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Full text of "Von Der Koniglichen Gesellschaft Der Wissenschaften Zu Gottingen 1917"

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ARCHAEOLOGICAL 

LIBRARY 

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von der 

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Kiiiiiglichen Gesellscliaft der Wissensch.aften 

zu Gottingen. 


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Pliilologisch • historische Klasse 

aus dem Jahre 1917. 


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J3erlin, 

Weidmannsche Bnchhandlung, 

1918. 



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Ciil No. 


Druek der Dieterichschen Univ.-Buchdmekerei (W. Fr. Kaestner) in Gottingen. 



Register 

fiber 

die Nachrichten von der Konigl. Gesellschaft der Wissenschaften 

zu Gottingen. 

Philologiscb - historische Klasse 

aiis dem Jalire 1917. 

Seite 

Bonwetsch, N., Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an 

Hengstenberg I. II 349. 499 

Bousset, W., Komposition und Charakter der Historia Lausiaca . 173 

— Wiedererkennungamarchen und Placidas-Legende . . . . 703 

Hermann, E., Die Buchstabennamen Pi und Beta und die Erfin- 

dung der griechiscben Schrift 476 

Hilka, A., und W. Meyer, liber die neu - aramaische Placidas- 

Wandergeschichte 80 

Littmann, E., Ge'ez-Studien I. II 627. 675 

Lfidtke, W., Neue Texte zur Gescbicbte eines Wiedererkennungs- 

marchens und zum Text der Placidas-Legende 743 

Meyer, W., Bruchstuck eines Gedichtes aus der Karolinger-Zeit . 589 

— Eythmische Paraphrase des Sedulius von einem Iren . . . 594 

— Poetiscbe Nachlese aus dem sog. Book of Cerne in Cambridge 

und aus dem Londoner Codex Regius 2 A. XX .... 597 

— s. A. Hilka. 

Oldenberg, H., Vedische IJntersuchungen 1 

Zur Gescbicbte der Sauikbya-Philosophie 218 

Pohlenz, M., Nochmals Platos Lysis 560 

R a b 1 f s , A., Nissel und Petraus, ihre athiopischen Textausgaben und 

Typen 268 

Reitzenstein, R., Cyprian der Magier 38 

— DieFormel Glaube, Liebe, Hoflnung beiPaulus. Ein Nachwort 130 

— Die Idee des Principals bei Cicero und Augustus I. II 399 481 

Schroder, E., Zur Uberlieferung und Textkritik der Kudrun I . 21 

— Studien zu Konrad von Wurzburg IV. V 96 

— Die Eeimvorreden des deutschen Lucidarius 153 

Set he, K., Die neuentdeckte Sinaischrift und die Entstebung der 

semitischen Schrift 476 

Wagner, H., Die loxodromiscbe Kurve bei G. Mercator . . . 254 




Vedische Untersuchungen. 

Von 

n. Oldenberg. 

Vorgelegt in der Sitzung vom 11. NoTcmber 1916. 


1. Der geopferte Gott und das Aguicayana. 

Nichts willkommener fiir die Erforschnng der vedischen Reli- 
gion, als wenn es gelingt, deren Gebilde allgemeinen, aoch anBer- 
halb Indiens verbreiteten Typen zuznordnen nnd damit ihre nn- 
verstandlich scheinenden Seltsamkeiten anfzuklaren, ja vielleicht 
sie auf eine in gewisser W else ihnen innewohnendfe Notwendigkeit 
znriickzufuhren. Der Weg zu so erwunschten Erkenntnissen ist 
freilich von Gefahren bedroht, solchen ahniich, die auch beispiels- 
weise der linguistischen Forschnng woblbekannt sind. Der Indolog 
vrird die oft dock nijr in nnsicherer Beleuchtang daliegenden Ma- 
terialien der allgemeinen Religionswissenschaft nicht immer ohne 
MifigrifFe handhaben. Und anderseits wird der Kenner jener un- 
absehbaren Gebiete die Gesichtspunkte leicht aoBer Acht lassen 
die nnr intimerer Vertrautheit mit den individnellen Charakter- 
ziigen der indischen Entwicklungen znganglich sind: wo es dann 
geschehen kann, daB der Forscher in den ihm vorschwebenden 
iibergroBen Znsammenhangen dem Einzelnen, national Bedingten 
anf mehr oder minder auBere Ahnlichkeiten bin eine seiner wahren 
Wesenheit nicht entsprechende Stellong anweist. Oft genug wird 
es gelingen, ist es gelungen, wertvoUste Resoltate zn erreichen, 
indem etwa unter den Kennern der beiden Gebiete der eine den 
Blick des andern erweitert, der andre den des ersten scharft. 
Aber wir miissen auch auf solche Falle gefaBt sein, wo das Er- 
gebnis negativ bleibt, das Ineinanderverlaufen der von hier und 

Kgl. On. d. Win. Nachrichten. Pbil.-hist. Klasu. 1917. Heft 1. 1 



2 H. Oldenberg, 

von dorther gezogenen Linien sich als eben nur scheinbar er- 
weist. — 

Dem bewundemswerten Wissen nnd Scharfsinn Frazers 
verdanken wir eine tief eingreifende Theorie der Vorstellungen 
von dem sterbenden, getoteten, geopferten Gott. „Nach dieser 
Theorie ist der Tod ein Tor, das Gotter wie Menschen dnrch- 
schreiten miissen nm der Abgelebtheit des Alters zn entgehen 
nnd die Frische ewiger Jugend zu erlangen. Man kann die hbchste 
Entwicklung dieser Vorstellmig in der brahmanischen Lehre finden, 
dad im taglichen Opfer der Leib des Schopfers immer von neuem 
zerbrochen wird die Welt zu retten“. „Die Welt ist nicht nur 
im Anfang dureh das Opfer des Schopfers Prajapati, des Herrn 
der Geschopfe, geschaffen; bis auf diesen Tag wird sie erneuert 
nnd erhalten allein durch die Wiederholung jenes mystischen 
Opfers im taglichen von den Brahmanen vollzogenen Opferritual 
... So wird die Welt durch die Selbstopferung der Gottheit be- 
standig von neuem geschaffen“ ‘). Der hervorragende Forscher 
spricht in diesen Satzen vom taglichen Opfer. Aber eine von ihm 
beigegebene Anfuhrung*) la6t annehmen, daB ihm speziell auch 
das in den Yajurveden sehr eingehend behandelte Agnicayana, die 
Scbichtung des Feueraltars — eine besonders komplizierte und 
kunstvolle Ausschmiicknng des Somaopfers — vorgeschwebt hat. 
Diesen Ritns, den die modeme Indologie verbaltnismaBig wenig 
zu beachten pflegt — wohl weil man in ihm nicht mehr als eben 
eine rituelle Kiinstelei sieht — ist so die Ehre widerfahren, als 
Gipfel und Vollendung bedeutungsvoUer und weit verbreiteter 
Gebilde hingestellt zu werden, die an mannigfaltigen bizarren 
Oder tiefsinnigen, bisweilen tragischen Ausgestaltnngen reich sind. 

Ich versuche von indologischer Seite die hier beruhrten Auf- 
fassungen zu prufen. 

I. 

Zunachst lasse ich das Agnicayana beiseite. 

AuBerungen der Brahmanatexte wie die folgenden kommen in 
Betracht : 

1) Frazer, The Scapegoat (Golden Bough®). 1913, p. VI. 411. 

2) Von Eggelings Einleitong zur Ubersetznng des Satapatha Brahmapa 
Tea IV (SBE. XLIII), p. XIV— XXIV. Daneben bereft sich Fr. auf S. Le?i, 
La doctrine du sacrifice dans les Brahmapas, p. 13 ff. Er hatte auch Dahl- 
m a n n , Der Idealismus der ind. Religionsphaosophie im Zeitalter der Opfer- 
mystik. Tiff., anfilhren kbnnen; doch was man da Best, sind Phantasien. 

3) Mit Riicksicht auf die Langen der wortreichen Texte gebe ich nur teU- 
weise wbrtliche Uhersetzung (gekennzeicbnet durch Anfiihrungszeichen). 



Vedische Untersuchnngen. 


3 


,Als Prajapati die Geschopfe geschafFen hatte, losten sich 
seine Gelenke. Er, Prajapati, ist das Jahr. Seine Gelenke sind 
dies: die Beruhrnngspunkte von Tag nnd Nacht, VoUmond und 
Nenmond, die Anfange der Jahreszeiten. Mit gelosten Gelenken 
konnte er sich nicht anfrichten. Da heilten ihn die Goiter mit 
diesen Havisopfem“ — den Opfern, die eben an den erwahnten 
Gelenkpunkten des Jahres dargebracht werden, wodurch jedesmal 
das betreffende „Gelenk“ des Prajapati geheilt nnd znsammenge- 
fiigt wird. Durch entsprechendes Opfern heilt auch der Mensch 
das Gelenk des Prajapati, der ihn dafur segnet. Sat. Br. I, 6, 3, 
35 — 37. — „Als Prajapati die Geschopfe geschaffen hatte, fiihlte 
er sich wie ansgeleert. Die Geschopfe wandten sich von ihm ab. 
Die Geschopfe hielten nicht stand ihm znm Gliick und zur Speise**. 
Er sncht ein Mittel dem abzuhelfen, iibt Kasteiung nnd „sieht“ 
(d. h. ihm wird offenbar) die Opferong der elf Opfertiere. Die 
opfert er; so befreit er sich von jenem MiBgeschick. Dasselbe 
gliickt auch dem Menschen, der die elf Tiere darbringt. Sat. Br. 
Ill, 9, 1, 1 — 5. — Mehr oder weniger ahnlich verlauft eine grofie 
Zahl von Brahmanageschichten *). Zuerst — in der Eegel nach 
Erschaffung der Geschopfe, doch auch bei anderer Gelegenheit; 
so als „Prajapati den Gbttem die Opfer zngeteilt (nnd sich selbst 
dadurch ihrer entaufiert) hatte Ts. I, 7, 3, 2, oder als er den 
Agni geschichtet (und in diesen seinen eignen Glanz hineirgelegt) 
hatte, das. V, 3, 10, 4 — wird Prajapati von irgendwelcher Schwache, 
einem Leiden betroffen. Seine Gelenke losen sich. Oder er fiihlt 
sich ansgeleert, ausgemolken. Er wird diirr. Er wird ohnmachtig. 
Der Atem entweicht ihu) ; sein Leib schwillt an. Sein Auge schwillt 
an, fallt heraus. Non voUzieht er irgend einen Ritus oder tut 
sonst etwas Heilbringendes nnd hilft sich dadurch. Oder Gotter 
voUziehen fur ihn einen Ritas und heilen ihn, bringen ihm die 
verlorenen Korperteile wieder. Ebenso soil der Mensch verfahren : 
dadurch heilt auch er Prajapati, macht er Prajapati wieder ganz 
— wobei in begreiflicher Weise unklar bleibt, wieso dessen in der 
Vorzeit eingetretenes und beseitigtes Leiden sich inzwischen er- 
neuert hat — ; oder dadurch heilt der Mensch in entsprechender 
Weise sich selbst; oder er sorgt damit sowobl fur Prajapati wie 
auch fiir sich selbst (Pane. Br. XXI, 4, 2. 3). — Im Ganzen ist 
das Schema dieser Geschichten sehr gleichbleibend. Pur einzelne 
im einen oder andem Exemplar auftretende Ziige ergibt sich die 


1) Mao sehe die Nachweisungen bei Levi a. a. 0. 23 f.; Deufien, Allg. 
Gesch. der Philosopbie I, 1, 190. 


1 * 



4 


H. Oldenberg 


Motivierung zuweilen aus dem besondem Zusammenhang ; so haben 
die an die „Gelenke“ des Jahres gekniipften Opfer die Phantasie 
des Berichtenden auf die Gelenke des Prajapati — der ja stehend 
mit dem Jahr identifiziert wird — bz. anf deren Sichauflosen ge- 
fiihrt; ans der Vorstellang des Rofi - (as'ya -) opfers ist dnrch ein 
Wortspiel der Gedanke an ein Anschwellen {asvayat) erwacbsen. 

Hat das alles nan etwas mit dem Frazerschen Typus des 
sterbenden, geopferten Gottes zn tun? 

In diesen Geschichten aber stirbt der Gott nicht, opfert er 
sich nicht, wird er nicht geopfert^). Er verfallt*) nur in irgend 
eine Schwache, ein Leiden; nnd das Opfer, das in der Geschichte 
vorznkommen ptiegt, hat nicht die Funktion, dies Leiden iiber ihn 
zu bringen, sondern ihn davon zn befreien. So wird er in der 
Tat geheilt, aber keineswegs hat er leiden mussen, da mit er ge- 
heilt and jugendkraftig werde. Der ganze Aufbau der Motive 
von Leiden, Opfer, Wiederemenerung ist also ein andrer, als in 
dem Vorstellangskreise des sterbenden, geopferten Gottes. Man 
kann hinzufiigen: wahrend dort uraltes, in bedeutenden und fest- 
gewurzelten Riten ausgepragtes religioses Gut vorliegt, wahrend 
das Geschick von Frazers »dying god“ einen Zug bitterer Realitat 
an sich tragt, hat man es hier nur mit fltichtigen Einfallen ver- 
haltnismaBig spater Ritualtheologen zu tun — Einfallen des 
Schlages, wie sie ungezahlt die Brahmanatexte fiillen, Moti- 
vierungen gegebener Riten ohne jeden Zusammenhang mit deren 
wirklicher Bedeutung. 

Fragen wir, wie man da gerade auf die „wunderliche“ ®) Vor- 
stellung von Prajapatis Erschopfung oder Leiden verfallen ist? 
Darauf laBt sich, scheint es, eine Antwort geben nicht viel unbe- 
stimmter, als bei derartigen Phantasiespielen eben in der Natur 
der Sache liegt. Bestandig sind, wie allbekannt, die Brahmana- 
texte entsprechend ihrer Tendenz, dem Opfer eine alles Geschehen 
lenkende Macht zuzuscbreiben, damit beschaftigt, von dieser und 


1) Dazu stimmt, daB auch die beideu Motive, die in der Vorstellung vom 
sterbenden bz. wiedererstandenen Gott eine Hauptrolle zu spielen pflegen, hier 
nicht vorliegen: das vegetative (die untergehende und sich erneuernde Vegetation) 
und das siderische (die unter- nnd wiederaufgehende Sonne, der verschwindende 
und wiederkehrende Mond); vgl. Bertholet, Am. Journal of Theology XX, Iff. 

2) Die — ilbrigens den hier verfolgten Zusammenhangen ganz fern stehenden 
— Einfalle von Sat. Br. V, 1, 1, 1 ff. = XI, 1, 8, 1 ff. usw. (Ldvi 29) konnen 
m. E. als voUgiiltige Zeugnisse fiir die Vorstellung von einer Opferung des Pra- 
japati nicht in Betracht kommen. Ebenso wenig Geschichten wie TS. II, 1, 1, 4. 

3) So DeuBen a. a. 0. 



Vedische Untersuchnngen. 


5 


jener rituellen Prozedur zu zeigen, welcher segensreiche Erfolg 
mit ihr verknvipft ist. Diesen Erfolg, wird zu zahllosen Malen 
berichtet, hat sie schon in der Vorzeit den Gottem, den Rsis 
eingetragen. Oft etwa nach diesem Schema : jener Gott wiinschte 
sich das und das; sein Wunsch wurde durch den und den Ritus 
zur Erfiillung gebracht. Oft auch begreiflicherweise folgender- 
maBen: jener Gott etc. war in die und die Verlegenheit, in das 
und das Leiden geraten; daraus half ihm der und der Ritus oder 
die und die Handlung, die dann zur Feststellung eines Ritus 
fiihrte^). Einige Beispiele fiir die Note, von denen da berichtet 
wird. Die Gotter unterlagen im Kampf mit den Asnras. Die 
Gbtter kannten die Himmelsrichtungen nicht. Den Gottem entlief 
das Opfer. Die Gotter litten wie die Menschen vom Tode. Indra 
furchtete sich, daB ein Starkerer als er geboren werde. Indra 
wurde von Vrtra umwunden. Indra geriet nach der Vrtratotung 
in Not. Indra war schwach und hatte keinen festen Stand. Den 
Gottem entschwand Kraft und Starke. Atri, der seine Nach- 
kommen dem Aurva gegeben hatte, fiihlte sich ausgeleert und 
kraftlos. Die Biene verletzte den Schenkel des Rosses*). Kein 
Ende ware zu finden, wollte man alle derartigen Sitnationen aus 
den Brahmapas znsammentragen. Als Hauptperson in solchen Ge- 
schichten nun erscheint besonders gem Prajapati, die Lieblings- 
gestalt der Brahma5atheologie. Mehr als die andem Gotter ist 
er weltumfassend, die Urspriinge und Ordnungen der Welt be- 
herrschend, in weiteste Zusammenhange mystischer Symbolik ver- 
woben: Prajapati ist ja das Opfer; Prajapati ist der Opferer; 
Prajapati ist das Jahr; Prajapati ist das Selbst — was ist Pra- 
japati nicht? Da ist es nicht verwunderlich, daB auch jene typi- 
schen Geschichten von dem in Not geratenen Gott, dem dann auf 
irgend einem sakralen Wege geholfen wird, gem auf Prajapati 
bezogen warden urn .sie so in einen moglichst weiten Horizont 
hineinzustellen. Dem Prajapati entwichen die Geschopfe. Praja- 
pati war uberall von Ubel umgeben. Prajapati wurde durch Ru- 

dras PfeB verwundet. Besonders nah lag es nun wie schon 

im ersten der eben angefiihrten Beispiele hervortritt Prajapatis 

Leiden mit seiner groBen Tat in Verbindung zu bringen, der Er- 
BchafPung der Geschopfe: ganz wie Indras Leiden gem an den 

1) Spielt bei dieser Vorstellung tod notleidenden Gottem auch die Erinne- 
rung an Rv. IV, 19, 2 und Ahnliches (ygl. Bergaigne Rel. ye'd. Ill, 76) mit? 

2) Diese Geschichte erscheint stehend neben der oben erwahnten von Pra- 
japatis Auge ; der Typns ist eben ein und derselbe. Ts. V, 3, 12 ; Sat. Br. XIII 
3, 1; Pane. Br. XXI, 4, 2—4. 



6 


H. Oldenberg, 


Vrtrakampf geknupft warde. So gelangte man zu der Vorstellnng, 
dafi — nngefahr ahnlich wie Atri nach Hingabe seiner Nach- 
kommenschaft {praja) in Schwache verfiel — Prajapati, nachdem 
er die Greschbpfe (praja) erschaffen (wortlich: aus sick entlassen), 
„ausgeleert“ nnd elend war; der Phantasie mag die Schwache 
eines vielgebarenden Weibes vorgeschwebt haben. Mir scheint so 
fiir diese Grrnppe von Geschichten eine billigen Anspriicben ge- 
niigende Verstandlichkeit erreicht zu sein. Um f-iir die Veran- 
schaulichung der gewaltigen Opferwirkungen einen Hintergrund 
zu schaffen, hat man auch hier eine Notlage erfunden, die wie 
anderwarts auf viele andre Wesen, so in diesem Fall auf Praja- 
pati bezogen ist‘). Die Motive des Frazer’schen „deicide‘‘ bleiben 
dabei aus dem Spiel. 


1) Eg gel in g a. a. 0. XIV f. bringt den Zerfall des Prajapati yielmehr in 
Zusammenhang mit dem kosmischen Opfer von Rv. X, 90, wo aus dem ge- 
opferten Pumsa die Welt entsteht; Prajapati babe die Stelle jenes Purusa ein- 
genommen. GewiB sind Zusammenhange zwiscben dem Purusa und Prajapati 
nicht in Abrede zu stellen. Aber zwiscben dem Purusa o p f e r und dem Zerfall 
des Prajapati weiB ich Beziehungen kaum zu entdecken, „Der Glaube, dafl 
die Welt aus dem zerstuckelten Leibe eines Riesenwesens , wie des eddiscben 
Ymir, geformt ist, flndet sich in primitiven Kosmogonien bkufig und wird von 
solcben Regionen den Weg bis in den Rgveda [zum Purusalied X, 90] gefunden 
haben“ (meine Rel. des Veda^ 278). Die Prajapatigeschichten, die ich bier in 
ibre Zusammenhange hineinznstellen versucht babe, liegen, scheint mir, davon 
weit ab und haben offenbar von dorther, wenn uberhaupt einen EinfluB, so 
hSchstens nur einen sehr entfernten und nebensachlichen erfahren. Stellen wie 
Sat. Br. VI, 1, 1, 5 konnen m. E. die entgegengesetzte Auffassung nicht hin- 
reichend stutzen. — DeuCens (a. a. O, 190 f.) Deutung der Prajapatigeschichten, 
daB Einheit des schopferischen Prinzips in die Vielheit der Welterscheinungen 
zerfallen ist, und auf dem Wege der religiiisen Andacht (Opfer u. s. w.) wir uns 
von dieser Vielheit zur ewigen Einheit erheben und sie wieder herstellen“, verirrt 
sich,, wie kaum naher begriindet zu werden hraucht, in eine hier fernliegende 
Gedankensphare. — Ich fuge noch hinzn, daB ich im Obigen — abgesehen von 
der Spezialitat des Agnicayana — die fur die Wiirdigung der Frazerschen Auf- 
fassungen in Betracht kommenden Materialien der Brahmapas im wesentlichen 
erschopft zu haben glaube. Wenn zu ungezablten Malen die Grundvorgange des 
Weltlaufs als vom Opfer regiert hingestellt werden (das Agnihotra macht die 
Sonne aufgehen u. dgl.), oder wenn man gelegentlich Prajapati durch jenes all- 
machtige Mittel, das Opfer, sich einen Kbrper schaffen lafit (wie Sat. Br. XI, 5, 
2, 1 ff.), so ist das natiirlich etwas andres als die angebliche Fundamentierung 
der Opfertheorie auf der Anschauung, das Weltdasein werde dadurch aufrecht 
erhalten, daB taglich der Korper des Schopfers zerbrochen und durch das Opfer 
wiederhergestellt wird (vgl. Eggeling a. a. 0. XV, Frazer a. a. 0. 411). DaB mir 
irgend eine dieser Anschauung mehr oder minder sich annahemde AuBerung der 
Texte entgangen sein sollte, ist natiirlich bei deren ungeheurem Umfang nicht 



Vedische Untersuchongen. 7 

II. 

Ein bevorzagter Sitz nun dieser Prajapatigeschichten ist, wie 
schon Eggeling*) hervorgehoben hat, die Besprechang bz. Den- 
tnng des Agnicayana^), wenigstens in der umfanglichsten und an 
mystischem Inhalt aller Art reichsten Form, in der sie vorliegt, 
im Satapatha Brahmana. Gileich im einleitenden Abschnitt, dessen 
Ansfiihrlichkeit der des ganzen, bekanntlich funf Bucher dieses 
Brahmana (VI — X) umfassenden Stiicks entspricht, heifit es, nach- 
dem zuerst die Erschaffnng der Welt dnrch Prajapati erzahlt ist 
(VI, 1, 2, 12): ,Als er (Prajapati) die Geschopfe erschaffen, den 
ganzen Lanf vollendet hatte, loste er sich auf . . . Aus ihm, der 
sich anfgelost hatte, entwich aus der Mitte der Odem. Als der 
entwichen war, verliefien ihn die Gotter". Aber tot ist Prajapati 
nicht. Er spricht zn Agni: „Setze dn mich wieder zusammen*. 
Oder (§ 21) er spricht zu den Gottem: „Setzt mich znsammen“, 
und die Gotter zu Agni: „In dir wollen wir den Vater Prajapati 
heilen“. „Dann will ich“, erwidert Agni, „wenn er wieder ganz 
da ist, in ihn eingehen“ — „darum nennt man ihn, obwohl er 
Prajapati ist, Agni“. Und so wird jentsprechend den fiinf korper- 
lichen Bestandteilen des Prajapati, die sich anfgelSst hatten — 
Behaarung, Haut, Fleisch, Knochen, Mark — in fiinf Schichten 
Agni, der Feueraltar, geschichtet, Prajapati wieder aufgebaut (§ 17). 
Ebenso heilt denn auch der menschliche Opferer, der den Agni 
schichtet, hierdurch den Vater Prajapati (§ 24). Wie in dieser 
Einleitung, wird dann auch im weiteren Verlauf der Erorterung 
sehr vielfach der Kitus im Ganzen und in seinen Teilen an die 
Vorstellung vom Wiederaufbau des Prajapati angekniipft; bestandig 
heifit es: „als Prajapati sich anfgelost hatte“ — „als die Gotter 
den aufgelosten Prajapati herstellten“ und ahnlich. Wie es der 
Art der Brahmanatexte entspricht, tritt dann natiirlich diese Vor- 
stellung oft auch wieder hinter andern zuriick. Immerhin darf 
gesagt werden, dad schwerlich sonst irgendwo in dieser Literatur 
bei der Erklarung eines Bitus ein Motiv uber emeu so weiten 
Umfang bin mit solcher wenigstens relativen Konsequenz fest- 
gehalten ist wie hier. Auch hier aber, wo die Vorstellung d^ 
aufgelosten und wiederhergestellten Prajapati am entschiedensten 

vollkommen ausgeschlossen. Derartiges wurde dann doch immer nur die Beden- 
tnng eines vereinzelten Einfalls besitzen. 

1) a. a. 0. XVni. 

2) Eggeling geht weiter: nach ihm sind die hier in Rede stehenden Vor- 
stellnngen „of the very essence of the whole performance* (niimlich des Agni- 
cayana). Ich komme darauf im Abschnitt III znruck. 



8 


H. Oldenberg, 


in die Erscheinung tritt, fiigt sie sich ebenso wenig wie in den 
friiher besprochenen Fallen — ich verweise anf das oben Gesagte 
(S. 4) — dem Frazer’schen Typns des sterbenden nnd wieder- 
anflebenden Gottes*). Vielmehr scheint sie sich mir ungezwungen 
als entwickeltestes Exemplar jenen minder entwickelten, die uns 
oben begegnet sind, anznreihen nnd dem entsprechend ihre Deutung 
zn empfangen. Beim Agnicayana gait es (vgl. unten S. 14), einen 
rituellen Anf ban zu erklaren, der nngefahr alle Potenzen des 
Weltganzen in sich schloE. Begreiflich, daB sich da die Phantasie 
der Erklarer besonders leicht anf den gottlichen Reprasentanten 
des Universnms Prajapati lenkte. Man war, wie wir gesehen 
haben, gewohnt, sich mit dem Gedanken an erne Wiederherstellnng 
des zerfallenen Schopfers zu beschaftigen : jetzt griff man darauf 
znriick®); in groBerem MaBsiabe, mit anderer Anhanfnng von De- 
tails als sonst malte man dies Motiv ans, legte man dem Ritns 


1) Insofern allerdings konnte sich hier eine groBefe Annaherung an diesen 
Typns Bnden, als hier — wenn namlich Eggeling ^at. Br. X, 2, 2, 1 richtig iiber- 
sctzt — in der Tat, so viel ich sehe, freilich nnr an dieser einen Stelle, die 
Vorstellung anftreten wurde, daB Prajapati geopfert wnrde. Doch glaube ich, 
daB in dem Satz iam devd yeyfienaiva ya$tum adhriyanta Pr. vielmehr als 
Empfanger des Opfers, nicht als Opfertier gedacht ist. Damals, wird gesagt, 
var Niemand yajniya aaBer ihm. Das wird heiBen : qnalifiziert zum Empfang des 
Opfers (vgl. Ev. X, 53, 2 etc.); nicht: zum Geopfertwerden. Dafur spricht, wie 
am Ende von § 3 im AnschluB an Rv. X, 149, 3 von den andern, spater anf- 
tretenden yojntya-Wesen die Rede ist. Bei Annahme der tjbersetzung Eggelings 
bliebe dies doch immer ein vereinzelter Einfall unter zahllosen, dem in Anbetracht 
seiner Stellung im Ganzen es nicht ratsam scheinen wiirde Tragweite beiznlegen. 
— Stellen wie X, 4, 1, 16 fassen m. E. Prajapati nicht als geopferte Wesen- 
heit auf. 

2) Eggeling allerdings faBt das Verhaltnis anders auf. Er vermutet, die 
Theorie von der sakrifikalen Herstellung des Prajapati sei von der in Sat. Br. 
VI fF. vertretenen Sandilyaschule ausgegangen und um die Zeit der Vereinigung 
der Sapdilya- und der Yajnavalkyapartien des Brahmapa auch in die letzteren 
hineingetragen worden. Ich halte das fur unwahrscheinlich, vor allem im Hin- 
blick auf die weite Verbreitung der betreffenden Vorstellung nicht nur durch das 
Satapatha Br. sondern durch die Brahmapaliteratnr im Allgemeinen (s. die Ma- 
terialien, die an den oben S. 3, A. 1 angegebenen Stellen gesammelt sind). 
Meines Wissens haben sich im Ubrigen — was doch bei jener Auffassung zu er- 
warten ware — Spuren eines solchen nachtraglichen Einflusses der Sapdilyateile 
anf die Hauptmasse des Werks nirgends bemerkbar gemacht. Auch in der Ge- 
stalt des Wortlauts macht gegenuber der Fassung von I, 6, 3, 35 = IV, 6, 4, 1 
Prajapater ha vai preydh sasfjanasya parvdtfi visasraijisuh (vgl. PrajapaHh prajaft 
sfstvd vyasramsata TB.) die ^apdilyafassung Prajdpatih prajd asfjata sa prajdh 
sfStvS sarvam ajim itvd vyasramsata (Sat, Br. VII, 1, 2, 1 ; im wesentlichen ebenso 
VI, 1, 2, 12) den Eindruck des Seknndaren, weiter Ausgearbeiteten. 



Vedische Dntersnchnngen. 9 

den Sinn nnter, eben diesen Aafban des Prajapati zu verwirk- 
lichen. 

Denn das scheint mir in der Tat zweifellos, daB es sich auch 
hier, wie so oft in den Brahmanas, nm nachtragliche Ausdeutung 
eines arspriinglich anders gemeinten Ritns handelt. Da im An- 
schluB anEggeling in nenester Zeit anch Keith^) hieruber 
entgegengesetzt geurteilt hat, mochte ich nicht unterlassen bei 
dieser Grelegenheit meine eigne Anffassnng des Agnicayana darzu- 
stellen und so diesen iiberwiegend mit negativer Kritik beschaftigten 
Anseinandersetzungen nach Moglichkeit doch aach positiven Inhalt 
zu geben. 

in. 

Man*) darf behaupten, dafi, was wir kurzweg die Prajapati- 
theorie des Agnicayana nennen konnen, allein im Satapatha Brah- 
mana vorliegt. Die drei andem gegenwartig zuganglichen Pas- 
snngen — Taittiriya Saiphita, Maitrayani Saiphita, Kathaka — 
beriihren die Schwache und Wiederherstellung des Prajapati wohl 
ganz gelegentlich, wie sie eben alle moglichen Legenden beriihren *), 
aber von beherrschender Geltung dieser Vorstellung in der Er- 
klarung des Agnicayana kann hier nicht die Rede sein*). Schon 
diese Sachlage mu6 uns mifitrauisch dagegen machen, in der Pra- 
japatigescbichte das von Anfang an mafigebende Motiv des Ritus 
zu sehen. Ohnehin aber ist klar, daB wir fiir die Aufsuchung 
dieses Motivs uns in erster Linie iiberhaupt nicht an die Deutungen 
zu halten haben, die in den Brahmanas vorgetragen werden, sondern 

1) The Veda of the Black Yajus School CXXVI. Keith erklart das Agni- 
eayana als ^intended te be a representation of the eternal cosmic sacrifice which 
lies at the bottom of the representation of the world*. 

2) Natiirlich ist es im Folgenden nicht die Absicht mehr als einige leitende 
Gesichtspunkte festzustellen. Beschreibungen des tatsachlichen Verlaufs des Agni- 
cayana haben bekanntlich Weber Ind. Stud. XIII, 217 ff.; Hillebrandt Rit. 
Litt. 161 ff. gegeben. 

3) Siehe z. B, Kath. XXII, 1, p. 57, 18. 

4) Ich greife einige Stellen heraus, die diesen Unterschied zwischen dem 

l§at. Br. und den schwarzen Yajustexten yeranschaulichen. Ausfuhrliche Behand- 
Inng der Prajapatilegende Isat. Br. VII, 1, 2, Iff.; in den Paralleltexten keine 
Spur davon (TS. V, 2, 4; MS. Ill, 2, 3; K. XX, 1). Zur Niederlegung der Gold- 
fignr des Mannes erzahlt Sat. Br. VII, 4, 1, 16 eine Geschichte, deren knrzer In- 
halt dieser ist ; als Prajapati sich aufloste, ging seine ramyd von ihm. Als 

die Gotter ihn wiederherstellten, setzten sie ihm die wieder ein; die ist hiramya 
= hiranya. Dagegen K. XX, 5 (p. 23, 9. 10): „Er legt einen goldenen Mann 
aof; durch den halt er die Welt des Opferers fest“. Etwa ebenso MS. Ill, 2, 6 
(p. 23, 13); TS. V, 2, 7, 2. 



10 H. Oldenberg, 

an den Ritas selbst and die Rezitationen, die fiir seine Vollziehang 
vorgeschrieben sind. 

Der Ritus nun, dessen zabllose Einzelheiten dem Betrachter 
den wesentlichen Inhalt des Ganzen nicht verhiillen diirfen, lauft 
offenbar daranf hinaas; 

1. Da6 aus Backsteinen ein Eeueraltar aufgebaut wird, welcher 
Agni genannt, also mit dem auf ihm niederzulegenden Feuer 
identifiziert wind; 

2. da6 dieser Agni die Gestalt eines Vogels hat, dessen Be- 
stimmung ist zum Himmel oder zur Sonne aufzusteigen, den Opferer 
dorthin zu tragen. 

Die ganze Prozedur der Anlage des Altars, Schichtung der 
Backsteine ist von der Disposition beherrscht: hier ist der Rumpf 
des Vogels — hier der rechte Flugel — hier der linke Fliigel — 
hier der Schwanz u. s. w ^). Da kann es sich nicht um Einfalle 
von Erklarem handeln, sondem nur nm einen Grundzug des Ritus 
selbst. Im Einklang damit sprechen die dabei vorzutrageuden 
liturgischen Texte den Agni denn aiich zu vielen Malen aus- 
driicklich als Vogel an; die bekannte dem Agnischichter aufgelegte 
Observanz hinfort kein Vogelfleisch zu essen, betont gleichfaUs 
auf das unmiSverstandlichste die Vogelnatur des Agni^). Gevvifi 

1) Andere Exemplare dieses rituellen Vogels liegen in den von den Texten 
oft sehr nachdriicklich mit dem Agnialtar parallelisierten Gebilden des Mahavrata- 
saman und des Mahaduktba vor: Figuren von Opfergesangen und Litaneien, die 
ebenfalls in Yogelgestalt angeordnet sind, Mir scbeint (so schon Keith a. a. 0. 
CXXXI), dab unter diesen drei Vogeln der x'Vgnialtar der alteste ist. Hier hat 
das Vogelmotiv groBere Anschaulichkeit, als im Aufbau liturgischer Komplexe. 
Diese werden auf dem Bedurfnis der Udgatar- und Hotarschulen beruhen etwas 
Ahnliches wie die Adhvaryus zu besitzen. 

2) Weber Ind. Stud. XIII, 291. — Neben der Gestalt des Vogels im All- 
gemeinen werden dann bekanntlich auch Gestalten bestimmter Vogel (Falke usw.) 
fur den Agni angegeben (das. 264; TS. V, 4, 11 etc.; vgl. die Figuren bei Bilrk 
in der Ubersetzung des Apast. Sulba S. ZDMG. LVI); dazu weitere Varianten 
wie Gabeldeichsel, Rad, sogar Leicbenstatte {smasana) ! Di® i® der ganzen Breite 
der Texte fundamentierte Form ist doch die des Vogels; daneben werden jene 
Varianten als minder belangreiche Einfalle und Kiinsteleien zu beurteilen sein. 
Man bemerke, wie im Falken usw, sich eben nur die Grundidee des Vogel-Agnis 
wiederholt bz. spezialisiert. Das stuasdna, soweit es auch davon abliegt, weist 
doch eben auf das Motiv hin, das wir beim Vogel -Agni antreffen werden: des 
Glucks im Jenseits (^smasdnacitam cittvUa yah Icdmdyeta pitrlokd j'dhnuydm Ui 
Ts.) So zeigen denn auch die Smasanariten des Totenkults (siehe Cal and Ai. 
Toten- und Bestattungsgebrauche 129 ff.) viele Beriihrungen mit dem Agnicayana. 
— In weiterem Kreise als die hier beruhrten Varianten des Agnicayana sind um 
den Grundtypus herum die Riten des Savitra-, Naciketafeuers usw. gelagert; 
einige Bemerkungen uber diese s. unten S. 13, Anm. 2. 



Vedische Untersuchungen. 


11 


kniipft das alles — darin stimme ich ganz mit Keith (a. a. O. 
CXXVI) liberein — an die uralte, schon im Kgveda haufige Auf- 
fassung des Gottes Agni als Vogel an. Was aber ist die spezielle 
Absicht, in der diese Vorstellung vom Vogel -Agni bier gewahlt 
ist, urn zur Grundlage eines nmfangreichen ritnellen Anfbaus ge- 
macbt zn werden? Keith (a. a. 0.) beantwortet diese Frage 
folgendermaBen : Prajapati, das All, wird als das Opfer vorgestellt; 
eine Haupterscheinnng des Opfers ist der Soma, fiir dessen Riten 
der Altar ja verwandt wird ; der Soma aber wurde von der vogel- 
gestalteten Gayatrl, die mit Agni identisch ist, vom Himmel herab- 
geholt. K. findet, daB an diesen Zusammenbangen kaum ein Zweifel 
bleibt. Ich kann ihm nicht folgen. 

Znnachst verdient es bemerkt zn werden, daB das Moment 
von Prajapatis Zerfall und seiner Wiederherstellung bei dieser 
Wendnng, die der Sache gegeben wird, iiberhanpt nicht vorkommt. 
Darin liegt nun vielleicht keine Schwacbe dieser Auifassung; in 
der Tat miifite jenes Motiv, sollte es fiir den Anfban des Ritas 
wirklicb wesentlich sein, m. E. doch in den Handlnngen und zu- 
gehorigen Spruchen irgendwie erkennbar bervortreten : was nicht 
der Fall ist“). So spricbt denn Keith, wo er seine in Rede 
stehende Hypothese entwickelt, von Prajapati nicht sowobl als 
Untergehendem und Wiedergeschaffenem , sondem vielmehr als 
Scbichter des Agni^) — wie man sieht, eine prinzipiell andre 
Auffassung seiner Beziehung zum Agni, als in jener Geschichte 
vom Zerfall des Schopfers. In der Tat wird bei der Auflegung 
gewisser Backsteine gesagt: ^Prajapati moge dich binsetzen®, 
„mit Prajapati lege ich dich auf“ (Ts. lY, 2, 9, 1; 4, 6, 1; 4, 5, 1), 
Oder der Backstein wird angeredet als „von Prajapati gefaBf* 
(das. IV, 3, 2, 1 ff.) : alles sehr wenig dazu passend, daB bier eine 
Wiederherstellung des zerfallenen Prajapati durch irgend welche 
Heifer vor sicb geht. Soil nun aber der Altar von Prajapati ge- 
schichtet sein, so scheint mir der Weg von dieser Vorstellung zu 
der des somabolenden Vogels doch noch recht weit; die von der 
einen zur andem fiihrende oben skizzierte Kette so zu sagen der 
Gleichungen, in denen immer eine Vorstellung fiir die andre ge- 
setzt werden muB, ist zu lang, urn sicher haltbar zu sein, und 


1) Ahnlich schon Eggeling a. a. 0. XXI. 

2) Hochstens konnte man etwa darauf rerweisen, daB das Saman „Herz des 
Prajapati“ gesungen wird (Weber 276, A. 1): eine etwas schmale Grundlage nia 
Folgerungen darauf zu bauen. 

3) „The fire-altar is piled by Prajapati by means of the seasons*. K. CXXVI. 



12 


H. Oldenberg, 

Riten samt Sprachmaterial liefern kein Zeugnis, das diese Kette 
festigen, eben dies e VorsteUnngslime als die zutreffende erweisen 
wiirde '). 

Es ist eben schon bemerbt, daB gleichermaJSen fiir die Vor- 
stellung von Prajapatis Zerfall nnd Herstellung die rituellen 
Spriiche keinen Anhalt bieten. Dagegen weisen diese — so er- 
ganzt sich der negative Refund in positiver Richtung — mit 
groBer Bestimmtheit nnd Ausdriicklichkeit auf eine andre dem 
Vogel beigelegte Bedentnng hin — einen Zweck, der den rituellen 
Vogel doch wohl naher, direkter angeht als etwa die Herstellung 
des Prajapati. Gleich in den ersten einleitenden Spriichen des 
Agnirituals, die der Natur des Gottes Savitar entsprechend die 
Zuwendung seiner antreibenden Kraft fiir das geplante Werk er- 
bitten, ist die Rede von den , 2 ur Sonne*) gehenden Gottem“, 
und erklaren die Verehrer, da6 ihr eigner Sinn auf den „Gang 
zur Sonne“ gerichtet sei (TS. IV, 1, 1, 1). Bald’ darauf sprechen 
dieselben von sich als „zur Sonne aufsteigend, auf dem hochsten 
Himmelsgew31be“ (IV, 1, 2, 4). Zu diesem Aufsteigen aber soli 
ihnen der Vogel Agni verhelfen; zu dem wird darum gesagt: „Du 
bist der schongefiederte Vogel; zum Himmel gehe; zur Sonne 
fliege“ (IV, 1, 10, 5), nnd noch ausdriicklicher : ,Den Agni schirre 
ich an . . , den himmlischen Vogel . . . ; mit dem wollen wir zur 
Hohe des Roten fliegen, zur Sonne aufsteigend, auf dem hochsten 
Himmelsgewolbe“. „Dies sind deine beiden Flugel . . o Agni; 
mit denen wollen wir zur Welt der Guttater fliegen, wo die Rsis 
sind, die erstgeborenen, alten“ (IV, 7, 13, 1). „Die Kasteiung, 
mit der die Rsis die Opfersitzung hielten, Agni entflammend, die 
Sonne herschaffend : (damit) setze ich auf diesem Himmelsgewolbe 
den Agni nieder . . . Dem wollen wir mit unsern Gattinnen nach- 
gehen, ihr Gbtter, mit Sohnen, Brudern oder mit Gold, das Him- 
melsgewolbe erfassend in der Welt der guten Taten, auf dem 
dritten Firmament, im Himmelslicht" (das. § 2. 3). Weiter An- 
reden an gewisse Backsteine beim Aufbau des Altars: „M6gen sie 
(die Rsis usw.) alle eines Sinnes auf des Himmelsgewolbes Riicken 
in die Sonnenwelt dich und den Opferer setzen“ (das. IV, 4, 2, 3). 
^Mogen diese Backsteine, o Agni, mir Milchkiihe sein . . . meine 


1) Eine so ganz gelegentliche Hereinziehung der zum Himmel auffliegenden 
Gayatri in einer zum Eitus gegebenen Erklirung wie Kath. XXI, 4 (p. 42, 11 f.) 
hat natiirlich wenig zu besagen. 

2) Ich ubersetze svar mit ,Sonne“, nicht „Himmel“, Tgl. meine Note zu Rt. 
X, 189. Fiir die vorUegende Untereuchung ist das iibrigens gleichgiiltig. 



Vedische Untersuchnngen. 


13 


Wunsche milchend dort in jener Welt“ (IV, 4, 11, 4). Anrede an 
die Teilnehmer der Feier: „Schreitet mit Agni zum Himmels- 
gewolbe, den in der Schiissel weilenden^) in den Handen tragend. 
Zu des Himmels Riicken, znr Sonne gehend setzt euch nieder 
vereint mit den Grottern“. „Von der Erde bin ich znm Lnftreich 
anfgestiegen. Vom Lnftreich bin ich znm Himmel anfgestiegen. 
Von des Himmelsgewolbes, des Himmels Riicken bin ich znr Sonne, 
znm Licht gegangen“ (IV, 6, 5, 1). Ich versuche nicht voUstandig 
zn sein; die beigebrachten Spriiche, den verschiedensten Stellen 
des Agnirituals zngehorig , werden ausreichen die Grnndidee, 
welche die Sprnchtexte selbst in bestandiger Wiederholnng diesem 
beilegen, klar zn stellen. Damit dem Opferer die Lichtwelt von 
Himmel, Sonne, Unsterblichkeit erreichbar sei, versichert er sich 
in handgreiflicher Konkretheit des geeignetesten Befordervmgs- 
mittels: eines Vogels, der ihn zu jener Hohe hinanftragen wird. 
Als solcher Vogel bietet sich der vedischen Vorstellnngsweise von 
selbst Agni dar^). Agni ist ja nicht nnr in der Tat Vogel (S. 11), 
sondern er ist zngleich von altersher der Bote, der die mensch- 
lichen Gaben znm Himmel bringt, den Menschen selbst bei der 
Bestattung ins Jenseits befordert. Die besondere Wirkenskraft 

1) Das Feuer wird ein Jahr lang in einer irdenen Schussel unterhalten. 

2) So ist auch der Vogel des Mahavrata bestimmt zum Himmel aufzufliegen 
bz. den Opferer dorthin zu filhren. Vgl. hieruber und iiberhaupt iiber sama- 
vedische rituelle Vagel, die zum Himmel fliegen, meine Nachweisungen NGGW. 
1915, 394 f.; ich fiige hinzu Pane. Br. V, 1, 10 (aus dem Mahavrataritual) ; 
fancadasasaptadasau paksau bhavata^, pdksahhyam vai yajamdno vayo bhiitva 
svargam lokam eti. — Weiter bemerke ich, da6 beim Agnicayana selbst diese 
Bestimmung, die im Obigen auf Gruud der dabei vorzutragenden Texte nach- 
gewiesen ist, sehr haufig auch in den Brahmanaerlauterungen mit vollster Klar- 
heit ausgesprochen ist. So besonders in den schwarzen Yajuryeden, wo sich viel- 
fach Stellen linden wie TS. V, 5, 5, 4 agnina vai devaht suvargam lokam aji- 
gdmsan, tena patitum ndsaknuvan . . . sarvatascaksusaiva tad agnina yajamdna^ 
suiargarn lokam eti Aber auch aus dem Sat. Br., das diese Auffassung znriick- 
drangt (ygl, 8. 9), ist sie doch keineswegs verschwunden ; vgl. z. B. X, 5 5 5 
yady u vd enam uttdnam acaifih, na va uttdnam vayak svargam lokam abhiva- 
hati na tva svargam lokam abhivaksyaty asvargya u te bhavi?yat%ti. — Ich schlieBe 
hier einige in gleicher Kichtung weisende Satze aus den Brahmauaerdrterungen 
liber die speziellen, oben S. 10, A. 2 (am Ende) erwahnten Schichtungen an. Zum 
S a vitrafeuer; ehi sdoitram viddhi, ay am, vai svargyo 'gnik pdrayisrtur amridt 
sambhuta iti TB. Ill, 10, 9, 15 ; esa u eaicainarp, tat sdvitrak svargarti lokam abhi- 
vahati das. Ill, 10, 11, 2. Zum Naciketafeuer; samvatsaro vd agnir ndciketak, 
tasya vasantak sirak, grl?mo daksinak paksak, varsd uttarak, sarat puccham etc., 
agnimayo ha vai punarnavo bhutod svargam lokam eti, adityasya sdyujyam, yo 
•gnim ndciketam cinute etc., das. Ill, 11, 10, 2ff. ; bekanntlich charakterisiert auch 
die Katha lJpani?ad (I, 13 ff.) den Naciketa als sporirya-Feuer. 



14 


H. Oldenberg, 


dieses Agnivogels nun zu sichem und zu starken versammelt man 
in ihm alle Machte des TJniversums einschlieBlich der dem Veda 
innewohnenden — Gottheiten, Jahreszeiten, Himmelsgegenden, Ge- 
stime, Lebensfunktionen, Metra nnd was nicht sonst. Bausteine, 
welche diese Potenzen darstellen, Spriiche, die sich an sie richten, 
fuhren sie in den Korper des Altar- Vogels hinein, geben ihnen 
dort ihre Stelle. So bant man diese ungetvime ritnelle Kon- 
strnktion anf : ein Gauzes, das anders als das Somaopfer nicht in 
allmahlichem Warden, sondern allem Anschein nach dnrch ein- 
malige Konzeption seine Gestalt empfangen hat ^). Dieser sakral- 
mystische Vogel wird dann „angeschirrt“ (agniyojanam; dazu der 
S. 12 angefiihrte Spmch „den Agni schirre ich an“ usw.); so wird 
er mit dem Opferer zur Himmelswelt anffliegen^). 

Wenn nun so die im Ritas selbst liegenden Indizien and die 
zugehorigen Spriiche an der ursprunglichen Intention, wie mir 
scheint, keinen Zweifel lassen, so ist es anderseits aach begreiflich, 
dab die Ubersattigang des Ganzen mit hundertfachen Beziehnngen 
die priesterlichen Erklarer, die sich am die Deutung von all dem 
bemiihen, zu weiteren Phantasiespielen anregt, zu Versuchen, 
immer neue mystische Tiefen darin zu entdecken®). Da werden 
dann verschiedene Richtungen eingeschlagen. Der Opferer, der 
zur Himmelswelt gelangen will, wird selbst mit dem dorthin auf- 
fliegenden Agni identifiziert : ,Jener (der geschichtete Altar) ist 
sein (des Opferers) gottliches Selbst, dieser (sein irdischer Korper) 
sein menschliches" (^at. Br. IX, 4, 4, 9). „So^) ergieSt er dies 
dreifache Wissen in sein Selbst, tut es in sein Selbst hinein. Er 
wird schon hier das Selbst aller Wesen, gebildet aus den Metris, 
den Formen der Gesanglitaneien. den Atemkraften, den Gottheiten. 
Indem er aus all dem gebildet wird, steigt er aufwarts“ (das. X, 
4, 2, 30). Anderseits aber — und wobl mit noch groBerer Ent- 
schiedenheit — schlagt die Phantasie die Richtung auf die Welt- 

1) Das schliefit natiirlich nicht aus, daB gelegentlich anch recht Altes an 
irgend einer Stelle hineingesetzt ist : ich erinnere an das Bauopfer (die Einmauerung 
der Kopfe der funf Tiere, Weber a. a. O. 218 f.). 

2) DaB dieser Vogel, den der Priester herstellt, dann doch zugleich als TOn 
Prajapati hergestellt angesehen wird (S. 11), vorlauft in allbekannter Gedanken- 
bahn. 

3) Man kann sich so ausdriicken: dieser Vogel ist zugleich ein Abbild des 
Universums — und noch manches andre — geworden. Dadurch kommt die ur- 
sprungliche Vorstellung natiirlich vielfach in Gefahr zersprengt oder zugedeckt 
zu werden. So in weitem Umfang schon in den Spruchen ; vollends aber in den 
Erklarungen. 

4) Indem er Steine schichtet, welche vedische Texte bedeuten. 



Vedische Untersuchungen. 


15 


entstehung, anf den Weltschopfer Prajapati ein: die geradezn das 
Universnm nmfassende Natnr des Agni konnte kaiun anders als 
solche den Brahmanatheologen oknehin schon besonders nab liegenden 
Gedankengange hervorrufen. Prajapati, indem er den Agni 
schichtet, vollbringt ein Schbpfungswerk ^). Vor allem aber tritt 
jetzt sporadiscb in den schwarzen Yajurveden, dock eingehend 
durchgefiihrt im Satapatha Br. — jener Gedanke anf, mit dem 
wir nns oben eingehend beschaftigten : von der Agnischichtnng 
als einer Herstellung des zerfallenen Prajapati. Man darf glanben 
ein Stiick Geschichte dieser Vorstellnngen, das Fortschreiten vom 
Vogelzanber zur Prajapatimystik sich abzeichnen zn sehen, wenn 
man im Satapatha Br. (VI, 1, 2, 36) liest: jHier sagt man nun: 
am welches Wunsches willen wird der Agni geschichtet? Einige 
sagen: er soli zum Vogel werden and mich zum Himmel tragen. 
So sehe man es aber nicht an. Sondern jene Gestalt (des Agni) 
annehmend sind die Atemkrafte zn Prajapati geworden. Jene Ge- 
stalt annehmend hat Prajapati die Gotter geschaffen. Jene Gestalt 
annehmend sind die Gotter unsterblich geworden. TJnd was hier- 
dnrch die Atemkrafte and Prajapati and die Gotter geworden 
sind, eben das wird er (der Opferer) hierdnrch". Da steht die 
man mochte sagen greifbare Zauberprozedar der einen Aaffassung 
der speknlativen, auf Prajapati abzielenden Phantastik der andern 
gegeniiber. Naturlich entscheidet das Brahmapa sich fiir die 
zweite. Der Religionshistoriker , der ans der Lagernng der 
Qaellenmaterialien das Urspriingliche erschliefit, wird anders ar- 
teilen. 

Sucht man, wie das geboten ist, das Agnicayana in die Ent- 
wicklung der aaf das jenseitige Dasein beziiglichen Vorstellnngen 
and Riten einzuordnen, so fallt in die Angen, wie den vergleichs- 
weise einfachen Vorstellnngen des Rgveda gegeniiber hier aUes 
verwickeltere Formen, den Charakter ansschweifenderer Mystik 
angenommen hat^). Anf der andern Seite tragt dieser Zanberritus 


1) Anfangeder Yorstellung, da6 Pr. der Handelnde ist, schon in den Spriichen 
selbst; s. oben S. 11. 

2) DaB in der Tat der Ritus wesentlich junger ist als die rgredische Zeit, 
bedarf keines Beweises (doch erinnere ich in bezag auf den metrischen Charakter 
der Texte an das von mir ZDMG. LIV, 185 Gesagte; ich habe den Eindruck — 
weitere Dntersuchung hieruber muB vorbehalten bieiben — , daS wie die Verse so 
anch die Prosaspriiche des Agnirituals sich von den alteren derartigen Texten 
fuhlbar abheben). Kann als ausdriickliches Zeugnis fiir dies jungere Alter die 
Lehrerliste am Ende von ^at. Br. X (in der Kapvarezension am Ende der Brh. 
Ar. Up.) gedeutet werden? Da wird die Kunde der Agnimystik zwmt in letzter 



16 


H. Oldenberg, 

zur Erlangnng himmlischer Unsterblichkeit deatlich ein altertiim- 
licheres Geprage als die Gedanken von der TJberwindung des Todes, 
dem Eingehen in die Welt des Ewigen vermoge des Einsseins mit 
dem Brahman. Aber wiederum: die Brahmanspeknlation, so er- 
haben fiber der Flachheit nnd AuBerlichkeit jener alten sakrifikalen 
Kfinste sie ist, wird in gewisser Weise doch durch diese vor- 
bereitet. Auch im Agnicayana lebt ja, obschon dumpf nnd nn- 
fertig, etwas von einer fiber alle begrenzten, irdischen Ideale 
hinansstrebenden Sehnsncht nach todfiberwindender VoUendung. 
Das Buch des Agnimysteriums im Satapatha Brahmana wird be- 
schlossen von einer Reihe nnter einander der Ansdrncksweise nach 
wohl znsammengehoriger Abschnitte allgemeineren Inhalts, die in 
direktem Znsammenhang mit dem Thema des Agni nicht oder nur 
lose stehen, doch oft die Probleme von Tod, Wiedertod, Jenseits 
bertihren; ist es Znfall, da6 eben bier, verknfipft mit dem Namen 
des Sa^dilya, des Lehrers vom Agnicayana, jene wnnder voile Ver- 
herrlichnng des Brahman- Atman (Sat. Br. X, 6, 3) sich findet, ein 
altestes Denkmal der Brahmanspeknlation? 

Instanz, wie sich von selbst versteht, auf transzendente Wesen zuruckgefiihrt : 
auf Prajapati — vermutlich wegen der Kolle, die eben diesem in den soeben be- 
sprochenen Phantasien zugeteilt war — und zu allerietzt auf das durch sich 
selbst seiende Brahman. Unter den menschlichcn Lehrem aber steigt die Reihe 
zunachst zu Sapdilya auf, dann weiter durch zwei (in der Kanvafassung drei) 
Mittelglieder zu Tura Kavaseya (vgl. Sat. Br. IX, 5, 2, 15) , der sich somit an 
Prajapati anschlieht. Tura nun war Zeitgenosse und Hauspriester des groBen 
Janamejaya (ZDMG. XLII, 239). Zwischen dieser fraglos historischen Personlich- 
keit und der Gotterwelt wird also die Zeit der rgvedischen Rsis ubersprungen. 
Darf in dieser auifallenden Auslassung ein BewuBtsein davon gesehen werden, 
dafi der Agniritus von diesen nicht volizogen, viclmehr erst in den Kreisen des 
Tura entstanden ist? Es ist bemerkenswert, daB auch an einer andern Stelle 
des Agniteils im Satapatha Br. sich konkrete, vertrauenswert aussehende Uber- 
lieferung zur Gescbiclite oder Chronologie des Ritus erhalten hat (das Menschen- 
opfer zuletzt von Syaparpa Sayakayana dargebracht, VI, 2, 1, 39). Die Zeit des 
Tura lag nicht so weit zuruck, daB nicht glaubhafte Erinnerungen an damalige 
rituelle Vorgange sich erhalten haben konnten. Zu den inneren chronologischen 
Indizien, welche die Agnitexte bieten, scbeint jene Zeit mir vollkommen zu passen. 
AuBerungen wie Kath. XX, 9, p. 29, 8f. (Vasistha, Bharadvaja etc. gedeihen in- 
folge des Ritus), XXU, 3, p. 59, 10 f. (Kaksivant, Trasadasyu etc. haben den Agni 
geschichtet) haben solchen Charakter, daB sie keinen Einwand gegen das hier 
Gesagte liefern konnen. Beilaufig mochte ich hier noch meinen Zweifel an der 
bekannten Auffassung Webers (Ind. St. XTTT, 266) auBern, daB die Lehre vom 
Agni durch Xahe der Persa-Arier beeinfluBt sei. Mir scheint in dieser Lehre so 
vedische Luft zu wehen, ihre Motive so ganz aus vedischen Vorstellungen ver- 
standiich zu werden, daB ich fur ein Hinansgreifen aus Indien keinen AnlaB zu 
hnden weiB. 



Vedische Untersuchangen. 


17 


2. Zu Bgveda IX, 2, 7. 

Anf den ersten Blick vollkommene Evidenz inbezag auf die 
Erklamng dieses Verses, wobei ein grammatisch wichtiges E,e- 
snltat abznfallen scheint. Bei naherem Znsehen, wie ich wenig- 
stens iiberzengt bin, verfliicbtigt sich die Evidenz, und jenes E,e- 
snltat zerschlagt sich. Vielleicht lohnt es sich, anch in methodi- 
schem Interesse, das naher anseinanderznsetzen. 

Der Vers lantet: giras ta inda ojasa marmrjydnte apasyuvah\ 
ydbhir mddaya sumbhase. Hierzu Sommer in seinem wichtigen 
Anfsatz iiber das Femininnm der u- und i-Adjektiva (IF. XXXVI, 
180) : „Die Stellen IX, 35, 5 nnd ganz besonders IX, 38, 3 befiir- 
worten die Auffassnng [von apasyticah] aJs Nominativ nnd zu- 
gleich die von te als Akkusativ, eine Funktion, gegen die Olden- 
berg zu I, 30, 9 zu Unrecht Zweifel geauBert hat (,werkkundige 
Lieder, o Indu, verschonen dich mit ihrer Kraft’ Ludw.)“. Ich 
setze jene beiden Parallelverse her : IX, 33, 5 abhi brdhmlr anusata 
yahvir rtdsya matdrah \ marmrjydnte divdh sisum; 38, 3 etdm tydrn 
harito ddsa marmrjydnte apasyuvah | ydbhir mddaya simbhate. Also 
im ersten Vers in der Tat die drei HauptbegrifFe von 2, 7 neben 
einander : Lieder, Soma, marmfjyante, und bei der Bandlung dieses 
Verbs sehr wahrscheinlich die Lieder Subjekt, sicher Soma Ob- 
jekt. Im zweiten Vers Identitat der Padas be mit den ent- 
sprechenden von 2, 7, und wieder Soma neben marmrjydnte Objekt. 
Ergibt sich da nicht in der Tat, da6 auch in 2, 7 die girdh Sub- 
jekt des marmrjydnte sind, der mit te angeredete Soma Objekt, te 
also Akkusativ? 

Als Ergebnis meiner Untersuchungen iiber me und te hatte 
ich hingestellt (Noten zu I — VI, S. 29), daB akkusativische Funktion 
im Rv. „unsicher, auBerstenfalls sehr selten, vielleicht vereinzelte 
Abnormitat ist“. Ebenso, doch noch entschiedener, Keith (JRAS. 
1910, 472 ff.). Sommer sagt nicht, ob er seinerseits andre Belege 
solcher Akkusative fiir sicher halt. Ich vermute, daB es sich fur 
ihn eben nur um diesen handelt; in jedem Fall kann ich nur ihn 
priifen. 

Ich bin gewiB kein Freund davon, in der Erklarnng zusammen- 
gehoriger Stellen, ebenso wie in der Ansetzung der Wortbedeu- 
tungen, ohne starkste Griinde hier nach einer, dort nach einer 
andern AufFassung zu greifen. Der Argumentation S.s aus seinen 
beiden Parallelstellen gestehe ich darum den Anspruch auf ernst- 
lichste Erwagnng ohne weiteres zu. Aber sie ergibt doch eben 
nur eine Prasumtion fiir IX, 2, 7, und Prasumtionen sind dem 

Rgl, Oes, d. Wiss. Nichrichten. Phil.-hist. Masse. 1917. Heft 1. 2 



18 


H. Oldenberg, 


unterworfen, unter Umstanden entkraftet zn werden. 1st der 
vorliegende Fall daza angetan? 

Bei oft wiederholtem Lesen des Verses kann ich den be- 
stimmten Eindruck nicht loswerden, da6 te keineswegs Akkasativ, 
sondem Dativ ist. Dock naturlich muB ein solcher Eindruck auf 
die Tatsachen zuriickgefiihrt werden, die sick in ikm verdickten. 

Sollten wirklick die ungekeuren Massen von Stellen, an denen 
— bei mrj- oder bei welcken Verben anch immer — der Unter- 
schied akkusativiscker Konstruktion mit tm (wie mrjdnti tva) und 
dativischer oder genitiviscker mit te (wie tam u te mrjanti III, 
46, 5; xmsrer SteUe mit ihrem ta indo ahnlich yas ta indo mddesv a 
IX, 61, 1; d ta indo mddaya kdm 62, 20; evd ta indo . . . rdsam 
tuHjanti 79, 5) immer wieder gleichbleibend sick bewahrt, keine 
Wakrsckeinlickkeit ergeben? Hat Keith (a. a. 0.) nicht Recht zu 
sagen: „If the uses of me and te as accusative were genuine it is 
very improbable that we would be left to find them in a small 
number of dubious passages “? Wie leicht ware es dem Rsi ge- 
wesen, dem Vers eine Wendnng zu geben, die fiir ein tva Raum 
gesckafft hatte, selbst weim er ein dock voUkommen nnanstofiiges 
tvendo (d. h. tuvendo) nicht setzen woUte! So meine ich, die Tat- 
sache, da6 eben te und nicht tva dasteht, wirft ein Gewicht in 
die Wagschale, welches das der Sommerschen Parallelstellen doch 
wohl uberwiegt. 

Wenigstens wenn im Ubrigen auf dem damit angezeigten 
Wege der Vers ein glaubliches Aussehen gewinnt. Und insonder- 
heit, wenn er zu jenen ParaUelsteUen in ein nach den sonst im 
Veda geltenden Mafistaben annehmbares Verhaltnis geriickt wird. 

Wie ist es damit bestellt? 

Es ist ja richtig, dafi an mehreren Stellen, wie IX, 33, 5, die 
Gebete den Soma „putzen“ {mrj-) oder auch die Verehrer dnrch 
die Gebete den Soma putzen (z. B. EX, 17, 7). Aber ebenso fest 
steht, dafi man auch die Gebete selbst „pntzt“ oder diese sich 
putzen: natiirKch damit ihr Aussehen dem Soma oder irgend 
^inem andem Gott zugute komme. So IX, 47, 4 yddi marmrjydte 
dhiyah, wo Subjekt vermutlich der im vorangehenden Pada er- 
wahnte vipra ist; I, 61, 2 pratnaya pdtye dhiyo marjayanta, wo 
ganz wie ich es fur unsre Stelle annehme, der Gott, in dessen 
Interesse die Tatigkeit des mpj- vorgenommen wird, im Dativ 
steht. Dasselbe Nebeneinanderliegen verschiedener Vorstellungen 
ist bei pit- „reinigen“ reichlicher belegbar*). Neben den Stellen, 

1) Wie nah dies Verb inhaltlich dem mrj- steht, wurde, bedurfte es dessen, 
durch Sv. 11, 320 mrjydse pdvase Teranschanlicht. 



Vedische Untersnchungen. 


19 


wo Soma dutch Gebete gereinigt wird, stehen auf der andem 
Seite zahlreiche solche, wo mau die Gebete ihrerseits reinigt oder 
die Gebete sich reinigen; ofter mit Hinweis im Dativ auf den 
Gott, fur den das geschieht. So einerseits some matibhih punandk, 
IX, 96, 16; andrerseits vaihanardya matih . . . pavate VI, 8, 1; 
matdyah pavante VI, 10, 2; dpupot . . . hrdd matim III, 26, 8 und 
dergl. mehr. Der Gott ist punano hrdhmana IX, 113, 5, abet der 
Gott wird auch angerufen brahma . . . punihi nah IX, 67, 23. Wir 
iiberblicken ebenso die Verhaltnisse noch beim Verb subh- „schon 
machen“, das gleichfalls ganz in denselben Vorstellungskreis wie 
mrj- gehort ^). Bald sind da die Gebete Subjekt der auf den Gott 
gerichteten Tatigkeit des Schonmachens {tarn . . . girah sunibhanti 
IX, 43, 2), bald sind sie deren Instrument (V, 22, 4; VIII, 44, 26; 
IX, 2, 7 ; 40, 1), bald sind sie Objekt des im Interesse des Gottes 
vollzogenen Schonmachens {ye agne eandra te girah sumbhdnti V, 
10, 4^): mit demselben te wie an unsrer Stelle; V, 39, 5 auch mit 
Dativ tdsmai; VIII, 6, 11). 

Wenn wir also in IX, 2, 7, geleitet von der doch stark moti- 
vierten Erwartung, dafi te Dativ sein wird, die drei Elemente 
Soma, Gebete, Putzen hier zn einer andern Fignr zusammensetzen 
als sie IX, 33, 5 vorliegt, so verlassen wir damit keineswegs die 
dem Veda gelaufigen Vorstellungsbahnen, behnden nns vielmehr 
in einer Bahn, deren Einherlanfen neben der andem fiir die ve- 
dische Vorstellungs- und Ausdrucksweise eben charakteristisch ist. 
Ich verstehe danach in unserm Vers entweder: „die Gebete putzen 
sich dir (werden dir geputzt?), die tatigen"®); da6 marmrjyd- me- 
dial Oder passivisch verstanden werden kann, zeigt IX, 62, 13; 85, 5; 
im tibrigen ist besonders ahnlich I, 61, 2. Oder aber: „die Ge- 
bete putzt man dir, die tatigen" ^). Die erste Auffassung hat den 
Vorzug, daJS so das Adj. ,die tatigen" einen ansgepragteren Sinn 
erhalt; da die Gebete eben selbst die Putzarbeit tun, heiBen sie 
„tatig“, wie 38, 3 die Finger, welche dieselbe Arbeit tun, ebenso 


1) Das zeigt Pada c von IX, 2, 7 = 38, 3 ; iuvibhdmandb . . . mtjydmdnah 
36, 4, und andre Stellen. 

2) Wiirde man nicht bei girah sumbhanti {mmbhdnti) V, 10, 4 und IX, 43. 2, 
wenn nicht die umgebenden Worte jeden Zweifel absebnitten, prasumieren, da3 
girah beidemal derselbe Kasus ist? 

3) Ich setze hierher zwei Stellen, an denen ganz ebenso gesagt ist, dafi die 
girah sich te, dem Gott, so oder so betatigen: dsryram indra te girah I, 9, 4; 
. . te . . giro vdh'dsa irate VIII, 44, 25. 

4) SchwerUch mit gezwungener Trennung von girah und apasyUvah'. ^die 
Tatigen (Fem.) putzen dir die Gebete“. Wer w^en diese weiblichen Tatigen.? 

2 * 


f 



20 


H. Oldenberg, Vedische Untersuchnngen. 


heiBen. Anf dieses erfolgreiche Tnn der das Putzen besorgenden 
Wesenheit legt anch das sukdrmabhih von IX, 70, 4; 99, 7 Ge- 
wicht. 

Der Dichter, der den Anfang von IX, 2, 7 verfafite, geriet 
damit in das Geleise des vermntUch alteren*) Verses 38, 3 and 
fahr nun in dieser Bahn fort. DaB Ausdrucksweisen, zwiscben 
denen an sich irgend eine Differenz besteht, dock in solcber W else 
sich beriihren, ist ja im Rv. haufig genug. Ein gates Beispiel 
liefert eben innerhalb der bier aberblickten Masse von Materialien 
V, 22, 4: (den Gott) stomair vardhanty dtrayo girbhih sumbhanty 
atrayah, gegenuber V, 39, 5 (far den Gott) giro vardhanty dtrayo 
girah sumbhanty atrayah : sehr ahnlich wie an nnsern Stellen das 
einemal die Gebete Instrument, der Gott Objekt, das andremal 
die Gebete selbst Objekt. Ohne Zweifel wird in kurzem Bloom- 
field’s Werk „The repeated passages of the Rv.“ einen bequemen 
liberblick uber die reichhaltigen Parallelen, die derartige Ab- 
weichungen zeigen, ermoglichen. 

So glaube ich, alles in allem, daB die Sacblage in IX, 2, 7 
uns zu Wagnissen in der AufFassang des te keinen Grand and 
kein Recht gibt. Das unendlich hSofige Wort wird bier sein, 
was es im Rgveda annahernd iiberall oder wohl iiberall ist : womit 
die SteUe einem reicblich and sicker belegten Typus rgvedischer 
AuBerangen sich ungezwongen zuordnet. 


1) Dafi die Finger apasyu sind, ist doch wohl naher liegend and arspriing- 
licher, als dafi die Gebete es sind. 



Zur tTberlieferung und Textkritik der Kudrun I. 

Von 

Edward SchrMer. 

Vorgelegt in der Sitzung vom 25. November 1916. 

Als mir im Jahre 1910 durch einen letzten TV^nnsch Ernst 
Martins die Anfgabe znfiel , dessen kleine Kndrnn - Ansgabe fiir 
einen Nendruck herznrichten ^), hab ich bei der Vorbereitnng nnd 
noch mehr nnter der Korrektur ein starkes TJnbehagen empfnnden, 
das durch den Mangel aUer fur eine Sanberung des Sprachbildes 
notigen Vorarbeiten hervorgerufen wurde. Die jugendliche Hand- 
schrift *) scheint zunachst gar keinen Anhalt zu bieten — dazn tritt 
die rasch erworbene Erkenntnis, da6 das Gedicht selbst gesicherte 
und glaubhafte Doppelformen in einem Umfang anfweist, wie ich 
das bei keinem zweiten Werke der mhd. Literatnr kenne®). Pr. 
Panzer, der in seinem gehaltvoUen Buche ‘Hilde-Gndrun’ (Halle 
a. S. 1901) auch diese Erscheinung nicht hbersehen hat (S. 1 — 16), 
hatte doch zu sehr den Erweis der Einheit des Gedichtes (an die 
auch ich glaube) im Auge, als daB ihm gerade dies Kapitel eine 
mehr als fliichtige Aufmerksamkeit hatte abgewinnen konnen. 

Die eigentliche Textkritik der Kudrun hat noch weit mehr als 
die des Nibelnngenliedes darunter gelitten, da£ die Fragen der 
hoheren Kritik jene Arbeiten immer wieder in den Hintergmnd 
drangten, die als Grundlagen einer saubern Herstellung des Wort- 
sinns und W^ortlants nun einmal unentbehrlich sind. Anf die Mog- 
lichkeit bin, dafi ich in die Lage kommen kbnnte den Text noch 

1) Er ist Halle a. S. 1911 erschienen; vgl. dazu meine Selbstanzeige im Anz. 
f. d. Alt. 35, 39—44. 

2) Ich besitze von ihr eine Bromsilberphotographie (Schwarzweifi- Brack) 
Ton Schramm in Wien. 

3) Man denke zunachst einmal an die Landemamenl 



22 


'^Edward Schroder, 


einmal zu rezensieren, nicM eigentlich in der Absicht, selbst der 
neue Heransgeber der Kudrnn zn werden, hab ich bald nach dem 
Erscheinen meines Nendrucks ziemlich gleichzeitig fiir eine ganze 
Reihe von Spezialuntersnchimgen zn sammeln begonnen nnd bin 
dabei durch mehrere Mitglieder meines Seminars unterstiitzt nnd 
kontrolliert worden : ich nenne namentlich die Herren Dr. A. Frese, 
G. Salomon, H. Schmidt, H. Thenne nnd F. Wiegmann. Als der 
Krieg ansbrach, lagen mehr oder minder nnfertig die Untersn- 
chnngen iiber die sprachliche Form der Eigennamen, fiber die Mog- 
lichkeiten des stnmpfen Casnransgangs , fiber Doppelformen im 
Reim nnd Versinnem in meinem Pnlte. Nahezn abgeschlossen war 
nnr die hente vorgelegte Stndie. Ich hatte nicht die Absicht, 
diese zwar lehrreiche, aber in ihrem textkritischen Ergebnis et- 
was magere Abhandlnng fur sich heranszngeben, tn es aber jetzt 
doch, wed mir die MogUchkeit fehlt, die fibrigen Stndien noch in 
diesem Jahre znm Abschlnfi zn bringen. 

El uud AGE im Reim und im Versiimern. 

MAGET. 

Ich behandele zunachst die ‘nnflektierte’ Form Norn. Acc. 
Sing, nnd daranf die flektierten (Gen. Dat. Sing, nnd den Plnral), 
jede nach ihrem Anftreten im Reim, in der Casnr, im Versinnem. 

I. me it nnd mag et. 

1) Im Versansgang ist ansschlieBlich die Form me it be- 
zengt (30mal) und hier regelmaBig als maid (bis Str. 625 dreimal 
mayd) geschrieben; Schreibfehler maide 690,1. 

a) im beweisenden Reim 21mal: 
meit : arbeit 14, 1. 16, 1. 618, 1. 1556, 1. 

; Ueit 1304, 1. 

: leit 345, 1. 625, 2. 681, 1. 690, 1. 979, 1. 989, 1. 996, 1. 1026, 2. 

1208, 1. 1251, 1. 1252, 2. 1262, 1. 1317, 1. 1505, 1. 1582, 1. 

; streit 1413, 2; 

b) im neutralen Reim (: eit < aget) 9 mal. 

:geseitd,2. 199,1. 243,1. 685,1. 1246,1. 1640,2; : verseit 
776,2. 1632,1. 

: gekleit 1060,1. 

[2) In der Casnr hat weder meit noch maget Platz, nnd ob- 
wohl ‘stnmpfe' Casuren in begrenzter Zahl vorkommen , dfirfen 
wir zu einem Wort wie diesem nicht greifen, wenn es bei so han- 
figer Verwendnng hier niemals fiberliefert ist. Von den beiden 


1) Lber sie wird die zweite dieser Studien handeln. 



Zur tjberlieferung und Textkritik der Kudrun. 


23 


Fallen bei Martin ist znnacbst zn beseitigen die Erganzung ich 
weiz eine <magd> 211,2, wo schon Vollmer <vr ouwen> einge- 
steUt hat. — 543,1 hat die tjberlieferong Do wolten sie die mage 
niht Unger Idsen dd, und dies hat gleichfalls Vollmer bereits zu 
magede erganzt; daB so jedenfalls in der Vorlage stand, wird 
sich weiter unten bei Behandlung der flektierten Formen noch 
deutlicher ergeben. Es gibt mithin kein Casurbeispiel fiir maget 
Oder meit.] 

3) Im Versinnern erscheinen die Formen maget und meit, 
doch so daB maget hier ein gewaltiges tlbergewicht hat. Was die 
Orthographie Hans Rieds angeht , so iiberwiegt anfangs das ihm 
eigene magt gegeniiber dem maget der Vorlage (bis Str. 994 maget 
15mal, magt 21mal) — spater tritt magt ganz zuriick (bis zum 
SchloB maget 54 mal, magt 6 mal); dies Obsiegen von maget iiber magt 
fallt freilich auch mit der etwas weitlaufiger werdenden Schrift 
zusammen. Daneben kommt einmal die Kiirzung mag. vor (am 
ZeilenschluB 400 , 3) und 3 mal maid (630, 4. 1267, 1. 1 650, 1) , auf 
das ich unten S. 24 f. eingeh. 

Der prosodische Wert von maget l^t sich am besten ermitteln, 
indem wir das Auftreten des Wortes in einzelne Grnppen gliedem. 

a) maget mit nachgestelltem Adjektiv (62 + 3 Falle) : 

maget edele 57, 2. 385, 4. 396, 2. 409, 3. 424, 3. 426, 2. 534, 1. 

684. 1. 769, 1. 796, 2. 961, 4. 960, 4. 987, 1. 997, 1. 1021, 2. 

1028,4. 1042,2. 1053,1. 1055,1. 1167,4. 1173,1. 1291,3. 

1328.1. 1356,1. 1367,2. 1359,2. 1480,1. 1486,2. 1513,1. 

Danach ist in 682, 2 dctz diu maget vil edele das vil zu streichen. 

maget guot 994, 2. 1271, 2. 1299, 2. 1312, 1. 

maget hhr{e) 1166, 4. 1277, 1. 1279, 1. 1478, 3. 1548, 3. 1579, 3. 

1643, 1. 

Dazu der verdachtige Halbvers (s. spater) 549, 2 diu maget vil hire. 

maget junge 576,1. 1652,3. 

maget minnecliche 483, 3. 1251, 4. — Danach ist , i nd *^ T n ma" 
mag. 400, 3 zu maget erganzt, jedenfalls vil zu streichen. 

maget riche 1026,3. 

maget scheme 398, 2. 664, 4. 1019, 3. 1027, 1. 1287, 1. 1365, 2. 

1521, 2. 

maget w6l getdn{e) 1037, 2. 1040, 1. 1201, 2. 1570, 4. 1635, 2. 

1648, 2. — vil ist zu streichen 1296, 2. 

TJnter 62 Beispielen hab ich mxr dreimal vil getRgt, um die 
Absicht des Autors durchzufuhren und maget als taktfiillend zur 
Geltung zu bringen. Nun kommt aber eine scheinbare Ausnahme, 
es heiBt durchweg: 



24 


Edward Schroder, 


maget vil ellende 977, 3. 1169, 2. 1244, 2. 

Die Herausgeber siad bier onsicher, Str. 1244 streichen seit Vollmer 
alle das vil. Allein die TJberlieferung stiitzt es! Sollen wir nun 
lesen maget vil ellende ? Die alte Betonung eUende ist dem Dichter 
durcbans nicht fremd : in ir ellende vdnt 107, 4 ; icb lese auch z. B. 
1316, 4 phlac man der ellenden vlisicliche. Aber nachdem maget als 
taktfiiUend nach der Absicht des Dicbters feststeht, wird man bier 
verschobene Betonung gelten lassen und lesen miissen 

maget vil ellende, 

wie auch 994,4 dm maget ist ellende. 

Es ware nicht einzusehen, wamm der Verfasser sonst gerade 
nur vor diesem Adjektiv vil einsetzte ; es steht auch 1202, 1 Bo 
sprach diu vil ellende, wo es mit Unrecht alle Herausgeber streichen. 

b) maget mit folgender betonter Verbalsilbe (15 PaUe): 

maget hdete 755, 2. m. hrdhten 1658, 1. m. gie 480, 1. m. gunde 762, 1. 

m. heete 1239,4. m. heize 1215,2. m. (hs. magetlein) JitUfe 227,4. m. ist 

994. 4. m. kuste 1587, 1. m. sack 459, 1. ni. iuo 1625, 2. m. tuot 1665, 1. 
m, vdnt 386, 1. m. vunden 1656, '2. \m. tvds 1245, 2 *).] m. weinte 539, 4. 

c) Nachlese anderer Palle (6): 

diu maget mit dem kinde 56, 4. 
maget also schcene 226, 2. 

versuochte erz an die maget (hs. maid) vHzicUchen 630,4. 
ist dehein maget die ir ie gesdhet 657, 4. 
nii sagt uns, maget, ivdz sul wir iu dienen 9 1484, 4. 
tiurer maget nindert dir gewinnen 1639, 4. 

Diesen 87 Fallen, fiir welche maget als voUer Takt gesichert 
ist , steht nun eine kleine Gruppe gegenuber, wo auf das W ort 
noch eine unbetonte Silbe folgt: Prafix, Partikel, Pronomen, Pra- 
position; maget hegunde 415,1. mdget enphie 1618,2; mdget nu tcete 

618.4. mdget noch truege 621,4. mdget ez dhte 1024,4. mdget din 
swester 1155, 3. [mdget sin mohte 1180, 4 ^)] ; tndget von Hegelingen 
967,2. 1242,4. mdget von Ormanteriche 1580,4. mdget <‘uz> I'rriche 
1339, 3. Hier mob entweder die anfgeloste Hebung fur maget zu- 
gestanden werden, oder man wird meit einfiihren miissen. Von 
der metrischen Tradition aus wird m ftTi natiirlich an maget auch 
in den zuletzt aufgefuhrten Fjillen keinen AnstoB nehmen, man 
hat ihm ja bis in die neueste Zeit hinein diesen Wert selbst fiir 
Konrad v. Wiirzburg zubilligen wollen. Eine andere Frage ist, ob 
man damit der Intention des Dichters gerecht wird. Dieser ver- 
fdgte fiber zwei Formen ; fiber meit, das er 30 mal im Reime brancht, 


1 ) Nach Besserung der Herausgeber. 



Zur Uberliefemng und Textkritik der Eadrun. 25 

und liber maget , das er 87 mal als vollen Takt verwendet. Ein 
Grimd warum er das ihm im Versansgang so gelanfige meit da 
wo es ibin metrisch besser zusagte, nicht auch im Versinnem hatte 
anwenden soUen, ist eigentlich nicht ersichtlich, Und tatsachlich 
finden sich Spuren davon, die ich bisher absichtlich znriickgehalten 
habe. Dem zuletzt angefiihrten die maget <uz> Irriche 1339,3 
steht namlich gegeniiber zweimal iiberliefertes diu (die) meit uz 
Irlant 1267, 1. 1660, 1. 

Das Gesamtbild der tiberlieferung ist also nunmehr dieses. 
Der Nom. Acc. Sing, von maget — meit ist im Ganzen genau 100 
mal im Vers iiberliefert. Von diesen 100 Beispielen vertragen 
resp. verlangen 87 die zweisilbige Form maget — sie steht in 86 
Fallen als maget (magt) in der Hs., wahrend sie einmal fiir hsl. 
maid eingesetzt werden mufi (630,4 maid vleissiJcleichen). 13 ver- 
langen die einsilbige Form — sie ist 2 mal (als maid) iiberliefert 
nnd darf in den ubrigen 11 Fallen getrost hergestellt werden. 
Da6 eine derartige saubere Scheidung in der Vorlage Rieds oder 
anch nor in der Originalausgabe dnrchgefiihrt war, behaupte ich 
nicht — jedenfalls war sie angestrebt, nnd es entspricht der Ab- 
sicht des Dichters, wenn wir sie dnrchfiihren. 

II. meide and magede. 

Nor diese beiden Formen sind es die fiir den Gen. Dat. Sing, 
[ich habe die wenigen FaUe mit * bezeichnet] und fiir den Plnr^ 
hberhaupt in Frage kommen ; anf megede, das einzelne Herausgeber 
ohne Prinzip und meist ohne AnlaB hier und da einfiihren, liegt 
in der Uberlieferung keine Andeutung vor, nnd fiir den Dichter ist 
die Form ausgeschlossen, denn das meide das bei ihm im Reime steht, 
kann zur Vorstufe nur magede haben, da altes ei und ei < age wohl 
untereinander, aber niemals mit ei < ege reimen ; s. u. S. 37. 

1) Im Versansgang ist die Form meide{n) ausschliefilich 
bezeugt und vom Schreiber durchweg als maide{n) iiberliefert (13 mal). 

meide{n) : beiden 1532,3. 

; leide 445, 3. 510, 3. *627, 4. 801, 3. 881, 3. 1162, 3. 

1198,3. 1702,3. 

; ougenweide 23, 3. 

: scheidein) 1488, 3. 1490, 4. 1555, 4. 

2) In der Ca sur ist die Zahl der Belege weit grofier, ja. meide 
gehort geradezu zu den beliebtesten Casurwortern. Meine voU- 
stiLndige Tabelle legt die Fassung der neusten Ausgaben (M., S.) 
zu Grunde, wed diese ja der Handschrift treu zur Seite bleiben 
und so am besten gleichzeitig das Schwanken der Uberlieferung xmd 



26 


Edward Schroder, 


die Abhangigkeit und Unsicherlieit der Herausgeber verdeutlicht 
wird; Casurreim (und mogliche Assonanz) ist angedeutet. 

36, 3 vitr und sehsic meiden — hs. durchweg maide{n) 

41, 2 unde vU den meiden 
*53, 4 das sie der jungen meide 
66, 2 und vil der edelen meide 

74, 4 die minnecUchen meide 
85, 4 die ellenden meide 

115. 1 do sie die sclmnen meide 

162, 3 den minnecUchen meiden (; Meiden) 

*329, 1 der kiinic sprach ser meide 
339, 2 die minnecUchen meide 
410,3 das ich und die magede — hs. magte 
*421,4 das ir gert der magede — hs. magte 
440, 2 do Meideten sich tneide (kleiten S.) 

443, 4 do lie mans sehen die magede — hs. magde 

482. 1 Mit ir giengen meide 

*537,3 niivan mit einer magede — hs. magt 

543.2 do icolten sie die magede S., maget M. — hs. n%age 
*609, 2 liebet er der meide 

620.3 ritter unde magede — hs. magde 

802.3 das si ndch den mag eden — hs. magden 
849, 4 die minnecUche(n) meide 

927, 1 Bitter unde meide (; leide) 

1023, 4 das er vor alien meiden 
1039, 4 ich und mine meide (; hides) 

1204, 4 den ellenden meiden (vil edelen M.) 

1232, 4 ob ir edele meide 
1261, 2 dine sch(ene(n) meide 

1300. 4 wie sint ersogen die meide ? 

1301, 2 alle mine meide 

*1324, 4 do giengen mit der meide (; e»Me) 

1380, 2 Kudrun mit ir meiden 

1385.4 ich und mine meide 

1507, 2 mit dri (1. driri) und drisic meiden 
*1533, 4 der minnecUchen meide 

1594. 4 uns das die schcenen meide 
1596, 4 wol mit sehsic meiden 
1609, 4 minnecUcher meide 

1701, 2 sie und ouch ir meide. 

Es sind im ganzen 38 FaHe (dawn 7 Sing.): his Sir. 339 
herrscht meide(n) (10 mal) und ebenso wieder von 849, 6 (18 mal) 



Zur tjberlieferung und Textkritik der Kudrun. 27 

abs(Jat; nur in dem Zwischenabschnitt, den wir mit Sir. 340 — 848 
am weitesten umspannen, der also hochstens ®/io des Gedichtes 
nmfafit , sind unter 10 Fallen 7 mal die konsonantischen Formen 
nberliefert, und die Heransgeber haben dies Schwanken der Hs. 
emfach mitgemacbt, wobei sie nur die dreisilbigen VoUformen 
magede{n) einfugten. (Martins unmogliches maget 543,2 ist oben 
S. 23 erledigt). 

Dies zeitweilige Abscbwenken von meide zu inagede kommt 
nicbt auf das Konto Itieds, er fand es vielmehr in seiner Vorlage, 
denn wahrend er konsequent und ausnabmslos maide{n) schreibt 
(31 mal), scbwankt er in dieser Partie zwischen magte und magt 
fiir den Sing., magte und magde') fiir den Plural, und einmal hat 
er sogar mage fiir magede verscbrieben resp. verlesen. Sogar die 
Mogliehkeit dafi der Wechsel meide — magede — meide auf den Ver- 
fasser resp. die Originalausgabe zuriickgebe, laBt sich nicbt unbe- 
dingt bestreiten — aber dann kehrte der Urscbreiber eben nach 
einer voriibergehenden Abweichung zu seiner anfanglichen Scbreib- 
form zuriick, und ein Herausgeber hat das Recht diese durchzu- 
fuhren. 

3) Im Innern des Verses zahl ich 22 Falle der flektierten 
Form meide {magede), aber das Verhaltnis der beiden Schrei- 
bungen liegt hier nicbt so glatt wie im Vorausgehenden. Die 
dipbthongische Form ist als maide{n) mit geringeh Abweichungen 
uberliefert: 121,4, 157,4. *340,1 {Maide). 615,3. *691 1 998 4 
1214,3. 1235,2. 1258,4. *1292,4. *1314,4. *1316,3 (maid ’am Zeilen- 
schluB). *1358,2. 1506,4. 1670,4 {mayde) — also 15 mal. Sie 
wird iiberdies fiir das Versinnere erwiesen durch ein wohl kaum 
ganz zufalliges Auftreten des Binnenreimes : 

998,4 du muost von dtnen meiden sin gescheiden 
1235,2 ich vrdge inch meide heide 
1670,4 ivol hnndert meide in wiinneclichem hleide. 

Dieser Binnenreim ist in der Kudrun ein ahnlicher, gem aufge- 
suchter oder dock festgehaltener Gelegenheitsschmuck wie so oft 
die Casurreime. 

Den 15 Beispielen fiir -ei- stehn nun aber 7 Falle mit -ag- 
in der tjberlieferung gegeniiber, also eine hohere Prozentzahl als 
in der Casur, wo das innere Gehor des Schreibers (der Vorlage!) 
die meide offenbar leicbter festhielt. Und wahrend die -a^-Be- 


1) Wer die Ambraser Hs. zam ersten Male liest, kann gelegentlich zwischen 
g und y, also auch zwischen magde und mayde schwanken. Bei naherem Znsehen 
zeigt skh, daB die Heransgeber die Lesart durchweg richtig wiederg^ben haben. 



28 


Edward Schroder, 


lege dort nnr in einen bestimmten Abschnitt der Handschrift reap, 
ihrer Vorlage fielen, sind sie hier iiber das ganze Gredicht verteilt 
— nur 3 kommen auf jene Vio-Partie. Aber ■wiedernm bemerken wir 
die Unsicherheit Rieds gerade dieser Form gegeniiber; er wechselt 
zwischen Magete ^), magte, magdein), maget. Und ebenso unbehaglich 
ist den Heransgebern zn Mute, in deren Fassung ich diese 7 Halb- 
verse vorfiilire ; Mairfcin nnd Symons stimmen uberein, wo ich nicht 
eine Abweichung angebe: 

*201,1 ndch der meg ede(}) guot — hs. Magete 
*386,2 do was der magede (megede S.) hant — hs. magte 
438,3 mage den unde vrouwen — hs. magden 
*762,1 Ob {Das S.) si im der maget gunde — hs. maget 
969,2 magede unde vrouwen — hs. magte 
1215, 3 durch ander {oiler M.) magede {meide S.) ere — hs. maget 
1461,4 vrou Kudrun und ouch der magede {meide S.) kUnne — 

hs. magde. 

Wenn wir nun in alien diesen Versen meide{n) einsetzen — 
wozn Symons offenbar gegen den AbschluB seiner Ansgabe hin 
Neigung yerspiirt hat — so schieben wir allerdings zweimal (969, 2 
nnd 1216, 3) dem Dichter einen Hiatus zu, der sich beim Fest- 
halten an magede vermeiden liefie. Aber ehe nicht eine besondere 
Untersuchung dem Autor eine Abneigung gegen den Hiat nach- 
weist, trag ich dagegen kern Bedenken. 

Bemerkungen. 802,4 der Schreibfehler magde fur manege (veranlaSt 
dutch magden der Torhergehenden Zeile) wird aus der Vorlage stammen, die 
Strophe fallt in den a^-Abschnitt. — Der umgekehrte Fall findet sich 981, 3 ir 
menige fur ir mageden, wo aber das e nicht dazu verleiten darf, megeden (M. S.) 
zu schreiben. — Eingefuhrt hab ich meide {magede) fiir magedin 1188, 2 , s. u- 
S. 30. — Gestrichen resp. durch ware ersetzt wird von den Herausgebem seit 
Martin ein iiberliefertes maiden (fur meide) 1327, 3; ich bin nicht sicher, ob die 
an sich notwendige Anderung das richtige trifft. 

Nachzutragen ist noch das Adj. (resp. Adv.) magetlich{en): 
10, 1 In magetUchen eren (hs. magttichfi) nnd 30, 1 Do ich magetUchen 
(hs. madlichen) — die Form maget- wird hier niemand antasten 
wollen. 

magedin hingegen erscheint mir fiir eine ansfiihrliche Dar- 
legung geeignet, weniger nm seiner selbst willen, als weil man 


1) Die beiden FaUe der Schreibung mit groBem Anfangsbuchstaben (201, 1. 
340, 1) fallen in denselben Abschnitt wie die nnten aufgefuhrten Magedein. 



Znr tiberliefertmg und Textkritik der Kudrun. ; 29 

aas der wechselvoUen graphischen Uberliefemiig allerlei fur die 
Psychologie des Schreibers lemen kaim. 

Das arcbaiscbe magedin (s. Haupt zn Er. 45) ist in der Kudrun 
— begreiflicberweise — reicblicb doppelt so banfig als im Nibe- 
lungenliede. Es stebt 41 mal im Reime, 1 mal in der Casur, 2 mal 
bieten es unsere Ausgaben im Versinnem, davon einmal in tJber- 
einstimmung mit der Handscbrift. Die Ealle des Plurals sind 
nocb etwas zablreicber als die des Singulars , da es sicb aber 
durcbweg nur um Nom. und Acc. bandelt, so braucben wir die 
Kumeri nicbt getrennt vorzufiibren. Icb stelle zunacbst die gra- 
pbiscbe Uberlieferung der Reimbeispiele zusammen: 

52,1 magetin 976,1 maide (PI.) 

132, 2 niagedein 1005, 1 magedin 

227.2 mag etlein 1007,2 magetin 

281.2 Magedein 1104,2 niagedein 

283, 2 Magedin 1153, 2 may den (PI.) 

381.1 Magedin 1223,1 magedein 

391. 1 magedin 1225, 2 magedein 

396. 1 Magedein 1228, 2 magedein 

402. 1 Magedein 1232, 1 maidin (PI.) 

406. 1 Magedein 1249, 1 magedin 

458, 2 magedein 1257, 2 may den (PI.) 

468.2 Magedein 1298,2 magedein 

484. 1 magedin 1311, 1 maidlin 

486. 1 magedein 1518, 1 magedin 

491.1 Magedein 1539,1 maiden^) (PI.) 

494.2 magedin 1564,1 maidin (PI.) 

566.1 magedin 1630,2 maydlin 

661.1 magedein 1649,1 maydlin 

957. 1 magedin 1659, 2 maydlein 

magetin 1700, 2 m a i d e (PI.) 

968, 2 magedin. 

In der Vorlage stand aus schlieBlicb magedin, das 
den metriscben Gepflogenbeiten des Dichters entspricbt und das im 
Laufe seiner Arbeit zu verlassen (wie es in den Ausgaben gescbiebt) 
fiir ibn kein Grund vorlag. 

Aufierhalb des Reimes finden wir das Wort zunacbst einmal 
in der Casur 1249,4, wo das uberlieferte do ich vil armes magedin 
so wenig anfecbtbar ist wie etwa kunegin, pilgerin, Ludetmc oder 

1) In V. 2 wird das Reimwort als meidin versehentlich wiederholt (start fcii- 
nigin). 



30 


Edward Schroder, 


Eildeburc an der gleichen Versstelle. Dagegen sind beide Falle 
anfechtbar, wo unsere Ausgaben magedin im Vers inner n bieten. 

tJberliefert ist es 1188, 2 diu magedin vil ellende (Casurreim 
; hende). Der Vers ist unertraglich, de^alb hat schon Ziemann das 
vil eingeklammert. Nun haben wir aber oben S. 23 f. festgestellt : 

1) dad in der Verbindung maget vil ellende das vil konstant ist; 

2) dafi sich darans die Betonung ellende in dieser Stellung ergibt. 
Wir werden also hier fur tnagedin, das immerhin in Rieds Vor- 
lage gestanden haben mag, meide einsetzen dhrfen. 

Zwei ZeUen vorher setzen die Ausgaben von Ziemann, Bartsch, 
Martin und Symons magedin in den Text , ohne da6 es die Hs. 
bietet oder fordert. Die Uberlieferung 1187, 4 lantet : der Chau- 
drunen magen erpiten die niagn angsflkhe. Man sieht : das zweite 
magen (die gekiirzte Schreibung ist dnrch den ZeilenschluB ver- 
anlaBt) ist lediglich mechanische Wiederholung des ersten; diese 
Wiederholung kann durch ein ahnliches Wortbild veranlaBt sein, 
notwendig ist das nicht, und jedenfalls ist magedin derjenige Er- 
satz der sich am wenigsten empfiehlt ; derm eiue Betonung magedin 
dngestliche ist fiir den Dichter ebenso unmoglich wie magedin angst- 
luhe ; die Lesart magede (Vollmer, Piper, vorher meide v. d. Hagen) 
mag wahJen, wer sich nicht durch vroutven von dem Zufallsbild 
der Uberlieferung entfernen will : erhiten <dv> die vrouwen angestUclie. 

Jedenfalls ist aus dem Versinnern beidemal wo es die Ausgaben 
bieten, magedin zu beseitigen. Das Wort kommt nur im Reim 
und (einmal) in der Casur vor. 

Es sind genau gezablt 13 verschiedene Wort- und Schreib- 
formen iiberliefert : 

magedin (9), magetin (3), magedein (9), Magedin (2), Ma- 
gedin (6); magetlein (1); maidlin (1), maydlin {2), magdMn (1); 
onaidin (2, resp. 3: mit der La. 1539,2); maiden (1), mayden 
(2); maide (2). 

Daraus haben die Herausgeber zwei Formen beibehalten: ma- 
gedin und meidin, Martin schreibt anch einmal magetin (62, 1), und 
diese Schreibung findet man auch in don Ausgaben anderer Werke, 
wie in unsern Worterbvichem. Sie soUte ein und fiir allemal als 
lautlich unmoglich beseitigt werden, denn sie stellt nur einen 
Schreiberkompromifi von magedin und maget dar, aber aJs solcher 
mag die Differenz in unserem Falle wohl anf die Vorlage zuriick- 
gehen. 

Lediglich fiir Hans Ried charakteristisch ist es, daB er anf 
eine langere Strecie (Str. 281 — 491) das Wort 8mal (bei zwblf- 
maligem Vorkommen) mit groBem Anfangsbuchstaben schreibt : 



Zur Uberliefemng nnd Textkritik der Kudrun. 


31 


ahnlich verfahrt er auch mit anderen auszeiclmenden Wortern, wie 
Becke, Bitter und zweimal mit Maget (s. o.). Im iibrigen hat er 
in der grofieren ersten Halfte des Werkes nur einmal die Um- 
schreibung magetlein riskiert (wie Erec 45 und magetlin 82), sonst 
aber die Vorlage gut bewahrt. 

Von 976, 1 ab beobachten wir das Auftreten der ai-Formen, 
nnd zwar von zweierlei Art. Einmal die Form maide, die weiter 
nichts ist als eine Entgleisnng des Schreibers in den Plnral des 
Gmndworts maget, der ihm ander warts anch aus seiner Vorlage 
gelaufig war; denndnrchweghandelt es sich hierumden 
Plnral! Wenn er dies maide (magde) zweimal mit einem -n ver- 
sieht '), zweimal ihm die Endnng -in gibt, so ist das lediglich eine 
mechanische Euckerinnernng an die Forderung des Reimes , die 
mit maiden anf halbem Wege stehen bleibt, mit maidin ihr Ziel 
erreicht. Die Form meidin stammt weder aus der Vorlage noch 
war sie nnserem Schreiber gelaufig; naher lag ihm die Ersatz- 
form maydlin (-lein), die er zuerst 1311, 1 und daim von 1630, 2 
ab dreimal hinter einander verwendet. Es ist dnrch nichts ge- 
rechtfertigt , wenn die Ansgaben M. S. , die in den ersten Zwei- 
dritteln des Gedichtes konsequent magedin schreiben, im letzten 
Drittel lOmal die Form meidin einfohren, die sie erst ans der 
Unsicherheit and den Launen des Schreibers herausstellen miissen. 


GESAGET, SAGETE n. a. 

Aus dem Wortschatz des Gedichtes kommen in Frage Formen 
der Verba sagen, klagen, verdagen, tagen, tragen, wagen, versagen. 

1. Im Versausgang ist nur die Partizipialform belegt, 
dazu einmal das Prateritum, ausschliefilich geseit, seite usw. 

a) im beweisenden Reim 23mal: 

Part, ges eit : bereit 746, 2. 

; breit 1100, 1. 1373, 2. 1430, 1. 

: gemeit : 834, 1. 

; leit 130, 1. 148, 1. 166, 1. 213. 1. 242, 1. 338, 1. 566 1. 

707, 1. 1365, 1. 1498, 1. 1566, 1. 1686, 1. 

; reit 271, 2. 304, 2. 763, 1. 

Part, verdeit : leit 1178, 2. 

; reit 589, 2. 

Prat, seite : unbereite 463, 4 ; 


1) Einmal freilich unter Umwandlung in den Dativ : 1539, 1. 


32 


Edward Schroder, 


b) im neutralen Reim (; eit < aget) : 

Part, geseit, verseit : meit 8 mal s. S. 22. 

Part. geMeit : meit 1 mal s. S. 22. 

In der Casur wie im Versinnern treffen wir ausschlieBlich die 
konsonantischen Formen. 

2. In der Casur baben weder geseit noch gesaget einen Platz 
(vgl. oben S. 22 f. zn maget — meit) nnd kommen denn auch in der Tat 
niemals vor. Dafiir sind die PrateritaJformen bier ziemHch hanfig. 
Znnachst die Casurreime (4 mal 2) : 
sagete(n) : versagete(n) 569, 3 : 4. 922,1 : 2. 
sagete : hlagete 901, 1 : 2. 
klageten : wageten 493, 1:2; 
weiterhin alleinstehend (17): 

sagett{n) 202, 4. 326, 1. 677, 3. 843, 2. 1079, 3. 1292, 1. 1339, 4. 

1469,1. 1563,4. 

Tclagetein) 902, 2. 927, 3. 1059, 2. 1481, 2. 1560, 4. 
tagete 486, 4. 1196, 1. 
erwagete 1394,2. 

Die Herausgeber schreiben bier durchweg die dreisilbige Form. 
Ich werde diese im nachfolgenden als ricbtig erweisen, wo ich 
das iibrige Vorkommen der Formen anf -aget, -agete mit den Casnr- 
beispielen zusammenfasse. 

3) Im Versinnern hab ich derartige Formen 90 mal gezahlt, 
ich mag immerhin ein oder zwei iibersehen haben, aber ich kann mit 
voUer Bestimmtheit sagen: niemals findet sich in der Hs. 
die vokalisch anfgeloste Form saitein), gesaitl Diese Kon- 
8ec[uenz der Schreibung kann von vornherein nicht anf Rieds 
Konto gesetzt werden : er land sie in seiner Vorlage, sie entsprach 
der Originalhs. nnd der Intention des Antors. Das Verhaltnis 
liegt hier also ganz anders als bei maget, tnagede, wo sich einer- 
seits Spuren der Schreibung meit (tnaid) auch im Versinnern fanden 
nnd als berechtigt anerkant warden, andererseits die unzweifel- 
haft allein berechtigte Schreibung der flektierten Form als meide 
(maide) grnppenweise durch magede abgelost wurde. 

Es besteht also nur noch ein Zweifel , ob gesaget oder gesagt, 
sagete oder sagte in der Originalhs. herrschte resp. bevorzugt war. 
Die Ambraser Hs. allein gestattet diese Frage nicht zu entscheiden, 
obwohl auch von ihr aus ein Vorurteil fiir die voUen Formen 
gegeniiber den sykopierten gewonnen werden kann: denn wenn 
Ried , dem unzweifelhaft die letzteren gelaufig waren , immerhin 
noch in 35°/o das e bewahrt hat, so darf man von vom herein 



33 


Zur ijberlieferang und Textkritik der Kudrun. 

fur die Vorlage tind erst recht fiir die Urhs. ein starkes TJber- 
wiegen der voUen Formen annehmen. Da6 der Dichter aber wirklich 
sagete{n) nicht nur schrieb, sondem auch sprach, dieser Beweis laBt 
sick — zunachst eben fur die dreisilbigen Formen — aus ihrem 
Auftreten in der Casur tind aus ihrem Fehlen im Versausgang 
entnehmen. 

Unter 8 Fallen des Reimtypus eite{n) 45. 282. 453. 666. 1074. 
1115. 1297. 1315 finden wir im Versausgang einmal unbereite : 
seite 453. Der Typus agete (agte) dagegen kommt gar nicht vor! 
Und doch findet das Prateritnm so leicht seinen Platz im Vers- 
ansgang, sagen und klagen gehoren zu den haufigsten Zeitwortem 
des Gedichtes, imd wie leicht sie Reimgesellen werden nnd auch 
andere Eeimgesellen finden, zeigt der Umstand da6 sagete^n), kla- 
gete(n) im Casurreim nicht weniger als viermal erscheinen (s. o.) ; 
nngereimt treten derartige Formen noch 16 mal anf, also im ganzen 
24 mal in der Casur — und nur einmal im Versausgang ! Wie er- 
klart sich das? Gewifi nicht durch die Herrschaft der Form seite 
die doch auch nur einmal (unter 8 Moglichkeiten) vorkommt. 

Die Kudrun hat (da 99 Nibelungenstrophen ausfaUen) 1606 
klingende Reimpaare; der Parzival (unter 12405) keinesfalls mehr 
als 3000. Anf diese 3000 entfallen aber nach San Marte 30 FaUe 
agetein) resp. agte{n). Wir sollten also in der Kudrun 16 Falle 
erwarten, und wir treffen keinen einzigen. Die Erklarung ist 
folgende. 

So bestimmt auch fiir den Kudrundichter der Satz gUt, dafi 
der Verausgang « u dem Versausgang >k gleichwertig ist, die 
scheinbar gegebene Folgerung , dafi «' v- u = ^ u sein musse, zieht 
er fiir die Reimstellung nicht : unter 1606 klingenden Reimen 
findet sich bei ihm nur ein einziger ‘daktylischer’ : sedele : edele 
1631. Daraus ergibt sich, dafi die ihm gelaufigen bonsonantischen 
Formen sagete, Uagete unzweifelhaft hupfenden Rhythmus hatten, 
also nicht als sagte, Jclagte zu fassen waren; nur aus diesem Grunde 
konnen sie von ihm im Endreim gemieden worden sein. 

In der Casur, wo der Ausgang * nur ganz ausnahmsweise 
geduldet wird, ist 'i' ^ w ein Typus, der immerhin gegen 400 mal 
(also ca. 6 %) vorkommt , und danmter fehlen auch die Reimbei- 
spiele nicht : ich zahle deren 16, darunter je 4 mal die Typen agete 
und egene. Im Casurreim taucht auch 1618, 3 : 4 sedele : edele auf, 
um bald darauf (1631) als einziger daktylischer Reim in den Vers- 
ausgang zu schliipfen. 

Von den dreisilbigen Formen zu sagen nsw. zahl ich solche mit 
kousonantischem Schlufi 17 mal, ausschliefilich taktbildend, wie 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 1. 3 



34 


Edward Schroder, 


Si sagetenheimliche 426, 1 — weiterhin sageten 732, 3. 761, 3. 768, 3. 

952.1. 1099,1. 1674,2; Mdgeten 60,2. 60,4. 429,3. 1177,4. 1561,4: 
Udgetet 1517,3; enodgeten 1134,2; daza mit angelehntem Personal- 
pronomen sdgetens ime 221, 3. sdgetens ouch 428, 3. Mdgetens dlle 
1069, 3. 

Die Betonung sageten kommt in keinem Fall in Frage. 
Zwischen dem Sing. Prat, sagete nnd dem Sing. Pras. saget 
erlanbt die Hs., welche sehr oft apokopiert {sagt\ aUein nicht zu 
entscheiden. Die Herausgeber haben naturlich die Entscheidung 
meist richtig getroffen: in einem Falle wo sie auseinandergehen, 
549,2 tret ich mit dem Prasens anf Seite von Symons gegen 
Martin. Ich rechne dann mit 48 verbalen Beispielen fiir -agete 
nnd 26 fiir -aget. 

Die Betonung sagete konunt so wenig vor als die Betonung 
sd^eten. Wir unterscheiden folgende Falle: 

a) sagete u. s. w. fiir sich taktbildend (14 mal) : sagete ttmre 

290. 3. 391, 3 (str. das). 1686, 4; <mare> erganzt 348, 1 M. ; sagete nmn 

326. 4. 1089, 4. 1338, 1 (mdnz ) ; sagete ddz 560, 2 ; sagete si nen muot 
420,2; sagete zdllen ziten 716,4; versdgete smdchlichen 737,3; Idd- 
gete welnunde 616, 1 ; — dazu mit angelehntem Pron. si : versdgete 
si einem 579, 1. 

b) sdgete mit Elision vor nnbetontem vokalischem Anlaut, vor- 
wiegend vor angelehntem Pronomen er, ez, im, ir (19 mal) : sdgete 
ez 601,1. 635,3. 1623,1; Tcldgete ez 672,1; hehdgete ez 178,1; sdgete 
er 924, 4 ; kldgete er 584, 1 ; sdgete im 232, 3. 1254, 1. 1288, 4. 1289, 1. 
1421,1; dazu sdgete ims (hs. vnns) grozen ddnc 375,2; *sdgete <ir> 

1040. 1. *behdgete im 8, 1 ; — kldgete ir 1478, 4 ; — gesdgete in si nem 
Idnde 511,4; — kldgete et <ie> (hs. klagter) 1034,4; sdgete alrerste 

835. 1. 

c) sdgete vor betontem vokalischem Anlaut (4 mal) : ouch sd- 
gete ich dir gerne 402,2; versdgete im sin kint 585,1; si kldgete 
dls si solte 939, 2 ; ouch sdgete er ez Fruoten 1623, 3. — Hierzu mit 
notwendiger Erganznng man sdgete <in> die hochgezit 172, 4 ; da6 
eine Betonung man sdgete die hdchzit anch beim Kndrundichter 
unmogL’ch ist und warum, will ich spater ausfiihren; hdchzit ist 
Bieds fast konsequenter Ersatz fiir hochgezit, auch dariiber spater. 

d) Es bleibt ein Rest von 11 ‘schweren’ Fallen, deren Mehr- 
zahl sich aber leicht zn uns wohlbekannten Grrnppen ‘iiberladener 
Senknng’ zusammenfassen la6t. Zunachst sdgete man: 

Heridge sdgete man ddz 701,1. 
den hoten sdgete man ddz 773, 1. 



35 


Znr Uberlieferong and Textkritik der Eudron. 

/ 

daz sdgete man schoenen wiben 709,4. 

Setelen sdgete man mcere 490,1; 

weiter sdgete der, des: 

si sdgete der metde danc 1358,2 
kldgete des kiineges Up 1471,2. 

Aber ich nebme aach kaam Anstofi an: 
do kldgete diu schcene meit 1262,1 
des kldgete dd heime vil der schoenen tvibe 901,4 
sowie si kldgete daz vloren ware lant und ere 681,4, 
wo M. S. daz streichen. — Und schlieBlich wird man anch den 
Halbvers , 

Irolt sdgete Hdrdnde 1693, 1 
nicht antasten durfen. 

So enthalt denn Martins Kndruntext nur einen einzigen Fall, 
wo uns die Lesnng sdgete zngemutet wird: 

man sdgete daz Hetele von den Hegelingen dar komen wcere 467,4. 

Aber bier handelt es sich um einen scharfen textkritischen 
Eingriff, den freUich Piper nbemimmt nnd dem anch Symons zn- 
zustimmen geneigt ist. In der Hs. steht man saget den helden 
zieren daz Hetel v. d. H. d. k. w., nnd zieren stebt im Casnrreim 
auf schiere. Das Vorurteil gegen den Casnrreim, das Martin auf 
diese Kiirzung der iiberlangen Langzeile fiibrte, konnte man ge- 
neigt sein damit zu stiitzen, da6 das Adj. ziere nnr an nnserer 
Stelle erscbeint; aUein bei dem Spiel mit dem Casnrreim ist der 
Dicbter mebrfacb znr Anfnabme von Wortern gelangt, die ibm 
sonst nicbt jederzeit znr Hand lagen, nnd das Beiwort ziere mnfite 
ibm ja ans dem Nibelnngenlied immerbin vertrant sein. So wird 
man denn die erste Halbzeile besteben lassen nnd die notwendige 
Kiirzung vielmebr an der zweiten vomebmen : 
man sagete den helden zieren, daz der von Hegeling en 

komen wcere. 


Von den zweisilbigen Formen sei das Paxtizip gesaget zu- 
erst erledigt: gesdget hat 1677 , 2 gesdget hdte 794,2. 1243,3. 

Die iibrigen Formen des -aget *) (3. P. Sg. Pras., 2. P. PI. T nd . 
Conj. Imp.) branch icb im nacbfolgenden nicbt zn sondem. 

Taktbildend erscbeint sdget mir 1263, 1. 1521, 4. sdget hie 328,3; 
saget Edrtmmte 612,1 nnd sdget deme kunege 142,2, wo aber ein 
Adj. vor Oder nach kunege ansgefaUen sein wird (vgl. spater). 

Icb fiige dazu nocb zwei weitere Falle: 549,2 schreibt M. 


1) -agest, -agent hab ich nicht gefunden. 


3 * 



36 


Edward Schroder, 


ja sagete man das, S. setzt richtig das Prasens, bei dem aber der 
Vers ebenso anertraglich bleibt; jd sdget man dds] es ist zu er- 
ganzen jd sdget mdn <uns> das. Sodann les ich 1146, 1 so trdget 
df den sant fiir hsl. trag vnns auf, wo M. S. schreiben traget iiz uf 
den sant. Verlesrmg von uz in uns scheint mir weniger wahr- 
scheinlich, als die voreilige Einsetznng des uberBussigen (nnd nn- 
passenden) Pronomens. 

Ware der Vers in Martins Fassnng iiberliefert, so lage von 
Seiten der Metrik kein ernstes Bedenken vor, denn den 11 Fallen 
wo {ge)saget taktbddend erscheint, stehen 14 gegeniiber wo saget anf- 
geloste Hebnng darstellt, also noch von einem nnbetonten einsil- 
bigen Worte gefolgt ist; 

sdget er 1629,1; sdget man 1571, 1; sdget mir 1276,1. 1486,2; 
sdget uns 815,4. 1484,4 (1404,2); sdget iu 590,1. 1389,1; sdget des 
1224,4; sdget dem (kiinege) 807,1 ; sdget von (manegen dingen) 1127,2; 
sdget ze {mcere) 614,3; sdget, daz 756,2; — hehdget mir 1665,3. 

Ich fasse die wesentlichen Ergebnisse znsammen: 

1. fiir maget: 

a) im Eeime sind ansschliefilich nnd reichlich meit nnd mei- 
de{n) belegt; 

b) in der Casur nnd im Versinnern himeide{n) als einzige 
flektierte Form gesichert; ebenso steht aber als nnflektierte Form 
maget fest, neben dem ein beschrankter Gebrauch von meit me- 
trisch beqnem nnd der Uberliefernng gemaB wahrscheinlich ist; 

c) neben mage din ist kein meidin zn dnlden; 

2. fiir {ge)saget nnd sagete{n): 

a) im Reime ist geseit dnrch 28 Belege gesichert, seite dnrch 
den einzigen Fall nicht ansreichend als dem Dichter gelanfig er- 
wiesen; das Fehlen von sa^e/e ; wiirde sich ans der sichtbaren Ver- 
meidnng des daktylischen Reimtypns erklaren; 

b) in der Casar nnd im Versinnern sichert die Metrik die 
hberlieferten konsonantischen Formen; {ge)sag et sowohl als sa- 
gete {n). 

3. Was die Handschrift anlangt, so hat sie nnter 2. die 
vom Dichter vollzogene Scheidnng zwischen ei-Formen des Reimes 
nnd agre-Formen des Versinnern mit vollkommener Trene bewahrt; 
nnter 1. sind einzelne Triibnngen des Verhaltnisses eingetreten, 
die z. Tl. anf die Vorlage (magede fiir meide, wohl anch Falle 
wie maget uz Irriche fiir meit uz Irriche) znriickgehn, z. Tl. (maide, 
maidlin fhr mugedin) von Ried selbst verschnldet sind. 

Ich trage nach 



Znr Uberlieferung und Textkritik der Endmn. 


37 


4. -ege- betreffend: 

a) es kommt kein Reimfall vor, weder ei < ege ; ei noch ei < 
ege : ei < age, folglich ist die von Zwierzina Zs. 44, 380 und Panzer, 
Hilde-Gradmn S. 7 unvorsichtig ubemommene Konjektur Vollmers 
treit (: herzeleit) 67, 3 zu verwerfen ; Martins reit fiir das hsl. ward 
trifft anch mit dem Prateritum das richtige ; 

b) die Handschrift bewahrt imVersinnem stets die konsonan- 
tischen Pormen: legt 893,1; legten 1334,1. 1348,2 u. 4. 1354,1. 

