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Full text of "Immanuel Kant's Grundlegung zur metaphysik der sitten"

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The  University  of  Connecticut 
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Immanuel  Kant's 


Grundlegung 


zur 


Metaphysik  der  Sitten, 


Herausgegeben  und  erläutert 


von 


J.  H.  von  Kirchmann, 


Berlin,  1870. 

Verlag  von  L.  Heimann. 

Wilhelms-Strasse  No.  91. 


Vorwort  des  Herausgebers. 


Die  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  erschien 
zuerst  1785   in  Riga  bei  Hartknoch.      Sie  ist  die  erste 
bedeutende  Schrift  Kant's  nach  der  1781  erschienenen 
Kritik   der   reinen  Vernunft.    Bei  Kant's  Lebzeiten   er- 
folgten noch  drei  Ausgaben;  die  zweite  1786,  die  vierte 
1797.    Sie  stimmen  im  Text  und  in  der  Oekonomie  des 
^    Druckes  genau  überein ;  wo  noch  eine  kleine  Abweichung 
^    sich   findet,   ist    der  Text   der   letzten  Ausgabe   aufge- 
in    nommen   und    die  Abweichung,   wie   bei   den  früheren 
Bänden,  in  einer  Anmerkung  angegeben  worden. 

Die  dem  Texte  beigefügten  Zifi'ern  beziehen  sich  auf 
die  in  einem  besonderen  Bande  folgenden  Erläuterungen 
des  Unterzeichneten. 

Berlin,  im  Januar  1870. 

T.  Kircluiiann. 


3 


Inhalt. 


Seite. 

Vorrede 3 

I.  Abschnitt.  Uebergang  von  der  gemeinen  sitt- 
lichen Yernunfterkenntniss  zur  philosophischen      .     10 

II.  Abschnitt.  Uebergang  von  der  populären  sitt- 
lichen Weltweisheit  zur  Metaphysik  der  Sitten  .     .     26 

III.  Abschnitt.  Uebergang  von  der  Metaphysik  der 
Sitten  zur  Kritik  der  praktischen  Vernunft  ...    74 


G  rundlegung 


Metaphysik  der  Sitten. 


Kant,  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.  1 


Y  0  r  r  e  d  e. 


Die  alte  griechische  Philosophie  theilte  sich  in  drei 
Wissenschaften  ab:  die  Physik,  die  Ethik,  und  die 
Log-ik.  Diese  Eintheilung  ist  der  Natur  der  Sache 
vollkommen  angemessen,  und  man  hat  an  ihr  nichts  zu 
verbessern,  als  etwa  nur  das  Prinzip  derselben  hinzu- 
zuthun,  um  sieh  auf  solche  Art  theils  ihrer  Vollständig- 
keit zu  versichern,  theils  die  nothwendigen  Unterabthei- 
lungen richtig  bestimmen  zu  können. 

Alle  Vernunfterkenntniss  ist  entweder  material  und 
betrachtet  irgend  ein  Objekt;  oder  formal  und  beschäf- 
tigt sich  bloss  mit  der  Form  des  Verstandes  und  der 
Vernunft  selbst  und  den  allgemeinen  Regeln  des  Den- 
kens überhaupt,  ohne  Unterschied  der  Objekte.  Die 
formale  Philosophie  heisst  Log-ik,  die  materiale  aber, 
welche  es  mit  bestimmten  Gegenständen  und  den  Ge- 
setzen zu  thun  hat,  denen  sie  unterworfen  sind,  ist 
wiederum  zwiefach.  Denn  diese  Gesetze  sind  entweder 
Gesetze  der  Natur,  oder  der  Freiheit.  Die  Wissen- 
schaft von  der  ersten  heisst  Physik,  die  der  andern 
ist  Ethik;  jene  wird  auch  Naturlehre,  diese  Sittenlehre 
genannt. 

Die  Logik  kann  keinen  empirischen  Theil  haben, 
d.  i.  einen  solchen,  da  die  allgemeinen  und  nothwendi- 
gen Gesetze  des  Denkens  auf  Gründen  beruhten,  die  von 
der  Erfahrung  hergenommen  wären;  denn  sonst  wäre 
sie  nicht  Logik,  d,  i.  ein  Kanon  für  den  Verstand  oder 
die  Vernunft,  der  bei  allem  Denken  gilt  und  demonstrirt 
werden  muss.  Dagegen  können  sowohl  die  natürliche, 
als  sittliche  Weltweisheit,  jede  ihren  empirischen  Theil 
haben,  weil  jene   der  Natur  als  einem  Gegenstande  der 

1* 


4  Grundlegung   zur  Metaphysik  der  Sitten. 

Erfahrung,  diese  aber  dem  Willen  des  Menschenj  sofern 
er  durch  die  Natur  affizirt  wird,  ihre  Gesetze  bestimmen 
muss,  die  ersteren  zwar  als  Gesetze,  nach  denen  alles 
geschieht,  die  zweiten  als  solche,  nach  denen  alles  gesche- 
hen soll,  aber  doch  auch  mit  Erwägung  der  Bedingun- 
gen, unter  denen  es  öfters  nicht  geschieht. 

Man  kann  alle  Philosophie,  sofern  sie  sich  auf  Gründe 
der  Erfahrung  fusst,  empirische,  die  aber,  so  ledig- 
lieh aus  Prinzipien  a  iwiori  ihre  Lehren  vorträgt,  reine- 
Philosophie  nennen.  Die  letztere,  w^enn  sie  bloss  formal 
ist,  heisst  Logik;  ist  sie  aber  auf  bestimmte  Gegen- 
stände des  Verstandes  eingeschränkt,  so  heisst  sie  Me- 
taphysik. 

Auf  solche  Weise  entspringt  die  Idee  einer  zwiefachen 
Metaphysik,  einer  Metaphysik  der  Natur  und  einer 
Metaphysik  der  Sitten.  Die  Physik  wird  also 
ihren  empirischen,  aber  auch  einen  rationalen  Theil 
haben;  die  Ethik  gleichfalls;  wiewohl  hier  der  empirische 
Theil  besonders  praktische  Anthropologie,  der 
rationale  aber  eigentlich  Moral  heissen  könnte. 

Alle  Gewerbe,  Handwerke  und  Künste,  haben  durch 
die  Vertheilung  der  Arbeiten  gewonnen,  da  nämlich  nicht 
Einer  alles  macht,  sondern  Jeder  sich  auf  gewisse  Ar- 
beit, die  sich  ihrer  Behandlungsweise  nach  von  andern 
merklich  unterscheidet,  einschränkt,  um  sie  in  der  gröss- 
ten  Vollkommenheit  und  mit  mehrerer  Leichtigkeit  leis- 
ten zu  können.  Wo  die  Arbeiten  so  nicht  unterschieden 
und  vertheilt  w^erden,  wo  Jeder  ein  Tausendkünstler  ist^ 
da  liegen  die  Gewerbe  noch  in  der  grössten  Barbarei. 
Aber  ob  dieses  zwar  für  sich  ein  der  Erwägung  nicht 
unwürdiges  Objekt  wäre,  zu  tragen:  ob  die  reine  Philo- 
sophie in  allen  ihren  Theilen  nicht  ihren  besondern  Mann 
erheische,  und  es  um  das  Ganze  des  gelehrten  Gewerbes 
nicht  besser  stehen  würde,  wenn  die,  so  das  Empirische 
mit  dem  Rationalen,  dem  Geschmacke  des  Publikums 
gemäss,  nach  allerlei  ihnen  selbst  unbekannten  Verhält- 
nissen gemischt,  zu  verkaufen  gewohnt  sind,  die  sich 
Selbstdenker,  Andere  aber,  die  den  bloss  rationalen 
Theil  zubereiten,  Grübler  nennen,  gewarnt  würden,  nicht 
zwei  Geschäfte  zugleich  zu  treiben,  die  in  der  Art,  sie 
zu  behandeln,  gar  sehr  verschieden  sind,  zu  deren  jedem 
vielleicht  ein  besonderes  Talent  erfordert  wird,  und  deren. 


Vorrede.  5 

Verbindung  in  einer  Person  nur  Stümper  hervorbringt; 
so  frage  ich  hier  doch  nur,  ob  nicht  die  Natur  der 
Wissenschaft  es  erfordere,  den  empirischen  von  dem 
rationalen  Theil  jederzeit  sorgfältig  abzusondern,  und 
vor  der  eigentliclien  (empirischen)  Physik  eine  Metaphy- 
sik der  Natur,  vor  der  praktischen  Anthropologie  aber 
eine  Metaphysik  der  Sitten  voranzuschicken,  die  von 
allem  Empirischen  sorgfältig  gesäubert  sein  miisste,  um 
zu  wissen,  wie  viel  reine  Vernunft  in  beiden  Fällen  leis- 
ten könne,  und  aus  welchen  Quellen  sie  selbst  diese 
ihre  Belehrung  a  iwiori  schöpfe,  es  mag  übrigens  das 
letztere  Geschäft  von  allen  Sittenlehrern  (deren  Name 
Legion  heisst)  oder  nur  von  einigen,  die  Beruf  dazu  füh- 
len, getrieben  werden. 

Da  meine  Absicht  hier  eigentlich  auf  die  sittliche 
Weltweisheit  gerichtet  ist,  so  schränke  ich  die  vorgelegte 
Frage  nur  darauf  ein:  ob  man  nicht  meine,  dass  es  von 
der  äussersten  Nothwendigkeit  sei,  einmal  eine  reine 
Moralphilosophie  zu  bearbeiten,  die  von  allem,  was  nur 
empirisch  sein  mag  und  zur  Anthropologie  gehört,  völlig 
gesäubert  wäre;  denn  dass  es  eine  solche  geben  müsse, 
leuchtet  von  selbst  aus  der  gemeinen  Idee  der  Pflicht 
und  der  sittlichen  Gesetze  ein.  Jedermann  muss  ein- 
gestehen, dass  ein  Gesetz,  wenn  es  moralisch  d.  i.  als 
Grund  einer  Verbindlichkeit  gelten  soll,  absolute  Noth- 
wendigkeit bei  sich  führen  müsse;  dass  das  Gebot:  du 
sollst  nicht  lügen,  nicht  etwa  bloss  für  Menschen  gelte, 
andere  vernünftige  Wesen  sich  aber  daran  nicht  zu  keh- 
ren hätten;  und  so  alle  übrige  eigentliche  Sittengesetze; 
dass  mithin  der  Grund  der  Verbindlichkeit  hier  nicht  in 
der  Natur  des  Menschen  oder  den  Umständen  in  der 
Welt,  darin  er  gesetzt  ist,  gesucht  werden  müsse,  son- 
dern a  priori  lediglich  in  BegriÖen  der  reinen  Vernunft, 
und  dass  jede  andere  Vorschrift,  die  sich  auf  Prinzipien 
der  blossen  Erfahrung  gründet,  und  sogar  eine  in  ge- 
wissem Betracht  allgemeine  Vorschrift,  sofern  sie  sich 
dem  mindesten  Theile,  vielleicht  nur  einem  Bewegungs- 
grunde nach,  auf  empirische  Gründe  stützt,  zwar  eine 
praktische  Regel,  niemals  aber  ein  moralisches  Gesetz 
heissen  kann. 

Also  unterscheiden  sich  die  moralisclien  Gesetze, 
sammt  ihren  Prinzipien,  unter  allem  praktischen  Erkennt- 


Q  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten, 

nisse  von  allem  Uebrigen,  darin  irgend  etwas  Empiri- 
sches istj  nicht  allein  wesentlich,  sondern  alle  Moral- 
philosophie beruht  gänzlich  auf  ihrem  reinen  Theil,  und, 
auf  den  Menschen  angewandt,  entlehnt  sie  nicht  das 
Mindeste  von  der  Kenntniss  desselben  (Anthropologie), 
sondern  giebt  ihm,  als  vernünftigem  Wesen,  Gesetze 
a  ijriorij  die  freilich  noch  durch  Erfahrung  geschärfte 
Urtheilskraft  erfordern,  um  theils  zu  unterscheiden,  in 
welchen  Fällen  sie  ihre  Anwendung  haben,  theils  ihnen 
Eingang  in  den  Willen  des  Menschen  und  Nachdruck 
zur  Ausübung  zu  verschaffen,  da  dieser,  als  selbst  mit 
so  viel  Neigungen  affizirt,  der  Idee  einer  praktischen 
reinen  Vernunft  zwar  fähig,  aber  nicht  so  leicht  ver- 
mögend ist,  sie  in  seinem  Lebenswandel  in  concreto 
wirksam  zu  machen. 

Eine  Metaphysik  der  Sitten  ist  also  unentbehrlich, 
noth wendig,  nicht  bloss  aus  einem  Bewegungsgrunde  der 
Spekulation,  um  die  Quelle  der  a  i)riori  in  unserer  Ver- 
nunft liegenden  praktischen  Grundsätze  zu  erforschen, 
sondern  weil  die  Sitten  selber  allerlei  Verderbniss  unter- 
worfen bleiben,  so  lange  jener  Leitfaden  und  oberste 
Norm  ihrer  richtigen  Beurtheilung  fehlt.  Denn  bei  dem, 
was  moralisch  gut  sein  soll,  ist  es  nicht  genug,  dass  es 
dem  sittlichen  Gesetze  gemäss  sei,  sondern  es  muss 
auch  um  desselben  willen  geschehen;  widrigenfalls 
ist  jene  Gemässheit  nur  sehr  zufällig  und  misslich,  weil 
der  unsittliche  Grund  zwar  dann  und  wann  gesetzmässige^ 
mehrmalen  aber  gesetzwidrige  Handlungen  hervorbringen 
wird.  Nun  ist  aber  das  sittliche  Gesetz,  in  seiner  Reinig- 
keit  und  Aechtheit,  (woran  eben  im  Praktischen  am 
meisten  gelegen  ist)  nirgend  anders,  als  in  einer  reinen 
Philosophie  zu  suchen,  also  muss  diese  (Metaphysik) 
vorangehen,  und  ohne  sie  kann  es  überall  keine  Moral- 
philosophie geben;  selbst  verdient  diejenige,  welche  jene 
reinen  Prinzipien  unter  die  empirischen  mischt,  den 
Namen  einer  Philosophie  nicht  (denn  dadurch  unterschei- 
det diese  sich  eben  von  der  gemeinen  Vernunfterkennt- 
niss,  dass  sie,  was  diese  nur  vermengt  begreift,  in  ab- 
gesonderter Wissenschaft  vorträgt),  viel  weniger  einer 
Moralphilosophie,  weil  sie  eben  durch  diese  Vermengung 
sogar  der  Reinigkeit  der  Sitten  selbst  Abbruch  thut  und 
ihrem  eigenen  Zwecke  zuwider  verfährt. 


Vorrede.  7 

Man  denke  doch  ja  nicht,  dass  man  das,  was  hier 
gefordert  wird,  schon  an  der  Propädeutik  des  berühmten 
Wolf  vor  seiner  Moralphilosophie,  nämlich  der  von  ihm 
so  genannten  allgemeinen  praktischen  Weltweis- 
heit, habe,  und  hier  also  nicht  eben  ein  ganz  neues 
Feld  einzuschlagen  sei.  Eben  darum,  weil  sie  eine  all- 
gemeine praktische  Weltweisheit  sein  sollte,  hat  sie  kei- 
nen Willen  von  irgend  einer  besondern  Art,  etwa  einen 
solchen,  der  ohne  alle  empirische  Bewegungsgründe^ 
völlig  aus  Prinzipien  a  priori^  bestimmt  werde  und  den 
man  einen  reinen  Willen  nennen  könnte,  sondern  das 
Wollen  überhaupt  in  Betrachtung  gezogen,  mit  allen 
Handlungen  und  Bedingungen,  die  ihm  in  dieser  allge- 
meinen Bedeutung  zukommen,  und  dadurch  unterschei- 
det sie  sich  von  einer  Metaphysik  der  Sitten,  ebenso  wie 
die  allgemeine  Logik  von  der  Transscendentalphilosophie^ 
von  denen  die  erstere  die  Handlungen  und  Regeln  des 
Denkens  überhaupt,  diese  aber  bloss  die  besondern 
Handlungen  und  Regeln  des  reinen  Denkens  d.  i.  des- 
jenigen, wodurch  Gegenstände  völlig  a  jwiori  erkannt 
werden,  vorträgt.  Denn  die  Metaphysik  der  Sitten  soll 
die  Idee  und  die  Prinzipien  eines  möglichen  reinen 
Willens  untersuchen,  und  nicht  die  Handlungen  und  Be- 
dingungen des  menschlichen  WoUens  überhaupt,  welche 
grösstentheils  aus  der  Psychologie  geschöpft  werden, 
Dass  in  der  allgemeinen  praktischen  AVeltweisheit  (wie- 
wohl wider  alle  Befugniss)  auch  von  moralischen  Ge- 
setzen und  Pflicht  geredet  wird,  macht  keinen  Einwurf 
wider  meine  Behauptung  aus.  Denn  die  Verfasser  jener 
Wissenschaft  bleiben  ihrer  Idee  von  derselben  auch  hierin 
treu;  sie  unterscheiden  nicht  die  Bewegungsgründe,  die,  als 
solche,  völlig  a  j^riori  bloss  durch  Vernunft  vorgestellt 
werden  und  eigentlich  moralisch  sind,  von  den  empiri- 
schen, die  der  Verstand  bloss  durch  Vergleichung  der 
Erfahrungen  zu  allgemeinen  Begriffen  erhebt,  sondern 
betrachten  sie,  ohne  auf  den  Unterschied  ihrer  Quellen 
zu  achten,  nur  nach  der  grösseren  oder  kleineren  Summe 
derselben  (indem  sie  alle  als  gleichartig  angesehen  wer- 
den) und  machen  sich  dadurch  ihren  Begriff  von  Ver- 
bindlichkeit, der  freilich  nichts  weniger,  als  moralisch, 
aber  doch  so  beschaffen  ist,  als  es  in  einer  Philosophie, 
die   über   den  Ursprung   aller    möglichen  praktischen 


«g  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten. 

begriffe,  ob  sie  auch  a  j^'/'iori  oder  bloss  a  2'>osteriori 
stattfinden,  gar  nicht  urtheilt,  nur  verlangt  werden  kann. 

Im  Vorsatze  nun,  eine  Metaphysik  der  Sitten  der- 
einst zu  liefern,  lasse  ich  diese  Grundlegung  vorangehen. 
Zwar  giebt  es  eigentlich  keine  andere  Grundlage  dersel- 
ben, als  die  Kritik  einer  reinen  praktischen  Ver- 
nunft, so  wie  zur  Metaphysik  die  schon  gelieferte  Kri- 
tik der  reinen  spekulativen  Vernunft.  Allein  theils  ist 
jene  nicht  von  so  äusserster  Nothwendigkeit,  als  diese, 
weil  die  menschliche  Vernunft  im  Moralischen,  selbst 
beim  gemeinsten  Verstände,  leicht  zu  grosser  Richtig- 
keit und  Ausführlichkeit  gebracht  werden  kann,  da  sie 
hingegen  im  theoretischen,  aber  reinen  Gebrauch  ganz 
und  gar  dialektisch  ist;  theils  erfordere  ich  zur  Kritik 
einer  reinen  praktischen  Vernunft,  dass,  wenn  sie  vollen- 
det sein  soll,  ihre  Einheit  mit  der  spekulativen  in  einem 
gemeinschaftlichen  Prinzip  zugleich  müsse  dargestellt 
werden  können,  weil  es  doch  am  Ende  nur  eine  und 
dieselbe  Vernunft  sein  kann,  die  bloss  in  der  Anwen- 
dung unterschieden  sein  muss.  Zu  einer  solchen  Voll- 
ständigkeit konnte  ich  es  aber  hier  noch  nicht  bringen, 
ohne  Betrachtungen  von  ganz  anderer  Art  herbeizuziehen 
und  den  Leser  zu  verwirren.  Um  deswillen  habe  ich 
mich,  statt  der  Benennung  einer  Kritik  der  reinen 
praktischen  Vernunft,  der  von  einer  Grund- 
legung zur  Metaphysik  der  Sitten  bedient. 

Weil  aber  drittens  auch  eine  Metaphysik  der  Sitten, 
ungeachtet  des  abschreckenden  Titels,  dennoch  eines 
grossen  Grades  der  Popularität  und  Angemessenheit  zum 
gemeinen  Verstände  fähig  ist,  so  finde  ich  für  nützlich, 
diese  Vorarbeitung  der  Grundlage  davon  abzusondern, 
um  das  Subtile,  was  darin  unvermeidlich  ist,  künftig 
nicht  fasslicheren  Lehren  beifügen  zu  dürfen. 

Gegenwärtige  Grundlegung  ist  aber  nichts  mehr,  als 
die  Aufsuchung  und  Festsetzung  des  obersten  Prin- 
zips der  Moralität,  welche  aliein  ein,  in  seiner  Ab- 
sicht, ganzes  und  von  aller  anderen  sittlichen  Unter- 
suchung abzusonderndes  Geschäft  ausmacht.  Zwar  würden 
meine  Behauptungen  über  diese  wichtige  und  bisher  bei 
weitem  noch  nicht  zur  Genugthuung  erörterte  Hauptfrage 
durch  Anwendung  desselben  Prinzips  auf  das  ganze 
System  viel  Licht,  und  durch  die  Zulänglichkeit,   die  es 


Vorrede.  9 

allenthaiben  blicken  lässt,  grosse  Bestätigung  erbalten; 
allein  icb  musste  midi  dieses  Vortbeils  begeben,  der 
auch  im  Grunde  mehr  eigenliebig,  als  gemeinnützig  sein 
wurde,  weil  die  Leiclitigkeit  im  Gebrauche  und  die 
scheinbare  Zulänglichkeit  eines  Prinzips  keinen  ganz 
sicheren  Beweis  von  der  Richtigkeit  desselben  abgiebt, 
vielmehr  eine  gewisse  Parteilichkeit  erweckt,  es  nicht 
für  sich  selbst,  ohne  alle  Rücksicht  auf  die  Folge,  nach 
aller  Strenge  zu  untersuchen  und  zu  wägen. 

Ich  habe  meine  Methode  in  dieser  Schrift  so  genom- 
men, wie  ich  glaube,  dass  sie  die  schicklichste  sei,  wenn 
man  vom  gemeinen  Erkenntnisse  zur  Bestimmung  des 
obersten  Prinzips  desselben  analytisch  und  wiederum 
zurück  von  der  Prüfung  dieses  Prinzips  und  den  Quel- 
len desselben  zur  gemeinen  Erkenntniss,  darin  sein  Ge- 
brauch angetroffen  wird,  synthetisch  den  Weg  nehmen 
will     Die  Eintheihmg  ist  daher  so  ausgefallen: 

1)  Erster  Abschnitt:  Uebergang  von  der  gemeinen 
sittlichen  Vernunfterkenntniss  zur  philosophischen. 

2)  Zweiter  Abschnitt:  Uebeigang  von  der  popu- 
lären Moralphilosophie   zur  Metaphysik   der  Sitten. 

3)  Dritter  Abschnitt:  Letzter  Schritt  von  der  Me- 
taphysik der  Sitten  zur  Kritik  der  reinen  praktischen 
Vernunft.  -) 


Erster  Abschnitt. 

ITebergang  yon  der  gemeinen  sittlichen  Ter- 
minfterkenntniss  zur  philosophischen. 


Es  ist  liberall  nichts  in  der  Welt,  ja  überhaupt  auch 
ausser  derselben  zu  denken  möglich,  was  ohne  Ein- 
schränkung für  gut  könnte  gehalten  werden,  als  allein 
ein  guter  A>'ille.  Verstand,  Witz  und  Urtheilskraft 
und  wie  die  Talente  des  Geistes  sonst  heissen  mögen, 
oder  Muth,  Entschlossenheit,  Beharrlichkeit  im  Vorsatze, 
als  Eigenschaften  des  Temperaments,  sind  ohne 
Zweifel  in  mancher  Absicht  gut  und  wünschenswerth ; 
aber  sie  können  auch  äusserst  böse  und  schädlich  wer- 
den, wenn  der  Wille,  der  von  diesen  Naturgaben  Ge- 
brauch machen  soll  und  dessen  eigenthümliche  Beschaffen- 
heit darum  Charakter  lieisst,  nicht  gut  ist.  Mit  den 
Glücksgaben  ist  es  ebenso  bewandt.  Macht,  Reich- 
thum,  Ehre,  selbst  Gesundheit  und  das  ganze  Wohlbe- 
finden und  Zufriedenheit  mit  seinem  Zustande,  unter 
dem  Namen  der  Glückseligkeit,  machen  Muth  und 
hierdurcli  öfters  auch  Uebermuth,  wo  nicht  ein  guter 
Wille  da  ist,  der  den  Einfluss  derselben  aufs  Gemüth, 
und  hiermit  auch  das  ganze  Prinzip  zu  handeln,  berich- 
tige und  allgemein-zweckmässig  mache;  ohne  zu  er- 
wähnen, dass  ein  vernünftiger  und  unparteiischer  Zu- 
schauer sogar  am  Anblicke  eines  ununterbrochenen 
Wohlergehens  eines  Wesens,  das  kein  Zug  eines  reinen 
und  guten  Willens  ziert,  nimmermehr  ein  Wohlgefallen 
haben  kann,  und  so  der  gute  Wille  die  unerlassliche 
Bedingung  selbst  der  Würdigkeit,  glücklich  zu  sein,  aus- 
zumachen scheint. 


Ueberg.  v.  d.gem.  sittl.  Yernunfterkenntniss  z.  philosoph.  H 

Einige  Eigenschaften  sind  sogar  diesem  guten  Willen 
selbst  beförderlich  und  können  sein  Werk  sehr  erleich- 
tern, haben  aber  demungeachtet  keinen  Innern  unbe- 
dingten Werth,  sondern  setzen  immer  noch  einen  guten 
Willen  voraus,  der  die  Hochschätzung,  die  man  übrigens 
mit  Recht  für  sie  trägt,  einschränkt  und  es  nicht  erlaubt, 
sie  für  schlechthin  gut  zu  halten.  Mässigiing  in  Afifekten 
und  J^eidenschaften,    Selbstbeherrschung    und  nüchterne. 

peberlegüng    sind    nicht    allein in  vielerlei  Absiclit  gut,„ 

sondern  scheinen  sogar  einen  Theil  vom  Innern  Werth_e 
der  Person  auszumachen;  allein  es  fehlt  viel  daran,  um 
sie  ohne  Einschränkung  für  gut  zu  erklären  (so  unbe- 
dingt sie  auch  von  den  Alten  gepriesen  worden).  Denn 
ohne  Grundsätze  eines  guten  Willens  können  sie  höchst 
böse  werden,  und  das  kalte  Blut  eines  Bösewichts  macht 
ihn  nicht  allein  weit  gefährlicher,  sondern  auch  unmittel- 
bar in  unseren  Augen  noch  verabscheuungswürdiger,  als 
er  ohne  dieses  dafür  würde  gehalten  werden. 

Der  gute  Wille  ist  nicht  durch  das,  was  er  bewirkt 
oder  ausrichtet,  nicht  durch  seine  Tauglichkeit  zur  Er- 
reichung irgend  eines  vorgesetzten  Zweckes,  sondern 
allein  durch  das  Wollen,  d.  i.  an  sich  gut,  und,  für  sich 
selbst  betrachtet,  ohne  Vergleich  weit  höher  zu  schätzen, 
als  alles,  was  durch  ihn  zu  Gunsten  irgend  einer  Nei- 
gung, ja  wenn  man  will,  der  Summe  aller  Neigungen 
nur  immer  zu  Stande  gebracht  werden  könnte.  Wenn- 
gleich durch  eine  besondere  Ungunst  des  Schicksals, 
oder  durch  kärgliche  Ausstattung  einer  stiefmütterlichen 
Natur  es  diesem  Willen  gänzlich  an  Vermögen  fehlte, 
seine  Absicht  durchzusetzen;  wenn  bei  seiner  grössten 
Bestrebung  dennoch  nichts  von  ihm  ausgerichtet  würde 
und  nur  der  gute  Wille  (freilich  nicht  etwa  ein  blosser 
Wunsch,  sondern  als  die  Aufbietung  aller  Mittel,  so  weit 
sie  in  unserer  Gewalt  sind)  übrig  bliebe:  so  würde  er 
w^ie  ein  Juwel  doch  für  sich  selbst  glänzen,  als  etwas, 
das  seinen  vollen  Werth  in  sich  selbst  hat.  Die  Nütz- 
lichkeit oder  Fruchtlosigkeit  kann  diesem  Wert'ie  weder 
etwas  zusetzen,  noch  abnehmen.  Sie  würde  gleichsam 
nur  die  Einfassung  sein,  um  ihn  im  gemeinen  Verkehr 
besser  handhaben  zu  können,  oder  die  Aufmerksamkeit 
derer,    die  noch  nicht  genug  Kenner  sind,    auf  sich  zu 


12  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     1.  Abschn. 

ziehen,    nicht  aber  um  ihn  Kennern   zu  empfehlen   und 
seinen  Werth  zu  bestimmen. 

Es  liegt  gleichwohl  in  dieser  Idee  von  dem  absoluten 
Werthe  des  blossen  Willens,  ohne  einigen  Nutzen  bei 
Schätzung  desselben  in  Anschlag  zu  bringen,  etwas  so 
Befremdliches,  dass,  unerachtet  aller  Einstimmung  selbst 
der  gemeinen  Vernunft  mit  derselben,  dennoch  ein  Ver- 
dacht entspringen  muss,  dass  vielleicht  bloss  hochfliegende 
Phantasterei  ingeheim  zum  Grunde  liege,  und  die  Xatur 
in  ihrer  Absicht,  warum  sie  unserem  Willen  Vernunft 
zur  Regiererin  beigelegt  habe,  falsch  verstanden  sein 
möge.  Daher  wollen  wir  diese  Idee  aus  diesem  Ge- 
sichtspunkte auf  die  Prüfung  stellen."-) 

In  den  Naturanlagen  eines  organisirteu,  d.  i.  zweck- 
mässig zum  Leben  eingerichteten  Wesens  nehmen  wir 
es  als  Grundsatz  au,  dass  kein  Werkzeug  zu  irgend 
einem  Zwecke  in  demselben  angetroffen  werde,  als  was 
auch  zu  demselben  das  schicklichste  und  ihm  am  meisten 
angemessen  ist.  ^äre  nun  au  einem  Wesen,  das  Ver- 
nunft und  einen  Willen  hat,  seine  Erhaltung,  sein 
Wohlergehen,  mit  einem  Worte  seine  Glückselig- 
keit der  eigentliche  Zweck  der  Natur,  so  hätte  sie 
ihre  Veranstaltung  dazu  sehr  schlecht  getroffen ,  sich 
die  Vernunft  des  Geschöpfs  zur  Ausrichterin  dieser  ihrer 
Absicht  zu  ersehen.  Denn  alle  Handlungen,  die  es  in 
dieser  Absicht  auszuüben  hat,  und  die  ganze  Regel 
seines  Verhaltens  würden  ihm  weit  genauer  durch  In- 
stinkt vorgezeichnet  und  jener  Zweck  weit  sicherer  da- 
durch haben  erhalten  werden  können,  als  es  jemals  durch 
Vernunft  geschehen  kann;  und  sollte  diese  ja  obenein 
dem  begünstigten  Geschöpf  ertheilt  worden  sein ,  so 
würde  sie  ihm  nur  dazu  haben  dienen  müssen,  um  über 
die  glückliche  Anlage  seiner  Natur  Betrachtungen  an- 
zustellen, sie  zu  bewundern,  sich  ihrer  zu  erfreuen  und 
der  wohlthätigen  Ursache  dafür  dankbar  zu  sein,  nicht 
aber,  um  sein  Begehrungsvermögen  jener  schwachen 
und  trüglichen  Leitung  zu  unterwerfen  und  in  der  Na- 
turabsicht zu  pfuschen;  mit  einem  Worte,  sie  würde 
verhütet  haben,  dass  Vernunft  nicht  in  praktischen 
Gebrauch  ausschlüge  und  die  Vermessenheit  hätte, 
mit  ihren  schwachen  Einsichten  ihr  selbst  den  Entwurf 
der  Glückseligkeit   und    der  Mittel,    dazu    zu   gelangen, 


Ueberg.  v,  d.  gem.  sittl.  Verniinfterkemitniss  z.  philosoph.  ^3 

auszudenken;  die  Natur  würde  nicht  allein  die  Wahl 
der  Zwecke,  sondern  auch  der  ]\Iittel  selbst  übernommen 
und  beide  mit  weiser  Versorge  lediglich  dem  Instinkte 
anvertraut  haben. 

In  der  That  finden  wir  auch,  dass,  jemehr  eine  kul- 
tivirte  Vernunft  sich  mit  der  Absicht  auf  den  Genuss 
des  Lebens  und  der  Glückseligkeit  abgiebt,  desto  weiter 
der  Mensch  von  der  wahren  Zufriedenheit  abkomme, 
woraus  bei  Vielen,  und  zwar  den  Versuchtesten  im  Ge- 
brauche derselben,  wenn  sie  nur  aufrichtig  genug  sind, 
es  zu  gestehen,  ein  gewisser  Grad  vonMisologie  d.i. 
Hass  der  Vernunft  entspringt,  weil  sie  nach  dem  Ueber- 
sch.lage  alles  Vortheils,  den  sie,  ich  will  nicht  sagen 
von  der  Erfindung  aller  Künste  des  gemeinen  Luxus, 
sondern  sogar  von  den  Wissenschaften  (die  ihnen  am 
Ende  auch  ein  Luxus  des  Verstandes  zu  sein  scheinen) 
ziehen,  dennoch  finden,  dass  sie  sich  in  der  That  nur. 
mehr  Mühseligkeit  auf  den  Hals  gezogen,  als  an  Glück-- 
Seligkeit  gew^onnen  haben,  und  darüber  endlicli  den  ge- 
meineren Schlag  der  Menschen,  welcher  der  Leitung 
des  blossen  Naturinstinkts  näher  ist  und  der  seiner  Ver- 
nunft nicht  viel  Einfluss  auf  sein  Thun  und  Lassen  ver- 
stattet, eher  beneiden,  als  geringschätzen.  Und  so  w^eit 
muss  man  gestehen,  dass  das  Urtheil  derer,  die  die 
ruhmredigen  Hochpreisungen  der  Vortheile,  die  uns  die 
Vernunft  in  Ansehung  der  Glückseligkeit  und  Zufrieden- 
heit des  Lebens  verschafi'en  sollte,  sehr  massigen  und 
sogar  unter  Null  herabsetzen,  keineswegs  grämisch  oder 
gegen  die  Güte  der  Weltregierung  undankbar  sei,  sondern 
dass  diesen  Urtheilen  ingeheim  die  Idee  von  einer  andern 
und  viel  würdigeren  Absicht  ihrer  Existenz  zum  Grunde 
liege,  zu  w^elcher,  und  nicht  der  Glückseligkeit,  die  Ver- 
nunft ganz  eigentlich  bestimmt  sei,  und  welcher  darum, 
als  oberster  Bedingung,  die  Privatabsicht  des  Menschen 
grösstentheils  nachstehen  muss. 

Denn  da  die  Vernunft  dazu  nicht  tauglich  genug  ist, 
um  den  Willen  in  Ansehung  der  Gegenstände  desselben 
und  der  Befriedigung  aller  unserer  Bedürfnisse  (die  sie 
zum  Theil  selbst  vervielfältigt)  sicher  zu  leiten,  als  zu 
welchem  Zwecke  ein  eingepflanzter  Naturinstinkt  viel 
gewisser  geführt  haben  w^irde,  gleichwohl  aber  uns  Ver- 
nunft als  praktisches  Vermögen,    d.  i.    als    ein  solches. 


14  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     1.  Abschn. 

das  Einfluss  auf  den  Willen  haben  soll,  dennoch  zu- 
getheilt  ist;  so  muss  die  wahre  Bestimmung  derselben 
sein,  einen  nicht  etwa  in  anderer  Absicht  als  Mittel, 
sondern  an  sich  selbst  guten  Willen  hervorzubrin- 
gen, wozu  schlechterdings  Vernunft  nöthig  war,  wo 
anders  die  Natur  überall  in  Austheilung  ihrer  Anlagen 
zweckmässig  zu  Werke  gegangen  ist.  Dieser  Wille  darf 
also  nicht  das  einzige  und  das  ganze,  aber  er  muss  doch 
das  höchste  Gut,  und  zu  allem  Uebrigen,  selbst  allem 
Verlangen  nach  Glückseligkeit,  die  Bedingung  sein,  in 
welchem  Falle  es  sich  mit  der  Weisheit  der  Natur  gar 
wohl  vereinigen  lässt,  wenn  man  wahrnimmt,  dass  die 
Kultur  der  Vernunft,  die  zur  ersteren  und  unbedingten 
Absicht  erforderlich  ist,  die  Erreichung  der  zweiten,  die 
jederzeit  bedingt  ist,  nämlich  der  Glückseligkeit,  wenig- 
stens in  diesem  Leben,  auf  mancherlei  Weise  einschränke, 
ja  sie  selbst  unter  Nichts  herabbringen  könne,  ohne  dass 
die  Natur  darin  unzweckmässig  verfahre,  weil  die  Ver- 
nunft, die  ihre  höchste  praktische  Bestimmung  in  der 
Gründung  eines  guten  Willens  erkennt,  bei  Erreichung 
dieser  Absicht  nur  einer  Zufriedenheit  nach  ihrer  eigenen 
Art,  nämlich  aus  der  Erfüllung  eines  Zweckes,  den 
wiederum  nur  Vernunft  bestimmt,  fähig  ist,  sollte  dieses 
auch  mit  manchem  Abbruch,  der  den  Zwecken  der  Nei- 
gung geschieht,  verbunden  sein.-^) 

Um  aber  den  Begriff  eines  an  sich  selbst  hochzu- 
schätzenden und  ohne  weitere  Absicht  guten  Willens, 
so  wie  er  schon  dem  natürlichen  gesunden  Verstände 
beiwohnt  und  nicht  sowohl  gelehrt,  als  vielmehr  nur 
aufgeklärt  zu  werden  bedarf,  diesen  Begriff,  der  in  der 
Schätzung  des  ganzen  Werthes  unserer  Handlungen  immer 
obenan  steht  und  die  Bedingung  alles  Uebrigen  aus- 
macht, zu  entwickeln,  wollen  wir  den  Begriff  der  Pflicht 
vor  uns  nehmen,  der  den  eines  guten  Willens,  obzwar 
unter  gewissen  subjektiven  Einschränkungen  und  Hin- 
dernissen, enthält,  die  aber  doch,  weit  gefehlt,  dass  sie 
ihn  verstecken  und  unkenntlich  machen  sollten,  ihn  viel- 
mehr durch  Abstechung  heben  und  desto  heller  hervor- 
scheinen lassen. 

Ich  übergehe  hier  alle  Handlungen,  die  schon  als 
pflichtwidrig  erkannt  werden,  ob  sie  gleich  in  dieser 
oder  jener  Absicht  nützlich  sein  mögen;  denn  bei  denen 


üeberg.  v.  d.  gem.  sittl.  Vernimfterkenntniss  z.  philosoph.  15 

ist  gar  nicht  einmal  die  Frage,  ob  sie  aus  Pflicl.t 
geschelien  sein  mögen,  da  sie  dieser  sogar  widerstreiten. 
Ich  setze  auch  die  Handlungen  bei  Seite,  die  wirldich 
pflichtmässig  sind,  zu  denen  aber  Menschen  unmittelbar 
keine  Neigung  haben,  sie  aber  dennoch  ausüben, 
weil  sie  durch  eine  andere  Neigung  dazu  getrieben  wer- 
den. Denn  da  lässt  sich  leicht  unterscheiden,  ob  die 
pflichtmässige  Handlung  aus  Pflicht  oder  aus  selbst- 
süchtiger Absicht  geschehen  sei.  Weit  schwerer  ist  dieser 
Unterschied  zu  bemerken,  wo  die  Handlung  pflichtmässig 
ist  und  das  Subjekt  noch  überdem  unmittelbare  Nei- 
gung zu  ihr  hat.  Z.  B.  es  ist  allerdings  pflichtmässig, 
dass  der  Krämer  seinen  unerfahrenen  Käufer  nicht  über- 
theuere,  und,  wo  viel  Verkehr  ist,  thut  dieses  auch  der 
kluge  Kaufmann  nicht,  sondern  hält  einen  festgesetzten 
allgemeinen  Preis  für  Jedermann,  so  dass  ein  Kind  eben 
so  gut  bei  ihm  kauft,  als  jeder  Andere.  Man  wird  also 
ehrlich  bedient;  allein  das  ist  lange  nicht  genug,  um 
deswegen  zu  glauben,  der  Kaufmann  habe  aus  Pflicht 
und  Grundsätzen  der  Ehrlichkeit  so  verfahren;  sein  Vor- 
theil  erforderte  es;  dass  er  aber  überdem  noch  eine  un- 
mittelbare Neigung  zu  den  Käufern  haben  sollte,  um 
gleichsam  aus  Liebe  keinem  vor  dem  andern  im  Preise 
den  Vorzug  zu  geben,  lässt  sich  hier  nicht  annehmen. 
Also  war  die  Handlung  weder  aus  Pflicht,  noch  aus  un- 
mittelbarer Neigung,  sondern  bloss  in  eigennütziger  Ab- 
sicht geschehen. 

Dagegen  sein  Leben  zu  erhalten,  ist  Pflicht,  und 
überdem  hat  Jedermann  dazu  noch  eine  unmittelbare 
Neigung.  Aber  um  deswillen  hat  die  oft  ängstliche 
Sorgfalt,  die  der  grösste  Theil  der  Menschen  dafür  trägt, 
doch  keinen  Innern  Werth  und  die  Maxime  derselben 
keinen  moralischen  Gehalt.  Sie  bewahren  ihr  Leben 
zwar  pflichtmässig,  aber  nicht  aus  Pflicht.  Da- 
gegen wenn  Widerwärtigkeiten  und  hoffnungsloser  Gram 
den  Geschmack  am  Leben  gänzlich  weggenommen  haben, 
wenn  der  Unglückliche,  stark  an  Seele,  über  sein  Schicksal 
mehr  entrüstet,  als  kleinmüthig  oder  niedergeschlagen, 
den  Tod  wünscht  und  sein  Leben  doch  erhält,  ohne  es 
zu  lieben,  nicht  aus  Neigung  oder  Furcht,  sondern  aus 
Pflicht;  alsdenn  hat  seine  Maxime  einen  moralischen 
Gehalt. 


IQ  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     1.  Abschn. 

Wohlthätig  sein,  wo  man  kann,  ist  Pflicht,  und  über- 
dem  giebt  es  manche  so  theilnehmend  gestimmte  Seelen, 
dass  sie,  auch  ohne  einen  andern  Bewegungsgrund  der 
Eitelkeit  oder  des  Eigennutzes,  ein  inneres  Vergnügen 
daran  finden,  Freude  um  sich  zu  verbreiten,  und  die 
sich  an  der  Zufriedenheit  Anderer,  sofern  sie  ihr  Werk 
ist,  ergötzen  können.  Aber  ich  behaupte,  dass  in  diesem 
Falle  dergleichen  Handlung,  so  pflichtmässig,  so  liebens- 
würdig sie  auch  ist,  dennoch  keinen  wahren  sittlichen 
Werth  habe,  sondern  mit  anderen  Neigungen  zu  gleichen 
Paaren  gehe,  z.  E.  der  Neigung  nach  Ehre,  die,  wenn 
sie  glücklicher  Weise  auf  das  trifft,  was  in  der  That 
gemeinnützig  und  pflichtmässig,  mithin  ehrenwerth  ist, 
Lob  und  Aufmunterung,  aber  nicht  Hochschätzung  ver- 
dient; denn  der  Maxime  fehlt  der  sittliche  Gehalt,  näm- 
lich solche  Handlungen  nicht  aus  Neigung,  sondern  aus. 
Pflicht  zu  thun.  Gesetzt  also,  das  Gemüth  jenes 
Menschenfreundes  wäre  vom  eigenen  Gram  umwölkt, 
der  alle  Theilnehmung  an  Anderer  Schicksal  auslöscht, 
er  hätte  immer  noch  Vermögen,  andern  Noth leidenden 
wohlzuthun,  aber  fremde  Noth  rührte  ihn  nicht,  weil  er 
mit  seiner  eigenen  genug  beschäftigt  ist,  und  nun,  da 
keine  Neigung  ihn  mehr  dazu  anreizt,  risse  er  sich  doch 
aus  dieser  tödthchen  Unempfindlichkeit  heraus  und  thäte 
die  Handlung  ohne  alle  Neigung,  lediglich  aus  Pflicht, 
alsdenn  hat  sie  allererst  ihren  ächten  moralischen  Werth» 
Noch  mehr:  wcDn  die  Natur  diesem  oder  jenem  über- 
haupt wenig  Sympathie  ins  Herz  gelegt  hätte,  wenn  er 
(übrigens  ein  ehrlicher  Mann)  von  Temperament  kalt 
und  gleichgültig  gegen  die  Leiden  Anderer  wäre,  viel- 
leicht, weil  er  selbst  gegen  seine  eigenen  mit  der  be- 
sondern Gabe  der  Geduld  und  aushaltenden  Stärke  ver- 
sehen, dergleichen  bei  jedem  Andern  auch  voraussetzt 
oder  gar  fordert;  wenn  die  Natur  einen  solchen  Mann 
(welcher  wahrlich  nicht  ihr  schlechtestes  Produkt  sein 
würde)  nicht  eigentlich  zum  Menschenfreunde  gebildet 
hätte,  würde  er  denn  nicht  noch  in  sich  einen  Quell 
finden,  sich  selbst  einen  weit  höheren  Werth  zu  geben, 
als  der  eines  gutartigen  Temperaments  sein  mag?  Aller- 
dings! gerade  da  hebt  der  Werth  des  Charakters  an, 
der  moralisch    und   ohne   alle  Vergleichung  der  höchste 


Ueberg.  y.  d.  gem.  sittl.  Vernunfterkenntniss  z.  philosoph.  -^J 

ist,  nämlich  dass  er  wobltbiie,  nicht  aus  Neigung,  sonderß 
aus  Pflicht. 

Seine  eigene  Glückseligkeit  sichern,  ist  Pflicht  (wenig- 
stens indirekt);  denn  der  Mangel  der  Zufriedenheit  mit 
seinem  Zustande,  in  einem  Gedränge  von  vielen  Sorgen 
und  mitten  unter  unbefriedigten  Bedürfnissen,  könnte 
leicht  eine  grosse  Versuchung  zu  üebertretung 
der  Pflichten  werden.  Aber  auch  ohne  hier  auf 
Pflicht  zu  sehen,  haben  alle  Menschen  schon  von  selbst 
die  mächtigste  und  innigste  Neigung  zur  Glückseligkeit, 
weil  sich  gerade  in  dieser  Idee  alle  Neigungen  zu  einer 
Summe  vereinigen.  Nur  ist  die  Vorschrift  der  GlUck- 
sebgkeit  mehrentheils  so  beschaffen,  dass  sie  einigen. 
Neigungen  grossen  Abbruch  thut  und  doch  der  Mensch 
sich  von  der  Summe  der  Befriedigung  aller,  unter  dem 
Namen  der  Glückseligkeit,  keinen  bestimmten  und  sichern 
Begriff  machen  kann;  daher  nicht  zu  verv/undern  ist, 
wie  eine  einzige,  in  Ansehung  dessen,  was  sie  verheisst,, 
und  der  Zeit,  worin  ihre  Befriedigung  erhalten  werden 
kann,  bestimmte  Neigung  eine  schwankende  Idee  über- 
wiegen könne,  und  der  Mensch  z.  B.  ein  Podagrist 
wählen  könne,  zu  geniessen,  was  ihm  schmeckt,  und  zu 
leiden,  was  er  kann,  weil  er,  nach  seinem  Ueberschlage, 
hier  wenigstens,  sich  nicht  durch  vielleicht  grundlose 
Erwartungen  eines  Glücks,  das  in  der  Gesundheit  stecken 
soll,  um  den  Genuss  des  gegenwärtigen  Augenblicks 
gebracht  hat.  Aber  auch  in  diesem  Falle,  wenn  die  all- 
gemeine Neigung  zur  Glückseligkeit  seinen  Willen  nicht 
bestimmte,  wenn  Gesundheit  für  ihn  wenigstens  nicht 
so  nothwendig  in  diesen  Ueberschlag  gehörte,  so  bleibt^ 
n^h  hier,  wie  in  allen  andern  Fällen,  ein^jjlesetz  übrige 
nämlich  seine  Glückseligkeit  zu  befördern,  nicht  aus 
Neigung,  sondern  aus  Pflicht,  und  da  hat  sein  Verhalten 
allererst  den  eigentlichen  moralischen  Werth. 

So  sind  ohne  Zweifel  auch  die  Schriftstellen  zu  ver- 
stehen, darin  geboten  wird,  seinen  Nächsten,  selbst 
unseren  Feind  zu  lieben.  Denn  Liebe  als  Neigung  kann 
nicht  geboten  werden,  aber  Wohlthun  aus  Pflicht  selbst, 
wenn  dazu  gleich  gar  keine  Neigung  treibt,  ja  gar  na- 
türliche und  unbezwingliche  Abneigung  widersteht,  ist 
praktische  und  nicht  pathologische  Liebe,  die  im 
Willen  liegt  und  nicht   im  Hange  der  Empfindung,    in 

Kant,  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.  2 


J^3  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     1.  Absclin. 

Grundsätzen  der  Handlung  und  nicht  schmelzender  Theil- 
nehmung;  jene  aber  allein  kann  geboten  werden.4) 

Der  zweite  Satz  ist:  eine  Handlung  aus  Pflicht  liat 
ihren  moralischen  Werth  liT  cTi  t  i  n  d  e  r  A  b  s  i  c  h  t ,  welche 
dadurch  erreicht  werden  soll,  sondern  in  der  Maxime, 
nach  der  sie  beschlossen  wird,  hängt  also  niclit  von  der 
Wirklichkeit  des  Gegenstandes  der  Handlung  ab,  sondern 
bloss  von  dem  Prinzip  des  Wo  Ileus,  nach  welchem 
die  Handlung,  unangesehen  aller  Gegenstände  des  Be- 
gehrungsvermögens, geschehen  ist.  Dass  die  Absichten, 
die  wir  bei  Handlungen  haben  mögen,  und  ihre  Wir- 
kungen, als  Zwecke  und  Triebfedern  des  Willens,  den 
Handlungen  keinen  unbedingteirund;''möralischen  Werth 
ertheilen  können,  ist  aus  dem  Vorigen  klar.  Worin 
kann  also  dieser  Wertli  liegen,  wenn  er  nicht  im  Willen, 
in  Beziehung  auf  deren  verhoffte  Wirkung,  bestehen 
soll?  Er  kann  nirgend  anders  liegen,  als  im  Prinzip 
des  Willens,  unangesehen  der  Zwecke,  die  durch 
solche  Handlung  bewirkt  werden  können;  denn  der  Wille 
ist  mitten  inne  zwischen  seinem  Prinzip  a  "priori^  welches 
formell  ist,  und  zwischen  seiner  Triebfeder  a  i^osteriori^ 
welche  materiell  ist,  gleichsam  auf  einem  Scheidewege, 
und  da  er  doch  irgend  wodurch  muss  bestimmt  werden, 
so  wird  er  durch  das  formelle  Prinzip  des  WoUens  über- 
haupt bestimmt  werden  müssen,  wenn  eine  Handlung 
aus  Pflicht  geschieht,  da  ihm  alles  materielle  Prinzip 
entzogen  worden. 

Den  dritten  Satz,  als  Folgerung  aus  beiden  vorigen, 
würde  ich  so  ausdrücken  :  P  f  1  i  c  h  t  i  s  t  N  o  t  h  w  e  n  dl g - 
keit  einer  Handlung  aus  Achtung  für's  Gesetz. 
Zum  Objekte  als  Wirkung  meiner  vorhabenden  Haiid- 
lung  kann  ich  zwar  Neigung  haben,  aber  niemals 
Achtung,  eben  darum,  weil  sie  bloss  eine  Wirkung 
und  nicht  Thätigkeit  eines  Willens  ist.  Ebenso  kann 
ich  für  Neigung  überhaupt,  sie  mag  nun  meine  oder  eines 
Andern  seine  sein,  nicht  Achtung  haben,  ich  kann  sie 
höchstens  im  ersten  Falle  billigen,  im  zweiten  bisweilen 
selbst  lieben  d.  i.  sie  als  meinem  eigenen  Vortheile 
günstig  ansehen.  Nur  das,  was  bloss  als  Grund,  nie- 
mals aber  als  Wirkung  mit  meinem  Willen  verknüpft 
ist,  was  nicht  meiner  Neigung  dient,  sondern  sie  über- 
wiegt, wenigstens  diese  von  deren  Ueberschlage  bei  der 


Ueberg.  v.  d.  gem.  sittl.  Vernimfterkenntuiss  z.  philosopli.  19 

Wahl  ganz  ausschliesst,  mithin  das  blosse  G-esetz  für 
sich,  kann  ein  Gegenstand  der  Achtung  und  hiemit  ein 
Gebot  sein.  Nun  soll  eine  Handlung  aus  Pflicht  den 
Einfluss  der  Neigung  und  mit  ihr  jeden  Gegenstand  des 
Willens  ganz  absondern^  also  bleibt  nichts  für  den, Wil- 
len übrig,  was  ihn  bestimmen  könne,  als  objektiv  das 
Gesetz,  und  subj ektiv  reine  Achtung  für  dieses 
praktische  Gesetz,  mithin  die  Maxime*),  einem  solchen 
Gesetze,  selbst  mit  Abbruch  aller  meiner  Neigungen, 
Folge  zu  leisten.5) 

Es  liegt  also  der  moralische  Werth  der  Handlung 
nicht  in  der  Wirkung,  die  daraus  erwartet  wird,  also 
auch  nicht  in  irgend  einem  Prinzip  der  Handlung,  weiches 
seinen  Bewegungsgrund  von  dieser  erwarteten  Wirkung 
zu  entlehnen  bedarf.  Denn  alle  diese  Wirkungen  (An- 
nehmlichkeit seines  Zustandes,  ja  gar  Beförderung  frem- 
der Glückseligkeit)  konnten  auch  durch  andere  Ursachen 
zu  Stande  gebracht  werden,  und  es  brauchte  also  dazu 
nicht  des  Willens  eines  vernünftigen  Wesens;  worin 
gleichwohl  das  höchste  nnd  unbedingte  Gute  allein  an- 
getroffen werden  kann.  Es  kann  daher  nichts  Anderes, 
als  die  Vorstellung  des  Gesetzes  an  sich  selbst, 
die  freilich  nur  im  vernünftigen  Wesen  statt- 
findet, sofern  sie,  nicht  aber  die  verhoffte  Wirkung, 
der  Bestimmungsgrund  des  Willens  ist,  das  so  vorzüg- 
liche Gute,  welches  wir  sittlich  nennen,  ausmachen,  wel- 
ches in  der  Person  selbst  schon  gegenwärtig  ist,  die 
darnach  handelt,  nicht  aber  allererst  aus  der  Wirkung 
erwartet  werden  darf.**) 


*;  Maxime  ist  das  subjektive  Prinzip  des  Wollens; 
das  objektive  Prinzip  (d.  i.  dasjenige,  was  allen  vernünfti- 
gen Wesen  auch  subjektiv  zum  praktischen  Prinzip  dienen 
würde,  wenn  Vernunft  volle  Gewalt  über  das  Begehruugs- 
vermögen  hätte)  ist  das  praktische  Gesetz. 

**)  Man  könnte  mir  vorwerfen,  als  suchte  ich  hinter 
dem  Worte  Achtung  nur  Zuflucht  in  einem  dunklen  Ge- 
fühle, anstatt  durch  einen  Begriff  der  Vernunft  in  der 
Frage  deutliche  Auskunft  zu  geben.  Allein  wenn  Achtung 
gleich  ein  Gefühl  ist,  so  ist  es  doch  kein  durch  Einfluss 
■empfangenes,     sondern    durch     einen     Vernunftbegriff 

2* 


20    Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    1.  Abschn. 

Was  kann  das  aber  wohl  für  ein  Gesetz  sein,  dessen 
Vorstellung,  auch  ohne  auf  die  daraus  ^-wartete  Wir- 
kung Rücksicht  zu  nehmen,  den  Willen  bestimmen 
muss,  damit  dieser  schlechterdings  und  ohne  Einschrän- 
kung gut  heissen  könne?  Da  ich  den  Willen  aller  An- 
triebe beraubt  habe,  die  ihm  aus  der  Befolgung  irgend 
eines  Gesetzes  entspringen  können,  so  bleibt  nichts,  al& 
die  allgemeine  Gesetzmässigkeit  der  Handlungen  über- 
haupt übrig,  welche  allein  dem  Willen  zum  Prihzip 
dienen  soll,  d.'  i.  ich  soll  niemals  anders  verfahren,  als 
so,  dass  ich  auch  wollen  könne,  meine  Maxime 
solle  ein  allgemeines  Gesetz  werden.  Hier  ist 
nun  die  blosse  Gesetzmässigkeit  überhaupt  (ohne  irgend 
ein    auf   gewisse   Handlungen    bestimmtes    Gesetz    zum 


sclbstgewirktes  Gefühl  und  daher  von  allen  Gefühlen 
der  ersteren  Art,  die  sich  auf  Neigung  oder  Furcht  bringen 
lassen,  spezifisch  unterschieden.  Was  ich  unmittelbar  als 
Gesetz  für  mich  erkenne,  erkenne  ich  mit  Achtung,  welche 
bloss  das  Bewusstsein  der  Unterordnung  meines  Willens 
unter  einem  Gesetze,  ohne  Vermittelung  anderer  Einflüsse 
auf  meinen  Sinn,  bedeutet.  Die  unmittelbare  Bestimmung 
des  Willens  durchs  Gesetz  und  Bewusstsein  derselben  heisst 
Achtung,  so  dass  diese  als  Wirkung  des  Gesetzes  aufs 
Subjekt  und  nicht  als  Ursache  desselben  angesehen  wird. 
Eigentlich  ist  Achtung  die  Vorstellung  von  einem  Werthe^ 
der  meiner  Selbstliebe  Abbruch  thut.  Also  ist  es  etwas, 
was  weder  als  Gegenstand  der  Neigung,  noch  der  Furcht 
betrachtet  wird,  obgleich  es  mit  beiden  zugleich  etwas 
Analogisches  hat.  Der  Gegenstand  der  Achtung  ist  also 
lediglich  das  Gesetz,  und  zwar  dasjenige,  das  wir  uns 
selbst  und  doch  als  an  sich  nothwendig  auferlegen.  Als 
Gesetz  sind  wir  ihm  unterworfen,  ohne  die  Selbstliebe  zu 
befragen;  als  uns  von  uns  selbst  auferlegt,  ist  es  doch  eine 
Folge  unseres  Willens,  und  hat  in  der  ersten  Rücksicht 
Analogie  mit  Furcht,  in  der  zweiten  mit  Neigung.  Alle 
Achtung  für  eine  Person  ist  eigentlich  nur  Achtung  fürs 
Gesetz  (der  Kechtschaffenheit  etc.},  wovon  jene  uns  das  Bei- 
spiel giebt.  Weil  wir  Erweiterung  unserer  Talente  auch 
als  Pflicht  ansehen,  so  stellen  wir  uns  an  einer  Person  von 
Talenten  auch  gleichsam  das  Beispiel  eines  Gesetzes 
vor  (ihr  durch  Uebung  hierin  ähnlich  zu  werden),  und  das 
macht  unsere  Achtung  aus.  Alles  moralische  so  genannte 
Interesse  besteht  lediglich  in  der  Achtung  fürs  Gesetz.6) 


Ueberg.  v.  d.  gem.  sittl.  Verniinfterkenntnisa  z.  philosoph.  21 

Grunde  legen)  das,  was  dem  Willen  zum  Prinzip  dient 
>und  ihm  auch  dazu  dienen  muss,  wenn  Pflicht  nicht 
überall  ein  leerer  Wahn  und  chimärischer  Begriff  sein 
soll;  hiermit  stimmt  die  gemeine  Menschenvernunft  in 
ihrer  praktischen  Beurtheilung  auch  vollkommen  übereiu 
und  hat  das  gedachte  Prinzip  jederzeit  vor  Augen. 

Die  Frage  sei  z.  B. :  darf  ich,  wenn  ich  im  Gedränge 
bin,  nicht  ein  Versprechen  thun,  in  der  Absicht,  es  nicht 
zu  halten?  Ich  mache  hier  leicht  den  Unterschied,  den 
die  Bedeutung  der  Frage  haben  kann,  ob  es  klüglich, 
oder  ob  es  pflichtmässig  sei,  ein  falsches  Versprechen 
zu  thun.  Das  Erstere  kann  ohne  Zweifel  öfters  statt- 
finden. Zwar  sehe  ich  wohl,  dass  es  nicht  genug  sei, 
mich  vermittelst  dieser  Ausflucht  aus  einer  gegenwärti- 
gen Verlegenheit  zu  ziehen,  sondern  wohl  überlegt  wer- 
den müsse,  ob  mir  aus  dieser  Lüge  nicht  hinterher  viel 
grössere  üngelegenheit  entspringen  könne,  als  die  sind, 
von  denen  ich  mich  jetzt  befreie,  und  da  die  Folgen 
bei  aller  meiner  vermeinten  Schlau igkeit  nicht  so 
leicht  vorauszusehen  sind,  dass  nicht  ein  einmal  ver- 
lorenes Zutrauen  mir  weit  nachtheiliger  werden  könnte, 
als  alles  Uebel,  das  ich  jetzt  zu  vermeiden  gedenke,  ob 
-es  nicht  klug  lieber  gehandelt  sei,  hierbei  nach  einer 
allgemeinen  Maxime  zu  verfahren  und  es  sich  zur  Ge- 
wohnheit zu  machen,  nichts  zu  versprechen,  als  in  der 
Absicht,  es  zu  halten.  Allein  es  leuchtet  mir  hier  bald 
-ein,  dass  eine  solche  Maxime  doch  immer  nur  die  be- 
sorglichen Folgen  zum  Grunde  habe.  Nun  ist  es  doch 
etwas  ganz  Anderes,  aus  Pflicht  wahrhaft  zu  sein,  als 
aus  Besorgniss  der  nachtheiligen  Folgen ;  indem  im  ersten 
Falle  der  Begriff  der  Handlung  an  sich  selbst  schon  ein 
Gesetz  für  mich  enthält,  im  zweiten  ich  mich  allererst 
anderwärtsher  umsehen  muss,  welche  Wirkungen  für 
mich  wohl  damit  verbunden  sein  möchten.  Denn  wenn 
ich  von  dem  Prinzip  der  Pflicht  abweiche,  so  ist  es 
ganz  gewiss  böse;  werde  ich  aber  meiner  Maxime  der 
Klugheit  abtrünnig,  so  kann  das  mir  manchmal  sehr 
vortheilhaft  sein,  wiewohl  es  freilich  sicherer  ist,  bei  ihr 
zu  bleiben.  Um  indessen  mich  in  Ansehung  der  Beant- 
wortung dieser  Aufgabe,  ob  ein  lügenhaftes  Versprechen 
pflichtmässig  sei,  auf  die  allerkürzeste  und  doch  untrüg- 
liche Art  zu  belehren,  so   frage  ich  mich  selbst:  würde 


22  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     1.  Abschn. 

ich  wohl  damit  zufrieden  sein,  dass  meine  Maxime  (micl'r 
durch  ein  unwahres  Versprechen  aus  Verlegenheit  zu 
ziehen)  als  ein  allgemeines  Gesetz  (sowohl  für  mich, 
als  Andere)  gelten  solle?  und  würde  ich  wohl  zu  mir 
sagen  können:  es  mag  Jedermann  ein  unwahres  Ver- 
sprechen thun,  wenn  er  sich  in  Verlegenheit  befindet, 
daraus  er  sich  auf  andere  Art  nicht  ziehen  kann?  So 
werde  ich  bald  inne,  dass  ich  zwar  die  Lüge,  aber  ein 
allgemeines  Gesetz  zu  lügen  gar  nicht  wollen  könne; 
denn  nach  einem  solchen  würde  es  eigentlich  gar  kein 
Y.ersprechen  geben,  weil  es  vergeblich  wäre,  meinen 
Willen  in  Ansehung  meiner  künftigen  Handlungen  An- 
dern vorzugeben,  die  diesem  Vorgeben  doch  nicht  glau- 
ben, oder,  wenn  sie  es  übereilter  Weise  thäten,  mich 
doch  mit  gleicher  Münze  bezahlen  würden,  mithin  meine 
Maxime,  sobald  sie  zum  allgemeinen  Gesetze  gemacht 
würde,  sich  selbst  zerstören  müsse. 

Was  ich  also  zu  thun  habe,  damit  mein  Wollen  gut 
sei,  dazu  brauche  ich  gar  keine  weit  ausholende  Scharf- 
siunigkeit.  Unerfahren  in  Ansehung  des  Weltlaufs,  un- 
fähig, auf  alle  sich  ereignende  Vorfälle  desselben  gefasst 
zu  sein,  frage  ich  mich  nur:  kannst  du  auch  wollen, 
dass  deine  Maxime  ein  allgemeines  Gesetz  werde?  wo 
nicht,  so  ist  sie  verwerflich,  und  das  zwar  nicht  um 
eines  dir,  oder  auch  Anderen  daraus  bevorstehenden 
Nachtheils  willen,  sondern  weil  sie  nicht  als  Prinzip  in 
eine  mögliche  allgemeine  Gesetzgebung  passen  kann; 
für  diese  aber  zwingt  mir  die  Vernunft  unmittelbare 
Achtung  ab,  von  der  ich  zwar  jetzt  noch  nicht  ein- 
sehe, worauf  sie  sich  gründe  (welches  der  Philosoph 
untersuchen  mag),  wenigstens  aber  doch  soviel  verstehe : 
dass  es  eine  Schätzung  des  Werthes  sei,  welcher  allen 
Werth  dessen,  was  durch  Neigung  angepriesen  wird, 
weit  überwiegt,  und  dass  die  Nothwendigkeit  meiner 
Handlungen  aus  reiner  Achtung  fürs  praktische  Gesetz 
dasjenige  sei,  was  die  Pflicht  ausmacht,  der  jeder  an- 
dere Bewegungsgrund  weichen  muss,  weil  sie  die  Bedin- 
gung eines  an  sich  guten  Willens  ist,  dessen  Werth 
über  alles  geht."«) 

So  sind  wir  denn  in  der  moralischen  Erkenntnis» 
der  gemeinen  Menschenvernunft  bis  ziu  ihrem  Prinzip 
gelangt,  welches  sie  sich  zwar  freilich  nicht  so  in  einer 


Uebei-g .  V.  d.  gem.  sittl.  Yernimfterkenütniss  z.  philosoph.  2B 

allgemeinen  Form  abgesondert  denkt,  aber  doch  jeder- 
zeit wirklich  vor  Augen  hat  und  zum  Richtmaasse  ihrer 
Beurtlieilung  braucht.  Es  wäre  hier  leicht  zu  zeigen, 
wie  sie,  mit  diesem  Kompasse  in  der  Hand,  in  allen 
vorkommenden  Fällen  sehr  gut  Bescheid  wisse,  zu  unter- 
scheiden, was  gut,  w\as  böse,  pflichtmässig  oder  pflicht- 
widrig sei,  wenn  man,  ohne  sie  im  mindesten  etwas 
Neues  zu  lehren,  sie  nur,  wie  Sokrates  that,  auf  ihr 
eigenes  Prinzip  aufmerksam  macht,  und  dass  es'  also 
keiner  Wissenschaft  und  Philosophie  bedürfe,  um  zu 
wissen,  was  man  zu  thun  habe,  um  ehrlich  und  gut,  ja- 
sogar  um  weise  und  tugendhaft  zu  sein.  Das  Hesse  sich 
auch  wohl  schon  zum  voraus  vermutheu,  dass  die  Kennt- 
niss  dessen,  was  zu  thun,  mithin  auch  zu  wissen  jedem 
Menschen  obliegt,  auch  jedes,  selbst  des  gemeinsten 
Menschen  Sache  sein  werde.  Hierf)  kann  man  es  doch 
nicht  ohne  Bew^underung  ansehen,  wie  das  praktische 
Beurtheilungsvermögen  vor  dem  theoretischen  im  gemei- 
nen Menschenverstände  so  gar  viel  voraus  habe.  In  dem 
letzteren,  wenn  die  gemeine  Vernunft  es  wagt,  von  den 
Erfahrungsgesetzen  und  den  Waiirnehmungen  der  Sinne 
abzugehen,  geräth  sie  in  lauter  Unbegreiflichkeiten  und 
Widersprüche  mit  sich  selbst,  wenigstens  in  ein  Chaos 
von  Ungewissheit,  Dunkelheit  und  Unbestand.  Im  Prakti- 
schen aber  fängt  die  Beurtheilungskraft  denn  eben  aller- 
erst an,  sich  recht  vortheiihaft  zu  zeigen,  wenn  der  ge- 
meine Verstand  alle  sinnliche  Triebfedern  von  praktischen 
Gesetzen  ausschliesst.  Er  wird  alsdann  sogar  subtil,  es 
mag  sein,  dass  er  mit  seinem  Gewissen  oder  anderen 
Ansprüchen  in  Beziehung  auf  das,  was  recht  heissen 
soll,  chikaniren,  oder  auch  den  Werth  der  Handlungen 
zu  seiner  eigenen  Belehrung  aufrichtig  bestimmen  will, 
und,  was  das  Meiste  ist,  er  kann  im  letzteren  Falle  sich 
eben  so  gut  Hoffnung  machen,  es  recht  zu  treften,  als 
es  sich  immer  ein  Philosoph  versprechen  mag,  ja  ist 
beinahe  noch  sicherer  hierin,  als  selbst  der  letztere,  weil 
dieser  doch  kein  anderes  Prinzip  als  jener  haben,  sein 
ürtheil  aber  durch  eine  Menge  fremder,  nicht  zur  Sache 
gehöriger  Erwägungen  leicht  verwirren  und  von  der  ge- 


t^  Erste  Ausgabe:  Gleichwohl. 


24  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    1.  Abschn. 

raden  Richtung  abweichend  machen  kann.  Wäre  es 
demnach  nicht  rathsamer,  es  iii  moralischen  Dingen  bei 
dem  gemeinen  Vernunfturtheil  bewenden  zu  lassen,  und 
höchstens  nur  Philosophie  anzubringen,  um  das  System 
der  Sitten  desto  vollständiger  und  fasslicher,  imgleiehen 
die  Regeln  derselben  zum  Gebrauche  (noch  mehr  aber 
zum  Disputiren)  bequemer  darzustellen,  nicht  aber  um 
selbst  in  praktischer  Absicht  den  gemeinen  Menschen- 
verstand von  seiner  glücklichen  Einfalt  abzubringen  und 
ihn  durch  Philosophie  auf  einen  neuen  Weg  der  Unter- 
suchung und  Belehrung  zu  bringen? 

Es  ist  eine  herrliche  Sache  um  die  Unschuld,  nur  ist 
€S  auch  wiederum  sehr  schlimm,  dass  sie  sich  nicht  wohl 
Ibewahren  lässt  und  leicht  verführt  wird.  Deswegen  be- 
darf selbst  die  Weisheit  —  die  sonst  wohl  mehr  im 
Thun  und  Lassen,  als  im  Wissen  besteht,  —  doch  auch 
der  Wissenschaft,  niclit  um  von  ihr  zu  lernen,  sondern 
ihrer  Vorschrift  Eingang  und  Dauerhaftigkeit  zu  ver- 
schaffen. Der  Mensch  fühlt  in  sich  selbst  ein  mächtiges 
Oegengewicht  gegen  alle  Gebote  der  Pflicht,  die  ihm  die 
Vernunft  so  hoch achtungs würdig  vorstellt,  au  seinen  Be- 
dürfnissen und  Neigungen,  deren  ganze  Befriedigung  er 
unter  dem  isameu  der  Glückseligkeit  zusammenfasst. 
Nun  gebietet  die  Vernunft,  ohne  doch  dabei  den  Neigun- 
gen etwas  zu  verheissen,  unnachlasslich,  mithin  gleich- 
sam mit  Zurücksetzung  und  Nichtachtung  jener  so  un- 
gestümen und  dabei  so  billig  scheinenden  Ansprüche 
(die  sich  durch  kein  Gebot  wollen  aufheben  lassen),  ihre 
Vorschriften.  Hieraus  entspringt  aber  eine  natürliche 
Dialektik,  d.  i.  ein  Hang,  wider  jene  strengen  Ge- 
setze der  Pflicht  zu  vernünfteln  und  ihre  Gültigkeit, 
wenigstens  ihre  Reinigkeit  und  Strenge  in  Zweifel  zu 
ziehen  und  sie,  wo  möglich,  unsern  Wünschen  und  Nei- 
gungen angemessener  zu  machen,  d.  i.  sie  im  Grunde 
zu  verderben  und  um  ihre  ganze  Würde  zu  bringen, 
welches  denn  doch  selbst  die  gemeine  praktische  Ver- 
nunft am  Ende  nicht  gut  heissen  kann. 

So  wird  also  die  gemeine  Menschenvernunft 
nicht  durch  irgend  ein  Bedürfniss  der  Spekulation  (wel- 
ches ihr,  so  lange  sie  sich  gepügt,  blosse  gesunde  Ver- 
nunft zu  sein,  niemals  anwandelt),  sondern  selbst  aus 
praktischen  Gründen   angetrieben,  aus  ihrem  Kreise  zu 


üeberg.  v.  d.  gem.  sittl.  Vernunfterkenntniss  z.  philosoph.  25 

gehen  und  einen  Schritt  ins  Feld  der  praktischen 
Philosophie  zu  thun,  um  daselbst,  wegen  der  Quelle 
ihres  Prinzips  und  richtigen  Bestimmung  desselben  in 
Gegenhaltung  mit  den  Maximen,  die  sich  auf  Bedürfniss 
und  Neigung  fussen,  Erkundigung  und  deutliche  Anwei- 
sung zu  bekommen,  damit  sie  aus  der  Verlegenheit  wegen 
beiderseitiger  Ansprüche  herauskomme,  und  nicht  Gefahr 
laufe,  durch  die  Zweideutigkeit,  in  die  sie  leicht  geräth, 
um  alle  ächte  sittliche  Grundsätze  gebracht  zu  werden. 
Also  entspinnt  sich  ebensowohl  in  der  praktischen  ge- 
meinen Vernunft,  wenn  sie  sich  kultivirt,  unvermerkt 
eine  Dialektik,  welche  sie  nöthigt,  in  der  Philosophie 
Hülfe  zu  suchen,  als  es  ihr  im  theoretischen  Gebrauche 
widerfahrt,  und  die  erstere  wird  daher  wohl  ebensowenig, 
als  die  andere,  irgendwo  sonst,  als  in  einer  vollständigen 
Kritik  unserer  Vernunft,  Ruhe  finden.^) 


Zweiter  Abscliuitt. 

üebergaug  yon  der  populären  sittliclien  Welt- 
Weisheit  zur  Metapliysik  der  Sitten. 


Wenn  wir  iinsern  bisherigen  Begriff  der  Pflicht  aus 
dem  gemeinen  Gebrauche  unserer  praktischen  Vernunft 
gezogen  haben,  so  ist  daraus  keineswegs  zu  schliessen, 
als  hätten  wir  ihn  als  einen  Eriahrungsbegriff  behandelt. 
Vielmehr,  wenn  wir  auf  die  Erfahrung  vom  Thun  und 
Lassen  der  Menschen  Acht  haben,  treffen  wir  häufige 
und,  wie  wir  selbst  einräumen,  gereclite  Klagen  an,  dass 
man  von  der  Gesinnung,  aus  reiner  Pflicht  zu  handeln, 
so  gar  keine  sicheren  Beispiele  anführen  könne,  dass, 
wenngleich  Manches  dem,  was  Pflicht  gebietet,  gemäss 
geschehen  mag,  dennoch  es  immer  noch  zweifelhaft  sei, 
ot)  es  eigentlich  aus  Pflicht  geschehe  und  also  einen 
moralischen  TTerth  habe.  Daher  es  zu  aller  Zeit  Philo- 
sophen gegeben  hat,  welche  die  Wirklichkeit  dieser  Ge- 
sinnung in  den  menschlichen  Handlungen  schlechter- 
dings abgeleugnet  und  alles  der  mehr  oder  weniger  ver- 
feinerten Selbstliebe  zugeschrieben  haben,  ohne  doch 
deswegen  die  Richtigkeit  des  Begriff's  von  Sittlichkeit  in 
Zweifel  zu  ziehen,  vielmehr  mit  inniglichem  Bedauren 
der  Gebrechlichkeit  und  Unlauterkeit  der  mensclilichen 
Natur   Erwähnung  thaten,   die   zwar  edel   genug  sei,t) 


t)  Erste  Ausgabe:  ist. 


Uebei'g.  V.  cl.  popul.  sittl.  Weltweisb.  z.  Metapb.  d.  Sitten.  27 

sich  eine  so  achtungswürdige  Idee  zu  ihrer  Vorschrift 
zu  machen,  aber  zugleich  zu  schwach,  um  sie  zu  befol- 
gen, und  die  Vernunft,  die  ihr  zur  Gesetzgebung  dienen 
sollte,  nur  dazu  braucht,  um  das  Interesse  der  Neigun- 
gen, es  sei  einzeln,  oder,  wenn  es  hoch  kommt,  in  ihrer 
grössten  Verträglichkeit  unter  einander  zu  besorgen. 

In  der  That  ist  es  schlechterdings  unmöglich,  durch 
Erfahrung  einen  einzigen  Fall  mit  völliger  Gewissheit 
auszumachen,  da  die  Maxime  einer  sonst  pflichtmässigen 
Handlung  lediglich  auf  moralischen  Gründen  und  auf 
der  Vorstellung  seiner  Pflicht  beruht  habe.  Denn  es  ist 
zwar  bisweilen  der  Fall,  dass  wir  bei  der  schärfsten 
Selbstprüfung  gar  nichts  antreffen,  was  ausser  dem  mo- 
ralischen Grunde  der  Pflicht  mächtig  genug  hätte  sein 
können,  uns  zu  dieser  oder  jener  guten  Handlung  und 
so  grosser  Aufopferung  zu  bewegen ;  es  kann  aber  dar- 
aus gar  nicht  mit  Sicherheit  geschlossen  werden,  dass 
wirklich  gar  kein  geheimer  Antrieb  der  Selbstliebe,  unter 
der  blossen  Vorspiegelung  jener  Idee,  die  eigentliche 
bestimmende  Ursache  des  Willens  gewesen  sei,  dafür 
wir  denn  gerne  uns  mit  einem  uns  fälschlich  angeraass- 
ten  edleren  Bewegungsgrunde  schmeicheln,  Jn.xler  That 
aber  selbst  durch  die  angestrengteste  Prüfung  hinter  die 
■geheimen  Triebfedern  niemals  völlig  kommen  können, 
weil,  wenn  vom  moralischen  Werthe  die  Rede  ist,  es 
niclit  auf  die  Handlungen  ankommt,  die  man  sieht,  son- 
"clern  auf  jene  inneren  Prinzipien  derselben,  die  man 
liicht  sieht.«) 

Man  kann  auch  denen,  die  alle  Sittlichkeit  als  blosses 
Hirngespinnst  einer  durch  Eigendünkel  sich  selbst  über- 
steigenden menschlichen  Einbildung  verlachen,  keinen 
gewünschteren  Dienst  thun,  als  ihnen  einzuräumen,  dass 
die  Begriffe  der  Pflicht  (so  wie  man  sich  auch  aus  Ge- 
mächlichkeit gerne  überredet,  dass  es  auch  mit  allen 
übrigen  Begriflen  bewandt  sei)  lediglich  aus  der  Erfah- 
rung gezogen  werden  mussten;  denn  da  bereitet  man 
jenen  einen  sichern  Triumph.  Ich  will  aus  Menschen- 
liebe einräumen,  dass  noch  die  meisten  unserer  Hand- 
lungen pflichtmässig  seien;  sieht  man  aber  ihr  Dichten 
und  Trachten  näher  an,  so  stösst  man  allenthalben  auf 
das  liebe  Selbst,  was  immer  hervorsticht,  worauf,  und 
nicht  auf  das  strenge  Gebot  der  Pflicht,  welches  mehr- 


28  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     2.  Abschn. 

malen  Selbstverleugnung  erfordern  würde,  sich  ihre  Ab- 
sicht stützt.  Man  braucht  auch  eben  kein  Feind  der 
Tugend,  sondern  nur  ein  kaltblütiger  Beobachter  zu  sein, 
der  den  lebhaftesten  Wunsch  für  das  Gute  nicht  sofort  für 
dessen  Wirklichkeit  hält,  um  (vornehmlich  mit  zuneh- 
menden Jahren  und  einer  durch  Erfahrung  theils  ge- 
witzigten, theils  zum  Beobachten  geschärften  ürtheils- 
kraft)  in  gewissen  Augenblicken  zweifelhaft  zu  werden, 
ob  auch  wirklich  in  der  Welt  irgend  wahre  Tugend  an- 
getroffen werde.  Und  hier  kann  uns  nichts  vor  dem 
gänzlichen  Abfall  von  unseren  Ideen  der  Pflicht  bewah- 
ren und  gegründete  Achtung  gegen  ihr  Gesetz  in  der 
Seele  erhalten,  als  die  klare  Üeberzeugung,  dass,  wenn 
es  auch  niemals  Handhingen  gegeben  habe,  die  aus  sol- 
chen reinen  Quellen  entsprungen  wären,  dennoch  hier 
auch  davon  gar  nicht  die  Rede  sei,  ob  dies  oder  jenes 
geschehe,  sondern  die  Vernunft  für  sich  selbst  und  un- 
abhängig von  allen  Erscheinungen  gebiete,  was  gesche- 
hen soll,  mithin  Handlungen,  von  denen  die  Welt  viel- 
leicht bisher  noch  gar  kein  Beispiel  gegeben  hat,  an 
deren  Thunlichkeit  sogar  der,  so  alles  auf  Erfahrung 
gründet,  sehr  zweifeln  möchte,  dennoch  durch  Vernunft 
unnachlasslich  geboten  seien,  und  dass  z.  B.  reine  Redlich- 
keit in  der  Freundschaft  um  nichts  weniger  von  jedem 
Menschen  gefordert  werden  könne,  wenn  es  gleich  bis 
jetzt  gar  keinen  redlichen  Freund  gegeben  haben  möchte, 
weil  diese  Pflicht  als  Pflicht  überhaupt,  vor  aller  Erfah- 
rung, in  der  Idee  einer  den  Willen  durch  Gründe  a  priori 
bestimmenden  Vernunft  liegt. *^) 

Setzt  man  hinzu,  dass,  wenn  man  dem  Begriffe  von 
Sittlichkeit  nicht  gar  alle  Wahrheit  und  Beziehung  auf 
irgend  ein  mögliches  Objekt  bestreiten  will,  man  nicht 
in  Abrede  ziehen  könne,  dass  sein  Gesetz  von  so  aus- 
gebreiteter Bedeutung  sei,  dass  es  nicht  bloss  für  Men- 
schen, sondern  alle  vernünftige  Wesen  überhaupt, 
nicht  bloss  unter  zufälligen  Bedingungen  und  mit  Aus- 
nahmen, sondern  schlechterdings  nothwendig  gel- 
ten müsse;  so  ist  klar,  dass  keine  Erfahrung,  auch  nur 
auf  die  Möglichkeit  solcher  apodiktischen  Gesetze  zu 
schliessen,  Anlass  geben  könne.  Denn  mit  welchem 
Rechte  können  wir  das,  was  vielleicht  nur  unter  den  zu- 
fälligen Bedingungen  der  Menschheit  gültig  ist,  als  all- 


üeberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metapb.  d.  Sitten.  29 

gemeine  Vorschrift  für  jede  vernünftige  Natur,  in  unbe- 
schränkte Achtung  bringen,  und  wie  sollen  Gesetze  der 
Bestimmung  unseres  Willens  für  Gesetze  der  Bestim- 
mung des  Willens  eines  vernünftigen  Wesens  überhaupt 
und,  nur  als  solche,  auch  für  den  unsrigen  gehalten 
werden,  wenn  sie  bloss  empirisch  wären  und  nicht  völ- 
lig a  priori  aus  reiner,  aber  praktischer  Vernunft  ihren 
Ursprung  nähmen?  ^  i) 

Man  könnte  auch  der  Sittlichkeit  nicht  übler  rathen^ 
als  wenn  man  sie  von  Beispielen  entlehnen  wollte.  Denn 
jedes  Beispiel,  was  mir  davon  vorgestellt  wird,  muss 
selbst  zuvor  nach  Prinzipien  der  Moralität  beurtheilt 
werden,  ob  es  auch  würdig  sei,  zum  ursprünglichen  Bei- 
spiele,-!-) d.  i.  zum  Muster  zu  dienen,  keinesweges  aber 
kann  es  den  Begriff  derselben  zu  oberst  an  die  Hand 
geben.  Selbst  der  Heilige  des  Evangelii  muss  zuvor  mit 
unserem  Ideal  der  sittlichen  Vollkommenheit  verglichen 
werden,  ehe  man  ihn  dafür  erkennt;  auch  sagt  er  von 
sich  selbst:  was  nennt  ihr  mich  (den  ihr  sehet)  gut; 
Niemand  ist  gut  (das  Urbild  des  Guten),  als  der  einige 
Gott  (den  ihr  nicht  sehet).  Woher  haben  wir  aber  den 
Begriff  von  Gott,  als  dem  höchsten  Gut?  l£cügli£h_.äUS^ 
der  Idee,  die  die  Vernunft, a  pinori  vqn_sitÜJiib^~Vell- 
^^"IgSmeTnTgTregwIrrt  und  mit  dßmllBegri^ff'e  eines  freien 
Willen  sunzeHrenn  lieh  jverknüpft.  Nachahmung  findet 
lm~~SittTrcIien  gar-'mclil  stäT!7~^iincl  Beispiele  dienen  nur 
zur  Aufmunterung,  d.  i.  sie  setzen  die  Thunlichkeit 
dessen,  was  das  Gesetz  gebietet,  ausser  Zweifel,  sie 
machen  das,  was  die  praktische  Regel  allgemeiner  aus- 
drückt, anschaulich,  können  aber  niemals  berechtigen, 
ihr  wahres  Original,  das  in  der  Vernunft  liegt,  bei  Seite 
zu  setzen  und  sich  nach  Beispielen  zu  richten. 

Wenn  es  denn  keinen  ächten  obersten  Grundsatz  der 
Sittlichkeit  giebt,  der  nicht  unabhängig  von  aller  Erfah- 
rung bloss  auf  reiner  Vernunft  beruhen  müsste,  so  glaube 
ich,  es  sei  nicht  nöthig,  auch  nur  zu  fi'agen,  ob  es  gut 
sei,  diese  Begriffe,  so  wie  sie,  sammt  den  ihnen  zuge- 
hörigen Prinzipien,  a  priori  feststehen,  im  Allgemeinen 
{in  abstracto)  vorzutragen,  wofern   das  Erkenntniss  sich 


t)  Erste  Ausgabe:  ächten  Beispiele. 


30  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Absclin. 

vom  gemeinen  uutersclieiden  und  philosophisch  heissen 
soll.  Aber  in  unsern  Zeiten  möchte  dieses  wohl  nöthig 
sein.  Denn  wenn  man  Stimmen  sammelte,  ob  reine  von 
allem  Empirischen  abgesonderte  Vernunfterkenntniss, 
mithin  Metaphysik  der  Sitten,  oder  populäre  praktische 
Philosophie  vorzuziehen  sei,  so  erräth  man  bald,  auf 
welche  Seite  das  üebergewicht  fallen  werde. 

Diese  Herablassung  zu  Volksbegriffen  ist  allerdings 
sehr  rühmlich,  wenn  die  Erhebung  zu  den  Prinzipien 
der  freien  Vernunft  zuvor  geschehen  und  zur  völligen 
Befriedigung  erreicht  ist,  und  das  würde  heissen,  die 
Lehre  der  Sitten  zuvor  auf  Metaphj^sik  gründen,  ihr 
aber,  wenn  sie  feststeht,  nachher  durcii  Popularität  E  i  n- 
gang  verschaffen.  Es  ist  aber  äusserst  ungereimt,  die- 
ser in  der  ersten  Untersuchung,  worauf  alle  Richtigkeit 
der  Grundsätze  ankommt,  schon  willfahren  zu  wollen. 
Isicht  allein,  dass  dieses  Verfahren  auf  das  höchst  sel- 
tene Verdienst  einer  wahren  philosophischen  Popu- 
larität niemals  Anspruch  machen  kann,  indem  es  gar 
keine  Kunst  ist,  gemeinverständlich  zu  sein,  wenn  man 
dabei  auf  alle  gründliche  Einsicht  Verzicht  thut;  so 
bringt  es  einen  ekelhaften  Mischmasch  von  zusammen- 
gestöppelten Beobachtungen  und  halbvernünftelnden  Prin- 
zipien zum  Vorschein,  daran  sich  schale  Köpfe  laben, 
weil  es  doch  etwas  gar  Brauchbares  fürs  alltägliche  Ge- 
schwätz ist,  wo  Einsehende  aber  Verwirrung  fühlen  und 
unzufrieden,  ohne  sich  doch  helfen  zu  können,  ihre  Au- 
gen wegwenden,  obgleich  Philosophen,  die  das  Blend- 
werk ganz  wohl  durchschauen,  wenig  Gehör  linden, 
wenn  sie  auf  einige  Zeit  von  der  vorgeblichen  Populari- 
tät abrufen,  um  nur  allererst  nach  erworbener  bestimm- 
ter Einsicht  mit  Ptecht  populär  sein  zu  dürfen. 

Man  darf  nur  die  Versuche  über  die  Sittlichkeit  in 
jenem  beliebten  Geschmacke  ansehen,  so  wird  man  bald 
die  besondere  Bestimmung  der  menschlichen  Natur  (mit- 
unter aber  auch  die  Idee  von  einer  vernünftigen  Natur 
überhaupt),  bald  Vollkommenheit,  bald  Glückseligkeit, 
hier  moralisches  Gefühl,  dort  Gottesfurcht,  von  diesem 
etwas,  von  jenem  auch  etwas,  in  wunderbarem  Gemische 
antreffen,  ohne  dass  man  sich  einfallen  lässt  zu  fragen, 
ob  auch  überall  in  der  Kenntniss  der  menschlichen 
Natur   (die  wir  doch  nur  von  der  Erfahrung  herhaben 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  3;[ 

können)  die  Prinzipien  der  Sittlichkeit  zu  suchen  seien, 
und,  wenn  dieses  nicht  ist,  wenn  die  letzteren  völlig 
<i  2>rwri,  frei  von  allem  Empirischen,  schlechterdings  in 
reinen  Vernunftbegriffen  und  nirgend  anders,  auch  nicht 
dem  mindesten  Theile  nach,  anzutreffen  sind,  den  An- 
schlag zu  fassen,  diese  Untersuchung  als  reine  praktische 
Weltweisheit  oder  (wenn  man  einen  so  verschrieenen 
Kamen  nennen  darf),  als  Metaphysik*)  der  Sitten,  lieber 
ganz  abzusondern,  sie  für  sich  allein  zu  ihrer  ganzen 
Vollständigkeit  zu  bringen,  und  das  Publikum,  das  Po- 
pularität verlangt,  bis  zum  Ausgange  dieses  Unterneh- 
mens zu  vertröstend^) 

Es  ist  aber  eine  solche  völlig  isolirte  Metaphysik  der 
Sitten,  die  mit  keiner  Anthropologie,  mit  keiner  Theolo- 
gie, mit  keiner  Physik  oder  Hyperphysik,  noch  weniger 
mit  verborgenen  Qualitäten  (die  man  hypophysisch  nen- 
nen könnte)  vermischt  ist,  nicht  allein  ein  unentbehr- 
liches Substrat  aller  theoretischen  sicher  bestimmten  Er- 
kenntniss  der  Pflichten,  sondern  zugleich  ein  Desiderat 
von  der  höchsten  Wichtigkeit  zur  wirklichen  Vollziehung 
ihrer  Vorschriften.  Denn  die  reine  und  mit  keinem 
fremden  Zusätze  von  empirischen  Anreizen  vermischte 
Vorstellung  der  Pflicht,  und  überhaupt  des  sittlichen  Ge- 
setzes, hat  auf  das  menschliche  Herz  durch  den  Weg 
der  Vernunft  allein  (die  hiebei  zuerst  inne  wird,  dass 
sie  für  sich  selbst  auch  praktisch  sein  kann)  einen  so 
viel  mächtigeren  Einfluss,  als  alle  anderen  Triebfedern**), 


*)  Man  kann,  wenn  man  wifl,  'so  wie  die  reine  Mathe- 
matik von  der  angewandten,  die  reine  Logik  von  der  an- 
gewandten unterschieden  wird,  also)  die  reine  Philosophie 
der  Sitten  (Metaphysik)  von  der  angewandten  (nämlich  auf 
die  menschliche  Natur;  unterscheiden.  Durch  diese  Benen- 
nung wird  man  auch  sofort  erinnert,  dass  die  sittlichen 
Prinzipien  nicht  auf  die  Eigenheiten  der  menschlichen  Natur 
gegründet,  sondern  für  sich  «  prm-i  bestehend  sein  müssen, 
aus  solchen  aber,  wie  für  jede  vernünftige  Natur,  also  auch 
für  die  menschliche,  praktische  Regeln  müssen  abgeleitet 
werden  können. 

**)  Ich  habe  einen  Brief  vom  sei.  vortrefflichen  Sul- 
zer, worin  er  mich  fragt :  was  doch  die  Ursache  sein  möge, 
warum  die  Lehren  der  Tugend,  so  viel  Ueberzeugendes  sie 


32   Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Abschn. 

die  man  aus  dem  empirischen  Felde  aufbieten  mag^ 
dass  sie  im  Bewusstsein  ihrer  Würde  die  letzteren  ver- 
achtet imd  nach  und  nach  ihr  Meister  werden  kann; 
an  dessen  Statt  eine  vermischte  Sittenlehre,  die  aus  Trieb- 
federn von  Gefühlen  und  Neigungen  und  zugleich  aus 
Vernunftbegriffen  zusammengesetzt  ist,  das  Gemüth  zwi- 
schen Bewegursachen,  die  sich  unter  kein  Prinzip  brin- 
gen lassen,  die  nur  sehr  zufällig  zum  Guten,  öfters  aber 
auch  zum  Bösen  leiten  können,  schwankend  machen 
muss. 

Aus  dem  Angeführten  erhellt :  dass  alle  sittliche  Be- 
griffe völlig  a  priori  in  der  Vernunft  ihren  Sitz  und  Ur- 
sprung haben,  und  dieses  zwar  in  der  gemeinsten  Men- 
schenvernunft ebensowohl,  als  der  im  höchsten  Maasse 
spekulativen  5  dass  sie  von  keinem  empirischen  und 
darum  bloss  zufälligen  Erkenntnisse  abstrahirt  werden 
können ;  dass  in  dieser  Keinigkeit  ihres  Ursprunges  eben 
ihre  Würde  liege,  um  uns  zu  obersten  praktischen  Prin- 
zipien zu  dienen;  dass  man  jedesmal  so  viel,  als  man 
Empirisches  hinzuthut,  so  viel  auch  ihrem  ächten  Ein- 
flüsse und  dem  uneingeschränkten  Werthe  der  Hand- 
lungen entziehe;  dass  es  nicht  allein  die  grösste  Noth- 
wendigkeit   in   theoretischer  Absicht,  wenn  es  bloss  auf 


auch  für  die  Vernunft  haben,  doch  so  wenig  ausrichten. 
Meine  Antwort  wurde  durch  die  Zurüstung  dazu,  um  sie 
vollständig  zu  geben,  verspätet.  Allein  es  ist  keine  andere,, 
als  dass  die  Lehrer  selbst  ihre  Begriffe  nicht  ins  Reine 
gebracht  haben  und  indem  sie  es  zu  gut  machen  wollen, 
dadurch,  dass  sie  allerwärts  Bewegursacben  zum  Sittlich- 
guten auftreiben,  um  die  Arznei  recht  kräftig  zu  machen, 
die  sie  verderben.  Denn  die  gemeinste  Beobachtung  zeigt, 
dass,  wenn  man  eine  Handlung  der  Rechtschaffenheit  vor- 
stellt, wie  sie  von  aller  Absicht  auf  irgend  einen  Vortheil, 
in  dieser  oder  einer  anderen  Welt,  abgesondert,  selbst  unter 
den  grössten  Versuchungen  der  Noth  oder  Anlockung  mit 
standhafter  Seele  ausgeübt  worden,  sie  jede  ähnliche  Hand- 
lung, die  nur  im  mindesten  durch  eine  fremde  Triebfeder 
affizirt  war,  weit  hinter  sich  lasse  und  verdunkle,  die  Seele 
erhebe  und  den  Wunsch  errege,  auch  so  handeln  zu  kön- 
nen. Selbst  Kinder  von  mittlerem  Alter  fühlen  diesen  Ein- 
druck, und  ihnen  sollte  man  Pflichten  auch  niemals  anders 
vorstellen. 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  33 

Spekulation  ankommt,  erfordere,  sondern  auch  von  der 
grössten  praktischen  Wichtigkeit  sei,  ihre  Begriffe  und 
Gesetze  aus  reiner  Vernunft  zu  schöpfen,  rein  und  un- 
vermengt  vorzutragen,  ja  den  Umfang  dieses  ganzen 
praktischen  oder  reinen  Vernunfterkenntnisses,  d.  i.  das 
ganze  Vermögen  der  reinen  praktischen  Vernunft  zu  be- 
stimmen, hierin  aber  nicht,  wie  es  wohl  die  spekulative 
Philosophie  erlaubt,  ja  gar  bisweilen  nothwendig  findet, 
die  Prinzipien  von  der  besondern  Natur  der  mensch- 
lichen Vernunft  abhängig  zu  machen,  sondern  darum, 
weil  moralische  Gesetze  für  jedes  vernünftige  Wesen 
überhaupt  gelten  sollen,  sie  schon  aus  dem  allgemei- 
nen Begriffe  eines  vernünftigen  Wesens  überhaupt  ab- 
zuleiten, und  auf  solche  Weise  alle  Moral,  die  zu  ihrer 
Anwendung  auf  Menschen  der  Anthropologie  bedarf, 
zuerst  unabhängig  von  dieser  als  reine  Philosophie,  d.  i. 
als  Metaphysik,  vollständig  (welches  sich  in  dieser  Art 
ganz  abgesonderter  Erkenntnisse  wohl  thun  lässt)  vor- 
zutragen, wohl  bewusst,  dass  es,  ohne  im  Besitze  der- 
selben zu  sein,  vergeblich  sei,  ich  will  nicht  sagen,  das 
Moralische  der  Pflicht  in  allem,  was  pflichtmässig  ist, 
genau  für  die  spekulative  Beurtheilung  zu  bestimmen, 
sondern  sogar  im  bloss  gemeinen  und  praktischen  Ge- 
brauche, vornehmlich  der  moralischen  Unterweisung, 
unmöglich  sei,  die  Sitten  auf  ihre  ächten  Prinzipien 
zu  gründen  und  dadurch  reine  moralische  Gesinnungen 
zu  bewirken  und  zum  höchsten  Weltbesten  den  Ge- 
müthern einzupfropfen.  13) 

Um  aber  in  dieser  Bearbeitung  nicht  bloss  von  der 
gemeinen  sittlichen  Beurtheilung  (die  hier  sehr  achtungs- 
würdig ist)  zur  philosophischen,  wie  sonst  geschehen  ist, 
sondern  von  einer  populären  Philosophie,  die  nicht  weiter 
geht,  als  sie  durch  Tappen  vermittelst  der  Beispiele 
kommen  kann,  bis  zur  Metaphysik  (die  sich  durch  nichts 
Empirisches  weiter  zurückhalten  lässt  und,  indem  sie 
den  ganzen  Inbegriff  der  Vernunfterkenntniss  dieser  Art 
ausmessen  muss,  allenfalls  bis  zu  Ideen  geht,  wo  selbst 
die  Beispielet)  uns  verlassen),  durch  die  natürlichen 
Stufen  fortzuschreiten,  müssen  wir  das  praktische  Ver- 
nunftvermögen,  von    seinen    allgemeinen    Bestimmungs- 

t)  Iste  Ausgabe:  die  Beispiele,  die  jenen  adäquat  wären. 

Kant,  Grundlage  zur  Metaphysik  der  Sitten.  3 


34  Grundlegung  der  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Abschn. 

regeln  an  bis  dahin,  wo  aus  ihm  der  Begriff  der  Pflicht 
entspringt,  verfolgen  und  deutlich  darstellen. 

Ein  jedes  Ding  der  Natur  wirkt  nach  Gesetzen.  Nur 
ein  vernünftiges  Wesen  hat  das  Vermögen,  nach  der 
Vorstellung  der  Gesetze  d.  i.  nach  Prinzipien,  zu 
handeln,  oder  einen  Willen.  Da  zur  Ableitung  der 
Handlungen  von  Gesetzen  Vernunft  erfordert  wird, 
so  ist  der  Wille  nichts  Anderes,  als  praktische  Vernunft. 
Wenn  die  Vernunft  den  Willen  unausbleiblich  bestimmt, 
so  sind  die  Handlungen  eines  solchen  Wesens,  die  als 
objektiv  nothwendig  erkannt  werden,  auch  subjektiv 
nothwendig,  d.i.  der  Willeist  ein  Vermögen,  nur  das- 
jenige zu  wählen,  was  die  Vernunft,  unabhängig  von 
der  Neigung  als  praktisch  nothwendig  d.  i.  als  gut  er- 
kennt. Bestimmt  aber  die  Vernunft  für  sich  allein  den 
Willen  nicht  hinlänglich,  ist  dieser  noch  subjektiven  Be- 
dingungen (gewissen  Triebfedern)  unterworfen,  die  nicht 
immer  mit  den  objektiven  übereinstimmen,  mit  einem 
Worte,  ist  der  Wille  nicht  an  sich  völlig  der  Vernunft 
gemäss  (wie  es  bei  Menschen  wirklich  ist),  so  sind  die 
Handlungen,  die  objektiv  als  nothwendig  erkannt  werden, 
subjektiv  zufällig,  und  die  Bestimmung  eines  solchen 
-Willens,  objektiven  Gesetzen  gemäss,  ist  Nöthigung; 
d.  i.  das  Verhältniss  der  objektiven  Gesetze  zu  einem 
nicht  durchaus  guten  Willen  wird  vorgestellt  als  die 
Bestimmung  des  Willens  eines  vernünftigen  Wesens  zwar 
durch  Gründe  der  Vernunft,  denen  aber  dieser  Wille 
seiner  Natur  nach  nicht  nothwendig  folgsam  ist. 

Die  Vorstellung  eines  objektiven  Prinzips,  sofern  es 
für^lnen  Willen  nöthigend  ist,  heisst  ein  Gebot  (der  Ter- 
nunft)  nnd  die  Formel  des  Gebots  heisst  Imperatll..^^) 

Alle  Imperativen  werden  durch  ein  Sollen  ausge- 
drückt, und  zeigen  dadurch  das  Verhältniss  eines  objek- 
tiven Gesetzes  der  Vernunft  zu  einem  Willen  an,  der 
seiner  subjektiven  Beschaffenheit  nach  dadurch  nicht 
pothwendig  bestimmt  wird  (eine  Nöthigung).  Sie  sagen, 
dass  etwas  zu  thun  oder  zu  unterlassen  gut  sein  würde, 
allein  sie  sagen  es  einem  Willen,  der  nicht  immer  darum 
etwas  thut,  weil  ihEi  vorgestellt  wird,  dass  es  zu  thun 
gut  sei.  Praktisch  gut  ist  aber,  was  vermittelst  der 
Vorstellungen  der  Vernunft,  mithin  nicht  aus  subjektiven 
Ursachen,  sondern  objektiv  d.  i.   aus  Gründen,    die   für 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  35 

jedes  vernünftige  Wesen  als  ein  solches  gültig  sind,  den 
Willen  bestimmt.  Es  wird  vom  Angenehmen  unter- 
schieden, als  demjenigen,  was  nur  vermittelst  der  Emi)fin- 
dung  aus  bloss  subjektiven  Ursachen,  die  nur  für  dieses 
oder  jenes  seinen  Sinn  gelten,  und  nicht  als  Prinzip 
der  Vernunft,  das  für  Jedermann  gilt,  auf  den  Willen 
Einfluss  hat.*) 

Ein  vollkommen  guter  Wille  würde  also  ebensowohl 
unter  objektiven  Gesetzen  (des  Gutenj  stehen,  aber  nicht 
dadurch  als  zu  gesetzmässigen  Handlungen  genöthigt 
vorgestellt  werden  können,  weil  er  von  selbst,  nach 
seiner  subjektiven  Beschaffenheit,  nur  durch  die  Vor- 
stellung des  Guten  bestimmt  werden  kann.  Daher  gelten 
für  den  g  Ö 1 1 1  i  c h  e  n  und  überhaupt  für  einen  li  e  i  1  i g  e  n 
Willen  keine  Imperativen;  das  Sollen  ist  hier  am 
uui^chtenOrte,  w^eil  das  Wollen  schon  von  selbst  mit 
dem  Gesetz  nothwendig  einstimmig  ist.  Daher  sind 
Imperativen  nur  Formeln,  das  Verhältniss  objektiver  Ge- 


")  Die  Abhängigkeit  des  Begehrungsvermögens  von 
Empfindungen  heisst  Neigung,  und  diese  beweist  also  jeder- 
zeit ein  Bedürfniss.  Die  Abhängigkeit  eines  zufällig 
bestimmbaren  Willens  aberi  von  Prinzipien  der  Vernunft 
heisst  ein  Interesse.  Dieses  findet  also  nur  bei  einem 
abhängigen  Willen  statt,  der  nicht  von  selbst  jederzeit  der 
Vernunft  gemäss  ist;  beim  göttlichen  Willen  kann  man  sich 
kein  Interesse  gedenken.  Aber  auch  der  menschliche  Wille 
kann  woran  ein  Interesse  nehmen,  ohne  darum  aus 
Interesse  zu  handeln.  Das  erste  bedeutet  das  prak- 
tische Interesse  an  der  Handlung,  das  zweite  das  patho- 
logische Interesse  am  Gegenstaude  der  Handlung.  Das 
erste  zeigt  nur  Abhängigkeit  des  Willens  von  Prin- 
zipien der  Vernunft  an  sich  selbst,  das  zweite  von  den 
Prinzipien  derselben  zum  Behuf  der  Neigung  an,  da  näm- 
lich die  Vernunft  nur  die  praktische  Regel  angiebt,  wie 
dem  Bedürfnisse  der  Neigung  abgeholfen  werde.  Im  ersten 
Falle  interessirt  mich  die  Handlung,  im  zweiten  der  Gegen- 
stand der  Handlung  sofern  er  mir  angenehm  ist).  Wir 
haben  im  ersten  Abschnitte  gesehen,  dass  bei  einer  Hand- 
lung aus  Pflicht  nicht  auf  das  Interesse  am  Gegenstande, 
sondern  bloss  an  der  Handlung  selbst  und  ihrem  Prinzip 
in  der  Vernunft  (dem  Gesetz;  gesehen  werden  müsse. 

t)  Iste  Ausgabe:  Die  Abhängigkeit  des  Willens  aber. 

3* 


36  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.  2.  Abschn. 

setze  des  Woilens  überhaupt  zu  der  subjektiven  Unvoll- 
kommenheit  des  Willens  dieses  oder  jenes  vernünftigen 
WesenSj  z.  B.  des  menschlichen  Willens,  auszudrücken. 
Alle  Imperativen  nun  gebieten  entweder  hypo- 
thetisch, oder  kategorisch.  Jene  stellen  die  prak- 
tische Nothwendigkeit  einer  möglichen  Handlung  als- 
Mittel  zu  etwas  Anderem,  was  man  will  (oder  doch 
möglich  ist,  dass  man  es  wolle)  zu  gelangen  vor.  Der, 
kategorische  Imperativ  würde  der  sein,  welcher  'eine 
"ffindlung  als  für  sich  selbst,  olme  Beziehung  auf  einen^ 
andern  Zweck,  als  objektiv-nothwendig  vorstellte. 

Well  jedes  praktische  Gesetz  eine  mögliche  Handlung 
als  gut  und  darum,  für  ein  durch  Vernunft  praktisch 
bestimmbares  Subjekt,  als  nothwendig  vorstellt,  so  sind 
alle  Imperativen  Formeln  der  Bestimmung  der  Handlung, 
die  nach  dem  Prinzip  eines  in  irgend  einer  Art  guten 
Willens  nothwendig  ist.  Wenn  nun  die  Handlung  bloss 
wozu  anders,  als  Mittel,  gut  sein  würde,  so  ist  der 
Imperativ  hypothetisch;  wird  sie  als  an  sich  gut 
vorgestellt,  mithin  als  nothwendig  in  einem  an  sich  der 
Vernunft  gemässen  Willen,  als  Prinzip  desselben,  so  ist 
er  kategorisch. 15) 

Der  Imperativ  sagt  also,  welche  durch  mich  mög- 
liche Handlung  gut  wäre,  und  stellt  die  praktische  Regel 
in  Verhältniss  auf  einen  Willen  vor,  der  darum  nicht 
sofort  eine  Handlung  thut,  wxil  sie  gut  ist,  theils  weil 
das  Subjekt  nicht  immer  weiss,  dass  sie  gut  sei,  theils 
weil,  wenn  es  dieses  auch  wüsste,  die  Slaximen  des- 
selben doch  den  objektiven  Prinzipien  einer  praktischen 
Vernunft  zuwider  sein  könnten. 

Der  hypothetische  Imperativ  sagt  also  nur,  dass  die 
Handlung  zu  irgend  einer  möglichen  oder  wirklichen 
'Absicht  gut  sei.  Im  ersteren  Falle  ist  er  ein  proble- 
matisch, im  zw^eiten  assertorisch -praktisches  Prin- 
zip. Der  kategorische  Imperativ,  der  die  Handlung  ohne 
Beziehung  auf  irgend  eine  Absicht,  d.  i.  auch  ohne  irgend 
einen  andern  Zweck  für  sich  als  objektiv  nothwendig 
erklärt,  gilt  als  ein  apodiktisch-  (praktisches)  Prinzip. 

Man  kann  sich  das,  was  nur  durch  Kräfte  irgend 
eines  vernünftigen  Wesens  möglich  ist,  auch  für  irgend 
einen  Willen    als  mögliche  Absicht  denken,  und   daher 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  37 

sind  der  Prinzipien  der  Handlung,  sofern  diese f)  als 
nothwendig  vorgestellt  wird,  um  irgend  eine  dadurch 
zu  bewirkende  mögliche  Absicht  zu  erreichen,  in  der 
That  unendlich  viel.  Alle  Wissenschaften  haben  irgend 
einen  praktischen  Theil,  der  aus  Aufgaben  besteht,  dass 
irgend  ein  Zweck  für  uns  möglich  sei,  und  aus  Impera- 
tiven, wie  er  erreicht  werden  könne.  Diese  können 
daher  überhaubt  Imperativen  der  Greschicklichkeit 
heissen.  Ob  der  Zweck  vernünftig  und  gut  sei,  da- 
von ist  hier  gar  nicht  die  Frage,  sondern  nur  was 
man  thun  müsse,  um  ihn  zu  erreichen.  Die  Vor- 
schriften für  den  Arzt,  um  seinen  Mann  auf  gründ- 
liche Art  gesund  zu  machen,  und  für  einen  Gift- 
mischer, um  ihn  sicher  zu  tödten,  sind  insofern  von 
gleichem  Werth,  als  eine  jede  dazu  dient,  ihre  Ab- 
sicht vollkommen  zu  bewirken.  Weil  man  in  der  frühen 
Jugend  nicht  weiss,  welche  Zwecke  uns  im  Leben  auf- 
stossen  dürften,  so  suchen  Eltern  vornehmlich  ihre  Kin- 
der recht  vielerlei  lernen  zu  lassen  und  sorgen  für 
die  Geschicklichkeit  im  Gebrauch  der  Mittel  zu 
allerlei  beliebigen  Zwecken,  von  deren  keinem  sie 
bestimmen  können,  ob  er  nicht  etwa  wirklich  künftig 
eine  Absicht  ihres  Zöglings  werden  könne,  wovon  es 
indessen  doch  möglich  ist,  dass  er  sie  einmal  haben 
möchte,  und  diese  Sorgfalt  ist  so  gross,  dass  sie  darüber 
gemeiniglich  verabsäumen,  ihnen  das  Urtheil  über  den 
Werth  der  Dinge,  die  sie  sich  etwa  zu  Zwecken  machen 
möchten,  zu  bilden  und  zu  berichtigen. 

Es  ist  gleichwohl  ein  Zweck,  den  man  bei  allen  ver- 
nünftigen Wesen  (sofern  Imperative  auf  sie,  nämlich  als 
abhängige  Wesen,  passen)  als  wirklich  voraussetzen  kann, 
und  also  eine  Absicht,  die  sie  nicht  etwa  bloss  haben 
können,  sondern  von  der  man  sicher  voraussetzen 
kann,  dass  sie  solche  insgesammt  nach  einer  Naturnoth- 
wendigkeit  haben,  und  das  ist  die  Absicht  aufGlU.ck- 
s~eligkeit.  Der  hypothetische  Imperativ,  der  die  prak- 
tische" Nbtliwendigkeit  der  Handlung,  als  Mittel  zur  Be- 
förderung der  Glückseligkeit  vorstellt,  ist  assertorisch. 
Man  darf  ihn  nicht  bloss  als  nothwendig  zu  einer  unge- 
wissen, bloss  möglichen  Absicht  vortragen,  sondern  zu 
einer  Absicht,    die   man  sicher  und  a  jyrio^n  bei  jedem 

t)  Iste  Ausgabe:  sofern  sie. 


38  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.  2.  Ab  sehn. 

Menschen  voraussetzen  kann,  weil  sie  zu  seinem  Wesenf) 
gehört.  Nun  kann  man  die  Geschicklichkeit  in  der 
Wahl  der  Mittel  zu  seinem  eigenen  grössten  Wohlsein 
Klugheit*)  im  engsten  Verstände  nennen.  Also  ist 
der  Imperativ,  der  sich  auf  die  Wahl  der  Mittel  zur 
eigenen  Glückseligkeit  bezieht,  d.  i.  die  Vorschrift  der 
Klugheit,  noch  immer  hypothetisch;  die  Handlung 
wird  nicht  schlechthin,  sondern  nur  als  Mittel  zu  einer 
andern  Absicht  geboten. 

Endlich  giebt  es  einen  Imperativ,  der,  ohne  irgend 
eine  andere  durch  ein  gewisses  Verhalten  zu  erreichende 
Absicht  als  Bedingung  zum  Grunde  zu  legen,  dieses 
Verhalten  unmittelbar  gebietet.  Dieser  Imperativ  ist 
kate^oriscli.  Er  betriflft  nicht  die  Materie  derHapii- 
lung  und  das,  was  aus  ihr  erfolgen  soll,  sondexiL,äie 
Form  und  das  Prinzip,  woraus  sie  selbst  folgt,  und  das 
Wesentlich-Gute  derselben  besteht  in  der  Oesinuung, 
der  Erfolg  mag  sein,  welcher  er  w^oUe.  Dieser  Imperativ 
mag  der  der  Sittlichkeit  heissen. 

Das  Wollen  nach  diesen  dreierlei  Prinzipien  wird 
auch  durch  die  Ungleichheit  der  Nöthigung  des 
Willens  deutlich  unterschieden.  Um  diese  nun  auch 
merklich  zu  machen,  glaube  ich,  dass  man  sie  in  ihrer 
Ordnung  am  angemessensten  so  benennen  würde,  wenn 
man  sagte:  sie  wären  entweder  Regeln  der  Geschick- 
lichkeit, oder  Rathschläge  der  Klugheit,  oder  Ge- 
bote (Gesetze)  der  Sittlichkeit.  Denn  nur  das  Ge- 
setz führt  den  Begriff  einer  unbedingten  und  zwar 
objektiven  und  mithin  allgemein  gültigen  No thw endig- 


t)  Iste  Ausgabe:  zu  seiner  Natur. 

*)  Das  Wort  Klugheit  wird  in  zwiefachem  Sinn  genom- 
men, einmal  kann  es  den  Namen  Weltklugheit,  im  zweiten 
den  der  Frivatklugheit  führen.  Die  erste  ist  die  Geschick- 
lichkeit eines  Menschen,  auf  Andere  Einfluss  zu  haben,  um 
sie  zu  seinen  Absichten  zu  gebrauchen.  Die  zweite  die 
Einsicht,  alle  diese  Absichten  zu  seinem  eigenen  dauernden 
Vortheil  zu  vereinigen.  Die  letztere  ist  eigentlich  diejenige^ 
worauf  selbst  der  Werth  der  ersteren  zurückgeführt  wird, 
und  wer  in  der  ersteren  Art  klug  ist,  nicht  aber  in  der 
zweiten,  von  dem  könnte  man  besser  sagen:  er  ist  gescheut 
und  verschlagen,  im  Ganzen  aber  doch  unklug. 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  39 

keit  bei  sich,  und  Gebote  sind  Gesetze,  denen  gehorcht, 
d.  i.  auch  wider  Neigung  Folge  geleistet  werden  muss. 
Die  Rathgebung  enthält  zwar  Noth wendigkeit,  die 
aber  bloss  unter  subjektiver  zufälliger  Bedingung,  ob 
dieser  oder  jener  Mensch  dieses  oder  jenes  zu  seiner 
Glückseligkeit  zähle,  gelten  kann;  dagegen  der  kate- 
gorische Imperativ  durch  keine  Bedingung  eingeschränkt 
wird,  und  als  absolut-,  obgleich  praktisch-nothwendig 
ganz  eigentlich  ein  Gebot  heissen  kann.  Man  könnte 
die  ersteren  Imperative  auch  technisch  (zur  Kunst 
gehörig),  die  zweiten  pragmatisch*)  (zur  Wohlfahrt), 
die  dritten  moralisch  (zum  freien  Verhalten  überhaupt, 
d.  L  zu  den  Sitten  gehörig)  nennen. ^6) 

Nun  entsteht  die  Frage :  wie  sind  alle  diese  Impera- 
tive möglich?  Diese  Frage  verlangt  nicht  zu  wissen, 
wie  die  Vollziehung  der  Handlung,  welche  der  Imperativ 
gebietet,  sondern  wie  bloss  die  Nöthigung  des  Willens, 
die  der  Imperativ  in  der  Aufgabe  ausdrückt,  gedacht 
werden  könne.  Wie  ein  Imperativ  der  Geschicklichkeit 
möglich  sei,  bedarf  wohl  keiner  besonderen  Erörterung. 
Wer  den  Zweck  will,  will  (sofern  die  Vernunft  auf  seine 
Handlungen  entscheidenden  Einfluss  hat)  auch  das  dazu 
unentbehrlich  nothwendige  Mittel,  das  in  seiner  Gewalt 
ist.  Dieser  Satz  ist,  was  das  Wollen  betrifft,  analytisch ; 
denn  in  dem  Wollen  eines  Objekts,  als  meiner  Wirkung, 
wird  schon  meine  Kausalität,  als  handelnder  Ursache, 
d.  i.  der  Gebrauch  der  Mittel  gedacht,  und  der  Imperativ 
zieht  den  Begriff"  nothwendiger  Handlungen  zu  diesem 
Zwecke  schon  aus  dem  Begriff  eines  Wollens  dieses 
Zwecks  heraus;  (die  Mittel  selbst  zu  einer  vorgesetzten 
Absicht  zu  bestimmen,  dazu  gehören  allerdings  syn- 
thetische Sätze,  die  aber  nicht  den  Grund  betreffen,  den 


*)  Mich  deucht,  die  eigentliche  Bedeutung  des  Wort 
pragmatisch  könne  so  am  genauesten  bestimmt  werden. 
Denn  pragmatisch  werden  die  Sanktionen  genannt,  welche 
eigentlich  nicht  aus  dem  Rechte  der  Staaten  als  noth- 
wendige Gesetze,  sondern  aus  der  Vorsorge  für  die  all- 
gemeine Wohlfahrt  fliessen.  Pragmatisch  ist  eine  Ge 
schichte  abgefasst,  wenn  sie  klug  macht,  d.  i.  die  Welt 
belehrt,  wie  sie  ihren  Vortheil  besser,  oder  wenigstens 
ebenso  gut,  als  die  Vorwelt,  besorgen  könne. 


40  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     2,  Abschn. 

Aktus  des  Willens,  sondern  das  Objekt  wirklich  zu 
machen.)  Dass,  um  eine  Linie  nach  einem  sichern  Prinzip 
in  zwei  gleiche  Theile  zu  theilen,  ich  aus  den  Enden 
derselben  zwei  Kreuzbogen  machen  müsse,  das  lehrt  die 
Mathematik  freilich  nur  durch  synthetische  Sätze;  aber 
dass,  wenn  ich  weiss,  durch  solche  Handlung  allein 
könne  die  gedachte  Wirkung  geschehen,  ich,  wenn  ich 
die  Wirkung  vollständig  will,  auch  die  Handlung  wolle, 
die  dazu  erforderlich  ist,  ist  ein  analytischer  Satz ;  denn 
etwas  als  eine  auf  gewisse  Art  durch  mich  mögliche 
Wirkung,  und  mich,  in  Ansehung  ihrer,  auf  dieselbe  Art 
handelnd  vorstellen,  ist  ganz  einerlei. 

Die  Imperativen  der  Klugheit  würden,  wenn  es  nur 
so  leicht  wäre,  einen  bestimmten  Begriff  von  Glückselig- 
keit zu  geben,  mit  denen  der  Geschicklichkeit  ganz  und 
gar  übereinkommen  und  ebensowohl  analytisch  sein. 
Denn  es  würde  ebensowohl  hier,  als  dort,  heissen:  wer 
den  Zweck  will,  will  auch  (der  Vernunft  gemäss  noth- 
wendig)  die  einzigen  Mittel,  die  dazu  in  seiner  Gewalt 
sind.  Allein  es  ist  ein  Unglück,  dass  der  Begriff  der 
Glückseligkeit  ein  so  unbestimmter  Begriff  ist,  dass,  ob- 
gleich jeder  Mensch  zu  fieser  zu  gelangen  wünscht,  er 
doch  niemals  bestimmt  und  mit  sich  selbst  einstimmig 
sagen  kann,  was  er  eigentlich  wünsche  und  wolle.  Die 
Ursache  davon  ist:  dass  alle  Elemente,  die  zum  Begriff 
der  Glückseligkeit  gehören,  insgesammt  empirisch  sind, 
d.  i.  aus  der  Erfahrung  müssen  entlehnt  werden,  dass 
gleichwohl  zur  Idee  der  Glückseligkeit  ein  absolutes 
Ganze,  ein  Maximum  des  Wohlbefindens  in  meinem 
gegenwärtigen  und  jedem  zukünftigen  Zustande  erforder- 
lich ist.  Nun  ists  unmöglich,  dass  das  einsehendste  und 
zugleich  allervermögend ste,  aber  doch  endliche  Wesen 
sich  einen  bestimmten  Begriff  von  dem  mache,  was  er 
hier  eigentlich  wolle.  Will  er  Reichthum,  wie  viel  Sorge, 
Neid  und  Nachstellung  könnte  er  sich  dadurch  nicht 
auf  den  Hals  ziehen.  Will  er  viel  Erkenntniss  und  Ein- 
sicht, vielleicht  könnte  das  ein  nur  um  desto  schärferes 
Auge  werden,  um  die  Uebel,  die  sich  für  ihn  jetzt  noch 
verbergen  und  doch  nicht  vermieden  werden  können, 
ihm  nur  um  desto  schrecklicher  zu  zeigen  oder  seinen 
Begierden,  die  ihm  schon  genug  zu  schaffen  machen, 
noch  mehr  Bedürfnisse  aufzubürden.     Will  er  ein  langes 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  4X 

Leben,  wer  steht  ihm  dafür,  dass  es  nicht  ein  langes 
Elend  sein  würde?  Will  er  wenigstens  Gesundheit,  wie 
oft  hat  noch  Ungemächlichkeit  des  Körpers  von  Aus- 
schweifung abgehalten,  darein  unbeschränkte  Gesundheit 
würde  haben  fallen  lassen  u.  s.  w.  Kurz,  er  ist  nicht 
vermögend,  nach  irgend  einem  Grundsatze,  mit  völliger 
Gewissheit  zu  bestimmen,  was  ihn  wahrhaftig  glücklich 
machen  werde,  darum,  weil  hierzu  Allwissenheit  erfor- 
derlich sein  würde.  Man  kann  also  nicht  nach  be- 
stimmten Prinzipien  handeln,  um  glücklich  zu  sein, 
sondern  nur  nach  empirischen  Rathschlägen,  z.  B.  der 
Diät,  der  Sparsamkeit,  der  Höflichkeit,  der  Zurückhaltung 
u.  s.  w.,  von  welchen  die  Erfahrung  lehrt,  dass  sie  das 
Wohlbefinden  im  Durchschnitt  am  meisten  befördern. 
Hieraus  folgt,  dass  die  Imperativen  der  Klugheit,  genau 
zu  reden,  gar  nicht  gebieten,  d.  i.  Handlungen  objektiv 
als  praktisch- noth wendig  darstellen  können,  dass  sie 
eher  für  Anrathungeu  (consilia),  als  Gebote  [praeceiyta) 
der  Vernunft  zu  halten  sind,  dass  die  Aufgabe,  sicher 
und  allgemein  zu  bestimmen,  welche  Handlung  die 
Glückseligkeit  eines  vernünftigen  Wesens  befördern  werde, 
völlig  unauflöslich,  mithin  kein  Imperativ  in  Ansehung 
derselben  möglich  sei,  der  im  strengen  Verstände  geböte, 
das  zu  thun,  was  glücklich  macht,  weil  Glückseligkeit 
nicht  ein  Ideal  der  Vernunft,  sondern  der  Einbildungs- 
kraft ist,  was  bloss  auf  empirischen  Gründen  beruht, 
von  denen  man  vergeblich  erwartet,  dass  sie  eine  Hand- 
lung bestimmen  sollten,  dadurch  die  Totalität  einer  in 
der  That  unendlichen  Reihe  von  Folgen  erreicht  würde. 
Dieser  Imperativ  der  Klugheit  würde  indessen,  wenn 
mau  annimmt,  die  Mittel  zur  Glückseligkeit  Hessen  sich 
sicher  aiigeben,  ein  analytisch-praktischer  Satz  sein. 
Denn  er  ist  von  dem  Imperativ  der  Geschicklichkeit 
nur  darin  unterschieden,  dass  bei  diesem  der  Zweck 
bloss  möglich,  bei  jenem  aber  gegeben  ist;  da  beide 
aber  bloss  die  Mittel  zu  demjenigen  gebieten,  von  dem 
man  voraussetzt,  dass  man  es  als  Zweck  w^oUte,  so  ist 
<ler  Imperativ,  der  das  Wollen  der  Mittel  für  den,  der 
den  Zweck  will,  gebietet,  in  beiden  Fällen  analytisch. 
Es  ist  also  in  Ansehung  der  Möglichkeit  eines  solchen 
Imperativs  auch  keine  Schwierigkeit.*"*) 

Dagegen  wie  der  Imperativ  der  Sittlichkeit  mög- 


42  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Abschn. 

lieh  sei,  ist  ohne  Zweifel  die  einzige  einer  Auflösung^ 
bedürftige  Frage,  da  er  gar  nicht  hypothetisch  ist  und 
also  die  objektiv-vorgestellte  Nothwendigkeit  sich  auf 
keine  Voraussetzung  stützen  kann,  wie  bei  den  hypo- 
thetischen Imperativen.  Nur  ist  immer  hierbei  nicht  aus  der 
Acht  zu  lassen,  dass  es  durch  k  ein  Beispiel,  mithin 
empirisch  auszumachen  sei,  ob  es  überall  irgend  einen  der- 
gleichen Imperativ  gebe,  sondern  zu  besorgen,  dass  alle, 
die  kategorisch  scheinen,  doch  versteckter  Weise  hypo- 
thetisch sein  mögen.  Z.  B.  wenn  es  heisst:  du  sollst 
nichts  betrüglich  versprechen,  und  man  nimmt  an,  dass 
die  Nothwendigkeit  dieser  Unterlassung  nicht  etwa  blosse 
Rathgebung  zur  Vermeidung  irgend  eines  andern  Uebels 
sei,  so  dass  es  etwa  hiesse:  du  sollst  nicht  lügenhaft 
versprechen,  damit  du  nicht,  wenn  es  offenbar  wird, 
dich  um  den  Kredit  bringest,  sondern  eine  Handlung 
dieser  Art  müsse  für  sich  selbst  als  böse  betrachtet 
werden,  der  Imperativ  des  Verbots  sei  also  kategorisch  ; 
so  kann  man  doch  in  keinem  Beispiel  mit  Gewissheit 
darthun,  dass  der  Wille  hier  ohne  andere  Triebfeder 
bloss  durchs  Gesetz  bestimmt  werde,  ob  es  gleich  so 
scheint;  denn  es  ist  immer  möglich,  dass  insgeheim 
Furcht  vor  Beschämung,  vielleicht  auch  dunkle  Besorg- 
niss  anderer  Gefahren,  Einfluss  auf  den  Willen  haben 
möge.  Wer  kann  das  Nichtsein  einer  Ursache  durch 
Erfahrung  beweisen,  da  diese  nichts  weiter  lehrt,  als 
dass  wir  jene  nicht  wahrnehmen?  Auf  solchen  Fall  aber 
würde  der  sogenannte  moralische  Imperativ,  der  als  ein 
solcher  kategorisch  und  unbedingt  erscheint,  in  der  That 
nur  eine  pragmatische  Vorschrift  sein,  die  uns  auf  unsern 
Vortheil  aufmerksam  macht,  und  uns  bloss  lehrt,  diesen 
in  Acht  zu  nehmen.*^) 

Wir  werden  also  die  Möglichkeit  eines  kategorischen 
Imperativs  gänzlich  a  priori  zu  untersuchen  haben,  da 
uns  hier  der  Vortheil  nicht  zu  Statten  kommt,  dass  die 
Wirklichkeit  desselben  in  der  Erfahrung  gegeben,  und 
also  die  MögHchkeit  nicht  zur  Festsetzung,  sondern  bloss 
zur  Erklärung  nöthig  wäre.  So  viel  ist  indessen  vor- 
läufig einzusehen :  dass  der  kategorische  Imperativ  allein 
als  ein  praktisches  Gesetz  laute,  die  übrigen  insge- 
sammt  zwar  Prinzipien  des  Willens,  aber  nicht  Gesetze 
heissen  können;   weil,   was   bloss  zur  Erreichung  einer 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  43 

beliebigen  Absicht  zu  thun  nothwendig  ist,  an  sich  als 
zufällig  betrachtet  werden  kann,  und  wir  von  der  Vor- 
schrift jederzeit  los  sein  können,  wenn  wir  die  Absieht 
aufgeben,  dahingegen  das  unbedingte  Gebot  dem  Willen 
kein  Belieben  in  Ansehung  des  Gegentheils  frei  lässt, 
mithin  allein  diejenige  Nothwendigkeit  bei  sich  führt, 
welche  wir  zum  Gesetze  verlangen. 

Zweitens  ist  bei  diesem  kategorischen  Imperativ  oder 
Gesetze  der  Sittlichkeit  der  Grund  der  Schwierigkeit 
(die  Möglichkeit  desselben  einzusehen)  auch  sehr  gross. 
Er  ist  ein  synthetisch-praktischer  Satz-)  a  'priori^  und 
da  die  Möglichkeit  der  Sätze  dieser  Art  einzusehen  so 
viel  Schwierigkeit  im  theoretischen  Erkenntnisse  hat,  so 
lässt  sich  leicht  abnehmen,  dass  sie  im  praktischen 
nicht  weniger  haben  werde. 

Bei  dieser  Aufgabe  wollen  wir  zuerst  versuchen,  ob 
nicht  vielleicht  der  blosse  Begriff  eines  kategorischen 
Imperativs  auch  die  Formel  desselben  an  die  Hand  gebe, 
die  den  Satz  enthält,  der  allein  ein  kategorischer  Im- 
perativ sein  kann;  denn  wie  ein  solches  absolutes  Ge- 
bot möglich  sei,  wird  noch  besondere  und  schwere  Be- 
mühung erfordern,  die  wir  aber  zum  letzten  Abschnitte 
aussetzen. 

Wenn  ich  mir  einen  hypt befischen  Imperativ 
überhaupt  denke,  so  weiss  ich  nicht  zum  voraus,  was 
er  enthalten  werde:  bis  mir  die  Bedingung  gegeben  ist. 
Denke  ich  mir  aber  einen  kategorischen  Imperativ, 
so  weiss  ich  sofort,  was  er  enthalte.  Denn  da  der  Im- 
perativ ausser  dem  Gesetze  nur  die  Nothwendigkeit  der 
Maxime**)  enthält,  diesem  Gesetze  gemäss  zu  sein,  das 


*)  Ich  verknüpfe  mit  dem  Willen,  ohne  vorausgesetzte 
Bedingung  aus  irgend  einer  Neigung,  die  That,  a  priori, 
mithin  nothwendig  (obgleich  nur  objektiv  d.  i.  unter  der 
Idee  einer  Vernunft,  die  über  alle  subjektive  Bewegursachen 
völlige  Gewalt  hätte).  Dieses  ist  also  ein  praktischer  Satz, 
der  das  Wollen  einer  Handkmg  nicht  aus  einem  anderen 
schon  vorausgesetzten  analytisch  ableitet  (denn  wir  haben 
keinen  so  vollkommenen  Willen),  sondern  mit  dem  Begriffe 
des  Willens  als  eines  vernünftigen  Wesens  unmittelbar,  als 
etwas,  das  in  ihm  nicht  enthalten  ist,  verknüpft. 

**)  Maxime  ist  das  subjektive  Prinzip  zu  handeln,  und 
muss  vom  objektiven  Prinzip,  nämhch  dem  praktischen 


44  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Abschn. 

Gesetz  aber  keine  Bedingung  enthält,  auf  die  es  einge- 
schränkt war,  so  bleibt  nichts,  als  die  Allgemeinheit 
eines  Gesetzes  überhaupt  übrig,  welchem  die  Maxime 
der  Handlung  gemäss  sein  soll,  und  welche  Gemässheit 
allein  den  Imperativ  eigentlich  als  nothwendig  vorstellt. 

Der  kategorische  Imperativ  ist  also  ein  einziger,  und 
zwar  dieser:  handle  nur  nach  derjenigen  Maxime, 
durch  die  du  zugleich  wollen  kannst,  dass  sie 
ein  allgemeines  Gesetz  werde. 

Wenn  nun  aus  diesem  einigen  Imperativ  alle  Impe- 
rativen der  Pflicht,  als  aus  ihrem  Prinzip,  abgeleitet 
werden  können,  so  werden  wir,  ob  wir  es  gleich  unaus- 
gemacht lassen,  ob  nicht  überhaupt  das,  was  man  Pflicht 
nennt,  ein  leerer  Begrifi"  sei,  doch  wenigstens  anzeigen 
können,  was  wir  dadurch  denken  und  was  dieser  Begriff 
sagen  wolle. 

Weil  die  Allgemeinheit  des  Gesetzes,  wonach  Wir- 
kungen geschehen,  dasjenige  ausmacht,  was  eigentlich 
Natur  im  allgemeinsten  Verstände  (der  Form  nach), 
d.  i.  das  Dasein  der  Dinge  heisst,  sofern  .es  nach  all- 
gemeinen Gesetzen  bestimmt  ist,  so  könnte  der  allge- 
meine Imperativ  der  Pflicht  auch  so  lauten:  handle 
so,  als  ob  die  Maxime  deiner  Handlung  durch 
deinen  Willen  zum  allg-euieiuen  Xaturg:esetze 
werden  soUte.^y) 

Nun  wollen  wir  einige  Pflichten  herzählen,  nach  der 
gewöhnlichen  Eintheilung  derselben,  in  Pflichten  gegen 
uns  selbst  und  gegen  andere  Menschen,  in  vollkommene 
und  unvollkommene  Pflichten.*) 


Gesetze,  unterschieden  werden.  Jene  enthält  die  praktische 
Regel,  die  die  Vernunft  den  Bedingungen  des  Subjekts  ge- 
mäss (öfters  der  Unwissenheit  oder  auch  den  Neigungen 
desselben)  bestimmt,  und  ist  also  der  Grundsatz,  nach  wel- 
chem das  Subjekt  handelt:  das  Gesetz  aber  ist  das  ob- 
jektive Prinzip,  gültig  für  jedes  vernünftige  Wesen,  und  der 
Grundsatz,  nach  dem  es  handeln  soll,  d.  i.  ein  Imperativ. 
")  Man  muss  hier  wohl  merken,  dass  ich  die  Eintheilung 
der  Pflichten  für  eine  künftige  Metaphysik  der  Sitten 
mir  gänzlich  vorbehalte,  diese  hier  also  nur  als  beliebig 
(um  meine  Beispiele  zu  ordnen)  dastehe.  Uebrigens  ver- 
stehe ich  hier  unter  einer  vollkommenen  Pflicht  diejenige, 
die  keine  Ausnahme    zum  Vortheil  der  Neigung  verstattet, 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish,  z.  Metapb.  d.  Sitten.  45 

1)  Einer,  der  durch  eine  Reihe  von  Uebeln,  die  bis 
zur  Hoifnungslosigkeit  angewachsen  ist,  einen  Ueberdruss 
am  Leben  empfindet,  ist  noch  so  weit  im  Besitze  seiner 
Vernunft,  dass  er  sich  selbst  fragen  kann,  ob  es  auch 
nicht  etwa  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  zuwider  sei,  sich 
das  Leben  zu  nehmen.  Nun  versucht  er :  ob  die  Maxime 
seiner  Handlung  wohl  ein  allgemeines  Naturgesetz  wer- 
den könne.  Seine  Maxime  aber  ist:  ich  mache  es  mir 
aus  Selbstliebe  zum  Prinzip,  wenn  das  Leben  bei  seiner 
längern  Frist  mehr  Uebel  droht,  als  es  Annehmlichkeit 
verspricht,  es  mir  abzukürzen.  Es  fragt  sich  nur  noch, 
ob  dieses  Prinzip  der  Selbstliebe  ein  allgemeines  Natur- 
gesetz werden  könne.  Da  sieht  man  aber  bald,  dass 
eine  Natur,  deren  Gesetz  es  wäre,  durch  dieselbe  Empfin- 
dung, deren  Bestimmung  es  ist,  zur  Beförderung  des 
Lebens  anzutreiben,  das  Leben  selbst  zu  zerstören,  ihr 
selbst  widersprechen  und  also  nicht  als  Natur  bestehen 
würde,  mithin  jene  Maxime  unmöglich  als  allgemeines 
Naturgesetz  stattfinden  könne,  und  folglich  dem  obersten 
Prinzip  gänzlich  widerstreite. 

2)  Ein  Anderer  sieht  sich  durch  Noth  gedrungen, 
Geld  zu  borgen.  Er  weiss  wohl,  dass  er  nicht  wird  be- 
zahlen können,  sieht  aber  auch,  dass  ihm  nichts  geliehen 
werden  wird,  Avenn  er  nicht  festiglich  verspricht,  es  zu 
einer  bestimmten  Zeit  zu  bezahlen.  Er  hat  Lust,  ein 
solches  Versprechen  zu  thun;  aber  noch  hat  er  soviel 
Gewalt,  sich  zu  fragen  :  ist  es  nicht  unerlaubt  und  pflicht- 
widrig, sich  auf  solche  Art  aus  Noth  zu  helfen?  Gesetzt^ 
er  beschlösse  es  doch,  so  würde  seine  Maxime  der  Hand- 
lung so  lauten:  wenn  ich  mich  in  Geldnoth  zu  sein 
glaube,  so  will  ich  Geld  borgen  und  versprechen,  es  zu 
bezahlen,  ob  ich  gleich  weiss,  es  werde  niemals  ge- 
schehen. Nun  ist  dieses  Prinzip  der  Selbstliebe  oder 
der  eigenen  Zuträglichkeit  mit  meinem  ganzen  künftigen 
Wohlbefinden  vielleicht  wohl  zu  vereinigen,  allein  jetzt 
ist  die  Frage:  ob  es  recht  sei?   Ich  verwandle  also  die 


und  da  habe  ich  nicht  bloss  äussere,  sondern  auch  innere 
vollkommene  Pflichten,  welches  dem  in  Schulen  an- 
genommenen Wortgebrauch  zuwiderläuft,  ich  aber  hier  nicht 
zu  verantworten  gemeint  bin,  weil  es  zu  meiner  Absicht 
einerlei  ist,  ob  man  es  mir  einräumt  oder  nicht. 


46  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     2.  Abschn. 

Zumuthung  der  Selbstliebe  in  ein  allgemeines  Gesetz 
und  richte  die  Frage  so  ein :  wie  es  dann  stehen  würde, 
wenn  meine  Maxime  ein  allgemeines  Gesetz  würde?  Da 
sehe  ich  nun  sogleich,  dass  sie  niemals  als  aligemeines 
Naturgesetz  gelten  und  mit  sich  selbst  zusammenstimmen 
könne,  sondern  sich  nothwendig  widersprechen  müsse. 
Denn  die  Allgemeinheit  eines  Gesetzes,  dass  Jeder,  nach- 
dem er  in  Noth  zu  sein  glaubt,  versprechen  könne,  was 
ihm  einfällt,  mit  dem  Vorsatz,  es  nicht  zu  halten,  würde 
das  Versprechen  und  den  Zweck,  den  man  damit  haben 
mag,  selbst  unmöglich  machen,  indem  Niemand  glauben 
würde,  dass  ihm  was  versprochen  sei,  sondern  über  alle 
solche  Aeusserung,  als  eitles  Vorgeben,  lachen  würde. 

3)  Ein  Dritter  findet  in  sich  ein  Talent,  welches 
vermittelst  einiger  Kultur  ihn  zu  einem  in  allerlei  Ab- 
sicht brauchbaren  Menschen  machen  könnte.  Er  sieht 
sich  aber  in  bequemen  Umständen,  und  zieht  vor,  lieber 
dem  Vergnügen  nachzuhängen,  als  sich  mit  Erweiterung 
und  Verbesserung  seiner  glücklichen  Naturanlagen  zu 
bemühen.  Noch  fragt  er  aber:  ob,  ausser  der  Ueber- 
einstimmung,  die  seine  Maxime  der  Verwahrlosung  seiner 
Naturgaben  mit  seinem  Hange  zur  Ergötzlichkeit  an  sich 
hat,  sie  auch  mit  dem,  Avas  man  Pflicht  nennt,  überein- 
stimme? Da  sieht  er  nun,  dass  zwar  eine  Natur  nach 
einem  solchen  aligemeinen  Gesetze  immer  noch  bestehen 
könne,  obgleich  der  Mensch  (sowie  der  Südsee-Einwohner) 
sein  Talent  rosten  Hesse  und  sein  Leben  bloss  auf  Müssig- 
gang,  Ergötzlichkeit,  Fortpflanzung,  mit  einem  Wort,  auf 
Genuss  zu  verwenden  bedacht  wäre ;  allein  er  kann  un- 
möglich wollen,  dass  dieses  ein  allgemeines  Natui-ge- 
setz  werde  oder  als  ein  solches  in  uns  durch  Naturinstinkt 
gelegt  sei.  Denn  als  ein  vernünftiges  Wesen  will  er 
nothwendig,  dass  alle  Vermögen  in  ihm  entwickelt  wer- 
den, weil  sie  ihm  doch  zu  allerlei  möglichen  Absichten 
dienlich  und  gegeben  sind. 

Noch  denkt  ein  Vierter,  dem  es  wohl  geht,  in- 
dessen er  sieht,  dass  Andere  mit  grossen  Mühseligkeiten 
zu  kämpfen  haben  (denen  er  auch  wohl  helfen  könnte) : 
was  gehts  mich  an?  mag  doch  ein  Jeder  so  glücklich 
sein,  als  es  der  Himmel  will  oder  er  sich  selbst  machen 
kann,  ich  werde  ihm  nichts  entziehen,  ja  nicht  einmal 
beneiden;    nur   zu   seinem    Wohlbefinden    oder    seinem 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  47 

Beistande  in  der  Noth  habe  ich  nicht  Lust  etwas  bei- 
zutragen! Nun  könnte  allerdings,  wenn  eine  solche 
Denkungsart  ein  allgemeines  Naturgesetz  würde,  das 
menschliche  Geschlecht  gar  wohl  bestehen,  und  ohne 
Zweifel  noch  besser,  als  wenn  Jedermann  von  Theil- 
nehmung  und  Wohlwollen  schwatzt,  auch  sich  beeifert, 
gelegentlich  dergleichen  auszuüben,  dagegen  aber  auch, 
wo  er  nur  kann,  betrügt,  das  Recht  der  Menschen  ver- 
kauft, oder  ihm  sonst  Abbruch  thut.  Aber  obgleich  es 
möglich  ist,  dass  nach  jener  Maxime  ein  allgemeines 
Naturgesetz  wohl  bestehen  könnte,  so  ist  es  doch  un- 
möglich, zu  wollen,  dass  ein  solches  Prinzip  als  Na- 
turgesetz allenthalben  gelte.  Denn  ein  Wille,  der  dieses 
beschlösse,  würde  sich  selbst  widerstreiten,  indem  der 
Fälle  sich  doch  manche  ereignen  können,  wo  er  Anderer 
Liebe  und  Theilnehmung  bedarf,  und  wo  er  durch  ein 
solches  aus  seinem  eigenen  Willen  entsprungenes  Natur- 
gesetz sich  selbst  alle  Hoffnung  des  Beistandes,  den 
er  sich  wünscht,  rauben  würde. 

Dieses  sind  nun  einige  von  den  vielen  wirklichen 
oder  wenigstens  von  uns  dafür  gehaltenen  Pflichten; 
deren  Ableitung  aus  dem  einigen  angeführten  Prinzip 
klar  in  die  Augen  fällt.  Man  muss  wollen  können, 
dass  eine  Maxime  unserer  Handlung  ein  allgemeines 
Gesetz  werde:  dies  ist  der  Kanon  der  moralischen  Be- 
urtheilung  derselben  überhaupt.  Einige  Handlungen 
sind  so  beschaffen,  dass  ihre  Maxime  ohne  Widerspruch 
nicht  einmal  als  allgemeines  Naturgesetz  gedacht 
werden  kann;  weit  gefehlt,  dass  man  noch  wollen  könne, 
es  sollte  ein  solches  werden.  Bei  andern  ist  zwar 
jene  innere  Unmöglichkeit  nicht  anzutreffen,  aber  es  ist 
doch  unmöglich,  zu  wollen,  dass  ihre  Maxime  zur  All- 
gemeinheit eines  Naturgesetzes  erhoben  werde,  w^eil  ein 
solcher  Wille  sich  selbst  widersprechen  würde.  Man 
sieht  leicht,  dass  die  erstere  der  strengen  oder  engeren 
(unnachlasslichen)  Pflicht,  die  zweite  nur  der  weiteren 
(verdienstlichen)  Pflicht  widerstreite,  und  so  alle  Pflichten, 
was  die  Art  der  Verbindlichkeit  (nicht  das  Objekt  ihrer 
Handlung)  betrifft,  durch  diese  Beispiele  in  ihrer  Ab- 
hängigkeit von  dem  einigen  Prinzip  vollständig  autge- 
stellt werden. 


48  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Abschn. 

Wenn  wir  nun  auf  uns  selbst  bei  jeder  üebertretung 
einer  Pflicht  Acht  haben,  so  finden  wir,  dass  wir  wirk- 
lich nicht  wollen,  es  solle  unsere  Maxime  ein  allgemeines 
Gesetz  werden,  denn  das  ist  uns  unmöglich,  sondern 
das  Gegentheil  derselben  soll  vielmehr  allgemein  ein 
Gesetz  bleiben;  nur  nehmen  wir  uns  die  Freiheit,  für 
uns  (oder  auch  nur  für  diesesmal)  zum  Vortheil  unserer 
Neigung  davon  eine  Ausnahme  zu  machen.  Folglich, 
wenn  wir  alles  aus  einem  und  demselben  Gesichtspunkte, 
nämlich  der  Vernunft,  erwögen,  so  würden  wir  einen 
Widerspruch  in  unserem  eigenen  Willen  antreffen,  näm- 
lich dass  ein  gewisses  Prinzip  objektiv  als  allgemeines 
Gesetz  nothwendig  sei  und  doch  subjektiv  nicht  allge- 
mein gelten,  sondern  Ausnahmen  verstatten  sollte.  Da 
wir  aber  einmal  unsere  Handlung  aus  dem  Gesichts- 
punkte eines  ganz  der  Vernunft  gemässen,  dann  aber  auch 
ebendieselbe  Handlung  aus  dem  Gesichtspunkte  eines  durch 
Neigung  afficirten  Willens  betrachten,  so  ist  wirkhch 
hier  kein  Widerspruch,  wohl  aber  ein  Widerstand  der 
Neigung  gegen  die  Vorschrift  der  Vernunft  {antagonis- 
mus),  wodurch  die  Allgemeinheit  des  Prinzips  {univer- 
salitas)  in  eine  blosse  Gemeingültigkeit  {generalitas) 
verwandelt  wird,  dadurch  das  praktische  Vernunftprinzip 
mit  der  Maxime  auf  dem  halben  Wege  zusammenkommen 
soll.  Ob  nun  dieses  gleich  in  unserem  eigenen  unpar- 
teiisch angestellten  Urtheile  nicht  gerechtfertigt  werden 
kann,  so  beweiset  es  doch,  dass  wir  die  Gültigkeit  des 
kategorischen  Imperativs  wirklich  anerkennen  und  uns 
(mit  aller  Achtung  für  denselben)  nur  einige,  wie  es 
uns  scheint,  unerhebliche  und  uns  abgedrungene  Aus- 
nahmen eriauben.^^j) 

Wir  haben  so  viel  also  wenigstens  dargethan,  dass, 
wenn  PfUcht  ein  Begriff  ist,  der  Bedeutung  und  wirk- 
liche Gesetzgebung  für  unsere  Handlungen  enthalten 
soll,  diese  nur  in  kategorischen  Imperativen,  keineswegs 
aber  in  hypothetischen  ausgedrückt  werden  könne;  im- 
gleichen  haben  wir,  welches  schon  viel  ist,  den  Inhalt 
des  kategorischen  Imperativs,  der  das  Prinzip  aller 
Pflicht  (wenn  es  überhaupt  dergleichen  gäbe)  enthalten 
müsste,  deutlich  und  zu  jedem  Gebrauche  bestimmt  dar- 
gestellt.    Noch    sind    wir  aber  nicht  so  weit,   a  prioi'i 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  49 

zu  beweisen,  dass  dergleichen  Imperativ  wirklich  statt- 
finde, dass  es  ein  praktisches  Gesetz  gebe,  welches 
schlechterdings  und  ohne  alle  Triebfedern  für  sich  ge- 
bietet, und  dass  die  Befolgung  dieses  Gesetzes  Pflicht  sei. 
Bei  der  Absicht,  dazu  zu  gelangen,  ist  es  von  der 
äussersten  Wichtigkeit,  sich  dieses  zur  Warnung  dienen 
zu  lassen,  dass  man  es  sich  ja  nicht  in  den  Sinn  kommen 
lasse,  die  Realitiit  dieses  Prinzips  aus  der  be sondern 
Eigenschaft  der  menschlichen  Natur  ableiten  zu 
wollen.  Denn  Pflicht  soll  praktisch-unbedingte  Noth- 
wendigkeit  der  Handlung  sein;  sie  muss  also  für  alle 
vernünftige  Wesen  (auf  die  nur  liberall  ein  Imperativ 
treflen  kann)  gelten  und  allein  darum  auch  für  allen 
menschlichen  Willen  ein  Gesetz  sein.  Was  dagegen  aus 
der  besonderen  Naturanlage  der  Menschheit,  was  aus 
gewissen  Gefühlen  und  Hange,  ja  sogar,  wo  möglich, 
aus  einer  besonderen  Richtung,  die  der  menschlichen 
Vernunft  eigen  wäre  und  nicht  nothwendig  für  den 
Willen  eines  jeden  vernünftigen  Wesens  gelten  müsste, 
abgeleitet  wird,  das  kann  zwar  eine  Maxime  für  uns, 
aber  kein  Gesetz  abgeben,  ein  subjektiv  Prinzip,  nach 
welchem  wir  handeln  zu  dürfen  Hang  und  Neigung 
haben,  aber  nicht  ein  objektives,  nach  welchem  wir  an- 
gewiesen wären  zu  handeln,  wenngleich  aller  unser 
Hang,  Neigung  und  Natureinrichtung  dawider  wäre,  so- 
gar, dass  es  um  desto  mehr  die  Erhabenheit  und  innere 
Würde  des  Gebots  in  einer  Pflicht  beweiset,  je  weniger 
die  subjektiven  Ursachen  dafür,  je  mehr  sie  dagegen 
sind,  ohne  doch  deswegen  die  Nöthigung  durchs  Gesetz 
nur  im  mindesten  zu  schwächen  und  seiner  Gültigkeit 
etwas  zu  benehmen.^i) 

Hier  sehen  wir  nun  die  Philosophie  in  ,der  That  auf 
einen  misslichen  Standpunkt  gestellt,  der  fest  sein  soll, 
unerachtet  er  weder  im  Himmel,  noch  auf  der  Erde  an 
etwas  gehängt  oder  woran  gestützt  wird.  Hier  soll  sie 
ihre  Lauterkeit  beweisen,  als  Selbsthalterin  ihrer  Gesetze, 
nicht  als  Herold  derjenigen,  welche  ihr  ein  eingepflanzter 
Sinn,  oder  wer  weiss  welche  vormundschaftliche  Natur 
einflüstert,  die  insgesammt,  sie  mögen  immer  besser 
sein,  als  gar  nichts,  doch  niemals  Grundsätze  abgeben 
können,  die  die  Vernunft  diktirt,  und  die  durchaus  völlig 
a  2^riom  ihren  Quell  und  hiermit  zugleich  ihr  gebieten- 

Kant,   Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.  4. 


50  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     2.  Abschn. 

des  Ansehen  haben  müssen:  nichts  von  der  Neigung 
des  Menschen^  sondern  alles  von  der  Obergewalt  des 
Gesetzes  und  der  schuldigen  Achtung  für  dasselbe  zu 
erwarten,  oder  den  Menschen  widrigenfalls  zur  Selbst- 
verachtuug  und  Innern  Abscheu  zu  verurtheilen. 

Alles  also,  was  empirisch  ist,  ist,  als  Zuthat  zum 
Prinzip  de-r  Sittlichkeit,  nicht  allein  dazu  ganz  untaug- 
lich, sondern  der  Lauterkeit  der  Sitten  selbst  höchst 
nachtheilig,  an  welchen  der  eigentliche  und  über  allen 
Preis  erhabene  Werth  eines  schlechterdings  guten  Willens 
eben  darin  besteht,  dass  das  Prinzip  der  Handlung  von 
allen  Einflüssen  zufälliger  Gründe,  die  nur  Erfahrung 
an  die  Hand  geben  kann,  frei  sei.  Wider  diese  Nach- 
lässigkeit oder  gar  niedrige  Denkungsart,  in  Aufsuchung 
des  Prinzips  unter  empirischen  Bewegursachen  und  Ge- 
setzen, kann  man  auch  nicht  zu  viel  und  zu  oft 
Warnungen  ergehen  lassen,  indem  die  menschliche  Ver- 
nunft in  ihrer  Ermüdung  gern  auf  diesem  Polster  aus- 
ruht, und  in  dem  Traume  süsser  Vorspiegelungen  (die 
sie  doch  statt  der  Juno  eine  Wolke  umarmen  lassen) 
der  Sittlichkeit  einen  aus  Gliedern  ganz  verschiedener 
Abstammung  ^zusammengeflickten  Bastard  unterschiebt, 
der  allem  ähnlich  sieht,  was  man  daran  sehen  will,  nur 
der  Tugend  nicht,  für  den,  der  sie  einmal  in  ihrer  wahren 
Gestalt  erblickt  hat.*)  22) 

Die  Frage  ist  also  diese:  ist  es  ein  nothwendiges 
Gesetz  für  alle  vernünftige  Wesen,  ihre  Hand- 
lungen jederzeit  nach  solchen  Maximen  zu  beurtheilen, 
von  denen  sie  selbst  wollen  können,  dass  sie  zu  allge- 
meinen Gesetzen  dienen  sollen?  Wenn  es  ein  solches 
ist,  so  muss  es  (völlig  a  jynori)  schon  mit  dem  Begriff'e 
des  Willens  »eines  vernünftigen  Wesens  überhaupt  ver- 
bunden sein.     Um  aber  diese  Verknüpfung  zu  entdecken. 


*)  Die  Tugend  in  ihrer  eigentlichen  Gestalt  erblicken, 
ist  nichts  Anderes,  als  die  Sittlichkeit,  von  afler  Beimischung 
des  Sinnlichen  und  allem  unächten  Schmuck  des  Lohns 
oder  der  Selbstliebe  entkleidet,  darzustellen.  Wie  sehr  sie 
alsdenn  alles  Uebrige,  was  den  Neigungen  reizend  erscheint, 
verdunkele,  kann  Jeder  vermittelst  des  mindesten  Versuchs 
seiner  nicht  ganz  für  alle  Abstraktion  verdorbenen  Vernunft 
leicht  inne  werden. 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metapb.  d.  Sitten.  5  j^ 

muss  mau,  so  sehr  mau  sich  auch  sträubt,  eiuen  Schritt 
hinaus  thun,  nämlich  zur  Metaphysik,  obgleich  in  ein 
Gebiet  derselben,  welches  von  dem  der  spekulativen 
Philosophie  unterschieden  ist,  nämlich  in  die  Metaphysik 
der  Sitten.  In  einer  praktischen  Philosophie,  wo  es 
uns  nicht  darum  zu  thun  ist,  Gründe  anzunehmen  von 
dem,  was  geschieht,  sondern  Gesetze  von  dem,  was 
geschehen  soll,  ob  es  gleich  niemals  geschieht,  d.  i. 
objektiv-praktische  Gesetze:  da  haben  wir  nicht  nöthig, 
über  die  Gründe  Untersuchung  anzustellen,  warum  etwas 
gefällt  oder  misstallt,  wie  das  Vergnügen  der  blossen 
Empfindung  vom  Geschmacke,  und  ob  dieser  von  einem 
allgemeinen  Wohlgefallen  der  Vernunft  unterschieden 
sei;  worauf  Gefühl  der  Lust  und  Unlust  beruhe,  und 
wie  hieraus  Begierden  und  Neigungen,  aus  diesen  aber, 
durch  Mitwirkung  der  Vernunft,  Maximen  entspringen: 
denn  das  gehört  alles  zu  einer  empirischen  Seelenlehre, 
welche  den  zweiten  Theil  der  Naturlehre  ausmachen 
würde,  wenn  man  sie  als  Philosophie  der  Natur 
betrachtet,  sofern  sie  auf  empirischen  -Gesetzen 
gegründet  ist.  Hier  aber  ist  vom  objektiv-praktischen 
Gesetze  die  Rede,  mithin  von  dem  Verhältnisse  eines 
Willens  zu  sich  selbst,  sofern  er  sich  bloss  durch  Ver- 
nunft bestimmt,  da  denn  alles,  t)  was  aufs  Empirische 
Beziehung  hat,  von  selbst  wegfällt;  weil,  wenn  die  Ver- 
nunft für  sich  allein  das  Verhalten  bestimmt  (wo- 
von wir  die  Möglichkeit  jetzt  eben  untersuchen  wollen), 
sie  dieses  nothwendig  a  iwiori  thun  muss. 

Der  Wille  wird  als  ein  Vermögen  gedacht,  der  Voj-- 
s  t  eüu  n^'""g  e  w  i  s 's  e  r  G  e  s  e  t  z  e  g  e  m a  s  3  sich  selbst  zum._„ 
TTäff^eln  z1i  bestimmen.  Und  ein  solches  Vermögeiiivami 
mtrTn;;;;;3Wfnunftigen  Weses^ '"anzutreffen  sein.  Hun  ist 
Tas7'"was  dem  Willen '^züm  objektiven  Grimde  seiner 
Selbstbestimmung  dient,  der  Zweck,  und  dieser,,  wenn 
er  durch  blosse  Vernunft  gegeben  wij'd>  muss  für  alle 
vernünftige  Wesen  gleich  gelten.  Was  dagegen  Bloss  "^ 
"Seil' Grühd  der  Möglichkeit  der  Handlung  enthält,  deren 
Wirkung  Zweck  ist,  heisst  das  Mittel.  Der  subjektive 
Grund  des  Begehrens  ist  die  Triebfeder,  der  objektive 
des  Wollens  der  Bewegungsgrund;  daher  der  Unter- 


Iste  Ausgabe:  da  denn  also  allea. 

