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Full text of "Theorie Der Willenserziehung Auf Der Grundlage Der Gemeinschaft"

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Sozialpadagogik 


Theorie der Willenserziehung 
auf der Grundlage der Gemeinschaft 

Von 

Paul Natorp 

Vierte dnrchgesehene Aoflage 


Stuttgart 

Fr, Frommanns Verlag (E. Hauff) 
1920 




Monotypesate and Druck der Chr. Belaerscheu Buchdruokorei, Stuttgart. 




Rudolf Stammler 

dem Freunde und Mitforscher 


treulich gewidmet. 




Vorwort zur vierten Auflage. 

Bereits auf ein volles Vierteljahrhundert blickt die Sozial- 
pädagogik in ihrem ersten Entwurf und den Anfängen der Aus- 
führung^) zurück. Die Fragen, von denen sie tändelt, haben 
seither von ihrer Bedeutung nicht nur nichts verloren, sondern 
sich mit immer drohenderem Ernst vor uns auf gerichtet. Leben 
oder Tod der Menschheit hängt an ihnen. Für die Sache der 
sozialen Erziehung ist der Eifer heute ohne Vergleich reger als 
je zuvor. Auch der Versuch einer theoretischen Grundlegung, 
wie er in dem Buche, fast muß gesagt werden, zum ersten Mal 
gewagt worden ist, darf heute auf weit mehr Verständnis 
rechnen, als da es zuerst erschien.®) Und so läßt es sich wohl 
verstehen, daß das schon längere Zeit vergriffene Buch niemals 
lebhafter als heute verlangt worden ist. 

Aber doch würde ich es nur mit schlechtem Gewissen wieder 
hinausgehen lassen, ohne gleichzeitig das zu geben, was zu 
seiner Ergänzung und Vertiefung, die in vielem doch auch Be- 
richtigung sein muß, mir heute zu geben so möglich wie nötig 
erscheint. Schon die ganze Reihe meiner seither erschienenen, 
den Gegenstand dieses Buches mehr oder weniger eng berühren- 
den Arbeiten »bietet davon manches. Ich nenne (indem ich im 

Der Begriff „Sozialpädagogik“ wurde aufgestellt in der Schrift 
„Religion innerhalb der Grenzen der Humanität** (1894), S. 86; die erste 
Darstellung gegeben in einer Folge von Abhandlungen: „Grundlinien einer 
Theorie der Willensbildung“, im Archiv Jür systematische Philosophie, 
Bd.I-~.in (1894—97). 

■) Die Kritik, die das Buch erfuhr, richtete sich fast ausschließlich 
gegen das Unternehmen einer philosophischen Grundlegung überhaupt. 
Meine Entgegnung (im Vorwort der 2. und 3. Auflage, S. VI — XX) durfte 
Mer wegbleiben. 



VI 


übrigen auf das nachstehende Schriftenverzeichnis verweise) 
an dieser Stelle nur: meine Pestalozzi- Arbeiten, die soeben in 
der neuen Schrift „Der Idealismus Pestalozzis“ einen gewissen 
Abschluß erreicht haben; die „Gesammelten Abhandlungen zur 
Sozialpädagogik“; die Schrift „Philosophie und Pädagogik“; 
und für die praktischen Fragen sozialer Erziehung besonders 
die Schrift „Volkskultur und Persönlichkeitskultur“. Aber 
mit ganz neuer Wucht mußte difi ernste innere Gefahr, in die 
unser Volk durch den erschütternden Ausgang des Krieges ge- 
stürzt ist, wie jeden nicht Stumpfsinnigen, so besonders den 
ergreifen, der von je im Menschen selbst, nicht in äußeren Dingen,, 
den Grund und die wahre Bedeutung sozialer Umstürze gesehen 
hat; dem die soziale Frage schon immer nicht bloß, wie oft 
gesagt worden, eine sittliche, sondern eine Frage der ganzen 
Innerlichkeit des Menschen, die Frage seiner Selbsterziehung zum 
Menschen bedeutet hat. Auf das neue Buch, das etwa gleich- 
zeitig mit dieser Neuauflage erscheinen soll: „S o z i a 1 i d e a- 
lisinus. Neue Richtlinien sozialer Erziehung“ 
seien alle die nachdrücklich hingewiesen, welche, wie ich selbst,, 
das, was das alte Buch bot, nicht als zu radikal, sondern als 
noch lange nicht radikal genug empfinden. Jeder aber, der mich 
kennt, weiß, daß dies Wort ,, radikal“ mir, hier wie stets, vor 
aUom von der Vertiefung der philosophischen Grundlegung gilt. 
Diese fordert — das ist meine ernste Überzeugung, ich möchte 
sagen, als Deutscher — heute von uns nichts geringeres, als den 
Neuaufbau der Philosophie. Einen solchen glaube ich, wenig- 
stens im Grundplan, für nahe Zeit verspivchen zu dürfen. 
Wer Verständnis dafür hat, wird einige Ifauptliihen dieses 
Grund planes in dem soeben genannten Buche deutlich durch- 
schimmern sehen. 

Bei dem allen aber möchte die Neuherausgabe des alten 
Buches nun doch nicht bloß im Sinne eines Rückblickes auf das, 
was hinter uns liegt, verstanden sein. Die Grundfrage besteht 
doch heute nicht anders als damals und je. Es ist und bleibt 
immer die, auf die schon der Titel weist: nach den „Wechsel- 
beziehungen zwischen Erziehung und Gemeinschaft“. Es galt 
und gilt und wird gelten, die Erziehung überhaupt, deren Kern 



VII 


die Erziehung des Willens ist, sich klar zu machen „als bedingt 
dutch das Leben der Gemeinschaft und wiederum bedingend 
für dessen Gestaltung.“ Von da aus muß neues Licht fallen 
„gleichzeitig auf die Tatsachen der Erziehung und auf die Tat- 
sachen des sozialen Lebens, das sich unter diesem Gesichtspunkt 
als ein großer Organismus zur Menschenbildung darstellt. 
Indem also zwei sonst getrennte Wissenschaften, Gesellschafts- 
lehre und Erziehungslehre, nicht bloß äußerlich aneinander zu 
bringen, sondern als in der tiefsten Wurzel eins und untrennbar 
zusammengehörig zu erweisen waren, wurde es notwendig, bis 
zu den philosophischen Gründen beider zurückzugehen. Ein 
deduktiver Aufbau mußte gewagt werden.“ Von dem so im 
Vorwort der ersten Auflage formulierten Programm läßt sich 
nichts abdingen. Und was das Buch zu dessen Ausführung 
beitrug, bedarf, gerade was die theoretische Grundlegung be- 
trifft, heute wohl der ferneren Vertiefung, aber kaum in etwas 
Wesentlichem der Berichtigung. Anders freilich verhält es sich 
mit den praktisch-pädagogischen Ausführungen des dritten 
Buches. Diese rechnen durchaus mit dem Gegebenen, sie setzen 
die bestimmte damalige, in den meisten Hinsichten bis heute 
nicht wesentlich geänderte Lage, und bestimmte, immer noch 
vorwaltende Grundanschauungen voraus, sie stellen sich nicht 
die Aufgabe, diese selbst von Grund aus zu ändern, sondern für 
so lange, als sie noch gelten, das beste, was möglich, daraus zu 
machen. Das aber ist auch heute nicht überflüssig. Gerade 
je innerlicher die Umkehr ist, die von uns unerbittlich gefordert 
ist, um so weniger darf man sie sich von heute auf morgen voll- 
ziehbar denken. Man muß also die Geduld haben, das, was 
kommen muß, aber seine Zeit braucht, zu erwarten. Aber nur 
um so ernster muß jeder, der sich der sozialen Erziehungsarbeit 
widmet, als Pflicht empfinden, die Voraussetzungen seines Tuns 
in immer erneute, immer strengere Prüfung zu nehmen. Keiner 
darf da, wo er heute gerade steht, eigensinnig stehen bleiben 
wollen. Jeder müßte in der heutigen, verantwortungsschweren 
Lage mehr denn je das unbedingte Bedürfnis empfinden, nach 
Schleiermachers ernster Mahnung, jung zu bleiben bis zum letzten 
Pulsschlag mit allem, was Jugend hat und behalten möchte; 



VIII 


nie fertig werden zu wollen mit dem, was zu unendlich ist, um 
je fertig zu sein. 

Aus diesem Bedürfnis sind mir alle meine Arbeiten, beson- 
ders die sozialpädagogischen, erwachsen. Wenn sie etwas sind 
und wirken, so ist es darum. Verjüngen aber muß doch nicht 
Losreißen bedeuten ; sondern Besinnen auf das, was ebenso war 
wie ist und sein wird. Verjüngen heißt verewigen. Nur das 
Ewig© ist, und bleibt ewig, jung. Darum kann nichts, das je 
echt war, veralten. Die Scheidung aber des Echten und Nicht- 
echten bleibt alle Tage neu gefordert. 

Marburg, im September 1919 . 

Der Verfasser. 



Schrifiten und Aufsätze, 


die auf das Thema dieses Buches Bezug haben und zu seiner Ergänzung 
dienen. 


A. Historisches. 

Gesammelte Abhandlungen zur Sozialpädagogik, 1, Abteilung: HistO' 
risches, Stuttgart, Frommann, 1907. (Darin die früher einzeln erschienenen 
Schriften und Aufsätze: Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik; 
Gondorcets Ideen zur Nationalerziehung; Pestalozzi unser Führer; Pesta- 
lozzis Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage; Pestalozzi und die 
Frauenbildung; Herbart, Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der Er- 
ziehungslehre; Kant oder Herbart? Eine Gegenkritik; dazu die neuen 
Abhandlungen: Pestalozzis Prinzip der Anschauung; Neue Untersuchungen 
über Herbarts Grundlegung der Erzichungslehre. ) 

Platos Erziehungslehre (Art. in Reins Enzyklop. Handb., 2. Aufl.). 

Rousseaus Sozialphilosophie (Ztschr. f. Rechtsphilos. Bd. II, H. 1. 1917). 

Joh. Heinrich Pestalozzi (Greßlers Klassiker der Pädagogik, Bd. 23 — 25, 
Langensalza, 1905, Bd. 23 in 2. Aufl. 1910). 

Pestalozzis Pädagogik (in Reins Handb., 2. Aufl.). 

Pestalozzi. Sein Lehen und seine Ideen. (In d. Sarnmlg. : „Aus Natur 
und Geisteswelt“, Leipzig, Teubner, 3. Aufl. 1919). 

Der Idealismus Pestalozzis. Eine Neuuntersuchung der philosophischen 
Grundlagen seiner Erziehungslehre. (Leipzig, Felix Meiner, 1919). 

Volk und Schule Preußens vor hundert Jahren und heute. (Gießen, 
Töpelmann, 1908.) 

Schleiermacher und die Volkserziehung (in der Sammelschrift Schleier- 
macher. der Philosoph des Glaubens.) (Berlin -Schöneberg, Buchverlag der 
„Hilfe“. 1910.) 

Ludwig Natorp. Ein Beitrag zur Geschichte der Einführung Pesta- 
lozzischer Grundsätze in die Volksschule Preußens. (Monatsh. d. Comenius- 
Ges. IV, 261; auch sep. 1895.) 

Dörpfelds Fundamentstück. Eine Kritik. (Deutsche Schule, II, 9; 
vgl. ebenda VI, 81, und Evang. Schulblatt L 295. 381.) 


B. Systematisches. 

Philosophie und Pädagogik. Untersuchungen auf ihrem Grenzgebiet. 
Marburg, Eiwert, 1909. (I. Über Philosophie als Grundwissenschaft der 

Pädagogik. II. Individualität und Gemeinschaft. Eine philos.-pädag. 
Untersuchung. III. Über Philosophie und philosophisches Studium. Ein 



X 


akademisches Gespräch. Dazu die früher schon erschienenen Aufsätze: 
IV. Zum Gedächtnis Kants, 1904, und V. Was uns die Griechen sind, 
akad. Festrede, 1901,) 

Philosophie, ihr Problem und ihre Probleme. Einführung in den kritischen 
Idealismus. 2. Aufl. (Göttinnen, Vandenhoeck ^ Ruprecht, 1918.) 

Allgemeine Psychologie in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen. 
2, Aufl. (Marburg. Eiwert, 1910.) 

Allgemeine Pädagogik in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen. 
2. Aufl. (Marburg. Elweri, 1913.) 

Volkskultur und Persönlichkeitskultur. Sechs Vorträge. (Leipzig, 
Quelle ^ Meyer, 1911.) 

Sozialidealismus. Neue Richtlimcn sozialer Erziehung. (Berlin, Jul. 
Springer. 1919.) 

Soziale Erziehung (Volksbildungsarchiv I, 1, 1909). 

Die W iedergehurt unseres Volkes nachdem Kriege. (In der Sammelschrift 
„Die Arbeiterschaf t im neuen Deutschland“. Her. v. Fr. Thimme u. C. Legien. 
Leipzig, Hirzel, 1915.) 

Sozial Pädagogik und Willensbildung. (Art. in Reins Enzyklop. Handb.) 
Sozialpädagogik. Ihre Grundzicle und ihre Konsequenzen. (Dokum, d, 
Fortschritts, I, 427. 1908.) 

Die ,fGef ähren der Einheitsschule'' (Säemann, III, 329). 

Die Einheitsschule. Eine Auseinandersetzung mit Herrn Prof. Ferdinand 
Jakob Schmidt. 2. Aufl. (Union Deutsche Verlagsges. Berlin 1919.) 

U nioersiiät, Einheitsschule und A uf stieg der Begabten. Randbemerkungen 
zu E. S[)rangcrs „Begabung und Studium“. (Deutsche Schule X XII, 8. 1918.) 

Über oolkstümliche Uniocrsilätskurse. nwersitätsausdehnung." (Akad. 
Revue, JI, 637, 1896. Vgl. auch Com.-Blätter V, 1 ; Schriften d. Zentralstelle 
f. Arh.-Wohlf.-Einr. XVIII, 1.) 

Unwersität und Volksbildung. (Volksbildungsarchiv Bd. 111. 11. 1, 1912.) 
Die Aufnahme des V olkshildungswesens als Lehrfach an den ü nioersitaten. 
(Bcr. üb. d. Vhdl. d. V. deutschen Volksbochschultags, S. 11 — 27 u. 47 — '5„0. 
1912.) 

Thesen betreffend die Pflege der Erziehungswissenschaf t an der ünioersität. 
(Ztschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Päd. 1918.) 

Religion innerhalb der Grenzen der Humanität. Ein Kapitel zur Grund- 
legung der Sozialpädagogik. 2. Aufl. (Tübingen, Mohr, 1908.) 

Leitsätze zum Religionsunterricht (Z(‘itschr. f. Phslos. u. TOidag. XII, 
490 und Deutsche Schule, IX, 645, 1905}. 

Religionsunterricht oder nicht? Refherkungen zur Denkschrift der 
Bremer Lehrerschaft (Deutsche Schule. X. 12). 

Jemand und ick. Ein Gespräch über Monismus, Ethik und Christentum, 
den Metaphysikern des Bremer „Roland" gewidmet. (Stuttgart, Frommann, 
1906.) 

Religion und Religionsunterricht. (Lcipz, L.-Zlg., XV, 317. 334.) 

Ein Wort zum Schulantrag (Dcufscl)e Schule iX, 15. 65: seo Lnz 
Klinkhardt, 1905). ^ 

Wider die Schulvorlage. (Halle, Gebauer ^ Sohwolschke, 1906.) 



I n h a 1 i 

Erstes Buch. Ortindletfung. 

§ 1. Erziehung, Bildung, Wille, Idee 3 

§ 2. Idee nicht Naturbogriff 6 

§ 3. Idee nicht Begriff der Psychologie 10 

§ 4. Erkenntniskritik nicht Psychologie 16 

§ 5. Das Gebiet des InteBekts: «heoretische Erkenntnis oder Er- 

fah/ung 25 

§ 6. Das Gebiet des Willens: praktische Erkenntnis oder Idee . . 35 

§ 7. Stufen der Aktivität. Erste Stufe: Trieb 54 

§ 8. Zweite Stufe der Aktivität: Wille im engem Sinn 67 

§ 9. Dritte Stufe der Aktivität: Vernunftwille . r 74 

§ 10. Erziehung und Gemeinschaft. Sozialpädagogik 84,. 

Zweites Buch. Hanptbegriffe der Ethik und Sozialphilosophie. 

§ 11. Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung .... 99 

§ 12. System der individuellen Tugenden. 1. Die Tugend der Ver- 
nunft: Wahrheit 107 

§ 13. 2. Die Tugend des Willens: Tapferkeit oder sittliche Tatkraft 118 

§ 14. 3. Die Tiigmnd des Trieblebens: Reinheit oder Maß 126 

§ 15. 4. Die individuelle Grundlage der sozialen Tugend: Gerechtig- 
keit 135 

§ 16. Parallelismus der Funktionen des individualen und sozialen 

Lebens 'J48 

§ 17. Grundklassen sozialer Tätigkeiten 165 

§ 18. Grundgesetz der sozialen Entwicklung 179 

§ 19. Die Tugenden der Gemeinschaft 202 

Drittes Buch. Organisation und Methode der Willensbildung. 

§’4o. Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 1. Das Haus . 217 

I 2^* - - .. „ 2. Die Schule . 227 

§ 22. „ „ „ „ 3, Freie Sclbst- 

erziehung im Gemeinleben der Erwachsenen 238 

§ 23. Form der willenbildenden Tätigkeit. Übung und Lehre . . 249 

§ 24. Autorität und ihre Hilfsmittel 258 

§ 25. Sittliche Lehre 266 

§ 26. Materie der praktischen Übung und Lehre. Erste Stufe: 

Hauserziehung 274 

§ 27. Zweite Stufe: Schul er Ziehung 283 

§ 28. Dritte Stufe: PYeie Selbst erziehung 288 

§ 29. Anteil der Intellektbildung an der Willenserziehung. Grund- 
lagen und erste Stufe 298 

§ 30. Fortsetzung. Zweite Stufe. ,, Erziehender Unterricht“, ins- 

besondere Geschichte als „Gesinnungsunterricht“ 311„ 

§ 31. Übergang zur dritten Stufe. Philosophische Bestandteile des 

Unterrichts, insbesondere Ethik als Lehrfach 331:, 

§ 32. Anteil der ästhetischen Bildung an der Willenserziehuiig . . 34lv 

§ 33. Religion und Humanität 36i 

§ 34. Anteil der Religion an der Willenserziehung 379 

Namen- und Sachregister . 391 




Erstes Buch. 

Grundlegung. 




Emehung, Bildung, Wille, Idee. 


Es ist nur eine Seite der Erziehung, für welche die theo- 
retischen Grundlagen hier nachgewiesen werden sollen. Doch 
ist es die, von der schließlich das Ganze der Erziehung abhängt. 
Also müssen die nachzuweisenden Grundlagen auch für das 
Ganze zulangen. 

Das Wort Erziehung wird am eigentlichsten von der 
Bildung des Willens gebraucht. Es hat zwar einen hinlänglich 
weiten Sinn, um zu gestatten, daß man auch von intellektueller, 
ästhetischer, religiöser Erziehung spricht. Aber auch dabei 
denkt man vorzugsweise an die Abhängigkeit der intellektuellen, 
der ästhetischen, der religiösen Bildung von der Bildung des 
Willens oder an ihre Rückwirkung auf diese. Andernfalls 
spricht man von Unterricht oder gebraucht das allgemeine 
Wort Bildung, Ausbildung. 

Dieses scheint in der Tat am geeignetsten, um das Ganze 
der pädagogischen Aufgabe zugleich dem Umfang nach er- 
schöpfend und dem Inhalt nach bezeichnend auszudrücken. 
Man spricht von wissenschaftlicher, technischer, künstlerischer 
so gut wie von sittlicher Bildung; der Ausdruck ist anwendbar 
auf jede Sonderrichtung der pädagogischen Tätigkeit, er ist 
es erst recht auf ihr Ganzes, auf die Einheit der humanen und 
beruflichen Erziehung. Und, mag dabei mehr gedacht sein an 
die plastische Tätigkeit des Künstlers, das absichtliche Formen, 



4 — 


Gestalten des gegebenen Stoffs zur vorschwebenden Idee, oder 
an die plastische Kraft der Natur in ihren organischen Hervor- 
bringungen, das spontane Sichgestalten, so wie so ist das Wort 
bezeichnend wie kein andres; ^es weist hin auf das innere 
Gesetz, nach dem ein Gebild, sei es als Werk der Kunst ge- 
staltet wird oder als ^Verk der Natur sich selbst gestaltet. 

Doch behält daneben das Wort Erziehung seinen eigentüm- 
lichen und hinreichend allgemeinen Sinn. Es ist bezeichnend 
gerade nach der Seite, die das Wort Bildung unentschieden 
läßt. Es weist darauf hin, daß die menschliche Bildung, 
wie sehr auch Sache natürlicher Entwicklung, doch zugleich 
einer auf Förderung oder wenigstens Schutz dieser Entwicklung 
planvoll gerichteten Bemühung bedarf. Es liegt darin die Ana- 
logie des Aufziehens, des absichtlichen Züchtens, der „Kultur“ 
von Pflanzen und Tieren, im Unterschied vorn bloß natürlichen, 
spontanen Aufwachsen. Das Wort besagt: durch geeignete 
Behandlung oder Pflege zum gedeihlichen Wachstum bringen. 
Darin liegen diese zwei Voraussetzungen: erstens, es gibt ein 
Wachstum, eine stetig wie nach innerem Plan fortschreitende 
Entwicklung mitgebrachter Anlagen zu einer gewissen Höhe, 
die unter bestimmten, normalen Bedingungen sicher erreicht 
wird ; zweitens aber, es ist möglich und notwendig, dies Wachs- 
tum zu unterstützen, mindestens Störungen desselben hintanzu- 
halten durch eigens darauf gerichtete planmäßige Vorsorge, 
ohne welche die gleiche Höhe der Ausbildung nicht, oder nicht 
ebenso rasch, oder nur mit sonstigen Nachteilen erreicht wird. 
Es wird damit nicht geleugnet, daß Bildung innere Entfaltung 
gegebener Keime ist; auch das Wachst uni der i^fianze, des Tiers 
macht ja nicht die Kultur; aber es wird bestimmter heraus- 
gehoben, daß die mitwirkende Tätigkeit des Andern gleich- 
wohl unerläßlich ist, ohne die auch des Menschen eigenste 
Anlage sich nicht gehörig entfalten, sondern verkümmern würde. 
Auch wenn von Selbsterziehung gesprochen wird, denkt man 
eigentlich zwei Personen in einer vereint, die, welche erzogen 
wird, und die andere, welche erzieht. Auch so betont das 
Wort, daß nicht nur der Wille es ist, welcher gebildet werden 
soll, sondern auch die bildende Tätigkeit Sache des WiUens, 



obgleich in diesem Fall nicht eines fremden, sondern des eignen 
Willens dessen ist, der erzogen werden soll. Übrigens ist 
Selbsterziehung erst Resultat der Erziehung durch Andre. 

Also, daß menrschliche Biicüpig Willenssache ist, das 
ist das Besondere und Wichtige, was das Wort Erziehung in 
Erinnerung hält. Und vielleicht ist eben dies der Grund, 
weshalb es vorzugsweise von der Bildung des Willens gebraucht 
wird. Denn unmittelbar Sache des Willens ist nur die Er- 
ziehung des Willens selbst; während auf alle andern Seiten 
der Bildung der erziehende Wille nur dadurch Einfluß erlangt, 
daß er den Willen des Zöglings zu gewinnen und auf das 
gewollte Ziel hinzulenken weiß. 

Auf jede Weise aber enthält schon dieser erste Grundbegriff 
der Pädagogik, der der Erziehung selbst oder der Bildung, ein 
Problem von eigentlich philosophischer Natur: das Problem des 
Sellens oder des Zwecks oder, wie wir am liebsten sagen, 
der Idee. Bilden, sagten wir, heißt formen, wie aus dem 
Chaos gestalten; es heißt, ein Ding zu seiner eigentümlichen 
Vollkommenheit bringen; vollkommen ab<;r heißt, was ist wie 
es sein soll. Dasselbe besagt nur deutlicher das Wort Idee: 
es besagt die Gestalt einer Sache, die wir in Gedanken haben 
als die sein sollende, zu der der gegebene Stoff, sei es gestaltet 
werden oder sich selbst gestalten soll. Das ist die innere und 
wesentliche Beziehung der Begriffe Bildung und Idee. Und 
nicht weniger klar liegt die gleiche Grundvoraussetzung eines 
anzustrebenden Zieles der Entwicklung in jenem Moment des 
absichtlichen, planvollen Einwirkens, welches deutlicher in dem 
Wort Erziehung zum Ausdruck kommt; wie denn diese Vor- 
aussetzung ganz allgemein im Begriff des Willens enthalten 
ist, denn Wille heißt zuletzt nichts andres als Zielsetzung, 
Vorsatz einer Idee, d. i. eines Gesellten. 

Wie aber ist dies Sollen zu begründen? Woher schöpfen 
wir die Erkenntnis, nicht, wie ein Ding tatsächlich ist, 
sondern wie es sein soll? Warum soll es so sein, wie es doch 
aus bestimmten tatsächlichen Gründen nicht ist, auch vielleicht 
nie gewesen ist und nie sein wird? Der gewöhnliche Weg 
der Erkenntnis, die Erfahrung, scheint darauf keine Antwort 



6 


zu geben; sie langt nur zu für das was ist. Sie erstreckt 
sich auf Natur in ihrem ganzen Umfang und auf nichts mehr; 
Natur aber weiß nichts von Zwecken, von Ideen; in ihr soll 
nichts, sondern ist nur. Allein der Mensch setzt sich Zwecke 
z. B. als Erzieher; er stellt eine Idee dessen auf, was sein 
soll, obgleich es nicht ist, ja, was sein sollte, auch wenn es 
nie gewesen ist noch je sein wird. Also, was hat es überhaupt 
auf ,^ch mit dieser Zwecksetzung, diesem Sollen, dieser Idee? 
Ohhe klare und begründete Antwort auf diese Frage gibt es 
keinen Zugang zu einer Theorie der Erziehung, die des Namens 
wert ist; besonders nicht zur Theorie der Willenserziehung, 
denn dasselbe ist auch der letzte Sinn der Frage: was ist 
Wille? Die Theorie des Willens und die der Erziehung liegt 
auf einer Bahn, der der Forschung nach der Idee. In diese 
haben wir nun einzu treten. 


§ 2 . 

Idee nicht Naturbegriff. 

Sehr oft hat die Erziehungslehre der bestechenden Analogie 
der geistigen mit der materiellen Entwicklung nachgegeben. 
Und doch zeigt sie sich schon in schlicht empirischer Erwägung 
unstichhaltig, sofern sie etwas mehr' bedeuten will als ein 
bequemes Gleichnis, Bei der materiellen Entwicklung nämlich 
ist das zu erreichende Ziel, das gesunde, normale Wachstum 
des Organismus, durchaus nicht zweifelhaft; alle Schwierigkeit 
beginnt erst bei der Frage nach den Wegen, nach den zu- 
summenwirkenden Bedingungen des als norma! angenommenen 
Wachstums. Dagegen ist in der Erziehung nichts so sehr dem 
Streit unterworfen wie das anzustrebende Ziel. Das liegt nicht 
bloß an der vielfältigeren Verflechtung der die geistige Ent- 
wicklung bedingenden Faktoren, sondern es weist zurück auf 
einen gründlichen Unterschied der Rolle und Bedeutung der 
Idee, der Zielsetzung überhaupt auf dem einen und anderen Felde. 

Es ist allerdings sehr geläufig und kaum vermeidlich, auch 
das Werden der Naturformen, das Wachstum der Organismen, 
überhaupt alles, wovon eine Entwicklung ausgesagt wird, unter 



7 


dem Begriff eines Zieles, das erreicht, einer Bestimmung, die 
erfüllt werden solle, d. i. unter einer Idee zu denken; und so 
scheint die angenommene Analogie immer noch zuzutreffen. 

Allein bei der materiellen Entwicklung besagt das Ziel 
einen wahren, angebbaren Endpunkt, eine nicht zu über- 
schreitende Grenze, ein nicht zu übertreffendes Maximum, 
Solche und solche bestimmte Leistungen ist die gegebene 
materielle Organisation überhaupt zu entwickeln fähig. Darüber 
hinaus zu kommen bleibt ihr auch unter den günstigsten Um- 
ständen versagt; während es wohl ein Zurückbleiben hinter 
dem Ziel, eben unter der Ungunst der äußeren Bedingungen 
der Entwicklung, gibt. 

Daß das Maximum sich etwa nicht absolut bestimmen 
läßt, macht keinen grundsätzlichen Unterschied. Unter Vor- 
aussetzung unwandelbarer Artbegriffe würde es sich bestimmen 
lassen. Nun strebt die Biologie zwar die Artbegriffe zu ver- 
flüssigen, die starren Formen nach Möglichkeit in Prozeß und 
Bewegung aufzulösen. Allein ein Maximum der Entwicklungs- 
fähigkeit muß für die gegebene individuelle Organisation doch 
immer angenommen werden; das liegt schon in der Voraus- 
setzung einer bestimmten, gegebenen Organisation. „Es ist 
dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“ 
Wird aber ein Maximum vorausgesetzt, so läßt sich die Zweck- 
betrachtung ganz ausscheiden und in die rein ursächliche 
Umsetzen. 

Für die Biologie stellt sich die Frage eigentlich immer 
so: Wenn die und die Höhe von Leistungen erreicht werden 
soll — daß sie es soll, steht gar nicht in Frage — , welche 
Bedingungen müssen erfüllt sein? Diese Frage ist aber völlig 
einerlei mit der andern: Welches sind die Ursachen solcher 
voraus gedachten Wirkungen? Das Vorausdenken der Wir- 
kungen ändert nichts an dem kausalen Charakter des Ver- 
hältnisses. Gewöhnlich sind ja die Wirkungen zuerst bekannt 
und wird von diesen auf die Ursachen analytisch zurück- 
gegangen ; erst dann lassen sich auch progressiv oder synthetisch 
aus den voraus bekannten Ursachen die Wirkungen berechnen. 
Übersähe man nur das ganze Geflecht der Bedingungen, so 



8 


wäre von anderen als ursächlichen Beziehungen zu reden über- 
haupt kein Anlaß. 

So erscheint hier der Unterschied ursächlicher und zwecks 
lieber, kausaler und teleologischer Betrachtung nur „sub- 
jektiv“, nur ein Unterschied des Standorts des Beurteilers. Soll 
aber eins von beiden den „objektiven“ Tatbestand ausdrücken, 
so kann es nur das Ursach Verhältnis sein; kein Wunder, da ein 
Tatbestand eben nur ist, niemals, als solcher, bloß sein soll. 

Also das Sollen scheint in der teleologischen Betrachtung 
materieller Entwicklung überhaupt ohne Not eingeführt zu 
werden; jedenfalls nachdem es einmal eingeführt worden, ist 
alles Weitere nur Erwägung des Verhältnisses von Bedingung 
und Bedingtem; also, da es sich um zeitliche Bedingtheit 
handelt, des ursächlichen Verhältnisses. Nur diese Erwägung 
ist naturwissenschaftlich, nicht die teleologische. 

Zum Beispiel, das einzelne Organ dient — so sagt man — 
oder ist bestimmt zu einer gewissen Verrichtung; das heißt 
im Grunde nur: diese ist durch jenes bedingt. Diese Ver- 
richtung dient etwa weiter der Erhaltung des individuellen 
Organismus; diese der Erhaltung der Gattung; und diese etwa 
der Erhaltung von Leben überhaupt; wenn ein Leben über- 
haupt unter solchen und solchen Bedingungen bestehen sollte, 
so mußte eine diesen Bedingungen angepaßte Organisation 
sich bilden. Allein weshalb mußte überhaupt Leben sein? 
So lange man im Kreise naturwissenschaftlicher Erwägung 
bleibt, gibt es auf eine solche Frage keine Antwort mehr. 
Irgend ein letztes Soll wird also grundlos eingeführt; wenigstens 
langen die Methoden der Naturwissenschaft nicht zu es zu 
begründen. Das Hypothese zu nennen wäre Mißbrauch des 
Namens. Naturwissenschaftliche Hypothesen müssen den 
Bedingungen naturwissenschaftlicher Bewahrheitung genügen; 
naturwissenschaftlicher Beweis aber langt zu für Tatsachen 
und ursächliche Zusammenhänge von Tatsachen, nicht für 
ein Sollen, das etwas mehr als ein andrer Ausdruck des Ur- 
sachverhältnisses wäre. Ein ursprüngliches Sollen liegt ganz 
außer dem Wege der Naturwissenschaft. Das Sollen, von dem 
sie etwa spricht, ist kein ursprüngliches, sondern es ist, eigent- 



lieh ausgedrückt, bloße Kausalität. Der Vogel hat Flügel^ 
weil er fliegen soll; nein, er hat Flügel und kann daher fliegen. 
Das Individuum erhält sich^ weil die Gattung sich erhalten 
soll; nein, vielmehr damit, daß die Einzelwesen sich in den 
Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erhalten, erhält sich die 
Gattung in der ihrigen. Und schließlich, indem die Gattungen 
unter sich ändernden Lebensbedingungen variationsfähig sind, 
erhält sich das Leben im Ganzen, nämlich auf diesem Planeten, 
oder unter sonstwie begrenzten natürlichen Bedingungen. Daß 
aber Leben überhaupt unter allen Bedingungen sich erhalten 
müsse, d. h. solle, ist keine Erkenntnis der Naturwissenschaft 
mehr und keine naturwissenschaftlich mögliche Hypothese. 

Wenn dies aber so ist, wie kommt überhaupt die Zweck- 
betrachtung in die Natur? Sie ist hineingetragen, wird man 
antworten. Allein woher hineingetragen? Aus uns; sie ist 
unsere subjektive Zutat, Es sei, aber damit eröffnet sich 
eine ganz neue Aussicht. Die Zweckbetrachtung ist subjektiv, 
sie stammt aus uns; sind also wir nicht Naturwesen? Wie 
fände sonst bei uns die Zweckbetrachtung Anwendung, da 
doch bei keinem Naturwesen? Man muß wohl schließen: da 
die Zweckbetrachtung ganz außer der Bahn bloß naturwissen- 
schaftlicher Erwägung liegt, so kann sie auch aus uns nicht 
in die Natur hineingetragen sein, ausgenommen, wir selbst 
unterliegen noch irgend andrer als naturwissenschaftlicher 
Erwägung. 

Aller Zweck sei der Natur bloß angedichtet; es sei bloß 
subjektiver Zusatz zur kausalen Auffassung, die allein objek- 
tiven Grund hat. Es sei also, wie Spinoza will: Natur hat 
keine Zwecke, nur wir schreiben sie ihr zu, weil wir uns Zwecke 
setzen und geneigt sind, Natur nach menschlicher Analogie 
vorzustellen. Allein, wären wir uns selbst nichts andres als Natur 
(wie derselbe Spinoza behauptet), dächten wir uns nicht zum 
wenigsten anders, als wir Natur denken, so hätte die Idee des 
Zwecks genau so wenig Sinn für uns, wie für die Natur. Dann 
aber, woher käme uns überhaupt dieser Begriff? Vielleicht 
wird man nun antworten: er ist überhaupt rechtlos, in Be* 
Ziehung auf uns sowohl als auf die Natur. Allein nach seiner 



Berechtigung ist hier noch gar nicht die Frage/ sondern nach 
der Herkunft des Begriffs. Wir haben ihn: also, woher haben 
wir ihn? 

Es ist aber schon etwas damit gewonnen, daß klar wird: 
Sinn und Grund des Zweckbegriffs ist nicht, jedenfalls nicht 
ursprünglich zu suchen in der Art, wie wir die Natur, sondern 
wie wir uns selbst, in wie immer berechtigter Unterscheidung 
von der Natur, denken. Das heißt, die Entscheidung muß 
darin liegen, daß der Mensch ein Selbstbewußtsein 
hat. Selbstbewußte Entwicklung allein vermag sich zu denken 
unter der Idee eines Zieles, das sie erreichen solle; wo dagegen 
ein Selbstbewußtsein nicht in Frage kommt, also in der Be- 
trachtung der materiellen Natur, bloß als materieller, da ist 
der Zweckbegriff nur hineingetragen; er läßt sich ausscheiden, 
und die rein kausale Betrachtung bleibt zurück. 

Alle Zweckbetrachtung in der Natur geht, wie wir sahen, 
zurück auf die letzte Voraussetzung eines Strobcns der Selbst- 
erhaltung. Aber hat Natur überhaupt ein Selbst? 
Die Selbstheit, die wir ihr zuschreiben, legen nur wir hinein; 
und wir können es nur, weil wir das Bewußtsein eines Selbst 
'^‘‘haben. Also brauchten wir gar nicht erst zur Natur zu gehen, 
wir konnten bei uns selber bleiben, urn den Ursprung der Idee 
zu finden. 

Damit tritt unsre Untersuchung auf ein ganz neues Feld 
über: das der Analyse des Bewußtseins. Doch bedarf 
es bei einem so vieldeutigen Begriff genauer Unterscheidungen, 
wenn wir uns nicht alsbald von neuem verwickeln wollen. 


§ 3 . 

Idee nicht Begriff der Psychologie. 

Im Bewußtsein ist die Idee zu suchen. Am Bewußtsein 
aber — wir verstehen darunter zunächst zeitlich be- 
stimmtes Bewußtsein — unterscheidet sich zweierlei: das, 
was irgendwem bewußt ist, wir wollen es Erscheinung 
nennen, und das Bewußt- sein selbst. 



11 


Das Er&We läßt sich in allen Fällen so ins Auge fassen, 
daß vom Bewußt-sein dabei ganz abstrahiert wird. Das Er- 
scheinende, wiewohl wirklich nur im Bewußtsein gegeben 
(denn Erscheinen heißt: irgend wem bewußt sein), löst sich 
doch in der Betrachtung von ihm gleichsam ab. Eben indem 
es für jemand Erscheinung (ihm bewußt) ist, steht es allein 
ihm vor Augen; er hat nicht nötig, sein Augenmerk außerdem 
darauf zu richten, daß es ihm bewußt sei. Das Bewußt-sein 
der Erscheinung oder die auf sie sich richtende Betrachtung 
ist nicht noch ein fernerer, notwendig von ihm zu betrachten- 
der Gegenstand. Das würde ja auch ins TJnendliche gehen, 
denn ebenso müßte die Betrachtung der Betrachtung wieder 
Gegenstand einer neuen Betrachtung sein, und so fort ohne 
Ende. Sondern, indem die Erscheinung Gegenstand meiner 
Betrachtung ist, habe ich es nur mit ihr, nicht mit mir 
zu tun. 

So glauben wir es zu verstehen, daß die Gesamtheit des 
Erscheinenden sich in der Vorstellung zu einer Welt zusammen- 
schließt, von der wir reden können, als sei sie an sich ohne 
uns, die Betrachtenden da, als sei es ein bloßer, gleichgültiger 
Nebenumstand, daß auch wir da sind, sie zu betrachten; ob- 
gleich wir tatsächlich von ihrem Dasein freilich nur dadurch 
wissen, daß auch wir als die Betrachtenden da sind. 

Die „idealistischen"' Folgerungen, die sich hier nahelegen, 
sollen uns auf unserem Wege nicht auf halten. Es genügt, 
daß Erscheinungen gegeben sind als nächster, vorerst einziger 
Gegenstand der Erkenntnis. Unter Erkenntnis aber ver- 
standen wir bisher und verstehen auch jetzt: die Ordnung der 
Erscheinungen unter Gesetzen, und zwar ihre zeitliche Ord- 
nung, gemäß dem Grundgesetz der Kausalität. Dadurch be- 
grenzt sich das Gebiet der Naturerkenntnis. In ihr ist, 
wie wir uns überzeugten, die Idee nicht zu suchen. 

Nun meint man aber, es müsse doch auch das Andre, 
das Bewußt-sein der Erscheinungen, den Gegenstand einer 
eigentümlichen Erkenntnis bilden. Es ist doch eben auch vor- 
handen, wiewohl mit nichts verwandt oder vergleichbar, was 
uns, als von uns selbst Verschiedenes, erscheint: sollte es nicht 



12 


auch irgend einer eigentümlichen Erkenntnis zugänglich sein? 
Wie verhält es sich damit? 

Wir antworten darauf: An dem nackten Bewußt-sein oder 
Gegebensein für ein Ich ist durchaus nichts Eigentümliches zu 
erkennen; es ist für alles Gegebene unterschiedslos dasselbe^ 
und überhaupt ohne besonderen Inhalt. Wohl aber zeigt sich 
ein Unterschied in der Art, wie die Erscheinungen sich aufreihen 
und gleichsam zusammenstellen: einerseits als unmittelbar 
im jeweiligen individuellen Bewußtsein einander folgend 
oder auch auf einmal vorhanden, in bunter, ungleichmäßiger,, 
scheinbar gesetzloser, chaotischer Zusammenwürfelung; andrer- 
seits so, wie sie in jener gesetzlichen Ordnung, welche die 
für alle identische „Natur“ als Objekt einer für alle identischen 
Erkenntnis ausmacht, sich darstellen, oder vielmehr durch die 
Arbeit der Erkenntnis erst dargestellt werden. Diese Ordnung 
der als „Natur“ erkannten Objekte ist zwar immer noch uns 
Bewußtes; aber es scheint doch, sagen wir, auf verschiedenen 
Stufen oder Hohen der Bewußtheit dem Stoff nach dasselbe sich 
verschieden: zerstreuter, einheitlicher, in loserem, in festerem 
Zusammenhang, zu ordnen; und wenn in dieser Stufenfolge von 
Ordnungen das letzte Glied nach der einen, der Objektseite, die 
sogenannte äußere, von uns losgelöst gedachte Wirklichkeit oder 
Natur ist, so steht dem als Äußerstes nach der andern, der 
Subjektseite, unabgelöst von uns und unsrer Bewußtheit, ein 
letztes, unmittelbar Erscheinendes als gleichsam eine zweite, 
„innere“ Welt gegenüber: dies würde die rein psychische sein. 
Und diese müßte sich auch irgendwie zur Erkenntnis bringen 
lassen, da wir sonst überhaupt nichts von ihr wissen könnten. 
Sie würde aber, so sehr auch als subjektive der objektiven ent- 
gegengesetzt, doch nicht außer aller Verbindung mit der letzteren 
gedacht werden können, sondern es gäbe einen kontinuier- 
lichen Übergang in allmählicher Abstufung vom rein Psychischen 
zum rein Physischen, und jede der Zwischenstufen würde 
sich, je nach der Richtung der Betrachtung, dem Psychischen 
oder dem Physischen, der Subjektivität des Erscheinens oder 
der Objektivität des Seins zurechnen lassen; dieser ganze 
Gegensatz würde aus einem absoluten zu einem relativen. 



13 


Zwar die gemeinhin geltende Ansicht über das Ver- 
hältnis des „Physischen** und „Psychischen** ist eine weit andre. 
| Nach ihr soll es sich um z»vei ursprünglich getrennte Er- 
scheinungsreihen handeln; voii denen die zweite, psychisch 
' genannte nach im ganzen gleicher Methode wie die erste, die 
physische, zürn Gegenstaiid der Erkenntnis zu machen, d. h. 
hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit des Auftretens der bezüg- 
lichen Erscheinungen in der Zeit zu untersuchen, und ent- 
weder in einer eigenen, rein aus dem Material des Psychischen 
konstruierten Kausalordnung, oder in einer und derselben mit 
den äußeren oder Naturerscheinungen, oder iii einem ganz 
eigenartigen Verhältnis zu diesen, man nennt es Parallelismus, 
darzustellen wäre. Eine solche doppelte Reihe von Erschei- 
nungen gibt es, wie mir scheint, nicht.*) Denn nichts, was 
irgend ein Inhalt des Bewußtseins oder Erscheinung für uns 
ist, ist etwa nicht, hinsichtlich der Gesetzlichkeit seines zeit- 
lichen Auftretens, in die Ordnung der Natur einzubeziehen; 
andrerseits nichts noch so gegenständlich Gedachtes entbehrt 
der andern Beziehung auf das Bewußtsein, dem es gegeben 
ist, und auf das letzte, unmittelbar Erscheinende, aus dem es 
gestaltet worden. Bloß eine ist die Ordnung des ursprünglich 
Erscheinenden, bloß einzig vorhanden die Gesetzesordnung 
dieses selben Erscheinenden, welche „Natur** heißt. Nur erhält 
dasselbe, was in einer Hinsicht Erscheinung des Gegenstands, 
nämlich der Natur genannt wird, noch eine eigenartige Be- 
nennung in jener andern Beziehung, die es auf das Bewußtsein 
hat, dem es Erscheinung ist; es fügt sich auf Grund dieser 
Beziehung in ein andres Begriffssystem ein, etwa als Empfin- 
dung, Vorstellung, Gedanke. Und diese neue Benennung ist 
auch nicht ohne eigenen Inhalt; sie weist hin auf eine eigene, 
gleichsam Innenansicht desselben Materials, dessen Außen- 
ansicht die Natur ist. Und somit bleibt, auch wenn man eine 

*) Zur näheren Begründung vgl. „Einleitung in die Psychologie nach 
kritischer Methode“ (Freiburg, Mohr, 1888); Allgemeine Psychologie nach 
kritischer Methode, I (Tübingen 1912). Philosophie, ihr Problem und ihre 

Probleme (2. Aufl., Göttingen 1918), 5. Kap. 



14 


besondere psychische Erscheinungsreihe und eine besondere 
psychische Kausalität nicht anerkennen kann, immerhin eine 
eigene Art der Erkenntnis eines und desselben Erscheinenden 
übrig, welche, als die einzige eigentümliche Erkenntnis des 
Psychischen, Psychologie heißen kann. 

So wie so aber hat man es in Naturwissenschaft wie 
Psychologie lediglich mit Erscheinungen in der Zeit zu 
tun. Diese unterliegen als solche der Ordnung der Ursachen, 
aber nicht der Zwecke. Ein Ursprung des Zweckbegriffs läßt 
sich soweit gar nicht absehen. Er ergibt sich nicht aus der 
naturwissenschaftlichen, er ergibt sich ebenso wenig aus jener 
psychologischen Erkenntnis, die nur die Innenansicht der- 
selben Erscheinungen darstellt, deren Außenansicht Natur- 
wissenschaft heißt; er ergäbe sich auch nicht nach der sonst 
üblichen Auffassung der Psychologie, die nur, statt einer, 
zwei Naturen kennt. 

Aber vielleicht gibt es noch einen von diesen allen ver- 
schiedenen Weg der Forschung. Nämlich wir haben zum 
mindesten noch Naturwissenschaft selbst nach dem Grunde 
und Rechte jener ihr eigentümlichen Ordnungs weise der Er- 
scheinungen, welche die Natur als Objekt unsrer Erkenntnis 
erst hervorbringt, und nach dem Grunde und Rechte der 
fundamentalen Begriffe, Grundsätze und Methoden, mittels 
deren sie diese Ordnung schafft, zu befragen; zu denen als einer 
der obersten der Begriff Ursache, der Grundsatz der Kausa- 
lität aller Naturerscheinungen, und die Methoden gehören, 
nach welchen diese Kausalität erforvscht wird. Diese Frage 
kann nicht wiederum eine Frage der Naturwissenschaft sein; 
es läßt sich darauf nicht antworten durch die wiederum ur- 
sächliche Erkenntnis, welche Not etwa oder welcher sonstige 
Anreiz den Menschen treibt, nach Ursachen zu forschen. Dabei 
würde ja eben das, wonach gefragt ist, die Verursachung über- 
haupt, fortwährend vorausgesetzt. Es ist ebenso wenig eine 
Frage der Psychologie, denn diese würde entweder nur Ur- 
sachen einer andern Art für das Ursachdenken angeben können, 
oder gar sich darauf beschränken müssen, es als unser inneres 
Erlebnis lediglich aufzuweisen, worin überhaupt nichts von 



15 


Begründung enthalten wäre. Sondern es wird notwendig, von 
der ganzen, sei es in bloß tatsächlicher Nachweisung oder ur- 
sächlicher Erklärung der Erscheinungen sich bewegenden Er- 
kenntnis — welche letztere stets naturwissenschaftlich ist, und 
es ihrem allgemeinen Charakter nach auch dann bleibt, wenn 
man sie Psychologie zu nennen vorzieht — gleichsam eine Stufe 
emporzusteigen und sie selbst, alle Erkenntnis von dieser Art, 
aus einem neuen Gesichtspunkt zu betrachten, den wir den der 
Methode oder der Kritik nennen. Es ist ein Bewußtsein, 
welches nicht unmittelbar, sei es auf die Gegenstände der Natur, 
oder auf die Erscheinungen des Bewußtseins geht; auch nicht 
auf jenes nackte Bewußt-sein, welches, für alle Erscheinungen 
unterschiedslos dasselbe und ohne eigenen Inhalt, eigentlich nur 
die Tatsache des Erscheinens in abstracto aussagt, daher über- 
haupt keinen Stoff zu irgendwelcher besonderen wissenschaft- 
lichen Frage oder Nachforschung bietet; sondern ein Bewußt- 
sein, ausschließlich gerichtet auf die Einheit der Erkennt- 
nis und ihre Bedingungen. Es ist, in der vorerst ein- 
zigen Beziehung auf naturwissenschaftliche und psychologische 
Erkenntnis, das logische Bewußtsein. Auf dessen reine Gesetze 
gründet sich erst die Gesetzlichkeit der Zeitordnung der Erschei- 
nungen, d, i. die Kausalität; also können nicht umgekehrt die 
logischen von kausalen Gesetzen irgend welcher Art abhängen. 

Ist aber auf solchem Wege die Begründung sogar für 
den Ursachbegriff erst zu suchen, so kann man hoffen, im 
Verfolg desselben Weges etwa auch zum Ursprung des Zweck- 
begriffs zu gelangen. Denn so viel ist nach allem schon klar, 
daß dieser auf demselben allgemeinen Boden wie jener, gleich- 
sam an seinen Grenzen gesucht werden muß. 

Doch scheint vorerst dieser neue Weg der Forschung 
selbst noch der Sicherung bedürftig. Denn die hier voraus- 
gesetzte gänzliche Unabhängigkeit der kritischen Unter- 
suchung nicht nur von der naturwissenschaftlichen, sondern 
auch von der psychologischen, wird fortwährend bestritten. 
Die Erledigung dieser anscheinend bloß methodologischen Vor- 
frage wird uns unmittelbar an die Schwelle der Lösung unseres 
eigentlichen Problems führen. 



16 


§ 4 . 

Erkenntniskritik nicht Psychologie *). 

Gegen die Unterscheidung der Erkenntniskritik von der 
Psychologie, gegen die Ansicht überhaupt, daß die letzten 
Gesetze der Erkenntnis nicht Zeitgesetze, weder äußerer noch 
innerer Erscheinungen seien, pflegt eingewandt zu werden: 
Gesetze besagen überhaupt nichts andres als allgemeine Tat- 
sachen. Auch der Unterschied zwischen logischem, d. i. 
erkenntnismäßigem , und unlogischem, erkenntniswidrigem 
Denken kann nur ein tatsächlicher sein, der von tatsächlichen 
Bedingungen abhängt. Gesetze von Tatsachen aber sind ur- 
sächliche Gesetze ; also können auch die logischen Grundgesetze 
der Erkenntnis nur kausale Gesetze sein. 

Welcher Art sollen denn diese die Logik erst begründenden 
kausalen Gesetze sein? Hier antwortet die eine Partei: es sind 
Naturgesetze wie alle sonstigen, und zwar biologische Gesetze 
(z. B. Avenarius und seine Schule); eine andre: es sind eigen- 
tümlich psychologische Gesetze (so besonders Lipps). 

Jene beweisen etwa, es sei im allgemeinen lebenfördernder, 
ökonomischer, Übereinstimmung in seinem Denken und be- 
sonders mit den Tatsachen zu suchen als nicht. Sie zeigen, 
welche relativen Vorteile das dem entsprechende, d. i. logische 
Denken wenigstens unter gewissen allgemeinen, normalen Um- 
ständen bietet. Da nun lebende Wesen im allgemeinen, 
nämlich soweit sie können, das ihrer Erhaltung unter normalen 
Bedingungen Förderliche suchen, so^ wird also eine gewisse 
allgemeine Anpassung des unter hinlänglich günstigen Be- 
dingungen sich entwickelnden menschlichen Denkens an die 
logischen Normen stattfinden. Unter andern Bedingungen 
findet sich diese Anpassung tatsächlich nicht oder nur unvoll- 
kommen; man denkt eben unlogisch. 


) ^gl- zu diesem Paragraphen: E. Husserl, Logische Unter- 
suchungen. (I. Teil Prolegomena zur reinen Logik. Leipzig, 1900), und 
die Besprechung dieses Buches Kantstudien, Bd. VI, S. 270 ff., sowie die 
oben S. 13 Anm. genannten Schriften des Verfassers. 



17 


Es sei nun die ganze, ziemlich große Unbestimmtheit 
der Behauptung wie der Beweisführung nicht weiter bemängelt ; 
wir fragen nur: Ist das, was man so zu begründen glaubt, über- 
haupt der Sinn der logischen Gesetze? Stoßen wir uns auch 
<daran nicht, daß man imterläßt, die fraglichen Gesetze von 
einem einleuchtenden Anfang in überzeugender Ableitung zu 
entwickeln, daß man sie vielmehr einfach als gegeben anzu- 
nehmen scheint (was wir nicht zugeben könnten); so besagen 
doch die Gesetze der Logik gar nicht, wie man im allgemeinen, 
unter normalen Umständen denkt, sehr oft aber auch nicht, 
sondern sie erklären ganz ohne einschränkende Eedingung ein 
solches und solches, bestimmten Forderungen genügendes 
Denken für richtig, das entgegengesetzte für falsch; d. h. sie 
erklären, was so und so gedacht ist, das allein ist, was anders, 
das ist nicht, und zwischen diesem Ja und Nein gilt kein Kom- 
promiß, kein „unter Umständen“ und „normalerweise“, son- 
dern einzig das Verhältnis reiner Ausschließung. Die Natur 
biologischer Gesetze läßt es auch nicht zu, daß diesem Mangel 
je abgeholfen werde, daß Gesetze von der Art der logischen 
jemals ihre Begründung auf biologischem Wege finden sollten. 

Nicht annehmbarer ist für uns die zweite Ansicht. Ihr 
scheinbarer Vorzug ist, daß sie eine gewisse Selbständigkeit 
des Psychischen doch anerkennt; die logischen Gesetze sollen 
doch wenigstens eigentümliche Gesetze des Bewußtseins sein, 
von denen umgekehrt alles Denken außerbewußter Dinge ab- 
hänge. Allein gibt es überhaupt eigentümliche kausale Gesetze 
psychischen Geschehens? Wir haben die Frage oben verneint. 
Wir würden uns, wenn einmal nach ursächlichen Gesetzen des, 
gleichviel ob wahren oder falschen Denkens gefragt wird, eher 
noch auf die Seite des Biologen schlagen. Kausalität ist es 
überhaupt, welche den Begriff der Physis schafft, welche den 
Gegenstand der Naturwissenschaft erst konstituiert; wer das 
annimmt, wird nicht einräumen können, daß es andre als 
physische Ursachen gebe. 

Aber die Frage der logischen Begründung ist eben wurzel- 
haft verschieden von der der Verursachung des Denkens. 
Es ist im Grunde eine ganz einfache Begriffsverwechslung, 

JTfttorp, SoziAlp&dagogik. 4. Aufl. 2 



18 


die hier begegnet. Naturgesetze, sagt man, „begründen“ Tat- 
sachen welcher Art immer, also auch die Tatsachen des logi- 
schen wie unlogischen Denkens; darunter versteht man: sie 
geben die zeitlichen Bedingungen unsres So-denkens 
an. Allein der Inhalt der Naturgesetze setzt den der logischen 
Gesetze vielmehr voraus, er wird durch sie in einem ganz 
andern, eben dem logisch genannten Verhältnis, das mit der 
Zeit nichts zu tun hat, bedingt oder „begründet“. 

Dieselbe Zweideutigkeit kann sich hinter dem Wort Tat- 
sache verbergen. Gesetze, sagt man, sind nur Allgemeinaus- 
drücke für Tatsachen. Gewiß, jedes Gesetz sagt aus, was 
allgemein stattfindet; sofern man also jedes Stattfinden ohne 
Unterschied Tatsache nennt, ist jedes Gesetz eine allgemeine 
Aussage über Tatsachen. Es ist in diesem Sinne Tatsache, 
daß 2 X 2 4, und Tatsache, daß Widersprechendes nicht 

gleichermaßen wahr ist u. s. f.; aber zu dem Schluß: also sind 
alle Gesetze Ursachgesetze, gelangt man nicht durch diesen 
allgemeinsten Sinn der Tatsache, sondern durch das still- 
schweigend mitgedachte spezifische Merkmal zeitlicher Be- 
stimmtheit. Ursachgesetze sind Zeitgesetze des Ge- 
schehens, und nur sofern man unter Tatsache, im auch zu- 
lässigen engeren Sinn des Worts, Geschehen versteht, deckt 
sich „Gesetz von Tatsachen“ und „ursächliches Gesetz“. Aber 
daß 2 X 2 = 4, ist kein Geschehen in der Zeit, weder ein 
einzelnes noch ein allgemeines, sondern ein Stattfinden, das 
an gar keine Zeitbedingung gebunden ist oder sie irgendwie 
einschließt. Dasselbe gilt von den logischen Gesetzen; sie sind 
nicht Zeitgesetze, folglich nicht ursachlicne Gesetze, weder 
physische noch psychische, oder in solchen begründet, sondern 
von einer fundamentaleren Ordnung; denn das ursächliche 
Gesetz ist vielmehr dem logischen, ebenso wie dem mathe- 
matischen, unterworfen, nicht das logische, das mathematische 
dem ursächlichen. 

Hiergegen wird man vielleicht noch einwenden: Sätze 
wie 2 X 2 = 4, oder das A = A der Logiker, enthalten zwar 
unmittelbar keine Aussage über Tatsachen im zeitlichen Sinn, 
aber, wenn sie sich nicht schließlich doch auf solche zurück- 



19 


bezögen, wären sie ohne alle Anwendung auf Wirkliches, 
mithin ohne wahren Erkenntniswert. Denn nur Tatsachen 
sind wirklich. Der Satz 2x2 = 4 besagt, vollständig 
ausgedacht: allemal wann etwas in zeitlicher Wirklichkeit 
2x2 ist, eben dann ist es auch 4. Der Satz gilt unter- 
schiedslos in aller Zeit, darum braucht keine Zeitbestimmung 
in seinen allgemeinen Ausdruck aufgenommen zu werden; sie 
ist aber darum doch hinzuzudenken, nämlich in jedem Fall 
der Anwendung. Ohne Anwendung aber ist ein Gesetz über- 
haupt nur eine Formel auf dem Papier. 

Darauf ist schlicht zu antworten: daß nach der logischen 
Abhängigkeit hier allein die Frage ist. Alle Möglichkeit 
von Zeitbestimmung aber hängt logisch ab von den Gesetzen 
der Zahl und Größe; also können nicht umgekehrt die Gesetze 
der Zahl und Größe von Zeitbestimmung, im gleichen logischen 
Verhältnis, abhängen; das wäre widersinnig. Und noch wider- 
sinniger — wenn es möglich wäre, daß etwas falscher als 
falsch ist — würde es sein, die logischen Grundgesetze von 
Zeitbestimmung abhänsfig zu denken, auch nur von Zeitbe- 
stimmung überhaupt. Denn die Möglichkeit der Zeitbestim- 
mung wie jeder andern Bestimmung hängt vielmehr ab von der 
Möglichkeit, überhaupt etwas zu bestimmen, d. h. A = A, 
oder richtiger, überhaupt einen Inhalt A als identischen zu 
setzen, was bekanntlich das erste logische Grundgesetz ist. 

Wird man nun noch entgegnen: diese Setzung, als ein 
Gedanke, setze doch wenigstens eine zeitliche Tatsache, 
nämlich die des jedesmaligen Denkens voraus? Also besage 
z. B. der Satz des Widerspruchs, daß widersprechende Gedanken 
sich im tatsächlichen Denken, unter gewissen normalen Be- 
dingungen, allemal wirklich ausschließen, d. i. gegenseitig 
totmachen; oder das logische Verhältnis von Grund und Folge, 
daß ein Gedanke den andern im tatsächlichen Denken, wiederum 
unter gewissen näher zu bestimmenden Umständen, allemal 
wirklich nach sich ziehe? 

Das hieße unsere ganze Beweisführung nicht verstanden 
haben. Dennoch sei darauf noch so viel geantwortet: es hat 
bisher noch keiner die Bedingungen anders als tautologisch 

2 * 



20 


anzugeben vermocht, unter denen im wirklichen Denk- 
verlauf Widersprüche ausgeschlossen sind, oder gar die 
Folgen des je Gedachten unfehlbar erkannt werden. Gewiß, 
unter genau gleichen Bedingungen wird allzeit genau das 
Gleiche, nämlich entweder logisches oder nulogisches Denken 
erfolgen. Allein dawider gälte unser erster Ein wand: der 
Inhalt eines logischen Satzes ist nicht, daß unter solchen und 
solchen Bedingungen Gedanken sich so, unter andern anders 
verbinden, sondern daß, ohne jede einschränkende Bedingung, 
gewisse Gedankenverbindungen wahr, davon abweichende 
falsch sind. Diese Unbedingtheit der logischen Gesetze würde 
fraglich werden, wenn die überaus bedingte zeitliche Gesetz- 
lichkeit des Vorstellungslaufs für die logischen Gesetze ein- 
stehen sollte. 

Aber gerade bei diesen Ausdrücken „wahr“ und „falsch“ 
glaubt man uns von einer andern Seite fassen zu können. 
Nämlich man meint, das besage: sein sollend und nicht 
sein sollend; d. h. die logischen Gesetze würden zu norma- 
tiven, also teleologischen Gesetzen gemacht. Und indem man 
allgemein nur diese Ansicht als möglichen Gegensatz der 
kausalen voraussetzt, glaubt man die letztere zu stützen durch ' 
jedes Argument, welches einen Fehler der teleologischen Auf- 
fassung aufdeckt, oder nachweist, daß diese im Grunde doch 
kausal sei. 

Allein man muß nicht, indem man der Skylla der kausalen 
Auffassung zu entrinnen sucht, in die Charybdis der teleo- 
logischen geraten. Logische Gesetze sagen, nach unsrer Be- 
hauptung, ebenso wenig, wie man tatsächlich unter solchen 
und solchen Umständen denkt, als, wie man denken soll; 
sondern sie sagen: wenn man so und so denkt, — ob man 
es tut oder tun sollte, danach ist gar nicht die Frage — so 
denkt man Wahres, d. h. was ist, andernfalls Falsches, d. h. 
was nicht ist. Und worauf gründet sich die Gewißheit 
dieses Seins und Nichtseins? Nicht aufs tatsächliche So- 
denken oder dessen tatsächliche Bedingungen, noch auf die 
Folgsamkeit gegen ein normatives Gesetz, wie man denken 
soll; sondern rein am Inhalt des Gedachten muß dies Sein 



21 


und Nichtsein eingesehen werden können, überhaupt ohne 
Rücksicht auf das Denkgeschehen oder den Denkvollzug, sei 
es den wirklichen oder den geforderten. 

Man nennt doch etwas Einsehen. Um aber einen Ge- 
danken einzusehen, hat man überhaupt nicht außerhalb seines 
Inhalts, weder nach den Ursachen des bezüglichen Denk- 
geschehens oder Dcnkvollzugs, noch nach einem dabei leitenden 
bewußten oder unbewußten Zweck, noch etwa nach einem 
begleitenden Gefühl von Gewißheit oder nach, irgend sonst 
etwas in der Welt auszuspähen, sondern einzig die Sache, 
um die es sich handelt, d. i. den Inhalt des Gedachten 
ins Auge zu fassen, um unmittelbar gleichsam zu sehen, es 
ist so oder es ist nicht so, A ist nicht = non-A, d, h. es ist nicht, 
es findet unter keinen Umständen statt, daß in einem Inhalt 
eines Gedankens Widersprechendes geeint wäre; Widerspruch 
hebt, nicht das Denkgeschehen, die tatsächliche Aneinander- 
reihung der Vorstellungen, aber die Einheit des Denk- 
inhalts und damit jeden Sinn einer Aussage „Es ist“ auf. 
Oder wenn A = B una 5 = U, so ist A = C : ich kann sehr 
wohl die Vordersätze denken, ohne daß sich die Folgerung 
in meinem Denken tatsächlich daran knüpft, es ist auch 
nicht der Fall, daß ich sie unter allen Umständen daran knüpfen 
sollte ; ich habe die Folgerung im augenblicklichen Zusammen- 
hang-meines Denkens viePeicht nicht nötig, oder ich kann die 
Gleichheit von A und C auch direkt einsehen, ohne des Um- 
weges über B zu bedürfen; allein wenn das Eine, so ist auch 
das Andre, und dies sehe ich ein, indem ich nichts als die zu 
vergleichenden Termini und deren dadurch zugleich gegebene 
Relationen vor Augen habe, ohne irgend an den sei es tat- 
sächlichen oder sein sollenden Verlauf oder Vollzug eines ent- 
sprechenden Denkens dabei denken zu müssen. 

Um das zu leugnen, müßte man schließlich in Abrede 
stellen, daß man sich überhaupt einen Denkinhalt zu Be- 
wußtsein bringen könne, ohne zugleich über das Denkge- 
schehen etwas voraussetzen zu müssen. Das wäre jedoch 
eine sehr wunderliche Ansicht, denn das Denkgeschehen wäre 
dann ja wiederum ein Denkinhalt, und von diesem würde, der 



22 


These zufolge, dasselbe gelten wie vom ersten, d. h. es müßte 
wiederum dessen Denken hinzugedacht werden, und so ins Un- 
endliche. Kann ich aber überhaupt einen Inhalt denken, ohne 
das Denken dieses Inhalts auch mitdenken zu müssen, so ist 
nicht einzusehen, weshalb ich es nicht von Anfang an könnte. 
Jene Ansicht macht den Mathematiker, den Physiker, den 
Forscher jedes Fachs, ja jeden, der überhaupt irgend etwas 
denkt, zum unbewußten Psychologen. Aber das ist doch eine 
ganz unannehmbare Voraussetzung, daß man nie beim Denken 
einfach die Sache, um die es sich handelt, sollte vor Augen 
haben können, ohne zugleich das Denken dieser Sache, und 
folgerecht das Denken dieses Denkens und so in infinitum 
hinzuzudenken. Selbst wenn das wäre, so ist doch hoffentlich 
die Sache auch im Gedanken; kann ich nun zeigen, daß sie 
allein genügt, die logischen Verhältnisse daran 
einzusehen, so gehen mich, sofern es sich eben um die 
Einsicht dieser Verhältnisse handelt, alle jene neben der Sache 
her gehenden Gedanken, die nun existieren mögen oder nicht, 
überhaupt gar nichts an,. 

Am Inhalt aber sind das, was die logischen Gesetze ins 
Auge fassen, die allgemeinen Relationen eines jeden 
Inhalts. Logisches Denken ist Denken unter der Bedingung 
der Einstimmigkeit oder des durchgängigen Zusammenhanges 
des Gedachten, d. i. dasjenige Denken, in welchem das einzelne 
Gedachte zugleich mit seinen Relationen zu allem Andern, 
wozu es eben in Relation steht, gedacht wird. Die möglichen 
Relationen des Gedachten systematisch zu entwickeln, ist die 
ganze, dem Begriff nach einfache, in der Ausführung sehr zu- 
sammengesetzte Aufgabe der Logik, allgemein der Erkenntnis- 
kritik. Darin sind die Grundlagen des mathematischen wie 
des kausalen Denkens zugleich enthalten. Dagegen das, was 
man zum Ersten, Allbegründenden hat machen wollen: die 
Wirklichkeit der Tatsache, ist vielmehr erst das Letzte, 
worauf, insofern es sich um theoretische Erkenntnis handelt, 
dies alles schließlich abzielt; es ist das Bedingteste, Abhängigste 
von allem, also die allerschlechteste Grundlage, die man nur 
wählen konnte zur Ableitung der logischen oder irgend 



23 


welcher andern allgemeinen Gesetzlichkeit der Er- 
kenntnis. • 

Was ist aber mit diesem allen für unsere Absicht ge- 
wonnen? Ich denke, ein Großes; nämlich daß wir einmal 
für immer befreit sind von der alles verengenden Auffassung, 
daß man nichts, als was durch die Zeit bedingt ist, 
zu denken vermöchte. Vielmehr zeigt sich alles Denken, 
das der Bedingung der Zeit unterliegt, abhängig von dem, 
welches den Bestand von Relationen unter Inhalten frei von 
Zeitbedingungen ins Auge faßt, von welcher Art das logische 
und das mathematische Denken ist. Also das an keine Zeit- 
bedingung sich bindende Denken ist das ursprüngliche, das 
Zeitdenken ist das abgeleitete. Der eigene Blickpunkt des 
denkenden Bewußtseins (und nur denkendes Bewußtsein ist 
Bewußtsein im Vollsinn des Worts) ist die Einheit, jene 
Einheit, in der sich das zeitlich Mannigfaltige eben dann vereinigt, 
wenn der Gedanke sich nicht länger in die Mannigfaltigkeit des 
Zeitlichen zerstreut, sondern sich in sich selbst, damit zugleich 
aber das an sich zerstreute Mannigfaltige seines Inhalts in sich, 
und so erst in einem wahren Inhalt, sammelt und zusammenfaßt. 

Das wird vielleicht am unmittelbarsten klar am Zeit- 
bewußtsein selbst. Ein Nacheinander des Bewußtseins erklärt 
nicht ein Bewußtsein des Nacheinander. Könnte ich nicht in 
einem Momente 2 das Bewußtsein eines vorausgegangenen 
Moments 1 und eines nachfolgenden 3 haben, so wäre gar kein 
Bewußtsein eines Nicht- Jetzt möglich; dann aber auch kein 
Bewußtsein des Jetzt, denn dieses wird überhaupt nur gedacht 
als die ewig fließende Grenze der beiden Nicht- Jetzt, des Früher 
und Später. Also das Bewußtsein zerstreut oder zerteilt sich 
nicht in die Momente der Zeit — auch vom Bewußtsein der 
Zeit selbst gilt dies — , sondern vielmehr die Momente der 
Zeit, die doch in der Existenz sich ausschließen sollen, vereinen 
sich zu der einen, zusammenhängenden Zeit nur im über- 
greifenden Blick, in der übergreifenden weil ursprüng- 
lichen Einheit des Bewußtseins. 

Hiermit ist nun ein Begriff des Bewußtseins erreicht, der 
von dem zuvor erwogenen, psychologischen Begriff grund- 



24 


verschieden ist. Unter diesem wurde immer noch das Bewußt- 
sein selbst aus den zeitlich verschiedenen Momenten des Be- 
wußtseins wie aus Atomen sich zusammensetzend gedacht, 
also als selbst in der Zeit an sich zerstreut, allenfalls erst 
hinterher auf unbegreifliche Art sich sammelnd : weil wir dem 
Empirismus den verkehrten Ausgang vom zeitlichen Geschehen 
^einstweilen zugestanden. Von diesem Ausgang war freilich 
um Bewußtsein nur so zu gelangen, daß man sich besann, 
das zeitlich Vorgestellte setze, als vorgestellt, ein, daher eben- 
falls zeitlich gedachtes, Vorstellen voraus. So setzt man der 
Zeitfolge im Inhalt des Gedachten eine Zeitfolge von Bewußt- 
seinsmomenten gegenüber, und erhält damit jene wahrheits- 
und zweckwidrige Verdoppelung des Geschehens, als einerseits 
physischen, andrerseits psychischen, und damit die doppelte 
Form der Wissenschaft, als Naturwissenschaft und Psychologie. 
Statt dessen kennen wir nur dies Zweierlei: Zeitbewußtsein 
und überzeitliches Bewußtsein. Bewußtsein ist Einheit des 
Mannigfaltigen, Identität des zugleich zu Unterscheidenden. 
Aber die Einheit, die Identität drückt ursprünglicher das 
Bewußtsein selbst, die Mannigfaltigkeit d, i. Mehrheit und Ver- 
schiedenheit sein Gegenüber, seinen allgemeinen Gegenstand, 
die Erscheinung aus. Der wahre Ausgang der Erkenntnis ist 
aber von jenem und nicht von diesem ; nur hatten wir auf 
diesen wahren Ausgang uns erst zu besinnen, und diese Be- 
sinnung, die noch nicht Erkenntnis war, sondern erst den 
Zugang zu ihr suchte, ging naturgemäß aus vom Verfolg des 
Mannigfaltigen, von der Erfahrung. Das besagt zuletzt das 
Kantische Wort: daß Erfahrung der Anfang, aber nicht der 
Ursprung der Erkenntnis sei. 

Nichts weiter als die Besinnung auf diesen Ursprung ist 
aber erforderlich, um zur Idee zu gelangen. Sie besagt schließ- 
lich nichts andres als die bloß gedachte letzte Einheit, 
den letzten, eigensten Blickpunkt der Erkenntnis. So 
wird verständlich, inwiefern die Idee überzeitlich, über Natur 
und selbst Mathematik hinaus, nämlich fundamentaler ist als 
dies alles. Die Bedeutung des Zieles, des Gesellten, also nicht 
Wirklichen, erhält sie erst im Rückblick auf die Wirklichkeit 



25 


der Erfahrung; ursprünglii^h ist sie nicht das Ziel, sondern der 
Ausgangspunkt, nicht daiJ Ende, sondern der wahrste Anfang, 
nämlich Ursprung: das Prin^J^r Also war die teleologische 
Auffassung der letzten Gesetze der Erkenntnis doch nicht gan^- 
auf falscher Fährte. Sie irrt zwar darin, daß sie den Zweck, 
das Sollen, zur Voraussetzung auch des logischen Seins macht. 
Das letzte Sein, das der Idee, begründet vielmehr erst das 
Sollen, nämlich in der praktischen Erkenntnis. Aber der In- 
halt der Idee ist allerdings eins mit dem des Sollens, nämlich 
Einheit, Einheit unbedingt. Daher begreift sich, weshalb 
die letzten Erkenntnisgesetze so gern den Ausdruck des Sollens 
auch da annehmen, wo es sich nicht um praktische Erkenntnis 
handelt. 

Um von dem nun erreichten Punkte zum Ziele dieser 
ganzen Betrachtung zu gelangen, ist es nur noch erforderlich, 
diesen in sich einfachen Sinn der Idee in einerseits theoretischer, 
andrerseits praktischer Richtung zu entwickeln und damit die 
Grenzen der beiden Welten des Bewußtseins, der Welten der 
theoretischen und praktischen Erkenntnis, der Welten 
des Intellekts und des Willens, festzusetzen. 

§ 5 . 

Das Gebiet des Intellekts: theoretische Erkenntnis 
oder Erfahrung* 

Das Gebiet der theoretischen Erkenntnis, in psycho- 
logischem Ausdruck: des Verstandes, ist bereits im allgemeinen 
umschrieben \Vorden ; es deckt sich mit dem Gebiete der Natur- 
erkenntnis, das sich begrenzt durch die Zeitgesetze des Ge- 
schehens. 

Bezeichnen wir dies Gebiet auch als das der Erfahrung, 
so bedarf die Einführung dieses Terminus besonderer Recht- 
fertigung. Es kann nämlich nicht das gewöhnlich Gemeinte 
hier verstanden sein, daß das Geschehen in der Natur, oder 
doch irgend welche letzte Elemente dieses Geschehens, durch 
Erfahrung, d. i. Wahrnehmung und zuletzt Empfindung ge- 
geben seien, und daß auf diesem Gegebenen als der letzten 



26 


Tats&chlichkeit, alle Erkenntnis der Natur beruhe; daß 
die Gesetze der Natur die Wahrheit, die ihnen mit Recht zu- 
geschrieben wird, allein diesem Gegebenen verdankten, d. h. 
nur so weit wahr seien, als sie, was so im einzelnen als Tat- 
sache gegeben sei, im allgemeinen Ausdruck wiedergeben. 
Dieser ganze Begriff einer Erfahrung, welche die Erkenntnis 
gebe, läßt sich nach dem Ergebnis unsrer letzten Erwägungen 
nicht mehr festhalten. Die Tatsache der Erfahrung, weit ent- 
fernt, das Erstgegebene der Erkenntnis zu sein, erwies sich 
vielmehr als das Letzte, das sie erreichen kann, ja eigentlich 
nie schlechthin erreicht. 

Vielmehr stellen sich alle besonderen Bestimmungen, in 
denen man dies Gegebene zu fassen versucht, bei näherer Be- 
trachtung als Denkbestimmungen heraus, die als solche 
nichts Gegebenes, sondern eigene Gestaltungen des Denkens 
sind. Was soll denn durch die Tatsache der Erfahrung ge- 
geben sein? Doch eben das, was als empirische Erkenntnis 
ausgesprochen wird, der Inhalt irgend eines Satzes der Wissen- 
schaft, oder auch der gen) einen Erkenntnis, zum Beispiel: 
,,Dies hier ist rot“. Daß nun, erstlich, die formale Ver- 
knüpfungsweise gedanklicher Elemente, welche den Satz 
ausmacht, das, was den Sinn von Subjekt, Prädikat, Kopula 
begründet, nichts in den Wahrnehmungen Gegebenes ist, gesteht 
am Ende jeder zu; aber nur um desto entschiedener darauf zu 
bestehen, daß das Material dieser Verknüpfungen, die letzten 
Elemente wenigstens, die wir, um sie unserem Denken gleichsam 
mundgerecht zu machen, in solcher Art verknüpfen, durch 
Wahrnehmung gegeben sein müßten. Allein die angebbaren 
Elemente von Begriffsverbindungen sind notwendig Begriffs- 
elemente; Begriffe aber, wie „dies“ und ,,rot“, sind nicht ge- 
geben, sondern durchweg, bis zu ihren letzten Bestandteilen, 
eigene Erzeugnisse des Denkens. So die Zahl, so die Größe, 
durch die auch Zeit- und Raum bestimm ungen erst möglich 
sind; nicht minder die Qualität; vollends Relationsbestim- 
mungen wie Ding, Eigenschaft, Ursache, Wirkung; Modalitäts- 
bestimmungen wie Möglichkeit, Tatsächlichkeit, gesetzliche 
Notwendigkeit, mit einem Wort die kategorialen Grund- 



27 


bestimmungen, unter die alles erkenntnisgemäß Ausgesagte 
sich fügen muß, sind, so als begriffliche Bestimmungen, nicht 
durch Wahrnehmung gegeben; hingegen ist umgekehrt alles, 
was als durch Wahrnehmung gegeben nur gedacht werden 
mag, allein unter "(diesen und den daraus abzuleitenden Be- 
stimmungen mit Sinn aussagbar. Anders läßt sich auf ver- 
ständliche Weise gar nicht angeben, was, sei es durch Wahr- 
nehmung oder wodurch sonst, gegeben sei. 

Hieraus folgt nun schon so viel: daß Wahrnehmung allen- 
falls nur Antwort gibt auf die Fragen, welche die Erkenntnis 
zuvor gestellt und in den ihr eigenen Begriffen gleichsam vor- 
aus formuliert hat. Sie scheint erst dem, was die für sich 
sprachlose Wahrnehmung uns zu sagen hätte, aber nicht sagen 
kann, den artikulierten Ausdruck, nämlich den Begriff, zu 
leihen. Was vor der Erkenntnis, vor dem Begriff durch Wahr- 
nehmung gegeben sei, davon läßt sich überhaupt nur reden, 
indem man von der bereits gewonnenen Erkenntnis zurück- 
schließt auf den Punkt, da sie erst gewonnen werden sollte, 
mithin nur in den Begriffen der gewonnenen Erkenntnis, nicht 
in seinem reinen, vor allem Begriff vorhergehend gedachten 
Gegebensein. 

Allein man muß noch einen Schritt weiter gehen und 
behaupten: dies Vorausgegebensein eben dessen, was doch 
allen Inhalt der Begriffe ausmachen soll, vor aller begrifflichen 
Form ist überhaupt nicht zu verstehen. Der Begriff des Ge- 
gebenen ist im Grunde nur der Ausdruck der Forderung, 
daß die Verknüpfung der Denkbestimmungen, und 
damit das Gedachte, vollständig determiniert sei. Man 
wird vielleicht ein wenden, eben das Gegebensein, jetzt und 
hier, sei das, was unser Denken determiniere. Allein das ist 
bestenfalls Tautologie, denn das Jetzt und das Hier, das So- 
undsoviel, Soundsogroß, Soundsobeschaffen und welche Be- 
stimmungen immer man nennen mag, das alles besagt nur 
die Determination der allgemeinen Bestimmungen: Zeit, Ort, 
Zahl, Größe, Qualität u. s. f.; man sagt also eigentlich nur, 
das Determinierende sei die Determination. Das Jetzt und 
das Hier ist überhaupt nichts, das als etwas für sich gegeben 



28 


sein könnte; es kann nichts determinieren, denn es wird selbst 
erst determiniert durch die Determination deK Zeit- bezw. 
Rauminhalts; es existiert für uns nur kraft eben der Ordnung 
dieses Inhalts, durch die ein jedes an seine gehörige Stelle 
gesetzt, d. i. in bestimmter Weise vom andern gesondert und 
zugleich mit ihm verbunden wird. Und ebenso ist das ge- 
suchte Objekt = X hinsichtlich jeder der andern Grund- 
bestimmungen nur determiniert durch den Zusammenhang 
ihrer aller gemäß den allgemeinen Relationsgesetzen, die man 
gewöhnlich abkürzend zusammenfaßt in dem einzigen Gesetze 
der Kausalität. Die Gesetzlichkeit der Verknüpfung 
bestimmt also erst die Tatsache, nicht wird sie durch 
die voraus gegebene Tatsache bestimmt. Das erweist sich in 
der ganzen oft so verwickelten Feststellung der Tatsachen in 
den" Wissenschaften. Wie hätte die Naturwissenschaft je dahin 
kommen können, in der reinen Wiedergabe der Tatsachen 
sogar ihre ganze Aufgabe zu sehen, wenn nicht schon Wissen- 
schaft dazu gehörte, haltbare Tatsachen zu gewinnen? Und 
dasselbe erweist sich in der ursprünglichen Bildung unsrer 
alltäglichsten “Wahrnehmungen, d. i. primitiven Urteile über 
Tatsachen. Auch diese kommen, wie durch die großen sinnes- 
physiologischen Forschungen des letzten Jahrhunderts mehr 
und mehr auch im besonderen bekannt geworden ist, nicht 
zustande ohne ein dem naturwissenschaftlichen Experimen- 
tieren analoges Verfahren, welches durchweg schon unter der 
Leitung des Grundprinzips gesetzmäßiger Übereinstimmung, 
unter der Leitung des Ursachgesetzes steht. Nachdem sie so 
zustande gekommen und durch lange Übung befestigt sind, 
erscheinen die Tatsachen der Wahrnehmung freilich wie fertig 
gegeben. Wir brauchen jetzt nur die Augen aufzuschlagen, 
so steht sogleich eine Welt von Tatsachen wie aus dem Nichts 
gezaubert vor uns. Und doch ging unser Wahrnehmen aus 
von einem Stande, da wir nicht einen Punkt fixieren, nicht 
eine Linie verfolgen konnten; wo war da diese ganze Welt 
von Tatsachen? Hat die Antwort Sinn: diese Tatsachen alle 
seien damals schon unsrer Wahrnehmung gegeben gewesen, 
nur noch ni^ht zu Begriff gebracht? Wenn man nicht unter 



29 


Wahrnehmung Nervenprozesse v:ersteht^ wenxi darin irgend 
^etwas von Bewußtsein, von Erkenntnis gedacht wird, so ist 
<las eine gedankenlose Rede. 

Aber etwas, wird man sagen, mußte doch gegeben sein, 
wenn es zur Erkenntnis irgendwelcher Tatsache j€ kommen 
sollte. — Das sagt verständlicher weise nur: die Erkenntnis 
^Erfahrung) mußte von irgend einem Punkte beginnen, um 
von da aus schrittweis weiter zu kommen. Die bereits 
gewonnene Erkenntnis ist für die erst zu gewinnende, als 
Voraussetzung zu dieser, gegeben; ein vor aller Erkenntnis 
der Erkenntnis Gegebenes hat dagegen keinen angeb- 
baren Sinn. 

Mit allem Recht verlangt man die Bewahrheitung jedes 
allgemeinen Satzes der Erkenntnis an den Tatsachen; was 
wird denn aus dieser Bewahrheitung, wenn die Tatsachen 
nichts unabhängig von der Erkenntnis Gegebenes sind? — 
Wir antworten: es wird daraus die Bewährung der versuchten 
Erkenntnis (Hypothese) in ihrer Durchführung; z. B. der Er- 
kenntnis der Zahl in der Zählung, die das Gesetz der Zahl 
zu Grunde legt, mithin alle Zahlbestimmung, die bei der Zäh- 
lung herauskommen kann, dem Prinzip nach voraus enthält; 
der Erkenntnis des Maßes in der Messung, von der das Ent- 
sprechende gilt; der Qualität in der Vergleichung, die den 
Gattungsbegriff zu Grunde legt; der zeitlichen Relationen in 
dem induktiven Aufbau der Gesetzlichkeit der Zeitordnung 
des Geschehens, der die Gesetzlichkeit überhaupt und auch 
eine gewisse Grundgestalt dieser Gesetzlichkeit schon voraus- 
setzt; und so durchweg. Wahrnehmung besagt nur den 
Einzelschritt auf dem Wege dieser stetig fortschreitenden 
Verknüpfung von Denkbestimmungen zur Determination eines 
denkgemäßen Geschehens. Die allgemeine Bedingung aber, die 
hierfür leitend ist, ist die der ausschließlichen Einheit 
der gedanklichen Verknüpfung, d. i. der Einzigkeit der 
Existenz, in welche jeder gemachte Ansatz sich fügen muß. 
Nichts andres unterscheidet eine Wahrnehmung, die als solche 
die Existenz des Wahrgenommenen einschließt, von einer 
leeren Einbildung oder einem flüchtigen Einfall. Diese 



30 


Einzigkeit ist aber selbst eine Folge des Grundgesetzes der 
Einheit, welches das Gesetz des Denkens selbst ist. 

Aber die Dinge sind doch hoffentlich in einziger Weise 
bestimmt? — Antwort: das war nicht unsere Frage, noch 
wüßten \Wr mit dieser Frage irgend etwas anzufangen, da 
jeder Boden fehlt, um über Dinge, abgesehen von unsrer Er- 
kenntnis, etwas auszumachen. Wir erklären nur: für die 
Erkenntnis ist nichts bestimmt, was nicht siß selbst bestimmt 
hat; und allein von der bereits erreichten Erkenntnis aus läßt 
sich mit verständlichem Sinn davon reden, daß und wie die Dinge 
selbst bestimmt seien; welche Rede aber dann auch nur gilt in 
den Grenzen unsrer Erkenntnis und von ihre rri Gegenstände. 

Die merkwürdige Folge, die sich aus diesem allen ergibt, 
ist, daß die Determiniertheit der Tatsache, die man für das 
erdenklich ursprünglichste Datum hielt, vielmehr zur unend- 
lichen, nie abschließend lösbaren Aufgabe wird. Nie läßt 
sich schlechthin sagen, daß wir die Tatsache erkannt haben; 
denn keine einzige der Bestimmungen, nach denen wir sie 
erkannt zu haben meinen, kann absolut gelten, weder die der 
Zahl noch der Größe, der Zeit, des Orts, der Qualität und so 
fort. Wieviel auch an ihr bestimmt, nämlich hypothetisch 
bestimmt ist, immer bleibt noch irgendwelche Unbestimmtheit 
zurück; die Tatsache bleibt immer das x der Erkenntnis. 
Und dies x hat man zur bekannten Größe, dies Letzte zum 
Ersten gemacht. Warum ? Weil freilich die gesetzliche Not- 
wendigkeit dieser Determination der Tatsache a priori erkannt 
werden kann. Man nimmt im Begriff des Gegebenen der 
Wahrnehmung eben das voraus, was als letztes Ergebnis der 
Erkenntnis herauskommen soll. Die Wissenschaft fühlt dies, 
indem sie alle ihre, noch so sehr auf Tatsachen gestützten 
allgemeinen Sätze, und erst recht alle bloß tatsächlichen Auf- 
stellungen lediglich als Hypothesen gibt. Hat man selbst den 
Euklidischen Raum, den wir so sicher tatsächlich wahrzu- 
nehmen glauben, der eine so unleugbare Voraussetzung unsrer 
vermeintlich tatsächlichsten Wahrnehmungen ist, für Hypo- 
these erklären können, wie viel mehr alles, was nicht bloß unter 
dieser, sondern unter zahlreichen weiteren, meist ungeprüften, 



31 


kaum ' überhaupt bewußten Voraussetzungen als Tatsache, 
durch Wahrnehmung gegeben, geglaubt wird. Der sichere 
Glaube der gemeinen Erkenntni., die auf Tatsachen bei jedem 
Schritt zu fußen und sie mit Händen zu packen meint, is" 
wahrlich nicht ein Beweis größerer, sondern unvergleichlich 
geringerer objektiver Sicherheit dieser Erkenntnis. Man ist 
so bald am Ziel, weil man sich das Ziel so gar nahe gesteckt 
hat; weil man zufrieden ist mit Tatsachen, die es schon morgen, 
ja im nächsten Augenblick nicht mehr sind; während Wissen- 
schaft den Ehrgeiz hat, solche Tatsachun zu erreichen, die 
es noch morgen und übermorgen, womöglich aber in alle 
Ewigkeit sein sollen. Dies Letztere zwar bleibt ihr unerreich- 
bar. Aber es ist auch etwas, eben dies zu erkennen, sich klar 
zu machen, daß es ein unendlicher* Prozeß der Erkenntnis ist, 
auf den die Frage nach der Tatsache führt. Tatsachen- 
bestimmungen sind in jedem Fall nur Näherungswerte; ab- 
solute Tatsachen gäbe es nur für eine absolute Erkenntnis. 
Der Empirismus ist also im Grunde naiver Absolutismus, sofern 
er glaubt, in der empirischen Tatsache, ganz gegen den Begriff 
des Empirischen, Absolutes zu ergreifen. Wahrnehmung 
nimmt für wahr, was es im absoluten Sinne nicht ist noch 
je sein könnte. Sie hat aber volles Recht, das, was sie in 
bedingter Erkenntnis erreicht, für wahr zu nehmen, insofern 
dies heißt, es hypothetisch als wahr zu setzen, um nämlich 
einen Ansatz zu haben, von dem aus der Prozeß der Er- 
kenntnis weiter gehen kann zu neuen und neuen Ansätzen, 
und so ohne Ende. In diesem Sinne sind wir berechtigt, 
gerade unsere Ansicht empiristisch zu nennen. In Wahrheit 
ist dies der Empirismus der Wissenschaft; sic verfährt danach, 
wenn auch meist ohne sich darüber klar zu sein. 

Dieser ganze geschilderte Prozeß der theoretischen Er- 
kenntnis ist regiert von wenigen einfachen Grundgesetzen, 
welche darzulegen und systematisch zu entwickeln die eigen- 
tümliche Aufgabe der Logik ist. Die besonderen Wissen- 
schaften sind nach dieser Ansicht nicht bloß ebenso viele An- 
wendungen dieser Gesetze als ihres gemeinsamen Organon 
(Werkzeugs) je auf ein eigentümliches Gebiet gegebener Gegen- 



32 


stände; sondern die Herrschaft der Logik erstreckt sich bis 
auf die Grundbegriffe und Grunderkenntnisse, welche das 
Objekt einer jeden Wissenschaft für unser Denken erst kon- 
stituieren. Das erweist sich am klarsten in den reinen Er- 
kenntnissen der exakt genannten, der mathematischen Wissen- 
schaften. Auch die Einheit der Wissenschaft ist hiernach be- 
gründet in der Einheit ihres logischen Fundaments, aus der 
allein begreiflich wird, weshalb z. B. nicht die Objekte der 
Mathematik eine Welt für sich bilden, die der Naturwissen- 
schaft eine zweite und so fort, sondern etwa der Gegenstand 
der Naturwissenschaft sich von seinem Ursprung an in mathe- 
matischer Gestalt wissenschaftlich auf bauen muß. Und so ist 
schließlich alle Wissenschaft logische Leistung, und erstreckt 
andrerseits die Logik sich auf die ganze Arbeit der W’issenschaft. 

Diese Einsicht ist aber von der größten Wichtigkeit für 
die theoretische Grundlegung der Pädagogik; sowohl für die 
Erkenntnis der Gesetze der Verstandesbildung selbst, als für 
das, was uns hier zunächst angeht, für eine klare Vorstellung 
des Verhältnisses der Verstandesbildung zur Willensbildung. 

Daß die ganze Welt des Verstandes in strenger Einheit 
aus wenigen Grund elementcn, welche die Elemente des Ver- 
stehens selbst sind, sich aufbauen müsse, diese Einsicht ist 
es, welche Pestalozzis Idee der Elementarbildung 
eine tiefe, über seine sicheren ersten Ahnungen unermeßlich 
weit hinaus reichende Bedeutung verleiht. Es ist ganz im 
Sinne der „kritischen“ Philosophie, wenn Pestalozzi erklärt: 
„Jede Linie, jedes Maß, jedes Wort ist ein Resultat des 
Verstandes .... auch ist aller Unterricht in seinem Wesen 
nichts andres als dieses“, nämlich „progressive Verdeutlichung 
unserer Begriffe“; „seine Grundsätze müssen deshalb von der 
unwandelbaren Urform der menschlichen Geistes- 
entwicklung abstrahiert werden“.*') Es ist die sichere 

*) Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, 6. Abschn. (Werke her. v. Seyf- 
farth, Iie^ 2 fnitz, 1899 ff., Bd, IX S. 74). Zum Idealismus Pestalozzis vgl, 
Abhdlg. S, 289 ff., u, bes, ,, Pestalozzis Prinzip der Anschauung“, ebenda 
S. 130—201; den Art. „Pestalozzis Pädagogik“ in Reins Enzykl Hdb., 
2. Aufl; die Schrift „Pestalozzi, sein Leben und seine Ideen“, 2. Kap. 



33 


Ahnung, daß rein erkennbar nur die reinen Elemente der 
Gesetzlichkeit sind, auf der der Prozeß der Erkenntnis über- 
haupt beruht. Aus diesem ABC, nicht bloß die „Anschauung“, 
sondern alle sichere Erkenntnis aufzubauen, muß in der Tat 
das Ziel alles Verstande^^^unterrichts sein. Tatsachenerkenntnis 
dagegen ist bloß empirisch, das heißt, sie' ist nur jeweiliger 
verbesseriicher Ansatz, gültig je für eine gegebene Stufe der 
Erkenntnis, die in einer unbegrenzbaren Folge solcher Stufen 
besteht. 

Das Verhältnis der Verstandesbildung zur Willensbildung 
aber wird klar bestimmbar auf Grund der, beiden gemeinsamen, 
letzten Beziehung auf die Idee. 

Welches ist zunächst das Verhältnis der theoretischen 
oder Erfahrungserkenntnis zur Idee? Aus dem Dargelegten 
geht hervor, daß diese Erkenntnis eines Abschlusses im 
Unbedingten ihrer Natur nach unfähig ist. Die Idee des 
Unbedingten gilt zwar auch für den theoretischen Verstand; 
aber sie hat für ihn zunächst bloß die negative Bedeutung, 
ihn zu begrenzen durch die Einsicht des stets bedingten 
Charakters seiner Erkenntnisse. Auch bedarf die Erfahrung 
bloß ihrer selbst wegen keines positiven Abschlusses. Ist ihr 
logisches Fundament gesichert, sind die Grundbegriffe, Grund- 
sätze und Methoden, auf die sie sich stützt, klar definiert und 
zulänglich deduziert, so ist sie es zufrieden, zu wahreren und 
wahreren Ansichten des Gegenstandes, ohne Abschluß in einer 
absolut wahren, aber auch ohne hemmende Schranke, fort- 
zuschreiten; dieser Fortschritt eben, das ist die Erfahrung. 

Indessen wir haben die Idee des Unbedingten, und sie ist 
im letzten Grunde ursprünglicher als alle Erfahrung. Erfah- 
rung ist selbst nur eine Weise des Bewußtseins; sie bleibt 
daher immer jenem letzten und höchsten Ausblick des Bewußt- 
seins, aufs Unbedingte, untergeordnet. Diese Erwägung führt 
auf eine ganz andre Art der Erkenntnis als Erfahrung, 

§ 3 — 5; sowie „Der Idealismus Pestalozzis“ (Leipzig, 1919). Voll an- 
erkannt ist der idealistische Sinn der Pestalozzischen Prinzipien von 
H. Leser in der wertvollen Schrift „J, H. Pestalozzi, seine Ideen in 
systematischer Würdigung“ (1908). 

Natarp, Sozialpädagogik. 4. Aufl. 


3 



34 


in der das Unbedingte nicht den bloß negativen Sinn der nie zu 
erreichenden äußersten Grenze des Erkennens hat, sondern 
vielmehr zum Zentrum genommen wird, von welchem aus die 
Data der Erfahrung (denn andre haben wir nicht) wie in einem 
neuen Lichte erblickt werden und eine neue Bedeutung, eben 
durch diese positive Beziehung auf die Idee des Un- 
bedingten, erhalten. Und dies nun, behaupten wir, sei der 
Ursprung des Solle ns im praktischen Sinn. 

Durch das Grundgesetz des Bewußtseins ist Einheit alles 
Mannigfaltigen oder Gesetzlichkeit bedingungslos 
gefordert. In dieser Forderung aber ist sie auch schon 
bedingungslos gesetzt; nicht als seiend im empirischen 
Sinn, d. i. wirklich oder tatsächlich, oder etwa als möglich 
im Sinne einer empirischen Hypothese, aber als sein sollend. 
Das ist jedoch auch Setzung eines Gegenstandes, nämlich 
Gegenstandes der Forderung. Somit ist die Setzung des 
Unbedingten als (sein sollenden) Gegenstandes unabweislich 
begründet irn Urgeset.ze des Bewußtseins, ja sie ist der reinste 
Ausdruck dieses Urgesetzes, an Realität, d. i. Kraft der Gel- 
tung in der Erkenntnis und für sie, jeder bloß empirischen 
Setzung sogar überlegen. Sie nimmt nicht teil an den 
Schranken, in die die Gegenständlichkeit der Erfahrung immer 
eingeschränkt bleibt. Zugleich aber findet diese neue Betrach- 
tungsart, aus dem Zentrum des Unbedingten, vollkommen 
sichere Anwendung auf alles Empirische; nicht bloß die nega- 
tive, der Einsicht, daß Erfahrung der Forderung des Unbe- 
dingten nie genügen kann, sondern auch die ganz positive, 
daß die Richtung des Fortschritts im Bedingten 
der Erfahrung durch den Ausblick aufs Unbe- 
dingte bestimmt ist. 

Der Prozeß der Erfahrung selbst läßt sich als Fortschritt 
zum Wahreren überhaupt nur denken im Hinblick auf das Ziel 
im unbedingt Wahren. Ein Fortschritt besagt doch nicht bloß 
eine Folge von Schritten, sondern eine dabei eingehaltene 
Richtung. Die Erkenntnis dieser Richtung des empirischen 
Fortschritts, vollends die Erkenntnis, daß der dadurch be- 
stimmte Fortschritt ins Unendliche geht, ist aber nicht mehr 



35 


empirische Erkenntnis. Sie entspringt vielmehr erst in der 
Betrachtung alles Empirischen aus dem nicht mehr empirischen 
Gesichtspunkt der Idee. Sie rirumt, insofern sie das Empirische 
zum Stoff hat, an der Bedingtheit der Erfahrung zwar teil; au 
sich aber, hinsichtlich der ihr eigenen Form, nämlich der Rich- 
tung auf das Unbedingte als Ziel, ist sie von strenger Ge\yißheit, 
allem Schwanken der Erfahrung entzogen. 

Diese und keine andre Erkenntnisart aber, behaupten wir, 
sei die praktische, mithin die, in deren Gebiet der Wille 
in seiner objektiven Gestalt zu suchen ist. Das ist jetzt zu 
zeigen. 


§ 6. 

Das Gebiet des Willens: praktische Erkenntnis 
oder Idee* 

Nicht aus dem Zusammenhänge der Naturbegriffe läßt 
sich ein Sollen im praktischen Sinn verständlich machen. Natur 
ist Ordnung des Geschehens unter Zeitgesetzen des Geschehens. 
Da gibt es nur Tatsachen und Zusammenhänge von Tatsachen, 
durch logische Unterordnung einzelner Folgen von Ereignissen 
unter allgemeine und allgemeinere, d. i. unter Gesetze. Auch 
die so erreichte Einheit der Erkenntnis ruht zwar auf keinem 
andern letzten Grunde als dem der ursprünglichen Einheit des 
Bewußtseins. Aber die Einheit empirischer Erkenntnisse, 
vollends der gesamten Erfahrungserkenntnis, ist jederzeit un- 
vollendet und unvollendbar. Man denkt zwar Natur als voll- 
kommene Einheit; aber dieser Gedanke geht über die reine Tat- 
sächlichkeit und über die allein berechtigte Methode der Tat- 
sachenforschung, die Erfahrung, ganz hinaus. Es ist immer 
noch Natur, was man so denkt; aber es ist nicht mehr Natur- 
erkenntnis, sondern bloß der ideale Entwurf einer Natur, wie 
sie in Vollständigkeit erkannt sein würde — wäre nur diese 
Vollständigkeit der Erkenntnis methodisch erreichbar. 

Es kann also nicht glücken, Gesetze des Wollens auf Natur- 
gesetze zu gründen, Naturgesetze der Lust und Unlust etwa, 
oder des Begehrens. Denn was man auch immer als Beweg- 

a* 



36 


kraft des Willens ansetzen mag, den Lusttrieb, den Trieb über- 
haupt, oder was man sonst aufstelle, in jedem Falle denkt 
man diese Bewegkraft analog einem mechanischen Moment, 
gegeben im Anfangspunkt einer psychischen Veränderung und 
diese ursächlich bestimmend; bewirkend, daß aus einer ge- 
gebenen inneren Lage eine andre wird. Man denkt den Ver- 
lauf des Geschehens vom gegebenen Anfang an bis zu einem ge- 
dachten Endpunkt, wie in aller Verursachung, determiniert 
durch die Gesamtheit der Momente, die im Anfangspunkte 
dieses Geschehens gegeben waren. Der Gedanke des Zwecks 
ist hiervon seinem ganzen Inhalt nach verschieden. In ihm 
wird vielmehr der Endpunkt einer Veränderungsreihe gedacht 
als durch uns voraus in Freiheit bestimmt, und sodann rück- 
wärts bestimmend für die Reihe der Veränderungen, für den 
Weg, der vom gc^gebtmen Anfangspunkt zu diesem gedachten 
Endpunkt zu beschreiben sei. Voraussetzung dazu ist aber, 
daß der gegebene Anfangspunkt, wenn auch etwa an sich, doch 
nicht für unser Denken die zureichenden Bestimmungs- 
gründe für den folgenden Verlauf enthalte. Das Problem des 
Sollens ist demnach präzis so zu stellen: Wodurch ist der End- 
punkt mir bestimmt, was determiniert meinen Gedanken, das 
und das solle sein, gerade sofern er mir nicht determiniert 
durch meine Kenntnis oder Präsumtion eines ursächlichen 
Zusammenhanges, gemäß welchem der zweite Moment vom 
ersten aus voraus erkennbar wäre? Was determiniert meinen 
Gedanken, das heißt aber wiederum nicht: welche psychischen 
Momente, welche im gegebenen Anfangspunkt in mir wirkenden 
Antriebe stehen als Ursachen dafür ein, daß ich den End- 
punkt so und nicht anders mir denke? Diese zum Denk- 
geschchen und damit nochmals zur Kausalität abbiegende 
Deutung verschiebt von neuem den Sinn der Frage; man rückt 
dabei wieder das Eigentümliche des Zwecks oder des Sollens 
nur aus den Augen, statt es zu erklären. Sondern: welche 
Art von Gesetzlichkeit, die im Inhalt des Gedachten ihren 
Grund hat, welche Methode des Denkens, von der sich im 
Denken selbst Rechenschaft geben läßt, bestimmt den 
Gedanken; das und das solle sein? Mein Gedanke findet sich 



37 


nicht bestimmt durch eine sichere Kenntnis oder wahrschein- 
liche Hypothese über einen ursächlichen Zusammenhang, gemäß 
welchem der Moment B durch len Moment A voraus (im kau- 
salen Sinne) determiniert wäre, sondern es bleibt ihm ein ge- 
wisser Spielraum, er s'^hwankt in gewissen Grenzen; was also, 
welcher einzusehende Grund welches gerechtfertigte Ver- 
fahren des Denkens laßt ihn nicht in dieser Schwebe, 
sondern fixiert ihn, d. h. gibt ihm Einheit, so daß er nicht 
mehr so oder so aussagt, sondern nur so? 

Unsere Ableitung gibt hierauf die .Antwort; Einzig das 
formale Gesetz der notwendigen Übereinstimmung unsrer Ge- 
danken unter sich, je in dem Kreise, den wir übersehen oder 
der unsrer Erwägung unterliegt, bestimmt diesen Gedanken. 
Der letztbestimmende Grund einer jeden Zwecksetzung, das 
Endziel, im Hinblick worauf jeder besondere Zweck sich be- 
stimmt, ist nichts andres als die jeder einzelnen Willens- 
entscheidung vorgehende weil logisch übergeordnete Einheit, 
in der alle Zwecksetzung sich vereinige. Das ist das „Endziel“, 
d. h. der letzte Endpunkt, den alle zweckliche Erwägung schließ- 
lich im Auge hat. Gemäß diesem letzten Ausblick, dieser 
letzten „Absicht“ erst bestimmt sich dann auch jedes nähere, 
empirisch erreichbar gedachte Ziel; während diese letzte 
Absicht selbst immer unerreicht und unerreichbar bleibt, um 
so sicherer aber den unverrückbaren Richtpunkt für alle und 
jede zweckliche Erwägung, das oberste Prinzip für sie abgibt. 

So wird die Zwecksetzung als eigene, selbständig be- 
gründete Methode des Denkens in rein objektiver Er- 
wägung klar und in ihrem un verkürzbaren Rechte begreiflich. 
Die Reflexion hat dabei nicht nötig, auf das Subjektive der 
Triebe und Motive irgend abzuschweifen. Einheit, Überein- 
stimmung im Inhalt des Gedachten ist der Sinn aller Gesetz- 
lichkeit. Darunter ordnen sich: Gesetze von Größenrelationen 
(mathematische Gesetze), Gesetze von Zeitrelationen des Ge- 
schehens (ursächliche oder Naturgesetze), endlich Zweck- 
gesetze. Diese haben ihren einzigen positiven Grund in dem 
Urgesetze der Gesetzlichkeit selbst und überhaupt; die Gesetz- 
lichkeit der Erfahrung hat für sie zunächst bloß die negative 



38 


Bedeutung: daß das Gesetz der Idee in seiner Reinheit erst da 
unmittelbar bestimmend eingreift, wo die kausale Gesetzlich- 
keit uns keine Entscheidung an die Hand gibt. In der Tat 
vermag die empirische Kausalität unser Denken niemals un- 
bedingt zu determinieren, weil sie selbst nicht unbedingt ist;- 
also läßt sie die Frage nach der letzten übergeordneten Einheit, 
den Ausblick auf das Endziel, jederzeit frei. 

Allein es fehlt doch auch nicht an einer positiveren Be- 
ziehung zwischen Erfahrung und Idee. Zunächst die Frage, 
welcher die Zweckscdzung antwortet, ist allerdings durch den 
Zusammenhang der Erfahrung gestellt. x\uch die Antwort 
kann daher nicht außer aller Rücksicht auf diesen Zusammen- 
hang erfolgen. Was soll, ist nicht, aber soll doch sein, soll 
wirklich werden; die Gesetzlichkeit aber, nach der allein etwas 
wirklich wird, ist die ursächliche, oder die Gesetzlichkeit der 
Natur, Also muß das konkret Gesollte, auch bloß als gesollt, 
mit den ursächlichen Gesetzen des Geschehens doch überhaupt 
in Zusammenhang bleiben. Und dieser Zusammenhang ist 
möglich, weil die Erfahrungsgesetzlichkeit selbst zuletzt dem 
Urgesetze der Bewußtseinseinheit untersteht. 

Hieraus versteht sich, daß die Zwecksetzung, wie sehr 
auch ihrem letzten formalen Grunde nach von Erfahrung un- 
abhängig, doch dem Stoff nach ganz auf Erfahrung ange- 
wiesen bleibt. 

Wird erreicht sein, was ich jetzt bezwecke, so wird es 
damit Natur geworden sein; es mußte also auch schon vorher 
auf den Naturzusammenhang, als in diesem Zusammenhänge 
mögliches, sich beziehen. Was aus dem GeseUeszusammen- 
hang der Natur ganz herausficle, fiele damit überhaupt aus dem 
Sein heraus. 

Die Verwirklichung des Gewollten ist Sache der Technik, 
nach ihrem allgemeinsten Begriff: Herrschaft über die Natur 
durch Erkenntnis ihrer Gesetzlichkeit. Was könnte wohl ein 
menschliches Wollen zur Materie haben, das nicht diesem Be- 
reiche angehörte? Kausalität beherrscht daher alles mensch- 
liche Tun, insofern es sich um die Verwirklichung des Ge- 
wollten handelt. Aus dem Gebiete der Technik stammt selbst 



39 


der gemeine Begriff des Sellens, des Rechten und Verkehrten, 
Guten und Schlechten; und doch waltet in dem allen nur 
schlichte Kausalität. Sie beheriicht unumschränkt die Wahl 
der Mittel zu jedem gewählten Zweck; das Verhältnis des 
Mittels zum Zweck ist überhaupt kein andres, als das der Ur- 
sache zur Wirkung (vgl. § 2 ). Die mancherlei Gebiete der 
Technik ordnen sich daher genau nach der Einteilung der 
Wissensgebiete. Von der physikalisch-chemischen Technik 
(Technik im engeren Sinn) unterscheidet sich die biologische: 
Kultur von Pflanzen und Tieren; innerhalb dieser die anthro- 
pologische: physische Kultur des Menschen, welche nicht bloß 
Hygiene, Gymnastik, Medizin, sondern schließlich das ganze 
Leben und Treiben des Menschen nach seiner physischen Seite 
umspannt; z. B. gehört dahin jede Frage der geeigneten Rege- 
lung menschlicher Arbeit aus dem Gesichtspunkt der Erhaltung 
der physischen Arbeitskräfte; und so die ganze physische Seite 
der Erziehung. Aber es gibt auch eine psychologische Technik: 
die Kunst der Seelenbehandlung, an der die Psychiatrie, die 
individuelle psychische Erziehung, aber auch alle Art Regie- 
rung in welchem Kreise immer, und so schließlich jede Tätig- 
keit teilhat, welche irgend einen Grad und eine Art bewußter 
und berechneter, psychologischer, d. h. das Subjektive des 
Bewußtseins mitberührender Einwirkung auf den Andern ein- 
schließt. Nur die vergrößerte Gestalt dieser psychologischen 
endlich ist die soziologische Technik, auf der alles Äußere 
der Gemeinschaftsordnung, sowie der nicht geringe Teil der 
Erziehung (als Tätigkeit angesehen) beruht, der vom Leben 
in der Gemeinschaft und der Art ihrer Organisation abhängt. 

Wie weit das reicht und wie dadurch die Willensbildung, 
so hoch sie auch ihr letztes Ziel sich stecken mag, doch mit der 
Naturgrundlage des Menschendaseins immer in festester Ver- 
bindung bleibt, beginnt man vielleicht in unsrer Zeit erst ganz 
zu begreifen, und es darf ihr noch nicht zu ermessendes Ver- 
dienst nach dieser Seite, auch um die Erziehung, keineswegs 
verkannt, es darf selbst der Schein nicht künstlich umgangen 
werden, als ob so alle, auch die höchste menschliche Bildung 
in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Natur träte. Aus unsern 



40 


Grundbegriffen folgt in der Tat eine durchgängige gesetz- 
mäßige Entsprechung; es folgt aber zugleich, daß diese nicht 
Abhängigkeit bedeutet, sofern man darunter logische Unter* 
Ordnung versteht. Untergeordnet dem Range und der be- 
dingenden Gesetzlichkeit nach bleibt vielmehr die theoretische 
der praktischen Erkenntnis, die Erfahrung der Idee, nicht 
umgekehrt. Aber beide hängen in zentraler Einheit so zu- 
sammen, daß alle Verwirklichung eines Gewollten nur mit den 
Mitteln und gemäß den Gesetzen des Verstandes möglich ist; 
und dies erstreckt sich auf alles, was irgend der Wille sich als 
praktische Aufgabe d. i. zu verwirklichenden Zweck setzen mag. 

Der Verstand gibt aber nur Antwort auf die Frage nach 
den Mitteln der Verwirklichung, nachdem der Zweck fest- 
steht. Die radikalere Frage ist erst die nach dem Warum 
des Zwecks. Es mag nun der nächste Zweck wieder nur 
gewollt sein als Mittel zu einem ferneren, so richtet sich die 
Frage auf diesen, und wenn er wieder nur Mittel zu einem 
andern Zweck ist, auf den dritten, und so fort, und nicht eher 
kommt die Frage zum Stillstand, als man zu einem Zweck 
gelangt, der nicht mehr Mittel zu einem andern, sondern End- 
zweck ist. Das ist dann erst die ernste Frage nach dem, was 
sein soll. Denn das Mittel soll nur sein, sofern und weil der 
Zweck sein soll und der Zweck des Zwecks und so fort, bis 
zu dem Zweck, der nicht mehr Mittel zu einem andern Zweck, 
sondern an sich Zweck ist, d. i. sein soll. Ist dieser scheinbar 
das Letzte, Fernste, nämlich auf dem vor uns liegenden Wege 
der Erfahrung, ja in Wahrheit, da Erfahrung kein Letztes 
kennt, ganz über sie hinaus, so ist er dagegen das allem voraus 
Gewollte. Denn das Mittel wird nur gewollt im Hinblick auf 
den Zweck, den nächsten und ferneren, und so fort bis zum 
letzten. Deshalb hatte Plato Recht, die Idee einerseits das 
Ende oder Ziel (x^Xo?), andrerseits aber und im letzten Ver- 
stände den Anfang, das Prinzip (Äpx^) zu nennen, jenes, wo er 
von der Erfahrung aus bis zu ihr zurück fragt (so im „Gast- 
mahl“), dieses, wo es sich darum handelt, den Ausgangspunkt 
deduktiver Begründung zu nennen (im „Phädo“). Sie ist ihm 
die Grundlage (6Tc60*£atc), die nichts andres wiederum zur Grund- 



41 


läge hat (dvuTiiil’eTov). Genau zu dieser Auffassung von der 
Idee hat unsre Ableitung geführt. Und das ist nun unsre 
These: daß nichts andres als die formale Einheit der Idee, 
nämlich des unbedingt Gesetzlichen, der Endzweck ist, den alk s 
Wollen als letzthestimmenden Grund, als Prinzip voraussetzt. 

Die. einzige Möglichkeit, dem Zwange der Folgerung auf 
die Idee auszuweichen und doch zu einem allgemeinen Gesetze 
des Wollens zu kommen, wäre die, daß man irgend einen 
letzten, alle andern überragenden und begründenden Zweck 
nach weisen könnte, der natur not wendig gewollt wird, etwa 
Lebenserhaltung, oder Lust, Befriedigung. Diesen 
Ausweg hat die empiristische Moralphilosophie denn auch 
jederzeit eingeschlagen. Die Natur selbst, meint man, zwinge 
uns, unsere Selbsterhaltung oder auch die Erhaltung unsres 
Geschlechts zu wollen, oder die größte erreichbare eigne 
oder allgemeine Befriedigung, „das größte - Glück der größten 
Zahl“; und dieser mit Naturnotwendigkeit allen gemeinsame 
Wille gebe also das letzte, selbst nicht weiter bedingte Gesetz, 
gemäß welchem sich das konkrete Wollen je nach den Be- 
dingungen der gegebenen Lage bestimme. 

Allein der empirische Beweis, daß wir unter allen Um- 
ständen mit unsrem Wollen und Tun eines der genannten Ziele 
erstrebten, ist nicht geführt und kann nicht geführt werden. 
Niemand will tatsächlich Existenz überhaupt, oder Lust über- 
haupt, sondern allemal eine bestimmte Existenz, eine bestimmte 
Lust, Bei sehr vielen Willensakten aber ist uns überhaupt 
keine Beziehung bewußt sei es auf Lebenserhaltung oder auf 
eine zu erreichende besondere Befriedigung oder zu über- 
windende bezw. zu vermeidende Unbefriedigung. Zwar das 
unterliegt keinem Zweifel, daß jedes ungestillte Begehren einen 
Grad von Unbefriedigung, jede Stillung eines Begehrens etwas 
von Befriedigung bei sich führt; aber dadurch wird doch nicht 
diese Befriedigung oder die Beseitigung jener Unbefriedigung 
zum ganzen Inhalt des Bestrebens. Vielmehr eben, weil die 
Begleitung mit Lust und Unlust so unterschiedslos allem, 
auch dem ganz entgegengesetzten Bestreben gemein ist, ist sie 
offenbar untauglich, das unterscheidende Ziel des Bestrebens, 



42 


das Richtunggebende dabei zu definieren. Man zielt also 
ganz am Problem vorbei, wenn man seine Folgerung auf dies 
ganz allgemeine Zusammengehen von Unlust und Begehren, 
Lust und Stillung des Begehrens stützt. Vielmehr müßte 
man zeigen, daß das, woran man seine Lust findet und nicht, 
immer wiederum Lust bezw. Unlust sei, daß es also gar keine 
Lust zu oder an einer Sache gebe, sondern allein zu oder an 
der eignen oder fremden Lust oder Meidung von Unlust; daß 
z. B. der Forscher sich nicht nur, was niemand leugnet, freut, 
wenn es ihm gelungen ist sein Problem zu lösen, sondern mit 
allem heißen Bemühen auch gar nichts andres als diese flüch- 
tige Freude, und nicht etwa die Lösung des Problems, die 
sichere Klarheit der Sache, die Einstimmigkeit und also Wahr- 
heit der Erkenntnis gewollt habe; was schwerlich richtig und 
am schwersten auf irgend eine mögliche Art zu beweisen ist. 
Ich wenigstens könnte mich nicht bestimmen zu glauben, daß 
etwas so äußerst Bedingtes, das von den unberechenbarsten 
Umständen — vom Barometerstand, von der Verdauung, 
von den tausend kleinen Störungen des alltäglichen Lebens — 
fort und fort bedroht ist, so unentrinnbar den ganzen Inhalt 
meines Bestrebens ausmachen müßte. Besonders nachdem 
ich einmal erkannt habe, daß Lust und Unlust nur die höchst 
wetterwendischen Begleiter meines Bestrebens und zwar unter- 
schiedslos jedes, übrigens nur zum kleinsten Teil dies, über- 
wiegend von Dingen bestimmt sind, die mit meinem Wollen 
und Nichtwollen auch gar nichts zu .schaffen haben; daß sie 
allgemein nur die hinlänglich unsicheren — immerhin beachtens- 
werten — Zeiger der augenblicklichen Tendenz der Erhaltung 
oder Störung meines physischen Organismus, oder vielmehr 
des augenblicklichen Ausschlags einer unübersehbaren Zahl 
unmerklichcr solcher Tendenzen sind: sollte ich, bei dieser Er- 
kenntnis, gleichwohl nichts Festeres und Klareres mir zum 
Ziel meines Bestrebens setzen können oder vielmehr müssen 
als immer wieder diese ungewissen Lüste und Meidungen von 
Unlust? Diese Behauptung schiene mir nicht besser begründet 
als die andre: weil ich nötig habe zu essen und zu trinken um 
zu leben, so müsse Essen und Trinken allen Inhalt meines 



Lebens, meines Denkens, Fühlens und Strebens ausmachen, 
und alles Andre nur eine, man weiß nicht wozu dienliche, Ver- 
kleidung dieses allein wahren Lebensinhaltes sein. 

Von der Theorie, die alles auf das natürliche Streben der 
Selbsterhaltung stützen will, gilt dasselbe. Dasein ist Voraus- 
setzung jeder Zweckverfolgung, aber doch darum nicht Zweck 
an sich, nicht der einzige, ietztbestimmende Zweck. Der 
Trieb zur Lust ist sehr oft dem der Daseinserhaltung entgegen 
und umgekehrt; Beweis genug, daß keiner von beiden der allein 
oder zuletzt bestimmende ist. Man kommt bei dieser Annahme 
überdies in Gefahr, der Natur eine allgemeine, bedingungslose 
Tendenz zur Erhaltung der lebenden Wesen anzudichten, die 
eine nüchterne Prüfung durchaus nicht zu erkennen vermag. 
Natur erhält ihre Geschöpfe eine Zeitlang, und weiht sie dann 
mit demselben Gleichmut dem Untergang. Wirklich strebt 
kein lebendes Wesen unter allen Umständen fortzuleben. 
Warum auch? Bloßes Dasein ist kein Zweck, bei dem sich 
stehen bleiben ließe. Daß man nach dem Zweck des Daseins 
so lange schon fragt und überhaupt fragen kann, ist ein hin- 
reichender Beweis, daß wenigstens der Gedanke im bloßen 
Dasein sein Ziel nicht findet. Es ist noch nicht einmal eine 
sittliche Erwägung, daß es töricht ist propter vitam vitae 
perdere causas^ am des Lebens willen das daran zu geben, was 
allein ein Grund zu leben ist. Es kann sehr verschieden sein, 
worin man einen zureichenden Grund zu leben findet. 

Und so bleibt cs dabei, daß mindestens von dem Augen- 
blick an, wo die Zwecksetzung sich zur Freiheit des Denkens 
erhebt, wo es eine eigene Wahl der Zwecke gibt (und es 
gibt solche Wahl), der letzte Zweck allein in der Idee, d. h. 
in derjenigen formalen Einheit gesucht werden kann, in der 
alle besonderen Zwecke sich vereinigen. Dem letzten Sinn 
des Sollens (wie er oben erklärt worden) genügt auch keine 
bloß empirische Zusammenstimmung der Zwecke, denn über 
diese läßt sich immer hinausfragen: wozu? — das heißt eben, 
zu welchem letzten Ende dient, auf welche letzte Einheit oder 
Übereinstimmung zielt diese empirisch begrenzte, also bedingte, 
abschlußlose Übereinstimmung, die es immer offen läßt, daß 



44 


der erweiterten und wieder erweiterten Erfahrung von neuem 
eine, bloß jetzt nicht bemerkte Nichtübereinstimmung sich 
entdeckt. Einzig die Übereinstimmung selbst und als solche 
kann, nicht um eines Andern willen, sondern an sich, be- 
dingungslos gewollt werden. Nur über sie kann nicht ferner 
hinausgefragt werden, worauf sie ziele, denn diese Frage hat 
gar keinen andern angebbaren Sinn als den der Forschung nach 
der letzten Einheit der Zwecke. 

Dieses letzten Abschlusses aber kann der Wille auch gar 
nicht entraten. Ohne ihn bleibt nicht, wie im theoretischen 
Erkennen, bloß eine letzte Neugier ungestillt, sondern es 
würde an dem allerersten Anfang des Wollens fehlen, da eben 
alles Bedingte bei zureichender Besinnung nur bedingt gewollt 
werden kann, d. h. gewollt um eines Andern willen, das zuvor 
gewollt sein muß. Der Abschluß ist aber auch eben darum 
möglich und jederzeit möglich, weil er ein bloß gedanklicher 
ist und zu sein braucht. In Gedanken erreiche ich das Ziel 
durch die bloße Zurückbesinnung auf das Urgesetz der Einheit, 
der Übereinstimmung der Zwecke unter sich, welches ja nur 
der letzte, uneingeschränkteste Ausdruck ist für das Grund- 
gesetz des Bewußtseins überhaupt. Einheit also ist das End- 
ziel des Willens. Habe ich im Gesichtspunkt meines Denkens, 
in der bloßen Idee Einheit unter meinen Zwecken gestiftet, so 
habe ich den gesuchten Endpunkt erreicht, so vermag mein 
Gedanke hierbei stehen zu bleiben und zu sagen: so wäre es 
endlich gut, d. h. in Richtigkeit. Es gibt nicht nur keine 
Nötigung, sondern auch gar keine Möglichkeit über diese for- 
male, eben damit aber und insoweit unbc’dijigle Einheit auch 
nur fragend hinauszugehen. 

Durch diese Bestimmung, als formale, nicht materiale 
Einheit, ist die Idee scharf unterschieden von dem eudämoni- 
stischen Traum eines irgend einmal zu erreichenden Endzu- 
stands allseitiger Befriedigung und Stillung jedes Verlangens, 
wie ihn die religiösen Eschatologien und sozialistischen Utopien 
geträumt haben. Solche zeigen sich bei näherer Prüfung fast 
immer beherrscht vom zufälligen engen Erfahrungskreise und 
den je vorwaltenden, mitunter recht beschränkten empi- 



45 


rischen Wünschen der Erdichter solcher Traumbilder. Die 
■ Einheit der Idee bedeutet dagegen die Einheit eines Grund- 
satzes, einer Methode. Die praktische Aufgabe/allerdings, 
auf die sie uns hinweist, wird immer empirisch sein; sie schreibt 
vor, auf das absehbar höchste empirische Ziel unser Be- 
streben zu richten; immer mit dem Vorbehalt, wenn ein er- 
höhter Ausblick wiederum größere Zwecke über den erst an- 
genommenen erkennen läßt, zu diesen größeren Zwecken uns 
zu erheben. Insofern kennt auch der Wille, gerade unter der 
Leitung der Idee, kein Letztes, nämlich keine letzte empirische 
Aufgabe. Aber die Wahl der empirischen Aufgaben bekommt 
so allein Einheit und Richtung, und nichts als diese Einheit 
der Richtung ist das Letzte, was den Willen bestimmt. 

Es droht also auch wiederum nicht die Gefahr, daß wir 
durch die Erhebung zur Idee die Erfahrung etwa ganz über- 
fliegen und in jenen ,, luftleeren Raum“, von dem Kant ein- 
mal spricht, uns versteigen würden, in dem allerdings, wie 
jedes gegründete Erkennen, so auch jedes redliche Bestreben 
für den Menschen auf hört, da sein Wille wie sein Verstand 
nur in der Lebensluft der Erfahrung zu atmen und sich fort- 
zubewegen geschaffen ist. Man hat oft befürchtet, wer das 
Unbedingte sich zum alleinigen Ziel setze, der werde in der 
Tat gar nichts erzielen, weil eben nichts, was man Konkretes 
wollen kann, ein Unbedingtes ist. Darauf antwortet die 
notwendige Zurückbeziehung der Idee auf die Erfahrung. 
Wille ist nicht bloß Erkenntnis des Ziels, sondern Streben 
zum Ziel. Ich will vom Zeitlichen aus das Ewige, richtiger: 
vom Ewigen aus das Zeitliche. Das ewige Gesetz der Idee 
vermag aber jedes empirische Ziel sich unterzuordnen; denn 
Erfahrung erwächst zuletzt auf demselben Grunde; es ist das- 
selbe Grundgesetz der Bewußtseinseinheit, welches die Objekt- 
setzung der Erfahrung und die Zielsetzung des Willens regiert. 
Also werden die materialen Bestimmungsgründe, welche nur 
Erfahrung bieten kann, sich dem obersten formalen Grundsatz, 
der Idee, jederzeit zwanglos unterordnen. 

Es kann nun auch nicht mehr irre machen, daß der Drang 
über das Gegebene, Gegenwärtige hinaus zunächst dunkel, 



46 


seines Zieles völlig unbewußt ist, und, wenn er zuerst zum 
Bewußtsein erwacht, nur auf Empirisches zu gehen scheint^ 
nur des empirischen Zieles zunächst sich bewußt wird. Auch 
so erstrebt er doch immer ein Letztes: Einklang, Überein- 
Stimmung. Er folgt dem Gesetze der Bewußtseinseinheit, 
lange bevor er dies Gesetz kennt und seine Tragweite ermißt. 
Ist die Besinnung aber einmal so weit erwacht, daß man 
anfängt nach dem Warum zu fragen und nach dem Warum des 
VV^arum, so kann auch nicht lange verborgen bleiben, daß 
sich bei keinem Empirischen als Letztem stehen bleiben läßt. 
Die Richtung des Bewußtseins bestimme sich zunächst nach 
einem endlich fernen Punkte, so besteht doch dieselbe Rich- 
tung fort ins Unendliche, und sie kann auch so erkannt werden; 
ja in Wahrheit ist es nicht der endliche, sondern der „unend- 
lich ferne“ Punkt, der die Richtung ursprünglich bestimmt. 
Das je Gewollte wird ja alsbald nicht mehr gewollt, wenn 
erkannt ist, daß es in die geforderte Einheit der Absicht sich 
nicht fügt; diese war also das von Anfang an vorschwebende 
Ziel, ja sie war das eigentlich und ursprünglich Beabsichtigte, 
wenn auch der nächste Drang auf etwas Andres ging, das 
diese Absicht vereitelt hätte. Alle Tendenz ist Tendenz zur 
Einheit; ohne das läßt sich überhaupt nichts von Tendenz 
verstehen, denn Tendenz heißt Richtung, und eine Richtung 
geht immer auf Eines, und schließlich ein Unendliches. Nur 
irrend kann ich ein Empirisches mir zum (vermeintlich) un- 
bedingten Ziel setzen, so wie ich auch in der Theorie Empi- 
risches für absolut zu nehmen zunächst gtuieigt bin. Dann ist 
es nur meine verdiente Strafe, daß ich, im Besitz des Er- 
strebten, es als trügliches, im Grunde gar nicht von mir ge- 
wolltes Ziel erkenne. Also entweder, ich nehme fort und fort 
bloß Empirisches für Unbedingtes, um zu schmerzlicher Ent- 
täuschung immer wieder durch Erfahrung Lügen gestraft zu 
werden; oder ich mache mir ein für allemal voraus klar, daß 
man nur das Unbedingte unbedingt wollen, dann aber auch 
nicht erwarten soll, es in der Erfahrung je anzutreffen. Wird 
dadurch es selbst oder der auf es sich richtende Wille zum 
Trugbild? Keineswegs: das Unbedingte bestimmt als Rieht- 



47 


punkt unsern Weg, ohne daß dieser darum bis zu ihm hin 
führen müßte. Das Ziel liegt über aller Erfahrung, aber es 
ist dennoch, ja eben damit fest und gewiß, denn es ist bestimmt 
durch das Gesetz der Einheit, das ich als Urgesetz meine» 
Bewußtseins erkenne, und auch in der Erfahrung immer be- 
folge und bewährt finde. 

