soviel
Gewalt, sich zu fragen : ist es nicht unerlaubt und pflicht-
widrig, sich auf solche Art aus Noth zu helfen? Gesetzt^
er beschlösse es doch, so würde seine Maxime der Hand-
lung so lauten: wenn ich mich in Geldnoth zu sein
glaube, so will ich Geld borgen und versprechen, es zu
bezahlen, ob ich gleich weiss, es werde niemals ge-
schehen. Nun ist dieses Prinzip der Selbstliebe oder
der eigenen Zuträglichkeit mit meinem ganzen künftigen
Wohlbefinden vielleicht wohl zu vereinigen, allein jetzt
ist die Frage: ob es recht sei? Ich verwandle also die
und da habe ich nicht bloss äussere, sondern auch innere
vollkommene Pflichten, welches dem in Schulen an-
genommenen Wortgebrauch zuwiderläuft, ich aber hier nicht
zu verantworten gemeint bin, weil es zu meiner Absicht
einerlei ist, ob man es mir einräumt oder nicht.
46 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
Zumuthung der Selbstliebe in ein allgemeines Gesetz
und richte die Frage so ein : wie es dann stehen würde,
wenn meine Maxime ein allgemeines Gesetz würde? Da
sehe ich nun sogleich, dass sie niemals als aligemeines
Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen
könne, sondern sich nothwendig widersprechen müsse.
Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, dass Jeder, nach-
dem er in Noth zu sein glaubt, versprechen könne, was
ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde
das Versprechen und den Zweck, den man damit haben
mag, selbst unmöglich machen, indem Niemand glauben
würde, dass ihm was versprochen sei, sondern über alle
solche Aeusserung, als eitles Vorgeben, lachen würde.
3) Ein Dritter findet in sich ein Talent, welches
vermittelst einiger Kultur ihn zu einem in allerlei Ab-
sicht brauchbaren Menschen machen könnte. Er sieht
sich aber in bequemen Umständen, und zieht vor, lieber
dem Vergnügen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung
und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen zu
bemühen. Noch fragt er aber: ob, ausser der Ueber-
einstimmung, die seine Maxime der Verwahrlosung seiner
Naturgaben mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich
hat, sie auch mit dem, Avas man Pflicht nennt, überein-
stimme? Da sieht er nun, dass zwar eine Natur nach
einem solchen aligemeinen Gesetze immer noch bestehen
könne, obgleich der Mensch (sowie der Südsee-Einwohner)
sein Talent rosten Hesse und sein Leben bloss auf Müssig-
gang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort, auf
Genuss zu verwenden bedacht wäre ; allein er kann un-
möglich wollen, dass dieses ein allgemeines Natui-ge-
setz werde oder als ein solches in uns durch Naturinstinkt
gelegt sei. Denn als ein vernünftiges Wesen will er
nothwendig, dass alle Vermögen in ihm entwickelt wer-
den, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten
dienlich und gegeben sind.
Noch denkt ein Vierter, dem es wohl geht, in-
dessen er sieht, dass Andere mit grossen Mühseligkeiten
zu kämpfen haben (denen er auch wohl helfen könnte) :
was gehts mich an? mag doch ein Jeder so glücklich
sein, als es der Himmel will oder er sich selbst machen
kann, ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal
beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 47
Beistande in der Noth habe ich nicht Lust etwas bei-
zutragen! Nun könnte allerdings, wenn eine solche
Denkungsart ein allgemeines Naturgesetz würde, das
menschliche Geschlecht gar wohl bestehen, und ohne
Zweifel noch besser, als wenn Jedermann von Theil-
nehmung und Wohlwollen schwatzt, auch sich beeifert,
gelegentlich dergleichen auszuüben, dagegen aber auch,
wo er nur kann, betrügt, das Recht der Menschen ver-
kauft, oder ihm sonst Abbruch thut. Aber obgleich es
möglich ist, dass nach jener Maxime ein allgemeines
Naturgesetz wohl bestehen könnte, so ist es doch un-
möglich, zu wollen, dass ein solches Prinzip als Na-
turgesetz allenthalben gelte. Denn ein Wille, der dieses
beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der
Fälle sich doch manche ereignen können, wo er Anderer
Liebe und Theilnehmung bedarf, und wo er durch ein
solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Natur-
gesetz sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den
er sich wünscht, rauben würde.
Dieses sind nun einige von den vielen wirklichen
oder wenigstens von uns dafür gehaltenen Pflichten;
deren Ableitung aus dem einigen angeführten Prinzip
klar in die Augen fällt. Man muss wollen können,
dass eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines
Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Be-
urtheilung derselben überhaupt. Einige Handlungen
sind so beschaffen, dass ihre Maxime ohne Widerspruch
nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht
werden kann; weit gefehlt, dass man noch wollen könne,
es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar
jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist
doch unmöglich, zu wollen, dass ihre Maxime zur All-
gemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, w^eil ein
solcher Wille sich selbst widersprechen würde. Man
sieht leicht, dass die erstere der strengen oder engeren
(unnachlasslichen) Pflicht, die zweite nur der weiteren
(verdienstlichen) Pflicht widerstreite, und so alle Pflichten,
was die Art der Verbindlichkeit (nicht das Objekt ihrer
Handlung) betrifft, durch diese Beispiele in ihrer Ab-
hängigkeit von dem einigen Prinzip vollständig autge-
stellt werden.
48 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
Wenn wir nun auf uns selbst bei jeder üebertretung
einer Pflicht Acht haben, so finden wir, dass wir wirk-
lich nicht wollen, es solle unsere Maxime ein allgemeines
Gesetz werden, denn das ist uns unmöglich, sondern
das Gegentheil derselben soll vielmehr allgemein ein
Gesetz bleiben; nur nehmen wir uns die Freiheit, für
uns (oder auch nur für diesesmal) zum Vortheil unserer
Neigung davon eine Ausnahme zu machen. Folglich,
wenn wir alles aus einem und demselben Gesichtspunkte,
nämlich der Vernunft, erwögen, so würden wir einen
Widerspruch in unserem eigenen Willen antreffen, näm-
lich dass ein gewisses Prinzip objektiv als allgemeines
Gesetz nothwendig sei und doch subjektiv nicht allge-
mein gelten, sondern Ausnahmen verstatten sollte. Da
wir aber einmal unsere Handlung aus dem Gesichts-
punkte eines ganz der Vernunft gemässen, dann aber auch
ebendieselbe Handlung aus dem Gesichtspunkte eines durch
Neigung afficirten Willens betrachten, so ist wirkhch
hier kein Widerspruch, wohl aber ein Widerstand der
Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft {antagonis-
mus), wodurch die Allgemeinheit des Prinzips {univer-
salitas) in eine blosse Gemeingültigkeit {generalitas)
verwandelt wird, dadurch das praktische Vernunftprinzip
mit der Maxime auf dem halben Wege zusammenkommen
soll. Ob nun dieses gleich in unserem eigenen unpar-
teiisch angestellten Urtheile nicht gerechtfertigt werden
kann, so beweiset es doch, dass wir die Gültigkeit des
kategorischen Imperativs wirklich anerkennen und uns
(mit aller Achtung für denselben) nur einige, wie es
uns scheint, unerhebliche und uns abgedrungene Aus-
nahmen eriauben.^^j)
Wir haben so viel also wenigstens dargethan, dass,
wenn PfUcht ein Begriff ist, der Bedeutung und wirk-
liche Gesetzgebung für unsere Handlungen enthalten
soll, diese nur in kategorischen Imperativen, keineswegs
aber in hypothetischen ausgedrückt werden könne; im-
gleichen haben wir, welches schon viel ist, den Inhalt
des kategorischen Imperativs, der das Prinzip aller
Pflicht (wenn es überhaupt dergleichen gäbe) enthalten
müsste, deutlich und zu jedem Gebrauche bestimmt dar-
gestellt. Noch sind wir aber nicht so weit, a prioi'i
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 49
zu beweisen, dass dergleichen Imperativ wirklich statt-
finde, dass es ein praktisches Gesetz gebe, welches
schlechterdings und ohne alle Triebfedern für sich ge-
bietet, und dass die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei.
Bei der Absicht, dazu zu gelangen, ist es von der
äussersten Wichtigkeit, sich dieses zur Warnung dienen
zu lassen, dass man es sich ja nicht in den Sinn kommen
lasse, die Realitiit dieses Prinzips aus der be sondern
Eigenschaft der menschlichen Natur ableiten zu
wollen. Denn Pflicht soll praktisch-unbedingte Noth-
wendigkeit der Handlung sein; sie muss also für alle
vernünftige Wesen (auf die nur liberall ein Imperativ
treflen kann) gelten und allein darum auch für allen
menschlichen Willen ein Gesetz sein. Was dagegen aus
der besonderen Naturanlage der Menschheit, was aus
gewissen Gefühlen und Hange, ja sogar, wo möglich,
aus einer besonderen Richtung, die der menschlichen
Vernunft eigen wäre und nicht nothwendig für den
Willen eines jeden vernünftigen Wesens gelten müsste,
abgeleitet wird, das kann zwar eine Maxime für uns,
aber kein Gesetz abgeben, ein subjektiv Prinzip, nach
welchem wir handeln zu dürfen Hang und Neigung
haben, aber nicht ein objektives, nach welchem wir an-
gewiesen wären zu handeln, wenngleich aller unser
Hang, Neigung und Natureinrichtung dawider wäre, so-
gar, dass es um desto mehr die Erhabenheit und innere
Würde des Gebots in einer Pflicht beweiset, je weniger
die subjektiven Ursachen dafür, je mehr sie dagegen
sind, ohne doch deswegen die Nöthigung durchs Gesetz
nur im mindesten zu schwächen und seiner Gültigkeit
etwas zu benehmen.^i)
Hier sehen wir nun die Philosophie in ,der That auf
einen misslichen Standpunkt gestellt, der fest sein soll,
unerachtet er weder im Himmel, noch auf der Erde an
etwas gehängt oder woran gestützt wird. Hier soll sie
ihre Lauterkeit beweisen, als Selbsthalterin ihrer Gesetze,
nicht als Herold derjenigen, welche ihr ein eingepflanzter
Sinn, oder wer weiss welche vormundschaftliche Natur
einflüstert, die insgesammt, sie mögen immer besser
sein, als gar nichts, doch niemals Grundsätze abgeben
können, die die Vernunft diktirt, und die durchaus völlig
a 2^riom ihren Quell und hiermit zugleich ihr gebieten-
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 4.
50 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
des Ansehen haben müssen: nichts von der Neigung
des Menschen^ sondern alles von der Obergewalt des
Gesetzes und der schuldigen Achtung für dasselbe zu
erwarten, oder den Menschen widrigenfalls zur Selbst-
verachtuug und Innern Abscheu zu verurtheilen.
Alles also, was empirisch ist, ist, als Zuthat zum
Prinzip de-r Sittlichkeit, nicht allein dazu ganz untaug-
lich, sondern der Lauterkeit der Sitten selbst höchst
nachtheilig, an welchen der eigentliche und über allen
Preis erhabene Werth eines schlechterdings guten Willens
eben darin besteht, dass das Prinzip der Handlung von
allen Einflüssen zufälliger Gründe, die nur Erfahrung
an die Hand geben kann, frei sei. Wider diese Nach-
lässigkeit oder gar niedrige Denkungsart, in Aufsuchung
des Prinzips unter empirischen Bewegursachen und Ge-
setzen, kann man auch nicht zu viel und zu oft
Warnungen ergehen lassen, indem die menschliche Ver-
nunft in ihrer Ermüdung gern auf diesem Polster aus-
ruht, und in dem Traume süsser Vorspiegelungen (die
sie doch statt der Juno eine Wolke umarmen lassen)
der Sittlichkeit einen aus Gliedern ganz verschiedener
Abstammung ^zusammengeflickten Bastard unterschiebt,
der allem ähnlich sieht, was man daran sehen will, nur
der Tugend nicht, für den, der sie einmal in ihrer wahren
Gestalt erblickt hat.*) 22)
Die Frage ist also diese: ist es ein nothwendiges
Gesetz für alle vernünftige Wesen, ihre Hand-
lungen jederzeit nach solchen Maximen zu beurtheilen,
von denen sie selbst wollen können, dass sie zu allge-
meinen Gesetzen dienen sollen? Wenn es ein solches
ist, so muss es (völlig a jynori) schon mit dem Begriff'e
des Willens »eines vernünftigen Wesens überhaupt ver-
bunden sein. Um aber diese Verknüpfung zu entdecken.
*) Die Tugend in ihrer eigentlichen Gestalt erblicken,
ist nichts Anderes, als die Sittlichkeit, von afler Beimischung
des Sinnlichen und allem unächten Schmuck des Lohns
oder der Selbstliebe entkleidet, darzustellen. Wie sehr sie
alsdenn alles Uebrige, was den Neigungen reizend erscheint,
verdunkele, kann Jeder vermittelst des mindesten Versuchs
seiner nicht ganz für alle Abstraktion verdorbenen Vernunft
leicht inne werden.
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metapb. d. Sitten. 5 j^
muss mau, so sehr mau sich auch sträubt, eiuen Schritt
hinaus thun, nämlich zur Metaphysik, obgleich in ein
Gebiet derselben, welches von dem der spekulativen
Philosophie unterschieden ist, nämlich in die Metaphysik
der Sitten. In einer praktischen Philosophie, wo es
uns nicht darum zu thun ist, Gründe anzunehmen von
dem, was geschieht, sondern Gesetze von dem, was
geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht, d. i.
objektiv-praktische Gesetze: da haben wir nicht nöthig,
über die Gründe Untersuchung anzustellen, warum etwas
gefällt oder misstallt, wie das Vergnügen der blossen
Empfindung vom Geschmacke, und ob dieser von einem
allgemeinen Wohlgefallen der Vernunft unterschieden
sei; worauf Gefühl der Lust und Unlust beruhe, und
wie hieraus Begierden und Neigungen, aus diesen aber,
durch Mitwirkung der Vernunft, Maximen entspringen:
denn das gehört alles zu einer empirischen Seelenlehre,
welche den zweiten Theil der Naturlehre ausmachen
würde, wenn man sie als Philosophie der Natur
betrachtet, sofern sie auf empirischen -Gesetzen
gegründet ist. Hier aber ist vom objektiv-praktischen
Gesetze die Rede, mithin von dem Verhältnisse eines
Willens zu sich selbst, sofern er sich bloss durch Ver-
nunft bestimmt, da denn alles, t) was aufs Empirische
Beziehung hat, von selbst wegfällt; weil, wenn die Ver-
nunft für sich allein das Verhalten bestimmt (wo-
von wir die Möglichkeit jetzt eben untersuchen wollen),
sie dieses nothwendig a iwiori thun muss.
Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Voj--
s t eüu n^'""g e w i s 's e r G e s e t z e g e m a s 3 sich selbst zum._„
TTäff^eln z1i bestimmen. Und ein solches Vermögeiiivami
mtrTn;;;;;3Wfnunftigen Weses^ '"anzutreffen sein. Hun ist
Tas7'"was dem Willen '^züm objektiven Grimde seiner
Selbstbestimmung dient, der Zweck, und dieser,, wenn
er durch blosse Vernunft gegeben wij'd> muss für alle
vernünftige Wesen gleich gelten. Was dagegen Bloss "^
"Seil' Grühd der Möglichkeit der Handlung enthält, deren
Wirkung Zweck ist, heisst das Mittel. Der subjektive
Grund des Begehrens ist die Triebfeder, der objektive
des Wollens der Bewegungsgrund; daher der Unter-
Iste Ausgabe: da denn also allea.
4*
52 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
schied zwischen subjektiven Zwecken, die auf Triebfedern
beruhen, und objektiven, die auf Bewegungsgründe an-
kommen, welche für jedes vernünftige Wesen gelten»
Praktische Prinzipien sind formal, wenn sie von allen
subjektiven Zwecken abstrahiren ; sie sind aber m a t e r i a 1^
wenn sie diese, mithin gewisse Triebfedern zum Grunde
legen. Die Zwecke, die sich ein vernünftiges Wesen
als Wirkungen seiner Handlung nach Belieben vor-
setzt (materiale Zwecke), sind insgesammt nur relativ;
denn nur bloss ihr Verhältniss auf ein besonders ge-
artetes Begehrungsvermögen des Subjekts giebt ihnen
den Werth, der daher keine allgemeinen, für alle ver-
nünftige Wesen, und auch nicht für jedes Wollen gültige
und nothwendige Prinzipien, d. i. praktische Gesetze,
an die Hand geben kann. Daher sind alle diese rela-
tiven Zwecke nur der Grund von hypothetischen Im-
perativen.
Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an
sich selbst einen absoluten Werth hat, was, als Zweck
an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein
könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein der
Grund eines möglichen kategorischen Imperativs d. i.
praktischen Gesetzes liegen.
Nun sage ich : der Mensch und überhaupt jedes ver-
nünftige Wiesen, existirt als Zweck an sich selbst^
nicht bloss als Mittel zum beliebigen Gebrauche
für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen
seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere ver-
nünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zu-
gleich als Zweck betrachtet werden. Alle Gegen-
stände der Neigungen haben nur einen bedingten Werth ;
denn wenn die Neigungen und darauf gegründete Be-
dürfnisse nicht wären, so würde ihr Gegenstand ohne
Werth sein. Die Neigungen selber aber, als Quellen
der Bedürfniss, haben so wenig einen absoluten Werth,
um sie selbst zu wünschen, dass vielmehr, gänzlich da-
von fi-ei zu sein, der allgemeine W^unsch eines jeden
vernünftigen Wesens sein muss. Also ist der Werth
aller durch unsere Handlung zu erwerbenden Gegen-
stände jederzeit bedingt. Die Wesen, deren Dasein zwar
nicht auf unserem Willen, sondern der Natur beruht,
haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur
AM^oMMt dj\^M^^ i^^t^CK. ^V^^^-v.^. -
üeberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 53
einen relativen Werth, als Mittel, und heissen daher
Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen ge-
nannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke
an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloss als Mittel
gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle
Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung
ist). Dies sind also nicht bloss subjektive Zwecke, deren
Existenz, als Wirkung unserer Handlung, für uns einen
Werlh hat; sondern objektive Zwecke, d. i. Dinge,
deren Dasein an sich selbst Zweck ist, und zwar einen
solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt
werden kann, dem sie bloss als Mittel zu Diensten
stehen sollten, weil ohne dieses überall gar nichts von
absolutem Werthe würde angetroffen werden; wenn
aber aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte
für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Prin-
:zip angetroffen w^erden.
Wenn es denn also ein oberstes praktisches Prinzip
und, in Ansehung des menschlichen Willens, einen kate-
gorischen Imperativ geben soll, so muss es ein solches
sein, das aus der Vorstellung dessen, was nothwendig
für Jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich
selbst ist, ein objektives Prinzip des Willens aus-
macht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen
kann. Der Grund dieses Prinzips ist: die vernünf-
JLige NaTtur existirt als Zweck an sich selbst.
-So stellt sich nothwendig der Mensch sein eigenes Dasein
Torf sofern ist es also ein subj ektives Prinzip mensch-
TicTfer Handlungen, So stellt sich aber auch jedes andere
vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge ebendesselben
Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor*); also ist
es zugleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem
obersten praktischen Grunde, alle Gesetze des Willens
müssen abgeleitet werden können. Der praktische Im-
perativ wird also folgender sein: hä'ndTe so, dass du
oie Menschheit, sowohl in deiner Person, als
fn der Person eines jeden Andern, jederzeit
zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel
*) Diesen Satz stelle ich hier als Postulat auf. Im letzten
Abschnitte wird man die Gründe dazu finden.
54 GnmdlegUDg zur Metaphysik der Sitten. 2. Abscbn..
brauchst. Wir wollen seheii; ob sich dieses bewerk-
"stelUgen" lasse. 23)
Um bei den vorigen Beispielen zu bleiben, so wird
Erstlich, nach dem Begriffe der nothwendigen
Pflicht gegen sich selbst, derjenige, der mit Selbstmorde
umgeht, sich fragen, ob seine Handlung mit der Idee
der Menschheit, als Zwecks an sich selbst, zu-
sammen bestehen könne? Wenn er, um einem beschwer-
lichen Zustande zu entfliehen, sich selbst zerstört, so
bedient er sich einer Person, bloss als eines Mittels
zu Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zu Ende
des Lebens. Der Mensch aber ist keine Sache, mithin
nicht etwas, das bloss als Mittel gebraucht werden
kann, sondern muss bei allen seinen Handlungen jeder-
zeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden. Also
kann ich über den Menschen in meiner Person nichts
disponiren, ihn zu verstümmeln, zu verderben, oder zu
tödten. (Die nähere Bestimmung dieses Grundsatzes
zur Vermeidung alles Missverstandes, z. B. der Amputation
der Glieder, um mich zu erhalten, der Gefahr, der ich
mein Leben aussetze, um mein Leben zu erhalten etc.,
muss ich hier vorbeigehen; sie gehört zur eigentlichen
Moral.)
Zweitens, was die nothwendige oder schuldige
Pflicht gegen Andere betriff't, so wird der, so ein lügen-
haftes Versprechen gegen Andere zu thun im Sinne hat,
sofort einsehen, dass er sich eines andern Menschen
bloss als Mittel bedienen will, ohne dass dieser zu-
gleich den Zweck in sich enthalte. Denn der, den ich
durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten
brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn
zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck
dieser Handlung enthalten. Deutlicher fällt dieser Wider-
streit gegen das Prinzip anderer Menschen in die Augen^
wenn man Beispiele von Angriffen auf Freiheit und
Eigenthum Anderer herbeizieht. Denn da leuchtet klar
ein, dass der üebertreter der Rechte der Menschen sich
der Person Anderer bloss als Mittel zu bedienen ge-
sonnen sei, ohne in Betracht zu ziehen, dass sie, als
vernünftige Wesen, jederzeit zugleich als Zwecke, d. i.
nur als solche, die von ebenderselben Handlung auch
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten, 55
in sich den Zweck müssen enthalten können, geschätzt
werden sollen. -)
Drittens, in Ansehung der zufälligen (verdienst-
lichen) Pflicht gegen sich selbst ists nicht genug, dass
die Handlung nicht der Menschheit in unserer Person,
als Zweck an sich selbst, widerstreite, sie muss auch
dazu zusammenstimmen. Nun sind in der Mensch-
heit Anlagen zu grösserer Vollkommenheit, die zum
Zwecke der Natur in Ansehung der Menschheit in
unserem Subjekt gehören; diese zu vernachlässigen,
würde allenfalls wohl mit der Erhaltung der Mensch-
heit, als Zwecks an sich selbst, aber nicht der Beför-
derung dieses Zwecks bestehen können.
Viertens, in Betreff der verdienstlichen Pflicht
gegen Andere, ist der Naturzweck, den alle Menschen
Ilaben, ihre eigene Glückseligkeit. Nun würde zwar
die Menschheit bestehen können, wenn Niemand zu des
Andern Glückseligkeit etwas beitrüge, dabei aber ihr
nichts vorsätzlich entzöge; allein es ist dieses doch nur
eine negative und nicht positive Uebereinstimmung zur
Menschheit, als Zweck an sich selbst, wenn Jeder-
mann auch nicht die Zwecke Anderer, so viel an ihm
ist, zu befördern trachtete. Denn das Subjekt, welches
Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn
jene Vorstellung bei mir alle Wirkung thun soll, auch,
so viel möglich, meine Zwecke sein.
Dieses Prinzip der Menschheit und jeder vernünftigen
Natur überhaupt, als Zwecks an sich selbst (welche
die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der
Handlungen eines jeden Menschen ist), ist nicht aus der
") Man denke ja nicht, dass hier das triviale: quod tibi
non visßeri etc. (Was du nicht willst, dass dir geschehe, das etc.)
zur Richtschnur oder Prinzip dienen könne. Denn es ist, ob-
zwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem
abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es
enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst,
nicht der Liebespflichten gegen Andere (denn Mancher würde
es gerne eingehen, dass Andere ihm nicht wohlthun sollen,
wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat
zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen
einander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde
gegen seine strafenden Richter argumentiren u. s. w.
56 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
Erfahrung entlehnt, erstlich, wegen seiner Allgemeinheit,
da es auf alle vernünftige Wesen überhaupt geht, worüber
etwas zu bestimmen keine Erfahrung zureicht; zweitens,
weil darin die Menschheit nicht als Zweck des Menschen
(subjektiv), d. i. als Gegenstand, den man sich von selbst
wirklich zum Zwecke macht, sondern als objektiver
Zweck, der, wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen,
als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller
subjektiven Zwecke ausmachen soll, vorgestellt wird,
mithin aus reiner Vernunft entspringen muss. Es liegt
nämlich der Grund aller praktischen Gesetzgebung ob-
jektiv in der Regel und der Form der Allgemeinheit,
die sie ein Gesetz (allenfalls Naturgesetz) zu sein fähig
macht (nach dem ersten Prinzip), subjektiv aber im
Zwecke; das Subjekt aller Zwecke aber ist jedes ver-
nünftige Wesen, als Zweck an sich selbst (nach dem
zweiten Prinzip) ; hieraus folgt nun das dritte praktische
Prinzip des Willens, als oberste Bedingung der Zu-
sammenstimmung desselben mit der allgemeinen prak-
tischen Vernunft, die Idee des Willens jedes ver-
nünftigen Wesens als eines allgemein gesetz-
geb enden Willens. '^4)
Alle Maximen werden nach diesem Prinzip verworfen,
die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens
nicht zusammen bestehen können. Der Wille wird also
nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so
unterworfen, dass er auch als selbstgesetzgebend,
und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er
selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen
angesehen werden muss.
Die Imperativen nach der vorigen Vorstellungsart,
nämlich der allgemein einer Naturordnung ähnlichen
Gesetzmässigkeit der Handlungen, oder des allgemeinen
Zwecksvorzuges vernünftiger Wesen an sich selbst,
schlössen zwar von ihrem gebietenden Ansehen alle
Beimischung irgend eines Interesse, als Triebfeder,
aus, eben dadurch, dass sie als kategorisch vorgestellt
wurden; sie wurden aber nur kategorisch ange-
nommen, weil man dergleichen annehmen musste,
wenn man den Begriff von Pflicht erklären wollte. Dass
es aber praktische Sätze gäbe, die kategorisch geböten^
könnte für sich nicht bewiesen werden, so wenig, wie
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metapli. d. Sitten. 57
es überhaupt in diesem Abschnitte auch hier noch nicht
geschehen kann; allein Eines hätte doch geschehen
können^ nämlich: dass die Lossagung von allem In-
teresse beim Wollen aus Pflicht, als das spezifische
Unterscheidungszeichen des kategorisclien vom hypo-
thetischen Imperativ, in dem Imperativ selbst, durch
irgend eine Bestimmung, die er enthielte, mit angedeutet
würde, und dieses geschieht in gegenwärtiger dritten
Formel des Prinzips, nämlich der Idee des Willens eines
jeden vernünftigen Wesens, als allgemein gesetzge-
benden Willens.
Denn wenn wir einen solchen denken, so kann, ob-
gleich ein Wille, der unter Gesetzen steht, noch
vermittelst eines Interesse an dieses Gesetz gebunden
sein mag, dennoch ein Wille, der selbst zu oberst ge-
setzgebend ist, unmöglich sofern von irgend einem In-
teresse abhängen; denn ein solcher abhängender Wille
würde selbst noch eines andern Gesetzes bedürfen,
welches das Interesse seiner Selbstliebe auf die Bedin-
gung einer Gültigkeit zum allgemeinen Gesetz ein-
schränkte.
Also würde das Prinzip eines jeden menschlichen
Willens, als eines durch alle seine Maximen all-
gemein gesetzgebenden Willens-), wenn es sonst
mit ihm nur seine Richtigkeit hätte, sich zum kate-
gorischen Imperativ darin gar wohl schicken, dass
es, eben um der Idee der allgemeinen Gesetzgebung
willen, sich auf kein Interesse gründet und also
unter allen möglichen Imperativen allein unbedingt
sein kann; oder noch besser, indem wir den Satz um-
kehren, wenn es einen kategorischen Imperativ giebt
(d. i. ein Gesetz für jeden Willen eines vernünftigen
Wesens), so kann er nur gebieten, alles aus der Maxime
seines Willens, als eines solchen zu thun, der zugleich
sich selbst als allgemein gesetzgebend zum Gegenstande
haben könnte; denn alsdenn nur ist das praktische
*) Ich kann hier, Beispiele zur Erläuterung dieses Prin-
zips anzuführen, überhoben sein, denn die, so zuerst den
kategorischen Imperativ und seine Formel erläutern, können
hier alle zu eben dem Zwecke dienen.
58 Grimdlegimg zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
Prinzip und der Imperativ, dem er gehorcht, unbedingt,
weil er gar kein Interesse zum Grunde haben kann.
Es ist nun kein Wunder, wenn wir auf alle bis-
herigen Bemühungen, die jemals unternommen worden,
um das Prinzip der Sittlichkeit ausfindig zu machen,
zurücksehen, warum sie insgesammt haben fehlschlagen
müssen. Man sähe den Menschen durch seine Pflicht
am Gesetze' gebunden, man Hess es sich aber hiclit ein-
?allen, dass er nur seiner eigenen und dennoch all-
gemeinen Gesetzgebung unterworfen sei, und dass
er nur verbunden sei, seinem eigenen, dem Naturzwecke
nach aber allgemein gesetzgebenden Willen gemäss zu
handeln. Denn wenn man sich ihn nur als einem Ge-
setz (welches es auch sei) unterworfen dachte, so musste
dieses irgend ein Interesse als Reiz oder Zwang bei
sich führen, weil es nicht als Gesetz aus seinem Willen
entsprang, sondern dieser gesetzmässig von etwas
Anderem genöthigt wurde, auf gewisse Weise zu han-
deln. Durch diese ganz noth wendige Folgerung aber
war alle Arbeit, einen obersten Grund der Pflicht zu
finden, unwiederbringlich verloren. Denn man bekam
niemals Pflicht, sondern Nothwendigkeit der Handlung
aus einem gewissen Interesse heraus. Dieses mochte
nun ein eigenes oder fremdes Interesse sein. Aber als-
dann musste der Imperativ jederzeit bedingt ausfallen,
und konnte zum moralischen Gebote gar nicht taugen.
Ich will also diesen Grundsatz das Prinzip der Auto-
ujouiie des Willens, im Gegensatz mit jedem andern^
(bs ich deshalb zur Heterououüe zähle, nennen.
Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das
sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein
gesetzgebend betrachten muss, um aus diesem Gesichts-
punkte sich selbst und seine Handlungen zu beurtheilen,
führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Be-
giiff, nämlich den eines Reichs der Zwecke.*^-'»)
Ich verstehe aber unter einem Reiche die syste-
matische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen
durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die
Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen,
so wird, wenn man von dem persönlichen unterschiede
vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Pri-
vatzwecke abstrahirt, ein Ganzes aller Zwecke (sowohl
Ueberg. v. d, popul. sittl. Weltweish. z. MetapL. d, Sitten. 59
der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch
der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen
mag) in systematischer Verknüpümg, d. i. ein Reich
der Zwecke gedacht werden können, welches nach obigen
Prinzipien möglich ist.
Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Ge-
setz, dass jedes derselben sich selbst und alle anderen
niemals bloss als Mittel, sondern jederzeit zugleich
als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hier-
durch aber entspringt eine systematische Verbindung
vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive
Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze
eben die Beziehung dieser Wesen t) aufeinander, als
Zwecke und Mittel, zur Absicht haben, ein Reich der
Zwecke (freilich nur ein Ideal) heissen kann.
Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als Glied
zum Reiche der Zwecke, wenn es darin zwar allgemein
gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unter-
worfen ist. Es gehört dazu als Oberhaupt, wenn es
als gesetzgebend keinem Willen eines andern unter-
worfen ist.
Das vernünftige Wesen muss sich jederzeit als ge-
setzgebend in einem durch Freiheit des Willens mög-
lichen Reiche der Zwecke betrachten, es mag nun sein
als Glied oder als Oberhaupt. Den Platz des letztern
kann es aber nicht bloss durch die Maxime seines
Willens, sondern nur alsdann, wenn es ein völlig un-
abhängiges Wesen, ohne Bedürfniss und Einschränkung
seines dem Willen adäquaten Vermögens ist, behaupten.
Moralität besteht also in der Beziehung aller Hand-
lung auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich
der Zwecke möglich ist. Die Gesetzgebung muss aber
in jedem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden,
und aus seinem Willen entspringen können, dessen Prin-
zip also ist: keine Handlung nach einer andern Maxime
zu thun, als so, dass es auch mit ihr bestehen könne,
dass sie ein allgemeines Gesetz sei, und also nur so,
dass der Wille durch seine Maxime sich selbst
zugleich als allgemein gesetzgebend betrach-
ten könne. Sind nun die Maximen mit diesem ob-
i^; Iste Ausgabe: die Beziehung derselben.
ßQ Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschu.
jektiven Prinzip der vernünftigen Wesen, als allgemein
gesetzgebend, nicht durch ihre Natur schon uothwendig
einstimmig, so heisst die Nothwendigkeit der Handlung
nach jenem Prinzip praktische Nöthigung d. i. Pflicht.
Pflicht kommt nicht dem Oberhaupte im Reiche der
Zwecke, wohl aber jedem Gliede und zwar allen in
gleichem Maasse zu.
Die praktische Nothwendigkeit nach diesem Prinzip
zu handeln, d. i. die Pflicht, beruht gar nicht auf Ge-
fühlen, Antrieben und Neigungen, sondern bloss auf
dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in
welchem der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit
zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muss.
weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst
denken könnte. Die Vernunft bezieht also jede Maxime
des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen
Willen, und auch auf jede Handlung gegen sich selbst,
und dies zwar nicht um irgend eines andern praktischen
Bewegungsgrundes oder künftigen Vortheils willen, son-
dern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens,
das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich
selbst giebt.
Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen
Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an
dessen Stelle kann auch etwas Anderes, als Aequi-
valent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis
erhaben ist, mithin kein Aequivalent verstattet, das hat
eine Würde.
Was sich auf die allgemeinen menschlichen Nei-
gungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis;
das, was, auch ohne ein Bedürfniss vorauszusetzen,
einem gewissen Geschmacke d. i. einem Wohlgefallen
am blossen zwecklosen Spiel unserer Gemüthskräfte ge-
mäss ist, einen Affektionspreis; das aber, was 4ie
Bedingung ausmacht, unter der allem" etwas Zweck an
sich selbst sein kann, hat nicht bloss einen relativen
Werth d. i. einen Preis, sondern einen innem Werth,
d. i. Würde. 26)
Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein
ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann ;
weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend
Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist die Sitt-
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. Qi
liclikeit und die Menschlieit, sofern sie derselben fähig
ist, dasjenige, was allein Würde bat. GeschickUchkeit
und Fleiss im Arbeiten haben einen Marktpreis; WitZj^,
lebKaffe' Einbildungskraft und Launen einen Affektionsr^
"pfeTsI^n gegen Treue im Versprechen, Wohlwollen aus
tjrundsätzen (nicht aus Instinkt) haben einen iimern
Werth. Die Natur sowohl, als Kunst enthalten nichts,
was sie, in Ermangelung derselben, an ihre Stelle setzen
könnten; denn ihr W^erth besteht nicht in Wirkungen,
die daraus entspringen, im Vortheil und Nutzen, den
sie Schäften, sondern in den Gesinnungen d. i. den
Maximen des Willens, die sich auf diese Art in Hand-
lungen zu oifenbaren bereit sind, obgleich aucli der Er-
folg sie nicht begünstigte. Diese Handlungen bedürfen
auch keiner Empfehlung von irgend einer subjektiven
Disposition oder Geschmack, sie mit unmittelbarer Gunst
und Wohlgefallen anzusehen, keines unmittelbaren Hanges
oder Gefühles für dieselbe; sie stellen den Willen, der
sie ausübt, als Gegenstand einer unmittelbaren Achtung
dar, dazu nichts, als Vernunft gefordert wird, um sie
dem Willen aufzuerlegen, nicht von ihm zu er-
schmeicheln, welches Letztere bei Pflichten ohnedem
ein Widerspruch wäre. Diese Schätzung giebt also den
Werth einer solchen Denkungsart als AVürde zu er-
kennen, und setzt sie über allen Preis unendlich weg,
mit dem sie gar nicht in Anschlag und Vergleichung
gebracht werden kann, ohne sich gleichsam an der
Heiligkeit derselben zu vergreifen.
Und was ist es denn nun, was die sittlich gute Ge-
sinnung oder die Tugend berechtigt, so hohe Ansprüche
zu machen? Es ist nichts Geringeres, als der Antheil,
den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen
Gesetzgebung verschafi't, und es hierdurch zum Gliede
in einem möglichen Reiche der Zwecke tauglich macht,
wozu es durch seine eigene Natur schon bestimmt war,
als Zweck an sich selbst und eben darum als gesetz-
gebend im Reiche der Zwecke, in Ansehung aller Na-
turgesetze als frei, nur denjenigen allein gehorchend, die
es selbst giebt, und nach welchen seine Maximen zu
einer allgemeinen Gesetzgebung (der es sich zugleich
selbst unterwirft) gehören können. Denn es hat nichts
einen Werth, als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt.
ß2 Gruudleguug zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschii.
Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Werth bestimmt,
miiss eben darum eine Würde d. i. unbedingten, un-
vergleichbaren Werth haben, fiir welchen das Wort
Ach tu ng allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung
abgiebt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen
hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der
menschlichen und jeder vernünftigen Natur.
Die angeführten drei Arten, das Prinzip der Sittlich-
keit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele
Formeln ebendesselben Gesetzes, deren die eine die
anderen zwei von selbst in sich vereinigt. Indessen
ist doch eine Verschiedenheit in ihnen, die zwar eher
subjektiv, als objektiv-praktisch ist, nämlich um eine
Idee der Vernunft der Anschauung (nach einer gewissen
Analogie) und dadurch dem Gefühle näher zu bringen.
Alle Maximen haben nämlich
1) eine Form, welche in der Allgemeinheit besteht,
und da ist die Formel des sittlichen Imperativs so aus-
gedrückt: dass die Maximen so müssen gewählt werden,
als ob sie wie allgemeine Naturgesetze gelten sollten :
2) eine Maxime, nämlich einen Zweck, und da
sagt die Formel: dass das vernünftige Wesen, als Zweck
seiner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst,
jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloss
relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse;
3) eine vollständige Bestimmung aller Maximen
durch jene Formel, nämlich: dass alle Maximen aus
eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche der
Zwecke, als einem Reiche der Natur "•^■), zusammen-
stimmen sollen. Der Fortgang geschieht hier, wie durch
die Kategorien der Einheit der Form des Willens (der
Allgemeinheit desselben), der Vielheit der Materie
(der Objekte d. i. der Zwecke) und der Allheit oder
Totalität des Systems derselben. Man thut aber besser,
*) Die Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der
Zwecke, die Moral ein möghches Reich der Zwecke als ein
Reich der Natur. Dort ist das Reich der Zwecke eine
theoretische Idee, zu Erklärung dessen, was da ist. Hier
ist eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber
durch unser Thun und Lassen wirklich werden kann, und
zwar eben dieser Idee gemäss, zu Stande zu bringen.
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. (33
wenn man in der sittlichen Beurtli eilung immer nach
der strengen Methode verfährt und die allgemeine
Formel des kategorischen Imperativs zum Grunde legt:
handle nach der Maxime, die sich selbst zu-
gleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.
Will man aber dem sittlichen Gesetze zugleich Ein-
gang verschaffen, so ist sehr nützlich, ein und eben-
dieselbe Handlung durch benannte drei Begriffe zu
führen und sie dadurcli, so viel sich thun lässt, der An-
schauung zu nähern. ~'^)
Wir können nunmehr da endigen, von wo wir im
Anfange ausgingen, nämlich dem Begriffe eines unbe-
dingt guten Willens. Der Wille ist schlechterdings
gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn
sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich
selbst niemals widerstreiten kann. Dieses Prinzip ist
also auch sein oberstes Gesetz: handle jederzeit nach
derjenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetzes
du zugleich wollen kannst; dieses ist die einzige Be-
dingung, unter der ein Wille niemals mit sich selbst
im Widerstreite sein kann, und ein solcher Imperativ
ist kategorisch. Weil die Gültigkeit des Willens, als
eines allgemeinen Gesetzes für mögliche Handlungen,
mit der allgemeinen Verknüpfung des Daseins der Dinge
nach allgemeinen Gesetzen, die das Formale der Natur
überhaupt ist, Analogie hat, so kann der kategorische
Imperativ auch so ausgedrückt werden: handle nach
Maximen, die sich selbst zugleich als allge-
meine Naturgesetze zum Gegenstand haben
können. So ist also die Formel eines schlechterdings
guten Willens beschaffen.
Die vernünftige Natur nimmt sich dadurch vor den
übrigen aus, dass sie ihr selbst einen Zweck setzt.
Dieser würde die Materie eines jeden guten Willens
sein. Da aber in der Idee eines ohne einschränkende
Bedingung (der Erreichung dieses oder jenes Zwecks)
schlechterdings guten Willen durchaus von allem zu
bewirkenden Zwecke abstrahirt werden muss (als
der jeden Willen nur relativ gut machen würde), so
wird der Zv/eck hier nicht als ein zu bewirkender, son-
dern selbstständiger Zweck, mithin nur negativ,
gedacht werden müssen, d. i. dem niemals zuwider ge-
(34 Gnmdleguüg zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
handelt, der also niemals bloss als Mittel, sondern jeder-
zeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt wer-
den muss. Dieser kann nun nichts Anderes, als das
Subjekt aller möglichen Zwecke selbst sein, weil dieses
zugleich das Subjekt eines möglichen schlechterdings
guten Willens ist; denn dieser kann, ohne Widerspruch,
keinem andern Gegenstande nachgesetzt werden. Das
Prinzip : handle in Beziehung auf ein jedes vernünftige
Wesen (auf dich selbst und Andere) so, dass es in deiner
Maxime zugleich als Zweck an sich selbst gelte, ist
demnach mit dem Grundsatze: handle nach einer Maxime,
die ihre eigene aligemeine Gültigkeit für jedes ver-
nünftige Wesen zugleich in sich enthält, im Grunde
einerlei. Denn dass ich meine Maxime im Gebrauche
der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung ihrer
Allgemeingültigkeit, als eines Gesetzes für jedes Subjekt
einschränken soll, sagt eben so viel, als: das Subjekt
der Zwecke d. i. das vernünltige Wesen selbst muss
niemals bloss als Mittel, sondern als oberste einschrän-
kende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jeder-
zeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Handlungen
zum Grunde gelegt werden.
Nun folgt hieraus unstreitig, dass jedes vernünftige
Wesen, als Zweck an sich selbst, sich in Ansehung aller
Gesetze, denen es nur immer unterworfen sein mag,
zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen
können, weil eben diese Schicklichkeit seiner Maximen
zur allgemeinen Gesetzgebung es als Zweck an sich
selbst auszeichnet, imgleichen, dass dieses seine Würde
(Prärogativ) vor allen blossen Naturwesen es mit sich
bringe, seine Maximen jederzeit aus dem Gesichtspunkte
seiner selbst, zugleich aber auch jedes andern vernünf-
tigen, als gesetzgebenden, Wesens, (die darum auch
Personen heissen) nehmen zu müssen. Nun ist auf
solche W^eise eine Welt vernünftiger Wesen {mundus
intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich, und
zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als
Glieder. Demnach muss ein jedes vernünftige Wiesen
so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit
ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der
Zweck wäre. Das formale Prinzip dieser Maximen ist:
handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allge-
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. ß5
meinen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte.
Ein Reich der Zwecke ist also nur möglich nach der
Analogie mit einem Reiche der Natur, jenes aber nur
nach Maximen d. i. sich selbst auierlegten Regeln, diese
nur nach Gesetzen äusserlich genöthigter wirkender
Ursachen. Dem unerachtet giebt man doch auch dem
Naturganzen, ob es schon als Maschine angesehen wird,
dennoch, sofern es auf vernünftige Wesen, als seine
Zwecke, Beziehung hat, aus diesem Grunde den Namen
eines Reichs der Natur. Ein solches Reich der Zwecke
würde nur durch Maximen, deren Regel der kategorische
Imperativ allen vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich
zu Stande kommen, wenn sie allgemein befolgt
würden. Allein obgleich das vernünftige Wesen darauf
nicht rechnen kann, dass, wenn es auch gleich diese
Maxime selbst pünktlich befolgte, darum jedes andere
ebenderselben treu sein würde, imgleichen, dass das
Reich der Natur und die zweckmässige Anordnung
desselben, mit ihm, als einem schicklichen Gliede,
zu einem durch ihn selbst möglichen Reiche der
Zwecke zusammenstimmen d. i. seine Erwartung der
Glückseligkeit begünstigen werde; so bleibt doch jenes
Gesetz : handle nach Maximen eines allgemein gesetz-
gebenden Gliedes zu einem bloss möglichen Reiche
der Zwecke, in seiner vollen Kraft, weil es kategorisch
gebietend ist. Und hierin liegt eben das Paradoxon,
dass bloss die Würde der Menschheit, als vernünftiger
Natur, ohne irgend einen andern dadurch zu erreichen-
den Zweck oder Vortheil, mithin die Achtung für eine
blosse Idee dennoch zur unnachlasslichen Vorschrift
des Willens dienen sollte, und dass gerade in dieser
Unabhängigkeit der Maxime von allen solchen Trieb-
federn die Erhabenheit derselben bestehe, und die Wür-
digkeit eines jeden vernünftigen Subjekts, ein gesetz-
gebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein; denn
sonst würde es nur als dem Naturgesetze seiner Be-
dürfniss unterworfen vorgestellt werden müssen. Ob-
gleich auch das Naturreich sowohl, als das Reicli der
Zwecke, als unter einem Oberhaupte vereinigt gedacht
würde, und dadurch das letztere nicht mehr blosse Idee
bliebe, sondern wahre Realität erhielte, so würde hier-
durch zwar jener der Zuwachs einer starken Triebfeder,
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 5
ßß Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
niemals aber Vermehrung ihres Innern Werths zu Statten
kommen; denn diesem ungeachtet mü.sste doch selbst
dieser alleinige unumschränkte Gesetzgeber immer so
vorgestellt werden, wie er den Werth der vernünftigen
Wesen nur nach ihrem uneigennützigen, bloss aus jener
Idee ihnen selbst vorgeschriebenen Verhalten beurtheilte.
Das Wesen der Dinge ändert sich durch ihre äusseren
Verhältnisse nicht, und was, ohne an das letztere zu
denken, den absoluten Werth des Menschen allein aus-
macht, darnach muss er auch, von wem es auch sei,
selbst vom höchsten Wesen beurtheilt werden. Mora-
lität ist also das Verhältniss der Handlungen zur
Autonomie des Willens, das ist, zur möglichen allge-
meinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben.
Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zu-
sammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit
stimmt, ist unerlaubt. Der Wille, dessen Maximen
nothwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammen-
stimmen, ist ein heiliger, schlechterdings guter Wille.
Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten
Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische
Köthigung) ist Verbrndlichkeit. Diese kann also
auf ein heiliges Wesen nicht gezogen werden. Die
objektive Kothwendigkeit einer Handlung aus Verbind-
lichkeit heisst Pflicht.
Man kann aus dem kurz Vorhergehenden sich es
jetzt leicht erklären, wie es zugehe: dass, ob wir gleich
unter dem Begriffe von Pflicht uns eine Unterwürfigkeit
unter dem Gesetze denken, wir uns dadurch doch zu-
gleich eine gewisse Erhabenheit und Würde an der-
jenigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt.
Denn sofern ist zwar keine Erhabenlieit an ihr, als sie
dem moralischen Gesetze unterworfen ist, wohl aber,
sofern sie in Ansehung ebendesselben zugleich gesetz-
gebend und nur darum ihm untergeordnet ist. Auch
haben wir oben gezeigt, wie weder Furcht noch Neigung,
sondern lediglich Achtung fürs Gesetz diejenige Trieb-
feder sei, die der Handlung einen moralischen Werth
geben kann. Unser eigener Wille, sofern er nur unter
der Bedingung einer durch seine Maximen möglichen
allgemeinen Gesetzgebung handeln würde, dieser uns
mögliche Wille, in der Idee, ist der eigentliche Gegen-
Ueberg. v. d, popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. Q'J
stand der Achtung, und die Würde der Menschheit be-
steht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend,
obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zu-
gleich selbst unterworfen zu sein. 2*')
Die Autonomie des Willens^
als oberstes Prinzip der Sittlichkeit.
Autonomie des ^Yillens ist die Beschaffenheit des
AVillens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von
aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein
Gesetz ist. Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht
anders zu wählen, als so, dass die Maximen seiner Wahl
in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz
mit begriffen seien. Dass diese praktische Picgel ein
Imperativ sei, d. i. der Wille jedes vernünftigen V\'esens
an sie als Bedingung nothwendig gebunden sei, kann
durch blosse Zergliederung der in ihm vorkommenden
Begriffe nicht bewiesen werden, weil es ein synthetischer
Satz ist; man müsste über die Erkenntniss der Objekte
und zu einer Kritik des Subjekts, d. i. der reinen prak-
tischen Vernunft hinausgehen; denn völlig a pr/orz muss
dieser synthetische Satz, der apodiktisch gebietet, er-
kannt werden können; dieses Geschäft aber gehört nicht
in gegenwärtigen Abschnitt. Allein, dass gedachtes
Prinzip der Autonomie das alleinige Prinzip der Moral
sei, lässt sich durch blosse Zergliederung der Begriffe
der Sittlichkeit gar wohl darthun. Denn dadurch findet
sich, dass ihr Prinzip ein kategorischer Imperativ sein
müsse, dieser aber nichts mehr oder weniger, als gerade
diese Autonomie gebiete. 2'J)
Die Heterouoiuie des Willens,
als der Quell aller unächten Prinzipien der
Sittlichkeit.
Wenn der Wille irgend worin anders, als in der
Tauglichkeit seiner Maximen zu seiner eigenen allge-
meinen Gesetzgebung, mithin, w^nn er, indem er über
5*
68 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
sich selbst hinausgeht, in der Beschaffenheit irgend eines^
seiner Objekte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll,
so kommt jederzeit Heteronomie heraus. Der Wille
giebt alsdenn sich nicht selbst, sondern das Objekt
durch sein Verhältniss zum Willen giebt diesem das
Gesetz. Dies Verhältniss, es beruhe nun auf der Nei-
gung, oder auf Vorstellungen der Vernunft, lässt nur
hypothetische Imperativen möglich werden: ich soll
etwas thun darum, weil ich etwas Anderes will.
Dagegen sagt der moralische, mithin kategorische Im-
perativ: ich soll so oder so handeln, ob ich gleich nichts
Anderes wollte. Z. E jener sagt: ich soll nicht lügen,
wenn ich bei Ehren bleiben will; dieser aber: ich soll nicht
lügen, ob es mir gleich nicht die mindeste Schande zuzöge.
Der letztere muss also von allem Gegenstande sofern
abstrahiren, dass dieser gar keinen Einfluss auf den
Willen habe, damit praktische Vernunft (Wille) nicht
fremdes Interesse bloss administrire, sondern bloss ihr
eigenes gebietendes Ansehen, als oberste Gesetzgebung,
beweise. So soll ich z. B. fremde Glückseligkeit zu
befördern suchen, nicht als wenn mir an deren Existenz
was gelegen wäre (es sei durch unmittelbare Neigung,
oder irgend ein Wohlgefallen indirekt durch Vernunft),
sondern bloss deswegen, weil die Maxime, die sie aus-
schliesst, nicht in einem und demselben Wollen, als
allgemeinem Gesetz, begriffen werden kann.^^)
Eintheilung
aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus
dem angenommenen Grundbegriffe der
Heteronomie.
Die menschliche Vernunft hat hier, wie allerwärts
in ihrem reinen Gebrauche, so lange es ihr an Kritik
fehlt, vorher alle mögliche unrechte Wege versucht, ehe
es ihr gelingt, den einzigen wahren zu treffen.
Alle Prinzipien, die man aus diesem Gesichtspunkte
nehmen mag, sind entweder empirisch oder rational.
Die ersteren, aus dem Prinzip der Gluckse ligkeit,
sind aufs physische oder moralische Gefülil, die zweiten,
aus dem Prinzip der Vollkommenheit, entweder auf
Ueberg. v, d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. QQ
den Vernunftbegriff derselben, als möglicher Wirkung,
oder auf den Begriff einer selbstständigen Vollkommen-
heit (den Willen Gottes), als bestimmende Ursache
unseres Willens, gebaut.
Empirische Prinzipien taugen überall nicht dazu,
um moralische Gesetze darauf zu gründen. Denn die
Allgemeinheit, mit der sie für alle vernünftige Wesen
ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte prak-
tische Nothwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird,
fällt weg, wenn der Grund derselben von der beson-
deren Einrichtung der menschlichen Natur,
oder den zufälligen Umständen hergenommen wird,
darin sie gesetzt ist. Doch ist das Prinzip der eigenen
Glückseligkeit am meisten verwerflich, nicht bloss
deswegen, weil es falsch ist und die Erfahrung dem
Vorgeben, als ob das Wohlbefinden sich jederzeit nach
dem Wohlverhalten richte, widerspricht, auch nicht bloss,
weil es gar nichts zur Gründung der Sittlichkeit beiträgt,
indem es ganz was Anderes ist, einen glücklichen, als
einen guten Menschen, und diesen klug und auf seinen
Vortheil abgewitzt, als ihn tugendhaft zu machen; son-
dern weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die
sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zer-
nichten, indem sie die Bewegursachen zur Tugend mit
denen zum Laster in eine Klasse stellen und nur den
Calcul besser ziehen lehren, den spezifischen Unterschied
beider aber ganz und gar auslöschen; dagegen das
moralische Gefühl, dieser vermeintliche besondere Sinn,*)
(so seicht auch die Berufung auf selbigen ist, indem
diejenigen, die nicht denken können, selbst in dem,
was bloss auf allgemeine Gesetze ankommt, sich durchs
Fühlen auszuhelfen glauben, so w^enig auch Gefühle, die
*) Ich rechne das Prinzip des moralischen Gefühls zu
dem der Glückseligkeit, weil ein jedes empirisches Interesse
durch die Annehmlichkeit, die etwas nur gewährt, es mag
nun unmittelbar und ohne Absicht auf Vortheile, oder in
Kücksicht auf dieselben geschehen, einen Beitrag zum Wohl-
befinden verspricht. Iragleichen muss man das Prinzip der
Theilnehmung an Anderer Glückseligkeit, mit Hutcheson,
zu demselben von ihm angenommenen moralischen Sinne
rechnen.
70 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
dem Grade nach von Natur unendlich von einander
unterschieden sind, einen gleichen Maassstab des Guten
und Bösen abgeben, auch einer durch sein Gefühl für
Andere gar nicht gültig urtheilen kann) dennoch der
Sittlichkeit und ihrer Würde dadurch näher bleibt, dass
er der Tugend die Ehre erweist, das Wohlgefallen und
die Hochschätzung für sie ihr unmittelbar zuzuschrei-
ben, und ihr nicht gleichsam ins Gesicht sagt, dass es
nicht ihre Schönheit, sondern nur der Vortheil sei, der
uns an sie knüpfe.'^*)
unter den rationalen oder Vernunftgründen der
Sittlichkeit ist doch der ontoiogische Begritf der Voll-
kommenheit (so leer, so unbestimmt, mithin unbrauch-
bar er auch ist, um in dem uuermesslichen Felde mög-
licher Realität die für uns schickliche grösste Summe
auszufinden, so sehr er auch, um die Realität, von der
hier die Rede ist, spezifisch von jeder anderen zu unter-
scheiden, einen unvermeidlichen Hang hat, sich im
Zirkel zu drehen, und die Sittlichkeit, die er erklären
soll, ingeheim vorauszusetzen nicht vermeiden kann) den-
noch besser, als der theologische Begriff, sie von einem
göttlichen allervollkommensten Willen abzuleiten, nicht
bloss deswegen, weil wir seine Vollkommenheit doch
nicht anschauen, sondern sie von unseren Begriffen,
unter denen der der Sittlichkeit der vornehmste ist,
allein ableiten können, sondern weil, wenn wir dieses
nicht thun (wie es denn, wenn es geschähe, ein grober
Zirkel im Erklären sein würde), der uns noch übrige
Begriff seines Willens aus den Eigenschaften der Ehr-
und Herrschbegierde, mit den furchtbaren Vorstellungen
der Macht und des Nacheifers verbunden, zu einem
System der Sitten, welches der Moralität gerade ent-
gegengesetzt wäre, die Grundlagen machen müsste.^-)
Wenn ich aber zwischen dem Betriff des moralischen
Sinnes und dem der Vollkommenheit überhaupt (die
beide der Sittlichkeit wenigstens nicht Abbruch thun,,
ob sie gleich dazu gar nichts taugen, sie als Grundlagen
zu unterstützen) wählen müsste; so würde ich mich für
den letzteren bestimmen, weil, da er wenigstens die
Entscheidung der Frage von der Sinnlichkeit ab und
an den Gerichtshof der reinen Vernunft zieht, ob er
gleich auch hier nichts entscheidet, dennoch die unbe-
üeberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 71
stimmte Idee (eines an sich guten Willens) zur nähern
Bestimmung unverfälscht aufbehält.
Uebrigens glaube ich einer weitläufigen Widerlegung
aller dieser Lehrbegriffe überhoben sein zu können. Sie
ist so leicht, sie ist von denen selbst, deren Amt es er-
fordert, sich doch für eine dieser Theorien zu erklären
(weil Zuhörer den Aufschub des Urtheils nicht wohl
leiden mögen), selbst vermuthlich so wohl eingesehen,
dass dadurch nur überflüssige Arbeit geschehen würde.
Was uns aber hier mehr interessirt, ist, zu wissen, dass
diese Prinzipien überall nichts, als Heteronomie des
Willens zum ersten Grunde der Sittlichkeit aufstellen,
und eben darum nothwendig ihres Zwecks verfehlen
müssen.
Allenthalben, wo ein Objekt des Willens zum Grunde
gelegt werden muss, um diesem die Regel vorzuschrei-
ben, die ihn bestimme, da ist die Regel nichts, als
Heteronomie; der Imperativ ist bedingt, nämlich: wenn
oder weil man dieses Objekt will, soll man so oder
so handeln; mithin kann er niemals moralisch d. i,
kategorisch gebieten. Er mag nun das Objekt ver-
mittelst der Neigung, wie beim Prinzip der eigenen
Glückseligkeit, oder vermittelst der auf Gegenstände
unseres möglichen Willens überhaupt gerichteten Ver-
nunft, im Prinzip der Vollkommenheit, den Willen be-
stimmen, so bestimmt sich der Wille niemals unmittel-
bar selbst durch die Vorstellung der Handlung, sondern
nur durch die Triebfeder, welche die vorausgesehene
Wirkung der Handlung auf den Willen hat: ich soll
etwas thun, darum, weil ich etwas Anderes
will, und hier muss noch ein anderes Gesetz in meinem
Subjekt zum Grunde gelegt werden, nach welchem ich
dieses Andere nothwendig will, welches Gesetz wiederum
eines Imperativs bedarf, der diese Maxime einschränke.
Denn weil der Antrieb, den die Vorstellung eines durch
unsere Kräfte möglichen Objekts nach der Naturbe-
schaffenheit des Subjekts auf seinen Willen ausüben
soll, zur Natur des Subjekts gehört, es sei der Sinn-
lichkeit (der Neigung und des Geschmacks) oder des
Verstandes und der Vernunft, die nach der besonderen
Einrichtung ihrer Natur an einem Objekte sich mit
72 Grrundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2. Abschn.
Wohlgefallen üben,t) so gäbe eigentlich die Natur das
Gesetz, welches, als ein solches, nicht allein durch Er-
fahrung erkannt und. bewiesen werden muss, mithin an
sich zufällig ist und zur apodiktischen praktischen Regel,
dergleichen die moralische sein muss, dadurch untaug-
lich wird, sondern es ist immer nur Heteronomie
des Willens; der Wille giebt sich nicht selbst, sondern
ein fremder Antrieb giebt ihm, vermittelst einer auf die
Empfänglichkeit desselben gestimmten Natur des Sub-
jekts, das Gesetz.
Der schlechterdings gute Wille, dessen Prinzip ein
kategorischer Imperativ sein muss, wird also, in An-
sehung aller Objekte unbestimmt, bloss die Form des
Wo Ileus überhaupt enthalten, und zwar als Autonomie;
d. i. die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten
Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetze zu machen,
ist selbst das alleinige Gesetz, das sich der Wille eines
jeden vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne irgend
eine Triebfeder und Interesse derselben als Grund unter-
zulegen.
Wie ein solcher synthetischer praktischer
Satz a jy^'iori möglich und warum er nothwendig
sei, ist eine Aufgabe, deren Auflösung nicht mehr binnen
den Grenzen der Metaphysik der Sitten liegt, auch
haben wir seine Wahrheit hier nicht behauptet, viel-
weniger vorgegeben, einen Beweis derselben in unserer
Gewalt zu haben. Wir zeigten nur durch Entwickelung
des einmal allgemein im Schwange gehenden BegrifiFs
der Sittlichkeit, dass eine Autonomie des Willens dem-
selben unvermeidlicher Weise anhänge, oder vielmehr
zum Grunde liege. Wer also Sittlichkeit für Etwas,
und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält,
muss das angeführte Prinzip derselben zugleich ein-
räumen. Dieser Abschnitt war also, eben so, wie der erste.
t) Statt der Worte: „Oder des Verstandes und der Ver-
nunft .... Wohlgefallen üben" hatte die erste Ausgabe
folgende unverständliche Worte : „oder des Verstandes
und der Vernunft an Vollkommenheit überhaupt nimmt,
{deren Existenz entweder von ihr selbst oder nur von der
höchsten selbstständigen Vollkommenheit abhängt./'
Ueberg. v. d. popul. sittl. Weltweish. z. Metaph. d. Sitten. 73
bloss analytisch. Dass nun Sittlichkeit kein Hirngespinnst
sei, welches alsdenn folgt, wenn der kategorische Imperativ
und mit ihm die Autonomie des Willens wahr und als
ein Prinzip a prioi'i schlechterdings nothwendig ist,
erfordert einen möglichen synthetischen Ge-
brauch der reinen praktischen Vernunft, den
wir aber nicht wagen dürfen, ohne eine Kritik dieses
Vernunftvermögens selbst voranzuschicken, von welcher
wir in dem letzten Abschnitte die zu unserer Absicht
hinlänglichen Hauptzüge darzustellen haben.^^)
Dritter Abschnitt.
tlebergang' yon der ^letapliysik der Sitten zur
Kritik der reinen praktischen Yerunnft.
Der Begriff der Freiheit
ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie
des Willens.
Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender
Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde
diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie un-
abhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen
wirkend sein kann; so wie Na turnoth wendigkeit
die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen,
durch den Einfluss fremder Ursachen zur Thätigkeit
bestimmt zu werden.
Die angeführte Erklärung der Freiheit ist negativ,
und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar ; allein
es Üiesst aus ihr ein positiver Begrifif derselben, der
desto reichhaltiger und fruchtbarer ist. Da der Begriff
einer Kausalität den von den Gesetzen bei sich führt,
nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen,
etwas Anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muss ;
so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft
des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht
gar gesetzlos, sondern muss vielmehr eine Kausalität
nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art,
Ueberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d. prakt. Vernunft. 75
sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. Die
Naturuothwendigkeit war eine Heterouomie der wirken-
den Ursachen; denn jede Wirkung w^ar nur nach dem
Gesetze möglich, dass etwas Anderes die wirkende Ur-
sache zur Kausalilät bestimmte; was kann denn_jwohl_
die Freiheit des Willens sonst sem, äls~Ä"utönomie d. i.
die Eigeuschaft des WillenSj sich selbst ein Gesetz zu
sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen
sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach
keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst
auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstaude haben
kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen
Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit; also ist ein
freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen
einerlei. 34)
Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird,
so folgt die Sittlichkeit sammt ihrem Prinzip daraus,
durch blosse Zergliederung ihres Begriffs. Indessen ist
das Letztere doch immer ein synthetischer Satz: ein
schlechterdings guter Wille ist derjenige, dessen Maxime
jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet,
in sich enthalten kann; denn durch Zergliederung des
Begritis von einem schlechthin guten Willen kann jene
Eigenschaft der Maxime nicht gefunden werden. Solche
synthetische Sätze sind aber nur dadurch möglich, dass
beide Erkenntnisse durch die Verknüpfung mit einem
Dritten, darin sie beiderseits anzutreffen sind, unter ein-
ander verbunden werden. Der positive Begriff der
Freiheit schafft dieses Dritte, welches nicht, wie bei den
physischen Ursachen , die ^atur der Sinnenwelt sein
kann (in deren Begriff die Begriffe von etwas, als Ur-
sache, in Verhältniss auf etwas Anderes, als Wir-
kung, zusammenkommen). Was dieses Dritte sei, worauf
uns die Freiheit weiset, und von dem wir a j^^riori eine
Idee haben, lässt sich hier sofort noch nicht anzeigen,
und die Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der
reinen praktischen Vernunft, mit ihr auch die Möglich-
keit eines kategorischen Imperativs begreiflich machen,
sondern bedarf noch einiger Vorbereitung.
76 Gmndlegung zur Metaphysik der Sitten. 3. Abschn.
Freiheit muss als Eigenschaft des Willens
aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt
werden.
Es ist nicht genug, dass wir unserem Willen, es sei
aus welchem Grunde, Freiheit zuschreiben, wenn wir
nicht ebendieselbe auch allen vernünftigen Wesen bei-
zulegen hinreichenden Grund haben. Denn da Sittlich-
keit für uns bloss als für vernünftige Wesen zum
Gesetze dient, so muss sie auch für alle vernünftige
Wesen gelten, und da sie lediglich aus der Eigenschaft
der Freiheit abgeleitet werden muss, so muss auch Frei-
heit als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen
Wesen bewiesen werden, und es ist nicht genug, sie
aus gewissen vermeintlichen Erfahrungen von der mensch-
lichen Natur darzuthun (wiewohl dieses auch schlechter-
dings unmöglich ist und lediglich a jiriwi dargethan
werden kann), sondern man muss sie als zur Thätigkeit
vernünftiger und mit einem Willen begabter Wesen
überhaupt gehörig beweisen. Ich sage nun: ein jedes
Wesen, das nicht anders, als unter der Idee der
Freiheit handeln kann, ist eben darum, in praktischer
Rücksicht, wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle
Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden
sind, ebenso, als ob sein Wille auch an sich selbst, und
in der theoretischen Philosophie gültig, für frei erklärt
würde.*) Nun behaupte ich, dass wir jedem vernünf-
tigen Wesen, das einen Willen hat, nothwendig auch
*; Diesen Weg, die Freiheit nur, als von vernünftigen
Wesen bei ihren Handlungen bloss in der Idee zum
Grunde gelegt, zu unserer Absicht hinreichend anzunehmen,
schlage ich deswegen ein, damit ich mich nicht verbindlich
machen dürfte, die Freiheit auch in ihrer theoretischen
Absicht zu beweisen. Denn wenn dieses Letztere auch
unausgemacht gelassen wird, so gelten doch dieselben Ge-
setze für ein Wesen, das nicht anders, als unter der Idee
seiner eigenen Freiheit handeln kann, die ein Wesen, das
wirklich frei wäre, verbinden würden. Wir. können uns hier
also von der Last befreien, die die Theorie drückt.
Ueberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d. prakt. Vernunft. 77
die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein
handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns
eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Kausalität in An-
sehung ihrer Objekte hat. Nun kann man sich unmög-
lich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Be-
wusstsein in Ansehung ihrer Urtheile anderwärts her
eine Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Sub-
jekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die
Bestimmung der Urtheilskraft zuschreiben. Sie muss
sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, un-
abhängig von fremden Einflüssen, folglich muss sie als
praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen
Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i.
der Wille desselben kann nur unter der Idee der Frei-
heit ein eigener Wille sein, und muss also in praktischer
Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.^S)
Yon dem Interesse,
welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt.
Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlichkeit
auf die Idee der Freiheit zuletzt zurückgeführt; diese
aber konnten wir, als etwas Wirkliches, nicnt einmal
in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen;
wir sahen nur, dass wir sie voraussetzen müssen, wenn
wir uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewusstsein
seiner Kausalität in Ansehung der Handlungen, d. i. mit
einem Willen begabt uns denken wollen, und so finden
wir, dass wir aus ebendemselben Grunde jedem mit
Vernunft und Willen begabten Wesen diese Eigenschaft,
sich unter der Idee seiner Freiheit zum Handeln zu be-
stimmen, beilegen müssen.
Es floss aber aus der Voraussetzung dieser Idee
auch das Bewusstsein eines Gesetzes zu handeln: dass
die subjektiven Grundsätze der Handlungen, d. i.
Maximen, jederzeit so genommen werden müssen, dass
sie auch objektiv, d. i. allgemein als Grundsätze,
gelten, mithin zu unserer eigenen allgemeinen Ge-
setzgebung dienen können. Warum aber soll ich
73 Gruüdlegung zur Metaphysik der Sitten. 3. Abschn.
mich denn diesem Prinzip unterwerfen und zwar als
vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle
andere mit Vernunft begabte Wesen? Ich will einräumen,
dass mich hierzu kein Interesse treibt, denn das würde
keinen kategorischen Imperativ geben; aber ich muss
doch hieran nothwendig ein Interesse nehmen und
einsehen, wie das zugeht; denn dieses Sollen ist eigent-
lich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes ver-
nünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne
Hindernisse praktisch wäre; für Wesen, die, wie wir,
noch durch Sinnlichkeit, als Triebfedern anderer Art,
afficirt werden, bei denen es nicht immer geschieht,
was die Vernunft für sich allein thun würde, heisst jene
Nothwendigkeit der Handlung nur ein Sollen, und die
subjektive Noth wendigkeit wird von der objektiven
unterschieden.
Es scheint also, als setzten wir in der Idee der Frei-
heit eigentlich das moralische Gesetz, nämlich das Prin-
zip der Autonomie des Willens selbst, nur voraus, und
könnten seine Realität und objektive Kothwendigkeit
nicht für sich beweisen, und da hätten wir zwar noch
immer etwas ganz Beträchtliches dadurch gewonnen,
dass wir wenigstens das ächte Prinzip genauer, als wohl
sonst geschehen, bestimmt hätten, in Ansehung seiner
Gültigkeit aber und der praktischen Nothwendigkeit,
sich ihm zu unterwerfen, wären wir um nichts weiter
gekommen; denn wir könnten dem, der uns fragte:
warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime,
als eines Gesetzes, die einschränkende Bedingung unserer
Handlungen sein müsse, und worauf wir den Werth
gründen, den wir dieser Art zu handeln beilegen, der
so gross sein soll, dass es überall kein höheres Interesse
geben kann, und wie es zugehe, dass der Mensch da-
durch allein seinen persönlichen Werth zu fühlen glaubt,
gegen den der eines angenehmen oder unangenehmen
Zustandes für nichts zu halten sei, keine genugthuende
Antwort geben. ^6)
Zwar finden wir wohl, dass wir an einer persönlichen
Beschatfenheit ein Interesse nehmen können, die gar
kein Interesse des Zustandes bei sich führt, wenn jene
uns nur fähig macht, des letzteren theilhaftig zu werden,
üeberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d. prakt. Vernunft. 79
im Falle die Vernimft die Aiistbeilung desselben be-
wirken sollte, d. i. dass die blosse Würdigkeit^ glück-
lich zu sein, auch ohne den Bewegungsgrund, dieser
Glückseligkeit theilhaftig zu werden, für sich interessiren
könne; aber dieses Urtheil ist in der That nur die
Wirkung von der schon vorausgesetzten Wichtigkeit
moralischer Gesetze (wenn wir uns durch die Idee der
Freiheit von allem empirischen Interesse trennen), aber,
dass wir uns von diesem trennen, d. i. uns als frei im
Handeln betrachten, und so uns dennoch für gewissen
Gesetzen unterworfen halten sollen, um einen Werth
bloss in unserer Person zu finden, der uns allen Verlust
dessen, was unserem Zustande einen Werth verschafft,
vergüten könne, und wie dieses möglich sei, mithin
w^oher das moralische Gesetz verbinde, können
wir auf solche Art noch nicht einsehen.
Es zeigt sich hier, man muss es frei gestehen, eine
Art von Zirkel, aus dem, wie scheint, nicht herauszu-
kommen ist. Wir nehmen uns in der Ordnung der
wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung
der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und
wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unter-
worfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt
haben; denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des
Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe,
davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht
werden kann, um den anderen zu erklären und von
ihm Grund anzugeben, sondern höchstens nur, um in
logischer Absicht verschieden scheinende Vorstellungen
von ebendemselben Gegenstande auf einen einzigen Be-
griff (wie verschiedene Brüche gleiches Inhalts auf die
kleinsten Ausdrücke) zu bringen.
Eine Auskunft bleibt uns aber noch übrig, nämlich
zu suchen: ob wir, wenn wir uns, durch Freiheit, als
a jynori wirkende Ursachen denken, nicht einen an-
deren Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst
nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor
unseren Augen sehen, vorstellen.
Es ist eine Bemerkung, welche anzustellen eben
kein subtiles Nachdenken erfordert wird, sondern von
der man annehmen kann, dass sie wohl der gemeinste
Verstand, obzwar nach seiner Art, durch eine dunkle
30 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 3. Abschn.
Unterscheidung der Urtheilskraft , die er Gefühl nennt^
machen mag: dass alle Vorstellungen, die uns ohne
unsere Willkür kommen (wie die der Sinne), uns die
Gegenstände nicht anders zu erkennen geben, als sie
uns afficiren, wobei, was sie an sich sein mögen, uns
unbekannt bleibt, mithin dass, was diese Art Vor-
stellungen betrifft, wir dadurch, auch bei der ange-
strengtesten Aufmerksamkeit und Deutlichkeit, die der
Verstand nur immer hinzufügen mag, doch bloss zur
Erkenntniss der Erscheinungen, niemals der Dinge
an sich selbst gelangen können. Sobald dieser Unter-
schied (allenfalls bloss durch die bemerkte Verschieden-
heit zwischen den Vorstellungen, die uns anderswoher
gegeben werden und dabei wir leidend sind, von denen,
die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen und da-
bei wir unsere Thätigkeit beweisen) einmal gemacht
ist, so folgt von selbst, dass man hinter den Erschei-
nungen doch noch etwas Anderes, was nicht Erscheinung
ist, nämlich die Dinge an sich, einräumen und annehmen
müsse, ob wir gleich uns von selbst bescheiden, dass,
da sie uns niemals bekannt werden können, sondern
immer nur, wie sie uns afficiren, wir ihnen nicht näher
treten und, was sie an sich sind, niemals wissen können.
Dieses muss eine, obzwar rohe Unterscheidung der
Sinnenwelt von der Verstandes weit abgeben, da-
von die erstere nach Verschiedenheit der Sinnlichkeit
in mancherlei Weltbeschauern auch sehr verschieden
sein kann, indessen die zweite, die ihr zum Grunde
liegt, immer dieselbe bleibt. Sogar sich selbst und zwar
nach der Kenntniss, die der Mensch durch innere
Empfindung von sich hat, darf er sich nicht anmassen
zu erkennen, wie er an sich selbst sei. Denn da er
doch sich selbst nicht gleichsam schafi't und seinen Be-
griff nicht a prioi^i^ sondern empirisch bekömmt, so ist
natürlich, dass er auch von sich durch den Innern Sinn
und folglich nur durch die Erscheinung seiner Natur
und die Art, wie sein Bewusstsein afficirt wird, Kund-
schaft einziehen könne, indessen er doch nothwendiger
Weise über diese aus lauter Erscheinungen zusammen-
gesetzte Beschaffenheit seines eigenen Subjekts noch
etwas Anderes zum Grunde liegendes, nämlich sein Ich,
so wie es an sich selbst beschaffen sein mag, annehmen,
Ueberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d. prakt. Veraunft. gl
und sich also in Absicht auf die blosse Wahrnehmung
und Empfänglichkeit der Empfindungen zur Sinnen-
welt, in Ansehung dessen aber, was in ihm reine
Thätigkeit sein mag (dessen, was gar nicht durch Affi-
ciruug der Sinne, sondern unmittelbar zum Bewusstsein
gelangt), sich zur intellektuellen Welt zählen muss,
die er doch nicht weiter kennt.
Dergleichen Schluss muss der nachdenkende Mensch
von allen Dingen, die ihm vorkommen mögen, fällen ; ver-
muthlich ist er auch im gemeinsten Verstände anzu-
treffen, der, wie bekannt, sehr geneigt ist, hinter den
Gegenständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares,
für sich selbst Thätiges zu erwarten, es aber wiederum
dadurch verdirbt, dass er dieses Unsichtbare sich bald
wiederum versinnlicht d. i. zum Gegenstande der An-
schauung machen will, und dadurch also nicht um einen
Grad klüger wird.
Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Ver-
mögen, dadurch er sich von allen andern Dingen, ja
von sich selbst, sofern er durch Gegenstände afficirt
wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese,
als reine Selbstthätigkeit, ist sogar darin noch über den
Verstand erhoben: dass, obgleich dieser auch Selbst-
thätigkeit ist, und nicht, wie der Sinn, bloss Vorstellungen
enthält, die nur entspringen, wenn man von Dingen
afficirt (mithin leidend) ist, er dennoch aus seiner Thätig-
keit keine anderen Begriffe hervorbringen kann, als die,
90 bloss dazu dienen, um die sinnlichen Vorstellun-
gen unter Regeln zu bringen und sie dadurch in
einem Bewusstsein zu vereinigen, ohne welchen Gebrauch
der Sinnlichkeit er gar nichts denken würde, dahingegen
die Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine
Spontaneität zeigt, dass er dadurch weit über alles, was
ihm Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht, und ihr
vornehmstes Geschäft darin beweiset, Sinnenwelt und
Verstandeswelt von einander zu unterscheiden, dadurch
aber dem Verstände selbst seine Schranken vorzu-
zeichnen.
Um deswillen muss ein vernünftiges Wesen sich
selbst, als Intelligenz (also nicht von Seiten seiner
untern Kräfte), nicht als zur Sinnen-, sondern zur Ver-
standeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwei Stand-
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. O
i^öH^
32 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 3. Abschn.
punkte, daraus es sich selbst betrachten und Gesetze
des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Hand-
lungen erkennen kann, einmal, sofern es zur Sinnen-
welt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zwei-
tens, als zur intelligiblen Welt gehörig, unter Gesetzen,
die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern
bloss in der Vernunft gegründet sind.
Als ein vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt
gehöriges Wesen, kann der Mensch die Kausalität seines
eigenen Willens niemals anders, als unter der Idee der
Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den be-
stimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die
Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muss) ist Freiheit.
Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Auto-
nomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das
allgemeine Prinzip der Sittlichkeit, welches in der Idee
allen Handlungen vernünftiger Wesen eben so zum
Grunde liegt, als Naturgesetz allen Erscheinungen.
Nun ist der Verdacht, den wir oben rege machten,
gehoben, als wäre ein geheimer Zirkel in unserem
fc5chlusse aus der Freiheit auf die Autonomie und aus
dieser aufs sittliche Gesetz enthalten, dass wir nämlich
vielleicht die Idee der Freiheit nur um des sittlichen
Gesetzes willen zum Grunde legten, um dieses nachher
aus der Freiheit wiederum zu seh Hessen, mithin von
jenem gar keinen Grund angeben könnten, sondern es
nur als Erbittung eines Prinzips, das uns gutgesinnte
Seelen wohl gerne einräumen werden, welches wir aber
niemals als einen erweislichen Satz aufstellen könnten.
Denn jetzt sehen wir, dass, wenn wir uns als frei den-
ken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandes-
welt, und erkennen die Autonomie des Willens sammt
ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als
verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt
und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig. •*")
Wie ist ein kategorischer Imperativ
möglich?
Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz zur
Verstandeswelt, und bloss als eine zu dieser gehörige
TJeberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d. prakt. Vernunft. 83
wirkende Ursache nennt es seine Kausalität einen
Willen. Von der anderen Seite ist es sich seiner doch
auch als eines Stücks der Sinnenwelt bewusst, in welcher
seine Handlungen als blosse Erscheinungen jener Kau-
salität angetroifen werden, deren Möglichkeit aber aus
dieser, die wir nicht kennen, nicht eingesehen werden
kann, sondern an deren Statt jene Handlungen als be-
stimmt durch andere Erscheinungen, nämlich Begierden
und Neigungen, als zur Sinnenwelt gehörig, eingesehen
werden müssen. Als blossen Gliedes der Verstandes-
welt würden also alle meine Handlungen dem Prinzip
der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäss
sein; als blossen Stücks der Sinnenwelt würden sie
gänzlich dem Naturgesetz der Begierden und Neigungen,
mithin der Heteronomie der Natur gemäss genommen
werden müssen. (Die ersteren würden auf dem obersten
Prinzip der Sittlichkeit, die zweiten der Glückseligkeit
beruhen.) Weil aber die Verstandeswelt den
Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Ge-
setze derselben enthält, also in Ansehung meines
Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittel-
bar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht
werden muss, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich
andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen,
dennoch dem Gesetze der ersteren d. i. der Vernunft,
die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben ent-
liält, und also der Autonomie des Willens unterworfen
erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für
mich als Imperativen und die diesem Prinzip gemässen
Handlungen als Pflichten ansehen müssen.
Und so sind kategorische Imperativen möglich, da-
durch, dass die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede
einer intelligiblen Welt macht, wodurch, wenn ich solches
allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des
Willens jederzeit gemäss sein würden, da ich mich
aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, ge-
mäss sein sollen, welches kategorische Sollen einen
synthetischen Satz a j^^riori vorstellt, dadurch, dass über
meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch
die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt ge-
hörigen, reinen, für sich selbst praktischen Willens hin-
Tzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren
84 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 3, Abschn.
nach der Vernunft enthält; ohngefähr so, wie zu den
Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes^,
die für sich selbst nichts, als gesetzliche Form über-
haupt bedeuten, hinzu kommen, und dadurch synthe-
tische Sätze ap7iori, aufweichen alle Erkenntniss einer
Natur beruht, möglich machen.
Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschen-
vernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduktion. Es
ist Niemand, selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur
sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, der nicht, wenn
man ihm Beispiele der Redlichkeit in Absichten, der
Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Theil-
nebmung und des allgemeinen Wohlwollens (und noch
dazu mit grossen Aufopferungen von Vortheilen und
Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, dass
er auch so gesinnt sein möchte. Er kann es aber nur
wegen seiner Neigungen und Antriebe nicht wohl in
sich zu Stande bringen; wobei er dennoch zugleich
wünscht, von solchen ihm selbst lästigen Neigungen frei
zu sein. Er beweiset hierdurch also, dass er mit einem
Willen, der von Antrieben der Sinnlichkeit frei ist, sich
in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der Dinge
versetze, als die seiner Begierden im Felde der Sinn-
lichkeit, weil er von jenem Wunsche keine Vergnügung
der Begierden, mithin keinen für irgend eine seiner
wirklichen oder sonst erdenklichen Neigungen befrie-
digenden Zustand (denn dadurch würde selbst die Idee,
welche ihm den Wunsch ablockt, ihre Vorzüglichkeit
einbüssen), sondern nur einen grösseren inneren Werth
seiner Person erwarten kann. Diese bessere Person
glaubt er aber zu sein, wenn er sich in den Standpunkt
eines Gliedes der Verstandeswelt versetzt, dazu die Idee
der Freiheit d. i. Unabhängigkeit t) von bestimmen-
den Ursachen der Sinnenwelt ihn unwillkürlich nöthigt^
und in welchem er sich eines guten Willens bewusst
ist, der für seinen bösen Willen, als Gliedes der Sinnen-
welt, nach seinem eigenen Geständnisse das Gesetz
ausmacht, dessen Ansehen er kennt, indem er es über-
tritt. Das moralische Sollen ist also eigenes nothwen-
t) „d. i. Unabhängigkeit" fehlt in der ersten Ausgabe.
Ueberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d. prakt. Vernunft. 35;
diges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt, und
wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich
zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet. 38)
Ton der äussersten Grenze
aller praktischen Philosophie.
Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei.
Daher kommen alle Urtheile über Handlungen als solche,
die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht
geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein
Erfahrungsb^griff, und kann es auch nicht sein, weil
er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegentheil
von denjenigen Forderungen zeigt, die unter Voraus-
setzung derselben als notliw endig vorgestellt werden.
Auf der anderen Seite ist es ebenso nothwendig, dass
alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich
bestimmt sei, und diese Naturnothwendigkeit ist auch
kein Erfahrungsbegriff, eben darum, weil er den Begriff
der Nothwendigkeit , mithin einer Erkenntniss a jyriwi
bei sich führt. Aber dieser Begriff von einer Natur
wird durch Erfahrung bestätigt, und muss selbst unver-
meidlich vorausgesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i.
nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkennt-
niss der Gegenstände der Sinne möglich sein soll. Da-
her ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren ob-
jektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein
Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen
der Erfahrung beweist und nothwendig beweisen muss.
Ob nun gleich hieraus eine Dialektik der Vernunft
entspringt, da in Ansehung des Willens die ihm beige-
legte Freiheit mit der Naturnothwendigkeit im Wider-
spruch zu stehen scheint, und bei dieser Wegscheidung,
die Vernunft in spekulativer Absicht den Weg der
Naturnothwendigkeit viel gebahnter und brauchbarer
findet, als den der Freiheit, so ist doch in praktischer
Absicht der Fusssteig der Freiheit der einzige, auf
welchem es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem
Thun und Lassen Gebrauch zu machen; daher wird es
der subtilsten Philosophie eben so unmöglich, wie der
86 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 3. Abschn.
gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuver-
nünfteln. Diese muss also wohl voraussetzen, dass kein
wahrer Widerspruch zwischen Freiheit und Naturnoth-
wendigkeit ebenderselben menschlichen Handlungen an-
getroffen werde; denn sie kann ebenso wenig den Be-
griff der Natur, als den der Freiheit aufgeben.
Indessen muss dieser Scheinwiderspruch wenigstens
auf überzeugende Art vertilgt werden, wenn man gleich,
wie Freiheit möglich sei, niemals begreifen könnte.
Denn wenn sogar der Gedanke von der Freiheit sich
selbst oder der Natur, die ebenso nothwendig ist, wider-
spricht, sf) müsste sie gegen die Natumothwendigkeit
durchaus aufgegeben werden.
Es ist aber unmöglich, diesem Widerspruch zu ent-
gehen, wenn das Subjekt, was sicli frei dünkt, sich selbst
in demselben Sinne oder in ebendemselben Ver-
hältnisse dächte, wenn es sich frei nennt, als wenn
es sich in Absicht auf die nämliche Handlung dem Na-
turgesetze unterworfen annimmt. Daher ist es eine
unnachlassliche Aufgabe der spekulativen Philosophie,
v/enigstens zu zeigen, dass ihre Täuschung wegen des
Widerspruchs darin beruhe, dass wir den Menschen in
einem anderen Sinne und Verhältnisse denken, wenn
wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn, als Stück der
Natur, dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten,
und dass beide nicht allein gar wohl beisammen stehen
können, sondern auch als nothwendig vereinigt in
demselben Subjekt gedacht werden müssen, weil sonst nicht
Grund angegeben werden könnte, warum wir die Ver-
nunft mit einer Idee belästigen sollten, die, ob sie sich
gleich ohne Widerspruch mit einer anderen genug-
sam bewährten vereinigen lässt, dennoch uns in ein
Geschäft verwickelt, wodurch die Vernunft in ihrem
theoretischen Gebrauche sehr in die Enge gebracht wird.
Diese Pflicht liegt, aber bloss der spekulativen Philo-
sophie ob, damit sie der praktischen freie Bahn schaffe.
Also ist es nicht in das Belieben des Philosophen ge-
setzt, ob er den scheinbaren Widerstreit heben, oder
ihn unangerührt lassen will; denn im letzteren Falle
ist die Theorie hierüber bmmm vacans^ in dessen Besitz
sich der Fatalist mit Grunde setzen und alle Moral aus
Ueberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d. prakt. Yernnnft. g7
ihrem ohne Titel besessenen vermeinten Eigenthum ver-
jagen kann.
Doch kann man hier noch nicht sagen, dass die
Grenze der praktischen Piiilosophie anfange. Denn jene
Beilegung der Streitigkeit gehört gar nicht ihr zuf),
sondern sie fordert nur von der spekulativen Vernunft,
dass diese die Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen
Fragen selbst verwickelt, zu Ende bringe, damit prak-
tische Vernunft Ruhe und Sicherheit für äussere An-
griffe habe, die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen
will, streitig macheu könnten.
Der Rechtsanspruch aber, selbst der gemeinen Men-
schenvernunft, auf Freiheit des Willens, gründet sich
auf das ßewusstsein und die zugestandene Voraussetzung
der Unabhängigkeit der Vernunft von bloss subjektiv-
bestimmenden Ursachen, die insgesammt das ausmachen,
was bloss zur Empfindung, mithin unter die allgemeine
Benennung der Sinnlichkeit gehört. Der Mensch, der
sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt
sich dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und
in ein Verhältniss zu bestimmenden Gründen von ganz
anderer Art, wenn er sich als Intelligenz mit einem
Willen, folglich mit Kausalität begabt denkt, als wenn
er sich wie Phänomen in der Sinnenwelt (welches er
wirklich auch ist) wahrnimmt und seine Kausalität,
äusserer Bestimmung nach, Naturgesetzen unterwirft.
Nun wird er bald inne, dass Beides zugleich stattfinden
könne, ja sogar müsse. Denn dass ein Ding in der
Erscheinung (das zur Sinnen weit gehörig) gewissen
Gesetzen unterworfen ist, von welchen ebendasselbe, als
Ding oder Wesen an sich selbst, unabhängig ist,
enthält nicht den mindesten Widerspruch ; dass er sich
selbst aber auf diese zwiefache Art vorstellen und denken
müsse, beruht, was das Erste betrifft, auf dem ßewusst-
sein seiner selbst als durch Sinne afficirten Gegenstandes,
was das Zweite anlangt, auf dem Bewusstsein seiner selbst
als Intelligenz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch
von sinnlichen Eindrücken (mithin als zur Verstandes-
welt gehörig).
Daher kommt es, dass der Mensch sich eines Willens
t) Erste Ausgabe: „zu ihr.'
38 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 3. Abschn.
anmasst, der nichts auf seine Rechnung kommen lässt,
was bloss zu seinen Begierden und Neigungen gehört,
und dagegen Handlungen durch sicli als möglich , ja
gar als noth wendig denkt, die nur mit Hintansetzung
aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen
können. Die Kausalität derselben liegt in ihm als In-
telligenz und in den Gesetzen der Wirkungen und Hand-
lungen nach Prinzipien einer intelligiblen Welt, von der
er wohl nichts weiter weiss, als dass darin lediglich die
Vernunft, und zwar reine, von Sinnlichkeit unabhängige
Vernunft, das Gesetz gebe, imgleichen da er daselbst
nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch
hingegen nur Erscheinung seiner selbst) ist, jene Gesetze
ihn unmittelbar und kategorisch angehen, so dass, wozu
Neigungen und Antriebe (mithin die ganze Natur der
Sinnenwelt) anreizen, den Gesetzen seines WoUens, als
Intelligenz, keinen Abbruch thun können, sogar, dass er
die erstere nicht verantwortet und seinem eigentlichen
Selbst d. i. seinem Willen nicht zuschreibt, wohl aber
die Nachsicht, die er gegen sie tragen möchte, wenn er
ihnen zum Naehtheil der Vernunftgesetze des Willens
Einfluss auf seine Maximen einräumte.
Dadurch, dass die praktische Vernunft sich in eine
Verstandeswelt hinein denkt, überschreitet sie gar nicht
ihre Grenzen, wohl aber, wenn sie sich hineinschauen,
hineinempfinden wollte. Jenes ist nur ein negativer
Gedanke, in Ansehung der Sinnenwelt, die der Vernunft
in Bestimmung des Willens keine Gesetze giebt, und
nur in diesem einzigen Punkte positiv, dass jene Frei-
heit, als negative Bestimmung, zugleich mit einem (po-
sitiven) Vermögen und sogar mit einer Kausalität der
Vernunft verbunden sei, welche wir einen Willen nennen,
so zu handeln, dass das Prinzip der Handlungen der
wesentlichen BeschaflPenheit einer Vernunftursache, d. i.
der Bedingung der Allgemeingültigkeit der Maxime, als
eines Gesetzes, gemäss sei. Würde sie aber noch ein
Objekt des Willens, d. i. eine Bewegursache aus
der Verstandeswelt herholen, so überschritte sie ihre
Grenzen und masste sich au, etwas zu kennen, wovon
sie nichts weiss. Der Begriff einer Verstandeswelt ist
also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich ge-
nöthigt sieht, ausser den Erscheinungen zu nehmen, um
Ueberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d. prakt. Vernunft. 39
sich selbst als praktisch zu denken, welches, wenn
die Einflüsse der Sinnlichkeit für den Menschen bestim-
mend wären, nicht möglich sein würde, welches aber doch
nothwendig ist, wofern ihm nicht das Bewusstsein seiner
Selbst, als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch
Vernunft thätige d. i. frei wirkende Ursache abgesprochen
werden soll. Dieser Gedanke führt freilich die Idee
einer anderen Ordnung und Gesetzgebung, als die des
Naturmechanismus, der die Sinnenwelt trifft, herbei und
macht den Begriff einer intelligiblen Welt (d. i. das
Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst)
nothwendig, aber ohne die mindeste Anmassung, hier
weiter, als bloss ihrer formalen Bedingung nach, d. i.
der Allgemeinheit der Maxime des Willens, als Gesetze,
mithin der Autonomie des letzteren, die allein mit der
Freiheit desselben bestehen kann, gemäss zu denken;
dahingegen alle Gesetze, die auf ein Objekt bestimmt
sind, Heteronomie geben, die nur an Naturgesetzen an-
getroffen werden und auch nur die Sinnenwelt treffen
kann.
Aber alsdenn würde die Vernunft alle ihre Grenze
überschreiten, wenn sie es sich zu erklären unterfinge,
w i e reine Vernunft praktisch sein könne, welches völlig
einerlei mit der Aufgabe sein würde, zu erklären, wie
Freiheit möglich sei.
Denn wir können nichts erklären, als was wir auf
Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend
einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Frei-
heit aber ist eine blosse Idee, deren objektive Realität
auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht
in irgend einer möglichen Erfahrung, dargethan werden
kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach irgend
einer Analogie ein Beispiel untergelegt werden mag,
niemals begriffen oder auch nur eingesehen werden kann.
Sie gilt nur als nothwendige Voraussetzung der Vernunft
in einem Wesen, das sich eines Willens, d. i. eines vom
blossen Begehrungsvermögen noch verschiedenen Vermö-
gens (nämlich sich zum Handeln als Intelligenz, mithin nach
Gesetzen der Vernunft, unabhängig von Naturinstinkten
zu bestimmen) bewusst zu sein glaubt. Wo aber Be-
stimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch
alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig, als
90 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 3. Abschn.
Yertheidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe derer,
die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben
vorgeben und darum die Freiheit dreist für unmöglich
erklären. Man kann ihnen nur zeigen, dass der ver-
meintlich von ihnen darin entdeckte Widerspruch nirgend
anders liege, als darin, dass, da sie, um das Natur-
gesetz in Ansehung menschlicher Handlungen geltend
zu machen, den Menschen nothwendig als Erscheinung
betrachten mussten, und nun, da man von ihnen fordert,
dass sie ihn, als Intelligenz, auch als Ding an sich selbst
denken sollten, sie ihn immer auch da noch als Er-
scheinung betrachten, wo denn freilich die Absonderung
seiner Kausalität (d. i. seines Willens) von allen Natur-
gesetzen der Sinnenwelt in einem und demselben Sub-
jekte im Widerspruch stehen würde, welcher aber weg-
föllt, wenn sie sich besinnen und, wie billig, eingestehen
wollten, dass hinter den Erscheinungen doch die Sachen
an sich selbst (obzwar verborgen) zum Grunde liegen
müssen, von deren Wirkungsgesetzen man nicht ver-
langen kann, dass sie mit denen einerlei sein sollten,
unter denen ihre Erscheinungen stehen. •^^)
Die subjektive Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens
zu e r k 1 ä r e n , ist mit der Unmöglichkeit, ein I n t e r e s s e *)
*) Interesse ist das, wodurch Vernunft praktisch d. i,
eine den Willen bestimmende Ursache wird. Daher sagt
man nur von einem vernünftigen Wesen, dass es woran
ein Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen mir
sinnliche Antriebe. Ein unmittelbares Interesse nimmt die
Vernunft nur alsdenn an der Handlung, wenn die Allge-
meingültigkeit der Maxime derselben ein genügsamer Be-
stimmungsgrund des Willens ist. Ein solches Interesse ist
allein rein. Wenn sie aber den Willen nur vermittelst eines
anderen Objekts des Begehrens, oder unter Voraussetzung
eines besonderen Gefühls des Subjekts bestimmen kann,
so nimmt die Vernunft nur ein mittelbares Interesse an der
Handlung, und, da Vernunft für sich allein weder Objekte
des Willens, noch ein besonderes ihm zum Grunde liegen-
des Gefühl ohne Erfahrung ausfindig machen kann, so würde
das letztere Interesse nur empirisch und kein reines Ver-
nunftinteresse sein. Das logische Interesse der Vernunft
(ihre Einsichten zu befördern) ist niemals unmittelbar,
sondern setzt Absichten ihres Gebrauchs voraus.
Ueberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d, prakt. Vernunft. 91
ausfindig und begreiflieb zu macben, welcbes der Menscb
an moraiiscben Gesetzen nebmen könne, einerlei; und
gleicbwobl nimmt er wirklieb daran ein Interesse, wozu
wir die Grundlage in uns das moraliscbe Gefübl nennen,
welcbes fälscblicb für das Ricbtmaass unserer sittlichen
Beurtbeilung von Einigen ausgegeben worden, da es
vielmehr als die subjektive Wirkung, die das Gesetz
auf den Willen ausübt, angesehen werden muss, wozu
Vernunft allein die objektiven Gründe hergiebt.
Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem
sinnlich afficirten vernünftigen Wesen das Sollen vor-
schreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft,
ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der
Erfüllung der Pflicht einzuflössen, mithin eine Kau-
salität derselben, die Sinnlichkeit ihren Prinzipien ge-
mäss zu bestimmen. Es ist aber gänzlich unmöglich,
einzusehen, d. i. a -prim^i begreiflich zu machen, wie
ein blosser Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich
enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervor-
bringe ; denn das ist eine besondere Art von Kausalität,
von der, wie von aller Kausalität, wir gar nichts a priori
bestimmen können, sondern darum allein die Erfahrung
befragen müssen. Da diese aber kein Verhältniss der
Ursache zur Wirkung, als zwischen zwei Gegenständen
der Erfahrung, an die Hand geben kann, hier aber reine
Vernunft durch blosse Ideen (die gar keinen Gegenstand
für Erfahrung abgeben), die Ursache von einer Wirkung,
die freilich in der Erfahrung liegt, sein soll, so ist die
Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit
der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit,
interessire, uns Menschen gänzlich unmöglich. So viel
ist nur gewiss, dass es nicht darum für uns Gültigkeit
hat, weil es interessirt (denn das ist Heteronomie
und Abhängigkeit der praktischen Vernunft von Sinn-
lichkeit, nämlich einem zum Grunde liegenden Gefühl,
wobei sie niemals sittlich gesetzgebend sein könnte),
sondern dass es interessirt, weil es für uns als Menschen
gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin
aus unserem eigentlichen Selbst entsprungen ist; was
aber zur blossen Erscheinung gehört, wirdvon
der Vernunft nothwendig der Beschaffenheit
der Sache an sich selbst untergeordnet.
92 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 3. Abschu.
Die Frage also: wie ein kategorischer Imperativ
möglich sei, kann zwar so weit beantwortet werden, als
man die einzige Voraussetzung angeben kann, unter der
er allein möglich ist, nämlich die Idee der Freiheit,
imgleichen als man die Nothwendigkeit dieser Voraus-
setzung einseben kann, welches zum praktischen
Gebrauche der Vernunft, d. i. zur Ueberzeugung von
der Gültigkeit dieses Imperativs, mithin auch des
sittlichen Gesetzes hinreichend ist; aber wie diese Vor-
aussetzung selbst möglich sei, lässt sich durch keine
menschliche Vernunft jemals einsehen. Unter Voraus-
setzung der Freiheit des Willens einer Intelligenz aber
ist die Autonomie desselben, als die formale Bedin-
gung, unter der er allein bestimmt werden kann, eine
nothwendige Folge. Diese Freiheit des Willens voraus-
zusetzen, ist auch nicht allein (ohne in Widerspruch
mit dem Prinzip der Katurnothwendigkeit in der Ver-
knüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu gerathen)
ganz wohl möglich (wie die spekulative Philosophie
zeigen kann), sondern auch sie praktisch d. i. in der
Idee allen seinen willkürlichen Handlungen, als Bedin-
gung, unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das
sich seiner Kausalität durch Vernunft, mithin eines
Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewusst
ist, ohne weitere Bedingung noth wendig. Wie nun
aber reine Vernunft, ohne andere Triebfedern, die irgend
woher sonst genommen sein mögen, für sich selbst
praktisch sein, d. i. wie das blosse Prinzip der All-
gemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Ge-
setze (welches freilich die Form einer reinen praktischen
Vernunft sein würde), ohne alle Materie (Gegenstand)
des Willens, woran man zum voraus irgend ein Interesse
nehmen dürfe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben
und ein Interesse, welches rein moralisch heissen
würde, bewirken, oder mit anderen Worten: wie reine
Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären,
dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend
und alle Mühe und Arbeit, hiervon Erklärung zu suchen,
ist verloren.
Es ist ebendasselbe, als ob ich zu ergründen suchte,
wie Freiheit selbst als Kausalität eines Willens möglich
ist. Denn da verlasse ich den philosophischen Erklärungs-
Ueberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d. prakt. Vernunft. 93
gmnd, und habe keinen anderen. Zwar könnte icli
nun in der intelligiblen Welt, die mir noch übrig- bleibt,
in der Welt der Intelligenzen herumschwärmen; aber
ob ich gleich davon eine Idee habe, die ihren guten
Grund hat, so habe ich doch von ihr nicht die mindeste
Kenntniss, und kann auch zu dieser durch alle Be-
strebung meines natürlichen Vernunftvermögens niemals
gelangen. Sie bedeutet nur ein Etwas, das da übrig
bleibt, wenn ich alles, was zur Sinnenwelt gehört, von
den Bestimmungsgründen meines Willens ausgeschlossen
habe, bloss um das Prinzip der Bewegursachen aus dem
Felde der Sinnlichkeit einzuschränken, dadurch, dass
ich es begrenze, und zeige, dass es nicht alles in allem
in sich fasse, sondern dass ausser ihm noch mehr sei;
dieses Mehrere aber kenne ich nicht weiter. Von der
reinen Vernunft, die dieses Ideal denkt, bleibt nach Ab-
sonderung aller Materie, d. i. Erkenntniss der Objekte,
mir nichts, als die Form übrig, nämlich das praktische
Gesetz der Allgemeingültigkeit der Maximen und, diesem
gemäss, die Vernunft in Beziehung auf eine reine Ver-
standeswelt als mögliche wirkende, d. i. als den Willen
bestimmende Ursache zu denken; die Triebfeder muss
hier gänzlich fehlen; es müsste denn diese Idee einer
intelligiblen Welt selbst die Triebfeder, oder dasjenige
sein, woran die Vernunft ursprünglich ein Interesse
nähme ; welches aber begreiflich zu machen gerade die
Aufgabe ist, die wir nicht auflösen können.
Hier ist nun die oberste Grenze aller moralischen
Nachforschung; welche aber zu bestimmen, auch schon
darum von grosser Wichtigkeit ist, damit die Vernunft
nicht einerseits in der Sinnenwelt auf eine den Sitten
schädliche Art nach der obersten Bewegursache und
einem begreiflichen, aber empirischen Interesse herum-
suche, andererseits aber, damit sie auch nicht in dem
für sie leeren Raum transscendenter Begriffe, unter dem
Namen der intelligiblen Welt, kraftlos ihre Flügel
schwinge, ohne von der Stelle zu kommen, und sich
unter Hirngespinnsten verliere. Uebrigens bleibt die
Idee einer reinen Verstandeswelt, als eines Ganzen aller
Intelligenzen, wozu wir selbst, als vernünftige Wesen
(obgleich andererseits zugleich Glieder der Sinnenwelt),
gehören, immer eine brauchbare und erlaubte Idee zum
94 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Abschn.
Behufe eines vernünftigen Glaubens, wenngleich alles
Wissen an der Grenze derselben ein Ende hat, um durch
das herrliche Ideal eines allgemeinen Reichs der Zwecke
an sich selbst (vernünftiger Wesen), zu welchen wir
nur alsdann als Glieder gehören können, wenn wir uns
nach Maximen der Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur
wären, sorgfältig verhalten, ein lebhaftes Interesse au
dem moralischen Gesetze in uns zu bewirken. 40)
Schlussanmerkung.
Der spekulative Gebrauch der Vernunft, inAnsehung
der Natur, führt auf absolute Noth wendigkeit irgend
einer obersten Ursache der Welt; der praktische Ge-
brauch der Vernunft, in Absicht auf die Freiheit,
führt auch auf absolute Nothwendigkeit, aber nur der
Gesetze der Handlungen eines vernünftigen Wesens,
als eines solchen. Nun ist es ein wesentliches Prinzip
alles Gebrauchs unserer Vernunft, ihr Erkenntniss bis
zum Bewusstseiu ihrer Nothwendigkeit zu treiben
(denn ohne diese wäre sie nicht Erkenntniss der Ver-
nunft). Es ist aber auch eine eben so wesenthche Ein-
schränkung ebenderselben Vernunft, dass sie weder
die Nothwendigkeit dessen, was da ist oder was ge-
schieht, noch dessen, was geschehen soll, einsehen kann,
wenn nicht eine Bedingung, unter der es da ist oder
geschieht oder geschehen soll, zum Grunde gelegt wird.