4* 


52  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     2.  Abschn. 

schied  zwischen  subjektiven  Zwecken,  die  auf  Triebfedern 
beruhen,  und  objektiven,  die  auf  Bewegungsgründe  an- 
kommen, welche  für  jedes  vernünftige  Wesen  gelten» 
Praktische  Prinzipien  sind  formal,  wenn  sie  von  allen 
subjektiven  Zwecken  abstrahiren ;  sie  sind  aber  m  a t  e  r  i a  1^ 
wenn  sie  diese,  mithin  gewisse  Triebfedern  zum  Grunde 
legen.  Die  Zwecke,  die  sich  ein  vernünftiges  Wesen 
als  Wirkungen  seiner  Handlung  nach  Belieben  vor- 
setzt (materiale  Zwecke),  sind  insgesammt  nur  relativ; 
denn  nur  bloss  ihr  Verhältniss  auf  ein  besonders  ge- 
artetes Begehrungsvermögen  des  Subjekts  giebt  ihnen 
den  Werth,  der  daher  keine  allgemeinen,  für  alle  ver- 
nünftige Wesen,  und  auch  nicht  für  jedes  Wollen  gültige 
und  nothwendige  Prinzipien,  d.  i.  praktische  Gesetze, 
an  die  Hand  geben  kann.  Daher  sind  alle  diese  rela- 
tiven Zwecke  nur  der  Grund  von  hypothetischen  Im- 
perativen. 

Gesetzt  aber,  es  gäbe  etwas,  dessen  Dasein  an 
sich  selbst  einen  absoluten  Werth  hat,  was,  als  Zweck 
an  sich  selbst,  ein  Grund  bestimmter  Gesetze  sein 
könnte,  so  würde  in  ihm,  und  nur  in  ihm  allein  der 
Grund  eines  möglichen  kategorischen  Imperativs  d.  i. 
praktischen  Gesetzes  liegen. 

Nun  sage  ich :  der  Mensch  und  überhaupt  jedes  ver- 
nünftige Wiesen,  existirt  als  Zweck  an  sich  selbst^ 
nicht  bloss  als  Mittel  zum  beliebigen  Gebrauche 
für  diesen  oder  jenen  Willen,  sondern  muss  in  allen 
seinen,  sowohl  auf  sich  selbst,  als  auch  auf  andere  ver- 
nünftige Wesen  gerichteten  Handlungen  jederzeit  zu- 
gleich als  Zweck  betrachtet  werden.  Alle  Gegen- 
stände der  Neigungen  haben  nur  einen  bedingten  Werth ; 
denn  wenn  die  Neigungen  und  darauf  gegründete  Be- 
dürfnisse nicht  wären,  so  würde  ihr  Gegenstand  ohne 
Werth  sein.  Die  Neigungen  selber  aber,  als  Quellen 
der  Bedürfniss,  haben  so  wenig  einen  absoluten  Werth, 
um  sie  selbst  zu  wünschen,  dass  vielmehr,  gänzlich  da- 
von fi-ei  zu  sein,  der  allgemeine  W^unsch  eines  jeden 
vernünftigen  Wesens  sein  muss.  Also  ist  der  Werth 
aller  durch  unsere  Handlung  zu  erwerbenden  Gegen- 
stände jederzeit  bedingt.  Die  Wesen,  deren  Dasein  zwar 
nicht  auf  unserem  Willen,  sondern  der  Natur  beruht, 
haben  dennoch,  wenn  sie  vernunftlose  Wesen  sind,  nur 


AM^oMMt       dj\^M^^       i^^t^CK.        ^V^^^-v.^.  - 

üeberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  53 

einen  relativen  Werth,  als  Mittel,  und  heissen  daher 
Sachen,  dagegen  vernünftige  Wesen  Personen  ge- 
nannt werden,  weil  ihre  Natur  sie  schon  als  Zwecke 
an  sich  selbst,  d.  i.  als  etwas,  das  nicht  bloss  als  Mittel 
gebraucht  werden  darf,  auszeichnet,  mithin  sofern  alle 
Willkür  einschränkt  (und  ein  Gegenstand  der  Achtung 
ist).  Dies  sind  also  nicht  bloss  subjektive  Zwecke,  deren 
Existenz,  als  Wirkung  unserer  Handlung,  für  uns  einen 
Werlh  hat;  sondern  objektive  Zwecke,  d.  i.  Dinge, 
deren  Dasein  an  sich  selbst  Zweck  ist,  und  zwar  einen 
solchen,  an  dessen  Statt  kein  anderer  Zweck  gesetzt 
werden  kann,  dem  sie  bloss  als  Mittel  zu  Diensten 
stehen  sollten,  weil  ohne  dieses  überall  gar  nichts  von 
absolutem  Werthe  würde  angetroffen  werden;  wenn 
aber  aller  Werth  bedingt,  mithin  zufällig  wäre,  so  könnte 
für  die  Vernunft  überall  kein  oberstes  praktisches  Prin- 
:zip  angetroffen  w^erden. 

Wenn  es  denn  also  ein  oberstes  praktisches  Prinzip 
und,  in  Ansehung  des  menschlichen  Willens,  einen  kate- 
gorischen Imperativ  geben  soll,  so  muss  es  ein  solches 
sein,  das  aus  der  Vorstellung  dessen,  was  nothwendig 
für  Jedermann  Zweck  ist,  weil  es  Zweck  an  sich 
selbst  ist,  ein  objektives  Prinzip  des  Willens  aus- 
macht, mithin  zum  allgemeinen  praktischen  Gesetz  dienen 
kann.  Der  Grund  dieses  Prinzips  ist:  die  vernünf- 
JLige  NaTtur  existirt  als  Zweck  an  sich  selbst. 
-So  stellt  sich  nothwendig  der  Mensch  sein  eigenes  Dasein 
Torf  sofern  ist  es  also  ein  subj  ektives  Prinzip  mensch- 
TicTfer  Handlungen,  So  stellt  sich  aber  auch  jedes  andere 
vernünftige  Wesen  sein  Dasein,  zufolge  ebendesselben 
Vernunftgrundes,  der  auch  für  mich  gilt,  vor*);  also  ist 
es  zugleich  ein  objektives  Prinzip,  woraus,  als  einem 
obersten  praktischen  Grunde,  alle  Gesetze  des  Willens 
müssen  abgeleitet  werden  können.  Der  praktische  Im- 
perativ wird  also  folgender  sein:  hä'ndTe  so,  dass  du 
oie  Menschheit,  sowohl  in  deiner  Person,  als 
fn  der  Person  eines  jeden  Andern,  jederzeit 
zugleich  als  Zweck,    niemals   bloss    als  Mittel 


*)  Diesen  Satz  stelle  ich  hier  als  Postulat  auf.    Im  letzten 
Abschnitte  wird  man  die  Gründe  dazu  finden. 


54  GnmdlegUDg  zur  Metaphysik  der  Sitten.     2.  Abscbn.. 

brauchst.     Wir  wollen  seheii;  ob  sich  dieses  bewerk- 
"stelUgen"  lasse. 23) 

Um  bei  den  vorigen  Beispielen  zu  bleiben,  so  wird 
Erstlich,  nach  dem  Begriffe  der  nothwendigen 
Pflicht  gegen  sich  selbst,  derjenige,  der  mit  Selbstmorde 
umgeht,  sich  fragen,  ob  seine  Handlung  mit  der  Idee 
der  Menschheit,  als  Zwecks  an  sich  selbst,  zu- 
sammen bestehen  könne?  Wenn  er,  um  einem  beschwer- 
lichen Zustande  zu  entfliehen,  sich  selbst  zerstört,  so 
bedient  er  sich  einer  Person,  bloss  als  eines  Mittels 
zu  Erhaltung  eines  erträglichen  Zustandes  bis  zu  Ende 
des  Lebens.  Der  Mensch  aber  ist  keine  Sache,  mithin 
nicht  etwas,  das  bloss  als  Mittel  gebraucht  werden 
kann,  sondern  muss  bei  allen  seinen  Handlungen  jeder- 
zeit als  Zweck  an  sich  selbst  betrachtet  werden.  Also 
kann  ich  über  den  Menschen  in  meiner  Person  nichts 
disponiren,  ihn  zu  verstümmeln,  zu  verderben,  oder  zu 
tödten.  (Die  nähere  Bestimmung  dieses  Grundsatzes 
zur  Vermeidung  alles  Missverstandes,  z.  B.  der  Amputation 
der  Glieder,  um  mich  zu  erhalten,  der  Gefahr,  der  ich 
mein  Leben  aussetze,  um  mein  Leben  zu  erhalten  etc., 
muss  ich  hier  vorbeigehen;  sie  gehört  zur  eigentlichen 
Moral.) 

Zweitens,  was  die  nothwendige  oder  schuldige 
Pflicht  gegen  Andere  betriff't,  so  wird  der,  so  ein  lügen- 
haftes Versprechen  gegen  Andere  zu  thun  im  Sinne  hat, 
sofort  einsehen,  dass  er  sich  eines  andern  Menschen 
bloss  als  Mittel  bedienen  will,  ohne  dass  dieser  zu- 
gleich den  Zweck  in  sich  enthalte.  Denn  der,  den  ich 
durch  ein  solches  Versprechen  zu  meinen  Absichten 
brauchen  will,  kann  unmöglich  in  meine  Art,  gegen  ihn 
zu  verfahren,  einstimmen  und  also  selbst  den  Zweck 
dieser  Handlung  enthalten.  Deutlicher  fällt  dieser  Wider- 
streit gegen  das  Prinzip  anderer  Menschen  in  die  Augen^ 
wenn  man  Beispiele  von  Angriffen  auf  Freiheit  und 
Eigenthum  Anderer  herbeizieht.  Denn  da  leuchtet  klar 
ein,  dass  der  üebertreter  der  Rechte  der  Menschen  sich 
der  Person  Anderer  bloss  als  Mittel  zu  bedienen  ge- 
sonnen sei,  ohne  in  Betracht  zu  ziehen,  dass  sie,  als 
vernünftige  Wesen,  jederzeit  zugleich  als  Zwecke,  d.  i. 
nur  als  solche,    die  von   ebenderselben  Handlung   auch 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten,  55 

in  sich  den  Zweck  müssen  enthalten  können,  geschätzt 
werden  sollen. -) 

Drittens,  in  Ansehung  der  zufälligen  (verdienst- 
lichen) Pflicht  gegen  sich  selbst  ists  nicht  genug,  dass 
die  Handlung  nicht  der  Menschheit  in  unserer  Person, 
als  Zweck  an  sich  selbst,  widerstreite,  sie  muss  auch 
dazu  zusammenstimmen.  Nun  sind  in  der  Mensch- 
heit Anlagen  zu  grösserer  Vollkommenheit,  die  zum 
Zwecke  der  Natur  in  Ansehung  der  Menschheit  in 
unserem  Subjekt  gehören;  diese  zu  vernachlässigen, 
würde  allenfalls  wohl  mit  der  Erhaltung  der  Mensch- 
heit, als  Zwecks  an  sich  selbst,  aber  nicht  der  Beför- 
derung dieses  Zwecks  bestehen  können. 

Viertens,  in  Betreff  der  verdienstlichen  Pflicht 
gegen  Andere,  ist  der  Naturzweck,  den  alle  Menschen 
Ilaben,  ihre  eigene  Glückseligkeit.  Nun  würde  zwar 
die  Menschheit  bestehen  können,  wenn  Niemand  zu  des 
Andern  Glückseligkeit  etwas  beitrüge,  dabei  aber  ihr 
nichts  vorsätzlich  entzöge;  allein  es  ist  dieses  doch  nur 
eine  negative  und  nicht  positive  Uebereinstimmung  zur 
Menschheit,  als  Zweck  an  sich  selbst,  wenn  Jeder- 
mann auch  nicht  die  Zwecke  Anderer,  so  viel  an  ihm 
ist,  zu  befördern  trachtete.  Denn  das  Subjekt,  welches 
Zweck  an  sich  selbst  ist,  dessen  Zwecke  müssen,  wenn 
jene  Vorstellung  bei  mir  alle  Wirkung  thun  soll,  auch, 
so  viel  möglich,  meine  Zwecke  sein. 

Dieses  Prinzip  der  Menschheit  und  jeder  vernünftigen 
Natur  überhaupt,  als  Zwecks  an  sich  selbst  (welche 
die  oberste  einschränkende  Bedingung  der  Freiheit  der 
Handlungen  eines  jeden  Menschen  ist),  ist  nicht  aus  der 


")  Man  denke  ja  nicht,  dass  hier  das  triviale:  quod  tibi 
non  visßeri  etc.  (Was  du  nicht  willst,  dass  dir  geschehe,  das  etc.) 
zur  Richtschnur  oder  Prinzip  dienen  könne.  Denn  es  ist,  ob- 
zwar  mit  verschiedenen  Einschränkungen,  nur  aus  jenem 
abgeleitet;  es  kann  kein  allgemeines  Gesetz  sein,  denn  es 
enthält  nicht  den  Grund  der  Pflichten  gegen  sich  selbst, 
nicht  der  Liebespflichten  gegen  Andere  (denn  Mancher  würde 
es  gerne  eingehen,  dass  Andere  ihm  nicht  wohlthun  sollen, 
wenn  er  es  nur  überhoben  sein  dürfte,  ihnen  Wohlthat 
zu  erzeigen),  endlich  nicht  der  schuldigen  Pflichten  gegen 
einander;  denn  der  Verbrecher  würde  aus  diesem  Grunde 
gegen    seine    strafenden   Richter  argumentiren  u.  s.  w. 


56  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Abschn. 

Erfahrung  entlehnt,  erstlich,  wegen  seiner  Allgemeinheit, 
da  es  auf  alle  vernünftige  Wesen  überhaupt  geht,  worüber 
etwas  zu  bestimmen  keine  Erfahrung  zureicht;  zweitens, 
weil  darin  die  Menschheit  nicht  als  Zweck  des  Menschen 
(subjektiv),  d.  i.  als  Gegenstand,  den  man  sich  von  selbst 
wirklich  zum  Zwecke  macht,  sondern  als  objektiver 
Zweck,  der,  wir  mögen  Zwecke  haben,  welche  wir  wollen, 
als  Gesetz  die  oberste  einschränkende  Bedingung  aller 
subjektiven  Zwecke  ausmachen  soll,  vorgestellt  wird, 
mithin  aus  reiner  Vernunft  entspringen  muss.  Es  liegt 
nämlich  der  Grund  aller  praktischen  Gesetzgebung  ob- 
jektiv in  der  Regel  und  der  Form  der  Allgemeinheit, 
die  sie  ein  Gesetz  (allenfalls  Naturgesetz)  zu  sein  fähig 
macht  (nach  dem  ersten  Prinzip),  subjektiv  aber  im 
Zwecke;  das  Subjekt  aller  Zwecke  aber  ist  jedes  ver- 
nünftige Wesen,  als  Zweck  an  sich  selbst  (nach  dem 
zweiten  Prinzip) ;  hieraus  folgt  nun  das  dritte  praktische 
Prinzip  des  Willens,  als  oberste  Bedingung  der  Zu- 
sammenstimmung desselben  mit  der  allgemeinen  prak- 
tischen Vernunft,  die  Idee  des  Willens  jedes  ver- 
nünftigen Wesens  als  eines  allgemein  gesetz- 
geb  enden  Willens. '^4) 

Alle  Maximen  werden  nach  diesem  Prinzip  verworfen, 
die  mit  der  eigenen  allgemeinen  Gesetzgebung  des  Willens 
nicht  zusammen  bestehen  können.  Der  Wille  wird  also 
nicht  lediglich  dem  Gesetze  unterworfen,  sondern  so 
unterworfen,  dass  er  auch  als  selbstgesetzgebend, 
und  eben  um  deswillen  allererst  dem  Gesetze  (davon  er 
selbst  sich  als  Urheber  betrachten  kann)  unterworfen 
angesehen  werden  muss. 

Die  Imperativen  nach  der  vorigen  Vorstellungsart, 
nämlich  der  allgemein  einer  Naturordnung  ähnlichen 
Gesetzmässigkeit  der  Handlungen,  oder  des  allgemeinen 
Zwecksvorzuges  vernünftiger  Wesen  an  sich  selbst, 
schlössen  zwar  von  ihrem  gebietenden  Ansehen  alle 
Beimischung  irgend  eines  Interesse,  als  Triebfeder, 
aus,  eben  dadurch,  dass  sie  als  kategorisch  vorgestellt 
wurden;  sie  wurden  aber  nur  kategorisch  ange- 
nommen, weil  man  dergleichen  annehmen  musste, 
wenn  man  den  Begriff  von  Pflicht  erklären  wollte.  Dass 
es  aber  praktische  Sätze  gäbe,  die  kategorisch  geböten^ 
könnte  für  sich  nicht  bewiesen  werden,    so   wenig,    wie 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metapli.  d.  Sitten.  57 

es  überhaupt  in  diesem  Abschnitte  auch  hier  noch  nicht 
geschehen  kann;  allein  Eines  hätte  doch  geschehen 
können^  nämlich:  dass  die  Lossagung  von  allem  In- 
teresse beim  Wollen  aus  Pflicht,  als  das  spezifische 
Unterscheidungszeichen  des  kategorisclien  vom  hypo- 
thetischen Imperativ,  in  dem  Imperativ  selbst,  durch 
irgend  eine  Bestimmung,  die  er  enthielte,  mit  angedeutet 
würde,  und  dieses  geschieht  in  gegenwärtiger  dritten 
Formel  des  Prinzips,  nämlich  der  Idee  des  Willens  eines 
jeden  vernünftigen  Wesens,  als  allgemein  gesetzge- 
benden Willens. 

Denn  wenn  wir  einen  solchen  denken,  so  kann,  ob- 
gleich ein  Wille,  der  unter  Gesetzen  steht,  noch 
vermittelst  eines  Interesse  an  dieses  Gesetz  gebunden 
sein  mag,  dennoch  ein  Wille,  der  selbst  zu  oberst  ge- 
setzgebend ist,  unmöglich  sofern  von  irgend  einem  In- 
teresse abhängen;  denn  ein  solcher  abhängender  Wille 
würde  selbst  noch  eines  andern  Gesetzes  bedürfen, 
welches  das  Interesse  seiner  Selbstliebe  auf  die  Bedin- 
gung einer  Gültigkeit  zum  allgemeinen  Gesetz  ein- 
schränkte. 

Also  würde  das  Prinzip  eines  jeden  menschlichen 
Willens,  als  eines  durch  alle  seine  Maximen  all- 
gemein gesetzgebenden  Willens-),  wenn  es  sonst 
mit  ihm  nur  seine  Richtigkeit  hätte,  sich  zum  kate- 
gorischen Imperativ  darin  gar  wohl  schicken,  dass 
es,  eben  um  der  Idee  der  allgemeinen  Gesetzgebung 
willen,  sich  auf  kein  Interesse  gründet  und  also 
unter  allen  möglichen  Imperativen  allein  unbedingt 
sein  kann;  oder  noch  besser,  indem  wir  den  Satz  um- 
kehren, wenn  es  einen  kategorischen  Imperativ  giebt 
(d.  i.  ein  Gesetz  für  jeden  Willen  eines  vernünftigen 
Wesens),  so  kann  er  nur  gebieten,  alles  aus  der  Maxime 
seines  Willens,  als  eines  solchen  zu  thun,  der  zugleich 
sich  selbst  als  allgemein  gesetzgebend  zum  Gegenstande 
haben    könnte;    denn    alsdenn    nur    ist    das    praktische 


*)  Ich  kann  hier,  Beispiele  zur  Erläuterung  dieses  Prin- 
zips anzuführen,  überhoben  sein,  denn  die,  so  zuerst  den 
kategorischen  Imperativ  und  seine  Formel  erläutern,  können 
hier  alle  zu  eben  dem  Zwecke  dienen. 


58   Grimdlegimg  zur  Metaphysik  der  Sitten.     2.  Abschn. 

Prinzip  und  der  Imperativ,  dem  er  gehorcht,  unbedingt, 
weil  er  gar  kein  Interesse  zum  Grunde  haben  kann. 

Es  ist  nun  kein  Wunder,  wenn  wir  auf  alle  bis- 
herigen Bemühungen,  die  jemals  unternommen  worden, 
um  das  Prinzip  der  Sittlichkeit  ausfindig  zu  machen, 
zurücksehen,  warum  sie  insgesammt  haben  fehlschlagen 
müssen.  Man  sähe  den  Menschen  durch  seine  Pflicht 
am  Gesetze' gebunden,  man  Hess  es  sich  aber  hiclit  ein- 
?allen,  dass  er  nur  seiner  eigenen  und  dennoch  all- 
gemeinen Gesetzgebung  unterworfen  sei,  und  dass 
er  nur  verbunden  sei,  seinem  eigenen,  dem  Naturzwecke 
nach  aber  allgemein  gesetzgebenden  Willen  gemäss  zu 
handeln.  Denn  wenn  man  sich  ihn  nur  als  einem  Ge- 
setz (welches  es  auch  sei)  unterworfen  dachte,  so  musste 
dieses  irgend  ein  Interesse  als  Reiz  oder  Zwang  bei 
sich  führen,  weil  es  nicht  als  Gesetz  aus  seinem  Willen 
entsprang,  sondern  dieser  gesetzmässig  von  etwas 
Anderem  genöthigt  wurde,  auf  gewisse  Weise  zu  han- 
deln. Durch  diese  ganz  noth wendige  Folgerung  aber 
war  alle  Arbeit,  einen  obersten  Grund  der  Pflicht  zu 
finden,  unwiederbringlich  verloren.  Denn  man  bekam 
niemals  Pflicht,  sondern  Nothwendigkeit  der  Handlung 
aus  einem  gewissen  Interesse  heraus.  Dieses  mochte 
nun  ein  eigenes  oder  fremdes  Interesse  sein.  Aber  als- 
dann musste  der  Imperativ  jederzeit  bedingt  ausfallen, 
und  konnte  zum  moralischen  Gebote  gar  nicht  taugen. 
Ich  will  also  diesen  Grundsatz  das  Prinzip  der  Auto- 
ujouiie  des  Willens,  im  Gegensatz  mit  jedem  andern^ 
(bs  ich  deshalb  zur  Heterououüe  zähle,  nennen. 

Der  Begriff  eines  jeden  vernünftigen  Wesens,  das 
sich  durch  alle  Maximen  seines  Willens  als  allgemein 
gesetzgebend  betrachten  muss,  um  aus  diesem  Gesichts- 
punkte sich  selbst  und  seine  Handlungen  zu  beurtheilen, 
führt  auf  einen  ihm  anhängenden  sehr  fruchtbaren  Be- 
giiff,  nämlich  den  eines  Reichs  der  Zwecke.*^-'») 

Ich  verstehe  aber  unter  einem  Reiche  die  syste- 
matische Verbindung  verschiedener  vernünftiger  Wesen 
durch  gemeinschaftliche  Gesetze.  Weil  nun  Gesetze  die 
Zwecke  ihrer  allgemeinen  Gültigkeit  nach  bestimmen, 
so  wird,  wenn  man  von  dem  persönlichen  unterschiede 
vernünftiger  Wesen,  imgleichen  allem  Inhalte  ihrer  Pri- 
vatzwecke abstrahirt,   ein  Ganzes  aller  Zwecke  (sowohl 


Ueberg.  v.  d,  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  MetapL.  d,  Sitten.  59 

der  vernünftigen  Wesen  als  Zwecke  an  sich,  als  auch 
der  eigenen  Zwecke,  die  ein  jedes  sich  selbst  setzen 
mag)  in  systematischer  Verknüpümg,  d.  i.  ein  Reich 
der  Zwecke  gedacht  werden  können,  welches  nach  obigen 
Prinzipien  möglich  ist. 

Denn  vernünftige  Wesen  stehen  alle  unter  dem  Ge- 
setz, dass  jedes  derselben  sich  selbst  und  alle  anderen 
niemals  bloss  als  Mittel,  sondern  jederzeit  zugleich 
als  Zweck  an  sich  selbst  behandeln  solle.  Hier- 
durch aber  entspringt  eine  systematische  Verbindung 
vernünftiger  Wesen  durch  gemeinschaftliche  objektive 
Gesetze,  d.  i.  ein  Reich,  welches,  weil  diese  Gesetze 
eben  die  Beziehung  dieser  Wesen t)  aufeinander,  als 
Zwecke  und  Mittel,  zur  Absicht  haben,  ein  Reich  der 
Zwecke  (freilich  nur  ein  Ideal)  heissen  kann. 

Es  gehört  aber  ein  vernünftiges  Wesen  als  Glied 
zum  Reiche  der  Zwecke,  wenn  es  darin  zwar  allgemein 
gesetzgebend,  aber  auch  diesen  Gesetzen  selbst  unter- 
worfen ist.  Es  gehört  dazu  als  Oberhaupt,  wenn  es 
als  gesetzgebend  keinem  Willen  eines  andern  unter- 
worfen ist. 

Das  vernünftige  Wesen  muss  sich  jederzeit  als  ge- 
setzgebend in  einem  durch  Freiheit  des  Willens  mög- 
lichen Reiche  der  Zwecke  betrachten,  es  mag  nun  sein 
als  Glied  oder  als  Oberhaupt.  Den  Platz  des  letztern 
kann  es  aber  nicht  bloss  durch  die  Maxime  seines 
Willens,  sondern  nur  alsdann,  wenn  es  ein  völlig  un- 
abhängiges Wesen,  ohne  Bedürfniss  und  Einschränkung 
seines  dem  Willen  adäquaten  Vermögens  ist,  behaupten. 

Moralität  besteht  also  in  der  Beziehung  aller  Hand- 
lung auf  die  Gesetzgebung,  dadurch  allein  ein  Reich 
der  Zwecke  möglich  ist.  Die  Gesetzgebung  muss  aber 
in  jedem  vernünftigen  Wesen  selbst  angetroffen  werden, 
und  aus  seinem  Willen  entspringen  können,  dessen  Prin- 
zip also  ist:  keine  Handlung  nach  einer  andern  Maxime 
zu  thun,  als  so,  dass  es  auch  mit  ihr  bestehen  könne, 
dass  sie  ein  allgemeines  Gesetz  sei,  und  also  nur  so, 
dass  der  Wille  durch  seine  Maxime  sich  selbst 
zugleich  als  allgemein  gesetzgebend  betrach- 
ten könne.     Sind    nun    die  Maximen  mit  diesem  ob- 


i^;  Iste  Ausgabe:  die  Beziehung  derselben. 


ßQ  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     2.  Abschu. 

jektiven  Prinzip  der  vernünftigen  Wesen,  als  allgemein 
gesetzgebend,  nicht  durch  ihre  Natur  schon  uothwendig 
einstimmig,  so  heisst  die  Nothwendigkeit  der  Handlung 
nach  jenem  Prinzip  praktische  Nöthigung  d.  i.  Pflicht. 
Pflicht  kommt  nicht  dem  Oberhaupte  im  Reiche  der 
Zwecke,  wohl  aber  jedem  Gliede  und  zwar  allen  in 
gleichem  Maasse  zu. 

Die  praktische  Nothwendigkeit  nach  diesem  Prinzip 
zu  handeln,  d.  i.  die  Pflicht,  beruht  gar  nicht  auf  Ge- 
fühlen, Antrieben  und  Neigungen,  sondern  bloss  auf 
dem  Verhältnisse  vernünftiger  Wesen  zu  einander,  in 
welchem  der  Wille  eines  vernünftigen  Wesens  jederzeit 
zugleich  als  gesetzgebend  betrachtet  werden  muss. 
weil  es  sie  sonst  nicht  als  Zweck  an  sich  selbst 
denken  könnte.  Die  Vernunft  bezieht  also  jede  Maxime 
des  Willens  als  allgemein  gesetzgebend  auf  jeden  anderen 
Willen,  und  auch  auf  jede  Handlung  gegen  sich  selbst, 
und  dies  zwar  nicht  um  irgend  eines  andern  praktischen 
Bewegungsgrundes  oder  künftigen  Vortheils  willen,  son- 
dern aus  der  Idee  der  Würde  eines  vernünftigen  Wesens, 
das  keinem  Gesetze  gehorcht,  als  dem,  das  es  zugleich 
selbst  giebt. 

Im  Reiche  der  Zwecke  hat  alles  entweder  einen 
Preis,  oder  eine  Würde.  Was  einen  Preis  hat,  an 
dessen  Stelle  kann  auch  etwas  Anderes,  als  Aequi- 
valent,  gesetzt  werden;  was  dagegen  über  allen  Preis 
erhaben  ist,  mithin  kein  Aequivalent  verstattet,  das  hat 
eine  Würde. 

Was  sich  auf  die  allgemeinen  menschlichen  Nei- 
gungen und  Bedürfnisse  bezieht,  hat  einen  Marktpreis; 
das,  was,  auch  ohne  ein  Bedürfniss  vorauszusetzen, 
einem  gewissen  Geschmacke  d.  i.  einem  Wohlgefallen 
am  blossen  zwecklosen  Spiel  unserer  Gemüthskräfte  ge- 
mäss ist,  einen  Affektionspreis;  das  aber,  was  4ie 
Bedingung  ausmacht,  unter  der  allem" etwas  Zweck  an 
sich  selbst  sein  kann,  hat  nicht  bloss  einen  relativen 
Werth  d.  i.  einen  Preis,  sondern  einen  innem  Werth, 
d.  i.  Würde. 26) 

Nun  ist  Moralität  die  Bedingung,  unter  der  allein 
ein  vernünftiges  Wesen  Zweck  an  sich  selbst  sein  kann ; 
weil  nur  durch  sie  es  möglich  ist,  ein  gesetzgebend 
Glied  im  Reiche  der  Zwecke  zu  sein.    Also  ist  die  Sitt- 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  Qi 

liclikeit  und  die  Menschlieit,  sofern  sie  derselben  fähig 
ist,  dasjenige,  was  allein  Würde  bat.  GeschickUchkeit 
und  Fleiss  im  Arbeiten  haben  einen  Marktpreis;  WitZj^, 
lebKaffe' Einbildungskraft  und  Launen  einen  Affektionsr^ 
"pfeTsI^n gegen  Treue  im  Versprechen,  Wohlwollen  aus 
tjrundsätzen  (nicht  aus  Instinkt)  haben  einen  iimern 
Werth.  Die  Natur  sowohl,  als  Kunst  enthalten  nichts, 
was  sie,  in  Ermangelung  derselben,  an  ihre  Stelle  setzen 
könnten;  denn  ihr  W^erth  besteht  nicht  in  Wirkungen, 
die  daraus  entspringen,  im  Vortheil  und  Nutzen,  den 
sie  Schäften,  sondern  in  den  Gesinnungen  d.  i.  den 
Maximen  des  Willens,  die  sich  auf  diese  Art  in  Hand- 
lungen zu  oifenbaren  bereit  sind,  obgleich  aucli  der  Er- 
folg sie  nicht  begünstigte.  Diese  Handlungen  bedürfen 
auch  keiner  Empfehlung  von  irgend  einer  subjektiven 
Disposition  oder  Geschmack,  sie  mit  unmittelbarer  Gunst 
und  Wohlgefallen  anzusehen,  keines  unmittelbaren  Hanges 
oder  Gefühles  für  dieselbe;  sie  stellen  den  Willen,  der 
sie  ausübt,  als  Gegenstand  einer  unmittelbaren  Achtung 
dar,  dazu  nichts,  als  Vernunft  gefordert  wird,  um  sie 
dem  Willen  aufzuerlegen,  nicht  von  ihm  zu  er- 
schmeicheln, welches  Letztere  bei  Pflichten  ohnedem 
ein  Widerspruch  wäre.  Diese  Schätzung  giebt  also  den 
Werth  einer  solchen  Denkungsart  als  AVürde  zu  er- 
kennen, und  setzt  sie  über  allen  Preis  unendlich  weg, 
mit  dem  sie  gar  nicht  in  Anschlag  und  Vergleichung 
gebracht  werden  kann,  ohne  sich  gleichsam  an  der 
Heiligkeit  derselben  zu  vergreifen. 

Und  was  ist  es  denn  nun,  was  die  sittlich  gute  Ge- 
sinnung oder  die  Tugend  berechtigt,  so  hohe  Ansprüche 
zu  machen?  Es  ist  nichts  Geringeres,  als  der  Antheil, 
den  sie  dem  vernünftigen  Wesen  an  der  allgemeinen 
Gesetzgebung  verschafi't,  und  es  hierdurch  zum  Gliede 
in  einem  möglichen  Reiche  der  Zwecke  tauglich  macht, 
wozu  es  durch  seine  eigene  Natur  schon  bestimmt  war, 
als  Zweck  an  sich  selbst  und  eben  darum  als  gesetz- 
gebend im  Reiche  der  Zwecke,  in  Ansehung  aller  Na- 
turgesetze als  frei,  nur  denjenigen  allein  gehorchend,  die 
es  selbst  giebt,  und  nach  welchen  seine  Maximen  zu 
einer  allgemeinen  Gesetzgebung  (der  es  sich  zugleich 
selbst  unterwirft)  gehören  können.  Denn  es  hat  nichts 
einen  Werth,  als  den,  welchen  ihm  das  Gesetz  bestimmt. 


ß2  Gruudleguug  zur  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Abschii. 

Die  Gesetzgebung  selbst  aber,  die  allen  Werth  bestimmt, 
miiss  eben  darum  eine  Würde  d.  i.  unbedingten,  un- 
vergleichbaren Werth  haben,  fiir  welchen  das  Wort 
Ach  tu  ng  allein  den  geziemenden  Ausdruck  der  Schätzung 
abgiebt,  die  ein  vernünftiges  Wesen  über  sie  anzustellen 
hat.  Autonomie  ist  also  der  Grund  der  Würde  der 
menschlichen  und  jeder  vernünftigen  Natur. 

Die  angeführten  drei  Arten,  das  Prinzip  der  Sittlich- 
keit vorzustellen,  sind  aber  im  Grunde  nur  so  viele 
Formeln  ebendesselben  Gesetzes,  deren  die  eine  die 
anderen  zwei  von  selbst  in  sich  vereinigt.  Indessen 
ist  doch  eine  Verschiedenheit  in  ihnen,  die  zwar  eher 
subjektiv,  als  objektiv-praktisch  ist,  nämlich  um  eine 
Idee  der  Vernunft  der  Anschauung  (nach  einer  gewissen 
Analogie)  und  dadurch  dem  Gefühle  näher  zu  bringen. 
Alle  Maximen  haben  nämlich 

1)  eine  Form,  welche  in  der  Allgemeinheit  besteht, 
und  da  ist  die  Formel  des  sittlichen  Imperativs  so  aus- 
gedrückt: dass  die  Maximen  so  müssen  gewählt  werden, 
als  ob  sie  wie  allgemeine  Naturgesetze  gelten  sollten : 

2)  eine  Maxime,  nämlich  einen  Zweck,  und  da 
sagt  die  Formel:  dass  das  vernünftige  Wesen,  als  Zweck 
seiner  Natur  nach,  mithin  als  Zweck  an  sich  selbst, 
jeder  Maxime  zur  einschränkenden  Bedingung  aller  bloss 
relativen  und  willkürlichen  Zwecke  dienen  müsse; 

3)  eine  vollständige  Bestimmung  aller  Maximen 
durch  jene  Formel,  nämlich:  dass  alle  Maximen  aus 
eigener  Gesetzgebung  zu  einem  möglichen  Reiche  der 
Zwecke,  als  einem  Reiche  der  Natur  "•^■),  zusammen- 
stimmen sollen.  Der  Fortgang  geschieht  hier,  wie  durch 
die  Kategorien  der  Einheit  der  Form  des  Willens  (der 
Allgemeinheit  desselben),  der  Vielheit  der  Materie 
(der  Objekte  d.  i.  der  Zwecke)  und  der  Allheit  oder 
Totalität  des  Systems  derselben.     Man  thut  aber  besser, 


*)  Die  Teleologie  erwägt  die  Natur  als  ein  Reich  der 
Zwecke,  die  Moral  ein  möghches  Reich  der  Zwecke  als  ein 
Reich  der  Natur.  Dort  ist  das  Reich  der  Zwecke  eine 
theoretische  Idee,  zu  Erklärung  dessen,  was  da  ist.  Hier 
ist  eine  praktische  Idee,  um  das,  was  nicht  da  ist,  aber 
durch  unser  Thun  und  Lassen  wirklich  werden  kann,  und 
zwar  eben  dieser  Idee  gemäss,  zu  Stande  zu  bringen. 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  (33 

wenn  man  in  der  sittlichen  Beurtli eilung  immer  nach 
der  strengen  Methode  verfährt  und  die  allgemeine 
Formel  des  kategorischen  Imperativs  zum  Grunde  legt: 
handle  nach  der  Maxime,  die  sich  selbst  zu- 
gleich zum  allgemeinen  Gesetze  machen  kann. 
Will  man  aber  dem  sittlichen  Gesetze  zugleich  Ein- 
gang verschaffen,  so  ist  sehr  nützlich,  ein  und  eben- 
dieselbe Handlung  durch  benannte  drei  Begriffe  zu 
führen  und  sie  dadurcli,  so  viel  sich  thun  lässt,  der  An- 
schauung zu  nähern.  ~'^) 

Wir  können  nunmehr  da  endigen,  von  wo  wir  im 
Anfange  ausgingen,  nämlich  dem  Begriffe  eines  unbe- 
dingt guten  Willens.  Der  Wille  ist  schlechterdings 
gut,  der  nicht  böse  sein,  mithin  dessen  Maxime,  wenn 
sie  zu  einem  allgemeinen  Gesetze  gemacht  wird,  sich 
selbst  niemals  widerstreiten  kann.  Dieses  Prinzip  ist 
also  auch  sein  oberstes  Gesetz:  handle  jederzeit  nach 
derjenigen  Maxime,  deren  Allgemeinheit  als  Gesetzes 
du  zugleich  wollen  kannst;  dieses  ist  die  einzige  Be- 
dingung, unter  der  ein  Wille  niemals  mit  sich  selbst 
im  Widerstreite  sein  kann,  und  ein  solcher  Imperativ 
ist  kategorisch.  Weil  die  Gültigkeit  des  Willens,  als 
eines  allgemeinen  Gesetzes  für  mögliche  Handlungen, 
mit  der  allgemeinen  Verknüpfung  des  Daseins  der  Dinge 
nach  allgemeinen  Gesetzen,  die  das  Formale  der  Natur 
überhaupt  ist,  Analogie  hat,  so  kann  der  kategorische 
Imperativ  auch  so  ausgedrückt  werden:  handle  nach 
Maximen,  die  sich  selbst  zugleich  als  allge- 
meine Naturgesetze  zum  Gegenstand  haben 
können.  So  ist  also  die  Formel  eines  schlechterdings 
guten  Willens  beschaffen. 

Die  vernünftige  Natur  nimmt  sich  dadurch  vor  den 
übrigen  aus,  dass  sie  ihr  selbst  einen  Zweck  setzt. 
Dieser  würde  die  Materie  eines  jeden  guten  Willens 
sein.  Da  aber  in  der  Idee  eines  ohne  einschränkende 
Bedingung  (der  Erreichung  dieses  oder  jenes  Zwecks) 
schlechterdings  guten  Willen  durchaus  von  allem  zu 
bewirkenden  Zwecke  abstrahirt  werden  muss  (als 
der  jeden  Willen  nur  relativ  gut  machen  würde),  so 
wird  der  Zv/eck  hier  nicht  als  ein  zu  bewirkender,  son- 
dern selbstständiger  Zweck,  mithin  nur  negativ, 
gedacht  werden  müssen,   d.  i.  dem  niemals  zuwider  ge- 


(34  Gnmdleguüg  zur  Metaphysik  der  Sitten.     2.  Abschn. 

handelt,  der  also  niemals  bloss  als  Mittel,  sondern  jeder- 
zeit zugleich  als  Zweck  in  jedem  Wollen  geschätzt  wer- 
den muss.  Dieser  kann  nun  nichts  Anderes,  als  das 
Subjekt  aller  möglichen  Zwecke  selbst  sein,  weil  dieses 
zugleich  das  Subjekt  eines  möglichen  schlechterdings 
guten  Willens  ist;  denn  dieser  kann,  ohne  Widerspruch, 
keinem  andern  Gegenstande  nachgesetzt  werden.  Das 
Prinzip :  handle  in  Beziehung  auf  ein  jedes  vernünftige 
Wesen  (auf  dich  selbst  und  Andere)  so,  dass  es  in  deiner 
Maxime  zugleich  als  Zweck  an  sich  selbst  gelte,  ist 
demnach  mit  dem  Grundsatze:  handle  nach  einer  Maxime, 
die  ihre  eigene  aligemeine  Gültigkeit  für  jedes  ver- 
nünftige Wesen  zugleich  in  sich  enthält,  im  Grunde 
einerlei.  Denn  dass  ich  meine  Maxime  im  Gebrauche 
der  Mittel  zu  jedem  Zwecke  auf  die  Bedingung  ihrer 
Allgemeingültigkeit,  als  eines  Gesetzes  für  jedes  Subjekt 
einschränken  soll,  sagt  eben  so  viel,  als:  das  Subjekt 
der  Zwecke  d.  i.  das  vernünltige  Wesen  selbst  muss 
niemals  bloss  als  Mittel,  sondern  als  oberste  einschrän- 
kende Bedingung  im  Gebrauche  aller  Mittel,  d.  i.  jeder- 
zeit zugleich  als  Zweck,  allen  Maximen  der  Handlungen 
zum  Grunde  gelegt  werden. 

Nun  folgt  hieraus  unstreitig,  dass  jedes  vernünftige 
Wesen,  als  Zweck  an  sich  selbst,  sich  in  Ansehung  aller 
Gesetze,  denen  es  nur  immer  unterworfen  sein  mag, 
zugleich  als  allgemein  gesetzgebend  müsse  ansehen 
können,  weil  eben  diese  Schicklichkeit  seiner  Maximen 
zur  allgemeinen  Gesetzgebung  es  als  Zweck  an  sich 
selbst  auszeichnet,  imgleichen,  dass  dieses  seine  Würde 
(Prärogativ)  vor  allen  blossen  Naturwesen  es  mit  sich 
bringe,  seine  Maximen  jederzeit  aus  dem  Gesichtspunkte 
seiner  selbst,  zugleich  aber  auch  jedes  andern  vernünf- 
tigen, als  gesetzgebenden,  Wesens,  (die  darum  auch 
Personen  heissen)  nehmen  zu  müssen.  Nun  ist  auf 
solche  W^eise  eine  Welt  vernünftiger  Wesen  {mundus 
intelligibilis)  als  ein  Reich  der  Zwecke  möglich,  und 
zwar  durch  die  eigene  Gesetzgebung  aller  Personen  als 
Glieder.  Demnach  muss  ein  jedes  vernünftige  Wiesen 
so  handeln,  als  ob  es  durch  seine  Maximen  jederzeit 
ein  gesetzgebendes  Glied  im  allgemeinen  Reiche  der 
Zweck  wäre.  Das  formale  Prinzip  dieser  Maximen  ist: 
handle    so,    als   ob  deine  Maxime  zugleich   zum  allge- 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  ß5 

meinen  Gesetze  (aller  vernünftigen  Wesen)  dienen  sollte. 
Ein  Reich  der  Zwecke  ist  also  nur  möglich  nach  der 
Analogie  mit  einem  Reiche  der  Natur,  jenes  aber  nur 
nach  Maximen  d.  i.  sich  selbst  auierlegten  Regeln,  diese 
nur  nach  Gesetzen  äusserlich  genöthigter  wirkender 
Ursachen.  Dem  unerachtet  giebt  man  doch  auch  dem 
Naturganzen,  ob  es  schon  als  Maschine  angesehen  wird, 
dennoch,  sofern  es  auf  vernünftige  Wesen,  als  seine 
Zwecke,  Beziehung  hat,  aus  diesem  Grunde  den  Namen 
eines  Reichs  der  Natur.  Ein  solches  Reich  der  Zwecke 
würde  nur  durch  Maximen,  deren  Regel  der  kategorische 
Imperativ  allen  vernünftigen  Wesen  vorschreibt,  wirklich 
zu  Stande  kommen,  wenn  sie  allgemein  befolgt 
würden.  Allein  obgleich  das  vernünftige  Wesen  darauf 
nicht  rechnen  kann,  dass,  wenn  es  auch  gleich  diese 
Maxime  selbst  pünktlich  befolgte,  darum  jedes  andere 
ebenderselben  treu  sein  würde,  imgleichen,  dass  das 
Reich  der  Natur  und  die  zweckmässige  Anordnung 
desselben,  mit  ihm,  als  einem  schicklichen  Gliede, 
zu  einem  durch  ihn  selbst  möglichen  Reiche  der 
Zwecke  zusammenstimmen  d.  i.  seine  Erwartung  der 
Glückseligkeit  begünstigen  werde;  so  bleibt  doch  jenes 
Gesetz :  handle  nach  Maximen  eines  allgemein  gesetz- 
gebenden Gliedes  zu  einem  bloss  möglichen  Reiche 
der  Zwecke,  in  seiner  vollen  Kraft,  weil  es  kategorisch 
gebietend  ist.  Und  hierin  liegt  eben  das  Paradoxon, 
dass  bloss  die  Würde  der  Menschheit,  als  vernünftiger 
Natur,  ohne  irgend  einen  andern  dadurch  zu  erreichen- 
den Zweck  oder  Vortheil,  mithin  die  Achtung  für  eine 
blosse  Idee  dennoch  zur  unnachlasslichen  Vorschrift 
des  Willens  dienen  sollte,  und  dass  gerade  in  dieser 
Unabhängigkeit  der  Maxime  von  allen  solchen  Trieb- 
federn die  Erhabenheit  derselben  bestehe,  und  die  Wür- 
digkeit eines  jeden  vernünftigen  Subjekts,  ein  gesetz- 
gebendes Glied  im  Reiche  der  Zwecke  zu  sein;  denn 
sonst  würde  es  nur  als  dem  Naturgesetze  seiner  Be- 
dürfniss  unterworfen  vorgestellt  werden  müssen.  Ob- 
gleich auch  das  Naturreich  sowohl,  als  das  Reicli  der 
Zwecke,  als  unter  einem  Oberhaupte  vereinigt  gedacht 
würde,  und  dadurch  das  letztere  nicht  mehr  blosse  Idee 
bliebe,  sondern  wahre  Realität  erhielte,  so  würde  hier- 
durch zwar  jener  der  Zuwachs  einer  starken  Triebfeder, 

Kant,  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.  5 


ßß  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     2.  Abschn. 

niemals  aber  Vermehrung  ihres  Innern  Werths  zu  Statten 
kommen;  denn  diesem  ungeachtet  mü.sste  doch  selbst 
dieser  alleinige  unumschränkte  Gesetzgeber  immer  so 
vorgestellt  werden,  wie  er  den  Werth  der  vernünftigen 
Wesen  nur  nach  ihrem  uneigennützigen,  bloss  aus  jener 
Idee  ihnen  selbst  vorgeschriebenen  Verhalten  beurtheilte. 
Das  Wesen  der  Dinge  ändert  sich  durch  ihre  äusseren 
Verhältnisse  nicht,  und  was,  ohne  an  das  letztere  zu 
denken,  den  absoluten  Werth  des  Menschen  allein  aus- 
macht, darnach  muss  er  auch,  von  wem  es  auch  sei, 
selbst  vom  höchsten  Wesen  beurtheilt  werden.  Mora- 
lität  ist  also  das  Verhältniss  der  Handlungen  zur 
Autonomie  des  Willens,  das  ist,  zur  möglichen  allge- 
meinen Gesetzgebung  durch  die  Maximen  desselben. 
Die  Handlung,  die  mit  der  Autonomie  des  Willens  zu- 
sammen bestehen  kann,  ist  erlaubt;  die  nicht  damit 
stimmt,  ist  unerlaubt.  Der  Wille,  dessen  Maximen 
nothwendig  mit  den  Gesetzen  der  Autonomie  zusammen- 
stimmen, ist  ein  heiliger,  schlechterdings  guter  Wille. 
Die  Abhängigkeit  eines  nicht  schlechterdings  guten 
Willens  vom  Prinzip  der  Autonomie  (die  moralische 
Köthigung)  ist  Verbrndlichkeit.  Diese  kann  also 
auf  ein  heiliges  Wesen  nicht  gezogen  werden.  Die 
objektive  Kothwendigkeit  einer  Handlung  aus  Verbind- 
lichkeit heisst  Pflicht. 

Man  kann  aus  dem  kurz  Vorhergehenden  sich  es 
jetzt  leicht  erklären,  wie  es  zugehe:  dass,  ob  wir  gleich 
unter  dem  Begriffe  von  Pflicht  uns  eine  Unterwürfigkeit 
unter  dem  Gesetze  denken,  wir  uns  dadurch  doch  zu- 
gleich eine  gewisse  Erhabenheit  und  Würde  an  der- 
jenigen Person  vorstellen,  die  alle  ihre  Pflichten  erfüllt. 
Denn  sofern  ist  zwar  keine  Erhabenlieit  an  ihr,  als  sie 
dem  moralischen  Gesetze  unterworfen  ist,  wohl  aber, 
sofern  sie  in  Ansehung  ebendesselben  zugleich  gesetz- 
gebend und  nur  darum  ihm  untergeordnet  ist.  Auch 
haben  wir  oben  gezeigt,  wie  weder  Furcht  noch  Neigung, 
sondern  lediglich  Achtung  fürs  Gesetz  diejenige  Trieb- 
feder sei,  die  der  Handlung  einen  moralischen  Werth 
geben  kann.  Unser  eigener  Wille,  sofern  er  nur  unter 
der  Bedingung  einer  durch  seine  Maximen  möglichen 
allgemeinen  Gesetzgebung  handeln  würde,  dieser  uns 
mögliche  Wille,  in   der  Idee,  ist  der  eigentliche  Gegen- 


Ueberg.  v.  d,  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  Q'J 

stand  der  Achtung,  und  die  Würde  der  Menschheit  be- 
steht eben  in  dieser  Fähigkeit,  allgemein  gesetzgebend, 
obgleich  mit  dem  Beding,  eben  dieser  Gesetzgebung  zu- 
gleich selbst  unterworfen  zu  sein.  2*') 


Die  Autonomie  des  Willens^ 

als  oberstes  Prinzip  der  Sittlichkeit. 

Autonomie  des  ^Yillens  ist  die  Beschaffenheit  des 
AVillens,  dadurch  derselbe  ihm  selbst  (unabhängig  von 
aller  Beschaffenheit  der  Gegenstände  des  Wollens)  ein 
Gesetz  ist.  Das  Prinzip  der  Autonomie  ist  also:  nicht 
anders  zu  wählen,  als  so,  dass  die  Maximen  seiner  Wahl 
in  demselben  Wollen  zugleich  als  allgemeines  Gesetz 
mit  begriffen  seien.  Dass  diese  praktische  Picgel  ein 
Imperativ  sei,  d.  i.  der  Wille  jedes  vernünftigen  V\'esens 
an  sie  als  Bedingung  nothwendig  gebunden  sei,  kann 
durch  blosse  Zergliederung  der  in  ihm  vorkommenden 
Begriffe  nicht  bewiesen  werden,  weil  es  ein  synthetischer 
Satz  ist;  man  müsste  über  die  Erkenntniss  der  Objekte 
und  zu  einer  Kritik  des  Subjekts,  d.  i.  der  reinen  prak- 
tischen Vernunft  hinausgehen;  denn  völlig  a pr/orz  muss 
dieser  synthetische  Satz,  der  apodiktisch  gebietet,  er- 
kannt werden  können;  dieses  Geschäft  aber  gehört  nicht 
in  gegenwärtigen  Abschnitt.  Allein,  dass  gedachtes 
Prinzip  der  Autonomie  das  alleinige  Prinzip  der  Moral 
sei,  lässt  sich  durch  blosse  Zergliederung  der  Begriffe 
der  Sittlichkeit  gar  wohl  darthun.  Denn  dadurch  findet 
sich,  dass  ihr  Prinzip  ein  kategorischer  Imperativ  sein 
müsse,  dieser  aber  nichts  mehr  oder  weniger,  als  gerade 
diese  Autonomie  gebiete.  2'J) 


Die  Heterouoiuie  des  Willens, 

als  der  Quell  aller  unächten  Prinzipien  der 
Sittlichkeit. 

Wenn  der  Wille  irgend  worin  anders,  als  in  der 
Tauglichkeit  seiner  Maximen  zu  seiner  eigenen  allge- 
meinen Gesetzgebung,  mithin,  w^nn  er,   indem  er  über 

5* 


68  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Abschn. 

sich  selbst  hinausgeht,  in  der  Beschaffenheit  irgend  eines^ 
seiner  Objekte  das  Gesetz  sucht,  das  ihn  bestimmen  soll, 
so  kommt  jederzeit  Heteronomie  heraus.  Der  Wille 
giebt  alsdenn  sich  nicht  selbst,  sondern  das  Objekt 
durch  sein  Verhältniss  zum  Willen  giebt  diesem  das 
Gesetz.  Dies  Verhältniss,  es  beruhe  nun  auf  der  Nei- 
gung, oder  auf  Vorstellungen  der  Vernunft,  lässt  nur 
hypothetische  Imperativen  möglich  werden:  ich  soll 
etwas  thun  darum,  weil  ich  etwas  Anderes  will. 
Dagegen  sagt  der  moralische,  mithin  kategorische  Im- 
perativ: ich  soll  so  oder  so  handeln,  ob  ich  gleich  nichts 
Anderes  wollte.  Z.  E  jener  sagt:  ich  soll  nicht  lügen, 
wenn  ich  bei  Ehren  bleiben  will;  dieser  aber:  ich  soll  nicht 
lügen,  ob  es  mir  gleich  nicht  die  mindeste  Schande  zuzöge. 
Der  letztere  muss  also  von  allem  Gegenstande  sofern 
abstrahiren,  dass  dieser  gar  keinen  Einfluss  auf  den 
Willen  habe,  damit  praktische  Vernunft  (Wille)  nicht 
fremdes  Interesse  bloss  administrire,  sondern  bloss  ihr 
eigenes  gebietendes  Ansehen,  als  oberste  Gesetzgebung, 
beweise.  So  soll  ich  z.  B.  fremde  Glückseligkeit  zu 
befördern  suchen,  nicht  als  wenn  mir  an  deren  Existenz 
was  gelegen  wäre  (es  sei  durch  unmittelbare  Neigung, 
oder  irgend  ein  Wohlgefallen  indirekt  durch  Vernunft), 
sondern  bloss  deswegen,  weil  die  Maxime,  die  sie  aus- 
schliesst,  nicht  in  einem  und  demselben  Wollen,  als 
allgemeinem  Gesetz,  begriffen  werden  kann.^^) 

Eintheilung 

aller  möglichen  Prinzipien  der  Sittlichkeit  aus 

dem  angenommenen  Grundbegriffe  der 

Heteronomie. 

Die  menschliche  Vernunft  hat  hier,  wie  allerwärts 
in  ihrem  reinen  Gebrauche,  so  lange  es  ihr  an  Kritik 
fehlt,  vorher  alle  mögliche  unrechte  Wege  versucht,  ehe 
es  ihr  gelingt,  den  einzigen  wahren  zu  treffen. 

Alle  Prinzipien,  die  man  aus  diesem  Gesichtspunkte 
nehmen  mag,  sind  entweder  empirisch  oder  rational. 
Die  ersteren,  aus  dem  Prinzip  der  Gluckse  ligkeit, 
sind  aufs  physische  oder  moralische  Gefülil,  die  zweiten, 
aus  dem  Prinzip  der  Vollkommenheit,  entweder  auf 


Ueberg.  v,  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  QQ 

den  Vernunftbegriff  derselben,  als  möglicher  Wirkung, 
oder  auf  den  Begriff  einer  selbstständigen  Vollkommen- 
heit (den  Willen  Gottes),  als  bestimmende  Ursache 
unseres  Willens,  gebaut. 

Empirische  Prinzipien  taugen  überall  nicht  dazu, 
um  moralische  Gesetze  darauf  zu  gründen.  Denn  die 
Allgemeinheit,  mit  der  sie  für  alle  vernünftige  Wesen 
ohne  Unterschied  gelten  sollen,  die  unbedingte  prak- 
tische Nothwendigkeit,  die  ihnen  dadurch  auferlegt  wird, 
fällt  weg,  wenn  der  Grund  derselben  von  der  beson- 
deren Einrichtung  der  menschlichen  Natur, 
oder  den  zufälligen  Umständen  hergenommen  wird, 
darin  sie  gesetzt  ist.  Doch  ist  das  Prinzip  der  eigenen 
Glückseligkeit  am  meisten  verwerflich,  nicht  bloss 
deswegen,  weil  es  falsch  ist  und  die  Erfahrung  dem 
Vorgeben,  als  ob  das  Wohlbefinden  sich  jederzeit  nach 
dem  Wohlverhalten  richte,  widerspricht,  auch  nicht  bloss, 
weil  es  gar  nichts  zur  Gründung  der  Sittlichkeit  beiträgt, 
indem  es  ganz  was  Anderes  ist,  einen  glücklichen,  als 
einen  guten  Menschen,  und  diesen  klug  und  auf  seinen 
Vortheil  abgewitzt,  als  ihn  tugendhaft  zu  machen;  son- 
dern weil  es  der  Sittlichkeit  Triebfedern  unterlegt,  die 
sie  eher  untergraben  und  ihre  ganze  Erhabenheit  zer- 
nichten, indem  sie  die  Bewegursachen  zur  Tugend  mit 
denen  zum  Laster  in  eine  Klasse  stellen  und  nur  den 
Calcul  besser  ziehen  lehren,  den  spezifischen  Unterschied 
beider  aber  ganz  und  gar  auslöschen;  dagegen  das 
moralische  Gefühl,  dieser  vermeintliche  besondere  Sinn,*) 
(so  seicht  auch  die  Berufung  auf  selbigen  ist,  indem 
diejenigen,  die  nicht  denken  können,  selbst  in  dem, 
was  bloss  auf  allgemeine  Gesetze  ankommt,  sich  durchs 
Fühlen  auszuhelfen  glauben,  so  w^enig  auch  Gefühle,  die 


*)  Ich  rechne  das  Prinzip  des  moralischen  Gefühls  zu 
dem  der  Glückseligkeit,  weil  ein  jedes  empirisches  Interesse 
durch  die  Annehmlichkeit,  die  etwas  nur  gewährt,  es  mag 
nun  unmittelbar  und  ohne  Absicht  auf  Vortheile,  oder  in 
Kücksicht  auf  dieselben  geschehen,  einen  Beitrag  zum  Wohl- 
befinden verspricht.  Iragleichen  muss  man  das  Prinzip  der 
Theilnehmung  an  Anderer  Glückseligkeit,  mit  Hutcheson, 
zu  demselben  von  ihm  angenommenen  moralischen  Sinne 
rechnen. 


70  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Abschn. 

dem  Grade  nach  von  Natur  unendlich  von  einander 
unterschieden  sind,  einen  gleichen  Maassstab  des  Guten 
und  Bösen  abgeben,  auch  einer  durch  sein  Gefühl  für 
Andere  gar  nicht  gültig  urtheilen  kann)  dennoch  der 
Sittlichkeit  und  ihrer  Würde  dadurch  näher  bleibt,  dass 
er  der  Tugend  die  Ehre  erweist,  das  Wohlgefallen  und 
die  Hochschätzung  für  sie  ihr  unmittelbar  zuzuschrei- 
ben, und  ihr  nicht  gleichsam  ins  Gesicht  sagt,  dass  es 
nicht  ihre  Schönheit,  sondern  nur  der  Vortheil  sei,  der 
uns  an  sie  knüpfe.'^*) 

unter  den  rationalen  oder  Vernunftgründen  der 
Sittlichkeit  ist  doch  der  ontoiogische  Begritf  der  Voll- 
kommenheit (so  leer,  so  unbestimmt,  mithin  unbrauch- 
bar er  auch  ist,  um  in  dem  uuermesslichen  Felde  mög- 
licher Realität  die  für  uns  schickliche  grösste  Summe 
auszufinden,  so  sehr  er  auch,  um  die  Realität,  von  der 
hier  die  Rede  ist,  spezifisch  von  jeder  anderen  zu  unter- 
scheiden, einen  unvermeidlichen  Hang  hat,  sich  im 
Zirkel  zu  drehen,  und  die  Sittlichkeit,  die  er  erklären 
soll,  ingeheim  vorauszusetzen  nicht  vermeiden  kann)  den- 
noch besser,  als  der  theologische  Begriff,  sie  von  einem 
göttlichen  allervollkommensten  Willen  abzuleiten,  nicht 
bloss  deswegen,  weil  wir  seine  Vollkommenheit  doch 
nicht  anschauen,  sondern  sie  von  unseren  Begriffen, 
unter  denen  der  der  Sittlichkeit  der  vornehmste  ist, 
allein  ableiten  können,  sondern  weil,  wenn  wir  dieses 
nicht  thun  (wie  es  denn,  wenn  es  geschähe,  ein  grober 
Zirkel  im  Erklären  sein  würde),  der  uns  noch  übrige 
Begriff  seines  Willens  aus  den  Eigenschaften  der  Ehr- 
und  Herrschbegierde,  mit  den  furchtbaren  Vorstellungen 
der  Macht  und  des  Nacheifers  verbunden,  zu  einem 
System  der  Sitten,  welches  der  Moralität  gerade  ent- 
gegengesetzt wäre,  die  Grundlagen  machen  müsste.^-) 

Wenn  ich  aber  zwischen  dem  Betriff  des  moralischen 
Sinnes  und  dem  der  Vollkommenheit  überhaupt  (die 
beide  der  Sittlichkeit  wenigstens  nicht  Abbruch  thun,, 
ob  sie  gleich  dazu  gar  nichts  taugen,  sie  als  Grundlagen 
zu  unterstützen)  wählen  müsste;  so  würde  ich  mich  für 
den  letzteren  bestimmen,  weil,  da  er  wenigstens  die 
Entscheidung  der  Frage  von  der  Sinnlichkeit  ab  und 
an  den  Gerichtshof  der  reinen  Vernunft  zieht,  ob  er 
gleich  auch  hier  nichts  entscheidet,    dennoch  die  unbe- 


üeberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  71 

stimmte  Idee  (eines  an  sich  guten  Willens)  zur  nähern 
Bestimmung  unverfälscht  aufbehält. 

Uebrigens  glaube  ich  einer  weitläufigen  Widerlegung 
aller  dieser  Lehrbegriffe  überhoben  sein  zu  können.  Sie 
ist  so  leicht,  sie  ist  von  denen  selbst,  deren  Amt  es  er- 
fordert, sich  doch  für  eine  dieser  Theorien  zu  erklären 
(weil  Zuhörer  den  Aufschub  des  Urtheils  nicht  wohl 
leiden  mögen),  selbst  vermuthlich  so  wohl  eingesehen, 
dass  dadurch  nur  überflüssige  Arbeit  geschehen  würde. 
Was  uns  aber  hier  mehr  interessirt,  ist,  zu  wissen,  dass 
diese  Prinzipien  überall  nichts,  als  Heteronomie  des 
Willens  zum  ersten  Grunde  der  Sittlichkeit  aufstellen, 
und  eben  darum  nothwendig  ihres  Zwecks  verfehlen 
müssen. 

Allenthalben,  wo  ein  Objekt  des  Willens  zum  Grunde 
gelegt  werden  muss,  um  diesem  die  Regel  vorzuschrei- 
ben, die  ihn  bestimme,  da  ist  die  Regel  nichts,  als 
Heteronomie;  der  Imperativ  ist  bedingt,  nämlich:  wenn 
oder  weil  man  dieses  Objekt  will,  soll  man  so  oder 
so  handeln;  mithin  kann  er  niemals  moralisch  d.  i, 
kategorisch  gebieten.  Er  mag  nun  das  Objekt  ver- 
mittelst der  Neigung,  wie  beim  Prinzip  der  eigenen 
Glückseligkeit,  oder  vermittelst  der  auf  Gegenstände 
unseres  möglichen  Willens  überhaupt  gerichteten  Ver- 
nunft, im  Prinzip  der  Vollkommenheit,  den  Willen  be- 
stimmen, so  bestimmt  sich  der  Wille  niemals  unmittel- 
bar selbst  durch  die  Vorstellung  der  Handlung,  sondern 
nur  durch  die  Triebfeder,  welche  die  vorausgesehene 
Wirkung  der  Handlung  auf  den  Willen  hat:  ich  soll 
etwas  thun,  darum,  weil  ich  etwas  Anderes 
will,  und  hier  muss  noch  ein  anderes  Gesetz  in  meinem 
Subjekt  zum  Grunde  gelegt  werden,  nach  welchem  ich 
dieses  Andere  nothwendig  will,  welches  Gesetz  wiederum 
eines  Imperativs  bedarf,  der  diese  Maxime  einschränke. 
Denn  weil  der  Antrieb,  den  die  Vorstellung  eines  durch 
unsere  Kräfte  möglichen  Objekts  nach  der  Naturbe- 
schaffenheit des  Subjekts  auf  seinen  Willen  ausüben 
soll,  zur  Natur  des  Subjekts  gehört,  es  sei  der  Sinn- 
lichkeit (der  Neigung  und  des  Geschmacks)  oder  des 
Verstandes  und  der  Vernunft,  die  nach  der  besonderen 
Einrichtung   ihrer   Natur    an    einem    Objekte    sich    mit 


72  Grrundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    2.  Abschn. 

Wohlgefallen  üben,t)  so  gäbe  eigentlich  die  Natur  das 
Gesetz,  welches,  als  ein  solches,  nicht  allein  durch  Er- 
fahrung erkannt  und.  bewiesen  werden  muss,  mithin  an 
sich  zufällig  ist  und  zur  apodiktischen  praktischen  Regel, 
dergleichen  die  moralische  sein  muss,  dadurch  untaug- 
lich wird,  sondern  es  ist  immer  nur  Heteronomie 
des  Willens;  der  Wille  giebt  sich  nicht  selbst,  sondern 
ein  fremder  Antrieb  giebt  ihm,  vermittelst  einer  auf  die 
Empfänglichkeit  desselben  gestimmten  Natur  des  Sub- 
jekts, das  Gesetz. 

Der  schlechterdings  gute  Wille,  dessen  Prinzip  ein 
kategorischer  Imperativ  sein  muss,  wird  also,  in  An- 
sehung aller  Objekte  unbestimmt,  bloss  die  Form  des 
Wo  Ileus  überhaupt  enthalten,  und  zwar  als  Autonomie; 
d.  i.  die  Tauglichkeit  der  Maxime  eines  jeden  guten 
Willens,  sich  selbst  zum  allgemeinen  Gesetze  zu  machen, 
ist  selbst  das  alleinige  Gesetz,  das  sich  der  Wille  eines 
jeden  vernünftigen  Wesens  selbst  auferlegt,  ohne  irgend 
eine  Triebfeder  und  Interesse  derselben  als  Grund  unter- 
zulegen. 

Wie  ein  solcher  synthetischer  praktischer 
Satz  a  jy^'iori  möglich  und  warum  er  nothwendig 
sei,  ist  eine  Aufgabe,  deren  Auflösung  nicht  mehr  binnen 
den  Grenzen  der  Metaphysik  der  Sitten  liegt,  auch 
haben  wir  seine  Wahrheit  hier  nicht  behauptet,  viel- 
weniger vorgegeben,  einen  Beweis  derselben  in  unserer 
Gewalt  zu  haben.  Wir  zeigten  nur  durch  Entwickelung 
des  einmal  allgemein  im  Schwange  gehenden  BegrifiFs 
der  Sittlichkeit,  dass  eine  Autonomie  des  Willens  dem- 
selben unvermeidlicher  Weise  anhänge,  oder  vielmehr 
zum  Grunde  liege.  Wer  also  Sittlichkeit  für  Etwas, 
und  nicht  für  eine  chimärische  Idee  ohne  Wahrheit  hält, 
muss  das  angeführte  Prinzip  derselben  zugleich  ein- 
räumen. Dieser  Abschnitt  war  also,  eben  so,  wie  der  erste. 


t)  Statt  der  Worte:  „Oder  des  Verstandes  und  der  Ver- 
nunft ....  Wohlgefallen  üben"  hatte  die  erste  Ausgabe 
folgende  unverständliche  Worte :  „oder  des  Verstandes 
und  der  Vernunft  an  Vollkommenheit  überhaupt  nimmt, 
{deren  Existenz  entweder  von  ihr  selbst  oder  nur  von  der 
höchsten  selbstständigen  Vollkommenheit  abhängt./' 


Ueberg.  v.  d.  popul.  sittl.  Weltweish.  z.  Metaph.  d.  Sitten.  73 

bloss  analytisch.  Dass  nun  Sittlichkeit  kein  Hirngespinnst 
sei,  welches  alsdenn  folgt,  wenn  der  kategorische  Imperativ 
und  mit  ihm  die  Autonomie  des  Willens  wahr  und  als 
ein  Prinzip  a  prioi'i  schlechterdings  nothwendig  ist, 
erfordert  einen  möglichen  synthetischen  Ge- 
brauch der  reinen  praktischen  Vernunft,  den 
wir  aber  nicht  wagen  dürfen,  ohne  eine  Kritik  dieses 
Vernunftvermögens  selbst  voranzuschicken,  von  welcher 
wir  in  dem  letzten  Abschnitte  die  zu  unserer  Absicht 
hinlänglichen  Hauptzüge  darzustellen  haben.^^) 


Dritter  Abschnitt. 

tlebergang'  yon  der  ^letapliysik  der  Sitten  zur 
Kritik  der  reinen  praktischen  Yerunnft. 


Der  Begriff  der  Freiheit 

ist  der  Schlüssel  zur  Erklärung  der  Autonomie 
des  Willens. 

Der  Wille  ist  eine  Art  von  Kausalität  lebender 
Wesen,  sofern  sie  vernünftig  sind,  und  Freiheit  würde 
diejenige  Eigenschaft  dieser  Kausalität  sein,  da  sie  un- 
abhängig von  fremden  sie  bestimmenden  Ursachen 
wirkend  sein  kann;  so  wie  Na turnoth wendigkeit 
die  Eigenschaft  der  Kausalität  aller  vernunftlosen  Wesen, 
durch  den  Einfluss  fremder  Ursachen  zur  Thätigkeit 
bestimmt  zu  werden. 

Die  angeführte  Erklärung  der  Freiheit  ist  negativ, 
und  daher,  um  ihr  Wesen  einzusehen,  unfruchtbar ;  allein 
es  Üiesst  aus  ihr  ein  positiver  Begrifif  derselben,  der 
desto  reichhaltiger  und  fruchtbarer  ist.  Da  der  Begriff 
einer  Kausalität  den  von  den  Gesetzen  bei  sich  führt, 
nach  welchen  durch  etwas,  was  wir  Ursache  nennen, 
etwas  Anderes,  nämlich  die  Folge,  gesetzt  werden  muss ; 
so  ist  die  Freiheit,  ob  sie  zwar  nicht  eine  Eigenschaft 
des  Willens  nach  Naturgesetzen  ist,  darum  doch  nicht 
gar  gesetzlos,  sondern  muss  vielmehr  eine  Kausalität 
nach  unwandelbaren  Gesetzen,  aber  von  besonderer  Art, 


Ueberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d.  prakt.  Vernunft.  75 

sein;  denn  sonst  wäre  ein  freier  Wille  ein  Unding.  Die 
Naturuothwendigkeit  war  eine  Heterouomie  der  wirken- 
den Ursachen;  denn  jede  Wirkung  w^ar  nur  nach  dem 
Gesetze  möglich,  dass  etwas  Anderes  die  wirkende  Ur- 
sache zur  Kausalilät  bestimmte;  was  kann  denn_jwohl_ 
die  Freiheit  des  Willens  sonst  sem,  äls~Ä"utönomie  d.  i. 
die  Eigeuschaft  des  WillenSj  sich  selbst  ein  Gesetz  zu 
sein?  Der  Satz  aber:  der  Wille  ist  in  allen  Handlungen 
sich  selbst  ein  Gesetz,  bezeichnet  nur  das  Prinzip,  nach 
keiner  anderen  Maxime  zu  handeln,  als  die  sich  selbst 
auch  als  ein  allgemeines  Gesetz  zum  Gegenstaude  haben 
kann.  Dies  ist  aber  gerade  die  Formel  des  kategorischen 
Imperativs  und  das  Prinzip  der  Sittlichkeit;  also  ist  ein 
freier  Wille  und  ein  Wille  unter  sittlichen  Gesetzen 
einerlei.  34) 

Wenn  also  Freiheit  des  Willens  vorausgesetzt  wird, 
so  folgt  die  Sittlichkeit  sammt  ihrem  Prinzip  daraus, 
durch  blosse  Zergliederung  ihres  Begriffs.  Indessen  ist 
das  Letztere  doch  immer  ein  synthetischer  Satz:  ein 
schlechterdings  guter  Wille  ist  derjenige,  dessen  Maxime 
jederzeit  sich  selbst,  als  allgemeines  Gesetz  betrachtet, 
in  sich  enthalten  kann;  denn  durch  Zergliederung  des 
Begritis  von  einem  schlechthin  guten  Willen  kann  jene 
Eigenschaft  der  Maxime  nicht  gefunden  werden.  Solche 
synthetische  Sätze  sind  aber  nur  dadurch  möglich,  dass 
beide  Erkenntnisse  durch  die  Verknüpfung  mit  einem 
Dritten,  darin  sie  beiderseits  anzutreffen  sind,  unter  ein- 
ander verbunden  werden.  Der  positive  Begriff  der 
Freiheit  schafft  dieses  Dritte,  welches  nicht,  wie  bei  den 
physischen  Ursachen ,  die  ^atur  der  Sinnenwelt  sein 
kann  (in  deren  Begriff  die  Begriffe  von  etwas,  als  Ur- 
sache, in  Verhältniss  auf  etwas  Anderes,  als  Wir- 
kung, zusammenkommen).  Was  dieses  Dritte  sei,  worauf 
uns  die  Freiheit  weiset,  und  von  dem  wir  a  j^^riori  eine 
Idee  haben,  lässt  sich  hier  sofort  noch  nicht  anzeigen, 
und  die  Deduktion  des  Begriffs  der  Freiheit  aus  der 
reinen  praktischen  Vernunft,  mit  ihr  auch  die  Möglich- 
keit eines  kategorischen  Imperativs  begreiflich  machen, 
sondern  bedarf  noch  einiger  Vorbereitung. 


76   Gmndlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     3.  Abschn. 


Freiheit  muss  als  Eigenschaft  des  Willens 

aller  vernünftigen  Wesen  vorausgesetzt 
werden. 

Es  ist  nicht  genug,  dass  wir  unserem  Willen,  es  sei 
aus  welchem  Grunde,  Freiheit  zuschreiben,  wenn  wir 
nicht  ebendieselbe  auch  allen  vernünftigen  Wesen  bei- 
zulegen hinreichenden  Grund  haben.  Denn  da  Sittlich- 
keit für  uns  bloss  als  für  vernünftige  Wesen  zum 
Gesetze  dient,  so  muss  sie  auch  für  alle  vernünftige 
Wesen  gelten,  und  da  sie  lediglich  aus  der  Eigenschaft 
der  Freiheit  abgeleitet  werden  muss,  so  muss  auch  Frei- 
heit als  Eigenschaft  des  Willens  aller  vernünftigen 
Wesen  bewiesen  werden,  und  es  ist  nicht  genug,  sie 
aus  gewissen  vermeintlichen  Erfahrungen  von  der  mensch- 
lichen Natur  darzuthun  (wiewohl  dieses  auch  schlechter- 
dings unmöglich  ist  und  lediglich  a  jiriwi  dargethan 
werden  kann),  sondern  man  muss  sie  als  zur  Thätigkeit 
vernünftiger  und  mit  einem  Willen  begabter  Wesen 
überhaupt  gehörig  beweisen.  Ich  sage  nun:  ein  jedes 
Wesen,  das  nicht  anders,  als  unter  der  Idee  der 
Freiheit  handeln  kann,  ist  eben  darum,  in  praktischer 
Rücksicht,  wirklich  frei,  d.  i.  es  gelten  für  dasselbe  alle 
Gesetze,  die  mit  der  Freiheit  unzertrennlich  verbunden 
sind,  ebenso,  als  ob  sein  Wille  auch  an  sich  selbst,  und 
in  der  theoretischen  Philosophie  gültig,  für  frei  erklärt 
würde.*)  Nun  behaupte  ich,  dass  wir  jedem  vernünf- 
tigen Wesen,    das    einen  Willen  hat,   nothwendig   auch 


*;  Diesen  Weg,  die  Freiheit  nur,  als  von  vernünftigen 
Wesen  bei  ihren  Handlungen  bloss  in  der  Idee  zum 
Grunde  gelegt,  zu  unserer  Absicht  hinreichend  anzunehmen, 
schlage  ich  deswegen  ein,  damit  ich  mich  nicht  verbindlich 
machen  dürfte,  die  Freiheit  auch  in  ihrer  theoretischen 
Absicht  zu  beweisen.  Denn  wenn  dieses  Letztere  auch 
unausgemacht  gelassen  wird,  so  gelten  doch  dieselben  Ge- 
setze für  ein  Wesen,  das  nicht  anders,  als  unter  der  Idee 
seiner  eigenen  Freiheit  handeln  kann,  die  ein  Wesen,  das 
wirklich  frei  wäre,  verbinden  würden.  Wir.  können  uns  hier 
also  von  der  Last  befreien,  die  die  Theorie  drückt. 


Ueberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d.  prakt.  Vernunft.  77 

die  Idee  der  Freiheit  leihen  müssen,  unter  der  es  allein 
handle.  Denn  in  einem  solchen  Wesen  denken  wir  uns 
eine  Vernunft,  die  praktisch  ist,  d.  i.  Kausalität  in  An- 
sehung ihrer  Objekte  hat.  Nun  kann  man  sich  unmög- 
lich eine  Vernunft  denken,  die  mit  ihrem  eigenen  Be- 
wusstsein  in  Ansehung  ihrer  Urtheile  anderwärts  her 
eine  Lenkung  empfinge,  denn  alsdann  würde  das  Sub- 
jekt nicht  seiner  Vernunft,  sondern  einem  Antriebe  die 
Bestimmung  der  Urtheilskraft  zuschreiben.  Sie  muss 
sich  selbst  als  Urheberin  ihrer  Prinzipien  ansehen,  un- 
abhängig von  fremden  Einflüssen,  folglich  muss  sie  als 
praktische  Vernunft,  oder  als  Wille  eines  vernünftigen 
Wesens  von  ihr  selbst  als  frei  angesehen  werden;  d.  i. 
der  Wille  desselben  kann  nur  unter  der  Idee  der  Frei- 
heit ein  eigener  Wille  sein,  und  muss  also  in  praktischer 
Absicht  allen  vernünftigen  Wesen  beigelegt  werden.^S) 


Yon  dem  Interesse, 

welches  den  Ideen  der  Sittlichkeit  anhängt. 

Wir  haben  den  bestimmten  Begriff  der  Sittlichkeit 
auf  die  Idee  der  Freiheit  zuletzt  zurückgeführt;  diese 
aber  konnten  wir,  als  etwas  Wirkliches,  nicnt  einmal 
in  uns  selbst  und  in  der  menschlichen  Natur  beweisen; 
wir  sahen  nur,  dass  wir  sie  voraussetzen  müssen,  wenn 
wir  uns  ein  Wesen  als  vernünftig  und  mit  Bewusstsein 
seiner  Kausalität  in  Ansehung  der  Handlungen,  d.  i.  mit 
einem  Willen  begabt  uns  denken  wollen,  und  so  finden 
wir,  dass  wir  aus  ebendemselben  Grunde  jedem  mit 
Vernunft  und  Willen  begabten  Wesen  diese  Eigenschaft, 
sich  unter  der  Idee  seiner  Freiheit  zum  Handeln  zu  be- 
stimmen, beilegen  müssen. 

Es  floss  aber  aus  der  Voraussetzung  dieser  Idee 
auch  das  Bewusstsein  eines  Gesetzes  zu  handeln:  dass 
die  subjektiven  Grundsätze  der  Handlungen,  d.  i. 
Maximen,  jederzeit  so  genommen  werden  müssen,  dass 
sie  auch  objektiv,  d.  i.  allgemein  als  Grundsätze, 
gelten,  mithin  zu  unserer  eigenen  allgemeinen  Ge- 
setzgebung   dienen    können.        Warum    aber    soll    ich 


73   Gruüdlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    3.  Abschn. 

mich  denn  diesem  Prinzip  unterwerfen  und  zwar  als 
vernünftiges  Wesen  überhaupt,  mithin  auch  dadurch  alle 
andere  mit  Vernunft  begabte  Wesen?  Ich  will  einräumen, 
dass  mich  hierzu  kein  Interesse  treibt,  denn  das  würde 
keinen  kategorischen  Imperativ  geben;  aber  ich  muss 
doch  hieran  nothwendig  ein  Interesse  nehmen  und 
einsehen,  wie  das  zugeht;  denn  dieses  Sollen  ist  eigent- 
lich ein  Wollen,  das  unter  der  Bedingung  für  jedes  ver- 
nünftige Wesen  gilt,  wenn  die  Vernunft  bei  ihm  ohne 
Hindernisse  praktisch  wäre;  für  Wesen,  die,  wie  wir, 
noch  durch  Sinnlichkeit,  als  Triebfedern  anderer  Art, 
afficirt  werden,  bei  denen  es  nicht  immer  geschieht, 
was  die  Vernunft  für  sich  allein  thun  würde,  heisst  jene 
Nothwendigkeit  der  Handlung  nur  ein  Sollen,  und  die 
subjektive  Noth wendigkeit  wird  von  der  objektiven 
unterschieden. 

Es  scheint  also,  als  setzten  wir  in  der  Idee  der  Frei- 
heit eigentlich  das  moralische  Gesetz,  nämlich  das  Prin- 
zip der  Autonomie  des  Willens  selbst,  nur  voraus,  und 
könnten  seine  Realität  und  objektive  Kothwendigkeit 
nicht  für  sich  beweisen,  und  da  hätten  wir  zwar  noch 
immer  etwas  ganz  Beträchtliches  dadurch  gewonnen, 
dass  wir  wenigstens  das  ächte  Prinzip  genauer,  als  wohl 
sonst  geschehen,  bestimmt  hätten,  in  Ansehung  seiner 
Gültigkeit  aber  und  der  praktischen  Nothwendigkeit, 
sich  ihm  zu  unterwerfen,  wären  wir  um  nichts  weiter 
gekommen;  denn  wir  könnten  dem,  der  uns  fragte: 
warum  denn  die  Allgemeingültigkeit  unserer  Maxime, 
als  eines  Gesetzes,  die  einschränkende  Bedingung  unserer 
Handlungen  sein  müsse,  und  worauf  wir  den  Werth 
gründen,  den  wir  dieser  Art  zu  handeln  beilegen,  der 
so  gross  sein  soll,  dass  es  überall  kein  höheres  Interesse 
geben  kann,  und  wie  es  zugehe,  dass  der  Mensch  da- 
durch allein  seinen  persönlichen  Werth  zu  fühlen  glaubt, 
gegen  den  der  eines  angenehmen  oder  unangenehmen 
Zustandes  für  nichts  zu  halten  sei,  keine  genugthuende 
Antwort  geben.  ^6) 

Zwar  finden  wir  wohl,  dass  wir  an  einer  persönlichen 
Beschatfenheit  ein  Interesse  nehmen  können,  die  gar 
kein  Interesse  des  Zustandes  bei  sich  führt,  wenn  jene 
uns  nur  fähig  macht,  des  letzteren  theilhaftig  zu  werden, 


üeberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d.  prakt.  Vernunft.  79 

im  Falle  die  Vernimft  die  Aiistbeilung  desselben  be- 
wirken sollte,  d.  i.  dass  die  blosse  Würdigkeit^  glück- 
lich zu  sein,  auch  ohne  den  Bewegungsgrund,  dieser 
Glückseligkeit  theilhaftig  zu  werden,  für  sich  interessiren 
könne;  aber  dieses  Urtheil  ist  in  der  That  nur  die 
Wirkung  von  der  schon  vorausgesetzten  Wichtigkeit 
moralischer  Gesetze  (wenn  wir  uns  durch  die  Idee  der 
Freiheit  von  allem  empirischen  Interesse  trennen),  aber, 
dass  wir  uns  von  diesem  trennen,  d.  i.  uns  als  frei  im 
Handeln  betrachten,  und  so  uns  dennoch  für  gewissen 
Gesetzen  unterworfen  halten  sollen,  um  einen  Werth 
bloss  in  unserer  Person  zu  finden,  der  uns  allen  Verlust 
dessen,  was  unserem  Zustande  einen  Werth  verschafft, 
vergüten  könne,  und  wie  dieses  möglich  sei,  mithin 
w^oher  das  moralische  Gesetz  verbinde,  können 
wir  auf  solche  Art  noch  nicht  einsehen. 

Es  zeigt  sich  hier,  man  muss  es  frei  gestehen,  eine 
Art  von  Zirkel,  aus  dem,  wie  scheint,  nicht  herauszu- 
kommen ist.  Wir  nehmen  uns  in  der  Ordnung  der 
wirkenden  Ursachen  als  frei  an,  um  uns  in  der  Ordnung 
der  Zwecke  unter  sittlichen  Gesetzen  zu  denken,  und 
wir  denken  uns  nachher  als  diesen  Gesetzen  unter- 
worfen, weil  wir  uns  die  Freiheit  des  Willens  beigelegt 
haben;  denn  Freiheit  und  eigene  Gesetzgebung  des 
Willens  sind  beides  Autonomie,  mithin  Wechselbegriffe, 
davon  aber  einer  eben  um  deswillen  nicht  dazu  gebraucht 
werden  kann,  um  den  anderen  zu  erklären  und  von 
ihm  Grund  anzugeben,  sondern  höchstens  nur,  um  in 
logischer  Absicht  verschieden  scheinende  Vorstellungen 
von  ebendemselben  Gegenstande  auf  einen  einzigen  Be- 
griff (wie  verschiedene  Brüche  gleiches  Inhalts  auf  die 
kleinsten  Ausdrücke)  zu  bringen. 

Eine  Auskunft  bleibt  uns  aber  noch  übrig,  nämlich 
zu  suchen:  ob  wir,  wenn  wir  uns,  durch  Freiheit,  als 
a  jynori  wirkende  Ursachen  denken,  nicht  einen  an- 
deren Standpunkt  einnehmen,  als  wenn  wir  uns  selbst 
nach  unseren  Handlungen  als  Wirkungen,  die  wir  vor 
unseren  Augen  sehen,  vorstellen. 

Es  ist  eine  Bemerkung,  welche  anzustellen  eben 
kein  subtiles  Nachdenken  erfordert  wird,  sondern  von 
der  man  annehmen  kann,  dass  sie  wohl  der  gemeinste 
Verstand,  obzwar  nach  seiner  Art,    durch   eine    dunkle 


30  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    3.  Abschn. 

Unterscheidung  der  Urtheilskraft ,  die  er  Gefühl  nennt^ 
machen  mag:  dass  alle  Vorstellungen,  die  uns  ohne 
unsere  Willkür  kommen  (wie  die  der  Sinne),  uns  die 
Gegenstände  nicht  anders  zu  erkennen  geben,  als  sie 
uns  afficiren,  wobei,  was  sie  an  sich  sein  mögen,  uns 
unbekannt  bleibt,  mithin  dass,  was  diese  Art  Vor- 
stellungen betrifft,  wir  dadurch,  auch  bei  der  ange- 
strengtesten Aufmerksamkeit  und  Deutlichkeit,  die  der 
Verstand  nur  immer  hinzufügen  mag,  doch  bloss  zur 
Erkenntniss  der  Erscheinungen,  niemals  der  Dinge 
an  sich  selbst  gelangen  können.  Sobald  dieser  Unter- 
schied (allenfalls  bloss  durch  die  bemerkte  Verschieden- 
heit zwischen  den  Vorstellungen,  die  uns  anderswoher 
gegeben  werden  und  dabei  wir  leidend  sind,  von  denen, 
die  wir  lediglich  aus  uns  selbst  hervorbringen  und  da- 
bei wir  unsere  Thätigkeit  beweisen)  einmal  gemacht 
ist,  so  folgt  von  selbst,  dass  man  hinter  den  Erschei- 
nungen doch  noch  etwas  Anderes,  was  nicht  Erscheinung 
ist,  nämlich  die  Dinge  an  sich,  einräumen  und  annehmen 
müsse,  ob  wir  gleich  uns  von  selbst  bescheiden,  dass, 
da  sie  uns  niemals  bekannt  werden  können,  sondern 
immer  nur,  wie  sie  uns  afficiren,  wir  ihnen  nicht  näher 
treten  und,  was  sie  an  sich  sind,  niemals  wissen  können. 
Dieses  muss  eine,  obzwar  rohe  Unterscheidung  der 
Sinnenwelt  von  der  Verstandes  weit  abgeben,  da- 
von die  erstere  nach  Verschiedenheit  der  Sinnlichkeit 
in  mancherlei  Weltbeschauern  auch  sehr  verschieden 
sein  kann,  indessen  die  zweite,  die  ihr  zum  Grunde 
liegt,  immer  dieselbe  bleibt.  Sogar  sich  selbst  und  zwar 
nach  der  Kenntniss,  die  der  Mensch  durch  innere 
Empfindung  von  sich  hat,  darf  er  sich  nicht  anmassen 
zu  erkennen,  wie  er  an  sich  selbst  sei.  Denn  da  er 
doch  sich  selbst  nicht  gleichsam  schafi't  und  seinen  Be- 
griff nicht  a  prioi^i^  sondern  empirisch  bekömmt,  so  ist 
natürlich,  dass  er  auch  von  sich  durch  den  Innern  Sinn 
und  folglich  nur  durch  die  Erscheinung  seiner  Natur 
und  die  Art,  wie  sein  Bewusstsein  afficirt  wird,  Kund- 
schaft einziehen  könne,  indessen  er  doch  nothwendiger 
Weise  über  diese  aus  lauter  Erscheinungen  zusammen- 
gesetzte Beschaffenheit  seines  eigenen  Subjekts  noch 
etwas  Anderes  zum  Grunde  liegendes,  nämlich  sein  Ich, 
so  wie  es  an  sich  selbst  beschaffen  sein  mag,  annehmen, 


Ueberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d.  prakt.  Veraunft.  gl 

und  sich  also  in  Absicht  auf  die  blosse  Wahrnehmung 
und  Empfänglichkeit  der  Empfindungen  zur  Sinnen- 
welt,  in  Ansehung  dessen  aber,  was  in  ihm  reine 
Thätigkeit  sein  mag  (dessen,  was  gar  nicht  durch  Affi- 
ciruug  der  Sinne,  sondern  unmittelbar  zum  Bewusstsein 
gelangt),  sich  zur  intellektuellen  Welt  zählen  muss, 
die  er  doch  nicht  weiter  kennt. 

Dergleichen  Schluss  muss  der  nachdenkende  Mensch 
von  allen  Dingen,  die  ihm  vorkommen  mögen,  fällen  ;  ver- 
muthlich  ist  er  auch  im  gemeinsten  Verstände  anzu- 
treffen, der,  wie  bekannt,  sehr  geneigt  ist,  hinter  den 
Gegenständen  der  Sinne  noch  immer  etwas  Unsichtbares, 
für  sich  selbst  Thätiges  zu  erwarten,  es  aber  wiederum 
dadurch  verdirbt,  dass  er  dieses  Unsichtbare  sich  bald 
wiederum  versinnlicht  d.  i.  zum  Gegenstande  der  An- 
schauung machen  will,  und  dadurch  also  nicht  um  einen 
Grad  klüger  wird. 

Nun  findet  der  Mensch  in  sich  wirklich  ein  Ver- 
mögen, dadurch  er  sich  von  allen  andern  Dingen,  ja 
von  sich  selbst,  sofern  er  durch  Gegenstände  afficirt 
wird,  unterscheidet,  und  das  ist  die  Vernunft.  Diese, 
als  reine  Selbstthätigkeit,  ist  sogar  darin  noch  über  den 
Verstand  erhoben:  dass,  obgleich  dieser  auch  Selbst- 
thätigkeit ist,  und  nicht,  wie  der  Sinn,  bloss  Vorstellungen 
enthält,  die  nur  entspringen,  wenn  man  von  Dingen 
afficirt  (mithin  leidend)  ist,  er  dennoch  aus  seiner  Thätig- 
keit keine  anderen  Begriffe  hervorbringen  kann,  als  die, 
90  bloss  dazu  dienen,  um  die  sinnlichen  Vorstellun- 
gen unter  Regeln  zu  bringen  und  sie  dadurch  in 
einem  Bewusstsein  zu  vereinigen,  ohne  welchen  Gebrauch 
der  Sinnlichkeit  er  gar  nichts  denken  würde,  dahingegen 
die  Vernunft  unter  dem  Namen  der  Ideen  eine  so  reine 
Spontaneität  zeigt,  dass  er  dadurch  weit  über  alles,  was 
ihm  Sinnlichkeit  nur  liefern  kann,  hinausgeht,  und  ihr 
vornehmstes  Geschäft  darin  beweiset,  Sinnenwelt  und 
Verstandeswelt  von  einander  zu  unterscheiden,  dadurch 
aber  dem  Verstände  selbst  seine  Schranken  vorzu- 
zeichnen. 

Um  deswillen  muss  ein  vernünftiges  Wesen  sich 
selbst,  als  Intelligenz  (also  nicht  von  Seiten  seiner 
untern  Kräfte),  nicht  als  zur  Sinnen-,  sondern  zur  Ver- 
standeswelt gehörig,  ansehen;  mithin  hat  es  zwei  Stand- 
Kant,  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.  O 


i^öH^ 


32    Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    3.  Abschn. 

punkte,  daraus  es  sich  selbst  betrachten  und  Gesetze 
des  Gebrauchs  seiner  Kräfte,  folglich  aller  seiner  Hand- 
lungen erkennen  kann,  einmal,  sofern  es  zur  Sinnen- 
welt gehört,  unter  Naturgesetzen  (Heteronomie),  zwei- 
tens, als  zur  intelligiblen  Welt  gehörig,  unter  Gesetzen, 
die,  von  der  Natur  unabhängig,  nicht  empirisch,  sondern 
bloss  in  der  Vernunft  gegründet  sind. 

Als  ein  vernünftiges,  mithin  zur  intelligiblen  Welt 
gehöriges  Wesen,  kann  der  Mensch  die  Kausalität  seines 
eigenen  Willens  niemals  anders,  als  unter  der  Idee  der 
Freiheit  denken;  denn  Unabhängigkeit  von  den  be- 
stimmenden Ursachen  der  Sinnenwelt  (dergleichen  die 
Vernunft  jederzeit  sich  selbst  beilegen  muss)  ist  Freiheit. 
Mit  der  Idee  der  Freiheit  ist  nun  der  Begriff  der  Auto- 
nomie unzertrennlich  verbunden,  mit  diesem  aber  das 
allgemeine  Prinzip  der  Sittlichkeit,  welches  in  der  Idee 
allen  Handlungen  vernünftiger  Wesen  eben  so  zum 
Grunde  liegt,  als  Naturgesetz  allen  Erscheinungen. 

Nun  ist  der  Verdacht,  den  wir  oben  rege  machten, 
gehoben,  als  wäre  ein  geheimer  Zirkel  in  unserem 
fc5chlusse  aus  der  Freiheit  auf  die  Autonomie  und  aus 
dieser  aufs  sittliche  Gesetz  enthalten,  dass  wir  nämlich 
vielleicht  die  Idee  der  Freiheit  nur  um  des  sittlichen 
Gesetzes  willen  zum  Grunde  legten,  um  dieses  nachher 
aus  der  Freiheit  wiederum  zu  seh  Hessen,  mithin  von 
jenem  gar  keinen  Grund  angeben  könnten,  sondern  es 
nur  als  Erbittung  eines  Prinzips,  das  uns  gutgesinnte 
Seelen  wohl  gerne  einräumen  werden,  welches  wir  aber 
niemals  als  einen  erweislichen  Satz  aufstellen  könnten. 
Denn  jetzt  sehen  wir,  dass,  wenn  wir  uns  als  frei  den- 
ken, so  versetzen  wir  uns  als  Glieder  in  die  Verstandes- 
welt, und  erkennen  die  Autonomie  des  Willens  sammt 
ihrer  Folge,  der  Moralität;  denken  wir  uns  aber  als 
verpflichtet,  so  betrachten  wir  uns  als  zur  Sinnenwelt 
und  doch  zugleich  zur  Verstandeswelt  gehörig.  •*") 


Wie  ist  ein  kategorischer  Imperativ 
möglich? 

Das  vernünftige  Wesen  zählt  sich  als  Intelligenz  zur 
Verstandeswelt,   und    bloss  als  eine  zu  dieser  gehörige 


TJeberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d.  prakt.  Vernunft.  83 

wirkende  Ursache  nennt  es  seine  Kausalität  einen 
Willen.  Von  der  anderen  Seite  ist  es  sich  seiner  doch 
auch  als  eines  Stücks  der  Sinnenwelt  bewusst,  in  welcher 
seine  Handlungen  als  blosse  Erscheinungen  jener  Kau- 
salität angetroifen  werden,  deren  Möglichkeit  aber  aus 
dieser,  die  wir  nicht  kennen,  nicht  eingesehen  werden 
kann,  sondern  an  deren  Statt  jene  Handlungen  als  be- 
stimmt durch  andere  Erscheinungen,  nämlich  Begierden 
und  Neigungen,  als  zur  Sinnenwelt  gehörig,  eingesehen 
werden  müssen.  Als  blossen  Gliedes  der  Verstandes- 
welt würden  also  alle  meine  Handlungen  dem  Prinzip 
der  Autonomie  des  reinen  Willens  vollkommen  gemäss 
sein;  als  blossen  Stücks  der  Sinnenwelt  würden  sie 
gänzlich  dem  Naturgesetz  der  Begierden  und  Neigungen, 
mithin  der  Heteronomie  der  Natur  gemäss  genommen 
werden  müssen.  (Die  ersteren  würden  auf  dem  obersten 
Prinzip  der  Sittlichkeit,  die  zweiten  der  Glückseligkeit 
beruhen.)  Weil  aber  die  Verstandeswelt  den 
Grund  der  Sinnenwelt,  mithin  auch  der  Ge- 
setze derselben  enthält,  also  in  Ansehung  meines 
Willens  (der  ganz  zur  Verstandeswelt  gehört)  unmittel- 
bar gesetzgebend  ist  und  also  auch  als  solche  gedacht 
werden  muss,  so  werde  ich  mich  als  Intelligenz,  obgleich 
andererseits  wie  ein  zur  Sinnenwelt  gehöriges  Wesen, 
dennoch  dem  Gesetze  der  ersteren  d.  i.  der  Vernunft, 
die  in  der  Idee  der  Freiheit  das  Gesetz  derselben  ent- 
liält,  und  also  der  Autonomie  des  Willens  unterworfen 
erkennen,  folglich  die  Gesetze  der  Verstandeswelt  für 
mich  als  Imperativen  und  die  diesem  Prinzip  gemässen 
Handlungen  als  Pflichten  ansehen  müssen. 

Und  so  sind  kategorische  Imperativen  möglich,  da- 
durch, dass  die  Idee  der  Freiheit  mich  zu  einem  Gliede 
einer  intelligiblen  Welt  macht,  wodurch,  wenn  ich  solches 
allein  wäre,  alle  meine  Handlungen  der  Autonomie  des 
Willens  jederzeit  gemäss  sein  würden,  da  ich  mich 
aber  zugleich  als  Glied  der  Sinnenwelt  anschaue,  ge- 
mäss sein  sollen,  welches  kategorische  Sollen  einen 
synthetischen  Satz  a  j^^riori  vorstellt,  dadurch,  dass  über 
meinen  durch  sinnliche  Begierden  afficirten  Willen  noch 
die  Idee  ebendesselben,  aber  zur  Verstandeswelt  ge- 
hörigen, reinen,  für  sich  selbst  praktischen  Willens  hin- 
Tzukommt,    welcher   die    oberste  Bedingung  des  ersteren 


84  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    3,  Abschn. 

nach  der  Vernunft  enthält;  ohngefähr  so,  wie  zu  den 
Anschauungen  der  Sinnenwelt  Begriffe  des  Verstandes^, 
die  für  sich  selbst  nichts,  als  gesetzliche  Form  über- 
haupt bedeuten,  hinzu  kommen,  und  dadurch  synthe- 
tische Sätze  ap7iori,  aufweichen  alle  Erkenntniss  einer 
Natur  beruht,  möglich  machen. 

Der  praktische  Gebrauch  der  gemeinen  Menschen- 
vernunft bestätigt  die  Richtigkeit  dieser  Deduktion.  Es 
ist  Niemand,  selbst  der  ärgste  Bösewicht,  wenn  er  nur 
sonst  Vernunft  zu  brauchen  gewohnt  ist,  der  nicht,  wenn 
man  ihm  Beispiele  der  Redlichkeit  in  Absichten,  der 
Standhaftigkeit  in  Befolgung  guter  Maximen,  der  Theil- 
nebmung  und  des  allgemeinen  Wohlwollens  (und  noch 
dazu  mit  grossen  Aufopferungen  von  Vortheilen  und 
Gemächlichkeit  verbunden)  vorlegt,  nicht  wünsche,  dass 
er  auch  so  gesinnt  sein  möchte.  Er  kann  es  aber  nur 
wegen  seiner  Neigungen  und  Antriebe  nicht  wohl  in 
sich  zu  Stande  bringen;  wobei  er  dennoch  zugleich 
wünscht,  von  solchen  ihm  selbst  lästigen  Neigungen  frei 
zu  sein.  Er  beweiset  hierdurch  also,  dass  er  mit  einem 
Willen,  der  von  Antrieben  der  Sinnlichkeit  frei  ist,  sich 
in  Gedanken  in  eine  ganz  andere  Ordnung  der  Dinge 
versetze,  als  die  seiner  Begierden  im  Felde  der  Sinn- 
lichkeit, weil  er  von  jenem  Wunsche  keine  Vergnügung 
der  Begierden,  mithin  keinen  für  irgend  eine  seiner 
wirklichen  oder  sonst  erdenklichen  Neigungen  befrie- 
digenden Zustand  (denn  dadurch  würde  selbst  die  Idee, 
welche  ihm  den  Wunsch  ablockt,  ihre  Vorzüglichkeit 
einbüssen),  sondern  nur  einen  grösseren  inneren  Werth 
seiner  Person  erwarten  kann.  Diese  bessere  Person 
glaubt  er  aber  zu  sein,  wenn  er  sich  in  den  Standpunkt 
eines  Gliedes  der  Verstandeswelt  versetzt,  dazu  die  Idee 
der  Freiheit  d.  i.  Unabhängigkeit t)  von  bestimmen- 
den Ursachen  der  Sinnenwelt  ihn  unwillkürlich  nöthigt^ 
und  in  welchem  er  sich  eines  guten  Willens  bewusst 
ist,  der  für  seinen  bösen  Willen,  als  Gliedes  der  Sinnen- 
welt, nach  seinem  eigenen  Geständnisse  das  Gesetz 
ausmacht,  dessen  Ansehen  er  kennt,  indem  er  es  über- 
tritt.    Das  moralische  Sollen  ist  also  eigenes  nothwen- 


t)  „d.  i.  Unabhängigkeit"  fehlt  in  der  ersten  Ausgabe. 


Ueberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d.  prakt.  Vernunft.  35; 

diges  Wollen  als  Gliedes  einer  intelligiblen  Welt,  und 
wird  nur  sofern  von  ihm  als  Sollen  gedacht,  als  er  sich 
zugleich  wie  ein  Glied  der  Sinnenwelt  betrachtet.  38) 


Ton  der  äussersten  Grenze 

aller  praktischen  Philosophie. 

Alle  Menschen  denken  sich  dem  Willen  nach  als  frei. 
Daher  kommen  alle  Urtheile  über  Handlungen  als  solche, 
die  hätten  geschehen  sollen,  ob  sie  gleich  nicht 
geschehen  sind.  Gleichwohl  ist  diese  Freiheit  kein 
Erfahrungsb^griff,  und  kann  es  auch  nicht  sein,  weil 
er  immer  bleibt,  obgleich  die  Erfahrung  das  Gegentheil 
von  denjenigen  Forderungen  zeigt,  die  unter  Voraus- 
setzung derselben  als  notliw endig  vorgestellt  werden. 
Auf  der  anderen  Seite  ist  es  ebenso  nothwendig,  dass 
alles,  was  geschieht,  nach  Naturgesetzen  unausbleiblich 
bestimmt  sei,  und  diese  Naturnothwendigkeit  ist  auch 
kein  Erfahrungsbegriff,  eben  darum,  weil  er  den  Begriff 
der  Nothwendigkeit ,  mithin  einer  Erkenntniss  a  jyriwi 
bei  sich  führt.  Aber  dieser  Begriff  von  einer  Natur 
wird  durch  Erfahrung  bestätigt,  und  muss  selbst  unver- 
meidlich vorausgesetzt  werden,  wenn  Erfahrung,  d.  i. 
nach  allgemeinen  Gesetzen  zusammenhängende  Erkennt- 
niss der  Gegenstände  der  Sinne  möglich  sein  soll.  Da- 
her ist  Freiheit  nur  eine  Idee  der  Vernunft,  deren  ob- 
jektive Realität  an  sich  zweifelhaft  ist,  Natur  aber  ein 
Verstandesbegriff,  der  seine  Realität  an  Beispielen 
der  Erfahrung  beweist  und  nothwendig  beweisen  muss. 

Ob  nun  gleich  hieraus  eine  Dialektik  der  Vernunft 
entspringt,  da  in  Ansehung  des  Willens  die  ihm  beige- 
legte Freiheit  mit  der  Naturnothwendigkeit  im  Wider- 
spruch zu  stehen  scheint,  und  bei  dieser  Wegscheidung, 
die  Vernunft  in  spekulativer  Absicht  den  Weg  der 
Naturnothwendigkeit  viel  gebahnter  und  brauchbarer 
findet,  als  den  der  Freiheit,  so  ist  doch  in  praktischer 
Absicht  der  Fusssteig  der  Freiheit  der  einzige,  auf 
welchem  es  möglich  ist,  von  seiner  Vernunft  bei  unserem 
Thun  und  Lassen  Gebrauch  zu  machen;  daher  wird  es 
der  subtilsten  Philosophie  eben  so  unmöglich,  wie  der 


86  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    3.  Abschn. 

gemeinsten  Menschenvernunft,  die  Freiheit  wegzuver- 
nünfteln.  Diese  muss  also  wohl  voraussetzen,  dass  kein 
wahrer  Widerspruch  zwischen  Freiheit  und  Naturnoth- 
wendigkeit  ebenderselben  menschlichen  Handlungen  an- 
getroffen werde;  denn  sie  kann  ebenso  wenig  den  Be- 
griff der  Natur,  als  den  der  Freiheit  aufgeben. 

Indessen  muss  dieser  Scheinwiderspruch  wenigstens 
auf  überzeugende  Art  vertilgt  werden,  wenn  man  gleich, 
wie  Freiheit  möglich  sei,  niemals  begreifen  könnte. 
Denn  wenn  sogar  der  Gedanke  von  der  Freiheit  sich 
selbst  oder  der  Natur,  die  ebenso  nothwendig  ist,  wider- 
spricht, sf)  müsste  sie  gegen  die  Natumothwendigkeit 
durchaus  aufgegeben  werden. 

Es  ist  aber  unmöglich,  diesem  Widerspruch  zu  ent- 
gehen, wenn  das  Subjekt,  was  sicli  frei  dünkt,  sich  selbst 
in  demselben  Sinne  oder  in  ebendemselben  Ver- 
hältnisse dächte,  wenn  es  sich  frei  nennt,  als  wenn 
es  sich  in  Absicht  auf  die  nämliche  Handlung  dem  Na- 
turgesetze unterworfen  annimmt.  Daher  ist  es  eine 
unnachlassliche  Aufgabe  der  spekulativen  Philosophie, 
v/enigstens  zu  zeigen,  dass  ihre  Täuschung  wegen  des 
Widerspruchs  darin  beruhe,  dass  wir  den  Menschen  in 
einem  anderen  Sinne  und  Verhältnisse  denken,  wenn 
wir  ihn  frei  nennen,  als  wenn  wir  ihn,  als  Stück  der 
Natur,  dieser  ihren  Gesetzen  für  unterworfen  halten, 
und  dass  beide  nicht  allein  gar  wohl  beisammen  stehen 
können,  sondern  auch  als  nothwendig  vereinigt  in 
demselben  Subjekt  gedacht  werden  müssen,  weil  sonst  nicht 
Grund  angegeben  werden  könnte,  warum  wir  die  Ver- 
nunft mit  einer  Idee  belästigen  sollten,  die,  ob  sie  sich 
gleich  ohne  Widerspruch  mit  einer  anderen  genug- 
sam bewährten  vereinigen  lässt,  dennoch  uns  in  ein 
Geschäft  verwickelt,  wodurch  die  Vernunft  in  ihrem 
theoretischen  Gebrauche  sehr  in  die  Enge  gebracht  wird. 
Diese  Pflicht  liegt,  aber  bloss  der  spekulativen  Philo- 
sophie ob,  damit  sie  der  praktischen  freie  Bahn  schaffe. 
Also  ist  es  nicht  in  das  Belieben  des  Philosophen  ge- 
setzt, ob  er  den  scheinbaren  Widerstreit  heben,  oder 
ihn  unangerührt  lassen  will;  denn  im  letzteren  Falle 
ist  die  Theorie  hierüber  bmmm  vacans^  in  dessen  Besitz 
sich  der  Fatalist  mit  Grunde  setzen  und  alle  Moral  aus 


Ueberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d.  prakt.  Yernnnft.  g7 

ihrem  ohne  Titel  besessenen  vermeinten  Eigenthum  ver- 
jagen kann. 

Doch  kann  man  hier  noch  nicht  sagen,  dass  die 
Grenze  der  praktischen  Piiilosophie  anfange.  Denn  jene 
Beilegung  der  Streitigkeit  gehört  gar  nicht  ihr  zuf), 
sondern  sie  fordert  nur  von  der  spekulativen  Vernunft, 
dass  diese  die  Uneinigkeit,  darin  sie  sich  in  theoretischen 
Fragen  selbst  verwickelt,  zu  Ende  bringe,  damit  prak- 
tische Vernunft  Ruhe  und  Sicherheit  für  äussere  An- 
griffe habe,  die  ihr  den  Boden,  worauf  sie  sich  anbauen 
will,  streitig  macheu  könnten. 

Der  Rechtsanspruch  aber,  selbst  der  gemeinen  Men- 
schenvernunft, auf  Freiheit  des  Willens,  gründet  sich 
auf  das  ßewusstsein  und  die  zugestandene  Voraussetzung 
der  Unabhängigkeit  der  Vernunft  von  bloss  subjektiv- 
bestimmenden Ursachen,  die  insgesammt  das  ausmachen, 
was  bloss  zur  Empfindung,  mithin  unter  die  allgemeine 
Benennung  der  Sinnlichkeit  gehört.  Der  Mensch,  der 
sich  auf  solche  Weise  als  Intelligenz  betrachtet,  setzt 
sich  dadurch  in  eine  andere  Ordnung  der  Dinge  und 
in  ein  Verhältniss  zu  bestimmenden  Gründen  von  ganz 
anderer  Art,  wenn  er  sich  als  Intelligenz  mit  einem 
Willen,  folglich  mit  Kausalität  begabt  denkt,  als  wenn 
er  sich  wie  Phänomen  in  der  Sinnenwelt  (welches  er 
wirklich  auch  ist)  wahrnimmt  und  seine  Kausalität, 
äusserer  Bestimmung  nach,  Naturgesetzen  unterwirft. 
Nun  wird  er  bald  inne,  dass  Beides  zugleich  stattfinden 
könne,  ja  sogar  müsse.  Denn  dass  ein  Ding  in  der 
Erscheinung  (das  zur  Sinnen  weit  gehörig)  gewissen 
Gesetzen  unterworfen  ist,  von  welchen  ebendasselbe,  als 
Ding  oder  Wesen  an  sich  selbst,  unabhängig  ist, 
enthält  nicht  den  mindesten  Widerspruch ;  dass  er  sich 
selbst  aber  auf  diese  zwiefache  Art  vorstellen  und  denken 
müsse,  beruht,  was  das  Erste  betrifft,  auf  dem  ßewusst- 
sein seiner  selbst  als  durch  Sinne  afficirten  Gegenstandes, 
was  das  Zweite  anlangt,  auf  dem  Bewusstsein  seiner  selbst 
als  Intelligenz,  d.  i.  als  unabhängig  im  Vernunftgebrauch 
von  sinnlichen  Eindrücken  (mithin  als  zur  Verstandes- 
welt gehörig). 

Daher  kommt  es,  dass  der  Mensch  sich  eines  Willens 


t)  Erste  Ausgabe:  „zu  ihr.' 


38  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    3.  Abschn. 

anmasst,  der  nichts  auf  seine  Rechnung  kommen  lässt, 
was  bloss  zu  seinen  Begierden  und  Neigungen  gehört, 
und  dagegen  Handlungen  durch  sicli  als  möglich ,  ja 
gar  als  noth wendig  denkt,  die  nur  mit  Hintansetzung 
aller  Begierden  und  sinnlichen  Anreizungen  geschehen 
können.  Die  Kausalität  derselben  liegt  in  ihm  als  In- 
telligenz und  in  den  Gesetzen  der  Wirkungen  und  Hand- 
lungen nach  Prinzipien  einer  intelligiblen  Welt,  von  der 
er  wohl  nichts  weiter  weiss,  als  dass  darin  lediglich  die 
Vernunft,  und  zwar  reine,  von  Sinnlichkeit  unabhängige 
Vernunft,  das  Gesetz  gebe,  imgleichen  da  er  daselbst 
nur  als  Intelligenz  das  eigentliche  Selbst  (als  Mensch 
hingegen  nur  Erscheinung  seiner  selbst)  ist,  jene  Gesetze 
ihn  unmittelbar  und  kategorisch  angehen,  so  dass,  wozu 
Neigungen  und  Antriebe  (mithin  die  ganze  Natur  der 
Sinnenwelt)  anreizen,  den  Gesetzen  seines  WoUens,  als 
Intelligenz,  keinen  Abbruch  thun  können,  sogar,  dass  er 
die  erstere  nicht  verantwortet  und  seinem  eigentlichen 
Selbst  d.  i.  seinem  Willen  nicht  zuschreibt,  wohl  aber 
die  Nachsicht,  die  er  gegen  sie  tragen  möchte,  wenn  er 
ihnen  zum  Naehtheil  der  Vernunftgesetze  des  Willens 
Einfluss  auf  seine  Maximen  einräumte. 

Dadurch,  dass  die  praktische  Vernunft  sich  in  eine 
Verstandeswelt  hinein  denkt,  überschreitet  sie  gar  nicht 
ihre  Grenzen,  wohl  aber,  wenn  sie  sich  hineinschauen, 
hineinempfinden  wollte.  Jenes  ist  nur  ein  negativer 
Gedanke,  in  Ansehung  der  Sinnenwelt,  die  der  Vernunft 
in  Bestimmung  des  Willens  keine  Gesetze  giebt,  und 
nur  in  diesem  einzigen  Punkte  positiv,  dass  jene  Frei- 
heit, als  negative  Bestimmung,  zugleich  mit  einem  (po- 
sitiven) Vermögen  und  sogar  mit  einer  Kausalität  der 
Vernunft  verbunden  sei,  welche  wir  einen  Willen  nennen, 
so  zu  handeln,  dass  das  Prinzip  der  Handlungen  der 
wesentlichen  BeschaflPenheit  einer  Vernunftursache,  d.  i. 
der  Bedingung  der  Allgemeingültigkeit  der  Maxime,  als 
eines  Gesetzes,  gemäss  sei.  Würde  sie  aber  noch  ein 
Objekt  des  Willens,  d.  i.  eine  Bewegursache  aus 
der  Verstandeswelt  herholen,  so  überschritte  sie  ihre 
Grenzen  und  masste  sich  au,  etwas  zu  kennen,  wovon 
sie  nichts  weiss.  Der  Begriff  einer  Verstandeswelt  ist 
also  nur  ein  Standpunkt,  den  die  Vernunft  sich  ge- 
nöthigt  sieht,  ausser  den  Erscheinungen  zu  nehmen,  um 


Ueberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d.  prakt.  Vernunft.  39 

sich  selbst  als  praktisch  zu  denken,  welches,  wenn 
die  Einflüsse  der  Sinnlichkeit  für  den  Menschen  bestim- 
mend wären,  nicht  möglich  sein  würde,  welches  aber  doch 
nothwendig  ist,  wofern  ihm  nicht  das  Bewusstsein  seiner 
Selbst,  als  Intelligenz,  mithin  als  vernünftige  und  durch 
Vernunft  thätige  d.  i.  frei  wirkende  Ursache  abgesprochen 
werden  soll.  Dieser  Gedanke  führt  freilich  die  Idee 
einer  anderen  Ordnung  und  Gesetzgebung,  als  die  des 
Naturmechanismus,  der  die  Sinnenwelt  trifft,  herbei  und 
macht  den  Begriff  einer  intelligiblen  Welt  (d.  i.  das 
Ganze  vernünftiger  Wesen,  als  Dinge  an  sich  selbst) 
nothwendig,  aber  ohne  die  mindeste  Anmassung,  hier 
weiter,  als  bloss  ihrer  formalen  Bedingung  nach,  d.  i. 
der  Allgemeinheit  der  Maxime  des  Willens,  als  Gesetze, 
mithin  der  Autonomie  des  letzteren,  die  allein  mit  der 
Freiheit  desselben  bestehen  kann,  gemäss  zu  denken; 
dahingegen  alle  Gesetze,  die  auf  ein  Objekt  bestimmt 
sind,  Heteronomie  geben,  die  nur  an  Naturgesetzen  an- 
getroffen werden  und  auch  nur  die  Sinnenwelt  treffen 
kann. 

Aber  alsdenn  würde  die  Vernunft  alle  ihre  Grenze 
überschreiten,  wenn  sie  es  sich  zu  erklären  unterfinge, 
w  i  e  reine  Vernunft  praktisch  sein  könne,  welches  völlig 
einerlei  mit  der  Aufgabe  sein  würde,  zu  erklären,  wie 
Freiheit  möglich  sei. 

Denn  wir  können  nichts  erklären,  als  was  wir  auf 
Gesetze  zurückführen  können,  deren  Gegenstand  in  irgend 
einer  möglichen  Erfahrung  gegeben  werden  kann.  Frei- 
heit aber  ist  eine  blosse  Idee,  deren  objektive  Realität 
auf  keine  Weise  nach  Naturgesetzen,  mithin  auch  nicht 
in  irgend  einer  möglichen  Erfahrung,  dargethan  werden 
kann,  die  also  darum,  weil  ihr  selbst  niemals  nach  irgend 
einer  Analogie  ein  Beispiel  untergelegt  werden  mag, 
niemals  begriffen  oder  auch  nur  eingesehen  werden  kann. 
Sie  gilt  nur  als  nothwendige  Voraussetzung  der  Vernunft 
in  einem  Wesen,  das  sich  eines  Willens,  d.  i.  eines  vom 
blossen  Begehrungsvermögen  noch  verschiedenen  Vermö- 
gens (nämlich  sich  zum  Handeln  als  Intelligenz,  mithin  nach 
Gesetzen  der  Vernunft,  unabhängig  von  Naturinstinkten 
zu  bestimmen)  bewusst  zu  sein  glaubt.  Wo  aber  Be- 
stimmung nach  Naturgesetzen  aufhört,  da  hört  auch 
alle  Erklärung  auf,   und   es   bleibt  nichts  übrig,  als 


90  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    3.  Abschn. 

Yertheidigung,  d.  i.  Abtreibung  der  Einwürfe  derer, 
die  tiefer  in  das  Wesen  der  Dinge  geschaut  zu  haben 
vorgeben  und  darum  die  Freiheit  dreist  für  unmöglich 
erklären.  Man  kann  ihnen  nur  zeigen,  dass  der  ver- 
meintlich von  ihnen  darin  entdeckte  Widerspruch  nirgend 
anders  liege,  als  darin,  dass,  da  sie,  um  das  Natur- 
gesetz in  Ansehung  menschlicher  Handlungen  geltend 
zu  machen,  den  Menschen  nothwendig  als  Erscheinung 
betrachten  mussten,  und  nun,  da  man  von  ihnen  fordert, 
dass  sie  ihn,  als  Intelligenz,  auch  als  Ding  an  sich  selbst 
denken  sollten,  sie  ihn  immer  auch  da  noch  als  Er- 
scheinung betrachten,  wo  denn  freilich  die  Absonderung 
seiner  Kausalität  (d.  i.  seines  Willens)  von  allen  Natur- 
gesetzen der  Sinnenwelt  in  einem  und  demselben  Sub- 
jekte im  Widerspruch  stehen  würde,  welcher  aber  weg- 
föllt,  wenn  sie  sich  besinnen  und,  wie  billig,  eingestehen 
wollten,  dass  hinter  den  Erscheinungen  doch  die  Sachen 
an  sich  selbst  (obzwar  verborgen)  zum  Grunde  liegen 
müssen,  von  deren  Wirkungsgesetzen  man  nicht  ver- 
langen kann,  dass  sie  mit  denen  einerlei  sein  sollten, 
unter  denen  ihre  Erscheinungen  stehen.  •^^) 

Die  subjektive  Unmöglichkeit,  die  Freiheit  des  Willens 
zu  e  r  k  1  ä  r  e  n ,  ist  mit  der  Unmöglichkeit,  ein  I  n  t  e  r  e  s  s  e  *) 


*)  Interesse  ist  das,  wodurch  Vernunft  praktisch  d.  i, 
eine  den  Willen  bestimmende  Ursache  wird.  Daher  sagt 
man  nur  von  einem  vernünftigen  Wesen,  dass  es  woran 
ein  Interesse  nehme,  vernunftlose  Geschöpfe  fühlen  mir 
sinnliche  Antriebe.  Ein  unmittelbares  Interesse  nimmt  die 
Vernunft  nur  alsdenn  an  der  Handlung,  wenn  die  Allge- 
meingültigkeit der  Maxime  derselben  ein  genügsamer  Be- 
stimmungsgrund des  Willens  ist.  Ein  solches  Interesse  ist 
allein  rein.  Wenn  sie  aber  den  Willen  nur  vermittelst  eines 
anderen  Objekts  des  Begehrens,  oder  unter  Voraussetzung 
eines  besonderen  Gefühls  des  Subjekts  bestimmen  kann, 
so  nimmt  die  Vernunft  nur  ein  mittelbares  Interesse  an  der 
Handlung,  und,  da  Vernunft  für  sich  allein  weder  Objekte 
des  Willens,  noch  ein  besonderes  ihm  zum  Grunde  liegen- 
des Gefühl  ohne  Erfahrung  ausfindig  machen  kann,  so  würde 
das  letztere  Interesse  nur  empirisch  und  kein  reines  Ver- 
nunftinteresse sein.  Das  logische  Interesse  der  Vernunft 
(ihre  Einsichten  zu  befördern)  ist  niemals  unmittelbar, 
sondern  setzt  Absichten  ihres  Gebrauchs  voraus. 


Ueberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d,  prakt.  Vernunft.  91 

ausfindig  und  begreiflieb  zu  macben,  welcbes  der  Menscb 
an  moraiiscben  Gesetzen  nebmen  könne,  einerlei;  und 
gleicbwobl  nimmt  er  wirklieb  daran  ein  Interesse,  wozu 
wir  die  Grundlage  in  uns  das  moraliscbe  Gefübl  nennen, 
welcbes  fälscblicb  für  das  Ricbtmaass  unserer  sittlichen 
Beurtbeilung  von  Einigen  ausgegeben  worden,  da  es 
vielmehr  als  die  subjektive  Wirkung,  die  das  Gesetz 
auf  den  Willen  ausübt,  angesehen  werden  muss,  wozu 
Vernunft  allein  die  objektiven  Gründe  hergiebt. 

Um  das  zu  wollen,  wozu  die  Vernunft  allein  dem 
sinnlich  afficirten  vernünftigen  Wesen  das  Sollen  vor- 
schreibt, dazu  gehört  freilich  ein  Vermögen  der  Vernunft, 
ein  Gefühl  der  Lust  oder  des  Wohlgefallens  an  der 
Erfüllung  der  Pflicht  einzuflössen,  mithin  eine  Kau- 
salität derselben,  die  Sinnlichkeit  ihren  Prinzipien  ge- 
mäss zu  bestimmen.  Es  ist  aber  gänzlich  unmöglich, 
einzusehen,  d.  i.  a  -prim^i  begreiflich  zu  machen,  wie 
ein  blosser  Gedanke,  der  selbst  nichts  Sinnliches  in  sich 
enthält,  eine  Empfindung  der  Lust  oder  Unlust  hervor- 
bringe ;  denn  das  ist  eine  besondere  Art  von  Kausalität, 
von  der,  wie  von  aller  Kausalität,  wir  gar  nichts  a  priori 
bestimmen  können,  sondern  darum  allein  die  Erfahrung 
befragen  müssen.  Da  diese  aber  kein  Verhältniss  der 
Ursache  zur  Wirkung,  als  zwischen  zwei  Gegenständen 
der  Erfahrung,  an  die  Hand  geben  kann,  hier  aber  reine 
Vernunft  durch  blosse  Ideen  (die  gar  keinen  Gegenstand 
für  Erfahrung  abgeben),  die  Ursache  von  einer  Wirkung, 
die  freilich  in  der  Erfahrung  liegt,  sein  soll,  so  ist  die 
Erklärung,  wie  und  warum  uns  die  Allgemeinheit 
der  Maxime  als  Gesetzes,  mithin  die  Sittlichkeit, 
interessire,  uns  Menschen  gänzlich  unmöglich.  So  viel 
ist  nur  gewiss,  dass  es  nicht  darum  für  uns  Gültigkeit 
hat,  weil  es  interessirt  (denn  das  ist  Heteronomie 
und  Abhängigkeit  der  praktischen  Vernunft  von  Sinn- 
lichkeit, nämlich  einem  zum  Grunde  liegenden  Gefühl, 
wobei  sie  niemals  sittlich  gesetzgebend  sein  könnte), 
sondern  dass  es  interessirt,  weil  es  für  uns  als  Menschen 
gilt,  da  es  aus  unserem  Willen  als  Intelligenz,  mithin 
aus  unserem  eigentlichen  Selbst  entsprungen  ist;  was 
aber  zur  blossen  Erscheinung  gehört,  wirdvon 
der  Vernunft  nothwendig  der  Beschaffenheit 
der  Sache  an  sich  selbst  untergeordnet. 


92  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.    3.  Abschu. 

Die  Frage  also:  wie  ein  kategorischer  Imperativ 
möglich  sei,  kann  zwar  so  weit  beantwortet  werden,  als 
man  die  einzige  Voraussetzung  angeben  kann,  unter  der 
er  allein  möglich  ist,  nämlich  die  Idee  der  Freiheit, 
imgleichen  als  man  die  Nothwendigkeit  dieser  Voraus- 
setzung einseben  kann,  welches  zum  praktischen 
Gebrauche  der  Vernunft,  d.  i.  zur  Ueberzeugung  von 
der  Gültigkeit  dieses  Imperativs,  mithin  auch  des 
sittlichen  Gesetzes  hinreichend  ist;  aber  wie  diese  Vor- 
aussetzung selbst  möglich  sei,  lässt  sich  durch  keine 
menschliche  Vernunft  jemals  einsehen.  Unter  Voraus- 
setzung der  Freiheit  des  Willens  einer  Intelligenz  aber 
ist  die  Autonomie  desselben,  als  die  formale  Bedin- 
gung, unter  der  er  allein  bestimmt  werden  kann,  eine 
nothwendige  Folge.  Diese  Freiheit  des  Willens  voraus- 
zusetzen, ist  auch  nicht  allein  (ohne  in  Widerspruch 
mit  dem  Prinzip  der  Katurnothwendigkeit  in  der  Ver- 
knüpfung der  Erscheinungen  der  Sinnenwelt  zu  gerathen) 
ganz  wohl  möglich  (wie  die  spekulative  Philosophie 
zeigen  kann),  sondern  auch  sie  praktisch  d.  i.  in  der 
Idee  allen  seinen  willkürlichen  Handlungen,  als  Bedin- 
gung, unterzulegen,  ist  einem  vernünftigen  Wesen,  das 
sich  seiner  Kausalität  durch  Vernunft,  mithin  eines 
Willens  (der  von  Begierden  unterschieden  ist)  bewusst 
ist,  ohne  weitere  Bedingung  noth wendig.  Wie  nun 
aber  reine  Vernunft,  ohne  andere  Triebfedern,  die  irgend 
woher  sonst  genommen  sein  mögen,  für  sich  selbst 
praktisch  sein,  d.  i.  wie  das  blosse  Prinzip  der  All- 
gemeingültigkeit aller  ihrer  Maximen  als  Ge- 
setze (welches  freilich  die  Form  einer  reinen  praktischen 
Vernunft  sein  würde),  ohne  alle  Materie  (Gegenstand) 
des  Willens,  woran  man  zum  voraus  irgend  ein  Interesse 
nehmen  dürfe,  für  sich  selbst  eine  Triebfeder  abgeben 
und  ein  Interesse,  welches  rein  moralisch  heissen 
würde,  bewirken,  oder  mit  anderen  Worten:  wie  reine 
Vernunft  praktisch  sein  könne,  das  zu  erklären, 
dazu  ist  alle  menschliche  Vernunft  gänzlich  unvermögend 
und  alle  Mühe  und  Arbeit,  hiervon  Erklärung  zu  suchen, 
ist  verloren. 

Es  ist  ebendasselbe,  als  ob  ich  zu  ergründen  suchte, 
wie  Freiheit  selbst  als  Kausalität  eines  Willens  möglich 
ist.  Denn  da  verlasse  ich  den  philosophischen  Erklärungs- 


Ueberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d.  prakt.  Vernunft.  93 

gmnd,  und  habe  keinen  anderen.  Zwar  könnte  icli 
nun  in  der  intelligiblen  Welt,  die  mir  noch  übrig-  bleibt, 
in  der  Welt  der  Intelligenzen  herumschwärmen;  aber 
ob  ich  gleich  davon  eine  Idee  habe,  die  ihren  guten 
Grund  hat,  so  habe  ich  doch  von  ihr  nicht  die  mindeste 
Kenntniss,  und  kann  auch  zu  dieser  durch  alle  Be- 
strebung meines  natürlichen  Vernunftvermögens  niemals 
gelangen.  Sie  bedeutet  nur  ein  Etwas,  das  da  übrig 
bleibt,  wenn  ich  alles,  was  zur  Sinnenwelt  gehört,  von 
den  Bestimmungsgründen  meines  Willens  ausgeschlossen 
habe,  bloss  um  das  Prinzip  der  Bewegursachen  aus  dem 
Felde  der  Sinnlichkeit  einzuschränken,  dadurch,  dass 
ich  es  begrenze,  und  zeige,  dass  es  nicht  alles  in  allem 
in  sich  fasse,  sondern  dass  ausser  ihm  noch  mehr  sei; 
dieses  Mehrere  aber  kenne  ich  nicht  weiter.  Von  der 
reinen  Vernunft,  die  dieses  Ideal  denkt,  bleibt  nach  Ab- 
sonderung aller  Materie,  d.  i.  Erkenntniss  der  Objekte, 
mir  nichts,  als  die  Form  übrig,  nämlich  das  praktische 
Gesetz  der  Allgemeingültigkeit  der  Maximen  und,  diesem 
gemäss,  die  Vernunft  in  Beziehung  auf  eine  reine  Ver- 
standeswelt als  mögliche  wirkende,  d.  i.  als  den  Willen 
bestimmende  Ursache  zu  denken;  die  Triebfeder  muss 
hier  gänzlich  fehlen;  es  müsste  denn  diese  Idee  einer 
intelligiblen  Welt  selbst  die  Triebfeder,  oder  dasjenige 
sein,  woran  die  Vernunft  ursprünglich  ein  Interesse 
nähme ;  welches  aber  begreiflich  zu  machen  gerade  die 
Aufgabe  ist,  die  wir  nicht  auflösen  können. 

Hier  ist  nun  die  oberste  Grenze  aller  moralischen 
Nachforschung;  welche  aber  zu  bestimmen,  auch  schon 
darum  von  grosser  Wichtigkeit  ist,  damit  die  Vernunft 
nicht  einerseits  in  der  Sinnenwelt  auf  eine  den  Sitten 
schädliche  Art  nach  der  obersten  Bewegursache  und 
einem  begreiflichen,  aber  empirischen  Interesse  herum- 
suche, andererseits  aber,  damit  sie  auch  nicht  in  dem 
für  sie  leeren  Raum  transscendenter  Begriffe,  unter  dem 
Namen  der  intelligiblen  Welt,  kraftlos  ihre  Flügel 
schwinge,  ohne  von  der  Stelle  zu  kommen,  und  sich 
unter  Hirngespinnsten  verliere.  Uebrigens  bleibt  die 
Idee  einer  reinen  Verstandeswelt,  als  eines  Ganzen  aller 
Intelligenzen,  wozu  wir  selbst,  als  vernünftige  Wesen 
(obgleich  andererseits  zugleich  Glieder  der  Sinnenwelt), 
gehören,  immer  eine  brauchbare  und  erlaubte  Idee  zum 


94  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,    3.  Abschn. 

Behufe  eines  vernünftigen  Glaubens,  wenngleich  alles 
Wissen  an  der  Grenze  derselben  ein  Ende  hat,  um  durch 
das  herrliche  Ideal  eines  allgemeinen  Reichs  der  Zwecke 
an  sich  selbst  (vernünftiger  Wesen),  zu  welchen  wir 
nur  alsdann  als  Glieder  gehören  können,  wenn  wir  uns 
nach  Maximen  der  Freiheit,  als  ob  sie  Gesetze  der  Natur 
wären,  sorgfältig  verhalten,  ein  lebhaftes  Interesse  au 
dem  moralischen  Gesetze  in  uns  zu  bewirken.  40) 


Schlussanmerkung. 

Der  spekulative  Gebrauch  der  Vernunft,  inAnsehung 
der  Natur,  führt  auf  absolute  Noth wendigkeit  irgend 
einer  obersten  Ursache  der  Welt;  der  praktische  Ge- 
brauch der  Vernunft,  in  Absicht  auf  die  Freiheit, 
führt  auch  auf  absolute  Nothwendigkeit,  aber  nur  der 
Gesetze  der  Handlungen  eines  vernünftigen  Wesens, 
als  eines  solchen.  Nun  ist  es  ein  wesentliches  Prinzip 
alles  Gebrauchs  unserer  Vernunft,  ihr  Erkenntniss  bis 
zum  Bewusstseiu  ihrer  Nothwendigkeit  zu  treiben 
(denn  ohne  diese  wäre  sie  nicht  Erkenntniss  der  Ver- 
nunft). Es  ist  aber  auch  eine  eben  so  wesenthche  Ein- 
schränkung ebenderselben  Vernunft,  dass  sie  weder 
die  Nothwendigkeit  dessen,  was  da  ist  oder  was  ge- 
schieht, noch  dessen,  was  geschehen  soll,  einsehen  kann, 
wenn  nicht  eine  Bedingung,  unter  der  es  da  ist  oder 
geschieht  oder  geschehen  soll,  zum  Grunde  gelegt  wird. 
Auf  diese  Weise  aber  wird  durch  die  beständige  Nach- 
frage nach  der  Bedingung  die  Befriedigung  der  Vernunft 
nur  immer  weiter  aufgeschoben.  Daher  sucht  sie  rast- 
los das  Unbedingtnothwendige,  und  sieht  sich  genöthigt, 
es  anzunehmen,  ohne  irgend  ein  Mittel,  es  sich  begreif- 
lich zu  machen;  glücklich  genug,  wenn  sie  nur  den 
Begriff  ausfindig  machen  kann,  der  sich  mit  dieser  Vor- 
aussetzung verträgt.  Es  ist  also  kein  Tadel  für  unsere 
Deduktion  des  obersten  Prinzips  der  Moralität,  sondern 
ein  Vorwurf,  den  man  der  menschlichen  Vernunft  über- 
haupt machen  müsste,  dass  sie  ein  unbedingtes  prak- 
tisches Gesetz  (dergleichen  der  kategorische  Imperativ 
sein  muss)  seiner  absoluten  Nothwendigkeit  nach  nicht 
begreiflich  machen  kann;  denn  dass  sie  dieses  nicht  durch 


Ueberg.  v.  d.  Metaph.  d.  Sitten  z.  Kritik  d.  prakt.  Vernunft.  95 

eine  Bedingung,  nämlich  vermittelst  irgend  eines  zum 
Grunde  gelegten  Interesse  thun  will,  kann  ihr  nicht  ver- 
dacht werden,  weil  es  alsdenn  kein  moralisches  d.  i. 
oberstes  Gesetz  der  Freiheit  sein  würde.  Und  so  be- 
greifen wir  zwar  nicht  die  praktische  unbedingte  Noth- 
wendigkeit  des  moralischen  Imperativs,  wir  begreifen 
aber  doch  seine  Unbegreiflich keit,  welches  alles 
ist,  was  billigermaassen  von  einer  Philosophie,  die  bis 
zur  Grenze  der  menschlichen  Vernunft  in  Prinzipien 
strebt,  gefordert  werden  kann.-*^) 

Ende. 


Dnick  von  Trowitzsch  und  Sohn  in  Berlin, 


Immanuel  Kant's 


Metaphysik  der  Sitten. 


Herausgegeben  und  erläutert 


von 


3.  H.  von  Kirchmann. 


Berlin,  1870. 

Verlag  von  L.  Heimann, 

Wilhelms-Strasse  No.  91. 


Vorwort  des  Herausgebers. 


Die  metaphysischen  Anfangsgründe  der  Rechtslehre 
und  Tugendlehre  sind  zuerst  1797  bei  Nicolovius  in  Königs- 
berg unter  dem  gemeinsamen  Titel:  Metaphysik  der 
Sitten  in  zwei  Theilen  erschienen.  Von  beiden 
Werken  ist  noch  bei  Lebzeiten  Kant's  eine  zweite  Aus- 
gabe, für  die  Rechtslehre  1798  und  für  die  Tugendlehre 
1803  erschienen.  Die  Rechtslehre  hat  in  der  zweiten 
Ausgabe  nur  eine  erhebliche  Vermehrung  durch  einen 
Anhang  erläuternder  Bemerkungen  erhalten,  zu  denen 
Kant  durch  eine  Rezension  seiner  Schrift  in  den  Göttinger 
gelehrten  Anzeigen  veranlasst  worden  war;  im  Uebrigen 
stimmt  sie  bis  auf  Kleinigkeiten  mit  der  ersten  Aus- 
gabe. Auch  die  zweite  Ausgabe  der  Tugendlehre  enthält 
keine  erheblichen  Zusätze,  dagegen  manche  die  Wort- 
stellung und  der  Periodenbau  betreffende  Abänderungen. 
Hiernach  sind  der  hier  folgenden  Ausgabe  bei  beiden 
Theilen  diese  erwähnten  zweiten  Ausgaben  zu  Grunde 
gelegt  worden  und  die  wenigen  Abweichungen  der  ersten 


VI  Vorwort  des  Herausgebers. 

Ausgaben  sind,  wie  bisher  in    den,  an  dem  Zeichen  f 
kenntlichen  Anmerkungen  angezeigt  worden. 

Die  dem  Texte  beigefügten  Ziffern  beziehen  sich 
auf  die,  in  einem  besonderen  Bande  nachfolgenden  Er- 
läuterungen des  Unterzeichneten. 

Berlin,  im  April  1870. 

T.  Kirchmann. 


INHALTS-ANZEIGE. 


Seite 

,    Erster  Tlieil.    Metaphysische   Anfangsgründe    der 

Rechtslehre. 
Vorrede 3 

Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten     ....        9 

Einleitung  in  die  Reclitslehre 30 

Der  Rechtslehre  erster  Theil.  Das  Privatrecht  in 
Ansehung  äusserer  Gegenstände.  (Inbegriif  der- 
jenigen Gesetze,  die  keiner  äusseren  Bekannt- 
machung bedürfen.)  ^) 47 

1.  Haupt  st.     Von    der  Art,    etwas  Aeusseres  als 

das   Seine  zu  haben.     §.1—9 49 

2.  Hauptst.     Von    der  Art,    etwas  Aeusseres    zu 

erwerben.     §.  10—35 65 

Eintheilung  der  äusseren  Erwerbung 67 

1.  Abschn.     Vom  Sachenrecht.     §.  11— 17    .     .     .      68 

2.  Abschn.     Vom  persönlichen  Recht.     §.  18  —  21  .      80 

3.  Abschn.     Von    dem   auf  dingliche  Art  persön- 
lichen Recht.     §.  22—30 86 

1.  Titel.     Das  Eherecht.     §.  24-27 87 

2.  Titel.     Das  Elternrecht.     §.  28—29     ....       91 

3.  Titel.     Das  Hausherrenrecht.     §.  30    .     .     .     .      93 
Dogmatische  Eintheilung   aller  erwerblichen  Rechte 

aus  Verträgen.     §.31 95 

I.  Was  ist  Geld? 98 

II.  Was  ist  ein  Buch? 102 

Episodischer  Abschnitt.     Von  der  idealen  Erwerbung 

eines  äusseren  Gegenstandes  der  Willkühr.  §.  32     104 
I.  Die  Erwerbungsart  durch  Ersitzung.     §.  33      .     104 

H.  Die  Beerbung.     §.34 106 

HI.  Der  Nachlass  eines  guten  Namens   nach  dem 

Tode.     §.35 106 


1)  Die  eingeklammerten  Worte,  die  sich  in  der  Textüber- 
schrift nicht  finden,  stehen  in  den  den  Originalausgaben  beigefüg- 
ten Inhaltsverzeichnissen.  Ebenso  bei  den  metaphysischen  Anfangs- 
gründen der  Tugendlehre. 


VIII  Inhalts- An  zeige. 

Seite 

3.  Haupt  st.  Von  der  subjectiv  bedingten  Erwer- 
bung durch  den  Ausspruch  einer  öffentlichen 
Gerichtsbarkeit.     §.36-40 111 

A.  Von  dem  Schenkungsvertrag.    §.37      ...     112 

B.  Vom  Leihvertrag.    §.38 113 

C.  Von  der  Wiedererlangung  des  Verlorenen.  §.  39    115 

D.  Von  Erwerbung  der  Sicherheit  durch  Eides- 
ablegung.     §.40 119 

Uebergang  von  dem  Mein  und  Dein  im  Naturzustande 

zu  dem  im  rechtlichen  Zustande  überhaupt.  §.  41. 42     121 

Anhang  erläuternder  Bemerkungen  zu  den  meta- 
physischen Anfangsgründen  der  Rechtslehre      .     125 

1.  Logische  Vorbereitung  zu  einem  neuerdings  ge- 

wagten Rechtsbegriffe 126 

2.  Rechtfertigung  des  Begriffs  von  einem  auf  ding- 
liche Art  persönlichen  Rechte 128 

3.  Beispiele 128 

4.  lieber   die   Verwechselung   des  dinglichen   mit 

dem  persönlichen  Rechte 131 

5.  Zusatz  zu  der  Erörterung  der  Begriffe  d.  Strafrechts    133 

6.  Vom  Recht  der  Ersitzung 134 

7.  Von  der  Beerbung 136 

8.  Vom  Rechte  des  Staates  iif  Ansehung  ewiger 

Stiftungen 138 

Der  Rechtslehre    zweiter  Theil.    Das   öffentliche 
Recht.    (Inbegriff  der  Gesetze,  die  einer  öffent- 
lichen Bekanntmachung  bedürfen.)       ....  147 
Erster  Abschnitt.  Das  Staatsrecht.  §.  43—52.  149 
Allgemeine  Anmerkung  von  den  rechtlichen  Wir- 
kungen aus  der  Natur  des  bürgerlichen  Vereins  157 
(Vom  Straf-  und  Begnadigungsrecht)     ....  172 
ZweiterAbschnitt.  Das  Völkerrecht.  §.53—61  187 
Dritter  Abschnitt.  Das  Weltbürgerrecht.  §.62  197 

Beschluss 199 

II.  Zweiter  Theil.   Metaphysische  Anfangsgründe  der 

Tugendlehre 203 

Vorrede 205 

Einleitung  zur  Tugendlehre 210 

Erster  Theil.     Ethische  Elementarlehre  ...  223 
Erstes  Buch.    Von  den  Pflichten  gegen  sich 

selbst  überhaupt.    §.  1—22 255 

Einleitung.     §.  1—4 255 

1.  Abtheil.    Von   den  vollkommenen  Pflichten 

gegen  sich  selbst.     §.  5—18 261 

I.Haupt  st.  Von  den  Pflichten  des  Menschen  gegen 

sich  selbst  als  ein  an  i  m  a  1  i  s  c  h  e  s  Wesen.  §.5—8  261 


Inhalts-Anzeige.  j^ 

Seite 

1.  Artik.  Von  der  Selbstentleibung.     §.  6  .     .     .     262 

2.  Artik.  Von  der  wollüstigen  Selbstschändung.  §.7     265 

3.  Artik.  Von  der  Selbstbetäubung  durch  Un- 
mässigkeit  im  Gebrauche  der  Geniess-  oder 
Nahrungsmittel.     §.8 268 

2.  Haupt  St.     Von    den    Pflichten    des    Menschen 

gegen  sich  selbst  blos  als  moralisches  Wesen. 

§.  9-12 271 

1.  Artik.    Von  der  Lüge.     §.9 271 

2.  Artik,     Vom  Geize.     §.10 275 

3.  Artik.     Von  der  Kriecherei.   §.  11.  12    .     .     .  279 

3.  Hauptst.     §.  13—18 283 

1.  Abschn.  Von  den  Pflichten  des  Menschen  gegen 
sich   selbst   als    den   gebornen  Richter  über 

sich  selbst.    §.13 283 

2.  Abschn.  Von  dem  ersten  Gebot  aller  Pflich- 
ten gegen  sich  selbst.     §.  14.  15 287 

Episodischer  Abschn.    Von  der  A m  p  h  i  b  o  1  i  e  der 
moralischen  Reflexionbegriffe  in  Ansehung 
der  Pflichten  gegen  sich  selbst.     §.  16—18      .     288 
2.  Abtheil.    Von  den  unvollkommenen  Pflich- 
ten des  Menschen  gegen  sich  selbst.  §.  19—22    292 

1.  Abschn.  Von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst 
in  Entwickeluug  und  Vermehrung  seiner  Natur= 
Vollkommenheit.     §.  19.  20 292 

2.  Abschn.  Von  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  in 
Erhöhung  seiner  morahschen   Vollkommenheit. 

§.  21.  22 294 

Z^weites^Bjiilh.     Von  den  Tugendpflichten  gegen 

Andere.     §.  23—48 297 

1.  Hauptst.     Von    den  Pflichten    gegen  Andere, 

blos  als  Menschen.     §.23-44 297 

1.  Abschn.  Von  der  Liebe spflicht  gegen 
andere  Menschen.     §.23-36 299 

A.  Wohlthätigkeit.     §.29—31 302 

B.  Dankbarkeit.     §.  32.  33 305 

C.  Theiluahme.     §.  34.  35 307 

Entgegengesetzte  Laster  des  Menschenhasses.  §.36  309 

2.  Abschn.  Von  der  Pflicht  der  Achtung  für 
Andere.     §    37—41 313 

Entgegengesetzte  Laster.     §.  42 — 44      ....  317 

A.  Hochmuth.     §    42 317 

B.  Afterreden.     §.43 318 

C.  Verhöhnung.     §.44 319 

2.  Hauptst.     Von  den  Pflichten  gegen  Andere  nach 

Verschiedenheit  ihres  Zustandes.  §.45     321 


Inhalts- Anzeige. 

Seite 

Beschluss    der   Elementarlehre.     Von    der   innig- 
lichen Vereinigung  der  Liebe  mit  der  Achtung 

in  der  Freundschaft.     §.  46.  47 323 

Zusatz      Von  den  Umgangstugenden.  §.48      .     .  329 

Zweiter  Theil.     Ethische  Methodenlehre      .     .     .  331 

1.  Abschn.     Die  ethische  Didaktik.     §.  49—52    .  333 
Bruchstück  eines  moralischen  Katechismus    .     .  337 

2.  Abschn.     Die  ethische  Ascetik.     §.  53    .     .     .  342 
Beschluss.    Die    Religionslehre     als    Lehre    der 

Pflichten  gegen  Gott  liegt  ausserhalb  den  Gren- 
zen der  reinen  Moralphilosophie 344 


Die 

Metaphysik  der  Sitten. 


Erster  Theil. 

Metaphysische  Anfangsgründe  derKechtslehre. 


Kant,  Metaphysik  der  Sitten, 


Vorrede. 


Auf  die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  sollte 
das  System,  die  Metaphysik  der  Sitten,  folgen,  welches 
in  metaphysische  Anfangsgründe  der  Rechtslehre  und 
in  eben  solche  für  die  Tugendlehre  zerfällt  (als  ein 
Gegenstück  der  schon  gelieferten  metaphysischen  An- 
fangsgründe der  Naturwissenschaft),  wozu  die  hier 
folgende  Einleitung  die  Form  des  Systems  in  beiden 
vorstellig  und  zum  Theil  anschaulich  macht. 

Die  RecMslehre,  als  der  erste  Theil  der  Sittenlehre, 
ist  nun  das,  wovon  ein  aus  der  Vernunft  hervorgehen- 
des System  verlangt  wird,  welches  man  die  Metaphysik 
des  Rechts  nennen  könnte.  Da  aber  der  Begriff  des 
Rechts,  als  ein  reiner,  jedoch  auf  die  Praxis  (Anwen- 
dung auf  in  der  Erfahrung  vorkommende  Fälle)  ge- 
stellter Begriff  ist,  mithin  einmetaphysischesSystem 
desselben  in  seiner  Eintheilung  auch  auf  die  empirische 
Mannigfaltigkeit  jener  Fälle  Rücksicht  nehmen  müsste, 
um  die  Eintheilung  vollständig  zu  machen  (welches  zur 
Errichtung  eines  Systems  der  Vernunft  eine  unerlassliche 
Forderung  ist),  Vollständigkeit  der  Eintheilung  des  Em- 
p irischen  aber  unmöglich  ist,  und,  wo  sie  versucht 
wird  (wenigstens  um  ihr  nahe  zu  kommen),  solche  Be- 
griffe, nicht  als  integrirende  Theile  in  das  System,  son- 
dern nur,  als  Beispiele,  in  die  Anmerkungen  kommen 
können ;  so  wird  der  für  den  ersten  Theil  der  Metaphysik 
der  Sitten  allein  schickliche  Ausdruck  sein,  meta- 
physische   Anfangsgründe    der    Rechtslehre; 

1* 


4  Rechtslehre. 

weil,  in  Rücksicht  auf  jene  Fälle  der  Anwendung,  nur 
Annäherung  zum  System,  nicht  dieses  -  selbst  erwartet 
werden  kann.  Es  wird  daher  hiermit,  so  wie  mit  den 
(früheren)  metaphysischen  Anfangsgründen  der  Natur- 
wissenschaft, auch  hier  gehalten  werden:  nämlich  das 
Recht,  was  zum  a  'priovi  entworfenen  System  gehört, 
in  den  Text,  die  Rechte  aber,  welche  auf  besondere  Er- 
fahrungsfälle bezogen  werden,  in  zum  Theil  weitläufige 
Anmerkungen  zu  bringen ;  weil  sonst  das,  was  hier  Me- 
taphysik ist,  von  dem,  was  empirische  Rechtspraxis  ist, 
nicht  wohl  unterschieden  werden  könnte. 

Ich  kann  dem  so  oft  gemachten  Vorwurf  der  Dunkel- 
heit, ja  wohl  einer  geflissenen,  den  Schein  tiefer  Einsicht 
affektirenden  Undeutlichkeit  im  philosophischen  Vortrage 
nicht  besser  zuvorkommen  oder  abhelfen,  als  dass  ich, 
was  Herr  Garve,  ein  Philosoph  in  der  ächten  Bedeu- 
tung des  Worts,  jedem,  vornehmlich  dem  philosophiren- 
den  Schriftsteller  zur  Pflicht  macht,  bereitwillig  annehme, 
und  meinerseits  diesen  Anspruch  bloss  auf  die  Bedin- 
gung einschränke,  ihm  nur  so  weit  Folge  zu  leisten, 
als  es  die  Natur  der  Wissenschaft  erlaubt,  die  zu  be- 
richtigen und  zu  erweitern  ist. 

Der  weise  Mann  fordert  (in  seinem  Werk:  Ver- 
mischte Aufsätze  betitelt,  S.  352  u.  f.)  mit  Recht, 
eine  jede  philosophische  Lehre  müsse,  wenn  der  Lehrer 
nicht  selbst  in  den  Verdacht  der  Dunkelheit  seiner  Be- 
griffe kommen  soll,  —  zur  Popularität  (einer  zur  all- 
gemeinen Mittheilung  hinreichenden  Versinnlichung)  ge- 
bracht werden  können.  Ich  räume  das  gern  ein,  nur 
mit  Ausnahme  des  Systems  einer  Kritik  des  Vernunft- 
vermögens selbst  und  alles  dessen,  was  nur  durch  dieser 
ihre  Bestimmung  beurkundet  werden  kann;  weil  es  zur 
Unterscheidung  des  Sinnlichen  in  unserem  Erkenntniss 
vom  Uebersinnlichen ,  dennoch  aber  der  Vernunft  Zu- 
stehenden, gehört.  Dieses  kann  nie  populär  werden, 
so  wie  überhaupt  keine  formelle  Metaphysik;  obgleich 
ihre  Resultate  für  die  gesunde  Vernunft  (eines  Meta- 
physikers,  ohne  es  zu  wissen)  ganz  einleuchtend  gemacht 
werden  können.  Hier  ist  an  keine  Popularität  (Volks- 
sprache) zu  denken,  sondern  es  muss  auf  scholastische 
Pünktlichkeit,  wenn  sie  auch  Peinlichkeit  gescholten 
würde,  gedrungen  werden  (denn  es  ist  Seh ul spräche), 


Vorrede.  5 

weil  dadurch  allein  die  voreilige  Vernunft  dahin  ge- 
bracht werden  kann,  vor  ihren  dogmatischen  Behaup- 
tungen sich  erst  selbst  zu  verstehen. 

Wenn  aber  Pedanten  sich  anmassen,  zum  Publikum 
(auf  Kanzeln  und  in  Volksschriften)  mit  Kunstwörtern 
zu  reden,  die  ganz  für  die  Schule  geeignet  sind,  so 
kann  das  so  wenig  dem  kritischen  Philosophen  zur  Last 
fallen,  als  dem  Grammatiker  der  Unverstand  des  Wort- 
klaubers (logodaedalus).  Das  Belachen  kann  hier  nur 
den  Mann,  aber  nicht  die  Wissenschaft  treffen. 

Es  klingt  arrogant,  selbstsüchtig  und  für  die,  welche 
ihrem  alten  System  noch  nicht  entsagt  haben,  verkleiner- 
lich,  zu  behaupten:  „dass  vor  dem  Entstehen  der  kri- 
tischen Philosophie  es  noch  gar  keine  gegeben  habe." 
' —  Um  nun  über  diese  scheinbare  Anmassung  absprechen 
zu  können,  kommt  es  auf  die  Frage  an:  ob  es  wohl 
mehr,  als  eine  Philosophie  geben  könne?  Ver- 
schiedene Arten  zu  philosophiren  und  zu  den  ersten 
Vernunftprinzipien  zurückzugehen,  um  darauf,  mit  mehr 
oder  weniger  Glück,  ein  System  zu  gründen,  hat  es 
nicht  allein  gegeben,  sondern  es  musste  viele  Versuche 
dieser  Art,  deren  jeder  auch  um  die  gegenwärtige  sein 
Verdienst  hat,  geben;  aber  da  es  doch,  objektiv  be- 
trachtet, nur  eine  menschliche  Vernunft  geben  kann:  so 
kann  es  auch  nicht  viel  Philosophien  geben,  d.  i.  es  ist 
nur  ein  wahres  System  derselben  aus  Prinzipien  mög- 
lich, so  mannigfaltig  und  oft  widerstreitend  man  auch 
über  einen  und  denselben  Satz  philosophirt  haben  mag. 
So  sagt  der  Moralist  mit  Recht:  es  giebt  nur  eine 
Tugend  und  Lehre  derselben,  d.  i.  ein  einziges  System, 
das  alle  Tugendpflichten  durch  ein  Prinzip  verbindet; 
der  Chemist:  es  giebt  nur  eine  Chemie  (die  nachLa- 
voisier);  der  Arzneilehrer:  es  giebt  nur  ein  Prinzip 
zum  System  der  Krankheitseintheilung  (nach  Brown), 
•ohne  doch  darum,  weil  das  neue  System  alle  andere 
ausschliesst,  das  Verdienst  der  älteren  (Moralisten,  Che- 
miker und  Arzneilehrer)  zu  schmälern;  weil  ohne  dieser 
ihre  Entdeckungen,  oder  auch  misslungene  Versuche 
wir  zu  jener  Einheit  des  wahren  Prinzips  der  ganzen 
Philosophie  in  einem  System  nicht  gelangt  wären.  — 
W^enn  also  Jemand  ein  System  der  Philosophie  als  sein 
eigenes  Fabrikat   ankündigt,    so  ist  es   ebenso  viel,  als 


ß  Rechtslehre. 

ob  er  sage :  „vor  dieser  Philosophie  sei  gar  keine  andere 
noch  gewesen."  Denn  wollte  er  einräumen,  es  wäre  eine 
andere  (und  wahre)  gewesen,  so  würde  es  über  dieselben 
Gegenstände  zweierlei  wahre  Philosophien  gegeben  haben, 
welches  sich  widerspricht.  —  Wenn  also  die  kritische 
Philosophie  sich  als  eine  solche  ankündigt,  vor  der  es 
überall  noch  gar  keine  Philosophie  gegeben  habe,  so 
thut  sie  nichts  Anderes,  als  was  Alle  gethan  haben, 
thun  werden,  ja  thun  müssen,  die  eine  Philosophie  nach 
ihrem  eigenen  Plane  entwerfen. 

Von  minderer  Bedeutung,  jedoch  nicht  ganz  ohne 
alle  Wichtigkeit,  wäre  der  Vorwurf:  dass  ein  diese  Phi- 
losophie wesentlich  unterscheidendes  Stück  doch  nicht 
ihr  eigenes  Gewächs,  sondern  etwa  einer  anderen  Philo- 
sophie (oder  der  Mathematik)  abgeborgt  sei ;  dergleichen 
ist  der  Fund,  den  ein  Tübing'scher  Rezensent  gemacht 
haben  will,  und  der  die  Definition  der  Philosophie  über- 
haupt angeht,  welche  der  Verfasser  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  für  sein  eigenes,  nicht  unerhebliches  Produkt 
ausgiebt,  und  die  doch  schon  vor  vielen  Jahren  von 
einem  Anderen  fast  mit  denselben  Ausdrücken  gegeben 
worden  sei.*)  Ich  überlasse  es  einem  Jeden,  zu  beur- 
theilen,  ob  die  Worte :  intellectualis  quaedam  constructioj 
den  Gedanken  der  Darstellung  eines  gegebenen 
Begriffs  in  einer  Anschauung  apnorz  hätten  her- 
vorbringen können,  wodurch  auf  einmal  die  Philosophie 
von  der  Mathematik  ganz  bestimmt  geschieden  wird. 
Ich  bin  gewiss:  Hausen  selbst,  würde  sich  geweigert 
haben,  diese  Erklärung  seines  Ausdrucks  anzuerkennen; 
denn  die  Möglichkeit  einer  Anschauung  a  priori^  und 
dass   der  Raum   eine   solche   und   nicht  ein  bloss  der 


*)  Porro  de  actuali  construetione  hie  non  quaeritur,  cum 
ne  possint  quidem  sensibiles  figurae  ad  rigorem  definitionum. 
effingi;  sed  requiritur  cognitio  eorum,  quibus  absolvitur  for- 
matio,  quae  intellectualis  quaedam  constructio  est.  C.  A. 
Hausen  Eiern.  Mathes.  Pars  I.  p.  86.  A.  1734.  (Es  handelt 
sich  hier  nicht  um  die  wirkliche  Konstruktion,  da  wahr- 
nehmbare Figuren  nicht  die  Strenge  der  Definitionen  ein- 
halten können;  sondern  es  wird  die  Kenntniss  dessen  ge- 
fordert, was  jene  Gestaltung  ausmacht,  das  gleichsam  eine 
geistige  Konstruktion  ist.) 