Hieraus erklärt sich, was man mit der Freiheit des 
Willens Richtiges im Sinn hat. Es ist zunächst die Frei- 
heit des Bewußtseins, die Erhebung des geistigen Blicks, 
des Gesichtspunktes des praktischen Urteils über den ver- 
meinten Zwang des Naturgesetzes, das doch nie unbedingt zu 
zwingen vermag; denn es selbst ist nicht unbedingt; es läßt 
tatsächlich das Urteil des Willens frei. Das Gesetz der 
Idee dagegen ist eben dann für ihn richtend, im Doppelsinn 
des Richtunggebenden und des richterlich Entscheidenden. 
Diese Freiheit erstreckt sich aber bis auf die Handlung, insofern 
zu deren Begriff gehört, daß sie mit und aus dem praktischen 
Bewußtsein geschieht. 

Da jedoch an diesem Begriff der Willensfreiheit immer 
neuer Anstoß genommen wird und jahraus jahrein die un- 
beschwichfcigten Skrupel sich zum Wort melden, so mag eine 
weitere Ausführung darüber nicht überflüssig erscheinen. 

Die These der Willensfreiheit, so wie sie nach dem Dar- 
gelegten nur verstanden sein will, bedeutet vor allem nicht 
eine Verneinung oder auch nur Einschränkung der Natur- 
kausalität. Sie betrifft unmittelbar überhaupt nicht die 
Handlung, sofern sie geschehen, sondern sofern sie gewollt 
ist; sie betrifft das Bewußtsein des Wollenden, den Ge- 
sichtspunkt, unter dem er sich urteilend für die Handlung 
entschied. Es darf daher die Betrachtung sich nur streng auf 
den Standpunkt des Wollenden selbst steilen, nicht nach 
irgend welchen Motoren der Handlung suchen, die ohne sein 
Wissen und Wollen, vielleicht ganz im Widerspruch mit seiner 
Absicht, sein Tun ursächlich bestimmen mochten. 

In seiner Absicht also, in seinem praktischen Urteil 
ist er frei, das heißt, der Wille hat seinem eigenen Prinzip 
gemäß zu entscheiden, was jedenfalls ihm nicht durch Natur- 



kausalität voraus entschieden ist. Nur in den Grenzen, dessen, 
was durch Erfahrung ihm nicht entschieden ist, besteht für 
ihn überhaupt eine Wahl: also kann er gar nicht entscheiden 
altein aus den ihm augenblicklich vorliegenden empirischen 
Daten; er ist jedenfalls durch diese nicht voraus gebunden. 
Er mag nun etwa nach sonstigen empirischen Daten, nach einer 
Wahrschoinlichkeitsberechnung der, bisheriger Erfahrung ge- 
mäß, zu erwartenden Lust- und Unlustfolgen entscheiden, oder, 
wie wir fordern, nach dem bloßen Prinzip der durchgängigen 
Einstimmigkeit des Gewollten: in jedem Fall ist die Ent- 
scheidung seine, des Willens selbst; über ihn hat nicht 
eine fremde Macht voraus entschieden. Sogar wenn wir unter 
einem unüberwindlichen Zwange ständen, das Lustverheißende 
gut, das Unlustdrohende s(5hlecht zu nennen, würden doch 
diese Prädikate selbst: gut und schlecht, recht und verkehrt, 
etwas mehr bedeuten als eine Aussage über unser jetziges und 
künftiges Befinden. Es sind nicht identische Aussagen: diese 
Handlungsweise verspricht die größere Befriedigung, und : 
diese Handlungsweise ist besser, oder ist vorzuziehen; sondern 
die zweite Aussage schließt sich an die erste nur als Folgerung 
an, und zwar als keineswegs zwingende Folgerung, denn es ist 
keineswegs widersprechend, einer Handlung den Vorzug zu 
geben, von der man weiß, daß sie nicht (oder wenigstens nicht 
weiß, daß sie) die größere Befriedigung mit sich bringt. 

Nachdem sich aber diese ganze Berechnung der Lust- 
und Unlustfolgen über die Maßen unsicher, vielleicht in den 
allermeisten Fällen einer leichtsinnigen Wette nur zu ähnlich 
erwiesen hat, ist es wohl nicht zu glauben, daß unser prak- 
tisches Urteil auf eine solche Rechnung unentrinnbar ange- 
wiesen sei und, wo sie keine klare Entscheidung gibt, über- 
haupt rat- und prinziplos bleiben müßte. Tatsächlich ent- 
scheidet es sich tausendfach ohne jede derartige Berechnung, 
über sie hinweg, ja mit vollem Bewußtsein gegen sie, nach 
seinem eigenen Prinzip der inneren Übereinstimmung des 
Willens mit sich selbst in der Gesamtheit seiner Entschließungen, 
nach dem Gesichtspunkt der Einheit der Richtung des 
Wollens. Wir haben jedenfalls den Begriff, wonach das 



49 


Wollen gut ist, welches, bloß als Wollen, in der Einheit des 
Wollens besteht, ebenso wie wir den Begriff haben, wonach 
das Denken richtiges Denken isi;, v/elches im Denken selbst, 
gemäß dem eignen Gesetze des Denkens, dem Gesetze der 
inneren Einstimmigkeit, besteht. Auch die psychologische 
Möglichkeit jenes praktischen Urteilens ist nicht im mindesten 
schwerer einzusehen als die dieses theoretischen; das Prinzip 
der Einstimmigkeit des Wollens ist dem der Einstimmigkeit 
des Denkens in seinem abstrakten Sinn wie ln seiner konkreten 
Anwendung auf den gegebenen Einzelfall durchaus analog. 
Es gehört dazu nichts weiter, als daß es ein Urteilen gibt, 
welches von Zeitbedingungen abstrahiert, wovon das logische 
und das mathematische Urteilen unwidersprechliche Beispiele 
geben. 

Kann demnach diese Freiheit des Urteils einem 
ernsten Zweifel nicht unterliegen, so könnte nur das noch 
Bedenken machen, daß das praktische Urteil auf das wirk- 
liche Handeln keinen Einfluß übe, sondern wirkungslos 
nebenher gehe. Die wirkliche Handlung, meint man, erfolge 
ja doch, als ein Geschehen in der Zeit, aus empirischen Ur- 
sachen unausbleiblich so, wie sie erfolgt, gleichviel ob unser 
Urteil so fällt oder anders. Allenfalls könne das praktische 
Urteil auf den wirklichen Verlauf des Geschehens nur ein- 
wirken nach seinen empirischen Bestandteilen, aber eben nicht 
hinsichtlich seiner reinen Form, der Form der unbedingten 
Gesetzlichkeit. 

Darauf ist zu antworten: Zugegeben einmal, es sei so, 
daß das praktische Urteil gerade hinsichtlich seiner eigentüm- 
lichen Form (der allgemeinen Gesetzlichkeit) auf unser wirk- 
liches Tun ohne Einfluß wäre, so dürfte sich doch das Urteil 
selbst dadurch in keiner Weise beirren lassen. Es bliebe 
wahr, daß die Handlung, sofern dem praktischen Urteil 
entgegen, verkehrt ist; daß sie nicht sein sollte, und wenn 
sie tausendmal wirklich so erfolgt. Sie widerspricht dem Ge- 
setze des Willens, sie besteht nicht in der Einheit des Wollens, 
sie kann also mit klarem Bewußtsein nicht gewollt sein; ebenso 
wie, was dem Gesetze des Denkens widerspricht, was in die 

N a 1 0 r p. Sozialpädagogik. 4. Aufl. 4 



50 


Einheit des Denkens nicht eingeht, nicht mit klarem Bewußt- 
sein gedacht sein kann. Wären wir gleichwohl gezwungen,, 
dem erkannten Gesetz zuwider zu handeln, so wäre es, wie 
wenn wir unter einem unentrinnbaren Zwange ständen, zu 
denken, was wir doch als falsch erkennen, das heißt, Vor- 
stellungen zu verbinden mit der Absicht der Einstimmigkeit, 
und do(*h so, daß wir einen offenen Widerspruch darin er- 
kennen. Aller Zwang einer solchen Vorstellungsverbihdung 
würde dann doch das Urteil nicht beirren können, daß dies 
falsch ist; ganz so im andern Fall. 

Daß nun dies etwa unsere wirkliche Lage wäre, wird nicht 
leicht jemand behaupten wollen. Richtig dagegen ist, daß 
das wirkliche, empirische Handeln dem absoluten Gesetze 
des Willens sogar niemals völlig gemäß sein kann; so wie 
empirische Erkenntnis niemals absolute Erkenntnis ist. Darum 
beweist sich doch das eigne Prinzip des Wollens mächtig eben 
in diesem kritischen Urteil, daß kein empirisches Tun 
unbedingt gut ist, daß über jeden erreichten Grad von Ein- 
stimmigkeit des Wollens hinaus die absolute Forderung be- 
stehen bleibt, gemäß welcher wir an kein empirisches Ziel 
unsern Willen je schknüithin gefangen geben, sondern über 
jedes empirische Ziel hinauszugehn uns Vorbehalten müssen, 
ins Unendliche. Insofern findet sogar notwendig eine In- 
kongruenz statt zwischen dem praktischen Urteil und dem 
empirischen Handeln; jenes könnte sich in diesem überhaupt 
niemals erschöpfend ausdrücken. Sondern alles, was möglich 
ist, ist, daß das empirische Tun einen Schritt in der Richtung 
zum unendlich fernen Ziel des rein Sittlichen darstellt; daß 
es unter den empirischen Möglichkeiten die wählt, die 
uns in dieser Richtung wenigstens einen Schritt weiter fördert, 
so zwar, daß über diesen hinaus ein fernerer, und so immer 
ein fernerer Schritt möglich bleibt, soweit irgend unsere ja 
stets beschränkte empirische Voraussicht reicht. 

Kann also eine weiter gehende Übereinstimmung des 
wirklichen Handelns mit dem reinen praktischen Urteil, als 
diese, überhaupt nicht mit Sinn gefordert werden, so ist 
diese jedenfalls möglich. Es ist damit nichts gefordert, 



51 


was über die Bedingungen möglicher Erfahrung hinausginge. 
Zwar wird unser empirisches Handeln einen Fortschritt in der 
Richtung zum idealen Ziele tatsächlich nur dann darstellen, 
wenn die empirischen Bedingungen dazu gegeben waren; unu 
es gibt keinen möglicnen Weg, empirisch zu erweisen, daß 
dieser Fortschritt unter allen Umständen notwendig sei. 
Aber ^die Menschheit hätte sich selbst zu dem Gedanken des 
sittlichen Prinzips nicht erheben können, wenn nicht ihre 
Entwicklung die Richtung dieses Fortschritts tatsächlich ein- 
geschlagen hätte; also ist kein Grund, nicht zu vertrauen, 
daß die Bedingungen auch zum weiteren Fortschritt im gleichen 
Sinne gegeben sein werden, so gewiß auch dies ein bloßer 
Glaube ist und nicht ein Wissen. 

Wären aber diese Bedingungen wirklich nicht gegeben, 
ließe sich sogar mit Bestimmtheit absehen, daß die Entwick- 
lung von einem gewissen Punkte an (auf dieser Erde, oder 
überhaupt im Bereiche des uns Erfahrbaren) die entgegen- 
gesetzte Richtung nehmen müßte, so bliebe uns doch immer 
noch das Recht zu erklären: die zufälligen Schranken unserer 
Erfahrung sind nicht absolute Schranken des überhaupt Mög- 
lichen. Wir würden daher auch aller gegenteiligen Erfahrung 
zum Trotz an dem Glauben halten dürfen, daß das Gute 
zuletzt siegim müsse. Oder wenn wir schließlich auch zu 
diesem Glauben die Kraft nicht mehr aufzubringen vermöchten, 
so kämen wir freilich zu einem pessimistischen Schluß in 
Hinsicht der Weltentwicklung; aber das sittliche Urteil selbst 
würde dadurch in keiner Weise erschüttert werden; es würde 
sich behaupten auch im Widerspruch zur ganzen absehbaren 
Weltentwicklung. Das Ergebnis wäre ein heroischer Pessi- 
mismus, aber nicht die Preisgabe des sittlichen Urteils, der 
sittlichen Wahrheit. 

Zu solcher Resignation ist aber so lange kein Grund, als 
noch die Kraft der Erkenntnis des Sittlichen im Menschen 
ungeschwächt ist. Diese ist jedenfalls auch ein Faktor, der 
das wirkliche Handeln mitbestimmt, obwohl nicht unter allen 
Umständen es allein bestimmt. Erfahrung selbst bestätigt 
nicht die Meinung, als ob die praktische Erkenntnis wirkungs- 



52 


los neben dem Handeln herginge. Daß die Erkenntnis des 
Rechten sich zu völliger Klarheit und Selbstgewißheit durch- 
arbeitet, fordert selbst eine mächtige Energie, die unter nor- 
malen Umständen auch stark genug ist, dem wirklichen Tun 
die Richtung zu geben. Gerade sie befreit vor allem von dem 
lähmenden Druck der auch empirisch ganz haltlosen Meinung, 
daß wir nicht könnten, was wir sollen. Die Gewalt der 
Triebe ist nicht länger unüberwindlich, als der Glaube an ihre 
Unüberwindlichkeit sich zu behaupten vermag. Ist dieser 
gespenstische Irrwahn einmal gebannt, so ist es fast zum 
Verwundern, wie leicht die Entschließung fällt, die man erst 
für ganz unmöglich gehalten hatte. Falsche Gewöhnung frei- 
lich vermag der sittlichen Entschließung Hindernisse zu 
schaffen, die schier unbesieglich scheinen, ja es im Augenblick 
auch sein mögen. Aber daraus folgt nur, daß die Erziehung 
alles tun muß, diese mächtige Kraft der Gewöhnung zum 
Guten zu lenken dann, wann sie sich noch biegen und lenken 
läßt, in den frühen Stadien der Entwicklung. Es gibt keine 
Gewöhnung, die nicht durch entgegengesetzte Gewöhnung über- 
wunden werden könnte; daher beweist ihre augenblicklich viel- 
leicht unüberwindliche Macht niemals, daß an sich dem Triebe 
eine unbezwingliche Gewalt inne wohne. Aber der durch ver- 
kehrte Gewöhnung großgezogene Trieb vergiftet leicht das Urteil 
selbst; er gibt den windigsten Sophismen, ganz besonders aber 
jenem Wahne, daß man nicht könnte, eine scheinbare Kraft, 
die wirklich gar nicht in diesen selbst, sondern in der falschen 
Triebrichtung liegt, die durch ihn sich zu beschönigen sucht. 

Vielleicht mag nun manchem das, was so von Freiheit 
noch übrig bleibt, dieses Namens kaum wert erscheinen. Aber 
welche größere Freiheit kann man denn verlangen, als daß 
nicht aus einer im Momente der Willensentscheidung gegebenen 
Summe empirischer Faktoren diese Entscheidung so 
bestimmt ist, daß sie für den, dem diese empirischen Faktoren 
klar vor Augen lägen, mit astronomischer Sicherheit voraus 
berechenbar wäre? In dieser Weise auszurechnen ist der 
Mensch darum nicht, weil sein inneres Leben sich nicht aus 
einer geschlossenen Zahl empirischer Faktoren zusammensetzt. 



53 


sondern ein Ausblick ins Unendliche ihm oHensteht. 
Nichts zwingt ihn, nichts schließt ihn ein in eine endliche 
Summe von Bestimmungsgrünaen wie in ein Gefängnis, einen 
„Zwinger“, sondern jene Möglichkeit, über jedes endliche Ziel 
hinaus sich ein fernereti zu setzen ins Unendliche, begründet 
seine Freiheit jedem endlichen Bestimmungsgrund gegenüber, 
der ihn zwingen möchte. Und diese Freiheit kann, wenn er 
sich einmal zu ihrem klaren Bewußtsein erhoben hat, keine 
äußere Gewalt ihm je wieder rauben. Gewiß ist sie nicht 
gesetzlose Willkür. Nicht in absolutem Belieben kann uns 
der bloße Wille zu jeder höheren Stufe, mit Überspringung 
der Zwischenstufen, emportragen. Der Weg dieser Erhebung 
ist streng vorgezeichnet; nur durch eine bestimmte Stufen- 
folge, und nur mit den Kräften, welche die allmähliche Er- 
hebung von Stufe zu Stufe wachsen und erstarken ließ, kann 
die weitere Erhebung gelingen. Aber doch hält keine erreichte 
Stufe uns fest, über jede ist ein Fortschreiten möglich, und 
kein Zwang der Welt zieht uns wieder herab zu den Stufen, 
die wir hinter uns ließen, wenn wir nicht wollen, nicht unsrer 
Freiheit des Fortschrcitens uns selber begeben. 

Ganz diesen Fortschritt ins Unendliche zeigt doch auch 
die theoretische Erkenntnis, deren Entwicklung von der des 
Willens überhaupt nicht trennbar ist. Will man etwa auch 
da den Ausblick ins Unendliche leugnen, oder die geistige 
Befreiung, die darin liegt, in Abrede stellen? Gerade im Er- 
kennen bestätigt es sich, daß das Ziel des Strebens nicht im 
endlich Erreichbaren, sondern im Unendlichen liegt; daß 
geradezu das Wesen des Strebens in seiner eignen fortwährenden 
Erweiterung, seiner Verunendlichung (wenn man so sagen 
darf) liegt. Der Weg zwar geht durch empirische Stufen; der 
unendliche Weg zum unendlich fernen Ziel, das und nichts 
andres ist Erfahrung. Und das gilt auch für den Weg der 
Willensentwicklung. Da kommen überall physische Faktoren 
in Betracht. Aber diese unterstehen, eben als solche, dem 
Machtbereich der theoretischen Erkenntnis und der tech- 
nischen Beherrschung; sie sind, als physische d. i. empirische, 
lenkbar; also auch zum Guten lenkbar. 



54 


So bestätigt auch diese Betrachtung, was als nicht der 
kleinste Gewinn unsrer Untersuchung noch besonders betont 
sei: daß zwischen Verstand und Willen keine Kluft besteht, 
obgleich die begriffliche Grenze zwischen beiden fest und 
unverrückt bleiben muß. Verstand und Wille sind nicht zwei 
an sich selbständige, erst hinterher zusammen wirkende Ver- 
mögen oder seelische Kräfte, sondern sie sind als verschiedene, 
doch notwendig zusammengehörende Richtungen eines und 
desselben Bewußtseins nur in der Abstraktion zu scheiden. 
Der Mensch versteht nur, indem er will, er will nur, indem 
er versteht. Auch bedarf es nicht des Umwegs der Psychologie, 
dies zur Klarheit zu bringen. Das Gesetz der Idee bietet 
auch für diese Feststellung die vollkommen sichere und ge- 
nügende objektive Grundlage; sein Erweis aber ist Sache der 
Erkenntniskritik, nicht der Psychologie. Im Beweisgang der 
kritischen Philosophie schließt sich in ununterbrochenem Zu- 
sammenhang an die Logik die Ethik, and auf diese allein 
hat die Grundlegung zur Pädagogik des Willens sich zu 
stützen nötig, so wie die Pädagogik des Verstandes keiner 
andern wesentlichen Grundlagen als der Logik, die der künst- 
lerischen Phantasie keiner andern als der Ästhetik bedarf. 
Zwar fällt dies alles dann auch unter psychologische Erwägung, 
aber diese ist, hier wie überhaupt, sekundär; sie begründet' 
nichts, sie setzt vielmehr den objektiven Erweis der logischen, 
der ethischen, der ästhetischen Gesetze zu ihrer eignen Be- 
gründung schon voraus. 


§ 7 . 

Stufen der Aktivität. Erste Stufe: Trieb. 

Die nachgewiesenen Grundlagen zur Zielbestimmung des 
Willens, also auch der Willenserziehung, sind dem Prinzip 
nach die nämlichen, auf die Kant die Ethik gegründet hat. 
Weshalb ist man dabei nicht stehen geblieben? Der Grund 
liegt nur zum Teil in theoretischen Bedenken hauptsächlich 
psychologischer Art, auf die einiges schon geantwortet ist und 



55 


zu derf^n Beschwichtigung weiteres in diesem und den folgen- 
den beiden Paragraphen beigeiragen werden soll. Den Aus- 
schlag gab eigentlich die noch immer vorherrschende Meinung, 
daß man auf dieser Grundlage überhaupt zu keiner konkreten 
Bestimmung der sittlichen Aufgabe gelaiige. Die Ethik der 
reinen Idee, meint man, müsse notwendig iru Formalen stecken 
bleiben; schon lange sei unerwiesen, wie sich aus ihr bestimmte, 
brauchbare Anweisungen für das Verhalten im wirklichen 
Leben, für die unmittelbaren Forderungen der Erfahrung, in 
deren Felde allein der menschliche Wille seine direkten Auf- 
gaben hat, sollten ableiten lassen. 

Wir sind auf dem Wege zu zeigen, daß dies Bedenken 
ungegründet ist; daß gerade in der angezeigten Richtung sich 
zu sehr bestimmten Entscheidungen über die Fragen des prak- 
tischen Lebens und der Erziehung zu ihm gelangen läßt. Und 
zwar liegt dieser Erweis in der geraden Fortsetzung des bisher 
verfolgten Weges einer rein objektiven Untersuchung. Denn 
was im Konkreten Objekt des Willens sein muß, wie, nicht 
gleichsam im luftleeren Raum der bloßen Idee, sondern unter 
empirischen Voraussetzungen wenn auch allgemeinster Art, 
sich eine Wille ns weit gestaltet, das ist die entscheidende 
Frage; erst in zweiter Linie steht die andre: was der Wille 
selbst, für den es Objekt ist, seiner subjektiven Beschaffenheit 
nach, als Moment des psycnischen Erlebens ist. Doch soll auch 
diese psychologische Frage insoweit berücksichtigt werden, daß 
die von dieser Seite regelmäßig erhobenen Einwände dem 
Prinzip nach ihre Erledigung finden. 

Als die gesetzliche Form, die für den Aufbau der Willens- 
welt maßgebend ist, kennen wir bereits die notwendige Rich- 
tung auf das unbedingt Gesetzliche; den Stoff soll Erfahrung 
bieten. Wie sie ihn bietet und wie er sich jener Form fügt, 
ist der nächste Gegenstand unsrer Untersuchung. 

Wäre nicht schon im Aufbau der Erfahrung selbst ein 
Moment enthalten, das sie zum Stoff einer Willenswelt taug- 
lich macht und gleichsam voraus bestimmt, so wäre schwer zu 
begreifen, wie das Willensgesetz je zu den Daten der Erfahrung 
in die verlangte Beziehung treten sollte. Wir glaubten aber 



56 


zwischen theoretischem und praktischem Bewußtsein einen 
bis zur letzten Wurzel zurückreichenden, nicht erst hinterher 
sich gleichsam künstlich herstellenden Zusammenhang zu er- 
kennen. Wir lernten Erfahrung als Prozeß verstehen. Sie 
zeigt sich auf keiner Stufe fertig, immer im Werden begriffen. 
Daher muß ein Verhältnis dessen, was schon in den sicheren 
Besitz des Bewußtseins, d. h. in Erfahrung, gebracht ist, und 
dessen, was erst in sie einbezogen zu werden im Begriff steht, 
noch aber außer ihr, mithin außer jedem bestimmten gegen- 
ständlichen Bewußtsein schwebt, auf jeder Stufe der Er- 
fahrung stattfinden. So wunderbar es ist, es gibt, und zwar 
in jedem Momente des Erfahrens, eine Art Bewußtsein des 
noch nicht, bezw. auch des nicht mehr im empirischen Sinne 
Bewußten. Es läßt sich faßlich mit Richtung, Strebung, 
Tendenz oder einem analogen Ausdruck bezeichnen. Am 
bekanntesten in der primitiven Gestalt des gewöhnlichen 
„Triebes“ nach sinnlichem Genießen und nach motorischer Be- 
tätigung, ist es in Wahrheit von ganz allgem.einer Bedeutung 
im bewußten Leben. Es durchdringt auch das ganze Getriebe 
der Vorstellungen, das ja in mannigfach wechselnden, sich von 
Moment zu Moment gleichsam verschiebenden Verbindungen 
durchaus besteht, also ein Verhältnis gc^gebener und erst an- 
zueignender, bezw. auch abzustoßender, sich aus dem jeweiligen 
Zusammenhang des Bewußtseins lösender Momente allzeit in 
sich schließt. Wir erkennen in diesem alle Prozesse der Vor- 
stellung begleitenden Momente der Tendenz die Ursache, wes- 
halb auch das bloße Vorstellen uns als Tätigkeit, nicht lediglich 
als etwas, das uns angeschieht, bewußt wird. Es verrät sich 
in der Wahrnehmung, als Richtung des Interesses, gleichsam 
Fixierung des geistigen Blicks auf das beobachtete, die Auf- 
merksamkeit fesselnde Objekt; im Erinnern, als Suchen, 
Wiederaufspüren des Entschwundenen in der gleichsam zurück- 
spähenden Betrachtung; entsprechend im tastenden Vorgriff 
der gespannten Erwartung; in dem oft fühlbar angestrengten 
Suchen in der Phantasie; vollends in allem höheren Bewußtsein: 
die Konzentration des Gedankens auf ein bestimmtes inhalt- 
liches Moment, bei gleichzeitiger, auf Vollständigkeit gerichteter 



57 


Überschau der möglichen Fälle; die Möglichkeit, sogar ein Un- 
endliches, z. B. eine ins Unendhche tortzusetzende Reihe in 
Raum, Zeit, Zahl zu denken, was eine aus dem direkten Be- 
wußtsein ins Niehl geg<^bene hinübergreifende Tendenz un- 
mittelbar einschließt; somit ahes, was überhaupt begriffliches 
Denken vom sinnlichen Vorstelien unterscheidet; desgleichen 
alles Urteilen und Erkennen: die Frage, die Aufgabe, der 
Zweifel, das Erklärungs- oder Begründungsbedürfnis, das 
freie Entvverfen von Hypothesen, der gedankliche Versuch, und 
wieder das Prüfen und Untersuchen, Folgern, Beweisen; das 
überzeugte Annchnien, die Behauptung, als willentliche 
Setzung und Aneignung, Anerkennung des als wahr Begriffenen, 
das Verneinen, als ebenso willentliches Verwerfen, Abweisen 
des als irrig Erkannten; die bei dem allen leitende Richtung 
auf Einheit und Übereinstimmung der Vorstellungen, auf 
Gesetzeserkenntnis, und wiederum auf die möglichst bestimmte 
Erfassung, „Feststellung“ des Einzelnen, Konkreten — nichts 
von alledem geschieht ohne das, was wir Tendenz nannten. 
Zwar das Ziel der theoretischen Erkenntnis ist die nach Möglich- 
keit tendenzfreie Darstellung dessen was „ist“; aber gerade die 
Ausschließung jeder andern Tendenz, als der auf Wahrheit 
d. i. Einheit und folgerichtigen Zusammenhang des Denkens, 
fordert eine strenge geistige Zusammennehmung, die deutlich 
den Charakter einer energischen Anspannung der Aktivität 
des Bewußtseins trägt. 

Aus unsrer Ableitung (§ 6) ergibt sich, daß diesem so weit 
reichenden Momente der Tendenz nichts andres als jene dem 
praktischen Bewußtsein ursprünglich eigene Richtung 
auf einen letzten, im Unendlichen liegenden Ziel- oder Ver- 
einigungspunkt alles Mannigfaltigen der Erfahrung schließlich 
zu Grunde liegt, und darin zum erst dämmernden, dann klareren 
und klareren Bewußtsein sich erhebt. Nur daraus versteht sich 
das Eigentümliche des praktischen Bewußtseins überhaupt: 
Richtung auf etwas als Seinsollendes. 

Der Empirismus freilich muß eine solche Erklärung grund- 
sätzlich ablehnen; er gerät dadurch aber in die Verlegenheit, 
Tendenz als irgendwie ursprüngliches ÜBewußtseinsmoment 



58 


eigentlich leugnen zu müssen*), nämlich das sogenannte Be- 
gehren oder Streben bezw. Widerstreben rein aufzulösen in 
ein Vorausvorstellen des Erstrebten oder Abgelehnten, und ein 
mit diesem Vorstellen sich verknüpfendes Lust- oder Unlust- 
gefühl. Dazu kommt dann zwar in der Willenshandlung selbst 
noch die Auslösung eines Bewegungsimpulses, die aber nun 
ganz im Gebiete des Physischen zu verbleiben scheint, oder 
sich irn Bewußtsein wenigstens nicht anders reflektieren soll 
als wiederum in Vorstellung und Gefühl (Lust — Unlust). 

Diese Ansicht, die zuerst überaus paradox erscheinen muß, 
da sic das jedem wohlbekannte Bewußtsein eines Strebens, als 
etwas Eigenes, überhaupt wegleugnet, hat dennoch als Theorie 
etwas Überredendes; und zwar, weil sie etwas tatsächlich 
Richtiges einschließt. Es ist nämlich wirklich der Fall, daß 
Lust und Unlust einerseits, positives und negatives Streben 
andrerseits nicht bloß begrifflich eine genaue Analogie auf- 
weisen und in dem gemeinsamen Moment eines annehmenden 
und ablehnenden, gleiidisam bejahenden und verneinenden 
Verhaltens Zusammentreffen, sondern auch faktisch in der 
Weise sich entsprechen, daß sie sich, bloß auf verschiedener 
Stufe, auf dieselben Objekte beziehen: dasselbe, was als Gegen- 
wärtiges Gegenstand der Lust bezw. Unlust, wird, wenn nicht 
gegenwärtig, aber im Bereiche der Möglichkeit und gleichsam 
in Sicht befindlich, zum Gegenstand positiven oder negativen 
Strebens, und umgekehrt. Allein es bleibt immer dieser un- 
überbrückbare Unterschied: daß Lust und Unlust sich schlech- 
terdings auf Gegenwärtiges — auf Nichtgegenwärtiges nur, 
indem es in der Vorstellung gegenwärtig ist, und a 1 s so gegen- 
wärtig • — bezieht, Begehren und Widerstreben dagegen ebenso 
wesentlich auf Nichtgegenwärtiges und als Nichtgegenwärtiges 
(nicht als in der Vorstellung Vergegenwärtigtes), das aber zum 
Gegenwärtigen werden (bezw. nicht werden) soll. Nun glaubt 
man vielleicht diese Seite der Sache durch das zweite Moment, 
die Vorstellung, gedeckt. Aber dabei wdrd übersehen, daß die 

*) Charakteristisch dafür ist v. E h r e n f e 1 s’ Psychologie des Begeh- 
rens (Werttheorie, 1. Band) — die eigentlich darauf hinauskomnit, daß es 
kein Begehren gibt. 



59 


praktische Vorstellung, von etwas als sein sollend oder nicht 
sein sollend, wurzelhaft verschieden ist von der bloß theoreti- 
schen Vorstellung, als wirklich oder vielleicht einmal wirklich 
werdend, oder überhaupt, vie wenn es wirklich wäre Dies 
Sollen und Nichtsollcn in der praktischen Vorstellung läßt sich 
nicht durch die bloße Vergegenwärtigung dessen, was mög- 
licherweise eintreten wird, in der Vorstellung, auch nicht unter 
Mitvergegenwärtigung der Lust oder Unlust, die es, wenn 
wirklich geworden, mit sich führen würde, erklären. Sondern 
es liegt in dem Sollen eine ganz eigene Positivität, gleich- 
wertig, vielmehr überlegen der des wirklichen Seins (da es 
doch sich an dessen Stelle zu behaupten, gleichsam zu bejahen 
wagt); während zugleich ausdrücklich vorausgesetzt wird, daß 
dies Seinsol lende nicht jetzt wirklich ist, ja sogar möglicher- 
w'eise nie wirklich werden wird. Streben ist mit lust- oder 
unlustvoller Erwartung so wenig einerlei, daß vielmehr die 
Energie des Strebens zur Sicherheit der Erwartung im umge- 
kehrten Verhältnis steht und, während die letztere sich bis 
zur Gewißheit der vollendeten Wirklichkeit steigert, die erstere 
bis zum Nullpunkt herabsinkt. 

Also ist wohl dies eigenartige Bewußtseinsmoment : 
Setzung eines Objekts als sein sollend, für dermaßen ursprüng- 
lich anzuorkennen, daß vielmehr umgekehrt die Frage auf- 
geworfen worden muß, ob nicht jenes Eigentümliche der Lust 
und Unlust, das sie zur Erklärung des Strebens und Wider- 
strebens tauglich erscheinen ließ, nämlich das darin liegende 
Moment des Bejahens und Verneinens, Annehmens und Ab- 
lehnens, auf ein zu Grunde liegendes Streben in jedem Fall 
zurückweist. Es ist gerade psychologisch sehr einleuchtend, 
daß Bewegung des Gemüts das zu Grunde liegende, ja die all- 
gemeine Bedingung psychischen Lebens ist (völlige Gleich- 
gültigkeit wäre Tod), und daß in der Lust und Unlust sich dies 
Moment der Bewegung nur deshalb mehr verbirgt, weil darin 
unmittelbar nicht die Bewegung als solche, sondern der jewei- 
lige momentane Ausschlag, gleichsam die momentane Bilanz 
der Strebungen, nämlich das momentane Übergewicht der 
Hemmung oder der Behauptung wider sie ins Bewußt- 



60 


sein fällt. In Lust und Unlust also wird der bloße Hoch- und 
Tiefstand des Gemüts, die bloße Augenblickslage verspürt; 
während im Streben die Erhebung und Senkung als solche, und 
zwar als der eignen Tendenz des Bewußtseins (auf Einheit,, 
auf Übereinstimmung) entsprechend oder widerstreitend 
bewußt wird; welches beides übrigens zuletzt derart eins ist, 
daß im Gefühl der Hemmung oder des nicht gehemmten oder 
die Hemmung überwindenden Sich-behauptens eben jene 
eigene Tendenz, in verschiedenen Graden der Bestimmtheit, 
gefühlt wird. Danach läge also ein Moment der Richtung, 
mithin der Bewegung schon dem Gefühl selbst zu Grunde; 
woraus der Gegensatz des positiven und negativen Moments 
darin (Lust und Unlust) vielleicht in der einzig möglichen 
Weise begreiflich wird. 

Mag man nun diese (etwa mit Brentano sich berührende) 
psychologische Vorstellungsweise annebmen oder nicht, ganz 
unabhängig davon bleibt die Feststellung, daß eine Be> 
Ziehung des dem Bewußtsein Gegenwärtigen auf ein Nicht- 
gegenwärtiges (d. i. Tendenz) immer stattfindet und wohl 
immer auch in irgend welchem Grade zum Bewußtsein kommt. 
Und das ist nun unsere Behauptung, daß diese Beziehung ihre 
Grundlage schließlich nur haben könne in jenem Ursprüng- 
lichen des Bewußtseins, dem allein auch Nichtgegen- 
wärtiges gegenw^ärtig sein kann, sei es nun, in bloß 
theoretischer Vorstellung, vergegenwärtigt, oder, in prak- 
tischer, mit der eigenen Posivität des Solle ns gesetzt. Nur 
wenn man dies unter Vorstellung mit verstände, und andrer- 
seits in Lust und Unlust das Moment der Tendenz eingeschlossen 
sein ließe, wäre gegen die These allerdings wenig einzuwenden, 
daß das Streben oder Begehren sich auflöse in Vorstellung und 
Gefühl. Aber die Absicht dieser Erklärung ging vielmehr dahin, 
jenes ursprüngliche, über die bloße Gegenwart der Vorstellung 
wie des Gefühls zum Nichtgegenwärtigen hinübergreifende 
Moment des praktischen Bewußtseins, in dem die ganze, un- 
vergleichliche Eigentümlichkeit des Strebens liegt, überhaupt 
wegzuerklären; weil man, als Empirist, aus dem je im Bewußt- 
sein Gegenwärtigen, Gegebenen, alles erklären zu müssen meinte. 



61 


Man ersieht leicht, wie nach unserer psychologischen Auf- 
fassung das Streben und Widerstreben und mit ihm das Lust- 
und Unlustgefühl immer in aer innerlichsten Beziehung zum 
Vorstellen, nämlich zum geschehenden Vollzug der Ver- 
bindung und beziehentlich Trennung der Vorstellungselemente 
verbleibt. Herbart, der sowohl das Gefühl als das Begehren in 
bloße Verhältnisse unter Strebungen seiner einfachen Vor- 
Stellungen auflöst, hatte etw^as davon im Sinne, obwohl das 
Verhältnis zu einwurffreiem Ausdruck bei ihm nicht gekommen 
ist und bei seinem grundlosen Operieren mit Vorstebungen 
als Kräften und eigentlich selbständigen Wesen auch nicht 
kommen konnte. Sein Bestreben, das beziehungslose Außer- 
ei nander der seelischen Vermögen zu überwinden, verdient 
dennoch Anerkennung und Nachfolge; und auch die allgemeine 
Richtung, in der er die psychologische Vermittlung zwischen 
theoretischem und praktischem Bewußtsein suchte, ist unver- 
werflich. Verfehlt ist erstens, daß dem Vorstellen ein Streben 
zwar zu Grunde gelegt wird, welches aber als solches in 
keiner Weise zum Bewußtsein kommen soll, sondern vom 
Psychologen lediglich erschlossen, ja metaphysisch konstruiert 
wird, daher, sobald man diese Konstruktion nicht mitmachen 
kann, erschlichen scheinen muß. Und sodann wird von ihm 
verkannt, daß eine bestimmte, letzten Grundes einstimmige 
Richtung dem Vorstellen, gerade sofern es Streben sein 
soll, innewohnen oder doch möglich sein muß. Es ist die 
ganze unhaltbare Atomisierung der Vorstellungen, welche 
Herbart diese in der Psychologie vielseitig aufklärende Ein- 
sicht verschlossen hat. Daß aber jene Grundrichtung keine 
andre als die der Einheit, der Übereinstimmung selbst, im 
theoretischen wie praktischen Sinne, sein kann und tatsächlich 
ist, darf wohl als das Reinergebnis der ganzen bis hierher 
geführten Untersuchung fortan zu Grunde gelegt werden. 

Aus der nachgewiesenen engen Einheit des theoretischen 
und praktischen Bewußtseins glauben wir nun auch zu ver- 
stehen, weshalb der Wille geradezu als Erzeuger der Er- 
fahrung aufgefaßt werden konnte; so bei Fichte, und anders 
bei Schopenhauer oder Wundt. Wir können darin nur eine 



62 


falsche Objektivierung jenes tatsächlich im Aufbau der Er- 
fahrung und zwar durchweg wirkenden Momentes der Tendenz 
erkennen. Ein durchgängiger Zusammenhang zwischen Er- 
fahrung und Willenstätigkeit oder dem, was den Keim zu 
dieser in sich trägt, besteht unzweifelhaft; er ist aber zu 
suchen in einer letzten wurzelhaften Einheit des theoretischen 
und praktischen Bewußtseins, d. h. er ist zentral, nicht 
peripherisch zu begründen. Indem wir uns selbst als Mit- 
arbeiter an der Gestaltung der Erfahrungswelt, mithin das 
Werk ihres Aufbaues als Ergebnis in uns mächtiger Tendenzen 
empfinden, erfüllt sich uns zugleich der Inhalt der Erfahrung, 
wie mit flutendem Leben, mit dem, wie auch immer schwachen 
und dunklen, aber stets in irgend einem Grade vorhandenen 
und wirksamen Bewußtsein jener zurück- und vorauswirkenden, 
nach- und vor gefühlten Tendenzen in uns. Das jeweilig in 
Erfahrung Gebrachte erscheint dann fast bloß als vorüber- 
gehender Niederschlag, als an sich indifferentes weil ja immer 
wieder sich selbst aufhebendes Erzeugnis des ewigen Prozesses 
der Erfahrung, an dem auch das lebendige Interesse der Er- 
kenntnistätigkeit fast ausschließlich haftet. 

Und so dürfen wir auf der Voraussetzung fortan als einer 
feststehenden fußen: daß Tendenz allenthalben stattfindet, 
auch und besonders im gesamten Aufbau der Erfahrung, Von 
einem stofflichen Faktor ist dabei eigentlich nicht zu reden; was 
ist denn an einer bloßen Tendenz oder Richtung, die stets ein 
Verhältnis des Wirklichen zum Nicht wirklichen einschließt, 
überhaupt noch Stoff zu nennen? Als immc^ wieder ver- 
brauchter und sich neu erzeugender Stoff erscheinen jetzt viel- 
mehr die nur vermeintlich festen, tatsächlich überaus flüchtigen 
Gebilde der Erfahrung, über die die Tendenz immer wieder 
siegreich hinausdringt. Jedenfalls setzt, wie überhaupt alles 
Empirische im Bewußtsein das Ursprüngliche, so das Empi- 
rische der Tendenz jene ursprüngliche Richtung des Bewußt- 
seins auf unbedingte Einheit und Übereinstimmung voraus. 
Nur ist sie nicht auch notwendig uns direkt bewußt. 

Nach dem Grade aber, in dem sie bewußt wird, unter- 
scheidet sich deutlich eine Folge von Stufen der Aktivität, 



63 


deren unterste, dem Empirischen alsp näcLststehende, wir 
Trieb nennen. 

Sieht man das unterscheidende Merkmal des Sinnlichen 
in der wesentlichen Beziehung auf das Jetzt und Hier, aut 
den als bestimmt gesetzten Zeit- und Raumpunkt, so trifft 
dies Merkmal auf die Tendenz in ihrer Urform zu; nämlich 
nicht, sofern sie ins Unendliche hinausweist, sondern sedern sie 
vorerst im nächstgegebenen, gegenwärtigen oder vom gegen- 
wärtigen Erlebnis aus unmittelbar zu erreichenden, also in 
unmittelbarer Erfahrung liegenden Objekt ihr Ziel findet, d. h. 
uns nur bewußt ist als auf dies Nächste gerichtet. 

Das ist also die erste Stufe der Aktivität, dem Range 
nach die unterste, zugleich aber der notwendige Anfangspunkt 
einer ins Unendliche emporsteigenden Entwicklungslinie: daß 
das unmittelbar vor Sinnen schwebende Objekt unser Streben 
ganz ein- oder gefangen nimmt, ausfüllt, so daß es nicht 
darüber hinaussieht, sondern dadurch ganz festgehalten, „ge- 
fesselt“, mithin unfrei ist. Dieser Zustand ist noch nicht 
Wille zu nennen, wenn doch Voraussetzung des Wollen s 
Freiheit der W a h 1 ist. Auch der Name Begehren ist un- 
geeignet, schon weil darunter herkömmlich der Wille, als das 
,, obere Begehrungsvermögen“, mitbegriff eri wird. Dagegen 
steht das Wort Trieb zur Verfügung, welches sich deshalb 
besonders eignet, weil dadurch die Willenlosigkeit, die diese 
Stufe der Aktivität kennzeichnet, das passive Getriebe nwerden 
und nur dadurch selber Treiben, in steter Erinnerung gehalten 
wird. Setzen wir der großem Deutlichkeit halber zu „Trieb“ 
das Beiwort ,, sinnlich“, so wollen wir damit nicht ein Sonder- 
gebiet des Trieblebens, etwa das dem Menschen mit dem Tier 
gemeine, auf niedere Sinnenlust gerichtete, abgrenzen, sondern 
nur jene unmittelbare Richtung auf das gegebene, also sinnliche 
Objekt, es sei übrigens was es sei, noch besonders ausdrücken. 

Nun geht zwar diesem unmittelbaren Trieb die ebenso 
unmittelbare Form der Befriedigung und Unbefriedigung, das 
schlichte sinnliche Lust- und Unlustgefühl, parallel. Aber 
daraus folgt nicht, daß der ursprüngliche Motor des Triebs 
die Anziehung ist, welche die Lust, oder die Abstoßung, 



64 


welche die Unlust ausübt; daß aller Trieb ursprünglich Zug 
zur Lust, Flucht vor Unlust wäre. Sondern durchaus erweist 
sich der Trieb ursprünglicher als die Befriedigung und Un- 
befriedigung. Mit schwindender Energie des Triebes schwinden 
beide; in der restlosen Befriedigung erstirbt das Verlangen 
und mit ihm — die Befriedigung. So wenig ist sie es, die 
den Trieb ins Leben ruft und am Leben erhält; sie lebt viel- 
mehr von ihm als er von ihr. Ein Streben, das nur seine Be- 
friedigung erstrebte und weiter nichts, würde seine eigene Ver- 
nichtung, also überhaupt nichts zürn Ziele haben. Also wäre 
die Konsequenz, daß der Totalinhalt alles Strebens der Tod 
alles Strebens wäre. Auch hat ja eine wunderliche Theorie, 
die des Pessimismus, diese Konsequenz alles Ernstes gezogen. 
Sic ist völlig im Recht, wenn die Voraussetzung gilt, daß Be- 
friedigung das letzte Ziel alles Strebens ist. Aber diese Voraus- 
setzung kann nicht gelten. Streben ist Richtung; vergleichen 
wir sie also einer Richtung im Raume, so geht ja diese, eben 
als Richtung, notwendig ins Unendliche. So wird es auch mit 
dem Streben sein, es wird also ein Ziel nur haben in dem Sinne, 
daß das Ziel im Unendlichen liegt. Irn endlich erreichbaren 
Ziele allerdings würde es ersterben. Es kann also nichts End- 
liches zum letzten, absoluten Ziel haben. So allein ist der 
Sinn des Lebens nicht mehr — der Tod. Aber wird damit 
das Streben nicht etwa ziellos? Im Gegenteil, es wird so erst 
recht ziel voll, nämlich es wird notwendig, nachdem ein (end- 
liches) Ziel erreicht ist, sich ein neues setzen, stets mit dem Vor- 
behalt es wiederum, nachdem es erreicht ist, zu überschreiten, 
und so ins Unendliche. So ergibt sich ein dem Pessimismus 
völlig entgegengesetztes Resultat. Der Pessimist muß, seiner 
Theorie gemäß, dem Streben den Vorzug geben, das die Ge- 
samtsumme des Strebens vermindert; während unsre 
Ansicht dasjenige Streben bevorzugen wird, welches die Gesamt- 
summe des Strebens zum wenigsten erhält, womöglich aber 
erhöht. Diese Ansicht ist nicht nur wahrer, sondern auch 
tapfrer als jene; sie ist weit entfernt von dem faulen Optimis- 
mus, den die Pessimisten mit grellen Farben zu malen lieben. 
Sie erschließt in dem größeren Streben tiefere Quellen der Be- 



65 


friedigung, aber nicht minder der Unbefriedigung. Sie stellt 
keineswegs dem, der Größeres erstrebt, eine größere Gresamt- 
summe von Befriedigung in Aussicht. Wer lohngierig vom 
höheren Streben auch ein Plus von Befriedigung erwartet, wer 
nicht ebenso gerüstet ist auf die größeren Schmerzen, täte 
richtiger an gemeineren Zielen festzuhalten Die ganze, freie 
Energie des Strebens entfaltet sich erst da, wo man des ganzen 
Haschens und Marktens um möglichst viel Befriedigung sich 
ent schlägt und einzig nach dem Werte der Sache fragt. 

Mit etwas mehr Schein, als in der Lust, könnte man, mit 
Leibniz, in der Unlust den ursprünglichen Treiber zu.* Tätigkeit 
suchen; dann wäre das Ziel (wie schon einige alte Moralisten 
wollten) nicht Lust, sondern nur Freiheit von Unlust. Aber 
auch Unbefriedigung ist für sich nichts Aktives, sondern nur 
das passive Gefühl der Hemmung, die dem Streben widerfährt; 
die Aktivität liegt ursprünglich und allein im Streben. 

Schon diese allgemeine Erwägung führt darauf, daß nicht 
wohl als Letztes der Genuß trieb angesetzt werden kann. Zwar 
ist die einfache unreflektierte Sinnenfreude das faßlichste Merk- 
mal einer regen sinnlichen Energie des Triebs. Aber dieser 
zielt selbst in seinen einfachsten Formen nicht ursprünglich 
und in letztem Betracht auf den Genuß des Augenblicks. Sondern 
er baut im Sehen und Hören, im ganzen Sinnengebrauch, den 
Gegenstand in lebendiger, zeugungskräftiger Wirklichkeit auf, 
er freut sich ihn zu erschauen d. i. hinschauend zu gestalten; 
nicht ihn als totes Erzeugnis gleichsam abzusondern, sondern 
neu und immer neu hervorzubringen, und so in ihm zugleich 
sich selbst, die Aktivität, die den Gegenstand erzeugte, wieder- 
zuerzeugen. Er baut ebenso im Ernährungsprozeß die eignen 
Kräfte, indem er sie braucht und also aufwendet, zugleich 
steigernd wieder auf, wie weiterhin die der Gattung in de^* 
Fortpflanzung. Das ist, was Spinoza im Sinn hat, wenn er 
als letztes Gesetz des Strebens aufstellt, „sein Sein zu er- 
halten“ (sunm esse conservare)^ d. h. nicht sein Dasein (es ver- 
zehrt sich vielmehr, indem es sich durchsetzt), sondern sein 
„Wesen“: immer neues Streben von gleicher Energie 
und gleicher Grundrichtung zu erzeugen. 

K a t o r p, Sozialx)ädagogik. 4. Aufl. 


5 



66 


So ist also schon die sinnliche Triebtätigkeit deutlich ein 
Arbeiten, nämlich zugleich Erzeugung des Gegenstands und 
beständige Wiedererzeugung ihrer selbst. Aller sinnlichste 
Genuß dabei ist Genuß des Wirkens, des Schaffens; es 
gibt im Grunde keinen andern. Und diesen Charakter bewahrt 
das Streben auch auf allen höheren Stufen. Nur, während 
anfangs der darzustellende Gegenstand zwar das wirkliche, 
aber nicht auch das bewußte Ziel des Strebens war, tritt in 
der weiteren Entwicklung die bewußte Objektbeziehung hinzu; 
und in dieser Gestalt besonders nennen wir ihn Arbeitstrieb. 
Arbeitend zwar ist der Trieb schon in seiner primitiven Gestalt ; 
aber zum Vollbegriff menschlicher Arbeit rechnen wir noch 
die bewußte Beziehung auf das darzustellende Werk. 
Diese gehört erst einer weiteren Stufe an. Doch bleibt das 
Wesentliche der ersten Stufe auch auf den folgenden bestehen; 
das Streben behält, eben als arbeitend, immer etwas von dem 
Charakter des sinnlichen Triebs, nämlich die ausschließ- 
liche Hingabe an den Gegenstand. Keine menschliche 
Arbeit, auch nicht die edelste geistige, läßt sich verrichten, 
ohne daß man sich für die Zeit der Arbeit dem Gegenstände 
ganz ,, hingibt“, d. h. ohne kraftvoll darauf gerichteten, für 
diese Zeit im Objekt aufgehenden, also sinnlichen Trieb. Auch 
der Trieb des Künstlers, seinen Gegenstand anschauend zu ge- 
stalten, ist so in der vollen Bedeutung des Wortes sinnlicher 
Trieb; und ganz nah verwandt ist dem selbst der Trieb des 
Forschers, seinen Gegenstand erkennend darzustellen. Ver- 
gegenwärtigt man sich vollends das psychische Verhalten des 
Jägers, des Erwerbsmanns, jedes Arbeiters überhaupt, der, wie 
wir sagen, mit ganzer Seele „bei der Sache ist“, was ist das 
anders als energisches und zwar ganz und gar sinnliches Trieb- 
leben? Der Trieb ist daher ob seiner Sinnlichkeit nicht zu 
schelten; er ist vielmehr, wie es oft gesagt worden ist, an sich 
weder löblich noch verwerflich, weder sittlich noch wider- 
sittlich. Er kann unsittlich werden, bildet aber ebenso gut 
den Untergrund auch des höchsten sittlichen Tuns. Die Frische 
der sinnlichen Energie nimmt mit gesunder Entwicklung der 
gesamten Aktivität keineswegs ab, sondern muß sich stets auf 



67 


ihrer verhältnismäßigen, normalen Höhe halten. Sittliche 
Stärke und sinnliche Kraft des Empfindens und Strebens 
stehen keineswegs in umgekehrU^m, sondern in geradem Ver- 
hältnis: der sittlich Schlaffe geht, so ausschließlich er mit seinem 
sinnlichsten Triebleben beschäftigt sein mag. dennoch gerade 
der gesundesten Energie der Sinnlichkeit verlustig. Wie die 
Pflanze sich in kraftvollem \Vuchs über dem Erdboden nur 
dann erhebt, wenn sie zugleich ihre Wurzeln mächtig in ihn 
hinein ausbreitet, so geht natürliches und sittliches Wachstum 
normal Hand in Hand. Darum kann es niemals sit Lüche Auf- 
gäbe sein, das Triebleben zu entwurzeln, sondern nur, es zu 
reinigen oder zu heiligen, dabei aber, ja eben dadurch — soweit 
nicht notgedrungen, um anderer, höherer Zwecke willen, 
darairf zu verzichten ist — es in seiner gesunden Kraft zu 
erhalten. 

Hier besonders stellt sich die ethische Wichtigkeit der 
physischen Erziehung heraus. Doch darf nie übersehen 
werden, daß auch dabei auf die Herrschaft des Bewußtseins 
zuletzt alles ankommt, und das Physische als bloßes Mittel 
dem sittlichen Zweck immer untergeordnet bleiben muß. Wie 
es sich ihm unterordiiet, wird bei der Erörterung der zweiten 
und dritten Stufe der Aktivität vollends klar werden. 

§ 8 . 

Zweite Stufe der Aktivität: Wille im engem Sinn. 

Deutlich hebt sich nun schon der Wille in eigentlicher 
Bedeutung vom blößen Trieb dadurch ab, daß nicht mehr Eines 
allein unser Streben widerstandslos gefesselt hält, daß wir also 
nicht mehr unter dem unentrinnbaren Zwange einer einzigen 
Tendenz stehen oder zu stehen vermeinen, sondern uns ver- 
gleichend, abwägend darüber stellen, mit Freiheit entscheiden, 
annehmen und verwerfen, mithin urteilen; dem Triebe uns 
nicht mehr blind unterwerfen, sondern uns bewußt sind, ihm 
entgegenhandeln, ja ihn umlenken zu können; nicht mehr uns 
von ihm die Richtung weisen zu lassen, sondern sie ihm zu 
diktieren. 


6 * 



68 


So wird klar, wie zwar der Trieb Voraussetzung des 
Willens, Wille aber darum nicht lediglich Trieb ist. Soll ich 
wählen, so fragt es sich nach der Norm, wonach ich mich 
richte, nach der „Maxime“ meines praktischen Urteils, nach 
Wahrheit und Falschheit; dann tritt die praktische Besinnung 
in ihr Recht, ist die Aufgabe gestellt für praktische Erkennt- 
nis; und eine unendliche Entwicklung steht offen. 

Daher erschien nicht wenigen und nicht den schlechtesten 
Philosophen geradezu als Kriterium des Wollens die leitende 
Einsicht. Völlig richtig, sofern nur nicht außer acht ge- 
lassen wird, daß es praktische Einsicht sein muß; daß es nicht 
auf bloßen Scharf- und Weitblick des Verstandes, sondern auf 
eine der Einsicht unmittelbar inwohnende Energie ankommt, 
mit der sie, auch mächtig gegenwirkenden Tendenzen zum 
Trotz, die Aktivität in die Richtung zu lenken vermag, für 
die das praktische Urteil entschied. Schon dieses ist ja vom 
theoretischen scharf unterschieden. Ein Sollen ergibt sich 
niemals als einfache logische Folge aus dem erkannten Sein; 
das Sollen schließt bereits die Tendenz in sich und könnte ohne 
schon zu Grunde liegende Tendenz gar nicht mit innerer Wahr- 
heit ausgesagt, höchstens nachgesprochen werden ohne wirk- 
liche Überzeugung. 

Aus welchem Quell nun diese aktive Energie ihre 
Nahrung zieht, welche mit der praktischen Erkenntnis zu- 
gleich die Tatkraft des Wollens erzeugt, das muß dem, der 
von empirischen Voraussetzungen ausgeht, wohl als die eigent- 
lich entscheidende Frage der Willensbildung erscheinen. Un- 
haltbar ist jedenfalls die Meinung, daß der Wille nichts sei als 
der passive Zuschauer, bestenfalls der Prophet eines be- 
stimmten Ergebnisses der augenblicklich wirksamen Trieb- 
kräfte, welches Ergebnis genau so ohne sein Zusehn und Prophe- 
zeien eintreffen würde. Sondern der Wille hat eine eigene 
Energie und ist mit dieser an dem Zustandekommen der 
Willenshandlung beteiligt. Gewiß kann diese Energie nicht 
aus dem Nichts stammen, noch sich den allgemeinen Gesetzen 
des Energieaustausches entziehen. Aber daß sie nur der 
Energie der zuvor vorhandenen Triebe entlehnt sei und zu ihr 



69 


nichts hinzutue, behauptet man ohne Grund. Sondern sie 
stammt (würden wir sagen) der konzcntrativen Tätig- 
keit, welche die ganze Eigenheit des Willens dem Triebe 
gegenüber ausmaolifc, und aus der allein das Unterscheidende 
des Willens: die Setzung einer Regel und Unterwerfung 
der jeweils vorhandenen Triebe unter diese, begreiflich wird. 
Physiologisch müßte sich dies repräsentieren lassen durch eine 
bestimmte Arbeitsleistung sehr zentralen Charakters, die eben 
kraft ihrer unmittelbaren Verbindung mio dem Herde der 
psychischen Prozesse begreiflich ein mäentiges Gewicht der 
einzelnen mehr peripherischen Strebung entgegenzuwerfen hat. 
Darin ist nichts Unmögliches, nichts, was etwa nötigte oder 
auch nur verführen könnte, den Kausalzusammenhang des 
physischen Geschehens zu durchbrechen und eine neue Potenz 
irgendwoher aus dem Nirgendwo (was in sich schon ein Wider- 
spruch ist) herbeizaubern zu wollen. Wohl aber kommt die 
Eigenheit des Willens auf diese Weise, und, soviel ich sehen 
kann, nur auf diese, zu ihrem Recht. 

Diese Eigenheit also sehen wir vorzüglich im Regel- 
setzen, welches an sich dem Willen gemein ist mit dem, 
was im theoretischen Gebiet Begriff und Urteil heißt. Es 
ist einfach die Tatsache, daß der Wille nicht bloß eine Materie, 
sondern auch eine Form hat: das Bewußtsein der Regel. 
Dies ist es, was der Empirismus zum Verschwinden zu bringen 
ebenso hartnäckig wie aussichtslos bemüht ist. Er will das 
nicht sehen, obgleich es handgreiflich überall vorliegt; weil es 
seiner Tendenz widerstreitet, auf das Materiale des Bewußt- 
seins alles zu bauen, im Grunde nur es als wirklich anzu- 
erkennen. 

Man kann als das Unterscheidende des Willens in andrer 
Wendung auch bezeichnen die praktische Objekt- 
setzung. Die Vorstellung d. i. Setzung eines Gegenstands 
als sein sollend, so verschieden in sonstiger Beziehung von der 
des seienden Gegenstands, hat doch gleich dieser die Be- 
deutung, daß sie dem Subjekt und seinem bloß vorfindlichen 
inneren Zustand, den blinden Vorstellungen, blinden Trieben, 
die Sache gegenüberstellt als das, wonach jene sich fortan 



70 


zu richten haben. Wollen heißt, sich für eine Sache ein|Ä2en 
Auch der schlechteste Mensch setzt für seine schlechte ||fiche 
sich ein, das heißt, er will; und indem er will, verzieht^ er 
tausendfach auf Lust, nicht bloß in sichrer Erwartung größejrer 
Lust oder zu Vermeidung größerer Unlust. Gerade der ei^- 
schlossene Verbrecher ist hier eine gute Beweisinstanz. Es mag 
ursprünglich eine bestimmte Lust gewesen sein, die er sich 
verschaffen wollte. Aber nachdem sie einmal zum Gegep^tänd 
seines Willens gleichsam verhärtet ist, fragt er kaum, rüehr, oh 
er die gewollte Lust auch tatsächlich wird genießen können, hb 
er sie wenigstens nicht durch weit mehr Unlust erkaufte Er 
steht nicht länger unter dem blinden mechanischen Gesetz der 
Anziehung der Lust und Abstoßung der Unlust, sondern unter 
dem eignen Gesetz des Willens. Das Objekt, die Sache hat 
für ihn fortan eine selbständige Geltung, die gegen den bloßen 
Lusttrieb sich behauptet. Was ist denn eine solche Sache? 
Nichts als der Gegenstand des Willens, sofern durch ihn eine 
gewisse Einheit der Regel des Tuns gesetzt ist. Es ist 
also die eigene Form des Willens, die sich darin über die Materie 
mächtig erweist. 

Dies kennen wir nun schon als die Tatsache der Willens- 
freiheit, die also mit der Tatsache des (eigentlichen) Wollens 
ohne weiteres gegeben ist. Sie besagt zunächst nur die unleug- 
bare Tatsache, daß wir wählen, das heißt, daß wir urteilen, 
und nach dem Entscheid des praktischen Urteils unsern Willen 
bestimmen. Schon im bloßen Urteilen liegt eine Freiheit, sogarK 
im nur theoretischen. Denn auch in ihni wählen wir, nämlich 
zwischen wahr und falsch. Wir legen von uns aus dem Objekt 
diese Qualitäten bei, die von keiner geg(^benen Existenz ent^ 
lehnt werden können (alles Urteil über Existenz setzt ja viel- 
mehr sie schon voraus), sondern unserem Bewußtsein ür- 
sprünglich gehören und nur ihm etwas bedeuten. Ebenso ^gen 
die praktischen Prädikate, recht und verkehrt, gut und s&leöhtj 
nicht irgend eine Naturbeschaffenheit des beurteilten Objekts' 
aus, sondern Merkmale, die ihm allein kraft unseres Urteil^» 
zukommen und allein in diesem eine Bedeutung haben. Indl^ 
aber das praktische Urteil diese Prädikate seinem Objekt ef- 



71 


teilt, ätellt es sich ihm unabhängig, vielmehr beherrschend, 
gesetasgebend und richtend gegenüber. 

Es ist kein Einwand hiergegen, daß das praktische Urteil, 
ebenso wie das theoretische, als Tätigkeit einen Energiever- 
brauch darstellt und als solcher sich den allgemeinen Gesetzen 
des Energieaustausches fügen muß. Das ist hier gar nicht der 
Punkt der Frage, wie die Tätigkeit des Urteilens verursacht 
wi^d^ Es handelt sich überhaupt nicht um das zeitliche Er- 
eignis dieses Urteilens, und was für faktischen Bedingungen 
dies unterliege, sondern um den Urteilsspruch selbst und 
was er inhaltlich besagt oder einschließt; und e> wird be- 
hauptet, daß der Ausspruch: dieser Trieb ist gut oder recht, 
jener schlecht oder verkehrt, dem Beurteilten eine Qualität 
beilegt, die gar nicht im Objekt liegt, sondern rein und nur aus 
dem eignen Gesichtspunkte dieses Urteilens zu verstehen ist. 

Schon darin also beweist sich eine gewisse Freiheit des 
praktischen Urteils dem bloßen Trieb gegenüber. Diese Freiheit 
reicht aber in der Tat viel weiter. Das gutheißende oder ver- 
werfende Urteil behauptet sich im vollen Gegensatz zur augen- 
blicklichen Trieblage; es behauptet sich als Urteil auch, wenn 
es nicht stark genug ist, unser wirkliches Tun zu bestimmen. 
Das ist der Fall, daß wir das Bessere sehen und gutheißen 
und doch das Verkehrte tun ( Video meliora proboque, deteriora 
sequor); gleichviel, was man für das Bessere und Schlimmere 
hält und mit wie viel Grund und Recht. Aber auch dann liebt 
es die das Urteil tatsächlich mißachtende Neigung, sich mit 
scheinbaren Gegengründen zu schmücken; sie fühlt sich also 
doch im Verteidigungszustand gegen das sie verwerfende Urteil, 
^enn aber endlich die Waffen ihrer Sophistik versagen und 
dm zweifellose Klarheit des praktischen Urteils, jede Ausflucht 
abschneidend, sich behauptet, so muß die widerstrebende Nei- 
gung sich ihm beugen und mit ihm gleichsam kapitulieren. 

Daher ist die Meinung des Platonischen Sokrates keines- 
wegs grundlos, daß praktische Einsicht ((^ppövrjoc^), wo sie ein- 
mal im Menschen zu solcher Klarheit sich durchgearbeitet hat, 
daß sie durch keine Sophisterei der Neigungen mehr verdunkelt 
wird, auch notwendig in ihm das Herrschende sei, nicht aber 



72 


(wie man also damals schon verfocht) von Lust, Unlust, Zorn, 
Begier, Abneigung, kurz den sinnlichen Trieben gleich einem 
Sklaven hin und her gezerrt werde. Sie behauptet die Herr- 
schaft (so erklärt es Plato), indem sie die Macht des Scheins 
bewältigt, der uns in die Irre treibt und zu fortwährendem 
Selbstwiderspruch nötigt, und der Seele Ruhe schafft im Ver- 
harren bei dem Wahren, d. i. durch Konzentration im Be- 
wußtsein. Darin liegt nichts Unmögliches oder auch nur 
Schwieriges, nichts was aus dem sonst bej^annten Zusammen- 
hang der psychischen Vorgänge herausfiele. 

Und so stimmt es vor allem mit den Tatsachen überein. 
Es ist doch nichts so Unbekanntes oder Unerhörtes, daß dem 
Menschen, der überhaupt einen Willen hat, die Sache, worin 
immer er sie sehen mag, mehr gilt als die Person, auch die 
eigene; daß er der Sache, die er zu der seinigen gemacht hat, 
sich selbst und seine gegenwärtige oder absehbare Befriedigung 
ohne Bedenken zum Opfer bringt; nicht indem er seine Persön- 
lichkeit wegwirft, zunichte macht, sondern vielmehr sie mit 
ganzer Kraft für die Sache einsetzt. 

Man braucht dabei gar nicht an heroische Taten zu denken, 
wie sie von außerordentlichen Menschen in außerordentlicher 
Lage vollbracht werden. Sehr hervorstechende Beispiele 
bietet schon der gemeine Soldat, Lokomotivführer, Feuerwehr- 
mann usw. Er wägt im kritischen Augenblick nicht erst ab, 
was er einsetzt und was er etwa gewinnen kann, wenn er seine 
Pflicht tut oder wenn nicht. Er riskiert im einzelnen Fall viel- 
leicht nicht einmal Ehrverlust oder Gewissensbisse, wenn er vor- 
zieht nur sich selbst in Sicherheit zu bringen. Dennoch wird 
man die große Überzahl ohne Wanken den Weg der Pflicht 
gehen sehen ; und man glaubt dabei mit allem Recht, gar nichts 
mehr als seine „Schuldigkeit“ zu tun. Es gehört dazu in der 
Tat keine Heldennatur, sondern nur das Geringe, daß man ein 
ehrlicher Kerl, d. h. ein Mensch von leidlich grad wüchsigem 
Charakter ist. Derselbe Mensch unterliegt vielleicht einer viel 
weniger ernsten Versuchung, z. B. zu Unwahrheit um ver- 
meinten, geringfügigen Vorteils willen. Es ist, wie mir scheint, 
ein starker tatsächlicher Irrtum vieler Moralisten, daß dem 



73 


Menschen das Leben und was es gemeinhin bietet, sonderlich 
hoch im Preise stände. Auch die andre Meinung irrt äugen* 
scheinlich, daß, wenn etwas, allein die Angst vor Ehrverlust 
oder Gewissenspem über den Lebenstrieb den Sieg behielte. 
Es genügt vielmehr dazu das Einzige: der feste Glaube an 
eine Sache, und sei es die törichtste, ja schlechteste von der 
Welt. Der gemeine Ehrtrieb ist selbst nur ein Beispiel davon; 
auch was man gewöhnlich nennt: sich ein Gewissen aus etwas 
machen, ist nichts viel andres als die oft sehr unbestimmte, 
schwach begründete Vorstellung von etwas, das man unbedingt 
tun oder lassen und dagegen auch den lebendigen eigenen 
Trieb (der vielleicht ganz im Recht ist) bezwingen müsse. Die 
dabei leitende Einsicht mag einen sehr beschränkten Horizont 
haben, die Konsequenz nur der Eigensinn eines ersten Irrtums 
sein, der unfehlbar die ganze, von da ab richtig geführte Rech* 
nung verfälscht; es ist darum noch immer Wille, der auch in 
diesem Fall seine Macht über den willenlosen Trieb beweist. 
Mit Sittlichkeit hat das noch wenig zu tun; der bloße Wille 
ist sittlich so indifferent wie der bloße Trieb, an sich des Bösen 
so gut fähig wie des Guten. 

Daraus folgt aber schon, daß die Erhebung von der Stufe 
des blinden Triebs zu der des zielsichern Wollens keineswegs 
notwendig auch die Erhebung zur Höhe des vernünftigen 
(i. i. des sittlichen Wollens bedeutet. Der Wille im eigentlichen 
Sinne gehorcht zwar, nach Kants richtiger Annahme, jederzeit 
einer „Maxime“, aber die Maxime taugt nicht immer zu einer 
,, allgemeinen Gesetzgebung“. Sie behält zunächst ganz den 
Charakter des Enripirischen ; der Wille bleibt auf ein bestimmtes 
empirisches Objekt, einen Gegenstand des Triebs, vorerst 
ausschließlich gerichtet. Darum fehlt ihm zwar nicht das 
Moment der Form. Wir erkannten es in der bewußt fest- 
gehaltenen Einheit der Bewußtseinsrichtung, ohne die die 
bewußte Setzung eines Objekts als eines Seinsollenden nicht 
möglich wäre. Sogar die unbedingte Setzung schlummert 
darin, wenngleich irrtümlich ein Empirisches als unbedingtes 
Ziel aufgestellt wird. So beweist der empirische Forscher, 
wenn er auch darin irrt, daß er ein bloß empirisches Gesetz 



74 


für ein unbedingtes nimmt, doch selbst in diesem Irrtum, 
daß es das Unbedingte ist, das seine Forschung schließlich 
sucht und meint. Aber in der bewußten Erhebung zum 
Standpunkte des Unbedingten, nämlich unbedingt Gesetz- 
liehen, tritt erst die Eigentümlichkeit der praktischen Objekt- 
setzung unvermischt zutage. Sie muß also, als letzte und 
höchste Stufe der Aktivität, von der des bloßen Willens 
unterschieden werden. Wir zeichnen sie aus durch die nähere 
Bestimmung des Willens zum reinen oder Vernunft willen. 

§ 9 . 

Dritte Stufe der Aktivität: Vernunft wille. 

Schon der Name, den wir der dritten Stufe der Aktivität 
geben, will andeuten, daß diese die zweite, den Willen, ebenso 
in sich schließt, wie der Wille den Trieb. Das Verhältnis 
der drei Stufen ist dieses: Trieb bezeichnet nur das Vorhanden* 
sein einer Tendenz überhaupt, d. h. Richtung der Aktivität 
auf irgend ein Ziel, ohne Bewußtsein einer streng festzuhalten- 
den, jede Ausweichung verbietenden Einheit der Richtung; auf 
der Stufe des Willens tritt dies Bewußtsein hinzu, es fehlt 
aber noch die Einsicht, daß, wie wir früher sagten, jede Rich- 
tung ins Unendliche weist, es fehlt die Messung des einzelnen, 
empirischen Wollens an dem nicht mehr empirischen Ziel des 
unbedingt Seinsollenden; die dritte Stufe fügt noch dies hinzu; 
die Beziehung aufs empirische Objekt bleibt zwar, aber das 
Bewußtsein des Wollenden haftet nicht mehr an diesem, 
sondern erhebt sich darüber zum schlechthin übergeordneten 
Standpunkt des unbedingt Gesetzlichen. Das empirische* 
Objekt wird mit ausdrücklichem Bewußtsein nur bedingt 
gewollt, d. h. um eines ferneren und ferneren Zweckes willen, 
der, solange er noch im Bereiche der Erfahrung liegt, wieder nur 
bedingt gewollt, zuletzt aber aufs Unbedingte als das wahre, 
obgleich unendlich ferne Ziel bezogen wird. Praktische Ver- 
nunft ist also an sich nicht empirisch, wohl aber findet sie 
Anwendung aufs empirische Wollen, und hat abgesehen von 
dieser Anwendung keine Bedeutung, außer als Abstraktion 
zum Behufe der bloßen Theorie. Es ist der Gewinn unsrer 



75 


vorausgeschickten Betrachtungen, daß diese Anwendung, in 
der man so große Schwierigkeiten gesucht hat, jetzt kaum 
mehr einer Lesonderen Erklärung bedarf. 

Für den Vernunftwillen ist also in der Tat, so wie Kant 
wollte, das reine Formgesetz des Wdlens maßgebend. Da 
dieses über alles Empirische hinausgeht, so kann sich der Ver- 
nunftwille freilich niemals empirisch beweisen, auch nicht durch 
eben die Tat, in der er sich auszuprägen sucht und scheinbar 
empirische Gestalt annimmt. Wir beurteilen allerdings die 
Gesinnung nach der Handlung, wissen aber sehr wohl, daß 
diese nur ein unsicherer Zeuge derselben ist. Nu-‘ der Blick 
des Selbstbewußtseins ist unendlich, d. b. durch keine end- 
liche Schranke schlechthin eingeschränkt. Vor dem Forum 
des eigenen Bewußtseins aber erweist sich das Vernunftgesetz 
mächtig, ja unbedingt herrschend in dem unerbittlichen Ge- 
richt über unser empirisches Tun. Ob es je die Kraft hat 
unser tatsächliches Wollen ganz in die Richtung zu zwingen, 
die es ihm vorschreibt, mag nicht bloß Andern, sondern am 
allermeisten uns selbst zweifelhaft bleiben; empirisch beweisen 
läßt es sich, wie gesagt, niemals; so bleibt ihm dennoch die 
praktische Wirkung, daß nach seinem Ausspruch das, was 
wir taten, unbedingt hat sein sollen oder nicht sein sollen, 
daß es recht war oder verkehrt, gut oder schlimm, daß ich 
selbst vor mir selber, mein empirisches Subjekt vor der 
,, bessern Person“ in mir, wie Kant sagte, bestehen kann 
oder nicht. Ich denke aber, daß das eine mächtige prak- 
tische Wirkung ist. 

Wie nun die Erhebung des Willens zum Standpunkt des 
Vernunftgesetzes überhaupt möglich sei, ist jetzt keine für uns 
etwa bedrohliche Frage mehr. Diese Möglichkeit ist nicht 
schwerer zu begreifen als die Möglichkeit des Urteilens nach 
theoretischen Grundsätzen wie etwa dem Satze des Wider- 
spruchs. Dieser stellt für das Denken, wie der praktische Grund- 
satz für das Wollen, eine letzte, unbedingte Bedingung auf: 
Was sich widerspricht, kann schlechterdings nicht sein; was 
sich nicht unter ein einstimmiges Gesetz des Wollens fügt, kann 
nicht sein sollen. Ist die Bedingtheit unseres empirischen 



76 


Denkens kein Hindernis, den ersten Satz als bedingungslos^ 
gültigen zu denken und in dieser Geltung als Richtschnur der 
Wahrheit an unser stets bedingtes Denken über das, was sei, 
anzulegen, so ist auch nicht die Bedingtheit unseres eimpirischcn 
Strebens ein Hindernis, als bedingungslose Bedingung der 
Richtigkeit, der Bestandhaftigkeit des Strebens zu denken, 
daß es in sich und mit anderem anerkanntem Streben nicht in 
Widerstreit stehe, und diese Bedingung als kritischen Maßstab 
an jedes empirische Streben anzulegen. Die „Freiheit'^ dieser 
Kritik ist keine andre, als die wir in der Form des Willens über- 
haupt anerkannt haben. Die Herrschaft der Form über die 
Materie df's Wollens erreicht darin erst ihre volle Konsequenz, 
<iaß das praktische Urteil bei keinem empirischen Ziel als 
letztem stehen bleibt: eben weil jedes empirische Ziel nur ein 
bedingtes, nie ein absolut letztes ist. Damit ist aber schon 
gesagt, daß nichts andres als das reine Formgesetz des Wollens, 
das Gesetz der durchgängigen Einstimmigkeit, der absoluten 
Richtungsein heit des Wollens, zum Maßstab des prak- 
tischen Urteils endgültig dienen kann. Warum dieser Maßstab 
gilt, hat so wenig Sinn zu fragen wie, warum der Satz des 
Widerspruchs gilt. Es gibt überhaupt keine Begründung, 
überhaupt kein Urteilen mehr, wenn nicht dieser letzte Maß- 
stab gilt; es ist widersinnig, eine Begründung zu fordern für 
einen Satz, der selbst die Voraussetzung jeder Begründung ist. 
Nur im Stufengang der Entwicklung des Denkens ist die Be- 
sinnung auf dies tatsächlich Erste vielmehr das Letzte, was 
erreicht wird. So liegt die Forderung der Einstimmigkeit, 
und zwar als absolute, allem praktis(‘hen Urteilen, also, da 
jedes bestimmte Streben gewissermaßen ein Urteilen ist, allem 
bestimmten Streben schon zu Grunde, wenngleich ohne Bewußt- 
sein. Auf der Stufe des eigentlichen Wollens ist auch schon 
eine Einheit des Strebens bewußt, aber nur als Einheit dieses 
Strebens, nicht des Strebens in seiner Ganzheit. Doch gäbe 
es auch keine besondere Einheit, kein bestimmtes Objekt des 
Wollens ohne das Formgesetz der Einheit überhaupt. Was 
auf der dritten Stufe hinzukommt, ist nur das ausdrückliche 
Bewußtsein dieses formalen Gesetzes, welches seine not- 



77 


wendige Überordnung über jedes besondere Streben nicht nur, 
sondern auch über jede besondere Einheit des Strebens zur 
notwendigen Folge hat. 

Woher kommt nun dem Vernunftwillen diese Obmacht, 
die ihm erlaubt, auch unser bestes empirisches Tun für unzu- 
reichend zu erklären; von unsrem empirischen Wollen 
zu verlangen, daß es bei keinem empirischen Ziel jemals 
verharre ? 

Unsorn Voraussetzungen entsprechend werden wir ant- 
w^orten müssen: diese Gewalt kommt der Vernunft einzig und 
ahein aus der Einheit, in der sie gleichsam das gmze prak- 
tische Vermögen in seinem letzten Grunde, im Selbstbewußt- 
sein, zusammenfaßt. Wie Wille konzentrierter Trieb, so 
ist Vernunftwdlle höchste Konzentration des praktischen 
Vermögens überhaupt; und diese Konzentration ist die Wurzel 
seiner Kraft. Es ist die Selbsterhaltung des Strebens, 
die darin, als letztes Maß der Richtigkeit des Strebens, uns 
bewrußt wird. 

Für die Erziehung freilich ist damit noch keine letzte 
Antwort gegeben, sondern erst die Frage in bestimmterer Form 
gestellt. Vergebens würde man vom Schwächling fordern, daß 
er ,,sich konzentriere“ oder, wie unsere Sprache es gut be- 
zeichnet, ,,sich zusammennehme“. Genau das ist ja seine 
Schwäche, daß er das nicht kann. Vielmehr, wie diese Forde- 
rung offenbar die Viöchste ist, so werden auch die größten 
Voraussetzungen dazu gehören; diese haben wir jetzt zu unter- 
suchen. Es fragt sich also; gegeben Trieb und Wille, auf 
welchem Wege gestaltet sich daraus Vernunftwille? 

Zum sicheren Ausgangspunkt dient uns hier die bereits 
gewonnene Einsicht, daß die Gestaltung der Willenswelt unter 
Leitung des Vernunftgesetzes in genauer Verknüpfung stehen 
muß mit der Gestaltung der empirischen Objektwelt unter 
Leitung des Erfahrungsgesetzes. Auf der untersten Stufe der 
Entwicklung ist beides kaum voneinander zu scheiden; weiter- 
hin tritf eine gewisse Differenzierung zwar ein, aber die Wechsel- 
beziehung dauert fort, und diese Beziehung ist, bis zu den 
höchsten Stufen hinauf, mehr als bloße Analogie. 



78 


Die drei Stufen: Trieb, Wille, Vernunftwiile, entsprechen 
auf praktischem Gebiet genau drei Stufen der empirischen 
Vorstellung: erstens Vorstellung schlechtweg, die zwar ihren 
Gegenstand hat, aber noch nicht das Bewußtsein gegenständ- 
licher Geltung einschließt; zweitens bewußt objektivierte Vor- 
stellung, doch ohne radikale Begründung in den Grundgesetzen 
der Erkenntnis; drittens prinzipiell und methodisch begründete^ 
also wissenschaftliche Objekt Vorstellung, empirische Objekt- 
erkenntnis. Die fortschreitende Konzentration des Bewußt- 
seins, die zugleich Erweiterung des Horizonts bedeutet, regiert 
dort wie hier den Fortschritt. Wie sich Vorstellung duröh 
Vorstellung entwickelt, die Vorstellungen auf dem sich stetig 
erweiternden Blickfeld des Bewußtseins einander begegnen, in 
Widerstreit geraten, Ausgleich suclmn müssen, und sich so zu 
immer tieferer, umfassendtrer Einheit durchbilden, so begegnen 
sich auf dem Felde des praktischen Bewußtseins Tendenz und 
Tendenz; mit steigender Höhe des Bewußtseins vertragen sich 
weniger und weniger die in der Richtung nicht übereinstim- 
menden, also auch nicht sich gegenseitig fördernden Ten- 
denzen, die anfangs, indem jede nur mehr für sich zur Geltung 
kam, streitlos neben einander hergehen konnten. Treffen sie 
aber erst auf einander, so muß ein Ausgleich gesucht werden; 
und jeder gefundene Ausgleich ist ein neuer Sieg der Bewußt- 
seinseinheit, festigt die Tendenz zur Einheit überhaupt, erhöht 
die Energie dieser Tendenz für jeden folgenden Zusammenstoß. 
Und so entspricht sich auch das letzte Ergehn ts der Entwick- 
lung dort und hier: so wie im Fortgang der Erfahrung jede 
Antwort neue Fragen hervortreibt, jede gefundent^ Lösung neue 
Aiifgab(m stellt, bis die Erwartung letztgültiger Erklärungen 
grundsätzlich preisgegeben, der Fortschritt der theoretischen 
Erkenntnis als notwendig unendlich, in dieser Unendlichkeit 
aber streng gesetzmäßig erkannt wird, so ist das Endergebnis der 
praktischen „Erfahrung“ die Einsicht in die Unendlichkeit der 
Aufgabe der praktischen Erkenntnis, die völlige Zerstörung des 
anfänglichen naiven Glaubens an ein empirisch erreichbares letz- 
tes Ziel, zugleich mit dem sicheren Bewußtsein eines möglichen 
Fortschritts von fester Richtung nach dem ewigen Ziele hin. 



79 


Nud aber wissen wir schon, daß diese durchgängige Ana- 
logie eine wurzelhafte Einheit des theoretischen und prak- 
tischen Bewußtseins zur Voraussetzung hat. Die Stufen der 
Aktivität gehen denen der Erkenntnis nicht bloß parallel, es 
findet nicht bloß derselbe Einteilungsgrund beiderseits An- 
wendung, sondern auf jeder der drei Stufen beweist sich die 
völlige Einheit des theoretischen und praktischen Bewußt- 
seins. Auf der Stufe der Sinnlichkeit sind unmittelbar eins 
die Hingabe an die Wahrnehmung und die Hingabe an den 
Trieb; die Tätigkeit des Wahrnehmens selbst ist durchweg zu- 
gleich Triebbetätigung. Ebenso ist Denken zugleicr Willens- 
arbeit; und wenn wir den Willen geradezu definierten als 
Objektsetzung oder Setzung der Regel, so ist ja dies, nach 
theoretischer Seite, notwendig Denken; Bewußtsein einer Regel 
ist Denken. Und so gibt es überhaupt keinen Bestandteil der 
Aktivität, der sich nicht in einem entsprechenden Bestandteil 
der Erkenntnis ausdrückt. Daher ist es auch dasselbe, was 
die Richtigkeit des Denkens und was die Richtigkeit des 
Wollens zuletzt begründet: nicht die Regel bloß, sondern die 
Regel der Regel, die unbedingte Forderung der Gesetzlichkeit 
überhaupt, die über jede besondere, empirische Regel sich er- 
hebt und sie in die Schranke bloß bedingter Gültigkeit zurück- 
weist. Ist das Ziel die Einheit des Selbstbewußtseins, so kann 
es ja nicht zwei Einheiten des Selbstbewußtseins geben, eine 
theoretische und eine praktische, sondern es lassen sich allen- 
falls zwei Seiten unterscheiden an einer und derselben letzten, 
zentralen Einheit, zu der alles zusammenstrebt. 

Diese letzte wurzelhafte Einheit aber wird sich als letzt- 
entscheidend eben da erweisen, wo die Tendenz zur Einheit 
in der Entwicklung des gesamten aktiven Vermögens so 
weit herrschend geworden ist, daß auf den Ausbau einer 
Welt der Zwecke mit Bewußtsein hingearbeitet wird. 
Der Naturboden der Entwicklung menschlichen Wollens 
kann gerade dann keinen Augenblick mehr verkannt wer- 
den. Dadurch wird der Wille nicht etwa auf eine tiefere 
Stufe herabgesetzt, materialisiert, vielmehr umgekehrt 
das ganze Gebiet der Erfahrung, die Natur, zugleich in das 



80 


Blickfeld des praktischen Bewußtseins, der Idee gerückt, 
d. i. idealisiert. 

Das ist die große Bedeutung der Technik, deren Be- 
griff, wie nach Sokrates *) nicht wieder hätte vergessen 
werden sollen, in eine konkrete Ethik unerläßlich hineingehört. 
Ist die Technik einerseits, als Anwendung von Naturkräften 
auf naturgegebenen Stoff, zweifellos rein theoretisch, nämlich 
naturwissenschaftlich zu begründen, so stellt sie nicht minder 
wesentlich andrerseits die Naturkraft in den Dienst mens(^- 
licher Zwecke. Kein menschlicher Zweck aber kann außer Be- 
ziehung bleiben zu dem höchsten menschlichen Zweck: dem 
Menschen selbst, od(!r der Menschen bil düng; und diese ist, 
dem regierenden Prinzip nach, Willensbildung. Zielt nun 
schließlich alle Theorie auf Technik, so ist klar, wie alles 
theoretische Bewußtsein ausnahmslos zugleich eine Beziehung 
aufs praktische gewinnen und sich ihm schließlich unterordnen 
muß. Umgekehrt bleibt das praktische Bewußtsein aufs 
theoretische seinem ganzen Stoff nach angewiesen; seine Ent- 
wicklung, die fortschreitende Durchdringung des Stoffs mit 
der Form des praktischen Bewußtseins ist durchaus gebunden 
an die Entwicklung des theoretischen Bewußtseins, da ja 
dieses allein ihr den Stoff bietet. Die Grenze zwischen beiden 
wird aber dabei nicht verwischt; bloße theoretische Erkenntnis 
ist noch nicht Wille, gibt auch nicht den Willensinhalt; aber 
der Erkennende ist zugleich der Wollende; er vermöchte nicht 
Erkenntnis zu entwickeln als indem er Willen entwickelt, und 
umgekehrt. Es ist hier eine unauflösliclie, innerlich oder, wie 
früher gesagt, zentral begründete Einheit anzuerkennen, wo 
mit Unrecht eine starre Dualität angenommen wird. 

Daher vermag durch die Vermittlung der Technik alles, 
was irgend Gegenstand theoretischer Erkenntnis ist, zugleich 
praktischer Gegenstand zu werden. Den physikalisch-chemi- 
schen Wissenschaften entspricht eine physikalisch-chemische, 
den biologischen eine biologische, den anthropologischen ins- 
besondere fine anthropologische, den soziologischen eine sozio- 

*) Vergl. des Verf. Darstellung, Philos. Monatsh. Bd. XXX S. 356 ff. 
Platos Ideenlehre, S. 6 ff. 



81 


logische Technik (S. 38). Hängen nun jene Wissenschaften 
alle zusammen in der einen Naturwissenschaft (im weitesten 
Verstände, sofern auch das menschliche Leben, selbst das 
menschliche Gemeinschaftsleben, nach einer Seite Natur ist, 
d. h. dem Kausalgesetz untersteht), so ist klar, wie damit die 
ganze Natur, sofern erkannt, zugleich zum praktischen Gegen- 
stand wird. Das ist in der Ethik bisher nicht ausreichend 
gewürdigt worden. Man hat fast slets so gesprochen, als sei 
Materie des sittlichen Wollens nur das Triebleben des Indi- 
viduums, allenfalls das soziale Triebleben; statt daß man 
geradezu sagen sollte: Materie des sittlichen Willens ist die 
Natur, wenngleich die Natur als Gegenstand menschlichen 
Bewußtseins, und damit freilich in Beziehung zum mensch- 
lichen (individualen wie sozialen) Triebleben. Nach der sitt- 
lichen Idee, will dies sagen, ordnen sich nicht nur die mensch- 
lichen Triebe, sondern ordnet sich all unser auf irgend ein Ob- 
jekt gerichtetes Tun, mithin unser ganzes Wirken in der Welt, 
d. h. in der Natur, deren Erkenntnis eingeschlossen. Anders 
ist zu einer wirklich konkieten Ethik nicht zu gelangen. Die 
einzelnen Zwecke erscheinen sonst nur aus der Erfahrung 
auf gegriffen, nicht in innerer Notwendigkeit zusammen- 
hängend und ineinandergreifend ; Ethik erreicht nicht die 
volle Selbständigkeit ihrer Begründung, deren sie fähig und 
bedürftig ist. In der Platonischen Ethik war diese engste 
Zurückbeziehung auf die theoretische Erkenntnis durch Ver- 
mittlung der Technik bereits angebahnt; die spätere Ethik 
hat das meist vernachlässigt, die idealistische wie die empiris- 
tische. Jene sah wohl die Aufgabe der Technik tief unter der 
der Sittlichkeit ; diese erhob sich nicht einmal bis zu dem Grade 
der Anerkennung des Gesetzes, der im Begriff der Technik 
schon liegt. Wir werden diese in nächste Beziehung setzen 
dürfen zur mittleren Stufe der Aktivität, der des Willens 
oder der praktischen Regelsetzung. Denn technisch verfahren 
heißt nach einer Regel verfahren, und zwar einer empirischen, 
also notwendig aus Naturerkenntnis zu schöpfenden. Ist nun 
Regel überhaupt die Voraussetzung der Vernunftregel, so wird 
damit notwendig die Technik zur Vorstufe der Sittlichkeit. 

N a t o r p. Sozialpädagogik. 4. AuH. 0 



82 


Diös bestätigt sich auch allenthalben in der Erfahrung. 
Die Heroen des Willens, sofern sie unter der Stufe der Sittlich- 
keit blieben, waren allzeit nur gewaltige Techniker, und 
die Macht der Technik, die Virtuosität z. B. der öffentlichen 
Gewaltübung, wurde ihnen dann leicht zum Verführer. So 
sind vielleicht die ernstesten sittlichen Schäden des heutigen 
sozialen Lebens Folgen einer großartig entwickelten, doch 
ethisch rücksichtslosen sozialen Technik. Zum Glück liegt in 
eben dem, was das Übel verschuldet, auch die Möglichkeit der 
Heilung: nur eine in den Dienst des Sittlichen gestellte ge- 
waltige Technik der menschlichen Arbeit, eine Technik, die 
das Ganze der Bedingungen menschlicher Arbeit, von den 
letzten, physikalisch-chemischen Grundlagen an durchs Bio- 
logische und Anthropologische bis hinauf zum Soziologischen 
in einer großen Einheit zusammenfaßt, wird imstande sein, 
die Wunden, welche die einseitige Entfaltung der Technik 
der Menschheit geschlagen hat, auch wieder zu heilen. Hat 
man richtig gefordert, daß der Mensch die Maschine beherrschen 
solle, statt die Maschine den Menschen, so gilt das Gleiche in 
der Erweiterung auf alle Technik. 

So viel hängt daran, daß man die Beziehung des Tech- 
nischen zum Sittlichen richtig erfaßt. Sittlichkeit vermag 
nicht anders konkret zu werden als durch Technik. Allerdings 
ist in ihr ebenso die Unsittlichkeit konkret. Es kann ja der 
konkrete Zustand des Menschen stets nur einen bestimmten 
Grad der Annäherung an Sittlichkeit darstellen, er wird 
also stets ein gewisses Maß des Nichlsittlichen enthalten. 
Aber das Arbeitsfeld für Sittlichkeit bleibt das Feld der 
Technik. 

Durch solche Vorblicke, die in der weiteren Untersuchung 
ihre Erfüllung finden werden, mag nun schon etwas greifbarer 
geworden sein, was hier nur als allgemeiner Satz aufzustellen 
war, nämlich: es müsse zwischen den beiden äußersten Enden, 
dem Stoff und der Form des Willens, eine ursprüngliche Be- 
ziehung der Art walten, daß sich, je klarer das Formgesetz 
des Willens zum Bewußtsein kommt, desto sicherer und voll- 
ständiger aller Stoff der Erfahrung ihm unterordnet. 



83 


Aber selbst hiermit ist unsere Frage erst zu einem Teil 
aufgelöst. Es erfordert jetzt noch eine besondere Betrachtung, 
wie denn dieser tiefste Quell der Willeiisbildung sich erschließt; 
wie das Selbstbewußtsei ri im Menschen, und zwar als 
praktisches, nicht bloß theoretisches, erwacht und zu 
sicherer Herrschaft gelangt. 

Es mag im ersten Augenblick paj adox erscheinen, bestätigt 
sich aber bei näherer Untersuchung je mehr und mehr: daß 
sich ein Selbstbewußtsein im IVIenschen nur entwickelt im 
Wechseiverhältnis von Bewußtsein und Bewußtsein; 
folglich nur in und mit der Entwicklung der Beziehi ngen, die 
aus dem empirischen Bewußtsein des einzelnen Subjekts hinaus 
zur Gemeinschaft hinüberreichen. 

Damit scheint ein ganz neuer Faktor in die Rechnung 
eingeführt, ja ein neuer Grundbegriff aufgestellt zu werden. 
Es wird sich fragen, wie dieser mit den bisher nachgewiesenen 
Voraussetzungen zur Theorie der Willenserziehung innerlich 
zusammenhängt; woraus zugleich sich ergeben muß, ob sein 
Einfluß sich etwa bloß auf diese höchste Stufe des Willens 
erstreckt, oder schon von der untersten Stufe des Trieblebens 
an wirksam ist. 

Jedenfalls besteht zwischen den Begriffen Gemeinschaft 
und Erziehung ein nicht bloß äußeres Verhältnis. Scheint 
es doch, daß Erziehung, so weit sie nicht bloß Selbsterziehung 
ist, in dem Elemente der Gemeinschaft ganz und gar lebt; 
daß sie auf der Gemeinschaft, mindestens der des einzelnen 
Erziehers und Zöglings, schon ihrem Begriff nach beruht. 
Und nicht minder sicher ist das Ziel der Erziehung, jedenfalls 
eins ihrer wichtigsten Ziele, die Tauglichkeit nicht nur zum 
Leben in der Gemeinschaft, sondern zur eigenen Teilnahme 
am Aufbau einer menschlichen Gemeinschaft. Die Unter- 
suchung dieser wichtigen Beziehungen soll unsere Grundlegung 
zum Abschluß bringen. 


ß* 



84 


§ 10 . 

Erziehung und Gemeinschaft. Sozialpädagogik. 

Der Mensch wird zum Menschen allein durch menschliche 
Gemeinschaft. Um sich davon auf kürzestem Wege zu über- 
zeugen, vergegenwärtige man sich, was wohl aus ihm würde, 
wenn er außer allem Einfluß menschlicher Gemeinschaft auf- 
wüchse. Es ist gewiß, daß er dann zum Tier herabsinken, 
daß wenigstens die eigentümlich menschliche Anlage sich nur 
äußerst dürftig, nicht über die Stufe einer ausgebildeteren 
Sinnlichkeit hinaus in ihm entwickeln würde. 

Aber der Mensch wächst nun nicht vereinzelt auf, auch 
nicht bloß der eine neben dem andern unter ungefähr gleichen 
Bedingungen, sondern jeder zugleich unter vielseitigem Einfluß 
andrer und in beständiger Rückwirkung auf solchen Einfluß. 
Der einzelne Mensch ist eigentlich nur eine Abstraktion, gleich 
dem Atom des Physikers. Der Mensch, hinsichtlich alles 
dessen, was ihn zum Menschen macht, ist nicht erst als Einzelner 
da, um dann auch mit Andern in Gemeinschaft zu treten, 
sondern er ist ohne diese Gemeinschaft gar nicht Mensch. 

So wie die Sozial Wissenschaft das vergaß, wenn sie die 
Gesellschaft aus einer bloß äußeren Verbindung zuvor isoliert 
gedachter Einzelner zu erklären unternahm; wie die Ethik es 
übersah, so oft sie aus dem Egoismus, als, wenn nicht über- 
haupt einzigem, doch einzig ursprünglichem und selbstver- 
ständlichem Trieb im Menschen, dessen sittliches Leben und 
Denken durch irgend eine Entwicklung hervorgehen ließ; so 
muß auch die Erziehungslehre in wichtigen Hinsichten ihre 
Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht als Grundsatz erkennt und 
an die Spitze stellt, daß die Erziehung ohne Gemeinschaft über- 
haupt nicht bestände. Selbst ohne das Bedürfnis einer tieferen 
Ableitung dieses zwingenden Verhältnisses beider Begriffe 
hätte die Frage als eine der ersten in der Pädagogik aufgeworfen 
werden müssen: wie unter dieser nun einmal grundwesentlichen 
Voraussetzung des Lebens in menschlicher Gemeinschaft die 
Bildung des Menschen, insbesondere des menschlichen Willens, 
sich gestalten müsse. Hier aber ist es um eine reine Ableitung 



85 


der fundamentalen Begriffe der Willenserzichung zu tun. 
Daher müssen wir nach der l'etztoiA Begründung dieses tat- 
sächlich unzweifelhait bestehenden Verhältnisses zwischen 
Erziehung und Gemeinschaft fragen. 

Nicht als wäre nach tief verborgenen metaphysischen 
Gründen dafür zu forschen, daß überhaupt eine Vielheit be- 
wußter Existenzen, und unter diesen ein Verkehr stattfindet; 
eine Frage, die vom kritischen Wege unsrer Untersuchung 
weit abliegt und überhaupt kaum eine Aussicht einer wissen- 
schaftlichen Beantwortung bietet. Nicht nach Existenz- 
gründen der Gemeinschaft, sondern danach forschen wir, was 
sie dem Bewußtsein inhaltlich bedeute. 

Dem Individualbewußtsein als solchem ist Einzigkeit, 
Sonderung von jedem andern wesentlich; es kann niemals in 
ein andres gleichsam hinüberreichen oder auf irgend eine Weise 
mit ihm eins werden. Aber, wer darauf ausschließlich den 
Blick geheftet hielte, würde nicht nur zum ethischen Egoismus, 
sondern notwendig zum theoretischen Solipsismus kommen. 
Nun aber handelt es sich um das Bewußtsein seinem Inhalt 
und der ihn erzeugenden Gesetzlichkeit nach. Diese 
ist von Haus aus für alle eine und dieselbe. Folglich gibt 
es keinen reinen, d. i. gesetzmäßig erzeugten Inhalt des Be- 
wußtseins, der des Einzelnen ausschließendes Eigentum wäre. 
Also: aller echte Bildungsinhalt ist an sich Gemeingut. Es 
ist ein gründlicher Irrtum, man möchte es eine Art Sinnes- 
täuschung nennen, wenn man irgend einen geistigen Besitz 
sich als ausschließliches Eigentum zurechnet. Der egozen- 
trische Standpunkt der Kosmologie, welcher die unendlichen 
Welten um den Beschauer sich drehen läßt, der seinen zu- 
fälligen Standort zur absoluten Grundlage seines Urteils macht, 
ist nicht naiver oder irrtümlicher als jener egozentrische Stand- 
punkt der Bildung, der heute von so manchem als tiefe und 
wohl gar neue Philosophie angestaunt wird. So sicher der 
äußere Kosmos in seinem Aufbau und dem Wechsel seiner 
Erscheinungen einem Gesetze folgt, das nach keinem zufälligen 
Standpunkt des Beobachters fragt, so sicher unterliegt der Auf- 
bau und die aufsteigende Entwicklung der inneren Welten 



86 


der Erkenntnis, der Sittlichkeit und selbst der Kunstgestaltung 
Gesetzen, die unterschiedslos dieselben für alle sind. Und 
wenn es je ein eigener Ausschnitt aus diesen Welten ist, der 
dem Einzelnen sichtbar wird, so besteht die Eigenheit seiner 
individuellen Ansicht, analog der Eigenheit des Bildes, das 
ein jeder seinem Standort gemäß vom Universum erhält, nur 
in einer Einschränkung des unermeßlichen Inhalts der mensch^ 
liehen Bildung, der, an sich derselbe, für alle zur Aneignung 
gleichsam bereit steht, und auf den alle solche ,, zufälligen 
Ansichten“ sich wesentlich und unerläßlich zurückbeziehen. 
Über diese Beziehung hinwegsehen heißt sich bornieren; sie 
erkennen und zur Höhe dieser Gemeinschaft des geistigen In- 
halts sich bewußt erheben heißt sein Selbst erweitern und ihm 
den höchsten für Menschen erreichbaren Wert zuteilen. Es 
ist nötig, diese halb vergessenen Wahrheiten mit Nachdruck 
wieder zu betonen, in einer Zeit, da so viele geneigt scheinen, 
sie besinnungslos den Paradoxen eines Modeschriftstellers zu 
opfern, den als Philosophen anzuerkennen eine harte Zumutung 
ist, nachdem er die unbedingte Voraussetzung jedes Philo- 
sophierens, den Selbstwert der Wahrheit, in nicht zweideutigen 
Aussprüchen verneint hat. 

Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweiterung 
des Selbst. Die Spontaneität, die echte Individualität der 
Bildung streitet damit überhaupt nicht. Sie ist die Errungen- 
schaft von Sokrates, Plato und Kant, eben den Männern, über 
die die Zeitphrase des Individualismus sich am hochmütigsten 
hinwegsetzt. Die Gesetzlichkeiten der Gestaltung alles Inhalts 
unsres Bewußtseins und also unsrer Bildung sind Gesetzlich- 
keiten des Bewußtseins selbst: das ist der Individualismus 
echter Bedeutung. Aber dieser schließt die Gemeinschaft nicht 
aus, sondern führt zwingend zu ihr hin. Dagegen heißt es 
die wahre Individualität verkürzen und nicht sie befreien, wenn 
man ihr diese Beziehung zur Gemeinschaft nimmt. Es ist, 
wie wenn ich die Freude, aus meinem Fenster ins Weite hinaus- 
zublicken, vertauschen sollte gegen den Stolz der Einbildung, 
das alles, was ich draußen zu sehen vermeinte, seien in Wahr- 
heit Gemälde an den Wänden meines Zimmers. 



87 


Der letzte Grund dieser Bedeutung der Gemeinschaft aber 
ergibt sich auf geradem Wege aus unsern ersten Voraus- 
setzungen. Kontinuität ist das Urgesetz des Bewußtseins* 
dasselbe bewährt sich auch im Wechselverhältnis mehrerer. 
Bewußtsein und Bewußtsein schließen sich nicht aus, sondern 
schließen sich vielmehr zusammen kraft der dem Bewußtsein 
als solchem eigenen Tendenz zur Einheit, nämlich zur Einheit 
der Idee. 

Wie es überhaupt die Funktion des Bewußtseins ist, 
Einheit zu stiften; wie irgend welcher empirische Stoff, sobald 
er wahrhaft vom Bewußtsein aufgenominen und durchdrungen 
wird, mit allem dem Bewußtsein gegenwärtigen oder erreich- 
baren Inhalt Zusammenhang, Verknüpfung in einer Einheit 
suchen muß; wie allemal die niederen, weniger umfassenden 
Einheiten, deren jede gleichsam ihren eignen Mittelpunkt hat, 
unter höheren und höheren Vereinigungspunkten sich wiederum 
zusammenfassen, und so eine allgemeine Tendenz entsteht 
auf eine letzte, allbefassende Einheit; so muß dies nämliche 
Gesetz sich bewähren gleichsam im Zusammentreffen zweier 
individuell verschiedenen geistigen Welten, d. i. in jeglichem 
geistigen Verkehr, Denn diese unterschiedlichen Welten bauen 
sich aus gleichem Stoff und nach denselben Formgesetzen, 
vermöge derselben Grundkraft der Vereinigung, der ,, Synthesis 
des Mannigfaltigen*' auf. Es mag nun die eine ausgebildeter, 
weiter ausgedehnt und wiederum konzentrischer geeint sein, 
als die andre, oder in bestimmten Richtungen ausgebildeter, 
in andern weniger u. s. f.; weil aber doch die Grundkraft der 
Gestaltung in allen dieselbe, in der unbegrenzten Anwendung 
auf andre und andre Gebiete immer gleichartig und in der 
Wurzel zusammenhängend ist, so bleibt keine dieser ver- 
schiedenen Welten gegen die andre verschlossen, sondern ver- 
mögen sie wie in eine einzige zusammenzugehen; so können 
ihre Zentren oder Vereinigungspunkte, die untergeordneten 
und die übergeordneten bis zu den höchsten hinauf, gleichsam 
zur Deckung gebracht werden; so kann, was im Einen nur 
begonnen oder nur überhaupt angelegt war, dadurch, daß er 
es im Andern vollendet erblickt, auch in ihm sich vollenden; 



88 


so kann, mit einem Wort, wirkliche Bildung, d. i. spontan 
gestaltende Bewußtseinstätigkeit und nicht bloß toter Stoff 
sich mitteilen; wie nur selbständiges Leben wiederum Leben 
erzeugt. 

Und also folgt aus der Gemeinsamkeit des Bildungs- 
inhalls zugleich die Möglichkeit einer Gemeinschaft der allen 
Inhalt gestaltenden, mithin aller bildenden Tätigkeit. 
Nur deshalb ist zuletzt der sich gestaltende Inhalt derselbe, 
weil die gestaltende Tätigkeit, weil die Gesetzmäßigkeit der 
Gestaltung für alle dieselbe ist. Und also muß sich die Ge- 
meinschaft gerade auf das Formale dieser gestaltenden Tätig- 
keit erstrecken. Ja, gerade die selbsttätige Gestaltung des 
Inhalts in Denken und Gesinnung, die uns im Andern ent- 
gegentritt, ergreift unmittelbar das eigene Bewußtsein und 
setzt die eigene Selbsttätigkeit in Bewegung. Wer je vom 
Andern gelernt hat, wem je etwas klar wurde, indem er sehen 
lernte mit demselben Blick, mit dem zuvor der Andre sah und 
zu dem er ihn gleichsam hinaufzuheben wußte, dem muß dieser 
Sinn der bildenden Gemeinschaft klar sein, und er muß 
erkennen, wie alle Lehre, alle Erziehung, alle Bildung des 
Intellekts wie des Willens gänzlich hierauf beruht. Hier ist 
nicht die Rede von einem Einpflanzen von außen und andrer- 
seits passiver Entgegennahme. Die intensivste Förderung 
durch den Andern bedeutet vielmehr zugleich intensivste 
Selbsttätigkeit und umgekehrt. Der Empfangende sogar wird 
durch die Lebendigkeit seiner Empfängnis auch wieder zum 
Anregenden, also Gebenden; das Geheimnis, daß wir durch 
Lehren lernen, durch Erziehen auch selber erzogen werden. 
Vielmehr wenn es nicht diese Gemeinschaft von Bewußtsein 
und Bewußtsein gäbe, so bliebe allein übrig, daß der Eine dem 
Andern den toten Stoff zuschöbe und es ihm überließe, ob und 
wie er ihn verarbeitet. Dann freilich würde das Lehren und 
lernen notwendig zu dem verächtlichen mechanischen Treiben, 
zu dem nur beiderseitige Geistesträgheit es leider oft werden läßt. 

Doch ist es noch nicht genug gesagt, daß das Lernen 
geschieht in einem Wechselverhältnis peripherischer Aufnahme 
und zentral vertiefender Verarbeitung eines dargereichten 



89 


Stoffs. Denn zuletzt gibt es keinen dargereichten Stoff; in 
Form und Gesetz muß alles s:cL auflösen, was eigentlich ein 
Inhalt des Bewußtseins sein soll. Hs ist hier nur ein Unterschied 
des Grades, von dem noch unfreien Verhalten zum Gegenstände, 
in welchem dessen Abhängigkeit vom Formgesetz des Bewußt- 
seins bloß nicht erkannt wird, bis zur Freiheit dieser Erkenntnis 
und damit vollen geistigen Beherrschung des Inhalts. Der 
Bann der sinnlichen Tatsache, der sinnlichen Lust und Unlust, 
des sinnlichen Begehrens besteht nur so lange, als man an ihn 
glaubt; er weicht der Freiheit des Bewußtseins, dae sich über 
ihn erhebt, indem es auf die Abhängigkeit des vermeintlich 
Gegebenen der Sinnlichkeit vom Gesetz des Geistes sich besinnt. 

Und auf diesen ganzen Stufengang der Befreiung des Be- 
wußtseins erstreckt sich nun jener Einfluß der Gemeinschaft. 
Er erstreckt sich selbst bis auf die sinnliche Wahrnehmung. 
Selbst eine menschliche Wahrnehmung würde sich im Menschen 
nicht entwickeln abseits menschlicher Gemeinschaft. Denn 
diese Wahrnehmung schließt eine ganz bestimmte Weise der 
Auffassung ein, die nicht von der Natur schlechthin darge- 
boten, sondern vom Menschen nach seinen eigentümlichen Be- 
dürfnissen und Fähigkeiten zustande gebracht und im Menschen- 
geschlecht nicht sowohl physisch vererbt, als vielmehr psy- 
chisch überliefert wird. Es wäre undenkbar, daß das Chaos 
der Eindrücke sich in eine geordnete Objektwelt umschüfe, wie 
es doch in jedem normalen Kinde in den ersten Lebensjahren 
vollbracht wird, wenn ein jedes von Anbeginn ausschließlich 
auf seine individuellen Wahrnehmungen, Erinnerungen und 
ergänzenden Vorstellungen angewiesen wäre, wenn nicht ein 
Commercium bestände, durch das der Erkenntniserwerb 
Andrer, zunächst der Umgebung des Kindes, durch deren Ver- 
mittlung aber der ganzen Vergangenheit des Menschen- 
geschlechts ihm zugänglich würde. Die Vorstellung der um- 
gebenden sinnlichen Welt ist Gemeinbesitz im inhaltvollsten 
Sinn; sie ist gemeinschaftlich, nicht bloß sofern jeder für sich 
sie im allgemeinen auf gleiche Art vollzieht, sondern sofern 
kein Einzelner sie vollziehen könnte ohne die Mitarbeit der 
Andern; ja auch nicht die ganze jetzt lebende Menschheit 



90 


ohne die Errungenschaft der gesamten bisher dagewesenen. 
Für die Pädagogik ist diese Tatsache von einer so fundamen- 
talen Bedeutung wie wenig andere; denn es gäbe gar keinen 
Anfang erziehender Tätigkeit ohne sie. 

Besonders greifbar aber stellt sich dieser Sachverhalt dar 
in der menschlichen Sprache und ihrer unermeßlichen Be- 
deutung für die menschliche Erkenntnis, für die Gestaltung 
eines menschlichen Bewußtseins überhaupt. Bedenkt man, 
wie unmittelbar und unauslöschlich uns die Dinge unserer 
Erkenntnis und alles, was wir daran zu erkennen glauben, 
die Farbe der menschlichen Sprache, der menschlichen Wort- 
begriffe trägt, wie wir selbst in der Absonderung von unsrer 
Umgebung im stillen einsamen Denken der Worte der Sprache 
uns fort und fort bedienen, also wenigstens die Fiktion der 
Mitteilung festhalten, so leuchtet wohl ein, wie unpsychologisch, 
vollends unpädagogisch es ist, auch nur von der theoretischen 
Bildung des Einzelnen zu reden ohne Berücksichtigung dieser 
wesentlichen Bedingung, des Lebens in der Gemeinschaft. 

Ist aber das menschliche Bewußtsein schon in seiner 
sinnlichsten Gestalt durch die Gemeinschaft bedingt, so gilt 
das Gleiche nur in erhöhtem Maße vom menschlichen Selbst- 
bewußtsein. Es gibt kein Selbstbewußtsein und kann 
kciines geben ohne Entgegensetzung und zugleich positive Be- 
ziehung zu anderem Bewußtsein; keine Selbstverständigung 
ohne die Grundlage der Verständigung mit Andern; kein sich 
selber Gegenübertreten, kein Selbsturteil ohne die vielfältige 
Erfahrung, wie Bewußtsein und Bewußtsein si( h gegonüber- 
treten, wie der Eine den Andern beurteilt; nicht Frage noch 
Antwort, nicht Rätsel noch Auflösung, als Auftritte im Selbst- 
bewußtsein des Einzelnen, wenn nicht das alles zuerst vor- 
gekommen wäre im Wechselverhältnis der Individuen in der, 
Gemeinschaft. Wie könnte ich mir selbst zum Du werden, 
wenn nicht erst ein Du mir gegenüberstände, in dem ich ein 
anderes Ich erkenne? 

Das alles aber findet nicht nur ebenso, wie im theoreti- 
schen, auch im praktischen Gebiet Anwendung; vielmehr keine 
dieser Beziehungen ist jemals bloß theoretisch, sondern un- 



91 


mittelbar und unvermeidlich auch praktisch. Jede Gemein- 
schaft von Bewußtsein und Bewuß-tsein wirkt notwendig auch 
auf den Willen; jede menschliche Gemeinschaft ist notwendig 
in irgend welchem Grade Willeiisgemeinschaft. 

Gewiß ist das Wollen, und gar da» reine Wollen, an sich 
schlechthin individuell; kein Andrer kann für mich Willen 
haben, für mich gut sein. Auch wirkt Gemeinschaft nicht 
insofern willenbildend, am wenigsten im sittlichen Sinne, als der 
Eine nur passiv unter dem Einfluß des Andern steht. Aber 
das ist es in der Tat nicht, was wir Gemeinschaft nennen. 
Wir verstehen darunter vielmehr, was ja auch das Wort an- 
deutet: daß man einen geistigen Besitz gemein hat und zu 
gleichen Rechten genießt; nicht also der Eine mit seinem 
geistigen Inhalt in bloßer Abhängigkeit vom Andern verharrt. 
Diese Abhängigkeit, wie sie wenigstens dem Kinde im Ver- 
hältnis zum Erwachsenen natürlich ist (auch da übrigens nicht 
in dem Grade stattfindet, wie Pädagogen gerne möchten), mag 
immerhin den Ausgangspunkt bilden; aber von Willensgemein- 
schaft, von Willensbildung durch Gemeinschaft kann eigentlich 
erst dann und genau so weit geredet werden, als der Eine dem 
Andern als Gleicher gegenübersteht und in freier Überein- 
stimmung mit ihm dasselbe wollen lernt; denn Wille im Voll- 
sinn des Wortes bedeutet Selbstbewußtsein. 

Wie sich aber dies in der Gemeinschaft gestaltet, kann 
gerade die Analogie der Entwicklung theoretischer Er- 
kenntnis in der Gemeinschaft, nämlich des Lehrenden und 
Lernenden, uns klar machen. Diese besteht ja nach dem 
Gesagten nicht etwa darin, daß ich mit den Augen des Andern 
sehe, d. h. mir die Augen verbinde und mich der seinen statt 
der meinen bediene; das wäre etwa autoritatives Annehrncn 
von Meinungen. Sondern ich muß die eigenen Augen ge- 
brauchen, aber ihren Blick üben und lenken lernen, so wie der 
Andre ihn üben und lenken mußte, um mich mit meinem 
eigenen Blick in seinen Blickpunkt versetzen zu können und 
so zu sehen, was er sieht, ich aber zuvor nicht sah. Das hatte 
Sokrates im Sinn, als er behauptete, es gebe gar kein Lehren 
und Lernen, sofern darunter verstanden wird ein Hinüberleiten, 



92 


gleichsam Einschütten der Erkenntnis, die der Eine hat, in die 
Seele des Andern wie in ein leeres Gefäß; das Einsehen könne 
jeder nur selber leisten, Erkenntnis sei nur aus dem Selbst- 
bewußtsein zu schöpfen, und alles, was der Andre dazu beitrage, 
sei die Veranlassung zum Suchen durch Frage und Weckung 
von Zweifeln; gleichsam die Hinweisung auf die Gegend, wo- 
das Gesuchte zu finden sein muß. Daß aber auf diese Art die 
Gemeinschaft unterrichtend wirkt, ja ein wahrer Unterricht 
nur so möglich ist, hatte Sokrates, und ibm folgend Plato^ 
tief erkannt, der sich die Entwicklung der Erkenntnis schon 
gar nicht mehr anders als im wechselseitigen Austausch, im 
Unterreden zu denken vermochte. 

Was aber so vom theoretischen Lernen gilt und als An- 
fang einer gesunden ,,Didaktik‘‘ nie vergessen werden sollte, 
dasselbe findet nicht bloß auch Anwendung auf die Willens- 
bildung, als sei das eben nur eine Art solchen Lernens, sondern 
dies theoretische Lernen geschieht wiederum gar nicht ohne 
Willensentwicklung. Es geschieht, so wurde gesagt, indem 
man den eigenen Blick üben und lenken lernt: das ist aber 
schon Willenstat. Das theoretische Lernen kann auch in 
dem Sinne nur selbsteigene Leistung sein, daß es vom Wollen 
abhängt; daß man das Lernen selber nur lernt, indem man 
wollen lernt. Also ist gewiß jeder wahre, nämlich freie Ein- 
sicht und nicht bloß autoritative Annahme wirkende Unter- 
richt zugleich eine Erziehung, nicht als ob die bloße Ver- 
standesbelehrung von selbst den Willen bewegte, sondern 
vielmehr umgekehrt, indem die Verstau desbeiehrung ohne 
Willensentwicklung gar nicht erreicht würde. 

Und zwar ist die primäre Wirkung der Gemeinschaft 
die auf den Willen. Man lernt wollen, indem man die Er- 
fahrung macht vom Wollen des Andern. Der energische Wille 
des Andern, sagt man, reißt uns fort, etwa dem starken Strom 
gleich, der den trägeren Zufluß in sich aufnimmt und so sein 
Gewässer in die gleiche mächtige Bewegung zwingt. Aber ein 
solches Bild verdunkelt noch zu sehr, daß gerade die Energie 
des Selberwollens erhöht, der eigene Wille nicht gezwungen 
oder in Abhängigkeit gebracht, sondern erst recht auf sich 



93 


selbst gestellt wird durch die Erfahrung, wie der Wille des 
Andern selbständig und in dieser Selbständigkeit energisch 
ist. Analog also wie ich im FaMe des theoretischen Lernens 
das, was der Andre sah und ich zuerst nicht sah, sehen lerne, 
indem ich mich in seiner Blickpunkt mit Willen selber versetze, 
so besinne ich mich erst auf den letzten Grund des Wollcns im 
Urgesetze des Selbstbewußtseins, indem ich am Andern die 
Erfahrung mache, wie auf diesen letzten Grund sein Wollen 
immer zurück weist und aus ihm hervorgeht. 

Gerade das Seibstbewußtsein also, und mithin das selbst- 
bewußte Wollen, entwickelt sich allein in und mit der Gemein- 
schaft von Bewußtsein und Bewußtsein, die in erster Linie 
Willemgemeinschaft ist. Gerade in der tiefsten Einigkeit mit 
dem Andern unterscheide ich mich voä ihm und finde mich 
selbst. In jedem ist ein Unendliches; dessen werde ich in 
mir selbst erst inne, indem ich die Unendlichkeit im Andern 
nbne. Je tiefer wir uns gegenseitig kennen (was immer schon 
eine tiefe Einigkeit voraussetzt), um so sicherer empfinden wir 
die Grenze, wo wir uns unterscheiden. Das gilt allgemein, 
und es gilt besonders vom praktischen Bewußtsein, dem ja 
die Beziehung in die Unendlichkeit wesentlich ist. 

Also muß vor allem die Theorie der Willenserziehung 
von der Voraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft von 
Anfang an ausgehen und die Konsequenzen dieser Voraus- 
setzung auf Schritt und Tritt beachten. Auch darf es sich 
hierbei nicht bloß handeln um das Verhältnis des Einzelnen 
zum andern Einzelnen, sondern es fragt sich ferner nach 
seinem Verhältnis zur konstituierten menschlichen Gemein- 
schaft in ihren mancherlei Formen von der Familie bis zur Ge- 
meinde und dem Staat und schließlich zur Menschheit. Die 
bildende Gemeinschaft der Einzelnen ist nur der einfachste 
Fall, nur gleichsam die Zelle oder ein engster Verband von 
Zellen in dem ganzen Organismus des menschlichen Gemein- 
schaftslebens, in dem zuletzt kein Einzelner und keine Gruppe 
Einzelner ihr Dasein und ihre Funktionsweise ganz für sich 
hat, sondern allein in Gemäßheit ihrer Beziehung zum größeren 
Ganzen, zuletzt zur Menschheit. Der Einzelne und so auch 



94 


die einzelne Gruppe lebt und wirkt in Kraft dieser Beziehung^ 
auch ohne darum zu wissen; aber das entwickelte Bewußtsein 
dieser Beziehung führt erst zu einem solchen Wirken auch des 
Einzelglieds und der Einzelgruppe, das der Gesundheit seiner 
Richtung und damit des ersprießlichen Erfolges gewiß 
sein darf. 

Das ist die Auffassung von der Augfabe der Erziehungs- 
lehre, welche der Titel Sozialpädagogik in Erinnerung 
halten möchte. Gemeint ist damit also nicht ein abtrenn- 
barer Teil der Erziehungslehre etwa neben der individualen, 
sondern die konkrete Fassung der Aufgabe der Pädagogik 
überhaupt und besonders der Pädagogik des Willens. Die 
bloß individuale Betrachtung der Erziehung ist eine Ab- 
straktion, die ihren begrenzten Wert hat, aber schließlich 
überwunden werden muß. 

Der Begriff der Sozialpädagogik besagt also die grundsätz- 
liche Anerkennung, daß ebenso die Erziehung des Individuums 
in jeder wesentlichen Richtung sozial bedingt sei, wie andrer- 
seits eine menschliche Gestaltung sozialen Lebens fundamental 
bedingt ist durch eine ihm gemäße Erziehung der Indivi- 
duen, die an ihm teilnehmen sollen. Danach muß dann auch 
die letzte, umfassendste Aufgabe der Bildung für den Einzelnen 
und für alle Einzelnen sich bestimmen. Die sozialen 
Bedingungen der Bildung also und die Bildungs- 
bedingungen des sozialen Lebens, das ist das Thema 
dieser Wissenschaft.*) Und dies betrachten wir nicht als zwei 
von einander trennbare Aufgaben, sondern als eine einzige. 
Denn die Gemeinschaft besteht nur im Verein der Individuen, 
und dieser Verein wiederum nur im Bewußtsein der Einzel- 


*) So zuerst von mir formuliert „Religion“ S. 86, Die obige Erklärung 
ist aufgenommen von W. Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung, 
Bd. I, S. 71, aber nicht als Erklärung des Begriffs der „Sozialpädagogik“, 
sondern eines Merkmals der Pädagogik schlechtweg, die ebensowohl 
individuale wie soziale sei. Inwiefern dies letztere auch nach meiner 
Voraussetzung gilt, zeigen die im Text sogleich folgenden Sätze. Vgl die 
nächste Anmerkung. 



95 


glieder. Das letzte Gesetz ist daher für beide, Individuum 
und Gemeinschaft, notwendig eins und dasselbe.*) 

Diese Einsicht ist aber zugleich von entscheidender Be- 
deutung für ein wissenschaftliches Verständnis des 
sozialen Lebens selbst. Die Gemeinschaft ist kein 
starrer, invariabler Faktor, so wenig wie das Individuum, 
Sie unterliegt gleich diesem der Ent.wickhmg, und diese Ent- 
wicklung muß schließlich denselben allgemeinen Ge- 
setzen folgen wie die Entwicklung des Individuums. Die 
Kenntnis wenigstens ihrer obersten Gesetze ist zugleich die 
Voraussetzung auch jeder ernsthaften Erwägung des Einflusses, 
den die Gemeinschaft auf die Bildung des Einzelnen übt und 
üben soll. Also darf eine wahre Sozialpädagogik der Frage 
nach den Grundgesetzen des Gemeinschaftslebens 
nicht ausweichen. Auch muß diese Frage aus unsern Prin- 
zipien beantwortbar sein, eben weil die allgemeinen Bildungs- 
gesetze der Gemeinschaft, nach der großen Einsicht Platos, 
notwendig zuletzt identisch sind mit den Bildungsgesetzen des 
Individuums. Es ist also das jetzt schon in einigen Haupt- 
linien vor uns stehende und bald näher auszuführende Bild 
der gesetzmäßigen Entwicklung des Einzelnen zu vergrößern 
zu den Dimensionen der Gemeinschaft. An der Spitze steht 
das Grundgesetz der Konzentration des Bewußtseins, zu- 
gleich mit der Erweiterung seines Horizonts. Das war ja 
die Grundlage dieser ganzen Betrachtung: daß dasselbe Grund- 

*) Zum Begriff der Sozialpadagogik vgl. ferner den Artikel „Sozial- 
pädagogik*' in Rein’s Encyklopädischem Handbuch der Pädagogik, sowie die 
Auseinandersetzungen mit Trüper (Deutsche Schule, VI, 1902, S. 82 f.) und 
Edelheim (Archiv für soziale Gesetzgebung, XVII, 1902, S. 545 f.). 
Beiden Kritikern gegenüber habe ich die im Text entwickelte Auffassung 
als „monistische“ unterschieden von der „dualistischen“, nach welcher die 
individuale und die soziale Betrachtung der Erziehung bloß sich ergänzend 
nebeneinander stehen, während nach meiner These zwischen Individuum 
und Gemeinschaft eine so enge Wechselbeziehung besteht, daß eine äußere 
Scheidung einer individualen von einer sozialen Pädagogik überhaupt sinn- 
los wird. Zwar ist eine bloß individuale Betrachtung als Abstraktion allen- 
falls möglich, obwohl inkomplet; aber die soziale Betrachtung schließt die 
individuale notwendig ein, oder enthält wenigstens die Prinzipien für sie. 



96 


gesetz sich bewähren müsse in den Berührungen der individuell 
verschiedenen Bewußtseinswelten wie in jeder für sich. So 
wie in der ijinern Welt des „Verstandes“ durch Widerstreit 
und Ausgleich eine immer tiefere und zugleich umfassendere 
Einheit des Verständnisses sich bildet; wie auf dem Gebiete 
des „Willens“ das gleiche Spiel sich wiederholt; so, und zwar 
in eben diesen beiden Hinsichten, zuerst aber in Hinsicht des 
Willens, muß sich eine Konzentration von Bewußtsein zu 
Bewußtsein durch Streit und Vergleich in stetem unbegrenztem 
Fortschritt vollziehen von bloß äußerer Gesellung zu innerer 
Gemeinschaft, von „Heteronomie“ zu ,, Autonomie“. Und 
durch dieselben wesentlichen Stufen, welche die Entwicklung 
des Einzelnen durchläuft: durch Arbeit und Willens^ 
regelung zum Vernunftgesetz, muß auch die Gemein- 
vschaft fort sehr eiten. Die Grundformen des sozialen Lebens, 
die Grundarten der sozialen Tätigkeit, schließlich auch die be- 
sonderen sozialen Organisationsformen, die direkt der Bildung 
der Einzelnen dienen, müssen sich auf der gleichen Basis 
ableiten lassen. 

Damit ist unsre Aufgabe klar vorgezeichnet, Ziel und 
Weg der Untersuchung bestimmt. Wir zerlegen sie in zwei 
Hauptteile; der erste ist eigentlich ethisch und zwar indivi- 
dual- und sozial-ethisch; als Voraussetzung zur sozialen Ethik 
wird er zugleich die Fundamente der Sozialphilosophie über- 
haupt nachzuweisen haben; der andere, unsrer Absicht gemäß 
ausführlicher zu behandelnde Teil ist im engeren Sinne päda- 
gogisch. 



Zweites Buch. 

Hauptbegriffe der Ethik und 
Sozialphilosophie. 


a t o r p, Sozialpädagogik. 4. AoU. 




Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung. 

Nachdem der tiefliegende Zusammenhang der sittlichen 
Vernunft des Menschen mit dem Leben in der Gemeinschaft 
sich enthüllt hat, bedarf es erst der Rechtfertigung, weshalb 
wir den Aufbau der sittlichen Welt gleichwohl mit der Auf- 
Stellung eines Systems individueller Tugenden beginnen. 

Das Bewußtsein des Willensgesetzes kann sich;, dem Dar- 
gelegten zufolge, allein in der Gemeinschaft bilden und zieht 
aus ihr fort und fort seine Nahrung. Auch seiner Geltung 
und seinem Inhalt nach bedeutet es ein Gesetz nicht für den 
Einzelnen allein, oder für eine Vielzahl von Einzelnen bloß 
aus gleichem Grunde, sondern an und für sich für die Ge- 
meinschaft. Eine sittliche Welt, eine eigene Objektwelt des 
Willens existiert überhaupt nur für eine Gemeinschaft der 
Willen, ebenso wie die Welt des Verstandes nur für den ge- 
meinen Verstand. Das Gute, schlechthin und ohne Ein- 
schränkung, kann gar nicht gedacht werden als Aufgabe für den 
isolierten Einzelnen. Es ist in seinem überindividuellen, un- 
endlichen Charakter zu groß selbst für eine noch so weit ver- 
standene empirische Gemeinschaft. Sofern aber für die Indi- 
viduen, besteht die sittliche Aufgabe nur für alle insgesamt; 
für jeden Einzelnen nur gemäß dem Anteil, der an der ge- 
meinschaftlichen Aufgabe gerade ihm, nach der Besonderheit 
seiner Lage und Befähigung, zufällt. Was in concreto das 



100 


Sittliche für den Einzelnen, hängt davon ab, was es für alle, 
was für die Person überhaupt, davon, was es an sich, sachlich, 
objektiv ist. Das „Ich soll“ hat, wenn nach dem Inhalt des 
Sollens die Frage ist, zur Grundlage das „Es soll“, das Gute 
der Person das Gute der Sache, nicht umgekehrt. 