Fiir den Text der Kudron ergibt sich schon jetzt die Wahr- 
scheinlichkeit, die ich znr GrewiBheit zu erbeben hoffe, da6 unsere 
Uberlieferung der Originalausgabe sehr viel naber stebt , als man 
nacb der Jngend der Handschrift zu boffen wagt, und als alle 
diejenigen annebmen zu diirfen glaubten, die eine mebr oder minder 
verwickelte Textgescbicbte voraussetzten. 

Das Gedicbt selbst erscbeint in der Durcbfiibrnng der eigen- 
tiimlicben Praxis , welcbe die Verwendung der ei- und der age- 
Formen regelt, so einbeitlicb, dafi nnr allenfalls eine bescbeidene 
Interpolationskritik nocb Aussicbt anf Erfolg baben diirfte. Fiir die 
vielfacben Anstofie im Inbalt und in der Darstellnng, welcbe sicb 
der voUen Einbeitlicbkeit des Werkes in den Weg zu stellen 
scheinen und die zuletzt noch wieder von Rieger, Martin und Sy- 
mons scharf hervorgehoben worden sind, wird doch wobl eine an- 
dere Erklarnng gefunden werden miissen — und vielleicht kommt 
dann methodisch nocb einiges aus dem Buche von WUmanns zur 
Geltung, dessen Ziele und Resultate man mit Recht verworfen hat. 

Nicht fiir alle neu, aber boffentlicb eindrucksvoU fiir die 
welcbe es angeht, ist die klare Herausstellung der Tatsache, dafi 
wir mit der Ermittelung des Reimgebraucbs oder gar nur des 
Vorkommens einzelner dialektischer Reime nocb keineswegs die 
Sprache umschrieben baben, deren sich der Dichter innerhalb des 
Verses bediente. Das bitterbose Geschick, welches vor einigen 
Jabren der Text des oberdeutschen Servatins iiber sich ergehen 
lassen muBte, hat mit verdriefilicher Deutlichkeit gezeigt, da6 ge- 
wisse hochst einfache Wahrheiten gar nicht oft und bestimmt 
genug ausgesprochen und an neuem Material demonstriert werden 
konnen. 


1) Man lese librigens daz edel kin del reit, wie (72,1.) 78,1. 80,1. 


Cyprian der Magier. 


Von 

R. Reitzenstein. 

Vorgelegt in der Sitzong vom 11. November 1916. 

Auf den reichen Schatz spatgriechischer erzahlender Dichtnng, 
der uns in den Legenden erhalten ist, hat TJsener nachdriicklich 
nns Philologen hingewiesen. Mich hat, wenn meine Arbeiten mich 
auf dies Gebiet fuhrten, besonders die Prage interessiert, wie weit 
es moglich ist, von den Fallen, in denen an eine bestimmte Per- 
sbnlichkeit eine Art von Tradition schloB, die dann schriftstellerisch 
ausgestaltet wnrde, jene anderen abznsondern, in denen znnachst 
dichterische Phantasie frei mit beliebig gewahlten Namen schaltet 
tmd nicht die Person sondern die Novelle das prius ist*). Ist die 


1) Als Musterbeispiel nenne ich etwa die onlangst (in dem Buch ‘Historia 
fncmachorum und Historia Lausiaed’) behandelte Novelle des Hieronymus von 
Paulas dem Eremiten, deren Charakter Weingarten so scharf erkannt und so 
anmutvoU geschildert hat. Sie kann vielleicht am besten zeigen, daB bei diesen 
Sonderungen keinerlei kirchliches Interesse in Frage gestellt wird und ebenso- 
venig von einer ‘Verteidigung der Ueberlieferung’ gegen solche Kritik die Rede 
sein durfte, weil eine Ueberlieferung nicht vorgelegen hat noch vorliegt; fiir eine 
erbauliche und unterhaltende Wandererzahlnng — ich setze das Wort Erzahlung 
hier fur die volksmaSige Form dieser Gescbichten — hat der literarische Bear- 
beiter neue Namen gewahlt ; die Geschichte selbst ist von ihnen ganz nnabhangig. 
Wir kennen — um ganz Unliterarisches mit Literarischem zu vergleichen — den 
Hergang ja aus zabllosen modemen Anekdoten. Es ist Ahnlich bei einfachen Er- 
zahlungen wie etwa Historia Lausiaca cap. 14, der Erzahlung von Paesius und 
Jesajas, nor daB hier der literarische Charakter aus der Tendenz, nicht aber aus 
den Wanderungen der Erzahlung zu erschliefien ist. Die Technik dieser Art 
Erzablungen and der allmahlich entstehenden Eunstdichtungen (Novellen) gilt es 
zu verfolgen. Ueberall handelt et sich dabei um rein literarische Fragen, die 



Cyprian der Magier. 


39 


Scheidimg schon hier manchmal schwer, so verwickelt sich die 
Frage noch mehr, wenn beides zasammenwirkt und die Novelle 
sich nachtraglich mit einer Art Tradition verbindet. Rin Znfall 
hat mich in neuster Zeit noch einmal auf eine derartige Dichtung 
gefiihrt, die dadnrch vielleicht Interesse hat, daB sie nicht nur 
auf den kirchlichen Knit , sondem anch anf die Weltliteratnr bis 
in die Nenzeit namhafte Wirknngen geiibt hat, die Dichtnng von 
Cyprian dem Magier, welche der katholischen Kirche einen Hei- 
ligen, der romanischen Literatur Calderons Drama von dem ‘Wun- 
dertatigen Magus’, unserer eigenen dnrch allerhand Mittelquellen 
bis zn Groethe bin Anregongen fur die Fanstdichtnng geboten hat. 
Die Dichtung hat ein philologisches Interesse noch dadnrch , daB 
sich die Stadien ihrer Entwicklung chronologisch festlegen und 
die Aendernngen analysieren lassen, die sie im Lanfe eines ein- 
zigen Jahrhunderts erfuhr. Wenn ich mich dabei hauptsachlich 
gegen die Aufstellungen eines hochverdienten Theologen, Theodor 
Zahn, wenden muB, so bitte ich den Leser darin vor allem die 
Anerkennnng zu sehen , daB niemand sich nm die Sammlung des 
Materiales und nm den Nachweis der Entwicklung so verdient 
gemacht hat wie er in seinem Buche ‘Cyprian von Ajitiochien und 
die deutsche Fanstsage’, Erlangen 1882. Sein Hauptergebnis bleibt 
auch fiir mich bestehen. Ein Nebenzug, der allerdings fiir die 
Auffassung des Wesens der ‘Legende’ und des Charakters dieser 
Dichtungen besondere Bedeutung hat , muB m. E. eine Aenderung 
erfahren. 

Neben dem groBen Bischof von Karthago, dessen Leben und 
Sterben uns durch seine Schriften und dnrch zeitgenbssische la- 
teinische Tradition recht genau bekannt ist — er hatte sich der 
decianischen Verfolgung durch Flucht entzogen und starb 253 
unter Valerian und Gallien den Martyrertod — feiert die katho- 
lische Kirche bekanntlich den Tag, an dem ein Bischof von An- 
tiochien gleichen Namens unter Diokletian oder Claudius znsammen 
mit einer Jungfrau Justina den Martyrertod erlitten haben soU 
Sie weiB von ihm, daB er Heide und Zauberer war und bei dem 
Versuch, jene Jungfrau durch Zauberkunst einem Jiingling Aglaidas 
wiUfahrig zu machen, die Ohnmacht der Damonen erkannte und 


sine ira et studio entschieden werden konnen. Sie komplizieren sich, wenn es 
sich spater nm Nachahmungen oder freiere Fortwirkungen solcher Kunstdich- 
tungen handelt, doch liegt dieser Gesichtspunkt schon zum Teil jenseits der Unter- 
snchnng, die ich hier Yorlege; sie fuhrt uns zonachst ,in die Anfange der Ent- 
wicklung. 


40 


R. Reitzenstein, 


sich bekehrte. Die literarische TJeberlieferang liegt tms in drei 
Schriften vor^), einer Bekehrnng, welche die Jungfrau Justina 
ganz in den Mittelpunkt stellt, einer Bnde Cyprians, die als Rede 
des Renmiitigen beginnend allmahlich znr Erzahlnng im Ich-Stil 
wird, endlich einem Martyrium, das ohne rechte Begrundung 
den Helden in einer Rede an den Richter seine Bekehrnng noch- 
mals berichten laBt und dann seine and der Jnstina Folter und 
Hinrichtnng schildert. Um die Mitte des fiinften Jahrhnnderts 
hatte die Raiserin Endokia diese drei Texte znsammengebracht 
und in einer metrischen Paraphrase in drei Biichern vereinigt. 
Grofie Brnchstiicke der beiden ersten Biicher dieser Paraphrase 
sind nns im Wortlaut erhalten, (Migne, P. G. 85, 827 ff.) von alien 
dreien ferner eine Inhaltsangabe , die im neunten Jahrhundert 
Photios in seiner Bibliothek (cod. 184) geboten hat^). Es wird 
nns dadnrch moglich, trotzdem die weitverastelte handschriftliche 
TJeberlieferung , die sich durch die verscbiedensten Sprachen des 
Orients, ja selbst bis ins Slavische zieht, bisher nor ganz unzu- 
langlich durchforscht ist, fiir die erste Schrift sogar iiber die Vor- 
lage der Endokia hinauszudringen ®). Geringer ist die Sicherheit 
iiber den Urtext der zweiten Schrift, da Endokia, z. T. wohl des 
Inhalts wegen, von dem Wortlaut des nur nach Paris 1506 ver- 
offentlichten Prosatextes starker abweicht ^), Fiir die dritte Schrift 
ist ihre Vorlage nur dem Hauptinhalt nach bestimmbar; wesent- 


1) Ich sehe dabei von kleineren Stiicken, die nicht voll bekannt sind, ab, 

2) Auf Symeon den Metapbrasten (10. Jahrh,), der bauptsachlicb die gleicbe 
Vorlage wie Endokia benutzte , braucbe icb fiir meine Zwecke nicbt einzngeben. 

3) Bekannt sind bisber zwei Rezensionen, die des cod. Paris 1468, die Zabn 
scbwerlicb mit Recbt stark bevorzngt, und eine zweite, durcb Paris. 1454 und den 
von Fran Margaret Dunlop Gibson {Sludia Smaftica Vni64ff.) veroffentlicbten cod. 
Sinaiticus 497 vertretene. Schlechter als beide war die Vorlage der Endokia und 
nocb weiter als diese entstellt die von dem syriscben Uebersetzer benutzte Hand- 
schrift (vgl. Anbang). DaB der nrsprunglicbe Wortlaut dennoch nocb nicbt in alien 
Einzelbeiten wiederzugewinnen ist, braucbe icb fiir Kenner dieser Literatur kaum 
zu betonen. Von den fiir micb nur beilaufig in Frage kommenden lateinischen 
Uebersetzungen ist die eine in den Acta Sanctorum Septemhris VII (1760) abge- 
druckt, eine zweite, jiingere von Martene und Durand im Thesaurus novus Aniec- 
dotorum III p. 1617 ff. Eine Ausgabe des griecbiscben Teites nacb den beiden 
Pariser Handscbriften bietet Zabn a. a. 0. S. 139 ff. 

4) Den griecbiscben Text hat Maranns im dritten Band der Cyprian-Aus- 
gabe des Balnzius (1726) veroffentlicht, eine alte lateiniscbe Uebersetzung schon 
vor ihm Fell in der Oxforder Ausgabe (1682). Die orientalischen Uebersetzungen, 
besonders die sabidische (v. Lemm, M^moires de I’Acad^mie de Petersburg Ser. VIII 
Tol. 4) weichen weit ab, scheinen aber Wert zu haben. Eine deutsche Ueber- 
setzung mit kritischen Anmerkungen gibt Zabn S. 30 ff. 



Cyprian der Magier. 


41 


liche Pimkte bleiben unsicher, vor allem die Datierung des Mar- 
tyriums ^). Photius nennt in seinem Referat aus Eudokia als 
Kaiser Diokletian, die eine Handschrift der jiingeren lateinischen 
Uebersetznng des Martyriums Claudius, griechische Handschriften 
desselben, deren Vorlage oifenbar kontaminiert war, Claudius 
Diocletianus ®), die arabische Uebersetznng und kiirzere griechische 
Fassungen Decius. Es scheint mir methodisch bedenklich, wenn 
Zahn hier willkiirlich den Namen Claudius als eigentlich von der 
Ueberliefernng gegeben fafit, auf den ersten Kaiser dieses Namens 
rat und nun in der ganzen Justina-Erzahlung Spuren einer Sage 
aus der Griindungszeit der christlichen Kirche zn Antiochien ver- 
folgen zu konnen meint *). 

Durch eine seltene Schicksalsgunst haben wir fiir den Inhalt 
der ersten beiden Schriften noch eine zwei Menschenalter voraus- 
liegende Bezeugung. Gregor von Nazianz hatte im September des 
Jahres 379 zu Konstantinopel die Predigt am Gedachtnistage (dem 
Todestage) des Bischofs nnd Martyrers Cyprian von Karthago zu 
halten ®). Die Feier scheint erst verhaltnismaBig spat in der Kirche 
des Ostens eingefiihrt zu sein. Vielleicht wed sie noch neu war, 
hatte Gregor sie auf einer Reise zunachst vergessen und muBte 
das Fest erst am folgenden Tage nachfeiem. Seine Vorbereitung 

1) Zu den Texten nnd Angaben in den Acta Sanctorum a. a. O. ist neuer- 
dings die VerSffentlichung des cod. Sinaiticus und der arabischen nnd syrischen 
Cebersetzung hinzugekommen (siehe Anhang) ; eine deutsche Uebersetzung gibt 
Zahn S. 63 ff. 

2) AuBer ihr noch Symeon der Metaphrast. Im Anfang der Bekehrung war 
dabei gerade in der jiingeren lateinischen Cebersetzung Diokletian genannt. 

3) In dem Briefe des Comes orientis an den Kaiser xXauoitj) xafsapi -cm pc- 
ficzio -(ffi xai SaXaisr,; Sesitotij SioxXrjTtavui yalpziv. Die koptische Cebersetzung 
{v. Lemm a. a. 0. S. 43) macht daraus ‘Claudius der Caesar schreibt dem groBen 
Konig, dem Herrn der Welt, Diokletian’, bezeichnet aber als Absender dieses 
Briefes dennoch den Comes orientis. Es ist mir daher unmogUch, hierin mit v. 
Lemm S. 72 das Crspriingliche zu sehen; auch gibt es keinen solchen Caesar in 
der Zeit. 

4) Noch bedenklicher macht mich, daB er dabei auch einen Zug verwendet 
der in der jiingeren Martyrienliteratur geradezu typisch ist; sowohl der Jungling 
Aglaidas wie die Matrone Rufina in Rom werden als ‘rom Geschlecht des Clau- 
dius’ bezeichnet. Diese Literatur pflegt Nebenfiguren, die sie als vomehm kenn- 
zeichnen will, wiLLkiirlich als Verwandte eines Kaisers zu bezeichnen. Das kdnntc 
fiir den Erzahler immer nur Claudius II gewesen sein. Historischen Anhalt hat 
die Angabe kaum. 

6) Rede XXIV bei SCgne. Das schon friiher aus Berechnung erschlossene 
Datum scheint durch Scholien weiter gesichert, vgl. jetzt Thaddaeus Sinko Be 
Cypriano martyre a Gregorio Nazianseno laudato (Krakaner Akademie - Schrift) 
1916. 



42 


R. Reitzenstein', 


wird also wahrscheinlich recht hastig gewesen sein. Wohl mochte 
er den Eindruck erwecken, das Leben nnd die Schriften Cyprians 
genan zu kennen nnd ein enges persbnliches Verhaltnis zu ihm zu 
haben, weifi aber aufierordentlicb wenig von dem groBen Lehrer 
der abendlandischen Kircbe. Was er von seiner Jugend nnd von 
der letzten Zeit seit der Verfolgnng des Decius erzahlt, bezieht 
sich wirklich anf Cyprian von Karthago. Zwischen beide Teile 
aber schiebt sick eine breite novellistische Schildemng der Be- 
kehrnng dieses Cyprian durcb die fromme Jungfrau Justina. Der 
SchluB schien unvermeidlich , daB Gregor nnr aus Versehen eine 
ganz andersartige Legende von dem Magier Cyprian anf den Kir- 
chenlehrer iibertragen nnd eben dadnrch die ganze spatere Ent- 
wicklting der griechischen Tradition beeinfluBt babe. Fiir die Da- 
tiernng dieser Legende oder Novelle nnd fiir nnsere Kenntnis 
ibrer Ausgestaltnng bliebe er natiirlicb ancb dann ein wichtiger 
Zenge. Wie weit jener ScblnB berechtigt ist, muB eine pbilolo- 
giscbe Analyse der drei Texte nnd eine TJntersncbnng der Quellen 
Gregors zeigen. DaB Zabn in seinem sorgfaltigen Bucb die zweite 
Anfgabe gar nicbt in Angriff genommen bat and fiir die erste 
wobl nocb nicbt geniigend vorgeschnlt war, bat micb za diesen 
Ansfiibrangen veranlafit. 

Die drei Schriften, welche Endokia vereinigte, sind nicbt nnr 
in dem Sinne unabhangig von einander, daB keine zu ihrem Ver- 
standnis eine andere voraussetzt oder direkt an sie schlieBt, son- 
dern sie miissen auch von verschiedenen Yerfassern stammen. Die 
Sonderstellung der BuBe ist in Stil, literariscber Form nnd In- 
halt so bandgreiflicb, daB sie keiner Erorterung bedarf. Die erste 
nnd dritte Schrift, Bekehrung nnd Marty rium, mochte Zabn 
freilich ein xmd demselben Verfasser znschreiben, weil sie hand- 
schriftlicb schon fruh verbunden erscbeinen. Allein zur Erklarung 
dafiir geniigt die Gleichheit des Stoffes, nnd der SchluB der ersten 
wird bei dieser Annahme ebenso unverstandlich wie der Anfang der 
dritten*). Die Bekehrung findet ihren Hohepunkt gewiB in 
der SchUderung des Kampfes zwischen Justina und Cyprian, allein 
sie beginnt mit einer Beschreibung des Lebens der Justina und 
endet mit der Angabe, daB sie nach dem Siege Schiilerinnen um 


1) Man kann das Gleiche selbst von dem Anfang der ersten behaupten. Die 
allgemeine Datierung daselbst ist nnverstandlich und unverstandig, wenn der 
Schriftsteller spater eine ganz genaae nachbringen will. Das hat schon der Ver- 
fasser der zweiten lateinischen Uebersetzung empfunden und daher jenen Anfang 
geandert (er datiert die Bekehrung unter Diokletian). 



Cyprian der Magier. 


43 


sich sammelt und Leiterm (jjnjnrjp) eines daxTjnjptov wird. Es ist 
der iibliche Schlafi der Asketenerzahlungen. Wufite der Verfasser 
etwas von einem Martyrium der Justina, so mufite er es wenigstens 
kurz erwahnen *). Da femer ein solches Martyrinin, wie wir sehen 
werden, dem Gregor im Jahre 379 noch nnbekannt ist, wahrend 
er die Bekebmng benutzt, die Znsammenstellung beider Erzah- 
Inngen also sicher spater fallt, werden wir annehmen miissen, da 6 
das Martyrinm spater bekannt geworden oder spater erfunden ist. 
Das bestatigt die dritte Schrift selbst. Sie beruht in dem ersten 
Teile anf der Bekehrung, setzt diese Scbrift aber nicht etwa 
voraus nnd will sie fortfiihren oder erganzen, sondern in sich anf- 
nehmen nnd dadnrch verdrangen. Sie la 6 t zn diesem Zweck den 
Cyprian anf die Frage des Richters, ob er der Lehrer der Christen 
sei, znnachst die ganze Geschichte seiner Bekehrung erzahlen. Die 
Hanptperson ist, wiewohl beide Heilige die gleichen Qualen er- 
leiden, nicht mehr Justina, sondern Cyprian. Die Novelle selbst 
liegt nns in der natiirlichsten nnd literarisch verstandlichsten Form 
in der Bekehrung vor, hber die ich spater handeln werde. Das 
Martyrium zeigt in dem Fehlen alien Empfindens fiir die Form 
der Christenprozesse und in der phantastischen Erzahlung von der 
Lebensfahigkeit seiner Helden so handgreiflich die Spuren der 
jungsten Epoche der Martyrerdichtung ®) , dafi man sich nnr wun- 
dem kann, dafi diese Erzahlimg schon fiir Endokia nnd ihre Vor- 
lage bezeugt ist. Weil der Statthalter selbst dnrch siedendes 
Pech und Feuer die beiden Martyrer nicht toten kann — was 
dnrch den sofort eintretenden Tod eines Heiden noch aufl^Uiger 
gemacht wird — sendet er sie an den Kaiser, der sie dann durchs 
Schwert hinrichten laBt. Wir konnen die Entstehung dieser Er- 
zahlung sogar noch erklaren. Zwei Erzahlungen iiber Cyprian 
von Karthago sind in ihr vereinigt, deren eine Theodoret {ep. 1 51, 
Migne 83 p. 1440) bietet : taota Kojcptavo? 6 iEavs 6 (p 7 ){io(; 6 djv Kap- 
^T]8dva xal ttiv AipoYjv anaaav xopspvTjoac xal xov 8ta iropoi; oTtIp Xpiaxoo 
xaTaSsSAp-svoi; davaxov. Die andere bietet das jakobitisch-arabische 
Synaxar, iiber das ich spater handeln muB (Wiistenfeld S. 37 if.): 
der Kaiser — hier Decius — lieB Cyprian und Justina, weil er 


1) Das ist um so notwendiger, als der Verfasser in dem Einleitungsteil die 
Novelle von Thekla, der ersten Martyrerin, zur Yorlage nimmt. 

2) Vergleichbar ist etwa das Volksbuch vom heiligen Georg, vgl. Krum- 
bacber-Ehrhard Abhandl. d. Bayr. Akademie phil.-hist. Kl. XXV 3. Naher be- 
ruhren sich mit dem Martyrinm Cyprians z. B. die Akten des hi. Antbimns, vgl. 
Rud. Gerhardt, Ueber die Akten des hi. Anthimns und des hi. Sebastianus Jena 
1915 S. 23 fF. 



44 


B. Reitzenstein 


viel von ihnen gehort hatte, zn sich holen and befahl, da sie sich 
standhaft weigerten zu verlengnen, sie zu enthanpten. Zwei im 
Orient im Anfang des fiinften Jahrhunderts umlanfende Berichte 
fiber Cyprian von Karthago sind keck mit einander verbunden. 
Dabei bernht der zweite, im Synaxar erhaltene, wie sich zeigen 
wird, schon auf einer Kontamination mehrerer alterer Schriften, 
zn denen auch die Bekehrnng nnd die Bnfie gehoren. Der 
Verfasser des Martyrinms wollte selbst von dem berfihmten Ear- 
chenschriftsteller, also von Cyprian von Karthago reden. Er be- 
zeichnet ihn daher im Eingang als den Gegner des Novatian (No- 
vatus) nnd erzahlt doch von ihm als von einem Bischof von An- 
tiochien ') nnd Nachfolger eines Anthimos , d. h. er benntzt ver- 
standnislos die Angaben der Bekehrnng. Seine Schrift hat eine 
gewisse Bedeutung ffir die Datienmg dieser Art Eabnlistik; ihre 
Einzelangaben znr Grnndlage ffir die Erforschnng nraltester an- 
tiochenischer Tradition zu machen, wie Zahn dies tat, ist verfehlt- 
Sie scbeidet ffir die methodische TJntersuchnng vollig ans. 

Zwei Schriften bleiben, deren jede in ihrer Art literarisch 
wichtige Probleme bietet, die Bekehrnng nnd die Bn6e. Die 
Bekehrnng will in schlichter Form eine zeitlose, aber offenbar 
in feme Vergangenheit geruckte Asketengeschichte geben. Zn 
der Zeit, als unser Heiland anf Erden erschienen war nnd die 
Weissagungen sich erffillt hatten, wurde die ganze Welt von dem 
W ort erleuchtet nnd alle, die an den allmachtigen Gott nnd nnsem 
Herrn Jesus glaubten, mit dem heiUgen Geiste getauft. Da war 
zn Antiochien bei Daphne eine Jungfrau Justa, Tochter des Ai- 
desios nnd der Kledonia, die horte ans ihrem Fenster in der Nahe 
einen Diakon Praylios die Botschaft von Jesus verkfindigen nnd 
ward vom heUigen Geist ergriffen. Sie wollte den Prediger selbst 
sehen nnd bat ibre Mutter nm Erlanbnis, die es im Stolz atif ihre 
Philosophie verbot nnd sogar mahnte ‘lab das deinen Vater nicht 
horen’; er war namlich heidnischer Priester. Justa aber ant- 
wortete, dab anber Jesus kein Heil sei, nnd ging doch. Als Ai- 
desios davon gehort hatte and bekfimmert war , erschien ihm in 
der Kacht Christns selbst umgeben von fackeltragenden EngelTi 
nnd mahnte ihn ‘komm zu mir, ich gebe dir das Himmelreich’. Bei 
Morgengrauen ging er mit Frau nnd Tochter in die Kirche zu 
Praylios, lieb sich von ihm znm Bischof Optatus ffihren nnd bat 

1) So ausdrucklich Photios in dem Referat aus EudoMa; in der bisher be- 
kannten Fassung fehlt die Angabe, doch setzt die Erzahlung voraus, dafi Cyprian 
in Asien Bischof ist. 



Cyprian der Magier. 


45 


getaaft zu werden. Der zogerte, aber als er von der Vision horte, 
willfahrtete er ihm nnd machte ihn sofort zom Presbyter *), doch 
starb er schon nach anderthalb Jahren. Die Jungfrau aber ging 
immer ins Hans des Herren. Dabei sah sie ein vornehmer nnd 
reicher Jiingling Aglaidas , ein Gotzendiener. Er entbrannte in 
Liebe nnd suchte sie dnrch allerhand Zwischentrager fur sich zn 
gewinnen, sie aber antwortete stolz ‘ich bin Christi Brant’, nnd 
als er sie anf der StraBe zn nmarmen nnd fortzuziehen versnchte, 
warf sie ihn nieder, zerschlng ihm Gesicht nnd Seiten, zerriB seine 
Kleider nnd trinmphierte uber ihn, wie einst ihr Vorbild Thekla. 
Da wandte er sich zornig an den Zauberer Cyprian, gab ihm zwei 
Talente nnd bat ihn, die Jungfrau ihm zn verschaffen. Der rief 
einen Damon, nnd, als der kam und nach seinem Begehren fragte, 
sagte er: ‘ich begehre eine Jungfrau der Galilaer; kannst du mir 
die bringen ?’ Der Damon verhieB es ; Cyprian lieB sich erst noch 
seine fruheren Taten kiinden nnd empfing von ihm dann ein Zanber- 
mittel, nm damit die Tiir des Madchens bei Nacht zn bestreichen; 
dann will der Damon ins Hans dringen und sie holen *). Aber als 
die Jungfrau bei ihrem nachtlichen Gebet die Erregnng ihrer Sinne 
merkte, wandte sie sich in brhnstigem Flehen an Gott, bat, sie 
zn schiitzen , da sie sich Christus gelobt habe , bekreuzigte sich, 
nnd der Damon war machtlos. Beschamt kehrte er zn Cyprian 
znriick und bekannte, ‘ein Zeichen’ habe ihn verjagt. Der aber 
rief sofort einen noch starkeren Damon, der von seinem Vater, 
dem Satan, das Zaubermittel brachte, das Cyprian nm die Tiire 
streichen sollte, wahrend der Damon zn ihr ginge. Aber die Jung- 
frau wappnet sich in einem nenen, noch gesteigerten Gebet ; wieder 
muB der Damon vor dem Krenzeszeichen fliehen nnd seine Nieder- 
lage Cyprian bekennen. Da ruft dieser den Vater aller Damonen, 
den Satan selbst, und fragt nach dem Grunde dieser Machtlosig- 
keit. Der vermiBt sich, binnen sechs Tagen, in denen er mit 
Fieber sie qnalen will, sie willig zn machen, geht am siebenten 
in der Gestalt einer Mitasketin zu ihr nnd sncht sie dnrch Reden 
zu verlocken. Aber das Krenzeszeichen schlagt anch ihn in die 
Flncht, nnd Jnsta dankt in einem dritten Gebet Gott fiir die 
Errettung. Als Satan dem Cyprian seine Niederlage bekeimt und 
die Frage, ob der Gekrenzigte denn starker sei als er, mit Zit- 
tem bejahen muB, sagt Cyprian ihm ab und entschlieBt sich, sich 

1) Diese Art Vision ist in der alteren Asketenerzahlung offenbar typisch; 
sie erhebt den Empfanger fiber alle anderen und gibt ihm Anspruch auf die 
Wfirde des ‘Presbyters’, vgl. Hisioria Monachorum und Historia Lausiaca S. 193. 

2) Ueber den Text vgl. den Anhang. 



46 


B. Beitzenstein, 


an Christas zu wenden. Den ergrimmten Satan verjagt er durch 
das Kreuzeszeichen , dessen Macht er durch den Satan selbst er- 
fahren hat*), lafit die Diener alle seine Zauberbiicher anfnehmen 
und geht mit ihnen in die Earche zu dem Bischof Anthimos. Der 
halt die Bitte um die Taufe zunachst fiir eine Herausfordemng, 
aber als er den Bericht Cyprians gehort hat, la6t er die Bucher 
verbrennen und bescheidet Cyprian fiir den anderen Tag zum 
Gottesdienst. In der Einsamkeit der Nacht tut Cyprian schwei- 
gend BuBe fiir seine Siinden; als er am andem Morgen zur Kirche 
kommt, geben ihm schon die Worte der Liturgie GewiBheit der 
Begnadigung. Als nach der Predigt des Bischofs die Katechu- 
menen entlassen werden, will der Diakon Asterios auch den Cy- 
prian aus der Kirche weisen, weil er noch nicht getauft ist. Der 
aber weigert sich und verlangt sofort die Taufe; in der Kirche 
selbst stellt der Bischof hastig die Fragen und tauft ihn auf ein 
gottliches Wunder hin sofort. Binnen fiinfzig Tagen dnrchlauft 
Cyprian die niederen kirchlichen Wiirden tmd wird Diakon. Wunder- 
kraft und Redegewalt beglaubigen ihn weiter; nach einem Jahr 
ist er Presbyter, und als sechzehn Jahre spater Anthimos seine 
Wiirde niederlegt, macht er den Cyprian zu seinem Nachfolger. 
Der machte Justa, indem er sie nmnannte und Justina hieB, zur 
Vorsteherin (Mutter) der Gemeinschaft der Asketinnen **), bekehrte 
selbst viele zum Christentum und gewann viele von der Ketzerei 
zuriick zur Heerde Jesu Christi, dem Ehre und Gewalt gehoren 
in Ewigkeit. 

Cyprians Wirksamkeit als Christ wird geschildert, weil seine 
Bekehrung die groBe Leistung Justinas an die Kir che ist. Die 
Erzahlung erweitert sich dadnrch im Schlusse etwas , bleibt aber 
eine Asketenerzahlung in der typischen Form , die sich wie eine 
Anzahl der friihesten Asketengeschichten (vgl. mein Buch ‘Historia 


1) Der Satan will zunachst das ‘Zeichen’ nicht verraten; wenigstens soil 
Cyprian ihm erst Treue schwdren bei seiner groBen Macht. Cyprian tut es, ver- 
jagt aber sofort den Satan durch das Zeichen, denn der Eid ist nichtig, da der 
hose Feind ja in Wirklichkeit ohnmachtig ist. Der Betruger wird betrogen und 
erweist sich in Wahrheit als dumm; er selbst hat dem Cyprian seinen neuen 
Herren gezeigt. Es ist, wenn ich nicht irre, das alteste Beispiel fur diese fast 
humorisbsche Auffassung des Teufels und fur die Vorstellung eines Paktes mit 
ihm; das nachste Beispiel mag etwa die Adamslegende bieten. 

2) Eine doppelte Fassung scheint bier vorzuliegen ; nach der alteren wird 
Justina wohl selbst Scbiilerinnen um sich gesammelt haben und dadnrch Mutter 
eines dazTiD^piov geworden sein ; nach der jungeren macht der Bischof sie zur 
Diakonisse und erhebt sie damit in den Klerus. Die Uebersetznngen bieten bald 
die eine, bald die andere Form. 



Cyprian der Magier. 


47 


monuchorum und Historia Lausiaca' S. 25 nnd ofters) eng an die 
apokryphen Apostelakten anschlieBt. Die wortlichen Entlehnungen 
sind — entsprechend der Zeit, in die wir verwiesen werden — 
sogar starker als sonst. Fiir die Panins - Akten , zn denen die 
Thekla-Novelle gehort, hat schon Zahn die Belege gegeben. Ich 
fuge die Thomas -Akten hinzu und fUhre ein Beispiel an. Der 
Apostel zwingt (cap. 32) die morderische Schlange ihre Abstam- 
mung und Art zu nennen und hort unter anderem: kjd slp.i 6 did 
too ^paffiou stOoXd-wv Iv t^ jcapaSsiacp zal pieta Etiac XaXTfjoas . . . 
elp.i 6 s^aijjas xal Tropwaa? Kaiv, tva a^toxtstvg tov tStov dtSeX^dv , xai 
St’ Ifis axavdat xai tptpoXot kforjaav ev zy . . . kytHi slfii 6 to xX^- 
■ftoc iv zfj spTfjp.(p xXavTjoac, ote tov {i,6o)(ov litotTjoav • iyio slp,t 6 tov 
'HptoSrjv imputaag xal tov Kaidipav . . . sfw s’t[tt 6 tov looSav 

s^dijiai; xal k^ayopdacif , tva tov XptatSv ^avdttp xapaSip. Der heid- 
nische Zauberer Cyprian (Bekehrnng cap. 41 fragt den ersten und 
niedrigsten Damon, ob er stark genug sei, Jnstina zn bezwingen; 
die Antwort lautet: Eoav TjxdtT/oa, ’A8a|i xapaSetooo tpoip^C lots- 
pTjaa, Katv aSsXyoxtovetv iSiSn$a , atptatt Iptava * axavdat xal tpt- 
PoXot St’ i(i.s avdtetXav ‘) • • • stStoXoXatpstav jtapEoxsoaaa, ttosyoxof^oat 
tov Xaov IStSa^a, ataopto3"^vat tov XptatSv ouipaXov (uTtePaXa Paris 
1468). Das ist fiir die christlichen Leser gewiB wirksam, fiir die 
Situation (Ansprache des niederen Damons an den beidnischen 
Zauberer) wenig passend. Dennoch waltet in der ganzen Erzah- 
Inng xmbestreitbar berechnende schriftstellerische Knnst und hebt 
sie weit nicht nur iiber die gewShnlichen Asketenerzahlnngen, 
sondern auch iiber das Vorbild, dem z. B. die feierlichen, fast in 
liturgisch-archaischen Ton iibertragenen Gebete nacheifern *). Ich 
brauche auf die Kunst in dem Bericht der drei Versnchongen nnr 

1 ) Paris. 1454 und Sinait. ix'x'jdat xal tptpoXoo; St ifU -fj yfi dyizttXev, rgl. die 
Acta Thomae. 

2 ) Ich erwiihne einen an sich unbedeutenden Einzelzug; Bekehrnng cap. 5 
beginnt das Gebet: c, »eo 4 6 rrovToxpa'Twp 6 toii dYarorjTou aou iraiSoj ’Irjsoii XpmxoD 
naxTip, in den Acta Theclae cap. 24 Ildxsp 6 •ttoi^aa; xov oipovov xal xtjv 6 xoii itaiooi 
xsO aya7:r;xo0 aou ’It, aou Xpiaxou irar/,p, EuXoyai ae, in den verlorenen Apostelakten, aus 
denen im Papyrus Berol. 9794 die -poaEu/rj xwv t^' aTtoaxoXtuv nixpou xal xoiv oXXojv 
erhalten ist (Berliner Klassikertexte VI S. 113, vgl. zur Sache Gott. gel. Anz. 
1911 S. 561) ayio; eI, xuptc, '3e6s ^ravxoxpdxiop xal jraxTjp xou xuplou TypiSiv ’Iijaou 
Xptaxou (vgl. die leider arg zerstiirte Fortsetzung v. 85 — 92 mit der Fortsetzung 
des Gebets in der Bekehrnng; fast alle Ziige lassen sich hier als in gewissem 
Sinne liturgisch belegen). Wenn ich nicht irre, dichtet das vierte Jahrhundert, 
wo es frei schafft, anders. [W. Bousset bestatigt mir, dafi die Gebete einen hdcbst 
altertumlichen Eindruck machen, und verweist fur cap. 5 auf Const. Apost. VII 
34 , 1 0 y^v Eopdaa; xal oupavov IxxEivai, 6 x^ 05 ao<p(a 6 taxaSd[iEvo 4 und auf seine 
Analyse dieses Gebetes in diesen Nachrichten 1915 S. 451 ff.]. 



48 


K. Reitzen st ein 


hinzuweisen. Zu dieser berechnenden Knnst gehort anch das 
Streben nach Anschaalicbkeit der Erzahlung. So tragen alle er- 
wahnten Personen Namen, selbst der Diakon, der Cyprian mahnt, 
die Kirche zn verlassen. Aber diese Namen sind seltsam gewahlt. 
Der Aidesios , dessen Grattin anf die Philosophie (oifenbar ihres 
Mannes) so stolz ist, wird seinen Namen dock wohl dem beriibmten 
Pbilosophen verdanken, der znnachst Jamblichs Schnle iibernahm, 
also oifentlich aJs Lehrer des Heidentums auftrat, sich aber dann 
anf Befehl eines Grottes, der ihm im Tranm erschienen war, in 
die Einsamkeit znriickzog. Ein Bischof Antbimos hat in Anti- 
ochien nicht gewirkt, wohl aber kennen wir dnrch Eusebios nnd 
das syrische Martyrologinm einen beriihmten Bischof and Martyrer 
des Namens in Nikomedien und wissen dnrch Mercatis Fund, da6 
er dem Verfasser ans der Literatnr bekannt sein konnte‘); der 
Bischof Optatns, der fhr Antiochien anch nnmoglich ist , konnte 
dem Verfasser ebenfalls dnrch die Literatnr, namlich dnrch die 
griechische Fassnng der Perpetna-Akten, bekannt sein, freilich als 
Bischof von Karthago. Zahn hat das alles richtig erkannt nnd 
doch die eine Frage nicht anfgeworfen: woher stammt dann der 
Name Cyprian? Ist es iiberhanpt denkbar, dab der Verfasser gar 
nicht an den beriihmten Trager gedacht hat, wenn er die wnnderbar 
rasche Befordemng nach der Bekehrnng, die Redegewalt, den 
Karapf gegen die Ketzereien nnd endlich die Wnndertaten Cyprians 
erwahnt? Dab man gerade im Osten nm diese Zeit von Wnndern 
zn berichten wnbte, die Grott (nicht ein Damon) dnrch Cyprian von 
Karthago getan habe, zeigt Makarios Magnes III 24 p 109 Blondel, 
der als Wnndertater mit Polykarp von Smyrna, Irenaens von 
Lngdunnm, Fabianns von Rom anch Cyprian von Karthago nennt ^). 
Dabei ergibt sich nnn freilich eine nnlosliche Schwierigkeit : Op- 
tatns von Karthago soU ein Vorganger Cyprians gewesen sein, 
eines Cyprian, der manche Ziige des karthagischen Bischofs tragt 
nnd doch in Antiochien seinen Sitz hat. Und nnn noch Anthimos 
als nnmittelbarer Vorganger Cyprians! Schon sein Anftreten 
miibte zeigen, dab wir es nicht mit einer antiochenischen Tra- 
dition zu tnn haben; eine solche, ja selbst eine fur An tiochien 
bestimmte Erfindung mubte, anch wenn sie einen Bischof (Cyprian) 
in die bekannte Liste einschwarzen wollte, wenigstens fiir die 
Vorganger Namen ans ihr wahlen. Die Namenswahl der Erzah- 

1) Vgl. Bardenhewer Geschichte d. altkirchlichen Literatnr II 289. 

2) Es ist eine seltsame Unklarheit, wenn Zahn (nnd ihm folgend Hamack) 
behaupten anf Grand einer Verwechslung mit dem antiochenischen Magier sei 
Cyprian in die Reihe dieser Gottesmanner geraten. 



Cyprian der Magier. 


49 


lung zeigt ihren Charakter. In der NoveUistik, bzw. der Roman- 
schriftstellerei der Zeit^) ist die Sitte langst beobachtet, daB der 
Erzahler mit Vorliebe die Namen fiir seine Dichtung der Lite- 
ral nr entnimmt. Mogen mit dem Namen dann einzelne Motive 
herubergenommen werden, die Personen sind in der neuen Hand- 
lung doch wieder neu. Dieselbe Tecbnik ist bier, allerdings ge- 
steigert, verwendet. Tim eine freie Dichtung (Novelle) handelt es 
sich, die mit literarischen Namen und Reminiszenzen spielt und 
erbauen, aber urspriinglich nicht als historische Ueberliefernng ge- 
fafit werden will. So erklart sich anch die seltsame Zeitbestim- 
mung im Eingang. Die Tendenz der Dichtung ist klar. An die 
Wirksamkeit des Zauhers glaubt damals der Heide wie der Christ; 
nur glaubt der letztere, dafi Christus die Seinen anch davor behiiten 
kann. Ist daher z. B. der Liebeszauber gegen eine Christin un- 
wirksam geblieben, so geniigt dies allein, um das Christentum als 
die einzig wahre Religion zu erweisen, und mufite jeden, der da- 
von erfahrt, veranlassen, selbst Christ zu werden (vgl. die schon 
von Zahn angefiihrte Erzahlnng hei Epiphanios Fan. Haer. 30, 4ff., 
besonders 30, 8, 10 p. 344, 6 Holl). Eine solche Erzahlnng will 
der Verfasser in dem Hauptteil bieten und das Vertrauen der 
Christen starken ; freilich bietet er dabei, offenbar ohne besonderen 
Arg, eine frei erfundene NoveUe^). * 

Die Bufie, zu der ich zunachst ubergehe, bietet in einer li- 
terarisch offenbar erzwungenen und sekundaren Eorm den Grnnd- 
stock derselben Erzahlnng, nur sind die einzelnen Angaben ins 
Phantastische gesteigert. Nicht eine Woche, sondem viele Mo- 


1) Auch anf die sehr viel altere bukolische Dichtung und z. T. auf die ero- 
tischen Briefe kdnnte man verweisen. Doch beschranke ich mich mit Absicht auf 
das, was ein romischer Rhetor des zweiten Jahrhunderts historia nennen wiirde. 
Das kbnnen wir aus Apuleius einigermaBen bestimmen. Die Erzahlung von 
C harite {Metam. VIII 1 ff.) konnte ein Rhetor in historiae specimen chartis in- 
•volvere, und wenn man die wunderbare Errettung der Jungfrau aus der Hand 
der Rauber durch ein hilfreiches Tier nicht in der burlesken und scheinbar kunst- 
losen Art des Apuleius, sondem mit ernster schriftstellerischer Kunst behandein 
wiirde, so ergabe sich eine historia: asino vectors virgo regia fugiens captivitatem 
(VI 29). Solche historiae konnen in einen groBeren Erzahlungskomplex eintreten 
(Apuleius Metam. VIII 1, die Thekla - Akten) oder fiir sich tiberUefert werden 
(Frontos Arion); sie wollen erziehlich wirken (Properz I 15,19—24) und sind an 
sich zeitlos (vgl. zu der ganzen Frage ‘Das Marchen you Amor und Psyche bei 
Apuleius’ S. 68 ff.). Als Beispiel der Namensentlehnung in der profanen Dichtung 
nenne ich etwa den Hirten Philetas bei Longus (auf Lesbos und neben Daphnis). 

2) Von Cyprian hat er als von einem beruhmten Bischof einiges gehort ; so 
benutzt er seinen Namen. 

Kgl. Qes. d. Wiss. Nschrichten. Phil.-hist. Ktasse, 1917. Heft 1. 


4 



50 


E. Keitzenstein, 


nate lang (ja nach einer Andeutnng Jahre lang) dauert der Kampf 
zwischen Cyprian nnd Jnstina, ist stadtbekannt und zieht nicht 
nur die Eltern des Madchens , sondern die ganze Biirgerschaft in 
seine Kreise. Cyprian will sie notigen, die Jnstina zn zwingen, 
den Aglaidas zu heiraten, indem er Senchen tiber Mensch nnd Tier 
hereinbrechen laBt nnd Orakel veranlaBt, daB sie nur dann auf- 
horen werden , wenn Jnstina und Aglaidas sich heiraten. Das 
alles ist aus der einfachen Erwahnnng ernes sechstagigen Schwache- 
zustandes der Jnngfran geworden ’). Wie dabei Cyprian nicht 
eine beliehiger Zanberer, sondem der groBte nnd machtigste aller 
Zauberer wird, so Jnstina die groBte Wundertaterin: ihr Gebet 
heilt jede Krankheit nnd vertreibt alle Uebel, oder ersetzt alien 
Verlnst; so bekehrt sie die ganze Stadt, schon ehe der Magier sich 
bekehrt. Er muB sich vor dem aUgemeinen HaB verbergen Es 
ist Wunderlich, daB Zahn trotz der handgreiflichen Vergrobernng und 
TJebertreibung der erzahlenden Teile dieses Stiickes ihnen zngrnnde 
liegende Reste eines TJrberichtes erkennen will , denen gegeniiber 
die einfache Fassnng des Bekehrnngsberichtes seknndar sei. Die 
einzelnen in der B n B e angegebenen Ziige lassen sich gar nicht zn 
einer fortlaufenden Erzahlnng zusammenfiigen, nnd widersinnig ist 
der Bericht selhst, da die Horenden alles schon wissen. Ist die 
Ueberarbeitnng aber einmal festgestellt, so hat die Annahme, daB 
nicht die erhaltene Novelle selhst, sondern eine verlorene Zwil- 
lingsschwester zngrnnde gelegt sei, weder Anhalt noch Zweck. 
Wichtig ist die Tendenz der BnBe oder vielmehr die Tendenzen 
der beiden heterogenen Bestandteile , ans denen die Schrift schon 
im fiinften, ja, wie wir sehen werden, schon im letzten Viertel des 
vierten Jahrhnnderts znsammengesetzt war. XJnertragliche Wieder- 
kolnngen nnd Widerspriiche lassen an dem Hergang keinen Zweifel. 
Der erste, bei weitem wichtigere Teil beginnt mit einer Ansprache 
Cyprians an eine versammelte Menge, Christen nnd Heiden^j, 
nnd reicht in der Ansgabe von Maranus {Cypriani opera ed. Ba- 

1) Ifaturlich darf auch der Zauber nicht einmal so weit wirken, daB der 
Damon durch die Ture kommt. Ausdrucklich wird das bestritten, aber eben da- 
mit die Erzahlnng von der Macht des Kreuzeszeichens unklar gemacht. 

2) DaB dabei die urspriingliche Fiktion einer Bitte an die Christen und 
Heiden der Stadt, ihm Trost und Rat zu spenden, unmoglich wird, ubersieht der 
Verfasser in seinem Eifer. Die Tendenz wird sich spater zeigen. 

3) Das hat Zahn verdunkelt, indem er gegen das Zeugnis der Eudokia und 
der mit ihr ubereinstimmenden alien lateinischen Uebersetzung ihrer Vorlage der 
relativ jungen griechischen Handschrift folgt, die sich doch nnendlich oft als 
schwer verdorben erweist. Hier bieten die alten Zeugen oaot xoXt too Xpioroti 
TiuSTTjpiot; -pozoTtre-s, die Handschrift osoi Tot; too XpistoO tJ.u3x7]pioi; rposzortexE 



Cyprian der Magier. 


51 


lupins toyn III) bis ztim Ende von cap. 10, in Zahns ITebersetznng 
bis znm Ende von cap. 13. Cyprian erzahlt sein Leben nnd be- 
sonders seine letzten Taten and fragt verzweifelt, ob Christas 
ilim vergeben konne ; ein Christ Timotheus bejaht das , weist 
darauf hin, da6 Christas ja grade fiir die Sunder gestorben sei, 
and heist Cyprian zu dem Bischof gehen. DaS er es wirklich ge- 
tan hat, miissen die Leser schon wissen. Die Schrift ist inkalt- 
Hch damit voll abgeschlossen, verlauft in der iiblichen Dialog- 
form nnd ist im Bau nicht nngeschickt. In der Schildernng der 
inneren Zerstorung Cyprians gewinnt sie sogar ergreifende Kraft 
and bildet trotz der ungeschickten Sprache ein wiirdiges Vorspiel 
fiir die beginnende Fanst-Dichtung ; vov ooo vrjv nXdvTjV licat- 

c&7jv taic ipavTaaiat? aou ‘ e^vcDV aou viiv daS'svsiav • ouSs Y“P ’'’• 

svuTOatatov, dXXd p.atata? xai xpoaxatpoo pojr^C aTtoXauaetc" oote oi 
TOXot aou outs O', d'sap.ot aou, ouc dvtttS'd-sty.a? t^ suospsta, aXirjh-tbe 
siaiv. aXXa tcXAvq xal ipavtaaiot, StspS'Stpdi; {tou tYjv Stdvotav, aTtwXsadc 
pou ffjv ^ayriv, td? iXtctoac p.ou SteppiTj^a?, xdadv jJ.ou tijv Xoy’.xyjv xa- 
tdtotaaiv^) si? xatsarcaaac. [dxdjXsaa? tt,v Cw'QV p-ou xal fi) xaxla 
xatsSaxdvTjaas xal xdaiv p-ou tY]v xataotaaw t^c puosaii; StwXsoac]. 
p,s7dXo4? lt:Xavf,^tjv uiotsuaa? oot, ujcspPaXXdvtto? -ijaipTjaa, i<pp6vmi^ 
^JtiSou? aoi ip.aut<5v, IpLatatwOiijv Ijtl 7 pdp.p,aat, ffj xatSslcp p.ou 
s^t'.pXapW'; ujtaxouaa? aou, drct&Xsod p.ou xpi^p-^ta xal npdy- 

piata axAti;)’ p.sta: pap t^c xatpix^; o&olai; xal 

filv ^lUXT^v p,oo xpoasCTrip.tcoaa<;. st S’ lvstp.ov xp^Couai td Iv ool dxoXd- 
p,sva, sixov dv xdpw®) Ppaxstav a(otT]pla(; IXxlSa' oual p.ot, tl xsxovda. 
Seivw? xatspfl-dpYjv, dvtdtco; stpaup.ati'oO'Trjv , vexp6c wv C'^v lvdp.[Cov xal 
IXdvdavov xoXXp XP^P-*'^^ ^v7)adp.svoc *). Anch der &rundge- 

(es t'olgt als Gegensatz eine Ansprache an Heiden). Das letztere ist im Ausdruck 
bedenklich und zerstort den Sinn. Cyprian kann gar nicht nur Feinde des Christen- 
tiims ansprechen, er will ja im SchluB fragen, ob Christus ihm vergeben konne. 
Eine Xeuansgabe des Textes ware dringend notig. 

1) (iXTj9£T< Hs. 

2) Katdotacsi; ist der ruhige Zustand des Geistes, zngleich der Urzustand, 
vgl. die in den Sitzungsber. d. Heidelberger Akad. 1914 Abb. 8 S. 31 ff. ange- 
fiihrten Stellen, besonders Jamblich Fit. Pyfhagorae 96 zaTaOTdoei t^c Siavola?, 
Danach ist XoTixi^ wohl zu deuten. Offenbar soU xaTa'svaats -rijs ipuaeojs im fol- 
genden Satz dasselbe bezeichnen, also gehort er einem Interpolator. 

3) eipv xav yoOv die Handschrift, 

4) Es folgt in der Handschrift Cmv lOTztvS’ivius ooi irpooeSpeusaj. Statt der 
sinnlosen Worte bietet der lateinische Uebersetzer (bei Fell und Pearson) ego 
ipse mihi noxius fui gaudens in tuis erronbus, Eudokia TOdpivas ou8l (ouv Hs.) 
Heiuv pL^stptv Savdtoio i:^pT,oa, die sahidische Debersetzung (v. Lemm, Mdmoires de 
I’Academie de St. Petersburg Ser. VIII vol. 4); denn ich war ein Knecht der Siinde 
geworden. 


I 




1 


4 * 



62 


R. Reitzenstein 


danke der Erzahlung entbehrt nicht der GrroBe und kann an die 
Eaustdiclitung wenigstens erinnem, wenn anch die Ausfiihrung un- 
geschickt bleibt. Nach tiefster Erkenntnis, freilich anch nach 
Macht hat Cyprian gestrebt, and die vollige, nrspriinglich fromme 
Hingabe an den Knit der heidnischen Getter hat ihn zuletzt zum 
bewuBten Teufelsdienst gefiihrt. Jeder Versnch, anderen zu niitzen, 
bringt ihnen nar Schaden. und immer mehr zwingt Satan seinen 
Diener zum Verbrechen. In der Erzahlung soil dabei Cyprian 
offenbar als Gegenbild zu Apollonios von Tyana geschildert wer- 
den *). Wie Apollonios in friihster Jugend in den Dienst des 
Asklepios getreten ist, so Cyprian in den Dienst des Apollo; wie 
Apollonios wird er spater in alle Mysterien geweiht; wir horen 
von weiten Reisen in feme Lander, langer Lehrzeit und tiefstem 
Wissenum das Wesen der Gotter und um die in der JSTatur waltenden 
Krafte. Cyprians tiefe Bildung und die Gewalt seiner Rede wird 
hervorgehoben ; man nennt ihn den ^tXdaoyoc \l6l‘iq<;. Die Schrift 
fesselte die Leser ihrer Zeit durch die geheimnisvollen Andeutungen 
iiber das Damonenreich and Zanberwesen und dankte ihnen wohl 
auch die spatere Verurteilung im Decretum Gelasianum. Ihr Zweck 
ist offenbar, die heidnischen Philosophen dieser Zeit, also der Zeit 
nach dem offiziellen Siege des Christentums, bei den Christen und 
vor allem bei der christlichen Obrigkeit zu verdachtigen. Gerade 
daB in der letzten Zeit des Heidentums der Magier Apollonios 
immer mehr das Idealbild ‘des Philosophen’ geworden war, bot 
jetzt eine gefahrliche Waffe: fuhrt die heidnische Frommigkeit und 
Philosophic notwendig zur Magie und ist diese verbrecherischer 
Teufelsdienst, so muB der Staat sie unterdriicken. Die Eorderung 
wird nicht offen erhoben, und wenn man die spatere Weiterdich- 
tung vergleicht, empfindet man in der Schilderung der Magie wie 
des Charakters des Magiers sogar noch eine gewisse MaBigung. 
Aber die Stimmung ist die gleiche wie in der wenig alteren 
Schrift des Firmicus Matemus De errore profanaruni reU(jiomtm j 
die Christen beginnen die Beschuldigungen, die zwei Jahrhunderte 
friiher die Heiden gegen sie geschleudert batten , zuriickzuwerfen 


2) Daranf da6 Hierokles in dem Xoyo; ihn verherrlicht und iiber 

Christus gestellt hatte, weist schon Zahn. Da diese Schrift um 306 erschienen 
war, ist es sehr moglich, daB der Verfasser der BuBe direkt anf sie Rucksicht 
nahm. Der rersohnliche SehluB spricht nicht dagegen, sondern eher dafiir, da ja 
auch Hierokles den Christen scheinbar wohlwollend den Rat gegeben hatte, sich 
zu bekehren. Jedenfalls kehren eine Fiille von Einzelziigen aus der Apollonios- 
Literatur umgebildet und iibertragen in der BuBe wieder. Es lohnte, sie naher 
zu verfolgen. Nur darf man sie nicht zu einer fruhen Datierung mifibrauchen. 



Cyprian der Magier. 


53 


und mit den gleichen Waffen, aber noch wider wartigerer Technik 
zu fechten *). Dazu gehort dieses erfundene Bekenntnis eines angeb- 
lich bekehrten Philosophen, dem schon der Name bei den cbristlichen 
Lesem Glanben und Geltung verschaffen mnbte. Aber nicht run die 
Magie nur handelt es sich. Cyprianus sieht mit eigenen Augen, 
dafi jene Apstij, Soyia und Aizatoaovn], welche die griecbischen Phi- 
losophen irre gefiihrt haben, Trugbilder des Tenfels sind, und lernt 
wie dnrch die Damonen gottlose Prommigkeit, unvemunftige Er- 
kenntnis , ungerechte Gerechtigkeit und verwirrte Ordnung zu 
stande kommt^). 

Mit einer ganz unpassenden TJeberleitung geht die nns vor- 
liegende Schrift nun zu einer zweiten Rede Cyprians iiber, in 
welcher dieser noch einmal seine Siinden bekennt und fragt , ob 
auch fiir sie eine Vergebung denkbar sei; er bittet sogar, ihm 
alle Stellen der Schrift aufzufiihren, die dafiir sprachen. Als ob 
Timotheos gar nicht geredet hatte, bringt nun ein Eusebios in 
unertraglicher Breite diesen Schriftbeweis und ermahnt znm Schlub 
den Cyprian zum Bischof zu gehen. Cyprian verehrt darauf den 
Eusebios als seinen Vater und Better ; von Timotheos ist nicht 
die Rede. Ausdrucklich wird gesagt, da6 bisher alle Anwesenden 
und es sind plotzlich nur Christen anwesend — geschwiegen 
haben, um den BiiBer das Gift des Satans erst voUstandig aus- 
brechen zu lassen. Dialog und Erzahlung mischen sich in uner- 
traglicher Weise, und der Leser muB zum SchluB sogar noch ein 
Stuck Lebensgeschichte nach der Bekehrung erfahren. Der Zweck 

1) Nimmt man die gleich zu besprechende Fortdichtung mit ihrer Aufzah 
lung der griifilichsten Verbrechen hinzu, die angebUch der heidnische Geheim 
gottesdienst verlangt, so erhalt man ein unser Empfinden peinigend genaues 
Gegenbild zu den Beschuldigungen gegen das Christentum, die z B Minncius 
Febx cap. 9 aufzahlt (das lacberliche Kultbild, die Phallus-Verehrun- das Onfer 
des Kindes, die Unzucht bei den Agapen). Wie damals wirkliche "oder in der 
Literatur erwahnte Venrrungen der Haretiker einen Anhalt geboten batten 
jetzt der auch im zweiten Jahrhundert schon verbreitete Volksglaube d b ’(B° 
Philosophie zur Magie fuhre (vgl. besonders Apuleius Apol. 27); selbst E' \ 
zuge sind bier schon nachweisbar; aber dem Christen blieb es Torbehalte 
nicht nur in unsinnigster Weise zu steigern, sondern auch fiir sie das z”’ 
einer bestimmten Person zu erfinden. Seltsam, daB namhafte Forscher der”^^ 
gangenheit dies Schriftstuck dem Cyprian selbst zuschreiben wollten! 

2) Vgl. cap. 3 ixeT etSov t:*; aoviaxaTat xoii iXoyo; yvSsi; xal 

dStxo; StxaioaivY] xal aupEXupevT) xaTa'oxasi; .... xptax^ata l^,xovTa 7ra»mv 

eiSt) e18ov IxEl, xai xf;t xEvoSotfa; xai xE.rjs dpeTfjt xat xEvr,s ootpfas xal xEvijs Stxamaivr.j 

of; aXav«i(3t TO05 'EUtjVu.v ?iXo30<pou;. SXu); ydp tetoXmp^va zhh, dXX’ {)7rd<lTaOTv’ 
oOx piv xovioptoj, xa ok mt axii Oaxxov Staf^^ovxa. Die lateinische 

Uebersetzung kiirzt hier wie meistens ab, ebenso die sahidische. 



54 R- Reitzenstein, 

dieses Teiles ist im wesentlichen dogmatiscli; man mu6 , urn das 
zu empfinden, mit der Rede des Eusebios die pseudocyprianische 
Schrift Ad Novatianum vergleichen. Die Kraft der BuBe soli be- 
wiesen und zugleich ein lehrreiches Muster reumutiger Zerknir- 
schung und offentlichen Bekenntnisses gegeben werden. Unter diesen 
Gesichtspunkt fallt auch die Aufzahlung der graBlichen Totsunden 
Cyprians, die freilich zugleicb die widrigste Verdachtigung des 
heidnischen Kultes enthalt. Vorausgesetzt wird einerseits der 
erste Teil, andrerseits die Bekebrungsnovelle, deren Sdulderung, 
wie Cyprian einsam in der Nacht seine Siinden bereut, ofl’enbar 
die Keimzelle dieses Teiles enthalt. Sie bietet zugleich die Er- 
klarung fiir den Schlufi der BuBe, der die literarische Form so 
vollig zersprengt. DaB auch in dem ersten , sehr viel hoher ste- 
henden Teil die Bekehrungsnovelle benutzt ist, brauche ich nicht 
auszufiihren. Wir erkennen jetzt, warnm die Schilderang der 
Zauberkiinste Cyprians so gesteigert werden muBte. Als groBter 
alien Philosophen und Magier muBte er erscheinen. 

Trotz dieser Benutzung der B eke h rung will die BuBe von 
Anfang an von Cyprian von Karthago reden. Sie erreicht den 
Zweck ihres ersten Teds iiberhaupt nur, wenn der BuBende als 
Christ, ja als verehrungswiirdiger Lehrer des Christentums allge- 
mein bekannt war, und wenn man von diesem Lehrer wuBte, daB 
er vor seiner Bekehrung in die Tiefen der Philosophic eingedrungen 
war. Bezeugt dies, wie gleich zu zeigen ist, eine Tradition, die 
im Osten weit verbreitet war, von dem karthagischen Bischof und 
riihmt mit seiner allgemeinen BUdung zugleich seine Redegewalt, 
so ist er gemeint und diese Tradition benutzt. Ein unscheinbarer 
Nebenzug gewiimt dann Bedeutung. In der Bekehrung wird 
nichts davon gesagt, wie Cyprian nach Antiochien gekommen ist; 
er erscheint einfach als ein dort beriihmter Zauberer; in der BuBe 
wird ausdriicklich hervorgehoben, daB er auf der Heimkehr vom 
Lande der Chaldaer hier Station gemacht hat; er stammt nicht 
von hier. Die Moglichkeit, ihn mit dem groBen Bischof zu identi- 
fizieren , wird dadurch gewonnen. Der zweite Teil kennt dann 
offensichtlich Cyprian als den groBen Lehrer des Christentums ; 
er weiB femer, daB er nach der Bekehrung seine Habe den Armen 
gegeben hat, wie das die vita el passio von dem Karthager Cy- 
prian ausdrucklich berichtet. Auch zu seiner Tendenz endlich 
wiirde die Wahl dieser Personlichkeit trefflich passen. Nicht nur 
die ihm zugeschriebene Schrift Ad Novatianum, auch der echte, 
gegen Novatian gerichtete Brief ep. 55 und andere ihm zugewiesene 
lateinische und griechische Stiicke handeln von der Wirkung der 



Cyprian der Magier. 


55 


Bu6e. Es ist sehr glaublich, dafi der Verfasser dieses ‘dogmati- 
schen’ Teiles der BuBe mit einer gewissen Absicht schilderte, wie 
Cyprian an sich selbst erfabren babe, was er spater lehrte. DaB 
er von seiner Erhebung znm Bischof im SchlnB nicht mehr ans- 
driicklicb spricht, laBt sicb eher fiir diese Annahme als gegen 
sie geltend machen. Wollte er bier von der Bekehrung ab- 
weichen nnd den richtigen Bischofssitz nennen, so muBte er den 
ihm durch den Stoif gegebenen Rahmen anffallig sprengen nnd po- 
lemisieren; weit leichter war es aach bier fortznlassen , was eine 
Verbindnng seines Helden mit dem beriibmten Trager des Namens 
erscbwerte, nnd dem Leser das Weitere zu Uberlassen ^). 

Weiteren AufscbluB mnB die Rede Gregors geben. Icb priife 
zunacbst diejenigen Abscbnitte in ibr, deren Angaben sicb zwei- 
fellos anf den Biscbof von Kartbago bezieben. 

Die Rede begrnnt nacb einer rein personlicben Einleitnng mit 
einer Betracbtnng, welcben Wert es fiir den Christen babe, sich 
in das Leben nnd Leiden der Martyrer zn versenken, nnd bezeicbnet 
Cyprian als groBten aller Martyrer. Ihn Rebt Gregor besonders, 
weil er der groBe Redner der Kirche ist; die Erinnernng an ihn 
starkt ihn, sein Leiden erlebt er im Geiste mit. Mit cap. 6 be- 
ginnt der biograpbiscbe Teil nnd schildert znnacbst ganz 
knrz die vornehme Abknnft, den Reichtnm nnd die korperliche 
Schonheit, sodann die vorziiglicbe Bildnng des Helden. In alien 
Wissenszweigen, anch der Philosopbie, erreichte er das Hocbste, 
aber am bedentendsten war an ihm die Redegewalt, wie man ans 
den Scbriften erkennt, die er spater als Christ verfaBt hat. Gregor 
eigen ist hierbei die Angabe, daB Cyprian Senator gewesen ist, ja 
in dem Senate von Kartbago eine hervorragende Stellung (nposdpt'x) 
eingenommen bat. Eine alte Tradition mnB ihm vorliegen, nnd na- 
turlicb schriftlicb vorHegen. Denn Angnstin (serm. 311) bestatigt ans 
der kartbagiscben Ueberlieferung diese Angabe : muiati sunt piscatores 
mutati sunt postea etiam senatores, mutatus est Cyprianus. Mehr will 

1) Da er die Beziehung des Hauptteiles auf Apollonios nnd die Schrift des 
Hierokles noch empfand (vgl. den Eingang des zweiten Teiles), ist immerhin mog- 
lich, daB er den Namen des Eusebios mit einer gewissen Absicht gewahlt hat 
Hat doch der beriihmteste Trager dieses Namens gegen Hierokles polemisiert nnd 
die Nichtigkeit der Magie des Apollonios nachgewiesen. Freilich wiirde sich ge- 
rade hierbei dann wieder jenes novellistische Prinzip der Namenswahl geltend 
machen, das oben S. 49 besprochen ist. Nicht der historische Eusebios konnte 
dabei als Better des historischen Cyprian bezeichnet werden; auch ist der Inhalt 
jener Schrift des Eusebios, soweit wir ihn kennen, vollig von dem der fiktiven 
Rede verschieden. Nur eine Art Gedankenverbindung konnte vielleicht auf die 
Wahl dieses literarisch bekannten Namens leiten. 



56 


E, Eeitzenstein , 


Gregor von der ersten Zeit nicht berichten, gibt sich aber denAnschein 
viel mehr zu wissen. Dann geht er ca'p. 8 mit einer langen neuen 
Einleitnng, in der er sich auf das literarisch erhaltene Sundenbe- 
kenntnis Cyprians bernft, zu einer novellistischen Darstellnng der 
Bekehrung fiber, die mit der Erwahlung znm Bischof von Ear- 
th a g o schliefit. Hieranf kehrt er mit einem eigentfimlichen Tleber- 
gang, der uns spater noch beschaftigen mnfi, zu der Biographie 
zurfick {cap. 13) and schildert zunachst Cyprians neues Leben nach 
der Bekehrung (aber v o r der Bischofswahl). Die Schilderung pa6t 
trefflich zu den Angaben der alten lateinischen vita et passio, ohne 
doch direkt aus ihr entlehnt zu sein. Ibr folgt eine allgemeine 
Charakteristik der schriftstellerischen Tatigkeit des groBen Leh- 
rers, wie sie die vita et passio auch bietet, aber wieder im Wort- 
laut abweichend. Ein Satz daraus bedarf besonderer Erlauterung, 
weil er unverstandlich schien und in neuster Zeit von Sinko a. a. 0. 
falsch erklart ist {cap. 13 p. 445 A) vijv jrspl Xoyooc ^tXoTtpi'av, 

MV a:tav iTtatSsDoe zal SoY(iaia)v aTtaiSeoatav sxaB-Tjps xal otvSpcov 
pCooc; sxdap-Yjas xal ipyiY.1j^ xal |3aatXtx^s TptaSo? tijv ^sovriva Tsp,- 
vo(i£V7]v, loTt 5e MV xal oovaXstyojJilvTjv sic to apyalov sravT^Y*!®'*. 
Iv opoi? |i,si'vac soospouc svMosatc ts xal oovaptdpLYjosMC, Eine solche 
Schrift hat Cyprian, bei dem das Dogmatische tiberhaupt sehr zu- 
rucktritt, nie geschrieben. Wie konunt Gregor zu dieser wunder- 
lichen Angabe? Sinko (a. a. 0. S. 15) vermutet, er babe in an- 
haltslos freier Erfindung, um nur fiberhaupt etwas Naheres anzu- 
geben, die literarische Tatigkeit des Athanasios auf Cyprian 
fibertragen. Den Beweis fur die Annahme eines so seltsamen 
Schwindels bei Gregor sollen sprachliche Beobachtungen geben; 
Gregor verwendet, wo er von den Irrlehren der Sabellianer und 
Arianer spricht, die Schlagworte tdc Y^oasic (Xp'.otoo) Tip,v£tv und 
vdc ipuasic auvaXsiipstv und bezeichnet als sein Ideal h opoic (i^veiv 
T fjC ^soaspslac (£6(7£j3£lac) *). Aber daB er die Schlagworte den dog - 
matischen Kampfen der letzten Vergangenheit und der eigenen 
Gemeinde entnimmt, ist aus der Rucksicht auf die Zuhorer ohne 
weiteres zu erklaren und beweist nicht, daB ihm die literarische 
Tatigkeit eines Mannes der jfingsten Vergangenheit vorschwebt. 
Auch notigt diese Annahme Sinko zu weiteren Seltsamkeiten. Er 
deutet unter ihrem Zwange die Worte dvSpMv piouc Ixoofivjasv auf 
christliche Biographien, oder vielmehr direkt auf den pioc ’AvtMvloo des 
Athanasios; nur aus rhetorischem Grunde sei der Plural gewahlt. 
Den Bau des Satzes versucht er dabei selbst durch Zahlen deut- 


1) Vgl. Or. 2 cap. 37; 20 cap. 5; 31 cap. 30; 39 cap. 11; 21 cap. 13. 



Cyprian der Magier. 


57 


lich zu machen; gerade er muB dem Leser weitere Bedenken er- 
regen : drei verschiedene Stoffe wiirden erst in drei Grliedern aufge- 
zahlt and dann im vierten Gliede eine Einzelnheit aus dem zweiten 
Stoffgebiet nachgetragen. Ich verweise gegen die ganze Annahme 
zunachst daranf, da6 anck Theodorete;^. 151 (MigneSSi;. 1440, oben 
S. 43) dieselben Schlagworte der jiingsten theologischen Streitigkeiten 
verwendet nnd von sick bekauptet , er bleibe bei der alten Lekre 
der Kircke, dem Glanben der Propketen, Apostel und grofien 
Lekrer, deren Beike bei den Griechen Ignatius, bei den Lateinern 
Cyprian beginnt. Bei den Kampfen innerkalb der Reichskirche 
des vierten Jahrhnnderts beruft man sick aucb im Osten auf ikn 
als den groBen Lekrer nnd Hiiter der kircklicken Tradition im 
Westen*). Man kann einwenden, dafi Gregor kieriiber kinausgeht, 
indem er einerseits sckon dem Cyprian eine Stellungnakme gegen 
zwei entgegengesetzte Parteien znsckreibt, andrerseits den Streit 
um das Verkaltnis der beiden Naturen in Christo unter das Schlag- 
wort ‘Streit um die Dreieinigkeit’ stellt. Aker auck dies laBt 
sick erklaren. Es ist Sinko entgangen, daB tatsackUck zu Gregors 
Zeit ein Cypriancorpus in Konstantinopel selkst ersckienen war, 
das eine Sckrift uber die Dreieinigkeit entkielt, die von dem Ordner 
dieses Corpus so ckarakterisiert werden konnte, und daB wir diese 
Sckrift sogar nock besitzen^). Rufin berichtet De adult, libr. Ori- 
(jenis (Origenes VII p. 628 C. Migne); satzcti Cypriani martyris 
solet omne epistolarum (d. h. Schriften) corpus in itno codice scribi. 
httic corpori haeretici quidam, qui in spiritum sanctum blaspbemant. 
Tertulliani libellum Be Trinitate, reprehensibiliter quantum ad veri- 
tatem fidei nostrae pertinet scriptum, inserentes et quam pJurimos co- 
dices de talibus exemplarUs conscribentes per totam ConstantinopoUm 
urbem maximam disirahi pretio viliori fecerunt, ut cxiguitale pretii 
homines illecti ignotos et latentes dolos facilius compararent, quo per 
hoc invenirent haeretici perfidiac suae fidem tanti viri uuctoritate con- 
quirere. accidit tamen ut recenti adhuc facto quidam ex nostris fra- 
tribus catholicis inventi (inventa ?) admissi sceleris commenta retegerent 
et ex parte aliqua, si quos possent, ab erroris huius laqueis revocarent. 
quam plurimis tamen in illis partibus sanctum martyrem Cyprianum 

1) Man hatte an groBen Namen hier keinen UeberfluB, da Tertullian aus- 
schied. Die Riicksicht auf die Empfindung des Westens bestimmte offenbar, dem 
im Osten wenig bekannten Vertreter der Kirche diese Stellung einznraumen. Das 
ist fiir die ganze Entwicklung wichtig. 

2) Harnack hat (Geschichte d, altchristl. Literatur I 715) hieran erinnert, 
ohne freilich die notwendigen Folgenmgen zu ziehen und ohne auf die Quellen 
Gregors einzugehen. 



58 


E. Eeitzenstein 


hums fidei, quae a Tertulliano non rede scripta est, fiiisse persiiasum 
est. Den wirklichen Verfasser der Schrift nennt Rnfins Gegner 
Hieronymus Contra Mufinum II 19 : transit ad inclytum martyrem 
Gyprianum et dicit Tertulliani librum, cut titulus est De trinitate, sub 
nomine eius Constantinopoli a Maeedonianae partis haereticis lecti- 
tari. in quo crimine mentitur duo; nani nee Tertulliani liber est nec 
Cypriani dicitur, sed Novatiani, cuius et inscribitur titulo, et auctoris 
eloquium stili proprietas demonstrat (vgl. Vir. ill. 70 De trinitate 
yrande volunien . . . quod plerique nescientes Cypriani existimant). 
Sondert man aus diesen Angaben aus, was Rufin selbst nnr ver- 
muten konnte und was Hieronymus anf Grnnd dieser Vermutungen 
behauptet, so bleibt die Tatsache, daB in der zweiten Halfte des 
vierten Jahrhunderts in Konstantinopel und von dort aus eine 
Neuansgabe Cyprians vertrieben wurde, der man durch billigsten 
Preis weite Verbreitung sichern wollte und in der Tat auch zunachst 
verschaffte '). Ob wirklich ein kircblicher Zweck den Herausgeber 
bestimmte, betriigerisch die Schrift De trinitate einzuschwarzen 
Oder ob er die Schrift anonym fand imd glaubte, sie dem Cyprian 
zuschreiben zu durfen, gerade sie muBte fiir seinen Leserkreis, der 
an diesen Pragen lebhaften Anteil nahm, besondere Bedeutung ge- 
winnen. Als ich mit Professor Pohlenz fiber die Dentung der 
Gregor-Stelle sprach and ihm zeigte, daB sie sich auf diese Aus- 
gabe von Konstantinopel beziehen mfisse und Gregor daneben eine 
Biographic Cyprians benutze, auBerte er sofort die Vermutung, 
daB diese Biographie mit der Ausgabe verbunden und schon in ihr 
ein Hinweis gerade auf die Schrift De trinitate enthalten gewesen 
sei; das entspreche am besten dem Zweck der ganzen Ausgabe. 
Die einleuchtende Vermutung ward mir zur Gewifiheit, als ich 
verfolgte, wie diese Biographie zu der alten vita et passio steht, 
die ja auch mit einem Corpus Cyprians verbunden war und auf 
die literarische Tatigkeit Cyprians in einer allgemeinen Charakte- 
ristik einging (cap. 7), die in den Angaben Gregors und spaterer 
QueUen weiter wirkt®). Wir gewinnen durch Gregor tatsachlich 


1) Eine Handschrift kam, wie wir sehen werden, sogar in den Westen zu- 
ruck bis nach Spanien. 

2) Die Voraussetzung ware auch dann, daB Cyprian im Osten schon als der 
maBgebende Zenge fiir die Tradition in der westlichen Kirche gait. 

3) Gregors Worten fjSos aicov citafStujev entspricht in der Tat die Schilderung 
der vita et passio : quis virgines ad pudidtiae discipUnam coerceret, doceret paeniten- 
tiam lapses filios dei pacem et evangelicae precis legem ; a quo Christiani mollioris 
affectus . . consolarentur spe futurorum . . misericordiam . . . patientiam disceremus . . 
livorem inhiberet. Seinen sonstigen Schilderungen entspricht die Besehreibuug 



Cyprian der Magier. 


59 


wertvolle Angaben iiber eine bald nacb der Mtte des vierten Jahr- 
hunderts fiir Leser in der Ostbalfte des Eeiches bestimmte Bio- 
graphic. Bewahrt sich diese Vermutung in der folgenden Dar- 
stellung, so gewinnen wir eine anschauliche Vorstellung, wie Gregor 
in der Eile sich vorbereitete : er lied sich das Corpus der Schriften 
Cyprians kommen nnd — las den pfoc. Auch seine W orte werden 
nun verstandlich : nur zwischen ethischen nnd dogmatischen Schriften 
will er scheiden, anf jene bezieht sich das erste nnd dritte, auf 
diese das zweite nnd vierte Glied. Den Worten rj'&oc S.'na.v snai- 
8soas entspricht avSpwy piooc s'/.6aprjcs (er veredelte das Leben der 
Menschen); %sxoap,7][J.£Voc (Tavopv='jp.svoc;) xal yvibasi ist ein in 
dieser Zeit nicht seltener Lobspruch. Den Worten So 7 p.at(ov ancii- 

Ssuaiay ') Ixddrjps entspricht . . . TptdSoc t'ijy dcdiYjTa eitav- 

Dis Gegeniiberstellnng von avdpst; nnd ^eot (d-Bog) ent- 
stammt der epischen Sprache, die Gregor ja gelanfig ist (auch fiir 
sxdo[i.7]as konnte man vielleicht auf sie verweisen , vgl. Odyssee 
4, 725). Das dritte nnd vierte Glied gibt die Wirkung der in den 
ersten beiden Gliedern geschilderten Tatigkeit an. 

Hieran schlieBt die Schilderung der Verfolgung des Decius, 
der Cyprian sich entzog nnd darnm geachtet wurde ^). Die V er- 
sichernng, da6 der Kaiser ebensoviel, ja fast noch mehr Gewicht 
anf den Abfall Cyprians als den aller andern Christen legte, weil 
er viel von ihm gehoit hatte , und deshalb alle Mittel versnchte, 
enthalt an sich nur einen in der Martyrienliteratur beliebten Topos 
(vgl. z. B. die Acta disputationis Acliatii oder vielmehr Acacii) nnd 
konnte anf Rechnnng Gregors fallen. Es wird sich spater zeigen, 
daB er der Quelle angehorte nnd AnlaB zn dem Bericht wurde, 
Decins babe sich den Cyprian holen lassen. Nnr in der angefiigten 
Reflexion scheint Gregor selbst zn sprechen nnd auf die jiingste 

der iVirksamkeit Gregors auf die Martyrer und Bekenner. Fiir die Angaben, die 
sick in andern Quellen auf die ‘Biographie’ zuruckfiihren lassen, verweise ich be- 
sonders auf die Satze; quis doceret veritatem haereticos, schismaticos unitatem.. 
per quern gentiles blasphemi . ■ vincerenturl Freilich liegt zwischen den griechi- 
schen Angaben und denen der vita et passio eine Mittelquelle. 

1) Als Vertreter der echten zatoEia erscheint er als Christ, wie er vorher 
als Vertreter der hOchsten heidnischen -aioet'a geschildert ist. Das ist das Neue 
in Gregors Quelle; daneben dann der Verweis auf die Schrift Be trinitate. 

2) Der Ausdruck d^optav aitoO zaTaxpGexai ist juristisch nicht ganz korrekt, 
doch gebraucht schon Cyprian selbst Worte wie extorris f actus von dem, der sich 
der Verfolgung entzog (vincere in cursu nennt er es ep. 38, 1) und dessen Giiter 
der Fiscus in Verwaltung nahm {ep. 24 und 38, 1). Denkbar ist also, daB die 
Biographie die Flucht unter Decius meint, glaublicher freilich, dafi das spatere, 
in der vita et passio erwahnte Exil falsch datiert wurde. 



60 


R. Reitzenstein, 


Vergangenheit Rucksicht zu nehmen. Stark hebt er danach her- 
vor, wie viel Christen Cyprian durch seine Briefe bewogen babe, 
standhaft das Martyrium zu erleiden, und scbildert seine Mahnungen. 
Dab er hierbei nicht aus den Briefen selbst, sondern nur ans einer 
kurzen allgemeinen Angabe schopft, hat Sinko a. a. 0. ricbtig be- 
obachtet Den SchlnB bildet {rap. 16 p. 448 A) kurz und obne 
Bezeichnung des Zeitabstandes oder der neuen Herrscher. Valerian 
und Gallien, die Angabe, da6 Cyprian endlicb selbst durch das 
Schwert hingerichtet worden sei. Gregor fand in seiner Quelle 
keine Angabe Tiber die Kaiser und kannte offenbar die verschie- 
denen Fassungen der lateinischen Akten nicht, die im Abendlande 
am Tage des Martyriums in kirchlichen Gebraucb waren oder 
scbon den Ansgaben beigegeben wurden ; icb kann bisher iiber- 
haupt nicht nachweisen, dafi sie je in den Osten gedrungen sind. 
Ebenso fremd ist dem Gregor freilich jenes griecbische Martyrium 
des Cyprian nnd der Justina. Es hiitte ibm fiir die rhetorische 
Schilderung so dankbaren Stoff geboten und zu seiner Einleitnng 
so vorziiglich gepafit, da6 der SchluB ex silentio anch bier zwingend 
ist. Es war daher verfeblt, wenn Zahn trotzdem die bei Gregor 
folgenden Angaben uber das Grab Cyprians mit denen dieses grie- 
chiscben Martyriums in Verbindung bringen wollte. Um Abnlicb- 
keiten zu finden, verallgemeinert er: nacb Gregor ist der Leib 
des karthagiscben Bischofs zunachst lange im Besitz einer frommen 
Frau; dann wird er durch eine OiFenbarung bekannt, feierlich be- 
stattet und tut nun in seinem Grabe (in Kartbago) Wunder. Nacb 
dem griechischen Martyrium werden die Leichen des Antiocheners 
und der Justina zunachst bewacht; romische Schiffer stehlen sie, 
lassen sich die Akten der Hinrichtung von Augenzeugen aufzeichnen 
und bringen beides nacb Rom zu einer vornehmen Matrone Rufina. 
Diese bestattet sie auf dem Forum des Claudius mitten in der Stadt®); 
dort halten die Christen Gottesdienst und erleben Wunder. Zahn 
legt auf das Eingreifen zweier frommer Frauen Wert. Aber das 
ist ein in der Martyrienliteratur geradezu typischer Zug , der 


1) Es war verfehlt, wenn v. Soden (Texte und Untersuchungen XXV 3 
S 181) die Frage aufwarf, welche Briefe Gregor gekannt babe. Der Neuberaus- 
geber des Corpus konnte natiirlicb die Sammlung kennen, daneben aber aucb die 
allgemeinen Angaben der vita et passio benutzen. 

2) Vgl. die Abhandlung Die Nachrichten iiber den Tod Cyprians, Sitzungs- 
ber. der Heidelberger Akademie 1913 Abb. 14 . 

3) Sollte der Schriftsteller einmal von einem forum Appi gehort baben? 

4) Vgl. z. B. die Akten des Antbimus. 



Cyprian der Magier. 


61 


sich ans der Reliquienverehrung besonders der Frauen erklart ^). 
Die Angaben Gregors steben in dem Teil, welcber der Biogra- 
ph i e entlehnt ist. Sie sind an nnd fiir sich in ihr durchans nicht 
undenkbar. Ueber den Gebeinen Cyprians erbob sich in Karthago 
spater wirklich eine Kirche; die Glaubigen beteten dort und er- 
warteten Wander (vgl. die von Tillemont Mtmoires IV 189. 190 
und neuerdings von Corssen Zeitschr. f. d. nentestam. Wissensch. 
XVI 71. 73. 79 angefiihrten Zeugnisse). Galt dock ihr Heiliger 
ihnen apostelgleich und sollte schon bei Lebzeiten Wnnder getan 
haben (vgl. oben S. 48). Ueber die erste Beisetzung war nichts 
bekannt ; auch wir kennen sie ja nur durch die lateinischen Akten, 
die im Orient nicht benutzt sind ; die vita et passio schweigt ganzlich. 
So fiigte der Verfasser der Biographie nach irgend einer Quasi- 
tradition oder eigener Erfindung einen Bericht fiber jene fromme 
Frau bei. DaB er als Hauptquelle die vita et jyassio benutzte, er- 
kennt man besonders gut, wenn man beachtet, wie alles , was in 
dieser als bekannt v or an s g es e tz t wird, bei ihm fehlt. Ueber 
ihre Angaben binaus hat er eine richtige Einzelheit (die Stellung 
Cyprians im Senat), sonst falsche Kombinationen und junge Er- 
findungen. 

Dennoch kann die Novelle von dem Zauberer Cyprian und 
seiner Liebe zu Justina in der Biographie schwerlich in dem Um- 
fange gestanden haben, in dem Gregor sie znr Erbauung und Er- 
gotzung seiner Borer in dem Mittelstuck der Predigt {cap. 8 — 12) 
bietet. Zu schroff wfirde das dem flvo? der literarischen Biographie 
widerstreiten. Auch hebt Gregor diesen Teil in Anfang und SchluB 
deutlich von dem Hauptbericht ab und nennt selbst eine neue 
Quelle, die BuBe. Er hat sie auch wirklich benutzt und zwar, 
wie in cap. 12 sein Bericht fiber die Verbrennung der Zauber- 
bficher zeigt, schon in der erweiterten Fassung, fur die damit der 
terminus ante quern gegeben ist. Dennoch liegt nicht sie der Er- 
zahlnng zugrunde, nur einzelne Einlagen sind aus ihr gemacht- 
Anfang nnd SchluB, ja der ganze Gang und Ton des Berichtes 
stimmen zu der Bekeh rung, die sich ja sogar als alter erwiesen 
hat als selbst der erste Teil der BuBe. Die Annahme, daB ge- 
rade diese Schrift zugrunde gelegt ist, ware zwingend, wenn nicht 
die Schwierigkeit bliebe, daB die Bek eh rung ja von einem an- 
tiochenischen Bischof Cyprian erzahlt und es schwer begreiflich 
ware, wie Gregor die Erzahlung von ihm sorglos auf den Kar- 


1) Man denke an die Berichte uber die Entstehung der donatistischen Bo- 
wegung. 



62 


R. Reitzenstein, 


thager iibertragen konnte. Zahn, der diese Schwierigkeit mit 
Kecht betont, fuhrt freilich noch andere Gegengriinde an, dock ist 
von ihnen keiner stichhaltig. Er betont, dab eine antFallig zn der 
Bekehrung stimmende Einzelangabe Gregors {cap. 12 p. 445 B) wc 
Ss sYft) Ttvoc Tjxouoa, xal vewxdpoc sich anf miindliche Tradition 
berufe. Aber als guter Rhetor will Gregor ja von Anfang an den 
Eindruck erwecken , dab er mit seinem Helden ganz vertrant sei 
und die sorgfaltigsten Erknndignngen nach ihm angestellt habe. 
Die Wahl dieser Eorm ist bei ihm also begreiflich, auch wenn er 
in Wahrheit eine schriftliche Quelle benntzte. Noch weniger Ge- 
wicht hat fiir mich die Beobachtnng, dab das Gebet Justinas, das 
Gregor in indirekter Rede bietet, einen andern Wortlaut hat, als 
in der Bekehrung; Reden nnd Gebete mnb jeder Rhetor neu 
schaffen oder umformen, anch wenn er im Uebrigen von einer 
Quelle abhangt. Der Gedanke endlich, dab Gregor fiir dieses 
Gebet eine schriftliche Quelle haben miisse, weil er es mit den 
Worten beschliebe {cap. 11 p. 443 A) zama xal zXsitD tootcov irtyTj- 
(j.iCooaa, bedarf fur Philologen keiner Widerlegung. Wohl aber 
habe ich einen anderen Anhalt, anf direkte Benutzung der Be- 
kehrung durch Gregor zu schlieben. Da er anf die Umgestaltung 
der Novelle durch Gregor etwas Licht wirft, sei er ausfiihrlich 
hier dargestellt. 

In der Bekehrung wie in der Bube handelt es sich nicht 
um die Liebe Cyprians zu Justina; die Liebe des Aglaidas und 
seine Bitte an Cyprian gibt diesem den Anlab, die Macht der 
Damonen an ihr zu erproben. Nur einmal heibt es in der Bekeh- 
rung, gleich als Cyprian den ersten Damon ruft; spap-ai OTpdsvoo 
Twv raXtXaiwv, xai si Sovaaal p,ot mDvrjv zapaay^Biv. Das braucht nicht 
mehr zu bedeuten als ‘ich wiinsche Justina zu haben; bringe sie 
zu mir’, aber schon der Verfasser der Bube fabt es als Gestandnis 
der eigenen Liebe Cyprian und labt ihn nach dem Bericht der ersten 
Zauberversuche sagen: oMszi yap 6 ’Aykaid-rji; BiyBZO p.dvo? Eptouxto? 
xffi xopuji;, aXXa xa^" > ohne freilich darauf spater irgendwie naher 
zuriickzukommen ^). Gregor verkurzt und vereinfacht aus rheto- 


1) Wie befremdlich den Lesern die Worte spwjxai rrap^Evou vorkamen, die 
doth auch Eudokia und der alte lateinische Uebersetzer lasen, zeigt die Ueber- 
licferungsgeschichte. Die griechiscLe Fassung, welcher der Paris. 1454 und der 
von Frau Margaret Dunlop Gibson veroffentlichte Sinaiticus 497 (Studia Sinaitica 
VIII S. 64 if.) angehoren, setzt ein ipa rapdEvou Tuiv FaXilaitov 6 ’AfXaioot (’AyXaio; 
Sin.). Die arabische IJebersetzung (vgl. R 7 ssel Archiv f. d. Studium der neueren 
Sprachen und Literaturen 110 S. 286) setzt ein ‘wir haben uns in eine Jungfrau 
von der Religion der Christen verliebt’ (Interpolation aus der BuBe); der Verfasser 



Cyprian der Magier. 


63 


rischem Grimde die Erzahlung; er streicht die Eolle des Aglaidas 
ganz and macht Cyprian zu dem eigentlichen spaarqi;. Nach der 
Schilderimg der Schonheit und Keoschheit der Jungfrau heifit es 
sofort (cap. 8 ^.442 A) taufifjc 6 [iey®? Ko:rptav6c, oov. oIS’ o^ev 
% a I 0 Jt (0 c , Tfj<; za'mx doipaXo’j; xal xoopu'ac • (JiaDouai yap 6'p^aX[j.ol 
X')(vot xal iwv dijiauatoov, to xpo/s>pdtatov dp-ifdvwv xal ajtXirjatdtatov ' 
xal ot)y ^Xw {lovov, aXXa xal Izsi'pa. Gregor las einen Bericht, der 
die Liebe Cyprians an einer Stelle erwahnte, wo sie iiberraschend 
and unerklarlich war , und fiigte andeutungsweise eine halbe Er- 
klarung im Stil der erotischen Xovelle ein '). Bei der Wahl Cy- 
prians zum Bischof, d. h. genau bei dem SchluB der Bekehrung, 
bricht (cap. 12 p. 445 B) die Benutzung dieser Quelle ab. Gregor 
kehrt in einem begeisterten Ausruf, der sofort naher zu erlautern 
ist , zu Cyprian von Karthago zuriick, berichtet aber zunacbst, 
was zwischen Bekehrung und Bischofswahl liegt. Justina ist vollig 
verschwunden. Der Wechsel der Quelle ist, wie schon angedeutet, 
handgreiflich. Die erste Quelle wird genau an der Stelle wieder 
aufgenommen, wo Gregor sie fallen gelassen hat, wiewohl ihn die 
zweite Quelle eigentlich schon weiter gefuhrt hat. 

Die Erage war iibrig geblieben, wie es moglich war, da6 
Gregor jene Nebenquelle benutzte, die in Anfang und SchluB so 
deutlich Antiochien als Schauplatz der Handlung bezeichnete. Eine 
weitere Rekonstruktion der Biographie bringt, wie ich glaube die 
Antwort. Langst ist beobachtet, da6 von Lateinem nur Prndentius 
Kunde der Magie an dem Bischof von Karthago hervorhebt, und 
Zahn hat dies ricbtig auf die Benutzung einer ostlichen Quelle 
zuriickgefuhrt . ohne ihre Eigenart naher bezeichnen zu konnen. 


der syrischen Uebersetzung endlich sagt dem Sinne nach richtig, aber vorsichti<r 
‘ich bin befriedigt, wenn du eine Jungfrau von den Galilaern, wenn du kannst, 
zu mir herbringst’. 

1) Die bezeichnenden Worte o jx oK’ o8ev xal ojrco;, die in alien Handschriften 
stehen, sucht Sinko dem Gregor abzusprechen , weil in einzelnen am Rand oder 
im Text bei der Beschreibung der Jungfrau ein Satz eingeflochten ist xal t6v ve- 
av’ccv 1££7 :Xt|Ttev opuivTa fiEv xa'W. 0 ; l;atstov, axo’iov-a 81 rpcnov ^tpa'fjitXXov. Ihn halt 
Sinko fur echt und vermutet, ein Herausgeber habe es psychologisch unwahr- 
scheinlich gefunden, daB gerade die Keuschheit Justinas Cyprians Begierde ent- 
flainmte. So habe er den Satz gestrichen und dafur spater jene Worte eingesetzt 
die sich nun in alien Handschriften fanden, wahrend die alte Fassung nur in 
einigen nachgetragen sei. Allein auch wenn wir jene Worte tilgen und die Neben- 
liberlieferung einsetzen, entsteht eine unertragliche Wiederholung in der Fortsetzung. 
Auch iiberzeugt die Begriindung der Korrektur des Herausgebers mich nicht. Ich 
halte den Satz xal tov vaaviav xtX. fur einen miissigen Zusatz eines Lesers, der 
die iiblichen Phragen der erotischen Erzahlung hier haufen wollte. 



64 


R. Reitzenstein, 


DaB Prndentius (Perisfeplianon 13) in dem Hanptteil seines Ge- 
diehtes die jiingere, in Afrika offizielle Fassnng des echten Mar- 
tyriums zngrnnde legt and sie mit kecksten Erfindungen berei- 
chert, babe icb selbst (Sitznngsber. der Heidelberger Akademie 
1913 Abb. 14 S. 29 if.) erwiesen. Vorausgeht eine allgemeine Cba- 
rakteristik, die im Schlufi wieder anfgenommen wird : Punka terra 
tuJit, quo splendeat omne quicquid usquam est, hide domo Cyprianum, 
sed decus orhis et magistrum. Est proprius patriae martyr, sed amore 
et ore nos ter, Incuhat in Libya sanguis, sed uhique lingua pallet 
(vgl. V. 101 Pisserit, eloquitur, tractat, docet, instruit, prophetat, Nec 
Lihyae popidos tantum regit, exit usque in ortum Solis et usque 
ohitum, Gallos fovet, hnbuit Britannos, Praesidet Hesperiae, Christum 
serit ultimis Hiberis). Den gleichen Preis enthalt jener Schlufisatz 
des cap. 12 bei Gregor, mit dem dieser zu der biographiscben 
Quelle znriickkebrt: ot> qap fijc Kapxirjoovi'wv ^ipoxa'&sCstat jidvov sx- 
xXrjai'a? ouoe Ixetvoo xat St’ ixstvov ir£ptPo 7 ]Tou {is^^pt 

vuv ’A^ptxij.; (vgl. bierzu Prndentins v. 96. 97), aXXa xai ;:aay]g 
lozspioo, a)(eSov Ss xai iipac abvq;, voti'ou tb xal ^opsioa 

X-q^BO)^, s'f’ oaa Ixeivo? T(p •^aujAatt. outto Kojtptavo? ijfAe- 
T s p 0 ? yivstai. Die letzten Worte rechtfertigen offenbar die 
Verehrung Cyprians vor den Horern; er ist auch ibr HeUiger ge- 
worden, gehort alien, die ibn bewundern, nicbt nur der eigenen 
Heimat (vgl. aucb Prudentius v. 105. 106). Das erklart die Worte 
des Prudentius (v. 3) Est proprius patriae martyr, sed amore et ore 
nosier, die von Hamack (Gesch. d. altchristl. Literatnr I 703) und 
von Soden (Texteu. Untersucbungen XXV 3 S. 177) seltsamer Weise 
als Anspielung auf Cyprians ep. 67 gefaBt werden. Wohl enthalt 
dieser Brief die Antwort anf eine Anfrage spanischer Christen, 
aber von Liebe ist gar nicbt die Rede , kein AnlaB , ibn irgend 
hervorznbeben ; der Gegensatz patriae martyr-noster bliebe nnerklart, 
der Gedanke und Ansdruck verscbroben. Prudentius meint : durch 
unsere liebende Bewunderung ist er der unsere geworden (so weit 
stimmt er zu Gregor) und er gehort uns aucb der Spracbe nacb (was 
der Orientale nicbt sagen kann). Die Verbindung der beiden Worte 
ist mehr dnrch den Klang als den logischen Zusammenhang ge- 
geben. Gregor und Prudentius benutzen eine gemeinsame Quelle, 
deren Worte Prudentius bier durch den Zusatz et ore nmgescaltet. 
Diese Quelle gilt es zunachst naber zu bestimmen, Wie Gregor 
in dem biographiscben Teil feiert Prudentius an Cyprian zunachst 
die Gewalt des Xoyo? und die hohe Bildung. Gottes RatschluB 
war, dafi beide in den Dienst der Kirche treten soUten (v. 17) ') ; 

1) Cyprian erscheint als der erste groBe Erklarer der heiligen Schrift v. 16 



Cyprian der Magier. 


65 


Eligitur locuples facundia, quae doceret orhem Quaeqtie voluminilms 
Pauli famulata dispiitaret. Quo mage criida homimtm praecordia per- 
poUta nossent Sive timoris opus sen mystica vel profunda Christi^), 
vgl. Gregor cap. 7 und 13 (die Stellen hangen zusammen und sind 
nur durch den Einschub der Novelle auseinander gerissen) twv (j,sv 
oSv xal ol Xd^ot (lapTops?, ooc icoXXooc xal Xapixpooc Ixeivo? oTrsp 

T^ptcav xaTspdcXsTO, sxstST] qs p.s’cvivsfxs ■d’soo y'.Xotv&pwxi'cf iTtjv xaiSsuoiv, 
TOO xoioovTO? TOC TtavTa xai [i.eTac3XioaCovroc wpoc to peXTtov and TqM irspl 
Xcifooi; (piXoTC{itav, wv •^^o? axav ixatSsuas xai SoyP-Atwv ocxaiSsoot'av 
ixddTjpe xal avSpdiv pioo? ixoap-Tjos xal t^c ap-/tx^<; xal ^acscXcx^? Tpt- 
dSo? TY]v 'S’EOTTjTa . . . si; t6 dpyatov IxavT^yaYsv (vgl. oben S. 56). 
Anch Prudentius nennt also als Gegenstande der Lehre Cyprians 
die Ethik (Werke der Gottesfnrcht) und die Dogmatik (bei der 
Trinitatslehre handelt es sich gerade auch in dem Werke Nova- 
tians um das Verhaltnis des Sohnes zum Vater). Wie Gregor 
nach der Biographie schildert dann Prudentius die Umwandlnng 
des Lebens (v. 25 ff.) und wie Gregor bebt er die allseitige Bildung 
Cyprians bervor, freilicb mit einem eigentiimlicben Znsatz (v. 21ft.): 
Unus erat iueemm doctissimus artibus .nnistris, Fraude pudicitiam 
perjringere , nil sacrum putare., Saepe etiam magicum cantamen inire 
per sepulcra, Quo geniale tori ius solveret aestuante nupta. Luxuriae 
rahiem tantae cuhibet repente Christas e. q. s. 

Hat Prudentius, der docb im ubrigen ofPenbar die Biograpbie der 
Ausgabe von Konstantinopel zugrunde legt*), diesen Hinweis auf 
den Zauber und besonders auf den Liebeszauber selbst eingelegt? 
Das ware nur denkbar, wenn er die Novelle benutzte, die auf den 
Antiochener gestellt war. Das Katsel, wie das gescbehen konnte, 
wiirde sich also nur verdoppeln ; und dabei erwahnt Prudentius die 
Novelle selbst nicht und beschreibt die Zauberei zwar mit den 
iiblichen Far ben der alteren Poetik, aber ganz anders als die 
Novelle. Die leichteste Erklarung gibt wohl die Annahme, daB 
schon die Biographie einen kurzen Hinweis auf die Zauberkiinste 
enthielt. Fand ihn Gregor bier ebenfalls, so muBte er sich be- 
rechtigt glauben, den Bericht der Bekeh rung auf den Karthager 
zu iibertragen und die Angabe, Cyprian sei in Antiochien Biscbof 
gewesen, fur einen Irrtum zu halten. Die B u B e konnte ihn weiter 

1) Einen leichten Anklang an den Brief der siguensischen Martyrer an Cy- 
prian (ep. 77j mochte ich wenigsteus erwahnen. Er beruhrt sich freilich anch 
mit Gregors Schilderungeii und kann in der Biographie benutzt gewesen sein. 

2) Sie hatte natiirlich besonderen Grand, Cyprian als Lehrer der gesamten 
Christenheit und daher auch des Ostens hervorzuheben. Der Herausgeber 
wiinschte ihn ja zum Besitz auch der griechischen Kirche zu machen. 

Kgl. Ges. d, Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heftl. 5 



66 


R. Reitzenstein, 


darin bestarken. Eine ansfiihrliche Polemik gegen jenen vermeint- 
lichen Irrtum war dnrch den ganzen Charakter seiner Rede ausge- 
scMossen. Seine sachlichen Qnellen sind danach klar ; ihr Stadium 
hat ihm nnr wenig Zeit kosten konnen. Sein eigen bleibt nur die 
geschickte rhetorische Ausgestaltnng. 

Eine letzte Frage ware dann, ob die Biographic vor die No- 
velle von der Bekehrnng fallt oder nmgekehrt. In ersterem 
Falle konnte die Magie nnr erwahnt sein, um die philosophische 
Bildung Cyprians mit besonderer Steigerung hervorzuheben. Der 
Verfasser der Novelle muBte dann die Biographie benntzt haben. 
Dann wiirde seine ganze Erfindnng der Biographie des kartha- 
gischen Bischofs entstanunen; er wiirde wirklich diesen schildern 
wollen nnd ihn dennoch nach Antiochien versetzen. Viel glaublicher 
ist jedenfalls das Umgekehrte, da6 er die Rolle des Zauberers in 
seinem Stoff gegeben land ; er wollte ihn nach der Bekehrnng zum 
Biscbof werden lassen nnd wahlte danach fiir ihn einen beriihmten 
Namen, von dessen Trager man doch im Osten nicht viel wuBte; 
auch sollte sein Cyprian so wenig wirklich der geschichtliche Bi- 
schof sein, wie sein Aidesios der geschichtliche Philosoph. Aber 
das freie Spiel der Dichtnng ward, gerade weU man von Cyprian 
so wenig wnBte nnd doch nach Einfiihrang des Festes bald mehr 
wissen und in der Predigt erzahlen wollte, verkannt. Selbst die 
Biographie mochte jetzt erwahnen, da6 eine Tradition ihm vor der 
Bekehrnng sogar Zauberkiinste zuschreibe. Der Verfasser der 
Bn Be benutzte sie upd die Dichtnng. 

Sicheren Boden haben wir nnter den FiiBen, wenn wir die 
Entwicklnng weiter verfolgen. Ein Gegenbild zn der Erzahlnng 
Gregors bietet das jakobitisch-arabische Synaxarion (Wiistenfeld 
S. 37 ff., vgl. jetzt Patrol, orient. I 285 ff.). Die arabische Tra- 
dition scheint nicht iiber das fiinfzehnte Jahrhnndert hinanszngehen, 
doch hat der offenbar zngmnde liegende griechische Text schon dem 
Metaphrasten Symeon vorgelegen, der ihn in einer Einlage (Migne 
11 5 i). 856 C) benntzt*); er ist also fiir das zehnte Jahrhnndert be- 
zengt. Eine weitere Datierung bietet, wie oben S. 43 gezeigt ist, 
das von Endokia benntzte griechische Martyrinm, da es diese 
Fassnng voranssetzt. Sie gehort ins Ende des vierten oder den 
Anfang des funften Jahrhnnderts. Ich gebe den Bericht in starker 
Verkiirzung. An diesem Tage — dem 18. September — starben 
als Martyrer der heilige Cyprian nnd Jnstina. Dieser Cyprian 

1) Neben ihm librigens auch den Gregor, den wieder Georgios Synkellos als 
h'.inntquelle benutzt; ganz von Gregor hangt auch das Menologium Basilianum 
(M;^i 117 p, 84) ab. Sonst finde ihh ihn nicht als maBgebend benutzt. 



Cyprian der Magier. 


67 


war unglaubig and ein Zanberer gewesen; er hatte die Zauberei 
im Westen (Magrib) gelemt nnd war, als er dort alle Zanberer 
iibertraf, nach Antiochien gezogen , nm dort entweder Neues zu 
lernen oder mit seinem Wissen zu prunken ^). Als er dort bekannt 
geworden war, wendete sich der Sobn eines Vomehmen, der in 
eine christliche Jungfrau Justina verliebt war, bittend an ihn, da 
ihm selbst weder Geldversprechungen noch Todesdrohungen noch 
Zauberkiinste geholfen batten. Cyprian bot alle seine Knnst anf; 
aber die Damonen, die er zu ihr sandte, fanden sie inuner im Ge- 
bet und mufiten die Flucht ergreifen. Endlich rief er verzweifelnd 
die Teufel berbei und sagte ibnen: wenn ibr mir Justina nicbt 
berscbafft, so werde icb Christ. Da ersann deren Oberbaupt eine 
List und liefi einen Damon in der Gestalt Justinas zu Cyprian 
konimen, allein als dieser sie mit den Worten ‘Willkommen, K6- 
nigin der Frauen, Justina’ umarmen wollte, entscbwand der Damon 
in Raucb. Da erkannte Cyprian die Obnmacbt des Teufels, ver- 
brannte seine Zauberbucber und liefi sicb von dem Patriarcben von 
Antiocbien taufen. Dieser nahm ibn in den Priesterstand auf und 
macbte ibn nacb kurzer Zeit zum MeBdiener und nachher anch zum 
Presbyter, und nachdem er in tugendbaftem Wandel und den Wissen- 
scbaften der Kircbe weitere Fortscbritte gemacht batte, wurde er 
Biscbof von Kartbago. Er nabm die beilige Justina mit sich 
und macbte sie zur Oberin der FTonnen (in der Bekehrung: 
xal p.Yj'cspa a5TTjv too aaxrjtYjpioo ecroiTjoev), und als das beilige Concil 
sich in Carthago versammelte, war er unter den TeUnehmem. Als 
der Kaiser Decius von den beiden horte, lieB er sie zu sich holen 
und verlangte von ibnen, dafi sie ihren Glauben verleugneten, und 
als sie ihm nicbt gehorcbten, liefi er ibnen die Kopfe abschlagen. 
Ihr Gebet sei mit uns. 

Wie bei Gregor ist bier der Inhalt der Bekehrung und der 
Bufie mit der Geschicbte des karthagischen Bischofs verbunden, 
der bier durcb Decius selbst verurteilt wird. Dennoch war es ver- 
fehlt, wenn Zabn den Bericht aus Gregor ableiten wollte. Dem 
widerstreitet die Fiille der bei Gregor fehlenden Einzelziige, die 


1) Vollstandiger in der Fassung des Metaphrasten ; KuTtptoviJ; xts ’A-.- 

StETp'.Sev, iisixa -d ttj; ^aaiXeia; 3xf,uTpa Aexto; ot Trarpioa j -- 

Kap-/r,odva ttjV h Aip6r„ YEvvVjxopa; oi xuiv xod TcXouattuv cptXosotpta oe 

auTip xa\ TE'/vr) potyi-x)] to cptXoito-JoypEvov. TaoToi; ex v^ou rtpoSE^^iuv Ei; dptpoT^piov 
<ixpdTT,Ta r,Xct3e, ar.O’M^y apa xxl cp'iscv oluTaTTjv EioEvEyxoiv. ovopaxos pEyaXoti xo- 
yui'i o'j pdvov KapX’jSdva j((op^3ai x6 dxEtvou xXdo? r,Stu)0£v , dXXd xa\ xijv rEpi^Xs-xov 
’AvTidyEiov pctpxupa xfj; auxoO xai 309(3; xat x^« irspi xd payixd SsSidxrjxo; i(9dXT,aEv 
lysiv • t3to; OE xai paSstv xi 3:po35oxT,3a; ^xeTSev, 8 prj peypi t88e pEpaftrjXev. 

5 * 



68 


R. Reitzenstein, 


das Synaxarion (z. T. in lehrreicher Umbildung) aus der Bekehj- 
rung und Bnfie bewahrt bat, nnd widerstreitet mehr noch die 
Fassung des Martyrinms, das bier Cyprian nnd Justina zusammen 
erleiden^). Der Verfasser benutzte dieselben Qnellen wie Gregor 
namlicb fiir Einleitung nnd Scblufi ein paar Angaben der Bio- 
graphic (kanm nacb eigener Lektiire), dann die Bekehrnng nnd 
Bnfie, wobei die erstere wieder den Grnndstock der Erzablnng 
bot. Eingefiigt ist noch die Erwahnung des Concils, anf Grand 
von Ensebios (vgl. die gegen Ensebios gerichtete Polemik nnd die 
ans Gregor entlebnten Angaben bei Georgios Synkellos p. 707, 1 
nnd 684, 11 der Bonner Ansgabe). Die Widerspriiche seiner Qnellen 
verdeckte der Verfasser durch gescbickte Kombination. 

Die weiteren Synaxarien kann ich nicbt ganz verfolgen; doch 
scheinen die Qnellen abnlich. So beginnt das Synaxarium Con- 
stantinopolitanum oder Sirinondianum (ed. Hipp. Delehaye, Brussel 
1902 p. 97) mit einem indirekt aus der Biographie entlebnten kurzen 
Stuck : onto? '^v Im Aex’Iou too paatXdoic , ysvei itepv^av/jc, xal irXootq) 
xojfojy xai si? axpov trj? ev Xofoi? ytXoao^tac xal ifjc; [laYix^S IX a- 
aac IjtttTfjSsoasMs (in dem von Delehaye zum Vergleich heran- 
gezogenen Synaxar: Koxptavdc 6 ooipo? ispapyric bizfjpy^i (aIv l:rl 
jlaotXeia? too Asxloo, d;t6 ’Avtcoystac Eopia?’ SI yiXo- 
ooco? xal (AaYo? tsXstoc)- Es folgt eine Ueberleitnng zn dem 
Thema: irpS? 81 fijv si? Xptotov jtiottv xal tijv Sta too {taptoptoo ts- 
Xslwotv i^Xdsv 1^ altla? totaotTjc, dann der Inhalt der Bekehrnng, 
endlich das Martyrinm, das hier schon aus dem erhaltenen grie- 
chischen Martyrinm interpoliert ist^). Dieselbe Anordnnng der 
Bestandteile zeigt Delehayes zweites Synaxarium, in welchem das 
Martyrinm noch einfach ist (der ap^tov t^? Aajraaxoo lafit die Hei- 
ligen durch’s Schwert hinrichten). Neben der Bekehrnng ist 
Gregor nnd vielleicht auch die Bnfie benutzt*). 


1) Gregor wei6 nur von dem Martyrertode Cyprians funter Decius;, weil er 
seine Quellen nicht verschmilzt, sondern neben einander benutzt. 

2) Der Comes orientis versucbt in Daniaskus die Heiligen durch Feuer zu 
toten und sendet sie dann an den Kaiser (also Deciusj nach Nikomedien. Den 
SchluB bildet eine Angabe uber den Bericht Gregors. Umgekehrt kbnnte die ara- 
bische ‘Uebersetzung’ der Bekehrung und des Martyrinms, die Ryssel im Archiv 
f d Studium d. neueren Spracben und Lileraturen 110 S 280ff, bietet, die beiden 
Bonderschriften aus einem Synaxarium interpoliert haben. Das Martyrinm ist 
hier doppelt, aber der Kaiser ganz beseitigt. 

3) Wie die wenigen Quellen immer wieder benutzt werden, zeigt niedlich 
die arabische ‘Uebersetzung’ der Bekehrung, die bei der ersten Erwahnung 
Cyprians einlegt : ‘dieweil er zu jener Zeit dahin (nach Antiocbien) aus Afrika 
gekommen war und der lible Ruf seiner Ranke und Listen in dem ganzen Ort 



Cyprian der Magier. 


G9 


Aus dieser festen Reihenfolge erklart sich das jiingste der hier 
zn besprechenden Werke, das griechische Martyxiuin. Wenigstens 
werde ick den Eindruck nicht los, daJS die an sich iiberfliissige Epi- 
tome aus der Bekehrnng, die Cyprian in seiner Rede bietet, aus 
der Ueberleitungsformel Jtpo? Ss TTjv sic Xptavbv maav . . . rjX&sv si aki'as 
TotaDTir]? und ihrer Eortsetzung herausgewachsen ist. Das Martyrium 
benutzt die gleichen Quellen in der gleichen Folge , bietet also 
nur die kiinstliche Ausgestaltung und Ueberarbeitung. Der Verfasser 
will ebenfalls von dem groBen Kirchenlehrer berichten, doch wei6 
er Tiber ihn noch viel weniger, verfiigt aber liber eine lebhafte 
Phantasie und eine gewisse Belesenheit in der jiingeren Martyrien- 
literatur. DaB er die Bekehrung benutzt, kann nicht zweifel- 
haft sein; aus ihr hat er also die ihm eigentiimliche Angabe, daB 
der Martyrer in Antiochien Bischof war und daher zunachst vun 
dem Comes orientis abgeurteilt wurde. Fiir die genauere Kenntnis 
der Ausbildung des Berichtes wird erst die weitere Durchforschung 
der handschriftlichen Tradition das Material bieten konnen. Da 
eine solche mir selbst unmbglich ist, habe ich mich beschrankt, 
die Hauptstadien der Ausbildung der auf Cyprian beziiglichen 
Literatur nach den vorhandenen Quellen darzulegen. Vielleicht 
kann ich auch dadurch dazu beitragen, daB die interessanten Schrift- 
stiicke bald in geniigender Form herausgegeben werden. 

Eine antiochenische Tradition ist bisher nicht erwiesen, ja die 
Novelle (die Bekehrung), von der die ganze Entwicklong aus- 
geht, hat sich als sicher nicbt-antiochenisch herausgestellt. Auch 
ihre Nachbildungen, die Zahn S. 128ff. zusammenstellt , beweisen 
datur nichts ^). DaB schon in der nachsten Behandlung des StofFes 

yernommen wurde'. (Ryssel, Archiv f. d. Stadium d. neueren Sprachen u. Lite- 
raturen 110 S. 286). Quelle ist die Angabe des jakobitisch - arabischen Synaxa- 
riums. vgl. auch die Stelle aus Symeon dem Metaphrasten oben S. 67, 1. Die Grund- 
Qpen dieser Syuaxarien-Berichte sind, veranlaBt durch das kirchliche Bediirfnis 
schon damals entstanden I'ie Erweiterungen scheinen allmahlich hinzuzutreten' 
l ehrigens ist in jener arabischen ‘Uebersetzung’ in dem Martyrium auch Gregors 
Bede noth benutzt (man vgl. Ryssel S. 202. 203 mit Gregor cap. 15 und aclite 
auf die angefuhrten Stellen der Bib el). 

1) Die bei Theodore! (Hist. rel. 13, Migne 83, yj. 1405, Zahn S. 102) von 
Macedonius erzahlte Wundergeschichte hat mit der Cyprian-Dichtung- nichts ge- 
mein als die allgemeinen Anschauungen dieser Zeit uber den Liebeszauber und 
seine Wirkungen. BeeinfiuBt scheint die Marina-Legende (Marina ist Tochter 
eines heidnischen Priesters Aidesios in dem pisidischen Antiochien); aber daB 
der EinlluB rein literarisch ist, zeigt schon die Heimatsbezeichnung (an den Na- 
men, nicht den Ort kniipft die Dichtung); auch die Novelle von Maria von An- 
tiochien (Zahn S 129) ist rein literarische Nachbildung. Ich vermag eben darum 
auf die Namen der Heldinnen so wenig Gewicht zu legen wie (trotz Useners 



70 


R. Eeitzenstein, 


Cyprian in den Mittelpnnkt tritt, ist begreiflich, ja notwendig, 
wenn inzwischen die Ansgabe und die Biographie einerseits , das 
Best andrerseits die Anfmerksamkeit anf ihn gericbtet hatte. Beide 
hangen eng znsammen. Denn, so seltsam es zunacbst klingen mag, 
nicht eigentlich als der Martyrer kam Cy prian in den Osten, son- 
dern als der groBe Lehrer der westlichen Kirche und der Ver- 
treter der Rechtglaubigkeit in ibr. DaB er auch den Martyrertod 
erlitten hatte, bot den AnlaB ihn durch ein Best zu ehren. Aber 
kirchenpolitische Biicksichten auf das Empfinden des Westens, nicht 
die Bewunderung des Martyrinms selbst, bestimmten die Einfiih- 
rang und Anerkennung; man bemuhte sich nicht einmal um die 
‘Akten’. Die eigenartige Lage, in welche der Prediger dadurch 
versetzt war, wind aus Gregor am besten anschaulich. Die be- 
fremdlich rasche Ausbildung der Literatur erklart sich aus dem 
Best. Als sie ihren Abschlnfi endlich in einem wirkungsvollen 
Martyrium gefunden hatte und nun in den W esten znriickdrang, in 
dem das echte (oder doch das relativ echte) Martyrium des kartha- 
gischen Bischofs allgemein verbreitet war und kirchlich benntzt 
wnrde, konnte man in jenem Gebilde der Dichtung den eigenen 
Heiligen nicht mehr wieder erkennen. So erhielt die Kirche des 
Abendlandes zwei Marty rerbischofe gleichen Namens, im Osten ist 
der Cyprian der Justina-.Oichtung Alleinherrscher geblieben, aber, 
selbst wo er als Antiochener gait , meinte man doch den groBen 
Kirchenfiirsten und Schrittsteller ‘). Was der Osten vom Westen 
wirklich angenommen hatte, war nur der Namegewesen; auch die 
Ausgabe von Konstantinopel hatte ihren Zweck nicht erreicht. 
Was der Westen zuriickerhielt, war eine Dichtung, die gewifi die 

■wundervollem Biichlein) auf den Namen Pelagia. DaB ein Zufall uns insciiiiftlich 
den Namen Aglais in Rom im ersten Jahrhundert liei der Freigelassenen eines 
Mitgliedes der gens Claudia zeigt, wahrend in dem spaten und phantastisehen 
Martyrium der Antiochener Aglaides als Yerwandter eines Kaisers Claudius be- 
zeichnet wird, berecbtigt noch weniger zur Annahme irgend einer riehtigen oder 
falschen Lokaltradition. Wie konnte man einen Zusamraenhang der Benennungen 
uberhaupt konstruieren ? Noch weniger freiiicb mochte icb auf die Vermutung 
von S. Baring-Gould {Contem'porary Keview 1S77 S. 864) eingeben, die Novelle 
von Cyprian und Justina sei daraus entstanden , daB die Martyrologien zu dem- 
selben Tage wie den Cyprian auch eine karthagische Miirtyrerin Rosula erwahnen. 
Um eine karthagische Tradition oder ahendlandische Dichtung kann es sich ubei- 
haupt nicht handeln. 