Auf diese Weise aber wird durch die beständige Nach-
frage nach der Bedingung die Befriedigung der Vernunft
nur immer weiter aufgeschoben. Daher sucht sie rast-
los das Unbedingtnothwendige, und sieht sich genöthigt,
es anzunehmen, ohne irgend ein Mittel, es sich begreif-
lich zu machen; glücklich genug, wenn sie nur den
Begriff ausfindig machen kann, der sich mit dieser Vor-
aussetzung verträgt. Es ist also kein Tadel für unsere
Deduktion des obersten Prinzips der Moralität, sondern
ein Vorwurf, den man der menschlichen Vernunft über-
haupt machen müsste, dass sie ein unbedingtes prak-
tisches Gesetz (dergleichen der kategorische Imperativ
sein muss) seiner absoluten Nothwendigkeit nach nicht
begreiflich machen kann; denn dass sie dieses nicht durch
Ueberg. v. d. Metaph. d. Sitten z. Kritik d. prakt. Vernunft. 95
eine Bedingung, nämlich vermittelst irgend eines zum
Grunde gelegten Interesse thun will, kann ihr nicht ver-
dacht werden, weil es alsdenn kein moralisches d. i.
oberstes Gesetz der Freiheit sein würde. Und so be-
greifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Noth-
wendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen
aber doch seine Unbegreiflich keit, welches alles
ist, was billigermaassen von einer Philosophie, die bis
zur Grenze der menschlichen Vernunft in Prinzipien
strebt, gefordert werden kann.-*^)
Ende.
Dnick von Trowitzsch und Sohn in Berlin,
Immanuel Kant's
Metaphysik der Sitten.
Herausgegeben und erläutert
von
3. H. von Kirchmann.
Berlin, 1870.
Verlag von L. Heimann,
Wilhelms-Strasse No. 91.
Vorwort des Herausgebers.
Die metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre
und Tugendlehre sind zuerst 1797 bei Nicolovius in Königs-
berg unter dem gemeinsamen Titel: Metaphysik der
Sitten in zwei Theilen erschienen. Von beiden
Werken ist noch bei Lebzeiten Kant's eine zweite Aus-
gabe, für die Rechtslehre 1798 und für die Tugendlehre
1803 erschienen. Die Rechtslehre hat in der zweiten
Ausgabe nur eine erhebliche Vermehrung durch einen
Anhang erläuternder Bemerkungen erhalten, zu denen
Kant durch eine Rezension seiner Schrift in den Göttinger
gelehrten Anzeigen veranlasst worden war; im Uebrigen
stimmt sie bis auf Kleinigkeiten mit der ersten Aus-
gabe. Auch die zweite Ausgabe der Tugendlehre enthält
keine erheblichen Zusätze, dagegen manche die Wort-
stellung und der Periodenbau betreffende Abänderungen.
Hiernach sind der hier folgenden Ausgabe bei beiden
Theilen diese erwähnten zweiten Ausgaben zu Grunde
gelegt worden und die wenigen Abweichungen der ersten
VI Vorwort des Herausgebers.
Ausgaben sind, wie bisher in den, an dem Zeichen f
kenntlichen Anmerkungen angezeigt worden.
Die dem Texte beigefügten Ziffern beziehen sich
auf die, in einem besonderen Bande nachfolgenden Er-
läuterungen des Unterzeichneten.
Berlin, im April 1870.
T. Kirchmann.
INHALTS-ANZEIGE.
Seite
, Erster Tlieil. Metaphysische Anfangsgründe der
Rechtslehre.
Vorrede 3
Einleitung in die Metaphysik der Sitten .... 9
Einleitung in die Reclitslehre 30
Der Rechtslehre erster Theil. Das Privatrecht in
Ansehung äusserer Gegenstände. (Inbegriif der-
jenigen Gesetze, die keiner äusseren Bekannt-
machung bedürfen.) ^) 47
1. Haupt st. Von der Art, etwas Aeusseres als
das Seine zu haben. §.1—9 49
2. Hauptst. Von der Art, etwas Aeusseres zu
erwerben. §. 10—35 65
Eintheilung der äusseren Erwerbung 67
1. Abschn. Vom Sachenrecht. §. 11— 17 . . . 68
2. Abschn. Vom persönlichen Recht. §. 18 — 21 . 80
3. Abschn. Von dem auf dingliche Art persön-
lichen Recht. §. 22—30 86
1. Titel. Das Eherecht. §. 24-27 87
2. Titel. Das Elternrecht. §. 28—29 .... 91
3. Titel. Das Hausherrenrecht. §. 30 . . . . 93
Dogmatische Eintheilung aller erwerblichen Rechte
aus Verträgen. §.31 95
I. Was ist Geld? 98
II. Was ist ein Buch? 102
Episodischer Abschnitt. Von der idealen Erwerbung
eines äusseren Gegenstandes der Willkühr. §. 32 104
I. Die Erwerbungsart durch Ersitzung. §. 33 . 104
H. Die Beerbung. §.34 106
HI. Der Nachlass eines guten Namens nach dem
Tode. §.35 106
1) Die eingeklammerten Worte, die sich in der Textüber-
schrift nicht finden, stehen in den den Originalausgaben beigefüg-
ten Inhaltsverzeichnissen. Ebenso bei den metaphysischen Anfangs-
gründen der Tugendlehre.
VIII Inhalts- An zeige.
Seite
3. Haupt st. Von der subjectiv bedingten Erwer-
bung durch den Ausspruch einer öffentlichen
Gerichtsbarkeit. §.36-40 111
A. Von dem Schenkungsvertrag. §.37 ... 112
B. Vom Leihvertrag. §.38 113
C. Von der Wiedererlangung des Verlorenen. §. 39 115
D. Von Erwerbung der Sicherheit durch Eides-
ablegung. §.40 119
Uebergang von dem Mein und Dein im Naturzustande
zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt. §. 41. 42 121
Anhang erläuternder Bemerkungen zu den meta-
physischen Anfangsgründen der Rechtslehre . 125
1. Logische Vorbereitung zu einem neuerdings ge-
wagten Rechtsbegriffe 126
2. Rechtfertigung des Begriffs von einem auf ding-
liche Art persönlichen Rechte 128
3. Beispiele 128
4. lieber die Verwechselung des dinglichen mit
dem persönlichen Rechte 131
5. Zusatz zu der Erörterung der Begriffe d. Strafrechts 133
6. Vom Recht der Ersitzung 134
7. Von der Beerbung 136
8. Vom Rechte des Staates iif Ansehung ewiger
Stiftungen 138
Der Rechtslehre zweiter Theil. Das öffentliche
Recht. (Inbegriff der Gesetze, die einer öffent-
lichen Bekanntmachung bedürfen.) .... 147
Erster Abschnitt. Das Staatsrecht. §. 43—52. 149
Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wir-
kungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins 157
(Vom Straf- und Begnadigungsrecht) .... 172
ZweiterAbschnitt. Das Völkerrecht. §.53—61 187
Dritter Abschnitt. Das Weltbürgerrecht. §.62 197
Beschluss 199
II. Zweiter Theil. Metaphysische Anfangsgründe der
Tugendlehre 203
Vorrede 205
Einleitung zur Tugendlehre 210
Erster Theil. Ethische Elementarlehre ... 223
Erstes Buch. Von den Pflichten gegen sich
selbst überhaupt. §. 1—22 255
Einleitung. §. 1—4 255
1. Abtheil. Von den vollkommenen Pflichten
gegen sich selbst. §. 5—18 261
I.Haupt st. Von den Pflichten des Menschen gegen
sich selbst als ein an i m a 1 i s c h e s Wesen. §.5—8 261
Inhalts-Anzeige. j^
Seite
1. Artik. Von der Selbstentleibung. §. 6 . . . 262
2. Artik. Von der wollüstigen Selbstschändung. §.7 265
3. Artik. Von der Selbstbetäubung durch Un-
mässigkeit im Gebrauche der Geniess- oder
Nahrungsmittel. §.8 268
2. Haupt St. Von den Pflichten des Menschen
gegen sich selbst blos als moralisches Wesen.
§. 9-12 271
1. Artik. Von der Lüge. §.9 271
2. Artik, Vom Geize. §.10 275
3. Artik. Von der Kriecherei. §. 11. 12 . . . 279
3. Hauptst. §. 13—18 283
1. Abschn. Von den Pflichten des Menschen gegen
sich selbst als den gebornen Richter über
sich selbst. §.13 283
2. Abschn. Von dem ersten Gebot aller Pflich-
ten gegen sich selbst. §. 14. 15 287
Episodischer Abschn. Von der A m p h i b o 1 i e der
moralischen Reflexionbegriffe in Ansehung
der Pflichten gegen sich selbst. §. 16—18 . 288
2. Abtheil. Von den unvollkommenen Pflich-
ten des Menschen gegen sich selbst. §. 19—22 292
1. Abschn. Von den Pflichten gegen sich selbst
in Entwickeluug und Vermehrung seiner Natur=
Vollkommenheit. §. 19. 20 292
2. Abschn. Von der Pflicht gegen sich selbst in
Erhöhung seiner morahschen Vollkommenheit.
§. 21. 22 294
Z^weites^Bjiilh. Von den Tugendpflichten gegen
Andere. §. 23—48 297
1. Hauptst. Von den Pflichten gegen Andere,
blos als Menschen. §.23-44 297
1. Abschn. Von der Liebe spflicht gegen
andere Menschen. §.23-36 299
A. Wohlthätigkeit. §.29—31 302
B. Dankbarkeit. §. 32. 33 305
C. Theiluahme. §. 34. 35 307
Entgegengesetzte Laster des Menschenhasses. §.36 309
2. Abschn. Von der Pflicht der Achtung für
Andere. § 37—41 313
Entgegengesetzte Laster. §. 42 — 44 .... 317
A. Hochmuth. § 42 317
B. Afterreden. §.43 318
C. Verhöhnung. §.44 319
2. Hauptst. Von den Pflichten gegen Andere nach
Verschiedenheit ihres Zustandes. §.45 321
Inhalts- Anzeige.
Seite
Beschluss der Elementarlehre. Von der innig-
lichen Vereinigung der Liebe mit der Achtung
in der Freundschaft. §. 46. 47 323
Zusatz Von den Umgangstugenden. §.48 . . 329
Zweiter Theil. Ethische Methodenlehre . . . 331
1. Abschn. Die ethische Didaktik. §. 49—52 . 333
Bruchstück eines moralischen Katechismus . . 337
2. Abschn. Die ethische Ascetik. §. 53 . . . 342
Beschluss. Die Religionslehre als Lehre der
Pflichten gegen Gott liegt ausserhalb den Gren-
zen der reinen Moralphilosophie 344
Die
Metaphysik der Sitten.
Erster Theil.
Metaphysische Anfangsgründe derKechtslehre.
Kant, Metaphysik der Sitten,
Vorrede.
Auf die Kritik der praktischen Vernunft sollte
das System, die Metaphysik der Sitten, folgen, welches
in metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre und
in eben solche für die Tugendlehre zerfällt (als ein
Gegenstück der schon gelieferten metaphysischen An-
fangsgründe der Naturwissenschaft), wozu die hier
folgende Einleitung die Form des Systems in beiden
vorstellig und zum Theil anschaulich macht.
Die RecMslehre, als der erste Theil der Sittenlehre,
ist nun das, wovon ein aus der Vernunft hervorgehen-
des System verlangt wird, welches man die Metaphysik
des Rechts nennen könnte. Da aber der Begriff des
Rechts, als ein reiner, jedoch auf die Praxis (Anwen-
dung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle) ge-
stellter Begriff ist, mithin einmetaphysischesSystem
desselben in seiner Eintheilung auch auf die empirische
Mannigfaltigkeit jener Fälle Rücksicht nehmen müsste,
um die Eintheilung vollständig zu machen (welches zur
Errichtung eines Systems der Vernunft eine unerlassliche
Forderung ist), Vollständigkeit der Eintheilung des Em-
p irischen aber unmöglich ist, und, wo sie versucht
wird (wenigstens um ihr nahe zu kommen), solche Be-
griffe, nicht als integrirende Theile in das System, son-
dern nur, als Beispiele, in die Anmerkungen kommen
können ; so wird der für den ersten Theil der Metaphysik
der Sitten allein schickliche Ausdruck sein, meta-
physische Anfangsgründe der Rechtslehre;
1*
4 Rechtslehre.
weil, in Rücksicht auf jene Fälle der Anwendung, nur
Annäherung zum System, nicht dieses - selbst erwartet
werden kann. Es wird daher hiermit, so wie mit den
(früheren) metaphysischen Anfangsgründen der Natur-
wissenschaft, auch hier gehalten werden: nämlich das
Recht, was zum a 'priovi entworfenen System gehört,
in den Text, die Rechte aber, welche auf besondere Er-
fahrungsfälle bezogen werden, in zum Theil weitläufige
Anmerkungen zu bringen ; weil sonst das, was hier Me-
taphysik ist, von dem, was empirische Rechtspraxis ist,
nicht wohl unterschieden werden könnte.
Ich kann dem so oft gemachten Vorwurf der Dunkel-
heit, ja wohl einer geflissenen, den Schein tiefer Einsicht
affektirenden Undeutlichkeit im philosophischen Vortrage
nicht besser zuvorkommen oder abhelfen, als dass ich,
was Herr Garve, ein Philosoph in der ächten Bedeu-
tung des Worts, jedem, vornehmlich dem philosophiren-
den Schriftsteller zur Pflicht macht, bereitwillig annehme,
und meinerseits diesen Anspruch bloss auf die Bedin-
gung einschränke, ihm nur so weit Folge zu leisten,
als es die Natur der Wissenschaft erlaubt, die zu be-
richtigen und zu erweitern ist.
Der weise Mann fordert (in seinem Werk: Ver-
mischte Aufsätze betitelt, S. 352 u. f.) mit Recht,
eine jede philosophische Lehre müsse, wenn der Lehrer
nicht selbst in den Verdacht der Dunkelheit seiner Be-
griffe kommen soll, — zur Popularität (einer zur all-
gemeinen Mittheilung hinreichenden Versinnlichung) ge-
bracht werden können. Ich räume das gern ein, nur
mit Ausnahme des Systems einer Kritik des Vernunft-
vermögens selbst und alles dessen, was nur durch dieser
ihre Bestimmung beurkundet werden kann; weil es zur
Unterscheidung des Sinnlichen in unserem Erkenntniss
vom Uebersinnlichen , dennoch aber der Vernunft Zu-
stehenden, gehört. Dieses kann nie populär werden,
so wie überhaupt keine formelle Metaphysik; obgleich
ihre Resultate für die gesunde Vernunft (eines Meta-
physikers, ohne es zu wissen) ganz einleuchtend gemacht
werden können. Hier ist an keine Popularität (Volks-
sprache) zu denken, sondern es muss auf scholastische
Pünktlichkeit, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten
würde, gedrungen werden (denn es ist Seh ul spräche),
Vorrede. 5
weil dadurch allein die voreilige Vernunft dahin ge-
bracht werden kann, vor ihren dogmatischen Behaup-
tungen sich erst selbst zu verstehen.
Wenn aber Pedanten sich anmassen, zum Publikum
(auf Kanzeln und in Volksschriften) mit Kunstwörtern
zu reden, die ganz für die Schule geeignet sind, so
kann das so wenig dem kritischen Philosophen zur Last
fallen, als dem Grammatiker der Unverstand des Wort-
klaubers (logodaedalus). Das Belachen kann hier nur
den Mann, aber nicht die Wissenschaft treffen.
Es klingt arrogant, selbstsüchtig und für die, welche
ihrem alten System noch nicht entsagt haben, verkleiner-
lich, zu behaupten: „dass vor dem Entstehen der kri-
tischen Philosophie es noch gar keine gegeben habe."
' — Um nun über diese scheinbare Anmassung absprechen
zu können, kommt es auf die Frage an: ob es wohl
mehr, als eine Philosophie geben könne? Ver-
schiedene Arten zu philosophiren und zu den ersten
Vernunftprinzipien zurückzugehen, um darauf, mit mehr
oder weniger Glück, ein System zu gründen, hat es
nicht allein gegeben, sondern es musste viele Versuche
dieser Art, deren jeder auch um die gegenwärtige sein
Verdienst hat, geben; aber da es doch, objektiv be-
trachtet, nur eine menschliche Vernunft geben kann: so
kann es auch nicht viel Philosophien geben, d. i. es ist
nur ein wahres System derselben aus Prinzipien mög-
lich, so mannigfaltig und oft widerstreitend man auch
über einen und denselben Satz philosophirt haben mag.
So sagt der Moralist mit Recht: es giebt nur eine
Tugend und Lehre derselben, d. i. ein einziges System,
das alle Tugendpflichten durch ein Prinzip verbindet;
der Chemist: es giebt nur eine Chemie (die nachLa-
voisier); der Arzneilehrer: es giebt nur ein Prinzip
zum System der Krankheitseintheilung (nach Brown),
•ohne doch darum, weil das neue System alle andere
ausschliesst, das Verdienst der älteren (Moralisten, Che-
miker und Arzneilehrer) zu schmälern; weil ohne dieser
ihre Entdeckungen, oder auch misslungene Versuche
wir zu jener Einheit des wahren Prinzips der ganzen
Philosophie in einem System nicht gelangt wären. —
W^enn also Jemand ein System der Philosophie als sein
eigenes Fabrikat ankündigt, so ist es ebenso viel, als
ß Rechtslehre.
ob er sage : „vor dieser Philosophie sei gar keine andere
noch gewesen." Denn wollte er einräumen, es wäre eine
andere (und wahre) gewesen, so würde es über dieselben
Gegenstände zweierlei wahre Philosophien gegeben haben,
welches sich widerspricht. — Wenn also die kritische
Philosophie sich als eine solche ankündigt, vor der es
überall noch gar keine Philosophie gegeben habe, so
thut sie nichts Anderes, als was Alle gethan haben,
thun werden, ja thun müssen, die eine Philosophie nach
ihrem eigenen Plane entwerfen.
Von minderer Bedeutung, jedoch nicht ganz ohne
alle Wichtigkeit, wäre der Vorwurf: dass ein diese Phi-
losophie wesentlich unterscheidendes Stück doch nicht
ihr eigenes Gewächs, sondern etwa einer anderen Philo-
sophie (oder der Mathematik) abgeborgt sei ; dergleichen
ist der Fund, den ein Tübing'scher Rezensent gemacht
haben will, und der die Definition der Philosophie über-
haupt angeht, welche der Verfasser der Kritik der reinen
Vernunft für sein eigenes, nicht unerhebliches Produkt
ausgiebt, und die doch schon vor vielen Jahren von
einem Anderen fast mit denselben Ausdrücken gegeben
worden sei.*) Ich überlasse es einem Jeden, zu beur-
theilen, ob die Worte : intellectualis quaedam constructioj
den Gedanken der Darstellung eines gegebenen
Begriffs in einer Anschauung apnorz hätten her-
vorbringen können, wodurch auf einmal die Philosophie
von der Mathematik ganz bestimmt geschieden wird.
Ich bin gewiss: Hausen selbst, würde sich geweigert
haben, diese Erklärung seines Ausdrucks anzuerkennen;
denn die Möglichkeit einer Anschauung a priori^ und
dass der Raum eine solche und nicht ein bloss der
*) Porro de actuali construetione hie non quaeritur, cum
ne possint quidem sensibiles figurae ad rigorem definitionum.
effingi; sed requiritur cognitio eorum, quibus absolvitur for-
matio, quae intellectualis quaedam constructio est. C. A.
Hausen Eiern. Mathes. Pars I. p. 86. A. 1734. (Es handelt
sich hier nicht um die wirkliche Konstruktion, da wahr-
nehmbare Figuren nicht die Strenge der Definitionen ein-
halten können; sondern es wird die Kenntniss dessen ge-
fordert, was jene Gestaltung ausmacht, das gleichsam eine
geistige Konstruktion ist.)
Vorrede. 7
empirischen Anschauung (Wahrnehmung) gegebenes Ne-
beneinandersein des Mannigfaltigen ausser einander sei
(wie Wolf ihn erklärt), würde ihn schon aus dem Grunde
abgeschreckt haben, weil er sich hiermit in weit hin-
aussehende philosophische Untersuchungen verwickelt
gefühlt hätte. Die gleichsam durch den Verstand
gemachte Darstellung bedeutete dem scharfsinnigen Mathe-
matiker nichts weiter, als die einem Begriffe korrespon-
dirende (empirische) Verzeichnung einer Linie, bei
der bloss auf die Regel Acht gegeben, von den in der
Ausführung unvermeidlichen Abweichungen aber abstra-
hirt wird ; wie man in der Geometrie auch an der Kon-
struktion der Gleichungen wahrnehmen kann.
Von der aller mindesten Bedeutung aber in An-
sehung des Geistes dieser Philosophie ist wohl der Un-
fug, den einige Nachäffer derselben mit den Wörtern
stiften, die in der Kritik der reinen Vernunft selbst
nicht wohl durch andere gangbare zu ersetzen sind, sie
auch ausserhalb derselben zum öffentlichen Gedanken-
verkehr zu brauchen, und welcher allerdings gezüchtigt
zu werden verdient, wie Herr Nicolai thut, wiewohl
er über die gänzliche Entbehrung derselben in ihrem
eigenthümlichen Felde, gleich als einer überall bloss
versteckten Armseligkeit an Gedanken, kein Urtheil zu
haben sich selbst bescheiden wird. — Indessen lässt
es sich über den unpopulären Pedanten freilich viel
lustiger lachen, als über den unkritischen Igno-
ranten (denn in der That kann der Metaphysiker,
welcher seinem Systeme steif anhängt, ohne sich an alle
Kritik zu kehren, zur letzteren Klasse gezählt werden,
ob er zwar nur willkürlich ignorirt, was er nicht auf-
kommen lassen will, weil es zu seiner älteren Schule
nicht gehört). Wenn aber, nach Shaftesbury's Be-
hauptung, es ein nicht zu verachtender Probirstein für
die Wahrheit einer (vornehmlich praktischen) Lehre ist,
wenn sie das Belachen aushält, so müsste wohl an
den kritischen Philosophen mit der Zeit die Reihe kommen
zuletzt, und so auch am besten, zu lachen; wenn er
die papiernen Systeme derer, die eine lange Zeit das
grosse Wort führten, nach einander einstürzen, und alle
Anhänger derselben sich verlaufen sieht: ein Schicksal,
was jenen unvermeidlich bevorsteht.
g Rechtslehre.
Gegen das Ende des Buchs habe ich einige Ab-
schnitte mit minderer Ausführlichkeit bearbeitet, als in
Vergleichung mit den vorhergehenden erwartet werden
konnte; theils, weil sie mir aus diesen leicht gefolgert
werden zu können schienen, theils auch, weil die letzten
(das öffentliche Recht betreffenden) eben jetzt so vielen
Diskussionen unterworfen und dennoch so wichtig sind,
dass sie den Aufschub des entscheidenden Urtheils auf
einige Zeit wohl rechtfertigen können.!)*)
t) In der 1. Ausgabe folgen hier noch die Worte: „Die
metaphysischen An fangsg runde der Tugen dl ehre
hoffe ich in Kurzem liefern zu können."
Einleitung
in die Metaphysik der Sitten.
I.
Ton demYerliältnisse derTermögen des mensch-
lichen Oeniüths zn den Sittengesetzen.
Begelirungs vermögen ist das Vermögen, durch
seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser
Vorstellungen zu sein. Das Vermögen eines Wesens,
seinen Vorstellungen gemäss zu handeln,,, heisst das
Leben.
Mit dem Begehren oder Verabscheuen ist erstlich
jederzeit Lust oder Unlust, deren Empfänglichkeit
man Gefühl nennt, verbunden; aber nicht immer um-
gekehrt. Denn es kann eine Lust geben, welche mit
gar keinem Begehren des Gegenstandes, sondern mit
der blossen Vorstellung, die man sich von einem Gegen-
stande macht (gleichgültig, ob das Objekt derselben
existire oder nicht), schon verknüpft ist. Auch geht,
zweitens, nicht immer die Lust oder Unlust an dem
Gegenstande des Begehrens vor dem Begehren vorher
und darf nicht allemal als Ursache, sondern kann auch
als Wirkung desselben angesehen werden.
Man nennt aber die Fähigkeit, Lust oder Unlust bei
einer Vorstellung zuhaben, darum Gefühl, weil beides
das bloss Subjektive im Verhältnisse unserer Vor-
stellung, und gar keine Beziehung auf ein Objekt zum
möglichen Erkenntnisse desselben*) (nicht einmal dem
*) Man kann Sinnlichkeit durch das Subjektive unserer
IQ Rechtslehre. Einleitung
Erkenntnisse unseres Zustandes) enthält ; da sonst selbst
Empfindungen, ausser der Qualität, die ihnen der Be-
schaffenheit des Subjekts wegen anhängt (z. B. des
Rothen, des Süssen u. s. w.), doch auch als Erkennt-
nissstücke auf ein Objekt bezogen werden, die Lust oder
Unlust aber (am Rothen und Süssen) schlechterdings
nichts am Objekte, sondern lediglich Beziehung aufs
Subjekt ausdrückt. Näher können Lust und Unlust für
sich, und zwar eben um des angeführten Grundes willen,
nicht erklärt werden, sondern man kann allenfalls nur,
was sie in gewissen Verhältnissen für Folgen haben,
anführen, um sie im Gebrauche kennbar zu machen.a)
Man kann die Lust, welche mit dem Begehren fdes
Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so afficirt)
nothwendig verbunden ist, praktische Lust nennen;
sie mag nun Ursache oder Wirkung vom Begehren sein.
Dagegen würde man die Lust, die mit dem Begehren
des Gegenstandes nicht nothwendig verbunden ist, die
also im Grunde nicht eine Lust an der Existenz des
Objekts der Vorstellung ist, sondern bloss an der Vor-
stellung allein haftet, bloss contemplative Lust, oder
unthätiges Wohlgefallen nennen können. Das Ge-
fühl der letztern Art von Lust nennen wir Geschmack.
Von diesem wird also in einer praktischen Philosophie
Vorstellungen überhaupt erklären; denn der Verstand be-
zieht allererst die Vorstellungen auf ein Objekt, d. i. er
allein denkt sich etwas vermittelst derselben. Nun kann
das Subjektive unserer Vorstellung entweder von der Art
sein, dass es auch auf ein Objekt zum Erkenntniss des-
selben (der Form oder Materie nach, da es im ersteren
Falle reine Anschauung, im zweiten Empfindung heisst)
bezogen werden kann. In diesem Falle ist die Sinnlichkeit,
als Empfänglichkeit der gedachten Vorstellung, der Sinn;
aber das Subjektive der Vorstellung kann gar kein Er-
kenntnissstück werden; weil es bloss die Beziehung
derselben aufs Subjekt und nichts zur Erkenntniss des
Objekts Brauchbares enthält, und alsdann heisst diese
Empfänglichkeit der Vorstellung Gefühl; welches die Wir-
kung der Vorstellung (diese mag sinnlich oder intellektuell
sein) aufs Subjekt enthält und zur Sinnlichkeit gehört, ob-
gleich die Vorstellung selbst zum Verstände oder der Ver-
nunft gehören mag.
in die Metaphysik der Sitten. I. IX
nicht als von einem einheimischen Begriffe, sondern
allenfalls nur episodisch die Rede sein. Was aber
die praktische Lust betrifft, so wird die Bestimmung des
Begehrungsvermögens, vor welcher diese Lust, als
Ursache, nothwendig vorhergehen muss, im engen Ver-
stände Begierde, die habituelle Begierde aber Nei-
gung heissen, und weil die Verbindung der Lust mit
dem Begehrungsvermögen, sofern diese Verknüpfung durch
den Verstand nach einer allgemeinen Regel (allenfalls
auch nur für das Subjekt) gültig zu sein geurtheilt wird,
Interesse heisst; so wird die praktische Lust in diesem
Falle ein Interesse der Neigung, dagegen wenn die Lust
nur auf eine vorhergehende Bestimmung des Begehrungs-
vermögens folgen kann, so wird sie eine intellektuelle
Lust, und das Interesse an dem Gegenstande ein Ver-
nunftinteresse genannt werden müssen; denn wäre das
Interesse sinnlich und nicht bloss auf reine Vernunft-
prinzipien gegründet, so müsste Empfindung mit Lust
verbunden sein und so das Begehrungsvermögen be-
stimmen können. Obgleich, wo ein bloss reines Ver-
nunftinteresse angenommen werden muss, ihm kein In-
teresse der Neigung untergeschoben werden kann, so
können wir doch, um dem Sprachgebrauche gefällig zu
sein, einer Neigung selbst zu dem, was nur Objekt einer
intellektuellen Lust sein kann, ein habituelles Begehren
aus reinem Vernunftinteresse einräumen, welche alsdann
aber nicht die Ursache, sondern die Wirkung des letztern
Interesse sein würde, und die wir die sinnen freie
Neigung (propensio intellectualis) nennen könnten.
Noch ist die Concupiscenz (das Gelüsten) von dem
Begehren selbst, als Anreiz zur Bestimmung desselben,
zu unterscheiden. Sie ist jederzeit eine sinnliche, aber
noch zu keinem Akt des Begehrungsvermögens gediehene
Gemüthsbestimmung. 3)
Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der
Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst,
nicht in dem Objekte angetroffen wird, heisst ein Ver-
mögen, nach Belieben zu thun oder zu lassen.
Sofern es mit dem Bewusstsein des Vermögens seiner
Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden
ist, heisst es Willkür; ist es aber damit nicht ver-
bunden, so heisst der Aktus derselben ein Wunsch.
12 Rechtslehre. Einleitung
Das Begebrmigsvermögen, dessen innerer Bestimmimgs-
grund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft dea
Subjekts angetroffen wird, heisst der Wille. Der Wille
ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die
Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr
auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung
betrachtet, und hat selber für sich eigentlich keinen
Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür
■bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.
Unter dem Willen kann die Willkür, aber auch
der blosse Wunsch enthalten sein, sofern die Vernunft
das Begehrungsvermögen überhaupt bestimmen kann;
die Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt
werden kann, heisst die freie Willkür. Die, welche
nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb, stimuhis)
bestimmbar ist, würde thierische Willkür [arhitrium
hrutum) sein. Die menschliche Willkür ist dagegen eine
solche, welche durch Antriebe zwar afficirt, aber nicht
bestimmt wird, und ist also für sich (ohne erworbene
Fertigkeit der Vernunft) nicht rein; kann aber doch zu
Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden. Die
Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer
Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der
negative Begriff derselben. Der positive ist: das Ver-
mögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu
sein. Dieses ist aber nicht anders möglich, als durch
die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung
unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstem zum
allgemeinen Gesetze. Denn als reine Vernunft, auf die
•Willkür, unangesehen dieser ihres Objekts, angewandt,
kann sie, als Vermögen der Prinzipien (und hier prak-
tischer Prinzipien, mithin als gesetzgebendes Vermögen),
da ihr die Materie des Gesetzes abgeht, nichts mehr,
als die Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkür
zum allgemeinen Gesetze selbst, zum obersten Gesetze
und Bestimmungsgrunde der Willkür machen, und, da
die Maximen des Menschen aus subjektiven Ursachen
mit jenen objektiven nicht von selbst übereinstimmen,
dieses Gesetz nur schlechthin als Imperativ des Verbots
oder Gebots vorschreiben.'*)
Diese Gesetze der Freiheit heissen, zum Unterschiede
von Naturgesetzen, moralisch. Sofern sie nur auf
in die Metaphysik der Sitten. II. ]^3
blosse äussere Handlungen und deren Gesetzmässigkeit
gehen, heissen sie juridisch; fordern sie aber auch,
dass sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der
Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch, und als-
dann sagt man: die Uebereinstimmung mit den ersteren
ist die Legalität, die mit den zweiten die Morali-
tät der Handlung. Die Freiheit, auf die sich die erste-
ren Gesetze beziehen, kann nur die Freiheit im äusseren
Gebrauche; diejenige aber, auf die sich die letzteren
beziehen, die Freiheit sowohl im äussern, als Innern
Gebrauche der Willkür sein, sofern sie durch Vernunft-
gesetze bestimmt wird. So sagt man in der theoreti-
schen Philosophie: im Räume sind nur die Gegenstände
äusserer Sinne, in der Zeit aber alle, sowohl die Gegen-
stände äusserer, als des inneren Sinnes; weil die Vor-
stellungen beider doch Vorstellungen sind, und sofern
insgesammt zum inneren Sinne gehören. Ebenso mag
die Freiheit im äusseren oder inneren Gebrauche der
Willkür betrachtet werden, so müssen doch ihre Gesetze,
als reine praktische Vernunftgesetze für die freie Will-
kür überhaupt, zugleich innere Bestimmungsgründe der-
selben sein; obgleich sie nicht immer in dieser Bezie-
hung betrachtet werden dürfen.5)
II.
Ton der Idee und der Nothwendigkeit einer
Metaphysik der Sitten.
Dass man für die Naturwissenschaft, welche es mit
den Gegenständen äusserer Sinne zu thun hat, Prin-
zipien a 2yriori haben müsge, und dass es möglich, ja
nothwendig sei, ein System dieser Prinzipien, unter dem
Namen einer metaphysischen Naturwissenschaft, vor der
auf besondere Erfahrungen angewandten, d. i. der Phy-
sik, voranzuschicken, ist an einem anderen Orte bewie-
sen worden. Allein die letztere kann (wenigstens wenn
es ihr darum zu thun ist, von iliren Sätzen den Irrthum
abzuhalten) manches Prinzip auf das Zeugniss der Er-
fahrung als allgemein annehmen, obgleich das letztere,
wenn es in strenger Bedeutung allgemein gelten soll,
aus Gründen a priori abgeleitet werden müsste, wie
14 Rechtslehre. Einleitung
Newton das Prinzip der Gleichheit der Wirkung und
Gegenwirkung im Einflüsse der Körper auf einander
als auf Erfahrung gegründet annahm, und es gleichwohl
über die ganze materielle Natur ausdehnte. Die Chemi-
ker gehen noch weiter und gründen ihre allgemeinsten
Gesetze der Vereinigung und Trennung der Materien
durch ihre eigenen Kräfte gänzlich auf Erfahrung, und
vertrauen gleichwohl auf ihre Allgemeinheit und Noth-
wendigkeit so, dass sie in den mit ihnen angestellten
Versuchen keine Entdeckung eines Irrthums besorgen.
Allein mit den Sittengesetzen ist es anders bewandt.
Nur sofern sie als a iwiori gegründet und nothwendig
eingesehen werden können, gelten sie als Gesetze;
ja die Begriffe und Urtheile über uns selbst und unser
Thun und Lassen bedeuten gar nichts Sittliches, wenn
sie das, was sich bloss von der Erfahrung lernen lässt,
enthalten, und wenn man sich etwa verleiten lässt, etwas
aus der letztern Quelle zum moralischen Grundsatze zu
machen, so geräth man in Gefahr der gröbsten und
verderblichsten Irrthümer.
Wenn die Sittenlehre nichts, als Glückseligkeitslehre
wäre, so würde es ungereimt sein, zum Behufe dersel-
ben sich nach Prinzipien a 'priori umzusehen. Denn so
scheinbar es auch immer lauten mag : dass die Vernunft
noch vor der Erfahrung einsehen könne, durch welche
Mittel man zum dauerhaften Genüsse wahrer Freuden
des Lebens gelangen könne; so ist doch alles, was man
darüber a priori lehrt, entweder tautologisch, oder ganz
grundlos angenommen. Nur die Erfahrung kann lehren,
was uns Freude bringe. Die natürlichen Triebe zur
Nahrung, zum Geschlechte, zur Ruhe, zur Bewegung,
und (bei der Entwickelung unserer Naturanlagen) die
Triebe zur Ehre, zur Erweiterung unserer Erkenntniss
u. dgl. können allein und einem Jeden nur auf seine
besondere Art zu erkennen geben, worin er jene Freu-
den zu setzen, ebendieselbe kann ihm auch die Mittel
lehren, wodurch er sie zu suchen habe. Alles schein-
bare Vernünfteln a priori ist hier im Grunde nichts, als
durch Induction zur Allgemeinheit erhobene Erfahrung,
welche Allgemeinheit {secundmn jjrhicipia generalia
non universalia) noch dazu so kümmerlich ist, dass man
einem Jeden unendlich viel Ausnahmen erlauben muss,
in die Metaphysik der Sitten. II. 15
um jene Wahl seiner Lebensweise seiner besondem
Neigung und seiner Empfänglichkeit für die Vergnügen
anzupassen, und am Ende doch nur durch seinen, oder
Anderer ihren Schaden klug zu werden.
Allein mit den Lehren der Sittlichkeit ist es anders
bewandt. Sie gebieten für Jedermann, ohne Rücksicht
auf seine Neigungen zu nehmen; bloss weil und sofern
er frei ist und praktische Vernunft hat. Die Belehrung
in ihren Gesetzen ist nicht aus der Beobachtung seiner
selbst und der Thierheit in ihm, nicht aus der Wahr-
nehmung des Weltlaufs geschöpft, von dem was ge-
schieht und wie gehandelt wird (obgleich das deutsche
Wort Sitten, ebenso wie das lateinische mores^ nur
Manieren und Lebensart bedeutet), sondern die Vernunft
gebietet, wie gehandelt werden soll, wenngleich noch
kein Beispiel davon angetroffen würde; auch nimmt sie
keine Rücksicht auf den Vortheil, der uns dadurch er-
wachsen kann, und den freilich nur die Erfahrung leh-
ren könnte. Denn ob sie zwar erlaubt, unsem Vortheil
auf alle uns mögliche Art zu suchen; überdem auch
sich, auf Erfahrungszeugnisse fussend, von der Befolgung
ihrer Gebote, vornehmlich wenn Klugheit dazukommt,
im Durchschnitte grössere Vortheile, als von ihrer Ueber-
tretung wahrscheinlich versprechen kann; so beruht dar-
auf doch nicht die Autorität ihrer Vorschriften als Ge-
bote, sondern sie bedient sich derselben (als Rath-
schläge) nur als eines Gegengewichts wider die Verlei-
tungen zum Gegentheil, um den Fehler einer parteiischen
Wage in der praktischen Beurtheilung vorher auszuglei-
chen, und alsdann allererst dieser, nach dem Gewicht
der Gründe a iwiori einer reinen praktischen Vernunft,
den Ausschlag zu sichern.
Wenn daher ein System der Erkenntniss a primi
aus blossen Begriffen Metaphysik heisst, so wijrd eine
praktische Philosophie, welche nicht Natur, sondern die
Freiheit der Willkür zum Objekte hat, eine Metaphysik
der Sitten voraussetzen und bedürfen: d. i. eine solche
zu haben ist selbst Pflicht, und jeder Mensch hat sie
auch, obzwar gemeiniglich nur auf' dunkle Art in sich;
denn wie könnte er ohne Prinzipien a priori eine all-
gemeine Gesetzgebung in sich zu haben glauben? So
wie es aber in einer Metaphysik der Natur auch Prin-
16 Eechtslehre. Einleitung
zipien der Anwendung jener allgemeinen obersten Grund-
sätze von einer Natur überhaupt auf Gegenstände der
Erfahrung geben muss; so wird es auch eine Metaphy-
sik der Sitten daran nicht können mangeln lassen, und
wir werden oft die besondere Natur des Menschen, die
nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstande
nehmen müssen, um an ihr die Folgerungen aus den
allgemeinen moralischen Prinzipien zu zeigen; ohne dass
jedoch dadurch der Reinigkeit der letztern etwas benom-^
men, noch ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft'
gemacht wird. — Das will so viel sagen, als : eine Me-
taphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegrün-
det, aber doch auf sie angewandt werdeu.6)
Das Gegenstück einer Metaphysik der Sitten, als das
andere Glied der Eintheilung der praktischen Philosophie
überhaupt, würde die moralische Anthropologie sein,
welche aber nur die subjektiven, hindernden sowohl,
als begünstigenden Bedingungen der Ausführung der
Gesetze der ersteren in der menschlichen Natur, die Er-
zeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grund-
sätze (in der Erziehung der Schul- und Volksbelehrung)
und dergleichen andere sich auf die Erfahrung grün-
dende Lehren und Vorschriften enthalten würde, und
die nicht entbehrt werden kann, aber durchaus nicht
vor jener vorausgeschickt, oder mit ihr vermischt werden
muss; weil man alsdann Gefahr läuft, falsche, oder
wenigstens nachsichtliche moralische Gesetze heraus-
zubringen, welche das für unerreichbar vorspiegeln, was
nur eben darum nicht erreicht wird, weil das Gesetz
nicht in seiner Reinigkeit (als worin auch seine Stärke
besteht) eingesehen und vorgetragen worden, oder gar
unächte, oder unlautere Triebfedern zu dem, was an
sich pflichtmässig und gut ist, gebraucht werden, welche
keine sicheren moralischen Grundsätze übrig lassen;
weder zum Leitfaden der Beurtheilung, noch zur Dis-
ziplin des Gemüths in der Befolgung der Pflicht, deren
Vorschrift schlechterdings nur durch reine Vernunft
a priori gegeben werden muss.
Was aber die Obereintheilung , unter welcher die
eben jetzt erwähnte steht, nämlich die der Philosophie
in die theoretische und praktische, und dass diese keine
andere, als die moralische Weltweisheit sein könne, be-
in die Metaphysik der Sitten. III. 17
trifft, darüber habe ich mich schon anderwärts (in der
Kritik der ürtheilskraft) erklärt. Alles Praktische, was
nach Naturgesetzen möglich sein soll, (die eigentliche
Beschäftigung der Kunst) hängt, seiner Vorschrift nach,
gänzlich von der Theorie der Natur ab; nur das Prak-
tische nach Freiheitsgesetzen kann Prinzipien haben, die
von keiner Theorie abhängig sind; denn über die Natur-
bestimmungen hinaus giebt es keine Theorie. Also kann
die Philosophie unter dem praktischen Theile (neben
ihrem theoretischen) keine technisch-, sondern bloss
moralisch-praktische Lehre verstehen; und wenn
die Fertigkeit der Willkür nach Freiheitsgesetzen, im
Gegensatze der Natur, hier auch Kunst genannt wer-
den sollte, so würde darunter eine solche Kunst ver-
standen werden müssen, welche ein System der Freiheit
gleich einem Systeme der Natur möglich macht; fürwahr
eine göttliche Kunst, wenn wir im Stande wären, das,
was uns die Vernunft vorschreibt, vermittelst ihrer auch
völlig auszuführen und die Idee davon ins Werk zu
richten. ^)
III.
Ton der Eintheilimg einer Metaphysik der
Sitten.*)
Zu aller Gesetzgebung (sie mag nun innere oder
äussere Handlungen, und diese entweder a priori durch
*) Die Deduktion der Einth eilung eines Systems, d. i.
der Beweis ihrer Vollständigkeit sowohl, als auch der
Stetigkeit, dass nämlich der Uebergang vom eingetheil-
ten Begriffe zum Gliede der Eintheilung in der ganzen
Reihe der üntereintheilungen durch keinen Sprung {divisio
■per saltum) geschehe, ist eine der am schwersten zu erfül-
lenden Bedingungen für den Baumeister eines Systems.
Auch was der oberste eingetheilte Begriff zu der
Eintheilung Recht oder Unrecht [aut Jas aut nefas) sei,
hat seine Bedenklichkeit. Es ist der Akt der freien Will-
kür überhaupt. So wie die Lehrer der Ontologie vom
Etwas und Nichts zu oberst anfangen, ohne inne zu wer-
den, dass dieses schon Glieder einer Eintheilung sind, dazu
noch der eingetheilte Begriff fehlt, der kein anderer, als der
Begriff von einem Gegenstande überhaupt sein kann.
Kant, Metaphysik der Sitten. 2
IQ Rechtslehre. Einleitung
blosse Vernunft, oder durch die Willkür eines Andern
vorschreiben) gehören zwei Stücke: erstlich, ein Gle-
setz, welches die Handlung, die geschehen soll, objek-
tiv als nothwendig vorstellt, d. i. welches die Handlung
zur Pflicht macht; zweitens, eine Triebfeder, welche den
Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung sub-
jektiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft;
mithin ist das zweite Stück dieses: dass das Gesetz die
Pflicht zur Triebfeder macht. Durch das erstere wird
die Handlung als Pflicht vorgestellt, welches ein blosses
theoretisches Erkenntniss der möglichen Bestimmung der
Willkür, d. i. praktischer Regeln ist; durch das zweite
wird die Verbindlichkeit, so zu handeln, mit einem Be-
stimmungsgrunde der Willkür überhaupt im Subjekte
verbunden.
Alle Gesetzgebung also (sie mag auch in Ansehung
der Handlung, die sie zur Pflicht macht, mit einer an-
deren übereinkommen, z. B. die Handlungen mögen in
allen Fällen äussere sein) kann doch in Ansehung der
Triebfedern unterschieden sein. Diejenige, welche eine
Handlung zur Pflicht, und diese Pflicht zugleich zur
Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche
das Letztere nicht im Gesetze mit einschliesst, mithin
auch eine andere Triebfeder, als die Idee der Pflicht
selbst, zulässt, ist juridisch. Man sieht in Ansehung
der letztern leicht ein, dass diese von der Idee der
Pflicht unterschiedene Triebfeder, von den pathologischen
Bestimmungsgründen der Willkür der Neigungen und
Abneigungen, und unter diesen von denen der letzteren
Art hergenommen sein müssen, weil es eine Gesetz-
gebung, welche nöthigend, nicht eine Anlockung, die
einladend ist, sein soll.
Man nennt die blosse Uebereinstimmung oder Nicht-
übereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne
Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität
(Gesetzmässigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee
der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der
Handlung ist, die Moral ität (Sittlichkeit) derselben.
Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung kön-
nen nur äussere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung
nicht verlangt, dass die Idee dieser Pflicht, welche
innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Will-
in die Metaphysik der Sitten. III. I9
kür des Handelnden sei, und, da sie doch einer für Ge-
setze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äussere mit dem
Gesetze verbinden kann. Die ethische Gesetzgebung
dagegen macht zwar auch innere Handlungen zu Pflich-
ten, aber nicht etwa mit Ausschliessung der äusseren,
sondern geht auf alles, was Pflicht ist, überhaupt. Aber
eben darum, weil die ethische Gesetzgebung die innere
Triebfeder der Handlung (die Idee der Pflicht) in ihr
Gesetz mit einschliesst, welche Bestimmung durchaus
nicht in die äussere Gesetzgebung einiiiessen muss; so
kann die ethische Gesetzgebung keine äussere (selbst
nicht die eines göttlichen Willens) sein, ob sie zwar die
Pflichten, die auf einer anderen, nämlich äusseren Ge-
setzgebung beruhen, als Pflichten, in ihre Gesetz-
gebung zu Triebfedern aufnimmt.
Hieraus ist zu ersehen, dass alle Pflichten bloss
darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik gehören;
aber ihre Gesetzgebung ist darum nicht allemal in
der Ethik enthalten, sondern von vielen derselben ausser-
halb derselben. So gebietet die Ethik, dass ich eine in
einem Vertrage gethane Anheischigmachung, wenn mich
der andere Theil gleich nicht dazu zwingen könnte, doch
erfüllen müsse; allein sie nimmt das Gesetz (pacta sunt
servanda)^ und die diesem korrespondirende Pflicht aus
der Rechtslehre als gegeben an. Also nicht in der
Ethik, sondern im jus liegt die Gesetzgebung, dass an-
genommene Versprechen gehalten werden müssen. Die
Ethik lehrt hernach nur, dass, wenn die Triebfeder,
welche die juridische Gesetzgebung mit jener Pflicht
verbindet, nämlich der äussere Zwang, auch weggelassen
wird, die Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder
hinreichend sei. Denn wäre das nicht, und die Gesetz-
gebung selber nicht juridisch, mithin die aus ihr ent-
springende Pflicht nicht eigentlich Rechtspflicht (zum
Unterschiede von der Tugendpflicht); so würde man die
Leistung der Treue (gemäss seinem Versprechen in
einem Vertrage) mit denen Handlungen des Wohlwollens
und der Verpflichtung zu ihnen in eine Klasse setzen,
welches durchaus nicht geschehen muss. Es ist keine
Tugendpflicbt, sein Versprechen zu halten, sondern eine
Rechtspflicht, zu deren Leistung man gezwungen werden
kann. Aber es ist doch eine tugendhafte Handlung
2*
2Q Rechtslehre. Einleitung
(Beweis der Tugend), es aucli da zu thun, wo kein
Zwang besorgt werden darf. Rechtslehre und Tugend-
lehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre
verschiedenen Pflichten, als vielmehr durch die Verschie-
denheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die
andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet.
Die ethische Gesetzgebung (die Pflichten mögen
allenfalls auch äussere sein) ist diejenige, welche nicht
äusserlich sein kann; die juridische ist, welche auch
äusserlich sein kann. So ist es eine äusserliche Pflicht
sein vertragsmässiges Versprechen zu halten; aber das
Gebot, dieses bloss darum zu thun, weil es Pflicht ist,
ohne auf eine andere Triebfeder Rücksicht zu nehmen,
ist bloss zur Innern Gesetzgebung gehörig. Also nicht
als besondere Art von Pflicht (eine besondere Art Hand-
lungen, zu denen man verbunden ist), — denn es ist
in der Ethik sow^ohl, als im Rechte eine äussere Pflicht,
t- sondern weil die Gesetzgebung im angeführten Falle
eine innere ist und keinen äusseren Gesetzgeber haben
kann, wird die Verbindlichkeit zur Ethik gezählt. Aus
eben dem Grunde werden die Pflichten des Wohlwollens,
ob sie gleich äussere Pflichten (Verbindlichkeiten zu
äusseren Handlungen) sind, doch zur Ethik gezählt, weil
ihre Gesetzgebung nur innerlich sein kann. — Die Ethik
hat freilich auch ihre besondern Pflichten (z. B. die
gegen sich selbst), aber hat doch auch mit dem Rechte
Pflichten, aber nur nicht die Art der Verpflichtung
gemein. Denn Handlungen bloss darum, weil es Pflich-
ten sind, ausüben, und den Grundsatz der Pflicht selbst,
woher sie auch komme, zur hinreichenden Triebfeder
der Willkür zu machen, ist das Eigenthüm liehe der
ethischen Gesetzgebung. So giebt es also zwar viele
direkt- ethische Pflichten, aber die innere Gesetzge-
bung macht auch die übrigen, alle und insgesammt, zu
indirekt-ethischen. 8)
IV.
Yorbegriffe zur Metaphysik der Sitten.
(Philosophia practica universalis.)
Der Begriö" der Freiheit ist ein reiner Vernunft-
begrifi", der eben darum für die theoretische Philosophie
in die Metaphysik der Sitten. IV. 21
transscendent, d. i. ein solcher ist, dem kein angemesse-
nes Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gege-
ben werden kann, welcher also keinen Gegenstand einer
uns möglichen theoretischen Erkenntniss ausmacht, und
schlechterdings nicht für ein konstitutives, sondern ledig-
lich als regulatives, und zwar nur bloss negatives Prin-
zip der spekulativen Vernunft gelten kann, im prakti-
schen Gebrauche derselben aber seine Realität durch
praktische Grundsätze beweist, die, als Gesetze, eine
Kausalität der reinen Vernunft, unabhängig von allen
empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt)
die Willkür zu bestimmen, und einen reinen Willen in
uns beweisen in welchem die sittlichen Begriffe und
Gesetze ihren Ursprung haben.
Auf diesem (in praktischer Rücksicht) positiven Be-
griffe der Freiheit gründen sich unbedingte praktische
Gesetze, welche moralisch heissen, die in Ansehung
unser, deren Willkür sinnlich affizirt und so dem reinen
Willen nicht von selbst angemessen, sondern oft wider-
strebend ist, Imperativen (Gebote oder Verbote) und
zwar kategorische (unbedingte) Imperativen sind, wo-
durch sie sicli von den technischen (den Kunstvorschrif-
ten), als die jederzeit nur bedingt gebieten, unterschei-
den, nach denen gewisse Handlungen erlaubt oder
unerlaubt, d. i. moralisch möglich oder unmöglich,
einige derselben aber, oder ihr Gegentheil moralisch
nothwendig, d. i. verbindlich sind; woraus dann für jene
der Begriff einer Pflicht entspringt, deren Befolgung oder
Uebertretung zwar auch mit einer Lust oder Unlust von
besonderer Art (der eines moralischen Gefühls) verbun
den ist, auf welche wir aber [weil sie nicht den Grund
der praktischen Gesetze, sondern nur die subjektive
Wirkung im Gemüthe bei der Bestimmung unserer
Willkür durch jene betreffen und (ohne jener ihrer Gül-
tigkeit oder Einflüsse objektiv, d. i. im ürtheil der Ver-
nunft etwas hinzuzuthun oder zu benehmen) nach Ver-
schiedenheit der Subjekte verschieden sein kann] in
praktischen Gesetzen der Vernunft gar nicht Rücksicht
nehmen.
Folgende Begriffe sind der Metaphysik der Sitten in
ihren beiden Theilen gemein.
Verbindlichkeit ist die Noth wendigkeit einer
22 Rechtslehre. Emleitnng
freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der
Vernunft.
Der Imperativ ist eine praktische Regel, wo-
durch die an sich zufällige Handlung nothwendig
gemacht wird. Er unterscheidet sich darin von
einem praktischen Gesetze, dass dieses zwar die
Nothwendigkeit einer Handlung vorstellig macht,
aber ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob diese
an sich schon dem handelnden Subjekte (etwa einem
heiligen Wesen) innerlich nothwendig beiwohne,
oder (wie dem Menschen) zufällig sei; denn wo das
Erstere ist, da findet kein Imperativ statt. Also
ist der Imperativ eine Regel, deren Vorstellung die
subjektiv- zufällige Handlung nothwendig macht;
mithin das Subjekt, als ein solches, was zur Ueber-
einstimmung mit dieser Regel genöthigt (nezes-
sitirt) werden muss, vorstellt. — Der kategorische
(unbedingte) Imperativ ist derjenige, welcher nicht
etwa mittelbar, durch die Vorstellung eines Zwecks,
der durch die Handlung erreicht werden könne, son-
dern der sie durch die blosse Vorstellung dieser
Handlung selbst (ihrer Form), also unmittelbar als
objektiv- nothwendig denkt und nothwendig macht;
dergleichen Imperativen keine andere praktische
Lehre, als allein die, welche Verbindlichkeit vor-
schreibt (die der Sitten), zum Beispiele aufstellen
kann. Alle anderen Imperativen sind technisch
und insgesammt bedingt. Der Grund der Möglich-
keit kategorischer Imperativen liegt aber darin : dass
sie sich auf keine andere Bestimmung der Willkür
(wodurch ihr eine Absicht untergelegt werden
kann), als lediglich auf die Freiheit derselben
beziehen. -)
Erlaubt ist eine Handlung {licitum)^ die der Ver-
bindlichkeit nicht entgegen ist; und diese Freiheit, die
durch keinen entgegengesetzten Imperativ eingeschränkt
wird, heisst die ßefugniss {facultas moralis). Hieraus
versteht sich von selbst, was unerlaubt {illicitum) sei.
Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher Jemand
verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlich-
keit, und es kann einerlei Pflicht (der Handlung nach)
in die Metaphysik der Sitten. IV. 23
sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden
werden können.
Der kategorische Imperativ, indem er eine Ver-
bindlichkeit in Ansehung gewisser Handlungen aus-
sagt, ist ein moralisch-praktisches Gesetz. Weil
aber Verbindlichkeit nicht bloss praktische Nothwen-
digkeit (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt),
sondern auch Nöthigung enthält, so ist der ge-
dachte Imperativ entweder ein Gebot- oder Verbot-
gesetz, nachdem die Begehung oder Unterlassung
als Pflicht vorgestellt wird. Eine Handlung, die
weder geboten noch verboten ist, ist bloss erlaubt,
weil es in Ansehung ihrer gar kein, die Freiheit
(Befugniss) einschränkendes Gesetz und also auch
keine Pflicht giebt. Eine solche Handlung heisst
sittlich - gleichgültig [indifferens ^ adiaphoron, res
merae facidtatis). Man kann fragen : ob es der-
gleichen gebe, und, wenn es solche giebt, ob dazu,
dass es Jemandem frei stehe, etwas nach seinem
Belieben zu thun, oder zu lassen, ausser dem Ge-
botgesetze {lex praeceptiva, lex mcmdati,) und dem
Verbotgesetze (lex pi'ohibitiva, lex vetiti,) noch ein
Erlaubuissgesetz {lex p>eTmisswa) erforderlich sei.
Wenn dieses ist, so würde die Befugniss nicht alle-
mal eine gleichgültige Handlung {adiaphoro7i) be-
treffen ; denn zu einer solchen, wenn man sie nacli
sittlichen Gesetzen betrachtet, würde kein beson-
deres Gesetz erfordert werden, i^)
That heisst eine Handlung, sofern sie unter Ge-
setzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern
das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Will-
kür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen
solchen Akt als Urheber der Wirkung betrachtet, und
diese, zusammt der Handlung selbst, können ihm zu-
gerechnet werden, wenn man vorher das Gesetz
kennt, kraft welches auf ihnen eine Verbindlichkeit
ruht.
Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen
einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Per-
sönlichkeit ist also nichts Anderes, als die Freiheit eines
vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die
psychologische aber bloss das Vermögen, sich seiner
24 Rechtslehre. Einleitung
nelbst in den verschiedenen Zuständen der Identität sei-
des Daseins bewusst zu werden); woraus dann folgt;
dass eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen,
die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit
Anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist.
Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig
ist. Ein jedes Objekt der freien Willkür, welches selbst
der Freiheit ermangelt, heisst daher Sache (res coriyo-
Recht oder Unrecht (rectum aut minus rectum)
überhaupt ist eine That, sofern sie pflichtmässig oder
pflichtwidrig {factum licitum aut illicitum,) ist; die
Pflicht selbst mag, ihrem Inhalte oder ihrem Ursprünge
nach, sein, von welcher Art sie wolle. Eine pflicht-
widrige That heisst Ueb er tretung (reatus).
Eine unvorsätzliche Uebertretung, die gleichwohl
zugerechnet werden kann, heisst blosse Verschuldung
{cul2?a). Eine vorsätzliche (d. i. diejenige, welche mit
dem Bewusstsein, dass sie Uebertretung sei, verbunden
ist) heisst Verbrechen {dolus). Was nach äusseren
Gesetzen recht ist, heisst gerecht (justum), was es
nicht ist, ungerecht {injustum) . ^ ')
Ein Widerstreit der Pflichten {collisio officio-
rum s. ohligationum) würde das Verhältniss derselben
sein, durch welches eine derselben die andere (ganz oder
zum Theil) aufhöbe. — Da aber Pflicht und Verbind-
lichkeit überhaupt Begrifi*e sind, welche die objektive
praktische Not h wendigkeit gewisser Handlungen aus-
drücken und zwei einander entgegengesetzte Regeln
nicht zugleich nothwendig sein können, sondern, wenn
nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist
nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine
Pflicht, sondern sogar pflichtwidrig; so ist eine Colli-
sion von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht
denkbar {obligatioties non coUiduntur). Es können aber
gar wohl zwei Gründe der Verbindlichkeit {rationes
ohligandi), deren einer aber, oder der andere, zur Ver-
pflichtung nicht zureichend ist {rationes ohligandi non
ohliganies), in einem Subjekt und der Regel, die es sich
vorschreibt, verbunden sein, da dann der eine nicht
Pflicht ist. — Wenn zwei solcher Gründe einander wider-
streiten, so sagt die praktische Philosophie nicht: dass
in die Metaphysik der Sitten. IV. 25
die stärkere Verbindiichkeit die Oberhand behalte {fortior
obligatio vincit), sondernder stärkere Verpflichtungs-
grund behält den Platz (fortior ohligandi ratio vincit).^^)
üeberhaupt heissen die verbindenden Gesetze, für
die eine äussere Gesetzgebung möglich ist, äussere Gesetze
{leges externae). Unter diesen sind diejenigen, zu denen
die Verbindlichkeit auch ohne äussere Gesetzgebung
a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zwar
äussere, aber natürliche Gesetze; diejenigen dagegen,
die ohne wirkliche äussere Gesetzgebung gar nicht ver-
binden, also ohne die letztere nicht Gesetze sein wür-
den, heissen positive Gesetze. Es kann also eine
äussere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter natür-
liche Gesetze enthielte; alsdenn aber müsste doch ein
natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität
des Gesetzgebers (d. i. die Befugniss, durch seine, blosse
Willkür Andere zu verbinden) begründetet^)
Der Grundsatz, welcher gewisse Handlungen zur
Pflicht macht, ist ein praktisches Gesetz. Die Regel
des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven
Gründen zum Prinzip macht, heisst seine Maxime;
daher bei einerlei Gesetzen doch die Maximen der Han-
delnden sehr verschieden sein können.
Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aus-
sagt, was Verbindlichkeit sei, ist: handle nach einer
Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz
gelten kann. — Deine Handlungen musst du also zu-
erst nach ihrem subjektiven Grundsatze betrachten; ob
aber dieser Grundsatz auch objektiv gültig sei, kannst
du nur daran erkennen, dass, weil deine Vernunft ihn
der Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich
als allgemein gesetzgebend zu denken, er sich zu einer
solchen allgemeinen Gesetzgebung qualificire.
Die Einfachheit dieses Gesetzes in Vergleichung mit
den grossen und mannigfaltigen Forderungen, die daraus
gezogen werden können, imgleichen das gebietende An-
sehen, ohne dass es doch sichtbar eine Triebfeder bei
sich führt, muss freilich anfänglich befremden. Wenn
man aber, in dieser Verwunderung über ein Vermögen
unserer Vernunft, durch die blosse Idee der Qualifikation
einer Maxime zur Allgemeinheit eines praktischen
Gesetzes die Willkür zu bestimmen, belehrt wird, dass
2Q Rechtslehre, Einleitung
eben diese praktischen Gesetze (die moralischen) eine
Eigenschaft der Willkür zuerst kund machen, auf die
keine spekulative Vernunft weder aus Gründen a prioriy
noch durch irgend eine Erfahrung gerathen hätte, und,
wenn sie darauf gerieth, ihre Möglichkeit theoretisch
durch nichts darthun könnte, gleichwohl aber jene prak-
tischen Gesetze diese Eigenschaft, nämlich die Freiheit,
unwidersprechlich darthun; so wird es weniger befrem-
den, diese Gesetze, gleich mathematischen Postulaten,
un erweislich und doch apodiktisch zu finden, zu-
gleich aber ein ganzes Feld von praktischen Erkennt-
nissen vor sich eröffnet zu sehen, wo die Vernunft mit
derselben Idee der Freiheit, ja jeder anderer ihrer Ideen
des üebersinnlichen im Theoretischen alles schlechter-
dings vor ihr verschlossen finden muss. Die Ueberein-
stimmung einer Handlung mit dem Pflichtgesetze ist die
Gesetzmässigkeit {legalitas)^ — die der Maxime der
Handlung mit dem Gesetze die Sittlichkeit {morali-
tas) derselben. Maxime aber ist das subjektive
Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur
Regel macht (wie es nämlich handeln will). Dagegen
ist der Grundsatz der Pflicht das, was ihm die Vernunft
schlechthin, mithin objektiv gebietet (wie es handeln
aoU)M)
Der oberste Grundsatz der Sittenlehre ist also:
handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines
Gesetz gelten kann. — Jede Maxime, die sich hierzu
nicht qualificirt, ist der Moral zuwider.
Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von
der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Men-
schen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts
Anderes, als bloss auf Gesetz geht, kann weder
frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf
Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetz-
gebung für die Maxime der Handlungen (also die
praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlech-
terdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung
fähig ist. Nur die Willkür also kann frei ge-
nannt werden.
Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch
das Vermögen der Wahl, für oder wider das Ge-
setz zu handeln {Lihertas indifferentiae)^ definirt
in die Metaphysik der Sitten. IV. 27
werden; wie es wolil Einige versucht haben, —
obzwar die Willkür als Phänomen davon in der
Erfahrung häufige Beispiele giebt. Denn die Frei-
heit (so wie sie uns durchs moralische Gesetz allererst
kundbar wird) kennen wir nur als negative Eigen-
schaft in uns, nämlich durch keine sinnlichen Be-
stimmungsgründe zum Handeln genöthigt zu wer-
den. Als Noumen aber, d. i. nach dem Vermögen
des Menschen bloss als Intelligenz betrachtet, wie
sie in Ansehung der sinnlichen Willkür nöthigend
ist, mithin ihrer positiven Beschaffenheit nach, können
wir sie theoretisch gar nicht darstellen. Nur
das können wir wohl einsehen: dass, obgleich der
Mensch, als Sinnenwesen, der Erfahrung nach
ein Vermögen zeigt, dem Gesetze nicht allein ge-
mäss, sondern auch zuwider zu wählen, dadurch
doch nicht seine Freiheit als intelligiblen We-
sens definirt werden könne; weil Erscheinungen
kein übersinnliches Objekt (dergleichen doch die
freie Willkür ist) verständlich machen können, und
dass die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden
kann, dass das vernünftige Subjekt auch eine wider
seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl
treffen kann; wenngleich die Erfahrung oft genug
beweist, dass es geschieht; (wovon wir doch die
Möglichkeit nicht begreifen können). — Denn ein
Anderes ist, einen Satz (der Erfahrung) einräumen,
ein Anderes, ihn zum Erklärungsprinzip (des
Begriffs der freien Willkür) und allgemeinen Unter-
scheidungsmerkmal (vom ai'bitrio bruto s. servo)
machen; weil das Erstere nicht behauptet, dass
das Merkmal nothwendig zum Begriff gehöre,
welches doch zum Zweiten erforderlich ist. —
Die Freiheit, in Beziehung auf die innere Gesetz-
gebung der Vernunft, ist eigentlich allein ein Ver-
mögen; die Möglichkeit, von dieser abzuweichen,
ein Unvermögen. Wie kann nun jenes aus diesem
erklärt werden? Es ist eine Definition, die über
den praktischen Begriff noch die Ausübung des-
selben, wie sie die Erfahrung lehrt, hinzuthut, eine
Bastarterklärung (deßnitio liyhrida)^ welche den '
Begriff im falschen Lichte darstellt. ^5)
28 Rechtslehre. Einleitung
Gesetz (ein moralisch-praktisches) ist ein Satz, der
einen kategorischen Imperativ (Gebot) enthält. Der Ge-
bietende (imperans) durch ein Gesetz ist der Gesetz-
geber (legislatm^). Er ist Urheber {auctor) der Ver-
bindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht immer Ur-
heber des Gesetzes. Im letzteren Falle würde das Ge-
setz positiv (zufällig) und willkürlich sein. Das Gesetz,
was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene
Vernunft verbindet, kann auch aus dem Willen eines
höchsten Gesetzgebers, d. i. eines solchen, der lauter
Rechte und keine Pflichten hat (mithin dem göttlichen
Willen), hervorgehend ausgedrückt werden, welches aber
nur die Idee von einem moralischen Wesen bedeutet,
dessen Wille für alle Gesetz ist, ohne ihn doch als
Urheber desselben zu denken.
Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung
ist das Urtheil, wodurch Jemand als Urheber {causa
lihera) einer Handlung, die alsdann That [factum)
heisst und unter Gesetzen steht, angesehen wird ; welches,
wenn es zugleich die rechtlichen Folgen aus dieser
That bei sich führt, eine rechtskräftige (imputatio ju-
diciaria s. valida), sonst aber nur eine beurtheilende
Zurechnung (imputatio dijudicatoria) sein würde. —
Diejenige (physische oder moralische) Person, welche
rechtskräftig zuzurechnen die Befugniss hat, heisst der
Richter oder auch der Gerichtshof (y^i<^/e.^' 5. /bn«m).i 6)
Was Jemand pflichtmässig mehr thut, als wozu er
nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist ver-
dienstlich (meritum)'^ was er nur gerade dem letzteren
angemessen thut, ist Schuldigkeit (dehßum)\ was
er endlich weniger thut, als die letztere fordert, ist
moralische Verschuldung (demeritum). Der recht-
liche Effekt einer Verschuldung ist die Strafe (poena);
der einer verdienstlichen That Belohnung (praemium)
(vorausgesetzt, dass sie, im Gesetz verheissen, die Be-
wegursache war); die Angemessenheit des Verfahrens
zur Schuldigkeit hat gar keinen rechtlichen Effekt. —
Die gütige Vergeltung (r emuner atio s. repensio
henefica) steht zur That in gar keinem Rechtsver-
hältnisse.
Die guten oder schlimmen Folgen einer schul-
digen Handlung, — imgleichen die Folgen der Unter-
in die Metaphysik der Sitten, IV. 29
lassung einer verdienstlichen, können dem Subjekte
nicht zugerechnet werden [modus imputationis tollens).
Die guten Folgen einer verdienstlichen, — im-
gleichen die schlimmen Folgen einer unrechtmässigen
Handlung können dem Subjekte zugerechnet wer-
den {modus imputationis ponens).
Subjektiv ist der Grad der Zurechnungs-
fähigkeit {imputahilitas) der Handlungen nach
der Grösse der Hindernisse zu schätzen, die dabei
haben überwunden werden müssen. — Je grösser
die Naturhindernisse (der Sinnlichkeit), je kleiner
das moralische Hinderniss (der Pflicht), desto mehr
wird die gute That zum Verdienst angerechnet.
Z. B. wenn ich einen mir ganz fremden Menschen
mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus grosser
Noth rette.
Dagegen: je kleiner das Naturhinderniss , je
grösser das Hinderniss aus Gründen der Pflicht,
desto mehr wird die Uebertretung (als Verschuldung)
zugerechnet. — Daher der Gemüthszustand, ob das
Subjekt die That im Affekt, oder mit ruhiger üeber-
legung verübt habe, in der Zurechnung einen Unter-
schied macht, der Folgen hat.*'')
Einleitung
in die Reclitslehre.
§. A.
Was^die Rechtslehre sei?
Der Inbegriff der Gesetze, für welche eine äussere Ge-
setzgebung möglich ist, heisst die Rechtslehre (jus). Ist
eine solche Gesetzgebung wirklich, so ist sie Lehre des
positiven Rechts, und der Rechtskundige derselben
oder Rechtsgelehrte {jurisconsultus) heisst rechts-
er fahren ijurisperitus), wenn er die äusseren Gesetze
auch äusserlich, d. i. in ihrer Anwendung auf in der
Erfahrung vorkommende Fälle kennt, die auch wohl
Rechtsklugheit {jurispriidentia) werden kann, ohne
eide zusammen aber blosse Rechtswissenschaft
{jurisscientia) bleibt. Die letztere Benennung kommt
der systematischen Kenntniss der natürlichen Rechts-
lehre {jus naturae) zu, wiewohl der Rechtskundige in
der letzteren zu aller positiven Gesetzgebung die un-
wandelbaren Prinzipien hergeben muss.
§. B.
Was ist Recht?
Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten,
wenn er nicht in Tautologie verfallen, oder statt einer
allgemeinen Auflösung auf das, was in irgend einem
Lande die Gesetze zu irgend einer Zeit wollen, ver-
Rechtslehre. Einleitung in die Rechtslehre. §. B. 31
weisen will, ebenso in Verlegenheit setzen, als die be-
rufene Aufforderung: was ist Wahrheit? den Logiker.
"Was Rechtens sei {quid sit juris), d. i. was die Gesetze
an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen
oder gesagt haben, kann er noch wohl angeben; aber
ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allge-
meine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl,
als Unrecht {justum et injustum), erkennen könne, bleibt
ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeit lang jene
empirischen Prinzipien verlässt, die Quellen jener ür-
theile in der blossen Vernunft sucht (wiewohl ihm dazu
jene Gesetze vortrefflich zum Leitfaden dienen können),
um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grund-
lage zu errichten. Eine bloss empirische Rechtslehre
ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus Fabel) ein Kopf,
der schön sein mag, nur Schade! dass er kein Gehirn hat.
Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm
korrespondirende Verbindlichkeit bezieht (d. i. der mo-
ralische Begriff derselben), betrifft erstlich nur das
äussere und zwar praktische Verhältniss einer Person
gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Fakta
auf einander (unmittelbar, oder mittelbar) Einfluss haben
können. Aber zweitens bedeutet er nicht das Ver-
hältniss der Willkür auf den Wunsch (folglich auch
auf das blosso Bedürfniss) des Anderen, wie etwa in
den Handlungen der Wohlthätigkeit oder Hartherzigkeit,
sondern lediglich auf die Willkür des Anderen. Drit-
tens in diesem wechselseitigen Verhältnisse der Willkür
kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d. i.
der Zweck, den ein Jeder mit dem Objekt, was er will,
zur Absicht hat, in Betrachtung, z. B. es wird nicht
gefragt, ob Jemand bei der Waare, die er zu seinem
eigenen Handel bei mir kauft, auch seinen Vortheil fin-
den möge, oder nicht, sondern nur nach der Form
im Verhältniss der beiderseitigen Willkür, sofern sie
bloss als frei betrachtet wird, und ob dadurch die
Handlung Eines von Beiden sich mit der Freiheit des
Anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammen
vereinigen lasse.
Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen,
unter denen die Willkür des Einen mit der W^illkür des
32 Rechtslehre. Einleitung
Anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit
zusammen vereinigt werden kann, i^)
§. C.
Allgemeines Prinzip des Rechts.
„Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren
Maxime die Freiheit der Willkür eines Jeden mit Jeder-
manns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusam-
men bestehen kann etc."
Wenn also meine Handlung oder überhaupt mein
Zustand mit der Freiheit von Jedermann nach einem
allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so tbut
der mir Unrecht, der mich daran hindert; denn dieses
Hinderniss (dieser Widersti'eit) kann mit der Freiheit
nach allgemeinen Gesetzen nicht bestehen.
Es folgt hieraus auch: dass nicht verlangt werden
kann, dass dieses Prinzip aller Maximen selbst wieder-
um meme Maxime sei, d. i. dass ich es mir zur Ma-
xime meiner Handlung mache; denn ein Jeder kann
frei sein, obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent
wäre, oder ich im Herzen derselben gerne Abbruch thun
möchte, wenn ich nur durch meine äussere Hand-
lung ihr nicht Eintrag thue. Das Rechthandeln mir
zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die
Ethik an mich thut.
Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äusser-
lich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der
Freiheit von Jedermann nach einem allgemeinen Gesetze
zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches
mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar
nicht erwartet, noch weniger fordert, dass ich ganz um
dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene
Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die
Vernunft sagt nur, dass sie in ihrer Idee darauf ein-
geschränkt sei und von Andern auch thätlich einge-
schränkt werden dürfe; und dieses sagt sie als ein Po-
stulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist.
— Wenn die Absicht nicht ist, Tugend zu lehren, son-
dern nur, was recht sei, vorzutragen, so darf und soll
in die Rechtslehre. §. D. E. 33
man selbst nicht jenes Reclitsgesetz als Triebfeder der
Handlung vorstellig machen. !->)
§. D.
Das Recht ist mit der Befugniss zu zwingen
verbunden.
Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung
entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wir-
kung und stimmt mit ihr zusammen. Nun ist alles, was
Unrecht ist, ein Hinderniss der Freiheit nach allgemeinen
Gesetzen ; der Zwang aber ist ein Hinderniss oder Wider-
stand, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein
gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniss
der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht)
ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird,
als Verhinderung eines Hindernisses der Frei-
heit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zu-
sammenstimmend, d. i. recht; mithin ist mit dem Rechte
zugleich eine Befugniss, den, der ihm Abbruch thut, zu
zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.20)
§. E.
Das strikte Recht kann auch als die Möglichkeit
eines mit Jedermanns Freiheit nach allgemeinen
Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen
wechselseitigen Zwanges vorgestellt werden.
Dieser Satz will so viel sagen, als: das Recht darf
nicht als aus zwei Stücken, nämlich der Verbindlichkeit
nach einem Gesetze und der Befugniss dessen, der durch
seine Willkür den Anderen verbindet, diesen dazu zu
zwingen, zusammengesetzt gedacht werden, sondern man
kann den Begriff des Rechts in der Möglichkeit der
Verknüpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwanges
mit Jedermanns Freiheit unmittelbar setzen. So w^ie
nämlich das Recht überhaupt nur das zum Objekte hat,
was in Handlungen äusserlich ist, so ist das strikte Recht
Kant, Metaphysik der Sitten. 3
34 Rechtslehre. Einleitung
nämlich das, dem nichts Ethisches beigemischt ist, das-
jenige, welches keine andern Bestimmungsgründe der
Willkür, als bloss die äussern fordert; denn alsdann ist
es rein und mit keinen Tugendvorschriften vermengt. Ein
striktes (enges) Recht kann man also nur das völlig
äussere nennen. Dieses gründet sich nun zwar auf dem
Bewusstsein der Verbindlichkeit eines Jeden nach dem
Gesetze; aber die Willkür darnach zu bestimmen, darf
und kann es, wenn es rein sein soll, sicli auf dieses Be-
wusstsein als Triebfeder nicht berufen, sondern fusst
sich deshalb auf dem Prinzip der Möglichkeit eines
äusseren Zwanges, der mit der Freiheit von Jedermann
nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann. —
Wenn also gesagt wird: ein Gläubiger hat ein Recht,
von dem Schuldner die Bezahlung seiner Schuld zu for-
dern, so bedeutet das nicht, er kann ihm zu Gemüthe
führen, dass ihn seine Vernunft selbst zu dieser Leistung
verbinde, sondern ein Zwang, der Jedermann nöthigt,
dieses zu thun, kann gar wohl mit Jedermanns Freiheit,
also auch mit der seinigen, nach einem allgemeinen
äusseren Gesetze zusammen bestehen : Recht und Befug-
niss zu zwingen bedeuten also einerlei.
Das Gesetz eines mit Jedermanns Freiheit noth-
wendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwan-
ges unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit, ist
gleichsam die Konstruktion jenes Begriffs, d. i.
Darstellung desselben in einer reinen Anschauung
a pi'iori, nach der Analogie der Möglichkeit freier
Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der
Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung.
So wie wir nun in der reinen Mathematik die Eigen-
schaften ihres Objekts nicht unmittelbar vom Be-
griffe ableiten, sondern nur durch die Konstruktion
des Begriffs entdecken können, so ist's nicht sowohl
der Begriff des Rechts, als vielmehr der, unter
allgemeine Gesetze gebrachte, mit ihm zusammen-
stimmende durchgängig wechselseitige und gleiche
Zwang, der die Darstellung jenes Begriffs möglich
macht. Dieweil aber diesem dynamischen Begriffe
noch ein bloss formaler, in der reinen Mathematik
(z. B. der Geometrie) zum Grunde liegt; so hat die
Vernunft dafür gesorgt^ den Verstand auch mit An-
in die Rechtslehre. Anhang. 35
schauuiigcD a jnim^i^ zum Beliuf der Konstruktion
des Kecbtsbegriffs, so viel möglich zu versorgen. —
Das Rechte {rectum) wird als das Gerade theils
dem Krummen, theils dem Schiefen entgegen-
gesetzt. Das erste ist die innere Beschaffenheit
einer Linie von der Art, dass es zwischen zweien
gegebenen Punkten nur eine einzige , das zweite
aber die Lage zweier einander durchschneidenden
oder zusammenstossenden Linien, von deren Art
es auch nur eine einzige (die senkrechte) geben
kann, die sich nicht mehr nach einer Seite, als der
andern hinneigt, und die den Raum von beiden Sei-
ten gleich abtheilt, nach welcher Analogie auch
die Rechtslehre das Seine einem Jeden (mit mathe-
matischer Genauigkeit) bestimmt wissen will, wel-
ches in der Tugendlehre nicht erwartet werden
darf, als welche einen gewissen Raum zu Ausnah-
men {latitudinem) nicht verweigern kann. — Aber,
ohne in's Gebiet der Ethik einzugreifen, giebt es
zwei Fälle, die auf Rechtsentscheidung Anspruch
machen, für die aber keiner, der sie entscheide,
ausgefunden werden kann, und die gleichsam in
E p i k ur' s intermu?idia hingehören. — Diese müssen
wir zuvörderst aus der eigentlichen Rechtslehre, zu
der wir bald schreiten wollen, aussondern, damit
ihre schwankenden Prinzipien nicht auf die festen
Grundsätze der erstem Einfluss bekommen.'^*)
Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre.
Vom zweideutigen Recht. (Jus aequivocum.)
Mit jedem Recht in enger Bedeutung (jus strictum)
ist die Befugniss zu zwingen verbunden. Aber man
denkt sich noch ein Recht im weiteren Sinne {jus
latum), wo die Befugniss zu zwingen durch kein Gesetz
bestimmt werden kann. — Dieser wahren oder vorgeb-
lichen Rechte sind nun zwei: die Billigkeit und das
Not brecht; von denen die erste ein Recht ohne Zwang,
3*
36 Rechtslehre, Einleitung
das zweite ein Zwang ohne Reclit annimmt, und man
wird leicht gewahr, diese Doppelsinnigkeit beruhe eigent-
lich darauf, dass es Fälle eines bezweifelten Rechts giebt,
zu deren Entscheidung kein Richter aufgestellt werden
kann.
I.
Die Billigkeit. (Aequitas.)
Die Billigkeit (objektiv betrachtet) ist keineswegs
ein Grund zur Aufforderung bloss an die ethische Pflicht
Anderer (ihr Wohlwollen und Gütigkeit), sondern der,
welcher aus diesem Grunde etwas fordert, fusst sich auf
sein Recht, nur dass ihm die für den Richter erforder-
lichen Bedingungen mangeln, nach welchen dieser be-
stimmen könnte, wie viel, oder auf welche Art dem An-
sprüche desselben genug gethan werden könne. Der in
einer auf gleiche Vortheile eingegangenen Maskopei den-
noch melir gethan, dabei aber wohl gar durch Un-
glücksfälle mehr verloren hat, als die übrigen Glieder,
kann nach der Billigkeit von der Gesellschaft mehr
fordern, als bloss zu gleichen Theilen mit ihnen zu
gehen. Allein nach dem eigentlichen (strikten) Recht,
weil, wenn man sich in seinem Fall einen Richter denkt,
dieser keine bestimmten Angaben (data) hat, um, wie
viel nach dem Kontrakt ihm zukomme, auszumachen,
würde er mit seiner Forderung abzuweisen sein. Der
Hausdiener, dem sein bis zu Ende des Jahres laufender
Lohn in einer binnen der Zeit verschlechterten Münz-
sorte bezahlt wird, womit er das nicht ausrichten kann,
was er bei Schliessung des Kontrakts sich dafür an-
schaffen konnte, kann bei gleichem Zahlwerth, aber un-
gleichem Geldwerth sich nicht auf sein Recht berufen,
deshalb schadlos ge halte nzu werden, sondern nur die
Billigkeit zum Grunde anrufen (eine stumme Gottheit,
die nicht gehört werden kann); w^eil nichts hierüber im
Kontrakt bestimmt war, ein Richter aber nach unbestimm-
ten Bedingungen nicht sprechen kann.
Hieraus folgt auch, dass ein Gerichtshof der
Billigkeit (in einem Streit Anderer über ihre Rechte)
einen Widerspruch in sich seh Hesse. Nur da, wo es die
in die Rechtslehre. Anhang. 37
eigenen Rechte des Richters betrifft, und in dem, worüber
er für seine Person disponiren kann, darf und soll er
der Billigkeit Gehör geben; z. ß. wenn die Krone den
Schaden, den Andre in ihrem Dienste erlitten haben und
den sie zu vergüten angefleht wird, selber trägt, ob sie
gleich nach dem strengen Rechte diesen Ausspruch unter
der Vorschützung, dass sie solche auf ihre eigene Ge-
fahr übernommen haben, abweisen könnte.
Der Sinnspruch {dictum) der Billigkeit ist nun
zwar: „das strengste Recht ist das grösste Unrecht
isummum jus summa injuria)'^] aber diesem üebel ist
auf dem Wege Rechtens nicht abzulielfen, ob es gleich
eine Rechtstbrderung betrifft, weil diese für das Ge-
wissensgericht (forum 2'>oU) allein gehört, dagegen
jede Frage Rechtens vor das bürgerliche Recht
{fomim soll) gezogen werden muss.^'^)
IL
Das Noth recht. (Jus necessitatis,)
Dieses vermeinte Recht soll Befugniss sein, im Fall
der Gefahr des Verlustes meines eigenen Lebens, einem
Anderen, der mir nichts zu Leide that, das Leben zu
nehmen. Es fällt in die Augen, dass hierin ein Wider-
spruch der Rechtslehre mit sich selbst enthalten sein
müsse: — denn es ist hier nicht von einem ungerech-
ten Angreifer auf mein Leben, dem ich durch Berau-
bung des seinen zuvorkomme [jus inculpatae tutelae),
die Rede, wo die Anempfehlung der Mässigung {modera-
men) nicht einmal zum Recht, sondern nur zur Ethik
gehört, sondern von einer erlaubten Gewaltthätigkeit
gegen den, der keine gegen mich ausübte.
Es ist klar, dass diese Behauptung nicht objektiv
nach dem, was ein Gesetz vorschreiben, sondern bloss
subjektiv, wie vor Gericht die Sentenz gefällt werden
würde, zu verstehen sei. Es kann nämlich kein Straf-
gesetz geben, welches demjenigen den Tod zuerkennte,
der im Schiffbruche mit einem Andern in gleicher Lebens-
gefahr schwebend, diesen von dem Brette, worauf er
sich gerettet hat, wegstiesse, um sich selbst zu retten.
Denn die durch's Gesetz angedrohte Strafe könnte doch
33 Rechtslehre. Einleitung
nicht grösser sein, als die des Verlustes des Lebens des
Ersteren. Nun kann ein solches Strafgesetz die beab-
sichtigte Wirkung gar nicht haben ; denn die Bedrohung
mit einem Uebel, was noch un gewiss ist (dem Tode
durch den richterlichen Ausspruch), kann die Furcht vor
dem Uebel, was gewiss ist (nämlich dem Ersaufen),
nicht überwiegen. Also ist die That der gewaltthätigen
Selbsterhaltung nicht etwa als unsträflich {inculpahüe),
sondern nur als unstrafbar (injninibile) zu beurthei-
len, und diese subjektive Straflosigkeit wird, durch
eine wunderliche Verwechselung, von den Rechtslehrern
für eine objektive (Gesetzmässigkeit) gehalten.
Der Sinnspruch des Nothrechts heisst: „Noth hat
kein Gebot (necessitas non habet legemY^] und gleich-
wohl kann es keine Noth geben, welche, was unrecht
ist, f;esetzmässig machte.
Man sieht, dass in beiden Rechtsbeurtheilungen (nach
dem Billigkeits- und dem Nothrechte) die D o p p e 1 s i n n i g -
keit {aequivocatio) aus der Verwechselung der objekti-
ven mit den subjektiven Gründen der Rechtsausübung
(vor der Vernunft und vor einem Gericht) entspringt, da
dann, was Jemand für sich selbst mit gutem Grunde für
Recht erkennt, vor einem Gerichtshofe nicht Bestätigung
finden, und, was er selbst an sich als unrecht beurthei-
len muss, von ebendemselben Nachsicht erlangen kann ;
weil der Begriff des Rechts in diesen zwei Fällen nicht
in einerlei Bedeutung ist genommen worden.23)
Eiutheilung der Rechtslehre.
>
A.
Allgemeine Eintheilung der Rechtspflicbten.
Man kann diese Eintheilung sehr wohl nach dem
Ulpian machen, wenn man seinen Formeln einen Sinn
unterlegt, den er sich dabei zwar nicht deutlich gedacht
haben mag, den sie aber doch verstatten, daraus zu ent-
wickeln oder hinein zu legen. Sie sind folgende:
in die Rechtslehre. Eintheilung der Rechtslehre, 39
1) Sei ein rechtlicher Mensch {lioneste vive).
Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas juridica)
besteht darin: im Verhältnisse zu Anderen seinen
Werth als den eines Menschen zu behaupten^ welche
Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ,, mache
dich Anderen nicht zum blossen Mittel, sondern sei
für sie zugleich Zweck." Diese Pflicht wird im Fol-
genden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der
Menschheit in unserer eigenen Person erklärt wer-
den (lex justi).
2) ThueNiemandemUn recht {neminein laede), und
solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit
Andern herausgehen und alle Gesellschaft meiden
müssen {lex juridica).
3) Tritt (wenn du das Letztere nicht vermeiden
kannst) in eine Gesellschaft mit Andern, in welcher
Jedem das Seine erhalten werden kann (suum
cnique tribue). — Die letztere Eormel, wenn sie so
übersetzt würde: „gieb Jedem das Seine", würde
eine Ungereimtheit sagen; denn man kann Nieman-
dem etwas geben, was er schon hat. Wenn sie
also einen Sinn haben soll, so müsste sie so lauten:
„tritt in einen Zustand, worin Jedermann das Seine
gegen jeden Anderen gesichert sein kann" {lex
justitiae).
Auch sind obenstehende drei klassische Formeln zu-
gleich Eintheilungsprinzipien des Systems der Kechts-
pflichten in innere, äussere und in diejenigen, welche
die Ableitung der letzteren vom Prinzip der ersteren
durch Subsumtion enthalten. 2-*)
B.
Allgemeine Eintheilung der Rechte.
1) Der Rechte, als systematischer Lehren, in das
Naturrecht, das auf lauter Prinzipien a priori be-
ruht, und das positive (statutarische) Hecht, was
aus dem Willen eines Gesetzgebers hervorgeht.
2) Der Rechte, als (moralischer) Vermögen Andere zu
verpflichten, d. i. als einen gesetzlichen Grund zu
den letzteren {titidum), von denen die Obereintiiei-
40 Rechslehre. Einleitung
lung die in das angeborne und erworbene
Recht ist, deren ersteres dasjenige Recht ist, wel-
ches, unal3hängig von allem rechtlichen Akt, Jeder-
mann von Natur zukommt; das zweite das, wozu
ein solcher Akt erfordert wird.
Das angeborene Mein und Dein kann auch das innere
{meum vel tuum internuin) genannt werden; denn das
äussere muss jederzeit erworben werden.
Bas angeborene Recht ist nur ein einziges.
Treiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthi-
gender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit
nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann,
ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft
seiner Menschheit zustehende Recht. — Die angeborne
Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit nicht zu Mehre-
rem von Anderen verbunden zu werden, als wozu man
sie wechselseitig auch verbinden kann; mithin die Qua-
lität des Menschen, sein eigener Herr {sui juris) zu
sein, imgleichen die eines unbescholtenen Menschen
{justi)^ weil er, vor allem rechtlichen Akt, Keinem Un-
recht gethan hat; endlich auch die Befugniss, das gegen
Andere zu thun, was an sich ihnen das Ilire nicht schmä-
lert, wenn sie sich dessen nur nicht annehmen wollen;
dergleichen ist, ihnen bloss seine Gedanken mitzutheilen,
ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen, es sei
wahr und aufrichtig, oder unwahr und unaufrichtig {vp.ri-
loquimn aut falsiloquium), weil es bloss auf ihnen beruht,
ob sie ihm glauben wollen oder nicht*); — alle diese
*) Vorsätzlich, wenngleich bloss leichtsinniger Weise,
Unwahrheit zu sagen, pflegt zwar gewöhnlich Lüge {men-
dacium) genannt zu werden, weil sie wenigstens sofern auch
schaden kann, dass der, welcher sie treuherzig nachsagt,
als ein Leichtgläubiger Anderen zum Gespötte wird. Im
rechtlichen Sinne aber will man, dass nur diejenige Unwahr-
heit Lüge genannt werde, die einem Anderen unmittelbar
an seinem Rechte Abbruch thut, z. B. das falsche Vorgeben
eines von Jemandem geschlossenen Vertrags, um ihn um das
Seine zu bringen {Jalsiloquium dolosum); und dieser Unter-
schied sehr verwandter Begriffe ist nicht ungegründet, weil
es bei der blossen Erklärung seiner Gedanken immer dem
in die Rechtslehre. Eintheilung der Rechtslehre. 41
Befugnisse liegen schon im Prinzip der angebornen Frei-
heit, und sind wirklich von ihr nicht (als Glieder der
Eintheilung unter einem höheren Rechtsbegriff) unter-
schieden.
Die Absicht, weswegen man eine solche Eintheilung
in das System des Naturrechts (sofern es das angeborne
angeht) eingeführt hat, geht darauf hinaus, damit, wenn
über ein erworbenes Recht ein Streit entsteht und die
Frage eintritt, wem die Beweisführung (onus probandi)
obliege, entweder von einer bezweifelten That, oder,
wenn diese ausgemittelt ist, von einem bezweifelten
Recht, derjenige, welcher diese Verbindlichkeit von sich
ablehnt, sich auf sein angebornes Recht der Freiheit
(welches nun nach seinen verschiedenen Verhältnissen
spezifizirt wird) methodisch und gleich als nach ver-
schiedenen Rechtstiteln berufen könne.
Da es nun in Ansehung des angebornen, mithin
inneren Mein und Dein keine Rechte, sondern nur
ein Recht giebt, so wird diese Obfreintheilung als aus
zwei dem Inhalte nach äusserst ungleichen Gliedern be-
stehend in die Prolegomencn geworfen, und die Einthei-
lung der Rechtslehre bloss auf das äussere Mein und
Dein bezogen werden können. **5)
Eintheilung der Metaphysik der Sitten
überhaupt.
I.
Alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten
{offida juris), d. i. solche, für welche eine äussere Ge-
setzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten {officia
virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich
ist; die letztern können aber darum nur keiner äusseren
Gesetzgebung unterworfen werden, weil sie auf einen
Zweck gehen, der (oder welchen zu haben) zugleich
Andern frei bleibt, sie anzunehmen, wofür er will, obgleich
die gegründete Nachrede, dass dieser ein Mensch sei, dessen
Reden man nicht glauben kann, so nahe an den Vorwurf,
ihn einen Lügner zu nennen, streift, dass die Grenzlinie,
die hier das, was zum jus gehört, von dem, was der Ethik
anheim fällt, nur so eben zu unterscheiden ist.
42 Rechtslehre. Einleitung
Pflicht ist ; sich aber einen Zweck vorzusetzen, das kann
durch keine äusserliche Gesetzgebung bewirkt werden
(weil es ein innerer Akt des Gemüths ist), obgleich
äussere Handlungen geboten werden mögen, die dahin
führen, ohne doch dass das Subjekt sie sich zum Zweck
macht.
Warum wird aber die Sittenlehre (Moral) ge-
wöhnlich (namentlich von Cicero) die Lehre von
den Pflichten und nicht auch von den Rechten
betitelt? da doch die einen sich auf die andern be-
ziehen. — Der Grund ist dieser: wir kennen
unsere eigene Freiheit (von der alle moralischen
Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl, als Pflich-
ten ausgehen) nur durch den moralischen Impera-
tiv, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus wel-
chem nachher das Vermögen, Andere zu verpflich-
ten, d. i. der Begrifl" des Rechts entwickelt werden
kann.
IL
Da in der Lehre von den Pflichten der Mensch nach
der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens, weiches ganz
übersinnlich ist, also auch bloss nach seiner Mensch-
heit, als von physischen Bestimmungen unabhängiger
Persönlichkeit (homo noumenoii) vorgestellt werden kann
und soll, zum Unterschiede von ebendemselben, aber als
mit jenen Bestimmungen behafteten Subjekt, dem Men-
schen {Jiomo pJtaenomenon), so werden Recht und Zweck
wiederum in dieser zweifachen Eigenschaft auf die Pflicht
bezogen, folgende Eintheilung geben.
in die Rechtslehre. Eintheilung der Rechtslehre. 43
Eintheiliiiig nach dem objektiven Yerhältnisse
des Gesetzes zur Pflicht.
Pflicht gegen sich selbst.
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Pflicht gegen Andere.
44
Rechtslehre. Einleitung
111.
Da die Subjekte, in Ansehung deren ein Verhältniss
des Rechts zur Pflicht (es sei statthaft oder unstatthaft)
gedacht wird, verschiedene Beziehungen zulassen; so
wird auch in dieser Absicht eine Eintheilung vorgenom-
men werden können.
Eintheilung nach dem suhjektiyen Yerhältniss
der Yerpflichtenden und Terpfliehteten.
1.
Das rechtliciie Verhält-
niss des Menschen zu Wesen,
die weder Recht noch
Pflicht haben.
2.
Das rechtliche Verhält-
niss des Menschen zu Wesen,
die sowohl Recht als Pflicht
haben.
Vacat.
Denn das sind vernunft-
lose Wesen, die weder uns
verbinden, noch von wel-
chen wir können verbunden
werden.
Adest.
Denn es ist ein Verhält-
niss von Menschen zu Men-
schen.
3.
Das rechtliche Verhält-
niss des Menschen zu Wesen,
die lauter Pflichten und
keine Rechte haben.
Vacat.
Denn das wären Men-
schen ohne Persönlichkeit
(Leibeigene, Sklaven).
4.
Das . rechtliche Verhält-
niss des Menschen zu
einem Wesen, was lauter
Rechte und keine Pflicht
hat (Gott).
Vacat.
Nämlich in der blossen
Philosophie, weil es kein
Gegenstand möglicher Er-
fahrung ist.
Also findet sich nur in No. 2 ein reales Verhältniss
zwischen Recht und Pflicht. Der Grund, warum es auch
nicht in No. 4 angetroff'en wird, ist: weil es eine transs-
in die Rechtslehre. Eintheihmg der Rechtslehre. 45
cendente Pflicht sein würde, d. i. eine solche, der
kein äusseres verpflichtendes Subjekt korrespondirend
gegeben werden kann, mithin das Verhältniss in
theoretischer Rücksicht hier nur ideal, d. i. zu einem
Gedankendinge ist, was wir uns selbst, aber doch nicht
durch seinen ganzen leeren, sondern, in Beziehung auf
uns selbst und die Maximen der inneren Sittlichkeit,
mithin in praktischer innerer Absicht, fruchtbaren Begrifi^,
machen, worin denn auch unsere ganze immanente
(ausführbare) Pflicht in diesem bloss gedachten Verhält-
nisse aliein besteht.
Ton der Eintlieiluiig der Moral, als eines Sys-
tems der Pflichten überhaupt.
Elementarlehre. Methodenlehre.
Rechtspflichten. Tugendpflichten. Didaktik. Aszetik.
Privatrecht. Oefi"entliches Recht,
und so weiter, alles,
was nicht bloss die Materialien, sondern auch die archi-
tektonische Form einer wissenschaftlichen Sittenlehre ent-
hält; wenn dazu die metaphysischen Anfangsgründe die
allgemeinen Prinzipien vollständig ausgespürt haben.
Die oberste Eintheilung des Naturrechts kann nicht
(wie bisweilen geschieht) die in das natürliche und
gesellschaftliche, sondern muss die ins natürliche
und bürgerliche Recht sein; deren das erstere das
Privatrecht, das zweite das öffentliche Recht
genannt wird. Denn dem Naturzustande ist nicht
der gesellschaftliche, sondern der bürgerliche entgegen-
gesetzt; weil es in jenem zwar gar wohl Gesellschaft
geben kann, aber nur keine bürgerliche (durch öfi'ent-
liche Gesetze das Mein und Dein sichernde), daher das
Recht in dem ersteren das Privatrecht heisst.-6)
Der Rechtslehre
erster Theil,
Bas Privat recht.
Der
allgemeinen Rechtslehre
erster Theil.
Das Priyatreclit
vom äusseren Mein und Dein überhaupt.
Erstes Hauptstück.
Von der Art etwas Aeusseres als das Seine zu
haben.
§• 1-
Das Rechtlich- Meine {meum juris) ist dasjenigCy
womit ich so verbunden bin, dass der Gebrauch, den
ein Anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen
möchte, mich lädiren würde. Die subjektive Bedingung
der Möglichkeit des Gebrauchs überhaupt ist der Be-
sitz.
Etwas Aeusseres aber würde nur dann das Meine
sein, wenn ich annehmen darf, es sei möglich, dass ich
durch den Gebrauch, den ein Anderer von einer Sache
macht, in deren Besitz ich doch nicht bin, gleich-
wohl doch lädirt werden könne. — Also widerspricht
es sicli selbst, etwas Aeusseres als das Seine zu haben,
wenn der Begriff des Besitzes nicht einer verschiedenen
Bedeutung, nämlich des sinnlichen und des intelli-
giblen Besitzes, fähig wäre, und unter dem einen der
physische, unter dem anderen ein bloss-rechtlicher
Besitz ebendesselben Gegenstandes verstanden werden
könnte.
Kant, Metaphysik der Sitten. 4
50 Rechtslehre. I. Theil 1, Hauptstück.
Der Ausdruck: ein Gegenstand ist ausser mir,
kann aber entweder soviel bedeuten, als: er ist ein nur
von mir (dem Subjekt) unterschiedener, oder auch
ein in einer anderen Stelle {posihis) im Raum oder
in der Zeit befindlicher Gegenstand. Nur in der ersteren
Bedeutung genommen, kann der Besitz als Verimnftbe-
sitz gedacht werden; in der zweiten aber würde er ein
empirischer heissen müssen. — Ein intelligibler Be-
sitz (wenn ein solcher möglich ist) ist ein Besitz ohne
Inhabung {detentiojß')
Rechtliches Postulat der praktischen Yernimft.
Es ist möglich, einen jeden äussern Gegenstand
meiner Willkür als das Meine zu haben; d. i. eine
Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Ge-
genstand der Willkür an sich (objektiv) herrenlos
(res iinllius) werden müsste, ist rechtswidrig.
Denn ein Gegenstand meiner Willkür ist etwas, was
zu gebrauchen ich physisch in meiner Macht habe.
Sollte es nun doch rechtlich schlechterdings nicht in
meiner Macht stehen, d. i. mit der Freiheit von Jeder-
mann nach einem allgemeinen Gesetz nicht zusammen
bestehen können (unrecht sein), Gebrauch von demselben
zu machen: so würde die Freiheit sich selbst des Ge-
brauchs ihrer Willkür in Ansehung eines Gegenstandes
derselben berauben, dadurch, dass sie brauchbare
Gegenstände ausser aller Möglichkeit des Gebrauchs
setzte, d. i. diese in praktischer Rücksicht vernichtete,
und zur res nullius machte; obgleich die Willkür, for-
maliter, im Gebrauche der Sachen mit Jedermanns äusserer
Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmte.
— Da nun die reine praktische Vernunft keine anderen,
als formelle Gesetze des Gebrauchs der Willkür zum
Grunde legt, und also von der Materie der Willkür, d. i.
der übrigen Beschaffenheit des Objekts, wenn es nur
ein Gegenstand der W^illkür ist, abstrahirt, so
kann sie in Ansehung eines solchen Gegenstandes kein
absolutes Verbot seines Gebrauchs enthalten, weil dieses
ein Widerspruch der äusseren Freiheit mit sich selbst
Ton der Art, etwas Aeusseres als das Seine zu haben. §. 4. 51
sein würde. — Ein Gegenstand meiner Willkür aber
ist das^ wovon beliebigen Gebrauch zu machen ich das
physische Vermögen habe, dessen Gebrauch in meiner
Macht {potentia) steht; wovon noch unterschieden wer-
den muss, denselben Gegenstand in meiner Gewalt {in
potestatem meam redactuni) zu haben, welches nicht
bloss ein Vermögen, sondern auch einen Akt der
Willkür voraussetzt. Um aber etwas bloss als Gegen-
stand meiner Willkür zu denken, ist hinreichend, mir
bewusst zu sein, dass ich ihn in meiner Macht habe.
— Also ist es eine Voraussetzung a p)riori der prak-
tischen Vernunft, einen jeden Gegenstand meiner Will-
kür als objektivmögliches Mein und Dein anzusehen und
zu behandeln.
Man kann dieses Postulat ein Erlaubnissgesetz (leic
l-)ermissii'a) der praktischen Vernunft nennen, was uns
die Befugniss giebt, die wir aus blossen Begriffen vom
Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten; nämlich
allen Andern eine V^erbindlichkeit aufzulegen, die sie
sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegen-
stände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie
in unseren Besitz genommen haben. Die Vernunft will,
dass dieses als Grundsatz gelte, und das zwar als prak-
tische Vernunft, die sich durch dieses ihr Postulat a
priori erweitert.
§.3.
Im Besitze eines Gegenstandes muss derjenige sein,
der eine Sache als das Seine zu haben behaupten will;
denn wäre er nicht in demselben, so könnte er nicht
durch den Gebrauch, den der Andere ohne seine Ein-
willigung davon macht, lädirt werden ; weil, wenn diesen
Gegenstand etwas ausser ihm, was mit ihm gar nicht
rechtlich verbunden ist, afficirt, ihn selbst (das Subjekt)
nicht afficiren und ihm Unrecht thun könnte.2»)
§.4.
Exposition des Begriffs vom äusseren Mein und
Dein.
