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Full text of "Im Winter des Lebens; aus acht Jahrzehnten gesammelte Erinnerungen"

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Im achtzigſten Jahr 


Hans Thoma 
Im Winter des Lebens 


Aus acht Jahrzehnten 
geſammelte Erinnerungen 


Erſtes bis fünftes Tauſend 7 Mit 12 Abbildungen 


Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1919 


Druck von der Spamerſchen Buchdruckerei in Leipzig. 
300 Exemplare wurden auf gutem Papier abgezogen, in 
Halbleder gebunden und handſchriftlich numeriert. 


MAY 61971 


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1 


En feinem letzten Buche: „Feierabend“ ſchreibt der Pfarrer Hang; 
J jakob gar lieb uͤber mich und gedenkt unſerer kurzen Altersfreund⸗ 
ſchaft. Er ſagt auch, daß er mich ermuntert habe, meine Lebensgeſchichte 
vom Waͤlderbuͤbli bis zur Exzellenz zu ſchreiben, ein Hans⸗Thoma⸗ 
Buͤchle fuͤr das Volk; daß, wenn er juͤnger und oͤfters um mich 
waͤre, er mir keine Ruhe laſſen wuͤrde, bis ich dies Volksbuͤchlein 
ſchriebe. 

Ich lernte Hansjakob nicht früher als im Auguſt 1911 perſoͤnlich 
kennen, und zwar zufaͤllig, indem wir uns im Gaſthaus St. Blaſien 
trafen; ich beſuchte ihn dann im Pfarrhaus in Freiburg, wo er mich 
und meine Schweſter im Kreiſe einiger Freunde und Freundinnen gar 
gaſtlich koͤſtlich am Mittagstiſch bewirtete, er war von warmer Herz 
lichkeit gegen mich — wie ſie nur ein tieferes Seelenverſtaͤndnis — 
eine Weſensverwandtſchaft, die uͤber dem perſoͤnlich Trennenden Ver⸗ 
ſchiedenen der eignen Art eine Bruͤcke ſchlaͤgt, hervorbringen kann, — 
eine Freundſchaft, wie ſie zwiſchen in hohem Alter ſtehenden Perſoͤnlich⸗ 
keiten ganz beſonders ſchoͤn ſein kann. 

Hansjakob hat mit großer Bedaͤchtigkeit ſich fein eigen Grab gebaut, 
ja man koͤnnte faſt ſagen, daß er mit einer gewiſſen Behaglichkeit um 
die ihm werdende Ruheſtaͤtte herumgeflattert iſt. Wenigſtens hat er 
mir ernſtlich zugeredet, ich ſolle mich doch nicht in der Stadt begraben 
laſſen, ſondern ich ſoll mir eine Ruheſtaͤtte auf dem Bernauer Gottes⸗ 
acker gruͤnden — der allerdings ſehr ſchoͤn liegt. Nun mußte ich ge⸗ 
ſtehen, daß ich nie viel Sinn hatte dafuͤr, was mit meinem Staubleib 
nachher geſchieht. Wenn man achtzig Jahre die Unruhe des Lebens⸗ 
willens mitgemacht hat, ſo ſoll man froh ſein, wenn man zur Ruhe 


1 Thoma, Im Winter des Lebens 1 


kommt — beim Abſchied den Staub abſchuͤttelt, ihn irgendwo wieder 
der Erde zuruͤckgibt. Hansjakob war eine Kaͤmpfernatur und hatte eine 
Kuͤnſtlerſeele — er war eine tiefempfindende von reichem Leben be; 
wegte Natur, kein Wunder, daß er ſich in Sehnſucht nach Frieden ſein 
Grab baute. — Nun ruht er dort! 

Sein Wort: „Schade! Wenn ich juͤnger waͤre und oͤfters um den 
jungen Altmeiſter, wuͤrde ich ihm keine Ruhe laſſen“ — kommt jetzt 
aus dem Grabe. Haben nicht auch die abgeſchiednen Seelen noch Macht 
uͤber die noch im Leibe wandelnden? „Ich wuͤrde ihm keine Ruhe laſſen“ 
klingt mir gar merkwuͤrdig, ſo daß ich es jetzt noch unternehmen will, 
ſchon nahe an des Grabes Rand ſtehend, eine Art von Lebensbild zu 
entwerfen — geb’ Gott wie weit ich damit komme. Aus alten Erinne⸗ 
rungen will ich es weben, auch aus alten noch vorhandenen Aufzeich⸗ 
nungen, die ich ſpaͤrlich beſitze. Ich habe meine Tagebuchaufzeichnungen 
faſt immer, wenn ich ſie ſpaͤter durchſah, als unnoͤtiges Zeug vernichtet. 
Ob ich nun an ihrer Ehrlichkeit zweifelte oder auch manchmal an ihrer 
ungeſchminkten Ehrlichkeit mich aͤrgerte — warum ſoll man denn 
Sachen ausbreiten vor andern die man ſelber gern vergeſſen moͤchte? 
Da ich mich aber einmal entſchloſſen habe zu ſchreiben, muß ich halt 
meine Worte ſo miſchen, wie es mir notwendig ſcheint, um andern 
verſtaͤndlich zu ſein. 

Hansjakob hat es gut erraten und in ſeinem „Feierabend“ auch ver⸗ 
raten, daß ich auch jetzt noch die Schuͤchternheit des Waͤlderbuͤblis 
nicht ganz abgelegt habe. 

Schuͤchternheit iſt gewiß keine Tugend, ſie iſt eine Schwaͤche — der 
Schuͤchterne leidet unter dem Gefuͤhl, daß er durch ſein Daſein andre 
belaͤſtigen koͤnnte und er meint leicht, daß er ſich entſchuldigen muͤſſe, 
daß er auch da iſt und Platz beanſpruchen muß. — Schuͤchternheit iſt 
aber doch eine ſchoͤne Seeleneigenſchaft aus der die zarte Ruͤckſicht⸗ 
nahme auf die andern erwaͤchſt — ſie iſt ſomit ein guter Naͤhrboden 
fuͤr die Gewiſſenhaftigkeit. 

So ein Buͤble, welches in der Einſamkeit eines abgelegnen Schwarz⸗ 
walddorfes aufgewachſen iſt, iſt gar oft ein rechter Fuͤrchtebutz, er ſieht 
leicht Geſpenſter und vor fremden Menſchen hat er eine natuͤrliche 
Scheu, er fuͤrchtet von ihnen eine Stoͤrung ſeines friedlichen Seins, 


2 


er traut der Sache nicht — er ahnt, daß es nicht fo ganz fauber iſt in 
den Zuſtaͤnden, die im Menſchenleben herrſchen — denn die Menſchen 
ſind in ihrer Begehrlichkeit ſtets bereit, einander den Frieden zu rauben 
im Kleinen wie im Großen — das iſt der Weltlauf, — das iſt das Leben. 

Je einſamer ſo ein Waͤlderkind aufwaͤchſt und je mehr es zu ſeinem 
Schutze an der Schuͤrze der Mutter haͤngt, um ſo ſcheuer wird es den 
Menſchen gegenuͤber ſein, ja manchmal empfindet es ſchon den Vater 
als Menſchen. Ich entſinne mich noch gut, welchen Eindruck mir das 
Wort Menſch gemacht hat als ich es als Kind in einem Geſpraͤch zwiſchen 
Erwachſenen das erſtemal hoͤrte, ſie ſprachen von hinterlaſſenen Spu⸗ 
ren, die nicht von einem Tier, ſondern von einem Menſchen herruͤhrten. 
Ein Menſch, das war meiner Vorſtellung etwas ſeltſam Unheimliches, 
mit dem ich nicht zuſammenkommen moͤchte. — Es iſt lange gegangen, 
bis ich erfuhr, daß auch ich ein Menſch ſei; auch ſpaͤter im Leben war 
es mir immer am wohlſten, wenn ich gar nicht daran dachte, daß ich 
ein Menſch ſei. Doch man gewoͤhnt ſich an alles — nur beſchleicht 
mich jetzt ein ähnlich unheimliches Gefühl, wenn ich von Übermenfchen 
hoͤre. 

Ein Stadtkind, ein Buͤrſchlein aus einer Induſtriegegend mag wohl 
dieſe Schuͤchternheit nicht haben, der Umgang witzigt es, es muß bald 
wehrhaft werden und ſo wird es frech und hat keine Furcht vor den 
Menſchen — ſo wird auch das Gefuͤhl, das wir Ehrfurcht nennen, es 
nicht leicht uͤbermannen, ja es kommt wohl dazu, als Zeichen ſeines 
Widerſtandes, als Symbol ſelbſtbewußter Ichheit ſeinem Gegenuͤber 
die Zunge auszuſtrecken. 

Aber beide Buͤrſchlein muͤſſen ſich durch das Leben hindurcharbeiten 
— ſie muͤſſen Lehrlinge werden, was bekanntlich auch der Teufel, der 
alle Stände aus probierte, als einziger nicht aushielt — — da ändern 
ſich gar oft die Verhaͤltniſſe — man weiß, daß Schuͤchternheit gar 
leicht in trotzig tapfern Mut umſchlagen kann, daß ſo ein Haſenfuß 
auf einmal ſeinen Mann ſtellt — ſo daß man ſagt: Stille Waſſer ſind 
tief — auch da noch, wo manchem Frechdachs das Herz weit hinunter⸗ 
fallt, Der Wind des Lebens wirbelt eben gar ſeltſam Korn und Streu 
durcheinander. Die Romanſchreiber haben es da gut, ſie brauchen nur 
hineinzugreifen in den Wind des vollen Menſcheulebens. 


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So will auch ich nun tun und will dir, du alter Schwarzwaͤldergeiſt, 
der jetzt vom Grabe her mahnt, nun folgen, will auch alle Schuͤchtern⸗ 
heit ablegen, will erzaͤhlen und ſagen, daß auch ich noch da bin. — 
Sich erinnern, erzaͤhlen, auch ein wenig fabulieren darf doch das Alter 
— die Kinder hoͤren es gerne, dieſe Zuverſicht muß das Alter haben, 
ſonſt ſchweigt es und ſetzt ſich ſtill auf die Ofenbank und zwirbelt die 
Daumen uͤbereinander. 

Das Leben iſt keine freiwillige Sache, es iſt Zwang wie es uns ger 
geben, wie es uns genommen wird — darum ſagen wir: „Unſer Leben 
ſteht in Gottes Hand“. 

Ich will mich nun beſtreben, in dem was ich uͤber mich und mein 
Leben ſage, ſo wahrhaftig zu ſein — wie es mir paßt. Ich will mich 
auch beſtreben, nicht in den immerwaͤhrenden Fehler zu verfallen, der 
manchem Deutſchen anhaͤngt, wenn er ſich in der Offentlichkeit bemerk⸗ 
lich macht — daß er meint in geſteigertem Wahrheitsgefuͤhl auf dies 
und jenes ſchimpfen zu muͤſſen, was ihm im Wege ſteht — oft auch 
auf das, was er nicht kennt; er muͤßte jetzt ſo recht einmal ſeine Mei⸗ 
nung ſagen etwa nach einer Formel, die ſo lauten koͤnnte: Im Deut⸗ 
ſchen ſchimpft man, wenn man die Wahrheit ſagt. Das iſt aber freilich 
nicht immer der Fall, daß der, welcher ſchimpft, die Wahrheit ſagt. 

Ich werde nun ſicher nicht in ſolchen Fehler verfallen, ſchon deshalb 
nicht, weil ich ja uͤber mich ſelber ſchreibe und ich mich doch nicht ſelber 
herunterputzen will, indem ich mir ſchimpfend die Wahrheit ſage — 
der Gefahr die naͤher liegt, mich ſelber heraufzuputzen, will ich ſo gut, 
als ein Reſt von Eitelkeit, der mir vielleicht im achtzigſten Lebensjahr 
noch geblieben ſein ſollte, es erlaubt, entgegenarbeiten. Beruf, andern 
die Wahrheit zu ſagen, habe ich nie in mir geſpuͤrt. — Ich hatte immer 
zu viel Reſpekt vor der Wahrheit, als daß ich ſie dem und jenem an 
den Kopf werfen möchte. Wo ich nur kann, werde ich die Bravheit der 
Deutſchen loben, die freilich mancher Urdeutſche Philiſtroſitaͤt nennt, 
ich habe jederzeit ſein treuherziges Micheltum gern leiden moͤgen, ich 
habe ſogar manchmal gemeint, daß er die feſten Grundlagen ſeiner 
Kultur auf ſein Micheltum aufbauen koͤnnte, auf ſeine Treue und Ehr⸗ 
lichkeit, auf ſeine Gutmuͤtigkeit und Gerechtigkeit, auf ſeine Deutlich⸗ 
keit d. h. Deutſchheit, ſo recht aus ſeinem Volkstum heraus. 


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2 


ernau, wo ich am 2. Oktober 1839 zur Welt gekommen bin, ift um 

den Johannestag herum ein von Blumen; und Honigduft erfuͤll⸗ 
tes hochgelegenes Wieſental, von braunen Forellenbaͤchlein durch 
zogen, die alle als Alb nach Oſten ziehen, es liegt ſuͤdlich vom Her— 
zogenhorn, ein Kranz von Bergen, ſo gelagert, daß ſie das Tal nicht 
einengen, umgibt es mit dunkeln Tannen. An das Herzogenhorn 
ſchließt ſich das Spießhorn an, dann oͤſtlicher der Kaiſerberg und der 
Steppberg, dann das Albtal St. Blaſien zu, ſuͤdlich der Rechberg, dann 
der Oren, der Farnberg, dann die Todtmooſerſtraße, der Hochkopf, 
im Weſten der ſtattliche Bloͤßling, zwiſchen dem und Herzogenhorn die 
Wacht, die Waſſerſcheide der weſtlich ziehenden Wieſe und der oͤſtlich 
ziehenden Alb; uͤber die Wacht fuͤhrt die Straße nach Schoͤnau. — Durch 
das ſtundenlange breite Tal reihen ſich die mit Schindeln gedeckten 
braunen Holzhaͤuſer, bilden in dem grünen Tal einzelne Dorfgruppen, 
in deren mittleren ſich die Kirche befindet. Bei der etwa 900 Meter 
Hoͤhe, in der ſich das Tal befindet, iſt der Winter recht lang und ſehr 
ſchneereich. — Schoͤn ſind die zahlreichen Kuh- und Ziegenherden, 
welche den Sommer über an den Berghalden hin weiden — die Vieh 
zucht ſpielt im Erwerbsleben eine Rolle neben der Holzwareninduſtrie, 
die in faſt allen Haͤuſern betrieben wird. — 

Das ungefähr iſt die Örtlichkeit, in der ſich mein Kindheitsparadies 
abgeſpielt hat — die fuͤr Kinder dort geſchaffenen Paradieſesfruͤchte 
ſind die Heidelbeeren, Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Preiſel— 
beeren; von denen wir alle eſſen durften, das war gut! Zwiſchen hinein 
ſangen wir unſre Beeriliedli. 3. B.: 

Beereli, Beereli hei goh 

s Beerimaͤnnli iſch zu ins cho 

s hat is alle Beeri gno 

's Boͤuchli voll, 's Graͤtteli leer, 
Weil Gott, daß i daheim waͤr. 

Aber auch neckiſch klang eines, das es auf den Bannwart, den Bam; 
mert, den von den Kindern gefürchteten Feld⸗ und Waldhuͤter, abge; 
ſehen hatte. 


Beeri Beeri Tſchare 

De Bammert goht go jage 
Er hocket hinter de Hecke 
Er moͤcht is d“ Ohre ſtrecke. 


Gar gern moͤchte ich nun dem geneigten Leſer einen ſchoͤnen Wieſen⸗ 
blumenſtrauß pfluͤcken oder eine Handvoll duftiger Beeren reichen aus 
meinem Kinderheimattal, welches oft noch in meiner Erinnerung wie 
ein goldenes Gluͤck vor mir ſchwebt. Ich möchte damit den Leſer bez 
ſtechen, daß er mir gerne folgt vom Blumengeruch angelockt, daß er 
auch mitgeht, wenn er merkt, daß es nicht immer ſo durch Blumen⸗ 
auen geht im Lebenslauf, ſondern manchmal auch durch Sorge, Not 
und Leid und Schmerz und Dunkelheit, aus denen eben auch alle 
Himmelſchluͤſſelblumen hervorwachſen muͤſſen, wie die natuͤrlichen aus 
dem moderbraunen Ackergrund. Aus dem Modergeruch der Ver— 
weſung ziehen die Blumen und Beeren ihr Wachstum und bereiten 
mit der Gnade des Himmelslichtes daraus ihre Wohlgeruͤche und 
Suͤße — auch die Pflanzen haben ihre Seele, welche jede nach ihrer 
Art zu Form, Farbe, zu Bluͤte und Frucht ſich geſtaltet — ſo hat auch 
die goͤttliche Seele aus Erdenmaſſe das vergaͤngliche Gehaͤuſe des 
Menſchen gebildet. Nun iſt es wohl Aufgabe der Seele, dies ihr Haus 
durch alle Faͤhrlichkeiten des Daſeins zu erhalten, vor den unheim⸗ 
lichen Maͤchten zu ſchuͤtzen, die ihm Vernichtung drohen. Das iſt des 
Lebens Lauf. 


3 


Nin will ich aber in ſachlicher Art und, ſo viel ich es kann, der Zeit⸗ 
folge nach erzaͤhlen und da meine ich, daß ich einen guten Anfang 
finde, wenn ich meine Gedanken nach der Mutter hinwende, daß, wie 
mein Leben von ihr ſeinen Urſprung genommen auch dieſe Erzaͤhlung 
von meinem Leben in ein richtiges Geleiſe kommen koͤnnte, wenn ich 
bei der Mutter anfange. 

In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1839 kam ich zur Welt. Meine 
Mutter ſtarb am Vorabend ihres dreiundneunzigſten Geburtstages, 


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den 23. Februar 1897 in Frankfurt — fie iſt geboren am 24. Februar 
1804 — ich ſtand alſo etwa 60 Jahre unter ihrem Schutz — denn fie 
betrachtete mich, als ich ſchon einen weißen Bart hatte, noch immer als 
ihren Bub, den ſie gerne auf Schritt und Tritt behuͤten wollte. Sie 
hat erzaͤhlt, daß ihr dies hohe Alter von Nachbarsleuten prophezeit 
worden ſei. Infolge eines Falles, den fie durch Unaufmerkſamkeit 
einer ſie huͤtenden Perſon als einjaͤhriges Kind machte, wurde ſie 
ſchwer krank und lernte erſt im vierten Jahre gehen. Weil ſie das 
uͤberſtanden, prophezeite man, daß ſie ein ſteinaltes Weiblein wuͤrde. 
— Weiblein, denn ſie iſt recht klein geblieben. Ihre Eltern waren 
Franz Joſeph Maier, der aus Menzenſchwand nach Bernau kam und 
Agathe Langenbacher, die Ochſenwirtstochter von Hoͤchenſchwand. Ihr 
Vater war Uhrenmacher, ein ſtiller frommer Mann, an dem feine 
zahlreichen Kinder mit inniger Liebe hingen. — Meine Mutter hat 
viel von ihm erzaͤhlt — von ſeiner friedlichen Art und dem gluͤcklichen 
Familienleben. — Am Abend, wenn er den Werktiſch aufgeraͤumt 
hatte, ſo draͤngten ſich die Kinder um ihn auf die Ofenbank. Er mußte 
dann Geſchichten erzaͤhlen vom aͤgyptiſchen Joſeph, von der Genoveva, 
er wußte gar viel Geſchichten, er ſpielte auch Geige und Klarinette — 
er ging nie ins Wirtshaus, außer wenn er dort zum Tanz aufſpielte, 
wobei ihm feine heranwachſenden Söhne mit Klarinette und Baßgeige 
Beiſtand leiſteten. — Meine Mutter erzaͤhlte gern, wie auch ſie einmal 
in Stellvertretung fuͤr einen Bruder die Baßgeige ſpielen mußte, wie 
ſie, faſt noch Kind, auf einem Schemelchen ſtehend, eine weiße Schuͤrze 
umgebunden, den Brummbaßtanztakt ſtrich. — Am Tanze hatte fie 
große Freude auch in ihren alten Tagen noch, ſie wußte auch was gut 
tanzen heißt. Meine Frau, die eine vorzuͤgliche Taͤnzerin war, gewann 
ſehr an Anſehen in den Augen der Mutter, als ſie dieſelbe einmal 
tanzen geſehen. Und ſie ſagte voll Bewunderung, ſo habe ſie den 
Walzer lang nicht mehr tanzen ſehen — aber ſie ſei in ihrer Jugend 
auch eine der beſten Taͤnzerinnen geweſen — und wenn ſie mit ihrem 
Bruder, dem Franzkarle, getanzt habe, habe der Schwanenwirt die 
andern Paare zuruͤckgehalten und geſagt, da ſeht lieber einmal zu und 
ſeht was Tanzen iſt. — 

Ein froͤhliches Gemuͤt war ihr eigen und das half ihr durch alle 


7 


die Muͤhſeligkeiten, welche das Leben ihr gebracht hat; fie ließ 
ſich nicht niederdruͤcken, ſie hatte eine Naturfroͤmmigkeit, und ſie 
durfte auf ihre große Arbeitskraft, die keine Muͤhe ſcheute, vertrauen. 

Die Familie der Großeltern war arm; die Großmutter trug die 
Uhren, die der Mann machte, hauſierend ins Land hinunter, wie man 
die Gegend im Breisgau und im Markgraͤflerland zum Unterſchied vom 
Wald oben nannte. — Schwere Hausarbeit und Sorge um juͤngere 
Geſchwiſter lag nun auf der aͤlteſten Tochter und ihre muͤtterliche Sorge 
bewaͤhrte ſich da ſchon, als ſie etwa 12 Jahre war. Es kamen die 
Hungerjahre 1816 und 1817, da verſuchte fie oft den jungen Geſchwiſtern 
durch Geſchichtenerzaͤhlen uͤber den Hunger hinwegzuhelfen. 

Mein Großvater ſtarb fruͤhe, ich habe ihn nicht mehr gekannt. An die 
Großmutter erinnere ich mich noch, ich war etwa 5 Jahre alt als fie 
ſtarb. 

Mein Vater Franz Joſeph Thoma war Nachbarſohn meiner Mutter 
— er hat das Muͤllerhandwerk gelernt und war lange in der Fremde, 
hauptſaͤchlich im Elſaß — er erzaͤhlte oͤfters vom Krieg, ſo z. B. ſehr 
lebhaft, wie ein paar ungariſche Huſaren in die Stadt Thann ein⸗ 
geritten ſeien und ſie in Beſitz genommen haben. Er war geboren im 
Jahre 1794. — Seine Eltern Jakob Thoma und Martha ſind, wie 
ich hoͤrte, wohlhabend geweſen, ſie ſeien ein gar ſchoͤnes Paar ge⸗ 
weſen, flott und leichtlebig, und man erzaͤhlte noch meiſt luſtige Ge⸗ 
ſchichten wie uͤbermuͤtig er mit ſeinem Geld umgeſprungen iſt; ſo z. B., 
als der Abt vom Kloſter St. Blaſien nach kirchlichem feſtlichen Um⸗ 
zuge Geldmuͤnzen unter die Leute werfen ließ — ſei mein Großvater 
hinterher auch uͤber den Platz und habe nach links und rechts Geld⸗ 
ſtuͤcke geworfen, indem er ſagte das kann ich auch. — Freilich konnte 
er mit dem Fuͤrſtabt nicht wetteifern und ſo kam es, daß er ſeinen 
Kindern nicht viel hinterlaſſen konnte, ſoviel ich weiß war er Schweine⸗ 
und Viehhaͤndler. — So hatten denn meine Eltern kein eigenes Haus, 
geſchweige denn eine Muͤhle — ſie wohnten in dem Hauſe, das den 
älteren Brüdern gehörte — fie gründeten einen kleinen Brot, Mehl⸗ 
und Spezereiwarenhandel. Der Vater wurde, wie es die meiften Ein⸗ 
wohner ſind, Holzarbeiter, und ſo ſpaltete er aus Tannenholz Schindeln, 
wie ſie im hoͤhern Schwarzwald zur Dachdeckung gebraucht werden. 


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Mein Onkel Franz Joſeph Maier 


+ 
* 
.. 


— 


Mein Bruder Hilarius war mehrere Jahre Alter als ih — er kam 
mit 16 Jahren als Kaufmannslehrling nach Freiburg, er geriet dort 
in leichtſinnige Bubengeſellſchaft, entfloh aus der Lehre nach Straß— 
burg und wollte zur Fremdenlegion, da er aber noch nicht 16 Jahre 
alt war, wurde er ohne Einwilligung der Eltern nicht angenommen — 
er kam bei Nacht und Nebel heim. — Spaͤter wurde es meinen Eltern 
moͤglich, ihn ins Lehrerſeminar nach Meersburg zu ſchicken, er wurde 
Lehrer in kleinen Schwarzwalddoͤrfern, in Schönau, Herrenſchwand, 
Stadel, Ehrsberg, Muͤggenbrunn, Adelhauſen — man ſetzte Hoff— 
nung auf ihn, auf eine ſchoͤne Zukunft in die er hineinwachſen würde, 
— Als er in Herrenſchwand als Hilfslehrer bei einem alten, mir ſehr 
ehrwuͤrdig erſcheinenden Schulmeiſter war beſuchte ich ihn oͤfters — 
er unterrichtete mich. Ein etwa zwei Stunden langer Weg, meiſt durch 
Wald, fuͤhrt nach Herrenſchwand — ich war etwa elf Jahr alt, und eine 
nicht unangenehme Bangigkeit vor dem Waldes dunkel und den in 
ihm moͤglichen Begebenheiten begleitete mich. — Mein Bruder war 
ein friſcher lebhafter Menſch — blondhaarig und blauaͤugig — er 
war ein eifriger Turner — er hatte auch dichteriſches Talent — er 
ſehnte ſich aber ſehr aus der Enge des Schulmeiſtertums hinaus, er 
wollte voll Wagemut in die Welt hinaus und hatte eine Zeitlang den 
Plan, durch Baſler Beziehungen veranlaßt, Miſſionar zu werden. — 
Es kam aber anders, er hatte ſchon laͤngere Zeit Schmerzen in der 
linken Huͤfte, die wurden nun ſo arg, daß er ſeine Stelle aufgeben 
mußte, er kam im Auguſt 1851 heim und lag dann an einer Huͤft⸗ 
gelenkentzuͤndung unter meiſt fuͤrchterlichen Schmerzen zu Bett — 
bis ihn am Sonntag, 20. Juni 1852, der Tod erloͤſte. — Wir ſtanden 
um ſein Sterbebett, als gerade an einem ſonnighellen Nachmittage 
die Nachbarsleute vor dem Kreuz vor unſerm Haus, wie es an Sonn⸗ 
tagen gebraͤuchlich war, ihren Roſenkranz beteten. 

Was meine Mutter gelitten hat die ganze Krankheit hindurch, will 
ich nicht beſchreiben. — Sie kam die ganze Zeit uͤber nie mehr ins 
Bett — ſie war ſeine Pflegerin — und ſo legte ſie ſich auf die Ofenbank 
in der Stube des Krankenlagers. Dabei gerieten wir in die druͤckendſte 
Armut. Waͤhrend ſeiner Krankheit wurde er zum Hauptlehrer ernannt. 
Die Hoffnung meiner Eltern war zerſtoͤrt. — 


Zur nähern Kennzeichnung dieſes tiefveranlagten Juͤnglings möge 
hier die von ihm auf feinem Schmerzenslager ſelbſt verfaßte Grab; 
ſchrift Platz finden. — In ſeinen ſchmerzfreien Stunden las und ſchrieb 
er, fo iſt außer dieſer Grabſchrift noch manch anderes Gedicht ent; 
ſtanden. Die Schrift wurde auf eine Tafel geſchrieben und an einem 
Holzkreuz auf ſein Grab geſetzt: 


Pilgrim hier ſteh und lies, glaub es, es iſt gewiß, 

Was dir aus dieſer Gruft ein Heimgegangner ruft, 

Es lebt ein Gott in Ewigkeit. Auch du wirſt ewig leben, 

Dem Guten wird dort hohe Freud, dem Boͤſen Angſt und Beben. 
Sieh in die Gruft, beſchau mich nur. Was ich bin, wirſt du werden; 
Mein Geiſt iſt hoͤherer Natur mein Leib nur Staub und Erden. 
Was hilft jetzt Schoͤnheit mir und Geld? Was Ehre, Macht im Grabe? 
Das braucht man nicht in jener Welt, iſt alles fahrend Habe. 

Ach, Mitmenſch, werde klug, denk an den ſchnellen Flug 

Von aller Erdenfreud, denk an die Ewigkeit. 

Leb froͤhlich rein und ſtill, tu nur was Jeſus will, 

Den Naͤchſten lieb in Gott trotz allem Hohn und Spott. 
Geſchwiſtern, Eltern, Freunde weint nicht uͤber mich, 

Wein, jedes uͤber ſich; ihr lebt ja noch im Lande, 

Wo Tod und Sünde iſt. Geht ſtets den Pfad der Tugend, 

übt Recht, das ihr ja wißt. — Schnell iſt der Lauf der Zeit, 
Bald komm ich euch entgegen, fuͤhr euch zur Ewigkeit. 


Oſtern 1853 kam ich aus der Schule — ich war ein guter Schüler, war 
in allen Faͤchern immer der Erſte — nur Lehrers Auguſt wetteiferte 
im Range hier und da mit mir. Der Lehrer hieß Joſeph Kraft, und 
er waltete eifrig ſeines Amtes. Freude machte es ihm, daß ich Sinn 
hatte fuͤr deutſche Sprachlehre — die fuͤr die andern Kinder etwas ſehr 
Überfluͤſſiges ſchien, an Pruͤfungen beſtritt ich die Koſten dieſes Faches 
meiſt ganz allein; mit meinen Aufſaͤtzen war man auch ſehr zufrieden. 
Wir hatten, wie es ſich gehoͤrt, alle Achtung vor dem Lehrer, der ein 
mildes Regiment fuͤhrte, nur wenn er ſeine Geige holte und uns das 
Singen einuͤbte und uns vorſang, konnten wir das Lachen kaum 
zurückhalten, er fang nämlich ganz unglaublich falſch. 


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4 


as Revolutionsjahr 1848 iſt mir noch gut in Erinnerung. Mein 

Vater hoffte, wie alle armen Leute, viel Gutes von der Revolution. 
Der Name Hecker war in aller Munde. An Faſtnacht wurde im Herr— 
ſchaftswald eine hohe Tanne geholt und mit Muſik wurde auf dem 
Platz im Oberlehn die Freiheitsfahne aufgerichtet; fie wurde ſpaͤter 
von den Wuͤrttemberger Soldaten umgehauen. 

Hecker mit ſeiner Schar zog durch Bernau vom Bodenſee herunter. 
Wir Buben ſpielten Freiſchaͤrler und Soldaten und zogen im Tal 
herum, ſchmarotzten wohl auch an den Wirtshaͤuſern, wo beſonders 
der Adlerwirt uns Wein ſpendete. Die erwachſene Mannſchaft 
ſchmiedete in der Schmiede ihre Senſen gerade an die Stiele. Einer 
der gutmuͤtigſten Menſchen, der Sägerfarle, machte die grauſigſte 
Waffe, er machte an einem langen Schaft die Senſe aufgerichtet und 
dahinter links und rechts zwei ſcharfe Sicheln, dabei erklaͤrte er uns 
Buben, wie er zuerſt in die Feinde hineinſtechen und dann mit den 
beiden Sicheln noch andere Feinde links und rechts mitten durch— 
ſchneiden wolle. Wir bewunderten den Held. Mein Vetter Aliſi haͤm— 
merte ein wenig an ſeiner Miſtgabel herum, machte einen langen Stiel 
daran und meinte, das ſei auch genug, die Feinde abzuhalten und ihnen 
Schaden zu tun. Was der Karle uͤbriglaſſe, das wolle er beſorgen. Auf 
dem Platz fanden Exerzieruͤbungen ſtatt; einmal ruͤckte auch ein ganzer 
Zug Senſenmaͤnner von Bernau unter Trauern und Weinen der Frauen 
ab nach Todtnau dort erfuhren fie, daß es in Kandern mißlich gegangen 
ſei. Da kamen in der Nacht alle wieder einzeln und ſtill nach Hauſe. 

1849 wurden Gewehre an das Volk verteilt und da ging erſt recht 
das allabendliche Exerzieren los. 

Es ging aber nicht lange, da ritt ein preußiſcher Ulan ins Tal und alle 
Waffen mußten abgeliefert werden; ich beſaß ein Gewehr mit einer Feder, 
die einen Pfropfen vorn herausſchleuderte und einen blechernen Saͤbel 
mit einer Scheide — dieſer Beſitz hatte mich berechtigt bei unſern Spielen 
jederzeit den Hecker vorſtellen zu muͤſſen. Auf dem Heuboden fand ich 
ein Verſteck fuͤr meine Waffen, die wohl kein Preuße entdeckt haben würde, 
aber ich ſah taͤglich nach, ob meine Waffen noch vorhanden ſeien. 


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5 


ezeichnet habe ich, ſolange ich mich zuruͤckerinnern kann, als Kind 

ſchon lange ehe ich in die Schule ging, ich ſaß am Boden und kritzelte 
auf einer Schiefertafel herum, dann lief ich zur Mutter, die mußte 
es mir fagen, was all das ſei, was ich da gemacht habe, fie war un⸗ 
ermuͤdlich mit ihrem Erklaͤren; bald ſah ſie in den Strichen ein Pferd, 
eine Kuh, ein Schwein, einen Has, einen Hahn, der auf dem Garten⸗ 
zaun kraͤhte — das ſah ich dann auch und fo wurde mein Gekritzel nach 
und nach etwas Gewolltes, ſo entſtand ein Pferd, das ſich deutlich 
von dem Schwein, das mir vorher gelungen war, unterſchied. Aller⸗ 
dings kam der Nachbar Kritikus, ein Mann, der ganz mit ſeiner Ta⸗ 
bakspfeife verwachſen ſchien — ein Mann, der für eine Schwarzwaͤlder⸗ 
ſeele ſehr frivol war, da er ausſprach, es ſei ihm ganz recht, wenn er 
in die Hoͤlle komme, man duͤrfe doch dort jedenfalls rauchen — dieſer 
Kritiker fand, daß das was ich gezeichnet habe, kein Pferd ſei, ſondern 
ein Eſel, weil es zu lange Ohren habe. Das hat mich tief gekraͤnkt. 
Ich war alſo nicht ſo unempfindlich gegen Kritik wie man ſpaͤter oft 
behaupten wollte. Als ganz kleines Kind ſaß ich oft ſtill in einem 
Stubenwinkel und ſchnitt mit der Schere aus zuſammengelegtem 
Papier Ornamente, deren Regelmaͤßigkeit mich ſehr erfreute. Ein aͤngſt⸗ 
licher Hauſierer ſchimpfte, daß man ſo unvorſichtig ſei, einem ſo kleinen 
Kinde eine Schere zu laſſen. Dieſer Eingriff in meine Liebhaberei 
brachte mich ganz aus der Faſſung. Zum Joſephstag, dem Namens⸗ 
tag meines Vaters, zeichnete ich fuͤr ihn eine Spielkarte ab, den Huͤndle⸗ 
bub, einen der vier Buben aus der deutſchen Karte, der einen Hund 
neben ſich hat — das wird in meinem fuͤnften Lebensjahr geweſen ſein, 
ich weiß es nach einem bald nachher ſtattfindenden Wohnungswechſel. 
Mein Vater hatte überhaupt große Freude an meinem Zeichentalent, 
das ich auch waͤhrend der Schulzeit fortſetzte. Sonntag nachmittags 
ſteckte er die Zeichnungen zu ſich, um ſie den Nachbarn zu zeigen, ſo 
kann ich mir ihn jetzt noch lebhaft vorſtellen, wie er nach dem Nachbar⸗ 
haus hinſchritt; er trug eine weiße Zipfelkappe, was damals ziemlich 
gebraͤuchlich war. Er ſoll auch bei den Nachbarn prophezeit haben, 
daß aus feinem Johannesle einmal etwas Rechtes werde. 


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Als die Schulzeit vorbei war, kam die Frage, was nun aus mir 
werden ſolle — meine Eltern waren mittellos — ein wenig Hoffnung 
baute man auf mein Zeichentalent. Das iſt ja meiſt eine ſchwere Sorge 
fuͤr Eltern, was nun aus dem Schulentlaſſenen werden ſoll. 

Eine Schweſter meiner Mutter war als Krankenwaͤrterin im Spital 
in Baſel, ſie war proteſtantiſch geworden und ſtand mit der Baſeler 
Miſſion in einiger Verbindung. Sie kam, wie ſo viele Schwarzwaͤlder 
Maͤdchen, nach Baſel in die Fabrik. Dort wurde ein Arzt auf ſie auf— 
merkſam, da ſie ſich ſo tapfer hilfsbereit benahm, als einer Mit— 
arbeiterin von der Maſchine der Arm weggeriſſen wurde und alle 
andern entſetzt wegliefen. Dieſer Arzt veranlaßte ſie, Krankenwaͤrterin 
zu werden. Sie war eine bibelglaͤubige, fromme Seele, dabei in ihrem 
Weſen nicht weichlich, ja eher hart zu nennen — ihr jahrzehntelanger 
Dienſt, auch bei der Irrenanſtalt, war auch gar hart und ſo lernte ſie 
wohl das Leben faſt nur von der Seite des Leidens, der unerbittlichen 
Pflichterfuͤllung kennen. 

Sie war keine unbedeutende Perſoͤnlichkeit. Davon zeugen ihre 
hinterlaſſenen Aufzeichnungen, in denen fie einen Lebensabriß gibt und 
beſonders ihre religioͤſe Verfaſſung ſchildert. Sie war eine tief religioͤſe 
Natur, vielleicht weil ſo etwas Familienerbteil war — es war innerliche 
Froͤmmigkeit, der die gewohnten Formen nicht mehr genuͤgten, ſo 
daß ihre ſuchende Seele im Evangelium ihren Halt fand. Es iſt 
übrigens die gleiche unbefriedigte Seelenunruhe, die auf religioͤſem 
Sinn beruht, welche auch Mitglieder proteſtantiſcher Konfeſſion zum 
Übertritt zum Katholizismus bewegt. 

Das Buͤchlein der Marie Maier habe ich erſt vor ein paar Jahren 
vom Hausvater des Hardthauſes bekommen. Marie hatte dort ein 
Altersaſyl gefunden und hat wohl ihr Buͤchlein dort geſchrieben. In 
ihrem chriſtlichen Eifer war fie bemüht, die Glaubensruhe die fie be; 
gluͤckte, auch ihren Geſchwiſtern zuteil werden zu laſſen. Sie ſchickte 
Bibeln und andere Schriften an ſie, die nicht ohne Einfluß auf ihr 
religioͤſes Leben geblieben ſind. 

Ein Bruder meiner Mutter, der mit zahlreicher Familie in einem 
kleinen Haͤuschen wohnte, zog ſich ſeiner evangeliſchen Geſinnung 
wegen, die er gar nicht verheimlichte, Verfolgungen zu, ſo daß er von 


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Bernau wegzog. Er war Uhrmacher, Mechaniker, hatte viel Sinn für 
Muſik, er wurde Klavierſtimmer, reparierte auch Orgeln, machte Ver⸗ 
ſuche im Holzſchnitzen und Malen. Er war von hartkoͤpfiger lutheriſcher 
Bibelglaͤubigkeit, und wenn er ſpaͤter Bernau beſuchte, kam er jedesmal 
in heftige Diskuſſion mit dem älteren Bruder, dem Franztoni, der 
war mehr eine Philoſophennatur — freigeiſtig gerichtet —, der dann 
dem Franzſepp und ſeinem ſtarren Bibelglauben ſtark zuſetzte. Ich als 
Bub hoͤrte dem Streit immer mit großem Intereſſe zu, gab aber 
meiſt im ſtillen den Vernunftgruͤnden des Philoſophen recht. Franz⸗ 
toni in ſeinem milden Sinn wollte es nicht begreifen, daß Gott die 
armen Suͤnder von Menſchen, die er ja ſelber ſo erſchaffen hat, fuͤr 
ihre Fehler der ewigen Verdammnis uͤberliefern ſollte, ſo verteidigte 
er die katholiſche Lehre vom Fegfeuer, einem Laͤuterungsort der Seele. 
Da wurde aber Franzſepp ſehr heftig: ein Mittelding gibt's nicht, da 
heißt's: entweder uffe oder abe! Er hatte einen bedeutenden Kopf, der 
bei dem Ausbruch ſolchen Eifers einen ſtarken Ausdruck hatte und viel 
Eindruck auf mich Buben machte, ſo daß das „uffe oder abe!“ oft die 
philoſophiſchen Erwaͤgungen hart bedraͤngte. 

Es wurden auf der Ofenbank um den großen Kachelofen herum 
beim flackernden Schein des Buchenſpanes von dieſen ernſthaft ehrlich 
ſuchenden Bruͤdern gar ſchwere tiefe Gedanken herumgewaͤlzt und 
wenn ſie einmal beiſammen waren, ſo dauerten die Geſpraͤche bis tief 
in die Nacht hinein. Ich war immer dabei bis zum Schluß der Unter⸗ 
redung. 

Franztoni, der aͤlteſte Bruder meiner Mutter, war Uhrenſchildmaler, 
da aber Bernau ziemlich weit von dem Schwarzwaͤlderuhrenbetrieb 
entfernt iſt, fo verlegte er ſich ſpaͤter auf die Unterglas malerei von 
Heiligenbildern; auch malte er auf Glas Kruzifixe, das Glas wurde 
dann auf Holzkreuze aufgekittet. Die „Ware“ wurde meiſt an Wall⸗ 
fahrtsorten von armen Leuten verkauft und gekauft. Seine heran⸗ 
wachſenden Soͤhne halfen mit und machten Muttergottestaͤfelchen 
hinter Glas mit Goldſchaumflitter; auch Schachteln wurden bemalt. 
So fand im Uhrenmacherhaus eine Art von Taͤtigkeit ſtatt, die doch 
ſo weit mit Kunſt verwandt war, daß ſie den baͤuriſchen Schmuck her⸗ 
ſtellte, wie auch die aͤrmſte Huͤtte ihn gerne mag. Die Unterglasheiligen⸗ 


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bilder in ihrer Farbigkeit ſahen auch ſehr ſchmuͤckend aus an den 
braunen holzgetaͤfelten Wänden, es waren immerhin Handmalereien, 
wenn auch unbeholfner Art; fie wurden aber von der Stadt her von 
der Farbendruckinduſtrie verdraͤngt. Neuerzeits werden ſie wieder fuͤr 
Muſeen geſucht. 

Auch die Bauernmalerei, die Kaſten und Truhen, auch holzgetaͤfelte 
Stuben, manchmal auch Fenfterladen mit Blumen, Farben, Baͤndern 
und Spruͤchen zierte, verſchwand und mußte der Stadtmode weichen, 
und der ſo ſchoͤn bemalte Schrank wurde brutal mit Nußbaummaſe⸗ 
rung uͤberſtrichen. Die Kruzifixe und Muttergottestafeln, die im 
Uhrenmacherhaus hergeſtellt wurden, wurden von Hauſierern ver— 
trieben; auch Frau und Toͤchter gingen damit ins Land und fanden 
einen ſpaͤrlichen Verdienſt. Denn uͤberall gibt es Kinder und fromme 
Seelen, denen Flittergold und ein paar bunte Farben, in Verbindung 
mit dem was ihnen heilig iſt, zur Erbauung dient. Was in dem Hauſe 
gemacht wurde, war freilich kuͤnſtleriſch nichts, es waren kuͤmmerliche 
Reſte einer untergegangenen Bauernmalerei, es mußte moͤglichſt 
billige Ware gemacht werden. 

Das Haus meines Onkels war von unbegrenzter Gaſtfreundſchaft, 
beſonders durch die Gutmuͤtigkeit ſeiner Frau, der Marei. Kein noch 
ſo verlumpter armer Teufel, der Herberge ſuchte, wurde abgewieſen, er 
bekam fein Lager hinter dem warmen Ofen, und bei rauhem Winter; 
wetter blieb gar mancher tagelang am warmen Ofen hocken. Weg⸗ 
geſchickt wurde eigentlich keiner, ein gewiſſes Schicklichkeitsgefuͤhl muß 
ſie geleitet haben, daß ſie uͤberhaupt wieder weitergingen. Sie bekamen 
auch zu eſſen, meiſt Kaffee und Kartoffeln. Brot brachten ſie von 
anderswoher mit, denn das konnte bei der zahlreichen Familie nicht 
wohl geliefert werden. So ſagte einmal einer der Ofengaͤſte, als er 
wegging: Vergeltsgott fuͤrs Kaffe, Brot han i eignes g'ha. Es waren 
gar ſonderbare Kaͤuze unter dieſen Ofengaͤſten, die alle Raͤnke brauch⸗ 
ten, um durch die Welt zu kommen; ſo der fromme Wallfahrer Friedli, 
der im Auftrag von Bauersleuten geſchaͤftsmaͤßig nach Einſiedeln und 
andern Wallfahrtsorten ging, um dort Seelenmeſſen leſen zu laſſen. 
Der kam zu mir, ich war noch Schulbub, er wußte, daß ich eine gute 
Schrift hatte. Er erzaͤhlte, daß er einen Brief den ihm der Pater So— 


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undſo in Einfiedeln gegeben habe, an einen Bauern im Unterland, für 
den er Seelenmeſſen fuͤr einen Verſtorbenen leſen laſſen mußte, verloren 
habe. Er ſagte, er wiſſe den Brief auswendig und ich ſolle ſo ſchreiben: 
Dem Geiftlichen ſei, während er die Seelenmeſſen, welche der Fridolin 
bei ihm beſtellt habe, gehalten habe, die Eingebung gekommen, daß 
zur Erloͤſung dieſer armen Seele aus dem Fegefeuer noch 10 Meſſen 
erforderlich ſeien und die Leute moͤchten dem Fridolin das Geld fuͤr 
dieſe Meſſen mitgeben. Friedli gab mir Namen und Unterſchrift an, 
und ich war harmlos genug im Vertrauen auf den gar ſo frommen 
Wallfahrtsmann, dieſen Brief zu ſchreiben. Erſt ſpaͤter kam es mir 
zum Bewußtſein, daß ich zu einem Betrug mißbraucht worden ſei. 

Franztoni ſaß an feinem Werktiſch vom Morgen bis an den Abend, 
er ging faſt nie aus dem Hauſe. Abends ſpielte er oft auf der Geige, 
und mit einem gewiſſen Mutwillen uͤbertoͤnte er auch oft den Zank der 
Frau und der zahlreichen Kinderſchar — er vertraute der Macht der 
Muſik. Er ſelber hatte nie mit jemandem Streit, ſeine Ruhe verließ 
ihn nie, er war mild in ſeinem Urteil uͤber alle Menſchen, er ließ jeden 
gelten. Haß gegen jemand oder gegen Staͤnde gab es bei ihm nie. Mit 
Gelaſſenheit ertrug er ſein aͤrmliches Daſein, ja er war von innerlicher 
Heiterkeit, die ſich darin aͤußerte, daß er gerne mit ſeinen Kindern am 
Feierabend Volkslieder ſang, wobei ihm beſonders ſein Hansjoͤrg 
gar eifrig half. Was zufriedne Menſchen ſind, konnte man auch an 
dieſem Sohn Hansjoͤrg ſehen. Aber nicht alle ſeine Kinder waren ſo. 
Es war oft viel Zank und Laͤrm im Hauſe — dagegen half ihm auch 
ſeine Gelaſſenheit nicht. Die Menſchen ſind halt gar bunt unterein⸗ 
ander gemiſcht. In die Kirche ging er gar ſelten, zur Beichte ging er 
nie mehr. Der Gedanke an einen zornigen Gott, der die Menſchen 
ihrer Suͤnden wegen, fuͤr welche ſie doch eigentlich nichts koͤnnten, mit 
ewiger Verdammnis ſtrafen wuͤrde, war ihm unfaßlich. Daß er ſie 
ihrer Meinungsverſchiedenheiten wegen zur Rechenſchaft ziehen werde, 
das wollte er nicht glauben. Daß man bei ſeiner letzten Krankheit den 
Pfarrer, der den ſtillen Mann kaum kannte, zu ihm rufen wollte, das 
gab er gerne zu. Der Pfarrer war dann ſehr lange bei ihm und nachher 
ſagte er, es tue ihm nur leid, daß er dieſen ſeltenen Menſchen nicht 
ſchon lange kennengelernt habe. So habe ihm noch nie einer gebeichtet 


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mit dieſer Aufrichtigkeit und wahren Froͤmmigkeit. Er war eine ſtille 
ernſte Natur, ins Wirtshaus ging er nie, außer wenn er berufsmaͤßig 
zum Tanze aufſpielen mußte; dann war er aber auch mit ſeiner Klari— 
nette, die er meiſterhaft handhabte, der richtige Aufmunterer zur 
Froͤhlichkeit. Er ſtarb im Jahre 1866, 66 Jahre alt. Er ſtarb mit 
gerade der Gelaſſenheit, mit der er gelebt hatte; er ſtarb gewiſſer— 
maßen nach der Uhr. Seine Familie ſtand um ſein Sterbebett, er gab 
allen noch Ermahnungen zum Frieden. Er ſah nach der Wanduhr, die 
unten am Bette hing, er fuͤhlte ſich ſelbſt den Puls und ſagte es ſeiner 
Frau und den Kindern, daß der Pulsſchlag noch bis zu der und der 
Stunde aushalten wuͤrde. Er hatte richtig gerechnet. Der Puls ſtand 
ſtille und er war eingegangen zur ewigen Ruhe. 

Eines dritten Bruders meiner Mutter erinnere ich mich auch noch. 
Er hieß Franzkarle, war Uhrmacher, ein ſehr lebhafter beweglicher 
Menſch. Es war der, mit dem meine Mutter ſo gerne Muſtertaͤnze 
aufgefuͤhrt hatte, er verheiratete ſich nach Todtmoosruͤtte und iſt auch 
bald geſtorben. 

Der juͤngſte Muttersbruder Ludwig war ebenfalls Uhrmacher, ſpaͤter 
Drechſler, der Holzwaren machte, Spinnraͤder und ſpaͤter auch Spulen 
fuͤr die Fabriken in St. Blaſien und im Wieſental. Er war eine auf⸗ 
rechte, geſunde Natur, aͤußerſt fleißig und genuͤgſam. Er hatte vielerlei 
Liebhabereien, ſo z. B. beobachtete er den Sternenhimmel im Umlauf 
des Jahres; er wollte ſich Klarheit verſchaffen uͤber all die Veraͤnde— 
rungen und Zuſtaͤnde an Sonne und Mond, wie ſie das Jahr hervor— 
bringt. Es war in meiner Schulzeit, als er auf einem langen Tiſchgeſtell 
eine drehbare Erdkugel drechſelte, die mein Bruder Hilari mit den Erd— 
teilen bemalte. In der Mitte des Tiſches war eine Lampe angebracht, 
die die Sonne bedeutete. Durch ſeine Uhrmachertechnik machte er, daß 
der Erdglobus ſeinen Lauf um die Sonne vollfuͤhrte, eine vergoldete 
kleinere Kugel, die dabei die Erde umkreiſte, war der Mond. Das alles 
war durch eine Kurbel in Bewegung zu ſetzen, und ſo konnte man gar 
deutlich Sonnen- und Mondfinſterniſſe darſtellen. Gar oft habe ich 
die Kurbel gedreht und mich als Herr des Sonnenſyſtems gefuͤhlt. 
Ludwig ſtellte auch eine Sonnenuhr auf in ſeinem Gaͤrtchen. Dies 
alles hat meine Jugendphantaſie lebhaft angeregt und meine Kalen⸗ 


2 Thoma, Im Winter des Lebens 17 


derliebhaberei haͤngt wohl mit dieſer ganz frühen, beim Onkel Ludwig 
geholten Erfahrung, zuſammen. Ludwig ſtarb im Jahre 1898, etwa 
80 Jahre alt. Er konnte bis zu dieſem Alter noch den kleinſten Druck 
ohne Brille leſen. 

Viel Liebhaberei hatte er am Theaterſpielen und ſo ſammelte er die 
Dorfgenoſſen zuſammen, daß ſie das Stuͤck „Die kleine Lautenſpielerin“ 
von Chriſtoph Schmid einſtudierten, alle Rollen waren zweckmaͤßig 
beſetzt. Ich, damals gerade der Schule entlaſſen, hatte die Rolle eines 
Hirtenknaben, ich malte auch ein paar Papierſtreifen als Dekorationen 
und als wir uns in unſern Rollen ſicher fühlten, holte Kuratejoſepp 
die Bewilligung beim Amt zu einer oͤffentlichen Auffuͤhrung im Tanz⸗ 
ſaal im Adler. 

An einem Sonntag, als der Gottesdienſt aus war, mußten ich und 
der Schwizeralbert mit einer Trommel in theatraliſchem Aufputz 
hinter der Kirche der Menge bekanntmachen, daß am Nachmittag die 
Vorſtellung ſei. Ich mußte den Ausrufer machen. Die Sache hat gute 
Aufnahme gefunden, denn wir mußten die Sache auch noch in andern 
Wirtshaͤuſern zur Auffuͤhrung bringen. Es haben alle mit heiligem 
Eifer ſich in ihrer Rolle gefuͤhlt. Theaterkritik wurde nicht geuͤbt, aber 
manche Zuſchauer waren bis zu Traͤnen geruͤhrt. 

Wenn ich nun ſo an Verwandte, Nachbarn und Dorfgenoſſen, die 
ich in Bernau hatte, an all ihr Treiben, je nach ihrem angebornen 
Weſen und den dadurch herangewachſenen Verhaͤltniſſen, denke, ſo 
ſehe ich, daß eigentlich der Kern des Menſchen uͤberall der gleiche iſt, 
daß man, um den Menſchen kennenzulernen, gar nicht weit zu wan⸗ 
dern braucht. Es ließen ſich in dem Rahmen eines ſtillen Dorfes alle 
Menſchenſchickſale ſchildern, ganz nach der Natur, wenn nur der Schil⸗ 
derer das große Gefuͤhl des Allgemeinſchickſals, das uns alle ver⸗ 
bindet, nicht verliert. 