Vorrede.  7 

empirischen  Anschauung  (Wahrnehmung)  gegebenes  Ne- 
beneinandersein des  Mannigfaltigen  ausser  einander  sei 
(wie  Wolf  ihn  erklärt),  würde  ihn  schon  aus  dem  Grunde 
abgeschreckt  haben,  weil  er  sich  hiermit  in  weit  hin- 
aussehende philosophische  Untersuchungen  verwickelt 
gefühlt  hätte.  Die  gleichsam  durch  den  Verstand 
gemachte  Darstellung  bedeutete  dem  scharfsinnigen  Mathe- 
matiker nichts  weiter,  als  die  einem  Begriffe  korrespon- 
dirende  (empirische)  Verzeichnung  einer  Linie,  bei 
der  bloss  auf  die  Regel  Acht  gegeben,  von  den  in  der 
Ausführung  unvermeidlichen  Abweichungen  aber  abstra- 
hirt  wird ;  wie  man  in  der  Geometrie  auch  an  der  Kon- 
struktion der  Gleichungen  wahrnehmen  kann. 

Von  der  aller  mindesten  Bedeutung  aber  in  An- 
sehung des  Geistes  dieser  Philosophie  ist  wohl  der  Un- 
fug, den  einige  Nachäffer  derselben  mit  den  Wörtern 
stiften,  die  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  selbst 
nicht  wohl  durch  andere  gangbare  zu  ersetzen  sind,  sie 
auch  ausserhalb  derselben  zum  öffentlichen  Gedanken- 
verkehr zu  brauchen,  und  welcher  allerdings  gezüchtigt 
zu  werden  verdient,  wie  Herr  Nicolai  thut,  wiewohl 
er  über  die  gänzliche  Entbehrung  derselben  in  ihrem 
eigenthümlichen  Felde,  gleich  als  einer  überall  bloss 
versteckten  Armseligkeit  an  Gedanken,  kein  Urtheil  zu 
haben  sich  selbst  bescheiden  wird.  —  Indessen  lässt 
es  sich  über  den  unpopulären  Pedanten  freilich  viel 
lustiger  lachen,  als  über  den  unkritischen  Igno- 
ranten (denn  in  der  That  kann  der  Metaphysiker, 
welcher  seinem  Systeme  steif  anhängt,  ohne  sich  an  alle 
Kritik  zu  kehren,  zur  letzteren  Klasse  gezählt  werden, 
ob  er  zwar  nur  willkürlich  ignorirt,  was  er  nicht  auf- 
kommen lassen  will,  weil  es  zu  seiner  älteren  Schule 
nicht  gehört).  Wenn  aber,  nach  Shaftesbury's  Be- 
hauptung, es  ein  nicht  zu  verachtender  Probirstein  für 
die  Wahrheit  einer  (vornehmlich  praktischen)  Lehre  ist, 
wenn  sie  das  Belachen  aushält,  so  müsste  wohl  an 
den  kritischen  Philosophen  mit  der  Zeit  die  Reihe  kommen 
zuletzt,  und  so  auch  am  besten,  zu  lachen;  wenn  er 
die  papiernen  Systeme  derer,  die  eine  lange  Zeit  das 
grosse  Wort  führten,  nach  einander  einstürzen,  und  alle 
Anhänger  derselben  sich  verlaufen  sieht:  ein  Schicksal, 
was  jenen  unvermeidlich  bevorsteht. 


g  Rechtslehre. 

Gegen  das  Ende  des  Buchs  habe  ich  einige  Ab- 
schnitte mit  minderer  Ausführlichkeit  bearbeitet,  als  in 
Vergleichung  mit  den  vorhergehenden  erwartet  werden 
konnte;  theils,  weil  sie  mir  aus  diesen  leicht  gefolgert 
werden  zu  können  schienen,  theils  auch,  weil  die  letzten 
(das  öffentliche  Recht  betreffenden)  eben  jetzt  so  vielen 
Diskussionen  unterworfen  und  dennoch  so  wichtig  sind, 
dass  sie  den  Aufschub  des  entscheidenden  Urtheils  auf 
einige  Zeit  wohl  rechtfertigen  können.!)*) 


t)  In  der  1.  Ausgabe  folgen  hier  noch  die  Worte:  „Die 
metaphysischen  An fangsg runde  der  Tugen dl  ehre 
hoffe  ich  in  Kurzem  liefern  zu  können." 


Einleitung 
in  die  Metaphysik  der  Sitten. 


I. 

Ton  demYerliältnisse  derTermögen  des  mensch- 
lichen Oeniüths  zn  den  Sittengesetzen. 

Begelirungs vermögen  ist  das  Vermögen,  durch 
seine  Vorstellungen  Ursache  der  Gegenstände  dieser 
Vorstellungen  zu  sein.  Das  Vermögen  eines  Wesens, 
seinen  Vorstellungen  gemäss  zu  handeln,,,  heisst  das 
Leben. 

Mit  dem  Begehren  oder  Verabscheuen  ist  erstlich 
jederzeit  Lust  oder  Unlust,  deren  Empfänglichkeit 
man  Gefühl  nennt,  verbunden;  aber  nicht  immer  um- 
gekehrt. Denn  es  kann  eine  Lust  geben,  welche  mit 
gar  keinem  Begehren  des  Gegenstandes,  sondern  mit 
der  blossen  Vorstellung,  die  man  sich  von  einem  Gegen- 
stande macht  (gleichgültig,  ob  das  Objekt  derselben 
existire  oder  nicht),  schon  verknüpft  ist.  Auch  geht, 
zweitens,  nicht  immer  die  Lust  oder  Unlust  an  dem 
Gegenstande  des  Begehrens  vor  dem  Begehren  vorher 
und  darf  nicht  allemal  als  Ursache,  sondern  kann  auch 
als  Wirkung  desselben  angesehen  werden. 

Man  nennt  aber  die  Fähigkeit,  Lust  oder  Unlust  bei 
einer  Vorstellung  zuhaben,  darum  Gefühl,  weil  beides 
das  bloss  Subjektive  im  Verhältnisse  unserer  Vor- 
stellung, und  gar  keine  Beziehung  auf  ein  Objekt  zum 
möglichen  Erkenntnisse  desselben*)   (nicht  einmal   dem 

*)  Man  kann  Sinnlichkeit  durch  das  Subjektive  unserer 


IQ  Rechtslehre.    Einleitung 

Erkenntnisse  unseres  Zustandes)  enthält ;  da  sonst  selbst 
Empfindungen,  ausser  der  Qualität,  die  ihnen  der  Be- 
schaffenheit des  Subjekts  wegen  anhängt  (z.  B.  des 
Rothen,  des  Süssen  u.  s.  w.),  doch  auch  als  Erkennt- 
nissstücke auf  ein  Objekt  bezogen  werden,  die  Lust  oder 
Unlust  aber  (am  Rothen  und  Süssen)  schlechterdings 
nichts  am  Objekte,  sondern  lediglich  Beziehung  aufs 
Subjekt  ausdrückt.  Näher  können  Lust  und  Unlust  für 
sich,  und  zwar  eben  um  des  angeführten  Grundes  willen, 
nicht  erklärt  werden,  sondern  man  kann  allenfalls  nur, 
was  sie  in  gewissen  Verhältnissen  für  Folgen  haben, 
anführen,  um  sie  im  Gebrauche  kennbar  zu  machen.a) 

Man  kann  die  Lust,  welche  mit  dem  Begehren  fdes 
Gegenstandes,  dessen  Vorstellung  das  Gefühl  so  afficirt) 
nothwendig  verbunden  ist,  praktische  Lust  nennen; 
sie  mag  nun  Ursache  oder  Wirkung  vom  Begehren  sein. 
Dagegen  würde  man  die  Lust,  die  mit  dem  Begehren 
des  Gegenstandes  nicht  nothwendig  verbunden  ist,  die 
also  im  Grunde  nicht  eine  Lust  an  der  Existenz  des 
Objekts  der  Vorstellung  ist,  sondern  bloss  an  der  Vor- 
stellung allein  haftet,  bloss  contemplative  Lust,  oder 
unthätiges  Wohlgefallen  nennen  können.  Das  Ge- 
fühl der  letztern  Art  von  Lust  nennen  wir  Geschmack. 
Von  diesem  wird  also  in  einer  praktischen  Philosophie 


Vorstellungen  überhaupt  erklären;  denn  der  Verstand  be- 
zieht allererst  die  Vorstellungen  auf  ein  Objekt,  d.  i.  er 
allein  denkt  sich  etwas  vermittelst  derselben.  Nun  kann 
das  Subjektive  unserer  Vorstellung  entweder  von  der  Art 
sein,  dass  es  auch  auf  ein  Objekt  zum  Erkenntniss  des- 
selben (der  Form  oder  Materie  nach,  da  es  im  ersteren 
Falle  reine  Anschauung,  im  zweiten  Empfindung  heisst) 
bezogen  werden  kann.  In  diesem  Falle  ist  die  Sinnlichkeit, 
als  Empfänglichkeit  der  gedachten  Vorstellung,  der  Sinn; 
aber  das  Subjektive  der  Vorstellung  kann  gar  kein  Er- 
kenntnissstück werden;  weil  es  bloss  die  Beziehung 
derselben  aufs  Subjekt  und  nichts  zur  Erkenntniss  des 
Objekts  Brauchbares  enthält,  und  alsdann  heisst  diese 
Empfänglichkeit  der  Vorstellung  Gefühl;  welches  die  Wir- 
kung der  Vorstellung  (diese  mag  sinnlich  oder  intellektuell 
sein)  aufs  Subjekt  enthält  und  zur  Sinnlichkeit  gehört,  ob- 
gleich die  Vorstellung  selbst  zum  Verstände  oder  der  Ver- 
nunft gehören  mag. 


in  die  Metaphysik  der  Sitten.  I.  IX 

nicht  als  von  einem  einheimischen  Begriffe,  sondern 
allenfalls  nur  episodisch  die  Rede  sein.  Was  aber 
die  praktische  Lust  betrifft,  so  wird  die  Bestimmung  des 
Begehrungsvermögens,  vor  welcher  diese  Lust,  als 
Ursache,  nothwendig  vorhergehen  muss,  im  engen  Ver- 
stände Begierde,  die  habituelle  Begierde  aber  Nei- 
gung heissen,  und  weil  die  Verbindung  der  Lust  mit 
dem  Begehrungsvermögen,  sofern  diese  Verknüpfung  durch 
den  Verstand  nach  einer  allgemeinen  Regel  (allenfalls 
auch  nur  für  das  Subjekt)  gültig  zu  sein  geurtheilt  wird, 
Interesse  heisst;  so  wird  die  praktische  Lust  in  diesem 
Falle  ein  Interesse  der  Neigung,  dagegen  wenn  die  Lust 
nur  auf  eine  vorhergehende  Bestimmung  des  Begehrungs- 
vermögens folgen  kann,  so  wird  sie  eine  intellektuelle 
Lust,  und  das  Interesse  an  dem  Gegenstande  ein  Ver- 
nunftinteresse genannt  werden  müssen;  denn  wäre  das 
Interesse  sinnlich  und  nicht  bloss  auf  reine  Vernunft- 
prinzipien gegründet,  so  müsste  Empfindung  mit  Lust 
verbunden  sein  und  so  das  Begehrungsvermögen  be- 
stimmen können.  Obgleich,  wo  ein  bloss  reines  Ver- 
nunftinteresse angenommen  werden  muss,  ihm  kein  In- 
teresse der  Neigung  untergeschoben  werden  kann,  so 
können  wir  doch,  um  dem  Sprachgebrauche  gefällig  zu 
sein,  einer  Neigung  selbst  zu  dem,  was  nur  Objekt  einer 
intellektuellen  Lust  sein  kann,  ein  habituelles  Begehren 
aus  reinem  Vernunftinteresse  einräumen,  welche  alsdann 
aber  nicht  die  Ursache,  sondern  die  Wirkung  des  letztern 
Interesse  sein  würde,  und  die  wir  die  sinnen  freie 
Neigung  (propensio  intellectualis)  nennen  könnten. 

Noch  ist  die  Concupiscenz  (das  Gelüsten)  von  dem 
Begehren  selbst,  als  Anreiz  zur  Bestimmung  desselben, 
zu  unterscheiden.  Sie  ist  jederzeit  eine  sinnliche,  aber 
noch  zu  keinem  Akt  des  Begehrungsvermögens  gediehene 
Gemüthsbestimmung.  3) 

Das  Begehrungsvermögen  nach  Begriffen,  sofern  der 
Bestimmungsgrund  desselben  zur  Handlung  in  ihm  selbst, 
nicht  in  dem  Objekte  angetroffen  wird,  heisst  ein  Ver- 
mögen, nach  Belieben  zu  thun  oder  zu  lassen. 
Sofern  es  mit  dem  Bewusstsein  des  Vermögens  seiner 
Handlung  zur  Hervorbringung  des  Objekts  verbunden 
ist,  heisst  es  Willkür;  ist  es  aber  damit  nicht  ver- 
bunden,   so   heisst   der  Aktus    derselben    ein  Wunsch. 


12  Rechtslehre.    Einleitung 

Das  Begebrmigsvermögen,  dessen  innerer  Bestimmimgs- 
grund,  folglich  selbst  das  Belieben  in  der  Vernunft  dea 
Subjekts  angetroffen  wird,  heisst  der  Wille.  Der  Wille 
ist  also  das  Begehrungsvermögen,  nicht  sowohl  (wie  die 
Willkür)  in  Beziehung  auf  die  Handlung,  als  vielmehr 
auf  den  Bestimmungsgrund  der  Willkür  zur  Handlung 
betrachtet,  und  hat  selber  für  sich  eigentlich  keinen 
Bestimmungsgrund,  sondern  ist,  sofern  sie  die  Willkür 
■bestimmen  kann,  die  praktische  Vernunft  selbst. 

Unter  dem  Willen  kann  die  Willkür,  aber  auch 
der  blosse  Wunsch  enthalten  sein,  sofern  die  Vernunft 
das  Begehrungsvermögen  überhaupt  bestimmen  kann; 
die  Willkür,  die  durch  reine  Vernunft  bestimmt 
werden  kann,  heisst  die  freie  Willkür.  Die,  welche 
nur  durch  Neigung  (sinnlichen  Antrieb,  stimuhis) 
bestimmbar  ist,  würde  thierische  Willkür  [arhitrium 
hrutum)  sein.  Die  menschliche  Willkür  ist  dagegen  eine 
solche,  welche  durch  Antriebe  zwar  afficirt,  aber  nicht 
bestimmt  wird,  und  ist  also  für  sich  (ohne  erworbene 
Fertigkeit  der  Vernunft)  nicht  rein;  kann  aber  doch  zu 
Handlungen  aus  reinem  Willen  bestimmt  werden.  Die 
Freiheit  der  Willkür  ist  jene  Unabhängigkeit  ihrer 
Bestimmung  durch  sinnliche  Antriebe;  dies  ist  der 
negative  Begriff  derselben.  Der  positive  ist:  das  Ver- 
mögen der  reinen  Vernunft,  für  sich  selbst  praktisch  zu 
sein.  Dieses  ist  aber  nicht  anders  möglich,  als  durch 
die  Unterwerfung  der  Maxime  einer  jeden  Handlung 
unter  die  Bedingung  der  Tauglichkeit  der  erstem  zum 
allgemeinen  Gesetze.  Denn  als  reine  Vernunft,  auf  die 
•Willkür,  unangesehen  dieser  ihres  Objekts,  angewandt, 
kann  sie,  als  Vermögen  der  Prinzipien  (und  hier  prak- 
tischer Prinzipien,  mithin  als  gesetzgebendes  Vermögen), 
da  ihr  die  Materie  des  Gesetzes  abgeht,  nichts  mehr, 
als  die  Form  der  Tauglichkeit  der  Maxime  der  Willkür 
zum  allgemeinen  Gesetze  selbst,  zum  obersten  Gesetze 
und  Bestimmungsgrunde  der  Willkür  machen,  und,  da 
die  Maximen  des  Menschen  aus  subjektiven  Ursachen 
mit  jenen  objektiven  nicht  von  selbst  übereinstimmen, 
dieses  Gesetz  nur  schlechthin  als  Imperativ  des  Verbots 
oder  Gebots  vorschreiben.'*) 

Diese  Gesetze  der  Freiheit  heissen,  zum  Unterschiede 
von   Naturgesetzen,   moralisch.     Sofern    sie   nur   auf 


in  die  Metaphysik  der  Sitten.  II.  ]^3 

blosse  äussere  Handlungen  und  deren  Gesetzmässigkeit 
gehen,  heissen  sie  juridisch;  fordern  sie  aber  auch, 
dass  sie  (die  Gesetze)  selbst  die  Bestimmungsgründe  der 
Handlungen  sein  sollen,  so  sind  sie  ethisch,  und  als- 
dann sagt  man:  die  Uebereinstimmung  mit  den  ersteren 
ist  die  Legalität,  die  mit  den  zweiten  die  Morali- 
tät  der  Handlung.  Die  Freiheit,  auf  die  sich  die  erste- 
ren Gesetze  beziehen,  kann  nur  die  Freiheit  im  äusseren 
Gebrauche;  diejenige  aber,  auf  die  sich  die  letzteren 
beziehen,  die  Freiheit  sowohl  im  äussern,  als  Innern 
Gebrauche  der  Willkür  sein,  sofern  sie  durch  Vernunft- 
gesetze bestimmt  wird.  So  sagt  man  in  der  theoreti- 
schen Philosophie:  im  Räume  sind  nur  die  Gegenstände 
äusserer  Sinne,  in  der  Zeit  aber  alle,  sowohl  die  Gegen- 
stände äusserer,  als  des  inneren  Sinnes;  weil  die  Vor- 
stellungen beider  doch  Vorstellungen  sind,  und  sofern 
insgesammt  zum  inneren  Sinne  gehören.  Ebenso  mag 
die  Freiheit  im  äusseren  oder  inneren  Gebrauche  der 
Willkür  betrachtet  werden,  so  müssen  doch  ihre  Gesetze, 
als  reine  praktische  Vernunftgesetze  für  die  freie  Will- 
kür überhaupt,  zugleich  innere  Bestimmungsgründe  der- 
selben sein;  obgleich  sie  nicht  immer  in  dieser  Bezie- 
hung betrachtet  werden  dürfen.5) 

II. 

Ton   der  Idee   und   der  Nothwendigkeit  einer 
Metaphysik  der  Sitten. 

Dass  man  für  die  Naturwissenschaft,  welche  es  mit 
den  Gegenständen  äusserer  Sinne  zu  thun  hat,  Prin- 
zipien a  2yriori  haben  müsge,  und  dass  es  möglich,  ja 
nothwendig  sei,  ein  System  dieser  Prinzipien,  unter  dem 
Namen  einer  metaphysischen  Naturwissenschaft,  vor  der 
auf  besondere  Erfahrungen  angewandten,  d.  i.  der  Phy- 
sik, voranzuschicken,  ist  an  einem  anderen  Orte  bewie- 
sen worden.  Allein  die  letztere  kann  (wenigstens  wenn 
es  ihr  darum  zu  thun  ist,  von  iliren  Sätzen  den  Irrthum 
abzuhalten)  manches  Prinzip  auf  das  Zeugniss  der  Er- 
fahrung als  allgemein  annehmen,  obgleich  das  letztere, 
wenn  es  in  strenger  Bedeutung  allgemein  gelten  soll, 
aus   Gründen    a  priori   abgeleitet   werden  müsste,  wie 


14  Rechtslehre.    Einleitung 

Newton  das  Prinzip  der  Gleichheit  der  Wirkung  und 
Gegenwirkung  im  Einflüsse  der  Körper  auf  einander 
als  auf  Erfahrung  gegründet  annahm,  und  es  gleichwohl 
über  die  ganze  materielle  Natur  ausdehnte.  Die  Chemi- 
ker gehen  noch  weiter  und  gründen  ihre  allgemeinsten 
Gesetze  der  Vereinigung  und  Trennung  der  Materien 
durch  ihre  eigenen  Kräfte  gänzlich  auf  Erfahrung,  und 
vertrauen  gleichwohl  auf  ihre  Allgemeinheit  und  Noth- 
wendigkeit  so,  dass  sie  in  den  mit  ihnen  angestellten 
Versuchen  keine  Entdeckung  eines  Irrthums  besorgen. 

Allein  mit  den  Sittengesetzen  ist  es  anders  bewandt. 
Nur  sofern  sie  als  a  iwiori  gegründet  und  nothwendig 
eingesehen  werden  können,  gelten  sie  als  Gesetze; 
ja  die  Begriffe  und  Urtheile  über  uns  selbst  und  unser 
Thun  und  Lassen  bedeuten  gar  nichts  Sittliches,  wenn 
sie  das,  was  sich  bloss  von  der  Erfahrung  lernen  lässt, 
enthalten,  und  wenn  man  sich  etwa  verleiten  lässt,  etwas 
aus  der  letztern  Quelle  zum  moralischen  Grundsatze  zu 
machen,  so  geräth  man  in  Gefahr  der  gröbsten  und 
verderblichsten  Irrthümer. 

Wenn  die  Sittenlehre  nichts,  als  Glückseligkeitslehre 
wäre,  so  würde  es  ungereimt  sein,  zum  Behufe  dersel- 
ben sich  nach  Prinzipien  a  'priori  umzusehen.  Denn  so 
scheinbar  es  auch  immer  lauten  mag :  dass  die  Vernunft 
noch  vor  der  Erfahrung  einsehen  könne,  durch  welche 
Mittel  man  zum  dauerhaften  Genüsse  wahrer  Freuden 
des  Lebens  gelangen  könne;  so  ist  doch  alles,  was  man 
darüber  a  priori  lehrt,  entweder  tautologisch,  oder  ganz 
grundlos  angenommen.  Nur  die  Erfahrung  kann  lehren, 
was  uns  Freude  bringe.  Die  natürlichen  Triebe  zur 
Nahrung,  zum  Geschlechte,  zur  Ruhe,  zur  Bewegung, 
und  (bei  der  Entwickelung  unserer  Naturanlagen)  die 
Triebe  zur  Ehre,  zur  Erweiterung  unserer  Erkenntniss 
u.  dgl.  können  allein  und  einem  Jeden  nur  auf  seine 
besondere  Art  zu  erkennen  geben,  worin  er  jene  Freu- 
den zu  setzen,  ebendieselbe  kann  ihm  auch  die  Mittel 
lehren,  wodurch  er  sie  zu  suchen  habe.  Alles  schein- 
bare Vernünfteln  a  priori  ist  hier  im  Grunde  nichts,  als 
durch  Induction  zur  Allgemeinheit  erhobene  Erfahrung, 
welche  Allgemeinheit  {secundmn  jjrhicipia  generalia 
non  universalia)  noch  dazu  so  kümmerlich  ist,  dass  man 
einem  Jeden  unendlich  viel  Ausnahmen  erlauben  muss, 


in  die  Metaphysik  der  Sitten.    II.  15 

um  jene  Wahl  seiner  Lebensweise  seiner  besondem 
Neigung  und  seiner  Empfänglichkeit  für  die  Vergnügen 
anzupassen,  und  am  Ende  doch  nur  durch  seinen,  oder 
Anderer  ihren  Schaden  klug  zu  werden. 

Allein  mit  den  Lehren  der  Sittlichkeit  ist  es  anders 
bewandt.  Sie  gebieten  für  Jedermann,  ohne  Rücksicht 
auf  seine  Neigungen  zu  nehmen;  bloss  weil  und  sofern 
er  frei  ist  und  praktische  Vernunft  hat.  Die  Belehrung 
in  ihren  Gesetzen  ist  nicht  aus  der  Beobachtung  seiner 
selbst  und  der  Thierheit  in  ihm,  nicht  aus  der  Wahr- 
nehmung des  Weltlaufs  geschöpft,  von  dem  was  ge- 
schieht und  wie  gehandelt  wird  (obgleich  das  deutsche 
Wort  Sitten,  ebenso  wie  das  lateinische  mores^  nur 
Manieren  und  Lebensart  bedeutet),  sondern  die  Vernunft 
gebietet,  wie  gehandelt  werden  soll,  wenngleich  noch 
kein  Beispiel  davon  angetroffen  würde;  auch  nimmt  sie 
keine  Rücksicht  auf  den  Vortheil,  der  uns  dadurch  er- 
wachsen kann,  und  den  freilich  nur  die  Erfahrung  leh- 
ren könnte.  Denn  ob  sie  zwar  erlaubt,  unsem  Vortheil 
auf  alle  uns  mögliche  Art  zu  suchen;  überdem  auch 
sich,  auf  Erfahrungszeugnisse  fussend,  von  der  Befolgung 
ihrer  Gebote,  vornehmlich  wenn  Klugheit  dazukommt, 
im  Durchschnitte  grössere  Vortheile,  als  von  ihrer  Ueber- 
tretung  wahrscheinlich  versprechen  kann;  so  beruht  dar- 
auf doch  nicht  die  Autorität  ihrer  Vorschriften  als  Ge- 
bote, sondern  sie  bedient  sich  derselben  (als  Rath- 
schläge)  nur  als  eines  Gegengewichts  wider  die  Verlei- 
tungen zum  Gegentheil,  um  den  Fehler  einer  parteiischen 
Wage  in  der  praktischen  Beurtheilung  vorher  auszuglei- 
chen, und  alsdann  allererst  dieser,  nach  dem  Gewicht 
der  Gründe  a  iwiori  einer  reinen  praktischen  Vernunft, 
den  Ausschlag  zu  sichern. 

Wenn  daher  ein  System  der  Erkenntniss  a  primi 
aus  blossen  Begriffen  Metaphysik  heisst,  so  wijrd  eine 
praktische  Philosophie,  welche  nicht  Natur,  sondern  die 
Freiheit  der  Willkür  zum  Objekte  hat,  eine  Metaphysik 
der  Sitten  voraussetzen  und  bedürfen:  d.  i.  eine  solche 
zu  haben  ist  selbst  Pflicht,  und  jeder  Mensch  hat  sie 
auch,  obzwar  gemeiniglich  nur  auf' dunkle  Art  in  sich; 
denn  wie  könnte  er  ohne  Prinzipien  a  priori  eine  all- 
gemeine Gesetzgebung  in  sich  zu  haben  glauben?  So 
wie  es   aber  in  einer  Metaphysik  der  Natur  auch  Prin- 


16  Eechtslehre.    Einleitung 

zipien  der  Anwendung  jener  allgemeinen  obersten  Grund- 
sätze von  einer  Natur  überhaupt  auf  Gegenstände  der 
Erfahrung  geben  muss;  so  wird  es  auch  eine  Metaphy- 
sik der  Sitten  daran  nicht  können  mangeln  lassen,  und 
wir  werden  oft  die  besondere  Natur  des  Menschen,  die 
nur  durch  Erfahrung  erkannt  wird,  zum  Gegenstande 
nehmen  müssen,  um  an  ihr  die  Folgerungen  aus  den 
allgemeinen  moralischen  Prinzipien  zu  zeigen;  ohne  dass 
jedoch  dadurch  der  Reinigkeit  der  letztern  etwas  benom-^ 
men,  noch  ihr  Ursprung  a  priori  dadurch  zweifelhaft' 
gemacht  wird.  —  Das  will  so  viel  sagen,  als :  eine  Me- 
taphysik der  Sitten  kann  nicht  auf  Anthropologie  gegrün- 
det, aber  doch  auf  sie  angewandt  werdeu.6) 

Das  Gegenstück  einer  Metaphysik  der  Sitten,  als  das 
andere  Glied  der  Eintheilung  der  praktischen  Philosophie 
überhaupt,  würde  die  moralische  Anthropologie  sein, 
welche  aber  nur  die  subjektiven,  hindernden  sowohl, 
als  begünstigenden  Bedingungen  der  Ausführung  der 
Gesetze  der  ersteren  in  der  menschlichen  Natur,  die  Er- 
zeugung, Ausbreitung  und  Stärkung  moralischer  Grund- 
sätze (in  der  Erziehung  der  Schul-  und  Volksbelehrung) 
und  dergleichen  andere  sich  auf  die  Erfahrung  grün- 
dende Lehren  und  Vorschriften  enthalten  würde,  und 
die  nicht  entbehrt  werden  kann,  aber  durchaus  nicht 
vor  jener  vorausgeschickt,  oder  mit  ihr  vermischt  werden 
muss;  weil  man  alsdann  Gefahr  läuft,  falsche,  oder 
wenigstens  nachsichtliche  moralische  Gesetze  heraus- 
zubringen, welche  das  für  unerreichbar  vorspiegeln,  was 
nur  eben  darum  nicht  erreicht  wird,  weil  das  Gesetz 
nicht  in  seiner  Reinigkeit  (als  worin  auch  seine  Stärke 
besteht)  eingesehen  und  vorgetragen  worden,  oder  gar 
unächte,  oder  unlautere  Triebfedern  zu  dem,  was  an 
sich  pflichtmässig  und  gut  ist,  gebraucht  werden,  welche 
keine  sicheren  moralischen  Grundsätze  übrig  lassen; 
weder  zum  Leitfaden  der  Beurtheilung,  noch  zur  Dis- 
ziplin des  Gemüths  in  der  Befolgung  der  Pflicht,  deren 
Vorschrift  schlechterdings  nur  durch  reine  Vernunft 
a  priori  gegeben  werden  muss. 

Was  aber  die  Obereintheilung ,  unter  welcher  die 
eben  jetzt  erwähnte  steht,  nämlich  die  der  Philosophie 
in  die  theoretische  und  praktische,  und  dass  diese  keine 
andere,  als  die  moralische  Weltweisheit  sein  könne,  be- 


in  die  Metaphysik  der  Sitten.    III.  17 

trifft,  darüber  habe  ich  mich  schon  anderwärts  (in  der 
Kritik  der  ürtheilskraft)  erklärt.  Alles  Praktische,  was 
nach  Naturgesetzen  möglich  sein  soll,  (die  eigentliche 
Beschäftigung  der  Kunst)  hängt,  seiner  Vorschrift  nach, 
gänzlich  von  der  Theorie  der  Natur  ab;  nur  das  Prak- 
tische nach  Freiheitsgesetzen  kann  Prinzipien  haben,  die 
von  keiner  Theorie  abhängig  sind;  denn  über  die  Natur- 
bestimmungen hinaus  giebt  es  keine  Theorie.  Also  kann 
die  Philosophie  unter  dem  praktischen  Theile  (neben 
ihrem  theoretischen)  keine  technisch-,  sondern  bloss 
moralisch-praktische  Lehre  verstehen;  und  wenn 
die  Fertigkeit  der  Willkür  nach  Freiheitsgesetzen,  im 
Gegensatze  der  Natur,  hier  auch  Kunst  genannt  wer- 
den sollte,  so  würde  darunter  eine  solche  Kunst  ver- 
standen werden  müssen,  welche  ein  System  der  Freiheit 
gleich  einem  Systeme  der  Natur  möglich  macht;  fürwahr 
eine  göttliche  Kunst,  wenn  wir  im  Stande  wären,  das, 
was  uns  die  Vernunft  vorschreibt,  vermittelst  ihrer  auch 
völlig  auszuführen  und  die  Idee  davon  ins  Werk  zu 
richten.  ^) 

III. 

Ton  der  Eintheilimg  einer  Metaphysik  der 
Sitten.*) 

Zu   aller   Gesetzgebung   (sie    mag   nun   innere  oder 
äussere  Handlungen,  und  diese  entweder  a  priori  durch 


*)  Die  Deduktion  der  Einth eilung  eines  Systems,  d.  i. 
der  Beweis  ihrer  Vollständigkeit  sowohl,  als  auch  der 
Stetigkeit,  dass  nämlich  der  Uebergang  vom  eingetheil- 
ten  Begriffe  zum  Gliede  der  Eintheilung  in  der  ganzen 
Reihe  der  üntereintheilungen  durch  keinen  Sprung  {divisio 
■per  saltum)  geschehe,  ist  eine  der  am  schwersten  zu  erfül- 
lenden Bedingungen  für  den  Baumeister  eines  Systems. 
Auch  was  der  oberste  eingetheilte  Begriff  zu  der 
Eintheilung  Recht  oder  Unrecht  [aut  Jas  aut  nefas)  sei, 
hat  seine  Bedenklichkeit.  Es  ist  der  Akt  der  freien  Will- 
kür überhaupt.  So  wie  die  Lehrer  der  Ontologie  vom 
Etwas  und  Nichts  zu  oberst  anfangen,  ohne  inne  zu  wer- 
den, dass  dieses  schon  Glieder  einer  Eintheilung  sind,  dazu 
noch  der  eingetheilte  Begriff  fehlt,  der  kein  anderer,  als  der 
Begriff  von  einem  Gegenstande  überhaupt  sein  kann. 

Kant,   Metaphysik  der  Sitten.  2 


IQ  Rechtslehre.    Einleitung 

blosse  Vernunft,  oder  durch  die  Willkür  eines  Andern 
vorschreiben)  gehören  zwei  Stücke:  erstlich,  ein  Gle- 
setz,  welches  die  Handlung,  die  geschehen  soll,  objek- 
tiv als  nothwendig  vorstellt,  d.  i.  welches  die  Handlung 
zur  Pflicht  macht;  zweitens,  eine  Triebfeder,  welche  den 
Bestimmungsgrund  der  Willkür  zu  dieser  Handlung  sub- 
jektiv  mit  der  Vorstellung  des  Gesetzes  verknüpft; 
mithin  ist  das  zweite  Stück  dieses:  dass  das  Gesetz  die 
Pflicht  zur  Triebfeder  macht.  Durch  das  erstere  wird 
die  Handlung  als  Pflicht  vorgestellt,  welches  ein  blosses 
theoretisches  Erkenntniss  der  möglichen  Bestimmung  der 
Willkür,  d.  i.  praktischer  Regeln  ist;  durch  das  zweite 
wird  die  Verbindlichkeit,  so  zu  handeln,  mit  einem  Be- 
stimmungsgrunde der  Willkür  überhaupt  im  Subjekte 
verbunden. 

Alle  Gesetzgebung  also  (sie  mag  auch  in  Ansehung 
der  Handlung,  die  sie  zur  Pflicht  macht,  mit  einer  an- 
deren übereinkommen,  z.  B.  die  Handlungen  mögen  in 
allen  Fällen  äussere  sein)  kann  doch  in  Ansehung  der 
Triebfedern  unterschieden  sein.  Diejenige,  welche  eine 
Handlung  zur  Pflicht,  und  diese  Pflicht  zugleich  zur 
Triebfeder  macht,  ist  ethisch.  Diejenige  aber,  welche 
das  Letztere  nicht  im  Gesetze  mit  einschliesst,  mithin 
auch  eine  andere  Triebfeder,  als  die  Idee  der  Pflicht 
selbst,  zulässt,  ist  juridisch.  Man  sieht  in  Ansehung 
der  letztern  leicht  ein,  dass  diese  von  der  Idee  der 
Pflicht  unterschiedene  Triebfeder,  von  den  pathologischen 
Bestimmungsgründen  der  Willkür  der  Neigungen  und 
Abneigungen,  und  unter  diesen  von  denen  der  letzteren 
Art  hergenommen  sein  müssen,  weil  es  eine  Gesetz- 
gebung, welche  nöthigend,  nicht  eine  Anlockung,  die 
einladend  ist,  sein  soll. 

Man  nennt  die  blosse  Uebereinstimmung  oder  Nicht- 
übereinstimmung einer  Handlung  mit  dem  Gesetze,  ohne 
Rücksicht  auf  die  Triebfeder  derselben,  die  Legalität 
(Gesetzmässigkeit);  diejenige  aber,  in  welcher  die  Idee 
der  Pflicht  aus  dem  Gesetze  zugleich  die  Triebfeder  der 
Handlung  ist,  die  Moral ität  (Sittlichkeit)   derselben. 

Die  Pflichten  nach  der  rechtlichen  Gesetzgebung  kön- 
nen nur  äussere  Pflichten  sein,  weil  diese  Gesetzgebung 
nicht  verlangt,  dass  die  Idee  dieser  Pflicht,  welche 
innerlich  ist,  für  sich  selbst  Bestimmungsgrund  der  Will- 


in  die  Metaphysik  der  Sitten.    III.  I9 

kür  des  Handelnden  sei,  und,  da  sie  doch  einer  für  Ge- 
setze schicklichen  Triebfeder  bedarf,  nur  äussere  mit  dem 
Gesetze  verbinden  kann.  Die  ethische  Gesetzgebung 
dagegen  macht  zwar  auch  innere  Handlungen  zu  Pflich- 
ten, aber  nicht  etwa  mit  Ausschliessung  der  äusseren, 
sondern  geht  auf  alles,  was  Pflicht  ist,  überhaupt.  Aber 
eben  darum,  weil  die  ethische  Gesetzgebung  die  innere 
Triebfeder  der  Handlung  (die  Idee  der  Pflicht)  in  ihr 
Gesetz  mit  einschliesst,  welche  Bestimmung  durchaus 
nicht  in  die  äussere  Gesetzgebung  einiiiessen  muss;  so 
kann  die  ethische  Gesetzgebung  keine  äussere  (selbst 
nicht  die  eines  göttlichen  Willens)  sein,  ob  sie  zwar  die 
Pflichten,  die  auf  einer  anderen,  nämlich  äusseren  Ge- 
setzgebung beruhen,  als  Pflichten,  in  ihre  Gesetz- 
gebung zu  Triebfedern  aufnimmt. 

Hieraus  ist  zu  ersehen,  dass  alle  Pflichten  bloss 
darum,  weil  sie  Pflichten  sind,  mit  zur  Ethik  gehören; 
aber  ihre  Gesetzgebung  ist  darum  nicht  allemal  in 
der  Ethik  enthalten,  sondern  von  vielen  derselben  ausser- 
halb derselben.  So  gebietet  die  Ethik,  dass  ich  eine  in 
einem  Vertrage  gethane  Anheischigmachung,  wenn  mich 
der  andere  Theil  gleich  nicht  dazu  zwingen  könnte,  doch 
erfüllen  müsse;  allein  sie  nimmt  das  Gesetz  (pacta  sunt 
servanda)^  und  die  diesem  korrespondirende  Pflicht  aus 
der  Rechtslehre  als  gegeben  an.  Also  nicht  in  der 
Ethik,  sondern  im  jus  liegt  die  Gesetzgebung,  dass  an- 
genommene Versprechen  gehalten  werden  müssen.  Die 
Ethik  lehrt  hernach  nur,  dass,  wenn  die  Triebfeder, 
welche  die  juridische  Gesetzgebung  mit  jener  Pflicht 
verbindet,  nämlich  der  äussere  Zwang,  auch  weggelassen 
wird,  die  Idee  der  Pflicht  allein  schon  zur  Triebfeder 
hinreichend  sei.  Denn  wäre  das  nicht,  und  die  Gesetz- 
gebung selber  nicht  juridisch,  mithin  die  aus  ihr  ent- 
springende Pflicht  nicht  eigentlich  Rechtspflicht  (zum 
Unterschiede  von  der  Tugendpflicht);  so  würde  man  die 
Leistung  der  Treue  (gemäss  seinem  Versprechen  in 
einem  Vertrage)  mit  denen  Handlungen  des  Wohlwollens 
und  der  Verpflichtung  zu  ihnen  in  eine  Klasse  setzen, 
welches  durchaus  nicht  geschehen  muss.  Es  ist  keine 
Tugendpflicbt,  sein  Versprechen  zu  halten,  sondern  eine 
Rechtspflicht,  zu  deren  Leistung  man  gezwungen  werden 
kann.     Aber    es    ist   doch    eine    tugendhafte   Handlung 

2* 


2Q  Rechtslehre.     Einleitung 

(Beweis  der  Tugend),  es  aucli  da  zu  thun,  wo  kein 
Zwang  besorgt  werden  darf.  Rechtslehre  und  Tugend- 
lehre unterscheiden  sich  also  nicht  sowohl  durch  ihre 
verschiedenen  Pflichten,  als  vielmehr  durch  die  Verschie- 
denheit der  Gesetzgebung,  welche  die  eine  oder  die 
andere  Triebfeder  mit  dem  Gesetze  verbindet. 

Die  ethische  Gesetzgebung  (die  Pflichten  mögen 
allenfalls  auch  äussere  sein)  ist  diejenige,  welche  nicht 
äusserlich  sein  kann;  die  juridische  ist,  welche  auch 
äusserlich  sein  kann.  So  ist  es  eine  äusserliche  Pflicht 
sein  vertragsmässiges  Versprechen  zu  halten;  aber  das 
Gebot,  dieses  bloss  darum  zu  thun,  weil  es  Pflicht  ist, 
ohne  auf  eine  andere  Triebfeder  Rücksicht  zu  nehmen, 
ist  bloss  zur  Innern  Gesetzgebung  gehörig.  Also  nicht 
als  besondere  Art  von  Pflicht  (eine  besondere  Art  Hand- 
lungen, zu  denen  man  verbunden  ist),  —  denn  es  ist 
in  der  Ethik  sow^ohl,  als  im  Rechte  eine  äussere  Pflicht, 
t-  sondern  weil  die  Gesetzgebung  im  angeführten  Falle 
eine  innere  ist  und  keinen  äusseren  Gesetzgeber  haben 
kann,  wird  die  Verbindlichkeit  zur  Ethik  gezählt.  Aus 
eben  dem  Grunde  werden  die  Pflichten  des  Wohlwollens, 
ob  sie  gleich  äussere  Pflichten  (Verbindlichkeiten  zu 
äusseren  Handlungen)  sind,  doch  zur  Ethik  gezählt,  weil 
ihre  Gesetzgebung  nur  innerlich  sein  kann.  —  Die  Ethik 
hat  freilich  auch  ihre  besondern  Pflichten  (z.  B.  die 
gegen  sich  selbst),  aber  hat  doch  auch  mit  dem  Rechte 
Pflichten,  aber  nur  nicht  die  Art  der  Verpflichtung 
gemein.  Denn  Handlungen  bloss  darum,  weil  es  Pflich- 
ten sind,  ausüben,  und  den  Grundsatz  der  Pflicht  selbst, 
woher  sie  auch  komme,  zur  hinreichenden  Triebfeder 
der  Willkür  zu  machen,  ist  das  Eigenthüm liehe  der 
ethischen  Gesetzgebung.  So  giebt  es  also  zwar  viele 
direkt- ethische  Pflichten,  aber  die  innere  Gesetzge- 
bung macht  auch  die  übrigen,  alle  und  insgesammt,  zu 
indirekt-ethischen.  8) 

IV. 

Yorbegriffe  zur  Metaphysik  der  Sitten. 

(Philosophia  practica  universalis.) 
Der  Begriö"  der  Freiheit  ist  ein  reiner  Vernunft- 
begrifi",  der  eben  darum  für  die  theoretische  Philosophie 


in  die  Metaphysik  der  Sitten.   IV.  21 

transscendent,  d.  i.  ein  solcher  ist,  dem  kein  angemesse- 
nes Beispiel  in  irgend  einer  möglichen  Erfahrung  gege- 
ben werden  kann,  welcher  also  keinen  Gegenstand  einer 
uns  möglichen  theoretischen  Erkenntniss  ausmacht,  und 
schlechterdings  nicht  für  ein  konstitutives,  sondern  ledig- 
lich als  regulatives,  und  zwar  nur  bloss  negatives  Prin- 
zip der  spekulativen  Vernunft  gelten  kann,  im  prakti- 
schen Gebrauche  derselben  aber  seine  Realität  durch 
praktische  Grundsätze  beweist,  die,  als  Gesetze,  eine 
Kausalität  der  reinen  Vernunft,  unabhängig  von  allen 
empirischen  Bedingungen  (dem  Sinnlichen  überhaupt) 
die  Willkür  zu  bestimmen,  und  einen  reinen  Willen  in 
uns  beweisen  in  welchem  die  sittlichen  Begriffe  und 
Gesetze  ihren  Ursprung  haben. 

Auf  diesem  (in  praktischer  Rücksicht)  positiven  Be- 
griffe der  Freiheit  gründen  sich  unbedingte  praktische 
Gesetze,  welche  moralisch  heissen,  die  in  Ansehung 
unser,  deren  Willkür  sinnlich  affizirt  und  so  dem  reinen 
Willen  nicht  von  selbst  angemessen,  sondern  oft  wider- 
strebend ist,  Imperativen  (Gebote  oder  Verbote)  und 
zwar  kategorische  (unbedingte)  Imperativen  sind,  wo- 
durch sie  sicli  von  den  technischen  (den  Kunstvorschrif- 
ten), als  die  jederzeit  nur  bedingt  gebieten,  unterschei- 
den, nach  denen  gewisse  Handlungen  erlaubt  oder 
unerlaubt,  d.  i.  moralisch  möglich  oder  unmöglich, 
einige  derselben  aber,  oder  ihr  Gegentheil  moralisch 
nothwendig,  d.  i.  verbindlich  sind;  woraus  dann  für  jene 
der  Begriff  einer  Pflicht  entspringt,  deren  Befolgung  oder 
Uebertretung  zwar  auch  mit  einer  Lust  oder  Unlust  von 
besonderer  Art  (der  eines  moralischen  Gefühls)  verbun 
den  ist,  auf  welche  wir  aber  [weil  sie  nicht  den  Grund 
der  praktischen  Gesetze,  sondern  nur  die  subjektive 
Wirkung  im  Gemüthe  bei  der  Bestimmung  unserer 
Willkür  durch  jene  betreffen  und  (ohne  jener  ihrer  Gül- 
tigkeit oder  Einflüsse  objektiv,  d.  i.  im  ürtheil  der  Ver- 
nunft etwas  hinzuzuthun  oder  zu  benehmen)  nach  Ver- 
schiedenheit der  Subjekte  verschieden  sein  kann]  in 
praktischen  Gesetzen  der  Vernunft  gar  nicht  Rücksicht 
nehmen. 

Folgende  Begriffe  sind  der  Metaphysik  der  Sitten  in 
ihren  beiden  Theilen  gemein. 

Verbindlichkeit    ist    die    Noth wendigkeit    einer 


22  Rechtslehre.  Emleitnng 

freien  Handlung  unter  einem  kategorischen  Imperativ  der 
Vernunft. 

Der    Imperativ   ist  eine  praktische  Regel,  wo- 
durch die  an  sich    zufällige  Handlung  nothwendig 
gemacht  wird.     Er  unterscheidet   sich  darin  von 
einem    praktischen    Gesetze,    dass  dieses   zwar  die 
Nothwendigkeit    einer    Handlung    vorstellig  macht, 
aber  ohne   Rücksicht   darauf  zu  nehmen,  ob  diese 
an  sich  schon  dem  handelnden  Subjekte  (etwa  einem 
heiligen  Wesen)    innerlich  nothwendig  beiwohne, 
oder  (wie  dem  Menschen)  zufällig  sei;  denn  wo  das 
Erstere   ist,    da  findet   kein  Imperativ  statt.     Also 
ist  der  Imperativ  eine  Regel,  deren  Vorstellung  die 
subjektiv- zufällige    Handlung    nothwendig    macht; 
mithin  das  Subjekt,  als  ein  solches,  was  zur  Ueber- 
einstimmung  mit  dieser  Regel  genöthigt  (nezes- 
sitirt)  werden  muss,  vorstellt.  —  Der  kategorische 
(unbedingte)  Imperativ  ist  derjenige,  welcher  nicht 
etwa  mittelbar,  durch  die  Vorstellung  eines  Zwecks, 
der  durch  die  Handlung  erreicht  werden  könne,  son- 
dern   der   sie   durch    die   blosse  Vorstellung  dieser 
Handlung  selbst  (ihrer  Form),  also  unmittelbar  als 
objektiv- nothwendig  denkt  und  nothwendig  macht; 
dergleichen   Imperativen   keine    andere    praktische 
Lehre,    als   allein    die,   welche  Verbindlichkeit  vor- 
schreibt  (die   der   Sitten),  zum  Beispiele  aufstellen 
kann.    Alle   anderen  Imperativen  sind  technisch 
und  insgesammt  bedingt.     Der  Grund  der  Möglich- 
keit kategorischer  Imperativen  liegt  aber  darin :  dass 
sie  sich  auf  keine  andere  Bestimmung  der  Willkür 
(wodurch    ihr    eine    Absicht    untergelegt    werden 
kann),   als   lediglich    auf  die  Freiheit   derselben 
beziehen.  -) 
Erlaubt    ist    eine  Handlung  {licitum)^  die  der  Ver- 
bindlichkeit nicht   entgegen  ist;  und  diese  Freiheit,  die 
durch  keinen  entgegengesetzten  Imperativ  eingeschränkt 
wird,  heisst  die  ßefugniss   {facultas  moralis).     Hieraus 
versteht  sich  von  selbst,  was  unerlaubt  {illicitum)  sei. 
Pflicht  ist  diejenige  Handlung,  zu  welcher  Jemand 
verbunden  ist.    Sie  ist  also  die  Materie  der  Verbindlich- 
keit, und  es  kann   einerlei  Pflicht  (der  Handlung  nach) 


in  die  Metaphysik  der  Sitten.  IV.  23 

sein,  ob  wir  zwar  auf  verschiedene  Art  dazu  verbunden 
werden  können. 

Der  kategorische  Imperativ,  indem  er  eine  Ver- 
bindlichkeit in  Ansehung  gewisser  Handlungen  aus- 
sagt,   ist    ein  moralisch-praktisches  Gesetz.     Weil 
aber  Verbindlichkeit  nicht  bloss  praktische  Nothwen- 
digkeit  (dergleichen  ein  Gesetz  überhaupt  aussagt), 
sondern  auch  Nöthigung  enthält,   so   ist  der  ge- 
dachte Imperativ  entweder  ein  Gebot-  oder  Verbot- 
gesetz,  nachdem    die  Begehung  oder  Unterlassung 
als   Pflicht   vorgestellt   wird.     Eine   Handlung,   die 
weder  geboten  noch  verboten  ist,  ist  bloss  erlaubt, 
weil    es   in  Ansehung   ihrer  gar  kein,  die  Freiheit 
(Befugniss)    einschränkendes   Gesetz   und  also  auch 
keine  Pflicht  giebt.    Eine   solche  Handlung  heisst 
sittlich  -  gleichgültig    [indifferens  ^    adiaphoron,    res 
merae  facidtatis).     Man    kann    fragen :   ob   es  der- 
gleichen gebe,  und,  wenn  es  solche  giebt,  ob  dazu, 
dass    es   Jemandem   frei  stehe,  etwas  nach  seinem 
Belieben  zu  thun,  oder  zu  lassen,  ausser  dem  Ge- 
botgesetze {lex  praeceptiva,  lex  mcmdati,)  und  dem 
Verbotgesetze   (lex  pi'ohibitiva,   lex  vetiti,)  noch  ein 
Erlaubuissgesetz    {lex  p>eTmisswa)   erforderlich   sei. 
Wenn  dieses  ist,  so  würde  die  Befugniss  nicht  alle- 
mal eine   gleichgültige   Handlung  {adiaphoro7i)  be- 
treffen ;  denn  zu  einer  solchen,  wenn  man  sie  nacli 
sittlichen    Gesetzen    betrachtet,    würde   kein  beson- 
deres Gesetz  erfordert  werden,  i^) 
That    heisst   eine  Handlung,    sofern    sie    unter  Ge- 
setzen   der   Verbindlichkeit   steht,    folglich    auch  sofern 
das  Subjekt  in  derselben  nach  der  Freiheit  seiner  Will- 
kür betrachtet  wird.     Der  Handelnde   wird  durch  einen 
solchen  Akt  als  Urheber  der  Wirkung  betrachtet,  und 
diese,    zusammt   der   Handlung  selbst,  können  ihm  zu- 
gerechnet   werden,    wenn    man    vorher    das    Gesetz 
kennt,    kraft    welches    auf  ihnen   eine    Verbindlichkeit 
ruht. 

Person  ist  dasjenige  Subjekt,  dessen  Handlungen 
einer  Zurechnung  fähig  sind.  Die  moralische  Per- 
sönlichkeit ist  also  nichts  Anderes,  als  die  Freiheit  eines 
vernünftigen  Wesens  unter  moralischen  Gesetzen  (die 
psychologische    aber   bloss    das   Vermögen,    sich   seiner 


24  Rechtslehre.    Einleitung 

nelbst  in  den  verschiedenen  Zuständen  der  Identität  sei- 
des  Daseins  bewusst  zu  werden);  woraus  dann  folgt; 
dass  eine  Person  keinen  anderen  Gesetzen,  als  denen, 
die  sie  (entweder  allein,  oder  wenigstens  zugleich  mit 
Anderen)  sich  selbst  giebt,  unterworfen  ist. 

Sache  ist  ein  Ding,  was  keiner  Zurechnung  fähig 
ist.  Ein  jedes  Objekt  der  freien  Willkür,  welches  selbst 
der  Freiheit    ermangelt,  heisst  daher  Sache  (res  coriyo- 


Recht  oder  Unrecht  (rectum  aut  minus  rectum) 
überhaupt  ist  eine  That,  sofern  sie  pflichtmässig  oder 
pflichtwidrig  {factum  licitum  aut  illicitum,)  ist;  die 
Pflicht  selbst  mag,  ihrem  Inhalte  oder  ihrem  Ursprünge 
nach,  sein,  von  welcher  Art  sie  wolle.  Eine  pflicht- 
widrige That  heisst  Ueb  er  tretung  (reatus). 

Eine  unvorsätzliche  Uebertretung,  die  gleichwohl 
zugerechnet  werden  kann,  heisst  blosse  Verschuldung 
{cul2?a).  Eine  vorsätzliche  (d.  i.  diejenige,  welche  mit 
dem  Bewusstsein,  dass  sie  Uebertretung  sei,  verbunden 
ist)  heisst  Verbrechen  {dolus).  Was  nach  äusseren 
Gesetzen  recht  ist,  heisst  gerecht  (justum),  was  es 
nicht  ist,  ungerecht  {injustum) . ^ ') 

Ein  Widerstreit  der  Pflichten  {collisio  officio- 
rum  s.  ohligationum)  würde  das  Verhältniss  derselben 
sein,  durch  welches  eine  derselben  die  andere  (ganz  oder 
zum  Theil)  aufhöbe.  —  Da  aber  Pflicht  und  Verbind- 
lichkeit überhaupt  Begrifi*e  sind,  welche  die  objektive 
praktische  Not h wendigkeit  gewisser  Handlungen  aus- 
drücken und  zwei  einander  entgegengesetzte  Regeln 
nicht  zugleich  nothwendig  sein  können,  sondern,  wenn 
nach  einer  derselben  zu  handeln  es  Pflicht  ist,  so  ist 
nach  der  entgegengesetzten  zu  handeln  nicht  allein  keine 
Pflicht,  sondern  sogar  pflichtwidrig;  so  ist  eine  Colli- 
sion  von  Pflichten  und  Verbindlichkeiten  gar  nicht 
denkbar  {obligatioties  non  coUiduntur).  Es  können  aber 
gar  wohl  zwei  Gründe  der  Verbindlichkeit  {rationes 
ohligandi),  deren  einer  aber,  oder  der  andere,  zur  Ver- 
pflichtung nicht  zureichend  ist  {rationes  ohligandi  non 
ohliganies),  in  einem  Subjekt  und  der  Regel,  die  es  sich 
vorschreibt,  verbunden  sein,  da  dann  der  eine  nicht 
Pflicht  ist.  —  Wenn  zwei  solcher  Gründe  einander  wider- 
streiten,   so   sagt  die  praktische  Philosophie  nicht:  dass 


in  die  Metaphysik  der  Sitten.    IV.  25 

die  stärkere  Verbindiichkeit  die  Oberhand  behalte  {fortior 
obligatio  vincit),  sondernder  stärkere  Verpflichtungs- 
grund behält  den  Platz  (fortior  ohligandi  ratio  vincit).^^) 

üeberhaupt  heissen  die  verbindenden  Gesetze,  für 
die  eine  äussere  Gesetzgebung  möglich  ist,  äussere  Gesetze 
{leges  externae).  Unter  diesen  sind  diejenigen,  zu  denen 
die  Verbindlichkeit  auch  ohne  äussere  Gesetzgebung 
a  priori  durch  die  Vernunft  erkannt  werden  kann,  zwar 
äussere,  aber  natürliche  Gesetze;  diejenigen  dagegen, 
die  ohne  wirkliche  äussere  Gesetzgebung  gar  nicht  ver- 
binden, also  ohne  die  letztere  nicht  Gesetze  sein  wür- 
den, heissen  positive  Gesetze.  Es  kann  also  eine 
äussere  Gesetzgebung  gedacht  werden,  die  lauter  natür- 
liche Gesetze  enthielte;  alsdenn  aber  müsste  doch  ein 
natürliches  Gesetz  vorausgehen,  welches  die  Autorität 
des  Gesetzgebers  (d.  i.  die  Befugniss,  durch  seine,  blosse 
Willkür  Andere  zu  verbinden)  begründetet^) 

Der  Grundsatz,  welcher  gewisse  Handlungen  zur 
Pflicht  macht,  ist  ein  praktisches  Gesetz.  Die  Regel 
des  Handelnden,  die  er  sich  selbst  aus  subjektiven 
Gründen  zum  Prinzip  macht,  heisst  seine  Maxime; 
daher  bei  einerlei  Gesetzen  doch  die  Maximen  der  Han- 
delnden sehr  verschieden  sein  können. 

Der  kategorische  Imperativ,  der  überhaupt  nur  aus- 
sagt, was  Verbindlichkeit  sei,  ist:  handle  nach  einer 
Maxime,  welche  zugleich  als  ein  allgemeines  Gesetz 
gelten  kann.  —  Deine  Handlungen  musst  du  also  zu- 
erst nach  ihrem  subjektiven  Grundsatze  betrachten;  ob 
aber  dieser  Grundsatz  auch  objektiv  gültig  sei,  kannst 
du  nur  daran  erkennen,  dass,  weil  deine  Vernunft  ihn 
der  Probe  unterwirft,  durch  denselben  dich  zugleich 
als  allgemein  gesetzgebend  zu  denken,  er  sich  zu  einer 
solchen  allgemeinen  Gesetzgebung  qualificire. 

Die  Einfachheit  dieses  Gesetzes  in  Vergleichung  mit 
den  grossen  und  mannigfaltigen  Forderungen,  die  daraus 
gezogen  werden  können,  imgleichen  das  gebietende  An- 
sehen, ohne  dass  es  doch  sichtbar  eine  Triebfeder  bei 
sich  führt,  muss  freilich  anfänglich  befremden.  Wenn 
man  aber,  in  dieser  Verwunderung  über  ein  Vermögen 
unserer  Vernunft,  durch  die  blosse  Idee  der  Qualifikation 
einer  Maxime  zur  Allgemeinheit  eines  praktischen 
Gesetzes  die  Willkür  zu  bestimmen,  belehrt  wird,  dass 


2Q  Rechtslehre,    Einleitung 

eben  diese  praktischen  Gesetze  (die  moralischen)  eine 
Eigenschaft  der  Willkür  zuerst  kund  machen,  auf  die 
keine  spekulative  Vernunft  weder  aus  Gründen  a  prioriy 
noch  durch  irgend  eine  Erfahrung  gerathen  hätte,  und, 
wenn  sie  darauf  gerieth,  ihre  Möglichkeit  theoretisch 
durch  nichts  darthun  könnte,  gleichwohl  aber  jene  prak- 
tischen Gesetze  diese  Eigenschaft,  nämlich  die  Freiheit, 
unwidersprechlich  darthun;  so  wird  es  weniger  befrem- 
den, diese  Gesetze,  gleich  mathematischen  Postulaten, 
un erweislich  und  doch  apodiktisch  zu  finden,  zu- 
gleich aber  ein  ganzes  Feld  von  praktischen  Erkennt- 
nissen vor  sich  eröffnet  zu  sehen,  wo  die  Vernunft  mit 
derselben  Idee  der  Freiheit,  ja  jeder  anderer  ihrer  Ideen 
des  üebersinnlichen  im  Theoretischen  alles  schlechter- 
dings vor  ihr  verschlossen  finden  muss.  Die  Ueberein- 
stimmung  einer  Handlung  mit  dem  Pflichtgesetze  ist  die 
Gesetzmässigkeit  {legalitas)^  —  die  der  Maxime  der 
Handlung  mit  dem  Gesetze  die  Sittlichkeit  {morali- 
tas)  derselben.  Maxime  aber  ist  das  subjektive 
Prinzip  zu  handeln,  was  sich  das  Subjekt  selbst  zur 
Regel  macht  (wie  es  nämlich  handeln  will).  Dagegen 
ist  der  Grundsatz  der  Pflicht  das,  was  ihm  die  Vernunft 
schlechthin,  mithin  objektiv  gebietet  (wie  es  handeln 
aoU)M) 

Der  oberste  Grundsatz  der  Sittenlehre  ist  also: 
handle  nach  einer  Maxime,  die  zugleich  als  allgemeines 
Gesetz  gelten  kann.  —  Jede  Maxime,  die  sich  hierzu 
nicht  qualificirt,  ist  der  Moral  zuwider. 

Von  dem  Willen  gehen  die  Gesetze  aus;  von 
der  Willkür  die  Maximen.  Die  letztere  ist  im  Men- 
schen eine  freie  Willkür;  der  Wille,  der  auf  nichts 
Anderes,  als  bloss  auf  Gesetz  geht,  kann  weder 
frei  noch  unfrei  genannt  werden,  weil  er  nicht  auf 
Handlungen,  sondern  unmittelbar  auf  die  Gesetz- 
gebung für  die  Maxime  der  Handlungen  (also  die 
praktische  Vernunft  selbst)  geht,  daher  auch  schlech- 
terdings nothwendig  und  selbst  keiner  Nöthigung 
fähig  ist.  Nur  die  Willkür  also  kann  frei  ge- 
nannt werden. 

Die  Freiheit  der  Willkür  aber  kann  nicht  durch 
das  Vermögen  der  Wahl,  für  oder  wider  das  Ge- 
setz   zu    handeln    {Lihertas  indifferentiae)^    definirt 


in  die  Metaphysik  der  Sitten.  IV.  27 

werden;  wie  es  wolil  Einige  versucht  haben,  — 
obzwar  die  Willkür  als  Phänomen  davon  in  der 
Erfahrung  häufige  Beispiele  giebt.  Denn  die  Frei- 
heit (so  wie  sie  uns  durchs  moralische  Gesetz  allererst 
kundbar  wird)  kennen  wir  nur  als  negative  Eigen- 
schaft in  uns,  nämlich  durch  keine  sinnlichen  Be- 
stimmungsgründe zum  Handeln  genöthigt  zu  wer- 
den. Als  Noumen  aber,  d.  i.  nach  dem  Vermögen 
des  Menschen  bloss  als  Intelligenz  betrachtet,  wie 
sie  in  Ansehung  der  sinnlichen  Willkür  nöthigend 
ist,  mithin  ihrer  positiven  Beschaffenheit  nach,  können 
wir  sie  theoretisch  gar  nicht  darstellen.  Nur 
das  können  wir  wohl  einsehen:  dass,  obgleich  der 
Mensch,  als  Sinnenwesen,  der  Erfahrung  nach 
ein  Vermögen  zeigt,  dem  Gesetze  nicht  allein  ge- 
mäss, sondern  auch  zuwider  zu  wählen,  dadurch 
doch  nicht  seine  Freiheit  als  intelligiblen  We- 
sens definirt  werden  könne;  weil  Erscheinungen 
kein  übersinnliches  Objekt  (dergleichen  doch  die 
freie  Willkür  ist)  verständlich  machen  können,  und 
dass  die  Freiheit  nimmermehr  darin  gesetzt  werden 
kann,  dass  das  vernünftige  Subjekt  auch  eine  wider 
seine  (gesetzgebende)  Vernunft  streitende  Wahl 
treffen  kann;  wenngleich  die  Erfahrung  oft  genug 
beweist,  dass  es  geschieht;  (wovon  wir  doch  die 
Möglichkeit  nicht  begreifen  können).  —  Denn  ein 
Anderes  ist,  einen  Satz  (der  Erfahrung)  einräumen, 
ein  Anderes,  ihn  zum  Erklärungsprinzip  (des 
Begriffs  der  freien  Willkür)  und  allgemeinen  Unter- 
scheidungsmerkmal (vom  ai'bitrio  bruto  s.  servo) 
machen;  weil  das  Erstere  nicht  behauptet,  dass 
das  Merkmal  nothwendig  zum  Begriff  gehöre, 
welches  doch  zum  Zweiten  erforderlich  ist.  — 
Die  Freiheit,  in  Beziehung  auf  die  innere  Gesetz- 
gebung der  Vernunft,  ist  eigentlich  allein  ein  Ver- 
mögen; die  Möglichkeit,  von  dieser  abzuweichen, 
ein  Unvermögen.  Wie  kann  nun  jenes  aus  diesem 
erklärt  werden?  Es  ist  eine  Definition,  die  über 
den  praktischen  Begriff  noch  die  Ausübung  des- 
selben, wie  sie  die  Erfahrung  lehrt,  hinzuthut,  eine 
Bastarterklärung  (deßnitio  liyhrida)^  welche  den  ' 
Begriff  im  falschen  Lichte  darstellt.  ^5) 


28  Rechtslehre.     Einleitung 

Gesetz  (ein  moralisch-praktisches)  ist  ein  Satz,  der 
einen  kategorischen  Imperativ  (Gebot)  enthält.  Der  Ge- 
bietende (imperans)  durch  ein  Gesetz  ist  der  Gesetz- 
geber (legislatm^).  Er  ist  Urheber  {auctor)  der  Ver- 
bindlichkeit nach  dem  Gesetze,  aber  nicht  immer  Ur- 
heber des  Gesetzes.  Im  letzteren  Falle  würde  das  Ge- 
setz positiv  (zufällig)  und  willkürlich  sein.  Das  Gesetz, 
was  uns  a  priori  und  unbedingt  durch  unsere  eigene 
Vernunft  verbindet,  kann  auch  aus  dem  Willen  eines 
höchsten  Gesetzgebers,  d.  i.  eines  solchen,  der  lauter 
Rechte  und  keine  Pflichten  hat  (mithin  dem  göttlichen 
Willen),  hervorgehend  ausgedrückt  werden,  welches  aber 
nur  die  Idee  von  einem  moralischen  Wesen  bedeutet, 
dessen  Wille  für  alle  Gesetz  ist,  ohne  ihn  doch  als 
Urheber  desselben  zu  denken. 

Zurechnung  (imputatio)  in  moralischer  Bedeutung 
ist  das  Urtheil,  wodurch  Jemand  als  Urheber  {causa 
lihera)  einer  Handlung,  die  alsdann  That  [factum) 
heisst  und  unter  Gesetzen  steht,  angesehen  wird ;  welches, 
wenn  es  zugleich  die  rechtlichen  Folgen  aus  dieser 
That  bei  sich  führt,  eine  rechtskräftige  (imputatio  ju- 
diciaria  s.  valida),  sonst  aber  nur  eine  beurtheilende 
Zurechnung  (imputatio  dijudicatoria)  sein  würde.  — 
Diejenige  (physische  oder  moralische)  Person,  welche 
rechtskräftig  zuzurechnen  die  Befugniss  hat,  heisst  der 
Richter  oder  auch  der  Gerichtshof  (y^i<^/e.^' 5. /bn«m).i 6) 

Was  Jemand  pflichtmässig  mehr  thut,  als  wozu  er 
nach  dem  Gesetze  gezwungen  werden  kann,  ist  ver- 
dienstlich (meritum)'^  was  er  nur  gerade  dem  letzteren 
angemessen  thut,  ist  Schuldigkeit  (dehßum)\  was 
er  endlich  weniger  thut,  als  die  letztere  fordert,  ist 
moralische  Verschuldung  (demeritum).  Der  recht- 
liche Effekt  einer  Verschuldung  ist  die  Strafe  (poena); 
der  einer  verdienstlichen  That  Belohnung  (praemium) 
(vorausgesetzt,  dass  sie,  im  Gesetz  verheissen,  die  Be- 
wegursache war);  die  Angemessenheit  des  Verfahrens 
zur  Schuldigkeit  hat  gar  keinen  rechtlichen  Effekt.  — 
Die  gütige  Vergeltung  (r  emuner  atio  s.  repensio 
henefica)  steht  zur  That  in  gar  keinem  Rechtsver- 
hältnisse. 

Die    guten    oder  schlimmen  Folgen  einer  schul- 
digen Handlung,  —  imgleichen  die  Folgen  der  Unter- 


in  die  Metaphysik  der  Sitten,    IV.  29 

lassung  einer  verdienstlichen,  können  dem  Subjekte 
nicht  zugerechnet  werden  [modus  imputationis  tollens). 

Die  guten  Folgen  einer  verdienstlichen,  —  im- 
gleichen  die  schlimmen  Folgen  einer  unrechtmässigen 
Handlung  können  dem  Subjekte  zugerechnet  wer- 
den {modus  imputationis  ponens). 

Subjektiv  ist  der  Grad  der  Zurechnungs- 
fähigkeit {imputahilitas)  der  Handlungen  nach 
der  Grösse  der  Hindernisse  zu  schätzen,  die  dabei 
haben  überwunden  werden  müssen.  —  Je  grösser 
die  Naturhindernisse  (der  Sinnlichkeit),  je  kleiner 
das  moralische  Hinderniss  (der  Pflicht),  desto  mehr 
wird  die  gute  That  zum  Verdienst  angerechnet. 
Z.  B.  wenn  ich  einen  mir  ganz  fremden  Menschen 
mit  meiner  beträchtlichen  Aufopferung  aus  grosser 
Noth  rette. 

Dagegen:  je  kleiner  das  Naturhinderniss ,  je 
grösser  das  Hinderniss  aus  Gründen  der  Pflicht, 
desto  mehr  wird  die  Uebertretung  (als  Verschuldung) 
zugerechnet.  —  Daher  der  Gemüthszustand,  ob  das 
Subjekt  die  That  im  Affekt,  oder  mit  ruhiger  üeber- 
legung  verübt  habe,  in  der  Zurechnung  einen  Unter- 
schied macht,  der  Folgen  hat.*'') 


Einleitung 
in  die  Reclitslehre. 


§.  A. 
Was^die  Rechtslehre  sei? 

Der  Inbegriff  der  Gesetze,  für  welche  eine  äussere  Ge- 
setzgebung möglich  ist,  heisst  die  Rechtslehre  (jus).  Ist 
eine  solche  Gesetzgebung  wirklich,  so  ist  sie  Lehre  des 
positiven  Rechts,  und  der  Rechtskundige  derselben 
oder  Rechtsgelehrte  {jurisconsultus)  heisst  rechts- 
er fahren  ijurisperitus),  wenn  er  die  äusseren  Gesetze 
auch  äusserlich,  d.  i.  in  ihrer  Anwendung  auf  in  der 
Erfahrung  vorkommende  Fälle  kennt,  die  auch  wohl 
Rechtsklugheit  {jurispriidentia)  werden  kann,  ohne 
eide  zusammen  aber  blosse  Rechtswissenschaft 
{jurisscientia)  bleibt.  Die  letztere  Benennung  kommt 
der  systematischen  Kenntniss  der  natürlichen  Rechts- 
lehre {jus  naturae)  zu,  wiewohl  der  Rechtskundige  in 
der  letzteren  zu  aller  positiven  Gesetzgebung  die  un- 
wandelbaren Prinzipien  hergeben  muss. 

§.  B. 
Was  ist  Recht? 

Diese  Frage  möchte  wohl  den  Rechtsgelehrten, 
wenn  er  nicht  in  Tautologie  verfallen,  oder  statt  einer 
allgemeinen  Auflösung  auf  das,  was  in  irgend  einem 
Lande    die  Gesetze    zu    irgend   einer  Zeit  wollen,    ver- 


Rechtslehre.    Einleitung  in  die  Rechtslehre.    §.  B.    31 

weisen  will,  ebenso  in  Verlegenheit  setzen,  als  die  be- 
rufene Aufforderung:  was  ist  Wahrheit?  den  Logiker. 
"Was  Rechtens  sei  {quid  sit  juris),  d.  i.  was  die  Gesetze 
an  einem  gewissen  Ort  und  zu  einer  gewissen  Zeit  sagen 
oder  gesagt  haben,  kann  er  noch  wohl  angeben;  aber 
ob  das,  was  sie  wollten,  auch  recht  sei,  und  das  allge- 
meine Kriterium,  woran  man  überhaupt  Recht  sowohl, 
als  Unrecht  {justum  et  injustum),  erkennen  könne,  bleibt 
ihm  wohl  verborgen,  wenn  er  nicht  eine  Zeit  lang  jene 
empirischen  Prinzipien  verlässt,  die  Quellen  jener  ür- 
theile  in  der  blossen  Vernunft  sucht  (wiewohl  ihm  dazu 
jene  Gesetze  vortrefflich  zum  Leitfaden  dienen  können), 
um  zu  einer  möglichen  positiven  Gesetzgebung  die  Grund- 
lage zu  errichten.  Eine  bloss  empirische  Rechtslehre 
ist  (wie  der  hölzerne  Kopf  in  Phädrus  Fabel)  ein  Kopf, 
der  schön  sein  mag,  nur  Schade!  dass  er  kein  Gehirn  hat. 

Der  Begriff  des  Rechts,  sofern  er  sich  auf  eine  ihm 
korrespondirende  Verbindlichkeit  bezieht  (d.  i.  der  mo- 
ralische Begriff  derselben),  betrifft  erstlich  nur  das 
äussere  und  zwar  praktische  Verhältniss  einer  Person 
gegen  eine  andere,  sofern  ihre  Handlungen  als  Fakta 
auf  einander  (unmittelbar,  oder  mittelbar)  Einfluss  haben 
können.  Aber  zweitens  bedeutet  er  nicht  das  Ver- 
hältniss der  Willkür  auf  den  Wunsch  (folglich  auch 
auf  das  blosso  Bedürfniss)  des  Anderen,  wie  etwa  in 
den  Handlungen  der  Wohlthätigkeit  oder  Hartherzigkeit, 
sondern  lediglich  auf  die  Willkür  des  Anderen.  Drit- 
tens in  diesem  wechselseitigen  Verhältnisse  der  Willkür 
kommt  auch  gar  nicht  die  Materie  der  Willkür,  d.  i. 
der  Zweck,  den  ein  Jeder  mit  dem  Objekt,  was  er  will, 
zur  Absicht  hat,  in  Betrachtung,  z.  B.  es  wird  nicht 
gefragt,  ob  Jemand  bei  der  Waare,  die  er  zu  seinem 
eigenen  Handel  bei  mir  kauft,  auch  seinen  Vortheil  fin- 
den möge,  oder  nicht,  sondern  nur  nach  der  Form 
im  Verhältniss  der  beiderseitigen  Willkür,  sofern  sie 
bloss  als  frei  betrachtet  wird,  und  ob  dadurch  die 
Handlung  Eines  von  Beiden  sich  mit  der  Freiheit  des 
Anderen  nach  einem  allgemeinen  Gesetze  zusammen 
vereinigen  lasse. 

Das  Recht  ist  also  der  Inbegriff  der  Bedingungen, 
unter  denen  die  Willkür  des  Einen  mit  der  W^illkür  des 


32  Rechtslehre.    Einleitung 

Anderen    nach    einem   allgemeinen  Gesetze   der  Freiheit 
zusammen  vereinigt  werden  kann,  i^) 


§.    C. 
Allgemeines  Prinzip  des  Rechts. 

„Eine  jede  Handlung  ist  recht,  die  oder  nach  deren 
Maxime  die  Freiheit  der  Willkür  eines  Jeden  mit  Jeder- 
manns Freiheit  nach  einem  allgemeinen  Gesetze  zusam- 
men bestehen  kann  etc." 

Wenn  also  meine  Handlung  oder  überhaupt  mein 
Zustand  mit  der  Freiheit  von  Jedermann  nach  einem 
allgemeinen  Gesetze  zusammen  bestehen  kann,  so  tbut 
der  mir  Unrecht,  der  mich  daran  hindert;  denn  dieses 
Hinderniss  (dieser  Widersti'eit)  kann  mit  der  Freiheit 
nach  allgemeinen  Gesetzen  nicht  bestehen. 

Es  folgt  hieraus  auch:  dass  nicht  verlangt  werden 
kann,  dass  dieses  Prinzip  aller  Maximen  selbst  wieder- 
um meme  Maxime  sei,  d.  i.  dass  ich  es  mir  zur  Ma- 
xime meiner  Handlung  mache;  denn  ein  Jeder  kann 
frei  sein,  obgleich  seine  Freiheit  mir  gänzlich  indifferent 
wäre,  oder  ich  im  Herzen  derselben  gerne  Abbruch  thun 
möchte,  wenn  ich  nur  durch  meine  äussere  Hand- 
lung ihr  nicht  Eintrag  thue.  Das  Rechthandeln  mir 
zur  Maxime  zu  machen,  ist  eine  Forderung,  die  die 
Ethik  an  mich  thut. 

Also  ist  das  allgemeine  Rechtsgesetz:  handle  äusser- 
lich  so,  dass  der  freie  Gebrauch  deiner  Willkür  mit  der 
Freiheit  von  Jedermann  nach  einem  allgemeinen  Gesetze 
zusammen  bestehen  könne,  zwar  ein  Gesetz,  welches 
mir  eine  Verbindlichkeit  auferlegt,  aber  ganz  und  gar 
nicht  erwartet,  noch  weniger  fordert,  dass  ich  ganz  um 
dieser  Verbindlichkeit  willen  meine  Freiheit  auf  jene 
Bedingungen  selbst  einschränken  solle,  sondern  die 
Vernunft  sagt  nur,  dass  sie  in  ihrer  Idee  darauf  ein- 
geschränkt sei  und  von  Andern  auch  thätlich  einge- 
schränkt werden  dürfe;  und  dieses  sagt  sie  als  ein  Po- 
stulat, welches  gar  keines  Beweises  weiter  fähig  ist. 
—  Wenn  die  Absicht  nicht  ist,  Tugend  zu  lehren,  son- 
dern nur,  was  recht  sei,  vorzutragen,  so  darf  und  soll 


in  die  Rechtslehre.     §.  D.  E.  33 

man    selbst  nicht  jenes  Reclitsgesetz  als  Triebfeder  der 
Handlung  vorstellig  machen. !->) 


§.  D. 

Das  Recht  ist  mit  der  Befugniss  zu  zwingen 
verbunden. 

Der  Widerstand,  der  dem  Hindernisse  einer  Wirkung 
entgegengesetzt  wird,  ist  eine  Beförderung  dieser  Wir- 
kung und  stimmt  mit  ihr  zusammen.  Nun  ist  alles,  was 
Unrecht  ist,  ein  Hinderniss  der  Freiheit  nach  allgemeinen 
Gesetzen ;  der  Zwang  aber  ist  ein  Hinderniss  oder  Wider- 
stand, der  der  Freiheit  geschieht.  Folglich:  wenn  ein 
gewisser  Gebrauch  der  Freiheit  selbst  ein  Hinderniss 
der  Freiheit  nach  allgemeinen  Gesetzen  (d.  i.  unrecht) 
ist,  so  ist  der  Zwang,  der  diesem  entgegengesetzt  wird, 
als  Verhinderung  eines  Hindernisses  der  Frei- 
heit mit  der  Freiheit  nach  allgemeinen  Gesetzen  zu- 
sammenstimmend, d.  i.  recht;  mithin  ist  mit  dem  Rechte 
zugleich  eine  Befugniss,  den,  der  ihm  Abbruch  thut,  zu 
zwingen,  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  verknüpft.20) 


§.   E. 

Das   strikte  Recht  kann  auch  als  die  Möglichkeit 

eines    mit    Jedermanns    Freiheit   nach    allgemeinen 

Gesetzen   zusammenstimmenden  durchgängigen 

wechselseitigen  Zwanges  vorgestellt  werden. 

Dieser  Satz  will  so  viel  sagen,  als:  das  Recht  darf 
nicht  als  aus  zwei  Stücken,  nämlich  der  Verbindlichkeit 
nach  einem  Gesetze  und  der  Befugniss  dessen,  der  durch 
seine  Willkür  den  Anderen  verbindet,  diesen  dazu  zu 
zwingen,  zusammengesetzt  gedacht  werden,  sondern  man 
kann  den  Begriff  des  Rechts  in  der  Möglichkeit  der 
Verknüpfung  des  allgemeinen  wechselseitigen  Zwanges 
mit  Jedermanns  Freiheit  unmittelbar  setzen.  So  w^ie 
nämlich  das  Recht  überhaupt  nur  das  zum  Objekte  hat, 
was  in  Handlungen  äusserlich  ist,  so  ist  das  strikte  Recht 

Kant,   Metaphysik  der  Sitten.  3 


34  Rechtslehre.  Einleitung 

nämlich  das,  dem  nichts  Ethisches  beigemischt  ist,  das- 
jenige, welches  keine  andern  Bestimmungsgründe  der 
Willkür,  als  bloss  die  äussern  fordert;  denn  alsdann  ist 
es  rein  und  mit  keinen  Tugendvorschriften  vermengt.  Ein 
striktes  (enges)  Recht  kann  man  also  nur  das  völlig 
äussere  nennen.  Dieses  gründet  sich  nun  zwar  auf  dem 
Bewusstsein  der  Verbindlichkeit  eines  Jeden  nach  dem 
Gesetze;  aber  die  Willkür  darnach  zu  bestimmen,  darf 
und  kann  es,  wenn  es  rein  sein  soll,  sicli  auf  dieses  Be- 
wusstsein als  Triebfeder  nicht  berufen,  sondern  fusst 
sich  deshalb  auf  dem  Prinzip  der  Möglichkeit  eines 
äusseren  Zwanges,  der  mit  der  Freiheit  von  Jedermann 
nach  allgemeinen  Gesetzen  zusammen  bestehen  kann.  — 
Wenn  also  gesagt  wird:  ein  Gläubiger  hat  ein  Recht, 
von  dem  Schuldner  die  Bezahlung  seiner  Schuld  zu  for- 
dern,  so  bedeutet  das  nicht,  er  kann  ihm  zu  Gemüthe 
führen,  dass  ihn  seine  Vernunft  selbst  zu  dieser  Leistung 
verbinde,  sondern  ein  Zwang,  der  Jedermann  nöthigt, 
dieses  zu  thun,  kann  gar  wohl  mit  Jedermanns  Freiheit, 
also  auch  mit  der  seinigen,  nach  einem  allgemeinen 
äusseren  Gesetze  zusammen  bestehen :  Recht  und  Befug- 
niss  zu  zwingen  bedeuten  also  einerlei. 

Das  Gesetz  eines  mit  Jedermanns  Freiheit  noth- 
wendig  zusammenstimmenden  wechselseitigen  Zwan- 
ges unter  dem  Prinzip  der  allgemeinen  Freiheit,  ist 
gleichsam  die  Konstruktion  jenes  Begriffs,  d.  i. 
Darstellung  desselben  in  einer  reinen  Anschauung 
a  pi'iori,  nach  der  Analogie  der  Möglichkeit  freier 
Bewegungen  der  Körper  unter  dem  Gesetze  der 
Gleichheit  der  Wirkung  und  Gegenwirkung. 
So  wie  wir  nun  in  der  reinen  Mathematik  die  Eigen- 
schaften ihres  Objekts  nicht  unmittelbar  vom  Be- 
griffe ableiten,  sondern  nur  durch  die  Konstruktion 
des  Begriffs  entdecken  können,  so  ist's  nicht  sowohl 
der  Begriff  des  Rechts,  als  vielmehr  der,  unter 
allgemeine  Gesetze  gebrachte,  mit  ihm  zusammen- 
stimmende durchgängig  wechselseitige  und  gleiche 
Zwang,  der  die  Darstellung  jenes  Begriffs  möglich 
macht.  Dieweil  aber  diesem  dynamischen  Begriffe 
noch  ein  bloss  formaler,  in  der  reinen  Mathematik 
(z.  B.  der  Geometrie)  zum  Grunde  liegt;  so  hat  die 
Vernunft  dafür  gesorgt^  den  Verstand  auch  mit  An- 


in  die  Rechtslehre.     Anhang.  35 

schauuiigcD  a  jnim^i^  zum  Beliuf  der  Konstruktion 
des  Kecbtsbegriffs,  so  viel  möglich  zu  versorgen.  — 
Das  Rechte  {rectum)  wird  als  das  Gerade  theils 
dem  Krummen,  theils  dem  Schiefen  entgegen- 
gesetzt. Das  erste  ist  die  innere  Beschaffenheit 
einer  Linie  von  der  Art,  dass  es  zwischen  zweien 
gegebenen  Punkten  nur  eine  einzige ,  das  zweite 
aber  die  Lage  zweier  einander  durchschneidenden 
oder  zusammenstossenden  Linien,  von  deren  Art 
es  auch  nur  eine  einzige  (die  senkrechte)  geben 
kann,  die  sich  nicht  mehr  nach  einer  Seite,  als  der 
andern  hinneigt,  und  die  den  Raum  von  beiden  Sei- 
ten gleich  abtheilt,  nach  welcher  Analogie  auch 
die  Rechtslehre  das  Seine  einem  Jeden  (mit  mathe- 
matischer Genauigkeit)  bestimmt  wissen  will,  wel- 
ches in  der  Tugendlehre  nicht  erwartet  werden 
darf,  als  welche  einen  gewissen  Raum  zu  Ausnah- 
men {latitudinem)  nicht  verweigern  kann.  —  Aber, 
ohne  in's  Gebiet  der  Ethik  einzugreifen,  giebt  es 
zwei  Fälle,  die  auf  Rechtsentscheidung  Anspruch 
machen,  für  die  aber  keiner,  der  sie  entscheide, 
ausgefunden  werden  kann,  und  die  gleichsam  in 
E p  i k ur'  s  intermu?idia  hingehören.  —  Diese  müssen 
wir  zuvörderst  aus  der  eigentlichen  Rechtslehre,  zu 
der  wir  bald  schreiten  wollen,  aussondern,  damit 
ihre  schwankenden  Prinzipien  nicht  auf  die  festen 
Grundsätze  der  erstem  Einfluss  bekommen.'^*) 


Anhang  zur  Einleitung  in  die  Rechtslehre. 

Vom  zweideutigen  Recht.     (Jus  aequivocum.) 

Mit  jedem  Recht  in  enger  Bedeutung  (jus  strictum) 
ist  die  Befugniss  zu  zwingen  verbunden.  Aber  man 
denkt  sich  noch  ein  Recht  im  weiteren  Sinne  {jus 
latum),  wo  die  Befugniss  zu  zwingen  durch  kein  Gesetz 
bestimmt  werden  kann.  —  Dieser  wahren  oder  vorgeb- 
lichen Rechte  sind  nun  zwei:  die  Billigkeit  und  das 
Not  brecht;  von  denen  die  erste  ein  Recht  ohne  Zwang, 

3* 


36  Rechtslehre,     Einleitung 

das  zweite  ein  Zwang  ohne  Reclit  annimmt,  und  man 
wird  leicht  gewahr,  diese  Doppelsinnigkeit  beruhe  eigent- 
lich darauf,  dass  es  Fälle  eines  bezweifelten  Rechts  giebt, 
zu  deren  Entscheidung  kein  Richter  aufgestellt  werden 
kann. 

I. 

Die  Billigkeit.     (Aequitas.) 

Die  Billigkeit  (objektiv  betrachtet)  ist  keineswegs 
ein  Grund  zur  Aufforderung  bloss  an  die  ethische  Pflicht 
Anderer  (ihr  Wohlwollen  und  Gütigkeit),  sondern  der, 
welcher  aus  diesem  Grunde  etwas  fordert,  fusst  sich  auf 
sein  Recht,  nur  dass  ihm  die  für  den  Richter  erforder- 
lichen Bedingungen  mangeln,  nach  welchen  dieser  be- 
stimmen könnte,  wie  viel,  oder  auf  welche  Art  dem  An- 
sprüche desselben  genug  gethan  werden  könne.  Der  in 
einer  auf  gleiche  Vortheile  eingegangenen  Maskopei  den- 
noch melir  gethan,  dabei  aber  wohl  gar  durch  Un- 
glücksfälle mehr  verloren  hat,  als  die  übrigen  Glieder, 
kann  nach  der  Billigkeit  von  der  Gesellschaft  mehr 
fordern,  als  bloss  zu  gleichen  Theilen  mit  ihnen  zu 
gehen.  Allein  nach  dem  eigentlichen  (strikten)  Recht, 
weil,  wenn  man  sich  in  seinem  Fall  einen  Richter  denkt, 
dieser  keine  bestimmten  Angaben  (data)  hat,  um,  wie 
viel  nach  dem  Kontrakt  ihm  zukomme,  auszumachen, 
würde  er  mit  seiner  Forderung  abzuweisen  sein.  Der 
Hausdiener,  dem  sein  bis  zu  Ende  des  Jahres  laufender 
Lohn  in  einer  binnen  der  Zeit  verschlechterten  Münz- 
sorte bezahlt  wird,  womit  er  das  nicht  ausrichten  kann, 
was  er  bei  Schliessung  des  Kontrakts  sich  dafür  an- 
schaffen konnte,  kann  bei  gleichem  Zahlwerth,  aber  un- 
gleichem Geldwerth  sich  nicht  auf  sein  Recht  berufen, 
deshalb  schadlos  ge  halte  nzu  werden,  sondern  nur  die 
Billigkeit  zum  Grunde  anrufen  (eine  stumme  Gottheit, 
die  nicht  gehört  werden  kann);  w^eil  nichts  hierüber  im 
Kontrakt  bestimmt  war,  ein  Richter  aber  nach  unbestimm- 
ten Bedingungen  nicht  sprechen  kann. 

Hieraus  folgt  auch,  dass  ein  Gerichtshof  der 
Billigkeit  (in  einem  Streit  Anderer  über  ihre  Rechte) 
einen  Widerspruch  in  sich  seh  Hesse.    Nur  da,  wo  es  die 


in  die  Rechtslehre.    Anhang.  37 

eigenen  Rechte  des  Richters  betrifft,  und  in  dem,  worüber 
er  für  seine  Person  disponiren  kann,  darf  und  soll  er 
der  Billigkeit  Gehör  geben;  z.  ß.  wenn  die  Krone  den 
Schaden,  den  Andre  in  ihrem  Dienste  erlitten  haben  und 
den  sie  zu  vergüten  angefleht  wird,  selber  trägt,  ob  sie 
gleich  nach  dem  strengen  Rechte  diesen  Ausspruch  unter 
der  Vorschützung,  dass  sie  solche  auf  ihre  eigene  Ge- 
fahr übernommen  haben,  abweisen  könnte. 

Der  Sinnspruch  {dictum)  der  Billigkeit  ist  nun 
zwar:  „das  strengste  Recht  ist  das  grösste  Unrecht 
isummum  jus  summa  injuria)'^]  aber  diesem  üebel  ist 
auf  dem  Wege  Rechtens  nicht  abzulielfen,  ob  es  gleich 
eine  Rechtstbrderung  betrifft,  weil  diese  für  das  Ge- 
wissensgericht (forum  2'>oU)  allein  gehört,  dagegen 
jede  Frage  Rechtens  vor  das  bürgerliche  Recht 
{fomim  soll)  gezogen  werden  muss.^'^) 

IL 

Das  Noth recht.     (Jus  necessitatis,) 

Dieses  vermeinte  Recht  soll  Befugniss  sein,  im  Fall 
der  Gefahr  des  Verlustes  meines  eigenen  Lebens,  einem 
Anderen,  der  mir  nichts  zu  Leide  that,  das  Leben  zu 
nehmen.  Es  fällt  in  die  Augen,  dass  hierin  ein  Wider- 
spruch der  Rechtslehre  mit  sich  selbst  enthalten  sein 
müsse:  —  denn  es  ist  hier  nicht  von  einem  ungerech- 
ten Angreifer  auf  mein  Leben,  dem  ich  durch  Berau- 
bung des  seinen  zuvorkomme  [jus  inculpatae  tutelae), 
die  Rede,  wo  die  Anempfehlung  der  Mässigung  {modera- 
men)  nicht  einmal  zum  Recht,  sondern  nur  zur  Ethik 
gehört,  sondern  von  einer  erlaubten  Gewaltthätigkeit 
gegen  den,  der  keine  gegen  mich  ausübte. 

Es  ist  klar,  dass  diese  Behauptung  nicht  objektiv 
nach  dem,  was  ein  Gesetz  vorschreiben,  sondern  bloss 
subjektiv,  wie  vor  Gericht  die  Sentenz  gefällt  werden 
würde,  zu  verstehen  sei.  Es  kann  nämlich  kein  Straf- 
gesetz geben,  welches  demjenigen  den  Tod  zuerkennte, 
der  im  Schiffbruche  mit  einem  Andern  in  gleicher  Lebens- 
gefahr schwebend,  diesen  von  dem  Brette,  worauf  er 
sich  gerettet  hat,  wegstiesse,  um  sich  selbst  zu  retten. 
Denn  die  durch's  Gesetz  angedrohte  Strafe  könnte  doch 


33  Rechtslehre.     Einleitung 

nicht  grösser  sein,  als  die  des  Verlustes  des  Lebens  des 
Ersteren.  Nun  kann  ein  solches  Strafgesetz  die  beab- 
sichtigte Wirkung  gar  nicht  haben ;  denn  die  Bedrohung 
mit  einem  Uebel,  was  noch  un gewiss  ist  (dem  Tode 
durch  den  richterlichen  Ausspruch),  kann  die  Furcht  vor 
dem  Uebel,  was  gewiss  ist  (nämlich  dem  Ersaufen), 
nicht  überwiegen.  Also  ist  die  That  der  gewaltthätigen 
Selbsterhaltung  nicht  etwa  als  unsträflich  {inculpahüe), 
sondern  nur  als  unstrafbar  (injninibile)  zu  beurthei- 
len,  und  diese  subjektive  Straflosigkeit  wird,  durch 
eine  wunderliche  Verwechselung,  von  den  Rechtslehrern 
für  eine  objektive  (Gesetzmässigkeit)  gehalten. 

Der  Sinnspruch  des  Nothrechts  heisst:  „Noth  hat 
kein  Gebot  (necessitas  non  habet  legemY^]  und  gleich- 
wohl kann  es  keine  Noth  geben,  welche,  was  unrecht 
ist,  f;esetzmässig  machte. 

Man  sieht,  dass  in  beiden  Rechtsbeurtheilungen  (nach 
dem  Billigkeits-  und  dem  Nothrechte)  die  D  o  p  p  e  1  s  i  n  n  i  g  - 
keit  {aequivocatio)  aus  der  Verwechselung  der  objekti- 
ven mit  den  subjektiven  Gründen  der  Rechtsausübung 
(vor  der  Vernunft  und  vor  einem  Gericht)  entspringt,  da 
dann,  was  Jemand  für  sich  selbst  mit  gutem  Grunde  für 
Recht  erkennt,  vor  einem  Gerichtshofe  nicht  Bestätigung 
finden,  und,  was  er  selbst  an  sich  als  unrecht  beurthei- 
len  muss,  von  ebendemselben  Nachsicht  erlangen  kann ; 
weil  der  Begriff  des  Rechts  in  diesen  zwei  Fällen  nicht 
in  einerlei  Bedeutung  ist  genommen  worden.23) 


Eiutheilung  der  Rechtslehre. 

> 
A. 

Allgemeine  Eintheilung  der  Rechtspflicbten. 

Man  kann  diese  Eintheilung  sehr  wohl  nach  dem 
Ulpian  machen,  wenn  man  seinen  Formeln  einen  Sinn 
unterlegt,  den  er  sich  dabei  zwar  nicht  deutlich  gedacht 
haben  mag,  den  sie  aber  doch  verstatten,  daraus  zu  ent- 
wickeln oder  hinein  zu  legen.     Sie  sind  folgende: 


in  die  Rechtslehre.    Eintheilung  der  Rechtslehre,      39 

1)  Sei  ein  rechtlicher  Mensch  {lioneste  vive). 
Die  rechtliche  Ehrbarkeit  (honestas  juridica) 
besteht  darin:  im  Verhältnisse  zu  Anderen  seinen 
Werth  als  den  eines  Menschen  zu  behaupten^  welche 
Pflicht  durch  den  Satz  ausgedrückt  wird:  ,, mache 
dich  Anderen  nicht  zum  blossen  Mittel,  sondern  sei 
für  sie  zugleich  Zweck."  Diese  Pflicht  wird  im  Fol- 
genden als  Verbindlichkeit  aus  dem  Rechte  der 
Menschheit  in  unserer  eigenen  Person  erklärt  wer- 
den (lex  justi). 

2)  ThueNiemandemUn  recht  {neminein  laede),  und 
solltest  du  darüber  auch  aus  aller  Verbindung  mit 
Andern  herausgehen  und  alle  Gesellschaft  meiden 
müssen  {lex  juridica). 

3)  Tritt  (wenn  du  das  Letztere  nicht  vermeiden 
kannst)  in  eine  Gesellschaft  mit  Andern,  in  welcher 
Jedem  das  Seine  erhalten  werden  kann  (suum 
cnique  tribue).  —  Die  letztere  Eormel,  wenn  sie  so 
übersetzt  würde:  „gieb  Jedem  das  Seine",  würde 
eine  Ungereimtheit  sagen;  denn  man  kann  Nieman- 
dem etwas  geben,  was  er  schon  hat.  Wenn  sie 
also  einen  Sinn  haben  soll,  so  müsste  sie  so  lauten: 
„tritt  in  einen  Zustand,  worin  Jedermann  das  Seine 
gegen  jeden  Anderen  gesichert  sein  kann"  {lex 
justitiae). 

Auch  sind  obenstehende  drei  klassische  Formeln  zu- 
gleich Eintheilungsprinzipien  des  Systems  der  Kechts- 
pflichten  in  innere,  äussere  und  in  diejenigen,  welche 
die  Ableitung  der  letzteren  vom  Prinzip  der  ersteren 
durch  Subsumtion  enthalten. 2-*) 

B. 

Allgemeine  Eintheilung  der  Rechte. 

1)  Der  Rechte,  als  systematischer  Lehren,  in  das 
Naturrecht,  das  auf  lauter  Prinzipien  a  priori  be- 
ruht, und  das  positive  (statutarische)  Hecht,  was 
aus  dem  Willen    eines  Gesetzgebers  hervorgeht. 

2)  Der  Rechte,  als  (moralischer)  Vermögen  Andere  zu 
verpflichten,  d.  i.  als  einen  gesetzlichen  Grund  zu 
den  letzteren  {titidum),  von  denen  die  Obereintiiei- 


40  Rechslehre.     Einleitung 

lung  die  in  das  angeborne  und  erworbene 
Recht  ist,  deren  ersteres  dasjenige  Recht  ist,  wel- 
ches, unal3hängig  von  allem  rechtlichen  Akt,  Jeder- 
mann von  Natur  zukommt;  das  zweite  das,  wozu 
ein  solcher  Akt  erfordert  wird. 
Das  angeborene  Mein  und  Dein  kann  auch  das  innere 

{meum  vel  tuum  internuin)  genannt  werden;  denn  das 

äussere  muss  jederzeit  erworben  werden. 

Bas  angeborene  Recht  ist  nur  ein  einziges. 

Treiheit  (Unabhängigkeit  von  eines  Anderen  nöthi- 
gender  Willkür),  sofern  sie  mit  jedes  Anderen  Freiheit 
nach  einem  allgemeinen  Gesetz  zusammen  bestehen  kann, 
ist  dieses  einzige,  ursprüngliche,  jedem  Menschen  kraft 
seiner  Menschheit  zustehende  Recht.  —  Die  angeborne 
Gleichheit,  d.  i.  die  Unabhängigkeit  nicht  zu  Mehre- 
rem  von  Anderen  verbunden  zu  werden,  als  wozu  man 
sie  wechselseitig  auch  verbinden  kann;  mithin  die  Qua- 
lität des  Menschen,  sein  eigener  Herr  {sui  juris)  zu 
sein,  imgleichen  die  eines  unbescholtenen  Menschen 
{justi)^  weil  er,  vor  allem  rechtlichen  Akt,  Keinem  Un- 
recht gethan  hat;  endlich  auch  die  Befugniss,  das  gegen 
Andere  zu  thun,  was  an  sich  ihnen  das  Ilire  nicht  schmä- 
lert, wenn  sie  sich  dessen  nur  nicht  annehmen  wollen; 
dergleichen  ist,  ihnen  bloss  seine  Gedanken  mitzutheilen, 
ihnen  etwas  zu  erzählen  oder  zu  versprechen,  es  sei 
wahr  und  aufrichtig,  oder  unwahr  und  unaufrichtig  {vp.ri- 
loquimn  aut  falsiloquium),  weil  es  bloss  auf  ihnen  beruht, 
ob    sie  ihm  glauben  wollen   oder  nicht*);  —  alle  diese 


*)  Vorsätzlich,  wenngleich  bloss  leichtsinniger  Weise, 
Unwahrheit  zu  sagen,  pflegt  zwar  gewöhnlich  Lüge  {men- 
dacium)  genannt  zu  werden,  weil  sie  wenigstens  sofern  auch 
schaden  kann,  dass  der,  welcher  sie  treuherzig  nachsagt, 
als  ein  Leichtgläubiger  Anderen  zum  Gespötte  wird.  Im 
rechtlichen  Sinne  aber  will  man,  dass  nur  diejenige  Unwahr- 
heit Lüge  genannt  werde,  die  einem  Anderen  unmittelbar 
an  seinem  Rechte  Abbruch  thut,  z.  B.  das  falsche  Vorgeben 
eines  von  Jemandem  geschlossenen  Vertrags,  um  ihn  um  das 
Seine  zu  bringen  {Jalsiloquium  dolosum);  und  dieser  Unter- 
schied sehr  verwandter  Begriffe  ist  nicht  ungegründet,  weil 
es  bei  der  blossen  Erklärung  seiner  Gedanken  immer  dem 


in  die  Rechtslehre.    Eintheilung  der  Rechtslehre.      41 

Befugnisse  liegen  schon  im  Prinzip  der  angebornen  Frei- 
heit, und  sind  wirklich  von  ihr  nicht  (als  Glieder  der 
Eintheilung  unter  einem  höheren  Rechtsbegriff)  unter- 
schieden. 

Die  Absicht,  weswegen  man  eine  solche  Eintheilung 
in  das  System  des  Naturrechts  (sofern  es  das  angeborne 
angeht)  eingeführt  hat,  geht  darauf  hinaus,  damit,  wenn 
über  ein  erworbenes  Recht  ein  Streit  entsteht  und  die 
Frage  eintritt,  wem  die  Beweisführung  (onus  probandi) 
obliege,  entweder  von  einer  bezweifelten  That,  oder, 
wenn  diese  ausgemittelt  ist,  von  einem  bezweifelten 
Recht,  derjenige,  welcher  diese  Verbindlichkeit  von  sich 
ablehnt,  sich  auf  sein  angebornes  Recht  der  Freiheit 
(welches  nun  nach  seinen  verschiedenen  Verhältnissen 
spezifizirt  wird)  methodisch  und  gleich  als  nach  ver- 
schiedenen Rechtstiteln  berufen  könne. 

Da  es  nun  in  Ansehung  des  angebornen,  mithin 
inneren  Mein  und  Dein  keine  Rechte,  sondern  nur 
ein  Recht  giebt,  so  wird  diese  Obfreintheilung  als  aus 
zwei  dem  Inhalte  nach  äusserst  ungleichen  Gliedern  be- 
stehend in  die  Prolegomencn  geworfen,  und  die  Einthei- 
lung der  Rechtslehre  bloss  auf  das  äussere  Mein  und 
Dein  bezogen  werden  können. **5) 

Eintheilung  der  Metaphysik  der  Sitten 
überhaupt. 

I. 

Alle  Pflichten  sind  entweder  Rechtspflichten 
{offida  juris),  d.  i.  solche,  für  welche  eine  äussere  Ge- 
setzgebung möglich  ist,  oder  Tugendpflichten  {officia 
virtutis  s.  ethica),  für  welche  eine  solche  nicht  möglich 
ist;  die  letztern  können  aber  darum  nur  keiner  äusseren 
Gesetzgebung  unterworfen  werden,  weil  sie  auf  einen 
Zweck    gehen,    der    (oder  welchen  zu  haben)  zugleich 

Andern  frei  bleibt,  sie  anzunehmen,  wofür  er  will,  obgleich 
die  gegründete  Nachrede,  dass  dieser  ein  Mensch  sei,  dessen 
Reden  man  nicht  glauben  kann,  so  nahe  an  den  Vorwurf, 
ihn  einen  Lügner  zu  nennen,  streift,  dass  die  Grenzlinie, 
die  hier  das,  was  zum  jus  gehört,  von  dem,  was  der  Ethik 
anheim  fällt,  nur  so  eben  zu  unterscheiden  ist. 


42  Rechtslehre.    Einleitung 

Pflicht  ist ;  sich  aber  einen  Zweck  vorzusetzen,  das  kann 
durch  keine  äusserliche  Gesetzgebung  bewirkt  werden 
(weil  es  ein  innerer  Akt  des  Gemüths  ist),  obgleich 
äussere  Handlungen  geboten  werden  mögen,  die  dahin 
führen,  ohne  doch  dass  das  Subjekt  sie  sich  zum  Zweck 
macht. 

Warum  wird  aber  die  Sittenlehre  (Moral)  ge- 
wöhnlich (namentlich  von  Cicero)  die  Lehre  von 
den  Pflichten  und  nicht  auch  von  den  Rechten 
betitelt?  da  doch  die  einen  sich  auf  die  andern  be- 
ziehen. —  Der  Grund  ist  dieser:  wir  kennen 
unsere  eigene  Freiheit  (von  der  alle  moralischen 
Gesetze,  mithin  auch  alle  Rechte  sowohl,  als  Pflich- 
ten ausgehen)  nur  durch  den  moralischen  Impera- 
tiv, welcher  ein  pflichtgebietender  Satz  ist,  aus  wel- 
chem nachher  das  Vermögen,  Andere  zu  verpflich- 
ten, d.  i.  der  Begrifl"  des  Rechts  entwickelt  werden 
kann. 

IL 

Da  in  der  Lehre  von  den  Pflichten  der  Mensch  nach 
der  Eigenschaft  seines  Freiheitsvermögens,  weiches  ganz 
übersinnlich  ist,  also  auch  bloss  nach  seiner  Mensch- 
heit, als  von  physischen  Bestimmungen  unabhängiger 
Persönlichkeit  (homo  noumenoii)  vorgestellt  werden  kann 
und  soll,  zum  Unterschiede  von  ebendemselben,  aber  als 
mit  jenen  Bestimmungen  behafteten  Subjekt,  dem  Men- 
schen {Jiomo  pJtaenomenon),  so  werden  Recht  und  Zweck 
wiederum  in  dieser  zweifachen  Eigenschaft  auf  die  Pflicht 
bezogen,  folgende  Eintheilung  geben. 


in  die  Rechtslehre.     Eintheilung  der  Rechtslehre.    43 

Eintheiliiiig  nach  dem  objektiven  Yerhältnisse 
des  Gesetzes  zur  Pflicht. 


Pflicht  gegen  sich  selbst. 


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Pflicht  gegen  Andere. 


44 


Rechtslehre.     Einleitung 


111. 

Da  die  Subjekte,  in  Ansehung  deren  ein  Verhältniss 
des  Rechts  zur  Pflicht  (es  sei  statthaft  oder  unstatthaft) 
gedacht  wird,  verschiedene  Beziehungen  zulassen;  so 
wird  auch  in  dieser  Absicht  eine  Eintheilung  vorgenom- 
men werden  können. 
Eintheilung  nach  dem  suhjektiyen  Yerhältniss 

der  Yerpflichtenden  und  Terpfliehteten. 


1. 

Das  rechtliciie  Verhält- 
niss des  Menschen  zu  Wesen, 
die  weder  Recht  noch 
Pflicht  haben. 


2. 


Das  rechtliche  Verhält- 
niss des  Menschen  zu  Wesen, 
die  sowohl  Recht  als  Pflicht 
haben. 


Vacat. 

Denn  das  sind  vernunft- 
lose Wesen,  die  weder  uns 
verbinden,  noch  von  wel- 
chen wir  können  verbunden 
werden. 


Adest. 

Denn  es  ist  ein  Verhält- 
niss von  Menschen  zu  Men- 
schen. 


3. 

Das  rechtliche  Verhält- 
niss des  Menschen  zu  Wesen, 
die  lauter  Pflichten  und 
keine  Rechte  haben. 


Vacat. 

Denn  das  wären  Men- 
schen ohne  Persönlichkeit 
(Leibeigene,  Sklaven). 


4. 

Das .  rechtliche  Verhält- 
niss des  Menschen  zu 
einem  Wesen,  was  lauter 
Rechte  und  keine  Pflicht 
hat  (Gott). 

Vacat. 

Nämlich  in  der  blossen 
Philosophie,  weil  es  kein 
Gegenstand  möglicher  Er- 
fahrung ist. 


Also  findet  sich  nur  in  No.  2  ein  reales  Verhältniss 
zwischen  Recht  und  Pflicht.  Der  Grund,  warum  es  auch 
nicht  in  No.  4  angetroff'en  wird,  ist:  weil  es  eine  transs- 


in   die  Rechtslehre.    Eintheihmg  der  Rechtslehre.     45 

cendente  Pflicht  sein  würde,  d.  i.  eine  solche,  der 
kein  äusseres  verpflichtendes  Subjekt  korrespondirend 
gegeben  werden  kann,  mithin  das  Verhältniss  in 
theoretischer  Rücksicht  hier  nur  ideal,  d.  i.  zu  einem 
Gedankendinge  ist,  was  wir  uns  selbst,  aber  doch  nicht 
durch  seinen  ganzen  leeren,  sondern,  in  Beziehung  auf 
uns  selbst  und  die  Maximen  der  inneren  Sittlichkeit, 
mithin  in  praktischer  innerer  Absicht,  fruchtbaren  Begrifi^, 
machen,  worin  denn  auch  unsere  ganze  immanente 
(ausführbare)  Pflicht  in  diesem  bloss  gedachten  Verhält- 
nisse aliein  besteht. 


Ton  der  Eintlieiluiig  der  Moral,  als  eines  Sys- 
tems der  Pflichten  überhaupt. 


Elementarlehre.  Methodenlehre. 

Rechtspflichten.       Tugendpflichten.  Didaktik.       Aszetik. 

Privatrecht.     Oefi"entliches  Recht, 

und  so  weiter,  alles, 
was  nicht  bloss  die  Materialien,  sondern  auch  die  archi- 
tektonische Form  einer  wissenschaftlichen  Sittenlehre  ent- 
hält; wenn  dazu  die  metaphysischen  Anfangsgründe  die 
allgemeinen  Prinzipien  vollständig  ausgespürt  haben. 


Die  oberste  Eintheilung  des  Naturrechts  kann  nicht 
(wie  bisweilen  geschieht)  die  in  das  natürliche  und 
gesellschaftliche,  sondern  muss  die  ins  natürliche 
und  bürgerliche  Recht  sein;  deren  das  erstere  das 
Privatrecht,  das  zweite  das  öffentliche  Recht 
genannt  wird.  Denn  dem  Naturzustande  ist  nicht 
der  gesellschaftliche,  sondern  der  bürgerliche  entgegen- 
gesetzt; weil  es  in  jenem  zwar  gar  wohl  Gesellschaft 
geben  kann,  aber  nur  keine  bürgerliche  (durch  öfi'ent- 
liche  Gesetze  das  Mein  und  Dein  sichernde),  daher  das 
Recht  in  dem  ersteren  das  Privatrecht  heisst.-6) 


Der  Rechtslehre 


erster  Theil, 


Bas  Privat  recht. 


Der 

allgemeinen  Rechtslehre 
erster  Theil. 

Das  Priyatreclit 

vom  äusseren  Mein  und  Dein  überhaupt. 

Erstes  Hauptstück. 

Von  der  Art  etwas  Aeusseres  als  das  Seine  zu 
haben. 

§•  1- 

Das  Rechtlich- Meine  {meum  juris)  ist  dasjenigCy 
womit  ich  so  verbunden  bin,  dass  der  Gebrauch,  den 
ein  Anderer  ohne  meine  Einwilligung  von  ihm  machen 
möchte,  mich  lädiren  würde.  Die  subjektive  Bedingung 
der  Möglichkeit  des  Gebrauchs  überhaupt  ist  der  Be- 
sitz. 

Etwas  Aeusseres  aber  würde  nur  dann  das  Meine 
sein,  wenn  ich  annehmen  darf,  es  sei  möglich,  dass  ich 
durch  den  Gebrauch,  den  ein  Anderer  von  einer  Sache 
macht,  in  deren  Besitz  ich  doch  nicht  bin,  gleich- 
wohl doch  lädirt  werden  könne.  —  Also  widerspricht 
es  sicli  selbst,  etwas  Aeusseres  als  das  Seine  zu  haben, 
wenn  der  Begriff  des  Besitzes  nicht  einer  verschiedenen 
Bedeutung,  nämlich  des  sinnlichen  und  des  intelli- 
giblen  Besitzes,  fähig  wäre,  und  unter  dem  einen  der 
physische,  unter  dem  anderen  ein  bloss-rechtlicher 
Besitz  ebendesselben  Gegenstandes  verstanden  werden 
könnte. 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  4 


50  Rechtslehre.     I.  Theil     1,  Hauptstück. 

Der  Ausdruck:  ein  Gegenstand  ist  ausser  mir, 
kann  aber  entweder  soviel  bedeuten,  als:  er  ist  ein  nur 
von  mir  (dem  Subjekt)  unterschiedener,  oder  auch 
ein  in  einer  anderen  Stelle  {posihis)  im  Raum  oder 
in  der  Zeit  befindlicher  Gegenstand.  Nur  in  der  ersteren 
Bedeutung  genommen,  kann  der  Besitz  als  Verimnftbe- 
sitz  gedacht  werden;  in  der  zweiten  aber  würde  er  ein 
empirischer  heissen  müssen.  —  Ein  intelligibler  Be- 
sitz (wenn  ein  solcher  möglich  ist)  ist  ein  Besitz  ohne 
Inhabung  {detentiojß') 


Rechtliches  Postulat  der  praktischen  Yernimft. 

Es  ist  möglich,  einen  jeden  äussern  Gegenstand 
meiner  Willkür  als  das  Meine  zu  haben;  d.  i.  eine 
Maxime,  nach  welcher,  wenn  sie  Gesetz  würde,  ein  Ge- 
genstand der  Willkür  an  sich  (objektiv)  herrenlos 
(res  iinllius)  werden  müsste,  ist  rechtswidrig. 

Denn  ein  Gegenstand  meiner  Willkür  ist  etwas,  was 
zu  gebrauchen  ich  physisch  in  meiner  Macht  habe. 
Sollte  es  nun  doch  rechtlich  schlechterdings  nicht  in 
meiner  Macht  stehen,  d.  i.  mit  der  Freiheit  von  Jeder- 
mann nach  einem  allgemeinen  Gesetz  nicht  zusammen 
bestehen  können  (unrecht  sein),  Gebrauch  von  demselben 
zu  machen:  so  würde  die  Freiheit  sich  selbst  des  Ge- 
brauchs ihrer  Willkür  in  Ansehung  eines  Gegenstandes 
derselben  berauben,  dadurch,  dass  sie  brauchbare 
Gegenstände  ausser  aller  Möglichkeit  des  Gebrauchs 
setzte,  d.  i.  diese  in  praktischer  Rücksicht  vernichtete, 
und  zur  res  nullius  machte;  obgleich  die  Willkür,  for- 
maliter, im  Gebrauche  der  Sachen  mit  Jedermanns  äusserer 
Freiheit  nach  allgemeinen  Gesetzen  zusammenstimmte. 
—  Da  nun  die  reine  praktische  Vernunft  keine  anderen, 
als  formelle  Gesetze  des  Gebrauchs  der  Willkür  zum 
Grunde  legt,  und  also  von  der  Materie  der  Willkür,  d.  i. 
der  übrigen  Beschaffenheit  des  Objekts,  wenn  es  nur 
ein  Gegenstand  der  W^illkür  ist,  abstrahirt,  so 
kann  sie  in  Ansehung  eines  solchen  Gegenstandes  kein 
absolutes  Verbot  seines  Gebrauchs  enthalten,  weil  dieses 
ein  Widerspruch    der    äusseren  Freiheit  mit  sich  selbst 


Ton  der  Art,  etwas  Aeusseres  als  das  Seine  zu  haben.  §.  4.  51 

sein  würde.  —  Ein  Gegenstand  meiner  Willkür  aber 
ist  das^  wovon  beliebigen  Gebrauch  zu  machen  ich  das 
physische  Vermögen  habe,  dessen  Gebrauch  in  meiner 
Macht  {potentia)  steht;  wovon  noch  unterschieden  wer- 
den muss,  denselben  Gegenstand  in  meiner  Gewalt  {in 
potestatem  meam  redactuni)  zu  haben,  welches  nicht 
bloss  ein  Vermögen,  sondern  auch  einen  Akt  der 
Willkür  voraussetzt.  Um  aber  etwas  bloss  als  Gegen- 
stand meiner  Willkür  zu  denken,  ist  hinreichend,  mir 
bewusst  zu  sein,  dass  ich  ihn  in  meiner  Macht  habe. 
—  Also  ist  es  eine  Voraussetzung  a  p)riori  der  prak- 
tischen Vernunft,  einen  jeden  Gegenstand  meiner  Will- 
kür als  objektivmögliches  Mein  und  Dein  anzusehen  und 
zu  behandeln. 

Man  kann  dieses  Postulat  ein  Erlaubnissgesetz  (leic 
l-)ermissii'a)  der  praktischen  Vernunft  nennen,  was  uns 
die  Befugniss  giebt,  die  wir  aus  blossen  Begriffen  vom 
Rechte  überhaupt  nicht  herausbringen  könnten;  nämlich 
allen  Andern  eine  V^erbindlichkeit  aufzulegen,  die  sie 
sonst  nicht  hätten,  sich  des  Gebrauchs  gewisser  Gegen- 
stände unserer  Willkür  zu  enthalten,  weil  wir  zuerst  sie 
in  unseren  Besitz  genommen  haben.  Die  Vernunft  will, 
dass  dieses  als  Grundsatz  gelte,  und  das  zwar  als  prak- 
tische Vernunft,  die  sich  durch  dieses  ihr  Postulat  a 
priori  erweitert. 

§.3. 

Im  Besitze  eines  Gegenstandes  muss  derjenige  sein, 
der  eine  Sache  als  das  Seine  zu  haben  behaupten  will; 
denn  wäre  er  nicht  in  demselben,  so  könnte  er  nicht 
durch  den  Gebrauch,  den  der  Andere  ohne  seine  Ein- 
willigung davon  macht,  lädirt  werden ;  weil,  wenn  diesen 
Gegenstand  etwas  ausser  ihm,  was  mit  ihm  gar  nicht 
rechtlich  verbunden  ist,  afficirt,  ihn  selbst  (das  Subjekt) 
nicht  afficiren  und  ihm  Unrecht  thun  könnte.2») 

§.4. 

Exposition  des  Begriffs  vom  äusseren  Mein  und 

Dein. 

Die    äusseren  Gegenstände    meiner  Willkür    können 

nur  drei  sein:  1)  eine  (körperliche)  Sache  ausser  mir; 

4* 


52  Rechtslehre.    I.  Theil.    1.  Hauptstück. 

2)  die  Willkür  eines  Anderen  zu  einer  bestimmten 
That  {p^aestatio) :  3)  der  Zustand  eines  Anderen  im 
Verhältnisse  auf  mich;  nach  den  Kategorien  der  Sub- 
stanz, Kausalität  und  Gemeinschaft  zwischen  mir 
und  äusseren  Gegenständen  nach  Freiheitsgesetzen. 

a)  Ich  kann  einen  Gegenstand  im  Räume  (eine  kör- 
perliche Sache)  nicht  mein  nennen,  ausser  wenn, 
obgleich  ich  nicht  im  physischen  Besitz 
desselben  bin,  ich  dennoch  in  einem  anderen 
wirklichen  (also  nicht  physisclien)  Besitz  desselben 
zu  sein  behaupten  darf.  —  So  werde  ich  einen 
Apfel  nicht  darum  mein  nennen,  w^eil  ich  ihn  in 
meiner  Hand  habe  (physisch  besitze),  sondern  nur, 
wenn  ich  sagen  kann:  ich  besitze  ihn,  ob  ich  ihn 
gleich  aus  meiner  Hand,  wohin  es  auch  sei,  gelegt 
habe;  imgleichen  werde  ich  von  dem  Boden,  auf 
den  ich  mich  gelagert  habe,  nicht  sagen  können, 
er  sei  darum  mein;  sondern  nur,  wenn  ich  behaupten 
darf,  er  sei  immer  noch  in  meinem  Besitz,  ob  ich 
gleich  diesen  Platz  verlassen  habe.  Denn  der^ 
welcher  mir  im  ersten  Falle  (des  empirischen  Be- 
sitzes) den  Apfel  aus  der  Hand  winden,  oder  mich 
von  meiner  Lagerstätte  wegschleppen  wollte,  würde 
mich  zwar  freilich  in  Ansehung  des  inneren  Meinen 
(der  Freiheit),  aber  nicht  des  äusseren  Meinen  lä- 
diren,  wenn  ich  nicht,  auch  ohne  Inhabung,  mich 
im  Besitz  des  Gegenstandes  zu  sein  behaupten 
könnte;  ich  könnte  also  diese  Gegenstände  (den 
Apfel  und  das  Lager)  auch  nicht  mein  nennen. 

b)  Ich  kann  die  Leistung  von  etwas  durch  die  Will- 
kür des  Anderen  nicht  mein  nennen,  wenn  ich  bloss- 
sagen  kann,  sie  sei  mit  seinem  Versprechen  zu- 
gleich {pactum  re  initum)  in  meinen  Besitz  ge~ 
kommen,  sondern  nur,  wenn  ich  behaupten  darf, 
ich  bin  im  Besitz  der  Willkür  des  Anderen  (diesen 
zur  Leistung  zu  bestimmen),  obgleich  die  Zeit  der 
Leistung  noch  erst  kommen  soll;  das  Versprechen 
des  letzteren  gehört  demnach  zur  Habe  und  Gut 
(obligatio  activa)  und  ich  kann  sie  zu  dem  Meinen 
rechnen,  aber  nicht  bloss,  wenn  ich  das  Ver- 
sprochene (wie  im  ersten  Falle)  schon  in  meinem 
Besitz  habe,  sondern  auch,  ob  ich  dieses  gleich  noch 


Von  der  Art,  etwas  Aeusseres  als  das  Seine  zu  haben.  §.  5.  53 

nicht  besitze.  Also  muss  ich  mich,  als  von  dem 
auf  Zeitbedingung  eingeschränkten,  mithin  vom 
empirischen  Besitze  unabhängig,  doch  im  Besitz 
dieses  Gegenstandes  zu  sein  denken  können, 
c)  Ich  kann  ein  Weib,  ein  Kind,  ein  Gesinde,  und 
überhaupt  eine  andere  Person  nicht  darum  das 
Meine  nennen,  weil  ich  sie  jetzt  als  zu  meinem 
Hauswesen  gehörig  befehlige,  oder  im  Zwinger  und 
in  meiner  Gewalt  und  Besitz  habe,  sondern  wenn 
ich,  ob  sie  sich  gleich  dem  Zwange  entzogeo  haben, 
und  ich  sie  also  nicht  (empirisch)  besitze,  dennoch 
sagen  kann,  ich  besitze  sie  durch  meinen  blossen 
Willen,  solange  sie  irgendwo  oder  irgendwenn 
existiren,  mithin  bloss-rechtlich;  sie  gehören 
also  zu  meiner  Habe  nur  alsdann,  wenn  und  sofern 
ich  das  Letztere  behaupten  kann.^^i) 

§.5. 

Definition  des  Begriffs  des  äusseren  Mein  und  Dein. 

Die  Namenerklärung,  d.  i.  diejenige,  welche  bloss 
zur  Unterscheidung  des  Objekts  von  allen  anderen 
zureicht  und  aus  einer  vollständigen  und  bestimmten 
Exposition  des  Begriflfs  hervorgeht,  würde  sein:  das 
äussere  Meine  ist  dasjenige  ausser  mir,  an  dessen  mir 
beliebigem  Gebrauch  mich  zu  hindern,  Läsion  (Abbruch 
an  meiner  Freiheit,  die  mit  der  Freiheit  von  Jedermann 
nach  einem  allgemeinen  Gesetze  zusammen  bestehen 
kann)t)  sein  würde.  —  Die  Sacherklärung  dieses 
Begriffs  aber,  d.  i.  die,  welche  auch  zur  Deduktion 
desselben  (der  Erkenntniss  der  Möglichkeit  des  Gegen- 
standes) zureicht,  lautet  nun  so:  das  äussere  Meine  ist 
dasjenige,  in  dessen  Gebrauch  mich  zu  stören  Läsion 
sein  würde,  ob  ich  gleich  nicht  im  Besitz  des- 
selben (nicht  Inhaber  des  Gegenstandes)  bin.  —  In 
irgend  einem  Besitz  des  äusseren  Gegenstandes  muss  ich 
sein,  wenn  der  Gegenstand  mein  heissen  soll;  denn 
sonst  würde  der,  welcher  diesen  Gegenstand  wider 
meinen  Willen  afficirte,   mich    nicht    zugleich    afficiren. 


t)  Statt   der   eingeklammerten  Worte    hat   die   1.  Ausg. 
bloss  das  Wort  „Unrecht". 


54  Rechtslehre.    I.  Theil.    1.  Hauptstück. 

mithin  auch  nicht  lädiren.  Also  muss,  zufolge  des  §.  4^ 
ein  intelligibler  Besitz  (j^ossessio  noumeno7i)  als 
möglich  vorausgesetzt  werden,  wenn  es  ein  äusseres 
Mein  oder  Dein  geben  soll;  der  empirische  Besitz  fln- 
habung)  ist  alsdann  nur  Besitz  in  der  Erscheinung 
(possessio  2^^^<^''^no7neno)i),  ohgleich.  der  Gegenstand^ 
den  ich  besitze,  hier  nicht  so,  wie  es  in  der  transscen- 
dentalen  Analytik  geschieht,  selbst  als  Erscheinung,  son- 
dern als  Sache  an  sich  selbst  betrachtet  wird;  denn 
dort  war  es  der  Vernunft  um  das  theoretische  Erkennt- 
niss  der  Natur  der  Dinge,  und,  wie  weit  sie  reichen 
könne,  hier  aber  ist  es  ihr  um  praktische  Bestimmung 
der  Willkür  nach  Gesetzen  der  Freiheit  zu  thun,  der 
Gegenstand  mag  nun  durch  Sinne,  oder  auch  bloss  den 
reinen  Verstand  erkennbar  sein,  und  das  Recht  ist 
ein  solcher  reiner  praktischer  Vernunftbegriff  der  Will- 
kür unter  Freiheitsgesetzen. 

Eben  darum  sollte  man  auch  billig  nicht  sagen:  ein 
Reclit  auf  diesen  oder  jenen  Gegenstand,  sondern  viel- 
mehr ihn  bloss -rechtlich  besitzen;  denn  das  Recht 
ist  schon  ein  intellektueller  Besitz  eines  Gegenstandes, 
einen  Besitz  aber  zu  besitzen,  würde  ein  Ausdruck  ohne 
Sinn  sein.-^*^) 

§.  6. 
Deduktion  des  Begriffs  des  bloss-rechtlichen  Be- 
sitzes eines  äusseren  Gegenstandes  (jyossessio 
noumenon). 

Die  Frage:  wie  ist  ein  äusseres  Mein  und  Dein 
möglich?  löst  sich  nun  in  diejenige  auf:  wie  ist  ein 
bloss-rechtliche  r  (intelligibler)  Besitz  möglich?  und 
diese  wiederum  in  die  dritte:  wie  ist  ein  synthetischer 
Rechtssatz  a  j^riori  möglich? 

Alle  Rechtssätze  sind  Sätze  a  priori,  denn  sie  sind 
Vernunftgesetze  {dictamina  rationis).  Der  Rechtssatz 
a  priori  in  Ansehung  des  empirischen  Besitzes  ist 
analytisch;  denn  er  sagt  nichts  mehr,  als  was  nach 
dem  Satze  des  Widerspruchs  aus  dem  letzteren  folgt, 
dass  nämlich,  wenn  ich  Inhaber  einer  Sache  (mit  ihr 
also  physisch  verbunden)  bin,  derjenige,  der  sie  wider 
meine  Einwilligung  afficirt  (z.  B.  mir  den  Apfel  aus  der 


Von  der  Art,  etwas  Aeiisseres  als  das  Seine  zu  haben.  §.  6.  55 

Hand  reisst);  das  innere  Meine  (meine  Freiheit)  afficire 
und  schmälere,  mithin  in  seiner  Maxime  mit  dem  Axiom 
des  Rechts  im  geraden  Widerspruch  stehe.  Der  Satz 
von  einem  empirischen  rechtmässigen  Besitz  geht  also 
nicht  über  das  Recht  einer  Person  in  Ansehung  ihrer 
selbst  hinaus. 

Dagegen  geht  der  Satz:  von  der  Möglichkeit  des 
Besitzes  einer  Sache  ausser  mir,  nach  Absonderung  aller 
Bedingungen  des  empirischen  Besitzes  im  Raum  und 
Zeit  (mithin  die  Voraussetzung  der  Möglichkeit  einer 
jjosses-sio  noumenon)  über  jene  einschränkenden  Be- 
dingungen hinaus,  und,  weil  er  einen  Besitz  auch  ohne 
Inhabung  als  nothwendig  zum  Begriffe  des  äusseren 
Mein  und  Dein  statuirt,  so  ist  er  synthetisch;  und 
nun  kann  es  zur  Aufgabe  für  die  Vernunft  dienen,  zu 
zeigen,  wie  ein  solcher  sich  über  den  Begriff  des  empi- 
rischen Besitzes    erweiternde  Satz  a  j^t'iori  möglich  sei. 

Auf  solche  Weise  ist  z.  B.  die  Besitzung  eines  ab- 
sonderlichen Bodens  eine  Art  der  Privatwillkür,  ohne 
doch  eigenmächtig  zu  sein.  Der  Besitzer  fundirt 
sich  auf  dem  angebornen  Gemeinbesitze  des  Erd- 
bodens und  dem  diesem  a  priori  entsprechenden  allge- 
meinen Willen  eines  erlaubten  Privatbesitzes  auf 
demselben  (weil  ledige  Sachen  sonst  an  sich  und  nach 
einem  Gesetze  zu  herrenlosen  Dingen  gemacht  werden 
würden)  und  erwirbt  durch  die  erste  Besitzung  ursprüng- 
lich einen  bestimmten  Boden,  indem  er  jedem  Andern 
mit  Recht  r/?«re)  widersteht,  der  ihn  im  Privatgebrauche 
desselben  hindern  würde,  obzwar  als  im  natürlichen  Zu- 
stande nicht  von  Rechtswegen  (de  jure),  weil  in  dem- 
selben noch  kein  öffentliches  Gesetz  existirt. 

Wenn  auch  gleich  ein  Boden  als  frei,  d.  i.  zu  Jeder- 
manns Gebrauch  offen  angesehen,  oder  dafür  erklärt 
würde,  so  kann  man  doch  nicht  sagen,  dass  er  von  Na- 
tur und  ursprünglich,  vor  allem  rechtlichen  Akt,  frei 
sei.  Denn  auch  das  wäre  ein  Verhältniss  zu  Sachen, 
nämlich  dem  Boden,  der  Jedermann  seinen  Besitz  ver- 
weigerte; sondern,  weil  diese  Freiheit  des  Bodens  ein 
Verbot  für  Jedermann  sein  würde,  sich  desselben  zu  be- 
dienen, wozu  ein  gemeinsamer  Besitz  desselben  erfordert 
wird,  der  ohne  Vertrag  nicht  stattfinden  kann.  Ein 
Boden  aber,  der  nur  durch  diesen  frei  sein  kann,  muss 


56  Rechtslehre.    I.  Theil.     1.  Hauptstück. 

wirklich  im  Besitze  aller  derer  (zusammen  Verbundenen) 
sein,  die  sich  wechselseitig  den  Gebrauch  desselben  unter- 
sagen, oder  ihn  suspendiren. 

Diese  ursprüngliche  Gemeinschaft  des  Bodens, 
und  hiermit  auch  der  Sachen  auf  demselben  {com- 
rnunio  fundi  originarid)  ist  eine  Idee,  welche  ob- 
jektive (rechtlich-praktische)  Realität  hat,  und  ist 
ganz  und  gar  von  der  uranfänglichen  {com- 
munio  primaeva)  unterschieden,  welche  eine  Er- 
dichtung ist;  weil  diese  eine  gestiftete  Gemein- 
schaft hätte  sein  und  aus  einem  Vertrage  hervor- 
gehen müssen,  durch  den  Alle  auf  den  Privatbesitz 
Verzicht  gethan,  und  ein  Jeder,  durch  die  Vereini- 
gung seiner  Besitzung  mit  der  jedes  Andern,  jenen 
in  einen  Gesammtbesitz  verwandelt  habe,  und  da- 
von müsste  uns  die  Geschichte  einen  Beweis  geben. 
Ein  solches  Verfahren  aber  als  ursprüngliche  Be- 
sitznehmung anzusehen,  und  dass  darauf  jedes  Men- 
schen besonderer  Besitz  habe  gegründet  werden 
können  und  sollen,  ist  ein  Widerspruch. 

Von  dem  Besitz  (possessio)  ist  noch  der  Sitz 
{sedes)j  und  von  der  Besitznehmung  des  Bodens, 
in  der  Absicht  ihn  dereinst  zu  erwerben,  ist  noch 
die  Niederlassung,  Ansiedelung  {incolatus)  unter- 
schieden, welche  ein  fortdauernder  Privatbesitz  eines 
Platzes  ist,  der  von  der  Gegenwart  des  Subjekts 
auf  demselben  abhängt.  Von  einer  Niederlassung 
als  einem  zweiten  rechtlichen  Akt,  der  auf  die  Be- 
sitznehmung folgen,  oder  auch  ganz  ifnterbleiben 
kann,  ist  hier  nicht  die  Rede;  weil  sie  kein  ur- 
sprünglicher, sondern  von  der  Beistimmung  Anderer 
abgeleiteter  Besitz  sein  würde. 

Der  blosse  physische  Besitz  (die  Inhabung)  des 
Bodens  ist  schon  ein  Recht  in  einer  Sache,  obzwar 
freilich  noch  nicht  hinreichend,  ihn  als  das  Meine 
anzusehen.  Beziehungsweise  auf  Andere  ist  er,  als 
(so  viel  man  weiss)  erster  Besitz,  mit  dem  Gesetze 
der  äussern  Freiheit  einstimmig,  und  zugleich  in 
dem  ursprünglichen  Gesammtbesitz  enthalten,  der 
a  priori  den  Grund  der  Möglichkeit  eines  Privatbe- 
sitzes enthält;  mithin  den  ersten  Inhaber  eines 
Bodens   in  seinem  Gebrauch    desselben   zu   stören, 


Von  der  Art,  etwas  Aeusseres  als  das  Seine  zu  haben.  §.  6.  57 

eine  Läsion.  Die  erste  Besitznehmung  hat  also 
einen  Rechtsgrund  (tituhts  possessionis)  für  sich, 
welcher  der  ursprünglich  gemeinsame  Besitz  ist, 
und  der  Satz:  wohl  dem,  der  im  Besitz  ist  (beati 
possidentes)l  weil  Niemand  verbunden  istj,  seinen 
Besitz  zu  beurkunden,  ist  ein  Grundsatz  des  natür- 
lichen Rechts,  der  die  rechtliche  Besitznehmung  als 
einen  Grund  zur  Erwerbung  aufstellt,  auf  den  sich 
jeder  erste  Besitzer  fussen  kann. 

In  einem  theoretischen  Grundsatze  a  priori 
müsste  nämlich  (zufolge  der  Kritik  d.  r.  V.)  dem 
gegebenen  Begriflf  eine  Anschauung  a  jyriori  unter- 
gelegt, mithin  etwas  zu  dem  Begriffe  vom  Besitz 
des  Gegenstandes  hinzugethan  werden;  allein  in 
diesem  praktischen  wird  umgekehrt  verfahren 
und  alle  Bedingungen  der  Anschauung,  welche  den 
empirischen  Besitz  begründen,  müssen  wegge- 
schafft (von  ihnen  abgesehen)  werden,  um  den, 
Begriff  des  Besitzes  über  den  empirischen  hinaus 
zu  erweitern  und  sagen  zu  können:  ein  jeder 
äussere  Gegenstand  der  Willkür  kann  zu  dem  recht- 
lich-Meinen  gezählt  werden,  den  ich  (und  auch  nur 
sofern  ich  ihn)  in  meiner  Gewalt  habe,  ohne  im  Be- 
sitz desselben  zu  sein. 

Die  Möglichkeit  eines  solchen  Besitzes,  mithin 
die  Deduktion  des  Begriffs  eines  nicht- empirischen 
Besitzes,  gründet  sich  auf  dem  rechtlichen  Postulat 
der  praktischen  Vernunft,  „dass  es  Rechtspflicht  sei, 
gegen  Andere  so  zu  handeln,  dass  das  Aeussere 
(Brauchbare)  auch  das  Seine  von  irgend  Jemandem 
werden  könne,"  zugleich  mit  der  Exposition  des 
letzteren  Begriffs,  welcher  das  äussere  Seine  auf 
einen  nicht-physischen  Besitz  gründet,  ver- 
bunden. Die  Möglichkeit  des  letzteren  aber  kann 
keines weges  für  sich  selbst  bewiesen,  oder  einge- 
sehen werden  (eben  weil  es  ein  Vernunftbegriff  ist, 
dem  keine  Anschauung  gegeben  werden  kann),  son- 
dern ist  eine  unmittelbare  Folge  aus  dem  gedachten 
Postulat.  Denn  wenn  es  nothwendig  ist,  nach  jenem 
Rechtsgrunde  zu  handeln,  so  muss  auch  die  intelli- 
gible  Bedingung  (eines  bloss  rechtlichen  Besitzes) 
möglich  sein.  —  Es  darf  auch  Niemand  befremden, 


58  Rechtslehre.    I.  Theil.    1.  Hauptstück. 

dass  die  theoretischen  Prinzipien  des  äusseren 
Mein  und  Dein  sich  im  Intelligiblen  verlieren  und 
kein  erweitertes  Erkenntniss  vorstellen  ^  weil  der 
Begriflf  der  Freiheit^  auf  dem  sie  beruhen,  keiner 
theoretischen  Deduktion  seiner  Möglichkeit  fähig 
ist,  und  nur  aus  dem  praktischen  Gesetze  der  Ver- 
nunft (dem  kategorischen  Imperativ),  als  einem 
Faktum  derselben,  geschlossen  werden  kann.^i) 


§.7. 

x^nwenduDg  des  Prinzips  der  Möglichkeit  des  äusseren 
Mein  und  Dein  auf  Gegenstände  der  Erfahrung. 

Der  Begriff  eines  bloss-rechtlichen  Besitzes  ist  kein 
empirischer  (von  Pvaum  und  Zeitbedingungen  abhängiger) 
Begriff,  und  gleichwohl  hat  er  praktische  Realität,  d.  i. 
er  muss  auf  Gegenstände  der  Erfahrung,  deren  Erkennt- 
niss von  jenen  Bedingungen  unabhängig  ist,  anwendbar 
sein.  —  Das  Verfahren  mit  dem  Rechtsbegriffe  in  An- 
sehung der  letzteren,  als  des  möglichen  äusseren  Mein 
und  Dein,  ist  folgendes.  Der  Rechtsbegriff,  der  bloss 
in  der  Vernunft  liegt,  kann  nicht  unmittelbar  auf 
Erfahrungsobjekte  und  auf  den  Begriff  eines  empirischen 
Besitzes,  sondern  muss  zunächst  auf  den  reinen  Ver- 
standesbegriff eines  Besitzes  überhaupt  angewandt 
werden,  so  dass,  statt  der  luliabimg  {detentio),  als  einer 
empirischen  Vorstellung  des  Besitzes,  der  von  allen 
Raumes-  und  Zeitbedingungen  abstrahirende  Begriff  der 
Hahens,  und  nur  dass  der  Gegenstand  als  in  meiner 
Gewalt  {in  potestcite  mea  2^ositum  esse)  sei,  gedacht 
werde;  da  dann  der  Ausdruck  des  Aeusseren  nicht 
das  Dasein  in  einem  anderen  Orte,  als  wo  ich  bin> 
oder  meiner  Willensentschliessung  und  Annahme  als  in 
einer  anderen  Zeit,  wie  der  des  Angebots,  sondern  nur 
einen  von  mir  unterschiedenen  Gegenstand  bedeutet. 
Nun  will  die  praktische  Vernunft  durch  ihr  Rechtsgesetz, 
dass  ich  das  Mein  und  Dein  in  der  Anwendung  auf 
Gegenstände  nicht  nach  sinnlichen  Bedingungen,  sondern 
abgesehen  von  denselben,  weil  es  eine  Bestimmung  der 
Willkür  nach  Freiheitsgesetzen  betrifft,  auch  den  Besitz 


Von  der  Art,  etwas  Aeusseres  als  das  Seine  zu  haben.  §.  7.  59 

desselben  denke,  indem  nur  ein  Verstandesbegriff 
unter  Rechts  begriffe  subsumirt  werden  kann.  Also  werde 
ich  sagen :  ich  besitze  einen  Acker,  ob  er  zwar  ein  ganz 
anderer  Platz  ist,  als  worauf  ich  mich  wirklich  befinde. 
Denn  die  Rede  ist  hier  nur  von  einem  intellektuellen 
Verhältniss  zum  Gegenstände,  sofern  ich  ihn  in  meiner 
Gewalt  habe,  (ein  von  Raumesbestimmungen  unab- 
hängiger Verstandesbegriff  des  Besitzes),  und  er  ist  mein, 
weil  mein,  zu  desselben  beliebigem  Gebrauch  sich  be- 
stimmender Wille  dem  Gesetze  der  äusseren  Freiheit 
nicht  widerstreitet.  Gerade  darin,  dass,  abgesehen  vom 
Besitz  in  der  Erscheinung  (der  Inliabung)  dieses  Gegen- 
standes meiner  Willkür,  die  praktische  Vernunft  den 
Besitz  nach  Verstandesbegriffen,  nicht  nach  empirischen, 
sondern  solchen,  die  a  priori  die  Bedingungen  desselben 
enthalten  können,  gedacht  wissen  will,  liegt  der  Grund 
der  Gültigkeit  eines  solchen  Begriffs  vom  Besitze  [possessio 
noumenon)  als  einer  allgemeingeltenden  Gesetzgebung: 
denn  eina  solclie  ist  in  dem  Ausdrucke  enthalten :  „dieser 
äussere  Gegenstand  ist  mein";  weil  allen  Andern  da- 
durch eine  Verbindlichkeit  auferlegt  wird,  die  sie  sonst 
nicht  hätten,  sich  des  Gebrauchs  desselben  zu  enthalten. 
Die  Art  also,  etwas  ausser  mir  als  das  Meine  zu 
haben,  ist  die  bloss-rechtliche  Verbindung  des  Willens 
des  Subjekts  mit  jenem  Gegenstande,  unabhängig  von 
dem  Verhältnisse  zu  demselben  im  Raum  und  in  der 
Zeit,  nach  dem  Begriff  eines  intelligiblen  Besitzes.  — 
Ein  Platz  auf  der  Erde  ist  nicht  darum  ein  äusseres 
Meine,  weil  ich  ihn  mit  meinem  Leibe  einnehme  (denn 
es  betrifft  hier  nur  meine  äussere  Freiheit,  mithin 
nur  den  Besitz  meiner  selbst,  kein  Ding  ausser  mir,  und 
ist  also  nur  ein  inneres  Recht);  sondern  wenn  ich  ihn 
noch  besitze,  ob  ich  mich  gleich  von  ihm  weg  und  an 
einen  andern  Ort  begeben  habe,  nur  alsdann  betrifft  es 
mein  äusseres  Recht,  und  derjenige,  der  die  fortwährende 
Besetzung  dieses  Platzes  durch  meine  Person  zur  Be- 
dingung machen  wollte,  ihn  als  das  Meine  zu  haben, 
muss  entweder  behaupten,  es  sei  gar  nicht  möglich, 
etwas  Aeusseres  als  das  Seine  zu  haben  (welches  dem 
Postulat  §.  2  widerstreitet),  oder  er  verlangt,  dass,  um 
dieses  zu  können,  ich  in  zwei  Orten  zugleich  sei ;  welches 
dann  aber  so  viel    sagt,  als:    ich    solle    an    einem  Orte 


ßO  Rechtslehre.    I.  Theil.     1.  Hauptstück. 

sein  und  auch  nicht  sein,  wodurch  er  sich  selbst  wider- 
spricht. 

Dieses  kann  auch  auf  den  Fall  angewendet  werden, 
da  ich  ein  Versprechen  acceptirt  habe;  denn  da  wird 
meine  Habe  und  Besitz  an  dem  Versprochenen  dadurch 
nicht  aufgehoben,  dass  der  Versprechende  zu  einer  Zeit 
sagte:  diese  Sache  soll  dein  sein,  eine  Zeit  hernach  aber 
von  ebenderselben  Sache  sagt:  ich  will  jetzt,  die  Sache 
solle  nicht  dein  sein.  Denn  es  hat  mit  solchen  intellek- 
tuellen Verhältnissen  die  Bewandtniss,  als  ob  jener  ohife 
eine  Zeit  zwischen  beiden  Deklarationen  seines  Willens 
gesagt  hätte,  sie  soll  dein  sein,  und  auch  sie  soll  nicht 
dein  sein,  was  sich  dann  selbst  widerspricht. 

Ebendasselbe  gilt  auch  von  dem  Begriffe  des  recht- 
lichen Besitzes  einer  Person,  als  zu  der  Habe  des  Sub- 
jekts gehörend  (sein  Weib,  Kind,  Knecht):  dass  nämlich 
diese  häusliche  Gemeinschaft  und  der  wechselseitige 
Besitz  des  Zustandes  aller  Glieder  derselben  durch  die 
Befugniss,  sich  örtlich  von  einander  zu  trennen,  nicht 
aufgehoben  wird;  weil  es  ein  rechtliches  Verhältniss 
ist,  was  sie  verknüpft,  und  das  äussere  Mein  und  Dein 
hier,  eben  so  wie  in  vorigen  Fällen,  gänzlich  auf  der 
Voraussetzung  der  Möglichkeit  eines  reinen  Vernunft- 
besitzes ohne  Inhabung  beruht. 

Zur  Kritik  der  rechtlich-praktischen  Vernunft 
im  Begriffe  des  äusseren  Mein  und  Dein,  wird  diese 
eigentlich  durch  eine  Antinomie  der  Sätze  über 
die  Möglichkeit  eines  solchen  Besitzes  genöthigt, 
d.  i.  nur  durch  eine  unvermeidliche  Dialektik,  in 
welcher  Thesis  und  Antithesis  beide  auf  die  Gültig- 
keit zweier  einander  widerstreitenden  Bedingungen 
gleichen  Anspruch  machen,  wird  die  Vernunft  auch 
in  ihrem  praktischen  (das  Recht  betreffenden)  Ge- 
brauch genöthigt,  zwischen  dem  Besitz  als  Er- 
scheinung und  dem  bloss  durch  den  Verstand  denk- 
baren einen  Unterschied  zu  machen. 

Der  Satz  heisst:  es  ist  möglich,  etwas 
Aeusseres  als  das  Meine  zu  haben;  ob  ich  gleich 
nicht  im  Besitz  desselben  bin. 

Der  Gegensatz:  es  ist  nicht  möglich, 
etwas  Aeusseres  als  das  Meine  zu  haben ;  wenn  ich 
nicht  im  Besitz  desselben  bin. 


Von  der  Art,  etwas  Aeusseres  als  das  Seine  zu  haben.  §.8.  Q1 

Auflösung:  beide  Sätze  sind  wahr:  der  erstere, 
wenn  ich  den  empirischen  Besitz  (jyossessio  jiliae- 
nomenon)  der  andere,  w^enn  icli  unter  diesem  Worte 
den  reinen  intelligiblen  Besitz  [j)^-^^^^^'^'^  noumenon) 
verstehe.  —  Aber  die  Möglichkeit  eines  intelligiblen 
Besitzes,  mithin  auch  des  äusseren  Mein  und  Dein 
lässt  sich  nicht  einsehen,  sondern  muss  aus  dem 
Postulat  der  praktischen  Vernunft  gefolgert  werden, 
wobei  es  noch  besonders  merkwürdig  ist :  dass  diese, 
ohne  Anschauungen,  selbst  ohne  einer  a  jyrioi^i  zu 
bedürfen,  sich  durch  blosse,  vom  Gesetze  der  Freiheit 
berechtigte  Weglassung  empirischer  Bedingungen 
erweitern  und  so  synthetische  Rechtssätze  a 
priori  aufstellen  kann,  deren  Bew^eis  (wie  bald  ge- 
zeigt werden  soll)  nachher  in  praktischer  Rücksicht 
auf  analytische  Art  geführt  werden  kann.'' 2) 


Etwas  Aeusseres    als  das  Seine  zu  haben,  ist  nur 
in  einem    rechtlichen  Zustande,    unter  einer  öffent- 
lich-gesetzgebenden Gewalt,    d.  i.    im    bürgerlichen 
Zustande  möglich. 

Wenn  ich  (wörtlich  oder  durch  die  That)  erkläre, 
ich  will,  dass  etwas  Aeusseres  das  Meine  sein  solle,  so 
erkläre  ich  jeden  Anderen  für  verbindlich,  sich  des  Ge- 
genstandes meiner  Willkür  zu  enthalten;  eine  Verbind- 
lichkeit, die  Niemand  ohne  diesen  meinen  rechtlichen 
Akt  haben  würde.  In  dieser  Anmassung  aber  liegt  zu- 
gleich das  Bekenntniss:  jedem  Anderen  in  Ansehung  des 
äusseren  Seinen  wechselseitig  zu  einer  gleichmässigen 
Enthaltung  verbunden  zu  sein;  denn  die  Verbindlichkeit 
geht  hier  aus  einer  allgemeinen  Regel  des  äusseren  recht- 
lichen Verhältnisses  hervor.  Ich  bin  also  nicht  verbun- 
den, das  äussere  Seine  des  Anderen  unangetastet  zu 
lassen,  wenn  mich  nicht  jeder  Andere  dagegen  auch 
sicher  stellt,  er  werde  in  Ansehung  des  Meinigen  sich 
nach  ebendemselben  Prinzip  verhalten;  welche  Sicher- 
stellung gar  nicht  eines  besonderen  rechtlichen  Akts  be- 
darf, sondern  schon  im  Begriffe  einer  äusseren  recht- 
lichen Verpflichtung,    wegen    der  Allgemeinheit,    mithin 


Q2  Rechtslehre.     I.  Theil.     1.  Hauptstiick. 

auch  der  Reciprocität  der  Verbindlichkeit  aus  einer  all- 
gemeinen Regel^  enthalten  ist.  —  Nun  kann  der  ein- 
seitige Wille  in  Ansehung  eines  äusseren,  mithin  zu- 
fälligen Besitzes  nicht  zum  Zwangsgesetz  für  Jedermann 
dienen,  weil  das  der  Freiheit  nach  allgemeinen  Gesetzen 
Abbruch  thun  würde.  Also  ist  nur  ein  jeden  Anderen 
verbindender,  mithin  kollektiv- allgemeiner  (gemeinsamer) 
und  machthabender  Wille  derjenige,  welcher  Jedermann 
jene  Sicherheit  leisten  kann.  —  Der  Zustand  aber  unter 
einer  allgemeinen  äusseren  (d.  i.  öflfentlichen),  mit  Macht 
begleiteten  Gesetzgebung  ist  der  bürgerliche.  Also  kann 
es  nur  im  bürgerlichen  Zustande  ein  äusseres  Mein  und 
Dein  geben. 

Folgesatz:  Wenn  es  rechtlich  möglich  sein  muss, 
einen  äusseren  Gegenstand  als  das  Seine  zu  haben,  so 
muss  es  auch  dem  Subjekt  erlaubt  sein,  jeden  Anderen, 
mit  dem  es  zum  Streit  des  Mein  und  Dein  über  ein 
solches  Objekt  kommt,  zu  nöthigen,  mit  ihm  zusammen 
in  eine  bürgerliche  Verfassung  zu  treten.  •^•^) 


§.  9. 

Im  Naturzustande    kann  doch  ein  wirkliches,    aber 

nur  provisorisches  äusseres  ^lein  und  Dein 

statthaben. 

Das  Katurrecht  im  Zustande  einer  bürgerlichen  Ver- 
fassung (d.  i.  dasjenige,  was  für  die  letztere  aus  Prin- 
zipien a  priori  abgeleitet  werden  kann)  kann  durch  die 
statutarischen  Gesetze  der  letzteren  nicht  Abbruch  leiden, 
und  so  bleibt  das  rechtliche  Prinzip  in  Kraft:  „der, 
welcher  nach  einer  Maxime  verfährt,  nach  der  es  un- 
möglich wird,  einen  Gegenstand  meiner  Willkür  als  das 
Meine  zu  haben,  lädirt  mich;"  denn  bürgerliche  Ver- 
fassung ist  allein  der  rechtliche  Zustand,  durch  welchen 
Jedem  das  Seine  nur  gesichert,  eigentlich  aber  nicht 
ausgemacht  und  bestimmt  wird.  —  Alle  Garantie  setzt 
also  das  Seine  von  Jemandem  (dem  es  gesichert  wird) 
schon  voraus.  Mithin  muss  vor  der  bürgerlichen  Ver- 
lassung (oder  von  ihr  abgesehen)  ein  äusseres  Mein 
und  Dein  als  möglich  angenommen  werden,  und  zugleich 


Von  der  Art,  etwas  Aeusseres  als  das  Seine  zu  haben.  §.  9.  ßß 

ein  Recht^  Jedermann,  mit  dem  wir  irgend  auf  eine  Art 
in  Verkehr  kommen    könnten,    zu  nöthigen,   mit  uns  in 
eine  Verfassung  zusammenzutreten,  worin  jenes  gesicliert 
werden  kann.  —  Ein  Besitz    in  Erwartung  und  Vorbe- 
reitung   eines    solchen  Zustandes,    der    allein  auf  einem 
Gesetz  des  gemeinsamen  Willens  gegründet  werden  kann, 
der  also  zu  der  Möglichkeit  des  letzteren  zusammen- 
stimmt,   ist    ein    provisorisch  -  rechtlicher    Besitz, 
wogegen  derjenige,    der    in  einem  solchen  wirklichen 
Zustande  angetroffen  wird,    ein    peremtori scher  Be- 
sitz sein  würde.  '■ —  Vor  dem  Eintritt  in  diesen  Zustand, 
zu  dem  das  Subjekt  bereit  ist,   widersteht  er  denen  mit 
Recht,    die    dazu    sich    nicht    bequemen    und    ihn    in 
seinem  einstweiligen  Besitz  stören  wollen;  weil  der  Wille 
aller  Anderen  ausser  ihm  selbst,  der  ihm  eine  Verbind- 
lichkeit   aufzulegen   denkt,    von    einem    gewissen  Besitz 
abzustehen,   bloss    einseitig    ist,    mithin    ebensowenig 
gesetzliche    Kraft    (als    die   nur   im  allgemeinen  Willen 
angeti'off'en  wird)  zum  Widersprechen  hat,  als  jener  zum 
Behaupten,    indessen  dass  der  letztere  doch  dies  voraus 
hat,  zur  Einführung  und  Errichtung    eines  bürgerlichen 
Zustandes    zusammenzustimmen.    —    Mit    einem  Worte: 
die  Art,    etwas  Aeusseres    als    das  Seine  im  Naturzu- 
stände zu  haben,    ist    ein    physischer  Besitz,    der    die 
rechtliche  Präsumtion    für  sich  hat,    ihn,    durch  Ver- 
einigung mit  dem  Willen  Aller  in  einer  öffentlichen  Ge- 
setzgebung, zu  einem  rechtlichen  zu  machen,   und    gilt 
in  der  Erwartung  komparativ  für  einen  rechtlichen. 
Dieses  Prärogativ  des  Rechts  aus  dem  empirischen 
Besitzstande    nach    der  Formel:    wohl   dem,    der 
im  Besitz    ist    {beati  jwssidejites),    besteht    nicht 
darin,    dass,   weil  er  die  Präsumtion    eines  recht- 
lichen Mannes    hat,    er   nicht   nöthig  habe,  den 
Beweis  zu  führen,  er  besitze  etwas  rechtmässig  (denn 
das  gilt   nur  im    streitigen  Rechte),    sondern    weil, 
nach  dem  Postulat  der  praktischen  Vernunft,  Jeder- 
mann das  Vermögen  zukommt,  einen   äusseren  Ge- 
genstand   seiner  Willkür    als    das  Seine    zu  haben, 
mithin  jede  Inhabung  ein  Zustand  ist,  dessen  Recht- 
mässigkeit sich  auf  jenem  Postulat  durch  einen  Akt 
des  vorhergehenden  Willens  gründet,  und  der,  wenn 
nicht    ein   älterer  Besitz   eines  Anderen  von  eben- 


ß4  Rechtslehre.    I.  Theil.    1.  Hauptstück. 

demselben  Gegenstande  dawider  ist,  also  vorläufig, 
nach  dem  Gesetze  der  äusseren  Freiheit,  Jedermann^ 
der  mit  mir  nicht  in  den  Zustand  einer  öffentlich 
gesetzlichen  Freiheit  treten  will,  von  aller  An- 
massung  des  Gebrauchs  eines  solchen  Gegenstandes 
abzuhalten  berechtigt,  um  dem  Postulat  der  Ver- 
nunft gemäss,  eine  Sache,  die  sonst  praktisch  ver- 
nichtet sein  würde,  seinem  Gebrauche  zu  unter- 
werfen .34) 


Zweites  Hauptstück. 
Ton  der  Art,  etwas  Aeusseres  zu  erwerl^en. 

§.  10. 
Allgemeines  Prinzip   der  äusseren  Erwerbung. 

Ich  erwerbe  etwas,  wenn  ich  mache  {efficio)^  dass 
etwas  mein  werde,  —  Ursprünglich  ist  meint)  dasjenige 
Aeussere,  was  auch  ohne  einen  rechtlichen  Akt  mein 
ist.  Eine  Erwerbung  aber  ist  ursprünglich  diejenige, 
welche  nicht  von  dem  Seinen  eines  Anderen  abge- 
leitet ist. 

Nichts  Aeusseres  ist  ursprünglich  mein;  wohl  aber 
kann  es  ursprünglich,  d.  i.  ohne  es  von  dem  Seinen 
irgend  eines  Anderen  abzuleiten,  erworben  sein.  —  Der 
Zustand  der  Gemeinschaft  des  Mein  und  Dein  {com- 
munio)  kann  nie  als  ursprünglich  gedacht,  sondern  muss 
(durch  einen  äusseren  rechtlichen  Akt)  erworben  werden ; 
obwohl  der  Besitz  eines  äusseren  Gegenstandes  ursprüng- 
lich und  gemeinsam  sein  kann.  Auchft)  wenn  man 
sich  (problematisch)  eine  ursprüngliche  Gemeinschaft 
{comniunio  mei  et  tid  originarid)  denkt;  so  muss  sie 
doch  von  der  u  ran  fänglichen  {communio  primaeva) 
unterschieden  werden,  welche,  als  in  der  ersten  Zeit 
der  Rechtsverhältnisse  unter  Menschen  gestiftet,  ange- 
nommen wird,  und  nicht,  wie  die  erstere,  auf  Prinzipien, 


t)  1.  Ausg.:  ,,Ursprünghch  mein  ist' 
tt)  1.  Ausg.:  „Doch" 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten. 


QQ  Rechtslehre.    I.  Theil.     2.  Hauptstück. 

sondern  nur  auf  Geschichte  gegründet  werden  kann; 
wobei  die  letztere  doch  immer  als  erworben  und  abge- 
leitet {communio  derivativa)  gedacht  werden  müsste. 