1) Das hat schon Fell geahnt und hat Zahn wirklich erwiesen, wenii er 
auch gegen seinen Vorganger polemisiert und viel zu viel als Tradition retten 
will. So kommt es, daB man noch immer von einer ‘Yerwechslung’ des Anti- 
ocheners und Karthagers redet und die Schuld an ihr der Fliichtigkeit Gregors 
zuschreiben zu kdnnen meint. 



Cyprian der Magier. 


71 


Ziige des Alterns der Schaifeiiskraft des griechischen Grenius in 
sick trag, aber doch des Eigenen und Bedentsamen noch genng 
bot, am die Weltliteratur nacbhaltig zn beeinflussen. 

Die Beihenfolge der Schrlften ist nach meiner Vermutnng also : 
Die ISTovelle (die Bekehrnng), etwa am 350. 

Die Biographie Cyprians in der Aasgabe von Konstantinopel. 
Die Babe Cyprians Teil 1. 

Die Babe Cyprians in Erweiternng. 

Die Predigt Gregors von Xazianz im Jahre 379. 

Die TJrtypen der Synaxarien-Bericbte (vielleicht auch die Qaelle 
Theodorets). 

Das Martyrium des Cyprian and der Justina. 

Die Dichtnng der Endokia, am 450. 


An hang. 

Die Voraossetzung dieser Ausfubrungen ist, dab die Novelle 
zaerst griechiscb verbffentlicht wurde. Eben hiergegen hatte sich 
friiber V. Ryssel, Der Urtext der Cyprianlegende , Zeitschrift f. 
d. Stadium der neueren Sprachen imd Literaturen 110 (1903) S. 
273 ff.^) gewendet, ohne, so weit icb weiB, bisher Widerspruch ge- 
fnnden zn haben. Der verstorbene Gelehrte bielt die syrische 
Eassnng, die Bedjan (Ada mart, et sand. syr. Ill 322 ff.) aas dem 
cod. Berol. 222 (B) und Agnes Smith Lewis (Studia Sinaitica IX 
245 ff.) aus der oberen Schrift des beruhmten sinaitischen Palimp- 
sestes des altesten Evangelientextes (S) and dem cod. syr. Add. 
12, 142 des Britischen Museums (L) herausgegeben hat, fiir original. 
Die kiirzeste und urspriinglichste Form vertritt dabei fur ihn L, 
wiihrend BS, die eng zusammen gehoren, einen erweiterten Text 
bieten soUen, der dem griechischen Uebersetzer vorgelegen haben 
miibte. Die Texte umfassen — was mich von vornherein bedenkhch 
stimmt — sowohl die Bekehrnng als das junge Martyrium. 

In der Untersuchung setzte Ryssel die Resnltate Zahns ein- 
fach voraus, ignorierte sie aber an einem entscheidenden Punkte, 
mit dem ich daher beginne. 

1) Zahn hatte auf eine sachliche und stilistische Uebereinstim- 
mung mit den Thekla-Akten hingewiesen. In der Bekehrnng heibt 
es von der Jungfrau, die den Angriff des Aglaidas abwehrt: 8^ 


1) Ich danke die Kenntuis seines Aufsatzes einem giitigen Hinweis H. Lietz- 


manns. 



72 


R. Reitzenstein, 


vedvi; ttjv sv Xpiat^ TCOiYjaaaa afpayida pa^Saiov aozbv 'ini pitjjaaa 
onziov, zac jcXsopd? aoTOD xat zrjv o<l)tv dyavtoaoa 7COY[taic xai Tcsptp- 
pTj^aaa too? )(ttMva? autou ■ftpiafiPov aoiov liroiTjaev axdXooS'a npaitxatx 
T^ o'.oaaxdXij) 0£xXio, xal oxi^st etc tov xuptaxov oixov. Dem entspricht 
in der Thekla-Legende cap. 26 p. 254, 5 Lipsius xal Xapop.£VTj too 
’AX3?dv5poo TTsptsa^jtasv aoToo rijv )^Xa(J.6Sa xai tov oTsyavov d'pslXsTO ajro 
zTjc xsipaXr,? aoToo xai loTKjaev aoTov ■ftpiapPov. In der syrischen 
Fassung der Bekehrnng heifit es: 

L. ‘Die Heilige aber bekreu- | BS. ‘Die heilige Jungfrau aber 
zigte sick mit dem ZeichenChristi i ergrifF ihn aUein nnd bekreu- 
und ergriff den Unverschamten j zigte sicb mit dem Zeichen Christi 
und sie warf ihn auf die Erde nnd schlug ihm ins Gesicht, und sie 
zerrifi seine Kleider und lie6 ihn ganz verwundert stehen, wie ihre 
Schwester Thekla es mit dem unverschamten Alexander gemacht 
hatte’. — Das weist vielleicht auf eine griechische Lesung £xda[i.pov 
aozbv inoirjasv, die aus dem miBverstandlichen h^piapL^ov aoTov knoi- 
Tjosv leicht werden konnte ^). Unmoglich scheint es mir, das Syrische 
hier an die Spitze zn setzen. 

2 ) Es steht ahnlich mit der Entlehnung aus den Thomas-Akten 
(vgl. oben S. 47). Zunachst zeigt das Satzchen, das sich nur in 
den syri.schen Handschriften SB findet ‘nnd Dornen und Disteln hat 
sie um meinetwillen hervorgebracht’, da6 nur diese beiden Hand- 
schriften die urspriingliche Fassung des syrischen Textes bieten 
bonnen. Sodann fehlt im Syrischen uberhaupt jeder Hinweis auf 
das goldene Kalb, und Ryssel (S. 276) sieht darin sogar ein Zeichen 
der Urspriinglichkeit, mit Unrecht, da der Hinweis schon in dem 
Vorbild steht. Die Annahme, dafi ein griechischer Uebersetzer die 
Vorlagen des Syrers nachgeschlagen hatte. wiirde mir ganz un- 
glaablich scheinen. 

3) Als positiven Beweis fiihrt Ryssel eine Anzahl von Stellen 
auf. an denen er den griechischen Text nicht verstanden hat; so 
zunachst cap. H (von Eva) sxstTa TTstaJ'sioa STsxvoYovTjosv xai TTjv 
Yvuio'.v Td)v xaXwv (sod'o? fiigt Sin. ein) ojrsSe^aTO xai 6 xoapo? TSTsxvioTat, 
(xdau.o? a;Ta? Sin.). Der Syrer bietet: ‘und als Adam sie erkannt hatte 
und .ie Kinder gebar, empfing sie die Erkenntnis des Guten und 


1) So Paris. 1454 und Sinaiticus, dneXuKM Paris. 1468 (vgl, cap. 6 S. 145, 
15 Zalin). Letzterer verstand den Ausdruck nicht mehr, der aus Tpo-atov tstavat 
hervorgewachsen ist (vgl. die Thekla-Akten), Eudokia ebenfalls nicht ; sie umschreibt 
oXot; o'a~eo£i;c yeXtuTa. 

2) Deukbar ist freilich auch, daU der Syrer den ihm unverstandlichen Text 
durch t'reie Erfindung umgcstaltete. 



Cyprian der Magier. 


73 


des Bosen und um ihretwegen wurde die Welt (S das Volk) 
geboren und kam es zu der Aufeinanderfolge der Greschlechter und 
Grenerationen (SB der Kreaturen)’. Ryssel halt 6 xdafioc tsis- 
xvwtai fur unverstandlich und daher fur falsche Uebersetzung aus 
dem syrischen Wort fur Volk. In Passows Lexikon war das — 
schwerlich direkt benutzte — Vorbild angefiihrt, Euripides Herr, 
far. 6. 7 oi Kaojtot) TcdXtv tszvo'ja'. TtaiScov jcataiv (vgl. den Commentar 
von Wilamowitz). Der ^Syrer hat die elegante Wendung breit 
wiedergegeben, aber wie aus ibm der griechi.sche Text zu erklaren 
ware, ist mir unvei'standlich. 

4) In dem dritten Grebe t der Justina heiht es (<«/). 8): Xpiate 
o rob? uirb rob aXXotpiou zataduvaatsoojisvouc orpCrov xal tpwra'jfWYWv 
icpb? TO ■dsXirjij.a aou tobc aob? t^rob? iaoxob Paris. I454l oobXou? ^), 6 
tai? a/Tioi T’^? Sixaioabv'/;? d^oao^wv lob? sv dwpw. aoXobvta? rd? jo- 

'): P-i] So? P-s vtXTjd-^vat uTib Tob dXXotp'lou. Der Syrer bietet : 
‘G’hristus, der die rettet (starkt BS), die zu ihm ihre Zuflucht 
nehmen, und seine Knechte hin zu dem Willen seines Vaters leitet^i. 
der hat leuchten lassen seine herrlichen Strahlen denen , die er- 
blindet waren infolge der Finsternis des Bosen, du, o Herr, unser 
Herr Jesus Christus , in deiner grofien Grnade und Huld gib mich 
nicht preis, dafi ich nicht besiegt wei’de von dem, dem Rechtlich- 
keit fern ist’. Ryssel behauptet, dXXorpto? heide nur ‘fremd', und 
findet es daher als Bezeichnung des Tenfels aufiPallig ; der Grieche 
mbge den Genetiv ‘der Rechtschaffenheit’ ubersehen haben. Seltsam, 
da6 er dann sogar gegen den syrischen Text zu Anfang schon dasselbe 
Wort schrieb. InWahrheit ist 6 aXXotpto?, (wie s^O-pb?, dvTi^raXo? dgl.j 
als Bezeichnung des Teufels nicht selten. vgl. z. B. Acta FliiJippi 
p. 40, 15, Johaimis 183, 7, Andreae 41, 25 (ed. Lipsius). Der Gedanke, 
dafi die aufgehende Sonne (oder der Morgenstern) die Diebe ver- 
jagt, ist in der griechischen Poesie allbekannt, und wenn die Be- 
tende bei Nacht fiirchtet, dafi der bose Feind ihr Gebet wegfangt 
so ist das ein gezierter, aber doch begreiflicher Gedanke. Aber 
begreiflich ist auch, dafi Schreiber ihn mifiverstanden und der Syrer 
anderes einsetzte. 

5) Wenn Cyprian rap. 10 dem Bischof sagt pobXopiai xa-foi) 


1 j otaamjwv xat cptoTaYiuyoiv Tob; icrj-zo'j oobXo'j; nao; to too Tratpb; sou 

Paris. 1468, vgl. den Syrer. 

2) So Sinait. (aber soXXoilvTa;) und Paris. 1454 (aber -4; eb/a; fehlt), tuX- 
Xoj.Evo’j; Paris. 1468. 

3) Das Satzchen fehlt in L, kleinere Auslassungen einzelner Hss. im fol- 
genden Te.xt gebe ich nicht an. 



74 


R. Reitzenstein, 


azpatBosa&a'. tij) Xptatcp xal taYijvat sic TVjv pipXov twv C<J)Vt(oy ') und 
der Syrer iibersetzt : ‘ich will ein Verehrer Grottes und unseres 
Herrn Jesus Christus sein und eingezeiclinet werden (von unserm 
Herrn) in das Buch derjenigen, die ihn verehren’, so ist, abgesehen 
von der Farblosigkeit des Ausdrucks bei dem Syrer, in beiden 
Texten alles verstandlich and klar; selbst aTpatsosa&ai tlvi in der 
Bedeutung ‘im Heere jemandes dienen’ ware bier ganz unanfecht- 
bar ; aber atpaieuw heifit, wie das Lexikon zeigt , auch anwerben, 
OTpotTSDsad'a' sich anwerben lassen. Wendnngen wie da nomen sundae 
mditiae sind bekannt. Ich verstehe nicht, warum Ryssel den grie- 
chiscben Ausdruck beanstandet. 

6) Cyprian schilt den Satan cap. 7 tic iattv aotyj r; aSpavia (ti 
iottv ri TotaotYj aSp. Sin.) upLtov oti vsvtx'/jtai ooo Ttaaa ’q Sovap-tc ; Der 
Syrer bietet: ‘was ist das fiir eine Kraftlosigkeit, daB dein ganzes 
(fehlt L) Heer besiegt worden ist?’ Byssel meint, letzteres sei 
dem Sinne nacb besser ; da das syrische W ort fur Heer auch ‘Kraft’ 
bedeuten kdnne , babe ein Griecbe das minder passende Wort Su- 
vapitc eingesetzt. Aber oovapwc ist Ja im Griechiscben ebenso doppel- 
deutig, und an sicb ist bier der Begriff ‘Kraft’ sogar passender. 
Zwei Damonen baben sicb bisher an Justina versucbt; nicbt die 
Zabl, wobl aber die Kraft, deren sie sicb geriibmt baben, war zn 
betonen, und diese Kraft ist natiirlicb zugleicb die Satans selbst 
(Gegensatz ist aSpavia). 

7) In dem ersten Gebet der Justina beifit es cwp. 5 6 JcXaoac 
avbpwjtov sx -p^c 5ipbc ojioiofifjta iaotoo, [xal]^) tw :tav36fq) oou Ttvsu- 
patt avaT'jjt(i)adp.svoc, xal dsirsvoc aotov Iv tpo'p^ too TtapaSsiaou, iva 
ixoXauoi;] (SsajcdCTf] Paris 1454 Sin.) twv huo ooo -fcvop-ivtov xtia[J.dtwv. 
Dem entspricht syriscb: ‘der du den Menscben nacb deinem Bilde 
gescbafi'en bast^) und lieBest ibn im Paradiese der Wonnen, damit 
er an deinen Geboten (so L, Genussen S, Segnungen B) Freude 


1) Twv to)VT(uv scheiat in der \or!ag'e der Eudokia gefehlt zu haben, sie si.breibt 

oOpavi'o'j liEpd-tov iTpaTCij X^An-r/j npo^diryjla p/j3Xp) i-[-/<.otTOL\ipn laciv zECtp. 
Pari-<. 1454 und Sinait. po6/,o(jiai arpoLTE'iEjftai ((jTpaTE6ao[7i)7.! Urn.) 'jutoj v.a\ iv-a- 
Y-7p/7i (iv-rctOSct yivsTai Sin.) ei; tvjv p.dTpizz t?,; itpzttJ; ci'jtob. 

2) Von mir getilgt. Das dvatu-cbiSai liegt voraus. 

:-!) Beachtenswert scbeint mir, daB der Syrer die Erwahnung der IryM'i itsob 
sir, iclit (in ihr bat Gott vor der faktisE.en Schopfuug den Menscben voraus ‘ge- 
dacht’: sie ist TTVEUfia). Die Stelle gehort zu den Nachbildungen alter liturgischer 
Formeln. Der Text scbien schon einem griechiscben Redaktor der Haeresie, bzw. 
dem Heidentum bedenklicb nahe zu kommen. So empfangt ja z. B. im Poimandres 
§ 8 die Bo'jXt) iJeob von dem Urgott die Idee und gebiert den zoapLoj. Dem 
weichen Paris. 1454 und Stnaitic. aus, indem sie scbreiben o -Xotoa; xov d'vBptu-ov 
£x 'jTfi "p'i; opol'motv (ez xfj; -posoptouboEiu; Sin.) izuTip xai tip Ttavaoipip rat5i' (oiott 



Cyprian der Magier. 


75 


haben sollte’. Ryssel bebauptet das Wort ‘Gebote’ sei urspriing- 
licb; der Sinn sei, dab bei der Befolgung der gottlicben Gebote 
der dauemde GennB der Paradieseswonnen eintreten sollte. Icb 
balte diese Erklarnng fiir gequalt, die Stelle aber iiberbaupt fiir 
nngeeignet fiir die Beweisfiibrang, da Ryssel selbst vermutet im 
Griecbiscben babe zunacbst xsl-soaftaraiv gestanden, was dann zu 
xTtofi-diwv verdorben sei. Warum XTiap-dtcov selbst nnpassend sein 
soil , ist mir bei der baufigen SchUdernng z. B. der cbiliastiscben 
Hoffnnngen auf das Paradies unklar. Einige andere Stellen dieser 
Art iibergebe icb. 

8) Mehr Gewicbt konnte die Bescbreibung des Traumes des 
Aidesios baben, die griecbiscb lautet: v.al i 77 £Xfx.^c aoTot? sxsXfl'oo- 
avjc otpatia? (oTttaaiac Sin.) opwat (opa Paris. 14fi8) Xap.7raoY]'.f6pooc 
TrXsiou? Ixatov iv tip o)(up(n[j.axt (sv — 6/. feblt Sin.) xai asaov xov Xptatov 
Xs^ovra auxois' Ssuxs Ttpd? [ts, xdfw paa'Xsiav oupavwv yapiCop-*- 
syriscb: ‘da sogleich erscbienen ibnen Scbaren unzahliger Engel, die 
brennende Lampen bielten, im Zimmer (so SB, im Feuer L) nnd 
in ibrer Mitte saben sie Cbristus, welcber zu ibnen (feblt L) spracb ; 
‘kommt zu mir und in das Himmelreicb will icb euch einfiibren 
mit alien Gerecbten (Heiligen L), die vor mir Gnade gefunden 
baben’. Zwar dab yapi^so&ai paoiXsiav oopavtov eine kiinstlicbe Er- 
klarung bediirfe, werde icb Ryssel kaum zugeben; aber der Aus- 
druck Iv oyopwpaxi befremdet zunacbst in der Tat. Hier ist der 
syrische Text zunacbst verstandlicher ; Aidesios und seine Frau 
liegen im Zimmer. Aber seben sie darum aucb in dem Traumge- 
sicbt unzablige Engel i m Z i m m e r steben und in der Mitte Cbristus? 
Die Vision selbst, die ja oft gescbildert wird (vgl. oben S. 45,1). 
wird ganz verscbieden vorgestellt : Cbristus erscheint auf dem 
Wagen, auf dem Tbronsitz, auf einem feurigen Rade {Plisturia Laus. 
p. 80, 1 Butler). Was bindert anzunehmen, dab er bier auf einem 
Turm Oder Mauerwerk gedacht wird, das die Kircbe oder das 
himmliscbe Jerusalem darstellt? Der Syrer setzt etwas farb- 
loses ein. 

9) In der Absage an den Teufel {cap. 9) bietet Paris. 1468 

TteTtsiajrat oxi xai? sbyai? xcd xaic SsTjoem x-^? zap^svou xal ijuoTj- 
p-etwas' xo5 iaxaupa)p.ivou svtxr,d-rjX£, ot’ a'ppayiCa) sauxbv aTOxa4ap.£v6c 
oot, Paris. 14.54 und Sinait. dagegen xs:reiap.ai xai? suyai? xal xat? 
Seiiasa'. x-^? xap^ivoo xal x'ijv ix'a7]p.£t<oaiv (aTf]p.s(watv Sin.) xoo saxao- 
pa)p.£vou daop.aCw, 8t’ aippaYi^o) £p.auxbv dxoxaiap.£vbc aoi, der 

Paris. 1454) cou avaxoivuiaanevo?. Uer Syrer lieB das anstuBige Satzchen fort, 
ebenso die Vorlage der Eudokia. [Vgl. oben S. 47,2 Constitiit. ap. VII 34,6 xf, 
aoaia otaxasdp.svo;]. 



7(3 R. Reitzenstein, 

Syrer endlich 'icli vertraue (daB) indem ich zu dem Gebet und 
zu dem Flehen der Jungfrau meine Zuflucht nehme und verehre 
die Kraft des Kreuzes, durch welches deine ganze liignerische 
Kraft erniedrigt wird. Denn auch ich bekreuzige mich mit dem 
Kreuze und verleugne dich’. Ryssel meint der Grieche babe das 
syrische Wort, das ebensowohl das Kreuz wie den Gekreuzigten 
bedeuten kbnne, miBverstanden und daher 'C'jj sK'.aYjjrsitoast too iatao- 
pw[i£Vou gesetzt, wo nur too ataopou am Platz war. Icb bestreite 
das unbedingt; in dem ganzen Zusammenhang wird 6 iataDpwpLSvoc 
(Jesus) dem Satan gegeniibergestellt. Die Frage ist: wer von 
beiden ist starker ? Hierzu pafit trefFlich der Gedanke : wenn man 
nur durch ein Zeichen sich zu dem Gekreuzigten bekennt, seid 
ihr besiegt’ ; das Zeichen, das den Gekreuzigten als Herren angibt, 
vertreibt den Teufel. Vgl. den mehrfach wiederkehrenden Aus- 
druck afppafl? too Xptatoo fiir das Kreuzeszeichen (im Martyrium 
zb OTjitsiov too eaTaupo)[i.evou). 

10) Gegen Kyssel scheint mir dagegen eine andere Stelle zu 
sprechen, die freilich eine etwas eingehendere Darstellung verlangt. 
Die beiden ersten Damonenbesehworungen sollen offenbar streng 
entsprechend geschildert werden. Der erste Damon schlieBt seine 
Rede ccti-. 4 Sslat oov zb <papp,axov zobzo zal pavov t6v oIzov nap- 
iisvou s'lwdsv xocYw s;taX8-a)V *) rov ;ratp'x6v p.0D $7:5170) vodv, xal s&Uau); 
oTrazouastai aou-j. Der zweite Damon betont noch ausdriicklich, daB 
sein Vater, der Satan selbst, das wunderkraftige Mittel schickt, 
und sagt wieder {aq^. 6) os^at oov ^) to ^apfiaxov tooto xai pavov 
x6xX(p too ol'xoo aurij? xaYo) icapaY£v6|j.5VO<; Ttsiaio aotT^v. Dann folgt 
6 3s KoTtptavoc Xa^wv to (fdpp.axov aTiYjSt xal STroiTjoev^) xa&wi; Trpoas- 
ta^ev aot^ 6 3aiiJ.o)v. Das Zaubermittel an der Tiir, das natiirlich 
der Mensch verwendet, soil nur dem Diimon den Eintritt in das 
Haus ermoglichen imd tut dies auch ; den Zwang auf die Jungfrau 
vermag der Damon dann freilich dock nicht zu iiben. Im syrischen 
Text spricht gleich das erste mal Cyprian zu dem Damon: 
‘nimm diese Arznei und sprenge sie rings um das Haus der Jung- 
frau und ich will ihr die Besinnung rauben^) und sogleich wird 

1) So Sinait. ci-E/.OiVii die beiden PaiMint, sttpercenieiis die alte lateinisclie 
Version (dem Sinne naeh notwendi;^), vgl. snater -ctpzYsv’iijiEvo;. 

2) ^-a-/.oo3^Ta^ ao'j Paris. HtiS. (Vorher fehlt o.oy Paris. 1468). 

3) Tci'wv Paris. 1454 Sinait 

4) /.'ll fehlt Paris. 1468 Trotef Paris. 1454. 

5) Das konnte raiBverstandlidi aus der Verderbnis /.ai a-dY«) tov -itptxov ( V) 
vovv gewonnen sein. Den gleichen Text hat die arabische Ueberselzung, die n.u h 
Rysse! uninittelbar aus griecbischer Vorlage stammen soil. Seine Hofthung , aus 



Cyprian der Magier. 


77 


sie dir gehorchen. TJnd als er dies zu dem Damon gesagt hatte, 
ging er schnurstracks zu dem Hause jener Jungfrau’. Dazu padt 
freilicli gar nicht, daB nach beiden Texten der Damon hernach zu 
Cyprian kommt und von diesem befragt wird (cap. 6) : ‘wo ist die, 
zu der ich dich gesandt babe?’ Wie kommt es, da6 ick riistig 
war ’) und dein Versuch gescheitert ist ? Cyprian hat nach einer 
eigenen Handlung in seinem Zimmer gewartet, daB der Damon ihm 
das Madchen bringt. Das ist bekanntlich genau die Erwartung 
und Anschauung, die sich in den Zauberpapyri immer an den Lie- 
beszwang knlipft. Also ist das Anfangsstiick im Syrischen ver- 
dorben, im Griechischen ricbtig bewahrt. Dabei ist ein Zufall 
ausgeschlossen ; denn bei der zweiten Damonenerscheinung sagt im 
syrischen Text wieder der Damon zu Cyprian: ‘Sende raich mein 
Vater, daB ich deinen Willen ausfiihre’ und es folgt : ‘Und Cy- 
prianus spricht zu ihm : nhnm diese Arzenei und schiitte sie auBer- 
halb des Hanses der Jungfrau aus, und ich werde kommen und 
sie iiberreden’. Dann geht der Damon weg zu dem Hause, das 
ihm Cyprian gewiesen hat. Wieder stimmt dazu in keiner Weise. 
daB nach dem syrischen wie griechischen Text , Cyprian den be- 
schamt heimkehrenden Damon fragt ‘wo ist die , zu der ich dich 
gesandt habe r*’, also das Madchen bei sich erwartet. Es ist voll- 
kommen sicher, daB der vSyrer hier zwei mal den Text willkurlich 
umgestaltet hat. weil er Sinn und Gang der Zanberhandlung nicht 
mehr verstand. Der Hergang wiederholt sich sogar noch ein drittes 
mal ; nach dem griechischen Text verheiBt znletzt der Teufel selbst 
{cap. 7): ich werde sie dir bringen, bleibe du nur bereit. Cyprian 
fragt : woher schlieBest du auf deinen Sieg ? Der Teufel antwortet • 
durch heftige Fieber will ihren Sinn verwirren^) und nach sechs 
Tagen urn Mitternacht ihr erscheinen und sie dir bereit machen. 
Im Syrischen verheiBt zwar der Teufel auch, er werde sie dem 
Cyprian bringen. Aber dieser antwortet nun dem Teufel, er (Cy- 
prian) werde sie sechs Tage durch heftiges Fieber verwirren und 
urn Mitternacht dann ihr erscheinen und sie ihm (dem Teufel?) 
gefiigig machen ! Und dabei erscheint im syrischen wie im grie- 


ilir viel t'lir den altesten griecliisclien Text zu gewimien (S. 278), teile ich freilich 
nicht. 

1) Das heifit; ich meinen Teil an der Handlung richtig vollzogen habe. 

2) Wieder entsprechen die Zauberpapyri, in denen ja die Damonen das 
Dpfer so lange verwirren und qualen nuissen, bis es freiwillig kommt; der Zau- 
herer selbst wartet in seinem Hause, vgl. fur den ganz festen Typus z. B. den 
im Rostocker Index 1892/93 S. 18 besprochenen Zauber. 



78 


R. Reitzenstein, 


x?hischen Text der Teufel in der Mitternacht des siebenten Tages 
der Jungfrau und geht nach dem MiBlingen zu Cyprian, ihm 
zu verkiinden, daB er besiegt ist und die Jungfrau nicht kommt. 

Ich hoffe, jeder Zweifel an dem Hergang ist ausgeschlossen. 
Urn so charakteristiscker scheint mir das Verfakren Ryssels (S. 
276 j. der gerade die zweite dieser Stellen benutzt, um die Pri- 
oritat des S37riscben Textes zu beweisen ; die V erweckslung der 
syrischen Formen fiir ‘er hat mich gesandt’ und ‘sende mich sei 
sehr leicht. Ich vergleiche noch einmal beide Texte : 

und indem er prahlte 

spraeh er zu Cyprianus : 

Ich kenne deinen Auftrag und 
auch die Kraftlosigkeit des frit- 
heren. Darum sende mich, mein 
Vater, daB ich deinen Willen 
ausfiibre. Und Cyprian spricht 
zu ihm : nimm diese Arznei usw. 

Fiir den Syrer war es dabei eine ertragliche Vorstellung, daB der 
Damon seinen Meister und Gebieter Cyprian als Vater anspricht: 
interessant aber ist, da6 er in (cp. 7 die Bezeichnung des Satans 
als Vater der Damonen darum umanderte. Gerade sie nun kehrt 
in der Stelle der Thomas -Akten wieder, die dieser ganzen Be- 
schworung als Vorlage dient (oben S. 47). Alle Beobachtungen 
schlieBen also zusammen und bezeugen die Urspriinglichkeit der 
Fassung, die uns in den beiden erhaltenen griechischen Prosare- 
zensionen vorliegt. Ich ware voll berechtigt zu vermuten, der Syrer 
miisse in seiner Vorlage also omoatsiXov fiir dTrsoTeiXsv gelesen, da- 
nach 6 irar/ip [lou als Vokativ gefaBt und demzufolge den Bau 
dieser Satze erst hier und dann an den beiden anderen Stellen 
umgestaltet haben. Die ‘Leichtigkeit der Verderbnis’ lage bei 
dieser direkten Umkehrung der Hypotbese Ryssels fa.st in gleicher 
Weise vor. Ich betone das, weil liyssel ja nur einer weit ver- 
breiteten Methode foigt, die bei den verschiedensten Schriftwerken 
(z. B. der Historia monuchorum) verwendet und bisweilen als die 
einzig philologische und sichere betrachtet wird. wahrend sie dock 
nur subsidiare Dienste leisten diirfte. Bei der Justina - Novelle 
laBt sich leicht erweisen, daB diese Vermutung falsch ware. Eu- 
dokia las bei der Erscheinung des ersten Damons genau wie der 
Syrer, vgl. Koupiavoc 8’ svsjcsv xaxoTspicet Satpiovi XuYptp’ 


o|roi( 0 !: xai onto? (der zweite Da- 
mon) 

xai>'/(u(j.£vo? Xs7£t t(j) Korcptav^ • 
l^vcov xal xYjv OTjv xsXsoatv xal 
•rijv sxsivou (des ersten) otSpavtav • 
Sto otTcsaiotXsv [IS 6 iratvjp p.ot> 
SiopS-waaah-at aou tr;v Xoinfjv. 
o^sat oov to ^appiaxov tooto xtX. 



Cyprian der Magier. 


79 


z-q'jos Xa^wv potdvifjv xoxXcp ^aXdjiou xataSsoaov xoupTjc AlosatSoc ^ I, 
dtdp oaTato? t^o[iat aoto?. Aehnlich bietet sie in der zweiten Be- 
ficbworung: ■^svsvri<; p.’ dvs7r£p,7tEV adiv d'/swv ejrapMYOv. 6 §’ aitjja p-aYO? 
xeyapTjwc Ivvexe’ tdSs, Satpov, oXov Sw icap&svou ocyv^S (pappdxcp 
sY'^ataSsotjov ■ iY“ ^ oxt^sv aso ^afvw, xEiasiv S’ Siw vtv und stellt 
uns damit vor die Frage , ob der Syrer wirklich den Imperativ 
‘sende’ schreiben woUte. Erst bei der dritten Beschwornng geh 
Endokia ganz mit dem griechischen Text gegen die sinnlosen Ent- 
stellungen des syriscben. Die Verderbnis hat also scbon innerhalb 
der griechischen Tradition begonnen und ist von dem Syrer nnr 
weiter gefiihrt worden; sie ging nicht von jener Verwechslnng 
zweier Formen aus. 

Grewifi erkenne auch ich in der friichristlichen Literatur der 
Griechen vereinzelte Debersetzungen aus dem Syriscben an, so in 
dem sogenannten Hymnus der Seele in den Thomas-Akten (vgl. 
Hellenistische Wundererzahlnngen S. 107). Aber dort zeigt sich 
sofort der StofF und der Gedankenkreis als orientalisch ; die ein- 
zelnen Wendungen und technischen Ausdriicke werden erst in der 
orientalischen Fassung pragnant oder lebendig. In der Justina- 
Novelle ist die literarische Form und der Gedankenkreis griechisch 
und echt griechisch vor allem der bisweilen recht kunstvolle Aus- 
druck; er wird — so weit ich nach der Uebersetzung urteilen 
kann — im Syriscben verwaschen und charakterlos. In solchem 
Fall ist die schon an sich gefahrliche Beweisfiihrung aus der Mog- 
lichkeit einzelner W ortverderbnisse und Mifiverstandnisse von vorn- 
herein abzulehnen. Nur die Analyse eines langeren Zusammen- 
hanges kann Sicherheit geben. Ich habe sie bier versucht und 
darf zunachst wohl einen ahnlichen Versuch des Gegenbeweises er- 
warten. R. Reitzenstein. 


1) Eudokia bildet fiei ein Patronymikou , Cronert in dem neueii Lexikon 
vei'steht das Wort falscli. 



TJeber die neu-aramaische Placidas-Wandergeschichte. 

Von 

Alfons Hilka 

und 

Wilhelm Meyer aus Speyer 
Professor in Gottingen. 

Vorgelegt in der Sitzung vom 17. Februar 1917. 

In diesen Nachrichten habe ich 1916 S. 269 — 287 einen la- 
teinischen Text der Legende von Placidas-Enstasius heransgegeben. 
Dann hat Wilhelm Bousset in diesen Nachrichten 1916 S. 461 — 
551 unter dem Titel ‘Die Creschichte eines Wiedererkeimungsmar- 
chens’ hauptsachlich die Entwicklimg eines weit verbreiteten Volks- 
marchens untersucht, ans welchem nach seiner Ansicht die grie- 
chische Placidas-Legende hauptsachlich hervorgegangen ist. Dabei 
hat er jenen meinen lateinischen Text vielfach angegrifFen. 
Hierauf habe ich geantwortet (Nachrichten 1916 S. 743—800). 
Dabei muBte ich auch eingehen auf Boussets folkloristische TJnter- 
suchungen und kam dabei zu ganz andern Eesultaten als Bousset. 

Bousset findet die Wurzel der ganzen Entwicklung in einem 
indischen Volksmarchen , das schon vor Christus, ja schon vor 
Buddha vorhanden gewesen sei; ich dagegen glaube, da6 in Vorder- 
asien um 700 nach Chr. aus dem griechischen Text der christlichen 
Placidaslegende das Mittelstiick ausgeschnitten , in eine vorder- 
asiatische Sprache uhersetzt und von da ab von den Volkserzahlern 
als beliebte Erzahlung langsam nach Osten verbreitet worden sei. 

Bousset arbeitet hauptsachlich mit den schon ofter zusammen- 
gestellten arabischen, persischen, tiirkischen, annenischen Versionen 
dieser Placidas-Wandergeschichte. Ich habe S. 777—786 besonders 



iiber die neu-aramaische Placidas-Wandergeschichte. 


81 


indische Versionen besprochen; dazu babe ich die Geschichte der 
Patacara eingehend besprochen (S. 769/776), da mehrere Fasstmgen 
derselben sich zeitlich festsetzen lassen, freilich fiir meinen Zweck 
zu eingehend, da ich znr Uberzeugung gekommen bin , dafi diese 
Patacarageschichte mit nnserer Placidaswandergeschichte nichts zu 
than hat. 

Aber die verschiedenen Versionen der Placidaswandergeschichte 
bieten der TJntersuchung Probleme genng. DeBhalb frente ich 
mich iiber eine Arbeit von Alfons Hilka, der eine neu-ara- 
maische Version der P 1 a c i d a s -W a n d e r g esch icht e 
behandelte. Nach langeren Verhandlungen kamen wir iiberein, da6 
ich eine unfreiwillige Ruhezeit beniitze , nm iiber diese neu-ara- 
maische Version Bericht zu erstatten. 

Die zwei betreffenden Texte finden sich in Mark Lidzbarski, 
‘Geschichten and Lieder aus den neu-aramaischen Handschriften 
der Koniglichen Bibliothek zu Ber lin ’ = ‘Beitrage znr Volks- und 
Volkerkunde’ Bd. IV 1896 (S. 108—113 no I und S. 195—198 
no 11) ; auch unter dem Titel : Semitistische Studien, hgben. von 
C. Bezold, Heft 4/5, 6/7 (ebenso no I S. 108 — 113 und no II S. 
195/198). 

Lidzbarski hat gesehen, dafi beide Geschichten denselben Stoff 
behandeln, and hat deBhalb ihnen dieselbe Uberschrift gegeben: 
‘Die entfiihrte Frau’. Als Einleitang schickt er voran das, was 
J. Hinton Knowles, Folk-Tales of Kashmir, 1888 u. 1893, auf 
S. 165 zugesetzt hat und was in diesen Nachrichten 1916 S. 769 
abgedrackt ist. 

Als Textvorlagen hat Lidzbarski zwei moderne Abschriften 
beniitzt, welche Sachau in Asien hat herstellen lassen und die sich 
jetzt in der Koniglichen Bibliothek in Berlin befinden. 

tlber die Sprache bemerkt Lidzbarski (S. IX der ‘Geschichten 
und Lieder’; nicht enthalten in den Semitist. Studien): ‘Die neu- 
aramaischen Dialekte sind Uberbleibsel jener aramaischen oder sy- 
rischen Sprache , die einige J ahrhunderte vor und einige nach 
Christas vom mittellandischen Meer bis zum Tigris gesprochen 
wurde. Mit dem siegreichen Vordringen des Islam wurde sie immer 
mehr vom Arabischen verdrangt und hat sich nur bei den Christen 
in den Gebieten siidlich von Armenien erhalten’. 

Wir kommen also in ein Gebiet siidlich von Armenien, zu 
welchem auch die syrische Wiiste gehort. Es ist ein schoner Vorzug 
der wissenschaftlichen Volkskunde, da6 sie so lebendig zum Bewufit- 
sein bringt, wie der einzelne Mensch und das ganze Volk zusammen- 
wachst mit der geographischen and physibalischen Gestaltung der Hei- 

Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten, Phil. -hist. Klasse. 1917. Heft 1, 6 



82 


Alfons Hilka nnd Wilhelm Meyer, 


math. Davon haben wir hier sogleich eine Probe. In der Placidas- 
Wandergeschichte spielt das Wasser eine ziemlich groBe Rolle. Am 
Meeresgestade wird von einem Schiffsherm die Mutter der Pamilie 
geraubt. Dann werden der Vater nnd die 2 Sohne an einem Flu6 
ganzlich getrennt. In eine Stadt, wo Vater nnd Sohne sich schon 
befinden, wird anch die Mutter von dem Kanfmann in seinem 
Schiffe gebracht. So fast alle Versionen. 

Unsere aramaische Version ist dadnrch gekennzeichnet , da6 
keine Rede ist von einem ScbifFsherm mit einem Handelsschiffe, 
sondem beide Texte, welche uns diese aramaische Version uber- 
liefert haben, sprechen nnr von der Wiiste nnd von Karawanen, 
welche lagem, wo es ihnen beliebt, wobei der Kasten oder die 
Kiste znm Transport der Franen (als Damenconpe) eine ziemliche 
Rolle spielt. So ist der I. Text (108 — 113) ganz wasserlos; der 
II. Text (195/8) erzahlt wenigstens noch von dem FlnBubergang. 
Also die beiden Texte geben zwei Fassungen derselben neu-ara- 
maischen Version, welche wir anch die Wiisten version nennen 
konnten. 

Die erste Fassnng (108 — 113) ist fast in aUen Stiicken kurzer 
nnd verwaschener (vgl. S. 112 ‘So nnd so’ . . ‘Auf die nnd die 
Weise ist meine Mutter entfuhrt worden’), nnd nnr sehr wenig 
Gntes werde ich aus ihr beibringen kbimen. 

Sehen wir zn, was die I. Fassnng mehr, was sie weniger nnd 
was sie anders berichtet, als die II. Fassnng, so haben wir gleich 
im Anfange 8 Znsatze (von dem Gazellenmannchen nnd dem Lamm, 
welche der armen Familie in ihren Kessel bescheert werden, and 
von der List, mit welcher die Familienmntter znr andern Kara- 
wane gelockt wird): nirgends sonst findet sich eine Spur von diesen 
Zusatzen. Doch weiterhin ist in I. iiberans gekurzt. Nach dein 
Ranb der Mutter verkanft der Vater kurzerhand in der nachsten 
Stadt die Kinder an den Konig; er selbst wird nicht zum Konig 
gewahlt, sondem bettelt sich weiter nnd wird Diener eines Konigs, 
was er bleibt bis zn Ende. Weiterhin mag die Erzahlnng der 
Katastrophe in I etwas nrsprnnglicher sein als in 11: aber das 
Endnrteil wird sein, da6 die I. Fassnng dieser aramaischen Wiisten- 
version neben der II. fast werthlos ist. 

So stellt sich nns die Frage: welchen Werth hat die II. 
F as sung(S. 195/198) der nen-aramaischen Placidas-Wan- 
dergeschichte? Diese Frage laBt sich nnr beantworten im 
steten Hinblick anf die ubrigen Versionen nnd anf die Qnintessenz 
derselben, welche ich Nachrichten 1916 S. 791 als die ‘Urform der 
orientalischen Wandergeschichte’ ansznscheiden versncht habe. 



fiber die neu-aramaische Placidas-WandergescMchte. 


83 


Von all diesen Versionen war natiirlieh die ans dem armeni- 
schen Nachbarland fiir mich besonders wichtig, die ich ja in diesen 
Grenzlanden, iiberhanpt die Heimat der Placidas-WandergescMchte 
snche. Bo us set sucht sie in dem weit, weit entfernten Indien- 
Aber dennoch kann man bei ihm S. 498 lesen: ‘Dem ursprung- 
lichsten am nachsten steht das armenische Marchen’. Oder: 
‘Allen voran am Wert steht die armenische Uberliefernng. 
Diese hat im Grofien und Ganzen den eigentlich urspriinglichen 
Gang der Erzahlung , abgesehen von Kleinigkeiten , von Anfang 
bis zu Ende getren bewahrt’. Ein so werthvoUes Beweisstiick 
muB man gewissenhaft stndiren; das habe ich getan nnd bin da- 
bei auf folgende Thatsache gestoBen, die ich bei Benutznng dieses 
armenischen Zengnisses nicht zu vergessen bitte. 

Haxthausen hat Armenien selbst bereist, vor 1850, nnd sich 
nach Art der damaligen Reisenden anch um die Volksmarchen ge- 
kiimmert. Er hat den armenischen Text derselben von Armeniem 
sich anfschreiben lassen und hat dann diesen ‘treu nnd, ohne sich 
irgend eine Abanderung oder gar sogenannte Verbessernngen zu 
erlauben, deutsch wiedergegeben’ (Transkankasia I 316). Dar- 
unter befindet sich (I 334) unsere Placidas-WandergescMchte. 
Wegen der Wichtigkeit des Stuckes verglich ich als minntioser 
Philologe, dessen WaMsprnch ja sein mnB ‘jidpTjoo dmorelv, Haxt- 
hausens Originaltext mit dem Abdruck bei Bousset; da sah ich, 
daB Bonsset’s Text stark abweicht von dem Haxthausen’s. Fragt 
man Bousset, weBhalb er geandert habe, so wird er uber die Erage 
lacben : das seien seine stilistischen Geschmacksachen ; in die lasse 
er sich nicht hinein reden. 

Sehen wir zu! Zu dem interessanten Beiwerk der Placidas- 
WandergescMchte gehort die Art und Weise, wie an Stelle eines 
verstorbenen kinderlosen Konigs ein nener gewahlt wird. In der 
Geschichte (aus 1001 Nacht) bei Bousset S. 479 nimmt der weiBe 
Elefant des verstorbenen Konigs die Krone, setzt sie, wem er 
will, auf und begriiBt ihn kniend als Konig. In der Wanderge- 
schichte aus Kaschmir (Meyer S. 777) wird der Elefant nnd der 
Falke des verstorbenen Konigs ausgesendet nnd, indem der Ele- 
fant vor einem Fremden niederkniet, der Falke sich anf seine 
Hand setzt, wird dieser Konig. In der siamesisch-malaisch-bngi- 
schen Geschichte (Meyer S. 782 und 784) wird der Reichselefant 
ausgeschickt, um einen neuen Konig herbeizuschaffen. Er lauft in 
den Wald, zwingt den Indjilai sich anf seinen Riicken zu setzen 
und bringt ihn als Konig heim. 

Interessanter ist die SchUderung dieser Wahl in der EE. Fas- 

6 * 



84 


Alfons Hilka nnd Wilhelm Meyer, 


snng unserer aramaisch en Geschichte. Der Held der Geschichte 
kommt (S. 197) in eine groBe Stadt, deren Konig nach einigen 
Tagen starb. Die Bewobner wollten einen neuen Konig einsetzen. 
Da liefien sie den Vogel der Herrschaft los, tmd dieser schoB auf 
jenen annen Bettler herab. Aber die Bewobner der Stadt waren 
mit ibm nicbt znfrieden, sondem nabmen den Vogel und lieBen 
ibn ein zweites Mai los. Und wiedernm scboB er auf jenen Armen 
berab. Aber sie sagten: ‘Wir nebmen ibn docb nicbt an’ bis zum 
dritten Male. Als er sich aber wiedernm anf ibn berabliefi, sagten 
sie: ‘Das ist von Gott’. Nun nabmen sie ibn und macbten ibn 
zum Konig liber die Stadt? Diese Wablart ist um so eindriick- 
licber als in einer andern dieser neu-aramaischen Geschichte dieser 
Wahlakt so zu sagen copirt wiederkehrt: S. 101 bei Lidzbarski 
soli auch ein neuer Konig gewahlt werden. Alle Burger werden 
versammelt and der Vogel der Herrschaft wird losgelassen. Er 
laBt sich auf einen Fremden nieder. ‘Wir wollen ibn nicbt, diesen 
Fremden’, rufen die Burger imd lassen den Vogel der Herrschaft 
von Neuem los. Erst, als er zum dritten Mai auf denselben Fremden 
sich niederlaBt, rufen sie ; ‘Das ist von Gott’ und nebmen ibn zum 
Kbnig an (s. biezu Lidzbarski’s Note). 

Fiir dasselbe Stiick der armenischen Geschichte babe ich 
eine doppelte Fassung: 1) Er wandert allein weiter und kommt 
in ein Bad, dessen Volk im Begriff ist, sich einen Konig zu suchen. 
Ein weifier Adler senkt sich auf ibn herab und oflPenbart ibn als 
den gesuchten Konig (der weiBe Adler iibernimmt bier also die 
Rolle des Elephanten, — ein weit verbreitetes Wandermotiv) ; so 
regiert denn der Konig in dem fremden Reiche’. Die 2.) Fas- 
sung des armenischen Textes, welcber dem aramaischen parallel 
ist, lautet: ‘Jahre lang umhergeirrt, kommt er in ein Land, wo 
eben der Konig ohne Erben gestorben ist. Die Priester und das 
Volk haben bestimmt, der solle Konig werden, auf welchen sich 
ein weiBer Adler niederlassen wiirde. Auf einem groBen Felde ist 
alles Volk versammelt; da senkt sich der Adler drei Mai auf 
einen fremden Bettler herab’. Von diesen Texten ist der aUer- 
letzte nicbt etwa von mir hergericbtet, um meiuern aramaischen Text 
aus dem benachbarten Armenien einen Zwillingstext beizugeben 
und so meine Ansicht, daB die orientaliscbe Urform der Placidas- 
Wandergescbichte in diesen Grenzgebieten griechiscber Kultur ent- 
standen sei, in Etwas zu stutzen, nein, dies ist der von Haxtbausen 
treu iibersetzte, ecbte armeniscbe Text (aus Transkaukasia I 334). 
Aber der vorletzte, mit 1.) bezeichnete Text ist genau derselbe 



liber die neu-aramaische Placidas-Wandergeschichte. 85 

Text nur mit den stilistischen Abanderungen, welche ihm Bousset 
S. 481 stillschweigend zn geben fiir gut fand. 

Darnach wird man es nothwendig finden, da6 bei der Unter- 
suchung der II. aramaischen Fasstmg besonders die armenische 
Version beigezogen werde; aber diese nicht in Bousset’s Umarbei- 
tnng, sondem in Haxthausen’s (1 334) vielleicht derber Wirklichkeit. 

Die Vergleichung der aramaischen II. Version (S. 195/8) and 
der armenischen ist iiberhaupt erschwert durch den recht verschie- 
denen Charakter derselben. Die aramaische Version ist ziemlich 
breit nnd fast geschwatzig (108 Druckzeilen), die armenische mager 
und wortkarg (30 Druckzeilen). So mag sich erklaren, dab der 
Armenier beim FluBiibergang nichts berichtet von der Rettnng und 
den weitem Schicksalen der Sohne. Femer wird die Mutter ge- 
wohnlich durch einen Schiffsherrn am Meer geranbt nnd von dem- 
selben zuletzt wieder im Schiff zum Vater imd zn den Sohnen ge- 
bracht. Das vollbringt, wie gesagt, im aramaischen II. Text ein 
Karawanenbesitzer, ein jiidischer Kaufmann. Aber fragt man, 
was der Kaufmann der armenischen Version ist, ob SchifFsherr, 
ob Karawanenbesitzer, so findet man keine dentliche Antwort. 

In der armenischen Version mu6 der eigentliche Anfang der 
orientalischen XJrform enthalten sein. Denn genau an dieser Stelle 
der Placidaslegende iiberlaBt Christus dem Placidas die Wahl, ob 
er sogleich oder spater das ihm bestimmte Leiden ertragen will. 
Dies Stiick wurde also mitausgeschnitten und ist in dem Anfange 
des armenischen Textes erhalten : ‘Es herrschte einst ein giitiger, 
wohlwoUender Konig. Zu dem tritt eines Tags ein Genius heran : 
“Ich bin von Gott gesandt, dich zu firagen, ob dn glucklich sein 
willst iu deiner Jugend oder in deinem Alter: du sollst die Wahl 
haben”. Der Konig wahlt das Letztere. Nun stiirmt das Ungluck 
auf ihn ein’. 

Diese Einleitung hat sich bis jetzt nur in der armenischen 
Version gefunden. Sie mu6 ja aus der orientalischen Urform in 
die armenische Version ubergegangen sein. Aber bei alien iibrigen 
Versionen scheint diese Einleitung weggeblieben zu sein. Denn 
was niitzte sie den Volkserzahlem ? Ihre Zuhorer warden da- 
durch weder gespannt noch befriedigt, da sie nachher nnr die 
Leiden der Jugend, nicht aber die Freuden des Alters zu horen 
bekamen. 

So koimte ich begreifen, dab der, welcher diese Wanderge- 
schichte aus der Placidas-Legende ausschnitt und ihr die orien- 
talische Urform gab, also vielleicht der erste armenische Uber- 
setzer, dies Wahlstiick mitausgeschnitten und iibersetzt hat , das 



86 


Alfons Hilka und Wilhelm Meyer 


aber dann seines mindern Interesses halber bald verschwand: 
Bousset aber, der diese Wandergeschichte ans der indischen Hei- 
math bis nach Griecbenland weite Raume and Zeiten zurucklegen 
lafit, wie erklart er es, da6 erst am Ende dieser Laufbahn gerade 
der armenische Bearbeiter anf den Gedanken gekommen sei, dies 
seltsame Wahlstiick der GeschicMe vorzusetzen und dab er in 
dem Verfasser der griechischen Placidaslegende sogleich einen folg- 
samen Nachtreter gefonden babe? 

Die eigentliche armenische Gescbichte beginnt; ‘Nnn stiirmt 
das Ungliick auf ihn ein’. Diese Worte nnd jene der Konigswahl 
folgenden: ‘Nan nahet sick ihm alles Gliick’, zeigen, dafi der ar- 
menische Erzahler der Disposition der Geschichte sich ebenso be- 
wnfit war, wie jener von 1001 Nacht, welcher (bei Bousset S. 479) 
die TJberschrift setzte : ‘Die Geschichte vom Kbnig, der sein Reich 
und Gut und Weib und Kinder verier und sie von Gott wiederer- 
hielt’. Die entsprechende SchluBschrift ist in Aramaisch II. er- 
halten. s. S. 94. 

Der Anfang der armenischen Erzahlung: ‘er verliert sein 
Reich, lebt als armer Burger; da raubt ihm ein reicher Kaufmann 
sein Weib’ ist offenbar stark gekiirzt. Privatmann ist der Held 
auch in aramaisch II: ‘Es war mal eine Erau und ein Mann, 
die hatten zwei Kinder. Da sie sich in einer bedrangten Lage 
befanden, verlieben sie ihren Wohnort, um nach einem andern zu 
ziehen’. 

Doch kann der Armenier hier den gewohnlich geschilderten 
Raub der Erau durch den Schiffsherrn andeuten wollen. Da- 
gegen der Aramaer II schildert S. 195/6, wie bei Sonnenunter- 
gang die Familie sich in der W ii s t e lagert. Bald lagerte sich 
in der Nahe die Karawane eines jiidiscben Kaufmanns. Knechte 
des Juden sehen die Eamilie sich an and berichten dem Juden von 
der Schonheit der Erau. Er lafit durch etwa 4 Diener die Mutter 
packen und schleppt sie in aUer Friihe mit seiner Karawane fort, 
wahrend der Vater und die Kinder weinten, dafi sie [fast] er- 
blindeten. Zu dieser Scene aus der Wiiste gibt nur der andere, 
I. aramaische Bericht (S. 110) ein paralleles Stiick , sonst ist in 
den Versionen dieser Wandergeschichte nirgends ein ahnliches Stuck 
Wiistenleben geschildert. So bleibt dieses Wiistenleben das wirk- 
liche Charakteristikum der neu-aramaischen Version der Placidas- 
W andergeschichte. 

Es folgt die wichtige Schilderung des Flnfiuberganges. 
Ich habe diesen schon 1916 S. 788/9 besprochen. Doch mit Hilfe 
der armenischen und axamaischen Version konnen wir fiber die 



liber die neu-aramaische Placidas- Wandergeschichte. 


87 


orientalische TJrform wohl etwas gewisser werden. Haxthaasen 
laBt die Armenier S. 334 berichten: ‘AJs (der Vater dem raube- 
rischen Kanfmann) mit seinen beiden Sohnen nachsetzen will, kommt 
er an einen Flufi (Bonsset S. 481 : ‘Er macbt sich nun mit seinen 
beiden Sohnen anf die Wanderscbaft nnd kommt an einen Flu6’). 
Er will den einen Sobn durchtragen; da ergreift ein Wolf den 
andern am Ufer znriickgebliebenen and, als er dem zu Hilfe eilt, 
reiBt der Strom (ihm?) den ersten fort. Beide Sohne finden, wie 
er glaubt, ibren Tod’. 

Das ist die Qnintessenz auch der wortreichen aramaischen 
Version (S. 196): ‘Sie zogen ibres Weges bis sie an einen Flu6 
kamen. Der Vater lieB einen Sobn am Ufer des Flnsses zuriick 
nnd nahm den andern anf die Scbultem, nm den Fln6 zn iiber- 
schreiten. Als er in der Mitte des Flnsses angekommen war, kam 
ein Wolf, packte den Knaben, der am Ufer des Flnsses war, nnd 
lief weg. Der andere Knabe, der vom Vater getragen wurde, 
rief: ‘Vater! Vater! mein Bruder ist von einem Wolfe ergriffen 
worden’. Als der Vater das sab, erscblaiften seine Arme, nnd er 
begann ein Gescbrei nnd einen Larm gegen den WoK zn erbeben. 
(Dieser packte aber den Sobn nnd lief weg). Infolge des Scbmerzes 
nnd der Verwirrnng des Vaters glitt der Sobn von dessen Scbnl- 
tern herab nnd fiel ins Wasser. Und der Vater wnrde verwiirt 
nnd begann zn weinen. Er lief dem Wolfe nacb , bolte ibn aber 
nicht ein. Er folgte dann dem, der ins Wasser geratben war; 
docb aucb diesen konnte er nicbt mebr erreicben’. Hiezu ist der 
Erinnerungsbericbt zn nebmen, welcben der eine Bruder (S. 198) 
bei der Nacbtwache vorbringt : ‘Soil icb dir den Fall erzablen 
dafi icb nnd mein Vater einen Fln6 nberscbreiten woUten, nnd 
da6 da mein Bruder von einem Wolfe gepackt wnrde? nnd, als 
icb es dann meinem Vater sagte, icb infolge seiner Angst nnd seines 
Scbmerzes von seinen Scbultern berabfiel und davon scbwamm’ usw. 

Mit Eiicksicbt anf diese und die andern 1916, S. 788/9 und 
792 citirten Stellen miissen wir sagen, da6 in der orientaJiscben 

Urform bei dem Flnfiiibergang ein Lowe nicbt vorkam, er war 

aucb wirklicb iiberflussig, — sondern nnr ein Wolf, bei dessen 
Anblick der erscbrockene Vater den Knaben, den er trug, in den 
Flu6 gleiten lieB. Die Scbilderungen des Aramaers sind so le- 
bendig, dab man bier eine ausfubrlicb gefafite orientaliscbe Urform 
sicb als Quelle des aramaiscben Textes denken muB. 

Auch der Abscblufi der Scbilderung des FlnBiiberganges in 
der aramaiscben Version ist so pathetiscb: ‘Da ging er nacb 
dem andern Flufiufer hiniiber , setzte sicb dahin und begann zu 



Alfons Hilka und Wilhelm Meyer 


weinen. So war die Frau weg, und die Kinder waren weg, nnd 
er blieb allein nnd hatte keinen Troster’, da6 man denken mochte, 
von der pathetischen Schildemng und der Rede des griechischen 
Hiob-PIacidas (BoUand Kap. 11) sei Etwas in die orientalische Ur- 
form nnd von da in die aramaische Version iibergegangen. 

Da6 die Schildernngen der Kb nigswahl in der armenischen 
nnd aramaischen Version anf ein und dieselbe Quelle zurnckgehen, 
hat sich aber (S. 84) wohl znr Grenuge gezeigt. 

Die weiteren Schicksale der Sbhne vergifit der eilende 
Armenier zn berichten. Die orientalische TJrform sagte iiberhanpt 
Nichts von einem ranbenden Lbwen. Dem ranbenden W o 1 f e ent- 
rissen Hirten den einen Sohn (Bonsset no 6 S. 489 nnd Aramaer II); 
den ins Wasser gefallenen andem Sohn retteten Miiller (Aramaer 
II); der beim Flu6 gefundenen Kinder nahm ein Fischer sich an 
(nach Kaschmir bei Meyer S. 777, Bngier nnd Siamese S. 781/3) 
oder ein Wascher (Pendschab S. 779). 

So ist wohl ganz der orientalischen Urform gleich die Dar- 
stellnng der aramaischen Version II (S. 196); ‘Der eine Knabe, 
der ins Wasser gefallen war, wnrde von Miillern an einer Miihle 
anfgegriffen, und der andere, der von dem Wolfe weggetragen 
worden war, wnrde diesem von Hirten aus dem Manle gerissen’, 
und S. 198; ‘als ich von den Schultern meines Vaters herabfiel 
und davon schwamm, dann von Miillern an einer Miihle anfgegrifFen 
wnrde und nach dem Dorfe kam, wo ich dann lebte’, nnd ‘ich bin 
jener dein Bmder, der vom Wolfe davon getragen wnrde’. 

Dem Griechen lag sehr viel daran, da6 die beiden Jungen in 
ein und demselben Dorf aufwnchsen; s. Meyer S. 752; (Meyer 
S. 792 ‘in 2 verschiedenen Dbrfem’ ist natiirlich ein grober Schreib- 
fehler); eine derartige Notiz scheint anch in die orientalische Ur- 
form iibergegangen zu sein; wenigstens berichtet der Aramaer 
S. 196/7 ; ‘Die Hirten nnd die Muller waren aus einem und dem- 
selben Dorfe. Ein jeder wnrde von einem der Dorfbewohner an- 
genommen und erzogen , und sie wucbsen beide zu Jungiingen 
heran'. 

Es ist nicht unmbglich, daB die orientalische Urform anch den 
Zusatz enthielt, da6 die Banem beschlossen, dem guten neuen Kbnig 
die beiden Findlinge , seine eigenen Sbhne , als Geschenk darzn- 
bringen; wenigstens melden dies Kaschmir, der Bngische (S. 782) 
und siamesisch-malaische Text (S. 784), mit denen ganz iiberein- 
stimmt der A ram a er II (S. 197) ; ‘Als er Kbnig ge worden, sagten 
die Bewohner des Dorfes, in dem die Knaben lebten: ‘Anf, wir 
w'ollen die beiden Knaben dem neuen Kbnig als Geschenk bringen’. 



uber die neu-aramaische Placidas-Wandergeschichte. 


89 


Sie nahmen die beiden Knaben nnd braehten sie als Geschenk zum 
Konig , und sie blieben bei ihm. Aber er wuBte nicht , da6 es 
seine Kinder waren; nnd sie bedienten ihn’. Diese Vereinigung 
des Vaters mit den zwei Sohnen war ja in Wahrheit ein wichtiger 
Abscbnitt der Geschichte. 

Vater und Sohne der Placidas-Wandergeschichte sind in der- 
selben Stadt gliicklich vereint. Znnachst bringt der E. a uber 
auch die Mutter in dieselbe Stadt. Er war in der Griechischen 
Placidaslegende ein Schiffsherr gewesen und ist das wohl auch ge- 
wesen in den meisten Versionen der Wandergeschichte, auBer ge- 
wiB der aramaischen ; dunkel ist sein Stand in der armenischen 
V ersion. Der Kaufmann verlangt vom Konige eine Schlitzwache 
nnd erhalt sie. Was soli behiitet werden? Ein Vorbild in der 
griechischen Placidas-Legende fehlt. Natiirlich ist, daB znnachst 
an die kostbaren Waaren des Kaufmanns gedacbt wird. Nicbt selten 
heiBt es , der Konig habe den Kaufmann zn sich in den Palast 
eingeladen und zu Schutz der Frau oder der Waaren fiir diese 
Nacht eine Wache gesendet. Durch ungeschickte Kiirzung ent- 
stellt scheint die Armenische Version; ‘Ein reicher Kaufmann 
tritt vor ihn und fordert ihn auf, sein Weib, welches in einen 
Kasten gesperrt ist, streng bewachen zu lassen’. Ob die Kisten 
oder Kasten, in denen als in Damencoupd’s die Frauen von den 
Karawanen neben den Waarenballen befordert wurden, fiir Ge- 
fangnisse angesehen worden sind? 

Bei Karawanen ist die Wache einfach zn verstehen ; die am 
Boden liegenden Waarenballen oder Frauenkisten soUten behiitet 
werden. So heiBt es ganz simpel in der I. aramaischen Ge- 
schichte (S. 113): ‘Die Wachen setzten sich auf den Frachtgiitern 
vor einer Kiste (Frauenkiste ?) nieder’ und S. 197: ‘Seine Kara- 
wane lagerte vor der Stadt und er kam zum Konig, um ihn um 
Wachter zu bitten, die ihm in der Nacht Wachterdienste leisten 
sollten . . . Diese gingen des Nachts bin und setzten sich zur 
Wacht vor jenem Kasten nieder, in dem sich ihre Mutter befand. 
Daselbst saBen sie, bis die Nacht einbrach’. Minder deutlich ist 
die Notwendigkeit von Wachen bei den Schiffen. Da werden als 
Ursache genannt besonders kostbare Waaren oder das unter zncht- 
losem Schiffsvolk zuriickgelassene Weib. 

(Die Erzahlung). Die Briider und die Mutter sind jetzt 
an einen Ort zusammengebracht. Es handelt sich znnachst darnm, 
daB die Briider sich als Briider wiedererkennen und daB die Mutter 
in ihnen ihre Kinder wieder erkennt. Das wind sowohl in der 
griechischen Legende, als in sammtlichen Versionen der Wanderge- 



90 


Alfons Hilka and Wilhelm Meyer, 


schichte dadurch erreicht, da6 wichtige Ereignisse aus dem frd- 
heren Leben der betreffenden Personen erzahit werden. Das sind 
in der Placidaslegende der Ranb der Frau durch den ScMffsherrn 
und der FluBiibergang des Vaters and der zwei Sohne unter Be- 
drohung von Lowe and Wolf. Diese Wiederholung ist in der 
Legende so ausfuhrlich, dad ich S. 752 diesen Erinnerungsbericht 
zur Erklamng der ersten Erzahlvmg benutzt babe. 

Friiher (Nachricbten 1916 S. 786) babe icb bebauptet, der in 
den orientaliscben Wandergescbichten entbaltene Ausscbnitt der 
griecbiscben Placidas - Legende babe nacli dem 7. J abrbundert p. 
Cbr. das Tbor einer primitiven Umgestaltnng passiert, welcbe icb 
die orientaliscbe Urform nannte. Diese orientaliscbe Urform babe 
manche Ziige des Legendentextes nmgestaltet ; z. B. babe sie beim 
Flafiiibergang den Lowen ganz weggelassen, babe den einen Knaben 
vom WoKe geraubt werden lassen, den andern aber vom Vater 
auf den Scbultern getragen werden nnd von da ins Wasser berab 
sinken lassen. 

Gut, machen wir bier die Probe. Solche wiederbolten Be- 
richte sind fiir die Erzabler meistens eine lastige und langweilige 
Sacbe und werden desbalb gern auf andere Weise abgemacbt oder 
gekiirzt. So sagt bier der A r m e n i e r kurz : ‘In der Nacbt, als 
sie auf der Wacbt stebeu, erzablen sie sich ihre Schicksale; 
da findet sich, da6 sie Briider sind. Indessen pocht das Weib an 
die Thiire des Kastens und ruft ihnen zu, sie mbchten anfmachen, 
sie babe ihr Gesprach gehort und daraus erkannt , dafi sie ihre 
Sohne seien’. Der I. aramaische Bericht (S. 112) will lastige 
Breite nnd Wiederholung vermeiden und sagt fast drollig; ‘Er- 
zahle uns eine kleine Gescbicbte, damit wir nicht einschlafen’. 

Der eine von ihnen begann darauf zu erzablen und sprach; “So 
und so. Ich hatte Vater, Mutter und einen Bruder. Auf die und 
die Weise ist meine Mutter von einem Kaufmann durch List ent- 
fuhrt worden”, und erzahite ihm, wie es sich zngetragen hatte. 

In der Kiste war aber eine Frau, und die war ihre Mutter. Als 
er nun erzablt hatte, sprach der andere junge Mann: ‘Bei Gott, 
du bist mein Bruder. Auch mir ist es ergangen wie dir’. Als 
die Frau das borte, sagte sie: ‘Bei Gott, das sind meine Kinder’. 
Sie schlug dann einmal an die Kiste, worauf diese zerbrach, und 
sie berausging. ‘Ihr seid meine Kinder’, rief sie aus. ‘Auch mir 
ist es so ergangen; ich bin eure Mutter’. 

Dagegen das entsprechende Stiick des II. Aramaischen Be- 
ricbtes (S. 197/8) entspricht alien Erfordernissen der Erzahlerkunst. 
Jede Person, die Mutter wie die Briider. bekommt das zu ihrer 



fiber die Beu-aramaische Placidas-Wandergeschichte. 


91 


tiberzeagnng nothwendige Stiick Erzahlung zu horen and das in 
der geanderten Fasstmg der orientalischen Urfonn (obne Lowen), 
wefikalb ich es schon oben (S. 87) citirt babe. Das Granze lantet: 
‘Daselbst saBen sie, bis die Nacbt einbrach. Da sagte einer zum 
andern: ‘Erzable uns ein Abenteuer, das dir begegnet ist’. Der 
andere sprach: ‘0, was soil icb dir sagen, Freund? Was mir 
widerfabren ist. ist noch keinem Menschen widerfahren. Was soil 
icb dir erzablen? Den Fall, dafi ein Jnde meine Mutter wegge- 
fiibrt hat? Oder den Fall, dafi icb und mein Vater einen FluB 
iiberschreiten wollten, und dafi da mein Bmder von einem Wolfe 
gepackt wurde ?, und, als ich es dann meinem V ater sagte , ich 
infolge seiner Angst und seines Schmerzes von seinen Scbultern 
herabfiel und davonscbwamm , dann von MiiUem an einer Miihle 
aufgegriffen wurde und nacb dem Dorfe kam , in dem ich dann 
lebte’. Bevor er nocb mit seiner Erzahlung fertig war , sprang 
sein Bmder anf, fiel ibm um den Hals und begann ihn zu kiissen ; 
‘du bist mein Bruder’, rief er, ‘und ich bin jener dein Bmder, der 
vom Wolfe davon getragen wurde’. Ibre Mutter borte ihren Sohn. 
Da erbrach sie den Fasten, sprang heraus, fiel ihren Kindern um 
den Hals, nmarmte sie und begann sie zu kiissen. 

Diese Hecapitulation der Geschicbte des Flufiiiberganges ist 
sehr geschickt gemacht ; sie ist aber nicht aus dem Text der Pla- 
cidaslegende (Kap. 17) genommen, sondern sie enthielt schon die 
zweite, geanderte Darstellung dieses Ubergangs. Nicbts wird ge- 
sagt von einem raubenden Lowen; der zweite Sohn wird auf der 
Scbnlter vom Vater getragen und schreit um Hilfe fiir seinen 
alteren Bruder, als den ein W olf am Lande anpackt. Mithin haben 
wir durcbaus die Darstellung des abcorrigirten griechischen Le- 
gendentextes d. h. der orientalischen Urform vor uns. Die I. Fas- 
simg (S. 112) erspart sich zwar die Wider holung der Thatsachen 
durch das kindliche ‘So und so’ und 'die und die’, sie stimmte 
aber olfenbar mit der II. Fassung uberein. Mithin hat die ara- 
maisc he Version (der I und II Fassung) uns hier ein werthvolles 
Stiick des abcorrigirten Textes der Pla,cidaslegende, also der orien- 
talischen Urform, in aramaischer Ubersetzung erhalten. 

Mit dieser Recapitulation des friiheren Vorganges verbinden 
sich schon im griechischen Texte der Placidaslegende Bemerkungen 
des zuhorenden jiingern Bruders. Bolland S. 133 Anfang: Tauta 
dxooaac o vediispoc xapd too Tcpeopoxspot) dSsXipou, avsjnifiTjaev xXattnv 
xai XdY«>v • Ma riiv Sovapiiv xoo Xptaxoo aSsXf dc non xoYxdvw • kyvapiaix 
jap, a diriy^adi |i.ot ■ xal oi kp.h ^dp dva^pe(j)a(j.evot tabxd [lot IXsyov, on 



92 


Alfons Hilka und Wilhelm Meyer, 


ix Auxou as sppoadtfts^a. Kai 7rcptXa_3<bv’ auTov xarsfiXsi. ’Axoooaca 
di Ta'JTa [ivjTYjp . . . 

Mit diesen Satzchen der Placidaslegende vergleiche man die 
folgenden Satzchen der I. Fassung der aramaischen Wanderge- 
schichte S. 112: ‘Als er nun erzahlt hatte, sprach der andere 
jnnge Mann: ‘Bei Gott, da hist mein Bruder. Anch mir ist es 
ergangen wie dir’. Als die Fran das horte, sagte sie : ‘Bei Gott, 
das sind meine Kinder’. Noch scharfer aber vgl. man die ent- 
sprechenden Satzchen der II. aramaischen Fassung (S. 198): ‘Be- 
vor er noch mit seiner Erzahlnng fertig war, sprang sein Bruder 
auf, fiel ihm um den Hals and begann ihn zu kiissen. ‘Du bist 
mein Bruder’, rief er, ‘and ich bin jener dein Bruder , der vom 
Wolfe davongetragen wurde’. 

Man wird ohne Weiteres zugeben, die Ubereinstimmung dieser 
aramaischen Satze mit denen der griechischen Placidaslegende ist 
vollkommen. flier handelt es sich nicht um Ahnlichkeiten der 
Worte und Gedanken, die entstehen konnen, wenn ein Erzahler 
das von einem andern Erzahlte wieder erzahlt, sondem nm Her- 
ubemahme, um tlbersetzung. Der aramaische Erzahler kannte 
aber nicht den Text der griechischen Placidaslegende. sondern 
hochstens den Text des Ausschnittes. Es ist ja auch ganz nattir- 
lich, dad der, welcher diesen Ausschnitt fur weitere Erzabler- 
zwecke machte, d. h. die orientalische Urform schuf, diese packenden 
Satze der Placidaslegende nicht gestrichen hat. 

Demnach hatten wir also auch hier das Eesultat, dad die II. 
Fassung der aramaischen Version der Wandergeschichte Stiicke 
der orientaJischen Urform in tlbersetzung uns erhalten hat. 

Wir haben also hier den eigenartigen und in dei* Folklore 
gewid seltenen Fall, dad ein folkloristischer Text mit einem andem 
Bericht in einigen Satzen sachlich und wortlich durchaus iiberein- 
stimmt. Wenn nun, wie Bousset annimmt. diese Wanderge- 
schichte im femen Indien geboren ist, dann miindlich von einem 
Erzahler dem andern mitgeteUt allmahlich nach Westen gelangt 
ist, kann da eine der letzten mundlichen Versionen, wie die ara- 
maische II., mit der allerletzten Version, der literarisch fixirten 
griechischen Placidaslegende, im Wortlaut und im Inhalt mehrerer 
Satze genau ubereinstimmen ? Ich wudte nicht, wie das moglich 
ware. Dedhalb kann ich Bousset’s These, diese Geschichte sei in 
alten Zeiten beim indischen Volke in aller Stille geboren, dann 
durch verschiedene Volker Asiens langsam weiter gewandert und 
zuletzt in Griechenland durch Umwandlung in die Placidaslegende 
wiedergeboren und literarisch fixirt worden, nicht fiir richtig halten. 



iiber die neu-arainaische Placidas-Wandergeschichte. 


93 


Denn wie konnte ein Stuck der nock fliissigen Wandergeschickte 
mit der nock nickt fixirten Legende wortlick und sacklick gleick 
sein. 

Da also kier die neu-aramaiscke Version der Placidas-Wander- 
gesckickte in etlicken Satzen mit der grieckiscken Placidaslegende 
sacklick und wortlick iikerein stimmt, so ist damit bewiesen, dad 
nickt , wie Bousset meint , die grieckiscke Placidaslegende eine 
weiter entwickelte, also spatere Version der Placidas-Wanderge- 
sckickte ist, sondem daB vielmekr die neu-aramaiscke Wanderge- 
sckickte aus der grieckiscken Placidaslegende sick entwickelt kat, 
in diesem Palle so, daB nach dem 7. ckristlicken Jakrkundert das 
Mittelstiick der grieckiscken Placidaslegende ansgescknitten und 
mit etlicker IJberarbeitung zu einer selbstandigen Erzahlung her- 
gerichtet und in eine der dortigen Landesspracken, wie die arme- 
niscke oder neu-aramaisehe, iibersetzt wurde. Dabei blieben einige 
geeigneten Satze, mit dem Inhalte und dem Wortgefuge des grie- 
chischen Legendentextes in ziemlich getreuer IJbersetznng stehen. 
Den mittelasiatischen Geschichtenerzahlern iiberlassen , ist diese 
neue Geschichte dann durch Asien bis nack Indien gewandert, im 
Munde jedes neuen Erzahlers eine neue Metamorpkose erlebend. 
Aber die Mutter all dieser orientalischen Placidas-Wandergeschichten 
bleibt der Text der griechischen Placidaslegende. Es zeigt sick 
aber durchaus kein verniinftiger Widersprnck gegen das, was W. 
Meyer behauptet hat, d. h. dagegen, dafi dieser grieckiscke Text 
der Placidaslegende die Umarbeitung eines im 5./'6. entstandenen 
lateinischen gewesen ist. 

Die Katastrophe. Die Briider kaben sick gegenseitig 
erkannt und die Mutter ikre Sohne : es feklt nur nock, daB der 
Vater die Sohne und die Mutter und daB diese den Vater erkennen. 
Dazu soli helfen ein V erschulden der Sohne oder der Mutter, wo- 
durch diese vor das Konigsgericht des Vaters gebracht werden. 
Dies Verschulden bestekt in dem Verdacht, daB die beiden Wachter 
die zu bewachende Frau vergewaltigt batten. Das lag nahe, da 
die Scene des gegenseitigen Erkennens lebhaftes Reden und Ver- 
handeln herbeifiihrte, sie aber eigentlich gar nichts mit einander 
zu verhandeln batten. Gerade an solchen Punkten der Verwick- 
lungen strengte die Phantasie der geschickten Erzakler sick an, 
neue Wege der Losungen zu finden. In der Geschichte aus 1001 
Nacht (no 1 Bousset S. 480) umarmen Mutter und Sohne, die sick 
eben erkannt kaben, sick in lebhafter Freude, da kommt der Kauf- 
mann dariiber zu und schleppt sie vor den Konig. Von den Be- 
richten, die uns bis jetzt gut gefiihrt kaben, berichtet der sonst 



94 Alfons Hilka und Wilhelm Meyer, 

beste, der II. aramaische S. 198 Ahaliches: ‘Die Mutter er- 
brach den Kasten, sprang herans, fiel ibren Kindem nm den Hals, 
nmarmte sie und begann sie zn kiissen. In dem Angenblicke 
wachte der Jude auf. Da erhob er sich, ging zum Konig und be- 
klagte sick fiber sie, namlich ; “ Jene zwei Diener , die du beauf- 
tragt hast , meine Karawane und meine Habe zu bewachen, er- 
wiesen sich als unzuverlassig. Denn sie erbrachen den Kasten 
meiner Frau und schliefen beiihr**. Da ergrimmte der Konig sehr 
und schickte sofort nach ihnen und lieB sie vor sich bringen mu'. 
Aber der Kaufmann hat ja des Nachts nichts bei der Karawane 
vor den Stadtthoren zu thun ; dazu sind die Wachter da. 

Ich glaube, hier ist diese II. Fassung vom Erzahler willkfir- 
lich abgeandert, und das Ursprungliche der aramaischen Version 
bietet die I. Fassung (S. 112): ‘Ihr seid meine Kinder’ rief sie 
aus, ‘Auch mir ist es so ergangen; ich bin eure Mutter’. Da 
freuten sie sich und erzahlten sich bis Mittemacht und darauf 
legten sie sich hin ; der erne an die eine und der andere an die 
andere Seite von ihr, [und sie blieben so] bis zum Morgen. Am 
Morgen kam der Jude, der Kanfmann, um nach der Ladung und 
der Kiste zu sehen; da sah er aber, daB die Kiste erbrochen war 
und daB die zwei Diener neben der Frau schliefen. Kaum sah er 
das, als er zum Konig zurfickkehrte’ Diese aramaische 

Version halte ich ffir natfirlicher und besonders auch deBwegen 
fiir die richtige . well sie wiederum durchaus fibereinstimmt mit 
der armenischen Version, so stark diese auch gekiirzt ist (Haxt- 
hausen S. 334/5): ‘Sie befreien die Mutter und erzahlen sich alle 
ihre Schicksale; dann schliefen sie zusammen ein. So findet sie 
am Morgen der Kaufmann, lauft zum Konig und schreit um Rache. 
Aber bald klart sich AUes auf, der Konig findet in ihnen Frau 
und Kinder wieder und der Kaufmann wird enthauptet. (Bousset 
S. 481 lafit ‘am Morgen’ weg und fahrt weiter: und verklagt die 
Brfider vor dem Konig; es kommt zum Verhor, bei dem natfirlich 
die Glieder der Familie sich alle wieder zusammen finden. Der 
Kaufmann erhiilt seine gebfihrende Strafe, er wird enthauptet). 

Ich mochte noch auf den SchluB von Aramaisch II (S. 198) 
anfmerksam machen. Erzahlt die Armenische Version im An- 
fang die freigegebene Wahl der Zeit des Unglficks mit dem Zn- 
satz •Nun stfirmt das Unglfick auf ihn ein’ und markirt sie in der 
Mitte mit den Worten ‘Nun nahet sich ihm alles Glfick’ den Hohe- 
punkt der Geschichte, so geben die SchluB worte des Aramaers 
II 198: ‘Dann priesen sie Gott, der sie noch in dieser Welt, vor 



liber die neu-aramaiscbe Placidas-Wandergeschichte. 95 

dem Tode, wieder vereinigt hatte’, gewissermaSen den richtigen 
SchloB der armenischen Version 

Diese zwei neu - aramaischen Texte der Placidas - Wanderge- 
scMchte sind eine gliickliche Bereiclierung dieser Literatur. Der 
Erzahler beweist seine Geschieklichkeit , indem er den Stoff von 
der Meereskiiste in die Wiiste und in das Treiben der Karawanen 
verlegt, wo er und seine Zubbrer zu Haase sind. Ferner erzahlt 
besonders die II. Fassung dnrchaus geschickt, nahert sich aber in 
Vielem dem Wortlaut der abcorrigirten Fassnng der Placidas-Le- 
gende; so daB die Vermuthnng sich regen darf, in diesen armenisch- 
aramaischen Grenzlanden sei nicht nur nm das 7. oder 8. christ- 
liche Jahrhundert das Mittelstiick der Placidaslegende als selbat- 
standige Geschichte ausgelost nnd durch maneherlei Textes^derung 
gebessert worden, sondem es sei auch eine Ubersetzung gemacht 
Worden, von der besonders im II. Aramaischen Text S. 195/8 be- 
trachtliche Uberreste erhalten sind. 



Studien zu Konrad von Wurzburg IV. V. 

Von 

Edward ScLrSder. 

Vorgelegt in der Sitziing vom 23. Dezember 1916. 


Die nachstehenden beiden Kapitel meiner Konrad-Studien sind 
im Entwurf alter als die drei ersten, welche ich vor genau fiinf 
Jahren vorgelegt habe^). Sie wurden zuriickgehalten bis eine 
Untersachung fiber die handschriftliche TJberliefertmg der kleinen 
Erzahlungen (‘Herzmare’, ‘Weltlohn’, ‘Otto’) fertiggestellt sein 
wUrde, und soUten mit einem Schlufikapitel erscheinen das alle 
Ergebnisse nnd Erwagungen zu einer neuen chronologischen Ta- 
belle zusammenfaBte. Nachdem aber der Krieg meine wissenschalt- 
liche Arbeit durch mehr als zwei Jahre lahm gelegt hat, bring ich 
jetzt zum Drucke was bereit liegt. Ich kann versprechen, da^B die 
Prolegomena zur Ausgabe der kleinen Erzahlungen als Ko. VI im 
Laufe des Jahres 1917 folgen werden, dann aber wird die Be- 
scbaftigung mit Konrad von Wfirzburg vor andern Arbeiten zu- 
rficktreten mfissen. Ich werde nicht groUen wenn ein anderer 
auf meinen Studien weiterbauend die Zeitfolge der Werke noch 
naher zu bestimmen unternimmt. 

IV. Die Easier und die Strassburger Gonner des Dichters. 

Seit Franz Pfeiffer in der Germania 12 (1867), S. 18 ff. in 
Erganzung frfiherer Ansatze von Hanpt und Wackemagel ans den 
damals vorhandenen Urkundenwerken , vor allem aus Trouillats 
‘Monuments de I’ancien eveche de Bale’ (1852 ff.), mit wenig Kritik 

1) Studien zu Eonrad von Wurzburg I— III, GGN. phil.-hist. Kl. 1912, 
S. 1-47. 



Edward Schroder, Studien zu Konrad von Wurzburg IV. 


97 


ausgezogen hat was sich ihm auf die Easier Goimer des Dichters 
zu beziehen schien, hat man sich um die urkundlichen Zeugnisse 
nicht weiter bemiiht: insbesondere Baechtold in seiner Geschichte 
der deutschen Litteratur in der Schweiz S. 116 ff. und Golther in 
dem Artikel ‘Konrad von Wurzburg’ der ADB. 44, 356 if. haben 
sich bei Pfeiffers Ergebnissen beruhigt. Das ausgezeichnete ‘Ur- 
kundenbuch der Stadt Basel’ aber, dessen drei erste Bande Rudolf 
Wackernagel schon 1890 — 1896 ans Licht brachte^), fordert zu 
einer Nachprufung heraus und macht sie dem Germanisten geradezu 
zur Pilicht, nachdem der Herausgeber selbst in seiner ‘Geschichte 
der Stadt Basel’ (Bd. I 1907, Bd. II 1911. 1916) den reichen ge- 
schichtlichen Ertrag iiberaus lebensvoll gestaltet hat. 

Konrad von Wurzburg hat seine drei Legenden und die beiden 
nmfangreichsten epischen Werke im Auftrag von Easier Gbnnern 
gedichtet, deren er im ganzen acht namhaft macht. Wir beginnen 
mit dem 

1. ‘Silvester’. Nach dem Prolog V. 80 ff. war es 1071 Uvekn- 
leiti her Liutolt der die Anregung zu dem Werke gab: V. 90 ff. 
der selbe tugentriche man der 77iich kier mtibe alsus erhat, der hut 
..'i< Basel in der stut suo derti tuome phriicnde. Da Konrad bei Ber- 
told von Tiersberg (im ‘Otto’) die Wurde des Propstes, bei Diet- 
rich am Ort (im ‘Trojanerkrieg’) die des Sangers ausdrucklich 
hervorhebt, erscheint es ausgeschlossen, da6 Leutold von Roeteln 
damals schon eines der Amter bekleidete die ihm im spatern Ver- 
lauf seines Lebens zugefallen sind. Pfeiffer, der ihn erst zum J. 
1281 als Erzpriester (archidiaconus) nachweisen konnte, begniigte 
sich mit diesem terminus ante quern. Denn die Anfange von Leu- 
tolcis geistlicher Laufbahn schienen ihm soweit zuriickzureichen 
da6 damit nichts anzufangen war. 

In der Eamilie der Edelherren von Roeteln '^) ist der Name 
•Liutolt’ seit Generationen fur einen der jungeren Sohne iiblich ge- 
wesen; so kommt es da6 wir eine gauze Anzahl seiner Trager 
im geistlichen Stande antreffen: auch auf den Bischofsstuhl von 
Basel, der unserm Leutold zweimal erreicht zu sein schien hat 
schon 1238—1248 ein Leutold (II) von Roeteln gesessen. 

Konrads Gbnner war der jiingste von drei Sohnen des mit 
einer Griifin von Neuenburg verheirateten Herrn Konrad von Roe- 
teln, der von 1229 bis 1259 urkundlich nachweisbar ist (Schoepflin, 

1) Ich zitiere das Werk als BUB., es ist in den Einzelnachweisen uberall 
gemeint, wo ohne Titelangabe nach Band und Seite zitiert wird, 

2) SchloB Rdtteln auf dem rechten Ufer der Wiese oberhalb Lbrracb. 

Kgl. Ges, d. Wiss. Nachrichten. I’hil.-hist. Klasse. 1917. Heft 1. 7 



98 


Edward Schroder, 


Hist. Zaringo Badensis I 457 f., Krieger, Topograph. Worterbuch 
d. Grherzt. Baden II ^ Sp. 680 f.). Die altem Briider hie6en Otto 
rmd Walther; uber das spatere Leben Walthers, der zuerst mit 
dem Vater zusammen 1259 in einer auf Schlofi Roeteln ausgestellten 
Urknnde (BUB. I 260, 24) erscheint, fehlt es an Nachrichten ; er 
ist anscheinend ohne Nachkommen gestorben. Otto, der alteste. 
starb erst 1309, nnd als ihm 1311 sein einziger iiberlebender Sohn 
im Tode folgte, wurde dieser von seinem Vatersbruder dem Dom- 
propst Lentold und dem Markgrafen RndoK von Baden-Hachburg 
gemeinsam beerbt. Gegen Ende des Jahres 1315 starb anch hoch- 
betagt nnd als der letzte seines Stammes Lentold, und nun tiel 
das ganze roetelnsche Erbe an den jnngen Markgrafen Heinrich, 
dessen Mutter eine Roeteln, gewesen sein mu6, wahrscheinlich die 
Schwester des 1311 f jiingern Walther, also eine Nichte Leutolds, 
den Markgraf Heinrich seinen ‘oeheim seligen’ nennt. Von da an 
hat sich die Sausenberger Linie der Markgrafen von Baden-Hach- 
berg mit Vorliebe nach der Herrschaft ‘Rotteln’ genannt und auch 
auf dem Schlosse gleichen Namens residiert, das 1638 von Bern- 
hard von Weimar zerstort wurde. 

Wie weit konnen wir nun unsern Leutold und insbesondere 
seine geistliche Laufbahn zuriiekverfolgen ? Nach der bisherigen 
Annahme, nicht nur Pfeiffers, sondern auch noch Kriegers a. a. 0. 
und Rud. Wackemagels, Geschichte I 122 (unten) *) bis 1243 ! In 
einer undatierten Originalurkunde, die aber auf die Zeit von 1242 
Dez. 25 bis 1243 Sept. 23 festzulegen ist, erscheint in der Tat als 
Zeuge Luttoldus de Rotenlein can. Hasiliensis (BUB. I 116, 2). Aber 
soil dieser meinetwegen 1243 noch recht jugendliche Domherr wirk- 
lich derselbe sein den man im J. 1309, also 64 Jahre spater zum 
Bischof wahlen konnte? Unmoglich! Und es treten noch weitere 
Bedenken hinzu. Wir haben eine Urknnde Bischof Bertolds von 
Basel von 1258 Nov. 11, an welche der Vater Konrad von Roeteln 
sein Siegel neben die der Grafen Rudolf und Gottfried von Habs- 
burg und des Edelherrn Rudolf von Usenberg gehangt hat (Trouillat 
I 654) : diese Urknnde ist von dem anscheinend vollzahligen Kapitel 
beschworen; die 18 Domherren werden zweimal namentlich auf- 
gefiihrt — und gerade hier fehlt Leutold! 

Wir nehmen nun einen festen Ausgangspunkt , die Urkimde 
BUB. I No. 456, 1265 Aug. 11 : Lvtohlus de Botelein canonicus Ba- 
siliensis, Otto et Waltherus domini de Botelein fratres eiusdem (S. 330, 


1) Freilich sagt Wackernagel davon abweichend und richtig S. 229: Leutold 
habe 1309 ‘seit einem halben Jahrhundert im Kapitel gesessen’. 



Studien zn Konrad von Wurzburg IV. 


99 


27 f.). Im gleichen Jahre erscheint Nov. 17 Lutoldus de Roetelnheim 
can. Bas. noch einmal als Zeuge (Trouillat II 159), und gehn wir 
nun weiter zuriick, so treffen wir ihn 1264 Marz (Tr. 11 139), 1264 
Febr. 9 (Trouillat II 138) und noch fruher 1260 Okt. 2 (in zwei 
Urkunden vom gleichen Tage BUB. I No. 386 i. n. , S. 289). In 
dem Zeitraum von 1243 — 1260 aber begegnen wir wohl mehreren 
Liitolden im Baseler Domkapitel *), aber niemals dem Familiennamen 
'von Boetelen’. 

Da unser Leutold im November 1258 dem Kapitel noch nicht 
angehorte, im Oktober 1260 aber als Domherr nachweisbar ist, 
muB er in der Zwischenzeit in den Besitz seiner Pfriinde gelangt 
sein. Fiir diese Jahre spricht auch folgende Beobachtung. In 
seiner groBten Starke (21) erscheint das Domkapitel in der Urkunde 
Trouillat II 138 vom Marz 1264 ; LvB,. steht erst an der 18. Stelle, 
es folgen als Noo. 19 u. 21 Walther von Bamstein und Hugo Kraft, 
die hier zum ersten Male nachweisbar sind, und als No. 20 Jakob 
Reizo, der zufriihst 1260 Mai 11 (BUB. 1 284, 22) auftancht. 

In der Zeit in welche wir die Aufnahme Lentolds setzen, war 
der machtigste Mann des Kapitels Graf Heinrich von Neuenburg, 
der Mutterbruder des jungen Domherrn, Archidiakon seit 1242, 
Propst seit 1260, Koadjutor seit 1261 und faktisch Bischof seit 
1262, obwohl er erst im Marz 1264 die papstliche Bestatigung er- 
hielt (Wackemagel, Geschichte I 32). 

Jener Leutold von Roeteln von 1243, der wenigstens mit sei- 
nem voUen Namen nur das eine Mai in den Basler Urkunden anf- 
taucht, gehort jedenfaUs der vorausgehenden Generation an: er 
ist vielleicht der Vatersbruder des letzten Leutold und sein Pate 
der Zugang zum Kapitel konnte jenem auch durch dessen Ab- 
gang und Andenken erleichtert werden^). 

Ij Der Name ist in dieser Zeit und Landschaft recht hiiufig: auch mit LvR. 
zusammen treffen wir im Kapitel 1264 (TrouiUat II 138) einen ^Lutoldus de Cori- 
.'itanda, 1274 (BUB. II 80) einen Livtolt liupriester ze Eggenhein. 

2) Urn weitern Einwurfen von vorn herein zu begegnen, will ich hier gleich 
die zwei oder gar drei geistlichen Namensvettem abtun, die wahrend des 13 Jhs 
anderweit in den Urkunden auftauchen. 1216 — 1230 saBen im Eonstanzer Dom- 
bapitel gleichzeitig zwei Briider AValther und Leutold von Roeteln: Walther i&t 
dort bereits seit 1209 nachweisbar, Leutold noch bis 1236 (Regg. epp. Const. I 
Register Sp. 342». 343>>); auf Leutold bezieht das Regest No. 1674 auch den ‘L. 
de R. archidiaconus Brischaugie’ zwischen 1233 und 1248, auf w'elchen in einer 
spateren Urkunde hingewiesen wird (BUB. II 378, 34). Es ist nicht ansgeschlossen 
daC es dieser Konstanzer Domherr war der 1238 den Basler Bischofsstuhl be- 
stieg. Davon sind zu unterscheiden der Basler Domherr von 1243 und der Lui- 
toldns de Roitenlein archidiaconus in Vricgowe von 1256 (Zs. f. Gesch. d. Obrh. 



100 


Edward Schroder, 


Wann ist nun LvR. in Basel zn einer hohern Wiirde aufgeriickt ? 
Pfeiffer meinte: erst 1281; das BTJB. II (No. 218) 125, 45 zeigt 
ihn schon 1277 Marz 9 als Erzpriester: Lutoldus de Rot el e in 
ar chidia conus an der Spitze der Zengenliste. Sein Vorganger 
in dieseru Amte erscheint znm letzten Male 1274 Aug. 25 (No. 146, 
S. 80,4): Livtolt von Rotenlein, Reter der erzepriester. Aber 
wir konnen diese Liicke schlieBen nnd den Zeitpnnkt genaner be- 
stimmen zn dem LvR. Archidiakon der Busier Kirche wurde, denn 
er war zweifellos der unmittelbare Nachfolger des Peter Reich 
(‘Petrus Divitis’), nnd der hat sein Amt bereits im Spatjahr 1274 
niedergelegt. Am 13. Sept. 1274 starb Bischof Heinrich von Nenen- 
bnrg, und das Kapitel wahlte zn seinem Nachfolger den Erzpriester 
Peter Reich; aber Peter erhielt nicht die papstliche Bestatigung, 
statt seiner wurde der Eranziskaner-Lesemeister Heinrich von Isny 
znm Bischof von Basel ernannt (Wackernagel, Greschichte I 41f.), 
und wenn dieser anch erst am 18. November 1275 in Basel einzog, 
so hat doch sicherlich Peter Reich schon lange vorher den Boden 
•yerlassen, anf dem er die erste groBe Enttanschung erlebt und wo 
er als Archidiakon bereits einen Nachfolger in Leutold von Roeteln 
gefunden hatte. Die Regesten von Mainz gestatten freilich nicht 
festzustellen , seit wann Peter Reich als Dompropst dort weilte: 
im Busier Material ist er als solcher erst 1276 Anfang Mai (II 
108, 20) nnd 1277 Marz 10 (II 127, 1 , No. 219, leicht verandertes 
Transsnmpt von No. 146) nachweisbar. 

Da der ‘Silvester’ den Domherrn Leutold von Roeteln mit 
keiner hohem Wiirde bedenkt, muB er vor dem Spatjahr 1274 
entstanden sein — dieser terminus ante quern liegt aber der Ent- 
stehung gewiB schon ziemlich fern : wir haben vorlaufig den breiten 
Zeitraum von da riickwarts bis zn Lentolds Eintritt in das Busier 
Kapitel, der zwischen 1258 und 1260 erfolgt ist. 

Die weitere Karriere Lentolds von Roeteln spielte .sich nach 
dem Tode Konrads ab und soil darum hier nur kurz skizziert 
werden. Im J. 1288 oder 1289 wurde er Dompropst: sein Vor- 
ganger Mag. Otto erscheint als solcher zuletzt 1287 Aug. 1 (Trouillat 
n 443), Leutold zum ersten Male 1289 April 21 (BUB. Ill 367, 13), 
aber da Ottos Kapellan Dietrich noch 1288 Sept. 4 (III 353, 15) 
als Zeuge urkundet, muB der Tod Ottos und Lentolds Anfrilcken 
in die Zwischenzeit fallen. Als Dompropst hat LvR. zu wieder- 


15, 162) — Schliefilich sei erwahnt, daB auch der letzte LvR neben seiner Basler 
Stelle eine Pfriinde in Konstanz besaB: Regg. Noo. 2555 (1282), 3245 (1301 Kov. 
22: in seiner Konstanzer Kurie ausgestellt) . 3511 (1309 Sept. 12), 



Studien za Konrad von Wurzburg IV. 


101 


holten Malen das Greneralvikariat ausgeiibt (Trouillat II 580 ; 1295 
Mai 7; II 669: 1298 vor Okt. 6). Nach dem Tode Peter Reichs 
(t 3 Sept. 1296) waMte ihn eine Partei des Kapitels zu dessen 
Nachfolger, die Stimmen der tibrigen fielen anf den Domherm Ber- 
told von Riiti, Propst von Solothurn — der Papst verwarf beide 
and gab das Bistnm an Peter von Aspelt (Wackernagel, Gieschichte 
I 221 f.). Als dieser am 10. Nov. 1306 Erzbiscbof von Mainz wurde, 
griff der Papst sofort ein und ernannte znm Bischof von Basel 
Otto von Grandson, der seit knrzem Bischof von Toni war ; dieser 
starb schon im Juli 1309, und ihm folgte, abermals durch papst- 
liche Emennung, der Bischof von Lausanne Gerhard von Wippingen. 
Biesmal aber lieB sich das Kapitel sein Wahlrecht nicht ohne wei- 
teres nehmen und wahlte, es scheint mit groBerer Einhelligkeit, 
den greisen Dompropst Leutold von Roeteln zum Bischof von Basel ; 
als solcher hat er unterm 9. Oktober 1309 die Handfeste fiir Klein- 
Basel (BUB. IV 10) gezeichnet. Die schwere Not welche nunmehr 
iiber die Stadt hereinbrach, das Interdikt, die Exkommunikation 
Leutolds schildert W ackemagel a. a. O. S. 228 f. Leutold muBte die 
Stadt verlassen, kehrte aber wahrscheinlich im J. 1312 zuriick und 
durfte die Dompropstei wieder einnehmen. Am 18. Dezember 1315 hat 
er vor dem bischbflichen Offizial sein Testament gemacht (Schopflin 
I 460; Fester, Regesten h 594), ‘debilis corpore, mente tamen 
sanus’, also jedenfalls in articulo mortis; er wird bald darauf ge- 
storben sein. Unterm 19. Mai 1316 nennt sich sein GroBneffe 
und Erbe Markgraf Heinrich in der ersten Urkxmde die wir von 
ihm haben. ‘Herr von Rotteln’ (Fester, Regesten h 595)*). 

2. ‘Alexius’. Von Basel zicene burger (V. 1360) haben die 
Anregung zu dem Gedicht gegeben und durch ihre Spenden den 
Dichter zum AbschluB^ gebracht: von BermeswiJ Johannes 
unde ouch Heinrich Isenlin. Haupt und Pfeiffer konnten nur 
den zweiten urkundlich feststellen; ich erganze die Zeugnisse aus 
dem BUB., wo er sich mehr als ein Dutzendmal nachweisen laBt: 
zufriihst 1265 Aug. 11 Heinricus Isenli (I 331, 12) • weiter 1267 
(I 349,41), 1268 (II 8,38f.), 1269 (II 12,37. 13,27)’ 1276 (n 103 
21), 1277 (II 127,10. 136,41), 1279 (II 155,21), 1288 Sept. 19 J 
Htinricus Isenlinus et Johannes dictiis de Argiiel procuratores Hospi- 
taiis Basiliensis (n 353, 29 f.), 1291 (III 18,5), 1293 (IH 63,23’ 
64. 2), 1294 Sept. 25 (III 102, 42). Als gestorben wird er erwahnt 


1) Es ist wohl nur ein Versehen Wackernagels, wenn er a. a. 0. S. 229 unten 
den 19. Mai 1810 als Leutolds Todestag bezeichnet. 



102 


Edward Schroder 


1299 April 6: iuxta bona quondam Henrici dicti Isenlis (III 250. 
15) — er hat also den Dichter um 7 — 11 Jahre iiberlebt. 

Zum Gliick helfen die wenigen neuen Daten die fiir Johannes 
von Barschwil znr Verfiigung stehen. Die Familie ‘von Ber- 
meswilr’ (Barschwil im Kant. Solothurn, sw. Laufen) war anschei- 
nend erst in den 1260er Jahren nach Basel gekommen and hatte 
vielleicht gleichzeitig oder in knrzer Folge durch zwei ihrer Mit- 
glieder, wahrscheinlich Briider, das Biirgerrecht erworben. Petrus 
de Bermesivilr civ. Has., wahrscheinlich der altere, begegnet in 7 
Urkunden der Jahre 1260 — 1283, vgl. Register zu BUB. II 415. 
Wenig spater tritt der nns naher angehende Johannes aaf: Jo- 
hannes dictus de Bermesivilr civis Basiliensis 1273 Juli 11 (II 61, 
27 f.). Aber die nachste Urknnde die seinen Namen nennt, 1280 
Mai 23 (II 173,24) spricht von einem Toten: Rudolf Haldahiisli 
schenkt seiner Tochter domum suam siiam Spaion qiiam emit et 
quondam fuit Johannes de Bermesivilr. Und sein Tod liegt schon 
reichlich 5 Jahre znriick: die Wittwe Mechtild von Barschwil, die 
nns znerst 1275 Juni 12 (II 94, 32) begegnet, war ohne Zweifel 
seine Gattin. Sie tritt weiterhin 1291 (III 16, 14) ein ihr gehoriges 
Haus zu Erbrecht an Albrecht des Wachtmeisters ab nnd sie ist 
anch jedenfalls die domiiia de Bermesivilr ^) einer Olsberger Urknnde 
von 1299 bei Boos, UB. d. Landschaft Basel I No. 195. Nach der 
Urkunde von 1275 hatte sie einen Sohn, der wahrscheinlich in den 
geistlichen Stand eintrat und als frater Jo. de Bermesivilr einen 
Baseler Eintrag von 1293 mit bezengt (III 72, 9). 

Die Barschwil nnd die Iselin waren Nachbarsleute in Binnin- 
gen; das bezengt schon die Urk. von 1299 und noch dentlicher 
eine solche von 1314 bei Boos I No. 240: contiguum ah uno latere 
bonis . . . dicti Iselin et ab alio latere confinantem se cum bonis dicti 
de Bermiswilr. 

Der Alexins mn6 vor dem Juni 1275 gedichtet sein, und da 
der SUvester zweifellos alter ist, kommen wir fiir den anch anf 
diesem Wege zn demselben Resultat, wie vorhin mit der Fest- 
legnng der Archidiakonatswurde Leutolds : spatester Termin 1274. 

3. ‘Fsiital 60 ii’. Johannes von Argnel, fiir den diese Ee- 
gende geschrieben ist, war oder wurde eine der markantesten Per- 
sonlichkeiten im offentHchen Leben Basels. Er entstammte einem 


1 ) Bei Boos steht Germeswilr, aber Herr Staatsarchivar Dr. Herzog in Aarau 
hat mir unterm 26. 2. 1912 bestatigt, dafl an alien drei Stellen Bermefrjswilr zu 
lesen ist. 



Studien zu Konrad von Wurzburg IV. 


103 


ritteriichen GescLlecht des Juras, von dem ein Zweig in Basel zu- 
gewandert war. Ein Heinricus miles de Arc/iiel besaB schon 1241 
ein Hans anf dem Nadelberg zu Basel (BUB. I 111, 7) — aber 
1280 erscheint Heinricus de Arguel luicus binter den ‘milites’ als 
Zenge (II 178,3); ob es derselbe oder ein Sohn ist, laBt sich nicbt 
feststellen. jedenfalls aber war die Familie in Basel verbiirgert. 
Ein Zweig war freilich in der alien Heimat zuruckgeblieben , wo 
Biscbof Heinrich von Isny (1274 — 1286) die Burg zu einer Trutz- 
feste gegeniiber den Walschen ausbaute: Item in voile S. Imerii 
casinmi forte Arguel edificans inibi meatiini Gallicorum precludit (Mat- 
thias V. Neuenburg ed. Studer S. 21). Wahrend also bei Trouillat 
II 577 unser Johannes de Arguel civ. Has. erscheint, kommt ebenda 
S. 668 f. ein zeitgenossischer Johannes de Arguel miles vor, der mit 
allerlei Verwandtschaft im Jura sitzt (vgl. Wackernagel, Gescbichte 
I 615). 

Der Basler Burger Johannes de Arguel (Johans von Argu(w)cl) 
erscheint zum ersten Mai als Zeuge 1277 April 24 (BUB. II 130, 
30 f.)^); 1281 leiht er dem Kloster Liitzel Giiter zu Attenschweiler 
(II 200, 11 f.) ; 1288 ist er zusanunen mit Heinrich Iselin Pfleger 
des Spitals (II 353, 30) ; 1291 leiht er dem Kloster Wettingen Giiter 
in Klein-Basel zu Erbrecht (III 6,9). Weitere Vorkommen: 1291 
(III 14, 8); 1292 (III 43, 23) ; 1293 (III 53, 26)'; Johann von Argwel 
Schiedsrichter in Sachen des jungen Teufel mit dem Stift S. Leon- 
hard (vgl. Wackernagel, Geschichte I 140); 1294 (Trouillat 11 577); 
1297 Okt. 1 (HI 206,36): Mitglied des Rats; 1297 Nov. 23 (III 
209, 18.33): sein Haus in der PreienstraBe ; 1298 (III 225,23): 
Schiedsrichter im Streit zwischen Basel und Luzern; 1299 ( ITT 
253,10); 1305 (Boos I 166); 1309 Okt. 13 (IV 11,9) steht ‘Johans 
von Arguwel’ neben seinem Antipoden ‘Peter dem Schaler rittere’ 
unter den Zeugen der Handfeste ‘Bischof’ Liitolds fur die Stadt 
Klein-Basel. Noch im J. 1311 (IV 23, 13) gehort er zu den Per- 
sonlichkeiten an welche sich Papst Klemens V. wendet, damit sie 
ihren EinfluB auf die abgesetzten Domherren geltend machen • bald 
darauf muB er gestorben sein. 

Der verbiirgerte RittersproB Johannes de Arguel, cui plebs ud- 
hesif (Matthias von Neuenburg ed. Studer S. 39), ein Mann von 
groBem Vermogen und leidenschaftlicher Energie, war der Fiihrer 
der Demokratie und der heftigste Gegner des gleich temperament- 


1) Er wird hier nicht ausdriicklich ‘civ. Bas.’ genannt, hat aber zweifellos 
bereits das Burgerrecht: die Zeugenliste beginnt mit 4 Bittern, daran schlieBen 
sich 4 Burger mit J. de A. als letztem. 



104 Edward Schroder. 

vollen Ritters, SchultheiBen und Biirgermeisters Peter Schaler. Mit 
ihm wie mit dem Biscliof Peter Reich (1286 — 1296) hatte er wie- 
derholt heftige Konflikte. Das Volk von Basel aber bewahrte sein 
Andenken noch iiber die nachste Generation hinaus (BUB. IV 
248. 249). 

Bei seinem ersten Auftreten in den Urknnden 1277 war er 
jedenfalls noch ein junger Mann, und als einen solchen bezeugt 
ihn deutlich anch die Widmung des ‘Pantaleon’, wo er V. 2140 f. 
i-uii Argue! Johannes der Winhartin tohterhint genannt wird. 

Die Familie ‘Winhart’, nach der schon 1265 die ‘Winharts- 
gasse', die heutige Hntgasse hiefi (I 364,4; vgl. II 176,18. Ill 
58, 36), tritt im Basler TJrknndenbnch erst mit dem Ziinfter Walther 
Winhart (1258 — 1293) auf, neben dem seit 1276 ein Burger Johannes 
Winhart erscheint. In welchem Verhaltnis zu diesem die Wittwe 
Winhart stand, deren Tochter die Mutter des Johann von Argnel 
war, wissen wir nicht: vielleicht gehorte sie (wie der Walther 
Winhart) trotz ihrer Wohlhabenheit den Zunftkreisen an und fand 
Johann von Arguel eben deshalb bei seinem Auftreten so viel 
Widerstand: er gelangte erst 1297 in den Rat. Jedenfalls aber 
war es eine bekannte Baseler Persbnlichkeit ; das bezeugen indi- 
rekt die Urkunden, welche wiederholt eine damns dicta (resp. gaae 
iocatitr) Winluirtinhus nennen; 1258 (I 249, 19) und 1271 (II 38,30). 
Auch Konrad ^•on Wtirzburg diirfte die alte Dame noch gekannt 
haben. 

Der ’Pantaleon' ist unbedingt die jiingste der drei Legenden- 
dichtungen, von denen der ‘Alexius’ vor den Sommer 1275, der 
’Silvester’ vor den Herbst 1274 fallen mu6 ; unter alien Umstanden 
bleibt bis zum ‘Partonopier’ noch bequemer Raum fiir den ‘Pan- 
taleon', den man vorlaufig mit ‘um 1275’ datieren mag. Der Erfolg 
eines litterarischen Auftrages, der von einem vornehmen geistlichen 
Herrn ausgegangen war, reizte zuniichst zwei brave Burger und 
Nachbarslente, ihre Mittel zu einer etwas bescheidenern Bestellung 
bei dem Dichter zusammenzulegen . und ihnen wieder folgte ein 
wohlhabender und ehrgeiziger junger Mann, den diese neumodische 
r,.rm reizte, von der OfFentlichkeit als Macen gepriesen zu werlen. 

4. Fiir den ‘Partonopier" besitzen wir in einer mehr als be- 
denklichen tJberlieferung die Jahreszahl 1277, die ich aber von 
vornherein so wenig wie Pfeiffer und Bartsch ganz ausschalten 
mochte. In der Uberschrift der einzigen vollstandigen Handschrift, 
die zu Hall im Inntal 1471 geschrieben wurde, findet sich namlich 
die Angabe. die Geschichte von dem Grafen Partonopier habe sich 



Studien zu Konrad von Wurzburg H'. 


105 


zugetragen (!) im Jahre 1277. Pfeiffer bei Bartsch S. VI hat dies 
dahin gedeutet, ‘daB der Schreiber eine datierte Handschrift vor 
sich hatte, worin am Schlusse gesagt war, da6 das Gedicht von 
Partonopier im J. 1277 sei vollendet worden’. Ganz gewiB kbnnte 
sich die Jahreszahl nur auf den AbschluB des Gedichtes resp. 
der Handschrift beziehen. 

Von da bis zu Konrads Tode am 31. Aug. 1287 sind e.s noch 
rund zehn Jahre. Von des Dichters Werken entfallen nach dem 
‘Partonopier' mit Sicherheit noch der 'Schwaiiritter'. der ‘Trojaner- 
krieg’ iind das ‘Turnier von Nantes': das j.ind, wenn wir den 
‘Schwanritter’ nach vorn (um hbchstens 281 Ver&e) erganzen, (1642 
+ 40424+ 1156, in Summa) 43222 Verse, d. i. die gate Halfte seiner 
litterarischen Gesamtproduktion. 

Durch die bisherigen Bestimmungen, welche fiir den Silvester’ 
und ‘Alexius' nur eben die spatesten Termine ergaben. und auch 
fiir den ‘Pantaleon’ ein Zuriickgehn bis allenfalls 1270 nicht aus- 
schlossen, waren wir keineswegs verhindert, den Reginn der zweifel- 
los mehrere (4 — o?) Jahre erfordernden Arbeit am ‘Partonopier' 
bis in den Anfang des achten Jahrzehuts hinaufzuriicken. Die 
erneute Priifang der Urkunden ergibt leider keine sichere Fest- 
stellung. 

IJber den vornehmen Herrn der die Ubersetzung veranlaBte. 
den Bitter Peter Schaler, will ich zuletzt handeln. Neben ihm 
und dem Dolmetscher Heinrich Marschant, oder genauer. wie die 
Urkunden einhellig ergeben. Merschant, nennt der Dichter noch 
eine dritte Personlichkeit, Arnolt dm Fuchs V. 215 ff., dessen leb- 
hafte Anteilnahme am Fortgang des “Werkes {spat mule fruo 215 
— dicke und ofte 219) er nachdriicklich hervorhebt; dieser Anteil 
war besonders darauf gerichtet: daz ich der drentiiire gar als or- 
dcnlichen mite car daz si mit lohe iteme ein .-il- ich mdchte daher 
annehraen, daB auch Fuchs des Franzosischen kundig war und 
unsern Konrad beriet. wenn die Ubersetzerarbeit des Heinrich 
Merschant nicht ausreichte: wir wissen ja durch die Dissertation 
von H. van Look (StraBburg 1881), daB dem Dichter das Original 
immer nur abschnittweise zuganglich wurde. 

Pfeiffer fand den Baseler Burger Arnold Fuchs zum J. 1253 
bezeugt und gab sich damit zufrieden. Nachdem aber jetzt die 
samtlichen Baseler Urkunden dieser Zeit gedruckt vorBegen, stellt 
sich heraus, daB es an spatern Belegen fast ganz fehlt; das voll- 
standige Material ist dieses: ArnUdus gui Fnlpes (Wipes) dicitnr 
Oder kurz Arnoldus Vidpes erscheint in den Jahren 1237 (BUB. I 
103, 16); 1241 (1 109. 27); l'i42 (I 114, 4); 1244/45 (I 124, 22) ; 1248 



106 


Edward Schroder, 


(I 163, 3) ; seine Tochter Mechtild die Frau Burchards des Koten, 
der mit seinem Bruder Wernber scbon 1237 und zwar in derselben 
Urknnde wie Arnold und unmittelbar vor ihm als Zeuge auftritt 
(I 103,15); 1250 (III 353,27); 1253 (III 355,25. Trouillat I 592); 
1255 (Boos I 48). Damit horen die Zengnisse fiir den Lebenden 
auf — ein Anniversarium fiir den Toten wird 1292 angefiibrt (III 
45, 32). _ 

Zwischen dem letzten Vorkommen und Konrads Arbeit am 
Partonopier liegen fast zwanzig Jahre. Da Arnold 1248 bereits 
eine Tocbter batte die mit einem nicbt mebr ganz jungen Mit- 
biirger verheiratet war, so diirfte sein Lebensalter annahernd mit 
dem Jabrbundert Scbritt halten, er ware also ein Siebziger gewesen, 
als er sich fiir Konrads Arbeit am Partonopier interessierte. Viel- 
leicbt bat er sich scbon zeitig von alien Gescbiiften zuruckgezogen 
und dadurcb die Zeit gewonnen spat unde friio (V. 215) dem Dicbter 
zu helfen, indem er ihn dicke und offe (V. 219) besncbte, Ein Werner 
Fucbs, der allenfalls sein Sohn sein konnte, ist fiir die Jahre 1274 
bi.s 1289 als Burger, zeitweise aucb im Kate, bezengt (Register 
zu BUB. Ill S. 443''). 

Nun zu dem eigentlichen Dolmetscber ! Die Merscbants waren 
entweder Franzosen von Abkunft oder haben sich diesen Kamen 
in der Fremde beigelegt, ebe sich Hugo Merscliant in Basel nieder- 
lieC, wo er 1232 (I 86, 31); 1243 (I 118, 23) bezeugt ist. Seine 
Sobne mogen Ulrkk Merschunt 1265 (I 331,11); 1267 (I 349,40: 

JJas.) und namentlicb unser Heinrich Merschant gewesen 
sein, der gerade wo wir ihn brauchen zum ersten Male vorkommt : 
H< nricus dictns Merschayidus ') civ. Bus. 1273 Juli 11 (II 62,6); 
weiterhin 1273 (II 70, 9j: her Hetnrkh Merschant-, 1276 (II 116. 6); 
1277 (II 127, 11); 1281 (H 208,40. 209, 24); 1288 (II 357,40); 1289 
(II 368, 23. 370, 34) schlieBlich 1296 (Trouillat II 632). Mitgiied 
des Kates war er 1276 auf 77 und abermals 1288. Er hat den 
Dichter um mindestens 9 Jahre iiberlebt. 

Der Mann aber dem das franzosische Werk so wohl gefiel 
(\. 194), daB er von dem Dichter eine deutsche Bearbeitung ver- 
langte und ihm (V. 188. 201) die gewifi betrachtlichen Mittel zur 
Verfugung .steUte, dad er sich fiir Jahre dieser Arbeit, einer fur 
ihn der kein Franzosisch konnte sehr schweren Arbeit {daz min 

1) Die Schreibung des Kamens wechselt zwischen Merschant (Merschandus) 
und Mertschant (Mertschandus ) ; die entstellte Form Mertzehan (II 368, 23) steht 
in einer spaten Ubersetzung ; die Form Merzchand aus dem Cartular von S. Leon- 
hard bei Trouillat II 632 zeugt aber dafur, daB man den Namen als Fremd- 
naraen empfand. 