6 


n meinem Gedenken an die Kinderzeit darf ich das Baͤſle Katerina 
J nicht vergeſſen. Sie war die Witwe des aͤlteſten Bruders Felix meines 


18 


Vaters, eine herzensgute ſanfte Frau; ich war ſo viel wie möglich bei 
ihr, fie hatte immer ein gutes Wort für mich, auch oft einen Leder; 
biſſen, wenn er auch klein war. Oft ſaß ich bei ihr auf der Ofenbank 
oder auf ihrem Schoß und ſie erzaͤhlte mir Geſchichten, ſo erfuhr ich 
von ihr die Geſchichte vom tapfern Schneiderlein, vom Schneewittchen 
und den Zwergen, vom Machandelbaum, natuͤrlich in ſuͤddeutſcher 
Benennung und Faſſung. Ich moͤchte wohl wiſſen, wo ſie die Maͤrchen 
her hatte. Daß ſie dieſelben nicht im „Grimm“ geleſen hat, weiß ich 
beſtimmt, denn ſie hatte keine Buͤcher. Auf der Ofenbank ſaßen wir 
und ich ſah auch gleich die Bilder zu den merkwuͤrdigen Geſchichten, 
ich ſah ſie an der Wand, wo die teilweis abgeriebene Tuͤnche allerlei 
Geſtalten angenommen hatte, ich zeigte ſie der Tante, die gutwillig 
mitſah und miterkannte. 

Anſchließend will ich hier auch ihres Sohnes, meines Vetters Aloiſi 
Tho ma gedenken, der war eine Natur, von deren Weſen Friede aus⸗ 
ging, ohne daß er etwas ſagen brauchte — ſeine Zufriedenheit war ſo 
groß, daß er in ihr gluͤcklich ſein konnte. Sein Arbeitsverdienſt als 
Holzwarenverfertiger war ſehr — gering, man koͤnnte faſt ſagen ein 
Hungerlohn, aber er hatte eine kleine Landwirtſchaft, d. h. ein paar 
Vieſen und Acker, er konnte eine Kuh und ein paar Ziegen halten, es 
war alles ſo klein, daß er es mit ſeiner Frau bewirtſchaften konnte. 
Als ſeine Frau ſtarb war er freilich, ſie waren kinderlos, ein armer 
einſamer Mann. Als ihm Freunde von mir Buͤcher zum Leſen gaben, 
ſagte er mir, er leſe nicht gern, er habe aber ſo viel Gedanken im Kopfe, 
daß er damit viele Buͤcher fuͤllen koͤnnte, wenn er es aufſchreiben 
koͤnnte. Wenn ich in ſpaͤtern Jahren Bernau beſuchte, war ich immer 
gerne um ihn — ſo beſuchte ich ihn einmal mit meiner Frau — er ſah 
uns bedaͤchtig mit ſeinen klugen, treuen Augen an und ſagte: „Gelt, 
du biſt jetzt an großer Herr, aber du haft gewiß auch viel Müh’ — ſo daß 
ich glaub’, mir iſt viel wohler in meim klein Weſen — 's muß halt jeder 
ſein Teil Sorgen durch das Leben tragen.“ Dann ſah er uns beide 
durchdringend innig an. „Ihr haͤnd euch gefunde im Leben und in 
der Liebe. Ihr g'hoͤret jetzt zuſammen. Haͤnd nur Friede mitanander. 
Dernoch iſt alles gut.“ Und dann ſpielte ein ſchalkhaftes Laͤcheln um 
feinen Mund als er forſchend fragte: „Koͤnnet Ihr 's Vaterunſer au no?“ 


2* 19 


Eine Schweſter meines Vaters, Roſa, kann ich mir immer nur am 
Baumwollenſpinnrad vorſtellen und ich hoͤre das Schnurren desſelben. 
Es war noch die alte Baumwollhandſpinnerei, ehe die Fabriken auf⸗ 
kamen, es war, wie auch die Weberei, eine Hausinduſtrie, die beſonders 
in Todtmoos einen Hauptſitz hatte. 

Eine andre Tante, Pauline, wohnte in den Kaiſerhaͤuſern, ich be⸗ 
ſuchte ſie dann und wann — ſie wurde hoch in die Neunzig alt. 

Der Bruder meines Vaters, den ich gekannt habe, war der Michel. 
Ein ruͤſtiger ſtattlicher Mann, der auch, was damals noch nicht ſo 
haͤufig war, eine Zeitlang Soldat war. Viel weiß ich nicht von ihm. 
Die Mutter hat von ihm erzaͤhlt, daß er geſagt habe, ſein Abendgebet, 
wenn er muͤde ſei, ſei kurz, er ſage nur: „Lieber Gott, du kennſt dein 
Michel!“ Dann lege er ſich ruhig ins Bett. 

Die Erinnerungen aus der Kinderzeit, die vor meinen Schuljahren 
liegen, ſind mir ſehr lebendig — mehr noch in einer Art von Stim⸗ 
mungen, die im Sehen liegen, als durch Geſchehniſſe. So erinnere ich 
mich wohl des faſt ſchreckhaften Eindruckes, wie ich zum erſtenmal be; 
wußt den Vollmond hinter den ſchwarzen Tannen des Rechberges 
emporſteigen ſah. Ich erinnere mich auch eines ſchweren Gewitters 
und der Wolkengebilde, die uͤber dem Steppberge ſich auftuͤrmten. 
Daruͤber laͤßt ſich wohl nicht viel ſchreiben, aber ich denke, etwas davon 
iſt in mein Malen uͤbergegangen, ſo daß mir ſpaͤter beim Malen 
mancher Bilder war, als ob unſichtbare Geiſter mir die Hand fuͤhrten 
und die Farben miſchten. 

Durch die Vermittlung meiner Tante Marie in Baſel kam ich im 
Jahr 1853 zu einem Lithographen dort in die Lehre. Das Lehrgeld, 
800 Franken, ſollte nach uͤberſtandener Probezeit von einem Baſler 
Wohltaͤter bezahlt werden. Ich war ein paar Wochen dort und machte 
Schriftproben zur Zufriedenheit des Meiſters Zemp. Aber ich muß 
bleich ausgeſehen haben, und war ſehr ſchmaͤchtig und zart. Eines 
Tages ſtand ein fremder Lithograph neben meinem Arbeitstiſch, lobte 
meine Schriftproben, fragte aber teilnehmend, ob ich mich wohl fuͤhle, 
und als ich ihn fragend anſah: ob ich keine Schmerzen auf der Bruſt 
fühle, das Lithographieren mit dem Gebuͤckt⸗uͤber⸗dem⸗Stein⸗Sitzen ſei 
eine ungeſunde Arbeit, die mancher nicht aushalte. Von da an fuͤhlte 


20 


ich allerlei Ziehen und Reißen in der Bruſt, das immer heftiger wurde, 
jemehr ich mich danach ſehnte, wieder nach Bernau zu kommen. Ich 
war in einem Koſthaus untergebracht und ſchlief mit etwa einem 
Dutzend Fabrikbuben in einem großen Raum. Das war mir unan⸗ 
genehm, die Buben waren auch in einer Art Gehaͤſſigkeit gegen mich, 
weil ich mehr Freiheit hatte und nicht in die Fabrik mußte — aber das 
Eſſen ſchmeckte mir ſehr gut. Die Schmerzen in der Bruſt nahmen zu. 
Ich ſagte es dem Meiſter, der ein guter Menſch war, er ſchickte mich 
zu einem Arzte, der mich unterſuchte und fand, daß ich nicht ſehr kraͤftig 
ſei, und daß ein anderer Beruf wohl beſſer fuͤr mich ſein koͤnnte. 
Daraufhin wurde ich von meinem Baſler Goͤnner zu einem Architekten 
geſchickt, ob der mich nicht brauchen koͤnne, der lachte und meinte, da 
gehoͤrten wohl andre Vorkenntniſſe dazu, als ich ſie habe. 

Die Probezeit war indeſſen abgelaufen, es wurde mir aufgegeben, 
einen Lebenslauf zu ſchreiben, der dem unbekannten Wohltaͤter vor; 
gelegt werden ſollte. Das hat mich nun arg erſchreckt — was konnte 
doch ich armer Bub, der kaum angefangen hatte zu laufen ins Leben 
hinein, da ſchreiben — ich wußte eigentlich nur, daß ich von Bernau 
hinunter nach Baſel gekommen ſei und jetzt gern wieder von Baſel 
nach Bernau hinaufgehen moͤchte. 

An dem Berg des Lebenslaufſchreibenſollens ſcheiterte eigentlich 
die ganze Sache und ich packte auf und ging wieder heim. 

Mein Vater war freilich recht unzufrieden, daß ich nicht ausgehalten 
hatte, doch daß ich nicht geſund ſei, hatte ſchon eine Tante, die mich in 
Baſel geſehen hatte, den Eltern erzaͤhlt und ſie damit erſchreckt, daß 
fie ſagte, ich hätte ſchon einen ganz jenſeitigen Blick. Nun mußte ich 
in Feld und Wald mitarbeiten, um unſern kleinen Karren vorwaͤrts 
zu ſchieben; mein Vater und ich ſuchten Vogelbeer⸗ und Ahornholz, wel; 
ches wir zubereiteten fuͤr Onkel Ludwig, der Spulen daraus drehen konnte. 

Die Verbindung mit Baſel war aber doch noch nicht ganz geloͤſt und 
ſo ging ich mit der Mutter und mit meinem ſechsjaͤhrigen Schweſter⸗ 
lein Agathe im Fruͤhling 1854 wieder das Wieſental hinaus nach 
Bafel; ich wurde als Lehrling eingeſtellt in das Maler; und Anſtreicher⸗ 
geſchaͤft Lichtenhan. Baſel war zu der Zeit ſozuſagen die Hauptſtadt 
eines großen Teils des oberen badiſchen Schwarzwaldes. Aller Augen 


21 


der armen Menſchen, die etwas erwerben wollten, richteten ihre Blicke 
nach dem reichen Baſel. Die Holzwaren der Bernauer gingen zur 
Bafler Meſſe in hochgeladnen Wagen mit Gelten, Kuͤbeln, Weinbuͤtten, 
Milchgefaͤßen, Ruͤbhobeln, Hackbrettern, Holztellern, Koch- und Schoͤpf— 
loͤffeln u. dgl. Dort fand der Handel mit dem Elſaß ſtatt — die gez 
doͤrrten Heidelbeeren gelangten in Baſler Handelshaͤuſer. Nach Baſel 
gingen die Maidli in Dienſt und in die Fabriken. 

Das Wieſental, durch Hebel poetiſch verklaͤrt, fuͤhrt nach Baſel. Von 
Bernau gelangt man ins Wieſental durch das ſo maleriſch ſchoͤne 
Praͤgtal nach Schönau, aber auch über Todtmoos, Happach und das 
felſige Romattal. Gar manchmal zog ich mit der Mutter dieſe Wege 
und dann an der „Wieſe“ entlang nach Baſel. Eine Schweſter der 
Mutter, „Juliane“, wohnte mit ihrer Familie in Haagen, dort hatten 
wir ein Abſteigequartier. 

Nun war ich Maler- und Anſtreicherlehrling. Obgleich in Armut 
aufgewachſen, war ich dennoch verwöhnt. Die Mutter war ſo beſorgt 
um mich, ich war immer gut und reinlich gekleidet; auch kochte ſie viel 
vernuͤnftiger, alſo beſſer, als andre Frauen in gleichen Verhaͤltniſſen 
es oft tun, ſie bereitete die Speiſen ſchmackhaft zu und wußte Wechſel 
in die Nahrung zu bringen, da ſie nicht nur am Kaffeetopf und Kar⸗ 
toffeln hing, ſondern auch ſelbſtgepflanztes Gemuͤſe und Huͤlſenfruͤchte 
auf den Tiſch brachte. Auch der Vater war gut, nur ſehr ernſt und 
wortkarg, ſo daß ich eigentlich nie ein zutrauliches Verhaͤltnis zu ihm 
hatte. Ein etwas verweichlichter, ſchuͤchterner Lehrbub zwiſchen ſechs 
bis ſieben Geſellen aus aller Herren Laͤndern, die allerlei Mutwillen 
bis zur Roheit an ſich hatten — das war fuͤr mich auch nicht ſehr 
nett. Das Heimweh druͤckte mich. 

Mein Vater war den ganzen Winter uͤber kraͤnklich geweſen, da 
brachte im Auguſt eine Verwandte, die in einer Fabrik in Baſel ar⸗ 
beitete, die Nachricht, daß mein Vater ſehr krank ſei, und daß ich heim⸗ 
kommen ſolle. Am 30. Juli 1855 machte ich mich auf den Weg und 
kam nach zwoͤlfſtuͤndigem Marſch abends 6 Uhr heim — aber mein 
Vater war ſchon um 4 Uhr geſtorben. 

Ungern ging ich nach der Beerdigung fort von der Mutter, aber ich 
ging doch. 


22 


In Baſel war eine ziemlich heftige Choleraepidemie, Ich war in fo 
duͤſterer Stimmung, daß ich mir den Tod wuͤnſchte, und ich verſtehe 
ſeitdem den Zuſtand aller Lehrbuben, die davonlaufen. 

Es wurde Herbſt, da hielt ich es nicht mehr aus — eines Tages beim 
Mittageſſen ſagte ich es meinem Meiſter, daß ich wieder heim wolle. 
Er nahm es nicht ſo tragiſch, wie ich es mir vorgeſtellt hatte, und fragte: 
was ich denn anfangen wolle. In Verlegenheit wußte ich nichts zu 
ſagen, als daß ich ſo ein Maler werden wolle, wie die, von denen die 
ſchoͤnen Bilder im Baſler Muſeum gemalt ſeien. Da lachte der Meifter 
und meinte, da kannſt du lang warten — er ließ mich aber gern ziehen, 
denn er fand daß ich doch nicht recht zum Anſtreicher tauge. Wie froh 
war ich, daß alles ſo glatt abgelaufen war. Gleich packte ich meinen 
Malkittel und Schürze zuſammen und ging zur Schlafftelle, mein Kiſt— 
lein zu packen. Reiſegeld hatte ich freilich keines, aber das machte mir 
wenig Sorge, es ging ja der Heimat zu. Wie ich mit meinem Buͤndel 
unter dem Arm nach der Herberge gehe, kommt ein Jude zu mir und 
fragt: „Haſt du was zu handeln?“ und da ich ihm ſagte, was in dem 
Buͤndel ſei, gingen wir in einen Torbogen hinein und er gab mir fuͤr 
alles einen Franken. Nun hatte ich auch noch Geld. Als ich am andern 
Morgen mein Kofferle einem Waͤlderfuhrmann mitgegeben hatte, 
war ich aller Sorgen frei und kaufte mir noch zum Reiſeproviant ein 
halbes Pfund Zucker. Ich wußte nichts Beſſeres als Zucker, auch war 
der Zucker in Baſel billiger als im Badiſchen. 

Mit dem Zucker in der Taſche zog ich zum zweitenmal von Baſel ab 
der Heimat zu, es war an einem nebeligen Herbſtmorgen. Da, es war 
in der Naͤhe von Loͤrrach, was kommt da auf der Straße daher — ein 
klein Weiblein, wahrhaftig meine Mutter — war das eine Freude. Sie 
kam, um ihren Johannes der Cholera aus den Haͤnden zu reißen, ſie 
hatte auch einen großen Pack gedoͤrrter Heidelbeeren bei ſich — als 
Abwehrmittel. Sie war bei den Verwandten in Haagen uͤbernachtet — 
deshalb war ſie auch am Morgen ſchon in der Naͤhe von Baſel. Wir 
kehrten wieder bei den Verwandten ein und gingen erſt den andern 
Tag nach Bernau. So neben der Mutter her war der Weg durch das 
Wieſental gar ſchoͤn und ich fuͤhlte mich ſicherer, als wenn ich allein 
den Weg gehen muͤßte. Ich will es nur geſtehen, ich hatte eine be; 


23 


ſondere Angſt vor den Hunden, beſonders einer ſchien es ſehr auf 
mich abgeſehen zu haben, ich ging immer ſehr vorſichtig am Haus 
vorbei. 


7 


Nun war ich wieder in Bernau im kleinen rauchigen Stuͤbchen. Wir 
hatten ein paar Ziegen, ein Kartoffelfeld und ein paar Stuͤckle Wieſen 
und Wald — da mußte nun gearbeitet werden. Aber ich half nicht viel, 
ich ging an meine Zeichnerei, und Mutter und Schweſter ließen mich 
gewaͤhren und nahmen die Arbeit auf ſich. 

In dieſer Zeit nach der Ruͤckkehr von Baſel tauchte auch der Plan 
auf, daß ich meinen Faͤhigkeiten nach eigentlich ſtudieren ſollte. Meine 
Mutter, die alles anwendete, daß aus mir doch noch was Ordentliches 
werden ſolle, ergriff lebhaft dieſen Plan, ſie wendete ſich an den 
Pfarrer, der auch zuſtimmte und ſich bereit erklaͤrte, mir Lateinunter⸗ 
richt zu geben. Allerdings meinte er, daß es zu dieſem Anfang, da ich 
im 16. Lebensjahr ſtehe, etwas ſpaͤt ſei — er wolle es aber trotzdem 
befuͤrworten. So kam es, daß ich mit der Mutter eines Tages nach 
Freiburg ging in das biſchoͤf liche Palais — ich nahm auch eine Rolle 
Zeichnungen mit. Im Palais empfing uns ein Domkapitular ſehr 
freundlich, hoͤrte das Vorbringen der Mutter an, ob er vom Bernauer 
Pfarrer ſchon davon unterrichtet war, das weiß ich nicht — er ſah 
meine Zeichnungen aufmerkſam an, meinte auch, daß dies mein Ta⸗ 
lent mich beſſer durchs Leben fuͤhren koͤnnte, als wenn ich Geiſtlicher 
wuͤrde. Er hielt dies auch, da ich keine andre Vorbildung als die in 
der Volksſchule moͤgliche mitbringe, fuͤr gar ſchwer durchfuͤhrbar bei 
meinem Alter. Jedoch er wolle noch Erkundigungen anſtellen und wir 
moͤchten ſpaͤter wieder bei ihm nachfragen — meine Mutter tat dies 
auch, aber er hielt den Plan für unausfuͤhrbar und verwies nochmals 
auf mein Zeichentalent. 

Zu unſerm Leidweſen zerſtob der Plan, Pfarrer zu werden, an den 
Verhaͤltniſſen. Wie moͤchte es wohl ſein, wenn unſer Wunſch erfuͤllt 
worden waͤre? Wuͤrde ich irgendwo im Schwarzwald als Pfarrer 
ſitzen; ich glaube, daß ich ein ganz ordentlicher Pfarrer geworden waͤre. 


24 


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Vielleicht wäre ich auch zu höherer Stellung auserſehen worden, viel; 
leicht ſaͤße ich etwa im Kloſter Beuron, wo ich meine Kunſt üben 
koͤnnte, weitab vom Tageslaͤrm — das denke ich mir gar ſchoͤn. 

Ich ſollte eben nicht Pfarrer werden, ebenſowenig wie, was ich noch 
erzaͤhlen werde, es ein Jahr ſpaͤter gelingen wollte, Ratsſchreiber zu 
werden und daran emporſteigend jetzt Buͤrgermeiſter von Bernau zu 
ſein. 

Lehrer Ruska in Bernau Dorf hatte eine Zeichenſchule errichtet, die 
ich beſuchte, zu Haus zeichnete ich auf graues Papier Vergroͤßerungen 
nach allen moͤglichen Heiligen⸗ und Kalenderbildern — auch machte ich 
Verſuche, nach der Natur zu zeichnen. 

Durch dieſe Zeichenſchule wurde Oberamtmann Sachs in St. Bla; 
ſien auf mein Talent aufmerkſam, er machte allerlei Verſuche mich 
irgendwo in die Lehre zu bringen, endlich kam ich zum Uhrenſchildmaler 
Laule nach Furtwangen. An einem ſchoͤnen Tage ging ich mit der 
Mutter über die Schwarzwaldhoͤhen nach Furtwangen. Ich blieb, 
einſtweilen zur Probe, dort, und es gefiel mir. Da der Meiſter an 
einer Staffelei ſaß und eine Palette an der Hand hatte, ſo erklaͤrte 
ich der Mutter, daß das ein richtiger Maler ſei, und ſo blieb ich gerne. 
Vier Wochen war ich dort, es ging alles gut; ich durfte malen und ich 
glaube, der Meiſter konnte mich recht gut gebrauchen. Der Lehrvertrag 
ſollte gemacht werden, der lautete auf vier Jahre Lehrzeit und 200 
Gulden Garantie von einem Buͤrgen fuͤr den Fall, daß ich die vier 
Jahre nicht aushalten ſollte. Die Mutter hatte kein Geld und fuͤr mein 
vierjaͤhriges Aushalten wollte niemand Buͤrgſchaft leiſten — ſo kam 
die Mutter und holte mich wieder. Diesmal ging ich wirklich ungern. 
Die Koſt war gut — ich war bei einer Gerberfamilie untergebracht — 
vom Morgenkaffee bis zum Mittageſſen — z' Nuͤni gab's aber 
nichts. Das merkte ſich ein kaum der Schule entwachſenes Maͤdchen 
der Familie, ſie kam immer zu einer beſtimmten Stunde in den Hof, 
wo auch ich mich dann einfand. Sie hatte immer eine große Butter⸗ 
ſchnitte, die ſie mit mir teilte — ich glaube kaum, daß wir miteinander 
geſprochen haben — es war ein gar zartes Verhaͤltnis. An das ſo 
ruͤhrend um mich beſorgte Kind habe ich immer gerne gedacht — aber 
ich Undankbarer, ich weiß nicht einmal, wie ſie geheißen hat. 


25 


Wieder über die Berghalden durch die Tannenwaͤlder heimwaͤrts 
mit der diesmal doch etwas bangen Frage: Was ſoll nun werden? 
Die Mutter war ſehr beſorgt. Der Amtmann wird ſich jetzt nicht mehr 
um uns kuͤmmern. Als wir, unter einer alten Tanne ruhend, das von 
der Mutter mitgebrachte Mittagsbrot verzehrten, da faßte ich friſchen 
Mut und ſagte der Mutter, daß ich in den vier Wochen ſo viel gelernt 
habe, daß ich jetzt auf eigne Fauſt Uhrenſchilde und viel andre Dinge 
malen koͤnne. Dieſe Ausſicht machte uns hoffnungsvoll und ganz 
froͤhlich — es iſt mir, als ob wir beim Weiterſchreiten geſungen haͤtten. 
Alle Sorgen waren weg. Es war wohl das erſtemal, daß ich mich dem 
Geſchick gewachſen fuͤhlte durch den Entſchluß zur Tat. 

Ein paar Tage ſpaͤter haͤngte ich meine Reiſetaſche um und ging 
nach Freiburg, wo ich in einem Geſchaͤfte Farben, Ole und Pinſel 
kaufte, auch ein Stuͤck Zinkblech nahm ich mit, um es zu grundieren. 
Mit dieſen Farben im Reiſeſack und den Kopf voll Bilder konnte es 
mir nun nicht mehr fehlen — frohgemut ging ich über die Halde 
heim. 

Dann ging das Farbanreiben an, das Zubereiten von Leinwand 
und Pappe, das ich ja in Baſel ſchon gelernt hatte. Ich fuͤhlte mich 
nicht mehr hilflos, ich malte mit Olfarben nach Stichen und Holz⸗ 
ſchnitten, Heiligenbilder, Landſchaften uſw. Ich freute mich an meiner 
Arbeit. Freilich mußte die Mutter zuerſt mit ein paar dieſer Bildchen 
nach St. Blaſien, ſo viel Mut hatte ich doch noch nicht. Die Mutter brachte 
aber guten Bericht. Die Bildchen wurden ihr vom Doktor und vom 
Apotheker Romer abgekauft — letzterer ſagte, ich ſolle doch einmal zu 
ihm kommen — er malte auch. Das war nun gar ſchoͤn. Ich malte 
mehrere Anſichten von St. Blaſien auf grundierte Pappdeckel, ſehr 
ſchoͤn ausgefuͤhrt, ſo daß ich es wagte, fuͤr das Stuͤck einen Gulden zu 
fordern — ich war fleißig darauf aus, Geld zu verdienen, und ich be⸗ 
nutzte jede Gelegenheit hierzu. So ging ich eine Zeitlang in die Glas⸗ 
huͤtte Aule wo ich auf Glaͤſer mit Firnisfarbe Bluͤmlein und Spruͤche 
malte; auch mein Vetter Franz Maier malte dort das gleiche. Am 
Samstag brachte ich ſo immer einige Gulden mit heim. Aber ſo ganz 
ſicher war mein Weg zur Kunſt doch noch nicht, und es kam ein an⸗ 
derer Plan, der mich ganz andere Wege gefuͤhrt haͤtte, wenn er ge⸗ 


26 


lungen wäre, Es ſtarb nämlich der Ratsſchreiber von Bernau, und 
da ich ein guter Schuͤler geweſen, bewarb ich mich um die Stelle; aber 
ein etwas Alterer wurde mir vorgezogen, der ſpaͤter Buͤrgermeiſter 
wurde. Haͤtte ich die Stelle erhalten, fo wäre ich jetzt vermutlich Buͤr— 
germeiſter von Bernau. Um Pfarrer zu werden war ich zu alt, zum 
Ratsſchreiber werden zu jung. Ich hatte nun auch angefangen, eifrig 
nach der Natur zu zeichnen. An Sonntagen ſteckte ich ein Maͤpplein 
unter den Rock und ging in den Wald, wo ich an moͤglichſt verborgenen 
Orten Baͤume abzeichnete — heimlich — ich wollte nicht von den Leuten 
im Ort ausgelacht werden. Auch Koͤpfe verſuchte ich zu zeichnen; ich 
malte auch ein paar kleine Portraͤte auf Beſtellung. 


8 


m Jahre 1859 ſchickte Oberamtmann Sachs meine heimlichen No; 
0 turſtudien und anderes nach Karlsruhe. Direktor Wilh. Schirmer 
ſprach ſich ſehr entſchieden dafuͤr aus, daß ich Maler werden und in 
die Kunſtſchule eintreten ſolle. Der Großherzog ſagte Unterſtuͤtzung zu, 
und einige Goͤnner in St. Blaſien und Bernau ermoͤglichten es mir, 
daß ich, fuͤr die erſten zwei Monate geſichert, im Oktober 1859 in die 
Kunſtſchule eintreten konnte. Ich war 20 Jahre alt. Ungern ging ich 
von der Mutter und Agathe weg, von der armen Heimat. Erwartungs⸗ 
voll der Zukunft entgegen. 

Es gibt ein im Volkston ſprechendes Bild, welches ich fruͤher in 
manchen Bauernhaͤuſern geſehen habe. In Form einer an- und ab⸗ 
ſteigenden Treppe iſt der Lebenslauf des Menſchen dargeſtellt. Auf den 
Stufen ſtehen fie geordnet vom 5. bis zum 100. Lebensjahr; folgende 
Spruͤche begleiten ſie: 


5 Jahre ein Kind 10 Jahr ein Knabe 
20 Jahr ein Juͤngling 30 Jahr ein Mann 
40 Jahr wohlgetan 50 Jahr Stillſtand 
60 Jahr gehts Alter an 70 Jahr ein Greis 


80 Jahr, nicht mehr weis 90 Jahr Kinderſpott 
100 Jahr Gnad von Gott. 


Es iſt ein Spruch, der knapp und ſicher den Lebenslauf bezeichnet, 
derb und kraͤftig, ſo daß er fuͤr alle Menſchen paßt. So koͤnnte ich mich 
zu einer uͤberſichtlichen Gliederung deſſen was ich ſchreiben will, ganz 
wohl an dies Schema halten und aus ihm eine Kapiteleinteilung 
machen. Ich habe doch jetzt, ſo nahe am 80. Jahre, die Reihe 
durchlebt. Dies ſtarre Gefuͤge paßt fuͤr meinen Lebenslauf ſo wie fuͤr 
alle Menſchen. Es iſt ſo unwiderleglich deutlich. Das, was ich bis jetzt 
geſchrieben habe, ließe ſich mit Kind und Knabe, die Übergaͤnge von 
5 bis ro und bis 20 zum Juͤngling bezeichnen. Die Karlsruher Zeit, von 
der ich jetzt berichten will, faͤllt in dies Alter bis gegen das Mannes⸗ 
alter. Der 30 jaͤhrige, der mit den Lebensmaͤchten ſich tapfer ausein⸗ 
anderſetzen mußte. Der Kaͤmpfer mit ſeinen Sorgen und Pflichten, 
mit Siegen und Niederlagen, wie der Kampf es bringt. 40 Jahr wohl⸗ 
getan, über 50 Jahr Stillſtand, find für mich die Jahre in Frankfurt, 
die Tage ruhiger Arbeit, ſtillen Gluͤckes an der Seite der Lebens⸗ 
genoſſin — die Jahre, denen man Stillſtand gebieten moͤchte. Ruhiges 
Daſein, Sicherheit umgibt uns auf dieſer am hoͤchſten in der Mitte 
ſtehenden Lebensſtufe. 

Nun aber es gibt keinen Stillſtand, es geht abwaͤrts, mit 60 Jahr 
gehts Alter an. Schmerzliche Verluſte mahnen an die Vergaͤnglichkeit 
alles irdiſchen Daſeins; der Tod hat die Gattin von der Seite ger 
riſſen und einſam, ein Greis, geht's ins 70. Jahr hinuͤber. Das iſt 
die zweite Karlsruher Zeit, die eine Art von Heimkehr bedeutet, eine 
Art von Schickſalserfuͤllung, die man mit den Reſten der im Leben 
gewonnenen Arbeitskraft gewiſſenhaft zu geſtalten ſucht. Man meint 
oft noch das Alter abwehren zu koͤnnen, das ſchreitet aber ſicher daher. 
Immer hinfaͤlliger werdend erreicht man im 80. Jahr die Stufe der 
Vergeſſenheit, wo man auch ſeiner Weisheit nicht mehr traut. Wo 
man nichts mehr wiſſen will, ſich nach dem Ruhen der Vergaͤnglichkeit 
oder, wenn man lieber ſagen will, nach der Ruhe der Ewigkeit ſehnt. 
Bei dieſem Kapitel meines Lebens ſtehe ich jetzt und koͤnnte meinen 
ſchriftlichen Lebenslauf ſchließen. Denn ich moͤchte doch lieber nicht 
dem 90, entgegen das Verſinken in eine zweite hilfloſe Kindheit erleben, 
wo der Kinder Scherz und Spott das erloͤſchende Leben umflattert. 
Möge mir der Schluß: 100 Jahr Gnad von Gott — er wirkt wie ein 


28 


ſanfter Lichtſtrahl aus den ewigen Gefilden — ohne die letzten Pruͤ— 
fungen im Leben beſchieden ſein. 

Dieſe bäuerlichen Lebenslaufregeln koͤnnten wohl der Schluß fein 
von meiner Lebensbeſchreibung. Aber nun ſind ſie mir auch eine Auf— 
munterung, weiter zu erzaͤhlen zur Bekraͤftigung dieſes Spruches. Ich 
bin doch erſt am 20. Jahre und wenn ich ſo ausfuͤhrlich weiterſchreibe 
durch die Stufen hindurch, ſo wird dies ein dickes Buch. Ich bin aber 
ſelber neugierig wie weit ich damit noch komme. Denn neugierig iſt 
der Menſch bis ins hoͤchſte Alter, weil alle Zukunft ihm verhuͤllt iſt. 


9 


On Karlsruhe kam ich an am 29. September 1859, abends 6 Uhr. 
4) Mit Lehrer Ruska und dem Bernauer Pfarrer, einem fehr fröhlichen 
Reiſegefaͤhrten, der die truͤben Wolken des Abſchiedes durch muntre 
Geſpraͤche vertrieb, ging ich uͤber die Halde nach Freiburg. Mit Ruska 
ging ich dann noch in ſeinen Heimatsort Malberg, wo ich ein paar 
Tage blieb. In Karlsruhe uͤbernachtete ich im Gaſthaus zum Gruͤnen 
Baum und am andern Morgen ſchon um 8 Uhr, um ja nichts zu ver⸗ 
ſaͤumen, ging ich mit einem Briefe vom Oberamtmann Sachs zum 
Galeriedirektor Leſſing. Ich hatte von dieſem ſchon in Bernau in der 
„Gartenlaube“ geleſen und hatte einen gewaltigen Reſpekt vor ihm, 
und mag wohl ſchuͤchtern und unbeholfen vor ihm geſtanden ſein, 
aber wie wohl tat es mir, daß er ſo gar freundlich gegen mich war. 
Er ſchrieb ein paar Zeilen auf den Sachsſchen Brief und ſchickte mich 
zu Schirmer. Nach vielem Suchen fand ich ſein Atelier. Er erſchien mir 
Angſtlichem nicht ſo freundlich wie Leſſing zu ſein. Sein Ausſehen hat 
ſich, wie er ſo breitkoͤpfig vor ſeinem aufgeſtellten Zyklus bibliſcher 
Landſchaften ſaß, mir ſehr deutlich eingepraͤgt. Er ſprach über meine 
Aufnahme in die Schule und wies mich an den Inſpektor Vollweider, 
der auch ein Schwarzwaͤlder ſei. In einem Nebenzimmer des Ateliers 
hieß er mich auf dieſen, der bald eintreffen wuͤrde, warten, wo ich 
inzwiſchen ſeine Naturſtudien anſehen koͤnne. Alle Waͤnde hingen voll, 
die mich aller Angſt enthoben. Denn ich traͤumte, ja ich wußte, daß 


29 


ich auch bald fo malen könne, daß es mir alſo in Karlsruhe nicht 
wuͤrde fehlſchlagen koͤnnen. Schirmers kraͤftige Art, wie ſie ſich beſonders 
in ſeinen Studien ausſpricht, in deutlicher Handfuͤhrung, hat jedenfalls 
Einfluß auf mich gehabt; und haͤtte es noch mehr haben ſollen. Er war 
der erſte deutlich ſchaffende Kuͤnſtler, an den ich mich in meinen Lehrjahren 
haͤtte anſchließen koͤnnen. Er ſtarb für mich zu früh — er haͤtte meine 
Lehrzeit um einige recht leere Jahre, die nachfolgten, verkuͤrzt. 

Der freundliche Landsmann Vollweider gab mir Rat in betreff 
von Wohnung und Koſttiſch. Ich mietete ein kleines Dachſtuͤblein. Ich 
kam in den Antikenſaal zu Profeſſor des Coudres, der ein gar freundlicher 
Korrektor war. Er gab ſich auf die liebenswuͤrdigſte Art Muͤhe, jedes 
Spuͤrchen von Zuviel und Zuwenig an der Zeichnung aufzufinden. Mit 
Senkblei und Spiegel wurde kontrolliert. Aber das Antikenzeichnen 
wurde mir mit der Zeit langweilig, ich konnte mir nicht recht denken, 
warum ich dies gar ſo genau nachbilden ſollte. Eigentlich dachte ich 
gar nichts, aber ich ſehnte mich nach der Natur, zu der ich im Sommer 
zuruͤckkehren wollte. Nach ſechs monatlicher Zucht entließ mich des Cou⸗ 
dres, zwar nicht ſehr willig, aus dem Antikenſaal und ich kopierte, 
noch ehe ich nach Bernau ging, einige Schirmerſche Studien, die ſehr 
zur Zufriedenheit Schirmers ausfielen. 

Im Dezember 1859 mußte ich zur Aſſentierung heim; ich wurde 
frei, weil ich eine hohe Nummer hatte. Ich ging bald wieder nach 
Karlsruhe, am 3. Januar 1860. Die Mutter begleitete mich bis Todt—⸗ 
nau. Am r. April für die Oſterferien ging ich wieder heim und blieb 
bis zum 17. Am 22. Juni zog ich wieder heimwaͤrts; uͤbernachtete in 
Muggenbrunn. In Bernau malte ich zuerſt ein kleines Waſſerfaͤllchen, 
dann das Innere eines Waldes und noch recht viele Sachen. Einige 
davon haͤngen jetzt im Karlsruher Thomamuſeum, wohin ich ſie ſtiften 
konnte. Die Mehrzahl ſolcher Naturſtudien exiſtieren nicht mehr. Ich 
habe ſie meiſt verſchenkt, gekauft hat damals kein echter Kunſtfreund 
eine Naturſtudie, ſie wurden als gaͤnzlich wertlos erachtet. Im Auguſt 
holte ich meinen, im Antikenſaal erworbenen Freund Eugen Bracht in 
Freiburg ab. Wir gingen uͤber Titiſee, Feldſee, kletterten an der ſteilſten 
Halde des Seebuck hinauf; es war ein Wetteifer von jugendlicher 
Kraft und Übermut. Dann in Bernau gings mit Feuereifer ans 


30 


Studienmalen. Wir liefen oft zwei Stunden weit ins Praͤgerloch und 
malten dort einen Steinblock, einen umgeſtuͤrzten Baum, verzehrten 
vergnuͤgt unſer Mittagsmahl, das uns die Mutter mitgegeben hatte, 
aus Speck, Eiern, Kaͤſe beſtehend. Spaͤt abends kamen wir heim. Es 
war eine gar fröhliche Zeit. Allerlei und viel abmalen war unſre harm—⸗ 
loſe Freude. Auch der Maler Saal aus Paris war in Bernau. Er gab 
uns viel Anregung, denn er war, obgleich bedeutend aͤlter als wir, 
ungemein fleißig. Von meiner Mutter hatte er eine gute Meinung, 
er hat geſagt, es ſei kein Wunder wenn ich ein großer Maler werde, 
man ſolle nur einmal die Augen meiner Mutter anſehen. Bracht ging 
früher fort, ich am 4. Dezember 1860 am Morgen um 5 Uhr, bei 
kalter Schneenacht, zu Fuß nach Freiburg. Abends um 8 Uhr war ich 
wieder in Karlsruhe. Ich hatte Nachricht erhalten, daß ich, um ein 
Stipendium zu bekommen, gleich hinmuͤſſe. Ich erhielt auch 300 Gulden. 

Wie ich aus den Tagebuͤchern von dieſer Zeit herausgeleſen, war 
Heimweh der Haupttrieb der mich erfuͤllte. Ich fuͤhlte mich ſo fremd 
in der Karlsruher Welt. Ich ſehnte mich danach, froͤhlich zu ſein mit 
den Bernauer Buben und Maidli — ich fühlte mich fo einſam. Eine 
der Klageſtellen aus dem Tagebuch ſetze ich hierher: „Ich gehöre nicht 
mehr der Heimat an, nie werde ich mein Brot in der Heimat finden — 
und es zieht mich doch ſo alles dahin. Es waͤre mir doch ſo wohl, 
wenn ich, wie meine Schulkameraden, ein Holzarbeiter wäre, Ich bin 
doch gerade ſo genuͤgſam wie dieſe.“ Aber ich traͤumte auf meinen 
Wegen immer von Bernauer Bildern, die ich malen wollte. Ich ſah die 
Berghalden, das ganze Bernau ſah ich im Geiſte. Ich machte auch ein 
langes Verzeichnis davon, was ich malen wolle. Dies Verzeichnis iſt 
zu kindlich, als daß ich es aufſchreiben moͤchte. Dagegen finde ich 
folgende Stelle: „Ploͤtzlich taucht oft ein Gedanke in mir auf, oft durch 
die unbedeutendſten Gegenſtaͤnde erweckt. Ich gerate in einen Zuſtand 
der Verlorenheit, ich weiß nicht wie mir iſt. Es packt mich wie eine 
Erinnerung aus uralter Zeit. Ich meine dann, ich muͤſſe es zeichnen 
koͤnnen oder dichten — aber ich weiß nicht wie und was.“ 

Auch in dieſem Winter malte ich unter des Coudres Leitung Koͤpfe, 
zeichnete abends fleißig Akte, wohltuende Dinge, Taͤtigkeitszeichen 
dem Traͤumen gegenuͤber. Wie freute ich mich, als ich den erſten Kopf 


31 


malte, ich malte ihn in zwei Sitzungen, ehe der Profeſſor kam. Der 
zeigte mir nun wie das Ding anzufangen ſei. Ich malte nun im Wett⸗ 
eifer mit den andern Schuͤlern Kopf um Kopf und ich glaube, daß 
einige davon recht gut geworden ſind. 

Am 23. Maͤrz 1861 finde ich in meinem Tagebuch: „Morgen abend 
ſitze ich ſchon daheim bei Mutter und Schweſter am Tiſch. Wie freue 
ich mich auf die 14 Tage, die ich daheim ſein kann, ich war in der letzten 
Zeit recht flau und energielos. Ich hoffe, die Heimat wird mich wieder 
ruͤſtig und ſtark machen, ſie wird mir wieder Stoff geben etwas zu 
geſtalten.“ 

Ich war ſehr vergnuͤgt in dieſen Oſterferien. Am 15. April war ich 
wieder in Karlsruhe. Im Juni 1861 war ich aber ſchon wieder in 
Bernau. Da ſchrieb ich ins Tagebuch: „Wie ſchoͤn iſt doch mein Heimat⸗ 
tal! Aus all der Freude ſehe ich aber mit Sorgen in die Zukunft. Ich 
mag oft gar nicht daran denken, dann bin ich ausgelaſſen luſtig mit 
den alten Kameraden. Still und friedlich iſt es aber in der Natur, 
wenn ich am Sonntagvormittag ſo auf einem Berghang liege und 
ins gruͤne Tal hinunterſehe, die Kirchenglocken rufen, die Sonne glaͤnzt 
im Buchwald, die Droſſel ſingt, uͤber mir ſchweben weiße Wolken und 
ein Habicht kreiſt. Da vergeſſe ich alle Sorgen und der Friede der 
Natur umſchließt auch meine Seele. Wie ſchoͤn iſt's am Baͤchlein im 
ſchattigen Tannenwald, am goldbraunen Baͤchlein von ſamtgruͤnem 
Moosufer umfaßt. Die Ameiſe, die im Mooſe kriecht, und die glaͤnzende 
Libelle, die wie ein blauer Sonnenſtrahl uͤber das braune Waſſer hin⸗ 
ſchwebt, ſind mir befreundete Weſen. Ich verſtehe den Buchfinken, der 
ſein Liedchen ſingt, ich nehme teil an dem Wohlbehagen, mit dem die 
Forelle durch den klaren Bach dahinſchnellt. Wenn ich beim Gemurmel 
des Waſſers ſo halb einſchlummre, ſo iſt es mir, als ob Engel aus einer 
beſſern Welt um mich ſchwebten. Dann kann aber auch ploͤtzlich das 
kommen, was wir Menſchen Wirklichkeit nennen. Dann ſehe ich, wie 
die Ameiſe einen Wurm mitſchleppt zum Fraß, ein Schauer uͤberlaͤuft 
mich, ein geheimes Grauen treibt mich aus dem Walde fort. Ich eile 
heim; ich weiß nicht, wovor mir graut. Vielleicht vor mir ſelber. Im 
kleinen Stuͤbchen bei Mutter und Schweſter iſt eine gar ſchoͤne Wirklich⸗ 
keit, und die Wahngebilde fliehen.“ — 


32 


2 
= 
Zi 
2 

= 
2 

2 
S 
— 

— 
O 
2 

— 
85 


Das Studienmalen und Zeichnen wurde aber fleißig fortgeſetzt. Die 
Sachen, die ich gemacht habe, ſind in die Welt zerſtreut, ich legte ihnen 
keinen Wert bei und habe die meiſten verſchenkt an den, der ſie gerade 
haben wollte. Herbſtwehmut verſtaͤrkt das Gefuͤhl baldiger Trennung 
von der lieben Heimat; ſo klage ich: 

„Vom Berg habe ich heute heruntergeſehen uͤber das Tal, es lag ſo 
ſtill da und nur der Takt vom Haͤmmern der Kuͤbler fuͤgte ſich faſt 
dieſer Stille ein. Da dachte ich, wie ſchoͤn waͤre es doch, wenn ich hier— 
bleiben koͤnnte und den Küblertaft mitklopfen koͤnnte — aber bald 
muß ich wieder in die Stadt, in deren Laͤrm ich ſo einſam bin.“ 

Am 18. November 1861, morgens um halb zwei Uhr ſchon, um 
in Freiburg den Zug nach Karlsruhe zu erreichen, ging ich bei Mond— 
ſchein aus dem ſchneebedeckten Tale fort. Es iſt mir auf der acht—⸗ 
ſtuͤndigen Nachtwanderung kein Menſch begegnet, und ich freute mich, 
wie ſchon oͤfters, an dem heraufdaͤmmernden Morgen. Im Breisgau 
lag grauer Nebel. Ich erfuhr in Karlsruhe, daß ich durch mein langes 
Ausbleiben die Verteilung der Stipendien verſaͤumt habe. Das war 
traurig, und ich rechnete, daß mir mein Geld nur bis zum April reichen 
wuͤrde. Eine rechte Freude war es mir aber, daß Schirmer meine mit⸗ 
gebrachten Arbeiten ſo ſehr lobte. Daruͤber finde ich folgendes im 
Tagebuch: 

„Meine Studien und beſonders einige Kompoſitionen, einige zu 
Hebels Gedichten, gefielen dem Direktor Schirmer ganz außergewoͤhn⸗ 
lich, er rief aus: Thoma Sie find ein Poet!“ Er ſoll auch geäußert 
haben, als andre ſagten: ‚Das gibt einen zweiten Ludwig Richter‘: Das 
gibt noch einmal viel Bedeutenderes als Richter. Wie freue ich mich, 
ſo habe ich doch die Heimat nicht umſonſt verlaſſen.“ 

Schirmer hat mit ſeinem Lob nie zuruͤckgehalten und unterſchied ſich 
dadurch weſentlich von mich ſpaͤter behandelnden Profeſſoren, bei 
denen es Erziehungsprinzip zu ſein ſcheint, auffallende Talente zu 
daͤmpfen, aͤngſtlich zu machen mit allerlei Warnungen. Ich malte nun 
wieder Koͤpfe und quaͤlte mich den Winter uͤber ziemlich kuͤmmerlich 
durch. Im April 1862 hatte ich gerade noch Geld, um nach Bernau 
zu kommen. Aber ich war vergnuͤgt in dem Vorſatz, den ganzen Som— 
mer uͤber dazubleiben. Ich arbeitete fleißig in Gras und Blumen, in 


3 Thoma, Im Winter des Lebens 33 


Feld und Wald. Ich malte aus Grasſtudien einen Junimorgen, wel; 
chen die Muſeumsgeſellſchaft in St. Blaſien ankaufte zu einer Ver 
loſung. Im Juli kam Philipp Roͤth aus Darmſtadt, um Studien zu 
malen. Er brachte die begluͤckende Nachricht, daß der Karlsruher Kunſt⸗ 
verein mein Bildchen „Im Tannwald“ fuͤr 60 Gulden angekauft 
habe. Welch ein Haufen Geld! Mit Roͤth malte ich den ganzen Som⸗ 
mer uͤber. Wir waren recht froͤhlich und haben auch an einem Sonntag 
im Adler getanzt. Wir machten auch einen Studienausflug an den 
Rhein, Saͤckingen, Laufenburg durchs Wehratal uͤber Todtmoos heim. 
Im Tagebuch aus dieſer Zeit ſind lauter unnuͤtze Betrachtungen, von 
denen ich keine mitteilen will. 

Im Oktober 1862 malte ich wieder Koͤpfe, auch erhielt ich wieder 
300 Gulden Staatsſtipendium. Die erſte Kritik in der Zeitung über 
mein Bildchen „Im Tannwald“ erfreute mich. Es wurde genannt 
ein gemalter heimeliger Anklang an Hebel, voll Seele. Ich war voll 
Mut. Da ich jetzt Geld hatte, konnte ich mir dieſen Winter das erſtemal 
den Luxus eines geheizten Zimmers erlauben. Es kam ein gewiſſer 
Übermut an mich, und ich verkehrte viel mit einer luſtigen Schweizer⸗ 
geſellſchaft, die ſich an der Kunſtſchule zuſammengefunden hatte. Der 
gleiche Dialekt bewaͤhrte ſeine Bindekraft; ſo denke ich jetzt an Zemp, 
Pfyfer, Stirnimann, Bucher, Kaiſer, die Koͤpfe mitmalten, an Stu⸗ 
der, Balmer, Staͤbli, es waren froͤhliche Schweizer. 

Ich las mit Begeiſterung Jean Paul. Ich fing an, einen Schwarz⸗ 
waͤlderroman zu ſchreiben, der klaͤglich im Sande verlief. Im Maͤrz 
1863 wieder in Bernau und verlebte gluͤckliche Oſtertage. Die Mutter 
hatte mich in Freiburg abgeholt. Mit meinen Vettern Franz und 
Wilhelm trieb ich viel froͤhlichen Unſinn. Am 20. April ging ich wieder. 
Im Sommer malte ich dann ein Bild in Karlsruhe „Der Bienen⸗ 
freund“, welches der Kunſtverein fuͤr 200 Gulden kaufte. Merk⸗ 
wuͤrdigerweiſe wollten mir faſt alle Mitſchuͤler, und beſonders aͤltere 
Maler, an dem Bilde helfen. Es muß ſie etwas dazu gereizt haben. 
Ich hab' ſie nicht darum erſucht, denn ich ſpuͤrte wohl, daß das Bild 
dadurch ſeine Friſche verloren hatte; es wurde viel Selbſtaͤndiges 
daraus hinwegkorrigiert. Im Juli bin ich wieder in Bernau. Vorher 
ging ich mit meinem Mitſchuͤler Karl Wagner ins Hanauerlaͤndchen. 


34 


Es erſchien mir in feiner üppigen Fruchtbarkeit wie ein Paradies. An 
einem herrlichen Sonntagvormittag waren wir in dem Doͤrfchen Links. 
Es verſtaͤrkte mir die Anſicht, die mir fruͤher ſchon aufgedaͤmmert iſt, 
daß die Welt nicht nur in Bernau ſchoͤn iſt. Das ſah ich denn auch am 
Tage nachher in Buͤhl, wo ich den Lehrer Ruska beſuchte, der mich in 
der Umgebung herumfuͤhrte, auf die Burg Windeck uſw. Im Auguſt 
1863 kam Staͤbli, und ich ging mit ihm in die Schweiz, zuerſt nach 
Schaffhauſen, dann in ſeine Heimat Winterthur. Dort lernte ich ſeine 
Schweſter Adele kennen, eine ſehr poetiſch angelegte Natur, mit der 
ich ſpaͤter in lebhaften Wortwechſel, d. h. Briefwechſel, kam. Spaͤter 
gingen wir nach Zuͤrich, wo wir Maler Koller, Staͤblis fruͤheren Lehrer, 
beſuchten. Er hatte ein gar ſchoͤnes Landhaus am See, fuͤr mich ein 
wahres Malerparadies. Am Sonntagnachmittag ſaßen wir mit Herrn 
und Frau Koller in einer Gartenwirtſchaft. Der Schweizerwein 
ſchmeckte mir und Staͤbli, der ausgeſprochenen Sinn dafuͤr hatte, ſehr 
gut. Nach meiner Heimkehr machte ich, wohl von Koller angeregt, 
große und ſehr genaue Naturſtudien. 

Aus Karlsruhe kam die Nachricht, daß Schirmer geſtorben ſei. Er 
ſtarb nach kurzer Krankheit, 57 Jahre alt. Fuͤr mich war es ein großer 
Verluſt, und ich fragte mich betruͤbt, wie es nun an der Kunſtſchule 
gehen wuͤrde. 

Im September kaufte der Darmſtaͤdter Kunſtverein ein kleines 
Bildchen von mir, „Winteridyll“, fuͤr 70 Gulden. Ich ſchien damals 
doch zu einem Liebling der Kunſtvereine heranzuwachſen, das hat ſich 
freilich nicht bewaͤhrt. Stellen, die ſchon auf eine Wendung hindeuten, 
finde ich in meinem Tagebuch; ſo vom 22. September: „So recht 
fuͤhle ich nach einigen ſchlimmen Regentagen die ganze Poeſie des 
Sonnenlichtes, ich glaube, daß ein Bild, in dem ohne beſondere Wahl 
des Gegenſtandes oder einer Handlung nur das Weſen und die Far⸗ 
ben und das Licht dargeſtellt find, ſchon genug Poeſie, alſo auch Ge— 
danken enthaͤlt, als ein Produkt der Schoͤnheit mit allem Recht An⸗ 
ſpruch darauf machen kann, als ein Kunſtwerk genommen zu werden.“ 

Es iſt etwas Ketzerei in dem Ausſpruch, wie alle Ketzerei ein Tiefer⸗ 
ſuchen unter der Gewohnheit einer Oberfläche, Es war aber ganz un; 
bewußte Ketzerei. 


35 


Am ı2. Oktober ging ich wieder nach Karlsruhe, klage aber im 
Tagebuch: „Warum habe ich die liebe Heimat verlaſſen? Warum bin 
ich Maler geworden? Um mir das ſaure Leben auch noch zu verbittern? 
Ich habe das nicht gedacht!“ Dann klage ich viel uͤber menſchliche 
Ungerechtigkeit, uͤber allerlei Einrichtungen. Es zeigt ſich aus dieſen 
Aufzeichnungen, daß ich alles Talent zum Neider und Noͤrgler habe. 
Leſſing hatte an Schirmers Stelle das Korrigieren uͤbernommen. Ich 
hatte eine Morgenlandſchaft angefangen. Das Bild gefiel Leſſing und 
er machte den Grafen Fleming darauf aufmerkſam, er kam auch mit 
ſeiner Frau, zu mir und ſie taten, als ob ſie das Bild ſchon gekauft 
haͤtten. Die Frau beſtellte noch ein paar Diſteln in den Vordergrund 
und einige Wolkenſchaͤflein in den Himmel. Meine Mitſchuͤler gratu⸗ 
lierten mir. Die Frau Graͤfin kam wiederholt ins Atelier und war mit 
Diſteln und Woͤlkchen zufrieden, ich war voll angenehmer Hoffnung. 
Das Bild ſtand fertig da, aber weder Graf noch Graͤfin ließen ſich 
mehr ſehen, und als ich fie auf der Straße höflich gruͤßte, fo ſahen fie 
mich fremd und verwundert an, als kennten ſie mich nicht. Es war eine 
ſchwere Enttaͤuſchung. Ein paar bittere Bemerkungen, die ich im Tage⸗ 
buch ſchwarz durchſtrichen habe, haͤngen wohl mit dieſer Sache zur 
ſammen. Am 15. November war ich im Konzert, welches Richard 
Wagner ſelbſt dirigierte. Ich war tief ergriffen und fuͤhlte die Macht 
dieſer großen Kunſt. 