Darum bleibt doch das Wollen des Guten selbst indi- 
viduell’"): es kann keiner für mich wollen, für mich Vernunft 
haben, j)raktische so wenig wie theoretische. Daß ich oder 
mein Tun gut sei, liegt rein in mir, in der Beschaffenheit 
meines Wollens, und ist ganz davon unabhängig, ob auch der 
Andre es dafür erkennt. Sittlichkeit besteht nicht durch einen 
Vertrag auf Gegenseitigkeit; habe ich bei mir selbst etwas für 
gut erkannt, so bleibt es für mich geltend, und ob alle Welt 
es anders befände. Der sittliche Wille unterwirft sich nur 
dem Gesetz, das er sich selbst gibt. Allein jetzt ist nach 
dem Inhalt des Gesetzes, nicht nach dem Gesetzgeber die 
Frage. Die Gesetzesform selbst aber verleiht diesem Inhalt 
objektiven und also überindividuellen Charakter. Der Glaube 
an eine Sache ist (nach § 8) das Merkmal sogar des (eigent- 
lichen) Willens überhaupt, nicht erst des sittlichen Willens. 
Mag aber einer den Gegenstand seines besonderen Wollens für 
seine ausschließliche Sache halten, so ist doch der Wille so 
lange noch nicht rein sittlich, d. h. erfüllt er nicht rein sein 
eigenes Gesetz, als man noch die eigene Sache gegensätzlich 
gegen die des Andern stellt; er ist es erst dann, wenn i(di er- 
kenne: meine Sache ist keine andre, soll keine andre sein, als die 
auch jedes Andern Sache sein sollte und der Wahrheit nach ist. 

Also bleibt es dabei, daß das Sittliche an und für sich, 
seinem Inhalt nach, Gemeinschaftssache und in keiner Weise 
Privatsache ist. Es ist nicht bloß an sich für alle eins und 

*) So «agt Pestalozzi richtig in den „Nadiforschungeii“ (Werke hr. 
V. Seyffarth VllI 468): „Die Sittlichkeit i^t ganz individuell, sie besteht 
nitdit unter zweien“; nämlich im Unterschied vorn „gesellschaftlichen Rocht“, 
welches nach seiner (Rousseau’schen) Auffassung auf Vertrag, d. h. auf 
gegenseitiger Verpflichtung beruht. Dagegen wird das Sittliche seinem 
Inhalt nach von Pestalozzi wesentlich sozial verstanden. (Vgl. Abh. 327 ff,; 
Rein’s Enz. Hdb., Art. Pestalozzis Pädagogik, N. 18 — 20; Pestalozzi, 
s. Leben u. s. Ideen, 2. Kap. § 7, 3. Kap. § L) 



101 


dasselbe, sondern es muß auf der Höhe sittlicher Klarheit auch 
als gemeinschaftlich bewußt und im Hinblick auf die Gemein- 
Schaft gewollt sein. Sittliches Bewußtsein ist als solches not- 
wendig Gemeinschaftsbewußtsein. 

Aber doch darf in der Gemeinschaft der Individuen nicht 
alle Besonderung verloren gehen. Gerade in der Gemein- 
schaft läßt vielmehr ein Recht der Individualität sich klar 
verstehen, das ihr dagegen nicht zukomnit in der Loslösung 
von der Gemeinschaft. Also ist von einer Sittlichkeit des 
Individuums, im Unterschied von der der Gemeinschaft, 
allerdings zu reden. Kann keiner für mich wollen, keines 
Andern sittliche Vernunft statt meiner eignen über mich 
richten, so ist es notwendig, daß ich so geartet und gebildet 
bin, das Sittliche erkennen und meine Triebkräfte in seinen 
Dienst stellen zu können. Die Aufgabe ist gemeinsam, aber 
alle Arbeit an ihr ist doch Arbeit der Individuen, obwohl 
nicht isolierter, sondern in der Gemeinschaft lebender und sich 
entwickelnder. Es ist also jedenfalls dem Gesichtspunkt nach 
verschieden, ob man von Sittlichkeit des Individuums, von 
Sittlichkeit, sofern sie ihre Wurzeln in den seelischen Kräften 
des Individuums hat, oder von sittlicher Ordnung des Gemein- 
schaftslebens spricht. Also ist die Unterscheidung zwischen 
Individual- und Sozial-Ethik allerdings begründet; nur darf 
ujan die genaue Wechselbeziehung zwischen beiden nie außer 
acht lassen. 

Nun ist zwar die konkretere Gestalt der sittlichen Auf- 
gabe die gemeinschaftliche. Denn, wenngleich Gemeinschaft 
ein Abstraktum und nur die Individuen konkret sind, so ist da- 
gegen das isoliert gedachte Individuum wiederum eine Ab- 
straktion. In Wahrheit gibt es kein isoliertes, menschliches 
Individuum, denn der Mensch ist Mensch nur in menschlicher 
Gemeinschaft und durch Teilnahme an ihr. Und das gilt 
doppelt vom wollenden und handelnden; im bloßen Erkennen 
mag man eher noch sich vereinzeln, im ästhetischen Genießen 
und Schaffen für sich bleiben und allein sich genügen wollen; 
dagegen das Handeln des Einzelnen und, sofern es aufs Handeln 
zielt, schon sein Wollen greift unvermeidlich in die Sphäre 



102 


der Gemeinschaft ein, muß also, falls es mit Bewußtsein ge- 
schieht, auch seiner Wirkung in diese Sphäre hinein mitbewußt 
sein. Also ist der Einzelne, zugleich in seiner Gemeinschafts- 
beziehung gedacht, konkreter als der bloß für sich gedachte 
Einzelne. 

Aber eben weil dem so ist, kanii die Ableitung der konkret 
sittlichen Aufgabe nur vom Individuum ausgehen; denn 
der Gang der Deduktion ist vom Absi rakteren zum Konkreteren. 
Die einfachen Grundverhältnisse des Sittlichen, an sich die- 
selben für Individuum und Gemeinschaft, werden sich doch am 
Individuum unmittelbarer erkennen lassen. Sie ergeben sich, 
wie wir erwarten müssen, durch die Besonderung der in sich 
einen sittlichen Aufgabe gemäß ihrer Beziehung auf die drei 
Grundfaktoren der Aktivität, Trieb, Wille und Vernunft; von 
diesen aber ist unmittelbar klar, was sie im Individuum, nicht 
ebenso, was sie in der Gemeinschaft besagen. Eben damit 
aber wird zugleich der Grund gelegt für die Ableitung des 
Sittlichen auch in seiner sozialen Gestalt. Denn dasselbe, was 
der Wille auf seinen drei wesentlichen Stufen für den Einzelnen 
bedeutet, muß er. auch für die Gemeinschaft bedeuten; man 
hat nur die Wechselbeziehungen der Einzelnen in der Gemein- 
schaft hinsichtlich eben dieser drei Stufen der Aktivität zu- 
gleich in Betracht zu ziehen. Das ist im wesentlichen der 
Weg, den Plato eingeschlagen hat.*) Schon er gelangte so 
zu einer genau parallelen Bestimmung des konkret Sittlichen 
für Individuum und Gemeinschaft, die, wie verbcsserlich auch 
im einzelnen, doch dem Prinzip und methodischen Grund- 
gedanken nach vorbildlich bleibt. 

*) Denn es ist nur Schein, daß im „Staat“ die soziale Ethik das Fun- 
dament für die individuale abgebe. Plato sagt ausdrücklich (S. 435 E), 
daß die Grundformen der Aktivität und die entsprechenden Tugenden nur 
aus den Individuen in die Gemeinschaft gekommen sind, und nur deshalb 
der Rückschluß von der Gemeinschaft auf das Individuum möglich ist. Es 
entspricht nur dem wohlüberlegten didaktischen Gange seiner Untersuchung, 
daß vom mehr Äußerlichen, grob Faßlichen zum wirklich Radikalen erst 
zurückgegangen wird. Im Leben der Gemeinschaft (heißt es S. 368 D) sei 
das Sittliche in größeren Buchstaben geschrieben, und deswegen für den 
Ungeübten leichter lesbar. 



103 


Auf seiten des Individuums ergibt sich auf diesem Wege 
ein System von Grund! ugenden. Unter Tugena überhaupt 
verstehen wir die Sittlichkeit des Individuums, unter Tugenden 
derm einzelne Seiten oder Richtungen, unter Grund- oder 
Kardinalt ugenden die ursprüngli.'h zu unterscheidenden Seiten, 
die aus irgend einer obersten Einteilung des Begriffs der in- 
dividuellen Tugend sich ergeben müssen. Zum obersten Ein- 
teilungsgrund aber dienen uns die wesentlichen Stufen der 
Aktivität überhaupt; denn Tugend ist nichts ax'dres als die 
rechte, ihrem eigenen Gesetz gemäße Beschaffenheit mensch- 
licher Tätigkeit. Es ist wiederum Plato, der erkannt hat, 
daß die ihm schon überlieferten Hauptnamen von Tugenden 
wie Vernünftigkeit, Tapferkeit, Maß einen solchen Einteilungs- 
grund stillschweigend voraussetzen, nur freilich ohne Bewußt- 
sein und daher ohne sichere Abgrenzung der Begriffe. Da- 
durch war seiner Untersuchung in Hinsicht der individuellen 
Tugenden der Weg vorgezeichnet. Wir halten diesen Weg 
inne, nicht aus Vorliebe oder um der Vorteile einer großen 
Überlieferung willen, sondern weil wir eine sachliche Not- 
wendigkeit dabei erkennen. 

Das Größte aber, was Plato gelang, war die Übertragung 
dieser selben Einteilung auf die soziale Tugend. Den Be- 
griff einer Tugend der Gemeinschaft hat wohl er zuerst (allen- 
falls nach dem Vorgang des Sokrates) aufzustellen gewagt. 
Er war ihm nahe gelegt durch den weiten Sinn des griechi- 
schen und besonders Sokratischen Wortes lipezrj (Tugend), das 
(als Abstraktum zu gut) jede Art Tüchtigkeit oder 

Rechtbeschaffenheit (Güte) besagen kann. Und so wagte er die 
Tugenden der Gemeinschaft nach gleichem Prinzip wie die des 
Individuums, daher diesen genau parallel, abzuleiten. Noch 
weiteres fiel ihm dabei wie von selbst in den Schoß; vor 
allem der Nachweis der Grundfunktionen des sozialen Lebens, 
die ja den Grundfunktionen des Individuallebens, weil den 
Grundstufen der Aktivität überhaupt entsprechen müssen. Im 
einzelnen zwar ist hier recht viel am Platonischen Entwurf 
zu berichtigen. Die Funktionen sind an sich nicht einwandfrei 
aufgestellt; auch sind sie zu sehr auseinandergerissen und, 



104 


ganz gegen die ursprüngliche Absicht, weit mehr gegensätzlich 
als einhellig und zu einander komplementär gedacht.*) Aber 
in der Verbesserung dieser Fehler bewährt sich nur desto über- 
zeugender der methodische Kerngedanke. 

Und so dürfen wir auf demselben schlichten und sicheren 
Wege zu den wahren Grundfaktoren des sozialen Lebens zu 
gelangen hoffen. Ja, das gleiche Prinzip wird uns über Plato 
noch einige wesentliche Schritte hinaus führen. Eines nament- 
lich, woran Plato in seiner Zeit kaum denken konnte, was 
dagegen dem heutigen Forscher sich besonders nahe legen 
muß: die Entwicklung des sozialen Lebens muß sich wohl 
einem letzten Gesetze fügen, das auf der gleichen allgemeinen 
Grundlage deduktiv zu gewinnen ist. Unserem Zeitalter ist 
der Gedanke der Entwicklung so in Fleisch und Blut über- 
gegangen, daß man an eine fundamentale Untersuchung über 
irgend ein Problem der Sozialwissenschaft die Frage immer 
zuerst richten wird, wie weit ihre Erkenntnis dadurch ge- 
fördert sei. Die Förderung aber, die hier vor allem not tut, 
sehen wir in der Erkenntnis, daß eine Entwicklung irgend 
welcher Art sich nicht anders zu klarem Begriff bringen und 
methodisch beherrschen läßt, als auf Grund der Idee. Ein 
Gesetz der Entwicklung läßt sich nur entwerfen aus dem 
Standpunkte der Idee, indem man sie, nach Kants Terminus, 
als ,, regulatives Prinzip*' in die Erfahrung einführt. Diesen 
von Kant gewiesenen, aber nur in einzelnen Andeutungen von 
ihm selbst betretenen Weg gedenken wir zu vi^rfolgen; die 
Deduktionen des grundlegenden Teils enthalten die Recht- 
fertigung dafür. 

Nach allem, was über die psychologische Seite unsrer 
Aufgabe schon bemerkt worden ist, bedarf es nur kurzer Er- 
innerung, daß diese ganze Ableitung nicht als psychologisch 
verstanden und beurteilt sein möchte. Es ist ein rein objek- 
tiver, vor aller Psychologie feststehender Unterschied, ob das 
menschliche Bestreben, als bloßer Trieb, an den Augenblick 
und das vor Augen Liegende gefesselt bleibt, oder ob es sich 

*) Vgl. Abh. 1 ff. u. Rein’s Enz. Hdb., Art. Platos Erziehungslehre, N. 6. 



105 


mit dem Entschluß „Ich will“ über den Zwang des Augen- 
blicks erhebt und, selbst wenn ep der Gegenstand des augen- 
blicklichen Triebes wäre, den es bejaht, doch eben wagt, ur- 
teilend über den Trieb hinauszugehen und ihm das Seinsollende 
zum Objekt zu setzen; oder ob endlich diese Freiheit des Ur- 
teilens sich, unter dem Namen der praktischen Vernunft, bis 
zum Standpunkte der Idee in ihrer Unbedingtheit erhebt. Es 
sind die wesentlichen Stufen der Durchdringung der Er- 
fahrung mit der Idee im Bewußtsein, die damit be- 
zeichnet sind; etwas, das sich auf bloß psychologischem Wege 
überhaupt nicht verständlich machen ließe. Diesen Stufen 
also müssen die Grundtugenden und so alles weitere, wovon 
eben die Rede war, entsprechen. 

Will man dies Verhältnis aber psychologisch ausdrücken, 
so muß man sich dessen vor allem bewußt bleiben, daß die 
Scheidung jener drei Faktoren auf bloßer Abstraktion beruht; 
daß in der konkreten Vorstellung des seelischen Lebens die 
Voraussetzung ursprünglich getrennter Tätigkeiten oder Funk- 
tionen gar nicht statthaft ist. Schon Platos tiefgründige Unter- 
suchungen über das Verhältnis der vielen Tugenden zu der 
einen, in sich unteilbaren Tugend führen über die psycho- 
logische Vorstellung von drei gleich selbständigen Personen 
gegen einander agierenden „Seelenteilen“ weit hinaus, zu der 
einer untrennbaren Einheit bloß begrifflich auseinanderzu- 
haltender Seiten oder Richtungen der menschlichen Aktivität, 
deren normales, zuletzt nach dem Grundgesetz der Idee, dem 
Gesetz der Gesetzlichkeit selbst zu bestimmendes Verhältnis 
die seelische Tüchtigkeit oder Tugend ausmacht. Heute 
vollends ist es wohl nachgerade allgemein anerkannt, daß es in 
der Psychologie auf die Einsicht in die ursprüngliche Ver- 
bindung oder vielmehr unteilbare Einheit (Individuität) der 
nur abstraktiv zu unterscheidenden Faktoren des Psychischen 
ankommt; daß im seelischen Leben die Komplexion ursprüng- 
lich, die Zerlegung in Einzelakte zum Verständnis der Kom- 
plexion zwar unerläßlich ist, aber ein höheres Recht als das 
einer vorläufigen Abstraktion niemals beanspruchen darf. Die 
Grundlage dieser notwendigen Abstraktionen bieten die mannig- 



106 


fachen Objektivierungen des seelischen Inhalts. Denn alle 
Objektivierung beruht auf Abstraktionen; handelt es sich hin- 
gegen darum, den seelischen Inhalt in seiner subjektiven 
Unmittelbarkeit — und das eben heißt psychologisch — 
zu erfassen, so muß die Scheidung in Gedanken wieder auf- 
gehoben, die Verbindung allseitig wiederhergestellt werden. 

Hiernach hat man auch nicht mehr zu besorgen, daß, 
wenn von einem Willen und einer Vernunft der Gemeinschaft 
die Rede ist, diese zu einem mystischen Wesen außer den 
Individuen gemacht werde. Es ist allein die Frage: was er- 
gibt sich daraus, wenn Trieb, Wille und Vernunft der Einzelnen 
in der Gemeinschaft in Berührung treten und ihre Wirkung 
gleichsam summieren. Daraus folgt eine gewisse Norm, gemäß 
welcher sich diese drei Faktoren in der Gemeinschaft, ebenso 
wie im Einzelnen, ins Gleichgewicht setzen müssen, wenn nicht 
die Gemeinschaft zerfallen, sondern das einheitliche Zusammen- 
wirken der Einzelnen sich erhalten und fördern soll. 

Übrigens ist auch schon bei Plato die Ableitung im letzten 
Grunde nicht psychologisch, sondern objektiv. Seinen psycho- 
logischen Eijiteilungen liegen ethische Unterscheidungen bereits 
stillschweigend zu Grunde. Der fundamentale Gegensatz des 
Sinnlichen und Vernünftigen entstammt dem Kerngedanken 
der Ideenlehre; er hat seine klare, objektive Begründung in 
dem inhaltlichen Verhältnis zwischen Erfahrung und Idee. 
Zwischen diesen beiden äußersten Enden schien ihm dann noch 
eine Vermittlung nötig. Diese ist mit dem Platonischen '9i)|x6; 
allerdings nur psychologisch, aber eben auch niiht zutreffend 
bezeichnet. Uns dagegen ergab sich als Mittelstufe der Wille 
(im engeren Sinn), als Ausdruck des Bewußtseins der prak- 
tischen Regel, der Maxime. Durch diesen rein objektiven 
Begriff erklärt sich die Tugend der Tapferkeit als entschlossene 
Unterordnung der Einzelhandlung unter die einmal gewählte 
Maxime (daß man will, was man will), desgleichen die ent- 
sprechende Funktion im Sozialleben, nämlich die regierende 
im weitesten Verstand, ungleich besser als durch den Plato- 
nischen Oufiöc, der an sich ganz dem Gebiete des Triebs ange- 
hört, wenn auch gleichsam die dem Willen zugekehrte aktive 



107 


Seite des Triebs darstollt, Plato selbst hat anderwärts die 
Tapferkeit, wie die Tugend über.\aupt, von allem Triebarligen 
fast allzu schroff geschieden. Die Unzulänglichkeit seines 
psychologischen Schemas verrät ferner seine vierte Tugend, 
die der Gerechtigkeit. Sie stellt bei ihm eigentlich nur die 
Vereinigung der drei andern dar; dann hätte sie aber nicht 
diesen koordiniert werden dürfen. In der Tat kommt dieser 
Tugend eine eigenartige Steilung zu. Sie ist aus der Reihe der 
individuellen Tugenden nicht zu streichen, aber sie bezeichnet 
nur die der Gemeinschaft zugewandte Seite der individuellen 
Tugend, den Sozialcharakter des Sittlichen, sofern er eine 
Grundlage in der Individualität doch haben muß. Sie liegt 
somit gleichsam auf dem Punkte des Übergangs von der indi- 
vidualen zur eigentlich sozialen Tugend, der Tugend der Ge- 
meinschaft als solcher. Diese hat Plato sonst bei dem Namen 
Gerechtigkeit hauptsächlich im Sinn, und es ist vielleicht 
dieser Doppelsinn der Gerechtigkeit als Tugend des Indivi- 
duums sowohl als der Gemeinschaft gewesen, der ihn auf den 
Parallelismus der individualen und sozialen Tugend überhaupt 
führte. So bleibt auch hier die allgemeine Richtung seines 
Gedankens anzuerkennen, nur die Ausführung der Verbesse- 
rung bedürftig. 

Nachdem so unsere Einteilung der Tugenden vorläufig 
gerechtfertigt ist, dürfen wir zur Spezialbehandlung zunächst 
der individuellen Tugenden übergehen. 

§ 12 . 

System der individuellen Tugenden. 

1. Die Tugend der Vernunft: Wahrheit. 

Da im vernünftigen Wollen überhaupt die Sittlichkeit 
besteht, so ist die erste der individuellen Tugenden die Tugend 
der Vernunft; die erste nicht bloß dem Range nach, sondern 
als Voraussetzung zu allen übrigen. Sie bezeichnet die Sitt- 
lichkeit der Person in so zentraler, folglich fundamentaler 
Weise wie keine andre, nämlich nach ihrem letzten Grunde 



108 


im Bewußtsein. Sittlichkeit ist zu allererst Bewußtseins- 
sache, darum ist die Tugend des Bewußtseins die erste aller 
Tugenden. 

Wir nennen sie Wahrheit, schon um an die Einheit 
der praktischen mit der theoretischen Vernunft zu erinnern. 
Wahrheit ist das oberste Gesetz des Bewußtseins überhaupt, 
der Sinn und Wille der Wahrheit das oberste Gesetz des 
praktischen Bewußtseins. 

Die Alten haben es nicht gescheut, geradezu §7rtaxT^|ir^, 
Erkenntnis, oder cocp[a, im gleichen Sinne des Wissens, 
der praktischen Einsicht, als Tugendnamen zu gebrauchen; 
auch wechselt damit nicht selten der Ausdruck Wahrheit 
(ÄXrjiS-eta), der b(\sonders bei Plato unter den zentralen Be- 
griffen seiner Ethik oft sehr bedeutsam hervortritt.*) Es ist 
aber auch in unserer Sprache ganz zulässig zu sagen, ein 
Mensch sei wahr, d. h. er habe den Sinn und Willen der Wahr- 
heit. Der gebräuchlichste Ausdruck bei den Alten ist jedoch 
cppövirjaL^ , eigentlich das Beisinnensein, die Besinnung oder Be- 
sinnlichkeit, d. i. Sinn und Wille, sich vor jeder Willens- 
entscheidung auf das Rechte zu besinnen. Der Satz des 
Sokrates**), daß für den Menschen alles Andre von der ,, Seele“, 
d. h. vom Bewußtsein abhänge, alles Seelische aber von Be- 
sinnung oder praktischer Einsicht (^pövy^acg), wofern es zum 
Guten ausschlagen solle, ist zum Kernsatz der griechischen 
Ethik geworden und drückt recht eigentlich das aus, was man 
ihr verdankt. Das war es, was an Sokrates so imponierte: 
die sichere Herrschaft des Bewußtseins, die nach nichts fragt 
als nach der Wahrheit des Tuns, nach der Einstimmigkeit 
des Wollens mit sich selbst und seinem eigenen inneren Gesetz. 


*) Z. B. Apol. 29: qgovtiosag xai d Xr) 'd^e lag Kal r t)g ojvog 

oV ßsXT(OTf) tarat .... Protag. 356: di]X(ooaoa dt ro fjavxiav 

äv i:ixo(riaev tx^iv 'ipvxh'^' l^^ovoav ijti x(ä dX'n'&ei Kal taotaev^ äv 

töv ß(ov, Philel), 58: d reg 7zt(pvK€ zf)g %fvxvg ddyafiig igäv xe 

ToC dX'fiito'ög Kal nc vxa evsKa xodxov JiQaxxeiv. An allen drei Stellen 
beachte man die Entsprechung zwischen den Begriffen dlii'd^eta und 'ipvx'd 
(Bewußtsein). 

**) Plat. Men. 88, mit zahlreichen Parallelstellen. 



109 


Was Plato dieser Sokratisrhen Grundbestimmung der Sittlich- 
keit als „Erkenntnis“ hinzugefügt hat, ist die vollendet 
deutliche Entwicklung des Begriffs des praktischen Gesetzes 
zur „Idee“ des Unbedingten, nämlich des unbedingt Ge- 
setzlichen.*) Auch dies übrigens war bereits in Sokrates an- 
gelegt, da er die Tugend zwar dem Wissen gleichsetzte, aber 
zugleich behauptete, dies Wissen stehe nicht dem Menschen 
zu, dessen Weisheit vielmehr darauf beschränkt sei, zu Wissen, 
daß er nicht weiß. 

Der Ausdruck Wahrheit hat den Vorzug, daß er dies 
alles einschlicßen kann, und dabei gerade das Inhaltliche, 
dessen man sich besinnen soll, das Gesetz der Wahrheit, an 
die Spitze stellt. Dagegen sagt z. B. das sonst vortreffliche 
Wort „Gesinnung“ (ebenso wie „Besinnung“) gar nichts 
darüber, welche praktische Sinnesrichtung denn, mit Aus- 
schluß jeder andern, die rechte sei. Auch nimmt dies Wort 
allzu leicht den schwächlichen Sinn eines bloßen Gutmeinens an, 
das mit viel Irrtum und Bequemlichkeit des Irrens verträglich 
wäre; wogegen die Forderung: Sei wahrl eine unerbittliche 
Grenzscheide zwischen der sittlich rechten und verkehrten 
Gesinnung setzt. Zugleich liegt der Hinweis auf das Tun 
vernehmlich genug darin, wenn doch vom ganzen Menschen 
gefordert wird, daß er sich gleichsam zum Ausdruck der 
Wahrheit mache. 

Dem kommt vielleicht etwas näher das Wort Gewissen, 
das gerade die Unnachgiebigkeit der sittlichen Forderung, die 
Notwendigkeit der unablässigen Selbstprüfung: bin ich auch 
auf dem rechten Wege? scharf genug zum Ausdruck bringt. 
Und da dies Wort zugleich eben das Moment des Wissens, 
des Bewußtseins um das, was man tut und was man soll, 
der conscierilia sui betont, so könnte es den persönlichen 
Sinn unserer Tugend fast noch besser zu bezeichnen scheinen, 
als das Wort Wahrheit, das vielleicht zu ausschließlich objektiv 
scheint, und in der Tat erst durch die Verbindung mit einer 
Person als Subjekt die Bedeutung einer individuellen Tugend 

*) Über diesen Sinn der „Idee des Guten“ vgl. Abh. 11 ff., und 
^,Platos Ideenlehre“, S. 184 ff. 



110 


indirekt erhält. Indessen in seinem gewöhnlichen Gebrauch 
ist das Wort Gewissen der an sich darin liegenden Beziehung 
auf das reine praktische Selbstbewußtsein fast verlustig ge- 
gangen. Es hat von seiner überwiegend religiösen Anwendung 
unleugbar einen Beigeschmack von Heteronomie erhalten, wäh- 
rend bei dieser, wenn überhaupt bei irgend einer Tugend, 
die Autonomie des Sittlichen aufs strengste gewahrt 
bleiben muß. 

„Gewissen“ besagt nach vorherrschender Auffassung un- 
streitig etwas wie Autorität, wiewohl innere, nicht äußere. Diese 
kann auf knechtischer Furcht, sie kann auf Liebe (des Kindes 
gegen die Eltern, oder in religiöser Wendung, des Menschen 
gegen den göttlichen Vater) beruhen, in jedem Fall hat sie 
ihre Wurzel im Gefühl; Gefühl aber ist nicht die höchste 
Form des Bewußtseins, nicht reine Bewußtheit. In päda- 
gogischer Hinsicht ist nun zwar das Gewissen der Liebe sicher 
von unersetzlichem Wert und auch die niedere Stufe der 
Furcht nicht überhaupt abzulehnen. Die Furcht soll über- 
wunden werden, aber sie darf auch für den sittlich Reifsten, 
so lange er fehlbarer Mensch ist, nie ganz überwunden sein. 
Gerade die höchste Erhebung des sittlichen Gedankens zur 
Idee unendlicher Vollkommenheit kann das Moment der Furcht 
wegen unserer endlichen Schwachheit, kann das Gefühl der 
Demut niemals abstreifen; und es ist an sich ein Vorzug, 
daß das Wort „Gewissen“ dieses Moment deutlich mitbe- 
zeichnet. Aber doch ist eine solche bloße Gef ühlshaitung 
an sich nicht Tugend. Sie ist mehr ihr Kennzeichen als ihr 
Grund; dieser kann nur in der reinen Bewußtseinstugend, im 
aufrichtigen Wollen der Wahrheit gefunden werden. Es würde 
mindestens noch ein unterscheidender Zusatz nötig sein, wenn 
man mit Gewissen oder Gewissenhaftigkeit die oberste der 
Tugenden bezeichnen wollte, und dann wäre ein Ausdruck 
wie Wahrheit (Gewissen der Wahrheit, im Unterschied vom 
Gewissen der Furcht oder der Liebe) doch nicht zu umgehen. 
Das Wort Wahrheit ist aber gehaltreich genug, um das Beste, 
was in „Gewissen“ ausgedrückt ist, mitzubezeichnen; und so 
möchte ihm in jeder Beziehung der Vorzug gebühren. 



lli 


Um nun den Gehalt dieser Tugend mehr im besonderen 
zu entwickeln, nehmen wir unsern Ausgang von dem soeben 
Berührten: daß der kritische Sinn des Bewußtseins 
unserer Grenze von der Tugend der sittlichen Wahrheit 
allerdings untrennbar ist. Gegenüber der unendlichen Forde- 
rung des Sittengesetzes kann das Selbstbewußtsein unseres 
Wollens und Tuns nicht anders als demütigend sein. Und 
das um so mehr, je mehr es das Individuum ganz mit sich 
allein zu tun hat. Indessen verrät sich schon hier die Schranke 
einer einseitig individualistischen Auffassung des Sittlichen. 
Die sittliche Aufgabe in ihrer Unendlichkeit kann nicht mit 
Sinn als Aufgabe für das isolierte Individuum gedacht werden. 
So ratsam es ist, mit der sittlichen Besserung bei sich anzu- 
fangen, so unfruchtbar, so hinderlich sogar für den eigenen 
sittlichen Fortschritt ist die unablässige peinliche Beschäfti- 
gung mit sich und seinen individuellen Fehlern, die eine starke 
Erhebung der Seele, ein kratfvolles Aufraffen zur Tat schließlich 
kaum auf kommen läßt. 

Desto stärker ist der echte, positive Sinn der Indivi- 
dualität des Sittlichen gerade hier zu betonen: daß es gilt 
in selbsteigener Einsicht das Rechte für recht, das Verkehrte 
für verkehrt zu erkennen, unbeirrt nicht bloß durch die eigene 
individuelle Gefühlsneigung oder Denkgewöhnung, sondern 
durch irgendwelche empirische Zufälligkeit überhaupt, die 
unser praktisches Urteil in einer bestimmten Richtung fest- 
zuhalten, ihm den freien Aufblick zur Idee zu verlegen droht; 
von Sitte und äußerem Gesetz, von bloß überlieferten Normen 
jeder Art, auch von dem Drucke der persönlichen Autorität 
überlegener Individuen. Es demütigt zwar, aber ist zugleich 
auch wieder erhebend, zu wissen, daß nur wir selbst uns 
dazu verhelfen können, das Gute zu erkennen und zu 
wollen, und kein Andrer etwas mehr dazu tun kann, als 
daß er die in uns schlummernde Kraft selbsteigenen Er- 
kennens und Wollens aufruft und in Tätigkeit setzt. Denn 
die Gemeinschaft erzieht, aber sie erzieht nur dadurch, 
daß sie das Individuum zur Freiheit des Selbstbewußtseins 
erweckt. 



Daraus folgt: daß die innere Wahrhaftigkeit, die Wahr- 
heit „gegen sich selbst“, die Aufrichtigkeit des „Herzens“ der 
äußeren Aufrichtigkeit vorgeht. Das ist wohl die unbedingteste, 
unanfechtbarste Tugend, wie ihr Gegenteil, Lüge gegen sich 
selbst, die unverzeihlichste Schlechtigkeit; wie denn überhaupt 
die Lüge, und zuerst die Lüge des Bewußtseins, die Grundform 
und Wurzel aller Schlechtigkeit ist. Innere Aufrichtigkeit ist 
zugleich die einzig verläßliche Grundlage der äußeren Wahr- 
haftigkeit. Wer nicht zu allererst gegen sich selbst lauter 
und aufrichtig ist, der ist es schwerlich gegen Andre. Zwar 
lernt es sich leichter im alltäglichen Verkehr, gegen Andre 
eine gewisse Aufrichtigkeit zu beobachten, weil gröbere Un- 
wahrhaftigkeit gegen die Umgebung sich schnell und empfind- 
lich rächt, während selbst die ärgste innere Unwahrheit sich 
wie eine schleichende Krankheit lange verstecken und scheinbar 
folgenlos bleiben kann. Aber, auf ernste Proben gestellt, wird 
auch die äußere Wahrhaftigkeit unrettbar scheitern, wenn sie 
nicht auf dem sicheren Grunde innerer Lauterkeit ruht. 

Hieraus wird besonders klar, daß der Grund der Tugend 
der Wahrhaftigkeit unmöglich erst in den äußeren, gesell- 
schaftlichen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch gesucht 
werden kann; als sei sie von da erst ins Innere übertragen 
und gleichsam reflektiert; als schäme man sich nur deshalb, 
sich selber zu belügen, weil man unter dem psychologischen 
Zwange stände, bei allem, auch dem Innerlichsten, das man 
erlebt, den äußeren Beurteiler hinzuzudenken, vor dem man 
sich, wenn er wüßte, was in uns vorgeht, ve? kriechen müßte. 
Solche innere Aufrichtigkeit wäre selbst eine so offenbare Lüge, 
daß schon eine starke theoretische Verirrtheit dazu gehört, 
auf die gesellschaftliche Begründung sogar dieser individuellsten 
Tugend zu verfallen. Die Gesellschaft hat so gut wie kein 
Interesse an der inneren Wahrhaftigkeit, sie hat selbst nur 
ein begrenztes an der äußeren. Sie kann mit viel Lug und 
Trug bestehen, sie stirbt nicht sogleich daran. Eine fest- 
gegründete äußere Redlichkeit würde zwar dazu mithelfen, 
die Menschen auch zu innerer Aufrichtigkeit zu erziehen, 
während, wo es mit jener schon schwach bestellt ist, wo gar 



113 


die ganze äußere Lebensordnung, wo Gesetze und Rechte auf 
Lüge beruhen, die innere Wahrheit, die weit mehr fordert, 
vollends schwer gedeiht. Aber darum liegt doch der schließliche 
Grund dieser Tugend im Selbstbewußtsein des Individuums, 
nicht an sich in äußeren, gesellschaftlichen Beziehungen. Daher 
ist innere Wahrhaftigkeit unbedingte, ausnahmslose Pflicht, 
während es, auch wenn man von der kasuistischen Frage der 
Erlaubtheit der Lüge ganz absieht, jedenfalls mancherlei not- 
wendige Rücksichten gibt, welche die Pflicht, die erkannte 
Wahrheit auch gegen Andere zu äußern, mannigfach ein- 
schränken. Das Aussprechen bedeutet eine Wirkung nach 
außen, deren Folgen nicht von diesem einzigen, sondern noch 
von manchen andern Faktoren abhängen ; es kann nicht richtig 
sein, diese andern Faktoren völlig außer Berechnung zu lassen. 
Die Wahrheit, zur Unrechten Stunde, im Unrechten Zusammen- 
hang gesagt, kann leicht der Sache der Wahrheit selbst schaden, 
statt ihr zu nützen. Eine unbedingte und allgemeine Ver- 
pflichtung, sein Herz auf der Zunge zu tragen, besteht sicher- 
lich nicht. 

Was nun den Herrschaftsbereich dieser Tugend betrifft, 
so muß er wohl von gleicher Ausdehnung sein mit dem der 
praktischen Vernunft. Diese aber soll doch das Ganze des 
menschlichen Verhaltens regieren. Und so gibt es wirklich 
kein menschliches Tun, keine dem Einfluß des Willens unter- 
liegende menschliche Regung überhaupt, auf die nicht die 
Forderung der Wahrheit Bezug hätte. Sie besagt im Grunde 
nichts andres als daß alles Menschliche am sittlichen Maße, 
und in jeder praktischen Rücksicht ausschließend so, zu be- 
messen ist, daß die Beleuchtung dieser „Sonne im überhimm- 
lischen Reich“, der „Idee“ der Wahrheit, sich Licht und 
Schatten verteilend auf das All der praktischen Welt ver- 
breiten muß. 

Beweist sich die Tugend der Wahrheit zuerst in der 
kritischen Reflexion und Willenseinwirkung auf das eigene 
innere Leben, in der sittlichen Selbstbesinnung und Selbst- 
bestimmung, so beweist sie sich nicht weniger in jeder aufs 
Objekt gerichteten Handlung, es sei bloße Erkenntnis oder 

Xatorp, Sosialp&dagogUc. 4. Aull. g 



114 


ausübende Tat. Im Selbstbewußtsein wurzelt sie immer; aber 
aufs Selbst bezieht sich eben alles wollende Bewußtsein not- 
wendig zurück. Auch Erkenntnis ist Willenstat, untersteht 
also dem obersten Gesetz des Willens, dem Gesetz der Wahr- 
heit. Und es ist ja auch kein Zweifel, daß im unbeirrten Wahr- 
heitsstreben des Forschers, des seiner Denkkraft mächtigen 
Menschen überhaupt, in der Energie der Überwindung des 
Sinnentrugs, des Vorurteils, des versteckten Einflusses grober 
und feiner Interessen auf das Urteil, deren es in aller Er- 
kenntnisarbeit bedarf, sich hohe Sittlichkeit betätigen kann. 
Aber auch in der nach außen gerichteten Tat, in jeder, wie man 
recht sagt, ,, redlichen'* Arbeit kann sich der Sinn der Wahrheit 
bekunden, als der Sinn, das Werk oder die Sache, an der 
oder für die man arbeitet, ihrem Gesetz gemäß zu gestalten, 
auch trotz jedes sich vor drängenden Anspruchs der eigenen 
Person oder falscher, nicht aus der Sache fließender persön- 
licher Rücksicht überhaupt. Man kann es die Tugend der 
Sachlichkeit nennen, die offenbar einer der kräftigsten Äste 
am Stamm unserer ersten Grundtugend, der Wahrheit, ist. Sie 
kommt zur Anwendung in jedem menschlichen Werk, mag 
es sich um Kleines handeln oder um Großes, um Arbeit an 
Dingen oder an Menschen, um technische oder Handelsunter- 
nehmungen, um Kriegspläne, Gesetzentwürfe, Rechtssprüche 
oder um Werke der Dichtung oder Kunst, denn auch das ist 
nicht bloß Sache des Genies, sondern auch der redlichen 
Arbeit; die wahrhaft großen Genies sind immer auch redliche 
Arbeiter gewesen. 

In dem allen ist Wahrheit Pflicht, auch ganz abge- 
sehen von jeder Rücksicht auf den Nebenmenschen. Wir 
wären in Verlegenheit, wenn wir nach der gebräuchlichen Ein- 
teilung der Pflichten in solche gegen uns selbst und gegen 
den Nebenmenschen uns entscheiden sollten, in welche von 
beiden Klassen diese so weitreichende Pflicht der Sachlichkeit 
zu stellen sei. Jede sittliche Pflicht ohne Ausnahme ist Pflicht, 
nicht gegen, aber vor uns selbst, sofern das eigene sittliche 
Bewußtsein sie uns auf er legt; fragt man aber, worauf sie in 
der Ausübung sich erstrecke, so müßte man am Ende von 



115 


Pflicht gegen das Objekt reden, was denn doch etwas wunder- 
lich wäre. Diese ganze Einteilung fußt auf der unzulänglichen 
Vorstellung der sittlichen Verpflichtung als einer Verpflichtung 
auf Gegenseitigkeit. Icn bin, rein sittlich angesehen, über- 
haupt keiner Person verpflichtet, sondern allein dem sitt- 
lichen Gesetz. Erstrecken kann sich aber die Pflicht, der 
Materie nach, ebenso gut auf Sachen wie auf Personen, sofern 
irgend sic im Dienst sittlicher Aufgaben stehen. 

Allerdings aber gilt nun eben dies in besonderer Weise 
von jeder willensfähigen Person, da jede auf eine selche sich 
erstreckende Handlung die Person zugleich als Subjekt 
und nicht bloß als Objekt des sittlichen Willens berührt. Und 
so gilt gewiß auch die Verpflichtung der Wahrheit in beson- 
derem Sinne gegenüber der andern Person und gegenüber 
der Gemeinschaft. Hier verdoppelt sich gleichsam die Ver- 
antwortlichkeit, die das Gebot der Wahrheit auferlegt; denn 
jede Verletzung der Wahrheitspflicht beleidigt zweimal den 
heiligen Geist der Wahrheit, in der Person des Handelnden und 
dessen, auf den sich die Handlung erstreckt. Der Grund dieser 
Tugend wird dadurch zwar nicht berührt; die Unsittlichkeit 
der Lüge, das Verdienst der Wahrhaftigkeit wird nicht größer 
dadurch, daß beides sich in den Folgen auf den Andern mit- 
erstreckt, nicht geringer dadurch, daß es sich in den Tiefen des 
eignen Bewußtseins verbirgt; doch kommt das neue Unrecht 
hinzu: die Schädigung der sittlichen Gemeinschaft, die mit 
Unwahrheit durchaus nicht bestehen kann. Genauer kommt 
dabei zweierlei in Frage, erstens die Aufrichtigkeit, die direkt 
die Beziehung zum Andern betrifft: Aufrichtigkeit in Freund- 
schaft und Liebe gegen die Nächststehenden, Menschlichkeit 
gegen jedermann, in allen öffentlichen und gemeinschaftlichen 
Beziehungen; zweitens die Aufrichtigkeit jedweder Tätigkeit, 
sofern sie innerhalb solcher Wechselbeziehungen stattfindet 
und den Andern irgendwie in Mitleidenschaft zieht. Im ersteren 
Fall wird ganz direkt das Interesse der Gemeinschaft betroffen, 
er gehört daher eigentlicher zu unserer vierten Tugend; im 
andern steht obenan die Forderung der Wahrheit selbst und 
kommt die Pflicht der Gemeinschaft nur außerdem auch ins Spiel. 

8 * 



116 


Um von den manchen hierher gehörenden konkreten 
Fragen wenigstens eine auch im besonderen zu behandeln: wie 
weit reicht wohl die Verpflichtung, an öffentlichen Zuständen 
öffentlich Kritik zu üben? Es ist wahr, daß Feigheit tausend 
Gründe findet, die Grenzen dieser Verpflichtung so eng wie mög- 
lich zu ziehen; aber es gibt allerdings Grenzen. Wer schweren 
Tadel gegen Zustände, die den Schutz der öffentlichen Mächte 
und Autoritäten genießen, auf eigene Gefahr wagt, hat irn 
allgemeinen das günstige Vorurteil für sich, rein der Wahrheit 
zu dienen, wenigstens ernster, wohlgeprüfter Überzeugung 
Ausdruck zu geben. Aber leider hat Eitelkeit des Besser- 
wissens, die kleinliche Freude eine Rolle zu spielen, ja die 
Lust am Streit daran oft so viel und mehr Anteil als der 
lautere Wahrheitssinn und die ernste Sorge ums gemeine Beste. 
Schwerwiegende Urteile über öffentliche, d. h. in den Folgen 
weittragende Verhältnisse soll man gewiß nicht öffentlich aus- 
sprechen ohne die sorglichste Prüfung erstens der Sache, die 
man behauptet, und zweitens der Umstände und voraussicht- 
lichen Folgen. Ist man aber seiner Sache gewiß und können 
die Folgen, die es haben kann, im ganzen nur heilsame sein, 
handelt es sich überdies um Fragen von einschneidender Be- 
deutung für das Gemeinwesen, so hat man nicht bloß das 
Recht, sondern die dringendste Pflicht, seine Überzeugung mit 
allem Nachdruck auszusprechen auf jede eigene oder selbst 
fremde bloß persönliche Gefahr. Sogar eine Gefahr fürs Vater- 
land dürfte in solchem Fall nicht in Erwägung kommen. 
Soll uns das Vaterland „über alles in der Welt“ gelten, so 
heißt das sicher nicht: auch über die Wahrheit; als ob ein 
Vaterland ohne Wahrheit bestehen könnte. Gerade dem Vater- 
land schulden wir über alles und vor allem Wahrheit; wir 
haben, als sittliche Menschen, kein Vaterland, wenn es die 
Wahrheit nicht verträgt. Und wenn die Wahrheit bitter ist, 
so ist es wahrscheinlich umso nötiger, daß sie gesagt wird. 
Im allgemeinen ist es notwendig, daß, was wahr ist, nicht un- 
gesagt bleibe ; nur folgt daraus nicht, daß es gleichgültig 
wäre, wör es sagt, zu wem, wie und unter welchen Um- 
ständen. 



117 


Noch weiter gehenden Einschränkungen unterliegt im 
privaten Verkehr die Verpflichtu: .g, das Wahre nicht bloß zu 
denken, sondern auch zu sagen. Als allgemeines Gesetz läßt 
sich aufstellen: daß übe’^all da, wo eine feste innere Gemein- 
schaft besteht und erhalten bleiben soll, in eigentlicher Freund* 
Schaft, zumal in der nächsten, der Ehe, gegenseitige Wahr- 
haftigkeit nicht nur, sondern offene Aussprache Pflicht ist. 
Wer den Andern mit Unwahrheit behandelt, gesteht dadurch, 
daß er keine Gemeinschaft mit ihn^ habox* will; aber auch, 
seine Herzensmeinung über Dinge, die den Andern gleicher- 
maßen angehen, zurückzuhalten, bedeutet zum wenigsten Aus- 
schluß aus der innersten Gemeinschaft. Doch man ist nicht 
verpflichtet, kann nicht verpflichtet sein, mit jeiem die innerste 
Gemeinschaft zu hegen. Ich kann nicht verpflichtet sein, un- 
begrenztes Vertrauen dem zu schenken, von dem ich nicht 
weiß, ob er es nicht in gewissenloser Weise mißbrauchen wird. 
Daraus folgt nicht ein Recht der Lüge, denn es darf nie die 
Gemeinschaft von Grund aus unmöglich gemacht werden, das 
aber geschieht durch Lüge; dagegen nicht durch eine Zurück- 
haltung, die man aufzugeben bereit ist, sobald sich der Andre 
vertrauenswert bewiesen hat. 

Überblickt man so das weite Gebiet dieser Tugend, so 
kann es fast scheinen, als ob in ihr schon das Ganze der persön- 
lichen Sittlichkeit enthalten wäre. In gewissem Sinne ist 
es auch so und muß so sein nach dem, was über das allgemeine 
Verhältnis der sämtlichen Grundtugenden festgestellt wurde: 
jede von ihnen muß sich auf das Ganze des menschlichen 
Willensbereichs erstrecken, da sie sich nicht sowohl durch das 
Gebiet des Handelns, das sie regieren, als durch den Anteil 
unterscheiden sollen, der jedem der Grundbestandteile des 
Wollens an der Sittlichkeit überhaupt zufällt. Der be- 
herrschende Faktor aber ist die Vernunft; daher versteht sich, 
daß man die Tugend der Vernunft und nicht etwa die der 
Tapferkeit oder des Maßes als einzige, alle andern ein^ 
schließende Tugend hat aufstellen können, wie von Sokrates 
und mehreren seiner Schüler bekannt ist. Daß indessen die 
bloße Einsicht doch nicht das Ganze der Sittlichkeit ausmacht. 



— 118 


wird klar, sobald man sich an die andern beiden Bestandteile 
menschlicher Aktivität, Trieb und Willen (im engem Sinn) 
erinnert. Es wird sich also fragen: welche Seiten der indivi- 
duellen Tugend sind es, die in analoger Weise auf diese Mo- 
mente der menschlichen Aktivität sich beziehen, wie die Tugend 
der Wahrheit auf die praktische Vernunft. Und da ergibt 
sich unschwer als die eigentümliche Tugend des Willens die, 
welcher die Alten den Namen der Tapferkeit gaben; als 
Tugend des Trieblebens aber die antike Sophrosyne, wir nennen 
sie die Tugend des Maßes. 

§ 13 . 

2. Die Tugend des Willens: Tapferkeit oder 
sittliche Tatkraft. 

Der Begriff dieser zweiten Tugend ist, der Ableitung zu- 
folge, eigentlich der der Selbstzucht, der strengen Unterord- 
nung des Triebs unter die Regel des Willens, und dadurch be- 
dingten Energie und Festigkeit der sittlichen Entschließung; 
also der Tatkraft der Sittlichkeit. Sie bildet das genaue 
Gegenstück der ersten Tugend; bezieht diese sich unmittelbar 
auf den letzten Quell der persönlichen Tugend im Bewußt- 
sein, die sittliche Einsicht, so betrifft jene die Ausprägung 
der sittlichen Einsicht zur sittlichen Tat; oder den sittlichen 
Willen, sofern er nicht im bloßen Bewußtsein verbleibt, son- 
dern sich wirksam beweist, die verfügbaren Kräfte zusammen- 
genommen in den Dienst der sittlichen Aufgaben zu stellen. 

Das ist aber offenbar der eigentliche Sinn der antiken 
Tugend der dvdpela oder virtus, wörtlich Mannhaftigkeit. 
Das muß man freilich prägnant verstehen, schiene es doch 
sonst das Geschlecht zu beleidigen, das sich oft genug als das 
sittlich stärkere erweist. „Sei wie ein Mann sein soll“, das 
will sagen: „Habe einen Willen!“ Die gewöhnliche deutsche 
Wiedergabe durch Tapferkeit erinnert vielleicht etwas 
zu einseitig an die Behauptung im Streit, die doch nicht 
bedingungslos sittlich ist. An sich aber ist das darin liegende 
Moment der Gegensätzlichkeit, des Kampfes wohl von Bedeu- 



tung, nur daß es sich auch handelt um die Besiegung der inneren 
Schwierigkeiten der Sache, vor allem der Schwierigkeiten, die 
sich in der eigenen Seele, Von seiten des Trieblebens zunächst, 
gegen die kratfvolle Verwirklichung dfs erkannten Güten 
erheben. Man spricht doch von tapferer Arbeit, tapferem 
Forschen, von Tapferkeit im Ertragen von Leid und Wider- 
wärtigkeit, Tapferkeit der Selbstüberwindung. 

Aber das alles unterschiede noch nicht die sittliche Tat- 
kraft von der Tatkraft überhaupt. Wie die Einsicht, kann 
nämlich auch die Tatkraft an sich sowohl dem Schlechten 
wie dem Guten dienen; beide sind an sich indifferrnt, ohne 
Tendenz in guter oder schlechter Richtung. Aber das gilt 
nur von der Einsicht, die bloß zum gegebenen Zweck die 
tauglichen Mittel findet. Handelt es sich dagegen um die 
Zwecksetzung selbst, so kommt man, wenn der gesetzte Zweck 
nicht immer wieder nur Mittel zu einem ferneren Zweck sein 
soll (und so ins Unendliche), notwendig auf den unbedingten 
Endzweck des Sittlichen. So verhält es sich auch mit der 
Tatkraft des Willens: sofern sie bloß für einen beliebigen 
schon vorausgesetzten Zweck die bereit liegenden Kräfte des 
Willens ins Spiel setzt, kann sie ebensowohl böse wie gut 
sein; als die eigentümliche Kraft hingegen, die auf ein un- 
verrückbares Ziel den ganzen Willen konzentriert und so 
seine ganze Energie zur Einheit zusammennimmt, tendiert sie 
notwendig zum Sittlichen. 

Dadurch vollendet sich also erst der Begriff der sittlichen 
Tapferkeit: als des unbedingten Einsatzes aller Kräfte für 
das unbedingt Gute, als welches allein eines solchen Ein- 
satzes wert ist. Das hatte Sokrates im Sinn, wenn er meinte, 
daß die sittliche Einsicht an und für sich auch stark genug sei, 
jeden Widerstand von seiten des Trieblebens zu brechen. Sie 
hat diese Kraft freilich nicht als bloße Einsicht, sondern sofern 
die das Bewußtsein ganz einnehmende Erkenntnis des einen 
Endziels zugleich dem Willen Einheit und damit konzen- 
trierteste Kraft gibt. Die so zusammengenommene 
Energie des Wollens vereint seine Kräfte zu einer Wirkung, 
die begreiflich jeder Gegenwirkung vereinzelter Triebe über- 



120 


legen ist. Wir verlangen daher vom Menschen, der der Ge- 
walt seiner Triebe schlaff und ohne Gegenwehr hingegeben ist, 
daß er „sich zusammennehme“; genau dies ist das Eigentüm- 
liche der sittlichen Tatkraft. Dies sich Zusammennehmen aber 
vollbringt schließlich allein die konzentrierende Kraft der 
Einh eit der Zielsetzung in der Idee des unbedingt 
Gesetzlichen, d. i. des Guten. 

In ganzer Schärfe hat wiederum Plato dies Unterschei- 
dungsmerkmal der echten Tapferkeit erkannt. Was man ge- 
meinhin so nenne, der Einsatz der Person für ein beliebiges, 
bedingtes, empirisches Gut, w'enn nicht gar für etwas in Wahr- 
heit Schlechtes, .sei eigentlich Tapferkeit aus Furcht: man 
setze seine Person ein für irgend ein Nichtiges, das man zu 
verlieren fürchte, während in Wahrheit, nach sittlichem Urteil, 
sein Verlust gar nicht zu fürchten sei, wie Reichtum, Macht, 
äußere Ehre. Tapferkeit im echten, sittlichen Sinne sei nur 
der unbedingte Einsatz der Person für das unbedingt Gute, 
das, wie er sagt, die einzige Münze ist, gegen die man alles 
cintauschen sollte. 

Nicht ohne Grund also sieht man die Probe der Tapfer- 
keit darin, jeder Gefahr, jedem Schmerz, namentlich aber dem 
Tode fest ins Auge zu sehen. Zwar kann auch die Festigkeit 
gegen Todesfurcht ganz unsittliche Gründe haben; der elen- 
deste Verbrecher dürfte in dieser vermeinten Tugend es mit 
dem sittlichen Heros aufnehmen. Je kleiner ein Mensch ist, 
desto kleiner ist auch sein Heldenmut, sein Nichts weg- 
zuwerfen, oft sozusagen für ein Butterbrot, Ein Edler wird 
vielleicht weniger rasch damit bei der Hand sein, sein Leben 
zu wagen; ist er darum weniger tapfer? Dennoch ist die 
jedem so natürliche Meinung, die in der Todesbereitschaft die 
Probe der Tapferkeit sieht, nicht ganz im Unrecht; nur bleibt 
dabei die wesentliche Bedingung unausgesprochen: daß es ein 
Edler ist, der sich opfert, und für eine edle Sache. Das schließt 
ferner ein, daß das Selbstopfer mit Besinnung, in voller Klar- 
heit des Bewußtseins gebracht wird. Dies alles vorausgesetzt, 
ist gewiß die Fähigkeit, sein ganzes empirisches Dasein daran- 
zugeben allein für sittlichen Gewinn, die Probe höchster Sitt- 



121 


lichkeit, allein begreiflich aus dem sicheren Bewußtsein, daß 
alles Empirische von bloß bedingtem, das Gute der Idee allein 
von unbedingtem Werte ist. 

Diese Möglichkeit d^r Selbstopferung aus rein sittlichem 
Motiv, die Möglichkeit, sich eine solche Selbstopferung auch 
nur zu denken, verdient in der Ethik besondere Beachtung als 
einer der stärksten Gegengrnnde gegen j^de bloß empirische 
Begründung der Moral. Man versucht sie zu stützen auf eine 
Berechnung der Gewinn- und Verlust-Chancen: verliere ich 
mehr, wenn ich mein ganzes übriges Leben darangebc, oder 
wenn ich mein Leben erkaufe z. B. mit Schande oder sonstiger 
schwerer äußerer oder innerer Strafe oder Schädigung, oder 
auch nur mit dem Verzicht auf Güter, die mir höher gelten, 
als was das Leben mir sonst bieten kann? Soll man solche 
Berechnung gelten lassen? Aber es widerstrebt schon dem 
unbefangenen Gefühl, selbst aus der Tapferkeit eine Berech- 
nung zu machen. Bedeutet sie den unbedingten Einsatz der 
empirischen Person für das unbedingte Gute, so ist nichts zu 
berechnen, da gegen den unbedingten Wert des Guten kein 
endlicher, empirischer Wert überhaupt in Vergleich kommen 
kann. Die Konsequenz jener Berechnung dagegen wäre, daß 
auch der sittliche Schaden seiä empirisches Maß und die Tugend 
ihren Preis hätte, um den sie verkäuflich wäre, was man doch 
wohl nicht hat sagen wollen. Nach solcher Berechnung möchte 
wohl oft derji^rbrccher, der an seine verruchte Tat den Kopf 
wagt, so viel^^d mehr Recht haben als der sittliche Held, 
der der Folgea^seiner Aufopferung niemals völlig Sicher sein 
kann, und aucn wirklich nicht danach fragt, was die Folgen 
tatsächlich sein werden, sondern allenfalls, was, so viel an 
ihm liegt, sie sein würden. 

Ebenso wenig verfängt hier die Berufung auf den gesell- 
schaftlichen Instinkt als die Wurzel der Sittlichkeit. Die in- 
stinktive Rücksicht auf die gesellschaftliche Ehre und Schande, 
der in dunklen, aber mächtigen Gefühlen uns beherrschende 
Einfluß des sozialen Lebens überhaupt i.st gewiß sehr oft das 
wirklich treibende Motiv bei Taten, die man als solche der 
höchsten Tapferkeit preist. Und doch macht das an sich die 



122 


Tat nicht zur sittlichen. Der gesellschaftliche Instinkt kann 
an sich zum Verkehrten leiten so gut wie zum Rechten; sich 
ihm urteilslos überlassen ist keineswegs sittlich, allenfalls eine 
un verächtliche Stufe der Erziehung zum Sittlichen. Als solche 
wollen wir auch den Ehrtrieb gerne gelten lassen. Es gibt 
ohne Zweifel einen sittlichen Ehrtrieb. Unfraglich sieht gerade 
der sittliche Mensch es für ehrlos an, im gegebenen Falle sein 
Leben nicht zu wagen. Aber warum hält er es dafür? Weil 
Andre es dafür halten? Welche Andren? Wahrscheinlich 
denkt die kleinste Zlahl darüber so streng, wie man im sitt- 
lichen Interesse denken soll. Gerade die Ehr Vorstellungen der 
Menschen sind so himmelweit verschieden, daß es vor allem 
dafür eines Kriteriums bedarf. Weiche Ehre ist denn nun für 
das sittliche Urteil maßgebend? Natürlich nur die sittliche. 
Aber dann stützt man Ehre auf Sittlichkeit, nicht Sittlichkeit 
auf Ehre; wie es auch allein zulässig ist. 

Es verhält sich mit diesen abgeleiteteren Begriffen nicht 
anders als mit den allgemeinen der Lust, der Glückseligkeit 
oder des Nutzens. Immer wird sich fragen: welche Lust, 
welche Glückseligkeit, welcher Nutzen entscheidet? Bestimmt 
die an irgend einem anderweitigen, außersittlichen Maße ge- 
messene Lust, Glückseligkeit oder Nützlichkeit, was sittlich, 
oder bestimmt vielmehr das eigene Gesetz der Sittlichkeit, was 
wahre Lust, Glückseligkeit, Nützlichkeit ist? Unter dem Ge- 
setz der Lust und Unlust steht jede Handlung, jede Willens- 
richtiuig; der Edle findet am Edlen seine Lust, der Unedle 
am Unedlen: eben darum bedarf es eines andern Maßes für 
unser Wollen und Handeln als der Lust. Sobald aber nur 
ein Unterschied der Wahrheit einer Lust, eines Nutzens von 
dem andern anerkannt wird, ist damit schon ein selbständiger 
Grund des Sittlichen zugegeben. Desgleichen läßt sich ein 
Vorrang des Nützlichen vor dem bloß Angenehmen ohne ein 
von der Lust verschiedenes Prinzip nicht begründen. Er ist 
darin begründet, daß der Mensch kein Augenblicksgeschöpf ist; 
aber eben diese Erwägung führt, in ihrer vollen Tragweite 
verstanden, über jede bloß empirische Begründung hinaus. 
Die sittliche Tugend der Tapferkeit, sofern sie die Fähigkeit 



123 


cinschiießt, seine ganze empirische Existenz für ein bloß ideelles 
Gut zu opfern, macht das nur be3onder3 deutlich. Es ist nur 
einer der manchen Punkte, wo die empiristische Moralbegrün- 
dung entwedefr sittlich oder logisch unverständlich wird: sitt- 
lich, wenn sie die Konsequenzen des einmal gewählten Prinzips 
zieht, logisch, wenn sie sie zu ziehen unterläßt. 

Sö wichtig übrigens für Theorie und Praxis der Sittlich- 
keit die negative Seite unserer Tugend, die Fähigkeit der 
Selbstopferung ist, an sich muß wohl diese Tugend, wenn 
irgend eine, nicht bloß negativ und passiv, sondern positiv 
und aktiv verstanden werden. Der Einsatz aller Kräfte für 
das erkannte Gut zieht als Folge nach sich, daß man, wenn 
nötig, auch das Leben dafür einsetzt; an sich aber fordert es 
wohl größere Tapferkeit, für das Gute zu leben als dafür zu 
sterben. Das Letztere ist meist Sache einer einzigen, raschen 
Entschließung, die dem sittlich klaren Menschen in klarer 
Lage nicht sonderlich schwer fallen kann. Weit schwerer ist 
es dagegen, die Festigkeit des sittlichen Wollens in seiner 
positiven Betätigung unter zahllosen lähmenden Einflüssen 
von außen und von innen stündlich neu zu bewähren. Plato 
bemerkt irgendwo (Lach. 191), Tapferkeit habe sich zu be- 
weisen nicht nur gegen Schmerz und Furcht, sondern auch 
gegen Lust und Begier, und nicht nur im Standhalten, sondern 
auch im Fliehen. Er hätte hinzufügen dürfen, daß es nicht 
allein eine Tapferkeit gegen, sondern auch für etwas gibt, für 
das Gute und alles was zum Guten dient. Übrigens kommt 
die aktive Natur dieser Tugend in anderer Weise bei ihm zur 
Geltung, in ihrer Beziehung auf die aktive Energie des Trieb- 
lebens, auf den Er beschreibt darin nicht unrichtig 

die Wirkung der sittlichen Erhebung auf das Triebleben selbst, 
und zwar als aktiven Zustand, als edle Aufwallung für das 
Gute. Untriftig wäre es freilich, dieser Tugend geradezu 
ihren Sitz in einer so ganz dem Triebleben zugehörigen Ge- 
mütskraft anzuweisen; Plato selbst führt sie sonst, mit Sokra- 
tischer Schroffheit, vielmehr auf die Einsicht zurück. Wir ver- 
meiden beide Abwege, indem wir sie dem Willen zuweisen, der 
zwischen Trieb und Einsicht in der Mitte steht, durch dessen 



124 


Vermittlung sich der Einfluß der sittlichen Erkenntnis bis auf 
das Triebleben erstreckt. Denn dieses bietet überhaupt den 
Stoff, den der Wille, von der Vernunft geleitet, sittlich zu 
gestalten hat. Wollen heißt wesentlich: seinem sonst blinden 
Streben ein Objekt setzen, seine Triebkräfte auf eine Sache 
richten und dadurch einer festen, unausweichlichen Regel 
unterwerfen. Das ist nicht mehr es steht ungleich 

näher der Sokratischcn cppövvjat?, die doch immer praktische Ver- 
nunft sein soll; aber es ist auch nicht an sich schon das sitt- 
lich Vernünftige, denn die Sache könnte schlecht, oder doch 
sittlich geringwertig sein. Doch bleibt diese strenge Unter- 
ordnung unter die Sache an sich ein wesentliches Moment der 
Tugend; und sie wird zur Tugend eben dann, wenn die Sache, 
für die ich mich einsetze, nicht bloß eine gute Sache, sondern 
schlechthin das Gute ist. So wird die eigenartige Stellung 
der Tapferkeit im System der sittlichen Tugenden klar, während 
sie bei Plato bald nach der cppövYjat?, bald (so auch in der ange- 
führten Stelle) nach der auicppoG^vYj hi nübersch wankt. Richtig 
bleibt dennoch das Motiv, daß diese Tugend eine höchst 
positive und konkrete Beziehung auf die Aktivität auch in der 
unmittelbaren Form des Triebes hat; daß sic den Trieb selbst 
unmittelbar in den Dienst des sittlichen Willens stellt. 

Diese Erwägung begründet zugleich, was übrigens nur 
kurzer Ausführung bedarf: daß auch diese Tugend sich, gleich 
der der Wahrheit, auf das Ganze des menschlichen Tuns 
erstrecken muß. Denn alles eigentliche Tun des Menschen 
ist eben Willenssache. Wo kein W’ille, da reden wir nicht 
eigentlich von Tätigkeit. Dagegen gehört nicht ebenso not- 
wendig zum Begriff einer Tat die Darstellung des Willens in 
einem äußeren Stoff. Zur bloßen Erforschung der Wahrheit, 
selbst wenn sie im reinen Erkennen ihr Ziel fände, gehört ein 
tapferer nicht minder als streng aufrichtiger Sinn; vollends zur 
Erhaltung sittlicher Gesinnung im Menschen, zur inneren, sitt- 
lichen Wahrhaftigkeit gehört gewiß ein hoher sittlicher Mut; 
nicht minder zur äußern Wahrhaftigkeit, zur Wahrhaftigkeit 
des Worts. Dann aber auch zu jeder unmittelbar an den Stoff 
gewendeten Arbeit ist nicht bloß die Tugend der Sachlich- 



125 


keit, sondern auch entschlossene, rein für die Sache sich ein- 
setzende Tatkraft vonnöten, flaa spricht also mit gutem 
Recht von tapfrer Arbeit. Treu ausharrender, unverdrossener 
Fleiß ist gewiß keiner Tugend verwandter als der Tapferkeit. 
Endlich erstreckt sich auch diese Tugend ganr besonders auf 
die Gemeinschaftsbeziehungen unter den Menschen. Untreue 
gegen Pflichten des Gemeinschaftslebens aus persönlicher 
Schwäche, Mattheit in sittlich begründeten Gemeinschafts- 
beziehungen, in Liebe und Freundschaft, Untreue gegen das 
Vaterland hat gewiß am meisten ihren Grund in Mattherzigkeit 
überhaupt, bis zur deutlichen Feigheit, also im Gegenteil unsrer 
Tugend. Sie ist schlecht, nicht allein oder hauptsächlich wegen 
der sich auf den Andern miterstreckenden Folgen, sondern an 
und für sich als Schädigung des eigenen sittlichen Charakters 
wie des der Gemeinschaft, 

Besonders klar ergibt sich aus allem Gesagten die genaue 
Wechselbeziehung zwischen den beiden ersten Tugenden. 
Wahr zu sein in der umfassenden Bedeutung des Worts, die 
wir kennen lernten, fordert ebenso gewiß Tapferkeit, wie 
umgekehrt tapfer im sittlichen Sinne keiner ist, es sei denn 
in unbeugsamer Treue gegen die Wahrheit. Dieses schon 
einigemal gebrauchte Wort Treue drückt überhaupt un- 
übertrefflich die Einheit der beiden Grundtugenden aus; es 
besagt: Wahrhaftigkeit, die sich in standhaftem Ausharren 
bewährt, Standhaftigkeit, die aus dem Sinn der Wahrheit 
fließt. 

Die Analogie führt aber darauf hin, neben den Tugenden 
der Vernunft und des Willens noch eine solche anzu- 
setzen, die sich unmittelbar auf den dritten Faktor der 
Aktivität, das Triebleben bezieht. Auch das klassische 
System der Kardinaltugenden, dessen tiefe Anlage sich bis 
dahin bewährte, weist eine solche auf: die Tugend des Maßes, 
owippoaövT]. 



126 


§ 14. 

3* Die Tugend des Trieblebens: Reinheit oder Maß. 

Es ist ein empfindlicher Mangel unsrer ethischen Kunst- 
sprache, daß ihr ein Wort fehlt, das dem griechischen acD^poauvyj 
recht entspräche. Die seit Schleiermacher gebräuchliche Über- 
setzung „Besonnenheit“ trifft nur eine, bei Plato vorzüglich 
wiclitige Seite dieser Tugend, aber unterscheidet sie kaum von 
der 9p6vYjat<;, die wir mit „Besinnung“ Wiedergaben. Im Griechi- 
schen ist das Unterscheidende im ersten Bestandteil des Worts, 
welcher „heil, gesund“ heißt, wenigstens angedeutet; be- 
stimmter noch gibt es sich kund in dem synonymen Wort 
x6a|jitov. Das besagt nicht nur das äußerlich Anständige; der 
Grundbegriff ist vielmehr der der inneren Wohlordnung, der 
geregelten und damit harmonischen Verfassung der Seele; den 
Gegensatz bildet die Maß- und Gesetzlosigkeit der Triebe, ößpi;. 
Auf denselben Begriff führt die oft gebrauchte, im Wort awcppo- 
oiivY) anklingende Vergleichung mit der leiblichen Gesundheit. 
Den Punkt der Vergleichung bildet das normale Verhältnis der 
Funktionen, in dem sie sich gegenseitig nicht stören, sondern 
unterstützen oder wenigstens streitlos mit einander bestehen. 
Das setzt voraus, daß jede für sich das rechte Maß innehält. 
Und so wird diese Tugend auch geradezu als die des Maßes, des 
|i^xptov bezeichnet. Das führt dann wieder hixiüber zur 
Vergleichung mit dem ästhetisch Schönen, „Symmetrischen“, 
besonders aber mit dem Musikalischen, der Harmonie in eigent- 
licher Bedeutung oder Symphonie, oder auch der Eurhjdhmie. 
Vornehmlich im Sinne dieser Tugend gilt den Griechen das 
Sittliche als das Schöne (xaXöv) der Seele. Bei den Lateinern, 
denen die Schönheit weniger im Gemüte liegt, verblaßt das 
zum honestum; als ob die äußere Rücksicht auf den ehrlichen 
Namen, auf das decorum beim Sittlichen die Hauptsache sei. 
Auch unser Wort „sittlich“, das am öftesten von dieser Tugend 
im besondern gebraucht wird, erinnert zunächst an die äußere 
Sitte, die aber dann sich vertieft zum innerlich Gesetzlichen, 
Wohlgeordneten . 



127 


Stets aber wird diese Tugend von den Griechen auf das 
Triebleben bezogen, das, sich selbst überlassen, ohne Gesetz, 
Ordnung und Maß, ohne innere Zusammenstimmung bliebe. 
Daß das Ordnende die Vernunft, der vernünftige Wille ist, daß 
„Besonnenheit“ oder das ordnende Walten der Vernunft über 
das Triebleben der eigentliche Grund dieser Tugend ist, aber 
auch die Energie des sittlichen Willens, die „Tapferkeit“ der 
Selbstbezwingung dazu gehört, ist die wesentliche Errungen- 
schaft der Philosophie, vorzugsweise der Sokratisch-Platoni- 
scheii. Damit ist in der Tat das notwendige Zusammenwirken 
der drei Faktoren der Aktivität in dieser Tugend richtig er- 
kannt; die Beziehung auf das Triebleben aber bleibt verwaltend. 

Demnach läßt sich diese Tugend zutreffend als die des 
Maßes oder der sittlichen Ordnung des Trieblebens 
bezeichnen. Mit einem Wort kann man sie füglich als 
Reinheit benennen; wobei man nicht so sehr an das Nega- 
tive: die Freiheit von Sündenschmutz, von Befleckung der 
Seele, als an das Positive : die ungetrübte Klarheit der inneren 
Gesetzesordnung denke. So spricht man in ästhetischer An- 
wendung von reiner Harmonie, reinen Farben, Reinheit der 
künstlerischen Form, der Sprache, aber auch von Reinheit des 
wissenschaftlichen Verfahrens, endlich und besonders von 
Reinheit gemütlicher und sonstiger Verhältnisse unter Menschen. 
Das Gemeinsame in dem allen ist die gesetzmäßig überein- 
stimmende und durch solchen Einklang befriedigende innere 
Verfassung, und zwar nicht als bloß gedacht oder angestrebt, 
sondern unmittelbar im Stoff dargestellt; das ist genau der 
Begriff, den wir brauchen. 

Somit stellt diese Tugend, auf der Grundlage der beiden 
andern, die Vollendung der persönlichen Sittlichkeit dar. Sie 
ist die konkreteste der drei Tugenden; es ist darin das Ideal 
gedacht, daß die Triebe selbst dem Befehle der Vernunft so 
völlig gehorchen, vielmehr von Anfang an einerlei Richtung 
mit ihr nehmen, daß eine gefahrdrohende Anwandlung von 
Schlechtigkeit nicht mehr möglich ist. Der religiöse Name 
der Heiligung liegt nahe und läßt sich in einzelnen An- 
wendungen kaum umgehen; nur möchten wir die religiösen 



128 


Assoziationen fernhalten, um den rein ethischen Charakter der 
Untersuchung in keiner Weise zu verwischen. 

Auch diese Tugend hat eine negative und eine positive 
Seite, und bei ihr wie bei der Tapferkeit drängt sich die nega- 
tive oder kritische Bedeutung — Abwehr der ößpi^ — zunächst 
auf; aber auch bei ihr ist vor der einseitig negativen Auf- 
fassung zu warnen. Die ^yxp^cxeta der Griechen, die Selbst- 
beherrschung, die Eigenschaft sich in der Gewalt zu haben, 
d. h. seiner Triebe Herr, nicht ihr Sklave zu sein, sie mäßigen 
oder zügeln zu können, gilt wohl den Meisten als der eigentliche 
und ganze Sinn dieser Tugend. Das steigert man dann leicht 
zu der Forderung der Enthaltung, der Entäußerung, der Er- 
tötung oder doch äußersten Abschwächung der Triebe. Es 
ist die Tugend der Kyniker und ihrer christlichen Nachfolger, 
der Asketen aller Art : die Begehrungen so klein wie möglich zu 
halten; bei den ersteren mit der ausgesprochen hedonistischen 
Begründung, damit man sie desto sicherer befriedigen könne; 
so daß als das eigentliche Ideal völlige Bedürfnislosigkeit 
erscheint. Aber gesunde Befriedigung des Triebs ist an sich 
so sittlich, so rein, so heilig wie die Enthaltung von unge- 
sunder Befriedigung. Die Gesundheit des Trieblebens ist so 
wenig davon abhängig, daß man die Triebe selbst knapp 
hält, also das Triebleben überhaupt nach Möglichkeit abtötet, 
daß vielmehr eben die Gesundheit des Trieblebens die Be- 
dingung seiner kraftvollsten und lebensfähigsten Entfaltung 
ist. Die Asketik ist ein unfehlbarer Arzt — nur daß sie mit 
der Krankheit zugleich dem Patienten den Garaus macht. 
Gewiß ist ,, Selbstbeherrschung“, d. i. Herrschaft über die 
Triebe unerläßlich. Aber es ist die Weise schlechter Herrscher, 
die Untertanen so schwach wie möglich zu wollen, damit sie sich 
desto leichter regieren lassen. Man übersieht, daß die Herr- 
schaft über kleine und schwache Triebe auch kleine und 
schwache Herrschaft ist. Die Gewalt über den Trieb ist erst 
die negative Vorbedingung, nicht das Ganze und Positive 
dieser Tugend ; das Positive ist vielmehr : Gebrauch des Triebes 
nach seiner wirklichen, natürlichen und sittlichen Bestimmung, 
nicht außerhalb dieser Bestimmung. 



129 


Man hat sich das Verständnis dieser Tugend am meisten 
dadurch erschwert, daß man fast ausschließlich an die gröbsten, 
auf das bloß physische Dasein bezüglichen Triebe gedacht hat, 
an den Ernährungs- und Fortpflanzungstrieb, und etwa noch 
an die abgeleiteteren, aber zuletzt auch lediglich auf Selbst- 
behauptung im Kampf ums Dasein gerichteten Triebe der 
„Habsucht, Ehrsucht, Herrschsucht“. Nun liegt allen diesen 
doch auch etwas Gesundes zu Grunde. Weshalb läge auf 
Verschwendung und Schädigung des physischen Lebens und 
der Mittel und Bedingnisse der Lebenserhaltung ein schwerer 
sittlicher Tadel, wenn nicht das Leben selbst und was seiner 
Erhaltung dient, an sich etwas Fördernswertes wäre ? Weshalb 
ist uns das Verhältnis von Mutter und Kind rein und ehr- 
würdig, weshalb konnte der Vatername sogar heilig genug 
erachtet werden, um der Gottheit beigelegt zu werden, wenn 
Vater- und Mutterschaft an sich unrein wäre? Und so ist 
doch auch nicht aller Besitz, alle äußere Ehre, alle Macht und 
Herrschaft über Dinge und auch über menschliche Arbeits- 
kräfte an sich verwerflich. Verfügbare Energie des Triebs 
ist zu aller und jeder menschlichen Tätigkeit, sie ist vor allem 
auch zur Arbeit an der eigenen geistigen und sittlichen Ent- 
wicklung erforderlich; wie sollte es also nicht auch sittlich 
gefordert sein, sie zu erhalten und zu stärken? 

Am ärgsten ist wohl die Verwirrung über einen Begriff, 
der ganz besonders hierher gehört, nämlich den der Keusch- 
heit. Man denkt dabei entweder bloß an das gesellschaftlich 
Anständige oder wozu einer sich ungescheut bekennen darf; 
wo dann wohl der bekannte Unterschied zwischen keuschen 
Ohren und keuschen Herzen zu Recht bestände. Oder wenn 
man denn diese Tugend bis ins Herz wurzeln läßt, so verfällt 
man allzu leicht ins Asketische (wie in unserer Zeit wieder 
zwei so ehrliche Naturen wie Kierkega۟'d und Tolstoj), und 
gerät dahin, selbst jeden Gedanken an die natürliche Be- 
stimmung der Geschlechter, jeden Wunsch ihrer Erfüllung 
für unkeusch zu erklären. Da käme aber diese angebliche 
Tugend in schwierige Kollision mit der allerursprünglichsten, 
unverletzlichsten Tugend der Wahrheit. Es könnte dann am 

Natorp, SosialpAdagogilL 4. Aafl. 9 



130 


Ende wahrhafter und also sittlicher erscheinen, sie ganz und 
gar als törichte Menschensatzung über Bord zu werfen und das 
Naturgebot der Begierde zum unumschränkten Gesetz des 
Handelns und Denkens zu erheben. Oder endlich, man ver- 
steht unter der Keuschheit des Herzens sogenannte Unschuld 
d. h. Unwissenheit über das Natürliche, wenigstens Ahnungs- 
losigkeit über die furchtbare Gewalt des Naturtriebs, ver- 
bunden mit eigener Begehrungslosigkeit, also das Verharren 
im Kindesstande, auf den man selbst wie auf ein verlorenes 
Paradies zurückblickt, den man aber dem heranwachsenden, 
ja dem erwachsenen — Weibe zumutet. Denn dem Manne 
kann man sie nicht wohl zumuten; er soll doch den Wirklich- 
keiten des Menschendaseins ins Auge sehen lernen. Das heißt 
aber das Weib mit einer sehr zweifelhaften Tugend schmücken, 
um ihm zwei so zweifellose, unerläßliche Tugenden wie Wahr- 
heit und Tapferkeit des sittlichen Willens zu nehmen. Es ist 
eine unbedingt höhere Auffassung der weiblichen wie der 
männlichen Tugend, welche diese Unterscheidung und damit 
diesen ganzen Begriff der Keuschheit als „Unschuld“ ver- 
wirft. Wahre Unschuld ist nur die, die das Schuldlose auch 
schuldlos nimmt, um so sicherer, je fremder ihr die wahre 
Schuld der Unkeuschheit ist. 

Was ist denn nun der echte Begriff dieser so schwierigen 
Tugend? Er ist so einfach wie alle Tugend, und dem sittlich 
Gesunden fast selbst verständlicli. Sie besagt erstens, als Vor- 
bedingung: sichere Herrschaft über den Naturtrieb; sodann 
aber: Gebrauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen 
wie sittlichen Bestimmung, nicht außerhalb dieser Bestimmung. 
Die natürliche Bestimmung ist die Fortpflanzung. Schon 
dadurch ist für den Gebrauch des Triebes eine unerbittliche 
Grenze gezogen, die Grenze, die die Unkeuschheit besonders 
nicht anerkennen mag; sie zieht vielmehr hauptsächlich daraus 
ihre Nahrung, daß sie den Trieb gebrauchen, aber seinen Zweck, 
die Fortpflanzung, umgehen will, weil seine Anerkennung dem 
Gebrauch des Triebes offenbar Schranken auf erlegt.. Es ist 
hier, wie bei der Trunksucht, der Habsucht u, s. f., auffällig 
(was man Kant nicht hat glauben wollen), daß alle Unsittlich- 



131 


keit auf einen Setbstwiderspr cch des Willens hinaus- 
kommt. Dann aber und vornehmlich kommt im Geschlechcs- 
verhältnis die seelische Beziehung in Frage, und da erst recht 
zeigt sich der hohe, ganz positive Sinn der Herzensreinheit 
in dei Tugend der Keuschheit. Es ist die Reinheit, der 
das Reine rein ist, indem es bezogen wird auf das Heiligtum 
der Seele; der das physische Leben, und so auch seine Weiter- 
gabe, geheiligt ist durch seine Beziehung auf das seelische 
Leben, dem es dient; für die daher die Höhe des physischen 
Lebens — die Höhe, da es sich verewigt, indem es sich ver- 
schenkt — zugleich zu einer Höhe des seelischen Lebens zu 
werden vermag. Und das umso mehr, als zugleich das Ver- 
hältnis von Seele zu Seele in solcher Gesinnung sich zur ganzen 
Wahrheit reinigt: der Eine traut dem Andern eine Seele zu, 
erkennt in ihm wie in sich selber die sittliche und nicht bloß 
die sinnliche Person, und diese als unverletzliches Heiligtum 
an, um auf dies Heiligste, wie sein ganzes Sein und Leben, 
so auch alles, was er gegen uns ist und tut, uns gibt oder von 
uns empfängt, zuletzt zurückzubcziehen. Das ist freilich 
sinnlos, wenn man das Ziel des Naturtriebs im Genuß des 
Augenblicks sieht; aber es erhält klaren Sinn, wenn man sich 
besinnt, daß es dem Menschen verliehen ist, „dem Augenblick 
Dauer zu verleihen“, ja in eine Ewigkeit hinauszublicken. 
Diese stellt sich ihm menschlich und irdisch dar in der Folge 
der Geschlechter, wodurch der Einzelne sein beschränktes 
Dasein an das Leben der ganzen Menschheit kettet. Die Über- 
lieferung des Menschentums von Geschlecht zu Geschlecht ist 
demnach das wahre, sittliche Ziel der Fortpflanzung. So hat 
selbst Plato, der sonst einigermaßen zur Asketik neigt, die leib- 
liche Fortpflanzung darstellen können als die Art, wie das 
Sterbliche an Unsterblichkeit, an Ewigkeit teilhat. Dieser 
Sinn der Keuschheit ist völlig derselbe für Mann und Weib; 
der Mann und das Weib, das nicht in diesem hohen Sinne keusch 
ist, ist gemein, oder bestenfalls ein gesundes unwissendes Tier. 
Wiederum aber ist solche Keuschheit weit verschieden von 
blöder Scham: sie hält es für reiner, die Scham in Liebe unter- 
gehen zu lassen als sie festhalten zu wollen. Keusche Liebe 



132 


hat sich nie ihrer selbst zu schämen, sondern allein der Un- 
keuschheit. Dem Weibe wird also nicht mehr Unwissenheit 
um das Natürliche und kindisches Grauen davor als Tugend 
angerechnet; und der Mann nicht von seinem redlichen Anteil 
an dieser edlen Tugend entbunden, ja wohl der schwerere Teil 
der Verpflichtung und Verantwortlichkeit dabei ihm auf- 
erlegt. Endlich kommt so erst die positive Seite der Reinheit 
zu voller Anerkennung. Es ist begreiflich, daß gegenüber dem 
gewaltigsten aller natürlichen Triebe der negative Sinn der 
oü)9poo6vYj sich vorzugsweise auf drängte; im letzten Grunde 
aber erschöpft sie sich auch hier nicht im Unterlassen oder pas- 
siven Geschehenlassen, sondern entfaltet ihre ganze Tiefe erst 
in der Position, in der Energie des Tuns. Sie verneint nicht 
das Triebleben, sondern bringt es vielmehr erst zu seiner 
gesunden und damit kraftvollen Entfaltung. Die Fort- 
pflanzung der Menschheit in leiblicher und seelischer Gesund- 
heit ist der keuschen, nicht der unkeuschen Liebe an vertraut. 
Auch diese Tugend ist eine der mächtigsten Beweisungen der 
Lebensenergie der Menschheit.*) 

Und so will allgemein unsere dritte Tugend das Triebleben 
nicht ausrotten oder entkräften oder bloß bändigen wie ein 
wildes Tier, sondern es nach Möglichkeit unversehrt in den Dienst 
unserer sittlichen Bestimmung stellen, die, nach ihrer wesent- 
lichen, inneren Beziehung zur Natur, nicht auf einen vergeb- 
lichen Krieg mit dieser, sondern nur auf ihre gesunde und 
reine, d. i. ihrem Innern Gesetz gemäße Entfaltung im Menschen 
zielen kann. 

So tritt denn durch diese Tugend die menschliche Sitt- 
lichkeit in die unmittelbarste überhaupt zulässige Beziehxmg 
zur Natur. Sie vertritt, in konkreterem Sinne als eine der 
vorigen Tugenden, die Erhebung alles Natürlichen, soweit 
irgend es dessen fähig ist, zu sittlicher Bedeutung. Alles 
menschliche Tun und Streben hat aber eine der Sinnlichkeit 
zugekehrte Seite, es beruht nicht auf Vernunft und Willen 
allein, sondern hat noch einen Naturgrund, den wir allgemein 

*) Vgl. zu der Frage den Aufsatz „lieber Sinnenglück und Seelen- 
frieden“, in der Zeitschrift „Die Wahrheit“, Bd. 8, S. 65 ff. 



133 


mit „Trieb^' bezeichnet haben; auf diesen, und zwar in allen 
seinen Gestaltungen, bezieht sich unsere dritte Tugend. Auf 
den Begriff des Triebs führten wii den der Arbeit zurück; 
und so gehört alle eigentlich so beuc^nnte, unmittelbar auf den 
Stoff gerichtete, auf Sinnes und Muskelkraft beruhende Arbeit 
unter die Herrschaft dieser Tugend. Der große Satz, der 
mit steigender Kultur zu immer höherer Bedeutung gelangt, 
von der Heiligkeit der Arbeit ordnet sio)i ganz ihr unter 
und ist einer ihrer deutlichsten und positivsten Ausdrücke; 
an ihr besonders zeigt sich, daß diese wie jede andere ur- 
sprüngliche Tugend nicht allein oder zuerst in dem besteht, 
was man läßt, sondern in dem, was man tut und wie man es 
tut. Luther, demselben, der nach der Zeit des Mönchtums 
wieder die Reinheit der Ehe betont hat, danken wir es, daß 
er die Heiligkeit der Arbeit und damit des „weltlichen“ Berufs 
zu Ehren gebracht und so das Verständnis dieser hohen 
Tugend unserer Nation besonders tief eingeprägt hat. Die 
mächtige sozial - ethische Bedeutung, die darin liegt und 
die mit der Verschärfung der sozialen „Frage“ sich nur er- 
höhen l^jann, leuchtet ein; fast die ganze Ethisierung der sozialen 
Frage hängt daran; sie bezieht sich, ethisch angesehen, durch- 
aus auf die Versittlichung des sozialen Trieblebens 
in Arbeit und Genuß. 

Überhaupt drängt sich in fast allen Betätigungen dieser 
Tugend ihre zugleich soziale Bedeutung besonders stark auf. 
Begreiflich, denn je näher wir den realen Bedingungen des 
menschlichen Daseins kommen, je konkreter wir seine Tugend 
zu erfassen suchen, um so weniger läßt sich von den sozialen 
Beziehungen überhaupt absehen, um so dringlicher zeigt es 
sich, auch und vor allem diese durch und durch sittlich zu 
gestalten. Das darf nun wiederum nicht verleiten, den Grund 
und Wert dieser Tugend etwa ausschließlich in ihrer sozialen 
Bedeutung zu suchen. Sie ist an sich von jedem gefordert, 
auch mit gänzlicher Abstraktion davon, welchen Dienst sie 
dem Andern oder selbst dem Ganzen leistet. Aber freilich be* 
steht das Gebot der Reinheit, wie jedes sittliche Gebot, aus 
gleichem Grunde wie für den Einzelnen auch für alle und 



134 


erhält durch die gleichzeitige Beziehung auf die Gemeinschaft 
noch verschärften Sinn; ja es könnte überhaupt nicht davon 
die Rede sein, den Adel der Menschheit in der eigenen Person 
zu erhalten, wenn es keine Menschheit, keine menschliche Ge- 
meinschaft gäbe. Auch ist diese höchste sittliche Beziehung 
für diese Tugend so unerläßlich wie für jede andre. Sie läßt sich 
auf der Höhe ihrer Bedeutung nicht lediglich auf den Naturtrieb 
zur Glückseligkeit (auch wenn er als zugleich sozialer Trieb ver- 
standen wird), mit Umgehung eines Vernunftgrundes stützen. 

Und so bestätigt sich auch wieder der unauflösliche Zu- 
sammenhang sämtlicher Grundtugenden, demzufolge keine 
ohne die andern bestehen kann, jede, je nachdem man es an- 
sieht, jede der andern zur Voraussetzung hat. Die sittliche 
Ordnung des Trieblebens, wie sie sich uns darstellte, ist offenbar 
nicht zu erreichen ohne eine große Klarheit der sittlichen Ein- 
sicht und ohne voll entwickelte Kraft und Festigkeit des sitt- 
lichen Willens. Umgekehrt ist Regellosigkeit und Ungesund- 
heit des Trieblebens das Haupthindernis, zu fester sittlicher 
Energie und unbeirrter sittlicher Einsicht und Wahrhaftigkeit 
jemals zu gelangen. Die Erziehung beginnt naturgemäß von 
unten auf, bei der Disziplinierung des Trieblebens; höhere 
Forderungen an die sittliche Energie und Erkenntnis lassen sich 
überhaupt erst stellen, nachdem der Hauptwiderstand ge- 
brochen ist, der sich von dorther gegen beide erhebt. An der 
Versittlichung des Trieblcbens erstarkt die Kraft des sittlichen 
Wollens und der sittlichen Einsicht, die dann wieder zur 
festesten Stütze für jene wird. So helfen sich alle Tugenden und 
fördert jede die andere, indem sie zugleich aus jeder selbst 
neue Kraft zieht. Aber nicht minder helfen sich in verhängnis- 
vollem Bunde alle Untugenden: Lüge und sittliche Schwäche 
der Unordnung des Trieblebens und umgekehrt. Der wilde, 
regellose Trieb ist der gefährlichste Sophist und erbärmlichste 
Schwächling; um so sophistischer und erbärmlicher, je mehr 
er sich in das Gewand der rechten Wahrheit und der rechten 
Forschheit zu kleiden beliebt. 

In dieser Tugend vollendet sich, wie es scheint, die Sitt- 
lichkeit des Individuums zur konkretesten Gestalt, deren sie 



135 


fähig ist. Allein die bloß individuelle Sittlichkeit ist über- 
haupt nur Abstraktion. Der Einzelne lebt nun einmal nicht 
vereinzelt, sondern jederzeit in Gemeinschaftsbeziehungen; es 
ist also eine bloße Fiktion, vom Individuum wie von einem 
Ding für sich zu reden, andrerseits wurzeln die Gemeinschafts- 
beziehungen doch in den Individuen selbst; sie existieren über- 
haupt nur im Bewußtsein der Einzelnen, die in Gemeinschaft 
stehen. Soll es also eine Tugend der Gemeinschaft geben, so 
muß sie, da doch Tugend Sittlichkeit heißt und Sittlichkeit 
in Individuen allein Leben und Ursprung hat, auch in ihnen, 
also in Gestalt einer individuellen Tugend sich ausprägen. 
Es ist nun schon bei der Behandlung der drei im engeren 
Sinne individualen Tugenden fortwährend auch die Beziehung 
auf die Gemeinschaft berücksichtigt worden. Doch ist es zum 
wenigsten noch eine eigene und wichtige Seite an aller indi- 
viduellen Tugend, daß sie das Bewußtsein der Beziehung 
auf die sittliche Gemeinschaft wesentlich einschließt. Auch 
genügt es nicht, bei jeder jener drei Tugenden neben der indi- 
viduellen die soziale Seite hervorzuheben, sondern man hat 
Grund, die soziale Tugend des Individuums auch als 
ein eigentümliches Ganzes ins Auge zu fassen. 

Deswegen stellen wir als vierte individuelle Tugend eben 
die soziale Tugend, sofern sie Tugend des Individuums ist, 
auf. Wir bezeichnen sie, wiederum im Anschluß an die Alten 
und besonders an Plato, mit dem Namen der Gerechtigkeit. 

In der Anordnung unsrer vier Tugenden aber wird man 
die zwingende Notwendigkeit nicht verkennen, mit der die 
Betrachtung von den abstrakteren zu immer kon- 
kreteren Gestaltungen des Sittlichen, wie bisher, so auch 
jetzt wieder fortschreitet. 


§ 15 . 

4. Die individuelle Grundlage der so2ialen Tugend: 
Gerechtigkeit. 

Unter Gerechtigkeit als individueller Tugend verstehen wir, 
dem Gesagten zufolge, die auf die Gemeinschaft bezügliche 
Seite an aller Tugend des Individuums. Daher muß jede der 



136 


andern individuellen Tugenden, sofern die Gemeinschafts- 
beziehung in Frage kommt, etwas von dem Charakter der Ge- 
rechtigkeit annehmen. So zeigt es sich in der Tat: sofern die 
Regelung des Trieblebens in Arbeit und Genuß im Interesse 
der Gemeinschaft gefordert ist, wird sie zu einer der haupt- 
sächlichsten Forderungen der Gerechtigkeit; ebenso Tapfer- 
keit, sofern sie der Gemeinschaft dient, sofern sie besagt, daß 
jeder an seinem Posten, in seiner um der Gemeinschaft willen 
nötigen Betätigimg aushalten und seine Sache nicht im Stiche 
lassen soll, ist eine Pflicht der Gerechtigkeit; endlich Wahr- 
haftigkeit im Verhalten zum Andern, Ehrlichkeit, Redlichkeit, 
wechselseitige Treue hat man von jeher zur Gerechtigkeit 
gerechnet; ihre Verleztung ist nicht nur persönliches, sondern 
soziales Unrecht. 

Und zwar ist das Wesen dieser Tugend darin schon voll- 
ständig enthalten, daß alles, was an sich sittlich gefordert ist, 
gleichsam noch einmal, in der Tat in neuem, erweitertem 
Sinne gefordert wird im Interesse der Gemeinschaft. Eine 
eigene Materie hat diese Tugend also nicht aufzuweisen. Alle 
Erklärungen, die man von ihr zu geben versucht hat, sind 
denn auch rein formal; so die alte Formel, nach der sie ,, Jedem 
das Seine“, was ihm zukommt oder gebührt, zuteil werden 
läßt, sein Recht und seine Pflicht. Was dies Gebührende sei, 
läßt sich gar nicht anders als in Hinsicht der drei Grund- 
elemente der Aktivität, mithin gemäß den drei ersten Tugen- 
den bestimmen. Die Erhebung der Gemeinschaftsbeziehung 
der sittlichen Forderung ins ausdrückliche Bewußtsein unsres 
Tuns ist das einzige Neue, was hinzukommt; darin ist die 
Eigentümlichkeit dieser Tugend erschöpft. 

Soll man sie darum etwa überhaupt nicht zur Tugend 
des Individuums rechnen? — Wir schieden individuale und 
soziale Tugend nach dem Subjekt, von dem sie ausgesagt 
wird, und nach dem Hele, worauf sie sich richtet. Individual 
also ist sie, wenn sie das Individuum, sozial, wenn sie die Ge- 
meinschaft zum Subjekt hat; und die sittliche Ordnung des 
Individuallebens ist im ersteren Fall, die des sozialen Lebens im 
letzteren ihr Ziel, Beides ist nun zwar untrennbar; aber die 



137 


Beziehung ist darum doch eine zweifache. Zur sittlichen Ord- 
nung des Individuallebens gehört aber auch die Ordnung der 
Beziehungen des Individuums zur Gemeinschaft, soweit sie 
von den Eigenschaften und Willenshandlungen des Indi- 
viduums abhängt. Daß das einen Unterschied macht, tritt 
darin klar zu Tage, daß ein gerechtes Verhalten vom Indivi- 
duum auch dann gefordert wird, v^enn die Gemeinschaft, der 
es zugehört, einer gerechten Regelung entbehrt und vielleicht 
dem Einzelnen auch gar kein Mittel übrig gelassen ist, auf eine 
gerechtere Gemeinschaftsordnung direkt hinzuwirken. 

Auch läßt sich nicht behaupten, daß die Tug3nd der 
Gerechtigkeit ihr Ziel schlechthin nur im Gemeinschaftsleben 
hätte, daß man gerecht sein sollte bloß um der Gemeinschaft, 
nicht auch um seiner selbst willen. Zwar für den, der durch 
irgend ein Verhängnis von aller menschlichen Gemeinschaft 
für immer abgeschnitten wäre, würde diese Tugend ihre un- 
mittelbare Anwendbarkeit verlieren. Allein schon in jedem 
Gedanken an die übrige Menschheit würde sie ihre Bedeutung 
auch für ihn behalten ; es wäre für ihn selbst nicht gleichgültig, 
ob er sie auch da wegwürfe oder nicht. Aber auch wer in 
menschlicher Gesellschaft lebt, muß Gerechtigkeit üben nicht 
nur im sittlichen Interesse der Gesamtheit, sondern ebenso sehr 
im höchsten eigenen sittlichen Interesse. Es hat also guten 
Grund, wenn Plato die Gerechtigkeit als ebensowohl indivi- 
duale wie soziale Tugend behandelt; nur tritt in seiner Ab- 
leitung der Gerechtigkeit als individualer Tugend die unerläß- 
liche Beziehung auf die Gemeinschaft allzu sehr zurück. Die 
Gerechtigkeit als individuelle Tugend wird ihm, wenigstens 
im „Staat“, zum bloßen Ausdruck des normalen Verhältnisses 
der seelischen Grxmdkräfte, also nur zu einem andern Namen 
für die” Tugend überhaupt und als Ganzes, die ja eben in 
diesem normalen Verhältnis besteht. Er kommt dadurch noch 
in die weitere Verlegenheit, daß er sie von der Sophrosyne, 
die auch die innere Harmonie der Gemütskräfte bedeuten 
soll, nicht überzeugend zu scheiden vermag. Diesen Verwick- 
lungen entgeht man, indem man sich besinnt, daß die Gemein- 
schaftsbeziehungen in den Individuen doch wurzeln, also auch 



138 


die Tugend der Gemeinschaft auf der individuellen Tugend 
und zwar auf einer bestimmten, eben der Gemeinschaft zu- 
gewandten Seite der individuellen Tugend beruhen muß. So 
hat man es eigentlich sonst immer aufgefaßt; auch Plato selbst 
an andern Stellen. 

Der G'rund dieser Tugend ist kein andrer, als der die 
Ailgeifieingültigkeit des Sittlichen überhaupt, d. h. seine Gül- 
tigkeit nicht bloß für alle Subjekte, sondern auch in Rücksicht 
aller, begründet. Es ist der Satz der reinen Ethik, den Kant 
so formuliert hat: daß in der Person eines jeden ,,die Mensch- 
heit“ d. i. die sittliche, die vernünftige Person, und diese 
unbedingt zu achten sei; denn es gebe nichts, das ohne Ein- 
schränkung gut genannt werden könne, als allein den guten 
Willen, folglich nichts, das würdig wäre, den letzten Zweck 
des Sittlichen auszumachen als die Erhaltung des sittlichen 
Willens in jedem, der dessen überhaupt fähig ist, d. h. in jedem 
sittlicher Vernunft fähigen Subjekt, jeder „Person“. 

Das Moment der Gleichheit, das im Begriffe der Ge- 
rechtigkeit unfraglich liegt, ist nur hieraus klar zu verstehen. 
Denn von Natur sind die Menschen nicht gleich und würden 
es nicht sein, auch wenn man sich die weitestgehenden Forde- 
rungen an Gleichheit der äußeren Lebensbedingungen und vor- 
züglich der äußeren Bedingungen geistiger Entwicklung erfüllt 
dächte. Der tatsächlichen Beschaffenheit der Menschen gegen- 
über ist Gleichheit eine Fiktion, kaum ein berechtigter Wunsch. 
Als sittliche Forderung aber hat sie den klaren Sinn: daß 
jeder, auch wer tatsächlich auf der niedrigsten Stufe der 
Menschheit steht, des Sittlichen doch fähig ist oder befähigt 
werden kann, mindestens hätte befähigt werden können. Auch 
noch dem unheilbar Schlechten gegenüber (wenn es einen 
solchen gibt) bedeutet die Gerechtigkeit, die wir ihm schulden: 
daß er für seine Schlechtigkeit nicht durchaus als Einzelner ver- 
antwortlich zu machen ist; daß auch jeder, der sich besser 
glaubt, sich seiner Mitschuld an aller in der Gemeinschaft, der 
er zugehört, vorhandenen Schlechtigkeit bewußt sein muß. Auch 
der entartete Mensch darf im Sinne sittlicher Gerechtigkeit 
nicht der Bestie gleich geachtet werden, auch der reinste sich 





139 


nicht vor sittlichem Schaden sicher wähnen. Insofern gilt die 
Forderung der Gleichheit in unnachgiebiger Strenge, In jedem 
ohne Unterschied ist sittlich lüchts zu achten als allein der 
sittliche Wille, dieser aber auch in seinem verborgensten Keim, 
auch eis bloße, durch H’ichtgebraiich vielleicht verkümmerte, 
aber an sich doch als vorhanden anzunehmende Anlage; und 
zwar unbedingt, ohne Vergleichung mit irgend einem bloß 
empirischen Wert. 

Das ist nun aber sehr gewöhnlich und begreiflich, daß 
die Beurteilung eben auf die Vergleichung empirischer Werte 
abirrt. Daraus entspringt dann ein ganz andrer, \(m Gleich- 
heit sich weit entfernender Sinn der Gerechtigkeit, nämlich 
daß jedem zuteil werden solle, was er wert ist, dem 
Besseren Besseres, dem Schlechteren Schlechteres; das Gute, 
nein der Gute müsse belohnt, der Schlechte bestraft werden. 
Das hält man vielleicht für die von Plato empfohlene „geo- 
metrische“ d. i. proportionale Gleichheit. Es gibt aber 
eine seltsame Proportion, wenn gut und schlecht dabei so ganz 
Verschiedenes bedeuten: das eine Mal das Maß des Gutseins, 
der persönlichen Tugend, das andere Mal das Maß des Guten, 
das man genießt, nämlich des Anteils an äußeren Gütern und 
Vorteilen, an Besitz, Macht, Ansehen, öffentlicher Auszeich- 
nung und allem, was von dieser Ordnung ist. Aber das hat 
wenigstens Plato nicht gememt, daß Tugend käuflich sein sollte 
um solche Münze, daß äußere Ehre und klingender Lohn für 
Tugend der Sinn der Gerechtigkeit sei; er hat das genaue 
Gegenteil davon mit schneidender Schärfe betont: daß das 
Gerechte gerecht ist auch verborgen vor Göttern und Menschen, 
und es bliebe, auch wenn man das Schlimmste darum leiden 
müßte. Sein Satz von der proportionalen Gleichheit meinte 
etwas ganz Anderes. Plato war allerdings der Ansicht, daß 
der Tüchtige befehlen, der Untüchtige gehorchen müsse; aber 
nicht, weil jener größere Ansprüche an „Gutes“ erheben dürfe, 
sondern aus dem ungefähr entgegengesetzten Grunde: weil 
größere Leistungen von ihm zu verlangen seien. Nicht als 
der persönlich Tüchtigere soll er größere persönliche Vorteile 
genießen; das würde in kurzem seine Tüchtigkeit zerstören; 



140 


sondern damit das Werk gedeihe, soll der Sachverständige 
befehlen. Der Vorteil, der dabei zu suchen, ist nicht seiner, 
sondern derer, denen er befiehlt. Er hat den Befehl, sofern 
er die Sache versteht; aber die Sache ist gemeinsam. Eine 
Sache, welche es auch sei, ausschließlich sein eigen nennen, 
ist ihm der Inbegriff des sozialen Unrechts, ein auf diesen 
Begriff des Eigentums gebauter Staat das Gegenteil des sittlich 
geforderten. Vielmehr sind beide, der Befehlende und der 
Gehorchende, Eigentum der Gemeinschaft, ihr Befehlen und ihr 
Gehorchen ist Dienst der Gemeinschaft. Das ist der Aristo- 
kratismus Platos, der am Ende auch Demokratismus heißen 
könnte, sofern darunter die Verneinung jedes Befehlsrechts 
einer Klasse als solcher und nicht lediglich des Tüchtigeren 
verstanden wird. Dieser Aristokratismus ist mit der sittlichen 
Gleichheit wohl im Einklang; denn diese besagt die für alle 
an sich gleiche Verpflichtung, die gegebenen Kräfte in den 
Dienst des Guten und, sofern das Gute Gemeinschaftssache 
ist, in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen; welche an sich 
gleiche Pflicht sich empirisch modifiziert nach dem Maße der 
Fähigkeit der Einzelnen. Da übrigens die menschlichen Fähig- 
keiten bildsam sind, so besteht auch wiederum die Verpflich- 
tung, allen an sich gleiche Möglichkeit zur Ausbildung ihrer 
Fähigkeiten zu schaffen. Dabei aber stellt sich nun, merk- 
würdig genug, eine Art umgekehrter Proportion heraus: wie der 
Kranke mehr leibliche Pflege für sich fordern darf als der 
Gesunde, so hat der weniger Begabte Anspruch auf desto 
größere Sorgfalt für seine Bildung. Die Formel, daß dem 
Bessern Besseres gebühre, dem Schlechtem Schlechteres, versagt 
hier völlig; diese Proportion wäre hier schreiendste Un- 
gerechtigkeit, sie würde sagen: Wer hat, dem wird gegeben, 
und wer nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat. 

So kann die Gleichheit, die der Begriff der Gerechtigkeit 
vorschreibt, sich empirisch äußerst verschieden ausnehmen; 
Beweis genug, daß dieser Begriff nicht aus der Erfahrung 
geschöpft ist. Wir folgern ihn ganz schlicht aus dem Gemein- 
schaftscharakter des Sittlichen. Die Idee der sittlichen Gleich- 
heit ist mit dem entschiedenen Willen sittlicher Gemeinschaft 



141 


uMertrennlich verbunden. Sie kann nicht auftauchen, wo nicht 
eine gewisse Gemeinschaft schon besteht, Idit deren bloßem 
Bestände ist aber auch ihre sittliche Gestaltung gefordert; imd 
-das schließt in sich, die sittliche Gleichheit, die zuerst nur in 
der Idee existierte, so viel als möglich zur Tat und Wahrheit 
zu machen; denn die höchste, d. h. eben die sittliche Gemein- 
schaft kann nur auf dem Grunde der Gleichheit bestehen. 
Das Individuum wird dabei aber nicht geopfert. Mit der 
höchsten Tugend des Individuums, die eins ist mit der Ent- 
faltung seiner höchsten Kraft und Tüchtigkeit, folglich (auch 
nach Plato) mit seiner wahren Glückseligkeit, ist in der Tat 
nur diese Haltung gegen die Gemeinschaft, welche Gerechtig- 
keit heißt, vereinbar. Nur die Schlechtigkeit des Individuums 
wird geopfert, alles Gute an ihr kommt bei dem (im ange- 
gebenen Sinn) gerechten Verhältnis des Einzelnen zur Gemein- 
schaft vielmehr erst zur freien Entfaltung. Auch bedarf es, 
um das festhalten zu dürfen, nicht der gewagten Annahme 
einer prästabilierten Harmonie zwischen Individual- und Ge- 
meinschaftsleben, sondern es ergibt sich mit Notwendigkeit 
so aus der Einsicht, die wir vornehmlich Plato verdanken: 
daß die Gestaltung des Individuallebens, gerade in sittlicher 
Hinsicht, von der des Gemeinschaftslebens ganz so streng ab- 
hängt wie umgekehrt* daß nur das eine mit dem andern, 
keines für sich allein einer rein sittlichen Gestaltung 
fähig ist. 

Gerechtigkeit wird daher vom Einzelnen gefordert 
schon im Interesse der sittlichen Gestaltung seines indivi- 
duellen Lebens, nämlich hinsichtlich seiner (tatsächlich 
von ihm unabtrennbaren) Beziehung zur Gemein- 
schaft. Der Einzelne erreicht die Höhe seiner menschlich- 
sittlichen Bestimmung nicht ohne die menschlich -sittliche 
Gestaltung seiner Beziehungen zur Gemeinschaft. 

Es folgt ebenfalls aus unserer Ableitung, daß diese Be- 
ziehungen alle Seiten der menschlichen Aktivität: Trieb, Wille 
und Vernunft, zugleich umspannen müssen. Dadurch bestimmt 
sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu den drei ersten Grund- 
tugenden. 



Aus der praktischen Vernunft, die die unbedingte All- 
gemeinverbindlichkeit des sittlichen Gesetzes besagt, ist unsere 
Tugend direkt abgeleitet, der Vernunftwille regiert also auch 
sie. Insofern rückt sie der Tugend der „Wahrheit“ sehr 
nahe; sie ist die Wahrheit des Gemeinschaftslebens. In Aus- 
drücken wie Ehrlichkeit, Redlichkeit, Treue (gegen den An- 
dern) kommt dies Moment deutlich zur Geltung. Ungerechtig- 
keit ist immer etwas wie Lüge, Untreue, Verrat; umgekehrt, 
Lüge hebt die sittliche Gleichheit und folglich die Gemeinschaft 
auf; der gleiche Boden, auf dem man sich gegenüberstehen 
soll, kann nur der der Wahrheit sein. 

Deshalb ist die erste Lebensbedingung der Gerechtigkeit 
die sittliche Einsicht. Neigung zu Gewalttat oder Über- 
listung, zum Vordrängen blinder selbstischer Interessen auch 
in jeder verfeinerten Gestalt ist immer ein Zeichen sittlicher 
Verworrenheit. Wo irgend ein blinder Instinkt die klaren 
Forderungen der Gerechtigkeit vergewaltigen oder in Ver- 
gessenheit bringen kann, geschieht jeder Ungerechtigkeit 
und damit der Zerstörung der Gemeinschaft Vorschub, auch 
in Dingen, die mit diesem besonderen Instinkt nicht Zusammen- 
hängen; denn jeder beliebige andere (persönliche oder Klassen-) 
Instinkt fordert dann mit gleichem „Recht“ — mit dem 
Rechte seiner Macht — in dem Grade als er (im Einzelnen 
oder einer Klasse) stark ist, sich durchzusetzen. Gerechtig- 
keit, Gleichheit werden zu leeren Namen, wo nicht mehr An- 
erkennung findet, daß in keinem Falle blinde Syrnpatiiieen 
und Antipathieen, oder allgemein die Stärke nun einmal vor- 
handener Strebungen und Gegenstrebungen, das gegenseitige 
Verhalten außerhalb sittlicher Rücksicht bestimmen dürfen. 
In der Leidenschaft des Rassen- und Nationalhasses, nicht 
minder des Klassenhasses ist gerade dies das Gefährliche, 
die wie systematische Untergrabung jedes Gerechtigkeits- 
sinnes und damit jeder Möglichkeit sittlicher Gemeinschaft. 

So genau hängt die Tugend der Gerechtigkeit mit der 
Klarheit der sittlichen Einsicht, also mit der Tugend der 
Wahrheit zusammen. Daß sie nicht minder die Energie des 
sittlichen Willens d. i. Tapferkeit fordert, folgt schon aus dem 



143 


eben Gesagten, nämlich daß sich die Idee des sittlich Rechten 
nur in fortwährendem Kampf mi" der Gewalt natürlicher 
Strebungen und Gegenstrebungen, Sympathieen und Anti- 
pathieen zu behaupten vermag. Sympathie und Antipathie ist 
nicht Sache des Willens; ich fühle sie oder fühle sie nicht, 
ich kann nichts dafür oder dawider. Aber Gerechtigkeit un- 
verletzt zu behaupten auch geger die unwillkürlichen Sym 
pathieen und Antipathieen ist in den Willen des Menschen ge- 
stellt. Aus der Un Willkür lichkeit und angeblichen Unwider- 
stehlichkeit triebartiger Strebungen und Gegenstrebungen 
einen Rechtsgrund und gar einen sittlichen Grund des Ver- 
haltens gf'gen den Andern machen zu wollen, bedeutet nicht 
bloß die Preisgebung der ersten Grundlage des sittlichen Ur- 
teilens, es bedeutet nicht minder die Gefangengebung des 
Willens an die Obmacht des blinden Triebs, den Verlust der 
i sittlichen Freiheit, des hohen Vorrechtes, sich selber Gesetz 
! sein zu dürfen. Das gilt in Bezug auf den Einzelnen, es gilt 
‘ in verstärktem Maße gegenüber gesellschaftlich mächtigen 
Sympathieen und Antipathieen, gegen die die Sache der Ge- 
rechtigkeit zu behaupten eine um so gestähltere Energie des 
sittlichen Wollens erfordert, je mehr das gesellschaftlich Mäch- 
tige die Tendenz hat, sich geradezu an die Stelle des Sittlichen 
zu setzen und für die wahre, konkrete Sittlichkeit auszugeben. 

Und wieder aus dem gleichen Zusammenhang der Begriffe 
versteht sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu unserer 
dritten Tugend. Sympathie und Antipathie gehört unverkenn- 
bar zum Gebiet des Trieblebens; also, nach den Anschauungen 
aller bis zur Höhe sittlicher Reflexion entwickelten Völker, 
zum Gebiete dessen, was der Herrschaft sittlicher Vernunft 
und sittlichen Willens unterworfen werden muß, nicht sie be- 
stimmen darf. Sympathie und Antipathie ist, so unüberwind- 
lich vielleicht im Moment, doch an sich wandelbar, also lenk- 
bar. Man kann vielleicht nicht umhin, sie augenblicklich zu 
^haben oder nicht zu haben, aber wohl haben Einsicht und 
^ille Einfluß darauf, sie zu behalten oder davon frei zu werden, 
’P'^e zu stärken oder zu mäßigen, sie zum Guten zu lenken und 
^m|cht zum Bösen. Jeder Naturtrieb hat zuletzt irgend etwas 



144 


Gutes oder wenigstens Unschuldiges zum Ziel: ein guter Mensch 
in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl 
bewußt; allein so lange nur der dunkle Drang zu Worte 
kommt, kann man nicht wissen, ob er eines guten 31 enschen ist 
oder nicht, ob er also instinktiv auf den rechten Weg leiten 
wird oder auf den verkehrten. Er bedarf also jedenfalls der 
Regelung, der Ordnung, der Reinigung. Gerechtigkeit zielt 
auf Reinheit unseres Verhältnisses der Sympathie und Anti- 
pathie zum Andern. Leidenschaftlicher, überhaupt blinder 
Haß, nicht minder blinde Liebe verfällt unrettbar in Un- 
gerechtigkeit; und dasselbe gilt von jedem nicht oder verkehrt 
geregelten Zustand des Trieblebens. 

Hierher gehört auch die ethisch interessante Frage nach 
dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Liebe. Spricht 
man von blinder Liebe, so setzt man voraus, daß es auch eine 
sehende gibt; diese kann wohl nicht allzu weit abliegen von 
der Gerechtigkeit. So nennt Leibniz die Gerechtigkeit die 
Liebe des Weisen. Das kann sagen wollen, daß für den Weisen 
die Gerechtigkeit die Stelle der Liebe (die eigentlich unweise 
sei) vertreten müsse; aber es schließt doch wohl ein, daß Liebe 
und Gerechtigkeit an sich nicht mit einander streiten, daß die 
höchste Gerechtigkeit auch Liebe und die höchste Liebe Ge- 
rechtigkeit sei. Soll Liebe der höchste Ausdruck gegenseitiger 
Sittlichkeit sein, so muß sie offenbar besagen den unerschütter- 
lichen Willen zur Gemeinschaft. Dann ist die höchste 
Liebe die, welche die Gemeinschaft im höchsten, d. i. im sitt- 
lichen Sinne will; die sittliche Tugend der Gemeinschaft aber 
ist die Gerechtigkeit, 

Aber damit erhielten wir nur einen neuen Namen für 
dieselbe Sache. Das Wort Liebe aber schließt noch etwas 


Eigentümliches ein, nämlich einen starken Beisatz von Gefühl^^: 
der der Gerechtigkeit an sich fremd ist. Die Gerechtigkeit^ 
wird auch blind vorgestellt, aber in gan2f anderm Sinne als 


die Liebe; die Blindheit besagt hier die strenge Unparteilich-i 
keit, die persönliche Unbeteiligtheit des Urteilenden bei dem^ 
Streite der Parteien, den es zu schlichten gilt. Allein muß'' 


man denn fühllos sein, um nicht parteiisch zu werden, par-J 



145 


teiisch, um sich die Wärme des Gefühls für den Andern zu 
bewahren ? Sollte nicht Liebe, eben dadurch, daß sie sich 
auf das Höchste im Menschen, auf die sittliche Person richtet, 
geläutert werden können, ohne an Kraft und Innigkeit des 
Gefühls dadurch zu verlieren? Und wurde sie eben dann 
nicht aufhören, mit der Gerechtigkeit zu streiten, während sie 
zugleich ein neues, dieser an sich fremdes, doch unverwerf- 
liches Moment hinzutut? 

Es ist besonders die christliche Ethik, die den Begriff der 
Liebe an die Spitze gestellt hat. Und vielleicht ist es nur 
scheinbar so, daß sie dadurch mit der Gerechtigkeit n Streit 
geriete. Die Forderung z. B., nicht bloß den Feind, sondern 
den Sünder zu lieben, kann selbstverständlich nur besagen, daß 
man auch in ihm die sittliche Person anerkennen, daß man um 
des noch so verkümmerten Keimes des Guten willen, der in ihm 
schlummert, ihn nie ganz verloren geben, ja selbst wenn er 
verloren wäre, doch bedenken soll, daß es ein Mensch ist, der 
verloren ist, d. h. ein Wesen, das an sich des Guten fähig 
war und unter andern Bedingungen hätte gerettet werden 
können, also auch sollen. Das ist aber ebensowohl Forderung 
der Gerechtigkeit Desgleichen kann die vergebende Liebe 
nicht besagen, daß man auf hören sollte, das Schlechte zu ver- 
werfen (dann wäre nichts zu vergeben), sondern nur den 
Schlechten; nämlich nicht, sofern er schlecht, sondern sofern 
er an sich des Guten fähig ist. In solchem Sinne ist aber die 
Vergebung ebenso sehr eine Forderung der Gerechtigkeit wie 
der Liebe. 

Allerdings kann nun die erbarmende, die vergebende 
Liebe sehr leicht einen Beischmack entweder von sittlicher 
Schwäche oder von selbstgerechter Herablassung annehmen. 
Der Begriff „Liebe** bedarf also erst sehr der Klärung, ehe 
er verwendet werden kann, das rein sittliche Verhalten zum 
Andern unmißverständlich zu bezeichnen; während der Name 
„Gerechtigkeit** nicht in gleichem Maße dem Mißverstand aus- 
gesetzt ist. Sonst aber behält das Wort „Liebe“ den Wert, 
in Erinnerung zu halten, daß Menschlichkeit gegen jeder- 
mann, um denn der Gerechtigkeit diesen freundlicheren Namen 

^atorp, Sozialpädagogik. 4. Aufl. XQ 



146 


zu geben, nicht bloß Sache kühler Besinnung und eines un- 
beugsamen Willensentschlusses, sondern auch eines lebens- 
warmen, persönlichen Gefühls sein kann und sittlicher weise 
sein darf. Nur läßt sich diese Gefühlswärme nicht positiv 
anbefehlen. Es hat etwas Widersprechendes, ja zur Lüge 
und Heuchelei Verleitendes, persönliche Wärme zum Gegen- 
stand einer Vorschrift zu machen; sondern nur die natürlich 
vorhandene, aus der Gemeinschaft von selbst fließende Wärme 
und Innigkeit des Gefühls soll zu dieser sittlichen Gestalt ge- 
reinigt werden. In wem sie dagegen unglücklicherweise nicht 
natürlich erwachsen, oder vollends ohne eigene Schuld durch 
Mangel an wahrer Gemeinschaft gewaltsam ertötet wäre, von 
dem kann sie offenbar nicht sittlich gefordert sein; während 
ein menschliches Verhalten, gegründet auf reine Achtung der 
sittlichen Natur im Menschen (und zwar in jedem Menschen) 
immer gefordert bleibt. Insofern wäre es gewiß unzulässig, 
die Liebe etwa ganz die Stelle der Gerechtigkeit einnehmen 
zu lassen. Wollte die heute nicht seltene Abneigung gegen 
die Forderung „allgemeiner Menschenliebe“ nur das besagen, 
daß Liebe nicht anbefohlen werden dürfe, weil sie ein Moment 
von Gefühlswärme gegen den Andern einschließt, das man sich 
nicht willkürlich geben kann, so würde die Abneigung be- 
rechtigt sein. Sonst freilich ist es sehr verkehrt, die im sitt- 
lichen Sinne geforderte allgemeine Menschenliebe nach Art der 
gemeinen ,, Sympathie“ zu verstehen, von der man nicht erst 
aus Hume zu lernen braucht, daß sie wie die physikalische 
Anziehung mit der Entfernung abnimmt, oder wie ein chemi- 
scher Stoff sich mit der Ausbreitung verdünnt. Das rührt 
nicht von weitem an den Sinn, in dem allgemeine Menschen- 
liebe verständlicherweise gefordert werden kann und von Ver- 
ständigen je gefordert worden ist; auch wird von der Forderung 
der Menschlichkeit gegen jedermann nicht das Geringste ab- 
gelassen, w’enn man vorzieht, sie im Namen der Gerechtigkeit, 
statt in dem der Liebe, zu stellen. 

In wesentlich anderem Sinne läßt Plato in einer seiner 
tiefsten Betrachtungen das rein Sittliche sich zur Liebe steigern. 
Das ist nicht die christliche Agape, die — obgleich die 



147 


besten Christen diesen Schein nicht anerkennen wollen — den* ' 
noch leicht allzu passiv, bloß duldend und aufopfernd, ja 
asketisch erscheint; sondern es ist der altgriechische, schöpfe- 
rische Eros, der vielmehi ganz und gar aktiv, lebensvoll und 
mit Notwendigkeit Lehen zeugenü gedacht ist. In jener 
schon einmal zitierten großartigen Vergleichung mit dem Fort- 
pflanzungstrieb, der das leibliche Leben nicht für sich behalten 
mag, sondern weitergeben muß, um das eigfine Leben zum 
Leben der Menschheit zu erweitern und so zu verewigen, 
wird der geistige Eros dargestellt als nur mächtigerer und 
edlerer Trieb, das geistige Leben weiterzugeben, es von bloß 
individualer zu gemeinschaftlicher, zuletzt menschheitlicher 
Bedeutung zu erhöhen und so fortpflanzend zu verewigen. 
Dieser Trieb erstreckt sich nach Platos Darstellung zwar 
keineswegs unterschiedslos auf alle, er sucht im Gegenteil die 
edelsten Naturen auf; aber er kann, in seiner höchsten Energie 
gedacht, nicht nur nicht auf den Einzelnen, sondern auch 
nicht auf wenige beschränkt bleiben, da er doch zur Höhe 
der Menschheit hinanstrebt. Sein Ziel ist eben „das“ Gute 
selbst und an sich, nicht die einzelne, noch so edle Person; die 
bloß persönliche Liebe soll zuletzt ganz aufgehen in die stärkste, 
ewigste Li( be, die nur das an sich Schöne, das Schöne der 
sittlichen Idee in uns zu entzünden fähig und würdig ist. 
Dieser Platonische Eros ist eigentlich nichts andres als der 
Trieb der Gemeinschaft, in allen Gestalten, bis zur höch- 
sten, der rein sittlichen Gemeinschaft. Er bedeutet Streben des 
Einswerdens mit dem Andern, zuletzt auf dem Grunde des 
Guten, das in der Tat den stärksten, den allein unerschütterlichen 
Grund der inneren Einigkeit gibt. Genau dies fanden wir als den 
höchsten Begriff der Gerechtigkeit; aber in unnachahmlicher 
Weise drückt der Platonische Eros das aus, was hier besonders 
zu zeigen war: daß das Sittliche, als Quell der Gemeinschaft, 
das ganze menschliche Leben bis zu seiner sinnlichsten Wurzel 
herab durchdringen, daß es sich bis auf das Triebleben und 
nicht auf Willen und Vernunft allein erstrecken kann und soll. 

Und so werden wir zusammenfassend sagen: daß diese 
vierte Tugend die drei andern in sich begreift, nur ihnen die 

10 * 



148 


neue Beziehung auf die Gemeinschaft gibt. Sie bedeutet zu- 
gleich Wahrheit, Kraft und Reinheit der Sittlichkeit 
im Verhalten zur Gemeinschaft. 

Zugleich ergibt sich, daß auch auf diese Tugend An- 
wendung findet, was von den drei andern in ihrem wechsel- 
seitigen Verhältnis gezeigt wurde: daß jede mit jeder andern 
nicht bloß harmoniert, sondern derart eins ist, daß keine sich 
ohne die anderen vollenden kann, während doch der begriffliche 
Unterschied fest bleibt. Das ist der Platonische Satz von der 
Einheit der Tugenden, der eben dies besagt, daß sie alle 
in der letzten Wurzel eins und derart unter einander verbunden 
sind, daß jede der andern hilft imd selber ohne sie nicht sein 
kann, doch aber jede von der andern dem Begriff nach ver- 
schieden bleibt. Aus dem Verhältnis der drei Stufen der 
Aktivität einerseits und dem unauflöslichen Zusammenhang 
von Individuum und Gemeinschaft andrerseits folgt dies Ver- 
hältnis der Tugenden mit zwingender Notwendigkeit; wie denn 
auch Plato wesentlich dies im Sinne zu haben scheint. 

In der Reihenfolge unsrer vier Tugenden aber ließ sich 
ein stetiger Fortgang von mehr abstrakten zu immer kon- 
kreteren Gestaltungen des Sittlichen beobachten. Es gilt nun 
den letzten Schritt in dieser Richtung zu tun, indem wir von 
der bloß individualen zur „Tugend“ oder sittlichen Ordnung 
des Soziallebens fortschreiten. 

§ 16 . 

Parallelismus der Funktionen des individualen und 
sozialen Lebens. 

Der Begriff der individuellen Tugend, wie er bis dahin 
entwickelt worden ist, erschöpft nicht den Gehalt der sitt- 
lichen Verfassung auch nur des Individuallebens. Er reicht 
nicht hin zur Bestimmung der konkreten sittlichen Aufgabe 
selbst des Einzelnen; sondern diese ergibt sich vollständig erst 
unter Mitberücksichtigung des Verhältnisses der Individuen in 
der Gemeinschaft. Auch die individuelle Tugend entfaltet sich 
erst recht in der Arbeit an den sittlichen Aufgaben, die der 



149 


Gemeinschaft zuerst, und nur durch sie den Einzelnen ge- 
stellt sind. 

Aber die sittliche Verfassung des Gemeinschaftslebens 
selbst muß der des Individuallebens genau entsprechen. Hat 
doch die Gemeinschaft Lein Leben anders als im Leben der 
Einzelnen, so wie es umgekehrt ein menschliches Leben des 
Einzelnen nicht anders gibt als in menschlicher Gemeinschaft 
und durch Teilnahme an ihr. Weder die Grundformen der 
Aktivität noch deren Tugenden können daher andre sein für 
die Gemeinschaft als für den Einzelnen. Nur, während bisher 
der Einzelne für sich und im Verhältnis zum andern ebenso 
isoliert gedachten Einzelnen, wdewohl immer unter stillschwei- 
gender Voraussetzung der Teilnahme an der Gemeinschaft er- 
wogen wurde, ist jetzt das menschliche Leben, Jas zwar immer 
Leben der Einzelnen bleibt, ins Auge zu fassen als Leben der 
Gemeinschaft, nicht isolierter Einzelner. Und da es auf die 
Gemeinschaft jetzt gerade ankommt, so darf die Erwägung 
auch bei irgend welchen zufälligen und begrenzten Beziehungen 
unter Einzelnen nicht stehen bleiben, sondern muß ihren 
Horizont erweitern durch Beachtung der im Grundgesetz des 
Bewußtseinslebens eingeschlossenen Tendenz zur Gemeinschaft 
überhaupt, die keine andre Grenze ihrer Erweiterung anerkennt 
als das Ganze der Menschheit. 

Die Gemeinschaftsbeziehung muß sich nun gleichmäßig 
auf alle drei Grund faktoren der menschlichen Aktivität er- 
strecken. Das folgt schon aus dem Verhältnis, das unter 
diesen überhaupt obwaltet. Die Gemeinschaft würde sich auf 
die Tätigkeit der Vernunft nicht beziehen können, wenn sie sich 
nicht zuvor auf den Willen erstreckte, und nicht auf diesen, 
wenn sie nicht bis zum Triebleben herabreichte. Denn die 
praktische Vernunft ist nur die allgemeine Gesetzgebung des 
Willens, und dieser nur die bewußte Regelung der Arbeits- 
triebe in ihrer Betätigung. So aber gibt es notwendig ein 
Triebleben der Gemeinschaft, einen Willen der Gemeinschaft^ 
und eine Vernunft der Gemeinschaft; nicht als ob die Gemein- 
schaft ein selbständiges Wesen wäre, was keinen klar aus- 
denkbaren Sinn hat, sondern indem nian erwägt, welche 



-- 15U 


Gestalt das Triebleben der Einzelnen in der Gemeinschaft, unter 
der Bedingung des Lebens in ihr, gesetzmäßigerweise an- 
nehmen, und wie der Wille, wie die Vernunft unter der gleichen 
Bedingung sich gestalten muß. Daraus müssen die wesent- 
lichen Elemente sich ergeben, aus denen ein soziales Leben 
sich zusani mensetzt, ebenso wie aus Trieb, Willen und Ver- 
nunft das Leben des Individuums in praktischer Hinsicht über- 
haupt besteht und durch das gesetzliche Verhältnis dieser drei 
Faktoren seinem Begriff nach bestimmt ist. 