Die äusseren Gegenstände meiner Willkür können
nur drei sein: 1) eine (körperliche) Sache ausser mir;
4*
52 Rechtslehre. I. Theil. 1. Hauptstück.
2) die Willkür eines Anderen zu einer bestimmten
That {p^aestatio) : 3) der Zustand eines Anderen im
Verhältnisse auf mich; nach den Kategorien der Sub-
stanz, Kausalität und Gemeinschaft zwischen mir
und äusseren Gegenständen nach Freiheitsgesetzen.
a) Ich kann einen Gegenstand im Räume (eine kör-
perliche Sache) nicht mein nennen, ausser wenn,
obgleich ich nicht im physischen Besitz
desselben bin, ich dennoch in einem anderen
wirklichen (also nicht physisclien) Besitz desselben
zu sein behaupten darf. — So werde ich einen
Apfel nicht darum mein nennen, w^eil ich ihn in
meiner Hand habe (physisch besitze), sondern nur,
wenn ich sagen kann: ich besitze ihn, ob ich ihn
gleich aus meiner Hand, wohin es auch sei, gelegt
habe; imgleichen werde ich von dem Boden, auf
den ich mich gelagert habe, nicht sagen können,
er sei darum mein; sondern nur, wenn ich behaupten
darf, er sei immer noch in meinem Besitz, ob ich
gleich diesen Platz verlassen habe. Denn der^
welcher mir im ersten Falle (des empirischen Be-
sitzes) den Apfel aus der Hand winden, oder mich
von meiner Lagerstätte wegschleppen wollte, würde
mich zwar freilich in Ansehung des inneren Meinen
(der Freiheit), aber nicht des äusseren Meinen lä-
diren, wenn ich nicht, auch ohne Inhabung, mich
im Besitz des Gegenstandes zu sein behaupten
könnte; ich könnte also diese Gegenstände (den
Apfel und das Lager) auch nicht mein nennen.
b) Ich kann die Leistung von etwas durch die Will-
kür des Anderen nicht mein nennen, wenn ich bloss-
sagen kann, sie sei mit seinem Versprechen zu-
gleich {pactum re initum) in meinen Besitz ge~
kommen, sondern nur, wenn ich behaupten darf,
ich bin im Besitz der Willkür des Anderen (diesen
zur Leistung zu bestimmen), obgleich die Zeit der
Leistung noch erst kommen soll; das Versprechen
des letzteren gehört demnach zur Habe und Gut
(obligatio activa) und ich kann sie zu dem Meinen
rechnen, aber nicht bloss, wenn ich das Ver-
sprochene (wie im ersten Falle) schon in meinem
Besitz habe, sondern auch, ob ich dieses gleich noch
Von der Art, etwas Aeusseres als das Seine zu haben. §. 5. 53
nicht besitze. Also muss ich mich, als von dem
auf Zeitbedingung eingeschränkten, mithin vom
empirischen Besitze unabhängig, doch im Besitz
dieses Gegenstandes zu sein denken können,
c) Ich kann ein Weib, ein Kind, ein Gesinde, und
überhaupt eine andere Person nicht darum das
Meine nennen, weil ich sie jetzt als zu meinem
Hauswesen gehörig befehlige, oder im Zwinger und
in meiner Gewalt und Besitz habe, sondern wenn
ich, ob sie sich gleich dem Zwange entzogeo haben,
und ich sie also nicht (empirisch) besitze, dennoch
sagen kann, ich besitze sie durch meinen blossen
Willen, solange sie irgendwo oder irgendwenn
existiren, mithin bloss-rechtlich; sie gehören
also zu meiner Habe nur alsdann, wenn und sofern
ich das Letztere behaupten kann.^^i)
§.5.
Definition des Begriffs des äusseren Mein und Dein.
Die Namenerklärung, d. i. diejenige, welche bloss
zur Unterscheidung des Objekts von allen anderen
zureicht und aus einer vollständigen und bestimmten
Exposition des Begriflfs hervorgeht, würde sein: das
äussere Meine ist dasjenige ausser mir, an dessen mir
beliebigem Gebrauch mich zu hindern, Läsion (Abbruch
an meiner Freiheit, die mit der Freiheit von Jedermann
nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen
kann)t) sein würde. — Die Sacherklärung dieses
Begriffs aber, d. i. die, welche auch zur Deduktion
desselben (der Erkenntniss der Möglichkeit des Gegen-
standes) zureicht, lautet nun so: das äussere Meine ist
dasjenige, in dessen Gebrauch mich zu stören Läsion
sein würde, ob ich gleich nicht im Besitz des-
selben (nicht Inhaber des Gegenstandes) bin. — In
irgend einem Besitz des äusseren Gegenstandes muss ich
sein, wenn der Gegenstand mein heissen soll; denn
sonst würde der, welcher diesen Gegenstand wider
meinen Willen afficirte, mich nicht zugleich afficiren.
t) Statt der eingeklammerten Worte hat die 1. Ausg.
bloss das Wort „Unrecht".
54 Rechtslehre. I. Theil. 1. Hauptstück.
mithin auch nicht lädiren. Also muss, zufolge des §. 4^
ein intelligibler Besitz (j^ossessio noumeno7i) als
möglich vorausgesetzt werden, wenn es ein äusseres
Mein oder Dein geben soll; der empirische Besitz fln-
habung) ist alsdann nur Besitz in der Erscheinung
(possessio 2^^^<^''^no7neno)i), ohgleich. der Gegenstand^
den ich besitze, hier nicht so, wie es in der transscen-
dentalen Analytik geschieht, selbst als Erscheinung, son-
dern als Sache an sich selbst betrachtet wird; denn
dort war es der Vernunft um das theoretische Erkennt-
niss der Natur der Dinge, und, wie weit sie reichen
könne, hier aber ist es ihr um praktische Bestimmung
der Willkür nach Gesetzen der Freiheit zu thun, der
Gegenstand mag nun durch Sinne, oder auch bloss den
reinen Verstand erkennbar sein, und das Recht ist
ein solcher reiner praktischer Vernunftbegriff der Will-
kür unter Freiheitsgesetzen.
Eben darum sollte man auch billig nicht sagen: ein
Reclit auf diesen oder jenen Gegenstand, sondern viel-
mehr ihn bloss -rechtlich besitzen; denn das Recht
ist schon ein intellektueller Besitz eines Gegenstandes,
einen Besitz aber zu besitzen, würde ein Ausdruck ohne
Sinn sein.-^*^)
§. 6.
Deduktion des Begriffs des bloss-rechtlichen Be-
sitzes eines äusseren Gegenstandes (jyossessio
noumenon).
Die Frage: wie ist ein äusseres Mein und Dein
möglich? löst sich nun in diejenige auf: wie ist ein
bloss-rechtliche r (intelligibler) Besitz möglich? und
diese wiederum in die dritte: wie ist ein synthetischer
Rechtssatz a j^riori möglich?
Alle Rechtssätze sind Sätze a priori, denn sie sind
Vernunftgesetze {dictamina rationis). Der Rechtssatz
a priori in Ansehung des empirischen Besitzes ist
analytisch; denn er sagt nichts mehr, als was nach
dem Satze des Widerspruchs aus dem letzteren folgt,
dass nämlich, wenn ich Inhaber einer Sache (mit ihr
also physisch verbunden) bin, derjenige, der sie wider
meine Einwilligung afficirt (z. B. mir den Apfel aus der
Von der Art, etwas Aeiisseres als das Seine zu haben. §. 6. 55
Hand reisst); das innere Meine (meine Freiheit) afficire
und schmälere, mithin in seiner Maxime mit dem Axiom
des Rechts im geraden Widerspruch stehe. Der Satz
von einem empirischen rechtmässigen Besitz geht also
nicht über das Recht einer Person in Ansehung ihrer
selbst hinaus.
Dagegen geht der Satz: von der Möglichkeit des
Besitzes einer Sache ausser mir, nach Absonderung aller
Bedingungen des empirischen Besitzes im Raum und
Zeit (mithin die Voraussetzung der Möglichkeit einer
jjosses-sio noumenon) über jene einschränkenden Be-
dingungen hinaus, und, weil er einen Besitz auch ohne
Inhabung als nothwendig zum Begriffe des äusseren
Mein und Dein statuirt, so ist er synthetisch; und
nun kann es zur Aufgabe für die Vernunft dienen, zu
zeigen, wie ein solcher sich über den Begriff des empi-
rischen Besitzes erweiternde Satz a j^t'iori möglich sei.
Auf solche Weise ist z. B. die Besitzung eines ab-
sonderlichen Bodens eine Art der Privatwillkür, ohne
doch eigenmächtig zu sein. Der Besitzer fundirt
sich auf dem angebornen Gemeinbesitze des Erd-
bodens und dem diesem a priori entsprechenden allge-
meinen Willen eines erlaubten Privatbesitzes auf
demselben (weil ledige Sachen sonst an sich und nach
einem Gesetze zu herrenlosen Dingen gemacht werden
würden) und erwirbt durch die erste Besitzung ursprüng-
lich einen bestimmten Boden, indem er jedem Andern
mit Recht r/?«re) widersteht, der ihn im Privatgebrauche
desselben hindern würde, obzwar als im natürlichen Zu-
stande nicht von Rechtswegen (de jure), weil in dem-
selben noch kein öffentliches Gesetz existirt.
Wenn auch gleich ein Boden als frei, d. i. zu Jeder-
manns Gebrauch offen angesehen, oder dafür erklärt
würde, so kann man doch nicht sagen, dass er von Na-
tur und ursprünglich, vor allem rechtlichen Akt, frei
sei. Denn auch das wäre ein Verhältniss zu Sachen,
nämlich dem Boden, der Jedermann seinen Besitz ver-
weigerte; sondern, weil diese Freiheit des Bodens ein
Verbot für Jedermann sein würde, sich desselben zu be-
dienen, wozu ein gemeinsamer Besitz desselben erfordert
wird, der ohne Vertrag nicht stattfinden kann. Ein
Boden aber, der nur durch diesen frei sein kann, muss
56 Rechtslehre. I. Theil. 1. Hauptstück.
wirklich im Besitze aller derer (zusammen Verbundenen)
sein, die sich wechselseitig den Gebrauch desselben unter-
sagen, oder ihn suspendiren.
Diese ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens,
und hiermit auch der Sachen auf demselben {com-
rnunio fundi originarid) ist eine Idee, welche ob-
jektive (rechtlich-praktische) Realität hat, und ist
ganz und gar von der uranfänglichen {com-
munio primaeva) unterschieden, welche eine Er-
dichtung ist; weil diese eine gestiftete Gemein-
schaft hätte sein und aus einem Vertrage hervor-
gehen müssen, durch den Alle auf den Privatbesitz
Verzicht gethan, und ein Jeder, durch die Vereini-
gung seiner Besitzung mit der jedes Andern, jenen
in einen Gesammtbesitz verwandelt habe, und da-
von müsste uns die Geschichte einen Beweis geben.
Ein solches Verfahren aber als ursprüngliche Be-
sitznehmung anzusehen, und dass darauf jedes Men-
schen besonderer Besitz habe gegründet werden
können und sollen, ist ein Widerspruch.
Von dem Besitz (possessio) ist noch der Sitz
{sedes)j und von der Besitznehmung des Bodens,
in der Absicht ihn dereinst zu erwerben, ist noch
die Niederlassung, Ansiedelung {incolatus) unter-
schieden, welche ein fortdauernder Privatbesitz eines
Platzes ist, der von der Gegenwart des Subjekts
auf demselben abhängt. Von einer Niederlassung
als einem zweiten rechtlichen Akt, der auf die Be-
sitznehmung folgen, oder auch ganz ifnterbleiben
kann, ist hier nicht die Rede; weil sie kein ur-
sprünglicher, sondern von der Beistimmung Anderer
abgeleiteter Besitz sein würde.
Der blosse physische Besitz (die Inhabung) des
Bodens ist schon ein Recht in einer Sache, obzwar
freilich noch nicht hinreichend, ihn als das Meine
anzusehen. Beziehungsweise auf Andere ist er, als
(so viel man weiss) erster Besitz, mit dem Gesetze
der äussern Freiheit einstimmig, und zugleich in
dem ursprünglichen Gesammtbesitz enthalten, der
a priori den Grund der Möglichkeit eines Privatbe-
sitzes enthält; mithin den ersten Inhaber eines
Bodens in seinem Gebrauch desselben zu stören,
Von der Art, etwas Aeusseres als das Seine zu haben. §. 6. 57
eine Läsion. Die erste Besitznehmung hat also
einen Rechtsgrund (tituhts possessionis) für sich,
welcher der ursprünglich gemeinsame Besitz ist,
und der Satz: wohl dem, der im Besitz ist (beati
possidentes)l weil Niemand verbunden istj, seinen
Besitz zu beurkunden, ist ein Grundsatz des natür-
lichen Rechts, der die rechtliche Besitznehmung als
einen Grund zur Erwerbung aufstellt, auf den sich
jeder erste Besitzer fussen kann.
In einem theoretischen Grundsatze a priori
müsste nämlich (zufolge der Kritik d. r. V.) dem
gegebenen Begriflf eine Anschauung a jyriori unter-
gelegt, mithin etwas zu dem Begriffe vom Besitz
des Gegenstandes hinzugethan werden; allein in
diesem praktischen wird umgekehrt verfahren
und alle Bedingungen der Anschauung, welche den
empirischen Besitz begründen, müssen wegge-
schafft (von ihnen abgesehen) werden, um den,
Begriff des Besitzes über den empirischen hinaus
zu erweitern und sagen zu können: ein jeder
äussere Gegenstand der Willkür kann zu dem recht-
lich-Meinen gezählt werden, den ich (und auch nur
sofern ich ihn) in meiner Gewalt habe, ohne im Be-
sitz desselben zu sein.
Die Möglichkeit eines solchen Besitzes, mithin
die Deduktion des Begriffs eines nicht- empirischen
Besitzes, gründet sich auf dem rechtlichen Postulat
der praktischen Vernunft, „dass es Rechtspflicht sei,
gegen Andere so zu handeln, dass das Aeussere
(Brauchbare) auch das Seine von irgend Jemandem
werden könne," zugleich mit der Exposition des
letzteren Begriffs, welcher das äussere Seine auf
einen nicht-physischen Besitz gründet, ver-
bunden. Die Möglichkeit des letzteren aber kann
keines weges für sich selbst bewiesen, oder einge-
sehen werden (eben weil es ein Vernunftbegriff ist,
dem keine Anschauung gegeben werden kann), son-
dern ist eine unmittelbare Folge aus dem gedachten
Postulat. Denn wenn es nothwendig ist, nach jenem
Rechtsgrunde zu handeln, so muss auch die intelli-
gible Bedingung (eines bloss rechtlichen Besitzes)
möglich sein. — Es darf auch Niemand befremden,
58 Rechtslehre. I. Theil. 1. Hauptstück.
dass die theoretischen Prinzipien des äusseren
Mein und Dein sich im Intelligiblen verlieren und
kein erweitertes Erkenntniss vorstellen ^ weil der
Begriflf der Freiheit^ auf dem sie beruhen, keiner
theoretischen Deduktion seiner Möglichkeit fähig
ist, und nur aus dem praktischen Gesetze der Ver-
nunft (dem kategorischen Imperativ), als einem
Faktum derselben, geschlossen werden kann.^i)
§.7.
x^nwenduDg des Prinzips der Möglichkeit des äusseren
Mein und Dein auf Gegenstände der Erfahrung.
Der Begriff eines bloss-rechtlichen Besitzes ist kein
empirischer (von Pvaum und Zeitbedingungen abhängiger)
Begriff, und gleichwohl hat er praktische Realität, d. i.
er muss auf Gegenstände der Erfahrung, deren Erkennt-
niss von jenen Bedingungen unabhängig ist, anwendbar
sein. — Das Verfahren mit dem Rechtsbegriffe in An-
sehung der letzteren, als des möglichen äusseren Mein
und Dein, ist folgendes. Der Rechtsbegriff, der bloss
in der Vernunft liegt, kann nicht unmittelbar auf
Erfahrungsobjekte und auf den Begriff eines empirischen
Besitzes, sondern muss zunächst auf den reinen Ver-
standesbegriff eines Besitzes überhaupt angewandt
werden, so dass, statt der luliabimg {detentio), als einer
empirischen Vorstellung des Besitzes, der von allen
Raumes- und Zeitbedingungen abstrahirende Begriff der
Hahens, und nur dass der Gegenstand als in meiner
Gewalt {in potestcite mea 2^ositum esse) sei, gedacht
werde; da dann der Ausdruck des Aeusseren nicht
das Dasein in einem anderen Orte, als wo ich bin>
oder meiner Willensentschliessung und Annahme als in
einer anderen Zeit, wie der des Angebots, sondern nur
einen von mir unterschiedenen Gegenstand bedeutet.
Nun will die praktische Vernunft durch ihr Rechtsgesetz,
dass ich das Mein und Dein in der Anwendung auf
Gegenstände nicht nach sinnlichen Bedingungen, sondern
abgesehen von denselben, weil es eine Bestimmung der
Willkür nach Freiheitsgesetzen betrifft, auch den Besitz
Von der Art, etwas Aeusseres als das Seine zu haben. §. 7. 59
desselben denke, indem nur ein Verstandesbegriff
unter Rechts begriffe subsumirt werden kann. Also werde
ich sagen : ich besitze einen Acker, ob er zwar ein ganz
anderer Platz ist, als worauf ich mich wirklich befinde.
Denn die Rede ist hier nur von einem intellektuellen
Verhältniss zum Gegenstände, sofern ich ihn in meiner
Gewalt habe, (ein von Raumesbestimmungen unab-
hängiger Verstandesbegriff des Besitzes), und er ist mein,
weil mein, zu desselben beliebigem Gebrauch sich be-
stimmender Wille dem Gesetze der äusseren Freiheit
nicht widerstreitet. Gerade darin, dass, abgesehen vom
Besitz in der Erscheinung (der Inliabung) dieses Gegen-
standes meiner Willkür, die praktische Vernunft den
Besitz nach Verstandesbegriffen, nicht nach empirischen,
sondern solchen, die a priori die Bedingungen desselben
enthalten können, gedacht wissen will, liegt der Grund
der Gültigkeit eines solchen Begriffs vom Besitze [possessio
noumenon) als einer allgemeingeltenden Gesetzgebung:
denn eina solclie ist in dem Ausdrucke enthalten : „dieser
äussere Gegenstand ist mein"; weil allen Andern da-
durch eine Verbindlichkeit auferlegt wird, die sie sonst
nicht hätten, sich des Gebrauchs desselben zu enthalten.
Die Art also, etwas ausser mir als das Meine zu
haben, ist die bloss-rechtliche Verbindung des Willens
des Subjekts mit jenem Gegenstande, unabhängig von
dem Verhältnisse zu demselben im Raum und in der
Zeit, nach dem Begriff eines intelligiblen Besitzes. —
Ein Platz auf der Erde ist nicht darum ein äusseres
Meine, weil ich ihn mit meinem Leibe einnehme (denn
es betrifft hier nur meine äussere Freiheit, mithin
nur den Besitz meiner selbst, kein Ding ausser mir, und
ist also nur ein inneres Recht); sondern wenn ich ihn
noch besitze, ob ich mich gleich von ihm weg und an
einen andern Ort begeben habe, nur alsdann betrifft es
mein äusseres Recht, und derjenige, der die fortwährende
Besetzung dieses Platzes durch meine Person zur Be-
dingung machen wollte, ihn als das Meine zu haben,
muss entweder behaupten, es sei gar nicht möglich,
etwas Aeusseres als das Seine zu haben (welches dem
Postulat §. 2 widerstreitet), oder er verlangt, dass, um
dieses zu können, ich in zwei Orten zugleich sei ; welches
dann aber so viel sagt, als: ich solle an einem Orte
ßO Rechtslehre. I. Theil. 1. Hauptstück.
sein und auch nicht sein, wodurch er sich selbst wider-
spricht.
Dieses kann auch auf den Fall angewendet werden,
da ich ein Versprechen acceptirt habe; denn da wird
meine Habe und Besitz an dem Versprochenen dadurch
nicht aufgehoben, dass der Versprechende zu einer Zeit
sagte: diese Sache soll dein sein, eine Zeit hernach aber
von ebenderselben Sache sagt: ich will jetzt, die Sache
solle nicht dein sein. Denn es hat mit solchen intellek-
tuellen Verhältnissen die Bewandtniss, als ob jener ohife
eine Zeit zwischen beiden Deklarationen seines Willens
gesagt hätte, sie soll dein sein, und auch sie soll nicht
dein sein, was sich dann selbst widerspricht.
Ebendasselbe gilt auch von dem Begriffe des recht-
lichen Besitzes einer Person, als zu der Habe des Sub-
jekts gehörend (sein Weib, Kind, Knecht): dass nämlich
diese häusliche Gemeinschaft und der wechselseitige
Besitz des Zustandes aller Glieder derselben durch die
Befugniss, sich örtlich von einander zu trennen, nicht
aufgehoben wird; weil es ein rechtliches Verhältniss
ist, was sie verknüpft, und das äussere Mein und Dein
hier, eben so wie in vorigen Fällen, gänzlich auf der
Voraussetzung der Möglichkeit eines reinen Vernunft-
besitzes ohne Inhabung beruht.
Zur Kritik der rechtlich-praktischen Vernunft
im Begriffe des äusseren Mein und Dein, wird diese
eigentlich durch eine Antinomie der Sätze über
die Möglichkeit eines solchen Besitzes genöthigt,
d. i. nur durch eine unvermeidliche Dialektik, in
welcher Thesis und Antithesis beide auf die Gültig-
keit zweier einander widerstreitenden Bedingungen
gleichen Anspruch machen, wird die Vernunft auch
in ihrem praktischen (das Recht betreffenden) Ge-
brauch genöthigt, zwischen dem Besitz als Er-
scheinung und dem bloss durch den Verstand denk-
baren einen Unterschied zu machen.
Der Satz heisst: es ist möglich, etwas
Aeusseres als das Meine zu haben; ob ich gleich
nicht im Besitz desselben bin.
Der Gegensatz: es ist nicht möglich,
etwas Aeusseres als das Meine zu haben ; wenn ich
nicht im Besitz desselben bin.
Von der Art, etwas Aeusseres als das Seine zu haben. §.8. Q1
Auflösung: beide Sätze sind wahr: der erstere,
wenn ich den empirischen Besitz (jyossessio jiliae-
nomenon) der andere, w^enn icli unter diesem Worte
den reinen intelligiblen Besitz [j)^-^^^^^'^'^ noumenon)
verstehe. — Aber die Möglichkeit eines intelligiblen
Besitzes, mithin auch des äusseren Mein und Dein
lässt sich nicht einsehen, sondern muss aus dem
Postulat der praktischen Vernunft gefolgert werden,
wobei es noch besonders merkwürdig ist : dass diese,
ohne Anschauungen, selbst ohne einer a jyrioi^i zu
bedürfen, sich durch blosse, vom Gesetze der Freiheit
berechtigte Weglassung empirischer Bedingungen
erweitern und so synthetische Rechtssätze a
priori aufstellen kann, deren Bew^eis (wie bald ge-
zeigt werden soll) nachher in praktischer Rücksicht
auf analytische Art geführt werden kann.'' 2)
Etwas Aeusseres als das Seine zu haben, ist nur
in einem rechtlichen Zustande, unter einer öffent-
lich-gesetzgebenden Gewalt, d. i. im bürgerlichen
Zustande möglich.
Wenn ich (wörtlich oder durch die That) erkläre,
ich will, dass etwas Aeusseres das Meine sein solle, so
erkläre ich jeden Anderen für verbindlich, sich des Ge-
genstandes meiner Willkür zu enthalten; eine Verbind-
lichkeit, die Niemand ohne diesen meinen rechtlichen
Akt haben würde. In dieser Anmassung aber liegt zu-
gleich das Bekenntniss: jedem Anderen in Ansehung des
äusseren Seinen wechselseitig zu einer gleichmässigen
Enthaltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit
geht hier aus einer allgemeinen Regel des äusseren recht-
lichen Verhältnisses hervor. Ich bin also nicht verbun-
den, das äussere Seine des Anderen unangetastet zu
lassen, wenn mich nicht jeder Andere dagegen auch
sicher stellt, er werde in Ansehung des Meinigen sich
nach ebendemselben Prinzip verhalten; welche Sicher-
stellung gar nicht eines besonderen rechtlichen Akts be-
darf, sondern schon im Begriffe einer äusseren recht-
lichen Verpflichtung, wegen der Allgemeinheit, mithin
Q2 Rechtslehre. I. Theil. 1. Hauptstiick.
auch der Reciprocität der Verbindlichkeit aus einer all-
gemeinen Regel^ enthalten ist. — Nun kann der ein-
seitige Wille in Ansehung eines äusseren, mithin zu-
fälligen Besitzes nicht zum Zwangsgesetz für Jedermann
dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen
Abbruch thun würde. Also ist nur ein jeden Anderen
verbindender, mithin kollektiv- allgemeiner (gemeinsamer)
und machthabender Wille derjenige, welcher Jedermann
jene Sicherheit leisten kann. — Der Zustand aber unter
einer allgemeinen äusseren (d. i. öflfentlichen), mit Macht
begleiteten Gesetzgebung ist der bürgerliche. Also kann
es nur im bürgerlichen Zustande ein äusseres Mein und
Dein geben.
Folgesatz: Wenn es rechtlich möglich sein muss,
einen äusseren Gegenstand als das Seine zu haben, so
muss es auch dem Subjekt erlaubt sein, jeden Anderen,
mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein
solches Objekt kommt, zu nöthigen, mit ihm zusammen
in eine bürgerliche Verfassung zu treten. •^•^)
§. 9.
Im Naturzustande kann doch ein wirkliches, aber
nur provisorisches äusseres ^lein und Dein
statthaben.
Das Katurrecht im Zustande einer bürgerlichen Ver-
fassung (d. i. dasjenige, was für die letztere aus Prin-
zipien a priori abgeleitet werden kann) kann durch die
statutarischen Gesetze der letzteren nicht Abbruch leiden,
und so bleibt das rechtliche Prinzip in Kraft: „der,
welcher nach einer Maxime verfährt, nach der es un-
möglich wird, einen Gegenstand meiner Willkür als das
Meine zu haben, lädirt mich;" denn bürgerliche Ver-
fassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen
Jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht
ausgemacht und bestimmt wird. — Alle Garantie setzt
also das Seine von Jemandem (dem es gesichert wird)
schon voraus. Mithin muss vor der bürgerlichen Ver-
lassung (oder von ihr abgesehen) ein äusseres Mein
und Dein als möglich angenommen werden, und zugleich
Von der Art, etwas Aeusseres als das Seine zu haben. §. 9. ßß
ein Recht^ Jedermann, mit dem wir irgend auf eine Art
in Verkehr kommen könnten, zu nöthigen, mit uns in
eine Verfassung zusammenzutreten, worin jenes gesicliert
werden kann. — Ein Besitz in Erwartung und Vorbe-
reitung eines solchen Zustandes, der allein auf einem
Gesetz des gemeinsamen Willens gegründet werden kann,
der also zu der Möglichkeit des letzteren zusammen-
stimmt, ist ein provisorisch - rechtlicher Besitz,
wogegen derjenige, der in einem solchen wirklichen
Zustande angetroffen wird, ein peremtori scher Be-
sitz sein würde. '■ — Vor dem Eintritt in diesen Zustand,
zu dem das Subjekt bereit ist, widersteht er denen mit
Recht, die dazu sich nicht bequemen und ihn in
seinem einstweiligen Besitz stören wollen; weil der Wille
aller Anderen ausser ihm selbst, der ihm eine Verbind-
lichkeit aufzulegen denkt, von einem gewissen Besitz
abzustehen, bloss einseitig ist, mithin ebensowenig
gesetzliche Kraft (als die nur im allgemeinen Willen
angeti'off'en wird) zum Widersprechen hat, als jener zum
Behaupten, indessen dass der letztere doch dies voraus
hat, zur Einführung und Errichtung eines bürgerlichen
Zustandes zusammenzustimmen. — Mit einem Worte:
die Art, etwas Aeusseres als das Seine im Naturzu-
stände zu haben, ist ein physischer Besitz, der die
rechtliche Präsumtion für sich hat, ihn, durch Ver-
einigung mit dem Willen Aller in einer öffentlichen Ge-
setzgebung, zu einem rechtlichen zu machen, und gilt
in der Erwartung komparativ für einen rechtlichen.
Dieses Prärogativ des Rechts aus dem empirischen
Besitzstande nach der Formel: wohl dem, der
im Besitz ist {beati jwssidejites), besteht nicht
darin, dass, weil er die Präsumtion eines recht-
lichen Mannes hat, er nicht nöthig habe, den
Beweis zu führen, er besitze etwas rechtmässig (denn
das gilt nur im streitigen Rechte), sondern weil,
nach dem Postulat der praktischen Vernunft, Jeder-
mann das Vermögen zukommt, einen äusseren Ge-
genstand seiner Willkür als das Seine zu haben,
mithin jede Inhabung ein Zustand ist, dessen Recht-
mässigkeit sich auf jenem Postulat durch einen Akt
des vorhergehenden Willens gründet, und der, wenn
nicht ein älterer Besitz eines Anderen von eben-
ß4 Rechtslehre. I. Theil. 1. Hauptstück.
demselben Gegenstande dawider ist, also vorläufig,
nach dem Gesetze der äusseren Freiheit, Jedermann^
der mit mir nicht in den Zustand einer öffentlich
gesetzlichen Freiheit treten will, von aller An-
massung des Gebrauchs eines solchen Gegenstandes
abzuhalten berechtigt, um dem Postulat der Ver-
nunft gemäss, eine Sache, die sonst praktisch ver-
nichtet sein würde, seinem Gebrauche zu unter-
werfen .34)
Zweites Hauptstück.
Ton der Art, etwas Aeusseres zu erwerl^en.
§. 10.
Allgemeines Prinzip der äusseren Erwerbung.
Ich erwerbe etwas, wenn ich mache {efficio)^ dass
etwas mein werde, — Ursprünglich ist meint) dasjenige
Aeussere, was auch ohne einen rechtlichen Akt mein
ist. Eine Erwerbung aber ist ursprünglich diejenige,
welche nicht von dem Seinen eines Anderen abge-
leitet ist.
Nichts Aeusseres ist ursprünglich mein; wohl aber
kann es ursprünglich, d. i. ohne es von dem Seinen
irgend eines Anderen abzuleiten, erworben sein. — Der
Zustand der Gemeinschaft des Mein und Dein {com-
munio) kann nie als ursprünglich gedacht, sondern muss
(durch einen äusseren rechtlichen Akt) erworben werden ;
obwohl der Besitz eines äusseren Gegenstandes ursprüng-
lich und gemeinsam sein kann. Auchft) wenn man
sich (problematisch) eine ursprüngliche Gemeinschaft
{comniunio mei et tid originarid) denkt; so muss sie
doch von der u ran fänglichen {communio primaeva)
unterschieden werden, welche, als in der ersten Zeit
der Rechtsverhältnisse unter Menschen gestiftet, ange-
nommen wird, und nicht, wie die erstere, auf Prinzipien,
t) 1. Ausg.: ,,Ursprünghch mein ist'
tt) 1. Ausg.: „Doch"
Kant, Metaphysik der Sitten.
QQ Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück.
sondern nur auf Geschichte gegründet werden kann;
wobei die letztere doch immer als erworben und abge-
leitet {communio derivativa) gedacht werden müsste.
Das Prinzip der äusseren Erw^erbung ist nun: was
ich (nach dem Gesetze der äusseren Freiheit) in meine
Gewalt bringe, und wovon, als Objekt meiner Willkür,
Gebrauch zu machen ich (nach dem Postulat der prak-
tischen Vernunft) das Vermögen habe; endlich, was ich
(gemäss der Idee eines möglichen vereinigten Willens)
will, es solle mein sein, das ist mein.^'^)
Die Momente {attendenda) der ursprünglichen
Erwerbung sind also: 1) die Apprehension eines Ge-
genstandes, der Keinem angehört, widrigenfalls sie der
Freiheit Anderer nach allgemeinen Gesetzen widerstreiten
würde. Die Apprehension ist die Besitznehmung des
Gegenstandes der Willkür im Raum und der Zeit; der
Besitz also, in den ich mich setze, ist possessio phae-
nomenon. 2) Die Bezeichnung {dectaratio) des Be-
sitzes dieses Gegenstandes und des Akts meiner Willkür,
jeden Anderen davon abzuhalten. 3) Die Zueignung
{approiwiatio) als Akt eines äusserlich allgemein ge-
setzgebenden Willens (in der Idee), durch welchen Jeder-
mann zur Einstimmung mit meiner Willkür verbunden
wird. — Die Gültigkeit des letzteren Moments der Er-
werbung, als worauf der Schlusssatz : der äussere Gegen-
stand ist mein, beruht, d. i. dass der Besitz, als ein
bloss- rechtlicher, gültig {p)ossessio noumenon) sei,
gründet sich darauf: dass, da alle diese Aktus recht-
lich sind, mithin aus der praktischen Vernunft hervor-
gehen, und also in der Frage, was Rechtens ist, von
den empirischen Bedingungen des Besitzes abstrahirt
werden kann, der Schlusssatz: der äussere Gegenstand
ist mein, vom sensiblen auf den intelligiblen Besitz richtig
geführt wird.
Die ursprüngliche Erwerbung eines äusseren Gegen-
standes der Willkür heisst Bemächtigung {occupatio)
und kann nicht anders, als an körperlichen Dingen (Sub-
stanzen) stattfinden. Wo nun eine solche stattfindet,
bedarf sie zur Bedingung des empirischen Besitzes die
Priorität der Zeit vor jedem Anderen, der sich einer
Sache bemächtigen will [gui prior tempore, potior iure).
Sie ist als ursprünglich auch nur die Folge von ein-
Von der Art etwas Aeusseres zu erwerben. §. 10. 57
seitiger Willkür; denn wäre dazu eine doppelseitige
erforderlich 7 so würde sie von dem Vertrage zweier (oder
mehrerer) Personen, folglich von dem Seinen Anderer
abgeleitet sein. — Wie ein solcher Akt der Willkür, als
jener ist, das Seine für Jemanden begründen könne, ist
nicht laicht einzusehen. — Indessen ist die erste Er-
werbung doch darum sofort nicht die ursprüngliche.
Denn die Erwerbung eines öffentlichen rechtlichen Zu-
standes durch Vereinigung des Willens Aller zu einer
allgemeinen Gesetzgebung wäre eine solche, vor der
keine vorhergehen darf, und doch wäre sie von dem
besonderen Willen eines Jeden abgeleitet und allseitig:
da eine ursprüngliche Erwerbung nur aus dem ein-
seitigen Willen hervorgehen kann. ^5)
Eintheilung der Erwerbung des äusseren Mein und
Dein.
1) Der Materie (dem Objekte) nach erwerbe ich
entweder eine körperliche Sache (Substanz), oder die
Leistung (Kausalität) eines Anderen, oder diese andere
Person selbst, d. i. den Zustand derselben, sofern ich
ein Recht erlange, über denselben zu verfügen (das
Commercium mit derselben).
2) Der Form (Erwerbungsart) nach ist es entweder
«in Sachenrecht (jus reale), oder persönliches
Recht {jus personale)^ oder ein dinglich-persön-
liches Recht {jus realiter 'personale) des Besitzes (ob-
zwar nicht des Gebrauchs) einer anderen Person als
einer Sache.
3) Nach dem Rechtsgrunde [titulus) der Erwer-
bung, welches eigentlich kein besonderes Glied der Ein-
theilung der Rechte, aber doch ein Moment der Art
ihrer Ausübung ist: entweder durch den Akt einer ein-
seitigen, oder doppelseitigen, oder allseitigen
Willkür, wodurch etwas Aeusseres [facto, pacto, lege)
erworben wird.^ß)
b*
ß8 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 1. Abschn.
Erster Abschnitt.
Tom Sachenrecht.
§. 11.
Was ist ein Sachenrecht?
Die gewöhnliche Erklärung des Rechts in einer
Sache (jua recde^ jus in re): „es sei das Recht gegen
jeden Besitzer derselben", ist eine richtige Nominal-
definition. — Aber was ist das, was da macht, dass ich
mich wegen eines äusseren Gegenstandes an jeden In-
haber desselben halten, und ihn (i^er vindicationem)
nöthigen kann, mich wieder in Besitz desselben zu setzen ?
Ist dieses äussere rechtliche Verhältniss meiner Willkür
etwa ein unmittelbares Verhältniss zu einem körper-
lichen Dinge? So müsste derjenige, welcher sein Recht
nicht unmittelbar auf Personen, sondern auf Sachen be-
zogen denkt, es sich freilich (obzwar nur auf dunkle Art)
vorstellen: nämlich, weil dem Recht auf einer Seite
eine Pflicht auf der andern korrespondirt, dass die äussere
Sache, ob sie zwar dem ersten Besitzer abhanden ge-
kommen, diesem doch immer verpflichtet bleibe, d. i.
sich jedem anmasslichen anderen Besitzer weigere, weil
sie jenem schon verbindlich ist, und so mein Recht,
gleich einem die Sache begleitenden und vor allem frem-
den Angriffe bewahrenden Genius, den fremden Besitzer
immer an mich weise. Es ist also ungereimt, sich Ver-
bindlichkeit einer Person gegen Sachen und umgekehrt
zu denken, wenn es gleich allenfalls erlaubt werden
mag, das rechtliche Verhältniss durch ein solches Bild
zu versinnlichen, und sich so auszudrücken.
Die Realdefinition würde daher so lauten müssen:
das Recht in einer Sache ist ein Recht des Privat-
gebrauchs einer Sache, in deren (ursprünglichem, oder
gestiftetem) Gesammtbesitze ich mit allen Andern bin.
Denn das Letztere ist die einzige Bedingung, unter der
es allein möglich ist, dass ich jeden anderen Besitzer
vom Privatgebrauch der Sache ausschliesse {jus contra
quemlibet hujiis rei possessorem) ^ weil, ohne einen
Vom Sachenrecht. §. 12, (»9
solchen Gesammtbesitz vorauszusetzen, sich gar nicht
denken lässt, wie ich, der ich doch nicht im Besitz der
Sache bin, von Andern, die es sind, und sie brauchen,
lädirt werden könne. — Durch einseitige Willkür kann
ich keinen Andern verbinden, sich des Gebrauchs einer
Sache zu enthalten, w^ozu er sonst keine Verbindlichkeit
haben würde: also nur durch vereinigte Willkür Aller
in einem Gesammtbesitze. Sonst müsste ich mir ein
Recht in einer Sache so denken, als ob die Sache gegen
mich eine Verbindlichkeit hätte, und davon allererst
das Recht gegen jeden Besitzer derselben ableiten;
welches eine ungereimte Vorstellungsart ist.
Unter dem Wort: Sachenrecht (jus reale) wird
übrigens nicht bloss das Recht in einer Sache (jus in
re), sondern auch der Inbegriff aller Gesetze, die das
dingliche Mein und Dein betreffen, verstanden. — Es
ist aber klar, dass ein Mensch, der auf Erden ganz
allein wäre, eigentlich kein äusseres Ding als das Seine
haben, oder erwerben könnte; weil zwischen ihm, als
Person, und allen anderen äusseren Dingen, als Sachen,
es gar kein Verhältniss der Verbindlichkeit giebt. Es
giebt also, eigentlich und buchstäblich verstanden, auch
kein (direktes) Recht in einer Sache, sondern nur das-
jenige wird so genannt, was Jemandem gegen eine Per-
son zukommt, die mit allen Anderen (im bürgerlichen
Zustande) im gemeinsamen Besitz ist.*^")
§. 12.
Die erste Erwerbung einer Saclie kann keine andere,
als die des Bodens sein.
Der Boden (unter welchem alles bewohnbare Land
verstanden wird) ist, in Ansehung alles Beweglichen auf
demselben, als Substanz, die Existenz des letzteren
aber nur als Inhärenz zu betrachten, und so wie im
theoretischen Sinne die Accidenzen nicht ausserhalb der
Substanz existiren können, so kann im praktischen das
Bewegliche auf dem Boden nicht das Seine von Je-
mandem sein, wenn dieser nicht vorher als im recht-
lichen Besitz desselben befindlich (als das Seine des-
selben) angenommen wird.
70 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 1. Abschn.
Denn setzet, der Boden gehöre Niemandem an: so-
werde ich jede bewegliche Sache, die sich auf ihm be-
findet, aus ihrem Platze stossen können, um ihn selbst
einzunehmen, bis sie sich gänzlich verliert, ohne dass
der Freiheit irgend eines Anderen, der jetzt gerade nicht
Inhaber desselben ist, dadurch Abbruch geschieht ; alles
aber, was zerstört werden kann, ein Baum, Haus u. s. w.
ist (wenigstens der Materie nach) beweglich, und wenn
man die Sache, die ohne Zerstörung ihrer Form nicht
bewegt werden kann, ein Immobile nennt, so wird das
Mein und Dein an jener nicht von der Substanz, sondern
dem ihr Anhängenden verstanden, welches nicht die
Sache selbst ist.
§. 13.
Einjeder Boden kann ursprünglich erworben vrerden,.
und der Grund der Möglichkeit dieser Erwerbung
ist die ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens
überhaupt.
Was das Erste betrifift, so gründet sich dieser Satz
auf dem Postulat der praktischen Vernunft (§. 2); da&
Zweite auf folgenden Beweis.
Alle Menschen sind ursprünglich (d. i. vor allem
rechtlichen Akt der Willkür) im rechtmässigen Besitz
des Bodens, d. i. sie haben ein Recht, da zu sein, wo-
hin sie die Natur oder der Zufall (ohne ihren Willen)
gesetzt hat. Der Besitz [possessio), der vom Sitz {sedes)^
als einem willkürlichen, mithin erworbenen, dauernden
Besitz unterschieden ist, ist ein gemeinsamer Besitz,
wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als
Kugelfläche; weil, wenn sie eine unendliche Ebene wäre,
die Menschen sich darauf so zerstreuen könnten, dass
sie in gar keine Gemeinschaft mit einander kämen, diese
also nicht eine nothwendige Folge von ihrem Dasein,
auf Erden wäre. — Der Besitz aller Menschen auf Erden,,
der vor allem rechtlichen Akt derselben vorhergeht (von
der Natur selbst konstituirt ist), ist ein ursprünglicher
Gesammtbesitz [(tommunio possessiojiis originaria) y
dessen Begriff nicht empirisch und von Zeitbedingungen
Vom Sachenrecht. §. 14. 71
abhängig ist, wie etwa der gedichtete, aber nie erweis-
liche eines uranfänglichen Gesammtbesitzes {com-
munio primaeva)^ sondern ein praktischer Vernünftbe-
griff, der a priai'i das Prinzip enthält, nach welchem
allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechts-
gesetzen gebrauchen können.
§. 14.
Der rechtliche Akt dieser Erwerbung ist Be-
mächtigung (occupatio).
Die Besitznehmung {appreJiensio), als der An-
fang der Inhabuug einer körperlichen Sache im Baume
{possessionis pliysicae)^ stimmt unter keiner anderen
Bedingung mit dem Gesetze der äusseren Freiheit von
Jedermann (mithin a priori) zusammen, als unter der
der Priorität in Ansehung der Zeit, d. i. nur als erste
Besitznehmung [p)rior appreJiensio)^ welche ein Akt der
Willkür ist. Der Wille aber, die Sache (mithin auch
ein bestimmter abgetheilter Platz auf Erden) solle mein
sein, d. i. die Zueignung [cippropriatio) kann in einer
ursprünglichen Erwerbung nicht anders, als einseitig
(vohmtas unüateralis s. proprio) sein. Die Erwerbung
eines äusseren Gegenstandes der Willkür durch ein-
seitigen Willen ist die Bemäch tigung. Also kann
die ursprüngliche Erwerbung desselben, mithin auch
eines abgemessenen Bodens nur durch Bemächtigung
(occupatio) geschehen.
Die Möglichkeit auf solche Art zu erwerben, lässt
sich auf keine Weise einsehen, noch durch Gründe dar-
thun, sondern ist die unmittelbare Folge aus dem Postulat
der praktischen Vernunft. Derselbe Wille aber kann
doch eine äussere Erwerbung nicht anders berechtigen,
als nur sofern er in einem a p^^iori vereinigten (d. i.
durch die Vereinigung der Willkür Aller, die in ein
praktisches Verhältuiss gegen einander kommen können)
absolut gebietenden Willen enthalten ist; denn der ein-
seitige Wille (wozu auch der doppelseitige, aber doch
besondere Wille gehört) kann nicht Jedermann eine
Verbindlichkeit auflegen, die an sich zufällig ist, sondern
72 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 1. Abschn.
dazu wird ein allseitiger, nicht zufällig, sondern a
priori, mithin nothwendig vereinigter und darum gesetz-
gebender Wille erfordert; denn nur nach dieses seinem
Prinzip ist Uebereinstimmung der freien Willkür eines
Jeden mit der Freiheit von Jedermann, mithin ein Recht
überhaupt, und also auch ein äusseres Mein und Dein
möglich, s^)
§. 15.
Nur in einer bürgerlichen Verfassung kann etwas
peremtorisch, dagegen im Naturzustande zwar
auch, aber nur provisorisch erworben werden.
Die bürgerliche Verfassung, obzwar ihre Wirklichkeit
subjektiv zuföllig ist, ist gleichwohl objektiv, d. i. als
Pflicht, nothwendig. Mithin giebt es in Hinsicht auf
dieselbe und ihre Stiftung ein wirkliches Rechtsgesetz
der Natur, dem alle äussere Erwerbung unterworfen ist.
Der empirische Titel der Erwerbung war die
auf ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens gegründete
physische Besitznehmung {appreliensio physica)^ welchem,
weil dem Besitz nach Vernunftbegriffen des Rechts nur
ein Besitz in der Erscheinung untergelegt werden
kann, der einer intellektuellen Besitznehmung (mit Weg-
lassung aller empirischen Bedingungen in Raum und
Zeit) korrespondiren muss, und die den Satz gründet:
„was ich nach Gesetzen der äusseren Freiheit in meine
Gewalt bringe, und will, es solle mein sein, das wird
mein."
Der Vernunfttitel der Erwerbung aber kann nur
in der Idee eines a jyriori vereinigten (nothwendig zu
vereinigenden; Willens Aller liegen, welche hier als un-
umgängliche Bedingung (conditio sine qua non) still-
schweigend vorausgesetzt wird; denn durch einseitigen
Willen kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für
sich sonst nichf haben würden, nicht auferlegt werden.
— Der Zustand aber eines zur Gesetzgebung allgemein
wirklich vereinigten Willens ist der bürgerliche Zustand.
Also nur in Konformität mit der Idee eines bürgerlichen
Zustandes, d. i. in Hinsicht auf ihn und seine Bewirkung,
Vom Sachenrecht. §. 15, 73
aber vor der Wirklichkeit de^^selben (denn sonst wäre
die Erwerbung abgeleitet), mithin nur provisorisch
kann etwas Aeusseres ursprünglich erworben werden.
— Die peremtorisc he Erwerbung findet nur im
bürgerlichen Zustande statt.
Gleichwohl ist jene provisorische dennoch eine wahre
Erwerbung; denn nach dem Postulat der rechtlich-prak-
tischen Vernunft ist die Möglichkeit derselben, in welchem
Zustande die Menschen neben einander sein mögen (also
auch im Naturzustande), ein Prinzip des Privatrechts,
nach welchem jeder zu demjenigen Zwange berechtigt
ist, durch welchen es allein möglich wird, aus jenem
Naturzustande heraus; zu gehen, und in den bürgerlichen,
der allein alle Erwerbung peremtorisch machen kann,
zu treten.
Es ist die Frage: wie weit erstreckt sich die
Befugniss der Besitznehmung eines Bodens? So weit,
als das Vermögen ihn in seiner Gewalt zu haben;
d. i. als der, so ihn sich zueignen will, ihn ver-
theidigen kann, gleich als ob der Boden spräche:
wenn ihr mich nicht beschützen könnt, so könnt
ihr mir auch nicht gebieten. Darnach müsste also
auch der Streit über das freie oder verschlossene
Meer entschieden werden ; z. B. innerhalb der Weite,
wohin die Kanonen reichen, darf Niemand an der
Küste eines Landes, das schon einem gewissen Staat
zugehört, fischen, Bernstein aus dem Grunde der
See holen u. dgl. — Ferner: ist die Bearbeitung
des Bodens (Bebauung, Beackerung, Entwässerung
u. dergl.) zur Erwerbung desselben nothwendig?
Nein! denn da diese Formen (der Spezifizirung) nur
Accidenzen sind, so machen sie kein Objekt eines
unmittelbaren Besitzes aus, und können zu dem des
Subjekts nur geliören, sofern die Substanz vorher
als das Seine desselben anerkannt ist. Die Be-
arbeitung ist, wenn es auf die Frage von der ersten
Erwerbung ankommt, r.icIHs weiter, als ein äusseres
Zeichen der Besitznehmung, welches man durch viele
andere, die weniger Mühe kosten, ersetzen kann.
— Ferner: darf man wohl Jemanden in dem Akt
seiner Besitznehmung hindern, so dass Keiner von
Beiden des Rechts der Priorität theilhaftig werde,
74 Rechtslehre. I, Theil. 2. Hauptstück. 1. Abschn.
und so der Boden immer als Keinem angehörig-
frei bleibe? Gänzlich kann diese Hinderung nicht
stattfinden, weil der Andere, um dieses thun zu
können, sich doch auch selbst auf irgend einem
benachbarten Boden befinden muss, wo er also selbst
behindert werden kann, zu sein, mithin eine ab-
solute Verhinderung ein Widerspruch wäre; aber
respektiv auf einen gewissen (zwischenliegenden)
Boden, diesen, als neutral, zur Scheidung zweier
Benachbarten unbenutzt liegen zu lassen, würde
doch mit dem Rechte der Bemächtigung zusammen
bestehen ; aber alsdann gehört wirklich dieser Boden
Beiden gemeinschaftlich, und ist nicht herrenlos
(9'es jiuUius)^ eben darum, weil er von Beiden dazu
gebraucht wird, um sie von einander zu scheiden.
— Ferner: kann man auf einem Boden, davon kein
Theil das Seine von Jemandem ist, doch eine Sache
als die seine haben? Ja; wie in der Mongolei jeder
sein Gepäcke, was er hat, liegen lassen, oder sein
Pferd, was ihm entlaufen ist, als das Seine in seinen
Besitz bringen kann, weil der ganze Boden dem
Volk, der Gebrauch desselben also jedem Einzelnen
zusteht; dass aber Jemand eine bewegliche Sache
auf dem Boden eines Anderen als das Seine haben
kann, ist zwar möglich, aber nur durch Vertrag,
— Endlich ist die Frage: können zwei benachbarte
Völker (oder Familien) einander widerstehen, eine
gewisse Art des Gebrauchs eines Bodens anzunehmen^
z. B. die Jagd Völker dem Hirtenvolk, oder den
Ackerleuten, oder diese den Pflanzern u. dergl. ?
Allerdings; denn die Art, wie sie sich auf dem Erd-
boden ansässig machen wollen, ist, wenn sie sich
innerhalb ihrer Grenzen halten, eine Sache des
blossen Beliebens {i'es merae facultatis).
Zuletzt kann noch gefragt werden: ob, wenn
uns weder die Natur, noch der Zufall, sondern bloss
unser eigener Wille in Nachbarschaft mit einem
Volke bringt, welches keine Aussicht zu einer bürger-
lichen Verbindung mit ihm verspricht, wir nicht, in
der Absicht, diese zu stiften und diese Menschen
(Wilde) in einen rechtlichen Zustand zu versetzen
(wie etwa die amerikanischen Wilden, die Hotten-
Vom Sachenrecht. §. 16. 75
totten, die Neuholländer) befugt sein sollten, allen-
falls mit Gewalt, oder (welches nicht viel besser ist)
durch betrügerischen Kauf, Kolonien zu errichten
und so Eigenthlimer ihres Bodens zu werden, und
ohne Rücksicht auf ihren ersten Besitz Gebrauch
von unserer üeberlegenheit zu machen; zumal es
die Natur selbst (als die das Leere verabscheut)
so zu fordern scheint, und grosse Landstriche in
anderen Welttheilen an gesitteten Einwohnern sonst
menschenleer geblieben wären, die jetzt herrlich
bevölkert sind, oder gar auf immer bleiben müssten,
und so der Zweck der Schöpfung vereitelt werden
würde? Allein man sieht durch diesen Schleier der
Ungerechtigkeit (Jesuitismus), alle Mittel zu guten
Zwecken zu billigen, leicht durch; diese Art der
Erwerbung des Bodens ist also verwerflich.
Die Unbestimmtheit in Ansehung der Quantität
sowohl, als der Qualität des äusseren erwerblichen
Objekts, macht diese Aufgabe (der einzigen ursprüng-
lichen äusseren Erwerbung) unter allen zur schwer-
sten sie aufzulösen. Irgend eine ursprüngliche Er-
werbung des Aeusseren aber muss es indessen doch
geben; denn abgeleitet kann nicht alle sein. Daher
kann man diese Aufgabe auch nicht als unauflöslich
und als an sich unmöglich aufgeben. Aber wenn
sie auch durch den ursprünglichen Vertrag aufge-
löst wird, so wird, wenn dieser sich nicht aufs
ganze menschliche Geschlecht erstreckt, die Erwer-
bung doch immer nur provisorisch bleiben.
§. 16.
Exposition des Begriffs einer ursprUnglicben
Erwerbung des Bodens.
Alle Menschen sind ursprünglich in einem Gesammt-
besitz des Bodens der ganzen Erde {communio fundi
originaria)y mit dem ihnen von Natur zustehenden
Willen (eines Jeden), denselben zu gebrauchen (lex
justi), der, wegen der natürlich unvermeidlichen Ent-
gegensetzung der Willkür des Einen gegen die des
76 Rechtslehre. I. Theil. 2. Haiiptstück. 1. Abschn.
Andern, allen Gebrauch desselben aufbeben würde, wenn
nicht jener zugleich das Gesetz für diese enthielte, nach
welchem einem Jeden ein besonderer Besitz auf dem
gemeinsamen Boden bestimmt werden kann (lex juridica).
Aber das austheilende Gesetz des Mein und Dein eines
Jeden am Boden kann, nach dem Axiom der äusseren
Freiheit, nicht anders, als aus einem ursprünglich
und a j?riori vereinigten Willen (der zu dieser Ver-
einigung keinen rechtlichen Akt voraussetzt), mithin nur
im bürgerlichen Zustande, hervorgehen {lex justitiae
distributivae), der allein, was recht, was rechtlich
und was Rechtens ist, bestimmt. — In diesem Zu-
stande aber, d. i. vor Gründung und doch in Absicht
auf denselben, d. i, provisorisch, nach dem Gesetz
der äusseren Erwerbung zu verfahren, ist Pflicht, folg-
lich auch rechtliches Vermögen des Willens, Jeder-
mann zu verbinden, den Akt der Besitznehmung und
Zueignung, ob er gleich nur einseitig ist, anzuerkennen ;
mithin ist eine provisorische Erwerbung des Bodens, mit
allen ihren rechtlichen Folgen, möglich.
Eine solche Erwerbung aber bedarf doch und hat
auch eine Gunst des Gesetzes {lex permisslva), in An-
sehung der Bestimmung der Grenzen des rechtlich mög-
lichen Besitzes, für sich; weil sie vor dem rechtlichen
Zustande vorhergeht, und, als bloss dazu einleitend,
noch nicht peremtorisch ist, welche Gunst sich aber
nicht weiter erstreckt, als bis zur Einwilligung And er er
(theilnehmender) zu Errichtung des letzteren, bei dem
Widerstände derselben aber in diesen (den bürgerlichen)
zu treten, und so lange derselbe währt, allen Effekt
einer rechtmässigen Erwerbung bei sich führt, weil dieser
Ausgang auf Pflicht gegründet ist.*^^)
§. 17.
Deduktion des Bagriffs der ursprünglichen Er-
werbung.
Wir haben den Titel der Erwerbung in einer ur-
sprünglichen Gemeinschaft des Bodens, mithin unter
Raumsbedingungen eines äusseren Besitzes, die Er wer-
Vom Sachenrecht. §, 17. 77
bungsart aber in den empirischen Bedingungen der
Besitznehmung (cqyprehensio)^ verbunden mit dem Willen,
den äusseren Gegenstand als den seinigen zu haben,
gefunden. Nun ist noch nöthig, die Erwerbung selbst,
d. i. das äussere Mein und Dein, was aus beiden ge-
gebenen Stucken folgt, nämlich den intelligiblen Besitz)
{possessio noumenon) des Gegenstandes, nach dem, was
sein Begriff enthält, aus den Prinzipien der reinen recht-
lich-praktischen Vernunft zu entwickeln.
Der Rechtsbegriff vom äusseren Mein und
Dein, sofern es Substanz ist, kann, was das Wort
ausser mir betrifft, nicht einen anderen Ort, als wo
ich bin, bedeuten ; denn er ist ein Vernunftbegriff; son-
dern da unter diesen nur ein reiner Verstandesbegriff
subsumirt werden kann, bloss etwas von mir unter-
schiedenes und den eines nicht empirischen Besitzes
(der gleichsam fortdauernden Apprehension) , sondern
nur den des in meiner Gewalt-Habens (die Ver-
knüpfung desselben mit mir als subjektive Bedingung
der Möglichkeit des Gebrauchs) des äusseren Gegen-
standes, welcher ein reiuor »ci.-^tandesbegriff ist, bedeuten.
Nun ist die Weglassun^, o^ici uüo Aosehen (Abstraktion)
von diesen sinnlichen Bedingungv^u des Besitzes, als
eines Verhältnisses der Person zu Gegenständen, die
keine Verbindlichkeit haben, nichts Anderes, als das
Verhältniss einer Person zu Personen, die alle durch
den Willen der ersteren, sofern er dem Axiom der
äusseren Freiheit, dem Postulat des Vermögens und
der allgemeinen Gesetzgebung des a priori als ver-
einigt gedachten Willens gemäss ist, in Ansehung des
Gebrauchs der Sachen zu verbinden, welches also
der intelligibie Besitz derselben, d. i. der durchs blosse
Recht, ist, obgleich der Gegenstand (die Sache, die ich
besitze) ein Sinnenobjekt ist.
Dass die erste Bearbeitung, Begrenzung, oder
überhaupt Formgebun g eines Bodens keinen Titel
der Erwerbung desselben, d. i. der Besitz des Acci-
dens nicht einen Grund des rechtlichen Besitzes der
Substanz abgeben könne, sondern vielmehr umge-
kehrt das Mein und Dein nach der Regel {accessorium
sequitur suum principale) aus dem Eigenthum der
Substanz gefolgert werden müsse, und dass der.
78 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 1. Abschn.
welcher an einen Boden, der nicht schon vorher
der seine war, Fleiss verwendet, seine Mühe und
Arbeit gegen den ersteren verloren hat, ist für sich
selbst so klar, dass man jene so alte und noch weit
und breit herrschende Meinung schwerlich einer
anderen Ursache zuschreiben kann, als der ingeheim
obwaltenden Täuschung, Sachen zu personifiziren,
und, gleich als ob Jemand sie sich durch an sie
verwandte Arbeit verbindlich machen könne, keinem
Anderen, als ihm zu Diensten zu stehen, unmittel-
bar gegen sie sich ein Recht zu denken; denn
wahrscheinlicher Weise würde man auch nicht so
leichten Fusses über die natürliche Frage (von der
oben schon Erwähnung geschehen) weggeglitten
sein: „wie ist ein Recht in einer Sache möglich?"
Denn das Recht gegen einen jeden Besitzer einer
Sache bedeutet nur die Befugniss der besonderen
Willkür zum Gebrauch eines Objekts, sofern sie als
im synthetisch-allgemeinen Willen enthalten und
mit dem Gesetze desselben zusammenstimmend ge-
dacht werden kann.
Was die Körper auf einem Boden betrifft, der
schon der meinige ist, so gehören sie, wenn sie
sonst keines Anderen sind, mir zu, ohne dass ich
zu diesem Zweck eines besonderen rechtlichen Akts
bedürfte (nicht facto, sondern lege)] nämlich, weil
sie als der Substanz inhärirende Accidenzen be-
trachtet werden können (jure rei meae), wozu auch
alles gehört, was mit meiner Sache so verbunden
ist, dass ein Anderer sie von dem Meinen nicht
trennen kann, ohne dieses selbst zu verändern (z. B.
Vergoldung, Mischung eines mir zugehörigen Stoffes
mit anderen Materien, Anspülung oder auch Ver-
änderung des anstossenden Strombettes und dadurch
geschehende Erweiterung meines Bodens u. s. w.).
Ob aber der erwerbliche Boden sich noch weiter,
als das Land, nämlich auch auf eine Strecke des
Seegrundes hinaus (das Recht noch an meinen
Ufern zu fischen, oder Bernstein herauszubringen
u. dergl.) sich ausdehnen lasse, muss nach eben-
denselben Grundsätzen beurtheilt werden. So weit
ich aus meinem Sitze mechanisches Vermögen
Vom Sachenrecht. §. 17. 79
habe, meinen Boden gegen den Eingriff Anderer
zu sichern (z. B. so weit die Kanonen vom Ufer
abreichen), gehört er zu meinem Besitz und das
Meer ist bis dahin gesclilossen (tncü^e clausum).
Da aber auf dem weiten Meere selbst kein Sitz
möglich ist, so kann der Besitz auch nicht bis da-
hin ausgedehnt werden und offene See ist frei {inare
libermri). Das Stranden aber, es sei der Menschen,
oder der ihnen zugehörigen Sachen, kann, als un-
vorsätzlich, von dem Strandeigenthümer nicht zum
Erwerbrecht gezählt werden; weil es nicht Läsion
(ja überhaupt kein Faktum) ist, und die Sache, die
auf einen Boden gerathen ist, der doch irgend
Einem angehört, nicht als res nidlius behandelt
werden kann. Ein Fluss dagegen kann, so weit
der Besitz seines Ufers reicht, so gut wie ein jeder
Landboden, unter obbenannten Einschränkungen
ursprünglich von dem erworben werden, der im Be-
sitze beider Ufer ist.
Der äussere Gegenstand, welcher der Substanz
nach das Seine von Jemandem ist, ist dessen Eigen-
thum {dominium), welchem alle Rechte in dieser
Sache (wie Accidenzen der Substanz) inhäriren, über
welche also der Eigenthümer {dominus) nach Be-
lieben verfügen kann {jus disponendi de re sica).
Aber hieraus folgt von selbst, dass ein solcher
Gegenstand nur eine körperliche Sache (gegen die
man keine Verbindlichkeit hat) sein könne, daher
ein Mensch sein eigener Herr {sui juris)^ aber nicht
Eigenthümer von sich selbst {sid dominus)^ (über
sich nach Belieben disponiren zu können) geschweige
denn von anderen Menschen sein kann, weil er der
Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich
ist; wiewohl dieser Funkt, der zum Rechte der
Menschheit, nicht dem der Menschen gehört, hier
nicht seinen eigentlichen Platz hat, sondern nur
beiläufig zum besseren Verständniss des kurz vor-
her Gesagten angeführt wird. — Es kann ferner
zwei volle Eigenthümer einer und derselben Sache
8Q Rechtslehre. I. Theil 2. Hauptstück. 2. Abschn.
geben, ohne ein gemeinsames Mein und Dein, son-
dern nur als gemeinsame Besitzer dessen, was nur
Einem als das Seine zugehört, wenn von den
sogenannten Miteigenthümern {condomini) einem nur
der ganze Besitz ohne Gebrauch, dem anderen aber
aller Gebrauch der Sache sammt dem Besitz zu-
kommt, jener also {dominus directus) diesen {do-
minus utilis) nur auf die Bedingung einer beharr-
lichen Leistung restringirt, ohne dabei seinen Ge-
brauch zu limitiren.'^O)
Zweiter Abschnitt.
Yom persönliclieii Recht.
§• 18.
Der Besitz der Willkür eines Anderen, als Vermögen,,
sie durch die meine nach Freiheitsgesetzen zu einer ge-
wissen That zu bestimmen, (das äussere Mein und Dein
in Ansehung der Causalität eines Anderen) ist ein Kecht
(dergleichen ich mehrere gegen ebendieselbe Person oder
gegen Andere haben kann); der Inbegriff (das System)
der Gesetze aber, nach welchen ich in diesem Besitz
sein kann, das persönliche Recht, welches nur ein ein-
ziges ist.
Die Erwerbung eines persönlichen Rechts kann nie-
mals ursprünglich und eigenmächtig sein (denn eine solche
würde nicht dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit
meiner Willkür mit der Freiheit von Jedermann gemäss,
mithin unrecht sein). Ebenso kann ich auch nicht durch
rechtswidrige That eines Anderen {facto injusto
aiterius) erwerben; denn wenn diese Läsion mir auch
selbst widerfahren wäre, und ich von dem Anderen mit
Recht Genugthuung fordern kann, so wird dadurch doch
nur das Meine unvermindert erhalten, aber nichts über
das, was ich sclion vorher hatte, erworben.
Erwerbung durch die That eines Anderen, zu der
ich diesen nach Rechtsgesetzen bestimme, ist also jeder-
Vom persönlichen Recht. §. 19. gl
zeit von dem Seinen des Anderen abgeleitet, und diese
Ableitung, als rechtlicher Akt, kann nicht durch diesen
als einen negativen Akt, nämlich der Verlassung,
oder einer auf das Seine geschehenen Verzichtthuung
Oper derelictio^ien aut renunciationem) geschehen, denn
dadurch wird nur das Seine Eines oder des Anderen
aufgehoben, aber nichts erworben; — sondern allein
durch Uebertragung (translatid), welche nur durch
einen gemeinschaftlichen Willen möglich ist, vermittelst
dessen der Gegenstand immer in die Gewalt des Einen
oder des Anderen kommt, alsdann Einer seinem An-
theile an dieser Gemeinschaft entsagt, und so das Ob-
jekt durch Annahme desselben (mithin einen positiven
Akt der Willkür) das Seine wird. — Die Uebertragung
seines Eigenthums an einen Anderen ist die Ver-
äusserung. Der Akt der vereinigten Willkür zweier
Personen, wodurch überhaupt das Seine des Einen auf
den Anderen übergeht, ist der Vertrag. -i*)
§. 19.
In jedem Vertrage sind zwei vorbereitende, und
zwei konstituirende rechtliche Akte der WillkUr; die
beiden ersteren (die des Traktiren s) sind das Ange-
bot (oZ>/aiioj und die Billigung {approhatio) desselben:
die beiden andern (nämlich des Abschliessens) sind
das Versprechen {promissum) und die A n n e li m u n g
(acceptatio). — Denn ein Anerbieten kann nicht eher ein
Versprechen heissen, als wenn ich vorher urtheile, das
Angebotene {ohlatuni) sei etwas, was dem Promissar
angenehm sein könne; welches durch die zwei ersten
Deklarationen angezeigt, durch diese allein aber noch
nichts erworben wird.
Aber weder durch den besonderen Willen des
Promittenten, noch den des Promissars (als Acceptanten),
geht das Seine des Ersteren zu dem Letzteren über,
sondern nur durch den vereinigten Willen Beider^
mithin sofern Beider Wille zugleich deklarirt wird. Nun
ist dies aber durch empirische Aktus der Deklaration, die
einander nothwendig in der Zeit folgen müssen und
niemals zugleich sind, unmöglich. Denn wenn ich ver-
sprochen habe und der Andere nun acceptiren will, so
Kant, Metaphysik der Sitten. O
32 Kechtslehre. 1. Theil. 2. Hauptstück. 2. Abschn.
kann ich während der Zwischenzeit (so kurz sie auch
sein mag) es mich gereuen lassen, weil ich vor der Accepta-
tion noch frei bin; so wie andererseits der Acceptant,
eben darum, an seine auf das Versprechen folgende
Grcgenerklärung auch sich nicht für gebunden halten darf.
— Die äussern Förmlichkeiten {solennia) bei Schliessung
des Vertrags (der Handschlag, oder die Zerbrechung
eines von beiden Personen angefassten Strohhalms \stipuld\)
und alle hin und her geschehene Bestätigungen seiner
vorherigen Erklärung beweisen vielmehr die Verlegen-
heit der Paciscenten, wie und auf welche Art sie die
immer nur aufeinander folgenden Erklärungen als in
einem Augenblicke zugleich existirend vorstellig machen
wollen, was ihnen doch nicht gelingt; weil es immer nur
in der Zeit einander folgende Aktus sind, wo, wenn der
eine Akt ist, der andere entweder noch nicht oder
nicht mehr ist.
Aber die transscendentale Deduction des Begriffs der
Erwerbung durch Vertrag kann allein alle diese Schwierig-
keiten heben. In einem rechtlichen äusseren Verhält-
nisse wird meine Besitznehmung der Willkür eines An-
deren (und so wechselseitig) als Bestimmungsgrund dessel-
ben zu einer That zwar erst empirisch durch Erklärung
und Gegenerklärung der Willkür eines Jeden von Beiden
in der Zeit, als sinnlicher Bedingung der Apprehension,
gedacht, wo beide rechtliche Akte immer nur auf ein-
ander folgen; weil jenes Verhältniss (als ein rechtliches)
rein intellektuell ist, durch den Willen als ein gesetz-
gebendes Vernunftvermögen jener Besitz als ein intelli-
gibler (j)ossessio iiournenon) nach Freiheitsbegriffen mit
Abstraktion von jenen empirischen Bedingungen als das
Mein oder Dein vorgestellt; wo beide Akte, des Ver-
sprechens und der Annehmung, nicht als aufeinander
folgend, sondern (gleich als pactum re initum) aus einem
einzigen gemeinsamen Willen hervorgehend, welches
durch das Wort zugleich ausgedrückt wird, und der
Gegenstand {promissum) durch Weglassung der empiri-
schen Bedingungen nach dem Gesetz der reinen praktischen
Vernunft als erworben vorgestellt wird.
Dass dieses die wahre und einzig mögliche Deduk-
tion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag sei,
wird durch die mühselige und doch immer vergeb-
Vom persönlichen Recht, §. 20. 33
liehe Bestrebung der Rechtsforscher (z. B. Moses
Mendelssohn's in seinem Jerusalem) zur Beweis-
führung jener Möglichkeit hinreichend bestätigt. —
Die Frage war: warum soll ich mein Versprechen
halten? Denn dass ich es soll, begreift ein Je-
der von selbst. Es ist aber schlechterdings unmög-
lich, von diesem kategorischen Imperativ noch einen
Beweis zu fuhren ; eben so, wie es für den Geometer
unmöglich ist, durch Vernunftschlüsse zu beweisen^
dass i>h, um ein Dreieck zu machen, drei Linien
nehmen müsse (ein analytischer SatzJ, deren zwei
aber zusammengenommen grösser sein müssen, als
die dritte (ein synthetischer; beide aber a jirioi'i).
Es ist ein Postulat der reinen (von allen sinnlichen
Bedingungen des Raumes und der Zeit, was den
Rechtsbegriff betrifft, abstrahirenden) Vernunft, und
die Lehre der Möglichkeit der Abstraktion von jenen
Bedingungen, ohne dass dadurch der Besitz desselben
aufgehoben wird, ist selbst die Deduktion des Be-
griffs der Erwerbung durch Vertrag; so wie es in
dem vorigen Titel die Lehre von der Erwerbung
durch Bemächtigung der äusseren Sache war. 42)
§. 20.
Was ist aber das Aeussere, das ich durch den Ver-
trag erwerbe? Da es nur die Kausalität der Willkür
des Anderen in Ansehung einer mir versprochenen Leistung
ist, so erwerbe ich dadurch unmittelbar nicht eine äussere
Sache, sondern eine That desselben, dadurch jene Sache
in meine Gewalt gebracht wird, damit ich sie zu der
meinen mache. — Durch den Vertrag also erwerbe ich
das Versprechen eines Anderen (nicht das Versprochene),
und doch kommt etwas zu meiner äusseren Habe hin-
zu; ich bin vermögender (/oc?/pMor) geworden, durch
Erwerbung einer aktiven Obligation auf die Freiheit und
das Vermögen des Anderen. — Dieses mein Recht aber
ist nur ein persönliches, nämlich gegen eine be-
stimmte physische Person und zwar auf ihre Kausa-
lität (ihre Willkür) zu wirken, mir etwas zu leisten,
nicht ein Sachenrecht, gegen diejenige moralische
Person , welche nichts Anderes, »la die Idee der a pricyri
6*
84 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 2. Abschn.
vereinigten Willkür Aller ist, und wodurch ich
allein ein Recht gegen j eden Besitzer derselben
erwerben kann; als worin alles Recht in einer Sache
besteht.
Die Uebertragung des Meinen durch Vertrag
geschieht nach dem G-esetz der Stetigkeit {lex conti-
nui), d. i. der Besitz des Gegenstandes ist während
diesem Akt keinen Augenblick unterbrochen, denn
sonst würde ich in diesem Zustande einen Gegen-
stand als etwas, das keinen Besitzer hat {i^es vacua),
folglich ursprünglich erwerben; welches dem Begriff
des Vertrages widerspricht. — Diese Stetigkeit aber
bringt es mit sich, dass nicht Eines von Beiden
promittentis et acceptantis) besonderer, sondern ihr
vereinigter Wille derjenige ist, welcher das Meine
auf den Anderen überträgt; also nicht auf die
Art, dass der Versprechende zuerst seinen Besitz
zum Vortheil des Anderen verlässt {derelinquit),
oder seinem Recht entsagt {renunciat) und der
Andere sogleich darin eintritt, oder umgekehrt. Die
Ti'anslation ist also ein Akt, in welchem der Gegen-
stand einen Augenblick Beiden zusammen angehört^
so wie in der parabolischen Bahn eines geworfenen
Steins dieser im Gipfel derselben einen Augenblick
als im Steigen und Fallen zugleich begriffen be-
trachtet werden kann, und so allererst von der
steigenden Bewegung zum Fallen übergeht.-*^)
§. 21.
Eine Sache wird in einem Vertrage nicht durch An-
nehmung (acceptatid) des Versprechens, sondern nur
durch Uebergabe {traditio) des Versprochenen er-
worben. Denn alles Versprechen geht auf eine Leistun g,
und wenn das Versprochene eine Sache ist, kann jene
nicht anders errichtet werden, als durch einen Akt, w^o-
durch der Promissar vom Promittenten in den Besitz
derselben gesetzt wird; d. i. durch die Uebergabe. Vor
dieser also und dem Empfang ist die Leistung noch nicht
geschehen; die Sache ist von dem Einen zu dem Anderen
noch nicht übergegangen, folglich von diesem nicht er-
worben worden, mithin das Recht aus einem Vertrage
Vom persönlichen Recht. §. 21. g5
nur ein persönliches, und wird nur durch die Tradition
ein dingliches Recht.
Der Vertrag, auf den unmittelbar die Uebergabe
folgt {pactum re initum), schliesst alle Zwischenzeit
zwischen der Schliessung und Vollziehung aus, und
bedarf keines besonderen noch zu erwartenden Akts,
wodurch das Seine des Einen auf den Anderen über-
tragen wird. Aber wenn zwischen Beiden noch eine
(bestimmte oder unbestimmte) Zeit zur Uebergabe
bewilligt ist, fragt sich: ob die Sache schon vor
dieser durch den Vertrag das Seine des Acceptanten
geworden, und das Recht des Letzteren ein Recht
in der Sache sei, oder ob noch ein besonderer Ver-
trag, der allein die Uebergabe betrifft, dazu kommen
müsse, mithin das Recht durch die blosse Accep-
tation nur ein persönliches sei, und allererst durch
die Uebergabe ein Recht in der Sache werde? —
Dass es sich hiermit wirklich so, wie das Letztere
besagt, verhalte, erhellt aus Nachfolgendem:
Wenn ich einen Vertrag über eine Sache, z. B.
über ein Pferd, das ich erwerben will, schliesse, und
nehme es zugleich mit in meinen Stall, oder sonst
in meinen physischen Besitz, so ist es mein (vi pacii
re initi), und mein Recht ist ein Recht in der
Sache; lasse ich es aber in den Händen des Ver-
käufers, ohne mit ihm darüber besonders auszu-
machen, in wessen physischem Besitz (Inhabung)
diese Sache vor meiner Besitznehmung {appreliensio),
mithin vor dem Wechsel des Besitzes sein solle, so
ist dieses Pferd noch nicht mein, und mein Recht,
was ich erwerbe, ist nur ein Recht gegen eine be-
stimmte Person, nämlich den Verkäufer von ihm, in
den Besitz gesetzt zu werden {poscendi tra-
ditionem), als subjektive Bedingung der Möglichkeit
alles beliebigen Gebrauchs desselben, d. i. mein
Recht ist nur ein persönliches Recht, von jenem die
Leistung des Versprechens (jiraestatio), mich in
den Besitz der Sache zu setzen, zu fordern. Nun
kann ich, wenn der Vertrag nicht zugleich die
Uebergabe (als pactum re mitiim) enthält, mithin
eine Zeit zwischen dem Abschluss desselben und der
Besitznehmung des Erworbenen verläuft, in dieser
Rechtslehre. l. Theil. 2. Hauptstück. 3. Abschn.
Zeit nicht aaders zum Besitz gelangen, als dadurch^
dass ich einen besonderen rechtlichen, nämlich
einen Besitzakt (actum possessormm) ausübe,
der einen besonderen Vertrag ausmacht, und dieser
ist, dass ich sage : ich werde die Sache (das Pferd)
abholen lassen, wozu der Verkäufer einwilligt. Denn
dass dieser eine Sache zum Gebrauche eines An-
deren auf eigene Gefahr in seine Gewahrsame
nehmen werde, versteht sich nicht von selbst, son-
dern dazu gehört ein besonderer Vertrag, nach
welchem der Veräusserer seiner Sache innerhalb
der bestimmten Zeit noch immer Eigenthümer
bleibt (und alle Gefahr, die die Sache treffen möchte,
tragen muss), der Erwerbende aber nur dann, wann
er über diese Zeit zögert, von dem Verkäufer dafür
angesehen werden kann, als sei sie ihm überliefert.
Vor diesem Besitzakt ist also alles durch den Ver-
trag Erworbene nur ein persönliches Recht, und
der Promissar kann eine äussere Sache nur durch
Tradition erwerben.44)
Dritter Abschnitt.
Von dem auf dingliche Art persönlichen Eeciit.
§. 22.
Dieses Recht ist das des Besitzes eines äusseren
Gegenstandes als einer Sache und des Gebrauchs
desselben als einer Person. — Das Mein und Dein
nach diesem Recht ist das häusliche und das Ver-
hältniss in diesem Zustande ist das der Gemeinschaft
freier Wesen, die durch den wechselseitigen Einfluss
(der Person des einen auf das andere) nach dem Prin-
zip der äussern Freiheit (Kausalität) eine Geseilschaft
von Gliedern eines Ganzen (in Gemeinschaft stehen-
der Personen) ausmachen, welches das Hauswesen
heisst. — Die Erwerbungsart dieses Zustandes und in
demselben geschiebt weder durch eigenmächtige That
Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht. §. 23. 24. 87
{facto), noch durch blossen Vertrag (pacto), sondern
durchs Gesetz {lege), welches, weil es kein Recht t)
gegen eine Person, sondern auch ein Besitz derselben
zugleich ist, ein über alles Sachen- und persönliche hin-
aus liegendes Recht, nämlich das Recht der Menschheit
in unserer eigenen Person sein muss, welches ein natür-
liches Erlaubnissgesetz zur Folge hat, durch dessen
Gunst uns eine solche Erwerbung möglich ist.
§. 23.
Die Erwerbung nach diesem Gesetz ist dem Gegen-
stande nach dreierlei: der Mann erwirbt ein Weib, das
Paar erwirbt Kinder, und die Familie Gesinde. —
Alles dieses Erwerbliche ist zugleich unveräusserlich
und das Recht des Besitzers dieser Gegenstände das
aller persönlichste."*^)
Des Rechts der häiäsliclieii Gesellschaft
erster Titel:
Das Eherecht.
§• 24.
Geschlechtsgemeinschaft (commet'ciam sexuale)
ist der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von
eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht
(usus membroiiim et facultatum sexualluni alterius) und
entweder ein natürlicher (wodurch seines Gleichen
erzeugt werden kann) oder unnatürlicher Gebrauch,
und dieser entweder an einer Person ebendesselben Ge-
schlechts, oder einem Thiere von einer anderen, als der
Menschen-Gattung; welche Uebertretungen der Gesetze,
unnatürliche Laster {crimina carnis contra naturam)y
t) Erste Ausgabe: „weil es kein Recht in einer Sache,
auch nicht ein blosses Recht gegen eine Person."
3g Rechtslehre. 1. Theil. 2. Hauptstück. 3. Abschn.
die auch unnennbar heissen, als Läsion der Menschheit
in unserer eigenen Person, durch gar keine Einschrän-
kungen und Ausnahmen wider die gänzliche Verwerfung
gerettet werden können.
Die natürliche Geschlechtsgemeinschaft ist nun ent-
weder die nach der blossen thierischen Natur {vaga
libidoj venus vulgivaga, fornicatio) oder nach dem Ge-
setz. — Die letztere ist die Ehe {matrimomum)^ d. i.
die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts
zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Ge-
schlechtseigenschaften. — Der Zweck, Kinder zu erzeugen
und zu erziehen, mag immer ein Zweck der Natur sein,
zu welchem sie die Neigung der Geschlechter gegenein-
ander einpflanzte; aber dass der Mensch, der sich ver-
ehelicht, diesen Zweck sich vorsetzen müsse, wird zur
Rechtmässigkeit dieser seiner Verbindung nicht erfordert;
denn sonst würde, wenn das Kinderzeugen aufhört, die
Ehe sich zugleich von selbst auflösen.
Es ist nämlich, auch unter Voraussetzung der Lust
zum wechselseitigen Gebrauch ihrer Geschlechtseigen-
schaften, der Ehevertrag kein beliebiger, sondern durchs
Gesetz der Menschheit nothwendiger Vertrag, d. i. wenn
Mann und Weib einander ihren Geschlechtseigenschaften
nach wechselseitig gemessen wollen, so müssen sie
sich nothwendig verehelichen, und dieses ist nach Rechts-
gesetzen der reinen Vernunft nothwendig.
§. 25.
Denn der natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht
von den Geschlechtsorganen des anderen macht, ist ein
Genuss, zu dem sich ein Theil dem anderen hingiebt.
In diesem Akt macht sich ein Mensch selbst zur Sache,
welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen
Person widerstreitet. Nur unter der einzigen Bedingung
ist dieses möglich, dass, indem die eine Person von der
anderen, gleich als Sache, erworben wird, diese
gegenseitig wiederum jene enverbe; denn so gewinnt
sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit
wieder her. Es ist aber der Erwerb eines Gliedmasses
am Menschen zugleich Erwerbung der ganzen Person, —
weil diese eine absolute Einheit ist; — folglich ist die
Ton dem auf dingliche Art persönlichen Recht. §. 26. 39
Hingebung und Annehmung eines Geschlechts zum Ge-
nuss des andern nicht allein unter der Bedingung der
Ehe zulässig, sondern auch allein unter derselben mög-
lich. Dass aber dieses persönliche Recht es doch zu-
gleich auf dingliche Art sei, gründet sich darauf,
weil, wenn eines der Eheleute sich verlaufen, oder sich
in eines Anderen Besitz gegeben hat, das andere es
jederzeit und unweigerlich, gleich als eine Sache, in seine
Gewalt zurückzubringen berechtigt ist.^^)
§. 26.
Aus denselben Gründen ist das Verhältniss der Ver-
ehelichten ein Verhältniss der Gleichheit des Besitzes,
sowohl der Personen, die einander wechselseitig besitzen
(folglich nur in Monogamie, denn in einer Polygamie
gewinnt die Person, die sich weggiebt, nur einen Theil
desjenigen, dem sie ganz anheim fällt, und macht sich
also zur blossen Sache), als auch der Glücksgüter, wobei
sie doch die Befugniss haben, sich, obgleich nur durch
einen besonderen Vertrag, des Gebrauchs eines Theils
derselben zu begeben.
Dass der Konkubinat keines zu Recht bestän-
digen Kontrakts fähig sei, so wenig als die Ver-
dingung einer Person zum einmaligen Genuss {pac-
tum fornicationis), folgt aus dem obigen Grunde.
Denn was den letzteren Vertrag betrifft, so wird
Jedermann gestehen, dass die Person, welche ihn
geschlossen hat, zur Erfüllung ihres Versprechens
rechtlich nicht angehalten werden könnte, wenn es
ihr gereuete; und so fällt auch der erstere, nämlich
der des Konkubinats (als pactum turpe) weg, weil
dieser ein Kontrakt der Verdingung (locatio-
concluctio) sein würde, und zwar eines Gliedmaasses
zum Gebrauch eines Anderen, mithin wegen der
unzertrennlichen Einheit der Glieder an einer Per-
son diese sich selbst als Sache der Willkür des
Anderen hingeben würde; daher jeder Theil den
eingegangenen Vertrag mit dem anderen aufheben
kann, sobald es ihm beliebt, ohne dass der andere
über Läsion seines Rechts gegründete Beschwerde
führen kann. — Ebendasselbe gilt auch von der
90 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 3. Abschn.
Ehe an der linken Hand, um die Ungleichheit des
Standes beider Theile zur grösseren Herrschaft des
einen Theils über den anderen zu benutzen; denn
in der That ist sie nach dem blossen Naturrecht
vom Konkubinat nicht unterschieden, und keine
wahre Ehe. — Wenn daher die Frage ist: ob es
auch der Gleichheit der Verehelichten als solcher
widerstreite, wenn das Gesetz von dem Manne in
Verhältniss auf das Weib sagt: er soll dein Herr
(er der befehlende, sie der gehorchende Theil) sein;
so kann dieses nicht als der natürlichen Gleichheit
eines Menschenpaares widerstreitend angesehen wer-
den, wenn dieser Herrschaft nur die natürliclie
Ueberlegenheit des Vermögens des Mannes über das
weibliche, in Bewirkung des gemeinschaftlichen In-
teresse des Hauswesens und des darauf gegründeten
Rechts zum Befehl zum Grunde liegt, welches daher
selbst aus der Pflicht der Einheit und Gleichheit
in Ansehung des Zwecks abgeleitet werden kann. 4'<)
§. 27.
Der Ehe-Vertrag wird nur durch eheliche Bei-
wohnung {copula carnalis) vollzogen. Ein Vertrag
zweier Personen beiderlei Geschlechts, mit dem geheimen
Einverständniss entweder, sich der fleischlichen Gemein-
schaft zu enthalten, oder mit dem Bewusstsein eines oder
beider Theile, dazu unvermögend zu sein, ist ein simu-
lirter Vertrag und stiftet keine Ehe; kann auch durch
jeden von beiden nach Belieben aufgelöst werden. Tritt
aber das Unvermögen nur nachher ein, so kann jenes
Recht durch diesen unverschuldeten Zufall nichts ein-
büssen.
Die Erwerbung einer Gattin oder eines Gatten
geschieht also nicht facto (durch die Beiwolmung) ohne
vorhergehenden Vertrag, auch nicht pacto (durch den
blossen ehelichen Vertrag, ohne nachfolgende Beiwohnung),
sondern nur lege: d. i. als rechtliche Folge aus der Ver-
bindlichkeit, in eine Geschlechtsverbindung nicht anders,
als vermittelst des wechselseitigen Besitzes der Per-
sonen, als welcher nur durch den gleichfalls Wechsel-
Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht. §. 28. 9^
seitigen Gebrauch ihrer Geschlechtseigenthümlichkeiten
seine Wirklichkeit erhält, zu treten.
Des Rechts der häuslichen Gesellschaft
zweiter Titel.
Das Elternrecht.
§. 28.
Gleichwie aus der Pflicht des Menschen gegen sich
selbst, d. i. gegen die Menschheit in seiner eigenen Per-
son ein Recht (jus personale) beider Geschlechter ent-
sprang, sich, als Personen, wechselseitig einander, auf
dingliche Art, durch Ehe zu erwerben; so folgt, aus
der Zeugung in dieser Gemeinschaft, eine Pflicht der
Erhaltung und Versorgung in Absicht auf ihr Erzeug-
niss; d. i. die Kinder, als Personen, haben hiermit zu-
gleich ein ursprünglich-angebornes (nicht angeerbtes)
Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern, bis sie ver-
mögend sind, sich selbst zu erhalten; und zwar durchs
Gesetz {lege) unmittelbar, d. i. ohne dass ein besonderer
rechtlicher Akt dazu erforderlich ist.
Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es un-
möglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit
begabten Wesens durch eine physische Operation einen
Begriif zu machen*); so ist es eine in praktischer
*) Selbst nicht, wie es möglich ist, dass Gott freie We-
sen erschaffe; denn da wären, wie es scheint, alle künf-
tige Handlungen derselben, durch jenen ersten Akt vorher-
bestimmt, in der Kette der Naturnothwendigkeit enthalten,
mithin nicht frei. Dass sie aber (wir Menschen) doch frei
bind, beweiset der kategorische Imperativ in moralisch-
praktischer Absicht, wie durch einen Machtspruch der Ver-
nunft, ohne dass diese doch die Möglichkeit dieses Ver-
hältnisses einer Ursache zur Wirkung in theoretischer Hin-
sicht begreiflich machen kann, weil beide übersinnlich sind.
— Was man ihr hierbei allein zumuthen kann, wäre bloss:
dass sie beweise, es sei in dem Begriffe von einer Schöpfung
92 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 3. Abschn.
Hinsicht ganz richtige und auch noth wendige Idee,
den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wo-
durch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die
Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herübergebracht
haben; für welche That auf den Eltern nun auch eine
Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist,
mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen. —
Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel
(denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen
sein) und als ihr Eigenthum zerstören oder es auch
nur dem Zufall überlassen, weil sie an ihm nicht bloss
ein Weltwesen, sondern auch einen Weltbürger in einen
Zustand herüberzogen, der ihnen nun auch nach Rechts-
begriflfen nicht gleichgültig sein kann.
§. 29.
Aus dieser Pflicht entspringt auch nothwendig das
Recht der Eltern zur Handhabung und Bildung des
Kindes^ so lange es des eigenen Gebrauchs seiner Grlied-
massen, imgleichen des Verstandesgebrauchs, noch nicht
mächtig ist, ausser der Ernährung und Pflege es zu er-
freier Wesen kein Widerspruch; und dieses kann dadurch
gar wohl geschehen, das gezeigt wird: der Widerspruch
ereigne sich nur dann, wenn mit der Kategorie der Kau-
salität zugleich die Zeitbedingung, die im Verhältniss
zu Sinnenobjekten nicht vermieden werden kann (dass näm-
lich der Grund einer Wirkung vor dieser vorhergehe;, auch
in das Verhältniss des Uebersinnlichen zu einander hinüber-
gezogen wird (welches auch wirklich, wenn jener Kausal-
begriff in theoretischer Absicht objektive Realität bekommen
soll, geschehen müsste}; er — der Widerspruch — aber
^'erschwinde, wenn in moralisch-praktischer, mithin nicht-
sinnlicher Absicht die reine Kategorie (ohne ein ihr unter-
gelegtes Schema) im Schöpfungsbegiiffe gebraucht wird.
Der philosophische Rechtslehrer wird diese Nachforschung
bis zu den ersten Elementen der Transscendentalphilosophie
in einer Metaphysik der Sitten nicht für unnöthige Grübelei
erklären, die sich in zwecklose Dunkelheit verliert, wenn
er die Schwierigkeit der zu lösenden Aufgabe und doch
auch die Nothwendigkeit, hierin den Rechtsprinzipien genug
zu thun, in Ueberlegung zieht.
Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht. §. 30. 93
ziehen, und sowohl pragmatisch, damit es künftig
sich selbst erhalten und fortbringen könne, als auch
moralisch, weil sonst die Schuld ihrer Verwahrlosung
auf die Eltern fallen würde, — es zu bilden; alles bis
zur Zeit der Entlassung {emancipatio), da diese sowohl
ihrem väterlichen Rechte zu befehlen, als auch allem
Anspruch auf Kostenerstattung für ihre bisherige Ver-
pflegung und Mühe entsagen, wofür, und nach vollendeter
Erziehung sie der Kinder ihre Verbindlichkeit (gegen die
Eltern) nur als blosse Tugendpflicht, nämlich als Dank-
barkeit, in Anschlag bringen können.
Aus dieser Persönlichkeit der erstem folgt nun auch,
dass, da die Kinder nie als Eigenthum der Eltern an-
gesehen werden können, aber doch zum Mein und Dein
derselben gehören (weil sie gleich den Sachen im Be-
sitz der Eltern sind und aus jedes Anderen Besitz, selbst
wider ihren Willen, in diesen zurückgebracht werden
können), das Recht der ersteren kein blosses Sachen-
recht, mithin nicht veräusserlich {jus jjersonalissimum)^
aber auch nicht ein bloss persönliches, sondern ein auf
dingliche Art persönliches Recht ist.
Hierbei fällt also in die Augen, dass der Titel eines
auf dingliche Art persönlichen Rechts in der
Rechtslehre noch über dem des Sachen- und persönlichen
Rechts nothwendig hinzukommen müsse, jene bisherige
Eintheilung also nicht vollständig gewesen ist, weil,
wenn von dem Recht der Eltern an den Kindern, als
einem Stück ihres Hauses, die Rede ist, jene sich nicht
bloss auf die Pflicht der Kinder berufen dürfen, zurück-
zukehren, wenn sie entlaufen sind, sondern sich ihrer
als Sachen (verlaufener Hausthiere) zu bemächtigen und
sie einzufangen berechtigt sind. 4^)
Des Rechts der häuslichen Gesellschaft
dritter Titel:
Das Hausherren-Recht.
§. 30.
Die Kinder des Hauses, die mit den Eltern zusammen
.eine ^amilie ausmachten, werden, auch ohne allen
94 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 3. Abschn.
Vertrag der Aufkündigung ihrer bisherigen Abhängigkeit^
durch die blosse Geiangung zu dem Vermögen ihrer
Selbsterhaltung (so wie es theils als natürliche Voll-
jährigkeit dem allgemeinen Laufe der Natur überhaupt,
theils ihrer besonderen Naturbeschaffenheit gemäss ein-
tritt), mündig {inajm'ennes), d. i. ihre eigenen Herren
{sui juris), und erwerben dieses Recht ohne besonderen
rechtlichen Akt, mithin bloss durchs Gesetz (lege), —
sind den Eltern für ihre Erziehung nichts schuldig, so
wie gegenseitig die letzteren ihrer Verbindlichkeit gegen
diese auf ebendieselbe Art loswerden, hiermit beide ihre
natürliche Freiheit gewinnen oder wiedergewinnen, —
die häusliche Gesellschaft aber, welche nach dem Gesetz
nothwendig war, nunmehr aufgelöst wird,
Beide Theile können nun wirklich ebendasselbe Haus-
wesen, aber in einer anderen Form der Verpflichtung,
nämlich als Verknüpfung des Hausherrn mit dem Ge-
sinde (den Dienern oder Dienerinnen des Hauses), mit-
hin eben diese häusliche Gesellschaft, aber jetzt als
hausherrliche {societas herüis) erhalten, durch einen
Vertrag, den der erste mit den mündig gewordenen Kin-
dern, oder, wenn die Familie keine Kinder hat, mit
anderen freien Personen (der Hausgenossenschaft) schliesst,
eine häusliche Gesellschaft stiften, welche eine ungleiche
Gesellschaft (des gebietenden oder der Herrschaft,
und der gehorchenden, d. i. der Dienerschaft, im-
perantis et suhjecii domestici) sein würde.
Das Gesinde gehört nun zu dem Seinen des Haus-
herrn, und zwar was die Form (den Besitzstand)
betrifft, gleich als nach einem Sachenrecht; denn der
Hausherr kann, w^enn es ihm entläuft, es durch einseitige
Willkür in seine Gewalt bringen; was aber die Materie
betrifft, d. i. welchen Gebrauch er von diesen seinen
Hausgenossen machen kann, so kann er sich nie als
Eigenthümer desselben {dominus servi) betragen; weil
er nur durch Vertrag unter seine Gewalt gebracht ist,
ein Vertrag aber, durch den ein Theil zum Vortheil des
anderen auf seine ganze Freiheit Verzicht thut, mithin
aufhört, eine Person zu sein, folglich auch keine Pflicht
hat, einen Vertrag zu halten, sondern nur Gewalt aner-
kennt, in sich selbst widersprechend, d. i. null und nich-
tig ist. (Von dem Eigenthumsrecht gegen den, der sich
Eintheilung der erwerblichen Rechte aus Verträgen. §. 31. 95
durch ein Verbrechen seiner Persönlichkeit verlustig ge-
macht hat, ist hier nicht die Rede.)
Dieser Vertrag also der Hausherrschaft mit dem Ge-
sinde kann nicht von solcher Beschaffenheit sein, dass
der Gebrauch desselben ein Verbrauch sein würde,
worüber das Urtlieil aber nicht bloss dem Hausherrn,
sondern auch der Dienerschaft (die also nie Leibeigen-
schaft sein kann) zukommt; kann also nicht auf lebens-
längliche, sondern allenfalls nur auf bestimmte Zeit,
binnen der ein Theil dem anderen die Verbindung auf-
kündigen darf, geschlossen werden. Die Kinder aber
(selbst die eines durch sein Verbrechen zum Sklaven
Gewordenen) sind jederzeit frei. Denn frei geboren ist
jeder Mensch, weil er noch nichts verbrochen hat, und
die Kosten der Erziehung bis zu seiner Volljährigkeit
können ihm auch nicht als eine Schuld angerechnet
werden, die er zu tilgen habe. Denn der Sklave müsste,
wenn er könnte, seine Kinder auch erziehen, oune ihnen
dafür Kosten zu verrechnen, der Besitzer des Sklaven
tritt also, bei dieses seinem Unvermögen, in die Stelle
seiner Verbindlichkeit.
Man sieht auch hier, wie unter beiden vorigen Titeln,
dass es ein auf dingliche Art persönliches Recht (der
Herrschaft über das Gesinde) gebe; weil man sie zurück-
holen und als das äussere Seine von jedem Besitzer
abfordern kann, ehe noch die Gründe, welche sie dazu
vermocl t haben mögen, und ihr Recht untersucht wer-
den dürfen. -i'«0
Bogmatisclie Eintlieilusig aller erwerblichen
Rechte aus Yerträgen.
§. 31.
Von einer metaphysischen Rechtslehre kann gefordert
werden, dass sie a prioj'i die Glieder der Eintheilung
{divisio logica) vollständig und bestimmt aufzähle und
so ein wahres System derselben aufstelle; statt dessen
96 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 3. Abschn.
alle emp i r is ch eEinth ei lung bloss fragmentarisch
(partitio) ist, und es ungewiss lässt, ob es nicht noch
mehr Glieder gebe, welche zur Ausfüllung der ganzen
Sphäre des eingetheilten Begriffs erfordert würden. —
Eine Eintheilung nach einem Prinzip a priori (im Ge-
gensatz der empirischen) kann man nun dogmatisch
nennen.
Aller Vertrag besteht an sich, d. i. objektiv be-
trachtet, aus zwei rechtlichen Akten: dem Versprechen
und der Annehmung desselben; die Erwerbung durch
die letztere (wenn es nicht ein pactum re initum ist,
welches Uebergabe erfordert) ist nicht ein Theil, son-
dern die rechtlich noth wendige Folge desselben. —
Subjektiv aber erwogen, d. i. als Antwort auf die
Frage: ob jene nach der Vernunft nothwendige Folge
(welche die Erwerbung sein sollte) auch wirklich
erfolgen (physische Folge sein) werde, dafür habe
ich durch die Annehmung des Versprechens noch keine
Sicherheit. Diese ist also, als äusserlich zur Modali-
tät des Vertrages, nämlich der Gewissheit der Er-
werbung durch denselben gehörend, ein Ergänzungsstück
zur Vollständigkeit der Mittel zur Erreichung der Ab-
sicht des Vertrags, nämlich der Erwerbung. — Es treten
zu diesem Behuf drei Personen auf: der Promittent,
der Acceptant und der Cavent; durch welchen Letz-
teren und seinen besonderen Vertrag mit dem Promit-
tenten der Acceptant zwar nichts mehr in Ansehung des
Objekts, aber doch der Zwangsmittel gewinnt, zu dem
Seinen zu gelangen.
Nach diesen Grundsätzen der logischen (rationalen)
Eintheilung giebt es nun eigentlich nur drei einfache
und reine Vertragsarten, der vermischten aber und em~
pirischen, welche zu den Prinzipien des Mein und Dein
nach blossen Vernunftgesetzen, noch statutarische und
konventionelle hinzuthun, giebt es unzählige, sie liegen
aber ausserhalb dem Kreise der metaphysischen Rechts-
lehre, die hier allein verzeichnet werden soll.
Alle Verträge nämlich haben entweder A. einseitigen
Erwerb (wohlthätiger Verti'ag), oder B. wechsel-
seitigen (belästigter Vertrag), oder gar keinen
Erwerb, sondern nur C. Sicherheit des Seinen
(Eintheilung der erwerblichen Rechte aus Verträgen.) §. 31. 97
(der einerseits wohlthätig, andererseits doch auch
zugleich belästigend sein kann) zur Absicht.
A. Der woliltliätige Vertrag {pactum gratuitum) ist:
a) Die Aufbewahrung des anvertrauten Guts
{deijositum).
b) Das Verleihen einer Sache {commodatarn).
c) Die Verse henkung {donatio).
B. Der belästigte Vertrag:
I. D er V e r ä u s s e r u n g s V e r t r a g {pei 'mutatio late
sie dicta).
a) Der Tausch (jyermutatio stricte sie dicta):
Waare gegen Waare.
b) Der K a u f und Verkauf {emtio venditio) : Waare
gegen Geld.
c) Die Anleihe {inutuum): Veräusserung einer
Sache unter der Bedingung, sie nur der Species
nach wieder zu erhalten (z. B. Getreide gegen
Getreide, oder Geld gegen Geld).
II. Der V er dingungs vertrag {locatio conductio).
a. Die Verdingung meiner Sache an einen
Anderen zum Gebrauch derselben {locatio rei)y
welche, wenn sie nur in specie wiedererstattet
werden darf, als belästigter Vertrag, auch mit
Verzinsung verbunden sein kann {pactum
uswxirium).
ß. Der Lohn vertrag {locatio oijerae)^ d. i. die
Bewilligung des Gebrauchs meiner Kräfte an
einen Anderen für einen bestimmten Preis {merces)^
Der Arbeiter nach diesem Vertrage ist der Lohn-
diener {mercenarius).
y. Der Bevollmächtigungs vertrag {manda-
tum): die Geschäftsführung an der Stelle und
im Namen eines Anderen, welche, wenn sie
bloss an des Anderen Stelle, nicht zugleich in
seinem (des Vertretenen) Namen geführt wird,
Geschäftsführung ohne Auftrag {gestio
negotii)'^ wird sie aber im Namen des Anderen
verrichtet; Mandat heisst, das hier, ' als Ver-
dingungsvertrag, ein belästigter Vertrag {man-
datum onerosum) ist»
Kant, Metaphysik der Bitten. 7
98 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 3. Abschn.
C. Der ZusicherungSTertrag (cautio):
a) Die Verpfändung und Pfandnehmung zu-
sammen Xj^ignus).
b) Die Gutsagung für das Versprechen eines Anderen
{fidejussid).
c) Die persönliche Verbürgung {praestatio
ohsidis).
In dieser Tafel aller Arten der Uebertragung
{translatio) des Seinen auf einen Anderen finden
sich Begriffe von Objekten oder Werkzeugen dieser
Uebertragung vor, welche ganz empirisch zu sein
scheinen, und selbst ihrer Möglichkeit nach in einer
metaphysischen Rechtslehre eigentlich nicht
Platz haben, in der die Eintheilungen nach Prin-
zipien a lyriori gemacht werden müssen, mithin
von der Materie des Verkehrs (welche konventionell
sein könnte) abstrahirt und bloss auf die Form ge-
sehen werden muss, dergleichen der Begriff des
Geldes im Gegensatz mit aller anderen veräusser-
lichen Sache, nämlich der Waare, im Titel des
Kaufs und Verkaufs, oder der eines Buchs ist.
— Allein es wird sich zeigen, dass jener Begriff
des grössten und brauchbarsten aller Mittel des
Verkehrs der Menschen mit Sachen, Kauf und
Verkauf (Handel) genannt, imgleichen der eines
Buchs, als das des grössten Verkehrs der Gedanken,
sich doch in lauter intellektuelle Verhältnisse auf-
lösen lasse, und so die Tafel der reinen Verträge
nicht durch empirische Beimischung verunreinigen
dürfe. 30)
I.
Was ist Geld?
Geld ist eine Sache, deren Gebrauch nur dadurch
möglich ist, dass man sie ver äussert. Dies ist eine
gute Namener klärung desselben (nach Achenwall),
nämlich hinreichend zur Unterscheidung dieser Art Ge-
genstände der Willkür von allen andern; aber sie giebt
(Was ist Geld?) §. 31. 99
uns keinen Aiifscbluss über die Möglichkeit einer solchen
Sache. Doch sieht man so viel daraus: dass erstlich
diese Veräiisserung im Verkehr nicht als Verschenkung,
sondern als zur wechselseitigen Erwerbung (durch
ein jyactum onerosum) beabsichtigt ist; zweitens dass,
da es als (in einem Volke) allgemein beliebtes blosses
Mittel des Handels, was an sich keinen Werth hat,
im Gegensatz einer Sache, als Waare (d. i. desjenigen,
was einen solchen hat und sich auf das besondere Be-
dUrfniss Eines oder des Anderen im Volke bezieht) ge-
clacht wird, es alle Waare repräsentirt.
Ein Scheflfel Getreide hat den grijssten direkten Werth
als Mittel zu menschlichen Bedürfnissen. Man kann
damit Thiere füttern, die uns zur Nahrung, zur Bewegung
und zur Arbeit an unserer Statt dienen, und dann auch
vermittelst desselben also Menschen vermehren und er-
halten, welche nicht allein jene Naturprodukte immer
wieder erzeugen, sondern auch durch Kunstprodukte
allen unseren Bedürfnissen zu Hülfe kommen können; zur
Verfertigung unserer Wohnung, Kleidung, ausgesuchtem
Genüsse und aller Gemächlichkeit überhaupt, welche die
Güter der Industrie ausmachen. Der Werth des Geldes ist
dagegen nur indirekt. Man kann es selbst nicht ge-
niessen, oder als ein solches irgend wozu unmittelbar
gebrauchen; aber doch ist es ein Mittel, was unter allen
Sachen von der höchsten Brauchbarkeit ist.
Hierauf lässt sich vorläufig eine Realdefinition
des Geldes gründen: es ist das rJlgemeine Mittel, den
Fleiss der Menschen gegen einander zu verkehren,
so, dass der Kationalreichthum , insofern er vermittelst
des Geldes erworben w^orden, eigentlich nur die Summe
des Fleisses ist, mit dem Menschen sich untereinander
lohnen, und welcher durch das in dem Volk umlaufende
Geld repräsentirt wird.
Die Sache nun, welche Geld heissen soll, muss also
selbst so viel Fleiss gekostet haben, um sie hervorzu-
bringen, oder auch anderen Menschen in die Hände zu
schaffen, dass dieser demjenigen Fleiss, durchweichen
die Waare (in Natur- oder Kunstprodukten) hat erwor-
ben werden müssen und gegen welchen jener ausge-
tauscht wird, gleich komme. Denn wäre es leichter,
den Stoff, der Geld heisst, als die Waare anzuschaffen.