10 


chirmer war nicht mehr. Zu dieſer Zeit waͤre der Einfluß dieſes 

tatkraͤftigen Kuͤnſtlers fuͤr mich hoͤchſt wertvoll geweſen. Er war ein 
großdenkender Kuͤnſtler, und fo wußte er feinen Schülern Selbſtver- 
trauen zu geben, er ging uͤber Kleinigkeiten hinweg. Ich erinnere mich, 
wie Schick, der in Vertretung des Coudres die Malklaſſe leitete, mich 
bei Schirmer verklagte, daß ich nachlaͤſſig am Kopfmodell arbeite und 
nebenbei an einem Bildchen male. Schirmer fuͤhrte ein ziemlich ſtren⸗ 
ges Regiment, er kam in die Malklaſſe und hielt mir die Ungehoͤrigkeit 
meines Tuns vor. Was konnte ich anders ſagen als, ich will's nimmer 


36 


tun! Unter der Tür kehrte er aber nochmals um und fragte: „Was 
haben Sie denn nebenher gemalt?“ Und als ich ihm das Bildchen 
zeigte, es war ein Winterbildchen, da ſah er es ſehr lange an und 
ſagte: „Ei, das iſt ja ganz gut. Machen Sie das Bild fertig, Sie 
koͤnnen ja noch genug Koͤpfe malen.“ Das Bild wurde auch vom 
Kunſtverein angekauft und kam ſpaͤter in den Beſitz des Großherzogs. 
Leſſing korrigierte nun, und ich bewunderte beſonders feine Land⸗ 
ſchaften ſehr. 

Canon hatte großen Einfluß faſt auf alle Kunſtſchuͤler. Er erweckte 
die Abſicht derſelben, eine vernuͤnftige Art des handwerklichen Vor— 
ganges für die Malerei kennenzulernen. Die Laſurtechnik auf Grau— 
untermalung wurde allgemein probiert. Mich wollte Canon zu einer 
Art von Mitarbeiter ganz in Beſchlag nehmen, ich wollte auch gerne 
darauf eingehen, aber Canons Freund Schick verhinderte dies, in- 
dem er mich auf allerlei Gefahren aufmerkſam machte, wenn ich mich 
Canon ſo ganz hingaͤbe. Es waͤre jedenfalls nicht ſo gefaͤhrlich ge— 
worden und ich haͤtte viel Poſitives gelernt. Mit Canon kam ich durch 
das Wiederabſagen dann ſo ziemlich auseinander, aber ich hatte das 
Gefühl, von ihm vieles gelernt zu haben. Doch meine ich, daß die 
Jahre 1863— 1864 voll innerer und aͤußerer Verworrenheit für mich 
waren. 

Im Winter 1863— 1864 war ich in Maler- und Muſikergeſellſchaft 
leichtſinnig und gleichguͤltig. Da lernte ich aber auch einen Freund 
fürs Leben kennen, den Maſchinenbauer Hermann Schumm. Er war. 
eine froͤhliche Natur und machte gern allerlei Tollheiten und Schalk— 
ſtreiche mit, aber im Grunde war er eine ernſte, ja fromme Seele, und 
wie wir uns naͤher kennenlernten, gelang es uns gemeinſchaftlich, uns 
aus dem aͤrgſten Schlendrian zu retten. 

Verwilderung und Sentimentalitaͤt zeigen manche Aufzeichnungen 
aus dieſer Zeit. Faſt immer war ich ohne Geld, aber wir leichtlebigen 
Geſellen halfen einander getreulich aus mit Verleihen im Betrag von 
30 Kreuzer bis ı Gulden. Der gute Oſteroht wußte meiſt in aͤrgſter 
Not etwas aufzutreiben. Stipendium erhielt ich 1864 keines. Der 
Sommer dieſes Jahres war eine ungluͤckliche Zeit fuͤr mich; ich ſehnte 
mich nach Bernau und konnte nicht hin. Ein Bild, das ich gemalt, auf 


37 


das ich Hoffnung ſetzte, daß der Kunſtverein es ankaufen würde, hatte 
nicht dieſen Erfolg. Durch Verkauf einiger kleinen Zeichnungen brachte 
ich doch ſo viel zuſammen, daß ich am x. Auguſt wieder in Bernau 
war. Langſam atmete ich wieder auf. Der Aufenthalt in der Natur 
ſtaͤrkte mich an Leib und Seele. Ich war oͤfters in Schoͤnau, wo Amt⸗ 
mann Hepting einige Bildchen von mir malen ließ. Im November 
war ich wieder in Karlsruhe, dort gab ich Kindern in ein paar Fa⸗ 
milien Zeichenunterricht. Ich erinnere mich an ein etwa 13jaͤhriges 
Maͤdchen, die zeichnete unter meiner Anleitung die Portaͤts ihrer zwei 
jüngern Brüder, und ich war hoͤchſt uͤberraſcht, daß fie die Zeichnungen 
ganz genau ſo machte, als ob ich ſie gemacht haͤtte. Das Kind hatte 
vorher nicht gezeichnet. Ich hatte an der Zeichnung nichts gemacht, 
nur etwa die Groͤße angegeben. Ich ſtand hinter der Zeichnerin, und 
wie ich dachte, ſo ſah und machte ſie das Bild, es war mir, als ob ich 
unſichtbar die fremde Hand fuͤhrte, als ob ſie ein Werkzeug meines 
Willens wäre. Man hätte dann die fertigen Bilder ganz gut für Zeich—⸗ 
nungen von mir ausgeben koͤnnen. Das, was das Kind ſonſt fuͤr ſich 
zeichnete, war nichts anderes als das, was Maͤdchen in ihrem Alter zeich⸗ 
nen koͤnnen. Ich zweifle nicht daran, daß hier ein Fall der geheimnis⸗ 
vollen direkten Beeinfluſſung vorlag. 

In dieſem Winter verkaufte ich den Graͤflichen „Sommermorgen“ 
an einen Kunſthaͤndler fuͤr 150 Gulden. 

Gude war als Profeſſor an Schirmers Stelle getreten. Er war 
liebenswuͤrdig und korrigierte mit Eifer, aber ſo recht verſtanden wir 
uns von Anfang an nicht. Gude zog mich in die Karlsruher „Geſell⸗ 
ſchaft“. 

Der Fruͤhling 1865 brachte mich in muntre Taͤtigkeit. Ich arbeitete 
mit Emil Lugo im Atelier. Schick intereſſiert ſich ſehr fuͤr meine Ar⸗ 
beiten. Es war eine Zeit des Aufſchwungs fuͤr mich und großer Taͤtig⸗ 
keit. Ein Bild aus dieſer Zeit, „Auf Bergeshoͤhen“, kaufte der Groß, 
herzog fuͤr 200 Gulden. Doch war große Unſicherheit. Bald korrigierte 
Schick Canon, bald Gude des Coudres. Anfangs Juni beſuchten mich 
meine Mutter und Schweſter und Onkel Ludwig. Sie beſuchten Tante 
Marie, die im Hardthaus ein Altersaſyl gefunden hatte. Ende Juli 
war ich wieder in Bernau. Gude ſchrieb mir, und da er wußte, daß 


38 


ich kein Geld habe, ſchickte er mir roo Gulden Vorſchuß auf die Aus⸗ 
ſicht hin, daß ich eine Wiederholung „Auf Bergeshoͤhen“ in Wien 
verkaufen wuͤrde, was auch durch ſeine Vermittlung richtig eintraf. 

Am 16. September 1865 finde ich folgenden Eintrag in mein Buch, 
der auf eine richtig beſchauliche Stimmung ſchließen laͤßt: 

„Ich habe die ſtillen Herbſttage ſo lieb; ich ſitze oben auf dem Berg— 
hang zwiſchen grauen Felsbloͤcken, uͤber dem Tal liegt ſchon blauendes 
Daͤmmerdunkel, in dem der ſilberne Bach glänzt. Ich ſitze in ver; 
worrenen Traͤumen, in ſeeliſchem Daͤmmerzuſtand. Da ſchleicht ein 
Fuchs aus dem Walde, ganz nahe bei mir ſpielt er und tummelt ſich 
in wunderlichen Spruͤngen. Er nimmt mich nicht wahr, da ich einen 
grauen Anzug von der Farbe der Felsbloͤcke habe. Er kommt mir 
unheimlich nahe, ſo daß ich mich rege, worauf er dem Wald zueilt. 
Dunkler wird die Erde, uͤber dem Tal glaͤnzen die Sterne. Aus einem 
Hauſe ertoͤnt ſanfter Geſang — ich bin ſtill und gluͤcklich!“ 

Im Oktober machte ich ſo eine Art von Studienreiſe nach Saͤckingen, 
wo Verwandte wohnten. Dann über Herriſchried, wo ich ein altes 
Hozenkoſtuͤm kaufte. Ich uͤbernachtete in Herriſchried. Der neue 65 er 
Wein war gar herrlich geraten, und ich habe viel getrunken. Der Suſer 
hat feine Tuͤcken. In Bernau malte ich noch einen Geometer Roſen— 
maier bei ſeinem Meßapparat, er gab mir 25 Gulden dafuͤr. 

Ich verkehrte dieſen Winter viel in den Sonntagsnachmittags⸗ 
Kaffeegeſellſchaften Leſſing, Schroͤdter, Gude — Canon war arg ver— 
poͤnt. f 
In einem Maͤdchenpenſionat gab ich woͤchentlich zwei Zeichenſtunden. 
Nicht der Unterricht, aber der Umgang mit den Kindern machte mir 
viel Freude. 

Ein Architekt, von Strahlendorf aus Frankfurt, hatte mir Duͤrers 
Holzſchnitte vom Marienleben geliehen. Die erſte Nacht, da ich fie anz 
ſah, ſchlief ich vor freudiger Erregung gar nicht ein. Lange Zeit ſah ich 
nachher die Natur in Duͤrerſcher Form. Lebhaften Anteil nahm ich an 
den Fruͤhlingsausfluͤgen der Geſellſchaft und an den frohen Spielen, 
die fie im Wildpark, in Rintheim, Groͤtzingen, Wolfahrtsweier auf; 
fuͤhrte, und ich freute mich meiner Jugend und meines Lebens. Mit 
Ernſt Sattler befreundete ich mich, der zu der Zeit auch in der Geſell— 


39 


ſchaft verkehrte. Der Sechsundſechziger Krieg hat nicht viel Eindruck 
auf mich gemacht, ich war zweigeteilt zwiſchen Oſterreich und Preußen, 
aber Bismarcks Kraftnatur hat mir Eindruck gemacht. Aber was geht 
eigentlich die Politik einen armen Kuͤnſtler an, der ſo wenig Ausſicht 
auf eine ſichere Zukunft hat; der ſo gar keine „Stellung“ zu erreichen 
vermag. Es war mir unbehaglich in der Karlsruher Geſellſchaft. Wo 
ſollte das hinaus? Ein Kluͤgerer waͤre wohl andre Wege gegangen. Mir 
genuͤgte der Zufall, daß mein Freund Schumm in Baſel an einer Ge⸗ 
werbeſchule Lehrer war und mir ſchrieb, es wuͤrde wohl auch fuͤr mich 
in Baſel eine aͤhnliche Stellung geben. Das erfuͤllte mich mit Hoffnung. 

Ende Juli in Bernau angekommen, war ich ſehr fleißig, malte ein 
Doppelportraͤt von Mutter und Schweſter in der Bibel leſend. Malte 
auch ziemlich groß den Eingang in unſer Haus, ins Uhrenmachers 
Haus. Mit Schumm machte ich aus, daß ich zu ihm nach Baſel ziehe, 
freilich ein planloſes Unternehmen. Am 13. Oktober 1866 zog ich bei 
dem treuen Freund und feiner Schweſter ein. Die Baſler Galerie 
wurde mir wieder ſehr lieb, zum Arbeiten kam ich nicht ſo recht. Es 
laſtete ein druͤckendes Gefuͤhl auf mir, große Sorgenlaſt. Ich ſah ein, 
daß ich nicht in Baſel bleiben konnte. Es war mir unheimlich, da 
Mutter und Schweſter, durch meinen Bafler Aufenthalt verlockt, ſich 
verleiten ließen, nach Loͤrrach zu ziehen, wo eine Schweſter von der 
Mutter wohnte. Es war mir entſetzlich, dort waren ſie doppelt arm. 
Am 6. November kamen ſie nach Loͤrrach, und wenn ich ſie von Baſel 
aus beſuchte, konnte ich ihnen ſo gar nichts Troͤſtliches ſagen. Das 
war ein ſtarker Gegenſatz zu den Karlsruher Geſellſchaftsglacéhand⸗ 
ſchuhen! 

Bei meinem zuruͤckhaltenden Weſen konnten mir ein paar Empfeh⸗ 
lungen, die ich von Karlsruhe an Baſler Familien hatte, gar nichts 
nutzen. Die Ausſicht auf eine Zeichenlehrerſtelle verlor ſich. Auch die 
Verſuche, Privatunterricht zu geben, zerſchlugen ſich. Eine kleine Hilfe 
war, daß der Stuttgarter Kunſtverein ein Bildchen fuͤr 60 Gulden 
von mir kaufte. 

Am Sylveſterabend war ich in Lörrach mit Mutter und Schweſter 
und den Verwandten in einer Verſammlung glaͤubiger Altlutheraner, 
deren Pfarrer Eichhorn eine Rede hielt: „Chriſtus iſt das einzige der 


40 


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Welt gegebene Heil!“ Der Ernſt diefer gläubig vertrauenden Menſchen 
tat mir wohl. Mein Herz war weich, recht weich, und darum fuͤhlte ich 
mich ſtark. 

Im Januar 1867 baute ich die Baſler Hoffnungen unwiderruflich 
ab, und mit Schumms Geldͤhilfe machte ich mich auf, nach Duͤſſeldorf 
zu gehen. Mutter und Schweſter waren verlaſſener als je. Aber ich 
mußte wagen und hoffen. Ich ging nach Karlsruhe, wurde von der 
Geſellſchaft gut aufgenommen und ging am 16., mit Empfehlungen 
von Schroͤdters und Gude ausgeruͤſtet, nach Duͤſſeldorf. Dort war 
Philipp Roͤth, der gute Freund. Ich beſuchte mit meinen Empfehlun⸗ 
gen einige Profeſſoren; es blieb bei dem einen Beſuch. Einer der Pro; 
feſſoren war recht freundlich und ſchien ſich meiner annehmen zu wollen, 
er kam in mein kleines Atelier, lobte meine Sachen, lieh auch einige 
Studien von mir, die er gebrauchen koͤnne. Sonntags war ich ein 
paarmal bei ihm zu Tiſch und nachmittags mit ſeinen freundlichen 
Toͤchtern gar gerne zuſammen. Eines Sonntags veranlaßte er mich, 
eine Mappe mit Zeichnungen und Studien von mir mitzubringen, die 
er einer Tiſchgeſellſchaft zeigen wollte, das war mir immerhin ſchon 
peinlich. Die Geſellſchaft ſah die Arbeiten, und ich fuͤhlte lebhaft, wie 
fremd dieſelben den Duͤſſeldorfer Anſchauungen ſeien. Da richtete der 
Profeſſor ſehr ernſt das Wort an mich, fragte wie lange ich denn ſchon 
Maler ſei, und dann, daß ich fuͤr dieſe lange Zeit noch gar wenig, ja 
eigentlich gar nichts koͤnne, daß ich jetzt erſt anfangen muͤſſe, und daß 
ich mich mal auf den Duͤſſeldorfer Ausſtellungen umſehen ſollte, was 
junge Leute ſchon machten, daß er aber, wenn ich ſeiner Leitung folge, 
mich bald zu etwas bringen wolle. Das ſagte er mir vor der ganzen 
eingeladenen Geſellſchaft. Das war aber ein Punkt, wo ich, der Schüch; 
terne, ins Gegenteil umſchlug und nun auch vor der ganzen Geſellſchaft 
ſagte, ich wiſſe wohl, daß ich noch viel lernen muͤſſe, aber das wolle 
ich nicht lernen, was ich bis jetzt in Duͤſſeldorf an Malerei geſehen habe. 
Ich muͤſſe meine eignen Wege gehen, die vorerſt nur ich ſelber kenne. 

Unſer Verhältnis war damit vorbei. Das hat mir um feiner freund—⸗ 
lichen Toͤchter wegen leid getan. 

Nun kam aber eine Zeit der Schulden fuͤr Wohnung und Koſt, und 
die Zeit der zerriſſenen Stiefel. Ich meinte, daß jeder, der voruͤberging, 


41 


nichts andres zu tun habe, als mir auf die Füße zu ſehen, fo daß ich 
haͤtte rufen moͤgen: „Sie naſeweiſer Mann, was gehen Sie meine 
Stiefeln an!“ 

Im Mai aber kaufte jemand beim Kunſthaͤndler ein Bild von mir, 
„Herbſtſturm“, für 15 Friedrichsdor. Das half der groͤbſten Not ab. 

Dann lernte ich Otto Scholderer kennen, von dem mir Roͤth mit— 
teilte, daß er entzuͤckt ſei von meinen Bildern, die ich ausgeſtellt habe, 
daß er ſich beim Mittagstiſch dem geringſchaͤtzenden Urteil einiger 
Genremaler gegenuͤber ſehr in hervorragender Weiſe meiner Arbeiten 
angenommen habe. Scholderer war aus Frankfurt, ein hochgebildeter 
Maler, der faͤhig war, die Kunſt als Ganzes zu erfaſſen. Er hatte lange 
in Paris gelebt. Wir wurden Freunde fuͤrs Leben. Sein freies Denken 
und fein ſicheres Können haben mich in der Duͤſſeldorfer Zeit ſehr gez 
foͤrdert. Er lehrte mich einfach arbeiten in naturgemaͤßer Technik. 

Am 17. Juni 1867 fuhr ich den Rhein hinauf, beſuchte in Darmſtadt 
Roͤth und Fritz und kam nach Loͤrrach. Dort waren die Meinigen recht 
vereinſamt und verlaſſen; inzwiſchen waren auch die Verwandten dort 
fortgezogen. Sie wohnten in einem dumpfen kellerartigen Zimmer. 
Agathe naͤhte fuͤr die Leute. Es konnte ſo nicht weitergehen, und ſo 
zogen wir nun zu den Verwandten nach Saͤckingen. Bei meinem 
Vetter Conſtantin, Uhrenmacher und Waldſeewirt, fanden Mutter 
und Agathe Wohnung. Ich wohnte beim Kronenwirt. Mein Vetter 
Fidel Schmid war Buchbinder, und ich ſaß oft in ſeinem Laden. Es 
kamen auch bald gute Nachrichten. Paul Weber in Darmſtadt kaufte 
ein Bildchen für zoo Gulden, und der Rheiniſch-Weſtfaͤliſche Kunſt⸗ 
verein kaufte eine Landſchaft fuͤr 150 Taler. Mit Schumm, der von 
Baſel kam, machte ich Ausfluͤge, einmal auf den Hozenwald, ein 
andermal an den Bodenſee, wir waren voll Mbermut und Mutwillen 
und neckten uns. In einem Wirtshaus, wo wir uͤbernachteten, tanz⸗ 
ten wir auf einer Hochzeit herzhaft mit. Aber ich merkte, daß die 
Bauernburſchen recht unfreundliche Geſichter machten, ſo daß wir uns 
aus dem Staube machten und zu Bett gingen. 

Mit Mutter und Agathe beſuchte ich auch Bernau. Im Herbſt ver⸗ 
kaufte ich ein „Maͤdchen mit Huͤhnern“ an den Karlsruher Kunſtverein 
für 300 Gulden. Es ging alſo gut, und fo konnte ich wohlgemut nach 


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Duͤſſeldorf zuruͤck, zumal ich auch noch ein Stipendium zu hoffen hatte. 
In Duͤſſeldorf bezog ich ein kleines Atelier neben dem Scholdererſchen. 
Meine in Saͤckingen gemalten Sachen machten mir viel Freude. Auf 
Weihnachten erhielt ich 400 Gulden Stipendium. Freilich fanden 
meine neueren Bilder keinen Beifall bei den Duͤſſeldorfern, und Aus— 
ſicht auf Verkauf war ſehr klein. Ich war aber recht vergnuͤgt und 
machte im Malkaſten alles mit. 


11 


II" 21. April 1868 ging ich mit Scholderer nach Paris. Es war eine 
gar ſchoͤne Fahrt durch Frankreichs gruͤne bluͤhende Landſchaft. In 
einem rieſengroßen Atelier, das die Frankfurter Maler Steinhardt 
und Winter bewohnten, wurden noch zwei Betten eingeſtellt, und ſo 
hauſten wir zu viert darin. Es war ein froͤhlich Leben. Nun gab es 
taͤglich zu ſehen. Wir beſuchten Schreyer, auch Peter Burnitz war dort, 
lauter Frankfurter. 

Von den neuern Franzoſen machte den größten Eindruck die „Erz 
poſition Courbet“ auf mich. Es waren etwa 200 Bilder vereinigt. 
Dieſe Freiheit des Schaffens tat mir wohl nach der Angſtlichkeit des 
Karlsruher und Duͤſſeldorfer Profeſſorentums. Das war etwas Gan— 
zes, war fuͤr mich die Malerei. Die Sachen wurden mir ſo klar, als ob 
ſie meine eignen Sachen waͤren. Nun glaubte ich meine Bilder malen 
zu koͤnnen. Es war eine ſchoͤne Zeit aufbluͤhender Hoffnung. 

Wir beſuchten Courbet in ſeinem Atelier; er war ja fruͤher einmal in 
Frankfurt, daher kannte ihn Scholderer. Er war nicht im Atelier, aber 
bald erſchien oben aus einer Art Verſchlag aus einem Guckloch ein 
großer breiter Kopf, der gutmuͤtig lachte, als er Scholderer erkannte. 
Er war eben aufgeſtanden; ein ungekaͤmmter Kopf auf kurzem Halſe 
und breiten Schultern, auch war er wohlbeleibt, und als Scholderer 
hieruͤber ſcherzhaft etwas bemerkte, fo verſtand ich aus allem Franz 
zoͤſiſch heraus nur das Wort Bier. Er trank, wie aus Frankfurt und 
Muͤnchen bekannt war, ſehr gern und viel Bier. 

Im Tagebuch iſt eine Art Aufzaͤhlung der Bilder aus der Expoſition 


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Courbet. Das hier aufzuführen hat keinen Zweck, ebenſowenig die 
Außerungen uͤber die Bilder des Louvre, von denen ich entzuͤckt war. 
über den Salon ſpreche ich ſehr abfällig. So eine Bilderanhaͤufung hat 
halt etwas ſehr Ermuͤdendes. Was ich geſchrieben habe, koͤnnte von 
einem biſſigen Kritiker geſchrieben ſein, und ich bemerke, daß ich auch 
hierzu Talent gehabt haͤtte. 

Unterwegs einmal begegnete ich zufaͤllig Anton von Werner; wir 
freuten uns ſehr. Am Nachmittag beſuchte ich ihn in ſeinem Atelier. 
Dann aßen wir irgendwo zu Abend in einem kleinen Lokal, wo viel 
Deutſch geſprochen wurde. Um ro Uhr begleitete mich Werner heim in 
die Avenue Montagne. 

Ich fuͤrchte, daß das Aufzeichnen der Begebenheiten durch all die 
Jahre hindurch den Leſer verleiden koͤnnte, denn ich geſtehe, auch mir 
wird es langweilig. Von Bernau nach Karlsruhe, von Karlsruhe nach 
Bernau, was kann das einen viel angehen. Es ſcheint mir auch, daß 
in einer Lebensgeſchichte nur die geiſtige Entwicklung von Bedeutung 
ſein kann. So wie die Einheit der Seele durch all den Zufall des 
Geſchickes hindurch ſich wahrt und beſtehenbleibt — die Seele, die durch 
den Lebenslauf hindurch zu einer Erkenntnis ihrer ſelbſt zu kommen 
ſucht. 

„Erkenne dich ſelbſt!“ Das ſcheint mir freilich ein zweiſchneidiger Aus⸗ 
ſpruch zu ſein, und es iſt gut, daß dies nicht ſo leicht moͤglich iſt, ſonſt 
wuͤrde man gar oft dazu kommen zu ſagen: „Nun fuͤrchte ich mich vor 
niemand mehr als vor mir ſelber.“ 

Wie die Seele ſich durch Raum und Zeit hindurchwindet, das duͤrfte 
es ſein, worauf es im Lebenslauf ankommt. 

Geboren werden, verpflichtet, jeder hat an dieſer Schuld abzuzahlen. 
Der Reſt, der uͤbrigbleibt, fällt dem unbarmherzigen Gerichts vollzieher 
Tod in den Schoß. 

Ich werde nun oͤfters das Erzaͤhlen vom Gang der Ereigniſſe unter; 
brechen mit derartigen Eroͤrterungen, die ich noch in alten Tage; 
buͤchern finde, oder die mir auch neu waͤhrend dem Schreiben ein⸗ 
fallen. 

Aber ich fahre fort, denn ich bin bei dem Kapitel Paris. Bei Schol⸗ 
derers Freund, dem Maler Fantin, ſah ich japaniſche Malereien, die 


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mir einen gar ſchoͤnen Eindruck machten; fie erinnerten mich an meine 
lieben Altdeutſchen, die mich auch in Paris lebhaft angezogen haben, 
wo ich ihnen in Sammlungen begegnete. Ich habe mich in Paris 
wacker umgeſehen und fühlte mich von den ſchoͤnen Eindruͤcken erfüllt, 
fo daß ich an die Heimkehr denken mußte — ja mußte —, denn ich 
hatte kein Geld mehr. 

Am Abend des 6. Mai 1868 brachte mich Scholderer an den Straß; 
burger Bahnhof und kaufte mir ein Billett nach Baſel. Mit dem 
Schnellzug ging es nun in der Nacht durch das Land. Das Coupé war 
uͤberfuͤllt, und es war mir etwas ungemuͤtlich, daß ich nicht Franzoͤſiſch 
konnte. Der Mond ging auf und ſchimmerte geheimnisvoll durch die 
ſchlanken Gipfel der franzoͤſiſchen Baͤume und glaͤnzte in Fluͤſſen und 
Baͤchen, es war eine zauberhafte Nacht. Um 12 Uhr in Troyes leerte 
ſich der Wagen. Schlafen wollte ich nicht, ich ſah immer wieder in 
die mondbeglaͤnzte Nacht hinaus und war in gluͤcklicher Stimmung. 
Die Morgendaͤmmerung war auch ſchoͤn; wir fuhren durch eine gar 
ſchoͤne Fruͤhlingslandſchaft. Wir kamen an Belfort voruͤber. Altkirch, 
die erſte Station mit deutſchem Namen. Von Muͤlhauſen ab war ich 
allein im Coupé. Ich war ſo froͤhlich, daß ich ſang, denn ich hatte 
immer noch einundeinhalb Franken Geld in der Taſche. Um 9 Uhr war 
ich beim Freund Schumm und ſeiner guten Schweſter in Baſel. 
Schumm und ich lachten wieder unſer gehoͤrig Teil. Wir machten Aus⸗ 
fluͤge in die Gegend, es waren gar herrliche Maitage, und meine 
Augen ſogen viel von der Schoͤnheit ein. Schumm half mir mit 
50 Franken aus der aͤrgſten Not, und ſo fuhr ich uͤber Schopfheim, 
Wehr und Todtmoos nach Bernau. Wieder in der alten Heimat, 
wohin auch Mutter und Schweſter von Saͤckingen zuruͤckgekehrt waren. 
Wir wohnten im Joglishaus, dem Stammhaus meines Vaters, mei— 
nem Geburtshaus — ich in einem kleinen vertaͤfelten Stuͤbchen. Eine 
Haupteigenſchaft, die mich beherrſchte, war die Neugierde. Es wurde 
mir zur Gewohnheit, gar oft bei der Ausſichtsloſigkeit, die meinen 
Lebensgang verhuͤllten, zu fragen: Wie wird es jetzt gehen? Wo 
hinaus? Und gerade jetzt war es ſo ausſichtslos um mich herum, ich 
war ſogar neugierig, was ich jetzt fuͤr Bilder malen wuͤrde, nach all 
den Eindruͤcken aus Paris. Was ſollte ich anfangen? Einſtweilen 


45 


grundierte ich Leinwand. Dann malte ich Agathe im kleinen Stuͤbchen 
einen Fruͤhlingsblumenſtrauß auf den Tiſch, und ich ſah, daß es gut 
war! Über die Pfingſttage war Schumm bei mir. Trotz allen Sorgen 
war ich arbeitsfroh. Ich grundierte große Leinwande, auf eine der; 
ſelben malte ich Mutter und Agathe und einen kleinen Bub und ein Huhn 
im Garten; die Figuren etwa halblebensgroß. Ein Englaͤnder, Tho— 
mas Tee aus Mancheſter, hat es ſpaͤter auf der Ausſtellung in Muͤn⸗ 
chen fir 80 Mark gekauft. Leider, denn es iſt dadurch ganz verſchollen, 
es war eines meiner beſten Bilder. Auch noch einige andre Bilder, die 
ich in dieſem Sommer malte, hat Th. Tee in Muͤnchen gekauft. Daß 
jemand ſie in Deutſchland gekauft haͤtte, war unmoͤglich. Lugo kam 
und blieb den Juli uͤber bis in den Auguſt hinein. Es war ein recht 
vergnuͤgliches und arbeitsreiches Zuſammenſein. Mit dem Datum 
8. September ſteht im Tagebuch: „Not, nichts als Not, von nirgend 
her ein Schimmer von Hoffnung. Was ſoll ich beginnen, wo ſoll ich 
hin im Winter? Ich weiß, daß meine Bilder unverkaͤuflich ſind, ſie 
ſind ſo ganz anders, als man in Karlsruhe und Duͤſſeldorf die Bilder 
haben will. Ich habe nicht einmal ſo viel Geld, daß ich mit ruhigem 
Gewiſſen Briefe fortſchicken kann. Seit vier Wochen kein Geld, und auch 
meine Arbeitskraft faͤngt an, unter der Stimmung zu leiden.“ 

Wie ſchon ſo oft hat mich der gute Schumm durch Zuſendung von 
20 Gulden von der aͤrgſten Not gerettet. 

Am 19. September 1868 reiſte ich von Bernau nach Saͤckingen. 
Mutter und Schweſter kommen auch wieder, um den Winter in 
Saͤckingen zuzubringen. Wie und was werden ſoll weiß ich nicht. Ich 
hatte meine Bilder in St. Blaſien ausgeſtellt, ich dachte dort daraufhin 
Geld zu leihen, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Freies Urteil uͤber 
meine Bilder hat ja niemand. Nur ich allein weiß, daß ſie gut ſind. 

Vielleicht finde ich in Saͤckingen jemand, der ein kleines Bildchen von 
mir nimmt, ſie ſind ja ſo billig. 

2. Oktober 1868, mein Geburtstag, in troſtloſer Lage, ich muß mir 
ſelber immer Mut, Mut zurufen. Auch muß ich die Mutter noch troͤſten 
und darf es nicht zeigen wie verzagt ich bin. Geſtern nachmittag ging 
ich ihnen bis Wehr entgegen. In Baſel, wo Schumm immer noch war, 
ſtellte ich meine Sommerarbeiten aus. Sie gefielen aber gar nicht, und 


46 


ich felber erſchrak ein wenig, als ich zwiſchen der Buntheit der andern 
Bilder meine ernſten, etwas dunkeln Sachen ſtehen ſah — ſie ſahen 
vollſtaͤndig unverkaͤuflich aus. Aber dies verdarb mir den Humor doch 
nicht, denn mit Schumm war ich in Grenzach bei der Weinleſe in aus⸗ 
gelaſſener Luſtigkeit. 

Goldner Leichtſinn, du haft mich doch oft gerettet aus der Truͤbſal 
des Daſeins. 

Am 8. Oktober ging ich von Saͤckingen fort, faſt planlos, wo ſollte 
ich hin? Meine Bilder ſchickte ich von Baſel nach Karlsruhe. Ich ging 
nach Freiburg zu Lugo — ſeine neuen Arbeiten freuten mich. Ich trieb 
mich ein paar Tage mit ihm in der ſchoͤnen Gegend von Freiburg 
herum. Abends ſaßen wir beim Bier mit eifrigen Kunſtgeſpraͤchen, 
es war ein katholiſcher Geiſtlicher, Finneiſen, dabei und ein Muſiker 
Dimmler. Dann ging ich nach Kirnbach, wo Scholderer den Sommer 
über gemalt hatte. Er hatte eine Mühle gemalt (die ich 1904 der Karls⸗ 
ruher Galerie ſchenken konnte). Dort lernte ich die ſo gaſtfreundlichen 
Pfarrersleute Krummel kennen. Eines Sonntags gingen wir nach 
Hohenſtein bei Schiltach. Dort war Frau Suſanna Wucherer, die ſehr 
viel Kunſtſinn hatte und huͤbſch zeichnete. Wir kamen in ernſte Ge— 
ſpraͤche, aus denen ſich eine ſchoͤne Freundſchaft entwickelte, die bis zu 
dem Tode der guten Frau ſich erhielt. Ich blieb ein paar Tage in 
Hohenſtein und machte mit Herrn und Frau Wucherer Ausfluͤge nach 
Schramberg, ins Bernecktal, nach Alpirsbach. Auch machte ich eine kleine 
Zeichnung von Hohenſtein und den Fabrikgebaͤuden. Spaͤter ging ich 
dann nach Hornberg und nach Triberg. Ich ging dann noch einmal 
nach Kirnbach, und am 21. Oktober war ich wieder in Karlsruhe. Ich 
hatte meine Bilder ausgepackt und wollte mit ihnen eigentlich wieder 
nach Duͤſſeldorf. Aber Profeſſor Gude ſprach ſich ſehr guͤnſtig uͤber die 
Bilder aus und meinte, ich ſollte doch wieder in Karlsruhe bleiben. 
Auf meine Befuͤrchtung, daß es mir in Karlsruhe weniger moͤglich 
ſein wuͤrde zu exiſtieren als in Duͤſſeldorf, ſagte er mir, daß, wenn er 
und ſeine Freunde fuͤr mich ſeien, ich gewiß in der Hinſicht ſicher ſein 
koͤnne. Er ſprach auch die Erwartung aus, daß ſich mit der Zeit die 
extremen Seiten meines Schaffens abſchleifen wuͤrden. Auch eine leiſe 
Warnung vor Canons Schlingen wurde eingeflochten. Ich erklaͤrte, 


47 


daß ich durchaus keine Parteiintereſſen haͤtte, da ich mit mir allein 
vollauf zu tun haͤtte, und daß ich nur beſtrebt ſei, mich in der Kunſt 
ſoviel wie moͤglich zu vervollkommnen. Ich blieb in Karlsruhe. 

Meine Bilder ſtellte ich nach und nach im Kunſtverein aus. Aber da 
gab's einen geradezu laͤcherlichen, mir unbegreif lichen Sturm. Der Phi⸗ 
liſter, der ſich Kunſtfreund und-kenner weiß, er geht doch jeden Sonn; 
tagvormittag in den Kunſtverein, verſteht keinen Spaß, wenn ihm 
etwas vorkommt, das ſeine Kennerſchaft dadurch ins Wanken bringen 
will, daß es aus einer andern Seele herſtammt, als die ihm vor⸗ 
geſtellt iſt. Eines Tages kam Profeſſor Gude ganz aufgeregt zu mir 
ins Atelier, er habe mir etwas mitzuteilen, er wiſſe gar nicht recht, wie 
er es mir ſagen koͤnne; mir wurde ſchier Angſt, und ich beſann mich, 
ob ich in letzter Zeit irgend etwas Strafwuͤrdiges begangen haͤtte. 
Aber ich hatte ein ruhiges Gewiſſen. Er teilte mir nun mit, daß in 
der Sitzung des Kunſtvereinsvorſtandes eine von vielen hervor— 
ragenden Mitgliedern unterzeichnete Schrift eingegangen ſei, in welcher 
der Vorſtand erſucht worden ſei, mir das Ausſtellen meiner Bilder 
ein fuͤr allemal zu verbieten. Natuͤrlich ſei der Vorſtand nicht darauf 
eingegangen und habe erklaͤrt, daß meine Bilder zwar eigenartig, aber 
doch kuͤnſtleriſch ſeien. Da er es aber gut mit mir meine, möchte er mir 
doch raten, mit dem Ausſtellen vorſichtiger zu ſein. Ich war nun ſehr 
ruhig, da ich hoͤrte, daß nichts Schlimmeres gegen mich vorlag. Es 
entwickelte ſich nun ein Geſpraͤch uͤber Kunſt und Publikum, wo wir 
recht verſchiedener Anſicht waren. Ich mußte mein Recht verfechten, 
ſo zu malen, wie ich es fuͤr gut finde, wie ich es meiner Faͤhigkeit nach 
kann. Er vertrat den Standpunkt, daß der Kuͤnſtler ſich nach dem 
Publikum richten muͤſſe, da er doch fuͤr dieſes zu ſchaffen berufen ſei. 
Es war der alte unfruchtbare Zank, und meine Starrheit reizte den Herrn 
Profeſſor ſo, daß er zum Schluſſe erklaͤrte, er halte es fuͤr ſeine Pflicht, 
derartigen Beſtrebungen in der Kunſtanſchauung entgegenzutreten. 

Aber die alte Geldnot hat mich hart bedruͤckt, ſo daß derartige Kunſt⸗ 
meinungsſtreitereien davor nicht viel bedeuteten. Schumm war in⸗ 
zwiſchen nach Karlsruhe zuruͤckgekehrt; er half fuͤr das Notwendigſte. 
Auch der getreue Oſterroht, der ſelber nichts hatte, wußte oft Mittel 
und Wege, um ſich und mir zu helfen. 


48 


Meine Mutter 1873 


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Im Juli kaufte Kunſthaͤndler Lepke aus Berlin einen in Baden; 
Baden ausgeſtellten „Feldblumenſtrauß“ für 1oo Gulden. Stein— 
hauſen brachte durch große Beredſamkeit den Kauf zuſtande. 

Scholderer kam einmal nach Karlsruhe. Er nahm das Bildchen 
„Agathe am Naͤhtiſch mit Blumenſtrauß“ mit nach Frankfurt und 
verkaufte es für mich dort für roo Gulden. Es gelang mir, es ſpaͤter 
gegen eine Landſchaft zuruͤckzuerhalten. Jetzt hängt es im Thoma— 
muſeum. Es iſt ein Bildchen, das tiefen Frieden atmet, es iſt die 
Kunſt der Malerei darin, die nicht nach Bewegung und Unruhe ſtrebt, 
ſondern die durch Schauen das Geheimnis der Stille des Seins er— 
faßt; daß die Lebensunruhe, die Miſere des Geſchickes, nie Einfluß ge; 
wonnen hat auf meine Malerei, das hat mich aus all den Gefaͤhrlich— 
keiten, die das Leben fuͤr mich brachte, gerettet. Faſt immer, wenn ich 
malte, kam dies reine Schauen, das frei iſt von den Begebenheiten, 
von den Begehrlichkeiten, losgeloͤſt von dem Wirbel von Urſache und 
Wirkung. Es war die Ruhe, welche die Kunſt geben kann, welche die 
Oberhand bekommt uͤber alle Widerwaͤrtigkeiten, die mir auf dem 
Lebenswege zugeſtoßen ſind. Das Feuer des Lebens, das in mir ja 
auch lebhaft gebrannt hat, konnte ich immer eindaͤmmen und dazu 
benutzen, meine ſtillen Bilder zu geſtalten. So war meine Arbeitskraft 
bei allem Mißgeſchick doch unverwuͤſtlich. Es iſt mir als ob zwei Seelen 
in mir gewaltet haͤtten, eine, die unter dem widrigen Geſchick litt und 
mit ihm kaͤmpfen mußte, wenn ſie nicht vernichtet werden wollte, und 
eine ruhige, aufbauende, welche von Außerlichkeiten nicht beruͤhrt 
wurde. Dieſer Seelenzwieſpalt iſt wohl bei jedem Menſchen, nur aͤußert 
er ſich beſonders deutlich beim ſchaffenden Kuͤnſtler. 

Im Januar habe ich die zwei Kinder des Maſchinenfabrikdirektors 
Groß gemalt, welches mir doch auch wieder einiges Geld einbrachte. 
So mache ich auch Vergnuͤgungen mit, tanze und laufe Schlittſchuhe. 
Auch kam ich ein paarmal, aber meiſt guten Freunden zulieb, in Rauf⸗ 
haͤndel. Zwiſchen den Malern in der Kunſtſchule war viel Streit und 
ſie drohten ſich mit Duellen. Wo ich konnte ſuchte ich zu vermitteln; 
hatte uͤbrigens nicht allzuviel Sorge, daß Maler ſich verletzen, aber 
einer nannte den andern Feigling. Es waren freilich einige rabiate 
Menſchen darunter. 


4 Thoma, Im Winter des Lebens 49 


Im Auguſt habe ich folgendes ins Buch geſchrieben: 

„Am Sonntagmorgen war ich allein im Wildpark. Endlich, nach 
langem, zerſtreuten Leben kommt es uͤber mich wie Beſinnung in der 
Waldesruh, wie Gottesfrieden. Es iſt ſo ſtill, der Menſchenlaͤrm iſt 
weit weg. Glockengelaͤute toͤnt von weit her. Ich bin ſo recht allein 
mit mir ſelber, ganz allein, daß ich wieder einmal meine ruhige Seele 
fuͤhle, fühle, daß fie doch die Herrin über alles mißliche Geſchick — daß 
ſie es bezwingen kann, denn ſie iſt unſterblich. Vergaͤngliches kann ihr 
nichts anhaben, ſo weicht das Sorgenheer, das mich umlagert, es iſt 
mir, als ob ich niederknien ſollte i in ſtummer Anbetung. Das Geheim⸗ 
nis der Seele will ſo ſich mir offenbaren, es ergreift mich mit ſtiller 
Ahnung, was Menſchſein heißt — was Kunſt iſt.“ 

In Berghauſen und Groͤtzingen war ich, unterwegs hatte ich einen 
Strauß von Wieſenblumen gepfluͤckt. Ich ging im Abendſonnen⸗ 
ſchimmer langſam durch Groͤtzingen, die Haͤnde mit dem Blumen⸗ 
ſtrauß auf dem Ruͤcken. Kinder ſpielten auf der Gaſſe, die Leute hatten 
Feierabend und ſaßen vor den Haͤuſern. Ploͤtzlich wurde mir der 
Strauß aus den Haͤnden geriſſen, und als ich mich umſah, ſprang ein 
lachendes, etwa Ajähriges Maͤdchen mit dem Strauß davon, feinem 
Hauſe zu. Dieſer Blumenraub hat mich ſehr gefreut und ich gab nicht 
zu, daß die Mutter dem Kind die Blumen nehmen und mir zuruͤck⸗ 
geben wollte. Die Blumenfreude, die das kleine Wurm zu ſeiner 
kuͤhnen Tat veranlaßte, hat mich ſehr erfreut. 


12 
Leide habe ich in dieſem mir ſo truͤbſeligen Jahr 1869 die Schwaͤche 
gehabt, auf Profeſſorenrat einige ſehr gute Bilder vom Sommer, 
direkt nach der Natur gemalte Bilder, verkaͤuflich herrichten zu wollen. 
Sie wurden dadurch ganz zerſtoͤrt. Es tut mir jetzt leid darum, ſie 
waren aus einer ſo ſchaffensfreudigen Zeit. 
Unter Gudes Korrektur malte ich auch eine Landſchaft, die ſogar im 
Kunſtverein gefiel. Am Mittagstiſch, wo Maler und andre junge Leute 
ſpeiſten, kam ein Polytechniker direkt vom Kunſtverein. Er kannte mich 


50 


nicht und fo ſagte er zu den Malern: „Jetzt ift ein Bild von dem 
Thoma ausgeſtellt, das gar nicht fo ſchlecht iſt.“ Man kam ein wenig 
in Verlegenheit und fo ſtellte mich einer der Maler dem Herrn vor, 
worauf der ſich entſchuldigen wollte, was ich abwehrte, weil er geſagt 
habe, mein Bild ſei gar nicht ſo ſchlecht; das bedeute doch immerhin 
ein Lob. Es wurde mir von einer Seite auch Hoffnung gemacht, daß 
der Großherzog das Bild kaufen wuͤrde. Ich dachte ſchon daran, mit 
dem Geld zu Scholderer nach Paris zu gehen. Die Hoffnung war 
aber umſonſt. Ich habe das Bild ſpaͤter in Muͤnchen dick mit Ocker 
und Umbra uͤbermalt und habe eine dunkle Abendlandſchaft mit heim⸗ 
kehrender Viehherde daraus gemacht. Viktor Muͤller nannte dann das 
Bild die uͤberlebensgroße Landſchaft. Der Maler Schuch hat es ſpaͤter 
von mir gekauft. 

Nach der geſcheiterten Hoffnung war ich aber doch recht rat⸗ und 
geldlos und ich wußte, daß es jetzt hohe Zeit ſei, von Karlsruhe fort— 
zugehen. Es waren bedenkliche Zeichen, daß es nicht fuͤr mich ratſam 
ſei, laͤnger zu bleiben. 

In die Sonntagsnachmittags⸗Kaffeegeſellſchaft mochte ich nicht mehr 
gehen, denn ich wußte, daß man dort Spott und Mitleid mit mir hatte, 
ein gewiſſer Salat wurde von Witzbolden Thomaſalat genannt. 

Eine ſehr truͤbe Neujahrsbetrachtung vom Jahre 1870 will ich nicht 
aufnehmen — wozu alten Jammer aufruͤhren. Es zeigt ſich darin ſo 
eine Art von verzweifelter Zerſtoͤrungsluſt. Ich moͤchte alles, was ich 
gemacht habe, zertruͤmmern, mit einer Hoffnung im Hintergrund, daß 
ich dann Neues und Beſſeres machen wuͤrde, das iſt freilich faſt immer 
eine truͤgeriſche Hoffnung. Leid tut es mir freilich jetzt, daß ich wirklich 
beim Fortgehen von Karlsruhe eine große Anzahl von Olſtudien und 
Zeichnungen, weil ſie mir laͤſtig waren und ich keine Kiſte zum Ein⸗ 
packen hatte — es waren aͤhnliche Sachen wie die, welche jetzt als kleine 
Olſtudien und Zeichnungen im Thomamuſeum hängen — es waren 
Hunderte von Sachen — verbrannte. Es kommt mir dies jetzt, 
wenn ich zuruͤckſchaue, wie ein Eingeſtaͤndnis der Niederlage vor, die 
ich im Jahre 1869 in Karlsruhe erlitten hatte — das Brandſtiften und 
Zerſtoͤren auf dem Ruͤckzuge — vir leben jetzt in den ſchrecklichen Kriegs⸗ 
jahren, da moͤge man ſolch ungeheuerliche Vergleiche entſchuldigen. 


4 * 51 


Wie ich den Ruͤckzug weiter bewerkſtelligt habe, weiß ich nicht mehr 
genau. Am 13. Mai bin ich von Karlsruhe fort und war ein paar Tage 
bei Lehrer Ruska in Buͤhl, freute mich an der Ruine Windeck, am 
Buͤhlertal und der herrlichen Gegend. Von da ging ich nach Schiltach 
zu Wucherers, verlebte dort in der Behaglichkeit guter Verpflegung in 
dem ſchoͤnen an der Kinzig gelegenen Garten eine gute Zeit und konnte 
die Karlsruher Niederlage ganz vergeſſen. Ich wußte, daß ich unver; 
ſehrt aus dem Kampfe hervorgegangen ſei. Ich war zwar eine weiche, 
jedoch keine weichliche Natur. In dem ſchoͤnen maleriſchen Schiltach 
zechte ich in der Krone mit Wucherer und betaͤtigte mich eifrig am 
Kegelſpiel. Wir machten gar ſchoͤne Ausfluͤge, ſo in das Kirnbachtal zu 
Pfarrer Krummels. In Wucherers Garten malte ich auf Fenſterlaͤden 
im Gartenhaͤuschen aus dem Stegreif einen Hochzeitszug — eine gar 
leichtſinnige Arbeit. Auch ein Blumenſtilleben malte ich, welches mir 
Wucherer abkaufte. Am x. Juni ging ich nach Freiburg zu Lugo. Ich 
zeichnete den Kapellmeiſter Hauſer. Fraͤulein Thirry kaufte eine Tuſch⸗ 
zeichnung „Hexenzug“. Am 8. Juni ging ich nach Saͤckingen, weil ich 
Nachricht bekommen, daß Agathe an den Maſern erkrankt ſei, es 
wurde aber bald beſſer. Ich zeichnete fleißig am Rheinufer und im 
Tannwald. Ich kuͤmmerte mich um nichts in der Welt, ſo die richtige 
Malerſtimmung. So las ich auch keine Zeitung und war hoͤchlichſt 
überrafcht, als ich eines Abends mit der Studienmappe ins Staͤdtchen 
zuruͤckkam, dort eine ungeheure Aufregung herrſchte, weil Frankreich 
den Krieg erklaͤrt hatte. Schon am andern Tage mußten die Soldaten 
einruͤcken. Es herrſchte eine bange Stimmung, da ja die franzoͤſiſche 
Grenze gar nahe war; man nahm faſt als ſicher an, daß nun die Franz 
zoſen kommen wuͤrden. Es war viel Streit mit den Schweizer Nach⸗ 
barn, die offen franzoͤſiſch geſinnt waren. Aber da kam die Schlacht 
bei Woͤrth, und Saͤckingen war voll Siegesjubel. Am Sonntag gingen 
die Saͤckinger nun ſtolz über die Rheinbruͤcke, machten ihren Morgen⸗ 
ſpaziergang und tranken ihren Fruͤhſchoppen in der Schweiz druͤben 
in Stein, die Schweizer waren etwas kleinlaut geworden. Es gibt 
wohl keine aͤrgere Geißel fuͤr die Menſchheit als der Krieg, doppelt 
ſchrecklich, weil man nicht ganz von dem Gedanken loskommt, daß ſie 
ſich mit vieler Muͤhe dieſe Geißel ſelber geflochten hat. Das Freſſen 


52 


und Gefreſſenwerden, welches die Welt beherrſcht, kommt im Krieg 
zum unverhuͤllten ſchrecklichen Ausdruck. Schrecklich iſt der Voͤlkerhaß, 
er ſcheint aus den tiefſten Abgründen des Menſchengeiſtes, ohne 
Grund, unergruͤndlich aufzuſteigen. 

Meine Finanzverhaͤltniſſe wurden wieder einmal beſſere. Ich glaube 
es war auf Gudes Veranlaſſung, daß in Wien ein Bild von mir, 
„Hochzeitszug durch Kornfelder“, fuͤr 400 Gulden gekauft wurde. 

Im September war ich bei Romer in St. Blaſien. Der September, 
da die Sonne im Zeichen der Wage ſteht, iſt ein gar ſchoͤner Monat. 
Er hatte was Ruhig⸗-Sicheres, Ausgeglichenes. Eines Tages beſuchte ich 
mit der Familie Romer den Pfarrer Beringer in Ibach. Der dunkle 
Tannwald, durchzogen von Harzgeruch und Rauch der Kohlenmeiler, 
zwei große Haufen verdampften zu Kohlen, und der Rauch ſchwebte 
geiſtergleich zwiſchen dem Tannendunkel. Schwarze Maͤnner ſaßen vor 
der Rindenhuͤtte, daneben rieſelte der kriſtallklare Forellenbach uͤber 
das goldbraune Geſtein in ſeinem moosumhuͤllten Bette. Der Weg 
fuͤhrte dann uͤber langgeſtreckte, braͤunlich gruͤne Viehweidehalden mit 
Wachholderbuͤſchen und zerſtreuten Granitbloͤcken. Gar eigenartig er; 
klingen die Glocken der am Hügel zerſtreut hinwandelnden Kuhherde. 
Hinter dem Hügel liegt Ibach, ein grünes Wieſentaͤlchen in wald— 
bekraͤnzten Hoͤhen, ein freundliches weißes Kirchlein und Pfarrhaus, 
und zerſtreut wie die weidende Herde die braunen Haͤuſer mit den 
hellen Schindeldaͤchern. Den Herrn Pfarrer ſahen wir von weitem 
ſchon zwiſchen den Weiden am Bache Forellen angeln. Er bewirtete 
uns dann mit denſelben und ſeinem guten Markgraͤfler gar koͤſtlich. 

Fabrikbeſitzer Krafft in St. Blaſien beſtellte ein Bild bei mir, ein 
Anklang an Hebels „Morgenſtern“. Das gab mir einen guten Halt 
bei meinem Vorſatz, um mein Gluͤck in Muͤnchen zu probieren. 

Von Saͤckingen machte ich mit Agathe noch einen ſchoͤnen Herbſt— 
gang nach Loͤrrach und Stetten, wo wir bei Verwandten die Weinleſe 
mitmachten. Es begegneten uns unterwegs viele Leichtverwundete 
und auf Urlaub gehende Soldaten. 

Vom Krieg war, Gott ſei Dank, in Saͤckingen nichts zu ſehen, und 
doch iſt der brave Buͤrger, wie auch ich, darauf aus, etwas zu ſehen. 
Nur einmal wurde bekannt, daß ein Regiment Wuͤrttemberger mit 


33 


der Bahn abwärts befördert würde, die einen beabſichtigten Einbruch 
vom Elſaß her abwehren ſollten. Das badiſche Oberland, der Schwarz; 
wald, waren ganz ohne Truppen. Da auf einmal hieß es, daß der 
ganze Schwarzwald voll Wuͤrttemberger ſei. Überall wurden ſie ge— 
ſehen, und jetzt alſo auch in Saͤckingen. Dies wirkte wie eine Erloͤſung. 
Die Saͤckinger eilten an den Bahnhof mit Bier- und Weinfaͤſſern, 
ihrem Dank Ausdruck zu geben. Die guten Wuͤrttemberger machten 
aber einen heilloſen Laͤrm als der Zug hielt, ſie waren die vielen Sta⸗ 
tionen her betrunken gemacht worden. Nun war es aber genug und 
die Offiziere liefen an den Wagen hin und her und wieſen jeden, der 
mit einem Wein; oder Bierglas ſich nahte, ſchroff zuruͤck. 

Dieſe Wuͤrttemberger mit ihrem Laͤrm hatten aber ihren Zweck ſehr 
gut erfuͤllt, es war nur das eine Regiment, aber ſie zogen von Ort 
zu Ort hin und her, ſo daß im Elſaß das Geruͤcht entſtand, der ganze 
Schwarzwald ſtecke voll Militaͤr. Durch Saͤckingen fuhren ſie, um auf 
den Hoͤhen den Rhein entlang Lagerfeuer zu machen und großen 
Laͤrm. So ſollen ſie auch wirklich den Einbruch von Elſaͤſſer Banden 
verhuͤtet haben. Vom 7er Krieg will ich aber nicht weiter erzählen, 
uͤberhaupt nicht vom Krieg, denn er iſt ein die Voͤlker zerſtoͤrendes Unheil, 
und es iſt wohl am beſten, wenn man nicht viel uͤber ihn ſpricht. Er iſt 
eine Sache, vor der der Menſch hilflos ſteht. Daß er ſich jemals ab⸗ 
ſchaffen laͤßt, glaube ich nicht. Was iſt doch das Kriegsſpiel ein der 
Menſchheit unwuͤrdiges Spiel! 