Studien zu Konrad von Wurzburg IV. 


107 


tunihes heree sich vil himhers an genomen hat V. 190 f.) widmen 
konnte, war (V. 183 ff.) der Schaler min her PHer. der tugent strdse 
get er und ist iif eren pfat getreten. 

Tiber Peter Schaler den jungeren, den PfeifiFer mit seinem 
gleichnamigen Vater zusammengeworfen hat, ist jetzt End. Wacker- 
nagel , Greschichte d. Stadt Basel I 87 f. (nnd passim) nachznlesen. 
Er mag gegen Mitte des vierten Jahrzehnts geboren sein. 1258 
Dez. 2 treten Petrus et Otto fratres qtii dicunter Scalarii invenes zum 
ersten Male auf, als sie ein ihnen gehoriges Hans vor dem Spalen- 
tore auf Erbleihe vergeben. Ins offentliche Leben scheint Peter erst 
nach dem Tode seines Onkels Otto eingetreten zu sein, dann aber 
auch gleich mit starkem Ehrgeiz und mit den Anspriichen die er 
von Vater imd Vatersbruder ilbernommen hatte. 1269 war er 
zum ersten Male Biirgermeister, und er hat dies Amt noch min- 
destens viermal bekleidet. Die SchultheiBenwiirde aber hatte er 
gleich nach des Onkels Hingang 'wie ein erbliches Recht der Pa- 
milie an sich genommen und behielt sie bis an sein Ende' (Wacker- 
nagel I 87), Mit starkem Selbstgefuhl reihen die Urkunden des 
Petrus Scalarius den ‘miles scultetus idemque magister civium’ auf 
(z. B. II 130, 12 : ao. 1277). Peter Schaler war das Haupt der 
Rittergesellschaft der ‘Psitticher’, zu der neben den Schaler die 
Munche gehorten und zu der sich auch die Roeteln gehalten zu 
haben scheinen*). Mit ihnen vertrat er gegeniiber den ‘Sternern’ 
die bischbfliche Partei, war also auch der entschiedenste Gegner 
des Grafen Rudolf von Habsburg. Aber nach dessen Wahl zum 
Konig vollzog er sofort eine Schwenkung, und er hat seinen An- 
schluB an das habsburgische Konigtum auch auf dem Schlachtfelde 
von Diirnkrut bezeugt. Pe huiiis Scalarii cornmendacione Integra 
hysteria opus esset, sagt Matthias von Neuenburg (ed. Studer S. 39) 

Peter Schaler hatte auf der Nordseite des Miinsters eine Ka- 
pelle bauen und ausstatten lassen, in der er beigesetzt wurde als 
er wahrscheinlich 1306 das Zeitliche segnete (vgl. Wurstisens Be- 
schreibung, Beitr. z. vaterland. Gresch. NE. 2, 433). Am 17. Dez 
1305 hat er zum letzten Male, zusammen mit seinem alten Gegner 
Johann von Arguel, einen urkundlichen Akt, den Verkauf der Stadt 
Liestal an das Hochstift Basel bestatigt (Boos I 166). 

Es leuchtet ein, welcher Gewinn es fiir Konrad von Wurzburg 
war zu einer Personlichkeit von solcher Stellung und so reichen 


1) Dies wire! bestatigt dadurch dafi bei der Uberrumpelung des Schlosses 
Wehr unterhalb Sackingen im J. 1272 u. a. der Domherr Leutold von Roeteln 
Konrads Conner, gefangen genommen wurde; Annales Basilienses MG. SS. XVII 195 



108 


Edward Schroder, 


Mitteln in Beziehung zu treten, and wir wiiBten gar zu gern, 
wann dies geschehen ist. Die groBte Wahrscheinlichkeit spricht 
wieder fiir den Anfang der 70er Jahre , als Peter Schaler ein 
Alter von 35—38 Jahren haben mochte. DaB ihm der Dicbter 
weiter keine Titel oder Amter beilegt, kann kaum befremden : der 
imn her Peter, das sagt bei diesem Manne genug. 

Wobl aber muB bier die Frage erledigt werden , zu welehem 
Zeitpunkt der Prolog gescbrieben wnrde. Keinesfalls vor Begiiin 
des Werkes und ebensowenig beim AbscbluB — wenn es uberbaupt 
abgescblossen worde. Die Art wie der Dicbter von seiner Arbeit 
und den beiden treuen Helfern redet, zeigt dafi er mitten drin 
steckt. Er wird also wobl seinem Gonner eine Teilpublikation 
iiberreicbt haben, und bei dieser Gelegenbeit beftete er den fer- 
tigen Lagen ein Doppelblatt vor, zweispaltig bescbrieben , mit 
2 X 30 Zeilen auf der Seite : dafi es nur 282 (statt 240) V erse sind, 
kann aus der Absetzung des Eingangs erklart werden oder auch 
durcb einen kleinen leeren Raum am Schlusse. 

5. Beim 'Trojan erkrieg' liegt die Sacbe anders. Hier ist 
der 'prologus’, wie ibn der Dicbter selbst nennt (V. 261), ganz 
sicber gleicb am Eingang gedichtet, und wir batten also einen 
festen Ausgangspunkt, wenn wir -waBten, wann der icerde senyer ^) 
Dietrich von Basel an dem Orte (V. 246 f.) zum Amte des Dom- 
kantors gelangt ist. Aber leider haben tins die neuen Urkunden 
hieriiber keinen AufschluB gebracbt. 

Dietrich am Ort entstammte einer Familie des Stadtadels 
die zuerst 1237 durcb die Bruder Cvno et Ulricus de Fine milites 
BUB. I 100, 32 f. bezeugt ist ; einer dieser beiden wird sein Vater 
gewesen sein. Er hat wahrscheinlicb im Jahre 1255 eine Pfriinde 
beim Domkapitel erlangt: 1255 Dez. 10 erscheint Thietricus did us 
an dem Orte van. Bas. zum ersten Mai als Zeuge (BUB. I 214,23); 
weiterbin 1262 fl 302,11. 308,20); 1264 ^Trouillat II 138. 139); 
1266 (I 341,8); die Xachweise von da ab s. im Register zu BUB. 
II S. 418=* und zu Trouillat II S. 790\ Als Archidiakon im Leim- 
tal begegnet er 1274 (II 80, 32) und 1277 (II 126, 1). 

Das Amt des Domsangers hatte bei Dietrichs Eintritt in das 
Kapitel Erkenfrid von Rixheim inne, zufriibst als solcher bezeugt 
1251 (Trouillat II 68), zuletzt 1277 April 13 (BUB. II 129,22); 
sein Nachfolger wurde Dietrich am Ort, aber leider tritt bier eine 
Liicke der Belege ein, wir finden erst Mitte Mai 1281 eine Ur- 


1) So A imd Wackernagel im Lesebuch (gegen Kellers sitiger). 



Studieii zu Konrad von Wurzburg IV. 


109 


kunde mit dem gewimschten : Lutold von RStelhein der erzepriestcr, 
Dietrich am Or te der .s en fje r eroffnen eine Zeugenreihe (Trou- 
illat II 337); 1283 April 6: Dietericus cantor Basiliensis (BUB. II 
237. 35) — und so fort bis 1289 April 21; herr Dietrich am Ort der 
senger (II 368, 17) und Nov. 7 (III 329, 15). Nun scblieBen die 
Zeugnisse fiir den Lebenden — 1294 Jan. 19 ist von bone mcmoric 
dominus Dietncus cantor ecclestc Basiliensis die Rede (Trouillat II 
564), ebenso 1295 Nov. 30 (BUB. Ill 1.30, 14 f.). Er hat also seinen 
Schiitzling Konrad um zwei bis sechs .lahre iiberlebt. 

Das Amt des Domsangers aber kann Dietrich am Ort eben- 
sogut im Mai 1277 wie im Mai 1281 iibernommen haben — es fehlt 
uns also fiir den Beginn der Arbeit Konrads am Trojanerkrieg 
an einem brauchbaren terminus ante quern non: denn mit ‘nach 
April 1277’ ist nichts anzufangen; das ware ohnedies selbstver- 
standlich. 

Uberblicken wir noch einmal die Reihe der Gonner Konrads, 
so finden wir darin alle einfluBreichen Stande und Klassen der 
Easier Bevolkerung vertreten. Den auswartigen Hochadel vertritt 
Leutold von Roeteln, dem Stadtadel, der Ritterschaft gehoren Peter 
der Schaler und Dietricli am Ort an, Burger sind Heinrich Iselin, 
Johann von Barschwil, Arnold Fuchs, Heinrich Merschant, aus 
dem landlichen Ritterstand zum Biirgertum iibergetreten ist Johann 
von Arguel, der aber zugleich durch seine Mutter, die geborne 
Winhart, die Briioke za den Ziinften schlagt. So fehlt eigentlich 
ganz nnr die niedere Oeistlichkeit. Auf dem engen Raume der 
mittelalterlichen Stadt trafen diese Personlichkeiten, die fast durch- 
weg am oifentlichen Leben teilnahmen, haufig zusammen : so finden 
wir in nicht wenigen Urkunden drei bis vier unserer Bekannten, 
ja gelegentlich sogar fiinf, so unter der emeuerten Handfeste 
Bischof Heinrichs von Isny fiir Kleinbasel vom 10. Marz 1277 
(BUB. II No. 219): Leutold, Dietrich, Peter Schaler, Heinrich 
Isenli, Heinrich Mertschant. 

Alle diese Manner erweisen sich schon durch die Grundstiicks- 
geschafte in welchen sie uns urkundlich entgegentreten, als wohl- 
habend, zum Teil sind sie reieh, und sie liefien sich ihr Macenaten- 
tum gewifi nicht billig zu stehn kommen : Peter Schaler und Diet- 
rich am Ort miissen den Dichter und seine Familie viele .lahre 
hindurch unter halten haben, der in alien fiinf Werken mit wech- 
selnden Ausdriicken der Milde seiner Auftraggeber gedenkt : Sil- 
vester V. 81 mit sitien gndden, Alexius V. 1389 so rehte Hebe, Pan- 
taleon V. 2144 mit shier miete lone, Partonopier V. 188 mit shier 



110 Edward Schroder, 

grheiulen hende — 201 (lurch nine milte hant, Trojanerkrieg V. 252 
dur siner miltekcite soli. 

Da6 die Gonner ze Basel, ze Basel in der stat wohnen, wird 
im Silvester V. 92, Alexius V. 1388, Partonopier V. 186, Trojaner- 
krieg V. 247 ausdriicklich gesagt, aber ohne riihmenden Beisatz 
wie im Otto V. 754 ze Strdzburc in der giioten^) staf, worin ich 
eine Huldignng des Gastes erblicke (s. u. S. 112 ff). Im Pantaleon 
fehlt die Ortsangabe — bier aber anch die Namensnennung des 
Dichters; daJB beides in dem fehlenden Schlufi gestanden babe, ist 
immerhin moglicb. Im iibrigen nennt sicb der Autor im Silvester 
V. 82 f. mich tumhen Cuonrdden von Wirzebiirc , im Alexius 
V. 1407 ich armer Knonrdt von Wirzehurc ■, die in den kleinen 
Dichtungen der Jugendzeit feste Versformel von Wirzehurc ich 
Knonrdt (Weltlohn V. 263, Herzmare V. 579, Otto V. 764) kebrt 
wie im Engelhard V. 6492, so aucb im Scbwanritter V. 1 387, Par- 
tonopier V. 192, Trojanerkrieg V. 266 wieder, wabrend in der 
Goldenen Scbmiede V. 120 f. die Reimverschlingung zu mir Cuon- 
rdde von Wirzehurc fiibrt. 

In zwei Dicbtungen die keinen Gonner nennen, und die man 
wobl beide der Stradburger Periode, oder, da ich an eine solche 
im alten Sinne nicht glaube (s. u.), den StraBbnrger Beziehungen 
des Dichters znschreiben mufi, nennt sicb der Verfasser ‘Kuonze’ : 
dr<en ianz hat in gesungen Kuonze dd von Wirzehurc beifit es am 
SchluB des 2. Leiches V. 136, nnd hi Kuonzen der uns stet hie hi 
Klage der Kunst Str. 31, 7. Aber aucb bier folgt Konrad einem 
Braucbe, an den er sicb schwerlicb in Wurzburg, recht wobl aber 
in Basel gewobnt baben mochte, wo in alien Gesellscbaftskreisen 
der Wecbsel zwischen der Vollform und der Koseform gerade bei 
diesem Namen ganz iiblicb war, vgl. Socin, Mhd. Kamenbuch S. 9 f. ; 
bes. lehrreich ist der Fall: (lu;r) Kvnrat Ernienrich iin her Kv nr at 
der Boiler II 214,8 (1282 Febr. 9) = Vhenci der Boiler, Chonci 
Ermenrich II 226, 8 (1282 Sept. 20). DaB der ‘Kuonrat’ um eine 
Note vornehmer war als der ‘Kuonze', scheint bier schon das Fort- 
bleiben des ‘her’ vor der Koseform zu bezeugen: aucb die beiden 
Stellen wo sicb der Dichter Kuonze nennt, schlagen deutlich einen 
scherzbaften oder vertraulicben Ton an, ohne aber der Wiirde der 
Autorscbaft Eintrag zu tun. 

Wenn Wilhelm Wackernagel sicb bis zuletzt (‘Job. Fischart’ 
S. 78 f.) dagegen gestraubt hat, die wiirzburgiscbe Herkunft des 


1) d. h. vornehmen. 



Studion zn Konrad von Wurzburg IV. 


Ill 


Dichters anzuerkennen, so wirkte dabei neben dem Lokalpatriotis- 
mas des Nen-Baslers, der sich des Fandes der ‘domus Wirziburc’ 
(‘Basel im 14. Jh.’ S. 23) freute, doch aucb das sichere Urteil 
des Philologen mit, dem in der Sprache Konrads von Wurzburg 
vieles Alemanniscbe, aber keinerlei frankische Elemente erkennbar 
waren. In der Tat hat KvW. sein litterarisches Idiom von den 
friihsten Werken an nach oberrheinischen Mustern gebildet, und 
es blieb dem Scharfblick Zwierzinas vorbehalten , hinter dem ale- 
mannischen Schleier seiner Schriftsprache die frankische Aussprache 
der e-Laute zu erkennen (Zs. f. d. Alt. 44, 305). Anch der Wort- 
schatz bietet bei geringer Lokalfarbung doch mehr alemannisches 
als franbisches Eigengut: dass ein Antor der in der Synonymik 
schwelgt und auf die Metrik bestandig Riicksicht nehmen mu6. 
zwischen sivan und dem den Baslern gewiB ungelaufigen aJhes ( elhiz ) 
wecbselt (GGrN. 1912, 39 f.), brauchte noch nicht fiir frankische 
Herkunft zu sprechen. Aber wo der Dichter im Ringen nach be- 
standiger Variation des Ansdmcks und beim Aufsuchen immer 
neuer Reime seinen Sprachschatz im tiefsten aufwiihlt und in seinem 
W^ortgedacbtnis die fernsten W^inkel durchstobert, wie besonders 
in der Goldenen Schmiede und den beiden Leichen, da stellen sich 
ihm solche Heimatsworter ein wie etwa dcrp ‘ungesauert’ 1466; 
dillesiein^) 33 (= Leich 1,4); grop, adv. grobe 124; ger lurken 
‘linken 12. 1696 (vgl. 0</c ; *) Leich 2,138); risel stm. 159; 

sunge f. ‘Ahrenbuschel’ 1299 ; tunc m. ‘unterirdischer Raum’ (: unc, 
wie Leich 1, 151). Naturlich versteh ich hier unter ‘frankischen’ 
Wbrtem nicht bodenwuchsige, sondem solche die damals in Ober- 
deutschland aufier Gebrauch waren. 

KvW. hat sich ganz als Basler gefiihlt, er hat dort hochst 
wahrscheinlich seine Frau Bertha gefunden, und anch seine beiden 
Tochter Agnes und Gerina sind ihm dort geboren worden: alle 
drei tragen gut baslerische Namen, die letzte sogar einen der eine 
Keubildung von Basel ist (Socin, Mhd. Namenworterbuch S. 54). 
Er hat zwar das Biirgerrecht nicht erlangt, besa6 aber ein Hans 
in guter Lage, erwarb ein ansehnliches Begrabnis in der Marien- 
Magdalenenkapelle des Sliinsters und stiftete ein Anniversarium 
fiir sich und seine Angehbrigen, deren Gedachtnis unter seinem 
Todestag mitgefeiert wurde®). 

1) Vgl. Arch. (1. hist. Ver. f. tnterfranken 13, 162; usque in fundum terrae 
dictum ‘der dilstein'. 

2) Der gleiche Eeim bei Johann von Wurzburg 6496. 

3) Da6 die Notiz des Basler Anniversarienbuches so gedeutet werden mu6 
{Schulte, Zs. f. d. Gesch, d. Oberrheins 1886 S. 495 f.), hat schon Jacob Grimm 



112 


Edward Schroder, 


Wenu also der Kolmarer Dominikaner, der die nachsten Be- 
ziehungen zu Basel katte and von dem Dichter in sehr warmen 
Ansdriicken spricht, ihn gleichwohl einen ‘vagus’ nennt (MG'. SS. 
XVII 233, 61, vgl. 214, 43), so ist das eben fiir ihn die Bezeiok- 
nung des Berofsdickters , der litterarische Anftrage gelegentlick 
wokl auch nnter Wecksel des Aufentkalts erledigt. 

In diesem Sinne mockt ick nunmekr anck die SlraSburger 
Beziehungen Konrads von Wurzburg betrachten. Das alte bio- 
graphiscke Schema schied in des Dichters Leben eine Wlirzbnrger, 
StraBbnrger, Basler Periode und teilte dementsprechend die W erke 
ein, wobei Basel allerdings den ikm zukommenden Lowenanteil er- 
hielt, Strafibnrg aber sick mit dem ‘Otto’ nnd einem Spruch be- 
gniigen muBte. DaB man gleichwohl an einem StraBbnrger Aufent- 
halt festhielt und diesen in die Mitte setzte, geschak wokl anck, 
weil StraBburg anf dem Wege von Wurzburg nach Basel liegt. 

Ick habe Zs. f. d. Alt. 38, 27ff'. den StraBbnrger Dompropst 
Bertold vonTiersberg (Diersburg) zeitlich zn bestimmen ver- 
sueht. fiir den Konrad seinen ‘Otto' gedicktet hat; die etwas 
weite Zeitspanne 1260 — 1275 vermag ick leider auch keute nock 
nicht mit urknndlichem Material einzuengen ^). Wokl aber muB 
ick den Titel jenes kleinen Anfsatzes korrigieren: ‘der StraB- 
burger Gonner’ Konrads war Propst Bertold nicht, sondern nur 
der einzige dem er ausdiucklich ein Werk zugeeignet hat. Be- 
deutungsvoller fiir den Dichter war sein Verkaltnis zu dem StraB- 
burger Bisckof Konrad III von Licktenberg (1273 — 1299); 
er ist, wie man langst erkannt hat, con Strdseburc ein Liehtenherycr, 
den KvW. in einem der Spriiche des Hoftons preist, bei Bartsck 
am Scklusse der eckten Stiicke 32, 361 — 375 (S. 401). Der Spruch 
ist nur in der Jenaer Hs. erhalten, er fehlt in der vom Dichter 
veranstalteten Gesamtausgabe , welcke nach Wodes im einzelnen 
anfecktbarer , in der Hauptsache gesicherter Beweisfuhmng der 
Hs. C zu Grunde liegt. In iiberschwanglicken Tonen preist Konrad 
das ’Lob’ des Kirchenfiirsten : es ragt empor wie der Wipfel der 
Zeder — und nun folgen in wenig geschmackvollem Drange sieben 

gewufit, der in meinem aus grimmschem Besitz stammenden Exemplar von Halms 
‘Otto' zu S, 10 eingetragen hat : ‘In den Nekrologen werden nicht selten Mann. 
Frau und Kinder auf einen Tag angegeben, z. B. im Fritzlarer. Wahrschein- 
lich feierte man auf den Todestag des Vaters zugleich die memoria der Ange- 
hbrigen. Jacob.’ 

1) Hofl'entlich bringt die Fortfuhrung der Regesten der Bischbfe von Strad- 
burg hierzu die Moglichkeit. 



Studien zu Konrad von Wurzburg IV. 


113 


Bilder, welche den Grlanz, das hrehen, schinen, glesten, glenzen dieses 
lobes veranschanliclien soUen. In diesem Lobe Bischof Konrads 
war der Dichter mit seinen Easier Landslenten keineswegs einer 
Meinnng; die Annales Basilienses MG. SS. XVII 196, 39 ff. finden fiir 
die unerhort hohen Abgaben welche der Bischof erhob, recht harte 
Worte. Es kann kaum einem Zweifel tinterliegen da6 der Lob- 
preis unseres Diehters dnrch die Milde des Bischofs heransgefor- 
dert war, und diese Ereigebigkeit muB sich in der Bemessung eines 
Honorars geanBert haben, wie es Konrad nach den deutlichen An- 
gaben seiner Prologe nnd Epiloge von alien seinen Easier Gonnern 
erhalten hat, and ebenso von dem Strafiburger Dompropst ; er Imf 
der eren strit gestriten mit gerne gehender fiende (Otto V. 766 f.). 

Welches Werk Konrads war es nun das von dem Strafiburger 
Bischof so glanzend honoriert wnrde? Neben den beiden Leichen 
kommen nur zwei groBere Dichtungen in Frage : der ‘Engelhard’ 
und die ‘Goldene Schmiede’. Beim ‘Engelhard’ fehlt die Angabe 
eines Anregers und Gonners, obwohl sich fiir die Fortlassung des 
Namens kein Grand finden liiBt, und ich bin in der Tat der tlber- 
zeugung, daB hier das eigenste Erzeugnis von Konrads poetischer 
Schaffenskraft und seinem litterarischen Ehrgeiz vorliegt. Die Stoffe 
der Legenden, des Partonopier. des Trojanerkriegs warden ihm 
von auBen empfohlen, ja fiir die beiden groBen Epen and wohl auch 
schon beim Silvester warden ihm die Qnellenbiicher direkt vom 
Auftraggeber zur Verfugung gestellt. Fiir den Engelhard aber 
hat er nur eine kurze lateinische Novelle benutzt, die vielleicht 
ohne Namen war — jedenfaJls hat er Personen und Lander selb- 
standig benannt. 

Es bleibt also nur die ‘Goldene Schmiede’, von der die 
beiden Leiche schwer zu trennen sind, ja zu der der erste der 
religiose Leich in einem so nahen Verhaltnis stebt, daB man sagen 
muB, der Dichter habe in unmittelbarem zeitlichem AnschluB aus 
dem gleichen Material, mit dem gleichen Schatz von Bildem aus- 
gesuchten Wortern und Reimen zwei verschiedene Banten aufue- 
fiihrt. 

Dafi diese Dichtungen in die 70er Jahre gehoren. also in die 
erste Zeit von Konrads Bistum fallen, kann keinem Zweifel unter- 
liegen. Das beweist der allgemeine Stand der dichterischen Kunst- 
fertigkeit, das bezeugen auch die zahlreichen Ubereinstimmnngen • 
wie unter einander, so mit kleinern Stiicken die hier eingeordnet 
werden mtissen oder gar sich zeitlich genau datieren lassen. Dieser 
letztere Fall trilft freilich nur fur den einen Spruch bei Bartsch 
32, 316 — 330 (S. 399) zu, der bald nach der Huldigung Konig Ot- 

Kgl. Ges. d. Wits. Nachrichten. Phil.-hist Klasse. 1917. Heft 1. 8 


114 Edward S chroder, 

tokars in Wien (25. Nov. 1276), also zu Ende des Jahres 1276 
geschrieben ist *) : 

V. 316 Dem adclarn von Rome werdeclichen ist gelungen : 

328 sich muoste ein Ibmve uz Beheim under sine Udwen smieye)i. 
Wenn es tier von Kg Rudolf heifit: er Mt lop erswungen dnr- 
liuhtic Inter unde glans, so erinnert uns das an ein lop dnr- 
liuhtic unde glanz , das als Zweck und Ziel der GSm. Y. 8 
anfgestellt wird. 

Zweimal in seinen Werken nennt Konrad von Wiirzbnrg den 
Gottfried von StraBburg als seinen nnerreichbaren Meister: 
im Eingang des Herzmares, als er sich zum ersten Male anschickt 
eine Geschichte von heimlicher Minne zn erzahlen. und dann im 
Prolog znr Goldenen Schmiede : 

ich sitze ouch niM uf grueneni hie (vgl. Trist. 4919 fp.) 

95 von sueser rede touwes naz, 
dd wirdeclichen ufe saz 
von Strdzbnrc meister Gotfrit, 
der als ein ivceher houhefsmit 
guldhi getihte icorhte. 

100 der het an alle vorhte 
dich geriieniet, vrouioe, la< 
denn ich, vil reinez tugentvaz, 
iemer hiinne dich getuon. 

Solange man den ‘Lobgesang auf Christus und Maria’ noch fiir 
ein Werk Gottfrieds hielt, hat man die Zeilen wohl meist so auf- 
gefaSt, als ob Konrad nicht mit diesem Werke in Konkurrenz zu 
treten wagte; man nahm dann das het V. 100 olFenbar als ‘hat’. 
Nun hat aber Pfeiffer, Germania 3, 59 ff. die Unechtheit dieser 
Dichtung nachgewiesen , und auch das Auskunftsmittel, Konrad 
babe den ‘Lobgesang’ fur ein Werk des StraBburgers gehalten, 
verfangt nicht, denn es handelt sich um ein Erzeugnis aus dem 
letzten Viertel des 13. Jh.s, das jedenfalls jiinger als die ‘Goldene 
Schmiede’ und wahrscheinlich sogar erst nach Konrads Tode ent- 
standen ist- Ob man also mit den Hss. und dem Herausgeber das 
hetie) in V. 100 bestehen laBt oder dafiir die Konrad noch mehr 
gelaufige Form hcete einsetzt (vgl. Zwierzina Zs. f. d. Alt. 44, 108 f.). 


1) 0. Redlich, Rudolf ron Habsburg (Wien 1903) S. 326 scheint den Spruch 
erst nacb der Schlacht bei Diirnkrut anzusetzen, was natiirlich ein Versehen wiire. 

2) Trotz Haupt Zs. f. d. Alt. 3, 513 ff. fehlt noch immer eine befriedigende 
kritische .lusgabe. 



Studien zu Konrad von Wurzburg IV. 


116 


bleibt gleichgiltig ; es handelt sich unbedingt run den Konj. Prat., 
ruid der Dichter wiU sagen : ‘der alte StraBbnrger Meister hatte 
die Sache kuhnlich besser gemacht’. 

W elchen Sinn rmd Zweck aber hatte diese Huldignng an Grott- 
fried, der niemals einen ahnlichen Stoff behandelt hat, in einem 
Marienlob fiir Baseler Kreise gehabt? Der ganze Prolog, aach 
wenn er keinen Anftraggeber nennt, gibt doch deutlich zu er- 
kennen, mag die Bescheidenheit nun echt oder, da gerade dieser 
Prolog ein Prunkstiick konradischer Stil- und Reimkunst ist, ein 
kokettes Mantelchen sein, daS sich der Dichter einem Auftrag und 
hochgespannten Erwartungen gegenubergestellt sieht. 

Die zweite Halfte des 13. Jh,s ist die wichtigste Periode fiir 
den Ausbau des StraBburger Miinsters, des ‘Monasterium Beatae 
Mariae Virginis’. In den Jahren 1250 — 1275 wurde der Ban des 
reingotischen Langhauses ausgefiihrt. Mitten hinein in diese Zeit 
fallt die Stiftung eines Marienaltars dnrch den Burger Heinrich 
Wehelin 1264 (F. X. Kraus, Kunst und Altertum in ElsaB-Loth- 
ringen I 358). Noch vor VoUendung des Langhauses (7. Sept.) 
erliefi Bischof Konrad im Anfang des Jahres 1275 drei Indulgenz- 
briefe zu Gunsten der weiteren Forderung des Miinsterbaus (Kraus 
a. a. 0. S. 359 ff.) ; in eiiidringlicher Beredsamkeit werden die Glau- 
bigen ermahnt, das Gott und der glorreichen Gottesmntter wohl- 
gefallige Werk zu fordem; es wird auf den Beitritt zur ‘Bruder- 
schaft der heiligen Jungfrau’ hingewiesen, deren Mitglieder sich 
zu regelmafiigen Beitragen fiir den Ban ihrer Kirche verpflichten 
usw. Im Friihling des Jahres 1277 war man mit den Mitteln so- 
weit run die Arbeit wieder aufnehmen zu konnen : am 25. Mai 1277 
wurde der Gnmdstein zum Ban der Westfront gelegt und damit 
jener Teil des groBen Werkes begonnen, an dem Meister Erwin 
seine kUnstlerische Tatigkeit entfaltete. Als 1299 Bischof Konrad 
starb und in der Johanniskapelle beigesetzt wurde da schuf ibrn 
der Kiinstler das eindrucksvolle Monument, an dessen FuBe er sich 
selbst in einer kleinen Statuette verewigt haben mag. Mit dem 
Bau einer Marienkapelle im Jahre 1316 aber brachte Erwin seine 
Arbeit am Munster zum AbschluB, 1318 ist er gestorben. 

Diese ganze Zeit ist, in StraBburg vielleicht mehr noch wie 
anderwarts erfiillt von einem gesteigerten Marienkultus : unter 
seinem Zeichen stehn der Munsterbau und die ‘Goldene Schmiede’ 
Meister Erwins Schaifen und das des Konrad von Wiirzbnrg. DaB 

1) Die Grabschrift i-flhmt ihn; qui omnibus bonis condicionibus que in ho- 
miiie mundiali debent conatrrere eminebat ntc sihi visits simHis est in [iljlis. 

8 * 



116 


Edward Schroder, 


dieser auf eine Anregung des Lichtenbergers bin das kostbare 
poetiscbe Greschmeide ffir die Gottesmutter schuf, ist mir im Lanfe 
der Jahre, seit mir zuerst der Gedanke kam, immer wahrschein- 
licher geworden, obwohl ich mir selbstverstandHch nicht einbilde 
es nunmehr bewiesen za haben. 

Wie hat sich nan der Bischof die Wirknng des Werkes ge- 
dacht? and was hat er fiir seine Verbreitong getan? Die ‘Gol- 
dene Schmiede’ hat nnter alien Werken Konrads von Wiirzbarg 
die reichste Uberlieferang. Aber sie war nichts weniger als eine 
volkstiimliche Werbeschrift, and wenn sie spater in weitere Kreise 
drang and die Sparen ihrer Nachwirkong sich auch in niederen 
Schichten der Litteratnr offenbaren, so war sie doch von vorn 
herein gewiB nnr fiir eine kleinere Zahl von Knnstfreanden be- 
stimmt. Man mag sich znm Beispiel vorstellen, da6 Konrad von 
Lichtenber^ zierlich ansgestattete Exemplare an die Nachbarbischdfe 
von Basel, Konstanz and Speier versandte, welche versprochen 
hatten, die Geldsammlongen fiir das Munster Unserer Lieben Frau 
von StraBburg ihrerseits durch einen dOtagigen AblaB zu unter- 
stiitzen. Das koimte geschehen sein entweder schon beim ErlaB 
der Indolgenzbriefe 1275, oder bei der Einladung znr Feier der 
Gmndsteinlegimg 1277 zum Dank fiir die erfolgreiche Mitwirkung. 
Diese beiden Jahre sind es mithin die ich fiir die Veroffentlichung 
der ‘Goldenen Schmiede’ vorschlage — ich personlich neige mich 
mehr dem Jahre 1277 za. 


V. Das Turnier von Nantes. 

Litteratur. Einzige Uberlieferung in der ‘Wiirzburger Liederhandschrift’ 
des Michael de Leone von 1350 (Miinchen, Kgl, Universitatsbibliothekj Bl 5!>— 08*; 
vgl. iiber den Kodex Ruland, Archiv d. bist. Ver. f. Unterfranken 11 (1851) 
1—66 (bes. S. 19); W. Meyer, Die Buchstabenverbindungen der gotischen Scbrift 
(1897) S. 103— 107 (Schreiberb, S. 105): E. Schroder, Die Gedichte des Konigs 
Tom Odenwalde (1900) S. 4f. — Ausgaben: von Docen in Ma.P, man na Denkmalem 
deutscher Sprache und Litteratur H 1 (Munchen 1828 resp. 1827) S. 138—148; 
nach Vorarbeiten F. Roths von Barts ch in der Partonopier-Ausgabe (Wien 
1871) S. 313—332, dazu Vorwort S. IX— XII, Anmerkungen S. 420—428. — Zur 
Deutung und Zeitbestimmung ; Kochendorffer, Zs. f. d. Alt. 28. 133—135; 
Blbte, Zs. f. d. Alt. 42, 44—47, E. Schroder, Anz. f. d. Alt. 25, 3691'., 
Laudan, Die Chronologic der Werke Konrads v. Wurzburg (Gott. Diss. 19u6), 
bes S. 83—94; Galle, Wappenwesen u. Heraldik bei KvW, (Gott. Diss. 1911), 
Zs. f. d. Alt. 53, S. 209 — 238, bes S. 243 — 254. 

Eh ich mich zn einer neuen Deutung und Datierung des Tur- 
nier von Nantes’ wende, hoi ich ein paar Bemerkungen zum ‘Schwan- 



Studien zu Konrad von Wurzburg V. 


,117 

fitter’ nach. Wir wissen seit Blote, daB er vor das ‘Turnier’ 
fallen mu6, seit Laudan nnd G-alle, daJS er zn den spaten Werken 
des Dichters gehort; obwohl die genane Einreihung noch nicht 
gesichert scheint, wird man ihn zu den Easier Dichtungen im en- 
gern Sinne rechnen miissen. Nan sind die Legenden, der Parto- 
nopier und Trojanerkrieg, die wir als solche oben behandelt haben, 
alle fiinf mit den Namen von Gonnern geschmuckt, auf deren di- 
rekte Anregang das Werk znrlickgeht. Auf eine solcke person- 
liche Anregung hab ich soeben aach die ‘Goldene Schmiede’ zu- 
riickgefiihrt , wiibrend ich den ’Engelhard' als den eigentlichsten 
litterarischen Plan des Dichters ansehe, ebenso wie die ‘Klage der 
Knnst’ und die Mehrzahl der lyrischen Dichtungen. Zu welcher 
Gruppe gehort nun der ‘ Schwann tter’ ? 

In der einzigen Papierhs. die uns das Werkchen iiberliefert 
hat (vgl. GGN. 1912 S. 35), fehlt der Anfang: zwei Blatter mit 
etwa 284 Versen. Der Dichter nennt sich am Schlusse V. 1384 
— hat der verlorene Eingang nun den Namen eines Gonners ent- 
halten V 

Wir besitzen von Konrad von Wurzburg 13 selbstandige Werke 
von sehr verschiedenem XJmfang; dazu will ich die beiden Leiche 
nehmen , die einmal fur sich publiziert sein mogen , kurz ehe sie 
der Dichter der Gesamtausgabe seiner Lieder und Spriiche (1277 ?) 
Yoranstellte. Die Selbstnennung und die Huldigung fvir den Gonner 
stellen sich nun fiir die 14 Dichtungen (vom ‘Schwanritter’ jetzt 
abgesehen) in der tJberlieferung folgendermaBen dar: 

I. Der Dichter nennt seinen Gonner und demnachst sich selbst : 

a) im Prolog: ‘Silvester', 

‘Partonopier’, 

‘Trojanerkrieg’ : 

b) am SchluB : ‘Otto’, 

‘Alexius’, 

[‘Pantaleon’, wo nur der SchluB mit dem 
Automamen herausgeschnitten ist s Zs 
f. d, Alt. 48, 533]. 

II. Der Dichter nennt nur sich selbst: 

a) im Prolog : ‘Goldene Schmiede’ ; 

b) am SchluB : ‘Weltlohn’, 

‘Herzmare’, 

‘Engelhard’, 

‘Klage der Konst’ {Kmnze), 

II Leich {Kmnze von Wirzelmn)-, 



118 


Edward Schroder, 


m. Es fehlt jede Namensangabe : 

I Leich, 

(‘Turnier von Nantes’). 

Es mn6 aber fiir das Tnmier sofort bemerkt werden, dad die Hs. 
(vgl. Bartsch S. Xf.) einen zweifellos gefalscbten SchlnB bietet, 
an dessen Stelle sehr wohl der Name des Dichters gestanden haben 
kann : sonderbar genng freilich, dab der Schreiber diesen Namen 
tilgte in demselben AngenbHck wo er sich anschickte, in eigenen 
Versen den Ruhni des nan nngenannten Meisters zn verkiinden; 
Man funde in alien landen Keinen schriber so gut. 

Wie man siebt, gibt es keinen Fall wo der Dichter die Nen- 
nung des Gbnners von seinem Antorbekenntnis getrennt hatte — 
nnd das miifite im ‘Schwanritter’ der Fall gewesen sein. Aus- 
geschlossen ist es natiirlich nicht dad er auch einmal anders ver- 
fahren sei, aber mit groBerer Wahrscheinlichkeit werden wir doch 
das Werk der Gmppe lib znweisen nnd also annehmen, da6 uns 
mit dem Verlust des Eingangs kein Name vorenthalten bleibt. 
Damit ist nicht gesagt, daB das Gedicht nicht doch im Hinblick 
auf eine bestimmte Person geschrieben worden sei ; schlieBlich hat 
jedes litterarische Werk des Mittelalters (wozu ich aber Annalen 
so wenig rechne wie Nekrologien) seinen Adressaten, vor allem 
aber jedes grofiere Gedicht: die Autoren haben weder fiir das 
breite Publiknm noch zu ihrem Privatvergniigen geschrieben. Ich 
weiB sehr wohl, daB diese Frage in vielen Fallen unbeantwortet 
bleiben muB, daB man sie aber so selten aufgeworfen und z.B. bei 
Hartmann kanm je daran gedacht hat, kennzeichnet einen wesent- 
lichen Mangel im Betrieb der altdeutschen Litteraturgeschichte. 

Fiir das ‘Turnier von Nantes’ glaubte KochendorfFer einen 
sichem Anhaltspnnkt in den Aachener Festlichkeiten bei der Kro- 
nung Konig Richards gefunden zn haben, nnd seine Deutung hatte 
sich zunachst wohl allgemeinen BeifaUs zu erfreuen. Sie ist aber 
hinfallig geworden durch den nnanfechtbaren Grand mit welchem 
Blote die Prioritat des ‘Schwanritters’ vor dem ‘Turnier’ erwiesen 
hat. Laudan setzte dann den ‘Schwanritter’ zwischen ‘Partonopier’ 
nnd ‘Trojanerkrieg’ und bestatigte meine frtiher ausgesprochene 
Vermutung, dafi das ‘Turnier’ erst wahrend der Arbeit am ‘Tro- 
janerkrieg’ entstanden sei. Seine genaue Festlegung der Turnier- 
dichtung [in einer Arbeitspause nach Troj. 30882] hat GaRe ent- 
schieden bestritten: er riickt das Werkchen noch tiefer hinab, da 
die Heraldik des ‘Tumiers’ auf den ‘Trojanerkrieg’ gar nicht ab- 
gefarbt habe, also womoglich bis ins Jahr 1287! Den ‘Schwan- 
ritter’ belafit auch Galle an seinem Platz unmittelbar vor dem 



Studien zu Konrad von Wurzburg V. 


119 


groBen Hanptwerke. Ich balte es nicht fiir ausgeschlossen daB 
auch dies Gedicht noch wahrend der Arbeit am ‘Trojanerkrieg’ 
meinetwegen zu Anfang, entstanden ist. 

Bei meinen eigenen Erwagungeu bin ich ausgegangen von der 
Vorstellung von Konrads SeBhaftigkeit in Basel, und ich habe zu- 
nachst die Qnellen und erst dann die historischen Darstellungen 
gelesen, die meine immerhin liickenhafte Quellenkenntnis vielfach 
erganzten; von diesen Darstellungen werd ich im nachfolgenden 
nur; die beiden jungsten anfiihren: Oswald Redlichs 'Rudolf von 
Habsbnrg’ (Innsbruck 1903) und Rud. Wackernagels ‘Geschichte der 
Stadt Basel’, Bd. I (Basel 1907); sie sind derart auf die Quellen 
begriindet, daB ich mir direkte Zitate aus diesen in den meisten 
Fallen ersparen kann. 

Ich habe mir hauptsachlieh drei Fragen vorgelegt : 

1. Welche Gelegenheit hatte Konrad in Basel, in seinen spa- 
teren Jahren fiir Turnierwesen und Heraldik Interesse zu gewinnen ? 

2. LaBt sich die Deutung des ‘Konigs Richard von England’ 
(unter dem man vor KochendorfFer Richard Lowenherz verstanden 
hatte) auf den deutschen Konig Richard (1257 — 1272) aufrecht er- 
halten, nachdem Kochendorffers Datierung erledigt ist? Und was 
wuBte Konrad von diesem Richard von Cornwallis, der, als er seinen 
‘Turnei’ schrieb, schon 12 — lo Jahre tot war? 

3. Wie erklart sich bei dem Easier Dichter die sonderbare 
Auswahl der 7 deutschen Turnierritter, bei der der ganze Siiden 
und besonders auch der Siidwesten Deutschlands unberiicksichtigt 
bleibt ? 

1. Der Entfaltung einer vornehmen GeseUigkeit und der Aus- 
richtung ritterlicher Festspiele waren die Verhaltnisse in Basel 
wahrend der Zeit des Interregnums kaum giinstiger als anderwarts : 
die bestandigen Fehden der Psitticher und der Sterner, welche fiir 
langere Zeit zur Vertreibung der antibischofHchen Partei aus der 
Stadt fiihrten, geniigen allein schon um das natiirlich erscheinen 
zu lassen. Aber auch mit der ehrenvollen Riickfiihrung der Sterner 
durch den neuen Konig Rudolf warden die Verhaltnisse nicht ohne 
weiteres gesund; die herschsuchtige Person Peter Schalers, der 
sich inzwischen auf die Seite des Konigs geschlagen hatte und 
so in seiner Stellung auch unter den neuen Verhaltnissen gefestigt 
blieb, war kein Einigungspunkt. Eine Wendung trat erst im Jahre 
1286 ein, als Konig Rudolf mit seinem Stadtfrieden durchgrifF und 
fast gleichzeitig Peter Reich, der erste Bischof aus einem Easier 
Dienstmannengeschlecht, der Nachfolger des Mannes wurde der 



122 


Edward Schroder, 


nur als holies Muster fiirstlicher Milde hinstellt, sondem auch als 
Reprasentanten der Deutschen gegeniiber den Walschen wahlt, 
das laBt sich immerhin aus gewissen Absichten Konig Rudolfs 
erklaren, die in der Biirgerschaft wohl bekannt sein muBten, zum 
mindesten seit man im Easier Munster den am 21. Dez. 1281 bei 
Rheinfelden ertmnkenen koniglichen Prinzen Hartmann, Rudolfs 
zweiten Sohn, neben seiner Mutter beigesetzt hatte. Denn dieser, 
dem der Vater das romische Konigtum mit dem Arelat zugedacht 
hatte, war seit Anfang 1278 mit der englischen Prinzessin Jo- 
hanna, der Tochter Konig Edwards I. und GroBnichte des deutschen 
Konigs Richard, verlobt gewesen (Redlich S. 413 — -415, vgl. 372 f.). 

An dem eigentumlichen Gegensatz , daB der Dichter zu An- 
fang der 70er Jahre, wahrscheinlich bald nach Konig Richards 
Tode, im ‘Engelhard’ einen Prinzen Ritschier von England als 
niedrigen Intrignanten einfiihrt und 12 — 15 Jahre spater im 'Tur- 
nier’ einen Konig Richard (man beachte die deutsche Namensform) 
als Muster fiirstlicher Milde und ‘dentscher’ Tapferkeit hinstellt, 
werden wir nicht ernsthaft AnstoB nehmen diirfen — aufzuklaren 
vermag ich ihn nur allenfalls aus der Tendenz des spatern Werkes. 

3. Wir wenden uns zu dem iibrigen Personal. Die Ver- 
bindung zwischen dem Turnier ge dicht und dem ‘Schwan- 
ritter’ stellen die Grafen von C'leve her, deren Wappen hier 
V. 1320 ein Schwan zugeschrieben wird, wahrend es dort V. 516 
bis 520 bis anf die Farben, die nmgekehrt werden miissen, richtig 
blasoniert erscheint ; mit Herzschild rot in weiB (statt weiB in 
rot) b- In die irrige Angabe iiber das Schwanenwappen begreift 
Konrad auch die Grafen von Geldern ein (V. 1320), die in Wirk- 
lichkeit einen Lowen gold in blau fiihren, und auBerdem die fran- 
kischen Grafen von Rieneck (V. 1322), deren Schild 8fach quer- 
geteilt rot-gold war ; hier liegt o. Zw. eine heiniatliche Reminiscenz 
aus einer Zeit vor, wo der Dichter den Unterschied zwischen Schild 
und Helm noch nicht erfaBt hatte ^); denn die Rienecker haben 
aller dings (was bei Geldern und Cleve nicht zutrifft) als Helm- 
schmuck den Schwan iiber der Krone. 

Mag man immerhin der Kennung der Grafen von Cleve am 
Schlusse des ‘Schwanritters’ an sich geringen Wert beilegen, sie 

1,1 Der goldene ‘Lilienhaspel’, der in der offiziellen Heraldik meist als das 
fleviscbe Wappen erscheint und der das silberne Herzschildchen , das ihm auf- 
liegen soli, wohl gar verschwinden laBt, ist urspriinglich nichts weiter als das 
Scl.ildgespange, das erst spater als Wappenbild aufgefafit wurde. 

i) Man kann den Irrtum um so leichter verstehen, als das verkleinerte 
Scluldliild nicht selten auf dem Helrae wiederholt wird. 



Stndien zu Konrad ron Wurzburg V. 


123 


gewinnt Bedeutung wenn im Tumei V. 514f. voti Cleuen der yehinre 
ein grave niissewende har angefiihrt wird ; als der einzige dentsche 
Graf neben zwei Herzogen, zwei Markgrafen tind einem Landgrafen. 
Hier mu6 eine Personlichkeit der Zeitgescbickte vorgeschwebt 
baben: Graf Dietrich (VII) von Cleve <1275 — 1305), einer 
der besondern Giinstlinge Eudolfs von Habsbnrg , der seit 1276 als 
Gemahl der (damals zweijahrigen !) Nichte des Konigs , Margareta 
von Habsburg-Laufenburg gait, wenn anch die Hochzeit erst im 
J. 1290 stattfinden konnte (Eedlich S. 643 n. Anm.): Rndolf sendet 
ihm 1276 als ‘dilecto filio suo’ die Belehnung zn (Drk. bei Redlich 
S. 756), ernennt ihn 1279 zn seinem ‘consiliarius et familiaris do- 
mesticus’ (Urk, bei Redlich S. 759), er nennt ibn neben andern 
nnter seinen ‘Helfern’ 1:182 (Redlich S. 519 Anm. 5), und wenn er 
anch zeitweise liber ihn (wegen der hessiscben Kampfe) die Reichs- 
acht hatte verhangen miissen, so blieb er ihm doch zeitlebens per- 
sonlich gewogen, wie nene Gnnsterweisungen vor nnd nach der 
Hochzeit bezengen. 

Ls ist sehr wohl moglich daB KvW. dem Grafen, der oft in 
der Umgebung seines koniglichen Schwiegeronkels weilte, person- 
lich nahe getreten ist ; bei einer solchen Gelegenheit mag der Basler, 
nm dessen geographische Kenntnisse es sonst sehr iibel bestellt 
ist, anch einiges iiber Nimwegen mit seiner alten Kaiserpfalz er- 
fahren haben: diu lit da sich. der suelle Rin wil sewen und ergiesea 
und in da^ nier kan fliezen, uls ez noch niangem ist bekant: Niu- 
■mdgen ist din hurc genant. Die Belehnung mit Nimwegen welche 
Dietrich erstrebte, erlangte er freilich erst 1290 (Redlich S. 507), 
aber seit Stadt nnd Burg 1282 aus geldrischem Pfandbesitz an 
das Reich zuriickgelangt waren, ist davon gewiB ofter die Rede 
gewesen. 

Aber noch etwas hat der ‘Schwanritter’ mit dem ‘Tnrnei’ ge- 
meinsam: das ist die Figur des Herzogs von Sachsen und die Bla- 
soniernng seines Wappens, die Konrad bnchstablich aus dem altern 

Gedicht heriibergenommen hat : T. 398 — 420 = Schwr. 906 928 

Es ist das einzige historische Wappen das der ’Schwanritter’ bietet’ 
ganz so bat es Herzog Albrecht II. von Sachsen-Witten- 
berg gefiihrt (Posse, Die Siegel der Wettiner II 22 f., Taf. XXVIl 
4. 5 n. bes. XXVIII 1), der am Abend des Eironungstages (24. Okt. 
1273) seine Hochzeit mit Gertrud-Agnes, der dritten Tochter Kg 
Rudolfs feierte. Niemals sonst hat sich KvW. ein derartiges Aus- 
schreiben seiner selbst gestattet : es war eben fiir ihn eine sachRche 
Anleihe, nnd er branchte nicht zn befurchten, da6 sie ihm von 
einem litterarischen Kritiker anfgemntzt wiirde. 



124 


Edward Schroder, 


Noch eine dritte geschichtliche Persoidichkeit konnte dem 
Dickter allenfalls im ‘Schwanritter’ vorgesckwebt haben : die Her- 
zogin von Brabant, welche hier fiir das Erbrecht ihrer Tochter 
in die Scbranken tritt, raft die Erinnerung wach an die kraft- 
volle Gestalt der Herzogin Sophie von Brabant, welche im 
thiiringisch-hessischen Erbfolgekriege (1247 — 1264) die Rechte ihres 
Sohnes Heinrichs des Kindes gegeniiber den Wettinern (and zeit- 
weise den Welfen) durchsetzte. TJnd anderseits hat ein Herzog von 
Brabant den Konrad sehr wohl gekannt haben mag (s. u. S. 126 f.), 
seit 1282 in heftigem Erbstreit um Limburg gestanden. 

Es sind alles nur lose Faden die ich hier kntipfe: ich holFe, 
sie werden beim ‘Tnrnier von Nantes’, zu dem ich zuriick- 
kehre, fester werden. 

Die Dichtung beginnt (V. 1 — 91) mit einem iiberschwanglichen 
Preise der Milde Konig Richards von England, in dessen Mitte 
eine Anekdote steht (V. 24— 66j ; er (jap und gap und gap et dar 
heiBt es V. 86 mit einer kanm ungewollten Reminiszenz an Walther 
von der Vogelweide. — - Der Konig, Jer ein Freund ritterlicher 
Kampfspiele ist, begibt sich mit 100 Schildgefahrten zu einem Tur- 
nier nach ‘NantheU’ (durch Reime gesichert V. 99. 106. 239. 706)^). 
Am Vorabend wird eine ‘■vespene’ geritten (V. 133), bei der der 
Konig Richard den normannischen Baron Gottfried von Gane (V. 
154) besiegt ( — V. 220). 

Es folgt ein uppiges Nachtmahl und am andem Morgen nach 
der Messe die Einteilung der weitern Kampfe. Aus den 4000 zum 
Turnier erschienenen Rittern sollen zwei gleich starke Parteien 
gebildet werden, eine deutsche und eine walsche ( — V. 296) ; zu 
jeder von beiden gehoren 3 Konige und 7 Fiirsten und Grafen. 

A. Deutsche Partei: 

1. der Konig von England (297 fiP.) als Fiihrer, 

II. der Konig von Danemark (326 if.), 

III. der Konig von Schottland (354 fF.); 

1. der Herzog von Sachsen (390 ff.), 

2. der Markgraf von Brandenburg (424 ff.), 

3. der Markgraf von MeiBen (450 ff.), 

1) Wir nehmen allgemein an, dah dies das aus dem Parzival als Stadt der 
Lerteneyse bekannte ^santes, das alle Kamtities ist, oliwohl keine altfranzosische 
Form die Brucke zu Konrads Schreibimg sohlagt. DaC der Konig bei der Esise 
das Meer passieren mu6, wird nicht gesagt, und schlimmer; wer der Wirt ist 
der die Einladungen eigebn laEt, erfahren wir nicht. Die Stadt iiegt irgendwo 
fern im Westen, und mit Absicht ist durch den Schauplatz das Ganze in den Be- 
reich der Fiktiun jeniekt. 



Studien zu Konrad von Wurzburg V. 


125 


4. der Landgraf von Thiiringen (47411.), 

5. der Herzog von Brabant (504 IF.), 

6. der Graf von Cleve (514 IF.), 

wozn dann im Verlauf der Kampfe hinzntritt 

7. der Herzog von Brannschweig (991 IF.). 

B. Wiilsche Partei: 

I. der Konig von Prankreich (527 fF.) als Fiihrer, 

II. der Konig von Spanien (543 ff.), 

III. der Konig von Navarra (570 IF.); 

1. der Graf von Bretagne (590 IF.), 

2. der Herzog von Lothringen (608 IF.), 

3. der Graf von Bar (622 IF.), 

4. der Graf von Blois (636 ff.), 

5. der Herzog von Bnrgand [Hs. Snrtjunne] (656 ff.). 

6. der Graf von Artois (668 ff.), 

7. der Graf von Nevers (678 ff.). 

V. 689—1156 folgt die Darstellnng des Turniers, das mit dem 
Siege der Deutsehen nnd nenen Bezeugnngen von Hichards Krei- 
gebigkeit endet. 

Die Answahl der Walschen interessiert nns kanm mehr als 
den Dichter, der hier genommen hat was ihm an Wappenbildem 
znganglich war ; soweit er daran UberschuB hatte, hat er das nachst- 
liegende bevorzugt. Surgiinne V. 656 ist in Burgunne zn andern: 
sechsfach (schrag) geteilt gold-blau ist der Schild von Burgxmd ! 
Der Graf von Blois mochte ihn vom Partonopier her interessieren, 
einen Herzog von Lothringen, Friedrich (Ferry III), konnte er auf 
dem Turnier von Basel 1276 gesehen haben, nnd die Angelegen- 
heiten des Grafen Thibaut von Bar batten fiir das nachbarliche Basel 
vielfach Interesse, anch wenn wir davon absehen, daB Rudolf von 
Habsburg vor Jahren einmal eine Heiratsabrede zwischen seinem 
Erstgeborenen Albrecht und Thibauts Tochter Jolande getroffen 
hatte ^). 

Nun aber zu den deutsehen Fiirsten! Der Herzog 
Albrecht von Sachsen war, wie wir sahen, seit 1273 der 
Schwiegersohn Konig Rudolfs, der Graf Dietrich von Cleve 
wurde seit 1276 von ihm wie ein solcher angesehen. Einen dritten 
Schwiegersohn des Konigs konnen wir in dem MarkgrafenOtto 
dem Kleinen von Brandenburg ansprechen, der 1279 dessen 
dritte Tochter Heilwig (Hedwig) heimfiihrte (Redlich S. 647. 748). 


1) Die Tatsache ist erst in der neiisten Zeit bekannt geworden, s d. Uvk. 
T. 1265 Juli 3 in d. Mitth. d. Inst. f. ost, Geach. 25, 325. 



126 


Edward Schroder, 


Im gleichen Jahre kniipfte Rudolf auch die ersteu nahern Bezie- 
hungen zu Heinrich dem Erlauchten, Markgrafen von 
MeiBen an (Redlich S. 646), und im J. 1285 heiratete dessen Enkel 
Landgraf Friedrich (der Freidige) von Tbiiringen Agnes, 
die Tochter des G-rafen Meinhard von Tirol: er warde so der 
Schwager von Rudolfs Sohne Herzog Albrecht. So haben wir schon 
im J. 1285 — and das ist der friihste Termin zu dem wir das 
‘Turnier von Hantes’ ansetzen diirfen — fdnf von den deutschen 
Fiirsten des Gedichtes als in nahen verwandtschaftlichen Bezie- 
hungen zum deutschen Konigshanse stehend erkannt. Zu Braun- 
schweig hatte der Konig schon friih die beste politische Fiihlung: 
im J. 1277 bereits hbertrug er neben seinem Schwiegersohne Al- 
brecht von Sachsen dem Herzog Albrecht dem GroBen die 
‘gubemacio’ iiber die Reichsstadte Liibeck, Goslar, Nordhausen und 
Miihlhausen wie aUe Reichsbesitzungen in Thiiringen, Sachsen und 
Slavien (Redlich S. 462). Diirfen wir aber gar mit Galle bis zum 
Jahre 1287 hinuntergehn. dann ist auch der AnscblnB dieses Fiir- 
stenhauses an das Haus Habsburg vollzogen: am 19. April 1287 
wurde zu Burglengenfeld in der Oberpfalz der Heiratsvertrag zwi- 
schen Herzog Otto dem Strengen von Braunsch weig- 
Liineburg und der Prinzessin Mechthild von Baiem, einer En- 
kelin Konig Rudolfs, abgeschlossen (Redlich S. 669 f.). 

So scheint nur Brabant abseits des Familienkreises zu stehn 
— und doch nicht ganz. Konig Rudolf hat zu dem Herzog Jo- 
hann I. von Brabant (1260 — 1294), dem Minnesanger — denn 
um den handelt es sich hier — , alle Zeit in den besten Beziehungen 
gestanden (vgl. Redlich S. 507. 658 f.) ; im J . 1282 nennt er ihn 
neben dem Grafen von Cleve und dem Landgrafen von Hessen 
seinen ‘Heifer’ (S. 519 Anm. 5), und vrenn er sich in dem Streit 
um die Limburger Erbschaft (Redlich S. 656 If.) nicht unbedingt 
auf seine Seite steUte, so geschah es gewiB nicht weil die.se Freund- 
schaft erkaltet war. Durch seine zweite Heirat mit Elisabeth von 
Burgund war Rudolf dem Brabanter auch verwandtschaftlich naher 
getreten, denn eine altere Schwester der jungen Konigin, Alice, 
war Herzog Johanns Mutter. Anscheinend hat der Herzog zu 
Anfang Februar 1284 an dem glanzenden Hochzeitsfest in Remire- 
mont, kaum 10 Meilen von Basel, teilgenommen und ist fiber Basel 
heimgereist — vielleicht ist gar Konrad von Wfirzburg selbst dort 
gewesen und hat seine Kenntnis der franzosischen Heraldik bei 
dieser Gelegenheit vermehrt? Wenige Tage nach der Hochzeit, 
1284 Febr. 11 fibergibt Konig Rudolf zu Erstein im ElsaB dem 
neuen NelFen die niederrheinische Burg Kempen (Bohmer-Redlich, 



Studien zn Konrad von Wurzburg V. 


127 


Regg. 1817). Bestimmter aber laBt sich ein Aufenthalt des Herzogs 
in Basel fiir die gleiche Zeit des voransgehenden Jahres nachweisen : 
1283 Febr. 17 sind dort nicht weniger als drei Urkunden fiir Jo- 
hann von Brabant ansgefertigt (ebda Regg. 1763. 64. 65). 

Konrads Turnierdichtnng erschien, eh ihr Kochendorffer eine 
erste historische Anlehnung zu geben versnchte, als ein sinn- nnd 
geschmackloser Einfall, von dem man den Dichter am liebsten ent- 
lastet hatte. Und nachdem Kochendorffers Datierung hinfallig ge- 
worden war, schwebte das scheinbar schrullenhafte GrebUde wieder 
ganz in der Luft. Mein neuer Versnch es historisch nicht zu 
deuten, aber zu verstehn, ist keine Rettung: manches bleibt noch 
hente unverstandlich. und dem Geschmack des Dichters macht die 
Erfindung, macht das Ganze keine Ehre. Aber wir sehen doch 
jetzt ungefahr, worauf er damit hinauswollte. 

Fiir Konrad von Wurzburg, der bisher nur iur die Ritter und 
Biirger von Basel und allenfalls einmal fiir diesen und jenen vor- 
nehmen geistlichen Herrn von auswarts geschrieben hatte, war 
mit der Neugestaltung des deutschen Konigtums und seinen regen 
Beziehungen zu Basel die Aussicbt eroffnet, sich auch den Hochsten 
dieser Welt zu nahern; im Spatjahr 1276 hatte er sich Konig 
Rudolf mit einem Preisgedicht auf die Unterwerfung des Bohmen- 
konigs empfohlen. Aber er hatte offenbar die Tasche des Konigs 
ebenso verschlossen gefunden wie etwa der Schulmeister von Efi- 
lingen, und er mufite froh sein weiterhin Auftrage in Basel selbst 
zu erhalteu, und gar so umfangreiche wie den Peter Schalers oder 
den des Domsangers Ilietrich am Ort. Beruhigt hat er sich dabei 
nicht. Zwar seine Spruchdichtung verstummte schon im Jahre 
1277. aber noch in seiner letzten Lebenszeit nahm er mehrfach 
neue Anlaufe, um den deutschen Reichsfiirsten nahe zu kommen: 
das erste Mai mit dem Schwanritter', das zweite Mai mit dem 
‘Turnier von Nantes'. 

Da6 er fiir die Turnierdichtnng die Auswahl der deutschen 
Kampfer aus dem Familienkreise Konig Rudolfs von Habsburg ge- 
troffen hat, wird nach meinen Darlegnngen niemand bestreiten 
wollen, und ich erwarte auch nicht die Frage oder den Einwand 
warum denn nun dieser und jener fehle : etwa Ludwig von Baiern 
oder Meinhard von Tirol? Ich habe ja keine Konzepte und keine 
Korrespondenzen aufgedeckt, sondern nur aus der Dichtung selbst 
herausgeholt was sie hergab. 

Vorangestellt hat der Dichter in sehr deutlicher Absicht das 
Lob ‘Konig Richards von England’ und seiner uberschwanglichen 
Preigebigkeit. Ein englischer Richard war des kargen Rudolfs 



128 


Edward Schroder, 


milder Vorgiinger auf dem deutschen Konigsthrone gewesen, und 
eine Allianz mit England war dem Habsburger als hochstes Ziel 
erscbienen. Indem der Dicbter nm seinen Kbnig Richard drei 
Schwiegersohne Konig Rudolfs und vier andere Verwandte seines 
Hanses gmppierte, hegte er vielleicht die Hoffnung, dnrch sie, d. h. 
dnrch den einen oder andem von ihnen dem er ein Widmungs- 
exemplar iiberreichte, auf den Konig selbst zu wirken. Und wenn 
es \virklich anch diesmal erfolglos blieb — nun, dann war die 
Rache siiB gewesen. 

Einem weitern Kreise erschien das ‘Tnrnier von Nantes’ als 
ein kiinstlerisches Bravourstiick, in dem KvW. sich seinerseits fur 
die eben in Aufnahme kommende Blasoniernng der Wappen als 
sachverstandig answies. Ich halte es nicht fiir ansgeschlossen, dad 
er erst jetzt den Einfall hatte — oder die Anregnng erhielt, das 
Wappen Herzog Albrechts von Sachsen- Wittenberg nachtraglich 
in den ‘Schwanritter’ einzuschalten, vielleicht bei einem Widmungs- 
exemplar das er diesem zngehn lied: denn ans dem ‘Schwanritter’ 
tritt dies einzige historische Wappen auffallig heraus, im ‘Tarnier’ 
ist es am Platze und fest eingefiigt. 

Die Handschriften des ‘Tumiers’, deren gewid alsbald mehrere 
angefertigt warden, gelangten znnachst nnr in jenen habsburgi- 
schen Eamilienkreis fiir den das Gedicht bestimmt war. Es ist 
moglich dad der fiir die dentsche Dichtung lebhaft interessierte 
Graf Albrecht (V.) von Hohenberg^) eine dieser Hss. an sich 
brachte and sie dann in Wiirzbarg, wo er als provisos langere 
Zeit verweilte, dem Michael de Leone lieh, ebenso wie die Hs. der 
‘Klage der Kunst’ und vielleicht aucb die der ‘Goldenen Schmiede’. 
Eiir die Erwerbang dieser Manuskripte konnte man anf Albrechts 
Stradburger Beziehungen verweisen, das ‘Tnmier’ aber war ihm 
wohl als nahem Verwandten des habsburgischen Haases zuganglich. 

Der Text der einzigen Wiirzburger Handschrift ist nicht ohne 
Mangel, aber die Rezension von E. Roth-Bartsch hatte ihn, was 
den Wortschatz anlangt, doch mit mehr Pietiit behandeln, ander- 
seits aber das eigentiimliche orthographische Gemisch nicbt soweit 
bestehn lassen sollen, dad sie KvW. ein Nebeneinander von leant, 
Iccmne (alem.) and Jedmen (bair.) und anderseits gar konde, hegonde 
(westmd.) zumutete. In die nachfolgenden Besserungsvorschlage 

1) S. iiber ihn 6GN. phiJ.-hist. Kl. 1»99, S. 64 ff. ; Zs. f. d. Alt. 53, 395 ff. 

2) Er war der Enkel yon Rudolfs LiebUngsschwager Graf Albrecht (11) von 
Hohenberg. 



Studien zu Konrad von Wurzburg V. 


129 


hab icb grapliische Anderungen wie GrDat. tugent st. tugende im 
Versinnern und was ich noch in den friihem Konrad-Studien als 
notwendig dargelegt babe, nicht einbezogen, betrachte anch die 
metrische Revision damit nicht als abgeschlosseu ; sie bleibt einer 
neuen Ausgabe vorbebalten. 

V. 47 ist mit der Anderung his her za imze Tier (: wer) nicht 
in Ordnnng gebracht, es muB unbedingt das Snbst. her stm. ein- 
gefiihrt werden, also etwa: ich bin hesessen nu mit her. — V. 94 
1. ttnd wart ie mere da belcant (st. me). — V. 192 1. das wirt iu (nu} 
dur mhien niunt. — V. 224 1. da was (vil} manic iverder man. — 
V. 229 die Anderung von deni plane in der heide ist iiberfliissig. — 
V. 381 1. glensieren misseicende vri, vgl. 480. 867. — V. 404 die 
Anderung teil in stiicke auf Girund von Schwr. 912 ist iiberfiussig ; 
KvW. brancbt beide Ansdriicke. — V. 480 f. 1. dar us sach man 
glensieren dd einen Iduiven vientlich] dsis hsl. glentsieren ist eine 
echt konradiscbe Bildung, die anch noch 867 iiberliefert ist und 
381 eingesetzt werden mn6, vgl. die parallele Bildung grdsieren 
(zu grdsen) 754. — V. 484 1. rot unde wts str ifehte (st. Hs. stuckehte) ; 
die Anderung ist bier genau ebenso notig wie 402, wo sie der 
Brsg. auf Grund des Schwanritters vornimmt ; der Dichter nnter- 
scheidet scharf strife (wagerecbt), strich (senkrecht und schrag), 
strtine (strablenformig), und stiicke (geteilt). — V. 513 1. sogt (hin} 
uf die pldniure (vgl. 267). — V. 529 1. {reht} als ein richer kiinic 
tuot. — 591 1. grdf schcfte mit der Hs., grdveschaft ist kein deut- 
scbes Wort. — V. 646 1. entwerhes durch die breite hin (st. iiber). 
— V. 694 1. und gein einander wdgen (st. tcider). — V. 764 1. das 
in das vel hetouwen (hs. verch braiiwen). — V. 804 1. golt, {silber,} 
side und samit. — V. 809 1. und von (den) swerten bitter. — V. 813 
stebt planure, V. 840 planire, V. 1026. 1127 planiere in der Hs. ich 
weiB nicht warum dies echt konradiscbe Wort (das 131. 513 im 

Reim erscheint ; pldniur e) durch pldn'te ersetzt werden muBte 

V. 854 1. gesteine und ouch des stoubes mel (st. stoup und 
ouch gesteines mel), vgl. alsbald 867. — V. 867 1. glensieren durch 
des stoubes melm mit der Hs. — V. 963 unde grdsen smersen hat ist 
sicher falsch, wahrscheinlicher als und (viT) gr. sm. ist mir die Ver- 
drangung eines zweiteiligen Adjektivs , also etwa und angestbcen n 
smersen hdt. — V. 988 tis dem sich (dd) se schine hot. — V. 1023 1. 
wan sie (dd) wurfen mangen ahe. — V. 1026 1. pldniure mit der Hs. 
(oben zu 813). — V. 1067 von der schilte bdsen ist nnwahrscheinlich, 
1. von richer schilte bdsen'} vgl. 1106. — V. 1127 1. pldniure mit 
der Hs. (oben zu 813). 


Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil. -hist. KUsse. 1917. Heft 1. 


9 



Die Forniel Glaube, Liebe, Hofftiung bei Paulus. 


Ein Nachwort 
von 

R. Reitzenstein. 

Vorgelegt in dor Sitzung vom 23. Dezemher 1916. 


Ich habe in der Sitzung vom 8. April 1916 in der Zuriick- 
weisnng eines erregten Angriffes v. Hamacks versucht, die Eigen- 
art eines paulinischen Satzes, I Kor. 13, 13 vuvi §s jiivst irton?, 
otYaJiT), ta tpia taota' fieiCwv Ss 'loutov 7 ) cn^anri ans Licht zu 
stellen (Nacbrichten Bd. 1916 S. 367 ff.). Neu erschienene oder 
friiher iibersebene Dokumente hellenistiscber Frommigkeit haben 
mir seitdem mancherlei Bestatignngen und Erganzungen geboten, 
nnd der Umstand, da6 der Angriff soeben in etwas anderer Form 
wiederbolt ist, verlangt von mir nocb ein Wort zur Klarstellung 
nnd Abwehr, ebe ich anf eine weitere Beteiligung an dieser Frage 
verzichte. Da es sich in dem paulinischen Satz angeblich urn eine 
in der Urgemeinde oder doch vor Paulus ganz originell und un- 
abhangig gebildete Formel fur das Wesen der christlichen Religion 
bandelt, hat der Gegenstand ja wohl fiir Philologen wie Theologen 
naheres Interesse. 


1 

Ich beginne mit zwei lexikalischen Bemerkungen, zu denen 
mir der neuste Band der Oxyrhynchus-Papyri durch die Veroffent- 
lichung eines offiziellen Gebetes an Isis (Ox. Pap. XI 1380) AnlaB 
gibt. Der Papyrus ist im Anfang des zweiten Jahrhunderts n. 
Chr. geschrieben, etwa unter Trajan oder Hadrian, und bietet in 
seinem Hauptteil eine Aufzahlung der Kultnamen der Isis nach 



die Forniel Glante, Liebe, Hoffnung bei Paulus. 


131 


den einzelnen Stellen ihrer Verehrnng, hierauf im SchluB allge- 
meine Lobpreisungen. Nun hatte ich in der vorigen Abhandlung 
S, 383 anf die seltsame Tatsacbe hingewiesen , dafi das Substan- 
tivnm aYaiTT] unserer altesteu synoptischen Ueberlieferung nocb 
fremd ist, in der judiscben religiosen Literatnr nnr vereinzelt auf- 
tritt and erst in der etwas jiingeren christlichen Literatur zu 
voller Verbreitung kommt. DaB die Wortbildung auf heidnischem 
Boden entstanden ist, HeB sich auf Grand der beiden von Cronert 
gebotenen Belegstellen bisher mehr vermuten, als beweisen, Diesen 
Beweis bietet jetzt die Isis-Litanei, in der Z. 28 als Beiname der 
Isis in der nnteragyptischen Stadt Thonis A’{<x'!zri. Z. 109 als Bei- 
name in Italien ^A’j&Tcr^ d'swv erscheint *). Sieht man die Litanei naber 
durch, so fallt besonders der iiberaus starke Gebranch der Abstrakta 
als Beinamen auf; ihnen entsprecben z. T. Adjektiva, so die loic 
^povtfAirj in Ptolemais (Z. 117) der 4>p6vi(jaic an anderen Orten 
(Z. 44); den Sinn zeigen oft die einzelnen Lobpreisungen der Isis- 
Verkiindigung von los (vgl. CIGr. XII /use. 5 p. 217). So entspricbt 
dem Beinamen Atxaioauv/] offenbar die Verkiindigung eyw to Sixatov 
tayupotspov /poaioo xal ipyopioo sffotTjoa, dem Beinamen ’AXvjd'Ei.a (Pap. 
Z. 63) die Verkiindigung ''o dXrjdl? xaXbv dvop.O'&STTjoa 
Aehnlich mag man mit dem Beinamen ’Aydnri die Verkiindigung syd) 
yuvai 7 .a xai SvSpa mvi^yaya . . . sydy atipysad’ott yov(xi7.a<: bTc' av8p&v 
Ijvafxaaa vergleichen; heifit dock Isis auch 4>tXt5c!topYOc (Z. 12 und 
131) und 4>tXta (Z. 94;, und denselben Gedanken driickt offenbar 
der aus dem Aegyptischen genommene Beiname twv bsoiv 'Ap;rd- 
xpau? (Z. 135) aus; Harpokrates ist ja dieser Zeit ganz gleich 
’'Epw?, ja man kann vermuten, daB ’AydKTi &e6>y denselben Begrilf 
wiedergeben soli. Der Sinn der Bezeicbnung scheint danach klar, 
sie aus dem Christentum oder Judentum berzuleiten gleich un- 
mbglich. 

Die zweite lexikalisch fiir meine Untersuchungen wichtige 
Stelle findet sich im SchluBteil der Litanei Z. 152 opwai”) ae ol 
xatd to ^rmtdv eTuxaXoupLcVot. Das kann, so weit ich sehe, nnr ent- 
weder bedeuten ‘in der Weise, die dem Glaubensverhaltnis zwischen 
Gi'tt und Mensch ent.spricht’ =•) oder ‘in der Weise der Glaubigen, 

1) Die Lesung beider Stellen ist nicht unbedingt sielier (an der ersten Stelle 
ist das 7 t nicht ganz klar, das r, verloreu, an der zweiten wiire fiir das erste a 
auch k denkbar und ist danach eine Liicke von zcvei Bu.-hstaben (vor t:), dock 
schiitzen sich die Stellen gegenseitig. 

2) Dio Lesung des Wortes ist unsicher, der Sinn der Herstellnng selir an- 
sprechend. 

3) So M. I’ohlenz, 


9 * 



132 


R. Reitzenstein, 


der Gemeinde’, setzt aber jedenfalls einen allgemeine'n Gebrauch 
von matdc, jrtatsostv fiir den personlichen ‘Glanben’ an einen 

bestimmten Gott und fiir die Zngehorigbeit zu einem Gemeindeknlt 
vorans. Das ist fur den Philologen gewifi nicht iiberraschend ; 
einzelne Beispiele aus der beidniscben Literatur babe icb selbst 
oft angefiibrt, und oft ist von anderen betont worden, wie sich 
dieser Begriff des personlichen Glaubens notwendig bilden muJB, 
sobald eine Religion von ihrem Volkstum losgelost in fremdem 
Lande oder Volke Bekenner sucht. Wo eine Religion Missions- 
tatigkeit entwickelt, entstebt mit innerer Notwendigkeit die ver- 
tiefte und gesteigerte Bewertnng des ‘Glaubens’. Die Vorstellung, 
dafi in jener Zeit nnr das Christentnm Glauben, Gottesliebe oder 
Hoffnung gekannt hat, ist ja gewifi unter Laien nocb verbreitet 
genug, bedarf aber einer ernsthaften Widerlegung nicht mehr. 
Immerhin verdient jedes neue Zengnis des Sprachgebrauchs Be- 
acbtung, und das Zeugnis der Litanei scheint mir sogar bervor- 
ragend wichtig. Icb mnfi dabei etwas weiter ausholen. 

Die Litanei eroffnet einen iiberraschenden Einblick in die Ver- 
breitung des Isis-Kultes und dieMissionsarbeit der agyptiscben 
Religion; man kiimmert sich offenbar in dem Mutterland um die 
Neugriindungen von Gemeinden und Tempeln im Ausland und ist 
stolz darauf, dafi Isis iiber den ganzen Erdkreis bin verehrt wird : 
eine feste Verkiindigung hat sich gebildet; bestimmte Gebote (zwei 
an Zahl, vgl. Z. 155) bat die Gottin gegeben. Naher lehrt uns 
die Kreise, fiir welche die Litanei entworfen war, die auf der 
Riickseite desselben Papyrus erhaltene Scbrift eines Anbangers des 
agyptischen Gottes Imuthes (Asklepios), des Sohnes des Pbtba. 
kennen. In geziert rbetoriscbem Griecbisch bietet er ein altes 
agyptiscbes Buch iiber die Wunder seines Gottes iiberarbeitet (Pap 
1381). Als seinen Zweck bezeichnet er (Z. 198): 'EXXtjvIc Jcaaa 
-IfXwoaa rijv oijv Xalijoei iotoptav xal za<; "EXXyjv otVTjp tov tod 
aepT^astai ’Ip.o6dY]v. Auch fur den Aegypter sind also die ''EXXtjvs? 
das Weltvolk und zugleich die Heiden, die bekehrt werden soUen. 
Icb wage nicht zu entscheiden, ob die fiihlbare Uebereinstimmung 
mit dem grofiartigen Worte des Paulus Phil. 2, 11 xal jrdaa YXwaaa 
liop.oXo'fTjasTat on xopio? ’Itjoodc Xpioxo? sk Sd^av dsoo Tcarpo? zufallig 
ist Oder ob der Apostel sich formell an ahnlicbe Missionsverkun- 
digungen heUenistischer Propheten anscbliefit i) ; dafi der Aegypter 
den Paulus studiert hat, werde icb, trotzdem er wahrscheinlicb 


1) Der Originalitat des Christentums tate das wohl keinen Abbruch ; fur die 
Frage, welche Elemente die Sp cache des Paulus beeinflussen, hat es Wichtigkeit. 



die Fonnel, Glaube, Liebe, Hoffnung bei Paulus 


133 


jiiDger ist, nicht glauben. Wie dem sei, die beiden neuen Schriften 
zeigen, da6 die orientalischen Religionen damals zu dem Griechen- 
tum ganz ahnlich wie das Christentum steben , nnd verdeutlichen 
das Empfinden der Zeit. Eiir das Empfinden des Verfassers der 
Imuthes-Scbrift, also einer Missionspredigt ^), ist wichtig, dafi er 
sicb als ‘Prophet’ ftthlt (Z. 168 tTjv arjv irpotpYjteutov Ijtivotav); nicht 
sein Wissen nnd Denken, sondern der Gott selbst wird das Werk 
zn Ende fiihren. Noch wichtiger fast sind die Andentungen, die 
er fiber eine frfihere theoretische Schrift fiber die Kosmogonie Z. 
170 ff. macht : xai zoafiozoua? m'&avoXofYj&svTa {ludov *) 

iv sTsp;^ Ptj3X(j) ^uatx(}> Ttpbi; aX’tjd'siav av^TcXmaa Xoyip zal sv oX'g 
Ypa^-jj TO p,sv oaxspov (die <puaioXo-[ia) irpoasicXVjpwaa, to Ss irspiaasoov 
(den [ludoc) a^stXov, Ss5coo(?)®) ftaxpoXo^oopLEvoV*) ouvx6p,(oc 

iXdXyjaa xal otXXaxxoXoYov p,udov aTtai lippaaa. Wir haben in der 
Hermetischen Literatnr zwei Schriften, die diese Beschreibung er- 
klaren, cap. Ill (bzw. IV) des Corpus, das noch ganz ein p.5doc 
7:tfi'avoXoY7]^£i's ist, nnd die Kopn] xoapLOo, die mit ihrer Anlehnung an 
Platos Timaios die HereinziehungderipoaioXoYta ebenso erlantert, wie 
in ihren wechselnden Darstellungen den Sinn des seltsamen Wortes 
oXXaxxoXoYo? p.ufi'oc. In der Tat scheint mir die Beschaffenheit der 
Hermetischen Schriften, die Flinders Petrie als treue Uebersetzungen 
aus dem Aegyptischen, Jos. Kroll (Die Lehren des Hermes Trisme- 
gistos, Mfinster 1914) als fast ansschliefilich griechische Philosophie 


1) Beachtenswert scheint mir anch die literarische Form des Buches, bzw. 
der Predigt, so gleith der Anfang mit seiner eigenartigen Vereinigung altgriechi- 
seher (z. B. orphischer) und echt orientalischer Verkundigungsformen (Z. 203) ; 
auviTE oeOpo, u) ivope; sOaEvEt; -zai dya^oi, dtTrtTE, ^dsxavot zat daE^Eit . . . pi.E)A(u yip 
aux&y TEpotTcboEts ctrzyyEXi.Eiv ^zicpaMEtas ouvapEib; xe pLEyebr, E’jEpyETrjaaTiov xe Btop^paxo. 

Wir braucben nur fur den Prediger eine gottliche Figur wie Soxu'ct, IKoxit oder 
FpP'.fj?, AczXTjtTto? einzusetzen, um die borm einer Hermetischen Predigt oder einer 
Ode Salomos zu gewinnen (vgl. fur diese Predigtformen Gott, gel. Anz. 1911 S. 
554 ff. und fur die Ankundigung Corp. Kerm. XIII (XIV) 17, Poimandres 346,4 
uE>.).(u yip jpvElv xiv xxi’aavxa xd tA\-i xxX.). Fiir den SchluB dteser Buchpredigten 
ist charakteristisch der SchluB der Serapis-Aretalogie Pap. 1382 ot TiapdvxEs tlitaxE • 
Ei; Zi'ji Sdpari;. Die Wundererzahlung richtet sich der Fiktion nach an die Ge 
ineiude, wic die christliche Wunderpredigt spater tatsachlich (vgl. Augustins Wunder- 
predigt). Ein organisierter Gottesdienst wird vorausgesetzt, bei dem die An- 
wesenden zum SchluB eine Bekenntnisfonnel sprechen. Es ist hier das Credo 
einer nur agyptischen und griechischen Glauben verbindenden Gemeinde. 

2) Zu dem Ausdruck vgl. Philo Be migr. Air. 76 xmv ev Aiyiitxip oocptaxmv, 
of? ai [iuBr/ai ztdavoxTjxe; ~p6 xfjs xiov dXTjbmv svapyEia; xex(piT|vxat. 

3) Sollte 5’ 'Eppcu oder o’ "2poo zu schreiben sein? 

4) p'txpoXoyo'j[jL[£]vo[5] die Herausgeber, 



134 


R. Reitzenstein, 


bietend betrachtet, erklart, seit wir diese Selbstcharakteristik eines 
derartigen Schriftstellers besitzen und die Missionstatigkeit der 
hellenisierten Aegypter kennen. Missionsschriften sind es, die sich 
in verschiedener Starke dem griechischen Verstandnis anpassen, 
wie wir ja ahnliche Versucbe in der friihchristlichen Literatur seit 
der Areopagrede des Panins nachweisen konnen. Ancb fiir ihre 
Datierung hat der neue Papyrus also hohe Wichtigkeit. 

So hat es denn in der Tat seine innere Begriindung, wenn 
sowohl in der Isis-Litanei wie in der Hermetischen Literatur der 
Begriff der utot'.s erscheint; vergl. Corp. Herni. IX (X) 10 p. 66, 11 
Parthey lautd aot, ’AoxXirjirts, ivvoobvzi *) dXTj&'^ Sd^stsv, apjoou'm Ss 
dmaia. to y®P vo'^aai lati to jttotsooat, OTtat^aa' Bs to |Arj vofjicti. 6 
Ydp Xo'yo?^) (lou yddvet dXTjdstac, 6 Ss vou? [Asya; soti xal 

UTO too Xdyoo tivo; oSTjyijdsl? [ip^dvsi P-^XP^^) dXTfj&ei'ac] xai 

TtsptvoT^aa? td j:dvta xat eupdtv oopiywva toi? otto too Xdyoo spjjiTjVco- 
■d-sio'-v lictatsoas xal fg xaX'g ■rctotst s^raveTtaoaato. Die Ge- 
bete der Zauberpapyri bringen auch hierfur die Bestatigung. Das 
oft angefllhrte Gebet des Pap. Lugd. V col. 7, 17 (Dieterich, Pleck- 
eisens Jahrb. Suppl. XVI S. 807) zeigt, wenn es den Propheten 
sprechen lafit lyw rj fllanc st? iv&pmKoo? s'ipe&slaix ') xal rtpo'fujtr]? 
twv dylcov dvojj.dta)v sip.', 6 aytoc 6 sxtts'^dxo)? lx too jSodou dieselbe 
Personiliziernng dieser Gotteskraft, die sich in dem Beinamen ’’lot? 
'AydzTf) ausspricht, und belehrt zugleich fiber die Auffassung der 
^ttati? : wer neue Gottesnamen verkfindet •^) und die Welt oder be- 
stimmte Gaben auf einen bisher unbekannten Gott zurfickffihrt, 
wie z. B. der Imuthes-Diener auf seinen Gott, bringt die ui'atii; 
auf die Erde; ffihlt er sich, wie so mancher Prophet*’) als Gott- 
wesen, so kann er sich als die personifizierte lllatK; empfinden. 

1) Die Begriffe und oYvoetv geben auf die innere Walirnehmung, das 

innere Erleben. 

2 Die Rede ist Oft'enbarung. Im Folgenden ;ioi CM. 

■Sj yd'ivEiv l/£! Hss. Die Worte sind sinnios hier wiederbolt. 

4) i7.f,ji>£Tco: vermutet Dieterich, dem tiinnc uach sehr ansprechend, vgl. unten 
die chaldai^chen Orakel. 

5) Mit den Worten rrpocp/jTrjj xibv xytcov o7o;rdxiu7 ist zu vergleichen Pap. Ox. 
13&1 Z. 11,8 trjv atv -potpijxeumv jravoiav. Das Wort Trpo'fTitijs'.-/ wechselt mit xot- 
xa-j-yi?,/ £iv, beide sind gleicbbedeutend mit zr,pu53e'.v. Das ist fur die Auffassung 
des Prophetentums auf hellenistisch-agyptischem Boden beacbtenswert. Fur den 
AVortgebrauch von xaxayyDlEiv verweise icb auf Apostelgesch. 17, 18 leviov oat'jiovfiov 
oozEt -/.axayyeXsuj Rvai Der Verfasser dieses Abschnittes gibt mit guter Kenntnis 
wieder, was der Grieche bei einer^derartigen Verkundigung eines neuen Glaubens 
oft g’sagt baben mag. 

Gj A'gl jetzt Gillis P;son VVetter, Der Sohn Gottes S. 21 ff. 



die Formel Glaube, Liebe, Hoffnung bei Paulus. 


135 


Damit ist selbstverstandlich nicht gesagt, dafi das Christentum, 
das aus dem Judenttun die Grnmdforderung der Gottes- und Nachsten- 
Liebe ubernimmt oder in der Diaspora die Vorstellung von dem 
Glauben an Gottes Wundermacht zu dem personlichen Glauben an 
Christus vertieft und erweitert, dabei vom Hellenismus beeinfluBt 
ist (vgl. den vorigen Aufsatz S. 383). Nor nnhistoriscbe Betrach- 
tungsart kann in den BegriiFen Glaube und Liebe Ideen sehen, die 
einmal an bestimmter Stelle erfunden sind, wie philosophische Lehr- 
satze. 


2 

Auf eine andere Quelle bellenistischer Religionsanschauungen, 
die nns schon naher an Paulus heranfiihrt, wies micb ein giitiger 
Pingerzeig Job. Geffckens, namlich auf die Oracula Chaldaica, die 
etwa der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Cbr. entstammen und 
keinerlei Beriihrungen mit christlichen Vorstellungen zeigen. In 
ihnen wird eine Dreibeit von Gott ausgehender Krafte erwabnt, 
die in sicb eine gewisse Einheit bilden, eine mrjYaia tptdi; *), deren 
Bestandteile ictatcs, dXijdsta, spoic sind. Durcb sie konnen die deoop- 
foi zur voUen Verbindung mit Gott gelangen (vgl. W. Kroll, De 
oraculis Oialdaicis, Breslauer philol. Abhandl. VII 1,26); es heifit 
von ihnen ffdvta f*p sv rpiol toiaSs zopspvdtai vs xai lotiv ®). Ancb 
die ist, wir wissen nicbt, ob an der gleichen SteUe, erwabnt : 

sXjric Ss tp£(p£T(o as Tropioxo?. Ich gehe, da ich boffen darf, dafi 
Geffcken selbst die auBerst interessanten neuplatonischen Erlaute- 
rungen der Stelle und Erklarungen der Begriffe , besonders des 
Begriffes irCau?, niiber behandeln wird, bier nicht darauf ein. Wenn 
in neuster Zeit zweimal von theologischer Seite versucht ist, die 
Aufzahlung von vier Gotteskraften bei Porphyries Ad Marccllam 
24 tsaaapa cs'C(jiy(sia. p,dXiata zsxpatuvO'W itepi ■ftsoo ■ Triattg, dXvj'd’sta, 
ipwc, sX^tis fiir eine Entlehnung und Umbildung aus Paulus I Kor. 
13, 13 vuvl Ss jisvet TCiaitc, sXzi?, difdjnf], xd xpia xabta zn erklaren, 
so ist diesem erkiinstelten und ohne Verstandnis der Zeit unter- 
nommenen Versuch damit wohl rasch ein Ende bereitet. Porphy- 
ries, der mit den chaldaischen Orakeln wohl vertraut war (vgl. 
z. B. Augustin De civ. dei X 26 if.), hat sie entweder hier benutzt 


1) Psellns bei Migne Pair. gr. 122 p. 1 152 a und bei Kroll a. a. 0. p. 74, 23. 
Zu dem Bild der vom Himmel entspringenden Quelle (vgl. fiir das Bild z. B. Philo 
De migr. Abr. 30) wurde Dieterichs Conjektur in dem oben erwahnten Papyrus 
ixfuScTaa trelflich passen, vgl. oben S. 134, 4. 

2) Die Beziehung der Worte ist leider nicht klar. War von Handlungen 
Oder Empfinduugeii die Bede? 



136 


K. Reitzenstein, 


oder geht mit ihnen auf die gleiche altere Formel znriick, die er 
dann woM treaer bewahrt hat. Ich mochte hier Geffcken nicht 
vorgreifen. Wichtig ist mir, da6 die Wahrheit hier nicht als 
der philosophische Begriff von dem ‘nenplatonischen Intellektua- 
listen’ eingefugt ist^), sondern als der religiose BegrifF einer auf 
nnmittelbarer Offenbarnng berahenden Sicherheit, wie er im Christen- 
tum selbst, in den gnostischen Systemen der Markosier nnd in den 
chaldaischen Orakeln erscheint. DaJ6 er auch in der Qnelle des 
Porphyries eng mit der yv&ai^ znsammenhangt , zeigt dessen er- 
klarende Fortsetzung. 


3 

Zeigten die chaldaischen Orakel schon die Verbindung dreier 
BegrifFe jrtatts, aXujdsia, Ipc#? zn einer Einheit nnd die Betonung 
der Zahl, die in jeder Formel notwendig ist, so konnen wir ahn- 
liche Formeln vielleicht schon friiher anch auf anderem Boden 
nachweisen. Philo z. B. bietet in den beiden Schriften Be prne- 
miis et poenis nnd Be Ahraliamo in breiterer Ansfuhmng ein System, 
das zwei Triaden von Tngenden oder Grotteskraften kennt, 
jistavota , SizatoouvKj einerseits, ittotti; yyP*^- opaat? andrerseits *). 
Zngrnnde liegt eine Quelle, die in Sprache nnd Gedanken jener 
asketischen hellenistischen Mystik angehbrt, welche ich in meinem 
Bnche ‘Historia monachwnm nnd Historiu Lausiaca' zn verfolgen 
versucht habe. Geschieden werden die Tngenden des itpaxnxoc 
pto? (erste Triade) von denen des ^•ecopTjTixo? pto? (zweite Triade). 
Der wahre Asket soil beide Lebensarten nach einander dnrchlanfen 
{Be 2 )raem. 51). Es ist die gleiche Scheidnng, wie sie Euagrios 
spater zwischen den icpaxtixot nnd fvcooTrAoi macht ; sie scheint Philo 
zn der Scheidnng nnd Nebeneinanderstellung der Essaer and The- 
rapeuten gefuhrt zn haben (vgl. Be praem. 43 Iv ooEo’c /al ivyj- 
aioi<; d'spajreoTaii; xal ^eoiptXeotv m? aXTjd'dj? avaypaipsad'woav), ist aber 
selbst natiirlich alter. Die Begriffe der ersten Triade scheinen 
dabei im wesentlichen ans jiidischem Empfinden entnommen oder 
nach ihm gemodelt. Anders die der zweiten. Anf hellenistischen 


]) So V. Harnack Aus der Friedens- und Kriegsarbeit S. 7, in dem er nach- 
driicklich hervorhebt, dafi dieser Begriff formell neben Glaube, Liebe, Hoffnnng 
ganz disparat und ungefuge, ja geradezu nnpassend sei , was nicht erst bewiesen 
zn werden brauche. 

2) Sebon Kroll (a. a. 0. 26 A. 2) hat bei Gelegenheit der chaldMschen Triade 
anf die Ausfubrungen Gfrorers, Urchristentum I 445 ff. verwiesen, dessen Samm- 
lungen dankenswert bleiben, wenn auch die SchluBfolgernngen verfehlt sind. 

3; Vgl. Sitzungsber. d. Heidelberger Akad. 1914 Abh. 8 S. 41 ff. 



die Formel Glaube. Liebe, Hoffmmg bei Paulas. 


137 


EinflnB weist zunachst der Begriff ^)> ebenso der BegrifF opaa'.? 
dsob, den Philo — vielleicht seinen Namenspielen (mit Israel) zu- 
liebe, vielleicht, weil er die hellenistischen termini teclinici mehr 
meidet als aufsncht ^). — in der Regel fiir den hellenistischen Be- 
griff Yvwaic einsetzt. Selbst der dritte Begriff ittatic ist nicht mehr 
jhdisch. Hat doch anch die wie die beiden andern bei ihm 

die dXTjffsta zum Zweck, aber sie bernht auf der Lehre, die X®P® 
dagegen auf der aotop.a'&Y]? xal aotoSioaxTOc 'pbaswc eopioipta, die 
schon ein innerlicheres Erfassen der Wahrheit gibt ; die voile dXij- 
dsia bernht dann auf der opoiai? ftsou (fvwo'c). Ich darf schon hier 
darauf verweisen, da6 fiir Clemens von Alexandrien eine etwas 
andere Triade, namlich TC'-ax'-c, ^vtiotc, afasT] grundlegende Bedeu- 
tung hat, daB aber anch er dabei zwischen der auf Lehre beru- 
henden Gotteskraft, bei ihm der yvwoic (er deutet den Begriff dahin 
nm), und den nicht lehrbaren scheidet. Wie alt dies System ist. 
lafit sich zunachst nicht sagen ; daB es sich in der Ausfxihrung eng 
mit dem des Porphyries beriihrt, habe ich friiher mehrfach betont. 
In ahnlicher Weise wird noch mancher Mystiker Systembildungen 
versucht und Triaden, Tetraden, Hexaden (wie Philo), Dekaden 
oder Dodekaden von Gotteskraften, bzw. Tugenden gebildet haben 
(vgl. Hachrichten 1916 S. 389), und es ist nicht wunderbar, wenn 
in den meisten jene Grundbegriffe des religiosen Denkens und 
Empfindens ;:tatic und aYaJCT] irgend einen Platz finden. Einen An- 
halt fiir die Bildung bietet auf hellenistischem Boden zunachst die 
im Kult weit verbreitete Bezeichnung deralten Volksgottheiten durch 
derartige Abstrakta, die sich zugleich als Gaben des hbchsten Gottes 
fassen lieBen, den wahren Grund das in aller Mystik und Gnosis 
besonders stark entwickelte Bediirfnis, neue Systeme zu bilden und 
eigene Lehren zu pragen. Die Philosophic wirkt dabei nur ganz 
schwach mit ein; selbst bei einem Manne wie Philo ist ja die Bil- 
dung jener Hexade von philosophischer Spekulation am wenigsten 
beeinduBt. Der Gedanke in derartigen Eormeln das eigentliche 
Wesen einer Religion und ihren Anspruch auf Originalitat zu 


1) Sie ist hier Gotteskratt, die der Daimoti, vgl. Poimandres S. 232 

Wo in tier Gnosis diese eigentumhuhe Anffassung begeguet, ist iumier hellenistischer 
EinfiuB sii'her. 

2j Es ist manchmal sehr reiztoll in Philos Umschreibungen die Formeln der 
hellenistischen Mystik zu verfolgen, vgl. z B Be praem. 44 -irj’ au-o'j uidvo; (xe- 
tavXTjhEk VTjV ioiav dvrapiiv ava(pf|Vat hEX^iavTo; ixETT, mit dem Herme- 
tischen Loblied (Poimandres S. 338,6) ayio; 6 he'lj, S; y v (o a Uf, v a t pouXstat 
xai Yivd)ax£-at zol; ioi'ot;. Piiilo beweist , daB die Formel vorpaulinischer Zeit an- 
gehort (auch zXT,Se(; gehort zur Sprache der Mystikp 



138 


R. Reitzenstein, 


suchen , scheint mir noch ungliicklicher, als der, sie als philoso- 
phische Erkenntnisse und Erfindungen zu fassen. 

4 

Wie weit durch diese Bereiclierimg des Materials die Ergeb- 
nisse der friiheren TJntersuchung bestatigt oder erganzt werden, 
kann ich hier nur kurz andeuten und muB fiir die Einzelheiten 
auf sie verweisen. 

Da6 der BegrifF Tziazic sich anch im Christentum weiter ent- 
wickeln muB, sobald es von seinem Mutterboden entfernt unter dem 
Heidentum auftritt, ist begreiflich ; notwendig wird fiir Paulas der 
Glaube, der Glaube an Gott und den Auferstandenen, zum Zentral- 
begriif. Die Auseinandersetzung mit dem Judentum und seiner 
Betonung der Gerechtigkeit zwingt fast dazu, von diesem Glauben 
auch eine Betatigung zu verlangen ; das W ort Gal. 5, 6 iv yap 
Xptat^ ’iTjaou OUTS Tzspiiop/q zi la’/pei outs azpopoatia , aXXa St’ 

a^ajTj]? IvepYoujisvYj ist der klassische Ausdruck fiir sein Empfinden. 
Es verlangt eine Verb indung beider. Von hier aus ist es durchaus 
begreiflich, daB er in den Lobspriichen an eine Gemeinde oder 
Einzelperson entweder deren Glauben allein hervorhebt oder ihren 
Glauben und ihre Liebe riihmt, bei breiterer Ausgestaltung dieses 
zomi i‘(7M[Li'xazi%6i aber einmal auch eine andere Tugend mit hin- 
zunimmt '). Ein AnlaB, iiber die allgemeinen und notwendigen 
Einwirkungen der Sprache hinaus EinfluB einer hellenistischen 
Eormel anzunehmen, liegt um so weniger vor, als Paulus selbst 
an diesen Stellen offenbar gar nicht eine Eormel oder ein System 
bieten will. Selbst die Verbindung von jctort? und ajdTzrj ist fiir 
ihn noch nicht zur Eormel im engeren Sinne geworden und er- 
scheint so an einer einzigen jungen Stelle der gesamten friihchrist- 
lichen Literatur, bei Ignatius. DaB dort hellenistisches Empfinden 
mitwirkt, wird sich spater zeigen. 

Eine wirkliche Eormel liegt bei Paulus ein einziges mal vor, 
I Kor. 13, 13; nur hier sind die drei BegriflFe in lehrhaftem oder 
dogmatischem Sinne miteinander verbunden. Die Eigenart dieser 
Stelle muB daher sorgfaltig gepriift werden. Sie scheidet sich von 
den iibrigen 1) durch die fiir die Eormel charakteristische Be- 
schrankung der Zahl {zd tpta zanza = autr^ 2) durch die 

Bedeutung des Wortes ifaTirp das hier nicht die werktatige Naeh- 
stenliebe bedeuten kann, wenigstens wenn das Wort p-svst sich auf 
ein Bleiben im Jenseits bezieht, wie das seit Irenaeus unzahlige 


1) So im ersten Thessalonicherbrief. 



die Formel tilaube, Liebe, Hoffnung bei Paulus. 


139 


Theologen angenommen haben und noch annebmen und wie es mir 
sprachlich einzig mbglich erscheint'); 3) durch die Einordnung 
dieser Formel in eine Polemik (die drei Begriffe werden, zahlen- 
maBig abgegrenzt, einem vierten, namlich der yvibaic, entgegenge- 
stellt; sie bat nur fiir das Diesseits Wert). 1st dies richtig — 
und dariiber kann nur eine Xacbpriitung des Zusammenhanges und 
der Wortbedeutungen in dem ganzen Kapitel entscbeiden — . so 
ist die Annahme, das Urcbristentum babe eine Formel jrtat’.?. elui'c, 
afa^rT], ri i:ptds aoxTj besessen. zwar an sicb nocb moglicb, aber durcb 
den spracblicben Nacbweis . daB dYdjtYj und sX:rti; im synoptiscben 
EvangelienstofF feblen, nicbt sebr wabrscheinlicb gemacbt : da sicb 
in der gesamten urcbristlicben Literatur nur zwei verstiindnislose 
Kacbbild ungen gerade dieser Paulus-Stelle finden-), miiBte man 
zudem annebmen, dafi eine friiber allgemeine Formel gleicb wieder 
spurlos entscbwunden sei. Dagegen ware unter der gleicben Vor- 
aussetzung die Annahme, daB es sicb urn eine hellenistische Formel 
Oder deren Umbildung handle, an sicb sebr wohl denkbar, da we- 
nigstens ahnliche Formeln wirklich im Hellenismus naehgewiesen 
sind, gegen die sicb bier die Polemik richten konnte. Die Ent- 
scbeidung hieriiber kann, wie gesagt, nur eine wirklicbe Interpre- 
tation von 1 Kor. 13 geben; ich babe einen Versucb dazu vorge- 
legt und an einer friiberen Deutung v. Harnacbs die zahlreicben 
spracblicben und logischen VerstoBe nachzuweisen versucht. Eine 
Polemik, die das einfacb ignoriert, vor Laien so spricht . als ob 
die unendlicb viel bebandelte Stelle jedem ohne weiteres Islar sei, 
und dabei in ibrer Deutung nach Belieben wechselt. bringt keinen 
Schritt weiter. 

Man kann die Frage nicbt etwa dadurcb umgehen, daB man 
bebauptet in dieseii Verbindungen bedeute a.'far.-q nicbt die Grottes- 
liebe, sondern immer oder fast immer die Nachstenliebe , also 
miisse man I Kor. 13, 13 hiemacb deuten. In dem Grundgebot 
des Judentums wie des Christentums wird das Verbum oL’f'XKd.v 
ebenso auf Gott wie den Menscben bezogen, und jeder Blick in 
ein Bibellexikun zeigt , daB lei Paulus und seit Paulus 

1) Die enge Verbindung zwiscbon und iYo'-r, , die in Gal. 5,6 liegt, 

ist dabei oifenbar auigegeben. 

2) Polykarp Phil. 3.3 citiert Paulus, gibt aber eine scharf betonte zeitliche f?_) 

Eeihenfolge ayl-if, tJ.s-k. ilrAi und nennt die Wirkung ibrer Vereinigung die ot- 
y.ouoa'jvrj. Ilebr. 10, 22 (stark rhetorisch ) stellt zwar risTt;, O-.k, dyanr, einander gegen- 
uber, zeigt aber scbon in den Worten t>,v ijgotoY'av -r?,; -h-.zui;, daB der Verfas-^er 
bier wie sonst zwiscben r.kxK und i'/.r.k sachlicb nicbt zu scheiden vermag (mit 
Heb. 11,1 ist Pbilo De migr. Ahr. 43. 44 zu vergleicben. Ausgesprocheu wird die 
Gleicbsetzung von und B.irn. 1,6;. 



140 


R. Reit zenstein, 


ebenso die Liebe zu den Menschen wie die Liebe zu Gofct oder 
Christas oder wie die Liebe Gottes zu den Menschen bedeutet. 
Bern Worte selbst fehlt jede Beschranknng der Beziehnng. Es 
bonnte eine seiche also nur innerhalb einer Formel nnd im Ge- 
brauch dieser Formel erhalten. Ich habe die urchristlichen for- 
melhaften nnd freieren Verbindnngen in demfriiheren Anfsatz der 
Nachrichten aufgezahlt and darf hier darauf verweisen. Die Beihen, 
in welchen ccdpo? nnd a’^oLirfi sich entsprechen (S. 386, hinzuzunehmen 
ist das Hermas-Citat bei Clemens Strom. II 55, 4) setzen die Be- 
ziehnng beider Worte aaf Gott voraus; sie sind christlich nnd 
jiidisch. Wenn II Petr. 1,5 (Nachrichten S. 390) mahnt: sniyppyi- 
^yjoaxs ... sv x'g suaepstof rijv iptXaosXtptav, ev Se rj] BcXaSsXmioj ttjv 
a^aitTiv, so ist nicht nor mit otYdsTj die Gottesliebe gemeint, son- 
dem diese Wortverwendung mnfi dem Verfasser auch ganz selbst- 
verstandlich erscheinen; sonst hatte sicher schon er das Wort 
(piXo'8'sia gepragt. Gar nicht selten wechselt ferner der Gedanke 
bei demselben Antor ; ein klassisches Beispiel dafiir, Hermas Vis. 
in 8 nnd Sim. IX, wird uns noch spater beschaftigen. Wenn 
Panins (nnd seine Nachahmer) also in den Lobspriichen der Ge- 
meinde, dem lojtos eY^wji'.aanxo?, anch dYdTTTj als Nachstenliebe fassen, 
so hinder! nichts, dafi Panins in einem andereu Zusammenhang auch 
die Gottesliebe hineinzieht; eine psychologische Erklarung habe ich 
Histor. Zeitschr. Band 116 S. 207 geboten nnd halte sie dnrchaus auf- 
recht. Der Begriff ayaitt] ist dabei gewissermaBen selbstandig ge- 
worden, der Hergang natiirlich am verstandlicbsten, wenn wirklich 
eine hellenistische Formel benntzt and angepafit ist. Denn hier 
kann die Liebe tatsachlich nur Gottesliebe sein. Bei den echten For- 
meln zeigt sich der hellenistische EinfluB am besten in dem Vor- 
treten der nnter sich verwandten Begriffe yvihai^, dX^d'eta, opaatc, 
‘). Eine Verbindnng von Trtaxn; nnd Yvwot? gar 
weist immer auf hellenistischen EinflnB; hier ist ja auch utatt? 
die niedere Tugend, wahrend in der paulinischen Verbindnng u-latt? 
y.ai aydnri erstere die herrschende ist. Charakteristisch sind die 
den Formeln zu grunde gelegten Bilder, d. h. alten , halbverstan- 
denen Sakralanschauungen, so die Bezeichnung der dfdnii als aov- 
osojioc TeXs'.dT7]TO(; -). Eigentlich will jede Stelle individuell be- 
ll Vgl. fur die Beziehung zwischeii den ersten Worten Philo oben S. 137, die 
Heimetik friiher S. 390, Clemens fruher S. 409 nnd vor allem die Ausfuhruugen 
bei Porphyrins Ad Marcellam cap. 24. 

2) Vgl. fruher Nachr. S. 393 und hierzu in den chaldaischen Orakeln die 
Bfzeiclinung des epcu; als juvoetiz&j tovtiov, Kroll a. a. 0. S. 26, aber auch Stellen 
wie Ilspt 0*1.00? 40, 1 'jtopaToroiO'jfrs'va Se zoivwvta xod £Tt OEGpoj xpfxovix? xe- 



die Formel Glaube, Liebe, Hoffnung bei Paulus. 


141 


handelt werden; die Interpretation mu6 entscheiden. Selbst ein 
^tes Lexikon ware in der Hand eines Marines, der nicht inter- 
pretieren kann, kein geniigendes Hilfsmittel. Stellensammlnngen 
gar, die in der Art nnserer Katechismen zu den einzelnen dog- 
matiscken oder moraHschen Forderungen Belegspriiche ans der 
Bibel verzeichnen. sind fiir eine historische Erklarung der Wort- 
bedeutnngen nnd W ortverbindungen, die verschiedene Einflusse son- 
dem will, iiberhaupt ?nnbenntzbar. Sie haben in dem hier behan- 
delten Fall dazu gefiibrt, dad man einerseits den Begriff der Formel 
als Idee und Bekenntnis fafit, ausspricht, daB die Formel ‘Glanbe, 
Liebe, Hoffnung’ unloslich an der einen Stelle I Kor. 13, 13 hangt, 
nnd selbst fiir die Verbindnng ‘Glanbe und Liebe’ den Begriff 
Formel so eng begrenzt, daB man bervorbebt, bereits Ignatius 
und Clemens von Alexandrien seien sicb des formelbaften Cba- 
rakters dieser Verbindnng bewuBt, andrerseits aber ganz unbe- 
fangen jede SteUe des Neuen Testaments, bei der anf derselben 
Halbseite zwei der betreffenden Snbstantiva oder Verba in belie- 
bigen Verbindungen oder Beziebnngen erscbeinen, als Formel oder 
als Beleg fiir den nrchristlichen ITrspmng der Formel anfiibrt. 
Das Cbristentum hat von jeher diese Empfindungen gekannt, also 
hat es scbon vor Paulus die trinitarische Formel ‘Glaube, Liebe, 
Hoffnung’ besessen *). 

Icb freue mich, daB M. Dibelius (Wochenschrift f. klass. Phi- 
lologie 1916 Sp. 1041) hieran eine wenigstens indirekte KFitik 
tibt, wenn er aucb freilich die alte Anschauung auf einem neuen 
Wege zu rechtfertigen sucht, der mir zu boch in die Wolken fiihrt. 
Beweisend scbeinen ihm offenbar nnr die Stellen, an denen Paulus 
selbst die drei Begriffe zusammen nennt, und riickhaltlos gibt er 
zu, daB von ihnen nur I Kor. 13, 13 eine Formel bietet. Aber 
gerade daB die anderen Stellen keine Formel bieten, beweist ihm 
daB eine solcbe Formel im Cbristentum vor Paulus bestanden bat 
In I Tbess. 5, 8 ivSoodfisvot dwpaxa Tcioze(»i<; xal afixTtTjc xat icspixs- 
^aXaiav slTitSa awTTjpi'a? store aYaTtiij das Bild, sei also zugesetzt 
well Paulus eine scbon vorbandene und gegebene Dreiheit in ibm 
babe unterbriugen woUen. Icb sebe die Notwendigkeit des Schlnsses 

pixAEiofiEva. (Der Autor keiint und benutzt den niystischen Sprachschatz. Nichts 
war verkehrter als der unlangst wiederholte Versueh IX 9 zu athetieren und da- 
te! diesen Sprachschatz und die Sprache Philos als vulgar zu bezeichnen). 

1) Fiir die Methode charakteristisch^sind die Ausfuhrungen von Resch, Teite 
u. Untersuchungen XXX 3, 153 ff., die v. Harnack in einem gleich zu besprechenden 
Aufsatz anfuhrt und nach den Citaten auch benutzt; aUerdings macht er die Zu- 
riickfiihrung der Formel auf ein Herrenwort nicht mit. 



142 


R. Reitzen stein, 


nicht ein: wollte Paalus eine gegebene Dreiheit selbstandiger Be- 
griffe unterbringen, so konnte er ja drei Waffenstiicke (etwa Panzer, 
Helm, Schild) vergleichen ; wir wissen, dab fiir ihn die ayiTcri not- 
wendige Erganzung der itiati? ist ; fiigt er noch eine andere Eigen- 
schaft zu — was an sich leicht auch ohne Eormel erklarlich ist, — 
fO vergleicht er sie natiirlich mit einem zweiten Gegenstand. Noch 
weniger beweist mir Col. 1, 4 *) axoooavTsc tijv xtoxiv u[ia)V ev Xpioitp 
MYjao’l xat T-ijv stYcxxTjv yjv ek Ttavtac tou? (iyiooi; 3ta rrjv sXtcISol 

TTjV axoxsi{isvrjV Oftiv ey TOtc ohpavot? , itpoTjxooaats sv ttp k6y(f> 
aXyiOsiac tou suaffsXion. Gerade, dab sXnk hier nicht die HolFnnng 
als Kraft und Tugend, sondern einfach das Gehoffte bedeutet, weist 
nach Dibelius eher darauf, dab eine Eormel schon bestand, in der 
dann eXTck wirklich die Tngend bezeichnete. Ich glaube es nicht ; 
der Gebranch von ^XTttc, Hoffnnng, der hier vorliegt, ist weder im 
Griechischen noch einer anderen Sprache selten oder befremdlich ; 
nichts veranlabt, in der iiblichen Ansfiihrung des totioc s'/xtojitaait- 
xoc hier irgend einen geheimen Sinn oder Zweck zu suchen ^). Per 
Beweis ist zu schwach, urn gegen alle friiher erwahnten Gegen- 
griinde die Existenz einer urchristlichen Eormel wirklich zu er- 
weisen, nach der man dann die Stelle des Korintherbriefes deuten 
miibte. Nur aus ihr selbst ist also die Entscheidung zu holen. 
Doch zeigt gerade Dibelius in seinen ruhigen Ansfiihrungen , wie 
sorgsam ein derartiger Beweis ans den freien Anreihnngen jener 
Begriffe gefuhrt werden miibte, um wirklich mehr wie eine augen- 
blickliche Beeinflussung von Sprachunk undigen zu ergeben®). Ge- 
wib hat das Christentum auf diesem Gebiet unendlich viel neue 
Lebenskraft gebracht; aber in theoretischer Spekulation, Eormeln 
und Devisen hat es sich, wie ich glaube gezeigt zu haben, zunachst 
wenig schopferisch erwiesen, ich denke, weil es Wichtigeres zu tun 
hatte. 


6 

Vor etwa anderthalb Jahrzehnten gelang es mir. in der wenig 

1) Das ich allerdings dem Paulus nur untcr der Annahme zuschreiben konnte, 
dalj er sein Denken und seinen Satzbau ganz geandert habe. 

2) In I Kor. 13, 13 befremdet nicht, wie Dibelius meint, nur die Erwahnung 
der Iloffnung, sondern ganz ebenso die des Giaubens ; Gegensatze bilden nur Liebe 
und rinosis. Die Erliinterung habe ich friiher geboten, 

3) M'enn er einer ‘Arbeitsgemeinschaft’ von Theologen und Philologen dabei 
das Wort redet, so wird er sicher nichts gegen sie aus einem Buch anfuhren 
konnen, in dem ein Philologe dem Gliick eines derartigen Zusammenarbeitens ein 
Denkmal des Dankes setzen wollte. 



die Formel Glaube, Liebe, Hoffnung bei Paulus. 


UB 


beachteten Hermetidchen Literatur wertvolle Reste hellenistisch- 
religioser Schriftstellerei nachzuweisen, die beiden Haaptstiicke als 
heidnisch-gnostische Schriften darzutun und zugleich in einemHaupt- 
denkmal des christlichen Gnosticismns einen zusammenhangenden 
heidnischen Text ans der christlichen Uebertiinchung heranszulosen. 
Damit war der von dem Theologen Weingarten aufgesteUten, von 
Philologen wie Usener und Dieterich glanzend verfochtenen These, 
daB man zur Erklarung des Gnosticismus neben der christlichen 
Religion von dem heidnischen Kult und heidnischer Religion 
ausgehen miisse, eine neue. vielleicht kaum mehr erforderliche Be- 
statigung gewonnen. Da v. Harnack in seiner Dogmengeschichte, 
von Baur ausgehend, nur Christen turn und an tike Philosophie 
als Bildungsfaktoren anerkennen wollte, konnte ich mich nicht 
wundern, wenn ich von nun an von den spottischen und verletzenden 
Bemerkungen, die er in der Neuausgabe der Dogmengeschichte und 
zahlreichen Einzeluntersuchungen gegen ‘die Philologen’ und ‘die 
Religionsgeschichtler’ richtete, mein voiles Teil erhielt, ohne daB 
V. Harnack je auf das Sachliche einging. Ich selbst habe im Ver- 
folg jener Arbeiten otters v. Harnack sachlich widersprechen mtissen. 
besonders wenn er mir in seinen Angriffen auf Philologen in gram- 
matischen oder literarischen Dingen handgreiflich zu irren schien. 
VeranlaBt durch den nngewohnlichen Ton einer neuen beilaufigen 
Berner kung, die in verhiillter Form dem Gegner Schmutz vorzu- 
werfen schien, habe ich dann in meinem letzten Buche, das einer 
Grundvorstellung des Gnosticismus bis in vorchristliche Zeit nach- 
ging, versucht, den Gegensatz der beiden AutFassnngen in groBen 
Ziigen darzustellen und die Widerspriiche in v. Hamacks Erkla- 
rung iener weltgeschichtlich so wichtigen Geistesbewegxmg ruhig 
clarzulegen. Ich schloB mit dem Vorschlag, statt jener Polemik 
einmal auf die sprachlichen und literarischen Hauptfragen einzu- 
gehen, die beide Auffassungen bedingen. Der Sache ware das 
tatsachlich forderlich. 