IQQ Rechtsiehre. I. Tlieii. 2. Haiiptstück. 3. Absclm.
so käme mehr Geld zu Markte, als Waare feil steht:
und weil der Verkäufer mehr Fleiss auf seine Waare
verwenden müsste, als der Käufer, dem das Geld schneller
zuströmt, so würde der Fleiss in Verfertigung der Waare
und so das Gewerbe überhaupt mit dem Erwerbfleiss,
der den öffentlichen Reichthum zur Folge hat, zugleicli
schwinden und verkürzt werden. — Daher können Bank-
noten und Assignaten nicht für Geld angesehen werden,
ob sie gleich eine Zeit hindurch die Stelle desselben
vertreten; weil es beinahe gar keine Arbeit kostet, sie
zu verfertigen, und ihr Werth sich bloss auf die Mei-
nung der ferneren Fortdauer der bisher gelungenen Um-
setzung derselben in Baarschaft gründet, welche, bei
einer etwanigen Entdeckung, dass die letztere nicht in
einer zum leichten und sicheren Verkehr hinreichenden
Menge da sei, plötzlich verschwindet und den Ausfall
der Zahlung unvermeidlich macht. — So ist der Erwerb-
fleiss derer, welche die Gold- und Silberbergwerke in
Peru oder Neumexico anbauen, vornehmlich bei den so
vielfältig misslingenden Versuchen eines vergeblich an-
gewandten Fleisses im Aufsuchen der Erzgänge wahr-
scheinlich noch grösser, als der auf der Verfertigung
der Waaren in Europa verwendete, und würde, als un-
vergolten, mithin von selbst nachlassend, jene Länder
bald in Armuth sinken lassen, wenn nicht der Fleiss
Europens dagegen, eben durch diese Materialien gereizt,
sich proportionirlich zugleich erweiterte, um bei jenen
die Lust zum Bergbau, durch ihnen angebotene Sachen
des Luxus, beständig rege zu erhalten; so dass immer
Fleiss gegen Fleiss in Konkurrenz kommen.
Wie ist es aber möglich, dass das, was anfänglich
Waare war, endlich Geld ward? Wenn ein grosser und
machthabender Verthuer einer Materie, die er Anfangs
bloss zum Schmuck und Glanz seiner Diener (des Hofes)
brauchte (z. B. Gold, Silber, Kupfer, oder eine Art
schöner Muschelschalen, Cauris, oder auch, wie in
Congo, eine Art Matten, Makuten genannt, oder, wie
am Senegal, Eisenstangen, und auf der Guineaküste selbst
Negersklaven); d. i. wenn ein Landesherr die Ab-
sraben von seinen ünterthanen in dieser Materie (als
Waare) einiordert, und die, deren Fleiss in Anschaffung
derselben dadurch bewegt werden soll, mit ebendenselben.
(Was ist Geld?; §. 31. 101
iiach Verordnungen des Verkehrs unter und mit ihnen
überhaupt (auf einem Markt oder einer Börse) wieder
lohnt. — Dadurch allein hat (meinem Bedünken nach)
eine Waare ein gesetzliches Mittel des Verkehrs des
Fleisses der ünterthanen unter einander und hiermit
auch des Staatsreichthums, d. i. Geld werden kiJnnen.
Der intellektuelle Begriff, dem der empirische vom
Gelde untergelegt ist^ ist also der von einer Sache, die,
im Umlauf des Besitzes begriffen {permutatio puhlicci)^
den Preis aller anderen Dinge (Waaren) bestimmt,
unter welche letztere sogar Wissenschaften, sofern sie
Anderen nicht umsonst gelehrt werden, gehören; dessen
Menge also in einem Volk die Begüterung {opulentid)
desselben ausmacht. Denn Preis {pretiwn) ist das
öffentliche Urtheil über denWerth {valor) einer Sache,
in Verhältniss auf die proportionirte Menge desjenigen,
was das allgemeine stellvertretende Mittel der gegen-
seitigen Vertauschung des Fleisses (des Umlaufs) ist.
— Daher werden, wo der Verkehr gross ist, weder Gold
noch Kupfer für eigentliches Geld, sondern nur für Waare
gehalten ; weil von dem ersteren zu wenig, vom anderen
zu viel da ist, um es leicht in Umlauf zu bringen, und
dennoch in so kleinen Theilen zu haben, als zum Umsatz
gegen Waare, oder eine Menge derselben im kleinsten Er-
werb nöthig ist. Silber (weniger oder mehr mit Kupfer
versetzt) wird daher im grossen Verkehr der Weit für
das eigentliche Material des Geldes und den Maassstab
der Berechnung aller Preise genommen; die übrigen
Metalle (noch vielmehr also die unmetallischen Materien)
können nur in einem Volk von kleinem Verkehr statt-
linden. — Die ersteren beiden, wenn sie nicht bloss ge-
wogen, sondern auch gestempelt, d. i. mit einem Zeichen,
für wie viel sie gelten sollen, versehen worden, sind
gesetzliches Geld, d. i. Münze.
„Geld ist also (nach Adam Smith) derjenige Kör-
per, dessen Veräusserung das Mittel und zugleich der
Maassstab des Fleisses ist, mit welchem Menschen und
Völker unter einander Verkehr treiben." — Diese Er-
klärung führt den empirischen Begriff des Geldes da-
durch auf den intellektuellen hinaus, dass sie nur auf
die Form der wechselseitigen Leistungen im belästigten
Vertrage sieht (und von dieser ihrer Materie abstrahirt),
][Q2 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptstück. 3. Abschn.
und so auf den Rechtsbegriff in der Umsetzung de&
Mein und Dein (commidatio late sie dicta) überhaupt^
um die obige Tafel einer dogmatischen Eintheilung a
priori^ mithin der Metaphysik des Rechts, als eines.
Systems, angemessen vorzustellen. 5 i)
IL
Was ist ein Buch?
Ein Buch ist eine Schrift (ob mit der Feder oder
durch Typen auf wenig oder viel Blättern verzeichnet,
ist hier gleichgültig), welche eine Rede vorstellt, die
Jemand durch sichtbare Sprachzeichen an das Publikum
hält. — Der, welcher zu diesem in seinem eigenen
Namen spricht, heisst der Schriftsteller {autor)^
Der, welcher durch eine Schrift im ^Xamen eines Anderen
(des Autors) öffentlich redet, ist der Verleger. Dieser,
wenn er es mit jenes seiner Erlaubniss thut, ist der
rechtmässige; thut er es aber ohne dieselbe, der unrecht-
mässige Verleger, d. i. der N a c h d r u c k e r. Die Summe
aller Kopien der Urschrift (Exemplare) ist der Verlag.
Der Bticbernachdruck ist von Rechts wegen
verboten.
Schrift ist nicht unmittelbar Bezeichnung eines Be-
griffs (wie etwa ein Kupferstich, der als Porträt,
oder ein Gypsabguss, der als die Büste eine bestimmte
Person vorstellt), sondern eine Rede ans Publikum,
d. i. der Schriftsteller spricht durch den Verleger
öffentlich. — Dieser aber, nämlich der Verleger, spricht
(durch seinen Werkmeister, operarius, den Drucker)
nicht in seinem eigenen Namen (denn sonst würde er
sich für den Autor ausgeben), sondern im Namen des
Schriftstellers, wozu er also nur durch eine ihm von
dem letzteren ertheilte Vollmacht irnandatum) be-
rechtigt ist. — Nun spricht der Nachdrucker durch
seinen eigenmächtigen Verlag zwar auch im Namen des
Schriftstellers, aber ohne dazu Vollmacht zu haben {gerit
se mandatarium ahsque mcmdato); folglich begeht er
an dem von dem Autor bestellten (mithin einzig recht*
(Was ist ein Buch?; §. 31. 103
massigen) Verleger ein Verbrechen der Entwendung des
Vortheils, den der letztere aus dem Gebrauch seines
Rechts ziehen konnte und wollte {furtum usus)] also
ist der Büchernachdruck von Rechtswegen ver-
boten.
Die Ursache des rechtlichen Anscheins einer gleich-
wohl beim ersten Anblick so stark auftauenden Unge-
rechtigkeit, als der Büchernachdruck ist, liegt darin:
dass das Buch einerseits ein körperliches Kunst-
produkt (opus mec/ianicum) ist, was nachgemacht
werden kann (von dem, der sich im rechtmässigen Be-
sitz eines Exemplars desselben befindet), mithin daran
ein Sachenrecht statthat, andererseits aber ist
das Buch auch blosse Rede des Verlegers ans Publi-
kum, die dieser, ohne dazu Vollmacht vom Verfasser
zu haben, öffentlich nicht nachsprechen darf [jwaestatio
operae)j ein persönliches Recht, und nun besteht
der Irrthum darin, dass Beides mit einander verwechselt
wird.
Die Verwechselung des persönlichen Rechts mit dem
Sachenrecht ist noch in einem anderen, unter den Ver-
dingungsvertrag gehörigen Falle (B. II. «. i, nämlich dem
der Eiiimietlumg {ius mcolatus), ein Stoff zu Streitig-
keiten. — Es fragt sich nämlich: ist der Eigenthümer,
wenn er sein an Jemanden vermiethetes Haus (oder
seinen Grund) vcr Ablauf der Miethszeit an einen An-
deren verkauft, verbunden, die Bedingungen der fort-
dauernden Miethe dem Kaufkontrakte beizufügen, oder
kann man sagen: Kauf bricht Miethe (doch in einer
durch den Gebrauch bestimmten Zeit der Aufkündigung)?
— Im ersteren Falle hätte das Haus wirklich eine Be-
lästigung (onus) auf sich liegend, ein Recht in dieser
Sache, das der Miether sich an derselben (dem Hause)
erworl3en hätte; w^elches auch wohl geschehen kann
(durch Ingrossation des Miethskontrakts auf das Haus),
aber alsdann kein blosser Miethskontrakt sein würde,
sondern wozu noch ein anderer Vertrag (dazu sich nicht
viel Vermiether verstehen würden) hinzukommen müsste»
Also gilt der Satz: „Kairf bricht Miethe", d.i. das volle
Recht in einer Sache (das Eigen thum) überwiegt alles
XQ4 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptst. Episocl. Abschn.
persönliche Recht, was mit ihm nicht zusammen be-
stehen kann; wobei doch die Klage aus dem Grunde
des letzteren dem Miether offen bleibt, ihn wegen des
aus der Zerreissung des Kontrakts entspringenden Kach-
theils schadenfrei zu halten. 52)
Episodischer Abschnitt.
Ton der idealen Erwerbung eines äusseren
Oegenstaudes der IVillkür.
§. 32.
Ich nenne diejenige Erwerbung ideal, die keine Kau-
salität in der Zeit enthält, mithin eine blosse Idee der
reinen Vernunft zum Grunde hat. Sie ist nichtsdesto-
weniger wahre, nicht eingebildete Erwerbung, und heisst
nur darum nicht real, weil der Erwerbakt nicht empirisch
ist, indem das Subjekt von einem Anderen, der entweder
noch nicht ist (von dem man bloss die Möglichkeit
annimmt, dass er sei), oder indem dieser eben aufhört
zu sein, oder, wenn er nicht mehr ist, erwirbt, mit-
hin die Gelangung zum Besitz eine blosse praktische
Idee der Vernunft ist. — Es sind die drei Erwerbungs-
ai-ten: 1) durch Ersitzung, 2) durch Beerbung,
3) durch unsterbliches Verdienst [meritum immor-
tale), d. i. Anspruch auf den guten i^amen nach dem
Tode. Alle drei können zwar nur im öffentlichen recht-
lichen Zustande ihren Effekt haben, gründen sich aber
nicht nur auf der Konstitution desselben und willkür-
lichen Statuten, sondern sind auch a iniori im Natur-
zustande, und zwar nothwendig zuvor denkbar, um her-
nach die Gesetze in der bürgerlichen Verfassung darnach
einzurichten [sunt juris naturae).
I.
Die ErTrerl)imgsart durcli Ersitzung.
§. 33.
Ich erwerbe das Eigenthum eines Anderen bloss durch
den langen Besitz {iisncapio); nicht weil ich diese
Von der idealen Erwerbung, I. durch Ersitzuug. §. 33. 105
seine Einwilligung' dazu rechtmässig voraussetzen
darf {per consensum praesumtiim), noch weil ich, da
er nicht widerspricht, annehmen kann, er habe seine
Sache aufgegeben (^rem derelictam), sondern weil, wenn
es auch einen wahren und auf diese Sache als Eigen-
thümer Anspruch machenden (Prätendenten) gäbe, ich
ihn doch bloss durch meinen langen Besitz ausschliessen,
sein bisheriges Dasein ignoriren, und gar, als ob er zur
Zeit meines Besitzes nur als Gedaukending existirte,
verfahren darf; wenn ich gleich von seiner Wirklichkeit
sowohl, als der seines Anspruchs hinterher benachrichtigt
sein möchte. — Man nennt diese Art der Erwerbung
nicht ganz richtig die durch Verjährung {per prae-
■scriptionem) ; denn die Ausschliessung ist nur als die
Folge von jener anzusehen; die Erwerbung muss vorher-
gegangen sein. — Die Möglichkeit, auf diese Art zu
erwerben, ist nun zu beweisen.
Wer nicht einen beständigen Besitzakt (actus p>os-
sessorius) einer äusseren Sache, als der seinen, ausübt,
wird mit Recht als einer, der (als Besitzer) gar nicht
existirt, angesehen; denn er kann nicht über Läsion
klagen, solange er sich nicht zum Titel eines Besitzers
berechtigt; und wenn er sich hintennach, da schon ein
Anderer davon Besitz genommen hat, auch dafür er-
klärte, so sagt er doch nur, er sei ehedem einmal Eigen-
thümer gewesen, aber nicht, er sei es noch, und der Be-
sitz sei ohne einen kontinuirlichen rechtlichen Akt un-
unterbrochen geblieben. — Es kann also nur ein recht-
licher und zwar sich kontinuirlich erhaltender und doku-
meutirter Besitzakt sein, durch welchen er bei einem
langen Nichtgebrauch sich das Seine sichert.
Denn setzet: die Versäumung dieses Besitzaktes hätte
nicht die Folge, dass ein Anderer auf seinen gesetz-
mässigen und ehrlichen Besitz {jiossessio honae ßdei)
einen zu Recht beständigen (jiossessio irrefragabilis)
gründe, und die Sache, die in seinem Besitz ist, als von
ihm erworben ansehe, so würde gar keine Erwerbung
peremtorisch (gesichert), sondern alle nur provisorisch
(einstweilig) sein; weil die Geschichtskunde ihre Nach-
forschung bis zum ersten Besitzer und dessen Erwerbakt
hinauf zurückzuführen nicht vermögend ist. — Die Prä-
sumtion, aufwelclier sich die Ersitzung (?/.s?f('ap2o) gründet.
206 Rechtslehre. I. Theil. 2. Hauptst. Episod. Abschn.
ist also nicht bloss rechtmässig (erlaubt, justa,) als
Vermuthung, sondern auch rechtlich {praesumtio juris
et de jure) als Voraussetzung nach Zwangsgesetzen
{sujyj^ositio legalis): wer seinen Besitzakt zu dokumen-
tiren verabsäumt, hat seinen Anspruch auf den dermaligen
Besitzer verloren, wobei die Länge der Zeit der Verab-
säumung (die gar nicht bestimmt werden kann und
darf) nur zum Behuf der Gewissheit dieser Unterlassung
angeführt wird. Dass aber ein bisher unbekannter Be-
sitzer, wenn jener Besitzakt (es sei auch ohne seine
Schuld) unterbrochen worden, die Sache immer wieder-
erlangen (vindiciren) könne {dominia rerum incerta
facere)^ widerspricht dem obigen Postulat der rechtlich-
praktischen Vernunft.
Nun kann ihm aber, wenn er ein Glied des gemeinen
Wesens ist, d. h. im bürgerlichen Zustande, der Staat
wohl seinen Besitz (stellvertretend) erhalten, ob dieser
gleich als Privatbesitz unterbrochen war, und der jetzige
Besitzer darf seinen Titel der Erwerbung bis zur ersten
nicht beweisen, nocJi auch sich auf den der Ersitzung
gründen. Aber im Naturzustande ist der letztere recht-
mässig, nicht eigentlich eine Sache dadurch zu erwerben,
sondern ohne einen rechtlichen Akt sich im Besitz der-
selben zu erhalten; welche Befreiung von Ansprüchen
dann auch Erwerbung genannt zu werden pflegt. —
Die Präscription des älteren Besitzers gehört also zum
Naturrecht {est juris naturae). 5*^)
II.
Die Beerl)nng. {Acquisitio haereditatis.)
§. 34.
Die Beerbung ist die Uebertragung (translatio) der
Habe und des Gutes eines Sterbenden auf den Ueber-
lebenden durch Zusammenstimmung des Willens beider. —
Die Erwerbung des Erbnehmers (Jiaeredis instituti)
und die Verlassung desErblassers (testatoris), d. i. dieser
Wechsel des Mein und Dein geschieht in einem Augen-
blick {articido mortis)^ nämlich, da der Letztere eben
aufhört zu sein, und ist also eigentlich keine Ueber-
Von der idealen Erwerbimg. IL Die Beerbimg. §. 34. |07
tragung (translatio) im empirischen Sinn, welche zwei
Aktus nach einander, nämlich, wo der Eine zuerst sei-
nen Besitz verlässt, und darauf der Andere darin ein-
tritt, voraussetzt; sondern eine ideale Erwerbung. —
Da die Beerbuug ohne Vermächtniss [disjjositio idtimae
vohmtatis) im Naturzustande nicht gedacht werden kann,
und, ob es ein Erb vertrag (pactum siiccessorium),
oder einseitige Erbeseinsetzung [testamentum) sei,
es bei der Frage: ob und wie gerade in demselben
Augenblick, da das Subjekt aufhört zu sein, ein Ueber-
gang des Mein und Dein möglich sei, ankommt, so
muss die Frage : wie ist die Erwerbart durch Beerbung
möglich? von den mancherlei möglichen Formen ihrer
Ausführung (die nur in einem gemeinen Wesen stattfin-
den) unabhängig untersucht werden.
„Es ist niöglich, durch Erbeseinsetzung zu erwerben."
— Denn der Erblasser Cajus verspricht und erklärt
in seinem letzten Willen dem Titius, der nichts von
jenem Versprechen weiss, seine Habe solle im Sterbe-
falJ auf diesen übergehen, und bleibt also, so lange er
lebt, alleiniger Eigenthümer derselben. Nun kann zwar
durch den blossen einseitigen Willen nichts auf den
Anderen übergehen, sondern es wird über dem Ver-
sprechen noch Annehmung [acceptatio) des anderen
Theils dazu erfordert und ein gleichzeitiger Wille {vo-
limtas simultanea), welcher jedoch hier mangelt; denn
so lange Cajus lebt, kann Titius nicht ausdrücklich
acceptiren, um dadurch zu erwerben; weil jener nur
auf den Fall des Todes versprochen hat (denn sonst
wäre das Eigenthum einen Augenblick gemeinschaftlich,
welches nicht der Wille des Erblassers ist). — Dieser
aber erwirbt doch stillschweigend ein eigenthümliches
Kecht an der Verlassenschaft als ein Sachenrecht, näm-
lich ausschliesslich, sie zu acceptiren {jus in re jacente),
daher diese in dem gedachten Zeitpunkt haereditas jacens
heisst. Da nun jeder Mensch nothwendiger Weise (weil
er dadurch wohl gewinnen, nie aber verlieren kann)
ein solches Recht, mithin auch stillschweigend acceptirt
und Titius nach dem Tode des Cajus in diesem Falle
ist, so kann er die Erbschaft durch Annahme des Ver-
sprechens erwerben, und sie ist nicht etwa mittlerweile
ganz herrenlos {res mdlius)^ sondern nur erledigt (^'^.s
1Q3 ßechtslehre. I. Theil. 2. Hauptst. EpisocL Abschn.
vacua) gewesen; weil er ausschliesslich das Recht der
Wahl hatte, ob er die hinte
machen wollte, oder nicht.
Wahl hatte, ob er die hinterlassene Habe zu der seinigen
Also sind die Testamente auch nach dem blossen
Naturrecht gültig {swit juris naturae); welche Be-
hauptung aber so zu verstehen ist, dass sie fähig
und würdig seien, im bürgerlichen Zustande (wenn
dieser dereinst eintritt) eingeführt und sanctionirt
zu werden. Denn nur dieser (der allgemeine Wille
in demselben) bewahrt den Besitz der Yerlassen-
schaft während dessen, dass diese zwischen der
Annahme und der Verwerfung schwebt und eigent-
lich Keinem angehört. 5^)
III.
Der Naclilass eines guten Namens nach dem Tode.
{Bona fama defimcti.)
§. 35.
Dass der Verstorbene nach seinem Tode (wenn er
also nicht melir ist) noch etwas besitzen könne, wäre
eine Ungereimtheit zu denken, wenn der Nachlass eine
Sache wäre. Nun ist aber der gute Name ein ange-
bornes äusseres, obzwar bloss ideales Mein oder Dein,
was dem Subjekt als einer Person anhängt, von deren
Natur, ob sie mit dem Tode gänzlich aufhöre zu sein,
oder immer noch als solche übrig bleibe, ich abstrahiren
kann und muss, weil ich im rechtlichen Verhältniss auf
Andere jede Person bloss nach ihrer Menschheit, mithin
als homo noiLinenon wirklich betrachte, und so ist jeder
Versuch, ihn nach dem Tode in üble falsche Nachrede
zu bringen, immer bedenklich; obgleich eine gegrün-
dete Anklage desselben gar wohl stattfindet (mithin der
Grundsatz: de mortuis nihil nisi hene, unrichtig ist),
weil gegen den Abwesenden, welcher sich nicht ver-
theidigen kann, Vorwürfe auszustreuen, ohne die grösste
Gewissheit derselben, wenigstens ungrossmüthig ist.
Dass durch ein tadelloses Leben und einen dasselbe
beschliessenden Tod der Mensch einen (negativ-) guten
V. cl. idealen Erwerb. III. d. g\ Namens nach dem Tode. §. 35. j^qq
Namen als das Seine, welches ihm übrig bleibt, erwerbe,
wenn er als liomo jjhaenomenon nicht mehr existirt, und
dass die Ueberlebenden (angehörige oder fremde) ihn
auch vor Recht zu vertheidigen befugt sind (weil uner-
wiesene Anklage sie insgesammt wegen ähnlicher Be-
gegnung auf ihren Sterbefall in Gefahr bringt), dass er^
sage ich, ein solches Recht erwerben könne, ist eine
sonderbare, nichtsdestoweniger unleugbare Erscheinung
der a iiiiovi gesetzgebenden Vernunft, die ihr Gebot
und Verbot auch über die Grenze des Lebens hinaus
erstreckt. — Wem Jemand von einem Verstorbenen ein
Verbrechen verbreitet, das diesen im Leben ehrlos, oder
nur verächtlich gemacht haben würde; so kann ein Je-
der, W' elcher einen Beweis führen kann, dass diese Be-
schuldigung vorsätzlich unwahr und gelogen sei, den,
welcher jenen in böse Nachrede bringt, für einen Calum-
nianten öffentlich erklären, mithin ilm selbst ehrlos
machen; welches er nicht thun dürfte, wenn er nicht
mit Recht voraussetzte, dass der Verstorbene dadurch
beleidigt w^äre, ob er gleich todt ist, und dass diesem
durch jene Apologie Genugthuung widerfahre, ob er
gleich nicht mehr existirt."^-) Die Befugniss, die RoRe
-; Dass man aber hierbei ja nicht auf Vorempnndung
eines künftigen Lebens und unsichtbare Verhältnisse zu
abgeschiedenen Seelen schwärmerisch schliesse; denn es
ist hier von nichts weiter, als dem reinmoralischen und
rechtlichen Verhältnisse, was unter Menschen auch im Leben
statthat, die Rede, worin sie, als intelligible Wesen, stehen,
indem man alles Physische (zu ihrer Existenz in Raum und
Zeit Gehörende) logisch davon absondert, d. i. davon
abstrahirt, nicht aber die Menschen diese ihre Natur aus-
ziehen und sie Geister v/erden lässt, in welchem Zustande
sie die Beleidigung durch ihre Verleumder fühlten. — Der,
welcher nach hundert Jahren mir etwas Böses fälschlich
nachsagt, beleidigt mich schon jetzt; denn im reinen Rechts-^
Verhältnisse, welches ganz intellektuell ist, wird von allen
physischen Bedingungen (der Zeit) abstrahirt, und der
Ehrenräuber 'Calumniant) ist ebensowohl strafbar, als ob
er es in meiner Lebzeit gethan hätte; nur durch kein Kri-
minalgericht, sondern nur dadurch, dass ihm nach dem
Rechte der Wiedervergeltung durch die öffentliche Meinung
derselbe Verlust der Ehre zugefügt wird, die er an einem
110 Rechslehre. I. Theil. 2. Hauptst. Episod. Abschn.
des Apologeten für den Verstorbenen zu spielen, darf
dieser auch nicht beweisen; denn jeder Mensch masst
sie sich unvermeidlich an, als nicht bloss zur Tugend-
pflicht (ethisch betrachtet), sondern sogar zum Recht
der Menschheit überhaupt gehörig; und es bedarf hierzu
keiner besonderen persönlichen Nachtheile, die etwa
Freunden und Anverwandten aus einem solchen Schand-
fleck am Verstorbenen erwachsen dürften, um jenen zu
einer solchen Rüge zu berechtigen. — Dass also eine
solche ideale Erwerbung und ein Recht des Menschen
nach seinem Tode gegen die Ueberlebenden gegründet
sei, ist nicht zu streiten, obschon die Möglichkeit desselben
keiner Deduction fähig ist. 55)
Anderen schmälerte. — Selbst das Plagiat, welches ein
Schriftsteller an Verstorbenen verübt, ob es zwar die Ehre
des Verstorbeneu nicht befleckt, sondern diesem nur einen
Theil derselben entwendet, wird doch mit Recht als Läsion
desselben (Menschenraub) geahndet.
Drittes Hauptstück.
Ton der subjektiy-bediugten Erwerbung durch
den Ausspruch einer öffentlichen Gerichts-
barkeit.
§. 36.
Wenn unter Naturrecht nur das nicht - statutarische,
mithin lediglich das a 'priori durch jedes Menschen Ver-
nunft erkennbare Recht verstanden wird, so wird nicht
bloss die zwischen Personen in ihrem wechselseitigen
Verkehr untereinander geltende Gerechtigkeit (justitia
commutativa), sondern auch die austheilende {justitia
distributiv ci)j sowie sie nach ihrem Gesetze a prioi'i er-
kannt werden kann, dass sie ihren Spruch [sententid]
fällen müsse, gleichfalls zum Naturrecht gehören.
Die moralische Person, welche der Gerechtigkeit vor-
steht, ist der Gerichtshof (forum), und im Zustande
ihrer Amtsführung, das Gericht (Judicium); alles nur
nach Rechtsbediugungen a priori gedacht, ohne, wie eine
solche Verfassung wirklich einzurichten und zu organi-
siren sei (wozu Statute, also empirische Prinzipien ge-
hören), in Betrachtung zu ziehen.
Die Frage ist also hier nicht bloss, was ist an sich
riecht, wie nämlich hierüber ein jeder Mensch für sich
zu urtheilen habe, sondern, was ist vor einem Gerichts-
hofe recht, d. i. was ist Rechtens? und da giebt es vier
Fälle, wo beiderlei Urtheile verschieden und entgegen-
gesetzt ausfallen und dennoch neben einander bestehen
können; weil sie aus zwei verschiedenen, beiderseits
;[12 Rechtslehre. I. Theil. 3. Haiiptstück.
wahren Gesichtspunkten gefällt werden: die eine nach
dem Privatrecht, die andere nach der Idee des öffent-
lichen Rechts. — Sie sind: 1) der Sc henk ungs ver-
trag (pactum donationis); 2) der Leih vertrag {commo-
datum) ; 3) die W i e d e r e r 1 a n g u u g {vindicatio) ; 4) die
V^ereidigung (juramentum).
Es ist ein gewöhnlicher Fehler der Erschleichung
(Vitium suhreptionis) der Rechtslehrer, dasjenige recht-
liche Prinzip, was ein Gerichtshof, zu seinem eigenen
Behuf (also in subjektiver Absicht) anzunehmen befugt,
ja sogar verbunden ist, um über jedes einem zustehende
Recht zu sprechen und zu richten, auch objektiv für das,
was an sich selbst recht ist, zu halten; da das erstere
doch von dem letzteren sehr unterschieden ist. — Es
ist daher von nicht geringer Wichtigkeit, diese speci-
fische Verschiedenheit kennbar und darauf aufmerksam
zu machen.
§. 37.
Von dem ScheDkimgsvertrage.
Dieser Vertrag (domdio), wodurch ich das Mein^
meine Sache (oder mein Recht) unvergolten (^7'a^^s)
veräussere, enthält ein Verhältniss von mir, dem
Schenkenden {donans), zu einem Anderen, dem Be-
schenkten [donatarius), nach dem Privatrecht, wo-
durch das Meine auf diesen durcli Annehmung des
Letzteren (donum) übergeht. — Es ist aber nicht zu
präsumiren, dass ich hierbei gemeint sei, zu der Haltung
meines Versprechens gezwungen zu werden, und also
auch meine Freiheit umsonst wegzugeben, und gleich-
6am mich selbst wegzuwerfen {nemo suum jactare
praesumitur)^ welches doch nach dem Recht im bürger-
lichen Zustande geschehen würde; denn da kann der
Zubeschenkende mich zu Leistung des Versprechens
zwingen. Es müsste also, wenn die Sache vor Gericht
käme, d. i. nach einem öffentlichen Recht entweder präsu-
mirt werden, der Verschenkende willigte zu diesem
Zwange ein., welches ungereimt ist oder der Gerichts-
Von der subjektiv-bedingten Erwerbung. §. 38. 113
hof sehe in seinem Spruch (Sentenz) gar nicht darauf,
ob jener die Freiheit, von seinem Versprechen abzu-
gehen, hat vorbehalten wollen, oder nicht, sondern auf
das, was gewiss ist, nämlich das Versprechen und die
Acceptation des Promissars. Wenn also gleich der Pro-
mittent, wie wohl vermuthet werden kann, gedacht hat,
dass, wenn es ihn noch vor der Erfüllung gereut, das
Versprechen gethan zu haben, man ihn daran nicht bin-
den könnte ; so nimmt doch das Gericht an, dass er sich
dieses ausdrücklich hätte vorbehalten müssen, und, wenn
er es nicht gethan hat, zu Erfüllung des Versprechens
könne gezwungen werden, und dieses Prinzip nimmt
der Gerichtshof darum an, weil ihm sonst das Recht-
sprechen unendlich erschwert, oder gar unmöglich ge-
macht werden würde. 5^)
B.
§. 38.
Vom Leihvertrag.
In diesem Vertrage {Gommodatum)^ wodurch ich Je-
mandem den unvergoltenen Gebrauch des Meinigen er-
laube, wo, wenn dieses eine Sache ist, die Paciscenten
darin übereinkommen, dass dieser mir ebendieselbe
Sache wiederum in meine Gewalt bringe, kann der
Empfänger des Geliehenen (commodatainus) nicht zu-
gleich präsumiren, der Eigenthümer desselben {commodans)
nehme auch alle Gefahr {casus) des möglichen Verlustes
der Sache, oder ihrer ihm nützlichen Beschaffenheit über
sich, der daraus, dass er sie in den Besitz des Empfän-
gers gegeben hat, entspringen könnte. Denn es ver-
steht sich nicht von selbst, dass der Eigenthümer ausser
dem Gebrauch seiner Sache, den er dem Lehnsempfänger
bewilligt (dem von denselben unzertrennlichen Abbruche
derselben ), auch die Sicherstellung wider allen Scha-
den, der ihm daraus entspringen kann, dass er sie aus
seiner eigenen Gewahrsame gab, erlassen habe ; sondern
darüber müsste ein besonderer Vertrag gemacht werden.
Es kann also nur die Frage sein : wem von beiden, dem
Lehnsgeber oder Lehnsempfänger, es obliegt, die Be-
Kant, Metaphysik der Sitten. g
114 Rechtslehre. I. Theil. 3. Hauptstück.
diogung der Uebernehmung der Gefahr, die der Sache
zustossen kann, dem Leihvertrag ausdrücklich beizu-
fügen, oder, wenn das nicht geschieht, von wem man
die Einwilligung zur Sicherstellung des Eigenthums
des Lehnsgebers (durch die Zurückgabe derselben oder
ein Aequivalent) präsumiren könne ? Von dem Darleiher
nicht; weil man nicht präsumiren kann, er habe mehr
umsonst eingewilligt, als den blossen Gebrauch der Sache
(nämlich nicht auch noch obenein die Sicherheit des
Eigenthums selber zu übernehmen); aber wohl von dem
Lehnsnehmer; weil er da nichts mehr leistet, als gerade
im Vertrage enthalten ist.
Wenn ich z. B. bei einfallendem Regen in ein Haus
eintrete, und erbitte mir einen Mantel zu leihen, der
aber, etwa durch unvorsichtige Ausgiessung abfärbender
Materien aus dem Fenster auf immer verdorben, oder,
wenn er, indem ich ihn in einem anderen Hause, wo
ich eintrete, ablege, mir gestohlen wird, so muss doch
die Behauptung jedem Menschen als ungereimt auffallen,
ich hätte nichts weiter zu thun, als jenen, so wie er ist,
zurückzuschicken, oder den geschehenen Diebstahl nur
zu melden; allenfalls sei es noch eine Höflichkeit, den
Eigenthümer dieses Verlustes wegen zu beklagen, da er
aus seinem Recht nichts fordern könne. — Ganz anders
lautet es, wenn ich bei der Erbittung dieses Gebrauchs
zugleich auf den Fall, dass die Sache unter meinen
Händen verunglückte, mir zum voraus verbäte, auch
diese Gefahr zu übernehmen, weil ich arm und den
Verlust zu ersetzen unvermögend wäre. Niemand wird
das Letztere überflüssig und lächerlich finden, ausser
etwa, wenn der Anleihende ein bekanntlich vermögender
und wohldenkender Mann wäre, weil es alsdann bei-
nahe Beleidigung sein würde, die grossmüthige Erlassung
meiner Schuld in diesem Falle nicht zu präsumiren.
Da nun über das Mein und Dein aus dem Leihver-
trage, wenn (wie es die Natur dieses Vertrages so mit
sich bringt) über die mögliche Verunglückung {casus\
die die Sache treffen möchte, nicht verabredet worden,
er also, weil die Einwilligung nur präsumirt worden, ein
Ungewisser Vertrag {pactum incertmn) ist, das Urtheil
Von der subjektiv-bedingten Erwerbung. §. 39. 1X5
'darüber, d. i. die Entscheidung, wen das Unglück treffen
müsse, nicht aus den Bedingungen des Vertrages an
sich selbst, sondern, wie sie allein vor einem Ge-
richtshofe, der immer nur auf das Gewisse in jenem
sieht (welches hier der Besitz der Sache als Eigenthum
ist), entschieden werden kann; so wird das Urtheil im
Naturzustande, d. i. nach der Sache innerer Beschaffen-
heit so lauten : der Schade aus der Verunglückung einer
geliehenen Sache fällt auf den Belle henen {casum
sentit commodatarius) ; dagegen im bürgerlichen, also
vor einem Gerichtshofe, wird die Sentenz so ausfallen:
der Schade fällt auf den Anleiher {casum sentit domi-
nus) ^ und zwar aus dem Grunde verschieden von dem
Ausspruche der blossen gesunden Vernunft, weil ein
öffentlicher Richter sich nicht auf Präsumtionen von dem,
was der eine oder andere Theil gedacht haben mag, ein-
lassen kann, sondern der, welcher sich nicht die Frei-
heit von allem Schaden an der geliehenen Sache durch
einen besonderen angehängten Vertrag ausbedungen hat,
diesen selbst tragen muss. — Also ist der Unterschied
zwischen dem Urtheile, wie es ein Gericht fällen müsste,
und dem, was die Privatvernuuft eines Jeden für sich
zu fällen berechtigt ist, ein durchaus nicht zu übersehen-
der Punkt in Berichtigung der Rechtsurtheile.57)
Von der Wiedererlangung (Rückbemächtigung)
des Verlornen (vindicatio).
§. 39.
Dass eine fortdauernde Sache, die mein ist, mein
bleibe, ob ich gleich nicht in der fortdauernden Inhabung
derselben bin, und selbst ohne einen rechtlichen Akt {de-
relictionis vel alienationis) mein zu sein nicht aufhöre;
und dass mir ein Recht in dieser Sache {jus reale)^
mithin gegen jeden Inhaber, nicht bloss gegen 'eine
bestimmte Person {jus personale) zusteht, ist aus dem
Obigen klar. Ob aber auch dieses Recht von jedem
Anderen als ein für sich fortdauerndes Eigenthum
müsse angesehen werden, wenn ich demselben nur
8*
WQ Rechtslehre. I. Theil. 3. Hauptstück.
nicht entsagt habe, und die Sache in dem Besitz
eines Anderen ist, das ist nun die Frage.
Ist die Sache mir abhanden gekommen (res amissa)
und so von einem Anderen auf ehrliche Art {bona
fide), als ein vermeinter Fund, oder durch förmliche
Veräusserung des Besitzers, der sich als Eigenthümer
führt, an mich gekommen, obgleich dieser nicht Eigen-
thümer ist, so fragt sich, ob, da ich von einem Nicht-
eigenthümer {a non doynino) eine Sache nicht er-
werben kann, ich durch jenen von allem Recht in dieser
Sache ausgeschlossen werde, und bloss ein persönliche&
gegen den unrechtmässigen Besitzer übrig behalte. —
Das Letztere ist offenbar der Fall, wenn die Erwerbung
bloss n^ch ihren inneren berechtigenden Gründen (im
Naturzustande), nicht nach der Konvenienz eines Ge-
richtshofes beurtheilt wird.
Denn alles Veräusserliche muss von irgend Jemand
können erworben werden. Die Rechtmässigkeit der
Erwerbung aber beruht gänzlich auf der Form, nach
welcher das, was im Besitz eines Anderen ist, auf mich
übertragen und von mir angenommen wird, d.i. auf der
Förmlichkeit des rechtlichen Akts des Verkehrs {com-
mutatiö) zwischen dem Besitzer der Sache und dem
Erwerbenden, ohne dass ich fragen darf, wie jener dazu
gekommen sei; weil dieses schon Beleidigung sein würde,
(quüibet praesumitur bomis, donec etc.) Gesetzt nun,
es ergäbe sich in der Folge, dass jener nicht Eigen-
thümer sei, sondern ein Anderer, so kann ich nicht
sagen,dass dieser sich geradezu an mich halten könnte
(so wie auch an jeden Anderen, der Inhaber der Sache
sein möchte.) Denn ich habe ihm nichts entwandt,
sondern das Pferd, was auf öffentlichem Markte feil ge-
boten wurde, dem Gesetze gemäss (titulo emti venditi)
erstanden; weil der Titel der . Erwerbung meinerseits
unbestritten ist, ich aber (als Käufer) den Titel des
Besitzes des Anderen (des Verkäufers) nachzusuchen, —
da diese Nachforschung in der aufsteigenden Reihe ins
Unendliche gehen würde, — nicht verbunden, ja sogar
nicht einmal befugt bin. Also bin ich durch den gehörig-
betitelten Kauf nicht der bloss putative, sondern der
wahre Eigenthümer des Pferdes geworden.
Hiewider erheben sich aber folgende Rechtsgründe.
Von der subjektiv-bedingten Erwerbung. §. 39. 117
Alle Erwerbung von einem, der nicht Eigenthümer der
Sache ist (a non domino), ist null und nichtig. Ich
kann von dem Seinen eines Anderen nicht mehr auf
mich ableiten, als er selbst rechtmässig gehabt hat, und,
ob ich gleich, was die Form der Erwerbung (modus
ncquireridi) betrifft, ganz rechtlich verfahre, wenn ich
ein gestohlen Pferd, was auf dem Markte feil steht,
erhandle, so fehlt doch der Titel der Erwerbung; denn
das Pferd war nicht das Seine des eigentlichen Ver-
käufers. Ich mag immer ein ehrlicher Besitzer des-
selben (jjossessor honae fidei) sein, so bin ich doch nur
ein sich dankender Eigenthümer [dominus j^utativus)
und der w^ahre Eigenthümer hat das Recht der Wieder-
erlangung (rem suam vindicandi).
Wenn gefragt wird, was (im Naturzustande) unter
Menschen nach Prinzipien der Gerechtigkeit im Verkehr
derselben untereinander (justitia commutativa) in Er-
werbung äusserer Sachen an sich Rechtens sei, so muss
mau eingestehen: dass, wer dieses zur Absicht hat,
durchaus nöthig habe, noch nachzuforschen, ob die Sache,
die er erwerben will, nicht schon einem Anderen ange-
höre; nämlich, wenn er gleich die formalen Bedingungen
der Ableitung der Sache von dem Seinen des Anderen
genau beobachtet (das Pferd auf dem Markte ordentlich
erhandelt) hat, er dennoch höchstens nur ein persön-
liches Recht in Ansehung einer Sache {jus ad rem)
habe erwerben können, so lange es ihm noch unbekannt
ist, ob nicht ein Anderer (als der Verkäufer) der wahre
Eigenthümer derselben sei; so dass, wenn sich einer
vorfindet, der sein vorhergeliendes Eigenthum daran
dokumentiren könnte, dem vermeinten neuen Eigen-
thümer nichts übrig bliebe, als den Nutzen, so er, als
ehrlicher Besitzer, bisher daraus gezogen hat, bis auf
diesen Augenblick rechtmässig genossen zu haben. —
Da nun in der Reihe der von einander ihr Recht ab-
leitenden, sich dünkenden Eigenthümer den schlechthin
ersten (Stammeigenthümer) auszufinden, mehrentheils
unmöglich ist; so kann kein Verkehr mit äusseren
Sachen, so gut er auch mit den formalen Bedingungen
dieser Art von Gerechtigkeit (justitia commutativa) über-
einstimmen möchte, einen sicheren Erwerb gewähren.
118 Rechtslehre. I. Theil. 3. Hauptstück.
Hier tritt nun wieder die rechtlich-gesetzgebende
Vernunft mit dem Grundsatz der distributiven Ge-
rechtigkeit ein, die Rechtmässigkeit des Besitzes;
nicht wie sie an sich in Beziehung auf den Privatwillen
eines Jeden (im natürlichen Zustande), sondern nur wie
sie vor einem Gerichtshofe, in einem durch den all-
gemein-vereinigten Willen entstandenen Zustande (in
einem bürgerlichen) abgeurtheilt werden w^ürde, zur
Richtschnur anzunehmen; wo alsdann die Ueberein-
Stimmung mit den formalen Bedingungen der Erwerbung^
die an sich nur ein persönliches Recht begründen, zu
Ersetzung der materialen Gründe (welche die Ableitung
von dem Seinen eines vorhergehenden prätendirenden
Eigenthümers begründen) als hinreichend postulirt wird^
um ein an sich persönliches Recht, vor einen Ge-
richtshof gezogen, als ein Sachenrecht gilt, z. B.
dass das Pferd, was auf öffentlichem, durchs Polizei-
gesetz geordneten Markt Jedermann feil steht, wenn alle
Regeln des Kaufs und Verkaufs genau beobachtet wor-
den, mein Eigenthum werde (so doch, dass dem wahren
Eigenthümer das Recht bleibt, den Verkäufer, wegen
seines älteren unverwirkten Besitzes, in Anspruch zu
nehmen), und mein sonst persönliches Recht in ein
Sachenrecht, nach welchem ich das Meine, wo ich es
finde, nehmen (vindiciren) darf, verwandelt wird, ohne
mich auf die Art, wie der Verkäufer dazu gekommen,
einzulassen.
Es geschieht also nur zum Behuf des Rechtsspruchs
vor einem Gerichtshofe {infavoremjustitiae distrihutwae),
dass das Recht in Ansehung einer Sache nicht, wie es
an sich ist (als ein persönliches), sondern wie es am
leichtesten und sichersten abgeurtheilt werden
kann (als Sachenrecht), doch nach einem reinen Prinzip
a priori angenommen und behandelt werde. — Auf
diesem gründen sich nun nachher verschiedene statu-
tarische Gesetze (Verordnungen), die vorzüglich zur
Absicht haben, die Bedingungen, unter denen allein eine
Erwerbungsart rechtskräftig sein soll, so zu stellen, dass
der Richter das Seine einem Jeden am leichtesten
und unbedenklichsten zuerkennen könne; z. B. in
dem Satz : Kauf bricht Miethe, wo, was der Natur des
Vertrags nach, d. i. an sich ein Sachenrecht ist (die
Von der subjektiv-bedingten Erwerbung. §. 40. 1\Q
Miethe), für ein bloss persönliches, und umgekehrt, wie
in dem obigen Fall, was an sich bloss ein persönliches
Recht ist, für ein Sachenrecht gilt, wenn die Frage ist,
auf welche Prinzipien ein Gerichtshof im bürgerlichen
Zustande anzuweisen sei; um in seinen Aussprüchen,
wegen des einem Jeden zustehenden Rechts am sicher-
sten zu gehen. 58)
D.
Von der Erwerhung der Sicherheit durch Eides-
ablegung. (Cautio jnratoria.)
§. 40.
Man kann keinen anderen Grund angeben, der recht-
lich Menschen verbinden könnte, zu glauben und zu
bekennen, dass es Götter gebe, als den, damit sie einen
Eid schwören, und durch die Furcht vor einer allsehen-
den obersten Macht, deren Rache sie feierlich gegen sich
aufrufen mussten, im Fall, dass ihre Aussage falsch wäre,
genöthigt werden könnten, wahrhaft im Aussagen und
treu im Versprechen zu sein. Dass man hierbei nicht
auf die Moralität dieser beiden Stücke, sondern bloss
auf einen blinden Aberglauben derselben rechnete, ist
daraus zu ersehen, dass man sich von ihrer blossen
feierlichen Aussage vor Gericht in Rechtssachen keine
Sicherheit versprach, obgleich die Pflicht der Wahr-
haftigkeit in einem Falle, wo es auf das Heiligste, was
unter Menschen nur sein kann (aufs Recht der Menschen),
ankommt, Jedermann so klar einleuchtet, mithin blosse
Mährchen den Bewegungsgrund ausmachen: wie z. B.
das unter den Rejangs, einem heidnischen Volke auf
Sumatra, welche, nach Marsden's Zeugniss, bei den
Knochen ihrer verstorbenen Anverwandten schwören, ob
sie gleich gar nicht glauben, da^s es noch ein Leben
nach dem Tode gebe, oder der Eid der Guinea-
schwarzen bei ihrem Fetisch, etwa einer Vogelfeder,
auf die sie sich vermessen, dass sie ihnen den Hals
brechen solle u. dgl. Sie glauben, dass eine unsicht-
bare Macht, sie mag nun Verstand haben oder nicht,
j^20 Rechtslehre. I. Theil. 3. Hauptstück.
schon ihrer Natur nach, diese Zauberkraft habe, die
durch einen solchen Aufruf in That versetzt wird. —
Ein solcher Glaube, dessen Name Religion ist, eigent-
lich aber Superstition heissen sollte, ist aber für die
Rechtsverwaltung unentbehrlich, weil, ohne auf ihn 2u
rechnen, der Grerichtshof nicht genugsam im Stande
wäre, geheim gehaltene Fakta auszumitteln, und Recht
zu sprechen. Ein Gesetz, das hierzu verbindet, ist also
offenbar nur zum Behuf der richtenden Gewalt gegeben.
Aber nun ist die Frage: worauf gründet man die
Verbindlichkeit, die Jemand vor Gericht haben soll, eines
Anderen Eid als zu Recht gültigen Beweisgrund der
Wahrheit seines Vorgebens anzunehmen, der allem
Hader ein Ende mache, d. i. was verbindet mich recht-
lich, zu glauben, dass ein Anderer (der Schwörende)
überhaupt Religion habe, um mein Recht auf seinen
Eid ankommen zu lassen ? Imgleichen umgekehrt : kann
ich überhaupt verbunden werden, zu schwören? Beides
ist an sich unrecht.
Aber in Beziehung auf einen Gerichtshof, also im
bürgerlichen Zustande, wenn man annimmt, dass es kein
anderes Mittel giebt, in gewissen Fällen hinter die Wahr-
heit zu kommen, als den Eid, muss von der Religion
vorausgesetzt werden, dass sie jeder habe, um sie, als
ein Nothmittel {in casu necessitatis), zum Behuf des
rechtlichen Verfahrens vor einem Gerichts hofe zu
gebrauchen, welcher diesen Geisteszwang (tortura sjnri-
tualis) für ein behenderes und dem abergläubischen
Hange der Menschen angemesseneres Mittel der Auf-
deckung des Verborgenen, und sich darum für berech-
tigt hält, es zu gebrauchen. — Die gesetzgebende Ge-
walt handelt aber im Grunde unrecht, diese Befugniss
der richterlichen zu ertheilen; weil selbst im bürgerlichen
Zustande ein Zwang zu Eidesleistungen der unverlier-
baren menschlichen Freiheit zuwider ist.
Wenn die Amtseide, welche gewöhnlich pro-
missorisch sind, dass man nämlich den ernst-
lichen Vorsatz habe, sein Amt pflichtmässig zu
verwalten, in assertorische verwandelt würden,
dass nämlich der Beamte etwa zu Ende eines Jahres
(oder mehrerer) verbunden wäre, die Treue seiner
Amtsführung während desselben zu beschwören;
üebergang v. d. Naturzustände z. rechtlichen. §. 41. X21
so würde dieses tlieils das Gewissen 'mehr in Be-
wegung bringen, als der Yersprecliungseid, welcher
hinterher noch immer den inneren Vorwand übrig
lässt, man habe, bei dem besten Vorsatz, die Be-
schwerden nicht vorausgesehen, die man nur nach-
her während der Amtsverwaltung erfahren habe,
und die Pflichtübertretungen würden auch, wenn
ihre Summirung durch Aufmerker bevorstände, mehr
Besorgniss der Anklage wegen erregen, als wenn
sie bloss eine nach der anderen (über welche die
vorigen vergessen sind) gerügt würden. — Was
aber das Beschwören des Glaubens {de credulitate)
betrifft, so kann dieses gar nicht von einem Gericht
verlangt werden. Denn erstlich enthält es in sich
selbst einen Widerspruch : dieses Mittelding zwischen
Meinen und Wissen, weil es so etwas ist, worauf
man wohl zu wetten, keines weges aber darauf zu
schwören sich getrauen kann. Zweitens begeht
der Richter, der solchen Glaubenseid dem Parten
ansinuete, um etwas zu seiner Absicht Gehöriges,
gesetzt es sei auch das gemeine Beste, auszumitteln,
einen grossen Verstoss an der Gewissenhaftigkeit
des Eidleistenden, theils durch den Leichtsinn, zu
dem er verleitet, theils durch Gewissensbisse, die
ein Mensch fühlen muss, der heute eine Sache, aus
einem gewissen Gesichtspunkte betrachtet, sehr
wahrscheinlich, morgen aber, aus einem anderen,
ganz unwahrscheinlich finden kann, und lädirt also
denjenigen, den er zu einer solchen Eidesleistung
nöthigt.5ö)
üebergang Yom Mein und Dein im Naturzustande zudem
im reclitliclien Zustande überhaupt.
§. 41.
Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältniss der
Menschen unter einander, welches die Bedingungen ent-
hält, unter denen allein jeder seines Rechts theilhaftig
werden kann, und das formale Prinzip der Möglichkeit
desselben, nach der Idee eines allgemein gesetzgeben-
den Willens betrachtet, heisst die öffentliche Gerechtig-
j^22 Rechtslehre. I. Theil 3. Hauptstück.
keit, welche in Beziehung entweder auf die Möglichkeit,
oder Wirklichkeit, oder Nothwendigkeit des Besitzes der
Gegenstände (als der Materie der Willkür) nach Gesetzen,
in die beschützende {justitia tutatrix), die wechsel-
seitig erwerbende {justitia comtnutativa) und die
aust heilende Gerechtigkeit {justitia distribiitiva)
eingetheilt werden kann. — Das Gesetz sagt hierbei
erstens bloss, welches Verhalten innerlich der Form
nach recht ist {lex justi); zweitens, was als Materie
noch auch äusserlich gesetzfähig ist, d. i. dessen Besitz-
stand rechtlich ist {lex juridica); drittens, was und
wovon der Ausspruch vor einem Gerichtshofe in einem
besonderen Falle unter dem gegebenen Gesetze diesem
gemäss, d. i. Rechtens ist (lex justitiae), wo man
denn auch jenen Gerichtshof selbst die Gerechtigkeit
eines Landes nennt, und ob eine solche sei oder nicht
sei, als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegen-
heiten gefragt werden kann.
Der nicht rechtliche Zustand, d. i. derjenige, in
welchem keine austheilende Gerechtigkeit ist, heisst der
natürliche Zustand {status naturalis). Ihm wird nicht
der gesellschaftliche Zustand (wie Achenwall
meint) und der ein künstlicher {status artificialis) heissen
könnte, sondern der bürgerliche {status civilis) einer
unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesell-
schaft entgegengesetzt; denn es kann auch im Natur-
zustände rechtmässige Gesellschaften (z. B. eheliche,
väterliche, häusliche überhaupt und andere beliebige
mehr) geben, von denen kein Gesetz a priori gilt: ii^du
sollst in diesen Zustand treten", wie es wohl vom recht-
lichen Zustande gesagt werden kann, dass alle Men-
schen, die mit einander (auch unwillkürlich) in Rechts-
verhältnisse kommen können, in diesen Zustand treten
sollen.
Man kann den ersteren und zweiten Zustand den
des P r i V a t r e c h t s , den letzteren und dritten aber den
des öffentlichen Rechts nennen. Dieses enthält
nicht mehr, oder andere Pflichten der Menschen unter
sich, als in jenem gedacht werden können; die Materie
des Privatrechts ist ebendieselbe in beiden. Die Gesetze
des letzteren betreffen also nur die rechtliehe Form ihres
Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese
Uebergang v. d. Naturzustände z. rechtlichen. §. 42. 123
Gesetze nothwendig als öffentliche gedacht werden
müssen.
Selbst der bürgerliche Verein {ujiio civilis) kann
nicht wohl eine Gesellschaft genannt werden; denn
zwischen dem Befehlshaber (imjjerans) und dem
Unterthan {suhditus) ist keine Mitgenossenschaft; sie
sind nicht Gesellen^ sondern einander untergeordnet,
nicht beigeordnet, und die sich einander beiordnen,
müssen sich eben deshalb untereinander als gleich an-
sehen, sofern sie unter gemeinsamen Gesetzen stehen.
Jener Verein ist also nicht sowohl, als macht vielmehr
eine Gesellschaft.
§. 42.
Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande geht
nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du
sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebenein-
anderseins, mit allen Anderen, aus jenem heraus, in
einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden
Gerechtigkeit übergehen. — Der Grund davon lässt sich
analytisch aus dem Begriffe des Rechts, im äusseren
Verhältniss, im Gegensatz der Gewalt [ciolentid) ent-
wickeln.
Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den
Besitz des Anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht
gleichmässig auch Sicherheit giebt, er werde ebendieselbe
Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten. Er darf also
nicht abwarten, bis er etwa durch eine traurige Er-
fahrung von der entgegengesetzten Gesinnung des Letz-
teren belehrt wird; denn was sollte ihn verbinden, aller-
erst durch Schaden klug zu werden, da er die Neigung
der Menschen überhaupt, über andere den Meister zu
spielen (die Ueberlegenheit des Rechts anderer nicht
zu achten, wenn sie sich der Macht oder List nach
diesen überlegen fühlen), in sich selbst hinreichend
wahrnehmen kann, und es ist nicht nöthig, die wirkliche
Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange
gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach da-
mit droht. [Quilibet praesumitur malusy donec securi-
tatem dederit oppositi.)
Bei dem Vorsatze, in diesem Zustande äusserlich ge-
124 Rechtslehre. I. Theil. 3. Hauptstück.
setzloser Freiheit zu sein und zu bleiben, thun sie ein-
ander auch gar nicht unrecht, wenn sie sich unterein-
ander befehden; denn was dem Einen gilt, das gilt auch
wechselseitig dem Anderen, gleich als durch eine Ueber-
einkunft {uti j^artes de jure suo disponunt, ita jus est) ;
aber überhaupt thun sie im höchsten Grade daran un-
recht,*) in einem Zustande sein und bleiben zu wollen,
der kein rechtlicher ist, d. i. in dem Niemand des Seinen
wider Gewaltthätigkeit sicher ist. 60)
*; Der Unterschied zwischen dem, was bloss formaliter,
und dem, was auch materialiter unrecht ist, hat in der
Eechtslehre manuigfaltigen Gebrauch, Der Feind, der statt
seine Kapitulationen mit der Besatzung einer belagerten
Festung ehrhch zu vollziehen, sie bei dieser ihrem Auszuge
misshandelt, oder sonst diesen Vertrag bricht, kann nicht
über Unrecht klagen, wenn sein Gegner bei Gelegenheit
ihm denselben Streich spielt. Aber sie thun überhaupt im
höchsten Grade unrecht, weil sie dem Begriff des Rechts
selber alle Gültigkeit nehmen, und alles der wilden Gewalt,
gleichsam gesetzmässig, überliefern und so das Recht der
Menschen überhaupt umstürzen.
Anhang
erläuternder BemerkuDgen zu den metaphysischen
Anfangsgründen der Rechtslehre, t)
Die Veranlassung zu denselben nehme ich grösstentheils
von der Rezension dieses Buches in den Götting.
Anz. 28stes Stück, den 18. Februar 1797; welche
mit Einsieht und Schärfe der Prüfung, dabei aber
doch auch mit Tbeilnahme und „der Hoffnung, dass
jene Anfangsgründe Gewinn für die Wissenschaft
bleiben werden," abgefasst, ich hier zum Leitfaden
der Beurtheilung, überdem auch einiger Erweiterung
dieses Systems gebrauchen will.
Gleich beim Anfange der Einleitung in die Rechts-
lehre stösst sich mein scharfprüfender Rezensent an einer
Definition. — Was heisst Begehrungsvermögen?
Sie ist, sagt der Text, das Vermögen, durch seine Vor-
stellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen
zu sein. — Dieser Erklärung wird entgegengesetzt:
„dass sie nichts wird, sobald man von äusseren Be-
dingungen der Folge des Begehrens abstrahirt. — Das
Begehrungsvermögen ist aber auch dem Idealisten etwas;
t. Dieser Anhang ist erst in der 2. Ausgabe hinzuge-
kommen.
12Q Rechtslehre. I. Theil.
obgleich diesem die Aussenwelt nichts ist." Antwort:
Giebt es aber auch nicht eine heftige, und doch zugleich
mit Bewusstsein vergebliche Sehnsucht (z. B. wollte Gott,
jener Mann lebte noch!), die zwar thatleer, aber doch
nicht folge leer ist, und zwar nicht an Aussendingen,
aber doch im Innern des Subjekts selbst mächtig wirkt
(krank macht). Eine Begierde als Bestreben (nisus),
vermittelst seiner Vorstellungen Ursache zu sein, list,
wenn das Subjekt gleich die Unzulänglichkeit der letzteren
zur beabsichtigten Wirkung einsieht, doch immer Kau-
salität, wenigstens im Innern desselben. — Was hier
den Missverstand ausmacht, ist: dass, da das Bewusst-
sein seines Vermögens überhaupt (in dem genannten
Falle) zugleich das Bewusstsein seines Unvermögens
in Ansehung der Aussenwelt ist, die Definition auf den
Idealisten nicht anwendbar ist; indessen dass doch, da
hier bloss von dem Verhältnisse einer Ursache (der Vor-
stellung) zur Wirkung (dem Gefühl) überhaupt die Rede
ist, die Kausalität der Vorstellung (jene mag äusserlich
oder innerlich sein) in Ansehung ihres Gegenstandes im
Begriff des Begehrungsvermögens unvermeidlich gedacht
werden muss.^i)
1.
Logische Vorbereitung zu einem neuerdings
gewagten Rechtsbegriffe.
Wenn rechtskundige Philosophen sich bis zu den
metaphysischen Anfangsgründen der üechtslehre erheben,
oder versteigen wollen (ohne welche alle ihre Rechts-
wissenschaft bloss statutarisch sein würde), so können
sie über die Sicherung der Vollständigkeit ihrer Ein-
theilung der Rechtsbegriffe nicht gleichgültig wegsehen :
weil jene Wissenschaft sonst kein Vernunft System,
sondern bloss aufgerafftes Aggregat sein würde. — Die
Topik der Prinzipien muss, der Form des Systems
halber, vollständig sein, d. i. es muss der Platz zu
einem Begriff (locus communis) angezeigt werden, der
nach der synthetischen Form der Eintheilung für diesen
Begriff offen ist; man mag nachher auch darthun, dass
Anhang erläuternder Bemerkungen. 127
einer oder der andere Begriff, der in diesen Platz ge-
vsetzt würde, an sich widersprechend sei und aus diesem
Platze wegfalle.
Die Rechtslehrer haben bisher nun zwei Gemein-
plätze besetzt: den des dinglichen und den des per-
sönlichen Rechts. Es ist natürlich, zu fragen: ob
auch, da noch zwei Plätze, aus der blossen Form der
Verbindung beider zu einem Begriffe, als Glieder der
Eintheilung a 'priori^ offen stehen, nämlich der eines
auf persönliche Art dinglichen, imgleichen der eines auf
dingliche Art persönlichen Rechts, ob nämlich ein solcher
ueuhinzukommender Begriff auch statthaft sei und vor
der Hand, obzwar nur problematisch, in der vollständigen
Tafel der Eintheilung angetroffen werden müsse. Das
Letztere leidet keinen Zweifel. Denn die bloss logische
Eintheilung (die vom Inhalt der Erkenntniss — dem
Objekt — abstrahirt) ist immer Dichotomie, z. B.
ein jedes Recht ist entweder ein dingliches, oder ein
nicht-dingliches Recht. Diejenige aber, von der hier die
Rede ist, nämlich die metaphysische Eintheilung, kann
auch Tetrachotomie sein, weil ausser den zwei einfachen
Gliedern der Eintheilung noch zwei Verhältnisse, näm-
lich die der das Recht einschränkenden Bedingungen
hinzukommen, unter denen das eine Recht mit dem
anderen in Verbindung tritt, deren Möglichkeit einer
besonderen Untersuchung bedarf. — Der Begriff eines
auf persönliche Art dinglichen Rechts fällt ohne
w^eitere Umstände weg; denn es lässt sich kein Recht
einer Sache gegen eine Person denken. Nun fragt
sich : ob die Umkehrung dieses Verhältnisses auch eben
so undenkbar sei; oder ob dieser Begriff, nämlich der
eines auf dingliche Art persönlichen Rechts,
nicht allein ohne inneren Widerspruch, sondern selbst
auch ein nothwendiger [a 'priori in der Vernunft ge-
gebener) zum Begriffe des äusseren Mein und Dein ge-
hörender Begriff sei, Personen auf ähnliche Art als
Sachen, zwar nicht in allen Stücken zu behandeln,
aber sie doch zu besitzen und in vielen Verhältnissen
mit ihnen als Sachen zu verfahren.
228 Rechtslehie. I. Theil.
RechtfertigiiDg des Begriffs von einem auf dingliche
Art persönlichen Recht.
Die Definition des auf dingliche Art persönlichen
Rechts ist nun kurz und gut diese: „es ist das Recht
des Menschen, eine Person ausser sich als das Seine*)
zu haben." Ich sage mit Fleiss eine Person; denn,
einen anderen Menschen, der durch Verbrechen seine
Persönlichkeit eiugebüsst hat (zum Leibeigenen geworden
ist), könnte man wohl als das Seine haben; von diesem
Sachrecht ist aber hier nicht die Rede.
Ob nun jener Begriff „ als neues Phänomen am
juristischen Himmel" eine stellet mirabilis (eine bis zum
Stern erster Grösse wachsende, vorher nie gesehene,
allmählig aber wieder verschwindende, vielleicht einmal
wiederkehrende Erscheinung), oder bloss eine Stern-
schnuppe sei, das soll jetzt untersucht werden.
3.
Beispiele.
Etwas Aeusseres als das Seine haben heisst es recht-
lich besitzen; Besitz aber ist die Bedingung der Mög-
lichkeit des Gebrauchs. Wenn diese Bedingung bloss
*) Ich sage hier auch nicht: „eine Person als die meinige"
^mit dem Adjektiv\ sondern als das Meine (t6 meum^ mit
dem Substantiv) zu haben." Denn ich kann sagen: dieser
ist mein Vater, das bezeichnet nur mein physisches Ver-
hältniss (der Verknüpfung; zu ihm überhaupt. Z. B. „ich
habe einen Vater." Aber ich kann nicht sagen: „ich habe
ihn als das Meine." Sage ich aber: mein Weib, so be-
deutet dieses ein besonderes, nämlich rechtliches Verhält-
niss des Besitzers zu einem Gegenstande (wenn es auch eine
Person wäre; als Sache. Besitz (physischer) aber ist
die Bedingung der Möglichkeit der Handhabung (mani-
pulatio) eines Dinges als einer Sache; wenn dieses gleich,
in einer anderen Beziehung, zugleich als Person behandelt
werden muss.
Anhang erläuternder Bemerkungen. j^29
als die physische gedacht wird, so heisst der Besitz In-
habung. — Rechtmässige Inhabung reicht nun zwar
allein nicht zu, um deshalb den Gegenstand für das
Meine auszugeben, oder es dazu zu machen; wenn ich
aber, es sei aus welchem Grunde es wolle befugt bin^
auf die Inhabung eines Gegenstandes zu dringen, der
meiner Gewalt entwischt oder entrissen ist, so ist dieser
Rechtsbegriff ein Zeichen (wie Wirkung von ihrer Ur-
sache), dass ich mich für befugt halte, ihn als das
Meine, mich aber auch als im inteUigiblen Besitz
desselben befindlich gegen ihn zu verhalten und diesen
Gegenstand so zu gebrauchen.
Das Seine bedeutet zwar hier nicht das des Eigen-
thums an der Person eines Anderen (denn Eigenthümer
kann ein Mensch nicht einmal von sich selbst, viel
weniger von einer anderen Person sein), sondern nur
das Seine des Niessbrauchs (jus utendi fruendi) un-
mittelbar von dieser Person, gleich als von einer Sache^
doch ohne Abbruch an ihrer Persönlichkeit, als Mittel
zu meinem Zweck Gebrauch zu machen.
Dieser Zweck aber, als Bedingung der Rechtmässig-
keit des Gebrauchs, muss moralisch nothwendig sein.
Der Mann kann weder das Weib begehren, um es gleich
als Sache zu geniessen, d. i. unmittelbares Vergnügen
an der bloss thierischen Gemeinschaft mit demselben zu
empfinden, noch das Weib sich ihm dazu hingeben, ohne
dass beide Theile ihre Persönlichkeit aufgeben (fleisch-
liche oder viehische Beiwohnung), d. i. ohne unter der
Bedingung der Ehe, welche, als wechselseitige Dahin-
gebung seiner Person selbst in den Besitz der anderen,
vorher geschlossen werden muss; um durch körper-
lichen Gebrauch, den ein Theil vom anderen macht, sich
nicht zu entmenschen.
Ohne diese Bedingung ist der fleischliche Genuss
dem Grundsatz (wenngleich nicht immer der Wirkung
nach) kannibalisch. Ob mit Maul und Zähnen, der
weibliche Theil durch Schwängerung und daraus viel-
leicht erfolgende, für ihn tödtliche Niederkunft, der
männliche aber durch, von öfteren Ansprüchen des
Weibes an das Geschlechtsvermögen des Mannes her-
rührende Erschöpfungen aufgezehrt wird, ist bloss in
der Manier zu geniessen unterschieden, und ein Theil
Kant, Metaphysik der Sitten 9
"1^30 Rechtslehre. I. Theil.
ist in Ansehung des anderen, bei diesem wechselseitigen
Gebrauche der Geschlechtsorgane, wirklich eine Ter-
Tbrauclibare Sache {res fungibilis), zu welcher also sich
vermittelst eines Vertrags zu machen, es ein gesetz-
widriger Vertrag {pactum turpe) sein würde.
Ebenso kann der Mann mit dem Weibe kein Kind,
als ihr beiderseitiges Machwerk {res artificialis) zeugen,
ohne dass beide Theile sich gegen dieses und gegen
einander die Verbindlichkeit zuziehen, es zu er-
halten; welches doch auch die Erwerbung eines Men-
schen gleich als einer Sache, aber nur der [Form nach
(einem bloss auf dingliche Art persönlichen Rechte an-
gemessen) ist. Die Eltern*) haben ein Recht gegen
jeden Besitzer des Kindes, das aus ihrer Gewalt ge-
bracht worden {jus in re), und zugleich ein Recht, es
zu allen Leistungen und aller Befolgung ihrer Befehle
zu nöthigen, die einer möglichen gesetzlichen Freiheit
nicht zuwider sind {jus ad rem) ; folglich auch ein per-
sönliches Recht gegen dasselbe.
Endlich, wenn bei eintretender Volljährigkeit die
Pflicht der Eltern zur Erhaltung ihrer Kinder aufhört,
so haben jene noch das Recht, diese als ihren Befehlen
unterworfene Hausgenossen zu Erhaltung des Hauswesens
zu brauchen, bis zur Entlassung derselben ; welches eine
Pflicht der Eltern gegen diese ist, die aus der natür-
lichen Beschränkung des Rechts der ersteren folgt. Bis
dahin sind sie zwar Hausgenossen und gehören zur
Familie, aber von nun an gehören sie zur Diener-
schaft {famulatus) in derselben, die folglich nicht an-
ders, als durch Vertrag zu dem Seinen des Hausherrn
(als seine Domestiken) hinzu kommen können. Ebenso
kann auch eine Dienerschaft ausser der Familie
zu dem Seinen des Hausherrn nach einem auf dingliche
Ali; persönlichen Rechte gemacht und als Gesinde {fa-
Qiiulatus domesticus) durch Vertrag erworben werden.
Ein solcher Vertrag ist nicht dereiner blossen Verdin-
gung {locatio coiiductio operae), sondern der Hingebung
*) In deutscher Schreibart werden unter dem Wort
Aelteren seniores, unter den Eiteren aber parentes verstan-
-den ; welches im Sprachlaut nicht zu unterscheiden, dem
Sinne nach aber sehr unterschieden ist.
Anhang erläuternder Bemerkungen. \^[
seiner Person in den Besitz des Hausherrn^ Ver-
miethung {loeatio conductio personae)^ welche darin
von jener Verdingung unterschieden ist, dass das Ge-
sinde sich zu allem Erlaubten versteht, was das
Wohl des Hauswesens betrifft und ihm nicht, als be-
stellte und specifisch bestimmte Arbeit, aufgetragen wird ;
anstatt dass der zur bestimmten Arbeit gedungene (Hand-
werker oder Tagelöhner) sich nicht zu dem Seinen des
Anderen hingiebt und so auch kein Hausgenosse ist. —
Des Letzteren, weil er nicht im rechtlichen Besitz des
Anderen ist, der ihn zu gewissen Leistungen verpflichtet,
kann der Hausherr, wenn jener auch sein häuslicher
Einwohner {inquilinus) wäre, sich nicht {via facti) als
einer Sache bemächtigen, sondern muss nach dem
persönlichen Recht auf die Leistung des Versprochenen
dringen, welche ihm durch Rechtsmittel {via juris) zu
Gebote stehen. So viel zur Erläuterung und Ver-
theidigung eines befremdlichen, neu hinzukommenden
Rechtstitels in der natürlichen Gesetzlehre, der doch
stillschweigend immer im Gebrauch gewesen ist.
lieber die Verwechselung des dinglichen mit dem
persönlichen Rechte.
Ferner ist mir als Heterodoxie im natürlichen Pri-
vatrechte auch der Satz: Kauf bricht Miet he (Rechtsl.
§. 31. S. 95) zur Rüge aufgestellt worden.
Dass Jemand die Miethe seines Hauses vor Ablauf
der bedungenen Zeit der Einwohnung dem Miether auf-
kündigen, und also gegen diesen, wie es scheint, sein
Versprechen brechen könne, wenn er es nur zur ge-
wöhnlichen Zeit des Verziehens, in der dazu gewohnten
bürgerlich-gesetzlichen Frist thut, scheint freilich beim
ersten Anblick allen Rechten aus einem Vertrage zu
widerstreiten. — Wenn aber bewiesen werden kann,
dass der Miether, da er seinen Miethskontrakt machte,
wusste oder wissen musste, dass das ihm gethane Ver-
9*
132 Rechtslehre. I. Theil.
sprechen des Vermiethers, als Eigenthümers, natür-
licher Weise (ohne dass es im Kontrakt ausdrücklich
gesagt werden durfte), also stillschweigend an die Be-
dingung geknüpft war: wofern dieser sein Haus
binnen dieser Zeit nicht verkaufen sollte (oder
es bei einem, etwa über ihn eintretenden Konkurs seinen
Gläubigern überlassen müsste) , so hat dieser sein schon
an sich der Vernunft nach bedingtes Versprechen nicht
gebrochen, und der Miether ist durch die, ihm vor der
Miethszeit geschehene Aufkündigung an seinem Rechte
nicht verkürzt worden.
Denn das Recht des Letzteren aus dem Miethskon-
trakte ist ein persönliches Recht auf das, was eine
gewisse Person der anderen zu leisten hat {jus ad rem);
nicht gegen jeden Besitzer der Sache [jus in re\ ein
dingliches.
Nun konnte der Miether sich wohl in seinem Mieths-
kontrakte sichern und sich ein dingliches Recht am
Hause verschaffen ; er durfte nämlich diesen nur auf da&
Haus des Vermiethers, als am Grunde haftend, ein-
schreiben (ingrossiren) lassen; alsdann konnte er
durch die Aufkündigung des Eigenthümers, selbst nicht
durch dessen Tod (den natürlichen oder auch den bür-
gerlichen, den Bankrott), vor Ablauf der abgemachten
Zeit aus der Miethe gesetzt werden. Wenn er es nicht
that, weil er etwa frei sein wollte, anderweitig eine Miethe
auf bessere Bedingungen zu schliessen, oder der Eigen-
thümer sein Haus nicht mit einem solchen onus belegt
wissen wollte, so ist daraus zu schliessen: dass ein Jeder
von Beiden in Ansehung der Zeit der Autkündigung
(die bürgerlich bestimmte Frist zu derselben ausgenommen)
einen stillschweigend -bedingten Kontrakt gemacht zu
haben sich bewusst war, ihn ihrer Konvenienz nach wieder
aufzulösen. Die Bestätigung der Befugniss, durch den
Kauf Miethe zu brechen, zeigt sich auch an gewissen
rechtlichen Folgerungen aus einem solchen nackten
Miethskontrakte ; denn den Erben des Miethers, wenn
dieser verstorben ist, wird doch nicht die Verbindlich-
keit zugemuthet, die Miethe fortzusetzen ; weil diese nur
die Verbindlichkeit gegen eine gewisse Person ist, die
mit dieser ihrem Tode aufhört ^wobei doch die gesetz-
liche Zeit der Aufkündigung immer mit in Anschlag
Anhang erläuternder Bemerkungen. 133
gebracht werden muss). Ebensowenig kann auch das
Kecht des Miethers, als eines solchen, auch auf seine
Erben ohne einen besonderen Vertrag übergehen; so
wie er auch beim Leben beider Theile, ohne ausdrück-
liche Uebereinkunft, keinen Aftermiether zu setzen
befugt ist. 62)
5.
Zusatz zur Erörterung der Begriffe des Strafrechts.
Die blosse Idee einer Staatsverfassung unter Men-
schen führt schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit
bei sich, welche der obersten Gewalt zusteht. Es fragt
sich nur, ob die Strafarten dem Gesetzgeber gleichgültig
sind, wenn sie nur als Mittel dazu taugen, das Ver-
brechen (als Verletzung der Staatssicherheit im Besitz
des Seinen eines Jeden) zu entfernen, oder ob auch noch
auf Achtung für die Menschheit in der Person des
Missethäters (d. i. für die Gattung) Rücksicht genommen
werden müsse, und zwar aus blossen Rechtsgründen,
indem ich das jus talionis, der Form nach, noch immer
für die einzige a jyriori bestimmende (nicht aus der
Erfahrung, welche Heilmittel zu dieser Absicht die kräf-
tigsten wären, hergenommene) Idee als Prinzip des
Strafrechts halte.*) — V/ie wird es aber mit den Ver-
*) In jeder Bestrafung liegt etwas das Ehrgefühl des
Angeklagten (mit Recht) Kränkendes ; weil sie einen blossen
einseitigen Zwang enthält und so an ihm die Würde eines
Staatsbürgers, als eines solchen, in einem besonderen Fall
wenigstens suspendirt ist; da er einer äusseren Pflicht unter-
worfen wird, der er seinerseits keinen Widerstand entgegen-
setzen darf. Der Vornehme und Reiche, der auf den Beutel
-geklopft wird, fühlt mehr seine Erniedrigung, sich unter
den Willen des geringeren Mannes beugen zu müssen, als
den Geldverlust. Die Strafgerechtigkeit {justitia puni-
iiva], da nämlich das Argument der Strafbarkeit mora-
lisch ist {quia peccatum est], muss hier von der Strafklug-
lieit, da es bloss pragmatisch ist {ne peccetur) und sich
auf Erfahrung von dem gründet, was am stärksten wirkt,
Verbrechen abzuhalten, unterschieden werden, und hat in
der Topik der Rechtsbegriffe einen ganz anderen Ort, locus
134 Rechtslehre. I. Theil.
brechen gehalten werden, die keine Erwiedeiwng zu-
lassen; weil diese entweder an sich unmöglich, oder
selbst ein strafbares Verbrechen an der Menschheit
überhaupt sein würden, wie z. ß. das der Nothzüchti-
gung; inigleichen das der Päderastie, oder Bestialität?
Die beiden ersteren durch Kastration (entweder wie eines
weissen oder schwarzen Verschnittenen im Serail), das
letztere durch Ausstossung aus der bürgerlichen Gesell-
schaft auf immer, weil er sich selbst der menschlichen
unwürdig gemacht hat. — Fer quod quis peccat, per
idem punitur et idem. — Die gedachten Verbrechen
heissen darum unnatürlich, weil sie an der Menschheit
selbst ausgeübt werden. — Willkürlich Strafen für
sie zu verhängen ist dem Begriffe einer Straf-Gerech-
tigkeit buchstäblich zuwider. Nur dann kann der
Verbrecher nicht klagen, dass ihm Unrecht geschehe,
wenn er seine Uebelthat sich selbst über den Hals zieht,
und ihm, wenngleich nicht dem Buchstaben, doch dem
Geiste des Strafgesetzes gemäss, das widerfährt, was er
an Anderen verbrochen hat. 6*^)
6.
Vom Recht der Ersitzung.
„Das Recht der Ersitzung (usucapio) soll nach
S. 104 f. t) durchs Naturrecht begründet werden. Denn
nähme man nicht an, dass durch den ehrlichen Besitz
eine ideale Erwerbung, wie sie hier genannt wird,,
so begründet werde, wäre gar keine Erwerbung perem-
torisch gesichert. (Aber Hr. K. nimmt ja selbst im
Naturstande eine nur provisorische Erwerbung an, und
dringt deswegen auf die juristische Nothwendigkeit der
bürgerlichen Verfassung. Ich behaupte mich ala
ehrlicher Besitzer nur gegen den, der nicht beweisen
kann, dass er eher, als ich, ehrlicher Besitzer der-
justi'^ nicht des conducibilis oder des Zuträglichen in ge-
wisser Absicht, noch auch den des blossen honestij dessen
Ort in der Ethik aufgesucht werden muss.
t) Vgl. oben §. 33.
Anhang erläuternder Bemerkungen. 135
selben Sache war und mit seinem Willen zu sein nicht
aufgehört hat.)" Davon ist nun hier nicht die
Rede, sondern ob ich mich auch als Eigen thümer be-
haupten kann, wenn sich gleich ein Prätendent als
früherer wahrer Eigenthümer der Sache melden sollte,
die Erkundigung aber seiner Existenz als Besitzers und
seines Besitzstandes als Eigenthümers schlechterdings
unmöglich war; welches Letztere alsdann zutrifft, wenn
dieser gar kein öffentlich gültiges Zeichen seines un-
unterbrochenen Besitzes (es sei aus eigener Schuld oder
auch ohne sie), z. B. durch Einschreibung in Matrikeln,
oder unwidersprochene Stimmgebung als Eigenthümer
in bürgerlichen Versammlungen von sich gegeben hat.
Denn die Frage ist hier: wer soll seine rechtmässige
Erwerbung beweisen? Dem Besitzer kann diese Ver-
bindlichkeit {onus j^rohandi) nicht aufgebürdet werden;
denn er ist, so weit wie seine konstatirte Geschichte
reicht, im Besitz derselben. Der frühere angebliche
Eigenthümer der Sache ist durch eine Zwischenzeit,
innerhalb deren er keine bürgerlich gültigen Zeichen
seines Eigenthums gab, von der Reihe der auf einander
folgenden Besitzer nach Rechtsprinzipien ganz abge-
schnitten. Diese Unterlassung irgend eines öffentlichen
Besitzakts macht ihn zu einem unbetitelten Prätendenten.
(Dagegen heisst es hier, wie bei der Theologie, conser-
vatio est conti 71 ua creatio.) Wenn sich auch ein bis-
her nicht manifestirter, obzwar hintennach mit aufge-
fundenen Dokumenten versehener Prätendent vorfände,
so würde doch wiederum auch bei diesem der Zweifel
vorwalten, ob nicht ein noch älterer Prätendent dereinst
auftreten und seine Ansprüche auf den früheren Besitz
gründen könnte. — Auf die Länge der Zeit des Be-
sitzes kommt es hierbei gar nicht an, um die Sache
endlich zu ersitzen (acqiärere j^ei' usucapionem). Denn
es ist ungereimt, anzunehmen, dass ein Unrecht dadurch,
dass es lange gewährt hat, nachgerade ein Recht werde.
Der (noch so lange) Gebrauch setzt das Recht in der
Sache voraus; weit gefehlt, dass dieses sich auf jenen
gründen sollte. Also ist die Ersitzung {itsacapio) als
Erwerbung durch den langen Gebrauch einer Sache
ein sich selbst widersprechender Begriff. Die Ver-
jährung der Ansprüche als Erhaltungsart {conser-^
X36 Rechtslehre. I. Theil.
vatio 2>ossessionis meae per praescriptionem) ist es nicht
weniger; indessen doch ein von dem vorigen unter-
schiedener Begriff, was das Argument der Zueignung
betrifft. Es ist nämlich ein negativer Grund, d. i. der
gänzliche Nichtgebrauch seines Rechts, selbst nicht
einmal der, welcher nöthig ist, um sich als Besitzer zu
manifestiren, für eine Verzichtthuung auf dieselbe
{derelictio), welche ein rechtlicher Akt d. i. Gebrauch
seines Rechts gegen einen Anderen ist, um durch Aus-
schliessung desselben vom Ansprüche {per p)raescrip-
tionem) das Objekt desselben zu erwerben, welches einen
Widerspruch enthält.
Ich erwerbe also ohne Beweisführung und ohne allen
rechtlichen Akt; ich brauche nicht zu beweisen, sondern
dui'chs Gesetz {lege) und was dann? Die öffentliche
Befreiung von Ansprüchen, d. i. die gesetzliche
Sicherheit meines Besitzes, dadurch, dass ich
nicht den Beweis führen darf, und mich auf einen un-
unterbrochenen Besitz gründe. Dass aber alle Er-
werbung im Naturstande bloss provisorisch ist, das
hat keinen Einfluss auf die Frage von der Sicherheit
des Besitzes des Erworbenen, welche vor jener vor-
hergehen muss.^4)
7.
Von der Beerbimg.
Was das Recht der Beerbung anlangt, so hat den
Herrn Rezensenten diesesmal sein Scharfblick, den Ner-
ven des Beweises meiner Behauptung zu treffen, ver-
lassen. — Ich sage ja nicht S. 106 t): „dass ein jeder
Mensch nothwendiger Weise jede ihm angebotene
Sache, durch deren Annehmung er nur gewinnen, nichts
verlieren kann, annehme" (denn solche Sachen giebt
es gar nicht), sondern dass ein Jeder das Recht des
Angebots in demselben Augenblick unvermeidlich und
stillschweigend, dabei aber doch gültig, immer wirklich
annehme: wenn es nämlich die Natur der Sache so mit
t) Vgl. oben §. 34.
Anhang erläuternder Bemerkungen. X37
sich bringt, dass der Widerruf schlechterdings unmöglich
ist, nämlich im Augenblicke seinßs Todes; denn da
kann der Promittent nicht widerrufen, und der Promissar
ist, ohne irgend einen rechtlichen Akt begehen zu dürfen,
in demselben Augenblicke Acceptant, nicht der ver-
sprochenen Erbschaft, sondern des Rechts, sie anzu-
nehmen oder auszuschlagen. In diesem Augenblicke
sieht er sich bei Eröffnung des Testaments, dass er,
schon vor der Acceptation der Erbschaft, vermögender
geworden ist, als er war; denn er hat ausschliesslich
die Befugniss zu acceptiren erworben, welche
schon ein Vermögensumstand ist. — Dass hierbei ein
bürgerlicher Zustand vorausgesetzt wird, um etwas zu
dem Seinen eines Anderen zu machen, wenn man
nicht mehr da ist, dieser Uebergang des Besitzthums
aus der Todtenhand ändert in Ansehung der Möglich-
keit der Erwerbung nach allgemeinen Prinzipien des
Naturrechts nichts, wenngleich der Anwendung derselben
auf den vorkommenden Fall eine bürgerliche Verfassung
zum Grunde gelegt werden muss. — Eine Sache näm-
lich, die ohne Bedingung anzunehmen oder auszuschla-
gen in meiner freien Wahl gestellt wird, heisst res jacens.
Wenn der Eigenthümer einer Sache mir etwas, z. B.
ein Möbel des Hauses, aus dem ich auszuziehen eben
im Begriff bin, umsonst anbietet (verspricht, es soll mein
sein), so habe ich, so lange er nicht widerruft (welches,
wenn er darüber stirbt, unmöglich ist), ausschliesslich
ein Recht zur Acceptation des Angebotenen {jus in re
jacente), d. i. ich allein kann es annehmen oder aus-
schlagen, wie es mir beliebt; und dieses Recht, aus-
schliesslich zu w^ähleu, erlange ich nicht vermittelst
eines besonderen rechtlichen Akts meiner Deklaration:
ich wolle, dieses Recht solle mir zustehen, sondern ohne
denselben {le(ye). — Ich kann also zwar mich dahin
erklären: ich wolle, die Sache solle mir nicht an-
gehören (weil diese Annahme mir Verdriesslichkeiten
mit Anderen zuziehen dürfte), aber ich kann nicht
wollen, ausschliesslich die Wahl zu haben, ob sie mir
angehören solle oder nicht; denn dieses Recht
(des Annehmens oder Ausschiagens) habe ich, ohne alle
Deklaration meiner Annahme, unmittelbar durchs An-
gebot; denn wenn ich sogar die Wahl zu haben aus-
j^38 Rechtslehre. I. Theil.
schlagen könnte, so würde ich wählen, nicht zu wählen ;
welches ein Widerspruch ist. Dieses Recht zu wählen
geht nun im Augenblicke des Todes des Erblassers auf
mich über, durch dessen Vermächtniss {institutio liae-
redis) ich zwar noch nichts von der Habe und Gut des
Erblassers, aber doch den bloss-rechtlichen (intelli-
giblen) Besitz dieser Habe oder eines Theils derselben
erwerbe; deren Annahme ich mich nun zum Vortheil
Anderer begeben kann, mithin dieser Besitz keinen
Augenblick unterbrochen ist, sondern die Succession als
eine stetige Reihenfolge vom Sterbenden zum einge-
setzten Erben durch seine Acceptation übergeht und
so der Satz : testamenta sunt juo'is naturae, wider alle
Zweifel befestigt wird. 65)
8.
Von den Rechten des Staats in Ansehung ewiger
Stiftungen für seine Unterthanen.
Stiftung {sanctio testamentaria heneficii perpetui)
ist die freiwillige, durch den Staat bestätigte, für ge-
wisse auf einander folgende Glieder desselben, bis zu
ihrem gänzlichen Aussterben, errichtete wohlthätige An-
stalt. — Sie heisst ewig, wenn die Verordnung zu Er-
haltung derselben mit der Konstitution des Staats selbst
vereinigt ist (denn der Staat muss für ewig angesehen
werden); ihre Wohlthätigkeit aber ist entweder für das
Volk überhaupt, oder für einen nach gewissen beson-
deren Grundsätzen vereinigten Theil desselben, einen
Stand, oder für eine Familie und die ewige Fortdauer
ihrer Descendenten abgezweckt. Ein Beispiel vom
Ersteren sind die Hospitäler, vom Zweiten die Kir-
chen, vom Dritten die Orden (geistliche und weltliche),
vom Vierten die Majorate.
Von diesen Korporationen und ihrem Rechte zu
succediren sagt man nun, sie können nicht aufgehoben
werden; weil es durch Vermächtniss zum Eigenthum
des eingesetzten Erben geworden sei, und eine solche
Verfassung {corpus mysticum) aufzuheben so viel heisse,
als Jemandem das Seine nehmen.
Anhang erläuternder Bemerkungen. ^39
A.
Die wohlthätige Anstalt für Arme, Invalide und
Kranke, welche auf dem Staatsvermögen fundirt worden
(in Stiften und Hospitälern), ist allerdings unablöslich.
Wenn aber nicht der Buchstabe, sondern der Sinn des
Willens des Testators den Vorzug haben soll, so können
sich wohl Zeitumstände ereignen, welche die Aufhebung
einer solchen Stiftung wenigstens ihrer Form nach an-
räthig machen. — So hat man gefunden, dass der Arme
und Kranke (den vom Narrenhospital ausgenommen)
besser und wohlfeiler versorgt werde, wenn ihm die
Beihülfe in einer gewissen (dem Bedürfnisse der Zeit
proportionirten) Geldsumme, wofür er sich, wo er will,
bei seinen Verwandten oder sonst Bekannten, einmiethen
kann, gereicht wird, als wenn — wie im Hospital von
Greenwich, — prächtige und dennoch die Freiheit
sehr beschränkende, mit einem kostbaren Personale
versehene Anstalten dazu getroffen werden. — Da kann
man nun nicht sagen, der Staat nehme dem zum Ge-
nuss dieser Stiftung berechtigten Volke das Seine, son-
dern er betordert es vielmehr, indem er weisere Mittel
zur Erhaltung desselben wählt.
B.
Die Geistlichkeit, welche sich fleischlich nicht fort-
pflanzt (die katholische), besitzt mit Begünstigung des
Staats Ländereien und daran haftende Unterthanen, die
einem geistlichen Staate (Kirche genannt) angehören,
welchem die Weltlichen durch Vermächtniss zum Heil
ihrer Seelen sich als ihr Eigenthum hingegeben haben,
und so hat der Klerus als ein besonderer Stand einen
Besitzthum, der sich von einem Zeitalter zum anderen
gesetzmässig vererben lässt und durch päpstliche Bullen
hinreichend dokumentirt ist. — Kann man nun wohl
annehmen, dass dieses Verhältniss derselben zu den
Laien durch die Machtvollkommenheit des weltlichen
Staats, geradezu den ersteren könne genommen werden,
und würde das nicht so viel sein, als Jemandem mit
Gewalt das Seine nehmen; wie es doch von Ungläubigen
der französischen Republik versucht wird?
140 Rechtslehre. I. Theil.
Die Frage ist hier: ob. die Kirche dem Staat oder
der Staat der Kirche als das Seine augehören könne;
denn zwei oberste Gewalten können einander ohne
Widerspruch nicht untergeordnet sein. — Dass nur die
erstere Verfassung {politico-Merarchica) Bestand
an sich haben könne, ist an sich klar; denn alle bür-
gerliche Verfassung ist von dieser Welt, weil sie eine
irdische Gewalt (der Menschen) ist, die sich sammt ihren
Folgen in der Eifahrung dokumentiren lässt. Die Gläu-
bigen, deren Reich im Himmel und in jener Welt
ist, müssen, insofern man ihnen eine sich auf dieses be-
ziehende Verfassung (Inerarcldco-politica) zugesteht, sich
den Leiden dieser Zeit unter der Obergewalt der Welt-
menschen unterwerfen. — Also findet nur die erstere
Verfassung statt.
Religion (in der Erscheinung), als Glaube an die
Satzungen der Kirche und die Macht der Priester, als
Aristokraten einer solchen Verfassung, oder auch, wenn
diese monarchisch (päpstlich) ist, kann von keiner staats-
bürgerlichen Gewalt dem Volke weder aufgedrungen,
noch genommen w^erden, noch auch (wie es wohl in
Grossbrittanien mit der irländischen Nation gehalten
wird) der Staatsbürger, wegen einer von des Hofes seiner
unterschiedenen Religion, von den Staatsdiensten und
den Vortheilen, die ihm dadurch erwachsen, ausge-
schlossen werden.
Wenn nun gewisse andächtige und gläubige Seelen,
um der Gnade theilhaftig zu werden, welche die Kirche
den Gläubigen auch nach dieser ihrem Tode zu erzeigen
verspricht, eine Stiftung auf ewige Zeiten errichten,
durch welche gewisse Ländereien derselben nach ihrem
Tode ein Eigenthum der Kirche werden sollen, und der
Staat an diesem oder jenem Theil, oder gar ganz,
sich der Kirche lehnspflichtig macht, um durch Gebete,
Ablässe und Büssungen, durch welche die dazu bestell-
ten Diener derselben (die Geistlichen) das Loos in der
ande>'en Welt ihnen vortheilhaft zu machen verheissen;
so ist eine solche vermeintlich auf ewige Zeiten ge-
machte Stiftung keinesweges auf ewig begründet, sondern
der Staat kann diese Last, die ihm von der Kirche auf-
gelegt worden, abwerfen, wenn er will. — Denn die
Kirche selbst ist ein bloss auf Glauben errichtetes In-
AnhaDg erläuternder Bemerkungen. X4X
stitut, und wenn die Täuschung aus dieser Meinung
durch Volksaufklärung verschwunden ist, so fällt auch
die darauf gegründete furchtbare Gewalt des Klerus
weg, und der Staat bemächtigt sich mit vollem Rechte
des angemassten Eigenthums der Kirche, nämlich des
durch Vermächtnisse an sie verschenkten Bodens; wie-
wohl die Lehnsträger des bis dahin bestandenen Instituts
für ihre Lebenszeit schadenfrei gehalten zu werden aus
ihrem Rechte fordern können.
Selbst Stiftungen zu ewigen Zeiten für Arme, oder
Schulanstalten, sobald sie einen gewissen, von dem
Stifter nach seiner Idee bestimmten, entworfenen Zu-
schnitt haben, können nicht auf ewige Zeiten fundirt
und der Boden damit belästigt werden; sondern der
Staat muss die Freiheit haben, sie nach dem Bedürf-
nisse der Zeit einzurichten. — Dass es schwerer hält,
diese Idee allerwärts auszuführen (z. B. die Pauper-
burschen die Unzulänglichkeit des wohlthätig errichteten
Schulfonds durch bettelhaftes Singen ergänzen müssen),
darf Niemanden wundern; denn der, w^elcher gutmüthiger,
aber doch zugleich etwas ehrbegieriger Weise eine Stif-
tung macht, will, dass sie nicht ein Anderer nach seinen
Begriffen umändere, sondern Er darin unsterblich sei.
Das ändert aber nicht die Beschaffenheit der Sache
selbst und das Recht des Staats, ja die Pflicht desselben
zum Umändern einer jeden Stiftung, wenn sie der Er-
haltung und dem Fortschreiten desselben zum Besseren
entgegen ist, kann daher niemals als auf ewig begründet
betrachtet werden.
Der Adel eines Landes, das selbst nicht unter einer
aristokratischen, sondern monarchischen Verfassung
steht, mag immer ein, für eine gewisse Zeit erlaubtes
und den Umständen nach nothwendiges Institut sein;
aber dass dieser Stand auf ewig könne begründet wer-
den, und ein Staatsoberhaupt nicht solle die Befugniss
haben, diesen Standesvorzug gänzlich aufzuheben, oder,
wenn er es thut, man sagen könne, er nehme seinem
(adligen) Unterthan das Seine, was ihm erblich zu-
kommt, kann keinesweges behauptet werden. Er ist
242 Kechtslehre. I. Theil.
eine temporäre, vom Staat autorisirte Zunftgenossen-
schaft, die sich nach den Zeitumständen bequemen muss
und dem allgemeinen Menschenrechte , das so lange
suspendirt war, nicht Abbruch thun darf. — Denn der
Rang des Edelmanns im Staate ist von der Konstitution
selber nicht allein abhängig, sondern ist nur ein Acci-
denz derselben, was nur durch Inhärenz in demselben
existiren kann (ein Edelmann kann ja als ein solcher
nur im Staate, nicht im Stande der Natur gedacht wer-
den). Wenn also der Staat seine Konstitution abändert,
so kann der, welcher hiermit jenen Titel und Vorrang
einbüsst, nicht sagen, es sei ihm das Seine genommen;
weil er es nur unter der Bedingung der Fortdauer dieser
Staatsform das Seine nennen konnte, der Staat aber
diese abzuändern (z. B. in den Republikanismus umzu-
formen) das Recht hat. — Die Orden und der Vorzug,
gewisse Zeichen desselben zu tragen, geben also kein
ewiges Recht dieses Besitzes.
D.
Was endlich die Majoratsstiftung betrifft, da ein
Gutsbesitzer durch Erbeseinsetzung verordnet: dass in
der Reihe der auf einander folgenden Erben immer der
Nächste von der Familie der Gutsherr sein solle (nach
der Analogie mit einer monarchisch-erblichen Verfassung
eines Staats, wo der Landesherr es ist), so kann eine
solche Stiftung nicht allein mit Beistimmung aller Agnaten
jederzeit aufgehoben werden und darf nicht auf ewige
Zeiten, — gleich als ob das Erbrecht am Boden haftete,
— immerwährend fortdauern, noch gesagt werden, es
sei eine Verletzung der Stiftung und des Willens des
Urahnherrn derselben, des Stifters, sie eingehen zu lassen;
sondern der Staat hat auch hier ein Recht, ja sogar
die Pflicht, bei den allmählig eintretenden Ursachen
seiner eigenen Reform ein solches föderatives System
seiner ünterthanen, gleich als ünterkönige (nach der
Analogie von Dynasten und Satrapen), wenn es er-
loschen ist, nicht weiter aufkommen zu lassen. 66)
Bescliluss.
Zuletzt hat der Herr Rezensent von den unter der
Rubrik: öffentliches Recht, aufgeführten Ideen,
Anhang erläuternder Bemerkungen. 143
„von denen, wie er sagt, der Raum nicht erlaube, sich
darüber zu äussern," noch Folgendes angemerkt. „Unseres
Wissens hat noch kein Philosoph den paradoxesten aller
paradoxen Sätze anerkannt, den Satz: dass die blosse
Idee der Oberherrschaft mich nöthigen soll, jedem, der
sich zu meinem Herrn aufwirft, als meinem Herrn zu
gehorchen, ohne zu fragen, wer ihm das Recht gegeben,
mir zu befehlen? Dass man Oberherrschaft und Ober-
haupt anerkennen und man diesen oder jenen, dessen
Dasein nicht einmal a priori gegeben ist, a prioi'i für
seinen Herrn halten soll, das soll einerlei sein?" —
Nun, hierbei die Paradoxie eingeräumt, hoffe ich, es
solle, näher betrachtet, doch wenigstens der Hetero-
doxie nicht überwiesen werden können ; vielmehr solle
es dem einsichtsvollen und mit Bescheidenheit tadeln-
den, gründlichen Rezensenten (der jenes genommenen
Anstosses ungeachtet, „diese metaphysischen Anfangs-
gründe der Rechtslehre im Ganzen als Gewinn für die
Wissenschaft ansieht") nicht gereuen, sie wenigstens als
einen, der zweiten Prüfung nicht unwürdigen Versuch
gegen Anderer trotzige und seichte Absprechungen in
Schutz genommen zu haben.
Dass dem, welcher sich im Besitz der zu oberst ge-
bietenden und gesetzgebenden Kraft über ein Volk be-
findet, müsse gehorcht werden und zwar so juridisch-
unbedingt, dass auch nur nach dem Titel dieser seiner
Erwerbung öffentlich zu forschen, also ihn zu be-
zweifeln, um sich, bei etwaniger Ermangelung desselben,
ihm zu widersetzen, schon strafbar, dass es ein kate-
gorischer Imperativ sei: gehorchet der Obrigkeit
(in allem, was nicht dem inneren Moralischen wider-
streitet), die Gewalt über euch hat, ist der an-
stössige Satz, der in Abrede gezogen wird. — Nicht
allein aber dieses Prinzip, welches ein Faktum (die Be-
mächtigung) als Bedingung dem Rechte zum Grunde
legt, sondern dass selbst die blosse Idee der Ober-
herrschaft über ein Volk mich, der ich zu ihm gehöre,
nöthige, ohne vorhergehende Forschung, dem angemass-
ten Rechte zu gehorchen (R, L. §. 44.), das scheint
die Vernunft des Rez. zu empören.
Ein jedes Faktum (Thatsache) ist Gegenstand in der
Erscheinung (der Sinne); dagegen das, was nur durch
144
Rechtslehre. I. Theil.
reine Vernunft dargestellt werden kann, was zu den
Ideen gezählt werden muss, denen adäquat kein Gegen-
stand in der Erfahrung gegeben werden kann, der-
gleichen eine vollkommene rechtliche Verfassung
unter Menschen ist; das ist das Ding an sich selbst.
Wenn dann nun ein Volk, durch Gesetze unter einer
Obrigkeit vereinigt, da ist, so ist es, der Idee der Ein-
heit desselben überhaupt unter einem machthabenden
obersten Willen gemäss, als Gegenstand der Erfahrung
gegeben; aber freilich nur in der Erscheinung; d. i.
eine rechtliche Verfassung, im allgemeinen Sinne des
Worts, ist da; und obgleich sie mit grossen Mängeln
und groben Fehlern behaftet sein und nach und nach
wichtiger Verbesserungen bedürfen mag, so ist es doch
schlechterdings unerlaubt und sträflich, ihr zu wider-
stehen ; weil, wenn das Volk dieser, obgleich noch fehler-
haften Verfassung und der obersten Auctorität Gewalt
entgegensetzen zu dürfen sich berechtigt hielte, es sich
dünken würde, ein Recht zu haben : Gewalt an die Stelle
der alle Rechte zu oberst vorschreibenden Gesetzgebung
zu setzen; welches einen sich selbst zerstörenden ober-
sten Willen abgeben würde.
Die Idee einer Staatsverfassung überhaupt, welche^
zugleich absolutes Gebot der nach Rechtsbegriffen ur-
theilenden praktischen Vernunft für ein jedes Volk ist,
ist heilig und unwiderstehlich; und wenngleich die
Organisation eines Staats durch sich selbst fehlerhaft
wäre, so kann doch keine subalterne Gewalt in dem-
selben dem gesetzgebenden Oberhaupte desselben thät-
lichen Widerstand entgegensetzen, sondern die ihm an-
hängenden Gebrechen müssen durch Reformen, die er
an sich selbst verrichtet, allmälig gehoben werden ; weil
sonst bei einer entgegengesetzten Maxime des Unter-
thans (nach eigenmächtiger Willkür zu verfahren) eine
gute Verfassung selbst nur durch blinden Zufall zu
Stande kommen kann. — Das Gebot: «gehorchet der
Obrigkeit, die Gewalt über euch hat-, grübelt nicht nach,
wie sie zu dieser Gewalt gekommen sei (um sie allen-
falls zu untergraben); denn die, welche schon da ist,
unter welcher ihr lebt, ist schon im Besitz der Gesetz-
gebung, über die ihr zwar öffentlich vernünfteln, euch
Anhang erläuternder Bemerkungen. 145
aber selbst nicht zu widerstrebenden Gesetzgebern auf-
werfen könnt.
Unbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der au
sich unvereinigt, mithin gesetzlos ist) unter einem sou-
verainen (alle durch ein Gesetz vereinigenden) Willeuj
ist That, die nur durch Bemächtiguug der obersten
Gewalt anheben kann, und so zuerst ein öffentliches
Recht begründet. — Gegen diese Machtvollkommenheit
noch einen Widerstand zu erlauben (der jene oberste
Gewalt einschränkte), heisst sich selbst widersprechen ;:
denn alsdann wäre jene (welcher widerstanden werdea
darf) nicht die gesetzliche oberste Gewalt, die zuerst be-
stimmt, was öffentlich recht sein soll oder nicht, —
und dieses Prinzip liegt schon a priori in der Idee
einer Staatsverfassung überhaupt, d. i. in einem Begriffe
der praktischen Vernunft; dem zwar adäquat keia
Beispiel in der Erfahrung untergelegt werden kann,,
dem aber auch, als Norm, keine widersprechen muss.^'')
Kant, Metaphysik der Sitten 10
Der Rechtslehre
zweiter Theil.
Das öffentliche Recht.
10^
Des öffentlichen Rechts
erster Abschnitt.
Das Staatsrecht.
§. 43.
Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Be-
kanntmachung bedürfen, um einen reclitlichen Zustand
hervorzubringen, ist das öffentliche Recht. — Dieses
ist also ein System von Gesetzen für ein Volk, d. i.
eine Menge von Menschen, oder für eine Menge von
Völkern, die, im wechselseitigen Einflüsse gegen einan-
der stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie
vereinigenden Willen, einer Verfassung {constitutio)
bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu
werden. — Dieser Zustand der Einzelnen im Volke in
Verhältniss unter einander, heisst der bürgerliche
{status civilis)^ und das Ganze derselben, in Beziehung
auf seine eigenen Glieder, der Staat {civitas), welcher,
seiner Form wegen, als verbunden durch das gemein-
same Interesse Aller, im rechtlichen Zustande zu sein,
das gemeine Wesen (res publica latius sie dicta)
genannt wird, in Verhältniss aber auf andere Völker
eine Macht (i^otentia) schlechthin heisst (daher das
Wort Potentaten), was sich auch wegen (anmasslich)
iingeerbter Vereinigung ein Stammvolk (gens) nennt,
und so, unter dem allgemeinen Begriffe des öffentlichen
150 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
Rechts, nicht bloss das Staats-, sondern auch ein Völker-
recht {jus gentium) zu denken Anlass giebt; welches
dann, weil der Erdboden eine nicht grenzenlose, son-
dern sich selbst schliessende Fläche ist, beides zusammen
zu der Idee eines Völker Staats rechts (jus gentium)
oder des Weltbürgerrechts (jus cosmopoliticum) un-
umgänglich hinleitet; so dass, wenn unter diesen drei
möglichen Formen des rechtlichen Zustandes es nur
einer an dem, die äussere Freiheit durch Gesetze ein-
schränkenden Prinzip fehlt, das Gebäude aller übrigen
unvermeidlich untergraben werden und endlich ein-
stürzen muss.