Das  Prinzip  der  äusseren  Erw^erbung  ist  nun:  was 
ich  (nach  dem  Gesetze  der  äusseren  Freiheit)  in  meine 
Gewalt  bringe,  und  wovon,  als  Objekt  meiner  Willkür, 
Gebrauch  zu  machen  ich  (nach  dem  Postulat  der  prak- 
tischen Vernunft)  das  Vermögen  habe;  endlich,  was  ich 
(gemäss  der  Idee  eines  möglichen  vereinigten  Willens) 
will,  es  solle  mein  sein,  das  ist  mein.^'^) 

Die  Momente  {attendenda)  der  ursprünglichen 
Erwerbung  sind  also:  1)  die  Apprehension  eines  Ge- 
genstandes, der  Keinem  angehört,  widrigenfalls  sie  der 
Freiheit  Anderer  nach  allgemeinen  Gesetzen  widerstreiten 
würde.  Die  Apprehension  ist  die  Besitznehmung  des 
Gegenstandes  der  Willkür  im  Raum  und  der  Zeit;  der 
Besitz  also,  in  den  ich  mich  setze,  ist  possessio  phae- 
nomenon.  2)  Die  Bezeichnung  {dectaratio)  des  Be- 
sitzes dieses  Gegenstandes  und  des  Akts  meiner  Willkür, 
jeden  Anderen  davon  abzuhalten.  3)  Die  Zueignung 
{approiwiatio)  als  Akt  eines  äusserlich  allgemein  ge- 
setzgebenden Willens  (in  der  Idee),  durch  welchen  Jeder- 
mann zur  Einstimmung  mit  meiner  Willkür  verbunden 
wird.  —  Die  Gültigkeit  des  letzteren  Moments  der  Er- 
werbung, als  worauf  der  Schlusssatz :  der  äussere  Gegen- 
stand ist  mein,  beruht,  d.  i.  dass  der  Besitz,  als  ein 
bloss- rechtlicher,  gültig  {p)ossessio  noumenon)  sei, 
gründet  sich  darauf:  dass,  da  alle  diese  Aktus  recht- 
lich sind,  mithin  aus  der  praktischen  Vernunft  hervor- 
gehen, und  also  in  der  Frage,  was  Rechtens  ist,  von 
den  empirischen  Bedingungen  des  Besitzes  abstrahirt 
werden  kann,  der  Schlusssatz:  der  äussere  Gegenstand 
ist  mein,  vom  sensiblen  auf  den  intelligiblen  Besitz  richtig 
geführt  wird. 

Die  ursprüngliche  Erwerbung  eines  äusseren  Gegen- 
standes der  Willkür  heisst  Bemächtigung  {occupatio) 
und  kann  nicht  anders,  als  an  körperlichen  Dingen  (Sub- 
stanzen) stattfinden.  Wo  nun  eine  solche  stattfindet, 
bedarf  sie  zur  Bedingung  des  empirischen  Besitzes  die 
Priorität  der  Zeit  vor  jedem  Anderen,  der  sich  einer 
Sache  bemächtigen  will  [gui  prior  tempore,  potior  iure). 
Sie    ist    als   ursprünglich  auch  nur  die  Folge  von  ein- 


Von  der  Art  etwas  Aeusseres  zu  erwerben.    §.  10.   57 

seitiger  Willkür;  denn  wäre  dazu  eine  doppelseitige 
erforderlich 7  so  würde  sie  von  dem  Vertrage  zweier  (oder 
mehrerer)  Personen,  folglich  von  dem  Seinen  Anderer 
abgeleitet  sein.  —  Wie  ein  solcher  Akt  der  Willkür,  als 
jener  ist,  das  Seine  für  Jemanden  begründen  könne,  ist 
nicht  laicht  einzusehen.  —  Indessen  ist  die  erste  Er- 
werbung doch  darum  sofort  nicht  die  ursprüngliche. 
Denn  die  Erwerbung  eines  öffentlichen  rechtlichen  Zu- 
standes  durch  Vereinigung  des  Willens  Aller  zu  einer 
allgemeinen  Gesetzgebung  wäre  eine  solche,  vor  der 
keine  vorhergehen  darf,  und  doch  wäre  sie  von  dem 
besonderen  Willen  eines  Jeden  abgeleitet  und  allseitig: 
da  eine  ursprüngliche  Erwerbung  nur  aus  dem  ein- 
seitigen Willen  hervorgehen  kann.  ^5) 


Eintheilung  der  Erwerbung  des  äusseren  Mein  und 
Dein. 

1)  Der  Materie  (dem  Objekte)  nach  erwerbe  ich 
entweder  eine  körperliche  Sache  (Substanz),  oder  die 
Leistung  (Kausalität)  eines  Anderen,  oder  diese  andere 
Person  selbst,  d.  i.  den  Zustand  derselben,  sofern  ich 
ein  Recht  erlange,  über  denselben  zu  verfügen  (das 
Commercium  mit  derselben). 

2)  Der  Form  (Erwerbungsart)  nach  ist  es  entweder 
«in  Sachenrecht  (jus  reale),  oder  persönliches 
Recht  {jus  personale)^  oder  ein  dinglich-persön- 
liches Recht  {jus  realiter  'personale)  des  Besitzes  (ob- 
zwar  nicht  des  Gebrauchs)  einer  anderen  Person  als 
einer  Sache. 

3)  Nach  dem  Rechtsgrunde  [titulus)  der  Erwer- 
bung, welches  eigentlich  kein  besonderes  Glied  der  Ein- 
theilung  der  Rechte,  aber  doch  ein  Moment  der  Art 
ihrer  Ausübung  ist:  entweder  durch  den  Akt  einer  ein- 
seitigen, oder  doppelseitigen,  oder  allseitigen 
Willkür,  wodurch  etwas  Aeusseres  [facto,  pacto,  lege) 
erworben  wird.^ß) 


b* 


ß8  Rechtslehre.    I.  Theil.    2.  Hauptstück.    1.  Abschn. 

Erster  Abschnitt. 
Tom    Sachenrecht. 


§.  11. 
Was  ist  ein  Sachenrecht? 

Die  gewöhnliche  Erklärung  des  Rechts  in  einer 
Sache  (jua  recde^  jus  in  re):  „es  sei  das  Recht  gegen 
jeden  Besitzer  derselben",  ist  eine  richtige  Nominal- 
definition. —  Aber  was  ist  das,  was  da  macht,  dass  ich 
mich  wegen  eines  äusseren  Gegenstandes  an  jeden  In- 
haber desselben  halten,  und  ihn  (i^er  vindicationem) 
nöthigen  kann,  mich  wieder  in  Besitz  desselben  zu  setzen  ? 
Ist  dieses  äussere  rechtliche  Verhältniss  meiner  Willkür 
etwa  ein  unmittelbares  Verhältniss  zu  einem  körper- 
lichen Dinge?  So  müsste  derjenige,  welcher  sein  Recht 
nicht  unmittelbar  auf  Personen,  sondern  auf  Sachen  be- 
zogen denkt,  es  sich  freilich  (obzwar  nur  auf  dunkle  Art) 
vorstellen:  nämlich,  weil  dem  Recht  auf  einer  Seite 
eine  Pflicht  auf  der  andern  korrespondirt,  dass  die  äussere 
Sache,  ob  sie  zwar  dem  ersten  Besitzer  abhanden  ge- 
kommen, diesem  doch  immer  verpflichtet  bleibe,  d.  i. 
sich  jedem  anmasslichen  anderen  Besitzer  weigere,  weil 
sie  jenem  schon  verbindlich  ist,  und  so  mein  Recht, 
gleich  einem  die  Sache  begleitenden  und  vor  allem  frem- 
den Angriffe  bewahrenden  Genius,  den  fremden  Besitzer 
immer  an  mich  weise.  Es  ist  also  ungereimt,  sich  Ver- 
bindlichkeit einer  Person  gegen  Sachen  und  umgekehrt 
zu  denken,  wenn  es  gleich  allenfalls  erlaubt  werden 
mag,  das  rechtliche  Verhältniss  durch  ein  solches  Bild 
zu  versinnlichen,  und  sich  so  auszudrücken. 

Die  Realdefinition  würde  daher  so  lauten  müssen: 
das  Recht  in  einer  Sache  ist  ein  Recht  des  Privat- 
gebrauchs einer  Sache,  in  deren  (ursprünglichem,  oder 
gestiftetem)  Gesammtbesitze  ich  mit  allen  Andern  bin. 
Denn  das  Letztere  ist  die  einzige  Bedingung,  unter  der 
es  allein  möglich  ist,  dass  ich  jeden  anderen  Besitzer 
vom  Privatgebrauch  der  Sache  ausschliesse  {jus  contra 
quemlibet   hujiis   rei    possessorem) ^    weil,     ohne    einen 


Vom  Sachenrecht.    §.  12,  (»9 

solchen  Gesammtbesitz  vorauszusetzen,  sich  gar  nicht 
denken  lässt,  wie  ich,  der  ich  doch  nicht  im  Besitz  der 
Sache  bin,  von  Andern,  die  es  sind,  und  sie  brauchen, 
lädirt  werden  könne.  —  Durch  einseitige  Willkür  kann 
ich  keinen  Andern  verbinden,  sich  des  Gebrauchs  einer 
Sache  zu  enthalten,  w^ozu  er  sonst  keine  Verbindlichkeit 
haben  würde:  also  nur  durch  vereinigte  Willkür  Aller 
in  einem  Gesammtbesitze.  Sonst  müsste  ich  mir  ein 
Recht  in  einer  Sache  so  denken,  als  ob  die  Sache  gegen 
mich  eine  Verbindlichkeit  hätte,  und  davon  allererst 
das  Recht  gegen  jeden  Besitzer  derselben  ableiten; 
welches  eine  ungereimte  Vorstellungsart  ist. 

Unter  dem  Wort:  Sachenrecht  (jus  reale)  wird 
übrigens  nicht  bloss  das  Recht  in  einer  Sache  (jus  in 
re),  sondern  auch  der  Inbegriff  aller  Gesetze,  die  das 
dingliche  Mein  und  Dein  betreffen,  verstanden.  —  Es 
ist  aber  klar,  dass  ein  Mensch,  der  auf  Erden  ganz 
allein  wäre,  eigentlich  kein  äusseres  Ding  als  das  Seine 
haben,  oder  erwerben  könnte;  weil  zwischen  ihm,  als 
Person,  und  allen  anderen  äusseren  Dingen,  als  Sachen, 
es  gar  kein  Verhältniss  der  Verbindlichkeit  giebt.  Es 
giebt  also,  eigentlich  und  buchstäblich  verstanden,  auch 
kein  (direktes)  Recht  in  einer  Sache,  sondern  nur  das- 
jenige wird  so  genannt,  was  Jemandem  gegen  eine  Per- 
son zukommt,  die  mit  allen  Anderen  (im  bürgerlichen 
Zustande)  im  gemeinsamen  Besitz  ist.*^") 

§.  12. 

Die  erste  Erwerbung  einer  Saclie  kann  keine  andere, 
als  die  des  Bodens  sein. 

Der  Boden  (unter  welchem  alles  bewohnbare  Land 
verstanden  wird)  ist,  in  Ansehung  alles  Beweglichen  auf 
demselben,  als  Substanz,  die  Existenz  des  letzteren 
aber  nur  als  Inhärenz  zu  betrachten,  und  so  wie  im 
theoretischen  Sinne  die  Accidenzen  nicht  ausserhalb  der 
Substanz  existiren  können,  so  kann  im  praktischen  das 
Bewegliche  auf  dem  Boden  nicht  das  Seine  von  Je- 
mandem sein,  wenn  dieser  nicht  vorher  als  im  recht- 
lichen Besitz  desselben  befindlich  (als  das  Seine  des- 
selben) angenommen  wird. 


70  Rechtslehre.    I.  Theil.    2.  Hauptstück.    1.  Abschn. 

Denn  setzet,  der  Boden  gehöre  Niemandem  an:  so- 
werde  ich  jede  bewegliche  Sache,  die  sich  auf  ihm  be- 
findet, aus  ihrem  Platze  stossen  können,  um  ihn  selbst 
einzunehmen,  bis  sie  sich  gänzlich  verliert,  ohne  dass 
der  Freiheit  irgend  eines  Anderen,  der  jetzt  gerade  nicht 
Inhaber  desselben  ist,  dadurch  Abbruch  geschieht ;  alles 
aber,  was  zerstört  werden  kann,  ein  Baum,  Haus  u.  s.  w. 
ist  (wenigstens  der  Materie  nach)  beweglich,  und  wenn 
man  die  Sache,  die  ohne  Zerstörung  ihrer  Form  nicht 
bewegt  werden  kann,  ein  Immobile  nennt,  so  wird  das 
Mein  und  Dein  an  jener  nicht  von  der  Substanz,  sondern 
dem  ihr  Anhängenden  verstanden,  welches  nicht  die 
Sache  selbst  ist. 


§.  13. 

Einjeder  Boden  kann  ursprünglich  erworben  vrerden,. 

und   der  Grund  der  Möglichkeit  dieser  Erwerbung 

ist  die  ursprüngliche  Gemeinschaft  des  Bodens 

überhaupt. 

Was  das  Erste  betrifift,  so  gründet  sich  dieser  Satz 
auf  dem  Postulat  der  praktischen  Vernunft  (§.  2);  da& 
Zweite  auf  folgenden  Beweis. 

Alle  Menschen  sind  ursprünglich  (d.  i.  vor  allem 
rechtlichen  Akt  der  Willkür)  im  rechtmässigen  Besitz 
des  Bodens,  d.  i.  sie  haben  ein  Recht,  da  zu  sein,  wo- 
hin sie  die  Natur  oder  der  Zufall  (ohne  ihren  Willen) 
gesetzt  hat.  Der  Besitz  [possessio),  der  vom  Sitz  {sedes)^ 
als  einem  willkürlichen,  mithin  erworbenen,  dauernden 
Besitz  unterschieden  ist,  ist  ein  gemeinsamer  Besitz, 
wegen  der  Einheit  aller  Plätze  auf  der  Erdfläche,  als 
Kugelfläche;  weil,  wenn  sie  eine  unendliche  Ebene  wäre, 
die  Menschen  sich  darauf  so  zerstreuen  könnten,  dass 
sie  in  gar  keine  Gemeinschaft  mit  einander  kämen,  diese 
also  nicht  eine  nothwendige  Folge  von  ihrem  Dasein, 
auf  Erden  wäre.  —  Der  Besitz  aller  Menschen  auf  Erden,, 
der  vor  allem  rechtlichen  Akt  derselben  vorhergeht  (von 
der  Natur  selbst  konstituirt  ist),  ist  ein  ursprünglicher 
Gesammtbesitz  [(tommunio  possessiojiis  originaria) y 
dessen  Begriff  nicht  empirisch  und  von  Zeitbedingungen 


Vom  Sachenrecht.    §.  14.  71 

abhängig  ist,  wie  etwa  der  gedichtete,  aber  nie  erweis- 
liche eines  uranfänglichen  Gesammtbesitzes  {com- 
munio  primaeva)^  sondern  ein  praktischer  Vernünftbe- 
griff, der  a  priai'i  das  Prinzip  enthält,  nach  welchem 
allein  die  Menschen  den  Platz  auf  Erden  nach  Rechts- 
gesetzen gebrauchen  können. 


§.  14. 

Der  rechtliche  Akt  dieser  Erwerbung  ist  Be- 
mächtigung  (occupatio). 

Die  Besitznehmung  {appreJiensio),  als  der  An- 
fang der  Inhabuug  einer  körperlichen  Sache  im  Baume 
{possessionis  pliysicae)^  stimmt  unter  keiner  anderen 
Bedingung  mit  dem  Gesetze  der  äusseren  Freiheit  von 
Jedermann  (mithin  a  priori)  zusammen,  als  unter  der 
der  Priorität  in  Ansehung  der  Zeit,  d.  i.  nur  als  erste 
Besitznehmung  [p)rior  appreJiensio)^  welche  ein  Akt  der 
Willkür  ist.  Der  Wille  aber,  die  Sache  (mithin  auch 
ein  bestimmter  abgetheilter  Platz  auf  Erden)  solle  mein 
sein,  d.  i.  die  Zueignung  [cippropriatio)  kann  in  einer 
ursprünglichen  Erwerbung  nicht  anders,  als  einseitig 
(vohmtas  unüateralis  s.  proprio)  sein.  Die  Erwerbung 
eines  äusseren  Gegenstandes  der  Willkür  durch  ein- 
seitigen Willen  ist  die  Bemäch tigung.  Also  kann 
die  ursprüngliche  Erwerbung  desselben,  mithin  auch 
eines  abgemessenen  Bodens  nur  durch  Bemächtigung 
(occupatio)  geschehen. 

Die  Möglichkeit  auf  solche  Art  zu  erwerben,  lässt 
sich  auf  keine  Weise  einsehen,  noch  durch  Gründe  dar- 
thun,  sondern  ist  die  unmittelbare  Folge  aus  dem  Postulat 
der  praktischen  Vernunft.  Derselbe  Wille  aber  kann 
doch  eine  äussere  Erwerbung  nicht  anders  berechtigen, 
als  nur  sofern  er  in  einem  a  p^^iori  vereinigten  (d.  i. 
durch  die  Vereinigung  der  Willkür  Aller,  die  in  ein 
praktisches  Verhältuiss  gegen  einander  kommen  können) 
absolut  gebietenden  Willen  enthalten  ist;  denn  der  ein- 
seitige Wille  (wozu  auch  der  doppelseitige,  aber  doch 
besondere  Wille  gehört)  kann  nicht  Jedermann  eine 
Verbindlichkeit  auflegen,  die  an  sich  zufällig  ist,  sondern 


72  Rechtslehre.    I.  Theil.     2.  Hauptstück.    1.  Abschn. 

dazu  wird  ein  allseitiger,  nicht  zufällig,  sondern  a 
priori,  mithin  nothwendig  vereinigter  und  darum  gesetz- 
gebender Wille  erfordert;  denn  nur  nach  dieses  seinem 
Prinzip  ist  Uebereinstimmung  der  freien  Willkür  eines 
Jeden  mit  der  Freiheit  von  Jedermann,  mithin  ein  Recht 
überhaupt,  und  also  auch  ein  äusseres  Mein  und  Dein 
möglich,  s^) 


§.  15. 

Nur  in  einer  bürgerlichen   Verfassung  kann   etwas 

peremtorisch,    dagegen   im  Naturzustande    zwar 

auch,  aber  nur  provisorisch  erworben  werden. 

Die  bürgerliche  Verfassung,  obzwar  ihre  Wirklichkeit 
subjektiv  zuföllig  ist,  ist  gleichwohl  objektiv,  d.  i.  als 
Pflicht,  nothwendig.  Mithin  giebt  es  in  Hinsicht  auf 
dieselbe  und  ihre  Stiftung  ein  wirkliches  Rechtsgesetz 
der  Natur,  dem  alle  äussere  Erwerbung  unterworfen  ist. 

Der  empirische  Titel  der  Erwerbung  war  die 
auf  ursprüngliche  Gemeinschaft  des  Bodens  gegründete 
physische  Besitznehmung  {appreliensio  physica)^  welchem, 
weil  dem  Besitz  nach  Vernunftbegriffen  des  Rechts  nur 
ein  Besitz  in  der  Erscheinung  untergelegt  werden 
kann,  der  einer  intellektuellen  Besitznehmung  (mit  Weg- 
lassung aller  empirischen  Bedingungen  in  Raum  und 
Zeit)  korrespondiren  muss,  und  die  den  Satz  gründet: 
„was  ich  nach  Gesetzen  der  äusseren  Freiheit  in  meine 
Gewalt  bringe,  und  will,  es  solle  mein  sein,  das  wird 
mein." 

Der  Vernunfttitel  der  Erwerbung  aber  kann  nur 
in  der  Idee  eines  a  jyriori  vereinigten  (nothwendig  zu 
vereinigenden;  Willens  Aller  liegen,  welche  hier  als  un- 
umgängliche Bedingung  (conditio  sine  qua  non)  still- 
schweigend vorausgesetzt  wird;  denn  durch  einseitigen 
Willen  kann  Anderen  eine  Verbindlichkeit,  die  sie  für 
sich  sonst  nichf  haben  würden,  nicht  auferlegt  werden. 
—  Der  Zustand  aber  eines  zur  Gesetzgebung  allgemein 
wirklich  vereinigten  Willens  ist  der  bürgerliche  Zustand. 
Also  nur  in  Konformität  mit  der  Idee  eines  bürgerlichen 
Zustandes,  d.  i.  in  Hinsicht  auf  ihn  und  seine  Bewirkung, 


Vom  Sachenrecht.    §.  15,  73 

aber  vor  der  Wirklichkeit  de^^selben  (denn  sonst  wäre 
die  Erwerbung  abgeleitet),  mithin  nur  provisorisch 
kann  etwas  Aeusseres  ursprünglich  erworben  werden. 
—  Die  peremtorisc  he  Erwerbung  findet  nur  im 
bürgerlichen  Zustande  statt. 

Gleichwohl  ist  jene  provisorische  dennoch  eine  wahre 
Erwerbung;  denn  nach  dem  Postulat  der  rechtlich-prak- 
tischen Vernunft  ist  die  Möglichkeit  derselben,  in  welchem 
Zustande  die  Menschen  neben  einander  sein  mögen  (also 
auch  im  Naturzustande),  ein  Prinzip  des  Privatrechts, 
nach  welchem  jeder  zu  demjenigen  Zwange  berechtigt 
ist,  durch  welchen  es  allein  möglich  wird,  aus  jenem 
Naturzustande  heraus; zu  gehen,  und  in  den  bürgerlichen, 
der  allein  alle  Erwerbung  peremtorisch  machen  kann, 
zu  treten. 

Es  ist  die  Frage:  wie  weit  erstreckt  sich  die 
Befugniss  der  Besitznehmung  eines  Bodens?  So  weit, 
als  das  Vermögen  ihn  in  seiner  Gewalt  zu  haben; 
d.  i.  als  der,  so  ihn  sich  zueignen  will,  ihn  ver- 
theidigen  kann,  gleich  als  ob  der  Boden  spräche: 
wenn  ihr  mich  nicht  beschützen  könnt,  so  könnt 
ihr  mir  auch  nicht  gebieten.  Darnach  müsste  also 
auch  der  Streit  über  das  freie  oder  verschlossene 
Meer  entschieden  werden  ;  z.  B.  innerhalb  der  Weite, 
wohin  die  Kanonen  reichen,  darf  Niemand  an  der 
Küste  eines  Landes,  das  schon  einem  gewissen  Staat 
zugehört,  fischen,  Bernstein  aus  dem  Grunde  der 
See  holen  u.  dgl.  —  Ferner:  ist  die  Bearbeitung 
des  Bodens  (Bebauung,  Beackerung,  Entwässerung 
u.  dergl.)  zur  Erwerbung  desselben  nothwendig? 
Nein!  denn  da  diese  Formen  (der  Spezifizirung)  nur 
Accidenzen  sind,  so  machen  sie  kein  Objekt  eines 
unmittelbaren  Besitzes  aus,  und  können  zu  dem  des 
Subjekts  nur  geliören,  sofern  die  Substanz  vorher 
als  das  Seine  desselben  anerkannt  ist.  Die  Be- 
arbeitung ist,  wenn  es  auf  die  Frage  von  der  ersten 
Erwerbung  ankommt,  r.icIHs  weiter,  als  ein  äusseres 
Zeichen  der  Besitznehmung,  welches  man  durch  viele 
andere,  die  weniger  Mühe  kosten,  ersetzen  kann. 
—  Ferner:  darf  man  wohl  Jemanden  in  dem  Akt 
seiner  Besitznehmung  hindern,  so  dass  Keiner  von 
Beiden  des  Rechts   der  Priorität    theilhaftig    werde, 


74  Rechtslehre.    I,  Theil.    2.  Hauptstück.    1.  Abschn. 

und  so  der  Boden  immer  als  Keinem  angehörig- 
frei  bleibe?  Gänzlich  kann  diese  Hinderung  nicht 
stattfinden,  weil  der  Andere,  um  dieses  thun  zu 
können,  sich  doch  auch  selbst  auf  irgend  einem 
benachbarten  Boden  befinden  muss,  wo  er  also  selbst 
behindert  werden  kann,  zu  sein,  mithin  eine  ab- 
solute Verhinderung  ein  Widerspruch  wäre;  aber 
respektiv  auf  einen  gewissen  (zwischenliegenden) 
Boden,  diesen,  als  neutral,  zur  Scheidung  zweier 
Benachbarten  unbenutzt  liegen  zu  lassen,  würde 
doch  mit  dem  Rechte  der  Bemächtigung  zusammen 
bestehen ;  aber  alsdann  gehört  wirklich  dieser  Boden 
Beiden  gemeinschaftlich,  und  ist  nicht  herrenlos 
(9'es  jiuUius)^  eben  darum,  weil  er  von  Beiden  dazu 
gebraucht  wird,  um  sie  von  einander  zu  scheiden. 

—  Ferner:  kann  man  auf  einem  Boden,  davon  kein 
Theil  das  Seine  von  Jemandem  ist,  doch  eine  Sache 
als  die  seine  haben?  Ja;  wie  in  der  Mongolei  jeder 
sein  Gepäcke,  was  er  hat,  liegen  lassen,  oder  sein 
Pferd,  was  ihm  entlaufen  ist,  als  das  Seine  in  seinen 
Besitz  bringen  kann,  weil  der  ganze  Boden  dem 
Volk,  der  Gebrauch  desselben  also  jedem  Einzelnen 
zusteht;  dass  aber  Jemand  eine  bewegliche  Sache 
auf  dem  Boden  eines  Anderen  als  das  Seine  haben 
kann,  ist  zwar  möglich,  aber  nur  durch  Vertrag, 

—  Endlich  ist  die  Frage:  können  zwei  benachbarte 
Völker  (oder  Familien)  einander  widerstehen,  eine 
gewisse  Art  des  Gebrauchs  eines  Bodens  anzunehmen^ 
z.  B.  die  Jagd  Völker  dem  Hirtenvolk,  oder  den 
Ackerleuten,  oder  diese  den  Pflanzern  u.  dergl.  ? 
Allerdings;  denn  die  Art,  wie  sie  sich  auf  dem  Erd- 
boden ansässig  machen  wollen,  ist,  wenn  sie  sich 
innerhalb  ihrer  Grenzen  halten,  eine  Sache  des 
blossen  Beliebens  {i'es  merae  facultatis). 

Zuletzt  kann  noch  gefragt  werden:  ob,  wenn 
uns  weder  die  Natur,  noch  der  Zufall,  sondern  bloss 
unser  eigener  Wille  in  Nachbarschaft  mit  einem 
Volke  bringt,  welches  keine  Aussicht  zu  einer  bürger- 
lichen Verbindung  mit  ihm  verspricht,  wir  nicht,  in 
der  Absicht,  diese  zu  stiften  und  diese  Menschen 
(Wilde)  in  einen  rechtlichen  Zustand  zu  versetzen 
(wie  etwa  die   amerikanischen  Wilden,   die  Hotten- 


Vom  Sachenrecht.    §.  16.  75 

totten,  die  Neuholländer)  befugt  sein  sollten,  allen- 
falls mit  Gewalt,  oder  (welches  nicht  viel  besser  ist) 
durch  betrügerischen  Kauf,  Kolonien  zu  errichten 
und  so  Eigenthlimer  ihres  Bodens  zu  werden,  und 
ohne  Rücksicht  auf  ihren  ersten  Besitz  Gebrauch 
von  unserer  üeberlegenheit  zu  machen;  zumal  es 
die  Natur  selbst  (als  die  das  Leere  verabscheut) 
so  zu  fordern  scheint,  und  grosse  Landstriche  in 
anderen  Welttheilen  an  gesitteten  Einwohnern  sonst 
menschenleer  geblieben  wären,  die  jetzt  herrlich 
bevölkert  sind,  oder  gar  auf  immer  bleiben  müssten, 
und  so  der  Zweck  der  Schöpfung  vereitelt  werden 
würde?  Allein  man  sieht  durch  diesen  Schleier  der 
Ungerechtigkeit  (Jesuitismus),  alle  Mittel  zu  guten 
Zwecken  zu  billigen,  leicht  durch;  diese  Art  der 
Erwerbung  des  Bodens  ist  also  verwerflich. 

Die  Unbestimmtheit  in  Ansehung  der  Quantität 
sowohl,  als  der  Qualität  des  äusseren  erwerblichen 
Objekts,  macht  diese  Aufgabe  (der  einzigen  ursprüng- 
lichen äusseren  Erwerbung)  unter  allen  zur  schwer- 
sten sie  aufzulösen.  Irgend  eine  ursprüngliche  Er- 
werbung des  Aeusseren  aber  muss  es  indessen  doch 
geben;  denn  abgeleitet  kann  nicht  alle  sein.  Daher 
kann  man  diese  Aufgabe  auch  nicht  als  unauflöslich 
und  als  an  sich  unmöglich  aufgeben.  Aber  wenn 
sie  auch  durch  den  ursprünglichen  Vertrag  aufge- 
löst wird,  so  wird,  wenn  dieser  sich  nicht  aufs 
ganze  menschliche  Geschlecht  erstreckt,  die  Erwer- 
bung doch  immer  nur  provisorisch  bleiben. 


§.  16. 

Exposition  des  Begriffs  einer  ursprUnglicben 
Erwerbung  des  Bodens. 

Alle  Menschen  sind  ursprünglich  in  einem  Gesammt- 
besitz  des  Bodens  der  ganzen  Erde  {communio  fundi 
originaria)y  mit  dem  ihnen  von  Natur  zustehenden 
Willen  (eines  Jeden),  denselben  zu  gebrauchen  (lex 
justi),  der,  wegen  der  natürlich  unvermeidlichen  Ent- 
gegensetzung  der    Willkür    des    Einen    gegen    die    des 


76  Rechtslehre.    I.  Theil.    2.  Haiiptstück.    1.  Abschn. 

Andern,  allen  Gebrauch  desselben  aufbeben  würde,  wenn 
nicht  jener  zugleich  das  Gesetz  für  diese  enthielte,  nach 
welchem  einem  Jeden  ein  besonderer  Besitz  auf  dem 
gemeinsamen  Boden  bestimmt  werden  kann  (lex  juridica). 
Aber  das  austheilende  Gesetz  des  Mein  und  Dein  eines 
Jeden  am  Boden  kann,  nach  dem  Axiom  der  äusseren 
Freiheit,  nicht  anders,  als  aus  einem  ursprünglich 
und  a  j?riori  vereinigten  Willen  (der  zu  dieser  Ver- 
einigung keinen  rechtlichen  Akt  voraussetzt),  mithin  nur 
im  bürgerlichen  Zustande,  hervorgehen  {lex  justitiae 
distributivae),  der  allein,  was  recht,  was  rechtlich 
und  was  Rechtens  ist,  bestimmt.  —  In  diesem  Zu- 
stande aber,  d.  i.  vor  Gründung  und  doch  in  Absicht 
auf  denselben,  d.  i,  provisorisch,  nach  dem  Gesetz 
der  äusseren  Erwerbung  zu  verfahren,  ist  Pflicht,  folg- 
lich auch  rechtliches  Vermögen  des  Willens,  Jeder- 
mann zu  verbinden,  den  Akt  der  Besitznehmung  und 
Zueignung,  ob  er  gleich  nur  einseitig  ist,  anzuerkennen ; 
mithin  ist  eine  provisorische  Erwerbung  des  Bodens,  mit 
allen  ihren  rechtlichen  Folgen,  möglich. 

Eine  solche  Erwerbung  aber  bedarf  doch  und  hat 
auch  eine  Gunst  des  Gesetzes  {lex  permisslva),  in  An- 
sehung der  Bestimmung  der  Grenzen  des  rechtlich  mög- 
lichen Besitzes,  für  sich;  weil  sie  vor  dem  rechtlichen 
Zustande  vorhergeht,  und,  als  bloss  dazu  einleitend, 
noch  nicht  peremtorisch  ist,  welche  Gunst  sich  aber 
nicht  weiter  erstreckt,  als  bis  zur  Einwilligung  And  er  er 
(theilnehmender)  zu  Errichtung  des  letzteren,  bei  dem 
Widerstände  derselben  aber  in  diesen  (den  bürgerlichen) 
zu  treten,  und  so  lange  derselbe  währt,  allen  Effekt 
einer  rechtmässigen  Erwerbung  bei  sich  führt,  weil  dieser 
Ausgang  auf  Pflicht  gegründet  ist.*^^) 


§.  17. 

Deduktion  des  Bagriffs  der  ursprünglichen  Er- 
werbung. 

Wir  haben  den  Titel  der  Erwerbung  in  einer  ur- 
sprünglichen Gemeinschaft  des  Bodens,  mithin  unter 
Raumsbedingungen  eines  äusseren  Besitzes,  die  Er  wer- 


Vom  Sachenrecht.    §,  17.  77 

bungsart  aber  in  den  empirischen  Bedingungen  der 
Besitznehmung  (cqyprehensio)^  verbunden  mit  dem  Willen, 
den  äusseren  Gegenstand  als  den  seinigen  zu  haben, 
gefunden.  Nun  ist  noch  nöthig,  die  Erwerbung  selbst, 
d.  i.  das  äussere  Mein  und  Dein,  was  aus  beiden  ge- 
gebenen Stucken  folgt,  nämlich  den  intelligiblen  Besitz) 
{possessio  noumenon)  des  Gegenstandes,  nach  dem,  was 
sein  Begriff  enthält,  aus  den  Prinzipien  der  reinen  recht- 
lich-praktischen Vernunft  zu  entwickeln. 

Der  Rechtsbegriff  vom  äusseren  Mein  und 
Dein,  sofern  es  Substanz  ist,  kann,  was  das  Wort 
ausser  mir  betrifft,  nicht  einen  anderen  Ort,  als  wo 
ich  bin,  bedeuten ;  denn  er  ist  ein  Vernunftbegriff;  son- 
dern da  unter  diesen  nur  ein  reiner  Verstandesbegriff 
subsumirt  werden  kann,  bloss  etwas  von  mir  unter- 
schiedenes und  den  eines  nicht  empirischen  Besitzes 
(der  gleichsam  fortdauernden  Apprehension) ,  sondern 
nur  den  des  in  meiner  Gewalt-Habens  (die  Ver- 
knüpfung desselben  mit  mir  als  subjektive  Bedingung 
der  Möglichkeit  des  Gebrauchs)  des  äusseren  Gegen- 
standes, welcher  ein  reiuor  »ci.-^tandesbegriff  ist,  bedeuten. 
Nun  ist  die  Weglassun^,  o^ici  uüo  Aosehen  (Abstraktion) 
von  diesen  sinnlichen  Bedingungv^u  des  Besitzes,  als 
eines  Verhältnisses  der  Person  zu  Gegenständen,  die 
keine  Verbindlichkeit  haben,  nichts  Anderes,  als  das 
Verhältniss  einer  Person  zu  Personen,  die  alle  durch 
den  Willen  der  ersteren,  sofern  er  dem  Axiom  der 
äusseren  Freiheit,  dem  Postulat  des  Vermögens  und 
der  allgemeinen  Gesetzgebung  des  a  priori  als  ver- 
einigt gedachten  Willens  gemäss  ist,  in  Ansehung  des 
Gebrauchs  der  Sachen  zu  verbinden,  welches  also 
der  intelligibie  Besitz  derselben,  d.  i.  der  durchs  blosse 
Recht,  ist,  obgleich  der  Gegenstand  (die  Sache,  die  ich 
besitze)  ein  Sinnenobjekt  ist. 

Dass  die  erste  Bearbeitung,  Begrenzung,  oder 
überhaupt  Formgebun  g  eines  Bodens  keinen  Titel 
der  Erwerbung  desselben,  d.  i.  der  Besitz  des  Acci- 
dens  nicht  einen  Grund  des  rechtlichen  Besitzes  der 
Substanz  abgeben  könne,  sondern  vielmehr  umge- 
kehrt das  Mein  und  Dein  nach  der  Regel  {accessorium 
sequitur  suum  principale)  aus  dem  Eigenthum  der 
Substanz    gefolgert  werden   müsse,    und    dass   der. 


78  Rechtslehre.     I.  Theil.    2.  Hauptstück.    1.  Abschn. 

welcher  an  einen  Boden,  der  nicht  schon  vorher 
der  seine  war,  Fleiss  verwendet,  seine  Mühe  und 
Arbeit  gegen  den  ersteren  verloren  hat,  ist  für  sich 
selbst  so  klar,  dass  man  jene  so  alte  und  noch  weit 
und  breit  herrschende  Meinung  schwerlich  einer 
anderen  Ursache  zuschreiben  kann,  als  der  ingeheim 
obwaltenden  Täuschung,  Sachen  zu  personifiziren, 
und,  gleich  als  ob  Jemand  sie  sich  durch  an  sie 
verwandte  Arbeit  verbindlich  machen  könne,  keinem 
Anderen,  als  ihm  zu  Diensten  zu  stehen,  unmittel- 
bar gegen  sie  sich  ein  Recht  zu  denken;  denn 
wahrscheinlicher  Weise  würde  man  auch  nicht  so 
leichten  Fusses  über  die  natürliche  Frage  (von  der 
oben  schon  Erwähnung  geschehen)  weggeglitten 
sein:  „wie  ist  ein  Recht  in  einer  Sache  möglich?" 
Denn  das  Recht  gegen  einen  jeden  Besitzer  einer 
Sache  bedeutet  nur  die  Befugniss  der  besonderen 
Willkür  zum  Gebrauch  eines  Objekts,  sofern  sie  als 
im  synthetisch-allgemeinen  Willen  enthalten  und 
mit  dem  Gesetze  desselben  zusammenstimmend  ge- 
dacht werden  kann. 

Was  die  Körper  auf  einem  Boden  betrifft,  der 
schon  der  meinige  ist,  so  gehören  sie,  wenn  sie 
sonst  keines  Anderen  sind,  mir  zu,  ohne  dass  ich 
zu  diesem  Zweck  eines  besonderen  rechtlichen  Akts 
bedürfte  (nicht  facto,  sondern  lege)]  nämlich,  weil 
sie  als  der  Substanz  inhärirende  Accidenzen  be- 
trachtet werden  können  (jure  rei  meae),  wozu  auch 
alles  gehört,  was  mit  meiner  Sache  so  verbunden 
ist,  dass  ein  Anderer  sie  von  dem  Meinen  nicht 
trennen  kann,  ohne  dieses  selbst  zu  verändern  (z.  B. 
Vergoldung,  Mischung  eines  mir  zugehörigen  Stoffes 
mit  anderen  Materien,  Anspülung  oder  auch  Ver- 
änderung des  anstossenden  Strombettes  und  dadurch 
geschehende  Erweiterung  meines  Bodens  u.  s.  w.). 
Ob  aber  der  erwerbliche  Boden  sich  noch  weiter, 
als  das  Land,  nämlich  auch  auf  eine  Strecke  des 
Seegrundes  hinaus  (das  Recht  noch  an  meinen 
Ufern  zu  fischen,  oder  Bernstein  herauszubringen 
u.  dergl.)  sich  ausdehnen  lasse,  muss  nach  eben- 
denselben Grundsätzen  beurtheilt  werden.  So  weit 
ich   aus   meinem    Sitze    mechanisches    Vermögen 


Vom  Sachenrecht.    §.  17.  79 

habe,  meinen  Boden  gegen  den  Eingriff  Anderer 
zu  sichern  (z.  B.  so  weit  die  Kanonen  vom  Ufer 
abreichen),  gehört  er  zu  meinem  Besitz  und  das 
Meer  ist  bis  dahin  gesclilossen  (tncü^e  clausum). 
Da  aber  auf  dem  weiten  Meere  selbst  kein  Sitz 
möglich  ist,  so  kann  der  Besitz  auch  nicht  bis  da- 
hin ausgedehnt  werden  und  offene  See  ist  frei  {inare 
libermri).  Das  Stranden  aber,  es  sei  der  Menschen, 
oder  der  ihnen  zugehörigen  Sachen,  kann,  als  un- 
vorsätzlich, von  dem  Strandeigenthümer  nicht  zum 
Erwerbrecht  gezählt  werden;  weil  es  nicht  Läsion 
(ja  überhaupt  kein  Faktum)  ist,  und  die  Sache,  die 
auf  einen  Boden  gerathen  ist,  der  doch  irgend 
Einem  angehört,  nicht  als  res  nidlius  behandelt 
werden  kann.  Ein  Fluss  dagegen  kann,  so  weit 
der  Besitz  seines  Ufers  reicht,  so  gut  wie  ein  jeder 
Landboden,  unter  obbenannten  Einschränkungen 
ursprünglich  von  dem  erworben  werden,  der  im  Be- 
sitze beider  Ufer  ist. 


Der  äussere  Gegenstand,  welcher  der  Substanz 
nach  das  Seine  von  Jemandem  ist,  ist  dessen  Eigen- 
thum  {dominium),  welchem  alle  Rechte  in  dieser 
Sache  (wie  Accidenzen  der  Substanz)  inhäriren,  über 
welche  also  der  Eigenthümer  {dominus)  nach  Be- 
lieben verfügen  kann  {jus  disponendi  de  re  sica). 
Aber  hieraus  folgt  von  selbst,  dass  ein  solcher 
Gegenstand  nur  eine  körperliche  Sache  (gegen  die 
man  keine  Verbindlichkeit  hat)  sein  könne,  daher 
ein  Mensch  sein  eigener  Herr  {sui  juris)^  aber  nicht 
Eigenthümer  von  sich  selbst  {sid  dominus)^  (über 
sich  nach  Belieben  disponiren  zu  können)  geschweige 
denn  von  anderen  Menschen  sein  kann,  weil  er  der 
Menschheit  in  seiner  eigenen  Person  verantwortlich 
ist;  wiewohl  dieser  Funkt,  der  zum  Rechte  der 
Menschheit,  nicht  dem  der  Menschen  gehört,  hier 
nicht  seinen  eigentlichen  Platz  hat,  sondern  nur 
beiläufig  zum  besseren  Verständniss  des  kurz  vor- 
her Gesagten  angeführt  wird.  —  Es  kann  ferner 
zwei  volle  Eigenthümer  einer  und  derselben  Sache 


8Q  Rechtslehre.     I.  Theil     2.  Hauptstück.    2.  Abschn. 

geben,  ohne  ein  gemeinsames  Mein  und  Dein,  son- 
dern nur  als  gemeinsame  Besitzer  dessen,  was  nur 
Einem  als  das  Seine  zugehört,  wenn  von  den 
sogenannten  Miteigenthümern  {condomini)  einem  nur 
der  ganze  Besitz  ohne  Gebrauch,  dem  anderen  aber 
aller  Gebrauch  der  Sache  sammt  dem  Besitz  zu- 
kommt, jener  also  {dominus  directus)  diesen  {do- 
minus utilis)  nur  auf  die  Bedingung  einer  beharr- 
lichen Leistung  restringirt,  ohne  dabei  seinen  Ge- 
brauch zu  limitiren.'^O) 


Zweiter  Abschnitt. 

Yom  persönliclieii  Recht. 

§•  18. 

Der  Besitz  der  Willkür  eines  Anderen,  als  Vermögen,, 
sie  durch  die  meine  nach  Freiheitsgesetzen  zu  einer  ge- 
wissen That  zu  bestimmen,  (das  äussere  Mein  und  Dein 
in  Ansehung  der  Causalität  eines  Anderen)  ist  ein  Kecht 
(dergleichen  ich  mehrere  gegen  ebendieselbe  Person  oder 
gegen  Andere  haben  kann);  der  Inbegriff  (das  System) 
der  Gesetze  aber,  nach  welchen  ich  in  diesem  Besitz 
sein  kann,  das  persönliche  Recht,  welches  nur  ein  ein- 
ziges ist. 

Die  Erwerbung  eines  persönlichen  Rechts  kann  nie- 
mals ursprünglich  und  eigenmächtig  sein  (denn  eine  solche 
würde  nicht  dem  Prinzip  der  Einstimmung  der  Freiheit 
meiner  Willkür  mit  der  Freiheit  von  Jedermann  gemäss, 
mithin  unrecht  sein).  Ebenso  kann  ich  auch  nicht  durch 
rechtswidrige  That  eines  Anderen  {facto  injusto 
aiterius)  erwerben;  denn  wenn  diese  Läsion  mir  auch 
selbst  widerfahren  wäre,  und  ich  von  dem  Anderen  mit 
Recht  Genugthuung  fordern  kann,  so  wird  dadurch  doch 
nur  das  Meine  unvermindert  erhalten,  aber  nichts  über 
das,  was  ich  sclion  vorher  hatte,  erworben. 

Erwerbung  durch  die  That  eines  Anderen,  zu  der 
ich  diesen  nach  Rechtsgesetzen  bestimme,  ist  also  jeder- 


Vom  persönlichen  Recht.    §.  19.  gl 

zeit  von  dem  Seinen  des  Anderen  abgeleitet,  und  diese 
Ableitung,  als  rechtlicher  Akt,  kann  nicht  durch  diesen 
als  einen  negativen  Akt,  nämlich  der  Verlassung, 
oder  einer  auf  das  Seine  geschehenen  Verzichtthuung 
Oper  derelictio^ien  aut  renunciationem)  geschehen,  denn 
dadurch  wird  nur  das  Seine  Eines  oder  des  Anderen 
aufgehoben,  aber  nichts  erworben;  —  sondern  allein 
durch  Uebertragung  (translatid),  welche  nur  durch 
einen  gemeinschaftlichen  Willen  möglich  ist,  vermittelst 
dessen  der  Gegenstand  immer  in  die  Gewalt  des  Einen 
oder  des  Anderen  kommt,  alsdann  Einer  seinem  An- 
theile  an  dieser  Gemeinschaft  entsagt,  und  so  das  Ob- 
jekt durch  Annahme  desselben  (mithin  einen  positiven 
Akt  der  Willkür)  das  Seine  wird.  —  Die  Uebertragung 
seines  Eigenthums  an  einen  Anderen  ist  die  Ver- 
äusserung.  Der  Akt  der  vereinigten  Willkür  zweier 
Personen,  wodurch  überhaupt  das  Seine  des  Einen  auf 
den  Anderen  übergeht,  ist  der  Vertrag. -i*) 

§.  19. 

In  jedem  Vertrage  sind  zwei  vorbereitende,  und 
zwei  konstituirende  rechtliche  Akte  der  WillkUr;  die 
beiden  ersteren  (die  des  Traktiren s)  sind  das  Ange- 
bot (oZ>/aiioj  und  die  Billigung  {approhatio)  desselben: 
die  beiden  andern  (nämlich  des  Abschliessens)  sind 
das  Versprechen  {promissum)  und  die  A  n  n  e  li  m  u  n  g 
(acceptatio).  —  Denn  ein  Anerbieten  kann  nicht  eher  ein 
Versprechen  heissen,  als  wenn  ich  vorher  urtheile,  das 
Angebotene  {ohlatuni)  sei  etwas,  was  dem  Promissar 
angenehm  sein  könne;  welches  durch  die  zwei  ersten 
Deklarationen  angezeigt,  durch  diese  allein  aber  noch 
nichts  erworben  wird. 

Aber  weder  durch  den  besonderen  Willen  des 
Promittenten,  noch  den  des  Promissars  (als  Acceptanten), 
geht  das  Seine  des  Ersteren  zu  dem  Letzteren  über, 
sondern  nur  durch  den  vereinigten  Willen  Beider^ 
mithin  sofern  Beider  Wille  zugleich  deklarirt  wird.  Nun 
ist  dies  aber  durch  empirische  Aktus  der  Deklaration,  die 
einander  nothwendig  in  der  Zeit  folgen  müssen  und 
niemals  zugleich  sind,  unmöglich.  Denn  wenn  ich  ver- 
sprochen habe  und  der  Andere    nun  acceptiren   will,  so 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  O 


32  Kechtslehre.    1.  Theil.     2.  Hauptstück.    2.  Abschn. 

kann  ich  während  der  Zwischenzeit  (so  kurz  sie  auch 
sein  mag)  es  mich  gereuen  lassen,  weil  ich  vor  der  Accepta- 
tion  noch  frei  bin;  so  wie  andererseits  der  Acceptant, 
eben  darum,  an  seine  auf  das  Versprechen  folgende 
Grcgenerklärung  auch  sich  nicht  für  gebunden  halten  darf. 
—  Die  äussern  Förmlichkeiten  {solennia)  bei  Schliessung 
des  Vertrags  (der  Handschlag,  oder  die  Zerbrechung 
eines  von  beiden  Personen  angefassten  Strohhalms  \stipuld\) 
und  alle  hin  und  her  geschehene  Bestätigungen  seiner 
vorherigen  Erklärung  beweisen  vielmehr  die  Verlegen- 
heit der  Paciscenten,  wie  und  auf  welche  Art  sie  die 
immer  nur  aufeinander  folgenden  Erklärungen  als  in 
einem  Augenblicke  zugleich  existirend  vorstellig  machen 
wollen,  was  ihnen  doch  nicht  gelingt;  weil  es  immer  nur 
in  der  Zeit  einander  folgende  Aktus  sind,  wo,  wenn  der 
eine  Akt  ist,  der  andere  entweder  noch  nicht  oder 
nicht  mehr  ist. 

Aber  die  transscendentale  Deduction  des  Begriffs  der 
Erwerbung  durch  Vertrag  kann  allein  alle  diese  Schwierig- 
keiten heben.  In  einem  rechtlichen  äusseren  Verhält- 
nisse wird  meine  Besitznehmung  der  Willkür  eines  An- 
deren (und  so  wechselseitig)  als  Bestimmungsgrund  dessel- 
ben zu  einer  That  zwar  erst  empirisch  durch  Erklärung 
und  Gegenerklärung  der  Willkür  eines  Jeden  von  Beiden 
in  der  Zeit,  als  sinnlicher  Bedingung  der  Apprehension, 
gedacht,  wo  beide  rechtliche  Akte  immer  nur  auf  ein- 
ander folgen;  weil  jenes  Verhältniss  (als  ein  rechtliches) 
rein  intellektuell  ist,  durch  den  Willen  als  ein  gesetz- 
gebendes Vernunftvermögen  jener  Besitz  als  ein  intelli- 
gibler  (j)ossessio  iiournenon)  nach  Freiheitsbegriffen  mit 
Abstraktion  von  jenen  empirischen  Bedingungen  als  das 
Mein  oder  Dein  vorgestellt;  wo  beide  Akte,  des  Ver- 
sprechens und  der  Annehmung,  nicht  als  aufeinander 
folgend,  sondern  (gleich  als  pactum  re  initum)  aus  einem 
einzigen  gemeinsamen  Willen  hervorgehend,  welches 
durch  das  Wort  zugleich  ausgedrückt  wird,  und  der 
Gegenstand  {promissum)  durch  Weglassung  der  empiri- 
schen Bedingungen  nach  dem  Gesetz  der  reinen  praktischen 
Vernunft  als  erworben  vorgestellt  wird. 

Dass  dieses  die  wahre  und  einzig  mögliche  Deduk- 
tion des  Begriffs  der  Erwerbung  durch  Vertrag  sei, 
wird  durch  die  mühselige  und  doch  immer  vergeb- 


Vom  persönlichen  Recht,    §.  20.  33 

liehe  Bestrebung  der  Rechtsforscher  (z.  B.  Moses 
Mendelssohn's  in  seinem  Jerusalem)  zur  Beweis- 
führung jener  Möglichkeit  hinreichend  bestätigt.  — 
Die  Frage  war:  warum  soll  ich  mein  Versprechen 
halten?  Denn  dass  ich  es  soll,  begreift  ein  Je- 
der von  selbst.  Es  ist  aber  schlechterdings  unmög- 
lich, von  diesem  kategorischen  Imperativ  noch  einen 
Beweis  zu  fuhren ;  eben  so,  wie  es  für  den  Geometer 
unmöglich  ist,  durch  Vernunftschlüsse  zu  beweisen^ 
dass  i>h,  um  ein  Dreieck  zu  machen,  drei  Linien 
nehmen  müsse  (ein  analytischer  SatzJ,  deren  zwei 
aber  zusammengenommen  grösser  sein  müssen,  als 
die  dritte  (ein  synthetischer;  beide  aber  a  jirioi'i). 
Es  ist  ein  Postulat  der  reinen  (von  allen  sinnlichen 
Bedingungen  des  Raumes  und  der  Zeit,  was  den 
Rechtsbegriff  betrifft,  abstrahirenden)  Vernunft,  und 
die  Lehre  der  Möglichkeit  der  Abstraktion  von  jenen 
Bedingungen,  ohne  dass  dadurch  der  Besitz  desselben 
aufgehoben  wird,  ist  selbst  die  Deduktion  des  Be- 
griffs der  Erwerbung  durch  Vertrag;  so  wie  es  in 
dem  vorigen  Titel  die  Lehre  von  der  Erwerbung 
durch  Bemächtigung  der  äusseren  Sache  war.  42) 

§.  20. 

Was  ist  aber  das  Aeussere,  das  ich  durch  den  Ver- 
trag erwerbe?  Da  es  nur  die  Kausalität  der  Willkür 
des  Anderen  in  Ansehung  einer  mir  versprochenen  Leistung 
ist,  so  erwerbe  ich  dadurch  unmittelbar  nicht  eine  äussere 
Sache,  sondern  eine  That  desselben,  dadurch  jene  Sache 
in  meine  Gewalt  gebracht  wird,  damit  ich  sie  zu  der 
meinen  mache.  —  Durch  den  Vertrag  also  erwerbe  ich 
das  Versprechen  eines  Anderen  (nicht  das  Versprochene), 
und  doch  kommt  etwas  zu  meiner  äusseren  Habe  hin- 
zu; ich  bin  vermögender  (/oc?/pMor)  geworden,  durch 
Erwerbung  einer  aktiven  Obligation  auf  die  Freiheit  und 
das  Vermögen  des  Anderen.  —  Dieses  mein  Recht  aber 
ist  nur  ein  persönliches,  nämlich  gegen  eine  be- 
stimmte physische  Person  und  zwar  auf  ihre  Kausa- 
lität (ihre  Willkür)  zu  wirken,  mir  etwas  zu  leisten, 
nicht  ein  Sachenrecht,  gegen  diejenige  moralische 
Person ,  welche  nichts  Anderes,  »la  die  Idee  der  a  pricyri 

6* 


84  Rechtslehre.    I.  Theil.    2.  Hauptstück.    2.  Abschn. 

vereinigten  Willkür  Aller  ist,  und  wodurch  ich 
allein  ein  Recht  gegen  j  eden  Besitzer  derselben 
erwerben  kann;  als  worin  alles  Recht  in  einer  Sache 
besteht. 

Die  Uebertragung  des  Meinen  durch  Vertrag 
geschieht  nach  dem  G-esetz  der  Stetigkeit  {lex  conti- 
nui),  d.  i.  der  Besitz  des  Gegenstandes  ist  während 
diesem  Akt  keinen  Augenblick  unterbrochen,  denn 
sonst  würde  ich  in  diesem  Zustande  einen  Gegen- 
stand als  etwas,  das  keinen  Besitzer  hat  {i^es  vacua), 
folglich  ursprünglich  erwerben;  welches  dem  Begriff 
des  Vertrages  widerspricht.  —  Diese  Stetigkeit  aber 
bringt  es  mit  sich,  dass  nicht  Eines  von  Beiden 
promittentis  et  acceptantis)  besonderer,  sondern  ihr 
vereinigter  Wille  derjenige  ist,  welcher  das  Meine 
auf  den  Anderen  überträgt;  also  nicht  auf  die 
Art,  dass  der  Versprechende  zuerst  seinen  Besitz 
zum  Vortheil  des  Anderen  verlässt  {derelinquit), 
oder  seinem  Recht  entsagt  {renunciat)  und  der 
Andere  sogleich  darin  eintritt,  oder  umgekehrt.  Die 
Ti'anslation  ist  also  ein  Akt,  in  welchem  der  Gegen- 
stand einen  Augenblick  Beiden  zusammen  angehört^ 
so  wie  in  der  parabolischen  Bahn  eines  geworfenen 
Steins  dieser  im  Gipfel  derselben  einen  Augenblick 
als  im  Steigen  und  Fallen  zugleich  begriffen  be- 
trachtet werden  kann,  und  so  allererst  von  der 
steigenden  Bewegung  zum  Fallen  übergeht.-*^) 

§.  21. 

Eine  Sache  wird  in  einem  Vertrage  nicht  durch  An- 
nehmung (acceptatid)  des  Versprechens,  sondern  nur 
durch  Uebergabe  {traditio)  des  Versprochenen  er- 
worben. Denn  alles  Versprechen  geht  auf  eine  Leistun  g, 
und  wenn  das  Versprochene  eine  Sache  ist,  kann  jene 
nicht  anders  errichtet  werden,  als  durch  einen  Akt,  w^o- 
durch  der  Promissar  vom  Promittenten  in  den  Besitz 
derselben  gesetzt  wird;  d.  i.  durch  die  Uebergabe.  Vor 
dieser  also  und  dem  Empfang  ist  die  Leistung  noch  nicht 
geschehen;  die  Sache  ist  von  dem  Einen  zu  dem  Anderen 
noch  nicht  übergegangen,  folglich  von  diesem  nicht  er- 
worben worden,  mithin    das  Recht  aus  einem  Vertrage 


Vom  persönlichen  Recht.    §.  21.  g5 

nur  ein  persönliches,  und  wird  nur  durch  die  Tradition 

ein  dingliches  Recht. 

Der  Vertrag,  auf  den  unmittelbar  die  Uebergabe 
folgt  {pactum  re  initum),  schliesst  alle  Zwischenzeit 
zwischen  der  Schliessung  und  Vollziehung  aus,  und 
bedarf  keines  besonderen  noch  zu  erwartenden  Akts, 
wodurch  das  Seine  des  Einen  auf  den  Anderen  über- 
tragen wird.  Aber  wenn  zwischen  Beiden  noch  eine 
(bestimmte  oder  unbestimmte)  Zeit  zur  Uebergabe 
bewilligt  ist,  fragt  sich:  ob  die  Sache  schon  vor 
dieser  durch  den  Vertrag  das  Seine  des  Acceptanten 
geworden,  und  das  Recht  des  Letzteren  ein  Recht 
in  der  Sache  sei,  oder  ob  noch  ein  besonderer  Ver- 
trag, der  allein  die  Uebergabe  betrifft,  dazu  kommen 
müsse,  mithin  das  Recht  durch  die  blosse  Accep- 
tation  nur  ein  persönliches  sei,  und  allererst  durch 
die  Uebergabe  ein  Recht  in  der  Sache  werde?  — 
Dass  es  sich  hiermit  wirklich  so,  wie  das  Letztere 
besagt,  verhalte,  erhellt  aus  Nachfolgendem: 

Wenn  ich  einen  Vertrag  über  eine  Sache,  z.  B. 
über  ein  Pferd,  das  ich  erwerben  will,  schliesse,  und 
nehme  es  zugleich  mit  in  meinen  Stall,  oder  sonst 
in  meinen  physischen  Besitz,  so  ist  es  mein  (vi  pacii 
re  initi),  und  mein  Recht  ist  ein  Recht  in  der 
Sache;  lasse  ich  es  aber  in  den  Händen  des  Ver- 
käufers, ohne  mit  ihm  darüber  besonders  auszu- 
machen, in  wessen  physischem  Besitz  (Inhabung) 
diese  Sache  vor  meiner  Besitznehmung  {appreliensio), 
mithin  vor  dem  Wechsel  des  Besitzes  sein  solle,  so 
ist  dieses  Pferd  noch  nicht  mein,  und  mein  Recht, 
was  ich  erwerbe,  ist  nur  ein  Recht  gegen  eine  be- 
stimmte Person,  nämlich  den  Verkäufer  von  ihm,  in 
den  Besitz  gesetzt  zu  werden  {poscendi  tra- 
ditionem),  als  subjektive  Bedingung  der  Möglichkeit 
alles  beliebigen  Gebrauchs  desselben,  d.  i.  mein 
Recht  ist  nur  ein  persönliches  Recht,  von  jenem  die 
Leistung  des  Versprechens  (jiraestatio),  mich  in 
den  Besitz  der  Sache  zu  setzen,  zu  fordern.  Nun 
kann  ich,  wenn  der  Vertrag  nicht  zugleich  die 
Uebergabe  (als  pactum  re  mitiim)  enthält,  mithin 
eine  Zeit  zwischen  dem  Abschluss  desselben  und  der 
Besitznehmung   des  Erworbenen  verläuft,  in  dieser 


Rechtslehre.    l.  Theil.    2.  Hauptstück.    3.  Abschn. 

Zeit  nicht  aaders  zum  Besitz  gelangen,  als  dadurch^ 
dass  ich  einen  besonderen  rechtlichen,  nämlich 
einen  Besitzakt  (actum  possessormm)  ausübe, 
der  einen  besonderen  Vertrag  ausmacht,  und  dieser 
ist,  dass  ich  sage :  ich  werde  die  Sache  (das  Pferd) 
abholen  lassen,  wozu  der  Verkäufer  einwilligt.  Denn 
dass  dieser  eine  Sache  zum  Gebrauche  eines  An- 
deren auf  eigene  Gefahr  in  seine  Gewahrsame 
nehmen  werde,  versteht  sich  nicht  von  selbst,  son- 
dern dazu  gehört  ein  besonderer  Vertrag,  nach 
welchem  der  Veräusserer  seiner  Sache  innerhalb 
der  bestimmten  Zeit  noch  immer  Eigenthümer 
bleibt  (und  alle  Gefahr,  die  die  Sache  treffen  möchte, 
tragen  muss),  der  Erwerbende  aber  nur  dann,  wann 
er  über  diese  Zeit  zögert,  von  dem  Verkäufer  dafür 
angesehen  werden  kann,  als  sei  sie  ihm  überliefert. 
Vor  diesem  Besitzakt  ist  also  alles  durch  den  Ver- 
trag Erworbene  nur  ein  persönliches  Recht,  und 
der  Promissar  kann  eine  äussere  Sache  nur  durch 
Tradition  erwerben.44) 


Dritter  Abschnitt. 
Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Eeciit. 

§.  22. 

Dieses  Recht  ist  das  des  Besitzes  eines  äusseren 
Gegenstandes  als  einer  Sache  und  des  Gebrauchs 
desselben  als  einer  Person.  —  Das  Mein  und  Dein 
nach  diesem  Recht  ist  das  häusliche  und  das  Ver- 
hältniss  in  diesem  Zustande  ist  das  der  Gemeinschaft 
freier  Wesen,  die  durch  den  wechselseitigen  Einfluss 
(der  Person  des  einen  auf  das  andere)  nach  dem  Prin- 
zip der  äussern  Freiheit  (Kausalität)  eine  Geseilschaft 
von  Gliedern  eines  Ganzen  (in  Gemeinschaft  stehen- 
der Personen)  ausmachen,  welches  das  Hauswesen 
heisst.  —  Die  Erwerbungsart  dieses  Zustandes  und  in 
demselben  geschiebt    weder    durch    eigenmächtige  That 


Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht.  §.  23.  24.  87 

{facto),  noch  durch  blossen  Vertrag  (pacto),  sondern 
durchs  Gesetz  {lege),  welches,  weil  es  kein  Recht t) 
gegen  eine  Person,  sondern  auch  ein  Besitz  derselben 
zugleich  ist,  ein  über  alles  Sachen-  und  persönliche  hin- 
aus liegendes  Recht,  nämlich  das  Recht  der  Menschheit 
in  unserer  eigenen  Person  sein  muss,  welches  ein  natür- 
liches Erlaubnissgesetz  zur  Folge  hat,  durch  dessen 
Gunst  uns  eine  solche  Erwerbung  möglich  ist. 

§.  23. 

Die  Erwerbung  nach  diesem  Gesetz  ist  dem  Gegen- 
stande nach  dreierlei:  der  Mann  erwirbt  ein  Weib,  das 
Paar  erwirbt  Kinder,  und  die  Familie  Gesinde.  — 
Alles  dieses  Erwerbliche  ist  zugleich  unveräusserlich 
und  das  Recht  des  Besitzers  dieser  Gegenstände  das 
aller  persönlichste."*^) 


Des  Rechts  der  häiäsliclieii  Gesellschaft 

erster  Titel: 

Das  Eherecht. 

§•  24. 

Geschlechtsgemeinschaft  (commet'ciam  sexuale) 
ist  der  wechselseitige  Gebrauch,  den  ein  Mensch  von 
eines  anderen  Geschlechtsorganen  und  Vermögen  macht 
(usus  membroiiim  et  facultatum  sexualluni  alterius)  und 
entweder  ein  natürlicher  (wodurch  seines  Gleichen 
erzeugt  werden  kann)  oder  unnatürlicher  Gebrauch, 
und  dieser  entweder  an  einer  Person  ebendesselben  Ge- 
schlechts, oder  einem  Thiere  von  einer  anderen,  als  der 
Menschen-Gattung;  welche  Uebertretungen  der  Gesetze, 
unnatürliche  Laster    {crimina   carnis    contra    naturam)y 


t)  Erste  Ausgabe:  „weil   es  kein  Recht  in  einer  Sache, 
auch  nicht  ein  blosses  Recht  gegen  eine  Person." 


3g  Rechtslehre.    1.  Theil.    2.  Hauptstück.    3.  Abschn. 

die  auch  unnennbar  heissen,  als  Läsion  der  Menschheit 
in  unserer  eigenen  Person,  durch  gar  keine  Einschrän- 
kungen und  Ausnahmen  wider  die  gänzliche  Verwerfung 
gerettet  werden  können. 

Die  natürliche  Geschlechtsgemeinschaft  ist  nun  ent- 
weder die  nach  der  blossen  thierischen  Natur  {vaga 
libidoj  venus  vulgivaga,  fornicatio)  oder  nach  dem  Ge- 
setz. —  Die  letztere  ist  die  Ehe  {matrimomum)^  d.  i. 
die  Verbindung  zweier  Personen  verschiedenen  Geschlechts 
zum  lebenswierigen  wechselseitigen  Besitz  ihrer  Ge- 
schlechtseigenschaften. —  Der  Zweck,  Kinder  zu  erzeugen 
und  zu  erziehen,  mag  immer  ein  Zweck  der  Natur  sein, 
zu  welchem  sie  die  Neigung  der  Geschlechter  gegenein- 
ander einpflanzte;  aber  dass  der  Mensch,  der  sich  ver- 
ehelicht, diesen  Zweck  sich  vorsetzen  müsse,  wird  zur 
Rechtmässigkeit  dieser  seiner  Verbindung  nicht  erfordert; 
denn  sonst  würde,  wenn  das  Kinderzeugen  aufhört,  die 
Ehe  sich  zugleich  von  selbst  auflösen. 

Es  ist  nämlich,  auch  unter  Voraussetzung  der  Lust 
zum  wechselseitigen  Gebrauch  ihrer  Geschlechtseigen- 
schaften,  der  Ehevertrag  kein  beliebiger,  sondern  durchs 
Gesetz  der  Menschheit  nothwendiger  Vertrag,  d.  i.  wenn 
Mann  und  Weib  einander  ihren  Geschlechtseigenschaften 
nach  wechselseitig  gemessen  wollen,  so  müssen  sie 
sich  nothwendig  verehelichen,  und  dieses  ist  nach  Rechts- 
gesetzen der  reinen  Vernunft  nothwendig. 

§.  25. 

Denn  der  natürliche  Gebrauch,  den  ein  Geschlecht 
von  den  Geschlechtsorganen  des  anderen  macht,  ist  ein 
Genuss,  zu  dem  sich  ein  Theil  dem  anderen  hingiebt. 
In  diesem  Akt  macht  sich  ein  Mensch  selbst  zur  Sache, 
welches  dem  Rechte  der  Menschheit  an  seiner  eigenen 
Person  widerstreitet.  Nur  unter  der  einzigen  Bedingung 
ist  dieses  möglich,  dass,  indem  die  eine  Person  von  der 
anderen,  gleich  als  Sache,  erworben  wird,  diese 
gegenseitig  wiederum  jene  enverbe;  denn  so  gewinnt 
sie  wiederum  sich  selbst  und  stellt  ihre  Persönlichkeit 
wieder  her.  Es  ist  aber  der  Erwerb  eines  Gliedmasses 
am  Menschen  zugleich  Erwerbung  der  ganzen  Person,  — 
weil  diese  eine  absolute  Einheit  ist;  —  folglich    ist  die 


Ton  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht.    §.  26.  39 

Hingebung  und  Annehmung  eines  Geschlechts  zum  Ge- 
nuss  des  andern  nicht  allein  unter  der  Bedingung  der 
Ehe  zulässig,  sondern  auch  allein  unter  derselben  mög- 
lich. Dass  aber  dieses  persönliche  Recht  es  doch  zu- 
gleich auf  dingliche  Art  sei,  gründet  sich  darauf, 
weil,  wenn  eines  der  Eheleute  sich  verlaufen,  oder  sich 
in  eines  Anderen  Besitz  gegeben  hat,  das  andere  es 
jederzeit  und  unweigerlich,  gleich  als  eine  Sache,  in  seine 
Gewalt  zurückzubringen  berechtigt  ist.^^) 

§.  26. 

Aus  denselben  Gründen  ist  das  Verhältniss  der  Ver- 
ehelichten ein  Verhältniss  der  Gleichheit  des  Besitzes, 
sowohl  der  Personen,  die  einander  wechselseitig  besitzen 
(folglich  nur  in  Monogamie,  denn  in  einer  Polygamie 
gewinnt  die  Person,  die  sich  weggiebt,  nur  einen  Theil 
desjenigen,  dem  sie  ganz  anheim  fällt,  und  macht  sich 
also  zur  blossen  Sache),  als  auch  der  Glücksgüter,  wobei 
sie  doch  die  Befugniss  haben,  sich,  obgleich  nur  durch 
einen  besonderen  Vertrag,  des  Gebrauchs  eines  Theils 
derselben  zu  begeben. 

Dass  der  Konkubinat  keines  zu  Recht  bestän- 
digen Kontrakts  fähig  sei,  so  wenig  als  die  Ver- 
dingung einer  Person  zum  einmaligen  Genuss  {pac- 
tum fornicationis),  folgt  aus  dem  obigen  Grunde. 
Denn  was  den  letzteren  Vertrag  betrifft,  so  wird 
Jedermann  gestehen,  dass  die  Person,  welche  ihn 
geschlossen  hat,  zur  Erfüllung  ihres  Versprechens 
rechtlich  nicht  angehalten  werden  könnte,  wenn  es 
ihr  gereuete;  und  so  fällt  auch  der  erstere,  nämlich 
der  des  Konkubinats  (als  pactum  turpe)  weg,  weil 
dieser  ein  Kontrakt  der  Verdingung  (locatio- 
concluctio)  sein  würde,  und  zwar  eines  Gliedmaasses 
zum  Gebrauch  eines  Anderen,  mithin  wegen  der 
unzertrennlichen  Einheit  der  Glieder  an  einer  Per- 
son diese  sich  selbst  als  Sache  der  Willkür  des 
Anderen  hingeben  würde;  daher  jeder  Theil  den 
eingegangenen  Vertrag  mit  dem  anderen  aufheben 
kann,  sobald  es  ihm  beliebt,  ohne  dass  der  andere 
über  Läsion  seines  Rechts  gegründete  Beschwerde 
führen  kann.  —  Ebendasselbe    gilt    auch    von    der 


90   Rechtslehre.    I.  Theil.    2.  Hauptstück.    3.  Abschn. 

Ehe  an  der  linken  Hand,  um  die  Ungleichheit  des 
Standes  beider  Theile  zur  grösseren  Herrschaft  des 
einen  Theils  über  den  anderen  zu  benutzen;  denn 
in  der  That  ist  sie  nach  dem  blossen  Naturrecht 
vom  Konkubinat  nicht  unterschieden,  und  keine 
wahre  Ehe.  —  Wenn  daher  die  Frage  ist:  ob  es 
auch  der  Gleichheit  der  Verehelichten  als  solcher 
widerstreite,  wenn  das  Gesetz  von  dem  Manne  in 
Verhältniss  auf  das  Weib  sagt:  er  soll  dein  Herr 
(er  der  befehlende,  sie  der  gehorchende  Theil)  sein; 
so  kann  dieses  nicht  als  der  natürlichen  Gleichheit 
eines  Menschenpaares  widerstreitend  angesehen  wer- 
den, wenn  dieser  Herrschaft  nur  die  natürliclie 
Ueberlegenheit  des  Vermögens  des  Mannes  über  das 
weibliche,  in  Bewirkung  des  gemeinschaftlichen  In- 
teresse des  Hauswesens  und  des  darauf  gegründeten 
Rechts  zum  Befehl  zum  Grunde  liegt,  welches  daher 
selbst  aus  der  Pflicht  der  Einheit  und  Gleichheit 
in  Ansehung  des  Zwecks  abgeleitet  werden  kann.  4'<) 

§.  27. 

Der  Ehe-Vertrag  wird  nur  durch  eheliche  Bei- 
wohnung {copula  carnalis)  vollzogen.  Ein  Vertrag 
zweier  Personen  beiderlei  Geschlechts,  mit  dem  geheimen 
Einverständniss  entweder,  sich  der  fleischlichen  Gemein- 
schaft zu  enthalten,  oder  mit  dem  Bewusstsein  eines  oder 
beider  Theile,  dazu  unvermögend  zu  sein,  ist  ein  simu- 
lirter  Vertrag  und  stiftet  keine  Ehe;  kann  auch  durch 
jeden  von  beiden  nach  Belieben  aufgelöst  werden.  Tritt 
aber  das  Unvermögen  nur  nachher  ein,  so  kann  jenes 
Recht  durch  diesen  unverschuldeten  Zufall  nichts  ein- 
büssen. 

Die  Erwerbung  einer  Gattin  oder  eines  Gatten 
geschieht  also  nicht  facto  (durch  die  Beiwolmung)  ohne 
vorhergehenden  Vertrag,  auch  nicht  pacto  (durch  den 
blossen  ehelichen  Vertrag,  ohne  nachfolgende  Beiwohnung), 
sondern  nur  lege:  d.  i.  als  rechtliche  Folge  aus  der  Ver- 
bindlichkeit, in  eine  Geschlechtsverbindung  nicht  anders, 
als  vermittelst  des  wechselseitigen  Besitzes  der  Per- 
sonen,   als    welcher   nur    durch  den  gleichfalls  Wechsel- 


Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht.     §.  28.  9^ 

seitigen    Gebrauch    ihrer  Geschlechtseigenthümlichkeiten 
seine  Wirklichkeit  erhält,  zu  treten. 


Des  Rechts  der  häuslichen  Gesellschaft 

zweiter  Titel. 

Das  Elternrecht. 

§.  28. 

Gleichwie  aus  der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich 
selbst,  d.  i.  gegen  die  Menschheit  in  seiner  eigenen  Per- 
son ein  Recht  (jus  personale)  beider  Geschlechter  ent- 
sprang, sich,  als  Personen,  wechselseitig  einander,  auf 
dingliche  Art,  durch  Ehe  zu  erwerben;  so  folgt,  aus 
der  Zeugung  in  dieser  Gemeinschaft,  eine  Pflicht  der 
Erhaltung  und  Versorgung  in  Absicht  auf  ihr  Erzeug- 
niss;  d.  i.  die  Kinder,  als  Personen,  haben  hiermit  zu- 
gleich ein  ursprünglich-angebornes  (nicht  angeerbtes) 
Recht  auf  ihre  Versorgung  durch  die  Eltern,  bis  sie  ver- 
mögend sind,  sich  selbst  zu  erhalten;  und  zwar  durchs 
Gesetz  {lege)  unmittelbar,  d.  i.  ohne  dass  ein  besonderer 
rechtlicher  Akt  dazu  erforderlich  ist. 

Denn  da  das  Erzeugte  eine  Person  ist,  und  es  un- 
möglich ist,  sich  von  der  Erzeugung  eines  mit  Freiheit 
begabten  Wesens  durch  eine  physische  Operation  einen 
Begriif  zu  machen*);    so    ist    es  eine  in  praktischer 


*)  Selbst  nicht,  wie  es  möglich  ist,  dass  Gott  freie  We- 
sen erschaffe;  denn  da  wären,  wie  es  scheint,  alle  künf- 
tige Handlungen  derselben,  durch  jenen  ersten  Akt  vorher- 
bestimmt, in  der  Kette  der  Naturnothwendigkeit  enthalten, 
mithin  nicht  frei.  Dass  sie  aber  (wir  Menschen)  doch  frei 
bind,  beweiset  der  kategorische  Imperativ  in  moralisch- 
praktischer Absicht,  wie  durch  einen  Machtspruch  der  Ver- 
nunft, ohne  dass  diese  doch  die  Möglichkeit  dieses  Ver- 
hältnisses einer  Ursache  zur  Wirkung  in  theoretischer  Hin- 
sicht begreiflich  machen  kann,  weil  beide  übersinnlich  sind. 
—  Was  man  ihr  hierbei  allein  zumuthen  kann,  wäre  bloss: 
dass  sie  beweise,  es  sei  in  dem  Begriffe  von  einer  Schöpfung 


92  Rechtslehre.    I.  Theil.    2.  Hauptstück.    3.  Abschn. 

Hinsicht  ganz  richtige  und  auch  noth wendige  Idee, 
den  Akt  der  Zeugung  als  einen  solchen  anzusehen,  wo- 
durch wir  eine  Person  ohne  ihre  Einwilligung  auf  die 
Welt  gesetzt,  und  eigenmächtig  in  sie  herübergebracht 
haben;  für  welche  That  auf  den  Eltern  nun  auch  eine 
Verbindlichkeit  haftet,  sie,  so  viel  in  ihren  Kräften  ist, 
mit  diesem  ihrem  Zustande  zufrieden  zu  machen.  — 
Sie  können  ihr  Kind  nicht  gleichsam  als  ihr  Gemächsel 
(denn  ein  solches  kann  kein  mit  Freiheit  begabtes  Wesen 
sein)  und  als  ihr  Eigenthum  zerstören  oder  es  auch 
nur  dem  Zufall  überlassen,  weil  sie  an  ihm  nicht  bloss 
ein  Weltwesen,  sondern  auch  einen  Weltbürger  in  einen 
Zustand  herüberzogen,  der  ihnen  nun  auch  nach  Rechts- 
begriflfen  nicht  gleichgültig  sein  kann. 

§.  29. 

Aus  dieser  Pflicht  entspringt  auch  nothwendig  das 
Recht  der  Eltern  zur  Handhabung  und  Bildung  des 
Kindes^  so  lange  es  des  eigenen  Gebrauchs  seiner  Grlied- 
massen,  imgleichen  des  Verstandesgebrauchs,  noch  nicht 
mächtig  ist,  ausser  der  Ernährung  und  Pflege  es  zu  er- 


freier Wesen  kein  Widerspruch;  und  dieses  kann  dadurch 
gar  wohl  geschehen,  das  gezeigt  wird:  der  Widerspruch 
ereigne  sich  nur  dann,  wenn  mit  der  Kategorie  der  Kau- 
salität zugleich  die  Zeitbedingung,  die  im  Verhältniss 
zu  Sinnenobjekten  nicht  vermieden  werden  kann  (dass  näm- 
lich der  Grund  einer  Wirkung  vor  dieser  vorhergehe;,  auch 
in  das  Verhältniss  des  Uebersinnlichen  zu  einander  hinüber- 
gezogen wird  (welches  auch  wirklich,  wenn  jener  Kausal- 
begriff in  theoretischer  Absicht  objektive  Realität  bekommen 
soll,  geschehen  müsste};  er  —  der  Widerspruch  —  aber 
^'erschwinde,  wenn  in  moralisch-praktischer,  mithin  nicht- 
sinnlicher  Absicht  die  reine  Kategorie  (ohne  ein  ihr  unter- 
gelegtes Schema)  im  Schöpfungsbegiiffe  gebraucht  wird. 

Der  philosophische  Rechtslehrer  wird  diese  Nachforschung 
bis  zu  den  ersten  Elementen  der  Transscendentalphilosophie 
in  einer  Metaphysik  der  Sitten  nicht  für  unnöthige  Grübelei 
erklären,  die  sich  in  zwecklose  Dunkelheit  verliert,  wenn 
er  die  Schwierigkeit  der  zu  lösenden  Aufgabe  und  doch 
auch  die  Nothwendigkeit,  hierin  den  Rechtsprinzipien  genug 
zu  thun,  in  Ueberlegung  zieht. 


Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht.    §.  30.   93 

ziehen,  und  sowohl  pragmatisch,  damit  es  künftig 
sich  selbst  erhalten  und  fortbringen  könne,  als  auch 
moralisch,  weil  sonst  die  Schuld  ihrer  Verwahrlosung 
auf  die  Eltern  fallen  würde,  —  es  zu  bilden;  alles  bis 
zur  Zeit  der  Entlassung  {emancipatio),  da  diese  sowohl 
ihrem  väterlichen  Rechte  zu  befehlen,  als  auch  allem 
Anspruch  auf  Kostenerstattung  für  ihre  bisherige  Ver- 
pflegung und  Mühe  entsagen,  wofür,  und  nach  vollendeter 
Erziehung  sie  der  Kinder  ihre  Verbindlichkeit  (gegen  die 
Eltern)  nur  als  blosse  Tugendpflicht,  nämlich  als  Dank- 
barkeit, in  Anschlag  bringen  können. 

Aus  dieser  Persönlichkeit  der  erstem  folgt  nun  auch, 
dass,  da  die  Kinder  nie  als  Eigenthum  der  Eltern  an- 
gesehen werden  können,  aber  doch  zum  Mein  und  Dein 
derselben  gehören  (weil  sie  gleich  den  Sachen  im  Be- 
sitz der  Eltern  sind  und  aus  jedes  Anderen  Besitz,  selbst 
wider  ihren  Willen,  in  diesen  zurückgebracht  werden 
können),  das  Recht  der  ersteren  kein  blosses  Sachen- 
recht, mithin  nicht  veräusserlich  {jus  jjersonalissimum)^ 
aber  auch  nicht  ein  bloss  persönliches,  sondern  ein  auf 
dingliche  Art  persönliches  Recht  ist. 

Hierbei  fällt  also  in  die  Augen,  dass  der  Titel  eines 
auf  dingliche  Art  persönlichen  Rechts  in  der 
Rechtslehre  noch  über  dem  des  Sachen-  und  persönlichen 
Rechts  nothwendig  hinzukommen  müsse,  jene  bisherige 
Eintheilung  also  nicht  vollständig  gewesen  ist,  weil, 
wenn  von  dem  Recht  der  Eltern  an  den  Kindern,  als 
einem  Stück  ihres  Hauses,  die  Rede  ist,  jene  sich  nicht 
bloss  auf  die  Pflicht  der  Kinder  berufen  dürfen,  zurück- 
zukehren, wenn  sie  entlaufen  sind,  sondern  sich  ihrer 
als  Sachen  (verlaufener  Hausthiere)  zu  bemächtigen  und 
sie  einzufangen  berechtigt  sind.  4^) 


Des  Rechts  der  häuslichen  Gesellschaft 

dritter  Titel: 

Das  Hausherren-Recht. 

§.  30. 

Die  Kinder  des  Hauses,  die  mit  den  Eltern  zusammen 
.eine  ^amilie    ausmachten,   werden,   auch   ohne   allen 


94  Rechtslehre.    I.  Theil.    2.  Hauptstück.    3.  Abschn. 

Vertrag  der  Aufkündigung  ihrer  bisherigen  Abhängigkeit^ 
durch  die  blosse  Geiangung  zu  dem  Vermögen  ihrer 
Selbsterhaltung  (so  wie  es  theils  als  natürliche  Voll- 
jährigkeit dem  allgemeinen  Laufe  der  Natur  überhaupt, 
theils  ihrer  besonderen  Naturbeschaffenheit  gemäss  ein- 
tritt), mündig  {inajm'ennes),  d.  i.  ihre  eigenen  Herren 
{sui  juris),  und  erwerben  dieses  Recht  ohne  besonderen 
rechtlichen  Akt,  mithin  bloss  durchs  Gesetz  (lege),  — 
sind  den  Eltern  für  ihre  Erziehung  nichts  schuldig,  so 
wie  gegenseitig  die  letzteren  ihrer  Verbindlichkeit  gegen 
diese  auf  ebendieselbe  Art  loswerden,  hiermit  beide  ihre 
natürliche  Freiheit  gewinnen  oder  wiedergewinnen,  — 
die  häusliche  Gesellschaft  aber,  welche  nach  dem  Gesetz 
nothwendig  war,  nunmehr  aufgelöst  wird, 

Beide  Theile  können  nun  wirklich  ebendasselbe  Haus- 
wesen, aber  in  einer  anderen  Form  der  Verpflichtung, 
nämlich  als  Verknüpfung  des  Hausherrn  mit  dem  Ge- 
sinde (den  Dienern  oder  Dienerinnen  des  Hauses),  mit- 
hin eben  diese  häusliche  Gesellschaft,  aber  jetzt  als 
hausherrliche  {societas  herüis)  erhalten,  durch  einen 
Vertrag,  den  der  erste  mit  den  mündig  gewordenen  Kin- 
dern, oder,  wenn  die  Familie  keine  Kinder  hat,  mit 
anderen  freien  Personen  (der  Hausgenossenschaft)  schliesst, 
eine  häusliche  Gesellschaft  stiften,  welche  eine  ungleiche 
Gesellschaft  (des  gebietenden  oder  der  Herrschaft, 
und  der  gehorchenden,  d.  i.  der  Dienerschaft,  im- 
perantis  et  suhjecii  domestici)  sein  würde. 

Das  Gesinde  gehört  nun  zu  dem  Seinen  des  Haus- 
herrn, und  zwar  was  die  Form  (den  Besitzstand) 
betrifft,  gleich  als  nach  einem  Sachenrecht;  denn  der 
Hausherr  kann,  w^enn  es  ihm  entläuft,  es  durch  einseitige 
Willkür  in  seine  Gewalt  bringen;  was  aber  die  Materie 
betrifft,  d.  i.  welchen  Gebrauch  er  von  diesen  seinen 
Hausgenossen  machen  kann,  so  kann  er  sich  nie  als 
Eigenthümer  desselben  {dominus  servi)  betragen;  weil 
er  nur  durch  Vertrag  unter  seine  Gewalt  gebracht  ist, 
ein  Vertrag  aber,  durch  den  ein  Theil  zum  Vortheil  des 
anderen  auf  seine  ganze  Freiheit  Verzicht  thut,  mithin 
aufhört,  eine  Person  zu  sein,  folglich  auch  keine  Pflicht 
hat,  einen  Vertrag  zu  halten,  sondern  nur  Gewalt  aner- 
kennt, in  sich  selbst  widersprechend,  d.  i.  null  und  nich- 
tig ist.     (Von  dem  Eigenthumsrecht  gegen  den,  der  sich 


Eintheilung  der  erwerblichen  Rechte  aus  Verträgen.  §.  31.  95 

durch  ein  Verbrechen  seiner  Persönlichkeit  verlustig  ge- 
macht hat,  ist  hier  nicht  die  Rede.) 

Dieser  Vertrag  also  der  Hausherrschaft  mit  dem  Ge- 
sinde kann  nicht  von  solcher  Beschaffenheit  sein,  dass 
der  Gebrauch  desselben  ein  Verbrauch  sein  würde, 
worüber  das  Urtlieil  aber  nicht  bloss  dem  Hausherrn, 
sondern  auch  der  Dienerschaft  (die  also  nie  Leibeigen- 
schaft sein  kann)  zukommt;  kann  also  nicht  auf  lebens- 
längliche, sondern  allenfalls  nur  auf  bestimmte  Zeit, 
binnen  der  ein  Theil  dem  anderen  die  Verbindung  auf- 
kündigen darf,  geschlossen  werden.  Die  Kinder  aber 
(selbst  die  eines  durch  sein  Verbrechen  zum  Sklaven 
Gewordenen)  sind  jederzeit  frei.  Denn  frei  geboren  ist 
jeder  Mensch,  weil  er  noch  nichts  verbrochen  hat,  und 
die  Kosten  der  Erziehung  bis  zu  seiner  Volljährigkeit 
können  ihm  auch  nicht  als  eine  Schuld  angerechnet 
werden,  die  er  zu  tilgen  habe.  Denn  der  Sklave  müsste, 
wenn  er  könnte,  seine  Kinder  auch  erziehen,  oune  ihnen 
dafür  Kosten  zu  verrechnen,  der  Besitzer  des  Sklaven 
tritt  also,  bei  dieses  seinem  Unvermögen,  in  die  Stelle 
seiner  Verbindlichkeit. 


Man  sieht  auch  hier,  wie  unter  beiden  vorigen  Titeln, 
dass  es  ein  auf  dingliche  Art  persönliches  Recht  (der 
Herrschaft  über  das  Gesinde)  gebe;  weil  man  sie  zurück- 
holen und  als  das  äussere  Seine  von  jedem  Besitzer 
abfordern  kann,  ehe  noch  die  Gründe,  welche  sie  dazu 
vermocl  t  haben  mögen,  und  ihr  Recht  untersucht  wer- 
den dürfen. -i'«0 


Bogmatisclie   Eintlieilusig    aller    erwerblichen 
Rechte  aus  Yerträgen. 

§.  31. 

Von  einer  metaphysischen  Rechtslehre  kann  gefordert 
werden,  dass  sie  a  prioj'i  die  Glieder  der  Eintheilung 
{divisio  logica)  vollständig  und  bestimmt  aufzähle  und 
so  ein  wahres  System  derselben  aufstelle;  statt  dessen 


96   Rechtslehre.    I.  Theil.     2.  Hauptstück.    3.  Abschn. 

alle  emp i r is ch eEinth ei lung  bloss  fragmentarisch 
(partitio)  ist,  und  es  ungewiss  lässt,  ob  es  nicht  noch 
mehr  Glieder  gebe,  welche  zur  Ausfüllung  der  ganzen 
Sphäre  des  eingetheilten  Begriffs  erfordert  würden.  — 
Eine  Eintheilung  nach  einem  Prinzip  a  priori  (im  Ge- 
gensatz der  empirischen)  kann  man  nun  dogmatisch 
nennen. 

Aller  Vertrag  besteht  an  sich,  d.  i.  objektiv  be- 
trachtet, aus  zwei  rechtlichen  Akten:  dem  Versprechen 
und  der  Annehmung  desselben;  die  Erwerbung  durch 
die  letztere  (wenn  es  nicht  ein  pactum  re  initum  ist, 
welches  Uebergabe  erfordert)  ist  nicht  ein  Theil,  son- 
dern die  rechtlich  noth wendige  Folge  desselben.  — 
Subjektiv  aber  erwogen,  d.  i.  als  Antwort  auf  die 
Frage:  ob  jene  nach  der  Vernunft  nothwendige  Folge 
(welche  die  Erwerbung  sein  sollte)  auch  wirklich 
erfolgen  (physische  Folge  sein)  werde,  dafür  habe 
ich  durch  die  Annehmung  des  Versprechens  noch  keine 
Sicherheit.  Diese  ist  also,  als  äusserlich  zur  Modali- 
tät des  Vertrages,  nämlich  der  Gewissheit  der  Er- 
werbung durch  denselben  gehörend,  ein  Ergänzungsstück 
zur  Vollständigkeit  der  Mittel  zur  Erreichung  der  Ab- 
sicht des  Vertrags,  nämlich  der  Erwerbung.  —  Es  treten 
zu  diesem  Behuf  drei  Personen  auf:  der  Promittent, 
der  Acceptant  und  der  Cavent;  durch  welchen  Letz- 
teren und  seinen  besonderen  Vertrag  mit  dem  Promit- 
tenten der  Acceptant  zwar  nichts  mehr  in  Ansehung  des 
Objekts,  aber  doch  der  Zwangsmittel  gewinnt,  zu  dem 
Seinen  zu  gelangen. 

Nach  diesen  Grundsätzen  der  logischen  (rationalen) 
Eintheilung  giebt  es  nun  eigentlich  nur  drei  einfache 
und  reine  Vertragsarten,  der  vermischten  aber  und  em~ 
pirischen,  welche  zu  den  Prinzipien  des  Mein  und  Dein 
nach  blossen  Vernunftgesetzen,  noch  statutarische  und 
konventionelle  hinzuthun,  giebt  es  unzählige,  sie  liegen 
aber  ausserhalb  dem  Kreise  der  metaphysischen  Rechts- 
lehre, die  hier  allein  verzeichnet  werden  soll. 

Alle  Verträge  nämlich  haben  entweder  A.  einseitigen 
Erwerb  (wohlthätiger  Verti'ag),  oder  B.  wechsel- 
seitigen (belästigter  Vertrag),  oder  gar  keinen 
Erwerb,  sondern  nur   C.  Sicherheit  des  Seinen 


(Eintheilung  der  erwerblichen  Rechte  aus  Verträgen.)  §.  31.  97 

(der  einerseits  wohlthätig,    andererseits  doch  auch 
zugleich  belästigend  sein  kann)  zur  Absicht. 

A.  Der  woliltliätige  Vertrag  {pactum  gratuitum)  ist: 

a)  Die  Aufbewahrung  des  anvertrauten  Guts 
{deijositum). 

b)  Das  Verleihen  einer  Sache  {commodatarn). 

c)  Die  Verse  henkung  {donatio). 

B.  Der  belästigte  Vertrag: 

I.  D er    V e r  ä u  s s e r u  n g  s V e r t r a g    {pei 'mutatio    late 
sie  dicta). 

a)  Der  Tausch  (jyermutatio  stricte  sie  dicta): 
Waare  gegen  Waare. 

b)  Der  K  a  u  f  und  Verkauf  {emtio  venditio) :  Waare 
gegen  Geld. 

c)  Die  Anleihe  {inutuum):  Veräusserung  einer 
Sache  unter  der  Bedingung,  sie  nur  der  Species 
nach  wieder  zu  erhalten  (z.  B.  Getreide  gegen 
Getreide,  oder  Geld  gegen  Geld). 

II.  Der  V er dingungs vertrag  {locatio  conductio). 

a.  Die  Verdingung  meiner  Sache  an  einen 
Anderen  zum  Gebrauch  derselben  {locatio  rei)y 
welche,  wenn  sie  nur  in  specie  wiedererstattet 
werden  darf,  als  belästigter  Vertrag,  auch  mit 
Verzinsung  verbunden  sein  kann  {pactum 
uswxirium). 

ß.  Der  Lohn  vertrag  {locatio  oijerae)^  d.  i.  die 
Bewilligung  des  Gebrauchs  meiner  Kräfte  an 
einen  Anderen  für  einen  bestimmten  Preis  {merces)^ 
Der  Arbeiter  nach  diesem  Vertrage  ist  der  Lohn- 
diener {mercenarius). 

y.  Der  Bevollmächtigungs vertrag  {manda- 
tum):  die  Geschäftsführung  an  der  Stelle  und 
im  Namen  eines  Anderen,  welche,  wenn  sie 
bloss  an  des  Anderen  Stelle,  nicht  zugleich  in 
seinem  (des  Vertretenen)  Namen  geführt  wird, 
Geschäftsführung  ohne  Auftrag  {gestio 
negotii)'^  wird  sie  aber  im  Namen  des  Anderen 
verrichtet;  Mandat  heisst,  das  hier, '  als  Ver- 
dingungsvertrag,  ein  belästigter  Vertrag  {man- 
datum  onerosum)  ist» 

Kant,  Metaphysik  der  Bitten.  7 


98  Rechtslehre.    I.  Theil.    2.  Hauptstück.    3.  Abschn. 

C.  Der  ZusicherungSTertrag  (cautio): 

a)  Die  Verpfändung  und  Pfandnehmung    zu- 
sammen Xj^ignus). 

b)  Die  Gutsagung  für  das  Versprechen  eines  Anderen 
{fidejussid). 

c)  Die    persönliche    Verbürgung    {praestatio 
ohsidis). 

In  dieser  Tafel  aller  Arten  der  Uebertragung 
{translatio)  des  Seinen  auf  einen  Anderen  finden 
sich  Begriffe  von  Objekten  oder  Werkzeugen  dieser 
Uebertragung  vor,  welche  ganz  empirisch  zu  sein 
scheinen,  und  selbst  ihrer  Möglichkeit  nach  in  einer 
metaphysischen  Rechtslehre  eigentlich  nicht 
Platz  haben,  in  der  die  Eintheilungen  nach  Prin- 
zipien a  lyriori  gemacht  werden  müssen,  mithin 
von  der  Materie  des  Verkehrs  (welche  konventionell 
sein  könnte)  abstrahirt  und  bloss  auf  die  Form  ge- 
sehen werden  muss,  dergleichen  der  Begriff  des 
Geldes  im  Gegensatz  mit  aller  anderen  veräusser- 
lichen  Sache,  nämlich  der  Waare,  im  Titel  des 
Kaufs  und  Verkaufs,  oder  der  eines  Buchs  ist. 
—  Allein  es  wird  sich  zeigen,  dass  jener  Begriff 
des  grössten  und  brauchbarsten  aller  Mittel  des 
Verkehrs  der  Menschen  mit  Sachen,  Kauf  und 
Verkauf  (Handel)  genannt,  imgleichen  der  eines 
Buchs,  als  das  des  grössten  Verkehrs  der  Gedanken, 
sich  doch  in  lauter  intellektuelle  Verhältnisse  auf- 
lösen lasse,  und  so  die  Tafel  der  reinen  Verträge 
nicht  durch  empirische  Beimischung  verunreinigen 
dürfe.  30) 


I. 
Was  ist  Geld? 

Geld  ist  eine  Sache,  deren  Gebrauch  nur  dadurch 
möglich  ist,  dass  man  sie  ver äussert.  Dies  ist  eine 
gute  Namener  klärung  desselben  (nach  Achenwall), 
nämlich  hinreichend  zur  Unterscheidung  dieser  Art  Ge- 
genstände der  Willkür  von  allen  andern;  aber  sie  giebt 


(Was  ist  Geld?)  §.  31.  99 

uns  keinen  Aiifscbluss  über  die  Möglichkeit  einer  solchen 
Sache.  Doch  sieht  man  so  viel  daraus:  dass  erstlich 
diese  Veräiisserung  im  Verkehr  nicht  als  Verschenkung, 
sondern  als  zur  wechselseitigen  Erwerbung  (durch 
ein  jyactum  onerosum)  beabsichtigt  ist;  zweitens  dass, 
da  es  als  (in  einem  Volke)  allgemein  beliebtes  blosses 
Mittel  des  Handels,  was  an  sich  keinen  Werth  hat, 
im  Gegensatz  einer  Sache,  als  Waare  (d.  i.  desjenigen, 
was  einen  solchen  hat  und  sich  auf  das  besondere  Be- 
dUrfniss  Eines  oder  des  Anderen  im  Volke  bezieht)  ge- 
clacht  wird,  es  alle  Waare  repräsentirt. 

Ein  Scheflfel  Getreide  hat  den  grijssten  direkten  Werth 
als  Mittel  zu  menschlichen  Bedürfnissen.  Man  kann 
damit  Thiere  füttern,  die  uns  zur  Nahrung,  zur  Bewegung 
und  zur  Arbeit  an  unserer  Statt  dienen,  und  dann  auch 
vermittelst  desselben  also  Menschen  vermehren  und  er- 
halten, welche  nicht  allein  jene  Naturprodukte  immer 
wieder  erzeugen,  sondern  auch  durch  Kunstprodukte 
allen  unseren  Bedürfnissen  zu  Hülfe  kommen  können;  zur 
Verfertigung  unserer  Wohnung,  Kleidung,  ausgesuchtem 
Genüsse  und  aller  Gemächlichkeit  überhaupt,  welche  die 
Güter  der  Industrie  ausmachen.  Der  Werth  des  Geldes  ist 
dagegen  nur  indirekt.  Man  kann  es  selbst  nicht  ge- 
niessen,  oder  als  ein  solches  irgend  wozu  unmittelbar 
gebrauchen;  aber  doch  ist  es  ein  Mittel,  was  unter  allen 
Sachen  von  der  höchsten  Brauchbarkeit  ist. 

Hierauf  lässt  sich  vorläufig  eine  Realdefinition 
des  Geldes  gründen:  es  ist  das  rJlgemeine  Mittel,  den 
Fleiss  der  Menschen  gegen  einander  zu  verkehren, 
so,  dass  der  Kationalreichthum ,  insofern  er  vermittelst 
des  Geldes  erworben  w^orden,  eigentlich  nur  die  Summe 
des  Fleisses  ist,  mit  dem  Menschen  sich  untereinander 
lohnen,  und  welcher  durch  das  in  dem  Volk  umlaufende 
Geld  repräsentirt  wird. 

Die  Sache  nun,  welche  Geld  heissen  soll,  muss  also 
selbst  so  viel  Fleiss  gekostet  haben,  um  sie  hervorzu- 
bringen, oder  auch  anderen  Menschen  in  die  Hände  zu 
schaffen,  dass  dieser  demjenigen  Fleiss,  durchweichen 
die  Waare  (in  Natur-  oder  Kunstprodukten)  hat  erwor- 
ben werden  müssen  und  gegen  welchen  jener  ausge- 
tauscht wird,  gleich  komme.  Denn  wäre  es  leichter, 
den  Stoff,  der  Geld  heisst,   als   die  Waare  anzuschaffen. 


IQQ  Rechtsiehre.    I.  Tlieii.   2.  Haiiptstück.    3.  Absclm. 

so  käme  mehr  Geld  zu  Markte,  als  Waare  feil  steht: 
und  weil  der  Verkäufer  mehr  Fleiss  auf  seine  Waare 
verwenden  müsste,  als  der  Käufer,  dem  das  Geld  schneller 
zuströmt,  so  würde  der  Fleiss  in  Verfertigung  der  Waare 
und  so  das  Gewerbe  überhaupt  mit  dem  Erwerbfleiss, 
der  den  öffentlichen  Reichthum  zur  Folge  hat,  zugleicli 
schwinden  und  verkürzt  werden.  —  Daher  können  Bank- 
noten und  Assignaten  nicht  für  Geld  angesehen  werden, 
ob  sie  gleich  eine  Zeit  hindurch  die  Stelle  desselben 
vertreten;  weil  es  beinahe  gar  keine  Arbeit  kostet,  sie 
zu  verfertigen,  und  ihr  Werth  sich  bloss  auf  die  Mei- 
nung der  ferneren  Fortdauer  der  bisher  gelungenen  Um- 
setzung derselben  in  Baarschaft  gründet,  welche,  bei 
einer  etwanigen  Entdeckung,  dass  die  letztere  nicht  in 
einer  zum  leichten  und  sicheren  Verkehr  hinreichenden 
Menge  da  sei,  plötzlich  verschwindet  und  den  Ausfall 
der  Zahlung  unvermeidlich  macht.  —  So  ist  der  Erwerb- 
fleiss derer,  welche  die  Gold-  und  Silberbergwerke  in 
Peru  oder  Neumexico  anbauen,  vornehmlich  bei  den  so 
vielfältig  misslingenden  Versuchen  eines  vergeblich  an- 
gewandten Fleisses  im  Aufsuchen  der  Erzgänge  wahr- 
scheinlich noch  grösser,  als  der  auf  der  Verfertigung 
der  Waaren  in  Europa  verwendete,  und  würde,  als  un- 
vergolten,  mithin  von  selbst  nachlassend,  jene  Länder 
bald  in  Armuth  sinken  lassen,  wenn  nicht  der  Fleiss 
Europens  dagegen,  eben  durch  diese  Materialien  gereizt, 
sich  proportionirlich  zugleich  erweiterte,  um  bei  jenen 
die  Lust  zum  Bergbau,  durch  ihnen  angebotene  Sachen 
des  Luxus,  beständig  rege  zu  erhalten;  so  dass  immer 
Fleiss  gegen  Fleiss  in  Konkurrenz  kommen. 

Wie  ist  es  aber  möglich,  dass  das,  was  anfänglich 
Waare  war,  endlich  Geld  ward?  Wenn  ein  grosser  und 
machthabender  Verthuer  einer  Materie,  die  er  Anfangs 
bloss  zum  Schmuck  und  Glanz  seiner  Diener  (des  Hofes) 
brauchte  (z.  B.  Gold,  Silber,  Kupfer,  oder  eine  Art 
schöner  Muschelschalen,  Cauris,  oder  auch,  wie  in 
Congo,  eine  Art  Matten,  Makuten  genannt,  oder,  wie 
am  Senegal,  Eisenstangen,  und  auf  der  Guineaküste  selbst 
Negersklaven);  d.  i.  wenn  ein  Landesherr  die  Ab- 
sraben von  seinen  ünterthanen  in  dieser  Materie  (als 
Waare)  einiordert,  und  die,  deren  Fleiss  in  Anschaffung 
derselben  dadurch  bewegt  werden  soll,  mit  ebendenselben. 


(Was  ist  Geld?;    §.  31.  101 

iiach  Verordnungen  des  Verkehrs  unter  und  mit  ihnen 
überhaupt  (auf  einem  Markt  oder  einer  Börse)  wieder 
lohnt.  —  Dadurch  allein  hat  (meinem  Bedünken  nach) 
eine  Waare  ein  gesetzliches  Mittel  des  Verkehrs  des 
Fleisses  der  ünterthanen  unter  einander  und  hiermit 
auch  des  Staatsreichthums,  d.  i.  Geld  werden  kiJnnen. 

Der  intellektuelle  Begriff,  dem  der  empirische  vom 
Gelde  untergelegt  ist^  ist  also  der  von  einer  Sache,  die, 
im  Umlauf  des  Besitzes  begriffen  {permutatio  puhlicci)^ 
den  Preis  aller  anderen  Dinge  (Waaren)  bestimmt, 
unter  welche  letztere  sogar  Wissenschaften,  sofern  sie 
Anderen  nicht  umsonst  gelehrt  werden,  gehören;  dessen 
Menge  also  in  einem  Volk  die  Begüterung  {opulentid) 
desselben  ausmacht.  Denn  Preis  {pretiwn)  ist  das 
öffentliche  Urtheil  über  denWerth  {valor)  einer  Sache, 
in  Verhältniss  auf  die  proportionirte  Menge  desjenigen, 
was  das  allgemeine  stellvertretende  Mittel  der  gegen- 
seitigen Vertauschung  des  Fleisses  (des  Umlaufs)  ist. 
—  Daher  werden,  wo  der  Verkehr  gross  ist,  weder  Gold 
noch  Kupfer  für  eigentliches  Geld,  sondern  nur  für  Waare 
gehalten ;  weil  von  dem  ersteren  zu  wenig,  vom  anderen 
zu  viel  da  ist,  um  es  leicht  in  Umlauf  zu  bringen,  und 
dennoch  in  so  kleinen  Theilen  zu  haben,  als  zum  Umsatz 
gegen  Waare,  oder  eine  Menge  derselben  im  kleinsten  Er- 
werb nöthig  ist.  Silber  (weniger  oder  mehr  mit  Kupfer 
versetzt)  wird  daher  im  grossen  Verkehr  der  Weit  für 
das  eigentliche  Material  des  Geldes  und  den  Maassstab 
der  Berechnung  aller  Preise  genommen;  die  übrigen 
Metalle  (noch  vielmehr  also  die  unmetallischen  Materien) 
können  nur  in  einem  Volk  von  kleinem  Verkehr  statt- 
linden. —  Die  ersteren  beiden,  wenn  sie  nicht  bloss  ge- 
wogen, sondern  auch  gestempelt,  d.  i.  mit  einem  Zeichen, 
für  wie  viel  sie  gelten  sollen,  versehen  worden,  sind 
gesetzliches  Geld,  d.  i.  Münze. 

„Geld  ist  also  (nach  Adam  Smith)  derjenige  Kör- 
per, dessen  Veräusserung  das  Mittel  und  zugleich  der 
Maassstab  des  Fleisses  ist,  mit  welchem  Menschen  und 
Völker  unter  einander  Verkehr  treiben."  —  Diese  Er- 
klärung führt  den  empirischen  Begriff  des  Geldes  da- 
durch auf  den  intellektuellen  hinaus,  dass  sie  nur  auf 
die  Form  der  wechselseitigen  Leistungen  im  belästigten 
Vertrage  sieht  (und  von  dieser  ihrer  Materie  abstrahirt), 


][Q2  Rechtslehre.    I.  Theil.    2.  Hauptstück.    3.  Abschn. 

und  so  auf  den  Rechtsbegriff  in  der  Umsetzung  de& 
Mein  und  Dein  (commidatio  late  sie  dicta)  überhaupt^ 
um  die  obige  Tafel  einer  dogmatischen  Eintheilung  a 
priori^  mithin  der  Metaphysik  des  Rechts,  als  eines. 
Systems,  angemessen  vorzustellen.  5 i) 


IL 
Was  ist  ein  Buch? 

Ein  Buch  ist  eine  Schrift  (ob  mit  der  Feder  oder 
durch  Typen  auf  wenig  oder  viel  Blättern  verzeichnet, 
ist  hier  gleichgültig),  welche  eine  Rede  vorstellt,  die 
Jemand  durch  sichtbare  Sprachzeichen  an  das  Publikum 
hält.  —  Der,  welcher  zu  diesem  in  seinem  eigenen 
Namen  spricht,  heisst  der  Schriftsteller  {autor)^ 
Der,  welcher  durch  eine  Schrift  im  ^Xamen  eines  Anderen 
(des  Autors)  öffentlich  redet,  ist  der  Verleger.  Dieser, 
wenn  er  es  mit  jenes  seiner  Erlaubniss  thut,  ist  der 
rechtmässige;  thut  er  es  aber  ohne  dieselbe,  der  unrecht- 
mässige Verleger,  d.  i.  der  N  a  c  h  d  r  u  c  k  e  r.  Die  Summe 
aller  Kopien  der  Urschrift  (Exemplare)  ist  der  Verlag. 

Der  Bticbernachdruck  ist  von  Rechts  wegen 

verboten. 

Schrift  ist  nicht  unmittelbar  Bezeichnung  eines  Be- 
griffs (wie  etwa  ein  Kupferstich,  der  als  Porträt, 
oder  ein  Gypsabguss,  der  als  die  Büste  eine  bestimmte 
Person  vorstellt),  sondern  eine  Rede  ans  Publikum, 
d.  i.  der  Schriftsteller  spricht  durch  den  Verleger 
öffentlich.  —  Dieser  aber,  nämlich  der  Verleger,  spricht 
(durch  seinen  Werkmeister,  operarius,  den  Drucker) 
nicht  in  seinem  eigenen  Namen  (denn  sonst  würde  er 
sich  für  den  Autor  ausgeben),  sondern  im  Namen  des 
Schriftstellers,  wozu  er  also  nur  durch  eine  ihm  von 
dem  letzteren  ertheilte  Vollmacht  irnandatum)  be- 
rechtigt ist.  —  Nun  spricht  der  Nachdrucker  durch 
seinen  eigenmächtigen  Verlag  zwar  auch  im  Namen  des 
Schriftstellers,  aber  ohne  dazu  Vollmacht  zu  haben  {gerit 
se  mandatarium  ahsque  mcmdato);  folglich  begeht  er 
an  dem  von  dem  Autor  bestellten   (mithin  einzig  recht* 


(Was  ist  ein  Buch?;  §.  31.  103 

massigen)  Verleger  ein  Verbrechen  der  Entwendung  des 
Vortheils,  den  der  letztere  aus  dem  Gebrauch  seines 
Rechts  ziehen  konnte  und  wollte  {furtum  usus)]  also 
ist  der  Büchernachdruck  von  Rechtswegen  ver- 
boten. 

Die  Ursache  des  rechtlichen  Anscheins  einer  gleich- 
wohl beim  ersten  Anblick  so  stark  auftauenden  Unge- 
rechtigkeit, als  der  Büchernachdruck  ist,  liegt  darin: 
dass  das  Buch  einerseits  ein  körperliches  Kunst- 
produkt (opus  mec/ianicum)  ist,  was  nachgemacht 
werden  kann  (von  dem,  der  sich  im  rechtmässigen  Be- 
sitz eines  Exemplars  desselben  befindet),  mithin  daran 
ein  Sachenrecht  statthat,  andererseits  aber  ist 
das  Buch  auch  blosse  Rede  des  Verlegers  ans  Publi- 
kum, die  dieser,  ohne  dazu  Vollmacht  vom  Verfasser 
zu  haben,  öffentlich  nicht  nachsprechen  darf  [jwaestatio 
operae)j  ein  persönliches  Recht,  und  nun  besteht 
der  Irrthum  darin,  dass  Beides  mit  einander  verwechselt 
wird. 


Die  Verwechselung  des  persönlichen  Rechts  mit  dem 
Sachenrecht  ist  noch  in  einem  anderen,  unter  den  Ver- 
dingungsvertrag  gehörigen  Falle  (B.  II.  «.  i,  nämlich  dem 
der  Eiiimietlumg  {ius  mcolatus),  ein  Stoff  zu  Streitig- 
keiten. —  Es  fragt  sich  nämlich:  ist  der  Eigenthümer, 
wenn  er  sein  an  Jemanden  vermiethetes  Haus  (oder 
seinen  Grund)  vcr  Ablauf  der  Miethszeit  an  einen  An- 
deren verkauft,  verbunden,  die  Bedingungen  der  fort- 
dauernden Miethe  dem  Kaufkontrakte  beizufügen,  oder 
kann  man  sagen:  Kauf  bricht  Miethe  (doch  in  einer 
durch  den  Gebrauch  bestimmten  Zeit  der  Aufkündigung)? 
—  Im  ersteren  Falle  hätte  das  Haus  wirklich  eine  Be- 
lästigung (onus)  auf  sich  liegend,  ein  Recht  in  dieser 
Sache,  das  der  Miether  sich  an  derselben  (dem  Hause) 
erworl3en  hätte;  w^elches  auch  wohl  geschehen  kann 
(durch  Ingrossation  des  Miethskontrakts  auf  das  Haus), 
aber  alsdann  kein  blosser  Miethskontrakt  sein  würde, 
sondern  wozu  noch  ein  anderer  Vertrag  (dazu  sich  nicht 
viel  Vermiether  verstehen  würden)  hinzukommen  müsste» 
Also  gilt  der  Satz:  „Kairf  bricht  Miethe",  d.i.  das  volle 
Recht  in  einer  Sache   (das  Eigen thum)    überwiegt   alles 


XQ4  Rechtslehre.  I.  Theil.  2.  Hauptst.  Episocl.  Abschn. 

persönliche  Recht,  was  mit  ihm  nicht  zusammen  be- 
stehen kann;  wobei  doch  die  Klage  aus  dem  Grunde 
des  letzteren  dem  Miether  offen  bleibt,  ihn  wegen  des 
aus  der  Zerreissung  des  Kontrakts  entspringenden  Kach- 
theils  schadenfrei  zu  halten.  52) 


Episodischer  Abschnitt. 

Ton  der  idealen  Erwerbung  eines  äusseren 
Oegenstaudes  der  IVillkür. 

§.  32. 

Ich  nenne  diejenige  Erwerbung  ideal,  die  keine  Kau- 
salität in  der  Zeit  enthält,  mithin  eine  blosse  Idee  der 
reinen  Vernunft  zum  Grunde  hat.  Sie  ist  nichtsdesto- 
weniger wahre,  nicht  eingebildete  Erwerbung,  und  heisst 
nur  darum  nicht  real,  weil  der  Erwerbakt  nicht  empirisch 
ist,  indem  das  Subjekt  von  einem  Anderen,  der  entweder 
noch  nicht  ist  (von  dem  man  bloss  die  Möglichkeit 
annimmt,  dass  er  sei),  oder  indem  dieser  eben  aufhört 
zu  sein,  oder,  wenn  er  nicht  mehr  ist,  erwirbt,  mit- 
hin die  Gelangung  zum  Besitz  eine  blosse  praktische 
Idee  der  Vernunft  ist.  —  Es  sind  die  drei  Erwerbungs- 
ai-ten:  1)  durch  Ersitzung,  2)  durch  Beerbung, 
3)  durch  unsterbliches  Verdienst  [meritum  immor- 
tale),  d.  i.  Anspruch  auf  den  guten  i^amen  nach  dem 
Tode.  Alle  drei  können  zwar  nur  im  öffentlichen  recht- 
lichen Zustande  ihren  Effekt  haben,  gründen  sich  aber 
nicht  nur  auf  der  Konstitution  desselben  und  willkür- 
lichen Statuten,  sondern  sind  auch  a  iniori  im  Natur- 
zustande, und  zwar  nothwendig  zuvor  denkbar,  um  her- 
nach die  Gesetze  in  der  bürgerlichen  Verfassung  darnach 
einzurichten  [sunt  juris  naturae). 

I. 
Die  ErTrerl)imgsart  durcli  Ersitzung. 

§.  33. 
Ich  erwerbe  das  Eigenthum  eines  Anderen  bloss  durch 
den  langen  Besitz  {iisncapio);    nicht   weil  ich  diese 


Von  der  idealen  Erwerbung,  I.  durch  Ersitzuug.  §.  33.  105 

seine  Einwilligung'  dazu  rechtmässig  voraussetzen 
darf  {per  consensum  praesumtiim),  noch  weil  ich,  da 
er  nicht  widerspricht,  annehmen  kann,  er  habe  seine 
Sache  aufgegeben  (^rem  derelictam),  sondern  weil,  wenn 
es  auch  einen  wahren  und  auf  diese  Sache  als  Eigen- 
thümer  Anspruch  machenden  (Prätendenten)  gäbe,  ich 
ihn  doch  bloss  durch  meinen  langen  Besitz  ausschliessen, 
sein  bisheriges  Dasein  ignoriren,  und  gar,  als  ob  er  zur 
Zeit  meines  Besitzes  nur  als  Gedaukending  existirte, 
verfahren  darf;  wenn  ich  gleich  von  seiner  Wirklichkeit 
sowohl,  als  der  seines  Anspruchs  hinterher  benachrichtigt 
sein  möchte.  —  Man  nennt  diese  Art  der  Erwerbung 
nicht  ganz  richtig  die  durch  Verjährung  {per  prae- 
■scriptionem) ;  denn  die  Ausschliessung  ist  nur  als  die 
Folge  von  jener  anzusehen;  die  Erwerbung  muss  vorher- 
gegangen sein.  —  Die  Möglichkeit,  auf  diese  Art  zu 
erwerben,  ist  nun  zu  beweisen. 

Wer  nicht  einen  beständigen  Besitzakt  (actus p>os- 
sessorius)  einer  äusseren  Sache,  als  der  seinen,  ausübt, 
wird  mit  Recht  als  einer,  der  (als  Besitzer)  gar  nicht 
existirt,  angesehen;  denn  er  kann  nicht  über  Läsion 
klagen,  solange  er  sich  nicht  zum  Titel  eines  Besitzers 
berechtigt;  und  wenn  er  sich  hintennach,  da  schon  ein 
Anderer  davon  Besitz  genommen  hat,  auch  dafür  er- 
klärte, so  sagt  er  doch  nur,  er  sei  ehedem  einmal  Eigen- 
thümer  gewesen,  aber  nicht,  er  sei  es  noch,  und  der  Be- 
sitz sei  ohne  einen  kontinuirlichen  rechtlichen  Akt  un- 
unterbrochen geblieben.  —  Es  kann  also  nur  ein  recht- 
licher und  zwar  sich  kontinuirlich  erhaltender  und  doku- 
meutirter  Besitzakt  sein,  durch  welchen  er  bei  einem 
langen  Nichtgebrauch  sich  das  Seine  sichert. 

Denn  setzet:  die  Versäumung  dieses  Besitzaktes  hätte 
nicht  die  Folge,  dass  ein  Anderer  auf  seinen  gesetz- 
mässigen  und  ehrlichen  Besitz  {jiossessio  honae  ßdei) 
einen  zu  Recht  beständigen  (jiossessio  irrefragabilis) 
gründe,  und  die  Sache,  die  in  seinem  Besitz  ist,  als  von 
ihm  erworben  ansehe,  so  würde  gar  keine  Erwerbung 
peremtorisch  (gesichert),  sondern  alle  nur  provisorisch 
(einstweilig)  sein;  weil  die  Geschichtskunde  ihre  Nach- 
forschung bis  zum  ersten  Besitzer  und  dessen  Erwerbakt 
hinauf  zurückzuführen  nicht  vermögend  ist.  —  Die  Prä- 
sumtion, aufwelclier  sich  die  Ersitzung  (?/.s?f('ap2o)  gründet. 


206  Rechtslehre.  I.  Theil.  2.  Hauptst.  Episod.  Abschn. 

ist  also  nicht  bloss  rechtmässig  (erlaubt,  justa,)  als 
Vermuthung,  sondern  auch  rechtlich  {praesumtio  juris 
et  de  jure)  als  Voraussetzung  nach  Zwangsgesetzen 
{sujyj^ositio  legalis):  wer  seinen  Besitzakt  zu  dokumen- 
tiren  verabsäumt,  hat  seinen  Anspruch  auf  den  dermaligen 
Besitzer  verloren,  wobei  die  Länge  der  Zeit  der  Verab- 
säumung (die  gar  nicht  bestimmt  werden  kann  und 
darf)  nur  zum  Behuf  der  Gewissheit  dieser  Unterlassung 
angeführt  wird.  Dass  aber  ein  bisher  unbekannter  Be- 
sitzer, wenn  jener  Besitzakt  (es  sei  auch  ohne  seine 
Schuld)  unterbrochen  worden,  die  Sache  immer  wieder- 
erlangen (vindiciren)  könne  {dominia  rerum  incerta 
facere)^  widerspricht  dem  obigen  Postulat  der  rechtlich- 
praktischen Vernunft. 

Nun  kann  ihm  aber,  wenn  er  ein  Glied  des  gemeinen 
Wesens  ist,  d.  h.  im  bürgerlichen  Zustande,  der  Staat 
wohl  seinen  Besitz  (stellvertretend)  erhalten,  ob  dieser 
gleich  als  Privatbesitz  unterbrochen  war,  und  der  jetzige 
Besitzer  darf  seinen  Titel  der  Erwerbung  bis  zur  ersten 
nicht  beweisen,  nocJi  auch  sich  auf  den  der  Ersitzung 
gründen.  Aber  im  Naturzustande  ist  der  letztere  recht- 
mässig, nicht  eigentlich  eine  Sache  dadurch  zu  erwerben, 
sondern  ohne  einen  rechtlichen  Akt  sich  im  Besitz  der- 
selben zu  erhalten;  welche  Befreiung  von  Ansprüchen 
dann  auch  Erwerbung  genannt  zu  werden  pflegt.  — 
Die  Präscription  des  älteren  Besitzers  gehört  also  zum 
Naturrecht  {est  juris  naturae).  5*^) 


II. 

Die  Beerl)nng.     {Acquisitio  haereditatis.) 

§.  34. 

Die  Beerbung  ist  die  Uebertragung  (translatio)  der 
Habe  und  des  Gutes  eines  Sterbenden  auf  den  Ueber- 
lebenden  durch  Zusammenstimmung  des  Willens  beider. — 
Die  Erwerbung  des  Erbnehmers  (Jiaeredis  instituti) 
und  die  Verlassung  desErblassers  (testatoris),  d.  i.  dieser 
Wechsel  des  Mein  und  Dein  geschieht  in  einem  Augen- 
blick {articido  mortis)^  nämlich,  da  der  Letztere  eben 
aufhört  zu  sein,  und  ist   also    eigentlich   keine  Ueber- 


Von  der  idealen  Erwerbimg.  IL  Die  Beerbimg.  §.  34.  |07 

tragung  (translatio)  im  empirischen  Sinn,  welche  zwei 
Aktus  nach  einander,  nämlich,  wo  der  Eine  zuerst  sei- 
nen Besitz  verlässt,  und  darauf  der  Andere  darin  ein- 
tritt, voraussetzt;  sondern  eine  ideale  Erwerbung.  — 
Da  die Beerbuug  ohne Vermächtniss  [disjjositio  idtimae 
vohmtatis)  im  Naturzustande  nicht  gedacht  werden  kann, 
und,  ob  es  ein  Erb  vertrag  (pactum  siiccessorium), 
oder  einseitige  Erbeseinsetzung  [testamentum)  sei, 
es  bei  der  Frage:  ob  und  wie  gerade  in  demselben 
Augenblick,  da  das  Subjekt  aufhört  zu  sein,  ein  Ueber- 
gang  des  Mein  und  Dein  möglich  sei,  ankommt,  so 
muss  die  Frage :  wie  ist  die  Erwerbart  durch  Beerbung 
möglich?  von  den  mancherlei  möglichen  Formen  ihrer 
Ausführung  (die  nur  in  einem  gemeinen  Wesen  stattfin- 
den) unabhängig  untersucht  werden. 

„Es  ist  niöglich,  durch  Erbeseinsetzung  zu  erwerben." 
—  Denn  der  Erblasser  Cajus  verspricht  und  erklärt 
in  seinem  letzten  Willen  dem  Titius,  der  nichts  von 
jenem  Versprechen  weiss,  seine  Habe  solle  im  Sterbe- 
falJ  auf  diesen  übergehen,  und  bleibt  also,  so  lange  er 
lebt,  alleiniger  Eigenthümer  derselben.  Nun  kann  zwar 
durch  den  blossen  einseitigen  Willen  nichts  auf  den 
Anderen  übergehen,  sondern  es  wird  über  dem  Ver- 
sprechen noch  Annehmung  [acceptatio)  des  anderen 
Theils  dazu  erfordert  und  ein  gleichzeitiger  Wille  {vo- 
limtas  simultanea),  welcher  jedoch  hier  mangelt;  denn 
so  lange  Cajus  lebt,  kann  Titius  nicht  ausdrücklich 
acceptiren,  um  dadurch  zu  erwerben;  weil  jener  nur 
auf  den  Fall  des  Todes  versprochen  hat  (denn  sonst 
wäre  das  Eigenthum  einen  Augenblick  gemeinschaftlich, 
welches  nicht  der  Wille  des  Erblassers  ist).  —  Dieser 
aber  erwirbt  doch  stillschweigend  ein  eigenthümliches 
Kecht  an  der  Verlassenschaft  als  ein  Sachenrecht,  näm- 
lich ausschliesslich,  sie  zu  acceptiren  {jus  in  re  jacente), 
daher  diese  in  dem  gedachten  Zeitpunkt  haereditas  jacens 
heisst.  Da  nun  jeder  Mensch  nothwendiger  Weise  (weil 
er  dadurch  wohl  gewinnen,  nie  aber  verlieren  kann) 
ein  solches  Recht,  mithin  auch  stillschweigend  acceptirt 
und  Titius  nach  dem  Tode  des  Cajus  in  diesem  Falle 
ist,  so  kann  er  die  Erbschaft  durch  Annahme  des  Ver- 
sprechens erwerben,  und  sie  ist  nicht  etwa  mittlerweile 
ganz  herrenlos  {res  mdlius)^  sondern  nur  erledigt  (^'^.s 


1Q3  ßechtslehre.  I.  Theil.  2.  Hauptst.    EpisocL  Abschn. 


vacua)  gewesen;  weil  er  ausschliesslich    das  Recht    der 
Wahl  hatte,  ob  er  die  hinte 
machen  wollte,  oder  nicht. 


Wahl  hatte,  ob  er  die  hinterlassene  Habe  zu  der  seinigen 


Also  sind  die  Testamente  auch  nach  dem  blossen 
Naturrecht  gültig  {swit  juris  naturae);  welche  Be- 
hauptung aber  so  zu  verstehen  ist,  dass  sie  fähig 
und  würdig  seien,  im  bürgerlichen  Zustande  (wenn 
dieser  dereinst  eintritt)  eingeführt  und  sanctionirt 
zu  werden.  Denn  nur  dieser  (der  allgemeine  Wille 
in  demselben)  bewahrt  den  Besitz  der  Yerlassen- 
schaft  während  dessen,  dass  diese  zwischen  der 
Annahme  und  der  Verwerfung  schwebt  und  eigent- 
lich Keinem  angehört. 5^) 


III. 

Der  Naclilass  eines  guten  Namens  nach  dem  Tode. 

{Bona  fama  defimcti.) 

§.  35. 

Dass  der  Verstorbene  nach  seinem  Tode  (wenn  er 
also  nicht  melir  ist)  noch  etwas  besitzen  könne,  wäre 
eine  Ungereimtheit  zu  denken,  wenn  der  Nachlass  eine 
Sache  wäre.  Nun  ist  aber  der  gute  Name  ein  ange- 
bornes  äusseres,  obzwar  bloss  ideales  Mein  oder  Dein, 
was  dem  Subjekt  als  einer  Person  anhängt,  von  deren 
Natur,  ob  sie  mit  dem  Tode  gänzlich  aufhöre  zu  sein, 
oder  immer  noch  als  solche  übrig  bleibe,  ich  abstrahiren 
kann  und  muss,  weil  ich  im  rechtlichen  Verhältniss  auf 
Andere  jede  Person  bloss  nach  ihrer  Menschheit,  mithin 
als  homo  noiLinenon  wirklich  betrachte,  und  so  ist  jeder 
Versuch,  ihn  nach  dem  Tode  in  üble  falsche  Nachrede 
zu  bringen,  immer  bedenklich;  obgleich  eine  gegrün- 
dete Anklage  desselben  gar  wohl  stattfindet  (mithin  der 
Grundsatz:  de  mortuis  nihil  nisi  hene,  unrichtig  ist), 
weil  gegen  den  Abwesenden,  welcher  sich  nicht  ver- 
theidigen  kann,  Vorwürfe  auszustreuen,  ohne  die  grösste 
Gewissheit  derselben,  wenigstens  ungrossmüthig  ist. 

Dass  durch  ein  tadelloses  Leben  und  einen  dasselbe 
beschliessenden  Tod  der  Mensch  einen  (negativ-)  guten 


V.  cl.  idealen  Erwerb.  III.  d.  g\  Namens  nach  dem  Tode.  §.  35.  j^qq 

Namen  als  das  Seine,  welches  ihm  übrig  bleibt,  erwerbe, 
wenn  er  als  liomo  jjhaenomenon  nicht  mehr  existirt,  und 
dass  die  Ueberlebenden  (angehörige  oder  fremde)  ihn 
auch  vor  Recht  zu  vertheidigen  befugt  sind  (weil  uner- 
wiesene  Anklage  sie  insgesammt  wegen  ähnlicher  Be- 
gegnung auf  ihren  Sterbefall  in  Gefahr  bringt),  dass  er^ 
sage  ich,  ein  solches  Recht  erwerben  könne,  ist  eine 
sonderbare,  nichtsdestoweniger  unleugbare  Erscheinung 
der  a  iiiiovi  gesetzgebenden  Vernunft,  die  ihr  Gebot 
und  Verbot  auch  über  die  Grenze  des  Lebens  hinaus 
erstreckt.  —  Wem  Jemand  von  einem  Verstorbenen  ein 
Verbrechen  verbreitet,  das  diesen  im  Leben  ehrlos,  oder 
nur  verächtlich  gemacht  haben  würde;  so  kann  ein  Je- 
der, W' elcher  einen  Beweis  führen  kann,  dass  diese  Be- 
schuldigung vorsätzlich  unwahr  und  gelogen  sei,  den, 
welcher  jenen  in  böse  Nachrede  bringt,  für  einen  Calum- 
nianten  öffentlich  erklären,  mithin  ilm  selbst  ehrlos 
machen;  welches  er  nicht  thun  dürfte,  wenn  er  nicht 
mit  Recht  voraussetzte,  dass  der  Verstorbene  dadurch 
beleidigt  w^äre,  ob  er  gleich  todt  ist,  und  dass  diesem 
durch  jene  Apologie  Genugthuung  widerfahre,  ob  er 
gleich    nicht    mehr  existirt."^-)    Die  Befugniss,    die  RoRe 


-;  Dass  man  aber  hierbei  ja  nicht  auf  Vorempnndung 
eines  künftigen  Lebens  und  unsichtbare  Verhältnisse  zu 
abgeschiedenen  Seelen  schwärmerisch  schliesse;  denn  es 
ist  hier  von  nichts  weiter,  als  dem  reinmoralischen  und 
rechtlichen  Verhältnisse,  was  unter  Menschen  auch  im  Leben 
statthat,  die  Rede,  worin  sie,  als  intelligible  Wesen,  stehen, 
indem  man  alles  Physische  (zu  ihrer  Existenz  in  Raum  und 
Zeit  Gehörende)  logisch  davon  absondert,  d.  i.  davon 
abstrahirt,  nicht  aber  die  Menschen  diese  ihre  Natur  aus- 
ziehen und  sie  Geister  v/erden  lässt,  in  welchem  Zustande 
sie  die  Beleidigung  durch  ihre  Verleumder  fühlten.  —  Der, 
welcher  nach  hundert  Jahren  mir  etwas  Böses  fälschlich 
nachsagt,  beleidigt  mich  schon  jetzt;  denn  im  reinen  Rechts-^ 
Verhältnisse,  welches  ganz  intellektuell  ist,  wird  von  allen 
physischen  Bedingungen  (der  Zeit)  abstrahirt,  und  der 
Ehrenräuber  'Calumniant)  ist  ebensowohl  strafbar,  als  ob 
er  es  in  meiner  Lebzeit  gethan  hätte;  nur  durch  kein  Kri- 
minalgericht,  sondern  nur  dadurch,  dass  ihm  nach  dem 
Rechte  der  Wiedervergeltung  durch  die  öffentliche  Meinung 
derselbe  Verlust  der  Ehre  zugefügt  wird,    die  er  an  einem 


110  Rechslehre.  I.  Theil.  2.  Hauptst.  Episod.  Abschn. 

des  Apologeten  für  den  Verstorbenen  zu  spielen,  darf 
dieser  auch  nicht  beweisen;  denn  jeder  Mensch  masst 
sie  sich  unvermeidlich  an,  als  nicht  bloss  zur  Tugend- 
pflicht (ethisch  betrachtet),  sondern  sogar  zum  Recht 
der  Menschheit  überhaupt  gehörig;  und  es  bedarf  hierzu 
keiner  besonderen  persönlichen  Nachtheile,  die  etwa 
Freunden  und  Anverwandten  aus  einem  solchen  Schand- 
fleck am  Verstorbenen  erwachsen  dürften,  um  jenen  zu 
einer  solchen  Rüge  zu  berechtigen.  —  Dass  also  eine 
solche  ideale  Erwerbung  und  ein  Recht  des  Menschen 
nach  seinem  Tode  gegen  die  Ueberlebenden  gegründet 
sei,  ist  nicht  zu  streiten,  obschon  die  Möglichkeit  desselben 
keiner  Deduction  fähig  ist.  55) 


Anderen  schmälerte.  —  Selbst  das  Plagiat,  welches  ein 
Schriftsteller  an  Verstorbenen  verübt,  ob  es  zwar  die  Ehre 
des  Verstorbeneu  nicht  befleckt,  sondern  diesem  nur  einen 
Theil  derselben  entwendet,  wird  doch  mit  Recht  als  Läsion 
desselben  (Menschenraub)  geahndet. 


Drittes  Hauptstück. 

Ton  der  subjektiy-bediugten  Erwerbung  durch 
den  Ausspruch  einer  öffentlichen  Gerichts- 
barkeit. 

§.  36. 

Wenn  unter  Naturrecht  nur  das  nicht  -  statutarische, 
mithin  lediglich  das  a  'priori  durch  jedes  Menschen  Ver- 
nunft erkennbare  Recht  verstanden  wird,  so  wird  nicht 
bloss  die  zwischen  Personen  in  ihrem  wechselseitigen 
Verkehr  untereinander  geltende  Gerechtigkeit  (justitia 
commutativa),  sondern  auch  die  austheilende  {justitia 
distributiv ci)j  sowie  sie  nach  ihrem  Gesetze  a  prioi'i  er- 
kannt werden  kann,  dass  sie  ihren  Spruch  [sententid] 
fällen  müsse,  gleichfalls  zum  Naturrecht  gehören. 

Die  moralische  Person,  welche  der  Gerechtigkeit  vor- 
steht, ist  der  Gerichtshof  (forum),  und  im  Zustande 
ihrer  Amtsführung,  das  Gericht  (Judicium);  alles  nur 
nach  Rechtsbediugungen  a  priori  gedacht,  ohne,  wie  eine 
solche  Verfassung  wirklich  einzurichten  und  zu  organi- 
siren  sei  (wozu  Statute,  also  empirische  Prinzipien  ge- 
hören), in  Betrachtung  zu  ziehen. 

Die  Frage  ist  also  hier  nicht  bloss,  was  ist  an  sich 
riecht,  wie  nämlich  hierüber  ein  jeder  Mensch  für  sich 
zu  urtheilen  habe,  sondern,  was  ist  vor  einem  Gerichts- 
hofe recht,  d.  i.  was  ist  Rechtens?  und  da  giebt  es  vier 
Fälle,  wo  beiderlei  Urtheile  verschieden  und  entgegen- 
gesetzt ausfallen  und  dennoch  neben  einander  bestehen 
können;    weil   sie  aus   zwei   verschiedenen,    beiderseits 


;[12  Rechtslehre.    I.  Theil.    3.  Haiiptstück. 

wahren  Gesichtspunkten  gefällt  werden:  die  eine  nach 
dem  Privatrecht,  die  andere  nach  der  Idee  des  öffent- 
lichen Rechts.  —  Sie  sind:  1)  der  Sc  henk  ungs  ver- 
trag (pactum  donationis);  2)  der  Leih  vertrag  {commo- 
datum) ;  3)  die  W  i  e  d  e  r  e  r  1  a  n  g u  u  g  {vindicatio) ;  4)  die 
V^ereidigung  (juramentum). 

Es  ist  ein  gewöhnlicher  Fehler  der  Erschleichung 
(Vitium  suhreptionis)  der  Rechtslehrer,  dasjenige  recht- 
liche Prinzip,  was  ein  Gerichtshof,  zu  seinem  eigenen 
Behuf  (also  in  subjektiver  Absicht)  anzunehmen  befugt, 
ja  sogar  verbunden  ist,  um  über  jedes  einem  zustehende 
Recht  zu  sprechen  und  zu  richten,  auch  objektiv  für  das, 
was  an  sich  selbst  recht  ist,  zu  halten;  da  das  erstere 
doch  von  dem  letzteren  sehr  unterschieden  ist.  —  Es 
ist  daher  von  nicht  geringer  Wichtigkeit,  diese  speci- 
fische  Verschiedenheit  kennbar  und  darauf  aufmerksam 
zu  machen. 


§.  37. 
Von  dem  ScheDkimgsvertrage. 

Dieser  Vertrag  (domdio),  wodurch  ich  das  Mein^ 
meine  Sache  (oder  mein  Recht)  unvergolten  (^7'a^^s) 
veräussere,  enthält  ein  Verhältniss  von  mir,  dem 
Schenkenden  {donans),  zu  einem  Anderen,  dem  Be- 
schenkten [donatarius),  nach  dem  Privatrecht,  wo- 
durch das  Meine  auf  diesen  durcli  Annehmung  des 
Letzteren  (donum)  übergeht.  —  Es  ist  aber  nicht  zu 
präsumiren,  dass  ich  hierbei  gemeint  sei,  zu  der  Haltung 
meines  Versprechens  gezwungen  zu  werden,  und  also 
auch  meine  Freiheit  umsonst  wegzugeben,  und  gleich- 
6am  mich  selbst  wegzuwerfen  {nemo  suum  jactare 
praesumitur)^  welches  doch  nach  dem  Recht  im  bürger- 
lichen Zustande  geschehen  würde;  denn  da  kann  der 
Zubeschenkende  mich  zu  Leistung  des  Versprechens 
zwingen.  Es  müsste  also,  wenn  die  Sache  vor  Gericht 
käme,  d.  i.  nach  einem  öffentlichen  Recht  entweder  präsu- 
mirt  werden,  der  Verschenkende  willigte  zu  diesem 
Zwange  ein.,  welches  ungereimt  ist    oder  der  Gerichts- 


Von  der  subjektiv-bedingten  Erwerbung.  §.  38.    113 

hof  sehe  in  seinem  Spruch  (Sentenz)  gar  nicht  darauf, 
ob  jener  die  Freiheit,  von  seinem  Versprechen  abzu- 
gehen, hat  vorbehalten  wollen,  oder  nicht,  sondern  auf 
das,  was  gewiss  ist,  nämlich  das  Versprechen  und  die 
Acceptation  des  Promissars.  Wenn  also  gleich  der  Pro- 
mittent,  wie  wohl  vermuthet  werden  kann,  gedacht  hat, 
dass,  wenn  es  ihn  noch  vor  der  Erfüllung  gereut,  das 
Versprechen  gethan  zu  haben,  man  ihn  daran  nicht  bin- 
den könnte ;  so  nimmt  doch  das  Gericht  an,  dass  er  sich 
dieses  ausdrücklich  hätte  vorbehalten  müssen,  und,  wenn 
er  es  nicht  gethan  hat,  zu  Erfüllung  des  Versprechens 
könne  gezwungen  werden,  und  dieses  Prinzip  nimmt 
der  Gerichtshof  darum  an,  weil  ihm  sonst  das  Recht- 
sprechen unendlich  erschwert,  oder  gar  unmöglich  ge- 
macht werden  würde.  5^) 


B. 

§.  38. 
Vom  Leihvertrag. 

In  diesem  Vertrage  {Gommodatum)^  wodurch  ich  Je- 
mandem den  unvergoltenen  Gebrauch  des  Meinigen  er- 
laube, wo,  wenn  dieses  eine  Sache  ist,  die  Paciscenten 
darin  übereinkommen,  dass  dieser  mir  ebendieselbe 
Sache  wiederum  in  meine  Gewalt  bringe,  kann  der 
Empfänger  des  Geliehenen  (commodatainus)  nicht  zu- 
gleich präsumiren,  der  Eigenthümer  desselben  {commodans) 
nehme  auch  alle  Gefahr  {casus)  des  möglichen  Verlustes 
der  Sache,  oder  ihrer  ihm  nützlichen  Beschaffenheit  über 
sich,  der  daraus,  dass  er  sie  in  den  Besitz  des  Empfän- 
gers gegeben  hat,  entspringen  könnte.  Denn  es  ver- 
steht sich  nicht  von  selbst,  dass  der  Eigenthümer  ausser 
dem  Gebrauch  seiner  Sache,  den  er  dem  Lehnsempfänger 
bewilligt  (dem  von  denselben  unzertrennlichen  Abbruche 
derselben ),  auch  die  Sicherstellung  wider  allen  Scha- 
den, der  ihm  daraus  entspringen  kann,  dass  er  sie  aus 
seiner  eigenen  Gewahrsame  gab,  erlassen  habe ;  sondern 
darüber  müsste  ein  besonderer  Vertrag  gemacht  werden. 
Es  kann  also  nur  die  Frage  sein :  wem  von  beiden,  dem 
Lehnsgeber  oder  Lehnsempfänger,  es  obliegt,  die  Be- 
Kant, Metaphysik  der  Sitten.  g 


114  Rechtslehre.    I.  Theil.    3.  Hauptstück. 

diogung  der  Uebernehmung  der  Gefahr,  die  der  Sache 
zustossen  kann,  dem  Leihvertrag  ausdrücklich  beizu- 
fügen, oder,  wenn  das  nicht  geschieht,  von  wem  man 
die  Einwilligung  zur  Sicherstellung  des  Eigenthums 
des  Lehnsgebers  (durch  die  Zurückgabe  derselben  oder 
ein  Aequivalent)  präsumiren  könne  ?  Von  dem  Darleiher 
nicht;  weil  man  nicht  präsumiren  kann,  er  habe  mehr 
umsonst  eingewilligt,  als  den  blossen  Gebrauch  der  Sache 
(nämlich  nicht  auch  noch  obenein  die  Sicherheit  des 
Eigenthums  selber  zu  übernehmen);  aber  wohl  von  dem 
Lehnsnehmer;  weil  er  da  nichts  mehr  leistet,  als  gerade 
im  Vertrage  enthalten  ist. 

Wenn  ich  z.  B.  bei  einfallendem  Regen  in  ein  Haus 
eintrete,  und  erbitte  mir  einen  Mantel  zu  leihen,  der 
aber,  etwa  durch  unvorsichtige  Ausgiessung  abfärbender 
Materien  aus  dem  Fenster  auf  immer  verdorben,  oder, 
wenn  er,  indem  ich  ihn  in  einem  anderen  Hause,  wo 
ich  eintrete,  ablege,  mir  gestohlen  wird,  so  muss  doch 
die  Behauptung  jedem  Menschen  als  ungereimt  auffallen, 
ich  hätte  nichts  weiter  zu  thun,  als  jenen,  so  wie  er  ist, 
zurückzuschicken,  oder  den  geschehenen  Diebstahl  nur 
zu  melden;  allenfalls  sei  es  noch  eine  Höflichkeit,  den 
Eigenthümer  dieses  Verlustes  wegen  zu  beklagen,  da  er 
aus  seinem  Recht  nichts  fordern  könne.  —  Ganz  anders 
lautet  es,  wenn  ich  bei  der  Erbittung  dieses  Gebrauchs 
zugleich  auf  den  Fall,  dass  die  Sache  unter  meinen 
Händen  verunglückte,  mir  zum  voraus  verbäte,  auch 
diese  Gefahr  zu  übernehmen,  weil  ich  arm  und  den 
Verlust  zu  ersetzen  unvermögend  wäre.  Niemand  wird 
das  Letztere  überflüssig  und  lächerlich  finden,  ausser 
etwa,  wenn  der  Anleihende  ein  bekanntlich  vermögender 
und  wohldenkender  Mann  wäre,  weil  es  alsdann  bei- 
nahe Beleidigung  sein  würde,  die  grossmüthige  Erlassung 
meiner  Schuld  in  diesem  Falle  nicht  zu  präsumiren. 


Da  nun  über  das  Mein  und  Dein  aus  dem  Leihver- 
trage, wenn  (wie  es  die  Natur  dieses  Vertrages  so  mit 
sich  bringt)  über  die  mögliche  Verunglückung  {casus\ 
die  die  Sache  treffen  möchte,  nicht  verabredet  worden, 
er  also,  weil  die  Einwilligung  nur  präsumirt  worden,  ein 
Ungewisser  Vertrag    {pactum  incertmn)  ist,    das   Urtheil 


Von  der  subjektiv-bedingten  Erwerbung.  §.  39.   1X5 

'darüber,  d.  i.  die  Entscheidung,  wen  das  Unglück  treffen 
müsse,  nicht  aus  den  Bedingungen  des  Vertrages  an 
sich  selbst,  sondern,  wie  sie  allein  vor  einem  Ge- 
richtshofe, der  immer  nur  auf  das  Gewisse  in  jenem 
sieht  (welches  hier  der  Besitz  der  Sache  als  Eigenthum 
ist),  entschieden  werden  kann;  so  wird  das  Urtheil  im 
Naturzustande,  d.  i.  nach  der  Sache  innerer  Beschaffen- 
heit so  lauten :  der  Schade  aus  der  Verunglückung  einer 
geliehenen  Sache  fällt  auf  den  Belle henen  {casum 
sentit  commodatarius) ;  dagegen  im  bürgerlichen,  also 
vor  einem  Gerichtshofe,  wird  die  Sentenz  so  ausfallen: 
der  Schade  fällt  auf  den  Anleiher  {casum  sentit  domi- 
nus) ^  und  zwar  aus  dem  Grunde  verschieden  von  dem 
Ausspruche  der  blossen  gesunden  Vernunft,  weil  ein 
öffentlicher  Richter  sich  nicht  auf  Präsumtionen  von  dem, 
was  der  eine  oder  andere  Theil  gedacht  haben  mag,  ein- 
lassen kann,  sondern  der,  welcher  sich  nicht  die  Frei- 
heit von  allem  Schaden  an  der  geliehenen  Sache  durch 
einen  besonderen  angehängten  Vertrag  ausbedungen  hat, 
diesen  selbst  tragen  muss.  —  Also  ist  der  Unterschied 
zwischen  dem  Urtheile,  wie  es  ein  Gericht  fällen  müsste, 
und  dem,  was  die  Privatvernuuft  eines  Jeden  für  sich 
zu  fällen  berechtigt  ist,  ein  durchaus  nicht  zu  übersehen- 
der Punkt  in  Berichtigung  der  Rechtsurtheile.57) 


Von  der  Wiedererlangung  (Rückbemächtigung) 
des  Verlornen  (vindicatio). 

§.  39. 

Dass  eine  fortdauernde  Sache,  die  mein  ist,  mein 
bleibe,  ob  ich  gleich  nicht  in  der  fortdauernden  Inhabung 
derselben  bin,  und  selbst  ohne  einen  rechtlichen  Akt  {de- 
relictionis  vel  alienationis)  mein  zu  sein  nicht  aufhöre; 
und  dass  mir  ein  Recht  in  dieser  Sache  {jus  reale)^ 
mithin  gegen  jeden  Inhaber,  nicht  bloss  gegen  'eine 
bestimmte  Person  {jus  personale)  zusteht,  ist  aus  dem 
Obigen  klar.  Ob  aber  auch  dieses  Recht  von  jedem 
Anderen  als  ein  für  sich  fortdauerndes  Eigenthum 
müsse   angesehen   werden,    wenn   ich    demselben    nur 

8* 


WQ  Rechtslehre.     I.  Theil.     3.  Hauptstück. 

nicht    entsagt   habe,    und   die  Sache   in   dem  Besitz 
eines  Anderen  ist,  das  ist  nun  die  Frage. 

Ist  die  Sache  mir  abhanden  gekommen  (res  amissa) 
und  so  von  einem  Anderen  auf  ehrliche  Art  {bona 
fide),  als  ein  vermeinter  Fund,  oder  durch  förmliche 
Veräusserung  des  Besitzers,  der  sich  als  Eigenthümer 
führt,  an  mich  gekommen,  obgleich  dieser  nicht  Eigen- 
thümer ist,  so  fragt  sich,  ob,  da  ich  von  einem  Nicht- 
eigenthümer  {a  non  doynino)  eine  Sache  nicht  er- 
werben kann,  ich  durch  jenen  von  allem  Recht  in  dieser 
Sache  ausgeschlossen  werde,  und  bloss  ein  persönliche& 
gegen  den  unrechtmässigen  Besitzer  übrig  behalte.  — 
Das  Letztere  ist  offenbar  der  Fall,  wenn  die  Erwerbung 
bloss  n^ch  ihren  inneren  berechtigenden  Gründen  (im 
Naturzustande),  nicht  nach  der  Konvenienz  eines  Ge- 
richtshofes beurtheilt  wird. 

Denn   alles  Veräusserliche  muss  von  irgend  Jemand 
können   erworben   werden.      Die    Rechtmässigkeit   der 
Erwerbung    aber    beruht  gänzlich    auf   der  Form,    nach 
welcher  das,  was  im  Besitz  eines  Anderen  ist,  auf  mich 
übertragen  und  von  mir  angenommen  wird,  d.i.  auf  der 
Förmlichkeit   des  rechtlichen  Akts  des  Verkehrs  {com- 
mutatiö)    zwischen    dem  Besitzer    der    Sache    und    dem 
Erwerbenden,  ohne  dass  ich  fragen  darf,  wie  jener  dazu 
gekommen  sei;  weil  dieses  schon  Beleidigung  sein  würde, 
(quüibet  praesumitur   bomis,   donec  etc.)     Gesetzt  nun, 
es  ergäbe    sich   in    der  Folge,    dass  jener  nicht  Eigen- 
thümer sei,    sondern    ein  Anderer,    so    kann    ich    nicht 
sagen,dass  dieser  sich  geradezu  an  mich   halten  könnte 
(so  wie  auch  an  jeden  Anderen,  der  Inhaber  der  Sache 
sein    möchte.)     Denn   ich   habe    ihm    nichts    entwandt, 
sondern  das  Pferd,  was  auf  öffentlichem  Markte  feil  ge- 
boten wurde,  dem  Gesetze  gemäss   (titulo   emti  venditi) 
erstanden;    weil   der  Titel    der .  Erwerbung    meinerseits 
unbestritten    ist,    ich    aber    (als  Käufer)    den  Titel    des 
Besitzes  des  Anderen  (des  Verkäufers)  nachzusuchen,  — 
da  diese  Nachforschung  in  der  aufsteigenden  Reihe  ins 
Unendliche  gehen  würde,  —  nicht  verbunden,  ja  sogar 
nicht  einmal  befugt  bin.    Also  bin  ich  durch  den  gehörig- 
betitelten Kauf  nicht  der  bloss  putative,   sondern  der 
wahre  Eigenthümer  des  Pferdes  geworden. 

Hiewider  erheben  sich  aber  folgende  Rechtsgründe. 


Von  der  subjektiv-bedingten  Erwerbung.     §.  39.    117 

Alle  Erwerbung  von  einem,  der  nicht  Eigenthümer  der 
Sache  ist  (a  non  domino),  ist  null  und  nichtig.  Ich 
kann  von  dem  Seinen  eines  Anderen  nicht  mehr  auf 
mich  ableiten,  als  er  selbst  rechtmässig  gehabt  hat,  und, 
ob  ich  gleich,  was  die  Form  der  Erwerbung  (modus 
ncquireridi)  betrifft,  ganz  rechtlich  verfahre,  wenn  ich 
ein  gestohlen  Pferd,  was  auf  dem  Markte  feil  steht, 
erhandle,  so  fehlt  doch  der  Titel  der  Erwerbung;  denn 
das  Pferd  war  nicht  das  Seine  des  eigentlichen  Ver- 
käufers. Ich  mag  immer  ein  ehrlicher  Besitzer  des- 
selben (jjossessor  honae  fidei)  sein,  so  bin  ich  doch  nur 
ein  sich  dankender  Eigenthümer  [dominus  j^utativus) 
und  der  w^ahre  Eigenthümer  hat  das  Recht  der  Wieder- 
erlangung (rem  suam  vindicandi). 

Wenn  gefragt  wird,  was  (im  Naturzustande)  unter 
Menschen  nach  Prinzipien  der  Gerechtigkeit  im  Verkehr 
derselben  untereinander  (justitia  commutativa)  in  Er- 
werbung äusserer  Sachen  an  sich  Rechtens  sei,  so  muss 
mau  eingestehen:  dass,  wer  dieses  zur  Absicht  hat, 
durchaus  nöthig  habe,  noch  nachzuforschen,  ob  die  Sache, 
die  er  erwerben  will,  nicht  schon  einem  Anderen  ange- 
höre; nämlich,  wenn  er  gleich  die  formalen  Bedingungen 
der  Ableitung  der  Sache  von  dem  Seinen  des  Anderen 
genau  beobachtet  (das  Pferd  auf  dem  Markte  ordentlich 
erhandelt)  hat,  er  dennoch  höchstens  nur  ein  persön- 
liches Recht  in  Ansehung  einer  Sache  {jus  ad  rem) 
habe  erwerben  können,  so  lange  es  ihm  noch  unbekannt 
ist,  ob  nicht  ein  Anderer  (als  der  Verkäufer)  der  wahre 
Eigenthümer  derselben  sei;  so  dass,  wenn  sich  einer 
vorfindet,  der  sein  vorhergeliendes  Eigenthum  daran 
dokumentiren  könnte,  dem  vermeinten  neuen  Eigen- 
thümer nichts  übrig  bliebe,  als  den  Nutzen,  so  er,  als 
ehrlicher  Besitzer,  bisher  daraus  gezogen  hat,  bis  auf 
diesen  Augenblick  rechtmässig  genossen  zu  haben.  — 
Da  nun  in  der  Reihe  der  von  einander  ihr  Recht  ab- 
leitenden, sich  dünkenden  Eigenthümer  den  schlechthin 
ersten  (Stammeigenthümer)  auszufinden,  mehrentheils 
unmöglich  ist;  so  kann  kein  Verkehr  mit  äusseren 
Sachen,  so  gut  er  auch  mit  den  formalen  Bedingungen 
dieser  Art  von  Gerechtigkeit  (justitia  commutativa)  über- 
einstimmen möchte,  einen  sicheren  Erwerb  gewähren. 


118  Rechtslehre.    I.  Theil.     3.  Hauptstück. 

Hier  tritt  nun  wieder  die  rechtlich-gesetzgebende 
Vernunft  mit  dem  Grundsatz  der  distributiven  Ge- 
rechtigkeit ein,  die  Rechtmässigkeit  des  Besitzes; 
nicht  wie  sie  an  sich  in  Beziehung  auf  den  Privatwillen 
eines  Jeden  (im  natürlichen  Zustande),  sondern  nur  wie 
sie  vor  einem  Gerichtshofe,  in  einem  durch  den  all- 
gemein-vereinigten Willen  entstandenen  Zustande  (in 
einem  bürgerlichen)  abgeurtheilt  werden  w^ürde,  zur 
Richtschnur  anzunehmen;  wo  alsdann  die  Ueberein- 
Stimmung  mit  den  formalen  Bedingungen  der  Erwerbung^ 
die  an  sich  nur  ein  persönliches  Recht  begründen,  zu 
Ersetzung  der  materialen  Gründe  (welche  die  Ableitung 
von  dem  Seinen  eines  vorhergehenden  prätendirenden 
Eigenthümers  begründen)  als  hinreichend  postulirt  wird^ 
um  ein  an  sich  persönliches  Recht,  vor  einen  Ge- 
richtshof gezogen,  als  ein  Sachenrecht  gilt,  z.  B. 
dass  das  Pferd,  was  auf  öffentlichem,  durchs  Polizei- 
gesetz geordneten  Markt  Jedermann  feil  steht,  wenn  alle 
Regeln  des  Kaufs  und  Verkaufs  genau  beobachtet  wor- 
den, mein  Eigenthum  werde  (so  doch,  dass  dem  wahren 
Eigenthümer  das  Recht  bleibt,  den  Verkäufer,  wegen 
seines  älteren  unverwirkten  Besitzes,  in  Anspruch  zu 
nehmen),  und  mein  sonst  persönliches  Recht  in  ein 
Sachenrecht,  nach  welchem  ich  das  Meine,  wo  ich  es 
finde,  nehmen  (vindiciren)  darf,  verwandelt  wird,  ohne 
mich  auf  die  Art,  wie  der  Verkäufer  dazu  gekommen, 
einzulassen. 

Es  geschieht  also  nur  zum  Behuf  des  Rechtsspruchs 
vor  einem  Gerichtshofe  {infavoremjustitiae  distrihutwae), 
dass  das  Recht  in  Ansehung  einer  Sache  nicht,  wie  es 
an  sich  ist  (als  ein  persönliches),  sondern  wie  es  am 
leichtesten  und  sichersten  abgeurtheilt  werden 
kann  (als  Sachenrecht),  doch  nach  einem  reinen  Prinzip 
a  priori  angenommen  und  behandelt  werde.  —  Auf 
diesem  gründen  sich  nun  nachher  verschiedene  statu- 
tarische Gesetze  (Verordnungen),  die  vorzüglich  zur 
Absicht  haben,  die  Bedingungen,  unter  denen  allein  eine 
Erwerbungsart  rechtskräftig  sein  soll,  so  zu  stellen,  dass 
der  Richter  das  Seine  einem  Jeden  am  leichtesten 
und  unbedenklichsten  zuerkennen  könne;  z.  B.  in 
dem  Satz :  Kauf  bricht  Miethe,  wo,  was  der  Natur  des 
Vertrags  nach,    d.  i.    an    sich    ein  Sachenrecht  ist    (die 


Von  der  subjektiv-bedingten  Erwerbung.     §.  40.   1\Q 

Miethe),  für  ein  bloss  persönliches,  und  umgekehrt,  wie 
in  dem  obigen  Fall,  was  an  sich  bloss  ein  persönliches 
Recht  ist,  für  ein  Sachenrecht  gilt,  wenn  die  Frage  ist, 
auf  welche  Prinzipien  ein  Gerichtshof  im  bürgerlichen 
Zustande  anzuweisen  sei;  um  in  seinen  Aussprüchen, 
wegen  des  einem  Jeden  zustehenden  Rechts  am  sicher- 
sten zu  gehen.  58) 


D. 

Von  der  Erwerhung  der  Sicherheit  durch  Eides- 
ablegung.     (Cautio  jnratoria.) 

§.  40. 

Man  kann  keinen  anderen  Grund  angeben,  der  recht- 
lich Menschen  verbinden  könnte,  zu  glauben  und  zu 
bekennen,  dass  es  Götter  gebe,  als  den,  damit  sie  einen 
Eid  schwören,  und  durch  die  Furcht  vor  einer  allsehen- 
den obersten  Macht,  deren  Rache  sie  feierlich  gegen  sich 
aufrufen  mussten,  im  Fall,  dass  ihre  Aussage  falsch  wäre, 
genöthigt  werden  könnten,  wahrhaft  im  Aussagen  und 
treu  im  Versprechen  zu  sein.  Dass  man  hierbei  nicht 
auf  die  Moralität  dieser  beiden  Stücke,  sondern  bloss 
auf  einen  blinden  Aberglauben  derselben  rechnete,  ist 
daraus  zu  ersehen,  dass  man  sich  von  ihrer  blossen 
feierlichen  Aussage  vor  Gericht  in  Rechtssachen  keine 
Sicherheit  versprach,  obgleich  die  Pflicht  der  Wahr- 
haftigkeit in  einem  Falle,  wo  es  auf  das  Heiligste,  was 
unter  Menschen  nur  sein  kann  (aufs  Recht  der  Menschen), 
ankommt,  Jedermann  so  klar  einleuchtet,  mithin  blosse 
Mährchen  den  Bewegungsgrund  ausmachen:  wie  z.  B. 
das  unter  den  Rejangs,  einem  heidnischen  Volke  auf 
Sumatra,  welche,  nach  Marsden's  Zeugniss,  bei  den 
Knochen  ihrer  verstorbenen  Anverwandten  schwören,  ob 
sie  gleich  gar  nicht  glauben,  da^s  es  noch  ein  Leben 
nach  dem  Tode  gebe,  oder  der  Eid  der  Guinea- 
schwarzen bei  ihrem  Fetisch,  etwa  einer  Vogelfeder, 
auf  die  sie  sich  vermessen,  dass  sie  ihnen  den  Hals 
brechen  solle  u.  dgl.  Sie  glauben,  dass  eine  unsicht- 
bare Macht,   sie   mag   nun  Verstand  haben   oder  nicht, 


j^20  Rechtslehre.    I.  Theil.    3.  Hauptstück. 

schon  ihrer  Natur  nach,  diese  Zauberkraft  habe,  die 
durch  einen  solchen  Aufruf  in  That  versetzt  wird.  — 
Ein  solcher  Glaube,  dessen  Name  Religion  ist,  eigent- 
lich aber  Superstition  heissen  sollte,  ist  aber  für  die 
Rechtsverwaltung  unentbehrlich,  weil,  ohne  auf  ihn  2u 
rechnen,  der  Grerichtshof  nicht  genugsam  im  Stande 
wäre,  geheim  gehaltene  Fakta  auszumitteln,  und  Recht 
zu  sprechen.  Ein  Gesetz,  das  hierzu  verbindet,  ist  also 
offenbar  nur  zum  Behuf  der  richtenden  Gewalt  gegeben. 
Aber  nun  ist  die  Frage:  worauf  gründet  man  die 
Verbindlichkeit,  die  Jemand  vor  Gericht  haben  soll,  eines 
Anderen  Eid  als  zu  Recht  gültigen  Beweisgrund  der 
Wahrheit  seines  Vorgebens  anzunehmen,  der  allem 
Hader  ein  Ende  mache,  d.  i.  was  verbindet  mich  recht- 
lich, zu  glauben,  dass  ein  Anderer  (der  Schwörende) 
überhaupt  Religion  habe,  um  mein  Recht  auf  seinen 
Eid  ankommen  zu  lassen  ?  Imgleichen  umgekehrt :  kann 
ich  überhaupt  verbunden  werden,  zu  schwören?  Beides 
ist  an  sich  unrecht. 