13 


Am 17. Novmber reiſte ich von Saͤckingen ab zuerſt nach Freiburg 
zu Lugo, dann nach Karlsruhe, ordnete noch einige Sachen in der 
Kunſtſchule, beſuchte die Profeſſoren und war froh, daß ich nicht dort 
bleiben mußte. Schumm fuhr mit nach Stuttgart. Am 21. November 
kam ich in Muͤnchen an, mit der bekannten lebenerhaltenden Neugier, 
wie wird es wohl gehen? Fand Staͤbli und Hunzicker, und bezog ein 
kleines Atelier, Karlſtraße 27, und fing das Bild fuͤr Krafft an. Ich 
freute mich an den Kunſtſchaͤtzen Muͤnchens. In der Pinakothek zogen 


54 


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mich die Altdeutſchen mächtig an. Scholderer war zur Zeit auch in 
Muͤnchen, und durch ihn kam ich mit ſeinem Schwager Viktor Muͤller 
zuſammen, mit welchem ich bald ſehr befreundet wurde. 

Alte Karlsruher Bekannte aus der Kunſtſchule her waren in Mün; 
chen und einer derſelben ſetzte mir ſcharf zu, ich muͤſſe in die Piloty— 
ſchule. Ich widerſprach dem nicht, meinte aber, es ſei recht ſchwer, dort 
angenommen zu werden. Die Pilotybilder, die ich geſehen, haben mir 
aber keinen Eindruck gemacht. Ich wußte, daß ich dort nichts zu ſuchen 
hatte. 

Auf zwei⸗, dreimaliges Draͤngen des Karlsruhers, indem er mir 
ſagte, es ſei wohl ſchwer, in die Pilotyſchule aufgenommen zu werden, 
aber er wiſſe es gewiß, ich wuͤrde aufgenommen, ich ſolle nicht laͤnger 
ſaͤumen und mich anmelden, ſo in die Enge getrieben, ſagte ich, ich 
wolle ſo fuͤr mich weiterarbeiten, dann wuͤrde mich auch Viktor Muͤller 
beraten. Worauf er erregt fragte: „So kennen Sie den?“ und mich 
mit der Mahnung verließ: „Nehmen Sie ſich in acht, V. M. iſt ein 
Egoiſt.“ 

Man erlebt es immer wieder, daß Menſchen, die aufrichtig ihres 
Weges wandeln, niemand etwas zuleide tun, aber ſich nicht viel um 
die Meinung von Krethi und Plethi kuͤmmern, Egoiſten genannt 
werden. Die Mahnung kam mir komiſch vor, denn ich kannte dieſen 
Egoiſten wirklich innig und hatte ihn lieb gewonnen. Im Sommer 
1871 war ich wieder in Saͤckingen, ich malte dort meine Mutter leſend, 
in der ſonnenbeleuchteten Dachſtube. Das Bild wurde ſpaͤter auf der 
Lokalkunſtausſtellung von einem Amerikaner gekauft. Im Auguſt war 
ich in Bernau und wohnte im Schwanen. Große Natureindruͤcke be⸗ 
wegten mich. Den Ausdruck fuͤr dieſelben, die Beruhigung fand ich in 
Davids Pſalmen, deren Erhabenheit auch mich tief ergriff. Auch meine 
Mutter verſtand und liebte dieſe Pfalmen und hat in ihren Briefen an 
mich mir manche Stelle derſelben abgeſchrieben. In Bernau malte ich 
eine große Landſchaft mit Ziegenherde. Maler Schuch kaufte ſie, 
ſpaͤter kam ſie durch Truͤbners Hand in die Berliner Nationalgalerie. 
Eine zweite groͤßere Landſchaft, „Weidenbuſch am Bach“, blauer Him— 
mel, ſtellte ich in Muͤnchen aus. Es war allgemeines Schuͤtteln des 
Kopfes davor, dem ein ehrlicher Muͤnchner, der lange davor ſtand, den 


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praͤziſen Ausdruck gab, indem er ſagte: „Ich weiß nit, das Bild ift 
entweder ganz ausgezeichnet gut oder es iſt ganz miſerabel ſchlecht.“ 
Da mich in Muͤnchen wenige perſoͤnlich kannten, wagte ich mich in den 
Kunſtverein, wo ich die Meinung des Publikums direkt hoͤren konnte 
und nicht erſt die Beſtaͤtigung der Beſtellten. Auch malte ich drei Ber; 
nauer Muſikanten halblebensgroß in dunkler Abendſtimmung. Dieſe 
Bilder kaufte Thomas Tee ſpaͤter in Muͤnchen und ſie ſind nun ver⸗ 
ſchollen. Auch den rothaarigen Dorfgeiger malte ich. 

Ende Oktober war ich wieder in Muͤnchen. Viktor Muͤller hatte mir 
ein kleines Atelier neben dem ſeinigen uͤberlaſſen. Wir waren nun 
taͤglich zuſammen und er hatte eine rechte unegoiſtiſche Freude an 
meinen Bildern, er ſaß am Abend gar oft lange davor. Er war eben 
ein geiſtiger Genußmenſch. Oft war ich auch in ſeinem Haus, wo ſeine 
Frau Ida, geb. Scholderer, uns Lieder vorſang. Die Muſik ruͤhrte den 
ſtarken Mann bis zu Traͤnen. 

Im Juni hatte Thomas Tee aus Mancheſter das Bild: „Meine 
Mutter und Schweſter im Garten“ in Bernau 1868 gemalt, gekauft 
für 500 Gulden. So war ich mit Geld verſorgt und war frohgemut 
und ruͤſtig und uͤbermuͤtig. So nach einem Zechgelage in Leibls Atelier 
beſchloß die ganze, faſt nur aus Krafthubern beſtehende Geſellſchaft, 
die zwei Bruͤder Leibl waren Rieſen an Kraft und ein paar andre 
ahmten wenigſtens ihre Muskelkraftbewegungen getreulich nach, nachts 
12 Uhr in die Winternacht hinaus bei hohem Schnee durch den Forſten⸗ 
rieder Park nach Starnberg zu gehen. Aber auf dem Wege verlor ſich 
einer um den andern, und als wir aus der Stadt waren, waren wir 
nur noch zu vieren, die beiden Leibl, ein Grieche Zacharias und ich. 
Zacharias hatte bei den letzten Haͤuſern noch eine Flaſche Schnaps 
mitgenommen. So wateten wir durch den Schnee uͤber die Thereſien⸗ 
wieſe in die mondhelle Nacht hinaus, wir kletterten uͤber das hohe 
Parkgitter und kamen morgens 6 Uhr todmuͤde, mit durchweichten 
Kleidern, in Starnberg an. Zacharias, der die Schnapsflaſche trug, 
hatte derſelben ſo arg zugeſprochen, daß er am Wege liegenblieb und 
wir ihn eigentlich mitſchleppen mußten. Zum Gluͤck hatte die Strapaze 
keinem von uns etwas geſchadet und wir fuhren des andern Tages 
mit der Bahn zuruͤck, nicht ohne ein gewiſſes Kraftgefuͤhl im Leibe. 


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Meine Schweſter Agathe Thoma 187: 


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Haider hatte ein ſehr Schönes Bildchen, „Zwei Mädchen unter einem 
bluͤhenden Kirſchbaum“, gemalt, was wir alle ſehr bewunderten. 
Rudolf Hirth kaufte es ihm ab. In einer Kritik der Neuen Wiener Freien 
Preſſe, in der ich als bekannter Abtruͤnnling vom Pfade der wahren 
Kunſt kurz erwaͤhnt wurde, bedauerte man beſonders, daß auch ſo 
talentvolle Kuͤnſtler unter meinen Einfluß kaͤmen wie z. B. Hirth. Ich 
bin aber unſchuldig, denn ich habe weder auf ihn noch auf andre ver— 
ſucht, Einfluß zu haben. Wozu auch? Im Dezember las mir Sattler 
in ſeinem ungeheizten Zimmer Schopenhauer vor, bis ich, von Froſt 
geſchuͤttelt, mich auf den Weg ins warme Wirtshaus machte. Den 
andern Tag konnte ich mich kaum auf den Beinen halten und Viktor 
Muͤller riet mir teilnehmend, ein paar Tage zu Hauſe zu bleiben. Als 
ich nach ein paar Tagen wieder hergeſtellt ins Atelier kam, hoͤrte ich, 
daß Muͤller krank ſei. Ich ging in ſeine Wohnung und fand ihn im 
Bette. Er ſprach noch munter mit mir und ich hatte keine Ahnung, 
daß ich ihn das letztemal lebend geſehen haͤtte. Als ich wiederkam, 
durfte ich ſchon nicht mehr zu ihm, und nachdem er etwa 10 Tage krank 
gelegen, ſtarb er am 21. Dezember 1871. Das war auch fuͤr mich ein 
harter Schlag, um ſo mehr fuͤhlte ich mit, was ſeine Frau erlitten 
hatte. Am 22. Dezember begleitete ich ſeine Leiche zum Bahnhof; er 
wurde in Frankfurt beerdigt. Sein Herz war ſchon lange muͤde, und 
er klagte mir oft, wie ſchwer ihm das Arbeiten wuͤrde. Seine Frau zog 
nach Frankfurt. Das verlaſſene Atelier mit den großen Bildern war 
recht unheimlich. Im Januar 1872 kopierte ich im Auftrag von Bruck⸗ 
mann den in ſeinem Beſitz befindlichen Hamlet von Muͤller, und zwar 
ziemlich taͤuſchend, in 14 Tagen fuͤr 600 Gulden; ſpaͤter kopierte ich 
fuͤr den gleichen Preis auch Romeo und Julia. 

Im Maͤrz bezog ich ein Atelier mit moͤbliertem Zimmer Karlſtraße 46. 
Im April, bei ſchoͤnen winddurchwehten Fruͤhlingstagen, machte ich 
einen Ausflug an den Starnbergerſee. Dann nach Weilheim, von dort 
mit der Poſt nach Partenkirchen. Es war die Zeit der goldnen Schluͤſſel⸗ 
blumen, aus dem braͤunlich gruͤnen Boden leuchtete der blaue Enzian, 
im Hintergrund die ſchneebedeckten Berge wie aus Kriſtall gebaut; es 
war mir von Herzen wohl, ſo allein in dieſer großen Natur, ich hatte 
unvergeßliche Eindruͤcke. Es war mir, als ob ich die Natur in ihrem 


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geheimſten Weſen verſtehen koͤnnte, das laßt ſich aber nicht beſchreiben, 
wohl auch nicht malen, wie es mir war. So muß wohl ein jeder ſolche 
Eindruͤcke mit ins Grab nehmen, und alle Raͤtſel bleiben ungeloͤſt. 

Bei herannahender Daͤmmerung ſtand ich an einem Wieſenabhang 
voll Schluͤſſelblumen, der Wind wuͤhlte durch die Blumen, fie beweg⸗ 
ten ſich zitternd. Ein Wonnegefuͤhl mit ahnungsvollem Grauen ge⸗ 
miſcht bemaͤchtigte ſich meiner Seele. Es ſchien mir als waͤre ich ver⸗ 
einigt mit dem Geiſte der Welt. Es war kein Denken und Beobachten, 
mehr ein inneres Gefuͤhl des Lebens, des Daſeins, der Einheit der 
Natur. „Wenn die Bluͤmlein draußen zittern und die Abendluͤfte 
wehn.“ 

In Murnau und am Staffelſee ſtreifte ich ſo ein paar Tage herum 
und kam wie von einem Seelenbad erfriſcht ins Atelier zuruͤck. 

1872 im Juni kaufte Thomas Tee wieder fünf Bilder für 1roo Gul⸗ 
den von mir. Es ſind dies: „Landſchaft und Weide am Bach“, 1871 
gemalt, Größe 139 * 90 em; „Die Muſikanten in Daͤmmerungs⸗ 
ſtimmung“, 1871 in Bernau gemalt in aͤhnlicher Groͤße; „Fruͤh⸗ 
lingslandſchaft“, klein, nach Erinnerung an eine Gebirgstour, 1872 
gemalt; „Abenddaͤmmerung, alte Frau mit Ziegen“, 105 76 cm 
groß, in Muͤnchen 1872 gemalt; „Bernauer Haus“ mit Figuren aͤhn⸗ 
licher Groͤße, Hoͤhenformat, 1868. 

Sogar ein Muͤnchner Kunſthaͤndler kam zu mir und kaufte ein Bild 
unter laͤcherlichen Umſtaͤnden, die ich ſchon einmal erzaͤhlt habe, das 
ich nach ein paar Wochen wieder zuruͤcknehmen mußte, weil er es nicht 
unter ſeinen Bildern ſtehen haben koͤnne. Die Muͤnchner Kritik in den 
Lokalblaͤttchen machte ſich nun an mich und ſprach mit Entruͤſtung und 
mit Hohn von mir. Beſonders viel kuͤmmerte ich mich nicht darum. 

Mit Dr. Siegmund Lichtenſtein verkehrte ich viel, wir aßen zu⸗ 
ſammen im Engliſchen Kaffee. Mit ihm machte ich auch einen Ausflug 
nach Adelholzen. Es war am blumigen Pfingſtfeſt. Lichtenſtein war 
ein ſtiller ruhiger Mann, mit dem ich gerne zuſammen war. 

Im Juli 1872 ging ich nach Karlsruhe, wo ich mit großem Ber; 
gnuͤgen einige alte Schulden an Vergolder, Schreiner und Schneider 
bezahlen konnte. Von da ging ich nach Baden-Baden, wo Frau 
Ida Muͤller mit dem kleinen Otto gerade auf Beſuch bei ihrer Tante 


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war. Dann ging es nach Saͤckingen, ich wohnte dort in der Krone, 
arbeitete aber nicht viel. 

Mit Mutter und Schweſter ging ich im September an den Bodenſee. 
Fuͤr die Mutter war Meersburg eine wehmuͤtige Erinnerung, weil 
vor Jahren mein Bruder Hilarius dort am Schullehrerſeminar war. 
Wir ſtanden lange auf der Terraffe vor dem Seminar und ein Stuͤck 
ſchmerzlicher Vergangenheit zog in dieſer ſchoͤnen Gegenwart, der Aus— 
ſicht am klaren Morgen uͤber den See, an uns voruͤber. 

Im Saͤckinger Tannwald, am Scheffelwaldſee war ich ſehr oft vom 
Morgen bis in die ſpaͤte Nacht. 

Im Herbſte ging ich wieder nach München. Es fand ſich dort eine 
zuſammengehoͤrende Geſellſchaft zuſammen, die viel Anregendes hatte. 
Dabei waren Ad. Bayersdorfer, Martin Greif, Dr. Eiſenmann, du 
Prel, Albert Lang, Truͤbner, Haider, Steinhauſen. Da auch A. Weber 
aus Karlsruhe dabei war, wie man ſagte ein finanzkraͤftiger Geſchaͤfts⸗ 
mann, jo ging auch der Plan um, eine illuſtrierte Zeitſchrift heraus 
zugeben. Natuͤrlich blieb es aber beim Planmachen. 

Über meine Bilder dauerte der wuͤſte Ausſtellungslaͤrm fort. Ano— 
nym erhielt ich ein Schmaͤhgedicht mit dem Schluß: „Streich“ Kiſten 
an und Schrein’, doch das Malen, das laß fein!” Das Sonntagspubli⸗ 
kum lachte und ſchimpfte uͤber meine Bilder nicht weniger, als das in 
Karlsruhe. Aber ich war ein andrer geworden, ich war jetzt ein Mann 
in den dreißiger Jahren geworden, und kaͤmpfte bewußt um mein 
Recht. Das ſtarke Vertrauen hielt allem gegenuͤber ſtand. Was ging 
denn mich das Sonntagspublikum an. Im April 1873 machte ich mit 
Steinhauſen und Lang einen ſchoͤnen Fruͤhlingsgang, iſaraufwaͤrts 
und dann an den Starnberger See. Ich malte Portraͤte, fo den 8o jaͤh⸗ 
rigen Forſtmeiſter Kollmann und dann ſeine Frau. Durch Vermitt— 
lung des Dr. Lichtenſtein malte ich eine Baronin Lerchenfeld und ihren 
Sohn Ludwig. Alb. Weber kaufte drei Bilder für zoo Gulden von 
mir. Bei meiner Sparſamkeit war dies viel Geld, was ich verdiente. 
Das ſtaͤrkte meinen Unabhaͤngigkeitsſinn. Ich war niemand was 
ſchuldig, war nicht verpflichtet, meine Bilder ſo zu malen, wie ſie dem 
Publikum gefallen. 

Mit Boͤcklin kam ich gerne zuſammen. Seine Liebhaberei für Farben; 


59 


erperimente, er hatte immer, wenn er zu mir ins Atelier kam, ſtark⸗ 
farbige Wollbuͤſchel in der Weſtentaſche, ſeine techniſchen Erfahrungen 
fielen bei mir auf guten Boden, ich malte in Tempera einen Schwarm 
Amoretten in weißen Wolken, unter ihnen ein Adler und Durchblick 
auf Hochgebirge. Dieſe Amorettengruppe ſtammte von Studien her, 
die ich im heißen Sommer 1870 an meinem Vetterchen Otto machte, 
der den ganzen Tag nackt in meinem Zimmer herumkrabbelte; er war 
ein Jahr alt. Ich zeichnete die verſchiedenſten Stellungen in ein 
Skizzenbuch. Maler Kurzbauer hat das Bildchen gekauft. Zur Pariſer 
Weltausſtellung wurde das Bildchen auch vorgeſchlagen; allein Piloty 
ſoll erklaͤrt haben, daß er es nicht dulde, daß ein Bild von mir dahin 
komme — natuͤrlich unterbliebs. Im Juli 1873 war ich wieder in Saͤckin⸗ 
gen, machte techniſche Proben mit Eigelb und andrer Tempera. Ein 
paar kleine Sachen retteten ſich aus dieſen Verſuchen heraus, ſo ein 
Portraͤt meiner Mutter und eins von Agathe. 

In Muͤnchen erhielt ich im Sommer 1873 einen Beſuch aus Frank⸗ 
furt, den Frau Viktor Muͤller mir zugeſchickt, der fuͤr mich in der Zu⸗ 
kunft große Bedeutung gewann, ich fand einen tapfern Freund, 
Berater und Beſchuͤtzer fuͤr die naͤchſten Jahre. Es war Dr. med. 
Otto Eiſer. Wir machten zuſammen einen Ausflug nach dem Starn⸗ 
berger See und wir verkehrten, wie man mit einem liebenswuͤrdigen 
Beſuche verkehrt. Er war im Atelier, ich hatte gerade nichts Wichtiges 
zu zeigen und er ſchien ſich nicht viel aus meinen Arbeiten zu machen. 
Nach ein paar Tagen kam er nochmals, um Abſchied zu nehmen und 
war von groͤßter Herzlichkeit, lud mich auch dringend ein, ihn in Frank⸗ 
furt zu beſuchen. Spaͤter hat er mir erzaͤhlt, wie die Umwandlung aus 
ſeiner anfaͤnglichen Gleichguͤltigkeit gekommen ſei. Er ſei mit ſeinem 
ihn begleitenden Freund, dem Frankfurter Saͤnger Pichler, in der Aus⸗ 
ſtellung geweſen, und da habe er ein paar Bilder geſehen, von denen 
er zu ſeinem Begleiter geſagt habe, nun, da haben wir ja die Vorbilder, 
die Thoma zum Muſter genommen hat. Neugierig ging er hin und 
da ſtand halt der Name Hans Thoma unter den Bildern. Eines der 
Bilder war der „Kinderreigen“, 1872. Im Oktober 1873 entſchloß ich 
mich, der Einladung zu folgen, wo ja auch Frau Viktor Muͤller wohnte. 
Unterwegs kehrte ich in Freiburg ein, wo Lugo gerade von Rom 


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zuruͤck, viel zu erzählen hatte aus dem Wunderlande der Kunſt. Kehrte 
auch noch bei Wucherers in Schiltach ein. 

Am 16. Oktober wurde ich im Hauſe Eiſer herzlich aufgenommen. 
Eiſer veranlaßte, daß ich ſeine Frau malte, nachher ſeine Nichten Milly 
und Elſe Haag. Dann malte ich auch noch den Maler S. Peter Burnitz 
und den Dr. med. Wiesner. Nun war uͤbermaͤßig lange Zeit als Be— 
ſuch verſtrichen und ich wollte wieder nach München zuruck. Aber in; 
zwiſchen war dort die Cholera ausgebrochen und Eiſer hielt mich unter 
dieſen Umſtaͤnden davon ab. Durch das in Frankfurt erworbene Geld, 
aufgeftachelt von Lugo, bekam ich Mut zu einer italieniſchen Reife. 
Eiſer beſtaͤrkte mich in dieſem Vorhaben. Die Weihnachtszeit verbrachte 
ich im ſchoͤnen Familien- und Bekanntenkreiſe Eifer, Haag, Küchler, 
Scholderer, Burnitz. Ich hatte ſo viel herzliche Teilnahme in Frankfurt 
gefunden, wie ſonſt noch in keiner Stadt, und doch, und vielleicht gerade 
deshalb war ich voll Unbehagen. Ich konnte doch nicht immer ſo auf 
Beſuch bleiben. 

Am 7. Januar 1874 reiſte ich ab, erſt nach Karlsruhe, dort beſuchte 
ich Albert Lang, der aus Muͤnchen vor der Cholera gefluͤchtet war und 
die italieniſche Reiſe mit mir machen wollte. Ich ſah die alten Bekann⸗ 
ten in der Kunſtſchule. Auch beſuchte ich den Geheimrat Sachs, der als 
Amtmann in St. Blaſien ſich um mich angenommen hatte. Bei einem 
Spaziergang im Schloßgarten wachten bei fruͤhlingshaftem Sonnen⸗ 
ſchein alle ſchoͤnen Erinnerungen an meinen fruͤhern Karlsruher 
Aufenthalt auf. Alles Schlimme war vergeſſen und es kam wie Ver— 
ſoͤhnung uͤber mich, es war mir als ob ich das Menſchentreiben und 
Kaͤmpfen von einem hoͤhern Standpunkte ſehen koͤnnte und ſo hatte 
ich auch Karlsruhe wieder lieb. 

In Straßburg beſuchte ich Schumm und Steinhauſen, letzterer 
auch ein Cholerafluͤchtling aus München. Am 15. Januar war ich in 
Saͤckingen. Von dort aus ließ ich mir durch Dr. Bayersdorfer meine 
Muͤnchner Atelierangelegenheiten beſorgen und alles in Kiſten nach 
Saͤckingen ſchicken. Manche Bilder ſchickte ich auch an Dr. Eiſer, der es 
angeregt hatte, daß ich mit Mutter und Agathe ſpaͤter nach Frankfurt 
uͤberſiedeln ſolle. 

Am 7. Februar kam die Nachricht, daß die ſchoͤne Kirche mit der 


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Fabrik in St. Blaſien in Flammen ſtehe. Die Saͤckinger Feuerwehr 
fuhr dahin. In Baſel wechſelte ich mir 1270 Franken in Gold ein. Dort 
freute ich mich an den Fratzenkoͤpfen, die Boͤcklin für die Schlußſteine 
der Fenſter in der neuen Kunſthalle modelliert hat. 


14 


Foo die italieniſche Reiſe folge ich den Aufzeichnungen in einer Art 
J von Tagebuch; fo ziemlich chronikartig, wer fie kürzer gefaßt leſen 
moͤchte, den verweiſe ich auf mein Buch „Im Herbſte des Lebens“, 
wo ich freier, ohne ſo viel Datumsangaben erzaͤhlt habe, freilich muß 
man die Wiederholungen mit in den Kauf nehmen. 

Am Faſtnachtſonntag, den 15. Februar, hoͤrte ich nachmittags in 
Saͤckingen zu gleicher Zeit das Totengloͤcklein und die Faſtnachts⸗ 
narrentrommel. Es war mir ein klares Bild und faſt troͤſtlich für das 
buntgemiſchte Leben. Montag, den 16. Februar 1874, war mir der 
Abſchied recht ſchwer. Es lag doch ſo manches Dunkel uͤber mir und 
finſtre Ahnungen umgeiſterten mich. Dazwiſchen ſchimmerte aber auch 
die heimliche Hoffnung, daß die Reiſe alles gutmachen koͤnne. Im 
Staͤdtchen liefen die Narrenmasken herum, ich haͤtte mir auch eine 
wuͤnſchen mögen, um mein trauriges Geſicht dahinter zu verbergen. 
In Baſel traf ich mit meinen Reiſegefaͤhrten Lang und Heinrich zu⸗ 
ſammen. Wir fuhren noch nach Bern, uͤbernachteten im Gaſthaus 
„Zum Falken“. Ich hatte eine ſchlafloſe Nacht und war ſo voll Unruhe 
und Angſt, daß ich mir faſt nicht zu helfen wußte. Meine Mutter hatte 
mir den 121. Pſalm als Reiſeſpruch bezeichnet, an feinem großen Sinne 
richtete ich mich wieder auf, und der Morgen fand mich ruhigen Gemuͤtes. 

Am 17. fuhren wir nach Genf. Lang gab mir eine Broſchuͤre „Zwoͤlf 
Briefe eines aͤſthetiſchen Ketzers“, die, da die Gegend in Nebel gehuͤllt 
war, ich gerne las, in ein eifriges Kunſtintereſſe hineingeratend. Aber 
als die Nebel ſanken, ſtrahlte der Himmel ſo fruͤhlingshaft uͤber kleine 
Staͤdte und Huͤgelland und ich legte das Buch weg. Dann kam Lau⸗ 
ſanne mit dem ſchoͤnen Genfer See. In Genf uͤbernachteten wir in 


der Poſt. 
62 


Am 18. Februar Abfahrt nach Turin. Morgennebel, dann durch 
kleine Doͤrfer und felſige Taͤler. Station Culoz — laͤngerer Aufenthalt. 
Dann uͤber Fluß und Tal immer hoͤhern Bergen entgegen, ſie wurden 
unheimlich hoch. Verlorene Menſchenhuͤtten kletterten an Berghaͤngen, 
daneben ſtuͤrzende Waſſerfaͤlle. Der Schnee fiel in großen Flocken, der 
Zug ging langſam vorwärts in ſchauerlicher Wildnis. In der Nähe 
von Modane ging der Lokomotive die Kraft aus und wir ſaßen eine 
und eine halbe Stunde zwiſchen beſchneiten Felſen. Unter uns waͤlzte 
ſich der Bach über große Felsbloͤcke, ein Poſtwagen zog muͤhſam durch 
das Tal dahin dem einfamen Haufe zu. Wir froren, hungerten, lach: 
ten und ſchimpften bis Hilfe kam. Modane, italieniſche Grenze mit 
Zoll- und Paßunterſuchung. Es war Nacht und vor dem Mont-Cenis 
Tunnel ſah ich nur noch dunkle Berge ſcharf in glaͤnzender Sternenluft. 
Im Tunnel hatten wir die kindliche Freude, ſo tief in der Erde zu ſein, 
und wir waren ſtolz auf unſre Zeit und ihre Eiſenbahnen. Lang holte 
ſeine Geige heraus und ſpielte deutſche Volkslieder. Nach 26 Minuten 
waren wir draußen, aber es war finſter und aus geheimnisvollen 
Taͤlern glaͤnzten zerſtreute Lichter und vom Himmel herab die Sterne, 
wie ein alter Bekannter war auch hier der Orion. Wir waren froͤhlich 
aufgeregt. Italiener ſtiegen in den Wagen. Lang probierte ſeine Sprach— 
kenntniſſe, und ich freute mich jedes Wortes, das ich verſtand, es waren 
aber gar wenige. Einer der Eingeſtiegenen empfahl uns das Gaſthaus 
feines Bruders in Turin. Um ½ 11 Uhr waren wir dort. Das ita— 
lieniſche Eſſen ſchmeckte uns. Die breiten Betten gefielen mir, aber der 
ſteinerne Fußboden ohne Teppiche war gar kalt. Lang beklagte ſich am 
Morgen wegen Überforderung. Wir wurden verdrießlich, ich glaube 
aber ohne Grund oder wohl mehr wegen der großen Kaͤlte, die wir ſo 
unerwartet in Italien antrafen. Die ganze Gegend lag in Nebel und 
Schnee. Es kam mir gar nicht italieniſch vor und wir erfroren faſt in 
dem kalten Eiſenbahnwagen. In den Apenninen lag hoher Schnee, 
die Sonne ſchien und es blendete der Wechſel mit den Naͤchten der 
vielen Tunnel. 

Da kam Genua und das Meer, das war großartig und fremd. Das 
war Italien mit Marmorpalaͤſten, Zypreſſen, Olbaͤumen, Pinien, 
Orangengaͤrten. Da lag das Meer und der Hafen voll Schiffe. Wir 


63 


waren in das ſehr vornehme Hotel Genova geraten und da gerieten 
wir in Angſt vor den hohen Preiſen, die wir in einem Zimmer an⸗ 
geſchlagen fanden. Das verdarb uns den Genuß von dem ſchoͤnen 
Genua. Wir ſahen alles fluͤchtig und beinahe muͤrriſch an; wir beeilten 
uns zur Abreiſe. Die Beunruhigung war unnoͤtig, als wir zahlten, 
fanden wir die Preiſe ganz normal. Aber wir waren nun einmal auf; 
geſcheucht und ſo reiſten wir ab, nachdem ich noch Briefe nach Hauſe 
auf die Poſt gebracht und die Brandung am Meere bewundert hatte. 

Zunaͤchſt nach Piacenza, in Tortona zweiſtuͤndiges Warten auf den 
Zug. Napolitaniſche Soldaten tanzten im Reigen und ſangen dazu, 
das klang wie Dudelſackmuſik. Nachts 11 Uhr Ankunft in Piacenza, 
im Croce bianco ein gar freundliches, vortreffliches Gaſthaus und 
recht billig. 

21. Februar in Parma bei Correggios Fresken. Auf dem Domplatz 
ſchenkte ich einer Bettlerin einen halben Silberfrank, der mich geaͤrgert 
hat, weil eine Obſtverkaͤuferin in Tortona ihn als ihr unbekannt 
zuruͤckgewieſen hatte. Dieſe Bettlerin war aber uͤber die Gabe hoch— 
begluͤckt, ſie wollte mir die Hand kuͤſſen. Die Folge aber war, daß wir 
in kurzer Zeit von Bettlern umringt waren, fo daß wir uns foͤrmlich 
fluͤchten mußten. Lang ſchimpfte ſehr uͤber meine Unvorſichtigkeit. In 
Bologna im Hotel Pelegrino gefiel es uns ſehr gut. Wir hatten vor, 
einige Tage zu bleiben, als wir aber nach dem Nachteſſen noch einmal 
ausgingen, uͤbertrat ſich Lang den Fuß, der, als wir heimkamen, recht 
angeſchwollen war. Ein Nuͤrnberger, der im Hotel war, wußte nun 
gleich einen aͤhnlichen Fall, wo die Heilung wochenlang gedauert haͤtte. 
Am folgenden Morgen ſchickten wir zu einem Arzte, der ließ es uns 
aber zum voraus wiſſen, daß fein Beſuch zo Franken koſte. Nun hielten 
wir die ſofortige Abreiſe, wo wir doch laͤngeren Aufenthalt vorhatten, 
fuͤr das beſte. Vor der Abreiſe lief ich ſchnell noch durch die Straßen 
und ſah, daß die Tuͤrme wirklich ſehr ſchief waren. Sonntag, den 
22. Februar, fuhren wir durch die vielen Apenninentunnel nach Florenz, 
um 6 Uhr waren wir in der Caſa Nardini. Langs Fuß war wieder 
ganz gut! Ich war nun etwa drei Wochen in dem herrlichen Florenz 
und will gar nicht den Verſuch machen es zu beſchreiben, was ich alles 
ſah. Ich kam auch gar nicht dazu, etwas ins Tagebuch zu ſchreiben, ich 


64 


glaube auch, daß ich nicht viel gezeichnet habe. Übrigens habe ich auch 
ein Skizzenbuch, worin ich allerlei gezeichnet hatte, waͤhrend der Reiſe 
in einem Omnibus in Rom liegen laſſen. 

Am 16. März fuhr ich allein direkt nach Rom über Perugio —Aſſiſi. 
Mit ſtaunenden Augen ſah ich in die ſchoͤne fremde Natur hinein; ſah 
die Hirten und die Herden in der Campagna im Abendlicht. / 7 Uhr 
empfing mich Lugo am Bahnhof und fuͤhrte mich ins Hotel d' Orient. 
Spaͤter bezog ich ein Zimmer in der Via Purificatione. Ich koͤnnte ja 
hier nur die Namen nennen von all den berühmten Orten, die ich bez 
ſuchte, aber die ſtehen ja im Baedeker. 

20. März nachmittags, als ich mich uͤber das gelehrte Kunſtgeſchwaͤtz 
eines deutſchen Doktors geärgert hatte, wurde die Villa Pamfili erſt 
ſchoͤn, als ich allein darin war. Da war der Abend gar herrlich, ich 
befand mich wie im Paradies. In der Villa Borgheſe habe ich oft ge— 
zeichnet. Ich lernte auch den Maler H. Ludwig kennen, der eine ſehr aus— 
gedachte Maltechnik hatte mit Firnisfarben und Petroleum. Er hat den 
Leonardo da Vinci uͤberſetzt und mehrere Bücher über Olfarbenmalerei 
geſchrieben. Ich habe mich ſehr mit dem ernſten Kuͤnſtler ins Ein⸗ 
vernehmen ſetzen koͤnnen, an einem Nachmittag mit Lugo beim Ponte 
nomentane. Der Frühling mit feinem Grün lag über der weiten Flur, 
golden knoſpeten die Baͤume an dem weither ſchlaͤngelnden Anie. In 
der Ferne die Berge mit weißſchimmernden Staͤdtchen. Überall zer⸗ 
ſtreut umher alte Tuͤrme, Graͤber, Saͤulen. Langhoͤrnige Rinderherden, 
Ziegenherden weiden im Gruͤn und Schafherden, von weißen zottigen 
Hunden gehuͤtet. Auf der Straße reiten die braunen Campagnolen, 
in den verfallenen Mauern wohnen dunkelaͤugige Weiber. 

28. Maͤrz war ein Koͤnigsjubilaͤum ohne gerade beſondern Jubel; 
vor dem Quirinal ſtand ein Volkshaufe, und ich ſah Viktor Emanuele, 
der auf dem Balkon erſchien. 

Maler Buchſer aus Solothurn lernte ich kennen, ich hatte von 
Staͤbli ſchon viel von ihm gehoͤrt. Ich ſtand ſehr gut mit ihm, ich habe 
auch einen Kopf in ſeinem Atelier gemalt. Buchſer hatte ein aben⸗ 
teuerliches Ausſehen, ſo etwa koͤnnte ich mir die Schweizer Landsknechte 
denken. Auch beſuchte ich den Maler Dreber, ſah ſchoͤne poetiſche Ar— 
beiten, nur etwas zu zartfarbig. 


5 Thoma, Im Winter des Lebens 65 


1 


Ich komme nun doch nicht darum herum, dem alten Tagebuch zu 
folgen. So war ich am 25. Via Appia, Hain der Egeria, in einer 
Oſteria vor Porta S. Sebaſtiano; 26. Palatin⸗Kaiſerpalaſt; 27. Maria 
Maggiore. Dort ſah ich zu, wie gerade antike Wandmalereien aus⸗ 
gegraben wurden, praͤchtiges Dunkelrot, dazwiſchen gemalte Fenſter 
in Gruͤn und Blau, Ausſichten auf Gaͤrten. Unten ein ſchwarzer Fries 
mit kleinen Figuͤrchen. Der Tempel der Minerva Medica war gar ſchoͤn 
umwachſen von rotbluͤhenden Baͤumen. 27. Palmſonntag in S. Peter, 
Umzug der Geiſtlichkeit mit Palmen. 31. Entzuͤckt in Villa Albani. 

1. April Villa Farneſina, Raphaels Pſyche und Galathea, Maria 
della Pace, Rafaels Sybillen. 3. April Ponte Salara, herrliches Cam⸗ 
pagnafruͤhlingsbild, ſchlanke knoſpende Baͤume, die Wieſen voll 
Narziſſen. Faſt bei allen dieſen Ausfluͤgen waren Lugo und eine 
Schweizerin, Fraͤulein Kappler, mit der er befreundet war, mit. So 
auch am Oſterſonntag, 5. April, wo noch ein Student aus Freiburg 
ſich uns angeſchloſſen hatte. Mit der Bahn nach Frascati, dann auf 
Eſeln nach Tusculum. Es war ſtuͤrmiſcher Wind, die Campagna lag 


in herrlicher Klarheit wie ein gruͤnes Meer unter uns. Nachmittags 


im Wagen nach Nemy — Grotta ferrata. Einen eignen Eindruck machte 
mir ein ſchoͤnes Roͤmerpaar, er in der Campagnolentracht mit Hut 
und Mantel, ſie eine wunderſchoͤne ſchwarzhaarige Frau; ſie ſchritten 
ruͤſtig daher und fuͤhrten zwei weiße Roſſe hinter ſich, ein zottiger 
weißer Hirtenhund begleitete ſie. Ich machte ſpaͤter einmal den Verſuch, 
die Szene zu malen, ich blieb aber ſtecken und das Bild iſt verſchollen. 
Der Albaner See ſah ſehr duͤſter aus bei dem dunkeln Wolkenhimmel. 
Es ging zwiſchen Felſen und Kaſtanienwaͤldern vorbei, nach Genzano, 
am Nemiſee vorbei nach Nemi, wo wir uͤbernachteten. Wir waren ſehr 
froͤhlich beim Nachteſſen, draußen ſtuͤrmte und regnete es gewaltig. 
Es war kalt, im Bette fror ih. Am Morgen klapperten uns die Zähne 
vor Froſt, wir waren verdrießlich. Am Oſtermontag um ıo Uhr gingen 
wir zu Fuß zuruͤck. Große Sturmwolken flogen am Himmel und Sonnen⸗ 
blicke fuhren uͤber die weite Landſchaft. Wir ſahen das Meer und ſeinen 
weißen Brandungsſtreifen, wir ſammelten Fruͤhlingsblumen und 
wurden nach und nach wieder warm. Wir gingen nach Albano und 
auf der Bahn nach Rom. 


66 


Am 7., 8., 9. April war ich ſtark erkaͤltet. 1o. Pietro in Vincoli, 
Titusthermen, ſchwuͤler, uͤppiger Fruͤhlingstag, eigenartig ſchoͤn in den 
Gemuͤſegaͤrten zwiſchen den Ruinen. 11. Vatikan. S. Onofrio. 12. Piazza 
Montenara im Ghetto und Trastevere. Es kam ein Brief von 
O. Eiſer, daß er mir fuͤr 500 Gulden Bilder verkauft habe, darauf 
beſchloß ich, meinen Aufenthalt zu verlaͤngern. 

Ich male in Buchſers und Lugos Atelier allerlei Kleinigkeiten. Abend 
war ich ein paarmal mit Buchſer und andern deutſchen Malern in der 
„Goldkneipe“, es war viel Laͤrm und Kunſtgeſchwaͤtz. 26. April, Sonn⸗ 
tagvormittag fruͤhſtuͤckte ich als einziger Gaſt in einer kleinen Wirt⸗ 
ſchaft im Ghetto. Die Wirtsleute ſchienen mir ſo gutfreundliche Men⸗ 
ſchen zu ſein, natuͤrlich konnte ich mich nicht mit ihnen unterhalten, ich 
war ganz auf die Augen angewieſen, und die ſagten mir Gutes von 
ihnen. Es iſt oft gut, wenn man die Sprache nicht kennt und ſich nur 
auf die Augen verlaſſen muß, die koͤnnen oft tiefer in das Menſchenſein 
hineindringen. Über die Deutſchen, die ich zufaͤllig traf, habe ich mich 
oft geärgert. Ich fand fie meiſt voll Wiſſens duͤnkel, dabei blind gegen 
alles, was ſie ſehen. Das Gefuͤhl fuͤr Kunſt, Natur und Menſchenleben, 
das hier ſo maͤchtig ſich aufdraͤngt, kann nicht aufkommen vor ihrer 
Bildungsſchablone. Sie machen ſich groß damit, daß ſie uͤber Pfaffen 
und Bettler ſchimpfen. So ſchlug ein tapferer deutſcher Doktor im 
Wirtshaus, wo ich oͤfters aß, mit der Serviette nach einem kleinen 
Blumenmaͤdchen, das ihm Blumen anbot, ſo daß es weinend fortlief. 
Ich rief, um das deutſche Ungemach gutzumachen, das Kind zu mir 
und kaufte ihm ſeine Blumen ab. Ich tat dies ſo auffallend, daß der 
Deutſche dies bemerken konnte, denn er ſchimpfte dann heftig auf die 
roͤmiſchen Zuſtaͤnde in bekannter Art. Das Kind merkte es wohl, daß 
ich es getroͤſtet hatte und kam nun beim Mittageſſen mit ſeinen Blu⸗ 
men zuerſt zu mir. Einmal hatte ich ſchon Blumen gekauft und in 
einem Anfall von Laune zum Scherz ſchenkte ich ihm ein Blumen⸗ 
ſtraͤußlein. Sie nahm dies ſo wichtig, ſteckte das Straͤußlein an ſein 
Mieder und ging ſtolz auf dies Geſchenk aus der Wirtſchaft ohne 
weiter Blumen anzubieten. Auf der Straße kannte ſie mich dann 
immer und gruͤßte mich aufmerkſam und zutraulich. 

Die deutſche Kritiſiererei aͤrgerte mich ſo, daß ich vielleicht auch in 


5˙ 67 


diefen Erbfehler verfiel und dieſe Art vielleicht manchmal auch etwas 
ungerecht kritiſierte. 

Abends beim Wein fuͤhrte ich mit dem Freiburger Student, einem 
Nationalliberalen, und Fraͤulein Kappler, einer Sozialdemokratin, leb⸗ 
hafte politiſche Diskuſſionen. Welchen Standpunkt ich dabei einnahm, 
habe ich aber voͤllig vergeſſen. 

Warum ſollte ich mich auch nicht aͤrgern? Ein Muͤnchner, der neue 
verkaͤufliche Motive holen wollte, behauptete, als wir zwiſchen bluͤhen⸗ 

den Roſen und Pinien in einer kaum zu uͤberbietenden Fruͤhlings⸗ 
herrlichkeit wandelten, Rom und ſeine Umgebung ſeien nur im Herbſte 
maleriſch, und er ſehe, daß er zu fruͤh gekommen ſei. Aber ich war da⸗ 
mals noch jung und da nimmt man ſolche Dinge noch fuͤr wichtig. 

Am 26. April fuhren wir, Fraͤulein Kappler und Lugo nach Prima 
Porta durch die Porta Popolo die menſchenerfuͤllte Straße nach 
Ponte mole. Dann zu Fuß am Naſonengrab vorbei, die Felſen von 
uͤppigem Pflanzenwuchs umhuͤllt, Feigenbuͤſche, Weinranken, rot⸗ 
bluͤhende Baͤume, dazwiſchen kletternde Ziegenherden. Dann am Tiber 
hin, endlich Prima Porta, ein paar kleine Haͤuſer unten am Huͤgel, 
oben herrliche Ausſicht über das Land, umgeſtuͤrzte Säulen, Spuren 
des Palaſtes der Livia; ein Diener ſchloß uns den ummauerten Raum 
auf, in dem man zum zemalten Speifefaal herunterſteigt. Wir waren 
aufs hoͤchſte uͤberraſcht von der Schönheit dieſer ſo gut erhaltenen an⸗ 
tiken Malerei. Ich war wie in einem Zauberhain, begluͤckt von ſolcher 
Schoͤnheit, wo ringsum durch das Zimmer ohne Unterbrechung das 
Licht kommt. Von oben zieht ſich ein Garten im ſchoͤnſten Wechſel von 
Lorbeer, Zypreſſen, Orangenbaͤumchen, Blumenſtraͤuchern auf die 
rings oben umlaufende lichtblaue Luft. In der Mitte jeder Wand 
ſteht ein extra ſchoͤnes Tannenbaͤumchen, Vögel wiegen ſich auf den 
Zweigen, Tauben ſitzen im Gras, das unten herumgeht mit einem 
kleinen Zaun von goldfarbigem Rohr. Es iſt eine Wandmalerei von 
ſo ſchoͤner Farbenharmonie, wie ich ſie noch nie geſehen habe, voll 
ſicherm ſchoͤnen Handwerkskoͤnnen. 

So erlebte ich noch gar ſchoͤne Maitage in Rom, fo auf der Via 
latina bezaubernde Blumenpracht um die Gräber. Auf dem Monte 
Mario voll Nachtigallengeſang und Roſenuͤberfluß. Hier ſchließen aber 


68 


meine Romerinnerungen, ich ging ungern fort, aber mit der Hoffnung, 
es noch einmal wiederzuſehen. 

Am 16. Mai 1874 reiſte ich mit Lugo und Fraͤulein Kappler nach 
Orte, von dort im Wagen nach Bagnaia, durch dunkle Eichenwaͤlder 
bei einem Gewitter, nicht ohne Banditenfurcht. Der Maler Schwein— 
furt war dort. Er hatte Lugo veranlaßt, dorthin zu kommen, wir 
blieben aber nur zwei Tage. Eigentuͤmlich war der kleine Markt— 
platz, auf dem die Maͤnner, in ihre Maͤntel gehuͤllt, herumſaßen. Es 
wurde dort am Abend auch ein Schwein gebraten. Wir wohnten im 
Haufe des Buͤrgermeiſters. Gaſthaus gibt es keines. Wir bekamen 
dort auch vom oͤffentlich gebratenen Schwein zu eſſen. Die Gegend 
iſt ſehr ſchoͤn, Felſentaͤlchen mit Kaſtanienwald, Begraͤbnisgrotten aus 
alter Zeit in den Felſen, auch iſt in Bagnaia ein ſchoͤner Park. Sonntag, 
17. Mai, waren wir in Viterbo. Aber es waren unruhige Reiſeeindruͤcke 
und ich habe nur Daten und Orte aufgezeichnet. 

Am 18. Mai ging ich mit Lugo und Kappler nach Orte zuruͤck, wo 
wir uns trennten, ſie fuhren nach Rom und ich noch Orvieto. Dort 
uͤbernachtete ich und hatte einen herrlichen Morgen im Dom bei 
Signorelli. Den Schlangenweg von der Hoͤhe herunter zogen die 
Landleute mit ihren Tieren zur Feldarbeit in die fruchtbaren Felder 
der Ebene. Am 19. Mai abends war ich in Siena, wieder eine wunder⸗ 
volle Stadt. Am Morgen beſuchte ich den Karlsruher Freund Hun⸗ 
zicker. Ich wurde herzlich aufgenommen bei den guten Menſchen und 
wir ſahen gemeinſam die Schoͤnheiten von Siena. Emma H., die ich 
als Kind kannte, war groß geworden, ſo natuͤrlich und gut, daß ich 
rechte Freude an ihr hatte. Hunzicker war grau geworden, er hatte 
aber feine Jugendlichkeit, deren gute Seiten mir wohlgefielen, be; 
wahrt. Am 23. Mai fuhr ich nach Florenz und wohnte wieder mit 
Lang und Heinrich in der Caſa Nardini. 

Am 30. Mai fuhren wir nach Piſa, ſahen den Dom des Campo 
ſanto, den ſchiefen Turm und fuhren am Abend nach Spezzia, dort 
freute ich mich am Meer. An einem herrlichen Sonntagmorgen fuhren 
wir in einer Barke nach Porta Venere, in das ſeltſame Fiſcherdorf, 
in den Steinen am hohen Fels im Meer. Auf der Ruine oben ſaßen 
wir lange in den Anblick des fernher brandenden Meeres verſunken. 


69 


Die Heimfahrt am Abend war auch ſchoͤn. Ich zeichnete einiges in 
Spezzia. 

Am 3. Juni gingen wir zu Fuß am Meere her, dann über einen 
ſchwindelerregenden Felſenpfad ſenkrecht uͤber dem Meer nach Lerici. 
Trotzdem es ſchoͤn war, freuten wir uns, daß der Pfad abbog in einen 
Olivenhain. Wir kamen muͤde und erhitzt nach S. Terenze. Als wir 
im Wirtshaus ankamen, liefen einige Kinder ſchreiend aus der Stube 
fort und ich vermutete, daß ihnen der rotbaͤrtige blonde Heinrich den 
Schreck verurſacht hatte. Ahnlich wie unſre Kinder vor einem ſchwarz— 
haarigen Bart davonlaufen koͤnnten. Der Wirt ſagte, daß die Kinder 


ſonſt ſehr gut an Fremde gewoͤhnt ſeien. Wir fuhren in einer Barke 


nach Lerici hinuͤber, logierten uns dort ein und machten verſchiedene 
Zeichnungen. Wir blieben bis zum 5. Juni, gingen dann zu Fuß uͤber 
den Berg zu einer Eiſenbahnſtation, bei arger Sonnenhitze und 
Straßenſtaub. Aber die Gegend und die Ausſicht uͤber Land und Meer 


war gar ſchoͤn. In Florenz lernte ich dann, durch Ludwig in Rom 


empfohlen, den Bildhauer Hildebrand und den Maler Hans von 


Marées kennen, die in dem alten Kloſter S. Francesco ſchoͤne Atelier⸗ 


raͤume hatten. 

Am 8. Juni fuhr ich in einer ſchwuͤlen Sommernacht, der Himmel 
voll Blitze und die Erde voll Leuchtkaͤfer, ich fuhr ohne Aufenthalt nach 
Verona und dann nach Muͤnchen. 


15 


n Münden blieb ich nur ein paar Tage und ging dann nach 
. Saͤckingen. Soviel ich mich erinnere, habe ich dort nicht viel gearbeitet. 
Im September lud mich Ernſt Sattler ein aufs Schloß Mainberg, 
um in Gemeinſchaft mit ihm dort einen Weinbergsturm ſeines Onkels 
auszumalen. Wir fuͤhrten nun ein phantaſtiſches Leben auf Schloß 
Mainberg. Sattler und ich ſpielten Ritter, wozu wir wohl auch die 
vorhandene Waffenſammlung ſeines Onkels benutzten und auch, in⸗ 
dem wir aus großen Kruͤgen den guten Frankenwein aus dem Keller 
tranken. Frau Sattler war die poetiſch ſchoͤne Schloßfrau. Ich malte 


70 


auf dem Ausſichtsturm Peterſtein bei Schweinfurt eine Decke mit 
einem Kranz von Amoretten in Wolken und dergleichen mit Ei— 
temperafarbe. Das liebliche Maintal mit den Rebbergen, den Buchen; 
waͤldern, den fraͤnkiſchen Staͤdtchen hat mir gut gefallen. Ich hatte 
doch von jeher die Gabe oder auch den Fehler, daß mir jede Landſchaft 
gefiel, wo ich mich gerade befand. Steinhauſen und Burnitz beſuchten 
uns, die luſtige Weinleſe war, und fo war an Heiterkeit kein Mangel. 

Im November ging ich nach Frankfurt, wo mir die Bemuͤhungen 
von Dr. Eiſer den Auftrag verſchafften, ein Gartenzimmer des Herrn 
Gerlach, Giolletſtraße 34, auszumalen. Ich wohnte den Winter über 
bei Gerlach und malte ſechs Landſchaften an die Waͤnde; auch die 
Portraͤte von Herrn und Frau Gerlach. Aber eine eigentuͤmliche Un— 
ruhe uͤberfiel mich in Frankfurt, als dieſe Arbeiten beendigt waren. 
Ich konnte mich nicht entſchließen, meinen Wohnſitz in Frankfurt auf⸗ 
zuſchlagen. Ich mußte nach Muͤnchen, dort war, fuͤr andre unſichtbar, 
mein Gluͤck. 

Indem ich hier nun auf das zuruͤckſchaue, was ich als Lebenslauf zu 
ſchreiben mich bemuͤht habe, ſehe ich, wie wenig es iſt, was man uͤber 
das eigentliche Leben zu ſagen weiß. Wie oͤde auch die genaueſten Tat; 
ſachen aus den Notizbuͤchern ſind — es ſind uns unbewußte Kraͤfte, es 
iſt Unausſprechliches, was uns durch die Buntheit des Lebens leitet, 
und gar weniges hängt von unſerm Willen und Entſchließen ab. 
Man denke nur an die Kraͤfte, die Geſundheit und Krankheit in ihrem 
Schoße tragen, die Traͤger und Stoͤrer des Lebens. Man muß ſich halt 
damit abfinden mit den aͤußerlichen Geſchehniſſen in Raum und Zeit, 
und kann hoͤchſtens, wie ein Schiffer durch die Wellen, durch fie hin; 
durchſteuern. Man ſollte von Rechtswegen ſchweigen, da man uͤber 
das eigentliche Weſen des Lebenslaufes doch nichts ſagen kann, ja 
daß man uͤber dies eigentliche Element, auch wenn man es vermoͤchte, 
doch nichts ſagen will. Der Menſch lebt gern in dem Wahn dahin, daß 
er ſein eigen Schickſal lenkt, er ſchaͤmt ſich es einzugeſtehen, daß ihm 
unbekannte Triebe die groͤßte Macht uͤber ihn ausuͤben. Triebe, die im 
Geheimnis der Tiefe ruhen wollen, die in der Stille ihr Werk voll— 
fuͤhren. Aus ihrem Zwange gehen Gut und Boͤſe hervor und ſpielen 
mit dem Willen der Menſchennatur. Dem geheimnisvollen Willen, 


71 


der das Weltall beherrſcht, muß ſich alles von ihm Geſchaffene unters 
werfen. 

Es war im Maͤrz 1875, als ich nach Muͤnchen zuruͤckging. Ich ſtand 
auf der Lebensſtufenleiter „zo Jahr ein Mann“, ſchon weit vorge, 
ſchritten zu „40 Jahr wohlgetan“. Was ich nun tat, war wohlgetan, 
das konnte freilich ich nur wiſſen; aber es hat ſich bewaͤhrt. 

Ich bezog ein kleines Atelier Marsſtraße ıı und ging friſch an die 
Arbeit. Steinhauſen war noch in Muͤnchen und wir machten, ehe er 
nach Berlin ging, einen Fruͤhlingsausflug nach Mittenwald. 

Fuͤr mich begann nun ein ſchoͤner Fruͤhling voll Blumen und voll 
Liebe. Sorglos gab ich mich der Natur hin. Denn was leichtſinnig 
ſchien, dem hielten tiefernſte Entſchluͤſſe die Wage. Ich wußte, daß ich 
einen Bund fuͤrs Leben geſchloſſen hatte. 