§. 44.
Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von
der Maxime der Gewaltthätigkeit der Menschen belehrt
werden, und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äussere
machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu be-
fehden, also nicht etwa ein Faktum, welches den öffent-
lich gesetzlichen Zwang nothwendig macht, sondern, sie
mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht wer-
den, wie man will , so liegt es doch a 2?rio7'i in der
Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes,
dass, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet
worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten nie-
mals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein
können, und zwar aus jedes seinem eigenen Rechte, zu
thun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin
von der Meinung des anderen nicht abzuhängen; mithin
das Erste, was ihm zu beschliessen obliegt, wenn er
nicht allen Rechtsbegriffeu entsagen will, der Grundsatz
sei: man müsse aus dem Naturzustande, in welchem
jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen, und
sich mit allen Anderen (mit denen in Wechselwirkung
zu gerathen er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen,
sich einem öffentlich gesetzlichen äusseren Zwange zu
unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem
das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetz-
lich bestimmt und durch hinreichende Macht (die
nicht die seinige, sondern eine äussere ist) zu Theil
I. Abschü. Das Staatsrecht. §. 45. \^\
wirdj d. i. er solle vor allen Diügen in eiueu bürger-
lichen Zustand treten.
Zwar durfte sein natürlicher Zustand nicht eben darum
ein Zustand der Ungerechtigkeit (z/yW^ws) sein, ein-
ander nur nach dem blossen Maasse seiner Gewalt zu
begegnen; aber es war doch ein Zustand der Recht-
losigkeit (status justitia vacuus), wo, wenn das Recht
streitig {jus controversum) war, sich kein kompetenter
Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch zu thun, aus
welchem nun in einen rechtlichen zu treten', ein Jeder
den Anderen mit Gewalt antreiben darf; weil, obgleich
nach jedes seinen Rechts begriffen etwas Aeusseres
durch Bemächtigung oder Vertrag erworben werden
kann, diese Erwerbung doch nur provisorisch ist,
so lange sie noch nicht die Sanktion eines öffentlichen
Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche
(distributive) Gerechtigkeit bestimmt und durch keine,
dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist.
Wollte man vor Eintretung in den bürgerlichen
Zustand gar keine Erwerbung, auch nicht einmal
provisorisch, für rechtlich erkennen, so würde jener
selbst unmöglich sein. Denn der Form nach ent-
halten die Gesetze über das Mein und Dein im Na-
turzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen
vorschreiben, sofern dieser bloss nach reinen Ver-
nunftbegriifen gedacht wird; nur dass im letzteren
die Bedingungen angegeben werden, unter denen
jene zur Ausübung (der distributiven Gerechtigkeit
gemäss) gelangen. — Es würde also, wenn es im.
Naturzustande auch nicht provisorisch ein
äusseres Mein und Dein gäbe, auch keine Rechts-
pflichten in Ansehung desselben, mithin auch kein
Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen.^^)
§. 45.
Ein Staat {civitas) ist die Vereinigung einer Menge
von Menschen unter Rechtsgesetzen. Sofern diese als
Gesetze a priori nothwendig, d. i. aus Begriffen des
äusseren Rechts überhaupt von selbst folgend (nicht
statutarisch) sind, ist seine Form die Form eines Staats
überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach
152 Rechtslehre, IL Theil. Das öffentliche Recht.
reinen Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder wirklichen
Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren)
zur Richtschnur {normet) dient.
Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i.
den allgemeinen vereinigten Willen in dreifacher Person
{trias i^oUtim) : die H e r r s c h e r g e w^ a 1 1 (Souverainität)
in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt
in der des Regierers (zufolge dem Gesetz), und die
rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des
Seinen eines Jeden nach dem Gesetz) in der Person
des Richters (potestas legislatoria, rectoria et judiciaria)^
gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunft-
schlusse, dem Obersatz, des das Gesetz eines Willens,
dem Untersatze, der das Gebot des Verfahrens nach
dem Gesetz, d. i. das Prinzip der Subsumtion unter
denselben, und dem Schlusssatze, der den Rechts-
spruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden
Falle Rechtens ist.
§. 46.
Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten
Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles
Eecht ausgehen soll, so muss sie durch ihr Gesetz
schlechterdings Niemand Unrecht thun können. Nun
ist es, wenn Jemand etwas gegen einen Anderen ver-
fügt, immer möglich, dass er ihm dadurch Unrecht thue,
nie aber in dem, was er über sich selbst beschiiesst
(denn volenti non fit injuria). Also kann nur der über-
einstimmende und vereinigte Wille Aller, sofern ein Jeder
über Alle und Alle über einen Jeden ebendasselbe be-
schliessen, mithin nur der allgemein vereinigte Volks-
wille gesetzgebend sein.
Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen
Gesellschaft {societas civilis) , d. i. eines Staats, heissen
Staatsbürger (cives), und die rechtlichen, von ihrem
Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute derselben
sind gesetzliche Freiheit^ keinem anderen Gesetz zu
gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben
hat; — bürgerliche Gleichheit, keinen Oberen im
Volk in Ansehung seiner zu erkennen, als einen solchen,
den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische
I. Abschn. Das Staatsrecht. §. 46. 153
Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann; drittens
das Attribut der bürgerlichen Selbststäudig-keit,
seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines
Anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und
Kräften als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu
können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit, in Rechts-
Angelegenheiten durch keinen Anderen vorgestellt werden
zu dürfen.
Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die
Qualifikation zum Staatsbürger aus; jene abersetzt
die Selbstständigkeit dessen im Volke voraus, der
nicht bloss Theil des gemeinen Wesens, sondern
auch Glied desselben, d. i. aus eigener Willkür in
Gemeinschaft mit Anderen handelnder Theil des-
selben sein will. Die letztere Qualität maclit aber
die Unterscheidung des aktiven vom passiven
Staatsbürger nothwendig; obgleich der Begriff des
letzteren mit der Erklärung des Begriffs von einem
Staatsbürger überhaupt im Widerspruch zu stehen
scheint. — Folgende Beispiele können dazu dienen,
diese Schwierigkeit zu heben : der Geselle bei einem
Kaufmann, pder bei einem Handwerker; der Dienst-
bote (nicht der im Dienste des Staats steht), der
Unmündige {iiataraUter vel ciciliter), alles Frauen-
zimmer, und überhaupt Jedermann, der nicht nach
eigenem Betriebe , sondern nach der Verfügung
Anderer (ausser der des Staats) genöthigt ist, seine
Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, ent-
behrt der bürgerliclien Persönlichkeit, und seine
Existenz ist gleichsam nur Inhärenz. — Der Holz-
hacker, den ich auf meinem Hofe anstelle, der
Schmied in Indien, der mit seinem Hammer, Am-
bos und Blasbalg in die Häuser geht, um da in
Eisen zu arbeiten, in Vergleichung mit dem euro-
päischen Tischler oder Schmied, der die Produkte
aus dieser Arbeit als Waare öffentlich feil stellen
kann; der Hauslehrer, in Vergleichung mit dem
Schulmanne, der Zinsbauer in Vergleichung mit dem
Pächter u. dgl. sind bloss Handlanger des gemeinen
Wesens, weil sie von anderen Individuen befehligt
oder beschützt werden müssen, mithin keine bürger-
liche Selbstständi,2:keit besitzen.
154 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
Diese Abhängigkeit von dem Willen Anderer
und Ungleichheit ist gleichwohl keinesweges der
Freiheit und Gleichheit derselben als Menschen,
die zusammen ein Volk ausmachen, entgegen; viel-
mehr kann bloss den Bedingungen derselben ge-
mäss, dieses Volk ein Staat werden und in eine
bürgerliche Verfassung eintreten. In dieser Ver-
fassung aber das Recht der Stimmgebung zu haben,
d. i. Staatsbürger, nicht bloss Staatsgenosse zu sein,
dazu qualificiren sich nicht alle mit gleichem Rechte.
Denn daraus, dass sie fordern können, von allen
Anderen nach Gesetzen der natürlichen Freiheit
und Gleichheit als passive Theile des Staats be-
handelt zu werden, folgt nicht das Reclit, auch als
aktive Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu
organisiren oder zu Einführung gewisser Gesetze
mitzuwirken; sondern nur, dass, welcherlei Art die
positiven Gesetze, wozu sie stimmen, auch sein
möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und
der dieser angemessenen Gleichheit aller im Volke,
sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem
aktiven emporarbeiten zu können, nicht zuwider
sein müssen. 6^)
§. 47.
Alle jene drei Gewalten im Staate sind Würden^
und als wesentliche, aus der Idee eines Staats überhaupt
zur Gründung desselben (Konstitution) nothwendig her-
vorgehende, Staats würden. Sie enthalten das Ver-
hältniss eines allgemeinen Oberhaupts (der, nach Frei-
heitsgesetzen betrachtet, kein Anderer, als das vereinigte
Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge eben-
desselben als ünterthans, d. i. des Gebietenden
{imperans) gegen den Gehorsamenden {suhditus), —
Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat
konstituirt, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach
der die Rechtmässigkeit desselben allein gedacht werden
kann, ist der ursprüngliche Kontrakt, nach welchem
alle {omnes et singuli) im Volk ihre äussere Freiheit
aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens,
d. i. des Volks als Staat betrachtet (imiversi), sofort
1. Abschn. Das Staatsrecht. §. 48. 49. 155
wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der
Mensch im Staate habe einen Theil seiner angebornen
äusseren Freiheit einem Zwecke auigeopfert, sondern er
hat die wilde gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um
seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängig-
keit, d. i. in einem rechtlichen Zustande unvermindert
wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem
eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.
§. 48.
Die drei Gewalten im Staate sind also erstlich ein-
ander, als so viel moralische Personen, beigeordnet {po-
testates cooi'dinatae), d. i. die eine ist das Ergänzungs-
stück der anderen zur Vollständigkeit {complementum
ad sufficientiam) der Staatsverfassung; aber zweitens
auch einander untergeordnet (.s^<6o;Y/f>iato6), so, dass
eine nicht zugleich die Funktion der anderen, der sie
zur Hand geht, usurpiren kann, sondern ihr eigenes
Prinzip hat, d. i. zwar in der Qualität einer besonderen
Person, aber doch unter der Bedingung des Willens
einer oberen gebietet; drittens, durch Vereinigung
beider jedem Unterthanen sein Recht ertheilend.
Von diesen Gewalten in ihrer Würde betrachtet,
wird es heissen: der Wille des Gesetzgebers {legis-
latoris) in Ansehung dessen, was das äussere Mein und
Dein betrifft, ist untadelig (irreprehensibel), das Aus-
führungs-Vermögen des Oberbefehlshabers {summi
7^^ctor«5) unwiderstehlich (irresistibel), und der Rechts-
spruch des obersten Richters {supremi judicis) unab-
änderlich (inappellabel).
§. 49.
Der Regent des Staats {^re.v, j^nncej^s) ist diejenige
(moralische oder physische) Person, welcher die aus-
übende Gewalt {jyote.stas e.vstcutoria) zukommt; der
Agent des Staats, der die Magistrate einsetzt, dem
Volke die Regeln vorschreibt, nach denen ein Jeder in
demselben dem Gesetze gemäss (durch Subsumtion eines
Falles unter demselben) etwas erwerben, oder das Seine
erhalten kann. Als moralische Person betrachtet, heisst
156 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
er das Direktorium, die Regierung. Seine Befehle
an das Voll: und die Magistrate, und ihre Obere (Mi-
nister), welchen die Staatsverwaltung [guhernatid)
obliegt, sind Verordnungen, Dekrete (nicht Gesetze);
denn sie gehen auf Entscheidung in einem besonderen
Falle und werden als abänderlich gegeben. Eine R e -
gierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde des-
potisch zu nennen sein, im Gegensatz mit der pa-
triotischen, unter welcher aber nicht eine väter-
liche i^regimen jyater^iale), als die am meisten despo-
tische unter allen (Bürger als Kinder zu behandeln),
sondern vaterländische [regimen civitatis et patriae)
verstanden wird, wo der Staat selbst (ciuitas) seine
Unterthanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie,
doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer
eigenen Selbstständigkeit behandelt, jeder sich selbst
besitzt und nicht vom absoluten Willen eines Anderen
neben oder über ihm abhängt.
Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann
also nicht zugleich der Regent sein, denn dieser steht
unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von
einem Anderen, dem Souverain, verpflichtet. Jener
kann diesem aucli seine Gewalt nehmen, ihn absetzen,
oder seine Verwaltung reformiren, aber ihn nicht stra-
fen (und das bedeutet allein der in England gebräuch-
liche Ausdruck: der König d. i. die oberste ausübende
trcwalt kann nicht Unrecht thun); denn das wäre wieder-
um ein Akt der ausübenden Gewalt, der zu oberst das
Vermögen dem Gesetze gemäss zu zwingen zusteht,
die aber doch selbst einem Zwange unterworfen wäre;
welclies sich widerspricht.
Endlich kann weder der Staatsherrscher, noch der
Regierer richten, sondern nur Richter, als Magistrate
einsetzen. Das Volk richtet sich selbst durch diejenigen
ihrer Mitbürger, welche durch freie Wahl, als Reprä-
sentanten desselben, und zwar für jeden Akt besonders,
dazu ernannt werden. Denn der Rechtsspruch (die Sen-
tenz) ist ein einzelner Akt der öffentlichen Gerechtigkeit
(justitiae distributivae) durch einen Staatsverwalter (Rich-
ter oder Gerichtshof) auf den Unterthau, d. i. einen,
der zum Volke gehört, mithin mit keiner Gewalt be-
kleidet ist, ihm das Seine zuzuerkennen (zu ertheiien).
1. Abscliu. Das Staatsrecht. Allg. Anra. 157
Da nun ein Jeder im Volke diesem Verhältnisse nach
(zur Obrigkeit) bloss passiv ist, so würde eine jede jener
beiden Gewalten in dem, was sie über den Unterthan,
im streitigen Falle des Seinen eines Jeden, beschliessen,
ihm unrecht thun können; weil es nicht das Volk selbst
thäte, und, ob schuldig oder nichtschuldig, über
seine Mitbürger ausspräche; auf welche Ausmittelung
der That in der Klagsache nun der Gerichtshof das Ge-
setz anzuwenden, und, vermittelst der ausführenden Ge-
walt, einem Jeden das Seine zu Theil werden zu lassen,
die richterliche Gewalt hat. Also kann nur das Volk
durch seine von ihm selbst abgeordneten Stellvertreter
(die Jury) über jeden in demselben, obwohl nur mittel-
bar, richten. — Es wäre auch unter der Würde des
Staatsoberhaupts, den Richter zu spielen, d. i. sich in
die Möglichkeit zu versetzen, Unrecht zu thun, und so
in den Fall der Appellation (a rege male informato ad
regem melius informandum) zu gerathen.
Also sind es drei verschiedene Gewalten (j)otestas
legislatoria, exsecutoria, judiciaria)^ wodurch der Staat
{eivitas) seine Autonomie hat, d. i. sich nach Freiheits-
gesetzen bildet und erhält. — In ihrer Vereinigung be-
steht das Heil des Staats {salus reijjublicae suprema
lex est)] worunter man nicht das Wohl der Staatsbürger
und ihre Glückseligkeit verstehen muss; denn die
kann vielleicht (wie auch Rousseau behauptet) im
Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Re-
gierung viel behaglicher und erwünschter ausfallen; son-
dern den Zustand der grössten üebereinstimmung der
Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach wel-
chem zu streben uns die Vernunft durch einen kate-
gorischen Imperativ verbindlich macht. '^^)
Allgemeine Anmerkimg
von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des
bürgerlichen Vereins.
A.
Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk^
das unter derselben steht, in praktischer Absicht uner-
158 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
forsch lieh: d. i. der Unterthan soll nicht über diesen
Ursprung, als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen
Gehorsams zu bezweifelndes Recht (jus controversum),
werkthätig vernünfteln. Denn da das Volk, um
rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt [summum
imjjerium) zu urtheileu; schon als unter einem allgemein
gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muss,
so kann und darf es nicht anders urtheilen, als das
gegenwärtige Staatsoberhaupt {snmmus impermis) es
will. — Ob ursprünglich ein wirklicher Vertrag der
Unterwerfung unter denselben {j^actum suhjectionis ci-
vilis) als ein Faktuoi vorhergegangen, oder ob die Ge-
walt vorherging und das Gesetz nur hintennach ge-
kommen sei, oder auch in dieser Ordnung sich habe
folgen sollen: das sind für das Volk, das nun schon
unter dem bürgerlichen Gesetze steht, ganz zweckleere
und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfte-
leien; denn wollte der Unterthan, der den letzteren
Ursprung nun ergrübelt hätte, sich jener jetzt herrschen-
den Auctorität widersetzen, so würde er nach den Ge-
setzen derselben, d. i. mit allem Rechte bestraft, vertilgt,
oder (als vogelfrei, exlex) ausgestossen werden. — Ein
Gesetz, das so heilig (unverletzlich) ist, dass es, prak-
tisch, auch nur in Zweifel zu ziehen, mithin seinen
Effekt einen Augenblick zu suspendiren, schon ein Ver-
brechen ist, wird so vorgestellt, als ob es nicht von
Menschen, aber doch von irgend einem höchsten tadel-
freien Gesetzgeber herkommen müsse, und das ist die
Bedeutung des Satzes: „alle Obrigkeit ist von Gott^',
welcher nicht einen Geschichtsgrund der bürgerlichen
Verfassung, sondern eine Idee, als praktisches Vernunft-
prinzip, aussagt: der jetzt bestehenden gesetzgebenden
Gewalt gehorchen zu sollen; ihr Ursprung mag sein,
welcher er wolle.
Hieraus folgt nun der Satz: der Herrscher im Staate
hat gegen den Unterthan lauter Rechte und keine
(Zwangs-) Pflichten. — Ferner, wenn das Organ des
Herrschers, der Regent, auch den Gesetzen zuwider
verführe, z. B. mit Auflagen, Rekrutirungen u. dgl.
wider das Gesetz der Gleichheit in Vertbeilung der
Staatslasten, so d^rf der Unterthan dieser Ungerechtig-
1. Abschn.. Das Staatsrecht. Allg. Anm. 159
keit zwar Beschwerden {gravamina), aber keinen
Widerstand entgegensetzen.
Ja es kann auch selbst in der Konstitution kein
Artikel enthalten sein, der es einer Gewalt im Staate
möglich machte, sich, im Fall der Uebertretung der
Konstitutionalgesetze durch den obersten Befehlshaber,
ihm zu widersetzen, mithin ihn einzuschränken. Denn
der, welcher die Staatsgewalt einschränken soll, muss
doch mehr oder wenigstens gleiche Macht haben, als
derjenige, welcher eingeschränkt wird, und als ein
rechtmässiger Gebieter, der den Unterthanen betöhle,
sich zu widersetzen, muss er sie auch schützen können,
und in jedem vorkommenden Falle rechtskräftig urtheilen,
mithin öffentlich den Widerstand befehligen können.
Alsdann ist aber nicht jener, sondern dieser der oberste
Befehlshaber ; welches sich widerspricht. Der Souverain
verfährt alsdann durch seinen Minister zugleich als Re-
gent, mithin despotisch, und das Blendwerk, das Volk
durch die Deputirten desselben die einschränkende Ge-
walt vorstellen zu lassen (da es eigentlich nur die ge-
setzgebende hat), kann die Despotie nicht so verstecken,
dass sie aus den Mitteln, deren sich der Minister be-
dient, nicht hervorblickte. Das Volk, das durch seine
Deputirte (im Parlament) repräsentirt wird, hat an diesen
Gewährsmännern seiner Freiheit und Rechte Leute, die
für sich und ihre Familien, und dieser ihre vom Minister
abhängigen Versorgung, in Armeen, Flotte und Civil-
ämtern lebhaft interessirt sind, und die (statt des Wider-
standes gegen die Anmassung der Regierung, dessen
öffentliche Ankündigung ohnedem eine dazu schon vor-
bereitete Einhelligkeit im Volke bedarf, die aber im
Frieden nicht erlaubt sein kann) vielmehr immer bereit
sind, sich selbst die Regierung in die Hände zu spielen.
— Also ist die sogenannte gemässigte Staatsverfassung,
als Konstitution des Innern Rechts des Staats, ein Un-
ding und, anstatt zum Recht zu gehören, nur ein Klug-
heitsprinzip, um, so viel als möglich, dem mächtigen
Uebertreter der Volksrechte seine willkürlichen Einflüsse
auf die Regierung nicht zu erschweren, sondern unter
dem Schein einer dem Volke verstatteten Opposition zu
bemänteln.
Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats giebt
IQQ Rechtslehre. 11. Theil. Das cflfentliche Recht.
es also keinen rechtmässigen Widerstand des Volks:
denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemein-
gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand mög-
lich; also kein Recht des Aufstandes [seditio), noch
weniger des Aufruhrs (rehellid)^ am allerwenigsten
gegen ihn, als einzelne Person (Monarch), unter dem
Vorwande des Missbrauchs seiner Gewalt {tyrannis)j
Vergreifung an seiner Person, ja an seinem Leben
{jnonarchomacJdsmus sub sjyecie tyramiicidii). Der ge-
ringste Versuch hferzu ist Hochverrath {iwoditio
eminens), und der Verräther dieser Art kann als einer,
der sein Vaterland umzubringen versucht {parri-
cida)y nicht minder, als mit dem Tode bestraft werden.
Der Grund der Pflicht des Volks, einen, selbst
den für unerträglich ausgegebenen Missbrauch der
obersten Gewalt dennoch zu ertragen, liegt darin: dass
sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst
niemals anders, als gesetzwidrig, ja als die ganze ge-
setzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muss.
Denn um zu demselben befugt zu sein, müsste ein
öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Wider-
stand des Volks erlaubte, d. i. die oberste Gesetzgebung
enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu
sein, und das Volk, als Ünterthan, in einem und dem-
selben Urtheile zum Souverain über den zu machen,
dem es unterthänig ist; welches sich widerspricht, und
wovon der Widerspruch durch die Frage alsbald in die
Augen fällt: wer denn in diesem Streit zwischen Volk
und Souverain Richter sein sollte? (denn es sind, recht-
lich betrachtet, doch immer zwei verschiedene moralische
Personen) wo sich dann zeigt, dass das erstere es in
seiner eigenen Sache sein will.'^)
*' Weil die Entthronung eines Monarchen doch auch
als freiwillige Ablegung der Krone und Niederlegung
seiner Gewalt, mit Zurückgebung derselben an das Volk
gedacht werden kann, oder auch als eine, ohne Vergreifung
an der höchsten Person, vorgenommene Verlassung der-
selhen, wodurch sie in den Privatstand versetzt werden
würde, so hat das Verbrechen des Volks, welches sie er-
zwang, doch noch wenigstens den Vorwand des Noth-
rechts {casus necessitatis für sich, niemals aber das min-
1. Abschn. Das Staatsrecht. Allg. Anm. IQl
Eine Veränderung der (fehlerhaften) Staatsverfassung,
die wohl bisweilen nöthig sein mag, — kann also nur
deste Recht, ihn, das Oberhaupt, wegen der vorigen Ver-
waltung zu strafen; weil alles, was er vorher in der Qualität
eines Oberhaupts that, als äusserlich rechtmässig geschehen
angesehen werden muss, und er selbst, als Quell der Ge-
setze betrachtet, nicht Unrecht thun kann. Unter allen
Gräueln einer Staatsunowälzung durch Aufruhr ist selbst
die Ermordung des Monarchen noch nicht das Aergste;
denn noch kann man sich vorstellen, sie geschehe vom
Volk aus Furcht, er könne, wenn er am Leben bleibt, sich
wieder ermannen und jenes die verdiente Strafe fühlen
lassen, und solle also nicht eine Verfügung der Strafge-
rechtigkeit, sondern bloss der Selbsterhaltung sein. Die
formale Hinrichtung ist es, was die mit Ideen des Men-
schenrechts erfüllte Seele mit einem Schaudern ergreift,
das man wiederholentlich fühlt, sobald und so oft man sich
diesen Auftritt denkt, wie das Schicksal Carl's I. oder
Ludwig's XVI. Wie erklärt man sich aber dieses Gefühl, was
hier nicht ästhetisch (ein Mitgefühl, Wirkung der Einbil-
dungskraft, die sich in die Stelle des Leidenden versetzt),
sondern moralisch, der gänzlichen Umkehrung aller Rechts-
begriffe ist? Es wird als Verbrechen, was ewig bleibt, und
nie ausgetilgt werden kann {crimen immortale, inerpiabile),
angesehen und scheint demjenigen ähnlich zu sein, was die
Theologen diejenige Sünde nennen, welche weder in dieser,
noch in jener Welt vergeben werden kann. Die Erklärung
dieses Phänomens im menschlichen Gemüthe scheint aus
folgenden Reflexionen über sich selbst, die selbst auf die
staatsrechtlichen Prinzipien ein Licht werfen, hervorzu-
gehen.
Eine jede Uebertretung des Gesetzes kann und muss
nicht anders, als so erklirrt werden, dass sie aus einer
Maxime des Verbrechers (sich eine solche Unthat zur Re-
gel zu machen) entspringe; denn wenn man sie von einem
sinnlichen Antrieb ableitete, so wäre sie nicht von ihm,
als einem freien Wesen, begangen und könnte ihm nicht
zugerechnet werden; wie es aber dem Subjekt möglich ist,
eine solche Maxime wider das klare Verbot der gesetzge-
benden Vernunft zu fassen, lässt sich schlechterdings nicht
erklären; denn nur die Begebenheiten nach dem Mechanis-
mus der Natur sind erklärungsfähig. Nun kann der Ver-
brecher seine Unthat entweder nach der Maxime einer an-
genommenen objektiven Regel (als allgemein geltend), oder
nur als Ausnahme von der Regel (sich davon gelegentlich
Kant , Metaphysik der Sitten. 11
162 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
vom Souverain selbst durch Reform, aber nicht vom
Volk, mithin durch Revolution verrichtet werden, und
wenn sie geschieht, so kann jene nur die ausübende
zu dispensiren) begehen; im letzteren Falle weicht er
nur (obzwar vorsätzlich) vom Gesetz ab; er kann seine
eigene Uebertretung zuj^leich verabscheuen und, ohne dem
Gesetz förmlich den Gehorsam aufzukündigen, es nur um-
gehen wollen; im erstereu aber verwirft er die Auctorität
des Gesetzes selbst, dessen Gültigkeit er sich doch vor
seiner Vernunft nicht ableugnen kann, und macht es sich
zur Regel, wider dasselbe zu handeln; seine Maxime ist
also nicht bloss erm an gelungs weise (iiegatice), sondern
sogar abbruchsweise (contrarie) oder, wie man sich aus-
drückt, diametraliter, als Widerspruch (gleichsam feind-
selig) dem Gesetz entgegen. So viel wir einsehen, ist eiu
dergleichen A'erbrechen einer förmlichen (ganz nutzlosen)
Bosheit zu begehen, Menschen unmöglich, und doch (ob-
zwar blosse Idee des Aeusserst-Bösen) in einem System
der Moral nicht zu übergehen.
Der Grund des Schauderhaften, bei dem Gedanken von
der förmlichen Hinrichtung eines Monarchen durch sein
Volk, ist also der, dass der Mord nur als Ausnahme
von der Regel, welche dieses sich zur Maxime machte, die
Hinrichtung aber als eine völlige Umkehrung der
Prinzipien des Verhältnisses zwischen Souverain und Volk
(dieses, was sein Dasein nur der Gesetzgebung des ersteren
zu verdanken hat, zum Herrscher über jenen zu machen)
gedacht werden muss, und so die Gewaltthiitigkeit mit
dreister Stirn und nach Grundsätzen über das heiligste
Recht erhoben wird; welches, wie ein alles ohne Wieder-
kehr verschlingender Abgrund, als ein vom Staate an ihm
verübter Selbstmord, ein keiner Entsündigung fähiges Ver-
brechen zu sein scheint. Man hat also Ursache anzunehmen,
dass die Zustimmung zu solchen Hinrichtungen wirklich
nicht aus einem vermeint-rechtlichen Prinzip, sondern aus
Furcht vor Rache des vielleicht dereinst wif^dcrauflebenden
Staats am Volk herrührte, und jene Förmlichkeit nur vor-
genommen worden, um jener That den Anstrich von Be-
strafung, mithin eines rechtlichen Verfahrens (der-
gleichen der Mord nicht sein würde) zu geben, welche Be-
mäntelung aber verunglückt, weil eine solche Anmassung
des Volks noch ärger ist, als selbst der Mord, da diese
einen Grundsatz enthält, der selbst die Wiedi^-erzeugung
emes umgestüraten Staats unmöglich machen müsste.
1. Abschn. Das Staatsrecht. Allg. Anm. 153
Gewalt, nicht die gesetzgebende, treffen. — In einer
Staatsverfassung, die so beschaffen ist, dass das Volk
durch seine Repräsentanten (im Parlament) jener und
dem Repräsentanten derselben (dem Minister) gesetzlich
widerstehen kann, — welche dann eine eingeschränkte
Verfassung heisst, — ist gleichwohl kein aktiver Wider-
stand (der willkürlichen Verbindung des Volks, die Re-
gierung zu einem gewissen thätigen Verfahren zu zwin-
gen, mithin selbst einen Akt der ausübenden Gewalt
zu begehen), sondern nur ein negativer Widerstand,
d. i. Weigerung des Volks (im Parlament), und erlaubt
jener, in den Forderungen, die sie zur Staatsverwaltung
nöthig zu haben vorgiebt, nicht immer zu willfahren;
vielmehr wenn das Letztere geschähe, so wäre es ein
sicheres Zeichen, dass das Volk verderbt, seine Reprä-
sentanten erkäuflich, und das Oberhaupt in der Regierung
durch seinen Minister despotisch, dieser selbst aber ein
Verräther des Volks sei.
Uebrigens, wenn eine Revolution einmal gelungen
und eine neue Verfassung gegründet ist, so kann die
Unrechtmässigkeit des Beginnens und der Vollführung
derselben die ünterthanen von der Verbindlichkeit, der
neuen Ordnung der Dinge sich, als gute Staatsbürger,
zu fügen, nicht befreien, und sie können sich nicht
weigern, derjenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die
jetzt Gewalt hat. Der entthronte Monarch (der jene
Umwälzung überlebt) kann wegen seiner vorigen Ge-
scViäftsführung nicht in Anspruch genommen, noch weniger
aber gestraft werden, wenn er in den Stand eines Staats-
bürgers zurücktretend, seine und des Staats Ruhe dem
Wagstücke vorzieht, sich von diesem zu entfernen, um
als Prätendent das Abenteuer der Wiedererlangung
desselben, es sei durch ingeheim angestiftete Gegen-
revolution, oder durch Beistand anderer Mächte zu be-
stehen. Wenn er aber das Letztere vorzieht, so bleibt
ihm, weil der Aufruhr, der ihn aus seinem Besitz ver-
trieb, ungerecht war, sein Recht an demselben unbe-
nommen. Ob aber andere Mächte das Recht haben,
sich, diesem verunglückten Oberhaupt zum Besten, in
ein Staatenbündniss zu vereinigen, bloss um jenes vom
Volk begangene Verbrechen nicht ungeahndet, noch als
Skandal für alle Staaten bestehen zu lassen, mithin eine
11*
154 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
in jedem anderen Staat durch Revolution zu Stande
gekommene Verfassung in ihre alte mit Gewalt zurück-
zubringen berechtigt und berufen seien^ das gehört zum
Völkerrecht. ■'1)
B.
Kann der Beherrscher als Obereigenthümer (des
Bodens), oder muss er nur als Oberbefehlshaber in An-
sehung des Volks durch Gesetze betrachtet werden?
Da der Boden die oberste Bedingung ist, unter der allein
es möglich ist, äussere Sachen als das Seine zu haben^
deren möglicher Besitz und Gebrauch das erste erwerb-
liche Recht ausmacht, so wird von dem Souverain, als
Landesherrn, besser als Obereigenthümer {dominus
territorii)j alles solche Recht abgeleitet werden müssen.
Das Volk, als die Menge der Unterthanen, gehört ihm
auch zu (es ist sein Volk), aber nicht ihm, als Eigen-
thümer (nach dem dinglichen), sondern als Oberbefehls-
haber (nach dem persönlichen Recht). — Dieses Ober-
eigenthum ist aber nur eine Idee des bürgerlichen Ver-
eins, um die nothwendige Vereinigung des Privateigen-
thujus Aller im Volk unter einem öffentlichen allgemeinen
Besitzer, zu Bestimmung des besonderen Eigenthums,
nicht nach Grundsätzen der Aggregation (die von
den Theilen zum Ganzen empirisch fortschreitet), son-
dern von dem nothwendigen formalen Prinzip derEin-
theilung (Division des Bodens) nach Rechtsbegriffen
vorstellig zu machen. Nach diesen kann der Ober-
eigenthümer kein Privateigentlnim an irgend einem
Boden haben (denn sonst machte er sich zu einer Privat-
person), sondern dieses gehört nur dem Volk (und zwar
nicht kollektiv, sondern distributiv genommen) zu; wo-
von doch ein nomadisch-beherrschtes Volk auszunehmen
ist, als in welchem gar kein Privateigenthum des Bodens
stattfindet. — Der Oberbefehlshaber kann also keine
Domainen, d. i. Ländereien zu seiner Privatbenutzung
(zu Unterhaltung des Hofes) haben. Denn weil es als-
dann auf sein eigen Gutbefinden ankäme, wie weit sie
ausgebreitet sein sollten, so würde der Staat Gefahr
laufen, alles Eigeuthum des Bodens in den Händen der
Regierung zu sehen, und alle Unterthanen als grund-
1. Abschn. Das Staatsrecht. Allg. Anm. 165
unter thänig {glehae adscripti) und Besitzer von dem,
was immer nur Eigenthum eines Anderen ist, folglich
aller Freiheit beraubt {servi) anzusehen. — Von einem
Landesherrn kann man sagen: er besitzt nichts^ (zu
eigen), ausser sicli selbst; denn wenn er neben einem
Anderen im Staat etwas zu eigen hätte, so würde mit
diesem ein Streit möglich sein, zu dessen Schlichtung
kein Richter wäre. Aber man kann auch sagen: er
besitzt alles; weil er das Befehlshaberrecht über das
Volk hat (jedem das Seine zu Theil kommen zu lassen)^
dem alle äussere Sachen (cUvisim) zugehören.
Hieraus folgt: dass es auch keine Korporation im
Staate, keinen Stand und Orden geben könne, der als
Eigenthümer den Boden zur alleinigen Benutzung den
folgenden Generationen (ins Unendliche) nach gewissen
Statuten überliefern könne. Der Staat kann sie zu
aller Zeit aufheben, nur unter der Bedingung, die Ueber-
lebenden zu entschädigen. Der Ritterorden (als Kor-
poration, oder auch bloss Rang einzelner, vorzüglich
beehrter Personen); der Orden der Geistlichkeit, die
Kirche genannt, können nie durch diese Vorrechte, wo-
mit sie begünstigt worden, ein auf IS^achfolger übertrag-
bares Eigenthum am Boden, sondern nur die einst-
weilige Benutzung desselben erwerben. Die Komthureien
auf einer, die Kirchengüter auf der anderen Seite können,
wenn die öffentliche Meinung wegen der Mittel, durch
die Kriegs ehre den Staat wider die Lauigkeit in
Vertheidigung desselben zu schützen, oder die Menschen
in demselben durch Seelmessen, Gebete und eine Menge
zu bestellender Seelsorger, um sie vor dem ewigen
Feuer zu bewahren, anzutreiben, aufgehört hat, ohne
Bedenken (doch unter der vorgenannten Bedingung) auf-
gehoben werden. Die, so hier in die Reform fallen,
können nicht klagen, dass ihnen ihr Eigenthum ge-
nommen werde; denn der Grund ihres bisherigen Be-
sitzes lag nur in der Volksmeinung, und musste
auch, so lange diese fortwährte, gelten. Sobald diese
aber erlosch, und zwar auch nur in dem Urtheil der-
jenigen, welche auf Leitung desselben durch ihr Ver-
dienst den grössten Anspruch haben, so musste, gleich-
sam als durch eine Appellation desselben an den Staat
Ißß Rechtslehre, ü. Theil. Das öfifentliche Recht.
(a rege male informato ad regem melius inform.andum)y
4as vermeinte Eigenthum aufhören.
Auf diesem ursprünglich erworbenen Grundeigen-
thume beruht das Recht des Oberbefehlshabers, als Ober-
eigenthtimers (des Landesherrn), die Privateigenthümer
des Bodens zu beschatzen, d. i. Abgaben durch die
Landtaxe, Accise und Zölle, oder Dienstleistung (der-
gleichen die Stellung der Mannschaft zum Kriegsdienst
ist) zu fordern: so doch, dass das Volk sich selber be-
schatzt, weil dieses die einzige Art ist, hierbei nach
Rechtsgesetzen zu verfahren, wenn es durch das Corps
der Deputirten desselben geschieht, auch als gezwungene
(von dem bisher bestandenen Gesetz abweichende) An-
leihe, nach dem Majestätsrechte, als in einem Falle, da
der Staat in Gefahr seiner Auflösung kommt, erlaubt ist.
Hierauf beruht auch das Recht der Staatswirthschaft,
<1es Finanzwesens und der Polizei, welche letztere die
öffentliche Sicherheit, Gemächlichkeit und An-
ständigkeit besorgt; denn dass das Gefühl für diese
{sensus decm'i), als negativer Geschmack, durch Bettelei,
Lärmen auf Strassen, Gestank, öffentliche Wollust {venus
volgivaga)y als Verletzungen des moralischen Sinnes
nicht abgestumpft werde, erleichtert der Regierung gar
sehr ihr Geschäft, das Volk durch Gesetze zu lenken.
Zu Erhaltung des Staats gehört auch noch ein Drittes:
nämlich das Recht der Aufsicht {jus inspectiards),
dass ihm nämlich keine Verbindung, die aufs öffent-
liche Wohl der Gesellschaft (publicum) Einfluss haben
kann (von Staats- oder Religions-Illuminaten), verheim-
licht, sondern, wenn es von der Polizei vorlangt wird,
die Eröffnung ihrer Verfassung nicht geweigert werde.
Die aber der Untersuchung der Privatbehausung eines
Jeden ist nur ein Nothfall der Polizei, wozu sie durch
eine höhere Auctorität in jedem besonderen Falle be-
rechtigt werden muss.''^)
C.
Dem Oberbefehlshaber steht indirekt, d. i. als
Uebernehmer der Pflicht des Volks, das Recht zu, dieses
mit Abgaben zu seiner (des Volks) eigenen Erhaltung
zu belasten, als da sind: das Armen wesen, die
1. Abschn. Das Staatsrecht. Allg. Anm. 157
Findelhäuser und das Kirchenwesen, sonst milde
oder fromme Stiftungen genannt.
Der allgemeine Volkswille hat sich nämlich zu einer
Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend er-
halten soll, und zu dem Ende sich der inneren Staats-
gewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft,
die es selbst nicht vermögen, zu erhalten. Von Staats-
wegen ist also die Regierung berechtigt, die Vermögen-
den zu nöthigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen,
die es, selbst den nothwendigsten Naturbedürfnissen
nach, nicht sind, herbeizuschaffen; weil ihre Existenz
zugleich als Akt der Unterwerfung unter den Schutz
und die zu ihrem Dasein nöthige Vorsorge des gemeinen
Wesens ist, wozu sie sich verbindlich gemacht haben,
auf welche der Staat nun sein Recht gründet, zur Er-
haltung ihrer Mitbürger das Ihrige beizutragen. Das
kann nun geschehen: durch Belastung des Eigenthums
der Staatsbürger, oder ihres Handelsverkehrs, oder durch
errichtete Fonds und deren Zinsen, nicht zu Staats-
(denn der ist reich), sondern zu Volksbedürfnissen; aber
nicht bloss durch freiwillige Beiträge (weil hier nur
vom Rechte des Staats gegen das Volk die Rede ist),
worunter einige gewinnsüchtige sind (als Lotterien, die
mehr Arme und dem öffentlichen Eigenthume Gefähr-
liche machen, als sonst sein würden, und die also nicht
erlaubt sein sollten), sondern zwangsmässig, als Staats-
lasten. Hier fragt sich nun: ob die Versorgung der
Armen durch laufende Beiträge, so dass jedes Zeit-
alter die Seinigen ernährt, oder durch Bestände und
üoerhaupt fromme Stiftungen (dergleichen Wittwen-
liäuser, Hospitäler u. dgl. sind), und zwar jenes nicht
durch Bettelei, welche mit der Räuberei nahe verwandt
ist, sondern durch gesetzliche Auflage ausgerichtet wer-
den soll? — Die erstere Anordnung muss für die ein-
zige, dem Rechte des Staats angemessene, der sich
xNiemand entziehen kann, der zu leben hat, gehalten
werden; weil sie nicht (wie von frommen Stiftungen zu
besorgen ist), wenn sie mit der Zahl der Armen an-
wachsen, das Armsein zum Erwerbmittel für faule Men-
schen machen, und so eine ungerechte Belästigung
des Volks durch die Regierung sein würden.
Was die Erhaltung der aus Noth oder Scham aus-
168 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
gesetzten, oder wohl gar darum ermordeten Kinder be-
trifft, so hat der Staat ein Recht, das Volk mit der
Pflicht zu belasten, diesen, obzwar unwillkommenen Zu-
wachs des Staatsvermögens nicht wissentlich umkommen
zu lassen. Ob dieses aber durch Besteuerung der Hage-
stolzen beiderlei Geschlechts (worunter die vermögen-
den Ledigen verstanden werden) als solche, die daran
doch zum Theil Schuld sind, vermittelst dazu errichteter
Findelhäuser, oder auf andere Art mit Recht geschehen
könne (ein anderes Mittel, es zu verhüten, möchte es
aber schwerlich geben); ist eine Aufgabe, deren Lösung,
ohne entweder wider das Recht, oder die Moralität za
Verstössen, bisher noch nicht gelungen ist.
Da auch das Kii-chenwesen, welches von der Re-
ligion, als innerer Gesinnung, die ganz ausser dem Wir-
kungskreise der bürgerlichen Macht ist, sorgfältig unter-
schieden werden muss (als Anstalt zum öffentlichen
Gottesdienste für das Volk, aus welchem dieser auch
seinen Ursprung hat, es sei Meinung oder Ueberzeugung),
ein wahres Staatsbedürfniss wird, sich auch als Unter-
thar.en einer höchsten unsichtbaren Macht, der sie
huldigen müssen, und die mit der bürgerlichen oft in
einen sehr ungleichen Streit kommen kann, zu betrachten ;
so hat der Staat das Recht, nicht etwa der inneren
Konstitutional - Gesetzgebung, das Kirchen wesen nach
seinem Sinne, wie es ihm vortheilhaft dünkt, einzu-
richten, den Glauben und gottesdienstliche Formen {i'itus)
dem Volke vorzuschreiben oder zu befehlen (denn dieses
muss gänzlich den Lehrern und Vorstehern, die es sich
selbst gewählt hat, überlassen bleiben), sondern nur das
negative Recht, den Einfluss der öffentlichen Lehrer auf
das sichtbare, politische gemeine Wesen, der der öffent-
lichen Ruhe uachtheilig sein möchte, abzuhalten, mithin bei
dem inneren Streit, oder dem der verschiedenen Kirchen
unter einander, die bürgerliche Eintracht nicht in Ge-
fahr kommen zu lassen, welches also ein Recht der
Polizei ist. Dass eine Kirche einen gewissen Glauben,
und welchen sie haben, oder dass sie ihn unabänderlich
erhalten müsse und sich nicht selbst reformiren dürfe,
sind Einmischungen der obrigkeitlichen Gewalt, die
unter ihrer Würde sind; weil sie sich dabei, als
einem Schulgezänke, auf den Fuss der Gleichheit mit
1. Abschn. Das Staatsrecht. Allg. Anm. \Q^
ihren Unterthanen einlässt (der Monarch sich zum Priester
macht), die ihr geradezu sagen können, dass sie hier-
von nichts verstehe; vornehmlich was das Letztere, näm-
lich das Verbot innerer Reformen betrifft; — denn was
das gesammte Volk nicht über sich selbst bescliliessen
kann, das kann auch der Gesetzgeber nicht über
das Volk beschliessen. Nun kann aber kein Volk
beschliessen, in seinen, den Glauben betreffenden Ein-
sichten (der Aufklärung) niemals weiter fortzuschreiten,
mithin auch sich in Ansehung des Kirchenwesens nie
zu reformiren ; weil dies der Menschheit in seiner eigenen
Person, mithin dem höchsten Rechte desselben entgegen
sein würde. Also kann es auch keine obrigkeitliche
Gewalt über das Volk beschliessen. Was aber
die Kosten der Erhaltung des Kirchenwesens betrifft,
so können diese, aus ebenderselben Ursache, nicht dem
Staate, sondern müssen dem Theile des Volks, der sicli
zu einem oder dem anderen Glauben bekennt, d. i. nur
der Gemeine zu Lasten kommenJ'^)
D.
Das Recht des obersten Befehlshabers im Staate
geht auch 1) auf Vertheilung der Aemter, als mit
einer Besoldung verbundener Geschäftsführung; 2) der
Würden, die, als Standeserhöhungen ohne Sold, d. i.
Rangertheilung der Oberen (der zum Befehlen) in An-
sehung der Niederen (die, obzwar als freie und nur
durchs öffentliche Gesetz verbindliche, doch jenen zu
gehorsamen zum voraus bestimmt sind), bloss auf Ehre
iundirt sind — und 3) ausser diesem (respektiv-wohl-
thätigen) Recht, auch aufs Strafrecht.
Was ein bürgerliches Amt anlangt, so kommt hier
die Frage vor: hat der Souverain das Recht, einem, dem
er ein Amt gegeben, es nach seinem Gutbefinden (ohne
ein Verbrechen von Seiten des letzteren) wieder zu
nehmen? Ich sage, nein! Denn was der vereinigte
Wille des Volks über seine bürgerlichen Beamten
nie beschliessen wird, das kann auch das Staats-
oberhaupt über ihn nicht beschliessen. Nun will das
Volk (das die Kosten tragen soll, welche die An-
setzung eines Beamten ihm machen wird), ohne allen
170 ßechtslehre. 11. Theil. Das öffentliche Recht.
Zweifel, dass dieser seinem ihm auferlegten Geschäfte
völlig gewachsen sei; welches aber nicht anders, als
durch eine hinlängliche Zeit hindurch fortgesetzte Vor-
bereitung und Erlernung desselben, über der er diejenige
versäumt, die er zur Erlernung eines anderen, ihn
nährenden Geschäfts hätte verwenden können, geschehen
kann ; mithin würde, in der Regel, das Amt mit Leuten
versehen werden, die keine dazu erforderliche Geschick-
lichkeit und durch Uebung erlangte reife Urtheilskraft
erworben hätten; welches der Absicht des Staats zu-
wider ist, als zu welcher auch erforderlich ist, dass jeder
vom niedrigeren Amte zu höheren (die sonst lauter Un-
tauglichen in die Hände fallen würden) steigen, mit-
hin auch auf lebenswierige Versorgung müsse rechnen
können.
Die Würde betreffend, nicht bloss die, welche ein
Amt bei sich führen mag, sondern auch die, welche den
Besitzer auch ohne besondere Bedienungen zum Gliede
eines höheren Standes macht, ist der Adel, der vom
bürgerlichen Stande, in welchem das Volk ist, unter-
schieden, den männlichen Naclikommen anerbt, durch
diese auch wohl den weiblichen unadeliger Geburt, nur
so, dass die Adelig-geborne ihicm unadeligen Ehemann
nicht umgekehrt diesen Rang mittheilt, sondern selbst
in den bloss bürgerlichen (des Volks) zurückfällt. — Die
Frage ist nun: ob der Souverain einen Adelsstand, als
einen erblichen Mittelstand zwischen ihm und den
übrigen Staatsbürgern, zu gründen berechtigt sei? In
dieser Frage kommt es nicht darauf an : ob es der Klug-
heit des Souverains, wegen seines und des Volks Vor-
theils, sondern nur, ob es dem Rechte des Volks gemäss
sei, einen Stand von Personen über sich zu haben, die
zwar selbst ünterthanen, aber doch in Ansehung des
Volks geborne Befehlshaber (wenigstens Privileglrte)
sind. — — Die Beantwortung derselben geht nun hier,
eben so wie vorher, aus dem Prinzip hervor: „was das
Volk (die ganze Masse der ünterthanen) nicht über sich
selbst und seine Genossen beschliessen kann, das kann
auch der Souverain nicht über das Volk beschliessen."
Kun ist ein an geerbter Adel ein Rang, der vor dem
Verdienste vorher geht und dieses auch mit keinem
Grunde hoffen lässt, ein Gedankending, ohne alle Re-
1. Abschn. Das Staatsrecht. AUg. Anm. X71
alität. Denn wenn der Vorfahr Verdienste liatte, so
konnte er dieses doch nicht auf seine Nachkommen ver-
erben, sondern diese mussten es sich immer selbst er-
werben ; da die Natur es nicht so fügt, dass das Talent
und der Wille, welche Verdienste um den Staat mög-
lich machen, auch an arten. Weil nun von keinem
Menschen angenommen werden kann, er werde seine
Freiheit wegwerfen, so ist es unmöglich, dass der all-
gemeine Volks wille zu einem solchen grundlosen Präro-
gativ zusammenstimme, mithin kann der Souverain es
auch nicht geltend machen. Wenn indessen gleich
eine solche Anomalie in das Maschinenwesen einer Re-
gierung von alten Zeiten (des Lehnswesens, das fast
gänzlich auf den Krieg angelegt war) eingeschlichen,
von ünterthanen, die mehr als Staatsbürger, nämlich
geborne Beamte (wie etwa ein Erbprofessor), sein wollen,
so kann der Staat diesen von ihm begangenen Fehler
eines widerrechtlich ertheilten Vorzugs nicht anders, als
durch Eingehen und Nichtbesetzung der Stellen allmälig
wiederum gut machen, und so hat er provisorisch ein
Kecht, diese Würde dem Titel nach fortdauern zu lassen,
bis selbst in der öffentlichen Meinung die Eintheilung
in Souverain, Adel und Volk der einzigen natürlichen
in Souverain und Volk Platz gemacht haben wird.
Ohne alle Würde kann nun wohl kein Mensch im
Staate sein, denn er hat wenigstens die des Staats-
bürgers; ausser wenn er sich durch sein eigenes Ver-
brechen darum gebracht hat, da er dann zwar im
Leben erhalten, aber zum blossen Werkzeuge der Will-
kür eines Anderen (entweder des Staats, oder eines
anderen Staatsbürgers) gemacht wird. Wer nun das
letztere ist (was er nur durch Urtheil und Recht wer-
den kann), ist ein Leibeigener (servus in sensu stricto)
und gehört zum Eigenthum {clominium) eines Anderen,
der daher nicht bloss sein Herr (herus), sondern auch
sein Eigenthum er {dominus) ist, der ihn als eine
Sache veräussern und nach Belieben (nur nicht zu
schandbaren Zwecken) brauchen, und über seine
Kräfte, wenngleich nicht über sein Leben und Glied-
massen verfügen (disponiren) kann. Durch einen
Vertrag kann sich Niemand zu einer solchen Abhängig-
keit verbinden, dadurch er aufhört, eine Person zu sein :
172 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
tlenn nur als Person kann er einen Vertrag machen.
Nun scheint es zwar, ein Mensch könne sich zu ge-
wissen, der Qualität nach erlaubten, dem Grade nach
aber unbestimmten Diensten gegen einen Andern
(für Lohn, Kost, oder Schutz) verpflichten, durch einen
Verdingungsvertrag (locatio conductio), und er werde
dadurch bloss Unterthan (subjectus), nicht Leibeigener
(servus); allein das ist nur ein falscher Schein. Denn
wenn sein Herr befugt ist, die Kräfte seines Unterthans
nach Belieben zu benutzen, so kann er sie auch (wie
es mit den Negern auf den Zuckerinseln der Fall ist)
erschöpfen, bis zum Tode oder der Verzweiflung, und
jener hat sich seinem Hen*n wirklich als Eigenthum
weggegeben; welches unmöglich ist. — Er kann sich
also nur zu, der Qualität und dem Grade nach bestimm-
ten Arbeiten verdingen: entweder als Tagelöhner, oder
ansässiger Unterthan; im letzteren Fall, dass er theils,
für den Gebrauch des Bodens seines Herrn, statt des
Tagelohns, Dienste auf demselben Boden, theils für die
eigene Benutzung desselben bestimmte Abgaben (einen
Zins) nach einem Pachtvertrage leistet, ohne sich dabei
zum Gutsunterthan (glebae adscriptus) zu machen,
als wodurch er seine Persönlichkeit einbüssen würde,
mithin eine Zeit- oder Erbpacht gründen kann. Er mag
nun aber durch sein Verbrechen ein persönlicher
Unterthan geworden sein, so kann diese Unterthänigkeit
ihm doch nicht an erben; weil er sie sich nur durcii
seine eigene Schuld zugezogen hat, und eben so wenig
kann der von einem Leibeigenen Erzeugte wegen der
Erziehungskosten, die er gemacht hat, in Anspruch ge-
nommen werden, weil Erziehung eine absolute Natur-
pflicht der Eitern und im Falle, dass diese Leibeigene
waren, der Herren ist, welche mit dem Besitz ihrer
Unterthanen auch die Pflichten derselben übernommen
haben.'<4)
E.
Vom 8ti'af- imd Begnadigungsrecht.
I.
Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers
gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens
1. Abschn. Das Staatsrecht. Allg. Anm. 173
mit einem Schmerz zu belegen. Der Oberste im Staate
kann also nicht bestraft werden, sondern man kann sich
nur seiner Herrschaft entziehen. — Diejenige Ueber-
tretung des öflfentlichen Gesetzes, die den, welcher sie
begeht, unfähig macht, Staatsbürger zu sein, heisst Ver-
brechen schlechthin {crimen)^ aber auch ein öffentliches
Verbrechen [cHmen publicum) ; daher das erstere (das
Privatverbrechen) vor die Civil-, das andere vor die
Kriminalgerechtigkeit gezogen wird. — Veruntreuung,
d. i. Unterschlagung der zum Verkehr anvertrauten Gel-
der oder Waaren, Betrug im Kauf und Verkauf, bei
sehenden Augen des Anderen, sind Privatverbrechen.
Dagegen sind: falsch Geld oder Wechsel zu machen,
Diebstahl und Raub u. dgl. öffentliche Verbrechen, weil
das gemeine Wesen und nicht bloss eine einzelne Per-
son dadurch gefährdet wird. — Sie könnten in die der
niederträchtigen Gemüthsart {indoUs abjectae) und
die der gewaltthätigen {indolis violentae) eingetheilt
werden.
Richterliche Strafe (poena forensis), die von
der natürlichen {pyoena naturalis)^ dadurch das Laster
sich selbst bestraft und auf welche der Gesetzgeber gar
nicht Hücksicht nimmt, verschieden, kann niemals blos-i
als Mitte], ein anderes Gute zu befördern, für den Ver-
brecher sel'ist, oder für die bürgerliche Gesellschaft,
sondern muss jederzeit nur darum wider ihn verhängt
werden, weil er verbrochen hat; denn der Menscli
kann nie bloss als Mittel zu den Absichten eines Anderen
gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts
gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persön-
lichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüssen
gar wohl verurtheilt werden kann. Er muss vorher
strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird,
aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder
seine Mitbürger zu ziehen. Das Strafgesetz ist ein ka-
tegorischer Imperativ, und wehe dem! welcher die
Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durch-
kriecht, um etwas auszufinden, was durch den Vortheil,
den es verspricht, ihn von der Strafe, oder auch nur
einem Grade derselben entbinde, nach dem pharisäischen
Wahlspruch: „es ist besser, dass ein Mensch sterbe,
als dass das ganze Volk verderbe ;" denn wenn die Ge-
174 Rechtslehre. II. Theil. Das öflfentliche Recht.
rechtigkeit untergeht, so hat es keinen Werth mehr^
dass Menschen auf Erden leben. — Was soll man also
von dem Vorschlage halten: einem Verbrecher auf den
Tod das Leben zu erhalten, wenn er sich dazu ver-
stände, an sich gefährliche Experimente machen zu
lassen, und so glücklich wäre, gut durchzukommen; da-
mit die Aerzte dadurch eine neue, dem gemeinen Wesen
erspriessliche Belehrung erhielten? Ein Gerichtshof würde
das medizinische Kollegium, das diesen Vorschlag thäte,
mit Verachtung abweisen; denn die Gerechtigkeit hört
auf, eine zu sein, wenn sie sich für irgend einen Preis
weggiebt.
Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung
ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum
Prinzip und Ptichtmaasse macht? Kein anderes, als das
Prinzip der Gleichheit (im Stande des Züngleins an der
Wage der Gerechtigkeit), sich nicht mehr auf die eine,
als auf die andere Seite hinzuneigen. Also: was für
unverschuldetes Uebel du einem Anderen im Volke zu-
fügst, das thust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn,
so beschimpfst du dich selbst; bestielilst du ihn, so be-
stiehlst du dich selbst; sehlägst du ihn, so schlägst du
dich selbst; tödtest du ihn, so tödtest du dich selbst.
Nur das Wiedervergeltungsrecht {jus talionis),
aber wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts
(nicht in deinem Privaturtheile), kann die Qualität und
Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle andere sind
hin und her schwankend, und können, anderer sich ein-
mischenden Päicksichten wegen keine Angemessenheit
mit dem rpruch der reinen und strengen Gerechtigkeit
enthalter. — Nun scheint es zwar, dass der Unterschied
der Stände das Prinzip der Wiedervergeltung: Gleiches
mit Gleichem, nicht verstatte; aber wenn es gleich n'cht
nach dem Buchstaben möglich sein kann, so kann es
doch der Wirkung nach, respektive auf die Empfindungs-
art der Vornehmeren, immer geltend bleiben. — So hat
z. B. Geldstrafe wegen einer Verbalinjurie gar kein Ver-
hältniss zur Beleidigung; denn der des Geldes viel hat,
kann diese sich wohl einmal zur Lust erlauben, aber
die Kränkung der Ehrliebe des Einen kann doch dem
Wehthun des Hochmuths des Anderen sehr gleich
kommen: wenn dieser nicht allein öffentlich abzubitten
1. Abschn. Das Staatsrecht. Allg. Anm. 175
sondern jenem, ob er zwar niedriger ist, etwa zugleicli
die Hand zu küssen, durch Urtheil und Recht genöthigt
würde. Eben so, wenn der gewaltthätige Vornehme
für die Schläge, die er dem niederen, aber schuldlosen
Staatsbürger zumisst, ausser der Abbitte noch zu einem
einsamen und beschwerlichen Arreste verurtheilt würde,
weil hiemit, ausser der Ungemach lichkeit, noch die
Eitelkeit des Thäters schmerzhaft angegriffen, und so
durch Beschämung Gleiches mit Gleichem gehörig ver-
golten würde. — Was heisst das aber: „bestiehlst du
ihn, so bestiehlst du dich selbst?" Wer da stiehlt,
macht aller Anderer Eigenthum unsicher; er beraubt
sich also (nach dem Rechte der Wiedervergeltung) der
Sicherheit alles möglichen Eigeuthuras; er hat nichts
und kann auch nichts erwerben, will aber doch leben;
v.'elches nun nicht anders möglich ist, als dass ihn An-
dere ernähren. Weil dieses aber der Staat nicht um-
sonst thun wird, so muss er diesem seine Kräfte zu ihm
beliebigen Arbeiten (Karren-, oder Zuchthausarbeit)
überlassen ; und kommt auf gewisse Zeit, oder, nach
Befinden, auch auf immer, in den Sklavens^and. — Hat
er aber gemordet, so muss er sterben. Es giebt hier
kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Es
ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so
kummervollen Leben und dem Tode, also auch keine
Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung,
als durch den am Thäter gerichtlich vollzogenen, docli
von aller Misshandlung, welche die Menschheit in der
leidenden Person zum Scheusal machen könnte, be-
freieten Tod. — Selbst wenn sich die bürgerliche Ge-
sellschaft mit aller Glieder Einstimmung auÜösete (z. B.
das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander
zu 'gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müsste
der letzte im Gefangniss befindliche Mörder vorher hin-
gerichtet werden, damit Jedermann das widerfahre, was
seine Thaten werth sind, und die Blutschuld nicht auf
dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht ge-
drungen hat; weil es als Theilnehmer an dieser öffent-
lichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden
kann.
Diese Gleichheit der Strafen, die allein durch die
Erkenntniss des Richters auf den Tod, nach dem strengen
176 Rechtslehre, n. Theil. Das öffentliche Recht.
WiedervergeltungsrechtC; möglich ist, offenbart sich daran,
dass dadurch allein proportionirlich mit der inneren
Bösartigkeit der Verbrecher das Todesurtheil über
Alle (selbst wenn es nicht einen Mord, sondern ein
anderes nur mit dem Tode zu tilgendes Staatsverbrechen
beträfe) ausgesprochen wird. — Setzet: dass, wie in
der letzten schottischen Rebellion, da verschiedene Theil-
nehmer an derselben (wie Baimerino und Andere)
durch ihre Empörung nichts, als eine dem Hause Stuart
schuldige Pflicht auszuüben glaubten, andere dagegen
Privatabsichten hegten, von dem höchsten Gerichte das
Urtheil so gesprochen worden wäre: ein Jeder solle die
Freiheit der Wahl zwischen dem Tode und der Karren-
strafe haben; so sage ich, der ehrliche Mann wählt den
Tod, der Schelm aber die Karre; so bringt es die Na-
tur des menschlichen Gemüthes mit sich. Denn der
Erstere kennt etwas, was er noch höher schätzt, als
selbst das Leben: nämlich die Ehre; der Andere hält
ein mit Schande bedecktes Leben doch immer noch für
besser, als gar nicht zu sein {aiiimatn 'praefevre 'pudmn.
Juven.) Der Erstere ist nun ohne Widerrede weniger
strafbar als der Andere, und so werden sie durch den
über alle gleich verhängten Tod ganz proportionirlich
bestraft, jener gelinde nach seiner Empfindungsart, und
dieser hart, nach der seinigen; da hingegen, wenn durch-
gängig auf die Karrenstrafe erkannt würde, der Erste
zu hart, der Andere, für seine Niederträchtigkeit, gar
zu gelinde bestraft wäre, und so ist auch hier im Aus-
spruche über eine im Komplott vereinigte Zahl von Ver-
brechern der beste Ausgleicher vor der öffentlichen Ge-
rechtigkeit, der Tod. — Ueberdem hat man nie gehört,
dass ein wegen Mordes zum Tode Verurtheilter sich
beschwert hätte, dass ihm damit zuviel, und also Un-
recht geschehe; jeder würde ihm ins Gesicht lachen,
wenn er sich dessen äusserte. — Man müsste sonst an-
nehmen, dass, wenn dem Verbrecher gleich nach dem
Gesetze nicht Unrecht geschieht, doch die gesetzgebende
Gewalt im Staate diese Art von Strafe zu verhängen
nicht befugt, und, wenn sie es thut, mit sich selbst im
Widerspruch sei.
Soviel also der Mörder sind, die den Mord verübt,
oder auch befohlen, oder dazu mitgewirkt haben, so viele
1. Abschn. Das Staatsrecht. Allg. Anm. 177
müssen auch den Tod leiden; so will es die Gerechtig-
keit als Idee der richterlichen Gewalt nach allgemeinen
a priori begründeten Gesetzen. — Wenn aber doch die
Zahl der Komplicen {correi) zu einer solchen That so
gross ist, dass der Staat, um keine solchen Verbrecher
zu haben, bald dahin kommen könnte, keine Unter -
thanen mehr zu haben, und sich doch nicht auflösen,
d. i. in den noch viel ärgeren, aller äusseren Gerechtig-
keit entbehrenden Naturzustand übergehen (vornehmlich
nicht durch das Spektakel einer Schlachtbank das Ge-
fühl des Volks abstumpfen) will, so muss es auch der
Souverain in seiner Macht haben, in diesem Nothfalle
(casus necessitatis) selbst den Richter zu machen (vor-
zustellen) und ein Urtheil zu sprechen, welches, statt
der Lebensstrafe, eine andere den Verbrechern zuer-
kennt, bei der die Volksmenge noch erhalten wird; der-
gleichen die Deportation ist; dieses selbst aber nicht
als nach einem öffentlichen Gesetze, sondern durch einen
Machtspruch, d. i. einen Akt des Majestätsrechts, der,
als Begnadigung, nur immer in einzelnen Fällen aus-
geübt werden kann.
Hiegegen hat nun der Marchese Beccaria, aus
theilnehmender Empfindelei einer aflfektirten Humanität
{compassibilitas) j seine Behauptung der Unrecht-
mässigkeit aller Todesstrafe aufgestellt; weil sie im
ursprünglichen bürgerlichen Vertrage nicht enthalten
sein könnte; denn da hätte jeder im Volk einwilligen
müssen, sein Leben zu verlieren, wenn er etwa einen
Anderen (im Volk) ermordete; diese Einwilligung aber
sei unmöglich, weil Niemand über sein Leben disponiren
könne. Alles Sophisterei und Rechtsverdrehung.
Strafe erleidet Jemand nicht, weil er sie, sondern
weil er eine strafbare Handlung gewollt hat; denn
es ist keine Strafe, wenn einem geschieht, was er will,
und es ist unmöglich, gestraft werden zu wollen. —
Sagen: ich will gestraft werden, wenn ich Jemand er-
morde, heisst nichts mehr, als: ich unterwerfe mich sammt
allen Üebrigen den Gesetzen, welche natürlicher Weise,
wenn es Verbrecher im Volke giebt, auch Strafgesetze
sein werden. Ich, als Mitgesetzgeber, der das Straf-
gesetz diktirt, kann unmöglich dieselbe Person sein,
die, als Unterthan, nach dem Gesetz bestraft wird; denn
Kant, Metaphysik der Sitten. 12
178 Rechtslehre. 11, Theil. Das öffentliche Recht.
als ein solcher, nämlich als Verbrecher, kann ich un-
möglich eine Stimme in der Gesetzgebung haben (der
Gesetzgeber ist heilig). Wenn ich also ein Strafgesetz
gegen mich, als einen Verbrecher, abfasse, so ist es in
mir die reine rechtlich-gesetzgebende Vernunft (Jiomo
noumenon)y die mich als einen des Verbrechens Fähigen,
folglich als eine andere Person {Jiomo phaenomenon)
sammt allen Uebrigen in einem Bürgervereine dem Straf-
gesetze unterwirft. Mit anderen Worten: nicht das Volk
(jeder Einzelne in demselben), sondern das Gericht (die
Öffentliche Gerechtigkeit), mithin ein Anderer, als der
Verbrecher, diktirt die Todesstrafe, und im Socialkontrakt
ist gar nicht das Versprechen enthalten, sich strafen
zu lassen und so über sich selbst und sein Leben zu
disponiren. Denn wenn der ßefugniss zu strafen ein
Versprechen des Missethäters zum Grunde liegen
müsste, sich strafen lassen zu wollen, so müsste es
diesem auch überlassen werden, sich straffällig zu finden,
und der Verbrecher würde sein eigener Richter sein.
— Der Hauptpunkt des Irrthums {7ig(ÖTov xpevdoq) dieses
Sophisma's besteht darin: dass es das eigene Urtheil
des Verbrechers (das man seiner Vernunft nothwendig
zutrauen muss), des Lebens verlustig werden zu müssen,
für einen Beschluss des Willens ansieht, es sich selbst
zu nehmen, und so sich die Rechtsvollziehung mit der
Rechtsbeurtheilung in einer und derselben Person ver-
einigt vorstellt.
Es giebt indessen zwei todeswürdige Verbrechen, in
Ansehung deren, ob die Gesetzgebung auch die ße-
fugniss habe, sie mit der Todesstrafe zu belegen, noch
zweifelhaft bleibt. Zu beiden verleitet das Ehrgefühl.
Das eine ist das der Geschlechtsehre, das andere
der Kriegsehre, und zwar der wahren Ehre, welche
jeder dieser zwei Menschenklassen als Pflicht obliegt.
Das eine Verbrechen ist der mütterliche Kindesmord
{infanticidium maternale):^ das andere der Kriegsge-
sellenmord {cominilitonicidium)j der Duell. — Da
die Gesetzgebung die Schmach einer unehelichen Ge-
burt nicht wegnehmen, und ebensowenig den Fleck,
welcher aus dem Verdacht der Feigheit, der auf einen
untergeordneten Kriegsbefehlshaber fällt, welcher einer
verächtlichen Begegnung nicht eine über die Todesfurcht
1. Abschn. Das Staatsrecht. Allg. Anm. 179
erhobene eigene Gewalt entgegensetzt, wegwischen kann;
so scheint es, dass Mensclien in diesen Fällen sich im
Naturzustande befinden und Tödtung {liomicidium)^
die alsdann nicht einnial Mord {Jiomicidium dolosum)
heissen mUsstC; in beiden zwar allerdings strafbar sei,
von der obersten Macht aber mit dem Tode nicht könne
bestraft werden. Das uneheliche auf die Welt gekommene
Kind ist ausser dem Gesetz (denn das heisst Ehe), mit-
hin auch ausser dem Schutze desselben geboren. Es
ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen
(wie verbotene Waare), so dass dieses seine Existenz
(weil es billig auf diese Art nicht hätte existiren sollen),
mithin auch seine Vernichtung ignoriren kann, und die
Schande der Mutter, wenn ihre uneheliche Niederkunft
bekannt wird, kann keine Verordnung heben. — Der
zum Unter -Befehlshaber eingesetzte Kriegsmann, dem
ein Schimpf angethan wird, sieht sich ebensowohl durch
die öffentliche Meinung der Mitgenossen seines Standes
genöthigt, sich Genugthuung, und, wie im Naturzustande,
Bestrafung des Beleidigers, nicht durchs Gesetz, vor einem
Gerichtshofe, sondern durch den Duell, darin er sich
selbst der Lebensgefahr aussetzt, zu verschaffen, um seinen
Kriegsmuth zu beweisen, als worauf die Ehre seines
Standes wesentlich beruht, sollte es auch mit der Tödtung
seines Gegners verbunden sein, die in diesem Kampfe,
der öffentlich und mit beiderseitiger Einwilligung, doch
auch ungern, geschieht, eigentlich nicht Mord {Jiomi-
cidium dolosum) genannt werden kann. Was ist
nun in beiden (zur Kriminalgerechtigkeit gehörigen)
Fällen Rechtens? — Hier kommt die Sti-afgerechtigkeit
gar sehr ins Gedränge: entweder den Ehrbegriff (der
hier kein Wahn ist) durchs Gesetz für nichtig zu er-
klären und so mit dem Tode zu bestrafen, oder von
dem Verbrechen die angemessene Todesstrafe w^egzu-
nehmen, und so entweder grausam oder nachsichtig zu
sein. Die Auf lösung dieses Knotens ist: dass der kate-
gorische Imperativ der Strafgerechtigkeit (die gesetz-
widrige Tödtung des Anderen müsse mit dem Tode
bestraft werden) bleibt, die Gesetzgebung selber aber
(mithin auch die bürgerliche Verfassung), so lange noch
als barbarisch und unausgebildet, daran Schuld ist, dass
die Triebfedern der Ehre im Volke (subjektiv) nicht
12*
180 Rechtslehre. II. Theil. Das ölffentliche Recht.
mit den Massregeln zusammentreffen wollen, die (objektiv)
ihrer Absicht gemäss sind, so dass die öffentliche, vom
Staat ausgehende Gerechtigkeit, in Ansehung der aus
dem Volk, eineüngerechtigkeit wird'^5)^
II.
Das Begnadigungsrecht (jus aggratiandi) für
den Verbrecher, entweder der Milderung oder gänzlichen
Erlassung der Strafe, ist wohl unter allen Rechten des
Souveräns das schlüpfrigste, um den Glanz seiner Hoheit
zu beweisen, und dadurch doch in hohem Grade Un-
recht zu thun. — In Ansehung der Verbrechen der
Unterthanen gegen einander steht es schlechterdings
ihm nicht zu, es auszuüben; denn hier ist Straflosigkeit
(^impunitas criminis) das grösste Unrecht gegen die
letztern. Also nur bei einer Läsion, die ihm selbst
widerfährt {crimen laesae majestatis), kann er davon
Gebrauch machen. Aber auch da nicht einmal, wenn
durch Ungestraftheit dem Volke selbst in Ansehung
seiner Sicherheit Gefahr erwachsen könnte. — Dieses
Recht ist das einzige, was den Namen des Majestäts-
rechts verdient'6).
Von dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum
Vaterlande und zum Auslande.
§. 50.
Das Land {territorium)^ dessen Einsassen schon durch
die Konstitution, d. i. ohne einen besonderen rechtlichen
Akt ausüben zu dürfen (mithin durch die Geburt), Mit-
bürger eines und desselben gemeinen Wesens sind,
heisst das Vaterland; das, worin sie es ohne diese
Bedingung sind, das Ausland, und dieses, wenn es
einen Theil der Landesherrschaft überhaupt ausmacht,
heisst die Provinz (in der Bedeutung, wie die Römer
dieses Wort brauchten), welche, weil sie doch keinen
coalisirten Theil des Reichs {imperii) als Sitz von Mit-
bürgern, sondern nur eine Besitzung desselben, als
eines Unterhauses ausmacht, den Boden des herrschen-
1. Abschn. Das Staatsrecht. §. 51. 181
den Staats als Mutterland (i^egio domina) verehren
muss.
1) Der Unterthan (auch als Bürger betrachtet) hat
das Recht der Auswanderung; denn der Staat könnte
ihn nicht als sein Eigenthum zurückhalten. Doch kann
er nur seine fahrende, nicht die liegende Habe mit her-
ausnehmen, welches alsdann doch geschehen würde,
wenn er seinen bisher besessenen Boden zu verkaufen,
und das Geld dafür mit sich zu nehmen, befugt wäre.
2) Der Landesherr hat das Recht der Begünstigung
der Einwanderung und Ansiedelung Fremder (Ko-
lonisten), obgleich seine Landeskinder dazu scheel sehen
möchten; wenn ihnen nur nicht das Privateigenthum
derselben am Boden gekürzt wird.
3) Ebenderselbe hat auch, im Falle eines Verbrechens
des Unterthans, welches alle Gemeinschaft der Mitbürger
mit ihm für den Staat verderblich macht, das Recht der
Verbannung in eine Provinz im Auslande, wo er
keiner Rechte eines Bürgers theilhaftig wird, d. i. zur
Deportation.
4) Auch das der Landesverweisung überhaupt
{jus exüii), ihn in die weite Welt, d. i. ins Ausland
überhaupt (in der altdeutschen Sprache Elend genannt)
zu schicken; welches, weil der Landesherr ihm nun
allen Schutz entzieht, soviel bedeutet, als ihn innerhalb
seinen Grenzen vogelfiei zu machen'''').
§. 51.
Die drei Gewalten im Staate, die aus dem Begriff
eines gemeinen Wesens überliaupt (7v5 jmblica latius
dicta) hervorgehen, sind nur soviel Verhältnisse des
vereinigten, a j^riori aus der Vernunft abstammenden
Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsober-
haupte, welche objektive praktische Realität hat. Dieses
Oberhaupt (der Souverain) aber ist sofern nur ein (das
gesammte Volk vorstellendes) Gedankending, als es
noch an einer physischen Person mangelt, welche die
höchste Staatsgewalt vorstellt, und dieser Idee Wirksam-
keit auf den Volkswillen verschafft. Das Verhältniss
der ersteren zum letzteren ist nun auf dreierlei ver-
schiedene Art denkbar: entweder dass Einer im Staate
182 Rechtslehre. H. Theil. Das öffentliche Recht.
über Alle, oder dass Einige, die einander gleich sind ver-
einigt über alle Andere, oder dass Alle zusammen über
einen Jeden, mithin auch über sich selbst gebieten, d. i. die
Staatsform ist entweder autokratisch, oder aristo-
kratisch, oder demokratisch. (Der Ausdruck
monarchisch, statt autokratisch, ist nicht dem Be-
griffe, den man hier will, angemessen; denn der Mo-
narch ist der, welcher die höchste, Autokrator
aber oder Selbstherrscher der, welcher alle Gewalt
hat; dieser ist der Sou verain, jener repräsentirt ihn bloss).
— Man wird leicht gewahr, dass die autokratische
Staatsform die einfachste sei, nämlich von Einem
(dem Könige) zum Volke, mithin wo nur Einer der Ge-
setzgeber ist. Die aristokratische ist schon aus zwei
Verhältnissen zusammengesetzt: nämlich dem der
Vornehmen (als Gesetzgeber) zu einander, um den
Souverain zu machen, und dann dem dieses Souverains
zum Volke; die demokratische aber die allerzusammen-
gesetzteste, nämlich den Willen Aller zuerst zu ver-
einigen, um daraus ein Volk, dann den der Staatsbürger,
um ein gemeines Wesen zu bilden, und dann diesem
gemeinen Wesen den Souverain, der dieser vereinigte
Wille selbst ist, vorzusetzen. '^) Was die Handhabung
des Rechts im Staate betrifft, so ist freilich die ein-
fachste auch zugleich die beste, aber was das Recht
selbst anlangt, die gefährlichste fürs Volk, in Betracht
des Despotismus, zu dem sie so sehr einladet. Das
Simplificiren ist zwar im Maschinenwerk der Vereinigung
des Volks durch Zwangsgesetze die vernünftige Maxime :
wenn nämlich alle im Volke passiv sind und Einem,
der über sie ist, gehorchen; aber das giebt keine ünter-
thanen als Staatsbürger. Was die Vertröstung, womit
sich das Volk befriedigen soll, betrifft: dass nämlich
die Monarchie (eigentlich hier Autokratie) die beste
Staatsverfassung sei, wenn der Monarch gut ist
(d. i. nicht bloss den Willen, sondern auch die Einsicht
*) Von der Verfälschimg dieser Formen durch sich ein-
dringende und unbefugte Machthaber (der Oligarchie
und Ochlokratie;, imgleichen den sogenannten gemisch-
ten Staatsverfassungen erwähne ich hier nichts, weil es
zu weit führen würde.
1. Abschn. Das Staatsrecht. §. 52. ^[33
dazu hat), gehört zu den tautologischen Weisheits-
sprüchen, und sagt nichts mehr, als : die beste Verfassung
ist die, durch welche der Staatsverwalter zum besten
Regenten gemacht wird, d. i. diejenige, welche die
beste ist.
§. 52.
Der Geschichtsur künde dieses Mechanismus nach-
zuspüren, ist vergeblich, d. i. man kann zum Zeitpunkt
des Anfangs der bürgerlichen Gesellschaft nicht herauf-
langen (denn die Wilden errichten kein Instrument
ihrer Unterwerfung unter das Gesetz, und es ist auch
schon aus der Natur roher Menschen abzunehmen, dass
sie es mit der Gewalt angefangen haben werden). Diese
Nachforschung aber in der Absicht anzustellen, um allen-
falls die jetzt bestehende Verfassung mit Gewalt abzu-
ändern, ist sträflich. Denn diese Umänderung müsste
durchs Volk, welches sich dazu rottirte, also nicht durch
die Gesetzgebung geschehen; Meuterei aber, in einer
schon bestehenden Verfassung, ist ein Umsturz aller
bürgerlich-rechtlichen Verhältnisse, mithin alles Rechts, d. i.
nicht Veränderung der bürgerlichen Verfassung, sondern
Auflösung derselben, und dann der Uebergang in die
bessere nicht Metamorphose, sondern Palingenesie, welche
einen neuen gesellschaftlichen Vertrag erfordert, auf
den der vorige (nun aufgehobene) keinen Einfluss hat. —
Es muss aber dem Souverain doch möglich sein, die
bestehende Staatsverfassung zu ändern, wenn sie mit
der Idee des ursprünglichen Vertrags nicht wohl verein-
bar ist, und hierbei doch diejenige Form bestehen zu
lassen, die dazu, dass das Volk einen Staat ausmache,
wesentlich gehört. Diese Veränderung kann nun nicht
darin bestehen, dass der Staat sich von einer dieser
drei Formen zu einer der beiden anderen selbst constituirt,
z. B. dass die Aristokraten einig werden, sich einer
Autokratie zu unterwerfen, oder in eine Demokratie ver-
schmelzen zu wollen, und so umgekehrt; gleich als ob
es auf der freien Wahl und dem Belieben des Souverains
beruhe, welcher Verfassung er das Volk unterwerfen wolle.
Denn selbst dann, wenn er sich zu einer Demokratie
umzuändern beschlösse, würde er doch dem Volk Un-
134 Rechtslehre. IL Theil. Das öffentliche Recht.
recht thun können, well es selbst diese Verfassung ver-
abscheuen könnte, und eine der zwei übrigen für sich
zuträglicher fände.
Die Staatsformen sind nur der Buchstabe ilittera)
der ursprünglichen Gesetzgebung im bürgerlichen Zu-
stande, und sie mögen also bleiben, solange sie, als zum
Maschinenwesen der Staatsverfassung gehörend, durch
alte und lange Gewohnheit (also nur subjketiv) für noth-
wendig gehalten werden. Aber der Geist jenes ursprüng-
lichen Vertrages [anima pacti originaoHi) enthält die
Verbindlichkeit der konstituirenden Gewalt, die Re-
gierungsart jener Idee angemessen zu machen, und so
sie, wenn es nicht auf einmal geschehen kann, allmählig
und kontinuirlich dahin zu verändern, dass sie mit der
einzig rechtmässigen Verfassung, nämlich der einer rei-
nen Republik, ihrer Wirkung nach zusammenstimme,
und jene alten empirischen (statutarischen) Formen,
welche bloss die Unterthänigkeit des Volks zu be-
wirken dienten, sich in die ursprünglichen (rationale)
auflösen, welche allein die Freiheit zum Prinzip, ja
zur Bedingung alles Zwanges macht, der zu einer
rechtlichen Verfassung, im eigentlichen Sinne des Staates,
erforderlich ist und dahin auch dem Buchstaben nach
endlich fuhren wird. — Dies ist die einzige bleibende
Staatsverfassung, wo das Gesetz selbstherrschend ist
und an keiner besonderen Person hängt; der letzte Zweck
alles öffentlichen Rechts, der Zustand, in welchem allein
jedem das Seine peremtoriscli zugetheilt werden kann;
indessen dass, so lange jene Staatsformen dem Buch-
staben nach ebensoviel verschiedene, mit der obersten
Gewalt bekleidete, moralische Personen vorstellen sollen,
nur ein proyisorisches inneres Recht, und kein ab-
solut-rechtlicher Zustand der bürgerlichen Gesellschaft
zugestanden werden kann.
Alle wahre Republik aber ist und kann nichts Anderes
sein, als ein repräsentatives System des Volks,
um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger ver-
einigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre
Rechte zu besorgen. Sobald aber ein Staatsoberhaupt,
der Person nach (es mag sein König, Adelstand, oder
die ganze Volkszahl, der demokratische Verein), sich
1. Abschn. Das Staatsrecht. §. 52. 185
auch repräsentiren lässt, so repräsentirt das ver-
einigte Volk nicht bloss den Souverain, sondern es ist
dieser selbst; denn in ihm (dem Volke) befindet sich
ursprünglich die oberste Gewalt, von der alle Rechte
der Einzelnen, als blosser Unterthanen (allenfalls als
Staatsbeamten), abgeleitet werden müssen, und die nun-
mehr errichtete Republik hat nicht mehr nöthig, die
Zügel der Regierung aus den Händen zu lassen, und sie
denen wieder zu übergeben, die sie vorher geführt hatten,
und die nun alle neue Anordnungen durch absolute
Willkür wieder vernichten könnten.
Es war also ein grosser Fehltritt der Urtheils-
kraft eines mächtigen Beherrschers zu unserer Zeit,
sich aus der Verlegenheit wegen grosser Staats-
schulden dadurch helfen zu wollen, dass er es dem
Volk übertrug, diese Last nach dessen eigenem
Gutbefinden selbst zu übernehmen und zu ver-
theilen; da es denn natürlicher Weise nicht allein
die gesetzgebende Gewalt in Ansehung der Be-
steuerung der Unterthanen, sondern auch in An-
sehung der Regierung in die Hände bekam; näm-
lich zu verhindern, dass diese nicht durch Ver-
schwendung oder Krieg neue Schulden machte,
mithin die Herrschergewalt des Monarchen gänz-
lich verschwand (nicht bloss suspendirt wurde),
und aufs Volk überging, dessen gesetzgebendem
Willen nun das Mein und Dein jedes Unterthans
unterworfen wurde. Man kann auch nicht sagen:
dass dabei ein stillschweigendes, aber doch ver-
tragsmässiges Versprechen der Nationalversamm-
lung, sich nicht eben zur Souverainetät zu konsti-
tuiren, sondern nur dieser ihr Geschäft zu ad-
ministriren, nach verrichtetem Geschäfte aber die
Zügel des Regiments dem Monarchen wiederum in
seine Hände zu überliefern, angenommen werden
müsse; denn ein solcher Vertrag ist an sich selbst
null und nichtig. Das Recht der obersten Gesetz-
gebung im gemeinen Wesen ist kein veräusserliches,
sondern das allerpersönlichste Recht. Wer es hat,
kann nur durch den Gesaramtwillen des Volks über
das Volk, aber nicht über den Gesammtwillen selbst,
136 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
der der Urgrund aller öffentlichen Verträge ist, dis-
poniren. Ein Vertrag, der das Volk verpflichtete,
seine Gewalt wiederum zurückzugeben, würde dem-
selben nicht als gesetzgebender Macht zustehen,
und doch das Volk verbinden, welches nach dem
Satze: Niemand kann zweien Herren dienen, ein
Widerspruch isf'ö).
Des öffentlichen Rechts
zweiter Abschnitt.
Das Yölker recht.
§. 53.
Die Menschen, welche ein Volk ausmachen, können,
als Landeseingeborne, nach der Analogie der Erzeugung,
von einem gemeinschaftlichen Elternstamm {congeniti)
vorgestellt werden, ob sie es gleich nicht sind : dennoch
aber, in intellektueller und rechtlicher Bedeutung, als
von einer gemeinschaftlichen Mutter (der Republik) ge-
boren, gleichsam eine Familie {gens^ natio) ausmachen,
deren Glieder (Staatsbürger) alle ebenbürtig sind, und
mit denen, die neben ihnen im Naturzustande leben
möchten, als unedlen keine Vermischung eingehen, ob-
gleich diese (die Wilden) ihrerseits sich wiederum wegen
der gesetzlosen Freiheit, die sie gewählt haben, vor-
nehmer dünken, die gleichfalls Völkerschaften, aber
nicht Staaten ausmachen. Das Recht der Staaten in
Verhältniss zu einander [welches nicht ganz richtig im
Deutschen das Völkerrecht genannt wird, sondern
vielmehr das Staatenrecht {jus publicum civitatum)
heissen sollte] ist nun dasjenige, was wir unter dem
Namen des Völkerrechts zu betrachten haben: wo ein
Staat, als eine moralische Person, gegen einen anderen
im Zustande der natürlichen Freiheit, folglich auch dem
138 Rechslehre. 11. Theil. Das öffentliche Recht.
des beständigen Krieges betrachtet, theils das Recht
zum Kriege, theils das im Kriege, theils das, einander zu
nöthigen, aus diesem Kriegszustaude herauszugehen, mit-
hin eine den beharrlichen Frieden gründende Verfassung,
d. i. das Recht nach dem Kriege zur Aufgabe macht, und
führt nur das Unterscheidende von dem des Naturzustandes
einzelner Menschen oder Familien (in Verhältniss ge^en
einander) von dem der Völker bei sich, dass im Völker-
recht nicht bloss ein Verhältniss eines Staats gegen den
anderen im Ganzen, sondern auch einzelner Personen
des einen gegen Einzelne des anderen, imgleichen gegen
den ganzen anderen Staat selbst in Betrachtung kommt:
welcher Unterschied aber vom Recht Einzelner im blossen
Naturzustande nur solcher Bestimmungen bedarf, die
sich aus dem Begriffe des letzteren leicht folgern lassen.
§. 54.
Die Elemente des Völkerrechts sind : 1) dass Staaten,
im äusseren Verhältnisse gegen einander betrachtet (wie
gesetzlose Wilde), von Natur in einem nicht-rechtlichen
Zustande sind; 2) dass dieser Zustand ein Zustand
des Krieges (des R:echts des Stärkeren), wenngleich nicht
wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche Befehdung
(Hostilität) ist, welche (indem sie es beide nicht besser
haben wollen), obzwar dadurch keinem von dem anderen
Unrecht geschieht, doch an sich selbst im höchsten
Grade Unrecht ist, und aus welchem die Staaten, welche
einander benachbart sind, auszugehen verbunden sind;
3) dass ein Völkerbund, nach der Idee eines ursprüng-
lichen gesellschaftlichen Vertrages, nothwendig ist, sich
zwar einander nicht in die einheimischen Misshelligkeiten
derselben zu mischen, aber doch gegen Angriffe der
äusseren zu schützen; 4) dass die Verbindung doch
keine souveraine Gewalt (wie in einer bürgerlichen V^er-
fassung), sondern nur eine Genossenschaft (Födera-
lität) enthalten müsse; eine Verbindung, die zu aller
Zeit aufgekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit
erneuert werden muss, — ein Recht, in suhsidium eines
anderen und ursprünglichen Rechts, den Verfall in den
Zustand des wirklichen Krieges der elben unter einander
von sich abzuwehren (foedus Ami^ldctyonum)'^^)-
2. Abschn. Das Völkerrecht. §. 55. IgQ
§. 55.
Bei jenem iirsprünglichen Rechte zum Kriege freier
Staaten gegen einander im Naturzustande (um etwa
einen, dem rechtlichen sich annähernden Zustand zu
stiften) erhebt sich zuerst die Frage, welches Recht
hat der Staat gegen seine eigenen ünterthanen,
sie zum Kriege gegen andere Staaten zu brauchen, ihre
Güter, ja ihr Leben dabei aufzuwenden, oder aufs Spiel
zu setzen; so, dass es nicht von dieser ihrem eigenen
Urtheii abhängt, ob sie in den Krieg ziehen wollen oder
nicht, sondern der Oberbefehl des Souverains sie hin-
einschicken darf?
Dieses Recht scheint sich leicht darthun zu lassen;
nämlich aus dem Rechte, mit dem Seinen (Eigenthum)
zu thun, was man will. Was Jemand aber der Substanz
nach selbst gemacht hat, davon hat er ein unbe-
strittenes Eigenthum. — Hier ist also die Deduktion, so
wie sie ein blosser Jurist abfassen würde.
Es giebt mancherlei Naturprodukte in einem
Lande, die doch, was die Menge derselben von einer
gewissen Art betrifft, zugleich als Gemäch sei [artejacta)
des Staats angesehen werden müssen, weil das Land sie
in solcher Menge nicht liefern würde, wenn es nicht
einen Staat und eine ordentliche machthabende Regierung
gäbe, sondern die Bewohner im Stande der Natur wären.
— Haushühner (die nützlichste Art des Geflügels), Schafe,
Schweine, das Rindergeschlecht u. a. m. w^irden ent-
weder aus Mangel an Futter, oder der Raubthiere wegen
in dem Lande, wo ich lebe, entweder gar nicht, oder
höchst sparsam anzutreffen sein, wenn es darin nicht eine
Regierung gäbe, welche den Einwohnern ihren Erwerb
und Besitz sicherte. — Eben das gilt auch von der
Menschenzahl, die, eben so wie in den amerikanischen
Wüsten, ja selbst dann, wenn man diesen den grössten
Fleiss (den jene nicht haben) beilegte, nur gering sein
kann. Die Einwohner würden nur sehr dünn gesäet
sein, weil keiner derselben sich, mitsammt seinem Ge-
sinde, auf einem Boden weit verbreiten könnte, der
immer in Gefahr ist, von Menschen oder wilden und
Raubthieren verwüstet zu werden; mithin sich für eine
so grosse Menge von Menschen, als jetzt auf einem Lande
190 Rechtslehre, n. Theil. Das öffentliche Kecht.
leben, kein hinlänglicher Unterhalt finden würde.
So wie man nun von Gewächsen (z. B. den Kartofi'eln)
und von Hausthieren, weil sie, was die Menge betrifft,
ein Machwerk der Menschen sind, sagen kann, dass
man sie gebrauchen, verbrauchen und verzehren (tödten
lassen) kann; so, scheint es, könne man auch von der
obersten Gewalt im Staate, dem Souverain, sagen, er
habe das Recht, seine Unterthanen, die dem grössten
Theil nach sein eigenes Produkt sind, in den Krieg, wie
auf eine Jagd, und zu einer Feldschlacht, wie auf eine
Lustpartie zu führen.
Dieser Rechtsgrund aber (der vermuthlich den Mo-
narchen auch dunkel vorschweben mag) gilt zwar frei-
lich in Ansehung der Thiere, die ein Eigenthum des
Menschen sein können; will sich aber doch schlechter-
dings nicht auf den Menschen, vornehmlich als Staats-
bürger, anwenden lassen, der im Staate immer als mit-
gesetzgebendes Glied betrachtet werden muss (nicht
bloss als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an
sich selbst), und der also zum Kriegführen nicht allein
überhaupt, sondern auch zu jeder besonderen Kriegser-
kläi-ung, vermittelst seiner Repräsentanten, seine freie
Beistimmung geben muss, unter welcher einschränkenden
Bedingung allein der Staat über seinen gefahrvollen
Dienst disponiren kann.
Wir werden also wohl dieses Recht von der Pflicht
des Souverain s gegen das Volk (nicht umgekehrt) abzu-
leiten haben; wobei dieses dafür angesehen werden muss,
dass es seine Stimme dazu gegeben habe, in welcher
Qualität es, obzwar passiv (mit sich machen lässt), doch
auch selbstthätig ist und den Souverain selbst vorstellt.
§. 56.
Im natürlichen Zustande der Staaten ist das Kecht
zum Kriege (zu Hostilitäten) die erlaubte Art, wodurch
ein Staat sein Pvecht verfolgt, nämlich wenn er sich von
diesem lädirt glaubt, durch eigene Gewalt; weil es
durch einen Prozess (als durch den allein die Zwistig-
keiten ausgeglichen werden) in jenem Zustande nicht
geschehen kann. — Ausser der thätigen Verletzung (der
ersten Aggression, welche von der ersten Hostilität unter-
2. Abschn. Das Völkerrecht. §. 57. -\_^i
schieden ist) ist es die Bedrohung-. Hierzu gehört
entweder eine zuerst vorgekommene Zurüstung, wo-
rauf sich das Recht des Zuvor kommens {jus praeven-
tionis) gründet; oder auch bloss die fürchterlich (durch
Ländererwerbung) anwachsende Macht {pote7itia tre-
menda) eines anderen Staats. Diese ist eine Läsion
des Mindermächtigen, bloss durch den Zustand vor aller
That des Ueber mächtigen, und im Naturzustande ist
dieser Angriff allerdings rechtmässig. Hierauf gründet
sich also das Recht des Gleichgewichts aller einander
thätig berührenden Staaten.
Was die thätige Verletzung betrifft, die ein
Recht zum Kriege giebt, so gehört dazu die selbstge-
nommene Genugthuung für die Beleidigung des einen
Volks durch das Volk des anderen Staats, die Wieder-
vergeltung i^^etorsio), ohne eine Erstattung (durch
friedliche Wege) bei dem anderen Staate zu suchen, wo-
mit, der Förmlichkeit nach, der Ausbruch des Krieges,
ohne vorhergehende Aufkündigung des Friedens (Kriegs-
ankündigung) eine Aehnlichkeit hat; weil, wenn man
einmal ein Recht im Kriegszustande finden will, etwas
Analogisches mit einem Vertrag angenommen werden
muss, nämlich Annahme der Erklärung des anderen
Theils, dass beide ihr Recht auf diese Art suchen
wollen.
§. 57.
Das Recht im Kriege ist gerade das im Völkerrecht,
wobei die meiste Schwierigkeit ist, um sich auch nur
einen Begriff davon zu machen, und ein Gesetz in diesem
gesetzlosen Zustande zu denken {inter arma silent leges),
ohne sich selbst zu widersprechen; es müsste denn das-
jenige sein: den Krieg nach solchen Grundsätzen zu
führen, nach welchen es immer noch möglich bleibt,
aus jenem Naturzustande der Staaten (im äusseren Ver-
hältnisse gegen einander) herauszugehen und in einen
rechtlichen zu treten.
Kein Krieg unabhängiger Staaten gegen einander
kann ein Straf krieg {bellum punitivum) sein. Denn
Strafe findet nur im Verhältnisse eines Oberen {imperantis)
gegen den Unterworfenen (subditum) statt, welches Ver-
192 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
hältniss nicht das der Staaten gegen einander ist. —
Aber auch weder ein Ausrottung s- {bellum inter-
necinuni)j noch Unterjochungskrieg {bellum suh-
jugatorium)j der eine moralische Vertilgung eines Staats
(dessen Volk nun mit dem des Ueberwinders entweder
in eine Masse verschmelzt, oder in Knechtschaft ver-
fällt) sein würde. Nicht als ob dieses Nothmittel des
Staats, zum Friedenszustande zu gelangen, an sich dem
Rechte eines Staats widerspräche, sondern weil die Idee
des Völkerrechts bloss den Begriflf eines Antagonismus
nach Prinzipien der äusseren Freiheit bei sich führt, um
sich bei dem Seinen zu erhalten, aber nicht eine Art
zu erwerben, als welche, durch Vergrösserung der Macht
des einen Staats, für den anderen bedrohend sein kann.
Vertheidigungsmittel aller Art sind dem bekriegten
Staat erlaubt, nur nicht solche, deren Gebrauch die
Unterthanen desselben, Staatsbürger zu sein, unfähig
machen würde; denn alsdann machte er sich selbst zu-
gleich unfähig, im Staatenverhältnisse nach dem Völker-
rechte für eine Person zu gelten (die gleicher Rechte
mit anderen theilhaftig wäre). Darunter gehört: seine
eigenen Unterthanen zu Spionen, diese, ja auch Aus-
wärtige zu Meuchelmördern, Giftmischern (in welche
Klasse auch wohl die sogenannten Scharfschützen, welche
Einzelnen im Hinterhalte auflauern, gehören möchten),
oder auch nur zur Verbreitung falscher Nachrichten zu
gebrauchen; mit einem Worte, sich solcher heimtückischen
Mittel zu bedienen, die das Vertrauen, welches zur
künftigen Gründung eines dauerhaften Friedens erforder-
lich ist, vernichten würden.
Im Kriege ist es erlaubt, dem überwältigten Feinde
Lieferungen und Contributionen aufzulegen, aber nicht
das Volk zu plündern, d. i. einzelnen Personen das
Ihrige abzuzwingen (denn das wäre Raub; weil nicht
das überwundene Volk, sondern der Staat, unter dessen
Herrschaft es war, durch dasselbe Krieg führte);
sondern durch Ausschreibungen gegen ausgestellte
Scheine : um bei nachfolgendem Frieden die dem Lande
oder der Provinz aufgelegte Last proportionirlich zu
vertheilen.
2. Abschn. Das Völkerrecht. §. 58. 193
§. 58.
Das Recht nach dem Krieg-e, d. i. im Zeitpunkte
des Friedensvertrags und in Hinsicht auf die Folgen
desselben; besteht darin : der Sieger macht die Bedingungen,
über die mit dem Besiegten übereinzukommen und zum
Friedensschluss zu gelangen, Tractaten gepflogen
werden, und zwar nicht gemäss irgend einem vorzu-
schützenden Recht, was ihm wegen der vorgeblichen
Läsion seines Gegners zustehe, sondern, indem er diese
Frage auf sich beruhen lässt, sich stützend auf seine
Gewalt. Daher kann der Ueberwinder nicht auf Er-
stattung der Kriegskosten antragen; weil er den Krieg
seines Gegners alsdann für ungerecht ausgeben müsste;
sondern, ob er sich gleich dieses Argument denken mag,
so darf er es doch nicht anführen, weil er ihn sonst für
einen Bestrafungskrieg erklären und so wiederum eine
Beleidigung ausüben würde. Hierzu gehört auch die
(auf keinen Loskauf zu stellende) Auswechselung der
Gefangenen, ohne auf Gleichheit der Zahl zu sehen.
Der überwundene Staat, oder dessen Unterthauen
verlieren durch die Eroberung des Landes nicht ihre
staatsbürgerliche Freiheit, so, dass jene zur Colonie,
diese zu Leibeigenen abgewürdigt würden; denn sonst
wäre es ein Strafkrieg gewesen, der an sich selbst
widersprechend ist. — Eine Colonie oder Provinz ist
ein Volk, das zwar seine eigene Verfassung, Gesetz-
gebung, Boden hat, auf welchem die zu einem anderen
Staat Gehörigen nur Fremdlinge sind, der dennoch über
jenes die oberste ausübende Gewalt hat. Der letztere
heisst der Mutterstaat. Der Tochterstaat wird von
jenem beherrscht, aber doch von sich selbst (durch sein
eigenes Parlament, allenfalls unter dem Vorsitz eines
Vicekönigs) regiert (civitas hjhrida). Dergleichen war
Athen in Beziehung auf verschiedene Inseln, und ist
jetzt Grossbritannien in Ansehung Irlands.
Noch weniger kann Leibeigenschaft und ihre Recht-
mässigkeit von der Ueberwältigung eines Volks durch
Krieg abgeleitet werden, weil man hierzu einen Straf-
krieg annehmen müsste. Am allerwenigsten eine erb-
liche Leibeigenschaft, die überhaupt absurd ist, weil die
Schuld aus Jemandes Verbrechen nicht anerben kann.
Kant, Metaphysik der Sitten. 13
194 Rechtslehre. IL Theil. Das öffentliche Recht.
Dass mit dem Friedensschlüsse auch die Amnestie
verbunden sei, liegt schon im Begriffe desselben. ^O)
§. 59.
Das Recht des Friedens ist 1) das im Frieden
zu sein, wenn in der Nachbarschaft Krieg ist, oder das
der Neutralität; 2) sich die Fortdauer des geschlossenen
Friedens zusichern zu lassen, d. i. das der Oarantie; 3)
zu wechselseitiger Ter])in(lung' (Bundsgenossenschaft)
mehrerer Staaten, sich gegen alle äussere oder innere
etwanige Angriffe gemeinschaftlich zu verth eidigen;
nicht ein Bund zum Angreifen und innerer Vergrösserung.
§. 60.
Das Recht eines Staats gegen einen ungerechten
Feind hat keine Grenzen (wohl zwar der Qualität, aber
nicht der Quantität, d. i. dem Grade nach): d. i. der
beeinträchtigte Staat darf sich zwar nicht aller Mittel,
aber doch der an sich zulässigen in dem Maasse be-
dienen, um das Seine zu behaupten, als er dazu Kräfte
hat. — Was ist aber nun nach Begriffen des Völker-
rechts, in welchem, wie überhaupt im Naturzustande,
ein jeder Staat in seiner eigenen Sache Richter ist,
ein ungerechter Feind? Es ist derjenige, dessen
öffentlich (es sei wörtlich oder thätlich) geäusserter Wille
eine Maxime verräth, nach welcher, wenn sie zur allge-
meinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand
unter Völkern möglich, sondern der Naturzustand ver-
ewigt werden müsste. Dergleichen ist die Verletzung
öffentlicher Verträge, von welcher man voraussetzen
kann, dass sie die Sache aller Völker betrifft, deren
Freiheit dadurch bedroht wird, und die dadurch aufge-
fordert werden, sich gegen einen solchen Unfug zu ver-
einigen und ihm die Macht dazu zu nehmen; — aber
doch auch nicht, um sich in sein Land zu theilen,
einen Staat gleichsam auf der Erde verschwinden zu
machen; denn das wäre Ungerechtigkeit gegen das
Volk, welches sein ursprüngliches Recht, sich in ein ge-
meines Wesen zu verbinden, nicht verlieren kann, sondern
2. Abschn. Das Völkerrecht. §. 61. 195
es eine neue Verfassung annehmen zu lassen, die, ihrer
Natur nach, der Neigung zum Kriege ungünstig ist.
Uebrigens ist der Ausdruck : eines ungerechten Fein-
des im Naturzustande, pleonastisch; denn der Natur-
zustand ist selbst ein Zustand der Ungerechtigkeit. Ein
gerechter Feind würde der sein, welchem meinerseits zu
widerstehen ich Unrecht thun würde : dieser würde aber
alsdann auch nicht mein Feind sein.
§. 61.
Da der Naturzustand der Völker ebensowohl, als
einzelner Menschen, ein Zustand ist, aus dem man her-
ausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten, so ist
vor diesem Ereigniss alles Recht der Völker und alles
durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äussere
Mein und Dein der Staaten bloss provisorisch, und
kann nur in einem allgemeinen Staaten verein (ana-
iogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) perem-
torisch geltend und ein wahrer Friedenszustand
werden. Weil aber, bei gar zu grosser Ausdehnung
eines solchen Völkerstaats über weite Landstriche, die
Regierung desselben, mithin auch die Beschützung einejt
jeden Grliedes endlich unmöglich werden muss; eine
Menge solcher Corporationen aber wiederum einen Kriegs-
zustand herbeiführt; so ist der ewige Friede (das
letzte Ziel des ganzen Völkerrechts) freilich eine un-
ausführbare Idee. Die politischen Grundsätze aber, die
darauf abz wecken, nämlich solche Verbindungen der
Staaten einzugehen, als zur kontinuirlichen Annäherung
zu demselben dienen, sind es nicht, sondern, so wie
diese eine auf der Pflicht, mithin auch auf dem Rechte
der Menschen und Staaten gegründete Aufgabe ist, aller-
dings ausführbar.