Wenige Wochen nach Absendung des Buches erhielt ich einen 
popularen Aufsatz in den PreuBischen Jahrbiichern (B. 164, 1 If.) 
‘Ueber den Ursprung der Formel Glaube, Liebe, Hoffnung’, in dem 
V. Harnack eine beilaufig und zunachst unter starksten Vorbehalt 
vorgebrachte Deutung von I Kor. 13, 13 als schwere Schadigung 
der Originalitat der christlichen Religion bezeichnete und zugleich 
die schlimmste Beschuldigung, die man gegen den wissenschaft- 
lichen Arbeiter iiberhaupt erheben kann, gegen mich richtete, 
ich hatte mir bekanntes Material, well es gegen mich sprache, ver- 
schwiegen, auf jene zur Debatte gestellten Grundanschauungen 



144 


R. Reitzenstein , 


aber mit keinei’ Silbe einging. Ich babe eine Anzahl Freunde aus 
ganz verschiedenen Berafen befragt , wie sie den auf meine ganze 
Tatigkeit ausgedelinten, mir seltsamen Vorwurf. ich hatte die Ori- 
ginalitat der christlichen Religion mehrfacli schwer geschadigt, 
vei’stiinden, nnd von alien ansnahmslos gehort, da6 sie nach dem 
ganzen Zusammenhang der Einleitnng, dem Hinweis anf die Tages- 
presse nnd der Bemfung anf die Grewissenspflicht, die den Theo- 
logen zwinge, in ihm nnr eine Anklage anf Schadigung der Re- 
ligion sehen konnten, die, nm den Gegner empfindlichei’ zn trefPen, 
in moglichst weite Oeffentlichkeit gezogen werden solle. Da diese 
Anklage sich durch ein Spiel des Znfalls nun gerade an eine Stelle 
kniipfte, in der Panins nach meiner Behauptnng gegen den Helle- 
nismns polemisierte ‘), das Christentum also eher seine OriginaKtat 
gegeniiber dem Hellenismus bewies, sandte ich eine rnhige Auf- 
klarung des MiBverstandnisses, von dem v. Hamack ausgegangen 
war, nnd eine Recbtfertignng meines Verfahrens an die PreuBi- 
schen Jahrbiicher; ein Schlnfiwort sollte, wie mir mitgeteilt war, 
meinem Gegner zustehen. Da die Redaktion mir die Anfnahme 
versagen zn sollen glaubte, konnten diese Ausfiihrungen erst mit 
einiger Verzogerung an anderem Ort (Historische Zeitschrift Bd. 
116 S. 189 ff.) erscheinen -). Die wissenschaftKchen Behanptungen 
V. Harnacks hatte ich inzwischen in diesen Nachrichten (1916 S. 
367 ff.) zn widerlegen nnd die Frage meinerseits dnrch eine Inter- 
pretation des ganzen Paulns-Kapitels nnd Heranziehung der ab- 
weichenden urchristlichen Formeln zn fordern versucht. Da die 
fur das weitere Publikum bestunmte Anfklamng des Sachverhaltes 
(in der Histor. Zeitschrift) notwendig nnr einem Teil der Leser 
zu Gesichte kommen muBte, vor denen die Anklage erhoben war. 
ich aber Grand hatte anzunehmen, daB das MiBverstandnis be- 
seitigt sei, dachte ich, daB v. Harnack selbst bei einer Gelegenheit 
dies in irgend einer Form den Lesern der PrenB. Jahrbiicher mit- 
teilen wtirde. Dies ist nicht geschehen, dagegen hat v. Harnack 
soeben in einem zum Weihnachtsfest erschienenen Bach ‘Ans der 


Ij So Historia monacharum und Eistoria Lausiacci S. 101. 102. 254. DaB 
ich die Bedeutung dieser Poiemik erst allmahlich ganz erkennen gelernt babe, 
babe icb selbst Historische Zeitschrift Bd. 116 S. 207 bervorgehoben. An der 
wunderlichen Mifideutung v. Harnacks glaube ich keine Scbuld zu haben, hatte 
aber, wenn ich sie vorausgeahnt hatte, ihr besser vorbeugen konnen. Was ihn 
jetzt berechtigt, sie nach der wiederholten Aufklarung des Sachverhaltes, weiter 
seinen Ausfuhrungen zu grunde zu legen, sebe ich nicht. 

2) Von zwei oder drei rein stilistischen Aenderungen abgesehen, in unver- 
inderter Form. 



die I'ormel Glaube, Liebe, Hoffnung bei Paulus. 


145 


Friedens- und Kriegszeit’ seinen Anfsatz wieder abgedruckt mit 
der Vorbemerktmg ; ‘Zn vergleichen sind zu diesem Aufsatz, der 
Her mit leichten Kiirzmigen und unter Beschranknng der Polemik 
abgedruckt ist, die Antworten von R. Reitzenstein (folgen die 
Titel). Sie enthalten Anregendes und Forderndes, aber sie haben 
mich nicht iiberzeugt’. Jeder Leser mu6 annehmen, da6 v. Harnack 
jene Antworten gelesen hat nnd gegen sie seine Behauptnngen 
aufrecht erhalt. 

Die Beschrankung der Polemik . fiir die ein Girund also 
nicht angegeben ist. besteht darin, daB der Abschuitt fiber die 
(Scbadigung der Originalitat der christlichen Religion weggelassen 
ist; der Leser muB den Vorwurf sich aus der pathetischen Ein- 
leitung und dem SchluB selbst bilden. In der zweiten Anklage 
ist der Versuch nachzuweisen. daB ich das angeblich nnterdrfickte 
‘Material’ gekannt hatte , und die Frage . ob meine Vermutung 
fiberhaupt vorgetragen werden durfte , gestrichen; v. Harnack 
spricht nur noch von einer ‘unbegreiflichen Unterlassnng’. Ge- 
blieben ist trotz alien Einspruches die grundlegende MiBdeutnng 
meiner Worte. als hatte ich jemals Paulus die Begriffe Glaube, 
Liebe, Hoffnung einer hellenistischen Mysterienreligion entnehmen 
lassen, wahrend ich nur fiber die Vereinigung der drei Begriffe 
an der einen Stelle I Kor. 18, 13 zu einer Formel oder einem 
System gesprochen habe. Nach wie vor meidet es v. Harnack, 
auf die Deutung dieser Stelle irgendwie einzugehen. Geblieben 
ist die tendenziose, ja z. T. entstellende Wiedergabe meiner Worte 
oder Beweisffihrung, gegen die ich Histor. Zeitschr. 197. 196 und 
Flachr. 404 protestiert habe. Geblieben ist der seltsame Beweis 
ffir das Alter der Formel’, den angeblich die weiblichen Einzel- 
namen Pistis, Elpis, Agape geben sollen. Unverandert ist vor 
allem der positive Teil, die Herleitung der ‘trinitari.schen’ Formel 
aus zwei noch alteren -binitarischen’, deren Vorhandensein vor 
aller Literatur dadurch erwiesen werden soli. daB eine Anzahl 
von Stellen der Literatur aufgeffihrt wei'den, an denen zwei dieser 
Substantiva ranmlich nicht zu weit von einander getrennt stehen. 
Das Spiel mit dem Worte -Formel’. auf dem die ganze Annahme 
der Existenz einer Formel ‘Glaube und Hoffnung’ bernht, wird 
ruhig wiederholt. 

Lage nur das vor, so hatte ich nicht mehr das Wort ergriffen, 
wenn ich auch zweifle. ob dies Verfahren in dem Falle noch ein- 
wandfrei ist, wo eine schwere Beschuldigung mindestens gegen 
die wissenschaftliche Personlichkeit eines Gegners zu Unrecht er- 
hoben und in ein moglichst groBes Publikum geworfen ist. I^eider 

Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917 . Heft 1 . 10 



146 


R. Reitz enstein, 


liegt aber noch etwas anderes vor. Ich babe in diesen Nachrichten 
S. 416 *) — nicht leichten Herzens — die Anklage erheben miissen, 
da6 das Citatenmaterial , auf welcbes die Beweise sicfa stiitzten, 
weder mit wissenschaftlicher Sorgfalt gesichtet noch dem Leser so 
vorgelegt war, dafi er nrteilen konnte, wohl aber so, da£ der Ein- 
drnck, nrteilen zn konnen, in ihm erweckt wurde. Die Stellen 
waren ‘sorglos fur den Beweis znrechtgemacbt’ ^), und zwar (lurch 
falsche Hebersetzungen, willkiirliche Verkiirzungen und Umbie- 
gungen der Einzelstellen, die sie z. T. sinnlos machten, oder sonst 
dutch Fliichtigkeiten aller Art. Ich habe in den Nachrichten S. 
373 if. die zehn Citate nachgepriift, welche die Existenz zweier 
uralten Formeln ‘Grlaube und HoiFnnng' und ‘Liebe und Hoffnung’ 
erweisen sollten; eines war wirklich richtig gegeben. Jetzt aber 
kehren alle diese Stellen genau in dem gleichen Wortlant wieder, 
das Citat aus dem Galaterbrief (5, 5) ‘aus dem Glanben entnehmen 
wir die Hoffnung’, wahrend der Text bietet ‘die Hoffnung auf 
Gerechtigkeit’ (eine zukunftige Rechtfertigung) wie jenes andere 
aus dem Hebraerbrief (6,11) ‘znr Vollbereitung der Hoffnung 
durch Glaube und Langmut’. In Wirklichkeit versichert der 
Schreiber: wir sind zwar von euch des Besten gewifi (gewifi, daB 
Gott euch nicht verdammen wird); denn Gott kann eure friiheren 
Liebeswerke nicht vergessen; ‘wir wiinschen aber, daB jeder ein- 
zelne unter euch denselben Eifer um die Erfiillung der Hoffnung ®) 
bis zu ende bewahre, damit ihr nicht trage werdet, sondern denen 
nachahmt, die durch Glauben und Ausdauer die VerheiBnngen erben’. 
Eine Formel ‘Glaube und Hoffnung’ konnte hieraus niemand er- 
schlieBen, hochstens eine Formel ‘Glaube und Ausdauer' (jtiat'; xal 
jiaxpo&mila). So geht es fort; unbedenklich und fiir den Leser 
unkenntlich werden all die Stellen, an denen IXirti; nicht die Hoff- 
nung, sondern das Erhoffte bedeutet, wieder angefiihrt, and wah- 
rend sonst stilistisch manches geandert ist, ist in diesem entschei- 
denden Beweis trotz alien Einspruches kein Wort yerbessert, kein 
Zeichen auch nur des Wortausfalles neu gesetzt. Er ist geblieben, 
was er war, eine IrrefUhrung des Laien. 


1) Histor. Zeitsehr. S. 203 flF. 

2) Histor. Zeitsehr. S. 204. 

3) Oder; die Gewifiheit der Hoffnung, numlich, duB sie selig werden. Von 

der Tngend oder Gotteskraft ist liberhaupt nicht die Rede. Mit dem Worte IXTri? 
wird der Grundbegriff von TOTtEiap-EBa aufgenommen ; TiX-Qpotpopkv ihzihoi 
hangt naturlich von ah. Ob man rXrjpoipopia als Gewifiheit, Ueberzeugung 

Oder als Erfiillung der Hoffnung fafit, ist gleichgultig ; dafi es sich um den Tod 
und die Entscheidung Gottes handelt, zeigt der Zusatz iypi x^oo?. 



die Formel Glanbe, Liebe, Hoffnung bei Paulus. 147 

Ich mag einen so schweren Vorwurf nicht ohne weitere Be- 
weise lassen und doch nicht blofi wiederholen, was an der friiheren 
Stelle (Nachr. S. 373 if.) schon geniigend dargelegt war. So hebe 
ich noch einen anderen Abschnitt heraas, der freilich darin giinstiger 
steht, dab die meisten Citate nur in Zahlen angegeben sind (v. 
Harnack S. 13 ff.). Bewiesen soil werden, nach und neben Panlus 
liege ein Strom von urchristlichen Zeugnissen vor , dab das Paar 
Glanbe und Liebe zusammen gehbre und ‘dab sich in ihm das 
Wesen des Christentums als wirksame innereVer- 
fassung gedacht darstellt*) . . . Die Liebe aber ist 
hierbei stets oder doch fastimmer al s N ach s t enlieb e 
gedacht’. Die Beispiele sind in drei Gmppen geteilt; zunachst 
eine, in welcher das Paar Glanbe und Liebe angeblich all ein er- 
scheine ; von den sechs nentestamentlichen Beispielen gehoren drei 
nicht her (Eph. 3,17; I Tim. 1,5; 4,12), von denen aus den apo- 
stolischen Vatern ist eines richtig, das andere befremdet. Im 
Hirten des Hermas soli sich Vis. Ill 8 finden „Der Glanbe aus 
dem sich die Liebe erzeugt“. Gewib wiirde das v. Harnacks Be- 
hauptung trefflich stiitzen, aber ich finde das in Anfuhrungszeichen 
gesetzte Citat in keiner Passung des Hermas. Er erwahnt Vis. 
Ill 8 in einer langen Allegorie sieben Frauen oder Tngenden beim 
Bau eines Turmes beschaftigt; ihre Namen sind IltoTt?, ’EfxpAzeta, 
'AtiXott]?, ’E5tt<3TT)[j.T(), ’Axaxia, SspotYjc, ’AYa^rTj. Allein erscheint das 
Paar also grade nicht, eine engere Verbindung zwischen IlCaTtc 
und ’A^axT] besteht nicht-). Ihr Verhaltnis zu einander wird mit 
den Worten angegeben: ex xiaTscoc Yevvatai efxpdteta, lx 
Ifxpaxeia? aTtXdvif]?, lx aitXdtKjto? dxaxta, lx axaxiag asjivoxTjc, 
lx asjjLvdxTjxoc lu'.axi)p,Trj, lx x^<; l3uaxnjp,7]<; d-fdxTj. Nach einer un- 
klaren Erinnerung an diese Worte scheint von Harnack sich sein 
Citat frei gebildet zu haben ’). Ich wies (Nachr. S. 390) ausdrucklich 


1) Bei Y. Harnack gesperrt. 

2) Wie fern dem Hermas jeder Gedanke an eine solche liegt, zeigt die 

spatere Umgestaltung Sim. IX wo zwolf Tngenden, vier leitende und acht unter- 
geordnete, erscheinen und der Glaube die erste grote, die Liebe (bier Nachsten- 
liebe, Gegensatz die letzte kleine Tugend ist. Nur die Stellung von IKaTts 

und ’Aydrri an Anfang und Ende ist beibehalten, aber sie geht auf ein Original 
zuruck, in dem ^A-[dzTi die Gottesliebe bedeutete. Nur sie bildet Steigerung und 
AbschluB einer mit dem Glauben beginnenden 

1) Wenigstens weicht die andere Fassung, die sick bei Clemens Strom. II 55,3 
findet, im Wortlaut nock weiter ak und zeigt das Paar ebensowenig allein. Das 
Wort imcxfjjjiTj ist kier vrie bei Philo und einzelnen Autoren des Neuen Testaments 

10 * 



148 


R. Reitzenstein, 


auf das AnstoBige dieser Art von ‘Beweis’ bin; sie erscheint un- 
verandert wieder. — Es folgt eine zweite Grruppe von Stellen, in 
denen Glanbe und Liebe mit anderen BegriiFen (Langmnt, Geduld, 
Friede, Fnrcht) verbunden sein sollen, Stellen, die also eigentlich. 
nifhts beweisen ; von den vier nentestamentlichen Citaten weichen 
drei im Wortlaut wesentlich ab (I Tim. 6,11; II Tim. 2,22; II 
Tim. 3,10); von den zwei Citaten aus der spateren Zeit ist eines 
(Clemens Strom. II 13) ungenan nnd irrefiibrend angegeben '). Als 
dritte Gruppe werden ‘mehrere Stellen’ erwabnt, ans denen ner- 
vorgehe, da6 man sich des bereits(!) formelhaften Charakters von 
‘Glanbe und Liebe’ bewuBt war. 

Zwei Stellen werden in TJebersetzung angefiilirt — mebr kenne 
ich iiberhaupt nicht — und bezeichnen beide angeblich dasselbe ; 
,,So schreibt Ignatius an die Epbeser 14 : ,Glaube und Liebe, das 
sind Anfang und Ende des Lebens; der Anfang ist der Glanbe, 
das Ende ist die Liebe; die beiden aber zur Einheit verbunden 
sind Gott“. Ebenso liest man Clemens Strom. VII, 10: „ Anfang 
und Ende sind Glaube und Liebe". — Icb muB der Nachpriifung 
ein paar Worte der Erklarung vorausschicken. 

Wenn ein Ding als apy^rj gioov xal teXo? oder kiirzer als dpx^ 
xai tsXo? eines anderen bezeichnet wird, so soil damit gesagt sein, 
es macht das Wesen dieses andern oder die in ihm wirkende Kraft 
aus. oder gibt dessen ganzen Inhalt wieder ‘‘). Seltener finden wir 
zwei Dinge bezeichnet die zusammen Anfang und Ende eines 
dritten ausmachen, wie etwa bei Philo (De migr. Abr. 56) : Anfang 
nnd Ende der Menge und Vollkommenheit der Tugenden (in nns) 
ist das unaufhorliche Denken an Gott und das Herabflehen seiner 
Hilfe auf uns im Streite des Lebens ® ). Es sind dann in der Regel 


fur yviu'L; eingesetzt. Also ist iyaV/;. wie in einer Keilie lielleiiistischer Systeme, 
die Gottesliebe 

1) Clemens 1112 = 1155,4 wird aus deni Hirten des Hermas citiert; Funk 
will das Rruclistuck in Vis. Ill S einreihen, sicher mit Unrecht. Die Liebe ist 
Gotti-'liebe. 

■2) Natiirlich ist es falsch, eine Stelle wie Barnab 1, 6 i'/.-lf xai 

T.ia-ztui zum Beweis fur eine Formel iXz'n /.at -IsTt; anzufiihren, und sind 
die Worte sinnwidrig aus dem Zusammenkang gerissen, aber trotz alien Ein- 
spruches ruhig wiederholt. 

3) Die lehrreiche Stelle lautet : toj ok fiEfcbti'j; ‘/.ai -if;8o'j; t<uv aaXuiv ap-^ij 
■/.O! -£Ao; f, datdcxaTo; -epi DeoO ,uvf,;jiTj xa't i; zaxdxXT,3is -rfj; dr.’ abxoo lupipayta; -po; 
xov zo'A/.Wi xai S’jyy.eyoptEv'jv xal xoo rroXspiov. 



die Formel Glaube, Liebe, Hoffnung bei Paulus. 


149 


zwei synonyme oder sich nahestehende BegrifFe, die so verbnnden 
werden. Stehen die BegriiFe sich femer, so I’olgt aus der Formel 
selbst, dab sie eigentlich in ihrer Vereinigung auch schon den An- 
fang bUden mixssen. Insof'ern ist der Satz des Ignatius ‘Glauben 
nnd Liebe sind Anfang und Ende des Lebens, Anfang der Glaube, 
Ende die Liebe; wo die zwei vereinigt sind, ist Gott’ unlogisch; 
denn Leben und Gott bedeuten bier otfenbar dasselbe, das lebendige 
Gotteswesen in uns. Machen erst Glaube und Liebe in ihrer Ver- 
einigung es aus, so konnen nur beide sein Anfang sein und beide 
sein Ende. Der seltsame Ausdruck erklart sich aus jener helle- 
nistischen Vorstellung, die ich friiher Nachr. S. 389 eingehend er- 
klart habe und die v. Harnack nicht zu kennen scheint, dab eine 
Reihe nach einander niedersteigender Gotteskrafte in uns jenes 
Gotteswesen bilden (Anfang und Ende werden besonders hervor- 
gehoben). Sie iibertragt Ignatius auf die altere Verbindung von 
‘Glaube und Liebe’, indem er diese Verbindung damit znerst zur 
Formel und zwar zur hellenistischen Formel macht und zufiigt 
‘Anfang der Glaube, Ende die Liebe*. Wenn dagegen bei Clemens 
von Alexandrien drei Gotteskrafte Glaube, Gnosis und Liebe als 
wichtig aufgezahlt werden, mit dem Zusatz ‘die beiden Grenzen 
(Sxpa) dieser Reihe. namlich der Anfang, der Glaube, und das 
Ende, die Liebe, sind nicht lehrbar,. wohl aber (das IVIittelstuck), 
die Gnosis', so zitiert v. Harnack wieder nxir die Worte ‘Anfang 
und Ende sind Glaube und Liebe’, behauptet wieder, dab Clemens 
dasselbe sage wie Ignatius und den formelhaften Charakter der 
Verbindung Glaube und Liebe bezeuge*), und tut dies, wiewohl 


1) Wieder ist hierbei ignoriert, daS bei Ignatius mit dpyrj xai -iXo- der Ge- 
netiv C<ofj; verbunden war, die Worte also eine ganz andere Bedeutiiug haben, als 
nach der Auffuhrung einer Reihe und dem erklarenden Wort xa (Gegensatz 
to ixh'j-i). Ich fiige den Text ganz bei, da nicht der Hauptsinn, um den es sich 
hier handelt, wohl aber Einzelheiten schwierig sind und eine Erklarung vielleicht 
nicht uberflussig ist: Clemens \TI 55,5: rXrjv iXXi to .aij otttdoai -Epi Seou, ntiteo- 

OOt ts bepLEAlO; Y V to 0 £ O) ; , OptlOJ OE O Xpiotot, O “£ llEpsXtO; Tj tE ErOC/.OOOfJi:^, ot’ 00 

zcti 7 dfj/V, zai ta tAr;. xa: to aiv ixpa o5 SioarxEtoc. t£ apyvj xoti to t^Xo;, Ttttjtt; 
Xqu) xal ( ayct-r;, t, yvOiaij oe I/. zccpaoo'OEioj oiaoioouEor, xottdt /o'ptv bsoO toTj oi;fo'j; 

aitoo; tf,; oioaJxaXia; toipEyopEvo'; otov tctpotxatodlYxr, EpyEipt'CEta!, dtp’ to tf,; 
dyctrT,; d'l'tuptct ExXdp-Et iv. tpioto; Et; =(o;. EtpT,tai ydp ‘ ‘tui lyovti T:p03tE!lT,S£tcti’, t^ 
piEv TTi'atEt t yMtuai;, t^ oe yvtuiEi r, dyditr,, t^ Se dy'itrj r, xX^jpovooiot. Es handelt 
sich also uberhaupt nicht um eine binitarische Formel, sondern um eine trini- 
tarische, welche der Formel der chaldaisihen Orakel (oben S. 135) eng entspricht. 
Also hat diese Stelle mit der des Ignatius inhaltlicli nichts zu tun; wenn Stablin 
(im Apparat) eine aufierliche Benutzung anzimehmen scheint, so ist mir selbst 



150 


R. Eeitrenstein, 


der Gregner gegen diese EntsteUung nachdrucklichsten Einspruch 
erhoben hat (Nachr. 1916 S. 383, 2). Da6 dieser Gegner gerade 
auf diese Triade des Clemens von Anfang an entscbeidenden Wert 
gelegt hat, weil sie sich eng mit Porphyries beriihrt, wird igno- 
riert ‘), sie selbst nirgends erwahnt ®), wohl aber die Stelle, wo 
Clemens einmal Panins I Kor. 13, 13 citiert , als Beweis fiir die 
urchristliche Eormel angefiilirt. 

Es handelt sich hier nicht nm Dinge, iiber die man verschie- 
dener Ueberzengung sein kann. Ob Clemens von zwei oder drei 
Gotteskraften spricht, ob das wortliche Citat ans dem Hirten des 
Hermas richtig oder falsch ist, ob Stellen wie Gal. 5, 5 sinngemaB 
wiedergegeben sind n. dgl., sind Fragen, die von aller subjektiven 
Meinnng nnabhangig entschieden werden konnen. Ueberall ist das 
tlnrichtige trotz alien Einsprnches vor einem weiten Leserkreis 
wiederholt nnd damit ein schwerer Angriff gegen die Gewissen- 
haftigkeit eines Gegners vor ihm begrundet. Den Nachweis dieses 
Verfahrens vor jenen Leserkreis selbst zn bringen vermeide ich 
nnd will lieber vor ihm TJnrecht behalten, als den Schaden noch 
vergrbfiern, den v. Harnacks Vorgehen der Theologie schon getan 
hat; ich stamme aus einem Theologen-Hans nnd habe einst Theo- 
loge werden woUen. Den Fachgenossen das Material noch einmal 
vorzulegen, ehe ich anf die Fortsetzung der Debatte verzichte, 


das wenig glaublich. Der SpracLgebiauch ist eigentiimlich, aber nicht ohne Beleg. 
Dem crsten Gliede der Reihe (rtUTt?) werden znnachst die beiden andern als xi 
xAr; entgegengestellt (vgl. fur den Gebrauch in der zweigliedrigen Reihe Apostolios 
ii, yo -oXb Xibtov /] x£Xeu-f;v, Euripides Androm. 390 ^ia auv 

osiTToxatcft ■ *ax’ ep, oi xetvov xxevett xov aixtov xcuvo’, ciXXa xyjv dtpek ;:p6; xljv 

xeXe'JXTjv ou3av 'j'jxepav tpepsi; Properz II 10,8.9 und II 28,15 — 19 primus und ex- 
tremus von zwei Teilen ; derselbe Sprachgebrauch ermoglicht dem Ignatius Eph. 
14, 1, gegen den Hauptgedanken die Scheidung dp-/); lijv -tcjxi;, xe'Xo; oe d/drr, zu 
machen). Der Plural xsXr; zeigt dabei, dab die Reihe mehrgliedrig ist. Hierauf 
wird das erste und letzte Glied als xd dzpa zusammengefabt und naher bezeichnet 
df/Ji und xeXo;. Damit der Leser sofort weib, urn welche Begriffe es sich handelt, 
wild die Erklaruug iriaxi; und d/d-rj beigefiigt. Das erklarende Xe/iu zeigt m. E., 
dafi es sich nur hierum handelt. Wohl kann dp/lj -/.a! xeXo; (wie d -zat ui) auch 
im intonsiven Sinn vereinzelt ohne Genetiv stehen, wenn ohne weiteres klar ist, 
woiauf es sich bezieht. Aber hier ist das sogar ausgeschlossen, weil damit das 
dritte Glied, die /viusit, als vollkonimen wertlos ausgeschaltet wurde. Doth das 
sind Kleinigkeiten, wie sie der Philologe vielleicht nebenbei erledigen darf. Wir 
sind ja Pedanten. 

1) Naturlich ist d/d-rj in dieser Eormel die Gottesliebe; nicht einmal das 
wird beriicksichtigt. 

2) Kann man uberhaupt die Ilerrschaft dieser eiuen I’ormel wirklich be- 
weisen, wenn man alle andern Formeln der urchristlichen Literatur ignoriert? 



die Formel Glaube, Liebe, Hoifnung bei Paulus. 151 

halte ich fur mein E.echt als Angeschnldigter und fiir meine 
Pflicht gegen die Wissenschaft. Es ware ein Schaden fiir sie, 
wenn dies Beispiel, schwierige Pragen vor dem groBen Publikum 
durch unrichtige Citate ‘im Handumdrehen’ zu erledigen, Nach- 
ahmung finden soUte. 


R. Reitzenstein. 




Die Keimvorreden des deutschen Lucidarius. 


Von 

Edward Schroder. 

Vorgelegt in der Sitzung vom 13. Januar 1917. 

Dieser kleine Aufsatz ist jetzt reichlicb neun Jahr alt. Her- 
vorgegangen aus der Besprechung einer Seminararbeit war er in 
den Herbstferien 1907 niedergeschrieben and bereits als Beitrag 
zu der Festschrift fiir Job. Kelle angemeldet worden, als mich 
einige Liicken in dem aufgesammelten Material storten nnd ich 
mich in letzter Stunde entschloB einen Ersatz zu liefern. Bald 
nachdem dann (1911) die Wien-Lainzer Handschrift die erste wert- 
volle Bereicherung von Karl Schorbachs unendlich miihevoller Ar- 
beit gebracht hatte, erfuhr ich, da6 eine Ansgabe des ‘Lucidarius’ 
fiir die ‘Deutschen Texte’ der Berliner Akademie geplant sei, und 
es widerstrebte mir, dem jungen Germanisten das vorwegzunehmen 
was mir als reizvolle und keineswegs schwierige Aufgabe auf dem 
Wege der Edition zu iiegen schien. 

Nun ist wahrend des Krieges die erwartete Ausgabe erschienen-). 
Nach dem Programm dieser Publikationenreihe durfte sich Felix 
Heidlauf das Ziel nicht hoch stecken, und so blieben hier wie in 
seiner fleiBigen Dissertation -’i, die in der Hauptsache andern Dingen 

1) Studien liber das deiitschf! Volksbuch Lucidarius und seine Bearbeitung 
ill fremden Sprachen [== l^uellen und Forschungen Hell 74], StraBburg 1894, 
vgl, meine Besprechung Anz. f. d. Alt. 23, 107 ff. 

2) Deutsche Texte des MitteUdters Band XXVIil Lucidarius aus der Ber- 
liner Handschrift [26 hatte hinzugefugt werdeii mussen] h^raiisgegeben von Felix 
Heidlauf, Berlin 191-1 

3) Das mhd. Volksbuch I.ucidarius, Berlin 191-7; was hier S. 126-130 uber 
die Keimvorreden steht. mag unter den Begriff der ‘Kriegsware’ fallen und daher 
mit Schweigen iibergangen werden. 

Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. I’hil.-hist Klasse. 1917. Heft 2. 11 



154 


Edward Schroder 


gilt, wichtige Fragen aas der altesten Greschichte des Buches un- 
beachtet : merkwiirdig allerdings bei einem Schiller Roethes, dem 
sein Lehrer durch die ‘Reimvorreden des Sachsenspiegels’ doch den 
Weg sollte gewiesen haben. Einem Rechtshistoriker, Engen Ro- 
senstock ^), erschien diese Parallele bedentungsvoll genng nm seine 
Fachgenossen sofort auf die Erscheinung hinzaweisen, und diese 
mir in den Weihnachtstagen zngegangene Miszelle hat mich ver- 
anlafit, mein altes Manusbript hervorznholen nnd mit den wenigen 
Andernngen welche der handschriftliche und litterarische Zuwachs 
notwendig machte, znm Drnck zu bringen. 

Schorbach hatte in seinen ‘Studien’, die wir s. Z. als Prole- 
gomena einer kritischen Ausgabe begriihten , 42 Handschriften 
(darunter freilich Noo. 37 — 42 ‘verschollene nnd verlorene’) nnd 82 
Dmcke (von 1479 bis ca. 1806 herab) verzeichnet. Dazu ist die 
von Clem. Biener aufgefnndene und Zs. f. d. Alt. 53, 288 ff. be- 
sprochene Hs. des Jesnitenkonvents von Lainz vor Wien getreten ; 
wahrend diese Heidlauf entgangen ist, verzeichnet er Diss. S. 3f. 
z. Tl. auf Grund des Handschriftenarchivs der ‘Deutschen Kommis- 
sion’ noch 7 weitere Papierhss., sodaB jetzt die Gesamtzahl 50 er- 
reicht ist. 

Ich selbst besaB schon seit meiner Studenten-, ja seit meiner 
Gymnasiastenzeit Notizen und Teilabschriften von Lncidariushss. 
und habe diese dann auf Grund von Schorbachs Bibliographie er- 
ganzt und erneuert. Einzelnes haben mir Freunde beigesteuert 
(Ehrismann, v. Kraus, Ries), die Abschrift seines Fundes stellte 
mir Dr. Biener zur Verfiigung, die Wolfenbiittler Hss. und In- 
kunabeln hab ich fiir meinen Zweck an Ort und Stelle kopiert, 
den Bibliotheken von Basel, Berlin, Karlsruhe, Kassel, Melk, Mun- 
chen und Wien gilt mein Dank fiir Ubersendung ihrer Codices an 
die hiesige TJniversitatsbibliothek. So verfiigt ich zuletzt iiber 20 
Handschriften und drei Drucke, von denen aber eine Hs. als Kopie 
eines Friihdrucks und ein Drnck als treuer Nachdruck eines andern 
ausschieden. Ich fuhre dies Material in knappster Form unter 
jedesmaliger Verweisung auf Sch[orbach] und H[eidlauf] hier auf, 
geordnet nach den von Schorbach richtig erkannten zwei Hanpt- 
rezensionen, denen ich als Anhang die gleichfalls von diesem schon 
zutrefifend charakterisierte Wolfenbiittler Hs. 29. 9. Aug. beige- 
fiigt habe. 

Heidlauf, der sich mit in diesem Falle wenig glucldicher Aus- 

1) Zeitschr. d. Savigny-Stiftung XXVII Germ. Abt. S. 498—504. 



Die Reimvorreden des deutschen Lucidarius. 155 

wahl auf die Perg.-Hss. beschrankt, bat mir direkt kein Material 
binzugeliefert, und seinen neuen Hinweisen auf jnnge Papier-Hss. 
nachzugehen glanbt ich mir ersparen zu diirfen. Um dem Heraus- 
geber eines kritischen Texfces nicht vorzugreifen, hab ich auf Siglen 
verzichtet und die Hss. mit den Zahlen von Schorbachs Verzeichnis 
aufgefiihrt, wobei ich freilieh die nengefundene Lainzer Hs. als 
43 hinter die verschollenen und verlorenen stellen muBte. 

Mit A und B bezeichne ich die von Schorbach erkannten Re- 
zensionen. 

A ist ein direkter Auslaufer der Br aunschw eiger Ori- 
ginalausgabe des Lucidarius von ca. 1190, in B besitzen wir eine 
Bairische Redaktion, die sich zeitlich nnmittelbar anschloB; 
die altesten uns erhaltenen Brnchstiicke des Werkes (jetzt von Fr. 
Wilhelm, Munchener Texte VIII S. 115 — 131 abgedruckt) gehbren 
dieser Redaktion an, deren Urheber, wie der Prolog erweist, mit 
seiner diirftigen litterarischen Bildnng noch ganz im 12. Jahr- 
bnndert wurzelte. 

Handschriften der Bezension A. 

2 . Berlin, Kgl. Bibliothek Ms. germ. oct. 56, Perg., gegen 
Mitte des 14. Jh.s. Sprache ostmitteldentsch : die Hs. entstammt 
der Schreibstube eines Deutschordenshauses ; vgl. Schorbach S. 21, 
Anz. f. d. Alt. 23, 108. — Der Prolog Bl. 50*’ — 51'’, abgedruckt 
durcb K. Schroder, Germ. 17, 408 f., Schorbach S. 133f., Heidlauf 
Ausg. S. Xllf. 

9. Heidelberg, Univ.-Bibliothek Cod. pal. germ. 359, Pap., 
nach 1450, Sprache niederalemannisch (manchen Hss. des Diebold 
Lauber von Hagenau sehr nabe stehend); vgl. Sch. S. 29. Prolog 
in Prosa aufgelost Bl. 66^''. Abschrift Ehrismanns. 

10. Wien, K. K. Hof bibbotbek. Cod. Vind. 3007 (friiher Nov. 
297), Pap., datiert von 1472. Sprache ostmitteldentsch, von Bae- 
secke, Wiener Oswald S. XIV in Schlesien lokalisiert. Vgl. Sch. 
S. 30 f. Prolog Bl. 128‘. 

43. Wien-Lainz, Bibliothek des Jesuitenkon vents X 88, 
Pap., Mitte des 15. Jh.s. Sprache rheinfrankisch , von Cl. Biener 
Zs. f. d. Alt. 53, 298 nach Hessen gesetzt [Wetterau?]. Prolog 
Bl. 93 f. Vgl. Biener (dem ich auch Abschrift verdanke) a. a. 0. 

S. 238 if. 


11 * 



156 


Edward Schroder, 


Prolog des A-Textes. 

Diz buch heizet LUCIDARIUS, 

Tind ist durcli relit geheizen sus, 
wan ez ist ein lahtere. 
swer gerne vremede mere 
5 von der schrift vememen wil, 
der mach Me wunders horen vil 
in deseme cleinen bflclie. 
man soldez veme suche 
e man ez vunde ensamt geschreben. 

10 got hat ime den sin gegeben, 

dem herzogen der ez schriben liez’. 
sine capellane er biez 
die rede suchen an den schriften, 
und bat sie daz sie ez dihteii 
15 ane rimen wolden. 
wande sie ensolden 
niht schriben wan die warheit, 
als ez ze latine steit. 

Daz daden sie willecliche 
20 dem herzogen Keinriche. 
der ez in gebot ande bat : 
zc Brnneswich in der stat 
wart ez gedihtet nnd geschreben. 
ez enwere an dem meister nibt beleben, 

25 er bet ez gerimet ab er solde. 

Der herzoge wolde 

1 elucidariiis 2. 2 heyl’et durcli rechte lo. alsus JO. 4cJ. 3 Juhtere 

2. B] erluchtere 43. lU; erliubtuiigc !). 4 woreii sclir. 10. worer schr. !). 

6 wunders horen] horen wonders 43; ir horen 10. (9.) 7 rleinen fehlt 10.(9.) 
8 muste es 9; sal is 10. vene 2. 9; weite lo. 9 E wen 10, er daz 9. man 
ez] YS der man 10. entsam 2; alli-i saincnt 43. v. e.] zu male fimde 9; c/.ii 
sampne vant 10. 10 got selhir 43. im fehlt 43. 9. der svnnen 10. 11 dem 

herren 9; der iierre 10. der fehlt lo. 12 sineii caplan 9. 10; einen capellan 
43. 13 reite 9. an der schrifft 10: in der geschrift 9. V 14—16 stark entstelH 

9. 10. 15 an 2. 9. rime 9. 10. den Plural wolden : suldin bevsahrt trotz V. 
12 auch 10. 16 wan 2. 9. 43; wenne 10. er ciisolle 9; sie nit tiis. 4:). 

17 wenne 10: dan 43. denne 9. 18 an dem latine 9. 10. seit 43. V. 19 das 

weite der willige 9. V. 20 der herc/og heynrkhen f: willigliehin) 10; herczoge 
riche 9. 21 der ez] Do her ys 10; Daz er 2. ime 43. 22 Brunswic 2. Bruns- 
wig 4.3. 9. brawnczw'eig 10. 23 w. ez fehlt 9. V. 24, 25 fehlen 9. 24 anden 

meistern 43; ane meister 40. 25 ah 2. ap 10. ohe 43. 26 enwolde 10. 



Die Keimvorreden des deutschen Lucidarius. 


157 


daz man ez hieze da 
‘Aurea gemma’, 

do dnhte ez dem meister bezzer sus 
30 daz ez bieze ‘Lucidarius’, 
wan ez ein luhtere ist. 
der heilige geist gab ime die list : 
er was der lerere, 
und (was) der vragere 
35 der daz buch dihte. 

man vindet maneger schrit'te 
ein deil geschreben dar inne. 
der mit stedem sinne 
die rede rehte merken wil, 

40 dem mag antwurte geben vil 
swes man ez vraget das hiich. 
der himel und erde geschuf 
mit siner gotheide, 
der neme den heren an sin geleide. 

27 ez fehlt 43. dis bfich hette 9. da fMt 9. 10. V'. 28 aurea gfimis 
10; aurean g. 9. 29 vnd ys dauchte 10. dem 2. bas 43; gut 9; fehtt 10- 
alsus 9. 10. 30 das man nante 9. FF. 31—44 fehJen 10. 31 es ist ein liecbt 9. 
irluchter 2. 48, dock vgl. oben V. 3. 32 die list 2. 43.] den 9. 34 der freger 9 ; 
vraget 2. F. 35 daz buch dicke 2. ouch der 9. dis b. 43. 36 man gab im 9. 
uz] an 2. 43; von 9. aller schr. 9. 37 dar inne fehlt 9. FF. 38—43 stark 
verdndert 9. 39 disse 43. 40 der m. 2. 43; dem solte er 9. antwurten geben 
9 ; geben antwurt 4,3. vil fehlt 9. 41 des 43. in vraget 2. 43 ; stark gean- 
dert 9. d. b] vz der schrift 2. 43; spdter Zusatz genuch 2. 42 der erden 43. 
gestifft 43. FF. 43. 44 fehleti in 43, das hier in den B-Text uberiritt. 44 neme 
d. h. an] sol nemen des h. sele 9. 


Die uns erhaltenen Handscbriften der Rezension A gehn auf 
einen Archetypus zuriick, der bereits des III. Buches verlustig 
gegangen war und diesen Verlust am SchluB sehr ungeschickt be- 
mantelt, Sch. S. 134 f. Wir diirfen also aucb fiir den Prolog scbon 
mit der Moglicbkeit gemeinsamer Verderbnisse recbnen. Unsere 
vier Hss. teden sicb zunachst in zwei Gruppen durcb die La. V. 5 
von der schrift 2. ron der ico rer schr. 9. von der aoren schr. 10. 
Dagegen ist die Verstiimmelung des Prologs, der in 9 mit V. 30 
abbricbt, in 10 bis zum SchluB reicht und hier bei fast vollstan- 
diger Auflosung in Prosa gerade das letzte Reimpaar bewahrt hat, 
von den beiden Hss. selbstandig vorgenommen worden. 

Eh mir die Lainzer Hs. bekannt wurde, hab ich aucb den 
Pehler V. 12 sine capellane 2J sinen caplan 9. Seynen capellan 10. 



158 


Edward Schroder 


aof das Konto der gemeinsamen Vorlage geschrieben, und er mag 
immerhin so alt sein. Nun finden wir aber auch in 43 einen 
capellan, und die Irrung ist jedenfalls nicht derart daB sie uns 
zu einem ZusammenschluB von 9. 10 + 43 gegeniiber 2 notigte : 
der eigenartige Umstand daB der Fiirst nicht seinen Kapellan, 
sondern gleich mebrere — zwei — mit der Arbeit beauftragte, 
konnte immerhin mehr als einem Schreiber unerwartet bommen 
und die Entgleisung in den naheliegenden Singular wiederholt ver- 
anlassen. 

Die Hss. 2. 43, mit gelegentlicher Heranziebung von 9. 10 
sowie der Rezension B ermoglichen im ganzen eine miihelose und 
sichere Herstellung des Textes, der nur gegen den SchluB bin, da 
wo 10 bereits ausfallt, eine zwiefacbe Scbwierigkeit bietet. Die 
Verse 33 — 35 sehen in der Uberlieferung so aus: 

Er was der lerer vn vrayet daz buck dicJce (: schrifte) 2. 

er was der lerer vnd der frager der dis buck dichte f: schrijfte) 43. 

Er was der lerer vnd der frager ouch der das buck dichte (: sckrift) 9. 

Es ist ohne weiteres klar, daB bier eine Verderbnis vorliegt die 
bis in den Archetypus zuruckreicht, und zu deren Erklarung man 
sich zunachst vorstellen muB, daB wie in alien Hss. des 12. Jh.s 
auch in den altesten Ausgaben des Lucidarius die Verse unabge- 
setzt (mit mehr oder weniger deutUcber Markierung des Schlusses) 
geschrieben waren. Der richtige AnschluBreim und damit der ganze 
Vers 35 ist bewahrt in 43 und 9, V. 34 dagegen war in der gemein- 
samen Vorlage das Verbum (was} ausgefallen, vielleicht als ver- 
meintlich iiberflussig fortgelassen, und das nunmehr als vragete ver- 
lesene vragere veranlaBte *2 zu seiner radikalen Anderung: soil 
diche : schrifte nocb einen Reim darstellen, so wiirde auch diese zeit- 
licb recht hoch hinaufgehn ‘). Bei und was der vragere, wie ich 
herstelle, ist und mit der Inversion als engerer frelativer) An- 
schluB zu fassen: ‘wahrend der Frager der war, der das Bucb 
verfaBte'. 

Schwieriger steht es mit den Versen 40. 41, weil bier auBer 
10 auch 43 mitten im Satze versagt. Biener hat Zs. 53, 290 schon 
richtig bemerkt, daB die Lainzer Handschrift [genauer jedenfalls 
ihre Vorlage] gegen Ende des Prologs nach V. 41 den A-Text ver- 
laBt und die SchluBverse 43. 44 aus der Rezension B gibt. Dabei 
kommt es zu einer IJberleitung, und die fallt mit einer groben Ent- 


1) Dem Sinne nach richtig hat inzwischen auch Heidlauf S. XIH Anm. 33 
den Text hergestellt. 



Die Reimvorreden des deutschen Lucidajius. 


159 


stellung in 2 zusammen, sodaB man vermnten mochte, gerade sie 
habe den Schreiber von *43 veranlaBt bier bei einem andern Exem- 
plar Hilfe za snchen. Kacb den VV. 38. 39 ‘wer mit aufmerksamem 
Sinne die Darlegnng in sicb aufnebmen will’, geht es weiter: 

Hs. 2. Hs. 43. 

Der mac antwurte geben lil der mag geben antwurt vil 

Sives man in vraget vz der schrift. des man en fraget vss der schrift. 
JJer liimel vn erde gescJiuf u. s.w. der hymel vnd der erden gestifft 

(folgt B V. 31—36). 

Das entstellte Reimpaar V. 41 f. bat scbon ein alter Leser der 
Hs. 2 dnrcb den Zusatz schrift/ genach ausznflicken gesucbt, wobei 
er wenigstens richtig den Fehler in der ersten Reirazeile erkannte ; 
anch Schorbach S. 134 Anm. hielt daran test and erwog uz dem 
btioch (: gescliitof). Allein dieser apokopierte Dativ ist fiir Zeit 
nnd Heimat des Antors unmoglich. Roediger (bei Heidlauf S. XIII 
Anm. 39) vermutet den Fehler in der zweiten Reimzeile and lenkt 
genau in die Bahn ein welcbe, wie ans Zs. 53, 290 zu erseben 
war, die Hs. 48 betreten bat : es ware in der Tat das einzige 
Mittel um die Uberlieferung von V. 41 festznbaltcn. Aber diese ist 
ganz gewiB feblerhaft. ‘Die Scbrift’ kann nichts anderes sein als 
die Bibel, also ware der Sinn der : ‘wer anfmerksam liest, der wird 
im Stande sein, reichlich Antwort zu geben anf alles was man 
ihn ans der Bibel fragt’. Nun enthalt aber ‘das Buch’, der Luci- 
darins, keineswegs blo6 Bibelweisheit, sondern es schopft, wie V. 
8 f. hervorgeboben wird, aucb aus abgelegenen Quellen, und soeben 
V. 36 f. {uz maneger schrifte) ist das noch einmal ausdriicklich wie- 
derbolt worden. Das was man an unserer Stelle erwartet ist: 
‘wer anfmerksam liest, der kann aus diesem Buche viel lernen, 
den kann dies Buch viel lehren’. Die Entstellxmg begann offenbar 
damit, da6 dem Schreiber der Febltritt passierte der jedem der 
mit alten Hss. viel zu tun gehabt hat, dutzendfach bekannt ist: 
er glitt aus einer Folge swer — dem in die gewohnlicbe Folge swer 
— der hiniiber; mit diesem der fiir dem V. 40 setzt also die Ver- 
derbnis ein, und was V. 41 folgt ist eben nur die Konsequenz: 
jetzt mu6 statt des Bucbes selbst der Leser die Antwort geben, 
und ihn befragt man naturBcb nicbt ‘aus dem Buch’, sondern ‘ans 
der Schrift’, ihm werden Fragen vorgelegt zu denen die Bibel den 
AnstoB gibt. Ob diese Verderbnis erst in der Vorlage von 2, 43 
eintrat, oder ob sie anf den Arcbetypus zariickgebt, erlaubt uns 
die Textverwirrung in 9 nicbt zu entscheiden, denn in jedem Falle 
bat aucb 9 seine Vorlage misverstanden : w‘e die rede verstan wolte. 



160 


Edward Schroder, 


dem(l) solte er(!) antiDiirten yeien mit freye con redd, von deni himel 
cud von den abgrunden, von got vnd von gotheife. 

Der Dichter des urspriinglichen, Braunschweiger Prologs gibt 
Tins V. 24 f. zu verstelin, daJB es nicht an ihm gelegen habe wenn 
das Work nicht in Versen abgefaBt worden sei. Er war also in 
der Reimkunst erfahren, nnd das beweist auch seine kleine poeti- 
sche Leistnng. Zwar hat er sich nicht sonderlich nm Variation 
der Versausgange bemtiht : auf engem Raume wiederholen sich die 
Bindnngen Luddarius : siis (1 f. 29 f.) , tvil : vil (5 f. 39 f.) , tvolde{n) : 
.w/(ie(n) (15f. 25f.), diJde{n) : sdirifte{n) (13f. 35f.), aber seine Reime 
entsprechen durchaas der Technik der Zeit nm 1190, in die wir 
das Werk setzen miissen. Die Reimbrechung iibt er mit Greschick. 

Von 22 Reimpaaren sind 15 absolut rein, 6 weitere sind es 
in der Sprache des Dichters, und nar ein einziger ist absolut un- 
rein: hnch : geschuf 41 f. Man erinnert sich, dab gerade dieser 
Reim es ist der der tlberlieferung verloren gegangen war und 
den ich wiederherstellen muBte ; es handelt sich aber nm die denk- 
bar leichteste Form der Reimungenauigkeit, um Reime wie sie 
dem Dichter der zeitlich und ortlich dem Verf. des Lucidarius 
am nachsten steht, Eilard von Oberg ganz unbedenkKch erschienen, 
s. G-ierach, Zur Sprache von EUhards Tristrant S. 98. 

Von den dialektisch gefarbten Reimen ist in offener Silbe i : e 
{(i<-sdiriben : gegeben 9f.) ebenso allgemein md. wie ie:e (Juhtcere : 
mere 3 f.). Das iiberschieJBende -n findet sich nur beim Infinitiv 
{Jritche : siidien) und ist bier der Reimpraxis der nachbarlichen Thii- 
ringer entlehnt. Die Bindimg ft : ht {dihte{n) : schriftefn) 13 f. 35 f.) 
entnahm der Verf. wohl der eigenen Aussprache, sie gait aber 
auch Eilard als erlaubt (Gierach S. lllj. SchlieBlich ist sfeit{: ndr- 
Jieif 17 f.) eine dialektische Form. 

Obwohl eminent niederdeutsche Reimbelege ganzlich fehlen, 
glaub ich, daB die Sprache des Autors doch starker vom Nieder- 
deutschen beeinfiuBt war als bei Eilard. Darauf fiihrt mich vor 
allem der Prosatext, wenn auch nur durch einzelne Spuren, denn 
die Hs. 2, die allein fiir dessen Stndium ernsthaft in Betracht 
kommen wird, hat durch den ostdeutschen Schreiber imd teilweise 
wohl auch schon in dessen Vorlage ein ausgesprochen hochdeut- 
sches Gewand erhalten , sodaB nur etwa zwischen iiberwiegendem 
trockcn. trucken ein vereinzeltes truge bewahrt geblieben ist (Bl. 
68'’ suuielidie nas sumeliclie truge) oder fiir die Kalte die Jculde er- 
scheint (Bl. 74*’). Dem Hochdeutschen zugestrebt hat natiirlich der 
Verfasser auch in der Prosa, und zwar nicht nur orthographisch, 
sondern auch im Wortschatz: ich zweifele nicht daran daB auch 



Die Reimyorreden des deutschen Lucidarius. 161 

seine Sprache von vorn herein ‘temperiert’ war, wie es Roethe fiir 
den Sachsenspiegel festgestellt hat. 

Die Spuren die ich in der Ubeidieferung der Vorrede auBer- 
halb des Reims noch von nordmd. Beimischung finde, wie das Fern. 
die list V. 32, das swm. rime V. 15 und ah fiir ob V. 25, haben mich 
veranlafit, den Text auch graphisch dem vermutKchen Bilde des 
Originals anznnahern, wobei ich freilich auf das seit Pfeift'er all- 
gemein iiblicbe u fiir mo, i fiir ie verzichten zu sollen glaubte. Die 
Langezeicben hab ich schon darum weggelassen weil sie z. B. bei 
diihte, luhtere kanm angebracbt sind, anderseits das junge 6'</ in 
yegeben , geschreben wohl vom V erfasser schon gedehnt gesprochen 
wurde, wenn er die Versausgange auch nach iiberlieferter Praxis 
stumpf nimmt. 

An diesem Vorwort ist nicht nur die Nacbricbt von Interesse, 
da6 Heinrich der Lowe die Abfassung des Werkes angeregt und 
sich personlich noch bei der Erwagung des Titels beteiligt babe, 
sondern eben auch die Tatsache des Titels selbst: der Lucida- 
rius ist namlich das erste Werk der deutschen Litte- 
ratur das uns mit einem zu verlassigen , vom Autor 
selbst gewollten Titel iiberliefert ist. 

Jedermann wei6 dafi beim ’Heliand’ und ‘Muspilli’ Scbmeller, 
beim ‘Merigarto’ Hoffmann von Fallersleben Pate gestanden hat, 
da6 der V ersuch Graffs , dem Evangelienbnche Otfrids den Titel 
‘Krist’ anzuhangen, gescheitert ist. Wenn Otfrid selbst sein Werk 
‘Liber evangeliorum’ nannte, so bleibt es immerhin fraglich, ob er 
mit diesem Ausdruck, den er bei dem ihm wohlvertranten Juvencus 
fand, nicht vielmehr die litterarische Gattung bezeichnen wollte: 
ich personlich glaube nicht dafi er dabei an einen Titel im eigent- 
lichen Sinne gedacht hat. In der Folgezeit fehlen durch den Autor 
selbst bezeugte Titel bis liber das Jahr 1200 hinaus : so deutlich 
wie Thomasin von Zirclaere V. 14681 mhi buoch hei^t -der Wiil- 
hisch Gasf hat sich vorher kein Dichter ausgesprochen , und die 
Didaktiker waren die ersten. die ihm in Festlegung des Titels ge- 
folgt siud : Freidank, der Strieker, Ulrich von Lichtenstein, Konrad 
von Haslau. Unter den Epikern ist uns ‘der Umbehanc’ Slickers 
von Steinach noch nicht durch Gottfried (V. 4710), sondern erst 
durch Rudolf von Ems iiberliefert; ich kenne keinen friiheren ur- 
kundlichen Titel als ‘Keisir unde Keisirinne' im Akrostichon Eber- 
nands von Erfurt. 

Gewifi, die Litteraturgeschichte kann solche Benennungen nicht 
entbehren, aber sie sollte sich immer bewuBt bleiben, wie sie zu 
ihnen gelangt ist — und sie sollte etwas vorsich tiger bei der Wahl 



162 


Edward Schroder, 


verfahren. Den Irrtum welcher Scherer mit dem Gredicht passiert 
ist das er ‘Wahrheit’ nannte, hat erst Schwietering, IJber Singen 
und Sagen S. 12 aufgedeckt. Wenn man jenen Hartmann der so 
nnvorsichtig war, sich wie zahlreiche andere mittelalterliche Men- 
schen auf Pergament oder Stein als ‘arm’ (pauper) zu bezeichnen 
und der nun in der Litteratnrgeschichte als ‘der arme Hartmann’ 
spukt [NB zur Verzvveidung der Exatnenkandidaten, fiir die er 
iinrner in die Nahe von Hartmann, dem Dichter des ‘armen Hein- 
rich’ riickt], wenn man den nach dem Titel seines Werkes gefragt 
hatte, er wiirde zweifellos geantwortet haben : ‘Credo’ ; so nannte 
man das Gedicht auch friiher ganz richtig ^), ehe man auf die ‘Eede 
vom Glauben’ verfiel. Diemer hat die emste Strafpredigt Heinrichs 
von Melk gewiB mehr im Sinne des Antors ‘Memento mori’ genannt, 
als Heinzel ‘Erinnerung an den Tod’, wobei die Eubrik des Schreibers 
von Cod. Vind. 2696 ‘Von des todes gehiigede’ wenig gliicklich 
iibersetzt wurde. 

Die Urheber der meisten von unsern Herausgebern und Litte- 
rarhistorikern aufgenommenen Titel sind die Schreiber von Sam- 
melhandschriften. Dieser Branch, durch ein Eubrnm die einzelnen 
Stiicke zu trennen und in ihm den Inhalt oder Charakter des nach- 
folgenden Werkes zu bezeichnen, setzt bereits im 12. Jh. ein. 
Zvvar die Milstater und die Vorauer Hs. iiben ihn noch nicht, wohl 
aber der Kodex dem die bostbaren Colmarer Fragments (Zs. f. d. 
Alt. 40, 305 — 331) entstammen und aus dem uns leider nur der 
eine Titel ‘Cantilena de conversione sancti Pauli’ erhalten ist, 
und weiterhin die soeben ans Licht gebrachten Blatter einer mit- 
telfrankischen Sammelhs. (ed. Degering, Braunes Beitr. 41, 513 bis 
553) : es erscheint mir bedeutsam da6 hier die deutsche Tobias- 
dichtung des Pfaffen Lambrecht iiberschrieben ist ‘Liber Tobie’ 
(S. 528) — also wieder ein lateinischer Titel ! Mit lateinischen 
Titeln beginnt auch die deutsche Litteratur den Titelbrauch: nur 
zwischen zwei lateinischen Benennungen, ‘Aurea Gemma’ und ‘Lu- 
cidarius’, schwanken Herzog Heinrich und der ‘Meister’, sein Ka- 
pellan; das ‘Speculum Saxonicum’ war der Vorlaufer des ‘Sassen- 
spiegels'. 

Der Buchtitel hatte sich in der deutschen Litteratur gewi6 
auch ohne unser Werkchen durchgesetzt : diese Neuerung lag da- 
mal.s in der Luft, und es ist iiberhaupt schwer begreiflich, da6 man 
sicli .so lange beholfen hat und dann noch den Umweg iiber das 

]) Mullenhoff hat es nie anders zitiert. 

2) Oder ganz unglucklich der nenste Heraiisgeber : ‘Rede vom glouven’! 



Die Reimvorreden des deutschen Lucidarius. 


163 


Latein brauchte. Aber direkt Scbule gemacht hat derVer- 
fasser, das hat Rosenstock richtig gesehen, mit dem gereimten 
Vorwort zu seinem Prosawerk. Fiir ihn war diese Vorrede in 
Versen, in der er bekannte, er wiirde das Werk selbst lieber in 
gebnndener Rede geschrieben haben, ein ganz personliches Bediirf- 
nis, andere iibernehmen sie wie einen litterarischen Branch. So 
zunachst Eike von Repgow, im ‘Sachsenspiegel’ sowohl wie in der 
‘Weltchronik’. Ein Jahrhundert spiiter iibertrug Konrad von Me- 
genberg den poetischen Prolog in die natnrwissenschaftliche Schrift- 
stellerei : seine deutscbe ‘Sphara’ hat er mit Reimpaaren, das ‘Bnch 
der Katnr’ sogar mit Titurelstrophen eingeleitet. Und schliefiKch 
ist (um 1350) auch das alteste, in Wurzburg entstandene deutsche 
Kochbuch, das ich dem Konig vom Odenwald glaube znschreiben 
zu diirfen, mit einer Reimvorrede erschienen. 

DaB wie der lateinische Titel auch das metrische Vorwort in 
direkter Kachahmnng lateinischer Vorbilder aufgekommen ist, er- 
scheint von vorn herein natiirUch : aber es bedurfte doch eben 
eines ersten Beispiels, und das gab der Verfasser des Lucidarius. 
Er seinerseits war aber auch nicht ohne Vorbild und Anlehnung 
an die Ausdrucksweise deutscher Dichter. An den Eingang der 
Tugendlehre Werners von Elmendorf^) erinnern Anklange, die 
iiber das hinausgehn was die Sache von selbst ergab. Vgl. Luc. 
V. 12. 13 sine capellane er hies die rede siichen an den schriften 
mit WvE. V. 13 f. und lies mich in sinen huchen die selbe rede 
siichen, Luc. V. 21 der ez in (fehot unde bat mit WvE. V. 4f. 
tvandcr. ome gebot unde bat. 


Handschriften und Drucke der Rezension B. 

a) Handschriften. 

3. Berlin, Kgl. Bibliothek Ms. germ. oct. 26, Perg., Anf. d. 
14. Jh.s. Sprache niederalemannisch [rechtsrheinisch]. VoUstan- 

1) E.S gibt natUrlich auch Falle wo der in einer spaten Sammelhs. tiber- 
lieierte Titel nicht vom Schreiber dieses Kodex, sondern aus einer Vorlage stammt 
die unter Umstanden wesentlich alter sein und eine hohere Gewahr bieten kann 
In der Ambraser Hs. nihren die raeisten Uberschriften von Hans Ried her, und 
sie iind meist toricht, einige bis zur Sinnlosigkeit. Aber wenn er Ulrichs Frauen- 
buch iiberschreibt 'Bitz puech heiOet der Ytwitz', so hat er das altertumliche Wort 
itemz, das nach 1300 kaum noch bezeugt ist, aus einer guten alten Vorlage. Wir 
wiirden den Xitel vielleicht ohne Bedenken annebmen — wenn nicht der Dichter 
selbst UDS mitteilte, sein Biichlein solle ‘der frouwen bmch' heiSen (660, 23) I 

2) Eine Ausgabe hab ich nahezu druckfertig und hoffe sie noch in diesem 
Jahre herauszubringen. 



164 


Edward Schriider, 


diger Abdruck durch Heidlauf, der Prolog zuerst Altd. Blatter I 
326 f., auch bei Sch. S. 136 f. 

4. Miincben, Universitats-Bibliothek Cod. ms. 731, sog. Wiirz- 
burger Hs. des Jlichael de Leone, Perg., v. J. 1350. Sprache ost- 
frankisch. Der Prolog Bl. Lesarten bei H. Ausg. S. 1. Vgl. 

Schorbach S. 22 f., H. Ansg. S. XIII *). 

6. Miinchen, Kgl. Hof- u. Staatsbibliothek Cgm. 252, Pap., 
der Lucidarius dieser Mischhs. ans der Mitte d. 14. Jh.s. Sprache 
bairisch-schwabisch. Sch. S. 25 f. Der Prolog Bl. 56**' ist fort- 
laufend, aber mit scharfer Verstrennung geschrieben. 

7. M elk, Bibliothek des Benediktinerstifts Cod. No. 468 (friiher 
H 90), Pap., gegen Ende des 14. Jh.s. Sprache bairisch. Der 
Prolog Bl. 159**' in Prosa mit nnr teilweiser Markierung der Vers- 
aasgange. Sch. S. 26 fF. 

8. Kassel, Standische Landesbibliothek Ms. philos. oct. b, 
Perg., nach 1350. Sprache mittelfrankisch. Prolog Bl. 140* — 142*, 
in Prosa geschrieben, aber mit deutlicher Abtrennung der Verse. 
Sch. S. 28, vgl. GGN. phil.-hist. Kl. 1910 S. 335 f. 

11. Basel, Universitats-Bibliothek 0. III. 20, Pap., 15. Jh. 
.Sprache alemannisch. Der Prolog Bl. 1, in Prosa geschrieben mit 
nnr teilweiser Markierung der Yersausgange, wurde zuerst mit 
einigen guten Besserungen ediert von W. Wackernagel, Die alt- 
deutschen Hss. der Baseler Universitatsbibliothek (1835) S. 19. Vgl. 
Sch. S. 32. 

13. Wolfenbiittel, Herz. Bibliothek Ms. 78, 4 Aug., Pap., 
V. J. 1438. Sprache bairisch. Prolog Sp. 172*' als Prosa geschrieben 
ohne Verstrennung. Sch. S. 33 f. 

14. Wolfenbiittel, Herz. Bibliothek Ms. Helmst. 389, Pap., 
ca. 1430. Sprache niederdeutsch. Prolog Sp. 2“ als Prosa ge- 
schrieben, beginnt mit V. 19 und bietet nur 16 Verse. Sch. S. 34 f. 

15. Melk. Bibliothek des Benediktinerstifts Cod. No. 603 
(friiher L 23), Papier, v. J. 1414. Sprache bairisch. Prolog Bl. 
lib**. 116*, vollstandig, aber vom Schreiber als Prosa geschrieben 
und als Prosa aufgefafit. Sch. S. 36 f. 

18. Miinchen, Kgl. Hof- und Staatsbibliothek Cgm. 762, 
Pap., Mitte des 15. Jh.s. Sprache ostschwabisch. Prolog Bl. 50**', 


1 ) Heidlauf scbreibt Schorbach den Irrtum vom Hausbuch der Familie de 
l.eoiie’ nach. Das ‘Hausbuch’ des Michael de Leone liegt auf der Wiirzburger 
Universitatsbibliothek nnd ist von der sog. ‘Wurzburger Liederhandschrift’ ganz 
verschieden. 



Die Keimvorreden des deutschen Lucidarius. 165 

als Prosa geschrieben mit teilweiser Bezeichnung der Versanfange. 
Sch. S. 38 f. 

19. Miinchen, Kgl. Hof- u. Staatsbibiiothek Cgm. 404, Pap.. 
Mitte d. 15. Jh.s. Spracbe bairisch. Prolog Bl. 91*'’, bier in ab- 
gesetzten Versen. Sch. S. 39. 

20. Miinchen, Kgl. Hof- u. Staatsbibiiothek Clni. 9711, Pap., 
ca. 1400. Sprache bairisch. Prolog ganz frei behandelt nnd als 
Prosa ohne Absatze geschrieben. Sch. S. 39. 

21. Wien, K.K. Hofbibliothek Cod. Vind. 2808 (Rec. 2119), 
Pap., V. J. 1459. Sprache bairisch-osterreichisch. Der Prolog Bl. 
291* ist ganz in Prosa aufgelbst, aber mit Zerstorung der Reime 
vollstandig iiberliefert. Sch. S. 39 f. 

27. Prag, Universitatsbibliothek No. XVI. E. 33, Pap.. Mitte 
d. 15. Jh.s. Sprache bairisch. Prolog Bl. 158* (fiir mich von v. Kraus 
abgeschrieben) in Prosa. mit teilweiser Andeutnng der Versabsatze. 
Sch. S. 46. 

30. Karlsruhe, (xrofiherz. Bibliothek S. Georgen No. 70, 
Pap., ca. 1480. Sprache alemannisch. Prolog Bl. 6*, ganz in Prosa 
aufgelost, mit Erhaltung nur weniger Reime. Sch. S. 48 f. 

Die Miinchener Handschrift Cgm. 1141 (Sch. S. 50: No. 33) 
hab ich nachtraglich ganz ausgeschaltet, nachdem sich mir Schor- 
bachs Vermutung bestatigt hat: es ist nur eine Abschrift des Bam- 
lerschen Druckes (Augsburg 1479). 

b) Drucke. 

Von den undatierten Drucken hab ich nur den des Joh. Priiss 
von StraBburg (Sch. S. 63) verglichen, aus dessen Colmarer Exem- 
plar mir John Ries den Prolog abgeschrieben hat: er erwies sicb 
als ein Nachdruck der ersten Ausgabe des Anton Sorg. 

Selbst eingesehen bab ich die beiden ersten datierten und iiber- 
baupt altesten Ausgaben: 

(S.) 6. 1479. Augsburg, Anton Sorg (Sch. S. 67), nach dem 
Miinchener Exemplar, da das Berliner gerade bier versagt. 

(B.) 7. 1479. Augsburg, Johann Biimler (Sch. S. 68. 141), nach 
dem Wolfenbiittler Exemplar. 

Was den Prolog angeht. so hat S. nicht nur den weit bessern 
und vollstandigeren Text, es steht auch nichts im Wege B. als 
eiiien Nachdruck zu bezeichnen, der mit Absicht die Prosaauflbsung 
der in S. gr. Teils bewahrten Verse weiterfiihrt. Ganz ausge- 
fallen sind dabei V. 22—24. Im iibrigen geniige eine Probe, um 
das Verbal tnis der beiden zu illustrieren : 



166 


Edward Schroder. 


s. 


B. 


darum was die geschrifft hat 
bedecket 

daz hat Lucidarius alles er- 
wecket. 


Und daramb was man in andern 
buehern dnnckels vnd vnver- 
stantliches geschriben vindet, 
das erklaret maister Lucidarius 
gar ordenlichen. 


Es ist fiir die Sorglosigkeit der alten Drucker bezeichnend, dab 
Sorg selbst seiner zweiten Ausgabe (1480) das Erzeugnis seines 
Nachdruckers zu Grunde gelegt hat, dessen Text dann auch weiter- 
hin mabgebend blieb (Sch. S. 142). 

Fiir meinen Zweck ist nur der erste Sorgsche Dmck von In- 
teresse, den ich unten, soweit ich ihn heranziehe, kurz weg mit Dr. 
bezeichne. 


Anhang. Mischrezension C. 

Wahrend wir in den jiingern Handschriften beider Ausgaben 
vielfach starken Verkiirzungen und vor allem einer bald ungewollten 
bald absichtlichen Auflbsung des Prologs in Prosa begegnen, ist 
noch einmal der Versuch gemacht worden, dem Texte des poetischen 
Vorworts eine neue Form zu geben : 

12. Wolfenbiittel, Herz. Bibliothek Ms. 29. 9. Aug., Pap., 
vor 1450. Sprache alemannisch (Konj. mg = ‘sit’). Prolog Bl. 
78 f.. abgedruckt bei Sch. S. 138*), vgl. S. 32. 

Diese Umschrift des Prologs riihrt nicht von dem Schreiber' 
unserer Handschrift her, der sich mehrfach verlesen hat (am schlimm- 
sten V. 15 hie teas fiir hei teas) und auch sonst wenig Geduld zeigt; 
in der Vorlage, die wohl dem 14. Jh. angehort haben wird, war 
unter dem neuen Titel ‘Das buch der erliichtung’ der Prolog 
in guter Buchschrift geschrieben ; das ahmte der Kopist bis zum 
Schlusse von Z. 4 {mere) nach, um dann zu einer unschbnen Knrsive 
iiberzugehn. 

Die Verse dieses Prologs C sind schlecht, aber von den 13 
Eeimpaaren sind 12 ganz rein^) — nur des alten Reims ganger 
einander (B 25 f.) ist der Eedaktor nicht Herr geworden. Sein 
Machwerk (dessen Abdruck ich nicht wiederhole) erscheint um so 
klaglicher, als eine genaue Betrachtung zeigt dab der Urheber 


1) Zur Kollation; Z. 2 1. sprichet . . . einer: nach Z. 20 keine Lucke und 
kein Absatz im Mskr. — Die Federprobe auf dem ^"orsatzblatt gibt (als Besitzer '?) 
den Namen Ludewicus Etcher (nicht Eichlerl). 

2) Auch der SchluBreim van: an ist gut oberrheinisch , s. Weinhold, Mhd 
Gr S 23. 



Die Keimvorreden des deutschen Lucidarius. 167 

die beiden Prologe zur Hand hatte : daB er neben dem B-Text aucli 
A benntzt hat, wies schon Schorbach S. 139 nach. 

Prolog des B-Textes. 

Diz buoch heizet LUCIDARIUS, 
daz wirt geantvristet alsus : 
daz ist ein luhtsere. 
an dem buoche vindet man zeware 
y manigiu tougeniu dine 
din an andern buochen verborgen sint, 
der nnderwiset uns diz buochelin. 
von der geschrift gewinnen wir den geistlichen sin. 

Diz buoch ist ouch genant Aurea gemma’, 

10 daz kiut guldine gimme, 
bezeichent ist uns dabi, 
wie tiure diz buoch si, 
wande swaz diu geschrift hat bedecket, 
daz hat Lucidarius errecket. 

15 Swer diz buoch gerne lesen wil, 

1 ist gehaizzen 7. 21. 2 wirt geantvristet Wackemapei] wirt geantwu’tet 

1 1 ; wirt ge[tiitzet] auf rasur, hinter V. 3 verirrte glosse antworthe 3 ; wirt (ist 
7 13. 21) gehantfest(et) 6. 7. 13, ein hantvest 21; spricht zfi tfische (teutsch) 
4. 19 30. Dr.; spricht im tiisch 30; sprichet 18; wirt genant 8; sol man versten 
20; ist 15; fallt fort 27. 3 daz ist 3. 7. 11] vnd ist 15. 21; das es sey 6. 8. 

19. 20; fallt aus 4. 13. 18. 27. 30. Dr. lahtere (lenchter) 3. 11. 19. 20. 30] 

erlfihtere (erleuchter) 4. (i. 7. 8. 21. Dr.; erlewchtung 15; lucerne 18; fehlt resp. 
fallt am 13. 27. 4 an dem b.] an disem b. 6. 11. 18. 30. Dr.; an dem b. 13 ; an 

(in 8) den biichen 4. 8: dar in 15; fallt aus 20. 5 vil manic 4. 6. 19. touge- 

nin 11] taugene 4; tougende 18; tawgen 19; toge 3. 7; doegencliche 8; fehlt 6. 
20 21. 27. 30. [Dr.] 6 an andern 6. 18. 27. 30] anderen Dr.; an den 3. 4. li; 

an 20; in den 19. an a. b.] an (in) dem puch 7. 13; in im 21 ; den luden 8- 

Ail menschen 15. 7 der 3. 11. 18.] des 4 8. 13. 19; das 6. 7. 15. 21. Dr. ; star- 

kere Anderung 20. 27. 30. diz b. 4. 6. 7. 8. 27] daz b. 11. 19; diz buchelins 

sin 3; dicz puch 13. IS. 30. Dr.: daz puech 15. 21. 8 schrift 4. 8. 13. 15. 

9 Ez heizzet auch 4, es haist 15, ouch fehlt 3. 7. 11. 27. 30. 10 kiut] kit 

3. 11; bedeut 7, 8. 13. 15. (20. i; sprichet 6. 18. 27; sprichet ze tusche 4. 19; 
ist 21; [fehll 30. Dr.] 11 bezeiget 3. bezeihet 11. peczaychet 7. 27. auch dapey 
7. 13. 21. 12 duyrber 8; vil kospar 30; gut 13. Dr. phchlin 6. puechel 19. 

13 wann(c). wenne alle Ess.-, darumb Dr.; fehlt 8. schrift 3. 4. 8. 13; pfleher 

20. gedecket 18; bedewt 7. bedeuttet 13; hat b.] hie bedeckt hat vn verbor- 
gen 30, sagt 21; ganz frei 20. 14 uns L. 3. L. alles 6. 7. 13. 21. 27. Dr. 

errecket 4. 6. 11. 19] volreckt 27; erweeket 8. Dr. gew'eckcht 15 : enplecket 18; 

durchfarn vnd bedeiitt 13: durchvaren vnd webert 7. webart vnd auch durchvaren 

21. 15 das 7. 13. 20. Dr. buoch gerne fehlt 11; buoch fehlt Dr.; gerne fehU 
27. liset 30. lyst 21. 



168 


Edward Schroder. 


der gewinnet wistuomes vil, 

der uz den buochen niht lihte wirt ervarn, 

wil er gedenken waz in Lucidarius geleret habe. 

Got der ie was and iemer ist an ende, 

20 der sol daz anegenge 
an diseme buoehe wesen. 
swer daz gerne welle lesen, 
der sol sich rehte verstan 
wie ez umbe die schrift si getan, 

25 da der meister and der junger 
redent wider einander. 

Der daz buoch hat ist der vragsere, 
der heiliggeist ist der lersere: 
der sol uns an daz ende bringen, 

30 daz wir die rehten warheit ervinden 

IC weiBheit 13. l)r. ; des w. 7. I'J. 21; der wiczen 30, des sinnes 8. so 
vil t 11. 19. .30; so gar vil 7; als vil 21. V. 17. 18 gans frei 20. Dr.; V. 17 
deigL 30. der 3] daz er 4. (>. 7. s. ii, 13. 19. 21. 27; des er 18. von den 
puchen 27; au6 andern pucbern 18; ausserhalb der pfich 6; fehlt 21, leichtlich 
13. leichteclichen 18: paid 21; fehlt 4. 27. wirt ervarn 3.] wirt ervert 4. w_ 
crfartt 0. eiveret wirt 8; wirt ervert 27: wirt irre 7. 21. irre wert 13; erfert 
19: mag ervarn 11; erfaren kan 1.8. F. 18 fehlt 18. vnd wil 21. kennen 
.'iO. waz in] wie 8. geleret hat 11; hat geler(e)t 4. G. 7. 8. 21. 30. hat ge- 
lerut 13; ler(e)t 19. 27. VV. 19 — 2l fehlen 30; V. 19 fehlt 19; hier setzt 14 ein: 
Got was iu ane ende vil iumer ist ; der — ist] is ye vnd vmmer 8. ist ymer 27. 
iin ende fehlt 21. V. 20 ganz frei 7. 13. 20. sol auch 18. das anegende (i. 

anegenhg 27; dat anbegin 8. 14; das anvanng 19. (15. Dr.). 21 buchelin 4. 
pneth peweiseu 15. 21. 22 vnd wer 18. 19. 27. daz] ez 4. 8. 19. Dr. ; das 

puch 7. 21; diB buch 13. 30; dar an 15. gerne fehlt 6. 7. 8. 13. 14. 15, IS. 
21. 27. (30). welle] nu welle 6; wille vor war 14; wilt 8. wil 15. 27; sol 18; 
liset Oder hert .30. 23 solle G. sich fehlt 8: dafur es 30. gar recht 7. 21. 

24 vnd faesehen wie 6. die geschrilt G. 18. 19. 27 : das puech 15, 21 ; diB puch 
13; nin- das 7. si] ys 14. ist 27. gestalt 21 25 Das 18. Dat 8; fehlt 27. 

Dr. Ein m. u ein j. 27. V. 2(5 so 3. <!. 19. Dr. ily redetten 27; sprechent 
8 wider 11. 27; vnder 8. 14; mit einander redent 7. 30 m. e. retten 13. 21; 
wider e. rettent 18 ; Redeii ni. e. hesunder 15. Mit e. reden besunder 4, 27 vnd 
der 21. 27. ditz (diB) 13, 18. 30. I>r, hat 3. 11] haltet 18; in der hand hat 
30; scLribet (schreibt) 4, 6. 7. 8. 13. 14 15. 18. 27. Dr.; schraib 21. der fehlt 
8. 1,'). der] ein 11; fehlt 14. 27. ist li. vr.] ist d' vrngcr vnde der iunger 3. 

1.3s ist der junger vu der frager .30; fehlt 14. 28 vnd der 15. 21. 27. 30; aber 
der 13. 14. der hg. ist] So ist der h. g. 19. heilig fehlt 14. ist dcrj 
der ist der 13; fehlt '21. der ).] ein 1. 11; der wysseger 8; der maister vTi der 
lerer 30. der lerer vnd der meister 13. 29 vnd der 27. mi'iz 4. vns also 
4. 8; vns das G. 15. an daz] an 6; zfi G. Dr.; an des pdchs 7. 30 auff das 

15; dar 14. rechte 8. Dr.; fehU 15. 18. 20. 21. 27 + 3. 11. w. erv.] erbeit 
uberwinden 3. 11. ervinden 4. 7. 19. 27.] betinden 18. Dr.; vinden 6. 8. 14. 



Die Keinivorreden des dentschen Lucidarius. 


169 


umbe alliu diu dine 

dill an den bnochen verburgen sint. 

Des helfe uns din ewige wisbeit, 
diu an aller slahte arbeit 
35 alle dise werlt hat gezieret 

und uns den ewigen wistnom hat geleret, 

15. 21. 30; mugen viiiden 13. 20. VV. 31. 32 fehlen 27. 31 gantz iimb G. Dr.; 

ind 7. 13. 21; Vmb dat 8. diu feh/t 7. 8. 13. 15. 21. 32 dy vns 20. an 
den b] in den b. 8. 19. Dr.; an andren b. IS; an dem puech 15. 21. in dem p. 

7 ; an dissem buch(e) 6. 14. 30, 43 (das vo>i liter ab zii B tritt). geschriben 
synd 7. Zusats: Hie an deser erden geoffenbarit moegen werden 8. 33 h. 

mir 14. ewige fehlt 13; helig w. 30; haylig triualtichait 27. V. 34 fiiUt axis 
durch ScMuO 18. 30, durcli Ubersprinyen (vgl. 35) 7.13.21. a. si] a. bande 8; 
a. leye 14; alle 11. 27. Dr. 35 die a. 7. 13. 21 (vgl. 34) + 20. alle] al 11; 
Allain 15; fehlt 4. 8. 14. 27. Dr. dise] die 27. 43. Dr.; fehlt 13. werlt 4. 
14. 19. 43] welt 3. 6. 7. 8. 11. 15. 21. 27. Dr.; ding 13. 20. hat g.] hat ge- 

nert 15; hat geer(e)t 6, Dr.; gezier(e)t hat 7. 13. 20. 36 uns fehlt 11. 27. den 
e. w] die ewige (fehlt 14) wisbeit 8. 14. 15. 20. 43. ewigen fehlt 3. 11. hat 
g.] ler(e)t 10. Dr. geleret aus leret 4. geleret 27 ; gewert hat 20. 

Aus den von mir benutzten Hss. der B-Grappe heben sich zu- 
nachst 3. 11 als eng zusammengehorig heraus, wohl nur zufallig 
auch die einzigen Hss. welche den Lucidarius fur sich iiberliefert 
haben. Sie allein bieten V. 30 fiir die rehten wdrheit ervinden] d i e 
erbeiti}) iiherw iiiden. Man wird sie beide unmittelbar auf die 
gleiche Vorlage znruckfiihren diirfen, in der V. 2 geantvr istef, 
iiber das kein Zweifel bestehn kann, durch nebengeschriebenes ge- 
anticrtet oder iibergeschriebenes antwrtet glossier! war: in 11 wurde 
geantwirtvt in den Text aufgenommen , in 3 finden wir auf Easur 
(je[tiitzet] und am Schlusse der nachsten Zeile ein verirrtes antivHhe. 

Durch eine andere gleichmaBige Entstellung desselben ver- 
alteten Wortes zeichnen sich 6. 7. 13. 21 aus, die dafiir gehant- 
vestet resp. ein linntveat (21) schreiben. Unter ihnen stehn sich 7 und 
21 sehr nahe, auch mit vielen andern Verderbnissen ; 13 erweist 
seine engere Zugehorigkeit zu diesem Paar durch die wunderliche 
Einschiebung V. 14 dus hat Lmidarnts (dies [dnrchvarn undf, wo 
Lucidarius als Autor and weitgereister Mann erscheint. Weiteres 
mbge man aus den Lesarten entnehmen. 

Die Verwandtschaftsverhaltnisse zu einera vollstandigen Stemina 
auszubauen, mit zahlreichen Zwischengliedern natiirlich, ware viel- 
leicht moglich. aber sehr umstandlich und deshalb zwecklos, weil 
iiber die Wahl der Lesung nirgends ein Zweifel aufkommen kann 
den ein Stammbaum der Hss. entscheiden wiirde. In nicht wenigen 

Kgl. Ges, d. Wiss. Nachrichten. Pbil.-hist. Klasse. 1917. Heft 2. 12 



170 


Edward Schroder, 


Fallen sind bei der Beseitigang nnd dem Ersatz altertllmlicber 
Worter und Beime jugendliche Handscbriften znsammengetroffen, 
zwischen denen sonst kein naheres Verkaltnis bestekt. Alles was 
in dieser Beziehung lehrreich sein kbnnte, hab ich in den Apparat 
aufgenommen, der aber immerhin entlastet werden muBte, um nickt 
ani den vierfachen Umfang des Textes anzasckwellen. 

Im G-egensatz zu A war der Verfasser des Prologs B im A^erse- 
machen ein richtiger Stumper. Hat jener unter 22 Reimpaaren 
nnr einen wirklich unreinen Reim, so trelfen wir bei diesem unter 
18 nicht weniger als 10, denn es ist unter den unreinen Bindungen 
keine einzige die sick dialektisck recktfertigen liebe. Er bindet 
im klingenden Reim -nd- : -ng- {ende : unegenge 19 f., hringen : ervhi- 
den 29 f.), im stumpfen -nc : -nt (ditic : sint 5f. 31 f.); klingend -if-: 
-e- {gesieret : geleret ^ht), {Utihtcere : ^ewtlre 3t); er gestattet 

sick die kbchst altmodiscken Reimbander ervarn : hahe 17 f., jungur : 
einnnder 25 f. und schreckt vor dem Unreim gemma : gimme 9f. 
nicht zuriiek. Unter diesen Umstanden wird man auck den Reim 
huochelin : sin 7 f. nickt gegen bairiscke Herkunft anfiikren diirfen. 
wenn diese anderwarts gesichert sckeint. Mit seinen 55 °/o unreiner 
Reime wiirde man dieses Produkt unbedingt vor 1160 ansetzen. 
wenn man nicht wiifite, dad es erst an die Stelle eines gutgereimten 
Vorlaufers ans der Zeit um 1190 getreten ist. 

Zur Heimatsbestimmung konnen wir vor allem den Wortschatz 
keranzieken, der sckon fiir den Prolog ansreickt, um ihm ober- 
deutscke und zwar bairiscke Heimat zu sickern. anegenge 
{: ende) V. 20 ist ein ausgesprochen hockdeutsches Wort, das in 
mittel- und niederdeutschen Denkmalern (vom Deutsckordensland 
abgesehen) stets durck anegin stm., aneginne stn. ersetzt wirdG 
tmigen V. 5 (auck im Text bei Heidlauf 32, Id. 16 u.s.w.) sckeint 
im eigentlicken Norddeutschland nickt nackweisbar, feklt jedenfalls 
in Xiedersacksen ganz. Aber immerkin ; anegeugc sowohl als tougen 
sind auck in der Prosa A (Hs. 2) nackweisbar ;''mekr beweisen zwei 
andere Worter: erreclcen V. 14 ‘erzaklen’, ‘erklaren’ (auck imProsa- 
text B 37, 18. 40, 28) ist aussckliedlick oberdeutsck und auBer bei 
Hartmann nur bairisck and bairisck-frankisck bezeugt (jungste Be- 
legeWirnt u. HvdTurlin); scklieBUck das fur V. 2 unbedingt ge- 


1) Ich bemerke hei dieser Gelegenheit, daB mich die Beweisfuhrung von 
Bruch, der Hartmanns 'Credo’ in Thuringen genau lokalisieren will, keineswegs 
uherzeugt hat, soviet ich im einzelnen aus der tiichtigen Arbeit (Prager Studien 
H. 17) gelernt babe. 



Die Eeimvorreden des deutschen Lucidarius. 


171 


sicherte antvristen ist ein teclmischer Ausdrnck der Klostersprache, 
der in friikmhd. Zeit nnr nocli bei bairisehen Antoren bezeugt ist 
(zu Lexer s. v. fiig ich noch Scbbnbach , Altd. Pred. II 35, 16. 20. 
21 ; 36, 38) und mit dem Ablauf des 12. Jh.s verschwindet. 

Da von den durch die Recensio festgelegten alten oberdeut- 
schen Wortern des Prologs B in den von Heidlauf benntzten Hss. 3. 
4 zwei beseitigt sind, darf man auch im Text damit reclinen, da6, 
nacbdem der oberdeutsche Redaktor bier bereits zablreicbe nieder- 
nnd mitteldentscbe Bestandteile ausgemerzt batte, von jiingeren, 
andern Spracbgebieten angehdrigen Hss. mm ancb wieder znm min- 
desten die arcbaiscben Elemente der Redaktion B, und darunter 
auch Neuerungen des Redaktors beseitigt worden sind. Das alles 
wolle man sicb vor Augen halten, wenn man vorlanlig gezwungen 
ist den Lucidarius in dem Abdruck der ‘Deutschen Texte’ zu stu- 
dieren: er gibt gar nicht die alte braunschweigiscbe Ausgabe, die 
sicb wenigstens teilweise aus den Hss. 2. 43. (9. 10) herstellen la6t, 
auch nicht zuverlassig die wenig jiingere bairiscbe Bearbeitung, 
sondern einen zwiefach veranderten Text. 

Allerdings ist die mehr gelegentliche Ersetzung des altbairi- 
schen Wortscbatzes durch die weitere IJberiiefernng der Redaktion 
B nicht entfernt so wirksam gewesen, wie die bewuBte imd beab- 
sichtigte Verdrangung der niederdeutschen Worter durch den bai- 
rischen Redaktor selbst. Wir finden in dem Glossar das Heidlauf 
seiner Ausgabe angehangt hat aUerlei bajuvarisches Sprachgut, 
vor aUem aber eine groBe Menge Worter die man als oberdeutsch 
der Fassung A von vorn herein absprechen wird: eitoven und reit- 
ica;;t 7 i, hlicscMz und ertbidem, das swv. sptdge^i, das nom. act. [jlmes- 
situge und wohl noch 15 — 20 andere. Der genaue Vergleich wind 
sicb erst dann lohnen wenn uns der Versuch gereinigter Texte 
von beiden Rezensionen vorliegt, denn manches in dem von Heid- 
lauf abgedruckten Text, wofiir er keine La. angibt, halte ich vor- 
liiufig ftir Anderung des Schreibers der Handschrift 3 : so z. B. 
Jerk (Jirk) fiir ‘sinister’, das gerade dem Bairisehen zu fehlen scheint, 
aber sogut ostfrankisch wie alemannisch ist. 

Wie ich eben andeutete; das Ziel unserer textkritischen Bo- 
miihungen mu6 zunachst die Wieder herstellung der beiden Rezen- 
sionen sein, wobei fiir B zwar die groBere Arbeit zu bewaltigen 
ist, dafilr aber auch ein sicherer Lohn winkt ; bei A kommen wir, 
wenn nicht neues hsl. Material auftaucht, einstweUen nicht iiber 
die verstiimmelte Fassung hinauf welche der Archetypus dieser 
Gruppe uns iiberliefert hat. 


12 * 



172 Edward Schroder, Die Reimvorreden des deutschen Lucidarius. 


Es wird langwierige und miihsame Arbeit sein, aber sie muJB 
geleistet werden ! Wir sind sie dem altesten der deutschen Yolks- 
biicher schuldig, das zugleich das erste Original werk in deutscher 
Prosa darstellt und obendrein durch die Umstande unter denen es 
zu Stande kam, ein erhohtes Interesse besitzt. Der Text den wir 
jetzt erhalten haben, war wenig geeignet um daran syntaktische 
und stilistische Beobachtungen zu kniipfen, und die alten Frag- 
mente, die eben auch der Rezension B angehdren, sind es auch 
nicht. Trotz manchen Storungen des Bestandes nicht nur, sondern 
auch des Wortlautes steht das Berliner Ms. germ. oct. 56 (2) dem 
Original doch in vielem naher. Beim Lucidarius wiederholt sich 
die Beobachtung die wir etwa in dem Bamberger Stuck von ‘Himmel 
und Hblle’ machen, daB sich namlich die Anfange einer selbstan- 
digen Prosa erst langsam loslosen von der lange geiibten metrischen 
Form: rhythmisch bewegte Kola mit Reim oder Assonanz lassen 
sich wiederholt deutlich herausstellen, Man vergleiche etwa mit 
Heidlaufs Text S. 31, 19 — 23 was ich hier aus der obengenannten 
Berliner Handschrift Bl. 73“ buchstablich abschreibe : 

Si haben groze ere, 

(wan sie eret got und alle sine engele) 

sie envorchten den tot nimmer mere. 

zu so getanen gnaden 

sull wir alle gahen. 

unser erbe ist an dem bimele, 

mit der gotes minne 

sull wir kumen dar in. 

des helfe uns der ware got, 

der uns mit sime tode hat erlost. 



Komposition iind Charakter der Historia Lausiaca. 

Von 

Wilhelm Bousset in Giefien. 

Vorgelegt in der Sitzung vom 11. November 1916 durch Herrn R Reitzenstein. 

In seiner „ Historia Monachorum und Historia Lausiaca hat 
Reitzenstein die fiir jede kritische Betrachtung der Historia Lan- 
siaca^) grundlegende Beobachtung gemacht, da6 die Termini 
Yvwotc, ^Vdoorixoi; , 7rvso[j.aT'.xd? (Tcvaofia), sich nur in einem Teil 
des Werkes, namlich in dessen zweiter Halfte und auBerdem in 
c, 1 — 4 finden. Danach zerfallt ihm die Historia Lausiaca in zwei 
Abschnitte c. 1—28 (24), (von denen wiederum c. 1 — 4 abzutrennen 
seien), und c. 29 (25)— 71. c. 1 (5) — 28 reprasentiert den rein 
agyptischen ilbschnitt dieses Werkes, im zweiten Teil kamen 
noch agyptische Abschnitte vor, erweitere sich der Blick aber 
iiber andere Lander. So ergibt sich fiir Reitzenstein der SchluB, 
dafi der Verfasser der Historia jedenfalls fiir den ersten Teil eine 
besondere Quelle benutzt haben mu6. 

Ich mochte diesen Anregnngen folgend die Untersuchnng von 
neuem aufnehmen und wenn miiglich noch ein wenig weiter ftthren. 

Vielleicht lafit sich das Resultat Reitzensteins noch etwas 
genauer formulieren, wenn wir sagen. jene oben genannten 
Wendungen finden sich in der Historia Lausiaca 
iiberall da, wo wir Grund zu derVermutung haben, 
der Feder des Verfassers der Historia Lausiaca 
selbst zu begegnen. 


1) Ich zitiere nach Butlers Ausgabe der Lausiac History, Texts a. Studies 
VI 2, Cambridge 1904. (Kapitel, Seiten nebst Zeilen). 


174 


Wilhelm Bousset, 


Ich suche diese Formulierting an dem von Eeitzenstein bei- 
gebrachten Stoff zn erweisen. tJberblickt man die Stellen, an 
denen (nach E. S. 148) der Begriff Yvwai? (Yvwatixoc) eine Rolle 
spielt, so sieht man leicbt wie sie sich zunachst an einer Stelle 
der Historia zusammenhaufen , namlich dem Ivap. 47 (vgl. 1372, 
1382, 139 10, 140 1, 140 if., llOg^i 1426). Dazn kiime noch 140 9 
Xo'cc' irvsojraT'xol ^tov asfi-vov zal atoypova^) [iy] s^^ovts?. Von 
den riind 20 Stellen, die R. S. 146—148 fiir Yvwat? etc. aulFuhrt, 
kommen 7 auf dieses eine Kapitel aUein. Sehen wir es uns 
genauer an, so hebt es sich auch sachlich von alien iibrigen ab. 
Es bringt — von der kurzen Einleitung iiber Chronios abgeseben — 
keinen ErzablungsstofP, sondern ein langes reflektierendes Gre- 
sprach iiber das Problem, wie Gott den Fall frommer Manner zn- 
lassen konne, nnter Riickverweisnng anf die c. 24 — 27 znm Teil 
erzahlten Geschichten. Wenn irgendwo, so wird natiirlich bei 
derartigen langeren Reflexionen die Autorschaft des Verfassers 
der Historia selbst in Betracht kommen^). Weiter werden als 
Teilnehmer am Gesprach neben Chronios, Jakob, Paphnut — 
vor alien auch Euagrios und dessen auch sonst mehrfach vor- 
kommender Schuler Albanios genannt. Wir diirfen aber schon hier 
sagen, dafi wenn irgend etwas vom Verfasser der Historia fest- 
steht, es dies sei, da6 er Verehrer und Schuler des Euagrios ist. 
Endlich steht dies spezifisch agyptische — sagen wir genauer — 
„sketische“' Stuck weit ab von den iibrigen Stiicken, die von 
der Sketis handeln. Man wird annehmen diirfen : aus der von R. 
vermuteten Quelle 5 — 24 stammt es nicht; es ist eine freie Zutat 
des Verfassers der Historia, das auBerdem neben c. 45 (s. u.)*) 
die Disposition des zweiten Teils empfindlich stort, indem es sich 
mitten zwischen die Reihe palastinensich-syrischer Monche stellt. 

Es gilt, dieser Beobachtung weiter nachzugehen. Wenn auBer- 
dem ein Kapitel die Feder des Verfassers deutlich verrat, so ist 
es c. 41, der kurze Katalog einer Reihe frommer Frauen, die ihm 
auf seinen Wanderungen bekannt geworden sind. Das zeigt deut- 


1) r, IfijiapTupos yviSsi;, dazu Kc-itzenstein 147 2. 

2) Uber aiocppiuv swapoAvi) vgl. Reitzenstein 1644, in unserm Kap. noch 
13914 tgO piap-'jpo; rr,; 3u>'.ppo36v7j; daaipsSlsvTo;. 

3) Ich mache noch darauf aufmerksam, daB der Terminus (EuyapiOTo;) 91X0- 
oouia 14112 als Bezeichnung des asketischen Lebens, soweit ich sehe, nur in 
unserm Kapitel der Historia vorkommt, jedenfalls in ihr sehr selten ist. 

4) Ich nehme als gesichert an, daB Butler im Eecht ist, wenn er dieses 
und die ubrigen in PWTs fehlenden Stiicke zum ursprlinglichen Bestand der 
Hist. Laus. rechnet (s. u.). 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


175 


lich (lie bissige Bemerkung, die am Anfang, bei der Erwahnung 
der beiligen Paula, gegen Hieronymus abfallt. Hier redet der 
Anhanger, Freund und Schuler der Euagrios, Isidoros, Ammonios, 
als der sich der Verfasser durch sein gauzes Buch hindurch gibt. 
Wir finden in diesem kurzen Kapitel 128? 7:vso[iattX7j TroXitsia, 128 is 
aoiifpovsaxa'CTfj, 129 14 svto? . . . ’/vcJiasoic Yjvojtsvot ^). 

Weiter stimmt es mit unsern Beobacbtungen iibereiu, wenn 
gerade in dem Kapitel (38) liber Euagrios, das ubrigens wiederum 
auBerhalb der agyptisch-sketiscben Reihe steht, der Satz begegnet: 
IvTO? oov SsvaTtsvts STWV xadapsuaac si? axpov tbv vouv") xatT]- 
^toib'Yj yaptap-ato? yvdiiasa)? '/.al ao'ptas '/ai S t a % p I a s co ? ") v su- 
fiaToiv (120 12 — ii). Und auf derselben Linie liegt es, wenn am 
SchluB der Ausfiihrungen liber das Leben der alteren Melania, als 
deren Freund Rufin eingefiihrt®) wird, steht; ob vvcoaxiztttspo? y.al 
sms’-zeatspo; sv avSpdatv oby soptazsto 136 s. Hier spricht wiederum 
der Anhanger des Kreises, der durch die Namen Euagrios Rufin 
(Melania) Chrysostomos dargestellt wird. 

Fast in keinem Kapitel stellt der Verfasser seine eigene Per- 
sonlichkeit so in den Vordergrund wie in c. 35, der sehr stark 
novellistisch anfgeputzten Begegnung mit Johannes von Lybopolis. 
Wiederum steht hier der Name des Euagrios. Der Autor gibt 
sich als einer aus der ouvoSta O, der etatpsta des Euagrios. — Es 
wird wieder kein Zufall sein, wenn in diesem Kapitel Johannes 
von Lykopolis Ttvsniratizd?, dvr]p jrvcop.aTtz6; genannt wird®) 10220. 
103 12. 

Wenn wir weiter in der Einleitung zu dem kurzen Kapitel 
liber Ephraim 126 1 — e wiederum den charakteristischen Termini 


1) -Jiuch auf die tVendung auvoow 129 8 wird zu achten sein (s. u.); endlich 
yerweise icli auf 129 is i>x'j 8 £p(ui)£-/Te 4 . . . -aarj; ctp-ap-ta;; vgl, das weiterhin liber 
den Terminus drrciSeioc zu Bemerkende. 

2) Man beachte von jetzt an auch diese Termini. Reitzenstein verweist 
mich brieflich noch auf 119 12 vew xai ocppipuivTi XTjv f,Xixtav ; vgl. c. 2 , 16 16 veiu 
ova . . . I'opqiusrj; hi xf,; 

3 ) Uber die Art dieser Einfuhrung s. unten. 

4j 102 a. 11 . Vgl. oben das zu c. 41, 1298 Bemerkte; 135 19 s. u, zu c. 46. 
Reitzenstein 149 4 notiert aus dem Dialog (des Palladios), I p. 7 oI(4cu ^dp oe ix xf,s 
ouvdoo'j Eivai liud'/vou x. ixiax. Kiovsxavxtvo’jii. Euagrios uberschreibt seinen Monchs- 
spiegel: „"p« h xoivoptoi; vj ouvoSioet; p.ovayo6;“, GreBmann, Euagrios, Text 
und Enters. Bd. 39, 4, S. 153. 

5) Ich notiere nach Reitzenstein 1644 noch den technischen Gebrauch von 
xaxTjyTjai; 103 is und dTTOxdaaEiSloi'. 104 1 , obwohl man nicht ganz sicher ist, ob 
diese Wendungen fur den Sprachgebrauch gerade unseres Verfassers ausschlieBlich 
charakteristisch sind. 



176 


Wilhelm Bousset 


Tcvs'jijLa, yv&aii; Koatz'/j begegnen, so bat Reitzenstein (S. 146) bereits 
darauf hingewiesen, daB der betreffende Satz fast wortlich aus 
den Practica des Euagrios stammt. Es ist der Schiiler des 
Euagrios, der bier mit einer burzen Einleitung die dann folgende 
Ephraim -Anekdote seinem Werk einverleibt. 

Die Charakterisierung der alteren Melania *) schlieBt : c. 55. 
149 it: 8t6 zal <j)£oS(ov6p.oo yv(l>aso)(; eXsD&spw&siaa Tctjpw- 

■d-Yj'/Xi . . . istufijv opvtv sp'jfaaap.svTj TtvsopaTtXYjv Siairspaaaaa apo? 
XpicsTov. Es laBt sich wohl mit Sicberbeit erweisen, daB die ganze 
Scbilderung 149 n — (aotTj XoYtmratYj) — 20 direkt aus der Feder 
unseres Verfassers stammt. Denn zn diesem Preise der ausge- 
debnten Gelehrsamkeit seiner Heldin und der Angabe der von ihr 
gelesenen Werke, deren Umfang nacb Sticben berecbnet wird, 
gesellt aicb als voUstandiges Analogon der Lobpreis des Ammonios 
c. 11, 345 — 12 . Und wir werden nocb nachweisen, daB dieser mit 
Sicberbeit anf den Verfasser selbst zuriickzufiibren ist^). Icb ver- 
weise schon bier anf das schlecbtbin entscbeidende Euagrios-Zitat 
c. 11, 34 10 — 12 , in dem sich als einziger Stelle des ersten Teils 
TtvEupa im techniscben Zusammenbang findet (avYjp osop-amcpopo?; 
Reitzenstein 148). Man beachte nocb, daB beidemale an derSpitze 
der Aufzablnng mit Nachdruck Origenes, neben ihm Stephanos, 
Pierios erscbeinen. 

In der Vita des Serapion c. 37, die unser Verfasser wobl 
einer ihm fertig vorliegenden Quelle (Reitzenstein 61 4 ) entlehnt 
baben wird findet sich die Wendung 1142 f;v 'istopvcU[j.£vo<; iv ts 
xai Yvmasi in einem dentlich als solchem charakterisierten 
Zwischensatz *), — genau so wie c. 34. 99 17 die Wendung outw; yap 
xaXouai xd? TTVEojiartz dc ein erklarender Zusatz zu dp|jLa ist. 

Es bleibt nur nocb eine einzige Stelle zur Besprechung iibrig, 

1) Die schlecnte Kapiteleinteilung mit der nenen Uberschrift Silvania hat es 
den raeisten Forschern bis jetzt verdeckt, daC auth in diesem Kapitel nur von 
Melania (nicht von Silvania, die nur in einem beiluuticrcn Satz erwahnt wird) die 
Bede ist; vgl. Turner, Journal of Tbeolog. Studies 1905, :;u2— 304. Reitzenstein 
S 151 sagt richtig: „AVenn ferner von Melania gesagt wird“. 

■J) Zu dieser Vorstellung und ihren Parallelen bei Euagrios vgl. Reitzen- 
stfc.n 151, 

3) Es wird uberhaupt zur kritischen Regel erlioben werden kbnnen, daB wo 

sich Starke Beriihrungen in ganz verscbiedenen Teilen des Werkes flnden, immer 
die Hand des Verfassers (Redaktors) selbst tatig ist. Man vgl. ubrigens auch 
! 2 vy,p -/.at cpdoXoyos 14818 am Anfang des Kai>itels und c. 11, 32 20 (von 

Ammonios o;/.oXoyo; f;v i avr,p). 

4) Man beachte vorher die starke Hervorbebung des Origenes -Schulers 
Domninos. 



Komposition und Cliarakter cler Historia Lausiaca. 


177 


niiinlich c. 58, 152 1 , wo Diokles von Antinoe avYjp Y'''“' 3 i:t 7 .cb':aTO(; 
genannt wird. Es scheint mir aber auch hier sehr wahrscheinlicli, 
daB gerade das ganze c. 58 ein Work aus der Feder des Ver- 
fassers ist. Darauf. daB es mit einem Hinweis auf den vier- 
jahrigen Aufentkalt des Verfassers in Antinoe beginnt, soli kein 
Gewicht gelegt werden, aber das Kapitel ahnelt mit seiner kui’zen 
Aufzablung einer Reihe von liunchen dein Frauenkatalog c. 41. 
TJberdies ist auf die Wendungen zu vei’weisen ; si? azpov aazobjjLSvo' 
151 11 ^); TTpaotaroc v.al aio'ipwv 151 13 : ai:sTa:;aTo aovstdiaro 1528; ttjv 
xatd atbp.a oto'xpoauvTjV 1534 (dazu Reitzenstein 164 4 ). Der Satz: 
vo5? dzcaxd? Usoo ivvoia? 152'in kehrt fast wortlicb in dem Phi- 
loromos-Kapitel 45 133 '4 wieder, das uns noch beschaftigen soil. 
Die Vorstellung, dafi der Mensch durch Abfall des vou? von der 
svvota dsoo zum xtf;vo? Yj 3a';j.wv wird 152 10 f., beriibrt sicb mit dem 
andern, daB Gott dem Hochmiitigen den rYj? “povoia? nimmt 

(c. 47; 139 11 )®) und erinnert an hermetisches Milieu. Das mag 
vorlaufig zum Beweise geniigen. 

Nach allem schon gesagten kann es nun nicht wundernehmen. 
wenn unsere Termini sich gerade auch in den ersten Kapiteln des 
ganzen Werkes (c. 1 u. 4) Bnden. Denn hier gerade tritt derVer- 
lasser mit seiner Person und seinen angeblichen oder wirklichen 
Erinnerungen wieder um ganz besonders heraus. 

Hier reiht sich nun eine zweite besonders wertvolle Beob- 
achtung Reitzensteins an. Er hat es namlich sehr wabrscbeinlich 
gemacht, daB auch in diesen wie es scheint, allerpersonlichsten 
Stiicken der Verfasser erstaunlicherweise nicht durchweg selbst 
schreibt, sondern einen alteren quellenmaBigen Zusammenhang be- 
arbeitet. Ich stimme auch hier R.’s Beobachtungen durchaus zu, 
nur mochte ich hier und da Quelle und Bearbeitung etwas anders 
scheiden. Reitzenstein setzt bei der sonderbaren Vorstellung c. 1 
p. 152-2 ff., dafi der Held und Lehrer des Verfassers TOoauTYjv Yvwaw 
twv aYicov Yp5;'fwv v.al ttov dstwv SoYaattov gehabt habe, dafi er selbst 
bei der Mahlzeit in Verziickung geraten sei; d 5 r£ 6 -/]p.Yjaa S’.avoia 
apna-i'sk ’j-b dstopia? xivd?, — und versucht eine altere Quelle zu 
konstruieren, in welcher noch einfach von Yv«oat? und der Ekstase 
des visionaren Gnostikers die Rede gewe^en sei. In dieser Quelle 
habe ferner nicht gestanden. daB Isidor dariiber Tranen vergossen 

1) Vgl. die schon oben ziticrte Wenduiig I2013 (Euagrios); 1372 (c. 47 ): 
Yvu) 3 Tt-/toTo:T 04 3:; oi'/.po'^ j unmittelbar vor c. 58, 1-3024 st; i’-zpov r/.Tzi^yETo. — Cber 
32 17 (c. 11) e!; d'xpov o'.wScLa;; 77 14 (c. 24i; 157 21 (c. 62) ei; i-zpov Yi/xSjEicic; 
150 13 (('. 57) s. u. 

2) Vgl. Reitzenstein 147. 



173 


Wilhelm Bousset, 


vergossen hale, dafi er noch essen miisse. sondern in ihr habe 
Isidor seinen verziickten Zustand mit den Worten begriindet: 
at5o0[ia jjLstaXajipdvojy dXoYOO Xoft/Coc O^idpywv usw. 16 3 . 

Icb stimme Reitzenstein darin durcbaus zu, dafi die Vor- 
stellung von einer twy a'(ioiv Ypaspwv zal Twy Hsimy So'cp.d'ccoy, 

die den Menscben in Ekstase versetzt, eine recbt merkwiardige ist; 
dafi wir es iiberhaupt bei der yv(bai<; z&v d-p'mv Ypa'pwy mit einer 
Kompromifivorstellung und einer Einengnng der urspriinglicben 
Yorstellung freier Gnosis auf ..gnostiscbe“ Scbriftdentung *) zu 
tun baben. Aber Eeitzenstein bat selbst S. 159 vortreiflicb nacb- 
gewiesen, dafi eben diese Kompromifivorstellung die unseres Ver- 
fassers und zugleicb z. T. wenigstens ancb die des Euagrios ist. 
Icb mocbte demgemafi jenen ganzen Satz von der Gnosis dem 
tlberarbeiter zuscbreiben. Er fand ein kleines Apopbtbegma vor, 
in dem erzablt wurde, dafi Isidor des oftern sogar bei der Mabl- 
zeit von einer fi-stopia (Vision) ergriffen, verstummt und in Ekstase 
geraten sei. — Icb stimme Reitzenstein weiter darin zn, dafi das 
Vordriingen der eigenen Person in diesem Bericbt p. 16 1 syvwv 
xafw robTov '::oXXax'.<; zum Stil des Verfassers der Historia gebore, 
und werde das an andern Beispielen boffentlicb zur vollen Evidenz 
bringen. Icb meine aber, dafi wenn tvir jene angeblicbe person- 
licbe Reminiszcnz herausnebmen , als Quelle ein zweites Apopb- 
tbegma besteben bleibt, das erziiblte. wie Isidor bei Tiscb in 
Tbianen ausgebrocben, weil er nocb immer irdiscben Hunger babe, 
obwobl er docb von Gott der Paradieses-Nabrung gewiirdigt sei^). 

Tatsacblicb finden wir in den Apopbtbegmata unter dem Namen 
Isidores itpsa^utspo; Nr. 1 (Migne 65, 233) folgende Erzablung von 
ganz abnlicbem Gebalt : eXs^oy xepl rob appa ’laiSwpou rob TrpsapoTS- 
poo, oxt -^X^S TTQze Z'.<; aosX'po?, iva xaXsa-c, aoxov st; aptaxov. 6 SI yspiav 
0U7. Tjyla-/£xo azsXd'siv, Xs^toy oxi ’Aodtj, xti) ^pto[j,ax' dTtaxYjfi'clc xou 
TtapaSsiaou rjuXiad-rj. 

Auf diese geringfugigen Abweiebungen lege icb desbalb docb 
einiges Gewiebt, weil wir, falls mein Vorscblag sicb als riebtig 
bewabrt. binter dem Verfasser der Historia keine altere „gno- 
stisebe^ Quelle zu vermuten braneben, deren Spuren sicb abgeseben 


1) DaB auch diese Schriftgnosis auf dem Wege wirklicher Ekstase sieh dem 
Mom’iie enthullt, wird dann doch festgehalten, besonders deutlich in dem Antonios- 
Apopiitbegma 2G ; Migne 65, 84. 

2) Dabei mag in dem Ausdruck dXoyo-j xpo-.fi, ? Xoyixo; uTtapytov (vgl. Reitzen- 
stein 15(i2) von dem Bearbeiter stilisiert sein. — Einen Widersprucb zwischen 
den beiden so rekonstruierten kleinen Erzahlungen, vermag ich nicht mebr zu 
entdecken. 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


179 


von c. 1 (4) sonst nirgends zeigen, vielmehr alle Stellen, in denen 
der BegriiF Trvsofta sich vordrangt, dem ersteren zuweisen 

konnen, wahrend auch der Charakter seiner Quelle — wir haben es 
iiberall mit Apophthegmen-Literatur zu tun — klarer beraustritt. 

So mochte ich auch die literarische Grundlage in dem Didy- 
moskapitel (4) etwas anders konstruieren , als Reitzenstein das 
seinerzeit versucht hat. 

Ich mache hier zunacht auf eine Beobachtung aufmerksam, 
welche auf die Technik und das schriftstellerische Verfahren des 
Bearbeiters helles Licht wirft und die auch fiir die weiteren Aus- 
fiihrungen von prinzipieller Bedeutung werden wird. Ich zitiere 
zunachst den in Betracht kommenden Zusammenhang : :iX£iaio'. p-sv 
ouv oaot xal oaat sxsXjiwdYjaav sv sx-/A'r] 0 ’c^ a|'oi x'^c 

YTyC xwv irpasMv. sv oiszal Aloou.o<; 6 a»‘(ypa.'S£(ic, [6]^) a:ro oijLp,axtov 
Y£vdji5voc, ou zal auvxD'/G? sayry-a xsaaapa? iz o’.ak£tpp.ax(ov f^rpo? 
auxov] aTtspydpsvo? sm Ssxa sxyj. xsXsto’jxa’. yotp sxwv o'fdo'qy.o'^ia. 

0 0 X 0 ? a. zb 6pp,axwv o^t-^pysv, w? aoxo? p-O' S'.TjYVjsaxo, xsxpasxTj? 
xa? 0 (Jjs',? aTcopaXtbv, p-nixs Ypap-' 4 «xa p,sp.a^Y)y.w? p.‘(]X£ oioaaxaXo:? 'p oixYjaa? ' 
siys yap xov xaxa puatv StSdoxaXoy Ippoap-evov, x6 totov aoyj’od?. Hier 
fallt sofort in die Augen, wie der Verfasser, nachdem er seine 
personlichen Beminiszenzen gebracht hat, genau mit demselben 
Stichwort d;r6 oppdxcov zum zweiten Mai wieder einsetzt. Die 
Vermutung drangt sich auf, dad er hier eine Quelle inter- 
poliert, in der das drco dppdxwv nur einmal stand. Und diese 
Vermutung wird sich uns im Verlauf der Untersuchung an deut- 
licheren Beispielen gliinzend bestatigen. Also fallt hier der Ich- 
Satz und dann auch das Aufdringliche w? auxdc pot Sf/jYYjaaxo nach 
dem zweiten diro oppdxwv als Interpolation heraus-). So erhalten 
wir den Anfang eines kleines Apophthegma, iiber dessen eigen- 
tiimlichen, zur hier gegebenen Fortsetzung nicbt stimmenden Cha- 
rakter Reitzenstein S. 161 bereits das Notige gesagt hat. Im 
folgenden 1925 — 204 ist das Ende der Erzahlung wohl vollig ver- 
schiittet. Denn hier bringt der Verfasser eine lange Ausfuhrung, 
welche durch seine Lieblingsidee der Schrift- Gnosis beherrscht 
ist und in erkennbarer Spannung zu der vorhergehenden Betonung 

1) Fehlt in cod. T, dazu Reitzenstein IGOs. 4 

2) Reitzenstein mochte nach brieflicher Mitteilung jetzt etwa konstruieren: 
Ev oU zctl Atou[4o; 0 G'jYypcc'.pEb? t (wohl stetien zu lassen) d~6 cfrfjtctTtov yEvyfiEvox 
teXeiootch etSiv oyoo/^-zovTo; ttivte. goto; . . . (?), — Das xEAeiooxGtt mochte er halten 
wegen EteAEuoarjSav 19 17. — Man wird wohl auf die vollige Wiederherstellung des 
urspriinglichen MMrtlautes verzichten miissen. Aber die Art, wie die Bearbeitung 
erfolgte ist deutlich. 



IPQ Wilhelm llousset, 

cles lo'ov G'jvsiSdc als des Lehrmeisters steht. — Dann folgt eine 
zweite Anekdote p. 2 O 4 — 12 fiber eine Begegnung des Didymos 
mit dem heiligen Anton, und man wird nach dem obigen vielleicht 
nicht fehlgehen. wenn man annimmt, dad auch bier ein zu Grrunde 
liegendes Didymos-Apopbthegma vom Verfasser erst die person- 
licbe Einleitung bekommen hat ‘). — Ebensowenig wird man geneigt 
sein die Einffihrung der dritten Anekdote von dem visionaren Er- 
lebnisse des D. beim Tode Kaiser Julian ; SiTj-f/iaaro 8s y.ai todzo 
2') 12 . ernst zn nebmen, zumal es sich bier um eine ausgesprochene 
Wanderlegende '-) bandelt. 

Es bat sich bisher herausgestellt, dad der Verfasser der Hi- 
storia nicht fiberall selbst in seinemWerk redet. In wenigen be- 
stimmten Kapiteln — ich nenne c. 1. 4. 35. 38. 41. 47. 58 — i^t 
seine Figur und sein Sprachgebrauch ganz klar und deutlich zu 
erkennen. Auf weiten Strecken seines Werkes zeigten sich diese 
Charakteristiken nicht, namentlicb eine grode Partie c. 5 — 29 bob 
sich von diesem Sprachgebrauch sichtlich ab. Die Analyse der 
cc. 1 n. 4 durch Reitzenstein hat gezeigt, wie der Verfasser tat- 
sachlich altere Zusammenhange bearbeitete. Es ist auch die 
ziemlich mechanische Art. wie er dabei verfuhr, klar geworden. 

Es empfiehlt sich voa bier noch einmal das Ganze des Werkes 
zu untersuchen und den Versuch zu machen, Redaktion und zu 
Grunde liegendes Quellenmateidal noch bestimmter zu sondem. 

Ich beginne mit der Frage, ob sich nicht auch in dem wie es 
scheint als ganzen fibernommenen Abschnitt, c. 5 — 29, bier und da 
redaktionelle Eingriffe zeigen, an denen das Verfahren des Ver- 
fassers mit seinem Material deutlich gemacht werden kann. 

In c. 7 haben wir nach einer kurzen Reiseerzahlung, natfirlich 
im Ichstil, 24 21 — 253 zunachst einen ganz objektiv gehaltenen Be- 
richt fiber die Monche auf dem nitrischen Berg. Die.ser schlieBt 
vorlaufig mit dem Satz: „auf diesem Berge sind sieben 
Backereien, die sowohl jenen wie auch den Anachoreten in der 
groBen Wfiste, 600 an der Zahl, dienen“ 25 r— 9 . Kun folgt die 
personliche Wendung: ^Kachdem ich nun auf diesem Berge ein 
Jahr geblieben und manchen Kutzen von den seligen Vatern, dem 
grofien Arsisios und Putubastos und Asion und Kronios und Sera- 
pion erfahren hatte, zog ich weiter in die innerste Wfiste“ 25 10 — 13 . 

1) Vgl. eine iihnlich Antonios -Didvmos - Anekdote in den Vitae Patrum III, 
Nr. 218. Migne Patr. Lat. 73, 809 

2) 1 gl. Theodoret, Hist. Rel, Migne sO, ISlGf. ; Brief des Ammon (uber das 
Kloster Pachoms c. 23, Acta Sanct. Mai III, p. 834. Vgl. dazu noch Weingarten 
Zeitschr. f. Kirchengesch, I S. 28 3 . 



Komposition und Charakter der Historia Laiisiaca. 


ISl 


Man oolite meinen, nun wiirde eine Beschreibung dieser innersten 
Waste folgen. Aber weit gefehlt: Jetzt setzt sich die Beschrei- 
bung des nitrischen Berges ruhig fort „Auf diesem Berge^) 
von Nitria ist eine groBe Kirche„ — und lauft so weiter bis kurz 
zum SchluB des Kapitels. 