In Saͤckingen war ich dieſen Sommer nur kurze Zeit, ohne viel zu 
arbeiten. Die Bilder, die ich in Muͤnchen in dieſer Zeit gemalt habe, 
ſind: „Ein Maͤdchen, welches einen mit Gras und Blumen beladenen 
Eſel fuͤhrt“; „Italieniſche Familie mit Pferden“; „Seeweiber“, dieſpaͤter 
Bracht kaufte; „Der Charon“, welcher von der Kunſtgenoſſenſchaftsjury 
von der Ausſtellung zuruͤckgewieſen wurde, den nachher der Maler 
Schuch kaufte; „Goldne Zeit“, „Pinien“ und anderes mehr. Im Herbſte 
1875 fing Cella bei mir zu malen an, große Blumenſtuͤcke, und ſie 
machte erſtaunliche Fortſchritte und ihr ganz urſpruͤngliches Maltalent 
offenbarte ſich. Wir waren voll Jubel und Gluͤck. Über meine Bilder 
erſchienen in den Muͤnchner Blaͤttern die gehaͤſſigſten Kritiken. Auf 
Weihnachten 1875 ging ich mit Cella nach Saͤckingen. 

Im Winter und Fruͤhling 1876 habe ich viel gearbeitet. Ich erinnere mich 
an das Portraͤt des Malers Froͤlicher, welches jetzt in der Pinakothek 
haͤngt. Cella malte Blumen, und es waren ſchoͤne Tage, an denen wir in 
der Umgegend von Münden, in Großheſſelohe und Foͤhring, unſre 
Blumenſtraͤuße holten. Mit Staͤbli war ich beſonders vielzuſammen. Im 
Juni gingen wir nach Schaffhauſen, wohin Mutter und Schweſter inzwi⸗ 
ſchen uͤbergeſiedelt waren, und blieben den Sommer uͤber dort. In Schaff⸗ 
hauſen malte ich im Garten meines Vetters das Bild „In der Haͤnge⸗ 
matte“, das jetzt im Staͤdel⸗Inſtitut haͤngt, und eine Gartenſzene mit 
drei Figuren. Auch habe ich den „Rheinfall“, den Bremen beſitzt, gemalt. 


72 


Zum Gluͤck verkaufte ich im Frankfurter Kunſtverein das Bild 
„Goldne Zeit“ fuͤr etwa 700 Mark. Es war in Schaffhauſen doch eine 
recht vergnuͤgte Zeit, ein paar in geordneter Armut lebende Onkel, 
Tanten, Vettern waren ſtets aufgelegt, einen Spaziergang zu machen, 
in einen der Nachbarorte, wo es guten Wein gab. Wir waren ſogar 
einmal auf den Hohentwiel gekommen. Ein mit mir gleichaltriger 
Vetter, Joſeph Maier, war Beſitzer der Wirtſchaft „Zum Tiergarten“, 
einer der intereſſanteſten Schaffhauſer Bauten. Dort verkehrten wir 
viel. Sorgen hatte ich aber genug. Eine Art Hoffnungsſtern war jetzt 
Frankfurt — ich reiſte im Oktober dorthin. 

Mutter, Agathe und Cella zogen im November wieder nach Saͤckin⸗ 
gen, wo fie eine kleine, aber ſehr huͤbſche Dachwohnung im Haufe des 
Blechnermeiſters Zeiner bezogen. Das Ehepaar Zeiner habe ich ger 
malt und die Bilder haͤngen jetzt in der Berliner Nationalgalerie. 
Dr. Eiſer tat alles, um mir die Wege zur Überſiedlung zu bereiten. Am 
Weihnachten 1876 ging ich nur auf kurze Zeit nach Saͤckingen. 

1877 kam Steinhauſen zu bleibendem Aufenthalt nach Frankfurt. 
Wir mieteten ein gemeinſames Atelier in der Kaiſerſtraße und eine 
Wohnung in der Mainzer Landſtraße. Wir arbeiteten beide recht fleißig 
und waren meiſt wohlgemut. Gemalt habe ich in der Zeit unter andern 
einen „Endymion“, „Alberich“ und die „Rheintoͤchter“ — Nibelungen⸗ 
bilder. 

Am Pfingſten ging ich nach Saͤckingen und am 19. Juni war mein 
Hochzeitstag mit Bonicella Berteneder aus Landshut. In der evan⸗ 
geliſchen Kirche in Saͤckingen wurden wir von Pfarrer Siegriſt getraut. 
Sie war 19 Jahr alt und ich 38. 

In Saͤckingen malte ich dann eine Flora mit einem Blumenkranz. 
Ich habe ſpaͤter einmal, in einem Anfall von Unzufriedenheit mit dem 
Bilde, die Flora mit Wolken und Amoretten zugeſtrichen, ſo daß nur 
der Kranz uͤbriggeblieben iſt. Das Bild iſt jetzt in der Leipziger Samm⸗ 
lung, auch malte ich „Chriſtus predigt am See“, auch eine „Maͤrchen⸗ 
erzaͤhlerin“ und einige Landſchaften am Rhein. 

Steinhauſen kam und wohnte in Oberſaͤckingen. Eiſer und Frau 
kehrten im Oktober von der Schweiz zuruͤck. Wir machten aus, daß 
wir uns in Baſel treffen wollten und ich muß geſtehen, ich war nicht 


73 


gleichgültig, welchen Eindruck Cella auf die Freunde machen würde, 
Aber in der erſten Viertelſtunde ſchon wußte ich, daß Cella durch ihre 
ungeſuchte ſonnige Heiterkeit, durch ihr natuͤrliches Weſen geradezu die 
Herzen der Freunde gewonnen hatte, das war mir fuͤr Frankfurt doch 
hoͤchſt erfreulich. 

Ende Oktober war ich wieder bei Eiſers, er machte mir Mut, daß ich 
es wagte, in der Lerſnerſtraße 20, dem Holzhauſenpark angrenzend, eine 
Wohnung fuͤr 828 Mark zu mieten. 

Im Dezember ging ich zum Einpacken nach Saͤckingen. Dann reiſten 
wir, Mutter und Agathe, Cella, unſer Kater Peter und ich, ab und 
waren am Abend in Eiſers gaſtlichem Haufe. Den Kater Peter, den 
behaglich ſchnurrenden Hausgenoſſen, konnten wir nicht zuruͤcklaſſen. 
Es ſteckt immer etwas wie ein Geheimnis in ſo einem Tier, mit dem 
wir in Verkehr treten. Peter fand ſich auch in Frankfurt bald zurecht. 

Die Mutter und auch wir andern waren nun in Sorgen, wie es uns 
in dem teuern Frankfurt mit dem wenigen Geld gehen wuͤrde. Ich gab 
der Mutter ein eiſernes Kaͤſtlein mit dem Geld, und ſo war ſie, die 
Sparſame, die Huͤterin desſelben; ſo wurden alle Ausgaben wohl 
uͤberlegt. Sie zaͤhlte und rechnete immer, wie lange das vorhandene 
noch reichen wuͤrde, und was dann? Das war eine bange Frage. Aber 
es ging, und der Vorrat im Kaͤſtlein ging nicht aus, er vermehrte ſich. 
Und fo kam doch bald über uns das ſchoͤne Gefühl der Sicherheit, wie 


es ſich auf der Lebensſtufe „wohlgetan“ ſchickte. Auf dieſer Stufe ſtand 


jetzt mein Leben. 

Bis jetzt konnte ich die Zeitfolge ſo ziemlich genau beglaubigen aus 
Tagebuchangaben. Das hoͤrt jetzt auf. Denn es gibt keine Tagebuͤcher 
uͤber den ruhigen Gang meines Lebens in Frankfurt. Was konnte ich 
da viel ſagen. Es waren die Jahre, wo man dem Stillſtand entgegen⸗ 
geht, wo man dann dieſen feſthalten will, und da iſt man ſtill an ſeiner 
Arbeit. 5 


Im Winter 1878 malte ich in meinem kleinen Atelierzimmerchen die 


ziemlich große „Flucht nach Agypten“ und auch den „Chriſtus und 
Nicodemus“ und manche Landſchaft. Meine Frau malte Blumen. 
Ihre Geſchicklichkeit war erfreulich, ihr gutes Auge leitete ſie, ihre 
Bilder ausſtellen wollte ſie nicht. Da, um unſern Karren vorwaͤrts zu 


74 


N 


bringen, gab fie jungen Damen aus unſerm Bekanntenkreis Mal; 
unterricht, mit viel Erfolg. Die Schülerinnen hingen ſehr an ihr. Am 
Oſtern 1879 kaufte Charles Minoprio aus Liverpool, ein geborner 
Frankfurter, eine Landſchaft von mir im Kunſtverein. Das war wich— 
tig fuͤr mich, denn es knuͤpfte ſich daran fuͤr die naͤchſten Jahre, wo 
meine Bilder fo ziemlich von allen deutſchen Ausſtellungen zuruͤck⸗— 
gewieſen wurden, eine erfreuliche Sicherung meines Beſtandes. Mi— 
noprio kam jaͤhrlich und kaufte immer mehrere Bilder. Er brachte 
auch ſeinen Schwager von Sobbe mit, der es hauptſaͤchlich auf Blumen 
von mir abgeſehen hatte. So kamen mit der Zeit in dieſen engliſchen 
Beſitz mehr als 60 Bilder, von denen eine Ausſtellung im Liverpooler 
Kunſtverein gemacht wurde, ſo daß meine erſte Sammelausſtellung in 
England ſtattfand. 


16 


it Minoprio ſtand ich in lebhaftem Briefwechſel, er intereſſierte ſich 

ſehr fuͤr Kunſtfragen. Er lud mich ein, ihn zu beſuchen, und ſo reiſte 
ich am 18. Auguſt 1879 nach England. Da finde ich nun wieder folgende 
Aufzeichnungen: „Venloo, 4 Uhr nachmittags, rotbluͤhendes Heidekraut 
auf weiter Ebene, Viehherden, Schafherden, weiter gruͤne Wieſen, 
ſchwarz⸗ und weißgefleckte Kühe, hohe ſchlanke Baͤume, ſchnurgerade 
Kanaͤle mit Schiffen, in den Suͤmpfen laͤngs der Bahn bluͤhende 
Seeroſen. Tilbury. Die Gegend groß und weit wie ein Meer, in 
goldnen Abendnebelſchein gehuͤllt. Breda, Sonnenuntergang. Roſen⸗ 
dal, hochgetuͤrmte Wolken von mattem Abendſchein beleuchtet. Halb 
neun Uhr Vliſſingen, haſtiges Laufen zum Schiff. Draͤngen zur Kajuͤte, 
wo die Bettnummern ausgegeben werden. Enges Ding mit ſechs 
Betten, immer zwei uͤbereinander. Ich ging aufs Verdeck, ſah den 
Leuchtturm, ein Leuchtſchiff und uͤber dem naͤchtlichen Grauen des 
Meeres den herrlichen Sternenhimmel. Dann aß ich in der Kajuͤte. 
Im Bette freute ich mich am Wiegen des Schiffes und ſchlief gut bis 
morgens 4 Uhr. Dann ſah ich auf dem Verdeck, wie der Morgen auf 
dem Meer ſich ausbreitet. Um Uhr Queenborough. Hinausdraͤngen aus 


75 


dem Schiff, Zoll, Einſteigen in den Zug. Dann Fahrt ins unbekannte 
Land hinein, welches ein dicker und doch durchſichtiger Nebel weich 
umhuͤllte, der auf ſaftigem Gruͤn wie ein Goldſchleier wirkte. Chatam. 
Bald in einem Gewirr von Haͤuſern und Eiſenbahnen. Um 8 Uhr 
Victoria-Station. Scholderer empfing mich. Wir fuhren dann an Weſt⸗ 
minſter vorbei und dann von einem Bahnhof nach Scholderers Haus 
in Putney. 

20. und 21. Nationalgalerie und in Scholderers Atelier, gar weit 
entfernt von ſeiner Wohnung. 22. Mit Scholderer und Frau nach 
Dolwich-Galerie, ſchoͤne ſonnige Landſchaft mit maͤchtigen Baͤumen. 
Samstag, 23., von Euſton Station nach Liverpool Edge Hill. Mino⸗ 
prio an der Bahn. 24. Sonntag im Garten, M. mit ſeinen Kindern. 
Nachmittags Ausfahrt mit M. und Frau an den Fluß und durch den 
Park. 25. Mit von Sobbe in einem Klublokal, dann mit Dampfer 
uͤber den Merſey nach New Brighton, zu Fuß am Strande hin nach 
Haylake, bei ſtarkem Wind und heranrollender Flut. Zweiſtuͤndiger 
Marſch, großer Golfſpielplatz. Mit der Bahn zuruͤck nach Birkenhead. 
Wunderbarer Anblick, der Hafen mit den Schiffen, dahinter die Stadt 
mit ihren Tuͤrmen, daruͤber ein maͤchtig aufgeballter Wolkenhimmel. 

Ich malte die zwei Sobbekinder. Ich arbeitete vormittags und trieb 
mich nachmittags in der Stadt und meiſt am Hafen herum. Bleiche 
abgemagerte Kinder waren da, wo Getreide ausgeladen wurde, krochen 
am Boden und lafen verlorene Körner auf, die fie in den Mund ſteck⸗ 
ten. Als ich ein paar Kupfermuͤnzen zwiſchen ſie fallen ließ, ſteckten 
ſie dieſelben wohl ein, ohne nur zu mir aufzuſehen, fuͤhrten ſie ihre 
Fruchtkoͤrnlein zum Munde. 

Auch ſah ich die Herbſtkunſtausſtellung. Viel anders als in Deutſch⸗ 
land iſt es da auch nicht. Viel Water Couleurs. 

30. Auguſt zeichnete ich in New Brighton am Strand, ſah auch dem 
Kanonenſchießen von einem Fort uͤber das Meer hinaus zu. Reiter und 
Reiterinnen und viel Volk am Strand. Verkaufsbuden — mir ſchmeck⸗ 
ten die friſchen Auſtern. In einer Kunſthandlung ſah ich Bilder von 
John Philipps, David Kox, Millais, Cunell uſw. 

Am 9. September, 9 Uhr, fuhr ich von Liverpool ab nach London, 


durch die ſchoͤne engliſche Landſchaft. Um 3 Uhr war ich in Dekayſers 


76 


Hotel, ging zu Scholderer ins Atelier, ſpaͤter mit ihm und feiner Frau 
ins Kenſington⸗Muſeum. Auch den 10. brachte ich im Kenſington— 
Muſeum zu. Am rx. war ich in der Nationalgalerie, nahm Abſchied 
bei Scholderers und fuhr abends 8 Uhr von London ab nach Dueen; 
borough, dort beſtieg ich das Schiff. Es war eine gar ſchoͤne Mondnacht, 
und ich blieb meiſt auf dem Verdeck, trotz dem ſcharfen Wind, der mich 
oft wuͤtend mit Waſſer uͤberſpritzte. Schoͤn war der herannahende 
Morgen, der Sonnenaufgang. Nicht weit von Vliſſingen kam ein 
großes Schiff mit vollen Segeln im Sonnenlicht heran, ein unvergeß⸗ 
licher Eindruck. Am 12. September war ich wieder in Frankfurt, wo 
ich ſo weiter malte. 

Minoprio ermunterte mich zu einer italieniſchen Reiſe, wozu er mir 
die noͤtigen Beſtellungen mitgeben wolle. 

Am 13. März 1880 reiſte ich mit Cella ab über Saͤckingen und den 
Bodenſee nach Muͤnchen. In Bozen waren wir einen ſchoͤnen Abend 
mit dem Maler L. Eyſen aus Frankfurt, der in Meran wohnte, zu: 
ſammen. Wir hatten verabredet, uns dort zu treffen. Dann fuhren wir 
nach Florenz. Dieſe Stadt erſchien mir nun wieder in ihrer ganzen 
Schoͤnheit. Ich war gluͤcklich, ſie meiner Cella zeigen zu koͤnnen, die ſo 
gute Augen dafür hatte, fuͤr die Fuͤlle dieſer Floraſtadt. Wir beſuchten 
Hildebrand, Boͤcklin uſw. 

Am 25. Maͤrz fuhren wir ohne Aufenthalt nach Neapel. Wir wohn⸗ 
ten bei Zepf⸗Weber. Die Verpflichtung, fuͤr Minoprio Bilder zu machen, 
war ſehr gut; ich zeichnete gleich Landſchafts⸗ und Figurenſtudien; fo 
auch in Sorrent, wo wir vom 8. bis 14. April waren, im Hotel 
Lorelei. Der tolle Laͤrm Neapels mit dem drohenden Veſuv im Hinter⸗ 
grund aͤngſtigte uns ſchier; wir waren auch in Pompeji. Aber alles 
das, was ich fuͤr M. malen wollte, aus der Neapeler Gegend, hatte 
ich nun in der Mappe. Obgleich ich mich ungern, beſonders auch vom 
Neapeler Muſeum trennte, reiſten wir doch ab nach Rom. Denn dieſe 
Reiſe war doch dieſesmal ſo eine Art Geſchaͤftsreiſe mit vorausgeſetz⸗ 
tem Plan und auch Koſtenuͤberſchlag. In Rom nahmen wir ein Privat- 
zimmer, gingen in die Sammlung, aber beſonders gern mit der Mappe 
in die Campagna. Beim Hain der Egeria waren wir einmal, ohne daß 
wir es beim Zeichnen merkten, ringsum von einer Herde langgehoͤrn—⸗ 


TE 


ter Ochſen umlagert, und wir wagten nicht den Durchbruch. Endlich 
konnten wir uns einigen Feldarbeitern, die des Weges kamen, an⸗ 
ſchließen und mit denen das Gitter gewinnen. Es war aber doch ein 
großartig herrlicher Morgen. Bei dieſen fo ſchoͤnen Campagnagaͤngen 
nahmen wir meiſt das Eſſen mit, um keine Zeit zu verlieren, beſuchten 
wohl auch die da und dort zerſtreuten Oſterien und tranken ein Glas 
Wein. Mit den Ziegenhirten verſtanden wir uns ausgezeichnet. Da wir 
abends muͤde heimkamen, ſo kamen wir auch ſelten mit Deutſchen in 
einer Kneipe zuſammen. Wir gingen in beſcheidene italieniſche Wirt⸗ 
ſchaften und ſaßen zwiſchen Italienern, die ſich wunderten, daß meine 
Frau die Sprache nicht verſtand. Denn fie ſah ganz aus wie eine Roͤ⸗ 
merin (ich habe fie ſpaͤter auch in einem italieniſchen Koſtuͤm als Gaͤrt⸗ 
nerin gemalt). In Tivoli habe ich die Waſſerfaͤlle gemalt. Ich waͤre 
gerne noch laͤnger geblieben, aber Cella war ſo aufgebracht uͤber die 
Tierquaͤlereien, die wir uͤberall ſahen, daß ich ſie ein paarmal zuruͤck⸗ 
halten mußte vom Einſchreiten dagegen. Daß ſie nicht mehr bleiben 
wollte, dazu kam noch am letzten Tage der Anblick einer rohen Miß⸗ 
handlung, wo auf offner Straße ein Mann ſeinen Buben blutig 
ſchlug. Wir gingen nach Rom zuruͤck, von dort dann nach Siena, bei 
einem argen Regentag. Die eigentuͤmlichen Sand- oder Lehmhuͤgel 
in der Naͤhe von Siena ſchienen ſich aufloͤſen und in unzaͤhligen 
Rinnen hinunterfließen zu wollen. Mit Hunzicker beſuchte ich eine 
primitive handwerkliche Toͤpferei. Ein paar Teller bemalte ich mit 
Majolikafarben. Wir ſtreiften in der ſchoͤnen Umgegend herum und 
freuten uns an dieſer eigenartigen Stadt. Wir hatten eine Privat⸗ 
wohnung gemietet fuͤr die zwei Wochen, die wir hier waren. 

Am 20. Mai gingen wir nach Florenz, Hotel S. Marco; 23. nach 
Bologna; 24. nach Mailand; 26. nach Streſa, wo ich noch einige Zeich⸗ 
nungen machte. Am 27., Fronleichnamstag, machten wir im Ruder⸗ 
boot eine Seefahrt nach Iſola bella und Iſola peſcatore, es war ein 
wundervoll klarer Tag. Da ſchwamm auf den Wellen gerade auf uns 
zu ein kleines Blechkiſtchen, wir fiſchten dasſelbe auf und als wir es 
oͤffneten, war es mit herrlichen friſchduftenden Roſen gefüllt. Wir 
nahmen es als gute Vorbedeutung, als einen Gruß von Geiſterhand 
an meine Blumenmalerin. 


78 


r 2 


Am 30. Mai von Streſa nach Locarno, Biasca, 31. von da im 
Wagen mit einem zufällig begegnenden Herrn und Frau Ebhard aus 
Hannover bei kaltem Wetter in einem Wagen uͤber den Gotthard. 
Am Hoſpiz hohe Schneemauern, die Telegraphendraͤhte dick mit Eis— 
kriſtallen umwickelt. In Andermatt kamen wir, halb erfroren, ſchlotternd 
an, doch erholten wir uns in der Nacht ſo, daß wir am Morgen alle 
vier wohlgemut waren. Es hatte keinem was geſchadet und wir fuhren 
im Wagen nach Fluͤelen, blieben noch ein paar Tage in Luzern, dann 
uͤber Zuͤrich, Schaffhauſen nach Saͤckingen. Am 7. waren wir wieder 
in Frankfurt. Weil dieſe unſre Reiſe eine Art geſchaͤftlichen Charakter 
hatte durch die daran geknuͤpften Beſtellungen, ſo habe ich alle Aus— 
gaben peinlich genau aufgeſchrieben. So haben wir vom 13. Maͤrz bis 
7. Juli 2303 Franken gebraucht. Das ſind 87 Tage, kommt auf den 
Tag etwa 26 Franken. Das iſt für zwei Perſonen gewiß billig. Hat 
doch ein Frankfurter vor der Reiſe mir geſagt, daß man, wenn man 
mit Frau reiſt, mindeſtens 200 Franken auf den Tag rechnen muͤſſe. 
Das iſt der Unterſchied zwiſchen einem reichen Frankfurter und einem 
armen Malerehepaar. 

Im Sommer 1880 malte ich nun die Bilder fuͤr Minoprio. Ich 
malte Tivolis Waſſerfaͤlle, malte Deckenbilder im Ravenſteinhaus. 
Lugo war ein paar Tage bei mir, auch Martin Greif hat mich beſucht. 
Ich male Bilder zu den Nibelungen fuͤr Dr. Eiſer. Am 30. Oktober 
ſchicke ich 14 Bilder an Minoprio nach Liverpool. 

Mit dem Pariſerhofwirt Melchior verkehrte ich gern, er hatte eine 
kindliche Freude am Malen; probierte es ſelber und ſo half er auch 
mit, als ich ihm zwei Wandbilder fuͤr ein Gartenhaus in der ſorgloſeſten 
Art aus dem Stegreif hinmalte. Bald reichte er mir Farben, bald ein 
Glas Wein. Ich erwaͤhne das, um zu fagen, wie harmlos ich im Be; 
trieb meiner Malerei war, kindlich ſorglos. 

Je weiter ich in der Geſchichte meines Lebens komme, deſto mehr ſehe 
ich, daß ich ſie nur auf Erinnern und Vergeſſen aufbauen kann. Es 
bewegt ſich wohl alle Geſchichte, auch die der Voͤlker, innerhalb dieſer 
Grenzen. Man ſagt, wenn man alt iſt, ſo lebt man nur noch in Er⸗ 
innerungen. Man ſagt die Kunſt iſt „Ein Sicherinnern“. Auf Erinne⸗ 
rung beruht die hiſtoriſche Wiſſenſchaft und Forſchung. Der Chroniken⸗ 


79 


ſchreiber arbeitet für das Erinnerungsvermoͤgen der Zukunft. Erinne⸗ 
rung, ein merkwuͤrdiges Wort, es bedeutet wohl ſo viel wie Erneuerung 
des Innern des Menſchen, ſeines gelagerten geiſtigen Weſens. Er⸗ 
innern iſt ein Taͤtigkeitswort und bedeutet ſo etwas wie ein Erregen, 
ein Aufſtochern unſers Innern, damit Vergangenes, Verdecktes wieder 
zur Oberflaͤche gelange. Damit es im Lagern nicht verſchimmle. In 
Sprache, Schrift, in ſteinernen Denkmalen uſw. macht der Menſch 
ſich Zeichen, aus denen er wieder den Zuſammenhang von raͤumlich 
und zeitlich getrennten Ereigniſſen fuͤr ſein Gedaͤchtnis, fuͤr das Ge⸗ 
daͤchtnis ſeines Volkes, fuͤr die Menſchheit in die Zukunft hinein retten 
will. 

Auch der Einzelne lebt, wenn er alt iſt, nur meiſt noch in Erinnerungen, 
den Denkzeichen ſeines Lebensganges, Erinnerungen tauchen auf aus 
den Tagen ſeiner Jugend, wo man noch frei von Erinnerungen dem 
Leben gegenuͤbergeſtanden. Erſt das Alter kramt in den Notizen, die in 
ſeinem Gehirn und in ſeinem Schreibkaſten aufgehaͤuft ſind. Da 
kommen ſie dann gar oft wie freundliche Boten, an denen ſeine Phan⸗ 
taſie ſich freut, an dem bunten Tanze, den ſie um ihn auffuͤhren, ſo daß 
das wehmuͤtige Gefuͤhl Vorbei! Voruͤber! zuruͤckgedraͤngt wird. Aber 
welche Schmerzgeſtalten ziehen mit herauf, ungerufen, die man nicht 
abwehren kann, die ſo ſtark werden koͤnnen, daß man ſich nach dem 
Gegenteil des Erinnerns, nach dem Vergeſſen ſehnt, welch letzteres von 
der guͤtigen Natur wohl auch beſonders dem Alter beſchieden iſt. Ver⸗ 
geſſen iſt wohl wie ein Vergießen, ein Ausgießen der Erinnerungen. 
Die Jugend hat noch nichts zu vergeſſen, Erinnern und Vergeſſen ſind 
zumeiſt dem Alter vorbehalten. Taͤtigkeiten, die aus ſeinem Weſens⸗ 
zuſtand hervorgehen. 

Dieſe Zwiſchenbemerkung entſpringt einer Verlegenheit, wie ich jetzt 
die Frankfurter Jahre in meinen Lebenslauf faſſe; er ging ja aus den 
Jahren „Wohlgetan“ uͤber das fuͤnfzigſte Jahr „Stillſtand“ zu dem 
ſechzigſten Jahr, wo das Alter anfaͤngt. Ich habe viel gearbeitet, aber 
ſonſt war nicht viel Aufſchreibenswertes vorhanden. Jedoch gern troͤſte 
ich mich damit, daß dem, der dieſes einmal leſen wird, ſo gar nicht viel 
daran liegen wird, wo ich an dem und jenem Tag gerade war. Ja ich 
fuͤrchte, daß er ſchon genug an den bisherigen Datumangaben hat 


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in dem Gefühle: Was geht das mich an! Doch denke ich, derlei genaue 
Zeitangaben beſtaͤrken den Leſer im Glauben auch an die andern Aus— 
ſagen, die man ihm macht. 

Im Marxzeller Haͤuschen, 3. Juni 1918, im vierten Kriegsjahr, voll 
banger Sorge, wann wird dieſe Schreckenszeit enden und wie wird 
fie enden? Ich ſitze am Schreibtiſch und wuͤhle in alten Erinnerungs- 
blaͤttern, die zum Teil mich erfreuen, aber auch gar ſchmerzlich mich 
beruͤhren. Es ſind Zeichen des Traumes vom voruͤbergegangenen Le— 
ben, die ſolche Blaͤtter feſthalten wollten. Ach ja! Nun ſitzt neben mir 
die treue Gefaͤhrtin des Alters, die nicht mehr von ihm weicht: Frau 
Sorge. Sie plappert, liſpelt und ſeufzt zwiſchen die aufſteigenden Er— 
innerungen hinein: „Wozu denn? Willſt du, Alter, nicht endlich ein⸗ 
ſehen, wie vergaͤnglich alles iſt. Was klammerſt du dich an dieſe ver; 
gilbten Blaͤtter, die dir ein wenig Jugend vorgaukeln ſollen. Du biſt 
doch geſcheit genug zu wiſſen, wie nahe dir der Tod iſt. Ich ſehe ihn, er 
ſteht hinter deinem Schreibſtuhl, er hat dich lange genug verſchont, 
aber jeden Augenblick kann er ſagen: So, jetzt iſt's genug! Ich, die 
Frau Sorge, meine es gut mit dir. Ich will dich doch nur an dein 
bißchen Leben mahnen, du haſt noch gar viel zu beſorgen und deine 
Rechnung abzuſchließen, um etwaigen Schaden, den du durch dein 
eigenartiges Weſen fuͤr andre angerichtet haben koͤnnteſt, ſo gut es 
geht, auszugleichen, ehe du fortgehſt. Es iſt moͤglich, daß du dort, wo 
du hinmußt, Rechenſchaft ablegen mußt uͤber jedes unnuͤtze Wort, was 
du geſprochen haft, über dein ganzes Verhalten in dem Pilgerland. 
Da wird dir wohl dein geſchriebener Lebenslauf, wenn du ihn vor— 
legen wirſt, nicht viel zur Verteidigung nutzen. 

Ach ja, Frau Sorge mag wohl recht haben. Aber ich habe auch nicht 
unrecht, wenn ich denke, es kann ihr doch einerlei ſein, ob ich verſuche, 
den Traum meines Lebens an mir voruͤberziehen zu laſſen, um ihn 
aufzuſchreiben, oder ob ich auf meiner Altersbank im Halbſchlummer 
ſitze und mit meinen Fingern ſpiele, die Feierabendzeit hindurch in der 
Daͤmmerſtunde, wo man doch nicht mehr ſo recht arbeiten kann. Zur 
Rechtfertigung werde ich dieſe Lebenslaufgeſchichte gewiß nicht 
brauchen. Ich weiß einen Richter, der hat uns beten gelernt: „Vergib 
uns unſre Schulden wie auch wir unſern Schuldigern vergeben.“ Ich 


6 Thoma, Im Winter des Lebens 81 


hab aber meiner Lebtag gar felten das Gefuͤhl gehabt, daß mir jemand 
etwas ſchuldig ſei, und wenn auch dann und wann etwa, ſo konnte ich 
dies im Handumdrehn vergeſſen. 

Jetzt will ich aber wieder als ordentlicher Berichterſtatter weiter; 
ſchreiben. 


17 


Im Sommer 1880 malte ich die Bilder für Minoprio, ich malte die 
3 Waſſerfaͤlle von Tivoli. Ich malte recht viele Bilder. Weil ich nur 
recht niedre Preiſe erhielt, fo fühlte ich mich auch frei von der Verant⸗ 
wortung dem Kaͤufer gegenuͤber, etwas beſonders Wertvolles machen 
zu muͤſſen. Ich malte drauflos was und wie es mir paßte und wie ich 
es gerade konnte. Es entſtanden Malereien in Ravenſteins Hauſe, 
ohne Vorbereitung an die Wände gemalt, ſo entſtanden auch die 
Malereien im Café Bauer und die dortigen Deckenmalereien. Der 
Ravenſteinſche Auftrag fuͤr dieſes Lokal mußte innerhalb etwa von 
ſechs Wochen fertig ſein, weil da die Eroͤffnung ſein ſollte. Not macht 
erfinderiſch. Da der Saal im Entſtehen voll Arbeitsleute war, konnte 
ich unmoͤglich darin malen; in meinem kleinen Atelier war kein Platz 
fuͤr ſo große Bilder. Da kaufte ich mir Rollenpapier und heftete zwei 
Streifen davon an die Wand, und darauf malte ich meine Figuren 
gleich fertig mit Tempera und Terpentinoͤlfarben. Dann ſchob ich den 
Streifen eins ab und ſetzte einen neuen Streifen an, an dem ich im 
Zuſammenhang mit dem zweiten weiter malte und ſo weiter bis zum 
Ende des etwa 9 Meter langen Bildes. Die fertige Malerei wurde 
ſodann wie Tapeten auf die Wand geklebt und es paßte. So entſtanden 
der Gambrinus⸗ und der Bacchuszug. Auch die Monatsbilder mit 
ihren Schnoͤrkeln malte ich ſo fuͤr die vorher ſchon eingeteilte Decke. 
Ob das Papier haltbar ſei, daran durfte ich freilich nicht denken, es 
mußte zur Einweihung des Lokales fertig ſein, und ich betrachtete die 
Malerei als eine mehr oder weniger vergaͤngliche Dekoration zu dieſem 
Anlaß. Es wurde dann auch weidlich uͤber dieſe Malerei geſchimpft 
und ein Malermeiſter, der die Waͤnde angeſtrichen und allerlei darauf⸗ 


82 


ſchabloniert hatte, veröffentlichte eine Erklärung, um Irrtuͤmer zu ver; 
meiden, daß die Malereien nicht von ihm ſeien. Die Dauerhaftigkeit 
des Papieres hat ſich aber an den Malereien für die Reſtauration 
„Zum Kaiſer Karl“ glaͤnzend bewaͤhrt, die ich ein paar Jahre ſpaͤter 
auch in Ravenſteins Auftrag ebenſo malte. Bauliche Veraͤnderungen 
zerſtoͤrten gar bald das auf die Hinterwand gemalte wohl beſte Bild 
vollſtaͤndig. Die Wand mußte hinausgeruͤckt werden und ein Deko— 
rationsmaler malte eine Landſchaft darauf. Nach Jahren, etwa 1912, 
ging das Haus in andern Beſitz uͤber und wurde gruͤndlich veraͤndert. 
Der neue Beſitzer fragte mich, ob man die Bilder wohl abnehmen 
koͤnne, aber ich fagfe nein, denn fie ſeien auf Papier gemalt und 
aufgeklebt, das Abnehmen ſei ausgeſchloſſen. Aber der Frankfurter 
Maler Bauſinger wagte ſich doch daran und er loͤſte das Muſikanten⸗ 
bild und die friedliche Familie ziemlich ganz von der Wand los und 
ließ das Papier auf Leinwand aufziehen. Die Bilder wurden mir nach 
Karlsruhe geſchickt. Ich freute mich jetzt wieder daran und beſſerte 
gern das aus, was ſchadhaft geworden war. Das Familienbild war 
ziemlich ſtuͤckhaft heruntergenommen, ſo daß ich die landſchaftliche 
Umgebung neu malte. Auch Albert Lang hatte fuͤr das gleiche Lokal 
in gleicher Weiſe einige Bilder gemalt, die abgeloͤſt wurden. Der 
Triumph des Papiers war vollſtaͤndig. 

Auch Steinhauſen und Ernſt Sattler waren in Ravenſteinhaͤuſern 
taͤtig. An der Außenſeite des Hauſes Kaiſer Karl wurden die großen 
Koͤpfe als Schlußſteine zwiſchen den Fenſtern gemacht. Steinhauſen 
machte die Seite nach der Zeil, ich die nach der Eſchenheimerſtraße. Ich 
machte die ſieben Todſuͤnden mit einem achten Kopf als Zugabe, ſie 
ſind grotesk und vielleicht auch ein wenig zu groß geworden, ſie haben 
dem Haus den Namen Fratzeneck eingebracht. Zwiſchen den Fenſtern 
wurden Moſaiken angebracht. 

Auf dieſe Todſuͤnden machte ich einmal folgende Spruͤche: 

Unerlaubt haͤßliche Suͤnden! Man wagt kaum fie zu nennen. Man 
ſchaͤmt ſich ihrer und deckt mit den Schleier der Nachſicht ſie zu. 

Erfreulich iſt aber zu ſehen wie gut doch die Menſchen ſind, ſo gerne 
bereit zu ſchimpfen und ſchmaͤhen uͤber die haͤßlichen Suͤnden der 
andern. 


6 83 


Leidenſchaft wandelt das Antlitz des Menſchen, dem Loͤwen bald 
gleicht es, dem Bocke, dem Hunde, dem Affen, boͤſen Maͤchten verfaͤllt 
es, es verfaͤllt auch des Kuͤnſtlers harmloſem Spiel. 

Dem Neider, dem Noͤrgler nichts will ihm taugen, er reißt auch 
Gutes und Edles in Staub, da er immer verneint ſo darf er wohl 
auch der Ewige ſich nennen. 

Der hagre Greis goͤnnt niemand die Guͤter, er ſperret ſie ein, ſie 
moͤgen verderben, nur daß andre ſie nicht haben oder ſie erben. 

Hoch faͤhrt der Mut uͤber der Allzuvielen Tun und Treiben, doch 
all das ſieht er nicht, was im ſtillen ſchafft die Demut. 

Iſt der Sack gefüllt ſo will ich ruhen vom Kauen 

Mein Beruf iſt, die Welt als Nahrung verdauen. 

In dieſen ruhigen Stillſtandsjahren der Frankfurter Zeit kam auch 
Thode als Direktor an das Staedelſche Inſtitut. Er wurde mir von 
ſeinem erſten Beſuch im Atelier an ein treuer verſtehender Freund. 

Durch Thode kam auch Graͤfin Erdoͤdy zu uns, und ſie wurde meiner 
Frau und mir eine liebe teilnehmende Freundin. 

Zu meinem Fo. Geburtstag ſchenkte fie mir einen Rieſenſtrauß von 
50 Roſen. Meine Blumenmalerin in ihrer Lebhaftigkeit ſagte, dieſen 
Strauß male ich jetzt und ſchenke das Bild der Freundin. In ihrer 
ſtuͤrmiſchen Art nahm ſie auch gleich die ſchoͤnſte Leinwand aus meinen 
Vorraͤten; ich wehrte ab: dieſen Strauß kannſt du in den paar Tagen, 
da er ſich haͤlt nicht fertigbringen und verdirbſt mir nur meine ſchoͤnſte 
Tafel! Es half nichts. Sie malte den Strauß in natuͤrlicher Groͤße in 
drei Tagen ganz vortrefflich, natuͤrlich auch zu meiner Freude, und 
konnte ihn der Freundin ſchenken. 

Ein guͤltiges Zeugnis der Blumenheiterkeit unſres Daſeins iſt 
auch mein Bild: „Offenes Fenſter nach dem Holzhauſenpark“, ein 
Maitag. Das Bild iſt jetzt im Beſitze des Staedelſchen Inſtituts und 
ſagt wohl Tieferes uͤber den gluͤcklich ſchoͤnen Friedenszuſtand, der 
bei uns wohnte, als Worte es koͤnnten. 

In dieſen Jahren war auch eine Ausſtellung meiner Bilder bei Gur⸗ 
litt in Berlin — ſie hatte aber gar keinen Erfolg. In Berlin traf ich 
auch Langbehn und er ging mit mir nach Frankfurt. Derſelbe wurde 
ein paar Jahre vorher durch Haider mit mir bekannt. Er beſuchte mich 


84 


Z * 


und wir ſchrieben uns oft. Jetzt in Frankfurt arbeitete er an feinem 
Buch „Rembrandt als Erzieher“. Ich war faſt der einzige, der davon 
wiſſen durfte. Aber als das Buch fertig war und er es mir aus 
Dresden zuſchickte, mußte ich ihm geloben, daß ich es niemand ſagen 
wolle, wer der Verfaſſer ſei. Dies führte komiſche Ereigniſſe herbei, 
indem viele mir ſagten dies Buch muͤſſe ich leſen und ich ihnen aus⸗ 
weichend antworten mußte — ich mache mir nichts aus derartigen 
Buͤchern uſw. Wozu das Geheimnis ſein ſollte, wußte ich freilich nicht. 
Ich hatte zu der Zeit ein groͤßeres Atelier gemietet und Langbehn war 
faſt taͤglich bei mir; ſo kam der Gedanke, ihn zu malen, und es entſtand 
das Bild: „Der Philoſoph mit dem Ei.“ Seine geradlinige Unvertraͤg⸗ 
lichkeit erſchwerte den Umgang mit ihm ſehr. Er geriet auch mit allen 
meinen Freunden anz und auseinander. Mein Vermitteln wollte nicht 
helfen. Unſre ſehr harmloſe lebhafte Korreſpondenz wollte er ſpaͤter 
ausgetauſcht haben, worauf ich bereitwillig einging. 

Zu der Zeit ging ich auch einmal auf ein paar Wochen nach Muͤnchen, 
um Konrad Fiedler und Adolf Hildebrand zu malen. Einmal ging ich 
auch nach Koͤln um einen Herrn und ſeine Frau zu malen, die mit 
Schumm verwandt waren. Die Malerei fiel aber, wie es bei guten 
Portraͤts faſt immer der Fall iſt, ſehr zur Unzufriedenheit der Beſteller 
aus. So, daß es ſich beſtaͤtigte, was Truͤbner einmal ſagte, als ich ihm 
mitteilte, daß ich eine uns befreundete Dame malen wolle: „Tun Sie 
das nicht, Portraͤtmalen zerſtoͤrt die Freundſchaft.“ 

Die Bilder, die in der Frankfurter Zeit entſtanden ſind, will ich 
nicht im einzelnen aufzaͤhlen. Ein Verzeichnis mit Zeitangabe iſt im 
15. Bande der „Klaſſiker der Kunſt“, aufgeſtellt von Thode, Deutſche 
Verlagsanſtalt in Stuttgart, erſchienen. 

Wenn ich nicht irre war es im Jahre 1882, als ich mit Eiſer zum 
erſtenmal nach Bayreuth ging. Durch Kapellmeiſter Knieſe war ich ſchon 
einigermaßen in die Zauberwelt Richard Wagners eingefuͤhrt. Eines 
Abends war ich auch im Wahnfried, Wagner war gerade an dieſem 
Abend gehindert in der Geſellſchaft zu erſcheinen, und ſo kam es, daß 
ich nie perſoͤnlich mit ihm zuſammenkam. In den ſpaͤtern Jahren, da 
Wagner ſchon nicht mehr lebte, kam ich faſt jährlich zu den Auffuͤh— 
rungen nach Bayreuth, ſo daß ich alle Werke auffuͤhren ſah. Mit Cella 


85 


wohnte ich mehreremal bei dem Freunde Max Groß in Leineck. Be; 
freundete mich mit deſſen Bruder Adolf Groß, dem vortrefflichen ger 
ſchaͤftlichen Leiter der Feſtſpiele. Bei dem naͤhern Umgang mit Frau 
Coſima Wagner und ihrer Familie waren es fuͤr uns gar ſchoͤne 
weihevolle Tage. Auch außer der Feſtſpielzeit war ich einmal im Wahn⸗ 
fried, wo ich ein Portraͤt von Frau Wagner malte und Zeichnungen 
von den Toͤchtern Iſolde und Eva und von Siegfried Wagner machte. 
Frau Wagner veranlaßte mich auch, Vorſchlaͤge fuͤr die Koſtuͤmierung 
der Nibelungen zu machen. Ich ſchnitt die Gewaͤnder im kleinen zu, 
fo daß ich fie Gliederpuppen, die ich früher ſchon in langen Winter; 
naͤchten gemacht hatte, um mich uͤber die Verhaͤltniſſe und Bewegungs⸗ 
moͤglichkeiten der menſchlichen Figur zu belehren anziehen konnte. 
Fuͤr dieſe Puppen paſſend ſchnitt ich die Gewaͤnder der Goͤttinnen, 
auch machte ich aus Pappe Helme und Harniſche fuͤr Wotan und fuͤr 
die Nibelungenhelden, fuͤr die Walkuͤren uſw. Nach dieſen Puppen habe 
ich dann die Koſtuͤmfiguren gezeichnet. Cella half mir ſchneidern. 
Man nannte mich Goͤtterſchneider, und die Koſtuͤme wurden ſo genau 
wie moͤglich nach meinen Angaben gemacht. 

Die Maler der Frankfurter Kuͤnſtlergeſellſchaft waͤhlten mich auch 
einmal zum Praͤſidenten unter heftigem Widerſpruch einiger die Geſell⸗ 
ſchaft ſeit langher beherrſchenden Architekten, welche behaupteten, daß 
mir zu einem Praͤſidenten jede Faͤhigkeit abgehe, daß ich weder re; 
praͤſentieren noch ſprechen koͤnne. Ich uͤbernahm trotzdem das Amt; 
in der naͤchſten Generalverſammlung verſuchte man es, mich außer 
Faſſung zu bringen mit allen möglichen Raͤnken, die ich wohl durch; 
ſchaute; ich behielt meine Ruhe und Beſonnenheit und ging, ſogar 
nach dem Zeugnis der Gegner, als Sieger aus der Probe hervor. Daß 
ich, wenn es ſein mußte, auch ſprechen konnte, bewies ich auf einem 
großen Kuͤnſtlerfeſt im Palmengarten, wo ich als Praͤſident eine An⸗ 
ſprache halten mußte, die wohl gelang, nachdem ich meine angeborne 
Schuͤchternheit überwunden hatte. 

Einmal mußte ich auch zu einem Kaiſerempfang Dekorationen malen 
in der Roͤmervorhalle. Es war gar kurze Zeit und ich malte die Sachen 
auf Rollenpapier, das befeſtigt wurde. Jedenfalls ſind die Dekoratio⸗ 
nen beim Herunterreißen zerſtoͤrt worden. So habe ich gar gern teil⸗ 


86 


genommen an allen gemeinſamen Beſtrebungen der Frankfurter Kuͤnſt⸗ 
ler. Ofters machte ich auch Aquarelle, welche ich zum Teil verſchenkte oder 
auch als billige Ware verkaufte. Auch wurde ich veranlaßt, derlei zu 
wiederholen. Da kam ich auf den Gedanken wenigſtens die Umriß— 
zeichnung durch Vervielfältigung herzuſtellen. Ich las eine Anzeige 
aus Berlin von einem handlichen Apparat, „Tachograph“ genannt, 
mit dem man Drucke durch lithographiſches Verfahren herſtellen und 
eigenhaͤndig drucken koͤnne. Ich ließ den Tachographen kommen und 
fand ihn recht praktiſch zur Herſtellung einfacher Zeichnungen. Ich zog 
von jeder Zeichnung auf dem Stein etwa 10—20 Exemplare ab mit 
der Abſicht, dieſelben zu kolorieren. Dies Kolorieren verleidete mir aber 
bald ſo, daß es nur wenig bemalte Drucke gibt. Spaͤter ſah ich ein, 
daß es bequemer waͤre, wenn ich wirkliche Lithographien machen 
wuͤrde, die bei Werner und Winter in Frankfurt und bei Z. Scholz in 
Mainz gedruckt wurden. Einen guten Katalog uͤber meine graphiſchen 
Arbeiten hat J. A. Beringer angefertigt, ſoweit dies moͤglich war bei 
der ſorgloſen Art, wie ich dieſe Sachen in die Welt hinausſtreute. Sie 
waren nie in einem Verlag, der die Sachen kontrollierte, ich hatte nie 
die Abſicht, dieſe Drucke geſchaͤftlich auszunutzen. Radierungen machte 
ich erſt in den goer Jahren. Manfeld unterrichtete mich in der Technik. 
Das Behandeln der Kupferplatte und das Atzen hatte mir aber etwas 
ſehr Unangenehmes. Da, eines Tages, fand ich ein Stuͤck vernickeltes 
Zinkblech, welches der Spengler als Abfall von einem Reflektor an 
einer Wandlampe liegengelaſſen hatte. Spielend probierte ich die Na; 
diernadel darauf und kratzte einen Kopf auf das Blech. Ein Abdruck, 
den ich davon machen ließ, ſchien mir gut zu ſein, das zu ſein, was ich 
von meinem Radieren erwarten konnte, ſo daß ich bei dieſer mir be— 
quemen Technik der Kaltnadelarbeit auf vernickeltes Zinkblech blieb 
und mich in dieſe einuͤbte. 

Ich hatte ganz richtig vermutet, daß der Nickeluͤberzug der Zinkunter⸗ 
lage die noͤtige Feſtigkeit gebe, daß die Platte eine ziemlich große Zahl 
guter Abdrucke aushalten würde, roo und mehr. Allerdings kann man 
nichts mehr wegſchleifen wie auf einer Kupferplatte. Dagegen ſind 
aber auch die Zinkblechplatten ſehr viel billiger. Jetzt benutzen gar viele 
Kuͤnſtler dieſe vernickelten Platten. 


87 


Bei meinen alten Papieren fand ich ein Verzeichnis der in dieſen 
und fruͤhern Jahren verkauften Bilder. Die Preiſe ſind erſchreckend 
niedrig. So bekam ich z. B. fuͤr „Chriſtus und Nicodemus“ 400 Mark. 
Aber das war noch einer der Hoͤchſtpreiſe. Daß wir trotzdem ſo im 
ganzen ohne Mangel zu leiden durchkamen, verdanken wir der her⸗ 
koͤmmlichen ſchwarzwaͤlder Genuͤgſamkeit und Sparſamkeit. — Wir 
waren zufrieden. 

Die Mutter war mit ihren ſiebziger Jahren ſehr ruͤſtig und ans 
Arbeiten gewoͤhnt. Sie duldete es in den erſten Jahren nicht, daß wir 
ein Dienſtmaͤdchen naͤhmen. Sie hatte einen eigenartigen Standpunkt, 
ſie ſagte: „Wir geſunden Leute muͤßten uns ja ſchaͤmen, wenn wir ein 
Dienſtmaͤdchen haͤtten.“ Erſt ſpaͤter ſah ſie es ein, daß in einem kom⸗ 
plizierten Stadthaushalt eine Hilfe notwendig ſei. Sie kochte gerne 
und gut. Es freute ſie, wenn ſie eine gute Speiſe auf den Tiſch bringen 
konnte. Wir hoͤrten eines Tages, als wir uns ſchon an den Mittags⸗ 
tiſch ſetzen wollten, auf dem Vorplatz ein Gepolter und gleich darauf 
die Mutter lachen und als wir hinauseilten, lag die Gute auf dem 
Boden und hielt mit beiden Haͤnden eine große Schuͤſſel mit Erbſen⸗ 
ſuppe uͤber ſich. Wir waren erſchrocken, aber ſie lachte ſo herzlich, daß 
wir mitlachen mußten. Wir nahmen ihr die Suppe ab und halfen ihr 
auf. Da ſchilderte ſie, daß ſie die Erbſenſuppe hineinbringen wollte 
und uͤber etwas geſtolpert ſei, ſo daß ſie ſich nicht auf den Fuͤßen halten 
konnte, daß ſie fallen mußte. Da ſei ihr einziger Gedanke geweſen: nur 
die Erbſenſuppe nicht verſchuͤtten, und als ſie auf dem Boden gelegen, 
habe ſie die Schuͤſſel gerade noch ſo in den Haͤnden gehabt wie vorher. 
Sie wiſſe nicht wie ſie auf den Boden gekommen ſei. Ihr einziger 
Gedanke ſei geweſen, nur die Suppe nicht verſchuͤtten! Es war auch 
kein Tropfen aus der vollen Schuͤſſel verſchuͤttet. Freilich haͤtte ſie nicht 
gewußt, wie ſie wieder haͤtte aufkommen koͤnnen, wenn ihr niemand die 
Suppe abgenommen haͤtte. Wir erheiterten uns noch oft uͤber dieſe 
durch Willensenergie ſo wunderbar gerettete Erbſenſuppe. 

Die Mutter hatte Sinn fuͤr derartige komiſche Situationen, die ihr 
und den Angehoͤrigen paſſierten und konnte herzlich lachen, wenn ſie 
derlei Erlebniſſe erzaͤhlte. Es vereinigte ſich ein gar ſchoͤner lebens⸗ 
froher Humor mit ihrer tiefernſten Froͤmmigkeit. Hiervon ein Beiſpiel: 


88 


Sie war ſchon nahe an den neunziger Jahren und ich wußte, daß ihr 
eine Wagenfahrt in den Wald große Freude machte. An einem ſchoͤnen 
Himmelfahrtstage ſagte ich: „Heut Nachmittag wollen wir in den 
Wald fahren.“ Da geriet fie in einen frommen Eifer: „An einem fo 
hohen Feiertag nur an irdiſche Vergnuͤgungen denken das iſt unrecht; 
wir wollen an unſern Heiland denken.“ Ich wußte, daß da nichts zu 
machen ſei und ſagte: „Nun, da bleiben wir halt hier.“ Nach dem 
Mittageſſen aber ging ſie ans Fenſter, der Himmel war ſo blau und 
die Sonne ſtrahlte. Dann kam fie zu uns, ein wenig Schalfheit leuch—⸗ 
tete ihr aus den Augen: „Ich hab es mir jetzt doch uͤberlegt und ich 
denk, wenn heut unſer Heiland in den Himmel gefahren iſt, ſo wird 
es auch keine ſo große Suͤnd ſein, wenn wir in den Wald fahren. Lina 
ſoll den Wagen holen, wenn ſie geſpuͤlt hat.“ Zum Teil hat ſie dies auch 
deshalb anders überlegt, um uns andern die Freude nicht zu ver— 
derben. Unſre Sparſamkeit kam uns gut — dadurch wurde das 
Gleichgewicht zwiſchen Ausgaben und Einnahmen hergeſtellt, und 
wir waren froh und dankbar uͤber jeden kleinen Zuwachs der Ein— 
nahmen. 

Meine Mutter verwahrte das eiſerne Kaͤſtlein, worin unſer Geld war, 
und ſie ſinnierte oft und rechnete, wie lange es noch reichen wuͤrde. 
Gar oft war fie bekuͤmmert und ſagte, jetzt langt's nur noch bis zur 
Kilbe, — bis Weihnacht, — bis Oſtern. Und was machen wir dann? 
Aber das Kaͤſtlein fuͤllte ſich immer wieder in ſteigendem Maße und als 
ich einmal ſagen konnte, jetzt hat mein Geld nicht mehr Platz in dem 
Kaͤſtlein und ich habe 12000 Mark auf die Sparfaffe gelegt, wo es 
mir jaͤhrlich 400 Mark Zinſen traͤgt, bewunderte ſie mich foͤrmlich. 
„Was, du haſt Geld am Zins!“ Das war der Armen faſt unbegreiflich, 
daß ihr Sohn noch einmal „Geld am Zins“ haben wuͤrde. So haben 
die armen Leute doch auch ihren Teil Freude auf der Welt. 

An meinen Arbeiten nahm ſie viel Anteil; ſie hatte eine geſunde 
natuͤrliche Freude an Bildern. Freilich hatte ſie gar keinen Vorrat von 
Schlagworten, die ein jeder Kunſtliebhaber ſich erwerben muß, wenn 
er in Kunſtſachen mitſprechen will. Sie hatte aber an meinen Bildern 
auch manches auszuſetzen, was ihr nicht gefiel, beſonders unzufrieden 
war ſie mit den dunkelblauen Himmeln, die ich oͤfters machte. Sie ſagte, 


89 


der Himmel iſt immer hellblau, wenn er blau iſt. Mach doch keine fo 
dunkeln Himmel! So Bilder kauft dir niemand ab. 