Man kann einen solchen Verein einiger Staaten,
um den Frieden zu erhalten, den per manenten Staate n-
congress nennen, zu welcliem sich zu gesellen, jedem
benachbarten unbenommen bleibt; dergleichen (wenigstens
was die Förmlichkeiten des Völkerrechts in Absicht
auf die Erhaltung des Friedens betrifft) in der ersten
Hälfte dieses Jahrhunderts in der Versammlung der
Generalstaaten im Haag noch stattfand; wo die Minister
13*
196 Rechtslehre. II. Theil. Das öffentliche Recht.
der meisten europäischen Höfe, und selbst der kleinsten
Republiken ; ihre Beschwerden über die Befehdungen,
die einem von dem anderen widerfahren waren, an-
brachten, und so sich ganz Europa als einen einzigen
föderirten Staat dachten, den sie in jener ihren öffent-
lichen Streitigkeiten gleichsam als Schiedsrichter an-
nahmen, statt dessen späterhin das Völkerrecht bloss
in Büchern übrig geblieben, aus Cabinetten aber ver-
schwunden, oder nach schon verübter Gewalt, in Form
der Deduktionen, der Dunkelheit der Archive anvertraut
worden ist.
Unter einem Congress wird hier aber nur eine
willkürliche, zu aller Zeit ablösliche Zusammentretung
verschiedener Staaten, nicht eine solche Verbindung,
welche (so wie die der amerikanischen Staaten) auf
einf r Staatsverfassung gegründet und daher unauflöslich
ist, verstanden; — durch welchen allein die Idee eines
zu errichtenden öffentlichen Rechts der Völker, ihre
Streitigkeiten auf civile Art, gleichsam durch einen
Prozess, nicht auf barbarische (nach Art der Wilden),
nämlich durch Krieg zu entscheiden, realisirt werden
kann.^i)
Des öffentlichen Rechts
dritter Abschnitt.
Das Weltbürgerrecht.
§. 62.
Diese Vernunftidee einer friedlichen, wenngleich
noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemein-
schaft aller Völker auf Erden, die unter einander in
wirksame Verhältnisse kommen können, ist nicht etwa
philanthropisch (ethisch), sondern ein rechtliches
Prinzip. Die Natur hat sie alle zusammen (vermöge
der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als glohus terraqueus)
in bestimmte Grenzen eingeschlossen, und da der Be-
sitz des Bodens, worauf der Erdbewohner leben kann,
immer nur als Besitz von einem Theil eines bestimmten
Ganzen, folglich als ein solcher, auf den jeder der-
selben ursprünglich ein Recht hat, gedacht werden
kann; so stehen alle Völker ursprünglich in einer
Gemeinschaft des Bodens, nicht aber der rechtlichen
Gemeinschaft des Besitzes (commumo), und hiermit des
Gebrauchs oder des Eigenthums an denselben, sondern
der physischen möglichen Wechselwirkung (com-
tnercmm), d. i. in einem durchgängigen Verhältnisse
eines zu allen anderen, sich zum Verkehr unter ein-
ander anzubieten, und haben ein Recht, den Versuch
mit demselben zu machen, ohne dass der Auswärtige
198 Rechtslehre. II Theil. Das öffentliche Recht.
ihm darum als einen Feind zu begegnen berechtigt
wäre. — Dieses Recht, sofern es auf die mögliche Ver-
einigung aller Völker in Absicht auf gewisse allgemeine
Gesetze ihres möglichen Verkehrs geht, kann das w e 1 1 -
bürgerliche (jus cosmopoliticum) genannt werden.
Meere können Völker aus aller Gemeinschaft mit
einander zu setzen scheinen; und dennoch sind sie,
vermittelst der Schifffahrt, gerade die glücklichsten Na-
turanlagen zu ihrem Verkehr, welches, je mehr es ein-
ander nahe Küsten giebt (wie die des mittelländischen),
nur desto lebhafter sein kann, deren Besuchung gleich-
wohl, noch mehr aber die Niederlassung auf denselben,
um sie mit dem Mutterlande zu verknüpfen, zugleich
die Veranlassung dazu giebt, dass Uebel und Gewalt-
thätigkeit an einem Orte unseres Globs an allen gefühlt
wird. Dieser mögliche Missbrauch kann aber das Recht
des Erdbürgers nicht aufheben, die Gemeinschaft mit
allen zu versuchen und zu diesem Zweck alle Ge-
genden der Erde zu besuchen, wenn es gleich nicht
ein Recht der Ansiedelung auf dem Boden eines
anderen Volks (jus incolatits) ist, als zu welchem ein
besonderer Vertrag erfordert wird.
Es fragt sich aber: ob ein Volk in neuentdeckten
Ländern eine Anwohnung (accolatus) und Besitz-
nehmung in der Nachbarschaft eines Volks, das in einem
solchen Landstriche schon Platz genommen hat, auch
ohne seine Einwilligung unternehmen dürfe? —
Wenn Anbauung in solcher Entlegenheit vom Sitz
des ersteren geschieht, dass keines derselben im Ge-
brauch seines Bodens dem anderen Eintrag thut, so ist
das Recht dazu nicht zu bezweifeln; wenn es aber
Hirten- oder Jagd Völker sind (wie die Hottentotten,
Tungusen und die meisten amerikanischen Nationen),
deren Unterhalt von grossen öden Landstrecken abhängt,
so würde dies nicht mit Gewalt, sondern nur durch
Vertrag, und selbst dieser nicht mit Benutzung der Un-
wissenheit jener Einwohner in Ansehung der Abtretung
solcher Ländereien geschehen können ; obzwar die Recht-
fertigungsgründe scheinbar genug sind, dass eine solche
Gewaltthätigkeit zum Weltbesten gereiche; theils durch
Kultur roher Völker (wie der Vorwand, durch den selbst
Busch in g die blutige Einführung der christlichen
3. Abschn. Das Weltbürgerrecht. 199
Religion in Deutschland entschuldigen will), theils zur
Reinigung seines eigenen Landes von verderbten Men-
schen und gehoffter Besserung derselben, oder ihrer
Nachkommenschaft, in einem anderen Welttheile (wie
in Neuholland) ; denn alle diese vermeintlich guten Ab-
sichten können doch den Flecken der Ungerechtigkeit
in den dazu gebrauchten Mitteln nicht abwaschen. —
Wendet man hiergegen ein, dass bei solcher Bedenklich-
keit, mit der Gewalt den Anfang zu Gründung eines
gesetzlichen Zustandes zu machen, vielleicht die ganze
Erde noch in gesetzlosem Zustande sein würde ; so kann
das ebensowenig jene Rechtsbedingung aufheben, als
der Vorwand der Staatsrevolutionisten, dass es auch,
wenn Verfassungen verunartet sind, dem Volke zustehe,
sie mit Gewalt umzuformen und überhaupt einmal für
allemal ungerecht zu sein, um nachher die Gerechtigkeit
desto sicherer zu gründen und aufblühen zu machen.^2)
Beschluss.
Wenn Jemand nicht beweisen kann, dass ein Ding
ist, so mag er versuchen zu beweisen, dass es nicht
ist. Will es ihm mit keinem von beiden gelingen (ein
Fall, der oft eintritt), so kann er noch fragen: ob es
ihn interessire, das eine oder das andere (durch eine
Hypothese) anzunehmen, und dies zwar in theoretischer,
oder in praktischer Rücksicht, d. i. entweder um sich
bloss ein gewisses Phänomen (wie z. B. für den Astronom
das des Rückganges und Stillstandes der Planeten) zu
erklären, oder um einen gewissen Zweck zu erreichen,
der nun wiederum entweder pragmatisch (blosser
Kunstzweck), oder moralisch, d. i. ein solcher Zweck
sein kann, den sich zu setzen die Maxime selbst Pflicht
ist. — Es versteht sich von selbst, dass nicht das An-
nehmen {siippositio) der Ausführbarkeit jenes Zwecks,
welches ein bloss theoretisches und dazu noch proble-
matisches Urtheil ist, hier zur Pflicht gemacht werde;
denn dazu (etwas zu glauben) giebts keine Verbindlich-
keit, sondern das Handeln nach der Idee jenes Zwecks,
200 Rechtslehre. 11. Theil. Das öffentliche Recht.
wenn auch nicht die mindeste theoretische Wahrschein-
lichkeit da ist, dass er ausgeführt werden könne, den-
noch aber seine Unmöglichkeit gleichfalls nicht demon-
strirt werden kann, das ist es, wozu uns eine Pflicht
obliegt.
Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns
ihr unwiderrufliches Veto aus: es soll kein Krieg
sein; weder der, welcher zwischen mir und dir im
Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten, die, ob-
zwar innerlich im gesetzlichen, doch äusserlich (im Ver-
liältniss gegen einander) im gesetzlosen Zustande sind; —
denn das ist nicht die Art, wie Jedermann sein Recht
suchen soll. Also ist nicht mehr die Frage: ob der
ewige Friede ein Ding oder Unding sei, und ob wir
uns nicht in unserem theoretischen Urtheile betrügen,
wenn wir das Erstere annehmen, sondern wir müssen so
handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist,
auf Begründung desselben und diejenige Constitution,
die uns dazu die tauglichste scheint (vielleicht den Re-
publicanismus aller Staaten sammt und sonders), hin-
wirken, um ihn herbeizuführen und dem heillosen Krieg-
führen, worauf, als den Hauptzweck, bisher alle Staaten
ohne Ausnahme ihre inneren Anstalten gerichtet haben,
ein Ende zu machen. Und wenn das Letztere, was die
Vollendung dieser Absicht betrifft, auch immer ein
frommer Wunsch bliebe, so betrügen wir uns doch ge-
wiss nicht mit der Annahme der Maxime, dahin unab-
lässig zu wirken; denn diese ist Pflicht; das moralische
Gesetz aber in uns selbst für betrüglich anzunehmen,
würde den Abscheu erregenden Wunsch hervorbringen,
lieber aller Vernunft zu entbehren und sich, seinen
Grundsätzen nach, mit den übrigen Thierklassen in einen
gleichen Mechanismus der Natur geworfen anzusehen.
Man kann sagen, dass diese allgemeine und fort-
dauernde Friedensstiftung nicht bloss einen Theil, sondern
den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb den
Grenzen der blossen Vernunft ausmache; denn der
Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen ge-
sicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge
einander benachbarter Menschen, mithin die in einer
Verfassung zusammen sind, deren Regel aber nicht von
der Erfahrung derjenigen, die sich bisher am besten
3. Abschn. Das Weltbürgerrecht. §. 62. 201
dabei befunden haben, als einer Norm für Andere,
sondern die durch die Vernunft a j^riori von dem Ideal
einer rechtlichen Verbindung der Menschen unter öffent-
lichen Gesetzen überhaupt hergenommen werden muss,
weil alle Beispiele (als die nur erläutern, aber nichts
beweisen können), trüglich sind, und so allerdings einer
Metaphysik bedürfen, deren Noth wendigkeit diejenigen^
die dieser spotten, doch unvorsichtiger Weise selbst zu-
gestehen, wenn sie z. B., wie sie es oft thun, sagen:
„die beste Verfassung ist die, wo nicht die Menschen,
sondern die Gesetze machthabend sind." Denn was
kann mehr metaphysisch sublimirt sein, als eben diese
Idee, welche gleichwohl, nach jener ihrer eigenen Be-
hauptung, die bewährteste objective Realität hat, die sich
auch in vorkommenden Fällen leicht darstellen lässt,
und welche allein, wenn sie nicht revolutionsmässig
durch einen Sprung, d. i. durch gewaltsame Umstürzung
einer bisher bestandenen fehlerhaften, — (denn da würde
sich zwischeninne ein Augenblick der Vernichtung alles
rechtlichen Zustandes ereignen), sonder durch allmählige
Reform nach festen Grundsätzen versucht und durchge-
führt wird, in continuirlicher Annäherung zum höchsten
politischen Gut, zum ewigen Frieden, hinleiten kann.^^)
Die
Metaphysik der Sitten.
Zweiter Tlieil.
MetaphysischeAnfangsgründederTugendlehre.
Vorrede.
Wenn es über irgend einen Gegenstand eine Philo-
sophie (ein System der Vernunfterkenntniss aus Be-
gritfen) giebt, so muss es für diese Philosophie auch
ein System reiner, von aller Anschauungsbedingung un-
abhängiger Vernunftbegriffe, d. i. eine Metaphysik
geben. — Es fragt sich nur: ob es für jede praktische
Philosophie, als Pflichtenlehre, mithin auch für die
Tugendlehre (Ethik) metaphysischer Anfangs-
gründe bedürfe, um sie, als wahre Wissenschaft (syste-
matisch), nicht bloss als Aggregat einzeln aufgesuchter
Lehren (fragmentarisch) aufstellen zu können. — Von
der reinen Rechtslehre wird Niemand dies Bedürfniss
bezweifeln; denn sie betrifft nur das Förmliche der
nach Freiheitsgesetzen im äusseren Verhältniss einzu-
schränkenden Willkür; abgesehen von allem Zweck,
als der Materie derselben. Die Pflichtenlehre ist also
hier eine blosse Wissenslehre {doctrina scientiae).^)
") Ein der praktischen Philosophie Kundiger
ist darum eben nicht ein praktischer Philosoph. Der
letztere ist derjenige, welcher sich den Vernunftzweck
zum Grundsatz seiner Handlungen macht, indem er
damit zugleich das dazu nöthige Wissen verbindet; welches,
da es aufs Thun abgezweckt ist, nicht eben bis zu den
subtilsten Fäden der Metaphysik ausgesponnen werden
darf, wenn es nicht etwa eine Rechtspflicht betrifft, —
als bei welcher auf der Wage der Gerechtigkeit das Mein
und Dein, nach dem Prinzip der Gleichheit der Wirkung
206 Tugendlehre.
In dieser Philosophie (der Tugendlehre) scheint es
nun der Idee derselben gerade, zuwider zu sein, bis zu
metaphysischen Anfangsgründen zurückzugehen,
um den Pflichtbegriflf, von allem Empirischen (von jedem
Gefühl) gereinigt, doch zur Triebfeder zu machen. Denn
was kann man sich für einen Begriff von der hohen
Kraft und herkulischen Stärke machen, die ausreichen
sollte, um die lastergebärenden Neigungen zu überwäl-
tigen, wenn die Tugend ihre Waffen aus der Rüstkammer
der Metaphysik entlehnen soll? welche eine Sache der
Spekulation ist, die nur wenig Menschen zu handhaben
wissen. Daher fallen auch alle Tugendlehren, in Hör-
sälen, von Kanzeln und in Volksbüchern, wenn sie mit
metaphysischen Brocken ausgeschmückt werden, ins
Lächerliche. — Aber darum ist es doch nicht unnütz,
vielweniger lächerlich, den ersten Gründen der Tugend-
lehre in einer Metaphysik nachzuspüren; denn irgend
einer muss doch als Philosoph auf die ersten Gründe
dieses Pflichtbegriffs hinausgehen: weil sonst weder
Sicherheit noch Lauterkeit für die Tugendlehre überhaupt
zu erwarten wäre. Sich desfalls auf ein gewisses Ge-
fühl, welches man, seiner davon erwarteten Wirkung
halber, moralisch nennt, zu verlassen, kann auch wohl
dem Volkslehrer genügen; indem dieser zum Probir-
gtein einrr Tugendpflicht, ob sie es sei oder nicht, die
Aufgabe zu beherzigen verlangt: „wie, wenn nun ein
Jeder in jedem Fall deine Maxime zum allgemeinen
Gesetz machte, würde eine solche wohl mit sich selbst
zusammenstimmen können?" Aber wenn es bloss Ge-
fühl wäre, was auch diesen Satz zum Probirstein zu
nehmen uns zur Pflicht machte, so wäre diese doch
und Gegenwirkung, genau bestimmt werden, und darum
der mathematischen Abgemessenlieit analog sein muss, —
sondern eine blosse Tugendpflieht angeht. Denn da kommt
es nicht bloss darauf an, zu wissen, was zu thun Pflicht
ist (welches, wegen der Zwecke, die natürlicher Weise alle
Menschen haben, leicht angegeben werden kann), sondern
vornehmlich auf das innere Prinzip des Willens, nämlich
dass das Bewusstsein dieser Pflicht zugleich Triebfeder
der Handlungen sei, um von dem, der mit seinem Wissen
dieses Weisheitsprinzip verknüpft, sagen zu können: dass er
ein praktischer Philosoph sei.
Vorrede. 207
alsdann niclit durch die Vernunft diktirt, sondern nur
instiuktmässig, mithin blindlings dafür angenommen.
Allein in der That gründet sich kein moralisches
Prinzip t), wie man wohl wähnt, auf irgend ein Gefühl,
sondern ein solches Prinzip ist wirklich nichts Anderes,
als dunkel gedachte Metaphysik, die jedem Menschen
in seiner Vernunftanlage beiwohnt; wie der Lehrer es
leicht gewahr wird, der seinen Lehrling über den Pflicht-
imperativ, und dessen Anwendung auf moralische Be-
urtheilung seiner Handlungen sokratisch zu katechi-
siren versucht. — Der Vortrag desselben (die Technik)
darf eben nicht allemal metaphysisch und die Sprache
nicht nothwendig scholastisch sein, wenn jener den
Lehrling nicht etwa zum Philosophen bilden will. Aber
der Gedanke muss bis auf die Elemente der Meta-
physik zurückgehen, ohne die keine Sicherheit und
Keinigkeit, ja selbst nicht einmal bewegende Kraft in
der Tugendlehre zu erwarten ist.
Geht man von diesem Grundsätze ab, und fängt vom
pathologischen oder dem reinästhetischen, oder auch
dem moralischen Gefühl (dem subjektivpraktischen
statt des objektiven), d. i. von der Materie des Willens,
dem Zweck, nicht von der Form desselben, d. i. dem
Gesetz an, um von da aus die Pflichten zu bestimmen;
so finden freilich keine metaphysischen Anfangs-
gründe der Tugendlehre statt; — denn Gefühl, wo-
durch es auch immer erregt werden mag, ist jederzeit
physisch. — Aber die Tugendlehre wird alsdenn auch
in ihrer Quelle, einerlei ob in Schulen oder in Hör-
sälen u. s. w., verderbt. Denn es ist nicht gleichviel,
durch welche Triebfedern als Mittel man zu einer guten
Absicht (der Befolgung aller Pflicht) hingeleitet werde.
Es mag also den orakelmässig oder auch
geniemässig über Pflichtenlehre absprechenden ver-
meinten Weisheitslehrern Metaphysik noch so sehr
anekehi; so ist es doch für die, welche sich dazu auf-
werfen, unerlassliche Pflicht, selbst in der Tugendlehre
zu jener ihren Grundsätzen zurückzugehen, und auf ihren
Bänken vorerst selbst die Schule zu machen^'*).
t) 1. Ausg.: „Allein kein moraHsches Prinzip gründet
sich in der That'', u. s. w.
208 Tugendlehre.
Man muss sich hierbei billig wundern : wie es, nach
allen bisherigen Läuterungen des Pflichtprinzips, sofern
es aus reiner Vernunft abgeleitet wird, noch möglich
war, es wiederum auf Glückseligkeitslehre zurück-
zufuhren; doch so, dass eine gewisse moralische
Glückseligkeit, die nicht auf empirischen Ursachen be-
ruhte, zu dem Ende ausgedacht worden, welche ein sich
selbst widersprechendes Unding ist. — Der denkende
Mensch nämlich, wenn er über die Anreize zum Laster
gesiegt hat, und seine, oft sauere Pflicht gethan zu haben
sich bewusst ist, findet sich in einem Zustande der
Seelenruhe und Zufriedenheit, den man gar wohl Glück-
seligkeit nennen kann; in welchem die Tugend ihr
eigener Lohn ist. — Nun sagt der Eudämonist: diese
Wonne, diese Glückseligkeit ist der eigentliche Be-
wegungsgrund, warum er tugendhaft handelt. Nicht der
Begriff der Pflicht bestimme unmittelbar seinen Willen,
sondern nur vermittelst der im Prospekt gesehenen
Glückseligkeit werde er bewogen, seine Pflicht zu thun.
— Nun ist aber klar, dass, weil er sich diesen Tugend-
lohn nur von dem Bewusstsein, seine Pflicht gethan zu
haben, versprechen kann, das letztgenannte doch vor-
angehen müsse; d. i. er muss sich verbunden finden,
seine Pflicht zu thun, ehe er noch, und ohne dass er
daran denkt, dass Glückseligkeit die Folge der Pflicht-
beobachtung sein werde. Es dreht sich also mit seiner
Aetiologie im Zirkel herum. Er kann nämlich nur
hoffen^ glücklich (oder innerlich selig) zu sein, wenn
er sich seiner Pflichtbeobachtung bewusst ist; er kann
aber zur Beobachtung seiner Pflicht nur bewogen wer-
den, wenn er voraussieht, dass er sich dadurch glück-
lich machen werde. — Aber es ist in dieser Vernünftelei
auch ein Widerspruch. Denn einerseits soll er seine
Pflicht beobachten, ohne erst zu fragen, welche Wirkung
dieses auf seine Glückseligkeit haben werde, mithin
aus einem moralischen Grunde; andererseits aber
kann er doch nur etwas für seine Pflicht anerkennen,
wenn er auf Glückseligkeit rechnen kann, die ihm da-
durch erwachsen wird, mithin nach pathologischem
Prinzip, welches gerade das Gegentheil des vorigen ist.
Ich habe an einem anderen Orte (der Berlinischen
Monatsschrift) den Unterschied der Lust, welche patho-
Vorrede. 209
logisch ist, von der moralischen, wie ich glaube,
auf die einfachsten Ausdrücke zurückgeführt. Die Lust
nämlich, welche vor der Befolgung des Gesetzes her-
gehen muss, damit diesem gemäss gehandelt werde, ist
pathologisch und das Verhalten folgt derNatur Ordnung;
diejenige aber, vor welcher das Gesetz hergehen muss,
damit sie empfunden werde, ist in der sittlichen
Ordnung. Wenn dieser Unterschied nicht beob-
achtet wird, wenn Eudämonie (das Glückseligkeits-
prinzip) statt der Eleutheronomie (des Freiheits-
prinzips der inneren Gesetzgebung) zum Grundsatze
aufgestellt wird; so ist die Folge davon Euthanasie
(der sanfte Tod) aller Moral.
Die Ursache dieser Irrungen ist keine andere, als
folgende. Der kategorische Imperativ, aus dem diese
Gesetze diktatorisch hervorgehen, will denen, die bloss
an physiologische Erklärungen gewohnt sind, nicht in
den Kopf; unerachtet sie sich doch durch ihn unwider-
stehlich gedrungen fühlen. Der Unmuth aber, sich das
nicht erklären zu können, was über jenen Kreis gänz-
lich hinaus liegt, die Freiheit der Willkür, so seelen-
erhebend auch eben dieser Vorzug des Menschen ist,
einer solchen Idee fähig zu sein, reizt durch die stolzen
Ansprüche der spekulativen Vernunft, die sonst ihr Ver-
mögen in anderen Feldern so stark fühlt, die für die
Allgewalt der theoretischen Vernunft Verbündeten gleich-
sam zum allgemeinen Aufgebot,!) sich jener Idee zu
widersetzen, und so den moralischen Freiheitsbegriff
jetzt und vielleicht noch lange, obzwar am Ende doch
vergeblich, anzufechten und, wo möglich, verdächtig zu
machen.^'5)
t) 1. Ausgabe: „fähig zu sein, wird durch die stolzen
. . . fühlt, gleichsam zum allgemeinen Aufgebot der für
die Allgewalt der theoretischen Vernunft gereizt'' u. s. w.
Kant, Metaphysik der Sitten. 14
Einleitung zur Tugendlehre.
Ethik bedeutete in den alten Zeiten die Sittenlehre
(p?tilosophia moralis) überhaupt, welche man auch die
Lehre von den Pflichten benannte. In der Folge
hat man es rathsam gefunden, diesen Namen auf einen
Theil der Sittenlehre, nämlich auf die Lehre von den
Pflichten die nicht unter äusseren Gesetzen stehen, allein
zu übertragen (dem man im Deutschen den Namen
Tugendlehre angemessen gefunden hat), so, dass
jetzt das System der allgemeinen Pflichtenlehre in das
der Rechtslehre {jurisprucleiitid)^ welche äusserer Ge-
setze fähig ist, und der Tugendlehre {ethica) einge-
theilt wird, die deren nicht fähig ist; wobei es denn
auch sein Bewenden haben mag.^6)
L
Erörterung des Begriffs einer Tugendlehre.
Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff
von einer Nöthigung (Zwang) der freien Willkür durchs
Gesetz; dieser Zwang mag nun ein äusserer oder ein
Selbstzwang sein. Der moralische Imperativ ver-
kündigt durch seinen kategorischen Ausspruch (das un-
bedingte Sollen) diesen Zwang, der also nicht auf ver-
nünftige Wesen überhaupt (deren es etwa auch heilige
geben könnte), sondern auf Menschen, als vernünftige
Naturwesen geht, die dazu unheilig genug sind, dass
Einleitung. 211
sie die Lust wohl anwandeln kann, das moralisclie Ge-
setz, ob sie gleich dessen Ansehen selbst anerkennen,
doch zu übertreten, und selbst, wenn sie es befolgen,
es dennoch ungern (mit Widerstand ihrer Neigung)
zu thun, als worin der Zwang eigentlich besteht.*) —
Da aber der Mensch doch ein freies (moralisches)
Wesen ist, so kann der Pflichtbegriff keinen anderen,
als den Selbstzwang (durch die Vorstellung des Ge-
setzes allein; enthalten, wenn es auf die innere Willens-
bestimmung (die Triebfeder) angesehen ist, denn da-
durch allein wird es möglich, jene Nöthigung (selbst,
wenn sie eine äussere wäre) mit der Freiheit der Will-
kür zu vereinigen, wobei aber alsdann der Pflichtbe-
gi'iff ein ethischer sein wird.
Die Antriebe der Natur enthalten also Hindernisse
der Pflichtvollziehung im Gemüth des Menschen, und,
zum Theil, mächtig widerstrebende Kräfte, die also zu
bekämpfen und durch die Vernunft, nicht erst künftig,
sondern gleich jetzt (zugleich mit dem Gedanken) zu be-
siegen er sich vermögend urtheilen muss: nämlich das
zu können, was das Gesetz unbedingt befiehlt, dass
er thun soll.
Nun ist das Vermögen und der überlegte Vorsatz
*) Der Mensch aber findet sich doch als moralisches
Wesen zugleich, wenn er sich objektiv, wozu er durch seine
reine praktische Vernunft bestimmt ist fnach der Mensch-
heit in seiner eigenen Person), betrachtet, heilig genug,
um das innere Gesetz ungern zu übertreten; denn es giebt
keinen so verruchten Menschen, der bei dieser Uebertretung
in sich nicht einen Widerstand fühlte, und eine Verab-
scheuung seiner selbst, bei der er sich selbst Zwang an-
thun muss. — Das Phänomen nun: dass der Mensch auf
diesem Scheidewege (wo die schöne Fabel den Herkules
zwischen Tugend und Wollust hinstellt) mehr Hang zeigt,
der Neigung, als dem Gesetz Gehör zu geben, zu erklären
ist unmöglich; weil wir, was geschieht, nur erklären können,
indem wir es von einer Ursache nach Gesetzen der Natur
ableiten; wobei wir aber die Willkür nicht als frei denken
würden. — Dieser wechselseitig entgegengesetzte Selbst-
zwang aber, und die Unvermeidlichkeit desselben giebt
doch die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit selbst zu
erkennen.
14*
212 Tugendlehre.
einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand zu
thiin, die Tapferkeit (fortitudo) und in Ansehung des
Gegners der sittlichen Gesinnung in uns, Tugend {virtus,
fortitudo moralis). Also ist die allgemeine Pflichten-
lehre in dem Theil, der nicht die äussere Freiheit,^
sondern die innere unter Gesetze bringt, eine Tugend-
lehre.
Die Rechtslehre hatte es bloss mit der formalen
Bedingung der äusseren Freiheit (durch die Zusammen-
stimmung mit sich selbst, wenn ihre Maxime zum allge-
meinen Gesetz gemacht wurde), d. i. mit dem Recht
zu thun. Die Ethik dagegen giebt noch eine Materie
(einen Gegenstand der freien Willkür), einen Zweck
der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-noth wendiger
Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt
wird, an die Hand. — Denn da die sinnlichen Nei-
gungen zu Zwecken (als der Materie der Willkür) ver-
leiten, die der Pflicht zuwider sein können, so kann die
gesetzgebende Vernunft ihrem Einfluss nicht anders
wehren, als wiederum durch einen entgegengesetzten
moralischen Zweck, der also von der Neigung unab-
liängig a lyriori gegeben sein muss.
Zweck ist ein Gegenstand der Willkür (eines ver-
nünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu
einer Handlung, diesen Gegenstand hervorzubringen,
bestimmt wird. — Nun kann ich zwar zu Handlungen,
die als Mittel auf einen Zweck gerichtet sind, nie aber
einen Zweck zu haben von Anderen gezwungen
werden, sondern ich kann nur selbst mir etwas zum
Zweck machen. — Wenn ich aberf) auch verbunden
bin, mir irgend etwas, was in den Begriffen der prakti-
schen Vernunft liegt, zum Zwecke zu machen, mithin,
ausser dem formalen Bestimmungsgrunde der Willkür
(wie das Recht dergleichen enthält), noch einen materialen,
einen Zweck zu haben, der dem Zweck aus sinnlichen
Antrieben entgegengesetzt werden könne; so giebt dieses
den Begriff von einem Zweck, tt) <ier an sich selbst
Pflicht ist; die Lehre desselben aber kannfft) nicht
t) 1. Ausg.: „Dass ich aber''
tt) ]. Ausg.: „dieses würde der Begriff. . . . Zweck sein"
t++) 1. Ausg.: ., würde"
Einleitung. 213
zu der des Rechts, sondern miiss zur Ethik gehören,
als welche allein den Selbstzwang nach moralischen
Gesetzen in ihrem Begriffe mit sich führt.
Aus diesem Grunde kann die Ethik auch als das
System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft
definirt werden. — Zweck und Zwangspflicht f) unter-
scheiden die zwei Abtheilungen der allgemeinen Sitten-
lehre. Dass die Ethik Pflichten enthalte, zu deren Beobach-
tung man von Anderen nicht (physisch) gezwungen
werden kann, ist bloss die Folge daraus, dass sie eine
Lehre der Zwecke ist, weil ein Zwang, dergleichen
zu haben oder sich vorzusetzen, sich selbst wider-
spricht, tt)
Dass aber die Ethik eine Tu gen dl ehre {doctrina
officiorum virtiitis) sei, folgt aus der obigen Erklärung
der Tugend, verglichen mit der Verpflichtung, deren
Eigenthümlichkeit so eben gezeigt worden. — Es giebt
nämlich keine andere Bestimmung der Willkür, die
durch ihren Begriff schon dazu geeignet wäre, von der
Willkür Anderer selbst physisch nicht gezwungen
werden zu können, als nur die zu einem Zwecke, Ein
Anderer kann mich zwar zwingen, etwas zu thun,
w^as nicht mein Zweck (sondern nur Mittel zum Zweck
eines Anderen) ist, aber nicht dazu, dass ich es mir
zum Zweck mache, und doch kann ich keinen Zweck
liaben, ohne ihn mir zu machen. Das Letztere wäreftt)
ein Widersprucli mit sich selbst; ein Akt der Freiheit,
der doch zugleich nicht frei wäre, ftt) — Aber sich selbst
einen Zweck zu setzen, der zugleich Pfliclit ist, ist kein
Widerspruch; weil ich da mich selbst zwinge, welches
mit der Freiheit gar wohl zusammen besteht.*) — Wie
t) 1. Ausg.: „Zweck und Pflicht''
tt; 1. Ausg.: „weil dazu (sie zu haben) ein Zwang sich
selbst widerspricht."
ttt; 1. Ausg.: „ist"
*) Je weniger der Mensch physisch, je mehr er dagegen
moralisch (durch die blosse Vorstellung der Pflicht) kann
gezwungen werden, desto freier ist er. — Der, so z. B.
von genugsam fester Entschliessung und starker Seele ist,
eine Lustbarkeit, die er sich vorgenommen hat, nicht auf-
zugeben, man mag ihm noch so viel Schaden vorstellen,
214 Tugendlehre.
ist aber ein solcher Zweck möglich? das ist jetzt die
Frage. Denn die Möglichkeit des Begriffs von einer
Sache (dass er sich nicht widerspricht) ist noch nicht
hinreichend dazu, um die Möglichkeit der Sache selbst
(die objektive Realität des Begriffs) anzunehmen.^"^)
II.
Erörterung des Begriffs von einem Zwecke, der zu-
gleich Pflicht ist.
Man kann sich das Verhältniss des Zwecks zur Pflicht
auf zweierlei Art denken: entweder, von dem Zwecke
ausgehend, die Maxime der pflichtmässigen Handlungen^
oder umgekehrt, von dieser anhebend, den Zweck aus-
findig zu machen, der zugleich Pflicht ist. — Die Rechts-
lehre geht auf dem ersten Wege. Es wird Jedermanns
freier Willkür überlassen, welchen Zweck er sich für
seine Handlung setzen wolle. Die Maxime derselben
aber ist a 'priori bestimmt: dass nämlich die Freiheit
des Handelnden mit jedes Anderen Freiheit nach einem
allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne.
Die Ethik aber nimmt einen entgegengesetzten Weg.
Sie kann nicht von den Zwecken ausgehen, die der
Mensch sich setzen mag, und darnach über seine zu
nehmenden Maximen, d. i. über seine Pflicht verfügen;
denn das wären empirische Gründe der Maximen, die
keinen Pflichtbegriff abgeben ; indem dieser, das katego-
rische Sollen, in der reinen Vernunft allein seine Wurzel
hat; wie denn auch, wenn die Maximen nach jenen
Zwecken (welche alle selbstsüchtig sind) genommen
werden sollten, vom Pflichtbegriff eigentlich gar nicht
die Rede sein könnte. — Also wird in der Ethik der
Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen, in
den er sich dadurch zuzieht, aber auf die Vorstellung, dass
er hierbei eine Amtspflicht verabsäume, oder einen kranken
Vater vernachlässige, von seinem Vorsatz unbedenklich,
obzwar sehr ungern absteht, beweist eben damit seine Frei-
heit im höchsten Grade, dass er der Stimme der Pflicht
nicht widerstehen kann.
Einleitung. 215
AnsehuDg der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach
moralischen Grundsätzen begründen müssen.
Dahin gestellt: was denn das für ein Zweck sei, der
an sich selbst Pflicht ist, und wie ein solcher möglich
sei, ist hier nur noch zu zeigen nöthig, dass und warum
eine Pflicht dieser Art den Namen einer Tugendpflicht
führe.
Aller Pflicht correspondirt ein Recht, als Befug-
nis s {facultas moralis generatim) betrachtet, aber nicht
allen Pflichten correspondiren Rechte eines Anderen
{facultas juridica), Jemand zu zwingen, sondern nur den
besonders sogenannten Rechtsp fliehten.!) — Eben so
correspondirt aller ethischen Verbindlichkeit der
Tugendbegrifi", aber nicht alle ethischen Pflichten sind
darum Tugendpflichten. Diejenigen nämlich sind es
nicht, welche nicht sowohl einen gewissen Zweck (Ma-
terie, Objekt der Willkür), als bloss das Förmliche der
sittlichen Willensbestimmung (z. B. dass die pflicht-
mässige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse)
betreff'en. Nur ein Zweck, der zugleich Pflicht
ist, kann Tu gen dp flieht genannt werden. Daher
giebt es mehrere der letzteren (auch verschiedene Tu-
genden); dagegen von der ersteren nur eine, aber für
alle Handlungen gültige Pflicht (nur eine tugendhafte
Gesinnung), tt) gedacht wird.
Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesent-
lich darin unterschieden, dass zu dieser ein äusserer
Zwang moralisch-möglich ist, jene aber auf dem freien
Selbstzwange allein beruht. — Für endliche, heilige
Wesen (die zur Verletzung der Pflicht gar nicht ein-
mal versucht werden können) giebt es keine Tugend-
lehre, sondern bloss Sittenlehre, welche letztere eine
Autonomie der praktischen Vernunft ist, indessen dass
die erste zugleich eine Autokratie derselben, d. i.
ein, wenngleich nicht unmittelbar wahrgenommenes, doch
aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig ge-
schlossenes Bewusstsein des Vermögens enthält, über
t) 1. Ausg. : „sondern diese heissen besonders Rechts-
pflichten"
tt; 1. Ausg.: „gültige (tugendhafte Gesinnung)''
216 Tugendlehre.
seine dem Gesetz widerspänstigen Neigungen Meister
zu werden; so dass die menschliche Moralität in ihrer
höchsten Stufe doch nichts mehr, als Tugend sein kann;
selbst wenn sie ganz rein (vom Einflüsse einer, der
Pflicht fremdartigen Triebfeder völlig frei)t) wäre, da
sie dann gemeiniglich als ein Ideal (dem man stets sich
annähern müsse) unter dem Namen des Weisen
dichterisch personificirt wird.
Tugend ist aber auch nicht bloss als Fertigkeit
und (wie die Preisschrift des Hofpred. Cochius sich
ausdrückt) für eine lange, durch Uebung erworbene
Gewohnheit moralisch guter Handlungen zu erklären
und zu würdigen. Denn wenn diese nicht eine Wirkung
überlegter, fester und immer mehr geläuterter Grund-
sätze ist, so ist sie, wie ein jeder andere Mechanismus
aus technisch-praktischer Vernunft, weder auf alle Fälle
gerüstet, noch vor der Veränderung, die neue Anlockun-
gen bewirken können, hinreichend gesichert.^^)
Anmerkung.
Der Tugend = -\- a ist die negative Untugend
(moralische Schwäche) = 0 als logisches Gegen-
theil {contradictorie oppositwn), das Laster aber = — a
als Wid erspiel {contraHe s. realiter oppositum) ent-
gegengesetzt, und es ist eine nicht bloss unnöthige,
sondern auch anstössige Frage: ob zu grossen Ver-
brechen nicht etwa mehr Stärke der Seele, als selbst
zu grossen Tugenden gehöre? Denn unter Stärke der
Seele verstehen wir die Stärke des Vorsatzes eines
Menschen, als mit Freiheit begabten Wesens, mithin so-
fern er seiner selbst mächtig (bei Sinnen) ist, also im
gesunden Zustande der Seele sich befindet. Grosse
Verbrechen aber sind Paroxysmen, deren Anblick den
an der Seele gesunden Menschen schaudern macht. Die
Frage würde also etwa dahin auslaufen: ob ein Mensch
im Anfall einer Raserei mehr physische Stärke haben
könne, als wenn er bei Sinnen ist? welches man ein-
räumen kann, ohne ihm darum mehr Seelenstärke bei-
t) 1. Ausg.: „vom Einflüsse aller fremdartigen Trieb-
feder als der der Pflicht völlig frei"
Einleitung. 217
zulegen, wenn man unter Seele das Lebensprinzip des
Menschen im freien Gebrauch seiner Kräfte versteht.
Denn weil jene bloss in der Macht der die Vernunft
schwächenden Neigungen ihren Grund haben, welches
keine Seelenstärke beweiset, so würde diese Frage mit
der ziemlich auf einerlei hinauslaufen: ob ein Mensch
im Anfall einer Krankheit mehr Stärke, als im gesunden
Zustande beweisen könne? welche geradezu verneinend
beantwortet werden kann, weil der Mangel der Gesund-
heit, die im Gleichgewicht aller körperlichen Kräfte des
Menschen besteht, eine Schwächung im System dieser
Kräfte ist, nach welchem man allein die absolute Ge-
sundheit beurtheilen kann.
III.
Von dem Grunde, sich einen Zweck, der zugleich
Pflicht ist, zu denken.
Zweck ist ein Gegenstand der freien Willkür,
dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt,
wodurch jener hervorgebracht wird. Eine jede Hand-
lung hat also ihren Zweck, und da Niemand einen
Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner
Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein
Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine
Wirkung der Natur, irgend einen Zweck der Hand-
lungen zu haben. Weil aber dieser Akt, der einen
Zweck bestimmt, ein praktisches Prinzip ist, welches
nicht die Mittel (mithin nicht bedingt), sondern den
Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet, so ist es ein
kategorischer Imperativ der reinen praktischen Ver-
nunft, mithin ein solcher, der einen Pflichtbegriff
mit dem eines Zweckes überhaupt verbindet.
Es muss nun einen solchen Zweck und einen ihm
correspondirenden kategorischen Imperativ geben. Denn
da es freie Handlungen giebt, so muss es auch Zwecke
geben, auf welche, als Objekt, jene gerichtet sind. Unter
diesen Zwecken muss es aber auch einige geben, die
zugleich (d. i. ihrem Begriffe nach) Pflichten sind. —
Denn gäbe es keine dergleichen, so würden, weil doch
keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für
21g Tugendlehre,
die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu andern
Zwecken gelten, und ein kategorischer Imperativ wäre
unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt.
Hier ist also nicht von Zwecken, die der Mensch
sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht,
sondern von Gegenständen der freien Willkür unter ihren
Gesetzen die Rede, welche er sich zum Zweck machen
soll. Man kann jene die technische (subjektive), eigent-
lich pragmatische, die Regel der Klugheit in der Wahl
seiner Zwecke enthaltende; diese aber muss man die
moralische (objektive) Zwecklehre nennen, welche Unter-
scheidung hier doch überflüssig ist, weil die Sittenlehre
sich schon durch ihren Begriff von der Naturlehre (hier
der Anthropologie) deutlich absondert, als welche letztere
auf empirischen Prinzipien beruht, dagegen die moralische
Zwecklehre, die von Pflichten handelt, auf a 'priori in
der reinen praktischen Vernunft gegebenen Prinzipien
beruht.
IV.
Welche sind die Zwecke, die zugleich Pflichten sind?
Sie sind: eigene Vollkommenheit, — fremde
Glückseligkeit.
Man kann diese nicht gegen einander umtauschen
und eigene Glückseligkeit einerseits mit fremder
Vollkommenheit andererseits zu Zwecken machen^
die an sich selbst Pflichten derselben Persou wären.
Denn eigene Glückseligkeit ist ein Zweck, den
zwar alle Menschen (vermöge des Antriebes ihrer Na-
tur) haben, nie aber kann dieser Zweck als Pflicht an-
gesehen werden, ohne sich selbst zu widersprechen.
Was ein Jeder unvermeidlich schon von selbst will, das
gehört nicht unter den Begriff" von Pflicht; denn diese
ist eine Nöthigung zu einem ungern genommenen
Zweck. Es widerspricht sich also, zu sagen: man sei
verpflichtet, seine eigene Glückseligkeit mit allen
Kräften zu befördern.
Ebenso ist es ein Widerspruch : eines Anderen Voll-
kommenheit mir zum Zweck zu machen und mich
Einleitung. 219
zu deren Berörderung für verpflichtet zu halten. Denn
darin besteht eben die V o 1 1 k o m m e n h e i t eines andern
Menschen, als einer Person, dass er selbst vermögend
ist, sich seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von
Pflicht zu setzen, und es widerspricht sich, zu fordern
(mir zur Pflicht zu machen), dass ich etwas thun soll,
was kein Anderer, als er selbst thun kann.^'«^)
Erläuterung dieser zwei Begriffe.
A.
Eigene Vollkommenheit.
Das Wort Vollkommenheit ist mancher Miss-
deutung ausgesetzt. Es wird bisweilen als ein zur
Transscendentalphilosophie gehörender Begriff der All-
heit des Mannigfaltigen, was zusammengenommen ein
Ding ausmacht, — dann aber auch, als zur Teleologie
gehörend, so verstanden, dass es die Zusammenstimmung
der Besciiaffeuheiten eines Dinges zu eineni Zwecke
bedeutet. Man könnte die Vollkommenheit in der ersteren
Bedeutung die quantitative (materiale), in der zweiten
die qualitative (formale) Vollkommenheit nennen.
Jene kann nur eine sein (denn das All des einem Dinge
Zugehörigen ist Eins). Von dieser aber kann es in einem
Dinge mehrere geben; und von der letzteren wird hier
auch eigentlich gehandelt.
Wenn von der dem Menschen überhaupt (eigentlich
der Menschheit) zugehörigen Vollkommenheit gesagt
wird, dass, sie sich zum Zweck zu machen, an sich
selbst Pflicht sei, so muss sie in demjenigen gesetzt
werden, was Wirkung von seiner That sein kann,
nicht was bloss Geschenk ist, das er der Natur ver-
danken muss; denn sonst wäre sie nicht Pflicht. Sie
kann also nichts Anderes sein, als Cultur seines Ver-
mögens (oder der -Naturanlage), in welchem der Ver-
stand, als Vermögen der Begriffe, mithin auch deren,
die auf Pflicht gehen, das oberste ist, zugleich aber
220 Tugendlehre.
auch seines Willens (sittlicher Denkuugsart) , aller
Pflicht überhaupt ein Genüge zu thun. 1) Es ist ihm
Pflicht, sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der
Thierheit {quoad actum) immer mehr zur Menschheit,
durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen,
emporzuarbeiten; seine Unwissenheit durch Belehrung
zu ergänzen und seine Irrthümer zu verbessern, und
dieses ist ihm nicht bloss die technisch-praktische Ver-
nunft zu seinen anderweitigen Absichten (der Kunst)
anrät h ig, sondern die moralisch-praktische gebietet
es ihm schlechthin, und macht diesen Zweck ihm zur
Pflicht, um der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig
zu sein. 2) Die Cultur seines Willens bis zur reinsten
Tugendgesinnung, da nämlich das Gesetz zugleich die
Triebfeder seiner pflichtmässigen Handlungen wird, zu
erheben und ihm aus Pflicht zu gehorchen, welches
innere moraliscli - praktische Vollkommenheit ist; die,
weil sie ein Gefühl der Wirkung ist, welche der in ihm
selbst gesetzgebende Wille auf das Vermögen ausübt
darnach zu handeln, der moralische Sinn heisst,
gleichsam ein besonderer Sinn {sensus moralis),j) der
zwar freilich oft schwärmerisch, als ob er (gleich dem
Genius des Sokrates) vor der Vernunft vorhergehe, oder
auch ihr Urtheil gar entbehren könne, missbraucht wird,
doch aber eine sittliche Vollkommenheit ist, jeden be-
sonderen Zweck, der zugleich Pflicht ist, sich zu dem
seinigen tt) zu machen.^^)
B.
Fremde Glückseligkeit.
Glückseligkeit, d. i. Zufriedenheit mit seinem Zu-
stande, sofern man der Fortdauer derselben gewiss ist,
sich zu wünschen und zu suchen, ist der menschlichen
Natur unvermeidlich; eben darum aber auch nicht ein
Zweck, der zugleich Pflicht ist. — Da Einige noch
einen Unterschied zwischen einer moralischen und phy-
t) 1. Ausg.: „handeln, das moralische Gefühl,
gleichsam . . . moralis) ist"
it;; 1. Ausg.: ,,zum Gegenstande"
Einleitung. 221
sischen Glückseligkeit raaclien (deren erstere in der Zu-
friedenheit mit seiner Person und ilirera eigenen sitt-
liclien Verhalten, also mit dem, was man thut, die
andere mit dem, was die Natur beschert, mithin, was
man als fremde Gabe geniesst, bestehe), so muss man
bemerken, dass, ohne den Missbrauch des Worts hier
zu rügen (der schon einen Widerspruch in sich enthält),
die erste Art zu empfinden allein zum vorigen Titel,
nämlich dem der Vollkommenheit gehöre. — Denn der,
welcher sich im blossen Bewusstsein seiner Recht-
schaffenheit glücklich fühlen soll, besitzt schon diejenige
Vollkommenheit, die im vorigen Titel für denjenigen
Zweck erklärt war, der zugleich Pflicht ist.
Wenn es also auf Glückseligkeit ankommt, worauf,
als meinen Zweck, hinzuwirken es Pflicht sein soll, so
muss es die Glückseligkeit anderer Menschen sein,
deren (erlaubten) Zweck ich hiermit auch zu dem
meinigen mache. Was diese zu ihrer Glückseligkeit
zählen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurtheilen über-
lassen; nur dass mir auch zusteht, manches zu weigern,
was sie dazu rechnen, was ich aber nicht dafür halte,
wenn sie sonst kein Recht haben, es als das Ihrige von
mir zu fordern. Jenem Zweck aber eine vorgebliche
Verbindlichkeit entgegen zu setzen, meine eigene
(physische) Glückseligkeit auch besorgen zu müssen, und
so diesen meinen natürlichen und bloss subjektiven Zweck
zur Pflicht (objektiven Zweck) machen, ist ein schein-
barer, mehrmals gebrauchter Einwurf gegen die obige
Eintheilung der Pflichten fNo. IV.) und bedarf einer
Zurechtweisung.
Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel sind grosse
Versuchungen zu Uebertretung seiner Pflicht, Wohl-
habenheit, Stärke, Gesundheit und Wohlfahrt überhaupt,
die jenem Einflüsse entgegen stehen, können also auch,
wie es scheint, als Zwecke angesehen werden, die zu-
gleich Pflicht sind; nämlich seine eigene Glück-
seligkeit zu befördern, und sie nicht bloss auf fremde zu
richten. — Aber alsdenn ist diese nicht der Zweck,
sondern die Sittlichkeit des Subjekts ist es, von welchem
die Hindernisse wegzuräumen, es bloss das erlaubte
Mittel ist; da Niemand anders ein Recht hat, von mir
Aufopferung meiner nicht unmoralischen Zwecke zu
222 Tugendlehre.
fordern. Wohlhabenheit für sich selbst zu suchen, ist
direkt nicht Pflicht; aber indirekt kann es eine solche
wohl sein ; nämlich Armuth, als eine grosse Versuchung
zu Lastern, abzuwehren. Alsdann aber ist es nicht
meine Glückseligkeit, sondern meine Sittlichkeit, deren
Integrität zu erhalten mein Zweck und zugleich meine
Pflicht ist.«»)
VI.
Die Ethik giebt nicht Gesetze für die Handlungen,
(denn das thut die Rechtslehret) sondern nur für
die Maximen der Handlungen.
Der Pflichtbegriff steht unmittelbar in Beziehung auf
ein Gesetz (wenn ich gleich noch von allem Zweck, als
der Materie desselben, abstrahire) , wie denn das formale
Prinzip der Pflicht im kategorischen Imperativ: „handle
so, dass die Maxime deiner Handlung ein allgemeines
Gesetz werden könne", es schon anzeigt; nur dass in
der Ethik dieses als das Gesetz deines eigenen Willens
gedacht wird, nicht des Willens überhaupt, der auch der
Wille Anderer sein könnte ; wo es alsdenn eine Rechts-
pflicht abgeben würde, die nicht in das Feld der Ethik
gehört. Die Maximen werden hier als solche sub-
jektive Grundsätze angesehen, die sich zu einer allge-
meinen Gesetzgebung bloss qualificiren; welches nur
ein negatives Prinzip (einem Gesetz überhaupt nicht zu
widerstreiten) ist. — Wie kann es aber dann noch ein
Gesetz für die Maxime der Handlungen geben?
Der Begriff eines Zwecks, der zugleich Pflicht ist,
welcher der Ethik eigenthümlich zugehört, ist es allein,
der ein Gesetz für die Maximen der Handlungen be-
gründet, indem der subjektive Zweck (den Jedermann
hat) dem objektiven (den sich Jedermann dazu machen
soll) untergeordnet wird. Der Imperativ: „du sollst dir
dieses oder jenes (z. B. die Glückseligkeit Anderer)
zum Zweck machen", geht auf die Materie der Willkür
(ein Objekt). Da nun keine freie Handlung möglich
ist, ohne dass der Handelnde hierbei zugleich einen
t) 1. Ausg.:
Einleitung. 223
Zweck (als Materie der Willkür) beabsichtigte, so muss,
wenn es einen Zweck giebt, der zugleich Pflicht ist, die
Maxime der Handlungen, als Mittel zu Zwecken, nur
die Bedingung der Qualifikation zu einer möglichen all-
gemeinen Gesetzgebung enthalten; wogegen der Zweck,
der zugleich Pflicht ist, es zu einem Gesetz machen
kann, eine solche Maxime zu haben, indessen dass für
die Maxime selbst die blosse Möglichkeit, zu einer all-
gemeinen Gesetzgebung zusammenzustimmen, schon
genug ist.
Denn Maximen der Handlungen können willkür-
lich sein, und stehen nur unter der einschränkenden
Bedingung der Habilität zu einer allgemeinen Gesetz-
gebung, als formalem Prinzip der Handlungen. Ein
Gesetz aber hebt das Willkürliche der Handlungen
auf, und ist darin von aller Anpreisung (da bloss die
schicklichsten Mittel zu einem Zwecke zu wissen ver-
langt werden) unterschieden.-^)
vn.
Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen
die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit ♦
Dieser Satz ist eine Folge aus dem vorigen; denn
wenn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht
die Handlungen selbst gebieten kann, so ist's ein Zeichen,
dass es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum
{latitudo) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht be-
stimmt angeben könne, wie und wieviel durch die Hand-
lung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt
- werden solle. — Es wird aber unter einer weiten Pflicht
nicht eine Erlaubniss zu Ausnahmen von der Maxime
der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung
einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die allge-
meine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden,
wodurch in der That das Feld für die Tugendpraxis
erweitert wird. — Je weiter die Pflicht, je unvollkommener
also die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung ist,
je näher er gleichwohl die Maxime der Observanz der-
selben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des
224 Tugendlehre.
Rechts) bringt, desto vollkommener ist seine Tugend-
handlung.
Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugend-
pflichten. Die Erfüllung derselben ist Verdienst
{meritum) =-- + «; ihre Uebertretung aber ist nicht so-
fort Verschuldung {demeritum) = — a, sondern bloss
moralischer Unwerth = 0, ausser wenn es dem Sub-
jekt Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen»
Die Stärke des Vorsatzes im ersteren heisst eigentlich
allein Tugend (^virtus), die Schwäche in der zweiten
nicht sowohl Laster {vitium)^ als vielmehr bloss Un-
tugend, Mangel an moralischer Stärke {defectus moj'cdis).
(Wie das Wort Tugend von taugen herkömmt, so be-
deutet Untugend der Etymologie nach so viel als zu
nichts taugen, t) Eine jede pflichtwidrige Handlung
heisst Uebertretung {jwccatum). Die vorsätzliche
Uebertretung aber, die zum Grundsatz geworden ist,
macht eigentlich das aus, was man Laster {yitium) nennt.
Obzwar die Angemessenheit der Handlungen zum
Rechte (ein rechtlicher Mensch zu sein) nichts Verdienst-
liches ist, so ist doch die der Maxime solcher Handlungen,
als Pflichten, d i. die Achtung fürs Recht verdienst-
lich. Denn der Mensch mach t sich dadurch das Recht
der Menschheit, oder auch der Menschen, zum Zweck,
und erweitert dadurch seinen Pflichtbegriff über den der
Schuldigkeit {offirAum debiti); weil ein Anderer aus
seinem Rechte wohl Handlungen nach dem Gesetz, aber
nicht, dass dieses auch zugleich die Triebfeder zu den-
selben enthalte, von mir fordern kann. Ebendieselbe
Bewandniss hat es auch mit dem allgemeinen ethischen
Gebote: „handle pflichtmässig, aus Pflicht." Diese Ge-
sinnung in sich zu gründen und zu beleben ist, sowie
die vorige, verdienstlich; weil sie über das Pflicht-
gese-tz der Handlungen hinausgeht, und das Gesetz, an
sich, zur Triebfeder macht.
Aber eben darum müssen auch diese Pflichten zur
weiten Verbindlichkeit gezählt werden, in Ansehung
deren ein subjektives Prinzip ihrer ethischen Belohnung,
und zwar, um sie dem Begriffe einer engen Verbindlich-
ti 1. Ausg : „(Wie das Wort Tugend von taugen, so
stammt Untugend von zu nichts taugen.)"
Einleitung. 225
keit so nahe, als möglich zu bringen,!) cler Empfäng-
lichkeit derselben nach dem Tugendgesetze, stattfindet,
nämlich einer moralischen Lust, die über die blosse Zu-
friedenheit mit sich selbst (die bloss negativ sein kann)
hinausgeht, und von der man rühmt, dass die Tugend
in diesem Bewusstsein ihr eigner Lohn sei.
Wenn dieses Verdienst ein Verdienst des Menschen
um andere Menschen ist, ihren natürlichen und von
allen Menschen dafür anerkannten Zweck zu befördern
(ihre Glückseligkeit zu der seinigen zu machen), so
könnte man dies das süsse Verdienst nennen, dessen
Bewusstsein einen moralischen Genuss verschafft, in
welchem Menschen durch Mitfreunde zu schwelgen
geneigt sind; indessen dass das saure Verdienst,
anderer Menschen wahres Wohl, auch wenn sie es für
ein solches nicht erkennten (an Unerkenntlichen, Un-
dankbaren) doch zu befördern, eine solche Rückwirkung
gemeiniglich nicht hat, sondern nur Zufriedenheit
mit sich selbst bewirkt, obzwar es im letzten Falle noch
grösser sein würde.^^)
VlIL
Exposition der Tugendpflichten, als weitere Pflichten.
1. Eigene Vollkommenheit als Zweck, der zu-
gleich Pflicht ist.
a) Physische, d. i. Kultur aller Vermögen
überhaupt, zu Beförderung der durch die Vernunft vor-
gelegten Zwecke. Dass dieses Pflicht, mithin an sich
selbst Zweck sei, und jener Bearbeitung, auch ohne
Rücksicht auf den Vortheil, den sie uns gewährt, nicht
ein bedingter (pragmatischer), sondern unbedingter (mo-
ralischer), Imperativ zum Grunde liege, ist hieraus zu
ersehen. Das Vermögen, sich überhaupt irgend einen
Zweck zu setzen, ist das Charakteristische der Mensch-
heit (zum Unterschiede von der Thierheit). Mit dem
Zwecke der Menschheit in unserer eigenen Person ist
also auch der Vernunftwille, mithin die Pflicht verbun-
t) L Ausg.: „bringen, d. i. der Empfänghehkeit."
Kant, Metaphysik der Sitten. 15
226 Tugendlehre.
den, sich um die Menschheit durch Kultur überhaupt
verdient zu machen, sich das Vermögen zu Ausführung
allerlei möglicher Zwecke, sofern dieses in dem Menschen
selbst anzutreffen ist, zu verschaffen oder es zu fördern,
d. i. eine Pflicht zur Kultur der rohen Anlagen seiner
Natur, als wodurch das Thier sich allererst zum Men-
schen erhebt: mithin Pflicht an sich selbst.
Allein diese Pflicht ist bloss ethisch, d. i. von weiter
Verbindlichkeit. Wie weit man in Bearbeitung (Er-
weiterung oder Berichtigung seines Verstandesvermögens,
d. i. in Kenntnissen oder in Kunstfähigkeit) gehen solle,
schreibt kein Vernunftprinzip bestimmt vor; auch macht
die Verschiedenheit der Lagen, worein Menschen kommen
können, die Wahl der Art der Beschäftigung, dazu er
sein Talent anbauen soll, sehr willkürlich. — Es ist
also hier kein Gesetz der Vernunft für die Handlungen,
sondern bloss für die Maxime der Handlungen, welche
so lautet: „baue deine Gemüths- und Leibeskräfte zur
Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstossen
können, ungewiss, welche davon einmal die deinigen
werden könnten."
b) Kultur der Moralität in uns. Die grösste
moralische Vollkommenheit des Menschen ist: seine
Pflicht zu thun und zwar aus Pflicht (d*ass das Gesetz
nicht bloss die Regel, sondern auch die Triebfeder der
Handlungen sei). — Nun scheint dieses zwar beim
ersten Anblick eine enge Verbindlichkeit zu sein, und
das Pflichtprinzip zu jeder Handlung nicht bloss die
Legalität, sondern auch die Moralität, d. i. Ge-
sinnung, mit der Pünktlichkeit und Strenge eines Ge-
setzes zu gebieten; aber in der That gebietet das Gesetz
auch hier nur die Maxime der Handlung, nämlich
den Grund der Verpflichtung nicht in den sinnlichen
Antrieben (Vortheil oder Nachtheil), sondern ganz und
gar im Gesetz zu suchen, — mithin nicht die Hand-
lung selbst. Denn es ist dem Menschen nicht
möglich, so in die Tiefe seines eigenen Herzens einzu-
schauen, dass er jemals von der Reinigkeit seiner mo-
ralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung
auch nur in einer Handlung völlig gewiss sein könnte;
wenn er gleich über die Legalität derselben gar nicht
zweifelhaft ist. Vielmals wird Schwäche, welche einem
Einleitung. 227
Menschen das Wagstück eines Verbrechens abräth, von
demselben für Tugend (die den Begriff von Stärke giebt)
gehalten, und wie Viele mögen ein langes schuldloses
Leben geführt haben, die nur Glückliche sind, so
vielen Versuchungen entgangen zu sein; wie viel reiner
moralischer Gehalt bei jeder That in der Gesinnung
gelegen habe, das bleibt ihnen selbst verborgen.
Also ist auch diese Pflicht, den Werth seiner Hand-
lungen nicht bloss nach der Legalität, sondern auch der
Moralität (Gesinnung) zu schätzen, nur von weiter
Verbindlichkeit, das Gesetz gebietet nicht diese innere
Handlung im menschlichen Gemüth selbst, sondern bloss
die Maxime der Handlung, darauf nach allem Vermögen
auszugehen, dass zu allen pflichtmässigen Handlungen
der Gedanke der Pflicht für sich selbst hinreichende
Triebfeder sei.^^j
2. Fremde Glückseligkeit, als Zweck, der zu-
gleich Pflicht ist.
a) Physische Wohlfahrt. Das Wohlwollen kann
unbegrenzt sein; denn es darf hierbei nichts gethan
werden. Aber mit dem Wohlthun, vornehmlich wenn
es nicht aus Zuneigung (Liebe) zu Anderen, sondern
aus Pflicht, mit Aufopferung und Kränkung mancher
Konkupiscenz geschehen soll, geht es schwieriger zu.
— Dass diese Wohlthätigkeit Pflicht sei, ergiebt sich
daraus : dass, weil unsere Selbstliebe von dem Bedürfniss,
von Anderen auch geliebt zu werden (in Nothfällen von
ihnen Hülfe zu erhalten), t) nicht getrennt werden kann,
wir also uns zum Zweck für Andere machen, und diese
Maxime niemals anders, als bloss durch ihre Qualifikation
zu einem allgemeinen Gesetz, folglich durch einen Willen,
Andere auch für uns zu Zwecken zu machen, verbinden
kann, fremde Glückseligkeit ein Zweck sei, der zugleich
Pflicht ist.
Allein ich soll mit einem Theil meiner Wohlfahrt
ein Opfer an Andere, ohne Hofi'nung der Wiederver-
geltung, machen, weil es Pflicht ist, und nun ist un-
möglich, bestimmte Grenzen anzugeben, wieweit das
gehen könne. Es kommt sehr darauf an, was für jeden
nach seiner Empfindungsart wahres Bedürfniss sein
t) 1, Ausg.: „geliebt (in Nothfällen geholfen) zu werden^'
15*
228 Tugendlehre.
werde, welches zu bestimmen jedem selbst tiberlassen
bleiben muss. Denn mit Aufopferung seiner eigenen
Glückseligkeit, seiner wahren Bedürfnisse, Anderer ihre
zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende
Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz
machte. — Also ist diese Pflicht nur eine weite; sie
hat einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu thun,
ohne dass sich die Grenzen davon bestimmt angeben
lassen. — Das Gesetz gilt nur für die Maximen, nicht
für bestimmte Handlungen.
b) Moralisches Wohlsein Anderer {salus mm^alis)
gehört auch zu der Glückseligkeit Anderer, die zu be-
fördern für uns Pflicht, aber nur negative Pflicht ist.
Der Schmerz, den ein Mensch von Gewissensbissen fühlt,
obzwar sein Ursprung moralisch ist, ist doch, der Wir-
kung nach, physisch, wie der Gram, die Furcht und
jeder andere krankhafte Zustand. Zu verhüten, dass
jenen dieser innere Vorwurf nicht verdienter Weise treffe,
ist nun zwar eben nicht meine Pflicht, sondern seine
Sache; wohl aber nichts zu thun, was, nach der Natur
des Mensrhen, Verleitung sein könnte zu dem, worüber
ihn sein Gewissen nachher peinigen kann, das heisst,
ihm kein Skandal zu geben. f) — Aber es sind keine
bestimmten Grenzen, innerhalb welcher sich diese Sorg-
falt für die moralische Zufriedenheit Anderer halten liesse;
daher ruht auf ihr nur eine weite Verbindlichkeit.^^)
IX.
Was ist Tiigendpflicbt?
Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen
in Befolgung seiner Pflicht. — Alle Stärke wird nur
durch Hindernisse erkannt, die sie überwältigen kann;
bei der Tugend aber sind diese die Naturneigungen,
welche mit dem sittlichen Vorsatz in Streit kommen
können, und da der Mensch es selbst ist, der seinen
Maximen diese Hindernisse in den Weg legt, so ist die
t) 1. Ausg.: „peinigen kann, welches man Skandal
nennt."
Einleitung. 229
Tugend nicht bloss ein Seibstzwang (denn da könnte
eine Naturneigung die andere zu bezwingen trachten),
sondern auch ein Zwang nach einem Prinzip der Innern
Freiheit, mithin durch die blosse Vorstellung seiner Pflicht;
nach dem formalen Gesetz derselben.
Alle Pflichten enthalten einen Begriff der Nöthigung
durch das Gesetz; und zwar enthalten f) die ethischen
eine solche, wozu nur eine innere, die Rechtspflich-
ten dagegen eine solche Nöthigung, wozu auch eine
äussere Gesetzgebung möglich ist. In beiden liegt also
der Begrift' eines Zwanges, tt) er mag nun Selbstzwang
oder Zwang durch einen Anderen sein; da dann das
moralische Vermögen des ersteren Tugend, und die aus
einer solchen Gesinnung (der Achtung fürs Gesetz) ent-
springende Handlung Tugendhaudlung (ethisch) genannt
werden kann, obgleich das Gesetz eine Rechtspflicht
aussagt. Denn es ist die Tugendlehre, welche ge-
bietet, das Recht des Menschen heilig zu halten.
Aber was zu thun Tugend ist, das ist darum noch
nicht sofort eigentliche Tugendpflicht. Jenes kann
bloss das Formale der Maximen betreffen, diese aber
geht auf die Materie derselben, nämlich auf einen Zweck,
der zugleich als Pflicht gedacht wird. — Da aber die
ethische Verbindlichkeit zu Zwecken, deren es mehrere
geben kann, nur eine weite ist; weil sie da bloss ein
Gesetz für die Maxime der Handlungen enthält, und
der Zweck die Materie (Objekt) der Willkür ist, so giebt
es viele, nach Verschiedenheit des gesetzlichen Zwecks
verschiedene Pflichten, welche Tugendpflichten {officia
Jionestatis) genannt werden; eben darum, weil sie bloss
dem freien Selbstzwange, nicht dem Zwange anderer ttt)
Menschen unterworfen sind, und den Zweck bestimmen,
der zugleich Pflicht ist.
Die Tugend, als die in der festen Gesinnung ge-
gründete Uebereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht,
ist, wie alles Formale, bloss eine und dieselbe. Aber
in Ansehung des Zwecks der Handlungen, der zugleich
Pflicht ist, d. i. desjenigen (des Materialen), was man
t) „und zwar enthalten" Zusatz der 2. Ausg.
tt) 1. Ausg.: „möglich ist; beide also eines Zwanges"
ttt) 1. Ausg.: „nicht dem anderer"
230 Tugendlehre.
sich zum Zwecke machen soll, kann es mehr Tugen-
den geben, und da die Verbindlichkeit zu der Maxime
desselben Tugendpflicht heisst, so folgt, dass es auch
der Tugendpflichten mehrere gebe.t)
Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist: handle
nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für
Jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. — Nach
diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst, als
Anderen Zweck, und es ist nicht genug, dass er weder
sich selbst, noch Andere bloss als Mittel zu brauchen
befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent
sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum
Zwecke zu machen, ist an sich selbst des Menschen
Pflicht.
Dieser Grundsatz der Tugendlehre verstattet, als ein
kategorischer Imperativ, keinen Beweis, aber wohl eine
Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft. — Was
im Verhältniss der Menschen, zu sich selbst und Anderen,
Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen prak-
tischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke
überhaupt; in Ansehung derselben indiflferent zu sein,
d. i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Wider-
spruch; weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu
Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck
enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft
sein würde. Die reine Vernunft aber kann a prioi^i
keine Zwecke gebieten, als nur sofern sie solche zu-
gleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht alsdann
Tugendpflicht heisst.^^j
Das oberste Prinzip der Kechtslehre war analytisch;
das der Tugendlehre ist synthetisch.
Dass der äussere Zwang, sofern dieser ein dem
Hindernisse der nach allgemeinen Gesetzen zusammen-
stimmenden, äusseren Freiheit entgegengesetzter Wider-
t) 1. Ausg.: „und die Verbindlichkeit zu der Maxime
desselben heisst Tugendpflicht, deren es also viele giebt.''
Einleitung. 231
stand (ein Hinderniss des Hindernisses derselben) ist,
mit Zwecken überhaupt zusammen bestehen könne, ist
nach dem Satze des Widerspruchs klar, und ich darf
nicht über den Begriff der Freiheit hinausgehen, um
ihn einzusehen; der Zweck, den ein Jeder hat, mag
sein, welcher er wolle. — Also ist das oberste Rechts-
prinzip ein analytischer Satz.
Dagegen geht das Prinzip der Tugendlehre über den
Begriff der äusseren Freiheit hinaus, und verknüpft nach
allgemeinen Gesetzen mit demselben noch einen Zweck,
den es zur Pflicht macht. Dieses Prinzip ist also
synthetisch. — Die Möglichkeit desselben ist in der
Deduktion (§. IX.) enthalten.
Diese Erweiterung des Pflichtbegriffs über den der
äusseren Freiheit und der Einschränkung derselben durch
das blosse Förmliche ihrer durchgängigen Zusammen-
stimmung, wo die innere Freiheit, statt des Zwanges
von aussen, das Vermögen des Selbstzwanges und zwar
nicht vermittelst anderer Neigungen, sondern durch reine
praktische Vernunft (welche alle diese Vermittelung ver-
schmäht), aufgestellt wird, besteht darin und erhebt sich
dadurch über die Rechtspflicht, dass durch sie Zwecke
aufgestellt werden, von denen überhaupt das Recht
abstrahirt. — Im moralischen Imperativ, und der noth-
wendigen Voraussetzung der Freiheit zum Behuf des-
selben, machen das Gesetz, das Vermögen (es zu
erfüllen) und der die Maxime bestimmende Wille alle
Elemente aus, welche den Begriff der Rechtspflicht bil-
den. Aber in de-mjenigen, welcher die Tugendp flicht
gebietet, kommt, noch über den Begriff eines Selbst-
zwanges, der eines Zweckes dazu, nicht den wir haben,
sondern haben sollen, den also die reine praktische Ver-
nunft in sich hat, deren höchster, unbedingter Zweck
(der aber doch immer noch Pflicht ist) darin gesetzt
wird: dass die Tugend ihr eigener Zweck und, bei
dem Verdienst, das sie um den Menschen hat, auch
ihr eigener Lohn sei. Wobei sie, als Ideal, so glänzt,
dass sie nach menschlichem Augenmaass die Heilig-
232 Tugendlehre.
keit selbst, die zur Uebertretung nie versucht wird,
zu verdunkeln scheint;*) welches gleichwohl eine
Täuschung ist, da, weil wir kein Maass für den
Grad einer Stärke, als die Grösse der Hindernisse haben,
die da haben überwunden werden können (welche in
uns die Neigungen sind), wir die subjektiven Be-
dingungen der Schätzung einer Grösse für die objek-
tiven der Grösse an sich selbst zu halten verleitet
werden. Aber mit menschlichen Zwecken, die ins-
gesammt ihre zu bekämpfenden Hindernisse haben, ver-
glichen, hat es seine Richtigkeit, dass der Werth der
Tugend selbst, als ihres eigenen Zwecks, den Werth alles
Nutzensjund aller empirischen Zwecke und Vortheile
weit überwiege, die sie zu ihrer Folge immerhin haben
mag.
Man kann auch gar wohl sagen: der Mensch sei
zur Tugend (als einer moralischen Stärke) verbunden.
Denn obgleich das Vermögen {facultas) der Ueberwin-
dung aller sinnlichen entgegenwirkenden Antriebe, seiner
Freiheit halber, schlechthin vorausgesetzt werden
kann und muss; so ist doch dieses Vermögen als Stärke
(robur) etwas, was erworben werden muss, dadurch, dass
die moralische Triebfeder (die Vorstellung des Ge-
setzes) durch Betrachtung {contemplatione) der Würde
des reinen Vernunftgesetzes in uns, zugleich aber auch
durch Uebung {exercitio) erhoben wird.^*^)
*) So dass man zwei bekannte Verse von Ha 11 er also
variiren könnte :t)
Der Mensch mit seinen Mängeln
Ist besser, als das Heer von willenlosen Engeln.
t) Die Worte: „So dass — könnte:'' fehlen in der 1.
Ausgabe.
Einleitung. 233
XI.
Das Schema der Tugend pflicliten kann obigen Grund-
sätzen gemäss auf folgende Art verzeichnet werden:
Das Materiale der Tugendpflicht.
1. 2.
Eigener Zweck, ZweckAnderer,
der mir zugleich dessen Beförde-
Pflicht ist. rung mir zugleich ^
Pflicht ist.
Tnnpvp 1 (Meine eigene Voll- (DieGlückselig-
Tno-priri ' k 0 m m e n h e i t). k e i t Anderer). 1 Aeussere
S-iü \ o . ) Tugend-
Pfl^cht. \ 3. 4. ^ Pflicht.
Das Gesetz, wel- Der Zweck, der
ches zugleich Trieb- zugleich Triebfe-j
feder ist. der ist.
Worauf die M o r a- Worauf die L e g a-
lität lität
aller freien Willensbestimmuno: beruht.
Das Formale der Tugendpflicht.
XII.
Aesthetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des
Gemtiths für Pflichtbegriffe überhaupt.
Es sind solche moralische Beschaffenheiten, die, wenn
man sie nicht besitzt, es auch keine Pflicht geben kann,
sich in ihren Besitz zu setzen. — Sie sind das moralische
Gefühl, das Gewissen, die Liebe des Nächsten und
die Achtung für sich selbst (Selbstschätzung),
welche zu haben es keine Verbindlichkeit giebt; weil
sie als subjektive Bedingungen der Empfänglichkeit
für den Pflichtbegriff, nicht als objektive Bedingungen
der Moralität zum Grunde liegen. Sie sind insgesammt
234 Tugendlehre.
ästhetisch und vorhergehende, aber natürliche Ge-
müthsanlagen {praedispositio), durch Pflichtbegriflfe afficirt
zu werden; Anlagen, welche zu haben nicht als Pflicht
angesehen werden kann, sondern die jeder Mensch hat,
und kraft deren er verpflichtet werden kann. — Das
Bewusstsein derselben ist nicht empirischen Ursprungs;
sondern kann nur auf das eines moralischen Gesetzes,
als Wirkung desselben aufs Gemüth, folgen.
a.
Das moralische Gefühl.
Dieses ist die Empfänglichkeit für Lust oder Un-
lust, bloss aus dem Bewusstsein der Uebereinstimmung
oder des AViderstreites unserer Handlung mit dem Pflicht-
gesetze. Alle Bestimmung der Willkür aber geht von
der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Ge-
fühl der Lust oder Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung
ein Interesse zu nehmen, zurThat; wo der ästhetische
Zustand (der Afficirung des inneren Sinnes) nun ent-
weder ein pathologisches oder moralisches Ge-
fühl ist. — Das erste ist dasjenige Gefühl, welches vor
der Vorstellung des Gesetzes vorhergeht, das letzte das,
was nur auf diese folgen kann.
Nun kann es keine Pflicht geben, ein moralisches
Gefühl zu haben, oder sich ein solches zu erwerben;
denn alles Bewusstsein der Verbindlichkeit legt dieses
Gefühl zum Grunde, um sich der Nöthigung, die im
Pflichtbegriife liegt, bewusst zu werden; sondern ein
jeder Mensch (als ein moralisches Wesen) hat es ursprüng-
lich in sich; die Verbindlichkeit aber kann nur darauf
gehen, es zu cultiviren und, selbst durch die Be-
wunderung seines unerforschlichen Ursprungs, zu ver-
stärken: welches dadurch geschieht, dass gezeigt wird,
wie es, abgesondert von allem pathologischen Reize und
in seiner Reinigkeit, durch blosse Vernunft vor Stellung
eben am stärksten erregt wird.
Dieses Gefühl einen moralischen Sinn zu nennen
ist nicht schicklich ; denn unter dem Wort Sinn wird
gemeiniglich ein theoretisches, auf einen Gegenstand be-
Einleitung. 235
zogenes Wahrnehmungsvermögen verstanden ; dahingegen
das moralische Gefühl (wie Lust und Unlust überhaupt)
etwas bloss Subjektives ist, was kein Erkenntniss ab-
giebt. — Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch;
denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung
wäre er sittlich todt, und wenn (um in der Sprache
der Aerzte zu reden) die sittliche Lebenskraft keinen
Reiz mehr auf dieses Grefühl bewirken könnte, so würde
sich die Menschheit (gleichsam nach chemischen Ge-
setzen) in die blosse Thierheit auflösen und mit der
Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt
werden. — Wir haben aber für das (sittlich-) Gute und
Böse ebenso wenig einen besonderen Sinn, als wir
einen solchen für die Wahrheit haben, ob man sich
gleich oft so ausdrückt, sondern Empfänglichkeit der
freien Willkür für die Bewegung derselben durch prak-
tische reine Vernunft und ihr Gesetz, und das ist es,
was wir das moralische Gefühl nennen.-'^)
b.
Vom Gewissen.
Ebenso ist das Gewissen nicht etwas Erwerbliches,
und es giebt keine Pflicht, sich eines anzuschaffen;
sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein
solches ursprünglich in sich. Zum Gewissen verbunden
zu sein, würde so viel sagen, als: die Pflicht auf sich
haben, Pflichten anzuerkennen. Denn Gewissen ist die
dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht
zum Lossprechen oder Verurtheilen vorhaltende prak-
tische Vernunft. Seine Beziehung also ist nicht die auf
ein Objekt, sondern bloss aufs Subjekt (das moralische
Gefühl durch ihren Akt zu afficiren), also eine unaus-
bleibliche Thatsache, nicht eine Obliegenheit und Pflicht.
Wenn man daher sagt: dieser Mensch hat kein Ge-
wissen, so meint man damit: er kehrt sich nicht an den
Ausspruch desselben. Denn hätte er wirklich keines,
so würde er sich auch nichts als pflichtmässig zurechnen,
oder als pflichtwidrig vorwerfen, mithin auch selbst die
Pflicht, ein Gewissen zu haben, sich gar nicht denken
können.
236 Tugendlehre.
Die mancherlei Einth eilungen des Gewissens gehe
ich noch hier vorbei und bemerke nur, was aus dem
eben Angeführten folgt: dass nämlich ein irrendes Ge-
wissen ein Unding sei. Denn in dem objektiven Ur-
theile, ob etwas Pflicht sei oder nicht, kann man wohl
bisweilen irren; aber im subjektiven, ob ich es mit meiner
praktischen (hier richtenden) Vernunft zum Behuf jenes
ürtheils verglichen habe, kann ich nicht irren, weil ich
alsdann praktisch gar nicht geurtheilt haben würde;
in welchem Fall weder Irrthum noch Wahrheit statthat.
Gewissenlosigkeit ist nicht Mangel des Gewissens,
sondern Hang, sich an dessen Urtheil nicht zu kehren.
Wenn aber Jemand sich bewusst ist, nach Gewissen ge-
handelt zu haben, so kann von ihm, was Schuld oder
Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden. Es liegt
ihm nur ob, seinen Verstand über das, was Pflicht ist
oder nicht, aufzuklären ; wenn es aber zur That kommt
oder gekommen ist, so spricht das Gewissen unwillkür-
lich und unvermeidlich. Nach Gewissen zu handeln
kann also selbst nicht Pflicht sein, weil es sonst noch
ein zweites Gewissen geben müsste, um sich des Akts
des ersteren bewusst zu werden.
Die Pflicht ist hier nur, sein Gewissen zu cultiviren,
die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters
zu schärfen und alle Mittel anzuwenden (mithin nur
indirekte Pflicht), um ihm Gehör zu verschaffen.*^--^)
c.
Von der Menschenliebe.
Liebe ist eine Sache der Empfindung, nicht des
Wollens, und ich kann nicht lieben, weil ich will, noch
weniger aber, weil ich soll (zur Liebe genöthigt werden);
mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding. Wohl-
wollen {amor henevolentiae) aber kann, als ein Thun,
einem Pflichtgesetz unterworfen sein. Man nennt aber
oftmals ein uneigennütziges Wohlwollen gegen Menschen
auch (obzwar sehr uneigentlich) Liebe; ja, wo es nicht
um des Anderen Glückseligkeit, sondern die gänzliche
und freie Ergebung aller seiner Zwecke in die Zwecke
eines anderen (selbst eines übermenschlichen) Wesens
Einleitung. 237
zu thun ist, spricht man von Liebe, die zugleich für uns
Pflicht sei. Aber alle Pflicht ist Nöthigung, ein Zwang;
wenn er auch ein Selbstzwang nach einem Gesetz sein
sollte. Was man aber aus Zwang thut, das geschieht
nicht aus Liebe.
Anderen Menschen nach unserem Vermögen wohl-
zuthun, ist Pflicht, man mag lieben oder nicht, und
diese Pflicht verliert nichts an ihrem Gewicht, wenn
man gleich die traurige Bemerkung machen müsste,
dass unsere Gattung leider! dazu nicht geeignet ist, dass,
wenn man sie näher kennt, sie sonderlich liebenswürdig
befunden werden dürfte. — Men sehen hass aber ist
jederzeit hässlich, wenn er auch, ohne thätige An-
feindung, bloss in der gänzlichen Abkehrung von Menschen
(der separatistischen Misanthropie) bestände. Denn das
Wohlwollen bleibt immer Pflicht, selbst gegen den
Menschenhasscr, den man freilich nicht lieben, aber ihm
doch Gutes erweisen kann.
Das Laster aber am Menschen zu hassen ist weder
Pflicht, noch pflichtwidrig, sondern ein blosses Gefühl
des Abscheues vor demselben, ohne dass der Wille darauf,
oder umgekehrt dieses Gefühl auf den Willen einigen
Einfluss hätte. Wohlthun ist Pflicht. Wer diese oft
ausübt, und die Absicht seines Wohlthuns gelingen sieht,
kommt endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohl
gethan hat, wirklich zu lieben. Wenn es also heisst:
du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst, so
heisst das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben
und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohlthun, sondern:
thue deinem Nebenmeusclien wohl, und dieses Wohl-
thun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung
zum Wohlthun überhaupt) in dir bewirken!
Die Liebe des Wohlgefallens {airior coinplacentiae)
würde also allein direkt sein. Zu dieser aber (als einer
unmittelbar mit der Vorstellung der Existenz eines
Gegenstandes verbundenen Lust) eine Pflicht zu haben,
d. i. zur Lust woran geuöthigt werden zu müssen, ist
ein Widerspruch. ^*^t))
238 Tugendlehre.
d.
Von der Achtung.
Achtung (reverentia) ist ebensowohl etwas bloss Sub-
jektives; ein Gefühl eigener Art, nicht ein ürtheil über
einen Gegenstand, den zu bewirken, oder zu befördern,
es eine Pflicht gäbe. Denn sie könnte, als Pflicht be-
trachtet, nur durch die Achtung, die wir vor ihr haben,
vorgestellt werden. Zu dieser also eine Pflicht zu haben
würde so viel sagen, als zur Pflicht verpflichtet werden.
— Wenn es demnach heisst: der Mensch hat eine
Pflicht der Selbstschätzung, so ist das unrichtig
gesagt und müsste vielmehr heissen: das Gesetz in ihm
zwingt ihm unvermeidlich Achtung für sein eigenes
Wesen ab, und dieses Gefühl (welches von eigener Art
ist) ist ein Grund gewisser Pflichten, d. i. gewisser
Handlungen, die mit der Pflicht gegen sich selbst zu-
sammen bestehen können, nicht aber kann man sagen,!)
er habe eine Pflicht der Achtung gegen sich; denn er
nuiss Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um
sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können.*^*)
XIII.
Allgemeine Grundsätze der Metaphysik der Sitten
in Behandlung einer reinen Tugendlehre.
Erstlich: für eine Pflicht kann auch nur ein ein-
ziger Grund der Verpflichtung gefunden werden, und
werden zwei oder mehrere Beweise darüber geführt,
so ist es ein sicheres Kennzeichen, dass man entweder
noch gar keinen gültigen Beweis habe, oder es auch
mehrere und verschiedene Pflichten sind, die man für
eine gehalten hat.
Denn alle moralischen Beweise können, als philosophi-
sche, nur vermittelst einer Vernunfterkenntniss ausBe-
t) „aber kann man sagen," Zusatz der 2. Ausg.
Einleitung. 239
griffe n, nicht, wie die Mathematik sie giebt, durch
die Construktion der Begriffe geführt werden ; die letzteren
verstatten Mehrheit der Beweise eines und desselben
Satzes; weil in der An schauung a priori es mehrere
Bestimmungen der Beschaffenheit eines Objekts geben
kann, die alle auf ebendenselben Grund zurück führen.
— Wenn z. B. für die Pflicht der Wahrhaftigkeit ein
Beweis, erstlich aus dem Schaden, den die Lüge
andern Menschen verursacht, dann aber auch aus der
Nichtswürdigkeit eines Lügners und der Verletzung
der Achtung gegen sich selbst geführt werden will, so
ist im ersten eine Pflicht des Wohlwollens, nicht eine
der Wahrhaftigkeit, mithin nicht diese, von der man den
Beweis verlangte, sondern eine andere Pflicht bewiesen
worden. — Wenn man sich aber bei der Mehrheit der
Beweise für einen und denselben Satz damit tröstet,
dass die Menge der Gründe den Mangel am Gewicht
eines jeden einzeln genommen ei'gänzen werde, so ist
dieses ein sehr unphilosophischer Behelf; weil er Hinter-
list und Unredlichkeit verräth; — denn verschiedene
unzureichende Gründe neben einander gestellt, er-
gänzen nicht der eine den Mangel des anderen zur Ge-
wissheit, ja nicht einmal zur Wahrscheinlichkeit. Sie
müssen als Grund und Folge in einer Reihe, bis zum
zureichenden Grunde, fortschreiten und können auch
nur auf solche Art beweisend sein. — Und gleichwohl
ist dies der gewöhnliche Handgriff der Ueberredungs-
kunst.
Zweitens. Der Unterschied der Tugend vom Laster
kann nie in Graden der Befolgung gewisser Maximen,
sondern muss allein in der specifischen Qualität der-
selben (dem Verhältniss zum Gesetz) gesucht werden; mit
andern Worten, der belobte Grundsatz (des Aristoteles),
die Tugend in den Mittleren zwischen zwei Lastern
zu setzen, ist falsch .*) Es sei z. B. gute Wirthschaft,
als das Mittlere zwischen zwei Lastern, Verschwendung
und Geiz, gegeben; so kann ihr Ursprung als einer
Tugend weder durch die allmählige Verminderung des
ersten beider genannten Laster (Ersparung), noch durch
*) Die gewöhnlichen, der Sprache nach ethisch-classischen
Formeln : medio tutissimus ihis ; omne nimium vertitur in vitium ;
240 Tugendlehre.
die Vermehrung der Ausgaben des dem letzten Er-
gebenen, erklärt; auch können diese Laster nicht so
angesehen werden, als ob sie sich gleichsam nach ent-
gegengesetzten Richtungen in der guten Wirthschaft
begegneten; sondern ein jedes derselben hat seine eigene
Maxime, die der andern nothwendig widerspricht.!)
Aus demselben Grunde ff) kann kein Laster über-
haupt durch eine grössere Ausübung gewisser Hand-
lungen fi-t), als es zweckmässig ist {e. g. prodigalitas
est excessus in consumendis opibus), oder durch die
kleinere Bewirkung derselben, als sich schickt, (e. g.
ava7'itia est defectus etc.) erklärt werden. Denn da
hierdurch der Grad gar nicht bestimmt wird, auf diesen
aber, ob das Betragen pflichtmässig sei oder nicht, alles
ankommt; so kann es nicht zur Erklärung dienen.
Drittens: die ethischen Pflichten müssen nicht nach
est modus in rebus etc. ; medium tenuere beati ; virtus est medium
vitiorum et utrinque reductum,^^f\) enthalten eine schale Weis-
heit, die gar keine besimmten Prinzipien hat; denn dieses
Mittlere zwischen zwei äusseren Enden, wer will mir es
angeben? Der Geiz (als Laster) ist von der Sparsamkeit
(als Tugend) nicht darin unterschieden, dass diese zu weit
(getrieben \vird, sondern hat ein ganz anderes Prinzip
Maxime), nämhch den Zweck der Hanshaltung nicht im Ge-
nuss seines Vermögens, sondern, mit Entsagung auf den-
selben, bloss im Besitz desselben zu setzen; so wie das
Laster der Verschwendung nicht im Uebermaasse des
Genusses seines Vermögens, sondern in der schlechten
Maxime zu suchen ist, die den Gebrauch, ohne auf die Er-
haltung desselben zu sehen, zum alleinigen Zweck macht,
t) Dieser Nachsatz lautete in der 1. Ausg. so : „so kann
sie als Tugend nicht durch allmählige Verminderung den
ersten beider genannten Laster (Ersparung), noch durch die
Vermehrung der Ausgaben des dem letzteren Ergebenen,
als entspringend vorgestellt werden: indem sie sich gleich-
sam nach entgegengesetzten Richtungen in der guten Wirth-
schaft begegneten; sondern eine jede derselben hat ihre
eigene Maxime, die der anderen nothwendig widerspricht."
Tt) 1. Ausg.: „Ebenso wenig und aus demselben Grunde"
ttt) 1. Ausg.: „Absichten"
tttt) Statt der Worte: „virtus est medium vitiorum et
utrinque reductum" stand in der 1. Ausg.: „insani sapiens
nomen Tiabeat etc,^'
Einleitung. 241
den, dem Menschen beigelegten Vermögen, dem Gesetz
Gnüge zu leisten, sondern umgekehrt: das sittliche Ver-
mögen muss nach dem Gesetz geschätzt werden, welches
kategorisch gebietet ; also nicht nach der empirischen
Kenntniss, die wir vom Menschen haben, wie sie sind,
sondern nach der rationalen, wie sie der Idee der Mensch-
heit gemäss sein sollen. Diese drei Maximen der
wissenschaftlichen Behandlung einer Tugendlehre sind
den älteren Apophthegmen entgegengesetzt:
1) Es ist nur eine Tugend und nur ein Laster.
2) Tugend ist die Beobachtung der Mittelstra^ ^= o
zwischen entgegengesetzten Lastern.
3) Tugend muss (gleich der Klugheit) der Erfahrung
abgelernt werden.' 02)
XIV. t)
Von der Tugend überhaupt.
Tugend bedeutet eine moralische Stärke des Willens.
Aber dies erschöpft noch nicht den Begriff; denn eine
solche Stärke könnte auch einem heiligen (übermensch-
lichen) Wesen zukommen, in welchem kein hindernder
Antrieb dem Gesetze seines Willens entgegen wirkt ; das
also alles dem Gesetz gemäss gerne thut. Tugend ist
also die moralische Stärke des Willens eines Menschen
in Befolgung seiner Pflicht: welche eine moralische
Nöthigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft
ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführen-
den Gewalt selbst constituirt. — Sie ist nicht selbst,
oder sie zu besitzen ist nicht Pflicht, (denn sonst würde
es eine Verpflichtung zur Pflicht geben müssen ;) sondern
sie gebietet und begleitet ihr Gebot durch einen sitt-
lichen (nach Gesetzen 'der inneren Freiheit möglichen)
Zwang; wozu aber, weil er unwiderstehlich sein soll^
Stärke erforderlich ist, deren Grad wir nur durch die
Grösse der Hindernisse, die der Mensch durch seine
Neigungen sich selber schafft, schätzen können. Die
t) Die Zahl XIV fehlt in der ersten Ausgabe, daher in
ihr die Zahlen der folgenden Abschnitte der Einleitung um
eine Einheit niedriger stehen.
Kant, Metaphysik der Sitter. ±Q
242 Tugendlehre.
Laster, als die Brut gesetzwidriger Gesinnungen, sind
die Ungeheuer, die er nun zu bekämpfen hat; weshalb
diese sittliche ;Stärke auch, als Tapferkeit {fm^titudo
inoralis), die grösste und einzige wahre Kriegsehre des
Menschen ausmacht ; auch wird sie die eigentliche, näm-
lich praktische Weisheit genannt, weil sie den End-
zweck des Daseins des Menschen auf Erden zu dem
ihrigen macht. — In ihrem Besitze ist der Mensch allein
frei, gesund, reich, ein König u. s. w. und kann weder
durch Zufall, noch Schicksal einbüssen; weil er sich
selbst besitzt und der Tugendhafte seine Tugend nicht
verlieren kann.
Alle Hochpreisungen , die das Ideal der Menschheit
in ihrer moralischen Vollkommenheit betreffen, können
durch die Beispiele des Widerspiels dessen, was die
Menschen jetzt sind, gewesen sind, oder vermuthlich
künftig sein werden, an ihrer praktischen Realität nichts
verlieren, und die Anthropologie, welche aus blossen
Erfahrungserkenntnissen hervorgeht, kann der Anthro-
ponomie, welche von der unbedingt gesetzgebenden
Vernunft aufgestellt wird, keinen Abbruch thun, und,
wiewohl Tugend (in Beziehung auf Menschen, nicht aufs
Gesetz) auch hin und wieder verdienstlich heissen und
einer Belohnung würdig sein kann, so muss sie doch
für sich selbst, so wie sie ihr eigener Zweck ist, auch
als ihr eigener Lohn betrachtet werden.
Die Tugend, in ihrer ganzen Vollkommenheit be-
trachtet, wird also vorgestellt, nicht wie der Mensch die
Tugend, sondern als ob die Tugend den Menschen be-
sitze; weil es im ersteren Falle so aussehen würde, als
ob er noch die Wahl gehabt hätte, (wozu er alsdann
noch einer andern Tugend bedürfen würde, um die
Tugend vor jeder anderen ihmf) angebotenen Waare
zu erlesen.) — Eine Mehrheit 'der Tugenden sich zu
denken (wie es denn unvermeidlich ist), ist nichts
Anderes, als sich verschiedene moralische Gegenstände
denken, auf die der Wille, aus dem einigen Prinzip der
Tugend abgeleitet wird ; ebenso ist es mit den entgegen-
stehenden Lastern bewandt. Der Ausdruck, der beide
verpersönlicht, ist eine ästhetische Maschinerie, die aber
t) „ihm" fehlt in der 1. Ausgabe.
Einleitung. 243
^och auf einen moralischen Sinn hinweist. — Daher ist
«ine Aesthetik der Sitten zwar nicht ein Theil, aber
doch eine subjektive Darstellung der Metaphysik der-
selben ; wo die Gefühle , welche die nöthigende Kraft
des moralischen Gesetzes begleiten, jener ihre Wirksam-
keit empfindbar machen; z. B. Ekel, Grauen etc., welche
den moralischen Widerwillen versinnlichen, um der bioss-
sinnlichen Anreizung den Vorrang abzugewinnen. * 03)
XV.
Yom Prinzip der AbsonderuDg* der Tugendlehre
von der Rechtslehre.
Diese Absonderung, auf welcher aucli die Oberein-
theilung der Sittenlehre überhaupt beruht, gründet
sich darauf: dass der Begriff der Freiheit, der jenen
beiden gemein ist, die Eirtheilung in die Pflichten der
äusseren und inneren Freiheit nothwendig macht;
von denen die letzteren allein ethisch sind. — Daher
muss diese und zwar als Bedingung aller Tugend-
pflicht (so wie oben die Lehre vom Gewissen als
Bedingung aller Pflicht überhaupt) als vorbereitender
Theil (disGursus praeliminaris) vorangeschickt werden.
Anmerkung.
Von der Tugendlehre nach dem Prinzip der
inneren Freiheit.
Fertigkeit (habitus) ist eine Leichtigkeit zu
handeln und eine subjektive Vollkommenheit der
Wilikühr. — Nicht jede solche Leichtigkeit
aber ist eine fre-ie {habitus libertatis)] denn wenn
sie Angewohnheit (assuetudo), d. i. durch öfters
wiederholte Handlung zur Noth wendigkeit ge-
wordene Gleichförmigkeit derselben ist, so ist sie
keine aus der Freiheit hervorgehende, mithin auch
nicht moralische Fertigkeit. Die Tugend kann man
also nicht durch die Fertigkeit in freien gesetz-
mässigen Handlungen definiren; wohl aber, wenn
hinzugesetzt würde, „sich durch die Vorstellung des
16*
244 Tugendlehre.
Gesetzes im Handeln zu bestimmen", und da ist
diese Fertigkeit eine Beschaffenheit nicht der Will-
kühr, sondern des Willens, der ein mit der Regel,
die er annimmt, zugleich allgemein -gesetzgebendes
Begehrungsvermögen ist, und eine solche allein kann
zur Tugend gezählt werden.
Zur inneren Freiheit aber werden zwei Stücke
erfordert: seiner selbst in einem gegebenen Fall
Meister {animus sui compos) und über sich selbst
Herr zu sein {imperium in seinetipsum)^ d.i. seine
Affekten zu zähmen und seine Leidenschaften zu
beherrschen. — Die Gemüthsart {indoles) in
diesen beiden Zuständen ist edel {erecta), im ent-
gegengesetzten Fall aber unedel (indoles ahjecta,
serva).
XVI.
Zur Tugend wird zuerst erfordert die Herrschaft
über sich selbst.
Affekten und Leidenschaften sind w^esentlich
von einander unterschieden; die ersteren gehören zum
Gefühl, sofern es, vor der Ueberlegung vorhergehend,
diese selbst unmöglich oder schwerer macht. Daher
heisst der Affekt jäh oder jach (animus jyraeceps), und
die Vernunft sagt durch den Tugendbegriff, man solle
sich fassen; doch ist diese Schwäche im Gebrauch
seines Verstandes, verbunden mit der Stärke der Ge-
müthsbewegung, nur eine Untugend, und gleichsam
etwas Kindisches und Schwaches, was mit dem besten
Willen gar wohl zusammen bestehen kann, und das
einzige Gute noch an sich hat, dass dieser Sturm bald
aufhört. Ein Hang zum Affekt (z. B. Zorn) verschwistert
sich daher nicht so sehr mit dem Laster, als die
Leidenschaft. Leidenschaft dagegen ist die zur
bleibenden Neigung gewordene sinnliche Begierde
(z. B. der Hass im Gegensatz des Zorns), Die Ruhe,
mit der man ihr nachhängt, lässt Ueberlegung zu, und
verstattet dem Gemüth, sich darüber Grundsätze zu
macheu und so, wenn die Neigung auf das Gesetzwidrige
fällt, über sie zu brüten ^ sie tief einwurzeln zu lassen,
Einleitung. 245
und das Böse dadurch (als vorsätzlich) in seine Maxime
aufzunehmen; welches alsdann ein qualifizirtes Böse,
d. i. ein wahres Laster ist.
Die Tugend also, sofern sie auf innerer Freiheit ge-
gründet ist, enthält für die Menschen auch ein bejahendes
Gebot, nämlich alle seine Vermögen und Neigungen unter
seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen, mithin das
Gebott) der Herrschaft über sich selbst, welche über
das Verbot, nämlich von seinen Gefühlen und Neigungen
sich nicht beherrschen zu lassen, (die Pflicht der Apathie)
hinzukommt; weil, ohne dass die Vernunft die Zügel der
Regierung in ihre Hände nimmt, jene über den Menschen
den Meister spielen.' ö*)
XVH.
Zur Tugend wird Apathie (als Stärke betrachtet)
nothwendig vorausgesetzt.
Dieses Wort ist, gleich als ob es Fühllosigkeit, mithin
subjektive Gleichgültigkeit in Ansehung der Gegenstände
der Willkühr, bedeutete, in üblen Ruf gekommen; man
nahm es für Schwäche. Dieser Missdeutung kann da-
durch vorgebeugt werden, dass man diejenige Affekt-
losigkeit, welche von der Indifferenz zu unterscheiden
ist, die moralische Apathie nennt: da die Gefühle
aus sinnlichen Eindrücken ihren Einfluss auf das mo-
ralische nur dadurch verlieren, dass die Achtung fürs
Gesetz über sie insgesammt mächtiger wird. — Es ist
nur die scheinbare Stärke eines Fieberkranken, die den
lebhaften Antheil selbst am Guten bis zum Affekt
steigen, oder vielmehr darin ausarten lässt. Man nennt
den Affekt dieser Art Enthusiasmus, und dahin ist
auch die Mässigung zu deuten, die man selbst für
Tugendausübungen zu empfehlen pflegt, {insani sapiens
nortien feratj-]-) aequus iniqui^ ultra, quam satis
est, virtutem si petat ipsam. Horat.) Denn sonst ist
es ungereimt zu wähnen, man könne auch wohl allzu-
weise, allzutugendhaft sein. Der Affekt gehört
t) „das Gebot" Zusatz der 2. Ausg.
246 Tugendlehre.
immer zur Sinnlichkeit; durch was für einen Gegenstand
er auch erregt werden möge.t) Die wahre Stärke der
Tugend ist das Gemüth in Ruhe, mit einer über-
legten und festen Entschliessung ihr Gesetz in Ausübung
zu bringen. Das ist der Zustand der Gesundheit im
moralischen Leben; dagegen der Affekt, selbst wenn er
durch die Vorstellung des Guten aufgeregt wird, eine
augenblicklich glänzende Erscheinung ist, welche Mattig-
keit hinterlässt. — Phantastisch - tugendhaft aber kann
doch der genannt werden, der keine in Ansehung der
Moralität gleichgültigen Dinge {adiajyJLord) ein-
räumt, und sich alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten
als mit Fussangeln bestreut und es nicht gleichgültig
findet, ob man sich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier
oder Wein, wenn einem beides bekömmt, nähre; eine
Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der
Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei
machen würde.
Anmerkung.
Die Tugend ist immer im Fortschreiten und
hebt doch auch immer von vorne an. — Das Erste
folgt daraus, weil sie, objektiv betrachtet, ein
Ideal und unerreichbar, gleichwohl aber sich ihm
beständig zu nähern dennoch Pflicht ist. Das Zweite
gründet sich, subjektiv, auf der mit Neigungen
affizirten Natur des Menschen, unter deren Einfluss
die Tugend, mit ihren einmal für allemal genom-
menen Maximen, niemals sich in Ruhe und Stillstand
setzen kann, sondern, wenn sie nicht im Steigen
ist, unvermeidlich sinkt; weil sittliche Maximen
nicht so, wie technische, auf Gewohnheit gegründet
werden können (denn dieses gehört zur physischen
Beschaffenheit seiner Willensbestimmung), sondern,
selbst wenn ihre Ausübung zur Gewohnheit würde,
das Subjekt damit die Freiheit in der Wahl seiner
Maximen einbüssen würde, welche doch der Charakter
einer Handlung aus Pflicht ist.it)5)
t) 1. Ausg.: „er mag durch einen Gegenstand erregt
werden, welcher es wolle.''
Einleitung. 247
XVIII.
Vorbegriffe zur Eintheilung der Tugendlehre.
Dieses Prinzip der Eintheilung muss erstlich, was
das Formale betrifft, alle Bedingungen enthalten, welche
dazu dienen, einen Theil der allgemeinen Sittenlehre von
der Rechtslehre und zwar der spezifischen Form nach
zu unterscheiden, und das geschieht dadurch: dass
1) Tugendpflichten solche sind, für welche keine äussere
Gesetzgebung stattfindet; 2) dass, da doch aller Pflicht
ein Gesetz zum Grunde liegen muss, dieses in der Ethik
ein Pflichtgesetz, nicht für die Handlungen, sondern bloss
für die Maximen der Handlungen gegeben, sein kann;
3) dass (was wiederum aus diesem folgt) die ethische
Pflicht als weite, nicht als enge Pflicht gedacht werden
müsse.
Zweitens: was das Materiale anlangt, muss sie
nicht bloss als Pflichtlehre überhaupt, sondern auch als
Zwecklehre aufgestellt werden; so, dass der Mensch
sowohl sich selbst, als auch jeden anderen Menschen,
sich als seinen Zweck zu denken verbunden ist; was
manf) Pflichten der Selbstliebe und Nächstenliebe zu
nennen pflegt, welche Ausdrücke hier in uneigentlicher
Bedeutung genommen werden; weil es zum Lieben direkt
keine Pflicht geben kann, wohl aber zu Handlungen,
durch die der Mensch sich und Andere zum Zweck macht.
Drittens: was die Unterscheidung des Materialen
vom Formalen (der Gesetzmässigkeit von der Zweck-
mässigkeit) im Prinzip der Pflicht betrifft , so ist
zu merken: dass nicht jede Tugendverpflichtung
{obligatio ethica) eine Tugendpflicht {officium ethicum
s. virtutis) sei; mit anderen Worten: dass die Achtung
vor dem Gesetze überhaupt noch nicht einen Zweck als
Pflicht begründe; denn der letztere allein ist Tugend-
pflicht. — Daher giebt es nur eine Tugendverpflichtung,
aber viel Tugendpflichten; weil es zwar viel Objekte
giebt, die für uns Zwecke sind, welche zu haben zugleich
Pflicht ist, aber nur eine tugendhafte Gesinnung, als
t) 1. Ausg.: „die man ... zu nennen pflegt,"
248 Tugendlehre.
subjektiver Bestimmungsgrund, seine Pflicht zu erfüllen,
welche sich auch über Rechtspflichten erstreckt, die aber
darum nicht den Namen der Tugendpflichten führen
können. — Daher wird alle Eintheilung der Ethik
nur auf Tugendpflichten gehen. Die Wissenschaft von
der Art, auch ohne Rücksicht auf mögliche äussere Ge-
setzgebung verbindlich zu sein, ist die Ethik selbst,
ihrem formalen Prinzip nach betrachtet.