Als Trieb nun bezeichneten wir die sinnliche Urform des 
Strebens. In dieser liegt aber schon dem Keim nach die 
Richtung auf Gestaltung eines Werks, welche in den 
höheren Entwicklungen des Strebens beherrschend vorantritt. 
Daher erweist sich überall als das Vorherrschende in der 
menschlichen Aktivität die Richtung auf Arbeit, nicht auf 
bloßen Genuß. Ein gewisses Maß von Befriedigung ist zwar 
zur Erhaltung der Energie der Arbeitstriebe selbst unerläßlich, 
wie es denn mit deren gesunder Betätigung sich überhaupt 
von selbst einstellt. An sich aber hat das Streben im Genuß 
nicht sein Leben, es erstirbt vielmehr in ihm. Leben heißt 
tätig sein, und Tätigkeit verlangt, ihrer eigenen Gesundheit 
wegen, ein Werk, an dem sie sich darstellt; das gibt ihr die 
Einheit der Richtung, deren sie zu ihrer Gesundheit auch 
dann bedarf, wenn sie nicht als bewußt gewollter Zweck vor 
Augen steht, sondern nur an sich ihr immanent ist. Das Be- 
wußtsein der Einheit des Zwecks, mit der Folge der ebenso 
bewußten Unterordnung der Mittel unter den Zweck, ist es 
dagegen, was den eigentlichen Willen ausmacht; also die 
Regelung der Arbeit; eine Tätigkeit, die sich unmittelbar 
nicht auf das Werk und dessen Hervorbringung, sondern auf 
die es hervorbringende Arbeit und die Triebkräfte dieser Arbeit 
richtet. Ebenso hat drittens die Vernunfttätigkeit zu ihrem 
unmittelbaren Objekt die Willensregelung als solche, der sie, 
als beständig begleitende Kritik, durchgängige Einheit zu 
geben bemüht ist, und bezieht sich erst mittelbar durch diese 
auf die am Werke selbst zu leistende Arbeit, und dadurch 
schließlich auf das Werk. 



151 


Ganz so muß es sich aber im sozialen Leben verhalten; 
es wird demnach zu reden sein von einem sozialen Triebleben, 
als gerichtet auf ein soziales Wer?:, eine soziale Arbeit ; zweitens 
von der sozialen Regelung dieses Trieblebens durch einen 
sozialen Willen; endlich >on einer auf diese Regelung sich be- 
ziehenden, für sie wegweisenden, ihre letzte, gesetzmäßige 
Einheit anstrebenden sozialen Tätigkeit der kritischen Ver- 
nunft. Aus diesen drei wesentlichen Stücken wird ein soziales 
Leben im voll entfalteten Sinne des Worts sich autbauen. Es 
ist, diesem Begriff zufolge: Arbeitsgemeinschaft, unter 
gemeinschaftlicher W i Ile nsregel u ng, Idasichtlich dieser 
unterstehend gemeinschaftlicher vernünftiger Kritik. 

Im sozialen wie individualen Leben hat nun der allemal 
höhere Faktor zum niederen das Verhältnis der Form zur 
Materie. Die Materie der Willensregelung also sind die 
Arbeitstriebe, der sozialen Regelung die sozialen Arbeitstriebe; 
Materie der vernünftigen Kritik die Willensregelungen der 
Arbeitstricbe, der sozialen Kritik die sozialen Willens- 
regelungen. 

Damit ist nun die Frage schon dem Prinzip nach beant- 
wortet, die durch Rudolf Stammlers Werk über Wirt- 
schaft und Recht*) zuerst in Präzision gestellt worden ist: 
die Frage nach der letzten Materie des sozialen Lebens. 
Es ist kein ernster Streitpunkt zwischen uns, ob man den 
Terminus „Wirtschaft“, der nun einmal seine feste Ver- 
wendung seit lange besitzt, nicht dieser seiner bisherigen Ver- 
wendung gemäß in einer weniger weiten Bedeutung, als der der 
Materie des sozialen Lebens überhaupt, gebrauchen sollte 
(s. § 17). Mit größtem Rechte jedenfalls fordert Stammler 
zur sozialen Regelung als einheitlicher Form des sozialen 
Lebens eine in gleicher Einheitlichkeit zu definierende Materie ; 
gegen welche unabweisiiehe logische Rücksicht die der Eignung 
des gewählten Terminus allenfalls zurückstehen durfte. Seiner 

*) R. Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Ge- 
schichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung. Leipzig 
(3. Aufl.) 1914. — Die im Text folgende Kritik findet man etwas mehr im 
einzelnen ausgeführt im Archiv für systematische Philosophie II, S. 318. ff. 



152 


Definition nach aber soll unter Wirtschaft verstanden werden: 
menschliches Zusammenwirken zur Befriedigung menschlicher 
Bedürfnisse. Das berührt sich nahe mit dem oben auf gestellten 
Begriff der Triebform des sozialen Lebens; immerhin bleiben 
Unterschiede, die eine Rechtfertigung der Abweichung not- 
wendig machen. Unsere Erklärung betont erstens, statt der 
Bedürfnisbefriedigung, die Gestaltung eines Werks, als un- 
mittelbares Objekt wie des Triebes überhaupt, so auch des 
Triebes, sofern er sozialer Regelung untersteht. Gewiß ist jedes 
zu gestaltende Werk auch bestimmt, ein (wirkliches oder ver- 
meintes) Bedürfnis zu befriedigen. Aber weder könnten wir 
diese Befriedigung als den wesentlichen Zweck der Tätigkeit 
anerkennen, noch käme dieser subjektive Zweck in sozialer 
Hinsicht eigentlich in Frage, Dagegen gehört der Begriff der 
Arbeit, d. i. Betätigung in Richtung auf irgend eine Hervor- 
bringung, Verwirklichung einer Idee oder Gestaltung eines 
Stoffs nach einer solchen, hier wesentlich zur Sache. Man 
kann also den ganzen Zusatz „zur Befriedigung menschlicher 
Bedürfnisse“ aus der gegebenen Definition ohne Verlust — 
und wie ich glaube, mit wahrem Gewinn, weil dadurch eine 
vom Wege abführende Nebenvorstellung erweckt wird — weg- 
lassen; so bleibt das „Zusammenwirken“. Versteht man hier- 
bei das „Wirken“ prägnant, so kann das, was soeben betont 
wurde; die Beziehung der Tätigkeit auf ein zu vollbringendes 
Werk, d. i. der Begriff der Arbeit, darin ganz wohl gefunden 
werden. Das „Zusammen“ weist dann genügend auf die 
Gemeinschaftlichkeit der zu vollbringenden Arbeit, welche die 
Materie des menschlichen Tuns überhaupt erst zur Materie 
sozialen Tuns, und damit des sozialen Lebens macht. 

Was nun zweitens dies betrifft, so möchte ich nur ver- 
schärfend oder ausdrücklicher hervorhebend hinzusetzen, daß 
nicht die (etwa auch ohnedies) zusammenwirkende, sondern 
die Zusammenwirken sollende Tätigkeit die reine Materie 
sei. Denn das tatsächliche Zusammenwirken würde eine ge- 
meinsam befolgte Regel, d. h. eben das, was die Form der 
sozialen Tätigkeit erst hinzubringen soll, schon in sich schließen. 
So richtig es aber auch ist, daß die Materie in concreto ohne 



153 


die Form nicht sein kann, so muß doch die Sonderung der 
Begriffe in abstracto in völliger Reinheit durchgeführt werden, 
widrigenfalls die ganze Unterscheidung bedeutungslos würde. 

Also Eignung zu gemeinschaftlicher Vollführung ist die 
materiale Bedingung des Sozialcharakters menschlicher Tätig- 
keit. Dies führt nun auf die weitere, in unserem gegen- 
wärtigen Zusammenhang unerläßliche, überhaupt aber in der 
Sozialphilosophie nicht zu umgehende Frage : von welchen Vor- 
aussetzungen es allgemein abhängfc, ob eine Arbeit gemeinschaft- 
lich zu vollbringen, mithin zu sozialer Regelung überhaupt 
tauglich ist oder nicht. 

Hier gehen wir nun von unserer fundamentalen Ansetzung 
(§ 6) aus: daß der Wille des Menschen überhaupt zur letzten 
Materie die Natur, das Objekt der Erfahrung hat. Dies 
notwendige Verhältnis der praktischen zur theoretischen Ver- 
nunft zu präzisem Ausdruck tu bringen, diente uns der Be- 
griff der Technik. Hat man nach einer technischen Be- 
gründung der sozialen Tätigkeit, ihrer Materie nach, immer 
gefragt und sie grundsätzli'^h vorausgesetzt, so war diese Vor- 
aussetzung so im allgemeinen keineswegs unrichtig, wenn auch 
die Art der Beziehung zwischen Natur und sozialem Leben nicht 
klar genug gedacht wurde. Am wenigsten könnte hier der Ein- 
wand*) entscheiden, daß die Gesetze der Technik unterschieds- 
los für individuale und soziale Tätigkeit bestimmend seien, 
während es auf das unterscheidende Merkmal der letzteren 
gerade ankomme. Vielmehr war eine wesentlich gleichartige 
Bedingtheit des sozialen und individualen Lebens in dieser 
wie jeder andern fundamentalen Hinsicht voraus zu erwarten. 
Sie zeigt sich in der Tat ebenso in Hinsicht der beiden andern 
Faktoren: auch der Begriff der Willensregelung gilt an sich 
unterschiedslos für individuale und soziale Tätigkeit ; und 
vollends ist ein und dasselbe Grundgesetz der Vernunft maß- 
gebend für diese wie für jene; das hindert aber nicht, eine 
soziale von einer individualen Form der Vernunft und des 
Willens, und so auch des Trieblebens, zu unterscheiden. Ist 


Stammlers; vgl. Arch. a. a. O. S 323. 



154 


aber menschliche Arbeit überhaupt, der Materie nach, technisch 
bedingt, so ist sie es sogar ganz besonders eben in Hinsicht 
ihres sozialen Charakters: menschliche Tätigkeit wird dann 
und nur dann soziale Gestalt annehmen, wenn sie, technisch 
erwogen, zu gemeinschaftlicher Gestaltung tauglich ist und zu 
ihr auffordert. Gemeinschaft der Arbeit besagt, technisch 
beurteilt, daß die Arbeitskräfte der Einzelnen sich in solcher 
Art am gemeinschaftlichen Werk verbinden, daß das Werk 
überhaupt vollbracht und besser vollbracht wird als ohne diese 
Verbindung; besser, d. h. mit technischem Vorteil. Dieser 
technische Vorteil ist also der entscheidende Grund der 
Vergemeinschaftung der Arbeit, in letzter materialer Hin- 
sicht; jeder fernere Grund, den man für sie geltend machen 
kann, ist nicht mehr rein material, wsondern berührt irgend- 
wie schon die Form der Tätigkeit, das Eigentümliche des 
VVollens, wo nicht gar der Vernunft. 

Aber die Technik, wird eingewandt, gehorcht allein den 
Gesetzen der Naturkausalität; es handelt sich aber um 
menschliche Tätigkeit, die, als solche von bloßem Naturwirken 
grundverschieden, ausschließlich der Gesetzlichkeit der Zwecke 
untersteht. 

Hierauf ist zu antworten: in materialer Hinsicht 
unterliegt allerdings das menschliche Arbeiten der Naturkausa- 
lität. In der Tat nicht anders als sich an einer Maschine eine 
Reihe einzelner Naturwirkungen zu einer beabsichtigten Ge- 
samtwirkung verbinden, treten die menschlichen Arbeitskräfte, 
selbst bis zu den höchsten hinauf, zu vereinter Wirkung zu- 
sammen: des technischen Vorteils halber. Dies betrifft gerade 
den Menschen, insofern er bestimmbar ist; bloß als 
solcher ist er Natur und nichts andres, d. h. untersteht er den 
Gesetzen der Kausalität und keinen andern. Dagegen, als sich 
zur Tätigkeit selber bestimmend, gehorcht er der eignen Ge- 
setzlichkeit der Zwecke; aber auch die Technik selbst zielt 
ja darauf, das in sich lediglich kausale Zusammenwirken toter 
Naturkräfte gleichwohl in den Dienst menschlicher Zwecke zu 
zwingen. Nun war jetzt die Frage nach der letzten mate- 
rialen Bedingtheit menschlicher Tätigkeit, sozialer oder indi- 



155 


vidualer; also ist bis zu diesem Punkte notwendig zurückzu« 
gehen; alles was darüber hinausführt, ist schon nicht mehr 
rein material. 

Jedoch ist unterhalb der im allgemeinsten Sinne techni- 
schen Bedingtheit der nienschlichen Tätigkeit eine wichtige 
Unterscheidung zu treffen. Soziale Technik, wie jede psycho- 
logische (s. § 6), faßt den Menschen allerdings nicht bloß 
als bestimmbar, sondern immerhin auch als sich selbst zur 
Tätigkeit bestimmend ins Auge; sie strebt ihren eignen Zweck 
auch durch menschliche Selbstbestimmung, auf diese rech- 
nend, zu erreichen. Das fällt immer noch unter den Begriff 
der Technik, denn auch dabei wird der Mensch, sogar seine 
Selbstbestimmung, lediglich als Mittel erwogen. Aber es 
grenzt sich innerhalb seines weiten Umfangs scharf ab gegen 
alle solche Technik, die ein eigenes Wollen nicht in Rechnung 
zu ziehen hat. 

Hiernach möchte die Frage nach der Materie des sozialen 
Lebens genauer so zu beantworten sein. Materiale Bedingung 
sozialer Tätigkeit überhaupt ist: die Möglichkeit, das Tun von 
Menschen, als bestimmbaren obgleich willensfähigen Wesen, 
auf Grund kausaler Erkenntnis zu beherrschen, und so, als 
Mittel zu voraus feststehendem, und zwar gemeinschaftlichem 
Zweck, mit technischem Vorteil zu vereinen. Überall und 
nur, wo diese Bedingung erfüllt ist, ist die Voraussetzung zu 
sozialer Regelung, also zu sozialem Leben (welches außer 
jenem materialen noch diesen formalen Faktor einschließt) ge- 
geben. Diese technische Bedingtheit sozialer Tätigkeit schließt 
aber zwei ungleichartige Bestandteile ein. Von diesen bezieht 
sich der eine ausschließlich auf das hervorzubringende Werk, 
der andre betrifft dagegen direkt die gemeinschaftliche und zwar 
zum Teil auch willentliche Richtung der menschlichen 
Arbeitstriebe auf dies Werk. In ersterer Hinsicht werden 
auch die menschlichen Arbeitskräfte bloß als physisch er- 
wogen; es fragt sich einfach, ob und welches bestimmte Zu- 
sammenwirken der als verfügbar vorausgesetzten Kräfte, unter 
denen auch menschliche Arbeitskräfte sind, zur fraglichen 
Arbeit erforderlich oder mit technischem Vorteil für sie in 



156 


Anspruch zu nehmen ist. Diese Erwägung ist rein natur- 
technisch und kann also aus sozialer Erwägung ausge- 
schlossen werden; obwohl es mindestens notwendig ist, auf sie 
als anderweitig gegebene und zu begründende Vor- 
aussetzung, auf der die Sozialwissenschaft in concreto zu 
fußen gar nicht umhin kann, hinzuweisen. Dagegen betrifft 
die andre, im weiteren Sinne auch technische Erwägung ganz 
unmittelbar die Zusammenbringung der menschlichen Arbeits- 
kräfte, und zwar als menschlicher, d. h. nicht bloß mecha- 
nisch, sondern auch mit Willen, und vielleicht nie ganz ohne 
Willen, in einheitlicher Richtung sich verbindender. Dieser 
Faktor geht daher die Sozialphilosophie ganz unmittelbar an,, 
während der erste gleichsam nur auf ihrer Grenze liegt. 

Es würde der sozialen Regelung gleichsam an jedem An- 
griffspunkt fehlen, wenn es nicht diese Grundlage zur sozialen 
Vereinigung der Arbeitskräfte gäbe. Es ist eine grundwesent- 
liche Bedingung sozialen Lebens überhaupt, daß vorhandene 
menschliche Arbeitstriebe eine, gleichviel ob als ursprünglich 
angenommene oder erst erworbene Richtung auf gemeinschaft- 
liche Tätigkeit schon an sich haben. Durch sie findet die 
bewußte Regelung immer schon den Boden zubereitet, so daß 
sie die Gemeinschaft der Arbeit nicht erst ursprünglich hervor- 
zubringen, sondern bloß in festere Bahnen zu leiten und gegen 
Störungen zu sichern hat. Es wäre schlimm bestellt um die 
menschliche Gemeinschaft, wenn Gesetze und Zwangsmittel, 
oder aber bloße Vernunft, das, was ihr positives Ziel ist, eben 
die Gemeinschaft der Ai’beit, überhaupt erst schaffen müßten. 
Sie setzen vielmehr eigentlich immer voraus, sie sei schon da 
und bedürfe nur der planmäßigeren Gestaltung und des 
Schutzes. Aber nicht diese empirische Erwägung, die immerhin 
auf den zugrunde liegenden Verhalt hinlenken kann, ist für 
unsere Ansetzung entscheidend; sondern die andre, daß die 
soziale Regelung selbst alle Wirkung, die sie auf die Arbeits- 
gemeinschaft übt, nur kraft des besagten materialen Faktors 
zu üben vermag. Sie selbst faßt das Tun der Einzelnen und 
die Vergemeinschaftung dieses Tuns als Mittel zum gemein- 
schaftlichen Zweck ins Auge, xmd das kann sie nur, indem 



157 


sie den Menschen als bestimmbar, und zwar in der Rieht img 
der Vergemeinschaftung bestimmbar, ansieht, unbeschadet 
seiner Selbstbestimmung; denn er kann auch sogar bestimmt 
werden sich selber zu bestimmen. 

Deswegen war diese Bestimmbarkeit als gruudwesent- 
iieher materialer Faktor des sozialen Lebens allerdings zu be- 
tonen.*) Der Einfluß der Gemeinschaft auf den Einzelnen, ge- 
rade durch das Mittel der sozialen Regelung, ist heieronom. 
Der Begriff der sozialen Regelung als äußerer Regelung, 
wie Stammler ihn in dankenswerter Schärfe bestimmt hat, 
selzt diese Heteronomie, also die kausale Bestimmbarkeit des 
Menschen, mithin den Menschen als Natur, voraus. Und 
wenn die kausale Beherrschung der toten Natur Technik ist, 
so ist die kausale Beherrschung der lebendigen Triebkräfte 
des Menschen, insofern sie eben diese als Natur voraussetzt, 
nicht minder Technik zu nennen. Und dieser Zusammenhang 
des menschlichen Lebens, auch und gerade des sozialen Lebens, 
mit der Natur ist von einer ganz prinzipiellen Bedeutung, 
Denn dem menschlichen Willen ist das Ziel gesteckt, Natur 
selbst, soweit möglich, in den Dienst der Idee zu zwingen. 
Aber nur durch Gehorchen wird man der Natur Herr, wie 
Bacon sagt; gerade um sie zu „besiegen“ und in den Gehorsam 
des Willens zu zwingen, hat der Mensch seine eigenen Kräfte als 
Naturkräfte und gemäß der erkannten Gesetzlichkeit der Natur 
ins Spiel zu setzen. Deshalb, und nicht bloß um der Strenge 
des logischen Aufbaus willen, die uns allerdings auch ein wesent- 
liches Anliegen ist, schien es nötig, zu betonen und so eingehend 
zu begründen, daß die materiale Bedingtheit des sozialen Lebens 
mit unentrinnbarem Zwange auf Naturgesetzlichkeit zurück- 
führt; woraus wichtige Folgen in Betreff der Gesetzmäßigkeit 
der sozialen Entwicklung abzuleiten sein werden (§ 18 ). 

Ganz unmittelbar ergibt sich die Entsprechung zwischen 

*) Stammlers Antwort s. R. u. W. 3. Aufl. S. 644, Anm. 91. Ich 
möchte dagegen besonders zu erwägen geben, daß überhaupt in jeder klaren 
Scheidung von „Materie“ und „Form“ die erstere nur im Hinblick auf die 
letztere, also, da die „Form“ stets eine Art oder Richtung der Bestimmung 
(bez. Bestimmtheit) besagt, als Bestimmbarkeit zu definieren ist. 



158 


individualer und sozialer Tätigkeit hinsichtlich ihres zweiten 
Faktors, der Willensform. Als gemeinsamer Begriff ist 
bereits der der Regelung bezeichnet worden, welche offen- 
bar eins ist mit der praktischen Objektsetzung, der 
bewußten Stellung einer praktischen Aufgabe. Das letzt- 
bestimmende Merkmal ist das der Einheit, und zwar be- 
wußten Einheit der Tätigkeitsrichtung, durch Fest- 
setzung des Zwecks, dem alles, was zur fraglichen Tätigkeit 
gehört und nicht der Zweck selbst ist, sich als Mittel unter- 
ordnen muß. Wie nun eine menschliche Handlung überhaupt, 
ihrem formalen Charakter nach, durch Regelung erst kon- 
stituiert wird, so eine soziale Handlung, also soziales Leben 
als ein System sozialer Handlungen, durch soziale Regelung. 

Soziales Leben nämlich bedeutet — nach der entscheiden- 
den Feststellung Stammlers — ein menschliches Zusammen- 
leben, das heißt nicht bloß in Zeit und Raum zugleich vor- 
handenes Dasein von Menschen, sondern geregeltes Zusammen- 
wirken. Und zwar durch „äußere“ Regelung wird soziales 
Leben gegründet, d. i. durch solche Regel, die außerhalb des 
ihr Unterstellten steht und ihm go^genüber selbständig ist; die 
absieht von der Triebfeder, sie zu befolgen, die dem Einzelnen 
für sich eigen sein mag.*) Dies besagt aber eben die prak- 
tische Objektsetzung: wie der Einzelne sich mit sich selber 
gleichsam verständigen und schlüssig werden muß, was er 
will, d. i. worauf seine Triebkräfte fortan in einheitlicher 
Weise sich wenden sollen; und wie er eben damit, daß er 
sich darüber schlüssig wird und darüber bei sich selbst gleich- 
sam eine Festsetzung trifft, ein Objekt seines Wollens erst- 
mals aufstellt, es fortan für ihn eine Sache gibt, der er sich 
widmet, die mit eigenem, unabhängigem Anspruch seinem 
bloßen, jeweiligen Belieben, den in sich regellosen oder doch 
der Regel unbewußten Trieben fortan gegenübersteht, ganz so 
besagt der „Wille“ der Gemeinschaft, daß sie sich ein einheit- 
liches Objekt und damit eine Regel setzt, die das, ohnedies 
in sozialer Hinsicht regellose oder doch keiner verbindlichen 

*) Stammlei® S. 75 ff. 81. 83. 85. Die letztzitierte Wendung (®98 f .) 
findet sich in der 3. Aufl. {96 f.) nicht. 



159 


Regel bewußte Tun der Einzelnen, und zwar aller, die als 
der Gemeinschaft zugehörig betrachtet werden, in eine be- 
stimmte, ausschließliche Richtung ^’^eist. Wie im Einzelleben 
der Wille im Unterschied vom Trieb eine neue „Einheit 
der Bestimmungsgrün besagt, und dadurch zuerst der 
Gegenstand einer neuen, nämlich der praktischen Erkennt- 
nis konstituiert wird (vgl. § 8), so begründet sich im sozialen 
Leben auf die erklärte Art „die Möglichkeit einer neuen Ein- 
heit unter den Bestimmungsgründen menschlichen V'erhaltens 
gegeneinander, und dadurch eines besonderen und eigenen 
Gegenstandes unserer Erkenntnis“*), nämlich des Gegenstands 
der sozialen Erkenntnis. Fortan bleibt es nicht „dem bloßen 
Augenblickstriebe überlassen“, wie man sich gegeneinander 
verhalte, sondern man will „über die nicht übei sehbaren Ein- 
fälle des natürlichen tierischen Trieblebens des Einzelnen hin- 
aus eine Garantie einsetzen und bestimmen, wie es von nun 
ab. . gehalten werden soll'*.**) Zwar ist ein bloß triebartiges 
Zusammenwirken (wie in den sogenannten Tierstaaten) auch 
denkbar, und nichts würde grundsätzlich verbieten, in solchem 
etwa die genetische Vorstufe menschlichen Soziallebens zu 
sehen. Aber ein menschliches Zusammenleben wird erst 
konstituiert durch einen erklärten Willen der Gemeinschaft im 
eben umschriebenen Sinn. 

Inwiefern ist inan denn berechtigt, von einem Willen der 
Gemeinschaft hier zu reden, da es doch der „Wille aller“ 
(einzeln genommen) kaum jemals ist, der darin zum Ausspruch 
kommt? Darauf ist zu antworten: es genügt, daß er für die 
Gemeinschaft, d. i. mit allgemeiner und gleicher Ver- 
bindlichkeit für jedes ihr angehörende Glied zu gelten be- 
ansprucht, oder vielmehr, seinem formulierten Inhalt nach, 
gilt. Zum Begriff eines Willens der Gemeinschaft ist aus- 
reichend, daß eine bestimmte Verhaltungsweise maßgeblich 
festgesetzt sei; erforderlich ist keineswegs, daß auf keiner Seite 
ein Widerspruch bloßer Triebrichtung oder auch vereinzelten 
Wollens dagegen obwalte. Der formale Charakter des Wollens 
liegt präzis nur darin, daß man weiß, was man will, d. h. 

*) Stammler^ S.lOO (®97 abweichend gefaßt). **) Stammlei’* S. 100. 



160 


daß, was zu tun oder zu lassen sei, in einziger Weise 
bestimmt sei. Die Festsetzung kann material sehr verfehlt 
sein lind auch von Einzelnen als verfehlt erkannt werden, so 
hat sie doch, lediglich vermöge dieses formalen Charakters, 
eine Verhaltungsweise mit Ausschluß jeder andern als maß- 
geblich aufzustellen, einen Vorzug, der ihr unter normalen 
Umständen auch die tatsächliche Geltung so lange sichert, bis 
sie durch eine bessere, nämlich zugleich material zulänglichere, 
aber von dem gleichen formalen Charakter, ersetzt ist. Stammler 
hat sich um die Klärung der Fundamentbegriffe des sozialen 
Lebens ein sehr wesentliches Verdienst erworben durch die 
zweifellose Festsetzung dieser Bedeutung der sozialen, ins- 
besondere rechtlichen Regelung. 

Aus dem allgemeinen Verhältnis des Willens zum Trieb 
scheint zwar zu folgen, daß, wenigstens auf die Dauer, auch 
die Triebrichtung der Einzelnen mit dem Gesetz muß über- 
einstimmen oder sich wenigstens nach und nach überwiegend 
mit ihm in Einklang setzen können, oder andernfalls die 
Festsetzung material wird geändert werden müssen. Aber 
dadurch wird das eben Gesagte keineswegs berührt; denn die 
Bedingung dieser Änderung bleibt eben immer, daß die neue 
Festsetzung den gleichen Formalcharakter wie die abgeschaffte 
trage. Nur dann nämlich wird sie maßgeblich, und somit 
Ausdruck eines Willens der Gemeinschaft sein. 

Da aber die soziale Regelung solchergestalt wandelbar 
ist, und auch das Triebleben ohne weiteres keine Richtschnur 
für ihre Wandlung hergibt, so bedarf sie des höheren Richt- 
maßes der praktischen Vernunft, und zwar als sozialer 
Vernunft. Der jeweilige soziale Wiliensbeschluß, ebenso wie 
der jeweilige Willensbeschluß des Individuums, ist empirisch 
bedingt und also verbesserlich. Er bleibt in Geltung, so lange 
er der formalen Bedingung, das Tun einheitlich, also mit ob- 
jektivem Charakter zu bestimmen, genügt. Allein, wenn es 
sich nun darum handelt, ob so oder anders zu beschließen 
sei, so fragt es sich nach dem Maßstabe, wonach die Richtig- 
keit des Beschlusses zu beurteilen ist. Dieser kann nur 
wiederum in einer neuen Einheit der Bestimmungsgründe ge- 



161 


funden werden, aber nicht in irgendwelcher bloß empirischen 
Einheit, die ja immer wieder demselben Zweifel hinsichtlich 
ihrer Richtigkeit unterläge, son<lern allein in derjenigen 
letzten, freilich erst recht bloß formalen Einheit, in die alles 
Wollen und dadurch auch die ganze zu regelnde Materie der 
menschlichen Triebe in strenger Gesetzlichkeit sich fügen soll. 
Die reine Form der Gesetzlichkeit also, als ausschließlicher, in 
letzter Instanz maßgebender Bestimmungsgrund, ist es, die 
das Gebot der praktischen Vernunft von der bloßen empirischen 
Regel einzelnen beschränkten Wollens unterscheidet. Ihr 
Gesetz gilt unterschiedslos für soziale wie individuale Willens- 
regelung. Denn es erstreckt sich, seinem Begriff zufolge, 
auf das menschliche Leben in seiner Totalität also muß es 
auch das Gemeinschaftsleben nach seinem ganzen Umfang 
umspannen. Zwar das sittliche Wollen selbst bleibt immer 
individual, weil autonom; es ruht in seiner verpflichtenden 
Kraft nicht, wie die äußere, heteronome Regel des Rechts, auf 
gegenseitiger Bindung, auf der Bedingung eines entsprechen- 
den Verhaltens des Andern*^); aber es erstreckt sich darum 
nicht minder, seinem Inhalt nach, auf das soziale Leben und 
stellt auch seine letztbeherrschende Gesetzgebung dar. 

Nun geht das Vernunftgesetz aber seinem Inhalt nach 
ganz über Erfahrung hinaus; inwiefern vermag es gleichwohl 
sich in gegebener Gemeinschaft tatsächlich Ausdruck zu ver- 
schaffen? Nur insofern im Leben der Gemeinschaft und infolge 
der Gemeinschaft sich eine Tendenz bildet und mit steigender 
Bewußtheit des sozialen Lebens steigert, das soziale Leben 
bewußt in der Richtung jener formalen Einheit Zu gestalten; 
das Vernünftigere, das in der Richtung des absolut Vernünf- 
tigen Liegende nach Möglichkeit auch zum positiven Gesetz 
zu erheben. Also, wie die sittliche Vernunft im Einzelnen 
lebendig ist als immer wachendes praktisches Selbst- 
bewußtsein, und zwar kritisches Selbstbewußtsein, als 
sittliches „Gewissen“, so hat die Vernunft im sozialen Leben 
den gleichen Sinn der selbstprüfenden, ja auf sittliche Ge- 
staltung eines sozialen Selbst bewußt gerichteten Kritik. 

*) Stammler 2 101, vgl, 397. 

Jfatorp, 6oilalj>ftdagoglk. 4. Aufi. 11 



162 


Man will, auf dem Standpunkt der Vernunft, gemeinschaftlich, 
nicht mehr bloß, daß das und das Werk gedeihe, oder auch, 
daß die Gemeinschaft überhaupt, nach ihrem formalen Cha- 
rakter, sich erhalte, sondern daß die Gremeinschaft und im 
besondern die Gesetzgebung des sozialen Willens sich so ge- 
stalte, wie sie nach dem Ausspruch des Vernunftsgebots sich 
gestalten muß. Grundbedingung dafür ist die Durchdringung 
des Gemeinschaftslebens, in Wirtschaft und Recht, vorzüglich 
aber in der sozialen Organisation der Erziehung, mit dem 
Geiste der Sittlichkeit, d. i. der reinen Gesetzlichkeit; eine so- 
wohl mögliche als unerläßlich notwendige Aufgabe eines Ge- 
meinschaftslebens, das den Namen eines menschlichen ganz 
und dauernd verdienen soll. 

Indem wir diesen Standpunkt der ,, sozialen Teleo- 
logie“ nachdrücklich einnehmen, glauben wir mit Stamm- 
lers „Wirtschaft und Recht“ (Buch IV und V, s. bes. § 99), 
aber auch mit dessen neuerem Werke „Die Lehre von dem 
richtigen Rechte“*) dem Prinzip nach einig zu sein. Denn 
wenngleich die Grundsätze des richtigen Rechts für die Ge- 
meinschaft und die der Sittlichkeit für das Individuum in ge- 
sondertem Verfahren abgeleitet werden, sollen (was etwa 
unsrer Unterscheidung des konkret Sittlichen in individualer 
und sozialer Gestalt entsprechen möchte), so gilt doch als ge- 
meinsames letztes Prinzip der Ableitung für beide das reine 
praktische Gesetz.**) Immerhin kann es bei Stammler so 
scheinen, als verwandle sich die nur als Abstraktion zulässige 
Sonderung in eine wirkliche Trennung; als sollte die Er- 
wägung der Richtigkeit des äußeren Verhaltens in der Gemein- 
schaft von der Frage nach der rechten Gesinnung, und diese 
von jener, überhaupt absehen dürfen, während doch kein andres 
äußeres Verhalten richtig sein kann, als ein solches, wie es 
aus richtiger Gesinnung fließen würde, und keine Gesinnung 
richtig, aus der nicht bei klarer Fragestellung das richtige 
äußere Verhalten zwingend folgt. Die sittliche Gesetzgebung 
kann keinesfalls darauf verzichten, das äußere Verhalten in 

♦) Berlin, Outtentag, 1902. 

•*) S. 57, 60, 71, 75, 85, 86, 196 ff. und durchweg. 



163 


der Gremeinschaft, folglich die Rechtsordnung selbst, vor ihr 
Forum zu ziehen. Sie hat darauf in der Tat nie verzichtet, 
auch nicht in der Bergpredigt. Denn diese wird von Stammler 
(S. 76 ff.) sciiwerlich richtig gedeutet, wenn der dort durch- 
gehends betonte Gegensatz verstanden wird als der von Richtig- 
keit des äußeren Verhaltens und Richtigkeit der Gesinnung, 
während, soviel ich erkennen kann, nur einander gegenüber- 
gehalten werden die Mindestforderungen positiver Satzungen 
und die weiter gehenden Forderungen, die aus reiner sittlicher 
Gesinnung auch für das äußere Verhalten folgen. Das Recht 
als Recht, nämlich gesetztes oder setzbares, ist freilich hetero- 
nom, aber für die Richtigkeit des Rechts gilt unweigerlich 
und allein der Maßstab der Autonomie, wie in „Wirtschaft 
und Recht** (S. 554 f.) klar aufgestellt worden ist. Dann aber 
kann zwischen Grundsätzen richtigen Rechts und richtiger 
Gesinnung nicht anders als in bloßer Abstraktion unterschieden 
werden; : 

Aus ^ben diesem Gesichtspunkt kann es nicht als genügend 
erachtet #iörden, wenn als Stoff, worauf die Grundsätze des 
richtigen Rechts anzuwenden seien, das „geschichtliche“, „ge- 
schichtlich werdende** Recht, „in seinem natürlichen Wachsen** 
angesehen wird (S. 214 f.), ohne daß — so scheint es — für 
dies Werden selbst jene Grundsätze etwas zu bedeuten haben 
sollen. „Geschichtliches Werden** ist von „natürlichem 
Wachsen** gerade dadurch begrifflich scharf geschieden, daß 
es durch die soziale Vernunft des Menschen wesentlich 
mitbestimmt gedacht wird (s. § 18). In ihm ist also die Idee 
notwendig ein mächtig wirkender, für die geschichtliche Be- 
urteilung als solche geradezu der letztbestimmende Faktor. 
Es wird doch das gewordene Recht, wenn es nach den Grund- 
sätzen des richtigen Rechts als falsch erkannt ist, auf Grund 
eben dieser Erkenntnis im günstigen Fall abgeändert. Also 
ist es zum wenigsten irreleitend, wenn gesagt wird, jene Grund- 
sätze brächten „von sich aus nichts hervor**. Die Form bringt 
ohne alle Materie nicht „material bestimmte Sätze“ hervor, 
das ist selbstverständlich; unter Voraussetzung einer Materie 
aber, nämlich eines geschichtlich gewordenen Rechts, dessen 

11 * 



164 


Abänderung zur Frage steht, muß aus den Grundsätzen des 
richtigen Rechts, wenn sie zulänglich sein sollen, allerdings 
folgen, wie das gewordene Recht abzuändern ist. In solchem 
Sinne müssen also auch material bestimmte Sätze (des zu 
setzenden Rechts) daraus ableitbar sein. Wenn dies aber so 
ist, so müssen die Grundsätze des richtigen Rechts so geartet 
sein, daß sie als regulative Prinzipien gebraucht werden 
können, um die Erkenntnis des geschichtlichen Wer- 
dens der sozialen Ordnungen selbst in sichere Wege zu 
leiten. Dann wäre von keinem Stoff mehr zu reden, der den 
formalen Grundsätzen bloß „geliefert“ oder „zugeführt“ werde. 
Stammler hat doch das Verhältnis von Stoff und Form im 
Geiste der kritischen Methode verstehen wollen. Diese aber 
duldet keinen bloß gelieferten Stoff, sondern sie stellt die Auf- 
gabe, was nur als solcher sich darstellen mag, in Form zu ver- 
wandeln, durch die Form erst zu Begriff zu bringen. Form 
heißt Gestalt; außerhalb gesetzmäßiger Gestaltung gibt es 
kein Werden, weder natürliches noch vollends geschichtliches. 
Für das Recht im Verhältnis zur Wirtschaft hat dies Stammler 
selbst (in seinem früheren Werke) in grundsätzlicher Strenge 
durchgeführt; es muß aber auch und erst recht durchgeführt 
werden in Hinsicht des Verhältnisses der sozialen Vernunft 
zum geschichtlich werdenden Recht. 

So erst würde zur vollen Wahrheit der Grundsatz des 
„Monismus des sozialen Lebens“,*) d. i. der methodische 
Grundsatz, daß die drei Grundfaktoren des sozialen, gleich 
denen des individualen Lebens (§ 11), denen sie genau ent- 
sprechen, nicht äußerlich neben einander stehend, sondern als 
bloß begrifflich auseinander zu haltende Seiten oder Rich- 
tungen desselben untrennbar verbunden gedacht werden, so- 
mit als Ziel gelten muß, daß die Tendenz zur Vernunfteinheit 
der sozialen Regelung und diese dem Arbeitsleben der Gemein- 
schaft unmittelbar innewohne; so wie in der sittlichen Voll- 
endung des Individuums die Herrschaft der Vernunft sich 
durch das Mittel des Willens bis auf das Triebleben erstrecken 
und es ganz durchdringen würde. 

•) Stammler, Wirtschaft und Recht, 3. Buch. 



165 


Damit ist der Grundbegriff der Tugend der Gemein- 
schaft dem Fundament nach sclion gewonnen. Um sie jedoch 
in noch konkreterer Gestalt darsteden zu können, haben wir 
zuvor das soziale Leben selbst noch einige Stufen weiter ins 
Konkrete zu verfolgen. 


§ 17 . 

Grundklassen sozialer Tätigkeiten 

Das sozial^^ Leben, wie es sich aus den nachgewiesenen 
drei Grundbestandteilen gemäß deren notwendigem inneren 
Verhältnis auf baut, ist in sich eine vollkommen geschlossene 
Einheit. Die drei Momente: Arbeit, Willensregelung und ver- 
nünftige Kritik, sind gar nicht außer einandcA, sondern nur 
als ebenso viele Momente einer und derselben sozialen Tätig- 
keit zu denken. Die soziale Vernunft hat gar keine andre 
Existenz als in der tatsächlichen Gestaltung und Umgestaltung 
der sozialen Willensregelung; diese wiederum ist nur die 
Regelung der sozialen Arbeit und existiert gar nicht außerhalb 
dieser. Denn daß sie etwa in abgesonderter Formulierung 
als geschriebenes Gesetz da ist, wird man nicht eine abge- 
sonderte Existenz nennen wollen. Ein geschriebenes Gesetz 
ist nichts mehr als ein beschriebenes oder bedrucktes Papier, 
wofern nicht das, was darin geschrieben steht, auch mit der 
Tat befolgt wird; befolgt aber wird es in der Konkretion des 
Arbeitslebens der Gemeinschaft, in Handel und Wandel der 
Menschen. Die tatsächliche soziale Regelung, das An ordnen 
und Verbieten, Aufsichtführen, Strafen und Wiederzurecht- 
bringen ist ein unablöslicher Bestandteil der sozialen Arbeit 
selbst ; es verhält sich zur so beaufsichtigten und kontrollierten, 
unmittelbar auf ihren Gegenstand gerichteten Arbeit allgemein 
nicht anders wie das Kommando des Offiziers zur ausführen- 
den Tätigkeit des Soldaten, oder der anordnende oder be- 
richtigende Befehl des Meisters in irgend einem Handwerk zur 
Ausführung des Befehls durch den unmittelbaren Arbeiter. 
Dies Ganze: Anordnung und Befolgung des Angeordneten, 
Befehl und Ausführung des Befohlenen ist zuletzt ein ge- 



166 — 


memschaftliches Werk, an dem die einzelnen Funktionen sich 
zwar nach dem Gesetz der Arbeitsteilung von einander sondern 
mögen, aber dabei immer genau auf einander hingewiesen 
bleiben. 

Eine gewisse Sonderung der Funktionen ist mm aber, 
imbeschadet dieser wesentlichen und unaufheblichen Einheit 
des sozialen Tuns, an sich möglich und schon in technischer 
Rücksicht erforderlich, damit nach dem dwide et impera die 
größte Gesamtwirkung durch zweckmäßigstes Ineinander- 
greifen richtig berechneter Einzelwirkungen erzielt wird. Und 
es liegt der Gedanke nicht fern, daß zur obersten Einteilung der 
so entstehenden gesonderten Tätigkeiten dasselbe dreigliedrige 
Schema, das uns bisher geleitet hat, geeignet sein möchte, 
d. h. daß in den verschiedenen doch zu einander gehörigen 
sozialen Tätigkeiten, die das soziale Leben im ganzen am- 
machen, die ursprünglichen drei Grundbedingungen 
der sozialen Tätigkeit überhaupt eigene Provinzen in 
der Art abgrenzen, daß eine jede in einem beson- 
deren Kreise von Tätigkeiten die Herrschaft führt. 

Die Analogie dieses Gedankens mit dem, welchem Plato 
folgte, als er aus den drei „Seelenteilen“ seiner Psychologie 
die drei Stände des Staats ableitete, drängt sich unmittelbar 
auf; umso nötiger ist es, auf den Unterschied unsrer Auf- 
stellung von der seinigen ausdrücklich hinzuweisen. Es handelt 
sich für uns nicht, wie für Plato, um getrennte Stände oder 
vielmehr Kasten, sondern vorerst nur um Grundklassen von 
Funktionen, wobei noch ganz offen bleibt, ob diesen auch 
ebenso viele Klassen von Funktionären entsprechen müssen. 
An sich sind es nicht notwendig verschiedene Personen, welche 
die verschiedenen (etwa auch örtlich und zeitlich getrennten) 
Arbeiten verrichten. Das Gesetz der Arbeitsteilung, von un- 
anfechtbarer Allgemeingültigkeit in dem objektiven Sinne der 
Zerlegimg der Arbeit selbst in ihre notwendigen Bestandteile, 
unterliegt dagegen sehr bestimmten Grenzen in der subjektiven 
Bedeutung der Zuweisung der verschiedenen Arbeitsteile an 
ebenso viele verschiedene Klassen von Arbeitern. Zumal wenn 
es sich um die wesentlichen Bestandteile sozialer Tätigkeit 



167 


überhaupt handelt, erscheint es von Anfang an einleuchtender, 
daß an diesen normalerweise alle rge.udwie teilhaben müssen; 
so wie im körperlichen Organismus zwar eigentümliche Organe 
für eigentümliche Verrichtungen vorhanden sind, aber doch sie 
alle teilhaben am Stoffwtohsel, und alle auch in einigem Maße 
an motorischen und sensorischen L.dstungen. 

Die sozialen Funktionen greifen eben in ganz andrer, 
mehr organischer Weise ineinander, als es bei Plato erscheint. 
Es ist, nach unsrer dargelegten Grundauffassung, eine völlig 
unausdenkbare Vorstellung der Teilung der Arbeit selbst, — 
gesetzt auch, daß dieselben Personen an n^ehreren Arbeits- 
arten beteiligt sein sollten, was Plato ebenfalls ausschließt, — 
daß je in einer besonderen sozialen Tätigkeit oder Klasse von 
Tätigkeiten eine der Grundbedingungen der so'^ialen Tätigkeit 
überhaupt mit Ausschluß der übrigen sich darslellen 
sollte. Plato dachte die menschliche Psyche gewaltsam zu- 
sammengeschweißt aus drei, nicht Grundkräften, sondern sozu- 
sagen selbständigen Wesen, die nur teilweise njiit, fast mehr 
gegen einander wirkten. Daraus folgen dann drei Berufs- 
klassen, Stände oder eigentlich Kasten, deren niederste nur 
durch die absolute geistige und militärische Obergewalt der 
beiden andern niedergehalten wird. Die Stelle dieser psycho- 
logischen „Teile“ der Seele, die sich nur sehr künstlich auf 
den sozialen Organismus übertragen ließen, vertreten bei uns 
die rein objektiv definierten Begriffe des sozialen Triebeinsatzes, 
der sozialen Wiilensregel und des sozialen Vernunftgesetzes. 
An diesen ist die notwendige Wechselbeziehung sofort klar; 
denn was ist die Willensregel, wenn nicht Regel für Arbeit, 
was das Vernunftgesetz, wenn nicht Gesetz der Willensrege- 
lung, \md durch diese wiederum der Arbeit? 

Inwiefern werden nun gleichwohl diesen so untrennbaren 
Bestandteilen der sozialen Tätigkeit irgendwie gesonderte 
Funktionen entsprechen? Nur so, daß jede Funktion alle drei 
Grundteile zwar einschließt, aber je eine von ihnen zum be- 
stimmenden Zweck hat, während die andern als bloße 
Mittel diesem einzigen Zwecke untergeordnet bleiben. So lassen 
sich im körperlichen Organismus sehr wohl nutritive, moto- 



16b 


rische, sensorische Organe unterscheiden, auch wenn etwa jedes 
von ihnen an mehreren dieser Funktionen, vielleicht an allen 
dreien, teilhat; wofern nur eine sichere Unterordnung nach 
dem Verhältnis von Mittel und Zweck möglich ist. 

Daß nun in dieser Weise jedem der drei Grundfaktoren 
sozialer Tätigkeit eine eigentümliche soziale Funktion oder 
Klasse von Funktionen wirklich entsprechen muß, wird be- 
sonders klar durch die ferner hier eingreifende Erwägung, 
daß das soziale Leben in eben diesen seinen drei Grundteilen 
sich fort und fort wiedererzeugen muß. Die Gemeinschaft 
der Arbeit, durch gemeinschaftlichen Willen geregelt nach 
gemeinschaftlicher Vernunft, ist ja nicht ein Geschenk der 
Natur noch ein ein für allemal fertiges Ergebnis menschlicher 
Tat, sondern verlangt immer erst wieder gestaltet, in Be- 
wußtsein und Tat der Menschheit wieder- und wiedergeboren, 
als ihr ewiges Werk in unablässigem Ringen neu und neu 
hervorgebracht zu werden. Dadurch rechtfertigt sich erst 
ganz der Ausdruck „soziales Leben“. In der Tat nicht anders 
als die beständige und notwendige Arbeit des lebenden Orga- 
nismus die Reproduktion des Organismus selbst in seinen 
wesentlichen Funktionen ist, so ist das beständige und not- 
wendige Werk der Gemeinschaft die Reproduktion der Gemein- 
schaft selbst in ihren bezüglichen Grundfunktionen. Und be- 
sonders in Hinsicht dieser beständigen Reproduktion müssen 
denn wohl irgendwie die Tätigkeiten sich scheiden, die ge- 
richtet sind auf die beständige Reproduktion der sozialen 
Triebtätigkeit, des sozialen Willens, der sozialen Vernunft. 
Zwar müssen die bezüglichen Tätigkeiten darum nirht weniger 
ineinandergreifen ; aber sie bleiben durch die Richtung, die sie 
je auf ihren eigentümlichen Zweck innehalten, dem Begriff 
und beherrschenden Prinzip nach immer von einander ge- 
schieden. 

Und so würden wir, auch wenn nicht die Jahrtausende 
der Menschengeschichte uns Zeugnis gäben, rein aus unserm 
Prinzip ebenso viele selbständige, in sich geschlossene 
Grundklassen sozialer Tätigkeiten aufzustellen haben, 
in denen sich je einer der Grundbestandteile sozialer Tätigkeit 



169 


überhaupt in bestiiTunender Weise ausprägt. Wir bezeichnen 
sie als die Klassen der wirlschaftlichen, der regieren- 
den und der bildenden TätigkeHen. 

Die wirtschaftliche Tätigkeit muß, unsrer Aufstellung 
zufolge, der eigentümlichen Punktion des sozialen Trieblebens, 
-der gemeinschaftlichen Arbeit, nämlich unmittelbaren Arbeit, 
in dem Sinne entsprechen, daß sie zugleich und besonders die 
beständige Reproduktion dieser Arbeit vertritt. 

Das objektive Korrelat des Triebes ist überhaupt die 
Arbeit, d. i. der Einsatz von Triebkraft za irgend welcher 
Hervorbringung oder Verwirklichung eines menschlichen 
Zwecks. Soll aber, für welchen Zweck immer, Kraft eingesetzt 
werden können, soll Energie des Triebs dem Gebote des 
Willens und der Vernunft zur Verfügung stehen, so muß sie in 
unermüdeter, wohlgeregelter, eigens auf diesen Zweck gerich- 
teter Tätigkeit fort und fort neu beschafft werden. Die wirt- 
schaftliche Tätigkeit dient also der Erhaltung der Energie 
des Trieblebens und damit der Frische und Leistungsfähig- 
keit menschlicher Arbeit, zur Verfügung für jeglichen Zweck, 
den immer Wille und Vernunft ihr bestimmen mögen. 

An logischer Schärfe mangelt dem so begründeten Begriff 
der Wirtschaft nichts. Man sieht ihn nirgends über fließen in 
den der auf die formale Regelung als solche gerichteten, oder 
vollends in den der bildenden Tätigkeit. Wohl fallen diese 
beiden, abgesehen von ihrem je eigentümlichen Zweck, 
auch unter wirtschaftliche Erwägung, sofern sie, als Tätig- 
keiten überhaupt, als Arten von Arbeit, einen Einsatz von 
Triebkräften erfordern; aber ihr eigentümlicher Zweck ist 
nicht die Erhaltung der Triebkräfte, die sie vielmehr bloß als 
Mittel zu anderweitigem Zweck verwenden; also sind es nicht 
wirtschaftliche Tätigkeiten. Umgekehrt bedarf die wirt- 
schaftliche Tätigkeit sowohl der Regierung als gebildeter Ein- 
sicht und gebildeten Wollens. Aber ihr eigentümlieher Zweck 
ist nicht Regierung und nicht Bildung, sondern sie gebraucht 
diese beiden nur als Mittel zu ihrem besonderen Zweck, der 
Erhaltung der Triebkräfte. Die Grenze der Begriffe bleibt 
also immer un verwischt. 



170 


Es ist allerdings keine hinlänglich genaue, aber doch auch 
keine wesentlich unrichtige Bestimmung des Begriffs „Wirt- 
schaft“, nach der sie besteht in der Beobachtung des Gleich- 
gewichts zwischen Ausgabe und Einnahme, d. h. zu- 
letzt, zwischen Verbrauch und Zufuhr von Kräften. 
Die Notwendigkeit dieser Bilanz geht schließlich auf das bio- 
logische Grundgesetz zurück, wonach Leben überhaupt in 
einem mit gewisser Regelmäßigkeit sich vollziehenden Umsatz, 
d. i, Verbrauch und entsprechenden Ersatz von Kräften beruht. 
Doch ist das Gesetz der Wirtschaft nicht etwa identisch mit 
diesem biologischen Gesetz oder eine reine Ableitung aus ihm; 
es ist überhaupt kein bloßes Naturgesetz, sondern ein Gesetz 
der Technik, welche den sonst bloß natürlich sich vollziehen- 
den Umsatz der Kräfte zum Werk menschlicher, d. i. zweck- 
bewußter Arbeit umwandelt. Aller Verbrauch und Ersatz von 
Kräften, auch und besonders der eigenen Kräfte des Menschen, 
soll zweckgemäß, d, h. so eingerichtet werden, daß mit dem 
geringsten Aufwand an Kraft das größte Maß vorrätiger Kraft 
wiedererzeugt wird. Kräfte zu jedweder menschlichen Tätig- 
keit bereitzustellen, ist der eigentümliche Zweck der Wirt- 
schaft; also darf keine Kraft verschwendet, d. h. ohne ent- 
sprechenden Ersatz aufgebraucht werden. Das ist es denn 
auch, was man unter wirtschaftlichem Verhalten vorzugsweise 
versteht. Zu welchen Zwecken die so immerfort sich erneuernde 
Triebenergie weiterhin zu verwenden sei, ist dagegen durch 
den Begriff der Wirtschaft nicht bestimmt. Nur ein Zweck 
ihrer Verwendung folgt aus ihm, nämlich es muß jedenfalls 
die wirtschaftliche Tätigkeit selbst reproduziert werden, d. h. 
es muß immer wenigstens so viel an verfügbarer Energie ber- 
auskommen, als erforderlich ist, um die Wirtschaft selbst, 
d. h. die planmäßige Erneuerung jeder verbrauchten Energie, 
in Gang zu halten, und nicht nur überhaupt in Gang, sondern 
in gutem, geregeltem, sich selbst erhaltendem Stande zu halten 
und womöglich zu steigern. Da es aber, außer der Erhaltung 
des Betriebes des menschlichen Lebens selbst, doch noch sehr 
viele andre und darunter nicht minder wesentliche Zwecke gibt 
— Zwecke, deren ordentliche Verfolgung einerseits Wirtschaft- 



171 


lieber Kräfte bedarf, und die andrerseits der Wirtschaft selbst 
nicht gleichgültig sein können, weil keiner der wesentlichen 
menschlichen Zwecke ohne Beziehung zu den andern bleiben 
kann — , so folgt, daß über den zur Erhaltung des Betriebes 
erforderlichen Bestand verfügbarer Kräfte stets noch ein Über- 
schuß produziert werden muß, damit jederzeit ohne Schaden für 
die Erhaltung der Gesamtkraft ein gewisses Quantiwn Energie 
andern als wirtschaftlichen Zwecken zugeführt werden kann. 
Auf dieser Grundlage dürften die allgemeinsten Tatsachen 
des wirtschaftlichen Lebens sich verständlicü machen lassen. 

Man hat auch wohl als Zweck der Wirtschaft b izeichnet 
die Erhaltung der Existenz oder die Ernährung. Das 
kann leicht in zu engem oder aber in zu weitem Sinne ver- 
standen werden. Wäre die Ernährung streng nur in physischer 
Bedeutung gemeint, so wäre der Begriff der Wirtschaft damit 
viel zu eng bestimmt; denn der Zweck der Wirtschaft geht 
unermeßlich weit hinaus über die Produktion dessen, was zum 
Leben im physischen Sinne notwendig ist, ja auch über das, 
was, sei’s auch zum Genuß und Überfluß, konsumiert wird. 
Würde hingegen unter der „menschlichen “ Existenz die Be- 
friedigung jedweden menschlichen Bedürfnisses mitverstanden, 
und sollte also diese, so schlechthin, als Zweck der Wirtschaft 
gelten, so ist die Bestimmung viel zu weit. Denn auch die 
regierende, auch die bildende, überhaupt jede menschliche 
Tätigkeit befriedigt irgend welche menschlichen Bedürfnisse, 
aber es wäre darum doch unzulässig, jede menschliche Tätig- 
keit wirtschaftlich zu nennen; sie fällt vielmehr nur, neben 
und außer ihrem je eigentümlichen Zweck, auch unter wirt- 
schaftliche Erwägung, nämlich insofern sie einen geregelten 
Ersatz der je verbrauchten Triebkräfte erfordert. Dies freilich 
gilt beinahe von jeder menschlichen Zwecktätigkeit, aber eben 
nur in dieser einzigen Hinsicht. Nicht also, daß man lebt, oder 
daß man irgendwelche menschlichen Zwecke verfolgt, sondern 
daß man, um zu leben und in Verfolgung irgend welcher 
Zwecke, arbeiten, d. i. Triebkraft aufwenden, mithin auch 
für deren Ersatz Vorsorge treffen muß, das allein ist es, was 
den Begriff Wirtschaft begründet. 



172 


Andrerseits gehört zur wirtschaftlichen Tätigkeit, ihrer 
technischen Begründung zufolge, ohne Zweifel Willensregelung, 
und unterliegt sie damit auch dem Urteil sittlicher Vernunft; 
zumal es sich nicht bloß um Verwendung toter Naturkraft, 
sondern der eigenen Kräfte des Menschen handelt. Insbesondre, 
sofern die wirtschaftliche Arbeit soziale Arbeit ist, bedarf sie 
der sozialen Regelung. So erhält der Begriff der Wirtschaft, 
der an sich zwar dasselbe in Hinsicht der individualen wie 
der sozialen Tätigkeit bedeutet und bedeuten muß, doch noch 
eine nähere Bestimmung, sofern er eine Seite des sozialen 
Lebens bezeichnen soll: soziale Wirtschaft allerdings setzt 
soziale Regelung voraus.*) Indessen ist der Begriff der 
Regelung bezw. sozialen Regelung von weiterem Umfang als 
der der zu regelnden bezw. sozial zu regelnden Wirtschaft. 
Denn wenn auch jede menschliche Tätigkeit unter wirtschaft- 
liche, jede soziale Tätigkeit unter sozialwirtschaftliche Er- 
wägung fällt, so berührt diese doch nur eine einzige Seite an 
dieser, den Verbrauch und Ersatz der aufzuwendenden Kraft. 
Nun geht in der Beschaffung von Kräften der Zweck mensch- 
licher Tätigkeit doch nicht auf; die Regelung der Tätigkeit 
aber, und so auch die soziale Regelung, erstreckt sich auf den 
ganzen Zweck der zu regelnden Tätigkeit, nicht auf diese 
Seite allein. Sozialer Regelung bedarf auch diejenige soziale 
Tätigkeit, die zur Durchführung und beständigen Aufrecht- 
erhaltung wie auch Abänderung der sozialen Regelung 
selbst erforderlich ist: die Rechtspflege, die Gesetzgebung. 
Das fällt nicht unter den Begriff Wirtschaft. Sozialer Rege- 
lung bedarf ebenfalls eine jede gemeinschaftliche Pflege der 

Nach Blammlers zweifellos richtiger Bestimmung; dem ich nur 
nicht beisiimmen kann in der Ablehnung jedes gemeinsamen Begriffs 
individualer und sozialer Wirtschaft, und ferner nicht in der Gleichsetzung 
der Wirtschaft mit der Materie des sozialen Lebens. Wirtschaft überhaupt 
verhält sich zu sozialer Wirtschaft nicht anders als Willensregelung über- 
haupt zu sozialer Willensregelung, Menschenvernunft überhaupt zu sozialer 
Vernunft. Materie der sozialen Regelung aber, und also des sozialen 
Lebens, ist nicht die wirtschaftliche Tätigkeit allein, sondern jede soziale 
Tätigkeit, auch die regierende und die bildende. Vgl. weiter unten im 
Text, und Arch. II 329 ff. 



173 


Bildung in Wissenschaft, Sittlichkeit, Kunst, Religion. Das 
alles läßt sich füglich nicht unter den Begriff Wirtschaft 
zwingen, sofern nämlich nicht von den dabei vorkommenden Aus- 
gaben und Einnahmen, Unterhalt der beamteten Personen, 
Sorge für Baulichkeiten und sonstigen äußeien Bedarf, oder 
auch der äußeren Ökonomie der dazu nötigen ^Irbeit, Bestim- 
mung der Arbeitszeit nach Rücksichten der Kraftsparung und 
dergleichen, sondern von dem eigentümlichen Zweck dieser 
Tätigkeiten (was an der Kunst Kunst, an der Religion Religion 
ist u. s. f.) die Rede ist. Das fällt weder außerhalb sozialer 
Regelung, noch ist es durch den Begriff Wirtschaft irgend zu 
decken. Der Beruf des Juristen und Staatsmannes, des Ge- 
lehrten und Erziehers, des Künstlers, des Geistlichen ist kein 
wirtschaftlicher, er untersteht aber ohne Zweifel, nicht bloß 
sofern er auch eine wirtschaftliche Seite hat, sondern nach seinem 
eigentümlichen Zweck, sozialer Regelung. Also ist Wirtschaft 
zwar eine, und eine vorzüglich wichtige Materie sozialer 
Regelung, aber nicht die Materie derselben, mithin nicht 
gleichzusetzen mit der Materie des sozialen Lebens. 

Die gleiche relative Selbständigkeit zeigt zweitens die 
Klasse der regierenden Tätigkeiten. So wie an jeder 
menschlichen, insbesondere sozialen Tätigkeit der erforderliche 
Krafteinsatz und die um deswillen nötige Sorge für verfügbare 
Kraft unter eine eigene Erwägung fällt, so ist an jeder Tätig- 
keit ferner die Regelung, insbesondere die soziale Regelung 
als Gegenstand einer eigenen vorsorgenden Tätigkeit 
ins Auge zu fassen, wobei sowohl die einzusetzenden Kräfte 
wie der sonstige, besondere Zweck der Tätigkeit als gegeben 
genommen wird, also für diese eigentümliche Erwägung nicht 
in Frage steht. Dies findet schon auf das isolierte Leben des 
Einzelnen Anwendung. Auch für ihn ist ein Eigenes gegenüber 
der direkt auf den jeweiligen Zweck gerichteten Arbeit die 
Entwertung und genaue Innehaltung eines festen Arbeits- 
planes. Aber eine unvergleichlich größere Bedeutung und 
zugleich einen ganz bestimmten neuen Sinn gewinnt diese 
Aufgabe, sofern es sich um soziale Tätigkeit, d. h. nicht bloß 
um den Willen des Einzelnen und dessen Gewalt über den 



174 


Trieb, sondern um Willensbeziehungen unter Meh- 
reren, bald unabsehbar Vielen handelt. Doch ist die Aufgabe 
darum in letzter Betrachtung ganz dieselbe: Unterwerfung 
der einzelnen, ohne das bloß triebartigen Tätigkeit unter den 
voraus aufgestellten Gesamtplan auf bestimmten Zweck 
gerichteten Tuns. 

Wieder kann in der Abgrenzung dieses zweiten Gebietes 
sozialer Berufe die Erwägung nicht irre machen, daß Regelung 
doch bei aller menschlichen Tätigkeit, soziale Regelung bei 
aller sozialen Tätigkeit vor kommt. Gewiß ist auch in einer 
Fabrik oder einem komplizierten Bildungsorganismus sogar 
viel Regierung nötig. Umgekehrt lebt Regierung allein von 
Wirtschaft und Bildung, denn sie braucht Kräfte und braucht 
Verstand, welches beides das „Amt“ nicht gibt, sondern von 
jenen borgen muß. Darum ist aber wirtschaftliche oder 
bildende Tätigkeit als solche nicht regierende, noch umgekehrt. 
Auch gibt es regierende Tätigkeit, die unmittelbar weder 
auf wirtschaftliche noch auf Bildungszwecke gerichtet ist, 
sondern ganz in sich abgeschlossen erscheint. Es gibt Recht, 
welches keine andere Tätigkeit normiert, als wiederum recht- 
liche, Regierung, die nichts andres anordnet als wiederum 
Regierung, ebenso wie wir sahen, daß es wirtschaftliche Tätig- 
keit gibt, die die produzierten Kräfte zu keinen andern als 
wiederum wirtschaftlichen Zwecken verwendet. Welche 
größere Selbständigkeit kann man denn verlangen? Sogar 
Materie rechtlicher Regelung vermag die rechtliche 
Regelung selbst zu werden, die doch die Form des sozialen 
Lebens vertreten soll und mit Fug vertritt. Aber die soziale 
Formgebung ist Gegenstand einer eigenen, bloß hierauf be- 
züglichen Technik, eigener Wissenschaft und so auch einer 
eigens charakterisierten Tätigkeit, eines eigenen Berufs, viel- 
mehr eines weiten Komplexes zusammengehörender Berufe. 

Auch hier ist, bei der denkbar engsten Wechselbeziehung 
zu den beiden andern Klassen sozialer Tätigkeiten, von einem 
Verfließen der begrifflichen Grenzen nichts zu bemerken. 
Vielmehr tritt im einigermaßen entwibkelten sozialen Leben 
die Absonderung der regierenden Funktionen auch tatsächlich 



175 


meist sehr deutlich, nicht selten in einer sachlich kaum ge- 
rechtfertigten Schroffheit zu Tage. Das begreift sich be- 
sonders daraus, daß ebenso, wie die wirtschaftliche Tätigkeit 
neben ihren sonstigen sehr mannigfaltigen Zwecken immer 
die eine; wesentliche Aufgabe hat, sich selbst in beständiger 
Reproduktion zu erhalten, so auch die regierende Tätigkeit 
bei der Erfüllung ihrer eigentlichen und letzten Absichten, die 
niemals in ihr selbst, sondern im Gebiete der wirtschaftlichen 
und der bildenden Tätigkeiten liegen, immer auch noch die 
Aufgabe hat, für ihre eigene Erhaltung zu sorgen. Daher 
stellt das Recht nicht bloß Normen für wirtschafthrhe und 
bildende Tätigkeit auf, sondern auch Normen darüber, wie 
Recht gemacht und durchgeführt und, wenn verletzt., wieder- 
hergestellt wird; wie der ganze, der Erhaltung und auch Fort- 
bildung des Rechtszustandes dienende Betrieb in Gang zu er- 
halten, die abgehenden Kräfte zu ersetzen sind u. s. f. Kurz, 
das Recht, und so alle Regierung, muß in weitem Umfang 
für sich selber, d. h. für seine beständige Reproduktion sorgen; 
und dieser Zwang der Selbstsorge erklärt die oft auffallende 
Einseitigkeit, in der die regierenden Tätigkeiten, bis zur Ver- 
gewaltigung andrer, vielleicht wesentlicherer Zwecke, nur ihre 
eigene Bedeutung und Autorität um jeden Preis behaupten zu 
wollen scheinen ; während sie doch unmöglich Zweck ihrer 
selbst, sondern nur ein zu sonstigen menschlichen Zwecken 
dienendes Mittel sein können. Es soll damit die Einseitigkeit 
der Ansprüche, welche die regierenden Funktionen im sozialen 
Leben erheben, keineswegs gut geheißen werden; aber sie ist 
hier von Interesse als ein auffallender Beweis der relativen 
Selbständigkeit dieser Funktionen. Es würde sogar voreiBg 
sein, aus dieser etwa zu schließen, daß die regierenden Funk- 
tionen notwendig einer abgesonderten regierenden Klasse 
zufielen. Es würde an unsren Aufstellungen nichts geändert, 
auch wenn man sich eine so vollendete Selbstregierung dächte, 
daß es einer eigenen regierenden Klasse überhaupt nicht mehr 
bedürfte. Das wäre etwa der verständliche Sinn des „An- 
archismus“: nicht daß es keine Regierung, sondern 
keinen regierenden Stand, d. h. bloß Selbstregierung 



176 


gäbe. Die Funktionen der Regierung selbst könnten dabei 
immer noch ganz die gleiche Selbständigkeit bewahren, wie 
da, wo sie ausschließlich oder doch der Hauptsache nach 
in der Hand einer eigenen Klasse sind. 

Ebenso wenig aber läßt sich verkennen, daß auch der 
dritte Grundfaktor menschlicher Tätigkeit, die Vernunft, 
eine eigene, von beiden andern begrifflich scharf zu sondernde 
Klasse von Tätigkeiten und zwar auch sozialen Tätigkeiten 
begrüiidet.^ Wir nennen sie bildende Tätigkeiten, indem wir 
unter ßilden allgemein verstehen: von der Heteronomie zur 
Autonomie führen, gleichviel ob sich selbst oder Andre. Die 
Erfahrung der Macht des Willens, unsre Arbeitskräfte auf be- 
stimmte Zwecke zu lenken und damit unserem Tun Regel und 
Einheit zu verschaffen, führt endlich zu der Einsicht, daß auch 
die Zwecke uns nicht schlechthin zudiktiert sind, sondern von 
uns selber gesetzt werden können. In jedem geregelten Tun 
ordnet sich ein Zweck dem andern unter; so enthüllt sich 
endlich, daß überhaupt kein empirischer Zweck sich je an- 
maßen darf, souverän zu sein, vielmehr alle einer praktischen 
Beurteilung unterliegen, die keinen engeren Maßstab anlegen 
darf als den der absoluten Einheit der Zwecke. Es ent- 
steht also die neue Aufgabe einer Ordnung der Zwecke 
selbst, nicht bloß der verfügbaren Mittel zu gegebenen 
Zwecken. Es ist nichts andres als die volle Herrschaft des 
Bewußtseins, was die praktische Erwägung zu dieser 
höchsten Stufe erhebt. Sie immer neu zu erringen ist all- 
gemein Aufgabe der bildenden Tätigkeit; sie der Gemeinschaft 
zu gewinnen und in ihr zur letztentscheidenden Instanz zu 
erheben, Aufgabe der sozialen Bildungstätigkeit: der sozialen 
Pädagogik. 

Diese hat nun gewiß sowohl die wirtschaftliche als die 
regierende Tätigkeit zur Voraussetzung; sie wirkt andrerseits 
auf beide und also auf das soziale Leben in allen Beziehungen 
zurück. Allein sie geht in ihrem eigentümlichen Zweck doch 
über beide hinaus; er ist ihr nicht vorgezeichnet durch die 
Bedürfnisse der Wirtschaft oder der Regierung, so berechtigte 
Ansprüche diese auch haben, von ihr gleichfalls gemäß ihrer 



~ 177 — 


Eigenart berücksichtigt zu werden. Ja ihr Zweck ist denen 
der Wirtschaft und des Rechts schlechthin übergeordnet. Denn 
weder in der bloßen Beschaffung verfügbarer Kräfte noch in 
der sozialen Organisation bloß als solcher kann der schließliche 
Zweck des sozialen Lebei*s gefunden werden; allzu deutlich 
tragen beide den Charakter bloßer Mittel. Man lebt nicht 
um zu leben, man regiert nicht und läßt sich regieren, bloß 
um zu regieren oder regiert zu sein* der schließliche Zweck 
kann nur im Bewußtsein liegen, denn es gibt keinen Zweck 
außerhalb des Bewußtseins. Also nur ein Leben, in dem das 
Bewußtsein, in dem die Vernunft herrscht und nicht bloß 
dient, kann als Endzweck gedacht werden. Folglich müssen 
die wirtschaftliche wie die regierende Tätigkeit sich als bloße 
Mittel dem höheren Zweck der Menschenbildung unterordnen. 
Bildung durch Arbeit zur Arbeit, durch soziale Organisation 
zur Teilnahme an ihr, ebenso wie durch und zu eigener 
bildender Tätigkeit, an sich selbst wie an Andern, diese 
drei müssen sich in harmonische Einheit fügen; es sind für 
den eigentümlichen Gesichtspunkt der bildenden Tätigkeit 
nur die notwendig zusammengehörenden Glieder eines Orga- 
nismus, des Organismus der Menschenbildung. Im 
Ideal würden die wirtschaftliche Arbeit wie die soziale Organi- 
sation unmittelbar Faktoren der Bildung werden; d. h. sie 
müßten durchweg so geordnet sein, daß sie, nicht etwa bloß 
neben, sondern in der Erfüllung ihrer besonderen Aufgabe, 
dem einen letzten Zwecke der Menschenbildung ge- 
horchen und an seiner Verwirklichung mitarbeiten müßten. 

Bis zu dieser Höhe hatte sich die Idee der menschlichen 
Bildung auf der Grundlage der Vernunft (unter dem Namen 
der „Philosophie“) bereits in Plato erhoben, und von seiner 
daraus entsprungenen sozialpädagogischen Auffassung des 
Staats läßt sich, was die Grundidee betrifft, nichts abdingen. 
Nur begründet gerade die richtige Konsequenz dieser Idee eine 
andere, positivere Würdigung der wirtschaftlichen wie der 
politischen Tätigkeit, als Plato sie beiden gönnt. Ihm ist die 
wirtschaftliche Arbeit wie die soziale Organisation nur leidige 
Notsache, oberhalb deren erst das wahrhafte menschliche Leben 

Natorp, Sozialpädagogik. 4 . Aufl. 12 



178 


beginnt. Nun erkennen auch wir an, daß beide zuletzt dem 
einzigen Zwecke der Höher bildung der Menschheit sich unter- 
ordnen müssen, aber eben diesem höchsten Zwecke dienstbar 
gemacht, gewinnen beide einen unangreifbaren Wert. Das 
ist es, was infolge der zu schroffen Auffassung des Rang- 
unterschieds der verschiedenen Grundtätigkeiten und der über- 
triebenen Schätzung der Arbeitsteilung (die ganz der schroffen 
Auseinanderreißung der seelischen Grundfunktionen im Indi- 
viduum entspricht) von Plato verkannt worden ist. Das 
ist das wirklich Utopische seines Entwurfs, der an sich durch- 
aus nicht als bloße Zeichnung eines abstrakten Ideals gemeint 
war, sondern volle Durchführbarkeit für sich in Anspruch 
nahm.*) Auf diese Weise wird die Aufgabe der Menschen- 
bildung in unhaltbarer Weise vom Naturgrunde des mensch- 
lichen Daseins losgerissen; wovon die unvermeidliche Folge 
ist, daß sie selbst nun nicht mehr recht gedeihen kann, be- 
sonders nicht auch bis zu den niederen Stufen der Gemein- 
schaft herabreicht, wie sie doch müßte, wenn die so stark 
betonte Einheit des Staats nicht zerfallen soll. So bleibt denn 
der groß gedachte Erziehungsplan des Platonischen Staats 
auf die regierende Klasse beschränkt, kommt also nicht, wie 
es der Anlage des Systems nach gefordert wäre, dem ganzen 
Staat zugute. Statt dessen müssen wir die Aufgabe gerade 
darin sehen, das ganze menschliche Dasein bis zu seiner letzten 
triebartigen Wurzel herab zu versittlichen. Das kann nur 
geschehen, indem die Vernunftidee zwar an die Spitze tritt, 
ihre Realisierung aber allein angestrebt wird auf dem Boden 
der wirtschaftlichen und der politischen Tätigkeit, die dadurch 
selbst zu einem edlen sittlichen Range emporgehoben werden. 
Der Mensch ist allerdings nicht um der Arbeit oder des Regi- 
ments willen da, sondern Arbeit und Regiment um des Men- 
schen willen; allein er ist darum nicht weniger auf Arbeit 
angewiesen, und bedarf nicht weniger, der Arbeit und ihrer 
sittlichen Ordnung wegen, des Regiments. Es gilt nur beide 
auch diesem ihrem höchsten Zweck gemäß zu gestalten; so 
erreichen sie gerade in dieser Unterordnung unter einen 


) S. Abh. 16 ff. 33 ff. 



179 


edleren Zweck, als sie für sich selbst aufweisen könnten, die 
höchste ihnen zustehende Würde. Was könnten sie denn 
Höheres wollen als zum Menschentum an ihrem Teil beitragen? 

Nur der Andeutung bedarf daß, wie die wirtschaftliche 
und regierende, so auch die bildende Tätigkeit im sozialen 
Leben auch und besonders deswegen in einem eigenen Kreise 
von Tätigkeiten und zwar sozial geordneten Tätigkeiten sich 
abzusondern nötig hat, weil sie neben ihren weiteren Zwecken 
auch für ihre eigene Reproduktion fort und fort einzustehen und 
also geregelte Fürsorge dafür zu treffen hat. Daraus folgt die 
Notwendigkeit eines eigenen und zwar sozialen Lehrberufs; ob- 
wohl nicht ebenso zwingend die eines abgesonderten Lehrstandes. 

Auf der hiermit gegebenen Grundlage würde es nun wohl 
möglich sein, das, worauf wir eigentlich ausgehen: die Güte 
oder Tüchtigkeit des sozialen Lebens, im antiken Sinne 
seine Tuge nd zu definieren. Sie wird offenbar bestehen müssen 
in dem normalen Verhältnis der nachgewiesenen drei Grund- 
iunktionen, wie es soeben noch als unabweisliche Forderung 
sich ergab. Nur ist hierbei noch ein Faktor zu berücksichtigen, 
den wir bisher nicht ausdrücklich in Rechnung gezogen haben: 
Das Gemeinschaftsleben ist auf keiner gegebenen Stufe ab- 
geschlossen, es ist beständig im Werden begriffen. So wird 
die sittliche Ordnung des Gemeinschaftslebens zur ewigen Auf- 
gabe, ihre Tugend zur Idee, d. h. zum bloßen Richtpunkt 
einer unendlichen Entwicklung. Ist es nun vielleicht 
möglich, auch das Grundgesetz dieser Entwicklung aus 
unseren Prinzipien abx.u leiten? Wenn, so würde damit die 
letzte Konkretion der sittlichen Aufgabe für die Gemein- 
schaft und durch sie auch für den Einzelnen erreicht sein. 
Das ist nun zu untersuchen. 

§ 18 . 

Grundgesetz der sozialen Entwicklung. 

Der Gang unserer sozialphilosophischen Untersuchung ist 
dieser. Wir fragten zuerst: welches sind die Elemente, aus 
denen soziales Leben überhaupt besteht; wir untersuchten so- 

12 * 



180 


dann, wie in eben diesen Elementen es sich fort und fort er- 
neuert, woraus die wesentlichen Funktionen und Organe 
des sozialen Körpers sich ergaben; das Dritte, was übrig bleibt, 
ist die Feststellung der Grundrichtung der Entwicklung 
des Gemeinschaftslebens. Damit erst wird der Begriff eines 
sozialen Lehens vollinhaltlich bestimmt, und die zureichende 
Grundlage gewonnen für die Beantwortung der letzten Frage, 
auf die dies alles abzielt: worin die Güte des sozialen Lebens 
besteht. 

Eine gewisse Tendenz, sich ins Gleichgewicht zu 
setzen, muß den ursprünglichen drei Faktoren des sozialen 
Lebens nach ihrem nachgewiesenen inneren Verhältnis zu ein- 
ander überhaupt innewohnen und also auf jeder gegebenen 
Stufe des Gemeinschaftslebens sich in gewissem Maße wirksam 
erweisen. Allein dies tatsächlich immer vorhandene, sozu- 
sagen mechanische Gleichgewicht ist nur ein labiles, da die 
Faktoren selbst und so auch ihr wechselseitiges Verhältnis 
stetiger Veränderlichkeit unterliegt. Jetzt aber ist die Frage 
nach dem Gesetz, wonach das sein sollende Verhältnis der drei 
Faktoren in unwandelbarer Einheit, für jeden gegebenen 
Zeitpunkt gültig, also als ein stabiles sich bestimme. Die 
Richtung von dem gegebenen Stande des Gemeinschaftslebens 
auf dies sein ideales Ziel hin wird dann seine fernere, nämlich 
sittlich geforderte Entwicklung, und damit die soziale 
Pflicht eines jeden ihrer Glieder für den gegebenen Zeit- 
punkt vorzeichnen. 

Das ist freilich nicht der gewöhnlicVie Weg, zu einem 
sozialen Entwicklungsgesetz zu gelangen. Mau sucht einem 
solchen vielmehr dadurch auf die Spur zu kommen, daß man 
der tatsächlichen Tendenz der bisherigen sozialen Entwicklung 
empirisch nachgeht und sie auf einen einheitlichen Ausdruck 
zu bringen sucht, der etwa auch mehr oder minder sichere 
Schlüsse auf die kommende Entwicklung gestatte. In solchem 
Sinne pflegt man von Gesetzen der sozialen Entwicklung 
im Sinne von Naturgesetzen zu sprechen, indem der Werde- 
gang des sozialen „Organismus“ nach der naheliegenden Ana- 
logie des pflanzlichen oder tierischen Wachstums vorgestellt 



181 


wird. Allein diese Analogie ist trüglich. Das Wachstum der 
Organismen ist in festem Kreislauf begrenzt; es hat ein an- 
gebbares Maximum, über das die Möglichkeit der Entwicklung 
für die gegebene Art nicht hinausreicht; wenigstens würde 
sich nur unter Voraussetzung eines solchen Maximums der 
Gang der organischen Entwicklung auf naturgesetzlichen, d. i. 
empirisch-kausalen Ausdruck bringen lassen (§2). Nun aber 
handelt es sich um die Entwicklung des Bewußtseins. 
Diese läßt sich in keine empirischen Schranken einschließen, 
sie führt vielmehr nach jeder Richtung ins Unendliche. Ihre 
Grenze liegt allein in dem letzten Gesetze des Bewußtseins 
selbst, welches an Erfahrungsbedingungen nicht gebunden, 
dagegen für alle Möglichkeit der Erfahrung seinerseits bestim- 
mend ist: im Gesetze der Idee. 

Man muß, um sich hier nicht zu verwirren, streng aus- 
einanderhalten, einmal die empirische Verursachung des Be- 
wußtseins als zeitlichen Geschehens; diese steht unter Natur- 
gesetzen von freilich fast hoffnungsloser Verwickelung; sodann 
aber die notwendige Beziehung, die alles je und dann auf- 
tretende empirische Bewußtsein, in seinem Inhalt erwogen, 
auf eine, diesen in Einheitlichkeit bestimmende letzte Ge- 
setzlichkeit hat, welche allein die des Bewußtseins selbst sein 
kann. Auf ersterern Wege mag es einer fernen Zukunft viel- 
leicht beschieden sein, einige Schritte vorwärts zu tun; zur 
Zeit wäre es verwegen, streng allgemeine Naturgesetze auch 
nur der individuellen, geschweige der sozialen Entwicklung 
selbst nur hypothetisch aufstellen zu wollen, weil es bisher 
auch an den notwendigsten Vorbedingungen dazu fehlt. Hin- 
gegen ist es methodisch zulässig, zu forschen, ob die sukzes- 
siven Stadien des empirischen Bewußtseins, ihrem historisch 
bekannten Inhalt nach an dem Grundgesetze des Bewußtseins 
gemessen, einen Fortschritt in einheitlicher Richtung, eine 
stufenmäßige Erhebung zu dem Ziele einer gesetzmäßigen 
Einheit der praktischen Erkenntnis, etwa auch eine entschei- 
dende Rückwirkung der wachsenden Klarheit über das, was 
ihrem Gesetze gemäß sein sollte, auf die tatsächliche Gestal- 
tung des sozialen Lebens erkennen lassen. Daraus würde sich 



freilich kein Naturgesetz ergeben» aus dem sich die kommende 
Entwicklung gleich dem Laufe der Gestirne oder der Ent- 
faltung pflanzlicher oder tierischer Organisation mit wissen- 
schaftlicher Gewißheit oder selbst nur objektiv begründeter 
Wahrscheinlichkeit Voraussagen ließe. Es läßt sich immer nur 
behaupten: Wenn die bisher beobachtete, im ganzen fort- 
schreitende Entwicklung sich auch ferner bewährt, so müssen 
dies und dies die zunächst zu erreichenden Stufen sein. Ent- 
spricht dem dann der tatsächliche Lauf der Dinge, so waren 
gewiß auch bestimmende Ursachen vorhanden, die eine fort- 
schreitende Entwicklung bis zu diesem Punkte notwendig 
machten. Aber ein allgemeines Naturgesetz, nach welchem 
eine im gleichen Sinne fortschreitende Entwicklung nun auch 
ferner und gar in alle Zukunft notwendig wäre, zu behaupten, 
dazu reicht die Basis, auf die wir unsern Schluß gestellt haben, 
offenbar nicht aus. Dem Willen hingegen ist gerade durch 
ein derartiges Gesetz seine Bahn bestimmt. Sein Gesetz ist 
eben das jenes über die gegebene Erfahrung, ja über die 
Möglichkeit des Erfahrungsbeweises überhaupt hinausgehenden 
Bewußtseins; seine eigentümliche Methode ist es, an den 
Grenzen der Erfahrung, obwohl im beständigen Rückblick 
auf sie, das eigene Gesetz der Idee aufzurichten. 

Allein auf die Zurückbeziehung der Idee auf die Er- 
fahrung kommt nun hier nicht weniger als alles an. Und 
diese erschöpft sich nicht darin, daß an die einzelnen empi- 
rischen Daten der Maßstab der Idee angelegt wird. Auch 
daraus würde noch gar kein Gesetz folgen, nach dem der Gang 
der Entwicklung sich (im erklärten Sinne) allgemeingültig be- 
stimmen ließe. Sondern es muß noch eine Verbindung 
nachgewiesen werden zwischen dem Gesetze der Idee und 
den allgemeinen Gesetzen der Erfahrung. Eine innere 
Beziehung zwischen beiden haben wir von Anfang an voraus- 
gesetzt. Das ist in der Tat die einzige Voraussetzung, unter 
der eine konkrete Erfassung der sittlichen Aufgabe in gesetz- 
mäßiger Form, möglich ist. In welcher Art aber die ver- 
langte Verbindung insbesondre für das soziale Loben besteht, 
ergibt sich aus den Darlegungen der beiden letzten Para- 



183 


graphen. Die vernunftmäßige Gestaltung des sozialen Lebens 
kann nur geschehen durch das Mittel der sozialen Regelung, 
die die Willensform des sozialen Lebens darstellt; diese aber 
bezieht sich, der Materie nach, auf die wirtschaftliche Arbeit, 
nach Maßgabe der Technik; der Fortschritt der Technik 
endlich ruht unmittelbar auf dem Fortschritt der Natur- 
erkenntnis. Damit ist der Zusammenhang im Prinzip ge- 
geben, und zwar, wie wir erwarten mußten, durch eine not- 
wendige, innerlich begründete Beziehung der Grundgesetzlich- 
keit des praktischen auf die des theoretischen Bewußtseins; 
nicht indem das erstere sich in das letztere aufiöst, wie es 
'nach der „materialistischen“ Ansicht nicht bloß der Marxisten, 
sondern der Evolutionisten jeder Färbung erscheint, sondern 
unter voller Wahrung der inneren Verschiedenheit beider Ge- 
setzlichkeiten, die gleichwohl darin eins und verbunden sind, 
daß sie beide Gesetzlichkeiten des Bewußtseins, ja zuletzt nur 
verschiedene Ausdrücke eines und desselben Grundgesetzes der 
,, Einheit des Mannigfaltigen“ sind. 

Es ist sehr bemerkenswert, daß die neuere Forschung 
über die Gesetzlichkeit der sozialen Entwicklung genau auf 
diesen Punkt hindrängt. Wie nämlich auch das endgültige Urteil 
über die „materialistische Geschichtsauffassung“ 
fallen mag, darin ist sie sicher nicht auf falscher Fährte, daß 
sie die Gesetzlichkeit der sozialen, d. i. zunächst der wirtschaft- 
lich-rechtlichen Entwicklung an den gesetzmäßigen Fortschritt 
der Technik, also zuletzt der Naturwissenschaft knüpft; daß 
sie die Veränderungen des sozialen Lebens allgemein aus den 
„Bewegungen der Materie des sozialen Lebens‘^*) 
zu begreifen sucht. Das ist es genau, worauf unsere Prämissen 
führen; nur gestatten sie uns nicht hierbei nun stehen zu 
bleiben, sondern nötigen vielmehr, diesen einen Faktor der 
Entwicklung in genaue, innerlich vermittelte Verknüpfung zu 
setzen mit dem andern, den die materialistische Geschichts- 
auffassung abzulehnen mindestens scheinen kann: mit der Idee, 
und zwar der sittlichen Idee. Die materialistische Geschichts- 
auffassung ist im Irrtum genau so weit, als sie materialistisch 

*) Stammler, S. 307. (Vgl. auch Arch. II, 340 f.) 



184 


sein will und zu sein glaubt; eine andere Frage ist, ob sie es, 
dem letzten treibenden Motiv nach, nicht vielleicht weniger ist, 
als ihr selber bewußt ist. 

Was wir an ihr unumwunden anerkennen, ist dies: In 
den weiter und weiter gehenden Möglichkeiten technischer Be- 
herrschung der toten Naturkraft ergeben sich zugleich nicht 
bloß neue Möglichkeiten, sondern die entscheidendsten Antriebe 
zu sozialen Gestaltungen, die auf mehr vereinte Arbeit 
zielen. Beides wirkt in voller Übereinstimmung mit immer 
unentrinnbarerem Zwang in der Richtung fortschreitender 
sozialer Konzentration zunächst der wirtschaftlichen 
Tätigkeit. Dadurch aber erhöht sich nicht nur der technische 
Erfolg' jeder gemeinschaftlich und im Sinne erhöhter Gemein- 
schaftlichkeit geregelten Arbeit, und befestigt sich damit um 
so mehr die Tendenz zur Gemeinschaft, sondern es muß sich 
zugleich das Bewußtsein der Beteiligten über den blinden 
Drang der täglichen Notdurft und augenblicklichen Behaup- 
tung im Kriege aller gegen alle um die soziale Existenz mehr 
und mehr erheben; es muß immer klarer werden, daß von 
der Herrschaft des Bewußtseins für den Menschen 
schließlich nicht weniger als alles abhängt, und es muß so das 
Verlangen entstehen und allgemein werden nach durchgängig 
vernunftgemäßer Regelung der sozialen Tätigkeit auf 
Grund sicherer wissenschaftlicher Erkenntnis der technischen 
{naturtechnischen wie sozialtechnischen) Bedingungen eines 
menschlichen Daseins auf Erden; dazu aber werden die drei 
Grundformen sozialer Tätigkeit, die wirtschaftliche, regierende 
und bildende, in der Art Zusammenwirken müssen, daß der 
letztbestimmende Faktor der des Bewußtseins, mithin die 
bildende Tätigkeit ist.*) 

Dies Letztere hat sich die „materialistische Geschichts- 
auffassung* ‘ bisher anzuerkennen gesträubt. Vergeblich, wie 

♦) So erwartet Stanimlcr (W. u. R,, S. 616 ff.) den Anbruch einer 
,,Ä r a des objektiv Richtigen“ im praktischen Erkennen, wie 
sie für das theoretische längst angebrochen sei. Wo sich nur von neuem 
die Frage aufdrängt, ob nicht zwischen beiden ein zwingender 
Zusammenhang obwalten muß? 



185 


mir scheint, denn die Konsequenz der Sache treibt mit unwider- 
stehlichem Zwange dahin, und in vereinzelter richtigerer Ein- 
sicht wird es auch oft genug, stillschweigend oder ausdrück- 
lich, anerkannt. Das ausschließliche Bauen auf die materialen 
Faktoren zeigt sich in der Durchführung sofort unhaltbar. 
Möchte immerhin der Anstoß zur sozialen Entwicklung stets 
von veränderten technischen Bedingungen gemeinschaftlicher 
Arbeit ausgehen, so beruht doch erstens der Fortschritt der 
Technik selbst auf dem Fortschritt der Naturerkenntnis, also 
doch einem Fortschritt des Bewußtseins. Sodann aber, 
daß die neue Erkenntnis tatsächlich in den Dienst )nensch- 
licher, und zwar in Gemeinschaft verfolgter Zwecke gestellt 
wird, setzt voraus, daß auch die sozialen Ordnungen sich den 
neuen Bedingungen anpassen. Dazu aber gehört erstlich wieder- 
um ein Fortschritt technischer, nämlich sozialtechnischer 
Einsicht, dann aber und hauptsächlich die Umwandlung des 
Willens derer, von denen die Gestaltung der sozialen Ord- 
nungen abhängt. Diese nun beruht nicht allein auf der tech- 
nischen Erwägung des für einen gegebenen Zweck tauglichsten 
Mittels, sondern gerade, wo es sich um tiefgreifende Ände- 
rungen handelt, wird es sich vor allem fragen, ob der Zweck 
selbst wünschenswert sei, eine Frage, die sich allein entscheidet 
aus dem Gesichtspunkte der bestmöglichen Ordnung der 
Zwecke. Das aber fällt schon gar nicht mehr unter tech- 
nische, sondern unmittelbar unter sittliche Erwägung. 

Es wäre die wunderlichste Selbsttäuschung, wenn der 
Sozialismus, der sich selbst den wissenschaftlichen nennt, 
glauben würde, in der Erwägung der zu erwartenden und zu 
befördernden sozialen Entwicklung vom sittlichen Gesichts- 
punkt überhaupt absehen zu können. Man wird sich auf die 
Dauer der ganz prinzipiellen Überlegung nicht entziehen 
können: daß erstens jeder einzelne hier in Betracht kommende 
Fortschritt, heiße er material oder geistig, doch eben Fort- 
schritt des Bewußtseins ist; und zweitens, was dieser bloß er- 
kenntniskritischen Besinnung erst volles Gewicht in der Ent- 
scheidung der hier gestellten Frage gibt: daß, was überhaupt 
von irgend einer Seite her das Bewußtsein berührt, kraft des 



186 


Grundgesetzes der Einheit, der Kontinuität des Bewußt- 
seins, in innerem, methodisch zu begründendem, 
mithin gesetzmäßigem Zusammenhang gedacht und 
dargestellt werden kann und muß; daß von den untersten 
materialen Bedingungen bis zum höchsten Gesetze der Bewußt- 
seinsform, dem Gesetze der Idee, ein durchgehender, ununter- 
brochener Zusammenhang besteht. Dies folgt deduktiv aus den 
Prinzipien des Idealismus, während es aus denen des Materialis- 
mus auf induktivemWege freilich niemals herauskommen könnte. 

Unter dieser Betrachtung schlichtet sich der ganze öde 
Streit um das Vorrecht des „materialen“ oder „geistigen“ 
Faktors. Es gibt kein Materiales außer den materialen Be- 
dingungen des Bewußtseins, auf die andrerseits auch die 
höchste, geistigste Form des Bewußtseins, nämlich die Idee, 
sich zurückbeziehen muß, wenn sie nicht zum leeren Wort, 
zur inhaltlosen Phrase herabsinken soll. Dieser Einsicht hat 
die „materialistische Geschichtsauffassung“ sogar beträchtlich 
vorgearbeitet; denn sie setzt doch einen durchgehenden gesetz- 
lichen Zusammenhang von der untersten Grundlage bis zur 
obersten Spitze des sozialen Lebens voraus; nur mit dem Irr- 
tum, daß diese Gesetzlichkeit, die ganz und gar, bis in die 
letzten materialen Verzweigungen hinein, Gesetzlichkeit des 
Bewußtseins ist, vielmehr aus den Gesetzen der Materie sich 
soll ableiten lassen. Der wesentliche Fehler des sozial wissen- 
schaftlichen wie des naturwissenschaftlichen „Materialismus“ 
ist der Fehler oder vielmehr der gänzliche Mangel der Er- 
kenntniskritik; ein Mangel, der dem entgegengesetzten, 
spiritualistischen Standpunkt übrigens nicht weniger zur Last 
fällt. Wird dies Eine berichtigt, so ist dagegen die Behauptung 
eines bis zu den letzten materialen Bedingungen 
zuruckreiche nden Gesetzeszusammenhanges gerade 
im Sinne derjenigen Philosophie, die in dem Einheitsgesetze 
des Bewußtseins die letztentscheidende Instanz .alles theoreti- 
schen wie praktischen Urteilens sieht; wogegen ein Spiritua- 
lismus, der sich gegen die Würdigung des materialen Faktors 
hartnäckig sträubt, in hoffnungsloser Unklarheit befangen und 
den wahren Problemen gegenüber hilflos bleibt. 



_ 187 — 

Läßt sich nua etwa eine einfache Formel finden für diesen 
durchgehenden Gesetzeszusammenhang der sozialen, ja der 
menschlichen Entwicklung, der Entwicklung des Menschen- 
tums überhaupt, für das Gesetz der Geschichte? Ich 
glaube, daß es möglich ist, wenigstens ein Prinzip aufzustellen, 
welches darum nicht weniger ein richtiges Prinzip ist, weil es 
für sich allein, ohne fernere Prämissen, noch keine genügende 
Antwort auf die konkreten Fiagen sei es des gegenwärtigen 
oder irgend eines früheren Stadiums der wirtschaftlich-recht- 
lichen oder der geistigen Entwicklung gibt. 

Doch bedarf es hier vor allem einer genauen kritischen 
Überlegung, in welchem Sinne ein solches Prinzip rechtmäßig 
behauptet werden kann. Die Antwort ergibt sich aus unsrer 
Grundlegung: ein apriorisches Gesetz der Entwicklung des 
Menschentums, ein Gesetz der Geschichte kann mit Fug nur 
gelten als regulatives nicht konstitutives Prinzip, als 
Idee und nicht als Erfahrung. 

Das Verständnis dieses, wichtigen Unterschieds, dessen 
Feststellung zu den unvergänglichen Verdiensten Kants zählt, 
ist unserem Zeitalter leider so gut wie abhanden gekommen. 
Ein Philosoph, der vom Geiste der kritischen Philosophie 
keineswegs unberührt geblieben ist, Herbert Spencer, hat 
es unternehmen können, das Prinzip der Entwicklung, bis zu 
seinen höchsten Konsequenzen hinauf, als Naturgesetz, also in 
konstitutiver Geltung, nämlich als Folge des letzten Welt- 
gesetzes der Erhaltung der Kraft zu behaupten. Und man 
hat seinen Fehler nicht verbessert, obgleich er dadurch offen- 
kundig, fast eingeständlich in eben die Antinomie geraten ist, 
gegen welche Kant den sicheren Schutz der regulativen Prin- 
zipien aufgerichtet hat. Ein Naturgesetz, das heißt ein Gesetz 
der Erfahrung, kann eine andre Geltung als in Erfahrungs- 
grenzen, also in den Grenzen des Endlichen, ohne Widerspruch 
nicht behaupten. Erhaltung einer unendlichen Kraft in un- 
vermehrtem und unvermindertem Quantum ist ein Widersinn. 
Auf die Erhaltung eines endlichen Kraftquantums aber ge- 
stützt, kann auch die Entwicklung nur endlich gedacht werden, 
mit dem Ziele also — des ewigen Todes, des Endes alles Wer- 



188 


dens. Spencer hat auch genug logisches Gewissen, um diese 
Konsequenz zu sehen und ausdrücklich auf sie hinzuweisen. 
Um aber über sie hinauszukommen, erlaubt er sich und uns, 
zu einer „spekulativen Hypothese*^ unsre Zuflucht zu nehmen, 
also die Grenzen möglicher Erfahrung, die wir doch mit ihm 
innezuhalten uns vorgenommen hatten, kühnlich zu überfliegen. 
Wer solchen abenteuerlichen Flug nicht mitmachen will,, 
dem bleibt nur die Wahl, entweder die Konsequenz des ewigen 
Todes alles Ernstes auf sich zu nehmen, oder sich der War- 
nungen der Kritik zu erinnern und ein Gesetz des Weltwerdens 
nicht anders als in regulativer Geltung, das heißt, nicht als 
Naturgesetz, sondern als Gesetz der Idee aufzustellen. 

Man sollte aber denken, daß hier die Wahl für den nicht 
schwer sein könne, dem der Gedanke der Entwicklung wirk- 
lich in Geist und Herz, man möchte sagen, in den Geist des 
Herzens und in das Herz des Geistes gedrungen ist. Zuerst 
logisch kann es doch nicht befriedigen, daß das Ziel alles 
Strebens der Tod alles Strebens, daß alle Arbeit nur Arbeit 
zum Nichts sein soll. Spencer hat das Wachstum der Er- 
kenntnis, welches mit jeder Erweiterung des Wissens nur 
größere Probleme gebiert, dem Wachsen einer Kugeloberfläche 
bei ins Unendliche wachsendem Radius verglichen, wobei die 
Berührung mit dem außen gelegenen Gebiet (dem Gebiet des 
noch nicht Erkannten), aber eben damit auch die Möglich- 
keiten der Erweiterung immerfort wachsen. Geistiges Wachs- 
tum will sich in der Tat selbst logisch nicht denken lassen ohne 
solchen Fortgang ins Unendliche. Oder man müßte das Merk- 
mal des Unendlichen ausstreichen können aus den Begriffen 
der Zahl, der Zeit, des Raumes, aus allen reinen Funktions- 
begriffen der Erkenntnis. Man beruft sich auf Erfahrung: aber 
eben Erfahrung, die Erfahrung der Wissenschaft, ist logisch 
nur zu verstehen als Prozeß ins Unendliche. 

Will man nun etwa den Ausblick ins Unendliche dem 
Denken offen halten, dem Willen aber verschließen? Als ob 
das Streben der Erkenntnis nicht Streben des Willens wäre. 
Als ob es einen Willen geben könnte, der nicht Wille zum 
Sein wäre, sondern zum Nichtsein, nicht Wille zum Leben, 



189 


sondern zum Tode. Wille ist nur der Ausdruck der Rich- 
tung des Bewußtseins; es gibt aber keinen Begriff einer Rich- 
tung, die nicht ms Unendliche foi tbestände. Hat man je dem 
Entwicklungsgedanken eine Kraft zugetraut zu begeistern (es 
dürfte auch heißen: zu beherzen), worin anders sollte solche 
Kraft liegen als in dem logischen Zwang, mit welchem dieser 
Gedanke den Blick des Geistes und das Streben des Willens 
über das Endliche hinaus zum Unendlichen erhebt ? Wer das 
festhalten will und andrerseits nicht etwa glaubt im Besitze 
einer mystischen Erfahrung des Unerfahrbaren, einer „Offen- 
barung“ des Unendlichen in der Endlichkeit zu sein, Jer wird 
logischer weise zum Standpunkt des regulativen Prinzips zurück- 
kommen müssen. Er wird zum wenigsten erkennen, daß man 
nicht aus Rückständigkeit, oder um des „paränetischen“ d. i. 
Phrasenwertes der Kantischen Idee willen, sondern aus 
schlichtem kritischen Gewissen, aus dem Bedürfnis klarer und 
gesicherter Prinzipien, logischer wie ethischer, diesen Stand- 
punkt gewählt hat. 

Für diesen also besagt ein Gesetz der Entwicklung nicht 
ein Naturgesetz zeitlich und räumlich begrenzten Werdens. 
Dieses untersteht rein der Herrschaft der Kausalität, die, ihrem 
ganzen Sinn nach auf den zeitlichen Eintritt von Ereignissen 
und zwar räumlich bestimmten Ereignissen bezogen, mithin in 
Raum- und Zeitgrenzen notwendig eingeschränkt, aus sich un- 
fähig ist, jenen Ausblick ins Unendliche zu eröffnen, der im 
Gedanken der Entwicklung unabweisbar liegt. Sondern es 
besagt ein Gesetz der Methode unseres Erkennens, ge- 
mäß welchem das Hinausgehen über jede solche Grenze, alle- 
mal wenn es zur Ergänzung der Erfahrung (also auf 
der Grundlage der bisher erreichten empirischen Erkenntnis) 
gefordert ist, eine bestimmte Richtung innezuhalten ge- 
bunden ist, die nicht von den jeweils vorliegenden Daten der 
Erfahrung abhängig und mit diesen wandelbar, sondern in 
unwandelbarer Geltung bestimmt ist durch das letzte 
Grundgesetz, von dem auch die Gesetze der Erfahrung schließ- 
lich abhängen: jenes Gesetz, wonach alle auch unbegrenzt sich 
erweiternde Mannigfaltigkeit des Erfahrbaren auf die Einheit 



190 


im Bewußtsein, durch die allein es ein Erfahrbares ist, not- 
wendig bezogen bleibt. 

Die Bedeutung dieses Gesetzes würde also, um ein durch 
die vorige Betrachtung nahegelegtes Beispiel zu wählen, in 
Hinsicht der Erhaltung der Kraft folgende sein. Als empi- 
rische Behauptung setzt die Erhaltung freilich ein endliches 
Kraftquantum voraus; denn nur in Begrenzung auf ein solches 
kann sie auf Erfahrung gestützt und an Erfahrung wiederum 
geprüft werden. Aber, als Ausdruck nicht eines begrenzten 
Tatbestandes, sondern eines Gesetzes unsres Verfahrens 
der Tatsachenerforschung — eines Gesetzes nicht der 
Natur, aber der Naturwissenschaft — kann und muß dies Prinzip 
erweiterungsfähig gedacht werden über jede vorläufig an- 
genommene endliche Begrenzung hinaus, je nachdem durch den 
Fortgang der Empirie selbst seine Erweiterung gefordert und 
genügender Anhalt zu ihr gegeben wird, das heißt, der Maß- 
stab der empirischen Prüfung und Bewahrheitung selbst sich 
erweitert. Also darf das sich erhaltende Kraftquantum nicht 
als ein für allemal fest, nicht als ein Absolutes gedacht 
werden, sondern genau als das, welches zur gesetzmäßigen 
Darstellung des jeweils bekannten Tatsachenbereiches gefordert 
ist, also von Stufe zu Stufe verschieden, und nur je für ein 
willkürlich abgegrenztes System, insofern nur dieses in 
Betracht gezogen wird, unwandelbar dasselbe. So bleibt 
die Erweiterung unbegrenzt offen, und ist doch nicht mit dem 
Unbegriff eines sich erhaltenden unendlichen Quantums zu 
rechnen. Es schwindet aber jeder verführende Schein der Be- 
hauptung eines absoluten Weltgesetzes; vielmehr handelt es 
sich nur und kann sich mit Sinn nur handeln um ein Gesetz 
der Methode unsrer, stets bedingten, relativen Erkenntnis. 
Über Gesetze des Seins könnten wir nicht gebieten, sie nicht 
erweitern, oder überhaupt ihnen einen andern Sinn und andere 
Grenzen bestimmen, als die es ihnen selbst gefiele uns zu 
offenbaren. Dagegen das Verfahren imsrer Erkenntnis ist 
in unsrer Hand. Wir können seinen Geltungsbereich, sofern 
es in sich, seinem logischen Sinn nach, erweiterungsfähig 
ist, erweitern, nicht in grundloser Willkür, sondern nach dem 



191 


Bedürfnis der Erfahrung und in der Richtung, welche als 
die ihres gesetzmäßigen Fortschritts durch die kritische 
Untersuchung ihres gesamten Verfahrens ist festgestellt 
worden. 

Tatsächlich ist die Wissenschaft stets so vorgegangen, 
aber oft nicht mit klarem Bewußtsein des Grundes und Rechtes 
solches Vorgehens, daher auch mit vielfacher Verwischung der 
genauen Grenzen der Begriffe. Besonders die Entwicklungs- 
lehre hat sich das Recht der unbegrenzten Erweiterung stets 
unbefangen genommen; aber sie ist, mangels kritischer Be- 
sinnung, unvermeidlich in die soeben am Beispiel Spencers 
auf gezeigte Antinomie geraten. Berichtigt man dies, so bleibt 
die ganze, umfassende empirische Arbeit Spencers wie seiner 
Nachfolger in ihrem vollen Worte bestehen. Nur ist zu for- 
dern, daß sie sich über den Geltungscharakter ihres eigenen 
Prinzips klar werde, und damit die Anwandlungen zum Rück- 
fall in den „Dogmatismus“, sei es im Sinne der „Thesis“ oder 
der „Antithesis“, endlich überwinde. 

Jetzt nun handelt es sich nicht um Weltentwicklung, nicht 
um den „Kampf ums Dasein am Himmel“, noch um das 
Werden der Organismen auf Erden oder in andern Weiten, 
sondern um Entwicklung von Erkenntnis und Willen, und 
zwar sozialer Erkenntnis und sozialem Wollen des Menschen, 
um Geschichte. Unter Geschichte im Vollsinn des Worts ver- 
stehen wir nicht ein jedes Geschehen, woran Menschen und 
eine Gemeinschaft von Menschen mit Erkenntnis und Willen 
beteiligt sind, obwohl darin stets schon ein Keim von geschicht- 
lichem Leben liegt; sondern erst ein solches Geschehen, woran 
die Idee der Menschheit oder, dasselbe nur anders ausgedrückt : 
woran die soziale Vernunft des Menschen beteiligt ist. Kein 
andres Geschehen geht die Geschichte eigentlich an, als welches, 
sei es noch so entfernt, zusammenhängt mit dem Wohl und 
Wehe der Menschheit; das heißt, da Menschheit nur eine Idee 
ist, mit dem Wohl und Wehe eben dieser Idee, in ihrem schritt- 
weis deutlicheren Offenbarwerden in menschlichem Gemein- 
schaftsleben. Hieraus folgt, daß die gesetzliche Stufenfolge 
geschichtlichen Werdens nur vom Standpunkte der Idee, 



192 


in ihrer Zurückbeziehung aber auf die Gesetze der Erfahrung, 
entworfen werden kann, ihre Aufstellung also auch nur regula- 
tive Geltung beanspruchen darf; daß sie aber, eben dieser 
Ableitung zufolge, brauchbar sein muß, die empirische Erfor- 
schung des geschichtlichen Werdeganges der Menschheit zu 
regulieren. Ich erkenne dankbar an, daß ich bei der Auf- 
stellung dieser Stufenreihe mich an der Arbeit Spencers orien- 
tieren konnte. Aber ich wußte von ihm nur zu lernen, indem 
ich erkannte, daß seine Entwicklungsgesetze, die er für Natur- 
gesetze hält, vielmehr regulative Prinzipien im Sinne Kants 
sind und nur deren Geltung rechtmäßig behaupten können, 
zugleich aber ihnen eine Erweiterung zu geben geeignet sind, 
welche vom Standpunkt der kritischen Philosophie selbst ge- 
fordert und möglich war. 

Ging nun Spencer von der Natur aus, so haben wir viel- 
mehr auszugehen von der Naturerkennlnis. 

Denn das ist die erste, irn Grunde die einzige Voraus- 
setzung, die wir zu der beabsichtigten Deduktion nötig haben: 
daß das Gesetz der Entwicklung im letzten Grunde eines 
und dasselbe sein muß für alles, was irgend eine Gestaltung 
des Bewußtseins ist ; weil es seine Wurzel haben muß im Grund- 
gesetze des Bewußtseins selbst. 

Ist also auch nur für ein einzelnes Gebiet des Bewußt- 
seins, womöglich für das, welches allen andern zur Grundlage 
dient, das fundamentale Entwicklungsgesetz bekannt, so muß 
die Übertragung auf die übrigen Gebiete sich leicht vollziehen 
lassen, und darf man voraus erwarten, daß sie zu richtigen 
Ergebnissen führt. Nun pflegt allgemein zugestanden, ja für 
selbstverständlich gehalten zu werden, daß es jedenfalls im 
Naturerkennen einen Fortschritt von festbesiimmter 
Richtung gibt. Und doch ist das an sich nicht selbstver- 
ständlicher als der Fortschritt auf irgend einem andern Ge- 
biete des Geistes. Das hätte längst auf die Frage führen 
müssen, ob nicht ein analoges, ja dasselbe letzte Gesetz in 
allen andern Gebieten geistigen Lebens walte. Aber man hielt 
die Gesetzlichkeit der Natur für etwas, das außer uns da 
sei, in dessen Erkenntnis wir also nur von außen eindrängen. 



193 


Allein, wenn nicbt diese Gesetzliclikeit, dem letzten regieren* 
den Prinzip nach, vielmehr Gesetzlichkeit des Bewußtseins 
wäre, so wäre es widersinnig, den allein möglichen Fortgang 
ihrer Erkenntnis vor der Erfahrung voraus auf einen all- 
gemeinen Ausdruck bringen zu wollen, wie man es, nur ohne 
gehörige Besinnung, gleichwohl immer tut. 

Dagegen bot der erkenntniskritische Weg, den Kant der 
Philosophie eröffnet hat, von Anfang an die Möglichkeit, ja 
mußte direkt auffordern, ein Prinzip der verlangten Art auf 
deduktivem Wege aufzustellen. Kant selbst hat es aufgestellt, 
indem sich ihm als letztes Resultat seiner neuen Grundlegung 
der „Erfahrung“ jene „regulativen Prinzipien“ ergaben, nach 
denen die Naturerkenntnis sich ihrem unendlich fernen Ziele 
„asymptotisch“, d. h. ohne es je zu erreichen, doch annähern 
müsse. Seine drei regulativen Prinzipien sind die der Homo- 
geneität, der Spezifikation und der Kontinuität oder Affinität; 
wofür wir die geläufigeren Ausdrücke setzen: der Generali- 
sation, der Individualisation und des stetigen Über- 
gangs. Dies besagt: Naturerkenntnis strebt erstens zur 
höchsten erreichbaren Allgemeinheit und damit geschlossensten 
Einheit der Prinzipien, auf denen alle Naturerkenntnis im 
letzten Grunde ruhen müsse. Sie strebt zweitens, gleichwohl 
die Einzelerscheinungen, und zwar je mehr und mehr in ihrer 
unverkürzten Individualität zu erfassen; d. h. sie will die ver- 
langte Einheit des Prinzips nicht etwa erschleichen durch 
irgendwelche Vergewaltigung oder bequeme Vernachlässigung 
der vollen Konkretion der Erfahrung: der gesunde Sinn des 
Empirismus, den der Idealismus, wie wir sehen, vollinhaltlich 
in sich aufzunehmen vermag. Diese beiden Forderungen, die 
leicht einander entgegengesetzt scheinen können, sind aber 
vereinbar, wenn drittens die scheinbar grenzenlose, daher 
unbestimmbare Mannigfaltigkeit der Erscheinungen einen 
stetigen Übergang erkennen, oder vielmehr sich a priori in 
solchem darstellen läßt, so daß nirgends Lücken bleiben, sondern 
sich voraussehen läßt, daß auch der erst vermißte Zusammen- 
hang von einem Erscheinungsgebiet zum andern sich genauerer 
Forschung endlich entdecken muß, zum mindesten in zulässiger 

Kfttorp, Sosialpftdagogik. 4. Aull. 13 



194 


Hypothese, einhellig mit aller bekannten Gesetzlichkeit der 
Natur sich wird konstruieren lassen. 

Es müßte lehrreich sein, diese Prinzipien an der Geschichte 
der Wissenschaften in strenger Durchführung zu bewähren; 
daß sie sich aber bewähren, wird jeder, der mit einem be- 
liebigen Forschungsgebiet historisch vertraut ist, ohne weiteres 
bejahen. Diese Prinzipien haben eine innere Notwendigkeit, 
die sich dem Prüfenden sofort aufdrängt und in der An- 
wendung mehr und mehr bestätigt. Ihre (hier nur anzu- 
deutende) zwingende Ableitung aber — aus der Natur des 
Bewußtseins überhaupt als Einheit des Mannigfaltigen 
und zwar durch Kontinuität, d. i. aus der Urfunktion des 
Denkens, wie sie sich ebenso in den Kategorien, vorzüglich 
deutlich in denen der Qualität ausspricht — gibt der Über- 
zeugung Gewicht, daß in der Tat dieselbe Gesetzlichkeit sich 
durchgehend auf allen Gebieten des Bewußtseins bewähren 
muß, also nicht in der engeren Naturwissenschaft allein, 
sondern in aller theoretischen Wissenschaft, folglich 
auch in aller Technik, Naturtechnik wie sozialer Technik, 
und so endlich im Gebiet der konkreten, individuälSa wie 
sozialen Sittlichkeit, mithin in der Entwicklung des sozialen 
Lebens in jeder Gestalt, in der Entwicklung des Menschentums 
überhaupt. Dies soll nun, und sei es in noch so flüchtigem 
Umriß, für die hier in Betracht kommenden Hauptgebiete 
durchgeführt werden. 

In nächster Verbindung mit der Entwicklung der Natur- 
erkenntnis steht die Entwicklung der Technik, zunächst im 
engem Sinne der Naturtechnik. Man kann nicht verwundert 
sein hier dieselben Grundzüge der Entwicklung wiederzufinden. 
Worin bestehen die großen, die umwälzenden Fortschritte der 
Technik? Erstlich darin, daß eine Fülle technischer Aufgaben, 
die vordem einzeln bearbeitet wurden, eine einheitliche, gene- 
relle Lösung finden. In primitiven Stadien der Technik wird 
an tausend Stellen je aut besondere Art, weil unter besonderen 
Schwierigkeiten oder begünstigenden Umständen, die Lösung 
derselben technischen Aufgabe in Angriff genommen, vielleicht 
in irgend welchem Qrade auch erreicht; wogegen auf ent- 



195 


wickelterei Stufe an einer einzigen Stelle das Problem zugleich 
für alle gelöst, und das Prinzip sei ler Lösung alsbald auf eine 
Menge gleichartiger Probleme ausgedehnt wird. Die konkreten 
Beispiele liegen nicht ferr. Man denke an das Verhältnis der 
Maschinenarbeit zur Handarbeit. Was tausend Hände, jede 
von der andern individuell verschieden, unter tausendfach 
verschiedenen Bedingungen mühsam und ungleich vollbrachten, 
leistet eine einzige Maschine, und bald tausend gleiche, und 
tausende ähnlicher Aufgaben vereinfachen sich auf dieselbe 
Weise, durch Anwendung wesentlich desselben technischen 
Vorteils, dessen Bedeutung sich an einem einzelnen Punkte 
einmal herausgesteht hat. Von der maschinellen Technik vor- 
zugsweise bedingt ist ihre natürliche Ergänzung, der Fernver- 
kehr, dessen im erklärten Sinne generalisierende Rolle sofort 
auf fällt. Er bringt technische Errungenschaften fernster Zonen 
in rascheste Verbindung und führt sie, der Entfernung trotzend, 
wie auf einem Platz zusammen, statt daß sie sich sonst an 
vielen getrennten Plätzen isolieren, daher ohne Einfluß auf 
einander bleiben mußten, oder doch erst in langer Zeit ein 
allmählicher Austausch sich anbahnte. 

Daß diese generalisierende Tendenz, einmal eingeleitet, 
unaufhaltsam vorwärts drängt, diese Einsicht ist es zumeist, 
die wegen ihres greifbaren Einflusses auf Wirtschaft und Recht 
gegenwärtig mehr und mehr in die sozialwissenschaftliche For- 
schung eindringt und für sie wegweisend wird. Aber mit ihr 
geht eine scheinbar entgegengesetzte, nämlich individuali- 
sierende Tendenz Hand in Hand. Nämlich gerade die immer 
generellere Bewältigung der technischen Aufgaben ermöglicht 
zugleich die genaueste Anpassung an das jeweilige individuellste 
Bedürfnis, also eine Spezifikation der technischen Leistungen ; 
die Lücken des bis dahin Geleisteten schließen sich mehr und 
mehr, es entsteht eine Tendenz sie gleichsam kontinuierlich 
auszufüllen. Die Aufgaben vervielfältigen sich, in dem Maße 
wie die Lösungen sich vereinfachen. So gestattet und fordert 
der durch Maschinentechnik und Verkehrserleichterung natur- 
gemäß sich steigernde und seiner unermeßlichen, in die Augen 
springenden Vorteile wegen sich immer mehr ausdehnende 

13 * 



196 


Großbetrieb — selbst ein sehr umfassendes Beispiel der Generali- 
sation der Technik — zugleich eine umso weitergehende Tei- 
lung der Arbeiten und dadurch planmäßigere Erschöpfung weit 
mehrerer, womöglich aller einem bestimmten Gebiet ange- 
hörenden und verwandten Probleme (also Spezifikation), bis 
zjir kontinuierlichen Ausfüllung jeder Lücke. Jeder neue 
änd eröffnet eben wieder neue technische Möglichkeiten, und 
erlaubt damit Aufgaben zu stellen, an die man zuvor nicht 
gedacht hatte, weil man nicht daran denken konnte. Auch 
diese Entwicklung ist zwingend, und wird es mehr und mehr, 
je weiter sie vorrückt. 

Unschwer ergibt sich nun schon, daß auch die sozialen 
Ordnungen, zunächst also die Ordnung der Wirtschaft 
sich nach demselben streng notwendigen Entwicklungsgang in 
gesetzmäßiger Weise gestalten muß. Es sei nur erinnert an 
das Verhältnis der Geldwirtschaft zur Naturalwirtschaft, und 
der entwickelteren Gestalt der ersteren, der Kreditwirtschaft, 
zu ihren primitiveren Formen. Der Fortschritt der wirtschaft- 
lichen Technik, selbst bedingt durch den der Naturtechnik, 
hat sich als mächtigen Schöpfer sozialer Einheiten, 
auch der „nationalen“ Einheiten modernen Sinnes, und schließ- 
lich internationaler Beziehungen, unwidersprechlich bewiesen, 
und es läßt sich mit zweifelloser Bestimmtheit Vorhersagen, 
daß er sich auch ferner und mit wachsendem Zwange so be- 
weisen wird. Der vergrößerte Maßstab der Beschaffung der 
Lebensbedingungen erzwingt einen entsprechend größeren Maß- 
stab der sozialen Ordnungen. Diese haben ja keine andere 
letzte Materie als die soziale Arbeit; wird diese nun infolge^ 
der gekennzeichneten Entwicklung auf einen neuen, immer 
breiteren Boden gestellt, so können die sozialen Ordnungen 
nicht dauernd auf den alten Grundlagen stehen bleiben; der 
neue Gehalt muß die alten Formen endlich sprengen, um sich 
angemessenere zu schaffen. Auch hier ist zwingender Zusammen- 
hang, und er zeigt sich umso zwingender, nicht je weniger, son- 
dern je mehr man den Anteil von Bewußtsein und Willen dabei 
in Rechnung zieht ; wie sollten sie ein Gesetz, das seinen letzten 
Ursprung im Bewußtsein hat, nicht auch als ihr eigenes 



197 


Gesetz erkennen und nur desto nachdrücklicher zur Geltung 
bringen? 

Somit drängt dieselbe Entwicklung, die zur immer ein- 
heitlicheren Erfassung de^ naturwissenschaftlichen und tech- 
nischen Jpjobleme trieb, auch zur immer einheitlicheren Lösung 
der Probleme sozialei Organisation. Organisation, das 
ist eigentlich nur der kurz zusammenfassende Ausdruck jener 
Dreieinheit der Grundgesetze der Entwicklung in sozialtech- 
nischer Hinsicht: fortschreitende Vereinheitlichung, doch ohne 
Unterdrückung, vielmehr erst zur vollen Belreiung der Indi- 
vidualitäten, durch Herstellung eines nach Möglichkeit stetigen 
Übergangs von Glied zu Glied, in allmählicher Ausmerzung der 
schroffen sozialen Diskontinuitäten, die eine so sichtliche 
Quelle gefährlichster Erschütterungen des Gemeinschafts- 
lebens sind. Wie die Natur sich der unaufhaltsam vordringen- 
den Forschung in mehr und mehr „organischer“ Einheit ent- 
hüllt, wie die Technik sich zusehends organisiert, so drängen 
erst recht di| sozialen Ordnungen, die mehr und mehr den 
Charakter willentlicher Regelung annehmen, eben deshalb 
zu immer organischeren Formen. Im Ideal des „Sozialis- 
mus“ wird nur meist zu einseitig der Faktor der Generalisation 
(Zentralisation) der sozialen Funktionen allein betont; das wird 
d|inn von der einen Seite leicht über Gebühr gepriesen, von der 
andern gescholten als Ertötung aller Individualität. In Wahr- 
heit würde (wie auch oft genug schon gesagt worden ist) gerade 
die einheitlichere Lösung der nächsten, dringlichsten Aufgaben 
sozialer Organisation eine desto weitergehende Individuali- 
sierung auf der andern Seite möglich machen, ja zu ihrer 
eigenen Durchsetzung und Aufrechterhaltung erfordern; an der 
dagegen bei der bis jetzt überwiegenden Desorganisation der 
Wirtschaft wahrlich kein Überfluß, sondern empfindlichster 
Mangel ist. Die durch bessere Organisation erleichterte Be- 
friedigung der nächsten rohesten Bedürfnisse würde gerade 
Raum schaffen für eine individuell freiere Betätigung in allem, 
was über die unmittelbare Notdurft hinausgeht. Gerade der 
unbegrenzte ökonomische Individualismus müßte auf die Länge 
den Menschen uniformieren, den Arbeiter nicht bloß, sondern 



198 


auch den Unternehmer zum Sklaven seiner Arbeit machen; 
während eine mehr organische soziale Ordnung eine bis jetzt 
unmögliche Entfaltung der Individualitäten erst möglich 
machen würde.*) 

Hier haben wir Generalisation und Individualisation; und 
die Vermittlung, die man vermißte, liegt auch hier in der Kon- 
tinuität; je reicher die Individualitäten sich entwickeln, umso 
mehr wird die eine neben der andern Raum haben, umso voll- 
ständiger die Lücken und Klüfte sich schließen, die jetzt die 
verschiedenen sozialen Klassen und Unterklassen und wieder 
Unterklassen der Unterklassen innerlich oft mehr auseinander- 
halten als wenn turmhohe Mauern zwischen ihnen errichtet 
wären. Diese Diskontinuität ist das auffallendste Krankheits- 
symptom des gegenwärtigen, schwierigen Übergangsstadiums. 
Aber auch Platos Entwurf verfehlte es durch auffällige Ver- 
nachlässigung der sozialen Kontinuität. Ihm sind die sozialen 
Funktionen ganz unsozial wie mit dem Beil auseinanderge- 
schlagen, ohne Übergänge, ohne wirklichen, inneren Zusammen- 
halt, starr und unbiegsam; daher die kastenartige Sonderung 
seiner drei Stände, die mit der verlangten Einheit des Staats 
so schlecht harmoniert; und daher die fernere, noch verwunder- 
lichere Folge, daß er überhaupt keine aufsteigende Entwicklung 
anerkennen kann, jede Veränderung vielmehr nur Verschlech- 
terung ist, und also, da es sich auch unmöglich zeigt, die Ver- 
änderlichkeit ganz auszuschließen, folgerecht eine lediglich ab- 
steigende Entwicklung vorausgesagt werden muß. Das Prinzip 
der Kontinuität verbietet aber vor allem diese starre Verteilung 
der Grundfunktionen an gänzlich getrennte Klassen. Es ist 
bei Plato, als ob nicht derselbe Mensch mit einem Organ diese, 
mit einem andern eine andre Funktion verrichten, sondern der 
eine ganz und nur Hirn, der andre nur Arm, ein dritter gar bloß 
Magen sein sollte. So schließt Plato die Klasse der produk- 
tiven Arbeiter gänzlich von jeder politischen Funktion (wenn 
man nicht etwa das blinde Gehorchen für eine solche ausgeben 
will), und gar auch von jeder geregelten geistigen Ausbildung 

*) S. die Vergleichung von Morus (Utopia) mit Fr. Engels, bei 
Stümmler, Wirtschaft und Recht, *670, Anm. 224. 



199 


aus, während umgekehrt die regierende Klasse lediglich der 
sozialen Arbeitsteilung halber von jeder wirtschaftlichen Sorge 
entbunden sein soll. 

Statt dessen wäre die Folge des Kontinuitätsprinzips, daß 
von jeder sozialen Funktion zu jeder ein stetiger Übergang 
und zwar grundsätzlich für jedes Glied der Gemeinschaft mög- 
lich wäre. Die sozialen Unterschiede würden dabei keineswegs 
überhaupt nivelliert, wie es durch das Prinzip des Sozialismus 
in der Tat auch nicht gefordert wird. Man will doch Ge- 
meinschaft; Gemeinschaft aber bedeutet weder Aufhebung der 
Individualität in einer starren, undifferenzierten Einheit, noch 
umgekehrt ein bloßes Nebeneinanderstehen Einzelner unter 
einer nur äußerlich verbindenden Ordnung, sondern eine inner- 
lich im Willen und Bewußtsein jedes Einzelnen gegründete, 
also die Autonomie des Individuums keineswegs aufhebende Ein- 
heit. Die bisher erreichte „Freiheit“ des Individuums verzichtet 
dagegen auf diese innere Einheit und wird dadurch zur Des- 
organisation. In dieser entfaltet sich aber die echte geistige 
Individualität gerade nicht, sondern das Leben mechanisiert 
sich und mechanisiert damit die Menschen; die gemeinschafts- 
lose, bloß formal-rechtliche Freiheit gerade hat den Menschen 
zur Maschine gemacht; echte Gemeinschaft würde im Gegen- 
teil die Individualität entbinden. Indessen kann man ver- 
suchen, diesen derzeitigen Zustand daraus zu verstehen, 
daß unter der zu schnellen Erweiterung des technischen, wirt- 
schaftlichen und sozialen Gesichtskreises die bisherigen Organi- 
sationen von ihrer bindenden Kraft schon viel eingebüßt haben, 
während nicht ebenso schnell neue Organisationen (die jedoch 
überall im Werden begriffen sind) sich klar herausbilden und 
in den Gemütern der Menschen festwurzeln konnten. 

Endlich waltet dasselbe Gesetz höchst erkennbar in der 
sittlichen Entwicklung. Hier ist völlig klar, wie das sitt- 
liche Gesetz alles menschliche Bestreben mit schlechthin all- 
gemeingültiger Form umspannt, gerade durch die allgemeine 
Ordnung der Zwecke aber wiederum jedem sittlich möglichen 
Zwecke das Recht seiner Besonderheit gesichert, ja in weiter und 
weiter gehender Besonderung eine allseitige Entfaltung 



200 


des Menschenwesens im lückenlosen Zusammenhang 
seiner verschiedenen Grundrichtungen ermöglicht wird. Ja 
ganz allgemein darf dies als das Grundgesetz der mensch- 
lichen Bildung ausgesprochen werden, die ja in der sitt- 
lichen Ordnung der Zwecke ihr letztes Fundament hat: das 
menschliche Wesen in dem ganzen Reichtum seines Gehalts 
doch zugleich in Einheit und stetigem Zusammenhang darzu- 
stellen und im gegebenen Subjekt nach dessen Vermögen der 
Vollendung zu nähern. 

Mit wahrem philosophischen Tiefblick hat unter den 
großen Pädagogen Pestalozzi genau hierauf seine Theorie 
gegründet. Seine obersten Grundsätze sind — wie wenn er 
sie aus Kant abgeleitet hätte (was doch erweislich nicht der 
Fall ist) — : die unteilbare Einheit und wesentliche Iden- 
tität der menschlichen Grundkräfte; andrerseits deren not- 
wendig harmonische Entfaltung nach allen wesent- 
lichen Richtungen, so daß keine einzelne Seite vergewaltigt oder 
ungerecht bevorzugt wird; endlich der stetige, lückenlose 
Fortschritt von den elementarsten Anfängen bis zu den 
höchsten Höhen des Menschentums. Und dem entspricht in 
genauer Konsequenz, daß an solcher wahrhaft menschlichen 
Bildung jeder ohne Unterschied des Standes und 
Geschlechts, lediglich nach dem Maße seiner Befähigung, 
in gleichheitlicher und stetig übergehender Weise teilhaben 
soll, im Gegensatz zu der Diskontinuität, in der bis dahin 
und noch heute, nach dem berühmten Gleichnis Pestalozzis, 
die Stockwerke der Bildung, nach den sozialen Klassen ge- 
schieden, gleichsam ohne verbindende Treppen dastehen. 