Aber  in  Beziehung  auf  einen  Gerichtshof,  also  im 
bürgerlichen  Zustande,  wenn  man  annimmt,  dass  es  kein 
anderes  Mittel  giebt,  in  gewissen  Fällen  hinter  die  Wahr- 
heit zu  kommen,  als  den  Eid,  muss  von  der  Religion 
vorausgesetzt  werden,  dass  sie  jeder  habe,  um  sie,  als 
ein  Nothmittel  {in  casu  necessitatis),  zum  Behuf  des 
rechtlichen  Verfahrens  vor  einem  Gerichts hofe  zu 
gebrauchen,  welcher  diesen  Geisteszwang  (tortura  sjnri- 
tualis)  für  ein  behenderes  und  dem  abergläubischen 
Hange  der  Menschen  angemesseneres  Mittel  der  Auf- 
deckung des  Verborgenen,  und  sich  darum  für  berech- 
tigt hält,  es  zu  gebrauchen.  —  Die  gesetzgebende  Ge- 
walt handelt  aber  im  Grunde  unrecht,  diese  Befugniss 
der  richterlichen  zu  ertheilen;  weil  selbst  im  bürgerlichen 
Zustande  ein  Zwang  zu  Eidesleistungen  der  unverlier- 
baren menschlichen  Freiheit  zuwider  ist. 

Wenn  die  Amtseide,  welche  gewöhnlich  pro- 
missorisch sind,  dass  man  nämlich  den  ernst- 
lichen Vorsatz  habe,  sein  Amt  pflichtmässig  zu 
verwalten,  in  assertorische  verwandelt  würden, 
dass  nämlich  der  Beamte  etwa  zu  Ende  eines  Jahres 
(oder  mehrerer)  verbunden  wäre,  die  Treue  seiner 
Amtsführung   während    desselben   zu    beschwören; 


üebergang  v.  d.  Naturzustände  z.  rechtlichen.    §.  41.    X21 

so  würde  dieses  tlieils  das  Gewissen  'mehr  in  Be- 
wegung bringen,  als  der  Yersprecliungseid,  welcher 
hinterher  noch  immer  den  inneren  Vorwand  übrig 
lässt,  man  habe,  bei  dem  besten  Vorsatz,  die  Be- 
schwerden nicht  vorausgesehen,  die  man  nur  nach- 
her während  der  Amtsverwaltung  erfahren  habe, 
und  die  Pflichtübertretungen  würden  auch,  wenn 
ihre  Summirung  durch  Aufmerker  bevorstände,  mehr 
Besorgniss  der  Anklage  wegen  erregen,  als  wenn 
sie  bloss  eine  nach  der  anderen  (über  welche  die 
vorigen  vergessen  sind)  gerügt  würden.  —  Was 
aber  das  Beschwören  des  Glaubens  {de  credulitate) 
betrifft,  so  kann  dieses  gar  nicht  von  einem  Gericht 
verlangt  werden.  Denn  erstlich  enthält  es  in  sich 
selbst  einen  Widerspruch :  dieses  Mittelding  zwischen 
Meinen  und  Wissen,  weil  es  so  etwas  ist,  worauf 
man  wohl  zu  wetten,  keines  weges  aber  darauf  zu 
schwören  sich  getrauen  kann.  Zweitens  begeht 
der  Richter,  der  solchen  Glaubenseid  dem  Parten 
ansinuete,  um  etwas  zu  seiner  Absicht  Gehöriges, 
gesetzt  es  sei  auch  das  gemeine  Beste,  auszumitteln, 
einen  grossen  Verstoss  an  der  Gewissenhaftigkeit 
des  Eidleistenden,  theils  durch  den  Leichtsinn,  zu 
dem  er  verleitet,  theils  durch  Gewissensbisse,  die 
ein  Mensch  fühlen  muss,  der  heute  eine  Sache,  aus 
einem  gewissen  Gesichtspunkte  betrachtet,  sehr 
wahrscheinlich,  morgen  aber,  aus  einem  anderen, 
ganz  unwahrscheinlich  finden  kann,  und  lädirt  also 
denjenigen,  den  er  zu  einer  solchen  Eidesleistung 
nöthigt.5ö) 

üebergang  Yom  Mein  und  Dein  im  Naturzustande  zudem 
im  reclitliclien  Zustande  überhaupt. 

§.  41. 

Der  rechtliche  Zustand  ist  dasjenige  Verhältniss  der 
Menschen  unter  einander,  welches  die  Bedingungen  ent- 
hält, unter  denen  allein  jeder  seines  Rechts  theilhaftig 
werden  kann,  und  das  formale  Prinzip  der  Möglichkeit 
desselben,  nach  der  Idee  eines  allgemein  gesetzgeben- 
den Willens  betrachtet,  heisst  die  öffentliche  Gerechtig- 


j^22  Rechtslehre.    I.  Theil     3.  Hauptstück. 

keit,  welche  in  Beziehung  entweder  auf  die  Möglichkeit, 
oder  Wirklichkeit,  oder  Nothwendigkeit  des  Besitzes  der 
Gegenstände  (als  der  Materie  der  Willkür)  nach  Gesetzen, 
in  die  beschützende  {justitia  tutatrix),  die  wechsel- 
seitig erwerbende  {justitia  comtnutativa)  und  die 
aust heilende  Gerechtigkeit  {justitia  distribiitiva) 
eingetheilt  werden  kann.  —  Das  Gesetz  sagt  hierbei 
erstens  bloss,  welches  Verhalten  innerlich  der  Form 
nach  recht  ist  {lex  justi);  zweitens,  was  als  Materie 
noch  auch  äusserlich  gesetzfähig  ist,  d.  i.  dessen  Besitz- 
stand rechtlich  ist  {lex juridica);  drittens,  was  und 
wovon  der  Ausspruch  vor  einem  Gerichtshofe  in  einem 
besonderen  Falle  unter  dem  gegebenen  Gesetze  diesem 
gemäss,  d.  i.  Rechtens  ist  (lex  justitiae),  wo  man 
denn  auch  jenen  Gerichtshof  selbst  die  Gerechtigkeit 
eines  Landes  nennt,  und  ob  eine  solche  sei  oder  nicht 
sei,  als  die  wichtigste  unter  allen  rechtlichen  Angelegen- 
heiten gefragt  werden  kann. 

Der  nicht  rechtliche  Zustand,  d.  i.  derjenige,  in 
welchem  keine  austheilende  Gerechtigkeit  ist,  heisst  der 
natürliche  Zustand  {status  naturalis).  Ihm  wird  nicht 
der  gesellschaftliche  Zustand  (wie  Achenwall 
meint)  und  der  ein  künstlicher  {status  artificialis)  heissen 
könnte,  sondern  der  bürgerliche  {status  civilis)  einer 
unter  einer  distributiven  Gerechtigkeit  stehenden  Gesell- 
schaft entgegengesetzt;  denn  es  kann  auch  im  Natur- 
zustände rechtmässige  Gesellschaften  (z.  B.  eheliche, 
väterliche,  häusliche  überhaupt  und  andere  beliebige 
mehr)  geben,  von  denen  kein  Gesetz  a  priori  gilt:  ii^du 
sollst  in  diesen  Zustand  treten",  wie  es  wohl  vom  recht- 
lichen Zustande  gesagt  werden  kann,  dass  alle  Men- 
schen, die  mit  einander  (auch  unwillkürlich)  in  Rechts- 
verhältnisse kommen  können,  in  diesen  Zustand  treten 
sollen. 

Man  kann  den  ersteren  und  zweiten  Zustand  den 
des  P  r i  V  a  t  r e  c  h  t  s ,  den  letzteren  und  dritten  aber  den 
des  öffentlichen  Rechts  nennen.  Dieses  enthält 
nicht  mehr,  oder  andere  Pflichten  der  Menschen  unter 
sich,  als  in  jenem  gedacht  werden  können;  die  Materie 
des  Privatrechts  ist  ebendieselbe  in  beiden.  Die  Gesetze 
des  letzteren  betreffen  also  nur  die  rechtliehe  Form  ihres 
Beisammenseins  (Verfassung),  in  Ansehung  deren  diese 


Uebergang  v.  d.  Naturzustände  z.  rechtlichen.    §.  42.    123 

Gesetze    nothwendig    als     öffentliche     gedacht    werden 
müssen. 

Selbst  der  bürgerliche  Verein  {ujiio  civilis)  kann 
nicht  wohl  eine  Gesellschaft  genannt  werden;  denn 
zwischen  dem  Befehlshaber  (imjjerans)  und  dem 
Unterthan  {suhditus)  ist  keine  Mitgenossenschaft;  sie 
sind  nicht  Gesellen^  sondern  einander  untergeordnet, 
nicht  beigeordnet,  und  die  sich  einander  beiordnen, 
müssen  sich  eben  deshalb  untereinander  als  gleich  an- 
sehen, sofern  sie  unter  gemeinsamen  Gesetzen  stehen. 
Jener  Verein  ist  also  nicht  sowohl,  als  macht  vielmehr 
eine  Gesellschaft. 

§.  42. 

Aus  dem  Privatrecht  im  natürlichen  Zustande  geht 
nun  das  Postulat  des  öffentlichen  Rechts  hervor:  du 
sollst,  im  Verhältnisse  eines  unvermeidlichen  Nebenein- 
anderseins, mit  allen  Anderen,  aus  jenem  heraus,  in 
einen  rechtlichen  Zustand,  d.  i.  den  einer  austheilenden 
Gerechtigkeit  übergehen.  —  Der  Grund  davon  lässt  sich 
analytisch  aus  dem  Begriffe  des  Rechts,  im  äusseren 
Verhältniss,  im  Gegensatz  der  Gewalt  [ciolentid)  ent- 
wickeln. 

Niemand  ist  verbunden,  sich  des  Eingriffs  in  den 
Besitz  des  Anderen  zu  enthalten,  wenn  dieser  ihm  nicht 
gleichmässig  auch  Sicherheit  giebt,  er  werde  ebendieselbe 
Enthaltsamkeit  gegen  ihn  beobachten.  Er  darf  also 
nicht  abwarten,  bis  er  etwa  durch  eine  traurige  Er- 
fahrung von  der  entgegengesetzten  Gesinnung  des  Letz- 
teren belehrt  wird;  denn  was  sollte  ihn  verbinden,  aller- 
erst durch  Schaden  klug  zu  werden,  da  er  die  Neigung 
der  Menschen  überhaupt,  über  andere  den  Meister  zu 
spielen  (die  Ueberlegenheit  des  Rechts  anderer  nicht 
zu  achten,  wenn  sie  sich  der  Macht  oder  List  nach 
diesen  überlegen  fühlen),  in  sich  selbst  hinreichend 
wahrnehmen  kann,  und  es  ist  nicht  nöthig,  die  wirkliche 
Feindseligkeit  abzuwarten;  er  ist  zu  einem  Zwange 
gegen  den  befugt,  der  ihm  schon  seiner  Natur  nach  da- 
mit droht.  [Quilibet  praesumitur  malusy  donec  securi- 
tatem  dederit  oppositi.) 

Bei  dem  Vorsatze,  in  diesem  Zustande  äusserlich  ge- 


124  Rechtslehre.    I.  Theil.    3.  Hauptstück. 

setzloser  Freiheit  zu  sein  und  zu  bleiben,  thun  sie  ein- 
ander auch  gar  nicht  unrecht,  wenn  sie  sich  unterein- 
ander befehden;  denn  was  dem  Einen  gilt,  das  gilt  auch 
wechselseitig  dem  Anderen,  gleich  als  durch  eine  Ueber- 
einkunft  {uti  j^artes  de  jure  suo  disponunt,  ita  jus  est) ; 
aber  überhaupt  thun  sie  im  höchsten  Grade  daran  un- 
recht,*) in  einem  Zustande  sein  und  bleiben  zu  wollen, 
der  kein  rechtlicher  ist,  d.  i.  in  dem  Niemand  des  Seinen 
wider  Gewaltthätigkeit  sicher  ist.  60) 


*;  Der  Unterschied  zwischen  dem,  was  bloss  formaliter, 
und  dem,  was  auch  materialiter  unrecht  ist,  hat  in  der 
Eechtslehre  manuigfaltigen  Gebrauch,  Der  Feind,  der  statt 
seine  Kapitulationen  mit  der  Besatzung  einer  belagerten 
Festung  ehrhch  zu  vollziehen,  sie  bei  dieser  ihrem  Auszuge 
misshandelt,  oder  sonst  diesen  Vertrag  bricht,  kann  nicht 
über  Unrecht  klagen,  wenn  sein  Gegner  bei  Gelegenheit 
ihm  denselben  Streich  spielt.  Aber  sie  thun  überhaupt  im 
höchsten  Grade  unrecht,  weil  sie  dem  Begriff  des  Rechts 
selber  alle  Gültigkeit  nehmen,  und  alles  der  wilden  Gewalt, 
gleichsam  gesetzmässig,  überliefern  und  so  das  Recht  der 
Menschen  überhaupt  umstürzen. 


Anhang 

erläuternder  BemerkuDgen   zu   den   metaphysischen 
Anfangsgründen  der  Rechtslehre,  t) 


Die  Veranlassung  zu  denselben  nehme  ich  grösstentheils 
von  der  Rezension  dieses  Buches  in  den  Götting. 
Anz.  28stes  Stück,  den  18.  Februar  1797;  welche 
mit  Einsieht  und  Schärfe  der  Prüfung,  dabei  aber 
doch  auch  mit  Tbeilnahme  und  „der  Hoffnung,  dass 
jene  Anfangsgründe  Gewinn  für  die  Wissenschaft 
bleiben  werden,"  abgefasst,  ich  hier  zum  Leitfaden 
der  Beurtheilung,  überdem  auch  einiger  Erweiterung 
dieses  Systems  gebrauchen  will. 


Gleich  beim  Anfange  der  Einleitung  in  die  Rechts- 
lehre stösst  sich  mein  scharfprüfender  Rezensent  an  einer 
Definition.  —  Was  heisst  Begehrungsvermögen? 
Sie  ist,  sagt  der  Text,  das  Vermögen,  durch  seine  Vor- 
stellungen Ursache  der  Gegenstände  dieser  Vorstellungen 
zu  sein.  —  Dieser  Erklärung  wird  entgegengesetzt: 
„dass  sie  nichts  wird,  sobald  man  von  äusseren  Be- 
dingungen der  Folge  des  Begehrens  abstrahirt.  —  Das 
Begehrungsvermögen  ist  aber  auch  dem  Idealisten  etwas; 


t.  Dieser  Anhang  ist  erst  in  der   2.  Ausgabe   hinzuge- 
kommen. 


12Q  Rechtslehre.    I.  Theil. 

obgleich  diesem  die  Aussenwelt  nichts  ist."  Antwort: 
Giebt  es  aber  auch  nicht  eine  heftige,  und  doch  zugleich 
mit  Bewusstsein  vergebliche  Sehnsucht  (z.  B.  wollte  Gott, 
jener  Mann  lebte  noch!),  die  zwar  thatleer,  aber  doch 
nicht  folge  leer  ist,  und  zwar  nicht  an  Aussendingen, 
aber  doch  im  Innern  des  Subjekts  selbst  mächtig  wirkt 
(krank  macht).  Eine  Begierde  als  Bestreben  (nisus), 
vermittelst  seiner  Vorstellungen  Ursache  zu  sein,  list, 
wenn  das  Subjekt  gleich  die  Unzulänglichkeit  der  letzteren 
zur  beabsichtigten  Wirkung  einsieht,  doch  immer  Kau- 
salität, wenigstens  im  Innern  desselben.  —  Was  hier 
den  Missverstand  ausmacht,  ist:  dass,  da  das  Bewusst- 
sein seines  Vermögens  überhaupt  (in  dem  genannten 
Falle)  zugleich  das  Bewusstsein  seines  Unvermögens 
in  Ansehung  der  Aussenwelt  ist,  die  Definition  auf  den 
Idealisten  nicht  anwendbar  ist;  indessen  dass  doch,  da 
hier  bloss  von  dem  Verhältnisse  einer  Ursache  (der  Vor- 
stellung) zur  Wirkung  (dem  Gefühl)  überhaupt  die  Rede 
ist,  die  Kausalität  der  Vorstellung  (jene  mag  äusserlich 
oder  innerlich  sein)  in  Ansehung  ihres  Gegenstandes  im 
Begriff  des  Begehrungsvermögens  unvermeidlich  gedacht 
werden  muss.^i) 


1. 

Logische  Vorbereitung  zu  einem  neuerdings 
gewagten  Rechtsbegriffe. 

Wenn  rechtskundige  Philosophen  sich  bis  zu  den 
metaphysischen  Anfangsgründen  der  üechtslehre  erheben, 
oder  versteigen  wollen  (ohne  welche  alle  ihre  Rechts- 
wissenschaft bloss  statutarisch  sein  würde),  so  können 
sie  über  die  Sicherung  der  Vollständigkeit  ihrer  Ein- 
theilung  der  Rechtsbegriffe  nicht  gleichgültig  wegsehen : 
weil  jene  Wissenschaft  sonst  kein  Vernunft  System, 
sondern  bloss  aufgerafftes  Aggregat  sein  würde.  —  Die 
Topik  der  Prinzipien  muss,  der  Form  des  Systems 
halber,  vollständig  sein,  d.  i.  es  muss  der  Platz  zu 
einem  Begriff  (locus  communis)  angezeigt  werden,  der 
nach  der  synthetischen  Form  der  Eintheilung  für  diesen 
Begriff  offen  ist;  man  mag  nachher  auch  darthun,   dass 


Anhang  erläuternder  Bemerkungen.  127 

einer  oder  der  andere  Begriff,  der  in  diesen  Platz  ge- 
vsetzt  würde,  an  sich  widersprechend  sei  und  aus  diesem 
Platze  wegfalle. 

Die  Rechtslehrer  haben  bisher  nun  zwei  Gemein- 
plätze besetzt:  den  des  dinglichen  und  den  des  per- 
sönlichen Rechts.  Es  ist  natürlich,  zu  fragen:  ob 
auch,  da  noch  zwei  Plätze,  aus  der  blossen  Form  der 
Verbindung  beider  zu  einem  Begriffe,  als  Glieder  der 
Eintheilung  a  'priori^  offen  stehen,  nämlich  der  eines 
auf  persönliche  Art  dinglichen,  imgleichen  der  eines  auf 
dingliche  Art  persönlichen  Rechts,  ob  nämlich  ein  solcher 
ueuhinzukommender  Begriff  auch  statthaft  sei  und  vor 
der  Hand,  obzwar  nur  problematisch,  in  der  vollständigen 
Tafel  der  Eintheilung  angetroffen  werden  müsse.  Das 
Letztere  leidet  keinen  Zweifel.  Denn  die  bloss  logische 
Eintheilung  (die  vom  Inhalt  der  Erkenntniss  —  dem 
Objekt  —  abstrahirt)  ist  immer  Dichotomie,  z.  B. 
ein  jedes  Recht  ist  entweder  ein  dingliches,  oder  ein 
nicht-dingliches  Recht.  Diejenige  aber,  von  der  hier  die 
Rede  ist,  nämlich  die  metaphysische  Eintheilung,  kann 
auch  Tetrachotomie  sein,  weil  ausser  den  zwei  einfachen 
Gliedern  der  Eintheilung  noch  zwei  Verhältnisse,  näm- 
lich die  der  das  Recht  einschränkenden  Bedingungen 
hinzukommen,  unter  denen  das  eine  Recht  mit  dem 
anderen  in  Verbindung  tritt,  deren  Möglichkeit  einer 
besonderen  Untersuchung  bedarf.  —  Der  Begriff  eines 
auf  persönliche  Art  dinglichen  Rechts  fällt  ohne 
w^eitere  Umstände  weg;  denn  es  lässt  sich  kein  Recht 
einer  Sache  gegen  eine  Person  denken.  Nun  fragt 
sich :  ob  die  Umkehrung  dieses  Verhältnisses  auch  eben 
so  undenkbar  sei;  oder  ob  dieser  Begriff,  nämlich  der 
eines  auf  dingliche  Art  persönlichen  Rechts, 
nicht  allein  ohne  inneren  Widerspruch,  sondern  selbst 
auch  ein  nothwendiger  [a  'priori  in  der  Vernunft  ge- 
gebener) zum  Begriffe  des  äusseren  Mein  und  Dein  ge- 
hörender Begriff  sei,  Personen  auf  ähnliche  Art  als 
Sachen,  zwar  nicht  in  allen  Stücken  zu  behandeln, 
aber  sie  doch  zu  besitzen  und  in  vielen  Verhältnissen 
mit  ihnen  als  Sachen  zu  verfahren. 


228  Rechtslehie.     I.  Theil. 


RechtfertigiiDg  des  Begriffs  von  einem  auf  dingliche 
Art  persönlichen  Recht. 

Die  Definition  des  auf  dingliche  Art  persönlichen 
Rechts  ist  nun  kurz  und  gut  diese:  „es  ist  das  Recht 
des  Menschen,  eine  Person  ausser  sich  als  das  Seine*) 
zu  haben."  Ich  sage  mit  Fleiss  eine  Person;  denn, 
einen  anderen  Menschen,  der  durch  Verbrechen  seine 
Persönlichkeit  eiugebüsst  hat  (zum  Leibeigenen  geworden 
ist),  könnte  man  wohl  als  das  Seine  haben;  von  diesem 
Sachrecht  ist  aber  hier  nicht  die  Rede. 

Ob  nun  jener  Begriff  „  als  neues  Phänomen  am 
juristischen  Himmel"  eine  stellet  mirabilis  (eine  bis  zum 
Stern  erster  Grösse  wachsende,  vorher  nie  gesehene, 
allmählig  aber  wieder  verschwindende,  vielleicht  einmal 
wiederkehrende  Erscheinung),  oder  bloss  eine  Stern- 
schnuppe sei,  das  soll  jetzt  untersucht  werden. 

3. 
Beispiele. 

Etwas  Aeusseres  als  das  Seine  haben  heisst  es  recht- 
lich besitzen;  Besitz  aber  ist  die  Bedingung  der  Mög- 
lichkeit des  Gebrauchs.     Wenn    diese  Bedingung   bloss 


*)  Ich  sage  hier  auch  nicht:  „eine  Person  als  die  meinige" 
^mit  dem  Adjektiv\  sondern  als  das  Meine  (t6  meum^  mit 
dem  Substantiv)  zu  haben."  Denn  ich  kann  sagen:  dieser 
ist  mein  Vater,  das  bezeichnet  nur  mein  physisches  Ver- 
hältniss  (der  Verknüpfung;  zu  ihm  überhaupt.  Z.  B.  „ich 
habe  einen  Vater."  Aber  ich  kann  nicht  sagen:  „ich  habe 
ihn  als  das  Meine."  Sage  ich  aber:  mein  Weib,  so  be- 
deutet dieses  ein  besonderes,  nämlich  rechtliches  Verhält- 
niss  des  Besitzers  zu  einem  Gegenstande  (wenn  es  auch  eine 
Person  wäre;  als  Sache.  Besitz  (physischer)  aber  ist 
die  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Handhabung  (mani- 
pulatio)  eines  Dinges  als  einer  Sache;  wenn  dieses  gleich, 
in  einer  anderen  Beziehung,  zugleich  als  Person  behandelt 
werden  muss. 


Anhang  erläuternder  Bemerkungen.  j^29 

als  die  physische  gedacht  wird,  so  heisst  der  Besitz  In- 
habung.  —  Rechtmässige  Inhabung  reicht  nun  zwar 
allein  nicht  zu,  um  deshalb  den  Gegenstand  für  das 
Meine  auszugeben,  oder  es  dazu  zu  machen;  wenn  ich 
aber,  es  sei  aus  welchem  Grunde  es  wolle  befugt  bin^ 
auf  die  Inhabung  eines  Gegenstandes  zu  dringen,  der 
meiner  Gewalt  entwischt  oder  entrissen  ist,  so  ist  dieser 
Rechtsbegriff  ein  Zeichen  (wie  Wirkung  von  ihrer  Ur- 
sache), dass  ich  mich  für  befugt  halte,  ihn  als  das 
Meine,  mich  aber  auch  als  im  inteUigiblen  Besitz 
desselben  befindlich  gegen  ihn  zu  verhalten  und  diesen 
Gegenstand  so  zu  gebrauchen. 

Das  Seine  bedeutet  zwar  hier  nicht  das  des  Eigen- 
thums  an  der  Person  eines  Anderen  (denn  Eigenthümer 
kann  ein  Mensch  nicht  einmal  von  sich  selbst,  viel 
weniger  von  einer  anderen  Person  sein),  sondern  nur 
das  Seine  des  Niessbrauchs  (jus  utendi  fruendi)  un- 
mittelbar von  dieser  Person,  gleich  als  von  einer  Sache^ 
doch  ohne  Abbruch  an  ihrer  Persönlichkeit,  als  Mittel 
zu  meinem  Zweck  Gebrauch  zu  machen. 

Dieser  Zweck  aber,  als  Bedingung  der  Rechtmässig- 
keit des  Gebrauchs,  muss  moralisch  nothwendig  sein. 
Der  Mann  kann  weder  das  Weib  begehren,  um  es  gleich 
als  Sache  zu  geniessen,  d.  i.  unmittelbares  Vergnügen 
an  der  bloss  thierischen  Gemeinschaft  mit  demselben  zu 
empfinden,  noch  das  Weib  sich  ihm  dazu  hingeben,  ohne 
dass  beide  Theile  ihre  Persönlichkeit  aufgeben  (fleisch- 
liche oder  viehische  Beiwohnung),  d.  i.  ohne  unter  der 
Bedingung  der  Ehe,  welche,  als  wechselseitige  Dahin- 
gebung  seiner  Person  selbst  in  den  Besitz  der  anderen, 
vorher  geschlossen  werden  muss;  um  durch  körper- 
lichen Gebrauch,  den  ein  Theil  vom  anderen  macht,  sich 
nicht  zu  entmenschen. 

Ohne  diese  Bedingung  ist  der  fleischliche  Genuss 
dem  Grundsatz  (wenngleich  nicht  immer  der  Wirkung 
nach)  kannibalisch.  Ob  mit  Maul  und  Zähnen,  der 
weibliche  Theil  durch  Schwängerung  und  daraus  viel- 
leicht erfolgende,  für  ihn  tödtliche  Niederkunft,  der 
männliche  aber  durch,  von  öfteren  Ansprüchen  des 
Weibes  an  das  Geschlechtsvermögen  des  Mannes  her- 
rührende Erschöpfungen  aufgezehrt  wird,  ist  bloss  in 
der  Manier  zu  geniessen  unterschieden,    und    ein  Theil 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten  9 


"1^30  Rechtslehre.    I.  Theil. 

ist  in  Ansehung  des  anderen,  bei  diesem  wechselseitigen 
Gebrauche  der  Geschlechtsorgane,  wirklich  eine  Ter- 
Tbrauclibare  Sache  {res  fungibilis),  zu  welcher  also  sich 
vermittelst  eines  Vertrags  zu  machen,  es  ein  gesetz- 
widriger Vertrag  {pactum  turpe)  sein  würde. 

Ebenso  kann  der  Mann  mit  dem  Weibe  kein  Kind, 
als  ihr  beiderseitiges  Machwerk  {res  artificialis)  zeugen, 
ohne  dass  beide  Theile  sich  gegen  dieses  und  gegen 
einander  die  Verbindlichkeit  zuziehen,  es  zu  er- 
halten; welches  doch  auch  die  Erwerbung  eines  Men- 
schen gleich  als  einer  Sache,  aber  nur  der  [Form  nach 
(einem  bloss  auf  dingliche  Art  persönlichen  Rechte  an- 
gemessen) ist.  Die  Eltern*)  haben  ein  Recht  gegen 
jeden  Besitzer  des  Kindes,  das  aus  ihrer  Gewalt  ge- 
bracht worden  {jus  in  re),  und  zugleich  ein  Recht,  es 
zu  allen  Leistungen  und  aller  Befolgung  ihrer  Befehle 
zu  nöthigen,  die  einer  möglichen  gesetzlichen  Freiheit 
nicht  zuwider  sind  {jus  ad  rem) ;  folglich  auch  ein  per- 
sönliches Recht  gegen  dasselbe. 

Endlich,  wenn  bei  eintretender  Volljährigkeit  die 
Pflicht  der  Eltern  zur  Erhaltung  ihrer  Kinder  aufhört, 
so  haben  jene  noch  das  Recht,  diese  als  ihren  Befehlen 
unterworfene  Hausgenossen  zu  Erhaltung  des  Hauswesens 
zu  brauchen,  bis  zur  Entlassung  derselben ;  welches  eine 
Pflicht  der  Eltern  gegen  diese  ist,  die  aus  der  natür- 
lichen Beschränkung  des  Rechts  der  ersteren  folgt.  Bis 
dahin  sind  sie  zwar  Hausgenossen  und  gehören  zur 
Familie,  aber  von  nun  an  gehören  sie  zur  Diener- 
schaft {famulatus)  in  derselben,  die  folglich  nicht  an- 
ders, als  durch  Vertrag  zu  dem  Seinen  des  Hausherrn 
(als  seine  Domestiken)  hinzu  kommen  können.  Ebenso 
kann  auch  eine  Dienerschaft  ausser  der  Familie 
zu  dem  Seinen  des  Hausherrn  nach  einem  auf  dingliche 
Ali;  persönlichen  Rechte  gemacht  und  als  Gesinde  {fa- 
Qiiulatus  domesticus)  durch  Vertrag  erworben  werden. 
Ein  solcher  Vertrag  ist  nicht  dereiner  blossen  Verdin- 
gung {locatio  coiiductio  operae),  sondern  der  Hingebung 


*)  In  deutscher  Schreibart  werden  unter  dem  Wort 
Aelteren  seniores,  unter  den  Eiteren  aber  parentes  verstan- 
-den ;  welches  im  Sprachlaut  nicht  zu  unterscheiden,  dem 
Sinne  nach  aber  sehr  unterschieden  ist. 


Anhang  erläuternder  Bemerkungen.  \^[ 

seiner  Person  in  den  Besitz  des  Hausherrn^  Ver- 
miethung  {loeatio  conductio  personae)^  welche  darin 
von  jener  Verdingung  unterschieden  ist,  dass  das  Ge- 
sinde sich  zu  allem  Erlaubten  versteht,  was  das 
Wohl  des  Hauswesens  betrifft  und  ihm  nicht,  als  be- 
stellte und  specifisch  bestimmte  Arbeit,  aufgetragen  wird ; 
anstatt  dass  der  zur  bestimmten  Arbeit  gedungene  (Hand- 
werker oder  Tagelöhner)  sich  nicht  zu  dem  Seinen  des 
Anderen  hingiebt  und  so  auch  kein  Hausgenosse  ist.  — 
Des  Letzteren,  weil  er  nicht  im  rechtlichen  Besitz  des 
Anderen  ist,  der  ihn  zu  gewissen  Leistungen  verpflichtet, 
kann  der  Hausherr,  wenn  jener  auch  sein  häuslicher 
Einwohner  {inquilinus)  wäre,  sich  nicht  {via  facti)  als 
einer  Sache  bemächtigen,  sondern  muss  nach  dem 
persönlichen  Recht  auf  die  Leistung  des  Versprochenen 
dringen,    welche    ihm    durch  Rechtsmittel  {via  juris)  zu 

Gebote  stehen. So  viel  zur  Erläuterung  und  Ver- 

theidigung  eines  befremdlichen,  neu  hinzukommenden 
Rechtstitels  in  der  natürlichen  Gesetzlehre,  der  doch 
stillschweigend  immer  im  Gebrauch  gewesen  ist. 


lieber  die  Verwechselung  des  dinglichen  mit  dem 
persönlichen  Rechte. 

Ferner  ist  mir  als  Heterodoxie  im  natürlichen  Pri- 
vatrechte auch  der  Satz:  Kauf  bricht  Miet he  (Rechtsl. 
§.  31.  S.  95)   zur  Rüge  aufgestellt  worden. 

Dass  Jemand  die  Miethe  seines  Hauses  vor  Ablauf 
der  bedungenen  Zeit  der  Einwohnung  dem  Miether  auf- 
kündigen, und  also  gegen  diesen,  wie  es  scheint,  sein 
Versprechen  brechen  könne,  wenn  er  es  nur  zur  ge- 
wöhnlichen Zeit  des  Verziehens,  in  der  dazu  gewohnten 
bürgerlich-gesetzlichen  Frist  thut,  scheint  freilich  beim 
ersten  Anblick  allen  Rechten  aus  einem  Vertrage  zu 
widerstreiten.  —  Wenn  aber  bewiesen  werden  kann, 
dass  der  Miether,  da  er  seinen  Miethskontrakt  machte, 
wusste  oder  wissen  musste,   dass  das  ihm  gethane  Ver- 

9* 


132  Rechtslehre.    I.  Theil. 

sprechen  des  Vermiethers,  als  Eigenthümers,  natür- 
licher Weise  (ohne  dass  es  im  Kontrakt  ausdrücklich 
gesagt  werden  durfte),  also  stillschweigend  an  die  Be- 
dingung geknüpft  war:  wofern  dieser  sein  Haus 
binnen  dieser  Zeit  nicht  verkaufen  sollte  (oder 
es  bei  einem,  etwa  über  ihn  eintretenden  Konkurs  seinen 
Gläubigern  überlassen  müsste) ,  so  hat  dieser  sein  schon 
an  sich  der  Vernunft  nach  bedingtes  Versprechen  nicht 
gebrochen,  und  der  Miether  ist  durch  die,  ihm  vor  der 
Miethszeit  geschehene  Aufkündigung  an  seinem  Rechte 
nicht  verkürzt  worden. 

Denn  das  Recht  des  Letzteren  aus  dem  Miethskon- 
trakte  ist  ein  persönliches  Recht  auf  das,  was  eine 
gewisse  Person  der  anderen  zu  leisten  hat  {jus  ad  rem); 
nicht  gegen  jeden  Besitzer  der  Sache  [jus  in  re\  ein 
dingliches. 

Nun  konnte  der  Miether  sich  wohl  in  seinem  Mieths- 
kontrakte  sichern  und  sich  ein  dingliches  Recht  am 
Hause  verschaffen ;  er  durfte  nämlich  diesen  nur  auf  da& 
Haus  des  Vermiethers,  als  am  Grunde  haftend,  ein- 
schreiben (ingrossiren)  lassen;  alsdann  konnte  er 
durch  die  Aufkündigung  des  Eigenthümers,  selbst  nicht 
durch  dessen  Tod  (den  natürlichen  oder  auch  den  bür- 
gerlichen, den  Bankrott),  vor  Ablauf  der  abgemachten 
Zeit  aus  der  Miethe  gesetzt  werden.  Wenn  er  es  nicht 
that,  weil  er  etwa  frei  sein  wollte,  anderweitig  eine  Miethe 
auf  bessere  Bedingungen  zu  schliessen,  oder  der  Eigen- 
thümer  sein  Haus  nicht  mit  einem  solchen  onus  belegt 
wissen  wollte,  so  ist  daraus  zu  schliessen:  dass  ein  Jeder 
von  Beiden  in  Ansehung  der  Zeit  der  Autkündigung 
(die  bürgerlich  bestimmte  Frist  zu  derselben  ausgenommen) 
einen  stillschweigend -bedingten  Kontrakt  gemacht  zu 
haben  sich  bewusst  war,  ihn  ihrer  Konvenienz  nach  wieder 
aufzulösen.  Die  Bestätigung  der  Befugniss,  durch  den 
Kauf  Miethe  zu  brechen,  zeigt  sich  auch  an  gewissen 
rechtlichen  Folgerungen  aus  einem  solchen  nackten 
Miethskontrakte ;  denn  den  Erben  des  Miethers,  wenn 
dieser  verstorben  ist,  wird  doch  nicht  die  Verbindlich- 
keit zugemuthet,  die  Miethe  fortzusetzen ;  weil  diese  nur 
die  Verbindlichkeit  gegen  eine  gewisse  Person  ist,  die 
mit  dieser  ihrem  Tode  aufhört  ^wobei  doch  die  gesetz- 
liche Zeit   der  Aufkündigung   immer   mit   in   Anschlag 


Anhang  erläuternder  Bemerkungen.  133 

gebracht  werden  muss).  Ebensowenig  kann  auch  das 
Kecht  des  Miethers,  als  eines  solchen,  auch  auf  seine 
Erben  ohne  einen  besonderen  Vertrag  übergehen;  so 
wie  er  auch  beim  Leben  beider  Theile,  ohne  ausdrück- 
liche Uebereinkunft,  keinen  Aftermiether  zu  setzen 
befugt  ist.  62) 

5. 

Zusatz  zur  Erörterung  der  Begriffe  des  Strafrechts. 

Die  blosse  Idee  einer  Staatsverfassung  unter  Men- 
schen führt  schon  den  Begriff  einer  Strafgerechtigkeit 
bei  sich,  welche  der  obersten  Gewalt  zusteht.  Es  fragt 
sich  nur,  ob  die  Strafarten  dem  Gesetzgeber  gleichgültig 
sind,  wenn  sie  nur  als  Mittel  dazu  taugen,  das  Ver- 
brechen (als  Verletzung  der  Staatssicherheit  im  Besitz 
des  Seinen  eines  Jeden)  zu  entfernen,  oder  ob  auch  noch 
auf  Achtung  für  die  Menschheit  in  der  Person  des 
Missethäters  (d.  i.  für  die  Gattung)  Rücksicht  genommen 
werden  müsse,  und  zwar  aus  blossen  Rechtsgründen, 
indem  ich  das  jus  talionis,  der  Form  nach,  noch  immer 
für  die  einzige  a  jyriori  bestimmende  (nicht  aus  der 
Erfahrung,  welche  Heilmittel  zu  dieser  Absicht  die  kräf- 
tigsten wären,  hergenommene)  Idee  als  Prinzip  des 
Strafrechts  halte.*)  —  V/ie  wird  es  aber  mit  den  Ver- 


*)  In  jeder  Bestrafung  liegt  etwas  das  Ehrgefühl  des 
Angeklagten  (mit  Recht)  Kränkendes ;  weil  sie  einen  blossen 
einseitigen  Zwang  enthält  und  so  an  ihm  die  Würde  eines 
Staatsbürgers,  als  eines  solchen,  in  einem  besonderen  Fall 
wenigstens  suspendirt  ist;  da  er  einer  äusseren  Pflicht  unter- 
worfen wird,  der  er  seinerseits  keinen  Widerstand  entgegen- 
setzen darf.  Der  Vornehme  und  Reiche,  der  auf  den  Beutel 
-geklopft  wird,  fühlt  mehr  seine  Erniedrigung,  sich  unter 
den  Willen  des  geringeren  Mannes  beugen  zu  müssen,  als 
den  Geldverlust.  Die  Strafgerechtigkeit  {justitia  puni- 
iiva],  da  nämlich  das  Argument  der  Strafbarkeit  mora- 
lisch ist  {quia  peccatum  est],  muss  hier  von  der  Strafklug- 
lieit,  da  es  bloss  pragmatisch  ist  {ne  peccetur)  und  sich 
auf  Erfahrung  von  dem  gründet,  was  am  stärksten  wirkt, 
Verbrechen  abzuhalten,  unterschieden  werden,  und  hat  in 
der  Topik  der  Rechtsbegriffe  einen  ganz  anderen  Ort,  locus 


134  Rechtslehre.    I.  Theil. 

brechen  gehalten  werden,  die  keine  Erwiedeiwng  zu- 
lassen; weil  diese  entweder  an  sich  unmöglich,  oder 
selbst  ein  strafbares  Verbrechen  an  der  Menschheit 
überhaupt  sein  würden,  wie  z.  ß.  das  der  Nothzüchti- 
gung;  inigleichen  das  der  Päderastie,  oder  Bestialität? 
Die  beiden  ersteren  durch  Kastration  (entweder  wie  eines 
weissen  oder  schwarzen  Verschnittenen  im  Serail),  das 
letztere  durch  Ausstossung  aus  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft auf  immer,  weil  er  sich  selbst  der  menschlichen 
unwürdig  gemacht  hat.  —  Fer  quod  quis  peccat,  per 
idem  punitur  et  idem.  —  Die  gedachten  Verbrechen 
heissen  darum  unnatürlich,  weil  sie  an  der  Menschheit 
selbst  ausgeübt  werden.  —  Willkürlich  Strafen  für 
sie  zu  verhängen  ist  dem  Begriffe  einer  Straf-Gerech- 
tigkeit  buchstäblich  zuwider.  Nur  dann  kann  der 
Verbrecher  nicht  klagen,  dass  ihm  Unrecht  geschehe, 
wenn  er  seine  Uebelthat  sich  selbst  über  den  Hals  zieht, 
und  ihm,  wenngleich  nicht  dem  Buchstaben,  doch  dem 
Geiste  des  Strafgesetzes  gemäss,  das  widerfährt,  was  er 
an  Anderen  verbrochen  hat.  6*^) 


6. 
Vom  Recht  der  Ersitzung. 

„Das  Recht  der  Ersitzung  (usucapio)  soll  nach 
S.  104  f.  t)  durchs  Naturrecht  begründet  werden.  Denn 
nähme  man  nicht  an,  dass  durch  den  ehrlichen  Besitz 
eine  ideale  Erwerbung,  wie  sie  hier  genannt  wird,, 
so  begründet  werde,  wäre  gar  keine  Erwerbung  perem- 
torisch  gesichert.  (Aber  Hr.  K.  nimmt  ja  selbst  im 
Naturstande  eine  nur  provisorische  Erwerbung  an,  und 
dringt  deswegen  auf  die  juristische  Nothwendigkeit  der 

bürgerlichen  Verfassung. Ich   behaupte   mich  ala 

ehrlicher  Besitzer   nur  gegen  den,    der   nicht   beweisen 
kann,  dass  er  eher,  als  ich,  ehrlicher  Besitzer  der- 


justi'^  nicht  des  conducibilis  oder  des  Zuträglichen  in  ge- 
wisser Absicht,  noch  auch  den  des  blossen   honestij   dessen 
Ort  in  der  Ethik  aufgesucht  werden  muss. 
t)  Vgl.  oben  §.  33. 


Anhang  erläuternder  Bemerkungen.  135 

selben  Sache  war  und  mit  seinem  Willen  zu  sein  nicht 

aufgehört  hat.)" Davon   ist   nun    hier  nicht   die 

Rede,  sondern  ob  ich  mich  auch  als  Eigen thümer  be- 
haupten kann,  wenn  sich  gleich  ein  Prätendent  als 
früherer  wahrer  Eigenthümer  der  Sache  melden  sollte, 
die  Erkundigung  aber  seiner  Existenz  als  Besitzers  und 
seines  Besitzstandes  als  Eigenthümers  schlechterdings 
unmöglich  war;  welches  Letztere  alsdann  zutrifft,  wenn 
dieser  gar  kein  öffentlich  gültiges  Zeichen  seines  un- 
unterbrochenen Besitzes  (es  sei  aus  eigener  Schuld  oder 
auch  ohne  sie),  z.  B.  durch  Einschreibung  in  Matrikeln, 
oder  unwidersprochene  Stimmgebung  als  Eigenthümer 
in  bürgerlichen  Versammlungen  von  sich  gegeben  hat. 

Denn  die  Frage  ist  hier:  wer  soll  seine  rechtmässige 
Erwerbung  beweisen?  Dem  Besitzer  kann  diese  Ver- 
bindlichkeit {onus  j^rohandi)  nicht  aufgebürdet  werden; 
denn  er  ist,  so  weit  wie  seine  konstatirte  Geschichte 
reicht,  im  Besitz  derselben.  Der  frühere  angebliche 
Eigenthümer  der  Sache  ist  durch  eine  Zwischenzeit, 
innerhalb  deren  er  keine  bürgerlich  gültigen  Zeichen 
seines  Eigenthums  gab,  von  der  Reihe  der  auf  einander 
folgenden  Besitzer  nach  Rechtsprinzipien  ganz  abge- 
schnitten. Diese  Unterlassung  irgend  eines  öffentlichen 
Besitzakts  macht  ihn  zu  einem  unbetitelten  Prätendenten. 
(Dagegen  heisst  es  hier,  wie  bei  der  Theologie,  conser- 
vatio  est  conti 71  ua  creatio.)  Wenn  sich  auch  ein  bis- 
her nicht  manifestirter,  obzwar  hintennach  mit  aufge- 
fundenen Dokumenten  versehener  Prätendent  vorfände, 
so  würde  doch  wiederum  auch  bei  diesem  der  Zweifel 
vorwalten,  ob  nicht  ein  noch  älterer  Prätendent  dereinst 
auftreten  und  seine  Ansprüche  auf  den  früheren  Besitz 
gründen  könnte.  —  Auf  die  Länge  der  Zeit  des  Be- 
sitzes kommt  es  hierbei  gar  nicht  an,  um  die  Sache 
endlich  zu  ersitzen  (acqiärere  j^ei' usucapionem).  Denn 
es  ist  ungereimt,  anzunehmen,  dass  ein  Unrecht  dadurch, 
dass  es  lange  gewährt  hat,  nachgerade  ein  Recht  werde. 
Der  (noch  so  lange)  Gebrauch  setzt  das  Recht  in  der 
Sache  voraus;  weit  gefehlt,  dass  dieses  sich  auf  jenen 
gründen  sollte.  Also  ist  die  Ersitzung  {itsacapio)  als 
Erwerbung  durch  den  langen  Gebrauch  einer  Sache 
ein  sich  selbst  widersprechender  Begriff.  Die  Ver- 
jährung  der  Ansprüche  als  Erhaltungsart  {conser-^ 


X36  Rechtslehre.    I.  Theil. 

vatio  2>ossessionis  meae  per  praescriptionem)  ist  es  nicht 
weniger;  indessen  doch  ein  von  dem  vorigen  unter- 
schiedener Begriff,  was  das  Argument  der  Zueignung 
betrifft.  Es  ist  nämlich  ein  negativer  Grund,  d.  i.  der 
gänzliche  Nichtgebrauch  seines  Rechts,  selbst  nicht 
einmal  der,  welcher  nöthig  ist,  um  sich  als  Besitzer  zu 
manifestiren,  für  eine  Verzichtthuung  auf  dieselbe 
{derelictio),  welche  ein  rechtlicher  Akt  d.  i.  Gebrauch 
seines  Rechts  gegen  einen  Anderen  ist,  um  durch  Aus- 
schliessung desselben  vom  Ansprüche  {per  p)raescrip- 
tionem)  das  Objekt  desselben  zu  erwerben,  welches  einen 
Widerspruch  enthält. 

Ich  erwerbe  also  ohne  Beweisführung  und  ohne  allen 
rechtlichen  Akt;  ich  brauche  nicht  zu  beweisen,  sondern 
dui'chs  Gesetz  {lege)  und  was  dann?  Die  öffentliche 
Befreiung  von  Ansprüchen,  d.  i.  die  gesetzliche 
Sicherheit  meines  Besitzes,  dadurch,  dass  ich 
nicht  den  Beweis  führen  darf,  und  mich  auf  einen  un- 
unterbrochenen Besitz  gründe.  Dass  aber  alle  Er- 
werbung im  Naturstande  bloss  provisorisch  ist,  das 
hat  keinen  Einfluss  auf  die  Frage  von  der  Sicherheit 
des  Besitzes  des  Erworbenen,  welche  vor  jener  vor- 
hergehen muss.^4) 

7. 
Von  der  Beerbimg. 

Was  das  Recht  der  Beerbung  anlangt,  so  hat  den 
Herrn  Rezensenten  diesesmal  sein  Scharfblick,  den  Ner- 
ven des  Beweises  meiner  Behauptung  zu  treffen,  ver- 
lassen. —  Ich  sage  ja  nicht  S.  106  t):  „dass  ein  jeder 
Mensch  nothwendiger  Weise  jede  ihm  angebotene 
Sache,  durch  deren  Annehmung  er  nur  gewinnen,  nichts 
verlieren  kann,  annehme"  (denn  solche  Sachen  giebt 
es  gar  nicht),  sondern  dass  ein  Jeder  das  Recht  des 
Angebots  in  demselben  Augenblick  unvermeidlich  und 
stillschweigend,  dabei  aber  doch  gültig,  immer  wirklich 
annehme:  wenn  es  nämlich  die  Natur  der  Sache  so  mit 


t)  Vgl.  oben  §.  34. 


Anhang  erläuternder  Bemerkungen.  X37 

sich  bringt,  dass  der  Widerruf  schlechterdings  unmöglich 
ist,   nämlich    im  Augenblicke    seinßs   Todes;    denn   da 
kann  der  Promittent  nicht  widerrufen,  und  der  Promissar 
ist,  ohne  irgend  einen  rechtlichen  Akt  begehen  zu  dürfen, 
in   demselben  Augenblicke    Acceptant,    nicht    der   ver- 
sprochenen   Erbschaft,    sondern    des  Rechts,    sie    anzu- 
nehmen   oder   auszuschlagen.      In    diesem  Augenblicke 
sieht   er    sich  bei  Eröffnung    des  Testaments,    dass  er, 
schon  vor  der  Acceptation   der  Erbschaft,  vermögender 
geworden  ist,  als  er  war;    denn    er   hat   ausschliesslich 
die   Befugniss   zu    acceptiren    erworben,    welche 
schon    ein  Vermögensumstand   ist.  —  Dass  hierbei  ein 
bürgerlicher  Zustand  vorausgesetzt  wird,  um   etwas   zu 
dem  Seinen  eines  Anderen  zu  machen,  wenn   man 
nicht  mehr    da    ist,    dieser  Uebergang    des  Besitzthums 
aus  der  Todtenhand   ändert  in  Ansehung  der  Möglich- 
keit   der  Erwerbung    nach    allgemeinen  Prinzipien    des 
Naturrechts  nichts,  wenngleich  der  Anwendung  derselben 
auf  den  vorkommenden  Fall  eine  bürgerliche  Verfassung 
zum  Grunde  gelegt  werden  muss.  —  Eine  Sache   näm- 
lich, die  ohne  Bedingung  anzunehmen   oder  auszuschla- 
gen in  meiner  freien  Wahl  gestellt  wird,  heisst  res  jacens. 
Wenn    der  Eigenthümer   einer  Sache   mir  etwas,    z.  B. 
ein  Möbel  des  Hauses,    aus    dem  ich  auszuziehen  eben 
im  Begriff  bin,  umsonst  anbietet  (verspricht,  es  soll  mein 
sein),  so  habe  ich,  so  lange  er  nicht  widerruft  (welches, 
wenn  er  darüber  stirbt,    unmöglich    ist),   ausschliesslich 
ein  Recht  zur  Acceptation  des  Angebotenen   {jus  in  re 
jacente),    d.  i.  ich  allein    kann  es  annehmen   oder  aus- 
schlagen, wie  es  mir  beliebt;   und    dieses  Recht,    aus- 
schliesslich  zu   w^ähleu,    erlange   ich    nicht   vermittelst 
eines  besonderen  rechtlichen  Akts  meiner  Deklaration: 
ich  wolle,  dieses  Recht  solle  mir  zustehen,  sondern  ohne 
denselben  {le(ye).  —  Ich    kann    also    zwar    mich    dahin 
erklären:  ich  wolle,  die  Sache  solle  mir  nicht  an- 
gehören (weil  diese  Annahme  mir  Verdriesslichkeiten 
mit   Anderen   zuziehen    dürfte),    aber   ich    kann    nicht 
wollen,  ausschliesslich  die  Wahl  zu  haben,  ob  sie  mir 
angehören    solle   oder   nicht;    denn    dieses    Recht 
(des  Annehmens  oder  Ausschiagens)  habe  ich,  ohne  alle 
Deklaration  meiner  Annahme,    unmittelbar   durchs  An- 
gebot; denn  wenn  ich  sogar  die  Wahl  zu  haben  aus- 


j^38  Rechtslehre.    I.  Theil. 

schlagen  könnte,  so  würde  ich  wählen,  nicht  zu  wählen ; 
welches  ein  Widerspruch  ist.  Dieses  Recht  zu  wählen 
geht  nun  im  Augenblicke  des  Todes  des  Erblassers  auf 
mich  über,  durch  dessen  Vermächtniss  {institutio  liae- 
redis)  ich  zwar  noch  nichts  von  der  Habe  und  Gut  des 
Erblassers,  aber  doch  den  bloss-rechtlichen  (intelli- 
giblen)  Besitz  dieser  Habe  oder  eines  Theils  derselben 
erwerbe;  deren  Annahme  ich  mich  nun  zum  Vortheil 
Anderer  begeben  kann,  mithin  dieser  Besitz  keinen 
Augenblick  unterbrochen  ist,  sondern  die  Succession  als 
eine  stetige  Reihenfolge  vom  Sterbenden  zum  einge- 
setzten Erben  durch  seine  Acceptation  übergeht  und 
so  der  Satz :  testamenta  sunt  juo'is  naturae,  wider  alle 
Zweifel  befestigt  wird. 65) 


8. 

Von  den  Rechten  des  Staats  in  Ansehung  ewiger 
Stiftungen  für  seine  Unterthanen. 

Stiftung  {sanctio  testamentaria  heneficii  perpetui) 
ist  die  freiwillige,  durch  den  Staat  bestätigte,  für  ge- 
wisse auf  einander  folgende  Glieder  desselben,  bis  zu 
ihrem  gänzlichen  Aussterben,  errichtete  wohlthätige  An- 
stalt. —  Sie  heisst  ewig,  wenn  die  Verordnung  zu  Er- 
haltung derselben  mit  der  Konstitution  des  Staats  selbst 
vereinigt  ist  (denn  der  Staat  muss  für  ewig  angesehen 
werden);  ihre  Wohlthätigkeit  aber  ist  entweder  für  das 
Volk  überhaupt,  oder  für  einen  nach  gewissen  beson- 
deren Grundsätzen  vereinigten  Theil  desselben,  einen 
Stand,  oder  für  eine  Familie  und  die  ewige  Fortdauer 
ihrer  Descendenten  abgezweckt.  Ein  Beispiel  vom 
Ersteren  sind  die  Hospitäler,  vom  Zweiten  die  Kir- 
chen, vom  Dritten  die  Orden  (geistliche  und  weltliche), 
vom  Vierten  die  Majorate. 

Von  diesen  Korporationen  und  ihrem  Rechte  zu 
succediren  sagt  man  nun,  sie  können  nicht  aufgehoben 
werden;  weil  es  durch  Vermächtniss  zum  Eigenthum 
des  eingesetzten  Erben  geworden  sei,  und  eine  solche 
Verfassung  {corpus  mysticum)  aufzuheben  so  viel  heisse, 
als  Jemandem  das  Seine  nehmen. 


Anhang  erläuternder  Bemerkungen.  ^39 

A. 

Die  wohlthätige  Anstalt  für  Arme,  Invalide  und 
Kranke,  welche  auf  dem  Staatsvermögen  fundirt  worden 
(in  Stiften  und  Hospitälern),  ist  allerdings  unablöslich. 
Wenn  aber  nicht  der  Buchstabe,  sondern  der  Sinn  des 
Willens  des  Testators  den  Vorzug  haben  soll,  so  können 
sich  wohl  Zeitumstände  ereignen,  welche  die  Aufhebung 
einer  solchen  Stiftung  wenigstens  ihrer  Form  nach  an- 
räthig  machen.  —  So  hat  man  gefunden,  dass  der  Arme 
und  Kranke  (den  vom  Narrenhospital  ausgenommen) 
besser  und  wohlfeiler  versorgt  werde,  wenn  ihm  die 
Beihülfe  in  einer  gewissen  (dem  Bedürfnisse  der  Zeit 
proportionirten)  Geldsumme,  wofür  er  sich,  wo  er  will, 
bei  seinen  Verwandten  oder  sonst  Bekannten,  einmiethen 
kann,  gereicht  wird,  als  wenn  —  wie  im  Hospital  von 
Greenwich,  —  prächtige  und  dennoch  die  Freiheit 
sehr  beschränkende,  mit  einem  kostbaren  Personale 
versehene  Anstalten  dazu  getroffen  werden.  —  Da  kann 
man  nun  nicht  sagen,  der  Staat  nehme  dem  zum  Ge- 
nuss  dieser  Stiftung  berechtigten  Volke  das  Seine,  son- 
dern er  betordert  es  vielmehr,  indem  er  weisere  Mittel 
zur  Erhaltung  desselben  wählt. 


B. 

Die  Geistlichkeit,  welche  sich  fleischlich  nicht  fort- 
pflanzt (die  katholische),  besitzt  mit  Begünstigung  des 
Staats  Ländereien  und  daran  haftende  Unterthanen,  die 
einem  geistlichen  Staate  (Kirche  genannt)  angehören, 
welchem  die  Weltlichen  durch  Vermächtniss  zum  Heil 
ihrer  Seelen  sich  als  ihr  Eigenthum  hingegeben  haben, 
und  so  hat  der  Klerus  als  ein  besonderer  Stand  einen 
Besitzthum,  der  sich  von  einem  Zeitalter  zum  anderen 
gesetzmässig  vererben  lässt  und  durch  päpstliche  Bullen 
hinreichend  dokumentirt  ist.  —  Kann  man  nun  wohl 
annehmen,  dass  dieses  Verhältniss  derselben  zu  den 
Laien  durch  die  Machtvollkommenheit  des  weltlichen 
Staats,  geradezu  den  ersteren  könne  genommen  werden, 
und  würde  das  nicht  so  viel  sein,  als  Jemandem  mit 
Gewalt  das  Seine  nehmen;  wie  es  doch  von  Ungläubigen 
der  französischen  Republik  versucht  wird? 


140  Rechtslehre.    I.  Theil. 

Die  Frage  ist  hier:  ob. die  Kirche  dem  Staat  oder 
der  Staat  der  Kirche  als  das  Seine  augehören  könne; 
denn  zwei  oberste  Gewalten  können  einander  ohne 
Widerspruch  nicht  untergeordnet  sein.  —  Dass  nur  die 
erstere  Verfassung  {politico-Merarchica)  Bestand 
an  sich  haben  könne,  ist  an  sich  klar;  denn  alle  bür- 
gerliche Verfassung  ist  von  dieser  Welt,  weil  sie  eine 
irdische  Gewalt  (der  Menschen)  ist,  die  sich  sammt  ihren 
Folgen  in  der  Eifahrung  dokumentiren  lässt.  Die  Gläu- 
bigen, deren  Reich  im  Himmel  und  in  jener  Welt 
ist,  müssen,  insofern  man  ihnen  eine  sich  auf  dieses  be- 
ziehende Verfassung  (Inerarcldco-politica)  zugesteht,  sich 
den  Leiden  dieser  Zeit  unter  der  Obergewalt  der  Welt- 
menschen unterwerfen.  —  Also  findet  nur  die  erstere 
Verfassung  statt. 

Religion  (in  der  Erscheinung),  als  Glaube  an  die 
Satzungen  der  Kirche  und  die  Macht  der  Priester,  als 
Aristokraten  einer  solchen  Verfassung,  oder  auch,  wenn 
diese  monarchisch  (päpstlich)  ist,  kann  von  keiner  staats- 
bürgerlichen Gewalt  dem  Volke  weder  aufgedrungen, 
noch  genommen  w^erden,  noch  auch  (wie  es  wohl  in 
Grossbrittanien  mit  der  irländischen  Nation  gehalten 
wird)  der  Staatsbürger,  wegen  einer  von  des  Hofes  seiner 
unterschiedenen  Religion,  von  den  Staatsdiensten  und 
den  Vortheilen,  die  ihm  dadurch  erwachsen,  ausge- 
schlossen werden. 

Wenn  nun  gewisse  andächtige  und  gläubige  Seelen, 
um  der  Gnade  theilhaftig  zu  werden,  welche  die  Kirche 
den  Gläubigen  auch  nach  dieser  ihrem  Tode  zu  erzeigen 
verspricht,  eine  Stiftung  auf  ewige  Zeiten  errichten, 
durch  welche  gewisse  Ländereien  derselben  nach  ihrem 
Tode  ein  Eigenthum  der  Kirche  werden  sollen,  und  der 
Staat  an  diesem  oder  jenem  Theil,  oder  gar  ganz, 
sich  der  Kirche  lehnspflichtig  macht,  um  durch  Gebete, 
Ablässe  und  Büssungen,  durch  welche  die  dazu  bestell- 
ten Diener  derselben  (die  Geistlichen)  das  Loos  in  der 
ande>'en  Welt  ihnen  vortheilhaft  zu  machen  verheissen; 
so  ist  eine  solche  vermeintlich  auf  ewige  Zeiten  ge- 
machte Stiftung  keinesweges  auf  ewig  begründet,  sondern 
der  Staat  kann  diese  Last,  die  ihm  von  der  Kirche  auf- 
gelegt worden,  abwerfen,  wenn  er  will.  —  Denn  die 
Kirche   selbst  ist  ein  bloss  auf  Glauben   errichtetes  In- 


AnhaDg  erläuternder  Bemerkungen.  X4X 

stitut,  und  wenn  die  Täuschung  aus  dieser  Meinung 
durch  Volksaufklärung  verschwunden  ist,  so  fällt  auch 
die  darauf  gegründete  furchtbare  Gewalt  des  Klerus 
weg,  und  der  Staat  bemächtigt  sich  mit  vollem  Rechte 
des  angemassten  Eigenthums  der  Kirche,  nämlich  des 
durch  Vermächtnisse  an  sie  verschenkten  Bodens;  wie- 
wohl die  Lehnsträger  des  bis  dahin  bestandenen  Instituts 
für  ihre  Lebenszeit  schadenfrei  gehalten  zu  werden  aus 
ihrem  Rechte  fordern  können. 

Selbst  Stiftungen  zu  ewigen  Zeiten  für  Arme,  oder 
Schulanstalten,  sobald  sie  einen  gewissen,  von  dem 
Stifter  nach  seiner  Idee  bestimmten,  entworfenen  Zu- 
schnitt haben,  können  nicht  auf  ewige  Zeiten  fundirt 
und  der  Boden  damit  belästigt  werden;  sondern  der 
Staat  muss  die  Freiheit  haben,  sie  nach  dem  Bedürf- 
nisse der  Zeit  einzurichten.  —  Dass  es  schwerer  hält, 
diese  Idee  allerwärts  auszuführen  (z.  B.  die  Pauper- 
burschen die  Unzulänglichkeit  des  wohlthätig  errichteten 
Schulfonds  durch  bettelhaftes  Singen  ergänzen  müssen), 
darf  Niemanden  wundern;  denn  der,  w^elcher  gutmüthiger, 
aber  doch  zugleich  etwas  ehrbegieriger  Weise  eine  Stif- 
tung macht,  will,  dass  sie  nicht  ein  Anderer  nach  seinen 
Begriffen  umändere,  sondern  Er  darin  unsterblich  sei. 
Das  ändert  aber  nicht  die  Beschaffenheit  der  Sache 
selbst  und  das  Recht  des  Staats,  ja  die  Pflicht  desselben 
zum  Umändern  einer  jeden  Stiftung,  wenn  sie  der  Er- 
haltung und  dem  Fortschreiten  desselben  zum  Besseren 
entgegen  ist,  kann  daher  niemals  als  auf  ewig  begründet 
betrachtet  werden. 

Der  Adel  eines  Landes,  das  selbst  nicht  unter  einer 
aristokratischen,  sondern  monarchischen  Verfassung 
steht,  mag  immer  ein,  für  eine  gewisse  Zeit  erlaubtes 
und  den  Umständen  nach  nothwendiges  Institut  sein; 
aber  dass  dieser  Stand  auf  ewig  könne  begründet  wer- 
den, und  ein  Staatsoberhaupt  nicht  solle  die  Befugniss 
haben,  diesen  Standesvorzug  gänzlich  aufzuheben,  oder, 
wenn  er  es  thut,  man  sagen  könne,  er  nehme  seinem 
(adligen)  Unterthan  das  Seine,  was  ihm  erblich  zu- 
kommt,   kann    keinesweges    behauptet    werden.     Er  ist 


242  Kechtslehre.    I.  Theil. 

eine  temporäre,  vom  Staat  autorisirte  Zunftgenossen- 
schaft, die  sich  nach  den  Zeitumständen  bequemen  muss 
und  dem  allgemeinen  Menschenrechte ,  das  so  lange 
suspendirt  war,  nicht  Abbruch  thun  darf.  —  Denn  der 
Rang  des  Edelmanns  im  Staate  ist  von  der  Konstitution 
selber  nicht  allein  abhängig,  sondern  ist  nur  ein  Acci- 
denz  derselben,  was  nur  durch  Inhärenz  in  demselben 
existiren  kann  (ein  Edelmann  kann  ja  als  ein  solcher 
nur  im  Staate,  nicht  im  Stande  der  Natur  gedacht  wer- 
den). Wenn  also  der  Staat  seine  Konstitution  abändert, 
so  kann  der,  welcher  hiermit  jenen  Titel  und  Vorrang 
einbüsst,  nicht  sagen,  es  sei  ihm  das  Seine  genommen; 
weil  er  es  nur  unter  der  Bedingung  der  Fortdauer  dieser 
Staatsform  das  Seine  nennen  konnte,  der  Staat  aber 
diese  abzuändern  (z.  B.  in  den  Republikanismus  umzu- 
formen) das  Recht  hat.  —  Die  Orden  und  der  Vorzug, 
gewisse  Zeichen  desselben  zu  tragen,  geben  also  kein 
ewiges  Recht  dieses  Besitzes. 

D. 

Was  endlich  die  Majoratsstiftung  betrifft,  da  ein 
Gutsbesitzer  durch  Erbeseinsetzung  verordnet:  dass  in 
der  Reihe  der  auf  einander  folgenden  Erben  immer  der 
Nächste  von  der  Familie  der  Gutsherr  sein  solle  (nach 
der  Analogie  mit  einer  monarchisch-erblichen  Verfassung 
eines  Staats,  wo  der  Landesherr  es  ist),  so  kann  eine 
solche  Stiftung  nicht  allein  mit  Beistimmung  aller  Agnaten 
jederzeit  aufgehoben  werden  und  darf  nicht  auf  ewige 
Zeiten,  —  gleich  als  ob  das  Erbrecht  am  Boden  haftete, 
—  immerwährend  fortdauern,  noch  gesagt  werden,  es 
sei  eine  Verletzung  der  Stiftung  und  des  Willens  des 
Urahnherrn  derselben,  des  Stifters,  sie  eingehen  zu  lassen; 
sondern  der  Staat  hat  auch  hier  ein  Recht,  ja  sogar 
die  Pflicht,  bei  den  allmählig  eintretenden  Ursachen 
seiner  eigenen  Reform  ein  solches  föderatives  System 
seiner  ünterthanen,  gleich  als  ünterkönige  (nach  der 
Analogie  von  Dynasten  und  Satrapen),  wenn  es  er- 
loschen ist,  nicht  weiter  aufkommen  zu  lassen.  66) 

Bescliluss. 

Zuletzt  hat  der  Herr  Rezensent  von  den  unter  der 
Rubrik:    öffentliches    Recht,    aufgeführten    Ideen, 


Anhang  erläuternder  Bemerkungen.  143 

„von  denen,  wie  er  sagt,  der  Raum  nicht  erlaube,  sich 
darüber  zu  äussern,"  noch  Folgendes  angemerkt.  „Unseres 
Wissens  hat  noch  kein  Philosoph  den  paradoxesten  aller 
paradoxen  Sätze  anerkannt,  den  Satz:  dass  die  blosse 
Idee  der  Oberherrschaft  mich  nöthigen  soll,  jedem,  der 
sich  zu  meinem  Herrn  aufwirft,  als  meinem  Herrn  zu 
gehorchen,  ohne  zu  fragen,  wer  ihm  das  Recht  gegeben, 
mir  zu  befehlen?  Dass  man  Oberherrschaft  und  Ober- 
haupt anerkennen  und  man  diesen  oder  jenen,  dessen 
Dasein  nicht  einmal  a  priori  gegeben  ist,  a  prioi'i  für 
seinen  Herrn  halten  soll,  das  soll  einerlei  sein?"  — 
Nun,  hierbei  die  Paradoxie  eingeräumt,  hoffe  ich,  es 
solle,  näher  betrachtet,  doch  wenigstens  der  Hetero- 
doxie  nicht  überwiesen  werden  können ;  vielmehr  solle 
es  dem  einsichtsvollen  und  mit  Bescheidenheit  tadeln- 
den, gründlichen  Rezensenten  (der  jenes  genommenen 
Anstosses  ungeachtet,  „diese  metaphysischen  Anfangs- 
gründe der  Rechtslehre  im  Ganzen  als  Gewinn  für  die 
Wissenschaft  ansieht")  nicht  gereuen,  sie  wenigstens  als 
einen,  der  zweiten  Prüfung  nicht  unwürdigen  Versuch 
gegen  Anderer  trotzige  und  seichte  Absprechungen  in 
Schutz  genommen  zu  haben. 

Dass  dem,  welcher  sich  im  Besitz  der  zu  oberst  ge- 
bietenden und  gesetzgebenden  Kraft  über  ein  Volk  be- 
findet, müsse  gehorcht  werden  und  zwar  so  juridisch- 
unbedingt,  dass  auch  nur  nach  dem  Titel  dieser  seiner 
Erwerbung  öffentlich  zu  forschen,  also  ihn  zu  be- 
zweifeln, um  sich,  bei  etwaniger  Ermangelung  desselben, 
ihm  zu  widersetzen,  schon  strafbar,  dass  es  ein  kate- 
gorischer Imperativ  sei:  gehorchet  der  Obrigkeit 
(in  allem,  was  nicht  dem  inneren  Moralischen  wider- 
streitet), die  Gewalt  über  euch  hat,  ist  der  an- 
stössige  Satz,  der  in  Abrede  gezogen  wird.  —  Nicht 
allein  aber  dieses  Prinzip,  welches  ein  Faktum  (die  Be- 
mächtigung) als  Bedingung  dem  Rechte  zum  Grunde 
legt,  sondern  dass  selbst  die  blosse  Idee  der  Ober- 
herrschaft über  ein  Volk  mich,  der  ich  zu  ihm  gehöre, 
nöthige,  ohne  vorhergehende  Forschung,  dem  angemass- 
ten  Rechte  zu  gehorchen  (R,  L.  §.  44.),  das  scheint 
die  Vernunft  des  Rez.  zu  empören. 

Ein  jedes  Faktum  (Thatsache)  ist  Gegenstand  in  der 
Erscheinung  (der  Sinne);  dagegen  das,  was  nur  durch 


144 


Rechtslehre.    I.  Theil. 


reine  Vernunft  dargestellt  werden  kann,  was  zu  den 
Ideen  gezählt  werden  muss,  denen  adäquat  kein  Gegen- 
stand in  der  Erfahrung  gegeben  werden  kann,  der- 
gleichen eine  vollkommene  rechtliche  Verfassung 
unter  Menschen  ist;  das  ist  das  Ding  an  sich  selbst. 

Wenn  dann  nun  ein  Volk,  durch  Gesetze  unter  einer 
Obrigkeit  vereinigt,  da  ist,  so  ist  es,  der  Idee  der  Ein- 
heit desselben  überhaupt  unter  einem  machthabenden 
obersten  Willen  gemäss,  als  Gegenstand  der  Erfahrung 
gegeben;  aber  freilich  nur  in  der  Erscheinung;  d.  i. 
eine  rechtliche  Verfassung,  im  allgemeinen  Sinne  des 
Worts,  ist  da;  und  obgleich  sie  mit  grossen  Mängeln 
und  groben  Fehlern  behaftet  sein  und  nach  und  nach 
wichtiger  Verbesserungen  bedürfen  mag,  so  ist  es  doch 
schlechterdings  unerlaubt  und  sträflich,  ihr  zu  wider- 
stehen ;  weil,  wenn  das  Volk  dieser,  obgleich  noch  fehler- 
haften Verfassung  und  der  obersten  Auctorität  Gewalt 
entgegensetzen  zu  dürfen  sich  berechtigt  hielte,  es  sich 
dünken  würde,  ein  Recht  zu  haben :  Gewalt  an  die  Stelle 
der  alle  Rechte  zu  oberst  vorschreibenden  Gesetzgebung 
zu  setzen;  welches  einen  sich  selbst  zerstörenden  ober- 
sten Willen  abgeben  würde. 

Die  Idee  einer  Staatsverfassung  überhaupt,  welche^ 
zugleich  absolutes  Gebot  der  nach  Rechtsbegriffen  ur- 
theilenden  praktischen  Vernunft  für  ein  jedes  Volk  ist, 
ist  heilig  und  unwiderstehlich;  und  wenngleich  die 
Organisation  eines  Staats  durch  sich  selbst  fehlerhaft 
wäre,  so  kann  doch  keine  subalterne  Gewalt  in  dem- 
selben dem  gesetzgebenden  Oberhaupte  desselben  thät- 
lichen  Widerstand  entgegensetzen,  sondern  die  ihm  an- 
hängenden Gebrechen  müssen  durch  Reformen,  die  er 
an  sich  selbst  verrichtet,  allmälig  gehoben  werden ;  weil 
sonst  bei  einer  entgegengesetzten  Maxime  des  Unter- 
thans  (nach  eigenmächtiger  Willkür  zu  verfahren)  eine 
gute  Verfassung  selbst  nur  durch  blinden  Zufall  zu 
Stande  kommen  kann.  —  Das  Gebot:  «gehorchet  der 
Obrigkeit,  die  Gewalt  über  euch  hat-,  grübelt  nicht  nach, 
wie  sie  zu  dieser  Gewalt  gekommen  sei  (um  sie  allen- 
falls zu  untergraben);  denn  die,  welche  schon  da  ist, 
unter  welcher  ihr  lebt,  ist  schon  im  Besitz  der  Gesetz- 
gebung,   über   die   ihr  zwar  öffentlich  vernünfteln,  euch 


Anhang  erläuternder  Bemerkungen.  145 

aber  selbst  nicht  zu  widerstrebenden  Gesetzgebern  auf- 
werfen könnt. 

Unbedingte  Unterwerfung  des  Volkswillens  (der  au 
sich  unvereinigt,  mithin  gesetzlos  ist)  unter  einem  sou- 
verainen  (alle  durch  ein  Gesetz  vereinigenden)  Willeuj 
ist  That,  die  nur  durch  Bemächtiguug  der  obersten 
Gewalt  anheben  kann,  und  so  zuerst  ein  öffentliches 
Recht  begründet.  —  Gegen  diese  Machtvollkommenheit 
noch  einen  Widerstand  zu  erlauben  (der  jene  oberste 
Gewalt  einschränkte),  heisst  sich  selbst  widersprechen ;: 
denn  alsdann  wäre  jene  (welcher  widerstanden  werdea 
darf)  nicht  die  gesetzliche  oberste  Gewalt,  die  zuerst  be- 
stimmt, was  öffentlich  recht  sein  soll  oder  nicht,  — 
und  dieses  Prinzip  liegt  schon  a  priori  in  der  Idee 
einer  Staatsverfassung  überhaupt,  d.  i.  in  einem  Begriffe 
der  praktischen  Vernunft;  dem  zwar  adäquat  keia 
Beispiel  in  der  Erfahrung  untergelegt  werden  kann,, 
dem  aber  auch,  als  Norm,  keine  widersprechen  muss.^'') 


Kant,  Metaphysik  der  Sitten  10 


Der  Rechtslehre 

zweiter  Theil. 


Das  öffentliche  Recht. 


10^ 


Des  öffentlichen  Rechts 

erster  Abschnitt. 


Das  Staatsrecht. 


§.  43. 

Der  Inbegriff  der  Gesetze,  die  einer  allgemeinen  Be- 
kanntmachung bedürfen,  um  einen  reclitlichen  Zustand 
hervorzubringen,  ist  das  öffentliche  Recht.  —  Dieses 
ist  also  ein  System  von  Gesetzen  für  ein  Volk,  d.  i. 
eine  Menge  von  Menschen,  oder  für  eine  Menge  von 
Völkern,  die,  im  wechselseitigen  Einflüsse  gegen  einan- 
der stehend,  des  rechtlichen  Zustandes  unter  einem  sie 
vereinigenden  Willen,  einer  Verfassung  {constitutio) 
bedürfen,  um  dessen,  was  Rechtens  ist,  theilhaftig  zu 
werden.  —  Dieser  Zustand  der  Einzelnen  im  Volke  in 
Verhältniss  unter  einander,  heisst  der  bürgerliche 
{status  civilis)^  und  das  Ganze  derselben,  in  Beziehung 
auf  seine  eigenen  Glieder,  der  Staat  {civitas),  welcher, 
seiner  Form  wegen,  als  verbunden  durch  das  gemein- 
same Interesse  Aller,  im  rechtlichen  Zustande  zu  sein, 
das  gemeine  Wesen  (res  publica  latius  sie  dicta) 
genannt  wird,  in  Verhältniss  aber  auf  andere  Völker 
eine  Macht  (i^otentia)  schlechthin  heisst  (daher  das 
Wort  Potentaten),  was  sich  auch  wegen  (anmasslich) 
iingeerbter  Vereinigung  ein  Stammvolk  (gens)  nennt, 
und  so,  unter  dem  allgemeinen  Begriffe  des  öffentlichen 


150    Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

Rechts,  nicht  bloss  das  Staats-,  sondern  auch  ein  Völker- 
recht {jus  gentium)  zu  denken  Anlass  giebt;  welches 
dann,  weil  der  Erdboden  eine  nicht  grenzenlose,  son- 
dern sich  selbst  schliessende  Fläche  ist,  beides  zusammen 
zu  der  Idee  eines  Völker  Staats  rechts  (jus  gentium) 
oder  des  Weltbürgerrechts  (jus  cosmopoliticum)  un- 
umgänglich hinleitet;  so  dass,  wenn  unter  diesen  drei 
möglichen  Formen  des  rechtlichen  Zustandes  es  nur 
einer  an  dem,  die  äussere  Freiheit  durch  Gesetze  ein- 
schränkenden Prinzip  fehlt,  das  Gebäude  aller  übrigen 
unvermeidlich  untergraben  werden  und  endlich  ein- 
stürzen muss. 

§.  44. 

Es  ist  nicht  etwa  die  Erfahrung,  durch  die  wir  von 
der  Maxime  der  Gewaltthätigkeit  der  Menschen  belehrt 
werden,  und  ihrer  Bösartigkeit,  sich,  ehe  eine  äussere 
machthabende  Gesetzgebung  erscheint,  einander  zu  be- 
fehden, also  nicht  etwa  ein  Faktum,  welches  den  öffent- 
lich gesetzlichen  Zwang  nothwendig  macht,  sondern,  sie 
mögen  auch  so  gutartig  und  rechtliebend  gedacht  wer- 
den, wie  man  will ,  so  liegt  es  doch  a  2?rio7'i  in  der 
Vernunftidee  eines  solchen  (nicht-rechtlichen)  Zustandes, 
dass,  bevor  ein  öffentlich  gesetzlicher  Zustand  errichtet 
worden,  vereinzelte  Menschen,  Völker  und  Staaten  nie- 
mals vor  Gewaltthätigkeit  gegen  einander  sicher  sein 
können,  und  zwar  aus  jedes  seinem  eigenen  Rechte,  zu 
thun,  was  ihm  recht  und  gut  dünkt,  und  hierin 
von  der  Meinung  des  anderen  nicht  abzuhängen;  mithin 
das  Erste,  was  ihm  zu  beschliessen  obliegt,  wenn  er 
nicht  allen  Rechtsbegriffeu  entsagen  will,  der  Grundsatz 
sei:  man  müsse  aus  dem  Naturzustande,  in  welchem 
jeder  seinem  eigenen  Kopfe  folgt,  herausgehen,  und 
sich  mit  allen  Anderen  (mit  denen  in  Wechselwirkung 
zu  gerathen  er  nicht  vermeiden  kann)  dahin  vereinigen, 
sich  einem  öffentlich  gesetzlichen  äusseren  Zwange  zu 
unterwerfen,  also  in  einen  Zustand  treten,  darin  jedem 
das,  was  für  das  Seine  anerkannt  werden  soll,  gesetz- 
lich bestimmt  und  durch  hinreichende  Macht  (die 
nicht   die  seinige,    sondern    eine  äussere  ist)    zu  Theil 


I.  Abschü.    Das  Staatsrecht.    §.  45.  \^\ 

wirdj  d.  i.  er  solle  vor  allen  Diügen   in    eiueu   bürger- 
lichen Zustand  treten. 

Zwar  durfte  sein  natürlicher  Zustand  nicht  eben  darum 
ein  Zustand  der  Ungerechtigkeit  (z/yW^ws)  sein,  ein- 
ander nur  nach  dem  blossen  Maasse  seiner  Gewalt  zu 
begegnen;  aber  es  war  doch  ein  Zustand  der  Recht- 
losigkeit (status  justitia  vacuus),  wo,  wenn  das  Recht 
streitig  {jus  controversum)  war,  sich  kein  kompetenter 
Richter  fand,  rechtskräftig  den  Ausspruch  zu  thun,  aus 
welchem  nun  in  einen  rechtlichen  zu  treten',  ein  Jeder 
den  Anderen  mit  Gewalt  antreiben  darf;  weil,  obgleich 
nach  jedes  seinen  Rechts  begriffen  etwas  Aeusseres 
durch  Bemächtigung  oder  Vertrag  erworben  werden 
kann,  diese  Erwerbung  doch  nur  provisorisch  ist, 
so  lange  sie  noch  nicht  die  Sanktion  eines  öffentlichen 
Gesetzes  für  sich  hat,  weil  sie  durch  keine  öffentliche 
(distributive)  Gerechtigkeit  bestimmt  und  durch  keine, 
dies  Recht  ausübende  Gewalt  gesichert  ist. 

Wollte  man  vor  Eintretung  in  den  bürgerlichen 
Zustand  gar  keine  Erwerbung,  auch  nicht  einmal 
provisorisch,  für  rechtlich  erkennen,  so  würde  jener 
selbst  unmöglich  sein.  Denn  der  Form  nach  ent- 
halten die  Gesetze  über  das  Mein  und  Dein  im  Na- 
turzustande ebendasselbe,  was  die  im  bürgerlichen 
vorschreiben,  sofern  dieser  bloss  nach  reinen  Ver- 
nunftbegriifen  gedacht  wird;  nur  dass  im  letzteren 
die  Bedingungen  angegeben  werden,  unter  denen 
jene  zur  Ausübung  (der  distributiven  Gerechtigkeit 
gemäss)  gelangen.  —  Es  würde  also,  wenn  es  im. 
Naturzustande  auch  nicht  provisorisch  ein 
äusseres  Mein  und  Dein  gäbe,  auch  keine  Rechts- 
pflichten in  Ansehung  desselben,  mithin  auch  kein 
Gebot  geben,  aus  jenem  Zustande  herauszugehen.^^) 

§.  45. 

Ein  Staat  {civitas)  ist  die  Vereinigung  einer  Menge 
von  Menschen  unter  Rechtsgesetzen.  Sofern  diese  als 
Gesetze  a  priori  nothwendig,  d.  i.  aus  Begriffen  des 
äusseren  Rechts  überhaupt  von  selbst  folgend  (nicht 
statutarisch)  sind,  ist  seine  Form  die  Form  eines  Staats 
überhaupt,    d.  i.  der  Staat  in  der  Idee,   wie   er  nach 


152    Rechtslehre,    IL  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

reinen  Rechtsprinzipien  sein  soll,  welche  jeder  wirklichen 
Vereinigung  zu  einem  gemeinen  Wesen  (also  im  Inneren) 
zur  Richtschnur  {normet)  dient. 

Ein  jeder  Staat  enthält  drei  Gewalten  in  sich,  d.  i. 
den  allgemeinen  vereinigten  Willen  in  dreifacher  Person 
{trias  i^oUtim) :  die  H  e  r r  s  c  h  e  r  g  e  w^  a  1 1  (Souverainität) 
in  der  des  Gesetzgebers,  die  vollziehende  Gewalt 
in  der  des  Regierers  (zufolge  dem  Gesetz),  und  die 
rechtsprechende  Gewalt  (als  Zuerkennung  des 
Seinen  eines  Jeden  nach  dem  Gesetz)  in  der  Person 
des  Richters  (potestas  legislatoria,  rectoria  et  judiciaria)^ 
gleich  den  drei  Sätzen  in  einem  praktischen  Vernunft- 
schlusse,  dem  Obersatz,  des  das  Gesetz  eines  Willens, 
dem  Untersatze,  der  das  Gebot  des  Verfahrens  nach 
dem  Gesetz,  d.  i.  das  Prinzip  der  Subsumtion  unter 
denselben,  und  dem  Schlusssatze,  der  den  Rechts- 
spruch (die  Sentenz)  enthält,  was  im  vorkommenden 
Falle  Rechtens  ist. 

§.  46. 

Die  gesetzgebende  Gewalt  kann  nur  dem  vereinigten 
Willen  des  Volkes  zukommen.  Denn  da  von  ihr  alles 
Eecht  ausgehen  soll,  so  muss  sie  durch  ihr  Gesetz 
schlechterdings  Niemand  Unrecht  thun  können.  Nun 
ist  es,  wenn  Jemand  etwas  gegen  einen  Anderen  ver- 
fügt, immer  möglich,  dass  er  ihm  dadurch  Unrecht  thue, 
nie  aber  in  dem,  was  er  über  sich  selbst  beschiiesst 
(denn  volenti  non  fit  injuria).  Also  kann  nur  der  über- 
einstimmende und  vereinigte  Wille  Aller,  sofern  ein  Jeder 
über  Alle  und  Alle  über  einen  Jeden  ebendasselbe  be- 
schliessen,  mithin  nur  der  allgemein  vereinigte  Volks- 
wille gesetzgebend  sein. 

Die  zur  Gesetzgebung  vereinigten  Glieder  einer  solchen 
Gesellschaft  {societas  civilis) ,  d.  i.  eines  Staats,  heissen 
Staatsbürger  (cives),  und  die  rechtlichen,  von  ihrem 
Wesen  (als  solchem)  unabtrennlichen  Attribute  derselben 
sind  gesetzliche  Freiheit^  keinem  anderen  Gesetz  zu 
gehorchen,  als  zu  welchem  er  seine  Beistimmung  gegeben 
hat;  —  bürgerliche  Gleichheit,  keinen  Oberen  im 
Volk  in  Ansehung  seiner  zu  erkennen,  als  einen  solchen, 
den  er  eben   so  rechtlich    zu   verbinden  das  moralische 


I.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    §.  46.  153 

Vermögen  hat,  als  dieser  ihn  verbinden  kann;  drittens 
das  Attribut  der  bürgerlichen  Selbststäudig-keit, 
seine  Existenz  und  Erhaltung  nicht  der  Willkür  eines 
Anderen  im  Volke,  sondern  seinen  eigenen  Rechten  und 
Kräften  als  Glied  des  gemeinen  Wesens  verdanken  zu 
können,  folglich  die  bürgerliche  Persönlichkeit,  in  Rechts- 
Angelegenheiten  durch  keinen  Anderen  vorgestellt  werden 
zu  dürfen. 

Nur  die  Fähigkeit  der  Stimmgebung  macht  die 
Qualifikation  zum  Staatsbürger  aus;  jene  abersetzt 
die  Selbstständigkeit  dessen  im  Volke  voraus,  der 
nicht  bloss  Theil  des  gemeinen  Wesens,  sondern 
auch  Glied  desselben,  d.  i.  aus  eigener  Willkür  in 
Gemeinschaft  mit  Anderen  handelnder  Theil  des- 
selben sein  will.  Die  letztere  Qualität  maclit  aber 
die  Unterscheidung  des  aktiven  vom  passiven 
Staatsbürger  nothwendig;  obgleich  der  Begriff  des 
letzteren  mit  der  Erklärung  des  Begriffs  von  einem 
Staatsbürger  überhaupt  im  Widerspruch  zu  stehen 
scheint.  —  Folgende  Beispiele  können  dazu  dienen, 
diese  Schwierigkeit  zu  heben :  der  Geselle  bei  einem 
Kaufmann,  pder  bei  einem  Handwerker;  der  Dienst- 
bote (nicht  der  im  Dienste  des  Staats  steht),  der 
Unmündige  {iiataraUter  vel  ciciliter),  alles  Frauen- 
zimmer, und  überhaupt  Jedermann,  der  nicht  nach 
eigenem  Betriebe ,  sondern  nach  der  Verfügung 
Anderer  (ausser  der  des  Staats)  genöthigt  ist,  seine 
Existenz  (Nahrung  und  Schutz)  zu  erhalten,  ent- 
behrt der  bürgerliclien  Persönlichkeit,  und  seine 
Existenz  ist  gleichsam  nur  Inhärenz.  —  Der  Holz- 
hacker, den  ich  auf  meinem  Hofe  anstelle,  der 
Schmied  in  Indien,  der  mit  seinem  Hammer,  Am- 
bos  und  Blasbalg  in  die  Häuser  geht,  um  da  in 
Eisen  zu  arbeiten,  in  Vergleichung  mit  dem  euro- 
päischen Tischler  oder  Schmied,  der  die  Produkte 
aus  dieser  Arbeit  als  Waare  öffentlich  feil  stellen 
kann;  der  Hauslehrer,  in  Vergleichung  mit  dem 
Schulmanne,  der  Zinsbauer  in  Vergleichung  mit  dem 
Pächter  u.  dgl.  sind  bloss  Handlanger  des  gemeinen 
Wesens,  weil  sie  von  anderen  Individuen  befehligt 
oder  beschützt  werden  müssen,  mithin  keine  bürger- 
liche Selbstständi,2:keit  besitzen. 


154    Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

Diese  Abhängigkeit  von  dem  Willen  Anderer 
und  Ungleichheit  ist  gleichwohl  keinesweges  der 
Freiheit  und  Gleichheit  derselben  als  Menschen, 
die  zusammen  ein  Volk  ausmachen,  entgegen;  viel- 
mehr kann  bloss  den  Bedingungen  derselben  ge- 
mäss, dieses  Volk  ein  Staat  werden  und  in  eine 
bürgerliche  Verfassung  eintreten.  In  dieser  Ver- 
fassung aber  das  Recht  der  Stimmgebung  zu  haben, 
d.  i.  Staatsbürger,  nicht  bloss  Staatsgenosse  zu  sein, 
dazu  qualificiren  sich  nicht  alle  mit  gleichem  Rechte. 
Denn  daraus,  dass  sie  fordern  können,  von  allen 
Anderen  nach  Gesetzen  der  natürlichen  Freiheit 
und  Gleichheit  als  passive  Theile  des  Staats  be- 
handelt zu  werden,  folgt  nicht  das  Reclit,  auch  als 
aktive  Glieder  den  Staat  selbst  zu  behandeln,  zu 
organisiren  oder  zu  Einführung  gewisser  Gesetze 
mitzuwirken;  sondern  nur,  dass,  welcherlei  Art  die 
positiven  Gesetze,  wozu  sie  stimmen,  auch  sein 
möchten,  sie  doch  den  natürlichen  der  Freiheit  und 
der  dieser  angemessenen  Gleichheit  aller  im  Volke, 
sich  nämlich  aus  diesem  passiven  Zustande  zu  dem 
aktiven  emporarbeiten  zu  können,  nicht  zuwider 
sein  müssen. 6^) 

§.  47. 

Alle  jene  drei  Gewalten  im  Staate  sind  Würden^ 
und  als  wesentliche,  aus  der  Idee  eines  Staats  überhaupt 
zur  Gründung  desselben  (Konstitution)  nothwendig  her- 
vorgehende, Staats  würden.  Sie  enthalten  das  Ver- 
hältniss  eines  allgemeinen  Oberhaupts  (der,  nach  Frei- 
heitsgesetzen betrachtet,  kein  Anderer,  als  das  vereinigte 
Volk  selbst  sein  kann)  zu  der  vereinzelten  Menge  eben- 
desselben als  ünterthans,  d.  i.  des  Gebietenden 
{imperans)  gegen  den  Gehorsamenden  {suhditus), — 
Der  Akt,  wodurch  sich  das  Volk  selbst  zu  einem  Staat 
konstituirt,  eigentlich  aber  nur  die  Idee  desselben,  nach 
der  die  Rechtmässigkeit  desselben  allein  gedacht  werden 
kann,  ist  der  ursprüngliche  Kontrakt,  nach  welchem 
alle  {omnes  et  singuli)  im  Volk  ihre  äussere  Freiheit 
aufgeben,  um  sie  als  Glieder  eines  gemeinen  Wesens, 
d.    i.    des  Volks    als    Staat  betrachtet  (imiversi),   sofort 


1.  Abschn.     Das  Staatsrecht.     §.  48.  49.  155 

wieder  aufzunehmen,  und  man  kann  nicht  sagen:  der 
Mensch  im  Staate  habe  einen  Theil  seiner  angebornen 
äusseren  Freiheit  einem  Zwecke  auigeopfert,  sondern  er 
hat  die  wilde  gesetzlose  Freiheit  gänzlich  verlassen,  um 
seine  Freiheit  überhaupt  in  einer  gesetzlichen  Abhängig- 
keit, d.  i.  in  einem  rechtlichen  Zustande  unvermindert 
wieder  zu  finden;  weil  diese  Abhängigkeit  aus  seinem 
eigenen  gesetzgebenden  Willen  entspringt. 

§.  48. 

Die  drei  Gewalten  im  Staate  sind  also  erstlich  ein- 
ander, als  so  viel  moralische  Personen,  beigeordnet  {po- 
testates  cooi'dinatae),  d.  i.  die  eine  ist  das  Ergänzungs- 
stück der  anderen  zur  Vollständigkeit  {complementum 
ad  sufficientiam)  der  Staatsverfassung;  aber  zweitens 
auch  einander  untergeordnet  (.s^<6o;Y/f>iato6),  so,  dass 
eine  nicht  zugleich  die  Funktion  der  anderen,  der  sie 
zur  Hand  geht,  usurpiren  kann,  sondern  ihr  eigenes 
Prinzip  hat,  d.  i.  zwar  in  der  Qualität  einer  besonderen 
Person,  aber  doch  unter  der  Bedingung  des  Willens 
einer  oberen  gebietet;  drittens,  durch  Vereinigung 
beider  jedem  Unterthanen  sein  Recht  ertheilend. 

Von  diesen  Gewalten  in  ihrer  Würde  betrachtet, 
wird  es  heissen:  der  Wille  des  Gesetzgebers  {legis- 
latoris)  in  Ansehung  dessen,  was  das  äussere  Mein  und 
Dein  betrifft,  ist  untadelig  (irreprehensibel),  das  Aus- 
führungs-Vermögen des  Oberbefehlshabers  {summi 
7^^ctor«5)  unwiderstehlich  (irresistibel),  und  der  Rechts- 
spruch des  obersten  Richters  {supremi judicis)  unab- 
änderlich (inappellabel). 

§.  49. 

Der  Regent  des  Staats  {^re.v,  j^nncej^s)  ist  diejenige 
(moralische  oder  physische)  Person,  welcher  die  aus- 
übende Gewalt  {jyote.stas  e.vstcutoria)  zukommt;  der 
Agent  des  Staats,  der  die  Magistrate  einsetzt,  dem 
Volke  die  Regeln  vorschreibt,  nach  denen  ein  Jeder  in 
demselben  dem  Gesetze  gemäss  (durch  Subsumtion  eines 
Falles  unter  demselben)  etwas  erwerben,  oder  das  Seine 
erhalten  kann.     Als  moralische  Person  betrachtet,  heisst 


156    Rechtslehre.    II.  Theil.     Das  öffentliche  Recht. 

er  das  Direktorium,  die  Regierung.  Seine  Befehle 
an  das  Voll:  und  die  Magistrate,  und  ihre  Obere  (Mi- 
nister), welchen  die  Staatsverwaltung  [guhernatid) 
obliegt,  sind  Verordnungen,  Dekrete  (nicht  Gesetze); 
denn  sie  gehen  auf  Entscheidung  in  einem  besonderen 
Falle  und  werden  als  abänderlich  gegeben.  Eine  R  e  - 
gierung,  die  zugleich  gesetzgebend  wäre,  würde  des- 
potisch zu  nennen  sein,  im  Gegensatz  mit  der  pa- 
triotischen, unter  welcher  aber  nicht  eine  väter- 
liche i^regimen  jyater^iale),  als  die  am  meisten  despo- 
tische unter  allen  (Bürger  als  Kinder  zu  behandeln), 
sondern  vaterländische  [regimen  civitatis  et  patriae) 
verstanden  wird,  wo  der  Staat  selbst  (ciuitas)  seine 
Unterthanen  zwar  gleichsam  als  Glieder  einer  Familie, 
doch  zugleich  als  Staatsbürger,  d.  i.  nach  Gesetzen  ihrer 
eigenen  Selbstständigkeit  behandelt,  jeder  sich  selbst 
besitzt  und  nicht  vom  absoluten  Willen  eines  Anderen 
neben  oder  über  ihm  abhängt. 

Der  Beherrscher  des  Volks  (der  Gesetzgeber)  kann 
also  nicht  zugleich  der  Regent  sein,  denn  dieser  steht 
unter  dem  Gesetz,  und  wird  durch  dasselbe,  folglich  von 
einem  Anderen,  dem  Souverain,  verpflichtet.  Jener 
kann  diesem  aucli  seine  Gewalt  nehmen,  ihn  absetzen, 
oder  seine  Verwaltung  reformiren,  aber  ihn  nicht  stra- 
fen (und  das  bedeutet  allein  der  in  England  gebräuch- 
liche Ausdruck:  der  König  d.  i.  die  oberste  ausübende 
trcwalt  kann  nicht  Unrecht  thun);  denn  das  wäre  wieder- 
um ein  Akt  der  ausübenden  Gewalt,  der  zu  oberst  das 
Vermögen  dem  Gesetze  gemäss  zu  zwingen  zusteht, 
die  aber  doch  selbst  einem  Zwange  unterworfen  wäre; 
welclies  sich  widerspricht. 

Endlich  kann  weder  der  Staatsherrscher,  noch  der 
Regierer  richten,  sondern  nur  Richter,  als  Magistrate 
einsetzen.  Das  Volk  richtet  sich  selbst  durch  diejenigen 
ihrer  Mitbürger,  welche  durch  freie  Wahl,  als  Reprä- 
sentanten desselben,  und  zwar  für  jeden  Akt  besonders, 
dazu  ernannt  werden.  Denn  der  Rechtsspruch  (die  Sen- 
tenz) ist  ein  einzelner  Akt  der  öffentlichen  Gerechtigkeit 
(justitiae  distributivae)  durch  einen  Staatsverwalter  (Rich- 
ter oder  Gerichtshof)  auf  den  Unterthau,  d.  i.  einen, 
der  zum  Volke  gehört,  mithin  mit  keiner  Gewalt  be- 
kleidet ist,  ihm   das  Seine  zuzuerkennen  (zu  ertheiien). 


1.  Abscliu.     Das  Staatsrecht.    Allg.  Anra.         157 

Da  nun  ein  Jeder  im  Volke  diesem  Verhältnisse  nach 
(zur  Obrigkeit)  bloss  passiv  ist,  so  würde  eine  jede  jener 
beiden  Gewalten  in  dem,  was  sie  über  den  Unterthan, 
im  streitigen  Falle  des  Seinen  eines  Jeden,  beschliessen, 
ihm  unrecht  thun  können;  weil  es  nicht  das  Volk  selbst 
thäte,  und,  ob  schuldig  oder  nichtschuldig,  über 
seine  Mitbürger  ausspräche;  auf  welche  Ausmittelung 
der  That  in  der  Klagsache  nun  der  Gerichtshof  das  Ge- 
setz anzuwenden,  und,  vermittelst  der  ausführenden  Ge- 
walt, einem  Jeden  das  Seine  zu  Theil  werden  zu  lassen, 
die  richterliche  Gewalt  hat.  Also  kann  nur  das  Volk 
durch  seine  von  ihm  selbst  abgeordneten  Stellvertreter 
(die  Jury)  über  jeden  in  demselben,  obwohl  nur  mittel- 
bar, richten.  —  Es  wäre  auch  unter  der  Würde  des 
Staatsoberhaupts,  den  Richter  zu  spielen,  d.  i.  sich  in 
die  Möglichkeit  zu  versetzen,  Unrecht  zu  thun,  und  so 
in  den  Fall  der  Appellation  (a  rege  male  informato  ad 
regem  melius  informandum)  zu  gerathen. 

Also  sind  es  drei  verschiedene  Gewalten  (j)otestas 
legislatoria,  exsecutoria,  judiciaria)^  wodurch  der  Staat 
{eivitas)  seine  Autonomie  hat,  d.  i.  sich  nach  Freiheits- 
gesetzen bildet  und  erhält.  —  In  ihrer  Vereinigung  be- 
steht das  Heil  des  Staats  {salus  reijjublicae  suprema 
lex  est)]  worunter  man  nicht  das  Wohl  der  Staatsbürger 
und  ihre  Glückseligkeit  verstehen  muss;  denn  die 
kann  vielleicht  (wie  auch  Rousseau  behauptet)  im 
Naturzustande,  oder  auch  unter  einer  despotischen  Re- 
gierung viel  behaglicher  und  erwünschter  ausfallen;  son- 
dern den  Zustand  der  grössten  üebereinstimmung  der 
Verfassung  mit  Rechtsprinzipien  versteht,  als  nach  wel- 
chem zu  streben  uns  die  Vernunft  durch  einen  kate- 
gorischen Imperativ  verbindlich  macht. '^^) 

Allgemeine  Anmerkimg 

von  den  rechtlichen  Wirkungen  aus  der  Natur  des 
bürgerlichen  Vereins. 

A. 

Der  Ursprung  der  obersten  Gewalt  ist  für  das  Volk^ 
das  unter  derselben  steht,  in  praktischer  Absicht  uner- 


158    Rechtslehre.     II.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

forsch  lieh:  d.  i.  der  Unterthan  soll  nicht  über  diesen 
Ursprung,  als  ein  noch  in  Ansehung  des  ihr  schuldigen 
Gehorsams  zu  bezweifelndes  Recht  (jus  controversum), 
werkthätig  vernünfteln.  Denn  da  das  Volk,  um 
rechtskräftig  über  die  oberste  Staatsgewalt  [summum 
imjjerium)  zu  urtheileu;  schon  als  unter  einem  allgemein 
gesetzgebenden  Willen  vereint  angesehen  werden  muss, 
so  kann  und  darf  es  nicht  anders  urtheilen,  als  das 
gegenwärtige  Staatsoberhaupt  {snmmus  impermis)  es 
will.  —  Ob  ursprünglich  ein  wirklicher  Vertrag  der 
Unterwerfung  unter  denselben  {j^actum  suhjectionis  ci- 
vilis) als  ein  Faktuoi  vorhergegangen,  oder  ob  die  Ge- 
walt vorherging  und  das  Gesetz  nur  hintennach  ge- 
kommen sei,  oder  auch  in  dieser  Ordnung  sich  habe 
folgen  sollen:  das  sind  für  das  Volk,  das  nun  schon 
unter  dem  bürgerlichen  Gesetze  steht,  ganz  zweckleere 
und  doch  den  Staat  mit  Gefahr  bedrohende  Vernünfte- 
leien;  denn  wollte  der  Unterthan,  der  den  letzteren 
Ursprung  nun  ergrübelt  hätte,  sich  jener  jetzt  herrschen- 
den Auctorität  widersetzen,  so  würde  er  nach  den  Ge- 
setzen derselben,  d.  i.  mit  allem  Rechte  bestraft,  vertilgt, 
oder  (als  vogelfrei,  exlex)  ausgestossen  werden.  —  Ein 
Gesetz,  das  so  heilig  (unverletzlich)  ist,  dass  es,  prak- 
tisch, auch  nur  in  Zweifel  zu  ziehen,  mithin  seinen 
Effekt  einen  Augenblick  zu  suspendiren,  schon  ein  Ver- 
brechen ist,  wird  so  vorgestellt,  als  ob  es  nicht  von 
Menschen,  aber  doch  von  irgend  einem  höchsten  tadel- 
freien Gesetzgeber  herkommen  müsse,  und  das  ist  die 
Bedeutung  des  Satzes:  „alle  Obrigkeit  ist  von  Gott^', 
welcher  nicht  einen  Geschichtsgrund  der  bürgerlichen 
Verfassung,  sondern  eine  Idee,  als  praktisches  Vernunft- 
prinzip, aussagt:  der  jetzt  bestehenden  gesetzgebenden 
Gewalt  gehorchen  zu  sollen;  ihr  Ursprung  mag  sein, 
welcher  er  wolle. 

Hieraus  folgt  nun  der  Satz:  der  Herrscher  im  Staate 
hat  gegen  den  Unterthan  lauter  Rechte  und  keine 
(Zwangs-)  Pflichten.  —  Ferner,  wenn  das  Organ  des 
Herrschers,  der  Regent,  auch  den  Gesetzen  zuwider 
verführe,  z.  B.  mit  Auflagen,  Rekrutirungen  u.  dgl. 
wider  das  Gesetz  der  Gleichheit  in  Vertbeilung  der 
Staatslasten,    so  d^rf  der  Unterthan  dieser  Ungerechtig- 


1.  Abschn..    Das  Staatsrecht.    Allg.  Anm.        159 

keit    zwar  Beschwerden    {gravamina),    aber   keinen 
Widerstand  entgegensetzen. 

Ja  es  kann  auch  selbst  in  der  Konstitution  kein 
Artikel  enthalten  sein,  der  es  einer  Gewalt  im  Staate 
möglich  machte,  sich,  im  Fall  der  Uebertretung  der 
Konstitutionalgesetze  durch  den  obersten  Befehlshaber, 
ihm  zu  widersetzen,  mithin  ihn  einzuschränken.  Denn 
der,  welcher  die  Staatsgewalt  einschränken  soll,  muss 
doch  mehr  oder  wenigstens  gleiche  Macht  haben,  als 
derjenige,  welcher  eingeschränkt  wird,  und  als  ein 
rechtmässiger  Gebieter,  der  den  Unterthanen  betöhle, 
sich  zu  widersetzen,  muss  er  sie  auch  schützen  können, 
und  in  jedem  vorkommenden  Falle  rechtskräftig  urtheilen, 
mithin  öffentlich  den  Widerstand  befehligen  können. 
Alsdann  ist  aber  nicht  jener,  sondern  dieser  der  oberste 
Befehlshaber ;  welches  sich  widerspricht.  Der  Souverain 
verfährt  alsdann  durch  seinen  Minister  zugleich  als  Re- 
gent, mithin  despotisch,  und  das  Blendwerk,  das  Volk 
durch  die  Deputirten  desselben  die  einschränkende  Ge- 
walt vorstellen  zu  lassen  (da  es  eigentlich  nur  die  ge- 
setzgebende hat),  kann  die  Despotie  nicht  so  verstecken, 
dass  sie  aus  den  Mitteln,  deren  sich  der  Minister  be- 
dient, nicht  hervorblickte.  Das  Volk,  das  durch  seine 
Deputirte  (im  Parlament)  repräsentirt  wird,  hat  an  diesen 
Gewährsmännern  seiner  Freiheit  und  Rechte  Leute,  die 
für  sich  und  ihre  Familien,  und  dieser  ihre  vom  Minister 
abhängigen  Versorgung,  in  Armeen,  Flotte  und  Civil- 
ämtern  lebhaft  interessirt  sind,  und  die  (statt  des  Wider- 
standes gegen  die  Anmassung  der  Regierung,  dessen 
öffentliche  Ankündigung  ohnedem  eine  dazu  schon  vor- 
bereitete Einhelligkeit  im  Volke  bedarf,  die  aber  im 
Frieden  nicht  erlaubt  sein  kann)  vielmehr  immer  bereit 
sind,  sich  selbst  die  Regierung  in  die  Hände  zu  spielen. 
—  Also  ist  die  sogenannte  gemässigte  Staatsverfassung, 
als  Konstitution  des  Innern  Rechts  des  Staats,  ein  Un- 
ding und,  anstatt  zum  Recht  zu  gehören,  nur  ein  Klug- 
heitsprinzip, um,  so  viel  als  möglich,  dem  mächtigen 
Uebertreter  der  Volksrechte  seine  willkürlichen  Einflüsse 
auf  die  Regierung  nicht  zu  erschweren,  sondern  unter 
dem  Schein  einer  dem  Volke  verstatteten  Opposition  zu 
bemänteln. 

Wider  das  gesetzgebende  Oberhaupt  des  Staats  giebt 


IQQ    Rechtslehre.    11.  Theil.    Das  cflfentliche  Recht. 

es  also  keinen  rechtmässigen  Widerstand  des  Volks: 
denn  nur  durch  Unterwerfung  unter  seinen  allgemein- 
gesetzgebenden Willen  ist  ein  rechtlicher  Zustand  mög- 
lich; also  kein  Recht  des  Aufstandes  [seditio),  noch 
weniger  des  Aufruhrs  (rehellid)^  am  allerwenigsten 
gegen  ihn,  als  einzelne  Person  (Monarch),  unter  dem 
Vorwande  des  Missbrauchs  seiner  Gewalt  {tyrannis)j 
Vergreifung  an  seiner  Person,  ja  an  seinem  Leben 
{jnonarchomacJdsmus  sub  sjyecie  tyramiicidii).  Der  ge- 
ringste Versuch  hferzu  ist  Hochverrath  {iwoditio 
eminens),  und  der  Verräther  dieser  Art  kann  als  einer, 
der  sein  Vaterland  umzubringen  versucht  {parri- 
cida)y  nicht  minder,  als  mit  dem  Tode  bestraft  werden. 

Der  Grund    der  Pflicht  des  Volks,    einen,    selbst 

den  für  unerträglich  ausgegebenen  Missbrauch  der 
obersten  Gewalt  dennoch  zu  ertragen,  liegt  darin:  dass 
sein  Widerstand  wider  die  höchste  Gesetzgebung  selbst 
niemals  anders,  als  gesetzwidrig,  ja  als  die  ganze  ge- 
setzliche Verfassung  zernichtend  gedacht  werden  muss. 
Denn  um  zu  demselben  befugt  zu  sein,  müsste  ein 
öffentliches  Gesetz  vorhanden  sein,  welches  diesen  Wider- 
stand des  Volks  erlaubte,  d.  i.  die  oberste  Gesetzgebung 
enthielte  eine  Bestimmung  in  sich,  nicht  die  oberste  zu 
sein,  und  das  Volk,  als  Ünterthan,  in  einem  und  dem- 
selben Urtheile  zum  Souverain  über  den  zu  machen, 
dem  es  unterthänig  ist;  welches  sich  widerspricht,  und 
wovon  der  Widerspruch  durch  die  Frage  alsbald  in  die 
Augen  fällt:  wer  denn  in  diesem  Streit  zwischen  Volk 
und  Souverain  Richter  sein  sollte?  (denn  es  sind,  recht- 
lich betrachtet,  doch  immer  zwei  verschiedene  moralische 
Personen)  wo  sich  dann  zeigt,  dass  das  erstere  es  in 
seiner  eigenen  Sache  sein  will.'^) 


*'  Weil  die  Entthronung  eines  Monarchen  doch  auch 
als  freiwillige  Ablegung  der  Krone  und  Niederlegung 
seiner  Gewalt,  mit  Zurückgebung  derselben  an  das  Volk 
gedacht  werden  kann,  oder  auch  als  eine,  ohne  Vergreifung 
an  der  höchsten  Person,  vorgenommene  Verlassung  der- 
selhen,  wodurch  sie  in  den  Privatstand  versetzt  werden 
würde,  so  hat  das  Verbrechen  des  Volks,  welches  sie  er- 
zwang, doch  noch  wenigstens  den  Vorwand  des  Noth- 
rechts  {casus  necessitatis    für  sich,   niemals  aber  das  min- 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    Allg.  Anm.        IQl 

Eine  Veränderung  der  (fehlerhaften)  Staatsverfassung, 
die  wohl  bisweilen  nöthig  sein  mag,  —  kann  also  nur 


deste  Recht,  ihn,  das  Oberhaupt,  wegen  der  vorigen  Ver- 
waltung zu  strafen;  weil  alles,  was  er  vorher  in  der  Qualität 
eines  Oberhaupts  that,  als  äusserlich  rechtmässig  geschehen 
angesehen  werden  muss,  und  er  selbst,  als  Quell  der  Ge- 
setze betrachtet,  nicht  Unrecht  thun  kann.  Unter  allen 
Gräueln  einer  Staatsunowälzung  durch  Aufruhr  ist  selbst 
die  Ermordung  des  Monarchen  noch  nicht  das  Aergste; 
denn  noch  kann  man  sich  vorstellen,  sie  geschehe  vom 
Volk  aus  Furcht,  er  könne,  wenn  er  am  Leben  bleibt,  sich 
wieder  ermannen  und  jenes  die  verdiente  Strafe  fühlen 
lassen,  und  solle  also  nicht  eine  Verfügung  der  Strafge- 
rechtigkeit, sondern  bloss  der  Selbsterhaltung  sein.  Die 
formale  Hinrichtung  ist  es,  was  die  mit  Ideen  des  Men- 
schenrechts erfüllte  Seele  mit  einem  Schaudern  ergreift, 
das  man  wiederholentlich  fühlt,  sobald  und  so  oft  man  sich 
diesen  Auftritt  denkt,  wie  das  Schicksal  Carl's  I.  oder 
Ludwig's  XVI.  Wie  erklärt  man  sich  aber  dieses  Gefühl,  was 
hier  nicht  ästhetisch  (ein  Mitgefühl,  Wirkung  der  Einbil- 
dungskraft, die  sich  in  die  Stelle  des  Leidenden  versetzt), 
sondern  moralisch,  der  gänzlichen  Umkehrung  aller  Rechts- 
begriffe  ist?  Es  wird  als  Verbrechen,  was  ewig  bleibt,  und 
nie  ausgetilgt  werden  kann  {crimen  immortale,  inerpiabile), 
angesehen  und  scheint  demjenigen  ähnlich  zu  sein,  was  die 
Theologen  diejenige  Sünde  nennen,  welche  weder  in  dieser, 
noch  in  jener  Welt  vergeben  werden  kann.  Die  Erklärung 
dieses  Phänomens  im  menschlichen  Gemüthe  scheint  aus 
folgenden  Reflexionen  über  sich  selbst,  die  selbst  auf  die 
staatsrechtlichen  Prinzipien  ein  Licht  werfen,  hervorzu- 
gehen. 

Eine  jede  Uebertretung  des  Gesetzes  kann  und  muss 
nicht  anders,  als  so  erklirrt  werden,  dass  sie  aus  einer 
Maxime  des  Verbrechers  (sich  eine  solche  Unthat  zur  Re- 
gel zu  machen)  entspringe;  denn  wenn  man  sie  von  einem 
sinnlichen  Antrieb  ableitete,  so  wäre  sie  nicht  von  ihm, 
als  einem  freien  Wesen,  begangen  und  könnte  ihm  nicht 
zugerechnet  werden;  wie  es  aber  dem  Subjekt  möglich  ist, 
eine  solche  Maxime  wider  das  klare  Verbot  der  gesetzge- 
benden Vernunft  zu  fassen,  lässt  sich  schlechterdings  nicht 
erklären;  denn  nur  die  Begebenheiten  nach  dem  Mechanis- 
mus der  Natur  sind  erklärungsfähig.  Nun  kann  der  Ver- 
brecher seine  Unthat  entweder  nach  der  Maxime  einer  an- 
genommenen objektiven  Regel  (als  allgemein  geltend),  oder 
nur  als  Ausnahme  von  der  Regel  (sich  davon  gelegentlich 

Kant ,  Metaphysik  der     Sitten.  11 


162   Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

vom  Souverain  selbst  durch  Reform,  aber  nicht  vom 
Volk,  mithin  durch  Revolution  verrichtet  werden,  und 
wenn  sie  geschieht,  so  kann  jene  nur  die  ausübende 


zu  dispensiren)  begehen;  im  letzteren  Falle  weicht  er 
nur  (obzwar  vorsätzlich)  vom  Gesetz  ab;  er  kann  seine 
eigene  Uebertretung  zuj^leich  verabscheuen  und,  ohne  dem 
Gesetz  förmlich  den  Gehorsam  aufzukündigen,  es  nur  um- 
gehen wollen;  im  erstereu  aber  verwirft  er  die  Auctorität 
des  Gesetzes  selbst,  dessen  Gültigkeit  er  sich  doch  vor 
seiner  Vernunft  nicht  ableugnen  kann,  und  macht  es  sich 
zur  Regel,  wider  dasselbe  zu  handeln;  seine  Maxime  ist 
also  nicht  bloss  erm an gelungs weise  (iiegatice),  sondern 
sogar  abbruchsweise  (contrarie)  oder,  wie  man  sich  aus- 
drückt, diametraliter,  als  Widerspruch  (gleichsam  feind- 
selig) dem  Gesetz  entgegen.  So  viel  wir  einsehen,  ist  eiu 
dergleichen  A'erbrechen  einer  förmlichen  (ganz  nutzlosen) 
Bosheit  zu  begehen,  Menschen  unmöglich,  und  doch  (ob- 
zwar blosse  Idee  des  Aeusserst-Bösen)  in  einem  System 
der  Moral  nicht  zu  übergehen. 

Der  Grund  des  Schauderhaften,  bei  dem  Gedanken  von 
der  förmlichen  Hinrichtung  eines  Monarchen  durch  sein 
Volk,  ist  also  der,  dass  der  Mord  nur  als  Ausnahme 
von  der  Regel,  welche  dieses  sich  zur  Maxime  machte,  die 
Hinrichtung  aber  als  eine  völlige  Umkehrung  der 
Prinzipien  des  Verhältnisses  zwischen  Souverain  und  Volk 
(dieses,  was  sein  Dasein  nur  der  Gesetzgebung  des  ersteren 
zu  verdanken  hat,  zum  Herrscher  über  jenen  zu  machen) 
gedacht  werden  muss,  und  so  die  Gewaltthiitigkeit  mit 
dreister  Stirn  und  nach  Grundsätzen  über  das  heiligste 
Recht  erhoben  wird;  welches,  wie  ein  alles  ohne  Wieder- 
kehr verschlingender  Abgrund,  als  ein  vom  Staate  an  ihm 
verübter  Selbstmord,  ein  keiner  Entsündigung  fähiges  Ver- 
brechen zu  sein  scheint.  Man  hat  also  Ursache  anzunehmen, 
dass  die  Zustimmung  zu  solchen  Hinrichtungen  wirklich 
nicht  aus  einem  vermeint-rechtlichen  Prinzip,  sondern  aus 
Furcht  vor  Rache  des  vielleicht  dereinst  wif^dcrauflebenden 
Staats  am  Volk  herrührte,  und  jene  Förmlichkeit  nur  vor- 
genommen worden,  um  jener  That  den  Anstrich  von  Be- 
strafung, mithin  eines  rechtlichen  Verfahrens  (der- 
gleichen der  Mord  nicht  sein  würde)  zu  geben,  welche  Be- 
mäntelung aber  verunglückt,  weil  eine  solche  Anmassung 
des  Volks  noch  ärger  ist,  als  selbst  der  Mord,  da  diese 
einen  Grundsatz  enthält,  der  selbst  die  Wiedi^-erzeugung 
emes  umgestüraten  Staats  unmöglich  machen  müsste. 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    Allg.  Anm.        153 

Gewalt,  nicht  die  gesetzgebende,  treffen.  —  In  einer 
Staatsverfassung,  die  so  beschaffen  ist,  dass  das  Volk 
durch  seine  Repräsentanten  (im  Parlament)  jener  und 
dem  Repräsentanten  derselben  (dem  Minister)  gesetzlich 
widerstehen  kann,  — welche  dann  eine  eingeschränkte 
Verfassung  heisst,  —  ist  gleichwohl  kein  aktiver  Wider- 
stand (der  willkürlichen  Verbindung  des  Volks,  die  Re- 
gierung zu  einem  gewissen  thätigen  Verfahren  zu  zwin- 
gen, mithin  selbst  einen  Akt  der  ausübenden  Gewalt 
zu  begehen),  sondern  nur  ein  negativer  Widerstand, 
d.  i.  Weigerung  des  Volks  (im  Parlament),  und  erlaubt 
jener,  in  den  Forderungen,  die  sie  zur  Staatsverwaltung 
nöthig  zu  haben  vorgiebt,  nicht  immer  zu  willfahren; 
vielmehr  wenn  das  Letztere  geschähe,  so  wäre  es  ein 
sicheres  Zeichen,  dass  das  Volk  verderbt,  seine  Reprä- 
sentanten erkäuflich,  und  das  Oberhaupt  in  der  Regierung 
durch  seinen  Minister  despotisch,  dieser  selbst  aber  ein 
Verräther  des  Volks  sei. 

Uebrigens,  wenn  eine  Revolution  einmal  gelungen 
und  eine  neue  Verfassung  gegründet  ist,  so  kann  die 
Unrechtmässigkeit  des  Beginnens  und  der  Vollführung 
derselben  die  ünterthanen  von  der  Verbindlichkeit,  der 
neuen  Ordnung  der  Dinge  sich,  als  gute  Staatsbürger, 
zu  fügen,  nicht  befreien,  und  sie  können  sich  nicht 
weigern,  derjenigen  Obrigkeit  ehrlich  zu  gehorchen,  die 
jetzt  Gewalt  hat.  Der  entthronte  Monarch  (der  jene 
Umwälzung  überlebt)  kann  wegen  seiner  vorigen  Ge- 
scViäftsführung  nicht  in  Anspruch  genommen,  noch  weniger 
aber  gestraft  werden,  wenn  er  in  den  Stand  eines  Staats- 
bürgers zurücktretend,  seine  und  des  Staats  Ruhe  dem 
Wagstücke  vorzieht,  sich  von  diesem  zu  entfernen,  um 
als  Prätendent  das  Abenteuer  der  Wiedererlangung 
desselben,  es  sei  durch  ingeheim  angestiftete  Gegen- 
revolution, oder  durch  Beistand  anderer  Mächte  zu  be- 
stehen. Wenn  er  aber  das  Letztere  vorzieht,  so  bleibt 
ihm,  weil  der  Aufruhr,  der  ihn  aus  seinem  Besitz  ver- 
trieb, ungerecht  war,  sein  Recht  an  demselben  unbe- 
nommen. Ob  aber  andere  Mächte  das  Recht  haben, 
sich,  diesem  verunglückten  Oberhaupt  zum  Besten,  in 
ein  Staatenbündniss  zu  vereinigen,  bloss  um  jenes  vom 
Volk  begangene  Verbrechen  nicht  ungeahndet,  noch  als 
Skandal  für  alle  Staaten  bestehen  zu  lassen,  mithin  eine 

11* 


154    Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

in  jedem  anderen  Staat  durch  Revolution  zu  Stande 
gekommene  Verfassung  in  ihre  alte  mit  Gewalt  zurück- 
zubringen berechtigt  und  berufen  seien^  das  gehört  zum 
Völkerrecht.  ■'1) 


B. 

Kann  der  Beherrscher  als  Obereigenthümer  (des 
Bodens),  oder  muss  er  nur  als  Oberbefehlshaber  in  An- 
sehung des  Volks  durch  Gesetze  betrachtet  werden? 
Da  der  Boden  die  oberste  Bedingung  ist,  unter  der  allein 
es  möglich  ist,  äussere  Sachen  als  das  Seine  zu  haben^ 
deren  möglicher  Besitz  und  Gebrauch  das  erste  erwerb- 
liche Recht  ausmacht,  so  wird  von  dem  Souverain,  als 
Landesherrn,  besser  als  Obereigenthümer  {dominus 
territorii)j  alles  solche  Recht  abgeleitet  werden  müssen. 
Das  Volk,  als  die  Menge  der  Unterthanen,  gehört  ihm 
auch  zu  (es  ist  sein  Volk),  aber  nicht  ihm,  als  Eigen- 
thümer  (nach  dem  dinglichen),  sondern  als  Oberbefehls- 
haber (nach  dem  persönlichen  Recht).  —  Dieses  Ober- 
eigenthum  ist  aber  nur  eine  Idee  des  bürgerlichen  Ver- 
eins, um  die  nothwendige  Vereinigung  des  Privateigen- 
thujus  Aller  im  Volk  unter  einem  öffentlichen  allgemeinen 
Besitzer,  zu  Bestimmung  des  besonderen  Eigenthums, 
nicht  nach  Grundsätzen  der  Aggregation  (die  von 
den  Theilen  zum  Ganzen  empirisch  fortschreitet),  son- 
dern von  dem  nothwendigen  formalen  Prinzip  derEin- 
theilung  (Division  des  Bodens)  nach  Rechtsbegriffen 
vorstellig  zu  machen.  Nach  diesen  kann  der  Ober- 
eigenthümer kein  Privateigentlnim  an  irgend  einem 
Boden  haben  (denn  sonst  machte  er  sich  zu  einer  Privat- 
person), sondern  dieses  gehört  nur  dem  Volk  (und  zwar 
nicht  kollektiv,  sondern  distributiv  genommen)  zu;  wo- 
von doch  ein  nomadisch-beherrschtes  Volk  auszunehmen 
ist,  als  in  welchem  gar  kein  Privateigenthum  des  Bodens 
stattfindet.  —  Der  Oberbefehlshaber  kann  also  keine 
Domainen,  d.  i.  Ländereien  zu  seiner  Privatbenutzung 
(zu  Unterhaltung  des  Hofes)  haben.  Denn  weil  es  als- 
dann auf  sein  eigen  Gutbefinden  ankäme,  wie  weit  sie 
ausgebreitet  sein  sollten,  so  würde  der  Staat  Gefahr 
laufen,  alles  Eigeuthum  des  Bodens  in  den  Händen  der 
Regierung  zu  sehen,  und  alle  Unterthanen   als  grund- 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    Allg.  Anm.        165 

unter  thänig  {glehae  adscripti)  und  Besitzer  von  dem, 
was  immer  nur  Eigenthum  eines  Anderen  ist,  folglich 
aller  Freiheit  beraubt  {servi)  anzusehen.  —  Von  einem 
Landesherrn  kann  man  sagen:  er  besitzt  nichts^  (zu 
eigen),  ausser  sicli  selbst;  denn  wenn  er  neben  einem 
Anderen  im  Staat  etwas  zu  eigen  hätte,  so  würde  mit 
diesem  ein  Streit  möglich  sein,  zu  dessen  Schlichtung 
kein  Richter  wäre.  Aber  man  kann  auch  sagen:  er 
besitzt  alles;  weil  er  das  Befehlshaberrecht  über  das 
Volk  hat  (jedem  das  Seine  zu  Theil  kommen  zu  lassen)^ 
dem  alle  äussere  Sachen  (cUvisim)  zugehören. 

Hieraus  folgt:  dass  es  auch  keine  Korporation  im 
Staate,  keinen  Stand  und  Orden  geben  könne,  der  als 
Eigenthümer  den  Boden  zur  alleinigen  Benutzung  den 
folgenden  Generationen  (ins  Unendliche)  nach  gewissen 
Statuten  überliefern  könne.  Der  Staat  kann  sie  zu 
aller  Zeit  aufheben,  nur  unter  der  Bedingung,  die  Ueber- 
lebenden  zu  entschädigen.  Der  Ritterorden  (als  Kor- 
poration, oder  auch  bloss  Rang  einzelner,  vorzüglich 
beehrter  Personen);  der  Orden  der  Geistlichkeit,  die 
Kirche  genannt,  können  nie  durch  diese  Vorrechte,  wo- 
mit sie  begünstigt  worden,  ein  auf  IS^achfolger  übertrag- 
bares Eigenthum  am  Boden,  sondern  nur  die  einst- 
weilige Benutzung  desselben  erwerben.  Die  Komthureien 
auf  einer,  die  Kirchengüter  auf  der  anderen  Seite  können, 
wenn  die  öffentliche  Meinung  wegen  der  Mittel,  durch 
die  Kriegs  ehre  den  Staat  wider  die  Lauigkeit  in 
Vertheidigung  desselben  zu  schützen,  oder  die  Menschen 
in  demselben  durch  Seelmessen,  Gebete  und  eine  Menge 
zu  bestellender  Seelsorger,  um  sie  vor  dem  ewigen 
Feuer  zu  bewahren,  anzutreiben,  aufgehört  hat,  ohne 
Bedenken  (doch  unter  der  vorgenannten  Bedingung)  auf- 
gehoben werden.  Die,  so  hier  in  die  Reform  fallen, 
können  nicht  klagen,  dass  ihnen  ihr  Eigenthum  ge- 
nommen werde;  denn  der  Grund  ihres  bisherigen  Be- 
sitzes lag  nur  in  der  Volksmeinung,  und  musste 
auch,  so  lange  diese  fortwährte,  gelten.  Sobald  diese 
aber  erlosch,  und  zwar  auch  nur  in  dem  Urtheil  der- 
jenigen, welche  auf  Leitung  desselben  durch  ihr  Ver- 
dienst den  grössten  Anspruch  haben,  so  musste,  gleich- 
sam als  durch  eine  Appellation  desselben  an  den  Staat 


Ißß    Rechtslehre,    ü.  Theil.    Das  öfifentliche  Recht. 

(a  rege  male  informato  ad  regem  melius  inform.andum)y 
4as  vermeinte  Eigenthum  aufhören. 

Auf  diesem  ursprünglich  erworbenen  Grundeigen- 
thume  beruht  das  Recht  des  Oberbefehlshabers,  als  Ober- 
eigenthtimers  (des  Landesherrn),  die  Privateigenthümer 
des  Bodens  zu  beschatzen,  d.  i.  Abgaben  durch  die 
Landtaxe,  Accise  und  Zölle,  oder  Dienstleistung  (der- 
gleichen die  Stellung  der  Mannschaft  zum  Kriegsdienst 
ist)  zu  fordern:  so  doch,  dass  das  Volk  sich  selber  be- 
schatzt,  weil  dieses  die  einzige  Art  ist,  hierbei  nach 
Rechtsgesetzen  zu  verfahren,  wenn  es  durch  das  Corps 
der  Deputirten  desselben  geschieht,  auch  als  gezwungene 
(von  dem  bisher  bestandenen  Gesetz  abweichende)  An- 
leihe, nach  dem  Majestätsrechte,  als  in  einem  Falle,  da 
der  Staat  in  Gefahr  seiner  Auflösung  kommt,  erlaubt  ist. 

Hierauf  beruht  auch  das  Recht  der  Staatswirthschaft, 
<1es  Finanzwesens  und  der  Polizei,  welche  letztere  die 
öffentliche  Sicherheit,  Gemächlichkeit  und  An- 
ständigkeit besorgt;  denn  dass  das  Gefühl  für  diese 
{sensus  decm'i),  als  negativer  Geschmack,  durch  Bettelei, 
Lärmen  auf  Strassen,  Gestank,  öffentliche  Wollust  {venus 
volgivaga)y  als  Verletzungen  des  moralischen  Sinnes 
nicht  abgestumpft  werde,  erleichtert  der  Regierung  gar 
sehr  ihr  Geschäft,  das  Volk  durch  Gesetze  zu  lenken. 

Zu  Erhaltung  des  Staats  gehört  auch  noch  ein  Drittes: 
nämlich  das  Recht  der  Aufsicht  {jus  inspectiards), 
dass  ihm  nämlich  keine  Verbindung,  die  aufs  öffent- 
liche Wohl  der  Gesellschaft  (publicum)  Einfluss  haben 
kann  (von  Staats-  oder  Religions-Illuminaten),  verheim- 
licht, sondern,  wenn  es  von  der  Polizei  vorlangt  wird, 
die  Eröffnung  ihrer  Verfassung  nicht  geweigert  werde. 
Die  aber  der  Untersuchung  der  Privatbehausung  eines 
Jeden  ist  nur  ein  Nothfall  der  Polizei,  wozu  sie  durch 
eine  höhere  Auctorität  in  jedem  besonderen  Falle  be- 
rechtigt werden  muss.''^) 

C. 

Dem  Oberbefehlshaber  steht  indirekt,  d.  i.  als 
Uebernehmer  der  Pflicht  des  Volks,  das  Recht  zu,  dieses 
mit  Abgaben  zu  seiner  (des  Volks)  eigenen  Erhaltung 
zu   belasten,    als    da    sind:    das    Armen  wesen,    die 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    Allg.  Anm.         157 

Findelhäuser  und  das  Kirchenwesen,  sonst  milde 
oder  fromme  Stiftungen  genannt. 

Der  allgemeine  Volkswille  hat  sich  nämlich  zu  einer 
Gesellschaft  vereinigt,  welche  sich  immerwährend  er- 
halten soll,  und  zu  dem  Ende  sich  der  inneren  Staats- 
gewalt unterworfen,  um  die  Glieder  dieser  Gesellschaft, 
die  es  selbst  nicht  vermögen,  zu  erhalten.  Von  Staats- 
wegen ist  also  die  Regierung  berechtigt,  die  Vermögen- 
den zu  nöthigen,  die  Mittel  der  Erhaltung  derjenigen, 
die  es,  selbst  den  nothwendigsten  Naturbedürfnissen 
nach,  nicht  sind,  herbeizuschaffen;  weil  ihre  Existenz 
zugleich  als  Akt  der  Unterwerfung  unter  den  Schutz 
und  die  zu  ihrem  Dasein  nöthige  Vorsorge  des  gemeinen 
Wesens  ist,  wozu  sie  sich  verbindlich  gemacht  haben, 
auf  welche  der  Staat  nun  sein  Recht  gründet,  zur  Er- 
haltung ihrer  Mitbürger  das  Ihrige  beizutragen.  Das 
kann  nun  geschehen:  durch  Belastung  des  Eigenthums 
der  Staatsbürger,  oder  ihres  Handelsverkehrs,  oder  durch 
errichtete  Fonds  und  deren  Zinsen,  nicht  zu  Staats- 
(denn  der  ist  reich),  sondern  zu  Volksbedürfnissen;  aber 
nicht  bloss  durch  freiwillige  Beiträge  (weil  hier  nur 
vom  Rechte  des  Staats  gegen  das  Volk  die  Rede  ist), 
worunter  einige  gewinnsüchtige  sind  (als  Lotterien,  die 
mehr  Arme  und  dem  öffentlichen  Eigenthume  Gefähr- 
liche machen,  als  sonst  sein  würden,  und  die  also  nicht 
erlaubt  sein  sollten),  sondern  zwangsmässig,  als  Staats- 
lasten. Hier  fragt  sich  nun:  ob  die  Versorgung  der 
Armen  durch  laufende  Beiträge,  so  dass  jedes  Zeit- 
alter die  Seinigen  ernährt,  oder  durch  Bestände  und 
üoerhaupt  fromme  Stiftungen  (dergleichen  Wittwen- 
liäuser,  Hospitäler  u.  dgl.  sind),  und  zwar  jenes  nicht 
durch  Bettelei,  welche  mit  der  Räuberei  nahe  verwandt 
ist,  sondern  durch  gesetzliche  Auflage  ausgerichtet  wer- 
den soll?  —  Die  erstere  Anordnung  muss  für  die  ein- 
zige, dem  Rechte  des  Staats  angemessene,  der  sich 
xNiemand  entziehen  kann,  der  zu  leben  hat,  gehalten 
werden;  weil  sie  nicht  (wie  von  frommen  Stiftungen  zu 
besorgen  ist),  wenn  sie  mit  der  Zahl  der  Armen  an- 
wachsen, das  Armsein  zum  Erwerbmittel  für  faule  Men- 
schen machen,  und  so  eine  ungerechte  Belästigung 
des  Volks  durch  die  Regierung  sein  würden. 

Was  die  Erhaltung   der  aus  Noth  oder  Scham   aus- 


168    Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

gesetzten,  oder  wohl  gar  darum  ermordeten  Kinder  be- 
trifft, so  hat  der  Staat  ein  Recht,  das  Volk  mit  der 
Pflicht  zu  belasten,  diesen,  obzwar  unwillkommenen  Zu- 
wachs des  Staatsvermögens  nicht  wissentlich  umkommen 
zu  lassen.  Ob  dieses  aber  durch  Besteuerung  der  Hage- 
stolzen beiderlei  Geschlechts  (worunter  die  vermögen- 
den Ledigen  verstanden  werden)  als  solche,  die  daran 
doch  zum  Theil  Schuld  sind,  vermittelst  dazu  errichteter 
Findelhäuser,  oder  auf  andere  Art  mit  Recht  geschehen 
könne  (ein  anderes  Mittel,  es  zu  verhüten,  möchte  es 
aber  schwerlich  geben);  ist  eine  Aufgabe,  deren  Lösung, 
ohne  entweder  wider  das  Recht,  oder  die  Moralität  za 
Verstössen,  bisher  noch  nicht  gelungen  ist. 

Da  auch  das  Kii-chenwesen,  welches  von  der  Re- 
ligion, als  innerer  Gesinnung,  die  ganz  ausser  dem  Wir- 
kungskreise der  bürgerlichen  Macht  ist,  sorgfältig  unter- 
schieden werden  muss  (als  Anstalt  zum  öffentlichen 
Gottesdienste  für  das  Volk,  aus  welchem  dieser  auch 
seinen  Ursprung  hat,  es  sei  Meinung  oder  Ueberzeugung), 
ein  wahres  Staatsbedürfniss  wird,  sich  auch  als  Unter- 
thar.en  einer  höchsten  unsichtbaren  Macht,  der  sie 
huldigen  müssen,  und  die  mit  der  bürgerlichen  oft  in 
einen  sehr  ungleichen  Streit  kommen  kann,  zu  betrachten ; 
so  hat  der  Staat  das  Recht,  nicht  etwa  der  inneren 
Konstitutional  -  Gesetzgebung,  das  Kirchen wesen  nach 
seinem  Sinne,  wie  es  ihm  vortheilhaft  dünkt,  einzu- 
richten, den  Glauben  und  gottesdienstliche  Formen  {i'itus) 
dem  Volke  vorzuschreiben  oder  zu  befehlen  (denn  dieses 
muss  gänzlich  den  Lehrern  und  Vorstehern,  die  es  sich 
selbst  gewählt  hat,  überlassen  bleiben),  sondern  nur  das 
negative  Recht,  den  Einfluss  der  öffentlichen  Lehrer  auf 
das  sichtbare,  politische  gemeine  Wesen,  der  der  öffent- 
lichen Ruhe  uachtheilig  sein  möchte,  abzuhalten,  mithin  bei 
dem  inneren  Streit,  oder  dem  der  verschiedenen  Kirchen 
unter  einander,  die  bürgerliche  Eintracht  nicht  in  Ge- 
fahr kommen  zu  lassen,  welches  also  ein  Recht  der 
Polizei  ist.  Dass  eine  Kirche  einen  gewissen  Glauben, 
und  welchen  sie  haben,  oder  dass  sie  ihn  unabänderlich 
erhalten  müsse  und  sich  nicht  selbst  reformiren  dürfe, 
sind  Einmischungen  der  obrigkeitlichen  Gewalt,  die 
unter  ihrer  Würde  sind;  weil  sie  sich  dabei,  als 
einem  Schulgezänke,    auf  den  Fuss  der  Gleichheit  mit 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    Allg.  Anm.         \Q^ 

ihren  Unterthanen  einlässt  (der  Monarch  sich  zum  Priester 
macht),  die  ihr  geradezu  sagen  können,  dass  sie  hier- 
von nichts  verstehe;  vornehmlich  was  das  Letztere,  näm- 
lich das  Verbot  innerer  Reformen  betrifft;  —  denn  was 
das  gesammte  Volk  nicht  über  sich  selbst  bescliliessen 
kann,  das  kann  auch  der  Gesetzgeber  nicht  über 
das  Volk  beschliessen.  Nun  kann  aber  kein  Volk 
beschliessen,  in  seinen,  den  Glauben  betreffenden  Ein- 
sichten (der  Aufklärung)  niemals  weiter  fortzuschreiten, 
mithin  auch  sich  in  Ansehung  des  Kirchenwesens  nie 
zu  reformiren ;  weil  dies  der  Menschheit  in  seiner  eigenen 
Person,  mithin  dem  höchsten  Rechte  desselben  entgegen 
sein  würde.     Also    kann    es    auch    keine    obrigkeitliche 

Gewalt   über    das   Volk    beschliessen. Was   aber 

die  Kosten  der  Erhaltung  des  Kirchenwesens  betrifft, 
so  können  diese,  aus  ebenderselben  Ursache,  nicht  dem 
Staate,  sondern  müssen  dem  Theile  des  Volks,  der  sicli 
zu  einem  oder  dem  anderen  Glauben  bekennt,  d.  i.  nur 
der  Gemeine  zu  Lasten  kommenJ'^) 

D. 

Das  Recht  des  obersten  Befehlshabers  im  Staate 
geht  auch  1)  auf  Vertheilung  der  Aemter,  als  mit 
einer  Besoldung  verbundener  Geschäftsführung;  2)  der 
Würden,  die,  als  Standeserhöhungen  ohne  Sold,  d.  i. 
Rangertheilung  der  Oberen  (der  zum  Befehlen)  in  An- 
sehung der  Niederen  (die,  obzwar  als  freie  und  nur 
durchs  öffentliche  Gesetz  verbindliche,  doch  jenen  zu 
gehorsamen  zum  voraus  bestimmt  sind),  bloss  auf  Ehre 
iundirt  sind  —  und  3)  ausser  diesem  (respektiv-wohl- 
thätigen)  Recht,  auch  aufs  Strafrecht. 

Was  ein  bürgerliches  Amt  anlangt,  so  kommt  hier 
die  Frage  vor:  hat  der  Souverain  das  Recht,  einem,  dem 
er  ein  Amt  gegeben,  es  nach  seinem  Gutbefinden  (ohne 
ein  Verbrechen  von  Seiten  des  letzteren)  wieder  zu 
nehmen?  Ich  sage,  nein!  Denn  was  der  vereinigte 
Wille  des  Volks  über  seine  bürgerlichen  Beamten 
nie  beschliessen  wird,  das  kann  auch  das  Staats- 
oberhaupt über  ihn  nicht  beschliessen.  Nun  will  das 
Volk  (das  die  Kosten  tragen  soll,  welche  die  An- 
setzung  eines  Beamten   ihm  machen  wird),    ohne    allen 


170    ßechtslehre.    11.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

Zweifel,  dass  dieser  seinem  ihm  auferlegten  Geschäfte 
völlig  gewachsen  sei;  welches  aber  nicht  anders,  als 
durch  eine  hinlängliche  Zeit  hindurch  fortgesetzte  Vor- 
bereitung und  Erlernung  desselben,  über  der  er  diejenige 
versäumt,  die  er  zur  Erlernung  eines  anderen,  ihn 
nährenden  Geschäfts  hätte  verwenden  können,  geschehen 
kann ;  mithin  würde,  in  der  Regel,  das  Amt  mit  Leuten 
versehen  werden,  die  keine  dazu  erforderliche  Geschick- 
lichkeit und  durch  Uebung  erlangte  reife  Urtheilskraft 
erworben  hätten;  welches  der  Absicht  des  Staats  zu- 
wider ist,  als  zu  welcher  auch  erforderlich  ist,  dass  jeder 
vom  niedrigeren  Amte  zu  höheren  (die  sonst  lauter  Un- 
tauglichen in  die  Hände  fallen  würden)  steigen,  mit- 
hin auch  auf  lebenswierige  Versorgung  müsse  rechnen 
können. 

Die  Würde  betreffend,  nicht  bloss  die,  welche  ein 
Amt  bei  sich  führen  mag,  sondern  auch  die,  welche  den 
Besitzer  auch  ohne  besondere  Bedienungen  zum  Gliede 
eines  höheren  Standes  macht,  ist  der  Adel,  der  vom 
bürgerlichen  Stande,  in  welchem  das  Volk  ist,  unter- 
schieden, den  männlichen  Naclikommen  anerbt,  durch 
diese  auch  wohl  den  weiblichen  unadeliger  Geburt,  nur 
so,  dass  die  Adelig-geborne  ihicm  unadeligen  Ehemann 
nicht  umgekehrt  diesen  Rang  mittheilt,  sondern  selbst 
in  den  bloss  bürgerlichen  (des  Volks)  zurückfällt.  —  Die 
Frage  ist  nun:  ob  der  Souverain  einen  Adelsstand,  als 
einen  erblichen  Mittelstand  zwischen  ihm  und  den 
übrigen  Staatsbürgern,  zu  gründen  berechtigt  sei?  In 
dieser  Frage  kommt  es  nicht  darauf  an :  ob  es  der  Klug- 
heit des  Souverains,  wegen  seines  und  des  Volks  Vor- 
theils,  sondern  nur,  ob  es  dem  Rechte  des  Volks  gemäss 
sei,  einen  Stand  von  Personen  über  sich  zu  haben,  die 
zwar  selbst  ünterthanen,  aber  doch  in  Ansehung  des 
Volks  geborne  Befehlshaber  (wenigstens  Privileglrte) 
sind.  —  —  Die  Beantwortung  derselben  geht  nun  hier, 
eben  so  wie  vorher,  aus  dem  Prinzip  hervor:  „was  das 
Volk  (die  ganze  Masse  der  ünterthanen)  nicht  über  sich 
selbst  und  seine  Genossen  beschliessen  kann,  das  kann 
auch  der  Souverain  nicht  über  das  Volk  beschliessen." 
Kun  ist  ein  an  geerbter  Adel  ein  Rang,  der  vor  dem 
Verdienste  vorher  geht  und  dieses  auch  mit  keinem 
Grunde  hoffen  lässt,  ein  Gedankending,    ohne    alle  Re- 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    AUg.  Anm.         X71 

alität.  Denn  wenn  der  Vorfahr  Verdienste  liatte,  so 
konnte  er  dieses  doch  nicht  auf  seine  Nachkommen  ver- 
erben, sondern  diese  mussten  es  sich  immer  selbst  er- 
werben ;  da  die  Natur  es  nicht  so  fügt,  dass  das  Talent 
und  der  Wille,  welche  Verdienste  um  den  Staat  mög- 
lich machen,  auch  an  arten.  Weil  nun  von  keinem 
Menschen  angenommen  werden  kann,  er  werde  seine 
Freiheit  wegwerfen,  so  ist  es  unmöglich,  dass  der  all- 
gemeine Volks wille  zu  einem  solchen  grundlosen  Präro- 
gativ zusammenstimme,    mithin    kann   der  Souverain   es 

auch  nicht  geltend  machen. Wenn  indessen  gleich 

eine  solche  Anomalie  in  das  Maschinenwesen  einer  Re- 
gierung von  alten  Zeiten  (des  Lehnswesens,  das  fast 
gänzlich  auf  den  Krieg  angelegt  war)  eingeschlichen, 
von  ünterthanen,  die  mehr  als  Staatsbürger,  nämlich 
geborne  Beamte  (wie  etwa  ein  Erbprofessor),  sein  wollen, 
so  kann  der  Staat  diesen  von  ihm  begangenen  Fehler 
eines  widerrechtlich  ertheilten  Vorzugs  nicht  anders,  als 
durch  Eingehen  und  Nichtbesetzung  der  Stellen  allmälig 
wiederum  gut  machen,  und  so  hat  er  provisorisch  ein 
Kecht,  diese  Würde  dem  Titel  nach  fortdauern  zu  lassen, 
bis  selbst  in  der  öffentlichen  Meinung  die  Eintheilung 
in  Souverain,  Adel  und  Volk  der  einzigen  natürlichen 
in  Souverain  und  Volk  Platz  gemacht  haben  wird. 

Ohne  alle  Würde  kann  nun  wohl  kein  Mensch  im 
Staate  sein,  denn  er  hat  wenigstens  die  des  Staats- 
bürgers; ausser  wenn  er  sich  durch  sein  eigenes  Ver- 
brechen darum  gebracht  hat,  da  er  dann  zwar  im 
Leben  erhalten,  aber  zum  blossen  Werkzeuge  der  Will- 
kür eines  Anderen  (entweder  des  Staats,  oder  eines 
anderen  Staatsbürgers)  gemacht  wird.  Wer  nun  das 
letztere  ist  (was  er  nur  durch  Urtheil  und  Recht  wer- 
den kann),  ist  ein  Leibeigener  (servus  in  sensu  stricto) 
und  gehört  zum  Eigenthum  {clominium)  eines  Anderen, 
der  daher  nicht  bloss  sein  Herr  (herus),  sondern  auch 
sein  Eigenthum  er  {dominus)  ist,  der  ihn  als  eine 
Sache  veräussern  und  nach  Belieben  (nur  nicht  zu 
schandbaren  Zwecken)  brauchen,  und  über  seine 
Kräfte,  wenngleich  nicht  über  sein  Leben  und  Glied- 
massen verfügen  (disponiren)  kann.  Durch  einen 
Vertrag  kann  sich  Niemand  zu  einer  solchen  Abhängig- 
keit verbinden,  dadurch  er  aufhört,  eine  Person  zu  sein : 


172    Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

tlenn  nur  als  Person  kann  er  einen  Vertrag  machen. 
Nun  scheint  es  zwar,  ein  Mensch  könne  sich  zu  ge- 
wissen, der  Qualität  nach  erlaubten,  dem  Grade  nach 
aber  unbestimmten  Diensten  gegen  einen  Andern 
(für  Lohn,  Kost,  oder  Schutz)  verpflichten,  durch  einen 
Verdingungsvertrag  (locatio  conductio),  und  er  werde 
dadurch  bloss  Unterthan  (subjectus),  nicht  Leibeigener 
(servus);  allein  das  ist  nur  ein  falscher  Schein.  Denn 
wenn  sein  Herr  befugt  ist,  die  Kräfte  seines  Unterthans 
nach  Belieben  zu  benutzen,  so  kann  er  sie  auch  (wie 
es  mit  den  Negern  auf  den  Zuckerinseln  der  Fall  ist) 
erschöpfen,  bis  zum  Tode  oder  der  Verzweiflung,  und 
jener  hat  sich  seinem  Hen*n  wirklich  als  Eigenthum 
weggegeben;  welches  unmöglich  ist.  —  Er  kann  sich 
also  nur  zu,  der  Qualität  und  dem  Grade  nach  bestimm- 
ten Arbeiten  verdingen:  entweder  als  Tagelöhner,  oder 
ansässiger  Unterthan;  im  letzteren  Fall,  dass  er  theils, 
für  den  Gebrauch  des  Bodens  seines  Herrn,  statt  des 
Tagelohns,  Dienste  auf  demselben  Boden,  theils  für  die 
eigene  Benutzung  desselben  bestimmte  Abgaben  (einen 
Zins)  nach  einem  Pachtvertrage  leistet,  ohne  sich  dabei 
zum  Gutsunterthan  (glebae  adscriptus)  zu  machen, 
als  wodurch  er  seine  Persönlichkeit  einbüssen  würde, 
mithin  eine  Zeit-  oder  Erbpacht  gründen  kann.  Er  mag 
nun  aber  durch  sein  Verbrechen  ein  persönlicher 
Unterthan  geworden  sein,  so  kann  diese  Unterthänigkeit 
ihm  doch  nicht  an  erben;  weil  er  sie  sich  nur  durcii 
seine  eigene  Schuld  zugezogen  hat,  und  eben  so  wenig 
kann  der  von  einem  Leibeigenen  Erzeugte  wegen  der 
Erziehungskosten,  die  er  gemacht  hat,  in  Anspruch  ge- 
nommen werden,  weil  Erziehung  eine  absolute  Natur- 
pflicht der  Eitern  und  im  Falle,  dass  diese  Leibeigene 
waren,  der  Herren  ist,  welche  mit  dem  Besitz  ihrer 
Unterthanen  auch  die  Pflichten  derselben  übernommen 
haben.'<4) 

E. 

Vom  8ti'af-  imd  Begnadigungsrecht. 

I. 

Das   Strafrecht   ist   das   Recht    des  Befehlshabers 
gegen  den  Unterwürfigen,  ihn  wegen  seines  Verbrechens 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    Allg.  Anm.        173 

mit  einem  Schmerz  zu  belegen.  Der  Oberste  im  Staate 
kann  also  nicht  bestraft  werden,  sondern  man  kann  sich 
nur  seiner  Herrschaft  entziehen.  —  Diejenige  Ueber- 
tretung  des  öflfentlichen  Gesetzes,  die  den,  welcher  sie 
begeht,  unfähig  macht,  Staatsbürger  zu  sein,  heisst  Ver- 
brechen schlechthin  {crimen)^  aber  auch  ein  öffentliches 
Verbrechen  [cHmen  publicum) ;  daher  das  erstere  (das 
Privatverbrechen)  vor  die  Civil-,  das  andere  vor  die 
Kriminalgerechtigkeit  gezogen  wird.  —  Veruntreuung, 
d.  i.  Unterschlagung  der  zum  Verkehr  anvertrauten  Gel- 
der oder  Waaren,  Betrug  im  Kauf  und  Verkauf,  bei 
sehenden  Augen  des  Anderen,  sind  Privatverbrechen. 
Dagegen  sind:  falsch  Geld  oder  Wechsel  zu  machen, 
Diebstahl  und  Raub  u.  dgl.  öffentliche  Verbrechen,  weil 
das  gemeine  Wesen  und  nicht  bloss  eine  einzelne  Per- 
son dadurch  gefährdet  wird.  —  Sie  könnten  in  die  der 
niederträchtigen  Gemüthsart  {indoUs  abjectae)  und 
die  der  gewaltthätigen  {indolis  violentae)  eingetheilt 
werden. 

Richterliche  Strafe  (poena  forensis),  die  von 
der  natürlichen  {pyoena  naturalis)^  dadurch  das  Laster 
sich  selbst  bestraft  und  auf  welche  der  Gesetzgeber  gar 
nicht  Hücksicht  nimmt,  verschieden,  kann  niemals  blos-i 
als  Mitte],  ein  anderes  Gute  zu  befördern,  für  den  Ver- 
brecher sel'ist,  oder  für  die  bürgerliche  Gesellschaft, 
sondern  muss  jederzeit  nur  darum  wider  ihn  verhängt 
werden,  weil  er  verbrochen  hat;  denn  der  Menscli 
kann  nie  bloss  als  Mittel  zu  den  Absichten  eines  Anderen 
gehandhabt  und  unter  die  Gegenstände  des  Sachenrechts 
gemengt  werden,  wowider  ihn  seine  angeborne  Persön- 
lichkeit schützt,  ob  er  gleich  die  bürgerliche  einzubüssen 
gar  wohl  verurtheilt  werden  kann.  Er  muss  vorher 
strafbar  befunden  sein,  ehe  noch  daran  gedacht  wird, 
aus  dieser  Strafe  einigen  Nutzen  für  ihn  selbst  oder 
seine  Mitbürger  zu  ziehen.  Das  Strafgesetz  ist  ein  ka- 
tegorischer Imperativ,  und  wehe  dem!  welcher  die 
Schlangenwindungen  der  Glückseligkeitslehre  durch- 
kriecht, um  etwas  auszufinden,  was  durch  den  Vortheil, 
den  es  verspricht,  ihn  von  der  Strafe,  oder  auch  nur 
einem  Grade  derselben  entbinde,  nach  dem  pharisäischen 
Wahlspruch:  „es  ist  besser,  dass  ein  Mensch  sterbe, 
als  dass  das  ganze  Volk  verderbe ;"  denn  wenn  die  Ge- 


174    Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  öflfentliche  Recht. 

rechtigkeit  untergeht,  so  hat  es  keinen  Werth  mehr^ 
dass  Menschen  auf  Erden  leben.  —  Was  soll  man  also 
von  dem  Vorschlage  halten:  einem  Verbrecher  auf  den 
Tod  das  Leben  zu  erhalten,  wenn  er  sich  dazu  ver- 
stände, an  sich  gefährliche  Experimente  machen  zu 
lassen,  und  so  glücklich  wäre,  gut  durchzukommen;  da- 
mit die  Aerzte  dadurch  eine  neue,  dem  gemeinen  Wesen 
erspriessliche  Belehrung  erhielten?  Ein  Gerichtshof  würde 
das  medizinische  Kollegium,  das  diesen  Vorschlag  thäte, 
mit  Verachtung  abweisen;  denn  die  Gerechtigkeit  hört 
auf,  eine  zu  sein,  wenn  sie  sich  für  irgend  einen  Preis 
weggiebt. 

Welche  Art  aber  und  welcher  Grad  der  Bestrafung 
ist  es,  welche  die  öffentliche  Gerechtigkeit  sich  zum 
Prinzip  und  Ptichtmaasse  macht?  Kein  anderes,  als  das 
Prinzip  der  Gleichheit  (im  Stande  des  Züngleins  an  der 
Wage  der  Gerechtigkeit),  sich  nicht  mehr  auf  die  eine, 
als  auf  die  andere  Seite  hinzuneigen.  Also:  was  für 
unverschuldetes  Uebel  du  einem  Anderen  im  Volke  zu- 
fügst, das  thust  du  dir  selbst  an.  Beschimpfst  du  ihn, 
so  beschimpfst  du  dich  selbst;  bestielilst  du  ihn,  so  be- 
stiehlst du  dich  selbst;  sehlägst  du  ihn,  so  schlägst  du 
dich  selbst;  tödtest  du  ihn,  so  tödtest  du  dich  selbst. 
Nur  das  Wiedervergeltungsrecht  {jus  talionis), 
aber  wohl  zu  verstehen,  vor  den  Schranken  des  Gerichts 
(nicht  in  deinem  Privaturtheile),  kann  die  Qualität  und 
Quantität  der  Strafe  bestimmt  angeben;  alle  andere  sind 
hin  und  her  schwankend,  und  können,  anderer  sich  ein- 
mischenden Päicksichten  wegen  keine  Angemessenheit 
mit  dem  rpruch  der  reinen  und  strengen  Gerechtigkeit 
enthalter.  —  Nun  scheint  es  zwar,  dass  der  Unterschied 
der  Stände  das  Prinzip  der  Wiedervergeltung:  Gleiches 
mit  Gleichem,  nicht  verstatte;  aber  wenn  es  gleich  n'cht 
nach  dem  Buchstaben  möglich  sein  kann,  so  kann  es 
doch  der  Wirkung  nach,  respektive  auf  die  Empfindungs- 
art der  Vornehmeren,  immer  geltend  bleiben.  —  So  hat 
z.  B.  Geldstrafe  wegen  einer  Verbalinjurie  gar  kein  Ver- 
hältniss  zur  Beleidigung;  denn  der  des  Geldes  viel  hat, 
kann  diese  sich  wohl  einmal  zur  Lust  erlauben,  aber 
die  Kränkung  der  Ehrliebe  des  Einen  kann  doch  dem 
Wehthun  des  Hochmuths  des  Anderen  sehr  gleich 
kommen:  wenn  dieser  nicht  allein  öffentlich  abzubitten 


1.  Abschn.     Das  Staatsrecht.    Allg.  Anm.         175 

sondern  jenem,  ob  er  zwar  niedriger  ist,  etwa  zugleicli 
die  Hand  zu  küssen,  durch  Urtheil  und  Recht  genöthigt 
würde.  Eben  so,  wenn  der  gewaltthätige  Vornehme 
für  die  Schläge,  die  er  dem  niederen,  aber  schuldlosen 
Staatsbürger  zumisst,  ausser  der  Abbitte  noch  zu  einem 
einsamen  und  beschwerlichen  Arreste  verurtheilt  würde, 
weil  hiemit,  ausser  der  Ungemach lichkeit,  noch  die 
Eitelkeit  des  Thäters  schmerzhaft  angegriffen,  und  so 
durch  Beschämung  Gleiches  mit  Gleichem  gehörig  ver- 
golten würde.  —  Was  heisst  das  aber:  „bestiehlst  du 
ihn,  so  bestiehlst  du  dich  selbst?"  Wer  da  stiehlt, 
macht  aller  Anderer  Eigenthum  unsicher;  er  beraubt 
sich  also  (nach  dem  Rechte  der  Wiedervergeltung)  der 
Sicherheit  alles  möglichen  Eigeuthuras;  er  hat  nichts 
und  kann  auch  nichts  erwerben,  will  aber  doch  leben; 
v.'elches  nun  nicht  anders  möglich  ist,  als  dass  ihn  An- 
dere ernähren.  Weil  dieses  aber  der  Staat  nicht  um- 
sonst thun  wird,  so  muss  er  diesem  seine  Kräfte  zu  ihm 
beliebigen  Arbeiten  (Karren-,  oder  Zuchthausarbeit) 
überlassen ;  und  kommt  auf  gewisse  Zeit,  oder,  nach 
Befinden,  auch  auf  immer,  in  den  Sklavens^and.  —  Hat 
er  aber  gemordet,  so  muss  er  sterben.  Es  giebt  hier 
kein  Surrogat  zur  Befriedigung  der  Gerechtigkeit.  Es 
ist  keine  Gleichartigkeit  zwischen  einem  noch  so 
kummervollen  Leben  und  dem  Tode,  also  auch  keine 
Gleichheit  des  Verbrechens  und  der  Wiedervergeltung, 
als  durch  den  am  Thäter  gerichtlich  vollzogenen,  docli 
von  aller  Misshandlung,  welche  die  Menschheit  in  der 
leidenden  Person  zum  Scheusal  machen  könnte,  be- 
freieten  Tod.  —  Selbst  wenn  sich  die  bürgerliche  Ge- 
sellschaft mit  aller  Glieder  Einstimmung  auÜösete  (z.  B. 
das  eine  Insel  bewohnende  Volk  beschlösse,  auseinander 
zu  'gehen  und  sich  in  alle  Welt  zu  zerstreuen),  müsste 
der  letzte  im  Gefangniss  befindliche  Mörder  vorher  hin- 
gerichtet werden,  damit  Jedermann  das  widerfahre,  was 
seine  Thaten  werth  sind,  und  die  Blutschuld  nicht  auf 
dem  Volke  hafte,  das  auf  diese  Bestrafung  nicht  ge- 
drungen hat;  weil  es  als  Theilnehmer  an  dieser  öffent- 
lichen Verletzung  der  Gerechtigkeit  betrachtet  werden 
kann. 