Sie war ſehr phantaſiebegabt. Sie erzaͤhlte gar oft und gern, was ſie 
für ſchoͤne Traͤume habe. Sie freute ſich an dem wundervollen Traum; 
ſpiel, das fie oft umgaukelte. Dabei wußte fie auch recht klar die Ort—⸗ 
lichkeit, die Gegenſtaͤndlichkeit ihrer Traͤume zu ſchildern. Sie ſprach 
nur in unſerm Dialekt, und ſo will ich einen ihrer Traͤume, den ich mir 
beſonders gemerkt habe, auch wie ſie ihn erzaͤhlt im Dialekt hierher 
ſchreiben: 


„Huͤt Nacht han i aber en ſchoͤne Traum gha! s' haͤt mer traumt 
i bi 3’ Bernau obe gſi uf uſere Matte am Schwendele Loch; i ha 
alls ſo gnau gſeh, i ha muͤſſe s'Heu uff Schoͤchli zſammreche, 
d Sunn haͤt ſo ſchoͤ warm gſchiene, s' haͤt fo viel Heu gha und 
am Bach her find große ſchoͤni Blume g' ſtande, s' iſch mer ſo wohl 
gſig, i ha mi gfreut über des ſchoͤ Wetter, i ha husli g'rechet, daß 
mer s' Heu no haim bringe bi dem trochne Wetter. Do find uf 
eimol wie i fo ſchaff ſchoͤne kleini Voͤgeli uf d“ Matte gfloge und 
hend mer g'hulfe s Hai z'ſammeſcharre und fie hend Haͤlmli uf 
d' Schoͤchli traiht — und wo i denk ihr liebe Voͤgeli und fie recht 
alug, ſo haͤt jedes vo dene Voͤgeli a klei Strauhuͤtli uf em Koͤpfli 
gha, wie mers im Haiet brucht.“ 


So erzaͤhlte ſie oft von ſchoͤnen Gegenden, die ſie im Traum durch⸗ 
wandelt und wieviel Schoͤnes ſie dabei geſehen habe. Aber ihre Traum⸗ 
phantaſie ſpielte ihr auch manchen Schabernack und verſchonte ſie nicht 
mit ſchrecklichen Erlebniſſen, wo ſie mit unheimlich ſchreckhaften Tieren 
kaͤmpfen mußte. Sie erzaͤhlte auch, wie ſie vor dem Einſchlafen, ganz 
wie ſie wolle, ſich gar ſchoͤne Koͤpfe vorſtellen koͤnne, vor ſich ſehen 
koͤnne. Es erſcheine einer um den andern. Aber nach und nach habe ſie 
es nicht mehr in der Gewalt, es kaͤmen haͤßliche Koͤpfe, die Geſichter 
ſchnitten, ſo daß ſie ſich fuͤrchte. Sie wollten auch nicht weggehen, ſo daß 
ſie manchmal aufſtehen muͤſſe, um Licht zu machen den Spuk zu ver⸗ 
ſcheuchen. Sie erzaͤhlte auch, daß ſie in Bernau ſchon in juͤngern Jah⸗ 
ren unerklaͤrliche Geiſtergeſchichten erlebt habe. Eine dieſer Geſchichten 
will ich erzaͤhlen, ſie intereſſiert vielleicht manchen Spiritiſten. 


90 


A A Fee u VE 
I Ve * 


Eines Abends, wo es ſchon angefangen habe dunkel zu werden, ſei 
ſie, um den Heimweg abzukuͤrzen, uͤber die abgemaͤhten Wieſen am 
Bache her gegangen und habe an gar nichts gedacht. Da ſei ihr auf 
einmal mit einem Ruck das feſt umgebundene Kopftuch von hinten 
heruntergeriſſen worden, ſo etwa wie ein mutwilliger Menſch, der 
hinter ihr hergeſchlichen fei, zum Spaß es haͤtte tun koͤnnen. Sie haͤtte 
in dieſer Meinung ſich auch umgeſehen und habe auch Oho gerufen, 
aber es ſei weit und breit kein Menſch geweſen; es ſei ihr ein wenig 
unheimlich geweſen. Sie habe das Kopftuch wieder aufgebunden und 
ſei am Bach her weitergegangen, um auf die Straße zu kommen, da 
ſei ihr aber das Kopftuch gerade wie das erſtemal wieder herunter— 
geriſſen worden und fo ein drittes Mal. Da ſei ein Grauſen in fie ge; 
kommen und ſie habe angefangen zu laufen — es ſei ihr dann ein⸗ 
gefallen, daß man fage, daß an dieſer Bachſtrecke her ein Geiſt um; 
gehe, der ſchon manche geneckt habe. Sie ſei nie aberglaͤubiſch geweſen 
und habe nie — beſonders an dieſem Abend nicht an dieſe Sagen 
gedacht. 

Auch Vorahnungen und Todesanſagen hat ſie gehabt, ſo z. B. in 
der erſten Nacht, als mein Bruder Hilari krank heimgekommen ſei, 
habe ſie voll Sorgen, da der Kranke vor Huͤftſchmerzen laut jammerte, 
aus dem Fenſter geſehen. Da ſei auf dem Grasplatz neben dem Vogel— 
beerbaum ein helles ruhiges Licht geſtanden auf unerklaͤrliche Weiſe 
an einer fuͤr ein Licht unmoͤglichen Stelle, ſie ſei erſchrocken, ſie habe 
dies als Anzeichen genommen, daß ihr Sohn, der am Abend heim; 
gekommen ſei, an dieſer Krankheit ſterben werde. Denn weder vorher 
noch nachher ſei an dieſer Stelle ein Licht erſchienen und als ſie am 
Morgen hinuntergegangen ſei, ſei nichts von einer Spur dageweſen, 
fondern das Gras wie immer. Der Sohn iſt freilich nach monate; 
langem Leiden an dieſer Huͤftgelenksentzuͤndung geſtorben. Das war 
eine ſchreckliche Leidenszeit auch für die Mutter; fie kam eigentlich nie 
mehr ins Bett und wachte am Krankenlager als einzige Pflegerin. 
Auch der Vater wurde ſchwer krank an einer Lungenentzuͤndung. Ihre 
kraͤftige Natur hielt Stand, wo alles auf ihr lag in dieſer ſchrecklichen 
Zeit; ich war noch ein Schulbub, meine Schweſter ein Kind von vier 
Jahren. Sie erzaͤhlte auch oft, daß ihre aͤltern Bruͤder ihr prophezeit 


917 


hätten: Du wirft einmal Dinge ſehen und Dinge erleben, die andre 
Menſchen nicht wiſſen, weil du in der Fraufaſtenzeit geboren biſt. 

An ihrem Todestage, am Morgen des 23. Februar 1897, ſagte ſie 
zu Agathe, die im gleichen Zimmer ſchlief: „Was war denn das fuͤr 
eine ſchoͤne Muſik, die geſpielt hat!“ Und da meine Schweſter ſagte, daß 
ſie keine Muſik gehoͤrt habe, ſagte ſie: „Du mußt aber feſt geſchlafen 
haben, daß du die Muſik nicht gehoͤrt haſt; ſo ſchoͤne Muſik habe ich 
noch nie gehoͤrt, es iſt ſchade, daß du ſie nicht gehoͤrt haſt; es war doch 
ganz nahe.“ Am Nachmittag dieſes Tages ſtarb ſie. 

Ich komme nicht ſo leicht los von meiner Mutter zu erzaͤhlen, indem 
ich von meinem eigentlichen Lebenslauf berichten will. Die Frank⸗ 
furter Jahre waren aber fuͤr ſie doch noch ſchoͤn, ſoweit eine ruhige Zeit 
fuͤr eine lebendige Seele, die durch viel Leid und große Sorgen durch 
das Leben hindurchgegangen iſt, noch ſchoͤn ſein kann. Das einſame 
Alter mußte ſie freilich ſchwer empfinden, und ſo ſagte ſie oft, da es 
dem neunzigſten Jahr entgegenging: „Hat mich denn der liebe Gott 
vergeſſen, daß er mich nicht heimholt?“ Aber wie wir alle, hing ſie doch 
am Leben, denn als ihre letzte Krankheit kam, von der wir andern 
wußten, daß es die letzte ſei, ſagte ſie ganz unwillig: „Muß denn alles 
an mich kommen!“ Nun ruht ſie in Gottes heiliger Erde auf dem 
Frankfurter Friedhof, wo auch meine Cella ruht und wo auch mir und 
Agathe die Ruheſtatt bereitet iſt. 

Ich muß immer wieder daran erinnern, daß ich dieſe Lebensberichte 
in dem Alter ſchreibe, wo man das Urteil daruͤber verliert, was im 
Lebenslauf wichtig iſt und was nichtig iſt; ſo moͤge man eben alles 
gemiſcht hinnehmen, wie es ja eigentlich im Leben auch iſt. 

So will ich auch hier unſers braven Dienſtmaͤdchens Lina gedenken, 
die elf Jahre bei uns war; auch das erſte Jahr noch bei uns in Karls⸗ 
ruhe, wo ſie ſich verheiratete. Wir hatten die Stelle ausgeſchrieben. 
Da, als Cella und Agathe aus dem Fenſter ſchauten, kam ein Maͤdchen 
mit Schuͤrze und Korb um die Straßenecke ſo muntern Schrittes, daß 
beide ſagten, wenn die zu uns kommt, die behalten wir; und ſie kam 
und bewaͤhrte ſich. 

Ein paar angenehme Sommer verlebten wir mit der Mutter noch 
in dem ſchoͤnen Oberurſel, wo ich ein Haͤuschen gemietet hatte und wo 


92 


die Mutter noch fo lebhaft am Landleben nahm Anteil. Wir hatten ein 
Gaͤrtchen und hielten Huͤhner. Die Frankfurter Freunde Kuͤchler, Eiſer, 
Haag, Gerlach, Fries beſuchten uns oͤfters, wohnten auch zeitweiſe im 
gaſtlich freundlichen Schuͤtzenhof in der guten Verpflegung der Frau 
Kopp. Auch Thodes kamen und einmal die Gräfin Erdoͤdy. Wir mach—⸗ 
ten Ausfluͤge und Ausfahrten in den Taunus hinein, z. B. nach 
Uſingen zu der Familie Dienſtbach. Dort war auch Kapellmeiſter 
Hermann Wetzlar. Wieviel liebe Taunuserinnerungen knuͤpfen ſich an 
Oberurſel und an Kronberg, wo ich ſpaͤter ein Haͤuschen im Kaſtanien— 
garten kaufte, an das mir Ravenſtein ein Atelier anbaute. Das Haus 
war hergerichtet, daß wir auch das ganze Jahr dort wohnen konnten; 
vielleicht unſer Haus Wolfsgangſtraße 150 nur fuͤr wenige Winter— 
monate benutzend. So hatten wir uns gut eingerichtet für eine behag⸗ 
liche Exiſtenz in der uns ſo liebgewordenen Stadt Frankfurt, die zu 
verlaſſen wir nie mehr dachten. Allein es ſollte ganz anders kommen, 
als wir dachten und wollten — es ſchwebte eine Prophezeiung über mir 
vom alten Amtsdiener in St. Blaſien aus dem Jahre 1859, der mir 
im Wartezimmer des Amtshauſes mit geradezu feierlichem Ernſte 
ſagte: „Sie werden noch einmal Kunſtdirektor in Karlsruhe!“ Und 
auf das unglaͤubige Geſicht, das ich machte, ſagte er: „Ich weiß es, 
denken Sie an mich alten Mann. Sie werden noch einmal Kunft; 
direktor in Karlsruhe.“ Ich erzaͤhlte dies, als ich heimkam, der Mutter 
und Schweſter, und bei den Mißerfolgen, die mich von Karlsruhe fort— 
trieben, neckten wir uns wohl einmal damit: Jetzt bin ich bald Kunſt⸗ 
direktor in Karlsruhe! Aber es mußte die Prophezeiung auch gegen 
meinen Willen in Erfuͤllung gehen. 

Das Haͤuschen in der Wolfsgangſtraße war klein aber behaglich. 
Steinhauſen mit ſeiner Familie waren unſre guten Nachbarn. Gar 
manches war uns gemeinfchaftliches Erlebnis. Mit Herrn von Pidoll, 
dem liebenswuͤrdigen Menſchen und vortrefflichen, ernſt und leider 
ſchwer ringenden Kuͤnſtler, dem das, was ſein eigen großes Talent ihn 
machen hieß, nie genuͤgte, kam ich gern zuſammen. Auch Boͤhle ſah ich 
oft und freute mich an ſeinem Krafttalent. Es kam mir vor, daß die 
Rauhbauzigkeit, von der man erzaͤhlte, nur ein Schutz ſei fuͤr eine 
aufrichtig wahrhaftige, im Grunde weiche Kuͤnſtlerſeele. Auch mit Peter 


93 


Burnitz und feiner Familie verkehrten wir. Auch den talentvollen 
Altheim ſah ich oͤfters. In Kronberg war von jeher eine Malerkolonie, 
mit Buͤrger, Bruͤtt, Schroͤdel. Auch Suͤs war dort und mit ihm machte 
ich keramiſche Verſuche. Er hatte einen kleinen Ofen und machte mit 
Hilfe eines Technikers vom Fach manche huͤbſche Majoliken, fuͤr die 
ſich auch Kaiſerin Friedrich, die in Kronberg wohnte, ſehr intereſſierte. 

Ich hatte, als ich noch im Sommer in Oberurſel wohnte, bei einem 
Toͤpfer Freude daran gefunden, ganz in primitiver Art Teller und 
Gefäße zu verzieren, anſpruchslos genug, um als Sommeraufenthalts⸗ 
Ferienarbeiten zu gelten. Aber fo eine Tonwarentechnik hat etwas ſehr 
Anreizendes, daß man nicht ſo leicht vom Probieren loskommt; ſo 
kam es, daß ich auch in Karlsruhe, wohin Suͤs mit ſeiner Majolika⸗ 
brennerei uͤbergeſiedelt war, noch lange an dieſer Technik herum⸗ 
probierte. Gar zu intereſſant iſt der Kampf mit dem Feuer, aus dem 
die Arbeit immer ganz anders herauskommt als man es gemeint hat — 
von dem man aber ſpaͤter ſieht, daß dieſe Zufallsgewalt des Feuers 
doch geſetzlich gewaltet hat und etwas Schoͤnes, Naturproduktaͤhnliches 
hervorgebracht hat. | 

Der gute Hafner in Oberurſel, der mich weiter nicht kannte, warnte 
mich, als er ſah daß ich Teller und Schuͤſſeln bemalen wollte, er meinte 
da ſchaue kein Verdienſt heraus. Eine Frau und ihre Tochter gehen 
bei den Toͤpfern herum in der Gegend und bemalten fuͤr wenig Geld 
ganze Vorraͤte. Es ſchaue nichts dabei heraus. Ich lachte freilich dar⸗ 
uͤber. Spaͤter ſah ich aber doch ſelber ein, daß bei dieſer Toͤpfebemalung 
nichts herausſchaute. In der Großherzoglichen Majolika⸗Manufaktur 
arbeitete auch der ſo talentvolle Bildhauer Wuͤrtenberger, von dem 
es ſehr ſchoͤne Arbeiten gibt. Freilich das Mittelding zwiſchen kuͤnſt⸗ 
leriſcher Anſtalt und ſchwerfaͤllig geſchaͤftlichem Unternehmen das ſich 
rentieren ſollte, hatte große Schwierigkeiten. Es ſchaute nicht viel da⸗ 
bei heraus! 


18 


Im Frühling 1887 war ich einige Zeit bei Hildebrand in Florenz. 
. Auch Konrad Fiedler war zu der Zeit dort, und ſo hatten wir recht 


lebhafte Unterhaltungen über Kunſt und Welt. Es war eine gar ſchoͤne, 
kuͤnſtleriſch anregende Zeit. Ich arbeitete viel — machte in Hilde— 
brands Atelier Figurenſtudien, aus denen ſpaͤter die Bogenſchuͤtzen 
hervorgingen. Auch malte ich eine Anſicht im Garten in St. Francesko. 

Hildebrand hatte mir freilich geſchrieben, es wollten ſich ein paar 
feiner Bekannten von mir malen laſſen. Als Muſter hatte ich auch 
zwei Bilder mitgebracht: das Doppelportraͤt von Cella und mir, das 
jetzt in Hamburg iſt, und Cella mit dem Kinde Ella im Garten, jetzt in 
Hannover. Aber gerade dieſe Muſter waren ſchuld, daß niemand trotz 
den Bemühungen Hildebrandg, ſich von mir malen laſſen wollte. 
Dieſe Bilder gefielen halt nicht. Gar ſchoͤn war ein Ausflug, den ich 
mit der Familie Hildebrand machte nach Piſa und in den maͤchtigen 
Pinienwald an das Meer, den Strand von Livorno. 

Reich an Kunſt⸗ und Reiſeeindruͤcken kehrte ich Ende Mai wieder nach 
Frankfurt zuruͤck. Manche meiner Landſchaften find geradezu aus der 
Flucht der Eindruͤcke von der Eiſenbahn aus entſtanden. So machte 
ich auf der Station Maſſa bei kurzem Halt ein paar Striche nach den 
Bergen von Carara, aus denen ſpaͤter das Bild entſtanden iſt, welches 
das Staedelſche Inſtitut beſitzt. 

Im Jahre 1890 kam Toni Stadler aus Muͤnchen, um im Auftrag 
des Kunſtvereins Bilder von mir zu einer Ausſtellung auszuwaͤhlen. 
Vorrat hatte ich genug, und ſo waͤhlte er uͤber 30 Bilder aus. Dieſe 
Ausſtellung war ein mich ganz uͤberraſchender Erfolg. Die Kritik war 
wie umgewandelt, und beſonders Bierbaum begruͤßte meine Bilder 
mit poetiſchem Schwung. Ein Bild um das andre wurde verkauft. 
Die Kunſtverleger bemuͤhten ſich um Nachbildungen. Wir gingen nach 
Muͤnchen. Ein Kunſthaͤndler machte mir den Vorſchlag, daß er alles, 
was ich male, mir abnehmen wolle gegen einen hohen Jahresgehalt. 
Aber alles muͤſſe dann ſein gehoͤren. Nach vielen magern Jahren hatte 
dies Anerbieten doch ſeine verlockende Seite fuͤr mich, und faſt dachte 
ich, daß auch Cella ſich freuen wuͤrde; aber als ich es ihr ſagte, lachte ſie 
mich foͤrmlich aus. Was, jetzt willſt du dich binden laſſen, wo du es gar 
nicht mehr noͤtig haſt? Du willſt deine Freiheit verkaufen? Freudig 
ſagte ich nun dem Kunſthaͤndler voͤllig ab. 

Der feinſinnige Stadler wurde mir ein treuer Freund, ebenſo Bier; 


95 


baum, der mich fpäter in Frankfurt beſuchte. Wir hatten ung öfters 
geſchrieben. Dr. Eiſer war begeiſtert von Bierbaums Gedichten. 

Von Muͤnchen fuhren wir auch nach Landshut, der Geburtsſtadt 
von Cella. Mit den Münchner Freunden Bayersdorfer, Greif, Haider, 
Staͤbli, Froͤlicher hatten wir ein frohes Wiederſehen. 

Im April 1891 ging ich mit Cella nach Venedig, wo uns die Freunde 
Thode gar verſtaͤndnisvoll liebe Fuͤhrer waren durch all die Herrlich⸗ 
keiten dieſer wunderbaren Stadt. Leider regnete, ja goß es die meiſte 
Zeit ſo, daß die Fuͤlle der Waſſer unter mir und uͤber mir, mir bange 
machte. Auch bekam ich kleine Fieberanfaͤlle, ſo daß ich auf einen Tag 
nach Padua ging, wo ich mich uͤberzeugte, daß es in der Welt auch 
noch Staub und nicht nur Feuchtigkeit gebe. Mit Thode wallfahrteten 
wir nun auch zu dem Wunderbilde Giorgiones in Caſtelfranco, fuh⸗ 
ren dann in einem Wagen beim Ausbruch eines ſchweren Gewitters 
von Caſtelfranco fort, mußten Schutz ſuchen unterwegs in einem 
Bauernhaus, ſahen dann eine ſehr ſchoͤn mit leichten Fresken verzierte 
Villa der Katarina Cornaro — in den Farben vongruͤn und gelb erinnerte 
es mich faſt an Majolikawirkung. Darauf beſuchten wir die von Paul 
Veroneſe mit Malereien reich ausgeſtattete Villa Maſer, machten 
auch im Wirtshaus von Aſolo halt, wo die Pferde gewechſelt wurden. 
Durch allerlei Faͤhrlichkeiten bei finſterer Regennacht kamen wir ſpaͤt 
in Baſſano an. Am andern Morgen ſahen wir in die Schlucht hinein, 
aus der die wildſchaͤumende Brenta hervorbricht — ſahen dann die 
Galerie an mit den vielen Baſſanobildern. Dann mit Bahn nach 
Vicenza, wo uns Thode verließ, um nach Muͤnchen zu fahren. Wir 
ſtiegen in einem palaſtartigen Hotel ab, aßen im ſchoͤnen Speiſeſaal, 
von eleganten Kellnern bedient, gut zu Nacht und ſchliefen herrlich in 
den guten Betten. Wir freuten uns auf das Fruͤhſtuͤck, als wir aber 
hinunterkamen war der Speiſeſaal in unmoͤglicher Unordnung. Ein 
Durcheinander von Tiſch und Stuͤhlen, kein Kellner war zu ſehen, nur 
ein Hausknecht hatte in einem Nebenraum einen Tiſch voll Stiefel 
ſtehen, die er putzte. In unſerm unbeholfenen Italieniſch gaben wir 
ihm zu verſtehen, daß wir fruͤhſtuͤcken moͤchten. Er machte ein etwas 
ſonderbares Geſicht, ſagte etwas was wir nicht verſtanden. Als wir 
unſer Geſuch wiederholten, verſchwand er und kam nach kurzer Zeit 


96 


Ss! vyod nova uu sgnquqo 


— 


— 


mit zwei Taſſen Kaffee über den Hof gegangen. Unter jedem Arm trug 
er ein Broͤtchen, er ſchob dann mit dem Arm die zunaͤchſt ſtehenden 
Stiefel zuruͤck und ſtellte uns das Fruͤhſtuͤck hin. Ich erinnerte mich 
erſt ſpaͤter, daß es mancherorts in Italien gebraͤuchlich iſt, das Fruͤh⸗ 
ſtuͤck im Kaffeehaus einzunehmen. Wir fahen dann die Schönheiten 
Vicenzas an, die Rotunda u. dergl. Gar ſchoͤn waren auch die ſchnee⸗ 
bedeckten Alpen im Norden; es hat immer einen gewiſſen Reiz, jenſeits 
von etwas ſich zu befinden. 

Da noch gut Zeit war bis zur Abfahrt unſeres Zuges, wollten wir 
noch gern die Umgebung anſehen, und auf einem Droſchkenſtand ver; 
handelte ich uͤber die Sache mit einem Kutſcher; er ſagte Subito! und 
ging in ein Haus nebenan, wo er gleich wieder mit einer andern Kopf; 
bedeckung herauskam, und wir ſtiegen ein und machten eine ſehr ſchoͤne 
Fahrt. Als wir am Bahnhof waren und ich ihn bezahlte, forderte 
er mehr als den doppelten Betrag als den, welchen ich mir als Taxe 
wohl gemerkt hatte. Und auf meine Einwendung hin zeigte er mir 
feine Kappe und bedeutete mir, daß er nicht als Droſchken-, ſondern 
als Privatfuhrmann uns gefahren habe und er deshalb nicht an den 
Tarif gebunden ſei. Was wollte ich machen, ich lachte über dieſe 
Schlauheit und er lachte auch. Ich zahlte und ſo ſchieden wir in Frieden. 
Wir fuhren uͤber den Gotthard nach Baſel, wo wir noch ein paar 
Tage mit der Frau Pfarrer La Roche und andern Bafeler Freunden 
zubrachten, ehe wir nach Frankfurt zuruͤckkehrten. Baſel war mir 
immer eine freundliche, faſt heimatliche Stadt, und ſo folgte ich gerne 
einer Einladung des Herrn Viſcher von der Muͤhl, ihm von ſeinem 
Gut, dem Arxhof im Baſelland, eine Anſicht zu malen. So hatten 
wir im Anfang der 90er Jahre einen ſchoͤnen Aufenthalt auf dieſem 
Landgut, beſuchten auch das ſchoͤne Schloß Wildenſtein, welches dieſer 
Familie gehoͤrte. 

Im Jahr der Kroͤnungsfeierlichkeiten der Koͤnigin Wilhelmine waren 
wir mit der Familie Kuͤchler in Holland und freuten uns an der aus⸗ 
selaffenen Luſtigkeit des hollaͤnder Volkes, an dieſer orangefarbigen 
Freude, die allenthalben herrſchte. An den Reigentaͤnzen, die man 
überall ſah, nahm auch ein Gendarm teil, was in Deutſchland gewiß 
unzulaͤſſig waͤre. Ein javaniſches Schauſpiel hat mich ſehr angezogen. 


7 Thoma, Im Winter des Levens 97 


Eine faft eintönige ſchwere Muſik von Holz und Saiteninſtrumenten 
begleitete die ſo ausdrucksvoll deutlichen Pantomimen der biegſam 
ſchoͤnen braͤunlichen Körper; die Koſtuͤme von hoͤchſtem Farbenge⸗ 
ſchmack. Schoͤn waren das Meer und der Strand von Scheveningen und 
das Fiſcherweſen. Wir waren auch in Leiden, Harlem, Rotterdam, 
Amſterdam, auf der Inſel Marken. 

Im März 1897, nach dem Tode der Mutter, reiſten wir, Cella, Aga⸗ 
the, Ella, Maria la Roche und ich nach dem Gardaſee; uͤber Ulm, den 
Bodenſee nach Bregenz, wo wir uͤbernachteten. Den andern Tag nach 
Innsbruck, den dritten uͤber Mori nach dem Gardaſee. Es war eine 
gar ſchoͤne Fahrt dem Suͤden entgegen. Der Ausblick, der ſich von 
Nago herunter auf den Gardaſee eroͤffnet, iſt das Uberraſchendſte, was 
man ſich von landſchaftlicher Situation und Schoͤnheit denken kann. 

Cella und ich wohnten bei den Freunden Thode auf ihrer ſchoͤnen 
Beſitzung Cargnacco — die andern drei wohnten in Salo. — Wir ge⸗ 
noſſen die herrliche Gegend auf die ausgiebigſte Art zu Waſſer und 
zu Land. Dabei habe ich aber doch noch fleißig gearbeitet. Ein Sonn⸗ 
tagmorgen unter den Olbaͤumen von Sirmione bleibt mir beſonders 
unvergeßlich, aber auch unbeſchreiblich. 

Vom Gardaſee gingen wir noch auf ein paar Wochen nach Venedig, 
wo wir im Hotel S. Marco wohnten. 

Eine Staͤtte, wo der Frieden gar ſchoͤnen Ausdruck gefunden zu 
haben ſcheint, war uns die Inſel mit dem Armenierkloſter. Es wird 
einem gar wohl an ſolchen Staͤtten und gar wenn es eine Inſel iſt, 
vom blauen Meer umſpuͤlt. Nachdem die Zeit abgelaufen war und wir 
die Herrlichkeiten Venedigs verlaſſen mußten, fuhren wir nach Mai⸗ 
land, uͤber den Gotthard in die Schweiz, nach Ormelingen ins Pfarr⸗ 
haus La Roche, wo der Bruder von Marie Pfarrer war. Dort blieben 
wir ein paar Tage, ehe wir nach Frankfurt zuruͤckkehrten. 

Ja, das Lebenslaufſchreiben iſt gar nicht ſo leicht, wie ich gedacht habe, 
als ich mich vom Pfarrer Hansjakob dazu verleiten ließ. Jetzt iſt auch 
die Zeit, die in Frankfurt abgelaufen hinter mir liegt, erledigt. Was 
ſoll ich weiter davon ſagen. Ich moͤchte am liebſten den Lebenslauf in 
abgekuͤrzte Form faſſen, daß er Platz hat in einem kleinen Spruͤchlein, 
etwa ſo: 


98 


Ein kleines Licht das in mir wirket ſtill 
Laͤßt mich die ganze Welt erkennen, 

Ich weiß nicht, was es iſt und was es will, 
In Ehrfurcht will ich's Goͤttlich nennen. 


Oder auch in Form einer Grabſchrift, etwa ſo: 


O Tod, du machſt mein Aug' zu nichts, 
Doch nimmermehr die Macht des Licht's, 
Die hat zum Werkzeug ſich erbaut 

Das Aug', damit es ſelbſt ſich ſchaut. 

Die Zeit eilt hin, der Tod kommt her; 

Er nimmt hinweg was Erdenſchwer. 

O weint nicht vor des Grabes Nacht, 

Nur 's Werkzeug wird zur Ruh gebracht. 
Zu ſchwach, konnt's nicht die Zeit beſteh'n, 
Zum ew'gen Licht wird's auferſteh'n. 


Es geht jetzt ein Schrecken uͤber die Welt und ein Zittern durch die 
Voͤlker. Wir leben in einer Zeit, die ſchwer zu ertragen iſt. Wir ſuchen 
umſonſt ſie zu ergruͤnden und ſuchen Klarheit uns zum Troſt. Da ge⸗ 
ſchieht es wohl, daß die Seele ſich vor der Welt verſchließt und ſich 
zuruͤckbeſinnt auf ihr eigenſtes Sein und ſich zuruͤckzieht auf den letzten 
Quell alles Lebens, den wir Gott nennen. Wir finden Troſt in dem 
Gedanken, daß wir der Vergaͤnglichkeit enteilen mit dem Wort: Es 
geht alles voruͤber! Die Einzelnſeele ſchweigt, das große Weltgeſchehen 
geht uͤber ſie hinweg, es geht ſie nichts mehr an. Aber es vernichtet 
ſie nicht. 

Sie vernimmt wieder aus der Ewigkeit ſtammende Worte und ver— 
ſteht ſie. Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und 
Gott war das Wort, dasſelbe war im Anfang bei Gott und alle Dinge 
ſind durch dasſelbe gemacht. Das Wort wird hier wohl die ewig 
ſchaffende Seele bedeuten. 

In unſerm Suchen und Ahnen koͤnnen wir auf den Gedanken 
kommen, daß in dieſem Zeitabſchnitt die ewig ſchaffenden Kraͤfte auf; 
gewuͤhlt ſind und Neuſchoͤpfungen oder Neuordnungen hervorbringen, 


99 


die notwendig find. Wir koͤnnen fie nicht uͤberſehen, aber wir ahnen, 
daß ſowohl Kraͤfte am Werke ſind, die Gutes wollen und Boͤſes be⸗ 
wirken, und ſehen die Kraft, welche Boͤſes will und Gutes ſchaffen 
muß. Die Einzelnſeele kann nur ſtill zuſehen und ſicher ſein in dem 
Vertrauen, daß aus all den bittern Kaͤmpfen der wahre Kern der 
Menſchheit, der goͤttlichen Urſprungs iſt, ſich herausſchaͤlen wird zu 
einer hoͤhern Daſeinsform, die ſich über dem Abgrund erhebt, in dem 
die feindlichen Daͤmone des Menſchengeſchlechtes herrſchen. 

Aber das Aufraͤumen verurſacht Kopfzerbrechen und wirbelt Staub 
auf, der die ewig ſchaffenden Kraͤfte umnebelt und unſern Blicken 
verhuͤllt. 


19 


Es war in den Sternen geſchrieben, vielleicht aber auch nur im Kopfe 
des alten Amts dieners in St. Blaſien, daß ich wieder nach Karlsruhe 
mußte. Etwas wie eine Einleitung hierzu war es, daß Geheimrat 
Wagner und Zeichenlehrer Haßlinger zu mir kamen und einige meiner 
Handzeichnungen zur Vervielfaͤltigung fuͤr den Gebrauch in badiſchen 
Schulen mit ſich nahmen. Geraume Zeit nachher, im Jahre 1898, 
ſchickte mir Großherzog Friedrich das Ritterkreuz 1. Klaſſe vom Zaͤh⸗ 
ringer Loͤbenorden. Eine Dankesaudienz konnte in St. Blaſien ſtatt⸗ 
finden, da ich in dieſem Sommer in Bernau war. Ich wurde zu Tiſch 
geladen, und da bemerkte ich zu meiner großen Freude, daß die hohen 
Herrſchaften ſich noch lebhaft an meinen fruͤhern Aufenthalt vor etwa 
30 Jahren in Karlsruhe erinnerten. Großherzogin Luiſe konnte mir 
aus ihrem ans Wunderbare grenzenden Gedaͤchtnis genau von einem 
Beſuch ſagen, den die hohen Herrſchaften in Begleitung Schirmers in 
meinem Atelier gemacht hatten. Sie teilte mir mit, daß Schirmer 
nachher geſagt habe: „Aus dieſem kleinen Schwarzwaͤlder wird einmal 
was.“ 

1899 kam die Anfrage vom Karlsruher Hof an mich, ob ich die 
Galeriedirektorſtelle dort uͤbernehmen wolle; ich war ſehr uͤberraſcht 
und voll Zweifel, was tun. Aber der mich rief, war doch mein Landes⸗ 


100 


fürft und etwas wie Gehorſamspflicht gab mir das Vertrauen, auf das 
Angebot einzugehen. Der Entſchluß, von Frankfurt wegzugehen, war 
aber nicht leicht. Es kam auch zum Ausdruck, daß die Stadt Frank— 
furt doch nicht ſo gleichguͤltig um mein Schaffen war, wie es oft den 
Anſchein hatte, und Oberbuͤrgermeiſter Adickes machte auch den Ver— 
ſuch mich in Frankfurt zu halten. Aber die Entſcheidung war ſchon 
gefallen. An einer kleinen Feier zu meinem 60. Geburtstag nahm auch 
Staatsminiſter von Brauer aus Karlsruhe teil. 

Beſonders fuͤr Cella war das Aufgeben der behaglich ſchoͤnen Exi— 
ſtenz, die Art von Sicherheit in Frankfurt, eine gar ſchwere Sache. 
So kamen auch die Bedenken, ob es bei meinem Alter nicht gewagt ſei, 
ſolche Verpflanzung vorzunehmen. Nochmals kam die Sache ins Wan; 
ken, nachdem wir zu zweit Karlsruhe und namentlich auch die Woh— 
nungsgelegenheit angeſehen hatten. 

Nachdem ich mich aber in einer Audienz uͤberzeugt hatte, daß es ein 
ganz perſoͤnlicher Wunſch Ihrer Koͤniglichen Hoheiten ſei, mich wieder 
in Karlsruhe zu haben, unterdruͤckte ich alle Bedenken. Auch das 
liebenswuͤrdige Entgegenkommen der Hof- und Staatsbeamten, mit 
denen wir zu tun hatten, ſo des Praͤſidenten Nicolai, der Miniſter von 
Brauer, Nobb, erfuͤllten uns mit Vertrauen fuͤr das Kommende. 

So uͤberſiedelten wir alſo nach Karlsruhe, waren aber im Sommer 
1900 noch einmal in Cronberg. Dort machte ich die Entwuͤrfe zu zwei 
Altarbildern fuͤr die Peterskirche in Heidelberg. Dieſelben verdanken 
ihre Ausfuͤhrung hauptſaͤchlich dem lebhaften Eifer, welchen Frau 
Daniela Thode dafuͤr hatte. Auch machte ich in dieſem Sommer einen 
Teil der Bilder zum „Immerwaͤhrenden Bilderkalender“. An einem 
Tage, da Cella in der Stadt war, machte ich eine Kohlenzeichnung vom 
Jahresregent Mond. Als Cella das Bild am Abend ſah, fing ſie an 
zu weinen. Das war ſo ganz gegen ihre unſentimentale Art, daß ich 
ganz uͤberraſcht war; ſie ſagte aber, ſie koͤnne das Bild nicht anſehen, 
es komme etwas wie Todesahnung ihr daraus entgegen. Im 
Sommer ſchon hatte ich einen Anfall von Blinddarmentzuͤndung, 
der aber gluͤcklich voruͤberging. Da, als die Moͤbel ſchon verpackt waren, 
da wir in den Tagen nach Karlsruhe wollten, bekam ich an einem 
Abend, als Cella in der Stadt war, einen heftigen Ruͤckfall. Wir 


101 


waren ratlos in der ausgeraͤumten Wohnung. Da telegraphierte Cella 
an unſre gute Freundin Sofia Eiſer, daß ſie uns bei ſich aufnehmen 
moͤchte. Es reichte nun gerade noch bis zum letzten Zug, der nach 
Frankfurt fuhr. Dort nahm mich ihr Neffe Auguſt Raſor in Empfang, 
und dann lag ich einige Wochen ziemlich ſchwer krank im Eiſerſchen Hauſe. 

Cella bewerkſtelligte nun den Umzug nach Karlsruhe, wobei ihr 
Frau Anna Spier eine treue Helferin war. Als ich wieder hergeſtellt 
war, folgte ich nach. 

Wir freuten uns nun am Einrichten der großen Wohnung. Eine 
Sache, die Cella meiſterlich verſtand. Sie freute ſich nun ſehr am neuen 
Neſt und war mit der Überſiedlung ganz verſoͤhnt, beſonders auch, 
da ſie uͤberall, wo ſie hinkam, gar freundliches Entgegenkommen fand. 
Es entwickelte ſich eine erfreuliche Geſelligkeit. Wir ſahen oft die Aka⸗ 
demiekollegen und meine Schuͤler bei uns. Cella zeigte ſich auch hier 
ihrer Aufgabe gewachſen, ein natuͤrliches Taktgefuͤhl leitete ſie ſicher, 
aͤhnlich wie es ſie auch in ihrer Malerei geleitet hat. 

Am 5. Februar 1901 veranſtalteten wir ein koſtuͤmiertes Bauernfeſt 
in unſrer Wohnung, wozu 80 Perſonen erſchienen waren. Im Atelier 
wurde getanzt. Es war eine gar luſtige Geſellſchaft wie ſie die Laune 
erfindungsreicher Kuͤnſtler zu improviſieren verſteht. Der Charakter 
einer Bauernwirtſchaft wurde auch in bezug auf echte kraͤftige Bauern⸗ 
koſt, die allen gut ſchmeckte, aufrecht erhalten. 

Mit Eifer ergriff ich meine Profeſſorentaͤtigkeit an der Akademie, ſah 
aber ein, daß dieſe Lehrtaͤtigkeit auch gelernt ſein will, und daß ich 
darin Anfaͤnger war. Ich konnte die Anforderungen der Schuͤler nicht 
befriedigen, wie auch ſie meinen wohl ungeduldigen Erwartungen 
nicht genuͤgen wollten. 

Im Sommer des Jahres durfte ich ein Bildnis des Großherzogs 
malen. Ich hatte die Idee, eine Umgebung im Hintergrund von der 
Inſel Mainau dazu zu malen. Zu dieſem Zweck beabſichtigten wir eine 
Reiſe nach dem Bodenſee. In Konſtanz hatte uns Frau Schmidpecht 
eingeladen. Anfangs Oktober gingen wir fort, hielten uns noch einen 
Tag in Saͤckingen auf. Dort klagte Cella ſchon uͤber Schmerzen, ſie 
wollte aber nicht umkehren, und ſo kamen wir in Konſtanz an. Aber 
dort wurden in der erſten Nacht ihre Schmerzen ſo groß, daß wir einen 


102 


Arzt zu Hilfe rufen mußten. Die Arme follte nicht mehr aufſtehen. Da 
lag ſie nun, wenn auch in freundſchaftlicher Pflege, doch in fremdem 
Hauſe. Ich ließ Agathe kommen und quartierte mich im Inſelhotel 
ein. Ich machte noch ein paar Zeichnungen auf Mainau, aber es 
waren bange Tage. Es war notwendig, daß Cella ins Krankenhaus 
uͤbergefuͤhrt wurde, und da umtobten ſie alle Schrecken des Spitals. 
Ein beruͤhmter Arzt aus Zuͤrich wurde herbeigerufen; es mußte eine 
Operation ſtattfinden. Die lieben Freunde aus Frankfurt kamen und 
wohnten mit mir im Inſelhotel. Frau Eiſer, Kuͤchler, ſie durften die 
Kranke nicht mehr ſehen, auch Agathe durfte ſie kaum mehr beſuchen. 
Auch ich ſollte fernbleiben. Das Gefühl, die gute Seele ſo in ihrer Eins 
ſamkeit zu wiſſen, war herzzerreißend fuͤr mich. Nach ſiebenwoͤchigem 
Krankenlager ſtarb fie am 21. November ıgoı, nachmittags nach 
5 Uhr. Ich kniete an ihrem Bette und hielt ihre erkaltende Hand in 
meinen Haͤnden und ſah in ihre erloͤſchenden Augen. Unſere Ella 
war auch einige Zeit in Konſtanz. Sie nahm aber vorher ſchon Abſchied 
von der guten Mama und kehrte nach Karlsruhe zuruͤck. Die ruͤhrend 
zarte Teilnahme, welche das Großherzogspaar ſowie auch Prinz Mar 
an meiner Trauer nahmen, war wohltuend. Kuͤchlers und Thodes 
waren mir zur Seite. Die Beerdigung fand auf dem Frankfurter 
Friedhof ſtatt bei dem Grab der Mutter, wo auch Agathens und meine 
Ruheſtaͤtte ſein ſoll. 

Doch ich will nicht weiter berichten! Der Menſchheit ganzer Jammer 
wird wohl bei jeder aufrichtigen Lebensbeſchreibung einmal zum Vor; 
ſchein kommen. Wir kennen ihn ja alle! Wir verſuchen es wohl, ein 
luftiges Geſpinſte um dieſen Jammer zu bauen, an welches ſich die 
Seele anklammert, welchem fie Namen gibt, das fie gerne ihre Welt: 
anſchauung nennt — da haͤngt und zappelt dann die arme Seele daran. 
Merkwuͤrdigerweiſe trachten aber die Menſchen eifrig danach, jeder 
dem andern dies Luftgeſpinſt, mit dem ihm der Gang durchs Daſein 
erleichtert wird, zu zerſtoͤren. Als ob das ſo wichtig waͤre! Fuͤr uns 
Chriſten iſt das Kreuz, das wir aufs Grab ſetzen, das Punktum auf 
dieſen Jammer. 

Auf den Lebensſtufen uͤber „wohlgetan“, uͤber „Stillſtand“ und 
„gehts Alter an“ iſt wohl der normale Zuſtand, wenn dem Mann 


103 


zur Seite die Frau geht. Das bedeutet Stillſtand in ruhigem Sein. 
Die Stuͤrme haben keine allzu große Bedeutung mehr. Wenn aber in 
den Jahren des Alteranfangs der Tod die Gattin von des Gatten 
Seite nimmt, ſo iſt das ein gar ſchmerzlicher Riß und unheilbar, wenn 
das Band der Ehe ein inniges war. Das Volk hat ein Sprichwort 
darauf gemacht, das in ſeiner Wahrheit gar grauſam iſt: „Wenn Gott 
einen Narren braucht, ſo nimmt er einem alten Mann ſeine Frau.“ 
Ein Narr Gottes ſein, das muß man ſich halt gefallen laſſen; hohe Herr⸗ 
ſchaften haben ſich von jeher Narren gehalten zu ihrer Beluſtigung. Sie 
zuͤrnen dem Narren nicht und lachen, wenn er ihnen die Wahrheit ſagt. 

Fuͤr mich ſchien mit dem Tod meiner Cella alles dahin zu ſein. Die 
Freude an der Arbeit war dahin. Was war mein Malen, wenn dieſe 
zwei treuen Augen es nicht mehr ſahen. Im kommenden Fruͤhling er⸗ 
weckten mir die Blumen nur ſchmerzliche Erinnerungen. Aber das 
Leben nahm ſeinen Lauf, es beanſpruchte ſein Recht. Der Drang zur 
Taͤtigkeit fing an ſich zu regen. Ich mußte Ausdruck finden fuͤr meinen 
Schmerz, eine Form dafuͤr, zu ſagen wie ich leide. So entſtand auch 
ein Gedicht „Klage“, welches ich zum Schluſſe dieſes traurigſten Ka⸗ 
pitels meines Lebenslaufes hierher ſetzen will: 


Klage. 


Als Blumen du gepfluͤckt in der Wieſe am Waldrande 
Und deine ſchoͤnen Haͤnde kaum faßten den Feldſtrauß, 
Da kehrteſt du leuchtenden Auges zu mir zuruͤck; 

Liebe ſtrahlt aus deinen Blicken, du Sonnenkind, 
Geworden im Zauber des Jahres, wie deine Blumen. 


Flora ſtand vor mir, die ſtrahlende Goͤttin, 

Sie feste am ſchatt' gen Waldrand zur Seite ſich mir, 
Durch Ordnen der Blumen farbige Pracht noch zu erhoͤhen. 
Mein warſt du, Sonnige, mein deine Blumen, 

Die Schoͤnheit des Jahres, die Welt war mein, 

Ein Koͤnigsgefuͤhl durfte die Seele mir fuͤllen, 

Da du zur Seite mir gingſt: 

Ein menſchgewordener Sonnenſtrahl. 


104 


Unfere Tochter Ella 1888 


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Und nun — 

Ein Bettler, ſitz ih am Waldrand, 

Das zitternde Blumenfeld verſchwimmt meinen Augen 
Zu feucht truͤbem Grau — 

Ein Totenfeld meines begrabenen Gluͤckes. 

O Einſamkeit! 


20 


Ks lag ich meiner Lehrtätigkeit an der Akademie ob. Ich hatte ſehr 
talentvolle Schuͤler. Nennen will ich ſie nicht — ich bin aͤngſtlich. 
Denn bei der Empfindſamkeit, die unter Kuͤnſtlern herrſcht, ſteht es 
wohl dem Schüler zu, feinen Meiſter zu nennen, — aber es duͤrfte manch; 
mal unangenehm beruͤhren, wenn der Lehrer von dem und jenem ſagt, 
er war mein Schuͤler. Denn Kuͤnſtler werden geboren zum Unterſchied 
von Gelehrten, die nach dem Sprichwort nicht vom Himmel fallen. 
Ich habe auch gefunden, daß gerade das Profeſſorſein gelernt oder geuͤbt 
ſein muß, und ich wurde erſt mit ſechzig Jahren Akademieprofeſſor. 
Mein Eifer als Lehrer den Schuͤlern zu nuͤtzen war groß, vielleicht 
aber ungeduldig, ſo daß manche Mißverſtaͤndniſſe entſtehen mußten. 
Doch aber meine ich, daß mein Einfluß im ganzen ſich ſpaͤter doch als 
guter erwieſen hat und bei einigen doch guten Grund gelegt haben 
koͤnnte. 

Die Sorge um die Galerie nahm meine Taͤtigkeit auch ſehr in An; 
ſpruch, und ich konnte manche guten Bilder der Sammlung einfuͤgen. 
So wurden die Tauberbiſchofsheimer Altarbilder von Gruͤnewald 
gleich im Anfang meines Amtes von der Großherzoglichen Kunſthalle 
angekauft, und dieſe Erwerbung freute mich um fo mehr, da ich dieſe Bilder 
ſchon bei meinem Muͤnchener Aufenthalt kennen lernte in ihrer 
wechſelvollen Geſchichte. Ich freute mich beſonders an den altdeutſchen 
Bildern, die ſchon beim erſten Karlsruher Aufenthalt meine Lieblinge 
waren. Sie waren in ſehr verwahrloſtem Zuſtand in einem Korridor 
der Galerie aufgehaͤngt. Ich konnte ſie ſpaͤter bei dem Anbau an die 
Galerie zuſammen und in beſſerm Lichte unterbringen. Gruͤndliche 


105 


Reſtaurierung war nöfig, wenn fie der Zukunft erhalten bleiben foll; 
ten als Wahrzeichen deutſcher Kunſt. Es wurden auch bemerkenswerte 
neuere Bilder in die Galerie aufgenommen, teilweiſe durch Ankauf, 
teilweiſe durch meine Schenkung, ſo z. B. von Scholderer, Courbet, 
Burnitz, Ludwig, Leibl, Boͤhle, Steinhauſen, abgeſehen von Bildern 
Karlsruher Kuͤnſtler. Es war eine ziemlich angeſtrengte Taͤtigkeit, die 
mich das Gefuͤhl des heranſchleichenden Alters weniger empfinden ließ. 

Mein hoher Landesfürft wuͤrdigte mich eines vertrautern Verhaͤlt⸗ 
niſſes, das ſich wohl auch mit auf eine annaͤhernde Altersgleichheit 
gruͤndete. So konnte ich dem Fuͤrſten in einer traulichen Stunde des 
Beiſammenſeins auch von den vielen Plaͤnen ſagen, die ich fuͤr Bilder 
gehabt habe und noch haͤtte. So z. B. haͤtte ich gerne in fruͤherer Zeit 
ſchon vorgehabt, einen Bilderzyklus aus dem Chriſtusleben zu malen, 
aber ich haͤtte nirgends Waͤnde dafuͤr gefunden und ſo ſeien in kleinerem 
Format manche Bilder unter dieſem Plane entſtanden. So z. B. 
Chriſtus und Nicodemus, die Samariterin, Flucht nach Agypten, 
Verſuchung und andre, die aber als einzelne Bilder keinen Zuſammen⸗ 
hang gehabt hätten und als Staffeleibilder zerſtreut worden ſeien. Da 
ſagte der Guͤtige, es klang faſt wie ſcherzhaft: „Waͤnde koͤnnte man 
doch dafuͤr ſchaffen!“ Nun war der alte faſt vergeſſene Plan wieder 
aufgeweckt, er wurde um ſo greifbarer, da inzwiſchen die fuͤr die Peters⸗ 
kirche in Heidelberg beſtimmten zwei Altarbilder an ihre Stelle ge; 
kommen waren. 

Da ich aber ſchon 65 Jahre geworden, fo war ich zaghaft und traute 
mir kaum mehr zu, eine ſolche Arbeit noch zu unternehmen. Doch 
machte ich einen Entwurf zu einem Weihnachtstriptichon, welches ich 
den hohen Herrſchaften zeigen konnte. Großherzogin Luiſe ließ die Ar⸗ 
beit vergrößert, als Weihnachtstransparent, von Suͤs ausführen und 
es wurde bei Weihnachtsfeiern in Schulen und auch einmal im Rat⸗ 
hausſaal aufgeſtellt. 

Im Auguſt 1905 lud mich der Großherzog nach St. Moritz ein, wo 
ich das Gluͤck hatte, auf Ausfahrten, auf Spaziergaͤngen, bei Tiſch uſw. 
dieſe hochſtehenden edeln Menſchen ſo recht in ihrem grundguͤtigen 
Weſen kennen zu lernen. Dieſe Ausfahrten in der großartigen Natur, 
ſo einmal ins Unterengadin auf einer Tagestour, dann nach Pont⸗ 


106 


reſina, an die Seen, bei Mariaͤ Sils, wo im Walde der Tee bereitet 
wurde, bleiben mir unvergeßlich. Dort bei der Überfahrt uͤber den See 
und im Walde fielen mir das erſtemal zwei ſtarke Männer in Zivil; 
anzuͤgen auf, die ich ſchon anderswo in der Naͤhe bemerkt hatte. Die 
Großherzogin ſagte mir, das ſei die Bewachung, welche die Schweizer 
Regierung zum Schutze der hohen Herrſchaften angeordnet habe. Bei 
einem ſchweren Gewitter ſtanden Seine Koͤnigliche Hoheit und ich an 
dem Fenſter des Gaſthauſes in Maloja. Wir ſahen hinunter in das 
ſo ſteil unter uns liegende Bergell, ſahen auf der ſich heraufwindenden 
Landſtraße den winzig klein erſcheinenden Poſtwagen. Aber wie aus 
einem Hoͤllenkeſſel wallten die Nebel an den Felſenwaͤnden auf und 
nieder, waͤhrend Blitze uͤber uns zuckten und weithallender Donner 
uͤber das Gebirge hinrollte. Ein ſolcher großer Natureindruck gemein⸗ 
ſchaftlichen Genießens und Betrachtens verbindet mehr, als es noch ſo 
ausdruͤckliche Geſpraͤche vermoͤgen. Es ſind Eindruͤcke, vor denen auch 
die Sprache verſtummen muß. 

Zu St. Moritz war es, als der Großherzog, nachdem er mich faſt 
bedeutungsvoll anſah, ſagte: „Wenn wir Weißbaͤrte noch etwas 
machen wollen, ſo meine ich, daß es hohe geit iſt.“ Ich verſtand den 
Wink und geſtand, daß ich in einer Art von Verzagtheit kaum den 
Mut habe, die Sache zu unternehmen in Furcht, wenn der Bau ge⸗ 
macht ſei, ich die Kraft nicht mehr haben koͤnnte, die Sache fertig zu 
machen. Ich machte nun den Vorſchlag, daß ich zuerſt den Bilderzyklus 
fertigmachen wolle und daß dann erſt ein Bau dafuͤr gemacht werden 
ſolle, nur fo koͤnne ich in Ruhe arbeiten, ohne den Druck nichterfuͤllbarer 
Verpflichtungen auf mir zu fuͤhlen. So geſchah es auch, ich fing die 
Malerei auf Grund und in den Maßen des Weihnachts transparentes an 
und hatte am Ende des Jahres 1908 die Chriſtusbilder fertig, ebenſo die 
Kalenderwand mit den Monatsbildern und den Jahresregenten, fo daß 
das Ganze unter dem Begriff eines Feſtkalenders ſich zuſammenfaſſen 
laſſen konnte. Der hochſelige Großherzog ſah die fertigen Bilder nicht 
mehr. Aber Seine Koͤnigliche Hoheit Friedrich II. ließ einen Anbau an 
die Galerie errichten mit einem Anbau fuͤr die Chriſtusbilder. In zwei 
Zimmern des untern Raumes konnten eine größere Anzahl von Bil; 
dern von mir untergebracht werden, die zum Teil ſchon der Galerie 


107 


gehörten, zum größten Teil aber aus einer Schenkung beſtehen, welche 
ich aus noch in meinem Beſitz befindlichen Bildern dem badiſchen Hof 
zum Schutze uͤbergeben durfte. Auch Freunde von mir ſchenkten in 
gleicher Weiſe Bilder; ſo Eduard Kuͤchler das Portraͤt meiner Frau 
als Gaͤrtnerin. Die Graͤfin Erdoͤdy ſchenkte ein Paradies, die Nornen 
und das Seeweib. Mein Selbſtportraͤt mit Amor und Tod hat mir 
der Maler L. Eyſen, dem ich es geſchenkt hatte, teſtamentariſch zuruͤck⸗ 
vermacht, ſo daß ich es hier unterbringen konnte. 