Faßt man alles Gesagte zusammen, so ergibt sich die Idee 
eines allgemeingültigen funktionalen Zusammen- 
hanges unter den notwendigen Grundfaktoren des 
sozialen Lehens, begründet in einem Verhältnis von Me- 
thoden, die zuletzt darauf zielen, zwischen dem eigenen 
Gesetze der Idee und der allgemeinen Gesetzlichkeit der 
Natur, die von Haus aus in zentral begründetem, wurzel- 
haftem Zusammenhang stehen, auch im Bewußtsein der Men- 
schen durchgreifende Verbindung zu stiften; was geschieht 



201 


durch systematische Unterordnung der Naturtechnik unter die 
Zwecke der sozialen Technik, mHhin der wirtschaftlichen 
unter die regierende Tätigkeit, und beider unter die Leitung 
der praktischen Vernunft, also die bildende Tätigkeit; alles 
dieses aber in steter bewußter Rücksichtnahme auf den gesetz- 
mäßigen Fortschritt in der eben durch die Oberhoheit der 
Vernunft diktierten Richtung der Vereinheitlichung, zu- 
gleich Individualisierung und kontinuierlichen Ver- 
bindung, in Hinsicht der zu einander in Verhältnis zu 
setzenden Funktionen sowohl als der an der Gemeinschaft 
beteiligten Subjekte. 

Das Grundgesetz des Bewußtseins ist es, das diese so 
merkwürdig durchgehende Analogie, in der die gleichen Prin- 
zipien in gleicher Stellung zu einander auf allen Gebieten 
des sozialen Lebens wiederkehren, erklärt, und durch welches 
alle diese Gebiete wiederum unter sich, ohne Aufhebung ihrer 
Besonderung, in kontinuierlicher Verbindung stehen und so 
zur generellsten Einheit, im Begriff einer Entwicklung des 
Menschentums, sich zusammenfassen. Im Bewußtsein ist 
alles Menschliche begriffen, mithin auch seinem letzten Gesetze 
mit Notwendigkeit unterworfen. So wird ebenfalls klar, wes- 
halb für die Gemeinschaft wie für das Individuum jenes Grund- 
gesetz die Bedeutung eines Entwicklungsgesetzes annehmen 
muß; es läßt sich, auch für die Gemeinschaft, geradezu als 
pädagogisches Gesetz aussprechen, als das Gesetz jener 
Selbsterziehung, in der das Kind „Mensch“ zur Reife eines 
Vernunftwesens allmählich emporsteigen soll. 

Bei diesem pädagogischen und zwar sozialpädagogi- 
schen Ideal aber wird unsre Betrachtung nun auch Halt 
machen müssen. Darüber hinaus bliebe nur eins noch mög- 
lich : die Entdeckungsfahrt nach einem höchst moralischen 
„Utopien“. Allein wir stimmen dem „wissenschaftlichen Sozia- 
lismus“ auch darin bei, daß der Erdichtung sozialer Schlaraffen- 
länder, über die dichterische Fassung hinaus, ein eigener 
methodischer Wert nicht innewohnt. Die berauschende Vor- 
stellung eines Endzustands der Menschheit, in dem alle Pro- 
bleme glatt gelöst, also auch gar keine zu lösende Aufgabe 



202 


mehr einem menschlichen Streben übrig gelassen wäre, steht 
auf einer Linie mit den metaphysischen Träumen einer kind- 
lichen Stufe der Wissenschaft, die sich mit endgültigen 
Lösungen aller Rätselfragen des theoretischen Verstandes 
schmeicheln konnte. Eine zur Reife kritischer Besinnung ge- 
diehene Forschung weiß, daß der Arbeit der Menschheit Voll- 
lendung nie beschieden ist; sie begnügt sich, mit Lessing, an 
der tieferen, unerschöpflicheren Freude des ewigen Fort- 
schreitens. Der Weise nach menschlichem Zuschnitt ist, wie 
bereits Sokrates einsah, nicht der Wissende, sondern wer, 
sein notwendiges Nichtwissen wissend, um besseres und besseres 
Wissen methodisch bemüht ist. Nicht anders steht es mit dem 
praktischen Ideal, sei es für den Einzelnen oder für die Gemein- 
schaft. Eine um die mögliche Näherung zur systematischen 
Einheit ihrer Zwecke methodisch bemühte menschliche 
Gemeinschaft: ein darüber hinausgehendes Ideal mag sich aus- 
denken, wer nach etwas anderem als den Bedingungen eines 
menschlich-irdischen Soziallebens fragt. 

Daß darin aber auch die den individuellen Tugenden 
entsprechenden Grundeigenschaften eines sittlich geordneten 
Gemeinlebens eingeschlossen sind, dafür läßt sich der Beweis, 
wie ich denke, überzeugender führen, als ihn Plato für seinen 
„Staat“ zu liefern imstande war. Als letzte Probe auf das 
erhaltene Ergebnis sei denn noch dies ausgeführt. 


§ 19 , 

Die Tugenden der Gemeinschaft. 

Das System der individuellen Tugenden ergab sich aus 
dem normalen Verhältnis der Grundfaktoren menschlicher 
Aktivität überhaupt. Nachdem nachgewiesen ist, was diese 
selben Grundfaktoren im sozialen Leben bedeuten, ergibt sich 
nunmehr leicht die Übertragung jenes ganzen Systems auf die 
Tugend der Gemeinschaft. 

Erstlich die Tugend der Wahrhaftigkeit, d. i. der 
Herrschaft des Bewußtseins ist in der gedachten Ord- 



203 


Bung des Gemeinschaftslebens dargestellt, so wie sie es in einem 
menschlichen Dasein auf Erden nur sein kann. Das war ja 
der Leitgedanke dieser ganzen Deduktion: daß das soziale 
Leben in allen seinen Funktionen dem (iesetze des Bewußt- 
seins unterstellt werden und sich mehr und mehr nach ihm 
gestalten müsse. In Hinsicht der untersten Funktion hat 
man es richtig dahin ausgedrückt: daß der Mensch die Pro- 
duktion beherrschen müsse, nicht die Produktion den Menschen. 
Ganz das Gleiche trifft auf die Rechtsordnung zu. Und aus 
eben diesem Gesichtspunkte haben wir die beherrschende 
Steilung der bildenden Tätigkeiten im sozialen Leber bereits 
oben gefordert. Die Philosophen müßten Könige sein oder 
die Könige philosophieren, meinte Plato. Wir geben ihm 
Recht, bis auf das Eine, daß an Stelle der Philosophen (zu 
denen ich ein so gutes Zutrauen leider nicht zu fassen ver- 
möchte) die Philosophie zu setzen ist, die Philosophie ganz 
im Platonischen Sinne des unbedingten Bestrebens auf ver- 
nunftgemäße Gestaltung aller menschlichen Dinge. Eben 
diese kann nicht Sache einer abgesonderten Klasse Philo- 
sophierender sein, sie fordert Durchdringung des ganzen 
sozialen Organismus mit dem Sinn und den Kräften der Wahr- 
heitserkenntnis in praktischer wie theoretischer Bedeutung. 
Wahrheit ist nun einmal erste Bedingung menschlicher Gemein- 
schaft, die mit Unwahrheit dauernd nicht bestehen kann. 
Vollends den Mächten der toten Natur läßt sich nur mit dem 
aufrichtigen Willen zur Wahrheit beikommen; sie entlarvt 
und straft jede Unwahrheit noch pünktlicher als das soziale 
. Leben, das sich auf Zeiten wenigstens und in engem Bereich 
mit i^r nur allzu gut einzurichten versteht. 

Eine Durchdringung des ganzen Gemeinschaftslebens mit 
dem Sinn der Wahrheit hat aber zur Voraussetzung die 
gleichheitliche Teilnahme aller an jener menschlichen 
Bildung, die erst im klaren und sicheren Bewußtsein des 
sittlichen Gesetzes der Gemeinschaft selbst ihren Gipfel wie 
ihre innerlichste Begründung erreicht. Ohne tätliche An- 
erkennung des gleichen Bildungsanspruchs aller bleibt 
die Erhebung sittlicher Forderungen im sozialen Leben selber 



204 


eine innere Unwahrheit. Verlangt man vom Menschen irr 
jeder sozialen Stellung, daß er dem Sittengesetz als höchster 
Norm sein ganzes Verhalten bedingungslos unterordne, nun 
so schaffe man auch, daß er zur selbstgewissen Einsicht, zum 
unverlierbaren tatkräftigen Bewußtsein des sittlichen Gesetzes 
auf dem einzigen dahin führenden Wege, dem Wege freier 
^und harmonischer, wahrhaft menschlicher Bildung in einer 
nach Möglichkeit sittlich geordneten Gemeinschaft und durch 
unmittelbare Teilnahme an ihr geführt wird. Der Glaube, 
daß der Wille des Guten ohne diese Bedingungen als Gnade 
des Himmels auf ihn herabkommen könne, oder daß er aus 
irgend einem Katechismus zu „lernen“ sei wie das „kleine 
Einmaleins bis zehn“, ist durch die Tatsachen nachgerade 
gründlich genug widerlegt. Die Organisationen zur mensch- 
lichen Bildung, die zum gedachten Ziele zu führen geeignet 
wären, werden in den nächsten Paragraphen erwogen werden. 
Das Allgemeine aber darf hier schon vorausgesetzt werden, 
daß im letzten Grunde die Gemeinschaft allein er- 
zieht, daß Menschenbildung in jedem Betracht ebenso sehr 
Gemeinschaftssache wie andrerseits letzte Basis der Gemein- 
schaft ist; woraus die soziale Bedeutung unsrer ersten Tugend 
klar genug folgt. 

Jedes Bestreben aber, irgendwelche konkreten Forde- 
rungen der sittlichen Vernunft in der Gemeinschaft und für sie 
zu tatsächlicher Anerkennung zu bringen, führt auf den Weg 
der sozialen Organisation, als der Willensform des 
Gemeinschaftslebens. Auf diese wird also die zweite, der 
individuellen Tapferkeit entsprechende Tugend der Ge- 
meinschaft sich beziehen. Es ist das Ein stehen für Ge- 
setzlichkeit; für Gesetzlichkeit, man möchte fast sagen 
um jeden Preis, nur nicht um den Preis der sittlichen Wahrheit. 

Das Gesetz, die soziale Regelung überhaupt, ist der einzig 
faßbare Ausdruck des Willens der Gemeinschaft. Sie 
bleibt es selbst dann, wenn sie tatsächlich keineswegs den 
Willen aller oder auch nur der Mehrheit zutreffend zum 
Ausdruck bringt. Wäre das selbst der Fall, so wäre sie doch 
nicht deshalb sittlicher Achtung würdig, weil es die Vielen 



205 


'Bind, die in ihr ihren Willen kundgeben. Der Wille der Vielen 
kann irren, so gut wie der jedes Einzelnen; sind es doch nur 
viele Einzelne, Sittliche Achtung verdient die soziale Ord- 
nung an sich, ihrem Inhalt nach, nur, soweit sie die Oberhoheit 
der sittlichen Vernunft wenigstf^ns im Grundsatz anerkennt 
und einen ernstlichen Versuch darstellt, ilir Gebot in der ge- 
gebenen Gemeinschaft zur Herrschaft zu bringen. 

Kann also die soziale Regelung überhaupt mit dem 
Anspruch auf unverbrüchliche Beobachtung, welches auch 
ihr Inhalt sei, berechtigter Weise auf treten? Gibt es 
ein ursprüngliches sittliches Recht des Hechts? 

Wir beantworten die Frage ♦) dahin: Eine soziale Rege- 
lung überhaupt und zwar in verbindlicher Form, 
d. i. ein Recht, ist unumgängliche Voraussetzung einer ver- 
läßlichen Gemeinschaftsordnung, wir dürfen dafür auch sagen: 
eines „Willens“ der Gemeinschaft überhaupt, also 
auch einer solchen Ordnung, eines solchen sozialen Willens, 
der den Forderungen sittlicher Vernunft auch nur in irgend- 
welchem Maße soll angenähert werden können. Die Be- 
deutung einer formalen Bedingung verläßlicher sozialer Ord- 
nung überhaupt sichert dem Recht eine Verbindlichkeit, die, 
in abstracto auch vom sittlichen Gesetz nicht abhängend, an- 
gesichts der Forderung der sittlichen Gestaltung des sozialen 
Lebens ihr volles Gewicht behält, ja zu der ihr eigenen noch 
eine sittliche Sanktion erhält. Zuletzt übrigens vereinigen 
sich beide Erwägungen. Denn wozu braucht der Mensch 
einen Willen, wenn nicht, um des sittlichen Willens fähig 
zu sein? Anders ausgedrückt: die Form, die überhaupt 
eine Gesetzmäßigkeit sozialen Lebens garantiert, ist auch 
die einzige, die seine Gestaltung nach sittlichem Gesetz 
möglich macht. 

Somit muß allerdings die rechtliche Ordnung bloß als 
solche, welches auch ihr Inhalt sei, zugleich im sittlichen 
Interesse respektiert werden, jedoch mit dem Beding, daß auf 
ihre Änderung im Sinne der sittlichen Forderung, überall wo 


') Vgl. Stammler, Wirtschaft u. Recht, ® 532 ff. 



206 


sie mit dieser nicht im Einklang steht, hingearbeitet wird mit 
den Mitteln, welche die Rechtsordnung selbst gestattet. Mehr 
und mehr wird aber auch, von der Stufe an, wo ein sittliches 
Bewußtsein überhaupt in der Gemeinschaft geweckt ist, das 
sittliche Ziel der Gemeinschaftsordnung wenigstens im Grund- 
satz anerkannt werden. So wie auch das schlechte Individuum 
innerhalb einer Gemeinschaft, die ein Sittliches überhaupt an- 
erkennt, nicht umhin kann Achtung gegen das sittliche Gebot 
wenigstens zu heucheln, so kann auch eine schlechte Gemein- 
schaftsordnung gar nicht umhin, wenigstens die Fiktion auf- 
recht zu erhalten, daß sie sittlich begründet sei. Diese, wenn 
noch so erzwungene Anerkennung des Sittlichen aber gibt dem 
solcher Ordnung Unterworfenen das Recht, an seinem Teil 
darauf hinzuarbeiten, daß die soziale Ordnung sich diesem 
ihrem angeblichen sittlichen Charakter auch tatsächlich nähere. 
Und dies Recht steigert sich zur dringlichsten Pflicht, in dem 
Maße wie die soziale Ordnung die höheren Gerechtsame der 
Vernunft damit tatsächlich anerkennt, daß sie, ihrer Fehlbar- 
keit sich bewußt, für ihre mögliche Abänderung auf ge- 
setzlichem Wege selber Fürsorge trifft. 

Wo also ein solcher gesetzlicher Weg existiert, da darf, 
allein um deswillen, eine solche Ordnung, mag sie materiell 
noch so verkehrt sein, nicht schlechthin verworfen werden; 
ja dann gibt es keinen Weg mehr, sich ihr sittlicher Weise zu 
entziehen. Vielmehr besteht für den einer solchen Ordnung 
Unterworfenen eine zweifache Pflicht: die negative, die be- 
stehende Ordnung, sofern und solange sie legal besteht und 
nicht auf legalem Wege geändert ist, an seinem Teile zu 
stützen, sie sowohl selber einzuhalten als für ihre Befolgung 
durch Andre einzustehen, soweit dies möglich und erforderlich 
ist; und die positive, auf ihre bessere Gestaltung mit allen 
gesetzlich zulässigen Mitteln hinzuarbeiten. Das Erste, weil 
sonst auch die schon erreichte, wenn noch so geringe Nähe- 
rung zu einer sittlichen Ordnung und damit die Voraussetzung 
jedes Fortschritts zum Besseren in Frage gestellt würde; das 
Zweite, weil an der Besserung des sozialen Zustandes zu 
arbeiten um so mehr Pflicht ist, je mehr die Möglichkeit gegeben 



207 


ist, diese Besserung ohne Erschütterung des gesetzlichen Zu- 
stands überhaupt, ohne „Umsturz“ zu erreichen. Wo diese 
Haltung in einem Gemeinwesen vorherrschend wäre, wo ins- 
besondere seine Regierung von diesem Geiste durchdrungen 
wäre, da bewiese es damit die Tugend sittlicher Tapferkeit, 
als der echten sittlichen Selbstbehauptung, nämlich 
Behauptung und Stärkung seines sittlichen Standes. 

Eine anders begründete soziale Tapferkeit, eine andre 
Treue gegen die Gemeinschaft, der man angehört, eine andre 
Vaterlandsliebe als diese kann sittlich nicht gefordert 
werden. Das Einstehen für die gegebene empirische Gemein- 
schaft, gegen jede andre, bloß weil es gerade die unsre ist, 
weil wir in sie und nicht in eine benachbarte mit der sie 
etwa im erklärten oder unerklärten Kriege lebt, hineingeboren 
oder durch irgend ein zwingendes Geschick verpflanzt sind, 
ist überhaupt nicht, am wenigsten als sittliche Pflicht zu ver- 
stehen. Aber unter Voraussetzung jenes sittlichen 
Grundes unterliege ich allerdings' der Verpflichtung, für die 
soziale Ordnung an eben der Stelle, an die ich durch Geburt 
oder andre zwingende Umstände einmal gestellt bin, einzu- 
treten; ich darf diese Stelle nicht aus bloßer Willkür mit einer 
andern vertauschen, oder den Verpflichtungen, die sie auf- 
oriegt, mich entziehen. Selbst Krieg zu führen — an sich eine 
schlechte Sache — kann in gegebener Lage unausweichliche 
Pflicht sein; so wie aus der Unsittlichkeit von Gewalttat über- 
haupt nicht richtig gefolgert würde, daß man nicht den, der nur 
der Gewalt weicht, mit Gewalt zwingen dürfte, seinerseits von 
Gewalttat abzustehen. Dagegen darf niemals die bloße Selbst- 
behauptung der gegebenen Gemeinschaft, außerhalb sittlicher 
Rücksicht, als etwas Gutes oder auch nur sittlich Indifferentes 
ausgegeben werden. Sie ist zu verwerfen, einfach nach dem 
„kategorischen Imperativ“: weil dann jede tatsächlich be- 
stehende Gemeinschaft gleiches Recht hätte sich gegen die 
andre zu behaupten, es also gleichermaßen sittlich begründet 
sein würde, daß das Gemeinwesen A das Gemeinwesen B 
schädige und verderbe wie umgekehrt. So hat ein ernstes 
religiöses Gewissen sich allzeit dagegen empört, daß derselbe 



208 


angeblich einige Gott heute den Dank der Nation A entgegen- 
nehmen soll für ihren Sieg über B, imd morgen den der Nation 
B für ihren Sieg über A, Das heißt tatsächlich Polytheismus 
treiben und den Monotheismus zur heuchlerischen Phrase 
machen. So geht auch die Einheit des Sittlichen verloren, 
wenn Selbstbehauptung einer Nation gegen Mife andre außer- 
halb sittlicher Rücksicht zugelassen und gar als sittliche Pflicht 
proklamiert wird. 

Ebenso sicher gibt es eine Grenze der sittlichen Ver- 
pflichtung gegen das positive Gesetz. Keine bloß äußere 
Satzung kann jemals eine unbedingte Verpflichtung auf- 
erlegen, Eine empirische Gemeinschaft kann gebieten, ent- 
weder so zu handeln oder die Strafe auf sich zu nehmen, die 
sie für den Gegenfall festsetzt; aber niemals schlechthin, so zu 
handeln. Dem Gesetz seiner Stadt zu gehorchen, entfloh 
Sokrates nicht aus dem Kerker, sondern nahm den Giftbecher, 
nachdem er ihn zu nehmen verurteilt war; verurteilt aber war 
er, weil er nicht, nach dem Gebote seiner Obrigkeit, auf seine 
philosophischen Unterredungen verzichten Sollte," die eine sehr 
ernste sittliche Kritik der gesetzlichen Zustände seiner Stadt 
einschlossen. Er faßte also die Pflicht gegen seine Vaterstadt, 
die er aufs nachdrücklichste betont, nicht dahin auf, daß er 
jedem Gebote des Staats schlechthin Folge leisten, geschweige 
es für gut erklären, oder auch nur von der sittlichen Kritik, 
in der er seinen Beruf sah, ausnehmen müsse; wohl aber, daß 
er im Konfliktsfall die festgesetzte Strafe auf sich nahm. Er 
würde auf Befragen wohl erklärt haben, gerade diese sittliche 
Kritik, das Beste, das er habe, und das Einzige, dem Vaterlande 
schuldig zu sein. 

In der Tat schließt die volle sittliche Verpflichtung des 
Bürgers gegen den Staat in sich seine eigene Mitarbeit an der 
Besserung der öffentlichen Zustände auf den Wegen und mit 
den Kräften, die ihm zu Gebote stehen. Und diese Verpflich- 
tung darf dauernd und grundsätzlich nicht auf eine abgeson- 
derte Klasse Regierender beschränkt gedacht werden. 
Gemeinschaft, Willens gemeinschaf t kann nicht gedacht 
werden zwischen zwei Klassen, von denen die eine allein den 



209 


Willen, die andre die Willenlosigkeit der Gemeinschaft dar- 
stellen würde. Willenloses Gehorchen und Dienen ist nicht 
Tugend von Menschen sondern von Sachen, und gar eine ganze 
Volksklasse — wohl gar die überwältigende Mehrheit — zu 
einer Klasse willenlos Gehorchender herabsetzen wollen, heißt 
sie des sittlichen Charakters überhaupt entkleiden und damit 
auf die Sittlichkeit der Gemeinschaft als solcher Verzicht tun. 
Die unabweisbare Folgerung ist, daß auch die regieren- 
den Funktionen vom Standpunkt der Gleichheit 
und Gemeinschaft geordnet sein müßten. Eine Ab- 
stufung (vollends eine Teilung) der Funktionen überhaupt wird 
dadurch keineswegs ausgeschlossen; gefordert wird nur, daß 
zu jeder sozialen Funktion an sich jedem unter gleichheit- 
lichen Bedingungen der Zutritt möglich sei, und allein die 
Tüchtigkeit, nicht irgend ein sonstiger, außersachlicher Maß- 
stab über den Anteil daran entscheide. 

Übrigens ist die Entwicklung auch in dieser Hinsicht 
bereits auf den Punkt gekommen, daß die Anerkennung wenig- 
stens des allgemeinen Grundsatzes kaum mehr auf ernsten 
Widerstand zu rechnen hat. Besonders mit der tatsächlichen 
und strengen Durchführung des Prinzips der allgemeinen 
Wehrpflicht ist eine sehr aktive Beteiligung an einer der 
wesentlichsten sozialen Funktionen tatsächlich allen unter nahe- 
zu gleichen Bedingungen zugestanden. Diese einzige Maßregel 
zieht aber eine weitergehende Durchführung der sozialen Gleich- 
heit unentrinnbar nach sich; eine, wenn auch noch so einge- 
schränkte Beteiligung an Funktionen der Gesetzgebung und 
der Rechtsprechung hat sich noch stets in ihrem Gofolge 
auf so entscheidende Weise durchgesetzt, daß daran hinfort 
wohl nicht mehr zu rütteln sein wird. In sich schon wider- 
spricht es, von irgend einem Gliede der Gemeinschaft zu ver- 
langen, daß es im gegebenen Fall für sie sterbe, ohne daß 
man ihm gestattet, für sie auch zu leben. Es ist nur viel 
leichter das Erstere zu erzwingen als zum Letztem dem Men- 
schen -auch nur die Fähigkeit mitzuteilen. Das Wirken für 
die Gemeinschaft will allerdings auch gelernt sein, und es ist 
Sache einer ungleich tiefer gehenden Erziehung, als etwa der 

ITftiorp, SozialpAdagogik. 4. Aufl. 14 



210 


Kasernenhof sie in bestimmter technischer Rücksicht bieten 
kann und wirklich bietet. 

Es ist gewiß richtig, daß Bildung, sogar recht viel Bil- 
dung dazu gehört, in einem so komplizierten öffentlichen Leben, 
wie das heutige aller entwickelten Nationen ist, das Stimmrecht 
mit Verstand auszuüben. Aber daraus kann allein gefolgert 
werden, daß man alles daran setzen soll, eine gründliche Bildung 
selbst bis zur Stufe der Wissenschaft so wie möglich allgemein 
zu machen. Die Gebildeten und Erzogenen sollten auch die 
Regierenden sein; ich folgere: also muß allen eine solche Bil- 
dung und Erziehung gegeben werden, wie sie sie brauchen, um 
an der Regierung den Anteil nehmen zu dürfen, den das Ge- 
setz des sozialen Lebens für alle fordert. Alles Andre sind 
bloße Beschwichtigungsmittel, die als solche unverwerflich sein 
mögen, aber das Übel nicht heilen, auch nicht verhindern 
können, daß es unter der Oberfläche fortwuchert, um im ge- 
gebenen Augenblick mit verdoppelter Stärke, vielleicht ver- 
hängnisvoll, wieder hervorzubrechen. Somit führt unsere 
zweite Tugend auf dieselbe Forderung wie die erste: gründ- 
liche Bildung für alle. Es muß ja auch wohl so sein, daß 
die Grundtugenden des sozialen Lebens sich alle gegenseitig 
fordern, keine ohne die anderen bestehen kann; so wie es an den 
individualen Tugenden früher dargetan worden ist. 

Die dritte Forderung ist die einer durchgängigen harmo- 
nischen Ordnung des Trieblebens der Gemeinschaft, 
worunter zu verstehen ist: eine solche Verteilung von Arbeit 
und Genuß des Arbeitsertrags, die eine verhältnismäßige 
Entwicklung aller gesunden, d. h. unter sich harmonierenden 
Triebe für alle ermöglicht und mehr und mehr zur Wahrheit 
macht. Es ist dabei, wie allgemein bei den Begriffen „Trieb“ 
und „Arbeit“, nicht allein an Befriedigung des physischen 
Lebens- und Genußtriebs zu denken. Um die „wirtschaftliche“ 
Funktion handelt es sich allerdings; aber diese erstreckt sich, 
wie wir sahen, auf alle menschliche Tätigkeit, sofern sie auf 
der materialen Bedingung yerfügbarer Triebkräfte beruht. Die 
wesentliche Bedingung einer verhältnismäßigen Entfaltung 
aller harmonierenden Triebe in allen ist aber, daß die Tätig- 



211 


keiten aller in jeder Richtung sich fördernd (oder wenig- 
stens nicht hemmend) ineinandergreifen, also die durch- 
gängige Organisation der Arbeit auf dem Boden der 
Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit. 

Wie das Prinzip des technischen Fortschritts, gleichsehr 
im Sinne der Naturtecimik wie der sozialen Technik, genau 
hierauf führt, ist bereits oben dargelegt worden; auch, daß 
gerade jene durchgängige Organisation eine natürliche Glie- 
derung in kontinuierlichen Übergängen, und damit jede ge- 
gründete Rücksichtnahme auf Fähigkeit und Neigung der Ein- 
zelnen möglich machen, also die Entwicklüng der Indivi- 
dualität nicht nur nicht unterdrücken, sondern erst recht 
ermöglichen würde. Nur jene Diskontinuität in der Glie- 
derung muß und wird verschwinden, deren Extrem (in der hier 
fraglichen Rücksicht) schon Plato dahin ausgedrückt hat, daß 
die Arbeitenden der Mittel zur Arbeit beraubt, die Inhaber 
der Arbeitsmittel dagegen in Person von der Pflicht der Arbeit 
entbunden sind. Eine gesonderte Klasse wirtschaftlich 
Arbeitender gestattet das sittliche Grundgesetz des sozialen 
Lebens so wenig, wie es eine Klasse Regierender oder eine 
Klasse im Alleinbesitz der Bildung erlaubt. 

Es ist aber vielleicht keine Bedingung von so grundlegen- 
der Bedeutung für wahres Gemeinschaftsleben, als die der 
Arbeitsgemeinschaft. Auch scheint man sich, wenn auch lang- 
sam, der Einsicht zu nähern, daß eine Volksgemeinschaft auf 
anderem als diesem Grunde in Wahrheit nicht möglich; daß, 
wenn sich gegenwärtig noch, wie in Platos Zeit, „zwei Völker“ 
innerhalb jeder der am Kulturfortschritt meistbeteiligten 
Nationen in Todfeindschaft gegenüberstehen, der letzte Grund 
nirgendwo anders als in jener uralten sozialen Diskontinuität, in 
dem Zerfall der Nationen in Arbeitende und Besitzende 
zu suchen ist. In dem immer dringenderen Verlangen, daß es 
damit anders werde, erkennen wir das Erwachen des Bewußt- 
seins einer möglichen und notwendigen, zur Zleit aber nicht 
vorhandenen Volksgemeinschaft. Allgemein sehen wir in dem 
entscheidenden Hervortreten der wirtschaftlichen Fragen nicht 
die Wirkung eines zu fürchtenden oder zu bektopfenden 

14 * 



212 


„Materialismus“) sondern vielmehr das günstigste Vorzeichen 
des Sieges der Vernunft. Denn, wo sie nicht mit ihrem Lichte 
auch bis in das Innerste des Trieblebens hineinleuchtet, wo 
nicht das ganze menschliche Leben auch bis zu seinen letzten 
materialen Bedingungen zurück unter ihre sichere Herrschaft 
tritt, da kann von einem Siege der Vernunft nicht im Ernst 
geredet werden, im sozialen so wenig wie im individualen Leben, 
wo bisher niemand ein ungeregeltes Triebleben mit sittlicher 
Vernunft vereinbar geglaubt hat. 

Bei der Gerechtigkeit endlich, als der vierten Kar- 
dinaltugend des Soziallebens, ist es jetzt kaum mehr nötig zu ver- 
weilen. Denn sie ist bei der Behandlung der drei andern 
Tugenden schon fortwährend mitberücksichtigt worden. Als 
individuale Tugend bedeutete sie das Verhalten gemäß den 
Gesetzen der drei andern Tugenden in Hinsicht der Ge- 
meinschaft; als soziale Tugend besagt sie umgekehrt die 
gleichheitliche Geltung der übrigen Tugenden, eben als Tugen- 
den des Gemeinschaftslebens, für alle einzelnen Glieder 
de r Gemeinschaft. Während also die Gerechtigkeit als indi- 
viduale Tugend besagt, daß ein jeder die Tugenden der Wahr- 
heit, der Tapferkeit und des Maßes nicht bloß als Einzelner 
und um seinetwillen, sondern auch gegen den Andern, insbe- 
sondere als Glied der Gemeinschaft gegen andre Glieder der- 
selben Gemeinschaft und in gleichheitlicher Rücksicht gegen 
sic beweisen solle; so besagt die Gerechtigkeit als Tugend 
der Gemeinschaft, sie müsse so geordnet sein, daß ihre ent- 
sprechenden Tugenden sich auf alle Glieder in gleichheitlicher 
Weise erstrecken. 

Somit faßt diese Tugend in ihrer sozialen wie in ihrer 
individualen Bedeutung die drei andern in sich zusammen, 
gibt ihnen aber die besondere Beziehung, dort auf die Ge- 
meinschaft, nämlich sofern sie aus Individuen besteht, hier 
umgekehrt auf die Individuen, sofern sie der Gemeinschaft 
angehören. Sie besagt somit in sozialer Hinsicht: daß an 
allen drei Grundfaktoren der Gemeinschaft, nicht bloß jeder 
für sich, sondern auch allen im Verhältnis zu einander, jedes 
Glied der Gemeinschaft grundsätzlich gleiches Recht hat, daß 



213 


jedem sein rechtmäßiges l’eil, suum cuique zukommen 
soll an Bildung, an Regierung und an Arbeit zugleich 
und nach ihrem innerlich begründeten, gesetzmäßigen Ver- 
hältnis zu einander; was ja nur das Fäcit aus allem Ge- 
sagten ist. 

Und so braucht auch das Letzte nur eben angemerkt zu 
werden: daß die dargelegte Gesetzmäßigkeit des sozialen 
Lebens sich auf menschliche Gemeinschaft über- 
haupt, ohne Einschränkung auf irgendwelche besonderen 
Bedingungen bezieht.*) Unser System bietet einen Rahmen, 
ausreichend für jede denkbare Erweiterung der Gemeinschaft, 
bis äußerstenfalls zum Ganzen des Menschengeschlechts. 
Das letzte Prinzip unserer Betrachtung aber weist auch in 
dieser Beziehung unwidersprechlich auf die umfassendste 
mögliche Einheit, wiewohl auf eine solche, die die Spe- 
zifikation“, unter der Bedingung der „Kontinuität“, nicht 
ausschließt. 

Hiermit beschließen wir den ethischen Teil unsrer Unter- 
suchung; was übrig bleibt, gehört der eigentlichen Päda- 
gogik an. Das Ziel ist gezeigt; auch, daß eine Entwicklung 
nach diesem Ziel hin innerlich begründet und tatsächlich an- 
gebahnt ist, dürfte dargetan sein. Aber es ergab sich zugleich, 
daß diese Entwicklung keineswegs notwendig ist im Sinne 
eines Naturgesetzes. Es ist gezeigt, in welcher Richtung die 
Menschheit fortschreitet, wenn sie fortschreitet; daß sie tat- 
sächlich fortschreiten müsse, folgt aus unsern Prinzipien nicht 
und würde sich auch empirisch keineswegs begründen lassen. 
Am wenigsten kann davon die Rede sein, daß die Erkenntnis 
der Notwendigkeit einer bestimmten Entwicklung es nun 
überflüssig machte, nach ihr mit allen Kräften zu ringen. Die 
innerlich notwendige d. i. geforderte Entwicklung wird vielmehr 
dann allein eintreten, wenn alle l^äfte dafür eingesetzt werden. 
Dann aber genügt es nicht, das Ziel zu wissen und damit die 
allgemeine Richtung des einzuschlagenden Weges, sondern es 

*) Wie es, bezüglich des rechtlichen Faktors im besondern, auch 
Stammler 534) mit gutem Grunde aufstellt. 



214 


fragt sich, was haben wir unmittelbar zu tun, um 'uns gleich- 
sam aus der Stelle zu bringen; wie haben wir zu marschieren, 
um die nächsten Hindernisse zu besiegen, die sich uns auf 
diesem Wege, so klar auch seine Grundrichtung bestimmt ist, 
doch immer wieder entgegentürmen. Soweit die Antwort dar- 
auf im Bereiche der Erziehungslehre liegt, soll sie im dritten 
Buche gegeben werden. 



Drittes Buch. 


Organisation und Methode 
der Willensbildung. 




Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 
1. Das Haus. 


Das wesentliche Mittel zur Willenserziehung ist die Orga- 
nisation der Gemeinschaft. Darin ist alles zusammen- 
gefaßt: die Organisation der Arbeit, die rechtliche Organi- 
sation, die Organisation der Bildung. Jeder Fortschritt in 
einer dieser Richtungen ist zugleich bedingt durch und be- 
dingend für den Fortschritt in allen. Der zuletzt entschei- 
dende Fortschritt aber ist der des Bewußtseins. Auch der 
wirtschaftliche Fortschritt ist zuletzt Fortschritt in der Be- 
herrschung der Naturkräfte, einschließend die Naturkräfte des 
Menschen, durch Menschen willen und Menschenverstand; und 
dasselbe gilt vom Fortschritt der gesellschaftlichen Organi- 
sation, einer zweiten Technik, die noch unmittelbarer und 
greifbarer der Herrschaft menschlicher Einsicht und Willens- 
tat unterstellt ist. Daß diese sich in der rechten Weise ent- 
vhckeln, ist daher sozusagen die einzige große Sorge der Mensch- 
heit. Und zwar liegt der Schwerpunkt der Menschenbildung 
in der Erziehung des Willens, von der die des Intellekts, ja 
auch der Phantasie und des Gefühls, untrennbar und wesent- 
lich abhängig ist. 

Nun kennen wir die natürliche Stufenfolge der 
Willensentwicklung: durch Trieb und Entschließung 
zum Einheitsbewußtsein praktischer Vernunft. Es ist eine 
klare Notwendigkeit, daß die Folge dieser drei Stufen auch 



218 


im Erziehungsgange des Willens zu Tage tritt. Zwar muß 
wohl Antrieb und Möglichkeit zu bewußter Regelung des Han- 
delns, selbst zur einheitlichen Regelung gemäß der Idee der 
Vernunft, schon auf der Stufe des Triebs vorausgesetzt werden; 
wie für das Individuum im Kindesalter, so für die Völker 
und die Menschheit in deren Kindheitsstadien. Sonst würde 
das Kind auch dem Einfluß von Willen und Vernunft des 
Erziehers nicht zugänglich sein, vollends ein Volk kindlicher 
Menschen sich niemals durch eigene Kraft zu den höheren 
^»Stufen emporzuarbeiten vermocht haben. Aber doch gibt es 
eine Stufe, wo wenigstens ein Bewußtsein der Willensregel 
noch nicht oder kaum vorhanden ist; und dann ist es nochmals 
eine schwere Errungenschaft, daß auch die bewußte Richtung 
auf durchgängige Einheit der Regelung sich bilde, die wir Ver- 
nunft nennen. Mögen also auch jene drei Bestandteile der 
menschlichen Aktivität so innig zusammengehören, daß die 
Erziehung des Willens auf jeder Stufe alle drei zu berück- 
sichtigen haben wird, so wird sie es doch auf einer ersten Stufe 
vornehmlich mit der einer gesunden Willensentwicklung 
zuträglichsten Gestaltung des Trieblebens, und nur hilfsweise 
mit den Anfängen eigentlicher Willensleitung und den ersten 
schwachen Regungen sittlicher Vernunft, auf einer zweiten 
vorzugsweise mit dem Formalen der Willensregelung zu tun 
haben, und erst auf der dritten zur Ausbildung des sittlichen 
Bewußtseins in seiner ganzen Tiefe und Weite sich erheben 
können. ,■ 

Wie aber demnach die Art der willenbildenden Tätigkeit 
sich dreifach gliedert, so muß auch die Organisation dieser 
Tätigkeit für dieselben drei Stufen entsprechend verschieden 
sein. Und diese Stufenfolge der Organisationen zur Erziehung 
der Einzelnen muß in gewisser Beziehung stehen zu dem 
Unterschied in der Art und Organisation der entsprechenden 
sozialen Tätigkeiten: der wirtschaftlichen, der regierenden und 
der bildenden; nämlich diese drei werden, je in ihrer Eigenart 
und gemäß ihrem wechselseitigen Verhältnis, daher auch in 
entsprechender Folge, zur Erziehung des Willens im Indivi- 
duum derart mithelfen müssen, daß die Entfaltung der Arbeits- 



219 


triebe im Individuum von Anfang an Zusammenhang sucht 
und findet mit dem Arbeitsleben der Gemeinschaft, die Aus- 
bildung der regelnden Kraft des Willens im Einzelnen mit der 
Betätigung der gleichen Kraft in der Gemeinschaft, also mit 
den bestehenden sozialen Organisationen; v/ährend die Reife 
der eigenen Vernunft des Einzelnen zusammenfallen wird mit 
seiner tätigen Anteilnahme an der vernunftgemäßen Gestaltung 
des Gemeinschaftslebens durch gemeinsame Bildungspflege. 
Je reiner die Organisation der Gemeinschaft ihrem eigenen Ge- 
setze und damit ihrem wahren und letzten Zweck der Men- 
schenbildung entspricht, um so klarer wird sich diese Be- 
ziehung im Gange der Willenserziehung erkennen lassen; so 
zwar, daß jedes Glied der Gemeinschaft auf geregelte Weise 
diese drei Stufen durchläuft. 

Hiermit ist ein Prinzip für die soziale Organisation der 
Willenserziehung gewonnen. Wir untersuchen weiter, wo etwa 
in der Erfahrung sich eine Grundlage zu solcher Organisation 
erkennen läßt. Wir gehen aus von dem Altbekannten: daß 
zur Erziehung des Menschen, insbesondere des menschlichen 
Willens in entwickelter Gemeinschaft naturgemäß drei Faktoren 
Zusammenwirken: das Haus, die Schule und ein Drittes, 
das man nicht recht zu nennen weiß; denn offenbar viel zu 
unbestimmt bezeichnet man es als das Leben, nämlich das 
Leben außer dem Hause und der Schule. Es scheint doch nicht, 
daß das Leben in diesem weiten Sinne unter allen Umständen 
die Menschen erzieht und gar recht erzieht. Es muß zum wenig- 
sten etwas Bestimmteres an dem so allgemeinen „Leben“ sein, 
das eine erziehende Wirkung vergleichbar der des Hauses und 
der Schule übt; vermutlich etwas diesen beiden Ähnliches. 
Nun wissen wir schon, daß es wesentlich die organisierte Ge- 
meinschaft ist, welche erzieht. Das trifft zu auf das Haus 
und die Schule : beide erziehen als Formen organisierter Gemein- 
schaft. Nur unter der gleichen Bedingung wird also auch das 
Leben außerhalb beider erziehend wirken. In ursprünglichen, 
patriarchalischen Formen des Gemeinschaftslebens gibt sich 
das auch unmittelbar zu erkennen; es verbirgt sich etwas mehr 
in entwickelteren, aber noch zu keinem Abschluß der Ent- 



220 


Wicklung gelangten Gesellschaftsstadien, so dem heutigen. Da 
fehlt es offenbar an festgegründeten Organisationen des Ge- 
meinschaftslebens der Erwachsenen; die alten sind aufgelöst 
oder in Auflösung begriffen, neue haben noch nicht feste Ge- 
stalt gewonnen. Aber zum wenigsten liegen die beiden andern 
Faktoren, Haus und Schule, deutlich vor. An ihnen muß daher 
zunächst unser Prinzip sich erproben. 

Da stoßen wir, was zuerst das Haus betrifft, auf ernste 
Fragen. Das Haus oder die „Familie“, wenn wir so die Ge- 
meinschaft selbst benennen, welche das Haus zu ihrer mate- 
riellen Unterlage, gleichsam ihrem körperlichen Organ hat, 
unterliegt starken Wandlungen; sie ist eben jetzt in einer Um- 
bildung begriffen, die es erschwert, ihren Begriff fest und sicher 
zu erfassen. Es fehlt nicht an solchen, die behaupten, daß die 
Familie zu den organisatorischen Schöpfungen einer fernen 
Vergangenheit gehöre, die heute in heller Auflösung gerade bei 
den Völkern und Volksschichten begriffen seien, denen mehr 
und mehr eine führende Rolle in der Kulturentwicklung zuge- 
fallen sei oder in absehbarer Zeit zufallen müsse. . Man be- 
trachtet den Verfall der Familie, ohne ihn eigentlich gut zu 
heißen, als unabwendliches Verhängnis, als unausbleibliche Folge 
der wirtschaftlichen Umwälzung vom Kleinbetrieb zum Groß- 
betrieb, von der Handarbeit zur Maschinenarbeit, vom Nah- 
verkehr zum Fernverkehr, und sieht ihm gleichsam mit ver- 
schränkten Armen zu. Oder aber man träumt von der Wieder- 
herstellung eines großenteils schon entschwundenen und weiter 
im Rückgang begriffenen, weil eben mit vorwaltendem land- 
wirtschaftlichen und industriellen Kleinbetrieb zusammen- 
hängenden Zustands, oder wenigstens der Behütung dessen, 
was davon noch übrig ist, vor weiterem Verfall. Es ist letzten 
Grundes ein Zustand gleich dem des Mittelalters, den man 
zurückführen möchte; ein Zustand, für den neben und im 
Zusammenhang mit dem vorherrschenden Kleinbetrieb die 
Sonderung der wirtschaftlichen Klasse von der regierenden 
sowie einer dritten, der die Pflege der geistigen Interessen aus- 
schließlich anvertraut ist, einem (etwa auch weltlich zu denken- 
den) Klerus charakteristisch ist. 



221 


Die Annahme einer solchen Rückwärtsbewegung wider- 
streitet allem, was wir über die Gesetzmäßigkeit der sozialen 
Entwicklung zu wissen behaupten dürfen. Allein die eistere 
Ansicht scheint vollends trostlos. Unsere Grundsätze führen zu 
keinem von beiden Extremen. Zwer erkannten wir fortschrei- 
tende Konzentration als Grund zug der wirtschaftlichen 
Entwicklung an; aber nur in Verbindung mit gleichzeitig zu- 
nehmender Individualisierung. Daraus folgt, daß das 
Haus, als „Zelle*’* des wirtschaftlichen Orgarismus, zwar unter 
dem zeitweiligen Vorwalten der generalisierenden über die in- 
dividualisierende Tendenz verkümmern, aber dauernd nicht 
untergehen kann, es sei denn mit dem Untergang des ganzen 
Organismus. Es ist nicht Fortschritt sondern Rückschritt 
der Wirtschaft, wenn die Arbeit ihres Individualcharakters 
ganz verlustig geht, d. h. wenn der Arbeiter durch die Art des 
Arbeitsbetriebes selber zur Maschine, ja zum Maschinenteil 
herabgedrückt wird. Vollends unvereinbar ist solche Mechani- 
sierung der Arbeit mit dem durch die Gesetze der sozialen Ent- 
wicklung doch gleichfalls geforderten Anteil des wirtschaft- 
lichen Arbeiters an der regierenden wie an der bildenden Tätig- 
keit. Die Wiederherstellung individualisierter Arbeit, vollends 
die geistige und rechtliche Emanzipation des Maschinensklaven, 
fordert aber eine mehr und mehr individualisierte Erziehung 
auch und zu allererst zur Arbeit selbst, und darum ein indivi- 
dualisiertes, nicht kasernenmäßig roh und mechanisch zentrali- 
siertes Leben des Arbeiters; welches doch wohl nur ein Haus- 
leben, ein Familienleben, wenn auch vielleicht anderen Stils 
als bisher, wird sein können. Es ist einer der Punkte, wo der 
landläufige Sozialismus in auffälligster und schädlichster 
Weise sich selber mißverstanden und, statt von seinen großen 
und sicheren Prinzipien, von der nur zu leicht irreführenden 
Lehre augenblicklicher Erfahrung sich hat bestimmen lassen. 

Wir verkennen darum nicht die ernsten Schwierigkeiten 
der heutigen Lage. Schon Pestalozzi, der auch in dieser Frage 
von großen und richtigen Ahnungen geleitet wurde, sah sie 
herannahen; vollends Fichte ließ sich dadurch, wie schon vor 
ihm einige Theoretiker der Revolution, zu der schroffen Forde- 



222 


rung ausschließlich gemeinschaftlicher Erziehung in staatlich 
organisierten Erziehungshäusern vom frühesten Alter an 
verleiten. Vielleicht ist bei dem gegenwärtigen Zustand 
etwas anderes als ein Surrogat der an sich geforderten Organi- 
sation der Erziehung für das frühe Kindesalter nicht möglich. 
Ein solches Surrogat dürfte gefunden sein in dem Fröbelschen 
Kindergarten. Fröbel war einer der wenigen unter Pesta- 
lozzis Nachfolgern, der von dessen Ideen etwas nach der eigent- 
lich wichtigsten, der sozialen Seite begriffen hatte, und die 
seitherige Entwicklung des Zustands der arbeitenden Klassen 
ist es, die, zwar mehr außerhalb Deutschlands als bei uns, 
seiner Idee eine nicht zu unterschätzende tatsächliche Bedeu- 
tung gegeben hat. In Frankreich und Nordamerika sind die 
Grundzüge einer nationalen Gestaltung des Kindergarten- 
wesens bereits klar zu erkennen. Bei uns besteht ein bisher 
wenig erfolgreiches Bestreben, für die Erziehung der Kleinen 
besonders in den ärmeren Volksklassen die Tätigkeit der 
Frauen, nicht der Mütter allein, allgemein und in organisierter 
Weise heranzuziehen. Sollte das als endgültige Lösung ge- 
meint sein, so müßte man sagen, daß dabei zwei wichtige Dinge 
übersehen sind. Erstens würde dem Manne noch mehr als 
schon jetzt die Erziehung aus der Hand genommen, die Ab- 
schüttelung der Erziehungspflicht, zu der bereits so vieles 
verlockt, allzu sehr erleichtert werden, zum gleich großen 
Schaden seiner selbst und des Kindes, das, wie hoch man auch 
die mütterliche Erziehung anschlagen mag, doch der männlichen 
Leitung nie sollte entbehren müssen. Zweitens wird voraus- 
gesetzt, daß dauernd und allgemein dem Manne allein die 
Erwerbspflicht obliege. Das ist schon jetzt nicht der Fall, 
imd eine rückläufige Entwicklung ist auch in dieser Hinsicht 
weder anzunehmen noch selbst zu wünschen. 

Die Grundidee des Kindergartens ist vielmehr in genaue 
Verbindung zu setzen it dem Postulate der Wiederherstellung 
eines häuslichen Lebens des Arbeiters selbst, in einer 
solchen Form, die mit der bisher erreichten und weiter fort- 
schreitenden Konzentration der Wirtschaft vereinbar ist. Wenn 
irgendwo, so kann hier die den heute gedrückten Klassen zu 



223 


leistende Hilfe nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Der klare Weg zu 
dem gedachten Ziel ist: daß unter dem Einfluß erhöhter Arbeits- 
gemeinschaft Familienverbände sich bilden, zu deren 
vornehmsten Aufgaben die gemeinschaftliche Sorge um die Er- 
ziehung der Kinder gehört. So wäre eine Garantie geboten, 
die einzig mögliche, wie mir scheint, daß die vor allem um 
der Erziehung willen zu verlangende größere Freiheit vom 
.Arbeitszwang (durch gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit 
bei gleichzeitiger Sicherung eines angemessenen Arbeitsein- 
kommens) auch wirklich der Erziehung zugute kommt; was 
weder bei der starr individualistisch gedachten Familie noch 
vollends bei gänzlicher Abwälzung der Erziehungspflicht auf 
Andre der Fall wäre. So entstände etwas dem Fröbelschen 
Kindergarten Ähnliches ; aber es wäre eine ungleich organischere 
Form der Hauserziehung, eine bloß erweiterte, von individua- 
listischer Absperrung befreite Famiiienerziehung. Der Kinder- 
garten, wie er heute möglich ist, bleibt dahinter notwendig 
zurück, aber er ließe sich unschwer dahin überführen, durch 
Verbindung mit sämtlichen, irgendwie planmäßig zu ver- 
einigenden Axistalten zur Hebung der Lebenshaltung der 
Arbeiter, soviel möglich auf dem Wege der Selbsthilfe, und 
schrittweis stärkere Heranziehung der Arbeiter und Arbeiter- 
frauen selbst, Je nach ihrer relativen Befreiung vom Arbeits- 
zwange, zur Erziehungstätigkeit in den an die Familien- 
verbände der Arbeiter anzugliedernden Kindergärten. 

Einen andern Weg sehe ich nicht, bin aber jedem dankbar, 
der ihn zeigt. Man würde nach einer Verständigung vielleicht 
ernster suchen, wenn man erst das Gewicht der Frage einmal 
ganz empfände; wenn man sich bewußt wäre, was für die 
Erziehung des Menschen gerade die ersten Lebensjahre be- 
deuten. Die theoretische Pädagogik sieht darüber noch immer 
in unbegreiflicher Leichtfertigkeit hinweg. Sie redet meist so, 
als ob das Eigentliche der Erziehung erst mit dem schul- 
pflichtigen Alter begänne, als ob das, was vorhergeht, nichts 
mehr als eine geringfügige, spielende Vorarbeit für das Werk 
wäre, das ernsthaft erst die Schule in ihre geschickte Hand 
nehme. Und doch hat es schon Pestalozzi so ganz anders 



224 


gewußt. Es ist nicht zu viel gesagt, daß ebenso, wie das 
Wachstum des pflanzlichen und tierischen Organismus, auch 
das geistige Wachstum des Menschen im frühesten Alter am 
mächtigsten und gestaltreichsten und die schaffende Kraft am 
größten ist. Das Kind und zwar sozusagen jedes Kind voll- 
bringt in den ersten Lebensjahren oft unter den schwierigsten 
Bedingungen geistige Leistungen, denen sich nichts von dem, 
was der durchschnittlich Begabte später zustande bringt, auch 
nur entfernt vergleichen läßt.*) 

Das Erste ist der Aufbau dieser ganzen Welt unsrer 
Wahrnehmungen, die dem Erwachsenen bei jedem Augen- 
aufschlag fertig dasteht wie vom Himmel gefallen, die aber 
das Kind förmlich aus dem Nichts erst schaffen muß. Denn 
am Anfangspunkte seiner Entwicklung vermag es tatsächlich 
nicht auch nur einen Punkt zu fixieren, eine Linie zu ver- 
folgen, geschweige daß diese unbegreifliche Fülle von Ge- 
staltungen, die wir einfach als gegeben hinnehmen, für es 
schon da wäre. 

Eine weitere wundervolle Schöpfung ist die der Sprache; 
eine zweite Welt gleichsam, welche jene erste abbildet, näm- 
lich sie in dem eigenen Material des Sprachlauts gleichsam 
kopiert. Auch hier geht das Kind vom völligen Nichts aus. 
Es muß nicht bloß die Lautkomplexe selbst erst auffassen 
und selber bilden lernen, was zur Bildung der Wahrnehmungen 
einerseits, der willkürlichen Bewegungen andrerseits gehört 
und ein großes Stück Willensbildung schon einschließt; sondern 
das Größte ist erst das Verständnis dessen, was das Wort 
sagen will. Da ist oft die gemeinte Sache für das Kind noch 
gar nicht da, sondern es hat die Vorstellung selbst erst zu 
fassen, indem es das Wort verstehen lernt. Aber selbst daß 
überhaupt das Wort etwas sagen, d. h. zu verstehen geben 
will, muß das Kind erst erraten. Versucht man einmal sich 
psychologisch klar zu machen, was das alles voraussetzt, so 
muß man erkennen, daß es, alles in allem, eine ganz erstaun- 
liche Leistung ist, gar nicht vergleichbar etwa mit unserm 


Vergl. zum Folgenden AUg. Pädag. § 19 ff. 



225 


Erlernen einer fremden Sprache, geschähe es auch ohne Hilfe 
eines Buclies oder Lehrers, allein durch den Umgang mit 
solchen, die sie sprechen. 

Ähnlich ist es aber mit allem geistigen Erwerb des Kindes 
bewandt. Es erringt ja in derselben Zeit noch so große Dinge 
wie den bewußten und willentlichen Gebrauch seiner Glieder, 
menschlichen Gang untl Handgcschicklichkeit, menschliches 
Gehaben und Sichgebärden, überdies das Verständnis und die 
eigene, selbstbewußte Teilnahme an all den gemütlichen Be- 
ziehungen, in die es mit seiner kleinen Seele so bald schon warm 
und kraftvoll, in der Tat mit einer Wahrheit, Energie und Rein- 
heit, wie ein Erwachsener sie selten aufbringt, hineinwäohst und 
selbsttätig eingreift. 

Es bedarf keiner näheren Ausführung, daß jede einzelne 
dieser Leistungen den Willen ebensowohl wie den Intellekt 
unausgesetzt in Anspruch nimmt und also entwickeln hilft. 
Auch genügt der bloße Hinweis, daß diese Entwicklung, wie 
sehr immer Sache der „Natur“, auf die Gemeinschaft mit den 
Erwachsenen und den zugleich Heranwachsenden (Geschwis- 
tern, Kameraden) gänzlich angewiesen und durch die Art und 
Tiefe dieser Gemeinschaft, durch Gesinnung und Verhaltungs- 
weise der Umgebung gegen das Kind durchaus bedingt ist, 
mithin unter pädagogische Erwägung selbst dann fiele, wenn 
man so seltsam wäre, davon alles ausschließen zu wollen, 
was Sache der „Natur“, das ist selbsttätiger, nicht von Andern 
(absichtlich;!, und unabsichtlich) beeinflußter Entwicklung ist. 

Vorzüglich aber gehört hierher eine Erwägung, die sich 
in entscheidender Weise dem Tiefblick Pestalozzis erschlossen 
hat. Von der Bedeutung der kindlichen Entwicklung ganz 
durchdrungen, unternahm er es, man muß wohl sagen, zum 
ersten Mal, ihren Grundgesetzen ernstlich nachzugehen. Da 
er mit seiner Analyse zunächst bei der Intellektbildung ein- 
setzte, geriet er auf seine bekannten drei „Elementarpunkte“: 
die Zahl, die Form, d. i. die vom Punkt durch Linie und 
Fläche bis zum Raumgebild sich aufbauende körperliche 
Gestalt der sinnlichen Objekte, und die Sprache. Er fand weiter, 
daß dies alles sich hauptsächlich an die kombinierte Übung 

S^atofp, Sozialp&dagogik. 4. Auflage. 15 



226 


der Sinne und der Hand anknüpft. Hier griff nun die sozio- 
logische Erwägung ein, daß alle Güter des gesellten Menschen 
auf Arbeit, zuletzt auf der schlichtesten Arbeit, auf dem Hände- 
werk beruhen und notwendig beruhen müssen» So wurde ihm 
die Arbeitsbildung, die Bildung durch Arbeit zur Arbeit, 
zum eigentlichen Fundament der menschlichen Bildung über- 
haupt. Nicht bloß sah er aus ihr beinahe das Ganze der 
Verstandesbildung hervorgehen, sondern in dem Zwange zur 
Wahrhaftigkeit, in der Erziehung des reinen Sachensinns, 
welche die Arbeit bedeutet, kurz in den Ansprüchen, die sie 
an den Willen stellt, zumal aber in der Gemeinschaft der 
Arbeit, die im Hausleben sich so rein wie nirgends sonst 
darstellt, erkannte er zugleich die allerwesentlichsten Grund- 
lagen zur Erziehung des Willens. Hierin ist eigentlich seine 
ganze Theorie der Willensbildung enthalten; auch seine tief 
wahren Beobachtungen über die religiöse Erziehung, die er 
wesentlich als sittliche versteht, führen zuletzt darauf zurück. 
Wir stehen jetzt auf der Höhe, den Gehalt dieser Gedanken 
würdigen zu können. 

Fröbel hat dann gleichfalls und in mehr systematischer 
Ausführung die Handübung in Verbindung mit der Muskel- 
übung überhaupt und andrerseits der Übimg der Sinne in 
den Mittelpunkt der frühsten kindlichen Erziehung gestellt. 
Die industrielle Notarbeit, an die Pestalozzi praktisch anzu- 
knüpfen durch die zufälligen äußeren Bedingungen seines 
ersten pädagogischen Wirkens veranlaßt worden war, deren 
erziehende Kraft aber eine ungemein dürftige und einseitige 
ist, ersetzt Fröbel durch eine frei spielende, aber eben im 
Spiel planvolle, nach Möglichkeit alle im Kinde schlummernden 
Kräfte aufrufende und somit ülende Tätigkeit, bei der be- 
sonders der sittliche und ästhetische Faktor ganz anders 
in Wirksamkeit treten kann, ohne daß die Vorbereitung zur 
später zu leistenden nützlichen Arbeit Schaden zu leiden 
braucht. 

Denkt man sich die kindliche Erziehung so gestaltet, 
wie sie allen diesen ineinandergreifenden Erwägungen zufolge 
sich gestalten würde, so läßt sich wohl sagen, daß die 



227 


Befassung damit schon wegen des unerschöpflichen Studiums, 
zu dem sie Stoff bietet, und der grenzenlosen ..\nregung zu 
eigener Erfindung keine zu niedrgt oder geistlose Sache auch 
für den gereiften Mann, daß sie zugleich für den sonst schwer 
Arbeitenden die köstlichste Erholung sein würde. Auch gibt 
es keine Freundschaft, keine Kameradschaft von gleicher 
Süßigkeit und Echtheit, wie ein unverdorbenes Kind sie zu 
bieten imstande und gerade dem reifen Marne am hingehend- 
sten zu bieten bereit ist. Wir sind nur in der Regel bei weitem 
nicht reif genug dazu. Ich möchte den Satz wagen, daß die 
Reife der Bildung des Erwachsenen sich mißt an dein Ver- 
ständnis der Kindheit und dem Respekt vor ihr, der in ihm lebt. 

Unsere Grundvoraussetzungen haben sich bis dahin be- 
währt. Was ihnen in der tatsächlichen Lagt bisher nicht 
entspricht, erklärt sich aus dem Charakter der gegenwärtigen 
Zeit als einer überaus schwierigen Übergangsperiode, deren 
wandelbare, von heut auf morgen ungewisse Zustände für eine 
Theorie, die nicht bloß heute richtig sein möchte, keine brauch- 
bare Unterlage bieten. Selbst diese wirre Lage aber bestätigt 
unsere Voraussetzungen in dem Sinne, daß sie verständlich 
wird als ein bestimmtes Stadium des Übergangs von dem, was 
war, zu dem, was kommen muß. 

§ 21 . 

Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 

2. Die Schule. 

Irn Unterschied von der unfertigen Gestalt der häuslichen 
Erziehung läßt sich von der Schulerziehung sagen, daß sie 
in den Grundzügen fertig dasteht. Sie bietet daher die sicherste 
Grundlage einer empirischen Erprobung unserer Theorie. Und 
nirgends bewährt sie sich so rein und deutlich wie eben hier. 

Wodurch ist unter allen Veranstaltungen zur Erziehung 
die Schule so auffallend bevorzugt? Sichtlich dadurch, daß 
sie in ausgeprägtester Weise Organisation und zwar aus- 
schließlich dem Erziehungswerk dienende Organisation ist. So 

15 * 



228 


entspricht es der Natur der Erziehungsstufe, deren Zentrum 
iu der Willensregelung als solcher liegt. Willentliche 
Regelung des Tuns ist der Grundcharakter aller Organisation; 
deswegen muß auf dieser Stufe die Organisation so merklich 
hervortreten, und zwar in einer Form, die ausSrücklich als 
solche auf den zu Erziehenden wirken will, die überhaupt 
keinen andren Zweck hat als den, zu erziehen. Daraus ver- 
steht sich die ganze Eigentümlichkeit der Erziehung, welche 
die Schule leistet. Die Fügung des ganzen äußeren und selbst 
inneren Verhaltens in eine feste Gesetzesordnung, die den in 
die Schule Eintretenden gleich von der Schwelle an umfängt, 
genau so lange, als er ihr zugehört, festhält und während 
dieser Zeit fast unausgesetzt überwacht, findet in der Tat 
sonst nirgends ihresgleichen. Man mag den Waffendienst an- 
führen, der eine selbst noch straffere, bis ins Einzelne aus- 
gearbeitete Regelung aufweist, wo sozusagen kein Muskel 
zucken darf außer auf Kommando. Aber teils fällt das ganz 
unter den Begriff Schule; es wird doch da jedes Einzelne gelehrt 
und gelernt, eingeschult, „exerziert“; teils ist es im Vergleich 
zu der hier gemeinten eine höchst einseitige Art der Schulung. 
Dem leicht übertriebenen Drill in der einzigen Richtung der 
körperlichen und zwar nur in bestimmten Beziehungen ver- 
standenen körperlichen Ausbildung steht gegenüber eine fast 
gänzliche Abwesenheit positiver Disziplin nach andern z. B. 
moralischen Seiten; wogegen die eigentliche Schule die köst- 
liche Aufgabe hat, alle Seiten der menschlichen Ausbildung 
systematisch zu umspannen und in normale ßf ziehungen zu 
setzen. 

Aus unserem Prinzip versteht sich die Notwendigkeit 
einer solchen Organisation, und zwar für eine bestimmte 
mittlere Stufe zwischen Kindheit und gereiftem Menschentum. 
Offenbar reicht die allgemeine Erwägung dazu nicht aus, daß 
überhaupt ein geregeltes Tun des Erfolges sicherer ist. Dem 
stände gegenüber, daß Freiheit gerade in der Erziehung wahr- 
lich auch ihr Recht hat; ein Bedenken, das mehrere große 
Tlieoretiker sogar dahin geführt hat, den Schulbetrieb der 
Bildung, eben jene gepriesene äußere Regelung der Bildungs- 



229 


tätigkeit, überhaupt zu verwerfen oder doch auf ein kleinöteö 
Maß zurückführen zu wollen. Die Rechtfertigung für die 
Schule liegt vielmehr eben darin, daß die Einlebung in ein%n 
derartigen Organismus an sich pädagogisch wertvoll, ja 
notwendig ist. Sie hat, auch ganz abgesehen von den be- 
sonderen Zwecken des Unterrichts, die möglicherweise auch 
anders erreicht werden könnten, den ^erziehenden Wert, den 
Geist der Regel und der Ordnung überhaupt dem werdenden 
Menschen einzuprägen und gleichsam zur andern Natur werden 
zu lassen. 

Darin liegt aber zugleich die Beziehunf' der Schule zur 
sozialen Organisation, die wir iinsern Prinzipien gemäß 
erwarten müssen. Eine überraschende Analogie tut sich auf 
zwischen der Schule und den sozialen Ordnungen, vorzüglich 
dem Recht. Der diktatorische Ausspruch von Geboten oder 
,, Vorschriften“, denen nachzuhandeln jedem in die fragliche 
Organisation (die Rechtsordnung) Eintretenden zur Pflicht 
gemacht wird, die schon Protagoras klug den „Vorschriften“ 
des Schrciblchrers verglich ; die Strafbestimmung für den Zu- 
widerhandelnden, die Belohnung durch öffentliche Auszeich- 
nung, durch Aufrücken zu einem höheren Platz z. B,, und gar 
durch lächerliche äußere Abzeichen, was zwar in unseren 
Schulen glücklich abgekommen ist; überhaupt dieser ganze 
bis auf Wort und Gebärde, vorschriftsmäßiges Material usw. 
sich erstreckende Formalismus des öffentlichen Lebens 
bietet zu den Gesetzen und Gebräuchen der Schule eine schla- 
gende Analogie, die sich den ältesten Sozialforschern auf- 
drängen mußte und deren Grund nur in einem inneren Zu- 
sammenhänge der Begriffe der Schule und der Rechtsord- 
nung gesucht werden kann. Man vergleiche etwa in der- 
selben Hinsicht mit dem Recht die Wirtschaft. Sie fordert 
im Gegenteil die größte mögliche Bewegungsfreiheit; denn sie 
muß sich der jeweiligen Lage bis ins Individuellste anschmiegen 
können. Dennoch kann sie der Form des Rechtes nicht ent- 
behren, denn jede soziale Tätigkeit bedarf ihrer, doch ohne 
darin aufzugehen. So muß sich zu dem Materialen der Bil- 
dungstätigkeit, der Entfaltung der Tätigkeitstriebe, das formale 



230 


Element der äußeren Willensregelung in der Erziehung ver- 
halten, und zwar muß die Form, wie dort, als etwas Eigenes, 
in sich Gegründetes zum Bewußtsein kommen. Das leistet die 
Schule, und sie hat darin ihre ganz eigentümliche, in sich 
abgeschlossene Aufgabe. 

Auch erstreckt sich dies formale Element tatsächlich auf 
alle Seiten oder Richtungen menschlicher Bildung. So gehorcht 
zwar schon die ungeschuite Sprache des Kindes der Sprach- 
regel; sie ist ihm praktisch so wohl bewußt, daß es sie sogar 
weit strenger beobachtet als die Sprache der Erwachsenen, 
die weit mehr Ausnahmen kennt. Aber diese Regelmäßigkeit 
ist größtenteils nur mechanische Wirkung des Gesetzes der 
Sparsamkeit oder richtiger des Trägheitsgesetzes. Etwas ganz 
Anderes ist cs, die Regel als solche auffassen, sie in eigenem 
abgesonderten Bewußtsein haben und sein Sprechen ihrer 
Herrschaft systematisch unterstellen, wie es die Schule lehrt. 
So walten schon im Aufbau der menschlichen Wahrnehmungen 
die schlichtesten Gesetze der Mathematik, Mechanik, Optik 
usw. Der Blick, die Führung der Hand, fast jede Bewegung 
der Glieder folgt dem Gesetze des kürzesten Weges. Auch kann 
man nicht sagen, daß diese Gesetzmäßigkeit dem Kinde gänz- 
lich unbewußt bliebe. Das zweijährige Kind z. B., das seinen 
Baukasten einräumt (was das intelligenteste Tier ihm nicht 
nachtut) oder seine kleinen Bauten aufführt, beweist mit der 
Tat die praktische Kenntnis einfachster geometrischer, mecha- 
nischer, optischer Verhältnisse. Aber etwas ganz Anderes ist 
es, das Gesetz als solches abzusondern und in (‘ineni eigens 
darauf gerichteten Bewußtsein festzuhalten. 

Das ist der eigentliche Unterschied zwischen Schul- 
erziehung und Hauserziehung. Der Ort und die sonstigen 
äußeren Umstände, die Person des Lehrenden, das alles macht 
ihn nicht aus. Ein sonst durchaus schulmäßiger Unterricht 
kann daheim von den Eltern, ein ganz hausmäßiger in eigenem 
Lokal von angestellten Personen, getrennt von der Familie, 
unter öffentlicher Leitung und Aufsicht erteilt werden. Auch 
der Umfang der Leistung entscheidet nicht. Wir erkannten 
es schon als eine Art optischer Täuschung, daß der geistige 



231 


Fortschritt in den ersten Lebensjahren geringer sei als in der 
Schulzeit. Der Unterschied ist vielmehr qualitativ; er liegt 
in dem ausdrücklichen Bewußtwerden der Form der mensch- 
lichen Bildung und darum in der absichtsvollen Leitung der 
Bildungstätigkeit. Regel und Ordnung soll gewiß auch in der 
häuslichen Erziehung walten, aber sie soll nicht zu ausdrück- 
lichem Bewußtsein kommen. Das Kind soll in ihr als in 
seinem Elemente leben, aber sie so wenig spüren, wie die 
Lebensiuft, die es allenthalben umgibt. Etwas völlig Neues 
ist dem gegenüber die bewußte und willentliche Fügung in 
eine nicht selbstverständliche noch auf den Einzelnen zu- 
geschnittene Ordnung, wie die Schule sie fordert. Und diese 
beschränkt sich nicht etwa auf die äußere Haltung und Zucht, 
sie erstreckt sich ebenso auf Gedanken und Gedankenausdruck 
des Schülers. 

So ergibt sich ein durchaus einheitlicher Begriff dessen, 
was die Schule in intellektueller wie moralischer Hinsicht zu 
vollbringen hat. Es ergibt sich zugleich, daß in der Schul- 
erziehung, gegenüber der noch ungeschiedenen Einheit von 
Intellekt- und Willensbildung auf der ersten Stufe, eine be- 
stimmte Scheidung beider nötig wird. Es soll bei ihr nicht 
bleiben, aber sie ist für diese Stufe unerläßlich, gerade damit 
die eigentümlichen Gesetze einerseits des Verstehens, andrer- 
seits des Wollens sich zu Begriff und Erkenntnis abklären 
können. 

Und zwar fällt das Hauptgewicht sachgemäß auf die 
Seite der Intellektbildung; d. h. die zentrale Aufgabe der 
Schule ist der Unterricht. Auch was sie zur Erziehung 
beiträgt, vermag sie nur dadurch, daß sie den Unterricht in 
die Mitte stellt und die Erziehung, scheinbar wenigstens und 
äußerlich, .ihm unterordnet. Die Erhebung vom Trieb zum 
Willen beruht ja auf der Konzentration des Bewußt- 
seins (§ 8). Diese gibt erst der anfangs bloß vorhandenen 
blinden Tendenz die sichere Richtung auf ihr Objekt, die den 
Willen vom willenlosen Trieb unterscheidet. Das ist an sich 
logische, noch nicht ethische Leistung. Daß darin gleich- 
wohl auch ein Faktor der Willensbildung unmittelbar liegt, / 



232 


begreift sich: das logische Gesetz zwar ist an sich nicht Gesetz 
des Willens, aber das Denken nach dem Gesetz, das Denken 
des Gesetzes selbst, dies Tun steht unter der Botmäßigkeit 
des Willens. Der Unterricht lehrt nicht bloß richtig denken, 
er lehrt richtig denken wollen; er lehrt es, indem er in der 
Kraft des logischen Bewußtseins selbst, der Ge danke n- 
konzeniration, die Kraft zu wollen, nicht bloß blinden An- 
trieben zu folgen, in Tätigkeit setzt und dadurch entwickelt. 

So mag man von „erziehendem Unterricht“ reden, öfter 
freilich hat das allzu bequeme Schlagwort gedient zu ver- 
schleiern, daß das Zentrum der Schulerziehung notwendig 
im Unterricht des Verstandes liegt. Dieser schließt ein wesent- 
liches Stück der Willensbildung zwar ein, aber enthält nicht 
das Ganze und Eigentümlichste der letzteren. Das verbleibt 
dem „Leben“; dem Leben vor, neben und nach der Schule; 
auch dem Leben in der Schule, denn auch sie ist ja ein Leben, 
d. i. eine Form organisierter Gemeinschaft, aber nur eine neben 
andern ; ein Staat im kleinen, wie man richtig gesagt hat ; damit 
zugleich das vorzüglichste Mittel der Einlebung in die weiteren 
sozialen Ordnungen, die den aus der Schule Austretenden dann 
mit ernsterem Zwang umschließen. 

Indem wir so den Beitrag der Schule zur Willensbildung 
genau umgrenzen, verkürzen wir ihn wahrlich nicht. Er reicht 
ganz so weit wie der Anteil des Intellekts an der Willens- 
entwicklung und wie die Bedeutung der sozialen Ordnungen 
für sie. Daraus folgt aber, daß die Schule ihre erziehende 
Wirkung ganz nur als Nationalschule zu entfalten vermag. 
Ihre Grundidee ist, daß an dem Segen der Schulung nicht 
bloß alle teilhaben, sondern in gewissem Sinne alle gleichen 
Teil haben sollen. 

Dieser gewisse Sinn bedarf aber erst sorgfältiger Fest- 
stellung, Alle menschliche Bildung ist in der Wurzel eine, 
die zu entwickelnden Grundfähigkeiten sind in , allen nicht 
geistig Verstümmelten vorhanden und in allen dieselben. 
Aber das begründet noch nicht die Forderung gleicher Schulung, 
denn es gilt nur von den generellen Grundfähigkeiten; im be- 
sondern sind die Anlagen vielmehr äußerst verschieden. Der 



233 


Sinn der gleichen Bildung aller kann also keinesfalls der 
sein, daß die Bildung aller bei ihrem Abschluß nach Umfang 
und Inhalt dieselbe sein müßte. Sondern es ist die Meinung, 
erstens, es habe an sich jeder Anspruch auf gleiche Sorgfalt 
für seine Bildung, der schwächer Begabte sogar mehr als der 
von der Natur Bevorzugte; v/eil die größtmögliche Ent- 
faltung aller vorhandenen geistigen Keime in aller Interesse 
liegt. Dabei kann und muß wohl das Maß und die Richtung 
der Ausbildung für die Einzelnen verschieden sein. Nichts 
wäre den Grundgesetzen der Bildung mehr entgegen als eine 
künstliche Beschränkung auf der einen und eine ebenso künst- 
liche Hinauftreibung auf der andern Seite, in quantitativer 
oder qualitativer Richtung. Die Forderung der Gleichheit 
besagt aber noch ein Zweites, nämlich daß durch die Art 
der Schulbildung das Bewußtsein der Gemeinschaft der Bildung, 
der Einheit des letzten Bildungsziels für alle auf jede Weise 
geweckt und lebendig erhalten werden muß; daß ein jeder 
lernen soll seinen Anteil an Bildung, ob groß oder klein, als 
Bestandteil des geistigen Gemeineigentums, nicht als sein 
Sonderrecht anzusehen ; als ein anvertrautes Gut, das er nur im 
Sinne des Ganzen zu verwalten, nach Möglichkeit für alle nutz- 
bar zu machen, zu erhalten und zu vermehren verpflichtet ist. 

Das also muß der Sinn und Geist sein, in dem die Schule 
im ganzen organisiert und im besonderen und einzelnen ge- 
führt wird. So kann sie erst ganz die erziehende Wirkung 
üben, die an sich in ihrer Macht steht. Und wenn etwas an 
der Sache der Menschheit noch nicht verzweifeln läßt, so ist 
es iie Beobachtung, daß die Idee der Nationalschule doch 
feste Wurzeln schon gefaßt, daß sie mit wunderbarem logi- 
schen Zwang von den fortschreitenden Nationen eine nach 
der andern ergriffen und sich in großen organisatorischen 
Schöpftmgen durchgesetzt hat. Sie muß wohl sich durch- 
setzen, sogar der Selbsterhaltungstrieb ^^r Völker erzwingt 
es; denn Zu augenfällig ist, wie eine geschulte Nation um ein 
Unermeßliches jeder ungeschulten überlegen ist, möchte sie 
auch sonst intelligent genug, an Sinnesschärfe und Gewandt- 
heit vielleicht hervorragend, auch sozial friedsam und ruhig. 



234 


gememsiimig und tapfer sein, wie es manchen wilden Völker- 
schaften nachgerühmt wird. Ein solches Volk kann wohl in 
seinem engen Kreise ein zufriedenes Dasein führen, aber 
es wird weder fortschreiten noch, was fast dasselbe ist, vsich 
veränderten Lebensbedingungen leicht anpassen können. Es 
verbleibt im Stande der Kindheit, einer glücklichen, solange 
es nicht gestört wird, einer ganz hilflosen, wo die männlich 
gereifte Kraft des geschulten Geistes ihm feindlich entgegen- 
tritt. Selbst die Klassen einer einzigen Nation müssen sich 
in ähnlichem Verhältnis gegenüberstehen, solange und in dem 
Maße wie die Schulbildung oder auch nur gewisse höhere Grade 
von ihr das Privileg einer Klasse sind . Nur wird sich innerhalb 
eines Volkes die Kluft nicht leicht bis dahin erweitern, daß sie 
nicht bei entschiedenem Willen wieder geschlossen werden 
könnte. Die Idee der Nationalschule ist untrennbar von iier 
demokratischen Entwicklung der modernen Völker; durch sie 
ist ein Volk im modernen Sinne überhaupt erst möglich; und 
es läßt sich mit Bestimmtheit Vorhersagen: die Völker werden 
fortan die führenden sein auf Erden, welche diese Idee am 
reinsten verwirklichen. 

Welche Organisation des Schulwesens nun würde 
dieser Idee etwa entsprechen? — Zuerst, es dürften nicht 
von Anfang an nach Rang, Lehrplan und Berechtigungen ver- 
schiedene Schulen neben einander bestehen, sondern eine 
einzige Schulgattung müßte zunächst alle Kinder aufnehmen, 
und es müßte an der vollen Gemeinsamkeit der Schulerziehung 
so lange festgehalten werden, als irgend die notwendige Rück- 
sicht auf die besonderen Forderungen der Berufsbildung es 
gestattet. Denn die Sonderung ist allein durch die ver- 
schiedenen Erfordernisse der einzelnen Berufe bedingt; die 
Berufsbildung aber ist nach 'Pestalozzis Grundsatz unbedingt 
unterzuordnen der humanen Bildung d, i. der gleichmäßigen, 
harmonischen Entfaltung der menschlichen Grundkräfte. 
Die Berufspflicht selbst erwächst erst aus dem sittlichen Ver- 
hältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, Sie kann im eigenen 
Bewußtsein des Menschen nur lebendig sein, wo das Bewußt- 
sein der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bis zu unerschütter- 



235 


lieber Festigkeit erc'tarkt ist. Das ist aber allgemein nur zu 
erreichen, wenn jedem bis zum Geringsten herab ein voll- 
gewichtiger Anteil an menschlicher (irundbildung, es koste 
was es wolle, gewährt wird ; wenn aller Unterschied der Stände 
und Klassen hinsichtlich des Anspruchs auf allgemeine Men- 
schenbildung verschwindet. 

Das haben Pestalozzi, Fichte, Gchleiermacher gefordert, 
das der Freiherr vom Stein und alle Führer der damaligen 
Neugründung der Schule Preußens zur Wahrheit zu machen 
gestrebt: dem verderblichen „inneren Kriege“ der Stände und 
Klassen gedachten sie vorzubauen durch die einheitliche 
Grundlegung eines „nationalen“, d. h. die ganze Nation um- 
fassenden Bildungswesens.*) Das ist leider sehr in Vergessen- 
heit geraten; heute ist es nicht seiten ausgesprochener Grund- 
satz, und weit häufiger wird stillschweigend danach gehandelt, 
daß die „höhere“ Schule das Vorrecht der „höheren“ d. i. 
zahlungsfähigeren Klassen sei; daß in Rücksicht gerade auf 
die sozialen Unterschiede von Anfang an getrennte Schulen 
existieren müssen. Das ist ebenso naiv wie der Anspruch, 
weil man hat, desto mehr zu erhalten, desto größere Vor- 
teile sogar aus den gemeinen Gütern der Nation ziehen 
zu dürfen. Die ,, Volksschule“, die ihrer Bestimmung nach 
die Nationalschule hatte sein sollen, ist dadurch herabgedrücki 
zur Schule der unteren Volksschichten, zur Proletarierschule, 
nicht selten geradezu zur Armenschule. Eine Änderung darin 
ist nicht zu erwarten, solange das Interesse eben derer, durch 
die sie zu bewirken wäre, sich der Volksschule nicht nur 
nicht zuwendet, sondern gar ein entgegengesetztes Interesse 
an der geistigen Kurzhaltung der Massen sich unverhülll 
aussprechen darf. Die Folge ist, daß das Kind sogar durch 
die Schule selbst darauf hingewiesen wird, sich als Ange- 
hörigen der bevorrechteten weil besitzenden, oder aber der 
benachteiligten weil nicht besitzenden Klasse zu fühlen, mit 
andern Worten, daß die Schule selbst jenen zerstörenden 
„inneren Krieg“, den sie hatte ausrotten sollen, nur schüren 

*) Vgl. „Volk und Schule Preußens vor hundert Jahren und heute“ 
(Gießen, Töpelmann) 1908. 



236 


und von Geschlecht zu Geschlecht in wachsender Progression 
fortpflanzen hilft. 

Soll das vermieden werden, so muß die Volksschule zu 
dem tatsächlich werden, was sie dem Prinzip nach doch hat 
sein sollen, zur allgemeinen obligatorischen Schule für alle* 
Und zwar dürfte und sollte sich der pflichtmäßige Besuch 
der allgemeinen Volksschule auf einen vollen, in sich abge- 
schlossenen Kursus von (sage) sechs Jahren erstrecken. Man 
träte dann normal mit zwölf Jahren in eine oder die andere 
höhere Schule über; nicht beliebig in die eine oder andre, 
sondern streng nach den Leistungen in der Grundschule. Für 
alle höheren Schulgattungen ohne Unterschied würde das 
unberechenbare Vorteile einschließen. 

Eine Mehrheit von Schulgattungen für die zweite Stufe 
dagegen, etwa für eine zweite Schulperiode vom 12. bis 18. Jahr, 
ist um der Berufsteilung willen wohl unerläßlich. Namentlich wird 
eine Scheidung auf lange hin notwendig bleiben zwischen der 
Vorbereitung zu solchen Berufen, die einer tielgehenden 
spezialwissenschaftlichen Ausbildung bedürfen, und denen, die 
ihrer entraten können, dagegen gewisse, so früh wie möglich 
zu erwerbende praktische Fertigkeiten beanspruchen; im all- 
gemeinen also zwischen der Vorbildung zu studierten Berufen 
einerseits, gewerblichen andrerseits. Für jene ist die heutige 
,, höhere“ Schule, oder sind vielmehr die verschiedenen Gat- 
tungen solcher im allgemeinen wohl geeignet; normal als Vor- 
stufen zur Universität einerseits, den technischen Hochschulen 
andrerseits. Die Schule höchster Gattung hätte nur die nach 
theoretischer Seite Befähigtsten aufzunehmen, dann aber auch 
entsprechend hohe Anforderungen zu stellen. Es ist mir nicht 
zweifelhaft, daß diese höchste Gattung an dem Ideal des „neu- 
humanistischen“ Gymnasiums festzuhalten hätte; ich meine 
an der Verbindung einer breiten Grundlage zu tiefdringendem 
Kulturstudium nicht ohne die klassischen Sprachen, besonders 
das Griechische, ♦) und eines nicht minder ernsten mathema- 

♦) Vgl. die Akademische Festrede: „Was uns die Griechen sind“ 
(Marburg, Eiwert, 1901, wieder abgedruckt in „Philosophie und Pädagogik“, 
ebenda 1909). 



237 


tischen und mathematisch-physikalischen Studiums, Hin- 
gegen ist das gegenwärtige numerische Übergewicht des 
humanistischen Gymnasiums durchaus ungesund, es drückt 
das Niveau des Gymnasiums selbst tiefer und tiefer, während 
es zugleich sämtliche Parallelanstalten in ihrer sachgemäßen 
Entwicklung empfindlich hemmt. Es sollten also die An- 
forderungen des humanistischen Gymnasiums auf ihrer vollen 
Höhe erhalten, ja gesteigert, aber dann auch der Zugang zu 
dieser Anstalt Unfähigen aufs strengste versperrt werden. 
Wie das anders als auf Grundlage der allgemeinen Volksschule 
ausführbar ist, vermag ich nicht einzusehen. Beim zwölf- 
jährigen, sechs Jahre gemeinsam mit den Andern geschulten 
Kinde ließe sich ein Urteil über die Befähigung mit aus- 
reichender Sicherheit abgeben, während jetzt aber das sechs- 
jährige Kind eine nur schwer rückgängig zu machende Ent- 
scheidung betreffs der ganzen Schullaufbahn voraus getroffen 
wird, bei der der ausschlaggebende Faktor lediglich das 
Geld oder die ehrgeizige Absicht der Eltern zu sein pflegt.*) 
Für die gewerblichen Berufe gehörte dagegen eine eigent- 
liche Gewerbe- oder Realschule, die mit einem Grundstock 
allgemeinbildender, für alle gemeinsamer und pflichtmäßiger 
Fächer eine reiche Fülle von Fachkursen verbände, zwischen 
denen die Wahl freistände, oder vielmehr durch den Beruf, 
für den man sich entscheidet, bestimmt wäre. Und zwar 
nehme ich für diese ebenfalls einen sechsjährigen Kursus an. 
Sie würde dann über die Leistungen der heutigen Volksschule, 
auch wenn man die Fortbildungsschule (etwa nach süd- 
deutscher Art) hinzunimmt, um ein namhaftes hinausgehen. 
Daß die Fortbildungsschule auch bei der besten bisher er- 
reichten Organisation nichts mehr als ein Notbehelf ist, ist 
fast allgemein anerkannt. Sie wird irgend einmal abgelöst 
werden müssen durch die Vollschule für alle bis zum 
achtzehnten Jahr. Diese müßte dann nur eine sehr freie 

Über die angeblichen „Gefahren der Einheitsschule“ s, den Auf- 
satz im „Säemann“, Bd. 3, S. 329 ff. Ferner: „Die Einheitsschule“ (Slg. 
„Deutsche Erziehung“, Verlag Union, 2, Aufl. 1919), und „Sozialidealismus“ 
(Berlin, Jul. Springer, 1919), Kap. 5. 



238 


Orgaiüsation in der beschriebenen Art erhalten, so daß die An- 
fänge der beruflichen Ausbildung („Lehrjahre“) sich teils in 
Gestalt von Fachkursen unmittelbar anschlössen, teils, sofern 
das nicht angeht, daneben Platz behielten» Als Übergang dazu 
ist vorerst anzustreben, daß der Fortbildungsunterricht inhalt- 
lich erweitert und vertieft und in solche Stunden (die Früh- 
stunden des Tages) verlegt wird, wo die Kräfte noch frisch und 
die Empfänglichkeit lebendig ist. 

An diesen wenigen allgemeinen Sätzen inbetreff der 
Schule dürfen wir es nach der Absicht dieser „Grundlinien“ 
genug sein lassen. Denn noch bleibt die dritte Art der Orga- 
nisation zur Willensbildung zu behandeln übrig, von der bisher 
nicht einmal der Name feststeht. 


§ 22 . 

Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 

3. Freie Sclbsterziehung im Gemeinleben 
der Erwachsenen. 

Die Willensbildung verblieb auf der ersten Stufe ganz 
im Gebiete des Sinnlich -Praktischen; sie erhob sich auf der 
zweiten zum Verständig- Praktischen; erst die dritte führt 
auf die Höhe der praktischen Vernunft oder der freien Sittlich- 
keit. Das wesentliche Mittel dazu ist die Vertiefung des Selbst- 
bewußtseins. Diese aber ist einerseits durch Gemeinschaft 
bedingt, andrerseits führt sie zur Gemeinschaft (§§ 9, 10). 
Denn dasselbe Gesetz des Menschentums, das für den Ein- 
zelnen den Grund der Einheit seines Selbstbewußtseins aus- 
macht, begründet zugleich die Einheit des Bewußtseins unter 
Vielen, ja unter allen des Selbstbewußtseins Fähigen, d. h. 
der Idee nach unter allen Menschen. So wurzelt im prak- 
tischen Selbstbewußtsein das sittliche Bewußtsein, als iden- 
tisch mit dem Gemeinschaftsbewußtsein auf der Stufe der 
Vernunft . 

Nun ist zwar die sittliche Gemeinschaft eine rein innere. 
Sie geht nicht auf in der Gemeinschaft der Arbeit und der 



239 


um ihretwillen notwendigen äußeren Organisation; sie hat ihr 
Leben und die Wurzel ihrer Kraft ganz in der inneren Ge- 
sinnung der sich Verbindenden. E"* fragt sich, wie eine solche 
Gemeinschaft dennoch einer Organisation fähig, ja mit ihr auch 
nur verträglich ist. 

Man könnte sich denken, daß die äußere Ordnung selbst 
— die der Wirtschaft, wenn wir sie der Materie, oder des 
Rechts, wenn wir sie der Form nach bezeichnen — sich mit 
sittlichem Geiste so durchdrängc, daß sie gleichsam als ein 
gfitreuer Abdruck der sittlichen Ordnung erschiene. Allein 
wir wissen, daß das unbedingte, unendliche Ziel des Sittlichen 
in den bedingten und endlichen Ordnungen der Wirtschaft und 
des Rechts nie erschöpfend dargestellt sein kann. Andrerseits ist 
die sittliche Ordnung eines eigenen und zwar rinnlichen Aus- 
drucks allerdings fähig, aber nur eines symbolischen. Es läßt sich 
eine äußere Darstellung der sein sollenden sittlichen Ordnung 
und damit Gemeinschaft denken, die nicht wie Wirtschaft und 
Recht aus dem Zwange der Lebensnot erwächst und ihre 
Spuren allenthalben sichtbar trägt, sondern in Freiheit, rein 
aus dem Ausdrucksbedürfnis, gleichsam der poetischen Kraft 
der sittlichen Vernunft hervorbricht. Eine allgemeine Fest- 
feier etwa, die ganz ihren Sinn erfüllte, die aus wahrer Einheit 
der Gesinnung flösse, würde davon einen Begriff geben. Sie 
würde sich, auch bei allem Verzicht auf religiöse Bedeutung, 
wohl unwillkürlich dem Vorbild einer religiösen Feier an- 
schließen, oder einzelne Züge wenigstens, die auf religiösem 
Grunde ursprünglich erwachsen sind, gleichsam ativistisch 
bewahren. Nur, während das religiöse Symbol als heilig, d. i. 
für alle und in alle Zeit verbindlich gelten will, würde jene 
freie Symbolik sich ihrer Willkürlichkeit und Wandelbarkeit 
bewußt bleiben; unverletzlich gälte ihr allein der Sinn, den 
sie darstellen will, nicht die Darstellung. 

Indem wir auf die Existenz und gute Begründung einer 
solchen Symbolik der sittlichen Gemeinschaft ausdrücklich 
hinweisen, sind wir uns doch darüber klar, daß sie zum gegen- 
wärtigen Zweck nichts oder nur Nebensächliches beiträgt. 
Nicht nach dem äußeren Ausdruck einer vorhandenen inneren 



240 


Gemeinschaft ist jetzt die Frage^ sondern nach einer Organi- 
sation, die geeignet ist, sie allererst herbeizuführen. Wirtschaft 
und Recht und die ihnen entsprechenden Bildungsorganisa- 
tionen bereiten für sie den Boden, aber reichen noch nicht bis 
zu ihr hin. Jenes ästhetische Mittel aber mag zwar im Zu- 
sammenhang mit anderen, tiefer eingreifenden Erziehungs- 
mitteln eine gewisse pädagogische Kraft entfalten, aber keines- 
falls kann es das erste und entscheidende Mittel der sittlichen 
Erziehung der dem Haus und der Schule Entwachsenen sein. 
Es kann Einheit der Gesinnung nicht ursprünglich bewirken, 
sondern setzt sie schon voraus. 

Nun handelt es sich hier um nichts andres als die Voll- 
endung menschlicher Bildung. Es handelt sich darum, 
daß als Zweck des Menschendaseins, und zwar jedes, auch 
des geringsten, nicht Wirtschaft und Recht, nicht das Leben 
der Arbeit allein und das öffentliche Leben, sondern die Höhe 
des Menschentums selbst tatsächlich und nicht bloß theoretisch 
zur Anerkennung gebracht werden muß. Diese Vollendung 
des Menschentums ist aber nicht zu denken als eine angebbare 
Summe oder ein geschlossener Inbegriff von wissenschaft- 
lichen Einsichten und technischen Fähigkeiten, Willens- 
bestimmtheiten und Handlungsweisen, ästhetischen Auf- 
fassungen und Leistungen, und was man sonst noch aufzählen 
mag; sondern sie schließt das Bewußtsein des unbegrenzt 
möglichen Fortschritts in jeder Richtung humaner 
Bildung wie in ihrer zentralen Vereinigung ein. Der Gipfel 
der Menschenbildung ist mit andern Worten nicht ein be- 
stimmter höchster Grad des Gebildet sei ns, sondern freieste 
Bildungsfähigkeit, unbeschränktes Vermögen der Selbst- 
bildung; womit zugleich erst die volle Befähigung, an der 
Bildung Andrer mitzuarbeiten, errungen wird. 

Also wir sollen immer Lernende bleiben. Und so 
finden wir uns zunächst auf bekanntem Boden : auf dem Boden 
der Lehre, des Unterrichts. Nur wird, nachdem durch 
Haus und Schule ein fester Grund bereits gelegt ist, das Weitere 
Sache freier Bildungstätigkeit sein. Diese braucht aber 
einer Organisation nicht zu entbehren. Von der Möglich- 



241 


keit einer Organisation freier, nicht autoritativer Bildungs- 
tätigkeit gibt das beweisende Exempel die Hochschule. 
Sie ist auch seit Plato schon als ein notwendiges, vielmehr als 
das eigentlich zentrale Organ der sozialpädagogischen 
Organisation erkannt. 

Aber sie ist nur in einseitiger Form bisher verwirklicht. 
Eine Hochschule, die des Namens wert ist, existiert bisher 
nur für eine enge, hoch bevorzugte Klasse sich wissenschaftlich 
Bildender. Es ist eine noch junge, aber siegreich vordringonde 
Erkenntnis, daß etwas Entsprechendes für alle, die der gleichen 
bevorzugten äußeren Lage und besonderen Vorbildung nicht 
teilhaft sind, erst recht notwendig ist: die Idee der „Volks- 
hochschule“; in weitestgehender Fassung, der Hochschule 
für alle. Man spricht auch von „Erweiterung“ des Hochst^hul- 
unterrichts {Extension of University Teaching), indem an- 
genommen wird, daß die Bewegung auf das genannte Ziel hin 
von den vorhandenen Hochschulen ausgehen müsse; wie es 
mit vielverheißcndem Erfolg in England und Nordamerika 
geschieht. Man denkt sich, daß die alte Universitas litterarum 
zur wahren Universitas, zu einem Mittelpunkt freier Bildungs- 
arbeit für die Gesamtheit zu werden bestimmt sei. Auch 
wird nicht verkannt, in wie enger Beziehung diese recht 
eigentlich „sozialpädagogische“ Bewegung zur konzentrativen 
Entwicklung der Wirtschaft und zur demokratischen Entwick- 
lung des öffentlichen Lebens steht. Die Zusammengehörigkeit 
und genaue Wechselbeziehung dieser drei Faktoren ergibt 
sich klar aus unseren Grundsätzen, nämlich aus der notwendig 
parallelen Anwendung derselben drei regulativen Prinzipien 
(§ 18 ) auf die drei Grundrichtungen des sozialen Lebens und 
der sozialen Tätigkeit. Auf dieser Grundlage forderten wir 
bereits eine allgemeine, gleichheitliche Organisation des Haus- 
lebens in bildender Absicht, und einen nicht minder allge- 
meinen „nationalen“ Ausbau des Schulwesens. Die Analogie 
führt zwingend auf eine im gleichen Sinne „nationale“ Ge- 
staltung freier Bildungsorganisationen für die Erwachsenen, 
wie die „Universitätsausdehnung“ in England und den Ver- 
einigten Staaten sie deutlich anstrebt. 

K tt t o r p , Soziälpädasoglk. 4. Aufl. 


16 



242 


Ein scharfsichtiger Soziologe ♦) sieht den Kern der merk- 
würdigen Bewegung in der Entstehung eines neuen „weltlichen 
Kleru8‘^ Damit ist eben die Bedeutung der Sache treffend 
bezeichnet, auf die unsere allgemeinen Erwägungen hinführen. 
Was anders hat der alte Klerus denn darstellen wollen als 
eine schlechthin universale Organisation der Fürsorge für das 
geistige Bedürfnis aller, so wie man dies Bedürfen und diese 
Fürsorge auf der damaligen Stufe sozialer Entwicklung ver- 
stand und vielleicht nur verstehen konnte? Das unter- 
scheidende Kennzeichen eines „weltlichen“ Klerus aber läge, 
nicht eigentlich und ursprünglich in der Ablehnung des Über- 
sinnlichen, sondern in der Überwindung des Autoritäts- 
charakters der geistigen Fürsorge. Dieser folgt keineswegs 
aus der Voraussetzung des Übersinnlichen an und für sich, 
sondern aus dem Anspruch einer bevorrechteten Klasse 
„Geistlicher“, im Besitz der allein wahren Erkenntnis des 
Übersinnlichen und der nächsten, unmittelbarsten Beziehung 
zu ihm zu sein, was ja freilich, sofern man damit Glauben 
findet, die unüberwindlichste Autorität schaffen muß. Genau 
das ist es nun aber, was die moderne Entwicklung schlechter- 
dings ablehnt; was sie ablehnea muß, sogar vom religiösen 
Standpunkt selbst ; denn gerade das Göttliche für den Menschen 
gestattet sie nicht mehr zu denken als Offenbarung an eine 
selbst bei der Gottheit privilegierte Klasse, sondern allein an 
„den“ Menschen oder an die Menschheit. Solange allerdings 
die Religion selbst nicht mit Entschiedenheit diesen Stand- 
punkt einnimmt, ist die freie Bildungsarbeit an den Er- 
wachsenen schon gezwungen, sich völlig abseits der Religion 
auf den Boden der bloßen Sittlichkeit zu stellen, d. h. die Reli- 
gion zwar nicht abzulehnen, aber rein dem Gewissen des Ein- 
zelnen zu überlassen. 

*) F, Tönnies, Elh. Kultur 1894, Nr. 36, 37. Vgl. des Verf. Aufsatz 
„Ober volkstümliche Universit&tskurse {Uni versitäts- Ausdehnung)“, Acad. 
Revue, Jahrg. II, H. 23-24, Aug.-Sept. 1896. Ferner: Die Erziehung des 
Volkes auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft (in Schriften der 
Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, Nr. 18. Berlin, Hey- 
mann, 1900). Volkskultur etc., Kap. 4 und 5. 



243 


Und zwar nicht, um nun etwa Irgend eine andre Autorität 
an deren Stelle zu setzen. Sie wird vielmehr demokra- 
tisch sein, oder sie wird nicht sein. Sie wird sich in den 
wirtschaftlichen und politischen Kampf der gesellschaftlichen 
Klassen nicht mischen, aber das Befreiuugsstreben der bisher 
am Leitbande der Autorität und des augenblicklichen rohen 
Interesses geführten Massen auch darin rein anerkennen. 
Welches auch die heutigen, vorübergehenden Formen jenes 
Kampfes sein mögen und welches seine Aussichten für eine 
nähere, oder fernere Zukunft, unzweifelhaft bedeutet er für die 
unteren Klassen eine mächtige Aufraffung zu dem Mute eigener 
Besinnung und selbsttätigen Ringens um ein edleres, mensch- 
licheres Dasein. Keiner, der selbst in seiner Seele frei ist, 
kann darin je eine Gefahr erblicken. Wäre es aber eine, nun 
so gäbe es doch offenbar kein andres Mittel dawider, als daß 
man der geistigen Macht die stärkere geistige Macht, über die 
man zu verfügen meint, entgegenwirft. Man fasse immerhin 
die brennend notwendige geistige Erziehung der Völker als 
Kampf wider ihre gefährlichen Tendenzen auf; wird nur der 
Kampf mit Waffen des Geistes ausgefochten, so muß er zum 
guten Ende führen, gleichviel wer den Sieg behält. Trägt doch 
im geistigen Streit der Besiegte nicht kleineren Gewinn davon 
als der Sieger. So muß man denken — wenn man die Wahr- 
heit will und nicht die Macht um jeden Preis, auch um den 
Preis der Wahrheit. 

Vielleicht werden Gutmeinende immer noch einwenden, 
daß wir in den alten Fehler fallen, von der Aufklärung des 
Verstandes allein alles zu erwarten; was doch durch viel- 
fältige Erfahrung als hoffnungslos erwiesen sei. Auch der 
„Universitätsausdehnung“ ist das oftmals zum Vorwurf 
gemacht worden, daß sie nichts als „einseitige Verstandes- 
bildung“ anzubieten habe. 

Dem gegenüber wäre zuerst an den schon geführten Nach- 
weis zu erinnern, daß und weshalb die Schule und ihr wesent- 
liches Mittel, der Unterricht, sich unmittelbar nur an den Ver- 
stand wenden kann’ Soweit die freie Bildung an dem Cha- 
rakter des Unterrichts teilnimmt, gilt das also auch von ihr. 

16 ^ 



244 


Aber, wenn überhaupt im Unterricht selbst ein Stück Er- 
ziehung liegt, so ist zumal jene Befreiung des Gedankens, auf 
die wir zielen, wahrlich auch eine sittliche Leistung. Sie be- 
deutet die Erziehung zur ersten aller Tugenden, der Tugend 
der Wahrheit. 

Sodann aber ist es in der Tat unsre Meinung nicht, daß 
im bloßen Unterricht die Erziehung der Erwachsenen sich 
erschöpfe. Was darüber hinaus notwendig und möglich und 
zwar in organisierter Art möglich ist, zeigt das Beispiel der 
nordischen „Volkshochschule“, die ihre Zöglinge für einige 
Wintermonate nicht zu bloßem Studium, sondern zu einem 
vielseitig erziehenden, geordneten Zusammenleben in länd- 
licher Stille vereint. Ganz das Gleiche ist nun zwar für die 
großen und beständig wachsenden städtischen Arbeiterrnassen, 
um die es sich heute und bei uns an erster Stelle handelt, 
nicht unmittelbar zu erreichen; auch darf man nicht darauf 
warten, daß die Bedingungen dafür etwa künftig einmal gün- 
stiger liegen. Aber etwas Analoges ist denkbar, nämlich eine 
enge, geregelte Verbindung der freien Bildungsarbeit unter 
den Massen mit aller sonstigen Sorge für ihr leibliches und 
sittliches Wohl, und zwar unter stärkster Heranziehung zu 
eigener Mittätigkeit. Auch diesen Weg hat man hier und da 
(z.B.in Ostlondon), wenn auch erst unsicheren Schrittes, be- 
treten. Man erkennt, daß gleichzeitig gesorgt werden 
muß für gesunde Wohnung, Ernährung, Krankenpflege, 
Spiel und edle Unterhaltung, geistige Fortbildung und Kunst- 
pflege unter den arbeitenden Klassen. Indem man sie so, 
nicht etwa zu gängeln, sondern gerade zur Selbständigkeit 
zu erziehen bestrebt ist, wird man von selbst dahin geführt 
werden, auch ihre wirtschaftlichen und politischen Be- 
strebungen unbefangener zu beurteilen. Man wird ja durch 
die Praxis selbst fort und fort darauf gestoßen, wie dies alles 
unlöslich zusammenhängt. Und damit wird auch das gegen- 
seitige Mißtrauen, das bis jetzt für alles proletarische Bildungs- 
bestreben das schwerste Hemmnis bildet, mehr und mehr über- 
wunden werden. In solcher Verbindung aber wirkt dann der 
Unterricht nicht als bloße äußere Mitteilung von allerlei nutz* 



245 


bringenden „Kenntnissen und Fertigkeiten*', sondern er wird (wie 
ich schon anderwärts gesagt habe) dem Arbeiter einen Lebens- 
inhalt geben, eine Philosophie der Arbeit, oder, wenn man will, 
eine Religion. 

Also auch hier ist mchts \on Grund aus Neues erst auf 
die Bahn zu bringen, sondern ein überall keimhaft schon vor- 
handenes Bestreben nur anzuerkennen und zu kräftigerer Ent- 
wicklung zu bringen. Auch darf es nicht irre machen, daß 
das von heut auf morgen Erreichbare allerdings nur ein ärm- 
licher Notbehelf sein kann. Es verhält rieh damit nicht 
anders als mit dem „Kindergarten“ im Vergleich mit der an 
sich zu fordernden Gestaltung des Hauslebens und der Haus- 
erziehung: man darf das einstweilen Erreichbare um so weniger 
verachten, je sicherer eine allmähliche Überführung zu dem an 
sich zu erstrebenden Zustand sich als möglich erkennen läßt. 

Das ferne Ziel aber, das uns vor Augen steht, ist; Ver- 
gemeinschaftung und damit Versittlichung des ganzen 
Lebens des Volks. Das wirtschaftliche und politische Leben 
ist darin miteinbegriffen, doch so, daß es sich als bloß 
dienendes Mittel dem edleren Zweck einer reinen Entfaltung 
des Menschentums unterordnet. Die gemeinschaftliche Bil- 
dungsarbeit würde dann zum natürlichen Ausfluß, zur selbst- 
verständlichen Folge der Gemeinschaft des ganzen Lebens 
werden; es würde nicht, wie jetzt, eine trennende Kluft erst 
künstlich zu überbrücken sein, weil man sich von Anfang an 
auf gemeinsamem Boden fände. 

Das Ziel ist also, mit andern Worten, das von Plato 
längst gezeigte: daß die Erziehung sich in den Dienst der 
Gemeinschaft stellt, das Leben der Gemeinschaft in seinen 
mancherlei Richtungen ganz der Erziehung dienstbar wird; 
daß alles zugleich, die wirtschaftlich-rechtliche Verfassung, 
eine sehr systematische Pflege der Wissenschaft, eine an wohl- 
erkannte, zugleich sittlich zuträgliche Gesetze gebundene, nicht 
minder das ganze Leben der Gemeinschaft durchdringende, 
selbst zum Leben gewordene Kunst und als Folge aus dem 
allen eine einstimmige Ordnung auch des häuslichen Lebens 
bis selbst zum Verkehr der Geschlechter und der Aufzucht 



246 


der Kinder, zu einem und demselben Ende: der reinen Ge- 
meinschaft im Erkennen und Wollen des einen, ewigen .Guten 
zusammenwirkt; so daß auch, wer nicht bis zur höchsten 
Stufe (der „Philosophie“, wie Plato sagt) durchdringt, doch 
durch den ganzen Zug des Lebens in solcher Gemeinschaft 
gleichsam mitfortgetragen und durch Sitte und richtigen In- 
stinkt zu einer Lebensführung geleitet wird, wie sie den 
höchsten Zwecken der Gesamtheit entspricht oder doch nicht 
widerspricht. 

Was am Ideale Platos der Korrektur bedarf, ist schon 
gesagt: er hat die Bedeutung des wirtschaftlichen sowohl als 
des politischen Faktors des sozialen Lebens, namentlich anfangs, 
nicht in vollem Umfang erkennen können. Zwar berichtigt 
sich der Fehler zum Teil schon bei ihm selbst wieder; und 
Morus hat die nötige Korrektur mit sicherer Hand vollzogen. 
Aber doch bleibt es nötig, auf diesen Fehler ausdrücklich hin- 
zuweisen, da das mittelalterliche Christentum, das unter uns 
ja immer noch über eine ungeheure Macht gebietet, ihn wieder- 
holt und noch verschärft hat. 

Überhaupt wird eine Auseinandersetzung mit der Reli- 
gion*) an dieser Stelle um so dringlicher, je sichtlicher sich 
unser Ideal mit ihren uralten Forderungen berührt. Die neue 
Bedeutung, die die Religion in den sozialen Kämpfen unsrer 
Tage unleugbar gewonnen hat, beruht vielleicht gar nicht auf 
einer wirklichen religiösen Erneuerung, von der man doch 
sonst wenig spürt, sondern auf der wachsenden Erkenntnis 
eben der sozialen Bedeutung dieses zeitweilig allzu sehr ver- 
nachlässigten Faktors. Diese Bedeutung glauben wir aus dem 
Zusammenhang unsrer Grundanschauungen vom sozialen Leben 
klar zu verstehen. Jene vollendete Gemeinschaft, die wir 
als Ziel aufstellen, ist ein so unendliches Ideal wie die ewige 
Wahrheit. Und weil sie nun hienieden stets unerreicht bleibt, 
so hat sie die suchende Phantasie der Völker wie einzelner 
tief angelegter Menschen stets wieder, sei es in ein überwelt- 
liches Jenseits geflüchtet, oder in einen unmeßbar fernen 

*) Vgl. „Religion innerhalb der Grenzen der Humanität“ (2. Aufl. 
1908), bes. Kap. 5; und unten § 34. 



247 


idealen Endzustand des Menschengeschlechts hier auf Erden 
hinausgeschoben. Die Wissenschaft bescheidet sich, daß sie 
vom Jenseits nichts zu sagen ha*, und auch ein Ziel unsres 
Erdenwallens, im Sinne eines mit Sicherheit eintreffenden 
herrlichen Endes der menschlichen Entwicklung nicht zu 
errechnen vermag. Nur die Richtung des vom gegebenen 
Punkte an einzuschlagenden Weges getraut sie sich wohl 
anzugeben. Auch das Ziel ist sie imstande zu bestimmen, 
aber nur in einer allgemeinen Formel, nur als „Idee“, d. i. 
als bloß gedanklichen Richtpunkt zur Orientierung auf der 
unendlichen Bahn endlicher Erfahrung. Sie begreift, daß dies 
Ziel auf keiner gegebenen Stufe menschlicher Entwicklung 
schlechthin erreicht auch nur gedacht werden darf. Und so 
besteht die Aufgabe der Erziehung immer fo^t, wie für den 
einzelnen Menschen, so für die Menschheit im Ganzen. Auch 
mit allen jenen ineinandergreifenden Mitteln sozialer Erziehung, 
die wir der Reihe nach erwogen haben, kann nichts andres 
erreicht werden als ein ungehemmtes Fortschreiten; nie 
ein Stillstand beim erreichten Ziel. Das ist aber dem Sinne 
der Religion ganz entgegen; sie lechzt nach etwas, wobei man 
sich, wenigstens im Gedanken, beruhigen könne; was nicht 
immer wieder unser sehnsüchtiges Verlangen täuscht. Sie 
möchte dem tausendfältig in die Irre getriebenen Menschengeist 
ein seliges Genügen verschaffen, einmal für ewig; nicht ihn 
rastlos immer wieder aufs neue hinaustreiben zu fernerem und 
fernerem Suchen nach etwas, das, so scheint es, doch ewig 
unfindbar bleibt. 

Von diesem sehr bestimmten Unterschied abgesehen, der 
den alten Gegensatz von „Wissen“ und „Glauben“, wie wir 
meinen, aufzuhellen imstande ist, muß man doch anerkennen, 
daß in der Geschichte des Menschengeschlechts die religiösen 
Gemeinschaften allein dem, was wir fordern, einiger- 
maßen nahe gekommen sind; näher zwar in dem, was sie sein 
wollten, als in dem, was sie tatsächlich waren. Religion hat 
doch das hohe Ideal einer wahrhaften, auf den innersten 
Grund der Gesinnung zu bauenden Gemeinschaft, einer 
wahren geistigen Einheit sogar des ganzen Menschengeschlechts, 



248 


einer teleologischen Einheit auch der Menschheitsgeschichte 
von Anbeginn an, in kühnem Glauben aufgestellt. Sie hat 
fest darauf getraut, daß jenes überirdische Reich einer durch 
nichts mehr zu trübenden seelischen Gemeinschaft kommen 
müsse, und daß jeder ohne irgendwelche Ausnahme zum 
Bürger dieses Reiches berufen sei. Sie hat das in großen 
Zügen sogar zu verwirklichen unternommen; aber freilich in 
jener unhaltbaren Loslösung des höchsten geistigen Seins des 
Menschen von den sinnlichen Triebkräften seines Daseins 
hienieden, folglich vom wirtschaftlichen, vom staatlichen Leben, 
von freier Naturerforschung und selbständig, human begrün- 
deter Sittlichkeit. Sie hat deshalb am modernen, freier ent- 
falteten Kulturleben scheitern müssen, oder doch sich nur 
durch offenbares Preisgeben ihres eigentlichen Kerngedankens 
damit äußerlich abzufinden vermocht. Jeder Versuch, das 
sich Widerstrebende doch zusammenzuzwingen, Religion ohne 
tiefgreifende Änderung ihres ganzen Sinns und Prinzips mit 
der humanen Kultur zu versöhnen, führt, so fürchte ich, vom 
klaren Wege ab. 

Somit iwSt es allerdings nicht mehr als allein die letzte 
Idee, in der wir mit ihr noch Zusammenhängen; das sei, um 
auch nicht den Schatten des Verdachts einer unlauteren „Ak- 
kommodation“ aufkommen zu lassen,*) ausdrücklich gesagt. 
Vielmehr mitten aus diesem „weltlichen“ Leben, aus Wirt- 
schaft und Staat, kurz aus dem befreiten Menschheits- 
gefühl soll, unter dem wachsenden Einfluß menschlicher 
Wissenschaft und menschlicher Arbeit, das vertiefte Bewußt- 
sein und die energische Betätigung der Gemeinschaft erstehen; 
soll ein Gemeindcicben sich gestalten, das in wirtschaftlich- 
rechtlicher Gemeinsamkeit nicht auf geht, sondern aut ihrer 

*) Wie sie in derSt^-hrift, „Religion“ (s.o. S. 246 Anm.) zu meiner Verwunde- 
rung von JuliusBaumann gefunden werden konnte (Göttinger Gel. 
Anz. 1894, S. 689 f. ; „auch für Gebildete“ wiederholt in dem Buche: Deutsche 
und außerdeutsche Philosophie der letzten Jahrzehnte. Gotha, Perthes, 1903). 
Dagegen ist einem anderen Kritiker, Julius Duboc (Zukunft, Bd. VIII, 
S. 270), als das Merkwürdigste an der Schrift gerade die Rückhaltlosigkeit 
erschienen, mit der sie von der Kirche selbst den Verzicht auf das Dogma 
zu fordern wagte. 



249 


Grundlage das ganze geistige Dasein des Menschen umspannt. 
Aber vielleicht wird eben damit das Leben der Gemeinschaft 
von selbst einen religiösen oder dem religiösen nächstver- 
wandten Zug annehmen, Es braucht der Glut und Tiefe des 
Gefühls, nämlich des Mensehheitsgeiühls, des Un- 
endlichkeitsgefühls, keineswegs zu entbehren; es mag 
darin selbst einen neuen Mittelpunkt finden, in dem es ge- 
borgen ruht — sofern d^m Menschen ein Ruhen gestattet 
ist. Denn der Mensch lebt nicht von der Vernunft allein; 
das unmittelbare Leben des Gefühls fordert auch sein Recht 
und wird es sich immer zu schaffen wissen. Nur muß der 
Vernunft die Leitung und gleichsam die oberste gesetz;jebende 
Gewalt im Menschenleben unbedingt verbleiben. Dafür wäre 
aber unter den gedachten Voraussetzungen die Gewähr gegeben. 

Es ist keine Botschaft vom Himmel, die wir zu verkünden 
kommen; weder die alte noch etwa eine neue. Sondern es ist, 
was aus der Entwicklung der Menschheit hier auf Erden als 
Idee längst geboren, was von vielen der Besten unsres Ge- 
schlechts als Ziel bereits genannt und herbeigesehnt worden 
ist. Und so bedarf es auch keiner Wunder und Zeichen aus 
einer andern Welt, um das Ziel in dieser Welt verwirklicht 
darzustellen. Sondern es bedarf nur des einzigen mutigen 
Entschlusses der Menschheit, rein ihrer Menschen Vernunft zu 
folgen: Sapere aude/ 


§ 23 . 

Form der willenbildenden Tätigkeit. 

Übung und Lehre. 

Wir haben die Organisationsformen dargelegt, in 
welche alle Arbeit an der Erziehung des Willens sich ein- 
fügen muß. Es bleibt übrig, das Besondere der Er- 
ziehungsarbeit, wie sie innerhalb jener Organisation 
und unter ihrer fortwährenden Einwirkung, aber unmittelbar 
durch Einzelne an Einzelnen vollbracht wird, zu erforschen und 
unter allgemeine Gesetze zu bringen. Und zwar fordert zuerst 



250 


die Form der willenbildenden Tätigkeit eine eigene Unter- 
suchung. Es fragt sich, in welcher allgemeinen Art vollzieht 
sich die Erziehung des Willens, was ist das Allgemeine des 
Tuns hierbei, von Seiten des Erziehers und von Seiten des 
Zöglings? 

Auf diese Frage hat man seit alter Zeit geantwortet mit 
der Aufstellung der drei Grundfaktoren der Erziehung: erstlich 
der Natur oder Anlage des Zöglings; diese nimmt man als 
gegeben an; zweitens der Übung, und drittens der Lehre. 
Daß von den letzteren beiden die Übung, das unmittelbare 
Tun, vorangehen muß und durch die nachfolgende Lehre nur 
zum Bewußtsein ihrer selbst und damit zu größerer Sicherheit 
und geregelterem Fortschritt gebracht wird, ist längst erkannt 
und mit allem bis hierher Bewiesenen in klarem Einklang. 
Soll das Tun, ja das Wollen gelernt werden, so muß der Wille 
und die Tat erst einmal wagen sich einzusetzen, dann erst kann 
die Lehre wirksam eingreifen; nur so ist es praktische Lehre, 
Lehre des Tuns, des Wollens selber. Sie wird selbst nur wollend 
begriffen, also muß man zu diesem Wollen schon vorbereitet 
sein; nur so kann sie dann umgekehrt das Wollen befestigen 
und vertiefen. Andernfalls mehrt sie nur den unnützen Ballast 
eines Wissens, das man mitschleppt, ohne es in Fleisch und Blut 
zu wandeln. Umgekehrt kann das Tun, und zwar von Anfang 
an, des Lichtes der Einsicht nicht entbehren, wenn es nicht 
auf Schritt und Tritt ins Unsichere tappen und sein Ziel ver- 
fehlen soll. 

Beide aber, Übung und Lehre, müssen sich, wenn sie 
erziehend wirken sollen, in einem und demselben Elemente, 
der Gemeinschaft verbinden. Nur in ihr wird das er- 
ziehende Tun und Üben eingeleitet, und geht dann die 
Lehre daraus zwingend hervor. Das Zusammentun fordert 
gegenseitige Verständigung des Voranschreitenden und Nach- 
folgenden, die durch die gute Gewohnheit, über den zu gehenden 
Weg voraus Klarheit zu suchen, schrittweis zur Verständigung 
mit sich selbst und damit zum eigentlichen Ursprung eines 
gebildeten Willens führt. Gemeinschaft ist das Element der 
erziehenden Übung und Lehre in formaler Hinsicht, ebenso 



251 


wie sie material das Werk darstellt, das durch die erziehende 
Übung und Lehre schrittweis der Vollendung entgegenge- 
führt wird. 

Hieraus läßt nun das, worauf wir ausgehen, die Form 
der willenbildenden Tätigkeit, also der erziehenden Übung 
und Lehre, sich ableitea, Übung »m praktischen Sinne*) ist 
jedes erziehende, gemeinschaftliche Tun, praktische Lohre die 
erziehende Verständigung der so Tätigen über dieses ihr 
Tun. Daß aber beides erziehend, d. h. willenhildend sei, 
dazu sind die bekannten drei Stücke erforderlich: es muß 
zunächst das Interesse angeregt, die erst dämmernd sich ent- 
wickelnden Triebkräfte durch Aufforderung, Reize- ag, An- 
gebot geeigneter Objekte in Bewegung gesetzt, wie durch 
Anruf aus dem Schlummer geweckt; zweitens dem erwachten, 
zur Betätigung drängenden Trieb die Einheit der Richtung, 
die Zielsicherheit, Sinn und Bedürfnis nach Regel und Gesetz 
eingeprägt werden; und eben damit drittens dem nunmehr 
bewußten Tun auch die Richtung auf durchgängige Ein- 
heit des Zieles, das , Selbstbewußtsein der Idee aufgehen. 
Damit wäre das Werk der Erziehung vollendet, indem fortan 
der zur Freiheit entlassene, selbstbewußte Wille die rechten 
Wege sich selber .vor zeichnen würde, ohne des Führers zu 
bedürfen Das Lernen und Fortschreiten hört zwar nie auf, 
aber die Belehrung und Leitung durch Andre wird Selbst- 
belehrung, Selbstleitung. 

Dies Dreifache nun gestaltet sich in der Gemeinschaft des 
Lehrenden und Lernenden, indem diese ganz in derselben Stufen- 
folge sich entwickelt und schrittweis vertieft. Die erste Stufe 
ist die der sinnlichen Abhängigkeit, in der sich die leicht be- 
wegten, ihrer selbst kaum bewußten Triebe in enger An- 
schmiegung an den Willen des Führenden noch wie weiches 
Wachs biegen und formen lassen. Hier geht die Gemeinschaft 
noch völlig auf im unmittelbarsten, zartesten gegenseitigen 
Mitempfinden, wie zwischen Mutter und Säugling. Im 

*) Über diesen Begriff der erziehenden Übung und Bergemanns System 
der Erziehungsfunklionen vgl. Rheinische Blätter für Erziehung und Unter- 
richt, 75. Jahrgang, 1901, S. 211 ff. 



252 


Momente ihrer reinen Gegenwart ist ihr Einfluß fast allmächtig; 
sie würde sich dagegen zu einer nachhaltigen, auch in die Fern% 
wirkenden erzieherischen Kraft nicht emporbilden, wenn nicht 
mit wachsender Bewußtheit eine neue, anders geartete Be-‘ 
Ziehung sich bildete, die erst zu einem eigentlichen Mit- 
einanderwollen führt. 

Hier ist schon ein freieres Verhältnis auf sich gestellter 
Personen, und anfangs überwiegt weit der Drang der Selb- 
ständigkeit. Das ist nun die eigentliche Krisis der Erziehung, 
d|iß jetzt der erstarkende Wille, ohne seiner Eigenheit ver- 
lustig zu gehen, ja gerade im vollberechtigten Drang nach 
Selbständigkeit, doch festen Halt findet an einem überlegenen 
Willen, dessen sicherer Führung er sich in freier Zuversicht 
und nicht mehr bloßer sinnlicher Gebundenheit vertrauen kann ; 
der, in dem Maße, wie die nächsten, sinnlichen Bande sich 
lockern, scheinbar durch das lose luftige Wort die jugendliche 
Kraft zu zügeln und in die rechten Bahnen zu lenken weiß. 
Die Aufgabe ist indessen nicht so schwer, wie sie in abstrakter 
Betrachtung erscheinen kann. Die sinnliche Abhängigkeit 
reißt doch nicht plötzlich ab, sie hört in der Tat nie ganz 
auf, sie lockert sich nur, indem schrittweis die Kraft des 
Selberwollens erstarkt. Und dann bildet sich, zugleich mit 
dem Bewußtsein der Selbständigkeit des eigenen Wollens, 
normalerweise das Verständnis für ein ebenso selbständiges 
Wollen dos Andern; das Selberwollen erstarkt am Mitwollen 
des Andern und mit dem Andern, und so entsteht, während 
die erste Art der Gemeinschaft zurücktritt, aber keineswegs 
verschwindet, zugleich eine neue, freiere und weitere, aber 
desto gesetzmäßigere, gesetzbewußtere Gemeinschaft. Es ist 
jener natürliche Gemeingeist, wie ihn jede Schule oder 
Schulklasse, die in gutem Zuge ist, deutlich erkennen läßt. 

Und damit ist dann auch der beste Grund gelegt für das 
Dritte: für eine solche Gemeinschaft der Willen, die auf reiner 
gegenseitiger Verständigung, also nicht auf Mitempfindung 
allein und dem Formalen des Mitwollens, sondern auf Mit- 
vernunft, auf der gewinnenden Kraft der Überzeugung ruht. 
Das aber ist die eigentlich erziehende Kraft des selbstbewußten^ 



253 


J^ittlichen Wollens. Die Macht der Vernunft über den Willen 
erscheint nur dann, und ist in der Tat, schwach, wenn sie 
plosgerissen von den beiden ursprünglichen Triebkräften der 
Willenserziehung, MHempfinden und Mitwollen, ins Spiel ge- 
setzt werden sollte; findet sie dagegen durch diese den Boden 
schon bereitet, so kommt keine der andern Kräfte an nach- 
haltiger Wirkung ihr gleich. Diese Stufe muß erreicht werden, 
wenn die Wirkung der Erziehung nicht bloß für die Zeit 
ihrer eigenen Dauer, sondern fürs Leben Vorhalten soll. Jene 
beiden ersten Stufen reichen allenfalls nur fürs Haus und die 
Schule aus. Und auch da wird die Kraft der Vernunft 
leicht unterschätzt; weil der erwachende Freiheitssinn des 
Heranwachsenden sich gerade gegen den aufdringlichen Ein- 
fluß des Erziehers leicht auch da sperrt, wo er vernünftigen 
Gründen Gehör geben sollte. Der gleichstehende und sich 
glcichstcllende Kamerad, aber auch der Vater, der Lehrer, der 
cs versteht, dem Heranreifenden ein solcher Kamerad zu 
werden, wird durch überlegene Vernunft leicht eine fast un- 
bestrittene Herrschaft übin. 

So gestaltet sich der formale Gang der Erziehung in der 
ganzen Übersicht. Aber auch wiederum jeder Einzelakt des 
erzieherischen Zusammenwirkens läßt sich in dieselben drei 
Schritte zerlegen; wir nennen sie: Vortun, Mittun, Nach- 
•t^un. Das Erste, was dem Erzieher obliegt, ist auch im ein- 
zelnen überall das Interesse-wecken, das zur Nachahmung 
reizende Beispiel oder Vorbild, das Zeigen und V^'ormachen. 
Es folgt das Wachen über das eigene Tun des Lernenden und 
unmittelbar eingreifende Nachhelfen; endlich das Nachprüfen 
und Nachtun des Zurückgebliebenen; ein neues Zeigen, aber 
unter veränderten Bedingungen, daher mit andrer Wirkung. 
Durch den eigenen Versuch, auch wenn er mißglückte, ist die 
Aufmerksamkeit ganz anders rege geworden, als zu Anfang, 
imd die Kräfte vorbereiteter, nunmehr in der rechten Art ein- 
-zugreifen. So stellen diese drei Stufen des Zusammentuns 
einen natürlichen Kreislauf dar, der sich auf immer höherer 
Stufe wiederholt und so einen andauernden, streng gesetz- 
mäßigen Fortschritt ermöglicht. 



254 


,r '■ 

In denselben drei Stufen gliedert sich auch die Mittätigkei|| 
des Lernenden. Sie beginnt mit dem noch fast passiven 
Merken auf das Vorgetane, Es ist allerdings nicht ein llöße^l 
uninteressiertes Beobachten, sondern ein mehr und mehr 
essiertes, endlich bis zum Willensentschluß sich interessieren^ 
des. Auf zweiter Stufe verknüpft sich mit dem Wagnis des 
Selbertuns vielleicht anfangs noch ein ängstliches Ausschauen 
nach Hilfe; dann, indem vom ersten kleinen Erfolg an der 
Mut wächst, wird die Hilfe und das Ausschauen nach ihr 
mehr und mehr verworfen, bis es schließlich Überwindung 
kostet, sie überhaupt anzunehmen. Umso mehr will auch das 
Dritte gelernt sein: daß man sich geduldig der Kritik imter- 
zieht und zum Bessermachen des Verfehlten willig ist. Das 
Ziel ist, daß man selbst an der eigenen Leistung Kritik üben, 
sich selber unbefangen beurteilen und berichtigen lernt. Es 
sind die wesentlichen Momente der Lehrfähigkeit von 
Seiten des Erziehenden, der Gelehrigkeit von Seiten des 
Zöglings, zunächst sofern beides, das Lehren wie das Lernen, 
am Willen liegt. Durch sie werden die drei Grundfaktoren 
des Wollens: Trieb, Zielsetzung und praktische Selbst- 
erkenntnis, im geregelten Fortgang der Erziehungsarbeit fort- 
während in Übung gesetzt und also entwickelt. 

Es liegt aber nicht fern, diesen Stufengang, dessen innere 
Notwendigkeit man nicht leicht verkennen wird, auch zu den 
natürlichen Stufen des Erkenntniserwerbs in Beziehung 
zu setzen, da doch ein bis zur Wurzel zurückreichender Zu- 
sammenhang der gesetzmäßigen Bildung der Erkenntnis und 
des Willens sich schon im Eingang unsrer Untersuchung 
herausgestellt und seither auf Schritt und Tritt bestätigt hat. 
Es muß ja wohl diese Einheit von Erkenntnis- und Willens- 
bildung sich, wie im ganzen Verlauf der Erziehung von den 
kindlichsten Anfängen bis zu der normalen Höhe, die sie im 
gereiften Menschen erreicht, so auch in allen Abstufungen i 
dieses Erziehungsganges bis zu den einfachsten Gliedern 
bewähren. 

Von dem Stufengang des Willens gilt, wenn unsere all- 
gemeine Voraussetzung richtig ist, auf den der Erkenntnis ein 



255 


^ 5 ^ • 

f., 

^^ngender Schluß. Der Erwerb der Erkenntnis ist genau so 
%eit, als er Sache der Erziehung ist, auch Sache des Willens; 

^st bildet sich nur, indem de/ Wille sich bildet, so gut 

ubigekehrt. Also muß auch dieselbe Stufenordnung hier 
Ipde dcfrt gelten. Zwar unterliegt die theoretische Erkenntnis 
fiteren eigenen Bildungsgesetzen, die kein Wille gemacht hat 
Äd kein Wille ändern kann. Also — wäre es freilich ein 
' Wunder, wenn ihre Stufenordnung mit der des Willens auf 
nicht künstlich erzwungene Weise zusammenträfe, wären nicht 
Wille und Erkenntnis, theoretisches und praktisches Bewußt- 
sein in der letzten Wurzel eins. So aber ist dies Zusammen- 
treffen kein Wunder, sondern eben das, was man erwarten 
m Damit wird erst dem Wort vom „erziehenden Unter- 
richt“ die reine Deutung und sichere Begründung zuteil, die 
es in der herrschenden Schule, bei sehr viel richtiger Ahnung, 
doch nicht gefunden hat. 