Diese  Gleichheit    der  Strafen,    die    allein    durch  die 
Erkenntniss  des  Richters  auf  den  Tod,  nach  dem  strengen 


176    Rechtslehre,    n.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

WiedervergeltungsrechtC;  möglich  ist,  offenbart  sich  daran, 
dass  dadurch  allein  proportionirlich  mit  der  inneren 
Bösartigkeit  der  Verbrecher  das  Todesurtheil  über 
Alle  (selbst  wenn  es  nicht  einen  Mord,  sondern  ein 
anderes  nur  mit  dem  Tode  zu  tilgendes  Staatsverbrechen 
beträfe)  ausgesprochen  wird.  —  Setzet:  dass,  wie  in 
der  letzten  schottischen  Rebellion,  da  verschiedene  Theil- 
nehmer  an  derselben  (wie  Baimerino  und  Andere) 
durch  ihre  Empörung  nichts,  als  eine  dem  Hause  Stuart 
schuldige  Pflicht  auszuüben  glaubten,  andere  dagegen 
Privatabsichten  hegten,  von  dem  höchsten  Gerichte  das 
Urtheil  so  gesprochen  worden  wäre:  ein  Jeder  solle  die 
Freiheit  der  Wahl  zwischen  dem  Tode  und  der  Karren- 
strafe haben;  so  sage  ich,  der  ehrliche  Mann  wählt  den 
Tod,  der  Schelm  aber  die  Karre;  so  bringt  es  die  Na- 
tur des  menschlichen  Gemüthes  mit  sich.  Denn  der 
Erstere  kennt  etwas,  was  er  noch  höher  schätzt,  als 
selbst  das  Leben:  nämlich  die  Ehre;  der  Andere  hält 
ein  mit  Schande  bedecktes  Leben  doch  immer  noch  für 
besser,  als  gar  nicht  zu  sein  {aiiimatn  'praefevre  'pudmn. 
Juven.)  Der  Erstere  ist  nun  ohne  Widerrede  weniger 
strafbar  als  der  Andere,  und  so  werden  sie  durch  den 
über  alle  gleich  verhängten  Tod  ganz  proportionirlich 
bestraft,  jener  gelinde  nach  seiner  Empfindungsart,  und 
dieser  hart,  nach  der  seinigen;  da  hingegen,  wenn  durch- 
gängig auf  die  Karrenstrafe  erkannt  würde,  der  Erste 
zu  hart,  der  Andere,  für  seine  Niederträchtigkeit,  gar 
zu  gelinde  bestraft  wäre,  und  so  ist  auch  hier  im  Aus- 
spruche über  eine  im  Komplott  vereinigte  Zahl  von  Ver- 
brechern der  beste  Ausgleicher  vor  der  öffentlichen  Ge- 
rechtigkeit, der  Tod.  —  Ueberdem  hat  man  nie  gehört, 
dass  ein  wegen  Mordes  zum  Tode  Verurtheilter  sich 
beschwert  hätte,  dass  ihm  damit  zuviel,  und  also  Un- 
recht geschehe;  jeder  würde  ihm  ins  Gesicht  lachen, 
wenn  er  sich  dessen  äusserte.  —  Man  müsste  sonst  an- 
nehmen, dass,  wenn  dem  Verbrecher  gleich  nach  dem 
Gesetze  nicht  Unrecht  geschieht,  doch  die  gesetzgebende 
Gewalt  im  Staate  diese  Art  von  Strafe  zu  verhängen 
nicht  befugt,  und,  wenn  sie  es  thut,  mit  sich  selbst  im 
Widerspruch  sei. 

Soviel   also   der  Mörder  sind,   die   den  Mord  verübt, 
oder  auch  befohlen,  oder  dazu  mitgewirkt  haben,  so  viele 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.     Allg.  Anm.  177 

müssen  auch  den  Tod  leiden;  so  will  es  die  Gerechtig- 
keit als  Idee  der  richterlichen  Gewalt  nach  allgemeinen 
a  priori  begründeten  Gesetzen.  —  Wenn  aber  doch  die 
Zahl  der  Komplicen  {correi)  zu  einer  solchen  That  so 
gross  ist,  dass  der  Staat,  um  keine  solchen  Verbrecher 
zu  haben,  bald  dahin  kommen  könnte,  keine  Unter - 
thanen  mehr  zu  haben,  und  sich  doch  nicht  auflösen, 
d.  i.  in  den  noch  viel  ärgeren,  aller  äusseren  Gerechtig- 
keit entbehrenden  Naturzustand  übergehen  (vornehmlich 
nicht  durch  das  Spektakel  einer  Schlachtbank  das  Ge- 
fühl des  Volks  abstumpfen)  will,  so  muss  es  auch  der 
Souverain  in  seiner  Macht  haben,  in  diesem  Nothfalle 
(casus  necessitatis)  selbst  den  Richter  zu  machen  (vor- 
zustellen) und  ein  Urtheil  zu  sprechen,  welches,  statt 
der  Lebensstrafe,  eine  andere  den  Verbrechern  zuer- 
kennt, bei  der  die  Volksmenge  noch  erhalten  wird;  der- 
gleichen die  Deportation  ist;  dieses  selbst  aber  nicht 
als  nach  einem  öffentlichen  Gesetze,  sondern  durch  einen 
Machtspruch,  d.  i.  einen  Akt  des  Majestätsrechts,  der, 
als  Begnadigung,  nur  immer  in  einzelnen  Fällen  aus- 
geübt werden  kann. 

Hiegegen  hat  nun  der  Marchese  Beccaria,  aus 
theilnehmender  Empfindelei  einer  aflfektirten  Humanität 
{compassibilitas) j  seine  Behauptung  der  Unrecht- 
mässigkeit  aller  Todesstrafe  aufgestellt;  weil  sie  im 
ursprünglichen  bürgerlichen  Vertrage  nicht  enthalten 
sein  könnte;  denn  da  hätte  jeder  im  Volk  einwilligen 
müssen,  sein  Leben  zu  verlieren,  wenn  er  etwa  einen 
Anderen  (im  Volk)  ermordete;  diese  Einwilligung  aber 
sei  unmöglich,  weil  Niemand  über  sein  Leben  disponiren 
könne.     Alles  Sophisterei  und  Rechtsverdrehung. 

Strafe  erleidet  Jemand  nicht,  weil  er  sie,  sondern 
weil  er  eine  strafbare  Handlung  gewollt  hat;  denn 
es  ist  keine  Strafe,  wenn  einem  geschieht,  was  er  will, 
und  es  ist  unmöglich,  gestraft  werden  zu  wollen.  — 
Sagen:  ich  will  gestraft  werden,  wenn  ich  Jemand  er- 
morde, heisst  nichts  mehr,  als:  ich  unterwerfe  mich  sammt 
allen  Üebrigen  den  Gesetzen,  welche  natürlicher  Weise, 
wenn  es  Verbrecher  im  Volke  giebt,  auch  Strafgesetze 
sein  werden.  Ich,  als  Mitgesetzgeber,  der  das  Straf- 
gesetz diktirt,  kann  unmöglich  dieselbe  Person  sein, 
die,  als  Unterthan,  nach  dem  Gesetz  bestraft  wird;  denn 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  12 


178    Rechtslehre.    11,  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

als  ein  solcher,  nämlich  als  Verbrecher,  kann  ich  un- 
möglich eine  Stimme  in  der  Gesetzgebung  haben  (der 
Gesetzgeber  ist  heilig).  Wenn  ich  also  ein  Strafgesetz 
gegen  mich,  als  einen  Verbrecher,  abfasse,  so  ist  es  in 
mir  die  reine  rechtlich-gesetzgebende  Vernunft  (Jiomo 
noumenon)y  die  mich  als  einen  des  Verbrechens  Fähigen, 
folglich  als  eine  andere  Person  {Jiomo  phaenomenon) 
sammt  allen  Uebrigen  in  einem  Bürgervereine  dem  Straf- 
gesetze unterwirft.  Mit  anderen  Worten:  nicht  das  Volk 
(jeder  Einzelne  in  demselben),  sondern  das  Gericht  (die 
Öffentliche  Gerechtigkeit),  mithin  ein  Anderer,  als  der 
Verbrecher,  diktirt  die  Todesstrafe,  und  im  Socialkontrakt 
ist  gar  nicht  das  Versprechen  enthalten,  sich  strafen 
zu  lassen  und  so  über  sich  selbst  und  sein  Leben  zu 
disponiren.  Denn  wenn  der  ßefugniss  zu  strafen  ein 
Versprechen  des  Missethäters  zum  Grunde  liegen 
müsste,  sich  strafen  lassen  zu  wollen,  so  müsste  es 
diesem  auch  überlassen  werden,  sich  straffällig  zu  finden, 
und  der  Verbrecher  würde  sein  eigener  Richter  sein. 
—  Der  Hauptpunkt  des  Irrthums  {7ig(ÖTov  xpevdoq)  dieses 
Sophisma's  besteht  darin:  dass  es  das  eigene  Urtheil 
des  Verbrechers  (das  man  seiner  Vernunft  nothwendig 
zutrauen  muss),  des  Lebens  verlustig  werden  zu  müssen, 
für  einen  Beschluss  des  Willens  ansieht,  es  sich  selbst 
zu  nehmen,  und  so  sich  die  Rechtsvollziehung  mit  der 
Rechtsbeurtheilung  in  einer  und  derselben  Person  ver- 
einigt vorstellt. 

Es  giebt  indessen  zwei  todeswürdige  Verbrechen,  in 
Ansehung  deren,  ob  die  Gesetzgebung  auch  die  ße- 
fugniss habe,  sie  mit  der  Todesstrafe  zu  belegen,  noch 
zweifelhaft  bleibt.  Zu  beiden  verleitet  das  Ehrgefühl. 
Das  eine  ist  das  der  Geschlechtsehre,  das  andere 
der  Kriegsehre,  und  zwar  der  wahren  Ehre,  welche 
jeder  dieser  zwei  Menschenklassen  als  Pflicht  obliegt. 
Das  eine  Verbrechen  ist  der  mütterliche  Kindesmord 
{infanticidium  maternale):^  das  andere  der  Kriegsge- 
sellenmord {cominilitonicidium)j  der  Duell.  —  Da 
die  Gesetzgebung  die  Schmach  einer  unehelichen  Ge- 
burt nicht  wegnehmen,  und  ebensowenig  den  Fleck, 
welcher  aus  dem  Verdacht  der  Feigheit,  der  auf  einen 
untergeordneten  Kriegsbefehlshaber  fällt,  welcher  einer 
verächtlichen  Begegnung  nicht  eine  über  die  Todesfurcht 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    Allg.  Anm.        179 

erhobene  eigene  Gewalt  entgegensetzt,  wegwischen  kann; 
so  scheint  es,  dass  Mensclien  in  diesen  Fällen  sich  im 
Naturzustande  befinden  und  Tödtung  {liomicidium)^ 
die  alsdann  nicht  einnial  Mord  {Jiomicidium  dolosum) 
heissen  mUsstC;  in  beiden  zwar  allerdings  strafbar  sei, 
von  der  obersten  Macht  aber  mit  dem  Tode  nicht  könne 
bestraft  werden.  Das  uneheliche  auf  die  Welt  gekommene 
Kind  ist  ausser  dem  Gesetz  (denn  das  heisst  Ehe),  mit- 
hin auch  ausser  dem  Schutze  desselben  geboren.  Es 
ist  in  das  gemeine  Wesen  gleichsam  eingeschlichen 
(wie  verbotene  Waare),  so  dass  dieses  seine  Existenz 
(weil  es  billig  auf  diese  Art  nicht  hätte  existiren  sollen), 
mithin  auch  seine  Vernichtung  ignoriren  kann,  und  die 
Schande  der  Mutter,  wenn  ihre  uneheliche  Niederkunft 
bekannt  wird,  kann  keine  Verordnung  heben.  —  Der 
zum  Unter -Befehlshaber  eingesetzte  Kriegsmann,  dem 
ein  Schimpf  angethan  wird,  sieht  sich  ebensowohl  durch 
die  öffentliche  Meinung  der  Mitgenossen  seines  Standes 
genöthigt,  sich  Genugthuung,  und,  wie  im  Naturzustande, 
Bestrafung  des  Beleidigers,  nicht  durchs  Gesetz,  vor  einem 
Gerichtshofe,  sondern  durch  den  Duell,  darin  er  sich 
selbst  der  Lebensgefahr  aussetzt,  zu  verschaffen,  um  seinen 
Kriegsmuth  zu  beweisen,  als  worauf  die  Ehre  seines 
Standes  wesentlich  beruht,  sollte  es  auch  mit  der  Tödtung 
seines  Gegners  verbunden  sein,  die  in  diesem  Kampfe, 
der  öffentlich  und  mit  beiderseitiger  Einwilligung,  doch 
auch  ungern,  geschieht,  eigentlich  nicht  Mord  {Jiomi- 
cidium dolosum)   genannt  werden  kann. Was  ist 

nun  in  beiden  (zur  Kriminalgerechtigkeit  gehörigen) 
Fällen  Rechtens?  —  Hier  kommt  die  Sti-afgerechtigkeit 
gar  sehr  ins  Gedränge:  entweder  den  Ehrbegriff  (der 
hier  kein  Wahn  ist)  durchs  Gesetz  für  nichtig  zu  er- 
klären und  so  mit  dem  Tode  zu  bestrafen,  oder  von 
dem  Verbrechen  die  angemessene  Todesstrafe  w^egzu- 
nehmen,  und  so  entweder  grausam  oder  nachsichtig  zu 
sein.  Die  Auf lösung  dieses  Knotens  ist:  dass  der  kate- 
gorische Imperativ  der  Strafgerechtigkeit  (die  gesetz- 
widrige Tödtung  des  Anderen  müsse  mit  dem  Tode 
bestraft  werden)  bleibt,  die  Gesetzgebung  selber  aber 
(mithin  auch  die  bürgerliche  Verfassung),  so  lange  noch 
als  barbarisch  und  unausgebildet,  daran  Schuld  ist,  dass 
die  Triebfedern   der  Ehre   im  Volke   (subjektiv)   nicht 

12* 


180    Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  ölffentliche  Recht. 

mit  den  Massregeln  zusammentreffen  wollen,  die  (objektiv) 
ihrer  Absicht  gemäss  sind,  so  dass  die  öffentliche,  vom 
Staat  ausgehende  Gerechtigkeit,  in  Ansehung  der  aus 
dem  Volk,  eineüngerechtigkeit  wird'^5)^ 

II. 

Das  Begnadigungsrecht  (jus  aggratiandi)  für 
den  Verbrecher,  entweder  der  Milderung  oder  gänzlichen 
Erlassung  der  Strafe,  ist  wohl  unter  allen  Rechten  des 
Souveräns  das  schlüpfrigste,  um  den  Glanz  seiner  Hoheit 
zu  beweisen,  und  dadurch  doch  in  hohem  Grade  Un- 
recht zu  thun.  —  In  Ansehung  der  Verbrechen  der 
Unterthanen  gegen  einander  steht  es  schlechterdings 
ihm  nicht  zu,  es  auszuüben;  denn  hier  ist  Straflosigkeit 
(^impunitas  criminis)  das  grösste  Unrecht  gegen  die 
letztern.  Also  nur  bei  einer  Läsion,  die  ihm  selbst 
widerfährt  {crimen  laesae  majestatis),  kann  er  davon 
Gebrauch  machen.  Aber  auch  da  nicht  einmal,  wenn 
durch  Ungestraftheit  dem  Volke  selbst  in  Ansehung 
seiner  Sicherheit  Gefahr  erwachsen  könnte.  —  Dieses 
Recht  ist  das  einzige,  was  den  Namen  des  Majestäts- 
rechts verdient'6). 


Von  dem  rechtlichen  Verhältnisse  des  Bürgers  zum 
Vaterlande  und  zum  Auslande. 

§.  50. 

Das  Land  {territorium)^  dessen  Einsassen  schon  durch 
die  Konstitution,  d.  i.  ohne  einen  besonderen  rechtlichen 
Akt  ausüben  zu  dürfen  (mithin  durch  die  Geburt),  Mit- 
bürger eines  und  desselben  gemeinen  Wesens  sind, 
heisst  das  Vaterland;  das,  worin  sie  es  ohne  diese 
Bedingung  sind,  das  Ausland,  und  dieses,  wenn  es 
einen  Theil  der  Landesherrschaft  überhaupt  ausmacht, 
heisst  die  Provinz  (in  der  Bedeutung,  wie  die  Römer 
dieses  Wort  brauchten),  welche,  weil  sie  doch  keinen 
coalisirten  Theil  des  Reichs  {imperii)  als  Sitz  von  Mit- 
bürgern, sondern  nur  eine  Besitzung  desselben,  als 
eines  Unterhauses  ausmacht,  den  Boden  des  herrschen- 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    §.  51.  181 

den  Staats    als  Mutterland  (i^egio  domina)    verehren 
muss. 

1)  Der  Unterthan  (auch  als  Bürger  betrachtet)  hat 
das  Recht  der  Auswanderung;  denn  der  Staat  könnte 
ihn  nicht  als  sein  Eigenthum  zurückhalten.  Doch  kann 
er  nur  seine  fahrende,  nicht  die  liegende  Habe  mit  her- 
ausnehmen, welches  alsdann  doch  geschehen  würde, 
wenn  er  seinen  bisher  besessenen  Boden  zu  verkaufen, 
und  das  Geld  dafür  mit  sich  zu  nehmen,  befugt  wäre. 

2)  Der  Landesherr  hat  das  Recht  der  Begünstigung 
der  Einwanderung  und  Ansiedelung  Fremder  (Ko- 
lonisten), obgleich  seine  Landeskinder  dazu  scheel  sehen 
möchten;  wenn  ihnen  nur  nicht  das  Privateigenthum 
derselben  am  Boden  gekürzt  wird. 

3)  Ebenderselbe  hat  auch,  im  Falle  eines  Verbrechens 
des  Unterthans,  welches  alle  Gemeinschaft  der  Mitbürger 
mit  ihm  für  den  Staat  verderblich  macht,  das  Recht  der 
Verbannung  in  eine  Provinz  im  Auslande,  wo  er 
keiner  Rechte  eines  Bürgers  theilhaftig  wird,  d.  i.  zur 
Deportation. 

4)  Auch  das  der  Landesverweisung  überhaupt 
{jus  exüii),  ihn  in  die  weite  Welt,  d.  i.  ins  Ausland 
überhaupt  (in  der  altdeutschen  Sprache  Elend  genannt) 
zu  schicken;  welches,  weil  der  Landesherr  ihm  nun 
allen  Schutz  entzieht,  soviel  bedeutet,  als  ihn  innerhalb 
seinen  Grenzen  vogelfiei  zu  machen''''). 

§.  51. 

Die  drei  Gewalten  im  Staate,  die  aus  dem  Begriff 
eines  gemeinen  Wesens  überliaupt  (7v5  jmblica  latius 
dicta)  hervorgehen,  sind  nur  soviel  Verhältnisse  des 
vereinigten,  a  j^riori  aus  der  Vernunft  abstammenden 
Volkswillens  und  eine  reine  Idee  von  einem  Staatsober- 
haupte, welche  objektive  praktische  Realität  hat.  Dieses 
Oberhaupt  (der  Souverain)  aber  ist  sofern  nur  ein  (das 
gesammte  Volk  vorstellendes)  Gedankending,  als  es 
noch  an  einer  physischen  Person  mangelt,  welche  die 
höchste  Staatsgewalt  vorstellt,  und  dieser  Idee  Wirksam- 
keit auf  den  Volkswillen  verschafft.  Das  Verhältniss 
der  ersteren  zum  letzteren  ist  nun  auf  dreierlei  ver- 
schiedene Art  denkbar:  entweder  dass  Einer  im  Staate 


182    Rechtslehre.    H.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

über  Alle,  oder  dass  Einige,  die  einander  gleich  sind  ver- 
einigt über  alle  Andere,  oder  dass  Alle  zusammen  über 
einen  Jeden,  mithin  auch  über  sich  selbst  gebieten,  d.  i.  die 
Staatsform  ist  entweder  autokratisch,  oder  aristo- 
kratisch, oder  demokratisch.  (Der  Ausdruck 
monarchisch,  statt  autokratisch,  ist  nicht  dem  Be- 
griffe, den  man  hier  will,  angemessen;  denn  der  Mo- 
narch ist  der,  welcher  die  höchste,  Autokrator 
aber  oder  Selbstherrscher  der,  welcher  alle  Gewalt 
hat;  dieser  ist  der  Sou verain,  jener  repräsentirt  ihn  bloss). 
—  Man  wird  leicht  gewahr,  dass  die  autokratische 
Staatsform  die  einfachste  sei,  nämlich  von  Einem 
(dem  Könige)  zum  Volke,  mithin  wo  nur  Einer  der  Ge- 
setzgeber ist.  Die  aristokratische  ist  schon  aus  zwei 
Verhältnissen  zusammengesetzt:  nämlich  dem  der 
Vornehmen  (als  Gesetzgeber)  zu  einander,  um  den 
Souverain  zu  machen,  und  dann  dem  dieses  Souverains 
zum  Volke;  die  demokratische  aber  die  allerzusammen- 
gesetzteste,  nämlich  den  Willen  Aller  zuerst  zu  ver- 
einigen, um  daraus  ein  Volk,  dann  den  der  Staatsbürger, 
um  ein  gemeines  Wesen  zu  bilden,  und  dann  diesem 
gemeinen  Wesen  den  Souverain,  der  dieser  vereinigte 
Wille  selbst  ist,  vorzusetzen. '^)  Was  die  Handhabung 
des  Rechts  im  Staate  betrifft,  so  ist  freilich  die  ein- 
fachste auch  zugleich  die  beste,  aber  was  das  Recht 
selbst  anlangt,  die  gefährlichste  fürs  Volk,  in  Betracht 
des  Despotismus,  zu  dem  sie  so  sehr  einladet.  Das 
Simplificiren  ist  zwar  im  Maschinenwerk  der  Vereinigung 
des  Volks  durch  Zwangsgesetze  die  vernünftige  Maxime : 
wenn  nämlich  alle  im  Volke  passiv  sind  und  Einem, 
der  über  sie  ist,  gehorchen;  aber  das  giebt  keine  ünter- 
thanen  als  Staatsbürger.  Was  die  Vertröstung,  womit 
sich  das  Volk  befriedigen  soll,  betrifft:  dass  nämlich 
die  Monarchie  (eigentlich  hier  Autokratie)  die  beste 
Staatsverfassung  sei,  wenn  der  Monarch  gut  ist 
(d.  i.  nicht  bloss  den  Willen,  sondern  auch  die  Einsicht 


*)  Von  der  Verfälschimg  dieser  Formen  durch  sich  ein- 
dringende und  unbefugte  Machthaber  (der  Oligarchie 
und  Ochlokratie;,  imgleichen  den  sogenannten  gemisch- 
ten Staatsverfassungen  erwähne  ich  hier  nichts,  weil  es 
zu  weit  führen  würde. 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    §.  52.  ^[33 

dazu  hat),  gehört  zu  den  tautologischen  Weisheits- 
sprüchen, und  sagt  nichts  mehr,  als :  die  beste  Verfassung 
ist  die,  durch  welche  der  Staatsverwalter  zum  besten 
Regenten  gemacht  wird,  d.  i.  diejenige,  welche  die 
beste  ist. 

§.  52. 

Der  Geschichtsur  künde  dieses  Mechanismus  nach- 
zuspüren, ist  vergeblich,  d.  i.  man  kann  zum  Zeitpunkt 
des  Anfangs  der  bürgerlichen  Gesellschaft  nicht  herauf- 
langen (denn  die  Wilden  errichten  kein  Instrument 
ihrer  Unterwerfung  unter  das  Gesetz,  und  es  ist  auch 
schon  aus  der  Natur  roher  Menschen  abzunehmen,  dass 
sie  es  mit  der  Gewalt  angefangen  haben  werden).  Diese 
Nachforschung  aber  in  der  Absicht  anzustellen,  um  allen- 
falls die  jetzt  bestehende  Verfassung  mit  Gewalt  abzu- 
ändern, ist  sträflich.  Denn  diese  Umänderung  müsste 
durchs  Volk,  welches  sich  dazu  rottirte,  also  nicht  durch 
die  Gesetzgebung  geschehen;  Meuterei  aber,  in  einer 
schon  bestehenden  Verfassung,  ist  ein  Umsturz  aller 
bürgerlich-rechtlichen  Verhältnisse,  mithin  alles  Rechts,  d.  i. 
nicht  Veränderung  der  bürgerlichen  Verfassung,  sondern 
Auflösung  derselben,  und  dann  der  Uebergang  in  die 
bessere  nicht  Metamorphose,  sondern  Palingenesie,  welche 
einen  neuen  gesellschaftlichen  Vertrag  erfordert,  auf 
den  der  vorige  (nun  aufgehobene)  keinen  Einfluss  hat.  — 
Es  muss  aber  dem  Souverain  doch  möglich  sein,  die 
bestehende  Staatsverfassung  zu  ändern,  wenn  sie  mit 
der  Idee  des  ursprünglichen  Vertrags  nicht  wohl  verein- 
bar ist,  und  hierbei  doch  diejenige  Form  bestehen  zu 
lassen,  die  dazu,  dass  das  Volk  einen  Staat  ausmache, 
wesentlich  gehört.  Diese  Veränderung  kann  nun  nicht 
darin  bestehen,  dass  der  Staat  sich  von  einer  dieser 
drei  Formen  zu  einer  der  beiden  anderen  selbst  constituirt, 
z.  B.  dass  die  Aristokraten  einig  werden,  sich  einer 
Autokratie  zu  unterwerfen,  oder  in  eine  Demokratie  ver- 
schmelzen zu  wollen,  und  so  umgekehrt;  gleich  als  ob 
es  auf  der  freien  Wahl  und  dem  Belieben  des  Souverains 
beruhe,  welcher  Verfassung  er  das  Volk  unterwerfen  wolle. 
Denn  selbst  dann,  wenn  er  sich  zu  einer  Demokratie 
umzuändern  beschlösse,  würde  er  doch    dem  Volk   Un- 


134  Rechtslehre.    IL  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

recht  thun  können,  well  es  selbst  diese  Verfassung  ver- 
abscheuen könnte,  und  eine  der  zwei  übrigen  für  sich 
zuträglicher  fände. 

Die  Staatsformen  sind  nur  der  Buchstabe  ilittera) 
der  ursprünglichen  Gesetzgebung  im  bürgerlichen  Zu- 
stande, und  sie  mögen  also  bleiben,  solange  sie,  als  zum 
Maschinenwesen  der  Staatsverfassung  gehörend,  durch 
alte  und  lange  Gewohnheit  (also  nur  subjketiv)  für  noth- 
wendig  gehalten  werden.  Aber  der  Geist  jenes  ursprüng- 
lichen Vertrages  [anima  pacti  originaoHi)  enthält  die 
Verbindlichkeit  der  konstituirenden  Gewalt,  die  Re- 
gierungsart jener  Idee  angemessen  zu  machen,  und  so 
sie,  wenn  es  nicht  auf  einmal  geschehen  kann,  allmählig 
und  kontinuirlich  dahin  zu  verändern,  dass  sie  mit  der 
einzig  rechtmässigen  Verfassung,  nämlich  der  einer  rei- 
nen Republik,  ihrer  Wirkung  nach  zusammenstimme, 
und  jene  alten  empirischen  (statutarischen)  Formen, 
welche  bloss  die  Unterthänigkeit  des  Volks  zu  be- 
wirken dienten,  sich  in  die  ursprünglichen  (rationale) 
auflösen,  welche  allein  die  Freiheit  zum  Prinzip,  ja 
zur  Bedingung  alles  Zwanges  macht,  der  zu  einer 
rechtlichen  Verfassung,  im  eigentlichen  Sinne  des  Staates, 
erforderlich  ist  und  dahin  auch  dem  Buchstaben  nach 
endlich  fuhren  wird.  —  Dies  ist  die  einzige  bleibende 
Staatsverfassung,  wo  das  Gesetz  selbstherrschend  ist 
und  an  keiner  besonderen  Person  hängt;  der  letzte  Zweck 
alles  öffentlichen  Rechts,  der  Zustand,  in  welchem  allein 
jedem  das  Seine  peremtoriscli  zugetheilt  werden  kann; 
indessen  dass,  so  lange  jene  Staatsformen  dem  Buch- 
staben nach  ebensoviel  verschiedene,  mit  der  obersten 
Gewalt  bekleidete,  moralische  Personen  vorstellen  sollen, 
nur  ein  proyisorisches  inneres  Recht,  und  kein  ab- 
solut-rechtlicher Zustand  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
zugestanden  werden  kann. 

Alle  wahre  Republik  aber  ist  und  kann  nichts  Anderes 
sein,  als  ein  repräsentatives  System  des  Volks, 
um  im  Namen  desselben,  durch  alle  Staatsbürger  ver- 
einigt, vermittelst  ihrer  Abgeordneten  (Deputirten)  ihre 
Rechte  zu  besorgen.  Sobald  aber  ein  Staatsoberhaupt, 
der  Person  nach  (es  mag  sein  König,  Adelstand,  oder 
die    ganze   Volkszahl,    der  demokratische  Verein),    sich 


1.  Abschn.    Das  Staatsrecht.    §.  52.  185 

auch  repräsentiren  lässt,  so  repräsentirt  das  ver- 
einigte Volk  nicht  bloss  den  Souverain,  sondern  es  ist 
dieser  selbst;  denn  in  ihm  (dem  Volke)  befindet  sich 
ursprünglich  die  oberste  Gewalt,  von  der  alle  Rechte 
der  Einzelnen,  als  blosser  Unterthanen  (allenfalls  als 
Staatsbeamten),  abgeleitet  werden  müssen,  und  die  nun- 
mehr errichtete  Republik  hat  nicht  mehr  nöthig,  die 
Zügel  der  Regierung  aus  den  Händen  zu  lassen,  und  sie 
denen  wieder  zu  übergeben,  die  sie  vorher  geführt  hatten, 
und  die  nun  alle  neue  Anordnungen  durch  absolute 
Willkür  wieder  vernichten  könnten. 

Es  war  also  ein  grosser  Fehltritt  der  Urtheils- 
kraft  eines  mächtigen  Beherrschers  zu  unserer  Zeit, 
sich  aus  der  Verlegenheit  wegen  grosser  Staats- 
schulden dadurch  helfen  zu  wollen,  dass  er  es  dem 
Volk  übertrug,  diese  Last  nach  dessen  eigenem 
Gutbefinden  selbst  zu  übernehmen  und  zu  ver- 
theilen;  da  es  denn  natürlicher  Weise  nicht  allein 
die  gesetzgebende  Gewalt  in  Ansehung  der  Be- 
steuerung der  Unterthanen,  sondern  auch  in  An- 
sehung der  Regierung  in  die  Hände  bekam;  näm- 
lich zu  verhindern,  dass  diese  nicht  durch  Ver- 
schwendung oder  Krieg  neue  Schulden  machte, 
mithin  die  Herrschergewalt  des  Monarchen  gänz- 
lich verschwand  (nicht  bloss  suspendirt  wurde), 
und  aufs  Volk  überging,  dessen  gesetzgebendem 
Willen  nun  das  Mein  und  Dein  jedes  Unterthans 
unterworfen  wurde.  Man  kann  auch  nicht  sagen: 
dass  dabei  ein  stillschweigendes,  aber  doch  ver- 
tragsmässiges  Versprechen  der  Nationalversamm- 
lung, sich  nicht  eben  zur  Souverainetät  zu  konsti- 
tuiren,  sondern  nur  dieser  ihr  Geschäft  zu  ad- 
ministriren,  nach  verrichtetem  Geschäfte  aber  die 
Zügel  des  Regiments  dem  Monarchen  wiederum  in 
seine  Hände  zu  überliefern,  angenommen  werden 
müsse;  denn  ein  solcher  Vertrag  ist  an  sich  selbst 
null  und  nichtig.  Das  Recht  der  obersten  Gesetz- 
gebung im  gemeinen  Wesen  ist  kein  veräusserliches, 
sondern  das  allerpersönlichste  Recht.  Wer  es  hat, 
kann  nur  durch  den  Gesaramtwillen  des  Volks  über 
das  Volk,  aber  nicht  über  den  Gesammtwillen  selbst, 


136    Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

der  der  Urgrund  aller  öffentlichen  Verträge  ist,  dis- 
poniren.  Ein  Vertrag,  der  das  Volk  verpflichtete, 
seine  Gewalt  wiederum  zurückzugeben,  würde  dem- 
selben nicht  als  gesetzgebender  Macht  zustehen, 
und  doch  das  Volk  verbinden,  welches  nach  dem 
Satze:  Niemand  kann  zweien  Herren  dienen,  ein 
Widerspruch  isf'ö). 


Des  öffentlichen  Rechts 
zweiter  Abschnitt. 


Das    Yölker recht. 


§.  53. 


Die  Menschen,  welche  ein  Volk  ausmachen,  können, 
als  Landeseingeborne,  nach  der  Analogie  der  Erzeugung, 
von  einem  gemeinschaftlichen  Elternstamm  {congeniti) 
vorgestellt  werden,  ob  sie  es  gleich  nicht  sind :  dennoch 
aber,  in  intellektueller  und  rechtlicher  Bedeutung,  als 
von  einer  gemeinschaftlichen  Mutter  (der  Republik)  ge- 
boren, gleichsam  eine  Familie  {gens^  natio)  ausmachen, 
deren  Glieder  (Staatsbürger)  alle  ebenbürtig  sind,  und 
mit  denen,  die  neben  ihnen  im  Naturzustande  leben 
möchten,  als  unedlen  keine  Vermischung  eingehen,  ob- 
gleich diese  (die  Wilden)  ihrerseits  sich  wiederum  wegen 
der  gesetzlosen  Freiheit,  die  sie  gewählt  haben,  vor- 
nehmer dünken,  die  gleichfalls  Völkerschaften,  aber 
nicht  Staaten  ausmachen.  Das  Recht  der  Staaten  in 
Verhältniss  zu  einander  [welches  nicht  ganz  richtig  im 
Deutschen  das  Völkerrecht  genannt  wird,  sondern 
vielmehr  das  Staatenrecht  {jus  publicum  civitatum) 
heissen  sollte]  ist  nun  dasjenige,  was  wir  unter  dem 
Namen  des  Völkerrechts  zu  betrachten  haben:  wo  ein 
Staat,  als  eine  moralische  Person,  gegen  einen  anderen 
im  Zustande  der  natürlichen  Freiheit,  folglich  auch  dem 


138    Rechslehre.    11.  Theil.     Das  öffentliche  Recht. 

des  beständigen  Krieges  betrachtet,  theils  das  Recht 
zum  Kriege,  theils  das  im  Kriege,  theils  das,  einander  zu 
nöthigen,  aus  diesem  Kriegszustaude  herauszugehen,  mit- 
hin eine  den  beharrlichen  Frieden  gründende  Verfassung, 
d.  i.  das  Recht  nach  dem  Kriege  zur  Aufgabe  macht,  und 
führt  nur  das  Unterscheidende  von  dem  des  Naturzustandes 
einzelner  Menschen  oder  Familien  (in  Verhältniss  ge^en 
einander)  von  dem  der  Völker  bei  sich,  dass  im  Völker- 
recht nicht  bloss  ein  Verhältniss  eines  Staats  gegen  den 
anderen  im  Ganzen,  sondern  auch  einzelner  Personen 
des  einen  gegen  Einzelne  des  anderen,  imgleichen  gegen 
den  ganzen  anderen  Staat  selbst  in  Betrachtung  kommt: 
welcher  Unterschied  aber  vom  Recht  Einzelner  im  blossen 
Naturzustande  nur  solcher  Bestimmungen  bedarf,  die 
sich  aus  dem  Begriffe  des  letzteren  leicht  folgern  lassen. 

§.  54. 

Die  Elemente  des  Völkerrechts  sind :  1)  dass  Staaten, 
im  äusseren  Verhältnisse  gegen  einander  betrachtet  (wie 
gesetzlose  Wilde),  von  Natur  in  einem  nicht-rechtlichen 
Zustande  sind;  2)  dass  dieser  Zustand  ein  Zustand 
des  Krieges  (des  R:echts  des  Stärkeren),  wenngleich  nicht 
wirklicher  Krieg  und  immerwährende  wirkliche  Befehdung 
(Hostilität)  ist,  welche  (indem  sie  es  beide  nicht  besser 
haben  wollen),  obzwar  dadurch  keinem  von  dem  anderen 
Unrecht  geschieht,  doch  an  sich  selbst  im  höchsten 
Grade  Unrecht  ist,  und  aus  welchem  die  Staaten,  welche 
einander  benachbart  sind,  auszugehen  verbunden  sind; 
3)  dass  ein  Völkerbund,  nach  der  Idee  eines  ursprüng- 
lichen gesellschaftlichen  Vertrages,  nothwendig  ist,  sich 
zwar  einander  nicht  in  die  einheimischen  Misshelligkeiten 
derselben  zu  mischen,  aber  doch  gegen  Angriffe  der 
äusseren  zu  schützen;  4)  dass  die  Verbindung  doch 
keine  souveraine  Gewalt  (wie  in  einer  bürgerlichen  V^er- 
fassung),  sondern  nur  eine  Genossenschaft  (Födera- 
lität)  enthalten  müsse;  eine  Verbindung,  die  zu  aller 
Zeit  aufgekündigt  werden  kann,  mithin  von  Zeit  zu  Zeit 
erneuert  werden  muss,  —  ein  Recht,  in  suhsidium  eines 
anderen  und  ursprünglichen  Rechts,  den  Verfall  in  den 
Zustand  des  wirklichen  Krieges  der  elben  unter  einander 
von  sich  abzuwehren  (foedus  Ami^ldctyonum)'^^)- 


2.  Abschn.     Das  Völkerrecht.    §.  55.  IgQ 

§.  55. 

Bei  jenem  iirsprünglichen  Rechte  zum  Kriege  freier 
Staaten  gegen  einander  im  Naturzustande  (um  etwa 
einen,  dem  rechtlichen  sich  annähernden  Zustand  zu 
stiften)  erhebt  sich  zuerst  die  Frage,  welches  Recht 
hat  der  Staat  gegen  seine  eigenen  ünterthanen, 
sie  zum  Kriege  gegen  andere  Staaten  zu  brauchen,  ihre 
Güter,  ja  ihr  Leben  dabei  aufzuwenden,  oder  aufs  Spiel 
zu  setzen;  so,  dass  es  nicht  von  dieser  ihrem  eigenen 
Urtheii  abhängt,  ob  sie  in  den  Krieg  ziehen  wollen  oder 
nicht,  sondern  der  Oberbefehl  des  Souverains  sie  hin- 
einschicken darf? 

Dieses  Recht  scheint  sich  leicht  darthun  zu  lassen; 
nämlich  aus  dem  Rechte,  mit  dem  Seinen  (Eigenthum) 
zu  thun,  was  man  will.  Was  Jemand  aber  der  Substanz 
nach  selbst  gemacht  hat,  davon  hat  er  ein  unbe- 
strittenes Eigenthum.  —  Hier  ist  also  die  Deduktion,  so 
wie  sie  ein  blosser  Jurist  abfassen  würde. 

Es  giebt  mancherlei  Naturprodukte  in  einem 
Lande,  die  doch,  was  die  Menge  derselben  von  einer 
gewissen  Art  betrifft,  zugleich  als  Gemäch  sei  [artejacta) 
des  Staats  angesehen  werden  müssen,  weil  das  Land  sie 
in  solcher  Menge  nicht  liefern  würde,  wenn  es  nicht 
einen  Staat  und  eine  ordentliche  machthabende  Regierung 
gäbe,  sondern  die  Bewohner  im  Stande  der  Natur  wären. 
—  Haushühner  (die  nützlichste  Art  des  Geflügels),  Schafe, 
Schweine,  das  Rindergeschlecht  u.  a.  m.  w^irden  ent- 
weder aus  Mangel  an  Futter,  oder  der  Raubthiere  wegen 
in  dem  Lande,  wo  ich  lebe,  entweder  gar  nicht,  oder 
höchst  sparsam  anzutreffen  sein,  wenn  es  darin  nicht  eine 
Regierung  gäbe,  welche  den  Einwohnern  ihren  Erwerb 
und  Besitz  sicherte.  —  Eben  das  gilt  auch  von  der 
Menschenzahl,  die,  eben  so  wie  in  den  amerikanischen 
Wüsten,  ja  selbst  dann,  wenn  man  diesen  den  grössten 
Fleiss  (den  jene  nicht  haben)  beilegte,  nur  gering  sein 
kann.  Die  Einwohner  würden  nur  sehr  dünn  gesäet 
sein,  weil  keiner  derselben  sich,  mitsammt  seinem  Ge- 
sinde, auf  einem  Boden  weit  verbreiten  könnte,  der 
immer  in  Gefahr  ist,  von  Menschen  oder  wilden  und 
Raubthieren  verwüstet  zu  werden;  mithin  sich  für  eine 
so  grosse  Menge  von  Menschen,  als  jetzt  auf  einem  Lande 


190    Rechtslehre,    n.  Theil.    Das  öffentliche  Kecht. 

leben,  kein  hinlänglicher  Unterhalt  finden  würde. 

So  wie  man  nun  von  Gewächsen  (z.  B.  den  Kartofi'eln) 
und  von  Hausthieren,  weil  sie,  was  die  Menge  betrifft, 
ein  Machwerk  der  Menschen  sind,  sagen  kann,  dass 
man  sie  gebrauchen,  verbrauchen  und  verzehren  (tödten 
lassen)  kann;  so,  scheint  es,  könne  man  auch  von  der 
obersten  Gewalt  im  Staate,  dem  Souverain,  sagen,  er 
habe  das  Recht,  seine  Unterthanen,  die  dem  grössten 
Theil  nach  sein  eigenes  Produkt  sind,  in  den  Krieg,  wie 
auf  eine  Jagd,  und  zu  einer  Feldschlacht,  wie  auf  eine 
Lustpartie  zu  führen. 

Dieser  Rechtsgrund  aber  (der  vermuthlich  den  Mo- 
narchen auch  dunkel  vorschweben  mag)  gilt  zwar  frei- 
lich in  Ansehung  der  Thiere,  die  ein  Eigenthum  des 
Menschen  sein  können;  will  sich  aber  doch  schlechter- 
dings nicht  auf  den  Menschen,  vornehmlich  als  Staats- 
bürger, anwenden  lassen,  der  im  Staate  immer  als  mit- 
gesetzgebendes Glied  betrachtet  werden  muss  (nicht 
bloss  als  Mittel,  sondern  auch  zugleich  als  Zweck  an 
sich  selbst),  und  der  also  zum  Kriegführen  nicht  allein 
überhaupt,  sondern  auch  zu  jeder  besonderen  Kriegser- 
kläi-ung,  vermittelst  seiner  Repräsentanten,  seine  freie 
Beistimmung  geben  muss,  unter  welcher  einschränkenden 
Bedingung  allein  der  Staat  über  seinen  gefahrvollen 
Dienst  disponiren  kann. 

Wir  werden  also  wohl  dieses  Recht  von  der  Pflicht 
des  Souverain s  gegen  das  Volk  (nicht  umgekehrt)  abzu- 
leiten haben;  wobei  dieses  dafür  angesehen  werden  muss, 
dass  es  seine  Stimme  dazu  gegeben  habe,  in  welcher 
Qualität  es,  obzwar  passiv  (mit  sich  machen  lässt),  doch 
auch  selbstthätig  ist  und  den  Souverain  selbst  vorstellt. 

§.  56. 

Im  natürlichen  Zustande  der  Staaten  ist  das  Kecht 
zum  Kriege  (zu  Hostilitäten)  die  erlaubte  Art,  wodurch 
ein  Staat  sein  Pvecht  verfolgt,  nämlich  wenn  er  sich  von 
diesem  lädirt  glaubt,  durch  eigene  Gewalt;  weil  es 
durch  einen  Prozess  (als  durch  den  allein  die  Zwistig- 
keiten  ausgeglichen  werden)  in  jenem  Zustande  nicht 
geschehen  kann.  —  Ausser  der  thätigen  Verletzung  (der 
ersten  Aggression,  welche  von  der  ersten  Hostilität  unter- 


2.  Abschn.    Das  Völkerrecht.     §.  57.  -\_^i 

schieden  ist)  ist  es  die  Bedrohung-.  Hierzu  gehört 
entweder  eine  zuerst  vorgekommene  Zurüstung,  wo- 
rauf sich  das  Recht  des  Zuvor kommens  {jus praeven- 
tionis) gründet;  oder  auch  bloss  die  fürchterlich  (durch 
Ländererwerbung)  anwachsende  Macht  {pote7itia  tre- 
menda)  eines  anderen  Staats.  Diese  ist  eine  Läsion 
des  Mindermächtigen,  bloss  durch  den  Zustand  vor  aller 
That  des  Ueber mächtigen,  und  im  Naturzustande  ist 
dieser  Angriff  allerdings  rechtmässig.  Hierauf  gründet 
sich  also  das  Recht  des  Gleichgewichts  aller  einander 
thätig  berührenden  Staaten. 

Was  die  thätige  Verletzung  betrifft,  die  ein 
Recht  zum  Kriege  giebt,  so  gehört  dazu  die  selbstge- 
nommene Genugthuung  für  die  Beleidigung  des  einen 
Volks  durch  das  Volk  des  anderen  Staats,  die  Wieder- 
vergeltung i^^etorsio),  ohne  eine  Erstattung  (durch 
friedliche  Wege)  bei  dem  anderen  Staate  zu  suchen,  wo- 
mit, der  Förmlichkeit  nach,  der  Ausbruch  des  Krieges, 
ohne  vorhergehende  Aufkündigung  des  Friedens  (Kriegs- 
ankündigung) eine  Aehnlichkeit  hat;  weil,  wenn  man 
einmal  ein  Recht  im  Kriegszustande  finden  will,  etwas 
Analogisches  mit  einem  Vertrag  angenommen  werden 
muss,  nämlich  Annahme  der  Erklärung  des  anderen 
Theils,  dass  beide  ihr  Recht  auf  diese  Art  suchen 
wollen. 

§.  57. 

Das  Recht  im  Kriege  ist  gerade  das  im  Völkerrecht, 
wobei  die  meiste  Schwierigkeit  ist,  um  sich  auch  nur 
einen  Begriff  davon  zu  machen,  und  ein  Gesetz  in  diesem 
gesetzlosen  Zustande  zu  denken  {inter  arma  silent  leges), 
ohne  sich  selbst  zu  widersprechen;  es  müsste  denn  das- 
jenige sein:  den  Krieg  nach  solchen  Grundsätzen  zu 
führen,  nach  welchen  es  immer  noch  möglich  bleibt, 
aus  jenem  Naturzustande  der  Staaten  (im  äusseren  Ver- 
hältnisse gegen  einander)  herauszugehen  und  in  einen 
rechtlichen  zu  treten. 

Kein  Krieg  unabhängiger  Staaten  gegen  einander 
kann  ein  Straf  krieg  {bellum  punitivum)  sein.  Denn 
Strafe  findet  nur  im  Verhältnisse  eines  Oberen  {imperantis) 
gegen  den  Unterworfenen  (subditum)  statt,  welches  Ver- 


192    Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

hältniss  nicht  das  der  Staaten  gegen  einander  ist.  — 
Aber  auch  weder  ein  Ausrottung s-  {bellum  inter- 
necinuni)j  noch  Unterjochungskrieg  {bellum  suh- 
jugatorium)j  der  eine  moralische  Vertilgung  eines  Staats 
(dessen  Volk  nun  mit  dem  des  Ueberwinders  entweder 
in  eine  Masse  verschmelzt,  oder  in  Knechtschaft  ver- 
fällt) sein  würde.  Nicht  als  ob  dieses  Nothmittel  des 
Staats,  zum  Friedenszustande  zu  gelangen,  an  sich  dem 
Rechte  eines  Staats  widerspräche,  sondern  weil  die  Idee 
des  Völkerrechts  bloss  den  Begriflf  eines  Antagonismus 
nach  Prinzipien  der  äusseren  Freiheit  bei  sich  führt,  um 
sich  bei  dem  Seinen  zu  erhalten,  aber  nicht  eine  Art 
zu  erwerben,  als  welche,  durch  Vergrösserung  der  Macht 
des  einen  Staats,  für  den  anderen  bedrohend  sein  kann. 

Vertheidigungsmittel  aller  Art  sind  dem  bekriegten 
Staat  erlaubt,  nur  nicht  solche,  deren  Gebrauch  die 
Unterthanen  desselben,  Staatsbürger  zu  sein,  unfähig 
machen  würde;  denn  alsdann  machte  er  sich  selbst  zu- 
gleich unfähig,  im  Staatenverhältnisse  nach  dem  Völker- 
rechte für  eine  Person  zu  gelten  (die  gleicher  Rechte 
mit  anderen  theilhaftig  wäre).  Darunter  gehört:  seine 
eigenen  Unterthanen  zu  Spionen,  diese,  ja  auch  Aus- 
wärtige zu  Meuchelmördern,  Giftmischern  (in  welche 
Klasse  auch  wohl  die  sogenannten  Scharfschützen,  welche 
Einzelnen  im  Hinterhalte  auflauern,  gehören  möchten), 
oder  auch  nur  zur  Verbreitung  falscher  Nachrichten  zu 
gebrauchen;  mit  einem  Worte,  sich  solcher  heimtückischen 
Mittel  zu  bedienen,  die  das  Vertrauen,  welches  zur 
künftigen  Gründung  eines  dauerhaften  Friedens  erforder- 
lich ist,  vernichten  würden. 

Im  Kriege  ist  es  erlaubt,  dem  überwältigten  Feinde 
Lieferungen  und  Contributionen  aufzulegen,  aber  nicht 
das  Volk  zu  plündern,  d.  i.  einzelnen  Personen  das 
Ihrige  abzuzwingen  (denn  das  wäre  Raub;  weil  nicht 
das  überwundene  Volk,  sondern  der  Staat,  unter  dessen 
Herrschaft  es  war,  durch  dasselbe  Krieg  führte); 
sondern  durch  Ausschreibungen  gegen  ausgestellte 
Scheine :  um  bei  nachfolgendem  Frieden  die  dem  Lande 
oder  der  Provinz  aufgelegte  Last  proportionirlich  zu 
vertheilen. 


2.  Abschn.    Das  Völkerrecht.     §.  58.  193 

§.  58. 

Das  Recht  nach  dem  Krieg-e,  d.  i.  im  Zeitpunkte 
des  Friedensvertrags  und  in  Hinsicht  auf  die  Folgen 
desselben;  besteht  darin :  der  Sieger  macht  die  Bedingungen, 
über  die  mit  dem  Besiegten  übereinzukommen  und  zum 
Friedensschluss  zu  gelangen,  Tractaten  gepflogen 
werden,  und  zwar  nicht  gemäss  irgend  einem  vorzu- 
schützenden Recht,  was  ihm  wegen  der  vorgeblichen 
Läsion  seines  Gegners  zustehe,  sondern,  indem  er  diese 
Frage  auf  sich  beruhen  lässt,  sich  stützend  auf  seine 
Gewalt.  Daher  kann  der  Ueberwinder  nicht  auf  Er- 
stattung der  Kriegskosten  antragen;  weil  er  den  Krieg 
seines  Gegners  alsdann  für  ungerecht  ausgeben  müsste; 
sondern,  ob  er  sich  gleich  dieses  Argument  denken  mag, 
so  darf  er  es  doch  nicht  anführen,  weil  er  ihn  sonst  für 
einen  Bestrafungskrieg  erklären  und  so  wiederum  eine 
Beleidigung  ausüben  würde.  Hierzu  gehört  auch  die 
(auf  keinen  Loskauf  zu  stellende)  Auswechselung  der 
Gefangenen,  ohne  auf  Gleichheit  der  Zahl  zu  sehen. 

Der  überwundene  Staat,  oder  dessen  Unterthauen 
verlieren  durch  die  Eroberung  des  Landes  nicht  ihre 
staatsbürgerliche  Freiheit,  so,  dass  jene  zur  Colonie, 
diese  zu  Leibeigenen  abgewürdigt  würden;  denn  sonst 
wäre  es  ein  Strafkrieg  gewesen,  der  an  sich  selbst 
widersprechend  ist.  —  Eine  Colonie  oder  Provinz  ist 
ein  Volk,  das  zwar  seine  eigene  Verfassung,  Gesetz- 
gebung, Boden  hat,  auf  welchem  die  zu  einem  anderen 
Staat  Gehörigen  nur  Fremdlinge  sind,  der  dennoch  über 
jenes  die  oberste  ausübende  Gewalt  hat.  Der  letztere 
heisst  der  Mutterstaat.  Der  Tochterstaat  wird  von 
jenem  beherrscht,  aber  doch  von  sich  selbst  (durch  sein 
eigenes  Parlament,  allenfalls  unter  dem  Vorsitz  eines 
Vicekönigs)  regiert  (civitas  hjhrida).  Dergleichen  war 
Athen  in  Beziehung  auf  verschiedene  Inseln,  und  ist 
jetzt  Grossbritannien  in  Ansehung  Irlands. 

Noch  weniger  kann  Leibeigenschaft  und  ihre  Recht- 
mässigkeit von  der  Ueberwältigung  eines  Volks  durch 
Krieg  abgeleitet  werden,  weil  man  hierzu  einen  Straf- 
krieg annehmen  müsste.  Am  allerwenigsten  eine  erb- 
liche Leibeigenschaft,  die  überhaupt  absurd  ist,  weil  die 
Schuld  aus  Jemandes  Verbrechen  nicht  anerben  kann. 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  13 


194    Rechtslehre.    IL  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

Dass  mit  dem  Friedensschlüsse  auch  die  Amnestie 
verbunden  sei,  liegt  schon  im  Begriffe  desselben.  ^O) 


§.  59. 

Das  Recht  des  Friedens  ist  1)  das  im  Frieden 
zu  sein,  wenn  in  der  Nachbarschaft  Krieg  ist,  oder  das 
der  Neutralität;  2)  sich  die  Fortdauer  des  geschlossenen 
Friedens  zusichern  zu  lassen,  d.  i.  das  der  Oarantie;  3) 
zu  wechselseitiger  Ter])in(lung'  (Bundsgenossenschaft) 
mehrerer  Staaten,  sich  gegen  alle  äussere  oder  innere 
etwanige  Angriffe  gemeinschaftlich  zu  verth eidigen; 
nicht  ein  Bund  zum  Angreifen  und  innerer  Vergrösserung. 


§.  60. 

Das  Recht  eines  Staats  gegen  einen  ungerechten 
Feind  hat  keine  Grenzen  (wohl  zwar  der  Qualität,  aber 
nicht  der  Quantität,  d.  i.  dem  Grade  nach):  d.  i.  der 
beeinträchtigte  Staat  darf  sich  zwar  nicht  aller  Mittel, 
aber  doch  der  an  sich  zulässigen  in  dem  Maasse  be- 
dienen, um  das  Seine  zu  behaupten,  als  er  dazu  Kräfte 
hat.  —  Was  ist  aber  nun  nach  Begriffen  des  Völker- 
rechts, in  welchem,  wie  überhaupt  im  Naturzustande, 
ein  jeder  Staat  in  seiner  eigenen  Sache  Richter  ist, 
ein  ungerechter  Feind?  Es  ist  derjenige,  dessen 
öffentlich  (es  sei  wörtlich  oder  thätlich)  geäusserter  Wille 
eine  Maxime  verräth,  nach  welcher,  wenn  sie  zur  allge- 
meinen Regel  gemacht  würde,  kein  Friedenszustand 
unter  Völkern  möglich,  sondern  der  Naturzustand  ver- 
ewigt werden  müsste.  Dergleichen  ist  die  Verletzung 
öffentlicher  Verträge,  von  welcher  man  voraussetzen 
kann,  dass  sie  die  Sache  aller  Völker  betrifft,  deren 
Freiheit  dadurch  bedroht  wird,  und  die  dadurch  aufge- 
fordert werden,  sich  gegen  einen  solchen  Unfug  zu  ver- 
einigen und  ihm  die  Macht  dazu  zu  nehmen;  —  aber 
doch  auch  nicht,  um  sich  in  sein  Land  zu  theilen, 
einen  Staat  gleichsam  auf  der  Erde  verschwinden  zu 
machen;  denn  das  wäre  Ungerechtigkeit  gegen  das 
Volk,  welches  sein  ursprüngliches  Recht,  sich  in  ein  ge- 
meines Wesen  zu  verbinden,  nicht  verlieren  kann,  sondern 


2.  Abschn.    Das  Völkerrecht.    §.  61.  195 

es  eine  neue  Verfassung  annehmen  zu  lassen,  die,  ihrer 
Natur  nach,  der  Neigung  zum  Kriege  ungünstig  ist. 

Uebrigens  ist  der  Ausdruck :  eines  ungerechten  Fein- 
des im  Naturzustande,  pleonastisch;  denn  der  Natur- 
zustand ist  selbst  ein  Zustand  der  Ungerechtigkeit.  Ein 
gerechter  Feind  würde  der  sein,  welchem  meinerseits  zu 
widerstehen  ich  Unrecht  thun  würde :  dieser  würde  aber 
alsdann  auch  nicht  mein  Feind  sein. 


§.  61. 

Da  der  Naturzustand  der  Völker  ebensowohl,  als 
einzelner  Menschen,  ein  Zustand  ist,  aus  dem  man  her- 
ausgehen soll,  um  in  einen  gesetzlichen  zu  treten,  so  ist 
vor  diesem  Ereigniss  alles  Recht  der  Völker  und  alles 
durch  den  Krieg  erwerbliche  oder  erhaltbare  äussere 
Mein  und  Dein  der  Staaten  bloss  provisorisch,  und 
kann  nur  in  einem  allgemeinen  Staaten  verein  (ana- 
iogisch  mit  dem,  wodurch  ein  Volk  Staat  wird)  perem- 
torisch  geltend  und  ein  wahrer  Friedenszustand 
werden.  Weil  aber,  bei  gar  zu  grosser  Ausdehnung 
eines  solchen  Völkerstaats  über  weite  Landstriche,  die 
Regierung  desselben,  mithin  auch  die  Beschützung  einejt 
jeden  Grliedes  endlich  unmöglich  werden  muss;  eine 
Menge  solcher  Corporationen  aber  wiederum  einen  Kriegs- 
zustand herbeiführt;  so  ist  der  ewige  Friede  (das 
letzte  Ziel  des  ganzen  Völkerrechts)  freilich  eine  un- 
ausführbare Idee.  Die  politischen  Grundsätze  aber,  die 
darauf  abz wecken,  nämlich  solche  Verbindungen  der 
Staaten  einzugehen,  als  zur  kontinuirlichen  Annäherung 
zu  demselben  dienen,  sind  es  nicht,  sondern,  so  wie 
diese  eine  auf  der  Pflicht,  mithin  auch  auf  dem  Rechte 
der  Menschen  und  Staaten  gegründete  Aufgabe  ist,  aller- 
dings ausführbar. 

Man  kann  einen  solchen  Verein  einiger  Staaten, 
um  den  Frieden  zu  erhalten,  den  per  manenten  Staate  n- 
congress  nennen,  zu  welcliem  sich  zu  gesellen,  jedem 
benachbarten  unbenommen  bleibt;  dergleichen  (wenigstens 
was  die  Förmlichkeiten  des  Völkerrechts  in  Absicht 
auf  die  Erhaltung  des  Friedens  betrifft)  in  der  ersten 
Hälfte  dieses  Jahrhunderts  in  der  Versammlung  der 
Generalstaaten  im  Haag  noch  stattfand;  wo  die  Minister 

13* 


196    Rechtslehre.    II.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

der  meisten  europäischen  Höfe,  und  selbst  der  kleinsten 
Republiken ;  ihre  Beschwerden  über  die  Befehdungen, 
die  einem  von  dem  anderen  widerfahren  waren,  an- 
brachten, und  so  sich  ganz  Europa  als  einen  einzigen 
föderirten  Staat  dachten,  den  sie  in  jener  ihren  öffent- 
lichen Streitigkeiten  gleichsam  als  Schiedsrichter  an- 
nahmen, statt  dessen  späterhin  das  Völkerrecht  bloss 
in  Büchern  übrig  geblieben,  aus  Cabinetten  aber  ver- 
schwunden, oder  nach  schon  verübter  Gewalt,  in  Form 
der  Deduktionen,  der  Dunkelheit  der  Archive  anvertraut 
worden  ist. 

Unter  einem  Congress  wird  hier  aber  nur  eine 
willkürliche,  zu  aller  Zeit  ablösliche  Zusammentretung 
verschiedener  Staaten,  nicht  eine  solche  Verbindung, 
welche  (so  wie  die  der  amerikanischen  Staaten)  auf 
einf  r  Staatsverfassung  gegründet  und  daher  unauflöslich 
ist,  verstanden;  —  durch  welchen  allein  die  Idee  eines 
zu  errichtenden  öffentlichen  Rechts  der  Völker,  ihre 
Streitigkeiten  auf  civile  Art,  gleichsam  durch  einen 
Prozess,  nicht  auf  barbarische  (nach  Art  der  Wilden), 
nämlich  durch  Krieg  zu  entscheiden,  realisirt  werden 
kann.^i) 


Des  öffentlichen  Rechts 
dritter  Abschnitt. 


Das  Weltbürgerrecht. 

§.  62. 

Diese  Vernunftidee  einer  friedlichen,  wenngleich 
noch  nicht  freundschaftlichen,  durchgängigen  Gemein- 
schaft aller  Völker  auf  Erden,  die  unter  einander  in 
wirksame  Verhältnisse  kommen  können,  ist  nicht  etwa 
philanthropisch  (ethisch),  sondern  ein  rechtliches 
Prinzip.  Die  Natur  hat  sie  alle  zusammen  (vermöge 
der  Kugelgestalt  ihres  Aufenthalts,  als  glohus  terraqueus) 
in  bestimmte  Grenzen  eingeschlossen,  und  da  der  Be- 
sitz des  Bodens,  worauf  der  Erdbewohner  leben  kann, 
immer  nur  als  Besitz  von  einem  Theil  eines  bestimmten 
Ganzen,  folglich  als  ein  solcher,  auf  den  jeder  der- 
selben ursprünglich  ein  Recht  hat,  gedacht  werden 
kann;  so  stehen  alle  Völker  ursprünglich  in  einer 
Gemeinschaft  des  Bodens,  nicht  aber  der  rechtlichen 
Gemeinschaft  des  Besitzes  (commumo),  und  hiermit  des 
Gebrauchs  oder  des  Eigenthums  an  denselben,  sondern 
der  physischen  möglichen  Wechselwirkung  (com- 
tnercmm),  d.  i.  in  einem  durchgängigen  Verhältnisse 
eines  zu  allen  anderen,  sich  zum  Verkehr  unter  ein- 
ander anzubieten,  und  haben  ein  Recht,  den  Versuch 
mit  demselben   zu  machen,    ohne   dass   der  Auswärtige 


198    Rechtslehre.     II  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

ihm  darum  als  einen  Feind  zu  begegnen  berechtigt 
wäre.  —  Dieses  Recht,  sofern  es  auf  die  mögliche  Ver- 
einigung aller  Völker  in  Absicht  auf  gewisse  allgemeine 
Gesetze  ihres  möglichen  Verkehrs  geht,  kann  das  w  e  1 1  - 
bürgerliche  (jus  cosmopoliticum)  genannt  werden. 

Meere  können  Völker  aus  aller  Gemeinschaft  mit 
einander  zu  setzen  scheinen;  und  dennoch  sind  sie, 
vermittelst  der  Schifffahrt,  gerade  die  glücklichsten  Na- 
turanlagen zu  ihrem  Verkehr,  welches,  je  mehr  es  ein- 
ander nahe  Küsten  giebt  (wie  die  des  mittelländischen), 
nur  desto  lebhafter  sein  kann,  deren  Besuchung  gleich- 
wohl, noch  mehr  aber  die  Niederlassung  auf  denselben, 
um  sie  mit  dem  Mutterlande  zu  verknüpfen,  zugleich 
die  Veranlassung  dazu  giebt,  dass  Uebel  und  Gewalt- 
thätigkeit  an  einem  Orte  unseres  Globs  an  allen  gefühlt 
wird.  Dieser  mögliche  Missbrauch  kann  aber  das  Recht 
des  Erdbürgers  nicht  aufheben,  die  Gemeinschaft  mit 
allen  zu  versuchen  und  zu  diesem  Zweck  alle  Ge- 
genden der  Erde  zu  besuchen,  wenn  es  gleich  nicht 
ein  Recht  der  Ansiedelung  auf  dem  Boden  eines 
anderen  Volks  (jus  incolatits)  ist,  als  zu  welchem  ein 
besonderer  Vertrag  erfordert  wird. 

Es  fragt  sich  aber:  ob  ein  Volk  in  neuentdeckten 
Ländern  eine  Anwohnung  (accolatus)  und  Besitz- 
nehmung in  der  Nachbarschaft  eines  Volks,  das  in  einem 
solchen  Landstriche  schon  Platz  genommen  hat,  auch 
ohne  seine  Einwilligung  unternehmen  dürfe?  — 

Wenn  Anbauung  in  solcher  Entlegenheit  vom  Sitz 
des  ersteren  geschieht,  dass  keines  derselben  im  Ge- 
brauch seines  Bodens  dem  anderen  Eintrag  thut,  so  ist 
das  Recht  dazu  nicht  zu  bezweifeln;  wenn  es  aber 
Hirten-  oder  Jagd  Völker  sind  (wie  die  Hottentotten, 
Tungusen  und  die  meisten  amerikanischen  Nationen), 
deren  Unterhalt  von  grossen  öden  Landstrecken  abhängt, 
so  würde  dies  nicht  mit  Gewalt,  sondern  nur  durch 
Vertrag,  und  selbst  dieser  nicht  mit  Benutzung  der  Un- 
wissenheit jener  Einwohner  in  Ansehung  der  Abtretung 
solcher  Ländereien  geschehen  können ;  obzwar  die  Recht- 
fertigungsgründe scheinbar  genug  sind,  dass  eine  solche 
Gewaltthätigkeit  zum  Weltbesten  gereiche;  theils  durch 
Kultur  roher  Völker  (wie  der  Vorwand,  durch  den  selbst 
Busch  in  g    die    blutige    Einführung    der    christlichen 


3.  Abschn.    Das  Weltbürgerrecht.  199 

Religion  in  Deutschland  entschuldigen  will),  theils  zur 
Reinigung  seines  eigenen  Landes  von  verderbten  Men- 
schen und  gehoffter  Besserung  derselben,  oder  ihrer 
Nachkommenschaft,  in  einem  anderen  Welttheile  (wie 
in  Neuholland) ;  denn  alle  diese  vermeintlich  guten  Ab- 
sichten können  doch  den  Flecken  der  Ungerechtigkeit 
in  den  dazu  gebrauchten  Mitteln  nicht  abwaschen.  — 
Wendet  man  hiergegen  ein,  dass  bei  solcher  Bedenklich- 
keit, mit  der  Gewalt  den  Anfang  zu  Gründung  eines 
gesetzlichen  Zustandes  zu  machen,  vielleicht  die  ganze 
Erde  noch  in  gesetzlosem  Zustande  sein  würde ;  so  kann 
das  ebensowenig  jene  Rechtsbedingung  aufheben,  als 
der  Vorwand  der  Staatsrevolutionisten,  dass  es  auch, 
wenn  Verfassungen  verunartet  sind,  dem  Volke  zustehe, 
sie  mit  Gewalt  umzuformen  und  überhaupt  einmal  für 
allemal  ungerecht  zu  sein,  um  nachher  die  Gerechtigkeit 
desto  sicherer  zu  gründen  und  aufblühen  zu  machen.^2) 


Beschluss. 


Wenn  Jemand  nicht  beweisen  kann,  dass  ein  Ding 
ist,  so  mag  er  versuchen  zu  beweisen,  dass  es  nicht 
ist.  Will  es  ihm  mit  keinem  von  beiden  gelingen  (ein 
Fall,  der  oft  eintritt),  so  kann  er  noch  fragen:  ob  es 
ihn  interessire,  das  eine  oder  das  andere  (durch  eine 
Hypothese)  anzunehmen,  und  dies  zwar  in  theoretischer, 
oder  in  praktischer  Rücksicht,  d.  i.  entweder  um  sich 
bloss  ein  gewisses  Phänomen  (wie  z.  B.  für  den  Astronom 
das  des  Rückganges  und  Stillstandes  der  Planeten)  zu 
erklären,  oder  um  einen  gewissen  Zweck  zu  erreichen, 
der  nun  wiederum  entweder  pragmatisch  (blosser 
Kunstzweck),  oder  moralisch,  d.  i.  ein  solcher  Zweck 
sein  kann,  den  sich  zu  setzen  die  Maxime  selbst  Pflicht 
ist.  —  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  nicht  das  An- 
nehmen {siippositio)  der  Ausführbarkeit  jenes  Zwecks, 
welches  ein  bloss  theoretisches  und  dazu  noch  proble- 
matisches Urtheil  ist,  hier  zur  Pflicht  gemacht  werde; 
denn  dazu  (etwas  zu  glauben)  giebts  keine  Verbindlich- 
keit, sondern  das  Handeln  nach  der  Idee  jenes  Zwecks, 


200    Rechtslehre.    11.  Theil.    Das  öffentliche  Recht. 

wenn  auch  nicht  die  mindeste  theoretische  Wahrschein- 
lichkeit da  ist,  dass  er  ausgeführt  werden  könne,  den- 
noch aber  seine  Unmöglichkeit  gleichfalls  nicht  demon- 
strirt  werden  kann,  das  ist  es,  wozu  uns  eine  Pflicht 
obliegt. 

Nun  spricht  die  moralisch-praktische  Vernunft  in  uns 
ihr  unwiderrufliches  Veto  aus:  es  soll  kein  Krieg 
sein;  weder  der,  welcher  zwischen  mir  und  dir  im 
Naturzustande,  noch  zwischen  uns  als  Staaten,  die,  ob- 
zwar  innerlich  im  gesetzlichen,  doch  äusserlich  (im  Ver- 
liältniss  gegen  einander)  im  gesetzlosen  Zustande  sind;  — 
denn  das  ist  nicht  die  Art,  wie  Jedermann  sein  Recht 
suchen  soll.  Also  ist  nicht  mehr  die  Frage:  ob  der 
ewige  Friede  ein  Ding  oder  Unding  sei,  und  ob  wir 
uns  nicht  in  unserem  theoretischen  Urtheile  betrügen, 
wenn  wir  das  Erstere  annehmen,  sondern  wir  müssen  so 
handeln,  als  ob  das  Ding  sei,  was  vielleicht  nicht  ist, 
auf  Begründung  desselben  und  diejenige  Constitution, 
die  uns  dazu  die  tauglichste  scheint  (vielleicht  den  Re- 
publicanismus  aller  Staaten  sammt  und  sonders),  hin- 
wirken, um  ihn  herbeizuführen  und  dem  heillosen  Krieg- 
führen, worauf,  als  den  Hauptzweck,  bisher  alle  Staaten 
ohne  Ausnahme  ihre  inneren  Anstalten  gerichtet  haben, 
ein  Ende  zu  machen.  Und  wenn  das  Letztere,  was  die 
Vollendung  dieser  Absicht  betrifft,  auch  immer  ein 
frommer  Wunsch  bliebe,  so  betrügen  wir  uns  doch  ge- 
wiss nicht  mit  der  Annahme  der  Maxime,  dahin  unab- 
lässig zu  wirken;  denn  diese  ist  Pflicht;  das  moralische 
Gesetz  aber  in  uns  selbst  für  betrüglich  anzunehmen, 
würde  den  Abscheu  erregenden  Wunsch  hervorbringen, 
lieber  aller  Vernunft  zu  entbehren  und  sich,  seinen 
Grundsätzen  nach,  mit  den  übrigen  Thierklassen  in  einen 
gleichen  Mechanismus  der  Natur  geworfen  anzusehen. 

Man  kann  sagen,  dass  diese  allgemeine  und  fort- 
dauernde Friedensstiftung  nicht  bloss  einen  Theil,  sondern 
den  ganzen  Endzweck  der  Rechtslehre  innerhalb  den 
Grenzen  der  blossen  Vernunft  ausmache;  denn  der 
Friedenszustand  ist  allein  der  unter  Gesetzen  ge- 
sicherte Zustand  des  Mein  und  Dein  in  einer  Menge 
einander  benachbarter  Menschen,  mithin  die  in  einer 
Verfassung  zusammen  sind,  deren  Regel  aber  nicht  von 
der  Erfahrung   derjenigen,    die  sich   bisher   am    besten 


3.  Abschn.     Das  Weltbürgerrecht.    §.  62.         201 

dabei  befunden  haben,  als  einer  Norm  für  Andere, 
sondern  die  durch  die  Vernunft  a  j^riori  von  dem  Ideal 
einer  rechtlichen  Verbindung  der  Menschen  unter  öffent- 
lichen Gesetzen  überhaupt  hergenommen  werden  muss, 
weil  alle  Beispiele  (als  die  nur  erläutern,  aber  nichts 
beweisen  können),  trüglich  sind,  und  so  allerdings  einer 
Metaphysik  bedürfen,  deren  Noth wendigkeit  diejenigen^ 
die  dieser  spotten,  doch  unvorsichtiger  Weise  selbst  zu- 
gestehen, wenn  sie  z.  B.,  wie  sie  es  oft  thun,  sagen: 
„die  beste  Verfassung  ist  die,  wo  nicht  die  Menschen, 
sondern  die  Gesetze  machthabend  sind."  Denn  was 
kann  mehr  metaphysisch  sublimirt  sein,  als  eben  diese 
Idee,  welche  gleichwohl,  nach  jener  ihrer  eigenen  Be- 
hauptung, die  bewährteste  objective  Realität  hat,  die  sich 
auch  in  vorkommenden  Fällen  leicht  darstellen  lässt, 
und  welche  allein,  wenn  sie  nicht  revolutionsmässig 
durch  einen  Sprung,  d.  i.  durch  gewaltsame  Umstürzung 
einer  bisher  bestandenen  fehlerhaften,  —  (denn  da  würde 
sich  zwischeninne  ein  Augenblick  der  Vernichtung  alles 
rechtlichen  Zustandes  ereignen),  sonder  durch  allmählige 
Reform  nach  festen  Grundsätzen  versucht  und  durchge- 
führt wird,  in  continuirlicher  Annäherung  zum  höchsten 
politischen  Gut,  zum  ewigen  Frieden,  hinleiten  kann.^^) 


Die 


Metaphysik  der  Sitten. 


Zweiter  Tlieil. 


MetaphysischeAnfangsgründederTugendlehre. 


Vorrede. 


Wenn  es  über  irgend  einen  Gegenstand  eine  Philo- 
sophie (ein  System  der  Vernunfterkenntniss  aus  Be- 
gritfen)  giebt,  so  muss  es  für  diese  Philosophie  auch 
ein  System  reiner,  von  aller  Anschauungsbedingung  un- 
abhängiger Vernunftbegriffe,  d.  i.  eine  Metaphysik 
geben.  —  Es  fragt  sich  nur:  ob  es  für  jede  praktische 
Philosophie,  als  Pflichtenlehre,  mithin  auch  für  die 
Tugendlehre  (Ethik)  metaphysischer  Anfangs- 
gründe bedürfe,  um  sie,  als  wahre  Wissenschaft  (syste- 
matisch), nicht  bloss  als  Aggregat  einzeln  aufgesuchter 
Lehren  (fragmentarisch)  aufstellen  zu  können.  —  Von 
der  reinen  Rechtslehre  wird  Niemand  dies  Bedürfniss 
bezweifeln;  denn  sie  betrifft  nur  das  Förmliche  der 
nach  Freiheitsgesetzen  im  äusseren  Verhältniss  einzu- 
schränkenden Willkür;  abgesehen  von  allem  Zweck, 
als  der  Materie  derselben.  Die  Pflichtenlehre  ist  also 
hier  eine   blosse  Wissenslehre  {doctrina  scientiae).^) 


")  Ein  der  praktischen  Philosophie  Kundiger 
ist  darum  eben  nicht  ein  praktischer  Philosoph.  Der 
letztere  ist  derjenige,  welcher  sich  den  Vernunftzweck 
zum  Grundsatz  seiner  Handlungen  macht,  indem  er 
damit  zugleich  das  dazu  nöthige  Wissen  verbindet;  welches, 
da  es  aufs  Thun  abgezweckt  ist,  nicht  eben  bis  zu  den 
subtilsten  Fäden  der  Metaphysik  ausgesponnen  werden 
darf,  wenn  es  nicht  etwa  eine  Rechtspflicht  betrifft,  — 
als  bei  welcher  auf  der  Wage  der  Gerechtigkeit  das  Mein 
und  Dein,  nach  dem  Prinzip   der  Gleichheit  der  Wirkung 


206  Tugendlehre. 

In  dieser  Philosophie  (der  Tugendlehre)  scheint  es 
nun  der  Idee  derselben  gerade,  zuwider  zu  sein,  bis  zu 
metaphysischen  Anfangsgründen  zurückzugehen, 
um  den  Pflichtbegriflf,  von  allem  Empirischen  (von  jedem 
Gefühl)  gereinigt,  doch  zur  Triebfeder  zu  machen.  Denn 
was  kann  man  sich  für  einen  Begriff  von  der  hohen 
Kraft  und  herkulischen  Stärke  machen,  die  ausreichen 
sollte,  um  die  lastergebärenden  Neigungen  zu  überwäl- 
tigen, wenn  die  Tugend  ihre  Waffen  aus  der  Rüstkammer 
der  Metaphysik  entlehnen  soll?  welche  eine  Sache  der 
Spekulation  ist,  die  nur  wenig  Menschen  zu  handhaben 
wissen.  Daher  fallen  auch  alle  Tugendlehren,  in  Hör- 
sälen, von  Kanzeln  und  in  Volksbüchern,  wenn  sie  mit 
metaphysischen  Brocken  ausgeschmückt  werden,  ins 
Lächerliche.  —  Aber  darum  ist  es  doch  nicht  unnütz, 
vielweniger  lächerlich,  den  ersten  Gründen  der  Tugend- 
lehre in  einer  Metaphysik  nachzuspüren;  denn  irgend 
einer  muss  doch  als  Philosoph  auf  die  ersten  Gründe 
dieses  Pflichtbegriffs  hinausgehen:  weil  sonst  weder 
Sicherheit  noch  Lauterkeit  für  die  Tugendlehre  überhaupt 
zu  erwarten  wäre.  Sich  desfalls  auf  ein  gewisses  Ge- 
fühl, welches  man,  seiner  davon  erwarteten  Wirkung 
halber,  moralisch  nennt,  zu  verlassen,  kann  auch  wohl 
dem  Volkslehrer  genügen;  indem  dieser  zum  Probir- 
gtein  einrr  Tugendpflicht,  ob  sie  es  sei  oder  nicht,  die 
Aufgabe  zu  beherzigen  verlangt:  „wie,  wenn  nun  ein 
Jeder  in  jedem  Fall  deine  Maxime  zum  allgemeinen 
Gesetz  machte,  würde  eine  solche  wohl  mit  sich  selbst 
zusammenstimmen  können?"  Aber  wenn  es  bloss  Ge- 
fühl wäre,  was  auch  diesen  Satz  zum  Probirstein  zu 
nehmen   uns    zur  Pflicht  machte,    so    wäre    diese  doch 


und  Gegenwirkung,  genau  bestimmt  werden,  und  darum 
der  mathematischen  Abgemessenlieit  analog  sein  muss,  — 
sondern  eine  blosse  Tugendpflieht  angeht.  Denn  da  kommt 
es  nicht  bloss  darauf  an,  zu  wissen,  was  zu  thun  Pflicht 
ist  (welches,  wegen  der  Zwecke,  die  natürlicher  Weise  alle 
Menschen  haben,  leicht  angegeben  werden  kann),  sondern 
vornehmlich  auf  das  innere  Prinzip  des  Willens,  nämlich 
dass  das  Bewusstsein  dieser  Pflicht  zugleich  Triebfeder 
der  Handlungen  sei,  um  von  dem,  der  mit  seinem  Wissen 
dieses  Weisheitsprinzip  verknüpft,  sagen  zu  können:  dass  er 
ein  praktischer  Philosoph  sei. 


Vorrede.  207 

alsdann  niclit  durch  die  Vernunft  diktirt,  sondern  nur 
instiuktmässig,  mithin  blindlings  dafür  angenommen. 

Allein  in  der  That  gründet  sich  kein  moralisches 
Prinzip  t),  wie  man  wohl  wähnt,  auf  irgend  ein  Gefühl, 
sondern  ein  solches  Prinzip  ist  wirklich  nichts  Anderes, 
als  dunkel  gedachte  Metaphysik,  die  jedem  Menschen 
in  seiner  Vernunftanlage  beiwohnt;  wie  der  Lehrer  es 
leicht  gewahr  wird,  der  seinen  Lehrling  über  den  Pflicht- 
imperativ, und  dessen  Anwendung  auf  moralische  Be- 
urtheilung  seiner  Handlungen  sokratisch  zu  katechi- 
siren  versucht.  —  Der  Vortrag  desselben  (die  Technik) 
darf  eben  nicht  allemal  metaphysisch  und  die  Sprache 
nicht  nothwendig  scholastisch  sein,  wenn  jener  den 
Lehrling  nicht  etwa  zum  Philosophen  bilden  will.  Aber 
der  Gedanke  muss  bis  auf  die  Elemente  der  Meta- 
physik zurückgehen,  ohne  die  keine  Sicherheit  und 
Keinigkeit,  ja  selbst  nicht  einmal  bewegende  Kraft  in 
der  Tugendlehre  zu  erwarten  ist. 

Geht  man  von  diesem  Grundsätze  ab,  und  fängt  vom 
pathologischen  oder  dem  reinästhetischen,  oder  auch 
dem  moralischen  Gefühl  (dem  subjektivpraktischen 
statt  des  objektiven),  d.  i.  von  der  Materie  des  Willens, 
dem  Zweck,  nicht  von  der  Form  desselben,  d.  i.  dem 
Gesetz  an,  um  von  da  aus  die  Pflichten  zu  bestimmen; 
so  finden  freilich  keine  metaphysischen  Anfangs- 
gründe der  Tugendlehre  statt;  —  denn  Gefühl,  wo- 
durch es  auch  immer  erregt  werden  mag,  ist  jederzeit 
physisch.  —  Aber  die  Tugendlehre  wird  alsdenn  auch 
in  ihrer  Quelle,  einerlei  ob  in  Schulen  oder  in  Hör- 
sälen u.  s.  w.,  verderbt.  Denn  es  ist  nicht  gleichviel, 
durch  welche  Triebfedern  als  Mittel  man  zu  einer  guten 
Absicht  (der  Befolgung   aller  Pflicht)  hingeleitet  werde. 

Es    mag    also    den    orakelmässig    oder    auch 

geniemässig  über  Pflichtenlehre  absprechenden  ver- 
meinten Weisheitslehrern  Metaphysik  noch  so  sehr 
anekehi;  so  ist  es  doch  für  die,  welche  sich  dazu  auf- 
werfen, unerlassliche  Pflicht,  selbst  in  der  Tugendlehre 
zu  jener  ihren  Grundsätzen  zurückzugehen,  und  auf  ihren 
Bänken  vorerst  selbst  die  Schule  zu  machen^'*). 

t)  1.  Ausg.:  „Allein  kein  moraHsches  Prinzip  gründet 
sich  in  der  That'',  u.  s.  w. 


208  Tugendlehre. 

Man  muss  sich  hierbei  billig  wundern :  wie  es,  nach 
allen  bisherigen  Läuterungen  des  Pflichtprinzips,  sofern 
es  aus  reiner  Vernunft  abgeleitet  wird,  noch  möglich 
war,  es  wiederum  auf  Glückseligkeitslehre  zurück- 
zufuhren; doch  so,  dass  eine  gewisse  moralische 
Glückseligkeit,  die  nicht  auf  empirischen  Ursachen  be- 
ruhte, zu  dem  Ende  ausgedacht  worden,  welche  ein  sich 
selbst  widersprechendes  Unding  ist.  —  Der  denkende 
Mensch  nämlich,  wenn  er  über  die  Anreize  zum  Laster 
gesiegt  hat,  und  seine,  oft  sauere  Pflicht  gethan  zu  haben 
sich  bewusst  ist,  findet  sich  in  einem  Zustande  der 
Seelenruhe  und  Zufriedenheit,  den  man  gar  wohl  Glück- 
seligkeit nennen  kann;  in  welchem  die  Tugend  ihr 
eigener  Lohn  ist.  —  Nun  sagt  der  Eudämonist:  diese 
Wonne,  diese  Glückseligkeit  ist  der  eigentliche  Be- 
wegungsgrund, warum  er  tugendhaft  handelt.  Nicht  der 
Begriff  der  Pflicht  bestimme  unmittelbar  seinen  Willen, 
sondern  nur  vermittelst  der  im  Prospekt  gesehenen 
Glückseligkeit  werde  er  bewogen,  seine  Pflicht  zu  thun. 
—  Nun  ist  aber  klar,  dass,  weil  er  sich  diesen  Tugend- 
lohn nur  von  dem  Bewusstsein,  seine  Pflicht  gethan  zu 
haben,  versprechen  kann,  das  letztgenannte  doch  vor- 
angehen müsse;  d.  i.  er  muss  sich  verbunden  finden, 
seine  Pflicht  zu  thun,  ehe  er  noch,  und  ohne  dass  er 
daran  denkt,  dass  Glückseligkeit  die  Folge  der  Pflicht- 
beobachtung sein  werde.  Es  dreht  sich  also  mit  seiner 
Aetiologie  im  Zirkel  herum.  Er  kann  nämlich  nur 
hoffen^  glücklich  (oder  innerlich  selig)  zu  sein,  wenn 
er  sich  seiner  Pflichtbeobachtung  bewusst  ist;  er  kann 
aber  zur  Beobachtung  seiner  Pflicht  nur  bewogen  wer- 
den, wenn  er  voraussieht,  dass  er  sich  dadurch  glück- 
lich machen  werde.  —  Aber  es  ist  in  dieser  Vernünftelei 
auch  ein  Widerspruch.  Denn  einerseits  soll  er  seine 
Pflicht  beobachten,  ohne  erst  zu  fragen,  welche  Wirkung 
dieses  auf  seine  Glückseligkeit  haben  werde,  mithin 
aus  einem  moralischen  Grunde;  andererseits  aber 
kann  er  doch  nur  etwas  für  seine  Pflicht  anerkennen, 
wenn  er  auf  Glückseligkeit  rechnen  kann,  die  ihm  da- 
durch erwachsen  wird,  mithin  nach  pathologischem 
Prinzip,  welches  gerade  das  Gegentheil  des  vorigen  ist. 

Ich  habe  an  einem  anderen  Orte  (der  Berlinischen 
Monatsschrift)  den  Unterschied  der  Lust,  welche  patho- 


Vorrede.  209 

logisch  ist,  von  der  moralischen,  wie  ich  glaube, 
auf  die  einfachsten  Ausdrücke  zurückgeführt.  Die  Lust 
nämlich,  welche  vor  der  Befolgung  des  Gesetzes  her- 
gehen muss,  damit  diesem  gemäss  gehandelt  werde,  ist 
pathologisch  und  das  Verhalten  folgt  derNatur Ordnung; 
diejenige  aber,  vor  welcher  das  Gesetz  hergehen  muss, 
damit  sie  empfunden  werde,  ist  in  der  sittlichen 
Ordnung. Wenn  dieser  Unterschied  nicht  beob- 
achtet wird,  wenn  Eudämonie  (das  Glückseligkeits- 
prinzip) statt  der  Eleutheronomie  (des  Freiheits- 
prinzips der  inneren  Gesetzgebung)  zum  Grundsatze 
aufgestellt  wird;  so  ist  die  Folge  davon  Euthanasie 
(der  sanfte  Tod)  aller  Moral. 

Die  Ursache  dieser  Irrungen  ist  keine  andere,  als 
folgende.  Der  kategorische  Imperativ,  aus  dem  diese 
Gesetze  diktatorisch  hervorgehen,  will  denen,  die  bloss 
an  physiologische  Erklärungen  gewohnt  sind,  nicht  in 
den  Kopf;  unerachtet  sie  sich  doch  durch  ihn  unwider- 
stehlich gedrungen  fühlen.  Der  Unmuth  aber,  sich  das 
nicht  erklären  zu  können,  was  über  jenen  Kreis  gänz- 
lich hinaus  liegt,  die  Freiheit  der  Willkür,  so  seelen- 
erhebend auch  eben  dieser  Vorzug  des  Menschen  ist, 
einer  solchen  Idee  fähig  zu  sein,  reizt  durch  die  stolzen 
Ansprüche  der  spekulativen  Vernunft,  die  sonst  ihr  Ver- 
mögen in  anderen  Feldern  so  stark  fühlt,  die  für  die 
Allgewalt  der  theoretischen  Vernunft  Verbündeten  gleich- 
sam zum  allgemeinen  Aufgebot,!)  sich  jener  Idee  zu 
widersetzen,  und  so  den  moralischen  Freiheitsbegriff 
jetzt  und  vielleicht  noch  lange,  obzwar  am  Ende  doch 
vergeblich,  anzufechten  und,  wo  möglich,  verdächtig  zu 
machen.^'5) 


t)  1.  Ausgabe:  „fähig  zu  sein,  wird  durch  die  stolzen 
.  .  .  fühlt,  gleichsam  zum  allgemeinen  Aufgebot  der  für 
die  Allgewalt  der  theoretischen  Vernunft   gereizt''  u.  s.  w. 


Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  14 


Einleitung  zur  Tugendlehre. 


Ethik  bedeutete  in  den  alten  Zeiten  die  Sittenlehre 
(p?tilosophia  moralis)  überhaupt,  welche  man  auch  die 
Lehre  von  den  Pflichten  benannte.  In  der  Folge 
hat  man  es  rathsam  gefunden,  diesen  Namen  auf  einen 
Theil  der  Sittenlehre,  nämlich  auf  die  Lehre  von  den 
Pflichten  die  nicht  unter  äusseren  Gesetzen  stehen,  allein 
zu  übertragen  (dem  man  im  Deutschen  den  Namen 
Tugendlehre  angemessen  gefunden  hat),  so,  dass 
jetzt  das  System  der  allgemeinen  Pflichtenlehre  in  das 
der  Rechtslehre  {jurisprucleiitid)^  welche  äusserer  Ge- 
setze fähig  ist,  und  der  Tugendlehre  {ethica)  einge- 
theilt  wird,  die  deren  nicht  fähig  ist;  wobei  es  denn 
auch  sein  Bewenden  haben  mag.^6) 

L 

Erörterung  des  Begriffs  einer  Tugendlehre. 

Der  Pflichtbegriff  ist  an  sich  schon  der  Begriff 
von  einer  Nöthigung  (Zwang)  der  freien  Willkür  durchs 
Gesetz;  dieser  Zwang  mag  nun  ein  äusserer  oder  ein 
Selbstzwang  sein.  Der  moralische  Imperativ  ver- 
kündigt durch  seinen  kategorischen  Ausspruch  (das  un- 
bedingte Sollen)  diesen  Zwang,  der  also  nicht  auf  ver- 
nünftige Wesen  überhaupt  (deren  es  etwa  auch  heilige 
geben  könnte),  sondern  auf  Menschen,  als  vernünftige 
Naturwesen  geht,  die  dazu  unheilig  genug  sind,  dass 


Einleitung.  211 

sie  die  Lust  wohl  anwandeln  kann,  das  moralisclie  Ge- 
setz, ob  sie  gleich  dessen  Ansehen  selbst  anerkennen, 
doch  zu  übertreten,  und  selbst,  wenn  sie  es  befolgen, 
es  dennoch  ungern  (mit  Widerstand  ihrer  Neigung) 
zu  thun,  als  worin  der  Zwang  eigentlich  besteht.*)  — 
Da  aber  der  Mensch  doch  ein  freies  (moralisches) 
Wesen  ist,  so  kann  der  Pflichtbegriff  keinen  anderen, 
als  den  Selbstzwang  (durch  die  Vorstellung  des  Ge- 
setzes allein;  enthalten,  wenn  es  auf  die  innere  Willens- 
bestimmung (die  Triebfeder)  angesehen  ist,  denn  da- 
durch allein  wird  es  möglich,  jene  Nöthigung  (selbst, 
wenn  sie  eine  äussere  wäre)  mit  der  Freiheit  der  Will- 
kür zu  vereinigen,  wobei  aber  alsdann  der  Pflichtbe- 
gi'iff  ein  ethischer  sein  wird. 

Die  Antriebe  der  Natur  enthalten  also  Hindernisse 
der  Pflichtvollziehung  im  Gemüth  des  Menschen,  und, 
zum  Theil,  mächtig  widerstrebende  Kräfte,  die  also  zu 
bekämpfen  und  durch  die  Vernunft,  nicht  erst  künftig, 
sondern  gleich  jetzt  (zugleich  mit  dem  Gedanken)  zu  be- 
siegen er  sich  vermögend  urtheilen  muss:  nämlich  das 
zu  können,  was  das  Gesetz  unbedingt  befiehlt,  dass 
er  thun  soll. 

Nun  ist  das  Vermögen   und    der   überlegte    Vorsatz 


*)  Der  Mensch  aber  findet  sich  doch  als  moralisches 
Wesen  zugleich,  wenn  er  sich  objektiv,  wozu  er  durch  seine 
reine  praktische  Vernunft  bestimmt  ist  fnach  der  Mensch- 
heit in  seiner  eigenen  Person),  betrachtet,  heilig  genug, 
um  das  innere  Gesetz  ungern  zu  übertreten;  denn  es  giebt 
keinen  so  verruchten  Menschen,  der  bei  dieser  Uebertretung 
in  sich  nicht  einen  Widerstand  fühlte,  und  eine  Verab- 
scheuung seiner  selbst,  bei  der  er  sich  selbst  Zwang  an- 
thun  muss.  —  Das  Phänomen  nun:  dass  der  Mensch  auf 
diesem  Scheidewege  (wo  die  schöne  Fabel  den  Herkules 
zwischen  Tugend  und  Wollust  hinstellt)  mehr  Hang  zeigt, 
der  Neigung,  als  dem  Gesetz  Gehör  zu  geben,  zu  erklären 
ist  unmöglich;  weil  wir,  was  geschieht,  nur  erklären  können, 
indem  wir  es  von  einer  Ursache  nach  Gesetzen  der  Natur 
ableiten;  wobei  wir  aber  die  Willkür  nicht  als  frei  denken 
würden.  —  Dieser  wechselseitig  entgegengesetzte  Selbst- 
zwang aber,  und  die  Unvermeidlichkeit  desselben  giebt 
doch  die  unbegreifliche  Eigenschaft  der  Freiheit  selbst  zu 
erkennen. 

14* 


212  Tugendlehre. 

einem  starken,  aber  ungerechten  Gegner  Widerstand  zu 
thiin,  die  Tapferkeit  (fortitudo)  und  in  Ansehung  des 
Gegners  der  sittlichen  Gesinnung  in  uns,  Tugend  {virtus, 
fortitudo  moralis).  Also  ist  die  allgemeine  Pflichten- 
lehre in  dem  Theil,  der  nicht  die  äussere  Freiheit,^ 
sondern  die  innere  unter  Gesetze  bringt,  eine  Tugend- 
lehre. 

Die  Rechtslehre  hatte  es  bloss  mit  der  formalen 
Bedingung  der  äusseren  Freiheit  (durch  die  Zusammen- 
stimmung mit  sich  selbst,  wenn  ihre  Maxime  zum  allge- 
meinen Gesetz  gemacht  wurde),  d.  i.  mit  dem  Recht 
zu  thun.  Die  Ethik  dagegen  giebt  noch  eine  Materie 
(einen  Gegenstand  der  freien  Willkür),  einen  Zweck 
der  reinen  Vernunft,  der  zugleich  als  objektiv-noth wendiger 
Zweck,  d.  i.  für  den  Menschen  als  Pflicht  vorgestellt 
wird,  an  die  Hand.  —  Denn  da  die  sinnlichen  Nei- 
gungen zu  Zwecken  (als  der  Materie  der  Willkür)  ver- 
leiten, die  der  Pflicht  zuwider  sein  können,  so  kann  die 
gesetzgebende  Vernunft  ihrem  Einfluss  nicht  anders 
wehren,  als  wiederum  durch  einen  entgegengesetzten 
moralischen  Zweck,  der  also  von  der  Neigung  unab- 
liängig  a  lyriori  gegeben  sein  muss. 

Zweck  ist  ein  Gegenstand  der  Willkür  (eines  ver- 
nünftigen Wesens),  durch  dessen  Vorstellung  diese  zu 
einer  Handlung,  diesen  Gegenstand  hervorzubringen, 
bestimmt  wird.  —  Nun  kann  ich  zwar  zu  Handlungen, 
die  als  Mittel  auf  einen  Zweck  gerichtet  sind,  nie  aber 
einen  Zweck  zu  haben  von  Anderen  gezwungen 
werden,  sondern  ich  kann  nur  selbst  mir  etwas  zum 
Zweck  machen.  —  Wenn  ich  aberf)  auch  verbunden 
bin,  mir  irgend  etwas,  was  in  den  Begriffen  der  prakti- 
schen Vernunft  liegt,  zum  Zwecke  zu  machen,  mithin, 
ausser  dem  formalen  Bestimmungsgrunde  der  Willkür 
(wie  das  Recht  dergleichen  enthält),  noch  einen  materialen, 
einen  Zweck  zu  haben,  der  dem  Zweck  aus  sinnlichen 
Antrieben  entgegengesetzt  werden  könne;  so  giebt  dieses 
den  Begriff  von  einem  Zweck, tt)  <ier  an  sich  selbst 
Pflicht  ist;  die  Lehre  desselben   aber  kannfft)  nicht 


t)  1.  Ausg.:  „Dass  ich  aber'' 

tt)  ].  Ausg.:  „dieses  würde  der  Begriff.  .  .  .  Zweck  sein" 
t++)  1.  Ausg.:  ., würde" 


Einleitung.  213 

zu  der  des  Rechts,  sondern  miiss  zur  Ethik  gehören, 
als  welche  allein  den  Selbstzwang  nach  moralischen 
Gesetzen  in  ihrem  Begriffe  mit  sich  führt. 

Aus  diesem  Grunde  kann  die  Ethik  auch  als  das 
System  der  Zwecke  der  reinen  praktischen  Vernunft 
definirt  werden.  —  Zweck  und  Zwangspflicht  f)  unter- 
scheiden die  zwei  Abtheilungen  der  allgemeinen  Sitten- 
lehre. Dass  die  Ethik  Pflichten  enthalte,  zu  deren  Beobach- 
tung man  von  Anderen  nicht  (physisch)  gezwungen 
werden  kann,  ist  bloss  die  Folge  daraus,  dass  sie  eine 
Lehre  der  Zwecke  ist,  weil  ein  Zwang,  dergleichen 
zu  haben  oder  sich  vorzusetzen,  sich  selbst  wider- 
spricht, tt) 

Dass  aber  die  Ethik  eine  Tu  gen  dl  ehre  {doctrina 
officiorum  virtiitis)  sei,  folgt  aus  der  obigen  Erklärung 
der  Tugend,  verglichen  mit  der  Verpflichtung,  deren 
Eigenthümlichkeit  so  eben  gezeigt  worden.  —  Es  giebt 
nämlich  keine  andere  Bestimmung  der  Willkür,  die 
durch  ihren  Begriff  schon  dazu  geeignet  wäre,  von  der 
Willkür  Anderer  selbst  physisch  nicht  gezwungen 
werden  zu  können,  als  nur  die  zu  einem  Zwecke,  Ein 
Anderer  kann  mich  zwar  zwingen,  etwas  zu  thun, 
w^as  nicht  mein  Zweck  (sondern  nur  Mittel  zum  Zweck 
eines  Anderen)  ist,  aber  nicht  dazu,  dass  ich  es  mir 
zum  Zweck  mache,  und  doch  kann  ich  keinen  Zweck 
liaben,  ohne  ihn  mir  zu  machen.  Das  Letztere  wäreftt) 
ein  Widersprucli  mit  sich  selbst;  ein  Akt  der  Freiheit, 
der  doch  zugleich  nicht  frei  wäre,  ftt)  —  Aber  sich  selbst 
einen  Zweck  zu  setzen,  der  zugleich  Pfliclit  ist,  ist  kein 
Widerspruch;  weil  ich  da  mich  selbst  zwinge,  welches 
mit  der  Freiheit  gar  wohl  zusammen  besteht.*)  —  Wie 


t)  1.  Ausg.:  „Zweck  und  Pflicht'' 

tt;  1.  Ausg.:  „weil  dazu  (sie  zu  haben)  ein  Zwang  sich 
selbst  widerspricht." 

ttt;  1.  Ausg.:  „ist" 

*)  Je  weniger  der  Mensch  physisch,  je  mehr  er  dagegen 
moralisch  (durch  die  blosse  Vorstellung  der  Pflicht)  kann 
gezwungen  werden,  desto  freier  ist  er.  —  Der,  so  z.  B. 
von  genugsam  fester  Entschliessung  und  starker  Seele  ist, 
eine  Lustbarkeit,  die  er  sich  vorgenommen  hat,  nicht  auf- 
zugeben, man    mag  ihm    noch    so    viel  Schaden  vorstellen, 


214  Tugendlehre. 

ist  aber  ein  solcher  Zweck  möglich?  das  ist  jetzt  die 
Frage.  Denn  die  Möglichkeit  des  Begriffs  von  einer 
Sache  (dass  er  sich  nicht  widerspricht)  ist  noch  nicht 
hinreichend  dazu,  um  die  Möglichkeit  der  Sache  selbst 
(die  objektive  Realität  des  Begriffs)  anzunehmen.^"^) 

II. 

Erörterung  des  Begriffs  von  einem  Zwecke,  der  zu- 
gleich Pflicht  ist. 

Man  kann  sich  das  Verhältniss  des  Zwecks  zur  Pflicht 
auf  zweierlei  Art  denken:  entweder,  von  dem  Zwecke 
ausgehend,  die  Maxime  der  pflichtmässigen  Handlungen^ 
oder  umgekehrt,  von  dieser  anhebend,  den  Zweck  aus- 
findig zu  machen,  der  zugleich  Pflicht  ist.  —  Die  Rechts- 
lehre geht  auf  dem  ersten  Wege.  Es  wird  Jedermanns 
freier  Willkür  überlassen,  welchen  Zweck  er  sich  für 
seine  Handlung  setzen  wolle.  Die  Maxime  derselben 
aber  ist  a  'priori  bestimmt:  dass  nämlich  die  Freiheit 
des  Handelnden  mit  jedes  Anderen  Freiheit  nach  einem 
allgemeinen  Gesetz  zusammen  bestehen  könne. 

Die  Ethik  aber  nimmt  einen  entgegengesetzten  Weg. 
Sie  kann  nicht  von  den  Zwecken  ausgehen,  die  der 
Mensch  sich  setzen  mag,  und  darnach  über  seine  zu 
nehmenden  Maximen,  d.  i.  über  seine  Pflicht  verfügen; 
denn  das  wären  empirische  Gründe  der  Maximen,  die 
keinen  Pflichtbegriff  abgeben ;  indem  dieser,  das  katego- 
rische Sollen,  in  der  reinen  Vernunft  allein  seine  Wurzel 
hat;  wie  denn  auch,  wenn  die  Maximen  nach  jenen 
Zwecken  (welche  alle  selbstsüchtig  sind)  genommen 
werden  sollten,  vom  Pflichtbegriff  eigentlich  gar  nicht 
die  Rede  sein  könnte.  —  Also  wird  in  der  Ethik  der 
Pflichtbegriff  auf  Zwecke  leiten  und  die  Maximen,  in 


den  er  sich  dadurch  zuzieht,  aber  auf  die  Vorstellung,  dass 
er  hierbei  eine  Amtspflicht  verabsäume,  oder  einen  kranken 
Vater  vernachlässige,  von  seinem  Vorsatz  unbedenklich, 
obzwar  sehr  ungern  absteht,  beweist  eben  damit  seine  Frei- 
heit im  höchsten  Grade,  dass  er  der  Stimme  der  Pflicht 
nicht  widerstehen  kann. 


Einleitung.  215 

AnsehuDg  der  Zwecke,  die  wir  uns  setzen  sollen,  nach 
moralischen  Grundsätzen  begründen  müssen. 

Dahin  gestellt:  was  denn  das  für  ein  Zweck  sei,  der 
an  sich  selbst  Pflicht  ist,  und  wie  ein  solcher  möglich 
sei,  ist  hier  nur  noch  zu  zeigen  nöthig,  dass  und  warum 
eine  Pflicht  dieser  Art  den  Namen  einer  Tugendpflicht 
führe. 

Aller  Pflicht  correspondirt  ein  Recht,  als  Befug- 
nis s  {facultas  moralis  generatim)  betrachtet,  aber  nicht 
allen  Pflichten  correspondiren  Rechte  eines  Anderen 
{facultas  juridica),  Jemand  zu  zwingen,  sondern  nur  den 
besonders  sogenannten Rechtsp fliehten.!)  —  Eben  so 
correspondirt  aller  ethischen  Verbindlichkeit  der 
Tugendbegrifi",  aber  nicht  alle  ethischen  Pflichten  sind 
darum  Tugendpflichten.  Diejenigen  nämlich  sind  es 
nicht,  welche  nicht  sowohl  einen  gewissen  Zweck  (Ma- 
terie, Objekt  der  Willkür),  als  bloss  das  Förmliche  der 
sittlichen  Willensbestimmung  (z.  B.  dass  die  pflicht- 
mässige  Handlung  auch  aus  Pflicht  geschehen  müsse) 
betreff'en.  Nur  ein  Zweck,  der  zugleich  Pflicht 
ist,  kann  Tu  gen  dp  flieht  genannt  werden.  Daher 
giebt  es  mehrere  der  letzteren  (auch  verschiedene  Tu- 
genden); dagegen  von  der  ersteren  nur  eine,  aber  für 
alle  Handlungen  gültige  Pflicht  (nur  eine  tugendhafte 
Gesinnung),  tt)  gedacht  wird. 

Die  Tugendpflicht  ist  von  der  Rechtspflicht  wesent- 
lich darin  unterschieden,  dass  zu  dieser  ein  äusserer 
Zwang  moralisch-möglich  ist,  jene  aber  auf  dem  freien 
Selbstzwange  allein  beruht.  —  Für  endliche,  heilige 
Wesen  (die  zur  Verletzung  der  Pflicht  gar  nicht  ein- 
mal versucht  werden  können)  giebt  es  keine  Tugend- 
lehre, sondern  bloss  Sittenlehre,  welche  letztere  eine 
Autonomie  der  praktischen  Vernunft  ist,  indessen  dass 
die  erste  zugleich  eine  Autokratie  derselben,  d.  i. 
ein,  wenngleich  nicht  unmittelbar  wahrgenommenes,  doch 
aus  dem  sittlichen  kategorischen  Imperativ  richtig  ge- 
schlossenes Bewusstsein  des   Vermögens  enthält,  über 


t)  1.  Ausg. :  „sondern  diese  heissen  besonders  Rechts- 
pflichten" 

tt;  1.  Ausg.:  „gültige  (tugendhafte  Gesinnung)'' 


216  Tugendlehre. 

seine  dem  Gesetz  widerspänstigen  Neigungen  Meister 
zu  werden;  so  dass  die  menschliche  Moralität  in  ihrer 
höchsten  Stufe  doch  nichts  mehr,  als  Tugend  sein  kann; 
selbst  wenn  sie  ganz  rein  (vom  Einflüsse  einer,  der 
Pflicht  fremdartigen  Triebfeder  völlig  frei)t)  wäre,  da 
sie  dann  gemeiniglich  als  ein  Ideal  (dem  man  stets  sich 
annähern  müsse)  unter  dem  Namen  des  Weisen 
dichterisch  personificirt  wird. 

Tugend  ist  aber  auch  nicht  bloss  als  Fertigkeit 
und  (wie  die  Preisschrift  des  Hofpred.  Cochius  sich 
ausdrückt)  für  eine  lange,  durch  Uebung  erworbene 
Gewohnheit  moralisch  guter  Handlungen  zu  erklären 
und  zu  würdigen.  Denn  wenn  diese  nicht  eine  Wirkung 
überlegter,  fester  und  immer  mehr  geläuterter  Grund- 
sätze ist,  so  ist  sie,  wie  ein  jeder  andere  Mechanismus 
aus  technisch-praktischer  Vernunft,  weder  auf  alle  Fälle 
gerüstet,  noch  vor  der  Veränderung,  die  neue  Anlockun- 
gen bewirken  können,  hinreichend  gesichert.^^) 

Anmerkung. 

Der  Tugend  =  -\-  a  ist  die  negative  Untugend 
(moralische  Schwäche)  =  0  als  logisches  Gegen- 
theil  {contradictorie  oppositwn),  das  Laster  aber  =  —  a 
als  Wid erspiel  {contraHe  s.  realiter  oppositum)  ent- 
gegengesetzt, und  es  ist  eine  nicht  bloss  unnöthige, 
sondern  auch  anstössige  Frage:  ob  zu  grossen  Ver- 
brechen nicht  etwa  mehr  Stärke  der  Seele,  als  selbst 
zu  grossen  Tugenden  gehöre?  Denn  unter  Stärke  der 
Seele  verstehen  wir  die  Stärke  des  Vorsatzes  eines 
Menschen,  als  mit  Freiheit  begabten  Wesens,  mithin  so- 
fern er  seiner  selbst  mächtig  (bei  Sinnen)  ist,  also  im 
gesunden  Zustande  der  Seele  sich  befindet.  Grosse 
Verbrechen  aber  sind  Paroxysmen,  deren  Anblick  den 
an  der  Seele  gesunden  Menschen  schaudern  macht.  Die 
Frage  würde  also  etwa  dahin  auslaufen:  ob  ein  Mensch 
im  Anfall  einer  Raserei  mehr  physische  Stärke  haben 
könne,  als  wenn  er  bei  Sinnen  ist?  welches  man  ein- 
räumen kann,  ohne  ihm   darum  mehr  Seelenstärke  bei- 


t)  1.  Ausg.:    „vom  Einflüsse    aller    fremdartigen   Trieb- 
feder als  der  der  Pflicht  völlig  frei" 


Einleitung.  217 

zulegen,  wenn  man  unter  Seele  das  Lebensprinzip  des 
Menschen  im  freien  Gebrauch  seiner  Kräfte  versteht. 
Denn  weil  jene  bloss  in  der  Macht  der  die  Vernunft 
schwächenden  Neigungen  ihren  Grund  haben,  welches 
keine  Seelenstärke  beweiset,  so  würde  diese  Frage  mit 
der  ziemlich  auf  einerlei  hinauslaufen:  ob  ein  Mensch 
im  Anfall  einer  Krankheit  mehr  Stärke,  als  im  gesunden 
Zustande  beweisen  könne?  welche  geradezu  verneinend 
beantwortet  werden  kann,  weil  der  Mangel  der  Gesund- 
heit, die  im  Gleichgewicht  aller  körperlichen  Kräfte  des 
Menschen  besteht,  eine  Schwächung  im  System  dieser 
Kräfte  ist,  nach  welchem  man  allein  die  absolute  Ge- 
sundheit beurtheilen  kann. 

III. 

Von  dem  Grunde,  sich  einen   Zweck,   der   zugleich 
Pflicht  ist,  zu  denken. 

Zweck  ist  ein  Gegenstand  der  freien  Willkür, 
dessen  Vorstellung  diese  zu  einer  Handlung  bestimmt, 
wodurch  jener  hervorgebracht  wird.  Eine  jede  Hand- 
lung hat  also  ihren  Zweck,  und  da  Niemand  einen 
Zweck  haben  kann,  ohne  sich  den  Gegenstand  seiner 
Willkür  selbst  zum  Zweck  zu  machen,  so  ist  es  ein 
Akt  der  Freiheit  des  handelnden  Subjekts,  nicht  eine 
Wirkung  der  Natur,  irgend  einen  Zweck  der  Hand- 
lungen zu  haben.  Weil  aber  dieser  Akt,  der  einen 
Zweck  bestimmt,  ein  praktisches  Prinzip  ist,  welches 
nicht  die  Mittel  (mithin  nicht  bedingt),  sondern  den 
Zweck  selbst  (folglich  unbedingt)  gebietet,  so  ist  es  ein 
kategorischer  Imperativ  der  reinen  praktischen  Ver- 
nunft, mithin  ein  solcher,  der  einen  Pflichtbegriff 
mit  dem  eines  Zweckes  überhaupt  verbindet. 

Es  muss  nun  einen  solchen  Zweck  und  einen  ihm 
correspondirenden  kategorischen  Imperativ  geben.  Denn 
da  es  freie  Handlungen  giebt,  so  muss  es  auch  Zwecke 
geben,  auf  welche,  als  Objekt,  jene  gerichtet  sind.  Unter 
diesen  Zwecken  muss  es  aber  auch  einige  geben,  die 
zugleich  (d.  i.  ihrem  Begriffe  nach)  Pflichten  sind.  — 
Denn  gäbe  es  keine  dergleichen,  so  würden,  weil  doch 
keine  Handlung   zwecklos    sein    kann,  alle  Zwecke  für 


21g  Tugendlehre, 

die  praktische  Vernunft  immer  nur  als  Mittel  zu  andern 
Zwecken  gelten,  und  ein  kategorischer  Imperativ  wäre 
unmöglich;  welches  alle  Sittenlehre  aufhebt. 

Hier  ist  also  nicht  von  Zwecken,  die  der  Mensch 
sich  nach  sinnlichen  Antrieben  seiner  Natur  macht, 
sondern  von  Gegenständen  der  freien  Willkür  unter  ihren 
Gesetzen  die  Rede,  welche  er  sich  zum  Zweck  machen 
soll.  Man  kann  jene  die  technische  (subjektive),  eigent- 
lich pragmatische,  die  Regel  der  Klugheit  in  der  Wahl 
seiner  Zwecke  enthaltende;  diese  aber  muss  man  die 
moralische  (objektive)  Zwecklehre  nennen,  welche  Unter- 
scheidung hier  doch  überflüssig  ist,  weil  die  Sittenlehre 
sich  schon  durch  ihren  Begriff  von  der  Naturlehre  (hier 
der  Anthropologie)  deutlich  absondert,  als  welche  letztere 
auf  empirischen  Prinzipien  beruht,  dagegen  die  moralische 
Zwecklehre,  die  von  Pflichten  handelt,  auf  a  'priori  in 
der  reinen  praktischen  Vernunft  gegebenen  Prinzipien 
beruht. 


IV. 

Welche  sind  die  Zwecke,  die  zugleich  Pflichten  sind? 

Sie  sind:  eigene  Vollkommenheit,  —  fremde 
Glückseligkeit. 

Man  kann  diese  nicht  gegen  einander  umtauschen 
und  eigene  Glückseligkeit  einerseits  mit  fremder 
Vollkommenheit  andererseits  zu  Zwecken  machen^ 
die  an  sich  selbst  Pflichten  derselben  Persou  wären. 

Denn  eigene  Glückseligkeit  ist  ein  Zweck,  den 
zwar  alle  Menschen  (vermöge  des  Antriebes  ihrer  Na- 
tur) haben,  nie  aber  kann  dieser  Zweck  als  Pflicht  an- 
gesehen werden,  ohne  sich  selbst  zu  widersprechen. 
Was  ein  Jeder  unvermeidlich  schon  von  selbst  will,  das 
gehört  nicht  unter  den  Begriff"  von  Pflicht;  denn  diese 
ist  eine  Nöthigung  zu  einem  ungern  genommenen 
Zweck.  Es  widerspricht  sich  also,  zu  sagen:  man  sei 
verpflichtet,  seine  eigene  Glückseligkeit  mit  allen 
Kräften  zu  befördern. 

Ebenso  ist  es  ein  Widerspruch :  eines  Anderen  Voll- 
kommenheit mir  zum  Zweck    zu  machen  und  mich 


Einleitung.  219 

zu  deren  Berörderung  für  verpflichtet  zu  halten.  Denn 
darin  besteht  eben  die  V  o  1 1  k  o  m  m  e  n  h  e  i  t  eines  andern 
Menschen,  als  einer  Person,  dass  er  selbst  vermögend 
ist,  sich  seinen  Zweck  nach  seinen  eigenen  Begriffen  von 
Pflicht  zu  setzen,  und  es  widerspricht  sich,  zu  fordern 
(mir  zur  Pflicht  zu  machen),  dass  ich  etwas  thun  soll, 
was  kein  Anderer,  als  er  selbst  thun  kann.^'«^) 


Erläuterung  dieser  zwei  Begriffe. 

A. 

Eigene  Vollkommenheit. 

Das  Wort  Vollkommenheit  ist  mancher  Miss- 
deutung ausgesetzt.  Es  wird  bisweilen  als  ein  zur 
Transscendentalphilosophie  gehörender  Begriff  der  All- 
heit des  Mannigfaltigen,  was  zusammengenommen  ein 
Ding  ausmacht,  —  dann  aber  auch,  als  zur  Teleologie 
gehörend,  so  verstanden,  dass  es  die  Zusammenstimmung 
der  Besciiaffeuheiten  eines  Dinges  zu  eineni  Zwecke 
bedeutet.  Man  könnte  die  Vollkommenheit  in  der  ersteren 
Bedeutung  die  quantitative  (materiale),  in  der  zweiten 
die  qualitative  (formale)  Vollkommenheit  nennen. 
Jene  kann  nur  eine  sein  (denn  das  All  des  einem  Dinge 
Zugehörigen  ist  Eins).  Von  dieser  aber  kann  es  in  einem 
Dinge  mehrere  geben;  und  von  der  letzteren  wird  hier 
auch  eigentlich  gehandelt. 

Wenn  von  der  dem  Menschen  überhaupt  (eigentlich 
der  Menschheit)  zugehörigen  Vollkommenheit  gesagt 
wird,  dass,  sie  sich  zum  Zweck  zu  machen,  an  sich 
selbst  Pflicht  sei,  so  muss  sie  in  demjenigen  gesetzt 
werden,  was  Wirkung  von  seiner  That  sein  kann, 
nicht  was  bloss  Geschenk  ist,  das  er  der  Natur  ver- 
danken muss;  denn  sonst  wäre  sie  nicht  Pflicht.  Sie 
kann  also  nichts  Anderes  sein,  als  Cultur  seines  Ver- 
mögens (oder  der  -Naturanlage),  in  welchem  der  Ver- 
stand, als  Vermögen  der  Begriffe,  mithin  auch  deren, 
die  auf  Pflicht   gehen,    das   oberste    ist,   zugleich  aber 


220  Tugendlehre. 

auch  seines  Willens  (sittlicher  Denkuugsart) ,  aller 
Pflicht  überhaupt  ein  Genüge  zu  thun.  1)  Es  ist  ihm 
Pflicht,  sich  aus  der  Rohigkeit  seiner  Natur,  aus  der 
Thierheit  {quoad  actum)  immer  mehr  zur  Menschheit, 
durch  die  er  allein  fähig  ist,  sich  Zwecke  zu  setzen, 
emporzuarbeiten;  seine  Unwissenheit  durch  Belehrung 
zu  ergänzen  und  seine  Irrthümer  zu  verbessern,  und 
dieses  ist  ihm  nicht  bloss  die  technisch-praktische  Ver- 
nunft zu  seinen  anderweitigen  Absichten  (der  Kunst) 
anrät h ig,  sondern  die  moralisch-praktische  gebietet 
es  ihm  schlechthin,  und  macht  diesen  Zweck  ihm  zur 
Pflicht,  um  der  Menschheit,  die  in  ihm  wohnt,  würdig 
zu  sein.  2)  Die  Cultur  seines  Willens  bis  zur  reinsten 
Tugendgesinnung,  da  nämlich  das  Gesetz  zugleich  die 
Triebfeder  seiner  pflichtmässigen  Handlungen  wird,  zu 
erheben  und  ihm  aus  Pflicht  zu  gehorchen,  welches 
innere  moraliscli  -  praktische  Vollkommenheit  ist;  die, 
weil  sie  ein  Gefühl  der  Wirkung  ist,  welche  der  in  ihm 
selbst  gesetzgebende  Wille  auf  das  Vermögen  ausübt 
darnach  zu  handeln,  der  moralische  Sinn  heisst, 
gleichsam  ein  besonderer  Sinn  {sensus  moralis),j)  der 
zwar  freilich  oft  schwärmerisch,  als  ob  er  (gleich  dem 
Genius  des  Sokrates)  vor  der  Vernunft  vorhergehe,  oder 
auch  ihr  Urtheil  gar  entbehren  könne,  missbraucht  wird, 
doch  aber  eine  sittliche  Vollkommenheit  ist,  jeden  be- 
sonderen Zweck,  der  zugleich  Pflicht  ist,  sich  zu  dem 
seinigen  tt)  zu  machen.^^) 

B. 

Fremde  Glückseligkeit. 

Glückseligkeit,  d.  i.  Zufriedenheit  mit  seinem  Zu- 
stande, sofern  man  der  Fortdauer  derselben  gewiss  ist, 
sich  zu  wünschen  und  zu  suchen,  ist  der  menschlichen 
Natur  unvermeidlich;  eben  darum  aber  auch  nicht  ein 
Zweck,  der  zugleich  Pflicht  ist.  —  Da  Einige  noch 
einen  Unterschied  zwischen  einer  moralischen  und  phy- 


t)  1.   Ausg.:    „handeln,    das    moralische    Gefühl, 
gleichsam  .  .  .  moralis)  ist" 

it;;  1.  Ausg.:  ,,zum  Gegenstande" 


Einleitung.  221 

sischen  Glückseligkeit  raaclien  (deren  erstere  in  der  Zu- 
friedenheit mit  seiner  Person  und  ilirera  eigenen  sitt- 
liclien  Verhalten,  also  mit  dem,  was  man  thut,  die 
andere  mit  dem,  was  die  Natur  beschert,  mithin,  was 
man  als  fremde  Gabe  geniesst,  bestehe),  so  muss  man 
bemerken,  dass,  ohne  den  Missbrauch  des  Worts  hier 
zu  rügen  (der  schon  einen  Widerspruch  in  sich  enthält), 
die  erste  Art  zu  empfinden  allein  zum  vorigen  Titel, 
nämlich  dem  der  Vollkommenheit  gehöre.  —  Denn  der, 
welcher  sich  im  blossen  Bewusstsein  seiner  Recht- 
schaffenheit glücklich  fühlen  soll,  besitzt  schon  diejenige 
Vollkommenheit,  die  im  vorigen  Titel  für  denjenigen 
Zweck  erklärt  war,  der  zugleich  Pflicht  ist. 

Wenn  es  also  auf  Glückseligkeit  ankommt,  worauf, 
als  meinen  Zweck,  hinzuwirken  es  Pflicht  sein  soll,  so 
muss  es  die  Glückseligkeit  anderer  Menschen  sein, 
deren  (erlaubten)  Zweck  ich  hiermit  auch  zu  dem 
meinigen  mache.  Was  diese  zu  ihrer  Glückseligkeit 
zählen  mögen,  bleibt  ihnen  selbst  zu  beurtheilen  über- 
lassen; nur  dass  mir  auch  zusteht,  manches  zu  weigern, 
was  sie  dazu  rechnen,  was  ich  aber  nicht  dafür  halte, 
wenn  sie  sonst  kein  Recht  haben,  es  als  das  Ihrige  von 
mir  zu  fordern.  Jenem  Zweck  aber  eine  vorgebliche 
Verbindlichkeit  entgegen  zu  setzen,  meine  eigene 
(physische)  Glückseligkeit  auch  besorgen  zu  müssen,  und 
so  diesen  meinen  natürlichen  und  bloss  subjektiven  Zweck 
zur  Pflicht  (objektiven  Zweck)  machen,  ist  ein  schein- 
barer, mehrmals  gebrauchter  Einwurf  gegen  die  obige 
Eintheilung  der  Pflichten  fNo.  IV.)  und  bedarf  einer 
Zurechtweisung. 

Widerwärtigkeiten,  Schmerz  und  Mangel  sind  grosse 
Versuchungen  zu  Uebertretung  seiner  Pflicht,  Wohl- 
habenheit, Stärke,  Gesundheit  und  Wohlfahrt  überhaupt, 
die  jenem  Einflüsse  entgegen  stehen,  können  also  auch, 
wie  es  scheint,  als  Zwecke  angesehen  werden,  die  zu- 
gleich Pflicht  sind;  nämlich  seine  eigene  Glück- 
seligkeit zu  befördern,  und  sie  nicht  bloss  auf  fremde  zu 
richten.  —  Aber  alsdenn  ist  diese  nicht  der  Zweck, 
sondern  die  Sittlichkeit  des  Subjekts  ist  es,  von  welchem 
die  Hindernisse  wegzuräumen,  es  bloss  das  erlaubte 
Mittel  ist;  da  Niemand  anders  ein  Recht  hat,  von  mir 
Aufopferung    meiner    nicht    unmoralischen    Zwecke    zu 


222  Tugendlehre. 

fordern.  Wohlhabenheit  für  sich  selbst  zu  suchen,  ist 
direkt  nicht  Pflicht;  aber  indirekt  kann  es  eine  solche 
wohl  sein ;  nämlich  Armuth,  als  eine  grosse  Versuchung 
zu  Lastern,  abzuwehren.  Alsdann  aber  ist  es  nicht 
meine  Glückseligkeit,  sondern  meine  Sittlichkeit,  deren 
Integrität  zu  erhalten  mein  Zweck  und  zugleich  meine 
Pflicht  ist.«») 

VI. 

Die  Ethik  giebt  nicht  Gesetze  für  die  Handlungen, 

(denn  das  thut  die  Rechtslehret)  sondern  nur  für 

die  Maximen  der  Handlungen. 

Der  Pflichtbegriff  steht  unmittelbar  in  Beziehung  auf 
ein  Gesetz  (wenn  ich  gleich  noch  von  allem  Zweck,  als 
der  Materie  desselben,  abstrahire) ,  wie  denn  das  formale 
Prinzip  der  Pflicht  im  kategorischen  Imperativ:  „handle 
so,  dass  die  Maxime  deiner  Handlung  ein  allgemeines 
Gesetz  werden  könne",  es  schon  anzeigt;  nur  dass  in 
der  Ethik  dieses  als  das  Gesetz  deines  eigenen  Willens 
gedacht  wird,  nicht  des  Willens  überhaupt,  der  auch  der 
Wille  Anderer  sein  könnte ;  wo  es  alsdenn  eine  Rechts- 
pflicht abgeben  würde,  die  nicht  in  das  Feld  der  Ethik 
gehört. Die  Maximen  werden  hier  als  solche  sub- 
jektive Grundsätze  angesehen,  die  sich  zu  einer  allge- 
meinen Gesetzgebung  bloss  qualificiren;  welches  nur 
ein  negatives  Prinzip  (einem  Gesetz  überhaupt  nicht  zu 
widerstreiten)  ist.  —  Wie  kann  es  aber  dann  noch  ein 
Gesetz  für  die  Maxime  der  Handlungen  geben? 

Der  Begriff  eines  Zwecks,  der  zugleich  Pflicht  ist, 
welcher  der  Ethik  eigenthümlich  zugehört,  ist  es  allein, 
der  ein  Gesetz  für  die  Maximen  der  Handlungen  be- 
gründet, indem  der  subjektive  Zweck  (den  Jedermann 
hat)  dem  objektiven  (den  sich  Jedermann  dazu  machen 
soll)  untergeordnet  wird.  Der  Imperativ:  „du  sollst  dir 
dieses  oder  jenes  (z.  B.  die  Glückseligkeit  Anderer) 
zum  Zweck  machen",  geht  auf  die  Materie  der  Willkür 
(ein  Objekt).  Da  nun  keine  freie  Handlung  möglich 
ist,   ohne    dass    der  Handelnde    hierbei   zugleich    einen 


t)  1.  Ausg.: 


Einleitung.  223 

Zweck  (als  Materie  der  Willkür)  beabsichtigte,  so  muss, 
wenn  es  einen  Zweck  giebt,  der  zugleich  Pflicht  ist,  die 
Maxime  der  Handlungen,  als  Mittel  zu  Zwecken,  nur 
die  Bedingung  der  Qualifikation  zu  einer  möglichen  all- 
gemeinen Gesetzgebung  enthalten;  wogegen  der  Zweck, 
der  zugleich  Pflicht  ist,  es  zu  einem  Gesetz  machen 
kann,  eine  solche  Maxime  zu  haben,  indessen  dass  für 
die  Maxime  selbst  die  blosse  Möglichkeit,  zu  einer  all- 
gemeinen Gesetzgebung  zusammenzustimmen,  schon 
genug  ist. 

Denn  Maximen  der  Handlungen  können  willkür- 
lich sein,  und  stehen  nur  unter  der  einschränkenden 
Bedingung  der  Habilität  zu  einer  allgemeinen  Gesetz- 
gebung, als  formalem  Prinzip  der  Handlungen.  Ein 
Gesetz  aber  hebt  das  Willkürliche  der  Handlungen 
auf,  und  ist  darin  von  aller  Anpreisung  (da  bloss  die 
schicklichsten  Mittel  zu  einem  Zwecke  zu  wissen  ver- 
langt werden)  unterschieden.-^) 


vn. 

Die  ethischen  Pflichten  sind  von  weiter,   dagegen 
die  Rechtspflichten  von  enger  Verbindlichkeit ♦ 

Dieser  Satz  ist  eine  Folge  aus  dem  vorigen;  denn 
wenn  das  Gesetz  nur  die  Maxime  der  Handlungen,  nicht 
die  Handlungen  selbst  gebieten  kann,  so  ist's  ein  Zeichen, 
dass  es  der  Befolgung  (Observanz)  einen  Spielraum 
{latitudo)  für  die  freie  Willkür  überlasse,  d.  i.  nicht  be- 
stimmt angeben  könne,  wie  und  wieviel  durch  die  Hand- 
lung zu  dem  Zweck,  der  zugleich  Pflicht  ist,  gewirkt 
-  werden  solle.  —  Es  wird  aber  unter  einer  weiten  Pflicht 
nicht  eine  Erlaubniss  zu  Ausnahmen  von  der  Maxime 
der  Handlungen,  sondern  nur  die  der  Einschränkung 
einer  Pflichtmaxime  durch  die  andere  (z.  B.  die  allge- 
meine Nächstenliebe  durch  die  Elternliebe)  verstanden, 
wodurch  in  der  That  das  Feld  für  die  Tugendpraxis 
erweitert  wird.  —  Je  weiter  die  Pflicht,  je  unvollkommener 
also  die  Verbindlichkeit  des  Menschen  zur  Handlung  ist, 
je  näher  er  gleichwohl  die  Maxime  der  Observanz  der- 
selben   (in  seiner  Gesinnung)    der   engen  Pflicht    (des 


224  Tugendlehre. 

Rechts)  bringt,  desto  vollkommener  ist  seine  Tugend- 
handlung. 

Die  unvollkommenen  Pflichten  sind  also  allein  Tugend- 
pflichten.  Die  Erfüllung  derselben  ist  Verdienst 
{meritum)  =--  +  «;  ihre  Uebertretung  aber  ist  nicht  so- 
fort Verschuldung  {demeritum)  =  —  a,  sondern  bloss 
moralischer  Unwerth  =  0,  ausser  wenn  es  dem  Sub- 
jekt Grundsatz  wäre,  sich  jenen  Pflichten  nicht  zu  fügen» 
Die  Stärke  des  Vorsatzes  im  ersteren  heisst  eigentlich 
allein  Tugend  (^virtus),  die  Schwäche  in  der  zweiten 
nicht  sowohl  Laster  {vitium)^  als  vielmehr  bloss  Un- 
tugend, Mangel  an  moralischer  Stärke  {defectus  moj'cdis). 
(Wie  das  Wort  Tugend  von  taugen  herkömmt,  so  be- 
deutet Untugend  der  Etymologie  nach  so  viel  als  zu 
nichts  taugen,  t)  Eine  jede  pflichtwidrige  Handlung 
heisst  Uebertretung  {jwccatum).  Die  vorsätzliche 
Uebertretung  aber,  die  zum  Grundsatz  geworden  ist, 
macht  eigentlich  das  aus,  was  man  Laster  {yitium)  nennt. 

Obzwar  die  Angemessenheit  der  Handlungen  zum 
Rechte  (ein  rechtlicher  Mensch  zu  sein)  nichts  Verdienst- 
liches ist,  so  ist  doch  die  der  Maxime  solcher  Handlungen, 
als  Pflichten,  d  i.  die  Achtung  fürs  Recht  verdienst- 
lich. Denn  der  Mensch  mach  t  sich  dadurch  das  Recht 
der  Menschheit,  oder  auch  der  Menschen,  zum  Zweck, 
und  erweitert  dadurch  seinen  Pflichtbegriff  über  den  der 
Schuldigkeit  {offirAum  debiti);  weil  ein  Anderer  aus 
seinem  Rechte  wohl  Handlungen  nach  dem  Gesetz,  aber 
nicht,  dass  dieses  auch  zugleich  die  Triebfeder  zu  den- 
selben enthalte,  von  mir  fordern  kann.  Ebendieselbe 
Bewandniss  hat  es  auch  mit  dem  allgemeinen  ethischen 
Gebote:  „handle  pflichtmässig,  aus  Pflicht."  Diese  Ge- 
sinnung in  sich  zu  gründen  und  zu  beleben  ist,  sowie 
die  vorige,  verdienstlich;  weil  sie  über  das  Pflicht- 
gese-tz  der  Handlungen  hinausgeht,  und  das  Gesetz,  an 
sich,  zur  Triebfeder  macht. 

Aber  eben  darum  müssen  auch  diese  Pflichten  zur 
weiten  Verbindlichkeit  gezählt  werden,  in  Ansehung 
deren  ein  subjektives  Prinzip  ihrer  ethischen  Belohnung, 
und  zwar,  um  sie  dem  Begriffe  einer  engen  Verbindlich- 

ti  1.  Ausg  :  „(Wie  das  Wort  Tugend  von  taugen,  so 
stammt  Untugend  von  zu  nichts  taugen.)" 


Einleitung.  225 

keit  so  nahe,  als  möglich  zu  bringen,!)  cler  Empfäng- 
lichkeit derselben  nach  dem  Tugendgesetze,  stattfindet, 
nämlich  einer  moralischen  Lust,  die  über  die  blosse  Zu- 
friedenheit mit  sich  selbst  (die  bloss  negativ  sein  kann) 
hinausgeht,  und  von  der  man  rühmt,  dass  die  Tugend 
in  diesem  Bewusstsein  ihr  eigner  Lohn  sei. 

Wenn  dieses  Verdienst  ein  Verdienst  des  Menschen 
um  andere  Menschen  ist,  ihren  natürlichen  und  von 
allen  Menschen  dafür  anerkannten  Zweck  zu  befördern 
(ihre  Glückseligkeit  zu  der  seinigen  zu  machen),  so 
könnte  man  dies  das  süsse  Verdienst  nennen,  dessen 
Bewusstsein  einen  moralischen  Genuss  verschafft,  in 
welchem  Menschen  durch  Mitfreunde  zu  schwelgen 
geneigt  sind;  indessen  dass  das  saure  Verdienst, 
anderer  Menschen  wahres  Wohl,  auch  wenn  sie  es  für 
ein  solches  nicht  erkennten  (an  Unerkenntlichen,  Un- 
dankbaren) doch  zu  befördern,  eine  solche  Rückwirkung 
gemeiniglich  nicht  hat,  sondern  nur  Zufriedenheit 
mit  sich  selbst  bewirkt,  obzwar  es  im  letzten  Falle  noch 
grösser  sein  würde.^^) 


VlIL 
Exposition  der  Tugendpflichten,  als  weitere  Pflichten. 

1.  Eigene  Vollkommenheit  als  Zweck,  der  zu- 
gleich Pflicht  ist. 

a)  Physische,  d.  i.  Kultur  aller  Vermögen 
überhaupt,  zu  Beförderung  der  durch  die  Vernunft  vor- 
gelegten Zwecke.  Dass  dieses  Pflicht,  mithin  an  sich 
selbst  Zweck  sei,  und  jener  Bearbeitung,  auch  ohne 
Rücksicht  auf  den  Vortheil,  den  sie  uns  gewährt,  nicht 
ein  bedingter  (pragmatischer),  sondern  unbedingter  (mo- 
ralischer), Imperativ  zum  Grunde  liege,  ist  hieraus  zu 
ersehen.  Das  Vermögen,  sich  überhaupt  irgend  einen 
Zweck  zu  setzen,  ist  das  Charakteristische  der  Mensch- 
heit (zum  Unterschiede  von  der  Thierheit).  Mit  dem 
Zwecke  der  Menschheit  in  unserer  eigenen  Person  ist 
also  auch  der  Vernunftwille,   mithin  die  Pflicht  verbun- 


t)  L  Ausg.:  „bringen,  d.  i.  der  Empfänghehkeit." 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  15 


226  Tugendlehre. 

den,  sich  um  die  Menschheit  durch  Kultur  überhaupt 
verdient  zu  machen,  sich  das  Vermögen  zu  Ausführung 
allerlei  möglicher  Zwecke,  sofern  dieses  in  dem  Menschen 
selbst  anzutreffen  ist,  zu  verschaffen  oder  es  zu  fördern, 
d.  i.  eine  Pflicht  zur  Kultur  der  rohen  Anlagen  seiner 
Natur,  als  wodurch  das  Thier  sich  allererst  zum  Men- 
schen erhebt:   mithin  Pflicht  an  sich  selbst. 

Allein  diese  Pflicht  ist  bloss  ethisch,  d.  i.  von  weiter 
Verbindlichkeit.  Wie  weit  man  in  Bearbeitung  (Er- 
weiterung oder  Berichtigung  seines  Verstandesvermögens, 
d.  i.  in  Kenntnissen  oder  in  Kunstfähigkeit)  gehen  solle, 
schreibt  kein  Vernunftprinzip  bestimmt  vor;  auch  macht 
die  Verschiedenheit  der  Lagen,  worein  Menschen  kommen 
können,  die  Wahl  der  Art  der  Beschäftigung,  dazu  er 
sein  Talent  anbauen  soll,  sehr  willkürlich.  —  Es  ist 
also  hier  kein  Gesetz  der  Vernunft  für  die  Handlungen, 
sondern  bloss  für  die  Maxime  der  Handlungen,  welche 
so  lautet:  „baue  deine  Gemüths-  und  Leibeskräfte  zur 
Tauglichkeit  für  alle  Zwecke  an,  die  dir  aufstossen 
können,  ungewiss,  welche  davon  einmal  die  deinigen 
werden  könnten." 

b)  Kultur  der  Moralität  in  uns.  Die  grösste 
moralische  Vollkommenheit  des  Menschen  ist:  seine 
Pflicht  zu  thun  und  zwar  aus  Pflicht  (d*ass  das  Gesetz 
nicht  bloss  die  Regel,  sondern  auch  die  Triebfeder  der 
Handlungen  sei).  —  Nun  scheint  dieses  zwar  beim 
ersten  Anblick  eine  enge  Verbindlichkeit  zu  sein,  und 
das  Pflichtprinzip  zu  jeder  Handlung  nicht  bloss  die 
Legalität,  sondern  auch  die  Moralität,  d.  i.  Ge- 
sinnung, mit  der  Pünktlichkeit  und  Strenge  eines  Ge- 
setzes zu  gebieten;  aber  in  der  That  gebietet  das  Gesetz 
auch  hier  nur  die  Maxime  der  Handlung,  nämlich 
den  Grund  der  Verpflichtung  nicht  in  den  sinnlichen 
Antrieben  (Vortheil  oder  Nachtheil),  sondern  ganz  und 
gar  im  Gesetz  zu  suchen,  —  mithin  nicht  die  Hand- 
lung selbst. Denn    es  ist  dem  Menschen   nicht 

möglich,  so  in  die  Tiefe  seines  eigenen  Herzens  einzu- 
schauen, dass  er  jemals  von  der  Reinigkeit  seiner  mo- 
ralischen Absicht  und  der  Lauterkeit  seiner  Gesinnung 
auch  nur  in  einer  Handlung  völlig  gewiss  sein  könnte; 
wenn  er  gleich  über  die  Legalität  derselben  gar  nicht 
zweifelhaft  ist.    Vielmals  wird  Schwäche,   welche  einem 


Einleitung.  227 

Menschen  das  Wagstück  eines  Verbrechens  abräth,  von 
demselben  für  Tugend  (die  den  Begriff  von  Stärke  giebt) 
gehalten,  und  wie  Viele  mögen  ein  langes  schuldloses 
Leben  geführt  haben,  die  nur  Glückliche  sind,  so 
vielen  Versuchungen  entgangen  zu  sein;  wie  viel  reiner 
moralischer  Gehalt  bei  jeder  That  in  der  Gesinnung 
gelegen  habe,  das  bleibt  ihnen  selbst  verborgen. 

Also  ist  auch  diese  Pflicht,  den  Werth  seiner  Hand- 
lungen nicht  bloss  nach  der  Legalität,  sondern  auch  der 
Moralität  (Gesinnung)  zu  schätzen,  nur  von  weiter 
Verbindlichkeit,  das  Gesetz  gebietet  nicht  diese  innere 
Handlung  im  menschlichen  Gemüth  selbst,  sondern  bloss 
die  Maxime  der  Handlung,  darauf  nach  allem  Vermögen 
auszugehen,  dass  zu  allen  pflichtmässigen  Handlungen 
der  Gedanke  der  Pflicht  für  sich  selbst  hinreichende 
Triebfeder  sei.^^j 

2.  Fremde  Glückseligkeit,  als  Zweck,  der  zu- 
gleich Pflicht  ist. 

a)  Physische  Wohlfahrt.  Das  Wohlwollen  kann 
unbegrenzt  sein;  denn  es  darf  hierbei  nichts  gethan 
werden.  Aber  mit  dem  Wohlthun,  vornehmlich  wenn 
es  nicht  aus  Zuneigung  (Liebe)  zu  Anderen,  sondern 
aus  Pflicht,  mit  Aufopferung  und  Kränkung  mancher 
Konkupiscenz  geschehen  soll,  geht  es  schwieriger  zu. 
—  Dass  diese  Wohlthätigkeit  Pflicht  sei,  ergiebt  sich 
daraus :  dass,  weil  unsere  Selbstliebe  von  dem  Bedürfniss, 
von  Anderen  auch  geliebt  zu  werden  (in  Nothfällen  von 
ihnen  Hülfe  zu  erhalten),  t)  nicht  getrennt  werden  kann, 
wir  also  uns  zum  Zweck  für  Andere  machen,  und  diese 
Maxime  niemals  anders,  als  bloss  durch  ihre  Qualifikation 
zu  einem  allgemeinen  Gesetz,  folglich  durch  einen  Willen, 
Andere  auch  für  uns  zu  Zwecken  zu  machen,  verbinden 
kann,  fremde  Glückseligkeit  ein  Zweck  sei,  der  zugleich 
Pflicht  ist. 

Allein  ich  soll  mit  einem  Theil  meiner  Wohlfahrt 
ein  Opfer  an  Andere,  ohne  Hofi'nung  der  Wiederver- 
geltung, machen,  weil  es  Pflicht  ist,  und  nun  ist  un- 
möglich, bestimmte  Grenzen  anzugeben,  wieweit  das 
gehen  könne.  Es  kommt  sehr  darauf  an,  was  für  jeden 
nach    seiner    Empfindungsart    wahres    Bedürfniss    sein 


t)  1,  Ausg.:  „geliebt  (in  Nothfällen  geholfen)   zu  werden^' 

15* 


228  Tugendlehre. 

werde,  welches  zu  bestimmen  jedem  selbst  tiberlassen 
bleiben  muss.  Denn  mit  Aufopferung  seiner  eigenen 
Glückseligkeit,  seiner  wahren  Bedürfnisse,  Anderer  ihre 
zu  befördern,  würde  eine  an  sich  selbst  widerstreitende 
Maxime  sein,  wenn  man  sie  zum  allgemeinen  Gesetz 
machte.  —  Also  ist  diese  Pflicht  nur  eine  weite;  sie 
hat  einen  Spielraum,  mehr  oder  weniger  hierin  zu  thun, 
ohne  dass  sich  die  Grenzen  davon  bestimmt  angeben 
lassen.  —  Das  Gesetz  gilt  nur  für  die  Maximen,  nicht 
für  bestimmte  Handlungen. 

b)  Moralisches  Wohlsein  Anderer  {salus  mm^alis) 
gehört  auch  zu  der  Glückseligkeit  Anderer,  die  zu  be- 
fördern für  uns  Pflicht,  aber  nur  negative  Pflicht  ist. 
Der  Schmerz,  den  ein  Mensch  von  Gewissensbissen  fühlt, 
obzwar  sein  Ursprung  moralisch  ist,  ist  doch,  der  Wir- 
kung nach,  physisch,  wie  der  Gram,  die  Furcht  und 
jeder  andere  krankhafte  Zustand.  Zu  verhüten,  dass 
jenen  dieser  innere  Vorwurf  nicht  verdienter  Weise  treffe, 
ist  nun  zwar  eben  nicht  meine  Pflicht,  sondern  seine 
Sache;  wohl  aber  nichts  zu  thun,  was,  nach  der  Natur 
des  Mensrhen,  Verleitung  sein  könnte  zu  dem,  worüber 
ihn  sein  Gewissen  nachher  peinigen  kann,  das  heisst, 
ihm  kein  Skandal  zu  geben. f)  —  Aber  es  sind  keine 
bestimmten  Grenzen,  innerhalb  welcher  sich  diese  Sorg- 
falt für  die  moralische  Zufriedenheit  Anderer  halten  liesse; 
daher  ruht  auf  ihr  nur  eine  weite  Verbindlichkeit.^^) 


IX. 

Was  ist  Tiigendpflicbt? 

Tugend  ist  die  Stärke  der  Maxime  des  Menschen 
in  Befolgung  seiner  Pflicht.  —  Alle  Stärke  wird  nur 
durch  Hindernisse  erkannt,  die  sie  überwältigen  kann; 
bei  der  Tugend  aber  sind  diese  die  Naturneigungen, 
welche  mit  dem  sittlichen  Vorsatz  in  Streit  kommen 
können,  und  da  der  Mensch  es  selbst  ist,  der  seinen 
Maximen  diese  Hindernisse  in  den  Weg  legt,   so  ist  die 


t)  1.    Ausg.:    „peinigen    kann,    welches    man    Skandal 
nennt." 


Einleitung.  229 

Tugend  nicht  bloss  ein  Seibstzwang  (denn  da  könnte 
eine  Naturneigung  die  andere  zu  bezwingen  trachten), 
sondern  auch  ein  Zwang  nach  einem  Prinzip  der  Innern 
Freiheit,  mithin  durch  die  blosse  Vorstellung  seiner  Pflicht; 
nach  dem  formalen  Gesetz  derselben. 

Alle  Pflichten  enthalten  einen  Begriff  der  Nöthigung 
durch  das  Gesetz;  und  zwar  enthalten f)  die  ethischen 
eine  solche,  wozu  nur  eine  innere,  die  Rechtspflich- 
ten dagegen  eine  solche  Nöthigung,  wozu  auch  eine 
äussere  Gesetzgebung  möglich  ist.  In  beiden  liegt  also 
der  Begrift'  eines  Zwanges,  tt)  er  mag  nun  Selbstzwang 
oder  Zwang  durch  einen  Anderen  sein;  da  dann  das 
moralische  Vermögen  des  ersteren  Tugend,  und  die  aus 
einer  solchen  Gesinnung  (der  Achtung  fürs  Gesetz)  ent- 
springende Handlung  Tugendhaudlung  (ethisch)  genannt 
werden  kann,  obgleich  das  Gesetz  eine  Rechtspflicht 
aussagt.  Denn  es  ist  die  Tugendlehre,  welche  ge- 
bietet, das  Recht  des  Menschen  heilig  zu  halten. 

Aber  was  zu  thun  Tugend  ist,  das  ist  darum  noch 
nicht  sofort  eigentliche  Tugendpflicht.  Jenes  kann 
bloss  das  Formale  der  Maximen  betreffen,  diese  aber 
geht  auf  die  Materie  derselben,  nämlich  auf  einen  Zweck, 
der  zugleich  als  Pflicht  gedacht  wird.  —  Da  aber  die 
ethische  Verbindlichkeit  zu  Zwecken,  deren  es  mehrere 
geben  kann,  nur  eine  weite  ist;  weil  sie  da  bloss  ein 
Gesetz  für  die  Maxime  der  Handlungen  enthält,  und 
der  Zweck  die  Materie  (Objekt)  der  Willkür  ist,  so  giebt 
es  viele,  nach  Verschiedenheit  des  gesetzlichen  Zwecks 
verschiedene  Pflichten,  welche  Tugendpflichten  {officia 
Jionestatis)  genannt  werden;  eben  darum,  weil  sie  bloss 
dem  freien  Selbstzwange,  nicht  dem  Zwange  anderer ttt) 
Menschen  unterworfen  sind,  und  den  Zweck  bestimmen, 
der  zugleich  Pflicht  ist. 

Die  Tugend,  als  die  in  der  festen  Gesinnung  ge- 
gründete Uebereinstimmung  des  Willens  mit  jeder  Pflicht, 
ist,  wie  alles  Formale,  bloss  eine  und  dieselbe.  Aber 
in  Ansehung  des  Zwecks  der  Handlungen,  der  zugleich 
Pflicht  ist,    d.  i.  desjenigen    (des  Materialen),   was  man 


t)  „und  zwar  enthalten"  Zusatz  der  2.  Ausg. 
tt)  1.  Ausg.:  „möglich  ist;  beide  also  eines  Zwanges" 
ttt)  1.  Ausg.:  „nicht  dem  anderer" 


230  Tugendlehre. 

sich  zum  Zwecke  machen  soll,  kann  es  mehr  Tugen- 
den geben,  und  da  die  Verbindlichkeit  zu  der  Maxime 
desselben  Tugendpflicht  heisst,  so  folgt,  dass  es  auch 
der  Tugendpflichten  mehrere  gebe.t) 

Das  oberste  Prinzip  der  Tugendlehre  ist:  handle 
nach  einer  Maxime  der  Zwecke,  die  zu  haben  für 
Jedermann  ein  allgemeines  Gesetz  sein  kann.  —  Nach 
diesem  Prinzip  ist  der  Mensch  sowohl  sich  selbst,  als 
Anderen  Zweck,  und  es  ist  nicht  genug,  dass  er  weder 
sich  selbst,  noch  Andere  bloss  als  Mittel  zu  brauchen 
befugt  ist  (dabei  er  doch  gegen  sie  auch  indifferent 
sein  kann),  sondern  den  Menschen  überhaupt  sich  zum 
Zwecke  zu  machen,  ist  an  sich  selbst  des  Menschen 
Pflicht. 

Dieser  Grundsatz  der  Tugendlehre  verstattet,  als  ein 
kategorischer  Imperativ,  keinen  Beweis,  aber  wohl  eine 
Deduktion  aus  der  reinen  praktischen  Vernunft.  —  Was 
im  Verhältniss  der  Menschen,  zu  sich  selbst  und  Anderen, 
Zweck  sein  kann,  das  ist  Zweck  vor  der  reinen  prak- 
tischen Vernunft,  denn  sie  ist  ein  Vermögen  der  Zwecke 
überhaupt;  in  Ansehung  derselben  indiflferent  zu  sein, 
d.  i.  kein  Interesse  daran  zu  nehmen,  ist  also  ein  Wider- 
spruch; weil  sie  alsdann  auch  nicht  die  Maximen  zu 
Handlungen  (als  welche  letztere  jederzeit  einen  Zweck 
enthalten)  bestimmen,  mithin  keine  praktische  Vernunft 
sein  würde.  Die  reine  Vernunft  aber  kann  a  prioi^i 
keine  Zwecke  gebieten,  als  nur  sofern  sie  solche  zu- 
gleich als  Pflicht  ankündigt;  welche  Pflicht  alsdann 
Tugendpflicht  heisst.^^j 


Das  oberste  Prinzip  der  Kechtslehre  war  analytisch; 
das  der  Tugendlehre  ist  synthetisch. 

Dass  der  äussere  Zwang,  sofern  dieser  ein  dem 
Hindernisse  der  nach  allgemeinen  Gesetzen  zusammen- 
stimmenden, äusseren  Freiheit  entgegengesetzter  Wider- 


t)  1.  Ausg.:    „und    die  Verbindlichkeit    zu   der  Maxime 
desselben  heisst  Tugendpflicht,   deren  es  also  viele  giebt.'' 


Einleitung.  231 

stand  (ein  Hinderniss  des  Hindernisses  derselben)  ist, 
mit  Zwecken  überhaupt  zusammen  bestehen  könne,  ist 
nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  klar,  und  ich  darf 
nicht  über  den  Begriff  der  Freiheit  hinausgehen,  um 
ihn  einzusehen;  der  Zweck,  den  ein  Jeder  hat,  mag 
sein,  welcher  er  wolle.  —  Also  ist  das  oberste  Rechts- 
prinzip ein  analytischer  Satz. 

Dagegen  geht  das  Prinzip  der  Tugendlehre  über  den 
Begriff  der  äusseren  Freiheit  hinaus,  und  verknüpft  nach 
allgemeinen  Gesetzen  mit  demselben  noch  einen  Zweck, 
den  es  zur  Pflicht  macht.  Dieses  Prinzip  ist  also 
synthetisch.  —  Die  Möglichkeit  desselben  ist  in  der 
Deduktion  (§.  IX.)  enthalten. 

Diese  Erweiterung  des  Pflichtbegriffs  über  den  der 
äusseren  Freiheit  und  der  Einschränkung  derselben  durch 
das  blosse  Förmliche  ihrer  durchgängigen  Zusammen- 
stimmung, wo  die  innere  Freiheit,  statt  des  Zwanges 
von  aussen,  das  Vermögen  des  Selbstzwanges  und  zwar 
nicht  vermittelst  anderer  Neigungen,  sondern  durch  reine 
praktische  Vernunft  (welche  alle  diese  Vermittelung  ver- 
schmäht), aufgestellt  wird,  besteht  darin  und  erhebt  sich 
dadurch  über  die  Rechtspflicht,  dass  durch  sie  Zwecke 
aufgestellt  werden,  von  denen  überhaupt  das  Recht 
abstrahirt.  —  Im  moralischen  Imperativ,  und  der  noth- 
wendigen  Voraussetzung  der  Freiheit  zum  Behuf  des- 
selben, machen  das  Gesetz,  das  Vermögen  (es  zu 
erfüllen)  und  der  die  Maxime  bestimmende  Wille  alle 
Elemente  aus,  welche  den  Begriff  der  Rechtspflicht  bil- 
den. Aber  in  de-mjenigen,  welcher  die  Tugendp flicht 
gebietet,  kommt,  noch  über  den  Begriff  eines  Selbst- 
zwanges, der  eines  Zweckes  dazu,  nicht  den  wir  haben, 
sondern  haben  sollen,  den  also  die  reine  praktische  Ver- 
nunft in  sich  hat,  deren  höchster,  unbedingter  Zweck 
(der  aber  doch  immer  noch  Pflicht  ist)  darin  gesetzt 
wird:  dass  die  Tugend  ihr  eigener  Zweck  und,  bei 
dem  Verdienst,  das  sie  um  den  Menschen  hat,  auch 
ihr  eigener  Lohn  sei.  Wobei  sie,  als  Ideal,  so  glänzt, 
dass   sie  nach  menschlichem   Augenmaass  die   Heilig- 


232  Tugendlehre. 

keit  selbst,  die  zur  Uebertretung  nie  versucht  wird, 
zu  verdunkeln  scheint;*)  welches  gleichwohl  eine 
Täuschung  ist,  da,  weil  wir  kein  Maass  für  den 
Grad  einer  Stärke,  als  die  Grösse  der  Hindernisse  haben, 
die  da  haben  überwunden  werden  können  (welche  in 
uns  die  Neigungen  sind),  wir  die  subjektiven  Be- 
dingungen der  Schätzung  einer  Grösse  für  die  objek- 
tiven der  Grösse  an  sich  selbst  zu  halten  verleitet 
werden.  Aber  mit  menschlichen  Zwecken,  die  ins- 
gesammt  ihre  zu  bekämpfenden  Hindernisse  haben,  ver- 
glichen, hat  es  seine  Richtigkeit,  dass  der  Werth  der 
Tugend  selbst,  als  ihres  eigenen  Zwecks,  den  Werth  alles 
Nutzensjund  aller  empirischen  Zwecke  und  Vortheile 
weit  überwiege,  die  sie  zu  ihrer  Folge  immerhin  haben 
mag. 

Man  kann  auch  gar  wohl  sagen:  der  Mensch  sei 
zur  Tugend  (als  einer  moralischen  Stärke)  verbunden. 
Denn  obgleich  das  Vermögen  {facultas)  der  Ueberwin- 
dung  aller  sinnlichen  entgegenwirkenden  Antriebe,  seiner 
Freiheit  halber,  schlechthin  vorausgesetzt  werden 
kann  und  muss;  so  ist  doch  dieses  Vermögen  als  Stärke 
(robur)  etwas,  was  erworben  werden  muss,  dadurch,  dass 
die  moralische  Triebfeder  (die  Vorstellung  des  Ge- 
setzes) durch  Betrachtung  {contemplatione)  der  Würde 
des  reinen  Vernunftgesetzes  in  uns,  zugleich  aber  auch 
durch  Uebung  {exercitio)  erhoben  wird.^*^) 


*)  So  dass  man  zwei  bekannte  Verse   von  Ha  11  er  also 
variiren  könnte  :t) 

Der  Mensch  mit  seinen  Mängeln 

Ist  besser,  als  das  Heer  von  willenlosen  Engeln. 

t)  Die  Worte:    „So    dass  —  könnte:''   fehlen  in   der  1. 
Ausgabe. 


Einleitung.  233 


XI. 


Das  Schema  der  Tugend pflicliten  kann  obigen  Grund- 
sätzen gemäss  auf  folgende  Art  verzeichnet  werden: 

Das  Materiale  der  Tugendpflicht. 


1.  2. 

Eigener  Zweck,  ZweckAnderer, 
der  mir  zugleich  dessen  Beförde- 
Pflicht  ist.  rung  mir  zugleich  ^ 

Pflicht  ist. 
Tnnpvp     1  (Meine eigene  Voll-  (DieGlückselig- 
Tno-priri    '  k  0 m  m  e  n h  e  i t).       k  e  i t  Anderer).       1  Aeussere 
S-iü    \  o  .  )  Tugend- 

Pfl^cht.    \  3.  4.  ^   Pflicht. 

Das  Gesetz,  wel- Der  Zweck,  der 
ches  zugleich  Trieb-  zugleich  Triebfe-j 
feder  ist.  der  ist. 

Worauf  die  M  o  r  a-  Worauf  die  L  e  g  a- 
lität  lität 

aller  freien  Willensbestimmuno:  beruht. 