Anmerkung.
Wie komme ich aber dazu, wird man fragen,
die Eintheilung der Ethik in Elementar lehre und
Methodenlehre einzuführen; da ich ihrer doch
in der Rechtslehre überhoben sein konnte? — Die
Ursache ist: weil jene es mit weiten, diese aber
mit lauter engen Pflichten zu thun hat; weshalb
die letztere, welche ihrer Natur nach strenge (präcis)
bestimmend sein muss, ebenso wenig, wie die reine
Mathematik, einer allgemeinen Vorschrift (Methode),
wie im Urtheilen verfahren werden soll, bedarf,
sondern sie durch die That wahr macht. — Die
Ethik hingegen führt, wegen des Spielraums, den
sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet, un-
vermeidlich zu Fragen, welche die Urtheilskraft auf-
fordern, auszumachen, wie eine Maxime in beson-
deren Fällen anzuwenden sei, und zwar so, dass
diese wiederum eine (untergeordnete) Maxime an
die Hand gebe, (wo immer wiederum nach einem
Prinzip der Anwendung dieser auf vorkommende
Fälle gefragt werden kann) und so geräth sie in
eine Casuistik, von welcher die Rechtslehre nichts
weiss.
Die Casuistik ist also weder eine Wissen-
schaft, noch ein Theil derselben; denn das wäre
Dogmatik, und ist nicht sowohl Lehre, wie etwas
gefunden, sondern Uebung, wie die Wahrheit
solle gesucht werden. Sie ist alsof) fragmen-
tarisch, nicht systematisch, (wie die Ethik ff) sein
t) „Sie ist also" Zusatz der 2. Ausg.
tt) 1. Ausg.: „die erstere"
Einleitung. 249
musste) in sie verwebt, nur gleich den Schollen,
zum System hinzugethan.
Dagegen: nicht sowohl die Urtheilskraft, als
vielmehr die Vernunft, und zwar in der Theorie
seiner Pflichten sowohl, als in der Praxis, zu üben,
das gehört besonders zur Ethik, als Met hoden-
lehre der moraHsch -praktischen Vernunft. f) Die
Methodik der ersten Hebung (in der Theorie der
Pflichten) heisst Didaktik, und hier ist die Lehrart
entweder akroamatisch, oder erotematisch;
die letzte ist die Kunst, dem Lehrling dasjenige
von Pflichtbegriffen abzufragen, was er schon weiss,
und dies zwar entweder weil man es ihm schon
gesagt hat, bloss aus seinem Gedächtniss, welche
die eigentliche katechetische, oder weil man
voraussetzt, dass es schon in seiner Vernunft natür-
licher Weise enthalten sei und es nur daraus ent-
wickelt zu werden brauche, die dialogische (So-
kratische) Methode heisst.
Der Didaktik tt) als der Methode theoretischer
üebuDg entspricht als Gegenstück, im Praktischen,
die Ascetik, welche derjenige Theil der Methoden-
lehre ist, in welchem nicht bloss der Tugendbegriff,
sondern auch wie das Tugendvermögen sowohl,
als der Wille dazu, in Ausübung gesetzt und cul-
tivirt werden könne, gelehrt wird.
Nach diesen Grundsätzen werden wir also das
System in zweien Theilen: der ethischen Ele-
mentarlehre und der ethischen Methoden-
lehre aufstellen. Jeder Theil wird in seine Haupt-
stücke, und diese ttt) im ersten Theile, nach Ver-
schiedenheit der Subjekte , gegen welche dem
Menschen eine Verbindlichkeit obliegt, im zweiten
t) Die folgenden Worte lauten in der 1. Ausg. so : „wovon
die erstere üebung darin besteht, dem Lehrling dasjenige
von Pflichtbegriffen abzufragen, was er schon weiss, und
die erotematische Methode genannt werden kann, und
dies zwar entweder, weil man es ihm schon gesagt hat, bloss
aus seinem Gedächtniss" u. s. w.
tt) 1. Ausg.: „Der Katechetik als theoretischer üebung''
ttt) 1. Ausg. : „welche" f „und diese''
250 Tugendlehre.
nach Verschiedenheit der Zwecke, welche zu
haben ihm die Vernunft auferlegt, und der Empfäng-
lichkeit für dieselbe, in verschiedene Kapitel zer-
fällt werden.
XIX.
Die Einth eilung, welche die praktische Vernunft zu
Gründung eines Systems ihrer Begriffe in einer Ethik
entwirft (die architektonische), kann nun nach zweierlei
Prinzipien, einzeln oder zusammen verbunden, gemacht
werden: das eine, welches das subjektive Verhältniss
der Verpflichteten zu dem Verpflichtenden, der Materie
nach, das andere, welches das objektive Verhältniss
der ethischen Gesetze zu den Pflichten überhaupt in einem
System der Form nach vorstellt. — Die erste Eintheilung
ist die der Wesen, in Beziehung aufweiche eine ethische
Verbindlichkeit gedacht werden kann, die zweite wäre
die der Begriffe der reinen ethisch - praktischen Ver-
nunft; welche zu jener ihren Pflichten gehören, die also
zur Ethik, nur sofern sie Wissenschaft sein soll, also
zu der methodischen Zusammensetzung aller Sätze, welche
nach der ersteren aufgefunden worden, erforderlich sind.
Einleitung. 251
Erste Eintheilung der Ethik nach dem Unterschiede
der Subjekte und ihrer Gesetze.
Sie enthält :
Pflichten
des Menschen gegen des Menschen gegen
den Menschen nicht menschliche Wesen
gegen sich gegen andere 1 Untermensch- Übermensch-
selbst Menschen | liehe Wesen, liehe Wesen.
Zweite Eintheilung der Ethik nach Prinzipien eines
Systems der reinen praktischen Vernunft.
Ethische
Elementarlehre Methodenlehre
Dogmatik Casuistik Didaktik f) Ascetik.
Die letztere Eintheilung muss also, weil sie die Form
der Wissenschaft betrifft, vor der ersteren, als Grundriss
des Ganzen, vorhergehen.! 06)
t) 1. Ausg.: „Katechetik''
Erster TheU.
Ethische Elementarlehre.
Der ethischen Elementarlehre
erstes Buch.
Ton den Pflichten gegen sich seihst überhaupt.
Einleitung.
§.1.
Der Begriff einer Pflicht gegen sich selbst enthält
(dem ersten Anscheine nach) einen Widerspruch.
Wenn das verpflichtende Ich mit dem ver-
pflichteten in einerlei Sinn genommen wird, so ist
Pflicht gegen sich selbst ein sich widersprechender Be-
griff. l3enn in dem Begriffe der Pflicht ist der einer
passiven Nöthigung enthalten (ich werde verbunden).
Darin aber, dass es eine Pflicht gegen mich selbst ist,
stelle ich mich als verbindend, mithin in einer aktiven
Nöthigung vor; (Ich, ebendasselbe Subjekt, bin der Ver-
bindende) und der Satz, der eine Pflicht gegen sich
selbst ausspricht: (ich soll mich selbst verbinden), würde
eine Verbindlichkeit, verbunden zu sein, (eine passive
Obligation, die doch zugleich, in demselben Sinne des
Verhältnisses, eine aktive wäre) mithin einen Wider-
spruch enthalten. — Man kann diesen Widerspruch auch
dadurch ins Licht stellen, dass man zeigt, der Verbin-
dende (auctor obligationis) könne den Verbundenen {sub-
256 Tugendlehre. Ethische Elementarlehre. I. Buch.
jectum ohligationis) jederzeit von der Verbindlichkeit
(termimis obligationis) lossprechen; mithin sei, wenn
beide ein und dasselbe Subjekt sind, der Verbindende
an eine Pflicht, die er sich auferlegt, gar nicht gebunden ;
welches einen Widerspruch enthält.
§•2.
Es giebt doch Pflichten des Menschen gegen sich
selbst.
Denn setzet: es gebe keine solche Pflichten, so würde
es überall gar keine, auch keine äusseren Pflichten
geben. — Denn ich kann mich gegen Andere nicht für
verbunden erkennen , als nur sofern ich zugleich mich
selbst verbinde; weil das Gesetz, kraft dessen ich mich
für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen
praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich ge-
nöthigt werde, indem ich zugleich der Nöthigende in
Ansehung meiner selbst bin.*)
§. 3.
Anfschliiss dieser scheinbaren Antinomie.
Der Mensch betrachtet sich, in dem Bewusstsein einer
Pflicht gegen sich selbst, als Subjekt derselben, in zwie-
facher Qualität: erstlich als Sinnenwesen, d. i. als
Mensch (zu einer der Thierarten gehörig) ; dann aber
auch als Vernunft wesen, (nicht bloss vernünftiges
Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Ver-
mögen wohl auch die Qualität eines lebenden körper-
lichen Wesens sein könnte) welches kein Sinn erreicht
und das sich nur in moralisch-praktischen Verhältnissen,
*) So sagt man, wenn es z. B. einen Punkt meiner
Ehrenrettung oder der Selbsterhaltiing betrifft: „ich bin mir
das selbst schuldig'^ Selbst wenn es Pflichten von minderer
Bedeutung, die nämlich nicht das Nothwendige, sondern nur
das Verdienstliche meiner Pflichtbefolguug betreffen, spreche
ich so: z, B. ,,ich bin es mir selbst schuldig, meine Ge-
schicklichkeit für den Umgang mit Menschen u. s. w. zu
erweitern (mich zu kultiviren)."
Von d. Pflichten gegen sich selbst überh, Einl. §. 4. 257
wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich
durch den Einfluss der Vernunft auf den innerlich ge-
setzgebenden Willen off"enbar macht, erkennen lässt.
Der Mensch nun, als vernünftiges Natirwesen
(homo pliaenomejion), ist durch seine Vernunft, als Ur-
sache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt
und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch
nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Per-
sönlichkeit nach, d. i. als ein mit innerer Freiheit
begabtes Wesen {liomo noumenori) gedacht, ist ein der
Verpflichtung, und insonderheit der Verpflichtung gegen
sich selbst (die Menschheit in seiner Person) fähiges
Wesen, fj so , dass der Mensch (in zweierlei Bedeutung
betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu gerathen,
(weil der Begriff von Menschen nicht in einem und dem-
selben Sinn gedacht wird) eine Pflicht gegen sich selbst
anerkennen kann. * 07)
§• 4.
Vom Prinzip der Eintbeihmg der Pflichten gegen
sich selbst.
Die Eintheilung kann nur in Ansehung des Objekts
der Pflicht, nicht in Ansehung des sich verpflichtenden
Subjekts gemacht werden. Das verpflichtete sowohl, als
das verpflichtende Subjekt ist immer nur der Mensch,
und wenn es uns gleich, in theoretischer Rücksicht, er-
laubt ist, im Menschen Seele und Körper als Natur-
beschaffenheiten des Menschen von einander zu unter-
scheiden, so ist es doch nicht erlaubt, sie als verschiedene
den Menschen verpflichtende Substanzen zu denken, um
zur Eintheilung in Pflichten gegen den Körper und
gegen die Seele berechtigt zu sein. — Wir sind weder
t) 1. Ausgabe: „ein der Verpflichtung fähiges Wesen
und zwar gegen sich selbst (...) betrachtet, so dass"
u. s. w.
Kaut, Metaphysik der Sitten. 17
258 Tugendlehre. Ethische Elementarlehre. I. Buch.
durch Erfahrung, noch durch Schlüsse der Vernunft hin-
reichend darüber belehrt, ob der Mensch eine Seele,
(als in ihm wohnende, vom Körper unterschiedene und
von diesem unabhängig zu denken vermögende, d. i.
geistige Substanz) enthalte, oder ob nicht vielmehr das
Leben eine Eigenschaft der Materie sein möge, und wenn
es sich auch auf die erstere Art verhielte, so würde
doch keine Pflicht des Menschen gegen einen Körper
(als verpflichtendes Subjekt), ob er gleich der mensch-
liche ist, denkbar sein,
1) Es wird daher nur eine objektive Eintheilung
der Pflichten gegen sich selbst in das Formale und
Materiale derselben stattfinden; wovon die einen ein-
schränkende (oder negative) Pflichten, die anderen
erweiternde (positive) Pflichten gegen sich selbst sind;
jene, welche dem Menschen in Ansehung des Zwecks
seiner Natur verbieten, demselben zuwider zu handeln,
mithin bloss auf die moralische Selbsterhaltung;
diese, welche gebieten sich einen gewissen Gegen-
stand der Willkür zum Zweck zu machen, und auf die
Vervollkommnung seiner selbst gehen: von welchen
beide zur Tugend, entweder als ünterlassungspflichten
(sustine et ahstme), oder als Begehungspflichten (viribus
concessis utere), beide aber als Tugendpflichten gehören.
Die ersten gehören zur moralischen Gesundheit {ad
esse) des Menschen, sowohl als Gegenstandes seiner
äusseren, als seines inneren Sinnes zu Erhaltung seiner
Natur in ihrer Vollkommenheit (als Rezeptivität).
Die anderen zur moralischen Wohlhabenheit [ad
melius esse] opidentia movcdis), welche in dem Besitz
eines zu allen Zwecken hinreichenden Vermögens be-
steht, sofern dieses erwerblich ist, und zur Cultur (als
thätiger Vollkommenheit) seiner selbst gehört. — Der
erste Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst liegt in
dem Spruch : lebe der Natur gemäss [naturae convenienter
vive), d. i. erhalte dich in der Vollkommenheit deiner
Natur; der zweite in dem Satz: mache dich voll-
kommner, als die blosse Natur dich schuf [2)erfice te
ut finem; 'pevfiGe te ut medium).
Es giebt aber 2) eine subjektive Eintheilung der
Pflichten des Menschen gegen sich selbst , d. i. eine
solche, nach der das Subjekt der Pflicht (der Mensch)
Von d. Pflichten gegen sich selbst überh. Einl. §. 4. 259
sich selbst, entweder als animalisches (physisches)
und zugleich moralisches, oder bloss als moralisches
Wesen betrachtet.
Da sind nun die Antriebe der Natur, was die
Thierheit des Menschen betrifft, dreifach: nämlich
a) der Trieb, durch welchen die Natur zur Erhaltung
seiner selbst, b) der, durch welchen sief) die Erhaltung
der Art, c) der Trieb, wodurch sieft) <^ie Erhaltung
seines Vermögens zum zweckmässigen Gebrauche seiner
Kräfte und zum angenehmen, aber doch nur thierischen
Lebensgenuss beabsichtigt. — Die Laster, welche hier
der Pflicht des Menschen gegen sich selbst widerstreiten,
sind: der Selbstmord, der unnatürliche Gebrauch,
den Jemand von der Geschlechtsneigung macht,
und der, das Vermögen zum zweckmässigen Gebrauch
seiner Kräfte schwächende, unmässige Genuss der
Nahrungsmittel.
AVas aber die Pflicht des Menschen gegen sich selbst,
bloss als moralisches Wesen, (ohne auf seine Thierheit
zu sehen) betrifft, so besteht sie im Formalen, der
Uebereinstimmung der Maximen seines Willens mit der
Würde der Menschheit in seiner Person; also im Ver-
bot, dass er sich selbst des Vorzugs eines moralischen
Wesens, nämlich nach Prinzipien zu handeln, d. i. der
inneren Freiheit nicht beraube und dadurch zum Spiel
blosser Neigungen, also zur Sache, mache. — Die Laster,
welche dieser Pflicht entgegenstehen, sind: die Lüge,
der Geiz, und die falsche Demnth (Kriecherei).
Diese nehmen sich Grundsätze, welche dem Charakter
des Menschen, ttt) als eines moralischen Wesens, d. i. der
inneren Freiheit, der angebornen Würde des Menschen
geradezu (schon der Form nach) widersprechen, welches
so viel sagt: sie machen es sich zum Grundsatz, keinen
Grundsatz, und so auch keinen Charakter zu haben,
t) Die Worte: „der, durch welchen sie" fehlen in der
1. Ausg.
tt) Die Worte: „der Trieb, wodurch sie" fehlen in der
1. Ausg.; ebenso gleich darauf die: „zum zweckmässigen
Gebrauche seiner Kräfte und"
ttt) 1. Ausgabe ; „welche ihrem Charakter"
17*
260 Tugendlehre. Ethische Elementarlehre. I. Buch.
d. i. sich wegzuwerfen und sich zum Gegenstande der
Verachtung zu machen. — Die Tugend, welche allen
diesen Lastern entgegensteht, könnte die Ehr liebe
[honestas interna, justmn sui aestimium) , eine von
der Ehrsucht {amhitio) (welche auch sehr nieder-
trächtig sein kann) himmelweit unterschiedene Denkungs-
art, genannt werden, wird aber unter dieser Betitelung
in der Folge besonders vorkommen. 108)
Erste AbtbeiluDg.
Ton den yoUkommenen Pflichten gegen sich
selbst.
Erstes Haiiptstück.
Die Pflicht des IVIenschen gegen sich selbst, als ein
animalischesf) Wesen.
§.5.
Die, wenngleich nicht vornehmste, doch erste Pflicht
des Menschen gegen sich selbst, in der Qualität seiner
Thierheit, ist die Selbsterhaltung in seiner anima-
lischen Natur.
Das Widerspiel derselben ist die willkürliche oder
vorsätzliche Zerstörung seiner animalischen Natur ff),
welche entweder als total oder partial gedacht werden
kann. — Die totale heisst die Selbstentleibung
(autocJiiria, suicicUurnjy die partiale lässt sich wiederum
eintheilen in die materiale, da man sich selbst ge-
wisser integrirenden Theile, als Organe, beraubt,
Entgliederung oder Verstümmelung, und in die
formale, da man sich (auf immer oder auf einige Zeit)
des Vermögens des physischen (und hiemit indirekt
t) 1. Ausg.: „einem animalischen"
tt) l.Ausg.: „der willkürliche physische Tod, welcher"
262 Tugendl. Ethische Elementarl. I. B. I. Abth. I. Hauptst.
auch des moralischen) Gebrauchs seiner Kräfte be-
raubt; Selbstbetäubung, t)
Da in diesem Hauptstücke nur von negativen Pflichten,
folglich nur von Unterlassungen die Rede ist, so werden
die Pflichtartikel wider die Laster gerichtet sein müssen,
welche der Pflicht gegen sich selbst entgegengesetzt sind.
Des ersten Hauptstücks
erster Artikel.
Von der Selbstentleibung.
§. 6.
Die willkürliche Entleibung seiner selbst kann
nur dann allererst Selbstmord {Jiomicidimn dolosuin)
genannt werden, wenn bewiesen werden kann, dass sie
überhaupt ein Verbrechen ist, welches entweder bloss au
unserer eigenen Person, oder auch durch dieses zugleich
an Anderen begangen wird, (z. B. wenn eine schwangere
Person sich selbst umbringt.)
a) Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord).
Dieses kann nun zwar auch als üebertretung seiner
Pflicht gegen andere Menschen (als eines der Ehegatten
gegen den anderen, der Eltern gegen Kinder tt), des
Unterthans gegen seine Obrigkeit oder seine Mitbürger,
endlich auch gegen Gott betrachtet werden, dessen uns
anvertrauten Posten in der Welt der Mensch verlässt,
t) Statt der Worte: ,.Die totale — Selbstbetäubung'*
steht in der 1. Ausg. Folgendes: „Der physische, die Ent-
lei bung {autochiria) kann also auch total {suicidium) , oder
partial, Entgliederung (Verstümmelung) sein, welche
wiederum in die materiale, da man sich selbst gewisser
integrirenden Theile, als Organe, beraubt, d. i. sich ver-
stümmelt, und die formale, da man sich (auf immer oder
auf einige Zeit) des Vermögens des physischen (und
hiemit indirekt auch des moralischen) Gebrauchs seiner
Kräfte beraubt.
tt) 1. Ausg. : „Menschen (Eheleute, Eltern gegen Kinder'*
I. Art. Von der Selbstentleibung. §. 6. 263
ohne davon abgerufen zu sein); — aber hier ist nur
davon die Rede, ob die vorsätzliche Selbstentleibung
eine Verletzung der Pflicht gegen sich selbst sei, und
ob, wenn man auch alle jene Rücksichten bei Seite
setzte, t) der Mensch doch zur Erhaltung seines Lebens,
bloss durch seine Qualität als Person verbunden sei, und
hierin eine (und zwar strenge) Pflicht gegen sich selbst
anerkennen müsse.
Dass der Mensch sich selbst beleidigen könne, scheint
ungereimt zu sein {volenti non fit injuria). Daher sah
es der Stoiker für einen Vorzug seiner (des Weisen)
Persönlichkeit an, beliebig aus dem Leben (als aus einem
Zimmer, das raucht), ungedrängt durch gegenwärtige
oder besorgliche Uebel, mit ruhiger Seele hinauszugehen ;
weil er in demselben zu nichts mehr nutzen könne. —
Aber eben dieser Muth, diese Seelenstärke, den Tod
nicht zu fürchten, und etwas zu kennen, was der Mensch
noch höher schätzen kann, als sein Leben, hätte ihm
ein um soviel grösserer Bewegungsgrund sein müssen,
sich, ein Wesen von so grosser, über die stärksten sinn-
lichen Triebfedern gewalthabenden Obermacht, nicht zu
zerstören, mithin sich des Lebens nicht zu berauben.
Der Persönlichkeit kann sich der Mensch nicht ent-
äussern, so lange von Pflichten die Rede ist; folglich
so lange er lebt, und es ist ein Widerspruch, dass er
die Befugniss haben solle, sich aller Verbindlichkeit zu
entziehen, d. i. frei so zu handeln, als ob es zu dieser
Handlung gar keiner Befugniss bedürfte. Das Subjekt
der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist
ebensoviel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach,
soviel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch
Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als blosses
Mittel zu einem beliebigen Zweck zu disponiren, heisst
die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) ab-
würdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon)
zur Erhaltung anvertraut war.
Sich eines integrirenden Theils als Organs zu be-
rauben (verstümmeln), z. B. einen Zahn zu verschenken
t) 1. Ausg.: „aber hier ist nur die Rede von Verletzung
einer Pflicht gegen sich selbst, ob nämlich, wenn ich auch
alle jene Rücksichten bei Seite setzte"
264 Tugendl. Ethische Elementarl. I. B. I. Abth. I. Hauptst.
oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines Anderen
zu pflanzen, oder die Castration mit sich vornehmen zu
lassen, um als Sänger bequemer leben zu können u. dgl.,
gehört zum partialen Selbstmorde; aber nicht, ein ab-
gestorbenes oder die Absterbung drohendes und hiemit
dem Leben nachtheiliges Organ durch Amputation ab-
nehmen zu lassen. Auch kann es nicht zum Verbrechen
an seiner eigenen Person gerechnet werden, sich etwas,
das zwar ein Theil, aber kein Organ des Körpers ist,
z. B. die Haare abzuschneiden ; f) wiewohl der letzte
Fall nicht ganz schuldfrei ist, wenn er zum äusseren
Erwerb beabsichtigt wird J 09)
Casuistische Fragen.
Ist es Selbstmord, sich (wie Curtius) in den gewissen
Tod zu stürzen, um das Vaterland zu retten? — oder
ist das vorsätzliche Märtyrerthum, sich für das Heil des
Menschengeschlechts überhaupt zum Opfer hinzugeben,
auch wie jenes für Heldenthat anzusehen?
Ist es erlaubt, dem ungerechten Todesurtheile seines
Oberen durch Selbsttödtung zuvorzukommen? — selbst
•wenn dieser es (wie Nero am Seneca) erlaubte zu thun?
Kann man es einem grossen unlängst verstorbenen
Monareben zum verbrecherischen Vorhaben anrechnen,
dass er ein behend wirkendes Oift bei sich führte? ver-
muthlich damit, wenn er in dem Kriege, den er per-
sönlich führte, gefangen würde, er nicht etwa genöthigt
sei, Bedingungen der Auslösung einzugehen, die seinem
Staate nachtheilig sein könnten; denn diese Absicht
kann man ihm unterlegen, ohne dass man nöthig hat,
hierunter einen blossen Stolz zu vermuthen.
Ein Mann empfand schon die Wasserscheu , als
Wirkung von dem Biss eines tollen Hundes, und, nach-
dem er sich darüber so erklärt hatte: er habe noch nie
t) Statt der Worte: „durch Amputation — abzuschneiden"
hat die 1, Ausg. Folgendes: „durch Amputation, oder, was
zwar ein Theil, aber kein Organ des Körpers ist, z. E. die
Haare sich abnehmen zu lassen, kann zum Verbrechen au
seiner eigenen Person nicht gerechnet werden;"
IL Art. Von der wollüstigen Selbstschändung. §. 7. 265
erfahren, dass Jemand daran geheilt worden sei, brachte
er sich selbst um, damit, wie er in einer hinterlassenen
Schrift sagte, er nicht in seiner Hundewuth (zu welcher
er schon den Anfall fühlte) andere Menschen auch un-
glücklich machte; es fragt sich, ob er damit Unrecht that?
Wer sich die Pocken einimpfen zu lassen beschliesst,
wagt sein Leben aufs Ungewisse, ob er es zwar thut,
um sein Leben zu erhalten, und ist sofern in
einem v/eit bedenklicheren Fall des Pflichtgesetzes, als
der Seefahrer, welcher doch wenigstens den Sturm nicht
macht, dem er sich anvertraut, statt dessen jener die
Krankheit, die ihn in Todesgefahr bringt, sich selbst
zuzieht. Ist also die Pockeninoculation erlaubt? i^^)
Zweiter Artikel.
Von der wollüstigen Selbstschändung.
§. 7.
Sowie die Liebe zum Leben von der Natur zur Erhaltung
der Person, so ist die Liebe zum Geschlecht von ihr zur
Erhaltung der Art bestimmt; d. i. eine jede von beiden
ist Natur zweck, unter welchem man diejenige Ver-
knüpfung der Ursache mit einer Wirkung versteht, in
welcher jene Ursache f), auch ohne ihr dazu einen Ver-
stand beizulegen, doch nach der Analogie mit einem
solchen, also gleichsam, als brächte sie absichtlich die
Wirkung hervor, gedacht wird. ff) Es fragt sich nun,
ob der Gebrauch des Vermögens zur Erhaltung der Art
oder zur Fortpflanzung des Geschlechts fff) in Ansehung
der Person selbst, die es ausübt, unter einem ein-
schränkenden Pflichtgesetz stehe, oder ob diese, auch
ohne jenen Zweck zu beabsichtigen, den Gebrauch ihrer
Geschlechtseigenschaften der blossen thierischen Lust zu
widmen befugt sei, ohne damit einer Pflicht gegen sich
t) „Ursache" Zusatz der 2. Ausg.
tt) 1. Ausg.: ,,also gleichsam absichtlich Menschen her-
vorbringend gedacht wird"
ttt) 1- Ausg.: „Gebrauch des letzteren Vermögens"
266 Tugendl. Ethische Elementarl. I. B. I. Abth. I. Hauptst.
selbst zuwider zu handeln. — In der Rechtslehre wird
bewiesen, dass der Mensch sich einer anderen Person
dieser Lust zu Gefallen, ohne besondere Einschränkung
durch einen rechtlichen Vertrag, nicht bedienen könne; wo
dann zwei Personen wechselseitig einander verpflichten.
Hier aber ist die Frage: ob in Ansehung dieses Genusses
eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst obwalte,
deren Uebertretung eine Schändung (nicht bloss Ab-
würdigung) der Menschheit in seiner eigenen Person sei.
Der Trieb zu jenem wird Fleischeslust (auch Wollust
schlechthin) genannt. Das Laster, welches dadurch er-
zeugt wird, heisst ünkeuschheit, die Tugend aber
in Ansehung dieser sinnlichen Antriebe wird Keusch-
heit genannt, die nun hier als Pflicht des Menschen
gegen sich selbst vorgestellt werden soll. Unnatürlich
heisst eine Wollust, wenn der Mensch dazu nicht durcli
den wirklichen Gegenstand , sondern durch die Ein-
bildung von demselben, also zweckwidrig, ihn sich selbst
schaff'end gereizt wird. Denn sie bewirkt alsdann eine
Begierde wider den Zweck der Natur, und zwar einen
noch wichtigeren Zweck, als selbst der der Liebe zum
Leben ist, weil dieser nur auf Erhaltung des Individuums,
jener aber auf die der ganzen Species abzielt. —
Dass ein solcher naturwidriger Gebrauch (also Miss-
brauch) seiner Geschlechtseigenschaft eine und zwar der
Sittlichkeit im höchsten Grad widerstreitende Verletzung
der Pflicht wider sich selbst sei, fällt jedem zugleich
mit dem Gedanken von demselben sofort auf, erregt eine
Abkehrung von diesem Gedanken, in dem Maasse, dass
selbst die Nennung eines solchen Lasters bei seinem
eigenen Namen für unsittlich gehalten wird, welches bei
dem des Selbstmords nicht geschieht; den man, mit
allen seinen Greueln (in einer sjyecies facti) der Welt
vor Augen zu legen im mindesten kein Bedenken trägt;
gleich als ob der Mensch überhaupt sich beschämt fühle,
einer solchen ihn selbst unter das Vieh herabwürdigenden
Behandlung seiner eigenen Person fähig zu sein: so,
dass selbst die erlaubte (an sich freilicli bloss thierische)
körperliche Gemeinschaft beider Geschlechter in der Ehe
im gesitteten Um gange viel Feinheit veranlasst und er-
fordert, um einen Schleier darüber zu werfen, wenn
davon gesprochen werden soll.
II. Art. Von der wollüstigen Selbstschändung. §.7. 267
Der Vernunftbeweis aber der Unzulässigkeit jenes
unnatürlichen, und selbst auch des bloss unzweckmässigen
Gebrauchs seiner Geschlechtseigenschaften als Verletzung
(und zwar, was den ersteren betrifft, im höchsten Grade)
der Pflicht gegen sich selbst, ist nicht so leicht ge-
führt. — Der Beweisgrund liegt freilich darin, dass
der Mensch seine Persönlichkeit dadurch (wegwerfend)
aufgiebt, indem er sich bloss zum Mittel der Befriedigung
thierischer Triebe braucht. Aber der hohe Grad der
Verletzung der Menschheit in seiner eigenen Person durch
ein solches Laster in seiner Unnatürlichkeit, da es, der
Form (der Gesinnung) nach, selbst das des Selbstmordes
noch zu übergehen scheint, ist dabei nicht erklärt. Es
sei denn, dass da die trotzige Wegwerfung seiner selbst
im letzten, als einer Lebenslast, wenigstens nicht eine
weichliche Hingebung an thierische Reize ist, sondern
Muth erfordert, wo immer noch Achtung für die Mensch-
heit in seiner eigenen Person Platz findet; jene hin-
gegen, welche sich gänzlich der thierischen Neigung
überlässt, den Menschen zur geniessbaren, aber hierin
doch zugleich naturwidrigen Sache, d. i. zum ekel-
haften Gegenstande macht, und so aller Achtung für
sich selbst beraubt.ii*)
Casuistlsche Fragen.
Der Zweck der Natur ist in der Beiwohnung der
Geschlechter die Fortpflanzung, d. i. die Erhaltung der
Art; jenem Zwecke darf also wenigstens nicht zuwider
gehandelt werden. Ist es aber erlaubt, auch ohne
auf diesen Rücksicht zu nehmen, sich (selbst
wenn es in der Ehe geschähe) jenes Gebrauchs an-
zumassen?
Ist es z. B. zur Zeit der Schwangerschaft, — ist es
bei der Sterilität des Weibes (Alters oder Krankheit
wegen), oder wenn dieses keinen Anreiz dazu bei sich
findet, nicht dem Naturzwecke und hiemit auch der
Pflicht gegen sich selbst, an einem oder dem anderen
Theil, ebenso wie bei der unnatürlichen Wollust, zu-
wider, von seinen Geschlechtseigenschaften Gebrauch zu
machen; oder giebt es hier ein Erlaubnissgesetz der
26g Tugendl. Ethische Elementarl. I. B. I. Abth. I. Hauptst.
moralisch-praktischen Vernunft, welches in der Collision
ihrer Bestimmungsgründe etwas, an sich zwar Unerlaubtes,
doch zur Verhütung einer noch grösseren Uebertretung
(gleichsam nachsichtlich) erlaubt macht? — Von wo an
kann man die Einschränkung einer weiten Verbindlich-
keit zum Purismus (einer Pedanterei in Ansehung der
Pflichtbeobachtung, was die Weite derselben betrifft)
zählen, und den thierischen Neigungen, mit Gefahr der
Verlassung des Vernunftgesetzes, einen Spielraum ver-
statten ?
Die Geschlechtsneigung wird auch Liebe (in der
engsten Bedeutung des Wortes) genannt und ist in der
That die grösste Sinnenlust, die an einem Gegenstande
möglich ist; — nicht bloss sinnliche Lust, wie an
Gegenständen, die in der blossen Reflexion über sie ge-
fallen (da die Empfänglichkeit für sie Geschmack heisst),
sondern die Lust aus dem Genüsse einer anderen Person,
die also zum Begehrungsvermögen und zwar der
höchsten Stufe desselben, der Leidenschaft gehört. Sie
kann aber weder zur Liebe des Wohlgefallens, noch der
des Wohlwollens gezählt werden (denn beide halten
eher vom fleischlichen Genuss ab), sondern ist eine
Lust von besonderer Art (sui generis) und das Brünstig-
sein hat mit der moralischen Liebe eigentlich nichts
gemein , wiewohl sie mit der letzteren , wenn die
praktische Vernunft mit ihren einschränkenden Be-
dingungen hinzukommt, in enge Verbindung treten
kann.i*~)
Dritter Artikel.
Von der Selbstbetäubung durch Unmässigkeit im
Gebrauch der Geniess- oder auch Nahrungsmittel.
§. 8.
Das Laster in dieser Art der Unmässigkeit wird hier
nicht aus dem Schaden, oder den körperlichen Schmerzen,
selbst Krankheiten t) ; die der Mensch sich dadurch zu-
t) 1. Ausg.: „solchen Krankheiten'
III. Art. Von d. Selbstbetäubimg durch Unmässigkeit. §. 8. 269
zieht, beurtheilt, denn da wäre es ein Prinzip des Wohl-
befindens und der Behaglichkeit (folglich der Glückselig-
keit), wodurch ihm entgegengearbeitet werden sollte,
welches aber nie eine Pflicht, sondern nur eine Klugheits-
regel begründen kann; wenigstens wäre es kein Prinzip
einer direkten Pflicht.
Die thierische Unmässigkeit im Genuss der Nahrung
ist der Missbrauch der Geniessmittel, wodurch das Ver-
mögen des intellectuellen Gebrauchs derselben gehemmt
oder erschöpft wird. Versoffenheit und Gefrässig-
keit sind die Laster, die unter diese Rubrik gehören.
Im Zustande der Trunkenheit ist der Mensch nur wie
ein Thier, nicht als Mensch, zu behandeln; durch die
Ueberladung mit Speisen und in einem solchen Zustande
ist er für Handlungen, wozu Gewandtheit und Ueber-
legung im Gebrauch seiner Kräfte erfordert wird, auf
eine gewisse Zeit gelähmt. — Dass sich in einen solchen
Zustand zu versetzen, Verletzung einer Pflicht wider
sich selbst sei, fällt von selbst in die Augen. Die erste
dieser Erniedrigungen, selbst unter die thierische Natur,
wird gewöhnlich durch gegohrene Getränke, aber auch
durch andere betäubende Mittel, als den Mohnsaft und
andere Produkte des Gewächsreichs, bewirkt, und wird
dadurch verführerisch, dass dabei f) auf eine Weile eine
geträumte Glückseligkeit und Sorgenfreiheit, ja wohl
auch eingebildete Stärke hervorgebracht; schädlich aber
dadurch, dass hernach tf) Niedergeschlagenheit und
Schwäche, und, was das Schlimmste ist, Nothwendigkeit,
diese Betäubungsmittel zu wiederholen, ja wohl gar
damit zu steigern, eingeführt wird. Die Gefrässigkeit ist
insofern noch unter jener thierischen Sinnenbelustigung,
dass sie bloss den Sinn als passive Beschaffenheit und
nicht einmal die Einbildungskraft, wobei doch noch ein
thätiges Spiel der Vorstellungen stattfindet, wie im
vorerwähnten Genuss der Fall ist, beschäftigt; mithin
sich dem viehischen Genüsse noch mehr nähert, ftt)^*^)
t) 1. Ausg.: „dadurch"
tt) „schädlich aber dadurch, dass hernach" Zusatz der
2. Ausg.
ttt) !• Ausg.: „sich dem des Viehes"
270 Tugendl. Ethische Elementarl. I. B. I. Abth. I. Hauptst.
Casuistische Fragen.
Kann man dem Wein, wenngleich nicht als Panegyrist,
doch wenigstens als Apologet, einen Gebrauch verstatten,
der bis nahe an die Berauschung reicht; weil er doch
die Gesellschaft zur Gesprächigkeit belebt, und damit
Offenherzigkeit verbindet? — Oder kann man ihm wohl
gar das Verdienst zugestehen, das zu befördern, was
Horazf) vom Cato rühmt: virtus ejus incalnit mero'? —
"Wer kann aber das Maass für einen bestimmen, der
in den Zustand, wo er zum Messen keine klaren Augen
mehr hat, überzugehen eben in Bereitschaft ist?tt)
Der Gebrauch des Opium und Branntweins sind, als
Geniessmittel, der Niederträchtigkeit näher, weil sie, bei
dem geträumten Wohlbefinden, stumm, zurückhaltend
und unmittheilbar machen; daher sie auch nur als
Arzneimittel erlaubt sind. — Der Mohammedanismus,
welcher den Wein ganz verbietet, hat also sehr schlecht
gewählt, dafür das Opium zu erlauben.
Der Schmaus, als förmliche Einladung zur Unraässig-
keit in beiderlei Art des Genusses, hat doch, ausser dem
bloss phj^sischen Wohlleben, noch etwas zum sittlichen
Zweck Abzielendes an sich, nämlich viel Menschen und
lange zu wechselseitiger Mittheilung zusammenzuhalten;
gleichwohl aber, da eben die Menge (wenn sie, wie
Chesterfield sagt, über die Zahl der Musen geht) nur
eine kleine Mittheilung (mit den nächsten Beisitzern)
erlaubt, mithin die Veranstaltung jenem Zweck wider-
spricht, so bleibt sie immer Verleitung zum Unsittlichen,
nämlich der Unmässigkeit, und zur Uebertretung der
Pflicht gegen sich selbst; auch ohne auf die physischen
Nachtheile der Ueberladung, die vielleicht vom Arzt ge-
hoben werden können, zu sehen. Wie weit geht die
sittliche Befugniss, diesen Einladungen zur Unmässigkeit
Gehör zu geben?
t) 1. Ausg. : „Seneca''
tt) Der Satz: „Wer kann ... in Bereitschaft ist?" steht
in der 1. Ausg. nach dem zunächst folgenden Satze.
I. Art. Von der Lüge. §. 9. 271
Zweites Hauptstück.
Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloss als
moralisches Wesen betrachtetf)
Sie ist den Lastern der Lüge, des Geizes und der
falschen Demuth (Kriecherei) entgegengesetzt.
Erster Artikel.
Y 0 u der L ü g e.
§. 9.
Die grösste Verletzung der Pflicht des Menschen
gegen sich selbst, bloss als moralisches Wesen betrachtet
(gegen die Menschheit in seiner Person), ist das Wider-
spiel der Wahrhaftigkeit, oder ff) die Lüge {aliud
lingua 2'>ro7n2)tiim, aliud pectore inclusuin gerere). Dass
eine jede vorsätzliche Unwalirheit in Aeusserung seiner
Gedanken diesen harten Namen (den sie in der Rechts-
lehre nur dann führt, wenn sie Anderer Recht verletzt)
in der Ethik, die aus der Unschädlichkeit kein Befugniss
hernimmt, nicht ablehnen könne, ist für sich selbst klar.
Denn Ehrlosigkeit (ein Gegenstand der moralischen Ver-
achtung zu sein), w^elche sie begleitet, die begleitet auch
den Lügner, wie sein Schatten. — Die Lüge kann eine
äussere {inendaciwn externum), oder auch eine innere
sein. Durch jene macht sich der Mensch in Anderer,
durch diese aber, was noch mehr ist, in seinen eigenen
Augen zum Gegenstande der Verachtung, und verletzt
die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person.
Hiebei kömmt weder der Schade, der anderen Menschen
daraus entspringen kann, da er nicht das Eigenthümliche
des Lasters trifft, (das alsdann bloss in der Verletzung
der Pflicht gegen Andere bestände) in Anschlag, noch
t) 1. Ausg.: „bloss als einem moralischen Wesen."
tt) 1. Ausg.: „der Wahrhaftigkeit: die Lüge"
272 Tugendl. Ethische Elementarl. I. B. I. Abth. 11. Hauptst.
auch der Schade, den der Lügner sich selbst zuzieht f);
denn alsdann würde es bloss, als Klugheitsfehler, der
pragmatischen, nicht der moralischen Maxime wider-
streiten, und gar nicht als Pflichtverletzung angesehen
werden können. — Die Lüge ist Wegwerfung und gleich-
sam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch,
der selbst nicht glaubt, was er einem Anderen (wenn
es auch eine bloss idealische. Person wäre) sagt, hat
einen noch geringeren Werth, als wenn er bloss Sache
wäre; denn von dieser ihrer Eigenschaft, etwas zu
nutzen, kann ein Anderer doch irgend einen Gebrauch
machen, weil sie etwas Wirkliches und Gegebenes ist;
aber die Mittheiluug seiner Gedanken an Jemanden durch
Worte, die doch das Gegentheil von dem (absichtlich)
enthalten, was der Sprechende dabei denkt , ist ein der
natürlichen Zweckmässigkeit seines Vermögens der Mit-
theilung seiner Gedanken gerade entgegengesetzter Zweck,
mithin Verzichtthuuug auf seine Persönlichkeit, wobei
der Lügner sich als eine bloss täuschende Erscheinung
vom Menschen, nicht als wahren Menschen zeigt, ff) —
Die Wahrhaftigkeit in Erklärungen wird auch Ehr-
lichkeit, und, wenn diese zugleich Versprechen sind,
Redlichkeit, überhaupt aber Aufrichtigkeit genannt.
Die Lüge (in der ethischen Bedeutung des Worts),
als vorsätzliche Unwahrheit überhaupt, bedarf es auch
nicht. Anderen schädlich zu sein, um für verwerflich
erklärt zu werden; denn da wäre sie Verletzung der
Hechte Anderer. Es kann auch bloss Leichtsinn, oder
gar Gutmüthigkeit die Ursache davon sein, ja selbst
ein wirklich guter Zweck dadurch beabsichtigt werden;
dennoch ist die Art ttt) ibm nachzugehen durch die
t) Die Worte: „Hiebei — zuzieht" sind in der 1. Ausg.
etwas anders gefasst, nämlich so: „wobei der Schade, der
anderen Menschen daraus entspringen kann, nicht das Eigen-
thümliche des Lasters betrifft (denn da bestände es bloss
iu der Verletzung der Pflicht gegen Andere), und also hier
nicht in Anschlag kommt, ja auch nicht der Schade, den
der Lügner sich selbst zuzieht;"
tt) 1. Ausg.: „Persönlichkeit und eine bloss täuschende
Erscheinung vom Menschen nicht der Mensch selbst."
ttt) 1. Ausg.: „so ist doch die Art"
I. Art. Von der Lüge. §. 9. 273
Iblosse Form ein Verbrechen des Menschen an seiner
eigenen Person, und eine Nichtswürdigkeit, die den
Menschen in seinen eigenen Augen verächtlich machen
muss.
Die Wirklichkeit mancher inneren Lüge, welche die
Menschen sich zu Schulden kommen lassen, zu beweisen,
ist leicht, aber ihre Möglichkeit zu erklären, scheint
doch schwerer zu sein; weil eine zweite Person dazu
erforderlich ist, die man zu hintergehen die Absicht hat,
sich selbst aber vorsätzlich zu betrügen, einen Wider-
spruch in sich zu enthalten scheint.
Der Mensch, als moralisches Wesen {homo noumenoii)^
kann sich selbst, als physisches Wesen {homo phaeno-
meno?i), nicht als blosses Mittel (Sprachmaschine) brau-
chen, das an den inneren Zweck der Gedankenmittheilung
nicht gebunden wäre, sondern ist an die Bedingung der
Uebereinstimmung mit der Erklärung (dedaratio) des
ersteren gebunden, und gegen sich selbst zur Wahr-
haftigkeit verpflichtet. — Wenn er z. B. den Glauben
an einen künftigen Weltrichter lügt, indem er wirklich
keinen solchen in sich findet, aber, indem er sich über-
redet, es könne doch nicht schaden, wohl aber nutzen,
einen solchen in Gedanken einem Herzcnskündiger zu
bekennen, um auf allen Fall seine Gunst zu erheucheln.
Oder, wenn er zwar dessfalls nicht im Zweifel ist, aber
sich doch mit innerer Verehrung seines Gesetzes schmei-
chelt, da er doch keine andere Triebfeder, als die der
Furcht vor Strafe, bei sich fühlt.
Unlauterkeit t) ist bloss Ermangelung an Gewissen-
haftigkeit, d. i. an Lauterkeit des Bekenntnisses vor
seinem inneren Richter, der als eine andere Person ge-
dacht wird. Z. B. nach der grössten Strenge betrachtet,
ist es schon Unlauterkeit, wenn ein Wunsch aus Selbst-
liebe für die That genommen wirdtt), weil er einen
an sich guten Zweck für sich hat, und die innere Lüge,
ob sie zwar der Pflicht des Menschen gegen sich selbst
zuwider ist, erhält hier den Namen einer Schwachheit,
t) 1. Ausg.: „Unredlichkeit"
tt) 1- Ausg.: „gedacht wird, wenn diese in ihrer höchsten
Strenge betrachtet wird, wo ein Wunsch (aus Selbstliebe)
für die That genommen wird.,,
Kant, Metaphysik der Sitten. 18
2 74 Tugendl. Ethische Elementarl. I. B. I. Abth. II. Hauptst.
sowie der Wunsch eines Liebhabers, lauter gute Eigen-
schaften an seiner Geliebten zu finden, ihm ihre augen-
scheinlichen Fehler unsichtbar macht. — Indessen ver- .
dient diese Unlauterkeit in Erklärungen, die man gegen
sich selbst verübt, doch die ernstlichste Rüge; weil von
einer solchen faulen Stelle aus (der Falschheit, welche
in der menschlichen Natur gewurzelt zu sein scheint)
das üebel der ün Wahrhaftigkeit sich auch in Beziehung
auf andere Menschen verbreitet, nachdem einmal der
oberste Grundsatz der Wahrhaftio-keit verletzt worden. —
Anmerkung.
Es ist merkwürdig, dass die Bibel das erste
Verbrechen, wodurch das Böse in die Welt ge-
kommen ist, nicht vom Brudermorde (Kain's),
sondern von der ersten Lüge datirt (weil gegen
jenen sich doch die Natur empört), und als den
Urheber alles Bösen den Lügner von Anfang und
den Vater der Lügen nennt; wiewohl die Vernunft
von diesem Hange der Menschen zur Gl eisner ei
{esprit fourhe)^ der doch vorhergegangen sein muss,
keinen Grund weiter angeben kann; weil ein Akt
der Freiheit nicht (gleich einer physischen Wirkung),
nach dem Naturgesetz des Zusammenhanges der
Wirkung und ihrer Ursache, welche insgesammt Er-
scheinungen sind , deduzirt und erklärt werden
kann.^'-»)
Casuistische Fragen.
Kann eine Unwahrheit aus blosser Höflichkeit (z. B.
das ganz gehorsamster Diener am Ende eines
Briefes) für Lüge gehalten werden? Niemand wird ja
dadurch betrogen. — Ein Autor fragt einen seiner Leser:
wie gefällt Ihnen mein Werk? Die Antwort könnte nun
zwar illusorisch gegeben werden; da man über die Ver-
fänglichkeit einer solchen Frage spöttelte; aber wer hat
den Witz immer bei der Hand? Das geringste Zögern
mit der Antwort ist schon Kränkung des Verfassers;
darf er diesem also zum Munde reden?
II. Art. Vom Geize. §. 10. 275
Muss ich, wenn ich in wirklichen Geschäften, wo es
aufs Mein und Dein ankommt, eine Unwahrheit sage,
alle die Folgen verantworten, die daraus entspringen
möchten?!) Z. B. ein Hausherr hat befohlen: dass, wenn
ein gewisser Mensch nach ihm fragen würde, er ihn
verleugnen solle. Der Dienstbote thut dieses; veranlasst
aber dadurch, dass jener entwischt und ein grosses
Verbrechen ausübt, welches sonst durch die gegen ihn
ausgeschickte Wache wäre verhindert worden. Auf wen
fällt hier die Schuld nach ethischen Grundsätzen? Aller-
dings auch auf den letzten, welcher hier eine Pflicht
gegen sich selbst durch eine Lüge verletzte; deren
Folgen ihm nun durch sein eigenes Gewissen zugerechnet
werden.
Zweiter Artikel.
Vom Geize.
§. 10.
Ich verstehe hier unter diesem Namen nicht den
habsüchtigen Geiz (den Hang zur Erweiterung tt)
seines Erwerbs der Mittel zum Wohlleben über die
Schranken des wahren Bedürfnisses) ; denn dieser kann
auch als blosse Verletzung seiner Pflicht (der Wohlthätig-
keit) gegen Andere betrachtet werden: sondern fft)
den kargen Geiz, welcher, wenn er schimpflich ist,
Knickerei oder Knauserei genannt wird, und zwar nicht
insofern er in Vernachlässigung seiner Liebespflichten
gegen Andere besteht; sondern insofern als die Verengung
seines eigenen Genusses der Mittel zum Wohlleben
unter das Maass des wahren Bedürfnisses der Pflicht
gegen sich selbst widerstreitet. fft t)
t) 1. Ausg.: .,In wirklichen Geschäften, wo es aufs
Mein und Dein ankommt, wenn ich da eine Unwahrheit
sage, mnss ich da alle die Folgen"
tt) 1. Ausg.: ,,Geiz (der Erweiterung" u. s. w.
ttt; 1. Ausg.: „auch nicht"
tttt) Statt der Worte: „und zwar nicht — widerstreitet",
hat die 1. Ausg. Folgendes: „aber doch bloss Vernach-
18*
276 Tugendl. Ethische Elementarl. I. B. I. Abth. II. Hauptst.
An der Rüge dieses Lasters kann man ein Beispiel
von der Unrichtigkeit aller Erklärung der Tugenden
sowohl, als Laster, durch den blossen Orad deutlich
machen und zugleich die ünbrauchbarkeit des Aristo-
telischen Grundsatzes darthun: dass die Tugend in
der Mittelstrasse zwischen zwei Lastern bestehe.
Wenn ich nämlich zwischen Verschwendung und
Geiz die gute Wirthschaft als das Mittlere ansehe,
und dieses das Mittlere des Grades sein soll, so würde
ein Laster in das (con&arie) entgegengesetzte Laster
nicht anders übergehen, als durch die Tugend, und
so würde diese nichts Anderes, als ein vermindertes,
oder vielmehr verschwindendes Laster sein, und die
Folge w\äre in dem gegenwärtigen Fall : dass von den
Mitteln des Wohllebens gar keinen Gebrauch zu machen,
die ächte Tugendpflicht sei.
Nicht das Maass der Ausübung sittlicher Maximen,
sondern das objektive Prinzip derselben, muss als
verschieden erkannt und vorgetragen werden, wenn ein
Laster von der Tugend unterschieden werden soll. —
Die Maxime der verschwenderischen Habsucht
ist: alle Mittel des W^ohllebens lediglich in der Ab-
sicht auf den Genuss anzuschaffen. f) — Die des
kargen Geizes ist hingegen der Erwerb sowohl, als
die Erhaltung aller Mittel des Wohllebens, wobei man
sich bloss den Besitz zum Zwecke macht, und sich
des Genusses entäussert tt).
Also ist das eigenthümliche Merkmal des letzteren
Lasters der Grundsatz des Besitzes der Mittel zu allerlei
Zwecken, doch mit dem Vorbelialt, keines derselben für
lässigung seiner Liebespflichten gegen Andere sein kann;
sondern die Verengung seines eigenen Genusses der
Mittel zum Wohlleben unter das Maass des eigenen wahren
Bedürfnisses, dieser Geiz ist es eigentlich, der hier gemeint
ist, welcher der Pflicht gegen sich selbst widerstreitet.''
t) 1. Ausg.: „Die Maxime des habsüchtigen Geizes
(als Verschwenders; ist: alle Mittel des Wohllebens in der
Absicht auf den Genuss anzuschaffen und zu erhalten."
tt) Statt der Worte: ,, wobei man — entäussert" hat die
l.Ausg.: „aber ohne Absicht auf den Genuss (d. i. ohne
dass dieser, sondern nur der Besitz der Zweck sei.)"
II. Art. Vom Geize. §. 10. 277
sich brauchen zu wollen und sich so des angenehmen
Lebensgenusses zu berauben; welches der Pflicht gegen
sich selbst in Ansehung des Zwecks gerade entgegen-
gesetzt ist.*) Verschwendung und Kargheit sind also
*} Der Satz: man soll keiner Sache zu viel oder zu
wenig thun, sagt soviel, als nichts ; denn er ist tautologisch.
Was heisst zuviel thun? Antw. Mehr, als gut ist. Was
heisst zu wenig thun? Antw. Weniger thun, als gut ist.
Was heisst: ich soll (etwas thun oder unterlassen}? Antw.
Es ist nicht gut (wider die Pflicht) mehr oder auch
weniger zu thun , als gut ist. Wenn das die Weisheit ist,
die zu erforschen wir zu den Alten (dem Aristoteles),
gleich als solchen, die der Quelle näher waren, zurück-
kehren soflent); so haben wir schlecht gewählt, uns an ihr
Orakel zu wenden. — Es giebt zwischen Wahrhaftigkeit
und Lüge (als contradictor'ie oppositis) kein Mittleres; aber
wohl zwischen Ofi'enherzigkeit und Zurückhaltung (als con~
trarie oppositis), da an dem, welcher seine Meinung erklärt,
alles, was er sagt, wahr ist, er aber nicht die ganze
Wahrheit sagt. Nun ist doch ganz natürlich von dem
Tugendlehrer zu fordern, dass er mir dieses Mittlere an-
weise. Das kann er aber nicht; denn beide Tugendpflichten
haben einen Spielraum der Anwendung latitudinem) , und
was zu thun sei, kann nur von der ürtheilskraft, nach
Regeln der Klugheit (den pragmatischen), nicht denen der
Sittlichkeit (den moralischen), d. i. nicht als enge {officium
strictuni), sondern nur als weite Pflicht {officium latum) ent-
schieden werden. Daher der, welcher die Grundsätze der
Tugend befolgt, zwar in der Ausübung im Mehr oder
Weniger, als die Klugheit vorschreibt, einen Fehler {pec-
catum) begehen kann, aber nicht darin, dass er diesen
Grundsätzen mit Strenge anhänglich ist, ein Laster
{Vitium) ausübt, und Horazens Vers: insani sapiens nomen
ferat, aequus iniqin, ultra, quam satis est, virtutem si
petat ipsam , ist , nach dem Buchstaben genommen , grund-
falsch. Sapiens bedeutet aber hier wohl nur einen ge-
scheuten Mann [prudens), der sich nicht phantastisch eine
Tugendvollkommenheit denkt, die, als Ideal, zwar die An-
näherung zu diesem Zwecke, aber nicht die Vollendung
fordert, als welche Forderung die menschlichen Kräfte über-
t) Hier folgen in der 1. Ausg. noch die, schon
oben (Einl. XIII.) angeführten Sprüche: ,,virtus consistit
in medio, medium tenuere heali, est modus in rebus, quos
ultra citraque nequit consistere rectum.^^
278 Tugendl. Ethische Elementarl. I. B. I. Abth. 11. Hauptst.
nicht durch den Grad, sondern spezifisch durch die ent-
gegengesetzten Maximen von einander unterschieden. ii5)
Casuistische Fragen.
Da hier nur von Pflichten gegen sich selbst die
Rede ist, und Habsucht (Unersättlichkeit im Erwerb),
um zu verschwenden, ebensowohl, als Knauserei (Pein-
lichkeit im Verthun), Selbstsucht (soUjysisnms) zum
Grunde haben, und beide, die Verschwendung sowohl,
als die Kargheit, bloss darum verwerflich zu sein scheinen,
weil sie auf Armuth hinauslaufen, bei dem einen auf
nicht erwartete, bei dem anderen auf willkürliche (auf
den Vorsatz t), armselig leben zu wollen), — so ist die
Frage: ob sie, die eine sowohl, als die andere, über-
haupt Laster und nicht vielmehr beide blosse ünklug-
heit genannt werden sollen, mithin nicht ganz und gar
ausserhalb den Grenzen der Pflicht gegen sich selbst
liegen mögen. Die Kargheit aber ist nicht bloss miss-
verstandene Sparsamkeit, sondern sklavische Unter-
werfung seiner selbst unter die Glücksgüter, ihrer nicht
Herr zu sein, w^elches Verletzung der Pflicht gegen sich
selbst ist. Sie ist der Liberalität {liheralitas moi alis)
der Denkungsart überliaupt (nicht der Freigebigkeit
{liheralitas sumtuom), welche nur eine Anwendung der-
selben auf einen besonderen Fall ist), d. i. dem Prinzip
der Unabhängigkeit von allem Anderen, ausser von dem
Gesetz, entgegengesetzt, und Defraudation, die das Sub-
jekt an sich selbst begeht. Aber was ist das für ein
Gesetz, dessen innerer Gesetzgeber selbst nicht weiss,
w^o es anzuwenden ist? Soll ich meinem Munde ab-
brechen, oder nur dem äusseren Aufwände? im Alter,
oder schon in der Jugend? oder ist Sparsamkeit über-
haupt eine Tugend?
steigt Ttnd Unsinn Phautastereij in ihr Prinzip hineinbringt.
Denn gar zu tugendhaft, d. i. seiner Pflicht gar zu
anhänglich zu sein,- würde ohngefähr so viel sagen, als:
einen Zirkel gar zu rund, oder eine gerade Linie gar zu
gerade machen.
tj „auf den Vorsatz'- Zusatz der 2. Ausg.
III. Art. Von der Kriecherei. §. 11. 279
Dritter Artikel.
Von der Kriecherei.
§. 11.
Der Mensch im System der Natur {hämo ijltaeno-
menon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer
Bedeutung und hat mit den übrigen Thieren, als Er-
zeugnissen des Bodens, einen gemeinen Werth {pvetium
vulgai-e). Selbst dass er vor diesen den Verstand voraus
hat und sich selbst Zwecke setzen kann, das giebt ihm
doch nur einen äusseren Werth seiner Brauchbarkeit
{pvetium usus), nämlich eines Menschen vor dem an-
deren, d. i. einen Preis, als einer Waare, im Verkehr
mit diesen Thieren als Sachen, wo er doch noch einen
niedrigem Werth hat, als das allgemeine Tauschmittel,
das Geld, dessen Werth daher ausgezeichnet {pretium
eminens) genannt wird.
Allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. als
Subjekt einer moralisch -praktischen Vernunft, ist über
allen Preis erhaben ; denn als ein solcher {homo noume-
non) ist er nicht bloss als Mittel zu Anderer ihren, ja
selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich
selbst zu schätzen, d. i. besitzt eine Würde (einen abso-
luten Innern Werth), wodurch er allen andern vernünfti-
gen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit
jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuss der
Gleichheit schätzen kann.
Die Menschheit in seiner Person ist das Objekt der
A.chtung, die er von jedem anderen Menschen fordern
kann; deren er aber auch sich nicht verlustig machen
muss. Er kann und soll sich also, nach einem kleinen
sowohl, als grossen Maassstabe schätzen, nachdem er
sich als Sinnenwesen (seiner thierischen Natur nach),
oder als intelligibles Wesen (seiner moralischen Anlage
nach) betrachtet. Da er sich aber nicht bloss als Per-
son überhaupt, sondern auch als Mensch, d. i. als eine
Person, die Pflichten auf sich hat, die ihm seine eigene
Vernunft auferlegt, betrachten muss, so kann seine Ge-
ringfügigkeit als Thi er mensch dem Bewusstsein seiner
280 Tugendl. Ethische Elementaii. L B. I. Abth. 11. Htiuptst
Würde als Vernunftmensch nicht Abbruch thun, und
er soll die moralische Selbstschätzung in Betracht der
letzteren nicht verleugnen, d. i. er soll sich um seinen
Zweck, der an sich selbst Pflicht ist, nicht kriechend,,
nicht knechtisch {animo servüi^^ gleich als sich um
Gunst bewerbend, bewerben, nicht seine Würde verleug-
nen, sondern immer das Bewusstsein der Erhabenheit
seiner moralischen Anlage in sich aufrecht erhalten; und
diese Selbstschätzung ist Pflicht des Menschen gegen
sich selbst.
Das Bewusstsein und Gefühl der Geringfügigkeit
seines moralischen Werths in Vergleich ung mit dem
Gesetz ist die moralische t) Demut h {Jmmüitas mora-
lis). Die Ueberredung von einer Grösse dieses seines
Werths, aber nur aus Maugel der Vergleichuug mit dem
Gesetz, kann der Tugendstolz {arrogantla moralis)
genannt werden. — Die Entsagung alles Anspruchs auf
irgend einen moralischen Werth seiner selbst, in der
Ueberredung, sich eben dadurch einen geborgten zu er-
werben, ist die falsche moralische Demuth ijtumüitas
moralis sjnirid) oder geistliche Kriecherei. ff)
Demuth als Geringschätzung seiner selbst fft) iw
Vergleichung mit anderen Menschen (ja über-
haupt mit irgend einem endlichen Wesen, und wenn es
auch ein Seraph wäre) ist gar keine Pflicht; vielmehr
ist die Bestrebung, in solcher Demuth Andern gleich-
zukommen, oder sie zu übertreffen, mit der Ueberredung,
sich dadurch auch einen inneren grösseren Werth zu
verschaffen, Hochmut h (amhitio)^ welcher der Pflicht
gegen Andere gerade zuwider ist. Aber die bloss als
Mittel, zu Erwerbung der Gunst eines Anderen, (wer es
auch sei,) ausgosonnene Herabsetzung seines eigenen
moralischen Werths (Heuchelei und Schmeichelei)-) ist
t) „moralische" fehlt in der 1, Ausg.
+t) 1. Ausg.: „ist die sittlich falsche Kriecherei (Jm-
müitas spuria.^'
ttt) ,,als Geringschätzung seiner selbst" Zusatz der 2. Ausg.
*) Heucheln (eigentlich häuchlen) scheint vom äch-
zenden, die Sprache unterbrechenden Hauch (Stossseufzer)
abgeleitet zu sein; dagegen Schmeichlen vom Schmie-
111. Art. Von der Kriecherei. §. 12. 281
falsche (erlogene) Demuth, und als Abwürdigung seiner
Persönlichkeit der Pflicht gegen sich selbst entgegen.
Aus unserer aufrichtigen und genauen Vergleichung
mit dem moralischen Gesetz (dessen Heiligkeit und
Strenge) muss unvermeidlich wahre Demuth folgen;
aber daraus, dass wir einer solchen inneren Gesetz-
gebung fähig sind, dass der (physische) Mensch den
(moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu ver-
ehren sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und
die höchste Selbstschätzung, als Gefühl seines inneren
Werths (valor), nach welchem er für keinen Preis
(pretiu?n) feil ist, und eine unverlierbare Würde {digni-
tas interna) besitzt, die ihm Achtung {reverentia) gegen
sich selbst einflösst.
§. 12.
Mehr oder weniger kann man diese Pflicht, in Be-
ziehung auf die Würde der Menschheit in uns, mithin
auch gegen uns selbst, durch folgende Vorschriften t)
kennbar machen.
Werdet nicht der Menschen Knechte. — Lasst euer
Recht nicht ungeahndet von Anderen mit Füssen treten.
— Macht keine Schulden, für die ihr nicht volle Sicher-
heit leistet. — Nehmt nicht Wohlthaten an, die ihr
entbehren könnt, und seid nicht Schmarozer, oder
Schmeichler, oder gar (was freilich nur im Grad von
dem Vorigen unterschieden ist) Bettler. Daher seid
wirthschaftlich , damit ihr nicht bettelarm werdet. —
Das Klagen und Winseln, selbst das blosse Schreien
bei einem körperlichen Schmerz ist euer schon unwerth,
am meisten, wenn ihr euch bewusst seid, ihn selbst
verschuldet zu haben. Daher die Veredlung (Abwen-
dung der Schmach) des Todes eines Delinquenten durch
die fctandhaftigkeit, mit der er stirbt. — Das Hinknieen
oder Hinwerfen zur Erde, selbst um die Verehrung
himmlischer Gegenstände sich dadurch zu versinnlichen,
gen, welches, als Habitus, Schmiegein und endlich von
den Hochdeutschen Schmeicheln genannt worden ist,
abzustammen.
t) 1. Ausg.: „in folgenden Beispielen"
282 Tugendl. Ethische Elementarl. I. B. I. Abth. 11. Hauptst.
ist der Menschenwürde zuwider, so wie die Anrufung
derselben in gegenwärtigen Bildern; denn ihr demüthigt
euch alsdann nicht unter einem Ideal, das euch eure
eigene Vernunft vorstellt, sondern unter einem Idol,
was euer eigenes Gemächsel ist.^^^)
Casuistische Fragen.
Ist nicht in dem Menschen das Gefühl der Erhaben-
heit seiner Bestimmung, d. i. die Gemlithserhebung
{elatio animi) als Schätzung seiner selbst, mit dem
Eigendünkel ( arrogantia ) , welcher der wahren
Demuth {humilitas moralis) gerade entgegengesetzt
ist, zu nahe verwandt, als dass zu jener aufzumuntern
CS rathsam wäre; selbst in Vergleichung mit anderen
Menschen, nicht bloss mit dem Gesetz? oder würde
diese Art von Selbstverleugnung nicht vielmehr den
Ausspruch Anderer bis zur Geringschätzung unserer
Person steigern, und so der Pflicht (der Achtung) gegen
uns selbst zuwider sein? Das Bücken und Schmiegen
vor einem Menschen scheint in jedem Fall eines Menschen
unwürdig zu sein.
Die vorzüglichste Achtungsbezeigung in Worten und
Manieren, selbst gegen einen nicht Gebietenden in der
bürgerlichen Verfassung, — die Reverenzen, Verbeugungen
(Complimente), höfische, — den Unterschied der Stände
mit sorgfältiger Pünktlichkeit bezeichnende Phrasen, —
vrelche von der Höflichkeit (die auch sich gleich Achtenden
nothwendig ist) ganz unterschieden sind, — das Du, Er,
Ihr und Sie, oder Ew. Wohledlen, Hochedlen, Hochedel-
geboren, Wohlgeboren {ohe, jam satis est!) in der An-
rede, — als in welcher Pedanterei die Deutschen unter
allen Völkern der Erde (die indischen Kasten vielleicht
ausgenommen) es am weitesten gebracht haben., sind
das nicht Beweise eines ausgebreiteten Hanges zur
Kriecherei unter Menschen? (Hae migae in seria
ducunt). Wer sich aber zum Wurm macht, kann nach-
her nicht klagen, wenn er mit Füssen getreten wird.
Pflicht gegen sich als Richter seiner selbst. §. 13. 283
• Drittes Hauptstück.
Erster Abschnitt.
Von der Pflicht des Meusclien gegen sich selbst,
als den gebornenf) Richter über sich selbst.
§. 13.
Ein jeder Pflichtbegriff enthält objektive Kötliigung
durchs Gesetz (als moralischen unsere Freiheit ein-
schränkenden Imperativ), und gehört dem praktischen
Verstände zu, der die Regel giebt; die innere Zurech-
nung aber einer That, als eines unter dem Gesetz
stehenden Falles {in meritum mit demeritum) gehört
zur ürtheils kraft (Judicium), welche, als das sub-
jektive Prinzip der Zurechnung der Handlung, ob sie
als That (unter einem Gesetz stehende Handlung) ge-
schehen sei oder nicht, rechtskräftig urtheiit; worauf
denn der Schluss der Vernunft (die Sentenz), d. i. die
Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung
(die Verurtheilung oder Lossprechung) folgt: welches
alles vor Gericht (corcun judicio), als einer dem Gesetz
Effekt verschaffenden moralischen Person, Gerichts-
hof (fo9mm) genannt, geschieht. — Das Bewusstsein
eines inneren Gerichtshofes im Menschen („vor
welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder
entschuldigen") ist das Gewissen.
Jeder Mensch hat Gewissen, und findet sich durch
einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt
im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten,
und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt
ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht,
sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm
wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er
kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen be-
täuben, oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden
dann und wann zu sich selbst zu kommen, oder zu
t) 1. Ausg.: „angebornen"
284 Tugendl. Eth. Elementar!. I. B. III. Hauptst. I. Abschn..
erwachen^ wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben
vernimmt. Er kann es, in seiner äussersten Verworfen-
heit, allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr
zu kehren, aber sie zu hören, kann er doch nicht
vermeiden.
Diese ursprüngliche intellektuelle und (weil sie Pflicht-
vorstellung ist) moralische Anlage, Gewissen genannt,
hat nun das Besondere an sich, dass, obzwar dieses
sein Geschäft ein Geschäft des Menschen mit sich selbst
ist, dieser sich doch durch seine Vernunft genöthigt
sieht, es als auf das Geheiss einer anderen Person
zu treiben. Denn der Handel ist hier die Führung einer
Rechtssache {causa) vor Gericht. Dass aber der
durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als
eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine
ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe;
denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren. —
Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen
Pflichten einen Anderen, als sich selbst f), zum Richter
seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit
sich selbst in Widerspruch stehen soll. Diese Andere
mag nun eine wirkliche, oder bloss idealische Person
sein, welche die Vernunft sich selbst schafft.*)
t) 1. Ausg.: ,, einen Anderen >ls den Menschen über-
haupt), d. i. als sich selbst"
*) Die zwiefache Persönlichkeit, in welcher der Mensch,
der sich im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken
muss; dieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken
eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist,
zitternd stehen zu müssen, andererseits aber das Richteramt
aus angeborner Autorität selbst in Händen zu haben, bedarf
einer ^Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst
gar in Widerspruch gerathe. — Ich, der Kläger und doch
auch Angeklagter, bin ebenderselbe Mensch {numero idem),
aber, als Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der
Freiheit ausgehenden Gesetzgebung, wo der Mensch einem
Gesetz unteithaa ist, das er sich selbst giebt [homo noumenon),
ist er als ein Anderer, als der mit Vernunft begabte Sinneu-
mensch {specie diversus), aber nur in praktischer Rücksicht,
zu betrachten, — denn über das Causal-Verhältniss des In-
telhgiblen zum Sensiblen giebt es keine Theorie, — und diese
spezifische Verschiedenheit ist die der Fakultäten des Men-
schen ^der oberen und unteren;, die ihn charakterisiren. Der
Pflicht gegen sich als Richter seiner selbst, §. 13. 285
Eine solche idealische Person (der autorisirte Ge-
^issensrichter) muss ein Herzenskündiger sein; denn
der Gerichtshof ist im Inneren des Menschen auf-
geschlagen; — zugleich muss er aber auch all ver-
pflichtend, d. i. eine solche Person sein, oder als
eine solche gedacht werden, in Verhältniss auf welche
alle Pflichten überhaupt auch als ihre Gebote anzusehen
sind; weil das Gewissen über alle freie Handlungen
der innere Richter ist. Da nun ein solches mo-
ralisches Wesen zugleich alle Gewalt (im Himmel und
auf Erden) haben muss, weil es sonst nicht (was doch
zum Richteramt noth wendig gehört) seinen Gesetzen
den ihnen angemessenen Effekt verschaffen könnte, ein
solches über alles machthabende moralische Wesen aber
Gott heisst; so wird das Gewissen als subjektives Prin-
zip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden
Verantwortung gedacht werden müssen; ja es wird der
letzte Begriff (wenngleich nur auf dunkle Art) in jenem
moralischen Selbstbewusstsein jederzeit enthalten sein.
Dieses will nun nicht so viel sagen, als: der Mensch,
durch die Idee, zu welcher ihn sein Gewissen unver-
meidlich leitet, sei berechtigt, noch weniger aber: er
sei durch dasselbe verbunden, ein solches höchstes
Wesen ausser sich als wirklich anzunehmen; denn
sie wird ihm nicht objektiv, durch theoretische, son-
dern bloss subjektiv, durch praktische sich selbst
verpflichtende Vernunft, ilir angemessen zu handeln,
gegeben; und der Mensch erhält vermittelst dieser, nur
nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller ver-
nünftigen Weltweseu, eine blosse Leitung, die Gewissen-
haftigkeit (welche auch religio genannt wird), als Ver-
antwortlichkeit vor einem, von uns selbst unterschiedenen,
aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen
erstere ist der Ankläger, dem entgegen ein rechthcher Bei-
stand des Verklagten (Sachwalter desselben) bewilligt ist.
Nach Schliessung der Akten thut der innere Richter, als
niachthabende Person, den Ausspruch über Glückseligkeit
oder Elend, als moralische Folgen der That; in welcher
Qualität wir dieser ihre Macht (als Weltherrschers) durch
unsere Vernunft nicht weiter verfolgen, sondern nur das
unbedingte jubeo oder veto verehren können.
286 Tugendl. Eth. Elementarl. I. B. III. Hauptst. I. Abschn.
(der moralisch - gesetzgebenden Vernunft) sich vorzu-
stellen, und dessen Willen sich als Regel der Gerechtig-
keit t) zu unterwerfen. Der Begriff von der Religion
überhaupt ist hier dem Menschen bloss „ein Prinzip der
Beurtheilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote."
1) In einer Gewissenssache {causa conscientiarn tan-
gens) denkt sich der Mensch ein warnendes Gewissen
{praemonens) vor der Entschliessung ; wobei die äusserste
Bedenklichkeit {scrupulositas), w^nn es einen Pflicht-
begriflf (etwas an sich Moralisches) betrifft, in Fällen,
darüber das Gewissen der alleinige Richter ist {casibus
conscientiae), nicht für Kleinigkeitskrämerei (Mikrologie),
und eine wahre Uebertretung nicht für Baggatelle {pec-
catülum) beurtheilt, und (nach dem Grundsatz: minima
non curat p)raetor) einem willkürlich sprechenden Ge-
wissensrath überlassen werden kann. Daher ein weites
Gewissen Jemandem zuzuschreiben so viel heisst, als:
ihn gewissenlos nennen. —
2) Wenn die That beschlossen ist, tritt im Gewissen
zuerst der Ankläger, aber, zugleich mit ihm, auch
ein Anwalt (Advokat) auf; wobei der Streit nicht güt-
lich {p)er amicahilem compositionem) abgemacht, sondern
nach der Strenge des Rechts entschieden werden muss;
und hierauf folgt
3) der rechtskräftige Spruch des Gewissens über den
Menschen, ihn loszusprechen oder zu verdammen,
der den Beschluss macht; wobei zu merken ist, dass
der erste Spruch nieft) eine Belohnung (praemium),
als Gewinn von etwas, was vorher nicht sein w^ar, be-
schliessen kann, sondern nur ein Fr oh sein, der Ge-
fahr, strafbar befunden zu werden, entgangen zu sein,
enthält, und daher die Seligkeit, in dem trostreichen
Zuspruch seines Gewissens, nicht positiv (als Freude),
sondern nur negativ (Beruhigung, nach vorhergegan-
gener Bangigkeit) ist; eine Seligkeit, die ttt) der Tugend,
als einem Kampf gegen die Einflüsse des bösen Prinzips
im Menschen, allein beigelegt werden kann.H'')
t) 1. Ausg.: „Willen den Regeln der Gerechtigkeit"
tt; 1. Ausg.: „der erstere nie''
ttt) 1. Ausg.: „ist; was der Tugend"
Von d. ersten Gebot aller Pflichten geg. sich selbst. §.14. 287
Zweiter Abschnitt.
Von dem ersten Gebot aller Pflichten gegen sicli
selbst.
§. U.
Dieses ist: erkenne (erforsche, ergründe) dich
selbst, nicht nach deiner physischen Vollkommenheit
(der Tauglichkeit oder Untauglichkeit zu allerlei dir be-
liebigen oder auch gebotenen Zwecken), sondern nach
der moralischen, in Beziehung auf deine Pflicht; —
prüfe dein Herz, — ob es gut oder böse sei, ob die
Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter, und
was entweder als ursprünglich zur Substanz des
Menschen gehörend, oder als abgeleitet (erworben oder
zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden könne und
zum moralischen Zustande gehören möge.
Diese Selbstprüfung, dief) in die schwerer zu er-
gründenden Tiefen oder den Abgrund des Herzens zu
dringen verlangt, und die dadurch zu erhaltende Selbst-
erkenntniss tt) ist aller menschlichen Weisheit Anfang.
Denn die letzte, welche in der Zusammenstimmung des
Willens eines Wesens zum Endzweck besteht, bedarf
beim Menschen zu allererst der Wegräumung der inneren
Hindernisse (eines bösen in ihm genistelten Willens),
und dann der Bestrebung, die nie verlierbare ursprüng-
liche Anlage eines guten Willens in sich zu entwickeln.
Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntniss bahnt den
Weg zur Vergötterung.!!^)
§■ 15.
Diese ttt) moralische Selbsterkenntniss wird erstlich
die schwärmerische Verachtung seiner selbst, als
eines Menschen, oder des ganzen Menschengeschlechts
t) 1. Ausg.: „Das moralische Selbsterkenntniss, das''
tt) „und die dadurch zu erhaltende Selbsterkenntniss"
Zusatz der 2. Ausg.
ttt) 1. Ausg. : „Dieses"
288 Tugendl. Eth. Elementarl. I. B. III. Hauptst. II. Abschn.
überhaupt, t) verbannen; denn diese widerspricht sich
selbst. — Es kann ja nur durch die herrliche in uns
befindliche Anlage zum Guten, welche den Menschen
achtungswürdig macht, geschehen, dass er den Menschen,
der dieser zuwider handelt und in einem solchen Falle
auch sich selbst der Verachtung würdig findet ;tt) einer
Verachtung, die denn immer nur diesen oder jenen
Menschen, nicht die Menschheit überhaupt trefibn kann. —
Dann aber widersteht sie auch der eigenliebigen
Selbstschätzung, blosse Wünsche, wenn sie mit noch so
grosser Sehnsucht geschähen, da sie an sich doch that-
leer sind und bleiben, für Beweise eines guten Herzens
zu halten. Gebet ist auch nur ein innerlich vor einem
Herzenskündiger deklarirter Wunsch. Unparteilichkeit,
in Beurtheilung unserer Selbst in Vergleichung mit dem
Gesetz und Aufrichtigkeit im Selbstgeständnisse seines
inneren moralischen Werths oder Unwerths sind Pflichten
gegen sich selbst, die aus jenem ersten Gebot der
Selbsterkenntniss unmittelbar folgen.
Episodischer Abschnitt.
Vonder Amphibolie der moralischen Reflex ion s-
Begriffe: das, was die Pflicht des Menschen gegen
sich oder andere Menschen ist, für Pflicht gegen
andere Wesen zu halten, ttt)
§. 16.
Nach der blossen Vernunft zu urtheilen, hat der
Mensch sonst keine Pflicht, als bloss gegen den Men-
schen (sich selbst oder einen anderen); denn seine
t) 1. Ausg.: „als Mensch (seiner ganzen Gattung) über-
haupt"
tt) 1. Ausg.; „zuwider handelt (sich selbst, aber nicht
die Menschheit in sich), verachtungswürdig findet," Die
folgenden Worte: „einer Verachtung — trefl'en kann'' fehlen
in der 1. Ausg.
ttt) 1. Ausg.: „das, was Pflicht des Menschen gegen sich
selbst ist, für Pflicht gegen Andere zu halten."
Von d. Amphibolie d. moral. Reflexionsbegriflfe. §. 17. 289
Pflicht gegen irgend ein Subjekt ist die moralische
Nöthigung durch dieses seinen Willen. Das nöthigende
(verpflichtende) Subjekt muss also erstlich eine Person
sein, zweitens muss diese Person als Gegenstand der
Erfahrung gegeben sein; weil der Mensch auf den Zweck
ihres Willens hinwirken soll, welches nur in dem Ver-
hältnisse zweier existirender Wesen zu einander ge-
schehen kann; denn ein blosses Gedankending kann
nicht Ursache von irgend einem Erfolg nach Zwecken
werden. Nun kennen wir aber, mit aller unserer Er-
fahrung, kein anderes Wesen, was der Verpflichtung
(der activen oder passiven) fähig wäre, als bloss den
Menschen. Also kann der Mensch sonst keine Pflicht
^egen irgend ein Wesen haben, als bloss gegen den
Menschen, und, stellt er sich gleichwohl eine solche zu
haben vor, so geschieht dieses durch eine Amphibolie
<ler Reflexionsbegriffe und seine vermeinte Pflicht
gegen andere Wesen ist bloss Pflicht gegen sich selbst;
zu welchem Missverstande er dadurch verleitet wird,
dass er seine Pflicht in Ansehung anderer Wesen mit
einer Pflicht gegen diese Wesen verwechselt.
Diese vermeinte Pflicht kann nun auf unpersön-
liche, oder zwar persönliche, aber schlechterdings un-
sichtbare (den äusseren Sinnen nicht darzustellende)
Gegenstände bezogen werden. — Die ersten (auss er-
menschlichen) können der blosse Naturstoff", oder
der zur Fortpflanzung organisirte, aber empfindungslose,
oder der mit Empfindung und Willkür begabte Theil
der Natur (Mineralien, Pflanzen, Thiere) sein ; die zweiten
(übermenschlichen) können als geistige Wesen
(Engel, Gott) gedacht werden. — Ob zwischen Wesen
beider Art und den Menschen ein Pflichtverhältniss,
und welches dazwischen stattfindet, wird nun gefragt.
§. 17.
In Ansehung des Schönen, obgleich Leblosen in
der Natur ist ein Hang zum blossen Zerstören {spiritus
desttnictionis) der Pflicht des Menschen gegen sich selbst
zuwider; weil es dasjenige Gefühl im Menschen schwächt
oder vertilgt, was zwar nicht für sich allein schon mo-
ralisch ist, aber doch eine der Moralität günstige Stirn-
Kant, Metaphysik der Sitten. 19
290 Tugendl. Eth. Elementar!. I. B. III. Hptst. Ep. Abschn.
mung der Sinnlichkeit sehr befördert, wenigstens dazu
vorbereitet, nämlich die Lust, etwas auch ohne Absicht
auf Nutzen zu lieben und z. B. an den schönen Krystalü-
sationen, an der unbeschreiblichen Schönheit des Ge-
wächsreichs ein uninteressirtes Wohlgefallen zu finden. f)
In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen
Theils der Geschöpfe ist die gewaltsame und zugleich
grausame Behandlung der Thiere der Pflicht des Men-
schen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt,
weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen
abgestumpft, und folglich eine der Moralität, im Ver-
hältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natür-
liche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt
wird; obgleich ihre behende (ohne Qual verrichtete)
Tödtung, oder auch ihre, nur nicht bis über Vermögen
angestrengte Arbeit (dergleichen auch wohl Menschen
sich gefallen lassen müssen) unter die Befugnisse des
Menschen gehören; da hingegen die martervollen phy-
sischen Versuche zum blossen Behuf der Spekulation,
wenn auch ohne sie der Zweck erreicht werden könnte,
zu verab-cheuen sind. — Selbst Dankbarkeit für lang
geleistete Dienste eines alten Pferdes oder Hundes (gleich
als ob sie Hausgenossen wären) gehört indirekt zur
Pflicht des Menschen, nämlich in Ansehung dieser
Thiere, direkt aber betrachtet ist sie immer nur Pflicht
des Menschen gegen sich selbst.
§• 18.
In Ansehung eines Wesens, was ff) ganz über
unsere Erfahrungsgrenze hinaus liegt, aber doch seiner
Möglichkeit nach in unseren Ideen angetroffen wird,
nämlich der Gottheit, fff) haben wir ebensowohl auch
eine Pflicht, welche Religionspflicht genannt wird,
die nämlich „der Erkenntniss aller unserer Pflichten
t) 1. Ausg.: „aber doch diejenige Stimmung der Sinn-
lichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens
dazu vorbereitet, nämlich etwas auch ... zu lieben, z. B.
die schönen Krystallisationen , das unbeschreiblich Schöne
des Gewächsreichs"
tt) 1. Ausg.: „dessen, was"
ttt) 1, Ausg.: „z. B. der Idee von Gott«
Von d. Amphibolie d. moral. Reflexionsbegriffe. §. 18. 291
als {instar) göttlicher Gebote." Aber dieses ist nicht
das Bewusstsein einer Pflicht gegen Gott. Denn da
diese Idee ganz aus unserer eigenen Vernunft hervor-
geht und von uns, es sei in theoretischer Absicht, um
sich die Zweckmässigkeit im Weltganzen zu erklären,
oder auch um zur Triebfeder in unserem Verhalten zu
dienen, von uns selbst gemacht wird, so haben wir
hiebei nicht ein gegebenes Wesen vor uns, gegen
welches uns Verpflichtung obläge; denn da müsste
dessen Wirklichkeit allererst durch Erfahrung bewiesen
(oder geoffenbart) sein; sondern es ist Pflicht des Men-
schen gegen sich selbst, diese unumgänglich der Ver-
nunft sich darbietende Idee auf das moralische Gesetz
in uns, wo sie von der grössten sittlichen Fruchtbarkeit
ist, anzuwenden. In diesem (praktischen) Sinn kann
es also so lauten: Religion zu haben ist Pflicht des
Menschen gegen sich selbst, ^i 9)
19^
Der PflicMen gegen sich selbst
zweite Abtheilung.
Yon den unvoUkomraenen Pflichten
des Menschen gegen sich seihst (in Ansehung
seines Zwecks).
Erster Abschnitt.
Von der Pflicht gegen sich selbst in Entwickelung
und Vermehrung seiner Natur Vollkommenheit,
d. i. in pragmatischer Absicht.
§. 19.
Der Anbau {cultura) seiner Naturkräfte (Geistes-^
Seelen- und Leibeskräfte) als Mittel zu allerlei möglichen
Zwecken ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst. —
Der Mensch ist es sich selbst (als einem Vernunftwesen)
schuldig, die Naturanlagen und Vermögen, von denen
seine Vernunft dereinst Gebrauch machen kann, nicht
unbenutzt und gleichsam rosten zu lassen, sondern, ge-
setzt dass er auch mit dem angebornen Maass seines
Vermögens für die natürlichen Bedürfnisse zufrieden
sein könne, so muss ihm doch seine Vernunft dieses
Zufriedensein mit dem geringen Maass seiner Ver-
mögen erst durch Grundsätze anweisen, weil er, als ein
Wesen, das Zwecke zu haben, oder Gegenstände sich
I
Pflicht, sich pragmatisch zu vervollkommnen. §. 29. 293
zum Zweck zu machen fähig istt), den Gebrauch seiner
Kräfte nicht bloss dem Instinkt der Natur, sondern der
Freiheit, mit der er dieses Maass bestimmt, zu ver-
danken haben muss. Es ist also nicht Rücksicht auf
den Vortheil, den die Kultur seines Vermögens (zu
allerlei Zwecken) verschaffen kann; denn dieser würde
vielleicht (nach Rousseau'schen Grundsätzen) für die
Rohigkeit des Naturbedürfnisses vortheilhaft ausfallen;
sondern es ist Gebot der moralisch-praktischen Vernunft
und Pflicht des Menschen gegen sich selbst, seine
Vermögen (unter denselben eins mehr, als das andere,
nach Verschiedenheit seiner Zwecke) anzubauen, und in
pragmatischer Rücksicht ein dem Zweck seines Daseins
angemessener Mensch zu sein.
Geisteskräfte sind diejenigen, deren Ausübung
nur durch die Vernunft möglich ist. Sie sind sofern
schöpferisch, als ihr Gebrauch nicht aus Erfahrung ge-
schöpft, sondern a 'pricn^i aus Prinzipien abgeleitet wird.
Dergleichen sind Mathematik, Logik und Metaphysik
der Natur, welche zwei letzteren auch zur Philosophie,
nämlich der theoretischen gezählt werden, die zwar als-
dann nicht, wie der Buchstabe lautet, Weisheitslehre,
sondern nur Wissenschaft bedeutet , aber doch der
ersteren zu ihrem Zwecke beförderlich sein kann.
Seelenkräfte sind diejenigen, welche dem Ver-
stände und der Regel, die er zu Befriedigung beliebiger
Absichten braucht, zu Gebote stehen, und sofern an
dem Leitfaden der Erfahrung geführt werden. Der-
gleichen ist das Gedächtniss, die Einbildungskraft u. dgl.,
worauf Gelahrtheit, Geschmack (innere und äussere
Verschönerung) etc. gegründet werden können, welche
zu mannigfaltiger Absicht die Werkzeuge darbieten.
Endlich ist die Kultur der Leibeskräfte (die
eigentliche Gymnastik) die Besorgung dessen, was das
Zeug (die Materie) am Menschen ausmacht, ohne
welches die Zwecke des Menschen unausgeführt bleiben
würden; mithin ist die fortdauernde absichtliche Be-
lebung des Thieres am Menschen Pflicht des Menschen
gegen sich selbst.
t) 1. Ausg.: „als ein Wesen, das der Zwecke (sich
Gegenstände zum Zwecke zu machen) fähig ist,"
294 Tugendl. Eth. Elementar!. I. Buch. II. Abth. n. Abschn.
§. 20.
Welche von diesen physischen Vollkommenheiten
vorzüglich, und in welcher Proportion, in Ver-
gleichung gegen einander, sie sich zum Zweck zu
machen Pflicht des Menschen gegen sich selbst sei,
bleibt seiner eigenen vernünftigen üeberlegung, in An-
sehung der Lust zu einer gewissen Lebensart und zu-
gleich der Schätzung seiner dazu erforderlichen Kräfte,
überlassen, um darunter zu wählen (z. B. ob es ein
Handwerk, oder der Kaufhandel, oder die Gelehrsamkeit
sein sollte). Denn abgesehen von dem Bedürfniss der
Selbsterhaltung, welches an sich keine Pflicht begründen
kann, ist es Pflicht des Menschen gegen ^ich selbst,
ein der Welt nützliches Glied zu sein, weil dieses auch
zum Werth der Menschheit in seiner eigenen Person
gehört, die er also nicht herabwürdigen!) soll.
Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst in An-
sehung seiner physischen Vollkommenheit ist aber
nur weite und unvollkommene Pflicht; weil sie zwar
ein Gesetz für die Maxime der Handlungen enthält, in
Ansehung der Handlungen selbst aber, ihrer Art und
ihrem Grade nach, nichts bestimmt, sondern der freien
Willkür einen Spielraum verstattet. * 2^)
Zweiter Abschnitt.
Von der Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner
moralischen Vollkommenheit, d. i. in bloss
sittlicher Absicht-
§. 21.
Sie besteht erstlich, subjektiv, in der Lauter-
keit {puritas mm^alis) der Pflichtgesinnung; da näm-
lich, auch ohne Beimischung der von der Sinnlichkeit
hergenommenen Absichten, das Gesetz für sich allein
t) 1. Ausg.: „abwürdigen'
Pflicht, sich moralisch zu vervollkommnen. §. 22. 295
Triebfeder ist, und die Handlungen nicht bloss pflicht-
mässig, sondern auch aus Pflicht geschehen. — „Seid
lieilig^^ ist hier das Gebot. Zweitens, objektiv, in
Ansehung des ganzen moralischen Zwecks, der die
Vollkommenheit, d. i. seine ganze Pflicht und die Er-
reichung der Vollständigkeit des moralischen Zwecks in
Ansehung seiner selbst betrifft, „seid vollkommen;" die
Bestrebung nach diesem Ziele ist beim Menschen immer
nur ein Fortschreiten von einer Vollkommenheit zur
anderen;!) „ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob,
dem trachtet nach."
§. 22.
Diese Pflicht gegen sich selbst ist eine der Qualität
nach enge und vollkommene, obgleich dem Grade nach
weite und unvollkommene Pflicht, und das wegen der
Gebrechlichkeit {fragilitas) der menschlichen Natur.
Diejenige Vollkommenheit nämlich, zu welcher zwar
das Streben, aber nicht das Erreichen derselben (in
diesem Leben) Pflicht ist, deren Befolgung also nur
in kontinuir liehen Fortschritten bestehen kann, ist in
Hinsicht auf das Objekt (die Idee, deren Ausführung
man sich zum Zweck machen soll) zwar enge und voll-
kommene, in Rücksicht aber auf das Subjekt weite
und nur unvollkommene Pflicht gegen sich selbst.
Die Tiefen des menschlichen Herzens sind uner-
gründlich. Wer kennt sich genugsam, wenn die Trieb-
feder zur Pflichtbeobachtung von ihm gefühlt wird, ob
sie gänzlich aus der Vorstellung des Gesetzes hervor-
gehe, oder ob nicht manche andere sinnliche Antriebe
mitwirken, die auf den Vortheil oder zur Verhütung
■eines Nachtheils angelegt sind und bei anderer Gelegen-
heit auch wohl dem Laster zu Diensten stehen könnten? —
Was aber die Vollkommenheit als moralischen Zweck
betrifft, so giebts zwar in der Idee (objektiv) nur eine
Tugend (als sittliche Stärke der Maximen), in der That
(subjektiv) aber eine Menge derselben von heterogener
t) 1. Ausg. : ^zu welchem Ziele aber hinzustreben beim
Menschen . . . zur anderen ist;"
296 Tugendl. Eth. Elementarl. I. Buch. II. Abth. II. Abschn.
Beschaffenheit, worunter es unmöglich sein dürfte, nicht
irgend eine Untugend (ob sie gleich eben jener Tugenden
wegen den Namen des Lasters nicht zu führen pflegen)
bei sich aufzufinden, wenn man sie suchen wollte. Eine
Summe von Tugenden aber, deren Vollständigkeit oder
Mängel die Selbsterkenntniss uns nie hinreichend ein-
schauen lässt, kann keine andere, als unvollkommene
Pflicht, vollkommen zu sein, begründen. >**)
Also sind alle Pflichten gegen sich selbst in An-
sehung des Zwecks der Menschheit in unserer eigenen
Person nur unvollkommene Pflichten.
Der ethischen Elementarlehre
zweites Buch.
Yon den Tugendpflichten gegen Andere.
Erstes Hauptstück.
Von den Pflichten gegen Andere, bloss als Menschen.
Erster Abschnitt.
Von der Liebespflicht gegen andere Menschen.
Eintheilung.
§. 23.
Die oberste Eintheilung kann die sein: in Pflichten
gegen Andere, sofern du sie durch Leistung derselben
zugleich verbindest, und in solche, deren Beobachtung
die Verbindlichkeit Anderer nicht zur Folge hat. —
Die erste Leistung ist (respektiv gegen Andere) ver-
dienstliche; die der zweiten ist schuldige Pflicht.
— Liebe und Achtung sind die Gefühle, welche die
Ausübung dieser Pflichten begleiten. Sie können ab-
gesondert (jede für sich allein) erwogen werden, und
auch so bestehen. (Liebe des Nächsten, ob dieser
gleich wenig Achtung verdienen möchte; inigleichen
nothwendige Achtung für jeden Menschen, unerachtet
er kaum der Liebe werth zu sein beurtheilt würde.)
Sie sind aber im Grunde dem Gesetze nach jederzeit
mit einander in einer Pflicht zusammen verbunden; nur
so, dass bald die eine Pflicht, bald die andere das
298 Tugendl. Eth. Elementarl. II. B. I. Hauptst. I. Abschn.
Prinzip im Subjekt ausmacht, an welche die andere
accessorisch geknüpft ist. — So werden wir gegen
einen Armen wohlthätig zu sein, uns für verpflichtet
erkennen; aber weil diese Gunst doch auch Abhängig-
keit seines Wohls von meiner Grossmuth enthält, (iie
doch den Anderen erniedrigt, so ist es Pflicht, dem
Empfänger durch ein Beti'agen, welches diese Wohl-
thätigkeit entweder als blosse Schuldigkeit oder geringen
Liebesdienst vorstellt, die Demüthigung zu ersparen und
ihm seine Achtung für sich selbst zu erhalten.
§. 24.
Wenn von Pflichtgesetzen (nicht von Naturgesetzen)
die Rede ist, und zwar im äusseren Verhältniss der
Menschen gegen einander, so betrachten wir uns in einer
moralischen (intelligiblen) Welt, in welcher, nach der
Analogie mit der physischen, die Verbindung vernünfti-
ger Wesen (auf Erden) durch Anziehung und Ab-
stossung bewirkt wird. Vermöge des Prinzips der
"Wechselliebe sind sie angewiesen, sich einander bestän-
dig zu nähern, durch das der Achtung, die sie ein-
ander schuldig sind, sich im Abstände von einander
zu erhalten; und sollte eine dieser grossen sittlichen
Kräfte sinken, „so würde dann das Nichts (der Immo-
ralität) mit aufgesperrtem Schlund der (moralischen)
Wesen ganzes Reich, wie einen Tropfen Wasser trinken",
wenn ich mich hier der Worte Haller's, nur in einer
andern Beziehung, bedienen darf.
§. 25.
Die Liel)e wird hier aber nicht als Gefühl (ästhe-
tisch), d. i. als Lust an der Vollkommenheit anderer
Menschen, nicht als Liebe des Wohlgefallens genom-
men f); denn Gefühle zu haben, dazu kann es keine
Verpflichtung durch Andere geben; sondern muss als
Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht wer-
den, welche das Wohlthun zur Folge hat.
Ebendasselbe muss von der gegen Andere zu be-
weisenden Achtung gesagt werden: dass nämlich nicht
t) 1. Ausg.: „verstanden"
Von der Liebespflicht gegen andere Menschen. §. 26. 299
bloss das Gefühl aus der Vergleichung unseres eigenen
Werths mit dem des Anderen, (dergleichen ein Kind
gegen seine Eltern, ein Schüler gegen seinen Lehrer,
ein Niedriger überhaupt gegen seinen Oberen aus blosser
Gewohnheit fühlt,) sondern eine Maxime der Einschrän-
kung unserer Selbstschätzung durch die Würde der
Menschheit in eines Anderen Person, mithin die Ach-
tung im praktischen Sinne {ohservantia aiiis praestanda)
verstanden wird.
Auch wird die Pflicht der freien Achtung gegen
Andere, weil sie eigentlich nur negativ ist, (sich nicht
über Andere zu erheben,) und so der Rechtspflicht,
Niemandem das Seine zu schmälern, analog ist, ob-
gleich als blosse Tugendpflicht verhältnissweise gegen
die Liebespflicht für enge, die letztere also als weite
Pflicht angeschen.
Die Pflicht der Nächstenliebe kann also auch so
ausgedrückt werden: sie ist die Pflicht, Anderer ihre
Zwecke (sofern diese nur nicht unsittlich sind) zu
den meinen zu machen; die Pflicht der Achtung meines
Nächsten ist in der Maxime enthalten, keinen anderen
Menschen bloss als Mittel zu meinen Zwecken herab-
zuwürdigen f); nicht zu verlangen, der Andere solle
sich selbst wegwerfen, um meinem Zwecke zu fröhnen.
Dadurch, dass ich die erste Pflicht gegen Jemand
ausübe, verpflichte ich zugleich einen Anderen: ich
mache mich um ihn verdient. Durch die Beobachtung
der letzten aber verpflichte ich bloss mich selbst, halte
mich in meinen Schranken, um dem Anderen an dem
Werthe, den er als Mensch in sich selbst zu setzen
befugt ist, nichts zu entziehen. 1^2)
Von der Liebespflicht insbesondere.
§. 26.
Die Menschenliebe (Philanthropie) muss, weil sie
hier als praktisch, mithin nicht als Liebe des Wohl-
gefallens an Menschen gedacht wird, im thätigen Wohl-
wollen gesetzt werden, und betrifift also die Maxime der
t) 1. Ausg. : „abzuwürdigen"
300 Tugendl. Eth. Elementarl. E. B. I. Hauptst. I. Abschn.
Handlungen. — Der, welcher am Wohlsein (salus) der
Menschen, sofern er sie bloss als solche betrachtet, Ver-
gnügen findet, dem wohl ist, wenn es jedem Anderen
wohl ergeht, heisst ein Menschenfreund (Philanthrop)
überhaupt. Der, welchem nur wohl ist, wenn es Anderen
übel ergeht, heisst Menschenfeind (Misanthrop in
praktischem Sinne). Der, welchem es gleichgültig ist,
wie es Anderen ergehen mag, wenn es ihm selbst nur
wohl geht, ist ein Selbstsüchtiger {solipsista). —
Derjenige aber, welcher Menschen flieht, weil er kein
Wohlgefallen an ihnen finden kann, ob er zwar
allen wohl will, würde menschenscheu (ästhetischer
Misanthrop), und seine Abkehrung von Menschen Anthro-
pophobie genannt werden können.
§.^27.
Die Maxime des Wohlwollens (die praktische Men-
schenliebe) ist aller Menschen Pflicht gegen einander;
man mag diese . nun liebenswürdig finden oder nicht,
nach dem ethischen Gesetz der Vollkommenheit: liebe
deinen Nebenmenschen als dich selbst. — Denn alles
moralisch- praktische Verhältniss gegen Menschen ist ein
Verhältniss derselben in der Vorstellung der reinen Ver-
nunft, d. i. der freien Handlungen nach Maximen, welche
sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifiziren, die also
nicht selbstsüchtig {ex solijysismo po'odeuntes) sein können.
Ich will jedes Anderen Wohlwollen {henevolentiam) gegen
mich; ich soll also auch gegen jeden Anderen wohlwollend
sein. Da aber alle Andere ausser mir nicht Alle sein,
mithin die Maxime nicht die Allgemeinheit eines Ge-
setzes an sich haben würde, welche doch zur Verpflich-
tung nothwendig ist; so wird das Pflichtgesetz des
Wohlwollens mich als Objekt desselben im Gebot der
praktischen Vernunft mit begreifen; nicht als ob ich
dadurch verbunden würde, mich selbst zu lieben (denn
das geschieht ohne das unvermeidlich, und dazu giebts
also keine Verpflichtung), sondern die gesetzgebende
Vernunft, welche in ihrer Idee der Menschheit überhaupt
die ganze Gattung (mich also mit) einschliesst, schliesst
als allgemein gesetzgebend mich in der Pflicht des
wechselseitigen Wohlwollens nach dem Prinzip der
Von der Liebespflicht gegen andere Menschen. §. 28. 3()|
Gleichheit mit allen Anderen neben mir mit ein, und
erlaubt es dir, dir selbst wohlzuwollen, unter der Be-
dingung, dass du auch jedem Anderen wohl willst;
weil so allein deine Maxime (des Wohlthuns) sich zu
einer allgemeinen Gesetzgebung qualifizirt, als worauf
alles Pflichtgesetz gegründet ist.
§. 28.
Das Wohlwollen in der allgemeinen Menschenliebe
ist nun zwar dem Umfange nach das grösste, dem
Grade nach aber das kleinste, und wenn ich sage:
ich nehme an dem Wohl dieses Menschen nur nach
der allgemeinen Menschenliebe Antheil, so ist das In-
teresse, was ich hier nehme, das kleinste, was nur sein
kann. Ich bin in Ansehung desselben nur nicht gleich-
gültig.
Aber einer ist mir doch näher, als der Andere, und
ich bin im Wohlwollen mir selbst der nächste. Wie
stimmt das nun mit der Formel: liebe deinen Nächsten
(deinen Mitmenschen), als dich selbst? Wenn einer mir
näher ist (in der Pflicht des Wohlwollens) als der
Andere, ich also zum grösseren Wohlwollen gegen einen,
als gegen den Anderen verbunden, mir selber aber ge-
ständlich näher (selbst der Pflicht nach) bin, als jeder
Andere, so kann ich, wie es scheint, ohne mir selbst
zu widersprechen, nicht sagen, ich soll jeden Menschen
lieben, wie mich selbst; denn der Maassstab der Selbst-
liebe würde keinen Unterschied in Graden zulassen. —
Man sieht bald, dass hier nicht bloss das Wohlwollen
des Wunsches, welches eigentlich ein blosses Wohl-
gefallen am Wohl jedes Anderen ist, ohne selbst dazu
etwas beitragen zu dürfen (ein Jeder für sich, Gott für
uns Alle), sondern ein thätiges, praktisches W^ohlwollen,
sich das Wohl und Heil des Anderen zum Zweck zu
machen (das Wohlthun) gemeint sei. Denn im Wünschen
kann ich Allen gleich wohlwollen, aber im Thun kann
der Grad, nach Verschiedenheit der Geliebten (deren
einer mich näher angeht, als der andere), ohne die
Allgemeinheit der Maxime zu verletzen, doch sehr ver-
schieden sein. 123)
302 Tugendl. Eth. Elemeiitarl. II. B. I. Hauptst. I. Abschn.
Eintlieiluiig der Liebespflichten.
Sie sind: A) Pflichten der Wohlthätigkeit, B) der
Dankbarkeit, C) der Theilnehmung.
A.
Von der Pflicht der Wohlthätigkeit.
§. 29.
Sich selber gütlich thun, so weit als nöthig ist, um
nur am Leben ein Vergnügen zu finden, (seinen Leib,
doch nicht bis zur Weichlichkeit zu pflegen,) gehört zu
den Pflichten gegen sich selbst; — deren Gegentheil ist:
aus Geiz (sklavisch), oder aus f) übertriebener Disziplin
seiner natürlichen Neigungen (schwärmerisch) sich des
Genusses der Lebensfreuden zu berauben, welches Beides
der Pflicht des Menschen gegen sich selbst widerstreitet.