Seit alter Zeit nui hat man den allgemeinen Gang der 
Erkenntnisbildung beschrieben durch Unterscheidung der drei 
Stufen: Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft. Diese fanden wir 
schon anfangs (§§ 5 — 10, bes. S. 77 f.) den drei Stufen der 
Willensbildung: Trieb, Wille und praktische Vernunft, genau 
entsprechend. Aber auch in jeder Sonderrichtung des Er- 
kennens findet sich derselbe Dreischritt der „Methode“ wieder, 
wo immer es gelingt, sie bis zu ihrem letzten Ausgangspunkt, 
4em Zentrum alles Bewußtseins, dem Grundgesetze der „syn- 
JJietischen Einheit“, zurück zu verfolgen. Da ergibt sich 
itetß dies Dreifache: erst Gebundenheit an das Einzelne, das 
jium Ausgang der Entwicklung werden soll, dessen sich fest 
|Äu versichern also freilich das Erstnotwendige ist; sodann 
.Erhebung über das Einzelne in gesetzmäßigem Fortgang durch 
die Reihe koordinierter Fälle; endlich Abschluß der Reihe in 
|)pr Erfassung des „Prinzips“, das, als „höhere Einheit“, als 
i^iWahrerer „Anfang“, die Vielzahl der Fälle nicht sowohl in 
pch befaßt als aus sich hervorgehen läßt. 

^ So vollzieht sich alle Quantitätsauffassung in den auf 
immer höherer Stufe sich wiederholenden drei Schritten: Ein- 
heit, Mehrheit, und Einheit der Mehrheit; so alle Qualitäts- 



256 


auHassung in den streng entsprechenden drei Schritten des 
qualitativ Einzelnen (des Etwas oder Identischen), der quali- 
tativen Mehrheit (Andersheit, Verschiedenheit, der qualitativen 
Reihe), und der qualitativen Einheit des qualitativ Mehreren 
(Identität des Verschiedenen: der Gattung als der zu Grunde 
liegenden Einheit der Arten). Es ist eine so irrige wie ver- 
breitete Meinung, daß dieser typische Dreischritt alles Denk- 
verfahrens erst von Kant, sei es entdeckt oder — erfunden, 
und dann aus einer Art pythagoreischer Zahlenmystik durch 
alle Gebiete des Erkennens durchgeführt worden sei. Er lag 
vielmehr in den gemeinsten Sätzen der logischen Tradition 
längst greifbar vor, so in der von keinem Logiker ernstlich 
angefochtenen Aristotelischen Grundregel der Definition (als 
Art, Unterschied koordinierter Arten, und Gattung); nicht 
minder im Stufengange der Induktion (vom Einzelfall durch 
die Reihe gleichartiger Fälle zum Allgemeinen). Wohl aber 
ist es Kant, welcher entdeckt (und nicht erfunden) hat, daß 
dieser Stufengang im „Radikal vermögen“ der Erkenntnis, 
im Grundgesetze der „synthetischen Einheit“, als „Einheit des 
Mannigfaltigen“, derart zwingend begründet ist, daß er auch 
in allen Sonderrichtungen der Erkenntnis wiederkehren muß. 
Aus Einsicht dieser sachlichen Notwendigkeit also, und nicht 
aus schlechtem Geschmack an den „spanischen Stiefeln“ der 
Logik, übertrug er denselben Stufengang auch auf die Kate- 
gorien der Relation und der Modalität, auf die ,, regulativen 
Prinzipien“ (s. o. S. 193 f.) und so fort. Hat er dabei im ein- 
zelnen manches Mal fehlgegriffen, so wird die Notwendigkeit 
des Prinzips dadurch keineswegs berührt.*) 

Und so gibt cs auch für die Didaktik keine andre als 
diese logische Grundlage für die allgemeine sowohl als spezielle 
Gliederung des Unterrichts. Sie liegt in versteckter Weise 
auch den „Formalstufen“ Herbarts und der Herbartianer zu 
Grunde; sie ist deutlicher erkennbar in den ähnlichen Ver- 

*) Vgl. „Logik in Leitsätzen“ und „Philosophische Propädeutik“; 
Allg. Pädag. § 11 und 16 ff.; Abhandl. I 416 ff.; Philos. ii. Pädag. S. 87 ff. 
und; „Philosophie, ihr Problem und ihre Probleme“ (2. Aufl. Göltingen 1918). 
Eine vollständig neue Darstellung der „Allgemeinen Logik“ in Vorbereitung. 



257 


suchen von Pestalozzi, Diesterweg und manchen andern Päda- 
gogen; ausdrücklich und in nahezu reiher Durchführung hat 
sich von Sallwürk bei der Aufrdeilung seiner „didaktischen 
Normalformen“ *) an diese logische Gnmdlage gehalten, 
psychologische Erwägungen bloß zur nachträglichen Bestäti- 
gung herbeigezogen. Indern er an dem logischen Aufbau der 
Wissenschaften sich orientiert und die beiden allgemein an- 
erkannten Grundverfahren der Deduktion und Induktion 
genau in jenem Dreischritt zusammentreffend findet, muß er 
dazu gelangen, den Gang des Unterrichts nach diesem natür- 
lichen Dreischritt des Denkens überhaupt zu gliedern Und 
er bemerkt richtig, daß durch eine solche immer gleichartige 
Gliederung des Unterrichts der Schäler von selbst „an die 
naturgemäße Art, wie Erkenntnisse gebildet werden, gewöhnt“, 
und so seinem Geiste selbst eine bestimmte Form gegeben 
wird. Die Durchführung aber beweist, daß die so gewonnene 
,, Normalform“ des Unterrichts zugleich elastisch genug ist, 
um sich aller Verschiedenheit der Gegenstände und selbst der 
berechtigten Individualität des Lehrers und des Schülers in 
freier Beweglichkeit anzuschmiegen. Von spanischen Stiefeln 
kann eben dann nicht die Rede sein, wenn der Gang des Unter- 
richts .streng dem Naturgange des Denkens zugleich und des 
Willens entspricht. Sondern es muß wohl nach solcher Methode, 
wer ein rechter ,, Webermeister“ ist, es dahin bringen, daß in 
der „Gedankenfabrik“ seiner Schule 

ein Tritt tausend Fäden regt, 

die Schifflein herüber hinüber schießen, 

die Fäden ungesehen fließen, 

ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. 

Das ist möglich, wenn die „Methode“ rein und aus- 
schließlich auf das Gesetz gegründet wird, das alles Geistige 
ohne Ausnahme, folglich auch alle Bildung des Geistes regiert; 
das die Schöpferkraft .seiner Selbstentwicklung nach jeder 

*) Die didaktischen Normalformen (Frankfurt a. M., Diesterweg, 1901; 
besprochen in den Rheinischen Blättern, Bd. LXXVI, S. 97 — 114, wo 
das im Text Gesagte weiter ausgeführt ist); Abhdl. 1 478 ff. 

17 A t o T p , SoziAlpftdagogik. 4. Anfl. 


17 



258 


Seite, im Größten wie im Kleinsten, einhellig und un wider- 
sprechlich zum Ausdruck bringt. Das geringste Zurückbleiben 
hinter dieser hohen Forderung freilich muß die Methode in 
jene Dressur verwandeln, von der gesagt ist ; 

Das preisen die Schüler allerorten, 

sind aber keine Weber geworden. 

Im gegenwärtigen Zusammenhang aber ist für uns am 
wichtigsten der reine Einklang des Stufenganges der Willens- 
bildung mit dem der Erkenntnisbiidung, dessen genaue Durch- 
führung übrigens der Didaktik als Aufgabe verbleibt. Daraus 
begreift sich umso klarer, wie in fortschreitender Vertiefung 
und Erweiterung der praktischen Aufgaben die Erhebung 
des Willens von der Heteronomie zur Autonomie sich 
vollzieht. Besonders im beurteilenden Rückblick auf das 
Getane weitet und klärt sich schritt weis die Absicht selbst; 
die Unzufriedenheit mit dem Geleisteten wird zum immer 
schärferen Sporn des Fortschreitens. Daraus allenfalls erklärt 
sich das oft übertriebene Gewic^ht, das man in der Willens- 
erziehung aufs Bereuen gelegt hat. Der positive Sinn dieser 
Unzufriedenheit ist, daß man sich der Unendlichkeit der 
Aufgabe des Sittlichen bewußt wird. Dies Bewußtsein aber 
ist auch wieder erhebend: „Es wächst der Mensch mit seinen 
großem Zwecken*'; und es gibt kein höheres Menschenglück, 
als solches Wachstum zu spüren. 


§ 24 . 

Autorität und ihre Hilfsmittel. 

Der dargclegte formale Stufengang der Erziehung des 
Willens bietet die Grundlage der Verständigung über einige 
Begriffe, deren Behandlung man in einer irgend vollständigen 
Theorie der Willensbildung jedenfalls erwartet, da sie in der 
bisherigen Pädagogik des Willens eine fast unbestrittene 
Führerrolle gespielt haben: der Begriffe von Befehl und 
Gehorsam, geübter und empfundener Autorität, als 



259 


Hellern der Willenserziehung, und ihren Helfershelfern Lob 
und Tadel, Lohn und Strafe. 

Oft genug hat man darin fast da^s Ganze der Wiiiens- 
bildung in formaler Hinsicht gesehen. Die Geschicklichkeit 
zu befelilen und Gehorsam zu finden, Autorität zu gewinnen 
und zu behaupten, Lob und Lohn, Rüge und Strafe wirksam 
auszutoilen, gilt als die eigentliche Haupttugend des Erziehers, 
und ein gefügiges Verhalten des Zöglings dagegen als seine 
Haupttugend, als sicherstes Kennzeichen des Wohlerzogenen. 
Und doch ist offenbar, daß das Leben des Erzogenen iin Ge- 
horchen, im bloßen Wollen dessen, was ein Andrer vorgewollt 
hat, nicht aufgehen kann, sondern vor allem die Fähigkeit 
erfordert, selbst zu wollen und recht zu woben, ohne daß 
einer es vorgemacht hat. Vielleicht erklärt sich diese über- 
triebene Schätzung der Autorität aus der schon bemerkten 
Eigenheit der zweiten, für die Tätigkeit des Erziehers, besonders 
in der Schule, wichtigsten Erziehungsstufe: daß, nachdem das 
eigene Wollen einmal erwacht ist, zunächst naturgemäß der 
Trieb vorwaltet, sich vom Willen des Andern, zumeist von dem 
so anspruchsvollen Willen des bestellten Erziehers loszumachen, 
während doch dem eigenen Wollen noch die Kraft fehlt, auf 
sichere Leitung verzichten zu können. Da sieht denn der Er- 
zieher leicht nur das Eine: daß er die Zügel der Regierung fest 
in Händen halten muß, und erkennt darin seine nächste, wenn 
nicht seine einzige Aufgabe, was die Leitung des Willens betrifft. 

Seine Aufgabe ist es ohne Zweifel. Der Wille des Zög- 
lings muß geleitet werden, solange er nicht sich selber leiten 
kann. Es muß der Begriff einer Verpflichtung gewonnen 
werden, der man unterliegt auch ohne eignes Wollen und Ver- 
stehen. Äußere Regelung ist unerläßlich notwendig in 
jedem menschlichen Zusammenwirken; und es ist notwendig, 
»sich in den Zwang äußerer Ordnungen frühzeitig zu gewöhnen. 
Diese Eingewöhnung ist, wie wir durchweg anerkannt haben, 
sogar ein wesentlicher Faktor der Willenserziehung, und zwar 
der beherrschende auf einer bestimmten mittleren Stufe 
zwischen sinnlicher Abhängigkeit und sittlicher Freiheit, 
reiner Heteronomie und reiner Autonomie. 


17 * 



260 


* Das dürfte das Zutreffendste sein, was zugunsten der Not- 
wendigkeit äußerer Autorität, also auch wohl der äußeren 
Mittel, die man zu ihrer Aufrechterhaltung ins Spiel setzt, gesagt 
werden kann : daß ein Bewußtsein der Verantwortlichkeit nicht 
« nur gegen sich selbst, gegen das Gesetz in der eignen Brust, 
sondern auch nach außen, gegen den Andern, gegen das Ge- 
setz der Gemeinschaft, in der man lebt, dadurch geweckt wird. 
Das ist in der Tat so wichtig, daß man — vorausgesetzt es 
sei durch die gedachten Mittel und nur durch sie zn erreichen 
— selbst einigen Schaden in andrer Absicht dagegen in den 
Kauf nehmen müßte. Der Erzieher darf vom Zögling ver- 
langen, daß er das und das tut, er ist es schuldig, nicht bloß 
sich selbst; es geht nicht ihn allein, sondern auch den Andern 
an, wenn er es unterläßt oder Gegenteiliges tut; es bleibt 
ihm dann etwas gutzumachen. Auch genügt dazu nicht 
irgend eine aus freiem Ermessen etwa übernommene Leistung, 
geschweige gute Worte und gute Miene zum bösen Spiel, wie 
das Kind so gern glaubt, sondern der, dem es verantwortlich 
ist, hat zu bestimmen, was zum Gutmachen hinreicht, er hat 
nach dem Grundsatz des Gleich um Gleich über den Schuldigen 
auch gegen seinen Willen zu verfügen. Das alles hat Sinn 
und Wert, und wenn es dem hartnäckig Widerstrebenden oder 
auch nur Schwerfälligen hin und wieder etwas derb zu Gemüte 
geführt werden muß, so ist das vielleicht zu bedauern, aber 
nicht zu ändern, und dient schließlich zu seinem eigenen Besten. 
Aus solchen Gründen ist die Strafjustiz in der häuslichen und 
Schuler2dehung ebenso wie in der größeren Erziehung der 
bürgerlichen Gemeinschaft unentbehrlich und heilsam. 

Aber zum wenigsten muß man sich klar machen, daß die 
ruhen sinnlichen Mittel, die dem Erzieher freilich die 
bequemsten sind, die beabsichtigte Wirkung fast sicher 
verfehlen, und daß sie dabei das ganze Verhältnis zwischen 
Erzieher und Zögling zu trüben und auf ein niederes Niveau 
herabzudrücken drohen. Alles kommt doch darauf an, daß der 
Begriff gewonnen wird: ich habe eine Forderung an dich, 
die irgendwie eingelöst werden muß. Wo das nicht erreicht 
wird, sind alle drastischen Mittel der Zucht vergeblich; gerade 



261 


die drastischen Mittel aber verfehlen diese Wirkung am sicher^ 
sten, weil sie allem Begriff gar zu fern stehen. Ihr Sinn wird 
nicht verstanden, die Strafe wird ganz anders genommen, 
als sie gemeint ist. Das Kind versieht am Ende nur: man 
ärgert sich gegenseitig, und der Stärkere behält die Oberhand. 
Das wild im Eifer, das Haus- oder Söuulregiment aufrecht 
zu halten, leicht übersehen. Man nimmt den sichtlichen Er- 
folg der augenblicklichen Bändigung der Widerspenstigkeit 
für einen Sieg der Erziehung, zu dein so viel gehört und der 
sich so schwer beurteilt; während tatsächlich die Gemeinschaft 
zwischen Erzieher und Zögling einen Riß bekommt, dessen 
Fortbestand alle weitere Mühe der Erziehung verciteia kann. 

Der Hauptfehler liegt darin, daß man, zufrieden mit dem 
augenblicklichen Erfolg, den Widerstand des Zöglings zu 
brechen und sein äußeres Tun in die Richtung zu zwingen, 
die man für notwendig hält, das Wesentlichste von allem, 
wodurch allein auch das Tun dauernd gesichert wird, näm- 
lich das eigene Wollen und Einsehen, nicht nur zu wecken 
versäumt, sondern durch sein blindes Dreinfahren geradezu 
verhindert. Verpflichtung besteht auch ohne Einsicht und 
Willen des Verpflichteten. Aber dennoch hat man, wo es sich 
um Erziehung handelt und nicht um bloße Regierung, die 
aufs Erziehen verzichten zu können meint, durchaus Unrecht, 
nicht auf Einsicht und Willen, sondern lediglich auf Durch- 
setzung der Forderung hinzuwirken. Gerade der echte Sinn 
von Autorität und Gehorsam wird damit verkannt. 
Gehorsam ist allerdings notwendig, aber er ist auf keiner, auch 
nicht auf der untersten Stufe der Erziehung, identisch mit 
Willenlosigkeit, mit Verzicht auf eignen Willen. Er bedeutet 
im Gegenteil den allgemeinen Willen, seinen Willen im 
besonderen dem des Führenden, weil Besserwissenden, 
unterzuordnen. 

Das ist der allein achtbare Grund der Autorität: die 
Anerkennung, daß der Führer besser bekannt sein muß mit 
dem Weg, den man zu gehen hat. Dies Zutrauen ist vom 
Geführten, solange er selbst des Weges unkundig ist, aller- 
dings zu verlangen, anders könnte er auch nicht zu der Höhe 



262 


geführt werden, von der er den Weg überschauen und so 
lernen kann, sich künftig selber zu führen. Wie aber ist^ 
diese Autorität zu gewinnen? Dadurch allein, daß der Geführte 
in der Führung selbst deren Richtigkeit verspürt, nämlich 
am Erfolg, am eigenen Fortschreiten, sie unwidersprechlich 
erfährt. Ohne das ist keine Autorität rechtmäßig begründet 
oder zu erzwingen. Das aber gelingt nur im gemeinsamen, 
von Anfang an als gemeinsam bewußten Tun, wie es oben 
ges(ihildert wurde. Durch abstrakte Lehre kann die Über- 
zeugung, daß man Gehorsam schulde, nicht eingepflanzt 
werden, oder höchstens eine solche abstrakte Überzeugung, die 
neben dem Tun hergeht, eine Überzeugung in thesi, aber nicht 
in praxi. 

Dasselbe gilt von den besonderen Mitteln der Autorität, 
Lob und Tadel, Lohn und Strafe. Die einzig klare Grundlage 
dafür ist das, sei es begleitende oder nachfolgende, Urteil: 
dies ist recht getan, das verkehrt. Aber schon dies Urteil, 
im Munde des Erziehers, ist ohne Wert und Wirkung, weiui es 
nicht eben das ausspricht, was der Zögling, erst einmal auf- 
merksam gemacht, sich selber sagen muß; wenn nicht das 
Urteil in seinem eigenen Gefühl so vorbereitet ist, daß eben 
bloß die Bestätigung des Führenden hinzuzu kommen braucht, 
um ('S zur ganzen Ft\stigkeit der Überzeugung in ihm zu bringen . 
Das ist zugleich der Weg, das Selbsturteil im Zögling so zu 
entwickeln, daß <'s endlich ganz an die Stelle des fremden 
Urteils treten kann. Die bloße autoritative Erklärung dagegen, 
der die eigene Einsicht des Zöglings gar nicht cntgcgcnkonnnL 
wirkt in erzielierischer Hinsicht nichts oder Verkehrtes. Voll- 
ends der ganze Gefühlsbeisatz, Scham und Stolz, Erhebung 
und Erniedrigung ist, wenn auch kaum ganz vermeidlich, 
doch wahrlich nicht zu suchen und gar durch künstliche Mittel 
zu verstärken; er stört weit mehr als er fördern kann. Man 
sollte dabei nie verweilen, sondern sogleich zum Berichtigen 
des Verfehlten, oder andernfalls zu neuen, größeren Aufgaben 
übergehen. Dann würde bald erreicht sein, daß Lob und 
Erhebung genug das einfache Fortschreiten, Tadel und Er- 
niedrigung die Notwendigkeit des Nocheinmalmachens ist* 



263 


So wäre dem Über- und Untermut zugleich gewehrt ; der 
Wille übernimmt das Steuer, und der Gefühlssfcurm hat zu 
schweigen. Jedes Lob also und jeder Tadel, dessen klares, 
von ihm selbst anerkanntes Ziel nicht das B^ssermachen ist, ist 
vom Übel, ist ein ungerechtes Spiel mit der,i Seele des Kipdes. 
Die Sache teilt Lolj^ünd Lohn, Tadel und Strafe aus 
mit einer unerbittlichen Gerechtigkeit, wie der gerechteste Er- 
zieher es nicht vermag; er bescheide sich also, allein die Sache 
reden zu lassen. 

Insbesondre ist jedes neben der Sache her gehende Be- 
lohnen und Strafen verfehlt. Die unerbittliche Klarstellung: 
das ist recht getan, das verkehrt, und die daraus folgende 
Pflicht, das Verfehlte zu bessern, im Rechten fortzuschreiten, 
muß an sich genügen. Entweder das Kind begreift das und 
hört nur ausgesprochen, was sein eignes Bewußtsein ihm 
bestätigt; dann bleibt für Lob und Lohn, Tadel und Strafe 
eigentlich nichts Ernsthaftes mehr zu erreichen übrig. Auch 
nicht, was man so gern vorwendet, das tiefere Haften im 
Gemüt. Das w^ nur in künstlicher, äußerlicher, in der Tat 
sehr unsicherer Weise erreicht. Die Eindrücke augenblick- 
licher Gefühlsstürme haften weit weniger als man denkt; 
während die Erprobimg der gewonnenen Erkenntnis im ent- 
schlossenen neuen Tun sie bald zu unverlierbarer Festigkeit 
erstarken läßt. Oder aber, der Sinn und Grund der Strafe 
oder Rüge wird nicht begriffen, ja vielleicht bäumt sich das 
Gefühl des Gestraften oder Getadelten mit mehr oder weniger 
Recht dawider auf; und das ist ja der Fall, wo man Rüge 
und Strafe ins Ungemessene zu steigern pflegt. Aber nur 
desto mehr verfehlt sie dann ihren Zweck. Man bricht viel- 
leicht den Trotz, aber pflanzt keinen besseren Willen. Und 
wahrscheinlich bricht man auch den Trotz nicht, sondern 
erhöht ihn vielmehr und drängt nur seine offene augenblick- 
liche Äußerung zurück, untergräbt seine Ehrlichkeit, 
was wahrlich nicht einen Sieg, sondern eine vielleicht nicht 
wieder zu verwindende Niederlage der Erziehung bedeutet; 
denn nun findet die weitere Erziehung erst recht jeden Zugang 
zum Gemüt des Zöglings versperrt. 



264 


Über die besondere Frage der körperlichen Züchtigung 
habe ich mich anderwärts*) ausführlich geäußert; hier genüge 
es, die Leitsätze zu wiederholen. Die körperliche Züchtigung 
ist unter den gegebenen Verhältnissen, besonders in den 
Schulen, schwerlich ganz zu entbehren; auch wäre es zu viel 
gesagt, daß sie unter allen Umständen verwerflich sei. Aber sie 
hat an sich keinerlei erziehenden Wert ; sie kann bestenfalls im 
gegebenen Augenblick der kürzeste und bequemste Weg sein, 
Ordnung und Frieden, die unerläßlichen Vorbedingungen jeder 
unterrichtlichen und erziehenden Tätigkeit, rasch und durch- 
greifend wiederherzustellen. Schon bei der geringsten Über- 
schreitung der feinen Grenzen ihrer Zulässigkeit aber wirkt 
sie in erzieherischer Hinsicht überaus schädlich; daher sollte 
man stets dahin streben, sie ganz entbehren zu können. 

Es ist hier gar nicht die Rede von den einfachen Mitteln 
eines gelinden, auf die Aufmerksamkeit geübten physischen 
Zwanges, welche das Gemüt des Zöglings kaum berühren und 
das herzliche Verhältnis zum Erzieher keinen Augenblick zu 
trüben brauchen. Das fällt überhaupt nicht unter den Begriff 
der Züchtigung. Ohne Einschränkung zu verwerfen ist dagegen 
die gewöhnlichste aller Wirkungen der körperlichen Züchtigung, 
die durch die einfache Furcht vor dem sinnlichen 
Schmerz. Das Kind soll den Schmerz nicht fürchten; ist es 
abgehärtet, so darf diese Wirkung gar nicht eintreten. Aber 
man erwartet, man verlangt sie von ihm : damit erzieht man es 
zur Feigheit. 

Nachdem dies von der Theorie seit Jahrhunderten ge- 
predigt worden ist, ziehen sich neuere Verteidiger der körper- 
lichen Strafen meist dahin zurück, ausschließlich die feinere 
Wirkung durch das Ehrgefühl geltend zu machen. Aber, 
wo ein einigermaßen empfindliches Ehrgefühl überhaupt vor- 
handen ist, da gibt es andere Mittel, darauf zu wirken, und ist 
diese Wirkung walirscheinlich schon zu scharf; sie erniedrigt 
den Zögling vor sich selbst in einer Weise, die es ihm schwer 
macht, sich wieder zu erheben. Wo dagegen das Ehrgefühl 

*) „Deutsche Schule“, I, S. 271, 344; wo auch allgemeinere, die 
Schulstrafen betreffende Fragen berührt werden. 



265 


nicht vorhanden oder nicht genügend empfindlich ist, da ver- 
fehlt die Strafe nicht bloß ihren Zweck, sondern sie trägt zur 
weiteren Abstumpfung des Gefühls bei. Man gewöhnt sich 
an die Beschämung, und es bleibt aur die jedenfalls schädliche 
Wirkung durch die Furcht. Beide Arten der Wirkung körper- 
licher Strafen haben das gemein, daß sie das herzliche Ver- 
hältnis zwischen Erzieher und Zögling, wenn es je vorhanden 
war, empfindlich stören, vielleicht ganz zunichte machen. Ein- 
schüchterung durch Gewalttat und Beschämung sind einmal 
nicht die tauglichsten Mittel, das Herz eines Menschen zu 
gewinnen. Alle repressiven Mittel der Erziehung müßten doch 
vor allem dahin streben, die günstigsten Voraussetzungen für 
eine nachfolgende positive^jplin Wirkung herzustellen; durch Ein- 
schüchterung aber und Beschämung zieht man dieser nach- 
folgenden positiven Wirkung gerade den Beden unter den 
Füßen weg. Man gibt damit das Kind aus der Hand, man weist 
es geradezu an, sich in sich zu verschließen, der Leitung des 
Erziehers vielleicht äußerlich bis zur Vermeidung groben Kon- 
flikts zu folgen, aber innerlich sich ihr desto mehr zu entziehen. 

Es gibt, bei dieser wie jeder andern Art der Züchtigung, 
nur einen Weg, der die letztere, vielleicht ernsteste Gefahr 
sicher vermeidet: die Züchtigung muß als reiner Ausfluß der 
Liebe und des sittlichen Ernstes des Erziehers vom 
Zögling verstanden werden. Das ist an sich möglich; und wo 
es so ist, da mag im gegebenen Fall die körperliche Züchtigung 
immerhin gewagt werden. Aber man muß wissen, daß sie 
selbst dann noch ein gewagtes Mittel bleibt. Die Voraus- 
setzung ihrer Zulässigkeit ist, daß durch das ganze bisherige 
Verhalten des Erziehers die Überzeugung von seiner Liebe und 
das Zutrauen zu seiner Führung im ganzen zu unerschütter- 
licher Festigkeit bereits gebracht ist. Das ist möglich und an 
sich zu fordern in der häuslichen Erziehung, aber es ist sehr 
schwer in der Schulerziehung, und allgemein gewiß nicht zu 
verlangen. „Wen Gott lieb hat, den züchtigt er,'‘ das hat man 
unzählige Male angeführt zur Rechtfertigung der körperlichen 
Züchtigung. Aber man nehme das Wort nur ganz beim Wort; 
so besagt es, daß, wer sich nicht eine göttliche Reinheit der 



266 


liebe und des sittlichen Eifers zutraut, besser täte, auf dieses, 
unter jeder andern Voraussetzung bedenkliche Zuchtmittel 
ganz zu verzichten; wir sind eben keine Götter. Es gibt auch 
genug andre Mittel der Zucht; es ist nicht zuzugeben, daß in 
irgend einem denkbaren Fall die körperliche Strafe das einzige 
Mittel erzieherischer Einwirkung sei; daß es für irgendwelche 
Fälle dem Schullehrer wohl gar zur Pflicht gemacht werden 
dürfte, zu diesem letzten und gewagtesten Mittel zu greifen. 
Vielmehr wird man stets den als den besseren Pädagogen an- 
erkennen, der die körperlichen Strafen ganz entbehren kann. 

Und so ist allgemein der Beitrag, den die Strafjustiz zur 
Erziehung leistet, sehr mittelbar und im ganzen unsicher genug. 
Sie kann zwar, zumal in dem rjigelmäßigcn Betrieb einer 
Schule und unter so manchen erschwerenden Umständen, deren 
die Organisation der Volksbildung bisher nicht Herr geworden 
ist, nicht völlig entbehrt werden. Aber wenigstens wäre zu 
wünschen, daß sie so wenig als möglich tatsächlich zur An* 
Wendung käme. Das Strafgesetz sollte mehr nur theoretisch, 
als freilich notwendiger Begriff, dastehen, während man beider- 
seits bemüht ist, seine faktische Anwendung so viel als nur 
möglich entbehrlich zu machen. Sie ist entbehrlich, wo von 
frühester Stufe an der Sinn der Gesetzlichkeit geweckt ist. Ein 
normales Kind ist dafür von früh auf empfänglich. Es fühlt 
die Überlegenheit und Notwendigkeit des Gesetzes, lange bevor 
es den Begriff davon hat; wie sollte es nicht auch den Begriff 
fassen, sobald es die Reife dazu hat? 


§ 25 . 

Sittliche Lehre. 

Das bisher Gesagte galt von der Übung und Lehre ge- 
meinsam, als Mitteln der Willenserziehung; mehr aber von 
der erstercn. Es soll denn jetzt noch das Eigentümliche der 
Lehre in formaler Hinsicht erwogen, und damit zugleich der 
Übergang zur materialen Betrachtung der Erziehungsarbeit 
gemacht werden. Das Materiale der Willensbildung findet 



267 


seinen natürlichen Ausdruck irn Inhalt der praktischen Lehre^ 
obwohl es sich ebenso auf die Übung bezieht. Denn in der 
Materie müssen beide sich decken. 

Im Zusammentun, im Zeigen, Helfen und vornehmlich 
Berichtigen geht aus Oer Übung die Lehre unmittelbar hervor. 
Sie ist daher anfangs nur die wörtliche Erklärung dessen, 
was vorgetan wird, um nachgetan zu werden. Nun aber ist 
es der Lehre eigen, sich aus dieser unmittelbaren Verbindung 
mit dem Tun in dem Maße zu lösen, als die Ziele des Tuns 
weiter und weiter hinausrücken und so eine komplexere Er- 
wägung der Zusammenhänge von Mitteln und Zwecken not- 
wendig wird, während gleichzeitig die unmittelbare Übung 
den Grad von Festigkeit erreicht haben muß, daß sie für sich 
selbst der wörtlichen Lehre kaum mehr bedarf. Eben damit 
kann nun die Gefahr entstehen, daß die Lehre sich von der 
Übung überhaupt loslöst. Sie scheint leicht in dieser Los- 
lösung sich als Theorie erst zu vollenden. Aber desto unwirk- 
samer wird sie für die Praxis. Vor dieser Gefahr ist nach- 
drücklich zu warnen. 

Soll die Lehre im rechten Sinne praktisch sein, d. i. von 
der Übung ausgehen und zu ihr zurückkehren, so muß sie 
der logischen Form nacli Induktion sein. Nun genügt als 
Grundlage einer zulänglichen Induktion freilich nicht die eigene 
Übung und unmittelbare Erfahrung des Zöglings; sie ist 
vielmehr, nach Herbarls richtiger Vorschrift und der guten 
Praxis aller Zeiten, zu erweitern durch Unterricht, Aber um 
so wichtiger ist es, daß im Unterricht selbst die Anknüpfung 
an die eigene Erfahrung und schließlich an die Übung nicht 
verloren geht; daß auch das Fernste, das die Lehre bloß mit- 
teilend in den Gesichtskreis des Lernenden rückt, mit dem 
Nahen in kontinuierliche Verbindung tritt. So greift hier der 
Unterricht, auch nach der Intellektseite, in die VVillenserzie- 
hung tief ein; insoweit bleibt Herbart im Recht; aber doch 
eigentlich nicht nach dieser Seite geht er uns hier an. Sondern 
darauf kommt vielmehr alles an, daß die Lehre praktisch 
werden, daß sie den Willen bewegen muß. Und dazu genügt 
nicht, wie Herbart zu glauben scheint, eine bloße, soviel möglich 



268 


systematische, nach Einheit und Ganzheit strebende ,, Dar- 
stellung“ der vielgestaltigen Materie, auf die dann die Ab- 
straktionsarbeit sich stützen kann. Aus solcher Darstellung 
und der dadurch bewirkten „Bildung des Gedankenkreises“ 
folgt eine Wirkung auf den Willen ohne weiteres noch nicht. 
Sondern diese Wirkung ist ganz und gar dadurch bedingt, 
daß, was der Zögling aus eigener Erfahrung und Übung 
kennt, in die Mitte tritt, alles Andre aber sich damit in stetigem, 
lückenlosem Fortschritt verbindet, und so zum Bewußtsein 
kommt als etwas, das künftig einmal auch in Übung kommen 
wird, wenigstens kommen könnte. 

Das hat, klarer als alle, Pestalozzi begriffen, und er 
ist davon ganz durchdrungen. Ihm danken wir denn auch 
belehrende Muster einer dieser Forderung genügenden Dar- 
stellung. Denn genau die eben beschriebene Aufgabe ist es, 
die er als ,,MenschenmaIer“^) in ,,Lienhard und Gertrud“ sich 
gestellt und, vorzüglich im ersten Teil, überaus glücklich gelöst 
hat. Er schreibt mit vollem Bewußtsein für einen ganz 
bestimmten Lebenskreis, für scharf begrenzte, gegebene Be- 
dingungen. In dieser Begrenzung allerdings strebt er nach 
einer in gewissem Maße erschöpfenden Lösung seiner Auf- 
gabe, die freilich nicht durchweg erreicht ist, und ihn aus 
dem anfangs so glücklich innegehaltenen Ton der reinen Er- 
zählung mehr und mehr in den der abstrakten Lehre fallen 
läßt. Im Schlußwort**) seiner „Fabeln“, die in andrer Rich- 
tung ein nicht minder merkwürdiges Muster bieten, hat Pesta- 
lozzi das schlichte Geheimnis seiner Darstellungsart klar aus- 
gesprochen. Er sei nichts weniger als ein unbedingter Feind 
und Verächter einseitiger Ansichten, er glaube im Gegen- 
teil, Glück und Segen von Millionen Menschen hänge wesentlich 
von der stillen Reifung und inneren Vollendung einseitiger 
Ansichten ab. Einseitige, aber von vieler Anschauungs- 
wahrheit unterstützte und belebte Darstellung sei nämlich 
gerade geeignet, ein tiefgreifendes Fundament einer 
richtigen und soliden Ansicht des menschlichen 

*) S. die erste seiner „Fabeln“. Werke, Bd. VI S. 227. 

**) Ebenda S. 405. 



269 


Lebens zu gewähren. So sohimmere aus der einseitigen Her- 
vorkehrung des Schlechten, Tierischen im Menschen (in seinen 
Tierfabeln) das Edle und Erhabene der Menschennatur 
mit desto lebendigerer Kraft hervor. — Also die Einseitigkeit 
bezieht sich nur auf den Ausgangspuiikt ; die rechte Durch- 
dringung einer Einzelansicht führt aber gerade auf das „Funda- 
ment“ in einer vertieften Anschauung der „Menschennatur“, 
die die Einseitigkeit überwindet. 

Im Grunde ist es das Geheimnis aller Darstellung, die je 
in der Erziehung eine tiefe und allgemeine Wirkung getan 
hat. Es finden sich darüber beachtenswerte Ausführungen 
bei Felix Adler,*) der in freiem Anschluß an Herbart und dessen 
Schule die sittliche Unterweisung ganz auf drei klassische 
Darstellungen gründet: Märchen und Fabeln auf kindlichster 
Stufe, dann eine kleine Zahl biblischer Historien, endlich 
Homer, Die Auswahl im einzelnen und die Anordnung im 
ganzen ist anfechtbar, aber hingewiesen ist damit allerdings 
auf höchst bedeutende, vielleicht die bedeutendsten Typen 
einer solchen Darstellung, wie wir sie fordern. Nur vSind wir 
der Meinung, daß jedes neue Menschenalter die Aufgabe wie 
von vorn an zu lösen hat. Es kann das Überkommene mit- 
verwerten, aber darf nie glauben damit auszureichen. Gewiß 
bleibt jenen klassischen Mustern, gerade in ihrer Abweichung von 
der nächsten Erfahrung, em vorzüglicher idealisierender 
Wert; und sie tragen das Ihre dazu bei, die Anschauung zu 
erweitern und damit die Induktion auf eine breitere Grund- 
lage zu stellen. Aber ohne geeignete Vermittlung können sie 
für unser Leben nicht volle Realität gewinnen, und diese An- 
knüpfung an das Leben selbst ist nicht nur auch eine Aufgabe, 
sondern die erste von allen, wie Pestalozzi erkannt hat; es 
fehlt sonst die in Pestalozzis Sinn „elementare“ Grundlage, 
auf der erst jenes Andre alles sich aufbauen kann. Das Ziel 
allerdings ist ein noch größeres; Geschichte, Geschichten 
aber müssen den Anfang machen, und zwar die kindlichsten. 

Was ist denn „eine Geschichte“, und was „Geschichte“? 
„Eine Geschichte“ nennen wir die Wiedergabe, nicht irgend 

*) K Adler, The Moral Instruction of Children. New York, 1895. 



270 


einer beliebigen menschlichen Erfahrung, sondern einer solchen, 
die etwas Typisches hat, die ein charakteristisches Erlebnis 
darstellt, und durch Konflikt und Lösung sich zum geschlos- 
senen Ganzen abrundet; eine Handlung, der Form nach von 
übersehbarem Umfang — übersehbar je für den bisher er- 
reichten Standpunkt des Lernenden — und von strenger teleo- 
l’ilogischer Einheit, die in ihrem Inhalt irgend ein wesentliches 
Stück praktischer Lohre zur Anschauung birgt. Das Moment 
des Konflikts hat dabei nicht bloß die Bedeutung, die Auf- 
merksamkeit mehr zu fesseln, sondern auch, die begriffliche 
Lehre vorzubereiten. Die nie bestrittene Wahrheit kommt 
weniger zum Bewußtsein. Wie ein Loben ohne Kampf keiner 
Lehre bedürfte, so würde es auch keine erteilen; der Streit ist, 
wie der Vater der Dinge, so der Lehrmeister ihrer Erkenntnis 
Es ist somit eine nicht bloß ästhetische, sondern allgemein 
erzieherische Notwendigkeit, die ihm in der belehrenden Er- 
zählung seinen Platz anweist. „Geschichte ‘‘ aber ist dasselbe 
im großen, was Geschichten im kleinen. Zu der großen 
„Fundament‘‘-Ansicht, daß man kein Einzelner ist, sondern 
der Gemeinschaft, zuletzt keiner kleineren als der der Mensch- 
heit angehört, soll der Heranwachsende geführt werden. Von 
allem, was hierüber an anderer Stelle'*') gesagt ist, finde ich 
nichts zurückzunehmen; auch der Verfolg gegenwärtiger Be- 
trachtung wird darauf wiederum führen. 

Die „Lohre“ selbst aber aus der Geschichte und den Ge- 
schichten herauszuholen, ist Abstraktionsarbeit wie jede andre, 
und so sei darüber nur bemerkt, daß man die Geschäfte teilen 
und nicht die Lehre sich in die Geschichtserzählung selbst 
voreilig eindrängen oder als langweiliges Nachwort dazu sie um 
ihre unmittelbare Wirkung bringen lassen soll; sondern die 
Aufgabe dieser Abstraktion ist von der Erzählung ganz abzu- 
trennen. Und zwar lasse man den Lernenden selbst sie voll- 
führen. 

Die Grundrichtungen der Abstraktion aber 
müssen voraus gegeben sein; man muß sich auf ein schon 
bekanntes Grundgerüst sittlicher Lehre beziehen können, 

*) Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, 2, Aufl. S. 8 ff. 67. 



271 — 


Ein solches kann auch, nachdem einige gut ausgewähite prak- 
tische Grundwahrheiten gewonnen und die notwendigsten Vor- 
begriffe an diesen klar gemacht sind, mit Leichtigkeit aus 
solchen entwickelt werden. 

Damit treten wir der materialen Betrachtung der prak- 
tischen Lehre schon einen Schritt näher. Wir unterscheiden 
Gestaltung des Werks und Gestaltung der Persönlichkeit. 
Das Erstere entspricht arn nächsten dem, was man sonst 
Güterlehre genannt hat, wobei man nur unter Gütern nicht 
Genußobjekte, sondern Horvorzubringendes verstehen muß. 
Ini höheren Sinne ist es die ideelle Gestaltung einer Willens- 
welt (Welt der Zwecke), und zwar in der Gemeinschaft, also 
identisch mit dem Inbegriff der sittlichen Aufgaben 
(Pflichtenlehre). Dann ist aber das Andre, der Aufbau der 
sittlichen Persönlichkeit, eigentlich nur eia Teil davon; jedoch 
der Teil, der den Einzelnen zu allernächst angeht und in seiner 
sittlichen Arbeit naturgemäß obenan steht. Denn erst muß 
man ein ordentlicher Mensch sein, ehe man es wagen darf, sich, 
als wäre man mit sich schon im Reinen, um allerlei Ferner- 
liegendes zu kümmern. Die erziehende Übung vor allem hat 
jedenfalls dies nächste Ziel, die Persönlichkeit zu entfalten und 
ihr Gestalt zu geben. 

Deswegen ist für die sittliche Unterweisung der Gesichts- 
punkt der Tugendlehre allerdings der erste. Dann aber 
muß doch die Frage nach der Sache, die der sich ihr widmen- 
den Person erst Werl gibt, an Gewicht und Bedeutung mehr 
und mehr vorantreten. Es ist nicht gut, wenn das zurück- 
geschoben und die sittliche Lehre ausschließlich auf ein System 
von Tugenden gegründet wird (wie etwa bei Adler). Soli z. B. 
das Kind zu der Erkenntnis geführt werden, daß es seine Eltern 
ehren, seinen Geschwistern sich liebreich erweisen soll, so 
bedarf es dazu freilich vorerst keiner weither geholten Be- 
gründung, denn der Grund dazu ist normalerweise im Kinde 
schon gelegt, und cs ist nur nötig, was ihm in eigener Seele 
lebendig ist, durch ausdrückliche Lehre auch zu hellem Be- 
wußtsein zu bringen. Aber weiterhin wird wenigstens der 
Heranwachsende doch wohl auch nach der Begründung 



272 


fragen. Dann zeige man den Aufbau des sittlichen Vereins 
der Familie und dessen Notwendigkeit im Zusammenhang 
der Organisationen menschlicher Gemeinschaft überhaupt; und 
so durchweg. Man sollte daher auch die zu Grunde gelegten 
Stoffe, seien es biblische Geschichten oder Gesänge des Homer 
oder was sonst, für die sittliche Lehre nicht allein unter dem 
Gesichtspunkt der Tugendlehre fruchtbar machen, da es so 
nahe liegt, auch die Lebenskreise, die Gemeinschaftsformen, 
and die daraus erwachsenden sachlichen Pflichten daran 
aufzuzeigen. Ist aber diese Betrachtung einmal eingeführt, 
so ordnet sich die bloß individuelle Ansicht des Sittlichen ihr 
notwendig unter. Die Sache tritt beherrschend voran, und die 
Aufgabe der reifenden Persönlichkeit wird es, sich zur Höhe 
der Sache zu erheben. 

Aus ähnlichen Erwägungen können wir auch von der be- 
quemen Einteilung der Pflichten in solche gegen sich selbst 
und gegen Andre keinen Gebrauch machen. Pflicht gegen 
Gott, das wäre noch das Zulässigste; es erhebt wenigstens über 
das Ich und Du, und zwar ohne die Persönlichkeit überhaupt 
aufzuheben. An sich aber besteht sittliche Verpflichtung einzig 
gegen das sittliche Gesetz oder, will man einen mehr kon- 
kreten Ausdruck dafür, gegen die „Menschheit in der eigenen 
Person und in der Person jedes Andern“. Damit ist aber 
schon auf das sachliche Fundament, auf die ewige Aufgabe, 
daß man „Menschheit“ an seinem Teile auferbauen helfe, 
hingewiesen und über die bloße Personalbeziehung, die allen- 
falls nur eine rechtliche, keine sittliche Verpflichtung begründen 
würde, hinweggeschritten. 

Aber man soll doch Individuen, individuelle Charaktere, 
nicht allgemeine „Menschen“ bilden? Es sind doch werdende 
Individuen, die der Erzieher vor sich hat, mit bestimmten, 
individuellen Anlagen, begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten, 
oft überaus früh ausgeprägter Eigenart? 

Ohne Zweifel ist selbst der Säugling schon eine kleine, 
oft sehr geschlossene Individualität, und das Kind in dem 
Alter, wo ein eigentlicher geistiger Verkehr erst anhebt, in 
vieler Beziehung ein schon ganz fertiger, kaum mehr zu 



273 


wandelnder Charakter. Allein das bestätigt nur, daß Indivi- 
dualität durchaus auf eigenem Boden erwächst, also nicht 
Erziehungszweck sein kann. V^’as an ihr Gutes ist, bedarf 
gerade umso weniger der besonderen Pflege, je mehr es indi- 
viduell ist. Übrigens ist auch ihr Bestes nur einseitig gut, 
sonst wäre es schon nicht mehr individuell. Nun ist diese 
Einseitigkeit allerdings zulässig, denn es ist dem Menschen 
einmal nicht gegeben, alles gleich gut zu vermögen, und es 
ist besser, daß das, wozu einer vorzugsweise taugt, auch vor- 
zugsweise in ihm zur Entwicklung kommt, als daß er sich 
fruchtlos müht an Aufgaben, die im Bereiche seiner Nacur 
nun einmal nicht liegen. Aber selbst die berechtigte Eigenart 
wird fast mehr dadurch entwickelt, daß sie bestritten wird, 
als daß man ihr allzu sehr entgegenkommt ; gerade gegen 
Widerspruch wird sie sich desto energischer in sich zu befestigen 
streben. Schließlich ist doch Individualität immer auch 
Schranke, und es ist sittlich notwendig, daß sie als Schranke 
zum Bewußtsein kommt ; dadurch wird nicht die Eigenart selbst 
zerstört, sondern nur dem Dünkel der Eigenart gesteuert. Das 
kann aber nicht wirksamer geschehen als durch unbedingte 
Voranstellung der Sache, d. i. der Gemeinschaft, die 
jede gute Eigenart gelten läßt und in ihren Dienst nimmt, 
jeder Unrechten Prätention der Individualität dagegen mit 
unwidersprechlich höherem Ansehen gegenübertritt, ihr zu 
Diensten zu sein sich unbedingt weigert. 

Zur Zielbestimmung der pädagogischen Tätigkeit also 
taugt die Individualität nicht; sie ist für sie durchaus nur 
verfügbares Material. Allerdings muß der Erzieher sie kennen 
und seine Einwirkung danach einrichten. Bildet diese sich, 
so wie wir angenommen haben, in ständiger sich gegenseitig 
verstehender Gemeinschaft des Erziehers und Zöglings, so ist 
keine Gefahr, daß es daran mangle, sondern es bedarf weit 
mehr der Warnung, der Individualität nicht zu viel nachzu- 
geben und nie die Sache dagegen zurückstehen zu lassen.*) 

•) Über die Bedeutung der Individualität in der Erziehung s, übrigens 
den 2. Aufsatz in „Philosophie und Pädagogik“, 

K a t o r p » SoaialpHdagoglk. 4 . AuH. 


18 



274 


§ 26 . 

Materie der praktischen Übung und Lehre. 
Erste Stufe: Hauserziehung. 

Auf Grund alles Vorausgeschickten versuchen wir nun 
auch in materialer Hinsicht zu zeigen, wie in konkreter Ge- 
meinschaft von Stufe zu Stufe der Mensch sich bildet zur Ge- 
meinschaft, zur Teilnahme an dem unendlichen Prozeß, in dem 
die Gemeinschaft der Menschen und mit ihr ein menschliches 
Leben sich gestaltet. 

Der untersten Stufe, der der Hauserziehung, gehört vor- 
zugsweise das Gebiet der dritten der individuellen Tugenden 
und die dieser entsprechende Seite der Tugend der Gemein- 
schaft zu. Es ist das Gebiet der „Reinheit“ oder der sitt- 
lichen Regelung des Trieblebens in Arbeit und Genuß, damit 
aber der ökonomischen Tätigkeit im früher bestimmten, um- 
fassenden Sinn. Die natürliche Stätte der Erziehung nach 
dieser Richtung ist das Haus, in dem allein auch die ent- 
sprechende Art der willenbildenden Tätigkeit sich rein nach 
ihrer Eigenheit entfalten kann. 

Es ist zwar eigentlich noch nicht Wille, was auf dieser 
Stufe entwickelt wird, sondern erst die rechte Disposition zur 
Willensbildung, die dafür geeignete Triebrichtung. Aber ge- 
rade daß hier der rechte Grund gelegt wird, ist von der größten 
Wichtigkeit. Die seelische Entwicklung steht hier noch 
im unmittelbarsten Zusammenhang mit der physischen. Die 
leibliche Fürsorge für das Kind und das so früh sich ent- 
wickelnde Verständnis dieser Fürsorge in ihm selbst, in der 
wortlosen Zwiesprache zwischen Mutter und Säugling, das ist, 
wie Pestalozzi gesehen, das erste, grundlegende Bildungs- 
element des Willens, wenn auch grundlegend nur im Sinne der 
günstigen Bereitung des Bodens. Indem das zarte, so ganz 
physische und doch so ganz seelische jiuige Menschlein dies mit 
oft schon sehr bestimmtem und starkem Gefühl ergreift und 
sich fest der mütterlichen, bald auch der väterlichen und ge- 
schwisterlichen Sorge und Zärtlichkeit anschmiegt, tritt es in 



275 


jene sinnliche Führung ein, die wir als erste Stufe erziehender 
Gemeinschaft erkannten. Ausschließlich hierauf beruht die 
erste Gestaltung der Liebesbeziehungen zur Umgebung, welche 
die wesentlichste Vorbedingung für die ganze psychische Weiter- 
entwicklung besonders in ethischer Richtung, d. h. eben in der 
Richtung der Gemeinschaft ist. Auch die Ordnung des Affekt- 
lebens liegt für diese Stufe fast allein hierin. Wo es an Ver- 
ständnis und liebender Fürsorge nicht fehlt, wird selbst ein 
schwierig angelegtes Kind sich von Hilfe gegen die hier drohen- 
den ernsten Gefahren nie verlassen finden. Das gilt freilich 
nicht bloß vom zarten Alter, es gilt, nur nicht mehi als Ein- 
ziges, sondern neben den neu hinzutretenden Faktoren, durch 
die ganze Kindheit hindurch. Ja noch Jungfrau und Jüngling 
wahrt sich wohl in keuscher Heimlichkeit einen Fmst davon, den 
kaum die Mutter wissen oder ahnen darf, noch weniger der 
Vater, am wenigsten die Geschwister, denn freilich würde 
es als fehlerhafte Weichheit empfunden, sobald es sich vor- 
drängen und irgend ein Recht für sich in Anspruch nehmen 
wollte. 

Dem mehr passiven Verhalten in allen genannten Be- 
ziehungen tritt dann bald ein entschieden selbsttätiges Moment 
zur Seite in der nach dem ersten schweren Anfang rasch fort- 
schreitenden Übung der Sinnes- und Muskeltätigkeit, an deren 
Ausbildung der werdende Wille aufs stärkste beteiligt ist und 
also seine Kräfte daran stählt und vielseitiger entfaltet. Der 
große Fortschritt liegt hier in der bestimmten, mehr und mehr 
bewußten Richtung der sinnlichen wie motorischen Betätigung 
aufs Objekt, während in den zuvor erwogenen Beziehungen 
alles in der Subjektivität des Fühlens beschlossen bleibt, allen- 
falls, als Mitfühlen, sich auf die fremde Subjektivität zugleich 
erstreckt. Mit jener Objektbeziehung ist aber schon der ent- 
scheidende erste Schritt vom Trieb zum Willen getan, dessen 
Eigentümlichkeit ganz in der bewußten Objektivierung liegt. 
Dem Umfang nach ist es ein sehr mächtiger Teil der kind- 
lichen Entwicklung, der hierher gehört. Die ganze, so ^el 
umfassende Übung des Blicks, des Gehörs, des Getasts, der 
Körperbewegungen im Greifen und Gehen, die Kombination 

18 * 



276 


der Sinnes- und Muskelübung in dem allen und besonders im 
Sprechenlernen liegt auf diesem Gebiet. Überall geht hier mit 
der Bildung des Verständnisses die des Willens Hand in Hand. 

Das alles ist nun zunächst freies Spiel der zur Betätigung 
drängenden Kräfte, ohne (wenigstens bewußte) Zweckbestim- 
mung. Ja hier wurzelt überhaupt der Begriff des Spiels und 
seine Bedeutung für die kindliche Entwicklung, die man 
namentlich seit Fröbel ernstlicher, wenn auch immer noch nicht 
ernst genug würdigt. Hier entfalten sich die unschätzbaren 
erziehenden Kräfte des Bilderbuchs, der Puppe, des Bau- 
kastens, der mannigfachen Bewegungsspiele, wobei, wie gleich- 
zeitig in der Märchenerzählung*) und in den ersten Ahnungen 
des Religiösen, bald eine überaus rege Tätigkeit der Phantasie 
sich entwickelt, aber doch alles in der naiven Unbefangenheit 
sinnlichster Beziehung zu den Dingen und namentlich zu den 
Mitlebenden beschlossen bleibt, in dieser durchgehenden 
Eigentümlichkeit aber sich zu einer eigenen kindlichen Welt 
abrundet, die schon ein gutes Teil Idealisierung einschließt. 

Gegen alle Gefahr eines einseitigen Überwucherns der 
Phantasie bietet dann das heilsame Gegengewicht die allmäh- 
liche Überführung des Spiels in zweckmäßige, mehr und mehr 
auch zweckbewußte Arbeit. Für das Kind selbst ist der 
Übergang ganz unmerklich. Nur deswegen kann das Spielen 
des Kindes an erziehender Wirkung selbst der eigentlichen 
Arbeit den Rang streitig machen, weil es ihm durchaus etwas 
wie Arbeit ist. Es ist mit seiner ganzen Seele dabei, wie nur 
der treueste Arbeiter bei seinem Werk, es ist ihm eine ernst- 
hafte Aufgabe, es sind Wirklichkeiten, womit es zu tun hat. 
Seine spielende Tätigkeit nimmt daher auch, wenn sie nur 
einigermaßen dahin geleitet wird, wie von selbst den geregelten 
Gang an, der der eigentlichen Arbeit vorzugsweise zukommt 
und notwendig ist. Es fehlt nur das wirklich Zweckvolle des 
Tuns; aber dieser Mangel kommt für das kindliche Bewußtsein 
kaum in Betracht, da ihm eben der Begriff dieses Unterschieds 
abgeht; das Nächste, Unmittelbare ist ihm Zweck genug und 

*) Gute Bemerkungen darüber (obschon nicht ohne Einseitigkeit) bei 
F. Adler, in der oben (S. 269) genannten Sclrnft, S. 66. 



277 


darf es noch sein. Indem aber dann seine Tätigkeit, ohne daß 
sie übrigens ihren Charakter ändert, mehr und mehr auf wirk- 
lich zweckvolle Aufgaben gelenkt wird, und zwar auf solche, 
deren Zweck ihm nahe genug liegt, wird das Kind unvermerkt 
vom Spiel zur eigentlichen Arbeit hinüber gelenkt. Es be- 
greift bald, daß ein geordnetes Lehen Arbeit nach dem ein- 
fachen Grundtypus der Wirtschaft verlangt: daß jeder Ver- 
brauch von Material und Kräften Ersatz fordert, geregelter 
Verbrauch entsprechend geregelten Ersatz. Es faßt sehr rasch 
den Sinn der Raumordnung, der Zeiteinteilung, der Erhaltung 
seiner eigenen Spielsachen oder Gebrauchsgegenstände wie 
aller zum Haushalt gehörigen, der Sparsamkeit im Krä'te- und 
Materialverbrauch jeder Art. Es fühlt zugleich, wenn auch 
ohne Begriff, daß in der Regelung seines Tuns, seines Sach- 
gebrauchs, der Mensch selbst, sein ganzes Leben und Sich- 
fühlen, sich in Regel und Einklang fügt und so seine gesunde 
Befriedigung und sicher fortschreitende leibliche und geistige 
Entwicklung findet; daß in gemeinschaftlich, in gegenseitiger 
Rücksichtnahme geregelter Arbeit zugleich die seelische Ge- 
meinschaft der zusammen Arbeitenden sich in das gleiche, heil- 
same Element der Ordnung und Harmonie eingewöhnt, und, 
indem eben damit wiederum die Ai'beit und Arbeitsordnung 
desto harmonischer wird, ein glücklicher Kreislauf einer in 
gesunder Bahn sich selbst erhaltenden Tätigkeit entsteht. 

Auf den mächtigen, ja beherrschenden Einfluß der Ge- 
meinschaft in diesem ganzen Bildungsgang noch besonders 
hinzuweisen, erscheint fast unnötig. Es ist ja unvermeidlich, 
daß die Umgebung des Kindes an der Gestaltung seines Ge- 
müts auch ungewollt und unbewußt mitarbeitet. Selbst Wahr- 
nehmung und Willkürbewegung ist anfangs weit überwiegend 
auf die Mitlebenden gerichtet: das Auge des Kindes sucht zu- 
erst das Auge der Mutter, der Geschwister; es überträgt einen 
Teil des Glücksgefühls, das ihm aus jenem einzigen Quell (so 
muß es wohl glauben) zufließt, in seinem Ausdruck auf jedes 
menschliche Antlitz, das ihm nur irgend freundlich begegnet. 
Und Mund und Hand lernt zuerst fassen und halten — an der 
Mutter brust. Aber auch wenn sich diese erste, engste Ab- 



278 


hängigkeit löst, ist doch im nächsten Wechselverkehr mit den 
alltäglichen lieben Gefährten vorerst seine Welt beschlossen, 
und muß alles, was sonst noch in sein Bewußtsein tritt, sich 
erst gleichsam 1 leimatsrechte in dieser noch so engen und doch 
so vielbedeutenden Welt erwerben. In dieser Welt aber ist 
das Kind fortw^ährend der unbewußte Schüler und Zögling 
seiner kaum mehr ihrer Rolle bewußten Lehrer und Erzieher; 
worauf es in diesem Kreise, oft ganz ohne Willen und Wissen, 
aufmerksam gemacht wird, das vornehmlich nimmt cs wahr; 
wohin es durch seine Umgebung gelenkt wird, dahin richtet 
es sein Tun und Bewegen. Vorzüglich stark und beherrschend 
aber ist der Einfluß der schon bewußteren Gemeinschaft im 
Sprechenlernen. Ist doch die Sprache der unmittelbare Aus- 
druck jeder geistigen Gemeinschaft; erschließt sich doch darin 
dem Kinde der Schatz von Erkenntnissen, den die Gemeinschaft 
für jedes geringste ihrer Glieder gleichsam in Verwahrung 
hält, und den sic in einem natürlichen Kommunismus allen zu 
gleichen Rechten, kostenlos wie Luft und Licht, austeilt. 

Gemeinschaft ist nicht minder das Element alles Spiels; 
auch im Alleinsein erdichtet sich das Kind seine Genossen. 
Sie mögen etwa, als Puppen, lebende Wesen Vortäuschen; aber 
schließlich genügt jeder Klotz, jedes Glasperlchen zum gut 
kameradschaftlichen Verkehr, So lernt cs Menschlichkeit 
gleichsam am Phantom; wieviel mehr im wirklichen Verkehr 
menschlicher Gefährten. Das Zartgefühl für Leben, auch im 
Tier, ist daher im einigermaßen normal aufwachsenden Kinde 
mit Sicherheit anzutreffen; was man aurh von seiner natür- 
lichen Grausamkeit oft gefabelt hat. Richtig ist daran höch- 
stens, daß das Kind vom Tode keinen Begriff hat, oder viel- 
mehr nur den natürlichen: daß Sterben nicht lange, Totsein 
gar nicht weh tut. Deshalb und überhaupt in der Unbefangen- 
heit, mit der es sich dem Spiel seiner Phantasie überläßt und 
am Phantasieren selbst seine Lust hat, hört es so manchen 
Sterbefall im Märchen oder Struwelpeter in vollkommener 
Gelassenheit an, während es doch den tatsächlichen, sich un- 
mittelbär äußernden Schmerz nicht bloß des Angehörigen 
sondern jedes Lebendigen (ja nur lebendig Geglaubten) gar 



279 


sehr mitempfindet, so herzlich wie das physische V/ohlsein des 
kleinen Geschwisters oder des geliebten Haustiers, Überhaupt 
ist Rücksichtnahme und Zartsinn iedem Kinde natürlich, das 
sie selbst in der rechten Weise, d. h. ohne die verderbliche 
Schwäche gegen seine Fehler, an sich und in seiner ganzen 
Umgebung erfährt. 

Besondere Aufmerksamkeit erfordert das Affektleben 
des Kindes. Seine Reizbarkeit, die gerade in den ersten Lebens- 
jahren am stärksten ist, hat fast ganz nur physische Gründe; 
das schließt aber eine moralische Behandlung keineswegs aus. 
Sie führt die meisten jener kleinen und großen Konflikte her- 
bei, die auch unter den günstigsten Bedingungen recht aus- 
bleiben Aber gerade diese können zur sittlichen Entwicklung 
des Kindes von einer weisen Erziehung aufs heilsamste benutzt 
werden, während die unweise gerade da am augenfälligsten 
scheitert und sehr leicht schon im frühesten Stadium kaum 
wieder gut zu machenden Schaden anrichtet. Richtig be- 
handelt, verhelfen gerade diese Konflikte dem Kinde zu der 
sicheren, unmittelbaren Empfindung, und bald auch zu dem 
bestimmten Begriff, daß jede Disharmonie der Gemeinschaft 
auch die Harmonie seines eigenen Gemütes trüben muß, und 
zwar um so empfindlicher, je tiefer die Gemeinschaft schon 
gegründet ist. Darum ist es so sehr zu beklagen, w'cnn in 
solchem Fall die Eltern oder Erzieher blind dreinfahren, selbst 
in Hitze geraten, und so die gestörte Harmonie recht dis- 
ha^^monisch wiederhcrzustellen bestrebt sind. Aber das ist 
leider allzu menschlich und in der Not des Augenblicks ver- 
zeihlich. Möchte nur nachher die Stunde der stillen Be- 
sinnung nicht ausbleiben, wo man sich, wenn auch nicht in 
Worten sagt, doch mit allem Liebeserweis wechselseitig zu ver- 
stehen gibt: cs hätte nicht sein sollen, es war nicht unser Wille; 
möchten wir stark genug sein, es künftig zu meiden. Die 
sicherste und reinste Hilfe und Versöhnung aber liegt gerade 
dann im gemeinsamen förderlichen Tun, das die scheinbar 
zerrissene Gemeinschaft am schnellsten wieder aufbaut oder 
vielmehr zum Bewußtsein bringt, daß sie trotz allem besteht 
und bestehen wird. 



280 


So mag eine rechte sittliche Hauserziehung sich gestalten. 
Die gleichen Kräfte wirken aber weit über die früheste Kind* 
heit, ja über die Familie im engsten Sinn hinaus; sie bleiben 
grundlegend für die ganze Erziehung des Willens, deren sonstige 
Faktoren ohne diesen ersten niemals ihre volle Wirksamkeit 
entfalten könnten. In keinem menschlichen Verhältnis darf 
dies Element ganz fehlen, und in seiner Kräftigung liegt, wie 
wir mit Pestalozzi überzeugt sind, zuletzt alle Hoffnung 
einer Versittlichung menschlicher Gemeinschaft überhaupt. Ich 
möchte dem Irrglauben zwar nicht Vorschub tun, daß Un* 
Sittlichkeit nur Krankheit sei, aber das Wahre ist daran, daC^ 
die sittliche Gesundung von unten auf, von der Grundlage des 
Trieblebens, folglich von der Sorge um Kraft und Reinheit 
familienhafter Gemeinschaft ihren Ausgang nehmen muß; ds^ 
alle Sittenpredigt verschwendet ist, ja dem sittlichen Tadfel 
jedes Erntenwollens, wo man nicht gesät hat, unterliegt, welche; 
für diese allererste Bedingung sittlicher Bildung zu sorgen 
vergißt. 

Von der Wiederherstellung des Bewußtseins der Arbeits- 
gemeinschaft, von der Heiligung der Arbeit und des Genusses 
durch die Gemeinschaft, durch ihre Aufnahme in den Plan der 
Erziehung zum Menschentum, erwarten wir die Heilung unsrer 
privaten und öffentlichen Zustände, Vor allem, man kümmere 
sich darum, wie Menschen leben, welche Bedingungen 
ihnen gewährt sind, um ein Leben führen zu können, wie 
man es von ihnen fordert und erwartet. Man fasse das Problem 
„sozialer Ökonomie“ einmal ernsthaft in diesem sittlichen, 
oder sagen wir pädagogischen Sinn: daß von der Ökonomie 
der Lebensfunktionen in der Gemeinschaft alle sozialen Funk- 
tionen bis zu den höchsten hinauf schließlich abhängen, und 
daß diese Ökonomie nur auf Grund der Gemeinschaft, nach 
dem allgemeinen Typus einer sittlich geordneten Familie, sich 
wirksam und rein gestalten kann. Das führt auf organisato- 
rische Forderungen, wie sie an früherer Stelle angedeutel 
wurden. Ich vermeine nicht darüber irgend Abschließende^ 
auf gestellt zu haben; wenn es am Willen nicht fehlte, würden 
auch die Wege sich wohl erschließen. Keinesfalls darf man uns 



281 


hier auf eine voraus erwartete, wie mechanische Lösung der 
„sozialen Frage“ vertrösten. Die gesittete Menschheit wird zu 
Grunde gehen, bevor zu deren Iiö^ung auch nur ein ernster 
Schritt getan ist, wenn nicht für diese allererste Basis der 
Gesundung in der Weise, wie es auch gegenwärtig möglich ist, 
gesorgt wird, und dann desto mehi-, je nachdem die im all- 
gemeinen Zustand der Gesellschaft liegenden Bedingungen 
dafür sich nach und nach günstiger gestalten. 

In solchem Sinne läßt sich übrigens das, was not tut, 
leicht angeben Es muß, wo die Bedingungen eines gesunden 
Familienlebens nicht gegeben sind, Ersatz dafür geschaffen 
werden in einem ausgebildeten Kindergartenwesen, in Familien- 
verbänden, „Nachbarschaftsgilden“, oder welche andre, den 
jeweiligen Bedingungen noch besser angepaßte Farm sich finden 
mag. Es muß ermöglicht werden, daß die Kindheit, aber auch 
die heranreifende Jugend, nicht mit plötzlichem Riß aus jeder 
faihilienartigen Gemeinschaft herausgenommen wird; es muß 
also, über die Familie im engem Sinn hinaus, in einem weiteren, 
aber immer übersehbaren Kreise persönlicher Beziehungen eine 
familienhafte Gemeinschaft sich organisieren, so daß man auch 
bei weitester und freiester Gestaltung der Lebensziele solchen 
heilsamen Einflüssen, wie sie jetzt allein in der eigentlichen 
Familie (und auch da wie selten!) sich recht entfalten, nie 
ganz entzogen wird ; daß zum wenigsten ein Verständnis 
solcher Gemeinschaft sich immer erhäh, und die Roheit des 
Empfindens mit irgend einem Grade von Bildung und gesell- 
schaftlicher Achtung unverträglich wird, die jetzt z. B. in dem 
Gebrauch, den unsere zahlungsfähige Jugend von der Prosti- 
tution macht, ihre ekelhafte Grimasse kaum auch nur zu ver- 
bergen nötig hat. 

Wie die ganze Regelung des Affektlebens, ruht ganz be- 
sonders die Erziehung zur Keuschheit fast allein auf diesem 
Grunde. Unregelmäßigkeit der Begierden ist großenteils 
Wirkung einer unökonomischen Verwaltung des Körpers; 
Ijeregelte und straffe Tätigkeit, insbesondere sofern sie zugleich 
als gesimde Leibesübung wirkt oder durch solche ergänzt wird, 
ist dagegen eine wichtige, aber keineswegs ausreichende Hilfe. 



282 


Denn der innerste Grund des Schadens liegt in der nicht ge- 
zügelten Phantasie und in der Schlaffheit des Wollens, mit 
einem Wort in mangelnder Selbstzucht. Auch die sinnlose 
Geheimniskrämerei, welche die einfachen Tatsachen -des Ge- 
schlechtslebens gleichsam aus der Welt lügt, die unzeitige 
Trennung und dann wieder die verkehrte Art der Zusammen- 
bringung der Geschlechter, trägt wohl einen Teil der Schuld. 
Aber auch das könnte geändert sein und die Hauptquelle des 
Übels bliebe dennoch un verstopft. Denn schließlich hängt 
doch alles an der rechten Grundlage in der Gesinnung; sonst 
schützt der Gesunde seine Gesundheit vor, der Kranke seine 
Krankheit, der Unwissende seine Unwissenheit und der Wissende 
seine Wissenschaft, der Freie die zu große Freiheit und der 
klösterlich Abgesperrte die Einsamkeit, während sie alle 
gleichermaßen von ihrer unbeherrschten Leidenschaft sich 
blenden und entnerven lassen. 

Wer in einem harmonischen Familienleben, besonders unter 
im Alter nicht zu fern stehenden Geschwistern des andern Ge- 
schlechts oder in einfachem, naturwüchsigem Freundschafts- 
verkehr mit ihm aufgewachsen und sonst leidlich normal ge- 
bildet und erzogen ist, wird nicht leicht dem an sich einfachen 
und verständlichen Sinn der Keuschheitsgesetze sich wider- 
setzen oder sich von Gegenkräften gegen den Ansturm eines 
an sich ja nur normalen Begehrens verlassen finden. Am 
besten aber hilft ihm jede hinlänglich kräftige Fort- und Nach- 
wirkung derselben erziehenden Kräfte, die seine Kindheit be- 
hüteten, um ihn auch im gefährlichen Alter gegen die Ver- 
suchung fest, ja unverwundbar zu machen; zumal wenn zu- 
gleich durch eine ausreichende ästhetische Erziehung dafür 
gesorgt ist, ihm die gemeine Form, in der das Laster sich 
anbietet, von Anfang an so zuwider zu machen, wie sie es dem 
etwas feinfühligeren Menschen überhaupt nur sein kann. Eine 
recht wertvolle Hilfe sehe auch ich in einem für beide 
Geschlechter gemeinsamen Schulunterricht, worüber, was 
das Theoretische betrifft, heute kaum noch neues zu 
sagen übrig bleibt. Ein natürlicherer Verkehr auch jenseits 
der Schule würde daraus von selbst erfolgen, wie er 



283 


jetzt wenigstens in Bewegungsspielen und mancherlei Sport 
sich langsam anzubahnen scheint. Ich kann auch das Wider- 
streben gegen die Zulassung weiblicher Studierenden zur 
Universität, insoweit es sich auf sittliche Besorgnisse zu stützen 
vorgibt, nur lächerlich finden. Man tanzt und spielt zusammen, 
und es ist meist unschuldig: sollt? man weniger unschuldig 
zusammen studieren? Ist man unschuldiger, wo sich die 
Sitte etwa immer noch dagegen sträubt? — 

So viel über die Triebgrundlageii der sittlichen Erziehung; 
wir kommen zu ihrem zweiten Faktor, dem der Formung des 
Willens, der seine Stätte vornehmlich in der Sehalerziehung findet. 


§ 27 . 

Zweite Stufe: Schulerziehung. 

Diese Erziehungsstufe bezeichnet den entscheidendsten 
Fortschritt auf der Bahn, deren Ziel die Befreiung des Willens 
von der Knechtschaft der Sinnlichkeit, vom Gesetz in den 
eigenen Gliedern, die Bindung allein an das selbstgegebene 
Gesetz des Willens ist. Es ist daher weniger das Stoffliche, 
was die zweite Stufe von der ersten scheidet, als das Formale: 
daß das Tun des Menschen mehr und mehr Willenssache wird. 
Doch grenzt eben dies, wie einen neuen Kreis sittlicher Er- 
wägungen, so ein eigenes Gebiet der Willenserziehung ab, 
dem eine eigentümliche Organisationsform der Erziehung und 
eine eigene Weise der erziehenden Tätigkeit entspricht. Am 
deutlichsten prägt sich der besondere Charakter dieser Stufe 
aus in dem stark hervortretenden Momente der Gegensätz- 
lichkeit, des zu überwindenden, weniger äußeren als inneren 
Widerstands. Das unmittelbare Leben des Triebs wird für 
die sich bewrußter entfaltende Tatkraft des Willens mehr 
und mehr zum bloßen, zu gestaltenden Material; indem die 
eigene, formende Tätigkeit in den Vordergrund des Bewußt- 
seins tritt, wird der Trieb mehr als Hemmnis empfunden, ob- 
wohl der Wille sich seiner positiven Kräfte zu bedienen doch 
gar nicht umhin kann. Daher gehört zur Grundstimmung der 



284 


jugendlichen Entwicklung auf dieser Stufe etwas von Trotss. 
auch gegen den eigenen Trieb, dessen unbeherrschte Gewalt 
von dem sich freier entfaltenden, zur Selbsttätigkeit drängen- 
den Willen als Fessel empfunden wird. Das ist das eigentliche 
Metall der Tugend, die echte Mannhaftigkeit, die in wenngleich 
zarterer Mischung auch dem heranwachsenden Mädchen nicht 
fehlen darf, die man ihm nur mehr einprägen und in ihrer 
strengen Schönheit lieb machen sollte, als es in unserer Er- 
ziehung im ganzen noch geschieht. 

So wird es zunächst für den Einzelnen jetzt erstes Gebot: 
Sei selbständig! — welche Regel sich aber sofort durch die 
andre ergänzt: Hast du dein Selbst gewonnen, so verliere es 
fröhlich wieder, d. h. setze es ohne zu viel Besinnen ein für 
das erkannte Gute. Dies Moment der Lebensverneinung ist 
als Nerv einer echten Tugend nicht zu entbehren. Man will 
gewiß das Leben, aber will nicht propter i>itam i^itae perdere 
causasy um des Lebens willen das preisgeben, was allein ein 
Grund zu leben ist; wer sein Leben verliert, der gerade behält 
es. Das ist auch der edle Sinn der Ehrliebe, auf die Plato^ 
sonst allem bloß Triebartigen eher feindlich gesinnt, die Tugend 
der Tapferkeit ganz zu stützen gewagt hat. Dafür gerade ist 
das heranwachsende Alter so empfänglich, daß der Erziehung 
fast nichts zu tun übrig bleibt als diese Empfänglichkeit da- 
durch wach zu erhalten und zu üben, daß sie sie voraussetzt 
und in Anspruch zu nehmen wagt. Dies gibt eigentlich den 
Grundton dieser Entwicklungsstufe; die tiefe Ernsthaftigkeit 
besonders des reiferen Knabenalters beruht ganz hierauf. Was 
nicht dem neuen hohen Ideal der Mannheit entspricht, sinkt 
jetzt zum verachteten kindlichen Spiel herab, das doch auf 
der vorigen Stufe hochwichtig, ja die eigentliche Welt des 
Kindes war. 

Das beweist sich auch in allen besonderen Richtungen der 
Entwicklung. Die leibliche Ausbildung wird Selbstwerk; be-- 
sonders strebt man im Kampf und Wetteifer sie gegensätzlich 
zu erproben, an den Gleichaltrigen und, wenn es sein kann, 
den wenig Älteren sich zu messen, nicht mehr in der Weichheit 
des zarteren Alters sich ihnen anzuschmiegen. Die Regelung 



285 


der Affekte wird jetzt bewußte, leicht etwavS m tyrannische 
Beherrschung. Man strebt instinktiv darin, wie in der vieb 
seitigen Sinnes- und Muskelübung, durch planmäßige Steigerung 
der Kräfte sich zum ernsten Kampf des Lebens zu rüsten. 
Im Intellektuellen tritt an die Stelle des bloßen interessierten 
Schauens oder gläubigen Hinnehmens des Überlieferten oder 
der Willkür eigenen Konstruierens das bewußt vorwärts 
strebende, an der Bewältigung großer, weitausblickender Auf- 
gaben sich stählende Lernen. Man vertraut nicht mehr dem 
sinnlichen Schein, man fragt nach Begriff und Grund; die 
straffere Disziplin des Denkens wird gesucht und gern an- 
genommen. Man will Wahrheit; zunächst die Wahrheit der 
Tatsache, die dann aber auch sich feststellen will im Gesetz, 
Der kräftige Sachsinn dieses Alters paßt zu seiner ganzen 
Nichtempfindsamkeit, seiner scheinbar trockenen Vernunft- 
liebe. Es gehört schon Scharfblick oder genauerer Umgang 
dazu, um auf dem Boden dieses kühl erscheinenden Realismus 
und Rationalismus doch etwas schon von dem Feuer jenes 
Idealismus zu erkennen, der im Knaben gleichwohl nur schlum- 
mert und nur des mächtigen Weckrufs bedarf, um im Jüng- 
lingsalter sich in seiner ganzen Kraft zu entfalten, und dann 
nur zu leicht alle sorglich errichteten Schranken des schlichten 
Sachsinns zu durchbrechen. 

Übrigens fehlt auch diesem Alter nicht die phantastische 
Zutat; nur nimmt auch die Phantasie einen andern Charakter 
an. Das Märchen und was auf gleicher Stufe steht, genügt 
dem erwachten Wirklichkeitssinn nicht mehr, und der Idealis- 
mus eigentlicher Kunst und Dichtung liegt noch außer dem Ge- 
sichtskreis. Man ist Prosaiker; vielleicht eifriger Mathema- 
tiker, Physiker, Geograph, oder regelfester Grammatiker, tat- 
sachenfester Geschichtsfreund. Aber doch kann die Phantasie 
es nicht lassen, eine zweite Wirklichkeit, so recht nach eigenem 
Bedarf, neben der nächstgegebenen und durch Unterricht er- 
weiterten zu entwerfen; sei es, daß man auf Robinsons un- 
sterblicher Insel sich heimisch macht oder auf Kriegspfaden 
der Rothäute ; das gefährliche Abenteuer ist die Leibspeise der 
Phantasie für diese Stufe. Deshalb paßt ihm so die wie für 



286 


dies Alter geschaffene Welt des Homer, Ilias wie Odyssee, 
deren Helden fast wie unsterbliche Knaben handeln und reden. 
Es ist ein richtiger Instinkt, der nun seit so langer Zeit für 
diese Stufe der Bildung gerade diesen Lehrmeister gewählt hat. 

Auch das Spiel des heranwachsenden Knaben (und Mäd- 
chens) sucht ähnliche Bahnen. Es geht desto leichter und 
williger in eigentliche, zweckbewußte Arbeit über; sie wird 
am wenigsten in diesem Alter als Frondienst empfunden, 
sondern als willkommene Übung der Kraft, als fröhlicher 
Krieg gegen den widerstrebenden Stoff. Der Sinn für Regel 
und Ordnung ist dem normal entwickelten Kinde dieses Alters 
natürlich, ebenso wie jener dem Bürgersinn vorarbeitende 
Gemeinsinn, wie er in den festen Organisationen des Hauses, 
mehr aber der Schule, dem verkleinerten Abbild einer bürger- 
lichen Gemeinschaft, sich jetzt bestimmter herauszubilden 
Gelegenheit hat. 

Mit dem Sinn des trotzigen Sichbehauptens und Insich- 
verschließens — „als Knabe verschlossen und trutzig“, sagt 
Goethe — vereint sich ganz wohl die freudige Anerkennung 
des gleich tüchtigen, gleich selbständigen Andern. Das Ver- 
hältnis zum Andern ist jetzt vorzugsweise das einer auf An- 
erkennung persönlicher Tüchtigkeit ruhenden Achtung. Man 
ist ritterlich gesinnt gegen die Kleinen, denen gegenüber am 
ehesten etwas von verhaltener Zärtlichkeit im unbeobachteten 
Augenblick sich hervorwagt; ritterlich auch gegen den gleich- 
strebenden Altersgenossen. Der Wetteifer, von den Pädagogen 
oft über Gebühr gepriesen, oft eben so ungebührlich gescholten, 
hat auf dieser Stufe der Erziehung seinen rechtmäßigen Platz; 
man sollte ihm den Spielraum nicht gar zu eng ziehen, denn 
er ist diesem Alter natürlich und vermag die schönsten Kräfte 
aus dem Schlummer zu wecken. Seine Grenze aber und seinen 
Halt findet er an dem Sinn für Recht und Gesetz und für 
etwas wie ritterliche Sitten, die jeden unredlichen, zumal feiger, 
hinterlistiger Mittel sich bedienenden Wettbewerb scharf ver- 
urteilen. Das alles ist wertvoll als Schule, wie es denn auch 
in der Schule und aller schulmäßigen Organisation, so im 
Waffendienst, vornehmlich seine Stätte findet. 



287 


In diesem allen ist aber wiederum der Einfluß der Ge- 
meinschaft vorzüglich wichtig, ja entscheidend. Die straffe 
Organisation der Schule ist deshalb für diese Stufe eine Not- 
wendigkeit und durch nichts andres zu eisetzen. Nur eine 
etwas zu einseitige Fortsetzung davon, ein bisher nicht orga- 
nisch genug sich einfügendes, seinem ganzen Charakter nach 
aber gleichartiges Anhängsel ist die weitere Schule des Waffen- 
dienstes. Sogar nirgends ist der erziehende Einfluß organi- 
sierter Gemeinschaft so greifbar, daher auch tatsächlich so 
hoch, selbst bis zum Übermaß entwickelt. 

Von welcher Bedeutung gerade dies Formale des schul- 
artigen Betriebs der Bildungstätigkeit für die Erziehung ist, 
ist an seinem Orte gezeigt worden. Hier sei noch besonders 
darauf aufmerksam gemacht, wie das auch auf die ganze Be- 
handlung des Stofflichen der Bildung, in intellektueller wie 
sittlicher Hinsicht, Einfluß hat. Die Konzentration, die aus 
dem Trieb den Willen erzeugt, kann freilich nur von einem 
jeden selbst vollbracht werden; aber sie findet die kräftigste 
Unterstützung in straffer äußerer Organisation, und umso mehr, 
je mehr sie dabei doch den Charakter wirklicher Gemeinschaft 
behält. Es ist das Element, in dem der Bürgersinn natür- 
lich erwächst. Über wog vielleicht anfangs der Trieb der 
individuellen Selbstbehauptung, so mäßigt und begrenzt er 
sich bald in dem gleichzeitig erstarkenden Sinn für gemein- 
same Behauptung. Man lernt, was man für sich will, gleicher- 
maßen für alle wollen, für den Verein als solchen. Das Beste, 
was die Schule, und so auch der Waffendienst, in erzieherischer 
Hinsicht wirken kann, wirken beide als Verein; man sollte 
darum auch trachten sie möglichst zum Verein gleich Wollender, 
statt zur bloßen Zwangs- und Dressuranstalt, zu machen. 
So würden desto mehr die an ihnen Teilnehmenden herange- 
bildet zum größeren Verein des Bürgertums, des Staats, in 
den beide sich, als „nationale“ Veranstaltungen, sachgemäß 
einfügen. Es entwickelt sich aus dem natürlichen Kamerad- 
schaftstrieb der in gemeinsamer Schulung Heranwachsenden 
der Vaterlandssinn, als Bürgersinn und nur in und mit diesem 
zugleich militärischer Sinn, dessen gerechte Ansprüche wir 



288 


nicht verkennen, wenn auch der Überspannung seiner Be- 
deutung entgegenzutreten Anlaß genug ist. Der organisierte 
Militärdienst hat jedenfalls das Verdienst, zu zeigen, was 
Organisation vermag. 

Auch in allen diesen Beziehungen sind die Stoffe des 
klassischen Altertums von unschätzbarem Wert. Die ernsten 
Bilder von Bürger- imd Kriegertugend, welche die historischen 
Schriftsteller des Altertums vorführen, sind dem Sinn des 
heranwachsenden Knaben durchaus gemäß, sie müssen ihn 
packen, wenn sie nur in der rechten Weise ihm vor gestellt 
werden und nicht etwa die sonstige Erziehung das natürlich 
sich entwickelnde Verständnis dafür künstlich erstickt. Es ist 
oft uund richtig bemerkt worden, daß die Geschichtschreibung 
der Alten schlichtere, durchsichtigere Verhältnisse zeigt als 
jedes moderne oder gar mittelalterliche Gemeinwesen, da sie, 
ohne des größeren, nationalen Ausblicks zu entbehren, sich 
doch zumeist im Rahmen der natürlichen, d. h. der Stadt- 
gemeinde hält. 

Es bedarf nur des einfachen Hinweises, wie alles auf dieser 
Stufe Gewonnene auch in der ganzen weiteren Entwicklung 
erhalten bleibt; wie auch damit ein Grund gelegt ist, der nicht 
wieder verlassen wird. Man lernt nach dem alten Spruch nicht 
für die Schule, sondern fürs Leben, und das Leben bleibt, 
ganz im gleichen Sinne, immerfort eine Schule, wnewohl nicht 
nur das. Damit aber, daß dieser größere Sinn der Schule 
aufgeht, wird bereits die Schwelle zur dritten Erziehungssiufe 
überschritten, auf der das Leben selbst der Erzieher wird, 
Haus und Schule nur noch als mitwirkende, in der Tat sekun- 
däre Faktoren in Betracht kommen. 

§ 28. 

Dritte Stufe: Freie Selbsterziehung, 

Was bedeutet eigentlich der Schritt von der Schule zum 
Leben? Denn als das eigentliche Loben, für das das Haus und 
die Schule erziehe, betrachtet man ja erst das Leben jenseits 
beider. Was ist die erziehende Kraft dieses Lebens, was unter- 



289 


scheidet sie von den erziehenden Kräften des Hauses und der 
Schule, die doch auch zugleich Leben sind? Ein erhöhtes 
Ziel der Bildung muß es sein, das über die enge Organisations- 
weise der Haus- und Schulerziehung hinäustreibt; eine neue 
Welt tut sich auf, neue, größere Formen der Gemeinschaft. Nur 
scheint die Erweiterung ein Schritt ins Unendliche und damit 
ziellos zu sein. Denn gerade das Bewußtsein der UnendHch- 
keit der Aufgabe der Bildung ist es, worin der entscheidende 
Schritt zum „Leben“ sich vollzieht. Kein endliches Ziel mehr 
will dem wie zur Selbstverewigung drängenden Streben ge- 
nügen. Nicht bloß umfassendere Einheiten werden gesucht, 
sondern die letzte Einheit der Einheiten; nicht bloß höhere 
Zwecke aufgestcllt, sondern nach dem Zweck aller Zwecke 
gefragt. „So ist denn alles nichts, wenn das Eine fehlt, 
das dem Menschen alles Andre wert ist“: so ist die Grund- 
stimmung dieses Alters der Sehnsucht. 

Dies Wort, aus Goethes pädagogischem Roman, hat zu- 
nächst die Liebessehnsucht im Sinn; aber der Philosoph wird 
sich dabei der Liebeslehre der Diotima in Platos Gastmahl 
erinnern, diesem philosophischen Hymnus auf die Jugend. Da 
ist der Zusammenhang des unbegrenzten, aufs „hohe Meer“ 
gelangenden Bildungsdranges in Wissenschaft, in sittlichen Be- 
ziehungen und in Kunstgestaltung mit dem erwachenden 
Liebesverlangen in einer Klarheit und Tiefe enthüllt, an die 
auch Goethe kaum heranreicht. Sich selber, den Menschen in 
sich zu bilden, sein eigenes tiefstes Leben anzuknüpfen an die 
Kette des großen, ewigen Lebens der Menschheit, von ihr es 
zu empfangen und in sie weiterzugeben, das ist der unerschöpf- 
liche Sinn des ganzen, unverstümmelten Jugenddranges. Das 
so erwachte Selbsibewußtsein sucht und erzwingt dann frei- 
lich auch die Objektivierung im andern Selbst; die Ahnung 
des Unendlichen in der eignen Seele will sich reinigen und 
sichern in dem Glauben an das Unendliche in der Seele des 
Andern, darum einzig und grenzenlos Geliebten. Allein, 
ebenso wie man am Ich nicht haften will — das wäre viel 
zu eng und eingeschlossen — so ist auch das einzelne Du 
nur begrenzender Ausdruck eines Dranges, der an sich keine 

?i^atorp. Sosialpädagogik. 4. Aull. ][9 



290 


Grenze anerkennt. Aufs Persönliche zwar ist er ganz gerichtet, 
aber nicht auf die einzelne Person, weder die eigene noch die 
fremde, sondern auf „die Menschheit sowohl in der eigenen 
Person als in der Person eines jeden Andern“. Und so findet 
das „Eine, das dem Menschen alles Andre wert ist“, seinen 
reineren Ausdruck als Sache, als Idee, als „das“ Wahre, Gute, 
Schöne, das in der letzten Idee, in der Idee der Idee Eins ist. 

Also scheinen wir weit entfernt von einer neuen, beson- 
deren Form organisierter Gemeinschaft. Der jugend- 
liche Drang in seiner Unbedingtheit scheint fast über jede 
irgendwie konkrete Gemeinschaft hinauszutreiben. Aber 
vielleicht führt er doch auf einem Umweg zu ihr zurück. Lassen 
wir ihn denn sich rein seinem eigenen Gesetze gemäß ent- 
wickeln. 

Er ist, schon dem Gesagten zufolge, zu allererst Er- 
kenntnisdrang. Auf keiner andern Stufe tritt das Streben 
nach Erkenntnis so unbedingt voran, ist Erkenntnis so sehr 
Selbstzweck. Wahrheit um jeden Preis, ganze Wahrheit wird 
verlangt; nicht dem Umfang nach, der dürfte der kleinste sein, 
hätte man nur im begrenzten Umfang die Gewißheit reiner, 
unverkleideter und ungeschminkter Wahrheit. Ja dem 
Objekte nach möchte die Erkenntnis ganz zunichte werden; das 
was sie zunichte macht, die Kritik der Erkenntnis aus der 
ideellen Forderung ganzer, fehlloser Wahrheit, trüge doch ein 
Moment von Wahrheit, ja die höchste Wahrheit in sich, die 
des Selbstbewußtseins der Erkenntnis. 

Daher soll man den Geist furchtlosester Kritik zu wecken 
und zu nähren nicht scheuen; es ist nichts dabei zu besorgen, 
am wenigsten für die Sittlichkeit. Auf „Jugend“ zwar reimt 
sich „keine Tugend“. Aber das sollte man so verstehen, daß 
kein äußeres, heteronomes Tugendgebot ihr mehr genügt. 
Sie verlangt nicht bloß das Gute selber zu tun, sondern, um 
ihr ganzes Selbst dafür einsetzen zu können, begehrt sie auch 
selber, autonom, zu bestimmen, was das Gute sei, und von 
keinem Andern darüber eine Belehrung annehmen zu müssen, 
die nicht das eigene Bewußtsein frei zu bejahen imstande ist. 
Nicht Rücksichten des äußeren Lebens, nicht bloße Sitte oder 



291 


äußere Ehre oder Menschenfurcht soll mehr bestimmend sein, 
sondern unbedingte innere Aufrichtigkeit walten, die dann auch 
wohl nicht umhin kann in Aufrichtigkeit gegen alles Äußere 
auch bis zur Rücksichtslosigkeit sich auszusprechen. 

Das ist die edle Tugendlosigkeit der Jugend. Wer nicht 
in solchem Sinn in seiner Jugend über die Stränge schlüge, 
wäre wohl nicht jung, sondern einer jener Altgeborenen, wie 
ihrer freilich viele einhergehen. Die schlagen auch über die 
Stränge, aber anders; ihre Untugend ist bestenfalls Ausbruch 
überschüssiger blinder Kraft, und leicht sinnlose Kraft- 
vergeudung, die sich nur allzu bald rächt und aus den scheinbar 
jugendstrotzenden Menschen frühalte macht, denen man nicht 
ansieht, daß sie je eine Jugend gehabt haben. Selbst dabei 
kann irgendwo noch eine edlere Anlage sich verstecken, die 
nur etwa nicht freien Raum fand, sich ihrer Eigenart gemäß 
zu entfalten. Darum ist es, wenn die Jugend über die Stränge 
schlägt, so schwer zu beurteilen, ob das nur der Most ist, der 
sich absurd geberdet, oder Schlimmeres. Bedenklich ist nicht 
an sich das Durchbrechen der äußeren Sitte; bedenklich ist 
nur, wenn es nicht aus Kritik geschieht, sondern aus Verach- 
tung jedes kritischen Maßstabs. Wenn das Erstere, so ist 
noch nichts verloren; denn dieselbe Kritik, die das bloß Über- 
lieferte verwarf, wird das für echt Erkannte festhalten und 
besser sichern, als es in der bloßen Folgsamkeit gegen Sitte 
und öffentliche Meinung gesichert war. Man soll also die 
Kritik nicht beirren, sondern sie selber wecken, nur ihr auch 
kräftige Nahrung geben, indem man sie vor die echten Pro- 
bleme stellt. 

Das aber führt unausweichlich zur Philosophie. Die 
Schule der Sokratik tut diesem Alter not; die in Plato sich 
aufs schönste verbindet mit der sicheren Hinleitung auf das 
ewige Endziel, die Idee. Wenigstens ein Vorschmack von 
Philosophie sollte keinem vorenthalten bleiben. Für die, denen 
zum tieferen Eindringen die Voraussetzungen fehlen, sollte 
man ein philosophisches Lesebuch zusammenstellen, das 
auf jeden Fall einige große Stücke aus Plato, das Faßlichste 
aus der Ethik Kants, Auszüge etwa aus Fichtes freier gehal- 

19 ^ 



292 


tenen Schriften, aus Pestalozzi mit manchem Gleichartigen 
oder dazu Vorbereitenden in wohlbedachter Anordnung, nicht 
ohne die notwendigen Erläuterungen, enthielte. Oder es sollte 
der Lehrer des Deutschen oder Griechischen in Prima (denn 
leider nur an die höheren Schulen ist unter den gegebenen 
Voraussetzungen zu denken) in freien Kursen außer der Schule 
denen, die den Trieb dazu haben, das Beste und Notwendigste 
davon zugänglich machen. 

Aber auch die Verstandesschule der theoretischen Wissen- 
schaften, die Gesetzeserkenntnis der Mathematik und Natur- 
wissenschaft müßte wenigstens bis an die Schwelle der Philo- 
sophie führen: zu dem Bewußtsein der Unerläßlichkeit von 
Grundbegriffen, Grundsätzen, Methoden. Es ist nicht nur das 
Bedürfnis eines Gegengewichts gegen den überkühnen Flug des 
philosophischen Idealismus, das auf diese Ergänzung besonders 
durch die mathematischen Wissenschaften führt, sondern es ist 
die innere wurzelhafte Einheit, in der die Idee mit dem Be- 
griff, dem Gesetzesbegriff der Wissenschaft, das Vernunftgeseiz 
mit der Gestaltung der Erfahrungswelt unter der Herrschaft 
des mathematischen Gesetzes zusammenhängt. In solcher 
Vertiefung streift auch das „Gute“ ganz den weichlichen Sinn 
des bloßen Mitgefühls ab, und enthüllt sich als sein echter Sinn 
der des Gesetzlichen, darin wurzelnd, daß der Mensch nicht 
Spielball seiner wogenden Gefühle sein oder bleiben, sondern im 
gesetzmäßigen Grunde des eigenen Selbstbewußtseins sich fest- 
gründen will. Der gleiche Sinn der Gesetzlichkeit waltet auch 
im Reiche des Schönen, des Ästhetischen überhaupt. Der echte 
Künstler mag immerhin von der „Kritik“ so viel verstehen wie 
die Giraffe vom Strümpfestopfen (wie v. Liliencron dafürhält), 
aber, wenn ihm nicht das Gesetz der Form in den Fingerspitzen 
lebte, würde er (wie derselbe Mann seinen Freunden, den Natura- 
listen zuruft) ein roher Bursche bleiben. Auch den Anteil am 
Künstlerischen, den selbst das bloße nachfühlende Verständnis 
des Kunstwerks fordert, weckt allein das Studium der Form- 
gesetze, ohne das alles Kunstgenießen roh und kunstwidrig ist. 

Gesetzerkenntnis also ist der ernüchterte Sinn der 
„Ideenschau“, wenn man das abstreift, was in der Tat das 



293 


Äußerlichste darar* ist: jenen Gefühlsrausch, den Plato un- 
nachahmlich als das Jucken der wachsenden Schwingen be- 
schreibt. Gesetzerkenntnis fordert aber den Halt an der 
Erfahruitg. Daher wird, geratle indem man dem Idealismus 
sein volles Recht zuteil werden läßt, dem Realismus das seine 
keineswegs verkürzt. Nicht bloß der echte Künstler, auch der 
echte Forscher, der echte sittliche Mensch ist „als Naturalist 
geboren d. h will nicht an der bloßen Idee sich berauschen, 
sondern schreckt vor dem Sinnlichsten der Wirklichkeit nicht 
zurück: um es mit der Idee d. i. mit gesetzlicher Gestaltung 
ganz zu durchdringen bis zum niederen Tricbleben herab, 
dessen gesunde Kraft nicht entwurzelt, sondern erhalion, aber 
in den Dienst edler, menschlicher Zwecke gestellt werden soll. 

Und hier ist es nun, wo gerade die höchste Entwicklung 
des Menschen im Menschen nicht von der Gemeinschaft dar 
Mtmschen hinweg, sondern mitten in sie hineinführt. Es muß 
nämlich doch, wenn jene Forderung gerade des höchsten Idea- 
lismus irgend erfüllt werden soll, alles, was auf den vorigen 
beiden Stufen gewonnen wurde, auf der dritten erhalten bleiben 
und nur zu dem, was sie Neues und Eigentümliches hinzu- 
bringt, in Beziehung gesetzt werden. Also wird auch die 
höhere Entwicklung sich an die vorhandenen Formen der 
Gemeinschaft immer anschließen müssen, wiewohl in der 
Absicht sie zu vertiefen und, wo diese Vertiefung es fordert, 
auch die gegebenen Formen zu durchbrechen, nämlich weitere, 
mächtigere an ihre Stelle zu setzen. 

Zunächst die Ökonomie der Triebkräfte bis zu ihrer 
physischen Grundlage ist sogar für kein Alter so wichtig wde 
für dieses, da ohne diese Bedingung der an der gefährlichsten 
Entwicklungsscheide stehende, so leicht gewalttätige Trieb als- 
bald alles stören und zerstören würde. Wie aber hier einzig 
der feste Kalt an der Familie oder familienhafter Gemeinschaft, 
und wäre es nur an ihrer Idee, eine Sicherung bietet, wurde 
schon zur Genüge ausgeführt. Günstig genug kommt dieser 
ideellen Hilfe die diesem Alter nur natürliche Neigung zur 
Leibesübung, zur ernsten körperlichen Anstrengung überhaupt 
entgegen, die man nur auf vernünftige Ziele, d. h. dahin lenken 



294 


sollte, daß sie zugleich als Arbeit d. i. Gestaltung sinnlichen 
Stoffs Gelegenheit gibt, die Tugend des lautern Sachsinns, der 
Wahrheit gegen die Sache daran zu üben, zugleich den Segen 
der Arbeitsgemeinschaft an sich zu erfahren. In solchem 
allen aber erhält und stärkt sich jene unmittelbare familien- 
hafte Gemeinschaft, aus der wir die Elemente zu dem alten 
her vor wachsen sahen. Man verbleibt auf diese Weise in unlös- 
licher Beziehung zur materialen Grundlage des Menschendaseins 
in aller und jeder Richtung. Ein Losriß erfolgt nicht, es muß nur, 
was erst ein Ganzes schien, ja es für die frühere Entwicklungs- 
stufe auch war, jetzt an das größere Ganze sich anschließen, 
da es an sich freilich kein Ganzes ist. 

Und nicht anders verhält es sich mit dem zweiten Elemente 
der Erziehung, der bewußt gewollten Organisation. Auch 
sic muß bleiben, sie darf nur nicht mehr Selbstzweck sein, oder 
auch nur zu sein scheinen. Insofern sie hcteronomen Charakter 
trägt, widerstrebt ja ihr am meisten das einmal voll erwachte 
Selbstbowußtsein des jugendlichen Menschen, der im beglückten 
Finden seiner selbst eher den Trieb hat, von allen bloß äußeren 
Ordnungen sich loszumachen. Ihm muß zumeist der Zwang 
einer Schule widerstreben, in der irgend ein engherziger Geist 
waltet, die es nicht versteht, die natürliche Lockerung des 
äußeren Zwanges sich zur rechten Zeit von selbst vollziehen zu 
lassen. Aber die Gemeinschaft selbst erhält sich dabei nicht 
nur, sondern sie erschließt erst jetzt ihren tiefsten und letzten 
Sinn; sie erhält die neue Bedeutung freier Gemeinschaft. 
Nicht umsonst läßt Platos Diotima aus der sich auseinander- 
setzenden und verständigenden Zwiesprache die vergeistigte 
Liebesgemeinschaft und damit die Ideenschau entspringen, die 
dann schon unmittelbar den Drang in sich trägt, zeugungs- 
kräftig in der Gestaltung des Gemeinlebens sich zu 
betätigen. Das ist der neue Sinn der Gemeinschaft, der auf 
dieser Stufe klar wird: die gegenseitige autonome Ver- 
ständigung als einzige, endgültige Begründung der Ge- 
meinschaft; der Sinn jener echtesten Gerechtigkeit, als 
der Gleichachtung der sittlichen Person im Andern, und in 
jedem Andern, 



295 


Nun ist diese Gemeinschaft nirgends verwirklicht oder 
unter irdischen Bedingungen überhaupt zu verwirklichen, es 
sei denn etwa im seltenen Bunde weniger Einzelnen. Allein 
die Idee dieser Gemeinschaft wird deshalb nicht weniger, 
sondern nur umso mehr festgehalten. Und diese Idee muß 
sich auch irgendwie emen Ausdruck schaffen; es muß die 
vorhandene Gemeinschaft, ein wie unvollkommener Aus- 
druck der Idee sie sein mag, deiinooh als ihr sein sollender, 
beabsichtigter Ausdruck begriffen und dadurch geheiligt und 
vertieft werden. Die Idee, in ihrer Reinheit niemals in der Er- 
fahrung darstellbar, wird erkannt als unendliche Aufgabe für 
Erfahrung. Ihre reale Bedeutung ist: daß die vorhandene 
empirische Gemeinschaft nicht wegzuwerfen, 
sondern umzubilden ist, so nahe wie möglich zu der 
edleren Gestalt wahrer, freier, allein innerlich gebun- 
dener, d. i. autonomer Gemeinschaft. Die Erziehung, 
die man selbst in der vorhandenen Gemeinschaft und durch sie 
empfing, ist der lebendige Beweis dafür, daß diese empirische 
Gemeinschaft dennoch unter der Botmäßigkeit der Idee steht; die 
Idee hat doch darin eine Art Wirklichkeit in ihr, daß es eine in 
der Gemeinschaft tatsächlich wirkende Auffassung dieser 
Gemeinschaft selbst gibt, die aus dem Standpunkt der Idee 
vorgezeichnet ist und nicht an die Gemeinschaft bloß als vor- 
handene und so, wie sie vorhanden ist, uns binden will. 

Und so bleibt es nicht bei einem träumenden Idealismus. 
Die Aufgabe der Gemeinschaft wird, obwohl durch ihre Idee, 
doch in der vollen Realität der Geschichte erfaßlich. 
Das Verständnis für Geschichte, als Einheit der Erlebnisse 
der Menschheit, gehört recht eigentlich dieser Stufe an. Und 
wenn man längst der Geschichte eine vorzüglich wichtige sitt- 
lich bildende Kraft zugeschrieben hat, so müßte sie diese Kraft 
vor allem in dem Sinne beweisen, daß sie die empirischen 
Gemeinschaftsformen und alle überlieferte Kultur der Mensch- 
heit als wandelbares Produkt der Entwicklung, als Objekt be- 
ständiger, ernstester und zwar schließlich für die ganze 
Menschheit gemeinschaftlicher Arbeit, d. i. als 
ewige Aufgabe, nie abschließendes Ergebnis begreifen lehrt. 



296 


Darauf beruht zugleich das Verständnis und die echte, tief- 
gründige, fürs Leben vorhaltende Begeisterung für jedweden 
Beruf und jedwede Berufsbildung, auf welche die jetzt zu 
gewissem Abschluß gelangende Allgemeinbildung als auf ihre not- 
wendige Ergänzung hinweist* Das gehört aber genau auf die 
Stufe der jugendlichen Entwicklung, von der wir eben reden. 

Das Verständnis für Geschichte im angedeuteten Sinne 
kann erst auf dieser Stufe erwartet werden; denn bis dahin 
war alles in gewisser Weise erst gespielt; das Beste, was dabei 
begriffen wurde, war das freie und starke Regen der Kräfte, 
doch ohne sicher und gar endgültig erkanntes Ziel. Im so ver- 
tieften Geschichtssinn aber schließt die allgemeine Bildung sich 
ab und fügt sich an sie die Berufsbildung nunmehr organisch 
an. Gerade der Beruf und die Bildung zu ihm führt dann erst 
recht zum Verständnis für Bürgertum, für Volkstum. Er trennt 
nur, um waeder zu verbinden; er teilt die Arbeiten, um sie desto 
besser zu vereinen. Aus der Volksgemeinschaft erwachsen, wirkt 
er notwendig auf sie wieder zurück, wenn nicht bewußt, dann 
unbewußt, wenn nicht im Guten, dann im Verkehrten. Also 
sorge man vor, daß es bewußt und im Guten geschieht. 

Jeder Beruf wirkt mit zur Höherbildung des Men- 
schentums zunächst im Volkstum. Einen Beruf aber 
gibt es daher, an dem alle teilhaben, ja der zuletzt alle 
andern befaßt, der direkt in das Zentrum der ganzen Aufgabe 
der Willensbildiing zielt; den Beruf der sozialen Erzie- 
hung. Wie jede Form erziehender Gemeinschaft zum Ziel 
die ewige Erneuerung dieser Gemeinschaft selbst hat, so hat 
die Erziehung im ganzen, die auf allen Stufen in der Gemein- 
schaft beruht, das bestimmte Ziel, daß der Erzogene selbst 
wieder befähigt werde zum Erzieher, zum Miterzieher der Ge- 
meinschaft. Darin schließt sich der Kreis der sozialen Päda- 
gogik, als der fortwährenden Selbsterneuung des Menschen- 
tums, als geistiger Fortzeugung, in der die Menschheit, die ideelle 
wie die physische, sich fort und fort selbst erhält. Auch in 
dieser Beziehung möchte der Idee der „Volkshochschule“ ein 
vorzüglicher Wert zuzuerkennen sein, besonders wenn man sie 
sich (nach den obigen Andeutungen, S. 244) in Verbindung 



297 


gesetzt denkt mit der ganzen gemeinsamen Sorge für das Wohl 
der arbeitenden Klassen, nicht im Sinne der Bevormundung, 
sondern der Erziehung zur Freiheit, in dem Sinne, jeder 
Arbeit in jedem Beruf und auf jeder gesellschaftlichen Stufe 
einen Inhalt und damit dem Leben eines jeden ein lebens- 
wertes Ziel zu geben, dasselbe für alle. Vergemeinschaftung 
und damit Erhöhung \«nd Veredelung des Menschentums, in 
unbeschränktem, sich selbst erhaltendem Fortschritt. 

D( shalb muß die geschichtliche Bildung sich ergänzen und 
gründlicher gestalten durch die soziologisch - politische, 
die nur recht konkret an die womöglich zugleich praktische 
Kenntnisnahme der wirklichen gesellschaftlichen Zusieiide und 
ihrer Einwirkung auf das physische und geistige r)asein der 
großen Masse der Menschen sich anknüpfen sollte (vcrgl. „Reli- 
gion“, 2. Aufl., S. 9 u. 67). 

Zugleich liegt diesem Gebiet das religiöse Leben nicht 
fern; worüber hier nur so viel gesagt sei: daß die Religion die 
Gemeinschaft von ^^ensch und Mensch, ohne weitere Be- 
dingung, und zwar als Tatsache, als ,, Leben“, nicht bloß be- 
griffliche Lehre, voraussetzt; und daß sie eine Gewißheit des 
Unsichtbaren, wiederum nicht im allgemeinen Begriff nur auf- 
stellt, sondern lebendig einzupflanzen sich zur Aufgabe stellt. 
Die schärfste Kritik ihres theoretischen Wahrheitsgehalts darf 
nie diese praktisch lebendige Kraft der Religion übersehen 
lassen. Übt sie eine solche Wirkung, hat sie sie nur je geübt, so 
muß sie einen soliden Grund im Menschenwesen haben, wenn 
auch überwuchert und oft fast unkenntlich gemacht durch 
Anderes, was inan auf diesen Grund gebaut hat und was einer 
wahrheitsliebenden Kritik nicht standhält. Dieser Grund ist, 
unsrer Überzeugung nach, das Ewigkeitsgofühl und Mensch- 
heitsgefühl, das Gefühl jener Verewigung, die das noch so zu- 
fällige und beschränkte Leben des Einzelnen erfährt in dem 
Bewußtsein der ewigen Aufgabe der Erhaltung und vertiefen- 
den Erneuung des Menschenwesens in den Menschen und in 
der Menschheit. Die Erhebung zu diesem Bewußtsein aber 
ist der große Gewinn der dritten, darum abschließenden Er- 
ziehungsstufe; die ideelle Gemeinschaft, in die der Heran- 



293 


wachsende durch eben diese Erhebung sich aufgenommen weiß, 
wird fortan sein Erzieher, und eben dadurch, daß er in sie 
mehr und mehr hineinwächst und die aus ihr stammende Kraft 
der Idealisierung im eigenen Leben und Beruf bewährt, hilft 
er an seinem Teil sie wiederum lebendig darstellen und für 
fernere Erziehung fruchtbar machen. Das ist der Grund des 
tiefen Zuges zur Religion, der diesem Alter innewohnt. 

So beweist sich hier, wie auf den beiden vorigen Stufen, 
ja hier am meisten und am tiefsten, Gemeinschaft zugleich 
als Element der Erziehung und als das durch sie 
gestaltete, immer neu zu gestaltende Werk, in 
welches zugleich die Errungenschaften der früheren Stufen 
sich einfügen und darin ihre Vollendung finden. Ein höheres 
Ziel der Willensbildung vermöchten wir nicht zu nennen, aber 
auch bei keinem minder hohen uns zu beruhigen. Jedenfalls 
unser Prinzip führt bis zu diesem Punkte und nicht weiter; 
auf Begründung aber kam es an, nicht auf den Vortrag 
von Einfällen und guten Wünschen. 

Der Gang der Willenserziehung ist hiermit im allgemeinen 
Umriß beschrieben. Was zur Ausfüllung dieses Umrisses noch 
fehlt, wird sich durchweg anschließen lassen an die besondere 
Erörterung des Anteils der Bildung des wissenschaftlichen 
Verstandes, der ästhetischen Phantasie und des religiösen Ge- 
fühls an der Erziehung des Willens, welcher Anteil zwar schon 
fortwährend mitberücksichtigt worden ist, aber einer eigenen 
Untersuchung, eben im Sinne einer genaueren Durchführung 
der aufgestellten Grundsätze, sehr bedürftig erscheint. 

§ 29 . 

Anteil der Intellektbildung an der Willenserziehung. 
Grundlagen und erste Stufe. 

Die einflußreiche Lehre Herbarts vom „erziehenden 
Unterricht“, der Satz, daß durch die Bildung,, des Gedanken- 
kreises“ auch zugleich „der Grund zur Charakterbildung ge- 
legt“ werde, verdient wohl eine genaue Prüfung,*) um so mehr, 

•) Vgl, Herbart, Pestalozzi etc., 4. Vorlesung (Abhdl. I 254 ff.). 



299 


als ihm etwas Richtiges ohne Zweifel zu Grunde liegt. Eine 
enge Beziehung zwischen Intellekt- und Willensbildung ergab 
auch unsre Untersuchung. Den Stoff hat der Wille mit dem 
Verstände gänzlich gemein ; nichts, v^as dem Gesetze des 
Willens unterliegt, steht etwa außerhalb der Gesetzgebung des 
Verstandes, und umgeki^hrt. Und wenn beide nach der Form, 
d. h. der Art der GesetzHehkeit, sich unterscheiden, so ist 
dennoch der letzte formale Grund für beide Arten von Gesetz- 
lichkeit einer und derselbe. Auch unterhalb des gemeinsamen 
Prinzips, der Gesetzlichkeit überhaupt oder der durchgängigen 
Einheit des Bewußtseins, stehen sie zueinander in einem Ver- 
hältnis gegenseitiger Ergänzung, so daß, wer das Gesetz des 
Verstandes rein und von seinem Prinzip aus begreift, sich auch 
der Anerkennung des Willensgesetzes nicht wird entziehen 
können, und umgekehrt. 

Dagegen folgt aus diesen Voraussetzungen nicht eine ein- 
seitige Abhängigkeit der Willensbildung von der Intellekt- 
bildung, wie Herbart sie behauptet. Indem nämlich der „Ver- 
8tand'‘ ■ — für uns nur der kurze Ausdruck für eine bestimmte 
Art gesetzlicher Gestaltung von Bewußtsein — unter Herbarts 
psychologischem Gesichtspunkt als „Seelen vermögen“ ver- 
dächtig wurde, setzte er an seine Stelle eine vielfältige Verflech- 
tung einer unübersehbaren Menge einzelner „Vorstellungen“, 
d. h, das l'orrngesetz des Verstehens verschwand gänzlich vor 
der in ungerechtfertigter Weise verselbständigten Materie. 
Umso weniger konnte beim Willen die beherrschende Be- 
deutung der Form, und also die ganze Berechtigung eines eigen- 
tümlichen Begriffs des Willens, überhaupt noch anerkannt 
werden ; was die Gegnerschaft Herbarts gegen Kant in der Ethik 
wie in der Psychologie des Willens erklärt. Dagegen ist nach 
unsrer Auffassung der Wille dem Intellekt, mit dem er den Stoff 
gemein hat, der Form nach vielmehr übergeordnet. Aus der 
Gemeinsamkeit des Stoffs folgt die Notwendigkeit einer durch- 
gehenden Verbindung von Intellekt- und Willensbildung von 
der untersten Stufe bis zur Höhe menschlicher Entwicklung; 
aus der formalen Unterordnung des Verstandes unter den 
Willen aber: daß einesteils die Verstandesentwicklung eine 



— 300 


beständige Übung des Willens und insofern zugleich seiner 
Entwicklung dienstbar ist ; andernteils die eigene Gesetzlichkeit 
des Willens im Unterschied von der des Verstandes, obgleich 
ohne Widerspruch gegen sie, zu deutlichem, abgesondertem 
Bewußtsein gebracht werden muß. Es muß daher eine prak- 
tische Lehre sich von der theoretischen bestimmt sondern; 
während alle direkte Übung Verstand und Willen gemeinsam 
in Anspruch nimmt, aber auch die Lehre für den Verstand 
zugleich Übung für den Willen ist. 

Nach dieser grundsätzlichen Auffassung wären wir von 
,;erziehendem Unterricht“ ebensowohl wie Herbart und seine 
Schule zu reden berechtigt. Aber wir möchten mit dieser 
Schule nicht verwechselt werden. Auch wir „gestehen“, wie 
Herbart, „keinen Begriff zu haben von Erziehung ohne Unter- 
richt“, und erkennen, wie er, „auch rückwärts keinen Unter- 
richt“ an, „der nicht erzieht“; wo anerkennen so viel besagen 
muß wie gutheißen, denn daß ein nicht erziehender Unterricht 
möglich sei, ist doch auch Herbarts Meinung. Nicht zu- 
stimmen können wir dagegen der Begründung dieser be- 
haupteten Einheit von Unterricht und Erziehung durch den 
Satz, daß „aus Gedanken Empfindungen und daraus Grund- 
sätze und Handlungsweisen werden“, oder, wie ein jüngerer 
Herbartianer (Rein, im Encykl. Handb. II, Art. ,, Erziehender 
Unterricht“), es schärfer noch und unzweideutiger ausdrückt, 
„das Vorstellungsleben eines Menschen seine Entschließungen 
determiniert“. Wir teilen die Meinung nicht, daß aus dem 
bloßen Wissen — zwar nicht aus jedem, sondern nur einem 
bestimmt gearteten, aber doch ohne irgend einen weiteren 
psychischen Faktor — das Wollen resultiere. Und wenn 
als mitwirkend immerhin die „Empfindung“, das Interesse, 
die Lust und Liebe, d. h. zuletzt das Gefühl anerkannt wird, 
80 soll doch, nach Herbart und den Seinen, dieses ebenfalls aus 
bloßen Vorstellungsverhältnissen, ohne Hinzutritt eines neuen 
Faktors, resultieren. Selbst wenn dies nicht die Meinung wäre, 
könnten wir uns dazu nicht verstehen, daß Vorstellung plus 
Gefühl den Willen mache (vergl. § 7); ferner nicht dazu, daß 
das sittliche „Interesse“ bloß eines neben vielen, wenn auch 



301 


in der Reihe der Interessen das vorzüglichste sei. Sondern 
das Wollen bleibt uns etwas Eigenes, welches in dem, was man 
Interesse nennt, vielleicht schon keimhaft zu Grunde liegt und 
eigentlich es regiert, nicht umgekehrt aus ihm sich her leitet. 
Fürs Wollen aber ist das sittliche Gesetz in dem Sinne, und nicht 
bloß abgeleiteterweise, bestimmend, daß sich allein in Gemäß- 
heit seiner alles besondere Wollen unter die Einheit eines 
beherrschenden VVollens fügt. Diese notwendige Einheit des 
Wollens lehnt Herbart ausdrücklich ab, und so nleibt seine 
Pädagogik bei jener „Vielseitigkeit“ der Literessen schließlich 
atehen, die, wie längst empfunden wird, eine reine Zielbestim- 
mung überhaupt nicht zuläßt. 

Dagegen steht Pestalozzi mit uns auf dem Boden der 
reinen Spontaneität der menschlichen Bildung überhaupt, und 
dann des unbedingten Primates des sittlichen Gesetzes. Also be- 
steht zwischen seiner und Herbarts Grundlegung der Erziehungs- 
lehre ein innerer Gegensatz, den weder das selbstverständliche 
Zusammentreffen beider in so manchem Einzelsatze, noch 
irgend eine mildere Auslegung zum Verschwinden bringen kann. 

Die auffallendste und bedenklichste Folge der llerbart- 
schen Ansicht vom „erziehenden Unterricht“ bei ihren heutigen 
Anhängern ist, daß ihnen für den selbständigen Wert der Ver- 
standesbildung oft fast jedes Gefühl abhanden kommt. Nicht 
zufrieden damit, daß der Unterricht des Verstandes zur Er- 
ziehung des Willens unentbehrlich ist, sehen sie in dieser nun 
auch sein ganzes und ausschließliches Ziel. Wissen ist nicht 
Selbstzweck, Wissen vergeht, so ruft man uns fortwährend 
zu. Aber mindestens von dem Grundgesetze der Bewußtseins- 
einheit, welches mit dem Verstehen und nur durch es das echte 
Wollen begründet, vom Gesetze als letzter Form der Erkennt- 
nis überhaupt kann unmöglich gesagt werden, es sei nur ein 
dienendes Mittel, das man, nachdem es seinen Dienst ver- 
richtet hat, in die Ecke werfen dürfte. Sodann aber organisiert 
sich doch unter dem eigentümlichen Formgesetz des Verstehens 
eine eigene intellektuelle Welt, die zunächst rein in sich auf- 
gefaßt und anerkannt sein will, und die unter dem eigentüm- 
lichen Gesichtspunkte des Verstehens alles, auch was zugleich 



302 


Materie des Willens ist, nur nicht auch dessen eigentümliche 
Form, einschließt. 

Es ist ganz auffallend, daß diese relative Selbständig- 
keit*) des Verstandes von den Herbartianern oft nicht minder 
verkannt wird, als andrerseits die reine Selbständigkeit und 
Überordnung des Willens, Ja bisweilen ist man aus dieser 
Anschauung heraus auf einen Weg geraten, der von allen, die 
man wählen konnte, der verkehrteste, und auch der eigenen 
Absicht Herbarts ganz zuwider ist, auf den Weg eines künst- 
lichen Interessierens und Erwärmens durch äußere Mittel, 
schließlich durch eben jene unmittelbaren Gefühlswirkungen, 
die doch Herbart mit größtem Rechte ablehnt und in denen 
er das gerade Widerspiel des „erziehenden Unterrichts“ sieht. 
Ohne Zweifel soll der Zögling sich durch den Unterricht auch 
erwärmt und interessiert, nämlich zu sclbstgewollter Mitarbeit 
gespornt fühlen. Aber solches echte „Interesse“, das bereits 
unter der Herrschaft des Willens steht, nicht ihn erst produ- 
zieren kann, fließt am sichersten aus der eindringenden Be- 
schäftigung mit der Sache, aus dem Aufleuchten der Erkennt- 
nis in der Seele des heranwachsenden Kindes, aus der Ent- 
fesselung dei* gestaltenden Kraft des verstehenden Bewußtseins. 
Dagegen muß die Sachlichkeit notwendig Schaden leiden und 
ein außersachliches, subjektives Verfahren Platz greifen, wenn 
das persönliche Erfülltsein, die Begeisterung des Lehrers, das 
Ergreifende der Darstellung (wovon allerdings auch Herbart 
gelegentlich gesprochen hat) so einseitig betont wird, wie es 
von den Herbartianern einer bestimmten Richtung geschieht. 

ln engem Zusammenhang damit steht schließl ch die 
Stempelung bestimmter Unterrichtsstoffe, vorzüglich Geschichte 
und Religion, zu „Gesinnungsstoffen“ vor andern. Als ob es 
jemals unmittelbar Aufgabe und Wirkung des Unterrichts sein 
könnte, „Gesinnung“ hervorzubringen statt Begriff und Er- 
kenntnis; und als ob der Unterricht eines oder einiger Fächer 
sich eben hierdurch von allem übrigen unterscheiden, als ob 
insbesondere die Geschichte es sich gefallen lassen dürfte, aus 
der Reihe der verstandbildenden Fächer so gut wie gestrichen 


*) S. darüber Abhdl. I 399 ff. 



303 


zu werden. \^elmehr muß die innige Verbindung zwischen 
Intellekt- und Willensbildung, je mehr sie als schlechthin not- 
wendig und wurzelhaft erkannt wird, umso allgemeiner für 
alle Gebiete des Unterrichts behauptet und zur Wahrheit ge- 
macht werden. Tn allen ist jene relative Selbständigkeit der 
Verstandesbildung zu w^ahren, allen aber auch eignet die fernere 
und letzte Beziehung auf das VVillensgesetz, der zufolge sie 
zur Charakterbildung zugleich beizuiragen imstande sind. 

Auch sofern Unterschiede des Grades hierbei obwalten, 
sind sie nicht ausschließlich oder zuerst zu gründen auf eine 
materiale Einteilung wie die der Herbartianer nach „Erfah- 
rung“ und „Umgang“, sondern es wird sich fragen nach der 
größeren Nähe zur Idee, d. h. nach dem Grade der Herrschaft 
der Form in den betreffenden Unterrichtszweigen. Nach 
diesem Maßstab gebührt z. B. der Mathematik (wie Plato schon 
erkannt und Aristoteles vergeblich geleugnet hat) sogar eine 
hei v'orragcnde Stelle ; dagegen würde sie nicht der Geschichte 
bloß insofern zukommen, als sie „Teilnahme“ am Menschen 
erweckt. Würde nicht in Begriff des Menschen die Idee 
mitgedacht, so wäre die Beschäftigung des Unterrichts mit 
Menschen nicht gesinnungbildender als die mit Gleichungen 
und Kegelschnitten. Erhebung zur Idee ist etwas sehr andres 
als Weckung von Teilnahme. Zu ihr aber geht der alleinige 
Weg durch den Begriff, der sich, angesichts der Unendlich- 
keit der Aufgebe der Erfahrung, mit sachlicher Notwendigkeit 
zur Idee vertieft. Also sehen wir uns doch auf den Weg der 
Verstandesbildung zurückverwiesen, auch für den Geschichts- 
unterricht, und gerade in Hinsicht des Beitrags, den er zur 
Willensbildung liefern soll. 

Und so ist allgemein zu sagen: Je reiner die Ver- 
standesbildung ihre Eigenart bewahrt, um so 
reiner vermag sie zur Willensbildung beizutragen. 
Zugleich fordert die Wahrheit der Gesinnung selbst, daß man 
sich grundsätzlich davor hüte, Gesinnung zu machen. 

Auf diesen allgemeinen Grundlagen sei es nun versucht, 
von Art und Maß des Einflusses der Intellektbildung auf die 
Willensbildung genauere Rechenschaft zu geben. Als Grund- 



304 


Satz darf nunmehr vorangestellt werden: daß die Bildung des 
Verstandes in eben dem Maße den Willen entwickeln hilft, als 
sie, nach der Grundforderung Pestalozzis, die Selbsttälig- 
keit in Anspruch nimmt, und als das Stoffliche in ihr sich 
dem Formalen unterordnet. Und zwar findet dies seine An- 
wendung gleichermaßen auf beide notwendig zusammen- 
gehörenden Bestandteile der intellektuellen Tätigkeit; das 
Kennen und das Können, Einsicht und Ausübung, Theorie und 
Technik. Denn da einerseits theoretische und praktische Ein- 
sicht wesensverwandt und zusammengehörig sind, andrerseits 
die Übung für beide völlig in eins zusammenfällt, nämlich in 
der Technik im weitesten Verstände, so muß wohl der Zu-' 
sammenhang der Entwicklung des Intellekts mit der des 
Willens sich in diesen beiden Richtungen gleich sehr bewähren. 

Zur Durchführung dieser Grundansicht aber haben wir 
nur das früher (§ 9) begründete und weiterhin immer voraus- 
gesetzte genaue Zusammengehen der drei Stufen der 
Intellekt- und Willensbildung zu Grunde zu legen und 
daraus die Konsequenzen zu ziehen. Derselbe dreigliedrige 
Stufengang, vom sinnlichen Bewußtsein durch das empirisch- 
gesetzliche zum vernunftgesetzlichen, d. h. dem auf durch- 
gängige Einheit gerichteten, muß gelten für die Verstandes- 
entwicklung in der Doppelbedeutung des Kennens und Könnens 
und für die Entwicklung des Willens. Indem die Entfaltung 
des Verständnisses von Stufe zu Stufe den Willen je auf den 
entsprechenden Stufen in Tätigkeit setzt, kann sie gar nicht 
umhin, auch auf seine Entwicklung in derselben Abstufung 
hinzu wirken. 

So wird von Seiten des Intellekts in der Tat „der Grund 
gelegt“ zu den drei fundamentalen Tugenden des 
Willens. Reinheit der sinnlichen Auffassung und sinnlichen 
Betätigung, ein gebildetes Gefühl für Maß und Harmonie im 
Anschauen und verwirklichenden Tun wird gewiß, da es selbst 
unmittelbar im Triebleben Wurzel fassen muß, auch direkt 
hinwirken auf jene ethische Tugend der Reinheit oder des 
Maßes, welche das ganze Triebleben durchdringen und ihm 
seine gesunde, mit sich selbst einstimmige Richtung geben 



305 


soll. Die Erschließung des Verständnisses für Regel und 
Gesetz, füi die Zusammenstimmung des Vielen im Einen, und 
die dadurch bedingte Beherrschung alles Stofflichen der Natur 
im theoretischen und technischen Verstehen fordert nicht 
minder und fördert daher die Sicherheit und Klarheit gesetz- 
lichen Wollens, den Sinn der Ordnung, der Organisation in 
allem unserm Wirken, der den Kern unsrer zweiten ethischen 
Tugend bildet. Und in w^omöglioh noch innigerer Verbindung 
steht das wieder hieraus sich entwickelnde Vernunftbedürfnis 
nach durchgehender Einheit und Übereinstimmung, der voll 
erwachte Sinn der Wahrheit in intellektuelle^ Bedeutung mit 
dem Sinn und Bedürfnis der Wahrheit als praktischer Tugend; 
das kriti«^che Gewissen der wissenschaftlichen Vernunft mit der 
sittlichen Selbstkritik. Man hätte direkt von Tugenden des 
Intellekts, genau parallel denen des Willens, zu reden, wenn 
nicht in Wahrheit jene in diesen schon mitbegriffen wären. 
Daß Pestalozzi auch diesen Zusammenhang nahe vor Augen 
gesehen, zeigen am schönsten seine unvergeßlichen Sätze über 
die Arbeitsbildung. ♦) Unzulänglich bleibt bei ihm allenfalls, 
daß die technische Bildung, die er zu eng nur als Bildung 
der Hand (und etwa des Auges) versteht, der Kopf- und 
Herzensbildung zu selbständig nebengeordnet erscheint; ob- 
wohl sie bisweilen deutlich als das gemeinsame, beide ver- 
mittelnde Element zu Tage tritt. 

Aber auch die vierte unsrer ethischen Tugenden, die dom 
sozialen Gebiet zugewandte, obwohl zugleich individuell be- 
gründete Tugend der Gerechtigkeit findet im Felde des In- 
tellekts ihr Gegenbild. Schon überzeugten wir uns, nicht bloß, 
daß die Technik auf Gemeinsamkeit des Tuns und also auf 
gemeinschaftliche Regelung zwingend hinführt, sondern daß 
menschliche Vernunft überhaupt, auch als bloß theoretische, 
wesentlich Vernunft der Gemeinschaft ist und nur im Leben 
der Gemeinschaft sich entwickelt, also auch umgekehrt durch 
ihre Entwicklung zur Bildung des Sinns und Willens der 

*) Lieiihard und Gertrud (Werke Bd. 11, S. 562 ff.). Vgl. „Pesta- 
lozzis Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage“ S. 27; Herbart, 
Pestalozzi etc. S. 123 f. (Abh. I 91. 316). 

N Ä t o r p, Sojsialpädagoglk. 4. Aufl. 20 



306 


Gemeinschaft beitragen muß. Wenn also überhaupt von 
intellektuellen Tugenden, so wäre auch von einer intellektuellen 
Tugend der Gerechtigkeit zu sprechen, als der Bereitschaft, 
auf dem Grunde gemeinsamer Vernunft mit dem Andern 
auch im bloßen Denken Verständigung zu suchen, gerechte 
Kritik zu üben und gerechter Kritik sich willig zu unter- 
werfen. Nur ist wiederum ohne weiteres klar, daß dies in dem 
ethischen Begriff der Gerechtigkeit schon mitenthalten ist. 