An meinem 70. Geburtstage 1909 war die Eroͤffnung dieſes Thoma⸗ 
Muſeums. Es war eine große Feier mit Beteiligung der hohen Herr⸗ 
ſchaften, der Staats, und Stadtbeamten, Deputationen der hieſigen 
und auswaͤrtiger Akademien und Kuͤnſtlervereinigungen. Zu Tiſch war 
die ganze Geſellſchaft der Feſtgaͤſte ins Schloß geladen. Am Abend 
war ein Feſtakt im Muſeum und weitere Ehrungen fuͤr mich. Der 
Großherzog hatte mir das Großkreuz des Zaͤhringer Loͤwenordens 
verliehen, vom Großherzog von Heſſen erhielt ich das Großkreuz des 
Philippordens. Im Muſeum wurde ein mit Hilfe vom Hoftheater 
und vom Verein bildender Kuͤnſtler von Albert Geiger verfaßtes Feſt⸗ 
ſpiel mit Anklaͤngen an Bilder von mir aufgefuͤhrt. Ehrendiplom und 
eine Kaſſette mit Zuſchriften wurden mir uͤberreicht uſw. Tags darauf, 
am Sonntag, war im Stadtgarten gemeinſchaftliches Mittageſſen der 
Freunde von nah und fern. Am Abend war eine allgemeine Feier in 
der Stadthalle mit Auffuͤhrungen. Die Kinder der Duncanſchule in 
Darmſtadt waren hergekommen und fuͤhrten ihre ſchoͤnen Taͤnze auf. 
Es wurden Reden gehalten. Eine Militaͤrkapelle ſpielte, die ganze 
Halle war gefuͤllt. Es war eigentlich erdruͤckend fuͤr mich aber ich hielt 
ſtand und uͤberwand meine Schuͤchternheit und hielt vom Podium 
aus, unvorbereitet, eine gar nicht kurze Anſprache an das feſtgaͤſte⸗ 
volle Haus. In einem gedruckten Feſtbericht iſt die Rede aufgenommen. 

Daß ich noch einmal oͤffentliche Reden halten wuͤrde, haͤtte ich auch 
nie geglaubt. So hatte ich ein paar Jahre vorher ſchon, veranlaßt durch 
den Verband der Kunſtfreunde in den Laͤndern am Rhein, bei deſſen 
Ausſtellung in Köln 1907 die Eroͤffnungsrede zu halten. 

Aber es waren eben doch die Tage der Vereinſamung gekommen, 
und da die Suͤddeutſchen Monatshefte, deren Herausgeber H. Coß⸗ 


108 


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. 20 


mann ich von Frankfurt her ſchon kannte, mich veranlaßten fuͤr ſein Blatt 
dann und wann einen ſchriftlichen Beitrag zu liefern, ſo entſtand 
aus dieſen in ſtillen Stunden entſtandenen Aufſaͤtzen und Reden uſw. 
ſpaͤter ein Buch im Verlag der Suͤddeutſchen Monatshefte unter dem 
Titel: „Im Herbſte des Lebens geſammelte Erinnerungen“, das ziem⸗ 
lich freundliche Aufnahme gefunden hat. Auch wurde auf meine Ver⸗ 
anlaſſung eine Neuherausgabe von Duͤrers „Unterweiſung der 
Meſſung“, bearbeitet von meinem jungen fruͤh verſtorbenen Freund 
Alfred Pelzer vom gleichen Verlag herausgegeben. Bei uns im Hauſe 
wurde es noch einſamer, da unſre Tochter Ella ſich mit Friedrich Blaue 
verheiratet hatte — ſo waren Agathe und ich recht allein in der Woh—⸗ 
nung. 

Aber ich hatte gar nicht viel Zeit allein zu ſein. Der Großherzog hatte 
mich zu meiner großen Überraſchung im Jahre 1907 in die erſte ba; 
diſche Staͤndekammer berufen, welcher ich ſeitdem als Mitglied an⸗ 
gehoͤre. Da ich dieſe Ernennung als Wunſch meines Landesfuͤrſten 
anſah und annahm, ſagte ich mir und andern, daß ich mir wohl be⸗ 
wußt ſei, daß ich kein geſetzkundiger Politiker ſei und daß meine Be⸗ 
rufung doch als Vertretung der Kunſt in dieſem hohen Hauſe 
aufzufaſſen ſei, ſo werde es mir gelingen mit Ehren zu beſtehen. Ich 
kam auch bei jeder Landtagsperiode immer ein⸗ oder zweimal zum 
Reden, dabei ließ ich mich nur auf Fragen ein, in denen auch ein 
Kuͤnſtler mitſprechen kann. So z. B. uͤber Naturſchutz, uͤber Vogel⸗ 
ſchutz, auch uͤber die jaͤhrlich wiederkehrenden Kunſtakademie⸗ und 
Galeriefragen, uͤber Zeichenunterricht, auch einmal uͤber die Sittlich⸗ 
keitsfragen, inſoweit ſie die Kunſt beruͤhren. Ich nahm an allen Ver⸗ 
handlungen lebhaften Anteil und ſo darf ich mich wohl ein guter 
Zuhoͤrer nennen. Einmal uͤber eine Petition in Gartenſtadtangelegen⸗ 
heiten war ich ſogar Berichterſtatter. In meiner kuͤnſtleriſchen Taͤtigkeit 
herrſchte ruhiger Fleiß und es entſtanden recht viele Bilder. Auch habe 
ich viele Radierungen gemacht, uͤber welche der treue Freund Beringer 
wie auch uͤber meine andern graphiſchen Arbeiten ein Verzeichnis 
herausgegeben hat. In dem kleinen Marxzeller Haͤuschen, welches ich 
einem Forſtmann abgekauft hatte, machte ich recht oft Radierungen. 

Fuͤr die Bernauer Kirche malte ich zwei Seitenaltarbilder, eine Maria 


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über dem Tal ſchwebend am Morgen von Vögeln begrüßt, und Jo— 
hannes den Täufer, der auf den herankommenden Jeſus zeigt. An; 
regung zu dieſem Marienbild gab mir ein Gedicht von Franzis Gruͤn. 

Als ich im Jahre 1859 in die Kunſtſchule kam, ſagten meine Ber— 
nauer Kameraden: „Du mußt uns einmal Bilder malen fuͤr unſre 
Kirche!“ Ich, in dem Gefühl, das hat lange Zeit, ſagte bereitwillig ja, 
ich mal euch einmal was. Bei ſpaͤtern Beſuchen in Bernau wurde ich 
oͤfters daran erinnert, was ich verſprochen haͤtte. Ich wich aus, und ſo 
kam ich nicht dazu, mein Verſprechen zu erfuͤllen. Daruͤber wurde ich 
alt und dachte, die Sache ſei laͤngſt vergeſſen. Doch als ich im Sommer 
1910 wieder einmal in Bernau war, erinnerte der Buͤrgermeiſter 
Maier wieder daran und der Pfarrer Joos ſtimmte lebhaft bei. Ich 
ſchuͤtzte mein Alter vor und daß ich, mit allerlei Arbeitsverpflichtungen 
uͤberhaͤuft, nicht mehr dazu kommen wuͤrde die Bilder zu malen. Doch 
der Buͤrgermeiſter ſpielte noch ſeinen letzten Trumpf aus, indem er 
ſagte: „Es kommen jetzt immer ſo viel fremde Beſucher nach Bernau, 
wenn die im Adler Mittag gemacht haben, ſo ſagen ſie, jetzt wollen wir 
in die Kirche hinuͤber und die Bilder vom Hans Thoma anſehen. 
Denn es wird angenommen, daß die vorhandenen Bilder von Ihnen 
gemalt ſeien, und die Bilder, die da haͤngen, ſind ja nicht ſo beſonders 
gut. Dieſe falſche Meinung ſollten Sie ſich nicht gefallen laſſen und 
uns jetzt ein paar Bilder malen.“ Das zog. Und ich machte mich in 
Karlsruhe dann gleich daran, nicht ohne eine gewiſſe Freude, daß mir 
vergoͤnnt war ein Verſprechen, welches ich im Jahre 1859 gegeben 
hatte, im Jahre 1912 noch einzuloͤſen. 

Einige Aufzeichnungen, die ich noch auffinde, erleichtern mir das 
Erzählen über die Zeit, wie und wo ich mich nach meinem ſiebzigſten 
Jahre herumgetrieben habe. Nachdem ich im Winter 1910 eine ziem⸗ 
lich ſchwere Erkrankung uͤberſtanden hatte, meinte mein Arzt, daß ich 
eine Gegend aufſuchen ſollte, wo ich in guter Waldluft Spaziergaͤnge 
auf ebenem Boden machen koͤnne. Dies fanden Agathe und ich im 
Waldhotel bei Villingen, wo ſich alles dies erfuͤllen ließ. Stundenlange 
Spaziergaͤnge kann man durch wuͤrzigen Tannwald gehen, und ich 
ſpuͤrte, wie wohl mir die friſche reine Luft tat. Wir machten auch oͤfters 
Wagenfahrten. Villingen iſt eine ſchoͤne alte Stadt mit ſchoͤnen Haͤu⸗ 


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fern mit gemuͤtlichen Erkern und breiten Straßen; auch beſitzt es eine 
recht intereſſante Altertums-Volkskunſtſammlung. Bei den naiv treuen 
Portraͤten, die dort haͤngen, fiel mir meine ganze Uhrenſchildmalerzeit 
ein. Ich geſtand es gerne ein, daß ich aus dieſer einfachen Volkskunſt 
meinen Urſprung genommen und freute mich, daß ich dieſen Urſprung 
auch heute noch nicht verloren habe. 

In dem wunderbar heißen Sommer 1911 waren wir und auch die 
Familie Blaue mit den zwei Kindern im Bad Duͤrrheim. Es war mir 
von jeher am wohlſten bei der Sommerhitze, und ſo war ich hier 
wochenlang recht in meinem Element. Als alter Mann iſt man ſich 
ſeines Rechtes, auf ſonnigen Plaͤtzen herumzulungern, gar ſehr bewußt, 
gern moͤchte man ſich ledig aller Pflicht betrachten. Man iſt doch nur 
zum Lebensdienſt verpflichtet bis zum ſiebzigſten Jahr, man moͤchte 
ſich auch das Denken abgewoͤhnen, ohne daß man dadurch Schaden 
anzurichten fuͤrchtet. Man ſetzt ſich in fo warmen Sommertagen gleich 
nach dem Fruͤhſtuͤck auf eine Bank, breitet eine Zeitung aus, groß 
genug ſich dahinter zu verſtecken, ſo daß jeder der etwa auch nach 
dieſer Bank ſtrebt, ſchon von weitem ſieht, daß ſie beſetzt iſt. Iſt ein 
Herankommender neugierig, ſo kann er aus dem Titel der Zeitung 
ſchon erſehen, welcher Partei der Zeitungsleſer angehoͤrt. Nach Partei 
und Konfeſſion wird gar viel geforſcht. Was man in der Zeitung lieft, 
bei ſo herrlichem Sommerwetter vergißt man es ſehr bald und wenn 
es ſogar Kriegsgeſchrei iſt von einem tuͤckiſchen Feindesuͤberfall. Man 
will es nicht glauben, daß die Voͤlker — „Platz fuͤr alle hat die Erde“ — 
ſo verruͤckt ſind, einander die Gurgel abſchneiden zu wollen um nichts 
und wieder nichts, ja noch um weniger als nichts; um ſchnoͤde Hab: 
gier. Man kann es beſonders in Duͤrrheim nicht glauben, welches eine 
Art von Kinderparadies iſt. Die Geſundheit vieler Kinder ſoll durch 
Salz wieder hergeſtellt und bewahrt werden fuͤr den boͤſen Winter mit 
ſeiner Schulzeit. Das Salz wird hier aus der Erde gepumpt, getrock— 
net, in Saͤcke gefuͤllt, ſteueramtlich gewogen, mit Bleiſi egel verſehen 
und dann in die Welt verſchickt. 

Im Kurgarten wurde von einer Schauſpielergeſellſchaft das Gloͤck— 
lein des Eremiten geſpielt. Freilichttheater hieß man es. Daß die Nacht; 
ſzene im blendenden Sonnenlicht geſpielt wurde, ſtoͤrte weiter nicht; 


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auch das ſtoͤrte nicht, daß ein aufgebrachtes Huͤndlein einem der ſpielen⸗ 
den Helden an die Waden ſpringen wollte, ſo daß er heftig abwehren 
mußte. 

Wunderbar bei dieſem luftklaren Wetter waren hier auf dem Hoch⸗ 
gebiete der Baar die Sternennaͤchte. Als ich einmal um Mitternacht 
auf den Balkon hinaustrat, bin ich faſt erſchrocken uͤber dieſe Pracht, 
die Sterne von gleicher Klarheit vom Zenit bis an den Horizont, jeder 
Stern glaͤnzend und groß. Sie ſchienen ſo nah, daß ich das Gefuͤhl 
hatte, ich ſtuͤnde mitten unter ihnen, zwiſchen ihnen, ganz mutter⸗ 
ſeelenallein. Ich konnte mir dies erhabene Schauſpiel ſolcher Sternen⸗ 
pracht noch manchmal auf dem freien Felde verſchaffen. Die Trocken⸗ 
heit war groß, man jammerte und hoffte immer auf Regen, wenn 
aber Wolken ſich bildeten, ſo ſtanden ſie hochgetuͤrmt, weißgeballt im 
reinen Atherblau, welches ſie in kurzer Zeit aufzehrte. 

Das Hochgebiet, in dem die Donau ſich bildet, wie auch etwas ſuͤd⸗ 
lich der Neckar, iſt in ſeiner Weite und Einfachheit gar ſchoͤn. Die Baͤche 
troddeln ſo durch das Gelaͤnde oſtwaͤrts und auch von da an, wo ſie 
ſich zur Donau vereinigt haben, ſind ſie gar nicht eilig. Die junge 
Donau ſcheint es noch gar nicht zu wiſſen, welchen weiten Lauf ſie zu 
gehen hat. Wie unentſchloſſen geht ſie dahin, und faſt koͤnnte man ſich 
denken, daß ſie es ſich bei Immendingen nochmals uͤberlegt haͤtte und 
gerne ins Rheingebiet abgeſchwenkt waͤre. So verſucht ſie es hehlings 
auf unterirdiſchen Wegen ihrem Bruder Rhein einen Gruß zuzu⸗ 
ſchicken, ehe ſie den ihr beſtimmten großen Gang antritt. Daß die 
Gewaͤſſer hier oben ſo traͤg nach Oſten gehen, das kommt wohl daher, 
daß ganz nahe dahinter, wo ſie hervorquellen, ihre Bruderbaͤche in 
maͤchtigen Spruͤngen z. B. bei Triberg in tiefe Taͤler dem Rheingebiet 
entgegenſtuͤrzen. Die Hauptſtadt der Baar, Donaueſchingen, iſt nach 
einem Brande gar ſchoͤn wieder aufgebaut, freundlich und einladend 
zum wohnen. Im September dieſes ſchoͤnen Sommers kam ich auch 
nach St. Blaſien, dem jetzt ſo lebhaften Kurorte. Als ich jung war, war 
es ein gar ſtiller Ort und ſeine gewaltige Kirchenkuppel ſtand ſozuſagen 
im Walde, es war damals ſchoͤner und die Kirche zeugte von einer 
großen Vergangenheit. Die notwendig gewordenen Villen und Frem⸗ 
denpenſionshaͤuſer, die unharmoniſch herumſtehen, verſchoͤnen das 


112 


Selbſtbildnis in Cronberg 1899 


Bild nicht. Das iſt freilich in allen hochgekommenen neuen Badeorten 
der Fall. 

Ich ging auch in mein Bernauer Tal und fand es gar ſchoͤn in ſeiner 
goldnen Septemberſonnenklarheit. Die von der anhaltenden Hitze ver; 
dorrten Berghalden waren wie aus Bronze gegoſſen, und auf dem 
Ruͤcken des Herzogenhornes war ein richtiges Glanzlicht, wie es auf 
Metall entſteht. So waren auch die Gliederungen der Taͤlchen, durch 
welche die Wieſenbaͤchlein fließen, von groͤßter Deutlichkeit der Mo— 
dellierung. Darüber ſtrahlte der Himmel in blaueſter Klarheit. Ein 
geradezu paradiefiicher Vormittag, wie ich ihn mir eigentlich nur in 
Bernau denken kann, war es, als ich und Maler Haueiſen, der gar 
oft in Bernau weilte, in dem Tannenwaͤldchen waren, durch welches 
der braune Forellenbach rieſelt. Wir empfanden die feierliche Stille 
des Augenblicks, daß wir uns nur ſtumm anſehen konnten. 

Als ich nach Bernau ging, lag ein etwas aͤngſtliches Gefuͤhl auf mir, 
ob ich in meinem Alter noch einmal die Staͤtte meiner Jugend be— 
ſuchen duͤrfe. Denn der Jugendtraum kann einem da wie ein Geſpenſt 
vor die Seele kommen. Man koͤnnte erſchrecken und fragen: „Habe 
ich denn die gleiche Seele noch wie damals?“ Dies beaͤngſtigende 
Gefuͤhl verſchwand aber, und ich fuͤhlte bald wieder den Zuſammen— 
hang mit meiner Jugend. Es waren Ewigkeitseindruͤcke, die mich um; 
ſchwebten. Die blaue Unendlichkeit im Sonnenlicht, in Raumklar⸗ 
heit verſcheuchte alle Nachtgeſpenſter, und meine Seele war wieder 
unſterblich. 

Schoͤn ſind die braunen Holzhaͤuſer, deren Schindeldaͤcher wie Silber⸗ 
ſchimmer aus dem Wieſengruͤn leuchten. Dies Jahr waren beſonders 
ſchoͤn die großen Vogelbeerbaͤume an den Straßen hin und um die 
Haͤuſer herum, fo uͤppig habe ich die Scharlachbeeren noch nie geſehen. 
Dieſer Zuſammenklang von Scharlachrot, Blattgruͤn und tiefblauem 
Kriſtallhimmel war von maͤrchenhafter Pracht. Ein wenig gefreut hat 
es mich auch, daß ich einige der Vogelbeerbaͤume erkannte, die ich 
meinem Vater vor etwa 55 Jahren bei einem unſrer Acker habe ein; 
pflanzen helfen. Sind die aber groß geworden! 

Agathe und ich machten nun oͤfter kleine Reiſen. So kamen wir auch 
einmal nach Wildungen, Kaſſel, wo wir die beiden Schweſtern Kaͤthe 


8 Thoma, Im Winter des Lebens 113 


und Lullu Blaue beſuchten. Dann mit Frau Schumm zuſammen in 
Duͤſſeldorf, wo eine große Kunſtausſtellung war uſw. 

1903 waren wir mit der Familie Sattler in Schoͤnenberg bei Schoͤ⸗ 
nau ein paar Wochen zuſammen, ſahen vom Belchen aus eine un⸗ 
gewoͤhnlich ſchoͤne Alpenausſicht. Ein uns unbekannter Wanderer, 
der uns auf dem Berge begegnete, war ganz hingeriſſen und rief aus: 
„Das zu ſehen iſt eine Gnade von Gott. So wie heute ſieht man die 
Alpen vielleicht in dreißig Jahren nur einmal.“ So hatte ich ſie noch 
nie geſehen in ſolcher Klarheit und deutlichen Plaſtik, ſo oft ich ſie auch 
ſchon von Kindheit angeſehen hatte. Alb. Lang und Suͤs kamen auch; 
auch die Familie Kuͤchler beſuchte uns dort. 

Im Sommer ıgos wohnten wir mit Blaues in dem Schloͤßchen, 
welches zum Kloſter Frauenalb gehoͤrte. Das Albtal wurde uns ver⸗ 
traut, und das Jahr darauf kaufte ich das kleine Waldhaͤuschen in 
Marxzell, wo wir dann bis jetzt faſt jeden Sommer ein paar Wochen 
zubrachten, um auszuruhen, d. h. ich habe gerade hier immer ſo ganz 
für mich gearbeitet, und bei dem beſchraͤnkten Raum konnte ich nicht 
viel andres machen als radieren — aber es entſtanden auch ein paar 
große Bilder von unſerm Garten aus geſehen. 

Eine laͤngere Schweizerreiſe mit Blaues machten wir auch wieder 
in dieſen Jahren; uͤber Luzern, Vierwaldſtaͤtter See, Rigi, Pilatus, 
von wo ich ein Bild malte, zu welchem mir der Pilatus in ſeinem Nebel⸗ 
mantel etwa 10 Minuten Zeit fuͤr eine Zeichnung von ihm gewaͤhrte. 
Dann fuhren wir uͤber den Bruͤnig nach Interlaken und Wangen. 
Das großartige Lauterbrunnertal erregte mich ſehr. Faſt ſcherzhaft 
ſagte ich zu Agathe in dem Orte Wangen: „Jetzt wuͤnſche ich nur, daß 
unſer Freund Profeſſor Gerland aus Straßburg hier waͤre, vielleicht 
koͤnnte ich von ihm, dem Geologen, erklaͤrt bekommen, wie die Welt 
gemacht worden iſt.“ Kaum hatte ich dies ausgeſprochen, ſo kam aus 
einem der Haͤuſer eine Dame auf uns zu, und wahrhaftig, es war Fraͤu⸗ 
lein Gerland, die Tochter des Geologen. Wir waren gegenſeitig freu⸗ 
dig uͤberraſcht, und fie ſagte, daß fie ſeit geſtern mit ihrem Vater hier 
wohne. Der kam nun auch gleich dazu. Wir machten nun in den naͤch⸗ 
ſten Tagen ſehr anregende Spaziergaͤnge in dieſer großartigen Welt. 
Es war gar ſchoͤn, mit einem ſo lieben Menſchen, der ein ſo großer 


114 


Gelehrter ift, in gemeinſamer Ergriffenheit vor den Weltwundern zu 
ſtehen. Freilich wie die Erde gebaut worden ſei, weiß ich immer noch 
nicht, ſo ſehr ich auch ein Frager war. Aber ich habe es ſchon oͤfters 
im Leben erfahren, gemeinſames Schauen, gemeinſames Empfinden 
verbindet die Seelen zu dem, was wir im hoͤchſten Sinne Freundſchaft 
nennen, mehr als alle Eroͤrterungen jemals tun koͤnnen, ja wo wir 
das Gefuͤhl dieſer Seelengemeinſchaft haben, ſcheut man ſich, ſie durch 
Wortbegriffe zu ſtoͤren. Merkwuͤrdigerweiſe weiß man auch gegenſeitig 
dieſe bereinſtimmung, ohne daß man es einander ſagt. Leider emp⸗ 
findet man es auch ſehr ſtark, vielleicht bis zur Ungerechtigkeit, wenn 
man mit einer widerborſtigen Seele zuſammentrifft. Je weniger bei 
ſolchem Einklang Begehrlichkeiten irgendwelcher Art mitſprechen, deſto 
reiner kann das Gefuͤhl der Freundſchaft ſich entwickeln. Dieſes Einig⸗ 
keitsgefuͤhl iſt wohl in der Jugend am haͤufigſten. Im Mannesalter iſt 
es am ſtaͤrkſten wirkſam. Findet es im einſamen Greiſenalter noch 
ſtatt, ſo kann es den Charakter von etwas Heiligem annehmen, denn 
es iſt durch alle Lebensſtufen ein deutlich geiſtiges Element. Wir ſuchen 
ja mit heißem Bemuͤhen nach dieſer Seelenuͤbereinſtimmung, ja wir 
reißen uns gar oft gegenſeitig unfre Meinung, unſer Denkſyſtem 
herunter, um uns ſeeliſch naͤherzukommen. Vielleicht koͤnnte man alle 
Konflikte des Weltgeſchehens zuruͤckfuͤhren und erklaͤren aus dem Be⸗ 
ſtreben nach Denkuͤbereinſtimmung, nach einer Einheit, unter der ſich 
die Menſchheit verſtehen kann, unter der ſie ſich naheſtehen kann, unter 
der ſie ſich verbinden kann. So koͤnnte man denken, daß der heutige 
Voͤlkerkrieg wohl zwar kein Konfeſſionsſtreit, wohl aber ein tiefgruͤndig 
unbewußter Religionsſtreit iſt, hervorgegangen aus dem allzu heftigen 
Willen nach Verſtaͤndigung, hervorgegangen aus den geheimen Tiefen 
der Menſchheit, die der Menſch ſelten erkennt. 

Im Sommer 1906 waren wir ein paar Wochen in Neuſtadt, be; 
ſuchten das Donautal, waren in Beuron. Im Buche: „Im Herbſte 
des Lebens“ ſteht ein Aufſatz uͤber dieſe Sommerfriſche. Je naͤher ich 
in dieſem Lebenslaufſchreiben der Jetztzeit komme, deſto mehr muß ich 
Betrachtungen allgemeiner Art anſtellen. Dieſelben gehoͤren aber auch 
dazu, um mein Lebensbild zu vervollſtaͤndigen. Ich fuͤge ſie dort ein, 
wo ich keinen rechten Abſtand von zu nahe liegenden Geſchehniſſen habe, 


= IIS 


wo ich nicht mehr die Überſicht habe, daß ich über fie berichten darf. 
Denn beim hoͤhern Alter hat man eine gewiſſe Scheu vor Begeben— 
heiten, man fuͤrchtet aufgeſcheucht zu werden. Es mag wohl ſo ziemlich 
richtig ſein, daß man ſich in juͤngern Jahren, ſage ich einmal vor dem 
ſiebzigſten Jahre, vor dem Tode fuͤrchtet, aber im hohen Alter bekommt 
man mehr Angſt vor all den Dingen, welche das Leben noch uͤber uns 
verhaͤngt. Dem Leben gegenuͤber iſt man verzagt. Die Worte aus dem 
Johannesevangelium fühlt man ſtark: „In der Welt habt ihr Angſt“, 
und nur noch der beigefuͤgte Ausſpruch „Aber ſeid getroſt, ich habe 
die Welt uͤberwunden“ kann die glaubende Seele mit Hoffnung er⸗ 
fuͤllen. 

So moͤgen hier als Zwiſchenlage zwiſchen den Ereigniſſen folgende 
Gedanken ihre Stelle finden. 

Alles Allzuviel im Guten wie im Boͤſen kann den aufrechten, wahr⸗ 
haftigen Menſchen aus dem ſo notwendigen Gleichgewicht bringen. 
Allzuviel Guͤte und Barmherzigkeit, allzuviel Wahrhaftigkeit und Ge⸗ 
rechtigkeit, allzuviel Demut und Gefuͤgigkeit, allzuviel Treue und 
Tapferkeit wirken zerſtoͤrend, wenn ſie maßlos walten. Wir Menſchen 
haben gar enge Schranken, die wir nicht ausſchweifend uͤberſchreiten 
duͤrfen. Das bißchen freier Wille, der uns gegeben iſt, macht, daß wir 
zu meſſenden Weſen geworden ſind, daß wir gezwungen ſind, Maß zu 
halten, wenn wir nicht in dem engen uns geſtatteten Raum auf allen 
Seiten anſtoßen wollen. Wir muͤſſen von allen Grenzen die Mitte 
kennenlernen, damit wir bei Fehlgriffen immer wieder in ihr Halt 
finden. Die vielgeſchmaͤhte „Mittelmaͤßigkeit“ iſt vielleicht doch der 
Menſchheit notwendig, ſie haͤlt ihren Stand im Gleichgewicht. Kraft⸗ 
aͤußerungen im Guten und im Boͤſen fuͤhren zu Kampf und Krieg. 
Und wo Tugenden oder Laſter uͤber die Straͤnge ſchlagen, entſteht 
Zwieſpalt, Zweifel und Zerſtoͤrung. 

So treiben wir uns mit unſern Meßinſtrumenten herum zwiſchen 
Leben und Tod, zwiſchen Fuͤrchten und Hoffen, zwiſchen Wahrheit und 
Luͤge, zwiſchen Freud und Leid, zwiſchen Wohl und Weh, zwiſchen 
Glauben und Zweifeln, zwiſchen Falſchheit und Treue, zwiſchen Hoch⸗ 
mut und Demut, zwiſchen Mut und Angſt, zwiſchen Trotz und Verzagt⸗ 
heit, zwiſchen Sattheit und Hunger, zwiſchen Geſundheit und Krankheit, 


116 


zwiſchen Luft und Schmerz, zwiſchen Liebe und Haß, zwiſchen Weisheit 
und Narrheit, zwiſchen all dieſen Gegenſaͤtzen, die in der Seele vorhanden 
ſind, damit das Geſchoͤpf Menſch erhalten bleibe, daß ſie aufrecht bleibe, 
die ſchwankende Geſtalt. Mit dieſem ſo reichen Material von Gegenſaͤtzen 
ſoll das Leben aufgebaut werden, und man ſollte denken, daß ein weiſe 
meſſender Meiſter einen harmoniſchen Bau aus ihnen herſtellen koͤnnte, 
ein Meiſter der uͤber ſein Material die Herrſchaft hat. Aber das iſt eine 
gar ſchwere Kunſt, ſie iſt vielleicht gar nicht zu erlernen. Wir moͤgen 
immer wieder vor unſerm Lebensbilde ſtehen und mit Katzenjammer 
ſehen, wie jo vieles davon verpatzt iſt. Es wäre oft zum Verzweifeln, 
wenn nicht der goͤttliche Leichtſinn uͤber uns kaͤme, den wir Vertrauen 
nennen, mit dem wir ſagen: „Lieber Gott ich kann nicht weiter, 
zimmere du mich ſo zurecht, wie du mich haben willſt, ich weiß es ja 
doch nicht, dein Wille geſchehe!“ 


21 


ach einer Schweizerreiſe, die ich mit Agathe im Jahre 1909 gemacht 

habe, iſt folgender Bericht entſtanden, den ich hier einfuͤge, obgleich 
derſelbe mit wenigen Abweichungen einmal in den Suͤddeutſchen Mo; 
natsheften erſchienen iſt: Von Sternen und Kindern. 

Es gibt wohl kaum ein groͤßeres Vergnuͤgen fuͤr einen Schriftſteller, 
als ſo vor einem weißen Bogen Papier zu ſitzen und im voraus zu 
vermuten, zu ahnen, was da alles auf dieſem Papierbogen an geiſtigem 
Gehalt vertintet wird. Die Feder iſt gefpannt, im Kopfe wirbelt und 
brodelt es, und nun kann er losſchießen, das uͤbrige wird ſich finden. 
Es wird aus Kopf und Feder fließen, nur nicht aͤngſtlich. Ein aͤhnliches 
Vergnuͤgen kennt wohl nur noch der Maler, wenn er vor einer reinen 
Tafel ſitzt und ſich im Geiſte vorſtellt, wie ſie wohl ausſehen wird, wenn 
er ſie mit ſeinen Flecken (ein verſtaͤrkter Ausdruck fuͤr Flaͤchen) bedeckt 
haben wird. Auch er fange unbedenklich an, er iſt doch ein Individuum, 
und da muͤſſen die Flecken feinem Weſen nach ſich geſtalten, alſo min; 
deſtens Originalflecken werden. Faſt kann er die Ungeduld feiner Paz 
lette, ſeiner Pinſel nicht beſchwichtigen, nach jedem Schmiß, den er 


117 


der reinen Tafel beigebracht, tritt er zuruͤck und ſieht, ob er gelungen 
iſt, und mißt, wohin der andre Schmiß zu tun iſt. 

Dies Vorſtellen und Vorahnen, wie das Ding werden wird und wie 
es auch auf den Urheber wirken wird, iſt uͤberhaupt eine der ſchoͤnſten 
Seiten an jeglichem Kunſtbetrieb, und gar manche Kraft wuͤrde an 
der Langeweile des Betriebes erlahmen, wenn nicht bei jedem neuen 
Papierbogen, bei jeder neuen Tafel ſich wieder dieſe unbeſtimmte 
ſchoͤne Vorahnung einſtellen wuͤrde von dem, was herauskommt. So 
ſitze auch ich wieder vor dieſem neuen Bogen, und ich kann es dem 
Leſer ſagen ganz vorausſetzungslos, ganz vorurteilslos, ganz wie ein 
nur mit der Feder bewaffnetes Medium, das darauf wartet, wie es 
beeinflußt wird. Ganz willen⸗ und abſichtslos, alles von der guten 
Stunde, von einer guͤnſtigen Konſtellation der Sterne erwaͤrtend. Die 
Planeten ſpielen gewiß ihre Rollen im Menſchenleben, und es iſt nicht 
einerlei, in welchen Haͤuſern des Himmelszeltes ſie ſich befinden, wenn 
dies und jenes im Menſchenleben ſich zutraͤgt, fuͤr das wir meiſt nur 
den plumpen Namen Zufall zur Hand haben. So iſt es gewiß nicht 
einerlei, ob Mars oder Jupiter mit Venus in Oppoſition oder Kon⸗ 
junktion ſteht, oder ob an Stelle des Mars der uralte Saturn tritt, 
wenn irgendwas ſeinen Urſprung nimmt. 

So moͤgen denn die Wandelſterne uͤber meinem Schreiben walten, 
ſie bewegen und aͤndern ſich fortwaͤhrend und unter ihrem Einfluß 
ſteht auch unſer Tun. 

Da ich bei meinen Schreibuͤbungen nie einen vorgefaßten Plan habe, 
und wenn ich jemals einen habe, ich ihn nie bis zum Ende feſthalten 
kann, ſondern, wie geſagt, abwarten muß wie es kommt, ſo moͤchte ich 
aus dieſem Grunde es ausſprechen, daß meine Schriftſtellerei gar wohl 
impreſſioniſtiſch genannt werden muͤßte, ſo daß ich auch dieſe Welt⸗ 
anſchauung, als welche den Impreſſionismus manche ſeiner An⸗ 
haͤnger erklaͤrt haben, wenn auch nicht in meiner Malerei, ſo doch in 
meiner Schreiberei mitmache. 

Man wird wohl ſchon laͤngſt gemerkt haben, daß es mir an einer 
Weltanſchauung fehlt, die mit mir durch dick und dünn geht; daher 
die vielen Widerſpruͤche, in die ich mich verwickle. Wie oft muß ich 
etwas zuruͤcknehmen, was ich fruͤher geſagt habe. Das paſſiert einem 


118 


mit einer feſten Weltanſchauung behafteten Menſchen nicht. Ein folcher 
zieht gerade Linien durch die bunten Schnoͤrkel des Lebens, durch die 
wechſelnden Geſtalten der Geſchichte und beweiſt, daß dieſelben in 
ſeiner Anſchauung zuſammentreffen. Er beweiſt es, indem er ſolche 
geraden Linien ſowohl vorwaͤrts wie ruͤckwaͤrts ziehen kann, wo es 
dann immer ſtimmt. 

Wie koͤnnte ich jemals irgend etwas beweiſen! Es laͤßt mir keine 
Ruhe, naͤmlich das Schreiben, obgleich ich geſagt habe, ich wolle es 
gewiß nicht wieder tun. Aber man kennt dies ja; wie oft von Kindheit 
an waren wir dazu gezwungen zu ſagen: „Ich will es gewiß nicht 
wieder tun.“ Und doch oft ſtellte es ſich heraus, daß es getan werden 
mußte, und wenn am Ende ein Vorwand ſich einſtellt, ſo kann es als 
Pflicht erſcheinen, das Geluͤbde: „Nicht wieder tun“ umzuſtoßen. Es 
kommt mir faſt vor, als ob ich der Öffentlichkeit noch etwas ſchuldig 
ſein moͤchte, und da ein anſtaͤndiger Menſch, bevor er abreiſt, ſo viel 
wie möglich feine Schulden abzahlt, und weil ich gerade ein wenig 
Sommerruhe genieße, ſo ſchreibe ich halt jetzt wieder. 

Die Leſer haben es wohl ſchon ſelber gemerkt, daß es mit dem Kur; 
orte, von dem ich in den Suͤddeutſchen Monatsheften einmal berichtete, 
wo unſre Unruhe und Haſt ſich in friedlich ruhig gelaffenes Lächeln 
umwandeln koͤnnte, nur eine Vorſpiegelung war, die aus dem wohl— 
gemeinten Wunſch hervorgegangen iſt, ein Geflunker iſt, welches man 
mir verzeihen moͤge, weil es nicht in boͤſer Abſicht geſchehen iſt; zumal 
ſich eine Aktiengeſellſchaft fuͤr den neuen Kurort nicht gegruͤndet hat, 
alſo niemand materiellen Schaden erlitten hat. Das Suchen nach 
Frieden, nach Gluͤck iſt ja jedem Menſchen angeboren, jeder muß in 
eigner Weiſe nach ihm ſuchen, und dies Suchen nimmt oft recht merk⸗ 
wuͤrdige Formen an, noch merkwuͤrdigere als die, wie ich es aus— 
geſprochen habe. Es verſteigt ſich oft bis zu einer Heftigkeit, in der es 
in den groͤßten Unfrieden umſchlaͤgt, wo es dann fuͤr andre lebens⸗ 
gefaͤhrlich wird. 

Man meint in menſchlicher Kurzſichtigkeit oft, man wolle Gutes 
ſtiften, indem man einen in der Menſchenſeele lebenden Trieb, die Sehn⸗ 
ſucht nach Frieden anſpornen will, aber dies kann auch recht ins 
Gegenteil ausſchlagen. Drum iſt es beſſer, die Haͤnde wegzulaſſen von 


119 


einem fo komplizierten Raͤderwerk, das man doch nie fo ganz uͤberſieht 
und das wohl eigentlich nur der Uhrmacher regulieren kann, der auch 
den Lauf der Sterne geregelt hat und in ihrem Beſtande erhaͤlt. 

Inzwiſchen bin ich 70 Jahre alt geworden und muß die Erde bald 
verlaſſen, da kann ich ſowieſo nicht mehr viel dazu beitragen, daß die 
Zuſtaͤnde unter dem Menſchenvolke friedlicher werden koͤnnen, und ſo 
ſtelle ich mich gerne auf den Standpunkt: „Eines ſchickt ſich nicht fuͤr 
alle.“ „Sehejeder, wie er's treibe, ſehe jeder, wo er bleibe, und wer ſteht, 
daß er nicht falle.“ Das klingt freilich fuͤr manche recht egoiſtiſch, iſt es 
aber doch nicht, denn wenn man es umwandelt in: „Eines ſchickt ſich 
auch fuͤr alle.“ „Sehe jeder, wie's der andre treibe, ſehe jeder, wo der 
andre bleibe, und wer ſteht, daß der andre falle“, ſo iſt das doch 
ſchlimmer, wenn es auch etwas teilnehmender klingt. 

Fuͤr mich ſelber bleibt nicht viel mehr uͤbrig, als daß ich auf der Ofen⸗ 
bank ſitze und wohl noch zuſehe, wie's die andern treiben, aber nur zu⸗ 
ſehe, ja nicht dreinrede. Faſt will es mir ſcheinen, daß, wenn der Koͤrper 
nicht mehr ſo weit kommt wie in den jungen Jahren, wenn das kleine 
Berglein ſchon ein Hindernis wird, das man ſich nicht mehr zu nehmen 
traut, daß dann, bleibe ich einmal bei der Ofenbank, daß von dieſer 
aus die Phantaſie, belebt von der Erinnerung, weiter ſchweift als in 
den jungen Jahren, in denen man alles in plumper Wirklichkeit haben 
moͤchte. In der Einſamkeit, die das Alter im Gefolge hat, erſcheinen nur 
noch die Bilder der Wirklichkeit, die Ideen, und dieſe find leicht ber 
weglich, und man treibt mit ihrer Buntheit ein ganz eigenartig Spiel. 
Die Phantaſie fliegt; fie iſt grenzenlos. Und da die Wirklichkeit mit 
ihren Bedingtheiten auch mit hineinſpielt, ſo wird die ganze Sache 
traumhaft. 

Es iſt aber doch Wirklichkeit, daß ich in der Schweiz gereiſt bin und 
daß ich dort ſogar noch ein wenig Bergſteigen konnte, und mit meinem 
Alpenſtock kam ich in ein Tal, ganz weltabgeſchloſſen von ungeheuern 
Felſenwaͤnden, auf denen noch Gemſen wohnen und die Adler horſten, 
der Gletſcherbach fließt ruhig durch den ebenen Talboden und die 
Sturzbaͤche von den wolkenumgebenen Felſenhoͤhen beruhigen ſich in 
ihm, es iſt ſo menſchenleer, und einſam ergriffen von ſeiner Großartig⸗ 
keit dachte ich, ob nicht hier eine Kolonie Friedenſuchender ihre Staͤtte 


120 


Selbſtbildnis in Frankfurt a. M. 1899 


. 
=. be — — — —— ne. „ 


finden koͤnnte. Als ich aber vernahm, daß in den wenigen Hüften nur 
Hirten den Sommer uͤber wohnen koͤnnen und der Lawinengefahr 
wegen das Tal im Winter verlaſſen muͤſſen, ſo floh dieſer Gedanke 
gleich weg. Aber ich moͤchte dies Tal jedem empfehlen, der auf ein 
paar Stunden Einfiedlerz und Zarathuſtragefuͤhle recht lebhaft emp; 
finden moͤchte; wenn er genug hat, moͤge er dann herunterſteigen dort, 
wo der ruhige Gletſcherbach den Ausweg durch die Klus gefunden und 
donnernd hinunterſtuͤrzt in ein tiefer gelegenes Tal. Man kann ſich 
im freundlichen Wirtshaus zum Baͤren gut ſtaͤrken und den Boden 
des gewohnten Stoffwechſels wieder betreten. Zum Sſchinenſee, der 
unter der Bluͤmlisalp liegt, bin ich auch mit Agathe zu Fuß hinauf. 
Es war gar keine leichte Aufgabe bei der Hitze, aber es gelang, und 
dieſer ſchoͤne Erdenwinkel war an dem ſtillen blauen Tag zauberhaft. 
Durch das Fernrohr war ein Rudel Gemſen gut zu ſehen, die auf Fels 
und kleinern Schneeflecken uͤber dem See ihr Weſen trieben. Bei aller 
Großartigkeit hat das Bild der ganzen Gegend etwas Zartes, Mildes, 
ſo daß mir der Name Bluͤmlisalp ſehr paſſend erſchien. 

Auf einem Gemmiwaͤgelchen, ein zweiraͤderiger Seſſelſitz mit einem 
Pferd davor, bin ich dann auf den Gemmipaß. 35 Kehren, Baedeker 
hat ſie gezaͤhlt, fuͤhren den ſteilen Berg bei Kanderſteg hinan. Man 
braucht faſt zwei Stunden, bis man auf der Hoͤhe iſt, zuerſt durch Wald 
und uͤppigen Wuchs ſchoͤner Alpenpflanzen, von denen mich beſonders 
der faſt geheimnisvolle gelbe Enzian intereſſiert hat. Dieſe ſchoͤne 
Blumenkerze bluͤht auch auf dem Feldberg, ſonſt nirgends im 
Schwarzwald, da ſcheint es ihr noch gerade hoch genug zu ſein. Wie 
kam ſie nur von den Alpen hier heruͤber? Leider wird ſie auf dem Feld— 
berg von den Sommergaͤſten arg mitgenommen, da ſie ſo auffallend 
iſt. Man ſollte ſchon in der Schule etwas mehr Gefuͤhl fuͤr die lebende 
Pflanzenwelt zu erwecken ſuchen; man ſollte ſolche Seltenheiten fuͤr 
unantaſtbar erklaͤren und das Abreißen und Umhauen fuͤr ſuͤndhaft, 
denn der Geiſt des Gebirges wohnt in ihnen. Mir, dem zu einem 
gewiſſen Aberglauben hinneigenden Menſchen, kommt dieſe Blume 
auf dem Feldberg vor wie ein Gruß, den ihm die Alpen hinüber; 
geſchickt haben. 

An dieſem ſchoͤnen Tage zogen viele Wanderer zu Fuß und zu Roß 


12 


den ſteilen Kehrenpfad hinan. Wenn man die Hoͤhe erreicht hat, liegt 
ſchauerlich tief unten das einſame Gafterental, ein ſeltſamer Grufel 
beſchleicht einem, wenn man hinunterſieht, ein Gefuͤhl des Fliegen⸗ 
muͤſſens, eine Vorahnung des Schwindels. Es war ein gar klarer 
wolkenloſer Tag; die Schrecken der Felſenabſtuͤrze waren von keiner 
Nebelwolke verhuͤllt. Weiter geht es dann uͤber die jetzt mit Steinen 
uͤberſaͤte Spitalmatte, auf welche der faſt tuͤckiſch verſteckte Altels vor 
ein paar Jahren in der Nacht ſeine Gletſcher herunterſchleuderte, 
Herde und Hirten begrabend. Dann kommt der duͤſtere erdiggelbe 
Daubenſee in einer Steinwuͤſte, die zu Reue und Leid und Weltabkehr 
einladet, in der man ſich den nach Rom zur Buße wandernden Tann⸗ 
haͤuſer gar wohl denken kann. 

Oben auf der Gemmi iſt die großartige Ausſicht auf die Walliſer 
Alpen; den Felſenpfad der ins Bad Leuk, auf deſſen Daͤcher man 
hinunterſieht, fuͤhrt, machte ich N da auf ihm ſelbſt Gemmiwaͤgel⸗ 
chen ihr Recht verlieren. 

Ein Hauptreiz des Hochgebirgs beſteht wohl darin, daß da die Erde 
in ſo mannigfache Falten gelegt iſt und dadurch ihre ganze Groͤße 
mehr vorgefuͤhrt wird als in flachern Gegenden, ſo kann der Genuß⸗ 
menſch, wir alle ſind dies ja, die Augen an gar erhabenen Bildern 
ſeiner hier enggefalteten lieben Erde vollſaugen. 

„Wildſtrubel“ iſt auch ein guter Name fuͤr das mutwillig wirre in⸗ 
einandergeſchobene Felſengebilde, das da oben herrſcht. Im Gaſthaus 
ruhten Roß und Wagen und wir ſtaͤrkten uns zur Ruͤckfahrt. Bei der 
Abfahrt durch die 35 Kehren ins Kandertal meinte der Roſſelenker, 
man koͤnne ganz gut ſitzen bleiben, jedoch bei einigen der naͤchſten Keh⸗ 
ren muͤſſe er recht vorſichtig auf ſein Roß aufpaſſen, und vielleicht ſei 
es doch da ſicherer, zu Fuß hinunter zu gehen. Ein ſolcher Wink leuchtet 
ſehr ein, beſonders auch, weil ein ſteiler Weg beim Herunterſteigen erſt 
recht zeigt, wie entſetzlich ſteil er iſt. 

Die Schweiz iſt ein gar ſchoͤnes Land und jeder, der es kennt, ſtimmt 
in das Lob ein, das ihr ſeit alten Zeiten geſungen wird. Man moͤchte 
faſt ſagen, die Schöpfung und ihre Engel ſtimmen hier ſelber ihr Lob; 
lied an. Welche Perle iſt der Vierwaldſtaͤtter See mit ſeinem Pilatus, 
Rigi, Stanſerhorn uſw. Schillers Geiſt umſchwebt ihn und ſeine ſich 


122 


EN re 
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ihrer Freiheit bewußten Bewohner. Ein Geift, deſſen leibliches Auge 
ihn nie geſehen hat. Man kann demnach von der Ofenbank aus wohl 
noch recht vieles wahrnehmen. Feierlich wirkt die glänzende Jung 
frau mit ihren ernſten Begleitern, und das Lauterbrunnertal liegt ſo 
lauter da, als ob es einem die Entſtehungsgeſchichte der Erdoberflaͤche 
vordemonſtrieren wollte. Als Tribuͤne fuͤr wißbegierige Wanderer iſt 
gerade im richtigen Abſtand die Schynige Platte errichtet worden, 
damit man die ganze Herrlichkeit in aller Ruhe uͤberſchauen kann. Wie 
lieblich ſind die Gelaͤnde um den Thuner See herum! Was iſt nicht 
alles noch zu loben! 

Manche befuͤrchten, daß die Schoͤnheit der Schweiz durch die vielen 
Hotels und Eiſenbahnen unguͤnſtig beeinflußt werden koͤnnte, ich 
glaube das nicht; es bleibt vor dieſer vielgeſtaltig ausgebreiteten Groͤße 
doch alles Menſchenwerk wie Ameiſengekrabbel, an deſſen Fleiß man 
ſich doch auch freuen kann. Wen koͤnnte es auch genieren, daß ſo ein 
Bergbahnwurm, z. B. nach Muͤrren, ſich hinaufwindet. 

Ein Dichter hat die Schweiz als Bruͤcke Europas beſungen. Moͤge 
dieſe Bruͤcke ſtets friedlichem Verkehr dienen, die Voͤlker im Frieden 
verbindend. Daß die Schweiz, wenn es nottaͤt, auch eine gute Bruͤcken⸗ 
wache zu ſtellen wiſſen wird, daran zweifle ich nicht. Moͤchte es nie 
noͤtig werden! 

In der Schweiz fuͤhle ich mich immer recht heimiſch, das liegt daran, 
daß, ſobald ich dort bin, ich wieder im alemanniſchen Dialekt ſpreche 
und ſogar denke, deſſen eigenartige Feinheiten und auch Grobheiten 
ich gruͤndlich verſtehe; dann habe ich von Jugend auf beim Geißhuͤten 
und Heidelbeerpfluͤcken auf den Schwarzwaldhoͤhen mit Sehnſucht 
nach der Alpenkette hinuͤbergeſehen. Jetzt ſehe ich den gelben Enzian 
auf dem Feldberg fo an, als ob ihm die Alpen eine anerfennende Des 
koration hinuͤbergeſchickt haͤtten, fo iſt der Feldberg mit feinem gold—⸗ 
nen Enzian im Knopfloch in ſeiner Hoͤhe auch ohne Zahlenangabe ſehr 
gut bezeichnet. 

Da ich gerade von Blumen ſpreche und vom Dialekte, ſo kann ich 
nicht unterlaſſen, von einem gar ſchoͤngeformten beſcheidenen Bluͤm⸗ 
lein zu ſprechen, das ich auf Schweizerboden gefunden habe, auf Mutter⸗ 
erde gewachſen, davon iſt es ſo zart geworden aus der Mutterſprache 


123 


gebildet, davon klingt es fo lieblich. Ich will aber von meiner bildlichen 
Sprache abgehen, indem ich ſage, daß ich mit dieſem Schweizerbluͤmlein 
ein kleines Baͤndchen Gedichte meine, betitelt: „Mis Chindli“ von 
Sophie Haͤmmerli-Marti, im Aargauer Dialekt — und zeigen, wie me, 
lodiſch dieſer Dialekt klingt, wenn die zarte Mutterliebe in der Freude 
an ihrem Chindli ihn ſpricht. 

Obgleich ich von der Verfaſſerin keine Erlaubnis dazu habe, die ich 
dieſer Freibeuterei wegen um guͤtige Nachſicht bitte, ſetze ich ein paar 
Proben aus dieſem Buͤchlein hierher, und ich denke, daß mancher Leſer 
und noch mehr manche Leſerin mir dankbar ſein wird, daß ich ihnen 
etwas Schoͤnes aus der Schweiz mitgebracht habe, das ich hier freilich 
am liebſten vorleſen moͤchte in der richtigen Ausſprache. 

Hier einige Proben: 


Kauderwelſch. 


Langi, ſchoͤni, liebi Gſchichte 
Tuet is euſers Chindli brichte, 
's goht as wie am Raͤdli gſpunne, 
Duſſen aber lachet d' Sunne, 
Und ſie daͤnkt: „Mi nimmts doch wunder, 
Was die ghoͤren a dem Plunder. 
's iſch nid duͤtſch und nid franzoͤſiſch, 
Oder iſch es aͤcht chineſiſch?“ 
„Sunne heb dis Lachmul zue, 
Mir verſtoͤhnds, des iſch jo gnue! 


Stra mpeln. 


Choͤmed au und lueged gſchwind 
Euſers tuſig wuͤtters Chind, 

Wie ſe ſi cha rode: 

's Lintuch, d' Decki, alles furt 

D“ Windli, d' Struͤmpfli und de Gurt, 
Alles lit am Bode. 


124 


Und jetzt ſchlot das Lumpechind 
Grad as wine Wirbelwind 

Dri mit alle Viere, 

Lacht und juchſet frei darzue: 
„So jetz iſches aber gnue, 

Tue di au ſcheniere.“ 


Zur Schule. 
De Schulſack a Ruͤgge, 
En Apfel i d' Hand, 
Es friſch glaͤttets Schaubeli, 
En gſunde Verſtand — 
So reiſet mis Chindli 
Ganz luſtig dervo 
Und loht mi eleigge — 
Wie wird's em aͤcht go? 


Jetzt nur noch eins, in dem der Dialekt ſo eigenartig huͤbſch klingt, 
daß man es hoͤren ſollte: 
Stricken. 


„Ineſtaͤche, umeſchlo, 
Durezie und abelo.“ 
„Ineſtaͤche, umeſchlo“ — 
Denket liſme chani ſcho 
Han e große Kugel Wolle 
Doͤrfe go bim Kraͤmer hole 
Liſme drus im Titti Struͤmpf 
Nodle hani au ſcho fuͤnf 
Tue no andri ſchoͤni Sache 
Denn fuͤrs Wienachtschindli mache, 
Aber langſam gohts halt no: 
„Durezie und abelo.“ 


Sind das nicht ſchoͤne Kinderbildchen? 
Daß wir alle die Kinder lieben und daß, wenn der Wirrwarr des 
Lebens uͤber unſern Koͤpfen zuſammenſchlagen will, wir die Sehnſucht 


125 


in uns fühlen, wieder zu werden wie die Kinder, iſt eine alte Geſchichte. 
Ruͤckkehr zum Urſtand unſeres Seins, den wir in der Kinderſeele ahnen, 
man hat ihn auch oft ſchon „Ruͤckkehr zur Natur“ genannt. Das Bibel⸗ 
wort: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“ wird beſtehen bleiben. 
Es ſagt nicht, wenn ihr nicht ſeid oder bleibet wie die Kinder; denn das 
„Werden“ iſt ja das eigentliche Element des Lebens, das Suchen nach 
dem Kern der Seele fuͤhrt uns zu dem Kinde. Das Werden im geiſtigen 
Leben iſt immer ein Willensakt, und hier gilt es, nicht aus Schwaͤche, 
ein Kind werden. 

Was fuͤr eine Sternkonſtellation jetzt am Himmel ſein wird, daß ich 
von Kindergeſchichten nicht loskommen kann? 

Der geneigte Leſer moͤge ſie geduldig und mit dem Behagen auf— 
nehmen, wie er doch meiſtens auch Kinderbilder anſieht, die ſo oft 
gemalt werden. 

Es gibt ja kein aͤſthetiſches Geſetz und auch kein anderes, welches 
verbietet, von den Kindern zu erzaͤhlen, und dagegen kann auch keine 
unſerer paar Weltanſchauungen und ſo gar keine politiſche Partei, 
keine Religionsgeſellſchaft, keine Konfeſſion Einſpruch erheben. 