Es driingt sich hier nach allem schon gesagten die Vermutung 
fbrmlich auf, der Verfasser habe in einen fertigen, von 
ihm iibernommenen Bericbt iiber den Berg Nitria und 
seine Monche eine kleine personlicbe Reminiszenz 
ob erflachlicb eingefiigt. 

Die ScMuBsatze in diesem Kapitel fiibren dann bereits zu 
Kap. 8 ,,Amun“ hiniiber. Eine der nitrischen Autoritaten, von 
dem der Verfasser die Amun-Geschicbte selbst gebort baben will, 
Arsisios-) wird als Schiller des Anton neben andern eingefuhrt. 
Wie viel auf diese Behauptung direkter mundlicher tlberlieterung 
zu geben ist, hat bereits Reitzenstein S. 25 beleuchtet. Hocbstens 
kilnnte man annehmen, daB bereits in der Quelle des Verfassers 
Arsisios als Gewahrsmann der Amun-Ubeidieferung genannt war. 
Jedenfalls geborte das Amun-Kapitel zu der oder den scbriftlicben 
Vorlagen, die er benutzte. 

Uber Or c. U berichtet der Verfasser auBer einem allgemeinen 
Zeugnis der Melania iiber ihn, nur nocb einen Anssprucb, der 
iiber ihn verbreitet war. Dieses Logion steht fast wortlich 
in den Apophthegmata Patrum unter Or Nr. 2,®). SoUten die 
Apophtbegmata hier aus der Historia geschopft baben? Das ware 
moglicb. Aber es mufi betont werden, daB das Logion in letzterer 


1) ilan beachte die gleiLlimaliigen Satzanfange; •24 24 jacTaL os too ciy/j; 
to’jTo'j, ‘25 3 5 opsi, 25 :> V) oo£' oi-/.ooi!v, 25 7 i-/ xoj'w to) opst, 25 13 so Tijj oost 

TOOTCI), 26 3 cV TOOTO) TU) OpEt 

2) Mit dieseiu Arsisios bat es eine besondere Bewandnis. Es wird von ihm 
liicr berichtet, dafi er auch den Paehom geselien liahe. — 2sun kennen wir 
einen Schuler und Nachtolger des Paehom den Abbas Horsisi. Dieser Horsisi 
findet sich auch unter deiu Namen Orsisios in den Apojjhthegmata Patrum 
mit zwei Parabeln, die wirklicii von jenem A. Horsisi stammen, nebeiibei utr 
einziuen Uberlieferung — weuig.stens in der altesten Grundlage der Apophtbeg- 
mateii — die dein P ac ho m- ivreise angehbrt. Sollte nicht zwischen Arsisios 
und Orsisi(os) eine Beziehung besieheii und dann eiiie tabennisische mit einer ske- 
tischen Autoritat verwechselt seio? Soweit ich sehe begegnot ein Arsisios uiis 
auBerhalb der Histor. Laus. nirgends als sketische Autoritat (vgl. aber c. 47. 134 12 ). 
Die Annabme wurde allerdings ein noth schlecUteres Licht auf die npersonlichen-^ 
Erinneruugen unseres Verfassers verfen. 

3) Migne Fatr. Gn. 65 p. 437, Hier ware p. 29 13 Ttva wohl mit T.s. zu 
streicheu (Reitzenstein). Apophth. : a-,8pu)T:ov. 



1S2 


Wilhelm Bousset, 


eingefuhrt wird mit den Worten: xal tooto sksyov sv toic S'.rjYTj- 
jiaatv 29 12 . Kannte der Verlasser doch vielleicht eine Sammlung 
von onfjYT^fiaia der Vater der Sketis, die dann in das grofie Sammel- 
becken der spateren Apophtkegmata aufgenommen warden? 

Das Kapitel iiber Pambo (10) tragt ansgesprochenen Apophtheg- 
mencharakter in sich. Das groBte der einzelnen Stiicke, ans denen 
es sich zusammensetzt, will der Vertasser von der alteren Melania 
gehort baben. Auf diese Melania-Erinnerungen miissen wir noch 
einmal im Zusammenhang (vgl. c. 9 und tibrigens bereits c. 5; 
weiteres unten) zuriickkommen. Vorlaufig notieren wir, daB zn 
der Erzahlung bier eine merkwiirdige Dublette in c. 58 — und 
bier als ein Bericbt der jiingeren Melania vorkommt. — Wicbtig 
aber ist fiir die Cbarakterisiernng unseres Verfassers, daB Pambo 
von ibm in erster Linie als Lebrer des Biscbofs Dioskur, der 
Briider Ammonios, Eusebios, Entbymios und ferner eines Origenes 
eingefiihrt wird 29i5f. Die an erster Stelle Genannten sind die 
aus dem Streit mit Theophilos bekannten vier langen Briider. 
Hier baben wir also wieder den Kreis, der durcb die Namen 
Euagrios, Cbrysostomos, Eufin, Isidor (s. u.) umschrieben wird. 
Wir diirfen wobl annebmen, daB gerade diese Notiz von dem Ver- 
fasser der Historia selbst stammt. 

Am ScbluB dieses Abschnittes stehen zwei Logien. Von ihnen 
findet sicb das eine, das Sterbewort Pambos 31 lo — n, wortlich 
in den Apopbtbegmata Patrum Pambo S, das zweite 31 is— 328, 
mit bedeutender Abweicbung Pambo 9’-). Man konnte wiederum 
sebr geneigt sein, anzunebmen, daB die Apopbtbegmata aus der Hi- 
storia gescbopft baben. Aber einmal scbeint mir das zweite Logion 
in den Apopbtbegmata besser iiberliefert zu sein. Denn wahrend 
bier erzahlt wird, daB Pambo sicb gescbeut babe, einen >, 070 ? 

Yj ;:v£ 0 |i.aTt 5 td? zu sprecben, beiBt es in der Historia nach iiber- 
einstimmendem Zeugnis der Handscbriften Xbjog ypx'Sfub^ ■/) wpa^- 
liazfKo? (!). Aucb scbeint mir durcb die Zusatze in der Historia 
(XsYWV [fi] y.aTsiXrj'-pivai. oorco [isvto: ra? azorpiasi^ cubzoo eSs/ovro . . . 
w? diro ^£ou), der urspriinglicbe Sinn der Uberlieferung gestort 
zu sein. Denn nach diesen war davon die Rede : daB Paulus 
iiberbaupt vor pneumatischer Ausdeutung der Scbrift Scheu hatte ^), 


1) Vielleicht identisch mit dem Origenes in Rufins Hist. Monacb. c. 26, der 
hier allerdings als ein Schuler des Anton erscheint. 

2) Migne, 65, p. 369 f. 

3) Dazu liegen in den Apophthegmata Analogien vor, vgl. Ammon 2, Migne 
65, 123; Zenon 4, Migne 176; Poimen 8, Migne 321. 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 183 

wahrend es nunmehr so erscheint, als hatte er mit dem Reden nur 
gezogert, weil er die Sache nocli nicht verstanden ^). 

Ziim Beweise fur die Prioritat der Apophthegmata reichen die 
Beobachtungen freilicb nicht hin. Fiir die Prioritat der Historia 
konnte man andererseits anfiihren, da6 die Apophth. keine Ge- 
wahrsmanner dieser IJberliefernng angeben, wahrend erstere beide 
Male Origenes und Ammonios nennt. In der sekundaren Uber- 
lieferung verschwinden derartige Mittelsmanner sehr oft. Aber 
konnte nicht auch hier wieder das Bestreben des Verfassers der 
Historia vorliegen, seine Freunde in Verbindung mit Pambo er- 
scheinen zu lassen? Bei dem ersten Logion fiigt er neben ihnen 
noch Xotiroi aSeX'poi an und die Apophth. haben tot? zapsaxwaiv aotip 
'xyioi.c avSpaaiv. Hier scheint doch manches fiir die Annahme der 
Interpolation auf Seiten von Hist, zu sprechen. 

Aber selbst gesetzt, dab unsere Apophthegmata von der Hi- 
storia zum Teile abhiingig waren, so wiirde immerhin die Wahr- 
scheinlichkeit bleiben, dab der Verfasser der Historia hier seiner- 
seits SLTjY'/ijiaia rdiv Tratspwv bereits schriftlich vorgefnnden hiitte. 
Dieser tlber liefer ung wind dann auch die Pambo - Pior- Anekdote 
zum Schlub des Kapitels entstammen, 329 — 1 .'>. 

Nach dem Gesagten werden wir erwarten. dab nun in dem 
folgenden Kapitel , Ammonios"' der Verfasser besonders deutlich 
sich selbst zu Wort melden wird, und unsere Erwartung tanscht 
uns nicht, Wir begegnen zunachst einer Anekdote, wie sich Am- 
monios einst dem Bischofsamt durch Selbstverstiimmelung (Ab- 
schneiden eines Ohres) entzogen habe. Eine derartige Erzahlung, 
wie deren ahnliche vielsam im Umlaufe waren, wird in der Qunlle 
des Verfassers gestanden haben; sie gibt ihm Veranlassung zu 
einem Lobpreis des Ammonios 33 is — 34i2-). Und in dieser all- 
gemeinen Charakterisierung zeigt sich — es wurde schon oben 
darauf hingewiesen — dessen eigenster Stil ganz deutlich. Er 
fciert hier die grobe Gelehrsamkeit unseres Helden, seine Ver- 
trautheit mit den Werken des Origenes usw., ganz so wie er 
spater die iiltere Melania schildert. Und dann folgt 34 lo zum 
Schlub der Satz ^), der uns jedes Zweifels iiberhebt : tobtcp od? 

1) Freilich ist schon in der Apophth. durch das ..cuStu;*' ooz i-ixpivax!) dieses 
Verstandnis halbwegs eingefuhrt. 

2) Auch die Notiz uber Tod und Bestattung seines Helden 34 13 — is, die 
uns nur im B-Te.vt der Historia erhalten ist, mag der Verfasser selbst — viel- 
leicht nachtraglich — hinzugefiigt haben. 

3) Die Gruppe PTW laBt den Satz fort, wohl aus dogmatischen Grunden. 
(Butler). 




184 


Wilhelni Bousset, 


iSiSo'j 6 |iaxdp'G? EodtYptoc avijp :tV£op,aTO'p6po? xal 8 1 axp tn x 6 c ^), 
XsYOJV on oh^ezciit aoto’j aTra'&saTspoy ®) swpaxa dv&p(t):rov. Eeitzenstein 
hat bereits hervorgehoben, dafi bier und nur hier im ersten Ab- 
schnitt Kvsij|j.a im technischen Sinn in dem Ansdruck ;:v£D[j.aTO'pdpo? 
vorkommt. 

Im 12. Kapitel berichtet der Verfasser von der Krankheit 
eines Monches Benjamin. Zunachst hebt der Bericht ganz objektiv 
an bis zu dem Satz 35 s: :rpo oxtw ji.y]vwv tod ^ayatoo auToo oSpto- 
Ttiaas, xai sr:l ToaoDToy wYXwdY] auTOO to awpa w? aXkoy ’Iwp 'vavjza&a.i. 
jSTun folgt die personliche Reminiszenz. Der Bischof Dioskoros (!) 
damals no ch Presbyter babe denEuagrios und ibn aufgefordert, 
den Kranken zu besuchen. Sie haben ibn in seinem fnrcbtbaren 
Leiden geseben und ein erbaulicbes Logion von ibm gebort. Nun 
wire! 364 der fallen gelassene Faden genau an derselben Stelle wieder 
aufgenommen, too? ooy oxto) ji-^yac Siypo? aoTip exsito xXaT'jTatoc 
und die Erzahlung fast bis zum SebluB gefubrt. Dann folgt ein 
reflektierendes Wort, wesbalb gerade diese Erzablung in das Werk 
aufgenommen sei 36- — s. Aber nun erst wird nachtraglicb der 
Tod des Dulders erzahlt: TeXsonjoavto? 81 mxob al (plicni t^? d'Opac 
szijpd'Yjoay . . . ToaouTO? f;y 6 87x0?. 

Ich meine wir greifen bier wieder die Tecbnik de.s Kompilators, 
die iibrigens zum SebluB herzlicb ungesebiekt ist. mit Handen. 

Die folgenden Kapitel, 13 — 16, sind vollig in objektivem Stil 
gebalten, der Verfasser gibt bier eine Reihe von Erzablungen 
einfacb weiter; einmaP) am SebluB von Kap. 15 gibt er eine re- 
flektierende Bemerkung iiber die eben erzahiten Gresebiebten, die 
MiBverstandnissen vorbeugen will ^), und die Einleitung zu Na- 

1) oiaxpitixoi teiBt auch Steplianos 77 i4, als Gewahrsmanner liier 77 is 

T.ed -VI Sytev ’Aij.,au)viov xal ILayptov ! (vgl. bier auch die Wendung 77 14 =•; axoov 
YEvopr-o? s. 0 . lOOl). Ferner 120i4 tvorher si; axpr^v tov va-iv) (Eiuigrios) : 

-/'iv.sya yvmSEiu; xal. ... otaxpljeu); ; 43 i« (allgemeine Cliarakterisierung des ^ia- 
Irarios): TCCai-rr,; TjCauilTj o'.OLxpi'jzmi. 

2) dxddcca 12 .s (Frooemium) ; 116 4 Sehlulibemerkung zu Serapion (allerdings 
auch 115 IS drai}*;); 117 2 (Euagrios): i ao-idiTaTo; xal dnadisTaTo;; 129 i:i (0.41^ 
eXe'j tltpW(i£vT£5 . . . ..XjT,? dp.ap.ia,. 1.5 .d 13 ei; touoOtov oe aTiallEla; 7 ^/. aGsv 7j ypaOi 
(in einer spezifiscli personlidieii Bemerkiingp — Allerdings auch 28 4 (Ammon) 
E!? axa'Sciav I >.r, X a x ox u) v. Cher llos (Elpidios) exI -rjmjTO'i oi fiXoioz'i dna- 
hEia;, s. u. Vgl, noch 8622 Ets x. o-aV.idv pou oox dva^aivEi xa'Ho;. 139 19 f. (c. 47') 
al xili'/ Epxa&cov W/ai ; 16 22 rpo; Sapaypov xtov raHibv (c. 2). Zu dem oben hervor- 

ehobenen Gebrauch von eaxuveiv vgl. noch c. 11 (Ammonios) 32 17 ei; axpov ■sOo- 
£!a; EXa'javxE;, ebenso 157 21 ; ahiilich 160 13. 

3) Auch will er das vorhergehende Logion, das ubrigens schon einen ahnliehen 
reliektierenden Charakter zeigt, von Makar dem „Jungeren“ selbst gebort haben 3921. 

4) Zu dem Ausdrucb hier xEptixaxixal dpExal 40 9. 11 , vgl. in der SebluB- 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 185 

thanael 40 12 — is wird von ikm stammen oder doch uberarbeitet 
sein. 

Und nun kommt der Verfasser zu den Erzablungen von den 
beiden beruhmten Makaren (17—18). Er kann es sich bier nicbt 
verheblen: das Material, das er fur beide hat, ist zum Teil recht 
fragwurdiger Art. So schickt er in den einleitenden Bemerkungen 
eine gewisse Entschuldigung voranf. Er selbst tragt Bedenken, 
all das Merkwiirdige, das er von ihnen erfahren, mitznteilen, aber 
er versichert doch dem Leser, dad er nicht liigen will und deshalb 
solle roan ihm auch glauben. Nun gibt er von dem alteren Ma- 
karios eine allgemeine Charakteristik ’), und dann folgt er wohl 
im Granzen seiner QueUe, denn er betont ja selbst zum Schlnd, 
dad er diesen Makarios nicht mehr gekannt habe. Einmal wenig- 
stens unterdriickt er einen gar zu merkwiirdigen Bericht der Quelle 
(dem Rezept seiner Einleitung getreu). Er las in ihr sicher schon 
die allerdings mehr als merkwiirdige Erzahlung wie Makar einmal 
einen Toten im Grabe reden lied, um einen ketzerischen Hierakiten 
zu widerlegen^). Hier regt sich sein schriftstellerisches Gewissen: 
„Es ging das Gerucht um, dad er einen Toten erweckt habe, nm 
einen Ketzer, der die Auferstehung der Leiber nicht bekannte zu 
widerlegen. Und dieses Geriicht nahm iiberhand in der Wiiste** ®). 

Aber den andern Makarios hat er gekannt und hier will er 
neben dem, was er von andern erfahren, auch das berichten, was 
er selber mit angesehen hat. Was sollen wir freilich von einem 
Augenzeugen halten*), der (allerdings neben einem niedlichen von 
ihm angeblich belauschten *) Selbstgesprach des Makarios 56 11 — 
573 , das leidlich echt aussieht) zu berichten weid, wie Makar auf 
seine Bitte einen krebskranken Priester geheilt, der so zerfressen 


bemerkung zu 12 p. 36 s otov ti TtEptaxaTf/ov dvdo'iai oixat'oij und r. 47 (!) 

p. 138 6 x:spia-axix4 /.cii ^xzxouTi'/.a. Prooemium 14 3 TieptSTauEi;. 

1) 43 13 — 441; uber xootjty); 0 tx x piae (o 4 s. o. 107 1. 

2) Rufins Hist. Mon. 28 hat uns, weniger wableriscb, die Legende erhalten, 
ahnlicbe Legenden librigens auch in den Apophthegmata Makar 7, Milesios 1 ii. 5. 

3) Aber gegen das Marchen von der in eine State verwaudelten Frau, das 
uns auf den ersten Blattern von 1001-Nacht wieder begegnet, bat er kein Be- 
denken gehabt. 

4) Vgl. schon die hier durchaus zutreffende Kritik Weingartens, Ztschr. f. 
Kirchengesch , I S. 26. 

5) Der Satz mit dem er sein Lauschen begriindet : -.opiaa; aurov birep avitom- 
zov, lbs apyaiov, dxpoib(ji£vo; xt Xeyet — ist in hoherem Sinn wenigstens echt 
historisch. Die heiligen pneuraatischen Manner gelten als Orakeltrager, ihre X^yot 
als heilige Orakel. (Zu dem allerdings unverstandlichen liis ate apyalov schlagt 
Reitzenstein zweifelud [briehich] die Vermutung vor ; ib; ovra dxepatov vgl. p. 75 9). 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hi«t. Klasse. 1917. Heft 2. 13 



186 


Wilhelm Bousset, 


gewesen, daB man am Scheitel den Knochen gesehen habe (freilich 
erst nachdem dieser versprochen, als Unwurdiger dem Priesteramt 
zu entsagen) (Bdaff.) — der betont, wie er selbst gesehen, dafi Mahar 
iiber einem damonischen Kranken gebetet, bis dieser in der Luft 
schwebte, 54 sa ff. — der sicb von Paphnnt dem Schiiler des Ma- 
har personlich erzahlen laBt (57 12 ), wie der Heilige das erblindete 
Junge einer Hyane geheilt habe^), nnd von der heiligen Melania 
gebort haben will-), daB sie das Schaffell als Geschenk besitze, 
das die dankbare Hyane dem Heiligen gebracbt habe. Ein der- 
artiger „Augenzenge‘‘ ist wirklich nicht ernst zu nehmen. Er strent 
wabllos seine Bemerkungen, daB er dies und das gesehen habe, in 
einen iibernommenen Bericht ein. 

Besseres oder wenigstens interessantes Material liegt gerade 
in den Stiicken der tJberlieferung vor, bei denen der Verfasser 
seine Augenzeugenschaft nicht betont. Sie zeigen alle denselben 
Typos. Makarios erscheint in ihnen als der groBe Asket, der alle 
moglichen Arten von Askese und asketiscben Anforderungen ehrlich 
durch das Experiment an sich selbst erprobt. So werden diese 
Erzahlangen zugleich zu einer leisen PolemikI gegen verstiegene 
asketische Ansspriiche. Dahin gehort die Erzahlung, wie Makarios 
den Schlaf ganzlich zu iiberwinden sucht, aber schlieBlich den An- 
spriichen der Natur nachgeben muB, wie er einmal versucht im 
Zastand der visionaren Entziickung andauernd zu verharren, aber 
schlieBlich vom Himmel wieder herabsteigen muB®). Polemische 
Tendenz und z war gegen das Wander-Monchstum ist auch deutlich 
zu spuren in der niedlichen Anekdote, wie Makar sich auf den 
Boden setzend den Teufeln widersteht, die ihn ans der Zelle 
locken wollen „Zieht, Damonen, zieht“. Deutliche Tendenz gegen 


1) Ein echtes Wandermotiv. Sulpicius Severus, Dialog I 15 berichtet die. 
Geschichte von einem anonymen Anachoreten und einer Luwin. Kufinns H. 
Eccl, II 4 von einem der Makare und von einer Edwin. In den sogenannten 
koptisch erhaltenen „Vertues de St. Macaire“ und der koptiscben Vita (Amelineau, 
Annales du Musee Guimet XVII 134.235) wird das Hyanenwunder vom alteren 
Makar berichtet. In der Dberlieferung uber die beiden Makare herrscht iiber- 
haupt ein heilloser Wirrwarr. 

2) Es wird freilich nicht ganz klar, ob Melania das dem Paphnnt oder dem 
Verfasser erzahlt haben soil. Doch ist das erstere das Wahrscheinlichere. Es 
standen dann hier zwei verschiedene typische Formen, in denen der Verfasser das 
uberkommene Material weitergibt neben einander (Reitzenstein). 

3) Vgl. zu den beiden Erzahlungen Reitzenstein 152 f. Er wird darin Recbt 

haben, daB hier eine Tendenz vorliegt, die mit den Geschichten in c. 1 u. 4 und 
uberhaupt mit der iiberschwanglichen Stimmung im Euagrios-Kreis in einem ge- 
wissen Widerspruch steht. ° 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


187 


die Pachomioskloster spricht vornehmlich in den beiden Erzahlun- 
gen, in denen der Heilige sich zunachst in der Art der Askese 
von Tabenna iibt, dann incognito in das Kloster des Pachom 
wandert und die Monche dort iibertrumpft , bis Pachom anf 
Grrund einer Offenbarung ihn erkennt und bewundernd begriifit. — 
Irgend ein geschichtlicher Keim mag in diesen Erzahlungen stecben. 
Es ist beachtenswert, dab in den Apophthegmata, diesem Werk 
aus dem Kreise der sketischen Monche, Pachom nur ein einziges 
Mai genannt wird und gerade in einem Logion des Maka- 
rios Politikos (Migne 65. 304). Makarios der Stadter in den 
Apophthegmata ist aber gleich unserem Makarios dem Alexandriner. 
Zu den anerkannten GrdBen des sketischen Kreises scheint dieser 
nicht gehort zu haben. Die Apophthegmata bringen von ihm nur 
drci Logien und eine Erzahlung von ihm und dem alteren Maka- 
rios (unter dessen Namen Xr. 21 und Migne 269), bei der ersterer 
schlecht abschneidet und wegen seiner nnbarmherzigen Strenge 
dem Bann verfallt. 

Aber wie es mit der historischen Trcue im engeren Sinn ver- 
halten mag, jedenfalls lassen uns diese Erzahlungen in Stimmungen, 
Stromungen, Tendenzen des sketischen Monchstum sehr schon 
bincinschauen. 

Das Kapitel iiber Jloses den Rauber (19) enthalt auBer einer 
kurzen Einleitung, wohl aus der Feder des Verfassers, echten und 
guten Apophthegmatenstoff in rhetorischem Aufputz. Zu bemerken 
ist, daS die Unterredung zwischen Moses und Isidor Apohthegmata 
Moses 1, aller dings stark umgebildet, wiederkehrt. Die beiden 
folgenden langen Antonios - Anekdoten 21. 22 (Eulogios und der 
Kriippel. Paulus der Einfaltige) will der Verfasser von Kronios 
resp. Kronios und Hierax gehort haben. Da6 in diesen langen Er- 
zahlungen keine direkt mundliche Uberlieferung vorliegt, diirfte 
an sich klar sein. Zum Uberflufi finden wir am SchluB von c. 21 
ein aus der Vita des Anton rein literarisch entlehntes Stiick 
(694 ff.). 

Wieder etwas starker tritt der Verfasser Kap. 23 (Pachon) in 
den Vordergrund. Er berichtet ausfuhrlich ein eigenes Erlebnis. 
wie er in die groBe Wiiste ging und dem Pachon seine Begierc! ^ 
nach dem Weibe klagte, auch wird gleich im Anfang der Xame 
des Euagrios genannt (75 3 ). Im Grunde aber ist diese ganze erste 
Erzahlung doch wie es scheint nur die literarische Einleitung^) 
zu der eigenen Geschichte des Pachon, die etwa mit 75 n beginnt. 

1) Der tibergang erfolgt mitten in der Eede des Pachon. Man beachte die 

13* 



188 


Wilhelm Bousset, 


Damit ist der erste Abschnitt beendigt. Angebangt ist diesem 
in c. 24—28 eine Art chroniqne scandaleuse, eine Sammlung von 
leidvollen and schlimmen Monchsgeschicbten, die fiir unsere Kenntnis 
gewisser haretischer Tendenzen und Stimmungen itn altesten Monch- 
tum hochst wertvoll sind. Die Uberleitnng (c. 24) bildet ein Be- 
richt, der von der bosen Krankheit eines Stephanos handelt und 
von seiner in ihr bewiesenen Geduld. Dann folgen Erzablungen 
von gefallenen Monchen. Hier liegt nun ein sehr bemerkenswerter 
Tatbestand vor. Unser Verfasser greift namlich in dem schon oft 
genannten c. 47 anf diese Berichte wieder zuriick 137 le. Damals ge- 
schah anch das mit Stephanos, der sich schimpflicher Ansschweifnng 
ergab, und das mit Eukarpios und dem Alexandriner Heron (c. 26 ) 
und dem Palastinenser Vales (c. 25) und das mit Ptolemaios dem 
Agypter in der Sketis (c. 27). Unsere Aufmerksamkeit erregen bier 
namentlich die beiden ersten Nummern. Denn das, was bier von 
Stephanos angedeutet wind, steht im diametralen Gegensatz mit 
dem von Stephanos in e. 24 Bericbteten und von Eukarpios war 
vorher gar nicht die Bede. Schon jetzt drangt sich die Ver- 
mutung auf, dab eine von unserem Verfasser benutzte Quelle mehr 
Erzablungen von gefallenen Monchen hot als jener aufgenommen, 
und dab er dann in c. 47 auf die Sammlung zuruckgreifend sie 
vollstandiger im Exzerpt wiedergibt und dabei vergibt, dab er ja 
einige dieser Erzablungen unterdriickt hat. 

Und es gewinnt sogar den Anschein, als erhielten diese Ver- 
mutung eine iiberraschende aubere Bestatigung. 

Denn wir finden tatsachlich die hier vermibten Erzablungen 
in jener kleinen Sammlung wieder, welcbe der Syrer Anan-Jesu uns 
in seinem Paradies als zweiten Teil des Palladios (Ausgabe von 
Bedjan, Acta martyrum et sanctorum VII p. 193 if.) in syriscber 
Ubersetzung aufbewahrt hat. Dieser „zweite TeiU der Historia 
Lausiaca bringt neben Apophthegmata-Uberlieferung gleicbsam als 
Nachtrag eine Reibe von Stiicken, die sich in der voraufstehenden 
syriscben Uberlieferung der Hist. Laus. nicht finden. Hier finden 
wir p. 292 fiF. und 296 If. tatsachlich die beiden Gescbicbten von 
Stephanos uud Eukarpios! Butler der in seiner Lausiac History 
I p. 79 If. bereits auf diesen Tatbestand bingewiesen, wirft dort 
p. 83 die Frage auf, ob uns bier vielleicht ein verloren gegangenes 
Stiick der Lausiaca erbalten sein konnte. Aber wie sollte sich 


gelehrte jtusfuhrung uber die Herknnft der Siinde 75 i3 — 16 , die mit den folgenden 
grotesken Erlelmissen gar nichts zu tun hat imd aus einer ganz andern Welt ' 
stammt. 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


189 


dies allein in einer ganz sekundaren syrischen Uberlieferung er- 
halten haben und in der ganzen iibrigen weitverzweigten TJber- 
lieferung verschwunden sein? So nimmt Butler im zweiten Teil 
seines Werkes (Anm. 90 zu c. 47) an, dafi vielleicht die im Syri- 
schen erhaltenen Geschichten auf Grund der Andeutungen in Hist. 
Laus. 47 frei erfunden sein. 

Dock auch diese Auskunft unterliegt schweren Bedenken. 
Den syrischen Kompilator jener Sammlung wird man fiir die 
angenommene freie Erfindung jedenfalls nicht verantwortlich 
machen konnen. Denn es lafit sich nachweisen, daB fast alle in 
jener Sammlung stehenden Geschichten sich irgendwo in grie- 
chischer und lateinischer Uberlieferung wiederfinden. Vor allem 
aber ist es kaum denkbar, daB diese hochst lebendigen Geschichten 
(s. die Ubersetzung im Anhang) mit ihren vielen hochst inter- 
essanten Einzelziigen, auf Grund der einen Zeile in der Historia 
hatten erdichtet werden konnen. 

Immerhin konnte Butler einen Grund fiir seine Vermutung 
geltend machen. Das erste der beiden genannten Stticke, in 
welchem Euagrios eine HauptroUe spielt, ist von einem Enagrios- 
Schiiler iiberliefert, der hier und da, genau so wie der Verfasser 
der Historia im Ich-Stil redet. Damit zeigt er in der literarischen 
Aufmachung eine so starke Verwandtschaft mit den betreffenden 
Partien der Hist. Laus., daB dock wieder die Annahme einer ur- 
sprunglichen Zugehorigkeit zu dieser oder einer Erdichtung auf 
Grund ihrer Angaben nahegelegt zu sein scheint. Ich komme im 
Anhang unter Vorlegung einer Ubersetzung auf diese Schwierigkeit 
zuriick, betone aber, daB wie sich nun auch unser Urteil iiber die 
syrischen Stucke gestalten mag, der SchluB, den wir oben schon 
allein auf Grund der eigentumlichen Ruckverweisung in c. 47 ge- 
wannen, in sich feststeht. 

So gehe ich zunachst dazu iiber, auch fiir diese Kapitel die 
Frage zu erheben, ob in ihnen eigene Zutaten des Verfassers zur 
Quelle nock mehr oder minder deutlich zu erkennen sind. Merk- 
wiirdig ist es zunacht, daB c. 24 im Gegensatz zu den Andeutungen 
iiber Stephanos in c. 47 eine hochst erbauliche Geschichte von 
einem frommen Dulder desselben Namens bezeugte. Sollte der 
Verfasser vielleicht hier jene Skandalgeschichte unterdriickt und 
dafiir eine andere unter demselben Hamen eingestellt haben ? *). 
In c. 25 drangt sich das subjektive Element nirgends vor, nur 


1) Der Verfasser will sie von seinen Freunden Ammonios und Euagrios 
erhalten haben. Vgl. auch die tVendungen ; eis axpov yevopiEvot — otaxpiTixo;. 



190 


Wilhelm Bousset 


einmal ist von Maharios „tmserem“ Presbyter (79 is)*) die Pede. 
Cbarakteristisch ist wieder c. 26 (Heron). Im allgemeinen ist die 
Bericbterstattnng ganz objektiv, aber der Verfasser der Lausiaca 
lafit es sich nicbt nehmen 81 is ff. eine personliche Erinnernng in 
den Zusammenhang einzuflechten. Er hat mit seinem Mitschuler 
Albanios (s. o.) den Heiligen in seinen guten Zeiten selbst ge- 
sehen und schildert dessen exemplarische Heiligkeit. Wiederum 
kann man diesen Ichbericht rahig herausnehmen (81 is — 82 13) nnd 
sehen, wie sich das Ubrige besser als vorher zusammenschliebt. 
Der Bericht c. 27 zeigt wiederum gar keine snbjektiven Elemente. 
Zum SchluB aber hat dann der Sammler dieser sketischen Ge- 
schichten von gefallenen Monchen in c. 28 eine kurze Erzahlung 
von einer in Jerusalem gefallenen Jungfrau angehangt, die sicher- 
lich in seiner sketischen Quelle nicht gestanden hat^). 

Wir sind damit am Ende eines groBeren Abschnittes c. 7 — 23, 
zu dem c. 24 — 29 als Anhang hinzugerechnet werden mag. Dieses 
Stuck stellt sich als ein geschlossener Zusammenhang dar, als eine 
Beschreibung des sketischen Monchstums. Es ist charakteri- 
stisch, wie in dieser Quelle „Agypten“ geradezu als Ausland gilt 
(vgl. 30 IS. 83 s). Die Sketis ist nicht Agypten, ist eine Welt 
fiir sich. Das Monchstum (Anachoretentum) hier hat ein ganz be- 
stimmtes Geprage, dessen charakteristische, sich von seiner TJm- 
gebung abhebende Haltung ich noch einmal im Zusammenhang zu 
behandeln gedenke. Fiir diesen Kreis der sketischen Monche 
standen dem Verfasser Quellen, vielleicht nur eine Quelle, die 
am SchluB auf Grund auBerer Zeugnisse ganz deutlich heraus- 
tritt, zur Verfiigung. Er hat diese mit einem FirniB personlicher 
Erinnernng von oft sehr fragwiirdiger Natur anfpoliert und so 
mit biUigen Mitteln eine interessante Reisenovelle geschalfen. 
Eine Uberlegung mag seine Abhangigkeit von alterem quellen- 
maBigem Zusammenhang noch deutlicher machen. Wieder und 
wieder stiefien wir auf die Beobachtung, daB der Verfasser sich 
als Schiiler des Euagrios und Anhanger seines Kreises fuhlt. 
Weshalb bringt er uns in diesem ganzen Abschnitt keinen ein- 


1 ) tfi'u’'' > Pf ini folgenden haheii PT andere Hndscbrn lassen es fort. 

Man sieht daraus, wie leicht ein derartiges sich auch spater noch ein- 

schleichen konnte. 

2) Beachte 84 1 den Terminus oin^poaivrj (s. 0 . 97 2 ); ferner axrjvi^ 84 1 , das (im 
Sinne von Betrug) nur hier und 112 1 c. 37 (Serapion) und im Dialog iib. d, Leben 
d. Chrysostomos c. 4. (Migne Job. Chrysost. I p. 18) vorkommt, vgl. Reitzen- 
stein 1641. 





Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


191 


gehenden Bericht iiber Euagrios und seine aovoSia? Er hat sich 
in den sogenannten „ZeUen“ bei Euagrios aufgehalten; weshalb 
erzahlt er davon nicht an dem Punkt, wo seine Reise ihn dorthin 
fiihrt (c. 18 Anfang)? Weshalb bring! er erst — deutlieh als 
einen Anhang — in c. 38 — einen Abschnitt iiber seinen Lehrer, 
den beriihmten Heros der Sketis? Die Antwort kann nur sein : 
deshalb weil seine Quelle an dem Kamen des Euagrios mit Still- 
schweigen voriiberging und er dieser Quelle so mechanisch folgt, 
dafi er von sich aus keine neuen groheren Abschnitte hinzufiigt. 
So mufite er sich damit begniigen, die Erinnerungen an seinen 
Meister und dessen Kreis zunachst zerstreut hie und da unterzu- 
bringen. 

Der folgende in sich zusammenhangende Abschnitt der Hi- 
storia beschreibt das Leben der Monche in der Thebais. in deren 
Mittelpunkt die Schilderung des Pachom - Ordens (c. 32) steht. 
Ich greife das letztere Kapitel heraus, um wiederum die Technik 
der literarischen Arheitsweise unseres Autors deutlieh zu machen. 
Zunachst haben wir auch hier eine vollig objektive Bericht- 
erstattung auf Grrund von Quellen, die uns die Organisation der 
Pachomioskloster aus einer Zeit lange nach dem Leben und 
Wirken des Pachomios wiederspiegeln. Zum SchluB beginnen dann 
die Einarbeitungen. Es heifit OSsff. : latt 6s zb jtptoTOv xat {tsya 
[tovaatyip'.ov, Ivd'a aoti? 6 na)((!)[nO(; ^xst t 6 xai ta SXXa otTroxo'^oav 
[AOvaoTTipia, lyov av6pa? tptaxoaCoo? [Iv otc xal 6 xaXoc “Aip^6- 

vio^ 6 tptXo? [100 7 svd}Asvo? Yvniato?, to vov 6sutspsua)V Iv [xovaatYjpttj), 
ov w? aaxav5aXtatov axoatsXXouaiv sv ’AXs4av6pslct sTtl to 6ia7ra)X^aai 
psv autibv ta Ip^a, aovwvvjaaad-at 8s ta? ^paiac]. soti 6s aXXa p,ova- 
atTjpia dxo 8iaxoai(ov xal tpiaxoalcov [sv otc xal sig Havoc fijv toXiv 
stosXdwv sopov av6pac tptaxoalooc]. Man sieht auch hier wieder wie 
schon sich der Zusammenhang zusammenschlieBt, wenn wir zunachst 
einmal den oben eingeklammerten Satz mit den personlichen Er- 
innerungen streichen. Wie ungefuge und undeutlich schlieBt 


1) Es wird sich nachweisen lassen, daB die Grundlage der „Apophtheg- 
inata Patium“ an Euagrios ehenfalls so gut wie ganz voruberging. Die grie- 
chische Uberlieferung hat zwar eine Anzahl von Logien des E. Aher diese 
stammen alle (mit einer Ausnahme) aus dessen Werken und werden nachtragiich 
eingetiigt sein. Die lateinische Uberlieferung bringt noch mehr Interpolationen 
aus den Euagrios-Schriften. Die groBe syrische Sammlung des Anan-Jesu nennt 
seinen Xamen nur zweimal, darunter einmal infolge Verwechselung mit Eu- 
prepios. 

2) Es scheint als wenn unser Verfasser den Aphthonios gelegentlich bei 
dessen Reisen nach Alexandrien kennen gelernt hat. 



192 Wilhelm Bousset, 

sich endlich der letzte Satz mit dem Verbnm in der ersten Person 
an: es gibt aber aucb andere Kloster mit zweihundert und drei- 
hundert [in welchen ich, wie ich nach Panopolis bam, dreihundert 
Manner fend]. Lagen denn alle iibrigen Kloster des Pachomios- 
Ordens etwa in Panopolis? Und wie kommt es, daB der Verfasser 
in diesen Klo stern 300 Insassen insgesamt fand, wabrend vorher 
von mehreren mit zwei- oder dreihnndert Insassen die Rede war ? 
Man sieht, welcbe Verwirrnng der Interpolator bier angerichtet 
hat. Unmittelbar an den oben ansgeschiedenen letzten Satz 
schlieBt sich dann der weitere Satz an : Iv [toyaatTjpttj) 

scapaxa pdictas SExaitsvts . , . xvaysi? SsxaTtsvts. Her Satz fehlt in 
unserer wertvollsten Grnppe PT und ist von Butler schon im 
Text eingeklammert. Es ist moglich, daB bier ein spaterer Inter- 
polator den Icbstil des Verfassers der Historia nachabmte. Dann 
beginnt von nenem die rnhige SchUderung spidCovta' Ss xaaav leyvjjv 
949 — 10 . Die darnach folgende Erwahnung der Schweinezucbt der 
Tabenisiten, der Tadel des Augenzeugen wegen dieser Sacbe, die 
Antwort der Pachom-Monche auf diesen Tadel (94 n — 95 5 ) feblen 
ebenfells in PT al. (von Butler eingeklammert). Man weiB also 
wiederum nicht, ob bier der Autor selbst oder ein spaterer Be- 
arbeiter interpoliert. Eine Bearbeitung liegt auf alle Falle vor. 

Das vorliegende Kapitel bietet also wieder ein klassisches 
Beispiel fiir das Verfebren des „Autors“ der Historia Lausiaca^). 
Urn dieses Kapitel gruppieren sicb nun die iibrigen, die von der 
Tbebais handeln. c. 33 fahrt im Bericht von 32 unmittelbar fort 
und bebandelt die Pachomischen Frauenkloster. 33 B und 34 
bringen zwei Geschicbten aus diesem MUieu, (iiber die Parenthese 
34 p. 99 18 s. o.). Voran steht diesem Ganzen der Bericbt iiber 
die Frauenkloster in Athribe^) und eine Wiuidererzahlung von der 
frommen Jungfrau Piamun wabrscheinlicb aus dieser Gegend, die 
bier (vgl. das oben Gesagte) als Agjpten bezeichnet wird. Hinter 
den Pacbomios - Berichten folgt c. 35 das spezifiscb personlicbe 
Kapitel iiber Johannes von Lykopolis (ebenfells Tbebais). So hat 


1) Reitzenstein verweist micli auch auf den abrupten Ubergang, mit dem 
884 (nach einer kurzen Einleitung) mit za^ECopevui obv aj-riu die Erzahlung von 
der Offenbarung der pachomianischen Klosterregel beginnt. Derartige abrupte 
Ubergange resp. Verkiirzungen des quellenmaBigen Materials sind fur die Arbeits- 
weise uriseres Verfassers ebenso charakteristisch wie das Anfnehmen des fallen 
gelassenen Faden mit demselben Wort. Die gesamte Klosterregel ist naturlich 
einfach tibernommenes Gut, eine Tradition, die freilich wie die Pachom-Forschung 
ergeben bat, spatere V^erhaltnisse des Ordens voraussetzt. 

2) Athribe liegt nbrdlich von Tabennisi. 



Komposition und Charakter der Historia Lansiaca. 


193 


nun unser Verfasser hierher auch den Poseidonios c. 36 gestellt 
als nrspriinglich thebaischen Monch , obwohl er ihn selbst in 
Bethlehem kennen gelernt haben will. In der Perm von Er- 
zahlnngen des Poseidonios gibt er zwei Geschichten (eine davon 
spielt in der agyptischen Porphyroswiiste, die andere in Bethlehem), 
die er vielleicht wieder irgend einer schriftlichen Uberlieferung 
verdankt. Der ScbluB des Kapitels mit seinem Ausfall gegen 
Hieronymus stammt nattirlich von ihm. 

Gut disponiert hat er dann. wenn er an dic-ser Stelle den 
sonderbaren Heiligen, den Wander- nnd Bettelmonch Serapion 
unterbringt, der ja eben als Wandermonch bisher nirgends einzu- 
stellen war. Er wird das ganze Kapitel in Bausch und Bogen 
einer Quelle entlehnt haben ^). Und nun endlich , wir wissen 
jetzt weshalb, bringt er als Nachtrag ein Kapitel tiber den von 
ihm so verehrten Enagrios. Viel wirklich Personliches wei6 er 
allerdings auch hier nicht zu berichten. Aber die interessante 
Vorgeschichte seines Helden hat er uns erhalten. War er so 
noch einmal zur Sketis zuriickgekehrt, so konnte er bier nur auch 
einen zweiten Nachtrag bringen. In c. 39 berichtet er ganz im 
objektiven Apophthegmenstil von einem Helden der Sketis, den er 
bisher (vgl. Pambo c. 10) nur im Vorbeigehen erwahnt hatte. 

Damit schliefit er zunachst den agyptischen Abschnitt im 
weiteren Sinn und wendet sich nunmehr den syrischen Mbnchen 
zu. Er beginnt mit Ephraim v. Edessa nnd widmet ihm das 
Kap. 40, liber dessen Komposition wir bereits oben gehandelt 
haben. Eine vbllige Entgleisung ist es dann treilich , wenn er 
c. 41 den Katalog heiliger Frauen bietet. Vielleicht stellt er das 
Kapitel hierher, weil die erste der erwahnten Frauen Paula nebst 
ihrer Tochter Eustochion in Bethlehem ihren Aufenthalt hatte. Wir 
haben schon oben bewiesen, dad der betreffende Abschnitt im 
wesentlichen wirklich sein Werb ist. Schon gleich im Anfang 
treffen wir auf die polemische Wendung gegen Hieronymus. Wir 
werden aber weiter unten noch einmal auf diesen Abschnitt zuruck- 
kommen milssen. 

Nun folgen weitere syrisch-palastinensische Mbnche: 42 Julian 
V. Edessa, 43 f. Adolios und Innocenz auf dem Olberg. Dann aber 
wird wieder die Disposition jah unterbrocben mit Philoromos von 
Galatien^). Wir haben hier, wie wir schon wegen dieser Durch- 


1) Vgl. das oben S. 107 2 liher den ScliluBsatz Gesagte; und zu der Taren- 
these 1142 (fjSo; za'i yvioat;) s. o. 99. 

2) Das wichtige Kapitel steht, vie schon einmal bemerkt. in der Uberlieferung 



194 


Wilhelm Bousset, 


brechtmg erwarten bonnen, ein dentlicli erkennbares Stiick ans des 
Verfassers eigner Hand. Darch die Wendnng: 13324 ou 
JTOTS ajroata? xaia vouv too ■ftsoo {loo stebt es in direkter Verbindung 
mit c. 58 152 lo (Moncbe von Antinoe), der Satz : §c jropetcf 

xal jx£XP’'» 'PwftY]? fjX^ev 133 19 stebt ancb im Vorwort 11 7 . Zn 
den cbarakteristiscben Termini 133 14 ay’ 00 IjioaTaYw^Ti^Tjv aal avs- 
7£vvij&7jv (auf die Moncbsweibe bezogen) vergleicbe man Reitzenstein 
S. 1644, und dazu gesellt sicb das terminologiscbe aTrstd^ato 132 20 . 
Has Kapitel gebort mit den ScbluBkapiteln 66 ff. dem galatischen 
Milieu an. Es ist eben docb sebr wabrscbeinlicb, dafi Palladios 
der Galater, spater Biscbof von Aspona in Galatien, die Historia 
gescbrieben bat. 

Scbwierig ist das Urteil fiber c. 46, die altere Melania. Es 
steb.t nicbt ungescbickt an dieser Stelle, denn die Melania wirkte, 
wie der ScbluB vermerkt, 27 Jabre in ihrem Kloster zu Jeru- 
salem. Es bebt sicb durch seine groBere Ausffibrlichkeit von 
den fibrigen syrischen Partien ab. zeigt aber durcbaus den ob- 
jektiven Stil eines Berichtes, der wesentlicb Dinge aus vergangener 
Zeit. aus dem Jahr 373 bebandelt. DaB der Bericbt von dem Ver- 
fasser der Historia fibernommen ist, wird an dessen ScbluB deut- 
licb. Wir wiesen namlicb bereits oben nacb, daB der bier sicb 
findende Bericbt fiber Rufin der Feder unseres Autors entstammt. 
Und bier treffen wir nun wieder auf seine uns bekannte Inter- 
polationstecbnik. Icb stelle den Znsammenbang bierber 135 is: 
aurq .... |iOvaatTipiov v.ttoatja iv 'IspoaoXotAOt? slxoaisjtTd stsatv 
ivs'/povioov sxst s'xooaa ouvoStav *) irap^Evtuv itsvTTjxovta. ■q aoveCrj xai 
6 sbyavsaxaxo? .... 'Pooyivo? 6 dxo ’ItaXiac .... 00 fvcaanxwTapoi; 
xal sxisiXEaxspo? £v dvSpdoiv ohy sopbxsTO. S=^!OU[j.avot obv djiyoTspot 
iv TOi? sixoaisitxd stsow too? TtapaTOf/dvovia? iv xoi? 'hpoaoXoixotc 
Buyfj^ svexsv. . . . 

DaB Rufin mit der Melania 27 Jabre in dem Kloster der 
ersteren zusammengewirkt baben soli, ist eine Vorsteilung, die 
sicb nicbt mit dem deckt, was wir sonst von seinem Leben wissen. 
Ancb die doppelte Wiederholung der 27 Jabre fallt auf und er- 
innert uns an die so ott scbon nachgewiesene Quellenbehandlung 


nichf sioLer. Es fehlt, wie auch c. 42, 49, 52 in der Gruppe PWT. Da wir 
weiiic'-tens in 45 deutlich die Feder unseres Verfassers erkennen konnen, so ist 
die Zi'gehdrigkeit dieses Stuckes zum urspninglichen Werke gesichert, die der 
iibrigen sehr wahrscheinlich. 

Ij Zu dem Ausdruck s 0 . S. 98 1 . Vielleiiht beginnt scbon bier die Feder 
des Verfassers spiirbar zu werden. 



Komposition nnd Charakter der Historia Lausiaca. 


195 


nnseres Verfassers. In der Quelle wird gestanden haben, dafi 
Melania in ihrem Kloster 27 Jahre weilte nnd sich der Fremden 
annahm ^). 

Diese Annahme, dafi in c. 46 eine greifbare Quelle aufgenommen 
nnd verarbeitet ist, wird sich uns im Lauf der Untersuchung noch 
einmal bewahren, wenn wir an die zweite Stelle kommen, in der 
das Leben dieser Melania in der Historia behandelt wird. Dort 
soil dann auch fiber die Beziebung unseres Verfassers zu ihr ge- 
urteilt werden. 

An mdglichst unpassendem Platz — hier mitten unter den 
syrischen Mbnchen als Hachtrag zum ersten Teil — steht das 
Kap. 47. Wir haben bereits erkannt, dafi es fast ganz aus der 
Hand unseres Verfassers stammt und eine wahre Fundgrube ffir 
die von ihm mit Vorliebe gebrauchten Termini ist-). Eine Aus- 
nahme macht die Einleitung, die Erzahlung fiber Chronics vom 
Dorfe Phoinike. Man nimmt an, dafi dieser Chronios identisch sei 
mit dem oben erwahnten Kronios (7. 21. 22). Auch er ist Schuler 
des Antonios 137 2 . Dann wiirde die verschiedene Schreibung des 
Namens auf verschiedene IJberlieferungen deuten. Weshalb der 
Verfasser dies Kapitel gerade an dieser Stelle bringt , vermag 
ich nicht zu sagen. Sicher wird er sich der Identitat des „Chro- 
nios“ mit ^Kronios" nicht bewufit geworden sein. 

Jetzt folgen syrische (palastinensische) Monche: 48 Elpidios 
mit Genossen, 49 Sisinnios, 50 Gaddanas, 51 Elias, 52 Sabas. 
Und auch Abraham e. 53 — wieder ein Beispiel eines gefaUenen 
Monches — wenn er auch AIyojctio? genannt und sein Aufenthalts- 
ort nicht angegeben wird — gehort doch wohl hierher. 

So tritt von 40 — 53 ein — oft allerdings unterbrochener — Zu- 
sammenhang deutlich heraus: eine Reihe syrisch - palastinensischer 
Monche. Schon dafi der Verfasser selbst mit Stficken, die nach- 
weisbar aus seiner Hand sind (c. 43. 45. 47). die schone Dispo- 
sition zu wiederholten Malen durchbrochen hat, macht wahrschein- 
lich, dafi er diese nicht selbst geschaffen, vielmehr uns verhfillt 


1) Auch der letzte Satz des Kapitels 130 8 — 11 iiber die Beilegung des 
Scldsmas des Paulinus (Paulinianus ? Butler, Anm. 88) stammt aus der Hand unseres 
Verfassers. Es ist der Schuler des Euagrios, der an der Bekampfung der pneu- 
matomachischen Ketzerei 136 9 sein Interesse bekundet. 

2) Schon Butler in seiner Note 89 (II 224) verweist auf auffallende Par- 
allelen dieses Kapitels mit Cassian , namentlich Coilatio HI 20 und ist geneigt, 
literarische Abhangigkeit von Cassian anzunehmen. Sicher wird man nur sagen 
kbnnen, da6 dieser Typus der Darstellung, der sich von dem Stil der Apophtheg- 
mata stark abhebt, seine beste Parallele an Cassian findet (Eeitzenstein). 



196 


Wilhelm Bousset, 


and undeutlich gemacht hat. Fur ihn charakteristische Wen- 
dungen finden sich in dem ganzen Abschnitt. wenn wir von den 
ausgeschiedenen Stellen absehen, so gut wie gar nicbt. 

Der Stil der gesammelten Greschichten hebt sich von denen 
des ersten Teiles merklich ab. Er ist bedeutend kiirzer und 
knapper. Meistens wird nur eine knappe Charakteristik des be- 
treffenden Monches gegeben. Einzelne Geschichten werden selten 
iiberliefert. Gas subjektive Element, der Ichstil in diesen Er- 
zahlungen, bleibt auf wenige immer wiederholte, meist einleitende 
Wendungen beschrankt; 42 ay.rpf.oa., 43 syvtov ttva Ttdktv. 50 s^vtov 
'/spovcot, vgl. 51 e 7 :X 7 ]poffidp 7 ]asv '/jp.dc. Mit dem heiligen Innocenz (44) 
will der Autor freilich drei Jahre verkehrt haben, und er betont 
hier nachdriicklich die Wahrhaftigkeit seines Berichtes p. 131 14 . 

Einmal aber verrat er sich auch hier ganz deutlich als Inter- 
polator eines alteren Berichtes. c. 48 berichtet er zunachst ganz 
objektiv von dem heiligen Elpidios: 142 11 — 20. Gann heiBt es: 

y.addirsp ^aaiXiay.ift twv [tsXtaofov iv [riocp oDvqlxsi to z’kfj&oi *) (mit 
T lat.) d5oX®dv>]xos [xdYw Sk aovtfiyrjaa aorm] xal o’kto zb dpoc 
sTrdXtas. xat f^v sxst lostv o;acdpooc roXirsta?. Auch in die folgende 
Erzahlung, wie Elpidios beim Gebet einen ihn stechenden Skorpion 
tottritt, ohne sich uin seinen BiB weiter zu kiimmern^), hat sich 
ein „Wir“ eingeschlichen : Todtdv rots tov ’£X;:'Stov (^dkkovza $v vuxu 
[xai oojJ.({*aXXdv'cwv y^gcov]. Gann stort wieder der Satz 143 e f. <[) 
auviTsXs'eidy] xal Atvsotdc tic dvijp dltdXoYO? xal Ebatd'9'to; 6 aSsX'pos 
aotoo ersichtlich den Zusammenhang. Genn im folgenden ist noch 
immer sichtbar von Elpidios die Bede. Und auch der sich an- 
schlieBende Satz sxt TOaootov 8k ■^Xaoev dna&sia^ (s. 0 . S. 107 2) — 
steht zusammenhangslos da. Nimmt man die Satze heraus, 
so bleiben drei kleine SiTjYi^Iiata nebeneinander stehen 14232 — 1433 
1433 - 7 , 143 10 - 16 =*). 

1) Die meisten Zeugen haben hier das unvorstandli.he tw Reitzen- 

stein schlagt ror (jO'>w-/.t3To -Af,Ko; [tajc] docA'f-i-rrjTo;. 

2) Auch hier liegt wieder eine nachweisbare Wanderlegende vor. Sie be- 
gegnet ganz ahnlich in der Vita des Pachom, Griech. Text (Acta Sant. Mai III) 
c. 64. 

3) Das V erstandnis des letzten otrjr^iiot ist uicht ganz einfach. Der Sinn 
desselben ist oflfenbar der, daC Elpidios in einer Holile wohnte, die sich nach 
Osten bffnete und hinter der der Fels aufragte. Er hat sich in den 25 Jahren 
seines Aufenthaltes so wenig von der Hohle entfernt, dafi er niemals den west- 
lichen Teil des Himmels und die Sonne nach der Mittagsstunde schaute. Das ist 
mit dem i-i oiisiv oboiTtoxe hxp'xarj allerdings nur undeutlich zum Ausdruok ge- 
bracht. Eeitzenstein vermutet auch hier eine Verkurzung der ursprunglichen Er- 
zahlung (s. 0 , S. 115 1 ). 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


197 


Wie weit nun diese in einen vorhandenen Bericht einge- 
arbeiteten Beteuerungen der Autopsie auf Tatsachen beruhen, mag 
dahingestellt bleiben. Die Angaben, daB der Verfasser ein Jahr 
mit Poseidonios von Betlehem (c. 36), drei Jahre mit Innocenz 
auf dem Olberge gewohnt haben will — und dazu kame noch der 
Aufenthalt bei Elpidios — machen den Forschern, unter der Voraus- 
setzung, wir batten in der Historia lauter echte geschicbtliche Ho- 
tizen iiber das Leben des Palladios uniiberwindliche Miihe und 
bringen in die Rekonstruktion seines Lebens eine unglaubliche 
Verwirrung. 

Was nun noch von der Historia iibrig bleibt stellt sick — 
wiederum von den letzten Kapiteln abgeseben — als eine Samm- 
lung von p(o' heiliger Frauen heraus. Dieser Katalog (zunacbst 
c. 54 — 65) ist nur einmal durch das Kap. 58 „die Mbnche von An- 
tinoe“ unterbrochen, das wir bereits als ein Stuck erkannten, in 
welchem unser Autor ganz wesentlich selbst redet. DaB es gerade 
bier steht, erklart sich daraus, daB c. 59 einige Nonnen von An- 
tinoe behandelt werden. 

Hier fesselt unsere Aufmerksamkeit zunacbst der an erster 
Stelle stehende Bericht iiber die altere Melania c. 54. Es ist der 
zweite, der uns in der Historia begegnet. Der Verfasser ent- 
schuldigt sicb selbst wegen dieser Wiederbolung : Tcspl Hao- 
[laaia? xai McXavla? axpo^-ifw? (vgl. Prooem. 4?) p.$v xal 

avw 5''ir]’j'Y]adp.7]v , obSsv rjzxov xal td Xelt|)ava vuv l|u^avto Tip X6 y({). 
Aber einen Grund fur diese Unordnung gibt er nicht an. Wir 
haben das Ratsel zum Teil bereits aufgedeckt; c. 46, die erste 
Ausfuhrung iiber die Melania bat der Autor, wie wir nacbwiesen, 
einer Quelle entlehnt. Aber weshalb hat er dann die iibrigen 
Ausfiibrungen iiber die Melania nicht gleich dort angebangt, wo 
seine Quelle sie brachte, weshalb bringt er erst hier ein zweites 
Kapitel iiber diese Heilige V Sollte er vielleicht auch dieses zweite 
Stiick einer zweiten Quelle entlehnt haben? 

Es kommt hinzu, daB die Angaben in den beiden Kapiteln 
sich zum Teil widersprechen. In c. 46 ist die Zeit von 27 Jahren 
fiir den Aufenthalt der Melania im Kloster von Jerusalem ange- 
geben; hier sind es 37 Jahre (146 ?). Dort verzichtet sie zu Gunsten 
ihres Sohnes auf ihr ungeheures Vermbgen und nimmt nur ihre 
bewegliche Habe. die sie zu Geld macht, mit; hier ist sie noch im 
Besitz groBer Mittel, und ihr Sohn und ihr Verwalter versorgen 
sie standig mit Geld. Wenn der Verfasser diese letzteren An- 
gaben auf Grund unmittelbaren Wissens machte, bleibt es wiederum 
unerklarlich, wie er die friiheren widersprechenden so ohne weiteres 



198 


Wilhelm Bousset, 


anfnehmen konnte. Die Annahme eines Kompilators, der b e i d e 
Quellen nebeneinander seinem Werke einverleibte, vriirde die 
Sachlage am besten erklaren. 

Anch bier batten wir dann wieder die Srscbeinung, dab der 
Autor der Historia seiner Quelle einen personlicben Annex ange- 
hangt bat. Dieser liegt, wabrend das ganze c. 54 beriiber- 
genommenen Bericbt enthalt, in c. 55 vor. Es worde bereits 
oben erwiesen, dab c. 55 nicht von Silvania, der voriibergebend 
erwabnten, sondern itnmer nocb von Melania bandelt und dafi die 
zweite Halfte dieses Kapitels 149 ii — 20 alle Spuren einer direkten 
Herkunft von dem Verfasser der Lausiaca an sicb tragt-). Kap. 55 
beginnt nnn, nachdem c. 54 der Bericbt dnrch eine allgemeine Be- 
trachtung iiber den Einfall der Barbaren in Italien vollstandig 
abgescblossen war ganz nnvermittelt mit einem Wirbericbt ; aovsjSTj 
Sga oSeusiv aTzb AtXtac; km tiiv Aqu^tov irpouefrirovtag tyjv jiaxapLav 
S’Xpavtav. Das „wir“ umschlieBt offenbar Melania und ibr Gefolge 
und den Verfasser der Historia. Es ist auJBerdem die Situation 
in dem Leben der beiligen Melania aus dem vorigen Kapitel un- 
gefahr festgebalten. Blelania ist bier wie dort 60 Jabre alt (vgl. 
14020 mit 149 0 ). Die bier angedeutete Eeise von Alia nacb 
Agjpten last sicb allerdings kaum mit der im vorhergehenden 
erwabnten identifizieren, da diese von Caesarea nacb Rom ging 
und (nur) 20 Tage dauerte (146 20 f.) Entweder liegen bier ver- 
schiedene Angaben iiber dieselbe Reise vor, oder es fand die 
letztere vor der ersteren statt. Jedenfalls, wabrend c. 54 weit 
iiber diesen Termin hiniibergreift und die Erlebnisse der Melania 
in Rom bis zu ihrer tJbersiedelung nacb Sizilien schildert, greift 
der Anbang c. 55 auf dies friibere Datum zuriick. — D. h. wir 
haben nun wieder alle Merkmale einer nachtraglicben Interpolation 
im Icb-Stil zu einer gegebenen Quelle bei einander ! Unsere Ver- 
mutung iiber c. 54 bestatigt sicb von den verscbiedensten Seiten. 

Was es nun mit der Bebauptung eines personlicben Zusammen- 
treffens unseres Verfassers mit der Melania fiir ein Bewenden bat, 
ist eine Frage fiir sicb, mag aber docb gestreift werden. Es er- 
weckt bereits Verdacbt, da6 das Alter der Melania in diesen Ka- 
piteln falsch angegeben ist, sie ist aller Wabrscbeinlicbkeit nacb 


1) Dafi sich auch in diesem Kapitel der terminologische Gebrauch von dro- 
Td;a!3bat 1A<', 18 , xaTr,-^Ecv 147 5 findet D- 0 .), kann bei der weiten Verbreitung 
dieser Termini nicht gegen die Annahme des Qnellencharakters von c. 54 
sprechen. 

2) Vgl. noch das Pradikat loYioiTaxT) 149 ii und dazu Keitzenstein 156 2 . 



Komposition und Charakter der Ilistoria Lausiaca. 


199 


in den Jahren 349 — 50 geboren^) nnd da jene Reise spatestens 
etwa 400 angesetzt werden tann^), so ergibt sich eine Differenz 
von 10 Jabren®) mit den bier vorausgesetzten von 60 Jahren. 
Auch die Reise ist schwer in dem uns bekannten Leben des Pal- 
ladios — auf den man doch immer wieder als den Autor der Hi- 
storia zuruckkommt — nnterzubringen. Wir wissen, da6 Palladios 
am ScMufi seines Aufenthalts in der Sketis erkrankte nnd dann 
iiber Alexandria nach Palastina gereist ist*), dafi er von dort nach 
Bitbynien ging und scbon im Mai 401 auf einer Synode von Kou- 
stantinopel als Biscbof erscbeint“). Fiir die umgekehrte Reise 
von Pedastina nacb Agypten feblen fiir diese Zeit alle Belege. 
Turner, der in dem genannten Aufsatz (Journal of theol. Studies 
1905 p. 354) diese Sehwierigkeit streift, geht mir iiber sie zu 
leicht binweg. Icb wage aucb bier nicbt recht zu entscheiden, 
aber moglich bleibt es, dafi das in c. 55 nicbt mehr als no- 

vellistiscber Aufputz ist®). 

Aber abgesehen davon, stebt das Hauptresultat fest: in c. 54 
liegt ein quellenmaCiger Zusammenhang vor, und c. 65 ist zu diesem 
ein Annex unseres Verfassers. 

Und aucb in dem Kapitel 61, das von der jiingeren Melania 
bandelt, zeigen sicb die Rahte deutlich, mit denen Bericbte ver- 
scbiedener Herkunft zusammengewoben sind. Der Anfang 155 1 — s 
mit seinem Riickverweis auf c. 58 und der SchluB 157 i — is 
stammen bier sicber aus der Feder unseres Autors. Im letzten 
Satz meldet er sich sogar ganz direkt zu Wort und erzahlt, da6 
er von Melania und ibrem Gatten Pinian (wahrscheinlich in Kam- 
panien) freundlich aufgenommen wurde, als er in der Angelegen- 
heit des Johannes Cbrysostomos nach Rom ging (ISTio—is). Dieser 
SchluB versetzt uns in das Jabr 405 ’), und bemerkenswert ist es, 


1) Vgl. Butler, Lausiac history II 223, Anm. 86. 

2) Butler II 228 schlagt 398 vor. 

3) Die Differenz stimmt auffallig mit der oben erwahnten : c. 46; 27 Jahre 
in Jerusalem, c. 45; 37 Jahre, uberein. 

4) Wir diirfen hier v^ ohl den Bericht c. 35, 105 3 ff. (Joannes von LykopoUs) 
benutzen. 

5) Preuschen, Palladius und Rnfinus 244. 

6) Ein persbnlicLer Zusammenhang zwischen unserem Verfasser und der 
Melania vdrd sich, vie Reitzenstein mir nachweist, doch wohl kauro leugnen lassen. 
Vgl. das oben iiber 149 uff. Gesagte. — Weitere Melania -Erinnerungen in c. 5, 
9, 10 (doch vgl. die Duhlette in der Erzablung der jiingeren Melania c. 58); 
c. 18, die Notiz iiber das Schaffell, das die Hyanc dem Makarios gewidmet, sieht 
freilich wieder nicht nach direkter Uberliefernng aus. 

7) Dialogus cle vita Chrysostomis c. 3. 



20.3 


Wilhelm Bousset 


wie der Autor sich hier so lebendig in jene Zeit seiner Reise nach 
Italien hineinversetzt, daB er im Prasens erzahlt, als ware die 
Situation noch gegenwartig; „Sie wohnen jetzt auf dem Lande 
bald in Sizilien bald in Kampanien‘‘ — wiihrend Melania, als er 
(nach allgemeiner Annahme) seine Worte schrieb, langst iiber Afrika 
nach Betlehem gewandert war, Aber wie man das auch erblaren 
mbge, das Zwischenstiick in c. 61, das zwiscben den beiden ge- 
nannten Partieii steht, hat nun einen ganz anderen Charakter. Es 
ist eine kurze Charakterisierung der Melania, ihres Lebenslaufes 
und ihres allgemeinen Verhaltens, das in sich abgeschlossen ist 
und zu dem jener personliche Schlufi nicht pa6t. Und was noch 
merkwiirdiger ist: die Wendung hier, da6 die HeUige, indem sie 
air ihr Hab und Gut im Ausland an die Kloster verteiite, cs 
dadurch dem Lowenrachen des Alarich entrifi (156 le), fiihrt uns 
allem Anschein nach in die Zeit nach 410! Man konnte zur Not 
diese W endung auf die ersten Einfalle Alarichs in Italien 402 f. 
beziehen; aber diese Auskunft bleibt doch recht unwahrscheinlicb, 
zumal wir im Leben der heiligen Melania von Gerontios c. 19 
die bemerkenswerte Parallele finden; ,Nachdem sie (Melania) die 
Besitztiimer in Rom und Italien, in Spanien und Kampanien ver- 
kauft hatten, segelte sie nach Afrika. Sogleich sturzte sich 
Alarich auf die Giiter, die die Selige veraufiert hatte“. 

In dem kurzen Kapitel haben wir also wahrscheinlich wiederum 
zwei Stiicke, die unter ganz verschiedener zeitlicher Orientierung 
geschrieben sind, wobei dann zugleich das Paradoxon entstanden 
ist, da6 die Quelle des Autors in eine spatere Zeit weist, als seine 
persbnlichen (anachronistischen) Ausfuhrungen^). 

Sollten wir vielleicht diesen Beobachtungen noch eine greif- 
barere Gestalt geben und sie in einen grofieren Zusammenhang 
einrlicken kbnnen? Der letzte Teil der Historia Lausiaca (c. 54 
-—65), in dessen Zusammenhang die beiden eben besprochenen Stiicke 
stehen, enthalt bekanntlich zum allergroBten Teil Lebensbeschrei- 
bungen beriihmter Frauen. Konnte vielleicht eine Sammlung von 
Vitae heiliger Frauen unserem Verfasser als Quelle vorgelegen 
haben? Die letzten drei Stiicke 63 (von der Jungfrau, bei der 


1) In „Sancta Melania giuniore senatrke romana“, Roma 1995. — Ich rer- 
danhe den Hinweis der neuen Ausgabe der Kemptener Bibl. d. Kircbenvafer 
,,Griecbische Liturgien Palladios, Gerontios" 1912, p. IV, S. 16. 

2) c, 62 ist ein Nachtrag zum vorhergehenden Kapitel, an dessen Scblub 
sich der Verfasser selbst zu Wort meldet 3157^2 f.) und das auch sonst aus 
seiner Hand stammen mag. Vgl. 15721 a-Ap;; Xo-fizwTctTtit (vgl. zur Betonung des 
Aoyo; Reitzenstein 1-562) zai jis a'z pov mtXoSi'a; eXvcravTE; (s. o ). 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


201 


Athanasios Anfnahme fand), 64 Aufnahme des Origenes bei der 
Juliana), 65 (die Jungfrau in Korinth) seben in der Tat ganz so 
aus als waren sie aus einer solchen Quelle in unser Werk hinein- 
geraten. Sie stehen in ihrer Umgebung fremd da, handeln gar- 
nicht von Einsiedlerinnen der altesten Monchszeit, sondern von 
beriihmten christlichen Jungfrauen iiberhaupt '). 

Es mag ferner darauf hingewiesen werden, daB der Verfasser, 
ja eigentlich zwei Kataloge von beriihmten Frauen bringt, einmal 
einen kiirzeren in c. 41 und dann eben diesen langeren, den ganzen 
Abschnitt 51 — 65. Man konnte vermuten, da6 er zu jenem kiir- 
zeren Katalog in c. 41, der ja ganz ein Werk aus seiner Hand 
ist, zunachst durch eine Lektiire seiner Quelle angeregt wurde 
und daB er diese nachahmte: avafxalov Ss sot' ‘/.a'l Yova'y.wv av- 
opeiwv [j,virj(j,oV£oaa' . . . ai? 'ml 6 Usoc ra I'oa tot? avopa^i xwv ahktov 
E'/aptaaTO") — um dann spater die Quelle selbst neben ihrer Nach- 
abmung seinem Werk einzuverleiben. 

Freilich bleibt das alles eine Moglichkeit, die sich nicht recht 
zn greif barer Wirklichkeit gestalten will. Jedenfalls hat der Ver- 
fasser selbst in dieser letzten Partie seines Werkes sehr viel starker 
eingegriffen. Die Olympias c. 66, die er der Melania folgen laBt, 
hat er personlich kennen gelernt, vgl. Dialog 17 p. 60; eine Wen- 
dung aus dem Dialog (ebend.) : Xs-j-stat Ss itap^svo? uTtap^stv, (b? 
'pTip. 7 ] SiSaov.st — findet sich p. IBOs fast wortlich wieder: XsYsxat 
Yap ^ap^svo?, aXXa o6(j,ptoc too Aoyoo x'^c; aX’Kj’&stac®), 

In dem folgenden Kapitel, das sich ebenfalls im Milieu von 
Konstantinopel abspielt, begegnen wir zahlreichen Spuren seines 
Stils. Auch das „Ich“ stellt sich hier wieder und zwar ziemlich 


1 } DaB der Verfasser die Jungfrau, die den Athanasios aufnahm, selbst 
kennen gelernt haben will (158 i), sich also auch dieses Marlein, (vgl. Weingarten, 
Ztschr. f, Kirchengeseh. I S, 28) personlich aneignet, daB er das Buch, in dem 
Origenes seine Aufnahme hescheinigte, selbst gelesen haben (160 n) will, kann 
uns, wenn wir seinen Stil kennen, nicht irremachen. Ebensowenig wie die IJe- 
merkung, dafi er die Erzahlung von der Jungfrau in einem uralten Buch des 
Ilippoht, dem Bekannten der Apostel (!) gefunden babe (160 is f.). 

2) Vielleicht darf darauf hingewiesen werden, daB in der Gruppe PWTs 
dies c. 41 ganz unterdruckt, dafur aber die oben mit den ersten Worten zitierte 
Einleitung 128 i- 5 an den Kopf von c. 63 genickt (.Jungfrau von Alexandrien) 
und dieses Kapitel dann an die Spitze des ganzen Abschnittes 54—65 gestellt ist 
(s. die Tabelle bei Butler p. L.). Konnte nicht der Uberaibeiter von PWTs noch 
durch eine Kenntnis der von uns veimuteten Quelle zu seiner gewaltsamen Um- 
erdnung veranlafit sein, so daB ursprunglich tatsachlicb diese mit jenem ersten 
cinleitenden Satz bogonnen hatte? 

3) Vgl. Eeitzenstein S. 6 4. 

Kgl . Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft. 


14 



202 


Wilhelm Bousset, 


tmgezwungen ein : taoTYjv e^vtov Iy® uaoTji; voxto? xoxtwaav 
(150i9). 

Nicht klar ist die Sachlage auch bei den Kap. 59 — 60: die 
Nonnen von Antinoe. Sie lehnen sich an das schon besprochene 
c. 58 an (Monche von Antinoe). Wir haben bereits nachgewiesen, 
da6 in diesem Stiick die Feder des Verfassers besonders dentlick 
zn sptiren ist. Nnn lage die Vermutung nahe, da6 dieser 
sein Elaborat iiber die Monche von Antinoe, die Quelle durch- 
brechend, hier als Pendant zn dem folgenden Kapitel einschob. 
c. 59 bietet denn in der Tat einen Bericht, in welchem der sub- 
jektive Einschlag fast fehlt und der besondere Sprachgebrauch 
des Autors kanm nachznweisen ist ^). An einer Stelle iinden wir 
allerdings den Ichstil; st? ■coaootov Ss a^rad'siai;®) YjXaasv ij Ypao? 
to? slasXQ'Ovti p-ot xal xa^-Eo^evtt sX^stv xal {lot xal ta? 

ysipas auf^C Imdsivat toic wp-otc p-oo DjiEpPoX'^ ^rappYjaiac (153 is — is). 

Besondern Nachdruck hat man im folgenden Kapitel (60), der 
Geschichte von der Jungfrau, der vor ihrem Tode der Martyrer 
Kolluthos erscheint, auf die Stelle gelegt, wo diese befiehlt ihre 
kostbare Hinterlassenschaft, des Clemens oo^Ypap-p-a too STpaip-aTsw? 
zum Propheten Amos, „dem verbannten Bischof“ zu schicken 
(154 2 i). Man weist daraufhin, da6 Palladios nach dem Dialogos 
c. 20 im Jahre 406 nach Syene verbannt wurde und bringt mit 
diesem Besueh seinen vierjahrigen Anfenthalt in Antinoe zusammen 
(c. 58). Dann ware der verbannte Bischof Palladios selbst. Das 
hat auf den ersten Blick etwas Einleuchtendes, und dann miiBten 
wir doch wohl annehmen, daB Palladios selbst als Gewahrsmann 
hinter c. 59. 60 stande wie hinter c. 58, und daB wir der An- 
nahme einer Quelle fiir diese Siicke entbehren konnten. Es stande 
dann vielleicht so, daB er nicht nur c. 58, sondern c. 58 — 60 in 
einen quellenmaBigen Zusammenhang eingesprengt hatte. Aber 
die Kombination hat auch ihre Bedenken. Denn wie kommt es 
denn eigentlich, daB Palladios anstatt in Syene als Verbannter zn 
weilen, sich vier Jahre in Antinoe und TJmgebung, das immerhin 
von Syene noch recht weit entfernt ist, und zwar immer noch als 
„ verbannter Bischof“ auf halt? Konnte vielleicht der lio)ptap.syoi; 
iizlaxoTzoQ einfach aus der Quelle heriibergenommen sein ? In PTW 


1) Vgl Et; (zxpov aefxvoTrjTo; IXaaaca (s. o.) 15015; zii axpov a-Er/eTO 
150 24; dazu xaTrjyi)aa3a 15016 (und schon 150 8) und ato'ppoouvTj 15018 (Reitzen- 
stein 164 4). 

2) Ich merke an . 154 3. 

3) Uber diese Wendung s. o. 107 2 . 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


203 


stelit c. 60 mit 59 umnittelbar hinter 63: Greschichte von Atha- 
n a si os and der Jungfrau. War der verbannte Bischof am Ende 
kein anderer als Athanasios ? ^). 

Aber auch diese Vermutung bleibt eben eine solche, und es 
bleibt die Moglichkeit, dafi die Komposition c. 58 — 60 dock wesent- 
lich von der Hand unseres Verfassers stammen konnte. 

Damit gelangen wir zum SchluB des Buches. Da6 in c. 66 
—69^) eine Heike von wenig bedeutenden Erzahlungen aufge- 
nommen sind , die in dem Milieu von Ankyra spielen , deutet, 
gerade wenn wir die bisker konstatierten Quellenverkaltnisse des 
Buckes ubersckauen, auf die Annahme, dafi in der Tat Palladios 
Oalates, der spatere Bischof von Aspona in Galatien, derVerfasser 
sein diirfte. 

c. 70 die Erzaklung aus Caesarea in Palastina, da6 eine 
sckwanger gewordene Jungfrau einen Lektor falscklich bezicktigt 
und dann nicht gebaren kann, — ist eine eckte Wanderanekdote. 
Wir finden sie in den Apophthegmata von IMakarios (Makar Nr. 1)^) 
erzahlt; auck die koptische Vita des Makarios (Annales dn Mus. 
Gruimet 25, 70 ff.) stelit sie an den Anfang in dessen Lebens- 
besckreibung. 

Und nun zum SchlxiB, c. 71 erzahlt der Verfasser von dem 
„Bruder“, der von Jugend an bis auf den heutigen Tag mit ihm 
zusammen gewesen sei. Es wird allgemein angenommen, dafi er 
mit dieser Wendung sick selbst einfuhrt. In unserm Zusammen- 
hang interessiert es uns vor allem, dafi er sick hier als nimmer- 
miiden Wanderer preist, „106 Stadte betrat er und nahm in den 
meisten Aufenthalt“ 167 19 f. Dies Bild pafit zu unserm Erstaunen 
herzlich schlecht zu demjenigen, das uus bisker aus den person- 
lichen Angaben in seinem Buck erwucks. Danach safi dieser 
^Bruder* ruhig zwei bis drei Jahre in der Umgegend von Alexan- 
dria, ein Jahr auf dem Berg Nitria, neun Jahr in den ZeEen (der 
Sketis); ein Jahr in Betlehem bei Poseidonios, drei Jahr bei Inno- 
cenz auf dem Olberg, eine unbestimmte Zeit bei Elpidios in einer 
der Hohlen von Jericho, vier Jahr bei den Monchen in Antinoe! 


1) Athanasios ist zwar auch nicht nach Antione verhannt gewesen, konnte 
aber in der Zeit seiner Flucht 356—362 sehr gut auch vonibergehend in Antin e 
gewesen sein. Die Pachomios - Vita (Acta Sanctorum Mai) c. 88 erzahlt, dab er 
zu der Zeit in den Pachom-Kldstern der Thebais gesucht wurde. Vgl. c. 92: 
Zusammentreffen Theodors mit Athanasios. 

2) Vgl. Her 16316 ^iaSxoOvxet xijv eii Heov ctoapoaovYjv 163 14 daxTjxtxiutaxov 

^{ov xai c u) ip p 0 V a. 

3) Eine entfemtere Parallels rgl. unter Nikon, Migne 65. 309. 

14* 



204 


Wilhelm Bousset 


1st dieser ,Bruder“ dann weiter Palladios gewesen, so 
war er zum mindesten seit 400 Bischof, war 405 aaf einer Reise 
nach Rom, aber nicbt als freier Wandersmann, sondern im Auf- 
trage des Chrysostomos, dann 406 in der Verbannung in Syene, 
spater aber wieder in seinem Bischofsamt. In diese Bischofs- 
und Verbannungszeit wird man docb jenes Wanderleben nicht 
unterbringen wollen. Wo bleibt dann Platz fiir dasselbe?! Nach 
den Angaben des Prooeminms 9 12 ff. war er dreizehn Jabre Monch, 
bevor er Bischof wurde. In diesen Zeitraum kbnnen wir ja nicht 
einmal die Jahre nnterbringen, die er nach seinen bestimmten An- 
gaben bei andem Monchen gewohnt haben will, selbst wenn wir 
die vier Jahre in Antinoe (!) auf seine Verbannungszeit in Syene (!) 
in Anrechnung bringen. tJnd nun soli er noch 106 Stadte dnrch- 
wandert haben! Oder soli sich diese Wanderschaft auf seine vor- 
monchische Jugendzeit beziehen! Aber er schildert doch wohl in 
c. 71 den „Bruder“ als Monch; eines weltlichen Reiselebens hatte 
er sich wohl kanm geruhmt. 

Es gibt kanm eine andere Rettung aus dieser Not, als die 
Erkenntnis, dafi ein gut Teil der scheinbar persbnlichen Notizen, 
die iiber die ganze Historia verstreut sind, zum novellenhaften 
Aufputz gehoren und nicht ernst zu nehmen sind, vielleicht sogar 
z. T. aus der Quelle des Verfassers abgeschrieben sind. — Es soil 
damit nicht das Verdikt iiber alle Ich-Stiicke der Historia ge- 
sprochen werden; vrir haben im Lauf der Untersuchung den Ver- 
such gemacht , zu scheiden. Was wir haben ist Dichtung und 
Wahrheit, die kaum noch iiberall von einander zn trennen sind. 
So wird alles mit Vorsicht zu behandeln sein. Das Leben des 
Palladios wird man aus Notizen auBerhalb der Historia zu rekon- 
struieren haben. Nach dem Brief des Epiphanios an Johannes 
von Jerusalem war Palladios G-alates im Jahr 394 bei Johannes 
von Jerusalem, Epiphanies warnt jenen vor diesen. Dann tritt 
er im Mai 400 als Bischot von Helenopolis auf einer Synode in 
Konstantinopel auf, war (nach dem Dialog) 405 in Sachen des 
Chrysostomos in Rom, ging 406 in die Verbannung nach Syene, 
ist dann spater Bischof von Aspona und schrieb um 420, oder 
etwas triiher, wenn wenigstens hier auf die Angaben des Prooeniums 


1 ) Bei Hieronymus cp. 519. Preuscheu, ralladius imd Kutinus 243 hat Be. lit, 
dies Iiatum zu betonen, aber der 1 ersnrh ist hofi’uungslos, damit die Daten der 
Historia vereinigen zu wollen I)ie .^nnaLme einer Verwechselung zweier Palladii, 
die letztliob Butler II 242 unter 'VViderruf seines friiheren Verdikts im AnschhiC 
an eineu Artikel von Wittig vorscblagt, ist eine Auskunft der Verzweiflung. 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


205 


der Historia VerlaB ist, sein Werk. Wenn wir hinzufiigen, daB 
er ein Schiller des Euagrios war, zum Kreise der Isidoros, Dios- 
koros, Ammonios gehorte, ein Anhanger des Chrysostomos war, 
so ist damit ungefahr alles gesagt, was wir wirklich von ihm 
wissen. 

Sein Werk aber hat er ant Grund von alteren Qnellen ge- 
schrieben. Als solche traten mit Sicherheit oder mit mehr oder 
minder Wahrscheinlichkeit herans: 

1) Eine Sammlnng von Erzahlnagen ttber die Monche der 
sketischen Waste '). 

2) Material aus der Pachomiosiiberlieferung, 

3) ein Katalog syrischer Iteiliger mit karzer Charakterisiernng. 

4) — vielleicht — eine Sammlnng von Lebensbeschreibnngen 
heiliger Frauen. 


Anhang. 

In dem groBen Sammelwerk, das man als eine Znsammen- 
stellnng klassischer Mbnchsarkunden bezeichnen kann, dem Para- 
dies der Vater von Anan-Jesn, findet sich an zweiter Stelle, hinter 
der Historia Lausiaca ein Stiick mit der IJberschrift „Geschichten 
der Einsiedler-Vater von demselben Palladios" ^). 

Die Zusammensetzung dieses Werkes resp. dieser Kompilation 
von tiberlieferungen ist in den einzelnen Handschriften eine sehr 
verschiedene, wie man aus der Gegenuberstellung zweier der wich- 
tigsten Zeugen des Codex Vaticanus (Syriacus CXXVI) und dem 
Codex Budge bei Butler Lausiac-History I 79 ersehen kann. 

Mit dem Vaticanus scheint der Hauptzeuge Bedjans die Pa- 
riser Handschr. Nr. 317 im wesentlichen iibereinzustimmen. Da 
die uns interessierenden Erzahlungen im Vaticanus und Parisinus 
stehen, konnen wir uns darauf beschranken, eine Analyse der 
Komposition dieses Stuckes zu geben, wie es bei Bedjan vorliegt. 

Die Kompilation beginnt mit zwei Stiicken der Historia Lau- 
siaca p. 193 — 200 ®), es folgen 6 Geschichten, deren Parallelen sich 

1) Aui-h die Anekdoten, die der Verfasser von Isidoros und Didyraos in den 
ersten Kapiteln zu erzahlen weiB, mogen aus der sketischen Apophthegma -Uber- 
lieferung stammen. Isidor soil ja nach der Angabe der Historia frtiher in der 
Sketis gelebt baben. Didjmos wird bei Rufin Hist. Monach. 24 unter den sketischen 
Autoritiiten genannt. DaB sie bier in dem MDieu von Ale.xandria erscbeinen, ist 
Zufall und hangt nur mit dem Gang seiner Lebenserinnerungen resp. der Novellen, 
die der Verfasser bier vortragt, zusammen. 

2) Ausgabe von Bedjan, Acta martyrum et sanctorum VII 1897, p. 193 -329. 

3) Die Erzahlung von dem Asketen Markos aus Histor. Laus. 18 (Butler 
p. 56 3 — 10 ) und die von Eulogies und dem Kruppel H. L. 21. 



206 


Wilhelm Bousset, 


zumeist in den verschiedenen Sammlnngen der Apophthegmata 
wiederfinden p. 200—218, darauf wiedernm Partien ans der Hist. 
Laus. : Adolios c. 43 (liier AureKos), Moses der Aethiopier (c. 19), 
Pior und Moses der Libyer (c. 39), p. 218—226; dann wieder ein 
Stiick aus den Apophthegmata 226—231 '), das Leben des Eua- 
grios^) (Hist. Lans. c. 38) 231—236, das Leben des Malchns 2) 
(Hieronymus) p. 236 — 251 ; von da an nur noch Stoffe ans den 
Apophthegmaten p. 251—326, nnter ihnen, die uns interessierenden 
beiden Geschichten von Stephanos and Enkarpios (p. 292—300), 
bis wir dann znm Schlu6 p. 326 noch das letzte Kapitel der Hist. 
Laos, nebst einem Satz aus dem Schlnfiwort finden. 

Nun hat Butler iiber die der Historia Lausiaca entlehnten 
Stucke bereits Licht verbreitet. Er hat nachgewiesen, da6 der 
Kedaktor des zweiten Teiles vom Paradies des Anan-Jesu die- 
jenigen Geschichten, die in der Rezension der Hist. Laus. des 
ersten Teiles fehlten, aus einer anderen Rezension und nach einer 
andem syrischen Ubersetznng hier nachtraglich eingefugt hat, 
(vgl. I p. 79 f. 86 

Die iibrigen Stoffe hat er nicht naher untersucht, sondern 
sich mit der Bemerknng begnugt, daB sie z. T. aus der griechischen 
Sammlung der Apophthegmata stammten, zum Teil von ihm nicht 
hatten identifiziert werden konen (p. 79). Da mir die Identifikation 
fur die weitans meisten Stucke gelungen ist, so gebe ich meine 
Liste und bemerke dazu, daB ich die Stucke bei Bedjan nach den 
Seiten bezeichne, auf denen sie beginnen, die griechischen Apo- 
phthegmata nach Namen der Vater (die in alphabetischer Folge ge- 
ordnet leicht bei Migne Patr. Gr. 65 auffindbar sind) und Nummer 
zitiere, die Erzahlungen der lateinischen Vitae Patrum®) nach 
Buch, Kapitel und Nummer. 

Es stellen sich folgende Parallelen heraus : Bedjan p. 200 ? ; 
p. 209 ?“); p. 210 = V 16, 18; p. 216 = in 26; p. 217 = Ro- 
maios 2 = V 16, 17; p. 217 = V 5, 20 III 8; p. 226 = V 5, 41; 
p. 251 := Makar 2 = VI 3, 4; p. 252 = VI 3, 10 ; p. 254 = VI 3, 12 ; 
p. 259 = VI, 2, 15; p. 260 = VI, 3, 9; p. 261 = Makar 33 = 
VI 3, 2; p. 263°) = Bessarion 12; p. 265 “j = Bessarion 1 — 5®); 


1) Nach Butlers Inhaltsangabe scheint es im Vaticanus zu fehlen. 

2) Die beiden Stucke stehen nicht im Vaticanus, wohl aber in der Hand- 
sclirift Budge. 

3) Vgl. Eossweyde, am bequemsten in demAbdruck bei Migne, Patrol. Lat, 73. 

4) Doch vgl. die kurzen Andeutungen in V 14, 16 und Ammon Nitr. 3. 

5) p. 263 -t- 265 = VI 2, 1—4. 

6) Das Sondergut p. 267 ist = Makarios 15. 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


207 


p. 268?; p. 272 Vita Sanctae Marinae*); p. 277 ?; p. 278 ?; 
p. 285 = VI 1 , 15; p. 292 Stephanos; p. 296 Eukarpios; 
p. 300 = V 5, 26; p. 301 ?; p. 302 = Migne 74, p. 378 Nr. 3^); 
p. 303 = V 5, 38; p. 305 = V, 5, 35; p. 306 = Serapion 1; 
p. 307 = Joan, iv -c. xsXXio'.;; p. 308 = Apollos 2; p. 309 = Ni- 
kon®); p. 310 Makarios 1; p. 313 — Daniel 8; p. 314 = Makar 3 
= V, 18, 9; p. 316 Dublette zn p. 314*); p. 322 = Makarios 5; 
p. 322 = Panics dcTcXou?. — 

Man wird iiber diese Apophthegmaten-Sammlnng ahnlich urteilen 
wie iiber die StofFe ans der Historia. Sie seheinen eine Nachlese 
zu den dann folgeuden grofieren Sammlungen darzustellen. Neben 
einigen wenigen Stoffen harmloser Natnr, deren bisheriges Ver- 
schwinden ans der Tradition dem Znfall zu verdanken sein wird, 
begegnen wir zumeist Erzahlungen von bizarrem®) oder anstoBigem 
Gehalt®), Berichten von enthusiastischen Visionen, merkwiirdigen 
Wnndem und derartigem. Diese Erzahlungen seheinen zunachst 
eben wegen ihres Inhalts von der Uberlieferung miBgiinstig be- 
handelt zn sein. Ein eifriger Sammler hat sie dann doch wieder 
znsammengebracht. Hier stehen non am passenden Ort anch die 
beiden nns interessierenden Geschichten. Ich lasse zunachst eine 
tibersetzong folgen ; 

Bedjan p. 292 : Iiber Stephanos, jemanden, der in 
schaiidliche Ans s ch w eifnng fiel. — Es war ein Mann in 
der Sketis mit Namen Stephanos. Der wohnte zehn Jahre in der 
Wiiste. Und er war mit einer Matte bekleidet’). Und er wan- 
delte dergestalt in Askese und Beharrlichkeit, daB er endlich 
nichts von dem, was begehrenswert nnd mit Annehmlichkeit ver- 
bunden war, dulden wollte. Er tadelte nun viele, die wegen Er- 
krankung eine Suppe oder einen Trunk Weines genossen. Es 
wurde ihm aber die Gabe der Heilung verliehen, sodaB er durch 
das Wort Damonen austrieb®). Einmal kam jemand, der einen 

1 ) = Vitae Patrum I. Migne 73, 691 fif. 

2) In einem Anhang (c. 20) zu einer Redaktion der Historia Lausiaca. Der 
Anhang enthalt ausgesprochenen Apophtliegmaten-Stoff. 

3) In Syr. Kosmos genannt. 

4) Stark veriindert und umgebildet. 

5) Vgl. die Erzahlungen, die mit V. Patr. VI 2 u. 3 parallel laufen, zumeist 
Berichte von absonderlichen (nackten) Heiligen. 

6) Vgl. die Geschichten, die mit Stiicken aus V. Patr. V 5 sich decken. 

7) Vgl. Ammonas 4 : rjv -i; Yspmv xovixo; eij xa xeXXia tpopiiiv <}ad8:ov. Diese 
notdurftige Bekleidung mit einer Matte ist in Zusammenhang zu stellen mit der 
in unserem Milieu haufigen Erscheinung vollstandig nackter Heiliger. 

8) Der bekannte Zug, dafi der Asket die Gabe des Wundertuns bekommt. 



208 


Wilhelm Bousset, 


unreinen Geist hatte, in die Sketis und bat, dad er geheilt wiirde. 
Und als er jenen Mann sab, der von dem Damon kart gequalt 
wurde, verrichtete er iiber ihn ein Gebet nnd heilte ihn. — Der 
wurde nun am Ende von der gottlichen Vorsehung verlassen, 
wegen seines unmaBigen Stolzes und Hochmntes. Es kam ihm 
namlich der Gedanke, wie er in seinem Wandel die iibrigen 
Vater iibertreffe. Und zunachst trennte er sich von der Bruder- 
schaft^). Und er ging hin und wurde Vorsteher in einem von 
den Klostern Alexandrias ^). Denn er sprach in seinem Uber- 
mut: Soli ich mich dem Makarios^) unterwerfen? Oder ist nicht 
mein Wandel besser als der seinige? Er kam aber so weit in 
seinem Wahnsinn, daB er nach Alexandria ging und der Un- 
maBigkeit und Trunksncht verfiel und dem Fleischgenufi und 
sich auBerhalb der Ordnung der Reinen^) (?) stellte. Und zum 
ScbluB fiel er und geriet in die Grube der Weiberlust, 
indem er bestandig mit Huren verkehrte und in den Schank- 
stattten der Kramer®). Er king sich an die Huren und ohne 
Scheu und schamlos gab er sich der Last hin, daB er zum Gespott 
aller seiner Bekannten wurde. Er entschuldigte sich aber bei 
denen, die ihn kannten und sprach: Den Vollendeten ist kein Ge- 
setz geben. Und er sprach: Ich tue das wahrlich ohne Leiden- 
schaft ’). Und nicht ist die Hurerei etwas Hassenswertes, Hafi- 
liches, auch ist sie keine Siinde. Denn von Gott ist Mann und 
Erau geschaffen. 

Vgl. aus dem Abschnitt der Hist. Laus., mit dem unsere Erzahlungen zusammen- 
gehoren c. 24, p. 77i4: ouxo? si; dxpov YEviaevcj 4 g/. -/» i 3 1 ot xpi rj; 

xo!rrj;id)8rj yapiGp.a'Co; .... 

1) Vgl. H. L. 25, p. 808— 11 . 26, p. 81io— ii. 27, p. 83 4—5 Die in diesen 
Kapiteln imraer wieder hervorgehohene Verweigerung der Teilnabme an der Eu- 
charistie wird in unserer Erzahlung nicht besonders hervorgehoben. 

2) Der Ubertritt in das Klosterleben gilt bier fast schon als der Beginn 
des Falls. Diese leise Polemik gegen die Koinobien, die bier zum Ausdruck 
kommt, ist tbarakteristiscb fur das Milieu des sketischen Anacboretentums. 

3) Vgl. die Emporung des Valens gegen Makarius „unsern Priester" c. 25, 
p. 79 14 ff. 

4) Auch Heron geht nach Alexandria 82 5, Ptolemaios treibt sich in „Agypten“ 
(d b. aufierhalb der Sketis) herum) 83 8. 

5) -dlif T(uv xabapouv oder auch t*-. hoy txuiv. Das sich bier findonde syrische 
Wort jJAx) kann beide Bedeutungen haben. 

6) c. 26, 82 9 (Heron) xai xd; oiaxpi^ds ^'-7^'^ z Xj he to t ; ■ ouxto; oe yotjxpt- 
ptotpymv xai oivotpXuytuv evfeacv et; xov pop^opov xf, ; y'jvatxeia; lirtHupLia;- 
C. 27, 83 8: eauxov oeotuxoij yoaxpipLapyta xai oEo'ph'jyi'a. 

7 ) Dieser charakteristische Zug „gnostischen“ Libertinismus hat in den 
verwandten Kapiteln der H. L. keine Parallele, hochstens, daB man das An- 



Komposition nnd Charakter der Historia Lausiaca. 


209 


ir kamen nun eines Tages nach Alexandria, ich und der 
selige Euagrios, wegen einer Sache, die uns dorthin gerufen. 
Und es waren vier Briider mit uns. Da wir nun am Markt der 
Stadt voriibergingen, traf er uns zufallig, wie er gerade mit einer 
Hure wegen eines schandlichen Geliistes sprach. Als nun der 
selige Euagrios ihn sah, weinte er und fiel ihm zu Eiiden und be- 
zeugte ihm Verehrung. Er nun beugte sein Haupt auoh nieht im 
Geringsten. Vielmehr in maBlosem Stolz und Hochmut hub er an 
und sprach; Was wollen die Heuchler und Verfiihrer hier?! Der 
selige Euagrios flehte ihn an, daB er mit ihnen in eine Herberge 
gehe. Er aber wollte durchaus nicht. Als er sich nun mit Miihe 
hatte iiberreden lassen. daS er mit uns ginge, fiel ihm der selige 
Euagrios um den Hals und kiiBte ihn und weinte und sprach zu 
ihm: Yon all der Arbeit der Engel*) hast du dich bis zu der 
ganzen Tiefe der Bosen (Weiber) emiedrigt; vom Yerkehr mit 
Gott hast du dich zum Yerkehr mit den Hnren gewandt. Arstatt 
des Wandels und Dienstes der Engel hast du den Wandel der 
Damonen erwahlt. Aber wenn auch der Satan bis zu diesem 
Sturz dich demiitigen konnte, so bitte ich dich doch und flehe dich 
an, daB du die Hoffnung der Erlosung nicht zerstcirst [a.iio'Kozzs'.'/). 
Yielmehr auf! komm mit uns in die W^^iiste. Und es wird 
durch die Hulfe des barmherzigen Gottes dahin kommen, daB du 
wiederum zu deiner fruheren Ordnung umkehrst. Jener nun war 
durch den Satan so gewohnt an seine Denkweise, daB er nichts 
von dem, was zu ihm gesprochen wurde, verstand und horte, auch 
nichts darauf antworte. Er sprach zu Euagrios: Ich war bis zur 
Stunde im Irrtum befangen. Aber jetzt habe ich in Wahrheit 
den Pfad (oSdc) gefunden! Und er begann die Yater zu verspotten 
und sprach: Ihr seid in Wahrheit die Irrenden und mit diesem 
Liigenkleid sitzt ihr in der Wuste um der Menschen und nicht 
um Gottes willen. Und ihr seid fur die Besucher gleich ge- 
schmiickten Gotzenbildern, und die Menschen beten euch an. Und 
so, voll von Stolz und Hochmut des Satans, verachtete er die 
Yater und brack auf, zu gehen. Er nun der selige Euagrios und 
alle die Briider weinten und waren sehr betriibt fiber ihn. 

deutende T.^rAir.zzz-i (sc Heron) -'do r/.o'jjt'm; tt, d i i a -jo o t!/ p 7 heranziehen 
konnte. Vgl. uber den hier^so deutlicb vorliegenden Zusammenhang zwiscben 
Askese und dem Libertiuismus des ,„Vollendeten‘‘, Keitzenstein 194 3 . 

1) Zu dieser bekannten Gleichsetzung der Monche mit den Engeln vgl. z. B. 
Kufin, Hist. Mon. 1, p. 401 D. ; utpote qui in corpore adhuc positus ad instar 
acgclorum incorporeae vitae fungeretur otficiis. Vgl. Keitzenstein, Sitzungsber. d. 
Heidelb. Akad. 1914, S. 22 f. 



210 


Wilhelm Bousset, 


Der aber fiihrte eine Jungfrau, die eine Waise war und Ein- 
siedlerin und keusch, unter dem triigerischen Vorwand in sein 
Haus, dafi er ihr Unterstiitzung durcb Almosen in dem, wessen 
sie bediirfe, verschaffen wolle, in Wahrheit aber ([raXXov Ss) um 
seine Lust an ihr zu befriedigen. Und als er in dieser Erniedri- 
gnng eine Zeit von zwei Jahren verharrt, kamen am Ende Rauber 
in der Nacht iiber ihn, und banden ihn und schlngen ihn schwer und 
heftig, bis er ailes was er in seinem Hause hatte zum Vorschein 
brachte und vor sie hinlegte. Und am Ende schlossen sie ihn und 
die, mit der er sich der Lust hingab, in einen Raum, in dem er 
wohnte, ein. Und als sie die beiden eingesperrt, legten sie Feuer 
an das Hans, und so verbrannten die beiden und starben einen 
bittern Tod. Und es erfiillte sich an ihnen, was von dem Lehrer 
der Volker gesagt ist: xat zadw? ooz sSoxiiraoav xov b-sov l/siv Iv 
5taps5(0XsV aotobi; 6 ■^so? si? aSox’jjiov vouv (Rom. las) ton 
anp.dCsab'ai za aw[j.axa aorwv Iv antotc (1 si), rijv dvT'fna&iav y]V sSst 
tfj? TcXdvT]? autmv sv lautoic dzoXa[ipdvovTac (1 27 ) ^). Denn der Feuer- 
brand hier ist nur ein Unterpfand (appajlmv) jenes Feuers, das alle 
Ubeltater qualt. Das ist es, was sich mit Stephanos ereignete, 
weil er sich von der Bruderschaft getrennt ^) und in seinen Ge- 
danken sich iiberhoben und gemeint hatte, dafi er vollkommen 
(rlXsto?) sei. 

Weiter iiber Eukarpios. Es war weiter in der Wiiste 
ein Mann mit Namen Eukarpios. Der verbrachte achtzehn Jahre 
in der Zelle eingeschlossen, und andere brachten ihm seinen Lebens- 
bedarf. Er bewahrte funfzehn Jahre Stillschweigen, indem er 
iiber haupt mit keinem Menschen sprach. Viemebr, wenn er einer 
Sache bedurfte, schrieb er es auf eine Tafel und gab (es) denen, 
die ihn bedienten®). So tat er (auch), wenn jemand ihm um ein 
Wort bat Oder mit ihm sprach. Seine Speise war angefeuchtetes 
Kraut und Misch- Gemiise^). Denn miihsam (tov'xoi;) war seine 
Lebensfiihrung iiber ailes Mafi. 

1) Vgl. die formell ahnlichen Sf hriftbetracbtungen H. L. 25, SOasf. und 
27, SSiof. Vor allem vgl. das aiinliche Konglomerat von Romerbriefstellen am 
Schhifi von c. 47, p. 142 3 — 9, (Rom 1 as. 1 21 , 2 «). 

2) s. 0 . 131 1 . 

3 1 Wir habeii hier eine klassische Schilderung des eigentlichen £TxXEt7u';c. 
Dieser ist im grofien und ganzen dem sketischen Monchstum mit seinem freien 
Zellenwesen, bei dem der gegenseitige Besuch der Mbnche eine Rolle spielt, fremd. 
Aber es handelt sich hier ja auch um eine besonders strenge Form der Heilig- 
keit, die von vornherein als bedenklich geschildert werdeu soil. 

4) Derselbe Ausdruck Jjuao (dort Jnow.) ist Bedjan p. 360 Z, 1. Uber- 
setzung fur sjvHetx (lat. Text olera composita). 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 


211 


Am Ende trieben auch mit ihm die Damonen ihr Spiel des 
eitlen Gedankens wegen, der liber ihn kam. Zuerst loste er sich 
YOU der Gemeinschatt und dem Verkehr mit den Briidem und von 
der Meditation der heiligen Scbriften Und tat nicbts anderes, 
als dad er bestandig betete. Er uberhob und riihmte sicb in 
seinen Gedanken und meinte, dad er vollkommen sei, da er 
ja um der Reinheit seines Herzens willen bestandig 
Gott mit seinem Geist schaue^). Er aber, der 

auch ihn versuchte, wie den seligen Hiob, erschien ihm in einer 
der Nachte, Satan in Gestalt eines Eeuerengels and sprach zu 
ihm : Ich bin der Messias ®). Eukarpios nun, da er ihn sah, meinte, 
dad das Gesicht wahr sei, fiel nieder und betete ihn an und sprach 
zu ihm. Was hefiehlt mein Herr seinem Knecht? Sprach zu ihm, 
der ihm erschienen war: Weil du viele in deinem Wandel iiber- 
troffen und alle meine Gebote bewahrt hast, so ist mein Begehren, 
Wohnung bei dir zu nehmen. Aber nunmehr da du vollendet bist, 
so ist es nicht notig, dad du dich weiter einschlieBt, auch ziemt es 
sich fur dich nicht, dad du das Schweigen bewahrst. Sondern du 
sollst alle Bruder lehren, dad sie sich nicht mit dem Lesen der 
Schriften und dem Dienst (Xsttoop'fta) der Psalmen beschaftigen, 
und dad sie sich nicht mit korperlichen Arbeiten abmuhen, und 
dad sie sich nicht abqualen mit Fasten und mit Hunger und mit 
Wachen, vielmehr dad sie sich abmuhen mit Arbeiten der Seele, 
so dad sie imstande sind sich allmahlich auf eine hohe Stufe zu 
erheben und mich bestandig im Geiste schauen^). Und ich will 
ihnen meine Herrlichkeit zeigen. Und dich, weil du alle in deinem 
Verhalten iibertrofFen hast, siehe so mache ich dich heute zum 
Haupt und Fiihrer iiber alle Einsiedler, die in der Sketis wohnen. 
Denn nicht taugt Makarios’) dazu, ein Fiihrer wie du zu sein. 
Eukarpios nun wurde um so stolzer und hochmiitiger in seinen 
G edanken, und glaubte und vertraute der Tauschung des Betriigers, 

1 ) Auch hier ist von der Eucharistie nicht die Rede , wie das in den 
hhrigen verwandten Kapiteln der Hist, der Fall ist. An Stelle dessen tritt hier 
das neue Moment der Schrift-Meditation ein. 

2) Hatten wir in der ersten Erzahlung den Wundertater, so ist hier der 
T^Eic; der Visional'. Zur xahapoTr,; rr,; -aotpotac als Bedingung der Gottesschau 
vgl. etwa Euagrios Centur. Ill 5. VI 67. Zusatzkapitel 45 S. 461. (Frankenberg, 
Euagrius Ponticus, Gott. gel. Ahh. XIII 2). 

3) Auch dem Vales (c. 25) erscheint der Satan in Gestalt des Erlosers. 

4) Auch hier ist die Vorstellung wie im vorhergehenden Stuck, daB die 
teXeiott); alien aufierlichen Muhen der Askese ein Ende bereitet. Der Vollendete 
ergibt sicb der seligen Gottesschau, 

5) s. 0 . 131 3. 



•212 


Wilhelm Boussei, 


imd sein Geist wurde von ihm erregt, und er nahm Schaden an 
seiner Seele, mit dem Angenblick, da er den Teufel angebetet ^). 

Am folgenden Tage geschah es, daB eine Yersammlung in der 
Kirche stattfand. Und der Satan erschien dem Eukarpios zum 
zweiten Mai und sprach zu ihm: Gehe heute, da alle Briider sich 
versammeln, bin und lehre sie alles, was ich dir in vergangenerUacht 
befohlen habe. Eukarpios nun ofFnete die Tiir seiner Zelle, in der 
er sich eingeschlossen hielt, (olxo? too sYxXsLap,o5) und kam heraus, 
in die Kirche zu gehen. Es traf sich nun, dafi A. Johannes -) zur 
Seite der Kirche saB, und die Briider umgaben ihn und fragten 
ihn liber ihre Gedanken. Als nun Eukarpios kam und den Jo- 
hannes sah, wie ihn die Briider umgaben, wurde er von Keid 

gegen ihn erfiillt und hub an und sprach zu Johannes mit Hoch- 

mut und bbsem Gewissen: Warum schmiiekst du dich und sitzest 
wie eine Hure, die ihre Liebhaber zahlreich macht®). Oder wer 
hat dich verordnet, dafi du Lenker fiir die andern seiest, da doch 
ich der Fiihrer bin? Die Briider nun. wie sie es horten, erregten 
sich und sprachen; Und wer hat dich zum Fiihrer in der Sketis 
gemacht ? Es sprach Eukarpios zu ihnen : Ich wurde in ver- 
gangener Kacht vom Messias zum Fiihrer gemacht. Kiinftighin 
wendet euch mir zu und ich will euch den Weg weisen, so daB 

ihr leicht auf ihm zu der hohen Stufe'*) herrlicher Schau 

emporsteigen konnt. Kiinftig sollt ihr nicht mehr hinter den 
Schriften des Euagrios her irren, und sollt nicht mehr auf die 
Worte des Johannes horen. Genug ist fiir euch des Irrtums bis zu 
dieser Stunde. Und er begann die Vater zu schmiihen. Den Ma- 
karios nannte er einen geschmuckten Gotzen, den die Irrenden an- 
beten, ohne daB er im stande sei die Briider zu den himmlischen 


Ij Auch in der Geschichte Herons p. SOo » liegt der Akzent auf der An- 
betuiig des Teufels. Mit ihr zieht der Wahnsinn in das Herz Herons ein. 

2) Gemeint ist hier, wie aus dem folgenden ersiektlicL, Joannes Kolobos, die 
beruhmte sketische Autoritiit. 

3) Die kleine Scene ist auch, fur sidi ailein und ohne daB der Name des 
Eukarpios erwahnt ist, uberliefert in der eigentlichcn Apophtbegmatasammlung 
im Paradies unter Nr. 502, Bedjan p. 038. — Eine entferntere Parallele steht 
im griechischen Text unter Joannes Kolobos 8. 

4) Wenn bier zum zweiten Mai (s. o. 134 4) von ,,einer hohen Stufe“ in 
Verbindung mit der Schau die Rede ist und hier noch deutlicher gesagt wird, 
daB man zu dieser Stufe „emporsteigt“, so liegen bier offenbar bekannte gno^ti- 
sche Theorien uber die Auifahrt der Seele durch die Himmel vor. 

5) Zur Polemik gegen Euagrios hier und weiter unten vgl. c. 26 (Heron) 

p. 81 5 oi 7T£Lll&p.tV0[ tt] otoaoxalaa go'j dnaTtovrcrt. co yap oioccczciXot; 

TTpOJE'/ElV TTCIpEXTO; TOO Xp!3T0U. 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca 


2J3 


Dingen zu fiihren. Und den Euagrios nannte er einen Wort- 
drechsler, der fiirwahr die Briider hinter seine Schriften her in 
die Irre fiihre und sie von ihren geistigen Arbeiten abbringe. 
Und die Damonen trieben ihren Spott mit ihm, dab sie ihn 
emporhoben und wieder zur Erde fallen liefien '). Das alles war 
es, wodurch Eukarpios zu Fall kam. well er die Briider tadelte 
und verachtete und nicht liber die heiligen Schriften und die Lehre 
der Vater nachsinnen wollte. 

Zum SchluB von alledem. da die Vater sahen. dab er -an seiner 
Seele Schaden genommen. legten sie ihn in Ketten nnd sperrten 
ihn ein-). Und es geschah, als sie ihn in Ketten gelegt, da brachten 
die heiligen Vater fiir ihn das Gebet dar die ganze Zeit von elf 
Monaten®). Und darauf kehrte seine Vernunft zn ihm zuriick, und 
so wurde er von seinem Hochmut geheilt, und er merkte seine 
Schwache und erkannte weiter seine Krankheit, wie die Damonen 
ihren Spott mit ihm getrieben, Und es erfiillt sich an ihm. was 
gcsagt ist*): ein veraltetes Geschwiir wird durch Brennen gehei't. 
Find du fiirwahr, die du erhobt wurdest bis zum Himmel . wirst 
bis in den Hades erniedrigt werden (Mtth. 1128). Er lebte nun. 
nachdem er von seinem Hochmut geheilt war, ein Jahr und einen 
Monat®), wiihrend die Vater ihm befahlen, den Kranken zu dienen 
und den Armen die Fiibe zu waschen, und so entschlief er. 

Wie hat man liber das Verhaltnis dieser beiden Erzahlungen 
zu dem Ahschnitt Historia Lausiaca 24—27 zu urteilen? Die- 
wichtigste Beobachtung, bei der wir werden einsetzen miissen, 
ist die, dab in der ersten derselben ein Schuler des Euagrios im 
Wir-Stil berichtet. Das legt uns bei der im librigen unleugbar 
vorhandenen nahen Verwandtschaft der samtlichen Erzahlungen 
die Vermutung nahe, dab der Erzahler, der hier mit Ich berichtet, 
der.-^elbe sei. oder sein soli, wie der Euagrios - Schuler in Hist. 
Laus, 24 — 27, d. h. der Verfasser der Historia. Daraus ergabe 
sich nun in der Tat entweder die Vermutung, dab wir es hier 
mit sonst verloren gegangenen, echten Stlicken der Historia zu 

1) Val. dazu don ersten Borliner Zauberpapyrus Z. lib und Atbanasios’ 
Vita d. Anton (•,.4:2 MigneOOdC. (Roitzenstein, Sitz.-Her. d. Heidelb. Akad. 1914 
Nr. 8, S. :17). 

2) Das ist die nbliohe Gewaltkur, die man derartigen Ekstatikern ange- 

deiben lieB. c. 25, p. bO vi Tore H.'ja'fzz: a-jTov oi v.al i~\ etoj 

Ev areSIcpdTrE’jSotv. 20 p- -41 10: x'zl ccj'to; ElxoTioBrj (•>; -xa'i oojtov uSTEpov sWT,p(Oiir,'iat. 

3) Vgl. die vorige Anmerkung; i-i he;. 

4) Zu der schriftbeleucbtung am SchluB, s. das oben S. 13-3 i Bemerkte 

5j Sebr lange hat Eukarpios jene vaterliche Gewaltkur niclit uberlel)t. 



214 


Wilhelm Bousset, 


tun haben, oder da6 in nnsem Erzahlnngen eine freie Erfindung 
nnd Nachahmung vorlage, zu der die kurze Andeutung Hist. Lans. 
47 p. 137 17 f. Veranlassnng gegeben haben wiirde. 

Zu Gnnsten der einen wie der anderen Annahme liefie sich 
vor allem auch anf die zablreichen Beruhrungen nnserer Er- 
zahlnngen mit Hist. Laos. c. 24 — 27, die in den Anmerkungen 
bereits hervorgehoben warden, binweisen. Diese erstrecken sich 
nicht bios anf den allgemeinen Gang der Erzahlnngen, das 
wiirde bei dem verwandten StofP nicht weiter anffallen. Selbst 
dafi hiiben und drtiben die gleichen Autoritaten der Sketis, Ma- 
karios und Euagrios, angegriffen nnd beleidigt werden, diirfte 
sich ans dem gleichen Milieu der Geschichten erklaren. Aber die 
tibereinstinunung geht auch bis in die Einzelheiten des Wort- 
lautes — man vergleiche z. B. die Schildernng des lasterhaften 
Lebenswandels des Heron und des Stephanos in Alexandria. Und 
bedeutsam ist endlich auch die Beobachtung, dafi die Erzahlungen 
von Vales, Ptolemaios, Stephanos, Enkarpios samtlich mit Schrift- 
betrachtungen, wie wir sahen, schlossen*); nocb bedeutsamer, da6 
das mit c. 24 — 27 ja unmittelbar zusammenhangende c. 47 mit 
einem Konglomerat von Spriichen ans dem ersten Kapitel des 
Rdmerbriefs schliefit, das sich in etwas veranderter Form am 
SchluB der Stephanoserzahlung wiederfindet ^). 

Andererseits scheint mir doch der Schlufi unmbglich zu sein, 
wir batten es in den Erzahlungen von Stephanos and Enkarpios 
mit freien Erfindungen auf Grand von c. 24 — 27 und 47 zu tun. 
Damit bliebe zunachst einmal das Ratsel, das uns die seltsame 
Riickweisung in c. 47 bietet, wieder ungelost. Wir wurden dann 
etwa den neckischen Zufall anzunehmen haben, dab der Verfasser 
der Historia einmal zwei Geschichten von Stephanos und Eukar- 
pios kannte und zitierte, dab diese dann verloren gegangen und 
an ihre SteUe freie Erfindungen getreten waren. Vor allem aber 
spricht gegen diese Annahme der in so vielfacher Hinsicht ori- 
ginale und nnableitbare Charakter unserer Erzahlungen. Ich zahle 
die schon hervorgehobenen wichtigsten Einzelziige noch einmal 
anf: Die Bekleidung des Stephanos nur mit einer Matte, (seine 


1) In den Kapiteln der Historia Lausiaea ist das sonst selten; vgl. oben 
den SchluB von c. 22 (Paulus der Einfaltige) 49 Sisinnios ; und auch den Schlufi 
des ganzen Buches. 

2) Die Anspielungen auf Kom. 1 21. 26 werden 142 5 durch den Satz ein- 
geleitet: ZEpl hi iTEOUiv t'.vcov voiv oozo'ivxwv Ej(etv puioiv fisoO [xE-a 

yvtbfj-rj; .... Das sieht doch fast wie eine Riickverweisung auf unsere Stephanos- 
geschichte aus. 



Komposition und Charakter der Historia Lausiaca. 215 

W undertatigkeit) ; der Ubertritt in ein Kloster in Alexandria als 
Anfang eines Falles, die theoretisclie (gnostische) Rechtfertigung 
seines lasterhaften Wandels, der AngrilF gegen die Monche als 
die geschmiickten Grotzenbilder '), die man anbetet; die ausfiihr- 
liche Schilderung des IfxXc'aiidc des Enkarpios , die Entgegen- 
setzung von Schriftmeditation und standiger gnostischer Gottes- 
schau, die Gegeniiberstellung der Ereiheit des Visionars gegeniiber 
aller Miihsal geregelter mbnchischer Askese, die Anspielung anf 
stufenmadige Erhebung in der Vision, der Hinweis auf den Ein- 
fluB, den Enagrios durch seine Schriften auf die Mbnchswelt aus- 
iibt, seine Beschimpfung als eines Wortdrecbslers, die treuherzige 
Angabe, daB Enkarpios die Gewalttat der Vater nur um 13 Monate 
iiberlebt. Das sind so lebenswahre, und fiir den Charakter eines 
haretischen gnostisierenden Mbnchstums so iiberaus vficMige Ziige, 
daB man sich sekr scbwer entschlieBen kann, sie alle der freien 
Erfindung eines Literaten zuzuschreiben. Und wenn auch auf- 
fallige Bertihrungen zwischen unsern Erzablungen und c. 24 — 27 
vorliegen, so sind doch aucb diese Kapitel selbt untereinander auf 
das engste verwandt. Diese Verwandtschaft konnte ja ebenso gut 
aus einer urspriinglichen Zusammengehorigkeit aller Erzablungen 
hergeleitet werden. 