Dieses alles findet nun notwendig in der Erziehung, und 
sofern die Erziehung des Verstandes, des Kennens wie des 
Könnens, Unterricht ist, im Unterricht, und zwar in jedem 
ohne Ausnahme, seine Anwendung. In dieser allgemeinen, auf 
alle Gebiete des Intellekts ohne wesentlichen Unterschied sich 
erstreckenden Beziehung wäre die völlige Einheit des Unter- 
richts mit der Erziehung höchstens noch nachdrücklicher zu 
betonen, als es seitens der Herbartianer geschieht, die diese 
Seite der Frage kaum je beachtet, vielmehr regelmäßig nur 
im Materialen der Vorstellungsbildung die Grundlage der 
Willenserziehung gesucht haben. Daß im Materialen aller- 
dings derselbe enge Zusammenhang der Intellekt- und Willens- 
bildung stattfinden muß, folgt für uns schon aus der Grund- 
voraussetzung der unumschränkten Herrschaft der Form über 
den Stoff, im Erkennen wie im Wollen. Nur folgt aus der- 
selben Voraussetzung, daß der Zusammenhang ursprüng- 
lich formal, nicht material begründet ist. 

Auch hier treffen wir dagegen wieder genau zusammen 
mit den Gedanken Pestalozzis, nämlich mit seiner Grund- 
idee der Elementarbildung, deren Kern wir eben darin sehen, 
daß aller Besitz des entwickelten Menschengeistes aufgebaut 
werden muß aus den ursprünglichen Elementen des ge- 
setzmäßigen Verfahrens, nach welchem überhaupt 
das Bewußtsein seinen Gegenstand sich gestaltet 
und damit erkennt (§ 5). Wir erblicken hierin einen 
Gedanken von schlechthin entscheidender Bedeutung für das 
Ganze zunächst der Intellektbildung; einen Gedanken, der 
durch Pestalozzi zwar nicht nach allen Seiten gleichmäßig 
durchgeführt, von Herbart aber gründlich verkannt und ver- 



307 


dorben worden ist. So ist die Zahl der reine Ausdruck, nicht 
irgend eines in der Erfahrung Vorgefundenen Gegenstandes, 
oder bloß einer höchst allgeniein verbreiteten Eigenschaft 
solcher, sondern dos gesetzlichen Verfahrens des Verstandes, 
einen Gegenstand überhaupt, im Denken ’irsprüngHch, und erst 
folge weise in der Erfahrung, als einen, zivei u s. f. zu setzen 
und solcher Setzung gemäß zu erkennen. So ist die geo- 
metrische Form der Objekte nicht von gegebenen Gegenständen 
abgelernt oder kopiert; dies Kopieren, wenn es sonst verständ- 
lich wäre, würde den Besitz der Elemente geometrischer Ge- 
staltung doch immer schon vorausselzen ; diese sind nelmehr 
ursprüngliche Entwürfe des anschauenden Geistes: aus 
der Linie, dem Winkel u. s. f., d. h. gemäß der Konstruk- 
tionsrege], die diese Begriffe bedeuten, bauen sich die Ge- 
stalten, die wir in den Dingen wahrzunehmen glauben, in 
unserem Geiste ursprünglich auf, und nur vermöge dieser ur- 
sprünglichen Konstruktion werden sie diesem anschauenden 
Geiste erkennbar; er vermag sie zu erkennen nur, weil er sie 
selber gestaltet. So ist schließlich jeder echte Begriff Aus- 
druck eines besonderen Denkverfahrens, daher zuletzt nur ver- 
ständlich aus solchen reinen Grundbegriffen, welche die Ele- 
mente alles Denkverfahrens in Erzeugung von Gegenständen 
überhaupt, d. h. (nach Kant) die notwendigen und hinreichen- 
den Konstruktionsstücke einer „möglichen Erfahrung“ zum 
Inhalt haben, und in diesem ihnen ursprünglich eigenen 
Gesetzescharakter auch abgesondert zu Bewußtsein gebracht 
werden können und müssen. 

Indem diese Genesis des menschlichen Verstandes Pesta- 
lozzi bestimmt vor Augen stand, mußte er es freilich schwer 
genug finden, sie gerade in der frühesten menschlichen Geistes- 
entwicklung, der sein Interesse fast ausschließlich zugewandt 
war und die, so meinte er, diese Elemente am deutlichsten 
erkennen lassen müßte, in genügend reiner und unmittelbarer 
Gestalt wiederzuerkennen. Das ist es hauptsächlich, was ihn 
zur vollen Klarheit nicht durchdringen ließ, wie denn auch 
die Ausführung, die er seinem Grundgedanken zu geben ver- 
mochte, ihm selber niemals genügt hat. 


20 * 



308 


Diese Schwierigkeit ist begreiflich; auch der heutige Stand 
der Untersuchung ermöglicht nicht ihre glatte und reine Be- 
wältigung, obgleich der Weg ihrer Überwindung bereits un- 
vergleichlich klarer als vor hundert Jahren erkennbar geworden 
ist. Indem nämlich die komplexeren Bildungen der Vorstellung 
sich anfangs ohne bestimmtes Bewußtsein vollziehen, oder doch 
nicht ihr Vollzug, sondern nur das Ergebnis in bestimmtem 
Bewußtsein verbleibt, so bedarf es immer erst einer oft schwie- 
rigen Analyse, die von diesen komplexen Gestaltungen (als 
den gegebenen) ihren Ausgang nehmen und zu ihren einfacheren 
Elementen bis zu den einfachsten erst zurückgehen muß. Diese 
Analyse würde aber gar nicht möglich sein oder doch zu 
keinem reinen Ergebnis führen können, wenn nicht die kon- 
struktive, synthetische Arbeit, durch die jene komplexen 
Gebilde erst entstanden, voraus vollbracht, und in und mit 
dieser das Verständnis in der Richtung (zum Beispiel) der 
geometrischen Form überhaupt schon vorgebildet wäre. Man 
würde ohne das überhaupt nicht angeben können, was eigent- 
lich aus den komplexeren Bildungen herauszuarbeiten, aus 
welchen und welcherlei Elementen vielmehr sie zu rekon- 
struieren seien. Und doch ist dies möglich: ein Kind setzt 
seine Bauklötze zusammen, so wie es geometrisch und 
mechanisch richtig ist. Und es hat von dieser Richtigkeit 
auch eine Art Wissen ; es weiß bestimmt voraus, und zwar nicht 
durchaus nur in Fällen, wo es des früheren, zufälligen Gelingens 
etwa sich erinnert, sondern auf Grund seines bis dahin er- 
worbenen allgemeinen Verständnisses seiner Klötze, 
was es mit diesen und diesen Klötzen wird leisten können und 
was nicht. Dies Wissen kann unter günstigen Umständen 
schon früh in verhältnismäßig großer Feinheit ausgearbeitet 
sein; jedenfalls lange bevor das Kind fertige Begriffe und nicht 
bloß dunkle Ahnungen von Zahlen, Größen und gar mecha- 
nischen Beziehungen hat. Man sagt dann, es hat diese Kenntnis 
aus der „Erfahrung“. Aber man mache sich doch auf dem 
Wege der Sinnesphysiologie klar, wie solche Erfahrung zustande 
kommen konnte. Sie kam zustande durch ein sehr komplexes, 
in den entscheidenden Schritten aber synthetisches und 



309 


keinesegt> analytisches Verfahren, im Prinzip nicht ver- 
schieden von dem, welches in voilcr Helle des Bewußtseins bald 
der Rechen- und Geometrie-Schaler, und auf wiederum höherer 
Stufe der experimentierende Physiker vollbringen wird. 

Fin Gleiches gilt von der primHiven Sprachbildung. 
Könnte man etwa noch glauben, wirklich eine Erklärung damit 
zu geben, daß das Kind die arithmetischen, geometrischen, 
mechanischen Verhältnisse sehe, taste etc., und dadurch lerne, 
so möchte ich gern, daß mir jemand klar machte, aus welchen 
und welcherlei rezeptiven Wahrnehmungen es die oft feinen 
und verwickelten begrifflichen Bcziehungeri, die in den Form- 
elemciiten der Sprache aUvSgedrückt sind, verstehen und an- 
wend en lernen, wie es zum Beispml vom Zeitverhältnis anders 
als auf die eben erklärte Weise, rekonstruierend, was es 
zuvor konstruiert hatte, auch nur die schlichtesten Be- 
griffe gewinnen konnte. 

Mit der Berufung auf die Erfahrung ist hier überall nichts 
getan; man setzt dabei nur das, nach dessen Erklärung ge- 
fragt wird, auf fast beliebiger Stufe als plötzlich gegeben voraus. 
Man sagt im Grunde nur (wie in Lockes Kritik des „An- 
geborenen“ besonders auffallend ist): es mußte doch irgend 
einmal zuerst da sein, da ja anfangs nichts davon 
vorhanden war. Ganz gewiß war es irgend einmal zuerst da; 
und vielleicht plötzlich genug sprang es wie aus dem Nichts 
hervor. Allein wir fragen, wie konnte es auf einmal da sein, 
eben da zu Anfang nichts davon da war, sondern alles bis aufs 
Letzte erst errungen werden mußte? Wie ist diese ganze 
Errungenschaft zu verstehen, wenn nicht aus irgend welchen 
schlechthin primitiven Anfängen, nicht Gegebenheiten, ak- 
tuellen oder potenziellen, sondern elementaren, gesetzmäßigen 
Verfahrungsweisen, überhaupt Etwas zu setzen, als eines, 
gerades, gleiches und so fort? Das ist es, was Pestalozzi bei 
seinen „Elementen“ vorschwebte, und was in der Tat den 
elementaren Erwerb menschlicher Erkenntnis, vollends jeden 
abgeleiteteren, allein verständlich macht. 

Genau so viel aber, sagen wir nun weiter, als hierbei 
Selbsttätigkeit des sich bildenden Geistes oder in 



310 


ihm selbst sich durchringende Form ist, genau so viel ist 
auch Sieg des Willens, mithin zugleich Fortschritt auf der 
Bahn seiner Entwicklung. Daß es der Wille zunächst in 
der Elementarform des sinnlichen Triebes ist, was sich so ent- 
wickelt, ist nur, was wir erwarten müssen. Nach allem aber, 
was über das Verhältnis des Triebes zum Willen und Ver- 
nunftwillen seines Ortes festgestellt worden, ändert dies nichts 
'an der Richtigkeit unsrer These. Und so meinen wir nun zu 
begreifen, inwiefern schon die Entwicklung des Trieblebens 
mit der Bildung der sinnlichen Vorstellungen Hand in Hand 
gehen und unter gesunder Leitung in einer Richtung mit ihr 
sich vereinen muß. liier findet nun alles das seine Anknüp- 
fung, was hierüber an früheren Stellen (§ 20 und 26 ) schon zu 
sagen war und jetzt nicht wiederholt zu werden braucht. Im 
besondern sei nur erinnert an das genaue Ineinandergreifen der 
Entwicklung der Muskel- und Sinnestätigkeit, wodurch ja die 
engste Verbindung zwischen Erkenntnis und auf unmittelbare 
Betätigung gerichtetem Trieb sich vom ersten Anfang an 
knüpfen muß. 

Zum Glück ist die kindliche Bildung in diesem allen ver- 
gleichsweise wenig auf planmäßige Unterstützung von außen 
angewiesen. Das Planmäßige der Erziehung auf dieser Stufe 
kann allein bestehen in sorgsamer Körperpflege und Fern- 
haliung alles Hemmenden; wozu nicht am wenigsten die Ver- 
suche einer künstlichen Beschleunigung oder Vorwegnahme 
des geistigen Fortschritts gehören. Das aber ergibt sich von 
selbst bei einigermaßen verständnisvollem Entgegenkommen 
der ganzen Umgebung und liebevollem Arischmiegen ihres 
Verhaltens gegen das Kind an dessen eigenen gesunden Trieb; 
was keines gelehrten Studiums, aber desto mehr der eigenen 
seelischen Gesundheit, natürlichen Frische und Kindlichkeit 
dieser Umgebung bedarf. Daraus versteht sich, daß die päda- 
gogische Reflexion sich von jeher wenig, in der Tat zu wenig, 
mit dieser ersten, und fast ausschließlich mit der zweiten Stufe 
der Intellektbildung, der des eigentlichen, organisierten 
Unterrichts, beschäftigt hat. Diese bedarf auch für uns um 
80 mehr einer eingehenden Behandlung, als gerade auf diesem 



311 


Gebiet die zentrale Frage des Verhältnisses der Intellektbildung 
zur Willensbildung zu Streitigkeiten geführt hat, an denen wir 
schon wegen ihrer großen praktischen Tragweite nicht Vorbei- 
gehen dürfen; die übrigens auch des theoretischen Interesses 
keineswegs ermangeln. Es sind die Fragen, die sich an den 
Begriff der Horbartianer vom „Gesinnungsunterricht“ und 
besonders an ihre Ansicht vom gesinnungbildenden Wert der 
Geschichte knüpfen. 


§ 30 . 

Fortsetzung. Zweite Stufe. 
„Erziehender Unterricht“, insbesondere Geschichte 
als „Gesinnungsunterricht“. 

Das unterscheidende Merkmal der zweiten Erzichungsstufe 
in Hinsicht der Intellektbildung sehen wir in der bewußten 
Erarbeitung der Begriffe, dem planmäßigen Ausgehen auf 
Einheit und Gliederung zunächst einzelner, bestimmt ab- 
gegrenzter Wissensgebiete, die dann von selbst auch unter sich 
Einheit suchen werden. Daraus folgt eine gewisse und zwar 
fortschreitende Scheidung von Theorie und Ausübung, die auf 
der ersten Stufe noch in engster Verbindung zu halten waren. 
Eine starke und selbständige Entwicklung des theoretischen 
Vermögens muß aber auch zur Willensbildung Wesentliches 
beitragen, denn das Formale des Iniellokts, in dem seine 
tiefste Verbindung mit dem Willen liegt, kommt eben darin 
erst zu seiner ganzen Wirkung. 

Hierauf gründen wir die Behauptung, daß in Hinsicht 
der sittlichen Wirkung gerade den Unterrichtsfächern eine 
hohe Wichtigkeit zukommt, die den Charakter des Intellek- 
tuellen am reinsten darstellen. Diese sind aber Mathematik 
und mathematische Naturwissenschaft. Haben sie 
dem Stoff nach zum Willen auch keine direkte Beziehung, so 
dienen sie eben durch die Energie, mit der sie die Form an die 
Spitze stellen und alles Materiale, mit dem sie zu tun haben, 
90 rein als nur möglich in Form aufzulösen streben, desto mehr 
der Disziplin des Geistes auch in der praktischen Bedeutung 



312 


der Willensherrschaft in der Erkenntnis. Sie erziehen 
zum Gewissen der Wahrheit. Übrigens bleibt auch das 
Stoffliche der Naturwissenschaft (in der Mathematik ist eigent- 
lich nichts Stoff, sondern die Form alles) nicht gleichgültig für 
den Aufbau der Willenswelt. Denn alles Natürliche ist zu- 
gleich Materie für den Willen, und wiederum ist die Natur- 
einheit, als eine Idee der Vernunft, die Voraussetzung für 
die reine Ausarbeitung der Idee einer Einheit der Zwecke. 
Eben deswegen darf man es nicht scheuen, sie, als Idee, auch 
aufs organische Reich und also auf den Menschen nach allem, 
was an ihm Natur ist, bis zu den unmittelbaren (physischen) 
Voraussetzungen sogar der Willenshandlung auszudehnen. 
Daß die Wahrheit der Sache es so fordert, sollte für sich allein 
entscheiden; übrigens existiert auch die Gefahr, die man sich 
dabei einbildet, in der Tat nur in der Einbildung. Denn je 
sicherer durch das ganze Verfahren der Intellektbildung die 
kritische Einsicht ermöglicht und vorbereitet ist, daß die 
Natur selbst, eben in dieser strengen, allumfassenden Einheit 
gedacht, eine bloße Idee, d. i. ein Entwurf der Vernunft ist, 
um so weniger braucht man vor der reinen, rückhaltlosen Durch- 
führung dieser Idee noch irgend ein geheimes Grauen zu emp- 
finden. Welche positiven Hilfen über dies alles gerade die 
Willenserziehung von der vollen Beachtung der Naturbedingt- 
heit des Menschendaseins auch im Praktischen zu erwarten 
hat, ist z . B. durch JuliusBaumann‘^)in einem Sinne, den wir 
durchaus anerkennen können, und mit so gründlicher Sach- 
kenntnis ausgeführt worden, daß ich mich begnügen darf, 
darauf als auf eine sehr willkommene Ergänzung gegenwärtiger 
Ausführungen zu verweisen. 

Aus allen diesen Erwägungen ergibt sich ein hoher Wert 
gerade des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts 
für die Willensbildung, den man ihm gemeinhin nicht hat ein- 
räumen wollen; ein Wert, der gerade darin beruht, daß diese 
Fächer, mehr als andre, reine Intellektbildung bieten. In 

*) Über Willens* und Charakterbildung auf physiol.-psychol. Grumi- 
lage. (Sammlung v. Abh. a. d. Geb. d. padag. Psychol. u. Physiol. Bd. 1. 
H. 3. Berlin, Reuther u. Reichard.) 



313 


dieser Hinsicht darf sich der Sprachunterricht mit dem 
mathematischen nicht vergleichen. Zwar liefert auch er zur 
logischen Bildung einen unveräcotliohen Beitrag, der in äer 
Grammatik am kiäftigsten, weil^reinsten zur Wirkung gelangt. 
Auch sie rechnen wir also zur notwendigen Disziplin des 
Geistes, auch in willenbildender *\bsicht. Allein wenigstens 
in der lebendigen Sprache ist dies logische Moment unlöslich 
verflochten mit einem ethischen und einem ästhetischen, und 
muß auch im Unterricht damit verflochten bleiben. Die 
Sprache muß die ihr eigentümliche bildende Wirkung doch 
wohl eben da entfalten, wo sie am meisten Sprache ist, d. h* 
aufs innigste sich dem wirklichen Vorstelliingslauf anschmiegt, 
in dem eine Ablösung des Logischen nicht stattfindet noch 
ßtatifinden soll. Infolge dieser unlöslichen Komplikation der 
drei Grundelemente der Bildung fördert das Studium der 
Sprache direkt weit mehr psychologisches als logisches oder 
etwa ethisches oder ästhetisches Verständnis. Sie enthält 
Elemente aller drei Gebiete in größtem Reichtum und in einer 
unmittelbar dem Leben des Geistes erwachsenen Form wie 
kein andres Lernfach; sie ist daher unerschöpflich an Pro^ 
blemen in jeder dieser Richtungen und noch besonders in def^ 
Vereinigung ihrer aller. Aber eine bis zum Grund dringende 
Bearbeitung dieser Probleme erfordert eine analytische Tätig- 
keit, die im Studium der Sprache selbst gar nicht liegt, fast ihm 
widerstrebt; die dagegen ganz anders vorbereitet und (wenn- 
gleich nur nach einer, der logischen Seite) direkt eingeleitet wird 
durch Mathematik und Naturwissenschaft, und welche ganz 
eigentlich die Aufgabe der Philosophie ist; aber auch zu dieser 
gibt es keinen Zugang als durch Mathematik und Naturwissen- 
schaft. Das ist in der einseitigen Verfechtung der Zentralstellung 
der Sprachen im Jugendunterricht (zumal dem höheren) über- 
aus oft verkannt, und dadurch die gerechte Sache der spract|j 
liehen Bildung nicht wenig geschädigt worden. 

Denn gerecht bleibt die Sache selbst. Man empfindet 
richtig, daß dem Sprachunterricht eine universale Bedeutung 
zukommt wie keinem andern. Er stellt ein gemeinsames Ele- 
ment dar, i|| welchem alle wesentlichen Faktoren der Bildung 



314 


sich begegaen und zu durchdringen trachten. An der Sprach- 
bildung ist, wie es von den Pädagogen oftmals ausgeführt 
worden ist, einerseits aller Unterricht beteiligt, denn der Unter- 
richt jedes Fachs vermag je in Hinsicht seines besonderen 
Gegenstandes das Sachverständnis nur zugleich mit dem Sprach- 
verständnis zu entwickeln. Umgekehrt entnimmt der Sprach- 
unterricht seinen Stoff allem sonstigen Unterricht. Er bringt 
also die natürlichste und nächstliegende „Konzentration“ des 
gesamten Unterrichts zuwege, und hat zu solcher gedient, 
lange bevor dies Schlagwort der Herbartianer geprägt war, 
und vielleicht in einem schlichteren und wahreren Sinne, als 
Ln dem dies Schlagwort oft gebraucht worden ist. Durch 
diesen universalen Charakter eignet sich der sprachliche Unter- 
richt dann auch zur Anknüpfung vieles Sachlichen, das nicht 
in eigenen Fächern vertreten ist, so auch der philosophischen 
oder zur Philosophie wenigstens vorbereitenden Elemente, die 
schon im Unterricht der mittleren Stufe ihre Stelle haben; 
wovon weiterhin noch zu reden sein wird. 

Vorzüglich aber bildet die Sprache den natürlichen Kon- 
zontrationspunkt alles aufs Kulturgebiet und folglich auf das 
Gebiet der Geschichte bezüglichen Unterrichts. Doch wäre 
es falsch, sie darum ganz dem Gesichtspunkte der geschicht- 
lichen Bildung zu unterstellen, wozu hier und da eine Neigung 
sich verrät. Die Sprache ist ein historisches Produkt und eines 
der wichtigsten; sie ist andrerseits der Träger aller oder fast 
aller geschichtlichen Überlieferung. Allein sie ist noch etwas 
mehr als bloß ein Medium und wiederum ein Gegenstand der 
Überlieferung; sie ist über das alles und vor dem allen der 
unmittelbare Träger des gegenwärtigsten, und wiederum 
des zeit- und geschichtslosesten Inhalts des menschlichen 
Bewußtseins. Sie enthält, wiewohl unabgesondert, Elemente 
Fein rationaler Ordnung; logische, ethische, ästhetische; und 
diese nicht bloß als geschichtlich überkommene, sondern voll- 
kommen so, wie wir dies alles überhaupt geistig besitzen. 
Denn man besitzt und beherrscht geistig nur, was man aus- 
sprechen, was man wenigstens in Gedanken, in der Fiktion 
(s. 0 . S. 90) mitteilen kann. 



315 


Der Mensch ist Produkt seiner Vergangenheit, aber er ist 
auch Erzeuger seiner Zukunft, ln aller eigentlich produktiv 
geistigen Tätigkeit steht er seinem Gegenstand, dessen Schöpfer 
er sich weiß, gegenüber, fast als ob es keine Vergangenheit gäbe. 
Vielleicht wendet man ein, wenigstens das Kind habe vorerst 
nur reproduktiv den Erkenntniserwerb der Vergangenheit 
sich zu eigen zu machen. Aber im Gegenteil, gerade die 
ungeschichtliche Haltung ist die naive, also dem Kinde an* 
gemessenste. Geschichts Verständnis setzt eine lange vorher- 
gegangene, sozusagen geschichtslose Entwicklung voraus. Erst 
der schon weit Entwickelte kann sich die Aufgabf; stellen, 
etwas von dieser seiner eigenen Entwicklung rückwärts 
blickend zu verstehen. Es ist also das Kind zwar zu bilden 
durch Überliefertes, aber die Reproduktion des Überlieferten 
wird um so reiner und tiefer sein, je mehr sie sich der voll- 
kom^mon ungescbichtlichen Produktion nähert. So ist es im 
Mathematik- Unterricht doch das Ideal seit Platos Mono, wo- 
möglich nichts als die Zeichen zu überliefern, alles Sachliche 
den Zögling selber finden zu lassen, also überhaupt nicht 
mehr mitzuteilen, als nötig oder nützlich ist, um zum Selber- 
finden anzuregen. So ist alles Dichterische zwar zu überliefern, 
doch so, daß es so wenig wie möglich als bloß Überliefertes 
wirkt, sondern als so sehr wie nur möglich Erlebtes. Dasselbe 
gilt von allem, was von freierer Reflexion, als „Aufsatz“, erst 
mitgeteilt, dann dtun Mitgeteilten nachgeschaffen wird; der 
Aufsatz soll Übung im Selbstdenken uiid produktiver Darstel- 
lung, nicht bloß verständnisvolle Reproduktion sein. Das 
alles reimt sich schlecht mit der weit verbreiteten Ansicht, die 
den sprachlichen Unterricht dem geschichtlichen geradezu 
einordnet. 

Vielmehr sehen wir in der Weckung geschichtlichen 
Verständnisses eine ganz eigene und bedeutungsvolle Aufgabe 
besonders des höheren Unterrichts. Es ist doch einmal die 
große Errungenschaft unseres klassischen Zeitalters diese Ein- 
sicht, daß es eine höhere Stufe des Menschenbewußtseins ist, 
die es zur Höhe geschichtlicher Erkenntnis, zum Menschheits- 
bewußtsein erhebt. Das ist fortan ein nicht wieder preiszu- 



316 


gebendes Stück der „allgemeinen“, d. h. keine der wesentlichen 
Seiten des Menschentums vernachlässigenden Bildung. Auch 
ist es gewiß, daß die Höhe des sittlichen Bewußtseins völlig 
erst auf dieser Grundlage erreicht wird. 

Dagegen kann ich es weder als richtig erkennen, die 
ethische Wirkung des Unterrichts mit der Ausschließlichkeit^ 
wie es von Seiten der Herbartianer mitunter geschehen ist, 
auf das geschichtliche Element zu stützen, noch darf umge- 
kehrt der Geschichtsunterricht unmittelbar oder ausschließlich 
als „Gesinnungsunterricht“ aufgefaßt werden. Es darf auf 
keine Weise verdunkelt werden, daß der geschichtliche wie 
jeder andere Unterricht z u nächst rein intellektuellen Charakter 
trägt. Geschichte kommt von Geschehen; zwar fällt bei 
weitem nicht alles Geschehen in ihren Bereich, sondern nur 
das von Menschen ausgehende und die gemeinen Interessen 
menschheitlicher Kultur von irgend einer Seite wenigstens 
indirekt berührende (vgl. oben S. 191), dieses aber doch 
zunächst als Geschehen in der Zeit und hinsichtlich seiner 
zeitlichen Bedingtheit. Nun läßt sich aber kein einzelne.s 
Geschehen vom Gesamtgeschehen, keine Kausalität eines ein- 
zelnen Geschehens von der Totalität der Verursachungen, also 
der Natur, wirklich ablösen. In der Geschichtsforschung ist 
auch diese Einheit tatsächlich mehr und mehr zur Anerken- 
nung gelangt; aber den Pädagogen scheint sie vielfach noch 
recht fern zu liegen. Es verschwindet in den Ausführungen 
über die Pädagogik des Geschichtsunterrichts oft gänzlich, daß 
es in der Geschichte überhaupt etwas zu verstehen gibt. 
Man erzählt und läßt wiedererzählen. Zwar sollen es ohne 
Zweifel geschehene Tatsachen sein, die man erzählt, auch 
bemüht man sich wohl in der Erzählung etwas von ursächlichem 
Zusammenhang der Tatsachen wenigstens ahnen zu lassen. 
Aber daß beides, die Tatsachen und der ursächliche Zu- 
sammenhang, erst erforscht, erst festgestellt zu werden 
nötig hat, davon empfängt der Schüler fast keinen Eindruck; 
während in den Naturwissenschaften, vollends in der Mathe- 
matik doch allgemein anerkannt wird, daß der wenn noch so 
begrenzte Einblick in die Erforschung der Tatsachen und 



317 


gesetzlichen Zusammenhänge, nicht die Mitteilung davon und 
deren gläubige Hinnahme, das eigentlich Bildende des Unter- 
richts ausmacht. Muß es sich ricat in der Geschichte, sofern 
es darin Tatsachen und Gesetzlichkeiten von Tatsachen zu 
erkennen gibt, genau so verhalten? 

Historie heißt in herrschender Bedeutung Erforschung und 
nicht Erzählung; die heute bei uns einflußreichste pädagogische 
Richtung scheint sie ausschließlich als Erzählung und ganz 
und gar nicht als Erforschung zu verstehen. Nach Willmann 
z. B, hätte der Geschichtsunterricht ausdrücklich ,, seinen 
Schwerpunkt in der epischen Seite zu soeben*'; das schließt 
den Gesichtspunkt der Erforschung geradezu aus; denn Epik 
und Erforschung vertragen sich nicht. Epik ist ein ästhe- 
tischer Begriff, sie ist Sache des freien Spiel j der Phantasie, 
nicht der Arbeit des Verstandes. Aber auch Hermann Schiller 
— selbst Geschichtsforscher — betont zwar die Wichtigkeit 
der Erkenntnis ursächlicher Zusammenhänge, aber nur desto 
mehr ist man verwundert zu finden, daß auch er eine andre 
Methode des Geschichtsunterrichts als erzählende Mitteilung 
nicht zu kennen scheint. Man empfindet also nicht, wie be- 
denklich in jeder erzieherischen, sowohl intellektuellen wie 
ethischen Rücksicht ein Unterricht ist, der dem Schüler durch 
einfache ]^itteilung Begriffe und zwar von der größten, 
erdenklich «-schwierigsten Sache, vom Werdegang und innern 
Zusammenhang der Entwicklung der Völker und schließlich 
der Menschheit, zu überliefern vorgibt; Begriffe, von denen 
die tiefsten Forscher mit Schmerz bekennen, daß sie sie nicht 
besitzen. Man fühlt also nicht die gefährliche (objektive) Un- 
wahrheit, deren man sich durch solchen Unterricht schuldig 
macht. Ich meinerseits kann nicht verschweigen, daß ich sie 
als Schuljunge bereits empfunden habe, und dann immer mehr. 
Wer sie je empfunden hat, kann nur den niederschlagendsten 
Eindruck davon erhalten, wenn bei dieser Lage auch noch ein 
starkes und anscheinend erfolgreiches Bestreben besteht, sozu- 
sagen den ganzen Schulunterricht in Geschichtsunterricht, 
d. h. in ein einziges Vorerzählen und Nacherzählen zu ver- 
wandeln. Die Preußischen Lehrpläne für die höheren Schulen 



318 


vom Jahre 1891 konnten dafür als ein nur zu konkretes Beleg- 
stück gelten. Da wurde besonders der ganze Sprachunterricht 
mit geschichtlichen Stoffen einschließlich der Sage, die unter 
dem Gesichtspunkt der Epik ja ganz natürlich mit der Ge- 
,|Chichte in eine Linie rückt, förmlich vollgepfropft, und auch 
Tür das, was von nicht unmittelbar geschichtlichen, besonders 
dichterischen und rhetorischen Stoffen zugelassen wurde, eine 
ausschließlich oder doch in erster Linie geschichtliche Be- 
handlungsweise direkt vorgeschrieben; während die Grammatik 
und die Übersetzung namentlich in fremde Sprache, die eine 
unyerächtliche Übung in eigener Denkarbeit jedenfalls ein- 
schließen, bedenklich verkürzt und auch irgend ein Ersatz 
dafür in verstärktem mathematisch-naturwissenschaftlichem 
Unterricht bekanntlich nicht geleistet wurde; gerade als ob 
bis dahin in den Schulen an Gedächtnisarbeit empfindlicher 
Mangel, an eigener Denktätigkeit gefährlicher Überfluß ge- 
wesen wäre. Wie hat man auf solche Abwege nur geraten 
können? Man wird nicht fehlgehen, wenn man der Rede vom 
,,erzieh(‘nden Unterricht“, vom geschichtlichen als dem 
zentralen „Gesinnmigsunterricht“ wenigstens einen Teil der 
Schuld beimißt. Die Phrasen von den „ethischen“ Unter- 
richtsstoffen oder Lehrgegenständen usw. sind seit diesen 
Lehrplänen offiziell geworden; es sollte der gesamte Unter- 
richt von „ethischem und geschichtlichem“ Geiste — was für 
diesen Standpunkt sich einfach deckt — durchdrungen sein 
und dergleichen mehr. Zwar die ganz besondere politische 
und „soziale“ Tendenz, welche die genannten Lehrpläne dem 
Geschichtsunterricht anbefahlcn und gegen die die Geschichts- 
lehrer selbst sehr gegründeten Einspruch erhoben haben, 
konnte sich unter dem Deckmantel der Herbartschen Theorie 
ja wohl nicht zu verbergen versuchen ; das war Zeitstimmung und 
ist als solche, wie wir denken, heute längst „historisch“ ge- 
worden. Aber wenigstens die allgemeine Auffassung des 
Geschichtsunterrichts, welche jene „Lehrpläne“ vertraten, 
weicht doch nicht allzu weit von dem ab, was man auch in 
den gangbaren Lehrbüchern mancher Gymnasialpädagogen 
lesen kann; wie wenn es hieß, daß die Begeisterung des 



319 


Lehrers, die Lehrerpersönlichkeit, die voll nur im freien 
Vortrag zur Geltung komme, die lebenswarme Schilde- 
rung der vorgeführten Helden Ln Geschichtsunterricht „fast 
alles tue“. Also der aufrichtigexX Wahrheit der Sache, dem 
geduldigen Erarbeiten de' Begriffe verbleibt so gut wie nichts 1 
Dagegen war mit allem Nachdruck zu betonen, daß es im 
geschichtlichen wie in jedem andern Unterricht auf Sachlich- 
keit zuerst und zuletzt ankomrnt, die durch jedes Vordrängen 
der Persönlichkeit des Lehrers nur Schaden leiden kann; daß 
Wahrheit zuerst zu fordern ist und nur auf ihrem Grunde Be- 
geisterung natürlich erwachsen soll, deren an sich die äußerste 
Torheit fast geradeso fähig ist ; daß klare Begriffe, gegründetes 
Urteil das Ziel des Unterrichts sein müssen und erst sehr in 
zweiter Linie die eindrucksvolle Schilderung rtehen darf; daß 
es mit einem Wort auf „Vernunft und rechten Sinn“ zuerst 
und schließlich allein ankommt, und nicht auf den „Vortrag“, 
der „des Redners Glück“ ist.*) Auch abgesehen von allem 
„Ethischen“ ist Erzählung, Schilderung, Vortrag einmal nicht 
der Erkenntnisweg für geschichtliche Wahrheit, ganz so wenig 
wie für irgend welche andere. 

Der notwendige Kampf gegen diese gefährliche Zeitkrank- 
heit soll uns indessen nicht dagegen verblenden, — was von 
andern Seiten wieder verkannt wird, — daß doch dem Ge- 
schichtsunterricht eine hohe Bedeutung gerade in ethischer 
Hinsicht zukommt. Geschichte ist nach einer Seite Kausal- 
forschung, und diese Seite bedurfte, weitgehender Verkennung 
gegenüber, einer nachdrücklichen Hervorhebung. Allein Ge- 
schichte steht andererseits unter dem Zeichen der Idee und 
zwar zuletzt der sittlichen Idee. Geschichte kann schließlich 
nicht anders als auf sittlichem Grunde begriffen werden, wie 

*) Diese Erinnerungen, zu denen die „Lehrpläne und Lehraufgaben“ 
von 1891 nur zu dringenden Anlaß gaben, scheinen auch noch heute nicht 
ganz überflüssig; denn die bis heute geltenden Lehrpläne (von 1901) wieder- 
holen, was die hier in Rede stehenden Fragen betrifft, mit nur geringer Ab- 
schwächuiig die alten lAdiler. Daß ich mich in der Rüge dieser Fehler 
übrigens mit manchen tüchtigen Gymnasialpädagogen (so besonders mit 
O. Jäger, Aus der Praxis) in ungesuchter Übereinstimmung befinde, braucht 
Kundigen nicht erst gesagt zu werden. 



320 


konkrete Sittlichkeit nicht anders als auf geschichtlichem 
Grunde; das erkennen wir ganz an. 

Geschichte, sagten wir, sei so viel als möglich natura- 
listisch zu begreifen. Der Mensch und die Menschheit sind, 
insofern es sich um Kausalität handelt, nach Spinoza nicht 
„Staat im Staate**, sondern in der Einheit der „Natur“ mit- 
begriffen. Allein Geschichte der Menschheit kann nicht bloß 
naturalistisch begriffen werden. Denn zwischen Mensch und 
Mensch, Mensch und Volk, Volk und Volk, und schließlich 
zwischen beiden und der Menschheit bestehen noch andre als 
bloß Kausalbeziehungen, nämlich Willensbeziehungen, folglich 
Ideenbezüge. Solche können nur begriffen werden, indem man 
sich selbst in ihnen begriffen erkennt, ja sie selber mit dem 
Willen ergreift; also überhaupt nicht durch bloß theoretische, 
sondern durch eine selbst praktische, nämlich ethische Er- 
kenntnis. Es möchte an sich ein reines Naturgesetz mensch- 
lichen Bedürfens, ja ein biologisches Gesetz sein, welches die 
geschichtliche ebenso wie die naturhistorische Entwicklung 
determiniert. Aber die geschichtliche Erkenntnis braucht 
auf diese auch heute noch sehr nebelhafte, von erträglicher 
Verifikation unermeßlich weit entfernte Einsicht zum Glück 
nicht zu warten. Die Notwendigkeit der geschichtlichen 
Entwicklung in ihren durchgehenden Grundzügen stellt sich 
im Bewußtsein des in dieser Entwicklung selbst begriffenen 
Menschen weit unmittelbarer und mit sicherster Überzeugungs- 
kraft fest zufolge des Gesetzes der Idee, zufolge jenes Grund- 
gesetzes der Kontinuität des Bewußtseins, welches, der Er- 
fahrung im theoretischen Sinn weit vorausgreifend, jede als 
möglich sich auftuende Fortschreitung in der, der beherrschen- 
den Idee gemäß voraus zu bestimmenden Linie der Ent- 
wicklung auch als sein sollend, mithin zugleich als Objekt des 
Willens aufstellt. 

So besteht schon die Familie, die Grundlage aller konkret 
sittlichen Beziehungen unter Menschen, die Grundlage zugleich 
aller der Gestaltungen menschlichen Gemeinlebens, deren Ent- 
wicklung das eigentlichste Objekt der Geschichte ist, im Be- 
wußtsein ihrer Glieder nicht nur als Seiendes sondern als Sein- 



32i 


sollendes; nur damit hat sie eine Geschichte d. i. eine 
durch die Idee zur Einheit zusammengeschlossene Folge 
gemeinschaftlicher Erlebnisse. Jn derselben Weise besteht ein 
Volk; denn nicht die Rasseiigemeinsclia/t, nicht der bloße 
Zwang gemeinsamer Not, die es auf Zeit zum Zusammenstehen 
und wechselseitiger Hilfeleistung zwingt, macht schon ein Volk 
aus; selbst die ungleich tiefer gegründete Gemeinschaft der 
Sprache, der Sitten und des Rechts würde, isoliert genommen, 
zur Begründung der Volksgemeinschaft nicht ausreichen; 
sondern erst die Gesamtheit innerer, von Bewußtsein zu Be- 
wußtsein reichender Beziehungen, die sich in der zeerst viel- 
leicht nur erzwungenen, faktisch bestehenden Lebensgemein- 
schaft dann immer reicher und innerlicher knüpfen: erst eine 
Gemeinsamkeit von Erlebnissen, in der man sich der 
inneren Zusammengehörigkeit bewußt wurde, gründet eigent- 
lich die Volksgemeinschaft, als etwas, das nicht sowohl gegeben 
als gefordert, als Forderung aber, als Idee niemals wieder auf- 
zugeben sei; und schafft damit zugleich den Begriff einer 
gemeinschaftlichen Geschichte. Umgekehrt also: indem eine 
menschliche Gemeinschaft in diesem Sinne eine Geschichte d. h. 
eine in ideeller Einheit begriffene Folge gemeinschaftlicher 
Erlebnisse hat, indem sie sich selber, nämlich die Idee, die sie 
sich davon macht, was sie sein sollte, als den wahren Inhalt 
dieser Geschichte zu erleben glaubt, besteht sie als konkret 
sittliche Gemeinschaft. 

Geschichtserfahrung also ist unmittelbar sittliche Erfah- 
rung, und als solche gründlich verschieden von Erfahrung im 
bloß theoretischen Sinne, der sie, ohne diesen hinzukommenden 
Grund, d. h. bloß als Geschehen in der Zeit betrachtet, sich 
restlos ein- und unterordnen müßte. Der gemeinsame Begriff 
der Erfahrung ist nur, daß Vergangenes im Bewußtsein fest- 
gehalten wird, und aus der Verknüpfung, die es in ihm mit 
allem so Vergegenwärtigten bis zum direkt Gegenwärtigen 
eingehen muß, der Begriff eines einheitlichen Objekts sich 
herausarbeitet, das als vom zeitlichen Wechsel unabhängig, 
'in ihm identisch bestehend erkannt wird. Allein dies Objekt 
wrd in der bloß theoretischen Erfahrung konstituiert durch 

Natorp, Sofialpildagogik. 4. Aufl, 21 



322 


die bloße Gesetzmäßigkeit des tatsächlichen Geschehens, in 
der praktischen durch die Erkenntnis einer Einheit der 
Tendenz, die als nicht bloß der Erfahrung gemäß bestehend, 
sondern, unabhängig von diesem erfahrungsmäßigen Bestand, 
bestehen sollend gedacht wird. 

' Der Zusammenhang des Geschichtlichen mit dem Sitt- 
lichen ist nach dieser Auffassung wahrlich eng und zwingend 
genug. Man hat also nicht darin geirrt, daß man von der 
Weckung des geschichtlichen Bewußtseins eine ethische 
Wirkung erwartete, die auf keinem andern Wege zu erreichen 
und doch unumgänglich notwendig sei allermindestens für die, 
denen an der Leitung des Volks irgend ein Maß von Anteil 
künftig zufallen soll. Allein es hat hierbei zumeist an der hier 
alles entscheidenden Einsicht gefehlt, daß diese Wirkung ih 
der Geschichte zunächst nur liegt, sofern sie erlebt, nicht, 
sofern sie bloß erzählt wird. Gewiß wird das Erlebte natur- 
gemäß streben sich auch durch Erzählung zu befestigen, um 
so in unvergeßlichem Gedächtnis fortzuwirken. Allein die 
Erzählung, auch wenn vertieft zur ernsteren Erforschung, ver- 
liert alsbald alle Kraft der sittlichen Wirkung, wenn sie nicht 
ihre überzeugende Bestätigung findet in den ferneren, unmittel- 
baren Erlebnissen der Gemeinschaft. Daraus ergibt sich di^ 
sehr ernste Folge, daß die sittliche Wirkung, die man dem 
Geschichtsunterricht zutraut, eine gesunde sittliche Ver- 
fassung der Gemeinschaft selbst, die in ihm ihre Geschichte 
dem in sie hineinwachsenden Geschlecht erzählt, zur Voraus- 
Setzung hat; eine Voraussetzung, die zu ersetzen der Unter- 
richt — zumal der bloß erzählende — bei weitem zu schwach ist. 

Sagt also Herbart, an sich unanfechtbar, daß der Unter- 
richt, wie im Theoretischen die „Erfahrung“, so im Prak- 
tischen den „Umgang“ (welchen etwas matten Ausdruck wir 
durch den gehaltvolleren Begriff der Gemeinschaft ersetzen 
würden) ergänzen müsse, so verfehlt er selbst nicht sich den Ein- 
wurf zu machen: es sei, wenn der Unterricht Erfahrung und 
Umgang ersetzen müßte, „als ob man des Tages ent- 
behren und sich mit Kerzenlicht begnügei^ 
sollte“; ein Einwurf, der in seinen weiteren Erörterungen 



323 


durch nichts entkräftet wird. Die Unmöglichkeit, das, was 
das Leben selbst vermissen Icßi, im Unterricht durch poe- 
tische Darstellung zu ersetzen, läßt sich nicht einmal 
vergleichen mit dem Abstand zwischen Tages- und Kerzenlicht; 
es ist ein Unterschied der Art und nicht nur des Grades. Was 
man m noch so lebendiger Phantasie durchmacht, erlebt man 
nicht im gleichen Sinne wie das, was man als wahr und wirk- 
lich zu schmecken bekommt; man weiß einmal, es geht nicht 
an "den Hals. 

^ Also der Geschichtsunterricht vernmg das, was von 
Ethischer Wirkung überhaupt in seinem Bereich liegt, nur auf 
dem Grunde eines wahren Gemeinschaftslebens 
zu leisten. Wäre diese Bedingung voraus erfüllt, so würde cs ihm 
dann an der Begeisterung und Lebenswärme von selbst nicht 
fehlen, die man ihm jetzt vergeblich vom grünen Tisch ver- 
hör dnet. Sie wmrde dann unmittelbar aus der Sache fließen, der 
reifere Schüler wenigstens würde, wenn vom Volkstum die 
Rede ist, sich von Haus aus auf vertrautem und liebem, heimi- 
sphem Boden finden. Es würde zugleich in ganz anderem Maße 
die erziehende Wirkung zur Geltung kommen und auch für 
den Geschichtsunterricht sich fruchtbar machen lassen, welche 
iiifi Leben der Schule selbst, als einer eigenen Form der 
Gemeinschaft in der Mitte zwischen Familien- und Volks- 
gemeinschaft, liegt. Gemeinsame Leibesübung, besonders 
Waffendienst, Wettspiede, Festfeiern, alles würde in einer und 
derselben Richtung wirken, und so von früh an ein Sinn und 
Verständnis der Volksgemeinschaft im Leben des Zöglings 
selbst und allem, was vom Leben des Volks ihm nach und nach 
auffaßbar wird, sich gründen, auf den dann der Geschichts- 
unterricht ohne weiteres rechnen und daraus seine beste Kraft 
ziehen würde. Seine eigentümliche Leistung übrigens 
bliebe auch dann, dem Erlebnis den Begriff hinzuzufügen 
und ihm dadurch eine noch dauerndere und allgemeinere Wir- 
kung, die auch störenden Gegeneinflüssen gegenüber stand- 
^l^lt, zu sichern. Diese Wirkung ist nun begreiflich; 
aJier sie ist es nicht ebenso ohne die genannten Voraus- 
setzungen. 


21 * 



324 


Welches sind denn nun die zu erarbeitenden Begriffe? Es 
können nur sein die Grundbegriffe der Soziologie; die Begriffe, 
welche die beiden großen Gebiete der Wirtschaft und des 
Rechts beherrschen; weiterhin die Begriffe der höheren, 
geistigen Kultur. Die allgemeine pädagogische Forderung, 
den Unterricht an Erfahrung, die praktische Lehre insbesondere 
an die praktische Erfahrung, an die „Übung“ anzuschließen und 
auf ihr sich aufbauen zu lassen, wäre unter den gedachten 
Voraussetzungen erfüllt. Der erste Grund wäre gelegt in der 
Familiengemeinschaft, in der Schulgemeinschaft, und in allem,, 
was von der bürgerlichen Gemeinschaft schon dem Heran- 
wachsenden unmittelbar nahe tritt oder doch so bevorsteht, 
daß er nicht wohl umhin kann, sein Interesse schon voraus 
darauf zu lenken; dahin gehört besonders der Waffendienst. 
Weiter kommt es dann an auf die Erweiterung des so zuerst 
gegründeten Erfahrungskreises gleichsam in die Breite, nämlich 
von engeren zu weiteren und weiteren Formen der Gemein- 
schaft, und dann in die Tiefe der Vergangenheit zurück. Das 
Erste führt auf Soziologie im engeren und eigentlichen Sinne, 
das Zweite auf Geschichte selbst; deren keines aber ohne das 
andre bestehen kann. Denn Soziologie ist nicht rein rational, 
sondern auf historischem Grunde konkret zu entwickeln; um- 
gekehrt bedarf Geschichte, wenn überhaupt etwas dabei ver- 
standen werden soll, klarer Begriffe des Objekts, nach 
dessen Geschichte die Frage ist, nämlich der mancherlei 
Richtungen und Besonderungen jener Art von Gemeinschaft, 
welche ein Volk ausmacht, und weiter der Gemeinschaft der 
Völker in einer Kulturwelt, die der Idee nach die ganze Mensch- 
heit umfaßt. 

Daß im Zentrum des Geschichtsunterrichts die Geschichte 
des eigenen Volkes stehen muß, folgt jetzt so unmittelbar und 
zwingend und ohne jede außersachliche Stütze, wie man aus 
andern als diesen Voraussetzungen es wohl nicht hat begründen 
können. Es folgt aber ebenso sicher, daß als letztes Ziel die 
menschheitliche Kultur, also auch die Mitarbeit aller an ihrer 
Förderung beteiligten Nationen, nicht aus den Augen ver- 
loren werden darf. Dürfte man nicht die Überzeugung hegen 



325 


von einem eigenen Anteil, der unsrer Nation vor andern an 
den Kulturaufgaben der Menschheit zugefallen ist, so wüßte 
ich nicht, was den unvergleichlichen Wert, den wir dem Vater- 
land und dem eigenen Volkstum beilegen sollen, eigentlich 
rechtfertigte. 

Aus diesem allen ergibt sich nun, was das Verfahren 
des Geschichtsunterrichts betrifft, e»ne Folgerung, die von der 
bis jetzt in der Praxis vorherrschenden Auffassung ziemlich weit 
abliegt; daß nämlich jene sittliche Wirkung, die man dem sozio- 
logisch-historischen Unterricht mit gutem Grunde aufgibt, auf 
gar keinen besonderen hinzukommenden Mitteln, 
sondern genau auf denselben Faktoren beruht, welche den Wert 
dieses Unterrichts für die Bildung des Intellekts begründen. 
Das Verfahren des Unterrichts in Absicht auf dessen sittliche 
Wirkung braucht ganz und gar kein andres zu sein und kann 
und soll kein andres sein, als welches auch in bloß verstand- 
bildender Absicht gefordert ist. Auch die Zurückbeziehung 
der begrifflichen Lehre auf die Erfahrung des Lebens in der 
Gemeinschaft, die wir betonen, ist genau so in verstandbildender 
Absicht, als Anknüpfung des Unterrichts an die Erfahrung, 
erforderlich; ohne das würden die Begriffe selbst nicht in wirk* 
liehen Besitz gebracht werden. 

Die Meinung von einer besonderen, eigentümlichen Ver- 
tretung, die der ethische Faktor im Geschichtsunterricht 
fordere, ist demnach, wie ich glaube, rundweg aufzugeben. Der 
Geschichtslehrer findet sich fortan nicht mehr in der Verlegen- 
heit, eine Art politischer und sozialer Seelsorge an seinen Zög- 
lingen verrichten zu sollen. Er weiß vielmehr, daß er sein 
Bestes auch in sittlicher Absicht wirkt durch Treue gegen 
die Sache, ernstes Besinnen, unbestochene Wahr- 
heitsliebe. Das absichtliche Betonen der „Gesinnung“ 
stumpft den Sinn dafür eher ab oder verführt geradeswegs zu Un- 
wahrheit, Auch ist es eine Täuschung, daß man den Heran- 
wachsenden damit am sichersten gewinne. Der gesunde Knabe 
ist, wie schon öfter bemerkt, ziemlich kühler Rationalist; er ist 
nicht fühllos, aber zu keusch in seinem Gefühl, um es gern 
zur Schau zu tragen, oder seinen Ausbruch beim Andern, zu- 



326 


mal beim gesetzten Manne, sonderlich schön zu finden. Über 
einen Lehrer zumal, den er nicht anders als in erregtem Pathos 
auf sich einreden hört, wird er sich im stillen lustig machen, 
jedenfalls ungerührt bleiben und in seinem Gleichmut sich 
ihm eigentlich überlegen fühlen. Aber auch was im Jüngling 
die tiefste, nachhaltigste Begeisterung weckt, ist nicht der 
Prediger- und Seelsorgerton, sondern es sind die ersten auf- 
dämmernden Ahnungen von der Größe einer Sache, es ist 
die in ihrer Neuheit doppelt überwältigende Erfahrung jener 
mächtigen Erweiterung der Seele, die aus der in tiefgründiger, 
weit ausblickonder Erkenntnis erfaßten Bedeutung des 
Gegenstandes fließt. Der Lehrer, der weiß, daß auch ein 
klares, reines, dauerhaftes Gefühl für eine Sache nur auf dem 
Grunde sicherer Einsicht erwachsen kann, und der nun die 
ernste Schwierigkeit vor Augen sieht, diese gerade dem erreg- 
baren, innerlich stark beschäftigten, nach Besinnung erst 
mühsam ringenden Jünglingsalter einzupflanzen, wird, glaube 
ich, vor den kleinen Mitteln der Gefühlserregung, vor all dem 
Pathos, das man ihm zumutet, eher zurückscheuen, und sich 
fort und fort den unschätzbaren Rat gegenwärtig halten : 
Such er den redlichen Gewinn I Sei er kein schellenlauter Tor! 

Ein Einwand liegt nahe: der Geschichtsbetrieb, den wir 
fordern, sei zu hoch für das Schulalter. Darauf ist zu ant- 
worten: es ist hier nicht an das Schulalter allein gedacht. 
Wir stimmen der runden Erklärung Willmanns ganz zu: „Ge- 
schichte ist keine Schulwissenschaft“. Wohl aber 
liegt es in der Kompetenz der Schule, ein ernstes Verlangen 
nach geschichtlicher Einsicht zu wecken und eine geeignete 
Vorbereitung dazu zu bieten. 

Ich leugne, daß sie das gegenwärtig durchweg tue. Ihr 
gepriesenes Mittel, die Epik, ist an sich nicht vorschulend 
zu irgend welchem Geschichtsverständnis. Denn auf Begriffe 
kommt es an; um aber historische Begriffe daran zu erarbeiten, 
sind epische ebenso wie dramatische Stoffe, auch wenn wirk- 
licher Geschichte entnommen, zugleich zu gut und zu schlecht ; 
zu gut, weil die begriffliche Analyse genau die epische oder 
dramatische, d. h. die ästhetische Wirkung zunichte macht; 



327 


zu schlecht, weil diese Analyse zu solchen Ergebnissen, die 
für ein wkliches Geschichtsverständnis zulangten, schwerlich 
führen könnte. Das würde gelten, wenn die Epik oder Dra- 
matik an sich die denkbar vollkommenste wäre; wie nun 
vollends, wenn der „freie Vortrag“ des Geschichtslehrers mit 
den seltenen Schöpfungen wirklieh dichterischer Kraft den 
lächerlichen Wettstreit aufnehmen müßte I Epik und Dramatik 
gehören in den Sprachunterricht, nicht in den Geschichts- 
unterricht. 

Die universalgeschichtliche Übersicht ireiJich, die dem 
kaum den Kinderschuhen Entwachsenen ^'inen Begriff vom 
geistigen Inhalt einiger Hunderte von Menschenaltern zu geben 
vorgibt, ist eben wegen des Betrüglichen dieses Vorgebens 
geradezu sittlich verwerflich. Ein chronologisches Gerüst ist 
zwar unentbehrlich, aber man gebe es auch bloß als Gerüst, 
ohne ethische oder ästhetische Zutat, trocken wie ein gramma- 
tisches Paradigma; es soll empfunden werden, daß es eben nicht 
der Bau ist, nicht einmal der Rohbau, sondern nur die allererste 
Zurüstung zu seiner sehr schwierigen und lang währenden 
Aufführung. 

Was bleibt also übrig, als der eigentliche Kern des Ge- 
schichtsunterrichts auf der mittleren Schule? Ich sehe nur 
eins: eine gründliche, bis zu den Quellen, wenigstens den 
zugänglicheren, nach Möglichkeit ursprünglichen Quellen 
gehende Einführung in eine oder einige wenige vorzüglich 
wichtige Perioden, wie z. B. auch Treitschke sie verlangt hat. 
Man legt wohl noch meist etwas übertriebenen Wert auf 
, klassische“ Geschichtsdarstellungen. Es ist Sache der Ge- 
schichtsforscher, zu beurteilen, ob, was man dafür ansieht, 
wirklich als Geschichtsdarstellung, und nicht unter dem 
Gesichtspunkt der Epik beurteilt, klassisch zu heißen verdient. 
Ein vom epischen Standpunkt gar nicht hervorragender, treu- 
herziger Bericht eines Augenzeugen, ein Brief, ja das trockenste 
Aktenstück kann „klassisch“ sein, sofern es lediglich auf den 
Zeugniswert ankommt. 

Auch ohne die gedachte Reform des historischen Unter- 
richts übrigens könnte ein tüchtiger Geschichtslehrer, neben 



328 


einem guten allgemeinen Einfluß seines Unterrichts, auf den 
einzelnen Begabteren und Strebsamen in der angedeuteten 
Richtung sehr wohl wirken. Bedenke ich, wie ich als 15 — 17- 
i&hriger über alles mir zugängliche Historische hergefallen bin, 
wie ich dem dankbar gewesen wäre, der mir damals für mich 
gangbare Wege darin gewiesen hätte, wie die sicher nicht halb 
verstandene Geschichtsphilosophie Hegels, die mir der Zufall 
in die Hände gab, mich doch allein dadurch mächtig ergriff, 
daß sie mir endlich, statt „Erzählung“, etwas von Begriff gab, 
so kann ich mir nicht denken, daß ein Unterricht, wie er mir 
vorschwebt, für diese Stufe etwa allgemein zu hoch wäre. 
Paßt er nur für eine Auswahl von Schülern, so biete man ihn 
wenigstens dieser Auswahl; aber man biete ihn, und man wird 
sie und sich selber befriedigen. 

Der Pflicht einer eigenen Kritik von Zillers Kultur- 
stufentheorie bin ich wohl überhoben durch die sehr zu- 
treffende Beurteilung, die E. v. Sallwürk*) dieser Theorie 
seinerzeit gewidmet hat. Zwischen dem Bildungsgang des 
Individuums und der Entwicklung der Gesamtkultür muß eine 
gewisse Übereinstimmung in großen und allgemeinen Zügen 
allerdings stattfinden. Das ideale Endziel ist eins und dasselbe, 
die Anfänge wenigstens vergleichbar, und der allgemeine Gang 
des Fortschritts, vom Einfacheren zum Komplizierteren in 
so viel als möglich stetigem Übergang, gilt, nach dem früher 
(§ 18) Bewiesenen, wie für jede Entwicklung, so namentlich 
für die menschliche, individuelle wie generelle Geistesent- 
wicklung. Aber schon der ungeheure Unterschied des Zeitmaßes 
schließt eine irgend genauere, ein wirkliches Verständnis er- 
öffnende Entsprechung offenbar aus. Hat man denn kein 
Gefühl für den Humor der Zumutung, daß das Kind in ein paar 
Jahren — neben so vielem andern, das es in derselben Zeit 
treibt — die Jahrtausende der Menschengeschichte „durch- 
leben“ soll? Auch sind doch alle Bedingungen im besondern 
auf beiden Seiten über die Maßen verschieden. Die Bildung des 
Individuums steht ganz innerhalb einer schon weit entfalteten 

*) Üesiimungsunterricht und Kulturgeschichte. Zur pädagogischen 
Kritik. Langensalza, Beyer. 1887. 



329 


menschlichen Kultur und erfährt vom allerersten Anfang an 
deren Einwirkungen. Schon die frühesten geistigen Errungen- 
schaften des Kindes sind von der es allenthalben umgebenden 
Kultur in einer Weise mitbestimmt, daß irgend eine Gleich- 
stellung mit dem Standpunkt des kulturlosen Menschen sehr 
bald sinnlos wird. Sodann ist der Fortschritt der Gesamt- 
kultu»* nichts weniger als geradlinig. Die Entwicklung des 
Kindes wird es auch nicht sein; aber wenigstens die Leitung 
des Kindes muß doch bemüht sein, es auf dem ebensten 
Wege vorwärts zu bringen. 

Das Einzige, was aus dem richtigen Grundgedanken für 
die Pädagogik Brauchbares mit leidlicher Sicherheit gefolgert 
werden kann, ist, daß unter den Denkmälern vergangener 
Kulturstufen wohl auch solche sich finden werden, die von 
typisch allgemeiner Bedeutung sind, nämlich rür jede normale 
geistige Entwicklung notwendig zu durchlaufende Stadien in 
vorbildlicher Weise zum Ausdruck zu bringen. Aber solche 
typische Darstellung ist im allgemeinen Sache der Poesie. In 
solchem Sinne wird man den besten Märchen, der schlichten 
unsatirischen Tierfabel, einer Auswahl alttestamentlicher, 
Homerischer Erzählungen, mit wenigem andern, einen typi- 
schen Wert gewiß zuerkennen. Es braucht keine Kulturstufen- 
theorie, um zu verstehen, daß darin kindliche, daher dem Kindes- 
verstand eingängliche Stadien geistiger Entwicklung typisch 
ausgeprägt sind. Aber eben indem man sie als Typen be- 
trachtet, hebt man sie schon aus geschichtlichem 
Zusammenhang heraus. Die pädagogische Wirkung z. B. 
des Märchens ist davon gänzlich unabhängig, ob es vor tausend 
oder vor manchen tausend Jahren entstanden oder vielleicht 
eine geglückte Nachbildung jüngsten Datums ist; ob es aus 
Altindien oder aus den Wäldern Germaniens oder sonst woher 
stammt. Es wirkt, eben als Typus, zeit- und geschichtslos. 
Es sind Geschichten, nicht Geschichte. Für Geschichte fragt 
sich’s immer: wann ist ’s geschehen, in welchem Zusammen-^ 
hang mit andern Ereignissen ; dem Märchen genügt das schlichte : 
Es war einmal. Die typische Betrachtung hört auf genau wo 
die historische beginnt. Die letztere fordert eine ungleich 



330 


größere Reife; diese warte man ruhig ab, und nähre das früh- 
zeitig hervortretende Verlangen zu erfahren, wie es vordem 
gewesen, einstweilen mit Erzählungen, in deren Behandlung 
der historische Gesichtspunkt sich mit dem der typischen 
Bedeutung erst ganz allmählich in einigem Maße verknüpfen 
mag. Das ist aber auch dann nicht Geschichtsunter- 
richt, es ist kaum auch nur Vorschule dazu, sondern es ordnet 
sich dem Sprachunterricht sachgemäß ein, der mit voller 
innerer Berechtigung sehr vieles aufnimmt, was sich zum 
besonderen Unterrichtsgegenstand nicht, nämlich für die be- 
treffende Stufe noch nicht eignet, aber in der freien Form des 
Lesestücks und der Darstellungsübung sich desto besser dem 
ganzen Lehrplan einfügt. Tritt dann endlich der eigentliche 
Geschichtsunterricht als etwas Neues hinzu, so findet er an 
dem, was als Erzählungsstoff schon bekannt ist, zwar eine will- 
kommene Anknüpfung, wird aber zugleich bemüht sein, die 
Eigenart historischer Betrachtungsweise in aller Strenge vom 
ersten Anfang an zu betonen. 

Alles in allem zeigt sich die ethische Wirkung des Unter- 
richts, so wie wir sie bis hierher ins Auge faßten, schon recht 
bedeutsam. Und doch war noch nicht die Rede von der Moral 
selbst als unmittelbarem Gegenstand des Unterrichts, noch 
von den ästhetischen Elementen des Unterrichts, noch von 
dem, was manchem wohl gar als allein ausreichend auch zur 
sittlichen Unterweisung erscheint, von der Religion. Das 
Urteil über alle diese Faktoren sittlicher Bildung aber hängt 
eng zusammen mit der Frage, wie weit Philosophie oder 
irgend eine direktere Vorbereitung zu ihr Gegenstand des 
Unterrichts überhaupt und besonders auf der Mittelstufe 
schulmäßiger Unterweisung sein kann und soll, und wie dieser 
Unterricht mit dem sonstigen, mathematisch-naturwissen- 
schaftlichen wie sprachlichen und geschichtlichen, in das rechte 
Verhältnis zu setzen sei. Man sieht aber schon voraus, daß 
diese Frage uns dann auch über die Mittelstufe hinaus und zum 
letzten Stadium der Bildung hinüberführen wird. 



331 


§ 31 . 

Übergang zur dritten Stufe. 
Philosophische Bestandteile des Unterrichts, 
insbesondere Ethik als I..ehrfach< 

Elemente, die entweder unmittelbar zur Philosophie ge- 
hören oder doch auf sie hinföbren, finden sich in allem, bisher 
betrachteten Unterricht verstreut. So ist die Mathematik 
nicht nur tatsächlich eine Schule logischen Denkens, sondern sie 
kann es auch kaum vermeiden, das Logische unmittelbar zum 
Ausdruck zu bringen, so in den Formen des Euklidischen Be- 
weisverfahrens. Nicht minder kommen die logischen Bestand- 
teile des Sprachunterrichts im Grammatischen und Rheto- 
rischen*) sachgemäß auch zu direkter Aussprache. Hier wie 
dort handelt es sich zwar nur um eine äußere Beschreibung 
des logischen Verfahrens, nicht um jene logische Elementar- 
lehre, von der erst Kants „transzendentale“ Logik den Begriff 
gegeben; diese stellt zugleich die Auflösung der alten „Meta- 
physik“ dar, die Auflösung nicht im Sinne der Aufhebung, 
sondern der Erfüllung, der wahreren Beantwortung ihres 
besser erkannten Problems. Aber selbst diese gründlicher 
verstandene Logik birgt sich, und verbirgt sich kaum, in den 
Elementen der Mathematik und mathematischen Naturwissen- 
schaft. Ein mathematischer Unterricht, wie ihn Max Simon**) 
beschreibt, würde sehr wirksam sein, den philosophischen Sinn 
nach dieser an erster Stelle wichtigen Seite zu erwecken; nur 
müßte er in gleichem Geiste durch die Elemente der Mechanik 
durchgeführt werden und zum guten Schluß wenigstens den 
Ausblick eröffnen auf eine mathematische Einheit der Natur- 
kräfte, wie sie seit Hertz und andern schon in bestimmteren 
Linien, ich sage nicht erkennbar, aber denkbar geworden ist. 

*) Vortreffliche Ausführungen hierüber bei E. L a a s. Der deutsche 
Aufsatz. 2. Aufl. Berlin 1877. Einl. S. 10 ff. 

♦*) Didaktik und Methodik des Rechnens und der Mathematik. In 
BauTieislers Handb. d, Erz- u, Unterrichtslehre f, höh. Schulen. München 
(2. Aufl.) 1908. 



Einen ganz direkten Ansatz zu ausdrücklichem Philoso- 
phieren bedeutet im Sprachunterricht die Lesung Platos, so^ 
wohl durch das Dialektische des Verfahrens als durch die An- 
regung zum Nachdenken über die Gründe des Sittlichen*); 
ferner die ästhetischen Arbeiten Lessings und Schillers und 
dessen philosophische Dichtungen. Wie aber auch die Ge- 
schichte, nach ihrer wiederholt hervorgehobenen Beziehung zur 
Idee, insbesondere zur Idee des Sittlichen, auf Philosophie 
notgedrungen hinführt, bedarf jetzt keiner besonderen Aus- 
führung mehr (vergl. übrigens S. 291. 295). 

Das ganze Bestreben der Philosophie ist gerichtet auf ein 
/vertieftes Selbstbewußtsein der Erkenntnis in theoretischer 
wie ethischer wie ästhetischer Richtung; auf Einsicht in die 
eigene Gesetzlichkeit jeder dieser ursprünglichen Gestaltungs- 
weisen des Bewußtseins, und damit auf die letzte Einheit, in 
der alle drei Zusammenhängen und Übereinstimmung mit- 
einander suchen müssen. Ist nun diese höchste Einheit die 
der Idee, die ihre unmittelbarste Herrschaft im Sittlichen übt^ 
so ist klar, von welchem Werte für die Vollendung der sitt- 
lichen Bildung der Fortschritt zur Philosophie sein muß. Für 
die Vollendung: denn daß sie nicht etwa ursprünglich den 
Grund zur Sittlichkeit zu legen hat, ist freilich gewiß. 

Daher würden wir von Anfang an zwar mißtrauisch sein 
gegen eine Pädagogik, welche den Schwerpunkt der sittlichen 
Erziehung in den ethischen Unterricht legen würde; 
allein wir sind darum nicht genötigt, den Gedanken eines eignen 
ethischen Unterrichts überhaupt zu verwerfen, sondern werden^ 
im Hinblick auf die Bedeutung des schließlichen Zieles, das 
ein solcher Unterricht sich stecken müßte: der philosophischen 
Einsicht in die Gründe des Sittlichen, auch alles, was erst 
von fern dazu vorzubereiten geeignet ist, nur aufrichtig will- 
kommen heißen. Daher mögen wir das Bestreben, einen organi- 
sierten Moralunterricht, wenn möglich, allgemein in die Schulen, 

♦) Auch hierüber (doch zu kurz) Laas II, 381 ff. Ich möchte be- 
sonderen Nachdruck legen auf gründliche Durcharbeitung des „Gorgias**. 
Vgl. „Was uns die Griechen sind“ (Akad. Festrede, Marburg 1901), S. 14 
nebst Anm. 4 (Philos. u. Päd. S. 338 f. 354). 



333 


selbst von der untersten Stufe an, einzuführen, nicht schelten ; 
auch meine frühere Polemik ♦) richtete sich zwar gegen über» 
triebene Hofinungen, die man für die Versittlich ung der Völker 
auf den Moralunterricht zu setzen schien, aber nicht gegen den 
Gedanken eines solchen Unterrichts überhaupt. Sittliche 
Lehre wirkt sozusagen nichts ohne die Grundlage sittlicher 
Lebensgemeinschaft: das war im damaligen Zusammenhang 
vorzüglich zu betonen ; aber wenigstens angedeutet wurde 
auch die Ergänzung hierzu: daß auf der Grundlage sittlicher 
Lebensgemeinschaft die sittliche Lehre das Ihrige zur Erziehung 
allerdings beitragen kann und soll.*) **) 

Von der sittlichen Lehre ist nun (§ 25) nach Form und 
Materie schon die Rede gewesen. In formaler Hinsicht müssen 
Geschichten und auf höherer Stufe Geschichte, in methodischem 
Anschluß an die eigene Erfahrung und Übung, die Grundlage 
bilden. Eine eigene Darstellungsweise, deren Erfordernisse 
erörtert wurden, muß diesen Stoff für die Zwecke der eigentlich 
sittlichen Lehre zubereiten; diese hat dann auf dem Woge ein- 
facher Induktion zu schlichten Sätzen fortzuschreiten, die sich 
ordnen nach Gesichtspunkten der Tugend- und Pflichtenlehre, 
oder besser noch einer vertieften Güterlehre, die beide in sich 
schließt. Indem wir diese das Allgemeine des Verfahrens 

*) Heligion etc., 2. Aufl. S. 65 ff. 

*♦) S. 66: „Also müßte vor allem andern ein sicherer Grund sittlichen 
Lebens gelegt sein; hernach würde es mit der sittlichen Lehre keine Not 
mehr haben; sie würde dann nur aussprechen und zu hellerem Bewußtsein 
bringen, wozu das Leben schon in jeden den Keim gelegt hätte.** Und 
S. 9: „Deswegen kann kein noch so hoch gegriffener sittlicher Unterricht, 
außer h i l f s w e i s e, für die sittliche Erziehung einstehe n.“ 
Etwas zu eng zwar heißt es dann weiter (S. 9): „Soweit Unterricht helfen 
kann, kann es nur eben der sein, der die Gemeinschaftsordnung ... als 
den wihren Quell der Sittlichkeit , . . erkennen lehrt,** nämlich der sozio- 
logisch-geschichtliche. Hier hätte auf die Ergänzung durch direkte mora- 
lische Reflexion bis zur philosophischen Ethik wenigstens hingedeutet wer- 
den können. Die Frage war aber im dortigen Zusammenhang, wie die sitt- 
liche Gesinnung ursprünglich gegründet werden könne ; dies 
liägt in der Tat außer der Kompetenz der abstrakten Sittenlehre; wogegen der 
soziologisch-historische Unterricht zur konkretesten Grundlage der Sittlich- 
keit, dem Leben der Gemeinschaft, eine ganz unmittelbare Beziehung hat. 



334 


betreffenden Festsetzungen im Sinne behalten, versuchen wir 
nun den normalen Stufengang der ethischen Unterweisung und 
zwar in seinem Verhältnis zu dem ganzen bisher dargelegten 
Gange der Erziehung und des Unterrichts in großen Zügen 
zu beschreiben. 

Die Kulturstufentheorie wagte den „Gesinnungsstoff“ 
zeitlich nach dem Schema der einfachen und abgeleiteten 
„Ideen“ Herbarts zu gliedern. Wir könnten dies Schema schon 
an sich nicht anerkennen*), es ist uns ersetzt durch das in 
Buch II entwickelte System der individuellen und sozialen 
Tugenden. Bedenklicher noch ist das Kunststück, durch 
welches aus den fünf ursprünglichen und fünf abgeleiteten 
Ideen nicht fünf oder zehn, sondern acht Stufen herausgerechnet 
wurden, in nur zu glücklichem Zusammentreffen mit den acht 
Schuljahren der derzeitigen preußischen Volksschule ; wobei nur 
(nach Sallwürks zutreffender Bemerkung) die schwierige Folge 
sich ergab, daß man, der Theorie zuliebe, „die Jugend jahre- 
lang über eine zerstückle Sittlichkeit meditieren“ lassen mußte. 
Verständiger stellt Felix Adler**) für die Stufe der Haus- 
erziehung in den Mittelpunkt die einzige Pflicht des Gehorsams, 
für die der Schulerziehung dagegen die Lernpflicht, als die eben 
diesen Stufen eigentümlichsten; nicht in der Meinung, auf irgend 
einer Stufe irgend eine der wesentlichen Tugenden ausschließen 
zu wollen, sondern nur, die einer jeden Stufe angemessenste 
„Konzentration“ hcrzustellen . Unsere Voraussetzungen führen 
auf eine dem nicht unähnliche Anordnung, die etwas von der 
(wenigstens angestrebten) schärferen Systematik des Herbart- 
schen Aufbaus retten möchte, ohne der uns längst feststehenden 
Überzeugung von der untrennbaren Zusammengehörigkeit der 
sämtlichen Grundtugenden untreu zu werden. 

Schon oben (§§ 26 — 28, vgl. 20 — 22) wurde ja zugrunde 
gelegt, daß die dritte unsrer individuellen Tugenden in beson- 
derer Weise der Stufe der Hauser Ziehung, die zweite der der 
Schulerziehung, die erste der der freien Selbsterziehung ange- 

*) Eine Kritik findet man in der Schrift „Herbart, Pestalozzi etc.“ 
2. Rede (Abh. I 229 ff.). 

•*) In der schon «itierten Schrift The moral Instruction of Children, 



— 335 — 

höre; nicht als ob jedem Alter ein Stück der ganzen Tugend 
luwachsen sollte; sondern alle haben Teil an der ganzen; aber 
für jede grenzt sich ein besonderer Kreis sittlicher Auf- 
gaben ab, und dieser Kreis bestimmt sich durch das Ver- 
walten, durch die Zentralstellung jo einer der Grund- 
tugenden, und zwar dieser in zugleich individualer und sozialer 
Bedeutung, so daß die vierte individuale Tugend und die 
Tugenden der Gemeinschaft nicht etwa auslallen. Es handelt 
sich, mit andern Worten, um den Aufbau einer und derselben 
sittlichen Welt im Geiste des werdenden Menschen nur auf 
verschiedenen Stufen, eben darum unter höheren und höheren 
Gesichtspunkten, Die Tugenden und der schließliche Grund 
ihrer Notwendigkeit, mithin auch der innere Zusammenhang 
der Tugenden ist für alle Stufen der individuellen und alle 
Zeitalter der menschlichen Entwicklung einer und derselbe; 
aber die sittliche Welt des Kindes, des unentwickelten Menschen 
überhaupt, ist gleichwohl eine andre als die des heranwachsen- 
den, des zum Verständnis der Organisation fortgeschrittenen 
Menschen, und diese wieder eine andre als die des bis zur Stufe 
der Freiheit entwickelten; oder richtiger, es ist eine und die- 
selbe Welt, aber anders und anders orientiert; nicht anders 
als von der sinnlichen Vorstellung der äußeren Welt ihre ge- 
setzliche Auffassung in den Wissenschaften, und von dieser die 
aus der kritischen Stellungnahme des Philosophen sich er- 
gebende erkenntnisgesetzlich begriffene Welt sich unterscheidet. 

Es wird demnach nicht so sehr der materiale Gehalt der 
sittlichen Lehre für die drei Stufen verschieden sein; nur daß 
auch darin ein Fortschritt vom Einfachsten und Nächstliegen- 
den zu weiteren und weiteren Kreisen stattfindet; aber dieser 
Fortschritt muß gleichsam konzentrisch geschehen, also immer 
in den voraus schon eingeschlagenen oder angedeuteten Rich- 
tungen bloß weiter gehen. Der wesentliche Unterschied liegt 
vielmehr in dem Gesichtspunkt, oder ganz konkret gesprochen, 
in der Motivierung des sittlichen Gebots. Für die erste 
Stufe stützt sich die Lehre (um einmal Kürze halber die alten 
Termini zu brauchen) auf sinnliche Motive, für die zweite auf 
verständige, für die dritte auf vernünftige. 



336 


Es ist richtig in der Ethik, daß sinnliche Motive nicht 
Sittlichkeit begründen; aber es bleibt darum nicht minder rich- 
tig in der Pädagogik, daß die Anfänge des Verhaltens, das in 
Absicht der Bildung zum Sittlichen vom Kinde gefordert werden 
muß, bloß sinnlicher Motive bedürfen und allein durch solche 
zu erzielen sind. Daher wird auch die sittliche Lehre für diese 
Stufe, die nur bestimmt ist, ein solches Verhalten auch von 
Seiten des Begriffs zu unterstützen, keine andern als sinnliche 
Motive geltend machen müssen. Das wäre freilich unverständ- 
lich, wenn Sittlichkeit und Sinnlichkeit sich aufhebende Gegen- 
sätze wären. Nachdem aber erkannt ist, daß es eine Tugend 
der Sinnlichkeit gibt, jene, welche wir als Reinheit oder 
Maß bezeichnen, ist es ganz verständlich, daß der erste Aufruf 
zur Tugend sich richten muß nicht an die Sinnlichkeit schlecht- 
weg, aber an die Tugend der Sinnlichkeit, um von dieser Seite 
her, zufolge des notwendigen Zusammenhanges der Tugenden, 
zur ganzen Sittlichkeit den ersten Grund zu legen. 

Ebenso wäre es in der Ethik verkehrt, auf den Grund der 
Willensdisziplin und dadurch zu erreichenden Höhe der Energie, 
der dem Knabenalter doch so einleuchtend ist, die Sittlichkeit 
etwa ganz und gar zu gründen; aber es bleibt darum nicht 
minder richtig in der Pädagogik, für die zweite Erziehungs- 
stufe dies Motiv, für das sie eben am zugänglichsten ist, voran- 
zustellen. Denn es gibt eine eigene Tugend der Willens- 
disziplin, die Tapferkeit, und es hat wohl Sinn, jetzt vor- 
zugsweise durch Weckung dieser Tugend auf das Ganze der 
Sittlichkeit hinzuarbeiten, unter Fcsthaltung und fortdauernder 
Pflege dessen, was von der sinnlichen Seite her schon auf der 
ersten Stufe gewonnen wurde. 

Das Letzte fügt dann die dritte Stufe hinzu, indem sie 
nun erst bis zum innersten Grunde des Sittlichen, zum Grunde 
der „Wahrheit** zurückgeht, und zeigt, wie in ihm alles bis 
dahin Gewonnene zugleich bestätigt und überboten wird. Die 
sittliche Lehre der ersten Stufe sagt also : Sei gut um der Rein- 
heit willen; die der zweiten: Sei gut um jener Selbstdisziplir 
willen, die der wahre Sinn der Tapferkeit ist; und erst die dei 
dritten: Sei gut allein um der Wahrheit willen. 



337 


Überall aber wird die Lehre dann nicht stehen bleiben 
bei einer bloß individuellen Fassung des Sittlichen, bei der 
Forderung, daß man für sich seit st gut sei; obgleich das ge- 
wiß das Erste ist, worum man zu sorgen hat. Sondern die 
Betrachtung muß sich .isbald erheben zur Vorstellung des 
Sittlichen als an sich wertvollen Guts, als des der gemeinsamen 
Hut anvertrauten Gutes der Gemeinschaft. Man soll gut 
sein nicht bloß um der eigenen Reinheit, sondern auch um der 
Reinerhaltung der Gemeinschaflsbeziehungen willen; man soll 
gut sein nicht bloß der eigenen Willensdisziplin wegen, sondern 
zur Erhaltung der Tugend der Gesetzlichkeit auch in der Ge- 
meinschaft; man soll gut sein nicht nur, um gegen aich ganz 
wahr zu bleiben, sondern an seinem Teil dazu bei zu tragen, 
daß das Leben der Gemeinschaft mehr und meb^ auf Wahrheits- 
grund stehe. Es soll also auf der ersten Stufe ein wenigstens 
gefühlsmäßiges Verständnis für die Reinheit des Hauslebens 
gegründet werden, wie es bei Kindern, z. B. älteren Ge- 
schwistern gegenüber den Jüngern, oft in hohem Maße schon 
entwickelt ist ; und so auf zweiter Stufe ein Sinn für die Organi- 
sation der Gemeinschaft, dessen natürliche Entfaltung im 
Knabenalter, als einfache Vorschule zur bürgerlichen Gemein- 
schaft, wiederholt hervorgehoben wurde; es muß nicht minder 
auf der dritten Stufe die Seele sich öffnen zum Verständnis der 
höchsten in der Idee aufstellbaren Art der Gemeinschaft, 
nämlich der autonomen. 

Wie nun solcher Absicht einerseits die ganze Lebensord- 
nung des Hauses, der Schule, der freien Gemeinschaft, andrer- 
seits der ganze Inhalt der sonstigen theoretischen Lehre auf 
denselben Stufen, mitsamt der Methode dieser Lehre, ent- 
spricht, ist zur Genüge ausgeführt worden. Daher bleibt der 
eigentümlich sittlichen Lehre nur übrig, aus dem allen gleich- 
sam das Facit zu ziehen. Was sie liefert, ist gleichsam nur die 
Probe auf die Rechnung, die, wenn diese sonst richtig aufgestellt 
und weitergeführt worden, nichts Neues ergeben, sondern nur 
diese Richtigkeit bestätigen darf. Aber solche Bestätigung 
liefert doch erst die volle Vergewisserung, daß man im ganzen 
auf dem rechten Wege ist, und zugleich die sichere Kontrolle 

N a 1 0 r p, Soztalpüdagogik. 4. Aufl. 22 



338 


darüber, was im besonderen noch fehlt. Und es ist, bei der Un- 
endlichkeit der sittlichen Aufgabe, keine Gefahr, daß diese 
nachträgliche Kritik etwa nichts mehr zu berichtigen, keine 
Lücken auszufüllen, keim neuen Aufgaben anzugreifen finden 
sollte. Das Wichtigste ist, daß die sittliche Lehre unmittelbar 
aus dem Zusammenhänge des sittlichen Lebens erwächst, und 
so auch die Kraft in sich findet, durch die Klärung des Bewußt- 
seins, die sie hinzufügt, auf das sittliche Leben wiederum 
förderlich zurückzuwirken. 

Auf der ersten Stufe darf sich, nach früher Bewiesenem, die 
sittliche Lehre so wenig wie irgend eine andre von der Erfahrung 
und Übung scharf abtrennen; sie schließt sich, so wie es früher 
(§ 25) geschildert worden, an die Übung unmittelbar an, 
als bloßer Ausspruch dessen, was in Übung bereits ist oder 
unmittelbar darin übergehen soll. Doch beginnt sie schon 
sich zu erweitern und zu vertiefen durch erzählende Darstellung, 
so zwar, daß sie auch dann an das Tun, nämlich das dargestellte 
Tun, eng angeschlossen und unmittelbar dazu gehörig erscheint. 
Daraus ist klar, weshalb alle nachhinkende Moral hier ihre 
Wirkung verfehlen würde: diese Ablösung und Erhebung zu 
etwas wie allgemeiner Theorie liegt der Unmittelbarkeit des 
kindlichen Bewußtseins noch ganz fern. 

Wird aber, auf der zweiten Stufe, diese Ablösung möglich, 
so ist es dann wohl richtig, sogleich zu einem wenn noch so 
bescheidenen, übersehbaren Lehrbegriff, zu einer Art 
Katechismus überzugehen. Der ganzen, dieser Stufe so 
passenden Disziplinierung und Organisierung der Gedanken 
entspricht es nur, daß auch das Sittliche auf Paragraphen ge- 
bracht und mit knappem Warum und Weil bewiesen wird, 
nämlich so wie es sich diesem Alter beweisen läßt. Das scheint 
es mir zu sein, was der schon von Comenius erhobenen Forde- 
rung eines eigenen ethischen Unterrichts, nämlich für die Stufe 
der Schulunterweisung, Richtiges zu Grunde liegt. Auch würde 
diese Forderung wohl nicht auf ernsten Widerstand stoßen, 
wenn sie nicht die Absetzung des Religionsunterrichts, der 
bisher den sittlichen in sich aufnahm und für ihn fast allein 
einstand, zu bedeuten schiene und in gewissem Sinne wirklich 



339 


bedeutete. Man kann Jedoch, wie das Beispiel Dörpfelds 
lehrt, die sittliche Bedeutung der Religion ganz anerkennen, 
ja ül)erschätzen, und es doch unrichtig und nicht ungefährlich 
finden, die Begründung Mies Sitthehen ihr ganz allein anzu- 
vertrauen; als sollte, wem die Religion, und zwar die bestimmte 
von der Schule gerade gebotene, nicht oder nicht mehr über- 
zeugend ist, damit nun auch außerhalb der Gebote der Sittlich- 
keit gestellt sein. 

Nun ließe sich wohl noch daran denken, daß ein andrer, 
nämlich der muttersprachliche Unterricht die freie, von Reli- 
gion unabhängige sittliche Reflexion ganz auf sich nehmen 
solle; besonders um nicht die jetzt schon bedenkliche Viel- 
spältigkeit des Unterrichts durch Hinzufüguig noch eines 
weiteren Fachs zu vermehren. So etwa waren, auf dem Stand- 
punkt ihrer Zeit, die „Denkübungen“ v. Rocliows gemeint. 
Auch ist ja kein Zweifel, daß die sittliche Reflexion durch Lese- 
ßtück und Aufsatz ihren bescheidenen aber gesicherten Platz 
im Mutter sprachunteiifricht schon gegenwärtig hat. Das Be- 
streben könnte vÄrlockend scheinen, das, was somit stückweise 
schon heute geschieht, nur etwas gründlicher und planmäßiger 
zu leisten. Allein eben dies planmäßige Vorgehen wäre mit den 
sonstigen Zwecken des Sprachunterrichts schwer zu vereinigen; 
es drängt im Gegenteil auf Abzweigung deutlich hin, möchte 
diese auch einstweilen nur so geschehen, daß in besonderen, 
nicht zu zahlreichen, dem Muttersprachunterricht angeschlos- 
senen Stunden, so etwa wie in der Gymnasialprima als Teil der 
,, Philosophischen Propädeutik“, die einfachen Grundzüge der 
Sittenlehre vorgeführt würden; worauf dann in Aufsatzthemen 
und bei der Lektüre je nach gegebenem Anlaß Bezug genommen 
werden könnte, ohne daß dem eigenen Zwecke des Sprach- 
unterrichts dadurch Abbruch geschähe. 

Damit wäre aber die Forderung eines eigenen ethischen 
Unterrichts im Grunde anerkannt und *es bliebe nur mehr eine 
technische Frage, wie dieser im besondern einzurichten und mit 
andern Fächern in das richtige Verhältnis zu setzen sei. Inner- 
lich schwierig ist einzig und allein das Verhältnis zum Reli- 
gionsunterricht. Sollen beide neben einander hergehen, so 

22 * 



340 


fragt sich, ob in enger Verbindung miteinander oder gerade 
mit Betonung ihrer gegenseitigen Selbständigkeit. Aber es 
bedarf erst der Entscheidung, ob und wie sie überhaupt mit 
einander verträglich sind. Diese Entscheidung kann erst 
unser letztes Kapitel treffen. 

Für uns steht in jedem Falle fest, daß die letzte Be- 
gründung des Sittlichen allein Philosophie zu geben ver- 
mag; und zwar nur die eigentliche Philosophie, die erst der 
dritten Stufe der intellektuellen und sittlichen Bildung ange- 
hört. Es ist aber hierüber dem früher (§ 28) Gesagten wenig 
hinzuzusetzeri. Die Organisation des bezüglichen Unterrichts 
betreffend, versteht man schon, daß wir uns die philosophische 
Ethik als einen Hauptgegenstand allgemeiner und freier 
Volksbelehrung auf dem Wege der „Volkshochschulkurse“ 
denken. Wenn in irgend einem Punkte, so sollte hier klar 
sein, daß der Erwerb der Wissenschaft nicht ihren bestellten 
Pflegern allein gehört und auch nicht bloß auf dem Wege der 
Schullehre mittlerer Stufe, d. h. in notwendig abgeschwächter, 
nur vorbereitender Form der Allgemeinheit zugute kommen 
darf; daß sie vielmehr den denkbar größten Anspruch hat, so 
viel davon unmittelbar mitgeteilt zu bekommen, als irgend sie 
imstande ist mit dem Verständnis zu durchdringen und in Tat 
und Leben zu übersetzen. Ein direktes Mittel, Gesinnung da 
einzupflanzen, wo sie nicht zuvor wenigstens der Grundlage 
nach schon vorhanden war, sehen wir auch in der bis zur Höhe 
der Philosophie sich erhebenden ethischen Lehre allerdings 
nicht. Der Grund zum sittlichen Leben und damit auch zur 
sittlichen Überzeugung muß schon anderweitig gelegt sein, 
das Leben selbst muß ihn gelegt haben. Fehlt es aber an 
dieser Grundlage nur nicht ganz und gar, so kann die hinzu- 
kommende, auf die letzten der Erkenntnis zugänglichen Gründe 
gestützte Einsicht des Sittlichen unzweifelhaft sehr viel tun, 
dieses Fundament weiter zu sichern und auch zu reinigen; dem 
erst nach seiner Selbstvergewisserung ringenden guten Willen 
eine mächtige Stütze zu schaffen, dem schon vorhandenen neue, 
weitere Ziele und reinere Wege zu weisen, und so, in Ver- 
bindung mit allen andern Faktoren der Willenserziehung, den 



341 


sittlichen Charakter des Einzelnen und schließlich des ganzen 
Gemeinlebens zu einer höheren Stufe der Vollendung zu 
bringen. 

Alles in allein ist die sittliche Wirkung auch der Ver- 
standesbelehrung, die unmittelbar das Sittliche selbst zum 
Gegenstand hat, an dieselben Voraussetzungen gebunden wie 
alle sittliche Wirkung der Intellektbildung; sie ist überdies 
angewiesen auf das Zusammenwirken mit ellem, was die Bil- 
dung des Intellekts von sonstigen Seiten her zur Willens- 
erziehung beiträfgt. Sie ist erst der letzte, bedingteste Faktor 
der Willensbildung, aber für ihren Abschluß unentbehrlich. 
Diese Bedingtheit ihrer Wirkung schmälert nicht die Würde 
der sittlichen Lehn»; aber ihre Würde darf auch nicht darüber 
täuschen, daß eine unmittelbare und gar unfehlbare Wirkung 
auf die Versittlichung des Menschen von ihr nicht zu er- 
warten ist. 

Was sonst noch die philosophische Bildung in Absicht der 
Willenserziehung leisten kann, betrifft die beiden Gebiete, deren 
Betrachtung uns noch übri^^ bleibt: das ästhetische und das 
religiöse. 

§ 32. 

Anteil der ästhetischen Bildung an der 
Willenserziehung. 

Natur und Sittenwelt, das was ist und was sein soll, das 
sichtbare und das unsichtbare Reich, gleichsam Erde und 
Himmel des Bewußtseins — was sollte es darüber noch geben, 
das ein Gegenstand menschlicher Bildung wäre? Und doch 
bleiben große Provinzen, vielleicht die herrlichsten, noch übrig: 
das Reich des ästhetischen und das des religiösen Bewußt- 
seins. AVie verhalten sich diese zum Reiche des Willens oder 
des sittlichen Bewußtseins, und welcher Anteil gebührt dem- 
gemäß der ästhetischen, der religiösen Bildung an der Er- 
ziehung des Willens? 

Die ästhetische Welt stellt sich dar als eine neue Welt 
von Objekten; nicht Naturobjekten, denn alles Ästhetische 



342 


ist Phantasie, es erhebt nicht den Anspruch der Wahrheit, 
wenigstens nicht der Wahrheit im Sinne der Naturwirklichkeit; 
aber auch nicht sittlicher Objekte, denn es beansprucht ebenso 
wenig eine Verbindlichkeit für den Willen. Vielmehr ist sein 
auffälligstes negatives Kennzeichen die gänzliche Freiheit, mit 
der es sich über jede Verbindlichkeit logischer oder ethischer 
Art erhebt. Nicht als ob die Schöpfungen des Verstandes und 
Willens für das ästhetische Bewußtsein nicht vorhanden wären; 
es kennt sie und erkennt sie an; aber es gebraucht sie lediglich 
als Stoff zu einer eigenen, überhaupt neuen, einer andern 
Ordnung angehörenden Weise der Gestaltung. 

Aber der Allgewalt des Gesetzes überhaupt vermag 
doch auch diese freieste Gestaltungsart sich nicht zu entziehen. 
Sie könnte nicht eine eigene Welt von Objekten organisieren, 
wenn nicht durch eine eigene Gesetzgebung, die sie erst zur 
Welt, zum geordneten Kosmos macht. Und diese Welt wäre 
nicht unser, nicht einem und demselben Bewußtsein ange- 
hörig, das auch über die Welten des Verstandes und des Willens 
Herr ist, wenn nicht ihre Gesetzlichkeit zugleich in einer 
inneren und notwendigen Beziehung stände zu den Gesetzes- 
ordnungen, welche jene anderen Welten regieren. 

Anders könnte es nicht eine eigene ästhetische Erkennt- 
nis geben. Ohne Zweifel aber gibt es sie. Was schön ist und 
was nicht, allgemein was ästhetisch möglich und nicht, ist 
Gegenstand der Erkenntnis. Es mag oft schwer sein, darüber 
zur Verständigung auch nur mit sich selber zu gelangen; aber 
es gibt doch eine solche Verständigung, es gibt eine erreichbare, 
wenigstens persönliche Gewißheit, es gibt Wahrheit und 
Falschheit ästhetischen Urteils. Selbst im künstlerischen 
Schaffen ist das eigentlich Entscheidende die Erkenntnis, 
allerdings nicht eines zuvor gegebenen, sondern im schaffenden 
Geiste des Künstlers eben jetzt zuerst sich erzeugenden Ob- 
jekts. Das Weitere, die äußere Herausarbeitung des mit 
überzeugender ästhetischer Wahrheit innerlich Geschauten zu 
einem auch für Andre so Anschaubaren und Überzeugenden 
wäre lediglich Sache äußerer Technik, wenn nicht in Wahrheit 
auch dabei die schöpferische Anschauung d. i. die ästhetische 



343 


Erkenntnis, fort und fort tätig bliebe und sich erst zur vollen 
Lebendigkeit durchränge. 

Was aber ist nun das positiv Neue und Eigene dieser 
notwendig gesetzmäßigen Gestaltungsweise; und was der Grund 
der ihr ein wohnenden neuen Art Wahrheit 

Der Name des Ästhetischen scheint hinzuweisen aufs 
Gefühl als das eigentümliche Organ für diese neue AH von 
Erkenntnis. Wie die Natur das Objekt des bloßen Verstandes, 
die Sittenwelt das Objekt des Willens — zwar auch ‘ einer 
eigenen, aber im Willen selbst eingeschlossenen, nicht von 
außen hinzukommenden, einer von Haus aus „praktischen“ 
Erkenntnis ist, so könnte die ästhetische Welt die eigene 
Welt des Gefühls, wiewohl dann auch einer eigenen, eben füh- 
lenden, im ästhetischen Gefühl eingeschlossenen Erkenntnis sein. 

Was an dieser Meinung richtig ist, wird sich sogleich 
heraussteiler) ; irrig aber ist sie, wenn unter Gefühl, nach dem 
herrschenden Sprachgebrauch heutiger Psychologie, Lust und 
Unlust verstanden wird. Denn weder Lust noch Unlust 
schlechtweg, das bloße sich wohl oder nicht wohl finden, noch 
selbst die der Erkenntnis sich nähernde Bestimmtheit des Lust- 
und Unluslgefühls, eine erhöhte Sensibilität des Organismus 
etwa, die uns von den feinsten Regungen unsres organischen 
Lebens (wenn auch oft genug trügende) Kunde gibt, ist an sich 
schon etwas Ästhetisches. Zwar scheint es, daß die Lust- und 
Unlusterregung zur Materie der ästhetischen Gestaltung, und 
zwar notwendig zu allem, was irgend ihr als Materie dienen 
mag, gehört, denn ohne irgend einen Grad der Freude, des 
Wohlgefallens ist ein ästhetisches Bewußtsein ja nicht denkbar. 
Allein wir fragen nach dem formenden Gesetz; und das 
ist eigentlich erst die Frage danach, was das Ästhetische 
selbst sei. Es ist vielleicht das in bestimmter Weise gestaltete 
Gefühl, aber keinesfalls das Gefühl schlechtweg. Man könnte 
versuchen zu erklären, es sei das rein seiner eigenen Art gemäß 
gestaltete Gefühl. Allein wie soll etwas so wesentlich Ge- 
staltloses und dabei Einförmiges wie das bloße sich wohl 
und nicht wohl fühlen überhaupt eine eigene Art gesetzmäßiger 
Gestaltung aufbringen? Wie soll ein bloß subjektives Sich- 



344 


fühlen überhaupt von sich aus ein Objekt setzen? Das er- 
scheint nicht nur, sondern ist in der Tat schwierig. 

Also wird es sich wohl so verhalten, daß die ästhetische 
Gestaltung das Gefühl der Lust und Unlust zwar, ebenso wie 
das Materiale des Vorstellens und Strebens, als Stoff gebraucht, 
daß aber das Gesetz der Formung dieses Stoffes nicht ein Ge- 
setz des bloßen Fühlens noch aus den Gesetzen des Fühlens 
allein verständlich ist. Lust und Schmerz sind für die ästhe* 
tische Gestaltung nichts mehr als die helleren und dunkleren 
Töne, die sie mit völliger Freiheit, so wie der Maler seine 
Farben, mischt und in ein Verhältnis setzt, welches sie von 
sich aus nach ihren eignen Gesetzen bestimmt. Das Gesetz 
dieser Mischung aber beruht nicht wiederum auf dem Gefühl 
der Lust und Unlust, etwa auf einem angestrebten Übergewicht 
der Lust über den Schmerz, oder der Hebung der helleren 
Töne durch den Kontrast der dunkleren. Ein mächtiges Kunst- 
werk, eine Tragödie etwa, kann sehr wohl eine überwiegend 
dunkle Gefühlsstimmung zurücklassen. Die Kunst kennt 
ebensowohl eine Hebung der dunklen Töne durch helle wie um- 
gekehrt. Behaglicher ist ja das wenigstens schließliche Durch- 
dringen einer freudigen Stimmung; aber künstlerisch möglich 
ist ebensowohl das Gegenteil. 

Auch die alte Bemerkung fördert hier wenig, daß gerade 
die Entladung des Schmerzes vom Schmerz befreit. Etwa 
auch die Entladung der Freude von der Freude? Also wäre das 
Ergebnis der schmerz- und freudlose Zustand, die Leere des 
Gemüts? Aber man meint nur die Befreiung vom Übermaß, 
die Rückkehr also zu jener sanften, gleichmäßigen Bewegung 
des Gemüts, welche die Hedoniker als den begehrenswertesten 
Zustand preisen. Es ist zuzugeben, daß die Kunst eine solche 
Wirkung üben kann. Aber sie muß sie nicht üben. Und 
zuletzt wird sie sich jeden solchen äußeren Maßstab der Be- 
urteilung verbitten. Dem unmittelbaren künstlerischen Er- 
lebnis jedenfalls ist die Flucht vor starken Erregungen, das 
Verlangen ihrer los zu werden, gänzlich fremd. Eine etwaige 
hygienische Nebenwirkung aber ginge nicht die Kunst an, 
sondern allenfalls die Medizin. 



345 


Es scheint nach diesem allen, daß man Grund und Wurzel 
des Ästhetischen überhaupt in einem andern Gebiete zu suchen 
hat als dem des Lust- und Unlustgefühls. Nun gibt es in 
der Tat noch einen andern, geradezu auf die fragliche Ge- 
stalturgsart zielenden psychologischen Ausdruck, nämlich 
den der Phantasie. Zwar ist gewih auch nicht alle Phantasie 
ästhetisch, die Phantasie z. B. nicht, die einen noch nicht ge- 
sehenen Gegenstand, eine Maschine etwa, nach gegebener Be- 
schreibung vorzustcllen, und so zu erkennen trachtet. Allein 
das ist dienstbare, anderweitigem Zweck, hier dem der theo- 
retischen Erkenntnis, sich unterordnende Pliantasie. So dient 
sie in andern Fällen lediglich den Zwecken des Willens; die 
lebendige Vorstellung des Gewollten fördert die Bestimmtheit 
des Wollens, das sonst leicht ins Gestaltlose scliweifen und so 
der vollen Kraft des Lebens verlustig gehen würde. Aber es 
gibt auch eine freie, keinem anderweitigen Zweck dienende, 
sozusagen selbstzweokliche Phantasie, die demnach wohl 
einem eigenen Gesetze ihrer Gestaltung wird folgen müssen. 
Diese freie, nach eigenem Gesetz gestaltende Phantasie könnte 
also etwa die ästhetische, und überhaupt das Prinzip des 
Ästhetischen sein. 

Damit möchte dann auch das Unterscheidende der ästhe- 
tischen Lust oder besser Freude, das wir vorher nicht an- 
zugeben wußten, gefunden sein: es wäre die Freude, in der 
die frei gestaltende Tätigkeit der Phantasie lediglich sich 
selbst genießt. Ästhetisches Gefühl ist in der Tat reines 
Tätigkeitsgefühl, Gestaltungsgefülil des Bewußtseins, nicht 
bloßes Lebensgefühl; außer sofern man sein wahres Leben 
nur im Gestalten sieht. An jenem allein läßt sich ein Cha- 
rakter der Objektivität begreifen; sofern es auf die Gestaltung, 
die, als gesetzmäßige, auch immer ein „Objekt“ schaffen muß, 
sich unmittlilbar bezieht und allein an ihr haftet, kommt diesem 
Gefühle die AJlgemeingültigkeit zu, die dem Ästhetischen, bei 
aller seiner Freiheit vom logischen oder ethischen Gesetz, 
dennoch zugesprochen werden muß, und die, ohne diese Be- 
ziehung zu einer gesetzmäßigen Gestaltung, im Gefühl un- 
möglich gefunden werden könnte. 



346 


Ein naheliegender Einwand ist hiermit gewissermaßen 
schon erledigt. Es kann leicht scheinen, daß das Wort „Ge- 
staltung“ die Eigenheit des Ästhetischen eben deswegen nicht 
zutreffend bezeichne, weil die bloße Darstellung eines sinn- 
lichen Gegenstandes vielmehr Sache theoretischer Erkenntnis 
und technischer Arbeit sei. Gerade zufolge der von uns immer 
behaupteten engen Einheit von Theorie und Technik muß doch 
die Kunst auch von der Technik radikal verschieden sein, wenn 
die ästhetische Gestaltung grundverschieden sein soll von der 
theoretischen wie von der ethischen. Und diese Verschieden- 
heit wird ja mit größtem Recht auch immer behauptet. Nicht 
die äußere sinnliche Gestalt ist es, die etwa das plastische Kunst- 
werk ausmacht. Diese könnte einer mit mathematischer Ge- 
nauigkeit auffassen, sogar sicher wiederzugeben imstande sein, 
ohne von ihrer ästhetischen Bedeutung irgend etwas zu ver- 
spüren; so wie es Sänger und ausübende Musiker gibt, die ein 
Werk der Musik haarscharf in allem, was sich auf Begriffe 
bringen und verstandesmäßig erklären läßt, auszuführen ver- 
mögen, und doch von seinem ästhetischen Gehalt nichts 
empfinden noch diese Empfindung durch ihren Vortrag zu 
wecken imstande sind. Auch soweit direkt gedankliche Ele- 
mente den Stoff zu künstlerischer Gestaltung abgeben, Er- 
innerung an Dinge, Personen und deren Verhältnisse, ist das 
Künstlerische genau nicht die Beziehung auf Dinge und 
Personen, soweit sie bloß gedanklich auf gefaßt wird. Das 
ist für die künstlerische Gestaltung nur Stoff; es ist leibhafte, 
nackte Prosa, das heißt Unkunst, wenn nicht das hinzukommt, 
was man die innere Gestaltung nennen kann; welches ur- 
sprünglich gar nicht liegt in dem gestalteten Ding, sondern 
rein in dem Ursprung der Gestalt aus der gestaltenden und 
in die gestaltende Tätigkeit sich selbst hineinsenkenden 
Seele. 

Also, es ist nicht der Gredanke, als gedacht, der das 
Dichterische des Gedichts ausmacht; der würde sich nicht nur 
ebenso gut, sondern reiner in Prosa geben lassen und dann 
von niemand für etwas Künstlerisches angesprochen werden. 
Sondern es ist gleichsam die Zeichnung, ich möchte sagen 



die Linienführung in der Gebung, in der Gestaltung des Ge- 
dankers, in der Art seiner Erzeugung in der Seele, was, zugleich 
mit einer ihr sich innig anschmiegenden Linienführung des 
sinnlichen, in diesem Falk Wertausdrucks, zugleich mit 
dem musikalischen Element des Rhythmus und Tonfalls und 
dem Dynamischen des Vortrags, das Gedicht macht. Und 
ähnlich verhält es sich mit dem Malerischen des Gemäldes 
(vollends des unmittelbar in der Natur angeschauten Bildes), 
mit dem Bildnerischen des Bildwerks, und so mit allem Künst- 
lerischen, und genau dies, denke ich, ist das Künstlerische 
daran. 

Nicht voll genügend erscheint darum aiich die von 
Th. Lipps vorgeschlagene Bezeichnung des wesentlichen 
psychischen Faktors, auf dem das Ästhetische beruht, als 
„Einfühlung“. Was damit Richtiges ausgedrückt ist, 
dürfte in dem eben Gesagten schon eingeschlossen sein; aber 
das entscheidende Wort ist damit wohl nicht gesprochen. Gerade 
das, meine ich, sei die Frage, was das ist, wohinein man sein 
Fühlen zu legen habe, damit dies Fühlen ein ästhetisches sei. 
In jenem Ausdruck erscheint es, als sei dies einfach von außen 
gegeben ; das ästhetische Objekt sei da, und wir sollen nun unser 
Gefühl bloß in es hineinsenken, es mit unserem Gefühl uns 
beleben. Man geht wohl dabei zu einseitig aus von der Wir- 
kung, die das ästhetische Gebilde, nachdem es da ist, auf uns, 
die Aufnehmenden übt, sofern diese Wirkung eine ästhetische 
sein soll. Die ursprüngliche ästhetische Haltung ist aber 
vielmehr die des schaffenden Künstlers, die, in der das Kunst- 
werk seinem inneren Auge erstmals entsteht. Auch die wahr- 
haft ästhetische Aufnahme von Seiten des Beschauers oder 
Hörers ist ein inneres Nachschaffen. Nur in dem Maße, wie 
die künstlerische Gestalt sich aus der eigenen Seele des Auf- 
nehmenden wiedererzeugt, nach Möglichkeit dem nahe- 
kommend, wie sie zuerst im Geiste des schaffenden Künstlers 
sich erzeugt hat, ist es ästhetische Aufnahme. Das verbirgt 
sich zu sehr in dem Wort „Einfühlung“. 

Also ist allerdings auf die Gestaltung der Hauptton zu 
legen; doch ohne daß das Gefühlsmoment im Ästhetischen 



348 


darum verkannt werden dürfte. Ich habe*) das ästhetische 
Gefühl erklärt als Gestaltgefühl, die ästhetische Vorstellung 
als fühlende Vorstellung, die ästhetischen Gesetze als Gesetze 
der Vorstcllungsgestaltung und dadurch Gefühlsbestimmung; 
wogegen das Gefühl aus sich allerdings kein Prinzip der Ge- 
staltung aufzubringen vermöchte. Es dürfte dem nur ergänzend 
hinzuzufügen sein, daß ein Moment des Strebens zur ästhe- 
tischen Gemütshaltung ebenfalls gehört. Ohne das würden 
Gefühl und Vorstellung überhaupt nicht Zusammenkommen. 
Nicht die ruhende Gestalt und das ruhende Gefühl also, 
sondern die Bewegung, in der die Gestalt sich gleichsam in 
der Seele zeichnet, und die dies Zeichnen begleitende Bewegung 
des Gefühls (Vorgefühl also und Nachgefühl, nicht bloß Gegen- 
wartsgefühl), dies erst ist das Ästhetische. Auch in dem 
ruhenden Werke der bildenden oder Baukunst also ist es nicht 
die fertige Gestalt, die eigentlich das Künstlerische des 
Kunstwerks ausmacht, sondern es ist die Bewegung, die es 
in unserer Psyche hervorruft; die Bewegung der Gesamtseele, 
die in dem nachzeichnenden Blick, ebenso wie in der die Ton- 
und Harmoniefolgen begleitenden, gleichsam innerlich mit- 
singenden und mitspielenden Bewegung des Gehörs, sich be- 
freit, und sich selbst gleichsam zur künstlerischen Linie abklärt. 
Darum ist die musisch-orchestische Kunst allerdings die reinste, 
unmittelbarste Kunst, weil sie, von einem äußeren, daseienden 
Gegenstände völlig absehend, sich so zwingend wie keine andre 
den inneren Bewegungen der Seele selbst anschmiegt. Und 
am wenigsten von allen ist sie in Gefahr irgend einem äußeren 
Zweck dienstbar zu werden; von allen am sichtlichsten ist sie 
reines Spiel, ein Spiel aber der innersten Seelenkräfte; unter 
Umständen ein sehr erhabenes Spiel, welches das Tiefste in 
uns aufzurütteln, uns bis ins innerste Mark zu erschüttern 
vermag, um uns aus solcher Erschütterung wieder zu entlassen 
in einer Seligkeit, die nicht sowohl Lust als Erhabenheit über 
Lust und Schmerz zu sein scheint. Bei dem allen aber ist 
es Gestaltung, so rein in jedem Zug, daß sogar nichts dabei 


) Philos. Prop. § 46. 



349 


ist, das nicht, bloß material angesehen, exakten Maßbestim- 
mungen unterläge. 

Wozu denn nun dies alles? Was ist der Sinn eines 
oft so erhabenen, fast uns vernichtenden Spiels ? — Mit diesem 
Schiilerschen Wort , .Spiel“ ist zunächi^t das Negative aus- 
gedrückt; daß es gevassermaßen nicht ernst damit sei, nämlich 
daß auf theoretische wie ethische Wahrheit verzichtet wird. 
Aber doch hat dies Spiel wiederum seinen eigentümlichen Ernst, 
seine eigne, an keinem theoretischen oder ethischen Maße zu 
messende Bedeutung, seinen eignen Waiirhei tswert. Und 
dies ist nun erst das eigentliche und letzte Problem des Ästhe- 
tischen: Kunst ist Spiel, aber ein ernsthaftes; cs ist bewußte 
und gewollte Täuschung, und ist dennoch Wahrheit, obwohl 
von einer eignen Art. Worin also besieht diese eigene 
Wahrheit? 

Wir kommen damit zurück auf das anfangs schon Gesagte : 
daß es im Ästhetischen sich handeln müsse um eine eigne 
Art Erkenntnis, verschieden von der theoretischen wie der 
ethischen, aber gewissermaßen beide vereinend. Es sind nicht 
beliebige, indifferente Einfälle, „Einbildungen“ der Phantasie, 
die wir Kunst nennen; sondern es sind Offenbarungen, gleich- 
sam Gesichte, objektive Anschauungen, das heißt, in 
einem bestinimten Sinne wahre, gegenständ liehe Ge- 
staltungen. Also fragt es sich: welches ist die eigentümliche 
Gestaltungsart, die eigentümliche Art ein Objekt zu 
setzen, welche das Ästhetische unterscheidet, und wie verhält 
sie sich zur theoretischen und zur ethischen Gestaltimgsart 
oder Art den Gegenstand zu setzen? Oder noch bestimmter: 
wie verhält sich die Gesetzlichkeit jener zu der dieser 
beiden Gestaltungsarten? 

Dem ästhetischen Objekt ist die Form, d. i. die Einheit 
der Gestaltung, so wesentlich wie dem Naturobjekt oder dem 
Objekt der Sitte. Aber es überbietet gewissermaßen die ge- 
setzlichen Ansprüche beider, indem es sie, die an sich einander 
zu widerstreiten, und in diesem Widerstreit ewig unerfüllbar 
zu sein scheinen, vereint zu erfüllen — nicht behauptet, 
aber, kraft eines ihm ganz eigentümlichen Rechtes — fingiert. 



350 


— Und welches ist das eigentümliche Recht dieser Fiktion? — 
So lange bloß nach einerseits theoretischer, andrerseits ethischer 
Wahrheit die Frage ist, gibt es nur einen Konflikt zwischen 
beiden, der in den Grenzen unsrer Erfahrung keiner Lösung 
fähig ist. Daß nun etwa die Kunst diesen Konflikt wirklich 
löste, daß, was im Ernste der Lebensarbeit uns unerreichbar 
bleibt, im bloßen Spiele der künstlerischen Gestaltung wirk- 
lich vollbracht würde, kann nur der blinde Kunstenthusiast 
glauben, der, etwa in Bayreuth, seinen Himmel auf Erden schon 
hat. Wer den vollen Ernst der Arbeit, sei es an theoretischen 
oder praktischen Aufgaben, geschmeckt hat, wird die harte 
Wahrheit jenes Konflikts zu scharf empfinden, um, bei noch 
so tiefer ästhetischer Empfänglichkeit, solcher Schwärmerei 
jemals fähig zu sein. Aber doch ist es das Vorrecht der Kunst, 
die im Ernste des „Lebens“ uns unerreichbare rdne Aussöhnung 
wenigstens im Spiele der freien Gestaltung uns nahe zu bringen, 
nicht indem sie uns dem Ernste des Lebens entfremdet und 
fernrückt, sondern mitten in ihm dem Kämpfenden den Sieg 
und Frieden vor Augen stellt und ihm einen Augenblick des 
Ausruhens in seiner inneren Anschau vergönnt. So ist sie die 
Spielpause zwischen den schweren Schulstunden des Lebens. 

Sie bedeutet somit die wenigstens ideelle Versöhnung von 
Idee und Erfahrung. Sie stellt das Seinsollende hin, wie wenn es 
wäre, mitten im Zusammenhang des natürlichen Seins; eben- 
damit das Seiende wie seinsollend, Natur wie ein Vollendetes, 
Unbedingtes, Ewiges, zu völliger Reinheit geläutert. Das ist 
Spiel, es ist Dichtung, nicht Wahrheit, nämlich nicht theore- 
tische, noch etwa sittliche Wahrheit. Es ist nicht theoretisch 
wahr, daß je ein Endliches, Sichtbares, erfahrbar Wirkliches 
ein Vollendetes sei, wie doch die Kunst es vorspiegelt; es ist 
nicht sittlich wahr, daß je das Vollkommene uneingeschränkt 
in die Erscheinung träte. Und doch belügt uns die Kunst 
nicht, denn da sie nur Spiel sein, nur als Spiel angesehen sein 
will, so lügt sie weder eine theoretische noch eine praktische 
Wahrheit, sie stellt sich vielmehr beiden völlig unabhängig 
gegenüber, und erreicht gerade darin die ihr eigentümliche 
Wahrheit. Nämlich, es ist wahr, daß wir jene letzte Einheit 



351 


des Seienden und Seinsollenden fordern müssen um der Ein- 
heit des Bewußtseins willen; fordern wir sie aber, so denken 
wir sie auch, so erschaffen wir sie in unsern Gedanken, aus 
den Materialien der Natur und der Sittenwelt. 

Das ist es in der Tat, was die Kunst vollbringt. So 
steht sie außerhalb beider Reiche, der Erfahrung wie der 
Sittenwelt, indem sic zugleich beide verknüpft, beide sich zum 
Stoff macht. Die Idee des Vollkommenen entnimmt sie dem 
Sittenreich, den Schein der Wirklichkeit, mit dem sie sie, 
die unsichtbare, umkleidet und so sichtbar macht, entnimmt 
sie dem Naturreich. Beides aber gilt ihr nicht als natürlich 
und als sittlich, sondern dieser sonst so tiefe Uxiterschied und 
Gegensatz soll jetzt vergessen, soll aufgehoben, soll überwunden 
sein; und je reiner dies erreicht wird, um so reiner ist die 
Absicht der Kunst erfüllt. 

Das ästhetische Objekt unterwirft sich nicht den theore- 
tkcHen Erfordernissen des Naturwirklichen. Es bestände 
nicht die Probe dieser Erfordernisse, und es weigert sich über- 
haupt dieser Probe, Man soll es auf Wirklichkeit (im Natur- 
sinn) gar nicht befragen dürfen — und doch es so hinnehmen, 
wie wenn es wirklich sei, und wäre es in Nirgendheim. 
Auch befolgt es, wie mit List, die Gesetze der Wirklichkeit 
gerade so weit als es nötig ist, um diesen Schein behaupten 
zu können, oder als ein ästhetisches Gemüt vorausgesetzt wer- 
den darf, treuherzig genug, diesem vörgespiegclten Scheine zu 
vertrauen. Es unterwirft sich ebenso wenig in Wahrheit den 
strengen Forderungen des an sich Seinsollenden. Es bestände 
ebenso wenig die Probe der sittlichen wie die der theoretisch- 
wissenschaftlichen Kritik, ja es verbittet sich überhaupt die 
Anlegung des sittlichen Maßstabes; und verlangt dabei doch 
so hingenommen zu werden, als ob es an sich sein sollte, 
wie es ist, wäre, wie es sein soll. Und wieder, um diesen 
Schein zu behaupten, befolgt es die Gesetze des Seinsollenden 
insoweit, als es zur Möglichkeit dieses Scheins erforderlich 
ist; immer mit der Freiheit sie zu verlassen, wo der eigene, 
von dem des Sittlichen verschiedene Zweck der ästhetischen 
Gestaltung es erheischt. 



352 


Doch ist es ein ehrlicher Betrug, den wir uns so vor- 
machen lassen oder vielmehr uns selber mehr oder weniger 
bewußt vormachen. Wir kommen gar nicht in Gefahr, das 
ästhetische Objekt mit dem Naturobjekt oder aber mit dem 
sittlichen im Ernst zu verwechseln. „Illusion“ wäre daher 
kein zutreffender Name für den Zustand ästhetischer Auf- 
fassung. Wir werden nicht wirklich getäuscht, sollen auch 
nicht etwa Mühe haben uns der wirklichen Täuschung zu er- 
wehren. Wenn, so wäre umser Verhalten schon nicht mehr rein 
ästhetisch, ^sondern in irgend einem Grade pathologisch; wäh- 
rend die rein ästhetische Haltung höchste Gesundheit der Seele 
voraussetzt. Es ist richtig, daß z. B. in der Romantik diese 
an sich klaren Grenzen verwischt wurden, aber dann hatte sie 
eben die Grenzen des Ästhetischen bereits überschritten. 

Was also ist der Zweck dieses sonderbaren Spiels, da es 
nicht Wahrheit sein soll, und doch auch nicht Betrug? Es 
ist längst gesagt: Spiel ist sein Zweck, nichts weiter. Das 
schlichteste Spiel des Kindes enthält das Prinzip der ästheti- 
schen Gestaltung, und den ganzen unerschöpflichen Quell der 
Seligkeit, die sie einschließt. „So ihr nicht werdet wie die 
Kinder“, so werdet ihr in diesen Himmel nicht eingehen. Und 
wenn in der Kunst, etwa der Tragödie, dies Spiel sich zum 
erschütternden Ernst erheben kann, indem es Natur und 
Sittlichkeit, Welt und Überwelt, Erde und Himmel und Hölle 
des Bewußtseins in Bewegung setzt und mit Titanenübermut 
über sie alle verfügt, so ist es in all diesem erhabenen Ernst 
immer noch Spiel; und in nichts Gefährlicherem besteht zuletzt 
sein Übermut, als darin, auch jenes alles, das Ernsteste, was 
nur ein Menschenherz ergreifen mag, mitten in diesem Ernst, 
für einen Augenblick dennoch zum Spiel zu gebrauchen, und 
so darüber zu triumphieren. Und wozu das? Was gibt uns 
das Recht eines so erhabenen Spiels selbst mit dem Heiligsten? 
Dies Recht gibt uns das vollkommen wahre Bewußtsein: daß 
Natur wie Sittlichkeit, Welt und Überwelt, Erde 
und Himmel und Hölle unsrem Bewußtsein zu eigen 
gehören, als seine Gebilde nicht nur je auf ihr Objekt (als 
wäre es schlechthin für sich), sondern auf es selbst als den 



353 


I 

Urquell, atis dem sie sich erzeugen, bezogen sind. Es ist das 
reine, doch zugleich überindividuelle, weil eben auf die Ge* 
Stallung von Objekten bezogene Selbstgefühl, was das Spiel 
der ästhetischen Gestaltung uns verschafft; Selbstgefühl im 
Gestalten, insofern mehr als bloß individuell, wiewohl es 
immer auch, ja zuerst und zuletzt, individuell ist. Deswegen 
verlangt die Kunst, und sucht sogar, gerade wo sie zu ihrer 
höchsten Höhe sich erhebt, das bis hart an die Grenzen des 
Erträglichen Erschütternde, ja Vernichtende auf. Sie darf es^ 
eben weil und wenn sie stets die göttliche Überlegenheit des 
Spiels selbst ihm gegenüber bewahrt : die überlegene Gestaltung 
selbst befriedigt sich sogar in der Darstellung eines Objekts, 
das, wenn wirklich, uns vernichten würde. 

So haben Tiefblickende uns die ästhetische Welt begreifen 
gelehrt. Und nun dürfen wir die Frage auf nehmen, was denn 
die ästhetische Bildung zur Erziehung des Willens bei- 
trägt. 

Voraus tut reinliche Scheidung not. So wie die Rein- 
heit des Sittlichen Schaden leidet, wenn man es dem Ästhe- 
tischen unterordnet, obgleich es gewissermaßen in ihm ein- 
geschlossen ist, so verwirrend ist wiederum jede Auffassung, 
welche das Ästhetische bloß als dienendes Mittel der Sittlich- 
keit zu würdigen weiß. Es ist zulässig und auch von uns 
zugelassen worden, Stoffe der Dichtung zu moralischer Be- 
lehrung zu verwenden. Aber es ist scharf zu betonen, daß dies 
nur von den Stoffen gilt. Zuvor muß die Dichtung rein für 
sich, als ästhetische Schöpfung, zur Geltung gekommen sein. 
Das kann sie aber nicht, wenn sie von Anfang an bloß als 
Unterlage moralisierender Betrachtung dargeboten wird. Das 
gilt schon von der Verwendung des Märchens, der Fabel, der 
biblischen Erzählung, und so erst recht vom Homer und allem, 
was ausdrücklich als Dichtung auf tritt. 

Sogar ist gerade die reine sittliche Wirkung des Ästhe- 
tischen bedingt durch seine deutlichste Scheidung vom Sitt- 
lichen selbst. Denn es hilft zum Sittlichen so und nur so, 
wie in ihrem harmonischen Verhältnis zu einander alle seeli- 
schen Kräfte sich helfen; zu ihrer Harmonie gehört aber, wie 

Katorp, Soxialpftdagc^ik. 4. Aufl. 23 



354 


zur musikalischen, daß die Elemente, zwischen denen Har- 
monie stattfinden soll, sich nicht verwirren, sondern deutlich 
von einander abheben. Am engsten ist wohl die Berührung 
des Sittlichen mit dem Ästhetischen in der Tugend des Maßes, 
die den Griechen völlig mit dem „Schönen“ der Seele zusammen- 
floß. Aber doch bleibt auch hier ganz klar der Unterschied 
der Verbindlichkeit: Maß im sittlichen Sinne ist geboten; 
die wie ein Naturgebilde erwachsende innere Harmonie dagegen, 
welche die Schönheit der Seele ausmacht, kann man sich nicht 
mit Willen geben, sie kann also auch nicht dem Willen anbe- 
fohlen werden. Das Leben kann sogar sittliche Forderungen 
stellen, die diese naturartige Harmonie zu bewahren nicht 
einmal gestatten; die Forderung des Sittlichen kann im be- 
sonderen wider die Schönheit sein, so gewiß Sittlichkeit als 
Ganzes auch etwas Schönes, ja das Schönste ist. 

Es darf also die Sittlichkeit, wenn sie sich die Bundes- 
genossenschaft der ästhetischen Kräfte gefallen läßt, sie keines- 
falls erkaufen durch irgend ein Opfer an der Strenge ihrer 
Forderungen. Vor dieser Gefahr muß jede Verwendung ästhe- 
tischer Mittel zur sittlichen Erziehung ebenso auf der Hut 
sein, wie vor der andern, der sie weit öfter erliegen mag: daß 
sie die Reinheit der ästhetischen Wirkung zunichte macht und 
eigentlich gar nicht mehr sie selbst, sondern nur ihren der 
Form entkleideten Stoff dem sittlichen Zweck dienstbar macht; 
was man ein nicht ganz ehrliches Spiel nennen müßte, wenn 
nicht die eigene ästhetische Roheit die so verfahrenden Er- 
zieher in der Regel sittlich freispräche. 

Indem wir mit solchen Vorbehalten die sittliche Wirkung 
ästhetischer Erziehung anerkennen, untersuchen wir nun die 
Wege dieser Wirkung. Es ist hierbei zweierlei zu bedenken: 
die sichere, aber dem Zögling selbst kaum bewußte, weil bloß 
passiv erfahrene Wirkung einer ästhetischen Stimmung 
der ganzen Umgebung, und die direkte ästhetische 
Betätigung des Zöglings selbst. 

Wie die erstere unvermerkt, gleich dem Einatmen guter 
Luft, auf die Gestaltung des in Bildung begriffenen Gemüts 
Einfluß gewinnt, hat schon Plato im Staat geschildert, der 



355 — 


diese Wirkung nur zu ausschließend von moralischer und zwar 
stofflicher Seite anzusehen scheint. Sie hat in der Tat größeren 
Einfluß auf den Gemütsstand, den der sittliche Wille vorfindet 
und zu bearbeiten hat, als auf die Ent%vicklung des sittlichen 
Willens selbst. Aber nalüriich kommt es auch dieser zugute, 
wenn der Wille das Gemüt in uinei ihm günstigen und gleich- 
sam entgegenkommenden Verfassung findet. Die höchste An- 
erkennung und Nachfolge verdient aber, daß bereits Plato die 
Frage sogleich auf sozialem Boden stellt und beantwortet. 
In der Tat, wenn das Haus und die Schule auch ungleich 
größere Anstrengungen in dieser Hinsicht machten, als es meist 
hat geschehen können, selbst ihr vereinter Einfluß wurde sich 
doch nur mühsam behaupten gegen einen dieser Wirkung wider- 
strebenden Einfluß der weiteren Gemeinschaft; während ein 
erhöhtes ästhetisches Niveau der letzteren auch auf Schule und 
Haus unwiderstehlich zurückwirken würde. Sc sehen wir uns 
selbst von Seiten der Ästhetik auf die sozialen Bedingungen 
der Erziehung hinge wiesen. 

Weit direkter indessen ist doch die Wirkung der eigenen 
Betätigung des Zöglings in ästhetischer Richtung; so wie alle 
Selbsttätigkeit, da sie unmittelbar den Willen in Anspruch 
nimmt, auch zu seiner Entwicklung unmittelbar beitragen 
muß. Sehr klar liegt aber hier der tiefste Zusammenhang im 
Formalen, im Vordringen zur autonomen Gestaltung. In 
diesem Betracht möchte sogar richtig sein, daß ohne einen 
Funken ästhetischer Freiheit wenigstens zu den höheren Stufen 
der Sittlichkeit nicht zu gelangen ist. Höchste sittliche Er- 
hebung erfordert ohne Zweifel auch die Schwingen der Phan- 
tasie. Es ist kein Zufall, daß der höchste Idealismus der Sitt- 
lichkeit die Jahrtausende der Menschengeschichte hindurch 
an ihm gemäßen ästhetischen Schöpfungen seinen Halt ge- 
sucht hat. 

Um aber hier am schlichtesten Anfang zu beginnen, so 
stellt ja das freie Spiel des sich selbst überlassenen frohgemuten 
Kindes, wie schon bemerkt, ein sehr reines Beispiel ästhetischen 
Tuns dar. Ist Kunst, nach Schiller, überhaupt Spiel, ist sein 
erstes Kennzeichen der „aufrichtige Schein“, so ist dem un- 

23 * 



356 


verdorbenen Kinde beides, der Schein und die Aufrichtigkeit, 
gleich natürlich. Ist aber das Kind wohl je zu allem in seinem 
Bereiche liegenden Guten mehr aufgelegt ak in der seligen 
Unbefangenheit des Spiek? 

Also muß wohl das schlichte Spiel des Kindes das Prinzip 
der ästhetischen Gestaltung schon einschließen. Künstler 
sind große Kinder. Sie gehen in den ästhetischen Himmel ein, 
nicht weil sie werden wie die Kinder; sie sind vielmehr, 
wenn sie ganze Künstler sind, aus dem Kinderland nie heraus- 
gekommen, sondern darin verblieben, und verbleiben darin 
lebenslang. Die Seele des Kindes lebt überhaupt ganz in 
schaffender Tätigkeit; sie hat, eine kleine Gottheit, diese ganze 
Welt für sich, in sich recht eigentlich aus dem Chaos hervor- 
zurufen; wie sollte sie nicht auch des reinen, göttlichen Ge- 
staltungsgefühk, in dem wir den Quell des Ästhetischen fanden, 
auch ganz voll sein. Aber sie ist zugleich dessen ganz unbewußt, 
so daß wohl wir, die Beobachtenden, die Wirkung des ästhe- 
tischen Triebs allenthalben in ihm erkennen, und das spielende 
Kind selbst wie ein Gedicht vor uns steht, es selbst aber so 
gut wie nichts davon weiß. Ihm ist eben der^Unterschied 
noch ganz fremd zwischen ästhetischer und nicht- ästhetischer, 
sagen wir prosaischer Haltung; ein Zwiespalt von Poesie und 
Prosa ist für es noch gar nicht eingetreten. Daher ist ihm alles 
Poesie, und ist es doch nicht. Die Elemente alles Künst- 
lerischen aber liegen im kindlichen Seelenleben überall greifbar 
vor. Besonders die Gemeinschaft der Kinder unter sich und 
mit solchen Erwachsenen, die es verstehen mit Kindern Kind 
zu sein, führt ganz von selbst zu einem Rhythmus der Tätig- 
keiten, und damit zu aller kindlichen Lyrik, Epik, Dramatik, 
Musik und Orchestik. 