Die Hilfloſigkeit, die ein Menſchenſeelchen hat, das neu auf die Welt 
gekommen und ſo fremd auf ihr iſt, zieht uns zu ihm hin. Wir muͤſſen 
ihm ja helfen, denn es geht gar lang, bis es ſich in der Realitaͤt der Welt 
zurechtfindet. Es muß gar viele Proben anſtellen, um ſich nur die aller⸗ 
noͤtigſten Kenntniſſe anzueignen, und ſchließlich muß es doch alles ſelber 
finden. Wir freuen uns, wenn das Kind ung fröhlich entgegenlacht, 
und freuen uns an ſeinem Gebaren, wenn wir merken, daß es ſicher⸗ 
frech die Welt als eine gegebene Tatſache auffaßt. Freilich ſieht uns ſo 
ein Kinderauge meiſtens auch ſo fragend an wie ein Tierauge, und 
wenn wir aufrichtig ſind, ſo muͤſſen wir auch beim Kinde ſagen, es iſt 
eigentlich ganz wenig, was wir dir ſagen koͤnnen; kannſt du uns nichts 
ſagen, du neues Seelchen, das ja ſo ganz kurz erſt aus der Unendlichkeit 
zu uns gekommen iſt. Weißt du nichts mehr? Aber wir muͤſſen dich 
nun erziehen — hinauf oder hinunter? zu einem der Menſchenweſen, 
wie wir ſie auch ſein muͤſſen. 

Aber ich will ſtatt ſolcher Betrachtungen lieber ein luſtig Kinder⸗ 
geſchichtchen erzaͤhlen, wie Liſa mir eine Strafrede uͤber Erziehung ge⸗ 


126 


halten hat von ihrem Kinderſtuͤhlchen aus, obgleich fie damals in 
ihren Reden nicht viel anderes ausdruͤcken konnte als den Unterſchied 
zwiſchen Ja und Nein. Ich ſaß naͤmlich eines Tages neben ihm und 
hoͤrte gern ſeinem Lallen zu, durch das es ſich mit ſeinen Spielſachen 
unterhielt; da nahm es ein Holzſchaͤfchen und ließ es auf den Boden 
fallen, ich hob es wieder auf, es wiederholte das Spiel, bis es mir ver— 
leidete. Da ſagte ich: „Nein Liſa, nicht hinunterwerfen, nein!“ Aber 
ſchon wieder hatte es ſein Schaͤflein in der Hand, ſah mich mit laͤcheln— 
dem Forſcherblicke an und ließ es trotz meinem ſtaͤrker betonten Nein 
wieder fallen und wieder und wieder. Schließlich wurde ich ungeduldig, 
ich machte mein ernſthafteſtes Geſicht, ſah ſie ſcharf an, erhob drohend 
den Zeigefinger und ſagte: „Pſt! Liſa, nein, nein, nicht mehr herunter; 
werfen, pſt! nein, nein!“ Und ich nahm ihm das Schaͤflein weg. Das 
Kind ſah mich ſtumm und traurig an. 

Viele Tage ſpaͤter ſaßen Liſa und ich in aͤhnlicher Situation am 
Tiſch; es herrſchte tiefer Friede zwiſchen uns, da auf einmal ohne allen 
aͤußerlichen Grund fing das Kind an heftig zu weinen und mit dem 
Koͤpfchen zu ſchuͤtteln, ſah mich an und ſtieß heftig hervor: „Nein Mba 
nein pſt nein, nein nein nein pſt! Mba nein.“ Es wollte mir ſagen, 
daß ich nicht mehr Pſt! zu ihm ſagen ſolle. Es wollte ſich gar nicht 
beruhigen laſſen, ſo lebhaft war die Erinnerung an die Drohung, die 
ich mindeſtens acht Tage vorher gemacht hatte. 

Ich war wirklich beſchaͤmt; war es denn recht von mir, daß ich dieſem 
harmloſen Spieltrieb gegenuͤber alle Waffen des Alters hervorholte, 
den drohenden Finger hob und das ziſchende Pſt durch die Zähne ſtieß; 
ich ſchaͤmte mich. Wußte ich denn, ob nicht Liſa durch dies Hinunter— 
fallenlaſſen das Geſetz der Schwere ergruͤnden wollte, oder ſie nicht 
in viviſektoriſcher Art erproben wollte, was ſo ein Schaͤflein aus— 
halten koͤnne! Wie viele Proben muß auch ſchon ein Kind anftellen, 
bis es nur ein klein wenig über die harten Geſetze des Daſeins orien— 
tiert iſt. Und da ſchreit gleich ein Mba: „Pſt nein nicht tun pſt!“ Ich 
werde nie mehr zu einem Kinde Pſt! ſagen. Es kommt mir jetzt vor wie 
eine Beſchraͤnkung der Freiheit wiſſenſchaftlicher Forſchung. Und wenn 
ein ſolches Geſchoͤpfchen durch ſeine Forſchungen auch auf den Ge— 
danken kommt: „Es weiß alles“, ſo ſchadet es ja doch nichts. Das 


127 


Kind hatte ſchon früh einen merkwuͤrdig guten Blick, auf Bildern 
alles zu erkennen, ſo daß wir uns hoͤchlich verwundern mußten; be⸗ 
ſonders ſein Papa wurde nicht muͤde, es zu examinieren und dann 
erſtaunt auszurufen: „Es weiß alles!“ An einem Sonntagnachmittag 
wurde fie in einem Bilderzimmer auch wieder ausgefragt: Liſa, was iſt 
das, das da, hier das? Liſa wußte alles! Endlich verleidete es ihr, ſie 
lief fort ins andere Zimmer zu ihren Spielſachen, und unter der Tuͤr 
ſagte ſie ſelbſtbewußt: „Es weiß alles!“ damit ihr Weglaufen recht— 
fertigend. 

Fruͤher einmal, im „Herbſt des Lebens“, habe ich geſchrieben, daß 
ein ganz kleines Kindlein aus ſeinem Bettlein in die Unendlichkeit des 
blauen Himmels hinaufgeſchaut hat und ich ſein Lallen ſo etwa wie den 
Sang eines Seelchens an den unendlichen Raum aufgefaßt habe. Viele 
werden gedacht haben, das iſt fo eine Kuͤnſtlerphantaſterei. Es iſt der 
reine Bloͤdſinn, was ſo ein Wurm lallt und bruͤllt. Aber ich moͤchte 
mich nun doch ein wenig rechtfertigen, daß das, was ich damals geſagt 
habe, doch nicht nur ſo in den Tag hinein und nur aus meiner Ver⸗ 
mutung heraus gemeint war. So will ich nun erzaͤhlen und zwar 
wortgetreu, denn Liſa war inzwiſchen zweieinhalb Jahre alt geworden 
und konnte ſchon recht viele Worte gebrauchen, wie Liſa die Nacht ent⸗ 
deckt hat, und wie ſie in ihrem Bettlein im Dunkeln ein Nachtlied ge⸗ 
dichtet hat. 

Zu der Zeit, da die Sommertage anfangen kuͤrzer zu werden, war ſie 
laͤnger auf. Das Licht brannte im Zimmer, die Tuͤr, die direkt in den 
Garten geht, ſtand offen, da ſah ſie auf einmal in die Dunkelheit 
hinaus und ſagte verwundert, faſt fragend: „Nacht draußen! Iſa 
ſehen wie Nacht iſt.“ Damit watſchelte ſie zur Tuͤre hinaus, kehrte 
gleich wieder um: „Draußen Nacht, im Garten Nacht, uͤberall Nacht!“ 
Sie trippelte wieder hinaus bis an das Gittertor des Gartens, zu 
ſehen, ob vor dem Tor im Wald auch Nacht ſei, ſie kam wieder und 
verkuͤndete uns: „Draußen überall Nacht, im Wald auch Nacht, was 
iſt auch das? — ganz Nacht!“ Sie wollte aber ſehen, ob auf der andern 
Seite des Hauſes auch Nacht ſei, und ich nahm ſie auf den Arm und 
trug ſie durch das dunkle Gebuͤſch ins Gemuͤſegaͤrtlein. Da war auch 
Nacht, aber ſie ſah den Himmel uͤber ſich und die Sterne ſo hoch 


128 


droben: „Da Sternlein, dort auch Sternlein, große Sternlein, kleine 
Sternlein,“ fie entdeckte immer mehr, fie war voll Verwunderung und 
voll Staunens: „Nacht, uͤberall Nacht! Was iſt denn das? Viele 
Sternlein.“ 

Sie wurde zu Bett gebracht. Sie war ganz ſtill. In der Nacht wachte 
ſie auf und fing an zu ſprechen, meine Schweſter hoͤrte ihr zu. Liſa 
fuͤhlte ſich aber ganz allein. Zuerſt von ihrer Puppe, der Frieda, dann 
auf einmal: 

„Nacht, uͤberall Nacht — 

Nacht — hier Nacht, 

Draußen auch Nacht, 

Im Garten Nacht, 

Im Wald auch Nacht, 

Überall Nacht, 

Und Sternlein hoch oben am Himmel, 

Große Sternlein, kleine Sternlein. 
Alle ſchlafen, 

Der Brunnen ſchlaft, 

Die Baͤume ſchlafen, 

Der Wald ſchlaft, 

Die Sternlein ſchlafen, 

Der Mond ſchlaft, 

Alle Leute ſchlafen, 
Schlaft wohl! 

Schlaf wohl, Wald! 

Schlaf wohl, Garten! 

Schlaf wohl, Nacht! — 

Lieber Gott, mach mich fromm, 

Daß ich zu Dir in Himmel komm!“ 


Iſt das nicht, als ob man ein Quellchen rieſeln hoͤrte, von dem aus 
die Poeſie ihren Urſprung nimmt? Jenſeits von aller Literatur und 
ihren Vorratsbehaͤltern? Ein Quellchen, aus dem auch die toſenden 
Sturzbaͤche und die ſtolz hinwandelnden Stroͤme der Poeſie ihren Un; 
fang nehmen. Die Verwunderung und das Staunen find die leben; 


9 Thoma, Im Winter des Lebens 129 


digen Quellen der Poeſie. Der Verftand freilich iſt immer dahinter 
her, ſich die Verwunderung abzugewoͤhnen. Es iſt wohl feine Aufgabe, 
und ich will ſie ihm nicht abſprechen. Was iſt ihm die Nacht! Da iſt 
doch nichts zu verwundern. Das kommt, weil die Sonne auf der 
andern Seite der Erde ſteht. Von dieſem Standpunkt aus wird freilich 
keiner ein Nachtlied ſingen oder ein Nachtlied verſtehen. 

Der Mond iſt fuͤr alle Kinder, ſo auch fuͤr Iſa, eine uͤberaus wichtige 
Erſcheinung. Die Sonne nehmen ſie als eine gegebene Sache, die ſie 
nichts weiter angeht. Dem Vollmond warf es Kußhaͤndchen zu, und 
wenn er hinter eine Wolke ging, ſo machte er Guckguck. Spaͤter ſah ſie 
erſchrocken den Halbmond und war ſehr uͤberraſcht und ſagte: „Mond 
kaputt, Artmann wieder machen.“ — Zu Axtmann hat ſie dag größte 
Vertrauen, denn er fahrt den Sand auf die Gartenwege, er bepflanzt 
den Garten mit Erdbeeren und Obſt, er holt die Kirſchen vom hohen 
Baume, er kann machen, daß der Brunnen wieder laͤuft, was kaputt iſt 
in Haus und Garten, Axtmann kann es wieder machen. 

Das iſt auch ſo ſchoͤn, daß ein Kind die Axtmaͤnner ſo in ihrem Werte 
anerkennt — es beruht doch ſo vieles vom Beſtand der menſchlichen 
Geſellſchaft auf dieſen Werkmaͤnnern und ihrem anſpruchsloſen Tun, 
und wir duͤrfen die Kindermeinung uͤber ſie ſchon annehmen — und 
ſie hoͤher bewerten, und wenn wir bemerken, daß es ihrer gar viele 
gibt, ſo wollen wir uns daruͤber freuen. 

Moͤchte man die ſo fleißigen treuen Axtmaͤnner, die Werkmaͤnner, 
die ſo ſtill genuͤgſam ihre Pflicht tun, ja recht hoch ſchaͤtzen, ſie muͤſſen 
gar manches wieder gutmachen, was menſchliche Kurzſichtigkeit, manch⸗ 
mal auch Hochmut kaputt gemacht hat; dies ſtetige Menſchenmaterial. 
Und wenn ein Kind glaubt, daß Axtmann den Mond wieder ganz 
machen kann, allzuſehr wollen wir nicht daruͤber lachen. Wer weiß? 
Wir wiſſen doch noch gar nicht arg viel vom Zuſammenhang der 
Menſchenſeele mit dem Sternenlauf. Jedenfalls der Sternenlauf be⸗ 
ruht auf der groͤßten Stetigkeit, und ſo koͤnnte man gar leicht an⸗ 
nehmen, daß Werkmaͤnner, Axtmaͤnner in ihrer ſtetig ruhigen Art 
auch den regelmaͤßigen Gang der Monderneuerung aufrechterhalten 
muͤſſen. Ausgeſprochene Herrennaturen, Übermenſchen, moͤchten gar 
leicht auch den Mond aus ſeiner regelmaͤßigen Bahn verrenken wollen. 


130 


Aber die Axtmaͤnner mit ihrer Schwere ſetzen derartigem ein unuͤber— 
windliches Nein entgegen. 

Es iſt wohl ein Fehler des Alters, daß man das Stetige mehr an— 
erkennt, das ſtill⸗beharrlich Schaffende, und das Sprunghafte nicht 
mehr ſo recht mag. 

„Treuer Knecht“ kann unter Umſtaͤnden ein hoͤherer menſchlicher 
Ruhmestitel ſein, als Herrennatur ſich zu heißen; ein richtiger Herr 
muß aber auch dienen koͤnnen, wenn er ganz auf ſeiner Hoͤhe ſtehen 
will. Der Menſch ſteht jenſeits der Gegenſaͤtze von Herr und Knecht. 
Es iſt eine große Sache um einen treuen Knecht, freilich braucht aber 
der Knecht deshalb nicht hochmuͤtig zu werden. Gar gerne ſpreche ich 
den einfachen, ruhig gefaßten Menſchen das Wort — und ich moͤchte 
ſagen: „O ſtoͤret ſie nicht! Laßt ſie ruhig ſein!“ Unter all den Unkraͤutern, 
die der boͤſe Feind naͤchtlich auf das Ackerfeld ſtreut, iſt wohl die Un— 
zufriedenheit das zerſtoͤrendſte, es iſt ein giftig Kraut und nicht ein⸗ 
mal ſchoͤn, wie manch ander Kraut, das mit ſeinen Blumen doch 
noch den Acker ſchmuͤcken kann, wenn es auch unnoͤtig ſcheint. Ein 
Menſch kann ja wohl nie ruhig ſein, ſolange ſein Herz das Ticktack 
ſchlaͤgt zu dem Marſche, mit dem er der Ewigkeit entgegengeht. Ertoͤnt 
aber nicht aus dem einfoͤrmigen Marſchtakte des Herzens manchmal 
eine liebliche Melodie, eine himmliſche Weiſe, die wie ein Hauch aus 
der Heimat unſre Seele fuͤllt, aus der wir die Ruhe, die wir erſehnen, 
herausahnen, ſo daß unſre muͤden Schritte leichter werden? 

Wir wollen dankbar dieſen Melodien lauſchen und fie nicht über; 
hören, nicht uͤbertoͤnen laſſen von dem Tripptrapp unſeres Ganges. 
Daß nun das, was ich hier ausgekramt, hauptſaͤchlich von Sternen und 
Kindern handelt, daran iſt ſicher auch ein Stern ſchuld, naͤmlich der 
herannahende Weihnachtsſtern. 


22 


m Winter des Lebens, wo der kalte Nebel in eins verhuͤllt, was fern 
51 und nah, wo der Schnee der Vergeſſenheit ſtill herunterfaͤllt und 
mich bedecken will, mache ich dieſe Aufzeichnungen von meinem Lebens⸗ 


131 


lauf, mit dem ich nun bald am Schluſſe bin. Ich fiße in meinem Wald; 
haͤuschen Marxzell, wo wir gerade noch, es iſt Ende Auguſt 1918, von 
ferne die Fliegerabwehrkanonen von Karlsruhe her hoͤren. Bei meinem 
recht langen Lauf durchs Leben habe ich ſo viel Elend und Menſchen⸗ 
jammer erlebt, daß es nicht erſt dieſes moͤrderiſchen Krieges bedurft 
haͤtte, um zu wiſſen, daß unſer Daſein Leiden iſt, nicht der Muͤhe wert, 
es abzuſpinnen. Der Krieg iſt ein ſchlagendes Beiſpiel dafuͤr, wie die 
Menſchen ſelbſt ihr irdiſches Daſein ſo gering einſchaͤtzen, wie wenig 
Wert die Menſchenknochen haben. Im fuͤnften Jahre ſchon erzaͤhlen 
die Tagesberichte der Voͤlker ſich gegenſeitig, wieviel Menſchenkoͤrper 
durch ihre Mordmaſchinen vernichtet worden ſind, ſie ruͤhmen ſich, 
wieviel Herzeleid ſie ſich angetan haben. Sie freuen ſich daran, wenn 
ſie es ſummieren, und triumphieren, wenn dabei Millionen heraus⸗ 
kommen. Die Geringſchaͤtzung des Koͤrpers iſt geradezu großartig ge⸗ 
worden, es iſt, als ob ſie dadurch die Meinung und Behauptung der⸗ 
jenigen, welche die Macht der Seele verkuͤndigen, beglaubigen wollten. 
Was liegt denn daran, wenn die Menſchheit Hunderttauſende von Men⸗ 
ſchenkoͤrpern hinſchlachtet. Man moͤchte ſagen, ſie ſuͤndiget in dem 
Vertrauen auf die ewig ſchaffende Seele. Die Menſchheit ſteht freilich 
mit Grauſen vor ihrem eignen entſetzlichen Tun, dem keine Verſtandes⸗ 
taͤtigkeit Einhalt gebieten kann. Ebenſo wie gegen den perſoͤnlichen Tod 
ſind wir gegen den Maſſenmord, den die Voͤlker ſelbſt an ſich zu voll⸗ 
ziehen fuͤr noͤtig halten, machtlos. So koͤnnen wir dieſe Zerſtoͤrungs⸗ 
wut auch als tatſaͤchliche Anerkennung der Geringwertigkeit des ver⸗ 
gaͤnglichen Daſeins, von der Gleichguͤltigkeit, welche die Seele fuͤr die 
verlaſſenen Knochen hat, anſehen, damit wir nicht verzweifeln. 
Das ſchreckliche Wort: „Was liegt denn daran“ kann ſich uns 
wie ein Troſtwort auf die Lippen draͤngen, man beruhigt ſich mit den 
Worten des Pſalmes Moſes: „Der du die Menſchen laͤſſeſt ſterben, 
und ſprichſt: kommt wieder, Menſchenkinder.“ 

Vor dem Throne Gottes und ſeiner Herrlichkeit, welche die Welt er⸗ 
fuͤllt, und vor der ſtill waltenden Macht der Menſchenſeele, welche wir 
an Jeſus dem Auferſtandenen, dem ewig Gegenwaͤrtigen erkennen 
und glaͤubig erfaſſen, iſt alles Menſchentreiben, wenn es auch ſo ge⸗ 
waltig wie dieſer Krieg erſcheint, doch nur ein ſich abhaſpelndes Spiel⸗ 


132 


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werk, vorübergehend, verſinkend in die unergruͤndliche Ewigkeit, viel— 
leicht noch von der Zukunft einige Zeit im Gedaͤchtnis aufbewahrt, in 
den Geruͤmpelkammern der Hiſtorie, dieſem Herbarium des bluͤhenden 
Lebens. Das Uhrwerk Gottes, deſſen Regelmaͤßigkeit wir erkennen, 
geht ſeinen ruhigen, großen Gang weiter, wie wir annehmen muͤſſen, 
in zeitloſer Wiederkehr. 

„Vater vergib ihnen, ſie wiſſen nicht, was ſie tun!“ Dies vom 
Kreuz geſprochene Wort wird am Gerichtstage der Seelen fuͤr viele 
eine Entſchuldigung ſein ſollen: „Herr, vergib uns, wir haben nicht 
gewußt, was wir getan haben.“ Wir armen Menſchen! Wie ſelten 
wiſſen wir, was wir tun! Eigentlich wiſſen wir es nie, von unbekannter 
Macht getrieben tappen wir wie Blinde am Faden des Schickſals, wir 
wiſſen nicht, wohin wir geſtoßen werden, wie viele Blumen des Lebens 
unſer tappiger Fuß zertritt, welche Folgen aus unſerm Tun entſpringen. 

Auch das großartige Tappen, mit dem Voͤlker ſich vernichten wollen, 
iſt doch nichtig und wird wie alle Narrenſchiffe der Zeit zerſchellen an 
dem Fels der Seele, den wir Chriſtus nennen gelernt haben, der zeit— 
los und raumlos die ganze Welt in ſich ſchließt. 

Erkenne dich ſelbſt! Dies koͤnnte ſo eine Art von Schlagwort ſein, 
von dem man die Berechtigung ableiten koͤnnte, ſeinen Lebenslauf zu 
ſchreiben! Aber je mehr man zu dieſem Selbſterkennen, dieſem Ein; 
dringen in das verſchloſſene Geheimnis ſeines Selbſt kommt, deſto 
unheimlicher kann es einem dabei werden. Je mehr man, um ganz 
aufrichtig zu ſein, aus dem Obenhinkommen in die Tiefe forſchen will, 
deſto lieber moͤchte man den Schleier, den man aufheben zu muͤſſen 
glaubte, wieder zuziehen. In den Tiefen, wo Gut und Boͤſe ſich bilden, 
wo die Tugenden neben den Laftern Wand an Wand hauſen, iſt es 
unheimlich finſter, und wer jenſeits von dieſen ſehen will, kann der 
Verwirrung verfallen, im Irrwahn aus Angſt vor ſich ſelber. Man 
ſieht nun, wie gut, ja wie notwendig es iſt, daß die gute Mutter Erde 
unſre Unruhe einſtens deckt, daß ſie in milder Art alle Lebenslaͤufe in 
ihren Schoß der Vergeſſenheit, der Verſoͤhnung aufnimmt, in den 
ewigen Kreislauf der Wiederkehr, aus dem immer wieder Erneuerung 
hervorgeht. 

Ein Lebenslaufſchreiber kann und darf nicht zu den verſchloſſenen 


133 


Tiefen feines Selbſt gehen, noch weniger ift er berechtigt, über 
andre, die mit ihm des Weges gewandert find, in Freundſchaft 
und Liebe oder auch in Gleichguͤltigkeit und feindlicher Geſinnung 
tiefer ſuchende Urteile und Ausſagen zu machen. Er kann andre doch 
kaum ſoweit kennen, als er ſich ſelbſt kennengelernt hat. Je weiter 
man aber in der Selbſterkenntnis vorſchreitet, deſto unſicherer, aber 
auch deſto milder wird man in ſeiner Meinung uͤber andre. Ja wenn 
auf einer Wegſtrecke auch der leibhaftige Teufel einmal mitgewandert 
ſein ſollte und man ſich mit ihm ganz gut unterhalten hat, ſo ſollte 
man hoͤchſtens von ihm ſagen, daß einem ſein Geruch widerlich war. 
Das mag aber wohl gegenſeitig geweſen ſein. 


Wohl und Weh, zwei inhaltreiche Worte, 
Weihen an des Lebens Pforte 

Die Seele, leiten die zur Welt gekommen 
Wachſam auf den Weg, den ſie genommen. 
Treue Waͤchter, die nie von ihr weichen, 
Geben ſie zum Wechſeln ſich die Zeichen. 
Es wandern mit ihr bis zum Ruheorte 
Wohl und Weh, der Seele Schickſalsworte. 


Wir Menſchen gehen durch das Leben mit gar viel Leiden und 
Schwaͤchen; wir glauben aber an eine Weiterentwicklung, an die Moͤg⸗ 
lichkeit einer Laͤuterung zu einem hoͤhern Daſein hinauf. Wie der „reine 
Tor“ durch Mitleid wiſſend, geht unſer geiſtiges Streben zu einem 
Gral der bruͤderlichen Liebe, zu einem ÜUbermenſchentum, welches ſich 
auf Selbſtverleugnung gruͤndet. Wir erkennen unſre Schwachheit und 
Suͤndennot, in die wir verſtrickt ſind, wir wollen hinauf zu einem 
Standpunkt der Verſoͤhnung, zum großen Willen allgemeiner Suͤn⸗ 
denvergebung, wie ſie ſich im Gebete des Herrn ausdruͤckt: „Und ver⸗ 
gib uns unſre Schuld, wie auch wir vergeben unſern Schuldigern.“ 
Dies koͤnnte die Inſchrift ſein an dem Gralstempel eines neuen Über⸗ 
menſchentums, zu einem Zuſtand, wo nicht mehr abgerechnet wird, 
ſondern vergeben, wo die Gerechtigkeit ihre Rechte an die Barmherzig⸗ 
keit abtritt, wo der Menſch ſo hoch von ſich und ſeiner Herkunft denkt, 
daß er mit fromm freudiger Demut durch das Erdenleben gehen kann, 


134 


ſo hoch von fich denkt, daß er fich nichts vergibt, wenn er auch die 
andre Backe zum Schlage hinhaͤlt, wo der Spruch vom Splitter und 
Balken im Auge in ſeiner ganzen Tiefe verſtanden wird und das milde 
Mahnwort zur Geltung kommt: „Wer von euch ohne Sünde iſt, werfe 
den erſten Stein!“ Wo wir uns nicht mehr vor dem Schickſal kruͤmmen, 
ſondern betend unſre Knie beugen vor der Barmherzigkeit, die als 
Gottes Engel durch die Menſchheit ſchreitet. 


23 


3 ie Bernauer Altarbilder waren fertig und um Johanni 1912 ſollten 

ſie eingeweiht werden. So ging ich mit Agathe, der Familie Blaue 
mit ihren zwei Kindern und mit Frau Eliſa Kuͤchler und ihrer Tochter 
Sophie nach Bernau. Von Freiburg fuhren wir in drei Autos, es 
war ein beſonders ſchoͤner milder Junitag. Traumartig ſchoͤn war dies 
raſche Durchfliegen der mir ſo lieben wohlbekannten Gegend, die ich ſo 
oft in fruͤhern Jahren in acht- bis zehnſtuͤndiger Fußtour durch; 
wandert bin. Jetzt brauchten wir zweieinhalb Stunden dazu. Wir fuhren 
am „Schauinsland“ hinauf, machten kurzen Halt am Haldenwirtshaus, 
fuhren dann uͤber Muggenbrunn, Pruͤg und das ſchoͤne Pruͤger Loch hin⸗ 
auf nach Bernau, in das altgewohnte Quartier in die „Gerbe“, in 
Bauers gaſtliches Haus. Treue Freunde, teils mit ihren Frauen, aus 
Karlsruhe fanden ſich ein zum Mitfeiern, am andern Tag kamen auch 
der Praͤſident der Generalintendanz von Nicolai mit ſeiner Frau, es 
kam Frau Profeſſor Anna Meyer aus Straßburg, Dr. Beringer und 
Frau kamen. Am Vorabend der Johannisfeier zeigte ſich aber Bernau 
in der Pracht einer Beleuchtung, die faſt unerhoͤrt zu nennen iſt. Der 
ganze Oſthimmel flammte in gluͤhendem Rot und warf ſein Licht uͤber 
das blumige gruͤne Wieſental. Wir alle waren tief ergriffen von 
ſolcher Pracht, von der Feierlichkeit, in der ſich Bernau zeigte, und 
folgten den Verwandlungen durch die Abendglut hindurch in die 
ſanften Schauer des Daͤmmerlichtes — bis in die geheimnisvolle Hoch—⸗ 
ſommernacht hinein. Der anbrechende Sonntagmorgen mit ſeinem 
Silbernebellicht war auch gar ſchoͤn. Johannes der Taͤufer iſt der 


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Bernauer Kirchenpatron. Die Kirchenglocken laͤuteten, Boͤllerſchuͤſſe 
krachten, eine kirchliche Prozeſſion zog feierlich durch die blumigen Wieſen, 
die Maͤdchen mit Trollus, dem großen Hahnenfuß bekraͤnzt und mit 
Margaretenblumen. Nach der Gottesdienſtfeier kam der Zug von der 
Kirche her an der Schwendele-Muͤhle vorbei nach dem Oberlehn, die 
Muſik voraus. Dort bei meinem Geburtshaus ſtand mein Denkmal, 
ein tuͤchtiger Granitblock mit einem Bronzereliefbild von Bildhauer 
Sauer. Der Platz vor den Haͤuſern war mit feſtlich geſtimmten Men⸗ 
ſchenſcharen, mit Muſik und Fahnen und Geſang erfuͤllt. Der Bürger; 
meiſter Maier begruͤßte mich mit einer Anſprache. Dr. Beringer hielt 
die Feſtrede. Wie ſeltſam war dies alles! Ich will nicht verſuchen zu 
beſchreiben, was in dieſer Stunde von Freude und Wehmut durch 
meine Seele ging, ich hatte das Gefuͤhl, als ob ich niederknien muͤßte 
und wortlos die Bernauer Sonne anſtarren möchte. So ein ſtarkes 
innerliches Gefühl vermag ſich eigentlich doch nur in einem koͤrper⸗, 
lichen Bewegungsakte auszudruͤcken, das war gewiß auch urſpruͤng⸗ 
liche Menſchenart als Ausdruck der Ehrfurcht vor dem Wunder des 
Daſeins, die mehr und mehr abgeſchafft wird. 

Man muß ſeine Faſſung behalten! Man darf nicht außer ſich 
kommen. Nun kann ich ſo gut wie andre Menſchen dies auch, denn ich 
denke auch, es geht andre nichts an, was inwendig in der Seele vor ſich 
geht. So war ich ſtandhaft, denn ich hatte fuͤr den Tag Pflichten des 
Wirtes zu erfuͤllen. Ich hatte mit meiner Schweſter die Freunde von 
nah und fern und unſre Verwandten zum Mittageſſen im Schwanen 
eingeladen. Die ganze große Wirtsſtube war angefuͤllt, vor dem Hauſe 
herum, auf der Kegelbahn waren Tiſche und Baͤnke gezimmert fuͤr 
die Muſik und die Geſangvereine und, was mich beſonders freute, 
für die Schulkinder. Denn ich weiß noch gar gut, was in ſolchem Alter 
eine Knackwurſt zu bedeuten hat. Der Schwanenwirt hatte alles vor⸗ 
süglich und zur allgemeinen Zufriedenheit angerichtet. 

Am Nachmittag war die feſtliche Einweihung der Kirchenbilder. 
Pfarrer Lamy aus St. Blaſien hielt die Predigt, in der er ſehr ſchoͤn 
auf volkstuͤmliche Art die religioͤſe Symbolik der Bilder erklaͤrte. 
Maria im Morgenſchein breitet den Mantel zum Schutze aus uͤber 
das Bernauer Tal. Der Waldvoͤglein Chor begruͤßt ſie. Dann Jo⸗ 


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hannes, der auf den herankommenden Heiland, das Opferlamm 
Gottes, zeigt. Die Kirche war voll gefuͤllt, und man fuͤhlte, daß eine 
gehobene feierliche Stimmung wie ein unfichtbarer Hauch über alle 
ſich breitete, der ſo gut geſchulte Geſang des Kirchenchores tat ſein 
uͤbriges, man ſpuͤrte, daß er von großem muſikaliſchen Verſtaͤndnis 
geleitet fei, vom Lehrer Waßmer in Innertal. Ergreifend klang zum 
Schluß das Lied, das alle mitfangen: „Großer Gott, dich loben wir.“ 
Es wurde ſo ausdrucksvoll geſungen, wie man es nicht ſo leicht hoͤrt, 
was auch meine zugereiſten Freunde empfanden. Ich freute mich herz— 
lich, daß meine Bernauer ſo kraͤftig ſchoͤn ſingen koͤnnen, ſo daß es mir 
war, als ob ich deutlich den Dank fuͤr meine Bilder daraus 
hören koͤnnte. Der Abend im Gaſthaus zum Roͤßle war der Froͤhlich— 
keit geweiht. Pfarrer Joos von Bernau hielt eine Anſprache voll 
Humor. Auch Lehrer Braun vom Außertal hielt eine Rede. Vor dem 
Wirtshaus waren Tiſche und Baͤnke aufgeſchlagen, wo noch eine 
kleinere Geſellſchaft in die Daͤmmerung hinein zuſammenſaß. Gewitter 
drohende Wolken ftanden über dem Lehnkoͤpfle, doch blieb es ruhig, 
und wir kehrten in der zauberiſch durchleuchteten Sommernacht nach 
dem etwa eine halbe Stunde entfernten Oberlehn zuruͤck. Wir blieben 
dann noch ein paar Tage in Bernau, waren dann noch kurze Zeit in 
St. Blaſien, wo wir die Kirche in ihrer Neuherſtellung anſahen. Es iſt keine 
Kleinigkeit, bei lebendigem Leibe die Ehrungen einer Gemeinſchaft erz 
tragen zu muͤſſen. Man kann dabei etwas vom Gefühl einer öffent: 
lichen Hinrichtung haben, man ſehnt ſich in ſeine verborgne Hoͤhle des 
Nichtbeachtetſeins zuruͤck. Jedoch da laͤßt ſich nichts machen, man 
muß es uͤber ſich ergehen laſſen. 

Nach dem Bericht uͤber das Bernauer Feſt iſt hier wohl die bequemſte 
Stelle, der vielen Ehrungen zu gedenken, die mir in dieſen Jahren zu; 
teil geworden ſind; ich muß doch aufrichtig berichten, auf die Gefahr 
hin, daß manche ſagen koͤnnen, ich lege zu viel Wert auf aͤußerliche 
Ehrenzeichen. Es gehoͤrt deshalb auch zu meinem Lebenslauf. Es wur⸗ 
den mir folgende Orden verliehen: Das Großkreuz vom Zaͤhringer 
Löwen, das Großkreuz vom heſſiſchen Philippsorden, die große ba— 
diſche goldne Medaille fuͤr Kunſt am Bande des Bertholdsordens, das 
Großkreuz des ſchwediſchen Nordſternordens, der bayeriſche Maxi— 


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miliansorden für Kunſt, und 1917 erhielt ich den Pour le mérite. Ich 
werde mich nun wohl huͤten, ein Geſchmus zu machen, als ob ich mir 
eigentlich nichts aus Orden und dergleichen mache. Im ganzen war 
ich immer, ſoviel es von mir abhing, ein Mann der Ordnung; ſo fand 
ich es auch in Ordnung, daß man mir Orden gibt; ja ich freue mich 
auch daruͤber, daß ich mich Exzellenz nennen laſſen durfte. Warum 
ſollte mein irdiſch Haus nicht Dekorationen haben, die man ihm ja 
nur bis zum Grabe nachtraͤgt. 

Hier laͤßt ſich auch das Wohlbehagen anfuͤgen, welches mir die hoch⸗ 
ſteigenden Preiſe meiner Bilder bereiteten; ich habe naͤmlich beim Durch⸗ 
forſchen alter Notizbuͤcher aus den 60er und 70er Jahren geſehen, wie 
laͤcherlich klein die Preiſe waren, die ich erhielt. Ich will keine Beiſpiele 
anfuͤhren, die Kunſthaͤndler wiſſen das ſchon lange. Die aͤußerlichen, 
allzu menſchlichen Angelegenheiten ſpielen halt im Lebenslauf auch ihre 
Rolle. Aber Ruhm, Ehrungen, Ordensauszeichnungen, Titel, Geld be⸗ 
ruͤhren das eigentliche Weſen eines Kuͤnſtlers nicht, dem auch das Gegen⸗ 
teil von all dieſem, Schmaͤhung, Armut uſw., nichts anhaben konnte. 

Einſt hatten mich die armſeligen Preiſe, die ich erhielt, dazu genoͤtigt, 
recht fleißig zu arbeiten, und jetzt noͤtigten mich die regen Nachfragen 
nach meinen Bildern mit den reichlichen Preiſen zu erhoͤhter Taͤtigkeit. 
Auch erfreute ich mich im Alter einer durch lange Erfahrung erlangten 
Sicherheit in der Technik, die mir das Arbeiten leicht machte. 

Sehr betruͤbt hat mich der Tod Schoͤnlebers, der mir in der Karls⸗ 
ruher Zeit ein lieber Freund geworden war. Und nicht lange nachher 
der ſo ploͤtzlich erfolgte Tod Truͤbners, mit dem ich in Muͤnchen ſchon 
und dann in Frankfurt und zuletzt in Karlsruhe in dauernd freund⸗ 
ſchaftlichem Verkehr geſtanden. 


24 


N im Leben ſind wir vom Tod umfangen.“ Er lauert in 
Z allen Ecken auf uns, und wenn er hervorbricht und wir ihm mit 
knapper Not entgehen, ſo wird man begluͤckwuͤnſcht. Man hat wieder 
einmal Gluͤck gehabt, und ſo ſieht man, daß das Gluͤck doch gar nicht 


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fo ſelten ift auf Erden. Es wird ſchon als ein Elüd betrachtet, daß man 
uͤberhaupt lebt. Wenn aber der Tod jemand ploͤtzlich, ohne daß er es 
ſo recht merkt, wegrafft, ſo troͤſtet man und ſagt: er hatte einen ſchoͤnen 
Tod. Von der Geburt an ziehen wir Stunde für Stunde dem Unab— 
wendbaren entgegen. Da moͤchte es gut fein, wenn man verſuchte, ſich 
ein wenig mit dem Unerbittlichen anzufreunden, und daraus ſind bei 
unſern Altvordern die mit grimmem Humor ausgeſtalteten Totenz 
taͤnze entſtanden. Es gibt Extratouren, wo der Tod ein Taͤnzlein mit 
uns wagen will. Es wird einem freilich etwas ſchwindlig, wenn die 
Tour zu Ende iſt und der grimme Taͤnzer uns loslaͤßt, uns noch ein— 
mal das Leben geſchenkt hat, aber wir merken, daß es noch nicht der 
„Kehraus“ war. 

Der 26. Juli 1913 haͤtte für mich und meine Schweſter der Todestag 
ſein koͤnnen. Es war wie ein Wunder, daß wir am Leben blieben. Es 
war nachts etwa 11 Uhr, als ich von meinem Schreibtiſch aufſtand, 
um meiner Schweſter in dem kleinen Zimmer, in dem ſie ſich aufhielt, 
in dem wir oͤfters vor dem Schlafengehen noch eine Taſſe Tee tranken, 
gute Nacht zu ſagen. Als ich das Licht im davorliegenden Zimmer aus; 
drehte, rief ſie erregt: „Mach das Licht nicht aus“, ich war ſchon auf 
ihrer Tuͤrſchwelle, als ſie mir abwehrend entgegentrat und ſagte: „Da 
rieſelt von der Decke Staub herunter und ich habe die Sachen von der 
Kommode weggeraͤumt.“ Ich wollte hinein, um den kleinen Riß in der 
Decke naͤher anzuſehen. Agathe hielt mich zuruͤck, und in dem Augen⸗ 
blick polterte der vierte Teil der Zimmerdecke, eine viele Zentner ſchwere 
Maſſe, vor unſern Fuͤßen herunter, uns in eine Staubwolke einhuͤllend. 
Ein Schritt weiter und wir waͤren unfehlbar erſchlagen worden. Der 
Zufall von einer Sekunde Zeit und von einem Schritte Raum hat uns 
gerettet. Wäre ich nicht im richtigen Moment aus meinem Schreib; 
zimmer gekommen, ſo waͤre Agathe, die noch wegraͤumen wollte, er— 
ſchlagen worden, ein Tiſchchen und ein Lehnſtuhl waren zuſammen⸗ 
geknickt und ragten aus dem Schutthaufen hervor. Der Schlag wurde 
im ganzen Haus gehoͤrt, und die Maͤdchen und der Diener eilten herbei 
und ſtanden mit Schreck vor der Verwuͤſtung. 

Es war eine der alten ſchweren Decken, die mit Lehmſtrohwickel 
zwiſchen den Balken eingefuͤgt war. Die Balken waren morſch ge— 


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worden, und fo rutichten die haltlos gewordenen Maſſen hinunter. 
Nun war ein ſchwarzes Loch in der Zimmerdecke, und es war mir, als 
haͤtte der Tod ſchon lange auf den richtigen Moment gelauert, wo er 
uns erſchlagen konnte. Ich meinte den Grinſenden leibhaftig zu ſehen, 
und wenn die Sache nicht gar zu grauſig geweſen waͤre, ſo haͤtte ich 
ihn auslachen moͤgen, daß er um einen Augenblick zu fruͤh losgeſchoſſen 
hat — oder zu ſpaͤt. — 

Die Folgen waren aber fuͤr uns recht ſchwer, es war eine aͤngſtliche 
Nachtwache, es kniſterte noch in der Decke. Als am Morgen das Bau— 
amt die Sache unterſuchte, riet man uns, die Wohnung ſogleich zu 
verlaſſen, da ſaͤmtliche Decken keine Sicherheit vor dem Herunter— 
ſtürzen mehr boͤten und daß die ganze Wohnung vollſtaͤndig neu herz 
gerichtet werden muͤſſe, daß ſie alſo ganz ausgeraͤumt werden muͤſſe. 
Die Herſtellung brauche 3—4 Monate Zeit. Wir quartierten uns nun 
im Roten Haus ein und beſorgten von dort aus die Umraͤumung in 
den Keller. Ein guter Zufall brachte uns in den erſten Tagen nach 
dem Zuſammenbruch zwei tatkraͤftige Helferinnen, zwei Freundinnen, 
die ahnungslos von Straßburg gekommen waren, uns zu beſuchen. 
Als ſie den Greuel ſahen, telegraphierten ſie gleich um Arbeitskleider, 
und umſichtig praktiſch haben Frau Profeſſor Anna Meyer und Frau 
Helene Boͤhlau al Raſchid Hand angelegt und den Umzug in den 
Keller bewerkſtelligen helfen. In ein paar Tagen war die große Woh— 
nung geleert. Der Hausmeiſter der Galerie und der Diener haben ſich 
auch treff lich bewaͤhrt. Agathe und ich waren nun obdachlos. Die erſte 
Zeit waͤhrend dem Raͤumen und auch nachher, wo ſo vieles zu ordnen 
war, waren wir im Gaſthaus, ſpaͤter zogen wir in unſer Marxzeller 
Haͤuschen, wo ich viel radierte. 

Die Decken wurden nun heruntergeklopft, die morſchen Balken erſetzt. 
Wir ſahen jetzt, wie auch die Arbeiter ſagten, daß wir ſchon lange der Ein; 
ſturzgefahr ausgeſetzt geweſen. Bei einer Stelle gerade uͤber meinem 
Schreibtiſch konnten die Arbeiter, die dort beſchaͤftigt waren, ſich mit 
knapper Not retten. Jetzt ſchreibe ich an der Stelle an meinem Lebenslauf. 

Mitte September folgten wir der Einladung unſerer Frankfurter 
Freunde Küchler, wir wohnten in ihrem gaſtlichen Haufe, und ich fühlte 
wieder, wie ſehr mir Frankfurt doch zur Heimat geworden war. Ich ſah 


140 


wieder, wie ſchoͤn die Stadt und ihre ganze Lage und Umgebung iſt, 
und die ſchoͤnen Herbſttage wurden fleißig zu Ausfluͤgen benutzt. Ein 
freundlicher Herr Abeles, der Beſitzer des bemalten Café Bauer, ſtellte 
uns ſein ſchoͤnes Auto zur Verfuͤgung, ſo daß wir auch die weitere 
Umgebung leicht wiederſehen konnten. Oberurſel, Cronberg, Koͤnig— 
ſtein uſw. Das Maintal auf- und abwaͤrts. Oft beſuchte ich auch die 
Gräber, wo meine Vorausgegaͤngenen nun ſchon ruhen, die Mutter 
und Cella, Graͤber, die auch mich und Agathe einmal aufnehmen ſollen. 
Das Wort Gottesacker klingt troͤſtlich, ich glaube, es iſt den Bauern— 
begriffen entnommen, es ſchließt die Hoffnung auf Auferſtehung in 
ſich. Der Acker Gottes, Saat und Ernte ſind damit umſchloſſen. 

Dieſe Herbſttage in Frankfurt waren voll ſchwermuͤtiger Erinnerung 
an vergangenes Erdengluͤck, ſo ferngeruͤckt und doch durch die Wirklich— 
keit ſo gegenwaͤrtig. Vielleicht laͤßt ſich der Zuſtand, in dem ich mich 
befand, mit dem Wort: ſuͤße Wehmut, ausdrucken. 

Im November kam die Nachricht, daß die Wohnung wieder her— 
geftellt fei, und wir ſahen der nicht geringen Aufgabe entgegen, fie 
wieder einzurichten. Wir wollten, ſolange der Einzug waͤhrte, im Gaſt— 
haus wohnen. Aber am Bahnhof nahmen uns Friedrich Blaue und 
die kleine Iſa in Empfang, und als ſie uns in das bereitſtehende Auto 
fuͤhrten und ich ſagte: „Ins Hotel Große“, ſo ſchmunzelte Iſa gar 
geheimnisvoll und ſagte, fie hätten jetzt eine beſſere Wohnung für uns 
gefunden, wir ſollten nur mitkommen, und fo fuhren wir erwartungs— 
voll mit und das Auto fuhr direkt Hans-Thoma-Straße 2, in die alte 
Wohnung. Dieſelbe war vollſtaͤndig eingerichtet und auf dem Tiſche 
dampfte der Tee. Unſere Ella und Friedrich hatten das ganze Ein— 
richten beſorgt, uns mit dieſem Liebesdienſt uͤberraſcht. 

Ich freute mich ſo, daß ich nun gleich wieder an die Arbeit im Atelier 
gehen konnte. 


25 


Be dem Suchen in meinem aufgehaͤuften Kram, um Belege und 
Notizen zur Geſchichte meines Lebens aufzufinden, ſtoße ich auf ſo 


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viele Zeichen treuer Freundſchafts- und Liebebezeigung, daß mich ein 
bittres Gefuͤhl beſchleichen will, ich ſei dafuͤr nie dankbar genug ge— 
weſen, daß gar manche Seele, die ſanft oder auch ſtuͤrmiſch mit ihrer 
Zuneigung ſich mir genaht haben mag, wohl enttaͤuſcht geweſen ſein 
dürfte, und in meinem Weſen kalte Zuruͤckhaltung, ſtatt warme Dank 
barkeit gefunden haben wird. Das waͤre noch eine große Schluß— 
abrechnung, aus der mir ein peinliches Gefuͤhl uͤbrigbleiben koͤnnte. 

Doch moͤchte ich hier ſagen, daß ich ein dankbares Gemuͤt habe, daß 
ich all der freundlichen Menſchen, die mir mit Gruß und Zuruf auf 
dem Wanderwege begegnet ſind, in getreuer Dankbarkeit gedenke, daß 
ich jedem einzelnen meinen Dank zeigen moͤchte. Das geht aber nicht, 
es ſind gar viele, und gar manche davon haben ihre Rechnungsbuͤcher 
ſchon abgeſchloſſen und haben Feierabend gemacht, und werden wohl 
ſagen: „Laſſen wir doch jetzt die Rechnerei!“ 

Jeder Menſch wird auf ſeinem Lebensweg viel Liebe erfahren muͤſſen, 
wenn nicht, ſo ſtirbt er oder es ſtirbt etwas in ihm; aber auch, je greller 
das Licht iſt, deſto dunkler der Schatten, viel Haß. Der Menſchenweg 
geht nun einmal zwiſchen den Gegenſaͤtzen hindurch, ſo muß er ſeinen 
ruhigen Weg finden. Jeder wird auch ſein Teil Feindſchaft erleben 
muͤſſen, und wenn ſie auch nur aus Platzmangel und Futternot her⸗ 
ruͤhrt, oft iſt Feindſchaft faſt nur umgewendete Freundſchaft, ſo ſind 
ſie oft miteinander verkoppelt. Wohl kann der Menſch froh ſein, wenn 
er recht vielen Gleichguͤltigen begegnet, die ohne Liebe und ohne Haß 
an ihm voruͤberziehen, die ſo wenig wie er belaͤſtigt ſein wollen, die ihn 
ſtillſchweigend gewaͤhren laſſen, wenn er Blumen pfluͤcken will am 
Rande des Weges. Er verhalte ſich nur recht ſtill, daß ſie nicht auf⸗ 
merkſam auf ihn werden. Oft hilft aber auch alle Stille nicht. Auch 
dadurch kann man auffallen und es kann zum Vorwurf werden, daß 
man nicht mitmacht. Des halb rät ein weiſes Sprichwort: „Man muß 
mit den Woͤlfen heulen!“ 

Wenn man von einem feindlichen Wolf angeheult wird, ſo duͤrfte 
es auch dem Stillen gut ſein, wenn er auch ein wenig entgegenbellt. 
Der Wolf haͤlt ihn dann fuͤr ſeinesgleichen und laͤßt ihn gelten. Jen⸗ 
ſeits von Liebe und Haß ſteht etwas, was ich Verſoͤhnung nennen 
möchte. Beide koͤnnen auf die Menſchenſeele zerſtoͤrend wirken, wenn 


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fie zu ungemiſcht genommen werden. Verſoͤhnung ift ein Zauberwort, 
das ſo ſchoͤn klingt, das ich mir ſo gerne deuten moͤchte. Es beruht wohl 
auf dem hohen Erkennen, welches den wahren Sinn des Lebens ahnt, 
welches bei der Wahrheit ſteht und nun ſegnend die Haͤnde hebt und 
ſpricht: Friede ſei mit euch, es iſt alles gut ſo, wie es geordnet iſt. 

Es iſt aber jetzt Zeit, daß ich mein Schreiben vom Lebenslauf zum 
Abſchluß bringe. Ich haͤtte wohl noch manches zu ſagen, wie einem oft 
erſt beim Abſchiednehmen das noch einfaͤllt, wenn es faſt zu ſpaͤt iſt, 
was man dem Freund noch ſagen wollte. So faͤllt mir noch vieles ein, 
was ich vergeſſen habe, aber auch vieles, was ich haͤtte weglaſſen koͤnnen. 
Dann kommt auch der quaͤlende Gedanke, ob es wohl der Muͤhe wert 
geweſen iſt, dies hinzuſchreiben oder vielmehr, ob es auch der Muͤhe 
wert ſein mag, dies Geſchriebene zu leſen. Der Vernichtungs— 
gedanke, der neben dem Menſchenleben es bedrohend einherlaͤuft, 
vielleicht als Hemmſchuh gegen allzu große Verwichtigungsgefuͤhle, 
will hier Platz greifen. 

Aber dem ſei jetzt wie es wolle. Ich will nichts mehr aͤndern; was ich 
geſchrieben habe, habe ich geſchrieben; ich kann ja auch nichts mehr 
aͤndern an dem, was und wie ich gelebt habe, das alles muß ich nun 
ſo dahinnehmen mit allen Unzulaͤnglichkeiten, Ungeſchicklichkeiten, 
Fehlern und Verzeichnungen, wie ſie wohl oͤfters beim Entſtehen von 
Menſchenwerken mit entſtehen. Es find Dinge, die man durch Aug; 
radieren nicht mehr verbeſſern kann. 

Je mehr ich mit dem Schreiben meines Lebenslaufes in das hinein; 
komme, was wir die Gegenwart, die Jetztzeit nennen, deſto ſchwieriger 
wird fuͤr mich die Sache, deſto weniger kann ich uͤber Sachliches be— 
richten. Es wird undeutlich, es verliert die Bedeutung, die man ihm 
beilegt. Das Alter iſt weitſichtig geworden, es ſieht nur noch gut die 
Dinge, die in der Ferne liegen, fuͤr die Naͤhe braucht es etwas wie eine 
Art von Brille. So kann es, wenn es erzaͤhlen will, zum Schluſſe nur 
noch einen Nebel von Betrachtungen machen, hinter denen es zu ver— 
ſchwinden trachtet. Es wird auch von einer Sorge bedruͤckt, daß es 
aus der Einſamkeit, der es ſich ergeben hat, gewaltſam herausgeriſſen 
werden koͤnnte, und es kann das rauſchende Leben nur noch ſchmerzlich 
empfinden. Es klammert ſich an die Einſamkeit an, der es nun ver; 


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fallen iſt — und fo wird aus einem alten Schwarzwälder zum Schluß 
ein Waldbruder, der in das große Geheimnis der Natur verſinken will. 
Und ſeine letzte Stimme kann nur noch zu einem dankbaren Lobgeſang 
werden an den lebendigen Gott, von dem er ſtammt, der ſeine Wege 
geleitet und zu dem er nun bald wieder heimkehren darf, in der freu⸗ 
digen Hoffnung auf deſſen ewige Liebe und Barmherzigkeit. Weſenlos 
wird ihm das Menſchenleben, der Jammer, mit dem ſie ſich plagen, 
den er nicht mehr verſteht, er fluͤchtet ſich zur Liebe hin, die am Kreuz 
noch ihre Arme ausbreitet mit dem Verſoͤhnungsruf: Es iſt vollbracht! 


Einſiedlers Nachtlied. 
Einſam wandle ich im Daͤmmerſchein; 
Die Welt wird ſtill, bald bricht die Nacht herein. 
Die Sonne ſank, der Mond verlor den Schein; 
Der Seel’ wird bang beim Wandern in die Nacht hinein. 
Es fallen ihr vom Sehen nun die Augen zu. 
Ob ſie ſich wehrt, ſie muß nun doch zur Ruh; 
Dem Spiel mit ihren ſchoͤnen Siebenſachen 
Wird der tiefe Schlaf ein Ende machen. 
Aus iſt bald ihr Weinen, kein Licht will ihr mehr lachen; 
Zu Verweſung nimmt den Leib des Grabes Rachen. 
O Herr des Lebens, nimm mich nun ganz mit dir, 
Sei Du mein ewig Licht ſo dort wie hier. 
Mein Gott, Du darfſt mich nicht verlaſſen, 
Du ſollſt meine Seel’ in Deine Haͤnde faſſen. 
Du, meine Sonn’, wirft nie mehr untergehen, 
Mein Mondſchein bleibſt in meiner Nacht beſtehen. 
Zum Herrn des ew'gen Lichts geht nun die Seele ein; 
Durch dunkles Tor da wird ſie frei aller Erdenpein. 
Aus der Heimat fern kommt's ſchon wie Morgenſchein; 
Die Leidenstage enden. In Gottes Ruh’ wird's lieblich fein. 


ND Thomas, Hans 
588 Im Winter des Lebens 
T4A32 


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