Damit waren wir wieder bei der Annahme einer urspriing- 
lichen Zugehorigkeit unserer Erzablungen zur Historia Lausiaca 
angelangt. Aber es geniigt wohl, gegeniiber dieser Vermutung anf 
die bereits oben (S. Ill f.) hervorgebobenen Bedenken Butlers hin- 
zuweisen. Es wiirde in der Tat alle unsere Vorstellungen von der 
Textiiberlieferung der Historia Lausiaca griindlich iiber den Haufen 
werfen, wenn wir annebmen wiirden, daB einige ibrer Partieen in 
der gesamten weitverzweigten tlberlieferung verloren gegangen 
waren und sicb nnr in einem so entlegenen Winkel erbalten 
batten. 

Gibt es nocb eine dritte in Betracbt kommende Moglicbkeit, 
die zugleicb dem Wir-Stil des Stephanos-Stiickes gerecbt wiirde? 
Sollten vielleicht die Kap. 24 — 27 nebst unseren beiden Erzablungen 
zu einer Quelle geboren, die aus Euagrios-Kreisen stanunte und 
in denen ein Schuler des Euagrios — und zwar nicbt der Verfasser 
der Historia Lausiaca — bier und da im Icb-Stil bericbtete? Eine 
Reibe dieser Erzablungen fiibren uns ja in der Tat gerade in den 
Euagrios - Kreis binein. c. 24 p. 782 gibt sicb als eine Uber- 


1) Das erinnert etwa an die fulminante hellenische Polemik gegen das 
Monchstum bei Eunapios, Vitae Sopbistarum ed Schott p. 78. Boissonade ^472. 



21G 


Wilhelm Bousset, 


lieferung des Amnionios und Enagrios. Heron schmaht den seligen 
Euagrios c. 26 p. 81 5 ; in nnsern beiden Erzahlungen tritt dieser 
als eine anerkannte Autoritat in den Vordergrund. Auch mit dem 
bier mebrfacb erwahnten Makarios stebt Euagrios als Scbiiler in 
engster Beziebung^). Das Kap. 47 der Historia, das sicb auf unsere 
Erzablungen zuriickbeziebt, flihrt uns wieder mitten in diesen 
Ereis binein. DaB es umtangreicbe Euagriosiiberlieferungen ge- 
geben bat, die uns z. T. nur nocb in entlegenen Quellen erbalten 
sind. zeigt ein Blick in die koptischen Zutaten der Vita des Eua- 
grios (Preuscben, Palladius und Hufin S. 114 — 119). 

Und so ware es doch moglich, daB uns in der Tat mit der 
Existenz der Stephanos - Eukarpios - Erzahlung in syrischer Uber- 
lieferung ein aufieres Zeugnis fiir die sicb aus der Historia Lau- 
siaca selbst mit aller Wahrscbeinlichkeit ergebende Vermutuno- 
gegeben ware, dafi der Verfasser der Historia c. 24 — 27 eine 
Quelle stiickweise benutzte, um diese dann c. 47 nebst den aus- 
gebis.senen Stiicken zu zitieren. Diese Quelle ware ein Komplex 
von Erinnerungen und Erzablungen gewesen, die aus dem Eua- 
grios-Kreis staramte und von einem Euagrios-Schiller z. T. im Wir- 
Stil iiberliefert wurde. Wir werden dann weiter annebmen, daB 
diese Sammlung von Erzahlungen sicb aucb gesondert auBerbalb 
der Hist. Laus. in der Apophthegmaten-Uberlieferimg erbielt. Dem 
Kompilator des zweiten Teiles des Paradieses stand sie nocb zur 
Verfiigung. Da er aber sab, dafi die iibrigen Gescbichten bereits 
in den ersten Teil der Sammlung der Historia Lansiaca auf- 
genommen waren, so brachte er nur die beiden iiberscbiissigen 
Stlicke: die Erzahlungen von Stephanos und Eukarpios. 

Ware diese Vermutung ricbtig, so konnten freilich aucb die 
wenigen Wir-Satze, die sicb in c. 24—27 der Historia finden, 
und die wir oben besprachen, einfach vom Verfasser aus seiner 
Quelle herubergenommen sein. Und man kiinnte im einzelnen bier 
nicht mebr scbeiden. Andererseits wird sicb eine personliche Be- 
riihrung des Verfassers der Historia mit Euagrios kaum be- 
zweifeln lassen"), wenn diese vielleicht auch nur eine voriiber- 
gebendere war, als es nach seiner Darstellung erscheinen mochte. 

Ich mochte aber diese Vermutungen mit aller Reserve auf- 

1) Vgl. die capita practica des Euagrios Xr. 93, 94, Migne 40, 1249. In 
den koptischen Vertues de St. Macaire, werden eine Reihe von Makarios - Loaien 
durch Euagrios uberliefert. Annales du Mus. Guimet 2b p. 137. 167. ItiO. 
19.J. 200. 

2) Der Brief des Euagrios 51 (Frankenberg 599) bezeichnet den Pafladios 
als Uberbringer eines Schreibens von einem imgenannten Briefsteller. 



Komposition and Charakter der Historia Lausiaca. 


217 


gestellt haben. Mit voller Sicherheit wird sich das vorliegende 
Problem kaum losen lassen. Vielleicbt bringen neue literarische 
Ftinde bier neuen AufscbluB. Jedenfalls haben die interessanten 
Erzahlungen von Stephanos nnd Enkarpios ihren eignen Wert, 
wie man anch iiber ihre Herkonft denken moge. Und was in dem 
Hauptteil der Abhandlnng fiber den Verfasser der Historia Lan- 
siaca nnd die eigentfimliche Art seiner QneUenbehandlnng gesagt 
ist, scheint mir festzustehen, wie man anch fiber den Zeugniswert 
der besprochenen IJberlieferung urteilen moge. 


Kgl. Ges, d. Wiss. Nacbrichten. Phil.-hist. Klaue. 1917, Heft 2. 


15 



Zur Geschichte der Samkhya- Philosophic. 

Von 

H. Oldenberg. 

Vorgelegt in doi' Sitzung vom 3. Februar 1917. 

Das hocherfreuliche Erscheinen von G a r b e s Buch iiber die 
Saipkhya-Philosopliie in neuer Gestalt gibt AnlaB, eine Reibe von 
Eragen die Geschichte dieser Lehre betreffend wiederholt zu er- 
wagen. Fur mich handelt es sich insonderheit darum, Autfassungen, 
die ich in meinem Buch „Die Lehre der Upanisaden und die An- 
fange des Buddhismus“ vertreten habe , gegen Einwurfe Garbes 
zu verteidigen. 

Als vor iiber zwanzig Jahren dessen nSainkhya-Philosophie^ 
zum erstenmal erschien, war es klar, dab damit der Wissenschaft 
ein Werk von maSgebender Geltung geschenkt war. Diese Stel- 
lung wird dem Buch unzweifelhaft auch ferner verbleiben. Darin 
aber liegt, dab, wer in Einzelfragen von Garbes Auffassungen 
abweicht, die Pflicht haben wird sich mit ihnen auf das sorg- 
faltigste auseinanderzusetzen p. 

Es handelt sich vor allem um die Vorgeschichte, in der sich 
das Samkhya zu seiner klassischen, insonderheit in der Samkhya 
Karika vorliegenden Gestalt entwickelt hat. Lehren uns die Sani- 
khyapartien alterer Texte — einiger Upani.saden und des groben 
Epos — ein vorklassisches Sainkhya kennen, oder hatte das Sam- 
khya damals, im wesentlichen wenigstens, seine klassische Gestalt 
schon erreicht, vielmehr hat es von Anfang an allein in dieser 
Ge.stalt existiert, und erklaren sich die Abweichungen, mit denen 

Ij Garbes „Saipkhya-Pliilosophie“ (2. AuH.) fuhre ich im folgenden mit G., 
mein oben genanntes Buch mit LUAB. an. 



H, Oldenberg, Zur Geschichte der Samkhya-Philosophie. 219 

es sich in jenen alteren Quellen darstellt, aus der Beimischung 
fremdartiger Elemente? Das erstere ist meine Ansicht'), das 
letztere die Grarbes. Im Zusammenhang mit dieser Meinungs- 
verschiedenbeit steht eine solche iiber die Beziehungen des Sam- 
kbya znm alten Buddbismus. EinfluB jenes Systems auf die Lebre 
Buddbas scbeint kaum zu bezweifeln : ging er von einem vor- 
klassiscben oder vom klassischen Samkbya ausV Icb werde im 
folgenden an erster Stelle die anf die Upanisaden und das Epos 
beziiglichen Fragen priifen. Dabei bat es sicb zu entscbeiden, ob 
wir berecbtigt sind, fiir das Samkhya in seinen Beziebnngen znm 
Buddbismus eventnell eine andere Gestalt als die der Kariktx in 
Rechnung zu stellen. 

Zuvorderst also bescbaftige icb micb mit den Upanisaden, 
in deren vom Samkbya beeintluBten Partien G., wie erwabnt, das 
klassiscbe Samkhya zu Grunde liegend findet. Fiir ihn gibt es 
iiberbaupt nur dieses Samkhya. Er scbreibt dem System in dieser 
Hinsicbt einen gevrassen exzeptionellen Charakter zu. „Alle anderen 
Systeme zeigen ein mehr oder weniger loses Gefiige, in dem noch 
die Spuren des Allmahlich-geworden-seins erkennbar sind ; im Sain- 
khya-System dagegen haben wir einen Ban vor uns, der von unten 
bis oben planmafiig aufgefiibrt ist, in dem ein Stein auf den andern 
pafit" — so auJSerte er sich friiber („Beitrage zur indiscben Knltur- 
geschicbte* 75), und im selben Sinn sagt er jetzt (S. 10), daB Ka- 
pila. der Begriinder der Samkhyalehre, „nicht einzelne unzusammen- 
hiingende Gedanken, sondern ein System verkiindet bat. Aus dem 
in den Lehrbiicbern vorgetragenen Samkhya-System kann man nur 
wenig fortdenken; sonst bleibt es kein System mebr“. Mir scbeint, 
daB Garbe bier, wie das wohl begreiflich ist, mit einer gewissen 
Einseitigkeit sich dem Eindruck der von ihm so eingehend in alien 
ihren Details durchforschten, in der Tat ungemein geschickt auf- 
gebauten Karikalebre hingegeben hat. DaB diese nur einem 
genialen Wurf ihre Gestalt babe verdanken konnen, ist doch, 

1) Sclion vor mir hat, wie ich in ineiuem Buch hervorzuheben nicht unter- 
lasseu babe, J. Dablmann dieselbe Ansicht scharfsinnig vertreten. Wenn ich 
nun gegenuber Dahlmanns ..maBloser Uberschatzung des Alters des Epos'' meine 
Reserven gemacbt babe, so batte ich damit nach Garlie (S. 38) „gerade den 
Punkt hervorgehoben, der Dahlmanns Arbeiten auf diesem Gebiet die Beweiskraft 
nimmt“. Ich denke daruber doch anders. Audi wenn man das Mahabharata, 
wie man m. E. mull, in wesentlicli jungere Zeit riickt als D., ist es immer noch 
alt genug, um ein alteres bainkhya als das der Kaiika bezeugen zu konnen. Man 
muB das letztere allerdings nicht — worauf ich zuruckkomme — fur vorbuddhi- 
stisch halten. 


15 * 



220 H- Oldenberg, 

glaube ich, viel zuviel behauptet. Man sehe, was fiir Schicksale 
beispielsweise die bnddhistische Spekulation von den PaK-Pitakas 
bis auf Nagarjuna oder Vasnbandhn durchgemacht hat, oder selbst 
die Vaisesikalehre in der verhaltnismaBig karzen Zeit von Kanada 
bis Prasastapada. Da6 da das Samkhya sich so absolut anders 
verhalten haben soUte — es ist wohl mebr als ein Jahrtausend, 
das fiir die Zeit von den Anfangen bis anf die Karika in Be- 
tracht kommt — ware in der Tat eine hochst befremdende Aus- 
nahmeerscheinung. So geht denn anch Jacobi, der mit Grarbe 
in der Znriickdatierang des klassischen Satnkhya in die vorepische 
Zeit iibereinstimmt, doch in der nns bier beschaftigenden Frage 
sehr viel weniger weit als dieser. Er lafit einzelne Samkhya- 
Lehren und Termini scbon langere Zeit vor ,Kapila“ bestehen 
(GrGA. 1895, 205. 206) und nnterscheidet zwiscben dem unfertigen 
und dem fertigen System, von denen jenes in den Upanisaden, 
dieses im Epos benutzt sein soil (Festschrift Kuhn 39). Wie tief- 
gehender Varianten das System noch in spater Zeit fahig war — 
insonderheit, wenn man anfier dem reinen Samkhya auch das mit 
dem Yoga kombinierte, das schliefilich doch anch Samkhya war, 
in Betracht zieht — , scheint aus den Daten hervorzugehen, die 
Schrader (ZDMG. LX VIII, 101 ff.) neuerdings iiber das in einem 
Text der Pancaratras beschriebene Sastitantra ans Licht gezogen 
hat. Man bedenke, da6 Stromungen der Spekulation die Kon- 
sequenzen, die in der Tat in ihnen vorbereitet sind, oft nur 
allmahlich ans Licht bringen, sich nur allmahlich so zu sagen iiber 
sich selbst klar werden. Die Anfange verfangen sich noch leicht 
in den Hindernissen, die das Vorgefundene der vorwarts strebenden 
Bewegung entgegenstellt. Dann arbeitet sich diese Bewegung von 
Problem zu Problem weiter, und es hiefie allzu gering von der 
Denkkraft und Geschicklichkeit der Trager dieses Fortschritts in 
der Entwicklung des Samkhya denken, wollte man ihnen nicht die 
Fahigkeit zutranen, den unter ihren Handen entstehenden oder 
sich wandelnden Gedankengebilden so viel innere Konsequenz zu 
verleihen, wie etwa in den Lehren der Karika uns entgegentritt. 
Die folgenden Erorterungen werden zu zeigen haben, ob nicht in 
in der Tat aus dem System der Karika wichtige modemere Ele- 
mente fortgedacht werden konnen, so daB als A 1 teres doch immer 
noch eine durchaus glaubHche Gestalt der Samkhyalehre iibrig 
bleibt. 

Was nun also die Stellung der Upani§aden zum Samkhya 
anlangt, so stimme ich mit Garbe darin zunachst voUkommen 
iiberein, daB die altesten Upanisaden, wie die Chandogya Up. und 



Zur Geschichte der Saipkbya-Fhilosophie. 


221 


Brhad Aranyaka U. , dnrchaus v o r dem Saipkhya liegen. Zam 
Argumenttun ex silentio, dem Fehlen von Spnren des Samkhya in 
diesen Texten tritt erganzend and bekraftigend die offenbare 
Tatsache hinzu, dafi die ganze Grundlage, anf der sich die Pro- 
bleme des Samkhya erheben, hier eben erst geschaffen wird. 

Auf der andern Seite herrschtj darin wohl allgemeine Uber- 
einstimmung, dafi eine Reihe jiingerer Upanisaden, insonderheit die 
Kathaka, Svetas vatara nnd Maitrayana Up., Kenntnis des Satn- 
khya zeigen. Wenn in der ersten uud dritten der eben genannten 
der Name Saipkhya nicht erscheint, so glaube ich doch — nnd 
ebenso sieht es ofiPenbar Garbe an — , dafi kein ernstes Bedenken 
dagegen besteht, fiir die durchans charakteristischen Termini, die 
dort genannt werden, entsprechend der spater bezengten Sachlage 
das Schlagwort Samkhya in Ansprnch zu nehmen. 

Garbe (S. 33. 35) geht nnn freilich in der Hervorhebung der 
Nahe, die zwischen seiner nnd meiner AufFassnng obwaJten soil, 
allzu weit, wenn er mich aus den Zeugnissen der Upanisaden auf 
ein diesen vorliegendes Samkhya schliefien lafit, das im Grunde, 
so wie er selbst es ansieht, vom klassischen Samkhya der Karika 
kaum verschieden gewesen ist. Ich hebe als die hauptsachlicbste, 
meines Erachtens entscheidende Differenz hervor, dafi die Upani- 
saden einen universalen Puru§a („Geist“) kennen, die Karika da- 
gegen nur die Vielheit der unabhangig neben einander stehenden 
Einzelgeister : ein Unterschied, den als nebensachlich zu erachten 
doch nicht angeht. Liegt da nun in den Upanisaden Vermischung 
des Samkhyabestandes mit Anderweitigem — kurzgesagt mit Ve- 
danta — vor? Garbe (S. 36) schiebt diese entscheidende Frage 
vom Gebiet der Upanisaden auf das des Epos hiniiber. D a herrsche 
Mischmasch von Samkhya und Vedanta: und somit „gilt das gleiche 
naturlich auch von dem mit ihm (dem „epischen Samkhya") in- 
haltlich im wesentlichen iibereinstimmenden Gemengsel in den jiin- 
geren Upanisads”. Die damit hervorgehobene Ubereinstimmung 
ist in der Tat fraglos in vielen Beziehungen vorhanden, woriiber 

1) liber den ahatnMra Ch. U. VII, 25, 1 und die sattvasuddhi das. 26, 2 urteile 
ich ganz wie Garbe i6 f. ; ebenso uber lihga BAU. IV, 4, 6 und iiber das sonst 
von G. dort Zusammengestellte. Aus alterer Zeit kommen noch die drei Gunas 
Av. X, 8, 43 in Betracht ; deren Vorsteilung aber kann sehr wohl unabhangig von 
den spezifischen Saipkhyaideen entstanden sein; vgl. uber ihr Verhaltnis zu diesen 
LUAB. 220 f. Wenn ich dort 222 von der Gupavorstellung als einer „Sch6pfung 
des Saipkhya" gesprochen habe, so ist naturlich, wie aus dem S. 214 f. Gesagten 
hervorgeht, damit eine dem Saipkhya vorangehende Vor geschichte der hetreffenden 
Lehre keineswegs gelaugnet. 



222 


H. Oldenberg, 


unten eingehender zu sprechen ist. Aber sie ist docb kaum so 
vollstandig, und weiter stellen die Upanisadenmaterialien unter 
einander zeitlich und inhaltlich offenbar keineswegs eine so voll- 
kommene Einheit dar, da6 ich es fiir vorsichtig halten konnte, 
das Problem der Upanisaden kurzweg durch Hinweis auf Ver- 
haltnisse des Epos zu erledigen. So hat ja auch Jacobi, wie 
erwahnt, zwischen der Sachlage in den Upanisaden und im Epos 
zu unterscheiden nicht fiir iiberfliissig gehalten. Ich mochte daher 
eine ins Einzelne gehende Priifung dessen, was den Upanisaden. 
insonderheit der altesten in Betracht kommenden, der Kathaka Up., 
zu entnehmen ist, nicht unterlassen ^). 

Die Kathaka Up. gibt in ihrer ersten , urspriinglichen wie in 
ihrer jiingeren Halfte, im wesentlichen iibereinstimmend , auf- 
steigende Reihen von Kategorien: indriya (hier 3, 10 noch artha), 
mcinas, biiddhi (3, 9 als vijnana bezeichnet, 6, 7 als scdtva), mnhnn 
atma, avyahtu, purusa als hochstes (,..sr7 hasthd sa parcl gatih^‘ 3, 11). 
Fiir den Menschen kommt es daranf an, dies Hochste zu erkennen 
(2. 7 ff. 21. 23: 3, 15; 4, 6 ft’.; 6. 8), wodurch er erlost wind. Oder 
auch: es kommt darauf an, die Sinneswahrnehmungen, manas und 
buddht zur Ruhe zu bringen, was Yoga ist (6, 10 f. ; vgl. 3, 13), 
und den angHsthamdtra puraga nntaralman aus dem Leibe zu ziehen 
wie die isihl aus dem munja (6, 17). 

Der theoretische Aufbau, so zu sagen die Samkhyaseite des 
da G-esagten, zeigt bemerkenswerte Varianten gegeniiber dem jiin- 
geren Schema, wie entsprechend auch auf der Yogaseite wohl ein 
einfacherer Zustand als der spatere vorliegt (Hopkins JAOS. 
XXII. 335). Ob die Kathaka Up. die Gupas nur zufallig un- 
erwahnt laBt. ist mindestens zweifelhaft (LUAB. 220). Vor allem 
aber weicht die Reihe der psychologischen Hauptkategorien hier 
wesentlich von der spateren Gestalt ab. Der aJiamlara, der ja 

1) Die vorbuddhistische Entstehung dieser Upanisad scheint mir unzweifel- 
hatt; dafur spricbt ihr Stil im Ganzen wie eine Eeihe einzelner Indizien (LUAB. 
20.3. 351). Icb kann keinen Grand dafur entdecken, dab G. wie fruher so aucb 
jetzt (S, 26) die Existenz brahmanischer Texte, die Samkbyalehren entbalten, in 
Yorbuddliistischer Zeit nicht gelten lassen will. Da er seinerseits das Samkhya 
— m. E. mit Eecht — fur vorbuddhistisch erklart, ist nicht abzuseben, warum 
gerade das Zeitalter, wo das Samkhya bereits existierte, der Buddhismus aber 
noch nicht, sich in der Literatur nicht bemerkbar gernacht haben soil. Besonders 
wenn dies Zeitalter, wie Jacobi (ZDMG. LII, 3) annimmt, nach vielen Jahr- 
hunderten zu berechnen ist. Ob das richtig ist, weiB ich nicht und glaube ich 
nicht wissen zu kiinnen ; Garbes (S. 7) Einwand, dafi die dem Samkhya voran- 
gehenden Upanisaden dann chronologisch schwer unterzubringen sind, scheint mir 
nicht berechtigt. 



Zur Geschichte der Samkhya-Philosophie. 


223 


auch in der alteren Zeit keine Rolle spielt, fehlt; dafiir sind hnddhi 
nnd mahan atma unterschieden. Die bitddhi, dem vijnana gleick- 
gesetzt, steht, ebenso wie spater. neben oder vielmehr iiber dem 
manas in einer Dignitat, die durchaus dem schon in den alteren 
Upanisaden vorliegenden Verbaltnis von man- nnd vi-jna- ent- 
spricht. So ist dort in Chand. Up. VII, 13, 1 ; 15, 4 ; 25, 2 die 
Rede von ,.horen (oder: sehen), denken (man-), erkennen (vi-jnd-)‘‘ . 
Von der Sinnenwelt heifit es, dafi dort einer den andern sieht, 
riecht, hdrt, zu ihm spricbt. ihn denkt (wan-), ihn erkennt (vi- 
jm); in der All-Einheit des Jenseits dagegen: wodnrch und wen 
sollte er sehen nsw. , denken, erkennen ? Zum SchluB dieser Aus- 
fuhrungen, wie mit einer allein dem Erkennen gebiihrenden Apo- 
theose: „Durch den er dies alles erkennt, wodnrch soil er den 
erkennen? Den Erkenner tiirwahr. wodnrch soil er ihn erkennen ?“. 
(BAU. II, 4, 14). Es scheint, daB die in der Ansdrnckweise des 
Samkhya sich einburgernde Benennung der hoheren Erkenntnis- 
fnnktion als bitddhi^) ans der Vorstellnng hervorgeht, daB man 
zum Wissen nm das letzte Geheimnis gleichsam „erwacht“. wahrend 
der AUtagsmensch dem Schlafenden gleicht. Eine Spur davon, 
daB in der spateren Weise die Fnnktionen der psychischen Wesen- 
heiten nach den drei Kategorien von udhyavasaya, samkalpa, abhi- 
manu abgegrenzt worden waren (Maitr. Up. 2, 5 nsw. ; S. Karika 
23 ff.; LUAB. 231), findet sich in der Kath. Up. nicht nnd kann 
sich dort nicht finden; das Eehlen des akamkara laBt fur jene 
Dreiheit keinen Raum. Was aber den in der Kathaka Up., anders 
als im spateren System , ii b e r der buddhi stehenden mahan atma 
anlangt, den Wagenfahrer, dessen Wagen, den Leib, die buddhi 
lenkt, so scheint jener, wie ich schon LUAB. 229 bemerkt habe 
— welche andre Bedentnng bliebe anch fiir ihn iibrig? — nichts 
andres als der purusa selbst, insofern dieser ans seiner reinen 
Hdhe herabgestiegen ist um mit dem — entsprechend in der Reihe 
der KU. als zweithochste Macht zwischen piirusa und mahan atma 
aufgefiihrten — nvyakta in Beziehung zu treten und sich dadurch 
zu individualisieren ; m. a. W. im Individuum manifestiert sich 
der punisa als der von buddhi und manas — diese doch wohl 


1) Vgl. 6, 4. Man denke auch an den Buddhismus. Der alteren Sprache 
ist die besondere Bewertung von hudh- noch fremd; ein Anfang liegt in prati- 
buddha BAU. IV, 4, 13 vor (vgl. meinen „Buddha“ 56). In den philosophischen 
Abschnitten des Epos ist der Gebrauch von badh- fur die hochste Erkenntnis be- 
sonders haufig; vgl. Bhag. G. 2, 30; 3, 43; 15, 20 usw. ; MBh. XII, 6471. 11256. 
11325 ff. 11411. 11437. 11443. 11447. 11454 usw. (ich zitiere MBh. nach der 
Kalkuttaer Ausgabe). 



224 


H. Oldenberg, 


schon jetzt auf die Seite des avydkta gehorig — unterschiedene 
mahdn atma, bei dem die Beneimuiig atma auf seine transzendente 
Vomehmheit hinweist, nnd der auch von der Upanisad ausdriicklich 
mit dem purusa identifiziert zu werden scheint, wenn vom letzteren 
gesagt wird (3, 12) esa sarvesu bhutesu gudlw ’tmd na prakasate ; 
vgl. auch angustJiamatrah puruso madhya dtmani tisthati 4, 12 ^). 
I)er so individualisierte purusa aber ist an sicb der hochste uni- 
versale. Er weilt, wie der eben angefiihrte Vers sagt, sarvesu 
bhutesu ; er ist madamado devah 2, 21 ; tsmo hhutahhavyasya 4, 5 ; 
ans ihm geht die Sonne auf, in ib m geht sie unter 4, 9 ; er ist 
das eine innere Selbst alien Wesen, das sich jeder Gestalt an- 
schmiegt und docb zugleich drauBen bleibt (5, 9 if.), dessen Glanz 
das All nachglanzt (5, 15). Er ist das Brahman (5, 8; 6, 14), der 
ewige Eeigenbaum, dessen Wurzel aufwarts, dessen Zweige ab- 
warts gewandt sind (6, 1); nicht sehe man bier eine Vielheit 
(4, 10 f.). 

Ich sprach LTJAB. 353 davon, daB in der Kathaka und den 
anschlieBenden TJpanisaden sich das Vorliegen des natiirlichen 
Mittelgliedes zwischen der Lehre der alten Upanisaden und dem 
klassischen Samkhya aufdrangt. Garbe (S. 37) findet, daB dies 
auf einem subjektiven Eindruck beruht; er seinerseits konne den 
Schein eines solcben Mittelgliedes nicht wahrnehmen. Ich ver- 
suche darum das, was ich in dieser Hinsicht, zunachst in der KU., 
zu sehen glaube, naher zu beschreiben. 

Die Lehre der alten Upani§aden lief, wie ich LUAB. aus- 
gefiihrt habe und wie das auch Garbe (25) anerkennt, auf einen 
Dualismus hinaus ; Ei^eit und Vielheit , Subjekt und Objekt, 
Atman und was nicht Atman ist. Mit ungeteiltem Enthusiasmus 
wandte sich das Denken zunachst der einen Seite zu, der des 
Atman; da lag die groBe Entdeckung, die man gemacht hatte, 
der Weg zum Heil. Die andre der beiden Seiten blieb fiirs erste 
dunkel, unaufgeklart. Es scheint mir dem natiirlichen Gang der 
Entwicklung zu entsprechen, daB fortschreitender Erkenntnisdrang 
nnnmehr auch uber den Nichtatman sich klar zu werden ver- 
langte. Und weiter, das Erlosungsstr^ben muBte die Frage stellen: 
was hat mai^zu tun, um den eignen Atman zu seiner QueUe, dem 
universalen Atman, zuriickzufiihren, die verdunkelte Identitat des 
einen und des andem zu realisieren? — womit die Eichtung auf 
den Yoga hin angezeigt war und zugleich von Seiten des prak- 


1) Eine Bestatigung des bier uber das Verhaltnis Ton purusa und mahan 
iUnia Gesagten liefert das Epos; s. unten. 



Zur Geschichte der Saipkhya-Philosophie. 


225 


tischen Bediirfiiisses jener Antrieb zar Erforschnng auch des Nicht- 
atman verstarkt wurde: denn nm aas diesem herans den Atman 
freimachen zu konnen, mufite offenbar Kenntnis des Nichtatman 
nnentbehrlich erscheinen. Was war natiirlicher, als da6 unter 
dem EinfloB solcher Motive das erstarkende Denken das alte 
Stadium des ungeordneten Hinwerfens aphoristischer Ideen zu 
iiberschreiten anfing und in einem vergleichsweise festen, wenn 
auch naturlich immer noch fur weitere Entwicklungen weiten 
Spielraum lassenden Zusammenhang eine Eeihe prinzipieller Er- 
kenntnisse, dazu auch praktischer Vorschriften formulierte? Damit 
war denn erreicht, woven in der Chandogya oder Brhad Aranyaka 
TJpanisad nicht die Rede war : wenigstens der An fang von etwas, 
das wir System nennen konnen, der Anfang des Samkbya samt 
Yoga 1). 

Eben dieses Entwicklungsstadium nun, dessen natnrgemafies 
SichanschlieBen an die alien Upanisaden ich damit aufgewiesen zn 
haben hofFe, stellt sich in der Tat in der Eathaka Up. dar. 

Hier ist jenes yon den alten Upanisaden im Dunkel gelassene 
Etwas, das nicht Atman ist, als das „Unentfaltete“ {avyaJeta) be- 
nannt und der Betrachtung zuganglich gemacht. Hier ist versneht 
worden, die Entfaltungen, auf deren Hervorgehen ans jenem sein 
Name uvyakta deutet, der Reihe nach aufzufiihren. 

Auf der anderen Seite des groBen, aus den alten Upanisaden 
ererbten Dilemmas aber das hochste Wesen, der purusa, wie 
schlieBt er sich an die Gedankenkreise der Vergangenheit an? 
Warum tritt statt des alten brahman, atman — - welche Namen 
jetzt ubrigens keineswegs verschwinden -) — jene Bezeichnung in 
den Vordergrund? 

Es ist bekannt, daB schon in der alteren Zeit, von Rgveda 
X, 90 an, der purnsa, unter diesem Namen, eine bedeutende, oft 
eine leitende Rolle spielt. Ich verweise auf Vaj. Samh. XXXI, 18; 
XXXII, 2f. ; Taitt. Ar. I, 23, 4; Deussen, Allgem. Gesch. der Phil. 

1) Yon den hier vorgelegten Betrachtungen aus lage es nah einen Blick auf 
das zu werfen, was Jacobi neuerdings (Festschr. Kuhn 38 f.) liber das Hervor- 
wachsen des Samkhva aus Motiven des „Materialismus“ bemerkt hat. Ich spreche 
davon. um hier den Zusammenhang nicht zu unterbrechen, lieher an spaterer 
SteBe. 

2) Was brahman anlangt, vgl. z. B. KU. 5, 8 ya esa suptesu jagarti kamam 
kdmam puruso nirmimdnab, tad eva sukram tad brahma. Jacobi, Festschr. 
Kuhn 38, spricht vom pradhana als dem brahman des Saipkhya; auch diese 
Gleichung findet sich in der Tat (G. 267 ; s. auch Bhag. G. 14, 3 und Garbe zu 
der Stelle). Aber die andere ist offenbar die altere und in der Geschichte der 
Vorstellungen tiefer begnindete. 



226 


H. Oldenberg. 


I, 1, 288 ff. Hervorgehoben sei noch BATJ. Ill, 2. IB, wo beschrieben 
wird, wie die verschiedenen Teile and Organe des Sterbenden in 
Sonne, Mond, Erde usw. eingehen, nnd dann die Frage folgt: wo 
aber bleibt der jnirusa (selbst)? — so dab, wenn man auch gewib 
iibersetzen wird ,.der Mensch“, dock eben damit zn jenen uberall- 
liin sick zerstreuenden Wesenselementen der purusa als das Zen- 
trale in Giegensatz gestellt wird. klan vergleicke weiter noch 
das. Ill, 9, 26 : nach einer Reihe minder hock stehender purn^a'< 
(§ 10—17) — dem p. in der Sonne, dem p. im Spiegel usw. — 
folgt der, der iiber aUe jene p.s hinausschreitet, der aiipanixada pu- 
y>-sa, den Sakalya, der Unerleuchtete . nickt kennt. Noch aui 
ebendas. IV, 3, 11. 12. 15. 16 sei verwiesen: die letzten Stellen, 
ganz an die Auffassungsweise des Sfimkhya anklingend, sprecken 
davon — zuerst mit Beziehung auf den Zustand des Traumens, 
dann auf den des Wachens — wie der Pnrusa .,yat tatra htncif 
pasyaty ananvdgatas tena bhavati, asnngo hy ay mu puritsah‘^. 

So sind es alte Vorstellungen, an die sick das Samkkya in 
der Wahl der Bezeichnung purusa ansckliebt. DaB es aber gerade 
jene Bezeichnung gewahlt hat, scheint sick mir, wie ich schon 
LUAB. 224 andeutete , daraus zu erklaren, dab der Purusa 
(„Mann“) mehr als der Atman „auf sick selbst gestellt ist, gewisser- 
maben voile, runde Gestalt besitzt“. Man sprach vom Purusa im 
Auge, vom Purusa in der Sonne (Lokativ; dagegen Atman gern 
mit Genitiv um auszudriicken, wessen Atman das ist). So empfahl 
sick der Ausdruck fur eine Lekre, die auf den Dualismus des 
Ewigen und des Wandelbaren als zweier versckiedener Machte, 
die eine der andern innewobnend, ihre Aufmerksamkeit ricktete 
und die insonderkeit im Yoga das Herausziehen des einen aus der 
Umkiillung des andem sick zum Ziel setzte. 

Haben wir so den Gedankenkreis der KU. als eng und un- 
gfzwungen an den der alteren Ilpanisaden ansckliebend erkannt, 
so konnen wir nunmehr iiber die beiden andern Samkhya-Upani- 
saden kiirzer sein. 

Labt die Svetasvatara Up. ^), welcke bekanntlich die KU. 
vielfach benutzt hat®), dieser gegeniiber in der Benennnng des 
Naturprinzips als prakrti, pwav'.iana eine weiter entwickelte, iiber 
einen reicheren Wortschatz verfiigende Terminologie erkennen? 

1) Ich nenne hier die neueste Behandlung dieser Upanisad: von Sir R. G. 
Bhandarkar, Vaisnavism, Saivism etc. 106 ff. 

2) Man bemerke, da6 so archaische sprachliclie Erscheinungen, wie sie in 
der KU. mehrfach begegnen, der Sv. I', fremd sind. Ihre metrische Praxis macht 
ebenfalls einen jungeren Eindruck (NGGW. 1915, 510). 



Zur Geschichte der Samkhya-Philosophie. 


227 


Wie diese Upanisad gleich im Eingang eine ganze Reihe von 
Schlagworten, AulFassungen der hochsten Weltmacht betreiFend, 
neben einander stellt, wie sie dann den Vorstellungskreis des 
Samkhya bestandig — hochst storend fiir den Exegeten — mit 
der Lehre vom Isvara durch einander wirrt; das alles verrat 
einen Standpnnkt, der sick von den Anfangen des Samkhya, — 
dieses wird bekanntlich hier zuerst. ebenso wie Kapila, mit Namen 
genannt — schon um einen fiihlbaren Schritt entfernt hat. 

Jetzt haben die Grunas. mit denen KTJ. sich nuch nicht be- 
schaftigt. eine bedeutende Rolle zii spielen angefangen; zu ihnen 
steht das Gunalose (6, 11) in schrolFem Gegensatz. Ob die alte 
Verschiedenheit des mahfru. ofma und der hnddhi noch festgehalten 
wird, labt sich nicht sagen. In jedem Fall tritt der a’lainl-ny'i in 
die Erscheinung ; die drei Funktionen der groben psychisehen 
Kategorien siud, scheint es, in der spater gelaufigen Weise lest- 
gestellt (5, 8). Wie in KU. wird anf die It ogapraxis starker 
IS’achdruck gelegt; es ist von dieser unter Beibringung zahlreicher 
Details wesentlich eingehender die Rede als in der alteren Upani- 
§ad. Der Purusa erscheint auch hier als der universale Geist, der 
sich in den Einzelpersonlichkeiten manifestiert. Von ihm heiBt es: 
vrksa iva sfabdko diri tisthaty ekas, tenedam purnam pnrnsena sarvam 
(b. 9); e/v) devah sarvahhTitpsn gttdiiah sarvavya2>t sarvahhittatdaratnid, 
ktinnadhyuksah sarvahluitndhicdsah snksi crtn kevalo niryanai ca (6, 11). 
Er wohnt in nns : tarn dtmastham ye ’nupasyanti dhrrds tesdm siikham 
msvatam netaresnm (6, 12): wo denn er. der Uberschauer und Ge- 
niefier, noch nicht, wie der Purusa der spateren Lehre, aufgehort 

1) So bleibt, falls jetzt mah. a. und buddhi identifizieit wurileu. die Zahl 
der Prinzipien dieselbe, die sie vermutlich von Anfang an war; was wohl kein 
Zufall sein wurde bei dieser Lebre, die durch ihren Namen als die Zahl besouders 
beriicksicbtigend gekennzeiehnet wird. Denn daB der Name sdmkhya auf samkhyd 
Zahl"* beruht, balte ich — abweichend von Jacobi GGA. 1695, 209 und Char- 
pent ier ZDMG. LXV, 847 — fur zweifellos. — In diesem Zusammenbang niochte 
icU einer Bemerkung Garbes (S. 125> gedenken. der anlaClich der Hypothese 
vom EinfluB des Saipkhya auf Griechenland is. daruber die Anmerkung am SchluB 
dieses Aufsatzes) es als „nicbt ganz unmoglith'- bezeicbnet, daB die pytha- 
woreische Zahlphilosophie „au3 eiuem Misverstandnis des Pythagoras entstanden 
ist der die Worte seines indischen Lebrers, die Samkhya-Pbilosophie trage ihren 
Namen nach der Aufzahlung der materiellen Prinzipien, irrtiimlich so aufgefaBt 
haben kann, daB in der S.-Ph. die Zahl fur das tVesen der materiellen Prinzipien 
gelte“. Dies ist, fugt G. hinzu, „uaturlich nichts weiter als eine Vermutung“. 
Aber auch der bloBen Yermutung gegenuber kann ich den Ausdruck meiner Uber- 
zeugung nicht zuriickhalten, daB die Wurzeln der pythagoreischen Weltanschauung 
doch unvergleichlich viel tiefer liegen als in einer misverstandenen AuBerung des 
fragwiirdigen „indischen Lehrers‘‘. 



228 H. Oldenberg, 

hat anch Tater zu sein (5,7). Wie in der Sandilyavidya der ab- 
solute Atman beschrieben wird, preist man ihn als anor aniyan 
mahato mahlyan (3, 20 = KU. 2, 20) ; wie Yajnavalkya in BAU. 
sagt vijfiataram are kena vijantyiU, heiBt es von ihm sa vetti ved- 
yam na ca tasyasii vetta (3, 19). So stellt sich anch in dieser tlpa- 
nisad die von der alien Atmanspeknlation ansgehende Entwicklung, 
zwar einen Schritt weiter gelangt als in der KU., dock kaum we- 
niger dentlich dar. 

Die Maitrayana Upanisad endlich, deren stilistische Kri- 
terien sie an die letzte Stelle dieser Giruppe zn riicken scbeinen 
(LUAB. 203 f.), labt die Lehre von den Gnnas sehr stark hervor- 
treten. Die drei psychischen Funktionen der spateren Doktrin er- 
scheinen auch bier; unter den drei Snbstanzen, anf die sie sich 
verteilen, scheint — woruber die Sv. Up. leider kein Zeugnis ab- 
legt — der ahamkara , anders als im spateren Schema, an letzter 
Stelle zu stehen (LUAB. 231). Die ansgebildete Terminologie laSt 
Schlagworte, die auch dem Epos gelaudg sind, hervortreten — k§e- 
trajna (dies auch in Sv. Up.), bhutntmau. Der Pnmsa ist der uni- 
versale Geist, der sich in der Erscheinungswelt individnalisiert, 
mit einem Teil seines Wesens hier und dort eingeht: sa va e§a 
snks/iio 'grahyo 'drsyah pHrusasamjno 'buddhipurvum ihaivdvartate 
'msi ua : sein aTtisa aber ist yas cetamatrah pratipuru§ah ksetrajnah 
sumkalpadJiyavasdyabhimanahngah Prajapatir visvakhyah (2, 5) ; dem 
Weisen wird verheihen: ekatvani etl purusasya (4,6). Mit diistern 
Farben malt wie das Epos so auch diese Upanisad das tragische 
Bild des in das W eltleiden verstrickten Geistes ; wortreiche, pathe- 
tische Beredsamkeit sehildert die Tiefe dieses Leidens (LUAB. 
239 f.). Ernstlich beschaftigt den Denker das Problem, ob inmitten 
des Welttreibens der Ewige, der Zuschauer und GenieBer, auch 
Tater ist (das. 236 f.) ; ja die Frage taucht schon auf, ob im Grunde 
der Purusa selbst der Gebundene und Geloste ist. Einige, so wird 
bericbtet, sagen, dafi das vielmehr der Guna, die Naturwesenheit 
sei (LUAB. 249 f.): mit welcher vom Verfasser der Upanisad frei- 
lich zuriickgewiesenen Lehre der Standpunkt der KarikS (62) er- 
reicht wird ; nicht der Purusa wird gelost, wird gebunden, wandert, 
sondern es ist die Prakrti, von der das alles gilt. Indem man die 
Klutt zwischen den beiden Grundmachten immer mehr vertieft, 
den Schauenden immer energischer als nur Schauenden erfafit, wird 
man fast unvermeidlich auf die eben beriihrten Fragen gefiihrt. 
Mit solchen Spekulationen verbindet sich in der Upanisad dann 
viel auf den Yoga Beziigliches, der nun einmal in diesen Zeiten, 
scheint es, mit den Samkhyaideen untrennbar zusammengehort. 



Zur Geschichte der Sanikhya-Phflosophie. 


229 


Eine E,eihe technischer Yogaausdrucke erscheint, die „anga'^ des 
Yoga in einer dem spateren System ahnlichen, aber einfacheren 
Gestalt; statt der acht sind es jetzt noch seeks (6,18; Hopkins 
JAOS. XXII, 335). 

1st es, konnen wir nach alldem fragen, zuviel behauptet, daB 
diese TJpanisaden begreiflichen, anschanlichen Eortsebritt der Ent- 
wicklung nns vor Augen fiihren, am einen Ende in altertiimlicher 
Gestalt sich an TJpanisaden wie die Chand. nnd BAIT, schliefiend, 
am andern dem klassiscben Standpunkt sich nahernd? Nachdem 
Motive, die wir glanben ohne allzn gewagte Vermutnngen rekon- 
straieren zu konnen, die in Rede stehende Entwicklnngslinie ans 
dem SchoB der ursprunglichen Atman-Brahman-Spekulation haben 
hervortreten lassen, werden in verstandlicbem Verlanfe weitere, 
ans den erreichten Ergebnissen natUrlich hervorwachsende Probleme 
aufgeworfen; neue Motive werden wirksam, welche die Entwick- 
lung vorwarts treiben : so die Frage nach Taterschaft oder Nicht- 
taterschaft des Pnrnsa, die Alternative, ob — was das znnachst 
sich Barbie tende ist — jener selbst, ob nicht vielmehr — was 
raffinierterer Analyse sich empfehlen konnte — die Prakrti ge- 
bunden nnd erlost wird. Diese ganze Entwicklnng, die, wie es 
doch znnachst eben als das Wahrscheinliche gelten mnB, der Al- 
tersordnung der Texte folgt, sollen wir anf den Kopf stellen, in- 
dem wir allem das fertige System der Karika voranschieben ? Wa- 
rum nur ? Tins wird geantwortet : wegen der festen Insichgeschlos- 
senheit dieses Systems. Ich mochte ernent anf das dringendste 
empfehlen, einem solchen Schlagwort kein zu weit gehendes Ver- 
tranen zu zollen. Wenn wir annehmen, was die besprochenen 
Texte uns so nah legen, daB die Leugnung ernes nniversalen 
Pumsa ein in das System spater hereingetretener Zug ist, erscheint 
dann die alte Lehre, wie ich sie mir vorsteUe, oder ihre Weiter- 
entwicklnng irgendwie schwer begreiflich? Die nnterscheidenden 
Ziige gegeniiber den frUhesten TJpanisaden, welche beispielsweise 
die KTJ. aufweist nnd in denen wir die ursprunglichen Charakte- 
ristika des „Sainkhya“ sehen diirfen, sind sie nicht samtlich ohne 
jede Schwierigkeit auch losgelost vom System der Karika ver- 
standlich, wenn wir der TJpanisad einfach glanben, was sie uns so 
deutlich zu sagen scheint: dafi das Samkhya ihres Zeitalters einen 
nniversalen, in der Erscheinungswelt sich individualisierenden Pu- 
rnsa lehrte? Konnte nicht auch, wer den Purusa in dieser Weise 
verstand, ihm das avyaUam entgegenstellen nnd die psychologi- 
schen Kategorien von indriya, manas, buddhi so anordnen, wie wir 
es eben in KTJ. finden und es als Indizium fur das Vorhandensein 



23i| H. Oldenberg, 

des „Samkhya“ deuten? 1st nicht die Stellung, die in dieser Upa- 
nisad abweichend vom blassischen System dem mahdn otmd zuge- 
wiesen wird, am nngezwungensten eben bei solcber AniFassung des 
Purnsa verstandlich — der mahdn in der Kategorienreibe unter- 
halb des Pux’nsa und des avyakta stehend als die diesseitige Er- 
scheinungsform des mit dem avyakta in Verbindung getretenen 
ixnd individualisierten Purusa (vgl. oben S. 223)? Dann weiter der 
Aufbau des Weltalls nach den Gunas, die Forderung des Heraus- 
ziehens des Pnrusa ans der irdischen Hulle, nnd was sonst noch 
im Zusammenbang mit alldem in den besprocbenen Upanisaden er- 
scheint, ist es nicht im Einzelnen und im gegenseitigen Zusammen- 
schluB zn einer Entwicklnngsreihe Schritt fiir Schritt verstandlich, 
auch ohne dafi wir das klassische System mit seiner AusschlieBnng 
des einen Purusa als Hintergrnnd dazu vorstellen? Wo werden 
denn eigentlich anf diese Weise systematische Zusammenhange zer- 
schnitten, deren Struktur fiir das Casein des spateren Systems 
Zeugnis ablegte? 

Eun halt freilich Gar be — nicht, wie schon bemerkt, Jacobi 
• — das Argument entgegen, die Lehre der Upanisaden miisse des- 
halb fiir einen Mischmasch jiinger als jenes System gehalten wer- 
den, weil — hierin wiederum stimmen die beiden Forscher iiber- 
ein — das Samkhya des Epos ein solcher Mischmasch sei. Wenden 
wir uns also zum Epos. 

Hieriiber legt G. eigne Erwiigungen kaum vor '), sondern er 
beruft sich auf die Untersuchungen Jacobis. Dieser beansprucht 
in der Tat, wie er ZDMG. LVIII, 384 A. stark betont, Be weise 
fiir die Prioritat des klassischen Samkhya vor dem Epos gegeben 
zu haben. Sie sind GGA. 1897, 265 ff. vorgetragen und miissen 
uns jetzt beschaftigen. 

An die Spitze stellt J. (S. 268) den Hinweis darauf, „daB das 
Epos die Unterscheidungslehren des Sitnikhya und Yoga, wie sie 
in der klassischen Philosophie hervortreten, bereits kannte“ ^) : so- 


1) Docli bemerkt G. 37, die Abhangigkeit des Bnddbisinus von dem fertigen 
S. stehe ibm test; mitbin sehlbssen die Zeitverhaltnisse den Gedanken aus, da8 
die viel spateren epischen Versionen erne Vorstufe jenes S. bilden konnten. Auf 
das Verbitltnis zum Buddhismus gebe icb spater ein. Hier sei nur bemerkt, da6, 
wenn das Zeitalter der Quellentexte ein so starkes Gewicbt in die Wagschale 
wirtt, dies doch aueb den Upanisaden im Vergleicb mit der Karika zugute ge- 
recbuet werden sollte. 

'J) Ahnlicb sagt Gar be (S. 4) mit Beziehung auf die Erwabnung der philo- 
sopbiscben Systeme im Kautiliya: „UaB unter Samkbya damals etwas anderes 
verstanden worden sei als spater, wird schon durch die Danebenstellung des Yoga 



Zur Gesthichte der Samkhya-Philosopliie. 


231 


mit sei auch in andern Zusammenhangen Bezngnahme anf das klas- 
sische Samkliya nicht zu leugnen. Die Unterscheidungslehr e n ? 
Soviel ich sehe, ist mir von einer die E,ede: der Yoga erkannte 
den isvara an, das Samkliya nickt. Daraus laBt sick sckwerlick 
viel dariiber scklieBen, ob in irgendivelchen andern Beziekungen 
das Samkhya des Epos mit dem der Karika identisck ist. In der 
Tat bin ich nnn weit davon entfernt zu bestreiten, dafi in dem 
ungeheuren Gewirr des Epos auch Klassisches oder mekr oder 
minder groBe Annaherung daran vertreten ist (vgl. LUAB. 254 
iiber die im Epos begegnende Angabe, daB Samkhya und Yoga 
die Einkeit des Pnrusa leugnen). Platz fiir ein Nebeneinander von 
Alterem und Jungerem, auch recht Jungem, war kier iibergenug 
vorkanden; Garbe (74) laBt ja im Epos sogar den, wie es sckeint, 
ins fiinfte nachchristliche Jakrbundert gehbrigen Varsaganya er- 
wahnt sein*). So spitzt sick denn. wie es auch Jacobi (a. a. 0. 239) 
ansieht, die Frage bestimmter dakin zu, welcbe von den im Epos 
neben einander bezeugten Gestalten der Samkhyalehre iilter, welcbe 
jiinger ist. 

Ein besondres Gewickt fiir die Behandlnng dieser Frage nun 
legt J. (271) einer Stelle des Moksadharma XII, 136281. bei. Dort 
ist die Rede davon, wie der (endliche) Pnrusa zu dem (absoluten) 
Purusa eingekt, und es keifit (nach Jacobis Paraphrase); „So ist 
Samkkya-Yoga, Veda-Aranyaka und das Pancar at ra- System eins; 
sie sind Glieder eines organischen Ganzen“. »Hier wird also“, 
bemerkt Jacobi mit Xachdruck, „die bewufite Versckmelzung 
von Sainkhya-Yoga mit dem Vedanta in diirren Worten ausge- 
sprocken, eine Ansieht, gegen die sick Dahlmanns Buck richtet, 
und der ich, gegen ikn, wieder zur Anerkennung verkelfen will“. 
Mit andern Worten: der absolute Purusa des „epischen Samkhya “ 
ist in das echte Samkhya aus dem Vedanta hereingeholt worden. 
Ick kann die Besorgnis nicht unterdrucken, daB sick die etwas 
nebelkafte Versekwommenheit jener Stelle allzu gefallig dem For- 
scher, der moglickst viel und mbglickst Wertvolles in ibr zu er- 
kennen suckte, in ein Zeugnis iiber Vorgange in der Gesckichte 
der Pkilosopkie verwandelt hat, von denen in der Tat dort nichts 
vermeldet wird. Was besagt denn die Stelle? Wenn Jacobi, in- 


ausgeschlossen, (lessen philosophische Grandlage das Samkhya-Systein bildet't 
Dies Nebeneinanderstehen der beideii Lebren laBt aber doch fur die Frage nach 
dem .-i^ussehen der einen und der andern immer noch einen recht weiten Spiel- 
raum; G. selbst erkennt das S. 5 in gewissem MaC an. 

1) Hiergegen babe ich allerui'igs Bedenken; s. unten. 



232 


H. Oldenberg, 


dem er sie paraphrasiert, das Wort Vedanta gebraucht, darf das 
natiirlich nicht im Sinn von etwas wie Uttaramimamsa verstanden 
werden; es ist in Wabrheit vom vedaranyalcam die Rede, wobei 
oiFenbar an Texte wie Ch. TJ. oder BAU. zn denken ist. DaB Sam- 
khya-Yoga mit der Lehre solcher Texte, dazn noch mit der Pan- 
caratra-Religion ubereinstimme : das ist es, wa,s gesagt wird. 
Katiirlich kaben die Alten — auch die skrupellos'esten Durchein- 
andermischer der verschiedenen Doktrinen — so gut wie wir ge- 
wuBt und anerkannt, daB Samkhya-Yoga, mindestens auf der Ober- 
flache ihrer auBeren Erscheinnng, anders aussehen als etwa die 
Brhad Aranyaka Upanisad. So nnterscheidet eine andre AuBerung 
des Moksadharma (XII, 7158 f.) sehr dentlich zwischen dem, was 
der Veda sagt, und jenen Doktrinen. Da war es denn fiir den 
glaubigen Lebrdichter keineswegs gegenstandslos — gleicbviel wie 
wir unsrerseits dariiber denken mbgen — zn betonen, daB im 
Wesen der Sache doch alle jene Lehren, und dazn noch das Pan- 
caratram, auf eins herauskommen , dieselbe Erlosnng verkiinden. 
Nie und nimmer konnen wir nun doch aus dieser, wie ich meine, 
in ihrem Inhalt und ihrem Motiv sehr durchsichtigen Behauptung 
das herauslesen, worauf es fiir die vorliegende Untersuchung an- 
kame und was in Wahrheit etwas ganz andres ist: das ausdriick- 
liche Eingestandnis, daB, was im Epos als Samkhya gegeben wird, 
in Wahrheit eine Verschmelzung von Samkhya und Vedanta sei. 
Und vollends ergibt sich nicht, was der Leser von Jacobis Argu- 
mentation nur zu leicht entnehmen wird : daB aus dem angeblichen 
Samkhya des Epos die dem „Vedanta“ ahnlichen Elemente als 
fremde Beimischung entfernt werden miiBten. 

DaB eine derartige Verschmelzung stattgefunden hat, soU sich 
nun nach Jacobi (272) noch in einer weiteren Spur zeigen, in den 
AuBerungen des Epos iiber das „sechsundzwanzigste“ Prinzip, das zu 
der stehenden Fiinfundzwanzigzahl des Samkhya hinzukommt. Mit 
diesem sadvimsa beschaftige ich mich zweckmaBiger weiter unten, 
indem ich ihm seine Stelle anweise in meinem eigenen Versuch, 
zu dem ich mich jetzt zuniichst wende, einige Hauptziige der epi- 
schen Daten iiber das Samkhya, soweit sie fiir den vorliegenden 
Zweck in Betracht bommen, aufzuzeigen. Natiirlich ist dies Vor- 
haben eben dnrch diesen Zweck begrenzt. Ein einigermaBen voll- 
standiges BUd vom „epischen Samkhya^ zu entwerfen ist dies nicht 
der Ort; ich darf dafiir auf die allerdings nicht vorurteilsfreie 
Darstellung von Dahlmann, dazn auf die von Deussen und 
Hopkins verweisen. 

Um uns nun in dem bunten, in alien Earben schiUemden Chaos 



Zur Geschichte der SSmkhya-Philosophie. 


233 


des Epos nicht zu verirren, werden wir vielleicht gnt tun als be- 
sonders gewicbtigen Zeugen zunachst die Bhagavadgita zu 
horen. Wir diirfen annehmen. dafi sie alter ist als alles oder doch 
das meiste, was in dem iiberwiegend recht jung anssehenden Mok- 
sadharma durcbeinander geworfen ist ; in diesem wird ja die Bha- 
gavadgita auch ausdriicklich zitiert*). Ereilich wird diese Vor- 
zngsstellung der Bhag. auf der andern Seite wiederum. wie be- 
kannt, durch die fortwahrende Vermischung der Philosopheme mit 
den Glaubenssiitzen der Krsnareligion beeintrachtigt. Das ver- 
hindert, meine ich, doch nicht, dafi die ersteren wenigstens einiger- 
maBen erkennbar bleiben, daB hinter dem Gemisch, soweit ein 
solches vorliegt, die Elemente der Mischung ihre echte Gestalt in 
relativer Klarheit zeigen. 

Ein sehr deutlich als solcher charakterisierter Samkhyaabscbnitt 
beginnt 13,19-). Es ist von Prakrti und Purnsa samt den dlrira 
und gima die Rede. Prakrti wirkt als TJrsache uaryakarannhir- 
frtce^), Pnrusa dagegen sukhadiihl-handm bhoktrfce. Er weilt in der 
Prakrti (prakrtisthah) und „genie6t“ die Gnnas ; sein gtmasangd ist 
TJrsache sadasadyonijanmasii. Man sieht, das alles ist ausgespro- 
chenes Saipkhya, welches System dann v. 24 auch mit Namen ge- 
nannt wird. Ist da nun ein universaler, erst in der Welt sich 
individualisierender Purusa gemeint oder eine von Haus aus be- 
stohende Vielheit unabhangiger Purnsas? Auf letzteres dentet 
nichts hin. Dagegen heiBt es v. 22: mahcscaruh, paramdtmeti capy 
likto dehe ’sniin purusah yarah. Das klingt doch entschieden nach 
einem hochsten Purusa, der Herrscher fiber das All ist, zugleich 
aber im Leibe des Einzelnen Wohnung genommen hat*). Der 
engste Zusammenhang der SteUe reicht offenbar bis v. 23. In lo- 
serer Anknfipfung aber kommen auch die folgenden Verse vielfach 
auf denselben Vorstellungskreis zuruck. Ist der paramesvara v. 27 
von mahehara, paramatman v. 22 zu trennen? Von jenem aber 
heifit es v. 27. 28, daB er als derselbe in alien W esen wohnt ; 
worauf dann v. 29 in deutlichster SamkhyaaulFassung vom nicht 
handelnden Atman im Gegensatz zur handelnden Prakrti die Rede 


1) Hopkins, Great Epic 205, nenut die Gita ^unquestionably one of the 
older poems in the epic“. Ich kann dem nur beistimmen. 

2) So sieht es auch Garbe Bhag. 42 an. 

3) Mit Deussen, Vier philos. Texte 88, -karana- zu lesen ist verfehlt; 
schon das Metrum steht eutgegen. 

4) Wenn paramdtma wegen 0, 7 dafur nicht unbedingt beweist, tragt es doch 
dazu bei, das wahrscheinlich zu machen. Vgl. weiter v. 31 den yaramdlrnd ia- 
rirasthah. 

Kgl. Oes, d. Wiss. Nachrichten. I’hil.-hist. Klasse. 1917. Heft 2. 


16 



234 


H. Oldenberg, 


ist, und V. 32 der Atman, sarvatravasfhito dehe (vgl. v. 28 sarvafra 
samavasthitam isvaram) und nnbefleckbar, mit dem wegen seines 
sauJcsmya unbefleckbaren Raum, der auch sarvagata ist, verglichen 
wird. Man mag geltend machen, da6 etwa der Gedanke an den 
allgegenwartigen einen Gott oder an das Brahman (v. 30) der 
Upanisaden hier EinfluB geiibt hat. Aber solange kein Gegenbe- 
weis da ist — und von einem solchen kann ich nichts entdecken — , 
werden wir eben in der Vermischung des Gottes oder des Brahman 
mit dem Purusa einen Hinweis darauf erkennen, da6 denen, welche 
diese Vermischung vollzogen, auch der letztere schon an sich als 
ein in die engen Grenzen des Individuums nicht eingeschlossenes, 
darum zur Gleichwertigkeit mit jenen Machten qualifiziertes Wesen 
vor Augen gestanden hat. 

Die Pnifung des sonst in der Bhag. Gesagten kann, meine 
ich, den gewonnenen Eindruck nur bestarken; demVerfasser oder 
den Verfassern hat ein Samkhya vorgeschweht, das einen univer- 
salen Purusa annahm ^). Ich weise darauf hin, daB es nach deut- 
iich charakterisierten Ssmkhyalehren 2,18 heiBt : antavanta ime 
deha nityasyolctah sanrinah, andsino ’prameyasya; der Geist ist ni- 
tyah sarvagatah sthclmth v. 24 ; er ist der delil dehe sarvasya v. 30 : 
worauf schlieBlich ausdriicklich gesagt wird em te 'bhihita sdmkhye 
buddhik V. 39. Ich ver weise weiter auf kavim puranam anusasi- 
tdram anor aniydmsam 8, 9 ^), woran sich v. 10 schlieBt sa tarn, pa- 
ram purusam upaiti divyam (vgl. v. 8 pararnam purusarn divyam ) : 
obschon da die GottesvorsteUung hineinspielt, bleiben diese AuBe- 
rungen doch auch fiir die Frage nach dem Purusa wertvolL So 
meine ich, daS auch wenn 15, 7 der Gott sagt mamaivamio jivaloke 
jivabhutah sandtanah , manahsasthdnmdriydni prakrtisthdni karsati 
(vgl. 10, 42 vistabhydham idam krtsnam ekamsena sthito jagat) , der 
theistische Zug dieser awisa-Vorstellung (vgl. Garbe Bhag. 41. 48) 
keineswegs die doch auch wieder mit deutlicher Samkhyafarbung 
bezeichnete Stelle loslost von dem am.sa, vermoge dessen nach der 


1) Mit Hopkins Gr. Epic 101 in Bhag. 18,21 — 22 einen Hinweis auf ein 
die \ ielheit der Geister lehrendes Samkhya , zu erkennea bin ich nicht imstande. 
Mit demselben Recht konnte man das von BAG. IV, 4, 19 sagen. 

2) Es ware offenbar gezwungen, dies auf die Einzelgeister des klassischen 
Sainkhya im Hinblick auf die Allgegenwart zu beziehen, die Isvarakrspa und andre 
Lehrer (nicht Pancasikha, vgl. G. 361) ihnen zuschrieben. Ist librigens diese All- 
gegenwart nicht ein Erbteil, das die Einzelseelen von dem urspriinglichen univer- 
salen Purusa bezogen haben? 

3) Man vergleiche das anor amyan der Kath. Up. 2, 20 (= Svet. Up. 3, 20 
„tam dhur agryam purusarn mahdntam^, dort v. 19). 



Zur Geschichte der Saipkhya-Philosophie. 235 

Maitr. Up. (oben S. 228) der hocbste Purusa znr individuellen Seele 
wird. 

Was die in der Bhag. erscheinende Terminologie des hochsten 
Wesens anlangt, so ist sie wohl am einfachsten unter der Voraus- 
setzung verstandlich, da6 purusa als entscheidendes, so zn sagen 
technisches ScMagwort des Samkhya dem Dichter vorlag, eine ge- 
wisse Aqaivalenz dieses Worts aber mit brahman dentlich gefiihlt 
wurde — mit brahman, das ja in den alten nocli nnditferenzierten 
Gedankenmassen mit purusa (und vor allem mit atman, etwa — 
purusa) wechselte, wahrend in der Bhagavadgita brahman, znsam- 
men mit nirvana, sich vielfach als speziell der in diesem Milieu 
heimischen Form des Yoga zugehorig zu erweisen scbeint (vgl. 
LUAB. 270). 

Nun von der Bhagavadgita zn einigen weiteren Zeugnissen 
des Epos, speziell des Moksadharma. So verschieden im Einzelnen 
— daran ist ja kein Zweifel — die dort vorgetragenen philosophi- 
schen Anschanungen sind, so herrscht doch im Ganzen ein be- 
stimmter Typus vor. Benannt wird die Lehre immer wieder als 
Samkhya bz. Yoga; was den Inhalt anlangt, so charakterisiert 
Jacobi (GGA. 1897, 267) ihn voUkommen zntreifend dahin, daJB 
anders als im klassischen Samkhya nnd Yoga „die Einheit der 
Seelen in brahma ansteUe der Vielheit der purusas‘‘ gelehrt wird, 
wozu nur dies hinzuzufugen ist, da6 nicht aUein brahman, sondern 
auch purusa oder atman als Ansdruck jener hochsten Einheit auf- 
tritt. Schon friiher (LUAB. 254, vgl. Hopkins Gr. Epic 122 f.) 
habe ich darauf aufmerksam gemacht, da6 im Moksadharma da- 
neben auch die Lehre von der Yielheit der Pnrnsas vertreten ist. 
Aber die andre Auffassung, mit Theistischem bald verbramt bald 
nicht, iiberwiegt durchaus. Ich fuhre zur Veranschaulichung einige 
Stellen an. _ 

XII, 6921 : „Der Atman wird Ortskenner {ksetrajna) genannt, 
wenn er mit den aus der Prakrti stammenden Gunas verbunden 
ist. Yon diesen gelost aber heifit er der hocbste Atman“. 

XII, 71111. (nachdem vom ksetrajna, der auch atman genannt 
wird als blofiem Zuschauer, doch auch zugleich als die ganze Welt 
durchdringend die Rede gewesen ist, s. v. 7079f., 7103 f., 7106 ff.): 
„Wer das aus der Prakrti stammende Tun au%ibt, bestandig am 
Atman sich freuend, ein Weiser, der wird zum Atman aUer Wesen; 
durum geht er den hochsten Gang“. 

XII, 11251 if. Das fiinfundzwanzigste Prinzip, Visnu, welcher 
kevalas cetano nityah ist, wird prakrtiman. Er geht in die Ge- 
schopfe ein, nimmt an ihrer Verganglichkeit teil, wahnt von ihnen 

16* 



236 


H. Oldenberg, 


nicht verschieden zn sein. Vermoge des tamas, rajas, sattvn geht 
er in mannigfache tamas-, rajas-, sattvaha£t& Existenzen ein. 

XII, 112901. 11293: „So zerteilt der Atman sich selbst ver- 
moge der Prabrti. Von svadha- tind von sraAa-Iinf 

und Verehrungen, von Opfem fiir Andere, Lehren. (xeben und 
Empfangen spriobt man“. „I)ie (xottin Prakrti bewirkt Werden 
und Vergeben. Am Ende der Tage gebt Er auf jene Gunas los 
(absorbiert sie) und bestebt als der Eine fort^. v. 11310 wird fiir 
ibn die Bezeichnung piirusa gebrancbt. — Mit dem Satz iiber den 
r«AV(_^-Iluf usw. bat schon StrauB (WZKM. XX\II, 269) einen 
Vers des Buddbacarita XII, 30 zusammengestellt, der vielleicht 
den des Moksadharma nachahmt. 

XII, 11386 tf. Dem Yogin erscbeint der innere Atman, feiner 
als Feines, groBer als GrfoBes, die in alien Wesen weilende un- 
sichtbare Wesenheit, geschaut von der hudilhi mit der Fackel des 
manas. Das ist Yogalehre. Nun foigt Lebre des Samkbya (11393) 
vom „Vorsteber“ und dem Unentfalteten. Jener scbaiFt die Ein- 
beit und die Vielbeit der Prakrti, je nachdem die Welt vergebt 
Oder wieder ins Dasein tritt. Vielfaltig bringt der Atmaii die 
Gebarerin Prakrti zur Erscheinung. Er beiBt Vorsteber, ksetrajna, 
piintsci (11401 ff.). 

XII, 11691 ff. Der Yogin schaut den absoluten, ewigen, un- 
endlicben Purusa, den unteilbaren, das unverganglicbe Brabman. 
— Vgl. nocb 114441'. 1145611. 11466. 137381. 1374011. usw. 

Im AnscbluB an diese Stellen muB insonderbeit nocb von 
einer im Moksadharma haufig begegnenden Fassung der Lebre ge- 
sprocben werden, die mit dem Begriff des nSechsundzwanzigsten'* ') 
operiert. Auf das 24. Prinzip, die Prakrti, foigt der an sie ge- 
bundene,' individualisierte Purusa als Fiinfundzwanzigster. Er 
befreit sicb von der Bindung und erweist sich in seinem wahren 
Wesen als eins mit dem hochsten Purusa, dem Secbsundzwanzigsten. 
Hier nun zieht Jacobi (a. a. 0. 272; vgl. oben S. 232) wichtige 
Folgerungen ; wir haben den eigentlicben SchluBstein seines Be- 
weises vor uns dafiir, „da6 die Lebre von der Einheit der Furitsas, 
von dem brahma, in das System, das die Vielbeit der parusas an- 
erkannte, hineingetragen“ worden ist. Die Samkhyas, so argu- 
mentiert er, sind auf die Zabl von 25 Prinzipien gewissermaBen 
eingeschworen. Das Absolutum als nSecbsundzwanzigster^, iiber 
die feststebende Zabl hinausgehend, verrat sich dadurch als se- 
kufidar binzugefiigt. 

1 } Vd. Deussen, Alig. Gesch. der Phil I, 3, 28; Hopkins, Gieat 
Epic 133 if. 



Zur Geschichte der Samkhya-Philosophie. 


237 


Die Zufiigung einer uberzahligen Nummer scheint mir in der 
Tat zweifellos. Aber auch wenn wir sie auslegen wie Jacobi, 
wiirde sie gegen meine Auffassung des „episcben Samkbya“ insofem 
nicbt entscheiden, als das Vorkommen der Lehre von der Vielheit 
der Purnsas im Epos ja ohnehin feststeht and bier eben eine anf 
jener seknndaren Eassung der Doktrin aufgebaute so zu sagen 
tertiare Weiterentwicklung vorliegen konnte*). Dock diirfte in 
Wirklichkeit die Sache einfacber liegen. Wie wird sicb jene Zu- 
fiigung des 26. Prinzips denn vollzogen baben? Jacobis Auf- 
fassong des Hergangs ist die, auf die man naturgemaB verfallen 
wird, wenn man als ein binter diesem Samkbya dastebendes Er- 
spriinglicbes das klassiscbe Samkbya ansiebt; das soli ja aber eben 
erst bewiesen werden. OiFenbar baben wir znnaebst zu priifen, 
ob nicbt das Samkbya von Texten, die den in Erage kommenden 
naber steben als die Karika, die sicb cbronologiscb passender als 
ihre Vorstufe einstellen lassen, den Ausgangspunkt fiir die Neu- 
scbopfung der secbsundzwanzigsten Nummer abgeben kann : icb 
denke an das Samkbya etwa der Maitrayana Upanisad, der Bba- 
gavadglta usw. Da nun treffen wir, scbeint mir, auf keinerlei 
Scbwierigkeit. Auf jener Entwicklungsstufe zablte man den Pu- 
rusa als ein Prinzip, mocbte er nun in seiner Reinbeit dasteben 
oder ins Welttreiben verflocbten sein; daB er in dieser und in 
jener Lage docb in Wabrbeit derselbe ist, war ja gerade das, 
worauf es ankam. Nun aber konnte bei wacbsender Betonung 
des Elends der W eltverflochtenbeit auch der Gedanke aufkommen, 
den gebundenen, vielfaltigen Purusa und den freien einen zunachst 
getrennt aufzufiibren -)) wobei dann die schlieBliche Wiederber- 
stellung der fundamentalen Identitat sicb immer nocb gebiihrend 
ins Licht setzen lieB. So ergaben sicb fur den Purusa z w e i 
Nummern, wobei selbstverstandlich , da 1 — 24 die Welt betraf, 
25 den weltzugewandten, 26 den hochsten weltabgewandten Purusa 
darstellen muBte. Also der hochste Purusa wurde nicbt eigentlich, 
wie Jacobi es konstrnierte , zum fertigen Schema hinzugefugt. 
Sondern die eine Nummer Purusa wurde in zwei Nummern zerlegt, 
worin denn eine Erweiterung des alten Schemas von 25 Stellen 
auf 26 lag. 

1 ) GewiB hat Hopkins (137) damit Recht, daB der Sechsundzwanzigste 
^belongs only to the later part of the pseudo-epic‘=. 

2) Man kehrte damit in gewisser Weise, wenn das oben S. 223 uber die 
Kathaka Up. Bemerkte zutrifft, zum altesten uns erreichbaren Schema zuruck, 
wo in der Unterscheidung von purusa und mdhan atma (dem individualisierten p.) 
dieselbe Doppelseitigkeit zur Erscheinung kam. 



238 


H. Oldenberg 


Die Zusammengeliorigkeit des im Epos und des in jenen 
TJpanisaden gelehrten Samkhya erweist sick, wenn all dies zu- 
treffend ist, als eine sehr enge. Dazn stimmen auch die zahl- 
reicken Entleknungen ans den Dpanisaden, die im Epos nack- 
gewiesen sind: man vergleicke die reiekkaltigen Sammlungen von 
Hopkins, Grreat Epic 28 ff., und speziell fiir die Bkagavadgita 
Giarbe, Die Bkag. 59 A. 1. Von wichtigeren die Lekre be- 
treffenden Beriihrungspankten zwischen TJpanisaden and Epos 
hebe ich die besondere Vorliebe fur den auck in MIT. gelaufigen 
Terminus bhutatman kervor (Hopkins 39 ff. ; LTJAB. 229. 354), das 
w««;a-Gleicknis (Daklmann 139, vgl. KTJ. VI, 17; s. auch StrauB 
WZKM. XXVII, 270), die Ausmalung der Tragodie des gebun- 
denen Purusa (MU.: LUAB. 240; Epos: das. 242). So zeigt sick 
eine breite Bahn der Tradition, eben dies Samkkya darstellend. 
Und da6 outer deren beiden Vertretem auch das Epos, so jonge 
Elemente in ihm begegnen, dock anderseits auf dem uns be- 
schaftigenden Gebiet auck Altes, and zwar nickt allein so zu 
sagen als einen aus den Upanisaden versprengten Eremdkorper, 
entkalten kann, zeigt sick ansckaulick an einer von mir LUAB. 
324 (vgl. auck Heiler, Eestsckr. Knkn 373) kervorgezogenen 
Stelle, XII, 7143: vicaras ca vivekas ca vitarkas copajayate, tnuneh 
saniadadhanasya prathaniam dhyanam aditah. Diese Besckreibung 
der ersten der vom Yoga gelekrten Versenkungen vergleicke 
man einerseits mit den Angaben des Yogasutra (I, 42 ff.), ander- 
seits mit der von den Buddkisten gegebenen Formel des — bei 
ihnen, wie bekannt, keineswegs als Sonderbesitz der eigenen Ge- 
meinde betrachteten — ersten jhana: vivicc’ eva kamehi vivicca 
akusalehi dhammehi savitakkam savicaram vivekajam pUisukham pa- 
thamajjhanam upasampajja viharati. Es ist wokl klar, daB kier 
das Epos, gegenuber der schematiscken Eormulierung des Sutra 
ein Stuck einer lebendigeren, inkaltreickeren und zweifeUos alteren 
Eassung der betreffenden Lekre erkalten kat, die uns glucklicker- 
weise vollstandig durck den Buddhismus bewakrt ist und die 
offenbar in eben dieser Vollstandigkeit dem epischen Autor be- 
kannt war i). Eine Quelle, die derartiges bietet, fur die altere 
Gesckichte des Samkkya einfach beiseite zu schieben sollten wir 
uns dock bedenken. Diese Geschickte stellt sick, sckeint mir, 
wenn wir sie mit Hilfe des Epos und insonderkeit der Upanisaden 
erforscken, eben als wirkliche Geschickte dar, glaublicher als jene 


1) So urteilt auch Hopkins Gr. Epic 181 iabezug auf Yogaterminologie, 
„that the epic here precedes the Sutra-maker“. ’ 



Zur GescMchte der Sajpkhya-Philosophie. 


239 


Vorstellung des von vornlierein in seiner definitiven Gestalt fertig 
ans Licht getretenen Samkhya. Wie nns ia Einzelheiten, die doch 
zu bedeutend sind um als unwichtige Details ignoriert zn werden 
— ich erinnere an die Rolle des mokan atma^), an das wahr- 
scheinlicbe Hinzukommen des ohamkara — , die Qnellen ein 
Werden und Wachsen der Lehre erkennen lassen, braucben wir 
kein Bedenken zu tragen, anch in den Grundanscbauungen die 
Weiterentwicklungen anznerkennen , deren Annabme eben diese 
Quellen nns wahrscheinlich machen. 

Das Verscbwinden des einen Purusa und dafiir das Auf- 
treten einer Vielbeit absoluter Einzelpurusas, diese Lehre, die im 
Epos zu erscheinen anfangt und dann in der klassischen Zeit die 
herrschende ist, stellt sich, meine ich, auch der inneren Wahr- 
scheinlichkeit nach als eine jener Weiterentwicklungen — ver- 
mutlich als eine der letzten — dar*). Von der Grundlage der alten 
TJpanisadlehre, ohne welche die Entwicklung der Purusaidee iiber- 
haupt nicht zu verstehen ist, entfemt man sich so um einen neuen, 
bedeutenden Schritt. Statt der in die Unendlichkeit schauenden 
Mystik kommt eine bedachtigere, ich mochte sagen resigniertere 
Denkweise zur Geltung. Sorgfaltiger arbeitende Dialektik hat 
die alte Purusavorstellung streng gepriift und gefunden, daB der 


1) DaB dieser in der Kath. Up. eine wesentlich andere Rolle spielt als im 
klassischen System, wurde oben S. 223 bemerkt. Fur die Stellung des Epos ist 
bezeichnend, da6 dort einerseits die spatere Identifizierung des mahan atma mit 
der buddhi schon hauflg begegnet (so ist jener offenbar z. B. Xll, 11394 zu ver- 
stehen; vgl. XIV, 1084 ff. usw.; Deussen, Allg. Gesch. der PhU. 1,3,55; Phan- 
tastisches bei Dahlmann, Samkhya - Phil. 69). Anderseits aber ist er auch 
jetzt noch der Purusa, speziell in der -Bindung an die Welt, oder der „Funfnnd- 
zwanzigste“; s. z. B. XII, 7679. 11255. 11325. 11403. 11472. 

2) Hier sei auch auf die fiir das ganze Bild der physischen Welt ent- 
scheidende Variante betreffend die tanmatra bz. visesa hingewiesen, die Straufi 
WZKM. XXVIl, 257 ff. aufgezeigt hat (vgl, LUAB. 226 A. 2, 354 f. Anm. 148). 
In seiner Untersuchung ist wichtig auch der Nachweis der besonderen Beziehungen 
zwischen epischem Samkhya und Asvaghosa: auch diese Beobachtung tragt bei, 
den epischen Bestand als einen verglpichsweise festen, so zu sagen anerkannten 
Typus erscheinen zu lassen. Die von Asvaghosa (Buddhacar. XII) vorgetragene 
Lehre darf hinsichtlich des Glaubens an ein hochstes Absolutum wohl dem im 
Epos vorherrschenden Samkhya und Yoga gleichgestellt werden (s. XII, 41 f. 65). 

3) Zeigt sich nicht noch im klassischen Saipkhya eine Spur des Hervor- 
gegangenseins der individuellen Purusas aus dem universalen in ihrem adhisthatr- 
tvam gegenuber derPrakrti: einer Vorstellung, die viel natiirlicher auf diesen als 
auf jene beziehbar ist? Dafi die S. Karika sich zum allergroBten Teil so liest, 
als sei in ihr nur von einem P. die Rede, ist langst bemerkt worden; ist das 
nicht Erbteil aus einer Zeit, wo es sich in der Tat nur um einen P. handelte? 



240 


H. Oldenberg, 

eine Purusa den mannigfaltigen Situationen, in welche die Verbin- 
dung mit den Einzelindividuen ihn bringt, nicht genugt (vgl. LUAB. 
255) and iiberhaupt entbehrlich ist. So ist man bei der neaen 
Lehre angelangt, welche, scheint mir, die Spur davon deutlich an 
sich tragt, dafi sie nicht direkt aus der Betrachtung der Dinge 
erwachsen ist, sondern aus einer Bearbeitung der Vorstellungen 
iiber die Dinge, welche Schwierigkeiten eben dieser Vorstellungen 
zu entfernen oder zu umgehen bestrebt ist. Ware man auf direktem 
Wege zu dieser befremdenden Dnblette gelangt : auf der einen Seite 
dem ganzen Apparat von biiddhi usw., der dann fiir ungeistig er- 
klart wird und dem man dann erst auf der andern Seite das wirk- 
lich geistige Individuum gegeniiberstellt ? Und zu dem seltsam 
gezwungenen Bilde der Vollendung, wo nicht etwa die vom Meer 
getrennte Woge in dessen Unendlichkeit zuriickfliefit, sondern das 
Licht des Geistes nichts mehr beleuchtend, der Betrachter nichts 
mehr betrachtend in den Schranken seines Einzeldaseins erstarrt 
ist? Am leichtesten begreillich erscheint mir das alles nicht als 
urspriingliche Gestalt einer gleich auf den ersten Anlauf fertigen 
Doktrin, sondern als letztes Ergebnis von Gedankenprozessen, die 
sich durch manche Vorstufen, um manche Kdippen herum miihevoll 
und kiinstlich hinducchgewunden haben, — 

Es bleibt die Aufgabe. die Stellung des Samkhya zum Bud- 
dhismus zu bestimmen ^), wobei naturlich die alteste nns erreich- 
bare Gestalt des Buddhismus in Frage kommt. Im Ganzen berufe 
ieh mich hier auf meine Ausfuhrungen in LUAB., in denen ich, 
in Ubereinstimmung mit Garbe, mich fur die Annahme der Beein- 
flussung des Buddhismus durch das S. ausgesprochen habe, diese 
jedoch abweichend von ihm auf eine vorklassische Gestalt des S. 
zuriickfuhre. Einige diese Fragen betreifende Bemerkungen G.s 
aber in seiner Neuauflage mochte ich hier kurz beriihren-). 

1) Dieselbe Prage inbczug auf das Jainaturu zu bebandeln versucbe ich 
nicht aus dem LUAB. 282 bezeiclineten Grunde. 3Iit dem Gegenstand bat sich 
Jacobi beschiiftigt. Transact, of the Third Intern. Congress for the Hist, of 
Eel. II, 62 ff. 

2) In einer Anmerkung berichtige ich ein Misverstandnis, das ein Satz von 
mir bei G. 8 A. 3 gefunden hat. LUAB. 29J sagte ich: „Soviel zunachst scheint 
nun klar, dafi Beeinflussung des Buddhismus durch das Samkhya, wenn sie iiber- 
haupt stattgefunden hat, kaum als unmittelbare Ahhangigkeit zu denken sein 
kann**. Da ich nun eine solcbe Beeinflussung in der Tat mit Entschiedenheit be- 
baupte, vermutet G., dafl an dieser Stelle die Worte „wenn sie iiberhaupt statt- 
gefunden hat“ versehentlich aus einem fruheren Entwurf meines Buchs stehen 
geblieben seien. Ich glaube meine Arheiten sorgfaltiger zu redigieren, als dafl 
mir ein solcher Unfall leicht begegnen konnte. In Wahrheit unternahm ich an 



Zur Geschichte der Samkhya-Philosophie. 


241 


Zuvorderst habe ich doch Bedenken dagegen, dafi Gr. (6) den 
m. E. allein aus inneren Grriinden erweisbaren EinfluB des Saip- 
kbya auf den Buddhismus durch die Tradition verburgt sein 
laBt »). 

Was fiir eine Tradition ist das? 

G. denkt an das zwolfte Kapitel des Buddhacarita, wo „die 
Samkhya-Lehre, die dem kunftigen Buddha nicht geniigt. als Lebre 
des Arada Kalama bezeicbnet wird“. 

Icb erinnere dem gegeniiber an Erwagungen. durch die ich 
friiher^) den Wert dieser ^Tradition^ zu bestinimen versucht habe, 
nnd aus denen wenige Satze, welche — von Garbe unberlicksichtigt 
gelassen — mir seiner Position gegeniiber Zutreffendes zn ent- 
halten scheinen, bier zu wiederholen gestattet sei. „Wenn die 
kanonischen Texte [des Buddhismus] uns iiber das System des 
Arada nur ganz weniges sagen*), das allem Anschein nach er- 
fiinden ist, und wenn selbst — luge ich zum auBersten UbertluB 
hinzu — ausfiihrliche spatere Texte wie der Lai. Vistara nicht 
mehr geben, so wird, meine ich, wenigstens wer dies Gebiet von 
Geschichtsquellen zusammenhangend durchforscht hat, sich dariiber 
klar sein, dafi es Luftschlbsser bauen heiBt, wenn man jene angeb- 


der in Eodc steheuden Stelle gleichsara vor den Augen meiner Leser eine 
fuiig des geschichtlk'lien Verhaltnisses von Buddhismus und Sainkhya. Von den 
verschiedenon jMogliclikeiteii, die sich da hoten, schied ich zunachst die der un- 
mittelbaren Abhiiugigkeit des B. aus. Somit blieb iihrig, daB die Beein- 
flussung, „wenn sie uberhaupt stattgefunden hat“, nur iudirekt gewesen sein kann ; 
worauf daun die vveitere Untersuchung zwischen den beiden nun nock vorblei- 
beuden Muglichkeiten — indirekter Zusammenhang odor gar keiner — zu ent- 
scheiden hatte. Die von G. beanstandete Einschninkung verrat also kein Um- 
schlagen meiner Uberzeugungen, sondern grenzt nur das zunachst Festzustellende 
gegen das spater zu Untersuchende ab. Ich bedaure, daB es mir offenbar nicht 
gelungen ist, meine Intention deutlich genug zum Ausdruck zu bringen, so daB 
ein Leser wie G. sich uber sie tauschen konnte. 

1 ) Iloheres Alter des S. oder wenigstens ungefahre Gleichaltrigkeit , doch 
nitht EintluB 3nf den B., ist allerdings insofern durch die Tradition bezeugt, als 
einioe Stellen des buddhistischen Kanon auf Samkhyalehren Bezug zu nehmea 
scheinen; vgl. LU.^B. 294 f. 

2) „Buddha‘- I 450 f. ; ZDMG. LII, 681 f. Anders Jacobi NGGW. 1896, 
45 f. ; ZDMG. LII, 4 f. 

3) Sie machen ihn bekanntlich zu einera Vertreter der Kontemplation des 
akincanna. Uber den vormutlich fiktiven Charakter dieser Angabe s. meinen 
„Buddha“ 452 f. Ich bemerkte dort; ^Yeirsitea die Angaben der alien Quellen 
hier so deutlich, daB man ein wirkliches Wissen . . . nicht besessen hat, so be- 
antwortet sich die Frage, welches Vertrauen ein Gewuhrsmann vom Schlage des 
Asvaghosa verdient, offenbar von selbst“. 



242 


H. Oldenberg 


liche Uberlieferung in das geraumige Nebelreich der ^volkstiim- 
lichen alchyanas‘‘ 0 verlegt. Wer war denn der Trager der alien 
tiberliefernngen Tiber Buddhas Leben und iiber die mit ihm 
in Beriihrung getretenen Personlichkeiten anders als der buddhi- 
stische Saipgha, der grode Kollektiwerfasser des Pitaka-Kanon ? 
Und auderhalb der buddhistischen Literatur, wo treffen wir da 
auf irgendwelche Spuren von Person und Lebre des Arada? 
Fast ausnahmslos sind die Personlichkeiten, die wir in Buddhas 
Umgebung linden, fiir uns, abgesehen eben von den buddhistischen 
Quellen, verschoUen. Wer die Meinung hegt, dad gerade Arada 
es fur Asv. nicht war, wird dafiir meines Erachtens bessere Zeug- 
nisse geltend zu machen haben, als das suspekte des Buddhacarita“. 
Seit ich diese Satze schrieb, hat weitere Beschaftignng mit den 
literarischen Schichten, die in ungefahrer Nachbarschaft des As- 
vaghosa liegen, meinen Glauben an den Wert dieser „Traditionen“ 
nicht gerade gesteigert *). Mir ist es unzweifelhaft, dad im 12. Ka- 
pitel des Buddhacarita der Poet, der bier dem Gang der alien Le- 
gende folgend seinen jugendlichen Helden mit einem Lehrer der 
Philosophie in Beriihrung brachte, die nabeliegende Aufgabe, diesen 
ein philosopbisches Kolleg lesen zu lassen, mit der gleichen Frei- 
beit der Phantasie erfiillt hat, mit der er anderwarts, wo dem- 
selben Helden weibliche Schonheiten begegneten, bis in alle Details 
binein die von diesen entfalteten Koketterien zu schildern wudte. 
Asvaghosa ist unzweifelhaft ein recbt vielseitiger Mann gewesenj 
Historiker der Philosophie war er ganz gewid nicht®). Da nun 
bei der Behauptung (G. 6), dad man in Indien um den Beginn 
unserer Zeitrechnung das Samkhya fiir alter als den Buddhismus 
gebalten habe, hinter dem „man“ offenbar eben er und seine poe- 
tische Fiktion steckt, werden wir uns auf diese einheimische „ Tra- 
dition “ doch lieber nicht berufen^). 

1) An solche aMydwas als Quellen des Buddhacarita hatte Jacobi gedacht. 

2) Siehe meine „Studien zur Gescliichte des buddhistischen Kanon“, NGGW. 
1912, 155 If., besonders 211 ff. 

3) Wollen wir ihm vielleicht auch glauben, daB die Vaisesikaphilosophie 
Torbuddhistisch ist? Vgl. Sutralaipkara (Huber) p. 15. 

4) Zum Thema des Arada bier nocb zwei nebensachliche Bemerkungen. 
Asvaghosas Bericht uber ihn halte ich, wenn dieser Poet mit Recbt in die Zeit 
des Kaniska gesetzt wird, fiir nicht unerheblicb jiinger — vielleicht um ein Jahr- 
hundert jiinger — als den Beginn unserer Zeitrechnung. Vgl. meine Untersuchung 
NGtiW. 1911, 427 ff. — G. (6) spricht davon, daB jener Bericht A.s Lebre mit 
dem Sanikhya iibereinstimmen laBt, jedoch die drei Guuas nicht erwahnt. Aber 
ist in der Antwort des Bodhisattva v. 75. 76. 77. 80 gut^a nicht im technischen 
Sinn zu yerstehen? 



Zur GescMchte der Saipkhya-Philosophie. 


24a 


.Kaum fester scheint mir eine zweite aus Traditionsmaterial 
hergestellte Briicke, die Samkhya und Bnddhismus verbiaden solL 
Buddhas Vaterstadt Kapilavatthu habe ihren Namen, „der so gut 
zu der Abhangigkeit des Buddhismus von der Samkhya-Philosophie 
paBt“, davon erhalten, dafi ^der Begriinder dieser Philosophie dort 
gelebt und gewirkt hat“ (G. 12). Ich bekenne, daB ich gegeniiber 
einem solchen alten Ortsnameu, der ein Stiick Geschichte der Phi- 
losophie erzahlen soli, so mistrauisch geblieben bin, wie ich es, 
zusammen mit Andern, auch friiher war. Um die dabei zu 
Grande Hegende Tradition nun ist es folgendermaBen bestellt. In 
der jungeren buddhistischen Literatnr sowohl des Siidens wie des 
Nordens^) ist eine Legende verbreitet, nach der die prinzlichen 
Urheber des Sakyageschlechts am Himalaya einen Weisen an- 
trafen, Kapila, der ihnen einen Platz zur Griindung einer Stadt 
einranmte; die wnrde nach ihm Kapilavatthu genannt. Der Be- 
liebtheit dieser Erzahlung in den jungeren Texten steht aber das 
voUstandige Schweigen der alteren gegeniiber. Der Gegensatz 
wird dadnrch akzentuiert, dafi die Geschichte von den sonstigen 
damit zusammengehbrigen Erlebnissen jener Prinzen sich auch im 
Palikanon selbst findet (Ambatthasutta, D. N. Nr. 3). Man stelle 
den W ortlaut des alten Sutta dem der spateren Texte gegeniiber : 

Ambatthasutta (D. N. 1 p. 92): Himavantapasse pokkharaniya 
tire mahasakasande tattlia vdsarp. kappesiim. 

Sumaiig. Vilasini (Kommentar zu eben diesem Sutta): 
tasniin ca samaye amhdkam Bodhisatto brdhmananiahasalakule nibhat- 
titvd Kapilabrahmano nama hutva nikkhamma isipabbajjam pabbajitva 
Himavantapasse pokkharaniya tire sakasande pannasdlam mdpetvd va- 
sati (zu ihm kommen die Prinzen). 

Mahavastu: Anuhimavante Kapilo nama rsih prativasati pan- 
cdbMjfio caturdhydnalabhl maharddhiko mahCLnubhavo. tusya tarn asra- 
mapadam mahavistlrnam ramanlyam mulapuspopetam patropetam pha- 
lopetam paniyopetam mulasahasraiipasobhitam maham catra sdkota- 
vanakhandam (zu lesen wohl -sandam; dort lassen sich die Prinzen 
nieder. Im weiteren Verlauf der Erzahlung tritt Benutzung des 
Ambatthasutta, bzw. einer nordlichen Version davon, deutlich 
hervor). 

Also im Kommentar wie im Suttatext der Teich und das 
Sakageholz, das dem Sakyanamen zuliebe hier wachsen muB: aber 


1) „ Buddha “ « 109 A. 2; LDAB. 284. 

2) Siehe die Anfuhrungen G. 12 A. 4. Aus der siidlichen Literatur fiige ich 
hinzu Sumahgala Vilasini I p. 259, aus der nordlichen MahaYastu I p. 350, 14 ff. 



244 


H. Oldenb erg, 


im Kommentar koinint der Rsi Kapila dazu, von dem der Text 
schlechterdings nichts wei6. Dem Kommentar dann in der Haupt- 
sache ahnlich das Mahavastu. Es ist danach kaum vermeidbar 
anzunehmen, da6 die Geschichte von Kapila eine Erdichtnng ist, 
entstanden in der Zeit zwischen dem alten Text und dem jiingeren 
— eine jener Legenden, die damals ebenso massenhaft wie frei 
erfunden warden. Viel Kunst verlangte die Erfindung nicht. 
Den Xamen Kapila, um dessen „vattliu^ es sick handeln muBte, 
lieferte Kapilavattbu. Wer aber konnte dieser Kapila gewesen 
sein? Der Himalaya ist Wohnstatte zahlloser Asketen. Natiirlich 
war Kapila einer von ibnen. Einen speziellen Hinweis. der auf 
den Begriinder der Samkbyalebre deutet, kann ich dabei nicbt 
entdecken. AVare dock, was ja moglich ist, an diesen gedacht, 
wiirde seine Verlegang in das Eabelzeitalter des Iksvaku und in 
der Sum. VilasinI seine Identifizierung mit dem Bodbisatta in 
einer seiner fruheren Existenzen — wie unsagbar entfernt also 
von dessen letztem Erdendasein ! — nicbt gerade dazu beitragen, 

zu der Erzahlung als Geschichtsquelle Vertrauen zu erwecken. 
Ware es nicht aacb in der Tat ein merkwiirdigster Zufall, daB 
der entlegene und scbwerlich bedeuterde. sonst vbllig unbekannte 
Ort, der allein als Buddhas Heimat beriihmt geworden ist, zugleicb 
die Heimstatte des groBen Rsi-Philosophen gewesen ware? DaB 
damit die Entstehung der Samkhya-Philosophie, entsprechend ibrer 
iimeren Unabbiingigkeit vom Veda, aucb geographisch weitab vom 
Heimatlande des Brabraanismus lokalisiert wiirde (G. 11) — kann 
eine in solcber Unbestimmtheit scbwebende Erwagung unser wan- 
kendes Vertrauen zu jener Legende wirklich starken-)? 

Wie ich schon oben bemerkte: nach meiner IJberzeugung sind 
es allein innere XJbereinstimmungen, in denen sick uns der EinfluB 
des Samkbya auf den Buddhismus kundgeben kann. Hier nun be- 
zieht sick Garbe (7) vor allem auf die Ercirterungen Piscbels 
in seinem Buch „Leben und Lehre des Buddha (ich zitiere im 
Eolgenden dessen zweite Auflage). G. findet dort bewiesen, daB 
„der theoretische Buddhismus ganz auf dem Samkbya -Yoga be- 
ruht“, „so ziemlicb alles vom Samkhya-Yoga entlehnt“ hat. Kicht 


1) Das Mahavastu rechnet allerdings mit bescbeideneren chronologischen 
Mafistaben. 

2) So mbchte ich auch auf die nebelhafte Gestalt des Sanatkumara, eines 
der geistigen Sobne des Brahman, keinen „Beweis fur die Abhangigkeit des Bud- 
dhismus vom Samkhya-Yoga“ zu grunden wagen oder hier „eineii Anhaltspunkt 
fur die Annahme der Entstehung des Samkbya in K3atriya-Kreisen“ finden (G. 14). 
Doch will ich darauf nicht naher eingehen. 



Zur Geschichte der Sanilfliya-Pbilosophie. 


2!5 


nur im im einzelnen, sondeni auch in ihrem Zusammenhang seien 
die Hauptlehren Buddhas von dort abgeleitet : wobei es sich nicht 
etwa um eine V o r stut'e des Samkhya handle, sondern um das 
System in einer Gestalt, die im wesentlichen der in den spateren 
Lehrbiichern vorliegenden gleichzusetzen sei. Mir ist nicht ganz 
verstandlich, inwiefern G. (1-6) eben in den Darlegungen Pischels 
eine solche „endgiltige Feststellung des vorbuddhistischen Alters 
der Samkhya- Philosophie“ erkennt. Was Pischel (S. 65 IF.) iiber 
diesen Gegenstand bietet, hat fiir die Forschung keine neue Si- 
tuation geschatfen; es ist in allem Wesentlichen nur eine Wieder- 
holung der Ausfiihrungen Jacobis in seinem Aufsatz „Der Ur- 
sprung des Buddhismus aus dem Samkhya-Yoga", NGGW. 1896, 
43 iF. Zu diesem Aufsatz und zu Jacobis weiteren daran an- 
schliedenden Bemerkungen ZDMG. LIT, Iff. habe ich in meinem 
„Buddha“ ^ 446 ff. und ZDMG. LII, 684 ff. Stellung genommen 
und glaube mit Argumenten, die ich hier nicht wiederholen will, 
gezeigt zu haben, dafi die Kausalitats-(Nidana-)Formel der Bud- 
dhisten, um die sich die betrefFenden Ausfiihrungen Jacobis (und 
dann spater Pischels) der Hauptsache nach bewegen, in der Tat 
mit der Samkhyatheorie ven der Weltevolution keineswegs so be- 
stimmte Ubereinstimmungen zeigt, dafi auf Zusammenhang ge- 
schlossen werden konnte. Bei einzelnen Termini.s fiir sich ge- 
nommen mag ein solcher Zusammenhang erkennbar sein: so bei 
samskcira, wo doch als Vorbild des Buddhismus vielleicht mehr 
Yoga als Samkhya in Betracht zu ziehen ist ‘). An andern Stellen 
versteht sich ein gewisses Zusammentreffen zweier in so ver- 
wandtem Milieu lebender Doktrinen nahezu von selbst: so bei 
huddhi — vijM)ca. An noch andern Stellen sind die vorgeschla- 
genen Aquivalenzen eben unzutrefiFend: so wenn das uanianqjn 
der Buddhisten dem ahandcaru entsprechen soil, oder bei der Par- 
allelisiernng von apadana mit dharmCidharmaii-). Als Gauzes be- 
trachtet beruhen Evolutionsformel des Samkhya und Kausalitats- 
reihe des Buddhismus auf zwei durchaus verschiedenen Frage- 
stellungen ^) ; wie denn auch bei den versuckten Vergleichungen 
zu den Gliedern jener Samkhyaformel bestandig auBerhalb ihrer 

1) Wie viel greii'barer uberhaupt die Zusaramenaange des Yoga als die des 
Saipkhya mit dem Buddhismus sind, biaucht gegenwartig kaum mehr ausgesprochen 
zu werden. 

2) Hier hat deim auch Jacobi hei seiner zweiten Behandlung des Problems 
(ZDMG. LII, 13) Eeserven gemacht. Pischel (S. 66) ist ihm darin nicht gefolgt. 
Meine Ansicht s. ZDMG. LII, G90 fl. 

3) Vgl. meine Bemerkungen ZDMG. a. a, O. 634 f. 



246 


H. Oldenberg, 


liegende Materialien haben herzugeholt werden mussen. Endlich 
aber: selbst wenn jene Vergleichungen durchweg zutrefFend waren, 
batten wir damit immer nocb nicht den Beweis dafiir, dafi das 
fertige Samkhya dem Buddhismns als Vorbild gedient hat; 
immer nocb verbielte sich der Bestand der Samkhyalehren, der 
damit als dem Bnddbismns vorliegend erwiesen ware, indifferent 
znr Alternative des klassiscben oder des vorklassiscben Samkhya. 

Die in Wahrheit entscheidenden Zusammenbange zwischen 
Samkhya and Bnddhismus scheinen sich mir nun weniger in ein- 
zelnen ubereinstimmenden Begriffen oder Begriffsreihen als in den 
Grundanffassungen liber das Verhaltnis des Ewigen und des ver- 
ganglichen Weltdaseins kundzngeben. Wie ich es LUAB. 315 
formnliert nnd naher auszufiihren versncht habe : wenn die flir den 
Buddhismns fnndamentale Gegenuberstellung jener beiden Spharen 
zuletzt anf die alten Upanisaden znriickgeht, so tritt femer Be- 
einflussnng der Bnddhalehre dnrch die spezielle im Samkhya voU- 
zogene Weiterentwickltmg jenes Dualismus zu Tage. Halten wir 
nns auch hier die Alternative des fertigen oder des werdenden 
Sainkhya vor, so begegnen wir der Auffassung Gar be s (S. 10 f.), 
„da6 der Buddhismns mit seiner Leugnung der Seele liber die 
letzten Konsequenzen des Samkhy a-Sy st ems hinaus- 
gegangen ist“, dieses mithin in seiner abgeschlossenen Gestalt 
auf die Begriindung des Buddhismns eingewirkt haben miisse. 
Wie stellt sich denn nun aber nach den obigen Ausfiihrungen die 
hier in Betracht kommende Entwicklung innerhalb des Samkhya 
und das Verhaltnis des Buddhismns zu ihren friiheren bz. spateren 
Phasen? Zuerst war der Purusa in der Stellung etwa des At- 
man-Brahman der alten Upanisaden als hochster, universeller Geist, 
der sich in den Einzelpurusas individualisiert, Zuschauer des Trei- 
bens von W elt und Natur. Dann kam die Zeit, wo aus dem Sam- 
khya der absolute Purusa verschwand and allein die Vielheit der 
Einzelpurusas iibrig blieb. Der Buddhismus nun in seiner Scheu 
davor, das Transzendente in seine Betrachtungen einzubeziehen 
nnd dadurch leeren Sophistereien die Tur zu bffnen, hielt als 
einzigen Gegenstand der positiven dogmatischen Erorterung das 
Welttreiben fest, in dem das Leiden entsteht und aufgehoben 
werden kann. Die jenseitige Wesenheit verschwand im Mysterium 
des Unausdenkbaren, Unaussprechlichen, gleich unzuganglich fiir 
die Pradikate des Seins wie des Nichtseins. Der damit aus dem 
System entfernte Purusa oder Atman nun, war es allein der in- 
dividuelle in seiner Vielheit oder auch der eine universeUe? Wie 
das nicht Wunder nehmen kann, laBt sich hlar genug erkennen. 



Zur Geschichte der Saipkhya-Philosophie. 


247 


da6 a u c h ein individnelles oder als individuell auftretendea Selbst 
tier im Abgrund der E.atselhaftigkeit verschwunden ist (LUAB. 
304 fF.). Aber deutlicbe Spuren scheinen doch daraaf hinzuweisen, 
dad den letzten SchluBstein des ganzen Gredankengebaudes ein 
uberindividuelles , dem Atman -Brahman aufs engste verwandtes 
Hochstes bildete, von dem zu reden man sich versagte, das aber 
doch hinter dem Schleier solches Sehweigens sein Dasein, vielmehr 
sein IJbersein verriet (vgl. LUAB. 318). Ist das richtig, so liegt 
darin, dafi die Linie, die — wohl durch unbekannte Zwischen- 
glieder — vom Samkhya zum Buddhismns gefiihrt hat, nicht vom 
klassischen Samkhya aus abgezweigt haben wird, sondem, wie das 
schon die chronologischen Verhaltnisse wahrscheinlich machen, 
vielmehr von dem der Upanisaden and des Epos, mit welchem 
letzteren — bz. mit der eng damit zusammengehorigen Gestalt 
des Yoga — der Bnddhismus auch den Begriff des Nirvana ge- 
mein hat. 

Zn diesem Ergebnis stimmt auch eine andere schon friiher 
von mir geltend gemachte Beobachtnng; dab sich in der Karika 
ein viel geschmeidigerer , raffinierterer, gekunstelterer Stil des 
Denkens zeigt, als im schlichten, ergriffenen Ernst des buddhisti- 
schen Bingens urn das Verstehen and tiberwinden des Weltleidens. 
Man lese Ear. 66 fi. : durch welche Prozesse der Zuspitzungen, 
Umschmelzungen, Sublimierungen haben doch die alten einfachen, 
wuchtigen Gedanken von Natur und Geist, von Leiden und Er- 
Ibsung hindurchgehen miissen, bis das Bild diese iiberraschende 
Form annehmen konnte — die Tanzerin Natur, die ihr Ballett 
aulluhrt „nm seinetwillen ohne eigenen Nutzen“, um des Purusa 
willen zu seiner Erlosung, der doch nicht erlost wird, der nicht 
gebunden war, dessen Bindung und Erlosung nur Schein ist, 
hervorgerufen durch das triigerische Spiel so zn sagen von Licht- 
reflexen. Wer die Predigt Buddhas im Gazellenhain von Benares 
diesen Gedanken gegenuberstellt, dem wird sich ahnlich wie einem 
Betrachter etwa des Suttanipata im Vergleich mit Dichtungen 
Asvaghosas oder Kalidasas, aufdrangen, was alter was jiinger ist. 
Der Hinweis daranf, dab der Stifter des Samkhyasystems seinem 
Zeitalter eben um Jahrhunderte voran geeilt sein werde (G. 10), 
kann meines Erachtens uber die einfache und starke Uberzeugungs- 
kraft dieses Eindrucks schwerlich hinuberfiihren. 



Die bier vorgelegten Erorternngen zur Grescbichte des Sam- 
khya scblieBen die Auifassang in sich, daB diese Lehre sich in 
gerader Linie aus der Brahman- Atman -Spekulation der alten 
Upanisaden entwickelt hat. Wesentlich anders sieht es Jacobi, 
Festschrift Kuhn 37 ff. an, dessen Bemerknngen ich bier kurz he- 
sprechen mocbte. 

Er geht von jenem Abschnitt von Chand. Up. VI aus, der 
den Ursprung der Welt zuletzt aus dem „Seiendem“, demnachst 
aus den drei Elementen tejah apah annum — wobl Vorgiingern 
der drei Gunas (vgl. LUAB. 215) — herleitet. An diese Ele- 
mente, heiBt es in der Upanisad, haben die groBen Wissenden der 
frliheren Zeiten gedacht, wenn sie sagten, daB es fiir sie nicbts 
Ungehbrtes, Ungedachtes, Unerkanntes geben konne: denn in allem 
erkannten sie eines dieser Elemente oder ihre Zusammensttzung. 
Eine materialistische oder — J. scheint die Ausdriicke als gleich- 
wertig zu behandeln — rationalistische Theorie. Sie war, wie J. 
aus dem Upanisadbericht von der AuBerung jener Alten heraus- 
liest. Eigentum einer Art von Schule, die den Strbmungen des 
Idealismus nnd Mystizismus fern stand. Man diirfe annehmen, 
daB sie sich in der ihr eigenen Eichtung weiter entwickelte, und 
diese Entwicklung habe zur Sainkhya-Philosophie gefiihrt, wahrend 
der im Gegensatz zu ihr stehende Mystizismus. der Trager des 
Upanisadgedankens, es doch nicht verschmahte, ihr seine begrilF- 
liche Grundlage ahnlich zu entlehnen, wie die christliche Dogmatik 
es mit Aristoteles oder gewissen neueren Philosophen getan hat. 

Mir scheinen sich diesem Auf bau gegeniiber manche Bedenken 
aufzudrangen. 

Uer Leser von Jacobis Darlegungen wird den Eindruck emp- 
fangen, als sei jener Abschnitt der Ch. U. aus einem Milieu hervor- 
gegangen, in dem Slaterialismus und wir mogen etwa sagen Spiri- 
tualismus als ausgepragte Gegensiitze einander gegeniiberstanden. 
Wenn sich aber im Zeitalter der Upanisaden die Sonderung des 
Geistigen und Korperlichen im Jlenschen in der Tat immer mehr 
durchsetzt, schwebt doch iiir das Dasein des Universums das Di- 
lemma von Materie und Geist erst in sehr nebelhaftem Zustand 
dem BewuBtsein vor. Die Atmosphare, in der sich die aus Denken 
nnd Phantasieren unaufloslich gemischten Vorstellungen jener Zeit 
bewegeu, laBt sich etwa durch die Reihe der Grundwesenheiten 
charakterisieren, die in Ch. U. VII, vom Niederen zum Hbheren 
aufsteigend, aufgezahlt werden: Namen, Rede, Geist, EntschluB, 
Gj^danke, Sinne n, Erkenntni.s, Kraft, Nahrung, Wasser, Glut i), 

1) Stehen hier rein zufallig die drei Elemente von Ch. U. VI nebeneinander? 



Zur G«schichte der Sarpthya-Philosophie. 


249 


Kaum, Erinnerung, Hoffnung, Atem. Man sieht, mit welcher Un- 
befangenheit da Geistiges und Materielles durch einander gewirrt 
ist. Oder wenn Ch. VIII, 12 das Sterbliche, Korperliche dem 
Unsterblichen, Korperlosen gegeniibergestellt wird nnd man viel- 
leicht erwarten konnte bier dem Problem des Materialismus nnd 
Spiritualismus zn begegnen — was ist da mit dem Korperlosen 
gemeint? Wind, Wolke, Blitz, Donner, mit deren Korperlosigkeit 
weiter die des im Scblaf vom Korper gelosten Geistes anf einer 
Linie stebt. Wo so gesprochen wird wie an diesen nnd vielen 
abnlicben Stellen, wird man die Voranssetznngen fur eine wahr- 
baft „materialistische“ Denkweise kaum fiir vorliegend eracbten. 
Doch moge man immerhin iiber den Gebranch dieses Schlagworts 
anders denken : wird denn aber tatsachlicb in jener W eltentstehnngs- 
geschicbte der Cb. U. das Dasein ans rein materiell vorgestellten 
TJrwesenheiten bergeleitet? Vor den drei Elementen tejah nsw. 
stebt an der Spitze von allem das „Seiende“, welcbes dacbte: 
Ich will eine Vielheit sein. Haben wir Grnnd, dies Seiende eben 
als Materie zn versteben? Vielleicht kann man weiter, wenn 
dann das tejah denkt, wenn die apah denken, dies dahin inter- 
pretieren, dafi diese Elemente von vomherein als korperlich-gei- 
stige Wesenbeiten zn versteben sLnd. Das Geistige aber kommt 
dann noch bestimmter zur Geltnng. Wie die drei Elemente ge- 
scbaffen waren, „ging jene Gottbeit (das Seiende) in diese drei 
Gottbeiten (die Elemente) mit diesem lebenden Selbst ein nnd 
legte Namen und Gestalt in ibnen anseinander; jede einzelne von 
ibnen aber macbte sie dreifacb“. Wenn also „die Nabrnng, nacb- 
dem sie genossen, sicb dreifacb zerlegt“ — in Faeces, Fleisch und 
manas — , so entsteht das nianas bier nicbt knrzweg aus der Ma* 
terie an sicb, sondem aus der von einem boberen Prinzip „mit 
lebendem Selbst“ durchdrungenen Materie. An diese Ausfubrnngen 
scblieBen sicb dann weiter jene bestandig in dem tat tvam asi 
gipfelnden Satze: die Lebenskraft, die den Baum wacbsen macht, 
das wobin der Erloste eingeht, wie der Verirrte sicb von Dorf 
zn Dorf zu seiner Heimat zuriickfragt, die Kraft der Wabrbeit, 
die beim Gottesurteil den Unscbuldigen vor dem Verbrennen be- 
wabrt — jener nniman, das Seiende, das ist das Wabre, der 
Atman, der das All erfiillt. Wollen wir das Materialismus nennen? 
Eichtiger ist es vielleicbt sicb dahin anszudriicken, daB in dem 
ganzen Abscbnitt eine Mebrbeit verscbiedener Tendenzen, unter 
denen in der Tat auch, wenn man solche Schlagworte nicbt missen 
mag, Hylozoismns nicbt fehlt, Keime, in denen mannigfache Ent- 
wicklnngsmoglichkeiten liegen, noch nngeschieden vereint sind. 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. H*ft 2. 17 



260 


H. Oldenberg 


Solche TJngeklartlieit ist eben das Charakteristische fiir diese Ent- 
wicklungsstufe. Weiter aber: das Wort, daB die Upanisad den 
Weisen des Altertums beilegt, ihnen konne nicbts Unbekanntes, 
Unverstandenes begegnen — was die Upanisad dahin zu inter- 
pretieren beliebt, daB jene uberall Glut, Wasser, Xahrung er- 
kannten — , soli die Existenz einer alten materialistiscben oder 
rationalistischen Schnle „dentlich erkennen" lassen*)? Und zu 
dieser Schule als der Vertreterin der Wissenscbaftlicbkeit soli 
sich der Mystizismus verhalten haben wie die katholische Theo- 
logie etwa zu Aristoteles? Ware also — so scbeint es in der 
Tat J. anzusehen — die eben beriibrte Verschiedenbeit der in 
dem Upanisadabschnitt sicb miteinander vereinenden Vorstellungs- 
elemente dahin zu deuten, daB Bestandteile der Weltanschauung 
jener materialistischen Schule hier von Idealisten als wissen- 
schaftliche Verbramung ihrer eigenen Phantasien mit den letzteren 
vermischt worden sind? Da hatten wir denn doch wohl die Gegen- 
satze, die wir in diese Vermischung eingehen lassen, zuvdrderst 
aut unsre eigene Verantwortung selbst konstruiert, uns inspirierend 
an Gegensatzlichkeiten geistiger Stromungen in unsrer Welt, 
statt uns in die alte Ungeschiedenheit dessen, was sich spater 
scheiden mufite, hineinzuversetzen. Kiirzer ausgedriickt : wir 
hatten, scheint mir, den in der Upanisad gegebenen Tatbestand 
zurechtgelegt, indem wir die entscheidenden Motive mehr in ihn 
hineintrugen als aus ihm herauslasen. 

Meinerseits will ich nun keineswegs in Abrede stellen, daB 
Jacobi die Beriihrungen jenes Upanisadabschnittes mit dem Siltn- 
khya vollkommen richtig beobachtet hat. Zu der Parallelisierung 
der drei Elemente mit den Gunas laBt sich hinzufiigen, daB das 
Seiende, welches „mit dem lebenden Selbst“ in die Elemente ein- 
geht und in das der Erlbste zuriickkehrt. dem Purusa verglichen 
weiden kann — freilich nicht dem Purusa, der zum bloBen Zu- 
schauer des Welttreibens herabgesunken ist. Auch daB unter den 
Produkten der (vom Atman durchdrungenen) Elemente das manus 
erscheint, paBt zum Weltbild des Samkhya. SchlieBlich macht 
sich in jenem Kapitel auch eine dem Samkhya durchaus verwandte 
allgemeine Tendenz fuhlbar, die Erkenntnisse nicht fertig hinzu- 
nehmen, sondern zu forschen und zu beweisen. GewiB kann man 
da mit Garbe von indischem Eationalismus sprechen“): einein 

Ij DaB nach der bekannten Stelle der KStli. Up. 1, 20 es Leute gab, die 
das lortleben nach dem Tode lengncten, durfte auch die Existenz einer solchen 
Schule nicht fur die Zeit der KU., geschweige denn die der Ch.U. beweisen. 

2) Auch in den feinen Bemerkungen von Ultra mare, I/hist, des idees 



Zur GescMchte der Samkhya-Philosophie. 


251 


B,ationalismus, der sich doch ganz innerhalb der allerdings weiten 
Sphare der Upanisadenspekulation halt nnd die Grnndideen der 
alien Upanisaden vielmehr zu klaren und anszubauen sncht, als 
dad er in Gregensatz zu ihnen trate — wahrend dann freilich die 
Weiterentwicklnng naturgemafl scharfere Differenziernngen mit 
sich gebracht hat. Die Bezeichnung Materialismus aber ist es 
wohl gleich mifilich wie auf die unfertigen, werdenden Ideen 
jenes Upanisadabschnitts so anf die ansgepragtere Weltan- 
schauung des Samkhya anzuwenden. Ein System, das es nicht 
bei der Prakrti bewenden lafit, sondern neben sie. iiber sie den 
Purusa stellt nnd sie zu dessen Dienerin macht, befindet sich vom 
Materialismus doch wohl in einiger Entfernung. 


Ich schliede mit wenigen Bemerkungen iiber die traditionellen 
Namen der altesten Samkhyalehrer. Nacb der Karika iiberlieferte 
bekanntlich der muni d. h. KapBa die Lehre dem Asnri, dieser 
dem Pancasikha, worauf die Kunde durch die hsyaparampara bis 
auf ISvarakrsna gelangte. Ich stimme durchans der herrschenden 
Ansicht bei, nacb welcher Kapila eine geschichtlicbe Personlich- 
keit, der wirkliche Begriinder der Lehre ist. DaB keiner der in 
den Brahmanas beriihmten Lehrer wie etwa Yajfiavalkya zu dieser 
Stelle ausersehen ist, erweckt Vertranen. G-elebt haben mu6 Ka- 
pila, wie es auchG-arbe (S. 32) ansieht, in der Zeit zwischen der 
altesten und der zweiten Schicht der Upanisaden. 