Auch der fast unmerkliche Übergang vom Spiel zum 
Ernste der Arbeit muß nicht diesen ästhetischen Grundzug des 
ganzen kindlichen Daseins durchaus verwischen. Allerdings 
ist der Unterschied eben der des Sittlichen vom bloß Ästheti- 
schen: Arbeit bleibt gefordert, auch wo es nicht möglich ist, 
sie zugleich ästhetisch zu gestalten. Aber es ist darum mit 
nicht geringerem Nachdruck zu verlangen, daß sie ästhetisch 



357 


gestaltet werde, soweit es irgend möglich ist. Es ist ein 
vielleicht sehr fernes, aber daium nicht weniger richtiges Ideal, 
daß sich einmal selbst „aus allen Bauern und Handwerkern 
Künstler bilden ließen, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um 
ihres Gewerbes willen liebten, durch eigen gelenkte Kraft und 
eigene Erfindsamkeit verbesserten, und dadurch ihre intellek- 
tuellen Kräfte kultivierten, ihren Charakter veredelten, ihre 
Genüsse erhöhten“, und so „die Menschheit durch eben die 
Dinge geadelt“ würde, „die jetzt, wie schön sie auch an sich 
sind, so oft dazu dienen, sie zu entehren“. Dies Ideal eines 
Wilhelm v. Humboldt*) ist auch das Pestalozzis, der 
von den Kindern der Maurersfrau in seinem Roman berichtet: 
„Sie spinnen so eifrig als kaum eine Taglöhnerin spiiint, aber 
ihre Seelen taglöhnen nicht. Sie bewegen sich wäh- 
rend der ununterbrochenen Gleichheit ihrer Icibhchen Bewegung 
so leicht und frei wie der Fisch im Wasser, und so froh wie 
die Lerche, die m den Lüften ihren Triller spielt.“**) 

Mag aber dies Ideal heute für den Arbeiter allgemein 
nicht erfüllbar sein, für das arbeitende Kind wenigstens sollte 
es erfüllbar sein. Fröbel hatte etwas davon erkannt; aber es 
gehörte ein ganzer Künstler dazu, es nach allen Seiten aus- 
zuführen. Daß nun dies zum Guten wirkt, darüber ist man 
wohl einig; worin aber der Grund dieser Wirkung liegt, sagen 
in ganz übereinstimmendem Sinne die genannten zwei; Hum- 
boldt: „Der Gewinn, welchen der Mensch an Größe und Schön- 
heit einerntet, wenn er unaufhörlich dahin strebt, daß sein 
inneres Dasein immer den ersten Platz behaupte, daß es 
immer der erste Quell und das letzte Ziel alles Wirkens, 
und alles Körperliche und Äußere nur Hülle und Werkzeug 
desselben sei, ist unabsehlich“; und Pestalozzi: „Der Eindruck 
der harten Abrichtungskünste (im Spinnen) war menschlich 
gemildert und dem Höheren des Bildenden und Er- 
hebenden in der Erziehung untergeordnet und durch 
diese Unterordnung unschädlich gemacht.“ Anderwärts spricht 

*) Grenien der Wirksamkeit des Staats, bei Reclam S. 38. 

*•) Vgl. Pestalozzis Ideen etc. 8. 29 f. (Abhdl. 1 93); Religion, 2 Aufl. 

S. 10, 



358 


derselbe von der Unterordnung der „äußeren“ Arbeit unter die 
„innere“, auf der der Segen und die sittliche Wirkung der 
Arbeit überhaupt beruhe; genau mit dieser Unterordnung aber 
nimmt die Arbeit selbst ästhetischen Charakter an. 

Vielleicht scheint manchem dennoch wenigstens der Ernst 
der Schulerziehung dem Ästhetischen ferner zu stehen. 
Doch möchten wir, wenn es irgend in unsrer Macht stände, den 
finsteren Pedanten das Gewissen schärfen, die es oft wie mit 
Gewalt aus der Schule fernhalten zu wollen scheinen, und da- 
mit den höchst lebendigen und im tiefsten Grunde berechtigten 
ästhetischen Drang der Jugend sich sehr gegen ihr eigenes 
Interesse zum Feinde statt zum Bundesgenossen machen. An 
sich widerspricht nichts im Leben der Schule der Forderung 
ästhetischer Gestaltung, nur daß es eine besondere Seite des 
Ästhetischen ist, die hier beherrschend vorantritt. Das Kin- 
dische des Spiels wird verachtet; aber ist denn die Welt des 
Schulkinds schon die ganze, wache Wirklichkeit? Ist es nicht 
auch eine Art Spielwelt, in die es eintritt, wenn auch schon auf 
höherer, der Wirklichkeit um einen Grad näherer Stufe? Oder 
ist es weniger wahr für diese als für irgend eine andere Stufe, 
daß dem Menschen „nur mit dem Schönen zu spielen er- 
laubt“ sei? 

Der Realismus des Schulalters scheint dem schönen Spiel 
zu widerstreben. Aber das Schöne hat selbst eine rea* 
listische Seite, und eben diese ist es, zu der die zweite 
Erziehungsstufe den Grund zu legen hat. Auf der ersten ver- 
blieb noch alles in sinnlicher Ungeschiedenheit ; der ästhetische 
Trieb war schon sehr lebendig, aber er war noch nicht ge- 
bildet; seine Schöpfungen gehörten nur dem Augenblick. 
Dabei soll es nicht bleiben. Nichts Geringeres ist die Aufgabe 
als Natur selbst unter die Herrschaft der ästheti- 
schen Form zu zwingen, der sie doch sich zu weigern 
scheint. Da gilt es, ihr tapfer zu Leibe zu rücken mit der scharf 
geschliffenen Waffe der Technik. 

Das ist die Seite, die das Ästhetische dem Unterricht 
bietet; also gehört es auch in das Alter des Unterrichts. Die 
ästhetische Tätigkeit selbst braucht der Disziplin. Diese 



359 


ästhetische Disziplin aber findet Anknüpfungen in allen Ge- 
bieten des Unterrichts, überdies in der ganzen Organisation 
des Schullebens. Mathematik und Naturkunde, Natur- 
geschichte besonders in der mi^ großem Recht jetzt betonten 
Verbindung mit Heimatkunde, die den Sinn fürs Naturschöne 
vom lüeinsten des Pflanzen Wuchses und der minei alogischen 
Bildungen bis zum Großen der Landschaft, ja zur Alinung 
eines ästhetischen Universums aazuregen unerschöpfliche 
Kräfte zur Verfügung hat; und wiederum fast der ganze Inhalt 
des sprachlichen und geschichtlichen Unterrichts, der ein anderes 
Universum, das Universum des Innern, in oft ja schon direkt 
ästhetischen Formen erschließt; dazu Zeichnen (nebst Model- 
lieren) und Gesang, die ganz unmittelbar die ersten Stufen der 
Kunsttechnik erklimmen lehren; aber auch Loibespflege und 
Spiel — was überhaupt, das der Unterricht in rechtem Ver- 
hältnis zum Ganzen der menschlichen Bildung böte, könnte 
verfehlen, dem schon regen ästhetischen Sinn neue und neue 
Nahrung zuzuführen, oder den noch schlummernden zu wecken? 
Und wenn damit allerdings noch nicht unmittelbar auch sitt- 
liches Leben gepflanzt N ird noch werden soll, so würde doch 
die ganze geistige Befreiung, die in einem so durch die 
Selbsttätigkeit der Zöglinge ästhetisch oder doch in der Rich- 
tung des Ästhetischen gestalteten Unterricht läge, der Ent- 
wicklung des sittlichen Bewußtseins zur gleichen Autonomie 
unfraglicb zugute kommen; unter der Voraussetzung freilich, 
daß die sonstigen, so vielfältigen Bedingungen dieser sittlichen 
Entwicklung nicht fehlen, oder gar direkt entgegengesetzte 
Einflüsse vorwalten. 

Wie aber der realistische Faktor der ästhetischen Bildung 
der zweiten, so möchte der rein idealistische der dritten 
Erziehungsstufe vorzugsweise angemessen sein. Die Grenze 
macht der Zeitpunkt, wo nach Diotima in Platos Gastmahl 
(die schon fortwährend hier hätte angeführt werden können) 
der Drang zum Schönen aufs „hohe Meer'' hinausstrebt: näm- 
lich aufs Ganze des inneren wie äußeren Universums, nm 
durch die Suche nach ihrer letzten Einheit alsbald auf und 
über die Schwelle des Ideenreichs geführt zu werden. Soll er 



360 


dabei nicht überschwänglich werden, so bedarf er des Rüst- 
zeugs der Kritik, jener Selbstkritik ästhetischer „Urteils^ 
kraft“, wie sie Kant und Schiller uns verstehen gelehrt haben. 
In ihr findet die ästhetische Bildung ihren Abschluß im gleichen 
Sinne wie die theoretische in der Kritik der theoretischen, die 
sittliche in der der sittlichen Vernunft; ihren Abschluß nämlich 
in dem Sinne, daß die Zeit der Schulung damit sich vollendet, 
deren Gewinn aber durchs ganze Leben sich erhalten und 
mehren und sichern soll. 

So bewährt sich durchgehends die Harmonie der drei 
Grundkräfte der Bewußtseinsgestaltung auch im Stufengang der 
Erziehung, so wie es nach ihrem inneren Verhältnis zu einander 
auch erwartet werden durfte. Auf Einzelausführungen ver- 
zichte ich, so lockend die Aufgabe ist, und so dienlich sie sein 
möchten, unsern Schlußfolgerungen, die hier allzu ausschließ- 
lich deduktiv konstruiert erscheinen müssen, etwas mehr 
Glauben zu verschaffen. Nur angedeutet sei, daß für das naive 
Alter folgerecht die mehr naive dichterische und bildnerische 
Gestaltungsweise, also besonders die der Alten und was bei den 
Modernen dieser gleichartig ist, dagegen erst für die letzte 
Stufe die vollbewußte Weise der eigentlich modernen ästhe- 
tischen Schöpfung gehört; so wie in der Musik etwa für die 
erste Stufe Volkslied und Choral ausreichen, für die zweite 
die höchst formvolle, kunstverständige, in der Empfindungs- 
höhe aber noch fast kindliche Gestaltungsweise Mozarts, aber 
auch die ersten Elemente der wie naturgesetzlich gefügten 
Polyphonik Bachs, dagegen namentlich Beethoven sicher erst 
für die dritte gehört; womit ich nicht vermeine irgendwem 
etwas Neues zu sagen, sondern nur darauf hindeuten will, mit 
welcher Sicherheit hier die Praxis den Weg von selber ein- 
geschlagen hat, den die verwegene Deduktion auch dann vor- 
zeichnen müßte, wenn er nicht der längst gebräuchliche wäre. 
So wird man uns auch nicht bestreiten, daß das scharf unter- 
scheidende Merkmal moderner ästhetischer Gestaltung liegt 
in dem Durchgang durch die bewußteste Kritik, und dem seit 
unsrer klassischen Periode unaufheblich geschlossenen Bündnis 
der ästhetischen Schöpfung mit der strengsten Arbeit der 



361 


Wissenschaft, mit dem kühnsten Idealismus der Sittlichkeit, 
und mit dem Vordringen der Philosophie zu einem einheit- 
lichen, zentralen Verständnis des Bewußtseinsgrundes, in 
dem dies alles zusammen hängt; welche?* aber genau die Kenn- 
zeichen der der dritten Stufe eigenen Art und Richtung ästhe- 
tischer Bildung dem Dargelegten zufolge sind. Darin liegt 
schiieSlicL der tiefste Grund des Zusammenhangs des Ästheti- 
schen mit dem Sittlichen, mithin des Beitrags, den die ästhe- 
tische Bildung zur Bildung des Willens liefern kann und soll. 

§ 33 . 

Religion und Humanität* 

Über den Quell der Religion im menschlichen Gemüt 
und ihr Verhältnis zur Humanität, d. i. zu W sscnschaft, Sitt- 
lichkeit und Kunst in ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit 
und inneren, organischen Einheit, ist in einer früheren Schrift 
eigens gehandelt worden. Indem ich zur Ergänzung des hier 
und im letzten Kapitel zu Sagenden darauf verweise, benutze 
ich gern die von selbst sich bietende Gelegenheit, um hier und 
da hervorgetretenen Mißverständnissen oder Einwendungen 
durch minder biegsame Fassungen zu begegnen. 

Religion, behauptete ich zuerst, verfüge nicht über eine 
eigene, von den drei vorgenannten etwa grundverschiedene 
Gestaltungsweise. Sondern, soweit sie eines objektivieren- 
den Ausdrucks nicht etwa ganz entbehren zu können oder zu 
müssen glaubt, bedient sie sich lediglich der Ausdrucksmittel, 
die von jenen ihr zur Verfügung gestellt werden. So gibt 
es einen eigenartigen religiösen Lehrbegriff in den For- 
men der Wissenschaft, eine religiöse „Dogmatik“, die durch- 
aus bewiesene, theoretische Wissenschaft sein, zugleich aber 
alle bloß menschliche Wissenschaft überragen und (wo 
sie es ganz ernst meint) unterjochen will. Es gibt ebenso 
eine eigene, wiederum dem Anspruch nach die höchste, alle 
andern überragende, religiöse Sittlichkeit, die den Men- 
schen in ein völlig neues, der bloß humanen Sittlichkeit un- 
bekanntes, gleichwohl sittliches, jedenfalls in den Formen und 



362 


gleichsam im Stile der Sittlichkeit gedachtes Verhältnis setzen 
will, nämlich zu „Gott“; aus welchem Verhältnis ferner auch 
ein neues sittliches Verhältnis unter den Menschen, als Ange- 
hörigen der Gottesgemeinde, als Gotteskindern, sowie auch zu 
sich selbst, abgeleitet wird ; und wiederum soll die bloß humane 
Sittlichkeit sich dieser höheren schlechterdings unterordnen, 
durch sie erst geheiligt werden. Es gibt endlich auch eine 
eigentümliche, mit besonderem Geltungsanspruch auftretende, 
in ihren Mitteln aber von der bloß humanen gar nicht ver- 
schiedene, religiöse Weise der Kunstgestaltung: die reli- 
giöse Symbolik. Eine weitere, von diesen dreien ver- 
schiedene, etwa ganz eigene Weise des objektivierenden Aus- 
drucks, eine andere Sprache der Religion als diese gibt es 
meines Wissens nicht. Ich folgere: also vertritt Religion nicht 
eine vierte, jenen dreien koordinierte Gestaltungsweise 
bewußten Inhalts. An dieser ersten, bloß negativen, ihrem 
Kern nach übrigens schon bei Schleiermacher erreichten Fest- 
stellung dürfte nicht zu rütteln sein. 

Nun aber will Religion keinesfalls restlos in diesen drei 
Weisen objektivierender Gestaltung aufgehen. Sie behauptet 
über einen Gehalt zu verfügen, der in keiner einzelnen von 
ihnen, auch nicht in allen zusammen, sich erschöpfe. Wohl 
spricht die Seele der Religion in ihnen, aber sie spricht sich 
niemals aus; ja zuletzt gilt wohl von ihr das Wort: Spricht 
die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr. Das 
alles sind Äußerungen, vielleicht die natürlichen und not- 
wendigen Äußerungen, aber es ist nicht Wurzel und Grund 
der Religion. Sie möchte des Begriffs sogar entbehren oder 
mit sehr unzulänglichen Begriffen sich behelfen — sie darf es, 
eben weil zuletzt auch der höchste menschliche Begriff ihr 
nicht Genüge tut; die Tiefe des religiösen Lebens braucht 
dabei nicht Schaden zu leiden. Sie möchte selbst in der Sitt- 
lichkeit es nicht gar weit bringen — auch die reinste mensch- 
liche Sittlichkeit befriedigt ja nicht ihre Ansprüche; so würde 
selbst das nicht den Quell der Religion im menschlichen Herzen 
verschütten; ja recht aus der Seele der Religion gesprochen 
ist das Wort des Mystikers, das selbst die Sünde selig preist, 



363 


die einer solchen Erlösung (wie Religion sie bietet) wert sei. 
Und vollends unwesentlich bleibt der Religion ihr symbolischer 
Ausdruck, dessen Unzulänglichkeit von den ernst Religiösen 
allzeit betont worden ist. Umgekehrt: der Mensch, der in 
jenen objektivierenden Gestaltungen seine ganze Welt erblickt, 
der Forscher in der rein aufs Objekt gencbteten Arbeit seiner 
Forschung, der sittlich strebende Mensch, in eben diesem 
Streben, als bloß auf sein Objekt, das menschlich Gute, ge- 
richtet; vollends der künstlerische Mensch, ganz versenkt in 
die Tätigkeit der ästhetischen Gestaltung, in jenes freie, rein 
sich selber genügen wollende Spiel der gestaltenden Kräfte, 
nichts darüber hinaus suchend noch verlangend, ist insoweit, 
nach dem Urteil der Religiösen, nicht religiös, weiß nichts von 
Religion. 

Auch wer das „Wahre, Gute, Schöne“ in irgend einer 
letzten Einheit zu verstehen glaubte und darin nun sein Alles 
fände, auch der wäre, ja er vielleicht erst recht, für die Auf- 
fassung des Religiösen ein Irreligiöser, ein Atheist. Er möchte 
der vollkommen gebildete Mensch sein, so ist er damit 
noch nicht im mindesten religiös. Also hatte Keppler nicht 
Recht, in seiner Astronomie, noch Michelangelo, in seiner Bild- 
nerei seinen besten Gottesdienst zu sehen, noch ist es recht 
gesagt von einem Goethe : Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, 
hat (damit und darin) auch Religion; es würde auch noch 
nicht richtig, wenn man das vergessene Dritte, die humane 
Sittlichkeit, hinzusetzte. Sondern auch wer das alles besitzt, 
und nichts darüber, wird noch immer den Vorwurf der Irreli- 
giosität erfahren, der denn auch gerade den wissenschaftlichsten, 
den sittlichsten, den künstlerischsten Menschen niemals erspart 
worden ist. Mit diesem allen ist — das möge man nicht miß- 
verstehen — nichts für noch gegen Religion gesagt, es ist nur 
ihr eigenster, fort und fort tatsächlich erhobener Anspruch 
formuliert. 

Nun fragen wir weiter: aus welchem Quell im Men- 
schentum wird dieser eigene Anspruch der Religion begreif- 
lich? Denn vom Menschen verlangt man, daß er Religion 
nicht bloß als etwas Äußerliches habe oder sich zuzueignen 



trachte, sondern sie in sich, im eigenen Innersten finde; er 
selber soll religiös sein, in Religion leben, ein tieferes, eig* 
neres Leben als in irgend einem andern Erlebnis, etwa des 
Wahren, des Guten, des Schönen. Bildung hat man; das 
Wahre, Gute, Schöne, so weit es sich uns überhaupt erschließt, 
bleibt immer, als „Objekt“, ein uns Äußeres; Religion lebt 
man; es genügt nicht einmal zu sagen, man erlebe sie; denn 
man ist nicht bloß dabei, um dann mehr oder weniger davon 
zu ergreifen luid gleichsam an sich zu bringen, sondern man 
lebt sie unmittelbar, sie ist nur da in unserem Selbstleben* 
Umso mehr muß der Quell der Religion im Men^ 
sehen selbst aufgezeigt werden können. 

Ich bezeichnete nun diesen Quell, nach Schleiermachers 
Vorgang, durch das Wort Gefühl. Bei der schillernden Natur 
dieses psychologischen Kunstworts, die auch in der Ästhetik 
Verwicklungen herbeiführte, ist es begreiflich, daß man, trotz 
aller beigegebenen Erklärungen, an diesem Worte sich ge- 
stoßen hat; daher wird besonders hier eine weitere Aufhellung 
nötig sein. 

Auch das Ästhetische hat unzweifelhaft eine nahe Be- 
ziehung zum Gefühl; obgleich uns schien, daß mit (frei ge- 
staltender) „Phantasie“ sein Wesen unzweideutiger bezeichnet 
werde. Soweit aber Gefühl, ist es schlechthin nur Gestal- 
tungsgefühl. Zwar ist es gewiß auch Selbstgefühl, aber nur 
das Selbstgefühl im Gestalten, das Gefühl des Selbst als 
des Gestaltenden. Das ästhetische Gefühl haftet ganz allein 
an der Gestaltung, es lebt nur von ihr und in ihr; es erlischt, 
sobald die gestaltende Kraft der Phantasie erlahmt. Es ent- 
behrt deswegen auch eigentlich ganz des (im ausschließenden 
Sinn) individuellen Charakters. Nicht, daß ich, und nicht der 
und jener, Herr dieser Gestaltungen bin, ist sein Inhalt; das 
ist durchaus nichts Ästhetisches, sondern ein nebenher gehender, 
ziemlich unaufrichtiger Selbstbetrug. Sondern allein, daß 
der gestaltende Geist Herr der Gestaltung ist, ist tiefster 
Quell der ästhetischen Freude. Das besagt aber im Grunde 
nur, das Gesetz der Gestaltung sei Herr; und im rein ästhe- 
tischen Empfinden wird in der Tat nur dies empfunden. 



365 


Das religiöse Gefühl hingegen hängt durchaus nicht an 
der Gestaltung. Zwar sacht es auch alle Gestaltung zu durch- 
dringen, da es überhaupt eint unumschränkte Herrschaft 
beansprucht über alles, was im Bewußtsein Sein und Leben hat. 
Aber es will noch etw*.S unergründlich Tieferes sein als alle 
einem Menschenbewußtsein faßliche, notwendig doch end- 
liche Gestaltung. Dieser über alle objektivierende Gestaltung 
(menschlicher Art) hinausgehendo Anspruch der Religion ist 
es, für den ich keine andre Erklärung finde als in der Eigen- 
heit des Gefühls, Was damit gemeint ist, die Unmittel- 
barkeit rein innerlichen Erlebens, un Unterschied von 
aller objektivierenden und damit veräußernden Cesta^Itung, 
der doch gerade das eigen ist, den „Gegenstand** vom un- 
mittelbaren Erlebnis des Subjekts abzulösen urd als ein Anderes, 
für sich Seiendes, ihm gegenüberzustellen. Es ist die ursprüng- 
liche Konkretion des unmittelbaren Erlebnisses, der gegen- 
über jede objektivierende Gestaltung zur blassen, unzuläng- 
lichen Abstraktion herabsinkt. Auch das Gefühl in der 
von Psychologen gemeinhin angenommenen Bedeutung der 
Lust und Unlust ist nur eine solche Abstraktion, in der nur 
gleichsam nach dem Pegelstand des augenblicklichen subjek- 
tiven Befindens gefragt, von allem aber, was dabei innerlichst 
erlebt wird, geflissentlich abgesehen wird. Darin ist besten- 
falls eine und zwar die äußerlichste, daher faßlichste Seite 
des Gefühls zum Ausdruck gebracht, sein wirklicher Gehalt 
aber ist ein ohne allen Vergleich reicherer. 

Daß es so schwer ist, von diesem letzten Gehalt des Ge- 
fühls zu reden — „Gefühl ist alles, Name ist Schall und 
Rauch“ — versteht sich eben aus dieser seiner unnahbaren 
Innerlichkeit, Ausdrückbar wird es etwa nur durch die un- 
ausführbare Vorschrift; setze alle möglichen Abstraktionen, 
die irgend welchen besonderen Inhalt des Bewußtseins heraus- 
lösen und damit objektivieren, voraus, laß aber dann diese 
Ablösung wieder ungeschehen und die herausgelösten Inhalts- 
bestandteile in die ursprüngliche Verbindung, die alles 
mit allem im unmittelbaren „subjektiven“ Bewußtsein hatte, 
zurückversetzt sein. Aber auch das ist schließlich nur ein 



366 


abstraktives Verfahren, welches dem angeblich Unmittelbaren 
erst durch weite, ja grenzenlose Vermittlungen beizukommen 
unternimmt und es so erst recht nicht erreichen wird; aber 
eben indem auf diese Weise seine Unnahbarkeit durch den 
vergeblichen Versuch, ihm zu nahen, erst recht zum Bewußt- 
sein gebracht wird, so wird damit die Existenz dieses Un- 
nahbaren dem Zweifelnden gewiß gemacht. Für das Er- 
lebnis des Gefühls übrigens ist es in der Tat ganz gleich- 
gültig, ob es einen zulänglichen Ausdruck überhaupt findet 
oder nicht; es will nur in reiner Gegenwart gelebt, es will 
nicht gedacht d.h. mittelbar vergegenwärtigt sein. In jener 
Klage: „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele 
nicht mehr“ ist das „ach“ grundlos: eben diese Unaussprech- 
lichkeit des Gefühls ist sein Höchstes. 

Findet man für das so mehr Umschriebene als Beschriebene, 
zweifellos aber Vorhandene ein andres Wort passender als das 
Wort Gefühl, so wird niemand zögern, dies Wort preiszugeben ; 
es wurde gewählt, weil ein andres (meines Wissens) nicht ge- 
bräuchlich, dieses aber zweifellos oft so gebraucht, namentlich 
in die Sprache der Religionsphilosophie seit Schleiermacher 
als technischer Terminus eingeführt ist. Jedenfalls dürfte es 
in einer so gewichtigen Sache förderlicher sein um Sachen zu 
streiten als um Wörter. Man hätte meiner Aufstellung nicht 
entgegenhalten dürfen: Religion beruhe eben nicht auf einer 
seelischen Kraft allein, sondern auf allen zusammen; Verstand 
und Wille gehöre auch dazu. Eben dies „Alles in allem“ 
der seelischen Kräfte ist, nach dargelegter Auffassung, das 
,, Gefühl“. Der Begriff, sofern er selbst und das darin Be- 
griffene mir unmittelbares, subjektives Erlebnis ist, ist 
darin mitbefaßt, und so alles, was man sonst noch nennen mag; 
nur daß es eben jene Unmittelbarkeit besagt, in der nicht ein 
Besonderes sich als solches abgrenzt. Unter Denken aber 
verstehen wir ein solches Begrenzen, und so unter Wollen 
und so fort; insofern ist dieses alles nicht Gefühl; insofern 
aber, behaupte ich, ist es auch nicht Religion. Daß aber der 
bloße, abgelöste Begriff, und wäre es der Begriff des Gött- 
lichen, ohne diesen Grund der Innerlichkeit, aus dem er quillt, 



367 


etwas Religiöses sei, ja, daß es überhaupt möglich wäre diesen 
Begriff mit der lebendigen Überzeugung seiner Wahrheit 
zu haben, anders als auf diesem G’^unde innerlichen Erlebens, 
oder daß die bezügliche sittliche oder künstlerische Haltung 
oder was sonst noch al*^ für Religion charakteristisch an- 
gesehen werden mag, in der Seele lebendig sein könnte ohne 
diesen Grund der Innerlichkeit, aas hat der Einwand ver- 
mutlich nicht sagen wollen; wenn doch, so wäre er tatsächlich 
widerlegt durch das einhellige Zeugnis der ernst Religiösen 
aller Zeiten. 

Es wird, wie man sieht, in dieser Grund bestimmung über 
den Gefühlsquell der Religion nur das unzählige Male Gesagte 
ganz beim Wort genommen, daß Religion unmittelbares Leben 
und nicht mittelbarer Begriff, oder ein bloßes Werk des 
Willens oder der Kunst oder sonst irgend ein äußerlich sich 
darstellendes Werk sei. Daraus aber erklärt sich nunmehr, 
weshalb auch die vollendetste menschliche Erkenntnis, mensch- 
liche Sittlichkeit oder menschliche Kunstgestaltung, oder auch 
dies alles im Verein, dem von Religion Erfüllten geradezu 
irreligiös erscheint. Das cst eben immer Abstraktion, Mittel- 
barkeit, Partikularisation des in sich konkreten, unmittelbaren, 
unzerstückten Ganzen des Erlebnisses, Veräußerlichung — 
Verendlichung .des in sich rein Innerlichen — Unend- 
lichen. 

Darin liegt nun der Kein des ganzen Problems, in diesem 
Begriff des Innerlichen, im Gefühl unmittelbar Erlebten, als 
des „Unendlichen**. Denn dies ist der Quell der Trans- 
zendenz, die von Religion untrennbar gehalten wird, und von 
ihr, sofern sie, ohne sonstige Rücksicht, rein als Religion sich 
vollenden will, auch in der Tat untrennbar ist. Man erkläre 
den Hang zur Transzendenz anders als aus dieser Rücksichts- 
losigkeit, in der die reine Innerlichkeit des Gefühls sich aller 
objektivierenden Veräußerung gegenüber behaupten will; ich 
habe eine andere Erklärung bisher nicht gefunden; glaubt man 
sich in ihrem Besitz, so werde ich dem dankbar sein, der sie 
mir faßlich zu machen der Mühe wert hält. 

Denn aus keiner der drei Grundrichtungen der Objekti- 



368 


vierung ist sie etwa begreiflich zu machen. Begreifen heißt 
begrenzen. Das Unendliche des bloßen Verstandes besagt nur, 
negativ, die Unmöglichkeit, mit dem jederzeit endlichen und 
auf endliche Anwendungen allein zugeschnittenen Verfahren 
des verstehenden Bewußtseins je zu Ende d. h. zu einem ab- 
schließenden Ziel des Erkennens zu gelangen; allenfalls auch 
positiv die Immer-wieder-Anwendbarkeit desselben Verfahrens 
dieses verstehenden Bewußtseins. So bedeutet die Unendlich- 
keit der Zahl: das Verfahren der Zählung sei so geartet, daß 
ein Weiterzählen, soviel an der Natur des Verfahrens liegt, 
immer möglich bleibt, daß es keinen Begriff einer letzten Zahl 
gibt. Und dem ähnlich verhält es sich mit jedem andern 
bloß verstandmäßigen Ausdruck des Unendlichen. Auch das 
„Absolute“ bezeichnet nur negativ die Grenze des Begreifens, 
kein Begriffenes, keinen in einem positiven Begriff erfaßten 
oder erfaßlichen Gegenstand des Erkennens; es ist bestenfalls 
der Begriff davon, wie wir den Gegenstand begriffen haben 
müßten, um ihn ganz, ohne Einschränkung begriffen zu 
haben. Es ist für den Standpunkt des wirklichen Begreifens 
sogar ein sich selbst mißverstehender Aufgabenbegriff; 
denn menschliches Begreifen besteht nur und hat nur seine 
Aufgabe in einem Fortschreiten von Grenze zu Grenze, ohne 
Abschluß in einem solchen Begriffenen, woran nichts weiter zu 
begreifen übrig bliebe. 

So ist aber nicht das Unendliche, das die Religion im 
Erlebnis des Innern, nicht sucht, sondern unmittelbar zu 
haben, zu leben glaubt. Zwar unternimmt sie wohl nach- 
träglich auch das in den Formen des begreifenden Denkens 
auszudrücken, da sie, kraft ihres universellen Anspruchs auf 
das ganze Reich des Bewußtseins, auch das Gebiet des Ver- 
standes, der theoretischen Erkenntnis, für sich zu erobern 
trachten muß. So arbeitet sie etwa ihr Dogma vom Unend- 
lichen in aller Form begrifflich aus, und man empfindet vielleicht 
eine „innere“, d. h. subjektive Notwendigkeit dabei, die über 
die Skrupel des objektivierenden Verstandes hinweghilft; die 
Subjektivität ist ja, für den Standpunkt der Religion, eigentlich 
ein Lob und eine Tugend; das Subjektive, nicht das Objektive, 



369 


ist ja für diesen Standpunkt eben das „Wahre“. Als bloßer, 
von Abstraktion zu Abstraktion, von Objektivierung zu Ob- 
jektivierung in grenzenloser Stufenfolge fortschreitender, somit 
„endlicher“ Verstand mag er im Recht sein; aber diesem stellt 
man gegenüber den höheren Verstand, und wäre es allein der 
göttliche. Das besagt aber in Wahrheit: man versteht 
nicht, sondern postuliert ein Verstehen, das über 
alles (menschliche) Verstehen sei. 

Im Gebiete des Willens aber hat zwar das „Unbedingte“ 
eine ganz positive Bedeutung, doch nur die der Uiibedingt- 
heit des Solle ns, der Aufgabe, nämlich einer geforderten, 
aber für Endliche nie erreichbaren letzten Einheit der Zwecke. 
Auch diese positivere Bedeutung des Unbedingten, Unendlichen 
also ist doch lediglich formal, mithin grundverschieden von 
dem, was Religion, wie gesagt, nicht sowohl sucht als zu 
haben behauptet. Reine Sittlichkeit — ein unerbittliches, 
abstraktes, unpersönliches Gebot ohne Erfüllung; ein Gericht, 
das nur verdammt, niemals freispricht; ein Gesetz, das uns 
in eine Schuld stürzt, für die es kein Lösegeld gibt — das 
ist nicht, worin Religion sich zu befriedigen vermag. Das 
ist nicht Gott, der nicht hilft, nicht uns nahe kommt 
oder vielmehr ewig nahe ist. 

Man tut der Religion Unrecht, wenn man ihr vorwirft, 
daß sie nur die „Glückseligkeit“ des Ich im Auge habe. Nein, 
sie will, jedenfalls in ihren höheren Formen, in der Tat die 
sittliche Reinheit; diese allerdings ganz individuell: „Was soll 
ich tun, daß ich selig werde“ — selig in Reinheit, in Gerechtig- 
keit — so allerdings lautet ihre Frage. Und zwar verlangt 
sie in diesem gegenwärtigen Leben schon solcher Seligkeit 
gewiß zu werden, wenn auch nur mit der Gewißheit einer 
zweifellosen Verheißung; da sie sich doch nicht völlig dagegen 
verschließen kann, daß die ganze Erfüllung die Bedingungen 
dieses irdischen Lebens übersteigt. Gerade die kühne These, 
daß nichts als „Glaube“ dazu gehöre, um diese ewige Errettung 
und Erlösung von aller Schuld sich anzueignen (nämlich nicht 
etwa sich zu erwerben, sondern geschenkt zu erhalten), wird 
hieraus ganz begreiflich. Es gehört wirklich dazu nichts als 

K a t o r p, SoKlalpädagogik. 4. Aafl. 24 



370 


die unbekümmerte Hingabe an jenen Drang des Gefühls, der 
in keine Grenze des Verstandes- oder Wiliensgesetzes sich ein- 
engen läßt, sondern kraft des souveränen Rechts seiner Un- 
endlichkeit unendliche Gnade bereit hält für die unendliche 
Schuld des endlichen Willens, unendliche Macht, den unend- 
lichen Abstand des Endlichen vom Ewigen zu überbrücken, 
unendliche Fülle unmittelbarer Wahrheit, um den unendlichen 
Zweifel des im Endlichen, Mittelbaren endlos verirrten Ver- 
standes zu beschwichtigen. 

Religion ohne Transzendenz ist nicht mehr Religion: das 
hat man in allen Tonarten meiner früheren Darlegung entgegen- 
gehalten. Eine wunderliche Antwort, da ich doch eben dies 
behauptete, daß der Religion, bloß als solcher, die Trans- 
zendenz in der Tat unvermeidlich sei. Allein, eben diesen 
schier unüberwindlichen Hang zur Transzendenz zu erklären, 
das war die Aufgabe, die ich mir stellte. Bliebe nun auch 
nur der negative Teil dieser Erklärung stehen: daß der Trans- 
zendenzanspruch sich nicht erklärt gemäß den eigenen Ge- 
setzen des Verstandes oder des Willens oder der ästhetischen 
Gestaltung, so wie diese Gesetze bekannt sind aus der reinen, 
menschlichen Wissenschaft, aus der reinen, humanen Sitten- 
lehre und der reinen, humanen Kunst, oder auch aus irgend 
einer letzten Vereinigung dieser aller etwa in einer (nicht selbst 
auf ein andres, nämlich religiöses Fundament gestützten) 
Philosophie der Erkenntnis — so bhebe zum wenigsten die 
Folgerung aufrecht: daß also ein Konflikt besteht — 
wie denn angesichts der Geschichte dieser Konflikt sich ehr- 
licherweise nicht leugnen oder als bloßer Mißverstand Einzelner 
verstehen läßt — zwischen Religion und Humanität. Man 
kann dann diesen Konflikt von der einen oder andern Seite her 
zu überwinden versuchen; da ich nun von Seiten der Religion 
(der Transzendenz) die Möglichkeit seiner Überwindung nicht 
abzusehen vermag, so versuche ich es von Seiten der Humanität. 

So kommen wir zu der zweiten, größeren Frage nach dem 
Rechte, und nicht bloß dem Ursprünge, der Transzendenz, 

Der nichts-als- Religiöse zwar wird diese Frage gleich von 
der Schwelle ab weisen. Begreiflich: habe ich Gott, was ver- 



371 


mag dann wider mich aDer Zweifel menschlichen Verstandes, 
menschlicher Sittlichkeit, menschlicher Kunstgestaltung? Dieser 
Zweifel selbst ist schon ein Beweis tiefer „Gottlosigkeit“ oder 
doch Gottferne. Niehl die Religion überhebt sich, wird ein 
solcher sagen; was kann demütiger sein als das Gefühl: „Gott 
ist gegenwärtig“ ? Sondern die Überhebung ist auf der Seite 
der menschlichen Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die 
sich vermißt, ihr gebrechliches „Gesetz“, jenes Kantische ABC, 
womit wir Erfahrung buchstabieren, zum Maßstab zu machen 
für — Gott den Unendlichen; während sie doch selber einge- 
stehen muß, nichts als dies ABC und was sich damit buchsta- 
bieren läßt, zu kennen. 

Das alles ist nur folgerichtig. Freilich ein seltsames Ge- 
schick, das der kritischen Vernunft begegnet. Lehrt sie die 
Selbstbescheidung, auf Transzendenz zu verzichten, so wird ihr 
Schuld gegeben, daß sie eben damit ihre Kompetenz über- 
schreite und sich des Einbruchs in ein Gebiet schuldig mache, 
das ihr grundsätzlich verschlossen sei. 

Eine Verständigung scheint hier ausgeschlossen; und daß 
sie ausgeschlossen ist, kann jenem nichts-als- Religiösen nur 
gerade recht sein. Man tritt nicht in Friedensverhandlung mit 
dem, den man niederzuwerfen gewiß ist; warum paktieren, 
wenn man Gott auf seiner Seite hat? Abfinden übrigens 
kann sich die Religion der Transzendenz mit der humanen 
Kultur ganz wohl: sie läßt sie ganz gelten, wofern sie sich 
nur dahin demütigt, ihr dienstbar zu werden und die Schranken 
sich gefallen zu lassen, die sie ihr bestimmt; nur leider nicht 
in reiner Anerkennung ihrer objektiv gesetzlichen 
Ansprüche. Abfinden kann sich umgekehrt die humane 
Kultur mit der Religion; aber nicht mit der Religion der 
Transzendenz, sondern allein mit einer solchen, die auf die 
„Grenzen der Menschheit“ sich bereits zurückbesonnen hat. 
Wird diese von den Transzendenzgläubigen nicht mehr als 
Religion anerkannt, so vermag umgekehrt die reine Wissen- 
schaft, die rein menschliche Sittlichkeit und die rein mensch- 
liche Kunstgestaltung das, wa.° die Religion der Transzendenz 
aus diesem allen macht, nicht für echt und ehrlich zu erkennen. 

24 ^ 



372 


Auf diesem toten Punkt ist der Streit gegenwärtig an- 
gekomnxen. Es fragt sich, ob es hierbei bleiben, ob also die 
Menschheit in diese zwei unversöhnlichen Parteien für immer 
auseinanderfallen soll. Warum nicht? wird der Religiöse 
sagen, dessen ganzes Denken ja darauf eingestellt ist, eine 
solche söhließliche Dualität als unvermeidlich hinzunehmen; 
auch wenn ihm Hölle und Teufel zu etwas verblaßten Reali- 
täten geworden sein sollten. Anders der Humanist. Er wird, 
nicht aus schwächlicher Friedenssehnsucht oder gar im Gefühl 
der eigenen Kampfunfähigkeit, sondern nach dem ganzen 
Prinzip seiner Denkweise den Ausgleich für möglich und not- 
wendig halten ; möglich und notwendig eben auf dem Boden — 
der Humanität. Er wird versuchen, Religion selbst als eine 
Geburt des Menschentums zu begreifen; er wird versuchen zu 
zeigen, daß der Quell und innere Grund der Religion — der- 
selbe innere Grund, der, wenn ausschließlich wirkend, 
nicht in ein reines Verhältnis gesetzt zu Wissenschaft, Sittr 
lichkeit und Kunst, die Transzendenz und damit jenen un- 
heilbaren Konflikt unvermeidlich herbeiführt — dann, wenn 
er dies reine Verhältnis zu suchen nicht verschmäht, auf die 
Transzendenz verzichten, und gerade so erst in seiner Reinheit, 
seiner echten Menschlichkeit sich enthüllen wird. Ich möchte, 
daß man auf diese Grundthese meiner früheren Schrift ernstlich 
eingegangen wäre. Die Antwort: Rehgion ohne Transzendenz 
sei eben keine Religion mehr, bedeutet, dieser These gegenüber, 
nicht eine Antwort, sondern ein Achselzucken. 

Alle edleren Gestaltungen der Religion, .gerade die, die 
man als die edelsten immer hat anerkennen müssen, enthalten 
rein humane, namentlich menschlich-sittliche Elemente von 
tiefster Bedeutung. Man kann dagegen ein wenden: das be- 
weise nur, daß solche Elemente sich mit Religion also verträg- 
lich erwiesen haben, und zwar mit der Religion der Transzen- 
denz, die doch diese selben Religionen nicht etwa preisgegeben 
haben. Allein auf der Höhe ihrer Bewußtheit treten 
diese Elemente in unvermeidlichen Konflikt mit 
der Religion, sofern sie Transzendenz ist; während 
sie, wie ich behaupte, verträglich bleiben mit der Religion, 



373 


die auf die Transzendenz verzichtet. Ob man das nun noch 
Religion nennen will oder nicht, ist gleichgültig. Es fließt 
aus demselben Quell, aus dem allein auch die Religion der 
Transzendenz fließt, es lebt in gleicher Art in der Seele des 
Menschen, es wirkt in gleicher Ai’t, ja es ist dasselbe, was 
jemals in der Religion reine Kraft und Wirkung bewiesen hat, 
was in ihr Wahrheit gewesen und für immer ist. Mit dem 
Wegfall der Transzendenz wird nicht der QueD der Religion 
verschüttet, nicht ihre Kraft und Wahrheit entwurzelt. Ist 
dies so, so ist es wahrlich die müßigste aller Doktorfragen, ob 
man über das alles auch den Namen Religion heibehalten soll 
oder nicht. 

Betrachten wir nun noch die Folgen, die aus der gedachten 
Umwandlung der Religion sich ergeben müßten. Die erste 
dieser Folgen ist der Wegfall aller und jeder Dogmatik. 

Ursprüngliche Religion kennt kein Dogma. Sie hat 
Vorstellungen des Göttlichen, aber ohne irgend welchen 
Anspruch wissenschaftlicher Geltung. Erst auf einer 
bestimmten Stufe der Entwicklung nicht sowohl der Religion 
als der Wissenschaft stellt sich das Bedürfnis einer wissen- 
schaftlichen Rechtfertigung der Religion allerdings naturgemäß 
ein. Aber auf dieser selben Stufe der bis zur Kritik entwickelten 
Wissenschaft wird diese Rechtfertigung auch sofort zurück- 
gewiesen, da sie nun einmal die Grenzen und Gesetze mensch- 
licher Wissenschaft übersteigt. 

Bleibt nun dieser Ein wand im Recht — fällt damit also 
die Wahrheit der Religion? Vielmehr bloß jener neue, un- 
wahre Anspruch religiöser Vorstellungen auf schlechthin 
objektiven Erkenntniswert fällt hin. Die religiöse Vor- 
stellungsbildung unterliegt eigenen Gesetzen, verschieden von 
denen der theoretischen Erkenntnis; aber sie tritt eben darum 
mit diesen nicht in Widerspruch, solange sie nicht den An- 
spruch objektiv-wissenschaftlicher Geltung erhebt, solange sie 
keine andre Bedeutung als die eines Haltes für das Gefühl 
beansprucht. 

Aber man müsse von der Wirklichkeit des Vorgestellten 
überzeugt sein, hält man entgegen. Es ist zu antworten: 



374 


diese Wirklichkeit wird anfangs naiv geglaubt, wie die der 
täglichen Ehrehung des Himmels um die Erde; ist aber einmal 
diese Naivität zerstört, ist die Frage nach der Wirklichkeit 
eine wissenschaftliche erst geworden, so kann auch nicht 
länger verborgen bleiben, daß die Bestimmung „Wirklichkeit“ 
dem Gesetze des erkennenden Verstandes unterliegt 
und an ganz bestimmte erkenntnisgesetzliche Bedingungen 
gebunden ist. Diese aber schließen eine erkennbare Wirklich- 
keit des Unbedingten aus; eine theoretische Behauptung von 
Wirklichkeit, die diese Grenze nicht innehält, ist wissenschaftlich 
unzulässig. 

Aber vielmehr ist die „Wirklichkeit“, deren die Religion 
bedarf, gar nicht im Gebiet und gemäß den Begriffen theo- 
retischer Erkenntnis zu suchen. Religion will gar nicht ver- 
mittelte Erkenntnis, sondern unmittelbares Erlebnis sein. Es 
hat aber keinen Sinn, eine andre Wirklichkeit unmittelbar im 
Gefühl erleben zu wollen als die Wirklichkeit des Gefühls 
selbst. Die religiöse Vorstellung ist rechtmäßigerweise nur 
Gefühlshalt, nur Ausspruch, Buchstabe; es ist widersinnig für 
diesen Buchstaben noch eine besondere Buchstabenwahrheit 
zu verlangen, verschieden von der Wirklichkeit des Gefühls- 
erlebnisses, das darin zwar sich aussprechen möchte, aber 
sich dabei doch bewußt bleibt, sich nie wirklich aussprechen zu 
können, und im Grunde auch nicht aussprechen zu sollen. 

Stark religiöse Naturen haben denn auch stets die Unzu- 
länglichkeit jedes Dogmas mehr oder weniger empfunden. 
Sollte es nicht heißen mit der Innerlichkeit der Religion erst 
ganz Ernst machen, wenn man den Wegfall jeglicher Dogmatik 
fordert? 

Jede Gottesvorstellung, jeder ausgeführte Gedanke von 
Gott ist nun einmal unvermeidlich anthropomorph. Kann 
man unter Gott etwas Andres denken als die Menschheit — 
den „Geist“, den wir nur kennen als menschlichen — zur Idee 
erhoben? Weiß man auch nur ein einziges göttliches „Attribut“ 
anzugeben, das etwas andres nennt als eine menschliche 
Eigenschaft, nur mit der an einer solchen leider unvollzieh- 
baren näheren Bestimmung der Unendlichkeit, Absolutheit? 



375 


Woher anders könnte un3 wohl irgend ein Inhalt des Begriffs 
des Göttlichen kommen als aus uns selber? Wie nach alter 
Lehre alle „Offenbarung“ GotW an den Menschen die Sprache 
des Menschen redet, um doch von Menschen verstanden zu 
werden — weshalb man sich auch an dieser menscldichen 
Sprache nicht stoßen dürfe — , so muß ja all ihr Sinn mensch- 
lich sem, da er nur dadimch Menschen veiständlich und von 
irgend welcher auch nur subjektiven Wahrheit für Menschen 
sein kann, daß es menschlicher Sinn ist. Sie macht Gott zum 
Vater, zum Bruder, zum Richter, Gesetzgeber und Kriegsherrn, 
schließlich zum höchsten Walter des Wissens, zum größten 
Geometer und Naturkündiger, zum vollkommenen Künstler — 
kurz, das ganze Universum des Menschentums muß 
dienen, die Idee des Göttlichen aufzuerbauen. 

Wodurch anders sollte der Mensch zu dieser Potenzierung 
seines eigenen Wesens in der Idee des Göttlichen wohl geführt 
werden, als dadurch, daß eben dies Universum seines Innern 
ihm ahnend bewußt wird, und in dieser Ahnung er sich ge- 
trieben fühlt, an sein eigenes, reinstes Ideal sich mit vollem, 
ungehemmtem Gefühl uinzugeben? Somit ist die religiöse Vor- 
stellung unverwerflich als Gefühlshalt, auf höchster Stufe als 
Symbol, nämlich im künstlerischen Sinne des „aufrichtigen 
Scheins“, nicht aber der Behauptung der wirklichen Gegenwart 
des Unendlichen in dem doch immer sterblichen Leibe der Vor- 
stellung. Wir glauben nicht, daß bei voller Klarheit der Selbst- 
besinnung dieser Stufe der Reinigung der Religion ehrlicber- 
weise3 mehr ausgewichen werden kann. Man kann wohl in 
Einzelrichtungen wissenschaftlich forschen, aber man kann 
nicht philosophieren, nicht Wissenschaft treiben mit reinem 
Bewußtsein dessen, was man tut, ohne diese Konsequenz. 

Noch weit schwerer wird wohl manchen die zweite Forde- 
rung bedünken, die sich auf das sittliche Verhalten des 
religiösen Menschen bezieht. Auch dieses kann für das er- 
wachte kritische Gewissen nicht unverändert das bleiben, was 
es war. Der Anspruch des unmittelbaren Ergreif ens des sitt- 
lichen Heils, diese so emporhebende, so weltüberwindende Über- 
zeugung, daß man seine „Rechtfertigung“ und „Versöhnung“, 



376 


die Wiederherstellung seiner Gotteskindschaft in begnadeter 
Stunde in der Seele unmittelbar erlebe, ist nicht haltbar. 

Es ißt auch hier, wie man sieht, nicht die Rede von dem 
vielgescholtenen Glückseligkeitsanspruch der Religion, sondern 
von ihrem Allerheiligsten, von der sittlichen Reinigung, die sie 
ihren Gläubigen verheißt. Es ist hart und kann selbst sittlich 
gefährlich scheinen, von sich selbst und vollends vom Andern 
zu fordern, daß man sogar auf diesen rein sittlichen Glauben 
der Religion verzichte. Und doch ist es notwendig, denn dieser 
Glaube hält vor der ganzen Schärfe gerade der sittlichen Kritik 
nicht stand. Denn sie fordert Wahrheit über alles, und wäre 
es über unser Heil; obgleich sie den Glauben nicht verbietet, 
daß zuletzt Wahrheit auch unser Heil ist, auch wenn wir es 
jetzt nicht erkennen. Es ist aber nicht Wahrheit, was der 
Überschwang des sittlichen Gefühls, die Selbstgewißheit des 
Gefühlserlebnisses des Sittlichen, uns zu glauben verführt; 
daß wir in eben diesem Erlebnis nun sittlicher Reinheit und 
gottgleicher Schuldlosigkeit teilhaft geworden seien. Die Wucht 
der Schuld, wir müssen sie weiterschleppen, und in harter, 
resignierter Arbeit ihr ein reelles Gegengewicht schaffen; eine 
andre Erlösung gibt es sittlicherweise nicht. 

Also gibt es keine, wird man antworten; denn dies Gegen- 
gewicht — wie oft hat man uns das vorgerechnet — vermögen 
wir nicht aufzubringen. — Nun denn, so muß man, wenn 
Friedrich Vischer trotzig dichtet: „Es gibt keinen lieben 
Vater im Himmel“, auch hinzusetzen: es gibt keine Erlösung, 
sondern Arbeit ist Menschenlos, ein Streben sonder Rast zum 
ewig fernen Ziel. Und dennoch: „In Seelen, die das Leben 
aushalten und Mitleid üben und menschlich walten, mit ver- 
einten Waffen wirken und schaffen trotz Hohn und Spott — 
da ist Gott.“ Der in der Religion schlummernde sittliche 
Glaube hat Tausenden Kraft gegeben eben hierzu; solche 
Kraft kann nicht aus nichts, aus leerer Einbildung ent- 
stammen. Es muß. also solche Kraft im Gefühlsgrunde 
der Religion liegen, eine Kraft zu trauen auf die Realität 
der sittlichen Aufgabe, allem zum Trotz. Aber braucht 
dies Zutrauen, neben diesem subjektiven, einen andern ob- 



377 


jektiven Grund als das Sittengesetz selbst, welches spricht: 
Du kannst, denn du sollst? Erhebt sich nicht unsre Seele 
zum Sittlichen, indem sie es ols ihr eigenes Gesetz erkennt, 
und liegt nicht in oben dieser Erkenntnis Grund genug zum 
Vertrauen, daß das Sittliche, dessen Idee wir haben und 
als letztes Gesetz unsres eigenen Wollens in ims finden, auch 
den Sieg behalten muß über alles, was in oder außer uns ihm 
widerstrebt? Kann nicht die Größe dieser Erkenntnis unsre 
Seele auch ausfüllen mit mächtigem und doch beruhigtem Ge- 
fühl: Hier ist das Heil, und es ist dir errungen, so du nur 
in deiner Seele es fest fassen und halten, ro du nur „glauben“ 
wolltest? 

Ich kann nicht erkennen, daß Religion in ihrem wahren 
Grunde mehr oder andres sagte; was sie sonst noch sagt, ver- 
stehen wir nicht, und was nicht verstanden wird, ist so gut 
wie nicht gesagt. Der Fehler liegt allein in der überschwäng- 
lichen Beziehung dieses rein menschlich verständlichen Erleb- 
nisses auf die in mir dem Individuum nun übernatürlich gegen- 
wärtige Gottheit. Gewiß muß die reine Idee auch in Beziehung 
treten zu meinem individuellen Sein und Leben, wenn sie mir 
dem Individuum jene Erhebung bedeuten soll. Aber die Rein- 
heit der Idee selbst leidet Schaden, wenn die mit noch so reiner 
Selbstgewißheit des Wollens ergriffene sittliche Aufgabe auf- 
hört als Aufgabe verstanden zu werden; wenn das ewig Sein- 
sollende als in diesem Augenblick wahr und wirklich ge- 
worden geglaubt wird. Gerade das heißt den tiefsten Quell 
des Sittlichen verunreinigen, denn das sittliche Wollen fließt 
allein aus dem Bewußtsein der ewigen Aufgabe. „Glaube“ ist 
ein gutes Wort dafür, gerade sofern es einschließt, daß wir 
„nicht sehen und doch glauben“. Überbietet also nicht der 
sittliche Glaube den religiösen (im Sinne der Transzendenz) 
sogar in der Energie des Glaubens selbst? 

Die religiöse Symbolik endlich vermag ihre Bedeutung 
unverkürzt zu erhalten, bis auf das Eine, daß sie das endliche, 
ja sinnliche Zeichen nicht bloß als Zeichen, als Stützpunkt 
des Gefühls ansieht, sondern eine Gegenwart des Unendlichen 
im Endlichen, des Ewigen in der Zeit dabei dogmatisch be- 



378 


hauptet, daß das Symbol des Heiligen zu dem Heiligen selbst 
gemacht wird, und in dieser Meinung etwa der Gestus der 
Anbetung sich gegen es richten darf. Ganz hat auch der 
bilderfeindlichste Kultus das nicht gemieden. Das Angebetete, 
Göttliche soll unsichtbar, ohne körperliche Sinne, auch keinem 
menschlichen Laut erreichbar sein; aber die sichtbare Gebärde, 
die hörbare Sprache der Anbetung scheint doch es in den Ort 
und Augenblick bannen zu wollen. Sobald die Gegenwart des 
Göttlichen so genommen wird, ist der Sinn des „aufrichtigen 
Scheins^* verletzt, und eine Dogmatik in die an sich rein ästhe- 
tische Gestaltung hineingetragen, die doch dem Ästhetischen 
seinem ganzen formalen Grunde nach fremd und feindlich ist. 

Auch hier wird nur die Wahrheit der Sache in ihrer Rein- 
heit wiederhergestellt, wenn man den transzendenten Sinn des 
Symbols abstreift und ihm die klare, unangreifbare Bedeutung 
der künstlerischen Gestaltung zurückgibt, die einzige, die es 
ehrlicherweise behaupten kann und die es erfahrungsmäßig 
auch an dem unverkürzt beweist, der den dogmatischen Sinn 
des Symbols ganz verwirft. Der Transzendenzgläubige wird 
freilich eben hieran sich stoßen ; so wie selbst einer der feineren 
Gelehrten aus dem ultramontanen Lager den Faust-Epilog für 
eine Blasphemie erklären konnte. Uns Andern ist es eine 
gewichtige Betätigung, daß die Kunst und Dichtung schon 
längst den Weg gegangen ist, den wir vorschlagen, und zu 
einigen ihrer unsterblichsten Schöpfungen auf diesem Wege 
gelangt ist. 

So also ist die Wandlung der Religion, die wir nicht 
fordern, sondern erwarten; die, in Vielen ohne klares Wissen, 
in Wenigen bewußt, schon jetzt vollzogen ist. Es bleibt übrig 
zu untersuchen, welche Wirkung die so gereinigte Religion — 
aber auch die überkommene Religion, insofern sie die aufge- 
zeigten wesentlichen Momente, wenngleich in noch nicht ab- 
geklärter Reinheit, dennoch enthält — in sittlicher Hinsicht, 
im Verein mit allen früher aufgewiesenen Faktoren der sitt- 
lichen Bildung, zu üben imstande ist. 



379 


§ 34 . 

Anteil der Religion an der Willenserziehung. 

Wie allgemein die Harmonie der menschlichen Kräfte d. - 
durch bedingt ist, d^.ß jede in ihrer unvermischten Eigenart 
zur Geltung kommi, so hat auch die Hilfe, welche die Reli- 
gion der Sitthehkeit leistet, zur Voraussetzung, daß die Grenzen 
zwischen beiden sich nicht verwischen. Dauernd wird sich 
Religion nicht zu einer bloßen Krücke der Sittlichkeit, einer 
mehr neben so vielen andern, hergeben; wie umgekehrt eine 
gereinigte Sittenlehre sich weigert anzuerLennen, daß sie dieser 
Krücke an sich bedürfte. 

Einen neuen Inhalt hat Religion der Siltlichkeii in der 
Tat nicht anzubieten, wie wir uns überzeugten. Wohl aber 
kann sie durch den Einfluß, den sie auf das Gefühlsleben 
überhaupt gewinnt, von Seiten des letzteren der bereits fest in 
sich gegründeten, ihres Inhalts gewissen sittlichen Über- 
zeugung neue Kräfte zuführen, dieser Überzeugung auch nach- 
zuleben. Aber gerade nicht die Hochflut des Enthusiasmus 
vermag dies, der so oft ein Niedergang oder bleierne Wind- 
stille folgt; sondern allein die stetige Wärme eines durch rich- 
tige Einsicht und reine Entschließung geläuterten, am „auf- 
richtigen Scheine“ der Kunst oft erquickten und erbauten Ge- 
fühls, insbesondere des an der Gemeinschaft genährten. Das 
„mit vereinten Kräften Wirken und Schaffen“, das besonders 
gibt dem Gefühl den Halt, ohne den es schwer sein möchte, 
„das Leben auszuhalten“. 

Daß aber der Individualitätscharakter des Gefühls an 
sich der Gemeinschaft nicht widerstrebt, dafür ist gerade die 
Religion bestätigend, die sich allzeit gemeinschaftsbildend be- 
wiesen hat. Selbst die Idee einer Gemeinschaft des ganzen 
Menschengeschlechts hat sie zuerst uns errungen. Desgleichen 
hat sie den Begriff einer gemeinsamen Geschichte der Mensch- 
heit zuerst auf gestellt. Sie konnte es, weil in ihr das Er- 
lebnis der Idee verborgen lag, das erst eine Menschheit 
geschaffen hat. Das ist es, worin die religiöse Geschichte 
alle Geschichten überragt und eine schlechthin unvergleichliche 



380 


Bedeutung gewinnt: daß sie die Idee einer die Menschheit 
umspannenden Einheit des Erlebens schlicht und konkret, 
als Tatsache, nicht bloße Lehre, hinsteUt, dem einfachsten Ge- 
müt offenbar, und dem erhabensten Verstände unergründlich, 
Angesichts dessen will es doch allzu ahnungslos erscheinen, 
wenn man die religiösen Stoffe in einem „ethischen“ Unterricht 
etwa auf einer Linie mit Grimms Kindermärchen, Robinson 
und Homer aufmarschieren läßt. 

Also: Religion kann nur als etwas Eigenes, nicht 
als bloßer Bestandteil oder Anhang der Sittenlehre, für die 
Erziehung fruchtbar gemacht werden. Desto näher freilich 
rückt die Gefahr der Transzendenz. Es wäre schon etwas ge- 
wonnen, wenn diese wenigstens dem ganzen übrigen Unter- 
richt ferngehalten würde, nicht in Geschichte und Literatur und 
gar in die Naturlchre sich einmengen dürfte. Andrerseits 
kann dem Privaten, der seiner Gewissenspflicht als Erzieher 
nur durch eine religiöse Erziehung im Sinne der Transzendenz 
zu genügen glaubt, das Recht, eine solche seinem Kinde zu 
geben oder geben zu lassen, gegenwärtig nicht bestritten 
werden, da die öffentliche Erziehung bisher nicht in der Lage ist, 
die Sorge und Verantwortung für die Erziehung etwa aus- 
schließlich auf ihre Schultern zu nehmen. Dagegen, wenn die 
Religion der Transzendenz mit allgemeinem Zwang jedem ohne 
Unterschied aufgedrungen wird, so wird damit nicht minder 
die Gewissensfreiheit des andern Teils vergewaltigt. Also ist 
der Grundsatz, Religion im Sinne der Transzendenz als 
„Privatsache“ anzusehen, für eine heutige Schulpolitik der 
einzig annehmbare. 

Aber muß nun darum Religion in jedem Sinne aus der 
öffentlichen Erziehung verbannt werden? Das ist es, was ich 
nicht einsehen kann. Ich habe in meiner früheren Schrift*) 
ausgeführt, weshalb diese Folgerung, selbst für den Fall, daß 

*) Vgl. ferner: Ein Wort zum Schulantrag (Deutsche Schule, IX, 1905, 
auch als Broschüre: Leipzig, Klinkhardt); Religionsunterricht oder nicht? 
(ebenda Bd, X, 1906); Leitsätze zum Religionsunterricht (ebenda IX 645 
und Ztschr. f. Philos. u. Päd. XII 490); Jemand und Ich (Stuttg. 1906) 
u, bes. „Religion und Religionsunterricht“ (Leipz. Lehrerzoitung XV, 1908). 



381 


man nicht mit mir eine Religion ohne Transzendenz anerkennt, 
nicht berechtigt scheint. Religion, das kann einmal nicht ver- 
kannt worden, ist bis Jetzt viel zu sehr ein unablöslicher Be- 
standteil des wirklichen, uns rings umgebenden Lebens, und 
ein Bestandteil dessen, was sich von heimischer Geschichte, 
Literatur und Kunst noch lebenskräftig in' Volke erweist, als 
daß es zulässig oder überhaupt möglich wäre, die allgemeine 
und öffentliche Erziehung mit einem gewaltsamen Riß, heute 
oder in naher Zukunft, von ihr ganz zu löeen. Und so müssen 
freilich die, welche nur eine Religion der Transzendenz kennen 
und diese mit uns abiehnen, die ernsteste Schwier' gkeit finden, 
mit der öffentlichen Erziehung, wie sie gegenwärtig ist und nur 
sein kann, sich überhaupt auf erträgliche Weise abzufinden. 

Nachdem sich uns aber eine Möglichkeit eröffnet hat, den 
menschlichen Kern der Religion festzuhalten und nur den un- 
haltbaren Anspruch der Transzendenz abzulehnen, wird damit 
das Problem lösbar. Nur was allgemein überzeugend gemacht 
werden kann, darf Gegenstand eines für alle pflichtmäßigen 
Unterrichts sein Dicker Bedingung aber genügt nicht die 
Religion, insofern sie den Transzendenzanspruch einschließt, 
dagegen wohl die Religion in ihrer rein humanen Bedeutung. 
Tatsächlich hat die Religion der Transzendenz die allbeherr- 
S(3heude B(‘d<‘utung, die ihr ehedem willig zugOvStanden wurde, 
schon längst eingebüßt. Selbst, wer sie zurück wünscht, sollte 
doch für ehrlicher erkennen, daß sie abließe, Ansprüche zum 
Scheine aufrecbtzuerhalicn, die sie in Wahrheit schon längst 
nicht mehr durchsetzt. Umso reinere Anerkennung würde dem 
echten Kerne der Religion zuteil werden. Das ist der einzige 
Weg, den wir füj’ gangbar und zum Ziele der unverkürzten 
und in sich harmonischen menschlichen Bildung führend 
erkennen können; der einzige daher auch, auf dem wir die sitt- 
liche Wirkung der Religion suchen können. 

Was nun den religiösen Erziehungsgang im besonderen 
begrifft, so scheiden sich wieder in größter Deutlichkeit die 
drei Stufen menschlicher Bildung. Die unterste ist die des 
naiven, noch mit keinem Anspruch der Wissenschaft und der 
reinen humanen Sittlichkeit komplizierten und daher kolli- 



382 


dierenden „Kinderglaubens“; die gefahrloseste von allen. Diese 
Stufe der Religion dem Kinde vorzuenthalten sehe ich keinen 
stichhaltigen Grund. Von dogmatischer Verhärtung oder von 
irgend einer sittlichen Gefahr kann auf dieser Stufe doch nicht 
die Rede sein. Gott ist dem Kinde im menschlichsten Sinne 
Vater, das Christkind ein lieber Gespiele seiner Gedanken, in 
dem es das Beste, was es selbst sein möchte, dargestellt denkt. 
Es hat an diesen schlichten, ganz im Bereiche des Menschen 
verbleibenden Vorstellungen einen Gemütshalt, den man ihm, 
wo er sich natürlich aus seiner Umgebung aufdrängt, nicht 
vorenthalten oder durch altkluge Kritik verleiden sollte. Es 
ist reine Idealisierung sittlicher Grundbeziehungen des Men- 
schen, in einer dem Kinde durchaus faßlichen Form. 

Will man etwas von dieser Bedeutung sich klar machen, 
so vergegenwärtige man sich den Christknaben der Sixtinischen 
Madonna: in diesem weit, ins Unermeßliche blickenden Auge 
liegt eine Ahnung von Wahrheit, von Schaffensgewalt und un- 
ergründlicher Liebe, die hoch über jede Märchengestalt hinaus- 
ragt. Das ist nicht ein Menschenkind wie andre, oder ein 
wundersames Märchenkind etwa, sondern es ist das Kind 
Mensch, nach dem Höchsten, was dies Wort einschließen kann, 
mit dem Hinweis auf die Idee, die all-eine, ewige; so wie die 
Mutter, die unter dem Geleit der Himmlischen den Knaben uns, 
nein, der Menschheit zum Beschauen entgegenträgt, nicht bloß 
eine Mutter, sondern die Mutter, nicht bloß ein Weib, 
sondern das Weib, nach dem Anteil, der an der Idee der 
Menschheit ihm zukommt. Ja es darf wohl in der menschlichen 
Mutter des Mensch gewordenen Gottes die Ahnung gefunden 
werden, daß Gott, der Gott, den Menschen sollen glauben 
können, seinen Ursprung haben müsse in der Idee des Menschen 
selbst. 

Und so hat es wiederum auch Sinn, daß der Mensch von 
Gott geschaffen sei. Denn nicht ohne den Inhalt der Idee, der 
den Völkern unter dem Namen Gott lebendig gegenwärtig ist, 
ist der Mensch Mensch. Will man sich auch das an einer 
künstlerischen Darstellung vergegenwärtigen, so denke man an 
die Erschaffung des Menschen im Deckenbild Michelangelos. 



383 


Das Selbstbewußtbein des zur Maxinheit erstarkten 
Menschen ist es, das, auf den Wink des gewaltig in stür- 
mender Wolke cinhorfahrenden Gottschöpfers, in dem voll- 
endeten Mannesbilde dort wie aus tiefem Schlummer er- 
wachend sich emporheht. 

So hat die Naivität der höchsten Kunst die religiösen 
Grund Vorstellungen sich gedeutet. Und ganz in dieser Nai- 
vität nun vermöchte das Kind sie aufzunehinen. Pestalozzis 
wundervolle Schilderungen der frühesten, grundlegenden reli- 
giösen Bildung liegen ganz auf dieser Linie. Auf diesem Boden 
kann der Anhänger Feuerbachs mit dem Gläubigen alten Stils 
sich ruhig vertragen. Denn auch dieser kann nicht verlangen, 
daß dem Kinde etwas andres von Religion geboten werde als 
was kindlich und also menschlich ist. Ist es nicht aber ein 
Zeugnis für den humanen Ursprung der Religion, daß eben 
dieser Kindesglaube den Gläubigen immer als das wahre ver- 
lorene Paradies der Religion vorschwebt? Ist nicht gesagt: 
So ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Reich Gottes 
nicht schauen? 

Die eigentliche Krise der religiösen Bildung gehört der 
zweiten Stufe, der des Begriffs. In wem der religiöse 
Drang einmal allbeherrschend geworden ist, der wird den Be- 
griff entweder ganz ablehnen oder sofort zum Dogma verhärten ; 
in wem umgekehrt der Sinn der Kritik früh erwacht, der wird 
in Gefahr koinmen, sogleich mit allem Religiösen als leerem 
Kindertrug zu brechen. Und es ist, glaube ich, nicht so ganz 
selten, daß schon der Heranwachsende diese Wegscheido 
bestimmt vor Augen sieht. Daher sehe ich keinen andern Rat 
für die Erziehung, als daß sie die religiösen Begriffe zwar ent- 
wickle, denn man soll sie kennen, selbst um sie verwerfen zu 
dürfen, aber zugleich in keiner Weise ihre Partei nehme, und 
darauf halte, daß auch der Zöghng vsich nicht getraue vor der 
vollen Reife des Urteils, die er auf dieser Stufe noch nicht 
haben kann, für oder wider zu entscheiden. Irgend eine dog- 
matische Entscheidung ist für das Schulalter ohne jede Frage 
verfrüht, also darf sie nicht verlangt, sondern muß, wenn mög- 
lich, sogar hintangehalten werden. Die erziehende Wirkung 



384 


der Heligion hängt an ihr durchaus nicht; es ist erziehender, 
vor eine so große Frage gestellt zu werden als eine fertige 
Entscheidung diktiert zu erhalten, mit der Zumutung, sie um 
jeden Preis anzunehmen, selbst ohne Einsicht, selbst wider den 
vielleicht schon sich regenden Zweifel. Wer einmal als Vier- 
zehnjähriger mit schon erwachtem Denken diesen Kampf mit 
sich hat kämpfen müssen, wird zwar vielleicht die erlebte 
innere Aufrüttelung auch später nicht aus seinem Bildungs- 
gang wegwünschen, aber die Erinnerung daran wird ihm 
zeitlebens peinlich bleiben, daß ihm zugemutet wurde, bei seiner 
Seelen Seligkeit für dies und ein andres Leben sich in einem be- 
stimmten Sinne zu entscheiden, bis dann und dann, und vor 
versammelter Gemeinde feierlich Zeugnis davon abzulegen. 

Es ist darum nicht meine Meinung, daß die religiösen 
Begriffe in absichtlicher Kälte und Gleichgültigkeit gegen den 
Geftihlsgehalt, der sich unter ihnen birgt, sollten dargelegt 
werden. Da vielmehr die ganze Bedeutung der Religion im 
Gefühl liegt, da auch die religiösen Begriffe nur aus diesem 
Quell ihre Nahrung ziehen, so muß man im Gegenteil wünschen, 
daß sie nur auf der Grundlage eines starken religiösen Emp- 
findens zu erwachsen scheinen, d. h. wir wünschen als Reli- 
gionslehrer Menschen, denen Religion Herzenssache ist, die für 
ihren Gefühlsgehalt zum wenigsten nicht empfindungslos sind. 

Daß Menschen zur Religion kommen, und gerade zu dieser, 
wird nur verständlich aus dem seelischen Konflikt, von dem 
eigentlich das religiöse Pathos sich nährt: ist Gott und gilt 
für den Menschen sein heiliges Gebot, so vermag er doch als 
Mensch nicht es zu erfüllen, er ist also gegen Gott in ewiger 
Schuld; wer erlöst ihn von dieser Schuld? Nur Gott selbst, 
eben indem wir ihn in unsre Seele aufnehmen und ganz in 
ihm leben. Dies, und so der ganze Gedankengang der Er- 
lösungslehre, läßt sich nach seiner Gefühlsbedeutung auch dem 
verständlich machen, der diese Lehre als Dogma sich nicht 
anzueignen vermag, dem der zu Grunde liegende wahre Kon- 
flikt sich einmal anders, oder auch gar nicht, lösen wird. Auch 
er kann das verstehen als ein ungeheures Drama, an die Seele 
greifend wie kein anderes, weil es den Menschen, jeden beson- 



385 


ders und das Geschlecht im ganzen, so unmittelbar im Innersten 
trifft wie kein andres. 

In solchem Sinn vor die j^rage der Religion gestellt zu 
werden, kann auch in sittlicher Absicht dem heranreifenden 
Menschen sicheilich mcht schädlich sein; auBer wenn, wie frei- 
lich jetzt, die Forderung der Entscheidung, und zwar in 
einem ausschließlichen Sinne, bei Strafe ewiger Verwerfung, 
unmittelbar dahinter steht. Diese Forderung freilich muß den 
Konflikt, insofern er überhaupt ernst genommen wdrd, bis zum 
kaum Erträglichen verschärfen und droht dann die seelische 
Entwicklung ganz aus dom Geleise zu bringen. Die Auf- 
richtigkeit wird dadurch untergraben, indem eine für ewig 
bindende Entscheidung vor erlangter Reif<^ erzwungen und die 
ganze Skala der Gemütserschütterungen von tiefster Zerknir- 
schung bis zur überschwänglichsten Erhebung der jugendlich 
biegsamen Seele zugemutet, ja aufgedrängl wird. Und wieder- 
um muß die offenbare Unnatur und schließlich Unwahrheit 
solcher Zumutung den, der sich in eigentlich gc^sunder Reaktion 
dagegen wehrt, dann fa/t unvermeidlich dahin bringen, sich 
des ganzen Ernstes der Frage lieber zu entschlagon, oder mit 
ein paar lci(‘hten Rührungen und noch weniger ernsten Ge- 
lübden sich äußerlich mit ihm abzufinden; um dann entweder 
die öde Heuchelei lebenslang fortzusetzen, wie es doch leider 
recht viele fertig bringen, oder bald, von Ekel über sicli selbst 
und über dies ganze Spiel erfaßt, der Religion ganz und auf 
immer den Rücken zu wenden. 

Es muß wohl überaus schwor sein für den Religiösen, sich 
darein zu finden, daß das, was ihm als sein Heiligstes bewußt 
ist, einem Andern verständlich smn kann, ohne zugleich 
überzeugend zu sein; sonst wäre es gerade vom Stand- 
punkt der Religion selbst schier unbegreiflich, daß man 
diese Art, Religion als notwendig anzunehmende Überzeugung 
und nicht bloß Gegenstand gemütlicher Aneignung dem Kinde 
von 12 — 14 Jahren mit allen Mitteln psychologischen Zwanges 
aufzudrängen, ja ganz eigentlich zu suggerieren, noch immer 
nicht bloß nicht bedenkbeh findet, sondern für hoch nötig, 
wohl gar für die einzige Rettung der gesunkenen Menschheit 

Natorp, Sozialpädagogik. 4. Aufl. 25 



386 


hält, so daß ein aufrichtiger Kampf dagegen schon als Friedens- 
bruch, als Aufreizung zum geistigen Umsturz empfunden wird. 
Allein wenigstens die Pädagogik hat schon längst gegen solches 
Verfahren unerschrocken ihre Stimme erhoben, und sie muß es 
unermüdlich immer von neuem tun. Es fordert nichts weiter 
als Ehrlichkeit gegenüber der tatsächlichen Lage, 
anzuerkennen, daß religiöses Verständnis möglich ist ohne 
religiöse Überzeugung; daß das erstere von jedem normal 
Gebildeten erwartet und in einigem Maße auch verlangt 
werden kann, das letztere nicht. 

Daraus ergibt sich die Forderung eines „undogmatischen“ 
Religionsunterrichts jedenfalls für die öffentliche und all- 
gemeine Erziehung, neben welcher, solange die patria potestas 
im bisherigen Sinne in der Erziehung gilt, eine, sei es ganz pri- 
vate oder korporative religiöse Erziehung im Sinne der einzelnen 
Bekenntnisse allerdings nicht ausgeschlossen werden kann. Auf 
dem Boden des Verständnisses ist Gemeinsamkeit möglich und 
wird immer möglich bleiben, auf dem Boden der Überzeugung 
ist sie zur Zeit ausgeschlossen; das allein müßte in unserm 
Sinne entscheiden, da die Gemeinsamkeit eine zu wesentliche 
Bedingung nationaler Erziehung ist, um je wieder aufgegeben 
werden zu können, selbst wenn dadurch (was ich nicht zugebe) 
eine erträglichere Lösung der religiösen Frage ermöglicht 
würde.*) 

Daß auch das Tiefste der Religion, die Erlösungslehre, 
dem nicht religiös Überzeugten dennoch verständlich sein 
kann, dafür genügt es,- sich auf die Wirkungen der gewaltigen 
künstlerischen Darstellungen, etwa der Matthäuspassion oder 
der H-moll-Messe Bachs zu berufen. Das ist aus den tiefsten 
Tiefen des religiösen Gemüts geschöpft, wie wohl nicht leicht 
einer wird leugnen wollen, und doch ergreift es den nicht 
religiös Überzeugten mit nicht geringerer Gewalt; jede innerste 
Regung des Gemüts, die da zu überzeugender Aussprache 
kommt, durch ihre Vermittlung aber schließlich auch die ge- 

*) Dies entscheidet auch gegen Dörpfeld’s „Familienprinzip“, dessen 
ernste Schwierigkeiten übrigens der ehrliche Mann selber mehr hervor- 
gekehrt als verdeckt hat. 



387 


dankliche Fassung, wird ihm verständlich. Der Schluß liegt 
doch nahe genug: also muß wohl gerade dieser tiefste Gehalt 
der Religion rein menschlich, und er muß unabhängig sein von 
einer dogmalischtn oder überhaupt iigend welcher Über- 
zeugung, die auf ein^ andre Wirldichkoit als die des innersten 
Gemütsh'bens des Menschen selbst sich bezöge. Wollte man 
sich doch f^ntschließen auf diesen unerschütterlichen Grund 
allein zu bauen, und gerade um der reinen Gemütswirkung 
willen lieber verzichten auf jeden auf die Überzeugung ge- 
übten Zwang, in einem Alter zumal, wo die verlangte Über- 
zeugung ganz rein und unorzwungen kaum vorhanden 
sein kann. 

Zuletzt freilich muß es auch Bedürfnis werden, eine feste 
Stellung zur Religion sich zu erringen. Dies ist die Aufgabe 
der dritten Erziehungsstufe, als der der autonomen 
Kritik. Ohne religionsgeschichtliche und wenigstens vorberei- 
Lend religionsphilosophische Belehrung würde aber diese Ent- 
scheidung der sicheren Basis entbehren. Denn das Ziel muß 
sein die Al^klärung d.r Religion zur Ideenerkenntnis. 
Indem wir dieses Ziel der religiösen Bildung stecken, scheiden 
wir uns scharf von jedem „Illusionismus“, ebenso wie wir von 
der bloßen Aufklärung uns geschieden haben durch die aus- 
drückliche Anerkennung der unzerstörlichen Gefühlsgrundlage 
der Religion. 

Eine lUusion, einen subjektiv festgehaltencn Glauben an 
das objektiv alr^ falsch oder doch nichtbegründet Erkannte 
empfehle oder verteidige ich nicht. Was ich als echten Gehalt 
der Religion festhalten will, woran zugleich die ganze Wärme 
des Gefühls sich heften darf und soll, es ist zuletzt die Idee 
und nichts andres; sie aber gilt mir als so objektiv erkennbar 
wie irgend ein Satz der Wissenschaft oder theoretischen Philo- 
sophie objektiv erkennbar ist. Es ist nur die unmittelbare 
Beziehung auf das Erlebnis des Individuums, was dem Ideen- 
glauben das Pathos der Religion hinzufügt und zugleich die 
sinnbildliche Vorstellung, eben als Halt für das Gefühl, als 
Mittel seiner „Erbauung“ herbeiruft. Dem zu wehren, sehe 
ich keinen Grund, obgleich es subjektiv ist; wofern nur der 

25 * 



388 


falsche Anspruch aufgegeben wird, daß in dem Sinnbild das 
Objekt der Idee mir dem Individuum leibhaft gegenwärtig und 
gegeben sei. Das geklärte Verständnis des ganzen Sinns einer 
Idee aber macht ja einen so verkehrten Anspruch zur vollen 
Unmöglichkeit. 

Gerade so aber leuchtet erst ein, wie Religion der Sitt- 
lichkeit zu einer sehr gewichtigen, durch nichts andres zu er- 
setzenden Stütze werden kann. Sie macht für sich nicht sitt- 
lich; keiner der sonstigen Faktoren der Willenserziehung wird 
durch sie etwa ersetzt; aber auch sie selbst ist durch keinen 
der andern Faktoren ersetzlich; sondern im Verein mit ihnen 
allen erfüllt sie noch eine eigentümliche und wichtige Aufgabe: 
die sittliche Idee, die sonst nur als ungreifbar fernes Ziel da- 
stände, zum unmittelbarsten, innerlichsten Leben des Indi- 
viduums in Beziehung zu setzen, ihm nah und gegenwärtig zu 
halten, und so seinem Gemüt eine stetige und gleichmäßige Er- 
wärmung für das Gute mitzuteilen, die die sittliche Ent- 
schließung auch im schwersten Fall aus voller Seele fließen 
und sie die Seligkeit des Glaubens nicht vermissen läßt, ohne 
die in den ernsten Erschütterungen des Lebens auch der Starke 
vielleicht nicht aufrecht bliebe. Das ist doch, was man der 
Religion (in sittlicher Beziehung) zuschreibt; und ich glaube 
nicht, daß sie das weniger vermag, wenn sie sich auf ihre rein 
menschliche Grundlage zurückbesinnt und mit allem Mensch- 
lichen in reine Harmonie zu treten sich entschließt, statt daß 
sie entweder, in einseitiger Stärke entwickelt, den Menschen 
im Menschen ertötet, oder aber als Trug des Gemüts erklärt 
und zu beklagenswerter Verarmung aus der Seele mit Stumpf 
und Stiel ausgerottet wird. 

Religion, das kann nicht verkannt werden, ist in den 
lebenskräftigsten Völkern oder doch in den lebenskräftigsten 
Schichten dieser Völker von sehr geschwächtem, fast ist man 
versucht zu sagen, von keinem merklichen Einfluß mehr. Hat 
sie also ihre Rollo ausgespielt? Sofern es sich um die Religion 
der Transzendenz handelt, zögere ich nicht die Frage zu be- 
jahen. Aber ihr Platz ist leer, und er kann nicht leer bleiben. 
Der Mensch lebt nicht vom Brote der Vernunft allein, so 



wenig er dieser gesunden Kost entbehren kann. Er bedarf 
noch der Religion, und wem die bisherige ihm nicht mehr 
genügen kann, so Ariid er sich eine neue, seinem gereifteren 
Stande angemessene Sv,ha*fen. Ich möchte mit Vielen glauben, 
daß die alte Religion der notwendigen limbildung an sich fähig 
ist, und ich meine auch zu beobachten, daß man sich dieser Er- 
kenntnis von beiden Seiten, wenn auch langsam, nähert. 
Doch ist es zwecklos, darübci' zu grübeln, wie künHig einmal 
der Mensch sich seine Religion gestalten wird. Es ist wider- 
sinnig, Religion machen zu wollen; sic ward, als eine Geburt 
des menschlichen Genius, eines Tages von selbst da sein — eine 
Frueht der sittlichen Erneuerung menschlicher tVemein- 
schaft. 

Auf diese aber läßt sich hinarbeiten, und dazu ein kleines 
beizutragen durch Klärung des vor uns liegenden Wegc.s, war die 
Absicht dieser ganzen nun zu Ende gediehenen Untersuchung. 



Namen* und 

Absoltttei das 368*. 

Achtung der sittlichen Person 138.146. 
Adler, F. 269. 271. 276. 334. 
Ästhetik eine Grundwissenschaft der 
Pädagogik 54. Ästhetische Mittel 
der Gemeinschaftserziehung 239 f. 
245. Ästhetische Erziehung 282. 
292, 354 ff. Äslh. (bes.' episches) 
Moment im Geschichtsunterricht. 
317. 323. 326 f. 329. Anteil der 
ästh. Bildung an derWillensbildung 
§ 32. Ästh. Erkenntnis 342. 349. 
Ästh. Gesetz ebenda; ästh. Objekt 
341 ff. 349. 351; ästh. Wahrheit 
341 f. 349; ästh. Freiheit 342. 345. 
355. Versöhnung von Idee u. Er- 
fahrung im Ästhetischen 350 ff. 
Ästh. Gefühl 343 ff. (vgl. Gefühl). 
Realistische, idealistische Seite des 
Ästh. 358. 359. Technik 342. 346. 
358. Verhältnis zum Sittlichen 351. 
353 ff. 360. Ästh. u. Religion 362 ff. 
375. 377 f. 382. 

Alfektlebcn des Kindes 275. 279. 
Aktivität, Stufen §§ 7—9. Ent* 
sprechende Stufen der Vorstellung 
77 f. vgl. 255. 304. Parallele 
Stufen der Gemeinschaft 149. 
Anarchismus 175. 

Anthropologische Technik 39. 81 f. 
Antinomie im Begriffe der Weltkraft 
187. 191. 

Arbeit, Begriff 65 f. 152. Arbeitstrieb 
66. Technik der A. 82. Tugend der 
A. 114. 125. Heiligkeit der A. 133. 
Gemeinschaft der A. 154. 294. So- 
ziale A. u. ihre Regelung 150 f. 165. 
Erhaltung der soz. A. 169. Organi- 
sation der A. 210. Arbeitsteilung, 
obj. u. subj. 166. (Überschätzung b. 
Plato 178.) Arbeitsbildung 226. 276. 
305. Ästh. Gestaltung der A.356 f. 
Arbeiterbildung 244. 297. , 


Sachregister. 

Aristoteles 256. 303. 

Asketik 128. 

Aufmerksamkeit 56. 253. 
Aufrichtigkeit 112 f. 115 ff. 
Autonomie — Heteronomie 96. 110. 
258. 260. 290. 294. Soziale Rege- 
lung heteronom 157. 163. Ästhe- 
tische Gestaltung autonom 355. 
Autorität 110. 111. 242. A. und ihre 
Hilfsmittel § 24. 

Avenarlus 16. 

Bach 360. 386. 

Baiimann 248. 312. 

Beethoven 360. 

Befehl 258 ff. 261. 

Befriedigung, Unbefr. s. Lust, Un- 
lust. Verlangen u. B. 64. 
Begehren 35 ff. 41. 57 f. 

Begeisterung und Wahrheit 319. 
Begründen, Doppelsinn 18. 
Bergemann 251. 

Beruf 173 f. 179. B-sbildung 235.295. 
Besinnung, praktische 68. 71. 108. 

B. u. Besonnenheit 126. 
Bewusstsein 10 ff. Einheit des B. 23. 
194. Grundgesetz der B-Einheit 
34. 44. 46. 87. 185. 301. Zeitliches 
u. üborzeitl. B. 23 f. 181. B., Er- 
fahrung n. Idee 33 f. Dem B. alles 
eigen 352. Aller Fortschritt F. des 
B. 185 ff. Das Grundgesetz des B. 
Grundlage d.En twicklungsgesetzes. 
192. — Theoretisches, praktisches 
B. 47. 54. 55. 57. 61 f. 79 f. 183.255. 
Ästhetisches B. 342. 352. Tugend 
des B. 108 ff. Herrschaft des B. 
Ziel der soz. Pädagogik 176 f. 184. 
Bildung, Begriff 3 ff. 176. 200. Men- 
schenbildung höchster Zweck 80. 
B. und Gemeinschaft § 10, bes. 88. 
Bildungspflege Gegenstand sozialer 
Regelung 172. Bildende Tätig- 



391 


keiten, Berufe 176 ff. Gleicher 
Bildungsanspruch aller 203. 210. 
232 ff. 235. B. u. Religion 363 
Biologie 7. Biol. Begrün dung der Er* 
kenntidsgesetze 16; des Gesetzes d. 
Geschichte 320; d. Grundgesetzes 
der Wirtschaft 170. Biol. Technik 
39. 81. 

Brentano 60. 

Bürgersinn 287. 

Comenius 338. 

Deduktion 17. 102. 186. 193 257. 360. 
Bemokratismus d. Bildung 235. 243. 
Demut 110. 111. 

Denken, Denkgeschehen u. Denk- 
inhalt 21 f. 57. Logisches D, 22. 
Denkbestimmungen, bes. katego- 
riale 26 ff. 

Didaktik 92. 256 ff. 

Diesterweg 257. 

Dinge (ob an sich bestimmt?) 30. 
Disziplin des Geistes 311 !‘I 358. 
Dörpleld 338. 386. 

Dogma (religiöses) 361. 368. 373. 383. 
Duboc 248. 

Edelhelra 95. 

Egoismus 84 f. 

T. Ehrenlels 57. 

Ehrtrieb 73. 121 f. 264 f. 284. 286. 
Einfühlung 347. 

Einheit des Bewußtseins, des Denkens, 
der Erkenntnis, des Willens 15. 21. 
24. 25. 34. 37. 43 f. 46 f. 49. 76 f. 
78. 79. 87. 185. 256. 301. 
Einheitsschule 237. 

Elementarbildung 32. 225. 
Empirismus 24. 31. 46. 57. 60. 69. 
308. (Gesunder Sinn des E. 193.) 
Bes. emp. Moralbegründung 41. 
81. 121. 123. 139. 

Energie, aktive, des Willens woher? 

68. 71. Sittliche E. 118 ff. 

Engels 198, 

Enthaltung 128. 


j Entwicklung vorausgesetzt im Be- 
! griff Bildung 4. Geistige — mate- 
rielle E. 6 Gesetz der sozialen 
E. 104. § 18 (bes. 180 ff. 187 ff d 
213. Aiig. Entmcklungsgesetz des 
Denkens u. Wollens 254 ff. 

Erfahrung — Idee 5 ff. 24. 33 45. 182. 
E. als Prozeß 33 f. 53. 56. 62. 188. 
Gebiet der E. § 5, 77. Praktische 
u. theor. E. 321 f. vgl. 78. E. als 
Materie des Willens 55. E. u. Übung 
ergäitzt durch Unterricht 267. 322, 

Erhaltung der Enerfie konstitutiv 
oder regulativ? 187 ff. E. des 
Daseins als Moralprinzip 41 ff. E, 
d. Wesens 65. 

Erkenntnis Ordnung der Erschei- 
nungen unter Gesetzen 11. Einheit 
der E. 15. Gesetze der E. — des 
Seins 190. Erkennen (psychol.) 57. 
Stufen der E. 77 f. 254 ff. Einheit 
von E. u. Willen 80; von B.- und 
Willensbildung 254. Theoretische 
u. praktische E. §§ 5 u. 6. Willens- 
herrschaft in der E. 312. Soziale 
E. 159, Ästhetische E. 342. 349. 
Erkenntnisdrang der Jugend 290. 

Erkenntniskritik § 4. 54. 186. 

Erlösung 376. 386. 

Eros 147. 

Erscheinung 11 ff. 

Erwartung 56. 59. 

Erziehung, Begriff 3 ff. Physische 
Seite der E. 39. 67. E. u. Gemein- 
schaft 83. § 10. (vgl. Sozial- 
pädagogik.) Erziehender Un- 
terricht siehe Unterricht. 

Eschatologieen und Utopieen 44. 247. 

Ethik der Idee 55, Logisches u. eth, 
Gesetz 232. Konkrete E., Bedeu- 
tung der Technik für sie 80 f. In- 
dividual- u. Sozial-E. § 11, bes. 101. 
E. als Grundwissenschaft der Päda- 
gogik 54. E. u. Pädagogik auch 
335 f. E. u. Religion 127 f. Girist- 



392 


liehe E. 145 f. Ethische Lehre 
(Güter-, Tugend-, Pflichtenlehre) 
2H f. B. Unterricht 330. § 31 bes, 
332 ff. 379 f. Katechismus 338. 
(Vgl. Sittlichkeit.) 

Eudämonismus 44. 134. 

Existenz 29. Daseinserhaltung als 
Moralprinzip 41. Dasein kein 
Zweck an sich 43. Existenzerhal- 
tungnicht Prinzip d. Wirtschaf 1 171, 

Familie 220. 293. 320. (Vgl. Haus.) 
Familienverbände 223. 281. 

Feuerfoach 383. 

Pichte 61. 221. 235. 291, 

Fleiss 125. 

Form u. Materie im Sinne der kriti- 
schen Methode 164; in Verstand 
u. Willen 299. 303 f. 306. 310. F. 
u. M. des Willens 55. 69 f. 73. 76; 
des sozialen u. individualen Lebens 
151. Soziale Formgebung 174. F. 
u. M. der ästhetischen Gestaltung 
343 ff. 349. 355. Form und Ma- 
terie im Begriff des Lernens 89. 
Formalismus der Schule, analog 
dem des Rechts; eigner Wert der 
F. in der Erziehung 230. Geo- 
metrische Form 307. 

Formalstufen 257. 

Forschung^ Tugend der, 114. 

Fortbildungsschule 237. 

Fortschritt, unendlicher, in theor. u. 
prakt. Erkenntnis 53. 78. 247. 258. 
289. 368. Sittlicher F. der Mensch- 
heit 181. 213. 

Freiheit, formal -rechtliche 199. Äs- 
thetische F. 342. 345. 355. — Vgl. 
Willensfreiheit, 

Freundsohaftspf lichten 115. 117. 125. 

Fröbel 222 f. 226. 276. 357. 

Furcht 110. 264. 

Gefühl (vgl. Lust-Unlust) nicht 
Grund des Sittlichen 110, vgl, 144 f. 
Gefühlserregung als Erziehungs- 


mittel 262 ff. 300. 302. 326. G. als 
Organ ästhetischer Erkenntnis 
343 ff. Gestaltungsgefühl 345. 347. 
352. 364. G. als Grundlage der 
Religion 249, 364 ff, 373 ff. 384. 

Gegebenes 26 ff. 

Gegenstand 13. Seinsollender G. 34. 
— Vgl. Objekt. 

Gehorsam 258 ff. 

Gemeinschaft und Erziehung 83. 
§ 10. 204. 219. 245. G. des Bildungs- 
inhalts u. der bildenden Tätigkeit 
88; im Lehren und Lernen 88. 91 ff. 
251 ff. Willensbildung durch G. 
91. Gemeinschaftscharakter der 
Sittlichkeit 99 ff. 140 f. 148 f. Ver- 
nunft und G. 305. G. und äußere 
Gesellung 96. G. nichts Mystisches 
106, nicht ein selbständiges Wesen 
149. Gemeinschaftsformen 93. Stu- 
fen erziehender G. § 20 ff. 337. 
Autonome G. 295. Erweiterung 
zumGanzen d.Menschengeschlechts 
213. G. unendliches Ideal; Bez. 
zurReligion 246 f. Religion gemein- 
schaftbildend 379. (Tugenden der 
G. s. Tugend.) 

Gerechtigkeit § 15; Definition 148. 
G. u. Liebe 144 ff. G. als Tugend 
der Gemeinschaft 212 ff.; als intel- 
lektuelle Tugend 305 f. 

Geschichte und Idee 163 f. 179. 182. 
187 ff. 191. 303. 319 f. G. u. Kau- 
salität 316. 319 f. G. u. Sittlichkeit 
316. 320. 321. G. wiefern Erfah- 
rung 321. G. als erlebt u. als er- 
zählt 322. — Teleol. Einheit der 
Menschheitsgeschichte von der Re- 
ligion aufgestellt 248. 379 (religiöse 
G. ebda). Gesetz der G. 187. 191. 
Materialistische Geschichtsauffas- 
sung 1 83ff. — Geschichtsunterricht 
314 ff. Wann das Verständnis für 
G. erwacht 295 f. G. als Gesin- 
nungsunterricht 302. 316 ff. G. und 



393 


Geschichten 270. 329. 333. Erfor- 
schung und Erzählung 317; Epik 
317. 323. 32f;. 329. G. keine Schul- 
wissenschaft 326. Universalgosch. 
327. Quellenstudium ebdr Klassi- 
sche Geschichtsdarsteliangen 327 
Geschichtschreibung der Alten 288. 
G; u. Soziologie 324. 333. Ästhe- 
tisches Moment im Geschichtsun- 
terricht 359; philosophisches 332. 

Gesellschaft und Gemeinschaft 96. 
Gesellschaftliche Begründung der 
Moral 112. 121. G. ein Organis- 
mus? 6. 168. 

Gesetz = Einheit 37. Urgesetz der Ge- 
setzlichkeit 37. 301. Mathemati- 
sche, ursächliche, Zwcckgeselze 37. 
Normative Gesetze 20; ästhetische 
342. 349. Positives G., Grenze 
der Verpflichtung gegen es 208. 

Gesetzgebung 172. 209. 

Gesinnung 109. G. a. äußeres Ver- 
halten 162 f. „Gesinnungsunter- 
richl“ 302 1. § 30. 325. 

Gestaltung, ästhetische 343 ff, ; innere 
346; autonome 355. Gesialtungs- 
gefühl 345. 347. 352. 364. Drei 
Gestaltuiigsweisen 349, keine eigne 
der Religion 361 f. 

Gewissen 73. 100 f, 312. G. der Ge- 
meinschaft 161. 

Gewöhnung, Macht der, 52. 

Glaube, sittlicher 51. 376 f, ; religiöser 
247. 369. 

Gleichheit im Begriff der Gerechtig- 
keit 138 ff. 142. 212 ff. G. der Bil- 
dung 232 ff. 

Goethe 286. 289. 363. 371. 

Gott 361. 369 ff. 373 ff. 376. 382. 

Größsengesetze 19. 

Grund u. Folge, log. Verhältnis 19. 

Gut, das Gute. Urteil über gut und 
schlecht 48. 71. Verschiedene Be- 
deutung des Guten 139. Das G. als 
das Gesetzliche 292; überindivi- 


I duell, unendlich 99. Idee des G. 
! 109, Glaube an den Sieg des G. 51. 

Gymnasium, humanistisches 236 f. 

Handlung, Freiheit der H. 49 f. 
Haus u. Ifauserziehung §§ 20 u. 26. 

230. 245 f. 

Hegel 328. 

Heiligung 127. 

Herbart, Psychologie 61 ; verfehlt den 
eigentündichen Begriff des Willens 
299; verfehlt Pestalozzis Idee der 
Elementarbildung 307 Erfahrung 
u. Unterricht 267 f. 322. Erziehen- 
der Unterricht 298 ff. bes. 300 bis 
306. n. u. Perhar üaner über Ge- 
fühlswirkung im Unterricht 302. 
Märchers, Fabeln etc. 269. Forrnal- 
slufen 257. 

Heroismus u. Verbrec hen 120 f. 

Hertz 331. 

Hochschule 241. (Erwcitei ter Begriff 
ehda., vgl. Volkshochschule.) 
Homer 269. 285. 

Humanität s. Menschen! um. H. 

und Religion § 33. 
v. Humboldt, W. 357. 

Hume 146. 

Husserl 16. 

Hypothese 8. 29 f. 34. 36. 57. 188. 
193. Platos Idee als Hypothesis 40. 

Idealismus 11. 186. 193. 283. 295. 
Idealistische Ethik 81. Idealis- 
tische und realistische Seite des 
Ästhetischen 358 f. 

Idee §§ 1 — 6. (Idee u. Erfahrung, 
s. Erfahrung.) Begriff u. I. 303. 
I. als 

109. 113.1. alleiniger letzter Zweck 
43. Ethik der reinen I. 55, (I. u. 
Geschichte, s. Geschichte.) I. 
als regulatives Prinzip der Entwick- 
lung 104. Menschheit als 1. 290. 
379. Das Ästhetische als Versöh- 



394 


nung von L n. Erfahrung 350 ff. 
Abklärung der Religion zur Ideen- 
erkenntnis 387. 

Ulaslon (ästh.) 351 f. Religiöser 
Illusionismus 387. 

[mperativ^ kategorischer, 207. 
Individuum „Abstraktion“ 101. In- 
i ; dividualbewußtscin 85. Echte In- 
‘ dividualität = Spontaneität 86. 
(Echter u. falscher Individualismus 
ebda.) Individualität des Wollens 
91. 100, des Sittlichen 100. 111. 
Individuale u. soziale Ethik § 11. 
Individualpädagogik 94 f. Recht 
der Individualität in der Erziehung 
272 f. Individualisierung u. Zen- 
tralisierung in der sozialen Ent- 
wicklung 193 ff. 197 ff. 211. 221. 
ökon. Individualismus 197. 
Induktion 256 f. 267. 

Intellekt s. Verstand. 

Interesse 56. 251. 253. 300. 302. 
Internationale Beziehungen als Bei- 
spiel von Generalisation 196. 

Jäger, Oskar, 319. 

Kant, Erkenntniskritik 24. 256. 307. 
331. 371. Regulative Prinzipien 
104. 187. 192. 193. 200. Ethik 54. 
189. 299; 73. 75. 130. 138. 272. 290. 
Ästhetik 359. Spontaneität der Bil- 
dung 86. K.imphilos.Unterricht 291. 
Kategorien 27. 255 f. 307. 

Kausalität 18. 37. K.u.Teleologie 7 ff. 
189. Psychische K. 14. 17. K. u. 
Willensfreiheit 47 ff. 69. vgl. 81. 
K. und Geschichte 316. 319 f. K. 
und Technik 38 ff. 154. 

Keppier 363. 

Kerschensteiner 237 Anm. 
Keuschheit 129 ff. 281 f. 

Kierkegaard 129. 

Kindheit, seelische Entwicklung im 
Kindesalter 224 ff. 274 ff. 306 ff. 
Die Welt des Kindes 276. 278. 335. 


356. Geschichtslosigkeit des Kindes 
315. Verh. zum Ästhetischen 355 f., 
zur Religion 381 f. 

Kindergarten 222 f. 281. 
Kontinuität, Urgesetz des Bewußt- 
seins 87. 185. 193 f. 320. Soziale 
K. und Diskontinuität 198 f. 
Konzentration (des Bewußtseins, 
theor. u. prakt.) 56. 68 f. 72. 78. 87. 
95 f. 119. 232. Soziale K. 184. 221. 
K. des Unterrichts 314. 

Krieg 207. 

Kritik, Standpunkt der K. 15 (vgl. Er- 
kenntniskritik). K. in theor. 
und prakt. Bez. 76. 111. 305. 
Soziale K. 150. 161. Ästhetische K. 
359. 360. Religiöse K. 371. 387, 
Trieb der K. im Jugendalter 290 f. 
K. an öffentlichen Zuständen 116. 
Kultur — Natur 4. Kulturgebiet 314. 

324. Kulturstufenlheorie 328. 334. 
Kynismus 128. 

Laas 331. 332. 

Leben, „Das Leben erzieht“ 219. 232. 
288. L. u. Lehre 297. 323. 333. 
340. Religiöses L. 362 ff. 366 f. 374. 
Lehren u. Lernen 88. 91 f. Stufen 
251 ff. 254. Prakt. u. theor. Lehre. 
250. 267. 285. 300. Lehrberuf, 
Lehrstand 179. Sittliche Lehre in 
formaler Hinsicht § 25, in mate- 
rialer §§ 26—28, § 31. 

Lehrpläne, Preußische, von 1891 u. 
1901, 318. 319. 

Leibesübungen 284. 293. 323, 359. 
Leibniz 65. 144. 

Leser, H. 33 Anm. 

Lessing 202. 332. 

Liebe 110. 115. 125. L. u. Gerechtig- 
keit 144, bes. christliche L. 145 f.; 
Eros 147. L. in der Erziehung, 
bes, strafende L, 265. 

Lipps 16. 347. 

Locke 309. 



395 


liOgilr 15 fl'. Logische Gesetze nicht 
kausale 18. 49. Logisches Denken 
22. L. u. Erkenntniskritik 22. L. 
erstreckt sich auf die ganze Arbeit 
der Wissenschaft 32. I als Grund- 
wissenschaft der Pädagogik 32, 54. 
Logische Grundlage der Didaktik 
256. L. im Unterricht 331. 

Lüge 112 ff. 117. 142. 

Lust — Unlust^ Verh. zu Begehren u. 
Wollen 35 ff. 58 ff. 63 ff, L. als 
Moralprinzip 41 ff. L.-U. Materie, 
aber nicht Prinzip desÄsthetis(‘hen 
343 f. Ästhetische Lust (besser 
Freude) 345. 348. 364. 

Luther 133. 

Märchen 269. 270. 329. 

Maschinentechnik 195. 

Mass 29. Tugend des M. § 14. Be- 
rührung des Sittl. u. Ästh. in der 
Tugend <ics M. 126. 353. 

Materie s. Form. 

Materialismus, bes. historischer, 
183 ff. 186. 

Mathematik. Mathematische Gesetze 
18 f. 22. 32. 37. 49. 307. Mathem. 
u. naturwissenschaftlicher Unter- 
richt 237. 292. 303. 311. 313. 315. 
316. 331. 358. 

Maxime u. allgem. Gesetzgebung 
73. 106. 

Mensch, Menschheit, Menschentum. 
Der M. wiefern Natur 154. 157. 
320. Menschheit als Idee 191. 272. 
290. 315 f. Arbeit ii. Regiment um 
des M. willen 178. Menschlichkeit, 
allg. Menschenliebe 14,5. 146. Ent- 
wicklung des Menschentums 199. 
201. Menschentum letzter Zweck 
der Menschenbildung 240. 289 f. 
Menschl. Grundbildung 235. Or- 
ganismus der Menschenbildung 177. 
Humanität 361. H.u.Religior. § 33. 
Konflikt 370. „Grenzen der Mensch- 


heit“ 371 ff. Menschheitsgefühl 
249. 297. Religion in ihrem Ur- 
sprung manschlich 372. Gott =» Idee 
der Menschheit 374 f. Roligior u. 
die Idee der Menschheit 379. 

Mfthofle des Unterrichts 255. 257. 

Michelangelo 363. 382. 

Mitem pf inden , MitwoPen , Mitrer- 
nunfl 252 f. 

Mittel — Zweck entspr. Urs. — 
Wirkung 38 f 

Monismus des sozialen Lebens 164. 
Monistische Aufta ’,sung dosBegriffs 
„Sozialpädagog‘lO‘ 95. 

Moral s. FAhik. 

Morus 198. 246. 

Mozart 360. 

Musik 360. Gesang 359. 

Nation« Ordnung nationaler Ein- 
heiten 196. Nationale Geschichte 
324. Naiionalschule 232 ff. 235 f. 

Natur « Erfahrung 5 f. N. hat keine 
Zwecke 9. N. Gesetzesordnung 
des Erscheinenden 12. 13. 17, Ur- 
sächliche = Naturgesetze 37. Na- 
tureinhoit als Idee 312, 331. Der 
Mensch wtefern Natur 154. 157. 320. 
N. u, Kultur 4. N. als Materie der 
WiilensweU 79 ff. 153. 157. N. im 
Verh. z. siltl. u. ästh. Welt 341. 
351. 358. — N. = Anlage 250. Was 
„N.“ in der Bildung d. Kindes 225. 

NaturerkenniniH, Gebiet 11. Flnt- 
vvicklung 183. 192 ff. 

Naturwissenschaft 8. 14. 17.32.81.190. 
(Vgl. auch Mathematik.) 

Nietzsche 86. 

Objekt-Setzung, prakt. u. theor. 69. 
74. 79; soziale 158; ästhetische 
341 ff. 349. 351. 

Objektivität — Subjektivität 12. 

Optimismus 64. 

Ordnung 277. 



396 


Organisation* Begriff 197. Soziale 
0. 197. 211. 217. 229. 294. Soziale 
0. der Willenserziehung §§ 20 — ^22. 
218 f. Organismus der Schule 229. 

0. freier Bildungstäiigkeit 240 ff. 
Organismus 6. 168. 

Pädagogik 9 Grundwissenschaften der 
P. 54, vgl. 32. 256. Individuale u. 
soziale P. 94 f. (Vgl. Sozial- 
Pädagogik.) 

Parallelismus des Physischen und 
Psychischen 13. 

Person u. Sache 72. 100. 271 f. Per- 
sönliche Sittlichkeit 100. 117. 127. 
Achtung der P. 138. 146. „Lehrer- 
persönlichkeit“ 319. 

Pessimismus 51. 64. 188. 

Pestalozzi« Idealismus 32 (Aiim.). 
Spontaneität der Bildung 301 . 304, 
Grundgesetze der Bildung 200. 
Idee der Elementarbildung 32. 225 
f. 306 fk 309. Stufen des Unter- 
richts 257. Individualität des Sitt- 
lichen 100. Über Hauserziehung 
221 ff. 274. 280. Arbeitsbildung 
305. Ästhetische Gestaltung der 
Arbeit 357. Religiöse Bildung des 
Kindes 383. Humane u. Berufs- 
bildung 235. Über pädagogisch 
wirksame Darstellung 268 f. P. iin 
philos. Unterricht 291. 

Pflege, leibliche, des Kindes 274. 
Pflicht gegen sich selbst, gegen 
Andre, gegen das sittl. Gesetz 114 f. 
272. Weckung des Pflichtbewußt- 
seins 259 ff. 

Phantasie, bes. ästhetische 345. Bil- 
dung der Ph. 285. 

Philosophie, Aufgabe 332. Pia tos 

Begr. des Philosophen 203. 246. 
Ph. u. ästh. Gestaltung 360. Philos. 
Trieb im Jünglingsalter 291. Philos. 

1. Unterricht 313 f. § 31. Philos. Pro- 
pädeutik 339. Philos. Lesebuch 291. 


Physis 17. Physisches u. Psychischem 
12 f. Physik. -chemische Wissen- 
schaft u. Technik 39. 80 f. Phy- 
sische Kultur des Menschen, phys. 
Erziehung 39. 67. 312. 

Plato« Idee 40. Ethik 81. System 
der Tugenden 102 ff. Tugend der 
Wahrheit 108 f. vgl. 71. Tapfer- 
keit 120. 123. Besonnenheit 126^ 
(Über Fortpflanzung 131.) Ge- 
rechtigkeit 135. 137. 139—141.. 

Aristokratismus 140. Eros als Trieb 
zur Gemeinschaft 147. Einheit der 
Bildungsgesetze des Individuums 
u. der Gemeinschaft 95. Sozial- 
pädagogische Idee des Staats 177 f,. 
245, Scheidung von Arbeit u. Be- 
sitz („zwei Völker“) 211. Über- 
schätzung der Arbeitsteilung 178. 
Soziale Diskontinuität 166 f. 198. 
Philosophen Könige 203. Spon- 
taneität der Bildung 86. Lehren 
u. Lernen 92. 315. Erziehende Be- 
deutung der Mathematik 303. Be- 
nutzung des Ehrtriebs in der Er- 
ziehung 284. P.*s Gastmahl ein 
philos. Hymnus auf die Jugend 
289. Ästh. Idealismus im Gastm. 
359. Ästh. Mittel sozialer Er- 
ziehung 354 f. Idee der Hoch- 
schule 241. P. im philos. Unter- 
richt 291. 292 f. 331. 

Politische Tätigkeit 178 (vgl. Re- 
gierende T.). 

Prinzip (Ursprung) 25. 40. (Vgl. 
Regulative Prinzipien.) 

Protagoras 229. 

Psychisches u. Physisches 12 f. Ps. 
Kausalität 14.1 7. Individualität des 
Ps. 105. Ps. Bewegung 59, vgl. 348. 

Psychologie 10 ff. 14, vgl. 39. Er- 
kenntniskritik nicht Ps. § 4. Idee 
nicht Begriff der Ps. § 3. System 
der Tugenden nicht psychologisch 
zu begründen 104. Wiefern Grund- 



397 


Wissenschaft der Pädagogik 54. 
Metaphysische Ps. Herb-xrls 6i. 
Psychologische Technik 39. 

Rauni; Euklidischer. Ilypothc-so? 30. 

Räumliche Gestalt 225, vgl, 307 f. 
Eealschule 237. 

Beeilt heteronoin 100. 161. Fcrma* 
lismus des R. 229. R. bloßes 
Mittel, nicht Zweck an sich 177. 
Sittliches Recht des R. 205, Ricn- 
liges R. 162. Rechtspflege als 
Gegenstand sozialer Ftegoiung 172, 
175. Beteiligung an der Recht- 
sprechung 209. Rechtsbegriffe im 
Unterricht 324. 

'Redlichkeit 142. 

BogcLseizen (iheor. u. peakt.) 69 f. 

79. 106. Äußere Regelung 157 ff. 
Regierende Tätigkeiten 173 ff. Rege- 
lung irn Sinne der Gleichheit u. 
Gemeinschaft 209. Regierende 
Klasse u. Selbslregierni'ß* 175. 
Regulative Ihriuzipieii 104. 164. 

187 ff. 193 ff. 

Rein, W. 94. 300. 

Reinheit, Tugend der, § 14, bes. 127. 

274. 304. 336. 337. 

Religion §§ 33 u. 34. Keine eigene 
Gestaliungsweisc 361 f. Inneres 
Erlebnis 362 f. 365 f. 367. 374. 
Gefühl 249. 364 ff. 373 ff. 384. 
Menschheitsgefühl,Uneadlichkeits- 
gefülil 249. 297. 367 ff. Ideener- 
kenntnis 387. Religiöse Wahrheit 
366. 373. Dogma 361. 368. 373, 
383. Transzendenz 367. 370 ff. 
R. u, Sittlichkeit 127. 339. 361 ff. 
369. 375. 388. R. u. Ästhetik 
362ff. 375. 377f. 382. R. u. Bildung 
363. R. u. Humanität 370. 371 ff. 
R. u. die Idee der Menschheit 379. 
R. u. Gemeinschaft 246. 297 f. R. 
gemeinschaftbildend 379. R. (im 
Sinne der Transzendenz) „Privat- 


sache“ 380^ Religiöse Erziehung 
381 ff. Religiöses Verständnis u. 
relig. Überzeugung 386. Undog- 
matischer Religionsunterricht 386. 
Religio nsgeschichtliche, religir is- 
philosophische Belehrung 387. R. 
als „Gesinnungsstoff“ 302. 

Eichtlgkoit des sozialen Willens 160. 
Richtiges Recht u. Sit^ lichkeit 162. 
„Ära des Richtigen“ 184. 

Ritterlichkeit 286. 

V. Roebow 339. 

Rousseau 100. 

Sache (im prakt. Sinn) 69 f. 72 f, 
140. 158. 263. 302. 325 f. S. == 
Idee 290, Gemeinschaft 273. S. 
u. Person 72. 100. 271 f. 289 f. 319. 
Sachsinn des Knabenalters 285. 

Sachlichkeit, Tugend der, 114. 125, 

V. Sallwürk 257. 328. 334. 

Scham 131. 

Schillers Ästhetik 349. 355. 358. 
Sch. im philos.Unterrichi 332. 359, 

Schiller, H, 317. 

Schielcrmacherl26. 235. 362. 364.366. 

Schönes u. Sittliches 126. 353 f. 

Schopenhauer 61. 

Schule bes. §§ 21 u. 27. 219. Bez. 
zur sozialen Organisation 229. For- 
malismus ebda. Erziehender Ein- 
fluß 287. Ästhetische Momente 
in der Schulerziehung 357 ff. Na- 
Uonalschule 232 ff. 235 f. Schul- 
organisation 234 ff. Volksschule, 
höhere Schule, Hochschule 236. 
Gemeinsamer Schulunterricht bei- 
der Geschlechter 282. 

Selbstbeherrschung 128. 

Selbstbesinnung und Selbstbestim- 
mung 113. 

Selbstbewusstsein 10, prakt. u. theor. 
S, eins 79. 93; bildet sich durch Ge- 
meinschaft 83. 90. 93. Sittliches 
S. demütigend 111. Soziales S. 161. 



398 


Selbsterhaltung als Moralprinzip 41. 
43. S. des Strebens 65. 77. 

Selbsterziehung 4. S. des Erwach- 
senen §§ 22 u. 28. 

Selbstgetühl im Gestalten, GruiKi 
des Ästhetischen 352. 364. 

Selbstopferung 121. 

-ftelbsttätigkeit 86. 88. 301. 304. 310. 

Siekinger 237 Anm. 

Simon 9 Max 331. 

Sinnlichkeit (theor. u. prakt.) 62 f. 
66. 79. 89. 132. 251. 255. 335 f. 
Erziehung der Sinne s. Wahr- 
nehmung. 

Sitte u. Sittlichkeit 126. Durch- 
brechen der S. 291. 

Sittlichkeit. Primat des sittl. Ge- 
setzes 301. Individualität des Sitt- 
lichen 100. 111. Gemeinschafts- 
charakter des S. 99 ff. 140 f. 148 
f. S. des Individuums u. der Ge- 
meinschaft § 11 bes. 101. 162. Na- 
tur u. sittl. Welt 99. 341. S. u. 
Ästhetisches 351. 353 ff. 360. S. 
u. Religion 127. 339. 361 ff. 369. 
375, 388. Gesetze der sittl. Ent- 
wicklung 199 ff. S. u. Geschichte 
316. 320. 321. Sittl, Lehre u. sittl. 
Leben 333. 340. Sittliche Lehre 
der Form nach § 25, dem Inhalt 
nach §§ 26 — 28, vgl. § 31. Ver- 
schiedene Motivierung des Sittl. 
für die drei Stufen 335 f. (Vgl. 
auch Ethik.) 

Sokrates. Lehren und Lernen 86. 
92. Technik so. cppivrjo:^ 71, 108. 
119. Tugend der Gemeinschaft 103. 
Der Weise 103. Gehorsam gegen 
das Gesetz 208. Schule der So- 
kralik 291. 

Solipsismus 85. 

Sollen. Problem des S., S. u. Sein 
5. 20. 25. 34. 36. 40. 57 ff. 60. 
68 f. 75. 341. S. u. Können 52. 
Ich soll u. Es soll 100. Unbedingt- 


heit des S. 369, Versöhnung von 
S. u. Sein im Ästhetischen 350 ff. 
Sophrosyne 126, 

Soziales Leben 150 f. 158. 165. 168. 
180. Materie des s, L, 151 ff. 155. 
172 f. Bewegungen der Mat, des s. 
L. 183. Soz. Wirtschaft 172. Form 
des s. L. 157 ff, Soz. Formgebung 
174. Monismus des s. L. 164, vgl. 
165 f. Elemente, Funktiohen, Or- 
gane des s. L. 179 f. Funktionen, 
Grundklassen s. Tätigkeiten 166 ff. 
Soz. Entwicklung § 18 (vgl. Ent- 
wicklung). Soz. Organisation 1 97 
(vgl. soz. Technik 82). Bildung 
soz. Einheiten 196. Individuale u. 
soziale Ethik § 11. Soz. Tugend 
des Individuums § 15. Tugend des 
soz. Lebens § 19 (vgl. Tugend). 
Soz. Frage, Ethisierung ders. 133. 
280 f. 

Sozialismus 185. 197. 199. 201. 221, 
Sozialpädagogik, Begriff § 10, bes. 
94 f. 176. 201, vgl. 245. 298. So- 
zialpäd. Idee des Staats 177. So- 
zialpäd. Bedeutung der Hochschul- 
erweiterung 241 ff. 296. 
Sozialphilosophie 95 f. §§ 16 — 19. 
Vgl. Sozialwissenschaf t 84. 
Soziale Erkenntnis 159. Soziologie, 
soziolog. Bildung 297. 324. 333. 
Soziologische Technik 39. 81 f. 
Spencer 187 ff. 191 f. 

Spiel 276. 286. Ästhetik als Spiel 
348 ff. 352. 355. 358. Ästhetische 
Momente im Spiel 356. 359. 
Spinoza 9, 65. 320. 

Spiritualismus 186. 

Spontaneität s. Selbsttätigkeit, 
Sprache 90. Sprechenlernen 224. 
230. 278. 309. Sprachunterricht, 
log., eth., ästh., psychol. Momente 
313, vgl. 359. Natürliche Konzen- 
tration des Kulturunterrichts 314. 
330. Anknüpfung des sittl. Unter- 



399 


riciits an den Sprachunterricht 339. 
Klassische Sprachen 237. 

SiMU sozialpäd. Idee 17'^. 

Stammler lol ff. 157 ff. 162 f. 16^i, 
172. 183. 184. 205. 213. 

Stefn, Prh. tom 235. 

Stimmrecht 210, 

Strafe 259 ff. 262 ff. 

Streben 53. 56 ff, 64. 65. 77. 188. 348. 
Subjektivität des Erscheinens, Ob- 
jektivität des Seins 12. 

Symbolik (künstl. u. relig.) 239 f. 
362. 375. 377. 

Sympathie u. Antipathie 142 146. 

Synthesis u. Analysis 87. 256. 308. 

Tätigkeit s. Aktivität. Grund- 
klassen soz. Tätigkeiten s. Sozia- 
les Leben. 

Tapferkeit 106. 118 ff. 142. 204. 207. 
305. 336 f. 

Tatkraft, sittliche 118 ff. 

Tatsache 18 ff. 26 ff. T. u. ’"’atsachen- 
forschung 190. 

Technik 38 ff. 80 ff. 153. Soziale 

T. 155. 157. Entwicklung der T. 
183.194 fl. 211. Technische Bildung 
304f. T. in der Kunst 342. 346. 358. 
Teleologie 7 fl. lx)g)sche Gesetze 
nicht teleol. 20. Idee als Telos 40. 
Soziale T. 162. Teleol. Einheit der 
Menschengeschichle 248. 

Tendenz 46 56. 74.87. (Vgl. Stre- 
ben.) 

Theorie u. Technik 80. 304. 346. 

Theoretische Erkcnntni^ 85. 
Todesfurcht 120. 

Tönnies 242. 

ToJstoJ 129. 

Transzendenz 367. 370 ff. 

Treltschke 327. 

Treue 125. 142. 

Trieb 35. 52. 56. 62 ff. 74. 79. 150. 
Aktive Energie desT. (dx)[i.6^) 106 f. 
123. Tugend des Trieblebens § 14 


bes. 128 f. 274 ff. 293. 304, Soziales 
Triebleben 149 ff. 169 ff. 210 ff. 
Bloß triebartiges Z\isammenleben 
(Tierstaaten) 159. 

IViiper 95. 

Tiigi^nd 103. Grundtugenden ebda. 
Individuale u. soziale 103. 107, 
136. 148 f. 179. Syolem der indiv. 
TT. §§ 12—15. Einheit der T. 134. 

1 4P. l’T. der Gemeinschaft § 19. TT. 
des Inlellekts 305 f. Tugendlchre 
(iin eth. Unterricht) 271. 335 ff. 
Typische Darstellimg 269. 329. 

Übung 250 ff. 267. 300 Materie 
der prakl. ü. u„ Lehre §§ 26 — 28. 
Unbedingte« 33 f. 45 f. 74. 109. 369. 
Unendliches 56. 367 ff. Streben 
seiner Natur nach u. 64. Unendl. 
Aufgabe vgl, Fortschritt. 
Erfahrung als unendl. Prozeß s. 
Erfahrung, Unendlichkeitsge- . 
fühl 249. 297. 367 ff. 

UniverRität 241. Universily-Exten- 
sion s. Volkshochschule. 

Unschuld 130. 

Unterricht u. Erziehung 3. 92. 231. 
243. 306. „Erziehender Unter- 
richt“ 232. 255. 298 ff. bes. 300. 
§ 30. U. als Ergänzung der Er- 
fahrung 267. 322. Gliederung des 

U. 256. Äslh. Momente im U. 
358. Differenzierung nach den 
Fähigkeiten 237 Anm. 

Ursache s. K a u s a 1 i tä t. 

Ursprung 25. 

UrteU 47 ff. 50 f. 67 f, 70 f. 76. Ur- 
teilen (psychol.) 57. Ästh. Urteils- 
kraft 359. 

Utopieen 44. 201. 247. Plalos Staat 
wiefern U. 178, Morus 198, 

Vaterland 116. 125. 207. 
Verantwortlichkeit, Bewußtsein der 

V. 260. 



Vflrbmlien - , ■ ' ^ ‘ r' 

'Ti^diry KoÄWiWiOn 195/ ;■ 
Yer&tiiillj u. pifakt. -54 ff. 75p 
ttstli. 35^, Te% 171, 
„Veriiunftwille“ S 9. Tugend der, 
V, § 12, V. u. Gemeinschaft 305. 
Soziale 149. 160 ff. 163. 165. 176 ff. 

' ' 238. 

Viffgtand u. Wille 25. 35 ff. 40. 45. 

■ 54. 79 f. 92. 96. 255. 299 ff. Gebiet 

des V. § 5. Stufengang 77 f. 255. 

304 ff. 335. V.- u, Willensbildung 
32. 231. 243. §§ 29—31, bes. 303 f. 
311 f. 341. Selbständiger Wert der 
V.bildung 301. Tugenden des V. 

305 ff. Verstandeswelt 301. 
Vertrauen 117. 

Vischer, Fr, 376. 

Volk als Idee 321. 324. Volksgemein- 
schaft 211 f. 296. 

Volkshochsehuie 241 ff. 244. 340. 
Volksschule 9 allgemeine 235 f. 
Voluntarismus 61. 

Vorstellung u. Streben 56. 58 f. 61. 
78. Religiöse V. als Gefühlshalt 
373 ff. 382. 

Waffendienst 228. 287. 323 f. Wehr- 
pflicht 209. 

Wahl, Wahlfreiheit 48 ff. 63. 
68. 70. 

Wahrheit u. Falschheit 20. 70. Prakt. 
u. theor. W. 49; sittl. 51; ästh. 
341 f. 349; relig. 366. 373. W. als 
Tugend der Vernunft § 12 bes. 
108. Wahrhaftigkeit, innere und 
äußere 112 f. 116 f. 124 f. W. 
als soz. Tugend 202 f. Erziehung 
zur W. 244, 305. 336 f. 
Wahrndimung 26 ff. 29. 31. 79. 
Bildung der WW. 89. 224. 230. 
275. 308 f. 310. 

Wehrpflicht 209. 


' 75,f.' ' j,'" ' ''''' 

' WWo.5. 56/ik 
Wp 1 0^ Wi h. Varständ^s, Ver 
stand. W. Erzeug der Br« 
fahrung (Voluntarispius) *61. W.« 
Entwicklung 53. StuleÄ §§ 7—9. 
bes. 62 f. 67. 77 f. 217 f. ?55, 
304 ff. W. im engeren Sinne § 8, 
67 ff. 159. Vernunftwille § 9, 
Willenswelt 55. 99. 271. 335. W. 
u. Gemeinschaft, Individualität des 
Wollens 91. 99. 100. Tugend des 
W. § 13 vgl. 336, W. der Gemein- 
schaft, sozialer W. 149 ff. 157 ff. 
165. 

Willensbildung 3. 5; durch Gemein 
Schaft 91. 94. (Willens- u. Ver? 
Standesbildung s. Verstand)* Or- 
ganisation der W. §§ 20—22. Form 
der W, §§ 23—25. Materie §§ 26 
bis 28. Anteil der Intellektbildung 
§§ 29—31, der ästhetischen § 32, 
der Religion § 34. 

Willensfreiheit 47 ff. 63. 70 ff. 76. 

WlUmann 317. 326. 378. 

Wirklichkeit 19. W-sanspruch der 
religiösen Vorstellung 373 f. 

Wirtschaft, 151. 169ff. 172f. 177. 277. 
Entwicklung der W. 196, Begriffe 
der W, im Unterricht 324. 

Wundt 61. 

Zahl 18 f. 29. 307. 368, 

Zeichnen 359. 

Zeit 18 f. 23 f. 

Zentralisation, soziale 197. 

Ziel 6. 25. 40. 46. 

ZiUer 328. 334. 

Züchtigung, körperliche 264 ff. 

Zweck 5. 25. 36. 40. 79. 176. 289. 
Vgl. Teleologie u. Sollen. 






e. 


, €lnführ<(ng 1^.:' fttt 

^öeatisinu^. Son !Prof. Dr. ^aul ?lato5$.,' » ^ 

2, V^tb: Hufl. 1918. IV, 184 S. 8^. 2.80 !nTh. unö öer öegttin)ftrtlg(f ffiut.- f] 

J . 3uIAÜ 9 öt« SotUmentetÄ, LUfcct 3i;lchla9 Ö.3 ‘Cerlegets. 

1. öcr iErgänsutigsrelhc öcr ^Öagc ‘flhilolophic. f-rfirlften 
3 ttr Einführung in das philofophifthe Denken. 


*PtofpeRt koftenfrei. 

tJerlag oon ^anöenhoetk § Ruprecht, (Böttingen. 


Ij. G. Eiwert’sche yerlagslincliliaiigllliig G. Braun, Marburg. 
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einer irgenbwie gearteten unb ausgebehnten Beteiligung ber 
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unb Möchstgebilbeten; sonbem, von ber Ueberzeugung ge- 
leitet, baß bie menschlidie Bilbung in allen Höhen unb Tiefen 
zuletzt ein unteilbares Ganzes ausmacht, führt sie biese 
menschliche Bilbung zurück auf ben Einheitsgrunb alles 
Geistigen, ber eine sich auf alle erstreckenbe unb sie inner- 
lich einenbe, bas ist soziale Erziehung, überhaupt nur zu 
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ziehung — V. Sozialeinheitsschule — VL Inhalt ber sozialen 
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soziale Frage. — V. Pestalozzi unb bie Frauenbilbung. — 
VI. Pestalozzis Prinzip ber Anschauung. — VII. Herbart, 
Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der Erziehungs- 
lehre. 2. Aufl. - VIII. Kant ober Herbart? — IX. Neue 
Untersuchungen üb. Herbarts Grunblegung ber Erziehungslehre. 

Die vorstehenbe Sammlung enthält u. a. audi bie seit einiger 
Zeit vergriffene Sdirift: „Herbart, Pestalozzi und die 
heutigen Aufgaben der Erziehungslehre“, 2. Auflage, 
weldie als selbstänbiges Buch, wie früher, nidit mehr er- 
scheint, sonbern nur noch ' in obigen „Gesammelten Abhanb- 
lungen“ enthalten ist. .