Das  Formale  der  Tugendpflicht. 


XII. 

Aesthetische  Vorbegriffe  der  Empfänglichkeit  des 
Gemtiths  für  Pflichtbegriffe  überhaupt. 

Es  sind  solche  moralische  Beschaffenheiten,  die,  wenn 
man  sie  nicht  besitzt,  es  auch  keine  Pflicht  geben  kann, 
sich  in  ihren  Besitz  zu  setzen.  —  Sie  sind  das  moralische 
Gefühl,  das  Gewissen,  die  Liebe  des  Nächsten  und 
die  Achtung  für  sich  selbst  (Selbstschätzung), 
welche  zu  haben  es  keine  Verbindlichkeit  giebt;  weil 
sie  als  subjektive  Bedingungen  der  Empfänglichkeit 
für  den  Pflichtbegriff,  nicht  als  objektive  Bedingungen 
der  Moralität  zum  Grunde  liegen.     Sie  sind  insgesammt 


234  Tugendlehre. 

ästhetisch  und  vorhergehende,  aber  natürliche  Ge- 
müthsanlagen  {praedispositio),  durch  Pflichtbegriflfe  afficirt 
zu  werden;  Anlagen,  welche  zu  haben  nicht  als  Pflicht 
angesehen  werden  kann,  sondern  die  jeder  Mensch  hat, 
und  kraft  deren  er  verpflichtet  werden  kann.  —  Das 
Bewusstsein  derselben  ist  nicht  empirischen  Ursprungs; 
sondern  kann  nur  auf  das  eines  moralischen  Gesetzes, 
als  Wirkung  desselben  aufs  Gemüth,  folgen. 


a. 

Das  moralische  Gefühl. 

Dieses  ist  die  Empfänglichkeit  für  Lust  oder  Un- 
lust, bloss  aus  dem  Bewusstsein  der  Uebereinstimmung 
oder  des  AViderstreites  unserer  Handlung  mit  dem  Pflicht- 
gesetze. Alle  Bestimmung  der  Willkür  aber  geht  von 
der  Vorstellung  der  möglichen  Handlung  durch  das  Ge- 
fühl der  Lust  oder  Unlust,  an  ihr  oder  ihrer  Wirkung 
ein  Interesse  zu  nehmen,  zurThat;  wo  der  ästhetische 
Zustand  (der  Afficirung  des  inneren  Sinnes)  nun  ent- 
weder ein  pathologisches  oder  moralisches  Ge- 
fühl ist.  —  Das  erste  ist  dasjenige  Gefühl,  welches  vor 
der  Vorstellung  des  Gesetzes  vorhergeht,  das  letzte  das, 
was  nur  auf  diese  folgen  kann. 

Nun  kann  es  keine  Pflicht  geben,  ein  moralisches 
Gefühl  zu  haben,  oder  sich  ein  solches  zu  erwerben; 
denn  alles  Bewusstsein  der  Verbindlichkeit  legt  dieses 
Gefühl  zum  Grunde,  um  sich  der  Nöthigung,  die  im 
Pflichtbegriife  liegt,  bewusst  zu  werden;  sondern  ein 
jeder  Mensch  (als  ein  moralisches  Wesen)  hat  es  ursprüng- 
lich in  sich;  die  Verbindlichkeit  aber  kann  nur  darauf 
gehen,  es  zu  cultiviren  und,  selbst  durch  die  Be- 
wunderung seines  unerforschlichen  Ursprungs,  zu  ver- 
stärken: welches  dadurch  geschieht,  dass  gezeigt  wird, 
wie  es,  abgesondert  von  allem  pathologischen  Reize  und 
in  seiner  Reinigkeit,  durch  blosse  Vernunft  vor  Stellung 
eben  am  stärksten  erregt  wird. 

Dieses  Gefühl  einen  moralischen  Sinn  zu  nennen 
ist  nicht  schicklich ;  denn  unter  dem  Wort  Sinn  wird 
gemeiniglich  ein  theoretisches,  auf  einen  Gegenstand  be- 


Einleitung.  235 

zogenes  Wahrnehmungsvermögen  verstanden ;  dahingegen 
das  moralische  Gefühl  (wie  Lust  und  Unlust  überhaupt) 
etwas  bloss  Subjektives  ist,  was  kein  Erkenntniss  ab- 
giebt.  —  Ohne  alles  moralische  Gefühl  ist  kein  Mensch; 
denn  bei  völliger  Unempfänglichkeit  für  diese  Empfindung 
wäre  er  sittlich  todt,  und  wenn  (um  in  der  Sprache 
der  Aerzte  zu  reden)  die  sittliche  Lebenskraft  keinen 
Reiz  mehr  auf  dieses  Grefühl  bewirken  könnte,  so  würde 
sich  die  Menschheit  (gleichsam  nach  chemischen  Ge- 
setzen) in  die  blosse  Thierheit  auflösen  und  mit  der 
Masse  anderer  Naturwesen  unwiederbringlich  vermischt 
werden.  —  Wir  haben  aber  für  das  (sittlich-)  Gute  und 
Böse  ebenso  wenig  einen  besonderen  Sinn,  als  wir 
einen  solchen  für  die  Wahrheit  haben,  ob  man  sich 
gleich  oft  so  ausdrückt,  sondern  Empfänglichkeit  der 
freien  Willkür  für  die  Bewegung  derselben  durch  prak- 
tische reine  Vernunft  und  ihr  Gesetz,  und  das  ist  es, 
was  wir  das  moralische  Gefühl  nennen.-'^) 

b. 

Vom  Gewissen. 

Ebenso  ist  das  Gewissen  nicht  etwas  Erwerbliches, 
und  es  giebt  keine  Pflicht,  sich  eines  anzuschaffen; 
sondern  jeder  Mensch,  als  sittliches  Wesen,  hat  ein 
solches  ursprünglich  in  sich.  Zum  Gewissen  verbunden 
zu  sein,  würde  so  viel  sagen,  als:  die  Pflicht  auf  sich 
haben,  Pflichten  anzuerkennen.  Denn  Gewissen  ist  die 
dem  Menschen  in  jedem  Fall  eines  Gesetzes  seine  Pflicht 
zum  Lossprechen  oder  Verurtheilen  vorhaltende  prak- 
tische Vernunft.  Seine  Beziehung  also  ist  nicht  die  auf 
ein  Objekt,  sondern  bloss  aufs  Subjekt  (das  moralische 
Gefühl  durch  ihren  Akt  zu  afficiren),  also  eine  unaus- 
bleibliche Thatsache,  nicht  eine  Obliegenheit  und  Pflicht. 
Wenn  man  daher  sagt:  dieser  Mensch  hat  kein  Ge- 
wissen, so  meint  man  damit:  er  kehrt  sich  nicht  an  den 
Ausspruch  desselben.  Denn  hätte  er  wirklich  keines, 
so  würde  er  sich  auch  nichts  als  pflichtmässig  zurechnen, 
oder  als  pflichtwidrig  vorwerfen,  mithin  auch  selbst  die 
Pflicht,  ein  Gewissen  zu  haben,  sich  gar  nicht  denken 
können. 


236  Tugendlehre. 

Die  mancherlei  Einth eilungen  des  Gewissens  gehe 
ich  noch  hier  vorbei  und  bemerke  nur,  was  aus  dem 
eben  Angeführten  folgt:  dass  nämlich  ein  irrendes  Ge- 
wissen ein  Unding  sei.  Denn  in  dem  objektiven  Ur- 
theile,  ob  etwas  Pflicht  sei  oder  nicht,  kann  man  wohl 
bisweilen  irren;  aber  im  subjektiven,  ob  ich  es  mit  meiner 
praktischen  (hier  richtenden)  Vernunft  zum  Behuf  jenes 
ürtheils  verglichen  habe,  kann  ich  nicht  irren,  weil  ich 
alsdann  praktisch  gar  nicht  geurtheilt  haben  würde; 
in  welchem  Fall  weder  Irrthum  noch  Wahrheit  statthat. 
Gewissenlosigkeit  ist  nicht  Mangel  des  Gewissens, 
sondern  Hang,  sich  an  dessen  Urtheil  nicht  zu  kehren. 
Wenn  aber  Jemand  sich  bewusst  ist,  nach  Gewissen  ge- 
handelt zu  haben,  so  kann  von  ihm,  was  Schuld  oder 
Unschuld  betrifft,  nichts  mehr  verlangt  werden.  Es  liegt 
ihm  nur  ob,  seinen  Verstand  über  das,  was  Pflicht  ist 
oder  nicht,  aufzuklären ;  wenn  es  aber  zur  That  kommt 
oder  gekommen  ist,  so  spricht  das  Gewissen  unwillkür- 
lich und  unvermeidlich.  Nach  Gewissen  zu  handeln 
kann  also  selbst  nicht  Pflicht  sein,  weil  es  sonst  noch 
ein  zweites  Gewissen  geben  müsste,  um  sich  des  Akts 
des  ersteren  bewusst  zu  werden. 

Die  Pflicht  ist  hier  nur,  sein  Gewissen  zu  cultiviren, 
die  Aufmerksamkeit  auf  die  Stimme  des  inneren  Richters 
zu  schärfen  und  alle  Mittel  anzuwenden  (mithin  nur 
indirekte  Pflicht),  um  ihm  Gehör  zu  verschaffen.*^--^) 

c. 

Von  der  Menschenliebe. 

Liebe  ist  eine  Sache  der  Empfindung,  nicht  des 
Wollens,  und  ich  kann  nicht  lieben,  weil  ich  will,  noch 
weniger  aber,  weil  ich  soll  (zur  Liebe  genöthigt  werden); 
mithin  ist  eine  Pflicht  zu  lieben  ein  Unding.  Wohl- 
wollen {amor  henevolentiae)  aber  kann,  als  ein  Thun, 
einem  Pflichtgesetz  unterworfen  sein.  Man  nennt  aber 
oftmals  ein  uneigennütziges  Wohlwollen  gegen  Menschen 
auch  (obzwar  sehr  uneigentlich)  Liebe;  ja,  wo  es  nicht 
um  des  Anderen  Glückseligkeit,  sondern  die  gänzliche 
und  freie  Ergebung  aller  seiner  Zwecke  in  die  Zwecke 
eines  anderen   (selbst  eines    übermenschlichen)    Wesens 


Einleitung.  237 

zu  thun  ist,  spricht  man  von  Liebe,  die  zugleich  für  uns 
Pflicht  sei.  Aber  alle  Pflicht  ist  Nöthigung,  ein  Zwang; 
wenn  er  auch  ein  Selbstzwang  nach  einem  Gesetz  sein 
sollte.  Was  man  aber  aus  Zwang  thut,  das  geschieht 
nicht  aus  Liebe. 

Anderen  Menschen  nach  unserem  Vermögen  wohl- 
zuthun,  ist  Pflicht,  man  mag  lieben  oder  nicht,  und 
diese  Pflicht  verliert  nichts  an  ihrem  Gewicht,  wenn 
man  gleich  die  traurige  Bemerkung  machen  müsste, 
dass  unsere  Gattung  leider!  dazu  nicht  geeignet  ist,  dass, 
wenn  man  sie  näher  kennt,  sie  sonderlich  liebenswürdig 
befunden  werden  dürfte.  —  Men sehen hass  aber  ist 
jederzeit  hässlich,  wenn  er  auch,  ohne  thätige  An- 
feindung, bloss  in  der  gänzlichen  Abkehrung  von  Menschen 
(der  separatistischen  Misanthropie)  bestände.  Denn  das 
Wohlwollen  bleibt  immer  Pflicht,  selbst  gegen  den 
Menschenhasscr,  den  man  freilich  nicht  lieben,  aber  ihm 
doch  Gutes  erweisen  kann. 

Das  Laster  aber  am  Menschen  zu  hassen  ist  weder 
Pflicht,  noch  pflichtwidrig,  sondern  ein  blosses  Gefühl 
des  Abscheues  vor  demselben,  ohne  dass  der  Wille  darauf, 
oder  umgekehrt  dieses  Gefühl  auf  den  Willen  einigen 
Einfluss  hätte.  Wohlthun  ist  Pflicht.  Wer  diese  oft 
ausübt,  und  die  Absicht  seines  Wohlthuns  gelingen  sieht, 
kommt  endlich  wohl  gar  dahin,  den,  welchem  er  wohl 
gethan  hat,  wirklich  zu  lieben.  Wenn  es  also  heisst: 
du  sollst  deinen  Nächsten  lieben,  als  dich  selbst,  so 
heisst  das  nicht:  du  sollst  unmittelbar  (zuerst)  lieben 
und  vermittelst  dieser  Liebe  (nachher)  wohlthun,  sondern: 
thue  deinem  Nebenmeusclien  wohl,  und  dieses  Wohl- 
thun wird  Menschenliebe  (als  Fertigkeit  der  Neigung 
zum  Wohlthun  überhaupt)  in  dir  bewirken! 

Die  Liebe  des  Wohlgefallens  {airior  coinplacentiae) 
würde  also  allein  direkt  sein.  Zu  dieser  aber  (als  einer 
unmittelbar  mit  der  Vorstellung  der  Existenz  eines 
Gegenstandes  verbundenen  Lust)  eine  Pflicht  zu  haben, 
d.  i.  zur  Lust  woran  geuöthigt  werden  zu  müssen,  ist 
ein  Widerspruch.  ^*^t)) 


238  Tugendlehre. 

d. 

Von  der  Achtung. 

Achtung  (reverentia)  ist  ebensowohl  etwas  bloss  Sub- 
jektives; ein  Gefühl  eigener  Art,  nicht  ein  ürtheil  über 
einen  Gegenstand,  den  zu  bewirken,  oder  zu  befördern, 
es  eine  Pflicht  gäbe.  Denn  sie  könnte,  als  Pflicht  be- 
trachtet, nur  durch  die  Achtung,  die  wir  vor  ihr  haben, 
vorgestellt  werden.  Zu  dieser  also  eine  Pflicht  zu  haben 
würde  so  viel  sagen,  als  zur  Pflicht  verpflichtet  werden. 
—  Wenn  es  demnach  heisst:  der  Mensch  hat  eine 
Pflicht  der  Selbstschätzung,  so  ist  das  unrichtig 
gesagt  und  müsste  vielmehr  heissen:  das  Gesetz  in  ihm 
zwingt  ihm  unvermeidlich  Achtung  für  sein  eigenes 
Wesen  ab,  und  dieses  Gefühl  (welches  von  eigener  Art 
ist)  ist  ein  Grund  gewisser  Pflichten,  d.  i.  gewisser 
Handlungen,  die  mit  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  zu- 
sammen bestehen  können,  nicht  aber  kann  man  sagen,!) 
er  habe  eine  Pflicht  der  Achtung  gegen  sich;  denn  er 
nuiss  Achtung  vor  dem  Gesetz  in  sich  selbst  haben,  um 
sich  nur  eine  Pflicht  überhaupt   denken  zu  können.*^*) 


XIII. 

Allgemeine  Grundsätze  der  Metaphysik  der  Sitten 
in  Behandlung  einer  reinen  Tugendlehre. 

Erstlich:  für  eine  Pflicht  kann  auch  nur  ein  ein- 
ziger Grund  der  Verpflichtung  gefunden  werden,  und 
werden  zwei  oder  mehrere  Beweise  darüber  geführt, 
so  ist  es  ein  sicheres  Kennzeichen,  dass  man  entweder 
noch  gar  keinen  gültigen  Beweis  habe,  oder  es  auch 
mehrere  und  verschiedene  Pflichten  sind,  die  man  für 
eine  gehalten  hat. 

Denn  alle  moralischen  Beweise  können,  als  philosophi- 
sche, nur  vermittelst  einer  Vernunfterkenntniss  ausBe- 


t)  „aber  kann  man  sagen,"  Zusatz  der  2.  Ausg. 


Einleitung.  239 

griffe n,  nicht,  wie  die  Mathematik  sie  giebt,  durch 
die  Construktion  der  Begriffe  geführt  werden ;  die  letzteren 
verstatten  Mehrheit  der  Beweise  eines  und  desselben 
Satzes;  weil  in  der  An  schauung  a  priori  es  mehrere 
Bestimmungen  der  Beschaffenheit  eines  Objekts  geben 
kann,  die  alle  auf  ebendenselben  Grund  zurück  führen. 
—  Wenn  z.  B.  für  die  Pflicht  der  Wahrhaftigkeit  ein 
Beweis,  erstlich  aus  dem  Schaden,  den  die  Lüge 
andern  Menschen  verursacht,  dann  aber  auch  aus  der 
Nichtswürdigkeit  eines  Lügners  und  der  Verletzung 
der  Achtung  gegen  sich  selbst  geführt  werden  will,  so 
ist  im  ersten  eine  Pflicht  des  Wohlwollens,  nicht  eine 
der  Wahrhaftigkeit,  mithin  nicht  diese,  von  der  man  den 
Beweis  verlangte,  sondern  eine  andere  Pflicht  bewiesen 
worden.  —  Wenn  man  sich  aber  bei  der  Mehrheit  der 
Beweise  für  einen  und  denselben  Satz  damit  tröstet, 
dass  die  Menge  der  Gründe  den  Mangel  am  Gewicht 
eines  jeden  einzeln  genommen  ei'gänzen  werde,  so  ist 
dieses  ein  sehr  unphilosophischer  Behelf;  weil  er  Hinter- 
list und  Unredlichkeit  verräth;  —  denn  verschiedene 
unzureichende  Gründe  neben  einander  gestellt,  er- 
gänzen nicht  der  eine  den  Mangel  des  anderen  zur  Ge- 
wissheit, ja  nicht  einmal  zur  Wahrscheinlichkeit.  Sie 
müssen  als  Grund  und  Folge  in  einer  Reihe,  bis  zum 
zureichenden  Grunde,  fortschreiten  und  können  auch 
nur  auf  solche  Art  beweisend  sein.  —  Und  gleichwohl 
ist  dies  der  gewöhnliche  Handgriff  der  Ueberredungs- 
kunst. 

Zweitens.  Der  Unterschied  der  Tugend  vom  Laster 
kann  nie  in  Graden  der  Befolgung  gewisser  Maximen, 
sondern  muss  allein  in  der  specifischen  Qualität  der- 
selben (dem  Verhältniss  zum  Gesetz)  gesucht  werden;  mit 
andern  Worten,  der  belobte  Grundsatz  (des  Aristoteles), 
die  Tugend  in  den  Mittleren  zwischen  zwei  Lastern 
zu  setzen,  ist  falsch .*)  Es  sei  z.  B.  gute  Wirthschaft, 
als  das  Mittlere  zwischen  zwei  Lastern,  Verschwendung 
und  Geiz,  gegeben;  so  kann  ihr  Ursprung  als  einer 
Tugend  weder  durch  die  allmählige  Verminderung  des 
ersten  beider  genannten  Laster  (Ersparung),  noch  durch 


*)  Die  gewöhnlichen,  der  Sprache  nach  ethisch-classischen 
Formeln :  medio  tutissimus  ihis ;  omne  nimium  vertitur  in  vitium ; 


240  Tugendlehre. 

die  Vermehrung  der  Ausgaben  des  dem  letzten  Er- 
gebenen, erklärt;  auch  können  diese  Laster  nicht  so 
angesehen  werden,  als  ob  sie  sich  gleichsam  nach  ent- 
gegengesetzten Richtungen  in  der  guten  Wirthschaft 
begegneten;  sondern  ein  jedes  derselben  hat  seine  eigene 
Maxime,  die  der  andern  nothwendig  widerspricht.!) 

Aus  demselben  Grunde  ff)  kann  kein  Laster  über- 
haupt durch  eine  grössere  Ausübung  gewisser  Hand- 
lungen fi-t),  als  es  zweckmässig  ist  {e.  g.  prodigalitas 
est  excessus  in  consumendis  opibus),  oder  durch  die 
kleinere  Bewirkung  derselben,  als  sich  schickt,  (e.  g. 
ava7'itia  est  defectus  etc.)  erklärt  werden.  Denn  da 
hierdurch  der  Grad  gar  nicht  bestimmt  wird,  auf  diesen 
aber,  ob  das  Betragen  pflichtmässig  sei  oder  nicht,  alles 
ankommt;   so  kann  es  nicht  zur  Erklärung  dienen. 

Drittens:  die  ethischen  Pflichten  müssen  nicht  nach 


est  modus  in  rebus  etc. ;  medium  tenuere  beati ;  virtus  est  medium 
vitiorum  et  utrinque  reductum,^^f\)  enthalten  eine  schale  Weis- 
heit, die  gar  keine  besimmten  Prinzipien  hat;  denn  dieses 
Mittlere  zwischen  zwei  äusseren  Enden,  wer  will  mir  es 
angeben?  Der  Geiz  (als  Laster)  ist  von  der  Sparsamkeit 
(als  Tugend)  nicht  darin  unterschieden,  dass  diese  zu  weit 
(getrieben  \vird,  sondern  hat  ein  ganz  anderes  Prinzip 
Maxime),  nämhch  den  Zweck  der  Hanshaltung  nicht  im  Ge- 
nuss  seines  Vermögens,  sondern,  mit  Entsagung  auf  den- 
selben, bloss  im  Besitz  desselben  zu  setzen;  so  wie  das 
Laster  der  Verschwendung  nicht  im  Uebermaasse  des 
Genusses  seines  Vermögens,  sondern  in  der  schlechten 
Maxime  zu  suchen  ist,  die  den  Gebrauch,  ohne  auf  die  Er- 
haltung desselben  zu  sehen,  zum  alleinigen  Zweck  macht, 
t)  Dieser  Nachsatz  lautete  in  der  1.  Ausg.  so :  „so  kann 
sie  als  Tugend  nicht  durch  allmählige  Verminderung  den 
ersten  beider  genannten  Laster  (Ersparung),  noch  durch  die 
Vermehrung  der  Ausgaben  des  dem  letzteren  Ergebenen, 
als  entspringend  vorgestellt  werden:  indem  sie  sich  gleich- 
sam nach  entgegengesetzten  Richtungen  in  der  guten  Wirth- 
schaft begegneten;  sondern  eine  jede  derselben  hat  ihre 
eigene  Maxime,  die  der  anderen  nothwendig  widerspricht." 
Tt)  1.  Ausg.:  „Ebenso  wenig  und  aus  demselben  Grunde" 
ttt)  1.  Ausg.:  „Absichten" 
tttt)   Statt    der    Worte:     „virtus    est    medium    vitiorum    et 

utrinque  reductum"    stand  in  der   1.  Ausg.:  „insani  sapiens 

nomen  Tiabeat  etc,^' 


Einleitung.  241 

den,  dem  Menschen  beigelegten  Vermögen,  dem  Gesetz 
Gnüge  zu  leisten,  sondern  umgekehrt:  das  sittliche  Ver- 
mögen muss  nach  dem  Gesetz  geschätzt  werden,  welches 
kategorisch  gebietet ;  also  nicht  nach  der  empirischen 
Kenntniss,  die  wir  vom  Menschen  haben,  wie  sie  sind, 
sondern  nach  der  rationalen,  wie  sie  der  Idee  der  Mensch- 
heit gemäss  sein  sollen.  Diese  drei  Maximen  der 
wissenschaftlichen  Behandlung  einer  Tugendlehre  sind 
den  älteren  Apophthegmen  entgegengesetzt: 

1)  Es  ist  nur  eine  Tugend  und  nur  ein  Laster. 

2)  Tugend    ist    die   Beobachtung  der  Mittelstra^  ^=  o 
zwischen  entgegengesetzten  Lastern. 

3)  Tugend  muss  (gleich  der  Klugheit)  der  Erfahrung 
abgelernt  werden.' 02) 


XIV.  t) 

Von  der  Tugend  überhaupt. 

Tugend  bedeutet  eine  moralische  Stärke  des  Willens. 
Aber  dies  erschöpft  noch  nicht  den  Begriff;  denn  eine 
solche  Stärke  könnte  auch  einem  heiligen  (übermensch- 
lichen) Wesen  zukommen,  in  welchem  kein  hindernder 
Antrieb  dem  Gesetze  seines  Willens  entgegen  wirkt ;  das 
also  alles  dem  Gesetz  gemäss  gerne  thut.  Tugend  ist 
also  die  moralische  Stärke  des  Willens  eines  Menschen 
in  Befolgung  seiner  Pflicht:  welche  eine  moralische 
Nöthigung  durch  seine  eigene  gesetzgebende  Vernunft 
ist,  insofern  diese  sich  zu  einer  das  Gesetz  ausführen- 
den Gewalt  selbst  constituirt.  —  Sie  ist  nicht  selbst, 
oder  sie  zu  besitzen  ist  nicht  Pflicht,  (denn  sonst  würde 
es  eine  Verpflichtung  zur  Pflicht  geben  müssen ;)  sondern 
sie  gebietet  und  begleitet  ihr  Gebot  durch  einen  sitt- 
lichen (nach  Gesetzen 'der  inneren  Freiheit  möglichen) 
Zwang;  wozu  aber,  weil  er  unwiderstehlich  sein  soll^ 
Stärke  erforderlich  ist,  deren  Grad  wir  nur  durch  die 
Grösse  der  Hindernisse,  die  der  Mensch  durch  seine 
Neigungen  sich   selber   schafft,    schätzen  können.      Die 


t)  Die  Zahl  XIV  fehlt  in  der  ersten  Ausgabe,  daher  in 
ihr  die  Zahlen  der  folgenden  Abschnitte  der  Einleitung  um 
eine  Einheit  niedriger  stehen. 

Kant,  Metaphysik  der  Sitter.  ±Q 


242  Tugendlehre. 

Laster,  als  die  Brut  gesetzwidriger  Gesinnungen,  sind 
die  Ungeheuer,  die  er  nun  zu  bekämpfen  hat;  weshalb 
diese  sittliche  ;Stärke  auch,  als  Tapferkeit  {fm^titudo 
inoralis),  die  grösste  und  einzige  wahre  Kriegsehre  des 
Menschen  ausmacht ;  auch  wird  sie  die  eigentliche,  näm- 
lich praktische  Weisheit  genannt,  weil  sie  den  End- 
zweck des  Daseins  des  Menschen  auf  Erden  zu  dem 
ihrigen  macht.  —  In  ihrem  Besitze  ist  der  Mensch  allein 
frei,  gesund,  reich,  ein  König  u.  s.  w.  und  kann  weder 
durch  Zufall,  noch  Schicksal  einbüssen;  weil  er  sich 
selbst  besitzt  und  der  Tugendhafte  seine  Tugend  nicht 
verlieren  kann. 

Alle  Hochpreisungen ,  die  das  Ideal  der  Menschheit 
in  ihrer  moralischen  Vollkommenheit  betreffen,  können 
durch  die  Beispiele  des  Widerspiels  dessen,  was  die 
Menschen  jetzt  sind,  gewesen  sind,  oder  vermuthlich 
künftig  sein  werden,  an  ihrer  praktischen  Realität  nichts 
verlieren,  und  die  Anthropologie,  welche  aus  blossen 
Erfahrungserkenntnissen  hervorgeht,  kann  der  Anthro- 
ponomie,  welche  von  der  unbedingt  gesetzgebenden 
Vernunft  aufgestellt  wird,  keinen  Abbruch  thun,  und, 
wiewohl  Tugend  (in  Beziehung  auf  Menschen,  nicht  aufs 
Gesetz)  auch  hin  und  wieder  verdienstlich  heissen  und 
einer  Belohnung  würdig  sein  kann,  so  muss  sie  doch 
für  sich  selbst,  so  wie  sie  ihr  eigener  Zweck  ist,  auch 
als  ihr  eigener  Lohn  betrachtet  werden. 

Die  Tugend,  in  ihrer  ganzen  Vollkommenheit  be- 
trachtet, wird  also  vorgestellt,  nicht  wie  der  Mensch  die 
Tugend,  sondern  als  ob  die  Tugend  den  Menschen  be- 
sitze; weil  es  im  ersteren  Falle  so  aussehen  würde,  als 
ob  er  noch  die  Wahl  gehabt  hätte,  (wozu  er  alsdann 
noch  einer  andern  Tugend  bedürfen  würde,  um  die 
Tugend  vor  jeder  anderen  ihmf)  angebotenen  Waare 
zu  erlesen.)  —  Eine  Mehrheit  'der  Tugenden  sich  zu 
denken  (wie  es  denn  unvermeidlich  ist),  ist  nichts 
Anderes,  als  sich  verschiedene  moralische  Gegenstände 
denken,  auf  die  der  Wille,  aus  dem  einigen  Prinzip  der 
Tugend  abgeleitet  wird ;  ebenso  ist  es  mit  den  entgegen- 
stehenden Lastern  bewandt.  Der  Ausdruck,  der  beide 
verpersönlicht,  ist  eine  ästhetische  Maschinerie,  die  aber 


t)  „ihm"  fehlt  in  der  1.  Ausgabe. 


Einleitung.  243 

^och  auf  einen  moralischen  Sinn  hinweist.  —  Daher  ist 
«ine  Aesthetik  der  Sitten  zwar  nicht  ein  Theil,  aber 
doch  eine  subjektive  Darstellung  der  Metaphysik  der- 
selben ;  wo  die  Gefühle ,  welche  die  nöthigende  Kraft 
des  moralischen  Gesetzes  begleiten,  jener  ihre  Wirksam- 
keit empfindbar  machen;  z.  B.  Ekel,  Grauen  etc.,  welche 
den  moralischen  Widerwillen  versinnlichen,  um  der  bioss- 
sinnlichen Anreizung  den  Vorrang  abzugewinnen. *  03) 


XV. 

Yom  Prinzip  der  AbsonderuDg*  der  Tugendlehre 
von  der  Rechtslehre. 

Diese  Absonderung,  auf  welcher  aucli  die  Oberein- 
theilung  der  Sittenlehre  überhaupt  beruht,  gründet 
sich  darauf:  dass  der  Begriff  der  Freiheit,  der  jenen 
beiden  gemein  ist,  die  Eirtheilung  in  die  Pflichten  der 
äusseren  und  inneren  Freiheit  nothwendig  macht; 
von  denen  die  letzteren  allein  ethisch  sind.  —  Daher 
muss  diese  und  zwar  als  Bedingung  aller  Tugend- 
pflicht (so  wie  oben  die  Lehre  vom  Gewissen  als 
Bedingung  aller  Pflicht  überhaupt)  als  vorbereitender 
Theil  (disGursus  praeliminaris)  vorangeschickt  werden. 


Anmerkung. 

Von  der  Tugendlehre  nach  dem  Prinzip  der 
inneren  Freiheit. 

Fertigkeit  (habitus)  ist  eine  Leichtigkeit  zu 
handeln  und  eine  subjektive  Vollkommenheit  der 
Wilikühr.  —  Nicht  jede  solche  Leichtigkeit 
aber  ist  eine  fre-ie  {habitus  libertatis)]  denn  wenn 
sie  Angewohnheit  (assuetudo),  d.  i.  durch  öfters 
wiederholte  Handlung  zur  Noth wendigkeit  ge- 
wordene Gleichförmigkeit  derselben  ist,  so  ist  sie 
keine  aus  der  Freiheit  hervorgehende,  mithin  auch 
nicht  moralische  Fertigkeit.  Die  Tugend  kann  man 
also  nicht  durch  die  Fertigkeit  in  freien  gesetz- 
mässigen  Handlungen  definiren;  wohl  aber,  wenn 
hinzugesetzt  würde,  „sich  durch  die  Vorstellung  des 

16* 


244  Tugendlehre. 

Gesetzes  im  Handeln  zu  bestimmen",  und  da  ist 
diese  Fertigkeit  eine  Beschaffenheit  nicht  der  Will- 
kühr,  sondern  des  Willens,  der  ein  mit  der  Regel, 
die  er  annimmt,  zugleich  allgemein -gesetzgebendes 
Begehrungsvermögen  ist,  und  eine  solche  allein  kann 
zur  Tugend  gezählt  werden. 

Zur  inneren  Freiheit  aber  werden  zwei  Stücke 
erfordert:  seiner  selbst  in  einem  gegebenen  Fall 
Meister  {animus  sui  compos)  und  über  sich  selbst 
Herr  zu  sein  {imperium  in  seinetipsum)^  d.i.  seine 
Affekten  zu  zähmen  und  seine  Leidenschaften  zu 
beherrschen.  —  Die  Gemüthsart  {indoles)  in 
diesen  beiden  Zuständen  ist  edel  {erecta),  im  ent- 
gegengesetzten Fall  aber  unedel  (indoles  ahjecta, 
serva). 

XVI. 

Zur  Tugend  wird  zuerst  erfordert  die  Herrschaft 
über  sich  selbst. 

Affekten  und  Leidenschaften  sind  w^esentlich 
von  einander  unterschieden;  die  ersteren  gehören  zum 
Gefühl,  sofern  es,  vor  der  Ueberlegung  vorhergehend, 
diese  selbst  unmöglich  oder  schwerer  macht.  Daher 
heisst  der  Affekt  jäh  oder  jach  (animus  jyraeceps),  und 
die  Vernunft  sagt  durch  den  Tugendbegriff,  man  solle 
sich  fassen;  doch  ist  diese  Schwäche  im  Gebrauch 
seines  Verstandes,  verbunden  mit  der  Stärke  der  Ge- 
müthsbewegung,  nur  eine  Untugend,  und  gleichsam 
etwas  Kindisches  und  Schwaches,  was  mit  dem  besten 
Willen  gar  wohl  zusammen  bestehen  kann,  und  das 
einzige  Gute  noch  an  sich  hat,  dass  dieser  Sturm  bald 
aufhört.  Ein  Hang  zum  Affekt  (z.  B.  Zorn)  verschwistert 
sich  daher  nicht  so  sehr  mit  dem  Laster,  als  die 
Leidenschaft.  Leidenschaft  dagegen  ist  die  zur 
bleibenden  Neigung  gewordene  sinnliche  Begierde 
(z.  B.  der  Hass  im  Gegensatz  des  Zorns),  Die  Ruhe, 
mit  der  man  ihr  nachhängt,  lässt  Ueberlegung  zu,  und 
verstattet  dem  Gemüth,  sich  darüber  Grundsätze  zu 
macheu  und  so,  wenn  die  Neigung  auf  das  Gesetzwidrige 
fällt,  über  sie  zu  brüten ^   sie  tief  einwurzeln  zu  lassen, 


Einleitung.  245 

und  das  Böse  dadurch  (als  vorsätzlich)  in  seine  Maxime 
aufzunehmen;  welches  alsdann  ein  qualifizirtes  Böse, 
d.  i.  ein  wahres  Laster  ist. 

Die  Tugend  also,  sofern  sie  auf  innerer  Freiheit  ge- 
gründet ist,  enthält  für  die  Menschen  auch  ein  bejahendes 
Gebot,  nämlich  alle  seine  Vermögen  und  Neigungen  unter 
seine  (der  Vernunft)  Gewalt  zu  bringen,  mithin  das 
Gebott)  der  Herrschaft  über  sich  selbst,  welche  über 
das  Verbot,  nämlich  von  seinen  Gefühlen  und  Neigungen 
sich  nicht  beherrschen  zu  lassen,  (die  Pflicht  der  Apathie) 
hinzukommt;  weil,  ohne  dass  die  Vernunft  die  Zügel  der 
Regierung  in  ihre  Hände  nimmt,  jene  über  den  Menschen 
den  Meister  spielen.' ö*) 

XVH. 

Zur  Tugend  wird  Apathie  (als  Stärke  betrachtet) 
nothwendig  vorausgesetzt. 

Dieses  Wort  ist,  gleich  als  ob  es  Fühllosigkeit,  mithin 
subjektive  Gleichgültigkeit  in  Ansehung  der  Gegenstände 
der  Willkühr,  bedeutete,  in  üblen  Ruf  gekommen;  man 
nahm  es  für  Schwäche.  Dieser  Missdeutung  kann  da- 
durch vorgebeugt  werden,  dass  man  diejenige  Affekt- 
losigkeit,  welche  von  der  Indifferenz  zu  unterscheiden 
ist,  die  moralische  Apathie  nennt:  da  die  Gefühle 
aus  sinnlichen  Eindrücken  ihren  Einfluss  auf  das  mo- 
ralische nur  dadurch  verlieren,  dass  die  Achtung  fürs 
Gesetz  über  sie  insgesammt  mächtiger  wird.  —  Es  ist 
nur  die  scheinbare  Stärke  eines  Fieberkranken,  die  den 
lebhaften  Antheil  selbst  am  Guten  bis  zum  Affekt 
steigen,  oder  vielmehr  darin  ausarten  lässt.  Man  nennt 
den  Affekt  dieser  Art  Enthusiasmus,  und  dahin  ist 
auch  die  Mässigung  zu  deuten,  die  man  selbst  für 
Tugendausübungen  zu  empfehlen  pflegt,  {insani  sapiens 
nortien  feratj-]-)  aequus  iniqui^  ultra,  quam  satis 
est,  virtutem  si  petat  ipsam.  Horat.)  Denn  sonst  ist 
es  ungereimt  zu  wähnen,  man  könne  auch  wohl  allzu- 
weise,   allzutugendhaft   sein.      Der  Affekt   gehört 


t)  „das  Gebot"  Zusatz  der  2.  Ausg. 


246  Tugendlehre. 

immer  zur  Sinnlichkeit;  durch  was  für  einen  Gegenstand 
er  auch  erregt  werden  möge.t)  Die  wahre  Stärke  der 
Tugend  ist  das  Gemüth  in  Ruhe,  mit  einer  über- 
legten und  festen  Entschliessung  ihr  Gesetz  in  Ausübung 
zu  bringen.  Das  ist  der  Zustand  der  Gesundheit  im 
moralischen  Leben;  dagegen  der  Affekt,  selbst  wenn  er 
durch  die  Vorstellung  des  Guten  aufgeregt  wird,  eine 
augenblicklich  glänzende  Erscheinung  ist,  welche  Mattig- 
keit hinterlässt.  —  Phantastisch  -  tugendhaft  aber  kann 
doch  der  genannt  werden,  der  keine  in  Ansehung  der 
Moralität  gleichgültigen  Dinge  {adiajyJLord)  ein- 
räumt, und  sich  alle  seine  Schritte  und  Tritte  mit  Pflichten 
als  mit  Fussangeln  bestreut  und  es  nicht  gleichgültig 
findet,  ob  man  sich  mit  Fleisch  oder  Fisch,  mit  Bier 
oder  Wein,  wenn  einem  beides  bekömmt,  nähre;  eine 
Mikrologie,  welche,  wenn  man  sie  in  die  Lehre  der 
Tugend  aufnähme,  die  Herrschaft  derselben  zur  Tyrannei 
machen  würde. 

Anmerkung. 

Die  Tugend  ist  immer  im  Fortschreiten  und 
hebt  doch  auch  immer  von  vorne  an.  —  Das  Erste 
folgt  daraus,  weil  sie,  objektiv  betrachtet,  ein 
Ideal  und  unerreichbar,  gleichwohl  aber  sich  ihm 
beständig  zu  nähern  dennoch  Pflicht  ist.  Das  Zweite 
gründet  sich,  subjektiv,  auf  der  mit  Neigungen 
affizirten  Natur  des  Menschen,  unter  deren  Einfluss 
die  Tugend,  mit  ihren  einmal  für  allemal  genom- 
menen Maximen,  niemals  sich  in  Ruhe  und  Stillstand 
setzen  kann,  sondern,  wenn  sie  nicht  im  Steigen 
ist,  unvermeidlich  sinkt;  weil  sittliche  Maximen 
nicht  so,  wie  technische,  auf  Gewohnheit  gegründet 
werden  können  (denn  dieses  gehört  zur  physischen 
Beschaffenheit  seiner  Willensbestimmung),  sondern, 
selbst  wenn  ihre  Ausübung  zur  Gewohnheit  würde, 
das  Subjekt  damit  die  Freiheit  in  der  Wahl  seiner 
Maximen  einbüssen  würde,  welche  doch  der  Charakter 
einer  Handlung  aus  Pflicht  ist.it)5) 


t)  1.  Ausg.:    „er  mag  durch   einen  Gegenstand   erregt 
werden,  welcher  es  wolle.'' 


Einleitung.  247 

XVIII. 
Vorbegriffe  zur  Eintheilung  der  Tugendlehre. 

Dieses  Prinzip  der  Eintheilung  muss  erstlich,  was 
das  Formale  betrifft,  alle  Bedingungen  enthalten,  welche 
dazu  dienen,  einen  Theil  der  allgemeinen  Sittenlehre  von 
der  Rechtslehre  und  zwar  der  spezifischen  Form  nach 
zu  unterscheiden,  und  das  geschieht  dadurch:  dass 
1)  Tugendpflichten  solche  sind,  für  welche  keine  äussere 
Gesetzgebung  stattfindet;  2)  dass,  da  doch  aller  Pflicht 
ein  Gesetz  zum  Grunde  liegen  muss,  dieses  in  der  Ethik 
ein  Pflichtgesetz,  nicht  für  die  Handlungen,  sondern  bloss 
für  die  Maximen  der  Handlungen  gegeben,  sein  kann; 
3)  dass  (was  wiederum  aus  diesem  folgt)  die  ethische 
Pflicht  als  weite,  nicht  als  enge  Pflicht  gedacht  werden 
müsse. 

Zweitens:  was  das  Materiale  anlangt,  muss  sie 
nicht  bloss  als  Pflichtlehre  überhaupt,  sondern  auch  als 
Zwecklehre  aufgestellt  werden;  so,  dass  der  Mensch 
sowohl  sich  selbst,  als  auch  jeden  anderen  Menschen, 
sich  als  seinen  Zweck  zu  denken  verbunden  ist;  was 
manf)  Pflichten  der  Selbstliebe  und  Nächstenliebe  zu 
nennen  pflegt,  welche  Ausdrücke  hier  in  uneigentlicher 
Bedeutung  genommen  werden;  weil  es  zum  Lieben  direkt 
keine  Pflicht  geben  kann,  wohl  aber  zu  Handlungen, 
durch  die  der  Mensch  sich  und  Andere  zum  Zweck  macht. 

Drittens:  was  die  Unterscheidung  des  Materialen 
vom  Formalen  (der  Gesetzmässigkeit  von  der  Zweck- 
mässigkeit) im  Prinzip  der  Pflicht  betrifft ,  so  ist 
zu  merken:  dass  nicht  jede  Tugendverpflichtung 
{obligatio  ethica)  eine  Tugendpflicht  {officium  ethicum 
s.  virtutis)  sei;  mit  anderen  Worten:  dass  die  Achtung 
vor  dem  Gesetze  überhaupt  noch  nicht  einen  Zweck  als 
Pflicht  begründe;  denn  der  letztere  allein  ist  Tugend- 
pflicht. —  Daher  giebt  es  nur  eine  Tugendverpflichtung, 
aber  viel  Tugendpflichten;  weil  es  zwar  viel  Objekte 
giebt,  die  für  uns  Zwecke  sind,  welche  zu  haben  zugleich 
Pflicht  ist,    aber  nur  eine  tugendhafte  Gesinnung,    als 


t)  1.  Ausg.:  „die  man  ...  zu  nennen  pflegt," 


248  Tugendlehre. 

subjektiver  Bestimmungsgrund,  seine  Pflicht  zu  erfüllen, 
welche  sich  auch  über  Rechtspflichten  erstreckt,  die  aber 
darum  nicht  den  Namen  der  Tugendpflichten  führen 
können.  —  Daher  wird  alle  Eintheilung  der  Ethik 
nur  auf  Tugendpflichten  gehen.  Die  Wissenschaft  von 
der  Art,  auch  ohne  Rücksicht  auf  mögliche  äussere  Ge- 
setzgebung verbindlich  zu  sein,  ist  die  Ethik  selbst, 
ihrem  formalen  Prinzip  nach  betrachtet. 

Anmerkung. 

Wie  komme  ich  aber  dazu,  wird  man  fragen, 
die  Eintheilung  der  Ethik  in  Elementar  lehre  und 
Methodenlehre  einzuführen;  da  ich  ihrer  doch 
in  der  Rechtslehre  überhoben  sein  konnte?  —  Die 
Ursache  ist:  weil  jene  es  mit  weiten,  diese  aber 
mit  lauter  engen  Pflichten  zu  thun  hat;  weshalb 
die  letztere,  welche  ihrer  Natur  nach  strenge  (präcis) 
bestimmend  sein  muss,  ebenso  wenig,  wie  die  reine 
Mathematik,  einer  allgemeinen  Vorschrift  (Methode), 
wie  im  Urtheilen  verfahren  werden  soll,  bedarf, 
sondern  sie  durch  die  That  wahr  macht.  —  Die 
Ethik  hingegen  führt,  wegen  des  Spielraums,  den 
sie  ihren  unvollkommenen  Pflichten  verstattet,  un- 
vermeidlich zu  Fragen,  welche  die  Urtheilskraft  auf- 
fordern, auszumachen,  wie  eine  Maxime  in  beson- 
deren Fällen  anzuwenden  sei,  und  zwar  so,  dass 
diese  wiederum  eine  (untergeordnete)  Maxime  an 
die  Hand  gebe,  (wo  immer  wiederum  nach  einem 
Prinzip  der  Anwendung  dieser  auf  vorkommende 
Fälle  gefragt  werden  kann)  und  so  geräth  sie  in 
eine  Casuistik,  von  welcher  die  Rechtslehre  nichts 
weiss. 

Die  Casuistik  ist  also  weder  eine  Wissen- 
schaft, noch  ein  Theil  derselben;  denn  das  wäre 
Dogmatik,  und  ist  nicht  sowohl  Lehre,  wie  etwas 
gefunden,  sondern  Uebung,  wie  die  Wahrheit 
solle  gesucht  werden.  Sie  ist  alsof)  fragmen- 
tarisch, nicht  systematisch,  (wie  die  Ethik  ff)  sein 


t)  „Sie  ist  also"  Zusatz  der  2.  Ausg. 
tt)  1.  Ausg.:  „die  erstere" 


Einleitung.  249 

musste)  in  sie  verwebt,  nur  gleich  den  Schollen, 
zum  System  hinzugethan. 

Dagegen:  nicht  sowohl  die  Urtheilskraft,  als 
vielmehr  die  Vernunft,  und  zwar  in  der  Theorie 
seiner  Pflichten  sowohl,  als  in  der  Praxis,  zu  üben, 
das  gehört  besonders  zur  Ethik,  als  Met  hoden- 
lehre der  moraHsch -praktischen  Vernunft. f)  Die 
Methodik  der  ersten  Hebung  (in  der  Theorie  der 
Pflichten)  heisst  Didaktik,  und  hier  ist  die  Lehrart 
entweder  akroamatisch,  oder  erotematisch; 
die  letzte  ist  die  Kunst,  dem  Lehrling  dasjenige 
von  Pflichtbegriffen  abzufragen,  was  er  schon  weiss, 
und  dies  zwar  entweder  weil  man  es  ihm  schon 
gesagt  hat,  bloss  aus  seinem  Gedächtniss,  welche 
die  eigentliche  katechetische,  oder  weil  man 
voraussetzt,  dass  es  schon  in  seiner  Vernunft  natür- 
licher Weise  enthalten  sei  und  es  nur  daraus  ent- 
wickelt zu  werden  brauche,  die  dialogische  (So- 
kratische)  Methode  heisst. 

Der  Didaktik  tt)  als  der  Methode  theoretischer 
üebuDg  entspricht  als  Gegenstück,  im  Praktischen, 
die  Ascetik,  welche  derjenige  Theil  der  Methoden- 
lehre ist,  in  welchem  nicht  bloss  der  Tugendbegriff, 
sondern  auch  wie  das  Tugendvermögen  sowohl, 
als  der  Wille  dazu,  in  Ausübung  gesetzt  und  cul- 
tivirt  werden  könne,  gelehrt  wird. 

Nach  diesen  Grundsätzen  werden  wir  also  das 
System  in  zweien  Theilen:  der  ethischen  Ele- 
mentarlehre und  der  ethischen  Methoden- 
lehre aufstellen.  Jeder  Theil  wird  in  seine  Haupt- 
stücke, und  diese  ttt)  im  ersten  Theile,  nach  Ver- 
schiedenheit der  Subjekte ,  gegen  welche  dem 
Menschen  eine  Verbindlichkeit  obliegt,    im  zweiten 


t)  Die  folgenden  Worte  lauten  in  der  1.  Ausg.  so :  „wovon 
die  erstere  üebung  darin  besteht,  dem  Lehrling  dasjenige 
von  Pflichtbegriffen  abzufragen,  was  er  schon  weiss,  und 
die  erotematische  Methode  genannt  werden  kann,  und 
dies  zwar  entweder,  weil  man  es  ihm  schon  gesagt  hat,  bloss 
aus  seinem  Gedächtniss"  u.  s.  w. 

tt)  1.  Ausg.:  „Der  Katechetik  als  theoretischer  üebung'' 
ttt)  1.  Ausg. :  „welche"  f  „und  diese'' 


250  Tugendlehre. 

nach  Verschiedenheit  der  Zwecke,  welche  zu 
haben  ihm  die  Vernunft  auferlegt,  und  der  Empfäng- 
lichkeit für  dieselbe,  in  verschiedene  Kapitel  zer- 
fällt  werden. 


XIX. 

Die  Einth eilung,  welche  die  praktische  Vernunft  zu 
Gründung  eines  Systems  ihrer  Begriffe  in  einer  Ethik 
entwirft  (die  architektonische),  kann  nun  nach  zweierlei 
Prinzipien,  einzeln  oder  zusammen  verbunden,  gemacht 
werden:  das  eine,  welches  das  subjektive  Verhältniss 
der  Verpflichteten  zu  dem  Verpflichtenden,  der  Materie 
nach,  das  andere,  welches  das  objektive  Verhältniss 
der  ethischen  Gesetze  zu  den  Pflichten  überhaupt  in  einem 
System  der  Form  nach  vorstellt.  —  Die  erste  Eintheilung 
ist  die  der  Wesen,  in  Beziehung  aufweiche  eine  ethische 
Verbindlichkeit  gedacht  werden  kann,  die  zweite  wäre 
die  der  Begriffe  der  reinen  ethisch  -  praktischen  Ver- 
nunft; welche  zu  jener  ihren  Pflichten  gehören,  die  also 
zur  Ethik,  nur  sofern  sie  Wissenschaft  sein  soll,  also 
zu  der  methodischen  Zusammensetzung  aller  Sätze,  welche 
nach  der  ersteren  aufgefunden  worden,  erforderlich  sind. 


Einleitung.  251 


Erste  Eintheilung  der  Ethik  nach  dem  Unterschiede 
der  Subjekte  und  ihrer  Gesetze. 

Sie  enthält : 
Pflichten 

des  Menschen  gegen  des  Menschen  gegen 

den  Menschen  nicht  menschliche  Wesen 

gegen  sich     gegen  andere  1  Untermensch-    Übermensch- 
selbst Menschen      |  liehe  Wesen,     liehe  Wesen. 

Zweite  Eintheilung  der  Ethik  nach  Prinzipien  eines 
Systems  der  reinen  praktischen  Vernunft. 

Ethische 

Elementarlehre  Methodenlehre 

Dogmatik      Casuistik      Didaktik  f)      Ascetik. 

Die  letztere  Eintheilung  muss  also,   weil  sie  die  Form 

der  Wissenschaft  betrifft,  vor  der  ersteren,  als  Grundriss 

des  Ganzen,  vorhergehen.! 06) 


t)  1.  Ausg.:    „Katechetik'' 


Erster  TheU. 

Ethische  Elementarlehre. 


Der  ethischen  Elementarlehre 
erstes  Buch. 

Ton  den  Pflichten  gegen  sich  seihst  überhaupt. 


Einleitung. 

§.1. 

Der  Begriff  einer  Pflicht  gegen   sich  selbst  enthält 
(dem  ersten  Anscheine  nach)  einen  Widerspruch. 

Wenn  das  verpflichtende  Ich  mit  dem  ver- 
pflichteten in  einerlei  Sinn  genommen  wird,  so  ist 
Pflicht  gegen  sich  selbst  ein  sich  widersprechender  Be- 
griff. l3enn  in  dem  Begriffe  der  Pflicht  ist  der  einer 
passiven  Nöthigung  enthalten  (ich  werde  verbunden). 
Darin  aber,  dass  es  eine  Pflicht  gegen  mich  selbst  ist, 
stelle  ich  mich  als  verbindend,  mithin  in  einer  aktiven 
Nöthigung  vor;  (Ich,  ebendasselbe  Subjekt,  bin  der  Ver- 
bindende) und  der  Satz,  der  eine  Pflicht  gegen  sich 
selbst  ausspricht:  (ich  soll  mich  selbst  verbinden),  würde 
eine  Verbindlichkeit,  verbunden  zu  sein,  (eine  passive 
Obligation,  die  doch  zugleich,  in  demselben  Sinne  des 
Verhältnisses,  eine  aktive  wäre)  mithin  einen  Wider- 
spruch enthalten.  —  Man  kann  diesen  Widerspruch  auch 
dadurch  ins  Licht  stellen,  dass  man  zeigt,  der  Verbin- 
dende (auctor  obligationis)  könne  den  Verbundenen  {sub- 


256    Tugendlehre.  Ethische  Elementarlehre.  I.  Buch. 

jectum  ohligationis)  jederzeit  von  der  Verbindlichkeit 
(termimis  obligationis)  lossprechen;  mithin  sei,  wenn 
beide  ein  und  dasselbe  Subjekt  sind,  der  Verbindende 
an  eine  Pflicht,  die  er  sich  auferlegt,  gar  nicht  gebunden ; 
welches  einen  Widerspruch  enthält. 

§•2. 

Es  giebt  doch  Pflichten  des  Menschen  gegen  sich 
selbst. 

Denn  setzet:  es  gebe  keine  solche  Pflichten,  so  würde 
es  überall  gar  keine,  auch  keine  äusseren  Pflichten 
geben.  —  Denn  ich  kann  mich  gegen  Andere  nicht  für 
verbunden  erkennen ,  als  nur  sofern  ich  zugleich  mich 
selbst  verbinde;  weil  das  Gesetz,  kraft  dessen  ich  mich 
für  verbunden  achte,  in  allen  Fällen  aus  meiner  eigenen 
praktischen  Vernunft  hervorgeht,  durch  welche  ich  ge- 
nöthigt  werde,  indem  ich  zugleich  der  Nöthigende  in 
Ansehung  meiner  selbst  bin.*) 

§.  3. 

Anfschliiss  dieser  scheinbaren  Antinomie. 

Der  Mensch  betrachtet  sich,  in  dem  Bewusstsein  einer 
Pflicht  gegen  sich  selbst,  als  Subjekt  derselben,  in  zwie- 
facher Qualität:  erstlich  als  Sinnenwesen,  d.  i.  als 
Mensch  (zu  einer  der  Thierarten  gehörig) ;  dann  aber 
auch  als  Vernunft wesen,  (nicht  bloss  vernünftiges 
Wesen,  weil  die  Vernunft  nach  ihrem  theoretischen  Ver- 
mögen wohl  auch  die  Qualität  eines  lebenden  körper- 
lichen Wesens  sein  könnte)  welches  kein  Sinn  erreicht 
und  das  sich  nur  in  moralisch-praktischen  Verhältnissen, 


*)  So  sagt  man,  wenn  es  z.  B.  einen  Punkt  meiner 
Ehrenrettung  oder  der  Selbsterhaltiing  betrifft:  „ich  bin  mir 
das  selbst  schuldig'^  Selbst  wenn  es  Pflichten  von  minderer 
Bedeutung,  die  nämlich  nicht  das  Nothwendige,  sondern  nur 
das  Verdienstliche  meiner  Pflichtbefolguug  betreffen,  spreche 
ich  so:  z,  B.  ,,ich  bin  es  mir  selbst  schuldig,  meine  Ge- 
schicklichkeit für  den  Umgang  mit  Menschen  u.  s.  w.  zu 
erweitern  (mich  zu  kultiviren)." 


Von  d.  Pflichten  gegen  sich  selbst  überh,  Einl.  §.  4.     257 

wo  die  unbegreifliche  Eigenschaft  der  Freiheit  sich 
durch  den  Einfluss  der  Vernunft  auf  den  innerlich  ge- 
setzgebenden Willen  off"enbar  macht,  erkennen  lässt. 

Der  Mensch  nun,  als  vernünftiges  Natirwesen 
(homo  pliaenomejion),  ist  durch  seine  Vernunft,  als  Ur- 
sache, bestimmbar  zu  Handlungen  in  der  Sinnenwelt 
und  hiebei  kommt  der  Begriff  einer  Verbindlichkeit  noch 
nicht  in  Betrachtung.  Eben  derselbe  aber  seiner  Per- 
sönlichkeit nach,  d.  i.  als  ein  mit  innerer  Freiheit 
begabtes  Wesen  {liomo  noumenori)  gedacht,  ist  ein  der 
Verpflichtung,  und  insonderheit  der  Verpflichtung  gegen 
sich  selbst  (die  Menschheit  in  seiner  Person)  fähiges 
Wesen,  fj  so ,  dass  der  Mensch  (in  zweierlei  Bedeutung 
betrachtet),  ohne  in  Widerspruch  mit  sich  zu  gerathen, 
(weil  der  Begriff  von  Menschen  nicht  in  einem  und  dem- 
selben Sinn  gedacht  wird)  eine  Pflicht  gegen  sich  selbst 
anerkennen  kann. * 07) 


§•  4. 

Vom  Prinzip  der  Eintbeihmg  der  Pflichten  gegen 
sich  selbst. 

Die  Eintheilung  kann  nur  in  Ansehung  des  Objekts 
der  Pflicht,  nicht  in  Ansehung  des  sich  verpflichtenden 
Subjekts  gemacht  werden.  Das  verpflichtete  sowohl,  als 
das  verpflichtende  Subjekt  ist  immer  nur  der  Mensch, 
und  wenn  es  uns  gleich,  in  theoretischer  Rücksicht,  er- 
laubt ist,  im  Menschen  Seele  und  Körper  als  Natur- 
beschaffenheiten des  Menschen  von  einander  zu  unter- 
scheiden, so  ist  es  doch  nicht  erlaubt,  sie  als  verschiedene 
den  Menschen  verpflichtende  Substanzen  zu  denken,  um 
zur  Eintheilung  in  Pflichten  gegen  den  Körper  und 
gegen  die  Seele  berechtigt  zu  sein.  —  Wir  sind  weder 


t)  1.  Ausgabe:   „ein    der  Verpflichtung   fähiges  Wesen 

und  zwar  gegen  sich  selbst  (...)   betrachtet,    so    dass" 
u.  s.  w. 

Kaut,  Metaphysik  der  Sitten.  17 


258     Tugendlehre.    Ethische  Elementarlehre.    I.  Buch. 

durch  Erfahrung,  noch  durch  Schlüsse  der  Vernunft  hin- 
reichend darüber  belehrt,  ob  der  Mensch  eine  Seele, 
(als  in  ihm  wohnende,  vom  Körper  unterschiedene  und 
von  diesem  unabhängig  zu  denken  vermögende,  d.  i. 
geistige  Substanz)  enthalte,  oder  ob  nicht  vielmehr  das 
Leben  eine  Eigenschaft  der  Materie  sein  möge,  und  wenn 
es  sich  auch  auf  die  erstere  Art  verhielte,  so  würde 
doch  keine  Pflicht  des  Menschen  gegen  einen  Körper 
(als  verpflichtendes  Subjekt),  ob  er  gleich  der  mensch- 
liche ist,  denkbar  sein, 

1)  Es  wird  daher  nur  eine  objektive  Eintheilung 
der  Pflichten  gegen  sich  selbst  in  das  Formale  und 
Materiale  derselben  stattfinden;  wovon  die  einen  ein- 
schränkende (oder  negative)  Pflichten,  die  anderen 
erweiternde  (positive)  Pflichten  gegen  sich  selbst  sind; 
jene,  welche  dem  Menschen  in  Ansehung  des  Zwecks 
seiner  Natur  verbieten,  demselben  zuwider  zu  handeln, 
mithin  bloss  auf  die  moralische  Selbsterhaltung; 
diese,  welche  gebieten  sich  einen  gewissen  Gegen- 
stand der  Willkür  zum  Zweck  zu  machen,  und  auf  die 
Vervollkommnung  seiner  selbst  gehen:  von  welchen 
beide  zur  Tugend,  entweder  als  ünterlassungspflichten 
(sustine  et  ahstme),  oder  als  Begehungspflichten  (viribus 
concessis  utere),  beide  aber  als  Tugendpflichten  gehören. 
Die  ersten  gehören  zur  moralischen  Gesundheit  {ad 
esse)  des  Menschen,  sowohl  als  Gegenstandes  seiner 
äusseren,  als  seines  inneren  Sinnes  zu  Erhaltung  seiner 
Natur  in  ihrer  Vollkommenheit  (als  Rezeptivität). 
Die  anderen  zur  moralischen  Wohlhabenheit  [ad 
melius  esse]  opidentia  movcdis),  welche  in  dem  Besitz 
eines  zu  allen  Zwecken  hinreichenden  Vermögens  be- 
steht, sofern  dieses  erwerblich  ist,  und  zur  Cultur  (als 
thätiger  Vollkommenheit)  seiner  selbst  gehört.  —  Der 
erste  Grundsatz  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  liegt  in 
dem  Spruch :  lebe  der  Natur  gemäss  [naturae  convenienter 
vive),  d.  i.  erhalte  dich  in  der  Vollkommenheit  deiner 
Natur;  der  zweite  in  dem  Satz:  mache  dich  voll- 
kommner,  als  die  blosse  Natur  dich  schuf  [2)erfice  te 
ut  finem;  'pevfiGe  te  ut  medium). 

Es  giebt  aber  2)  eine  subjektive  Eintheilung  der 
Pflichten  des  Menschen  gegen  sich  selbst ,  d.  i.  eine 
solche,    nach  der  das  Subjekt  der  Pflicht   (der  Mensch) 


Von  d.  Pflichten  gegen  sich  selbst  überh.  Einl.  §.  4.      259 

sich  selbst,  entweder  als  animalisches  (physisches) 
und  zugleich  moralisches,  oder  bloss  als  moralisches 
Wesen  betrachtet. 

Da  sind  nun  die  Antriebe  der  Natur,  was  die 
Thierheit  des  Menschen  betrifft,  dreifach:  nämlich 
a)  der  Trieb,  durch  welchen  die  Natur  zur  Erhaltung 
seiner  selbst,  b)  der,  durch  welchen  sief)  die  Erhaltung 
der  Art,  c)  der  Trieb,  wodurch  sieft)  <^ie  Erhaltung 
seines  Vermögens  zum  zweckmässigen  Gebrauche  seiner 
Kräfte  und  zum  angenehmen,  aber  doch  nur  thierischen 
Lebensgenuss  beabsichtigt.  —  Die  Laster,  welche  hier 
der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst  widerstreiten, 
sind:  der  Selbstmord,  der  unnatürliche  Gebrauch, 
den  Jemand  von  der  Geschlechtsneigung  macht, 
und  der,  das  Vermögen  zum  zweckmässigen  Gebrauch 
seiner  Kräfte  schwächende,  unmässige  Genuss  der 
Nahrungsmittel. 

AVas  aber  die  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst, 
bloss  als  moralisches  Wesen,  (ohne  auf  seine  Thierheit 
zu  sehen)  betrifft,  so  besteht  sie  im  Formalen,  der 
Uebereinstimmung  der  Maximen  seines  Willens  mit  der 
Würde  der  Menschheit  in  seiner  Person;  also  im  Ver- 
bot, dass  er  sich  selbst  des  Vorzugs  eines  moralischen 
Wesens,  nämlich  nach  Prinzipien  zu  handeln,  d.  i.  der 
inneren  Freiheit  nicht  beraube  und  dadurch  zum  Spiel 
blosser  Neigungen,  also  zur  Sache,  mache.  —  Die  Laster, 
welche  dieser  Pflicht  entgegenstehen,  sind:  die  Lüge, 
der  Geiz,  und  die  falsche  Demnth  (Kriecherei). 
Diese  nehmen  sich  Grundsätze,  welche  dem  Charakter 
des  Menschen,  ttt)  als  eines  moralischen  Wesens,  d.  i.  der 
inneren  Freiheit,  der  angebornen  Würde  des  Menschen 
geradezu  (schon  der  Form  nach)  widersprechen,  welches 
so  viel  sagt:  sie  machen  es  sich  zum  Grundsatz,  keinen 
Grundsatz,    und   so   auch   keinen  Charakter   zu   haben, 


t)  Die  Worte:    „der,  durch  welchen  sie"  fehlen  in  der 
1.  Ausg. 

tt)  Die  Worte:  „der  Trieb,  wodurch  sie"  fehlen  in  der 
1.  Ausg.;    ebenso  gleich  darauf  die:   „zum  zweckmässigen 
Gebrauche  seiner  Kräfte  und" 
ttt)  1.  Ausgabe ;  „welche  ihrem  Charakter" 

17* 


260      Tugendlehre.    Ethische  Elementarlehre.    I.  Buch. 

d.  i.  sich  wegzuwerfen  und  sich  zum  Gegenstande  der 
Verachtung  zu  machen.  —  Die  Tugend,  welche  allen 
diesen  Lastern  entgegensteht,  könnte  die  Ehr  liebe 
[honestas  interna,  justmn  sui  aestimium) ,  eine  von 
der  Ehrsucht  {amhitio)  (welche  auch  sehr  nieder- 
trächtig sein  kann)  himmelweit  unterschiedene  Denkungs- 
art,  genannt  werden,  wird  aber  unter  dieser  Betitelung 
in  der  Folge  besonders  vorkommen.  108) 


Erste  AbtbeiluDg. 

Ton  den  yoUkommenen  Pflichten  gegen   sich 
selbst. 

Erstes  Haiiptstück. 

Die  Pflicht  des  IVIenschen  gegen  sich  selbst,  als  ein 
animalischesf)  Wesen. 

§.5. 

Die,  wenngleich  nicht  vornehmste,  doch  erste  Pflicht 
des  Menschen  gegen  sich  selbst,  in  der  Qualität  seiner 
Thierheit,  ist  die  Selbsterhaltung  in  seiner  anima- 
lischen Natur. 

Das  Widerspiel  derselben  ist  die  willkürliche  oder 
vorsätzliche  Zerstörung  seiner  animalischen  Natur  ff), 
welche  entweder  als  total  oder  partial  gedacht  werden 
kann.  —  Die  totale  heisst  die  Selbstentleibung 
(autocJiiria,  suicicUurnjy  die  partiale  lässt  sich  wiederum 
eintheilen  in  die  materiale,  da  man  sich  selbst  ge- 
wisser integrirenden  Theile,  als  Organe,  beraubt, 
Entgliederung  oder  Verstümmelung,  und  in  die 
formale,  da  man  sich  (auf  immer  oder  auf  einige  Zeit) 
des  Vermögens  des  physischen   (und  hiemit   indirekt 


t)  1.  Ausg.:  „einem  animalischen" 
tt)  l.Ausg.:  „der  willkürliche  physische  Tod,  welcher" 


262     Tugendl.  Ethische  Elementarl.  I.  B.  I.  Abth.  I.  Hauptst. 

auch  des  moralischen)   Gebrauchs    seiner  Kräfte    be- 
raubt; Selbstbetäubung,  t) 

Da  in  diesem  Hauptstücke  nur  von  negativen  Pflichten, 
folglich  nur  von  Unterlassungen  die  Rede  ist,  so  werden 
die  Pflichtartikel  wider  die  Laster  gerichtet  sein  müssen, 
welche  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  entgegengesetzt  sind. 


Des  ersten  Hauptstücks 
erster  Artikel. 

Von  der  Selbstentleibung. 

§.  6. 

Die  willkürliche  Entleibung  seiner  selbst  kann 
nur  dann  allererst  Selbstmord  {Jiomicidimn  dolosuin) 
genannt  werden,  wenn  bewiesen  werden  kann,  dass  sie 
überhaupt  ein  Verbrechen  ist,  welches  entweder  bloss  au 
unserer  eigenen  Person,  oder  auch  durch  dieses  zugleich 
an  Anderen  begangen  wird,  (z.  B.  wenn  eine  schwangere 
Person  sich  selbst  umbringt.) 

a)  Die  Selbstentleibung  ist  ein  Verbrechen  (Mord). 
Dieses  kann  nun  zwar  auch  als  üebertretung  seiner 
Pflicht  gegen  andere  Menschen  (als  eines  der  Ehegatten 
gegen  den  anderen,  der  Eltern  gegen  Kinder tt),  des 
Unterthans  gegen  seine  Obrigkeit  oder  seine  Mitbürger, 
endlich  auch  gegen  Gott  betrachtet  werden,  dessen  uns 
anvertrauten  Posten  in   der  Welt    der  Mensch   verlässt, 


t)  Statt  der  Worte:  ,.Die  totale  —  Selbstbetäubung'* 
steht  in  der  1.  Ausg.  Folgendes:  „Der  physische,  die  Ent- 
lei bung  {autochiria)  kann  also  auch  total  {suicidium) ,  oder 
partial,  Entgliederung  (Verstümmelung)  sein,  welche 
wiederum  in  die  materiale,  da  man  sich  selbst  gewisser 
integrirenden  Theile,  als  Organe,  beraubt,  d.  i.  sich  ver- 
stümmelt, und  die  formale,  da  man  sich  (auf  immer  oder 
auf  einige  Zeit)  des  Vermögens  des  physischen  (und 
hiemit  indirekt  auch  des  moralischen)  Gebrauchs  seiner 
Kräfte  beraubt. 

tt)  1.  Ausg. :  „Menschen  (Eheleute,  Eltern  gegen  Kinder'* 


I.  Art.    Von  der  Selbstentleibung.   §.  6.  263 

ohne  davon  abgerufen  zu  sein);  —  aber  hier  ist  nur 
davon  die  Rede,  ob  die  vorsätzliche  Selbstentleibung 
eine  Verletzung  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  sei,  und 
ob,  wenn  man  auch  alle  jene  Rücksichten  bei  Seite 
setzte,  t)  der  Mensch  doch  zur  Erhaltung  seines  Lebens, 
bloss  durch  seine  Qualität  als  Person  verbunden  sei,  und 
hierin  eine  (und  zwar  strenge)  Pflicht  gegen  sich  selbst 
anerkennen  müsse. 

Dass  der  Mensch  sich  selbst  beleidigen  könne,  scheint 
ungereimt  zu  sein  {volenti  non  fit  injuria).  Daher  sah 
es  der  Stoiker  für  einen  Vorzug  seiner  (des  Weisen) 
Persönlichkeit  an,  beliebig  aus  dem  Leben  (als  aus  einem 
Zimmer,  das  raucht),  ungedrängt  durch  gegenwärtige 
oder  besorgliche  Uebel,  mit  ruhiger  Seele  hinauszugehen ; 
weil  er  in  demselben  zu  nichts  mehr  nutzen  könne.  — 
Aber  eben  dieser  Muth,  diese  Seelenstärke,  den  Tod 
nicht  zu  fürchten,  und  etwas  zu  kennen,  was  der  Mensch 
noch  höher  schätzen  kann,  als  sein  Leben,  hätte  ihm 
ein  um  soviel  grösserer  Bewegungsgrund  sein  müssen, 
sich,  ein  Wesen  von  so  grosser,  über  die  stärksten  sinn- 
lichen Triebfedern  gewalthabenden  Obermacht,  nicht  zu 
zerstören,  mithin  sich  des  Lebens  nicht  zu  berauben. 

Der  Persönlichkeit  kann  sich  der  Mensch  nicht  ent- 
äussern, so  lange  von  Pflichten  die  Rede  ist;  folglich 
so  lange  er  lebt,  und  es  ist  ein  Widerspruch,  dass  er 
die  Befugniss  haben  solle,  sich  aller  Verbindlichkeit  zu 
entziehen,  d.  i.  frei  so  zu  handeln,  als  ob  es  zu  dieser 
Handlung  gar  keiner  Befugniss  bedürfte.  Das  Subjekt 
der  Sittlichkeit  in  seiner  eigenen  Person  zernichten,  ist 
ebensoviel,  als  die  Sittlichkeit  selbst  ihrer  Existenz  nach, 
soviel  an  ihm  ist,  aus  der  Welt  vertilgen,  welche  doch 
Zweck  an  sich  selbst  ist;  mithin  über  sich  als  blosses 
Mittel  zu  einem  beliebigen  Zweck  zu  disponiren,  heisst 
die  Menschheit  in  seiner  Person  (homo  noumenon)  ab- 
würdigen, der  doch  der  Mensch  (homo  phaenomenon) 
zur  Erhaltung  anvertraut  war. 

Sich  eines  integrirenden  Theils  als  Organs  zu  be- 
rauben (verstümmeln),  z.  B.  einen  Zahn  zu  verschenken 

t)  1.  Ausg.:  „aber  hier  ist  nur  die  Rede  von  Verletzung 
einer  Pflicht  gegen  sich  selbst,  ob  nämlich,  wenn  ich  auch 
alle  jene  Rücksichten  bei  Seite  setzte" 


264    Tugendl.  Ethische  Elementarl.  I.  B.  I.  Abth.  I.  Hauptst. 

oder  zu  verkaufen,  um  ihn  in  die  Kinnlade  eines  Anderen 
zu  pflanzen,  oder  die  Castration  mit  sich  vornehmen  zu 
lassen,  um  als  Sänger  bequemer  leben  zu  können  u.  dgl., 
gehört  zum  partialen  Selbstmorde;  aber  nicht,  ein  ab- 
gestorbenes oder  die  Absterbung  drohendes  und  hiemit 
dem  Leben  nachtheiliges  Organ  durch  Amputation  ab- 
nehmen zu  lassen.  Auch  kann  es  nicht  zum  Verbrechen 
an  seiner  eigenen  Person  gerechnet  werden,  sich  etwas, 
das  zwar  ein  Theil,  aber  kein  Organ  des  Körpers  ist, 
z.  B.  die  Haare  abzuschneiden ;  f)  wiewohl  der  letzte 
Fall  nicht  ganz  schuldfrei  ist,  wenn  er  zum  äusseren 
Erwerb  beabsichtigt  wird J  09) 


Casuistische  Fragen. 

Ist  es  Selbstmord,  sich  (wie  Curtius)  in  den  gewissen 
Tod  zu  stürzen,  um  das  Vaterland  zu  retten?  —  oder 
ist  das  vorsätzliche  Märtyrerthum,  sich  für  das  Heil  des 
Menschengeschlechts  überhaupt  zum  Opfer  hinzugeben, 
auch  wie  jenes  für  Heldenthat  anzusehen? 

Ist  es  erlaubt,  dem  ungerechten  Todesurtheile  seines 
Oberen  durch  Selbsttödtung  zuvorzukommen?  —  selbst 
•wenn  dieser  es  (wie  Nero  am  Seneca)  erlaubte  zu  thun? 

Kann  man  es  einem  grossen  unlängst  verstorbenen 
Monareben  zum  verbrecherischen  Vorhaben  anrechnen, 
dass  er  ein  behend  wirkendes  Oift  bei  sich  führte?  ver- 
muthlich  damit,  wenn  er  in  dem  Kriege,  den  er  per- 
sönlich führte,  gefangen  würde,  er  nicht  etwa  genöthigt 
sei,  Bedingungen  der  Auslösung  einzugehen,  die  seinem 
Staate  nachtheilig  sein  könnten;  denn  diese  Absicht 
kann  man  ihm  unterlegen,  ohne  dass  man  nöthig  hat, 
hierunter  einen  blossen  Stolz  zu  vermuthen. 

Ein  Mann  empfand  schon  die  Wasserscheu ,  als 
Wirkung  von  dem  Biss  eines  tollen  Hundes,  und,  nach- 
dem er  sich  darüber  so  erklärt  hatte:  er  habe  noch  nie 


t)  Statt  der  Worte:  „durch  Amputation  —  abzuschneiden" 
hat  die  1,  Ausg.  Folgendes:  „durch  Amputation,  oder,  was 
zwar  ein  Theil,  aber  kein  Organ  des  Körpers  ist,  z.  E.  die 
Haare  sich  abnehmen  zu  lassen,  kann  zum  Verbrechen  au 
seiner  eigenen  Person  nicht  gerechnet  werden;" 


IL  Art.  Von  der  wollüstigen  Selbstschändung.    §.  7.     265 

erfahren,  dass  Jemand  daran  geheilt  worden  sei,  brachte 
er  sich  selbst  um,  damit,  wie  er  in  einer  hinterlassenen 
Schrift  sagte,  er  nicht  in  seiner  Hundewuth  (zu  welcher 
er  schon  den  Anfall  fühlte)  andere  Menschen  auch  un- 
glücklich machte;  es  fragt  sich,  ob  er  damit  Unrecht  that? 
Wer  sich  die  Pocken  einimpfen  zu  lassen  beschliesst, 
wagt  sein  Leben  aufs  Ungewisse,  ob  er  es  zwar  thut, 
um  sein  Leben  zu  erhalten,  und  ist  sofern  in 
einem  v/eit  bedenklicheren  Fall  des  Pflichtgesetzes,  als 
der  Seefahrer,  welcher  doch  wenigstens  den  Sturm  nicht 
macht,  dem  er  sich  anvertraut,  statt  dessen  jener  die 
Krankheit,  die  ihn  in  Todesgefahr  bringt,  sich  selbst 
zuzieht.     Ist  also  die  Pockeninoculation  erlaubt? i^^) 


Zweiter  Artikel. 
Von  der  wollüstigen  Selbstschändung. 

§.  7. 

Sowie  die  Liebe  zum  Leben  von  der  Natur  zur  Erhaltung 
der  Person,  so  ist  die  Liebe  zum  Geschlecht  von  ihr  zur 
Erhaltung  der  Art  bestimmt;  d.  i.  eine  jede  von  beiden 
ist  Natur  zweck,  unter  welchem  man  diejenige  Ver- 
knüpfung der  Ursache  mit  einer  Wirkung  versteht,  in 
welcher  jene  Ursache  f),  auch  ohne  ihr  dazu  einen  Ver- 
stand beizulegen,  doch  nach  der  Analogie  mit  einem 
solchen,  also  gleichsam,  als  brächte  sie  absichtlich  die 
Wirkung  hervor,  gedacht  wird. ff)  Es  fragt  sich  nun, 
ob  der  Gebrauch  des  Vermögens  zur  Erhaltung  der  Art 
oder  zur  Fortpflanzung  des  Geschlechts  fff)  in  Ansehung 
der  Person  selbst,  die  es  ausübt,  unter  einem  ein- 
schränkenden Pflichtgesetz  stehe,  oder  ob  diese,  auch 
ohne  jenen  Zweck  zu  beabsichtigen,  den  Gebrauch  ihrer 
Geschlechtseigenschaften  der  blossen  thierischen  Lust  zu 
widmen  befugt  sei,  ohne  damit  einer  Pflicht  gegen  sich 


t)  „Ursache"  Zusatz  der  2.  Ausg. 
tt)  1.  Ausg.:  ,,also  gleichsam  absichtlich  Menschen  her- 
vorbringend gedacht  wird" 
ttt)  1-  Ausg.:  „Gebrauch  des  letzteren  Vermögens" 


266    Tugendl.  Ethische  Elementarl.  I.  B.  I.  Abth.  I.  Hauptst. 

selbst  zuwider  zu  handeln.  —  In  der  Rechtslehre  wird 
bewiesen,  dass  der  Mensch  sich  einer  anderen  Person 
dieser  Lust  zu  Gefallen,  ohne  besondere  Einschränkung 
durch  einen  rechtlichen  Vertrag,  nicht  bedienen  könne;  wo 
dann  zwei  Personen  wechselseitig  einander  verpflichten. 
Hier  aber  ist  die  Frage:  ob  in  Ansehung  dieses  Genusses 
eine  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst  obwalte, 
deren  Uebertretung  eine  Schändung  (nicht  bloss  Ab- 
würdigung)  der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person  sei. 
Der  Trieb  zu  jenem  wird  Fleischeslust  (auch  Wollust 
schlechthin)  genannt.  Das  Laster,  welches  dadurch  er- 
zeugt wird,  heisst  ünkeuschheit,  die  Tugend  aber 
in  Ansehung  dieser  sinnlichen  Antriebe  wird  Keusch- 
heit genannt,  die  nun  hier  als  Pflicht  des  Menschen 
gegen  sich  selbst  vorgestellt  werden  soll.  Unnatürlich 
heisst  eine  Wollust,  wenn  der  Mensch  dazu  nicht  durcli 
den  wirklichen  Gegenstand ,  sondern  durch  die  Ein- 
bildung von  demselben,  also  zweckwidrig,  ihn  sich  selbst 
schaff'end  gereizt  wird.  Denn  sie  bewirkt  alsdann  eine 
Begierde  wider  den  Zweck  der  Natur,  und  zwar  einen 
noch  wichtigeren  Zweck,  als  selbst  der  der  Liebe  zum 
Leben  ist,  weil  dieser  nur  auf  Erhaltung  des  Individuums, 
jener  aber  auf  die  der  ganzen  Species  abzielt.  — 

Dass  ein  solcher  naturwidriger  Gebrauch  (also  Miss- 
brauch) seiner  Geschlechtseigenschaft  eine  und  zwar  der 
Sittlichkeit  im  höchsten  Grad  widerstreitende  Verletzung 
der  Pflicht  wider  sich  selbst  sei,  fällt  jedem  zugleich 
mit  dem  Gedanken  von  demselben  sofort  auf,  erregt  eine 
Abkehrung  von  diesem  Gedanken,  in  dem  Maasse,  dass 
selbst  die  Nennung  eines  solchen  Lasters  bei  seinem 
eigenen  Namen  für  unsittlich  gehalten  wird,  welches  bei 
dem  des  Selbstmords  nicht  geschieht;  den  man,  mit 
allen  seinen  Greueln  (in  einer  sjyecies  facti)  der  Welt 
vor  Augen  zu  legen  im  mindesten  kein  Bedenken  trägt; 
gleich  als  ob  der  Mensch  überhaupt  sich  beschämt  fühle, 
einer  solchen  ihn  selbst  unter  das  Vieh  herabwürdigenden 
Behandlung  seiner  eigenen  Person  fähig  zu  sein:  so, 
dass  selbst  die  erlaubte  (an  sich  freilicli  bloss  thierische) 
körperliche  Gemeinschaft  beider  Geschlechter  in  der  Ehe 
im  gesitteten  Um  gange  viel  Feinheit  veranlasst  und  er- 
fordert, um  einen  Schleier  darüber  zu  werfen,  wenn 
davon  gesprochen  werden  soll. 


II.  Art.  Von  der  wollüstigen  Selbstschändung.  §.7.     267 

Der  Vernunftbeweis  aber  der  Unzulässigkeit  jenes 
unnatürlichen,  und  selbst  auch  des  bloss  unzweckmässigen 
Gebrauchs  seiner  Geschlechtseigenschaften  als  Verletzung 
(und  zwar,  was  den  ersteren  betrifft,  im  höchsten  Grade) 
der  Pflicht  gegen  sich  selbst,  ist  nicht  so  leicht  ge- 
führt. —  Der  Beweisgrund  liegt  freilich  darin,  dass 
der  Mensch  seine  Persönlichkeit  dadurch  (wegwerfend) 
aufgiebt,  indem  er  sich  bloss  zum  Mittel  der  Befriedigung 
thierischer  Triebe  braucht.  Aber  der  hohe  Grad  der 
Verletzung  der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person  durch 
ein  solches  Laster  in  seiner  Unnatürlichkeit,  da  es,  der 
Form  (der  Gesinnung)  nach,  selbst  das  des  Selbstmordes 
noch  zu  übergehen  scheint,  ist  dabei  nicht  erklärt.  Es 
sei  denn,  dass  da  die  trotzige  Wegwerfung  seiner  selbst 
im  letzten,  als  einer  Lebenslast,  wenigstens  nicht  eine 
weichliche  Hingebung  an  thierische  Reize  ist,  sondern 
Muth  erfordert,  wo  immer  noch  Achtung  für  die  Mensch- 
heit in  seiner  eigenen  Person  Platz  findet;  jene  hin- 
gegen, welche  sich  gänzlich  der  thierischen  Neigung 
überlässt,  den  Menschen  zur  geniessbaren,  aber  hierin 
doch  zugleich  naturwidrigen  Sache,  d.  i.  zum  ekel- 
haften Gegenstande  macht,  und  so  aller  Achtung  für 
sich  selbst  beraubt.ii*) 


Casuistlsche  Fragen. 

Der  Zweck  der  Natur  ist  in  der  Beiwohnung  der 
Geschlechter  die  Fortpflanzung,  d.  i.  die  Erhaltung  der 
Art;  jenem  Zwecke  darf  also  wenigstens  nicht  zuwider 
gehandelt  werden.  Ist  es  aber  erlaubt,  auch  ohne 
auf  diesen  Rücksicht  zu  nehmen,  sich  (selbst 
wenn  es  in  der  Ehe  geschähe)  jenes  Gebrauchs  an- 
zumassen? 

Ist  es  z.  B.  zur  Zeit  der  Schwangerschaft,  —  ist  es 
bei  der  Sterilität  des  Weibes  (Alters  oder  Krankheit 
wegen),  oder  wenn  dieses  keinen  Anreiz  dazu  bei  sich 
findet,  nicht  dem  Naturzwecke  und  hiemit  auch  der 
Pflicht  gegen  sich  selbst,  an  einem  oder  dem  anderen 
Theil,  ebenso  wie  bei  der  unnatürlichen  Wollust,  zu- 
wider, von  seinen  Geschlechtseigenschaften  Gebrauch  zu 
machen;    oder  giebt   es   hier    ein  Erlaubnissgesetz    der 


26g    Tugendl.  Ethische  Elementarl.  I.  B.  I.  Abth.  I.  Hauptst. 

moralisch-praktischen  Vernunft,  welches  in  der  Collision 
ihrer  Bestimmungsgründe  etwas,  an  sich  zwar  Unerlaubtes, 
doch  zur  Verhütung  einer  noch  grösseren  Uebertretung 
(gleichsam  nachsichtlich)  erlaubt  macht?  —  Von  wo  an 
kann  man  die  Einschränkung  einer  weiten  Verbindlich- 
keit zum  Purismus  (einer  Pedanterei  in  Ansehung  der 
Pflichtbeobachtung,  was  die  Weite  derselben  betrifft) 
zählen,  und  den  thierischen  Neigungen,  mit  Gefahr  der 
Verlassung  des  Vernunftgesetzes,  einen  Spielraum  ver- 
statten ? 

Die  Geschlechtsneigung  wird  auch  Liebe  (in  der 
engsten  Bedeutung  des  Wortes)  genannt  und  ist  in  der 
That  die  grösste  Sinnenlust,  die  an  einem  Gegenstande 
möglich  ist;  —  nicht  bloss  sinnliche  Lust,  wie  an 
Gegenständen,  die  in  der  blossen  Reflexion  über  sie  ge- 
fallen (da  die  Empfänglichkeit  für  sie  Geschmack  heisst), 
sondern  die  Lust  aus  dem  Genüsse  einer  anderen  Person, 
die  also  zum  Begehrungsvermögen  und  zwar  der 
höchsten  Stufe  desselben,  der  Leidenschaft  gehört.  Sie 
kann  aber  weder  zur  Liebe  des  Wohlgefallens,  noch  der 
des  Wohlwollens  gezählt  werden  (denn  beide  halten 
eher  vom  fleischlichen  Genuss  ab),  sondern  ist  eine 
Lust  von  besonderer  Art  (sui  generis)  und  das  Brünstig- 
sein hat  mit  der  moralischen  Liebe  eigentlich  nichts 
gemein ,  wiewohl  sie  mit  der  letzteren ,  wenn  die 
praktische  Vernunft  mit  ihren  einschränkenden  Be- 
dingungen hinzukommt,  in  enge  Verbindung  treten 
kann.i*~) 


Dritter  Artikel. 

Von    der   Selbstbetäubung    durch   Unmässigkeit    im 
Gebrauch   der  Geniess-   oder  auch  Nahrungsmittel. 

§.  8. 

Das  Laster  in  dieser  Art  der  Unmässigkeit  wird  hier 
nicht  aus  dem  Schaden,  oder  den  körperlichen  Schmerzen, 
selbst  Krankheiten  t) ;  die  der  Mensch  sich  dadurch  zu- 


t)  1.  Ausg.:  „solchen  Krankheiten' 


III.  Art.  Von  d.  Selbstbetäubimg  durch  Unmässigkeit.  §.  8.  269 

zieht,  beurtheilt,  denn  da  wäre  es  ein  Prinzip  des  Wohl- 
befindens und  der  Behaglichkeit  (folglich  der  Glückselig- 
keit), wodurch  ihm  entgegengearbeitet  werden  sollte, 
welches  aber  nie  eine  Pflicht,  sondern  nur  eine  Klugheits- 
regel begründen  kann;  wenigstens  wäre  es  kein  Prinzip 
einer  direkten  Pflicht. 

Die  thierische  Unmässigkeit  im  Genuss  der  Nahrung 
ist  der  Missbrauch  der  Geniessmittel,  wodurch  das  Ver- 
mögen des  intellectuellen  Gebrauchs  derselben  gehemmt 
oder  erschöpft  wird.  Versoffenheit  und  Gefrässig- 
keit  sind  die  Laster,  die  unter  diese  Rubrik  gehören. 
Im  Zustande  der  Trunkenheit  ist  der  Mensch  nur  wie 
ein  Thier,  nicht  als  Mensch,  zu  behandeln;  durch  die 
Ueberladung  mit  Speisen  und  in  einem  solchen  Zustande 
ist  er  für  Handlungen,  wozu  Gewandtheit  und  Ueber- 
legung  im  Gebrauch  seiner  Kräfte  erfordert  wird,  auf 
eine  gewisse  Zeit  gelähmt.  —  Dass  sich  in  einen  solchen 
Zustand  zu  versetzen,  Verletzung  einer  Pflicht  wider 
sich  selbst  sei,  fällt  von  selbst  in  die  Augen.  Die  erste 
dieser  Erniedrigungen,  selbst  unter  die  thierische  Natur, 
wird  gewöhnlich  durch  gegohrene  Getränke,  aber  auch 
durch  andere  betäubende  Mittel,  als  den  Mohnsaft  und 
andere  Produkte  des  Gewächsreichs,  bewirkt,  und  wird 
dadurch  verführerisch,  dass  dabei  f)  auf  eine  Weile  eine 
geträumte  Glückseligkeit  und  Sorgenfreiheit,  ja  wohl 
auch  eingebildete  Stärke  hervorgebracht;  schädlich  aber 
dadurch,  dass  hernach tf)  Niedergeschlagenheit  und 
Schwäche,  und,  was  das  Schlimmste  ist,  Nothwendigkeit, 
diese  Betäubungsmittel  zu  wiederholen,  ja  wohl  gar 
damit  zu  steigern,  eingeführt  wird.  Die  Gefrässigkeit  ist 
insofern  noch  unter  jener  thierischen  Sinnenbelustigung, 
dass  sie  bloss  den  Sinn  als  passive  Beschaffenheit  und 
nicht  einmal  die  Einbildungskraft,  wobei  doch  noch  ein 
thätiges  Spiel  der  Vorstellungen  stattfindet,  wie  im 
vorerwähnten  Genuss  der  Fall  ist,  beschäftigt;  mithin 
sich  dem  viehischen  Genüsse  noch  mehr  nähert,  ftt)^*^) 


t)  1.  Ausg.:    „dadurch" 
tt)  „schädlich  aber  dadurch,  dass  hernach"  Zusatz  der 
2.  Ausg. 

ttt)  !•  Ausg.:  „sich  dem  des  Viehes" 


270    Tugendl.  Ethische  Elementarl.  I.  B.  I.  Abth.  I.  Hauptst. 


Casuistische   Fragen. 

Kann  man  dem  Wein,  wenngleich  nicht  als  Panegyrist, 
doch  wenigstens  als  Apologet,  einen  Gebrauch  verstatten, 
der  bis  nahe  an  die  Berauschung  reicht;  weil  er  doch 
die  Gesellschaft  zur  Gesprächigkeit  belebt,  und  damit 
Offenherzigkeit  verbindet?  —  Oder  kann  man  ihm  wohl 
gar  das  Verdienst  zugestehen,  das  zu  befördern,  was 
Horazf)  vom  Cato  rühmt:  virtus  ejus  incalnit  mero'?  — 
"Wer  kann  aber  das  Maass  für  einen  bestimmen,  der 
in  den  Zustand,  wo  er  zum  Messen  keine  klaren  Augen 
mehr  hat,  überzugehen  eben  in  Bereitschaft  ist?tt) 
Der  Gebrauch  des  Opium  und  Branntweins  sind,  als 
Geniessmittel,  der  Niederträchtigkeit  näher,  weil  sie,  bei 
dem  geträumten  Wohlbefinden,  stumm,  zurückhaltend 
und  unmittheilbar  machen;  daher  sie  auch  nur  als 
Arzneimittel  erlaubt  sind.  —  Der  Mohammedanismus, 
welcher  den  Wein  ganz  verbietet,  hat  also  sehr  schlecht 
gewählt,  dafür  das  Opium  zu  erlauben. 

Der  Schmaus,  als  förmliche  Einladung  zur  Unraässig- 
keit  in  beiderlei  Art  des  Genusses,  hat  doch,  ausser  dem 


bloss  phj^sischen  Wohlleben,  noch  etwas  zum  sittlichen 
Zweck  Abzielendes  an  sich,  nämlich  viel  Menschen  und 
lange  zu  wechselseitiger  Mittheilung  zusammenzuhalten; 
gleichwohl  aber,  da  eben  die  Menge  (wenn  sie,  wie 
Chesterfield  sagt,  über  die  Zahl  der  Musen  geht)  nur 
eine  kleine  Mittheilung  (mit  den  nächsten  Beisitzern) 
erlaubt,  mithin  die  Veranstaltung  jenem  Zweck  wider- 
spricht, so  bleibt  sie  immer  Verleitung  zum  Unsittlichen, 
nämlich  der  Unmässigkeit,  und  zur  Uebertretung  der 
Pflicht  gegen  sich  selbst;  auch  ohne  auf  die  physischen 
Nachtheile  der  Ueberladung,  die  vielleicht  vom  Arzt  ge- 
hoben werden  können,  zu  sehen.  Wie  weit  geht  die 
sittliche  Befugniss,  diesen  Einladungen  zur  Unmässigkeit 
Gehör  zu  geben? 


t)  1.  Ausg.  :  „Seneca'' 
tt)  Der  Satz:  „Wer  kann  ...  in  Bereitschaft  ist?"  steht 
in  der  1.  Ausg.  nach  dem  zunächst  folgenden  Satze. 


I.  Art.    Von  der  Lüge.    §.  9.  271 


Zweites  Hauptstück. 

Die  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst,  bloss  als 
moralisches  Wesen  betrachtetf) 

Sie  ist  den  Lastern  der  Lüge,  des  Geizes  und  der 
falschen  Demuth  (Kriecherei)  entgegengesetzt. 


Erster  Artikel. 
Y  0  u    der    L  ü  g  e. 

§.   9. 

Die  grösste  Verletzung  der  Pflicht  des  Menschen 
gegen  sich  selbst,  bloss  als  moralisches  Wesen  betrachtet 
(gegen  die  Menschheit  in  seiner  Person),  ist  das  Wider- 
spiel der  Wahrhaftigkeit,  oder  ff)  die  Lüge  {aliud 
lingua  2'>ro7n2)tiim,  aliud  pectore  inclusuin  gerere).  Dass 
eine  jede  vorsätzliche  Unwalirheit  in  Aeusserung  seiner 
Gedanken  diesen  harten  Namen  (den  sie  in  der  Rechts- 
lehre nur  dann  führt,  wenn  sie  Anderer  Recht  verletzt) 
in  der  Ethik,  die  aus  der  Unschädlichkeit  kein  Befugniss 
hernimmt,  nicht  ablehnen  könne,  ist  für  sich  selbst  klar. 
Denn  Ehrlosigkeit  (ein  Gegenstand  der  moralischen  Ver- 
achtung zu  sein),  w^elche  sie  begleitet,  die  begleitet  auch 
den  Lügner,  wie  sein  Schatten.  —  Die  Lüge  kann  eine 
äussere  {inendaciwn  externum),  oder  auch  eine  innere 
sein.  Durch  jene  macht  sich  der  Mensch  in  Anderer, 
durch  diese  aber,  was  noch  mehr  ist,  in  seinen  eigenen 
Augen  zum  Gegenstande  der  Verachtung,  und  verletzt 
die  Würde  der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person. 
Hiebei  kömmt  weder  der  Schade,  der  anderen  Menschen 
daraus  entspringen  kann,  da  er  nicht  das  Eigenthümliche 
des  Lasters  trifft,  (das  alsdann  bloss  in  der  Verletzung 
der  Pflicht  gegen  Andere  bestände)   in  Anschlag,   noch 


t)  1.  Ausg.:  „bloss  als  einem  moralischen  Wesen." 
tt)  1.  Ausg.:  „der  Wahrhaftigkeit:  die  Lüge" 


272     Tugendl.  Ethische  Elementarl.  I.  B.  I.  Abth.  11. Hauptst. 

auch  der  Schade,  den  der  Lügner  sich  selbst  zuzieht  f); 
denn  alsdann  würde  es  bloss,  als  Klugheitsfehler,  der 
pragmatischen,  nicht  der  moralischen  Maxime  wider- 
streiten, und  gar  nicht  als  Pflichtverletzung  angesehen 
werden  können.  —  Die  Lüge  ist  Wegwerfung  und  gleich- 
sam Vernichtung  seiner  Menschenwürde.  Ein  Mensch, 
der  selbst  nicht  glaubt,  was  er  einem  Anderen  (wenn 
es  auch  eine  bloss  idealische.  Person  wäre)  sagt,  hat 
einen  noch  geringeren  Werth,  als  wenn  er  bloss  Sache 
wäre;  denn  von  dieser  ihrer  Eigenschaft,  etwas  zu 
nutzen,  kann  ein  Anderer  doch  irgend  einen  Gebrauch 
machen,  weil  sie  etwas  Wirkliches  und  Gegebenes  ist; 
aber  die  Mittheiluug  seiner  Gedanken  an  Jemanden  durch 
Worte,  die  doch  das  Gegentheil  von  dem  (absichtlich) 
enthalten,  was  der  Sprechende  dabei  denkt ,  ist  ein  der 
natürlichen  Zweckmässigkeit  seines  Vermögens  der  Mit- 
theilung seiner  Gedanken  gerade  entgegengesetzter  Zweck, 
mithin  Verzichtthuuug  auf  seine  Persönlichkeit,  wobei 
der  Lügner  sich  als  eine  bloss  täuschende  Erscheinung 
vom  Menschen,  nicht  als  wahren  Menschen  zeigt,  ff)  — 
Die  Wahrhaftigkeit  in  Erklärungen  wird  auch  Ehr- 
lichkeit, und,  wenn  diese  zugleich  Versprechen  sind, 
Redlichkeit,  überhaupt  aber  Aufrichtigkeit  genannt. 
Die  Lüge  (in  der  ethischen  Bedeutung  des  Worts), 
als  vorsätzliche  Unwahrheit  überhaupt,  bedarf  es  auch 
nicht.  Anderen  schädlich  zu  sein,  um  für  verwerflich 
erklärt  zu  werden;  denn  da  wäre  sie  Verletzung  der 
Hechte  Anderer.  Es  kann  auch  bloss  Leichtsinn,  oder 
gar  Gutmüthigkeit  die  Ursache  davon  sein,  ja  selbst 
ein  wirklich  guter  Zweck  dadurch  beabsichtigt  werden; 
dennoch  ist   die  Art  ttt)    ibm    nachzugehen    durch    die 


t)  Die  Worte:  „Hiebei  —  zuzieht"  sind  in  der  1.  Ausg. 
etwas  anders  gefasst,  nämlich  so:  „wobei  der  Schade,  der 
anderen  Menschen  daraus  entspringen  kann,  nicht  das  Eigen- 
thümliche  des  Lasters  betrifft  (denn  da  bestände  es  bloss 
iu  der  Verletzung  der  Pflicht  gegen  Andere),  und  also  hier 
nicht  in  Anschlag  kommt,  ja  auch  nicht  der  Schade,  den 
der  Lügner  sich  selbst  zuzieht;" 

tt)  1.  Ausg.:  „Persönlichkeit  und  eine  bloss  täuschende 
Erscheinung  vom  Menschen  nicht  der  Mensch  selbst." 
ttt)  1.  Ausg.:  „so  ist  doch  die  Art" 


I.  Art.    Von  der  Lüge.    §.  9.  273 

Iblosse  Form  ein  Verbrechen  des  Menschen  an  seiner 
eigenen  Person,  und  eine  Nichtswürdigkeit,  die  den 
Menschen  in  seinen  eigenen  Augen  verächtlich  machen 
muss. 

Die  Wirklichkeit  mancher  inneren  Lüge,  welche  die 
Menschen  sich  zu  Schulden  kommen  lassen,  zu  beweisen, 
ist  leicht,  aber  ihre  Möglichkeit  zu  erklären,  scheint 
doch  schwerer  zu  sein;  weil  eine  zweite  Person  dazu 
erforderlich  ist,  die  man  zu  hintergehen  die  Absicht  hat, 
sich  selbst  aber  vorsätzlich  zu  betrügen,  einen  Wider- 
spruch in  sich  zu  enthalten  scheint. 

Der  Mensch,  als  moralisches  Wesen  {homo  noumenoii)^ 
kann  sich  selbst,  als  physisches  Wesen  {homo  phaeno- 
meno?i),  nicht  als  blosses  Mittel  (Sprachmaschine)  brau- 
chen, das  an  den  inneren  Zweck  der  Gedankenmittheilung 
nicht  gebunden  wäre,  sondern  ist  an  die  Bedingung  der 
Uebereinstimmung  mit  der  Erklärung  (dedaratio)  des 
ersteren  gebunden,  und  gegen  sich  selbst  zur  Wahr- 
haftigkeit verpflichtet.  —  Wenn  er  z.  B.  den  Glauben 
an  einen  künftigen  Weltrichter  lügt,  indem  er  wirklich 
keinen  solchen  in  sich  findet,  aber,  indem  er  sich  über- 
redet, es  könne  doch  nicht  schaden,  wohl  aber  nutzen, 
einen  solchen  in  Gedanken  einem  Herzcnskündiger  zu 
bekennen,  um  auf  allen  Fall  seine  Gunst  zu  erheucheln. 
Oder,  wenn  er  zwar  dessfalls  nicht  im  Zweifel  ist,  aber 
sich  doch  mit  innerer  Verehrung  seines  Gesetzes  schmei- 
chelt, da  er  doch  keine  andere  Triebfeder,  als  die  der 
Furcht  vor  Strafe,  bei  sich  fühlt. 

Unlauterkeit t)  ist  bloss  Ermangelung  an  Gewissen- 
haftigkeit, d.  i.  an  Lauterkeit  des  Bekenntnisses  vor 
seinem  inneren  Richter,  der  als  eine  andere  Person  ge- 
dacht wird.  Z.  B.  nach  der  grössten  Strenge  betrachtet, 
ist  es  schon  Unlauterkeit,  wenn  ein  Wunsch  aus  Selbst- 
liebe für  die  That  genommen  wirdtt),  weil  er  einen 
an  sich  guten  Zweck  für  sich  hat,  und  die  innere  Lüge, 
ob  sie  zwar  der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst 
zuwider  ist,    erhält  hier  den  Namen  einer  Schwachheit, 


t)  1.  Ausg.:  „Unredlichkeit" 
tt)  1-  Ausg.:  „gedacht  wird,  wenn  diese  in  ihrer  höchsten 
Strenge  betrachtet  wird,    wo  ein  Wunsch  (aus  Selbstliebe) 
für  die  That  genommen  wird.,, 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  18 


2  74    Tugendl.  Ethische  Elementarl.  I.  B.  I.  Abth.  II.  Hauptst. 

sowie  der  Wunsch  eines  Liebhabers,  lauter  gute  Eigen- 
schaften an  seiner  Geliebten  zu  finden,  ihm  ihre  augen- 
scheinlichen Fehler  unsichtbar  macht.  —  Indessen  ver- . 
dient  diese  Unlauterkeit  in  Erklärungen,  die  man  gegen 
sich  selbst  verübt,  doch  die  ernstlichste  Rüge;  weil  von 
einer  solchen  faulen  Stelle  aus  (der  Falschheit,  welche 
in  der  menschlichen  Natur  gewurzelt  zu  sein  scheint) 
das  üebel  der  ün Wahrhaftigkeit  sich  auch  in  Beziehung 
auf  andere  Menschen  verbreitet,  nachdem  einmal  der 
oberste  Grundsatz  der  Wahrhaftio-keit  verletzt  worden.  — 


Anmerkung. 

Es  ist  merkwürdig,  dass  die  Bibel  das  erste 
Verbrechen,  wodurch  das  Böse  in  die  Welt  ge- 
kommen ist,  nicht  vom  Brudermorde  (Kain's), 
sondern  von  der  ersten  Lüge  datirt  (weil  gegen 
jenen  sich  doch  die  Natur  empört),  und  als  den 
Urheber  alles  Bösen  den  Lügner  von  Anfang  und 
den  Vater  der  Lügen  nennt;  wiewohl  die  Vernunft 
von  diesem  Hange  der  Menschen  zur  Gl  eisner  ei 
{esprit  fourhe)^  der  doch  vorhergegangen  sein  muss, 
keinen  Grund  weiter  angeben  kann;  weil  ein  Akt 
der  Freiheit  nicht  (gleich  einer  physischen  Wirkung), 
nach  dem  Naturgesetz  des  Zusammenhanges  der 
Wirkung  und  ihrer  Ursache,  welche  insgesammt  Er- 
scheinungen sind ,  deduzirt  und  erklärt  werden 
kann.^'-») 


Casuistische  Fragen. 

Kann  eine  Unwahrheit  aus  blosser  Höflichkeit  (z.  B. 
das  ganz  gehorsamster  Diener  am  Ende  eines 
Briefes)  für  Lüge  gehalten  werden?  Niemand  wird  ja 
dadurch  betrogen.  —  Ein  Autor  fragt  einen  seiner  Leser: 
wie  gefällt  Ihnen  mein  Werk?  Die  Antwort  könnte  nun 
zwar  illusorisch  gegeben  werden;  da  man  über  die  Ver- 
fänglichkeit einer  solchen  Frage  spöttelte;  aber  wer  hat 
den  Witz  immer  bei  der  Hand?  Das  geringste  Zögern 
mit  der  Antwort  ist  schon  Kränkung  des  Verfassers; 
darf  er  diesem  also  zum  Munde  reden? 


II.  Art.    Vom  Geize.    §.  10.  275 

Muss  ich,  wenn  ich  in  wirklichen  Geschäften,  wo  es 
aufs  Mein  und  Dein  ankommt,  eine  Unwahrheit  sage, 
alle  die  Folgen  verantworten,  die  daraus  entspringen 
möchten?!)  Z.  B.  ein  Hausherr  hat  befohlen:  dass,  wenn 
ein  gewisser  Mensch  nach  ihm  fragen  würde,  er  ihn 
verleugnen  solle.  Der  Dienstbote  thut  dieses;  veranlasst 
aber  dadurch,  dass  jener  entwischt  und  ein  grosses 
Verbrechen  ausübt,  welches  sonst  durch  die  gegen  ihn 
ausgeschickte  Wache  wäre  verhindert  worden.  Auf  wen 
fällt  hier  die  Schuld  nach  ethischen  Grundsätzen?  Aller- 
dings auch  auf  den  letzten,  welcher  hier  eine  Pflicht 
gegen  sich  selbst  durch  eine  Lüge  verletzte;  deren 
Folgen  ihm  nun  durch  sein  eigenes  Gewissen  zugerechnet 
werden. 

Zweiter  Artikel. 
Vom    Geize. 

§.  10. 

Ich  verstehe  hier  unter  diesem  Namen  nicht  den 
habsüchtigen  Geiz  (den  Hang  zur  Erweiterung tt) 
seines  Erwerbs  der  Mittel  zum  Wohlleben  über  die 
Schranken  des  wahren  Bedürfnisses) ;  denn  dieser  kann 
auch  als  blosse  Verletzung  seiner  Pflicht  (der  Wohlthätig- 
keit)  gegen  Andere  betrachtet  werden:  sondern fft) 
den  kargen  Geiz,  welcher,  wenn  er  schimpflich  ist, 
Knickerei  oder  Knauserei  genannt  wird,  und  zwar  nicht 
insofern  er  in  Vernachlässigung  seiner  Liebespflichten 
gegen  Andere  besteht;  sondern  insofern  als  die  Verengung 
seines  eigenen  Genusses  der  Mittel  zum  Wohlleben 
unter  das  Maass  des  wahren  Bedürfnisses  der  Pflicht 
gegen  sich  selbst  widerstreitet. fft t) 


t)  1.  Ausg.:  .,In  wirklichen  Geschäften,  wo  es  aufs 
Mein  und  Dein  ankommt,  wenn  ich  da  eine  Unwahrheit 
sage,  mnss  ich  da  alle  die  Folgen" 

tt)  1.  Ausg.:  ,,Geiz  (der  Erweiterung"  u.  s.  w. 
ttt;  1.  Ausg.:  „auch  nicht" 

tttt)  Statt  der  Worte:  „und  zwar  nicht  —  widerstreitet", 
hat   die    1.  Ausg.  Folgendes:   „aber   doch   bloss   Vernach- 

18* 


276     Tugendl.  Ethische  Elementarl.  I.  B.  I.  Abth.  II.  Hauptst. 

An  der  Rüge  dieses  Lasters  kann  man  ein  Beispiel 
von  der  Unrichtigkeit  aller  Erklärung  der  Tugenden 
sowohl,  als  Laster,  durch  den  blossen  Orad  deutlich 
machen  und  zugleich  die  ünbrauchbarkeit  des  Aristo- 
telischen Grundsatzes  darthun:  dass  die  Tugend  in 
der  Mittelstrasse  zwischen  zwei  Lastern  bestehe. 

Wenn  ich  nämlich  zwischen  Verschwendung  und 
Geiz  die  gute  Wirthschaft  als  das  Mittlere  ansehe, 
und  dieses  das  Mittlere  des  Grades  sein  soll,  so  würde 
ein  Laster  in  das  (con&arie)  entgegengesetzte  Laster 
nicht  anders  übergehen,  als  durch  die  Tugend,  und 
so  würde  diese  nichts  Anderes,  als  ein  vermindertes, 
oder  vielmehr  verschwindendes  Laster  sein,  und  die 
Folge  w\äre  in  dem  gegenwärtigen  Fall :  dass  von  den 
Mitteln  des  Wohllebens  gar  keinen  Gebrauch  zu  machen, 
die  ächte  Tugendpflicht  sei. 

Nicht  das  Maass  der  Ausübung  sittlicher  Maximen, 
sondern  das  objektive  Prinzip  derselben,  muss  als 
verschieden  erkannt  und  vorgetragen  werden,  wenn  ein 
Laster  von  der  Tugend  unterschieden  werden  soll.  — 
Die  Maxime  der  verschwenderischen  Habsucht 
ist:  alle  Mittel  des  W^ohllebens  lediglich  in  der  Ab- 
sicht auf  den  Genuss  anzuschaffen. f)  —  Die  des 
kargen  Geizes  ist  hingegen  der  Erwerb  sowohl,  als 
die  Erhaltung  aller  Mittel  des  Wohllebens,  wobei  man 
sich  bloss  den  Besitz  zum  Zwecke  macht,  und  sich 
des  Genusses  entäussert  tt). 

Also  ist  das  eigenthümliche  Merkmal  des  letzteren 
Lasters  der  Grundsatz  des  Besitzes  der  Mittel  zu  allerlei 
Zwecken,  doch  mit  dem  Vorbelialt,  keines  derselben  für 


lässigung  seiner  Liebespflichten  gegen  Andere  sein  kann; 
sondern  die  Verengung  seines  eigenen  Genusses  der 
Mittel  zum  Wohlleben  unter  das  Maass  des  eigenen  wahren 
Bedürfnisses,  dieser  Geiz  ist  es  eigentlich,  der  hier  gemeint 
ist,  welcher  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  widerstreitet.'' 

t)  1.  Ausg.:  „Die  Maxime  des  habsüchtigen  Geizes 
(als  Verschwenders;  ist:  alle  Mittel  des  Wohllebens  in  der 
Absicht  auf  den  Genuss  anzuschaffen  und  zu  erhalten." 

tt)  Statt  der  Worte:  ,, wobei  man  —  entäussert"  hat  die 
l.Ausg.:  „aber  ohne  Absicht  auf  den  Genuss  (d.  i.  ohne 
dass  dieser,  sondern  nur  der  Besitz  der  Zweck  sei.)" 


II.  Art.    Vom  Geize.     §.  10.  277 

sich  brauchen  zu  wollen  und  sich  so  des  angenehmen 
Lebensgenusses  zu  berauben;  welches  der  Pflicht  gegen 
sich  selbst  in  Ansehung  des  Zwecks  gerade  entgegen- 
gesetzt ist.*)     Verschwendung  und  Kargheit  sind  also 


*}  Der  Satz:  man  soll  keiner  Sache  zu  viel  oder  zu 
wenig  thun,  sagt  soviel,  als  nichts ;  denn  er  ist  tautologisch. 
Was  heisst  zuviel  thun?  Antw.  Mehr,  als  gut  ist.  Was 
heisst  zu  wenig  thun?  Antw.  Weniger  thun,  als  gut  ist. 
Was  heisst:  ich  soll  (etwas  thun  oder  unterlassen}?  Antw. 
Es  ist  nicht  gut  (wider  die  Pflicht)  mehr  oder  auch 
weniger  zu  thun ,  als  gut  ist.  Wenn  das  die  Weisheit  ist, 
die  zu  erforschen  wir  zu  den  Alten  (dem  Aristoteles), 
gleich  als  solchen,  die  der  Quelle  näher  waren,  zurück- 
kehren soflent);  so  haben  wir  schlecht  gewählt,  uns  an  ihr 
Orakel  zu  wenden.  —  Es  giebt  zwischen  Wahrhaftigkeit 
und  Lüge  (als  contradictor'ie  oppositis)  kein  Mittleres;  aber 
wohl  zwischen  Ofi'enherzigkeit  und  Zurückhaltung  (als  con~ 
trarie  oppositis),  da  an  dem,  welcher  seine  Meinung  erklärt, 
alles,  was  er  sagt,  wahr  ist,  er  aber  nicht  die  ganze 
Wahrheit  sagt.  Nun  ist  doch  ganz  natürlich  von  dem 
Tugendlehrer  zu  fordern,  dass  er  mir  dieses  Mittlere  an- 
weise. Das  kann  er  aber  nicht;  denn  beide  Tugendpflichten 
haben  einen  Spielraum  der  Anwendung  latitudinem) ,  und 
was  zu  thun  sei,  kann  nur  von  der  ürtheilskraft,  nach 
Regeln  der  Klugheit  (den  pragmatischen),  nicht  denen  der 
Sittlichkeit  (den  moralischen),  d.  i.  nicht  als  enge  {officium 
strictuni),  sondern  nur  als  weite  Pflicht  {officium  latum)  ent- 
schieden werden.  Daher  der,  welcher  die  Grundsätze  der 
Tugend  befolgt,  zwar  in  der  Ausübung  im  Mehr  oder 
Weniger,  als  die  Klugheit  vorschreibt,  einen  Fehler  {pec- 
catum)  begehen  kann,  aber  nicht  darin,  dass  er  diesen 
Grundsätzen  mit  Strenge  anhänglich  ist,  ein  Laster 
{Vitium)  ausübt,  und  Horazens  Vers:  insani  sapiens  nomen 
ferat,  aequus  iniqin,  ultra,  quam  satis  est,  virtutem  si 
petat  ipsam ,  ist ,  nach  dem  Buchstaben  genommen ,  grund- 
falsch. Sapiens  bedeutet  aber  hier  wohl  nur  einen  ge- 
scheuten Mann  [prudens),  der  sich  nicht  phantastisch  eine 
Tugendvollkommenheit  denkt,  die,  als  Ideal,  zwar  die  An- 
näherung zu  diesem  Zwecke,  aber  nicht  die  Vollendung 
fordert,  als  welche  Forderung  die  menschlichen  Kräfte  über- 

t)  Hier  folgen  in  der  1.  Ausg.  noch  die,  schon 
oben  (Einl.  XIII.)  angeführten  Sprüche:  ,,virtus  consistit 
in  medio,  medium  tenuere  heali,  est  modus  in  rebus,  quos 
ultra  citraque  nequit  consistere  rectum.^^ 


278    Tugendl.  Ethische  Elementarl.  I.  B.  I.  Abth.  11.  Hauptst. 

nicht  durch  den  Grad,  sondern  spezifisch  durch  die  ent- 
gegengesetzten Maximen  von  einander  unterschieden. ii5) 


Casuistische  Fragen. 

Da  hier  nur  von  Pflichten  gegen  sich  selbst  die 
Rede  ist,  und  Habsucht  (Unersättlichkeit  im  Erwerb), 
um  zu  verschwenden,  ebensowohl,  als  Knauserei  (Pein- 
lichkeit im  Verthun),  Selbstsucht  (soUjysisnms)  zum 
Grunde  haben,  und  beide,  die  Verschwendung  sowohl, 
als  die  Kargheit,  bloss  darum  verwerflich  zu  sein  scheinen, 
weil  sie  auf  Armuth  hinauslaufen,  bei  dem  einen  auf 
nicht  erwartete,  bei  dem  anderen  auf  willkürliche  (auf 
den  Vorsatz t),  armselig  leben  zu  wollen),  —  so  ist  die 
Frage:  ob  sie,  die  eine  sowohl,  als  die  andere,  über- 
haupt Laster  und  nicht  vielmehr  beide  blosse  ünklug- 
heit  genannt  werden  sollen,  mithin  nicht  ganz  und  gar 
ausserhalb  den  Grenzen  der  Pflicht  gegen  sich  selbst 
liegen  mögen.  Die  Kargheit  aber  ist  nicht  bloss  miss- 
verstandene Sparsamkeit,  sondern  sklavische  Unter- 
werfung seiner  selbst  unter  die  Glücksgüter,  ihrer  nicht 
Herr  zu  sein,  w^elches  Verletzung  der  Pflicht  gegen  sich 
selbst  ist.  Sie  ist  der  Liberalität  {liheralitas  moi alis) 
der  Denkungsart  überliaupt  (nicht  der  Freigebigkeit 
{liheralitas  sumtuom),  welche  nur  eine  Anwendung  der- 
selben auf  einen  besonderen  Fall  ist),  d.  i.  dem  Prinzip 
der  Unabhängigkeit  von  allem  Anderen,  ausser  von  dem 
Gesetz,  entgegengesetzt,  und  Defraudation,  die  das  Sub- 
jekt an  sich  selbst  begeht.  Aber  was  ist  das  für  ein 
Gesetz,  dessen  innerer  Gesetzgeber  selbst  nicht  weiss, 
w^o  es  anzuwenden  ist?  Soll  ich  meinem  Munde  ab- 
brechen, oder  nur  dem  äusseren  Aufwände?  im  Alter, 
oder  schon  in  der  Jugend?  oder  ist  Sparsamkeit  über- 
haupt eine  Tugend? 


steigt  Ttnd  Unsinn  Phautastereij  in  ihr  Prinzip  hineinbringt. 
Denn  gar  zu  tugendhaft,  d.  i.  seiner  Pflicht  gar  zu 
anhänglich  zu  sein,-  würde  ohngefähr  so  viel  sagen,  als: 
einen  Zirkel  gar  zu  rund,  oder  eine  gerade  Linie  gar  zu 
gerade  machen. 

tj  „auf  den  Vorsatz'-  Zusatz  der  2.  Ausg. 


III.  Art.    Von  der  Kriecherei.  §.  11.  279 

Dritter  Artikel. 
Von    der    Kriecherei. 

§.  11. 

Der  Mensch  im  System  der  Natur  {hämo  ijltaeno- 
menon,  animal  rationale)  ist  ein  Wesen  von  geringer 
Bedeutung  und  hat  mit  den  übrigen  Thieren,  als  Er- 
zeugnissen des  Bodens,  einen  gemeinen  Werth  {pvetium 
vulgai-e).  Selbst  dass  er  vor  diesen  den  Verstand  voraus 
hat  und  sich  selbst  Zwecke  setzen  kann,  das  giebt  ihm 
doch  nur  einen  äusseren  Werth  seiner  Brauchbarkeit 
{pvetium  usus),  nämlich  eines  Menschen  vor  dem  an- 
deren, d.  i.  einen  Preis,  als  einer  Waare,  im  Verkehr 
mit  diesen  Thieren  als  Sachen,  wo  er  doch  noch  einen 
niedrigem  Werth  hat,  als  das  allgemeine  Tauschmittel, 
das  Geld,  dessen  Werth  daher  ausgezeichnet  {pretium 
eminens)  genannt  wird. 

Allein  der  Mensch  als  Person  betrachtet,  d.  i.  als 
Subjekt  einer  moralisch -praktischen  Vernunft,  ist  über 
allen  Preis  erhaben ;  denn  als  ein  solcher  {homo  noume- 
non)  ist  er  nicht  bloss  als  Mittel  zu  Anderer  ihren,  ja 
selbst  seinen  eigenen  Zwecken,  sondern  als  Zweck  an  sich 
selbst  zu  schätzen,  d.  i.  besitzt  eine  Würde  (einen  abso- 
luten Innern  Werth),  wodurch  er  allen  andern  vernünfti- 
gen Weltwesen  Achtung  für  ihn  abnöthigt,  sich  mit 
jedem  Anderen  dieser  Art  messen  und  auf  den  Fuss  der 
Gleichheit  schätzen  kann. 

Die  Menschheit  in  seiner  Person  ist  das  Objekt  der 
A.chtung,  die  er  von  jedem  anderen  Menschen  fordern 
kann;  deren  er  aber  auch  sich  nicht  verlustig  machen 
muss.  Er  kann  und  soll  sich  also,  nach  einem  kleinen 
sowohl,  als  grossen  Maassstabe  schätzen,  nachdem  er 
sich  als  Sinnenwesen  (seiner  thierischen  Natur  nach), 
oder  als  intelligibles  Wesen  (seiner  moralischen  Anlage 
nach)  betrachtet.  Da  er  sich  aber  nicht  bloss  als  Per- 
son überhaupt,  sondern  auch  als  Mensch,  d.  i.  als  eine 
Person,  die  Pflichten  auf  sich  hat,  die  ihm  seine  eigene 
Vernunft  auferlegt,  betrachten  muss,  so  kann  seine  Ge- 
ringfügigkeit als  Thi  er  mensch  dem  Bewusstsein  seiner 


280    Tugendl.  Ethische  Elementaii.  L  B.  I.  Abth.  11.  Htiuptst 

Würde  als  Vernunftmensch  nicht  Abbruch  thun,  und 
er  soll  die  moralische  Selbstschätzung  in  Betracht  der 
letzteren  nicht  verleugnen,  d.  i.  er  soll  sich  um  seinen 
Zweck,  der  an  sich  selbst  Pflicht  ist,  nicht  kriechend,, 
nicht  knechtisch  {animo  servüi^^  gleich  als  sich  um 
Gunst  bewerbend,  bewerben,  nicht  seine  Würde  verleug- 
nen, sondern  immer  das  Bewusstsein  der  Erhabenheit 
seiner  moralischen  Anlage  in  sich  aufrecht  erhalten;  und 
diese  Selbstschätzung  ist  Pflicht  des  Menschen  gegen 
sich  selbst. 

Das  Bewusstsein  und  Gefühl  der  Geringfügigkeit 
seines  moralischen  Werths  in  Vergleich ung  mit  dem 
Gesetz  ist  die  moralische t)  Demut h  {Jmmüitas  mora- 
lis).  Die  Ueberredung  von  einer  Grösse  dieses  seines 
Werths,  aber  nur  aus  Maugel  der  Vergleichuug  mit  dem 
Gesetz,  kann  der  Tugendstolz  {arrogantla  moralis) 
genannt  werden.  —  Die  Entsagung  alles  Anspruchs  auf 
irgend  einen  moralischen  Werth  seiner  selbst,  in  der 
Ueberredung,  sich  eben  dadurch  einen  geborgten  zu  er- 
werben, ist  die  falsche  moralische  Demuth  ijtumüitas 
moralis  sjnirid)  oder  geistliche  Kriecherei. ff) 

Demuth  als  Geringschätzung  seiner  selbst  fft)  iw 
Vergleichung  mit  anderen  Menschen  (ja  über- 
haupt mit  irgend  einem  endlichen  Wesen,  und  wenn  es 
auch  ein  Seraph  wäre)  ist  gar  keine  Pflicht;  vielmehr 
ist  die  Bestrebung,  in  solcher  Demuth  Andern  gleich- 
zukommen, oder  sie  zu  übertreffen,  mit  der  Ueberredung, 
sich  dadurch  auch  einen  inneren  grösseren  Werth  zu 
verschaffen,  Hochmut h  (amhitio)^  welcher  der  Pflicht 
gegen  Andere  gerade  zuwider  ist.  Aber  die  bloss  als 
Mittel,  zu  Erwerbung  der  Gunst  eines  Anderen,  (wer  es 
auch  sei,)  ausgosonnene  Herabsetzung  seines  eigenen 
moralischen  Werths  (Heuchelei  und  Schmeichelei)-)    ist 


t)  „moralische"  fehlt  in  der  1,  Ausg. 
+t)  1.  Ausg.:    „ist   die  sittlich  falsche  Kriecherei  (Jm- 
müitas  spuria.^' 

ttt)  ,,als  Geringschätzung  seiner  selbst"  Zusatz  der  2.  Ausg. 

*)  Heucheln  (eigentlich  häuchlen)  scheint  vom  äch- 
zenden, die  Sprache  unterbrechenden  Hauch  (Stossseufzer) 
abgeleitet  zu  sein;  dagegen  Schmeichlen  vom  Schmie- 


111.  Art.   Von  der  Kriecherei.   §.  12.  281 

falsche  (erlogene)  Demuth,  und  als  Abwürdigung  seiner 
Persönlichkeit  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  entgegen. 

Aus  unserer  aufrichtigen  und  genauen  Vergleichung 
mit  dem  moralischen  Gesetz  (dessen  Heiligkeit  und 
Strenge)  muss  unvermeidlich  wahre  Demuth  folgen; 
aber  daraus,  dass  wir  einer  solchen  inneren  Gesetz- 
gebung fähig  sind,  dass  der  (physische)  Mensch  den 
(moralischen)  Menschen  in  seiner  eigenen  Person  zu  ver- 
ehren sich  gedrungen  fühlt,  zugleich  Erhebung  und 
die  höchste  Selbstschätzung,  als  Gefühl  seines  inneren 
Werths  (valor),  nach  welchem  er  für  keinen  Preis 
(pretiu?n)  feil  ist,  und  eine  unverlierbare  Würde  {digni- 
tas  interna)  besitzt,  die  ihm  Achtung  {reverentia)  gegen 
sich  selbst  einflösst. 

§.  12. 

Mehr  oder  weniger  kann  man  diese  Pflicht,  in  Be- 
ziehung auf  die  Würde  der  Menschheit  in  uns,  mithin 
auch  gegen  uns  selbst,  durch  folgende  Vorschriften  t) 
kennbar  machen. 

Werdet  nicht  der  Menschen  Knechte.  —  Lasst  euer 
Recht  nicht  ungeahndet  von  Anderen  mit  Füssen  treten. 
—  Macht  keine  Schulden,  für  die  ihr  nicht  volle  Sicher- 
heit leistet.  —  Nehmt  nicht  Wohlthaten  an,  die  ihr 
entbehren  könnt,  und  seid  nicht  Schmarozer,  oder 
Schmeichler,  oder  gar  (was  freilich  nur  im  Grad  von 
dem  Vorigen  unterschieden  ist)  Bettler.  Daher  seid 
wirthschaftlich ,  damit  ihr  nicht  bettelarm  werdet.  — 
Das  Klagen  und  Winseln,  selbst  das  blosse  Schreien 
bei  einem  körperlichen  Schmerz  ist  euer  schon  unwerth, 
am  meisten,  wenn  ihr  euch  bewusst  seid,  ihn  selbst 
verschuldet  zu  haben.  Daher  die  Veredlung  (Abwen- 
dung der  Schmach)  des  Todes  eines  Delinquenten  durch 
die  fctandhaftigkeit,  mit  der  er  stirbt.  —  Das  Hinknieen 
oder  Hinwerfen  zur  Erde,  selbst  um  die  Verehrung 
himmlischer  Gegenstände  sich  dadurch  zu  versinnlichen, 


gen,  welches,  als  Habitus,  Schmiegein  und  endlich  von 
den  Hochdeutschen  Schmeicheln  genannt  worden  ist, 
abzustammen. 

t)  1.  Ausg.:  „in  folgenden  Beispielen" 


282    Tugendl.  Ethische  Elementarl.  I.  B.  I.  Abth.  11.  Hauptst. 

ist  der  Menschenwürde  zuwider,  so  wie  die  Anrufung 
derselben  in  gegenwärtigen  Bildern;  denn  ihr  demüthigt 
euch  alsdann  nicht  unter  einem  Ideal,  das  euch  eure 
eigene  Vernunft  vorstellt,  sondern  unter  einem  Idol, 
was  euer  eigenes  Gemächsel  ist.^^^) 


Casuistische  Fragen. 

Ist  nicht  in  dem  Menschen  das  Gefühl  der  Erhaben- 
heit seiner  Bestimmung,  d.  i.  die  Gemlithserhebung 
{elatio  animi)  als  Schätzung  seiner  selbst,  mit  dem 
Eigendünkel  ( arrogantia ) ,  welcher  der  wahren 
Demuth  {humilitas  moralis)  gerade  entgegengesetzt 
ist,  zu  nahe  verwandt,  als  dass  zu  jener  aufzumuntern 
CS  rathsam  wäre;  selbst  in  Vergleichung  mit  anderen 
Menschen,  nicht  bloss  mit  dem  Gesetz?  oder  würde 
diese  Art  von  Selbstverleugnung  nicht  vielmehr  den 
Ausspruch  Anderer  bis  zur  Geringschätzung  unserer 
Person  steigern,  und  so  der  Pflicht  (der  Achtung)  gegen 
uns  selbst  zuwider  sein?  Das  Bücken  und  Schmiegen 
vor  einem  Menschen  scheint  in  jedem  Fall  eines  Menschen 
unwürdig  zu  sein. 

Die  vorzüglichste  Achtungsbezeigung  in  Worten  und 
Manieren,  selbst  gegen  einen  nicht  Gebietenden  in  der 
bürgerlichen  Verfassung,  —  die  Reverenzen,  Verbeugungen 
(Complimente),  höfische,  —  den  Unterschied  der  Stände 
mit  sorgfältiger  Pünktlichkeit  bezeichnende  Phrasen,  — 
vrelche  von  der  Höflichkeit  (die  auch  sich  gleich  Achtenden 
nothwendig  ist)  ganz  unterschieden  sind,  —  das  Du,  Er, 
Ihr  und  Sie,  oder  Ew.  Wohledlen,  Hochedlen,  Hochedel- 
geboren,  Wohlgeboren  {ohe,  jam  satis  est!)  in  der  An- 
rede, —  als  in  welcher  Pedanterei  die  Deutschen  unter 
allen  Völkern  der  Erde  (die  indischen  Kasten  vielleicht 
ausgenommen)  es  am  weitesten  gebracht  haben.,  sind 
das  nicht  Beweise  eines  ausgebreiteten  Hanges  zur 
Kriecherei  unter  Menschen?  (Hae  migae  in  seria 
ducunt).  Wer  sich  aber  zum  Wurm  macht,  kann  nach- 
her nicht  klagen,  wenn  er  mit  Füssen  getreten  wird. 


Pflicht  gegen  sich  als  Richter  seiner  selbst.   §.  13.     283 

•  Drittes  Hauptstück. 
Erster  Abschnitt. 

Von  der  Pflicht  des  Meusclien  gegen  sich  selbst, 
als  den  gebornenf)  Richter  über  sich  selbst. 

§.  13. 

Ein  jeder  Pflichtbegriff  enthält  objektive  Kötliigung 
durchs  Gesetz  (als  moralischen  unsere  Freiheit  ein- 
schränkenden Imperativ),  und  gehört  dem  praktischen 
Verstände  zu,  der  die  Regel  giebt;  die  innere  Zurech- 
nung aber  einer  That,  als  eines  unter  dem  Gesetz 
stehenden  Falles  {in  meritum  mit  demeritum)  gehört 
zur  ürtheils kraft  (Judicium),  welche,  als  das  sub- 
jektive Prinzip  der  Zurechnung  der  Handlung,  ob  sie 
als  That  (unter  einem  Gesetz  stehende  Handlung)  ge- 
schehen sei  oder  nicht,  rechtskräftig  urtheiit;  worauf 
denn  der  Schluss  der  Vernunft  (die  Sentenz),  d.  i.  die 
Verknüpfung  der  rechtlichen  Wirkung  mit  der  Handlung 
(die  Verurtheilung  oder  Lossprechung)  folgt:  welches 
alles  vor  Gericht  (corcun  judicio),  als  einer  dem  Gesetz 
Effekt  verschaffenden  moralischen  Person,  Gerichts- 
hof (fo9mm)  genannt,  geschieht.  —  Das  Bewusstsein 
eines  inneren  Gerichtshofes  im  Menschen  („vor 
welchem  sich  seine  Gedanken  einander  verklagen  oder 
entschuldigen")  ist  das  Gewissen. 

Jeder  Mensch  hat  Gewissen,  und  findet  sich  durch 
einen  inneren  Richter  beobachtet,  bedroht  und  überhaupt 
im  Respekt  (mit  Furcht  verbundener  Achtung)  gehalten, 
und  diese  über  die  Gesetze  in  ihm  wachende  Gewalt 
ist  nicht  etwas,  was  er  sich  selbst  (willkürlich)  macht, 
sondern  es  ist  seinem  Wesen  einverleibt.  Es  folgt  ihm 
wie  sein  Schatten,  wenn  er  zu  entfliehen  gedenkt.  Er 
kann  sich  zwar  durch  Lüste  und  Zerstreuungen  be- 
täuben, oder  in  Schlaf  bringen,  aber  nicht  vermeiden 
dann  und  wann  zu    sich    selbst    zu    kommen,    oder    zu 


t)  1.  Ausg.:  „angebornen" 


284    Tugendl.  Eth.  Elementar!.  I.  B.  III.  Hauptst.  I.  Abschn.. 

erwachen^  wo  er  alsbald  die  furchtbare  Stimme  desselben 
vernimmt.  Er  kann  es,  in  seiner  äussersten  Verworfen- 
heit, allenfalls  dahin  bringen,  sich  daran  gar  nicht  mehr 
zu  kehren,  aber  sie  zu  hören,  kann  er  doch  nicht 
vermeiden. 

Diese  ursprüngliche  intellektuelle  und  (weil  sie  Pflicht- 
vorstellung ist)  moralische  Anlage,  Gewissen  genannt, 
hat  nun  das  Besondere  an  sich,  dass,  obzwar  dieses 
sein  Geschäft  ein  Geschäft  des  Menschen  mit  sich  selbst 
ist,  dieser  sich  doch  durch  seine  Vernunft  genöthigt 
sieht,  es  als  auf  das  Geheiss  einer  anderen  Person 
zu  treiben.  Denn  der  Handel  ist  hier  die  Führung  einer 
Rechtssache  {causa)  vor  Gericht.  Dass  aber  der 
durch  sein  Gewissen  Angeklagte  mit  dem  Richter  als 
eine  und  dieselbe  Person  vorgestellt  werde,  ist  eine 
ungereimte  Vorstellungsart  von  einem  Gerichtshofe; 
denn  da  würde  ja  der  Ankläger  jederzeit  verlieren.  — 
Also  wird  sich  das  Gewissen  des  Menschen  bei  allen 
Pflichten  einen  Anderen,  als  sich  selbst f),  zum  Richter 
seiner  Handlungen  denken  müssen,  wenn  es  nicht  mit 
sich  selbst  in  Widerspruch  stehen  soll.  Diese  Andere 
mag  nun  eine  wirkliche,  oder  bloss  idealische  Person 
sein,  welche  die  Vernunft  sich  selbst  schafft.*) 


t)  1.  Ausg.:    ,, einen  Anderen  >ls  den  Menschen  über- 
haupt), d.  i.  als  sich  selbst" 

*)  Die  zwiefache  Persönlichkeit,  in  welcher  der  Mensch, 
der  sich  im  Gewissen  anklagt  und  richtet,  sich  selbst  denken 
muss;  dieses  doppelte  Selbst,  einerseits  vor  den  Schranken 
eines  Gerichtshofes,  der  doch  ihm  selbst  anvertraut  ist, 
zitternd  stehen  zu  müssen,  andererseits  aber  das  Richteramt 
aus  angeborner  Autorität  selbst  in  Händen  zu  haben,  bedarf 
einer  ^Erläuterung,  damit  nicht  die  Vernunft  mit  sich  selbst 
gar  in  Widerspruch  gerathe.  —  Ich,  der  Kläger  und  doch 
auch  Angeklagter,  bin  ebenderselbe  Mensch  {numero  idem), 
aber,  als  Subjekt  der  moralischen,  von  dem  Begriffe  der 
Freiheit  ausgehenden  Gesetzgebung,  wo  der  Mensch  einem 
Gesetz  unteithaa  ist,  das  er  sich  selbst  giebt  [homo  noumenon), 
ist  er  als  ein  Anderer,  als  der  mit  Vernunft  begabte  Sinneu- 
mensch  {specie  diversus),  aber  nur  in  praktischer  Rücksicht, 
zu  betrachten,  —  denn  über  das  Causal-Verhältniss  des  In- 
telhgiblen  zum  Sensiblen  giebt  es  keine  Theorie,  —  und  diese 
spezifische  Verschiedenheit  ist  die  der  Fakultäten  des  Men- 
schen ^der  oberen  und  unteren;,  die  ihn  charakterisiren.    Der 


Pflicht  gegen  sich  als  Richter  seiner  selbst,   §.  13.     285 

Eine  solche  idealische  Person  (der  autorisirte  Ge- 
^issensrichter)  muss  ein  Herzenskündiger  sein;  denn 
der  Gerichtshof  ist  im  Inneren  des  Menschen  auf- 
geschlagen; —  zugleich  muss  er  aber  auch  all  ver- 
pflichtend, d.  i.  eine  solche  Person  sein,  oder  als 
eine  solche  gedacht  werden,  in  Verhältniss  auf  welche 
alle  Pflichten  überhaupt  auch  als  ihre  Gebote  anzusehen 
sind;  weil  das  Gewissen  über  alle  freie  Handlungen 
der  innere  Richter  ist. Da  nun  ein  solches  mo- 
ralisches Wesen  zugleich  alle  Gewalt  (im  Himmel  und 
auf  Erden)  haben  muss,  weil  es  sonst  nicht  (was  doch 
zum  Richteramt  noth wendig  gehört)  seinen  Gesetzen 
den  ihnen  angemessenen  Effekt  verschaffen  könnte,  ein 
solches  über  alles  machthabende  moralische  Wesen  aber 
Gott  heisst;  so  wird  das  Gewissen  als  subjektives  Prin- 
zip einer  vor  Gott  seiner  Thaten  wegen  zu  leistenden 
Verantwortung  gedacht  werden  müssen;  ja  es  wird  der 
letzte  Begriff  (wenngleich  nur  auf  dunkle  Art)  in  jenem 
moralischen  Selbstbewusstsein  jederzeit  enthalten  sein. 

Dieses  will  nun  nicht  so  viel  sagen,  als:  der  Mensch, 
durch  die  Idee,  zu  welcher  ihn  sein  Gewissen  unver- 
meidlich leitet,  sei  berechtigt,  noch  weniger  aber:  er 
sei  durch  dasselbe  verbunden,  ein  solches  höchstes 
Wesen  ausser  sich  als  wirklich  anzunehmen;  denn 
sie  wird  ihm  nicht  objektiv,  durch  theoretische,  son- 
dern bloss  subjektiv,  durch  praktische  sich  selbst 
verpflichtende  Vernunft,  ilir  angemessen  zu  handeln, 
gegeben;  und  der  Mensch  erhält  vermittelst  dieser,  nur 
nach  der  Analogie  mit  einem  Gesetzgeber  aller  ver- 
nünftigen Weltweseu,  eine  blosse  Leitung,  die  Gewissen- 
haftigkeit (welche  auch  religio  genannt  wird),  als  Ver- 
antwortlichkeit vor  einem,  von  uns  selbst  unterschiedenen, 
aber    uns    doch    innigst    gegenwärtigen   heiligen  Wesen 


erstere  ist  der  Ankläger,  dem  entgegen  ein  rechthcher  Bei- 
stand des  Verklagten  (Sachwalter  desselben)  bewilligt  ist. 
Nach  Schliessung  der  Akten  thut  der  innere  Richter,  als 
niachthabende  Person,  den  Ausspruch  über  Glückseligkeit 
oder  Elend,  als  moralische  Folgen  der  That;  in  welcher 
Qualität  wir  dieser  ihre  Macht  (als  Weltherrschers)  durch 
unsere  Vernunft  nicht  weiter  verfolgen,  sondern  nur  das 
unbedingte  jubeo  oder  veto  verehren  können. 


286     Tugendl.  Eth.  Elementarl.  I.  B.  III.  Hauptst.  I.  Abschn. 

(der  moralisch  -  gesetzgebenden  Vernunft)  sich  vorzu- 
stellen, und  dessen  Willen  sich  als  Regel  der  Gerechtig- 
keit t)  zu  unterwerfen.  Der  Begriff  von  der  Religion 
überhaupt  ist  hier  dem  Menschen  bloss  „ein  Prinzip  der 
Beurtheilung  aller  seiner  Pflichten  als  göttlicher  Gebote." 

1)  In  einer  Gewissenssache  {causa  conscientiarn  tan- 
gens)  denkt  sich  der  Mensch  ein  warnendes  Gewissen 
{praemonens)  vor  der  Entschliessung ;  wobei  die  äusserste 
Bedenklichkeit  {scrupulositas),  w^nn  es  einen  Pflicht- 
begriflf  (etwas  an  sich  Moralisches)  betrifft,  in  Fällen, 
darüber  das  Gewissen  der  alleinige  Richter  ist  {casibus 
conscientiae),  nicht  für  Kleinigkeitskrämerei  (Mikrologie), 
und  eine  wahre  Uebertretung  nicht  für  Baggatelle  {pec- 
catülum)  beurtheilt,  und  (nach  dem  Grundsatz:  minima 
non  curat  p)raetor)  einem  willkürlich  sprechenden  Ge- 
wissensrath  überlassen  werden  kann.  Daher  ein  weites 
Gewissen  Jemandem  zuzuschreiben  so  viel  heisst,  als: 
ihn  gewissenlos  nennen.  — 

2)  Wenn  die  That  beschlossen  ist,  tritt  im  Gewissen 
zuerst  der  Ankläger,  aber,  zugleich  mit  ihm,  auch 
ein  Anwalt  (Advokat)  auf;  wobei  der  Streit  nicht  güt- 
lich {p)er  amicahilem  compositionem)  abgemacht,  sondern 
nach  der  Strenge  des  Rechts  entschieden  werden  muss; 
und  hierauf  folgt 

3)  der  rechtskräftige  Spruch  des  Gewissens  über  den 
Menschen,  ihn  loszusprechen  oder  zu  verdammen, 
der  den  Beschluss  macht;  wobei  zu  merken  ist,  dass 
der  erste  Spruch  nieft)  eine  Belohnung  (praemium), 
als  Gewinn  von  etwas,  was  vorher  nicht  sein  w^ar,  be- 
schliessen  kann,  sondern  nur  ein  Fr  oh  sein,  der  Ge- 
fahr, strafbar  befunden  zu  werden,  entgangen  zu  sein, 
enthält,  und  daher  die  Seligkeit,  in  dem  trostreichen 
Zuspruch  seines  Gewissens,  nicht  positiv  (als  Freude), 
sondern  nur  negativ  (Beruhigung,  nach  vorhergegan- 
gener Bangigkeit)  ist;  eine  Seligkeit,  die  ttt)  der  Tugend, 
als  einem  Kampf  gegen  die  Einflüsse  des  bösen  Prinzips 
im  Menschen,  allein  beigelegt  werden  kann.H'') 


t)  1.  Ausg.:  „Willen  den  Regeln  der  Gerechtigkeit" 
tt;  1.  Ausg.:  „der  erstere  nie'' 
ttt)  1.  Ausg.:  „ist;  was  der  Tugend" 


Von  d.  ersten  Gebot  aller  Pflichten  geg.  sich  selbst.  §.14.     287 


Zweiter  Abschnitt. 

Von  dem  ersten  Gebot  aller  Pflichten  gegen  sicli 
selbst. 

§.  U. 

Dieses  ist:  erkenne  (erforsche,  ergründe)  dich 
selbst,  nicht  nach  deiner  physischen  Vollkommenheit 
(der  Tauglichkeit  oder  Untauglichkeit  zu  allerlei  dir  be- 
liebigen oder  auch  gebotenen  Zwecken),  sondern  nach 
der  moralischen,  in  Beziehung  auf  deine  Pflicht;  — 
prüfe  dein  Herz,  —  ob  es  gut  oder  böse  sei,  ob  die 
Quelle  deiner  Handlungen  lauter  oder  unlauter,  und 
was  entweder  als  ursprünglich  zur  Substanz  des 
Menschen  gehörend,  oder  als  abgeleitet  (erworben  oder 
zugezogen)  ihm  selbst  zugerechnet  werden  könne  und 
zum  moralischen  Zustande  gehören  möge. 

Diese  Selbstprüfung,  dief)  in  die  schwerer  zu  er- 
gründenden Tiefen  oder  den  Abgrund  des  Herzens  zu 
dringen  verlangt,  und  die  dadurch  zu  erhaltende  Selbst- 
erkenntniss  tt)  ist  aller  menschlichen  Weisheit  Anfang. 
Denn  die  letzte,  welche  in  der  Zusammenstimmung  des 
Willens  eines  Wesens  zum  Endzweck  besteht,  bedarf 
beim  Menschen  zu  allererst  der  Wegräumung  der  inneren 
Hindernisse  (eines  bösen  in  ihm  genistelten  Willens), 
und  dann  der  Bestrebung,  die  nie  verlierbare  ursprüng- 
liche Anlage  eines  guten  Willens  in  sich  zu  entwickeln. 
Nur  die  Höllenfahrt  der  Selbsterkenntniss  bahnt  den 
Weg  zur  Vergötterung.!!^) 

§■   15. 

Diese  ttt)  moralische  Selbsterkenntniss  wird  erstlich 
die  schwärmerische  Verachtung  seiner  selbst,  als 
eines  Menschen,   oder  des   ganzen  Menschengeschlechts 


t)  1.  Ausg.:  „Das  moralische  Selbsterkenntniss,  das'' 
tt)  „und  die   dadurch  zu  erhaltende  Selbsterkenntniss" 
Zusatz  der  2.  Ausg. 
ttt)  1.  Ausg. :  „Dieses" 


288     Tugendl.  Eth.  Elementarl.  I.  B.  III.  Hauptst.  II.  Abschn. 

überhaupt, t)  verbannen;  denn  diese  widerspricht  sich 
selbst.  —  Es  kann  ja  nur  durch  die  herrliche  in  uns 
befindliche  Anlage  zum  Guten,  welche  den  Menschen 
achtungswürdig  macht,  geschehen,  dass  er  den  Menschen, 
der  dieser  zuwider  handelt  und  in  einem  solchen  Falle 
auch  sich  selbst  der  Verachtung  würdig  findet  ;tt)  einer 
Verachtung,  die  denn  immer  nur  diesen  oder  jenen 
Menschen,  nicht  die  Menschheit  überhaupt  trefibn  kann.  — 
Dann  aber  widersteht  sie  auch  der  eigenliebigen 
Selbstschätzung,  blosse  Wünsche,  wenn  sie  mit  noch  so 
grosser  Sehnsucht  geschähen,  da  sie  an  sich  doch  that- 
leer  sind  und  bleiben,  für  Beweise  eines  guten  Herzens 
zu  halten.  Gebet  ist  auch  nur  ein  innerlich  vor  einem 
Herzenskündiger  deklarirter  Wunsch.  Unparteilichkeit, 
in  Beurtheilung  unserer  Selbst  in  Vergleichung  mit  dem 
Gesetz  und  Aufrichtigkeit  im  Selbstgeständnisse  seines 
inneren  moralischen  Werths  oder  Unwerths  sind  Pflichten 
gegen  sich  selbst,  die  aus  jenem  ersten  Gebot  der 
Selbsterkenntniss  unmittelbar  folgen. 


Episodischer  Abschnitt. 

Vonder  Amphibolie  der  moralischen  Reflex  ion  s- 

Begriffe:  das,  was  die  Pflicht  des  Menschen  gegen 

sich  oder   andere  Menschen  ist,    für  Pflicht  gegen 

andere  Wesen  zu  halten,  ttt) 

§.  16. 

Nach  der  blossen  Vernunft  zu  urtheilen,  hat  der 
Mensch  sonst  keine  Pflicht,  als  bloss  gegen  den  Men- 
schen   (sich    selbst    oder   einen    anderen);    denn    seine 


t)  1.  Ausg.:  „als  Mensch  (seiner  ganzen  Gattung)  über- 
haupt" 

tt)  1.  Ausg.;  „zuwider  handelt  (sich  selbst,  aber  nicht 
die  Menschheit  in  sich),  verachtungswürdig  findet,"  Die 
folgenden  Worte:  „einer  Verachtung  —  trefl'en  kann''  fehlen 
in  der  1.  Ausg. 

ttt)  1.  Ausg.:  „das,  was  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich 
selbst  ist,  für  Pflicht  gegen  Andere  zu  halten." 


Von  d.  Amphibolie  d.  moral.  Reflexionsbegriflfe.  §.  17.     289 

Pflicht  gegen  irgend  ein  Subjekt  ist  die  moralische 
Nöthigung  durch  dieses  seinen  Willen.  Das  nöthigende 
(verpflichtende)  Subjekt  muss  also  erstlich  eine  Person 
sein,  zweitens  muss  diese  Person  als  Gegenstand  der 
Erfahrung  gegeben  sein;  weil  der  Mensch  auf  den  Zweck 
ihres  Willens  hinwirken  soll,  welches  nur  in  dem  Ver- 
hältnisse zweier  existirender  Wesen  zu  einander  ge- 
schehen kann;  denn  ein  blosses  Gedankending  kann 
nicht  Ursache  von  irgend  einem  Erfolg  nach  Zwecken 
werden.  Nun  kennen  wir  aber,  mit  aller  unserer  Er- 
fahrung, kein  anderes  Wesen,  was  der  Verpflichtung 
(der  activen  oder  passiven)  fähig  wäre,  als  bloss  den 
Menschen.  Also  kann  der  Mensch  sonst  keine  Pflicht 
^egen  irgend  ein  Wesen  haben,  als  bloss  gegen  den 
Menschen,  und,  stellt  er  sich  gleichwohl  eine  solche  zu 
haben  vor,  so  geschieht  dieses  durch  eine  Amphibolie 
<ler  Reflexionsbegriffe  und  seine  vermeinte  Pflicht 
gegen  andere  Wesen  ist  bloss  Pflicht  gegen  sich  selbst; 
zu  welchem  Missverstande  er  dadurch  verleitet  wird, 
dass  er  seine  Pflicht  in  Ansehung  anderer  Wesen  mit 
einer  Pflicht  gegen  diese  Wesen  verwechselt. 

Diese  vermeinte  Pflicht  kann  nun  auf  unpersön- 
liche, oder  zwar  persönliche,  aber  schlechterdings  un- 
sichtbare (den  äusseren  Sinnen  nicht  darzustellende) 
Gegenstände  bezogen  werden.  —  Die  ersten  (auss er- 
menschlichen) können  der  blosse  Naturstoff",  oder 
der  zur  Fortpflanzung  organisirte,  aber  empfindungslose, 
oder  der  mit  Empfindung  und  Willkür  begabte  Theil 
der  Natur  (Mineralien,  Pflanzen,  Thiere)  sein ;  die  zweiten 
(übermenschlichen)  können  als  geistige  Wesen 
(Engel,  Gott)  gedacht  werden.  —  Ob  zwischen  Wesen 
beider  Art  und  den  Menschen  ein  Pflichtverhältniss, 
und  welches  dazwischen  stattfindet,    wird  nun  gefragt. 

§.   17. 

In  Ansehung  des  Schönen,  obgleich  Leblosen  in 
der  Natur  ist  ein  Hang  zum  blossen  Zerstören  {spiritus 
desttnictionis)  der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst 
zuwider;  weil  es  dasjenige  Gefühl  im  Menschen  schwächt 
oder  vertilgt,  was  zwar  nicht  für  sich  allein  schon  mo- 
ralisch ist,  aber  doch  eine  der  Moralität  günstige  Stirn- 
Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  19 


290    Tugendl.  Eth.  Elementar!.  I.  B.  III.  Hptst.  Ep.  Abschn. 

mung  der  Sinnlichkeit  sehr  befördert,  wenigstens  dazu 
vorbereitet,  nämlich  die  Lust,  etwas  auch  ohne  Absicht 
auf  Nutzen  zu  lieben  und  z.  B.  an  den  schönen  Krystalü- 
sationen,  an  der  unbeschreiblichen  Schönheit  des  Ge- 
wächsreichs ein  uninteressirtes  Wohlgefallen  zu  finden. f) 
In  Ansehung  des  lebenden,  obgleich  vernunftlosen 
Theils  der  Geschöpfe  ist  die  gewaltsame  und  zugleich 
grausame  Behandlung  der  Thiere  der  Pflicht  des  Men- 
schen gegen  sich  selbst  weit  inniglicher  entgegengesetzt, 
weil  dadurch  das  Mitgefühl  an  ihrem  Leiden  im  Menschen 
abgestumpft,  und  folglich  eine  der  Moralität,  im  Ver- 
hältnisse zu  anderen  Menschen,  sehr  diensame  natür- 
liche Anlage  geschwächt  und  nach  und  nach  ausgetilgt 
wird;  obgleich  ihre  behende  (ohne  Qual  verrichtete) 
Tödtung,  oder  auch  ihre,  nur  nicht  bis  über  Vermögen 
angestrengte  Arbeit  (dergleichen  auch  wohl  Menschen 
sich  gefallen  lassen  müssen)  unter  die  Befugnisse  des 
Menschen  gehören;  da  hingegen  die  martervollen  phy- 
sischen Versuche  zum  blossen  Behuf  der  Spekulation, 
wenn  auch  ohne  sie  der  Zweck  erreicht  werden  könnte, 
zu  verab-cheuen  sind.  —  Selbst  Dankbarkeit  für  lang 
geleistete  Dienste  eines  alten  Pferdes  oder  Hundes  (gleich 
als  ob  sie  Hausgenossen  wären)  gehört  indirekt  zur 
Pflicht  des  Menschen,  nämlich  in  Ansehung  dieser 
Thiere,  direkt  aber  betrachtet  ist  sie  immer  nur  Pflicht 
des  Menschen  gegen  sich  selbst. 

§•  18. 

In  Ansehung  eines  Wesens,  was  ff)  ganz  über 
unsere  Erfahrungsgrenze  hinaus  liegt,  aber  doch  seiner 
Möglichkeit  nach  in  unseren  Ideen  angetroffen  wird, 
nämlich  der  Gottheit, fff)  haben  wir  ebensowohl  auch 
eine  Pflicht,  welche  Religionspflicht  genannt  wird, 
die    nämlich    „der   Erkenntniss    aller   unserer    Pflichten 


t)  1.  Ausg.:  „aber  doch  diejenige  Stimmung  der  Sinn- 
lichkeit, welche  die  Moralität  sehr  befördert,  wenigstens 
dazu  vorbereitet,  nämlich  etwas  auch  ...  zu  lieben,  z.  B. 
die  schönen  Krystallisationen ,  das  unbeschreiblich  Schöne 
des  Gewächsreichs" 

tt)  1.  Ausg.:  „dessen,  was" 

ttt)  1,  Ausg.:  „z.  B.  der  Idee  von  Gott« 


Von  d.  Amphibolie  d.  moral.  Reflexionsbegriffe.  §.  18.     291 

als  {instar)  göttlicher  Gebote."  Aber  dieses  ist  nicht 
das  Bewusstsein  einer  Pflicht  gegen  Gott.  Denn  da 
diese  Idee  ganz  aus  unserer  eigenen  Vernunft  hervor- 
geht und  von  uns,  es  sei  in  theoretischer  Absicht,  um 
sich  die  Zweckmässigkeit  im  Weltganzen  zu  erklären, 
oder  auch  um  zur  Triebfeder  in  unserem  Verhalten  zu 
dienen,  von  uns  selbst  gemacht  wird,  so  haben  wir 
hiebei  nicht  ein  gegebenes  Wesen  vor  uns,  gegen 
welches  uns  Verpflichtung  obläge;  denn  da  müsste 
dessen  Wirklichkeit  allererst  durch  Erfahrung  bewiesen 
(oder  geoffenbart)  sein;  sondern  es  ist  Pflicht  des  Men- 
schen gegen  sich  selbst,  diese  unumgänglich  der  Ver- 
nunft sich  darbietende  Idee  auf  das  moralische  Gesetz 
in  uns,  wo  sie  von  der  grössten  sittlichen  Fruchtbarkeit 
ist,  anzuwenden.  In  diesem  (praktischen)  Sinn  kann 
es  also  so  lauten:  Religion  zu  haben  ist  Pflicht  des 
Menschen  gegen  sich  selbst,  ^i  9) 


19^ 


Der  PflicMen  gegen  sich  selbst 
zweite  Abtheilung. 

Yon  den  unvoUkomraenen  Pflichten 

des  Menschen  gegen  sich  seihst  (in  Ansehung 

seines  Zwecks). 

Erster  Abschnitt. 

Von  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  in  Entwickelung 

und  Vermehrung    seiner  Natur  Vollkommenheit, 

d.  i.  in  pragmatischer  Absicht. 

§.  19. 

Der  Anbau  {cultura)  seiner  Naturkräfte  (Geistes-^ 
Seelen-  und  Leibeskräfte)  als  Mittel  zu  allerlei  möglichen 
Zwecken  ist  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst.  — 
Der  Mensch  ist  es  sich  selbst  (als  einem  Vernunftwesen) 
schuldig,  die  Naturanlagen  und  Vermögen,  von  denen 
seine  Vernunft  dereinst  Gebrauch  machen  kann,  nicht 
unbenutzt  und  gleichsam  rosten  zu  lassen,  sondern,  ge- 
setzt dass  er  auch  mit  dem  angebornen  Maass  seines 
Vermögens  für  die  natürlichen  Bedürfnisse  zufrieden 
sein  könne,  so  muss  ihm  doch  seine  Vernunft  dieses 
Zufriedensein  mit  dem  geringen  Maass  seiner  Ver- 
mögen erst  durch  Grundsätze  anweisen,  weil  er,  als  ein 
Wesen,    das  Zwecke  zu  haben,    oder  Gegenstände  sich 


I 


Pflicht,  sich  pragmatisch  zu  vervollkommnen.   §.  29.     293 

zum  Zweck  zu  machen  fähig  istt),  den  Gebrauch  seiner 
Kräfte  nicht  bloss  dem  Instinkt  der  Natur,  sondern  der 
Freiheit,  mit  der  er  dieses  Maass  bestimmt,  zu  ver- 
danken haben  muss.  Es  ist  also  nicht  Rücksicht  auf 
den  Vortheil,  den  die  Kultur  seines  Vermögens  (zu 
allerlei  Zwecken)  verschaffen  kann;  denn  dieser  würde 
vielleicht  (nach  Rousseau'schen  Grundsätzen)  für  die 
Rohigkeit  des  Naturbedürfnisses  vortheilhaft  ausfallen; 
sondern  es  ist  Gebot  der  moralisch-praktischen  Vernunft 
und  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst,  seine 
Vermögen  (unter  denselben  eins  mehr,  als  das  andere, 
nach  Verschiedenheit  seiner  Zwecke)  anzubauen,  und  in 
pragmatischer  Rücksicht  ein  dem  Zweck  seines  Daseins 
angemessener  Mensch  zu  sein. 

Geisteskräfte  sind  diejenigen,  deren  Ausübung 
nur  durch  die  Vernunft  möglich  ist.  Sie  sind  sofern 
schöpferisch,  als  ihr  Gebrauch  nicht  aus  Erfahrung  ge- 
schöpft, sondern  a  'pricn^i  aus  Prinzipien  abgeleitet  wird. 
Dergleichen  sind  Mathematik,  Logik  und  Metaphysik 
der  Natur,  welche  zwei  letzteren  auch  zur  Philosophie, 
nämlich  der  theoretischen  gezählt  werden,  die  zwar  als- 
dann nicht,  wie  der  Buchstabe  lautet,  Weisheitslehre, 
sondern  nur  Wissenschaft  bedeutet ,  aber  doch  der 
ersteren  zu  ihrem  Zwecke  beförderlich  sein  kann. 