Wie kann man aber ausser dem Wohlwollen des
Wunsches in Ansehung anderer Menschen (welches uns
nichts kostet,) auch noch, dass dieses praktisch werde,
d. i. wie kann man das Wohlthunff) in Ansehung
der Bedürftigen Jedermann, der das Vermögen dazu hat,
als Pflicht ansinnen ? — Wohlwollen ist das Vergnügen
an der Glückseligkeit (dem Wohlsein) Anderer; Wohl-
thun aber die Maxime, sich dasselbe zum Zweck zu
machen; und Pflicht dszu ist die Nöthigung des Sub-
jekts durch die Vernunft, diese Maxime als allgemeines
Gesetz anzunehmen.
Es fällt nicht von selbst in die Augen, dass ein
solches Gesetz überhaupt in der Vernunft liege; viel-
mehr scheint die Maxime: ,,ein Jeder für sich, Gott (das
Schicksal) für uns Alle," die natürlichste zu sein.
§• 30.
Wohitliätig, d. i. ar deren Menschen in Nöthen zu
ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hofi'en, nach
seinem Vermögen beförderlich zu sein, ist jedes Men-
schen Pflicht.
t) 1. Ausg.: „(sklavisch) des zum frohen Genuss des
Lebens nothwendigen oder aus''
tt) 1. Ausg.: „praktisch sei, d. i. das Wohlthun"
Von der Pflicht der Wohlthätigkeit. §. 31. 303
Denn jeder Mensch, der sich in Noth befindet,
■wünscht, dass ihm von anderen Menschen geholfen werde.
Wenn er aber seine Maxime, Anderen wiederum in ihrer
Noth nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden Hesse,
d. i. sie zum allgemeinen Erlaubnissgesetz machte; so
würde ihm, wenn er selbst in Noth ist, Jedermann gleich-
falls seinen Beistand versagen, oder wenigstens zu ver-
sagen befugt sein. Also widerstreitet sich die eigen-
nützige Maxime selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz
gemacht würde, d. i. sie ist pflichtwidrig, folglich ist
die gemeinnützige Maxime des Wohlthuns gegen Be-
dürftige allgemeine Pflicht der Menschen, und zwar da-
rum, weil sie als Mitmenschen, d. i. als bedürftige, auf
einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen
Beihülfe vereinigte vernünftige Yfesen anzusehen sind.
§. 31.
Wohlthun ist im Fall, dass Jemand reich f) (mit
Mitteln zur Glückseligkeit Anderer überflüssig d. i.
über sein eigenes Bedürfniss versehen) ist, von dem Wohl-
thäter selbst fast nicht einmal für eine verdienstliche
Pflicht zu halten ; ob er zwar dadurch zugleich den An-
deren verbindet. Das Vergnügen, was er sich hiemit
selbst macht, welches ihm keine Aufopferung kostet, ist
eine Art, in moralischen Gefühlen zu schwelgen. —
Auch muss er allen Schein, als dächte er den Anderen
damit zu verbinden, sorgfältig vermeiden; weil es sonst
nicht wahre Wohlthat wäre, die er diesem erzeigte, in-
dem er ihm eine Verbindlichkeit fdie den letzten in
seinen eigenen Augen immer erniedrigt,) auflegen zu
wollen äusserte. Er muss sich vielmehr, als durch die
Annahme des Anderen selbst verbindlich gemacht, oder
beehrt, mithin die Pflicht bloss als seine Schuldigkeit
äussern, wenn er nicht (welches besser ist) seine Wohl-
thätigkeit ff) ganz im Verborgenen ausübt. — Grösser
ist diese Tugend, wenn das Vermögen zum Wohlthun
beschränkt, und der Wohlthäter stark genug ist, die
Uebel, welche er Anderen erspart, stillschweigend über
t) 1. Ausg.: „für den, der reich"
tt) 1. Ausg.: „seinen Wohlthätigkeitsakt'*
304 Tugendl. Eth. Elementarl. II. B, I. Hauptst. I. Abschn.
sich zu nehmen, wo er alsdann wirklich für moralisch-
reich anzusehen ist J 24)
Casuistische Fragen.
Wie weit soll man den Aufwand seines Vermögens im
Wohlthun treiben? Doch wohl nicht bis dahin, dass man
zuletzt selbst Anderer Wohltbätigkeit bedürftig würde.
Wie viel ist die Wohlthat werth, die man mit kalter
Hand (im Abscheiden aus der Welt durch ein Testa-
ment) beweist? — Kann derjenige, welcher eine ihm
durchs Landesgesetz erlaubte Obergewalt über einen
übt, dem er die Freiheit raubt, nach seiner eigenen
Wahl glücklich zu sein, (seinem Erbunterthan eines
Gutes) kann, sage Ich, dieser sich als Wohlthäter an-
sehen, wenn er nach seinen eigenen Begriffen von
Glückseligkeit für ihn gleichsam väterlich sorgt? Oder ist
nicht vielmehr die Ungerechtigkeit, einen seiner Freiheit
zu berauben, etwas der Rechtspflicht überhaupt so Wider-
streitendes, dass, unter dieser Bedingung auf die Wohl-
tbätigkeit der Herrschaft rechnend, sich hinzugeben, die
grösste Wegwerfung der Menschheit für den sein würde,
der sich dazu freiwillig verstände, und die grösste Für-
sorge der Herrschaft für den letzten gar keine Wohl-
tbätigkeit sein würde? Oder kann etwa das Verdienst
mit der letzten so gross sein, dass es gegen das
Menschenrecht aufgewogen werden könnte? — Ich kann
Niemand nach meinen Begriffen von Glückseligkeit
wohlthun (ausser unmündigen Kindern oder Blödsinnigen
und Verrückten,) sondern nach jenes seinen Begriffen,
dem ich eine Wohlthat zu erweisen denke; dem ich aber
wirklich keine Wohlthat erweise, indem ich ihm ein
Geschenk aufdringe.
Das Vermögen wohlzuthun, was von Glücksgütem
abhängt, ist grösstentheils ein Erfolg aus der Begünstigung
verschiedener Menschen durch die Ungerechtigkeit der
Regierung, welche eine Ungleichheit des Wohlstandes,
die Anderer Wohltbätigkeit nothwendig macht, einführt.
Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den
der Reiche den Nothleidenden erweisen mag, wohl über-
haupt den Namen der Wohltbätigkeit, mit welcher man
eich so gern als Verdienst brüstet?
B. Von der Pflicht der Dankbarkeit. §. 32. 305
B.
Von der Pflicht der Dankbarkeit.
Dankbarkeit ist die Verehrung einer Person
wegen einer uns erwiesenen Wohlthat. Das Gefühl, was
mit dieser Beurtheilung verbunden ist, ist das der Ach-
tung gegen den (ihn verpflichtenden) Wohlthäter, da
hingegen dieser gegen den Empfänger nur als im Ver-
hältniss der Liebe betrachtet wird. — Selbst ein blosses
herzliches Wohlwollen des Anderen, ohne physische
Folgen, verdient den Kamen einer Tugendpflicht; welches
dann den Unterschied zwischen der thätigen und bloss
affectionellen Dankbarkeit begründet.
§. 32.
Dankbarkeit ist Pflicht, d. i. nicht bloss eine
Klugheitsmaxime, durch Bezeugung meiner Verbind-
lichkeit wegen der mir widerfahrenen Wohlthätigkeit, den
Anderen zu mehrerem Wohlthun zu bewegen {gratiarum
actio est ad plus dandum invitatio)) denn dabei bediene
ich mich dieser bloss als Mittel zu meinen anderweitigen
Absichten; sondern sie ist unmittelbare Nöthigung durchs
moralische Gesetz, d. i. Pflicht.
Dankbarkeit aber muss auch noch besonders als
heilige Pfliclit, d. i. als eine solche, deren Verletzung
(als skandalöses Beispiel) t) die moralische Triebfeder
zum Wohltliun in dem Grundsatze selbst vernichten kann,
angesehen werden. Denn heilig ist derjenige moralische
Gegenstand, in Ansehung dessen die Verbindlichkeit
durch keinen ihr gemässen Akt völlig getilgt werden
kann (wobei der Verpflichtete immer noch verpflichtet
bleibt). Alle andere ist gemeine Pflicht. — Man kann
aber durch keine Vergeltung einer empfangenen Wohl-
that über dieselbe quittiren; weil der Empfänger den
Vorzug des Verdienstes, den der Geber hat, nämlich
der erste im Wohlwollen gewesen zu sein, diesem nie
abgewinnen kann. — Aber auch ohne einen solchen
Akt (des Wohlthuns) ist selbst das blosse herzliche
t) „(als skandalöses Beispiel)" Zusatz der 2. Ausg.
Kant, Metaphysik der Sitten. 20
306 Tugendl. Eth. Elementar!. II. B. I. Hauptst I. Abschn.
WoLlwoUen gegen den Wohlthäter schon eine Art von
Dankbarkeit t). Eine dankbare Gesinnung dieser Art
wird Erkenntlichkeit genannt.
§• 33.
Was die Extension dieser Dankbarkeit betrifft, so
geht sie nicht allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf
die Vorfahren, selbst diejenigen, die man nicht mit Ge-
vvissheit namhaft machen kann. Das ist auch die Ur-
sache, weswegen es für unanständig gehalten wird, die
Alten, die als unsere Lehrer angesehen werden können,
nicht nach Möglichkeit wider alle Angriffe, Beschuldi-
gungen und Geringschätzung zu vertheidigen ; wobei
es aber ein thörichter Wahn ist, ihnen um des Alterthums
willen einen Vorzug in Talenten und gutem Willen vor
den Neueren, gleich als ob die Welt in continuirlicher
Abnahme ihrer ursprünglichen Vollkommenheit nach
Naturgesetzen wäre, anzudichten und alles Neue in Ver-
gleichung damit zu verachten.
Was aber die Intension, d. i. den Grad der Ver-
bindlichkeit zu dieser Tugend betrifft, so ist er nach
dem Nutzen, den der Verpflichtete aus der Wohlthat
gezogen hat, und der Uneigennützigkeit, mit der ihm
diese ertheilt worden, zu schätzen. Der mindeste Grad
ist: gleiche Dienstleistungen dem Wohlthäter, deren
dieser empfänglich (noch lebend) ist, und, wenn er es
nicht ist, Anderen zu erweisen ; eine emgfangene Wohl-
that nicht wie eine Last, deren man gern überhoben
sein möchte, (weil der so Begünstigte gegen seinen
Gönner eine Stufe niedriger steht, und dies dessen Stolz
kränkt) anzusehen; sondern selbst die Veranlassung
dazu als moralische Wohlthat aufzunehmen, d. i. als ge-
gebene Gelegenheit, diese Tugend ff), welche mit der
Innigkeit der wohlwollenden Gesinnung zugleich Zärt-
lichkeit des Wohlwollens, (Aufmerksamkeit auf den
kleinsten Grad derselben in der Pflichtvorstellung) ver-
bindet, auszuüben und so die Menschenliebe zu kulti-
viren.i-5)
t) 1. Ausg.: „schon Grund der Verpflichtung zur Dank-
barkeit"
tt) 1. Ausg.: „diese Tugend der Menschenliebe"
C. Pflicht der Theilnahme. §. 34. 307
C.
Theilnebmende Empfindung ist überhaupt Pflicht.
§. 34.
Mitfreude und Mitleid {sympathia moralis) sind
zwar sinnliche Gefühle einer (darum ästhetisch zu nennen-
den) Lust oder Unlust an dem Zustande des Vergnügens
sowohl, als Schmerzens Anderer (Mitgefühl, theilnehmende
Empfindung), wozu schon die Natur in den Menschen
die Empfänglichkeit gelegt hat. Aber diese als Mittel
zu Beförderung des thätigen und vernünftigen Wohl-
wollens zu gebrauchen, ist noch eine besondere, obzwar
nur bedingte Pflicht, unter dem Namen der Mensch-
lichkeit {humanitas) '^ weil hier der Mensch nicht bloss
als vernünftiges Wesen, sondern auch als mit Vernunft
begabtes Thier betrachtet wird. Diese kann nun in
dem Vermögen und Willen, sich einander in An-
sehung seiner Gefühle mitzutheilen {Immanitas
2'>ractica), oder bloss in der Empfänglichkeit für
das gemeinsame Gefühl des Vergnügens oder Schmerzens
(humanitas aesthetica) , was die Natur selbst giebt, ge-
setzt werden. Das erstere ist frei, und wird daher
theilnehmend genannt (commimio sentiendi libera)
und gründet sich auf praktische Vernunft; das zweite
ist unfrei {coimnunio sentiendi necessaria) und kann
mittheilend (wie die der Wärme oder ansteckender
Krankheiten), auch Mitleidenschaft heissen, weil sie
sich unter nebeneinander lebenden Menschen natürlicher
Weise verbreitet. Nur zu dem ersten giebts Verbind-
lichkeit.
Es war eine erhabene Vorstellungsart des Weisen,
wie ihn sich der Stoiker dachte, wenn er ihn sagen
Hess: ich wünsche mir einen Freund, nicht der mir
in Armuth, Krankheit, in der Gefangenschaft u. s. w.
Hülfe leiste, sondern, damit ich ihm beistehen und
einen Menschen retten könne; und gleichwohl spricht
ebenderselbe Weise, wenn sein Freund nicht zu retten
ist, zu sich selbst: was gehts mich an? d. i. er ver-
warf die Mitleidenschaft.
20*
308 Tiigendl. Eth. Elementarl. II. B. I. Hauptst. 1. Abschn,
In der Tbat, wenn ein Anderer leidet und ich mich
durch seinen Schmerz, dem ich doch nicht abhelfen
kann, auch (vermittelst der Einbildungskraft) anstecken
lasse, so leiden ihrer zwei; obzwar das Uebel eigentlich
(in der Natur) nur einen trifft. Es kann aber unmöglich
Pflicht sein, die Uebel in der Welt zu vermehren, mit-
hin auch nicht aus Mitleid wohlzuthun; wie dann
auch eine beleidigende Art des Wohlthuns, Barm-
herzigkeit genannt, die ein Wohlwollen ausdrückt,
was sich auf den Unwürdigen bezieht, unter Menschen,
welche mit ihrer Würdigkeit glücklich zu sein eben
nicht prahlen dürfen, respektiv gegen einander gar nicht
vorkommen solltet)
§. 35.
Obzwar aber Mitleid, und so auch Mitfreude mit
Anderen zu haben, an sich selbst nicht Pflicht ist, so
ist doch thätige Theilnehmung an ihrem Schicksale
Pflicht, und zu dem Ende also die mitleidigen natür-
lichen (ästhetischen) Gefühle in uns zu kultiviren und
sie, als so viele Mittel zur Theilnehmung aus moralischen
Grundsätzen und dem ihnen gemässen Gefühl zu be-
nutzen, wenigstens indirekte Pflicht, ft) — So ist es
Pflicht: nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen
das Nothwendigste abgeht, zu umgehen fft)? sondern
sie aufzusuchen, nicht die Krankenstuben, oder die Ge-
fängnisse der Schuldner und dergl. zu fliehen, um dem
schmerzhaften Mitgefühl, dessen man sich nicht er-
wehren könne, auszuweichen; weil dieses doch einer
der in uns von der Katur gelegten Antriebe ist, das-
jenige zu thun, was die Pflichtvorstellung für sich allein
nicht ausrichten würde.
t) 1. Ausg.: „wie dann dieses auch eine beleidigende
Art des Wohlthuns sein würde, indem es ein Wohlwollen . . .
bezieht und Barmherzigkeit genannt wird, unter Menschen,
welche . . . prahlen dürfen, und respektiv . . . sollte."
tt) 1. Ausg.: „so ist es doch thätige Theilnehmung an
ihrem Schicksale und zu dem Ende also indirekte Pflicht,
die mitleidigen nalürhchen ... zu benutzen."
ttt) 1. Ausg.: „umzugehen-'
Von den Lastern des Menschenhasses. §. 36. 309
Casuistische Fragen.
Würde es mit dem Wohl der Welt überhaupt nicht
besser stehen, wenn alle Moralität der Menschen nur
auf Rechtspflichten, doch mit der grössten Gewissen-
haftigkeit eingeschränkt, das Wohlwollen aber unter die
Adiaphora gezählt würde? Es ist nicht so leicht zu
übersehen, welche Folge es auf die Glückseligkeit der
Menschen haben dürfte. Aber in diesem Falle würde
es doch wenigstens an einer grossen moralischen Zierde
der Welt, nämlich der Menschenliebe fehlen, welche
also für sich, auch ohne die Vortheile (der Glückselig-
keit) zu berechnen, die Welt als ein schönes moralisches
Ganze in ihrer ganzen Vollkommenheit darzustellen er-
fordert wird.
Dankbarkeit ist eigentlich nicht Gegenliebe des Ver-
pflichteten gegen den Wohlthäter, sondern Achtung
vor demselben. Denn der allgemeinen Nächstenliebe
kann und muss Gleichheit der Pflichten zum Grunde
gelegt werden; in der Dankbarkeit aber steht der Ver-
pflichtete um eine Stufe niedriger, als sein Wohlthäter.
Sollte also nicht die Ursache so mancher Undankbarkeit
der Stolz sein, einen nicht über sich sehen zu wollen f);
der Widerwille, sich nicht in völlige Gleichheit (was die
Pflicijtverhältnisse betriff*t) mit ihm setzen zu können? ^26)
Von den der Menschenliebe gerade (contrarie)
entgegengesetzten Lastern des Menschenhasses.
§. 36.
Sie machen die abscheuliche Familie des Neides,
der Undankbarkeit und der Schadenfreude aus.
— Der Hass ist aber hier nicht offen und gewaltthätig,
sondern geheim und verschleiert, welches zu der Pflicht-
vergessenheit gegen seinen Nächsten noch Niederträch-
tigkeit hinzuthut, und so zugleich die Pflicht gegen sich
selbst verletzt.
t) 1. Ausg.: „Sollte das nicht die Ursache so mancher
Undankbarkeit sein, nämhch der Stolz, einen über sich
310 Tugendl. Eth. Elementarl. H. B. I. Hauptst. I. Abschn.
a) Der Neid {livor) als Hang, das Wohl Anderer
mit Schmerz wahrzunehmen, obzwar dem Seinigen da-
durch kein Abbruch geschieht, der, wenn er zur That
(jenes Wohl zu schmälern) ausschlägt, qualificirter
Neid, sonst aber nur Missgunst {invidentia) heisst,
ist doch nur eine indirekt-bösartige Gesinnung, nämlich
ein Unwille, unser eigenes Wohl durch das Wohl Ande-
rer in Schatten gestellt zu sehen, weil wir den Maass-
stab desselben nicht in dessen innerem Werth, sondern
nur in der Vergleichung mit dem Wohl Anderer zu
schätzen und diese Schätzung zu versinniichen wissen.
— Daher spricht man auch wohl von einer beneidung s-
würdigen Eintracht und Glückseligkeit in einer Ehe,
oder Familie u. s. w., gleich als ob es in manchen Fäl-
len erlaubt wäre, Jemanden zu beneiden. Die Regungen
des Neides liegen also in der Natur des Menschen und
nur der Ausbruch derselben macht sie zu dem scheuss-
liehen Laster einer grämischen, sich selbst folternden
und auf Zerstörung des Glückes Anderer, wenigstens
dem Wunsche nach gerichteten Leidenschaft, ist mithin
der Pflicht des Menschen gegen sich selbst sowohl, als
gegen Andere entgegengesetzt.
b) Undankbarkeit gegen seinen Wohlthäter^
welche, wenn sie gar so weit geht, seinen Wohlthäter
zu hassen, qualificirte Undankbarkeit, sonst aber
bloss Uner kenntlichkeit heisst, ist ein zwar im öffent-
lichen Urtheile höchst verabscheutes Laster, gleichwohl
ist der Mensch desselben wegen so berüchtigt, dass man
es nicht für unwahrscheinlich hält, man könne sich
durch erzeigte Wohlthaten wohl gar einen Feind machen.
— Der Grund der Möglichkeit eines solchen Lasters
liegt in der missverstandenen Pflicht gegen sich selbst,
die Wohlthätigkeit Anderer, weil sie uns Verbindlichkeit
gegen sie auferlegt, nicht zu bedürfen und aufzufordern,
sondern lieber die Beschwerden des Lebens selbst zu
ertragen, als Andere damit zu belästigen, mithin dadurch
bei ihnen in Schulden (Verpflichtung) zu kommen; weil
wir dadurch auf die niedere Stufe des Beschützten gegen
seinen Beschützer zu gerathen fürchten; welches der
ächten Selbstschätzung (auf die Würde der Menschheit
in seiner eigenen Person stolz zu sein,) zuwider ist.
Daher Dankbarkeit gegen die, die uns im Wohlthun
Von den Lastern des Menschenhasses. §. 36. 311
unvermeidlich zuvorkommen mussten, (gegen Vorfah-
ren im Angedenken oder gegen Eltern,) freigebig, die
aber gegen Zeitgenossen nur kärglich, ja, um dieses
Verhältniss der Ungleichheit unsichtbar zu machen, wohl
gar das Gegentheil derselben bewiesen wird. — Dieses
ist aber alsdann ein die Menschheit empörendes Laster,
nicht bloss des Schadens wegen, den ein solches Bei-
spiel Menschen überhaupt zuziehen muss, von fernerer
Wohlthätigkeit abzuschrecken, (denn diese können mit
acht moralischer Gesinnung, eben in der Verschmähung
alles solchen Lohns ihrem Wohlthun nur einen desto
grösseren inneren moralischen Werth setzen;) sondern
weil die Menschenliebe hier gleichsam auf den Kopf ge-
stellt, und der Mangel der Liebe gar in die Befugniss^
den Liebenden zu hassen, verunedelt wird.
c) Die Schadenfreude, welche das gerade Um-
gekehrte der Theilnehmung ist, ist der menschlichen
Natur auch nicht fremd; wiewohl, wenn sie so weit
geht, das Uebel oder Böse selbst bewirken zu helfen,
sie als qualificirte Schadenfreude den Menschen-
hass sichtbar macht und in ihrer Grässlichkeit erscheint.
Sein Wohlsein und selbst sein Wohlverhalten stärker zu
fühlen, wenn Unglück oder Verfall Anderer in Skandale
gleichsam als die Folie unserem eigenen Wohlstande
untergelegt wird, um diesen in ein desto helleres Licht
zu stellen, ist freilich nach Gesetzen der Einbildungs-
kraft, nämlich des Contrastes, in der Natur gegründet.
Aber über die Existenz solcher das allgemeine Welt-
beste zerstörenden Enormitäten unmittelbar sich zu
freuen, mithin dergleichen Ereignisse auch wohl zu
wünschen, ist ein geheimer Menschenhass und das ge-
rade Widerspiel der Nächstenliebe, die uns als Pflicht
obliegt. — Der Uebermuth Anderer bei ununter-
brochenem Wohlergehen, und der Eigendünkel im
Wohlverhalten, (eigentlich aber nur im Glück, der Ver-
leitung zum öffentlichen Laster noch immer entwischt
zu sein,) welches beides der eigenliebige Mensch sich
zum Verdienst anrechnet, bringen diese feindselige Freude
hervor, die der Pflicht nach dem Prinzip der Theil-
nehmung, der Maxime des ehrlichen Chremes beim
Terenz : „ich bin ein Mensch ; alles, was Menschen wider-
fährt, das triffst auch mich", gerade entgegengesetzt ist.
312 Tugendl. Eth. Elementarl. II. B. I. Hauptst. I. Abschn.
Von dieser Schadenfreude ist die süsseste, und noch
dazu mit dem Schein des grössten Rechts, ja wohl gar
der Verbindlichkeit (als Rechtsbegierde), den Schaden
Anderer auch ohne eigenen Vortheil sich zum Zweck
zu machen, die Rachbegierde.
Eine jede das Recht eines Menschen kränkende That
verdient Strafe : wodurch das Verbrechen an dem Thäter
gerächt (nicht bloss der zugefügte Schaden ersetzt)
wird. Nun ist aber Strafe nicht ein Akt der Privat-
autorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unter-
schiedenen Gerichtshofes, der den Gesetzen eines Oberen
über Alle, die demselben unterworfen sind, Effekt giebt,
und wenn wir die Menschen (wie es in der Ethik noth-
wendig ist), in einem rechtlichen Zustande, aber nach
blossen Vernunftgesetzen, (nicht nach bürger-
lichen) betrachten, so hat Niemand die Befugniss,
Strafen zu verhängen und von Menschen erlittene Be-
leidigung zu rächen, als der, welcher auch der oberste
moralische Gesetzgeber ist, und dieser allein (nämlich
Gott) kann sagen: „die Rache ist mein; ich will ver-
gelten." Es ist also Tugendpflicht, nicht allein selbst,
bloss aus Rache, die Feindseligkeit Anderer nicht mit
Hass zu erwidern, sondern selbst nicht einmal den
Weltrichter zur Rache aufzufordern; theils weil der
Mensch von eigener Schuld genug auf sich sitzen hat,
um der Verzeihung selbst sehr zu bedürfen, theils, und
zwar vornehmlich, weil keine Strafe, von wem es auch
sei, aus Hass verhängt werden darf. — Daher ist Ver-
söhnlichkeit {jjlacahilitas) Menschenpflicht; womit
doch die schlaffef) Duldsamkeit der Beleidigungen
{ig'nava-\\) injitriarum patientia) nicht verwechselt wer-
den muss, als Verzichtleistung ttt) ^^f harte {rigoi'osa)
Mittel, um der fortgesetzten Beleidigung Anderer vor-
zubeugen; denn diese wäre Wegwerfung seiner Rechte
unter die Füsse Anderer, und Verletzung der Pflicht
des Menschen gegen sich selbst.^^T)
t) 1. Ausg.: „sanfte"
ff) 1. Ausg.: „mitis^
ttt) 1. Ausg.: „Entsagung^
Pflichten der Achtung gegen Andere. §. 37. 3^3
Anmerkung.
Alle Laster, welche selbst die menschliche Natur
hassenswerth machen würden, wenn man sie (als.
qualifizirt) in der Bedeutung von Grundsätzen nehmen
wollte, sind inhuman, objektiv betrachtet, aber
doch menschlich, subjektiv erwogen; d. i. wie
die Erfahrung uns unsere Gattung kennen lehrt.
Ob man also zwar einige derselben in der Heftig-
keit des Abscheues teuflisch nennen möchte,
sowie ihr Gegenstück Engelstugend genannt
werden könnte; so sind beide Begriffe doch nur
Ideen von einem Maximum, als Maassstab zum
Behuf der Vergleichung des Grades der Moralität
gedacht, indem man dem Menschen seinen Platz
im Himmel oder der Hölle anweiset, ohne aus
ihm ein Mittelwesen, was weder den einen dieser
Plätze, noch den anderen einnimmt, zu machen.
Ob es Haller, mit seinem „zweideutig Mittelding
von Engeln und Vieh" besser getroffen habe, mag
hier unausgemacht bleiben. Aber das Halbiren in
einer Zusammenstellung heterogener Dinge führt
auf gar keinen bestimmten Begriff, und zu diesem
kann uns in der Ordnung der Wesen nach ihrem
uns unbekannten Klassenunterschiede nichts hin-
leiten. Die erste Gegeneinanderstellung (von En-
gelstugend und teuflischem Laster) ist üebertreibung.
Die zweite, obzwar Menschen leider 1 auch in
viehische Laster fallen, berechtigt doch nicht
eine zu ihrer Species gehörige Anlage dazu
ihnen beizulegen, sowenig, als die Verkrüppelung
einiger Bäume im Walde ein Grund ist, sie zu
einer besonderen Art von Gewächsen zu machen.* 28)
Zweiter Abschnitt.
Von den Tugendpflichten gegen andere Menschen
aus der ihnen gebührenden Achtung.
§. 37.
Mässigung in Ansprüchen überhaupt, d. i. frei-
willige Einschränkung der Selbstliebe eines Menschen
314 Tugendl. Eth. Elementarl. II. B. I. Hauptst. 11. Abschn.
durch die Selbstliebe Anderer heisst Bescheidenheit
Der Mangel dieser Mässigung oder die f) Unbeschei-
denheit in Ansehung der Forderung, ff) von Anderen
geliebt zu werden, ist die Eigenliebe (pMlautia),
Die Unbescheidenheit aber in der Forderung, von An-
deren geachtet zu werden, ist der Eigendünkel (a?To-
gantia). Achtung, die ich für Andere trage, oder die
ein Anderer von mir fordern kann {ohservantia aliis
praestanda), ist also die Anerkennung einer Würde
{dignitas) an anderen Menschen, d. i. eines Werths, der
keinen Preis hat, kein Aequivalent, wogegen das Ob-
jekt der Werth Schätzung (aestimii) ausgetauscht werden
könnte. — Die Beurtheilung eines Dinges, als eines
solchen, das keinen Werth hat, ist die Verachtung.
§. 38.
Ein jeder Mensch hat rechtmässigen Anspruch auf
Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechsel-
seitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden.
Die Menschheit selbst ist eine Würde;" denn der
Mensch kann von keinem Menschen (weder von An-
deren, noch sogar von sich selbst) bloss als Mittel,
sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht
werden, und darin besteht eben seine Würde (die Per-
sönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Welt-
wesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht
werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleich-
wie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann
(welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten
würde), so kann er auch nicht der eben so nothwendigen
Selbstschätzung Anderer, als Menschen, entgegen han-
deln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit
an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen,
mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem
anderen Menschen nothwendig zu erzeigende Achtung
bezieht. .
t) .,oder die" Zusatz der 2. Ausg.
tt) 1. Ausg.: „Würdigkeit"
Pflichten der Achtung gegen Andere. § 39. 3^5
§. 39.
Andere verachten (contemnere) , d. i. ihnen die
den Menschen überhaupt schuldige Achtung weigern,
ist auf alle Fälle pflichtwidrig; denn es sind Menschen.
Sie vergleichungsweise mit Anderen innerlich gering-
schätzen (despicatui habere) ist zwar bisweilen unver-
meidlich, aber die äussere Bezeigung der Geringschätzung
ist doch Beleidigung. — Was gefährlich ist, ist kein
Gegenstand der Verachtung und so ist es auch nicht
der Lasterhafte; und wenn die Ueberlegenheit über die
Angrifl*e desselben mich berechtigt zu sagen: ich ver-
achte jenen, so bedeutet das nur soviel, als: es ist
keine Gefahr dabei, wenn ich gleich gar keine Ver-
theidigung gegen ihn veranstalte, weil er sich in seiner
Verworfenheit selbst darstellt. Nichts desto v/eniger
kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht
alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der
Qualität eines Menschen nicht entzogen werden kann;
ob er zwar durch seine That sich derselben unwürdig
macht. So kann es schimpfliche, die Menschheit selbst
entehrende Strafen geben (wie das Viertheilen, von
Hunden zerreissen lassen, Nasen und Ohren abschneiden),
die nicht bloss dem Bestraften (der noch auf Achtung
Anderer Anspruch macht, was ein Jeder thun muss)
durch diese Entehrung schmerzhafter sindf), als der
Verlust der Güter und des Lebens, sondern auch dem
Zuschauer Schamröthe abjagen, zu einer Gattung zu
gehören, mit der man so verfahren darf.
Anmerkung.
Hierauf gründet sich eine Pflicht der Achtung
für den Menschen selbst im logischen Gebrauch
seiner Vernunft : die Fehltritte derselben nicht unter
dem Namen der Ungereimtheit, des abgeschmackten
Urtheils u. dgl. zu rügen, sondern vielmehr voraus-
zusetzen, dass in demselben doch etwas Wahres
sein müsse, und dieses herauszusuchen; dabei aber
t) 1. Ausg.: „die nicht bloss dem Ehrliebenden (der
auf Achtung . . . muss,) schmerzhafter sind"
316 Tugendl. Eth. Elementarl. II. B. I. Haiiptst. II. Abschn.
auch zugleich den trüglichen Schein (das Subjektive
der Bestimmungsgründe des ürtheils, was durch
ein Versehen für objektiv gehalten wurde) aufzu-
decken, und so, indem man die Möglichkeit zu
irren erklärt, ihm noch die Achtung für seinen
Verstand zu erhalten. Denn spricht man seinem
Gegner in einem gewissen Urtheile durch jene Aus-
drücke allen Verstand ab, wie will man ihn dann
darüber verständigen, dass er geirrt habe? —
Ebenso ist es auch mit dem Vorwurf des Lasters
bewandt, welcher nie zur völligen Verachtung des
Lasterhaften ausschlagen, nie ihm allen moralischen
Werth absprechen mussf); weil er, nach dieser
Hypothese, auch nie gebessert werden könnte;
welches mit der Idee eines Menschen, der, als
solcher (als moralisches Wesen), nie alle Anlage
zum Guten eiubüssen kann, unvereinbar ist.
§. 40.
Die Achtung vor dem Gesetze, welche subjektiv als
moralisches Gefühl bezeichnet wird, ist mit dem Be-
wusstsein seiner Pflicht einerlei. Eben darum ist auch
die Bezeigung der Achtung vor dem Menschen als einem
moralischen (seine Pflicht hochschätzenden) Wesen selbst
eine Pflicht, die Andere gegen ihn haben, und ein Recht,
worauf er den Anspruch nicht aufgeben kann. — Man
nennt diesen Anspruch Ehrliebe, deren Phänomen im
äusseren Betragen Ehrbarkeit (Jionestas eoeterna)^ der
Verstoss dawider aber Skandal heisst: ein Beispiel der
Nichtachtung derselben, das Nachfolge bewirken dürfte;
welches zu geben höchst pflichtwidrig, hingegen an
dem, was bloss als Abweichung von der gemeinen
Meinung aufi'allend (j^aradoxon), sonst aber an sich gut
ist, solches zu nehmen, ft) ein Wahn (da man das
Nichtgebräuchliche auch für nicht erlaubt hält), und ein
der Tugend gefährlicher und verderblicher Fehler ist. —
t) 1. Ausg.: „Verachtung und Absprechung alles mo-
ralischen Werths des Lasterhaften ausschlagen muss"
tt) 1. Ausgabe: „pflichtwidrig, aber am bloss Wider-
sinnischen [paradoxonjj sonst an sich Guten zu nehmen''
V. d. die Achtung geg. Andere verletzend. Lastern. §.42. 3x7
Denn die schuldige Achtung für andere, ein Beispiel
gebende Menschen kann nicht bis zur blinden Nach-
ahmung (da der Gebrauch, mos, zur Würde eines Ge-
setzes erhoben wird) ausarten 5 als welche Tyrannei der
Volkssitte der Pflicht des Menschen gegen sich selbst
zuwider sein würde.
§. 41.
Die Unterlassung der blossen Liebespflichten ist Un-
tugend (peccatum). Aber die Unterlassung der Pflicht,
die aus der schuldigen Achtung für jeden Menschen
überhaupt hervorgeht, ist Laster ((;^i^mn). Denn durch
die Verabsäumung der ersteren wird kein Mensch be-
leidigt; durch die Unterlassung aber der zweiten ge-
schieht dem Menschen Abbruch in Ansehung seines
gesetzmässigen Anspruchs. — Die erstere Uebertretung
ist das Pflichtwidrige des Widerspiels {contrarie op-
positum virtutis). Was aber nicht allein keine mo-
ralische Zuthat ist, sondern sogar den Werth derjenigen,
die sonst dem Subjekt zu Gute kommen würde, aufhebt,
ist Laster.
Eben darum werden auch die Pflichten gegen den
Nebenmenschen aus der ihm gebührenden Achtung nur
negativ ausgedrückt, d. i. diese Tugendpflicht wird nur
indirekt (durch das Verbot des Gegentheilsf) ausge-
drückt werden. ^2'-^)
Von den die Pflichten der Achtung für andere
Menschen verletzenden Lastern.
Diese Laster sind: A) der Hochmuth, B) das
Afterreden und C) die Verhöhnung.
A.
Der Hochmuth.
§. 42.
Der Hochmuth {superhia und, wie dieses Wort
es ausdrückt, die Neigung, immer oben zu schwimmen,^
t) 1. Ausg.: „Widerspiels''
318 Tugend!. Eth. Elementar!. 11. B. I. Hauptst. n. Abschn.
ist eine Art von Ehrbegierde {amhitio), nacli welclier
wir anderen Mensctien ansinnen, sich selbst in Verglei-
chung mit uns gering zu schätzen, und ist also ein der
Achtung, woraut jeder Mensch gesetzmässigen Anspruch
machen kann, widerstreitendes Laster.
Er ist vom Stolz {animus elatus), als Ehr liebe,
d. i. Sorgfalt, seiner Menschenwürde in Vergleichung mit
Anderen nichts zu vergeben, (der daher auch mit dem
Beiwort des edlen belegt zu werden pflegt,) unter-
schieden; denn der Hochmuth verlangt von Anderen
eine Aclitung, die er ihnen doch verweigert. — Aber
dieser Stolz selbst wird doch zum Fehler und Beleidi-
gung, wenn er auch bloss ein Ansinnen an Andere
ist, sich mit seiner Wichtigkeit zu beschäftigen.
Dass der Hochmuth, welcher gleichsam eine Bewer-
bung des Ehrsüchtigen um Nachtreter ist, und denen
verächtlich zu begegnen er sich berechtigt glaubt, un-
gerecht und der schuldigen Achtung für Menschen
überhaupt widerstreitend sei; dass er Thorheit d. i.
Eitelkeit im Gebrauch der Mittel zu etwas, was in einem
gewissen Verhältnisse gar nicht den Werth hat, um
Zweck zu sein; ja dass er sogar Narrheit, d. i. ein
beleidigender Unverstand sei, sich solcher Mittel, die an
Anderen gerade das Widerspiel seines Zwecks hervor-
bringen müssen, zu bedienen; denn dem Hochmüthigen
weigert ein Jeder um desto mehr seine Achtung, je be-
strebter er sich darnach bezeigt; — dies alles ist für
sich klar. Weniger möchte doch angemerkt worden
sein, dass der Hochmüthige jederzeit im Grunde seiner
Seele niederträchtig ist. Denn er würde Anderen
nicht ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit ihm ge-
ring zu halten, fände er nicht bei sich, dass, wenn ihm
das Glück umschlüge, er es gar nicht hart finden würde,
nun seinerseits auch zu kriechen und auf alle Achtung
Anderer Verzicht zu thun.^^O)
B.
Das Afterreden.
§. 43.
Die üble Nachrede (ohtrectatio) oder das Afterreden,
worunter ich nicht die Verleumdung {contumelia),
Von d. die Achtung geg. And. verletzend. Lastern. §.44. 3^9
eine falsche, vor Recht zu ziehende Nachrede, sondern
bloss die unmittelbare, auf keine besondere Absicht an-
gelegte Neigung verstehe, etwas der Achtung für Andere
Nachtheiliges ins Gerücht zu bringen, ist der schuldigen
Achtung gegen die Menschheit überliaupt zuwider; weil
jedes gegebene Skandal diese Achtung, auf welcher doch
der Antriob zum Sittiichguten beruht, schwächt und,
soviel möglich, gegen sie ungläubig macht.
Die geflissentliche Verbreitung {lyropalatio) des-
jenigen, was die Ehre eines Andern schmälert, wenn es
auch nicht zur öffentlichen Gerichtsbarkeit gehört, ge-
setzt, dass es übrigens auch wahr wäret) ist die Ver-
ringerung der Achtung für die Menschheit überhaupt,
um endlich auf unsere Gattung selbst den 1:^ chatten der
Nichtswürdigkeit zu werfen und Misanthropie (Menschen-
scheu) oder Verachtung zur herrschenden Denkungsart
zu machen, oder sein moralisches Gefühl durch den
öfteren Anblick derselben abzustumpfen und sich daran
zu gewöhnen. Es ist also Tugendpflicht, statt einer
hämischen Lust an der Biossstellung der Fehler Anderer,
um sich dadurch die Meinung, gut, wenigstens nicht
schlechter, als alle andern Menschen zu sein, zu sichern,
den Schleier der Menschenliebe nicht bloss durch Mil-
derung unserer ürtheile, sondern auch durch Verschwei-
gung derselben, über die Fehler Anderer zu werfen;
weil Beispiele der Achtung, welche wir Anderen ff)
geben, auch die Bestrebung rege machen können, sie
gleichmässig zu verdienen. — Um deswillen ist die
Ausspähungssucht der Sitten Anderer {allotrioepiscopia)
auch für sich selbst schon ein beleidigender Vorwitz
der Menschenkunde, welchem Jedermann sich mit Recht
als einer Verletzung der ihm schuldigen Achtung wider-
setzen kann.131)
C.
Die Verhöhnung.
§. 44.
Die leichtfertige Tadelsucht und der Hang,
Andere zum Gelächter blosszustellen, die Spottsucht,
1") 1. Ausg.: „es mag übrigens auch wahr sein"
tt) 1. Ausg.: „uns Andere"
320 Tugendl. Eth. Elementarl. II. B. I. Hauptst. II. Abschn.
um die Fehler eines Anderen zum unmittelbaren Gegen-
stande seiner Belustigung zu machen, ist Bosheit, und
von dem Scherz, der Vertraulichkeit unter Freunden,
gewisse Sonderbarkeiten nurf) zum Schein als Fehler,
in der That aber als Vorzüge des Muths, bisweilen
auch ausser der Regel der Mode zu sein, zu belachen
(welches dann kein Hohnlachen ist), gäij^lich unter-
schieden. Wirkliche Fehler aber, oder, gleich als ob
sie wirklich wären, angedichtete, welche die Person
ihrer verdienten Achtung zu berauben abgezweckt sind,
dem Gelächter blosszustellen , und der Hang dazu, die
bittere Spottsucht {><piritus causticus) ^ hat etwas von
teuflischer Freude an sich, und ist darum eben eine
desto härtere Verletzung der Pflicht der Achtung gegen
andere Menschen.
Hievon ist doch die scherzhafte, wenngleich spottende
Abweisung der beleidigenden Angriffe eines Gegners mit
Verachtung {retorsio jocosa) unterschieden, wodurch der
Spötter (oder überhaupt ein schadenfroher, aber kraft-
loser Gegner) gleichmässig verspottet wird, und recht-
mässige Vertheidigung der Achtung, die er von jenem
fordern kann. Wenn aber der Gegenstand eigentlich
kein Gegenstand für den Witz, sondern ein solcher ist,
an welchem die Vernunft nothwendig ein moralisches
Interesse nimmt, so ist es, der Gegner mag noch soviel
Spötterei ausgestossen, hiebei aber auch selbst zugleich
noch soviel Blossen zum Belachen gegeben haben, der
Würde des Gegenstandes und der Achtung für die
Menschheit angemessener, dem Angriffe entweder gar
keine, oder eine mit Würde und Ernst geführte Ver-
theidigung entgegenzusetzen.*'^-)
Anmerkung.
Man wird wahrnehmen, dass unter dem vorher-
gehenden Titel nicht sowohl Tugenden angepriesen,
als vielmehr die ihnen entgegenstehenden Laster
getadelt werden; das liegt aber schon in dem Be-
griffe der Achtung, sowie wir sie gegen andere
Sienschen zu beweisen verbunden sind, welche nur
t) 1. Ausg.: „Freunden, sie nur"
i
Von den ethischen Pflichten der Menschen etc. §. 45. 321
eine negative Pflicht ist. — Ich bin nicht ver-
bunden, Andere (bloss als Menschen betrachtet),
zu verehren, d. i. ihnen positive Hochachtung
zu beweisen. Alle Achtung, zu der ich von Natur
verbunden bin, ist die vor dem Gesetz überhaupt
{reverere legem) und dieses auch in Beziehung auf
andere. Menschen zu befolgen f); nicht aber andere
Menschen überhaupt zu verehren (reverentia ad-
versus liominem), oder hierin ihnen etwas zu leisten,
ist allgemeine und unbedingte Menschenpflicht gegen
Andere, welche, als die ihnen ursprünglich schuldige
Achtung {ohservcmtia dehita) von jedem gefordert
werden kann.
Die verschiedene, Anderen zu beweisende Ach-
tung nach Verschiedenheit der Beschaffenheit der
Menschen, oder ihrer zufälligen Verhältnisse, näm-
lich der des Alters, des Geschlechts, der Abstam-
mung, der Stärke oder Schwäche, oder gar des
Standes und der Würde, welche zum Theil auf be-
liebigen Anordnungen beruhen, darf in metaphy-
sischen Anfangsgründen der Tugendlehre nicht
ausführlich dargestellt und klassifizirt werden, da es
hier nur um die reinen Vernunftprinzipien derselben
zu thun ist.
Zweites Hauptstück.
Von den ethischen Pflichten der Menschen gegen einander hi
Ansehung ihres Zustand es.
§. 45.
Diese Tugendpflichten können zwar in der reinen
Ethik keinen Anlass zu einem besondern Hauptstück
im System derselben geben; denn sie enthalten nicht
Prinzipien der Verpflichtung der Menschen als solcher
gegen einander, und können also von den meta-
t) „auch in Beziehung auf andere Menschen zu befolgen''
Zusatz der 2. Ausg.
Kant, Metaphysik der Sitten. 21
o22 Tugendl. Ethische Elementarl. II. B. II. Hauptsttick.
physischen Anfangsgründen der Tugendlehre eigent-
lich nicht einen Theil abgeben; sondern sind nur, nach
Verschiedenheit der Subjekte der Anwendung de»
Tugendprinzips (dem Formale nach) auf in der Erfahrung
vorkommende Fälle (das Materiale) modifizirte Regeln,
weshalb sie auch, wie alle empirischen Eintheilungen,
keine gesichert - vollständige Klassifikation zulassen.
Indessen, gleichwie von der Metaplwsik der Natur zur
Physik ein Ueberschritt, der seine besondern Regeln
hat, verlangt wird; so wird der Metaphysik der Sitten
ein Aehnliches mit Recht angesonnen: nämlich durch
Anwendung reiner Pflichtprinzipien auf Fälle der Er-
fahrung jene gleichsam zu schematisiren und zum
moralisch - praktischen Gebrauch fertig darzulegen. —
Welches Verhalten also gegen Menschen z. B. in der
moralischen Reinigkeit ihres Zustandes oder in ihrer
Verdorbenheit; welches im kultivirten oder rohen Zu-
stande zu beobachten sei; welches Verhalten dem Ge-
lehrten oder üngelehrten gezieme und welches den im
Gebrauch seiner Wissenschaft als umgänglichen (ge-
schliffenen), oder in seinem Fach unumgänglichen Ge-
lehrten (Pedanten), den pragmatischen oder mehr auf
Geist und Geschmack ausgehenden Gelehrten charakteri-
sire; welches nach Verschiedenheit der Stände, des Al-
ters, des Geschlechts, des Gesundheitszustandes, des
der Wohlhabenheit oder Armuth u. s. w. zu beobachten
sei:t) das giebt nicht so vielerlei Arten der ethischen
Verpflichtung (denn es ist nur eine, nämlich die
der Tugend überhaupt), sondern nur Arten der An-
wendung (Porismen) ab; die also nicht, als Abschnitte
der Ethik und Glieder der Eintheilung eines Systems
(das a lyriori aus einem Vernunftbegriffe hervorgehen
muss), aufgeführt, sondern nur angehängt werden können.
— Aber eben diese Anwendung gehört zur Vollständig-
keit der Darstellung desselben. »^3)
t) 1, Ausg.: „welches im kultivirten oder rohen Zu-
stande; was den Gelehrten oder Ungelehrten, und jenen im
Gebrauch ihrer Wissenschaft als umgänglichen (geschliffenen)
oder in ihrem Fach unumgänglichen Gelehrten (Pedanten;,
pragmatischen oder . . . ausgehenden, welches nach Ver-
schiedenheit . . . Armuth u. s. w. zukomme:"
Von der Freundschaft. .§. 46. 323
BescMuss der Elementarlehre.
Von der innigsten Vereinigung der Liebe mit der
AclituDg in der Freundschaft.
§. 46.
Freundschaft (in ihrer Voilkommenheit betrachtet)
ist die Vereinigung zweier Personen durch gleiche
wechselseitige Liebe und Achtung. — Man sieht leicht,
dass sie ein Ideal der Theilnehmung und Mittheilung
an dem Wohl eines jeden dieser, durch den moralisch
guten Willen Vereinigten sei, und wenn es auch nicht
das ganze Glück des Lebens bewirkt, die Aufnahme
desselben in ihre beiderseitige Gesinnung die Würdig-
keit enthalte, glücklich zu sein, mithin dass Freund-
schaft unter Menschen zu suchen Pflicht derselben ist.
— Dass aber, obwohl nach Freundschaft als einem
Maximum der guten Gesinnung gegeneinander zu streben
eine von der Vernunft aufgegebene, nicht etwa gemeine,
sondern ehrenvolle Pflicht ist, dennoch eine vollkommene
Freundschaft eine blosse, aber doch praktisch noth-
wendige Idee, in jeder Ausübung unerreichbar seif);
ist leicht zu ersehen. Denn wie ist es für den Men-
schen in Verhältniss zu seinem Nächsten möglich, die
Gleichheit eines der dazu erforderlichen Stücke eben-
derselben Pflicht (z. B. des wechselseitigen Wohlwollens)
in dem Einen mit ebenderselben Gesinnung im Anderen
auszumitteln, oder, was noch mehr ist, zu erforschen,
welches tt) Verhältniss das Gefühl aus der einen Pflicht
zu dem aus der anderen (z. B. das aus dem Wohlwollen
zu dem aus der Achtung) in derselben Person habe,
t) 1. Ausg. : „Dass aber Freundschaft eine blosse (aber
doch praktisch nothwendige) Idee, in der Ausübung zwar
unerreichbar, aber doch darnach (als einem Maximum der
guten Gesinnung gegen einander) zu streben, nicht etwa
gemeine, sondern ehrenvolle Pflicht sei,"
tt) 1. Ausg. : „auszumitteln; noch mehr aber welches"
21*
324 Tugendlehre. Beschluss der Elementarlehre.
und ob, wenn die eine in der Liebe inbrünstiger ist^
sie nicht eben dadurch in der Achtung des Anderen
etwas einbüsse? Wie lässt sich also erwarten, dass
von beiden Seiten Liebe und Hochschätzung subjektiv
in das Ebenmaass des Gleichgewichts gebracht werden
sollet)? welches doch zur Freundschaft erforderlich ist?
■ — Denn man kann jene als Anziehung, diese als Ab-
stossung betrachten, so dass das Prinzip der ersteren
Annäherung gebietet, das der zweiten sich einander in
geziemendem Abstände zu halten fordert; eine Ein-
schränkung der Vertraulichkeit, welche durch ff) die
Eegel: dass auch die besten Freunde sich unter einander
nicht gemein machen sollen, ausgedrückt, eine
Maxime enthält, die nicht bloss dem Höheren gegen
den Niedrigen, sondern auch umgekehrt gilt. Denn der
Höhere fühlt, ehe man es sich versieht, seinen Stolz ge-
kränkt, und will die Achtung des Niedrigen, etwa für
einen Augenblick aufgeschoben, nicht aber aufgehoben
wissen, welche aber einmal verletzt, innerlich unwider-
bringlich verloren ist; wenngleich die äussere Bezeich-
nung derselben (das Ceremoniel) wieder in den alten
Gang gebracht wird.
Freundschaft also in ihrer Reinigkeit oder Vollstän-
digkeit als erreichbar (zwischen Orestes und Pylades,
Theseus und Pirithous) gedacht, ist das Steckenpferd
der Romauschreiber; wogegen Aristoteles sagt: meine
lieben Freunde, es giebt keinen Freund? Auch können
noch folgende Anmerkungen auf fff) die Schwierigkeiten
derselben aufmerksam machen.
Moralisch erwogen, ist es freilich Pflicht, dass ein
Freund dem anderen seine Fehler bemerklich mache;
denn das geschieht ja zu seinem Besten und es ist also
Liebespflicht. Seine andere Hälfte aber sieht hierin
einen Mangel der Achtung, die er von jenem erwartete,
t) 1. Ausg.: „einbüsse, so dass beiderseitige Liebe und
Hochschätzung subjektiv schwerlich in das Ebenmaass des
Gleichgewichts gebracht werden wird;"
tf} 1. Ausg. : „welche Einschränkung der Vertraulichkeit
durch"
ttt^ L Ausg.: „Folgende Anmerkungen können auf
Von der Freundschaft. §. 46. 325
und glaubt entweder darin schon gesunken zu sein,
oder fürchtet wenigstens, da er von dem Anderen be-
obachtet und insgeheim kritisirt wird, immer die Gefahr,
seine Achtung zu verlieren t); wie dann selbst, dass
er beobachtet und gemeistert werden solle, ihm schon
für sich selbst beleidigend zu sein dünken wird.
Ein Freund in der Noth, wie erwünscht ist er nicht;
wohl zu verstehen, wenn er ein thätiger, mit eigenem
Aufwände hülfreicher Freund ist? Aber es ist doch
auch eine grosse Last, sich an Anderer ihrem Schicksal
angekettet und mit fremdem Bedürfniss beladen zu
fühlen. — Die Freundschaft kann also nicht eine auf
wechselseitigen Vortheil abgezweckte Verbindung, son-
dern diese rauss rein moralisch sein, und der Beistand,
auf den jeder von beiden von dem Anderen im Falle
der Noth rechnen darf, muss nicht als Zweck und Be-
stimmungsgrund zu derselben, — dadurch würde er die
Achtung des andern Theils verlieren, — sondern kann
nur als äussere Bezeichnung des inneren herzlich ge-
raeinten Wohlwollens, ohne es doch auf die Probe, als
die immer gefährlich ist, ankommen zu lassen, gemeint
sein, indem ein jeder grossmüthig den Anderen dieser
Last zu überheben, sie für sich allein zu tragen, ja
ihm sie gänzlich zu verhehlen bedacht ist, sich aber
immer doch damit schmeicheln kann, dass im Falle der
Noth er auf den Beistand des Anderen sicher würde
rechnen können. Wenn aber einer von dem Anderen
eine Wohlthat annimmt, so kann er wohl vielleicht
auf Gleichheit in der Liebe, aber nicht in der Achtung
rechnen, denn er sieht sich offenbar eine Stufe niedriger,
verbindlich zu sein und nicht gegenseitig verbinden zu
können. — Freundschaft ist, bei der Süssigkeit der
Empfindung des bis zum Zusammenschmelzen in eine
Person sich annähernden wechselseitigen Besitzes, doch
zugleich etwas so Zartes {teneritas amicitiae), dass,
wenn man sie auf Gefühlen beruhen lässt, und dieser
wechselseitigen Mittheilung und Ergebung nicht Grund-
t) 1. Ausg.: „erwartete, und zwar, dass er entweder
darin schon gefallen sei, oder, da er von dem Anderen
beobachtet und insgeheim kritisirt wird, Gefahr läuft, in
den Verlust seiner Achtung zu fallen;"
326 Tugendlehre. Beschluss der Elementarlehre.
Sätze, oder feste f), das Gemeinmachen verhütende und
die Wechselliebe durch Forderungen der Achtung ein-
schränkende Regeln unterlegt, sie keinen Augenblick
vor Unterbrechungen sicher ist; dergleichen unter
unkultivirten Personen gewöhnlich sind, ob sie zwar
darum eben nicht immer Trennung bewirken (denn
Pöbel schlägt sich und Pöbel verträgt sich); sie können
von einander nicht lassen, aber sich auch nicht unter
einander einigen, weil das Zanken selbst ihnen Bedürf-
niss ist, um die Süssigkeit der Eintracht in der Ver-
söhnung zu schmecken. — Auf alle Fälle aber kann
die Liebe in der Freundschaft nicht Affekt sein; weil
dieser in der Wahl blind und in der Fortsetzung ver-
rauchend ist.134)
§. 47.
Moralische Freundschaft (zum Unterschiede von
der ästhetischen) ist das völlige Vertrauen zweier Per-
sonen in wechselseitiger Eröffnung ihrer geheimen Ur-
theile und Empfindungen, so weit sie mit beiderseitiger
Achtung gegen einander bestehen kann.
Der Mensch ist ein für die Gesellschaft bestimmtes,
obzwar doch auch ungeselliges Wesen, und in der Kultur
des gesellschaftlichen Zustandes fühlt er mächtig das
Bedürfniss sich Anderen zu eröffnen, selbst ohne etwas
dabei zu beabsichtigen; andererseits aber wird er auch
durch die Furcht vor dem Missbrauch, den Andere von
dieser Aufdeckung seiner Gedanken macheu dürften,
beengt und gewarnt, und sieht er sich daher genöthigt,
einen guten Theil seiner Urtheile, vornehmlich über
andere Menschen, in sich selbst zu verschliessen.
Er möchte sich gern darüber mit irgend Jemand unter-
halten, wie er über die Menschen, mit denen er umgeht,
wie er über die Regierung, Religion u. s.w. denkt; aber
er darf es nicht wagen; weil Andere, indem sie ihr
Urtheil behutsam zurückhalten, davon zu seinem Schaden
Gebrauch machen könnten. Er möchte auch wohl An-
dern seine Mängel und Fehler eröffnen; aber er muss
fürchten, dass der Andere die seinigen verhehlen, und
+) „feste" Zusatz der 2. Ausg.
I
Von der Freundschaft. §. 47. 327
er so in der Achtung desselben einbüssen möchtet),
wenn er sich ganz offenherzig gegen ihn darstellte.
Findet er also einen Menschen, der gute Gesinnungen
und Verstand hat, so dass er ihm, ohne jene Gefahr
besorgen zu dürfen, sein Herz mit völligem Vertrauen
aufschliessen kanU} und der überdem in der Art die
Dinge zu beurtheilen mit ihm tibereinstimmt ff), so kann
er seinen Gedanken Luft machen; er ist mit seinen Ge-
danken nicht völlig allein, wie im Gefängniss, sondern
geniesst eine Freiheit, die er in dem grossen Haufen
entbehrt, wo er sich in sich selbst verschliessen muss.
Ein jeder Mensch hat Geheimnisse und darf sich nicht
blindlings Anderen anvertrauen; theils wegen der un-
edeln Denkungsart der Meisten, davon einen ihm nach-
theiligen Gebrauch zu machen, theils wegen des Un-
verstandes Mancher in der Beurtheilung und Unter-
scheidung dessen, was sich nachsagen lässt, oder nicht;
oder der Indiskretion. Nun ist es aber äusserst selten,
jene Eigenschaften zusammen in einem Subjekt anzu-
treffen fff) (rara avis in terrisj nigroque simiUima
cygno) *), zumal da die engste Freundschaft es verlangt,
dass dieser verständige und vertraute Freund sich ver-
bunden achte, ein ihm anvertrautes Geheimniss fftt)
einem Anderen, für eben so zuverlässig gehaltenen,
ohne des ersteren, der es ihm anvertraute, ausdrückliche
Erlaubniss nicht mitzutheilen.
t) 1. Ausg.: „nicht wagen; theils weil der Andere, der
sein Urtheil behutsam zurückhält, davon zu seinem Schaden
Gebrauch machen, theils, was die Eröffnung seiner eigenen
Fehler betrifft, der Andere die seinigen . . . einbüssen
würde,"
tt) 1. Ausg.: „Findet er also einen, der Verstand hat
bei dem er in Ansehung jener Gefahr gar nicht besorgt
sein darf, sondern dem er sich mit völligem Vertrauen
eröffnen kann, der überdem auch eine mit der seinigen
übereinstimmende Art, die Dinge zu beurtheilen an sich hat,"
ttt) 1. Ausg. : „oder nicht (der Indiskretion), welche Eigen-
schaften . . . anzutreffen selten ist"
tttt) 1. Ausg.: „verbunden ist, ebendasselbe ihm anver-
traute Geheimniss''
*) ^Ein seltner Vogel auf Erden, gleich dem schwarzen
Schwan). A. d. H.
328 Tugendlehre. Beschluss der Elementarlehre.
Indess ist doch die bloss moralische Freundschaft
kein Ideal f), sondern der schwarze Schwan existirt
wirklich hin und wieder in seiner Vollkommenheit;
jene aber, mit den Zwecken anderer Menschen sich,
obzwar aus Liebe, belästigende (pragmatische) Freund-
schaft tt) kann weder die Lauterkeit, noch die verlangte
Vollständigkeit haben, die zu einer genau bestimmenden
Maxime erforderlich ist, und ist ein Ideal des Wunsches,
das im Vernunftbegriffe keine Grenzen kennt, in der
Erfahrung aber doch immer sehr begrenzt werden muss.
Ein Menschenfreund überhaupt aber (d. i. ein
Freund ttt) der ganzen Gattung) ist der, welcher an
dem Wohl aller Menschen ästhetischen Antheil (der
Mitfreude) nimmt, und es nie ohne inneres Bedauern
stören wird. Doch ist der Ausdruck eines Freundes
der Menschen noch von etwas engerer Bedeutung, als
der des Philanthropen, die Menschen bloss liebenden
Menschen.tttt) Denn in jenem ist auch die Vorstellung
und Beherzigung der Gleichheit unter Menschen, mit-
hin die Idee, dadurch selbst verpflichtet zu werden,
indem man Andere durch Wohlthun verpflichtet, ent-
lialten; wobei man alle Menschen als Brüder unter einem
allgemeinen Vater, der Aller Glückseligkeit will, sich
vorstellt, ttttt) — Denn das Verhältniss des Beschützers,
als Wohlthäters, zu dem Beschützten, als Dankpflich-
tigen, ist zwar ein Verhältniss der Wechselliebe, aber
nicht der Freundschaft: weil die schuldige Achtung
beider gegen einander nicht gleich ist. Die Pflicht, als
Freund den Menschen wohlzuwollen (eine nothwendige
Herablassung) und die Beherzigung derselben, dient
dazu, vor dem Stolz zu verwahren, der die Glücklichen
anzuwandeln pflegt, welche das Vermögen wohlzuthun
besitzen. ^35)
t) 1. Ausg.: „Diese bloss moralische Freundschaft ist
kein Ideal"
tt; „Freundschaft' ^ Zusatz der 2. Ausg.
tttj „ein Freund" Zusatz der 2. Ausg.
tttt) 1. Ausg.: „als der des bloss Menschen liebenden
(Philanthrop)"
ttttt) 1. Ausg. : „gleichsam als Brüder unter einem . . will."
Zusatz. Von den Uragangstiigenden. §. 48. 329
Zusatz.
Von den Umgangstugenden (virtutes homileticae).
§. 48.
Es ist Pflicht sowohl gegen sich selbst, als auch
gegen Andere, mit seinen sittlichen Vollkommenheiten
unter einander Verkehr zu treiben {pfficimn commerciij
ßociabilitas); sich nicht zu isoliren [separatistam
agere)-^ zwar sich einen unbeweglichen Mittelpunkt seiner
Grundsätze zu machen, aber diesen um sich gezogenen
Kreis doch auch als einen Theil eines allbefassenden
Kreises, der weltbürgerhchen Gesinnung, anzusehen f);
nicht eben um das Weltbeste als Zweck zu befördern,
sondern nur die Mittel, die indirekt dahin führen, die
Annehmlichkeit in der Gesellschaft, die Verträglichkeit,
die wechselseitige Liebe und Achtung (Leutseligkeit und
Wohlanständigkeit, Jmmcmitas aesthetica et decorum)
zu kultiviren tt) j und so der Tugend die Grazien bei-
zugesellen ; welches zu bewerkstelligen selbst Tugend-
pflicht ist.
Dies sind zwar nur Aussen werke oder Beiwerke
{parerga), welche einen schönen tugendähnlichen Schein
geben, der auch nicht betrügt, weil ein Jeder weiss,
wofür er ihn annehmen muss. Sie gelten nur als
Scheidemünze, befördern ttt) aber doch das Tugend-
gefühl, selbst durch die Bestrebung, diesen Schein der
Wahrheit so nahe wie möglich zu briugen, in der Zu-
gänglichkeit, der Gesprächigkeit, der Höflich-
keit, der Gastfreiheit, der Gelindigkeit im Wider-
sprechen, ohne zu zanken, welche insgesammt als blosse
Manieren des Verkehrs durch geäusserte Verbindlich-
t; 1. Ausg.: „als einen, der den Theil von einem all-
befassenden, der weltbürgerlichen Gesinnung, ausmacht, an-
zusehen"
tt) 1. Ausg:: „sondern nur die wechselseitige, die in-
direkt dahin führt, die Annehmlichkeit in derselben, die
Verträglichkeit . . . kultiviren.
ttt) 1. Ausg. : „Es ist zwar nur Scheidemünze, befördert"
330 Tugendlehre. Beschluss der ElementaTlehre.
keiten zugleich Andere verbinden f), also doch zur
Tugendgesinnung hinwirken; indem sie die Tugend
wenigstens beliebt machen.
Es fragt sich aber hiebei : ob man auch mit Laster-
haften Umgang pflegen dürfe? Die Zusammenkunft mit
ihnen kann man nicht vermeiden; man müsste denn
sonst aus der Welt gehen, und selbst unser Urtheil über
sie ist nicht kompetent. — Wo aber das Laster ein
Skandal, d. i. ein öffentlich gegebenes Beispiel der Ver-
achtung strenger Pflichtgesetze ist, mithin Ehrlosigkeit
bei sich führt, da muss, wenngleich das Landesgesetz
es nicht bestraft, der Umgang, der bis dahin stattfand,
abgebrochen, oder soviel möglich gemieden werden;
weil die fernere Fortsetzung desselben die Tugend um
alle Ehre bringt und sie für jeden zu Kauf stellt, der
reich genug ist, um den Schmarotzer durch die Ver-
gnügungen der Ueppigkeit zu bestechen. ^^6)
t) 1. Ausg.: „zanken, insgeaammt als blossen Manieren
des Verkehrs mit geäusserten Verbindlichkeiten, dadurch
man zugleich Andere verbindet"
Zweiter Theil.
Ethische Methodenlehre.
Der ethischen Methodenlehre
erster Abschnitt.
Die ethische Didaktik.
§. 49.
Dass Tugend erworben werden müsse (nicht an-
geboren sei), liegt, ohne sich deshalb auf anthropologi-
sche Kenntnisse aus der Erfahrung berufen zu dürfen,
schon in dem Begriffe derselben. Denn das sittliche
Vermögen des Menschen wäre nicht Tugend, wenn es
nicht durch die Stärke des Vorsatzes in dem Streit
mit so mächtigen entgegenstehenden Neigungen hervor-
gebracht wäre. Sie ist das Produkt aus der reinen
praktischen Vernunft, sofern diese im Bewusstsein ihrer
Ueberlegenheit, aus Freiheit, über jene die Obermacht
gewinnt.
Dass sie könne und müsse gelehrt werden, folgt
schon daraus, dass sie nicht angeboren ist; die Tugend-
lehre ist also eine Doctrin. Weil aber durch die
blosse Lehre, wie man sich verhalten solle, um dem
TugendbegrifFe angemessen zu sein, die Kraft zur Aus-
übung der Regeln noch nicht erworben wird, so mein-
ten die Stoiker nur, die Tugend könne nicht durch
blosse Vorstellungen der Pflicht, durch Ermahnungen
(paränetisch) gelehrt, sondern sie müsse durch Ver-
334 Tugendlehre. Ethische Methodenlehre. I. Abschn.
suche der Bekämpfung des inneren Feindes im Men-
schen (ascetisch) kultivirt, geübt werden; denn man
kann nicht alles sofort, was man will, wenn man nicht
vorher seine Kräfte versucht und geübt hat, wozu aber
freilich die Entschliessung auf einmal vollständig
genommen werden muss; weil die Gesinnung {animus)
sonst bei einer Capitulation mit dem Laster, um es all-
mählig zu verlassen, an sich unlauter und selbst laster-
haft sein würde,!) mithin auch keine Tugend (als
die auf einem einzigen Prinzip beruht,) hervorbringen
könnte. 137)
§• 50.
Was nun die doctrinale Methode betrifft, (denn
methodisch muss eine jede wissenschaftliche Lehre
sein, sonst wäre der Vortrag tumultuarisch;) so
kann sie auch nicht fragmentarisch, sondern muss
systematisch sein, wenn die Tugendlehre eine
Wissenschaft vorstellen soll. — Der Vortrag aber
kann entweder akroama tisch, da alle Andere, an
welche er gerichtet wird, blosse Zuhörer sind, oder
erotematisch sein, wo der Lehrer das, was er seine
Jünger lehren will, ihnen abfragt; und diese erotemati-
sche Methode ist wiederum entweder die, da er es ihrer
Vernunft, — die dialogische Lehrart, oder bloss
ihrem Gedächtnisse abfragt, die katechetische
Lehrart. Denn wenn Jemand der Vernunft des Ande-
ren etwas abfragen will, so kann es nicht anders, als
dialogisch, d. i. dadurch geschehen, dass Lehrer und
Schüler einander wechselseitig fragen und antworten.
Der Lehrer leitet durch Fragen den Gedankengang
seines Lehrjüngers dadurch, dass er die Anlage zu ge-
wissen Begriffen in demselben durch vorgelegte Fälle
bloss entwickelt, (er ist die Hebamme seiner Gedanken;)
der Lehrling, welcher hiebei inne wird, dass er selbst
zu denken vermöge, veranlasst durch seine Gegenfragen
(über Dunkelheit, oder den eingeräumten Sätzen ent-
gegenstehende Zweifel), dass der Lehrer, nach dem
docendo discimusj selbst lernt, wie er gut fragen müsse.
(Denn es ist eine, an die Logik ergehende, noch nicht
t) „würde" Zusatz der 2. Ausg.
Die ethische Didaktik. §. 51. 335
genugsam beherzigte Forderung: dass sie auch Regeln
an die Hand gebe, wie man zweckmässig suchen
solle, d. i. nicht immer bloss für bestimmende, son-
dern auch fUr vorläufige Urtheile (judicia iwaevia\
durch die man auf Gedanken gebracht wird; eine
Lehre, die selbst dem Mathematiker zu Erfindungen ein
Fingerzeig sein kann und die von ihm auch oft ange-
wandt wird.)
§. 51.
Das erste und nothwendigste doctrinaie Instru-
ment der Tugendiehre für den noch rohen Zögling ist
ein moralischer Katechismus. Dieser muss vor dem
Religionskatechismus hergehen und kann nicht bloss als
Einschiebsel in die Religionslehre mit verwebt, sondern
muss abgesondert, als ein für sich bestehendes Ganzes
vorgetragen werden; denn nur durch rein moralische
Grundsätze kann der Ueberschritt von der Tugendlehre
zur Religion gethan werden, weil dieser ihre Bekennt-
nisse sonst unlauter sein würden. — Daher haben ge-
rade die würdigsten und grössten Theologen Anstand
genommen, für die statutarische Religionslehre einen
Katechismus abzufassen und sich zugleich für ihn zu
verbürgen; da man doch glauben sollte, es wäre das
Kleinste, was man aus dem grossen Schatz ihrer Gelehr-
samkeit zu erwarten berechtigt wäre.
Dagegen hat ein moralischer Katechismus, als
Grundlehre der Tugendpflichten, keine solche Bedenk-
lichkeit oder Schwierigkeit, weil er aus der gemeinen
Menschenvernunft (seinem Inhalte nach) entwickelt wer-
den kann, und nur den didaktischen Regeln der ersten
Unterweisung (der Form nach) angemessen werden darf.
Das formale Prinzip eines solchen UnteiTichts aber ver-
stattet zu diesem Zweck nicht die sokratisch - dialo-
gische Lehrart; weil der Schüler nicht einmal weiss,
wie er fragen soll; der Lehrer ist also allein der Fra-
gende. Die Antwort aber, die er aus der Vernunft des
Lehrlings methodisch lockt, muss in bestimmten, nicht
leicht zu verändernden Ausdrücken abgefasst und auf-
bewahrt, mithin seinem Gedächtniss anvertraut wer-
den; als worin die katechetische Lehrart sich so-
336 Tugendiehre. Ethische Methodenlehre. I. Abschn.
wohl von der akroamatischen (da der Lehrer allein
spricht), als auch der dialogischen (da beide Theile
einander fragend und antwortend sind), unterscheidet.i^ö)
§. 52.
Das experime'ntale (technische) Mittel der Bildung*
der Tugend ist das gute Exe mp elf)*) an dem Lehrer
selbst (von exemplarischer Führung zu sein) und das
warnende an Andern; denn Nachahmung ist dem noch
ungebildeten Menschen die erste Willensbestimmung zu
Annehmung von Maximen, die er sich in der Folge
macht. — Die Angewöhnung jt) ist die Begründung
einer beharrlichen Neigung ohne alle Maximen, durch
die öftere Befriedigung derselben; und ist ein Mecha-
nismus der Sinnesart, statt eines Prinzips der Denkungs-
art wobei das Verlernen in der Folge schweizer wird,
als das Erlernen. — Was aber die Kraft des Exem-
pels (es sei zum Guten oder Bösen,) betrifft, was sich
dem Hange zur Nachahmung oder Warnung darbietet fff),
so kann das, was uns Andere geben, keine Tugeud-
maxime begründen. Denn diese besteht gerade in der
subjektiven Autonomie der praktischen Vernunft eines
jeden Menschen, mithin, dass nicht anderer Menschen
Verhalten, sondern das Gesetz uns zur Triebfeder dienen
müsse. Daher wird der Erzieher seinem verunarteten
t) 1. Ausg.: ,, Beispiel"
*) Beispiel, ein deutsches Wort, was man gemeiniglich
für Exempel als ihm gleichgeltend braucht, ist mit diesem
nicht von einerlei Bedeutung. Woran ein Exempel nehmen
und zur Verständlichkeit eines Ausdrucks ein Beispiel an-
führen, sind ganz verschiedene Begriffe. Das Exempel ist
ein besonderer Fall von einer praktischen Regel, sofern
diese die Thunlicbkeit oder Unthunlichkeit einer Handlung
vorstellt. Hingegen ein Beispiel ist nur das Besondere
{concretum) y als unter dem Allgemeinen nach Begriffen {al-
stractum) enthalten vorgestellt, und bloss theoretische Dar-
stellung eines Begriffs, f)
t) Die Verweisung auf diese Anmerkung steht in
der 1. Ausgabe da, wo oben im Texte ttt) gesetzt
worden ist.
tt) 1. Ausg.: „Die Angewöhnung oder Abgewöhnung"
Die eth. Didaktik. — Bruchst. eines moral. Katechism. 337
Lehrling nicht sagen: nimm ein Exempel an jenem
guten (ordentlichen, fleissigen) Knaben! denn das wird
jenem nur zur Ursache dienen, diesen zu hassen, weil
er durch ihn in ein nachtheiliges Licht gestellt wird.
Das gute Exempel (der exemplarische Wandel) soll nicht
als Muster, sondern nur zum Beweise der Thunlichkeit
des Pflichtmässigen dienen; also nicht die Vergleichung
mit irgend einem andern Menschen (wie er ist), sondern
mit der Idee (der Menschheit), wie er sein soll, also
mit dem Gesetz, muss dem Lehrer das nie fehlende
Richtmaass seiner Erziehung an die Hand geben.
Anmerkung.
Bruchstück eines moralischen Katechismus.
Der Lehrer fragt der Vernunft seines Schülers
jenige ab, was er ihn lehren will, und wenn
dieser etwa nicht die Frage zu beantworten wüsste,
so legt er sie ihm (seine Vernunft leitend) in den
■Mund.t)
Der Lehrer. Was ist dein grösstes, ja dein
ganzes Verlangen im Leben?
Der Schüler (schweigt).
Der Lehrer. Dass es dir in Allem und
immer nach Wunsch und Willen gehe. — Wie
nennt man einen solchen Zustand?
Der Schüler (schweigt).
Der Lehrer. Man nennt ihn Glückselig-
keit (das beständige Wohlergeheu, vergnügtes Le-
ben, völlige Zufriedenheit mit seinem Zustande).
Wenn du nun alle Glückseligkeit (die in der Welt
möglich ist) in deiner Hand hättest, würdest du
sie alle für dich behalten, oder sie auch deinen
Nebenmenschen mittheilen?
t) 1. Ausg.: „Der Lehrer =-- L. fragt . . . Schülers
= S. dasjenige . . . wüsste := 0, so legt" u. s. w. Dem-
gemäss wird in der 1. Ausg. das Schweigen des Schülers
durch = 0 bezeichnet; auch sind die Fragen des Lehrers
in der 1. Ausg. mit Zahlen bezeichnet und etwas anders
abgetheilt, als in der zweiten.
Kant, Metaphysik der Sitten. 22
338 Tugendlehre. Eth. Methodenl. I. Abschn.
Der Schüler. Ich würde sie mittheilen: Än-
dere auch glücklich und zufrieden machen.
Der Lehrer. Das beweist nun wohl, dass du
noch so ziemlich ein gutes Herz hast; lass aber
sehen, ob du dabei auch guten Verstand zeigst.
— Würdest du wohl dem Faullenzer weiche Polster
verschaffen , damit er im süssen Nichtsthun sein
Leben dahinbringe, oder dem Trunkenbolde es an
Wein, und was sonst zur Berauschung gehört, nicht
ermangeln lassen, dem Betrüger eine einnehmende
Gestalt und Manieren geben, um Andere zu über-
listen, oder dem Gewaltthätigen Kühnheit und starke
Faust, um Andere überwältigen zu können? Das
sind ja so viel Mittel, die ein Jeder sich wünscht,
um nach seiner Art glücklich zu sein.
Der Schüler. Nein das nicht.
Der Lehrer. Du siehst also: dass, wenn du
auch alle Glückseligkeit in deiner Hand und dazu
den besten Willen hättest, du jene doch nicht ohne
Bedenken jedem, der zugreift, preisgeben, sondern
erst untersuchen würdest, wiefern ein Jeder der
Glückseligkeit Avürdig wäre. ■ — Für dich selbst
aber würdest du doch wohl kein Bedenken haben,
dich mit allem, was du zu deiner Glückseligkeit
rechnest, zuerst zu versorgen?
Der Schüler. Ja.
Der Lehrer. Aber kommt dir da nicht auch
die Frage in Gedanken, ob du wohl selbst auch
der Glückseligkeit würdig sein mögest?
Der Schüler. Allerdings.
Der Lehrer. Das nun in dir, was nur nach
Glückseligkeit strebt, ist die Neigung; dasjenige
aber, was deine Neigung auf die Bedingung ein-
schränkt, dieser Glückseligkeit zuvor würdig zu
sein, ist deine Vernunft, und dass du durch
deine Vernunft deine Neigung einschränken und
überwältigen kannst, das ist die Freiheit deines
Willens. Um nun zu wissen, wie du es anfängst,
um der Glückseligkeit theilhaftig und doch auch
nicht unwürdig zu werden, dazu liegt die Regel
und Anweisung ganz allein in deiner Vernunft;
das heisst so viel, als: du hast nicht nöthig, diese
Die eth. Didaktik. — Bruchst. eines moral. Katechism. 339
Regel deines Verhaltens von der Erfahrung, oder
von Anderen durch ihre Unterweisung abzulernen;
deine eigene Vernunft lehrt und gebietet dir ge-
radezu, was du zu thun hast. Z. B. wenn dir ein
Fall vorkommt, da du durch eine fein ausgedachte
Lüge dir oder deinen Freunden einen grossen Vor-
theil verschaj0fen kannst, ja noch dazu dadurch auch
keinem Anderen schadest, was sagt dazu deine
Vernunft?
Der Schüler. Ich soll nicht lügen; der Vor-
theil für mich und meinen Freund mag so gross
sein, wie er immer wolle. Lügen ist nieder-
trächtig und macht den Menschen unwürdig,
glücklich zu sein. — Hier ist eine unbedingte
Nöthigung durch ein Vernunftgebot (oder Verbot),
dem ich gehorchen muss; wogegen alle meine Nei-
gungen verstummen müssen.
Der Lehrer. Wie nennt man diese unmittel-
bar durch die Vernunft dem Menschen auferlegte
Noth wendigkeit, einem Gesetze derselben gemäss.
zu handeln?
Der Schüler. Sie heisst Pflicht.
Der Lehrer. Also ist dem Menschen die Be-
obachtung seiner Pflicht die allgemeine und einzige
Bedingung der Würdigkeit, glücklich zu sein, und
diese ist mit jener ein und dasselbe. — Wenn wir
uns aber auch eines solchen guten und thätigen
Willens, durch den wir uns würdig (wenigstens
nicht unwürdig) halten, glücklich zu sein, auch be-
wusst sind, können wir darauf auch die sichere
Hoffnung gründen, dieser Glückseligkeit theilhaftig
zu werden?
Der Schüler. Nein! darauf allein nicht; denn
es steht nicht immer in unserem Vermögen, sie
uns zu verschaffen, und der Lauf der Natur richtet
sich auch nicht so von selbst nach dem Verdienst,
sondern das Glück des Lebens (unsere Wohlfahrt
überhaupt,) hängt von Umständen ab, die bei
weitem nicht alle in des Menschen Gewalt sind.
Also bleibt unsere Glückseligkeit immer nur ein
Wunsch, ohne dass, wenn nicht irgend eine andere
22*
340 Tugendlehre. Eth. Methodenl. I. Abschn.
Macht hinzukommt, dieser jemals Hoffnung werden
kann.
Der Lehrer. Hat die Vernunft wohl Gründe
für sich, eine solche, die Glückseligkeit nach Ver-
dienst und Schuld der Menschen austheilende, über
die ganze Natur gebietende und die Welt mit
höchster Weisheit regierende Macht als wirklich
anzunehmen, d. i. an Gott zu glauben?
Der Schüler. Ja; denn wir sehen an den
Werken der Natur, die wir beurtheilen können, so
ausgebreitete und tiefe Weisheit, die wir uns nicht
anders, als durch eine unaussprechlich grosse Kunst
eines Weltschöpfers erklären können, von welchem
wir uns denn auch, was die sittliche Ordnung be-
trifft, in der doch die höchste Zierde der Welt
besteht, eine nicht minder weise Regierung zu ver-
sprechen Ursache haben: nämlich dass, wenn wir
uns nicht selbst der Glückseligkeit unwürdig
machen, welches durch Uebertretung unserer Pflicht
geschieht, wir auch hoffen können, ihrer th eil-
haft ig zu werden.
In dieser Katechese, welche durch alle Artikel
der Tugend und des Lasters durchgeführt werden
muss, ist die grösste Aufmerksamkeit darauf zu
richten, dass das Pflichtgebot ja nicht auf die aus
dessen Beobachtung für den Menschen, den es ver-
binden soll, ja selbst auch nicht einmal für Andere
fliessenden Vortheile oder Nachtheile, sondern ganz
rein auf das sittliche Prinzip gegründet werde, der
letzteren aber nur beiläufig, als an sich zwar ent-
behrlicher, aber für den Gaumen der von der Natur
Schwachen zu blossen Vehikeln dienender Zusätze,
Erwähnung geschehe. Die Schändlichkeit, nicht
die Schädlichkeit des Lasters (für den Thäter
selbst) muss überall hervorstechend dargestellt
werden. Denn w^enn die Würde der Tugend in
Die eth. Didaktik, — Bruchst. eines moral. Katechism. 341
Handlungen nicht über alles erhoben wird, so ver-
schwindet der Pflichtbegriff selbst, und zerrinnt in
blosse pragmatische Vorschriften; da dann der Adel
des Menschen in seinem eigenen Bewusstsein ver-
schwindet, und er für einen Preis feil ist und zu
Kauf steht, den ihm verführerische Neigungen an-
bieten.
Wenn dieses nun weislich und pünktlich nach
Verschiedenheit der Stufen des Alters, des Ge-
schlechts und des Standes, die der Mensch nach
und nach betritt, aus der eigenen Vernunft des
Menschen entwickelt worden, so ist noch etwas,
was den Beschluss machen muss, was die Seele
inniglich bewegt und den Menschen auf eine Stelle
setzt, wo er sich selbst nicht anders, als mit der
grössten Bewunderung der ihm beiwohnenden ur-
sprünglichen Anlagen betrachten kann, und wovon
der Eindruck nie erlischt. — Wenn ihm nämlich
beim Schlüsse seiner Unterweisung seine Pflichten
in ihrer Ordnung noch einmal summarisch vor-
erzählt (rekapitulirt) , wenn er bei jeder derselben
darauf aufmerksam gemacht wird, dass alle üebel,
Drangsale und Leiden des Lebens, selbst Bedrohung
mit dem Tode, die ihn darüber, dass er seiner
Pflicht treu gehorcht, treffen mögen, ihm doch das
Bewusstsein, über sie alle erhoben und Meister zu
sein, nicht rauben können, so liegt ihm nun die
Frage ganz nahe: was ist das in dir, was sich ge-
trauen darf, mit allen Kräften der Natur in dir
und um dich in Kampf zu treten, und sie, wenn
sie mit deinen sittlichen Grundsätzen in Streit
kommen, zu besiegen? Wenn diese Frage, deren
Auflösung das Vermögen der spekulativen Vernunft
gänzlich übersteigt, und die sich dennoch von selbst
einstellt, ans Herz gelegt wird, so muss selbst die
Ünbegreiflichkeit in diesem Selbsterkenntnisse der
Seele eine Erhebung geben, die sie zum Heilig-
halten ihrer Pflicht nur desto stärker belebt, jemehr
sie angefochten wird.
In dieser katechetischen Moralunterweisung würde
es zur sittlichen Bildung von grossem Nutzen sein,
bei jeder Pflichtzergliederung einige casuistische
342 Tugendlehre. Eth. Methodenl. IT. Abschn.
Fragen aufzuwerfen und die versammelten Kinder
ihren Verstand versuchen zu lassen, wie ein Jeder
von ihnen die ihm vorgelegte verfängliche Aufgabe
aufzulösen meinte. — Nicht allein, dass dieses
eine, der Fähigkeit des Ungebildeten am meisten
angemessene Kultur der Vernunft ist (weil diese
in Fragen, die, was Pflicht ist, betreffen, weit
leichter entscheiden kann, als in Ansehung der
spekulativen,) und so den Verstand der Jugend
überhaupt zu schärfen die schicklichste Art ist;
sondern vornehmlich deswegen, weil es in der
Natur des Menschen liegt, das zu lieben, worin
und in dessen Bearbeitung er es bis zu einer
Wissenschaft (mit der er nun Bescheid weiss) ge-
bracht hat, und so der Lehrling durch dergleichen
Uebungen unvermerkt in das Interesse der Sitt-
lichkeit gezogen wird.
Von der grössten Wichtigkeit aber in der Er-
ziehung ist es, den moralischen Katechismus nicht
mit dem Religionskatechismus vermischt vorzutragen
(zu amalgamiren), noch weniger ihn auf den
letzteren folgen zu lassen; sondern jederzeit den
ersteren, und zwar mit dem grössten Fleisse und
Ausführlichkeit zur klarsten Einsicht zu bringen.
Denn ohne dieses wird nachher aus der Religion
nichts, als Heuchelei, sich aus Furcht zu Pflichten
zu bekennen und eine Theilnahme an derselben,
die nicht im Herzen ist, zu lügen.!"*«*)
Zweiter Abschnitt.
Die ethische Ascetik.
§. 53.
Die Regeln der Uebung in der Tugend {exercitiorum
virtidis) gehen auf die zwei Gemüthsstimmungen hinaus,
wackeren und fröhlichen Gemüths [animus strenuus
IL Abschn. Die ethiscte Ascetik. §. 53. 343
et liilaris) in Befolgung ihrer Pflichten zu sein. Denn
sie hat mit Hindernissen zu kämpfen, zu deren Ueber-
wältigung sie ihre Kräfte zusammennehmen muss, und
zugleich manche Lebensfreuden aufzuopfern, deren Ver-
lust das Gemüth wohl bisweilen finster und mürrisch
machen kann; was man aber nicht mit Lust, sondern
bloss als Frohndienst thut, das hat für den, der hierin
seiner Pflicht gehorcht, keinen inneren Werth, und wird
nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung
so viel möglich geflohen.
Die Kultur der Tugend, d. i. die moralische Ascetik
hat in Ansehung des Prinzips der rüstigen, muthigen
und wackeren Tugendübung den Wahlspruch der
Stoiker: gewöhne dich, die zufälligen Lebensübel zu
ertragen, und die eben so überflüssigen Ergötzlich-
keiten zu entbehren {sustine et abstine) -f). Es ist
eine Art von Diätetik für den Menschen, sich mo-
ralisch gesund zu erhalten. Gesundheit ist aber nur
ein negatives Wohlbefinden, sie selber kann nicht ge-
fühlt werden. Es muss etwas dazu kommen, was einen
angenehmen Lebensgenuss gewährt und doch bloss mo-
ralisch ist. Das ist das jederzeit fröhliche Herz in der
Idee des tugendhalten Epikur. Denn wer sollte wohl
mehr Ursache haben, frohen Muths zu sein und nicht
darin selbst eine Pflicht finden, sich in eine fröhliche
Gemüthsstimmung zu versetzen und sie sich habituell
zu machen, als der, welcher sich keiner vorsätzlichen
Uebertretung bewusst, und wegen des Verfalls in eine
solche gesichert ist (hw murus aheneus esto etc. Horat.)*)
Die Mönchsascetik hingegen, welche aus abergläubischer
Furcht, oder geheucheltem Abscheu an sich selbst, mit
Selbstpeinigung oder Fleischeskreuzigung zu Werke
geht, zweckt auch nicht auf Tugend, sondern auf
schwärmerische Entsündigung ab, sich selbst Strafe auf-
zulegen, und anstatt sie moralisch (d. i. in Absicht auf
die Besserung) zu bereuen, sie büssen zu wollen;
welches bei einer selbstgewählten und an sich voll-
streckten Strafe (denn die muss immer ein Anderer auf-
f) 1. Ausg.: „assuesce incommodis et desuesce commodita-
iibus vitae.^^
*) Hier sei eine eherne Mauer u. s. w. A. d. H.
344 Tugendleflre. Beschluss.
legen) ein Widerspruch ist, und kann auch den Froh-
sinn, der die Tugend begleitet, nicht bewirken, vielmehr
nicht ohne geheimen Hass gegen das Tugendgebot statt-
finden. — Die ethische Gymnastik besteht also nur in
der Bekämpfung der Naturtriebe, die es dahin bringt t),
über sie bei vorkommenden, der Moralität Gefahr dro-
henden Fällen Meister werden zu können; mithin die
wacker und im Bewusstsein seiner wiedererworbenen
Freiheit fröhlich macht. Etwas bereuen (welches bei
der Rückerinnerung ehemaliger Uebertretungen unver-
meidlich, ja wobei diese Erinnerung nicht schwinden
zu lassen, es sogar Pflicht ist) und sich eine Pönitenz
auferlegen (z. B. das Fasten), nicht in diätetischer, son-
dern frommer Rücksicht, sind zwei sehr verschiedene,
moralisch gemeinte Vorkehrungen, von denen die letztere,
welche freudenlos, finster und mürrisch ist, die Tugend
selbst verhasst macht und ihre Anhänger verjagt. Die
Zucht (Disziplin), die der Mensch an sich selbst verübt,
kann daher nur durch den Frohsinn, der sie begleitet,
verdienstlich und exemplarisch werden. ^^O)
B eschluss.
Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen
Gott liegt ausserhalb den Grenzen der reinen
Moralphilosophie.
Protagoras von Abdera fing sein Buch mit den
Worten an: „ob Götter sind, oder nicht sind,
davon weiss ich nichts zu sagen."*) Er wurde
deshalb von den Atlieniensem aus der Stadt und von
seinem Landsitze verjagt und seine Bücher vor der
t) 1. Ausg.: „die das Maass erreicht, über sie'' u. s. w.
*) „De düS) neque ut sint, neque ut non sint, Jiabeo dkere."
Von den Pflichten gegen Gott. 345
öflfentlichen Versammlung verbrannt. (Quinctiliani Inst.
Orat. lih. 3. cap. 1.) — Hierin thaten ihm die Richter
von Athen als Menschen zwar sehr unrecht; aber
als Staatsbeamte und Richter verfuhren sie ganz
rechtlich und konsequent; denn wie hätte man einen
Eid schwören können, wenn es nicht öffentlich und
gesetzlich, von hoher Obrigkeit wegen {de par ie
Senat) befohlen wäre: dass es Götter gebe.*)
Diesen Glauben aber zugestanden, und, dass Reli-
gion sichre ein integrirender Theil der allgemeinen
Pflichtenlehre sei, eingeräumt, ist jetzt nun die
Frage von der Grenzbestimmung der Wissenschaft,
zu der sie gehört; ob sie als ein Theil der Ethik (denn
vom Recht der Menschen gegen einander kann hier
nicht die Rede sein) angesehen, oder als ganz ausser-
halb der Grenzen einer rein - philosophischen Moral
liegend müsse betrachtet werden.
*) Zwar hat späterhin ein grosser moralisch - gesetz-
gebender Weise das Schwören als ungereimt und zugleich
beinahe an Blasphemie grenzend ganz und gar verboten;
allein in politischer Rücksicht glaubt man noch immer
dieses mechanischen, zur Verwaltung der öffentlichen Ge-
rechtigkeit dienlichen Mittels schlechterdings nicht entbehren
zu können, und hat milde Auslegungen ausgedacht, um
jenem Verbot auszuweichen. — Da es eine Ungereimtheit
wäre, im Ernst zu schwören, dass ein Gott sei (weil man
diesen schon postulirt haben muss, um überhaupt nur
schwören zu können), so bleibt noch die Frage: ob nicht
ein Eid möglich und geltend sei, da man nur auf den
Fall, dass ein Gott (ohne, wie Protagoras, darüber etwas
auszumachen), schwüre. — In der That mögen wohl alle
redlich und zugleich mit Besonnenheit abgelegten Eide in
keinem anderen Sinne gethan worden sein. — Denn dass
einer sich erböte, schlechthin zu beschwören, dass ein Gott
sei, scheint zwar kein bedenkliches Anerbieten zu sein, er
mag ihn glauben oder nicht. Ist einer (wird der Betrüger
sagen), so habe ichs getroffen; ist keiner, so zieht mich
auch keiner zur Verantwortung und ich bringe mich durch
solchen Eid in keine Gefahr. — Ist denn aber keine Gefahr
dabei, wenn ein solcher ist, auf einer vorsätzlichen
und, selbst um Gott zu täuschen, angelegten Lüge be-
troff'en zu werden?
346 Tugendlehre. Beschluss.
Das Formale aller Religion, wenn mau sie so er-
klärt: sie sei „der Inbegriff aller Pflichten als {instar)
göttlicher Gebote", gehört zur philosophischen Moral,
indem dadurch nur die Beziehung der Vernunft auf die
Idee von Gott, welche sie sich selber macht, aus-
gedrückt wird, und eine Religionspflicht wird alsdann
noch nicht zur Pflicht gegen {ergo) Gott, als ein ausser
unserer Idee existirendes Wesen gemacht, indem wir
hiebei von der Existenz desselben noch abstrahiren. —
Dass alle Menschenpflichten diesem Formalen (der
Beziehung derselben auf einen göttlichen, a j^riori ge-
gebenen Willen) gemäss gedacht werden sollen, davon
ist der Grund nur subjektiv- logisch. Wir können uns
nämlich Verpflichtung (moralische Köthigung) nicht wohl
anschaulich machen, ohne einen Anderen und dessen
Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft
nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken.
Allein diese Pflicht in Ansehung Gottes (eigent-
lich der Idee, welche wir uns von einem solchen Wesen
machen) ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst,
d. i. nicht objektive die Verbindlichkeit zur Leistung
gewisser Dienste an einen Anderen, sondern nur sub-
jektive zur Stärkung der moralischen Triebfeder in
unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft.
Was aber das Material e der Religion, den Inbegriff
der Pflichten gegen {ergo) Gott, d. i. den ihm zu
leistenden Dienst {ad praestandum) anlangt, so würde
sie besondere, von der allgemein -gesetzgebenden Ver-
nunft allein nicht ausgehende, von uns also nicht ajyriori,
sondern nur empirisch erkennbare, mithin nur zur ge-
offenbarten Religion gehörende Pflichten, als göttliche
Gebote, enthalten können; die also auch das Dasein
dieses Wesens, nicht bloss die Idee von demselben, in
praktischer Absicht, nicht willkürlich voraussetzen, son-
dern als unmittelbar oder mittelbar in der Erfahrung
gegeben darlegen müsste. Eine solche Religion aber
würde, so gegründet sie sonst auch sein möchte, doch
keinen Theil der reinen philosophischen Moral
ausmachen.
Religion also, als Lehre der Pflichten gegen
Gott, liegt jenseit aller Grenzen der rein-philosophischen
Ethik hinaus, und das dient zur Rechtfertigung des
Von den Pflichten gegen Gott. 3^7
Verfassers der gegenwärtigen, dass er zur Vollständig-
keit derselben nicht, wie es sonst wohl gewöhnlich war,
die Religion, in jenem Sinne gedacht, in die Ethik mit
hineingezogen hat.
Es kann zwar von einer „Religion innerhalb der
Grenzen der blossen Veri\^n{t", die aber nicht aus
blosser Vernunft abgeleitet, sondern zugleich auf Ge-
schichts- und Oflfenbarungslehren gegründet ist, und die
nur die Uebereinstimmung der reinen praktischen
Vernunft mit denselben (dass sie jener nicht wider-
streite) enthält, die Rede sein. Aber alsdann ist sie
auch nicht reine, sondern auf eine vorliegende Ge-
schichte angewandte Religionslehre, für welche in
einer Ethik, als reiner praktischen Philosophie, kein
Platz ist.i4»)
Schlussanmerkung.
Alle moralische Verhältnisse vernünftiger Wesen,
welche ein Prinzip der Uebereinstimmung des Wil-
lens des Einen mit dem des Anderen enthalten,
lassen sich auf Liebe und Achtung zurück-
führen, und, sofern dies Prinzip praktisch ist,
geht der Bestimmungsgrund des Willens in An-
sehung der ersteren auf den Zweck, in Ansehung
des zweiten auf das Recht des Anderen. — Ist
eines dieser Wesen ein solches, was lauter Rechte
und keine Pflichten gegen das andere hat (Gott),
hat mithin das andere gegen das erstere lauter
Pflichten und keine Rechte, so ist das Prinzip des
moralischen Verhältnisses zwischen ihnen trans-
scendent, dagegen das der Menschen gegen
Menschen, deren Wille gegen einander wechselseitig
einschränkend ist, ein im mm an ent es Prinzip hat.
Den göttlichen Zweck in Ansehung des mensch-
lichen Geschlechts (dessen Schöpfung und Leitung)
kann man sich nicht anders denken, als nur als
Zweck der Liebe, d. i. dass er die Glückselig-
keit der Menschen sei. Das Prinzip des Willens
Gottes aber in Ansehung der schuldigen Achtung
348 Tngendlehre. Beschluss.
(Ehrfurcht), welche die Wirkungen des ersteren
einschränkt, d. i. des göttlichen Rechts, kann kein
anderes sein, als das der Gerechtigkeit. Man
könnte sich (nach Menschenart) auch so ausdrücken:
Gott hat vernünftige Wesen erschaffen, gleichsam
aus dem Bedürfnisse ^twas ausser sich zu haben,
was er lieben könne, oder auch von dem er ge-
liebt werde. Aber nicht allein eben so gross, son-
dern noch grösser (weil das Prinzip einschränkend
ist) ist der Anspruch, den die göttliche Gerechtig-
keit, im Urtheile unserer eigenen Vernunft, und
zwar als strafende an uns macht. — Denn Be-
lohnung {praemiiim , reniiineratio gratuitd) lässt
sich von Seiten des höchsten Wesens gar nicht aus
Gerechtigkeit gegen Wesen, die lauter Pflichten und
keine Rechte gegen jenes haben, sondern bloss aus
Liebe und Wohlthätigkeit {benignitas) ableiten t);
— noch weniger kann ein Anspruch auf Lohn
(merces) bei einem solchen Wesen stattfinden, und
eine belohnende Gerechtigkeit {justitia hra-
heutica) ist im Verhältniss Gottes gegen Menschen
ein Widerspruch.
Es ist aber doch in der Idee einer Gerechtig-
keitsausübung eines Wesens, was über allen Abbruch
an seinen Zwecken erhaben ist, etwas, was sich
mit dem Verhältniss des Menschen zu Gott nicht
wohl vereinigen lässt: nämlich der Begi'iff einer
Läsion, welche an dem unumschränkten und un-
erreichbaren Weltherrscher begangen werden könne;
denn hier ist nicht von den Rechtsverletzungen, die
Menschen gegen einander verüben, und worüber
Gott als strafender Richter entscheide, sondern von
der Verletzung, die Gott selber und seinem Recht
widerfahren solle, die Rede, wovon der Begriff
transscendent ist, d. i. über den Begriff aller
Strafgerechtigkeit, wovon wir irgend ein Beispiel
aufstellen können (d. i. wie sie unter Menschen
t) 1. Ausg.: „Denn Belohnung (....) bezieht sich
gar nicht auf Gerechtigkeit gegen Wesen, die . . . Rechte
gegen das andere haben, sondern bloss auf Liebe'' u. s. w.
Von den Pflichten gegen Gott. 349
vorkömmt), ganz hinaus liegt und überschwengliche
Prinzipien enthält, die mit denen, welche wir in
Erfahrungsfällen gebrauchen würden, gar nicht in
Zusammenstimmung gebracht werden können, folg-
lich für unsere praktische Vernunft gänzlich leer
sind.
Die Idee einer göttlichen Strafgerechtigkeit wird
hier personifizirt; es ist nicht ein besonderes rich-
tendes Wesen, was sie ausübt (denn da würden
Widersprüche desselben mit Rechtsprinzipien vor-
kommen), sondern die Gerechtigkeit, gleich als
Substanz (sonst die ewige Gereclitigkeit genannt),
die, wie das Fatum (Verhängniss) der alten philo-
sophirenden Dichter, noch über dem Jupiter ist,
spricht das Recht nach der eisernen unablenkbaren
Nothwendigkeit aus, die für uns weiter unerforsch-
lich ist. Hievon jetzt einige Beispiele.
Die Strafe lässt (nach dem Horaz) den vor ihr
stolz schreitenden Verbrecher nicht aus den Augen,
sondern hinkt ihm unablässig nach, bis sie ihn
ertappt. — Das unschuldig vergossene Blut schreit
um Rache. — Das Verbrechen kann nicht unge-
rächt bleiben; trifft die Strafe nicht den Verbrecher,
so werden es seine Nachkommen entgelten müssen;
oder geschiehts nicht bei seinem Leben, so muss
es in einem Leben (nach dem Tode*) geschehen,
welches ausdrücklich darum auch angenommen und
*) Die Hypothese von einem künftigen Leben darf hier
nicht einmal eingemischt werden, um jene drohende Strafe
als vollständig in der Vollziehung vorzustellen. Denn der
Mensch, seiner Moralität nach betrachtet, wird, als über-
sinnlicher Gegenstand vor einem übersinnlichen Richter,
nicht nach Zeitbedingungen beurtbeilt; es ist nur von seiner
Existenz die Rede. Sein Erdenleben, es sei kurz, oder
lang, oder gar ewig, ist nur das Dasein desselben in der
Erscheinung und der Begriif der Gerechtigkeit bedarf keiner
näheren Bestimmung; wie denn auch der Glaube an ein
künftiges Leben eigentlich nicht vorausgeht, um die Straf-
gerechtigkeit an ihm ihre Wirkung sehen zu lassen, sondern
vielmehr umgekehrt aus der JNothvvendigkeit der Bestrafung
auf ein künftiges Leben die Folgerung gezogen wird.
350 Tugendlehre, ßeschluss.
gern geglaubt wird, damit der Anspruch der ewigen
Gerechtigkeit ausgeglichen werde. — Ich will keine
Blutschuld auf mein Land kommen lassen, da-
durch, dass ich einen boshaft mordenden Duellanten,
für den ihr Fürbitte thut, begnadige, sagte einmal
ein wohldenkender Landesherr. — Die Sünden-
schuld muss bezahlt werden, und sollte sich auch
ein völlig Unschuldiger zum Sühnopfer hingeben,
fwo dann freilich die von ihm übernommenen
Leiden eigentlich nicht Strafe, — denn er hat
selbst nichts verbrochen, — heissen könnten;) aus
welchem allen zu ersehen ist, dass es nicht eine
die Gerechtigkeit verwaltende Person ist, der man
diesen Verurtheilungsspruch beilegt (denn die würde
nicht so sprechen können, ohne Anderen Unrecht
zu thun), sondern dass die blosse Gerechtigkeit,
als überschwengliches, einem übersinnlichen Subjekt
angedachtes Prinzip, das Piccht dieses Wesens be-
stimme; welches zwar dem Formalen dieses Prin-
zips gemäss ist, dem Materialen desselben aber,
dem Zweck, welcher immer die Glückseligkeit
der Menschen ist, widerstreitet. — Denn bei der
etwaüigen grossen Menge der Verbrecher, die ihr
Schuldenregister immer so fortlaufen lassen, würde
die Strafgerechtigkeit den Zweck der Schöpfung
nicht in der Liebe des Welturhebers (wie man
sich doch denken muss), sondern in der strengen
Befolgung des Rechts setzen (das Recht selbst
zum Zweck machen, der in der Ehre Gottes ge-
setzt wird), welches, da das Letztere (die Gerechtig-
keit) nur die einschränkende Bedingung des Ersteren
(der Gütigkeit) ist, den Prinzipien der praktischen
Vernunft zu widersprechen scheint, nach welchen
eine Weltschöpfung hätte unterbleiben müssen, die
ein der Absicht ihres Urhebers, die nur Liebe zum
Grunde haben kann, so widerstreitendes Produkt
geliefert haben würde.
Man sieht hieraus: dass in der Ethik, als reiner
praktischer Philosophie der inneren Gesetzgebung,
nur die moralischen Verhältnisse des Menschen
gegen den Menschen für uns begreiflich sind;
was aber zwischen Gott und dem Menschen hierüber
Voi> den Pflichten gegen Gott. 351
für ein Verhältniss obwalte, die Grenzen derselben
gänzlich übersteigt und uns schlechterdings unbe-
greiflich ist; wodurch dann bestätigt wird, was
oben behauptet ward: dass die Ethik sich nicht
über die Grenzen der Menschenpflichten gegen sich
selbst und andere Menschen f) erweitern könne.i42)
t) 1. Ausgabe: „über die Grenzen der wechselseitigen
Menschenpflichten"
Druck von Trowitzsch -UTid Sohn in Berlin.