Seelenkräfte  sind  diejenigen,  welche  dem  Ver- 
stände und  der  Regel,  die  er  zu  Befriedigung  beliebiger 
Absichten  braucht,  zu  Gebote  stehen,  und  sofern  an 
dem  Leitfaden  der  Erfahrung  geführt  werden.  Der- 
gleichen ist  das  Gedächtniss,  die  Einbildungskraft  u.  dgl., 
worauf  Gelahrtheit,  Geschmack  (innere  und  äussere 
Verschönerung)  etc.  gegründet  werden  können,  welche 
zu  mannigfaltiger  Absicht  die  Werkzeuge  darbieten. 

Endlich  ist  die  Kultur  der  Leibeskräfte  (die 
eigentliche  Gymnastik)  die  Besorgung  dessen,  was  das 
Zeug  (die  Materie)  am  Menschen  ausmacht,  ohne 
welches  die  Zwecke  des  Menschen  unausgeführt  bleiben 
würden;  mithin  ist  die  fortdauernde  absichtliche  Be- 
lebung des  Thieres  am  Menschen  Pflicht  des  Menschen 
gegen  sich  selbst. 


t)    1.  Ausg.:    „als    ein  Wesen,    das    der   Zwecke   (sich 
Gegenstände  zum  Zwecke  zu  machen)  fähig  ist," 


294    Tugendl.  Eth.  Elementar!.  I.  Buch.  II.  Abth.  n.  Abschn. 


§.   20. 

Welche  von  diesen  physischen  Vollkommenheiten 
vorzüglich,  und  in  welcher  Proportion,  in  Ver- 
gleichung  gegen  einander,  sie  sich  zum  Zweck  zu 
machen  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst  sei, 
bleibt  seiner  eigenen  vernünftigen  üeberlegung,  in  An- 
sehung der  Lust  zu  einer  gewissen  Lebensart  und  zu- 
gleich der  Schätzung  seiner  dazu  erforderlichen  Kräfte, 
überlassen,  um  darunter  zu  wählen  (z.  B.  ob  es  ein 
Handwerk,  oder  der  Kaufhandel,  oder  die  Gelehrsamkeit 
sein  sollte).  Denn  abgesehen  von  dem  Bedürfniss  der 
Selbsterhaltung,  welches  an  sich  keine  Pflicht  begründen 
kann,  ist  es  Pflicht  des  Menschen  gegen  ^ich  selbst, 
ein  der  Welt  nützliches  Glied  zu  sein,  weil  dieses  auch 
zum  Werth  der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person 
gehört,  die  er  also  nicht  herabwürdigen!)  soll. 

Die  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst  in  An- 
sehung seiner  physischen  Vollkommenheit  ist  aber 
nur  weite  und  unvollkommene  Pflicht;  weil  sie  zwar 
ein  Gesetz  für  die  Maxime  der  Handlungen  enthält,  in 
Ansehung  der  Handlungen  selbst  aber,  ihrer  Art  und 
ihrem  Grade  nach,  nichts  bestimmt,  sondern  der  freien 
Willkür  einen  Spielraum  verstattet.  * 2^) 


Zweiter  Abschnitt. 

Von  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  in  Erhöhung  seiner 

moralischen  Vollkommenheit,   d.  i.  in  bloss 

sittlicher  Absicht- 

§.  21. 

Sie  besteht  erstlich,  subjektiv,  in  der  Lauter- 
keit {puritas  mm^alis)  der  Pflichtgesinnung;  da  näm- 
lich, auch  ohne  Beimischung  der  von  der  Sinnlichkeit 
hergenommenen  Absichten,    das  Gesetz  für  sich   allein 


t)  1.  Ausg.:  „abwürdigen' 


Pflicht,  sich  moralisch  zu  vervollkommnen.  §.  22.       295 

Triebfeder  ist,  und  die  Handlungen  nicht  bloss  pflicht- 
mässig,  sondern  auch  aus  Pflicht  geschehen.  —  „Seid 
lieilig^^  ist  hier  das  Gebot.  Zweitens,  objektiv,  in 
Ansehung  des  ganzen  moralischen  Zwecks,  der  die 
Vollkommenheit,  d.  i.  seine  ganze  Pflicht  und  die  Er- 
reichung der  Vollständigkeit  des  moralischen  Zwecks  in 
Ansehung  seiner  selbst  betrifft,  „seid  vollkommen;"  die 
Bestrebung  nach  diesem  Ziele  ist  beim  Menschen  immer 
nur  ein  Fortschreiten  von  einer  Vollkommenheit  zur 
anderen;!)  „ist  etwa  eine  Tugend,  ist  etwa  ein  Lob, 
dem  trachtet  nach." 


§.  22. 

Diese  Pflicht  gegen  sich  selbst  ist  eine  der  Qualität 
nach  enge  und  vollkommene,  obgleich  dem  Grade  nach 
weite  und  unvollkommene  Pflicht,  und  das  wegen  der 
Gebrechlichkeit  {fragilitas)  der  menschlichen  Natur. 

Diejenige  Vollkommenheit  nämlich,  zu  welcher  zwar 
das  Streben,  aber  nicht  das  Erreichen  derselben  (in 
diesem  Leben)  Pflicht  ist,  deren  Befolgung  also  nur 
in  kontinuir liehen  Fortschritten  bestehen  kann,  ist  in 
Hinsicht  auf  das  Objekt  (die  Idee,  deren  Ausführung 
man  sich  zum  Zweck  machen  soll)  zwar  enge  und  voll- 
kommene, in  Rücksicht  aber  auf  das  Subjekt  weite 
und  nur  unvollkommene  Pflicht  gegen  sich  selbst. 

Die  Tiefen  des  menschlichen  Herzens  sind  uner- 
gründlich. Wer  kennt  sich  genugsam,  wenn  die  Trieb- 
feder zur  Pflichtbeobachtung  von  ihm  gefühlt  wird,  ob 
sie  gänzlich  aus  der  Vorstellung  des  Gesetzes  hervor- 
gehe, oder  ob  nicht  manche  andere  sinnliche  Antriebe 
mitwirken,  die  auf  den  Vortheil  oder  zur  Verhütung 
■eines  Nachtheils  angelegt  sind  und  bei  anderer  Gelegen- 
heit auch  wohl  dem  Laster  zu  Diensten  stehen  könnten?  — 
Was  aber  die  Vollkommenheit  als  moralischen  Zweck 
betrifft,  so  giebts  zwar  in  der  Idee  (objektiv)  nur  eine 
Tugend  (als  sittliche  Stärke  der  Maximen),  in  der  That 
(subjektiv)  aber  eine  Menge  derselben  von  heterogener 


t)  1.  Ausg. :  ^zu  welchem  Ziele  aber  hinzustreben  beim 
Menschen  .  .  .  zur  anderen  ist;" 


296     Tugendl.  Eth.  Elementarl.  I.  Buch.  II.  Abth.  II.  Abschn. 

Beschaffenheit,  worunter  es  unmöglich  sein  dürfte,  nicht 
irgend  eine  Untugend  (ob  sie  gleich  eben  jener  Tugenden 
wegen  den  Namen  des  Lasters  nicht  zu  führen  pflegen) 
bei  sich  aufzufinden,  wenn  man  sie  suchen  wollte.  Eine 
Summe  von  Tugenden  aber,  deren  Vollständigkeit  oder 
Mängel  die  Selbsterkenntniss  uns  nie  hinreichend  ein- 
schauen lässt,  kann  keine  andere,  als  unvollkommene 
Pflicht,  vollkommen  zu  sein,  begründen.  >**) 


Also  sind  alle  Pflichten  gegen  sich  selbst  in  An- 
sehung des  Zwecks  der  Menschheit  in  unserer  eigenen 
Person  nur  unvollkommene  Pflichten. 


Der  ethischen  Elementarlehre 
zweites  Buch. 

Yon  den  Tugendpflichten  gegen  Andere. 

Erstes  Hauptstück. 

Von    den    Pflichten    gegen   Andere,    bloss    als    Menschen. 

Erster  Abschnitt. 

Von  der  Liebespflicht  gegen  andere  Menschen. 


Eintheilung. 

§.  23. 

Die  oberste  Eintheilung  kann  die  sein:  in  Pflichten 
gegen  Andere,  sofern  du  sie  durch  Leistung  derselben 
zugleich  verbindest,  und  in  solche,  deren  Beobachtung 
die  Verbindlichkeit  Anderer  nicht  zur  Folge  hat.  — 
Die  erste  Leistung  ist  (respektiv  gegen  Andere)  ver- 
dienstliche; die  der  zweiten  ist  schuldige  Pflicht. 
—  Liebe  und  Achtung  sind  die  Gefühle,  welche  die 
Ausübung  dieser  Pflichten  begleiten.  Sie  können  ab- 
gesondert (jede  für  sich  allein)  erwogen  werden,  und 
auch  so  bestehen.  (Liebe  des  Nächsten,  ob  dieser 
gleich  wenig  Achtung  verdienen  möchte;  inigleichen 
nothwendige  Achtung  für  jeden  Menschen,  unerachtet 
er  kaum  der  Liebe  werth  zu  sein  beurtheilt  würde.) 
Sie  sind  aber  im  Grunde  dem  Gesetze  nach  jederzeit 
mit  einander  in  einer  Pflicht  zusammen  verbunden;  nur 
so,    dass  bald  die   eine  Pflicht,    bald    die    andere    das 


298     Tugendl.  Eth.  Elementarl.  II.  B.  I.  Hauptst.  I.  Abschn. 

Prinzip  im  Subjekt  ausmacht,  an  welche  die  andere 
accessorisch  geknüpft  ist.  —  So  werden  wir  gegen 
einen  Armen  wohlthätig  zu  sein,  uns  für  verpflichtet 
erkennen;  aber  weil  diese  Gunst  doch  auch  Abhängig- 
keit seines  Wohls  von  meiner  Grossmuth  enthält,  (iie 
doch  den  Anderen  erniedrigt,  so  ist  es  Pflicht,  dem 
Empfänger  durch  ein  Beti'agen,  welches  diese  Wohl- 
thätigkeit  entweder  als  blosse  Schuldigkeit  oder  geringen 
Liebesdienst  vorstellt,  die  Demüthigung  zu  ersparen  und 
ihm  seine  Achtung  für  sich  selbst  zu  erhalten. 

§.  24. 

Wenn  von  Pflichtgesetzen  (nicht  von  Naturgesetzen) 
die  Rede  ist,  und  zwar  im  äusseren  Verhältniss  der 
Menschen  gegen  einander,  so  betrachten  wir  uns  in  einer 
moralischen  (intelligiblen)  Welt,  in  welcher,  nach  der 
Analogie  mit  der  physischen,  die  Verbindung  vernünfti- 
ger Wesen  (auf  Erden)  durch  Anziehung  und  Ab- 
stossung  bewirkt  wird.  Vermöge  des  Prinzips  der 
"Wechselliebe  sind  sie  angewiesen,  sich  einander  bestän- 
dig zu  nähern,  durch  das  der  Achtung,  die  sie  ein- 
ander schuldig  sind,  sich  im  Abstände  von  einander 
zu  erhalten;  und  sollte  eine  dieser  grossen  sittlichen 
Kräfte  sinken,  „so  würde  dann  das  Nichts  (der  Immo- 
ralität)  mit  aufgesperrtem  Schlund  der  (moralischen) 
Wesen  ganzes  Reich,  wie  einen  Tropfen  Wasser  trinken", 
wenn  ich  mich  hier  der  Worte  Haller's,  nur  in  einer 
andern  Beziehung,  bedienen  darf. 

§.  25. 

Die  Liel)e  wird  hier  aber  nicht  als  Gefühl  (ästhe- 
tisch), d.  i.  als  Lust  an  der  Vollkommenheit  anderer 
Menschen,  nicht  als  Liebe  des  Wohlgefallens  genom- 
men f);  denn  Gefühle  zu  haben,  dazu  kann  es  keine 
Verpflichtung  durch  Andere  geben;  sondern  muss  als 
Maxime  des  Wohlwollens  (als  praktisch)  gedacht  wer- 
den, welche  das  Wohlthun  zur  Folge  hat. 

Ebendasselbe  muss  von  der  gegen  Andere  zu  be- 
weisenden Achtung  gesagt  werden:   dass  nämlich  nicht 

t)  1.  Ausg.:  „verstanden" 


Von  der  Liebespflicht  gegen  andere  Menschen.  §.  26.     299 

bloss  das  Gefühl  aus  der  Vergleichung  unseres  eigenen 
Werths  mit  dem  des  Anderen,  (dergleichen  ein  Kind 
gegen  seine  Eltern,  ein  Schüler  gegen  seinen  Lehrer, 
ein  Niedriger  überhaupt  gegen  seinen  Oberen  aus  blosser 
Gewohnheit  fühlt,)  sondern  eine  Maxime  der  Einschrän- 
kung unserer  Selbstschätzung  durch  die  Würde  der 
Menschheit  in  eines  Anderen  Person,  mithin  die  Ach- 
tung im  praktischen  Sinne  {ohservantia  aiiis  praestanda) 
verstanden  wird. 

Auch  wird  die  Pflicht  der  freien  Achtung  gegen 
Andere,  weil  sie  eigentlich  nur  negativ  ist,  (sich  nicht 
über  Andere  zu  erheben,)  und  so  der  Rechtspflicht, 
Niemandem  das  Seine  zu  schmälern,  analog  ist,  ob- 
gleich als  blosse  Tugendpflicht  verhältnissweise  gegen 
die  Liebespflicht  für  enge,  die  letztere  also  als  weite 
Pflicht  angeschen. 

Die  Pflicht  der  Nächstenliebe  kann  also  auch  so 
ausgedrückt  werden:  sie  ist  die  Pflicht,  Anderer  ihre 
Zwecke  (sofern  diese  nur  nicht  unsittlich  sind)  zu 
den  meinen  zu  machen;  die  Pflicht  der  Achtung  meines 
Nächsten  ist  in  der  Maxime  enthalten,  keinen  anderen 
Menschen  bloss  als  Mittel  zu  meinen  Zwecken  herab- 
zuwürdigen f);  nicht  zu  verlangen,  der  Andere  solle 
sich  selbst  wegwerfen,  um  meinem  Zwecke  zu  fröhnen. 
Dadurch,  dass  ich  die  erste  Pflicht  gegen  Jemand 
ausübe,  verpflichte  ich  zugleich  einen  Anderen:  ich 
mache  mich  um  ihn  verdient.  Durch  die  Beobachtung 
der  letzten  aber  verpflichte  ich  bloss  mich  selbst,  halte 
mich  in  meinen  Schranken,  um  dem  Anderen  an  dem 
Werthe,  den  er  als  Mensch  in  sich  selbst  zu  setzen 
befugt  ist,  nichts  zu  entziehen.  1^2) 


Von  der  Liebespflicht  insbesondere. 

§.  26. 
Die  Menschenliebe   (Philanthropie)    muss,    weil    sie 
hier  als  praktisch,    mithin  nicht  als  Liebe   des   Wohl- 
gefallens an  Menschen  gedacht  wird,  im  thätigen  Wohl- 
wollen gesetzt  werden,  und  betrifift  also  die  Maxime  der 


t)  1.  Ausg. :  „abzuwürdigen" 


300    Tugendl.  Eth.  Elementarl.  E.  B.  I.  Hauptst.  I.  Abschn. 

Handlungen.  —  Der,  welcher  am  Wohlsein  (salus)  der 
Menschen,  sofern  er  sie  bloss  als  solche  betrachtet,  Ver- 
gnügen findet,  dem  wohl  ist,  wenn  es  jedem  Anderen 
wohl  ergeht,  heisst  ein  Menschenfreund  (Philanthrop) 
überhaupt.  Der,  welchem  nur  wohl  ist,  wenn  es  Anderen 
übel  ergeht,  heisst  Menschenfeind  (Misanthrop  in 
praktischem  Sinne).  Der,  welchem  es  gleichgültig  ist, 
wie  es  Anderen  ergehen  mag,  wenn  es  ihm  selbst  nur 
wohl  geht,  ist  ein  Selbstsüchtiger  {solipsista).  — 
Derjenige  aber,  welcher  Menschen  flieht,  weil  er  kein 
Wohlgefallen  an  ihnen  finden  kann,  ob  er  zwar 
allen  wohl  will,  würde  menschenscheu  (ästhetischer 
Misanthrop),  und  seine  Abkehrung  von  Menschen  Anthro- 
pophobie genannt  werden  können. 

§.^27. 

Die  Maxime  des  Wohlwollens  (die  praktische  Men- 
schenliebe) ist  aller  Menschen  Pflicht  gegen  einander; 
man  mag  diese .  nun  liebenswürdig  finden  oder  nicht, 
nach  dem  ethischen  Gesetz  der  Vollkommenheit:  liebe 
deinen  Nebenmenschen  als  dich  selbst.  —  Denn  alles 
moralisch- praktische  Verhältniss  gegen  Menschen  ist  ein 
Verhältniss  derselben  in  der  Vorstellung  der  reinen  Ver- 
nunft, d.  i.  der  freien  Handlungen  nach  Maximen,  welche 
sich  zur  allgemeinen  Gesetzgebung  qualifiziren,  die  also 
nicht  selbstsüchtig  {ex  solijysismo  po'odeuntes)  sein  können. 
Ich  will  jedes  Anderen  Wohlwollen  {henevolentiam)  gegen 
mich;  ich  soll  also  auch  gegen  jeden  Anderen  wohlwollend 
sein.  Da  aber  alle  Andere  ausser  mir  nicht  Alle  sein, 
mithin  die  Maxime  nicht  die  Allgemeinheit  eines  Ge- 
setzes an  sich  haben  würde,  welche  doch  zur  Verpflich- 
tung nothwendig  ist;  so  wird  das  Pflichtgesetz  des 
Wohlwollens  mich  als  Objekt  desselben  im  Gebot  der 
praktischen  Vernunft  mit  begreifen;  nicht  als  ob  ich 
dadurch  verbunden  würde,  mich  selbst  zu  lieben  (denn 
das  geschieht  ohne  das  unvermeidlich,  und  dazu  giebts 
also  keine  Verpflichtung),  sondern  die  gesetzgebende 
Vernunft,  welche  in  ihrer  Idee  der  Menschheit  überhaupt 
die  ganze  Gattung  (mich  also  mit)  einschliesst,  schliesst 
als  allgemein  gesetzgebend  mich  in  der  Pflicht  des 
wechselseitigen    Wohlwollens    nach    dem    Prinzip    der 


Von  der  Liebespflicht  gegen  andere  Menschen.  §.  28.      3()| 

Gleichheit  mit  allen  Anderen  neben  mir  mit  ein,  und 
erlaubt  es  dir,  dir  selbst  wohlzuwollen,  unter  der  Be- 
dingung, dass  du  auch  jedem  Anderen  wohl  willst; 
weil  so  allein  deine  Maxime  (des  Wohlthuns)  sich  zu 
einer  allgemeinen  Gesetzgebung  qualifizirt,  als  worauf 
alles  Pflichtgesetz  gegründet  ist. 

§.   28. 

Das  Wohlwollen  in  der  allgemeinen  Menschenliebe 
ist  nun  zwar  dem  Umfange  nach  das  grösste,  dem 
Grade  nach  aber  das  kleinste,  und  wenn  ich  sage: 
ich  nehme  an  dem  Wohl  dieses  Menschen  nur  nach 
der  allgemeinen  Menschenliebe  Antheil,  so  ist  das  In- 
teresse, was  ich  hier  nehme,  das  kleinste,  was  nur  sein 
kann.  Ich  bin  in  Ansehung  desselben  nur  nicht  gleich- 
gültig. 

Aber  einer  ist  mir  doch  näher,  als  der  Andere,  und 
ich  bin  im  Wohlwollen  mir  selbst  der  nächste.  Wie 
stimmt  das  nun  mit  der  Formel:  liebe  deinen  Nächsten 
(deinen  Mitmenschen),  als  dich  selbst?  Wenn  einer  mir 
näher  ist  (in  der  Pflicht  des  Wohlwollens)  als  der 
Andere,  ich  also  zum  grösseren  Wohlwollen  gegen  einen, 
als  gegen  den  Anderen  verbunden,  mir  selber  aber  ge- 
ständlich  näher  (selbst  der  Pflicht  nach)  bin,  als  jeder 
Andere,  so  kann  ich,  wie  es  scheint,  ohne  mir  selbst 
zu  widersprechen,  nicht  sagen,  ich  soll  jeden  Menschen 
lieben,  wie  mich  selbst;  denn  der  Maassstab  der  Selbst- 
liebe würde  keinen  Unterschied  in  Graden  zulassen.  — 
Man  sieht  bald,  dass  hier  nicht  bloss  das  Wohlwollen 
des  Wunsches,  welches  eigentlich  ein  blosses  Wohl- 
gefallen am  Wohl  jedes  Anderen  ist,  ohne  selbst  dazu 
etwas  beitragen  zu  dürfen  (ein  Jeder  für  sich,  Gott  für 
uns  Alle),  sondern  ein  thätiges,  praktisches  W^ohlwollen, 
sich  das  Wohl  und  Heil  des  Anderen  zum  Zweck  zu 
machen  (das  Wohlthun)  gemeint  sei.  Denn  im  Wünschen 
kann  ich  Allen  gleich  wohlwollen,  aber  im  Thun  kann 
der  Grad,  nach  Verschiedenheit  der  Geliebten  (deren 
einer  mich  näher  angeht,  als  der  andere),  ohne  die 
Allgemeinheit  der  Maxime  zu  verletzen,  doch  sehr  ver- 
schieden sein. 123) 


302     Tugendl.  Eth.  Elemeiitarl.  II.  B.  I.  Hauptst.  I.  Abschn. 

Eintlieiluiig  der  Liebespflichten. 

Sie  sind:  A)  Pflichten  der  Wohlthätigkeit,  B)  der 
Dankbarkeit,  C)  der  Theilnehmung. 

A. 
Von  der  Pflicht  der  Wohlthätigkeit. 

§.  29. 

Sich  selber  gütlich  thun,  so  weit  als  nöthig  ist,  um 
nur  am  Leben  ein  Vergnügen  zu  finden,  (seinen  Leib, 
doch  nicht  bis  zur  Weichlichkeit  zu  pflegen,)  gehört  zu 
den  Pflichten  gegen  sich  selbst;  —  deren  Gegentheil  ist: 
aus  Geiz  (sklavisch),  oder  aus f)  übertriebener  Disziplin 
seiner  natürlichen  Neigungen  (schwärmerisch)  sich  des 
Genusses  der  Lebensfreuden  zu  berauben,  welches  Beides 
der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst  widerstreitet. 

Wie  kann  man  aber  ausser  dem  Wohlwollen  des 
Wunsches  in  Ansehung  anderer  Menschen  (welches  uns 
nichts  kostet,)  auch  noch,  dass  dieses  praktisch  werde, 
d.  i.  wie  kann  man  das  Wohlthunff)  in  Ansehung 
der  Bedürftigen  Jedermann,  der  das  Vermögen  dazu  hat, 
als  Pflicht  ansinnen  ?  —  Wohlwollen  ist  das  Vergnügen 
an  der  Glückseligkeit  (dem  Wohlsein)  Anderer;  Wohl- 
thun  aber  die  Maxime,  sich  dasselbe  zum  Zweck  zu 
machen;  und  Pflicht  dszu  ist  die  Nöthigung  des  Sub- 
jekts durch  die  Vernunft,  diese  Maxime  als  allgemeines 
Gesetz  anzunehmen. 

Es  fällt  nicht  von  selbst  in  die  Augen,  dass  ein 
solches  Gesetz  überhaupt  in  der  Vernunft  liege;  viel- 
mehr scheint  die  Maxime:  ,,ein  Jeder  für  sich,  Gott  (das 
Schicksal)  für  uns  Alle,"  die  natürlichste  zu  sein. 

§•  30. 
Wohitliätig,    d.   i.   ar deren  Menschen   in  Nöthen  zu 
ihrer  Glückseligkeit,  ohne  dafür  etwas  zu  hofi'en,  nach 
seinem  Vermögen  beförderlich  zu  sein,   ist  jedes  Men- 
schen Pflicht. 


t)  1.  Ausg.:   „(sklavisch)  des  zum  frohen  Genuss  des 
Lebens  nothwendigen  oder  aus'' 

tt)  1.  Ausg.:  „praktisch  sei,  d.  i.  das  Wohlthun" 


Von  der  Pflicht  der  Wohlthätigkeit.    §.  31.         303 

Denn  jeder  Mensch,  der  sich  in  Noth  befindet, 
■wünscht,  dass  ihm  von  anderen  Menschen  geholfen  werde. 
Wenn  er  aber  seine  Maxime,  Anderen  wiederum  in  ihrer 
Noth  nicht  Beistand  leisten  zu  wollen,  laut  werden  Hesse, 
d.  i.  sie  zum  allgemeinen  Erlaubnissgesetz  machte;  so 
würde  ihm,  wenn  er  selbst  in  Noth  ist,  Jedermann  gleich- 
falls seinen  Beistand  versagen,  oder  wenigstens  zu  ver- 
sagen befugt  sein.  Also  widerstreitet  sich  die  eigen- 
nützige Maxime  selbst,  wenn  sie  zum  allgemeinen  Gesetz 
gemacht  würde,  d.  i.  sie  ist  pflichtwidrig,  folglich  ist 
die  gemeinnützige  Maxime  des  Wohlthuns  gegen  Be- 
dürftige allgemeine  Pflicht  der  Menschen,  und  zwar  da- 
rum, weil  sie  als  Mitmenschen,  d.  i.  als  bedürftige,  auf 
einem  Wohnplatz  durch  die  Natur  zur  wechselseitigen 
Beihülfe  vereinigte  vernünftige  Yfesen  anzusehen  sind. 

§.  31. 

Wohlthun  ist  im  Fall,  dass  Jemand  reich f)  (mit 
Mitteln  zur  Glückseligkeit  Anderer  überflüssig  d.  i. 
über  sein  eigenes  Bedürfniss  versehen)  ist,  von  dem  Wohl- 
thäter  selbst  fast  nicht  einmal  für  eine  verdienstliche 
Pflicht  zu  halten ;  ob  er  zwar  dadurch  zugleich  den  An- 
deren verbindet.  Das  Vergnügen,  was  er  sich  hiemit 
selbst  macht,  welches  ihm  keine  Aufopferung  kostet,  ist 
eine  Art,  in  moralischen  Gefühlen  zu  schwelgen.  — 
Auch  muss  er  allen  Schein,  als  dächte  er  den  Anderen 
damit  zu  verbinden,  sorgfältig  vermeiden;  weil  es  sonst 
nicht  wahre  Wohlthat  wäre,  die  er  diesem  erzeigte,  in- 
dem er  ihm  eine  Verbindlichkeit  fdie  den  letzten  in 
seinen  eigenen  Augen  immer  erniedrigt,)  auflegen  zu 
wollen  äusserte.  Er  muss  sich  vielmehr,  als  durch  die 
Annahme  des  Anderen  selbst  verbindlich  gemacht,  oder 
beehrt,  mithin  die  Pflicht  bloss  als  seine  Schuldigkeit 
äussern,  wenn  er  nicht  (welches  besser  ist)  seine  Wohl- 
thätigkeit ff)  ganz  im  Verborgenen  ausübt.  —  Grösser 
ist  diese  Tugend,  wenn  das  Vermögen  zum  Wohlthun 
beschränkt,  und  der  Wohlthäter  stark  genug  ist,  die 
Uebel,  welche  er  Anderen  erspart,  stillschweigend  über 


t)  1.  Ausg.:  „für  den,  der  reich" 
tt)  1.  Ausg.:  „seinen  Wohlthätigkeitsakt'* 


304    Tugendl.  Eth.  Elementarl.  II.  B,  I.  Hauptst.  I.  Abschn. 

sich  zu  nehmen,  wo  er  alsdann  wirklich    für  moralisch- 
reich  anzusehen  ist J  24) 


Casuistische  Fragen. 

Wie  weit  soll  man  den  Aufwand  seines  Vermögens  im 
Wohlthun  treiben?  Doch  wohl  nicht  bis  dahin,  dass  man 
zuletzt  selbst  Anderer  Wohltbätigkeit  bedürftig  würde. 
Wie  viel  ist  die  Wohlthat  werth,  die  man  mit  kalter 
Hand  (im  Abscheiden  aus  der  Welt  durch  ein  Testa- 
ment) beweist?  —  Kann  derjenige,  welcher  eine  ihm 
durchs  Landesgesetz  erlaubte  Obergewalt  über  einen 
übt,  dem  er  die  Freiheit  raubt,  nach  seiner  eigenen 
Wahl  glücklich  zu  sein,  (seinem  Erbunterthan  eines 
Gutes)  kann,  sage  Ich,  dieser  sich  als  Wohlthäter  an- 
sehen, wenn  er  nach  seinen  eigenen  Begriffen  von 
Glückseligkeit  für  ihn  gleichsam  väterlich  sorgt?  Oder  ist 
nicht  vielmehr  die  Ungerechtigkeit,  einen  seiner  Freiheit 
zu  berauben,  etwas  der  Rechtspflicht  überhaupt  so  Wider- 
streitendes, dass,  unter  dieser  Bedingung  auf  die  Wohl- 
tbätigkeit der  Herrschaft  rechnend,  sich  hinzugeben,  die 
grösste  Wegwerfung  der  Menschheit  für  den  sein  würde, 
der  sich  dazu  freiwillig  verstände,  und  die  grösste  Für- 
sorge der  Herrschaft  für  den  letzten  gar  keine  Wohl- 
tbätigkeit sein  würde?  Oder  kann  etwa  das  Verdienst 
mit  der  letzten  so  gross  sein,  dass  es  gegen  das 
Menschenrecht  aufgewogen  werden  könnte?  —  Ich  kann 
Niemand  nach  meinen  Begriffen  von  Glückseligkeit 
wohlthun  (ausser  unmündigen  Kindern  oder  Blödsinnigen 
und  Verrückten,)  sondern  nach  jenes  seinen  Begriffen, 
dem  ich  eine  Wohlthat  zu  erweisen  denke;  dem  ich  aber 
wirklich  keine  Wohlthat  erweise,  indem  ich  ihm  ein 
Geschenk  aufdringe. 

Das  Vermögen  wohlzuthun,  was  von  Glücksgütem 
abhängt,  ist  grösstentheils  ein  Erfolg  aus  der  Begünstigung 
verschiedener  Menschen  durch  die  Ungerechtigkeit  der 
Regierung,  welche  eine  Ungleichheit  des  Wohlstandes, 
die  Anderer  Wohltbätigkeit  nothwendig  macht,  einführt. 
Verdient  unter  solchen  Umständen  der  Beistand,  den 
der  Reiche  den  Nothleidenden  erweisen  mag,  wohl  über- 
haupt den  Namen  der  Wohltbätigkeit,  mit  welcher  man 
eich  so  gern  als  Verdienst  brüstet? 


B.  Von  der  Pflicht  der  Dankbarkeit.    §.  32.        305 

B. 
Von  der  Pflicht  der  Dankbarkeit. 

Dankbarkeit  ist  die  Verehrung  einer  Person 
wegen  einer  uns  erwiesenen  Wohlthat.  Das  Gefühl,  was 
mit  dieser  Beurtheilung  verbunden  ist,  ist  das  der  Ach- 
tung gegen  den  (ihn  verpflichtenden)  Wohlthäter,  da 
hingegen  dieser  gegen  den  Empfänger  nur  als  im  Ver- 
hältniss  der  Liebe  betrachtet  wird.  —  Selbst  ein  blosses 
herzliches  Wohlwollen  des  Anderen,  ohne  physische 
Folgen,  verdient  den  Kamen  einer  Tugendpflicht;  welches 
dann  den  Unterschied  zwischen  der  thätigen  und  bloss 
affectionellen  Dankbarkeit  begründet. 

§.  32. 

Dankbarkeit  ist  Pflicht,  d.  i.  nicht  bloss  eine 
Klugheitsmaxime,  durch  Bezeugung  meiner  Verbind- 
lichkeit wegen  der  mir  widerfahrenen  Wohlthätigkeit,  den 
Anderen  zu  mehrerem  Wohlthun  zu  bewegen  {gratiarum 
actio  est  ad  plus  dandum  invitatio))  denn  dabei  bediene 
ich  mich  dieser  bloss  als  Mittel  zu  meinen  anderweitigen 
Absichten;  sondern  sie  ist  unmittelbare  Nöthigung  durchs 
moralische  Gesetz,  d.  i.  Pflicht. 

Dankbarkeit  aber  muss  auch  noch  besonders  als 
heilige  Pfliclit,  d.  i.  als  eine  solche,  deren  Verletzung 
(als  skandalöses  Beispiel)  t)  die  moralische  Triebfeder 
zum  Wohltliun  in  dem  Grundsatze  selbst  vernichten  kann, 
angesehen  werden.  Denn  heilig  ist  derjenige  moralische 
Gegenstand,  in  Ansehung  dessen  die  Verbindlichkeit 
durch  keinen  ihr  gemässen  Akt  völlig  getilgt  werden 
kann  (wobei  der  Verpflichtete  immer  noch  verpflichtet 
bleibt).  Alle  andere  ist  gemeine  Pflicht.  —  Man  kann 
aber  durch  keine  Vergeltung  einer  empfangenen  Wohl- 
that über  dieselbe  quittiren;  weil  der  Empfänger  den 
Vorzug  des  Verdienstes,  den  der  Geber  hat,  nämlich 
der  erste  im  Wohlwollen  gewesen  zu  sein,  diesem  nie 
abgewinnen  kann.  —  Aber  auch  ohne  einen  solchen 
Akt   (des   Wohlthuns)   ist   selbst   das   blosse    herzliche 


t)  „(als  skandalöses  Beispiel)"  Zusatz  der  2.  Ausg. 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  20 


306    Tugendl.  Eth.  Elementar!.  II.  B.  I.  Hauptst  I.  Abschn. 

WoLlwoUen  gegen  den  Wohlthäter  schon  eine  Art  von 
Dankbarkeit  t).  Eine  dankbare  Gesinnung  dieser  Art 
wird  Erkenntlichkeit  genannt. 

§•  33. 

Was  die  Extension  dieser  Dankbarkeit  betrifft,  so 
geht  sie  nicht  allein  auf  Zeitgenossen,  sondern  auch  auf 
die  Vorfahren,  selbst  diejenigen,  die  man  nicht  mit  Ge- 
vvissheit  namhaft  machen  kann.  Das  ist  auch  die  Ur- 
sache, weswegen  es  für  unanständig  gehalten  wird,  die 
Alten,  die  als  unsere  Lehrer  angesehen  werden  können, 
nicht  nach  Möglichkeit  wider  alle  Angriffe,  Beschuldi- 
gungen und  Geringschätzung  zu  vertheidigen ;  wobei 
es  aber  ein  thörichter  Wahn  ist,  ihnen  um  des  Alterthums 
willen  einen  Vorzug  in  Talenten  und  gutem  Willen  vor 
den  Neueren,  gleich  als  ob  die  Welt  in  continuirlicher 
Abnahme  ihrer  ursprünglichen  Vollkommenheit  nach 
Naturgesetzen  wäre,  anzudichten  und  alles  Neue  in  Ver- 
gleichung  damit  zu  verachten. 

Was  aber  die  Intension,  d.  i.  den  Grad  der  Ver- 
bindlichkeit zu  dieser  Tugend  betrifft,  so  ist  er  nach 
dem  Nutzen,  den  der  Verpflichtete  aus  der  Wohlthat 
gezogen  hat,  und  der  Uneigennützigkeit,  mit  der  ihm 
diese  ertheilt  worden,  zu  schätzen.  Der  mindeste  Grad 
ist:  gleiche  Dienstleistungen  dem  Wohlthäter,  deren 
dieser  empfänglich  (noch  lebend)  ist,  und,  wenn  er  es 
nicht  ist,  Anderen  zu  erweisen ;  eine  emgfangene  Wohl- 
that nicht  wie  eine  Last,  deren  man  gern  überhoben 
sein  möchte,  (weil  der  so  Begünstigte  gegen  seinen 
Gönner  eine  Stufe  niedriger  steht,  und  dies  dessen  Stolz 
kränkt)  anzusehen;  sondern  selbst  die  Veranlassung 
dazu  als  moralische  Wohlthat  aufzunehmen,  d.  i.  als  ge- 
gebene Gelegenheit,  diese  Tugend  ff),  welche  mit  der 
Innigkeit  der  wohlwollenden  Gesinnung  zugleich  Zärt- 
lichkeit des  Wohlwollens,  (Aufmerksamkeit  auf  den 
kleinsten  Grad  derselben  in  der  Pflichtvorstellung)  ver- 
bindet, auszuüben  und  so  die  Menschenliebe  zu  kulti- 
viren.i-5) 


t)  1.  Ausg.:  „schon  Grund  der  Verpflichtung  zur  Dank- 
barkeit" 

tt)  1.  Ausg.:  „diese  Tugend  der  Menschenliebe" 


C.    Pflicht  der  Theilnahme.   §.  34.  307 

C. 

Theilnebmende  Empfindung  ist  überhaupt  Pflicht. 

§.  34. 

Mitfreude  und  Mitleid  {sympathia  moralis)  sind 
zwar  sinnliche  Gefühle  einer  (darum  ästhetisch  zu  nennen- 
den) Lust  oder  Unlust  an  dem  Zustande  des  Vergnügens 
sowohl,  als  Schmerzens  Anderer  (Mitgefühl,  theilnehmende 
Empfindung),  wozu  schon  die  Natur  in  den  Menschen 
die  Empfänglichkeit  gelegt  hat.  Aber  diese  als  Mittel 
zu  Beförderung  des  thätigen  und  vernünftigen  Wohl- 
wollens zu  gebrauchen,  ist  noch  eine  besondere,  obzwar 
nur  bedingte  Pflicht,  unter  dem  Namen  der  Mensch- 
lichkeit {humanitas) '^  weil  hier  der  Mensch  nicht  bloss 
als  vernünftiges  Wesen,  sondern  auch  als  mit  Vernunft 
begabtes  Thier  betrachtet  wird.  Diese  kann  nun  in 
dem  Vermögen  und  Willen,  sich  einander  in  An- 
sehung seiner  Gefühle  mitzutheilen  {Immanitas 
2'>ractica),  oder  bloss  in  der  Empfänglichkeit  für 
das  gemeinsame  Gefühl  des  Vergnügens  oder  Schmerzens 
(humanitas  aesthetica) ,  was  die  Natur  selbst  giebt,  ge- 
setzt werden.  Das  erstere  ist  frei,  und  wird  daher 
theilnehmend  genannt  (commimio  sentiendi  libera) 
und  gründet  sich  auf  praktische  Vernunft;  das  zweite 
ist  unfrei  {coimnunio  sentiendi  necessaria)  und  kann 
mittheilend  (wie  die  der  Wärme  oder  ansteckender 
Krankheiten),  auch  Mitleidenschaft  heissen,  weil  sie 
sich  unter  nebeneinander  lebenden  Menschen  natürlicher 
Weise  verbreitet.  Nur  zu  dem  ersten  giebts  Verbind- 
lichkeit. 

Es  war  eine  erhabene  Vorstellungsart  des  Weisen, 
wie  ihn  sich  der  Stoiker  dachte,  wenn  er  ihn  sagen 
Hess:  ich  wünsche  mir  einen  Freund,  nicht  der  mir 
in  Armuth,  Krankheit,  in  der  Gefangenschaft  u.  s.  w. 
Hülfe  leiste,  sondern,  damit  ich  ihm  beistehen  und 
einen  Menschen  retten  könne;  und  gleichwohl  spricht 
ebenderselbe  Weise,  wenn  sein  Freund  nicht  zu  retten 
ist,  zu  sich  selbst:  was  gehts  mich  an?  d.  i.  er  ver- 
warf die  Mitleidenschaft. 

20* 


308     Tiigendl.  Eth.  Elementarl.  II.  B.  I.  Hauptst.  1.  Abschn, 

In  der  Tbat,  wenn  ein  Anderer  leidet  und  ich  mich 
durch  seinen  Schmerz,  dem  ich  doch  nicht  abhelfen 
kann,  auch  (vermittelst  der  Einbildungskraft)  anstecken 
lasse,  so  leiden  ihrer  zwei;  obzwar  das  Uebel  eigentlich 
(in  der  Natur)  nur  einen  trifft.  Es  kann  aber  unmöglich 
Pflicht  sein,  die  Uebel  in  der  Welt  zu  vermehren,  mit- 
hin auch  nicht  aus  Mitleid  wohlzuthun;  wie  dann 
auch  eine  beleidigende  Art  des  Wohlthuns,  Barm- 
herzigkeit genannt,  die  ein  Wohlwollen  ausdrückt, 
was  sich  auf  den  Unwürdigen  bezieht,  unter  Menschen, 
welche  mit  ihrer  Würdigkeit  glücklich  zu  sein  eben 
nicht  prahlen  dürfen,  respektiv  gegen  einander  gar  nicht 
vorkommen  solltet) 

§.   35. 

Obzwar  aber  Mitleid,  und  so  auch  Mitfreude  mit 
Anderen  zu  haben,  an  sich  selbst  nicht  Pflicht  ist,  so 
ist  doch  thätige  Theilnehmung  an  ihrem  Schicksale 
Pflicht,  und  zu  dem  Ende  also  die  mitleidigen  natür- 
lichen (ästhetischen)  Gefühle  in  uns  zu  kultiviren  und 
sie,  als  so  viele  Mittel  zur  Theilnehmung  aus  moralischen 
Grundsätzen  und  dem  ihnen  gemässen  Gefühl  zu  be- 
nutzen, wenigstens  indirekte  Pflicht,  ft)  —  So  ist  es 
Pflicht:  nicht  die  Stellen,  wo  sich  Arme  befinden,  denen 
das  Nothwendigste  abgeht,  zu  umgehen fft)?  sondern 
sie  aufzusuchen,  nicht  die  Krankenstuben,  oder  die  Ge- 
fängnisse der  Schuldner  und  dergl.  zu  fliehen,  um  dem 
schmerzhaften  Mitgefühl,  dessen  man  sich  nicht  er- 
wehren könne,  auszuweichen;  weil  dieses  doch  einer 
der  in  uns  von  der  Katur  gelegten  Antriebe  ist,  das- 
jenige zu  thun,  was  die  Pflichtvorstellung  für  sich  allein 
nicht  ausrichten  würde. 


t)  1.  Ausg.:  „wie  dann  dieses  auch  eine  beleidigende 
Art  des  Wohlthuns  sein  würde,  indem  es  ein  Wohlwollen  . . . 
bezieht  und  Barmherzigkeit  genannt  wird,  unter  Menschen, 
welche  .  .  .  prahlen  dürfen,  und  respektiv  .  .  .  sollte." 

tt)  1.  Ausg.:   „so  ist  es  doch  thätige  Theilnehmung  an 
ihrem  Schicksale  und  zu  dem  Ende  also  indirekte  Pflicht, 
die  mitleidigen  nalürhchen  ...  zu  benutzen." 
ttt)  1.  Ausg.:  „umzugehen-' 


Von  den  Lastern  des  Menschenhasses.   §.  36.       309 

Casuistische  Fragen. 

Würde  es  mit  dem  Wohl  der  Welt  überhaupt  nicht 
besser  stehen,  wenn  alle  Moralität  der  Menschen  nur 
auf  Rechtspflichten,  doch  mit  der  grössten  Gewissen- 
haftigkeit eingeschränkt,  das  Wohlwollen  aber  unter  die 
Adiaphora  gezählt  würde?  Es  ist  nicht  so  leicht  zu 
übersehen,  welche  Folge  es  auf  die  Glückseligkeit  der 
Menschen  haben  dürfte.  Aber  in  diesem  Falle  würde 
es  doch  wenigstens  an  einer  grossen  moralischen  Zierde 
der  Welt,  nämlich  der  Menschenliebe  fehlen,  welche 
also  für  sich,  auch  ohne  die  Vortheile  (der  Glückselig- 
keit) zu  berechnen,  die  Welt  als  ein  schönes  moralisches 
Ganze  in  ihrer  ganzen  Vollkommenheit  darzustellen  er- 
fordert wird. 

Dankbarkeit  ist  eigentlich  nicht  Gegenliebe  des  Ver- 
pflichteten gegen  den  Wohlthäter,  sondern  Achtung 
vor  demselben.  Denn  der  allgemeinen  Nächstenliebe 
kann  und  muss  Gleichheit  der  Pflichten  zum  Grunde 
gelegt  werden;  in  der  Dankbarkeit  aber  steht  der  Ver- 
pflichtete um  eine  Stufe  niedriger,  als  sein  Wohlthäter. 
Sollte  also  nicht  die  Ursache  so  mancher  Undankbarkeit 
der  Stolz  sein,  einen  nicht  über  sich  sehen  zu  wollen  f); 
der  Widerwille,  sich  nicht  in  völlige  Gleichheit  (was  die 
Pflicijtverhältnisse  betriff*t)  mit  ihm  setzen  zu  können?  ^26) 


Von    den     der    Menschenliebe     gerade     (contrarie) 
entgegengesetzten  Lastern  des  Menschenhasses. 

§.  36. 

Sie  machen  die  abscheuliche  Familie  des  Neides, 
der  Undankbarkeit  und  der  Schadenfreude  aus. 
—  Der  Hass  ist  aber  hier  nicht  offen  und  gewaltthätig, 
sondern  geheim  und  verschleiert,  welches  zu  der  Pflicht- 
vergessenheit gegen  seinen  Nächsten  noch  Niederträch- 
tigkeit hinzuthut,  und  so  zugleich  die  Pflicht  gegen  sich 
selbst  verletzt. 


t)  1.  Ausg.:    „Sollte  das  nicht  die  Ursache  so  mancher 
Undankbarkeit    sein,   nämhch   der  Stolz,    einen   über   sich 


310    Tugendl.  Eth.  Elementarl.  H.  B.  I.  Hauptst.  I.  Abschn. 

a)  Der  Neid  {livor)  als  Hang,  das  Wohl  Anderer 
mit  Schmerz  wahrzunehmen,  obzwar  dem  Seinigen  da- 
durch kein  Abbruch  geschieht,  der,  wenn  er  zur  That 
(jenes  Wohl  zu  schmälern)  ausschlägt,  qualificirter 
Neid,  sonst  aber  nur  Missgunst  {invidentia)  heisst, 
ist  doch  nur  eine  indirekt-bösartige  Gesinnung,  nämlich 
ein  Unwille,  unser  eigenes  Wohl  durch  das  Wohl  Ande- 
rer in  Schatten  gestellt  zu  sehen,  weil  wir  den  Maass- 
stab desselben  nicht  in  dessen  innerem  Werth,  sondern 
nur  in  der  Vergleichung  mit  dem  Wohl  Anderer  zu 
schätzen  und  diese  Schätzung   zu  versinniichen  wissen. 

—  Daher  spricht  man  auch  wohl  von  einer  beneidung s- 
würdigen  Eintracht  und  Glückseligkeit  in  einer  Ehe, 
oder  Familie  u.  s.  w.,  gleich  als  ob  es  in  manchen  Fäl- 
len erlaubt  wäre,  Jemanden  zu  beneiden.  Die  Regungen 
des  Neides  liegen  also  in  der  Natur  des  Menschen  und 
nur  der  Ausbruch  derselben  macht  sie  zu  dem  scheuss- 
liehen  Laster  einer  grämischen,  sich  selbst  folternden 
und  auf  Zerstörung  des  Glückes  Anderer,  wenigstens 
dem  Wunsche  nach  gerichteten  Leidenschaft,  ist  mithin 
der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst  sowohl,  als 
gegen  Andere  entgegengesetzt. 

b)  Undankbarkeit  gegen  seinen  Wohlthäter^ 
welche,  wenn  sie  gar  so  weit  geht,  seinen  Wohlthäter 
zu  hassen,  qualificirte  Undankbarkeit,  sonst  aber 
bloss  Uner kenntlichkeit  heisst,  ist  ein  zwar  im  öffent- 
lichen Urtheile  höchst  verabscheutes  Laster,  gleichwohl 
ist  der  Mensch  desselben  wegen  so  berüchtigt,  dass  man 
es  nicht  für  unwahrscheinlich  hält,  man  könne  sich 
durch  erzeigte  Wohlthaten  wohl  gar  einen  Feind  machen. 

—  Der  Grund  der  Möglichkeit  eines  solchen  Lasters 
liegt  in  der  missverstandenen  Pflicht  gegen  sich  selbst, 
die  Wohlthätigkeit  Anderer,  weil  sie  uns  Verbindlichkeit 
gegen  sie  auferlegt,  nicht  zu  bedürfen  und  aufzufordern, 
sondern  lieber  die  Beschwerden  des  Lebens  selbst  zu 
ertragen,  als  Andere  damit  zu  belästigen,  mithin  dadurch 
bei  ihnen  in  Schulden  (Verpflichtung)  zu  kommen;  weil 
wir  dadurch  auf  die  niedere  Stufe  des  Beschützten  gegen 
seinen  Beschützer  zu  gerathen  fürchten;  welches  der 
ächten  Selbstschätzung  (auf  die  Würde  der  Menschheit 
in  seiner  eigenen  Person  stolz  zu  sein,)  zuwider  ist. 
Daher  Dankbarkeit  gegen    die,    die    uns  im   Wohlthun 


Von  den  Lastern  des  Menschenhasses.    §.  36.       311 

unvermeidlich  zuvorkommen  mussten,  (gegen  Vorfah- 
ren im  Angedenken  oder  gegen  Eltern,)  freigebig,  die 
aber  gegen  Zeitgenossen  nur  kärglich,  ja,  um  dieses 
Verhältniss  der  Ungleichheit  unsichtbar  zu  machen,  wohl 
gar  das  Gegentheil  derselben  bewiesen  wird.  —  Dieses 
ist  aber  alsdann  ein  die  Menschheit  empörendes  Laster, 
nicht  bloss  des  Schadens  wegen,  den  ein  solches  Bei- 
spiel Menschen  überhaupt  zuziehen  muss,  von  fernerer 
Wohlthätigkeit  abzuschrecken,  (denn  diese  können  mit 
acht  moralischer  Gesinnung,  eben  in  der  Verschmähung 
alles  solchen  Lohns  ihrem  Wohlthun  nur  einen  desto 
grösseren  inneren  moralischen  Werth  setzen;)  sondern 
weil  die  Menschenliebe  hier  gleichsam  auf  den  Kopf  ge- 
stellt, und  der  Mangel  der  Liebe  gar  in  die  Befugniss^ 
den  Liebenden  zu  hassen,  verunedelt  wird. 

c)  Die  Schadenfreude,  welche  das  gerade  Um- 
gekehrte der  Theilnehmung  ist,  ist  der  menschlichen 
Natur  auch  nicht  fremd;  wiewohl,  wenn  sie  so  weit 
geht,  das  Uebel  oder  Böse  selbst  bewirken  zu  helfen, 
sie  als  qualificirte  Schadenfreude  den  Menschen- 
hass  sichtbar  macht  und  in  ihrer  Grässlichkeit  erscheint. 
Sein  Wohlsein  und  selbst  sein  Wohlverhalten  stärker  zu 
fühlen,  wenn  Unglück  oder  Verfall  Anderer  in  Skandale 
gleichsam  als  die  Folie  unserem  eigenen  Wohlstande 
untergelegt  wird,  um  diesen  in  ein  desto  helleres  Licht 
zu  stellen,  ist  freilich  nach  Gesetzen  der  Einbildungs- 
kraft, nämlich  des  Contrastes,  in  der  Natur  gegründet. 
Aber  über  die  Existenz  solcher  das  allgemeine  Welt- 
beste zerstörenden  Enormitäten  unmittelbar  sich  zu 
freuen,  mithin  dergleichen  Ereignisse  auch  wohl  zu 
wünschen,  ist  ein  geheimer  Menschenhass  und  das  ge- 
rade Widerspiel  der  Nächstenliebe,  die  uns  als  Pflicht 
obliegt.  —  Der  Uebermuth  Anderer  bei  ununter- 
brochenem Wohlergehen,  und  der  Eigendünkel  im 
Wohlverhalten,  (eigentlich  aber  nur  im  Glück,  der  Ver- 
leitung zum  öffentlichen  Laster  noch  immer  entwischt 
zu  sein,)  welches  beides  der  eigenliebige  Mensch  sich 
zum  Verdienst  anrechnet,  bringen  diese  feindselige  Freude 
hervor,  die  der  Pflicht  nach  dem  Prinzip  der  Theil- 
nehmung, der  Maxime  des  ehrlichen  Chremes  beim 
Terenz :  „ich  bin  ein  Mensch ;  alles,  was  Menschen  wider- 
fährt, das  triffst  auch  mich",  gerade  entgegengesetzt  ist. 


312    Tugendl.  Eth.  Elementarl.  II.  B.  I.  Hauptst.  I.  Abschn. 

Von  dieser  Schadenfreude  ist  die  süsseste,  und  noch 
dazu  mit  dem  Schein  des  grössten  Rechts,  ja  wohl  gar 
der  Verbindlichkeit  (als  Rechtsbegierde),  den  Schaden 
Anderer  auch  ohne  eigenen  Vortheil  sich  zum  Zweck 
zu  machen,  die  Rachbegierde. 

Eine  jede  das  Recht  eines  Menschen  kränkende  That 
verdient  Strafe :  wodurch  das  Verbrechen  an  dem  Thäter 
gerächt  (nicht  bloss  der  zugefügte  Schaden  ersetzt) 
wird.  Nun  ist  aber  Strafe  nicht  ein  Akt  der  Privat- 
autorität des  Beleidigten,  sondern  eines  von  ihm  unter- 
schiedenen Gerichtshofes,  der  den  Gesetzen  eines  Oberen 
über  Alle,  die  demselben  unterworfen  sind,  Effekt  giebt, 
und  wenn  wir  die  Menschen  (wie  es  in  der  Ethik  noth- 
wendig  ist),  in  einem  rechtlichen  Zustande,  aber  nach 
blossen  Vernunftgesetzen,  (nicht  nach  bürger- 
lichen) betrachten,  so  hat  Niemand  die  Befugniss, 
Strafen  zu  verhängen  und  von  Menschen  erlittene  Be- 
leidigung zu  rächen,  als  der,  welcher  auch  der  oberste 
moralische  Gesetzgeber  ist,  und  dieser  allein  (nämlich 
Gott)  kann  sagen:  „die  Rache  ist  mein;  ich  will  ver- 
gelten." Es  ist  also  Tugendpflicht,  nicht  allein  selbst, 
bloss  aus  Rache,  die  Feindseligkeit  Anderer  nicht  mit 
Hass  zu  erwidern,  sondern  selbst  nicht  einmal  den 
Weltrichter  zur  Rache  aufzufordern;  theils  weil  der 
Mensch  von  eigener  Schuld  genug  auf  sich  sitzen  hat, 
um  der  Verzeihung  selbst  sehr  zu  bedürfen,  theils,  und 
zwar  vornehmlich,  weil  keine  Strafe,  von  wem  es  auch 
sei,  aus  Hass  verhängt  werden  darf.  —  Daher  ist  Ver- 
söhnlichkeit {jjlacahilitas)  Menschenpflicht;  womit 
doch  die  schlaffef)  Duldsamkeit  der  Beleidigungen 
{ig'nava-\\)  injitriarum  patientia)  nicht  verwechselt  wer- 
den muss,  als  Verzichtleistung  ttt)  ^^f  harte  {rigoi'osa) 
Mittel,  um  der  fortgesetzten  Beleidigung  Anderer  vor- 
zubeugen; denn  diese  wäre  Wegwerfung  seiner  Rechte 
unter  die  Füsse  Anderer,  und  Verletzung  der  Pflicht 
des  Menschen  gegen  sich  selbst.^^T) 


t)  1.  Ausg.:  „sanfte" 
ff)  1.  Ausg.:  „mitis^ 
ttt)  1.  Ausg.:  „Entsagung^ 


Pflichten  der  Achtung  gegen  Andere.   §.  37.       3^3 

Anmerkung. 

Alle  Laster,  welche  selbst  die  menschliche  Natur 
hassenswerth  machen  würden,  wenn  man  sie  (als. 
qualifizirt)  in  der  Bedeutung  von  Grundsätzen  nehmen 
wollte,  sind  inhuman,  objektiv  betrachtet,  aber 
doch  menschlich,  subjektiv  erwogen;  d.  i.  wie 
die  Erfahrung  uns  unsere  Gattung  kennen  lehrt. 
Ob  man  also  zwar  einige  derselben  in  der  Heftig- 
keit des  Abscheues  teuflisch  nennen  möchte, 
sowie  ihr  Gegenstück  Engelstugend  genannt 
werden  könnte;  so  sind  beide  Begriffe  doch  nur 
Ideen  von  einem  Maximum,  als  Maassstab  zum 
Behuf  der  Vergleichung  des  Grades  der  Moralität 
gedacht,  indem  man  dem  Menschen  seinen  Platz 
im  Himmel  oder  der  Hölle  anweiset,  ohne  aus 
ihm  ein  Mittelwesen,  was  weder  den  einen  dieser 
Plätze,  noch  den  anderen  einnimmt,  zu  machen. 
Ob  es  Haller,  mit  seinem  „zweideutig  Mittelding 
von  Engeln  und  Vieh"  besser  getroffen  habe,  mag 
hier  unausgemacht  bleiben.  Aber  das  Halbiren  in 
einer  Zusammenstellung  heterogener  Dinge  führt 
auf  gar  keinen  bestimmten  Begriff,  und  zu  diesem 
kann  uns  in  der  Ordnung  der  Wesen  nach  ihrem 
uns  unbekannten  Klassenunterschiede  nichts  hin- 
leiten. Die  erste  Gegeneinanderstellung  (von  En- 
gelstugend und  teuflischem  Laster)  ist  üebertreibung. 
Die  zweite,  obzwar  Menschen  leider  1  auch  in 
viehische  Laster  fallen,  berechtigt  doch  nicht 
eine  zu  ihrer  Species  gehörige  Anlage  dazu 
ihnen  beizulegen,  sowenig,  als  die  Verkrüppelung 
einiger  Bäume  im  Walde  ein  Grund  ist,  sie  zu 
einer  besonderen  Art  von  Gewächsen  zu  machen.* 28) 


Zweiter  Abschnitt. 

Von  den  Tugendpflichten  gegen  andere  Menschen 
aus  der  ihnen  gebührenden  Achtung. 

§.  37. 
Mässigung    in  Ansprüchen    überhaupt,   d.  i.    frei- 
willige Einschränkung    der  Selbstliebe    eines  Menschen 


314    Tugendl.  Eth.  Elementarl.  II.  B.  I.  Hauptst.  11.  Abschn. 

durch  die  Selbstliebe  Anderer  heisst  Bescheidenheit 
Der  Mangel  dieser  Mässigung  oder  die f)  Unbeschei- 
denheit  in  Ansehung  der  Forderung,  ff)  von  Anderen 
geliebt  zu  werden,  ist  die  Eigenliebe  (pMlautia), 
Die  Unbescheidenheit  aber  in  der  Forderung,  von  An- 
deren geachtet  zu  werden,  ist  der  Eigendünkel  (a?To- 
gantia).  Achtung,  die  ich  für  Andere  trage,  oder  die 
ein  Anderer  von  mir  fordern  kann  {ohservantia  aliis 
praestanda),  ist  also  die  Anerkennung  einer  Würde 
{dignitas)  an  anderen  Menschen,  d.  i.  eines  Werths,  der 
keinen  Preis  hat,  kein  Aequivalent,  wogegen  das  Ob- 
jekt der  Werth Schätzung  (aestimii)  ausgetauscht  werden 
könnte.  —  Die  Beurtheilung  eines  Dinges,  als  eines 
solchen,  das  keinen  Werth  hat,  ist  die  Verachtung. 


§.  38. 

Ein  jeder  Mensch  hat  rechtmässigen  Anspruch  auf 
Achtung  von  seinen  Nebenmenschen,  und  wechsel- 
seitig ist  er  dazu  auch  gegen  jeden  Anderen  verbunden. 

Die  Menschheit  selbst  ist  eine  Würde;"  denn  der 
Mensch  kann  von  keinem  Menschen  (weder  von  An- 
deren, noch  sogar  von  sich  selbst)  bloss  als  Mittel, 
sondern  muss  jederzeit  zugleich  als  Zweck  gebraucht 
werden,  und  darin  besteht  eben  seine  Würde  (die  Per- 
sönlichkeit), dadurch  er  sich  über  alle  andere  Welt- 
wesen, die  nicht  Menschen  sind  und  doch  gebraucht 
werden  können,  mithin  über  alle  Sachen  erhebt.  Gleich- 
wie er  also  sich  selbst  für  keinen  Preis  weggeben  kann 
(welches  der  Pflicht  der  Selbstschätzung  widerstreiten 
würde),  so  kann  er  auch  nicht  der  eben  so  nothwendigen 
Selbstschätzung  Anderer,  als  Menschen,  entgegen  han- 
deln, d.  i.  er  ist  verbunden,  die  Würde  der  Menschheit 
an  jedem  anderen  Menschen  praktisch  anzuerkennen, 
mithin  ruht  auf  ihm  eine  Pflicht,  die  sich  auf  die  jedem 
anderen  Menschen  nothwendig  zu  erzeigende  Achtung 
bezieht.  . 


t)  .,oder  die"  Zusatz  der  2.  Ausg. 
tt)  1.  Ausg.:  „Würdigkeit" 


Pflichten  der  Achtung  gegen  Andere.    §  39.        3^5 

§.  39. 

Andere  verachten  (contemnere) ,  d.  i.  ihnen  die 
den  Menschen  überhaupt  schuldige  Achtung  weigern, 
ist  auf  alle  Fälle  pflichtwidrig;  denn  es  sind  Menschen. 
Sie  vergleichungsweise  mit  Anderen  innerlich  gering- 
schätzen (despicatui  habere)  ist  zwar  bisweilen  unver- 
meidlich, aber  die  äussere  Bezeigung  der  Geringschätzung 
ist  doch  Beleidigung.  —  Was  gefährlich  ist,  ist  kein 
Gegenstand  der  Verachtung  und  so  ist  es  auch  nicht 
der  Lasterhafte;  und  wenn  die  Ueberlegenheit  über  die 
Angrifl*e  desselben  mich  berechtigt  zu  sagen:  ich  ver- 
achte jenen,  so  bedeutet  das  nur  soviel,  als:  es  ist 
keine  Gefahr  dabei,  wenn  ich  gleich  gar  keine  Ver- 
theidigung  gegen  ihn  veranstalte,  weil  er  sich  in  seiner 
Verworfenheit  selbst  darstellt.  Nichts  desto  v/eniger 
kann  ich  selbst  dem  Lasterhaften  als  Menschen  nicht 
alle  Achtung  versagen,  die  ihm  wenigstens  in  der 
Qualität  eines  Menschen  nicht  entzogen  werden  kann; 
ob  er  zwar  durch  seine  That  sich  derselben  unwürdig 
macht.  So  kann  es  schimpfliche,  die  Menschheit  selbst 
entehrende  Strafen  geben  (wie  das  Viertheilen,  von 
Hunden  zerreissen  lassen,  Nasen  und  Ohren  abschneiden), 
die  nicht  bloss  dem  Bestraften  (der  noch  auf  Achtung 
Anderer  Anspruch  macht,  was  ein  Jeder  thun  muss) 
durch  diese  Entehrung  schmerzhafter  sindf),  als  der 
Verlust  der  Güter  und  des  Lebens,  sondern  auch  dem 
Zuschauer  Schamröthe  abjagen,  zu  einer  Gattung  zu 
gehören,  mit  der  man  so  verfahren  darf. 

Anmerkung. 

Hierauf  gründet  sich  eine  Pflicht  der  Achtung 
für  den  Menschen  selbst  im  logischen  Gebrauch 
seiner  Vernunft :  die  Fehltritte  derselben  nicht  unter 
dem  Namen  der  Ungereimtheit,  des  abgeschmackten 
Urtheils  u.  dgl.  zu  rügen,  sondern  vielmehr  voraus- 
zusetzen, dass  in  demselben  doch  etwas  Wahres 
sein  müsse,  und  dieses  herauszusuchen;  dabei  aber 


t)  1.  Ausg.:    „die  nicht  bloss  dem  Ehrliebenden    (der 
auf  Achtung  .  .  .  muss,)  schmerzhafter  sind" 


316     Tugendl.  Eth.  Elementarl.  II.  B.  I.  Haiiptst.  II.  Abschn. 

auch  zugleich  den  trüglichen  Schein  (das  Subjektive 
der  Bestimmungsgründe  des  ürtheils,  was  durch 
ein  Versehen  für  objektiv  gehalten  wurde)  aufzu- 
decken, und  so,  indem  man  die  Möglichkeit  zu 
irren  erklärt,  ihm  noch  die  Achtung  für  seinen 
Verstand  zu  erhalten.  Denn  spricht  man  seinem 
Gegner  in  einem  gewissen  Urtheile  durch  jene  Aus- 
drücke allen  Verstand  ab,  wie  will  man  ihn  dann 
darüber  verständigen,  dass  er  geirrt  habe?  — 
Ebenso  ist  es  auch  mit  dem  Vorwurf  des  Lasters 
bewandt,  welcher  nie  zur  völligen  Verachtung  des 
Lasterhaften  ausschlagen,  nie  ihm  allen  moralischen 
Werth  absprechen  mussf);  weil  er,  nach  dieser 
Hypothese,  auch  nie  gebessert  werden  könnte; 
welches  mit  der  Idee  eines  Menschen,  der,  als 
solcher  (als  moralisches  Wesen),  nie  alle  Anlage 
zum  Guten  eiubüssen  kann,  unvereinbar  ist. 


§.  40. 

Die  Achtung  vor  dem  Gesetze,  welche  subjektiv  als 
moralisches  Gefühl  bezeichnet  wird,  ist  mit  dem  Be- 
wusstsein  seiner  Pflicht  einerlei.  Eben  darum  ist  auch 
die  Bezeigung  der  Achtung  vor  dem  Menschen  als  einem 
moralischen  (seine  Pflicht  hochschätzenden)  Wesen  selbst 
eine  Pflicht,  die  Andere  gegen  ihn  haben,  und  ein  Recht, 
worauf  er  den  Anspruch  nicht  aufgeben  kann.  —  Man 
nennt  diesen  Anspruch  Ehrliebe,  deren  Phänomen  im 
äusseren  Betragen  Ehrbarkeit  (Jionestas  eoeterna)^  der 
Verstoss  dawider  aber  Skandal  heisst:  ein  Beispiel  der 
Nichtachtung  derselben,  das  Nachfolge  bewirken  dürfte; 
welches  zu  geben  höchst  pflichtwidrig,  hingegen  an 
dem,  was  bloss  als  Abweichung  von  der  gemeinen 
Meinung  aufi'allend  (j^aradoxon),  sonst  aber  an  sich  gut 
ist,  solches  zu  nehmen,  ft)  ein  Wahn  (da  man  das 
Nichtgebräuchliche  auch  für  nicht  erlaubt  hält),  und  ein 
der  Tugend  gefährlicher  und  verderblicher  Fehler  ist.  — 


t)  1.  Ausg.:    „Verachtung  und  Absprechung  alles  mo- 
ralischen Werths  des  Lasterhaften  ausschlagen  muss" 

tt)  1.  Ausgabe:    „pflichtwidrig,   aber   am  bloss  Wider- 
sinnischen [paradoxonjj  sonst  an  sich  Guten  zu  nehmen'' 


V.  d.  die  Achtung  geg.  Andere  verletzend.  Lastern.  §.42.     3x7 

Denn  die  schuldige  Achtung  für  andere,  ein  Beispiel 
gebende  Menschen  kann  nicht  bis  zur  blinden  Nach- 
ahmung (da  der  Gebrauch,  mos,  zur  Würde  eines  Ge- 
setzes erhoben  wird)  ausarten  5  als  welche  Tyrannei  der 
Volkssitte  der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst 
zuwider  sein  würde. 

§.   41. 

Die  Unterlassung  der  blossen  Liebespflichten  ist  Un- 
tugend (peccatum).  Aber  die  Unterlassung  der  Pflicht, 
die  aus  der  schuldigen  Achtung  für  jeden  Menschen 
überhaupt  hervorgeht,  ist  Laster  ((;^i^mn).  Denn  durch 
die  Verabsäumung  der  ersteren  wird  kein  Mensch  be- 
leidigt; durch  die  Unterlassung  aber  der  zweiten  ge- 
schieht dem  Menschen  Abbruch  in  Ansehung  seines 
gesetzmässigen  Anspruchs.  —  Die  erstere  Uebertretung 
ist  das  Pflichtwidrige  des  Widerspiels  {contrarie  op- 
positum  virtutis).  Was  aber  nicht  allein  keine  mo- 
ralische Zuthat  ist,  sondern  sogar  den  Werth  derjenigen, 
die  sonst  dem  Subjekt  zu  Gute  kommen  würde,  aufhebt, 
ist  Laster. 

Eben  darum  werden  auch  die  Pflichten  gegen  den 
Nebenmenschen  aus  der  ihm  gebührenden  Achtung  nur 
negativ  ausgedrückt,  d.  i.  diese  Tugendpflicht  wird  nur 
indirekt  (durch  das  Verbot  des  Gegentheilsf)  ausge- 
drückt werden.  ^2'-^) 


Von  den  die  Pflichten  der  Achtung  für  andere 
Menschen  verletzenden  Lastern. 

Diese   Laster   sind:    A)  der   Hochmuth,    B)   das 
Afterreden  und  C)  die  Verhöhnung. 

A. 
Der  Hochmuth. 

§.  42. 
Der  Hochmuth    {superhia  und,    wie   dieses  Wort 
es  ausdrückt,  die  Neigung,  immer  oben  zu  schwimmen,^ 


t)  1.  Ausg.:  „Widerspiels'' 


318     Tugend!.  Eth.  Elementar!.  11.  B.  I.  Hauptst.  n.  Abschn. 

ist  eine  Art  von  Ehrbegierde  {amhitio),  nacli  welclier 
wir  anderen  Mensctien  ansinnen,  sich  selbst  in  Verglei- 
chung  mit  uns  gering  zu  schätzen,  und  ist  also  ein  der 
Achtung,  woraut  jeder  Mensch  gesetzmässigen  Anspruch 
machen  kann,  widerstreitendes  Laster. 

Er  ist  vom  Stolz  {animus  elatus),  als  Ehr  liebe, 
d.  i.  Sorgfalt,  seiner  Menschenwürde  in  Vergleichung  mit 
Anderen  nichts  zu  vergeben,  (der  daher  auch  mit  dem 
Beiwort  des  edlen  belegt  zu  werden  pflegt,)  unter- 
schieden; denn  der  Hochmuth  verlangt  von  Anderen 
eine  Aclitung,  die  er  ihnen  doch  verweigert.  —  Aber 
dieser  Stolz  selbst  wird  doch  zum  Fehler  und  Beleidi- 
gung, wenn  er  auch  bloss  ein  Ansinnen  an  Andere 
ist,  sich  mit  seiner  Wichtigkeit  zu  beschäftigen. 

Dass  der  Hochmuth,  welcher  gleichsam  eine  Bewer- 
bung des  Ehrsüchtigen  um  Nachtreter  ist,  und  denen 
verächtlich  zu  begegnen  er  sich  berechtigt  glaubt,  un- 
gerecht und  der  schuldigen  Achtung  für  Menschen 
überhaupt  widerstreitend  sei;  dass  er  Thorheit  d.  i. 
Eitelkeit  im  Gebrauch  der  Mittel  zu  etwas,  was  in  einem 
gewissen  Verhältnisse  gar  nicht  den  Werth  hat,  um 
Zweck  zu  sein;  ja  dass  er  sogar  Narrheit,  d.  i.  ein 
beleidigender  Unverstand  sei,  sich  solcher  Mittel,  die  an 
Anderen  gerade  das  Widerspiel  seines  Zwecks  hervor- 
bringen müssen,  zu  bedienen;  denn  dem  Hochmüthigen 
weigert  ein  Jeder  um  desto  mehr  seine  Achtung,  je  be- 
strebter er  sich  darnach  bezeigt;  —  dies  alles  ist  für 
sich  klar.  Weniger  möchte  doch  angemerkt  worden 
sein,  dass  der  Hochmüthige  jederzeit  im  Grunde  seiner 
Seele  niederträchtig  ist.  Denn  er  würde  Anderen 
nicht  ansinnen,  sich  selbst  in  Vergleichung  mit  ihm  ge- 
ring zu  halten,  fände  er  nicht  bei  sich,  dass,  wenn  ihm 
das  Glück  umschlüge,  er  es  gar  nicht  hart  finden  würde, 
nun  seinerseits  auch  zu  kriechen  und  auf  alle  Achtung 
Anderer  Verzicht  zu  thun.^^O) 

B. 
Das  Afterreden. 

§.  43. 
Die  üble  Nachrede  (ohtrectatio)  oder  das  Afterreden, 
worunter   ich   nicht    die  Verleumdung   {contumelia), 


Von  d.  die  Achtung  geg.  And.  verletzend.  Lastern.  §.44.     3^9 

eine  falsche,  vor  Recht  zu  ziehende  Nachrede,  sondern 
bloss  die  unmittelbare,  auf  keine  besondere  Absicht  an- 
gelegte Neigung  verstehe,  etwas  der  Achtung  für  Andere 
Nachtheiliges  ins  Gerücht  zu  bringen,  ist  der  schuldigen 
Achtung  gegen  die  Menschheit  überliaupt  zuwider;  weil 
jedes  gegebene  Skandal  diese  Achtung,  auf  welcher  doch 
der  Antriob  zum  Sittiichguten  beruht,  schwächt  und, 
soviel  möglich,  gegen  sie  ungläubig  macht. 

Die  geflissentliche  Verbreitung  {lyropalatio)  des- 
jenigen, was  die  Ehre  eines  Andern  schmälert,  wenn  es 
auch  nicht  zur  öffentlichen  Gerichtsbarkeit  gehört,  ge- 
setzt, dass  es  übrigens  auch  wahr  wäret)  ist  die  Ver- 
ringerung der  Achtung  für  die  Menschheit  überhaupt, 
um  endlich  auf  unsere  Gattung  selbst  den  1:^ chatten  der 
Nichtswürdigkeit  zu  werfen  und  Misanthropie  (Menschen- 
scheu) oder  Verachtung  zur  herrschenden  Denkungsart 
zu  machen,  oder  sein  moralisches  Gefühl  durch  den 
öfteren  Anblick  derselben  abzustumpfen  und  sich  daran 
zu  gewöhnen.  Es  ist  also  Tugendpflicht,  statt  einer 
hämischen  Lust  an  der  Biossstellung  der  Fehler  Anderer, 
um  sich  dadurch  die  Meinung,  gut,  wenigstens  nicht 
schlechter,  als  alle  andern  Menschen  zu  sein,  zu  sichern, 
den  Schleier  der  Menschenliebe  nicht  bloss  durch  Mil- 
derung unserer  ürtheile,  sondern  auch  durch  Verschwei- 
gung derselben,  über  die  Fehler  Anderer  zu  werfen; 
weil  Beispiele  der  Achtung,  welche  wir  Anderen  ff) 
geben,  auch  die  Bestrebung  rege  machen  können,  sie 
gleichmässig  zu  verdienen.  —  Um  deswillen  ist  die 
Ausspähungssucht  der  Sitten  Anderer  {allotrioepiscopia) 
auch  für  sich  selbst  schon  ein  beleidigender  Vorwitz 
der  Menschenkunde,  welchem  Jedermann  sich  mit  Recht 
als  einer  Verletzung  der  ihm  schuldigen  Achtung  wider- 
setzen kann.131) 

C. 
Die  Verhöhnung. 

§.  44. 
Die   leichtfertige   Tadelsucht    und    der  Hang, 
Andere  zum  Gelächter  blosszustellen,  die  Spottsucht, 

1")  1.  Ausg.:  „es  mag  übrigens  auch  wahr  sein" 
tt)  1.  Ausg.:  „uns  Andere" 


320    Tugendl.  Eth.  Elementarl.  II.  B.  I.  Hauptst.  II.  Abschn. 

um  die  Fehler  eines  Anderen  zum  unmittelbaren  Gegen- 
stande seiner  Belustigung  zu  machen,  ist  Bosheit,  und 
von  dem  Scherz,  der  Vertraulichkeit  unter  Freunden, 
gewisse  Sonderbarkeiten  nurf)  zum  Schein  als  Fehler, 
in  der  That  aber  als  Vorzüge  des  Muths,  bisweilen 
auch  ausser  der  Regel  der  Mode  zu  sein,  zu  belachen 
(welches  dann  kein  Hohnlachen  ist),  gäij^lich  unter- 
schieden. Wirkliche  Fehler  aber,  oder,  gleich  als  ob 
sie  wirklich  wären,  angedichtete,  welche  die  Person 
ihrer  verdienten  Achtung  zu  berauben  abgezweckt  sind, 
dem  Gelächter  blosszustellen ,  und  der  Hang  dazu,  die 
bittere  Spottsucht  {><piritus  causticus) ^  hat  etwas  von 
teuflischer  Freude  an  sich,  und  ist  darum  eben  eine 
desto  härtere  Verletzung  der  Pflicht  der  Achtung  gegen 
andere  Menschen. 

Hievon  ist  doch  die  scherzhafte,  wenngleich  spottende 
Abweisung  der  beleidigenden  Angriffe  eines  Gegners  mit 
Verachtung  {retorsio  jocosa)  unterschieden,  wodurch  der 
Spötter  (oder  überhaupt  ein  schadenfroher,  aber  kraft- 
loser Gegner)  gleichmässig  verspottet  wird,  und  recht- 
mässige Vertheidigung  der  Achtung,  die  er  von  jenem 
fordern  kann.  Wenn  aber  der  Gegenstand  eigentlich 
kein  Gegenstand  für  den  Witz,  sondern  ein  solcher  ist, 
an  welchem  die  Vernunft  nothwendig  ein  moralisches 
Interesse  nimmt,  so  ist  es,  der  Gegner  mag  noch  soviel 
Spötterei  ausgestossen,  hiebei  aber  auch  selbst  zugleich 
noch  soviel  Blossen  zum  Belachen  gegeben  haben,  der 
Würde  des  Gegenstandes  und  der  Achtung  für  die 
Menschheit  angemessener,  dem  Angriffe  entweder  gar 
keine,  oder  eine  mit  Würde  und  Ernst  geführte  Ver- 
theidigung entgegenzusetzen.*'^-) 

Anmerkung. 

Man  wird  wahrnehmen,  dass  unter  dem  vorher- 
gehenden Titel  nicht  sowohl  Tugenden  angepriesen, 
als  vielmehr  die  ihnen  entgegenstehenden  Laster 
getadelt  werden;  das  liegt  aber  schon  in  dem  Be- 
griffe der  Achtung,  sowie  wir  sie  gegen  andere 
Sienschen  zu  beweisen  verbunden  sind,  welche  nur 


t)  1.  Ausg.:  „Freunden,  sie  nur" 


i 


Von  den  ethischen  Pflichten  der  Menschen  etc.  §.  45.     321 

eine  negative  Pflicht  ist.  —  Ich  bin  nicht  ver- 
bunden, Andere  (bloss  als  Menschen  betrachtet), 
zu  verehren,  d.  i.  ihnen  positive  Hochachtung 
zu  beweisen.  Alle  Achtung,  zu  der  ich  von  Natur 
verbunden  bin,  ist  die  vor  dem  Gesetz  überhaupt 
{reverere  legem)  und  dieses  auch  in  Beziehung  auf 
andere.  Menschen  zu  befolgen  f);  nicht  aber  andere 
Menschen  überhaupt  zu  verehren  (reverentia  ad- 
versus  liominem),  oder  hierin  ihnen  etwas  zu  leisten, 
ist  allgemeine  und  unbedingte  Menschenpflicht  gegen 
Andere,  welche,  als  die  ihnen  ursprünglich  schuldige 
Achtung  {ohservcmtia  dehita)  von  jedem  gefordert 
werden  kann. 

Die  verschiedene,  Anderen  zu  beweisende  Ach- 
tung nach  Verschiedenheit  der  Beschaffenheit  der 
Menschen,  oder  ihrer  zufälligen  Verhältnisse,  näm- 
lich der  des  Alters,  des  Geschlechts,  der  Abstam- 
mung, der  Stärke  oder  Schwäche,  oder  gar  des 
Standes  und  der  Würde,  welche  zum  Theil  auf  be- 
liebigen Anordnungen  beruhen,  darf  in  metaphy- 
sischen Anfangsgründen  der  Tugendlehre  nicht 
ausführlich  dargestellt  und  klassifizirt  werden,  da  es 
hier  nur  um  die  reinen  Vernunftprinzipien  derselben 
zu  thun  ist. 


Zweites  Hauptstück. 

Von  den  ethischen  Pflichten  der  Menschen  gegen  einander   hi 
Ansehung  ihres  Zustand  es. 

§.  45. 

Diese  Tugendpflichten  können  zwar  in  der  reinen 
Ethik  keinen  Anlass  zu  einem  besondern  Hauptstück 
im  System  derselben  geben;  denn  sie  enthalten  nicht 
Prinzipien  der  Verpflichtung  der  Menschen  als  solcher 
gegen    einander,    und    können    also    von    den    meta- 

t)  „auch  in  Beziehung  auf  andere  Menschen  zu  befolgen'' 
Zusatz  der  2.  Ausg. 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  21 


o22     Tugendl.  Ethische  Elementarl.    II.  B.  II.  Hauptsttick. 

physischen  Anfangsgründen  der  Tugendlehre  eigent- 
lich nicht  einen  Theil  abgeben;  sondern  sind  nur,  nach 
Verschiedenheit  der  Subjekte  der  Anwendung  de» 
Tugendprinzips  (dem  Formale  nach)  auf  in  der  Erfahrung 
vorkommende  Fälle  (das  Materiale)  modifizirte  Regeln, 
weshalb  sie  auch,  wie  alle  empirischen  Eintheilungen, 
keine  gesichert  -  vollständige  Klassifikation  zulassen. 
Indessen,  gleichwie  von  der  Metaplwsik  der  Natur  zur 
Physik  ein  Ueberschritt,  der  seine  besondern  Regeln 
hat,  verlangt  wird;  so  wird  der  Metaphysik  der  Sitten 
ein  Aehnliches  mit  Recht  angesonnen:  nämlich  durch 
Anwendung  reiner  Pflichtprinzipien  auf  Fälle  der  Er- 
fahrung jene  gleichsam  zu  schematisiren  und  zum 
moralisch  -  praktischen  Gebrauch  fertig  darzulegen.  — 
Welches  Verhalten  also  gegen  Menschen  z.  B.  in  der 
moralischen  Reinigkeit  ihres  Zustandes  oder  in  ihrer 
Verdorbenheit;  welches  im  kultivirten  oder  rohen  Zu- 
stande zu  beobachten  sei;  welches  Verhalten  dem  Ge- 
lehrten oder  üngelehrten  gezieme  und  welches  den  im 
Gebrauch  seiner  Wissenschaft  als  umgänglichen  (ge- 
schliffenen), oder  in  seinem  Fach  unumgänglichen  Ge- 
lehrten (Pedanten),  den  pragmatischen  oder  mehr  auf 
Geist  und  Geschmack  ausgehenden  Gelehrten  charakteri- 
sire;  welches  nach  Verschiedenheit  der  Stände,  des  Al- 
ters, des  Geschlechts,  des  Gesundheitszustandes,  des 
der  Wohlhabenheit  oder  Armuth  u.  s.  w.  zu  beobachten 
sei:t)  das  giebt  nicht  so  vielerlei  Arten  der  ethischen 
Verpflichtung  (denn  es  ist  nur  eine,  nämlich  die 
der  Tugend  überhaupt),  sondern  nur  Arten  der  An- 
wendung (Porismen)  ab;  die  also  nicht,  als  Abschnitte 
der  Ethik  und  Glieder  der  Eintheilung  eines  Systems 
(das  a  lyriori  aus  einem  Vernunftbegriffe  hervorgehen 
muss),  aufgeführt,  sondern  nur  angehängt  werden  können. 
—  Aber  eben  diese  Anwendung  gehört  zur  Vollständig- 
keit der  Darstellung  desselben.  »^3) 

t)  1,  Ausg.:  „welches  im  kultivirten  oder  rohen  Zu- 
stande; was  den  Gelehrten  oder  Ungelehrten,  und  jenen  im 
Gebrauch  ihrer  Wissenschaft  als  umgänglichen  (geschliffenen) 
oder  in  ihrem  Fach  unumgänglichen  Gelehrten  (Pedanten;, 
pragmatischen  oder  .  .  .  ausgehenden,  welches  nach  Ver- 
schiedenheit .  .  .  Armuth  u.  s.  w.  zukomme:" 


Von  der  Freundschaft.  .§.  46.  323 


BescMuss  der  Elementarlehre. 

Von   der  innigsten  Vereinigung  der  Liebe  mit  der 
AclituDg  in  der  Freundschaft. 

§.  46. 

Freundschaft  (in  ihrer  Voilkommenheit  betrachtet) 
ist  die  Vereinigung  zweier  Personen  durch  gleiche 
wechselseitige  Liebe  und  Achtung.  —  Man  sieht  leicht, 
dass  sie  ein  Ideal  der  Theilnehmung  und  Mittheilung 
an  dem  Wohl  eines  jeden  dieser,  durch  den  moralisch 
guten  Willen  Vereinigten  sei,  und  wenn  es  auch  nicht 
das  ganze  Glück  des  Lebens  bewirkt,  die  Aufnahme 
desselben  in  ihre  beiderseitige  Gesinnung  die  Würdig- 
keit enthalte,  glücklich  zu  sein,  mithin  dass  Freund- 
schaft unter  Menschen  zu  suchen  Pflicht  derselben  ist. 
—  Dass  aber,  obwohl  nach  Freundschaft  als  einem 
Maximum  der  guten  Gesinnung  gegeneinander  zu  streben 
eine  von  der  Vernunft  aufgegebene,  nicht  etwa  gemeine, 
sondern  ehrenvolle  Pflicht  ist,  dennoch  eine  vollkommene 
Freundschaft  eine  blosse,  aber  doch  praktisch  noth- 
wendige  Idee,  in  jeder  Ausübung  unerreichbar  seif); 
ist  leicht  zu  ersehen.  Denn  wie  ist  es  für  den  Men- 
schen in  Verhältniss  zu  seinem  Nächsten  möglich,  die 
Gleichheit  eines  der  dazu  erforderlichen  Stücke  eben- 
derselben Pflicht  (z.  B.  des  wechselseitigen  Wohlwollens) 
in  dem  Einen  mit  ebenderselben  Gesinnung  im  Anderen 
auszumitteln,  oder,  was  noch  mehr  ist,  zu  erforschen, 
welches  tt)  Verhältniss  das  Gefühl  aus  der  einen  Pflicht 
zu  dem  aus  der  anderen  (z.  B.  das  aus  dem  Wohlwollen 
zu  dem    aus    der  Achtung)   in   derselben  Person   habe, 


t)  1.  Ausg. :  „Dass  aber  Freundschaft  eine  blosse  (aber 
doch  praktisch  nothwendige)  Idee,  in  der  Ausübung  zwar 
unerreichbar,  aber  doch  darnach  (als  einem  Maximum  der 
guten  Gesinnung  gegen  einander)  zu  streben,  nicht  etwa 
gemeine,  sondern  ehrenvolle  Pflicht  sei," 

tt)  1.  Ausg. :  „auszumitteln;  noch  mehr  aber  welches" 

21* 


324       Tugendlehre.    Beschluss  der  Elementarlehre. 

und  ob,  wenn  die  eine  in  der  Liebe  inbrünstiger  ist^ 
sie  nicht  eben  dadurch  in  der  Achtung  des  Anderen 
etwas  einbüsse?  Wie  lässt  sich  also  erwarten,  dass 
von  beiden  Seiten  Liebe  und  Hochschätzung  subjektiv 
in  das  Ebenmaass  des  Gleichgewichts  gebracht  werden 
sollet)?  welches  doch  zur  Freundschaft  erforderlich  ist? 
■ —  Denn  man  kann  jene  als  Anziehung,  diese  als  Ab- 
stossung  betrachten,  so  dass  das  Prinzip  der  ersteren 
Annäherung  gebietet,  das  der  zweiten  sich  einander  in 
geziemendem  Abstände  zu  halten  fordert;  eine  Ein- 
schränkung der  Vertraulichkeit,  welche  durch  ff)  die 
Eegel:  dass  auch  die  besten  Freunde  sich  unter  einander 
nicht  gemein  machen  sollen,  ausgedrückt,  eine 
Maxime  enthält,  die  nicht  bloss  dem  Höheren  gegen 
den  Niedrigen,  sondern  auch  umgekehrt  gilt.  Denn  der 
Höhere  fühlt,  ehe  man  es  sich  versieht,  seinen  Stolz  ge- 
kränkt, und  will  die  Achtung  des  Niedrigen,  etwa  für 
einen  Augenblick  aufgeschoben,  nicht  aber  aufgehoben 
wissen,  welche  aber  einmal  verletzt,  innerlich  unwider- 
bringlich verloren  ist;  wenngleich  die  äussere  Bezeich- 
nung derselben  (das  Ceremoniel)  wieder  in  den  alten 
Gang  gebracht  wird. 

Freundschaft  also  in  ihrer  Reinigkeit  oder  Vollstän- 
digkeit als  erreichbar  (zwischen  Orestes  und  Pylades, 
Theseus  und  Pirithous)  gedacht,  ist  das  Steckenpferd 
der  Romauschreiber;  wogegen  Aristoteles  sagt:  meine 
lieben  Freunde,  es  giebt  keinen  Freund?  Auch  können 
noch  folgende  Anmerkungen  auf fff)  die  Schwierigkeiten 
derselben  aufmerksam  machen. 

Moralisch  erwogen,  ist  es  freilich  Pflicht,  dass  ein 
Freund  dem  anderen  seine  Fehler  bemerklich  mache; 
denn  das  geschieht  ja  zu  seinem  Besten  und  es  ist  also 
Liebespflicht.  Seine  andere  Hälfte  aber  sieht  hierin 
einen  Mangel  der  Achtung,  die  er  von  jenem  erwartete, 


t)  1.  Ausg.:  „einbüsse,  so  dass  beiderseitige  Liebe  und 
Hochschätzung  subjektiv  schwerlich  in  das  Ebenmaass  des 
Gleichgewichts  gebracht  werden  wird;" 

tf}  1.  Ausg. :  „welche  Einschränkung  der  Vertraulichkeit 
durch" 

ttt^  L  Ausg.:  „Folgende  Anmerkungen  können  auf 


Von  der  Freundschaft.   §.  46.  325 

und  glaubt  entweder  darin  schon  gesunken  zu  sein, 
oder  fürchtet  wenigstens,  da  er  von  dem  Anderen  be- 
obachtet und  insgeheim  kritisirt  wird,  immer  die  Gefahr, 
seine  Achtung  zu  verlieren t);  wie  dann  selbst,  dass 
er  beobachtet  und  gemeistert  werden  solle,  ihm  schon 
für  sich  selbst  beleidigend  zu  sein  dünken  wird. 

Ein  Freund  in  der  Noth,  wie  erwünscht  ist  er  nicht; 
wohl  zu  verstehen,  wenn  er  ein  thätiger,  mit  eigenem 
Aufwände  hülfreicher  Freund  ist?  Aber  es  ist  doch 
auch  eine  grosse  Last,  sich  an  Anderer  ihrem  Schicksal 
angekettet  und  mit  fremdem  Bedürfniss  beladen  zu 
fühlen.  —  Die  Freundschaft  kann  also  nicht  eine  auf 
wechselseitigen  Vortheil  abgezweckte  Verbindung,  son- 
dern diese  rauss  rein  moralisch  sein,  und  der  Beistand, 
auf  den  jeder  von  beiden  von  dem  Anderen  im  Falle 
der  Noth  rechnen  darf,  muss  nicht  als  Zweck  und  Be- 
stimmungsgrund zu  derselben,  —  dadurch  würde  er  die 
Achtung  des  andern  Theils  verlieren,  —  sondern  kann 
nur  als  äussere  Bezeichnung  des  inneren  herzlich  ge- 
raeinten Wohlwollens,  ohne  es  doch  auf  die  Probe,  als 
die  immer  gefährlich  ist,  ankommen  zu  lassen,  gemeint 
sein,  indem  ein  jeder  grossmüthig  den  Anderen  dieser 
Last  zu  überheben,  sie  für  sich  allein  zu  tragen,  ja 
ihm  sie  gänzlich  zu  verhehlen  bedacht  ist,  sich  aber 
immer  doch  damit  schmeicheln  kann,  dass  im  Falle  der 
Noth  er  auf  den  Beistand  des  Anderen  sicher  würde 
rechnen  können.  Wenn  aber  einer  von  dem  Anderen 
eine  Wohlthat  annimmt,  so  kann  er  wohl  vielleicht 
auf  Gleichheit  in  der  Liebe,  aber  nicht  in  der  Achtung 
rechnen,  denn  er  sieht  sich  offenbar  eine  Stufe  niedriger, 
verbindlich  zu  sein  und  nicht  gegenseitig  verbinden  zu 
können.  —  Freundschaft  ist,  bei  der  Süssigkeit  der 
Empfindung  des  bis  zum  Zusammenschmelzen  in  eine 
Person  sich  annähernden  wechselseitigen  Besitzes,  doch 
zugleich  etwas  so  Zartes  {teneritas  amicitiae),  dass, 
wenn  man  sie  auf  Gefühlen  beruhen  lässt,  und  dieser 
wechselseitigen  Mittheilung  und  Ergebung  nicht  Grund- 

t)  1.  Ausg.:  „erwartete,  und  zwar,  dass  er  entweder 
darin  schon  gefallen  sei,  oder,  da  er  von  dem  Anderen 
beobachtet  und  insgeheim  kritisirt  wird,  Gefahr  läuft,  in 
den  Verlust  seiner  Achtung  zu  fallen;" 


326       Tugendlehre.    Beschluss  der  Elementarlehre. 

Sätze,  oder  feste f),  das  Gemeinmachen  verhütende  und 
die  Wechselliebe  durch  Forderungen  der  Achtung  ein- 
schränkende Regeln  unterlegt,  sie  keinen  Augenblick 
vor  Unterbrechungen  sicher  ist;  dergleichen  unter 
unkultivirten  Personen  gewöhnlich  sind,  ob  sie  zwar 
darum  eben  nicht  immer  Trennung  bewirken  (denn 
Pöbel  schlägt  sich  und  Pöbel  verträgt  sich);  sie  können 
von  einander  nicht  lassen,  aber  sich  auch  nicht  unter 
einander  einigen,  weil  das  Zanken  selbst  ihnen  Bedürf- 
niss  ist,  um  die  Süssigkeit  der  Eintracht  in  der  Ver- 
söhnung zu  schmecken.  —  Auf  alle  Fälle  aber  kann 
die  Liebe  in  der  Freundschaft  nicht  Affekt  sein;  weil 
dieser  in  der  Wahl  blind  und  in  der  Fortsetzung  ver- 
rauchend ist.134) 

§.  47. 

Moralische  Freundschaft  (zum  Unterschiede  von 
der  ästhetischen)  ist  das  völlige  Vertrauen  zweier  Per- 
sonen in  wechselseitiger  Eröffnung  ihrer  geheimen  Ur- 
theile  und  Empfindungen,  so  weit  sie  mit  beiderseitiger 
Achtung  gegen  einander  bestehen  kann. 

Der  Mensch  ist  ein  für  die  Gesellschaft  bestimmtes, 
obzwar  doch  auch  ungeselliges  Wesen,  und  in  der  Kultur 
des  gesellschaftlichen  Zustandes  fühlt  er  mächtig  das 
Bedürfniss  sich  Anderen  zu  eröffnen,  selbst  ohne  etwas 
dabei  zu  beabsichtigen;  andererseits  aber  wird  er  auch 
durch  die  Furcht  vor  dem  Missbrauch,  den  Andere  von 
dieser  Aufdeckung  seiner  Gedanken  macheu  dürften, 
beengt  und  gewarnt,  und  sieht  er  sich  daher  genöthigt, 
einen  guten  Theil  seiner  Urtheile,  vornehmlich  über 
andere  Menschen,  in  sich  selbst  zu  verschliessen. 
Er  möchte  sich  gern  darüber  mit  irgend  Jemand  unter- 
halten, wie  er  über  die  Menschen,  mit  denen  er  umgeht, 
wie  er  über  die  Regierung,  Religion  u.  s.w.  denkt;  aber 
er  darf  es  nicht  wagen;  weil  Andere,  indem  sie  ihr 
Urtheil  behutsam  zurückhalten,  davon  zu  seinem  Schaden 
Gebrauch  machen  könnten.  Er  möchte  auch  wohl  An- 
dern seine  Mängel  und  Fehler  eröffnen;  aber  er  muss 
fürchten,  dass  der  Andere  die  seinigen  verhehlen,   und 


+)  „feste"  Zusatz  der  2.  Ausg. 


I 


Von  der  Freundschaft.   §.  47.  327 

er   so   in    der  Achtung   desselben   einbüssen   möchtet), 
wenn  er  sich  ganz  offenherzig  gegen  ihn  darstellte. 

Findet  er  also  einen  Menschen,  der  gute  Gesinnungen 
und  Verstand  hat,  so  dass  er  ihm,  ohne  jene  Gefahr 
besorgen  zu  dürfen,  sein  Herz  mit  völligem  Vertrauen 
aufschliessen  kanU}  und  der  überdem  in  der  Art  die 
Dinge  zu  beurtheilen  mit  ihm  tibereinstimmt  ff),  so  kann 
er  seinen  Gedanken  Luft  machen;  er  ist  mit  seinen  Ge- 
danken nicht  völlig  allein,  wie  im  Gefängniss,  sondern 
geniesst  eine  Freiheit,  die  er  in  dem  grossen  Haufen 
entbehrt,  wo  er  sich  in  sich  selbst  verschliessen  muss. 
Ein  jeder  Mensch  hat  Geheimnisse  und  darf  sich  nicht 
blindlings  Anderen  anvertrauen;  theils  wegen  der  un- 
edeln  Denkungsart  der  Meisten,  davon  einen  ihm  nach- 
theiligen Gebrauch  zu  machen,  theils  wegen  des  Un- 
verstandes Mancher  in  der  Beurtheilung  und  Unter- 
scheidung dessen,  was  sich  nachsagen  lässt,  oder  nicht; 
oder  der  Indiskretion.  Nun  ist  es  aber  äusserst  selten, 
jene  Eigenschaften  zusammen  in  einem  Subjekt  anzu- 
treffen fff)  (rara  avis  in  terrisj  nigroque  simiUima 
cygno)  *),  zumal  da  die  engste  Freundschaft  es  verlangt, 
dass  dieser  verständige  und  vertraute  Freund  sich  ver- 
bunden achte,  ein  ihm  anvertrautes  Geheimniss fftt) 
einem  Anderen,  für  eben  so  zuverlässig  gehaltenen, 
ohne  des  ersteren,  der  es  ihm  anvertraute,  ausdrückliche 
Erlaubniss  nicht  mitzutheilen. 


t)  1.  Ausg.:  „nicht  wagen;  theils  weil  der  Andere,  der 
sein  Urtheil  behutsam  zurückhält,  davon  zu  seinem  Schaden 
Gebrauch  machen,  theils,  was  die  Eröffnung  seiner  eigenen 
Fehler  betrifft,  der  Andere  die  seinigen  .  .  .  einbüssen 
würde," 

tt)  1.  Ausg.:  „Findet  er  also  einen,  der  Verstand  hat 
bei  dem  er  in  Ansehung  jener  Gefahr  gar  nicht  besorgt 
sein  darf,  sondern  dem  er  sich  mit  völligem  Vertrauen 
eröffnen  kann,  der  überdem  auch  eine  mit  der  seinigen 
übereinstimmende  Art,  die  Dinge  zu  beurtheilen  an  sich  hat," 

ttt)  1.  Ausg. :  „oder  nicht  (der  Indiskretion),  welche  Eigen- 
schaften .  .  .  anzutreffen  selten  ist" 

tttt)  1.  Ausg.:  „verbunden  ist,   ebendasselbe  ihm  anver- 
traute Geheimniss'' 

*)  ^Ein  seltner  Vogel  auf  Erden,  gleich  dem  schwarzen 
Schwan).    A.  d.  H. 


328       Tugendlehre.    Beschluss  der  Elementarlehre. 

Indess  ist  doch  die  bloss  moralische  Freundschaft 
kein  Ideal  f),  sondern  der  schwarze  Schwan  existirt 
wirklich  hin  und  wieder  in  seiner  Vollkommenheit; 
jene  aber,  mit  den  Zwecken  anderer  Menschen  sich, 
obzwar  aus  Liebe,  belästigende  (pragmatische)  Freund- 
schaft tt)  kann  weder  die  Lauterkeit,  noch  die  verlangte 
Vollständigkeit  haben,  die  zu  einer  genau  bestimmenden 
Maxime  erforderlich  ist,  und  ist  ein  Ideal  des  Wunsches, 
das  im  Vernunftbegriffe  keine  Grenzen  kennt,  in  der 
Erfahrung  aber  doch  immer  sehr  begrenzt  werden  muss. 

Ein  Menschenfreund  überhaupt  aber  (d.  i.  ein 
Freund ttt)  der  ganzen  Gattung)  ist  der,  welcher  an 
dem  Wohl  aller  Menschen  ästhetischen  Antheil  (der 
Mitfreude)  nimmt,  und  es  nie  ohne  inneres  Bedauern 
stören  wird.  Doch  ist  der  Ausdruck  eines  Freundes 
der  Menschen  noch  von  etwas  engerer  Bedeutung,  als 
der  des  Philanthropen,  die  Menschen  bloss  liebenden 
Menschen.tttt)  Denn  in  jenem  ist  auch  die  Vorstellung 
und  Beherzigung  der  Gleichheit  unter  Menschen,  mit- 
hin die  Idee,  dadurch  selbst  verpflichtet  zu  werden, 
indem  man  Andere  durch  Wohlthun  verpflichtet,  ent- 
lialten;  wobei  man  alle  Menschen  als  Brüder  unter  einem 
allgemeinen  Vater,  der  Aller  Glückseligkeit  will,  sich 
vorstellt,  ttttt)  —  Denn  das  Verhältniss  des  Beschützers, 
als  Wohlthäters,  zu  dem  Beschützten,  als  Dankpflich- 
tigen, ist  zwar  ein  Verhältniss  der  Wechselliebe,  aber 
nicht  der  Freundschaft:  weil  die  schuldige  Achtung 
beider  gegen  einander  nicht  gleich  ist.  Die  Pflicht,  als 
Freund  den  Menschen  wohlzuwollen  (eine  nothwendige 
Herablassung)  und  die  Beherzigung  derselben,  dient 
dazu,  vor  dem  Stolz  zu  verwahren,  der  die  Glücklichen 
anzuwandeln  pflegt,  welche  das  Vermögen  wohlzuthun 
besitzen.  ^35) 

t)  1.  Ausg.:  „Diese    bloss  moralische    Freundschaft  ist 
kein  Ideal" 

tt;  „Freundschaft' ^  Zusatz  der  2.  Ausg. 
tttj  „ein  Freund"  Zusatz  der  2.  Ausg. 
tttt)  1.  Ausg.:    „als  der  des   bloss  Menschen   liebenden 
(Philanthrop)" 

ttttt)  1.  Ausg. :  „gleichsam  als  Brüder  unter  einem  . .  will." 


Zusatz.    Von  den  Uragangstiigenden.    §.  48.       329 

Zusatz. 

Von  den  Umgangstugenden  (virtutes  homileticae). 

§.  48. 

Es  ist  Pflicht  sowohl  gegen  sich  selbst,  als  auch 
gegen  Andere,  mit  seinen  sittlichen  Vollkommenheiten 
unter  einander  Verkehr  zu  treiben  {pfficimn  commerciij 
ßociabilitas);  sich  nicht  zu  isoliren  [separatistam 
agere)-^  zwar  sich  einen  unbeweglichen  Mittelpunkt  seiner 
Grundsätze  zu  machen,  aber  diesen  um  sich  gezogenen 
Kreis  doch  auch  als  einen  Theil  eines  allbefassenden 
Kreises,  der  weltbürgerhchen  Gesinnung,  anzusehen f); 
nicht  eben  um  das  Weltbeste  als  Zweck  zu  befördern, 
sondern  nur  die  Mittel,  die  indirekt  dahin  führen,  die 
Annehmlichkeit  in  der  Gesellschaft,  die  Verträglichkeit, 
die  wechselseitige  Liebe  und  Achtung  (Leutseligkeit  und 
Wohlanständigkeit,  Jmmcmitas  aesthetica  et  decorum) 
zu  kultiviren  tt) j  und  so  der  Tugend  die  Grazien  bei- 
zugesellen ;  welches  zu  bewerkstelligen  selbst  Tugend- 
pflicht ist. 

Dies  sind  zwar  nur  Aussen  werke  oder  Beiwerke 
{parerga),  welche  einen  schönen  tugendähnlichen  Schein 
geben,  der  auch  nicht  betrügt,  weil  ein  Jeder  weiss, 
wofür  er  ihn  annehmen  muss.  Sie  gelten  nur  als 
Scheidemünze,  befördern ttt)  aber  doch  das  Tugend- 
gefühl, selbst  durch  die  Bestrebung,  diesen  Schein  der 
Wahrheit  so  nahe  wie  möglich  zu  briugen,  in  der  Zu- 
gänglichkeit, der  Gesprächigkeit,  der  Höflich- 
keit, der  Gastfreiheit,  der  Gelindigkeit  im  Wider- 
sprechen, ohne  zu  zanken,  welche  insgesammt  als  blosse 
Manieren   des  Verkehrs   durch    geäusserte    Verbindlich- 


t;  1.  Ausg.:  „als  einen,  der  den  Theil  von  einem  all- 
befassenden, der  weltbürgerlichen  Gesinnung,  ausmacht,  an- 
zusehen" 

tt)  1.  Ausg::    „sondern  nur  die  wechselseitige,    die  in- 
direkt dahin  führt,    die  Annehmlichkeit   in    derselben,    die 
Verträglichkeit  .  .  .  kultiviren. 
ttt)  1.  Ausg. :  „Es  ist  zwar  nur  Scheidemünze,  befördert" 


330      Tugendlehre.    Beschluss  der  ElementaTlehre. 

keiten  zugleich  Andere  verbinden  f),  also  doch  zur 
Tugendgesinnung  hinwirken;  indem  sie  die  Tugend 
wenigstens  beliebt  machen. 

Es  fragt  sich  aber  hiebei :  ob  man  auch  mit  Laster- 
haften Umgang  pflegen  dürfe?  Die  Zusammenkunft  mit 
ihnen  kann  man  nicht  vermeiden;  man  müsste  denn 
sonst  aus  der  Welt  gehen,  und  selbst  unser  Urtheil  über 
sie  ist  nicht  kompetent.  —  Wo  aber  das  Laster  ein 
Skandal,  d.  i.  ein  öffentlich  gegebenes  Beispiel  der  Ver- 
achtung strenger  Pflichtgesetze  ist,  mithin  Ehrlosigkeit 
bei  sich  führt,  da  muss,  wenngleich  das  Landesgesetz 
es  nicht  bestraft,  der  Umgang,  der  bis  dahin  stattfand, 
abgebrochen,  oder  soviel  möglich  gemieden  werden; 
weil  die  fernere  Fortsetzung  desselben  die  Tugend  um 
alle  Ehre  bringt  und  sie  für  jeden  zu  Kauf  stellt,  der 
reich  genug  ist,  um  den  Schmarotzer  durch  die  Ver- 
gnügungen der  Ueppigkeit  zu  bestechen.  ^^6) 


t)  1.  Ausg.:  „zanken,  insgeaammt  als  blossen  Manieren 
des  Verkehrs  mit  geäusserten  Verbindlichkeiten,  dadurch 
man  zugleich  Andere  verbindet" 


Zweiter  Theil. 
Ethische  Methodenlehre. 


Der  ethischen  Methodenlehre 
erster  Abschnitt. 


Die  ethische  Didaktik. 


§.  49. 


Dass  Tugend  erworben  werden  müsse  (nicht  an- 
geboren sei),  liegt,  ohne  sich  deshalb  auf  anthropologi- 
sche Kenntnisse  aus  der  Erfahrung  berufen  zu  dürfen, 
schon  in  dem  Begriffe  derselben.  Denn  das  sittliche 
Vermögen  des  Menschen  wäre  nicht  Tugend,  wenn  es 
nicht  durch  die  Stärke  des  Vorsatzes  in  dem  Streit 
mit  so  mächtigen  entgegenstehenden  Neigungen  hervor- 
gebracht wäre.  Sie  ist  das  Produkt  aus  der  reinen 
praktischen  Vernunft,  sofern  diese  im  Bewusstsein  ihrer 
Ueberlegenheit,  aus  Freiheit,  über  jene  die  Obermacht 
gewinnt. 

Dass  sie  könne  und  müsse  gelehrt  werden,  folgt 
schon  daraus,  dass  sie  nicht  angeboren  ist;  die  Tugend- 
lehre ist  also  eine  Doctrin.  Weil  aber  durch  die 
blosse  Lehre,  wie  man  sich  verhalten  solle,  um  dem 
TugendbegrifFe  angemessen  zu  sein,  die  Kraft  zur  Aus- 
übung der  Regeln  noch  nicht  erworben  wird,  so  mein- 
ten die  Stoiker  nur,  die  Tugend  könne  nicht  durch 
blosse  Vorstellungen  der  Pflicht,  durch  Ermahnungen 
(paränetisch)   gelehrt,   sondern  sie  müsse  durch  Ver- 


334     Tugendlehre.    Ethische  Methodenlehre.   I.  Abschn. 

suche  der  Bekämpfung  des  inneren  Feindes  im  Men- 
schen (ascetisch)  kultivirt,  geübt  werden;  denn  man 
kann  nicht  alles  sofort,  was  man  will,  wenn  man  nicht 
vorher  seine  Kräfte  versucht  und  geübt  hat,  wozu  aber 
freilich  die  Entschliessung  auf  einmal  vollständig 
genommen  werden  muss;  weil  die  Gesinnung  {animus) 
sonst  bei  einer  Capitulation  mit  dem  Laster,  um  es  all- 
mählig  zu  verlassen,  an  sich  unlauter  und  selbst  laster- 
haft sein  würde,!)  mithin  auch  keine  Tugend  (als 
die  auf  einem  einzigen  Prinzip  beruht,)  hervorbringen 
könnte.  137) 

§•  50. 
Was  nun  die  doctrinale  Methode  betrifft,  (denn 
methodisch  muss  eine  jede  wissenschaftliche  Lehre 
sein,  sonst  wäre  der  Vortrag  tumultuarisch;)  so 
kann  sie  auch  nicht  fragmentarisch,  sondern  muss 
systematisch  sein,  wenn  die  Tugendlehre  eine 
Wissenschaft  vorstellen  soll.  —  Der  Vortrag  aber 
kann  entweder  akroama tisch,  da  alle  Andere,  an 
welche  er  gerichtet  wird,  blosse  Zuhörer  sind,  oder 
erotematisch  sein,  wo  der  Lehrer  das,  was  er  seine 
Jünger  lehren  will,  ihnen  abfragt;  und  diese  erotemati- 
sche  Methode  ist  wiederum  entweder  die,  da  er  es  ihrer 
Vernunft,  —  die  dialogische  Lehrart,  oder  bloss 
ihrem  Gedächtnisse  abfragt,  die  katechetische 
Lehrart.  Denn  wenn  Jemand  der  Vernunft  des  Ande- 
ren etwas  abfragen  will,  so  kann  es  nicht  anders,  als 
dialogisch,  d.  i.  dadurch  geschehen,  dass  Lehrer  und 
Schüler  einander  wechselseitig  fragen  und  antworten. 
Der  Lehrer  leitet  durch  Fragen  den  Gedankengang 
seines  Lehrjüngers  dadurch,  dass  er  die  Anlage  zu  ge- 
wissen Begriffen  in  demselben  durch  vorgelegte  Fälle 
bloss  entwickelt,  (er  ist  die  Hebamme  seiner  Gedanken;) 
der  Lehrling,  welcher  hiebei  inne  wird,  dass  er  selbst 
zu  denken  vermöge,  veranlasst  durch  seine  Gegenfragen 
(über  Dunkelheit,  oder  den  eingeräumten  Sätzen  ent- 
gegenstehende Zweifel),  dass  der  Lehrer,  nach  dem 
docendo  discimusj  selbst  lernt,  wie  er  gut  fragen  müsse. 
(Denn  es  ist  eine,  an  die  Logik  ergehende,   noch  nicht 


t)  „würde"  Zusatz  der  2.  Ausg. 


Die  ethische  Didaktik.    §.  51.  335 

genugsam  beherzigte  Forderung:  dass  sie  auch  Regeln 
an  die  Hand  gebe,  wie  man  zweckmässig  suchen 
solle,  d.  i.  nicht  immer  bloss  für  bestimmende,  son- 
dern auch  fUr  vorläufige  Urtheile  (judicia  iwaevia\ 
durch  die  man  auf  Gedanken  gebracht  wird;  eine 
Lehre,  die  selbst  dem  Mathematiker  zu  Erfindungen  ein 
Fingerzeig  sein  kann  und  die  von  ihm  auch  oft  ange- 
wandt wird.) 

§.  51. 

Das  erste  und  nothwendigste  doctrinaie  Instru- 
ment der  Tugendiehre  für  den  noch  rohen  Zögling  ist 
ein  moralischer  Katechismus.  Dieser  muss  vor  dem 
Religionskatechismus  hergehen  und  kann  nicht  bloss  als 
Einschiebsel  in  die  Religionslehre  mit  verwebt,  sondern 
muss  abgesondert,  als  ein  für  sich  bestehendes  Ganzes 
vorgetragen  werden;  denn  nur  durch  rein  moralische 
Grundsätze  kann  der  Ueberschritt  von  der  Tugendlehre 
zur  Religion  gethan  werden,  weil  dieser  ihre  Bekennt- 
nisse sonst  unlauter  sein  würden.  —  Daher  haben  ge- 
rade die  würdigsten  und  grössten  Theologen  Anstand 
genommen,  für  die  statutarische  Religionslehre  einen 
Katechismus  abzufassen  und  sich  zugleich  für  ihn  zu 
verbürgen;  da  man  doch  glauben  sollte,  es  wäre  das 
Kleinste,  was  man  aus  dem  grossen  Schatz  ihrer  Gelehr- 
samkeit zu  erwarten  berechtigt  wäre. 

Dagegen  hat  ein  moralischer  Katechismus,  als 
Grundlehre  der  Tugendpflichten,  keine  solche  Bedenk- 
lichkeit oder  Schwierigkeit,  weil  er  aus  der  gemeinen 
Menschenvernunft  (seinem  Inhalte  nach)  entwickelt  wer- 
den kann,  und  nur  den  didaktischen  Regeln  der  ersten 
Unterweisung  (der  Form  nach)  angemessen  werden  darf. 
Das  formale  Prinzip  eines  solchen  UnteiTichts  aber  ver- 
stattet zu  diesem  Zweck  nicht  die  sokratisch  -  dialo- 
gische Lehrart;  weil  der  Schüler  nicht  einmal  weiss, 
wie  er  fragen  soll;  der  Lehrer  ist  also  allein  der  Fra- 
gende. Die  Antwort  aber,  die  er  aus  der  Vernunft  des 
Lehrlings  methodisch  lockt,  muss  in  bestimmten,  nicht 
leicht  zu  verändernden  Ausdrücken  abgefasst  und  auf- 
bewahrt, mithin  seinem  Gedächtniss  anvertraut  wer- 
den; als  worin  die  katechetische  Lehrart  sich  so- 


336     Tugendiehre.    Ethische  Methodenlehre.    I.  Abschn. 

wohl  von  der  akroamatischen  (da  der  Lehrer  allein 
spricht),  als  auch  der  dialogischen  (da  beide  Theile 
einander  fragend  und  antwortend  sind),  unterscheidet.i^ö) 

§.  52. 

Das  experime'ntale  (technische)  Mittel  der  Bildung* 
der  Tugend  ist  das  gute  Exe mp elf)*)  an  dem  Lehrer 
selbst  (von  exemplarischer  Führung  zu  sein)  und  das 
warnende  an  Andern;  denn  Nachahmung  ist  dem  noch 
ungebildeten  Menschen  die  erste  Willensbestimmung  zu 
Annehmung  von  Maximen,  die  er  sich  in  der  Folge 
macht.  —  Die  Angewöhnung  jt)  ist  die  Begründung 
einer  beharrlichen  Neigung  ohne  alle  Maximen,  durch 
die  öftere  Befriedigung  derselben;  und  ist  ein  Mecha- 
nismus der  Sinnesart,  statt  eines  Prinzips  der  Denkungs- 
art  wobei  das  Verlernen  in  der  Folge  schweizer  wird, 
als  das  Erlernen.  —  Was  aber  die  Kraft  des  Exem- 
pels  (es  sei  zum  Guten  oder  Bösen,)  betrifft,  was  sich 
dem  Hange  zur  Nachahmung  oder  Warnung  darbietet fff), 
so  kann  das,  was  uns  Andere  geben,  keine  Tugeud- 
maxime  begründen.  Denn  diese  besteht  gerade  in  der 
subjektiven  Autonomie  der  praktischen  Vernunft  eines 
jeden  Menschen,  mithin,  dass  nicht  anderer  Menschen 
Verhalten,  sondern  das  Gesetz  uns  zur  Triebfeder  dienen 
müsse.     Daher  wird   der  Erzieher  seinem  verunarteten 


t)  1.  Ausg.:  ,, Beispiel" 

*)  Beispiel,  ein  deutsches  Wort,  was  man  gemeiniglich 
für  Exempel  als  ihm  gleichgeltend  braucht,  ist  mit  diesem 
nicht  von  einerlei  Bedeutung.  Woran  ein  Exempel  nehmen 
und  zur  Verständlichkeit  eines  Ausdrucks  ein  Beispiel  an- 
führen, sind  ganz  verschiedene  Begriffe.  Das  Exempel  ist 
ein  besonderer  Fall  von  einer  praktischen  Regel,  sofern 
diese  die  Thunlicbkeit  oder  Unthunlichkeit  einer  Handlung 
vorstellt.  Hingegen  ein  Beispiel  ist  nur  das  Besondere 
{concretum)  y  als  unter  dem  Allgemeinen  nach  Begriffen  {al- 
stractum)  enthalten  vorgestellt,  und  bloss  theoretische  Dar- 
stellung eines  Begriffs,  f) 

t)  Die  Verweisung  auf  diese  Anmerkung  steht  in 
der    1.  Ausgabe   da,    wo   oben   im  Texte  ttt)    gesetzt 
worden  ist. 
tt)  1.  Ausg.:   „Die  Angewöhnung  oder  Abgewöhnung" 


Die  eth.  Didaktik.  —  Bruchst.  eines  moral.  Katechism.     337 

Lehrling  nicht  sagen:  nimm  ein  Exempel  an  jenem 
guten  (ordentlichen,  fleissigen)  Knaben!  denn  das  wird 
jenem  nur  zur  Ursache  dienen,  diesen  zu  hassen,  weil 
er  durch  ihn  in  ein  nachtheiliges  Licht  gestellt  wird. 
Das  gute  Exempel  (der  exemplarische  Wandel)  soll  nicht 
als  Muster,  sondern  nur  zum  Beweise  der  Thunlichkeit 
des  Pflichtmässigen  dienen;  also  nicht  die  Vergleichung 
mit  irgend  einem  andern  Menschen  (wie  er  ist),  sondern 
mit  der  Idee  (der  Menschheit),  wie  er  sein  soll,  also 
mit  dem  Gesetz,  muss  dem  Lehrer  das  nie  fehlende 
Richtmaass  seiner  Erziehung  an  die  Hand  geben. 


Anmerkung. 
Bruchstück  eines  moralischen  Katechismus. 

Der  Lehrer  fragt  der  Vernunft  seines  Schülers 

jenige  ab,  was  er  ihn  lehren  will,  und  wenn 
dieser  etwa  nicht  die  Frage  zu  beantworten  wüsste, 
so  legt  er  sie  ihm  (seine  Vernunft  leitend)  in  den 
■Mund.t) 

Der  Lehrer.  Was  ist  dein  grösstes,  ja  dein 
ganzes  Verlangen  im  Leben? 

Der  Schüler  (schweigt). 

Der  Lehrer.  Dass  es  dir  in  Allem  und 
immer  nach  Wunsch  und  Willen  gehe.  —  Wie 
nennt  man  einen  solchen  Zustand? 

Der  Schüler  (schweigt). 

Der  Lehrer.  Man  nennt  ihn  Glückselig- 
keit (das  beständige  Wohlergeheu,  vergnügtes  Le- 
ben, völlige  Zufriedenheit  mit  seinem  Zustande). 
Wenn  du  nun  alle  Glückseligkeit  (die  in  der  Welt 
möglich  ist)  in  deiner  Hand  hättest,  würdest  du 
sie  alle  für  dich  behalten,  oder  sie  auch  deinen 
Nebenmenschen  mittheilen? 


t)  1.  Ausg.:  „Der  Lehrer  =--  L.  fragt  .  .  .  Schülers 
=  S.  dasjenige  .  .  .  wüsste  :=  0,  so  legt"  u.  s.  w.  Dem- 
gemäss  wird  in  der  1.  Ausg.  das  Schweigen  des  Schülers 
durch  =  0  bezeichnet;  auch  sind  die  Fragen  des  Lehrers 
in  der  1.  Ausg.  mit  Zahlen  bezeichnet  und  etwas  anders 
abgetheilt,  als  in  der  zweiten. 

Kant,  Metaphysik  der  Sitten.  22 


338         Tugendlehre.    Eth.  Methodenl.    I.  Abschn. 

Der  Schüler.  Ich  würde  sie  mittheilen:  Än- 
dere auch  glücklich  und  zufrieden  machen. 

Der  Lehrer.  Das  beweist  nun  wohl,  dass  du 
noch  so  ziemlich  ein  gutes  Herz  hast;  lass  aber 
sehen,  ob  du  dabei  auch  guten  Verstand  zeigst. 
—  Würdest  du  wohl  dem  Faullenzer  weiche  Polster 
verschaffen ,  damit  er  im  süssen  Nichtsthun  sein 
Leben  dahinbringe,  oder  dem  Trunkenbolde  es  an 
Wein,  und  was  sonst  zur  Berauschung  gehört,  nicht 
ermangeln  lassen,  dem  Betrüger  eine  einnehmende 
Gestalt  und  Manieren  geben,  um  Andere  zu  über- 
listen, oder  dem  Gewaltthätigen  Kühnheit  und  starke 
Faust,  um  Andere  überwältigen  zu  können?  Das 
sind  ja  so  viel  Mittel,  die  ein  Jeder  sich  wünscht, 
um  nach  seiner  Art  glücklich  zu  sein. 

Der  Schüler.     Nein  das  nicht. 

Der  Lehrer.  Du  siehst  also:  dass,  wenn  du 
auch  alle  Glückseligkeit  in  deiner  Hand  und  dazu 
den  besten  Willen  hättest,  du  jene  doch  nicht  ohne 
Bedenken  jedem,  der  zugreift,  preisgeben,  sondern 
erst  untersuchen  würdest,  wiefern  ein  Jeder  der 
Glückseligkeit  Avürdig  wäre.  ■ —  Für  dich  selbst 
aber  würdest  du  doch  wohl  kein  Bedenken  haben, 
dich  mit  allem,  was  du  zu  deiner  Glückseligkeit 
rechnest,  zuerst  zu  versorgen? 

Der  Schüler.     Ja. 

Der  Lehrer.  Aber  kommt  dir  da  nicht  auch 
die  Frage  in  Gedanken,  ob  du  wohl  selbst  auch 
der  Glückseligkeit  würdig  sein  mögest? 

Der  Schüler.     Allerdings. 

Der  Lehrer.  Das  nun  in  dir,  was  nur  nach 
Glückseligkeit  strebt,  ist  die  Neigung;  dasjenige 
aber,  was  deine  Neigung  auf  die  Bedingung  ein- 
schränkt, dieser  Glückseligkeit  zuvor  würdig  zu 
sein,  ist  deine  Vernunft,  und  dass  du  durch 
deine  Vernunft  deine  Neigung  einschränken  und 
überwältigen  kannst,  das  ist  die  Freiheit  deines 
Willens.  Um  nun  zu  wissen,  wie  du  es  anfängst, 
um  der  Glückseligkeit  theilhaftig  und  doch  auch 
nicht  unwürdig  zu  werden,  dazu  liegt  die  Regel 
und  Anweisung  ganz  allein  in  deiner  Vernunft; 
das  heisst  so  viel,  als:  du  hast  nicht  nöthig,  diese 


Die  eth.  Didaktik.  —  Bruchst.  eines  moral.  Katechism.    339 

Regel  deines  Verhaltens  von  der  Erfahrung,  oder 
von  Anderen  durch  ihre  Unterweisung  abzulernen; 
deine  eigene  Vernunft  lehrt  und  gebietet  dir  ge- 
radezu, was  du  zu  thun  hast.  Z.  B.  wenn  dir  ein 
Fall  vorkommt,  da  du  durch  eine  fein  ausgedachte 
Lüge  dir  oder  deinen  Freunden  einen  grossen  Vor- 
theil  verschaj0fen  kannst,  ja  noch  dazu  dadurch  auch 
keinem  Anderen  schadest,  was  sagt  dazu  deine 
Vernunft? 

Der  Schüler.  Ich  soll  nicht  lügen;  der  Vor- 
theil  für  mich  und  meinen  Freund  mag  so  gross 
sein,  wie  er  immer  wolle.  Lügen  ist  nieder- 
trächtig und  macht  den  Menschen  unwürdig, 
glücklich  zu  sein.  —  Hier  ist  eine  unbedingte 
Nöthigung  durch  ein  Vernunftgebot  (oder  Verbot), 
dem  ich  gehorchen  muss;  wogegen  alle  meine  Nei- 
gungen verstummen  müssen. 

Der  Lehrer.  Wie  nennt  man  diese  unmittel- 
bar durch  die  Vernunft  dem  Menschen  auferlegte 
Noth wendigkeit,  einem  Gesetze  derselben  gemäss. 
zu  handeln? 

Der  Schüler.     Sie  heisst  Pflicht. 

Der  Lehrer.  Also  ist  dem  Menschen  die  Be- 
obachtung seiner  Pflicht  die  allgemeine  und  einzige 
Bedingung  der  Würdigkeit,  glücklich  zu  sein,  und 
diese  ist  mit  jener  ein  und  dasselbe.  —  Wenn  wir 
uns  aber  auch  eines  solchen  guten  und  thätigen 
Willens,  durch  den  wir  uns  würdig  (wenigstens 
nicht  unwürdig)  halten,  glücklich  zu  sein,  auch  be- 
wusst  sind,  können  wir  darauf  auch  die  sichere 
Hoffnung  gründen,  dieser  Glückseligkeit  theilhaftig 
zu  werden? 

Der  Schüler.  Nein!  darauf  allein  nicht;  denn 
es  steht  nicht  immer  in  unserem  Vermögen,  sie 
uns  zu  verschaffen,  und  der  Lauf  der  Natur  richtet 
sich  auch  nicht  so  von  selbst  nach  dem  Verdienst, 
sondern  das  Glück  des  Lebens  (unsere  Wohlfahrt 
überhaupt,)  hängt  von  Umständen  ab,  die  bei 
weitem  nicht  alle  in  des  Menschen  Gewalt  sind. 
Also  bleibt  unsere  Glückseligkeit  immer  nur  ein 
Wunsch,  ohne  dass,  wenn  nicht  irgend  eine  andere 

22* 


340         Tugendlehre.    Eth.  Methodenl.    I.  Abschn. 

Macht  hinzukommt,  dieser  jemals  Hoffnung  werden 
kann. 

Der  Lehrer.  Hat  die  Vernunft  wohl  Gründe 
für  sich,  eine  solche,  die  Glückseligkeit  nach  Ver- 
dienst und  Schuld  der  Menschen  austheilende,  über 
die  ganze  Natur  gebietende  und  die  Welt  mit 
höchster  Weisheit  regierende  Macht  als  wirklich 
anzunehmen,  d.  i.  an  Gott  zu  glauben? 

Der  Schüler.  Ja;  denn  wir  sehen  an  den 
Werken  der  Natur,  die  wir  beurtheilen  können,  so 
ausgebreitete  und  tiefe  Weisheit,  die  wir  uns  nicht 
anders,  als  durch  eine  unaussprechlich  grosse  Kunst 
eines  Weltschöpfers  erklären  können,  von  welchem 
wir  uns  denn  auch,  was  die  sittliche  Ordnung  be- 
trifft, in  der  doch  die  höchste  Zierde  der  Welt 
besteht,  eine  nicht  minder  weise  Regierung  zu  ver- 
sprechen Ursache  haben:  nämlich  dass,  wenn  wir 
uns  nicht  selbst  der  Glückseligkeit  unwürdig 
machen,  welches  durch  Uebertretung  unserer  Pflicht 
geschieht,  wir  auch  hoffen  können,  ihrer  th eil- 
haft ig  zu  werden. 


In  dieser  Katechese,  welche  durch  alle  Artikel 
der  Tugend  und  des  Lasters  durchgeführt  werden 
muss,  ist  die  grösste  Aufmerksamkeit  darauf  zu 
richten,  dass  das  Pflichtgebot  ja  nicht  auf  die  aus 
dessen  Beobachtung  für  den  Menschen,  den  es  ver- 
binden soll,  ja  selbst  auch  nicht  einmal  für  Andere 
fliessenden  Vortheile  oder  Nachtheile,  sondern  ganz 
rein  auf  das  sittliche  Prinzip  gegründet  werde,  der 
letzteren  aber  nur  beiläufig,  als  an  sich  zwar  ent- 
behrlicher, aber  für  den  Gaumen  der  von  der  Natur 
Schwachen  zu  blossen  Vehikeln  dienender  Zusätze, 
Erwähnung  geschehe.  Die  Schändlichkeit,  nicht 
die  Schädlichkeit  des  Lasters  (für  den  Thäter 
selbst)  muss  überall  hervorstechend  dargestellt 
werden.     Denn    w^enn    die   Würde    der  Tugend    in 


Die  eth.  Didaktik,  —  Bruchst.  eines  moral.  Katechism.     341 

Handlungen  nicht  über  alles  erhoben  wird,  so  ver- 
schwindet der  Pflichtbegriff  selbst,  und  zerrinnt  in 
blosse  pragmatische  Vorschriften;  da  dann  der  Adel 
des  Menschen  in  seinem  eigenen  Bewusstsein  ver- 
schwindet, und  er  für  einen  Preis  feil  ist  und  zu 
Kauf  steht,  den  ihm  verführerische  Neigungen  an- 
bieten. 

Wenn  dieses  nun  weislich  und  pünktlich  nach 
Verschiedenheit  der  Stufen  des  Alters,  des  Ge- 
schlechts und  des  Standes,  die  der  Mensch  nach 
und  nach  betritt,  aus  der  eigenen  Vernunft  des 
Menschen  entwickelt  worden,  so  ist  noch  etwas, 
was  den  Beschluss  machen  muss,  was  die  Seele 
inniglich  bewegt  und  den  Menschen  auf  eine  Stelle 
setzt,  wo  er  sich  selbst  nicht  anders,  als  mit  der 
grössten  Bewunderung  der  ihm  beiwohnenden  ur- 
sprünglichen Anlagen  betrachten  kann,  und  wovon 
der  Eindruck  nie  erlischt.  —  Wenn  ihm  nämlich 
beim  Schlüsse  seiner  Unterweisung  seine  Pflichten 
in  ihrer  Ordnung  noch  einmal  summarisch  vor- 
erzählt (rekapitulirt) ,  wenn  er  bei  jeder  derselben 
darauf  aufmerksam  gemacht  wird,  dass  alle  üebel, 
Drangsale  und  Leiden  des  Lebens,  selbst  Bedrohung 
mit  dem  Tode,  die  ihn  darüber,  dass  er  seiner 
Pflicht  treu  gehorcht,  treffen  mögen,  ihm  doch  das 
Bewusstsein,  über  sie  alle  erhoben  und  Meister  zu 
sein,  nicht  rauben  können,  so  liegt  ihm  nun  die 
Frage  ganz  nahe:  was  ist  das  in  dir,  was  sich  ge- 
trauen darf,  mit  allen  Kräften  der  Natur  in  dir 
und  um  dich  in  Kampf  zu  treten,  und  sie,  wenn 
sie  mit  deinen  sittlichen  Grundsätzen  in  Streit 
kommen,  zu  besiegen?  Wenn  diese  Frage,  deren 
Auflösung  das  Vermögen  der  spekulativen  Vernunft 
gänzlich  übersteigt,  und  die  sich  dennoch  von  selbst 
einstellt,  ans  Herz  gelegt  wird,  so  muss  selbst  die 
Ünbegreiflichkeit  in  diesem  Selbsterkenntnisse  der 
Seele  eine  Erhebung  geben,  die  sie  zum  Heilig- 
halten ihrer  Pflicht  nur  desto  stärker  belebt,  jemehr 
sie  angefochten  wird. 

In  dieser  katechetischen  Moralunterweisung  würde 
es  zur  sittlichen  Bildung  von  grossem  Nutzen  sein, 
bei   jeder    Pflichtzergliederung    einige    casuistische 


342         Tugendlehre.    Eth.  Methodenl.    IT.  Abschn. 

Fragen  aufzuwerfen  und  die  versammelten  Kinder 
ihren  Verstand  versuchen  zu  lassen,  wie  ein  Jeder 
von  ihnen  die  ihm  vorgelegte  verfängliche  Aufgabe 
aufzulösen  meinte.  —  Nicht  allein,  dass  dieses 
eine,  der  Fähigkeit  des  Ungebildeten  am  meisten 
angemessene  Kultur  der  Vernunft  ist  (weil  diese 
in  Fragen,  die,  was  Pflicht  ist,  betreffen,  weit 
leichter  entscheiden  kann,  als  in  Ansehung  der 
spekulativen,)  und  so  den  Verstand  der  Jugend 
überhaupt  zu  schärfen  die  schicklichste  Art  ist; 
sondern  vornehmlich  deswegen,  weil  es  in  der 
Natur  des  Menschen  liegt,  das  zu  lieben,  worin 
und  in  dessen  Bearbeitung  er  es  bis  zu  einer 
Wissenschaft  (mit  der  er  nun  Bescheid  weiss)  ge- 
bracht hat,  und  so  der  Lehrling  durch  dergleichen 
Uebungen  unvermerkt  in  das  Interesse  der  Sitt- 
lichkeit gezogen  wird. 

Von  der  grössten  Wichtigkeit  aber  in  der  Er- 
ziehung ist  es,  den  moralischen  Katechismus  nicht 
mit  dem  Religionskatechismus  vermischt  vorzutragen 
(zu  amalgamiren),  noch  weniger  ihn  auf  den 
letzteren  folgen  zu  lassen;  sondern  jederzeit  den 
ersteren,  und  zwar  mit  dem  grössten  Fleisse  und 
Ausführlichkeit  zur  klarsten  Einsicht  zu  bringen. 
Denn  ohne  dieses  wird  nachher  aus  der  Religion 
nichts,  als  Heuchelei,  sich  aus  Furcht  zu  Pflichten 
zu  bekennen  und  eine  Theilnahme  an  derselben, 
die  nicht  im  Herzen  ist,  zu  lügen.!"*«*) 


Zweiter  Abschnitt. 
Die   ethische  Ascetik. 

§.   53. 

Die  Regeln  der  Uebung  in  der  Tugend  {exercitiorum 
virtidis)  gehen  auf  die  zwei  Gemüthsstimmungen  hinaus, 
wackeren  und  fröhlichen  Gemüths  [animus  strenuus 


IL  Abschn.    Die  ethiscte  Ascetik.    §.  53.  343 

et  liilaris)  in  Befolgung  ihrer  Pflichten  zu  sein.  Denn 
sie  hat  mit  Hindernissen  zu  kämpfen,  zu  deren  Ueber- 
wältigung  sie  ihre  Kräfte  zusammennehmen  muss,  und 
zugleich  manche  Lebensfreuden  aufzuopfern,  deren  Ver- 
lust das  Gemüth  wohl  bisweilen  finster  und  mürrisch 
machen  kann;  was  man  aber  nicht  mit  Lust,  sondern 
bloss  als  Frohndienst  thut,  das  hat  für  den,  der  hierin 
seiner  Pflicht  gehorcht,  keinen  inneren  Werth,  und  wird 
nicht  geliebt,  sondern  die  Gelegenheit  ihrer  Ausübung 
so  viel  möglich  geflohen. 

Die  Kultur  der  Tugend,  d.  i.  die  moralische  Ascetik 
hat  in  Ansehung  des  Prinzips  der  rüstigen,  muthigen 
und  wackeren  Tugendübung  den  Wahlspruch  der 
Stoiker:  gewöhne  dich,  die  zufälligen  Lebensübel  zu 
ertragen,  und  die  eben  so  überflüssigen  Ergötzlich- 
keiten zu  entbehren  {sustine  et  abstine) -f).  Es  ist 
eine  Art  von  Diätetik  für  den  Menschen,  sich  mo- 
ralisch gesund  zu  erhalten.  Gesundheit  ist  aber  nur 
ein  negatives  Wohlbefinden,  sie  selber  kann  nicht  ge- 
fühlt werden.  Es  muss  etwas  dazu  kommen,  was  einen 
angenehmen  Lebensgenuss  gewährt  und  doch  bloss  mo- 
ralisch ist.  Das  ist  das  jederzeit  fröhliche  Herz  in  der 
Idee  des  tugendhalten  Epikur.  Denn  wer  sollte  wohl 
mehr  Ursache  haben,  frohen  Muths  zu  sein  und  nicht 
darin  selbst  eine  Pflicht  finden,  sich  in  eine  fröhliche 
Gemüthsstimmung  zu  versetzen  und  sie  sich  habituell 
zu  machen,  als  der,  welcher  sich  keiner  vorsätzlichen 
Uebertretung  bewusst,  und  wegen  des  Verfalls  in  eine 
solche  gesichert  ist  (hw  murus  aheneus  esto  etc.  Horat.)*) 
Die  Mönchsascetik  hingegen,  welche  aus  abergläubischer 
Furcht,  oder  geheucheltem  Abscheu  an  sich  selbst,  mit 
Selbstpeinigung  oder  Fleischeskreuzigung  zu  Werke 
geht,  zweckt  auch  nicht  auf  Tugend,  sondern  auf 
schwärmerische  Entsündigung  ab,  sich  selbst  Strafe  auf- 
zulegen, und  anstatt  sie  moralisch  (d.  i.  in  Absicht  auf 
die  Besserung)  zu  bereuen,  sie  büssen  zu  wollen; 
welches  bei  einer  selbstgewählten  und  an  sich  voll- 
streckten Strafe  (denn  die  muss  immer  ein  Anderer  auf- 


f)  1.  Ausg.:    „assuesce  incommodis  et  desuesce  commodita- 
iibus  vitae.^^ 

*)  Hier  sei  eine  eherne  Mauer  u.  s.  w.  A.  d.  H. 


344  Tugendleflre.     Beschluss. 

legen)  ein  Widerspruch  ist,  und  kann  auch  den  Froh- 
sinn, der  die  Tugend  begleitet,  nicht  bewirken,  vielmehr 
nicht  ohne  geheimen  Hass  gegen  das  Tugendgebot  statt- 
finden. —  Die  ethische  Gymnastik  besteht  also  nur  in 
der  Bekämpfung  der  Naturtriebe,  die  es  dahin  bringt  t), 
über  sie  bei  vorkommenden,  der  Moralität  Gefahr  dro- 
henden Fällen  Meister  werden  zu  können;  mithin  die 
wacker  und  im  Bewusstsein  seiner  wiedererworbenen 
Freiheit  fröhlich  macht.  Etwas  bereuen  (welches  bei 
der  Rückerinnerung  ehemaliger  Uebertretungen  unver- 
meidlich, ja  wobei  diese  Erinnerung  nicht  schwinden 
zu  lassen,  es  sogar  Pflicht  ist)  und  sich  eine  Pönitenz 
auferlegen  (z.  B.  das  Fasten),  nicht  in  diätetischer,  son- 
dern frommer  Rücksicht,  sind  zwei  sehr  verschiedene, 
moralisch  gemeinte  Vorkehrungen,  von  denen  die  letztere, 
welche  freudenlos,  finster  und  mürrisch  ist,  die  Tugend 
selbst  verhasst  macht  und  ihre  Anhänger  verjagt.  Die 
Zucht  (Disziplin),  die  der  Mensch  an  sich  selbst  verübt, 
kann  daher  nur  durch  den  Frohsinn,  der  sie  begleitet, 
verdienstlich  und  exemplarisch  werden.  ^^O) 


B  eschluss. 


Die  Religionslehre  als  Lehre   der  Pflichten    gegen 

Gott  liegt  ausserhalb  den  Grenzen  der  reinen 

Moralphilosophie. 

Protagoras  von  Abdera  fing  sein  Buch  mit  den 
Worten  an:  „ob  Götter  sind,  oder  nicht  sind, 
davon  weiss  ich  nichts  zu  sagen."*)  Er  wurde 
deshalb  von  den  Atlieniensem  aus  der  Stadt  und  von 
seinem   Landsitze   verjagt   und    seine   Bücher    vor    der 


t)  1.  Ausg.:  „die  das  Maass  erreicht,  über  sie''  u.  s.  w. 
*)  „De  düS)  neque  ut  sint,  neque  ut  non  sint,  Jiabeo  dkere." 


Von  den  Pflichten  gegen  Gott.  345 

öflfentlichen  Versammlung  verbrannt.  (Quinctiliani  Inst. 
Orat.  lih.  3.  cap.  1.)  —  Hierin  thaten  ihm  die  Richter 
von  Athen  als  Menschen  zwar  sehr  unrecht;  aber 
als  Staatsbeamte  und  Richter  verfuhren  sie  ganz 
rechtlich  und  konsequent;  denn  wie  hätte  man  einen 
Eid  schwören  können,  wenn  es  nicht  öffentlich  und 
gesetzlich,  von  hoher  Obrigkeit  wegen  {de  par  ie 
Senat)  befohlen  wäre:  dass  es  Götter  gebe.*) 

Diesen  Glauben  aber  zugestanden,  und,  dass  Reli- 
gion sichre  ein  integrirender  Theil  der  allgemeinen 
Pflichtenlehre  sei,  eingeräumt,  ist  jetzt  nun  die 
Frage  von  der  Grenzbestimmung  der  Wissenschaft, 
zu  der  sie  gehört;  ob  sie  als  ein  Theil  der  Ethik  (denn 
vom  Recht  der  Menschen  gegen  einander  kann  hier 
nicht  die  Rede  sein)  angesehen,  oder  als  ganz  ausser- 
halb der  Grenzen  einer  rein  -  philosophischen  Moral 
liegend  müsse  betrachtet  werden. 


*)  Zwar  hat  späterhin  ein  grosser  moralisch  -  gesetz- 
gebender Weise  das  Schwören  als  ungereimt  und  zugleich 
beinahe  an  Blasphemie  grenzend  ganz  und  gar  verboten; 
allein  in  politischer  Rücksicht  glaubt  man  noch  immer 
dieses  mechanischen,  zur  Verwaltung  der  öffentlichen  Ge- 
rechtigkeit dienlichen  Mittels  schlechterdings  nicht  entbehren 
zu  können,  und  hat  milde  Auslegungen  ausgedacht,  um 
jenem  Verbot  auszuweichen.  —  Da  es  eine  Ungereimtheit 
wäre,  im  Ernst  zu  schwören,  dass  ein  Gott  sei  (weil  man 
diesen  schon  postulirt  haben  muss,  um  überhaupt  nur 
schwören  zu  können),  so  bleibt  noch  die  Frage:  ob  nicht 
ein  Eid  möglich  und  geltend  sei,  da  man  nur  auf  den 
Fall,  dass  ein  Gott  (ohne,  wie  Protagoras,  darüber  etwas 
auszumachen),  schwüre.  —  In  der  That  mögen  wohl  alle 
redlich  und  zugleich  mit  Besonnenheit  abgelegten  Eide  in 
keinem  anderen  Sinne  gethan  worden  sein.  —  Denn  dass 
einer  sich  erböte,  schlechthin  zu  beschwören,  dass  ein  Gott 
sei,  scheint  zwar  kein  bedenkliches  Anerbieten  zu  sein,  er 
mag  ihn  glauben  oder  nicht.  Ist  einer  (wird  der  Betrüger 
sagen),  so  habe  ichs  getroffen;  ist  keiner,  so  zieht  mich 
auch  keiner  zur  Verantwortung  und  ich  bringe  mich  durch 
solchen  Eid  in  keine  Gefahr.  —  Ist  denn  aber  keine  Gefahr 
dabei,  wenn  ein  solcher  ist,  auf  einer  vorsätzlichen 
und,  selbst  um  Gott  zu  täuschen,  angelegten  Lüge  be- 
troff'en  zu  werden? 


346  Tugendlehre.    Beschluss. 

Das  Formale  aller  Religion,  wenn  mau  sie  so  er- 
klärt: sie  sei  „der  Inbegriff  aller  Pflichten  als  {instar) 
göttlicher  Gebote",  gehört  zur  philosophischen  Moral, 
indem  dadurch  nur  die  Beziehung  der  Vernunft  auf  die 
Idee  von  Gott,  welche  sie  sich  selber  macht,  aus- 
gedrückt wird,  und  eine  Religionspflicht  wird  alsdann 
noch  nicht  zur  Pflicht  gegen  {ergo)  Gott,  als  ein  ausser 
unserer  Idee  existirendes  Wesen  gemacht,  indem  wir 
hiebei  von  der  Existenz  desselben  noch  abstrahiren.  — 
Dass  alle  Menschenpflichten  diesem  Formalen  (der 
Beziehung  derselben  auf  einen  göttlichen,  a  j^riori  ge- 
gebenen Willen)  gemäss  gedacht  werden  sollen,  davon 
ist  der  Grund  nur  subjektiv- logisch.  Wir  können  uns 
nämlich  Verpflichtung  (moralische  Köthigung)  nicht  wohl 
anschaulich  machen,  ohne  einen  Anderen  und  dessen 
Willen  (von  dem  die  allgemein  gesetzgebende  Vernunft 
nur  der  Sprecher  ist),  nämlich  Gott,  dabei  zu  denken. 
Allein  diese  Pflicht  in  Ansehung  Gottes  (eigent- 
lich der  Idee,  welche  wir  uns  von  einem  solchen  Wesen 
machen)  ist  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst, 
d.  i.  nicht  objektive  die  Verbindlichkeit  zur  Leistung 
gewisser  Dienste  an  einen  Anderen,  sondern  nur  sub- 
jektive zur  Stärkung  der  moralischen  Triebfeder  in 
unserer  eigenen  gesetzgebenden  Vernunft. 

Was  aber  das  Material e  der  Religion,  den  Inbegriff 
der  Pflichten  gegen  {ergo)  Gott,  d.  i.  den  ihm  zu 
leistenden  Dienst  {ad  praestandum)  anlangt,  so  würde 
sie  besondere,  von  der  allgemein -gesetzgebenden  Ver- 
nunft allein  nicht  ausgehende,  von  uns  also  nicht  ajyriori, 
sondern  nur  empirisch  erkennbare,  mithin  nur  zur  ge- 
offenbarten Religion  gehörende  Pflichten,  als  göttliche 
Gebote,  enthalten  können;  die  also  auch  das  Dasein 
dieses  Wesens,  nicht  bloss  die  Idee  von  demselben,  in 
praktischer  Absicht,  nicht  willkürlich  voraussetzen,  son- 
dern als  unmittelbar  oder  mittelbar  in  der  Erfahrung 
gegeben  darlegen  müsste.  Eine  solche  Religion  aber 
würde,  so  gegründet  sie  sonst  auch  sein  möchte,  doch 
keinen  Theil  der  reinen  philosophischen  Moral 
ausmachen. 

Religion  also,  als  Lehre  der  Pflichten  gegen 
Gott,  liegt  jenseit  aller  Grenzen  der  rein-philosophischen 
Ethik    hinaus,    und    das    dient    zur  Rechtfertigung    des 


Von  den  Pflichten  gegen  Gott.  3^7 

Verfassers  der  gegenwärtigen,  dass  er  zur  Vollständig- 
keit derselben  nicht,  wie  es  sonst  wohl  gewöhnlich  war, 
die  Religion,  in  jenem  Sinne  gedacht,  in  die  Ethik  mit 
hineingezogen  hat. 

Es  kann  zwar  von  einer  „Religion  innerhalb  der 
Grenzen  der  blossen  Veri\^n{t",  die  aber  nicht  aus 
blosser  Vernunft  abgeleitet,  sondern  zugleich  auf  Ge- 
schichts-  und  Oflfenbarungslehren  gegründet  ist,  und  die 
nur  die  Uebereinstimmung  der  reinen  praktischen 
Vernunft  mit  denselben  (dass  sie  jener  nicht  wider- 
streite) enthält,  die  Rede  sein.  Aber  alsdann  ist  sie 
auch  nicht  reine,  sondern  auf  eine  vorliegende  Ge- 
schichte angewandte  Religionslehre,  für  welche  in 
einer  Ethik,  als  reiner  praktischen  Philosophie,  kein 
Platz  ist.i4») 


Schlussanmerkung. 

Alle  moralische  Verhältnisse  vernünftiger  Wesen, 
welche  ein  Prinzip  der  Uebereinstimmung  des  Wil- 
lens des  Einen  mit  dem  des  Anderen  enthalten, 
lassen  sich  auf  Liebe  und  Achtung  zurück- 
führen, und,  sofern  dies  Prinzip  praktisch  ist, 
geht  der  Bestimmungsgrund  des  Willens  in  An- 
sehung der  ersteren  auf  den  Zweck,  in  Ansehung 
des  zweiten  auf  das  Recht  des  Anderen.  —  Ist 
eines  dieser  Wesen  ein  solches,  was  lauter  Rechte 
und  keine  Pflichten  gegen  das  andere  hat  (Gott), 
hat  mithin  das  andere  gegen  das  erstere  lauter 
Pflichten  und  keine  Rechte,  so  ist  das  Prinzip  des 
moralischen  Verhältnisses  zwischen  ihnen  trans- 
scendent,  dagegen  das  der  Menschen  gegen 
Menschen,  deren  Wille  gegen  einander  wechselseitig 
einschränkend  ist,  ein  im  mm  an  ent  es  Prinzip  hat. 

Den  göttlichen  Zweck  in  Ansehung  des  mensch- 
lichen Geschlechts  (dessen  Schöpfung  und  Leitung) 
kann  man  sich  nicht  anders  denken,  als  nur  als 
Zweck  der  Liebe,  d.  i.  dass  er  die  Glückselig- 
keit der  Menschen  sei.  Das  Prinzip  des  Willens 
Gottes  aber  in  Ansehung  der  schuldigen  Achtung 


348  Tngendlehre.    Beschluss. 

(Ehrfurcht),  welche  die  Wirkungen  des  ersteren 
einschränkt,  d.  i.  des  göttlichen  Rechts,  kann  kein 
anderes  sein,  als  das  der  Gerechtigkeit.  Man 
könnte  sich  (nach  Menschenart)  auch  so  ausdrücken: 
Gott  hat  vernünftige  Wesen  erschaffen,  gleichsam 
aus  dem  Bedürfnisse  ^twas  ausser  sich  zu  haben, 
was  er  lieben  könne,  oder  auch  von  dem  er  ge- 
liebt werde.  Aber  nicht  allein  eben  so  gross,  son- 
dern noch  grösser  (weil  das  Prinzip  einschränkend 
ist)  ist  der  Anspruch,  den  die  göttliche  Gerechtig- 
keit, im  Urtheile  unserer  eigenen  Vernunft,  und 
zwar  als  strafende  an  uns  macht.  —  Denn  Be- 
lohnung {praemiiim ,  reniiineratio  gratuitd)  lässt 
sich  von  Seiten  des  höchsten  Wesens  gar  nicht  aus 
Gerechtigkeit  gegen  Wesen,  die  lauter  Pflichten  und 
keine  Rechte  gegen  jenes  haben,  sondern  bloss  aus 
Liebe  und  Wohlthätigkeit  {benignitas)  ableiten t); 
—  noch  weniger  kann  ein  Anspruch  auf  Lohn 
(merces)  bei  einem  solchen  Wesen  stattfinden,  und 
eine  belohnende  Gerechtigkeit  {justitia  hra- 
heutica)  ist  im  Verhältniss  Gottes  gegen  Menschen 
ein  Widerspruch. 

Es  ist  aber  doch  in  der  Idee  einer  Gerechtig- 
keitsausübung eines  Wesens,  was  über  allen  Abbruch 
an  seinen  Zwecken  erhaben  ist,  etwas,  was  sich 
mit  dem  Verhältniss  des  Menschen  zu  Gott  nicht 
wohl  vereinigen  lässt:  nämlich  der  Begi'iff  einer 
Läsion,  welche  an  dem  unumschränkten  und  un- 
erreichbaren Weltherrscher  begangen  werden  könne; 
denn  hier  ist  nicht  von  den  Rechtsverletzungen,  die 
Menschen  gegen  einander  verüben,  und  worüber 
Gott  als  strafender  Richter  entscheide,  sondern  von 
der  Verletzung,  die  Gott  selber  und  seinem  Recht 
widerfahren  solle,  die  Rede,  wovon  der  Begriff 
transscendent  ist,  d.  i.  über  den  Begriff  aller 
Strafgerechtigkeit,  wovon  wir  irgend  ein  Beispiel 
aufstellen    können    (d.  i.    wie   sie    unter  Menschen 


t)  1.  Ausg.:  „Denn  Belohnung  (....)  bezieht  sich 
gar  nicht  auf  Gerechtigkeit  gegen  Wesen,  die  .  .  .  Rechte 
gegen  das  andere  haben,  sondern  bloss  auf  Liebe''  u.  s.  w. 


Von  den  Pflichten  gegen  Gott.  349 

vorkömmt),  ganz  hinaus  liegt  und  überschwengliche 
Prinzipien  enthält,  die  mit  denen,  welche  wir  in 
Erfahrungsfällen  gebrauchen  würden,  gar  nicht  in 
Zusammenstimmung  gebracht  werden  können,  folg- 
lich für  unsere  praktische  Vernunft  gänzlich  leer 
sind. 

Die  Idee  einer  göttlichen  Strafgerechtigkeit  wird 
hier  personifizirt;  es  ist  nicht  ein  besonderes  rich- 
tendes Wesen,  was  sie  ausübt  (denn  da  würden 
Widersprüche  desselben  mit  Rechtsprinzipien  vor- 
kommen), sondern  die  Gerechtigkeit,  gleich  als 
Substanz  (sonst  die  ewige  Gereclitigkeit  genannt), 
die,  wie  das  Fatum  (Verhängniss)  der  alten  philo- 
sophirenden  Dichter,  noch  über  dem  Jupiter  ist, 
spricht  das  Recht  nach  der  eisernen  unablenkbaren 
Nothwendigkeit  aus,  die  für  uns  weiter  unerforsch- 
lich  ist.     Hievon  jetzt  einige  Beispiele. 

Die  Strafe  lässt  (nach  dem  Horaz)  den  vor  ihr 
stolz  schreitenden  Verbrecher  nicht  aus  den  Augen, 
sondern  hinkt  ihm  unablässig  nach,  bis  sie  ihn 
ertappt.  —  Das  unschuldig  vergossene  Blut  schreit 
um  Rache.  —  Das  Verbrechen  kann  nicht  unge- 
rächt  bleiben;  trifft  die  Strafe  nicht  den  Verbrecher, 
so  werden  es  seine  Nachkommen  entgelten  müssen; 
oder  geschiehts  nicht  bei  seinem  Leben,  so  muss 
es  in  einem  Leben  (nach  dem  Tode*)  geschehen, 
welches  ausdrücklich  darum  auch  angenommen  und 


*)  Die  Hypothese  von  einem  künftigen  Leben  darf  hier 
nicht  einmal  eingemischt  werden,  um  jene  drohende  Strafe 
als  vollständig  in  der  Vollziehung  vorzustellen.  Denn  der 
Mensch,  seiner  Moralität  nach  betrachtet,  wird,  als  über- 
sinnlicher Gegenstand  vor  einem  übersinnlichen  Richter, 
nicht  nach  Zeitbedingungen  beurtbeilt;  es  ist  nur  von  seiner 
Existenz  die  Rede.  Sein  Erdenleben,  es  sei  kurz,  oder 
lang,  oder  gar  ewig,  ist  nur  das  Dasein  desselben  in  der 
Erscheinung  und  der  Begriif  der  Gerechtigkeit  bedarf  keiner 
näheren  Bestimmung;  wie  denn  auch  der  Glaube  an  ein 
künftiges  Leben  eigentlich  nicht  vorausgeht,  um  die  Straf- 
gerechtigkeit an  ihm  ihre  Wirkung  sehen  zu  lassen,  sondern 
vielmehr  umgekehrt  aus  der  JNothvvendigkeit  der  Bestrafung 
auf  ein  künftiges  Leben  die  Folgerung  gezogen  wird. 


350  Tugendlehre,    ßeschluss. 

gern  geglaubt  wird,  damit  der  Anspruch  der  ewigen 
Gerechtigkeit  ausgeglichen  werde.  —  Ich  will  keine 
Blutschuld  auf  mein  Land  kommen  lassen,  da- 
durch, dass  ich  einen  boshaft  mordenden  Duellanten, 
für  den  ihr  Fürbitte  thut,  begnadige,  sagte  einmal 
ein  wohldenkender  Landesherr.  —  Die  Sünden- 
schuld muss  bezahlt  werden,  und  sollte  sich  auch 
ein  völlig  Unschuldiger  zum  Sühnopfer  hingeben, 
fwo  dann  freilich  die  von  ihm  übernommenen 
Leiden  eigentlich  nicht  Strafe,  —  denn  er  hat 
selbst  nichts  verbrochen,  —  heissen  könnten;)  aus 
welchem  allen  zu  ersehen  ist,  dass  es  nicht  eine 
die  Gerechtigkeit  verwaltende  Person  ist,  der  man 
diesen  Verurtheilungsspruch  beilegt  (denn  die  würde 
nicht  so  sprechen  können,  ohne  Anderen  Unrecht 
zu  thun),  sondern  dass  die  blosse  Gerechtigkeit, 
als  überschwengliches,  einem  übersinnlichen  Subjekt 
angedachtes  Prinzip,  das  Piccht  dieses  Wesens  be- 
stimme; welches  zwar  dem  Formalen  dieses  Prin- 
zips gemäss  ist,  dem  Materialen  desselben  aber, 
dem  Zweck,  welcher  immer  die  Glückseligkeit 
der  Menschen  ist,  widerstreitet.  —  Denn  bei  der 
etwaüigen  grossen  Menge  der  Verbrecher,  die  ihr 
Schuldenregister  immer  so  fortlaufen  lassen,  würde 
die  Strafgerechtigkeit  den  Zweck  der  Schöpfung 
nicht  in  der  Liebe  des  Welturhebers  (wie  man 
sich  doch  denken  muss),  sondern  in  der  strengen 
Befolgung  des  Rechts  setzen  (das  Recht  selbst 
zum  Zweck  machen,  der  in  der  Ehre  Gottes  ge- 
setzt wird),  welches,  da  das  Letztere  (die  Gerechtig- 
keit) nur  die  einschränkende  Bedingung  des  Ersteren 
(der  Gütigkeit)  ist,  den  Prinzipien  der  praktischen 
Vernunft  zu  widersprechen  scheint,  nach  welchen 
eine  Weltschöpfung  hätte  unterbleiben  müssen,  die 
ein  der  Absicht  ihres  Urhebers,  die  nur  Liebe  zum 
Grunde  haben  kann,  so  widerstreitendes  Produkt 
geliefert  haben  würde. 

Man  sieht  hieraus:  dass  in  der  Ethik,  als  reiner 
praktischer  Philosophie  der  inneren  Gesetzgebung, 
nur  die  moralischen  Verhältnisse  des  Menschen 
gegen  den  Menschen  für  uns  begreiflich  sind; 
was  aber  zwischen  Gott  und  dem  Menschen  hierüber 


Voi>  den  Pflichten  gegen  Gott.  351 

für  ein  Verhältniss  obwalte,  die  Grenzen  derselben 
gänzlich  übersteigt  und  uns  schlechterdings  unbe- 
greiflich ist;  wodurch  dann  bestätigt  wird,  was 
oben  behauptet  ward:  dass  die  Ethik  sich  nicht 
über  die  Grenzen  der  Menschenpflichten  gegen  sich 
selbst  und  andere  Menschen f)  erweitern  könne.i42) 


t)  1.  Ausgabe:    „über  die  Grenzen  der  wechselseitigen 
Menschenpflichten" 


Druck  von  Trowitzsch  -UTid  Sohn  in  Berlin.