Wie steht es aber mit Asuri? Moglich bleibt natiirlicb, daB 
ein Mann dieses Namens in der Tat in der Geschichte der Schule 
auf Kapila, unmittelbar oder mit unbekannten Zwischengliedern, 
gefolgt ist. Das Mababharata indessen (XU, 7890 If.), das seinen 
Scbiiler Pancasikha mit Konig Janaka von Mithila, dem allbe- 
kannten Patron des Yajfiavalkya, in Verbindung bringt, laBt uns 
srlauben, daB — wie es schon Weber ansab — man ihn als den 
bekannten, dem Yajfiavalkyakreis angeborigen und in den Yajfia- 
valkyabiichern des Satapatha Brahmana oft genannten Ritual- 
lehrer A. verstanden hat. Garbe (65) findet diese PdentitSt un- 
moglich, da der Asuri des Sat. Br. dort iiberall im Zusammen- 
bang mit Fragen des Ritus, nicht der Spekulation genannt werde 
(doch s. die Vamsas von XIV, besonders 9, d, 33). Katurlich bin 
anch ich weit davon entfernt, jenen Rituallehrer zu einem wirk- 


theosophiques dans I’lnde, I, 224, wird dieser Charakterzug des Sanikhya treffend 
hervorgehoben. 


17 * 



H. Oldenberg, 


252 

lichen Schuler Kapilas and Trager von dessen Lehre machen zu 
wollen. Aber ich halte fur nicht unwahrscl^inlich, da6 es sich 
eben urn eine Fiktion handelt, durch die ein Asuri, bei dem man 
an den Rituallehrer dachte, zum Sainkhyaphilosophen gestempelt 
worden ist, urn das Samkhya als im Kreise jener beruhmten T^o- 
logen heimisch erscheinen zu lassen. So hat ja schon die BAU. 
den Yajnavalkya zum Verkiinder spekulativer Ideen gemacht, die 
in Wirklichkeit wohl jenem alten Opferkunstler hochst befremdlich 
erschienen waren. TJnd denselben Yajnavalkya hat dann welter 
das Mahabharata unbedenklich zu einem Kenner des Samkhya ge- 
stempelt (G. 66), woran die von Garbe (65) im Zusammenhang 
dieser Erwagnngen betonte „Feindseligkeit des Sainkhya-Systems 
gegen das brahmanische Ritualwesen“ keineswegs gehindert hat. 
Die chronologische Unmoglichkeit davon, da6 ein Zeitgenosse Ya- 
jnavaJkyas Schuler des Kapila gewesen ist, lag natiirlich den TJr- 
hebem der betreffenden Fiktion. unbefangen wie sie waren, fern. 

Nun aber glaube ich welter, daB als eine — sei es fingierte 
sei es, wie Kapila, wirkliche — PersonKchkeit ahnlich hohen 
Altertums auch Paucasikha anzusehen ist. Die Karika schlieBt 
ihn an Asuri an und laBt dann den unbestimmten du]^h die 
sisyaparaiiipard uberbriickten Zwischenraum folgen, der bis Isvara- 
krsna reicht. Das Mahabharata setzt ihn entsprechend, wie eben 
erwahnt, in die Zeit des Janaka (auch _XU, 11839). Und so figu- 
riert er auch zusammen mit Kapila, Asuri und der Gruppe des 
Sanaka usw. unter den bei der Zeremonie des Tarpana (G. 64) 
angerufenen Heiligen. Nun besitzen wir aber bekanntlich ander- 
seits eine Reihe von Fragmenten des Pancasikha, die ihn als einen 
verbaltnismaBig jungen Schriftsteller erweisen; Garbe (70) setzt 
ihn schatzungsweise etwa um den Beginn unsrer Zeitrechnung. 
Dasselbe chronologische DUemma kehrt in noch scharferer Form 
bei Varsaganya wieder, der auf Grund chinesischer Uberlieferung 
in das 5. Jahrhundert n. Chr. zu gehoren scheint, den aber gleich- 
falls das Mahabharata (XII, 11782; G. 74) in einem Dialog, bei 
dem Yajnavalkya beteiligt ist, erwahnt. Ich halte gewiB das 
Mahabharata nicht fur angstlich genau in chronologischen Dingen. 
Aber dab es etwa Kaniska oder einen Guptakonig an der Seite 
der Kuru und Pandu kampfen lieBe, scheint mir doch ausgeschlossen. 
Ich vermute, dafi auch bei diesen Philosophennamen wie bei Asuri 
Fiktionen im Spiel sind. Spatere philosophische Schriftsteller 
legten sich — oder ihre Verehrer legten ihnen — die Namen 
alter, im Nebel verschwimmender Grofien bei, oder man taufte 
wenigstens ihre Werke auf diese Namen. So erbte der Verfasser 



Zur Geschichte der Saipthya-Philosophie. 


263 


der Samkhyasutras keinen geringeren Namen als den des Elapila ; 
es gab verschiedene Vyasas — nicht viel anders als wie jnnge 
Recbtsbiicber von Yajfiavalkya usw. stammten. Sollte der Paii- 
casikka, von dem die Fragmente herriihren, nicht ahnlich zn be- 
nrteilen sein ? 


1) Zu den Fragen, von denen zu sprechen Garbes Darstellung der Sain- 
khyaphilosophie einladen wiirde, gehort auch die ihres von G. behaupteten Ein- 
flusses auf die Philosophie der Griecben. Ich lasse die Skepsis, zu der ich da 
hinneige, bier auf sich beruhen; das Problem gehort auch im Grunde mehr vor 
das Forum des Grazisten als des Indologen. Dock mochte ich im Vortibergehen 
bei dieser Gelegenheit einer speziellen Behanptung widersprechen, die eine an- 
gebliche indisch - griechische Benihrung betrifft. G. (S. 123) bezeichnet als von 
L. V. Schroeder erwiesen, da6 Pythagoras mit den alten Indem die Kenntnis 
der iirationalen Zahl ^ 2 gemeinsam habe. Ich glaube selten einem so liicken- 
haften Beweise begegnet zu sein wie dem, den v. Schr. (Pythagoras und die 
Inder 51) fur die auch neuerdings (Reden und Aufsatze 168) von ihm wieder- 
holte Behauptung der Bekanntschaft der Sulvasutras mit den irrationalen Zahlen 
gegeben hat. Er weist einfach nur darauf hin, da6 diese Sutras den Begriff der 
dvikaraij.i = V 2, trikaranl = 3 usw. kennen (genauer ware ; dvikaram = Seite 

des Quadrats von doppeltem Flacheninhalt). Offenbar findet er dadurch gewkhr- 
leistet, da V 2 bekanntlich irrational ist, da6 den Sulvasutras auch die Irrationa- 
litat bekannt gewesen ist. Was die naturlich so einfach nicht zu erweisende Be- 
hauptung an sich anlangt, so hat dieser schon vor mehr als einem Jahrzehnt 
Vogt in einem Aufsatz der Bibliotheca Mathematica (3. Folge, VII, 6ff.) uber- 
zeugend Gerechtigkeit widerfahren lassen : welcher Aufsatz in den Kreisen der 
Indologie mehr Beachtung, als er gefunden zu haben scheint, verdienen durfte 
(die vermutlich gleichfalls dies Problem beriihrende Untersuchung von Zenthen, 
Comptes Rendus du II. Congr. intern, de Philosophie a Geneve, 1904, 833 S., 
angefuhrt — ebenso wie die Arbeit Vogts — von Cantor, ist mir unzuganglich). 



Die loxodromische Kurve bei G. Mercator. 

Eine Abwehr gegeniiber Senhor Joaquim Bensaude (1917). 

Von 

Hermann Wagner. 

Vorgelegt in der Sitzung am 17. Miirz 1917. 

I 

Im Jahre 1915 babe ich die Ergebnisse einer langern Studie 
uber ,, Gerhard Mercator und die ersten Loxodromen auf Karten“ 
kurz in folgenden Satzen zusammengefafit : 

1. Gerh. Mercator scheint der erste gewesen zu sein, der 
Karten, d. h. seine Globusstreifen bezw. seinen Globus vom Jahre 
1541, mit Loxodromen versehen hat. 

2. W enn PedroNunes (Petrus Nonius) hierauf einen mittel- 
baren EinfluB ausgeiibt hat, so konnen dabei nur seine altesten 
Schriften zur Nautik, die „Duos Tratados da carta de marear“ 
vom Jahre 1537 in Erage kommen. 

3. In diesen Schriften von 1537 gibt Nunes jedoch noch 
keine Anweisung zur Berechnung von Kumbtafeln oder zur Zeich- 
nnng von Eumblinien auf Globen und entwickelt in Text und Pigur 
noch falsche VorsteUungen iiber den Verlauf der Loxodromen. Er 
laBt sie noch im Pol zusammen laufen. 

Die Abhandlung verfolgte einen wesentlich andern Zweck als 
die Aufhellung der Beziehungen zwischen Nunes und Mercator; 
sie zielte viehnehr, um dem TJrsprung der nach Mercator benannten 
Zylinderprojektion (1569) naher zu kommen, auf den Nachweis ab, 
da6 Mercator, was bisher wenig beachtet war, schon i. J. 1541 


1) Annalen der Hydrographie Bd. 43. 1915. Heft. VII u. VIII. 



Die loxodromische Kurve bei G. Mercator. 


255 


eine »klar bewuBte Vorstellung des Wesens nnd der Bedeutung 
der loxodromischen Kurve gehabt habe“. Jedoch bin ich bei der 
Untersuchung auf seine nicht unmogliche Beeinflussung dorch die 
Arbeiten von Nunes, wie ich glaube, mehr als irgend einer der 
Autoren vor mir eingegangen, da sich letztere dabei ausnahmslos 
auf allgemeine Vermutungen beschrankten. 

Nicht ein Deutscher, sondern der Italiener Matte o Fiorini 
— das moge bier zuerst nochmals festgestellt werden — hatte 
1890 indirekt die Unmbglichkeit einer solcben Abhangigkeit Mer- 
cators von Nunes behauptet. Indem er dessen Grlobns von 1541 
mit seinen Loxodromen beschrieb, sagte Fiorini: „IJnser Autor 
hatte eine sehr klare Vorstellung von der Loxomodrie. Es war 
allerdings zuerst Pietro Nonio, welcher die wahre Natnr der 
Loxodrome feststellte und zeigte, da6 diese Linie nicht, wie viele 
glaubten, kreisformig sei, sondem sich nach Art einer Schnecken- 
linie bildet, deren Windnngen, wenn auf die Kugel iibertragen, 
den Pol nicht erreichen konnen, so weit man sie auch verlangern 
mag. Die Untersuchungen des portugiesischen Mathematikers wurden 
bekannt im Jahr 1543, drei Jahr nach der VerofPentlichung des 
Erdglobus von Mercator, sie sind aber dnrch den Druck erst im 
Jahr 1573 verbreitet worden.“ 

Ich wiederhole, dafi es der Italiener Fiorini war, der, so 
viel mir bekannt, zum ersten Male es aussprach, da6 Mercator 
seinen Globus 1541 mit Loxodromen versehen babe, be vor Nonius 
mit seiner Entdeckung iiber das Wesen derselben hervorgetreten sei. 

Bern gegenliber habe ich in meiner Studie nachgewiesen , daB 
die bisherigen Autoren — und Fiorini nicht ausgenommen — fiber 
die Chronologie der Schriften von Nonius zumeist nur mangelhaft 
unterrichtet waren, und daB tatsachlich die Darlegnngen fiber das 
Wesen der alle Meridiane auf einer Kugel unter gleichem Winkel 
schneidenden sog. Loxodrome mit ihrem Unterscbied vom groBten 
Kreise aufs klarste von Nonius schon in seiner, heute sehr selten 
gewordenen Schrift von 1537 „Tratado em defensam da carta de 
marear“ enthalten sei. Diesen Beweis vermochte ich allerdings 
nur dadurch zu ffihren, daB ich nach langem Suchen endlich ent- 
deckte, daB ein Originaldruck dieser Schrift sich in der Herzogl. 
Bibliothek zu Wolfenbiittel erhalten habe. Es ist dasselbe Exem- 
plar, nach welchem Senhor Joaquim Bensaude die inzwischen 
erschienene prachtige FaksimUe-Ausgabe des „Tratado da Sphera“ 
(Mfinchen 1915) auf Kosten der portugiesischen Regierung herans- 
gegeben hat. Diese gewabrt ffir mich den Vorteil, daB man meine 
Darlegungen fiber Nonius heute an zahlreichem Orten als frfiher, 



266 


Hermann Wagner, 


wiirde nachprufen konnen, worauf ich nach den Einwanden, gegen 
welche sich diese Abwehr richtet, besondem Wert legen mn6. 

Dnrch die nahere Analyse eben dieser Schrift von 1537 glaube 
ich — anch dies sei znr Klarstellnng betont — einen Pnnkt, der 
fiir die Entscheidnng der Erage, ob Mercator beim Entwnrf seiner 
Loxodromen dnrch Nonius hat beeinfluBt werden konnen, von 
gmndsatzlicher Bedentnng ist, namlich die zeitliche Anfeinander- 
folge der Tatsachen, erst ins rechte Licht gesetzt zn haben. Denn 
hatte sich, wie Eiorini annahm. Nonius erst in seinen nach 1541 
erschienenen Schriften iiber das Wesen derselben geauBert, so ware 
die Abhangigkeit Mercators von ihm in diesem speziellen Punkte, 
wenn nicht unmoglich , so doch in viel hoherem Grade unwahr- 
scheinlich gewesen. 

Meine Nachforschungen fiber etwaige direkte Beziehungen 
zwischen den beiden Kosmographen in so frtihen Jahren waren 
ohne Erfolg. Aber die Moglichkeit, dad Mercator die Schrift des 
Nonius von 1537 hat einsehen konnen, urn dadnrch mit den Eigen- 
schaften der Loxodrome bekannt zn werden, habe ich damals mit 
ausdrficklichen Worten, die hier wiederholt werden mogen, zuge- 
geben (a. a. 0. 343) : „An sich undenkbar ware diese Be- 
kanntschaft (der -Duos Tratados" des Nonius von Seiten 
Mercators) bei den nahenBeziehungen nicht, welche im 
Zeitalter Karls V. zwischen Spanien und den Nieder- 
landen, vielleicht auch zwischen den Universitaten 
Coimbra und Lowenbestanden. Man erinnere sich, 
dadderGlobus von 1541 nocb in Lowen entstanden ist, 
welche Stadt Mercator erst 1552 verlieB“. 

Allerdings halte ich auch heute noch an meinen ausffihrlich 
begrfindeten Anschauungen fest, dad Mercator in der Schrift von 
1537 keinerlei Anhaltspunkte fiir die Zeichnung, fur die eigent- 
liche Konstruktion der Loxodromen finden konnte, welche er mit 
verhiiltnismadig sehr groder Genauigkeit auf die Globnsstreifen 
aufgetragen hat (von diesen hat man bekanntlich 1868 in Gent 
einen Abdruck gefunden, um sie dann in Originalgrode zu publi- 
zieren). Denn es findet sich in den Tratados des Nonius von 1537, 
wie oben schon angedeutet, „noch nichts von einem Versuche, eine 
Rnmbtafel zu berechnen oder von einer Anweisung zur Zeichnung 
der Rumben auf Globen. Auch sind die Kapitel 21 bis 27 des 
VI. Buches von „P. Nonii Salaciensis de regulis et instrumentis“ 
etc., welche die technische Frage der Loxodromenzeichnung ein- 
gehend behandeln, nur in den spa tern lateinischen Ausgaben der 



Die loxodromische Kurve bei G. Mercator. 257 

Werke des Nonias (Basel 1566, Coimbra 1573), nicht aber in der 
portugiesiscben Originalpublikation von 1537 enthalten“. 

Ebenso wenig konnte Mercator das Notige aus der groBen 
Figur entnehmen, welche dem Tratado von 1537 mit textlicber 
Erlauternng beigefiigt ist, und die ich onter gleichzeitiger Abbil- 
dung in Originalgrofie knrz als den „Ersten Versnch eines Loxo- 
dromenentwurfs dnrcb P. Nunes 1537“ bezeicbnet batte. Hierin 
liegt doch unzweif elbaft von meinerSeite eine voile 
Anerkennnng der Prioritat eines solcben Ver sncbes 
dnrcb Nonius gegeniiber Mercator. Icb sage jene Figur 
konnte Mercator deshalb nicht ausnutzen, weil sie zwar das Prinzip 
des Verlaufes einzelner Loxodromen vom Aequator aus, aber noch 
in durcbaus feblerhafter Konstruktion erkennen liefi. Indem icb 
die Figur, die man nach der Unterschrift des Nonius als eine Po- 
larprojektion der nordlichen Hemisphare aufzufassen hat, mit 
einem aequidistanten Gradnetz uberspann, ergaben sich bei der 
Nachpriifung fur die Schnittpunkte der Loxodromen von 45® und 
67^2® mit dem 45., 90., 180. Meridian die folgenden, doch sebr 
betrachtlicben Fehler (a. a. 0. S. 345): 



Loxodromia sexta (67 72 “) 

Loxodromia quarta (45“) 

Lange 



Fehler 



Fehler 

450 

18 V/Br. 

17 Br. 

— 1“ 

41“ Br. 

40“ Br. 

— 1“ 

90“ 

36“ „ 

25“ „ 

— 10“ 

66 7/ „ 

57“ „ 

- 97 / 

180“ 

89 72° , 

52“ 

- 7 72 " 

85“ „ 

75“ „ 

— 10“ 


(AUe diese Fehler wiirden sich bei Zngrundelegung einer stereo- 
graphiscben Polarprojektion auBerordentlicb erbohen. Sie kann 
also jedenfalls bei der Beurteilung nicht in Frage kommen). Genug, 
dem gegeniiber konnte ich nachweisen (a. a. 0. S. 307), dafi die 
Konstruktionsfehler der zahlreichen , nach ganz eigenartiger, be- 
wuBter Auswahl auf dem Mercatorschen Globus emgezeichneten 
Loxodromen im Durchschnitt nicht V 2 " L. iiberschreiten, sodaB die 
Abweicbungen meist innerhalb der mir selbst ev. zur Last zu le- 
genden Abmessungsfehler liegen. 

War ich hiernach nicht vollauf berechtigt, die im Anfaug 
dieses Aufsatzes angefiihrten Leitsatze aufzustellen ? DaB nam- 
lich G. Mercator in der Tat der erste gewesen zu sein 
scheine, der Karten mit richtigen Loxodromen ver- 
sehen hat? Denn die obige Figur im Tratado des Nunes von 






258 Her mann Wagner, 

1537 ist weder eine Karte , noch enthalt sie richtige Loxo- 
dromen. 

Um anch dem Laser dieser meiner Abwehr die Nachpriiftuig 
zu erleichtem, bringe ich die dem Nonius’ schen Werke von 1537 
entnommene Figur auf folgender Seite nochmals in der Original- 
groBe und als Faksimile zum Abdruck. Dabei bemerke icb, daC 
ich die Teilpunkte des Mittelmeridians meinerseits erst in die Figur 
eingetragen habe, nm dem Leser die Eintragung der Breitenkreise 
als aequidistante konzentrische Kreise zu erleichtem. (3. 259). 

Hiebei lege ich — auch dies hebe ich ausdriicklich hervor — 
keinen Wert darauf, daB Nunes, wie Figur und der in deutscher 
libersetzung von mir abgedruckte Text beweisen (a. a. 0. S. 347), 
i. J. 1537 noch der irrtiimlichen Ansicbt huldigte, die Loxodromen 
schnitten sich.im Nordpol, eine Ansicht, die er ja selbst in den 
spatern Schriften vollkommen berichtigt hat. Ich fiigte hinzu 
(a. a. 0. S. 348, oben), „es sei denkbar, daB auch Mercator, zur 
Zeit der Zeichnung seiner Globusstreifen noch in demselben Irrtum 
eines ZusammentrefFens der Loxodromen im Pol befangen gewesen 
sei, da sein Lehrer Gemma Frisius an dieser falschen Auffas- 
sung noch 1545 (im Appendix zu Kap. XV der von ihm seit 1529 
oft herausgegebenen Cosmographia Petri Apiani: den Appendix 
enthalt zuerst die Ausgabe von 1545) und spater f'estgehalten habe. 
Die Globusstreifen Mercators geben, da sie nur bis zum 70® Br. 
reichen, dariiber keine Auskunft und die zugehorigen Kugelkappen 
von 70 — 90® enthalten liberhaupt keine Loxodromen“. 

Nach allem diesen glaube ich dem verdienten por- 
tugiesischen Kosmographen Nunes im fraglichen 
Punkte alle Gerechtigkeit widerfahren gelassen 
und unserm Gerh. Mercator kein Verdienst, das er 
nichtbeanspruchenkonnte, zugesprochen zuhaben. 

II 

Mit Staunen sah ich mich in diesem Glauben getauscht beim 
Einblick in die neueste Schrift des Senhor Joaquim Ben- 
saudo, jenes z. Z. in der Schweiz lebenden portugiesiscben Ge- 
lehrten, der mit den reichen ihm zur Verfiigung stehenden Mit- 
teln und in unermiidlicher Ausdauer seit Jahren bemiiht ist, die 
friihe selbstandige Pflege der nautischen Wissenschaft der Portu- 
giesen ins rechte Licht zu steUen. Seinem in der letzten Zeit 
oft besprochenen Werk „L’astronomie nautique en Portugal a 
I’epoqne des grandes ddcouvertes*, (Berne 1912), hat er soeben 
eine „Histoire de la science nautique portugaise“ (Geneve 1917) 



Die loxodromische Kurve bei G. Mercator. 


259 



C 0 circulo grandcrep2cfe!ita a equfnocial t o fcucr ntro ao polo bo 
noue.^0 linbaeocrcitae famoe riimoeS noziefulit aeoutraetuas 
linbas curuaa be bOa pane z ba ouira fam nozdeftc fuduefte t noioe 
He fuefte.e ae ouiras antreeflae z a cquinocial fam lee nozdefleoes 
niuuelte’t oco noioeftclee fueftc. 


Erster Versuch eines Loxodromenentwurfs durch P. Nunes 1537. 


260 


Hermann Wagner, 


folgen lassen. Er nennt diese mit Reclit ntir ein „Resume“, denn 
sie enthalt teilweise nnr kurze Aphorismen und nackte Aiifzali- 
Iniigen von Daten; er stellt eine weitere Publikation unter ganz 
gleichem Namen „Histoire de la science nauticjue portugaise“ sowie 
, Etudes pour I’histoire de la science nautique portugaise“ als II. 
Teil seiner ^L’astronomie nantiqne“ noch in Aussicht (en preparation). 

In diesen Werken hat sich der Verfasser. wie angedeutet, als 
seine Hauptaufgabe gestellt, dem in der Greschichte der mathe- 
matischen Greographie nnd Nantik tatsachlich seit Generationen 
herrschenden Glauben entgegenzutreten, da6 es wesentlicb fremder 
EinfluB gewesen sei, der die Eortschritte der Nantik in Portugal 
zuwege gebracht babe. Er sncbt die unabbangige selbstandige 
Entwicklung daselbst nnd speziell die Prioritat einzelner Errungen- 
scbaften im Gebiete des Seewesens wabrend des Zeitalters der 
Entdeckungen fiir sein Vaterland nachzuweisen. Diesem „L’etude 
des priorites“ ist auch die neueste Schrift ganz vorzugsweise ge- 
widmet und hierbei spielen die „Les pretentions de prio- 
rity de I’AHemagne" die Hanptrolle ; ibnen ist fast die Halfte 
der Scbrift gewidmet. In den ersten Kapiteln handelt es sich 
wesentUcb um Wiederbolung friiher in groBer Breite erorterter 
Punkte. Meines Eracbtens wird bei diesen mit vollem Recht dar- 
getan, da6 die bei uns seit Humboldts Zeiten angenommene, nament- 
lich von Ritter, Ziegler, Brensing, Gelcich, Ruge, Gunther etc. oft 
bebauptete Bevormundung der portngiesischen Nautik durch Deutsche, 
wie Regiomontan und Behaim , nicht zu Recht besteht. Es handelt 
sich dabei vor allem um nautiscbe Instrumente, wie das nautische 
Astrolabium und den Jacobstab (balesthilha), und um die Einfuh- 
rung von Tafeln zur Breitenbestimmung zur See. Sicher ist auch 
fiir micb, dafi durch das Bekanntwerden des „Regimento do 
estrolabio e do qnadrante“, welches sehr seltene Werk unter 
Aegide der portngiesischen Regierung jetzt auch von Herrn Ben- 
saude in einer schbnen Faksimileausgabe (Miinchen 1914) heraus- 
gegeben ward, die Erage, wann und woher die Portugiesen eine 
Tafel der Sonnendeklination in einer fiir die Breitenbestimmung zur 
See zweckmafiigen Form erhalten haben, in ein ganz neues Stadium 
getreten ist. 

Aber alle diese Punkte sollen nnd konnen nns bier jetzt nicht 
beschaftigen. Wir verweilen allein bei No. 6, „La courbe loxo- 
dromique cbezMercator'', der neu in die Diskussion geworfen 
wird : 

„Priorite de la courbe loxodromiqne reclamee 
dour Mercator en 1541, sous pretexte, qu’il devait 



Die loxodromische Kurve bei 6. Mercator. 


261 


avoir ignore la courbe decrite par Pedro Nunes en 
1537 (fl. Wagner 1915). Diesem Punkte ist nicbt nur ein 
ganzer Abschnitt (S. 78—85), sondern anch ein Schlufikapitel „Le 
milieu portugais et le milieu allemand aux debuts du XVI® siecle“ 
(S. 97 — 1C6) gewidmet. Mit welchem Erfolg der Verfasser dieser 
ganz unbegriindeten Unterstellung — ich vermag keinen andern 
Ausdruck zu gebrauchen — auf Grund meiner Untersuchungen von 
1915 Verbreitung verschafft hat, kaun man aus den Worten des 
Bericbterstatters M. Bigourdan iiber den Preis Binoux erseben, 
welcben die Academie des sciences in Paris in ihrer Sitzung vom 
18. Dez. 1916 Herrn J. Bensaude fiir seine Arbeiten verlieb. Dieser 
Bericht ist am ScbluB der neuesten Schrift des letztern abgedruckt 
und dort heibt es beziiglich der uns bier interessierenden Frage: 
„Mr. Bensaude montre ainsi que les marins portugais trouvaient 
chez eux tout ce qui pouvait etre utile a leurs navigations. Le 
perfectionnement de la cartographic n’importait pas moins aux 
progres de la navigation. Divers auteurs portugais s’en occupent 
de bonne heure: Jean de Lisbonne, des 1514; et surtout. avec le 
plus grand succes, Pierre Nonius, qui le premier decrit 
la courbe loxodromique (1537), — reclam^e anssi par 
la Science allemande pour Mercator. Mais il est bien 
plus probable que celui-ei profita indirectement des travaux des 
Portugais et des Espagnols, par I’intermediaire de I’Ecole de Lou- 
vain, fille de I’Ecole espagnole“. 

Es ist mil- schlechterdings unerfindlich, wie Senhor J. Ben- 
saude meinen Darlegungen eine so ganzlich verkehrte Interpre- 
tation hat geben konnen. Handelte es sich um einen Gelehrten 
romanischer Nationalitat , der des Deutscben nicht machtig ware 
und iiberhaupt der neuern deutschen Literatur in Betreff der Ge- 
schichte der mathematischen Geographic und Nautik fern stande, 
so waren die begangenen Mifiverstandnisse nicht weiter verwun- 
derlich. Aber gerade Herr Bensaude ist nicht nur durch seinen 
langjahrigen Aufenthalt in Miinchen ein trelHicher Kenner der 
deutschen Sprache, — er erwidert meine Briefe in korrektestem 
Deutsch — sondern es beweist jede seiner Schriften durch die 
F illi p, von Zitaten au.s deutschen Werken, daB er in diesem Zweig 
deutscher Geistesarbeit voUkommen zu Hause ist. Um so mehr 
mufi ich Verwahrung einlegen gegen den niemals von 
mir behaupteten Satz, es sei „sehr wahrscheinlich, 
dab Mercator selbst auf die Idee der loxodr omischen 
Kurve gekommen sei^), oder dab in derselben „une production 


1) „M. Wagner reconnait que la courbe avail ete decrite quatre ans avant 



262 


Hermann Wagner, 


snbite, spontanee et isolee, comme M. Wagner le pretend, 
pour Mercator“ (a. a. 0. p. 80) gewesen sei. „Cette nouvelle pre- 
tention de priorite“, heifit es weiter, „senible des moins fondees“: 
„La pretendue priorite de Mercator, basee sur 1 ignorance de la 
description de la courbe par Nunes, est nne pretention inadmiss- 
ible' (a. a. 0. p. 82). 


Ill 

Unter solchen Umstanden wird es mir schwer, in dieser Ver- 
drebung meiner W orte nicht eine bewnfite A.bsicbt des "V ertassers 
zu erblicken; sie kbnnte AnlaB bieten, mich an seiner bisher durch- 
ans anerkannten Loyalitat der dentscben Wissenschaft gegeniiber 
zweifeln zn lassen. Ich mu6 bei diesem Punkt etwas langer ver- 
weilen. 

Ob bei der neuen Stellungnahme Bensaude’s die woblwollende 
Aufnahme, die seine Erstlingsscbrift im nicbtdeutscben Auslande 
— iibrigens bei uns kanm weniger — gefnnden hat, mit die Ver- 
anlassung gegeben hat, mag dahin gestellt bleiben. Es ist aller- 
dings bemerkenswert, wie dort eine sich in der Geschichte der 
Wissenschaften , besonders aber im Bereich der Entdecknngsge- 
schichte, wo es sich vielfach um eine Rivalitat nationaler Leistungen 
and Verdienste handelt, oft wiederholende Entwicklung in diesem 
honkreten Fall aufgebauscht und zu einem Angriff auf die deutsche 
Wissenschaft ansgenutzt wird. Ich meine die bekannte Tat- 
sache , dafi eine lange Zeit hindurch gehegte Anschanung iiber 
die Art undWeise, wie, und die Einfliisse, unter welchen sich ge- 
wisse Kenntnisse in weit zuriickliegenden Zeiten entwickelten, sehr 
kaufig durch Erschliefiung neuer Quellen als irrig erkannt wird 
nm nach siegreichem Durchbruch der neuen Beweise fiir immer 
verlassen zu werden. Den Vertretern der alteren Anschanung 
alsdann eine mala fides oder nationale "V^erblendung vorzuw^erfen 
ist jedenfalls keine vornehme Art wissenschaftlichen Kampfes. 

Ich erinnere in unserm Fall u. a. an den Vortrag, den der 
greise Nestor der britischen Geographen und als Historiker der 
Erdkunde allgemein anerkannte S ir Clements Markham bei der 
letzten Gelegenheit, bei der er an die Offentlichkeit trat — er 
starb bekanntlich im Blarz 1916 als 86 jiihriger — , im Anschlufi an 
das Bensaude sche Buch am 10. Juni 1915 in der B,. Geographical 


dans le Traite de la sphere de Pedro Nunes, imprirne a Lisbonne en 1537; niais 
il est Ires probable, croit-il(.'), queMercator a ignore ce livre et qu'il 
a eu de lui-meme I'idee de la courbc“ (a, a. O. p. 79). 



Die loxodromische Kurve bei G. Mercator. 


263 


Society zu London hielt, und an die sich anschliefiende Disbnssion '). 
.A great injustice", — das sind Markham’s Worte, — „has been 
done to the Portuguese by the German claim, that if Germans 
did not actually make the discoveries, it was due to German science 
that they were made possible". Indem Sir Clements die jetzt 
als Uberschatzung des Einflusses von Regiomontan und Martin 
Behaim auf die portugiesische Nautik nachgewiesenen , seit Hum- 
boldts Vorgang bei uns geltenden Anschaunngen kurz anfiihrt, 
schlieBt er mit energischem Protest : „It is astounding that all 
these statements are based solely on one paragraph of Barros 
(den er auch im Wortlaut anfiihrt) and that there is really no 
authority to support them and no grounds for them whatever. 
They are pure inventions". 

IJm was handelt es sich dabei im Grunde V DaB Humboldt 
1835 aus einer Notiz der JJecaden des spanischen Historikers de 
Barros, in welcher er einen Martin de Boemia als Mitglied tier 
von Johann II. von Portugal eingesetzten Junta dos matematicos 
nennt, in diesem den deutschen Martin Behaim erblickte und damit 
die Vermutung aussprach, es babe dieser, als ein Schuler des Be- 
giomontan, bei seinem notorischen Aufenthalt in Portugal gewisse 
fiir die praktische Nautik wichtige Hilfsmittel dorthin iiber- 
tragen. Auf seine Autoritat hin haben sich dann spater deutsche 
Eorscher bemiiht, diese TJbertragungen naher zu prazisieren. Das 
gescliah wahrend der Jahrzebnte, wahrend welcher quellenmaBige 
Eurschungen im heimatlichen Geltungsbereich der portugiesischen 
Nautik noch kaum weiter angestellt waren und engere wissen- 
schaftliche Beziehungen, wie sie sich auch auf geographischem Ge- 
biet erst in dem jungsten intemationalen, durch den Welthrieg so 
jab zum AbschluB gekommenen Zeitalter ausbildeten, noch wenig 
bestanden. Brensing, Ziegler, Gelcich, S. Gunther, S. 
Ruge, Kretschmer schrieben in den Jahren 1869 — 1895. Wir 
alle standen damals, mangels anderer Kenntnisse, noch nnter dem 
Einflufi der Humboldtschen Anregungen. 

Einen Wandel leiteten nicht erst die Pnblikationen Senhor 
Bensaude’s ein. sondern es war wesentlich dasVerdienst des in 
London seit Jahrzehnten lebenden deutschen Geographen E. G. Ra- 
venstein, auf das Unsichere der Argumente der oben Genannten 
aufmerksam zu machen und altere Quellen, vor alien Zakutos 
Almanack perpetuum, in die Diskussion zu ziehen. Von friihern 
Einwendungen gegen die inzwischen herausgebildete IJberscbatzung 


1) The Geographical Journal Vol. 46. 1915. Seitt. p 173— 1?7. 



264 Hermann Wagner, 

der Bedeutang Martin Behaims fur die Fortschritte der Nautik 
und mathematischen Geographie seiner Zeit abgesehen. kommt da- 
bei in erster Linie Ravensteins ausgezeichnete Schrift ^Martin 
Behaim, his life and his globe* (London 1908) in Betracht. In 
rascher Folge treten dann die Portugiesen selbst mit anf den Plan, 
auf die Glanzperiode ihrer Geschichte zuriickgreifend , und unter 
diesen steht, wie oft hervorgehoben , Senhor Bensaude in vor- 
derster Reihe. 

Fur jeden objektiven Forscher erwachst mit dem Augenblick, 
dafi wirklich neue Tatsachen ans Licht gezogen werden, die unab- 
weisliche Pflicht, seine bisherigen Anschauungen iiber eine davon 
beriihrte Streitfrage einer erneuten Priif nng zu unterziehen und sie, 
auch wenn sie ihm lieb geworden sind, anfzngeben oder zu andern. 
Voraussetzung ist, da6 man die neu auftanchenden Einwande als 
triftig, die Beweisstiicke als durchschlagend anerkennt. 

Dies ist nun im vorliegenden Fall alsbald auf unserer Seite 
geschehen, speziell von mir selbst. und die Loyalitat gebietet es 
zu erwahnen, daB auch Sir Clements Markham von diesem 
TJmschwung Notiz nahm*), wahrend einer der Diskussionsredner 
diesen Hinweis mit hohnischen Worten begleitete, daB die Dentschen 
jede Entdeckung oder Erfindnng in der Welt fiir sich in Anspruch 
nehmen. und der Vorsitzende Douglas W. Freshfield seine aus- 
driickliche Zustimmung zu diesem AusfaU kundgab (a. a. 0. p. 187). 

Ich frage nochmals, liegt dieser Fall anders, als die Frage 
des allgemein anerkannten , indirekten Anteils Paolo Tosca- 
nellis an der Entdeckung Amerikas, bis der Feldzug Henry 
Vignauds einsetzte, der Brief und Karte Toscanellis vom Jahre 
1474 fiir apokryph erklarte? Nur daB in diesem Fall letzterer 
die Verteidiger der intellektuellen Mitwirkung des Florentiner 
Kosmographen, so weit sie die Vignaud’sche Polemik noch erlebten, 
nicht iiberzeugte. Oder um ein anderes Beispiel anzufiihren. 
Wird man innerhalb der franzosischen Literatur, die seit Lape- 
rouse Zeiten vielfach die Behauptung aufgestellt hat, die Spanier 
hatten langst vor dem Betreten der Hawaii-Inseln durch James 
Cook 1778 jene Inseln gekannt, sodaB Cook nur ihr Wiederent- 
decker war , nicht aufzugeben gezwungen sein , nachdem der 
gelehrte Schwede Dahlgren in seinem soeben die Presse ver- 
lassenden monumentalen Werk „The discovery of the Hawaii Is- 


Ij It is fair, however, to say that the Professor of Geography at Gottingen 
and other leading German authorities have frankly acknowleged the correctness 
of ;M. Bensaudes contention (a. a. 0. p. 179). 



Die loxodromische Kurve bei G. Mercator. 


265 


lands" (Stockholm 1917) die Haltlosigkeit dieser Vermutimg einer 
fruhem Entdecknng vor 1778 znr Evidenz gebracht hat? Diese 
Beispiele lassen sich naturlich ins endlose vermehren, ohne da6 
man das gleiche Forschnngsgebiet, das nns hier beschaftigt, zn 
verlassen hatte. Die groBe Mehrzahl dieser Kontroversen laBt 
sich mit ruhiger Objektivitat erortern, ohne die gegenteiligen An- 
sichten gleich zn schwer beweisbaren Argumenten nationaler „Prae- 
tensionen" zn stempeln, wie es Senhor Bensande in nnserm Fall 
beliebte. 


IV 

Damit komme ich znr loxodromischen Knrve bei Mercator 
zuriick. 

Was der Verfasser nnnmehr znr Entkraftnng meiner vermeint- 
lichen Irrtiimer vorbringt, gipfelt znnachst in dem Versnch, die 
engen Beziehnngen nachznweisen , welche in den Zeiten Karls V. 
die wissenschaftlichen Kreise nicht nnr der Niederlande sondern 
anch Suddentschlands mit denen der spanisch-portugiesischen Halb- 
insel nnterhielten ; speziell diejenigen, welche die Uniyersitat Lowen 
in damaliger Zeit mit Portngal verknupften. Diese Darlegnngen 
bieten manches Nene nnd sie erganzen anch die alteren Abschnitte 
in Averdnnk’s nenester Biographic Mercators. Aber irgend 
eine direkte Beziehxmg Mercators zn Nnnes nnd seinem Werk 
kann anch Herr Bensande nicht nachweisen. 

Aber nnn gilt es den letzten Trnmpf zn besprechen , den 
Senhor Bensande zn meiner Erledignng ansspielt, ohne zn merken, 
daB er sich damit vollkommen in Widerspmch mit seinen eigenen 
Einwendungen setzt: „C’est M. Wagner Ini-meme", heiBt es (p. 82), 
„qni nous montre, par qnelle voie Mercator a connne la conrbe en 
nons faisant savoir qne Gemma Frisins, dans nne annexe de 
la Cosmographia Petri Apiani, edition de 1545, faisait Ini anssi 
arriver la conrbe an pole". „Gemma Frisins, en 1545, de meme qne 
son Meve en 1541 , avaient etndie la conrbe chez Pedro Nunes. 
Tine premiere application (sic!) de la conrbe faite par 
Mercator n'est pas nne prenve de prior it e. II ne s’agit 
d’abord qne d une premiere application connne de I’idee de Nunes". 

Nnn, klarer hatte ich selbst nicht sprechen konnen, wenn ich 
sagte, daB der Globus des Mercators v. J. 1541 die erste An- 
wendung der loxodromischen Knrve in der Kartographie des 
XVI Jahrh. gewesen zn sein scheme. Herr Bensande bestatigt 
also an dieser Stelle mit eigenen Worten, daB ich die Entdecknng 
der loxodromischen Knrve nicht im entferntesten dem Mercator 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse, 1917. Heft 2. 18 



266 Hermann Wagner, 

zuschreibe, sondem nur eine erste (korrekte) Anwendxing auf 
Karten. 

Um jedoch das Verdienst Mercators auch in letztem Punkt 
zu entkraften, hatte uns Herr Bensande eine anderweitige, vor 
1541 entworfene Karte mit Loxodromen nachweisen sollen. Statt 
dessenversucht er dieAbschwachtmg dutch so allgemeine Wendungen 
zn erreichen wie: „Qui nous dit qne dans ces nombrenses cartes 
portngaises disparues (sic!), il ne s’en tronvait pas qnelqa’une ou 
le cosmographe dn royanme, rexaminateur des pilotes et des car- 
tographes , le premier mathematicien a etndier les erreurs de la 
cartographic, n’anrait pas, Ini aussi, appUqnd ou fait appKqner sur 
une carte sa propre courbe?“. 

Was diesen letzten Pnnkt| betrifFt, so habe ich gerade den 
strikten Beweis geliefert, da6 Nunes selbst im J. 1537 noch nicht 
im Stande war, richtige Loxodromen auf eine ebene Karte 
zu zeichnen, denn sein „Erster Versuch“ ist, wie oben nachge- 
wiesen, mit schweren Fehlem behaftet. Senhor Bensande nimmt 
freilich seinen Landsmann auch in diesem Pnnkte in Schntz (a. a. 0. 
p. 82) jNunes ne verifia qu’apres 1537 le prolongement dans les 
regions polaires; ce n’est d’ailleurs qu'nn detail de valenr pure- 
ment th^oretique et scientifique qui n’infirme en rien la connais- 
sance qu’il a eue de I’essence et de la portae de sa deconverte“. 
Dem kann man beipflichten, und ich habe oben (S. 268) hervorge- 
hoben, dafi ich auf diese spatere Erkenntnis, die Loxodrome er- 
reiche den Pol nicht, fiir die allein von mir behandelte Frage 
kein Gewicht lege. Aber den Kernpunkt der Sache, die 
Konstruktionsf ehler der Nunes’schen Loxodromen 
in niedern und mittlern Breiten gegeniiber der ver- 
haltnisma6ig groBen Genauigkeit der von Mercator 
auf seinem Globus gezeichneten Loxodromen ubergeht 
Herr Bensande vollkommen mit Stillschweigen. 

Wenn also auch die nautische Wissenschaft, wie sie sich bei 
den Portugiesen bis in das vierte Jahrzehnt des 16. Jahrh. ent- 
wickelt hat, fur Mercator den Ausgangspunkt fur seine der Nautik 
gewidmeten Arbeiten gebildet haben sollte, wie Herr Bensande 
(p. 83) annimmt, so bleibt ihm doch, solange keine friihern Karten 
mit richtigen Loxodromen nachgewiesen sind, das Verdienst, 
der erste gewesen zu sein, der auf seinem Globus diese Aufgabe 
mit Erfolg gelost hat. Und ein weiteres habe ich nicht beweisen 
wollen. 

Falls also Herr J. Bensande sich den Ruf eines objektiven 
Forschers erhalten will, fordere ich ihn anf, die gesamte gegen 



Die loxodromische Knrve bei G. Mercator. 


267 


meine Ausfiihrungen. erhobene Beklamation offentlich zuriickzu- 
nebmen, wozu sicb bei seinen „eii pr4paration“ befindlicben Scbriften 
iiber die Grescbicbte der Nautib in Portugal die beste Grelegenbeit 
gibt. Car une reclamation contre nne pretention de 
priorite, que pers onne n’a pas faite, est non seule- 
ment inadmissible, elle est absurde. 


Bericbtignng : S. 263 Z. 15 v. o. lies „portngiesiscben“ statt 
„spaniscben“. 




18 * 



Nissel und Petraeus, 

ihre athiopischen Textausgaben und Typeu. 

Von 

Alfred Rahlfs. 

Vorgelegt von Herrn R. 1’ ie t s c h m an n in der Sitzung vom 3. Marz 1017. 

Bei den Vorarbeitcn fur ein Verzeichnis der athiopischen Hand- 
schriften und Ausgaben des Alten Testaments stieB ich otters auf 
die Ausgaben alttestamentlicher athiopischer Texte von Johann 
Georg Nissel and Theodor Petraeus, und mehrere Fragen, die sich 
dabei erhoben, veranlaBten mich, die athiopischen Textausgaben 
dieser beiden „ amici intimi“ iiberhanpt et-was genaner zu unter- 
sucben. Dabei machte ich einige Beobachtungen bibliographischer, 
biographischer und typographischer Natur, die hber den Rahmen 
jenes Verzeichnisses hinausgehen, die ich aber doch nicht unver- 
bffentlicht lassen mochte, da sie in mehrfacher Hinsicht interessant 
und zum Teil auch fur das voile Yerstandnis der in jenem Ver- 
zeichnis anzufiihrenden Ausgaben alttestamentlicher Texte unent- 
behrlich sind. Ich schicke daher jenem Verzeichnis einen Aufsatz 
liber diese beiden Manner voraus, die unter denjenigen, welche sich 
in alterer Zeit urn die athiopische Philologie (lurch die Herausgabe 
von Texten verdient gemacbt haben. wenigstens hinsichtlich der 
Zahl ihrer Publikationen an erster Stelle stehen, wenn diese Pu- 
blikationen freilich auch nur geringen Tim fang haben und nicht 
frei von Fehlern sind. 

Folgende Bucher zitiere ich ahgehiuzt; 

Berghm. = G. Berghman, XouvelleF etudes sur la bibliographie elzevirienne. 

Supplement a I’ouvrage sur les Elzcvier de il, Alphonse Willems. Stockholm 

1897. 

Uillm. Berl. = Die Handsehrilten- Verzeichnisse der Kgl. Bibl. zu Berlin. 

3 : Verzeichniss der abessin. Hss. von .1. Dillmann. Berlin 1878. 



Alfred Rahlfs, Nissei and Petraeus. 


269 


Juncker = Commentarius de vita, scriptisque ac meritis illustris viri lobi Lu- 
dolfi . . . Anctore Christiano lunckero . . . Lips, et Francof. 1710. Diese 
Lebensbeschreibung beruht grbfitenteils auf eigenen Aufzeichnungen Ludolfs, 
s. Junckers Vorrede. 

Le Long-Masch = Bibliotheca sacra post cl. cl. v. v. Jacobi Le Long et C. 
F. Boerneri iteratas curas ordine disposita, emendata, suppleta, continuata 
ab Andrea Gottlieb Masch. Partis secundae de versionibus librorum sacro- 
rum volumen primum de versionibus orientalibus. Halae 1781. 

Moller = Johannis Molleri Flensburgensis Cimbria Literata. Tom. I. Havniae 
1744. 

Reed = Talbot Baines Reed, A history of the old English letter foundries. 
London 1887. 

Werner Brev. exp. = Pium Mii/arum Orientalium defideriitm: | hoc eft, [ 
BREVIS EXPOSITIO | INSTITUTI i VIRI Celeberrimi, M. THEODORl PE- 
TRAEI, I Flensburgo-Holfati , hodie Amfterda-lmi agentis, | Be edendis in lu- 
cent utiliOimis, iisq; hand pauds ] MANVSCSIPTIS OBIENTALIBVS, [ 
dioerfarum linguarntn : \ Cum fubnexa pii quanquam operoli operis pro virili 
pro-jmovendi obteftatione ac voto. 1 inscripta et dicata [ CORDATIS SEU 
SAPIENTIB. EUERGETIS AC MUSA-jGETIS CUJUSCUMQUE STATUS 
ET ORDINIS. 1 a | JOHANNE WERNEBO, SS. THEOL. Doctore. \ 
Anno do lo c LXX. 2 Blatter = 4 ungezahlte Seiten in 4“. — Dasselbe in 
deutscher, manchmal freierer Ubertragung unter dem Titel: ®et Drientali* 
ft^en Studien ©^riftUt^eS ajerlangen : | ®a8 ift : | ®in fur^e Srflatung | ®e§ 
Beftenbigen i8ornenten8 be§ berftbmHten J&errn THEODORl PETR,®!, bon 
§Ien6H6urg in §olftein, | Sine gate Slnao^I her K^riften^eit fel^t nfl^«lli(^et 
Orientif(^er Manufcripten in unterfd^iebe»|nen Oriental : Oprat^en in %'md ju 
geben, 1 SUebfl onge^effter inftanbig^bemfttigfter Sitte, fol^ | Idblid^ SBerc! reit^- 
lit^ unb milbt^atig ju fOrbern | ^elffen : | 3 u 9 ®i'^tieben unb dediciret | Sfllen 
§od^berftanbigen Sieb^abern unb 33efdrberern bet Stu-jdien, n>e§ ®tanb§ ober 
SBflrbe fte feqn mogen. | iBon | Qo^anneS SBernern, ber §. ©i^rifft ®. | ANNO 
M. DC. LXX. Gleichfalls 2 Blatter = 4 ungezahlte Seiten in 4o. — Beide 
Ausfertigungen linden sich in dem Sammelbande „Bb 8. 8““ der Kgl. Univ.- 
Bibl. zu Halle, vgl. unten S. 31.5. Uber Werner s. unten S. 311. 

Werner Diss. Guelph. = Differtatio Guelphica | de lingvaevm orient alivm 
sTVDio, I HISTORL® 1 titulo, \ SERENISS “ B. ET L. [d. h. Bruusvicensibus 
et Luneburgensibus] DVCIBVS [ infcripta, ] Et cum Armeniorum Boctrina 
Chrijiiana, live | Catechefi Armeno-Latina, \ Ad Serenisjlmam Bibliothecam, 
Librorum Oceanum, \ nomine imprimis | M. THEODORl PETRAEI , Holfati 
Flensburgenf. ] Linguarum Orientalium per Europam hodie Propagatoris, | 
reprcefentata : | Nunc autem chalcographico opere, | GERMANl® PROCERI- 
BVS 1 UNIVERSI3 | facrata, | Nec non cum VIRIS cordatis feu fapientib. 
quibusl. 1 communicata, ] Per | JOHANNEM VVERNERVM, Hombergenf. | 
Haffum, D. T. ] HALBEBSTABII, \ Literis JOHANNIS ERASMI HY- 
NITZSCH. (Ohne Jahr.) 10 Blatter = 20 ungezahlte Seiten in 4° (von mir 
nacb Seiten zitiert; das Titelbl. ist = S. 1 und 2). — Gleichfalls in dem 
Sammelbande Halle, Univ.-Bibl., Bb 8. 8“ enthalten. 

Willems = Alphonse Willems, Les Elzevier. Histoire et annales typogra- 
pbiques. Bruxelles 1880. 



270 


Alfred Rahlfs, 


I. Die Ausgaben athiopischer Texte von Nissel 
und Petraeus. 

Das beste Verzeichnis der von Nissel nnd Petraeus verofiFent- 
lichten Werke, das wir bisher besitzen, findet sich bei Mo Her 
S. 491 — 493. Doch ist es nicht genan genag nnd enthalt anch 
zwei direkte Pehler: 1) Moller S. 491 fubrt als erstes Werk in 
der chronologischen Reihenfolge die nnten S. 277 f. als Nr. 6 anzn- 
fiihrende Ansgabe des Bnches Ruth von Nissel mit dem Datum 
„Lugd. Bat. 1654. & 1660.*" an; aber davon, daB dieses Werk be- 
reits 1654 einmal erschienen sei, ist sonst nicht die leiseste Spur 
zu entdecken^), und es ist auch nach der ganzen Sachlage vollig 
ausgeschlossen , da Petraeus die Handschrift, aus der dieser Text 
stammt, erst 1656 in Rom kennen gelemt hat, s. unten S. 279. 
292 ff. 2) MoUer S. 492 nennt aufier den wirklich existierenden 
Ausgaben athiopischer Texte noch „Vaticininm Obadiae Aethio- 
pice, cum Versione Latina, editum a J. Gr. Nisselio. Lugd. Bat. 
1660. in 4. maj.**, aber auch von diesem Werke ist sonst absolut 
nichts bekannt^), und ich zweifle nicht, da6 es sein Dasein nur 
einem Versehen Mollers verdankt. 

Ich zahle daher zunachst samtliche Ausgaben athiopischer Texte 
von Nissel und Petraeus auf und beschreibe sie bibliographisch 
genau, da sich ofters Unterschiede zwischen verschiedenen Exem- 
plaren desselben Werkes finden. Es handelt sich im ganzen um 
10 Bandchen^), drei aus dem Jahre 1654, eins von 1656, vier von 
1660 und zwei von 1661. Wie auch Moller getan hat, ordne ich 
sie chronologisch, mu6 dabei aber bemerken, daB bei Werken aus 
demselben Jahre die Reihenfolge in mehreren Fallen unsicher ist. 
Zu der bibliographischen Beschreibung fiige ich jedesmal eine ge- 
naue Inhalt sangabe hinzu; diese erschien um so angebrachter, 
als die Schriften von Nissel und Petraeus zum Teil recht selten 
und gewiB manchem nicht leicht zuganglich sind. SchlieBlich gebe 
ich fiir aUe Texte die Quell en an, aus denen Nissel und Petraeus 
sie geschopft haben. 


1) Auch das Auskunftsbureau der deutschen Bibliotheken zu Berlin ver- 
mochte kein Exemplar des Werkes mit der Jahreszahl 1654 aufzufinden. 

2) Auch dies Werk hat das Auskunftsbureau der deutschen Bibliotheken 
vergebiich gesucht. 

3) Die nichtathiopischen Publikationen lasse ich hier beiseite. Sie werden 
jedoch im zweiten und dritten Teile des Aufsatzes mit herangezogen werden. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 271 


la. 

S. JACOBI APOSTOLI ) EPISTOL^E CATHOLICS | VERSIO | 
ARABICA & ^THIOPICA, 1 LATINITATE vtkaqve donata, 

KEC XON A MVLTIS [ MENDIS REPVRGATA, | PUNCTIS VoCAIJBVS AC- 
cvrate' INSIGNITA, ET I NOTIS Philologicis e' probatissijiorvm Aea-| 
BVM scRiPTis iLLVSTRATA. ] Cti Accedit j HAT ?, MONT A Variarum Lin- 
guarum, qua Orientalium qua Europ8ea-|rnm Typis genuinis ador- 
Bata, & juxta feriem Alphabeticam vocabulorum in bac j Epi- 
ftola contentorum digefta : infuper inltitnta diligens vocum Syno- 
nymi- carum Codicis Erpeniani cum Parifienfi collatio, infperfis bine 
inde \ Hebrseorum, Arabum, Turcarum, Perfarumq; Adagiis, opti-| 
mis loquendi Formulis, Obfervatiuncnlis Syntacti-’cis , & Locis S. 
Scripturse parallelis. | Omnia sig dQftt/Trjgiov xal vjtdxxuvfiu rav 
(filoylazTcov. | Oj)erd, Lahore ac ffialio indefeffo | Jos. Gteorg. Nisse- 
Lii, & Theodori Peth^i, I Pbilologiae facrae Lingnarumque Oriental. 
0iAoixad-av. | i. Corinth. 14,5. | 0sAa} Mivtug v^ug Xaksiv yXaeeai.g. j 

^ 1 Laudetur omnibus Linguis Deus 

Sanctus. ] (Elsevierscbes Signet.) I Lvgd. Batavoe. | Ex Officina Jo- 
HANNis & Danieus | Elseviee. Acadcm. Typograpb. j Sumptihus Au~ 
ctorum. I do loc lit. 

32 Seiten = 8 Doppelblatter »), gezeichnet A— H, in 40 . Das Titelblatt 
ist nicht, wie es meistens geschieht, erst nachtraglich dem Buche vorgesetzt, 
sondern bildet die erste Halfte des Doppelblattes A, ist also gleich mit dem An- 
fang des Textes zusammen gesetzt und gedruckt. — S. 1 : Titel. S. 2 leer. 
S. 3 : Athiopisches Alphabet. Auf S. 4 beginnt der arabische, auf S. 5 der 
athiopisebe Text des Jakobusbriefes; die lateinische tjbersetzung steht neben 
beiden in besonderen Kolumnen und zwar links vom arabischen, rechts vom 
athiopischen Texte. Der arabische Text lauft auf den Seiten mit gerader 
Seitenzahl durch bis S. 32, der athiopisebe aber, der weniger Platz in An- 
si)rnch nimmt, auf den Seiten mit ungerader Seitenzahl nur bis S. 27. Auf 
den ubrigbleibenden Seiten 29 und 31 ist der athiopisebe Text des nieaeno- 
konstantinopolitanischen Symbols hinzugefiigt, gleichfalls mit lateinischer tiber- 
setzung; Uberschrift ; „Vacuum, quod fupereft, fpatium impleat Symbo-|lum 
Chriltiante fidei, ex Liturgiis .^Ithiopum | depromptum, & nunc primum | La- 
tine redditum.** — Die auf dem Titel angekundigten philologischen Anmer- 
kungen und sonstigen Beigaben sind nicht vorhanden; die Verfasser batten 
anfangs. als sie den Titel drurken lieBen, otfenbar die Absicht, sie hinzuzu- 
fugen, fuhrten aber diese Absicht nachher nicht aus. 

tiber die Herkunft des athiopischen Textes des Jakobusbriefes sagen die 
Herausgeber nichts ; doch kann kein Zweifel sein, daB sie ihn ebenso wie den 


1) Ein Doppelblatt ist ein halber Quartbogen. Ein Toiler Quartbogen zu 8 
Seiten findet sich in den hier zu beschreibenden Werken von Nissel und Petraeus 
nur ein einziges Mai; am Anfang von Nr. 4, s. unten S. 275. 



272 


Alfred Rahlfs 


der Johannesbriefe und des Judasbriefes (s. unten Nr. 2 und 3) aus der 
1548/49 in Kom erschienenen Ausgabe des athiopischen Neuen Testaments 
von Tasfa-Sejon abgedrnckt haben. Auch das nicaeno-konstantinopolitanisehe 
Symbol, das laut Uberschrift „ex Liturgiis jEthiopum depromptum“ ist, haben 
sie ebendaher genommen ; es findet sich im liturgischen Anbange jenes N. T. 
auf Bl. 163 b. 

lb. 

S. JACOBI APOSTOLI j EPISTOL^ CATflOLIC.E j VERSIO [ 
ARABICA & ^THIOPICA, | Uteaqve Latinitate donata, | et j Pvn- 

CTIS VoCALTBVS ACCYRATE IKSIGNITA. ] sis OQlirjtTJQlOV %UL VZSilXttVfia Tav 

(fikoyXditTmv. | Opera, labore ac Itudio indefeffo | M. Theodori Pe- 
TRaii, Flensburgo-Holfati, ] Sacrse Philologiae Linguarumque Orient. 
Propagatoris. ] i. Corinth. 14, 5. j (und so weiter genan wie in la, 
nur mit ^Sumptihus Auctoris'^ statt „Sumptibus Auctorum'-‘ .) 

Dies ist derselbe Druck wie la und stimmt von S. 3 an vollstandig mit 
la iiberein. Aber das Titelblatt von la (die erste Halfte des Doppelblattes 
A, s. oben bei la) ist fortgeschnitten und ein neues Doppelblatt davor ge- 
klebt, dessen zweite Halfte mit *^ gezeichnet ist, so da6 bier also *z und 
A 2 unmittelbar aufeinanderfolgen. Die erste Seite dieses vorgeklebten Dop- 
pelblattes entbalt obigen Xitel, der den wirklichen Inhalt des Heftes angibt 
unter Weglassung der auf dem Xitel von la angekundigten , aber in Wirk- 
liehkeit nicbt vorbandenen Beigaben. Die zweite Seite entbalt eine Widmung 
an Konig Friedrich III. von Danemark (\gl. unten S. 292), die dritte und 
vierte die Widmungsepistel, aus der ich bier das Wichtigste mitteile: „Siftit 
tele, Rex Serenissime, Domine Clementissime, afpectui Xuo longe augu- 
I'tifsimo fpecimen Arabicum & jEthiopicum , ab orbe literato hactenus diu 
multumque delideratum, foli Xu.E Regi.e Majestati facrum ac debitum. . . . 
. . . Sul'cipe igitur qusefo, Rex Clementissime, ferena fronte bsec Itudiorura 
meorum Orientalium dxee®!*'*®'. ceu mei erga X. Sacram Majeftat, devotif- 
limi cultus ac venerationis documentum, ea fummo favore pro innata Xua 
dementia fove. ac muniticentia Regia promove : quo tandem efticiatur, ut fe- 
licil'limo Xuo aufpicio & ductu hm Lingum utilillimip, antiquitate celeberrimse, 
duarum muudi partium Domin*, & ma.vime genuina- Hebriese matris tarn ve- 
nuftic ac vetuftio blia*, in celeberrima Xua Hafnienfi Academia propagari, vi- 
gere ac florere incipiant, in maximum Eccleliae Reipublicaiq. literariae emolii- 
mentum & ornamentum, ac leviternam Xominis Xui Augufti memoriam. 

. . Datiert ist diese Widmungsepistel ^Lugd Bat. 28 Aug. anno Xqioto- 
yovias clo loc LIV.“ 

Willems S. 185 (Nr. 749) kennt nur la. Erst Berghm. S. 78 (Nr. 240) 
fiihrt lb an. Ein Exemplar von lb ist in Stockholm, s. G. Bergbman, Cata- 
logue raisonne des impressions elzevirieunes de la Bibliotbeque Royale de 
Stockholm (1911), S. 12 (Nr. 55). Bergbman bemerkt dazu: „De cette sorte 
d exemplaires celui-ci est le seul signale.“ Indessen ist diese Abart schon 
erwahnt von <S. J. Baumgarten,) Nacbricbten von einer hallischen Bibliothek 
4 (1749), S. 473; Le Long-Masch S. 135 *); F. Praetorius, Athiopische Gram- 

1) Die Angabe bei Le Long-Masch „Sunt praeterea exemplaria, in quorum 



Nissel und Petraens, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 273 


matik (1886), zweite Abteilung S. 25. Praetorius besitzt selbst ein Exemplar 
dieser Abart, das er mir freundlichst lieh; es zeichnet sich vor dem Stock- 
holmer Exemplar dadurch aus, daB es auch auf dem Titel die Jahreszahl 
do loc Liv aufweist, die in jenem „a ete enleve par le couteau dn relieur“. 


2 . 

S. JOHANNIS 1 APOSTOLI & EVANGELIST.E | EpiCtolae Ca- 
tholicse Tres, i ARABICS & ^THIOPIC^. ‘) 1 OMNES AD VER- 
BTJM IN LATINUM VERS^E, | cvm | Vocalinm Fignris exacte ap- 
pofitis. I Quo ftudiofae javentuti acceflus ad hafce Linguas expedi- 
tior, I culturaque earundem uberior conciliaretur. \ Curd ac Indu- 
ftriu I Johan. Georqii Nisselti & Theodori Petr^i, \ Philologise facrae 
Lmguarumque Oriental, ^dofia&av. \ i. Corinth. 12 , 10 . n. \ E’rega 
didorat yivrj ykaSG&v, aXka d's yXmOG&v. j Tldina 8 e xavta 

ivsQyst TO Ev y.ai to avt'o TtvEvuu. | Linffitrc flint fores fapientice. 
JSleqne mel icleh infuave, quia irgris (ic vidctiir, nee ifto: | inutiles, quia 
atiqnibus parum fanis tales videntur. \ (Elseviersches Signet.) ] Lvgd. 
Bat.avor. 1 Ex Officina Johannis & Daxielis | Elsevier. Academ. Ty- 
pograph. I Siimptibus Auctorum. ( do loc liv. 

40 Seiten*) = 10 Doppelblatter, das erste nicht gezeichnet, die ubrigen 
gezeichnet B— K, in 4'’. — S. 1 : Titel. S. 2 leer. S. S : „Supplendse paginae 
fequentia adjunximus dicta, huic Epiftolse congraa“ (folgen Ausspriiche liber 
die Liebe). Auf S. 4 beginnt der arabische, auf S. 5 der kthiopische Text 
der Johannesbriefe ; die lateinische Ubersetzung steht, wie bei Nr. 1, links 


rubro solius Nisselii nomen expressum est“ wird auf einem Irrtum beruhen. Von 
Exemplaren, auf deren Titel nur Nissel als Herausgeber genannt wiirde, gibt es 
sonst keine Spur. Auch dem Auskunftsbureau der deutschen Bibliotheken zu 
Berlin ist es nicht gelungen, ein solches Exemplar aufzufinden. 

1) Die verschiedenen Exemplare (s. die folgende Anm.) schwanken bier zwi- 
schen Pnnkt und Komma. 

2) Statt 40 Seiten geben (S. J. Baumgarten,) Nachrichten von einer halli- 
schen Bibliothek 4 (1749), S. 471; Willems S. 185 (Nr. 750); Berghm. S. 73 
(Nr. 241) vielmehr 41 Seiten an. Da Berghmans Elsevier-Sammlung jetzt in der 
Kgl. Bibliothek zu Stockholm ist (vgl. G. Berghman, Catalogue raisonne des im- 
pr'essions elzeviriennes de la Bibl. Roy. de Stockholm, 1911), fragte ich bei dieser 
an. ob das dort befindliche Exemplar (Cat. rais. S. 12 Nr. 56) wirklich 41 Seiten 
enthalte, und erhielt darauf die ,jene merkwurdigen Angaben erklarende Antwort, 
dafi in dem Stockholmer Exemplar die Paginierung zwar bis S. „(37)“ einschlieB- 
lich richtig, dann aber die beiden folgenden Seiten irrtiimlich mit „(39)“ und 

(tOV bezeichnet seien, so daB bei Zugrundelegung dieser falschen Paginierung 
fur die letzte, nicht mehr mit einei Seitenzahl versehene Seite allerdings die Zahl 

(41)“ herauskommen wurde. Die drei Exemplare, welche ich selbst zu Gesicht 
bekoinmen habe, Gottingen, Univ.-Bibl., 8" Bibl. I 5014 und Cod. MS. Michael. 
264 und Kiel, Univ.-Bibl., § 50 4“, haben diesen Fehler nicht, dafiir aber einen 
and’eren, nam’lich „(38)“ statt „(37)“, so daB die vier letzten mit Seitenzahlen 
versehenen Seiten in diesen Exemplaren die Zahlen „(36), (38), (38), (39)“ tragen. 
Die Seitenzahlung ist also noch wahrend des Druckes korrigiert, aber so ungluck- 
lich, daB wieder ein neuer Fehler hereingekommen ist. — Nachtraglich habe ich 
jedo’ch noch ein Exemplar kennen gelernt, welches genau dieselbe Paginierung 
aufweist wie das Stockholmer Exemplar; es findet sich in dem Sammelbande Wol- 
fenbuttel, Hzgl. Bibl., 30. 7 Theol. 4P. 



274 


Alfred Kahlfs, 


Tom arabischen und rechts vom atbiopischen Texte. Letzterer endet auf 
S. 35; der arabische Text lauft bis S. 34 dem atbiopischen parallel, bleibt 
aber inhaltlich hinter ihm betrachtlich znriick und wird erst auf S. 36 39 
zu Ende gefuhrt. S. 40; Bericht uber Fehler in der dem arabischen Texte 
zugrunde liegenden Ausgabe des Erpenius, welche Nissel und Petraeus nach 
einer anderen Leidener Hs. verbessert haben (vgl. C. R. Gregory, Textkntik 
des N. T. 2 [1902], S. 586 Nr. 41 und 43). 

Der athiopische Text stammt, wie bei Nr. 1, aus der romischen Ausgabe 
des atbiopischen Neuen Testaments von 1548/49. 

3. 

S. TUD^ APOSTOLI | EPISTOL.® CATHOLICS | VERSIO | 
ARABICE & ^THIOPICE, ] IN 1 LATINITATEM TRANS- 
LATA, 1 ET 1 PUNCTIS VOCALIBUS ANIMATA, \ additis qui- 
bnfdam varise lectionis Notis, | a ] Joh. Gteorgio Nisselio & Theodoe& 
Pete^o, 1 Sacrae Philologiae Lingaarnmqne Oriental. Cnltoribus. j Da- 
KiEL. 7, 14. 1 tpnbE-; nb s^:®bi s’bs bbi iDbo^ ■jab'O an-; nb | 
Non quod magnum, bonum; fed quod bonum, magnum eft. | (Else- 
viersches Signet.) [ Lvgd Bat.wok. | Ex Officina Joha>'nis & Danie- 
Lis I Elseviee. Academ. Typograph. j Sumptibus Auctorum. | do loc 

LIV. 

24 Seiten = 6 Doppelblatter, das erste nicht gezeichnet, die ubrigen 
gezeichnet B— F, in 40 . — S. 1 ■ Titel. S. 2 leer. S. 3 : Bemerkungen iiber 
den Judasbrief, besonders iiber den Kampf Michaels mit dem Teufel uber 
den Leichnam Mosis (Jud. 9 ) und das Zitat aus Henoch (Jud. 14 f.). Auf 
S. 4 beginnt der arabische, auf S. 5 der athiopische Text des Judasbriefes j 
die lateinische Ubersetzung steht, wie bei Nr. 1 und 2, links vom arabischen 
und reclits vom atbiopischen Texte. Der athiopische Text endet auf S. 11, 
der arabische auf S. 12. S. 13 — 23; „AD ] S. JUD..E EPISTOLAM | Obfer- 
vationes aliquot Philologic®, 1 Brevefque variantis lectionis | NOT.E | de con- 
textu Arabico.“ S. 23 — 24; „ANIMADVERS10NES | Qu.edaji I ad textum 
.Ethiopicnm“ und Druckfehler-Verbesserung. 

Der athiopische Text stammt, wie bei Nr. 1 und 2, aus der romischen 
.Ausgabe des atbiopischen Neuen Testaments von 1548 49, die auf S. 23 und 
24 auch ausdriicklich genannt wird. 


4 . 

a-’T'Cn I sivE 1 CANTICUM | CANTICORUM | SCHELOMO- 
NIS i tETHIOPICE. I E Vetufto Codice fumma cum cura erutum, 
a quam | multis mendis purgatum, ac nunc primum | Latine inter- 
pretatum. j cm | In gratiam Arabimntiiim appojita est, Verfio \ Ara- 
hica, emu interpretatione Latina, ut et j Symbolum S. Athanafii, voca- 
hum notis j infignitiim. | a | Joh. Gteorgio Nisselio. Palat. | (Signet.) | 
LUGDVNI BATAVORTJM. | Typis Authoris, | do lo clvi. 

Von diesem Werke besitzt die Kgl. Universitats-Bibliothek zu Gottingen 
zwti verschiedene Exemplare, eins ohne Widmung; S'* Bibl. I 5014, und eins 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 276 

mit Widmung; 8“ Bibl. I 5047*). Der urspningliche Brack war ohne Wid- 
mnng; er umfaBt 40 Seiten in 4», namlich einen vollen Quartbogen zu 8 
Seiten, der nicht gezeichnet ist, und 8 Doppelblatter, die mit den arabischen 
Buchstaben w, o, eu, li, jj. gezeichnet sind. Die Widmung ist 

erst nachtraglich hinzugefiigt, als Nissel sein Werk verscbiedenen geistlichen 
Korperscbaften (s. Anm. 2) uberreichte ; sie ist auf einem besonderen Dop- 
pelblatte gedruckt, dessen zweite Halfte mit *% gezeichnet ist, und hinter das 
erste Blatt (Titelblatt) des vollen Quartbogens eingeschoben. — S. 1 : Titel. 
S. 2 leer. Nachtraglich eingeschobenes Doppelblatt, erste Seite: Widmung 
„VIR1S. I .... I VENERAND.E CLASSIS 1 ECCLESLE REFORMATS , | 

HaGENSI. I D. Praeiidi cgeterifque V. D. Miniftris fideliffimis, | 

zweite bis vierte Seite : Widmungsepistel. S. 3 (des urspriinglichen Druckes) : 
Abermaliger Titel. Auf S. 4 beginnt der athiopische, auf S. 5 der arabische 
Text des Cant, (also umgekehrt wie bei Nr. 1 — 3) ; die lateinische Uber- 
setzung steht rechts vom athiopischen und links vom arabischen Texte. Der 
athiopische Text endet auf dem oberen Teile von S. 30, der arabische nimmt 
dagegen noch die ganze S. 31 und auch noch den Anfang von S. 32 ein. 
Es folgen auf dem iibriggebliebenen Reste von S. 30 das „Canticum Zacha- 
rise" (Luc. 1 ss — 79) und das „Canticum Simeonis“ (Luc. 2 29 — 32), auf dem 
iibriggebliebenen Reste von S. 32 das „Canticum Annse“ (Reg. 1 2 1 — 10 ) ; 
ferner S. 33 „Canticum trium puerorum“ (Dan. 3 52 — 88), S. 34 „Cauticum 
Esaise** (Is. 269 — 20 ) und „Canticum Marise" (Luc. l 46 — 55 ), S. 35 „Canticum 
Habachuc** (Hab. 3 2 — 19 ), samtlich nur in athiopischem Texte ohne lateinische 
Ubersetzung (die sonderbare Beihenfolge erklart sich daraus, daB Nissel es 
immer so eingerichtet hat, daB mit einer nenen Seite anch ein neues Canti- 
cum beginnt). S. 36—39; Symbolum Athanasianum arabisch (S. 36. 38) mit 
lateinischer Ubersetzung (S. 37. 39). S. 40: Arabische SchluBnotiz uber die 
Beendigung des Druckes am 3. Mai 1656; Verbessernng von Druckfehlem. 

Durch die Angabe des Titels „E Vetufto Codice fumma cum cura eru- 
tum“ darf man sich nicht etwa zu der Annabme verfuhren lassen, der athio- 
pische Text sei einer Hs. entnommen. Denn mit dem Worte „codex“ pflegte 
man damals nicht nur die Handschrift, den „codex manuscriptus", zu be- 
zeichnen, sondern auch das gedruckte Buch, den „codex impressus“ ; vgl. 
z. B. die letzte Seite von Nr. 2, wo „codex Erpen.“ nicht etwa die von Er- 
penius benutzte Handschrift bezeichnet, sondern als gleichbedeutender Ans- 
druck mit „editio Erpen.“ wechselt und im Gegensatze zu „Mfc.“, d. h. der 
von Nissel und Petraeus benutzten Handschrift, steht, und die letzte Seite 
von Nr. 3, wo „Cod. Rom.“ die romische Ausgabe des athiopischen Neuen 
Testaments von 1548/49 bezeichnet. In Wirklichkeit stammen alle hier von 
Nissel abgedruckten athiopischen Texte aus dem 1513 von Potken in Rom 
herausgegebenen athiopischen Psalter, der nach abessinischem Branch auch 
die alt- und neutestamentlichen Oden und das Hohelied enthalt; denn die 
^Errata quce in ipfo Antographo [so !] d nobis funt obfervata^, welche Nissel 


1) Ohne Widmung auch Kiel, Univ.-Bibl, § 50 4» ; mit Widmung auch Wol- 
fenbtittel, Hzgl. Bibl., 30. 7 Theol. 4». Uber einen Unterschied des Wolfenbutteler 
Exemplars von dem Gottinger s, die folgende Anm. 

2) So das Gottinger Exemplar. Dagegen hat das Wolfenbutteler Exemplar, 
dessen Widmung sonst ganz genau mit der des Gottinger Exemplars libereinstimmt, 
,AMSTELODAMENSI.“ statt „HAGENSI.“ Vgl. unten S. 288 Anm, 1. 



276 


Alfred Rahlfs, 


auf S. 40 verbessert, finden sich eben in diesem von Potken herausgegebenen 
Psalter DaB Nissel dem Potkenschen Dmcke das Pradikat „vetuftus“ gibt, 
kann nicht auffallen; das Buch war damals ja schon 143 Jahre alt (vgl. 
auch meine Bemerkung uber die von Thomas Erpenius fiir seine Ausgabe des 
syrischen Psalters benutzten „antiquissimi codices manuscripti‘' in der Ztschr. 
f, d. alttest. Wiss. 9 [1889], S. 178 f.). 


5. 

(Kreuz mit dem auf die vier Winkel verteilten Namen 
jJesus“, wie es die Abessinier fiber jeden Brief zu setzen pflegen, 
vgl. lub Ludolf, Grammatica Aetliiopica, ed. II [1702], S. 180) | 
HP'fill 1 PROPHETIA lON^, 1 ex | iEtbiopico in 
Latinum ad verbum verfa , [ Et Notis atque Adagiis | illuftrata ; | 
Cni adjunguntnr quatuor Geneseos capita, e vetii- jUsfimo Manufcripto 
JEthiop. eruta. | Nunc primiim \4varo}.ixoYX(a06o(piXop,u%'Siv j xkqiv 
publicata j a | M. Theodoro Petr^o, Flensburgo -Holfato. | 

i I (Signet.) i 

LUGDUNI BATAVOliVM. | Sumptibus Auctoris, & Typis Niffe- 
lianis. 1 do loc LX. 

2 Blatter -= i Poppellilatt nioijt mitsrezahlt und nicht gezeichnet, und 
.36 Seiten = 9 Boppelidatter. gezeiebnet A— F (= 1 — 24), E (= S. 25 — 28, 
iu'lesseii sind diese Seiten t'al'-. Idioii mit don Zahlcn (17) — 20 versehen, also 
obenso paginiert -.vio die de,., .'isteu Doiq)olblattcs E), G und II (=S. 29— 36), 
in 4’, — Ungezaidtes Boppjlblatt. erste Seito: Xitel: zweite Seite leer; dritte 
und vierte Seite 0; Widmung . JOAFHIMO GERSTORF, . . . Sacr. 
Reg. Majeft. & Regni Danise I'upremo Auhe M,4.G1STR0, atq; SENATORI 
Graviffimo . . nebst Widmnngsepistel : „Poft tot exantlata perqukm labo- 
riol'se, & longinquae peregrinationis Orientalis taedia, me reducem excepit Leida 
. . . Quoniain verb omnis peregrinationis finis ad ufum aliquem fpectat, line 
quo ingratus eft omnis labor & opera, quaecunque in illam impenditur ; vifum 
eft mihi pretium curse aliquid conari dignum, quod lucem al'piceret, ceu iti- 


1) Vgl. auch folgende Stelle der Widmungsepistel ■ „ Canticum 

bocce Cuiiticocuni ex ..Ethiopica lingua in Eatinam primiim a me tranflatum & 
verliculis diftinctum in gratiam eorum, qiii culturie Linguiinim Orientalium fefe 
addixere. Fateor ingenue yiri Clarillimi. nemini unquam ante me in mentem ve- 
nifle vel etiam tentatum fuiife. Sacrum hocce Salomonis Cianticum etiam ex Abyf- 
linorum lingua in Latinam transferee Hunc laborem quidera cum tanti cenfere 
nequeam qui veftns^ relpondeat mentis: aufus tamen fui illo ipfo vobis obviam 
ire in grati animi ligniticationem, . . Kissel schreibt sich hier, wie auch auf 
dem Xitel (s. oben), mit Recht nur das \erdienst zu, das Hohelied zuerst aus 
dem Athiopischen ins Lateinische libersetzt zu haben. 

2) Dies Doppelblatt ist vollstandig vorhanden in den vier Exemplaren Gdt- 
tingen Univ.-Bibl., 8^’ Bibl. I 5014; Halle a.S., Univ.-Bibl., Jc 4963; Kiel, Univ.- 
Bibl., § oO 4»; Woltenbiittel, Hzgl Bibl., 30 7 Theol. 4». Dagegen fehlt die 
zweite Halfte desselben, welche die Widmung und Widmungsepistel enthalt, in 
den beiden Exemplaren Gottingen, Univ.-Bibl., 8“ Bibl. I 5068, und Stettin, Bibl. 
des Marienstifts-Gymnasiums, Muller qu. 4, 

3) Diese beiden Seiten sind nicht in alien Exemplaren vorhanden, s. die 
vorige Anm. 



Nissel und Petraeus, ihre atbiopischen Textansgaben und Typen. 277 


neris mei confecti fivJifioBwor. Ex aliis autem operibus partim affectis, par- 
tim eonfectis elegi Prophetam Jonam, quern reliqui undecim, ut labor tonca- 

tenatus I'ubfequentur, li propitia magis fortuna fecundaverit “ ; das 

Datum lautet; „Dab. tov naga^gijna Lugd Bat. 14. Maj. Anno ccito tijs 
^lav^QomoyovLag clo loc LX.“ — 5 - 1 — 7 ; Athiopischer Text des lonas mit 

rechts daneben stehender lateinischer tbersetzung. S. 8 ; „BREVES NOT^E, | 

& nonnulla ^Ethiopum Ad.\gi-\ , [ materiie illuftrand® gratia [ felecta“ ; die 
Notae reichen bis S. 16, dann folgen auf derselben Seite .,ADA6IA, ET 
SENTENTLE | QLEEDAM 7ETH10PUM“ bis S. 21. S. 25; „Sequuntur qua- 
tuor priora Gene/eas | capita, qua? ex pervetufto Manul’c. 1 Pentateucho, ex 

.Ethiopia Hierolblymam ] allato, fideliter defcripli die beiden 

ersten Kapitel mit Interlinearversion, die beiden anderen ohne Cbersetzung 
„ut habeat ftudiofa juventus, quo iugenii vires expeiiri & tentare queat'*. 
Gen. 4 endigt auf S. 35. S. ;!(i; .,Pagin® I'lipplend® gratia adjecta eft j luc- 
cincta qua>dara Ethiopum Preeatio.- 

Uber die zugrunde liegendo Handschrift des Prophetentextes auBert sich 
Petraeus nicht ; s. dariiber unten S. 262 f. zu Nr. 8. Von der Gen.-Hs. sagt 
er in der soeben ansefuhrten Gberscbrift von S. 25, sie sei aus .AtMopien 
nach Jerusalem gebracht. Das ist vollstandig richtig: aber man darf daraus 
nicht schliefien, daB sie sich damals noch in Jerusalem befand, und dab Pe- 
traeus sie in Jerusalem abgcsehrieben babe. Vielmehr verschleiert Petraeus 
bier, wie es Entdeeker, die ihre Entdeckung fur sich zu reservioren wunsi hen, 
so haufig tun, den wirklicben Tatbestand. Die Hs. war namlich, wie ich 
demnachst in einem Aufsatz viber einige alttestamentliche Hss. des Abessiiiier- 
klosters S. 8tefano zu Rom nachweisen werde, damals nicht mehr in Jeru- 
salem, sondern sclion seit einiger Zeit in ebendieses rdmische Kloster itber- 
fuhrt Jetzt ist sie im Besitze der British and Foreign Bible Society zu 
London. Es ist die Hs., web he Dillmann seiner Ausgabe des atbiopischen 
Oktateuchs in orstor Linie zugrunde gelegt und mit der Sigel „F“ bezeichnet 
hat. 

Das auf S. 3(3 hinzugefugte athiopische Gebet stammt aus der von Petraeus 
auf S. 14 erwiihnten G Hs'- des lithiopischon Psalters, die or von seiner Onent- 
reise mitgebraclu hatte Diese Hs., jetzt in Berlin, Kgl. Bibb, Or. qu 172, 
enthalt namlich hinter den Psalmen, den Oden und dem Hohenlied auf Bl. 
117 — 140 „Gel)ete und Bibellectionen auf die canonischen Stunden, sowie auf 
den Sonnabend und Sonatag“''', darunter auch, wie mir auf raeine Anfrage 
bei der Kgl. Bibl. Herr Dr. J. Wajnberg mitteilte, auf Bl. 133a 6p. I unser 
Gebet mit der L'berschrift .Gebet tur den Sonnabend** 

6 . 

1 nz^^: i liber ruth, ; 

THIOPICE, I E vetul'to Manulcripto, recens ex Oriente allato | 


1) S. 14, Notae zu Ion. 2fi; ,In Manufc. meo Psalteri;**. 

2) Dillm. Berl. 6. 6. Vgl. auch die von Hiob Ludolf herstammende Be- 
schreibung der Hs. bei lo. Diet. AVinckler, KEi|j.Tj/,ia Bibl. Reg. Berol. Aetbiopica 
descripta (1752), S. LXV — LXVll 



278 


Alfred Kahlfs, 


erntus, & latinitate fideliter donatus. | JS'unc primum (piloyXaeeav 
XRQiv I in lucem editus | a | Johan. Georg. Nisselio. | Valer. Max. 
Lib. I. I Ipfe fe fruftatur, qui felicitafem alterius, ccelejiium \ judicio 
deftinatam, humanis cm/iliis \ impedire conatur. | (Signet.) | LUG- 
DUNI BATAVORTJM. | Typis & impenTis Authoris. | do loc LX. | 
Sol jit flit ice diffipahit nebulas invidice. 

4 Blatter = 2 Doppelblatter, nicht mitgezahlt und nicht gezeichnet, und 
12 Seiten = 3 Doppelblatter, gezeichnet A — C, in 4". Indessen fehlt das 
zweite ungezahlte Doppelblatt, welches die Widmungsepistel enthalt, in den 
beiden Exemplaren der Gottinger Univ.-Bibl. (8“ Bibl. I 5014 und Cod. MS. 
Michael. 264 ; ebenso z. B. Wolfenbuttel , Blzgl. Bibl., 30. 7 Theol. 4“) und 
scheint iiberhaupt nur in wenigen Exemplaren vorhanden zu sein; es findet 
sich aber in den Exemplaren der Universitats-Bibliotheken zu Halle a. S. (Jc 
4963) und Kiel (§ 50 40). — Erstes ungezahltes Doppelblatt, erste Seite ; 
Titel ; zweite Seite leer ; dritte und vierte Seite : Widmung an die Kuratoren 
der Leidener Dniversitat und die Biirgermeister und den Syndikus der Stadt 
Leiden'). Zweites ungezahltes Doppelblatt (in vielen Exemplaren fehlend); 

Widmungsepistel: „ [zweite Seite:] egregia qumdam antiquitatis 

monumenta, qua? per multa retro fecula in abftrufis & fqualore obductis locis 
deKtuerant, qua? impofterii avv rg tro'D ■8'foC TtaXafia in lucem emitters cona- 
mur, (li fortuna magis propitia generofis nodris refpondeat conatibus) fcil. 
Homilias Sacras ^thiopicas, & duodecim Prophetas minores, quos e perve- 
tudis MS. codicibus cedro dignis, erutos, baud ita pridem Hierofolymis, & in 
.®gypto Deo propitio, amicus [dritte Seite i\ meus intimus Clariil. Theodoras 
Petraeus Linguarum Orientalium callentisfimus , iisdemq; mecum dudiis ad- 
dictus, non fine lummo periculo, atq; mre haud exiguo acquifivit, cum ex fln- 
gulari Potentilfimi ac Literatiffimi Regis Danim munificentik ad literas Orien- 
tales promovendas, in Orientem ablegatus eflet; nec obdante duro & impio 
Marte, in tarn ancipiti temporum datu rariores Mufas, earumque Mydas, me- 
dios etiam inter turbarum, galearum & enllum drepitus, ac belloram turbu- 
lentos tumultus *) Rex pins & omnigense laudis encomio celebrandus non tan- 
tum impense fovit, verum etiam ita Marti duduit, ut Palladem non excluferit, 

. . .; cujus igitur juffu & aufpiciis, jam pra?fatns Doctiff. Dominus Petrmus 
iter in Orientem fufcepit, ut non pauca rara, & venerandse antiquitatis mo- 
nnmenta, .Ethiopica videlicet, .Sgyptiaca & Perfica, eo animo fecum in Euro- 
pam inveheret, ut ibidem publici juris facta, in plurium mox cederent uti- 
htatem & emolumentum. Sed hactenus pro nodra ingenii tenuitate in abditis 
Abaffinorum cadris verfati, nunc iis relictis, ne bifce folis vobis naufeam, & 
fadidium pariamus, ad ama?nirfima .Egyptiorum Perfaramq; vireta ex fpatiari 
Yifum ed, ut reconditiorem illam iiteratura? doctrinam, hucuTque intentatam, 


dieselbe Widmung mud sich in gewissen Exemplaren der 
16o5 von Kissel herausgegebenen „Historia de Abrahamo“ (Willems S. 191 Nr. 770) 
^den nur da6 dort, funf Jahre vorher, die Namen der vier Burgermeister mit 
Ausnahme ernes einzigen andere sind. Ich habe zwar kein solches Exemplar ge- 
7W aber eine offenbar recht sorgfaltige Abschrift aus einem LlchL, 
I 213b) yoTgebunden“is^^^^ Exemplars (Univ.-Bibl., 4“ Theol. thet. 

die Kriege Friedrichs HI. von Danemark mit Karl X. 
Gustav von Schweden in den Jahren 1657 1660. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 279 


augufto veftro confpectui gratiora & digniora libamenta ad munificentiae veftrse 

aram nunquam non devote apponere valeamus [vierte 

Seite:] nt alia, nimirum rarifflma Linguae iEgyptiacae, venerandse antiquitatis 
monumenta, hactenus in Europa a nemine tentata, a nobis pro modulo noftro 
e tenebris (abfit verbo invidia!) eruenda; ut & prifcos Perfarum Chatajorumq; 
annales, eorumq; Regum Origines, e Perlicse Linguae penu depromptas, utili- 
tatis publicae, ac rei literarise amplificandse bono Typis committere valeamus 

“ Datiert ist diese Epistel; „Dab. Lugd. Bat. Anno 1660 . die 6 . 

Augufti.“ — Die 12 gezahlten Seiten enthalten den athiopischen Text des 
Buches Ruth mit rechts daneben stehender lateinischer Ubersetzung. 

Der athiopische Text stammt nach Nissels Angabe auf dem Titel „e ve- 
tufto Manufcripto, recens ex Oriente allato“. Hierzu findet sich in dem Cod. 
MS. Michael. 264 der Gottinger Univ.-Bibl. die handschriftliche Randnote 
^non puto, quia Homes a Petreeo defer [iptum] *) ftiisfe intellexi J. Zi.“ Diese 
Randnote ist von Christian Benedikt Michaelis oder von Johann Heinrich 
Michaelis geschrieben, stammt aber, wie das „J. Ij.“ zeigt, von lob Ludolf, 
dem Lehrer der beiden Michaelis. Und Ludolf hat hier ganz recht gesehen; 
denn der Ruth-Text ist in der Tat aus einer damals in Rom befindlichen Hs. 
abgeschrieben und zwar aus derselben, aus welcher auch der kurz vorher von 
Petraeus herausgegebene Text von Gen. 1 — 4 stammt, s. oben S. 277 und den 
dort zitierten, demnachst erscheinenden Aufsatz liber alttestamentliche Hss. 
von S. Stefano. Wir haben es hier also mit einer ganz hhnlichen Verschleie- 
rung des wirklichen Tatbestandes zu tun wie bei dem Gen.-Texte. Petraeus’ 
Angabe uber die Herkunft seines Gen.-Textes „ex pervetufto Manufc. Penta- 
teueho, ex Ethiopia Hierofolymam allato“ und Nissels Angabe iiber die Her- 
kunft seines Ruth-Textes „e vetufto Manufcripto, recens ex Oriente allato“ 
sind an sich nicht falsch; ja, nimmt man sie niur in der richtigen Weise zu- 
sammen, so bekommt man sogar die Geschichte der Wanderung der Hs. heraus : 
sie war zuerst im Orient aus Athiopien nach Jerusalem und dann, nicht sehr 
lange vor Petraeus’ Reise, aus dem Orient nach Europa gebracht. Aber nur 
der Eingeweihte vermag jene beiden Angaben richtig zusammenzusetzen und 
zu deuten. Der Uneingeweihte wird aus der einen Angabe schlieSen, Pe- 
traeus habe seinen Gen.-Text aus einer in Jerusalem befindlichen Pentateuch- 
Hs. ahgeschrieben, aus der anderen dagegen, er selbst habe die Ruth-Hs. aus 
dem Orient mitgebracht. 

7 a. 

:: i : nA'5'i’ : : 

A’KllVi^i : I KPtfti : : I homilia ^thiopica i 

DE NATIVITATE DOMINI NOSTRI | JESU CHRISTI, 1 Latino 
lermone ad verbum donata; ] Nunc primum cum aliis 24 . Homiliis, 
et perpaucis j quibufdam MSS. MSthiopicis ex Oriente afportata^), j et 

1) iptum ist vom Buchbinder weggeschnitten. 

2) So Gottingen, Univ.-Bibl., 4» Patr. coll. 39»», und Kiel, Univ.-Bibl., § 50 
4“. Dagegen Wolfenbuttel, Hzgl. Bibl., 30. 7 Theol. 4": afpor-\tata. Uberhaupt 
weicht das Wolfenbutteler Exemplar in einigen Kleinigkeiten, auch im Signet, von 
den beiden anderen ab. Der Titel ist also wahrend des Druckes noch etwas ge- 
andert oder zweimal gedruckt. 



280 


Alfred Bahlfe 


fpeaminis loco in lucent edita | a | M. Theodoro PirrEiEO, Flensburgo- 
Holfato, 1 Philologiae facrae Linguartunque Orient. Propagatore. j 

Luc. 2:11. 1 : miz . : 

I GtReg. Naziajjz. Orat. 36. | Tt'g Tijg dv&paTtoTr/zog, ijv dt 
fjfiSg vmetTi ^^og, | am«; to ea&rjvai ndvtag rjfiag. j (Signet.) | 
LUGD. BATAVORUM,^) | Impenfis Auctoris, et Typis NilJelianis. | 
Anno ^r.® Christian.® | do loc LX. 

Titelblatt, nicht mitgezahlt, nnd 12 Seiten = 3 Doppelblatter, gezeichnet 
A — C, in 4“. — Ruckseite des Titelblatts leer. S. 1 — S. 11 Z. 10: Athiopi- 
scher Text der Homilie mit lateinischer Interlinearversion und Randnoten am 
auBeren Rande. S. 11 Z. 11 If.: „CORONIDlS LOCO | ob materia; convenien- 
tiam accefsit per-ibrevis qua;dam Rithiopum Oratio.** Dies Gebet gleichfalls 
mit Interlinearversion, aber ohne Randnoten. 


Die Homilie stammt, wie Petraeus selbst auf dem Titel angibt, aus einer 
athiopischen Hs., die er aus dem Orient ’) mitgebracht batte. Die Hs. ist, 
ebenso wie der oben S. 277 erwahnte Psalter, in den Besitz der Kgl. ISibl! 
zu Berlin ubergegangen und tragt dort die Signatur „Ms. or. fol. 117“. Wh' 
besitzen eine ausfiihrUche Beschreibung ibres Inhalts von der Hand Hiol> 
Ludolfs, welche lo. Diet. Winckler. Bibl. Reg. Berol. Aethiopica 

descripta (1<62), S. XXXIH— LX veroffentlicbt hat. Ktlrzer gibt ihren Inhalt 
DUlm. Berl. S. 56 f. unter Nr. 60 an. Nach Ludolf und Dillmann enthalt 
die Hs. im ganzen 23 verscliiedene Stucke, teils Ilomilien, teils Heiligen^iten 
und Martyrien, die samtlich zui- Vorlesung an Heiligen- und Festtagen be- 
stimmt Sind. Petraeus’ Angabe, dafi er unsere Homilie „cum aliis 24. Homi- 
liis“ aus dem Orient mitgebracht babe, ist also nicht ganz genau. Unsere 
Homilie ist nach der Zahlung Ludolfs und Dillmanns das 12. Stuck in der 
AuBer dem Original besitzt die Kgl. Bibl. auch noch eine Abschrift 


eben dieser Homilie unter der Signatur „Ms. or. qu. 162“. Dillm. S. 57 be- 
schreibt sie unter Nr. 67 also : „Pap., 24 u. 19 ctm., 37 Bl. Torn auf dem 
Titelblatt steht ; Homilia Aethiopica de Nativitate Domini nostri Jesu Chriati, 
m Latinum ad verbum conversa et notis necessariis ac Aethiopum proverbiis 
illustrata, addito textu Graeco S. Johannis Chrysostomi itidemque Latmitate do- 
nato ; nunc primum in lucem edita a 31. Theodora Petraeo, Flensburgo-Holsato 

•Jahr 1660 zu Leyden gedruckten Ausgabe dieser Homilie zu sein (s. uber diese 
Ausgabe Ilmckler S. 29). Die Aethiopum proverbia, welche Petraeus 

1660 zu Leyden hmter der Ausgabe des Propheten Jona drucken lieB“), 

i “ TVTT " "ber den Charakter 

dies Abschrift IS zweifellos ricbtig; die Oils- und Zeitangabe „Londini . . . 

i hat. wird sich spater auiklaren, s. unten 

p,~ ‘ ” omi le wild in der Hs. ausdrucklich dem hi. Johannes 

Chrysostomus zugeschrieben und Hndet sich auch griechisch in seinen Werken : 


1) Das Wolfenbutteler 
des Kommas. 


Exemplar (s. vorige Anm.) 


hat hier einen Punkt statt 


2) Dasselbe Exemplar hat: clo i^ 

3) Noch genauer : aus Jerusalem s 

4) Vgl. oben S, 077 2 . 8f. 


C LX. 

. unten S. 296 f. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 281 


Chrysost. ed. Montfaueon 6 (1724), S. 392 — 400 = Migne Patr. gr. 56 (1862), 
Sp. 385—394 (^Homilia in natalem Christi diem“). Petraeus hat sie auch 
anfangs selbst als Werk des Cbrysostomus bezeichnet; denn Job. Heinr. Het- 
tinger sagt in seinem „ Dissertationum theologico-philologicarum fasciculus 
dessen Widmungsepistel vom 5, April 1660 datiert ist, auf S. 189, daB „M. 
Theodoras Petreeus, Flensburgo Hollatus“, der jetzt in England den kopti- 
schen Psalter mit arabischer und lateinischer Ubersetzung herauszugeben ge- 
denke, ibm auBer einer Probe dieses koptischen Psalters auch eine Probe 
„Homilise TEthiopicce S. Chryfoftomi de Nativitate Chrifti, in quam Hierofo- 
lymis incidit, & cum aliis Mfs. in Europam invexit“ mitgeteUt babe. In dem 
oben angefuhrten Titel seines Druckmanuskripts hat Petraeus dann allerdings 
schon das „jS. Chrysostomi^ gestrichen, aber durch die Beigabe des griechi- 
schen Chrysostomus-Textes docb noch unzweideutig auf den angeblichen Autor 
hingewiesen. Erst in seiner Ausgabe hat er den Namen des Cbrysostomus 
vollig unterdriickt. Den Grund dieser Unterdriickung haben wir wobl in dem 
Umstande zu suchen, daB die Echtheit der Homilie sehr fraglich war; Savile 
hatte sie fiir dubia, Fronto Ducaeus geradezu fiir spuria erklart, und auch 
heutigentages gilt sie noch als zweifelhaft, s. 0. Bardenhewer, Geschichte 
der altkirchl. Literatur 3 (1912), S. 341. Ubrigens ist die athiopisehe Uber- 
setzung manchmal frei und kiirzt gelegentlich den griechischen Text sehr 
stark. 

Das athiopisehe Gebet, welches Petraeus auf dem freien Raume am 
Schlusse des Scbriftchens abgedruckt hat, findet sicb auch in dem liturgischen 
Anhange des romischen N. T. von 1548/49*) auf Bl. 159 b^). Petraeus laBt 
jedoch nicht nur — was leicht erklarlich ist — die Satze fort, welche der 
Diakon dazwischen zu sprechen hat, sondern weicht auch in manchen Einzel- 
heiten derart von dem romischen Texte ah, daB man kaum um die Annahme 
umhin kommen wird, Petraeus habe statt oder neben dem romischen Texte 
eine andere schriftliche oder mundliche Uberlieferung benutzt, die er in den 
von ihm besuchten Abessinierklostern zu Rom oder Jerusalem (vgl. unten 
S. 293 f. 296 f.) kenuen gelernt haben kann. 

7 b. 

jD-'nbsn I HOMILIA ^THIOPICA | DE NATIVITATE DOMINI 
NOSTRI I JESU CHRISTI, | Latino fmnone ad oerhum donafu, et 
in I lucem edita | a | M. Theodoro Peteaeo, Cimbro, | Lingnarum 
Orientalimn Propagatore. j Gregor. Nuzians. Orat. 36 . | Tig rrjg av- 
S-pcoTcdrrjTog, ija di ^ficcg vntOTT] ^ibg, \ uixia; to Ga^rivai nuvxug 
xigc.g. 1 (Signet.) 1 AMSTELOBAMl, Typis & Impenfis Auctoris. | 
do loc LIVIII. 

Stimmt mit Ausnabme des Titelblattes genau mit 7a iiberein. Es handelt 
sich hier also nur um eine sogenannte TitelauHage, bei der das Werk nicht 


1) Vgl. oben S. 272 den SchluB meiner Bemerkungen zu Nr. la. 

2) Dies hat auch sebon Ludolfs Schuler Schiichting (vgl. unten S. 336) in 

seinem Exemplare bemerkt, das jetzt der Univ.-Bibl. zu Kiel gehort (Signatur: 

§ 50 4"), nur gibt er statt „159“ aus Tersehen nlbO** an. 

Kgl. Ges. d, Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 2. 


19 



282 


Alfred Rahlfs, 


neu gedruckt, sondern nur das alte Titelblatt entfernt und durch ein neues 
Titelblatt ersetzt worden ist. 

Petraeus hat 1669 und 1670, Tielleicht aucb schon 1668, mit Hilfe Wer- 
ners Unterstutzung fiir die Herausgabe der von ihm vorbereiteten Werke zu 
gewinnen gesucht, s. unten S. 312 — 316. Dabei haben beide, um die Niltzlichkeit 
dieser Werke zu beweisen, offenbar besonders gern auf die athiopische Ho- 
milie hingewiesen, welche Werner zu demselben Zwecke auch in lateinischer 
und deutscher Ubersetzung abgedruckt hat, s. unten S. 313 Anm. 3. Dies gab 
wohl den Anlafi zur Veranstaltung dieser Titelauflage, die den Anschein er- 
wecken sollte, als handle es sich um ein erst kurzlich von Petraeus heraus- 
gegebenes Werk. 


8 . 

PROPHETIA 1 SOPHONI.^, 1 Summa diligentia ad Mem vetu- 
ftifsimi 1 MS. Codicis fideliter in Latinnm verfa ; [ Nunc primuni ex 
Oriente cum reliquis Prophetis | minoribus in Europam allala, ct in 
literarii Orbis | commodunE) publici juris facta | a | Joh. Georg. Nissei.io, 
Palatine, ] Linguar. Oriental.^) q>ikoua&)j. | Marc. 16:15. | 

orfi'i’ : W-/V : : (Dh-n^i* : (d^^a : i aw-iV : 

4:^4^; I (Signet.) I LUGDUNl BATAVOPUMJ) | Typis & 
impenfis Nisselianis. | do loc lx. 

Titelblatt ®), nicht mitgezkhlt, und 8 Seiten = 2 Doppelblatter, gezeichnet 
A und B, in 4”. — Ruckseite des Titelblatts leer. Die 8 gezahlten Seiten 
enthalten den atbiopischen Text des Soph, mit rechts daneben stehender la- 
teinischer Ubersetzung. 

Von dem hier herausgegebenen Soph.-Texte sagt Nissel auf dem Titel, 
er stamme aus einem „vetuftifsimus MS. Codex“ und sei „nunc primum“ aus 
dem Orient mit den ubrigen kleinen Propheten nach Europa gebracht. Der- 
selbe nennt in der oben S. 278 angefiihrten Stelle seiner AVidmungsepistel 
von Nr. 6 als fiir eine Edition in Aussicht genommen „Homilias Sacras yEthio- 
picas, & duodecim Prophetas minores, quos e pervetuftis MS. codicibus 
baud ita pridem Hierofolymis, & in -Egypto . . . Theodorus Petrmus 


1) So Gottingen, UnivyBibl., 8" Bibl. I 5031, und Kiel, Ilniv.-Bibl., § 50 4», 
und Stettin, Bibl. des Marienstifts-Gj mn., Muller qu. 4. Dagegen W^olfenbiittel, 
Hzgl. Bibl., 30. 7 Theol. 4<’; literarii | Orbis commoduni. Hier gilt, auch hin- 
sichtlich des Signets, dasselbe wie bei Nr. 7a, s. oben S. 279 Anm. 2. 

2) Das Wolfenbiitteler Exemplar (s. vorige Anm.): Lint' Orient. 

3) Dasselbe Exemplar: LUGl). BATAYORUM mit Punkt dahinter. 

4) Dasselbe Exemplar: Typis et impenfis Nif/elianis. 

5) Dasselbe Exemplar: do lo c i,x. 

6) Statt des einfachen Pitelblattes hat das Exemplar der Kieler Univ.-Bibl. 
(g 50 4°) ein Doppelblatt, das zweifellos urspriinglich zusammenhangt , da das 
\\ asserzeichen, ein Postreiter. durchgeht, das aber auch nur auf der ersten Seite 
bedmekt ist, wahrend die drei ubrigen Seiten leer sind. Man sieht, dafi Nissel 
am Papier nicht gespart hat. Auch die Rander seiner atbiopischen Drucke haben, 
wie gewisse Spuren beweisen, lysprunglich eine wahrhaft vornehme Breite gehabt, 
smu aber von den alien Buchbindern meistens so arg beschnitten, dafi es zuweilen 
hart am lexte Oder an den Seitenzahlen hergeht, oder sogar wirklich etwas ver- 
schwunden 1 st (s. oben S. 273 den SchluB der Bemerkungen zu Nr. 1 b). 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 283 

acquiliyit“. Endlich auBert Petraeus selbst in der oben S. 277 angefilhrten 
Stelle seiner Widmungsepistel von Kr. 5 die Absicht, dem lonas die librigen 
elf kleinen Propheten folgen zu lassen. Hiernach wiirde man annehmen, daB 
den Ausgaben des lonas (Nr. 5), Sophonias (Nr. 8), loel (Nr. 9) und Malacbias 
(Nr. 10) eine vollstandige Hs. der zwolf kleinen Propheten zugrunde liege, 
welche Petraeus von seiner Orientreise, etwa aus Jerusalem, mitgebracht 
hatte, und so fiihrt denn auch Moller S. 493 unter den von Petraeus aus 
dem Orient mitgebrachten Hss. in der Tat eine Hs. der zwolf kleinen Pro- 
pheten an. Aber jene Angaben sind ebenso ungenau und irrefiihrend und 
verschleiern den wahren Tatbestand in ganz ahnlicher Weise, wie die oben 
bei Nr. 5 und 6 besprochenen Angaben uber die Hs., der die (Jen.- und Ruth- 
Texte entnommen sind. In Wirklichkeit war die Hs. der kleinen Propheten, 
wie ich in dem schon bei Nr. 5 und 6 zitierten, demnachst erscheinenden 
Aufsatz uber alttestamentliche Hss. von S. Stefano nachweisen werde, ebenso 
in diesem Abessinierkloster zu Rom wie die Oktateuch-Hs., der Petraeus die 
Gen.- und Ruth-Texte entnahm. Und sie war auch gar nicht voUstandig, 
sondern das ganze Buch Osee und etwa die Halfte des Buches Amos fehlten 
Jetzt ist die Hs. in Oxford, Bodl. Libr., Aeth. 8. 


9. 

: i prophetia joel, i .ethio- 

PICE, 1 INTERPRET ATIONE LATINA | ad Verbnm donata, & 
perbrevi vocam Hebraica-|rum & Arabicarum BLARMONIA | illu- 
ftrata; [ LABORE et STVDIO \ M. THEODORI PETRiEI, Cm- 

DEi. 1 Pfai 19,5 I (D’ri'i’:'nf-iV:f^j^C:a)OA:?7Cc^: 

(DAiiYi : i m :: i (Signet.) | 

LUGDUNI BATAVORUM , | Stmiptibus Auctoeis, ef Typis Nisse- 
LiANis. I clo loc LXI. 

Titelblatt, nicht niitgezahlt, und 10 Seiten = 2'/* Doppelblatter, gezeichnet 

A 0 ^ in 40 . Das Titelblatt und das halbe Doppelblatt „C“ bilden zusammen 

ein ganzes Doppelblatt 0, welches die beiden anderen Doppelblatter hinein- 
gelegt sind. — Ruckseite des Titelblatts leer. Die 10 gezahlten Seiten ent- 
halten den athiopischen Text des loel mit rechts daneben stehender lateini- 
scher Ubersetzung und Randnoten am auBeren Rande, in denen vor aUem 
entsprechend der Ankundigung auf dem Titel zu vielen Wiirtem des athiopi- 
schen Textes die Parallelen aus anderen semitischen Sprachen angefiihr. 
werden (die ersten beiden Randnoten lauten; a) zu ; Kap. li; „Ht 

“b;; , Ar. Ai.“ ; b) zu Kap. 1 2 ; S. , Rab. “*^10 , Ar. j Jut). 

Uber die zugrunde liegende IIs. der kleinen Propheten s. oben bei Nr. 8.’ 


10 . 

1 VATICINIUM MALACHI^, | PRO- 
PHETARUM ULTIMI. | ALTHIOPICE, LATINO IDIOMATE ad 


1) Dies ist deutlich zu erkennen in dem Exemplar der Gbttinger Univ -Bibl 
8“ Bibl I 5014, wo die beiden Blatter noch jetzt zusammenhangen. 

19 * 



284 


Alfred Kahlfs, 


Verbam ] donatum, & ad uftun ac captum [ r&v ^iXoyXmseav ac* 
commo-|datnm ; [ Nunc primum puhlici juris factum | « | M. THEO- 
DORO PETR^O, CiMBRO. | i. Corinth. 14, 26. I ndvTU jtQog olxodopijv 
ytvee&ca. | (Signet.) | LUGDTJNI BATAVORUM, [ Sumptibus Aucto- 
Ris, et Typis Nisselianis. | do loc LXI. 

Titelblatt, nicht mitgezahlt, und 10 Seiten = 2Vs Doppelblatter, in 4'>; 
die beiden vollen Doppelblatter sind mit A und B gezeichnet, das halbe am 
Scblusse ist nicht gezeichnet. Das Titelblatt und das einfache Blatt am 
Schlusse bilden, wie bei Nr. 9, zusammen ein Doppelblatt '). — Ruckseite 
des Titelblatts leer. S. 1 — 9: Athiopischer Text des Mai. mit lateiniscber 
Interlinearversion und Randnoten am auBeren Rande, besonders bei Kaji. 3 
und 4. S. 10; „Ne pagella vacaret, haec * \hierzu die Kandnote : *1ESA. 
LVI.] Prophet* | verba adjungere libnit“ ; folgt Is. 56 1—7 athiopiscb mit 
lateiniscber Interlinearversion und vier Randnoten. 

Uber die zugrunde liegende Hs. der kleinen Propheten s. oben bei Nr 8 
liber die Herbunft des Textes von Is. 56 1—7 gibt eine von Christian 
Benedikt Michaelis oder Johann Heinrich Michaelis geschriebene, aber anf 
„J. = lob Ludolf zuruckgehende Randnote in dem Cod. MS, Micbaei 

264 der Guttinger Unii.-Bibl., Bl. 94b, Auskunft: „J. L. Hahiit Peiraus Us 
feptem vei-Jus Prophetic Esaice non ex integro istim Propheta libro, Jid ex 
Precationihus MSS. quo repernmtur in Pfalteno MSS. quod ilk posjedit, et 
postea e Bi liotheca Berolinen/i evolvendum accepi, ubi hi ver/us repenuntur 
p. 34. b. /eu 134.“ Aus diesem Psalter des Petraeus, jetzt in Berlin, Kgl. 
Bibl., Or. qu. 172, stammte ja auch , wie oben S. 277 gezeigt, das Gebet, 
welches Petraeus am Scblusse seiner Ausgabe des lonas abgedruckt hatte' 
Unsere Lektion Is. 56 1 — 7 stammt zw’eifeUos ebendaher und zwar, wie jenes 
Gebet, aus dem Ritual des Sonnabends; ja sie steht sogar anf demselben 
Blatte 133 -j wie das Gebet, nur nicht wie jenes auf der Vorderseite, sondern 
anf der Ruckseite dieses Blattes. 






1) Auch dies 1st in dem Gdttinger Exempla 
vorige Anmerkung. 

2) Wenn Ludolf 134'' statt angibt, so erklart sicli dies daraus dad 

er nach emer fruher hauhgen Praxis die Ruckseite des Blattes mit der auf der 
\orderseite des tolgen den Blattes stehenden Blattzahl zitiert, weil sTe sich 
beim aufgeschlagenen Buche mit dieser zusammen dem Blickedarstpiit A a 

deie Angabe Rudolfs ,.p, 34. b." bezieht sich auf die besondere ^ m ' 

(so! nicht Blattzahlung; der einzelnen Teiie der Hs iw I ndnlG r "i 

der Hs. bei lo. Diet, IVinckler, Kemn/.m Bibl L. r'"', 

(1752j, 3 LXIVff ' tierol. Aethiopica descripta 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 285 


II. Nissels und Petraeus’ Leben und wissenschafUiche 

Personlichkeit 

tiber Johann Georg Ifissels Leben wissen seine bis- 
herigen Biographen, zuletzt C. Siegfried in der Allgemeinen 
Dentschen Biographie 23 (1886), S. 702 f., nnr zn berichten, was 
sich aus einigen Stellen seiner Werke, besonders aus den Titeln 
derselben, sofort ergibt: da6 Nissel in der Pfalz geboren war, 
aber meist in Leiden lebte , daS er eine eigene Drnckerei mit 
athiopischen und anderen Typen errichtete nnd in dieser seine und 
seines Freundes Petraeus Werke druckte, besonders Ausgaben 
athiopischer Texte und eine hebraische Bibel, und daB er im Jahre 
1662 starb. Diese diirftigen Nachrichten lassen sich aber teils aus 
anderen Stellen der Nisselschen Werke, teils aus dem schon 1875 
herausgegebenen, aber auch von Siegfried noch nicht herangezo- 
genen „ Album studiosorum academiae Lugduno Batavae MDLXXV 
— MDCCCLXXV“ in mehreren Punkten erganzen. 

Aus dem Album studiosorum erfahren wir zunachst, daB 
^Joannes Georgius Nisselius Haselochensis Palatinus“ am 7. Marz 
1647 im Alter von 23 Jahren als Stud, theol. gratis in Leiden 
inskribiert worden ist (Sp. 374). Nissel stammte also aus dem 
Dorfe HaBloch in der Pfalz und muBte nach dieser Altersangabe, 
wie schon Willems S. 185 Nr. 751 richtig berechnet hat, im Jahre 
1623 Oder 1624 geboren sein. Ein Nisselius kommt sonst im Album 
nirgends vor; danach wiirde man annehmen, daB Nissel im Jahre 
1647 zum ersten Male nach Leiden gekommen ist. Das ist aber 
nicht richtig; vielmehr hat Nissel schon im vorhergehenden Jahre 
in Leiden Theologie studiert. Das lehrt der Titel eines WiUems 
erst nachtraglich bekannt gewordenen Schriftchens von 6 unge- 
zahlten Blattem in 4“, dessen Titel Berghm. S. 9 unter Nr. 17 
nach MitteUung von Willems folgendermaBen angibt: ,Oratio 
syriaca de calamitosissimis secvli nostri pertvrbationibvs. In 
celeberrima Batavorvm Academia Leidensi exercitii loco scripta et 
habita a Joh: Georgia Nisselio, SS. Theol: stud: Palatino, die 28 
Ivliy Luijduni Batavorum, typis Eheviriorum. Anno mdcxlvi". Hat 
Nissel aber schon im Juli 1646 in Leiden studiert und in der offi- 
ziellen Universitats-Buchdruckerei (vgl. unten S. 331) ein Specimen 
eruditionis drucken lassen, so wird er damals auch schon inima- 
trikuliert gewesen sein. Und sehen wir uns nunmehr das Album 
nochmals genauer an, so finden wir in Sp. 368 die Angabe, daB 
im Mai 1646, also zwei Monate vor dem Erscheinen der „Oratio 
SM'ii.ca", ein Johannes Georgius Nisterius Palatinus“ im Alter 



286 


Alfred Rahlfs, 


von 24 Jakren als Stnd. theol. inskribiert worden ist. Dieser 
,Xisterius“ ist nnn aber m. E. mit unserm Xissel identisch. 
Allerdings konnte man gegen die Identifikation nicht nur die ab- 
weichende Namensform, sondern anch die Altersangabe geltend 
macken; denn wenn Nissel 1647 erst 23 Jakre alt war, so kann 
er 1646 nickt sckon 24 Jakre gezaklt kaben^). Wenn ich trotz- 
dem die Identifikation des Nisterins mit Nisselius fur voUig sicker 
kalte, so kat dies folgende Griinde: 1) In Leiden trugen die za 
inskribierenden Stndenten nickt selbst ikre Namen ein, sondem 
die Eektoren sckrieben dieselben so anf, wie sie sie von ihnen 
korten, s. Album S. VI. Da6 dabei aber, namentlick wo es sick 
um auslandiscke Namen kandelte, manckmal Gehorsfekler mit un- 
terliefen, ist leickt erklarlick, und anck der Heransgeber des Album 
erwahnt diese Tatsacke S. VI unten ; vgl. nberhaupt fiber solche 
Fekler der alten Matrikeln W. Falckenheiner, Personen- und Orts- 
register zu der Matrikel und den Annalen der Univ. Marburg 15-27 
— 1652 (Marb. 1904), S. VII f. 2) In der ganzen Leidener Matrikel 
kommt sonst weder ein Nisselius, nock ein Nisterins vor. Es kan- 
delt sick also um seltene Namen. Da ware es dock ein nm so 
sonderbarerer Zufall, wenn gerade ein Johannes Georgius Nisterins 
Palatinus und ein Joannes Georgius Nisselius Palatinus zu gleicher 
Zeit in Leiden Theologie studiert hatten. 3) Die Diiferenz der 
beiden Altersangaben ist zwar anfiFallig, wird aber durch die unten 
S. 291 anzufiikrenden Differenzen der drei Altersangaben des Pe- 
traeus weit fiberboten. Man kann also nur urteilen, dafi bei sol- 
chen Altersangaben auf Exaktkeit kein besonderes Gewicht gelegt 
wurde, und man mu6 sick davor hfiten, ans ihnen das genaue Ge- 
burtsjahr der Immatrikulierten berecbnen zu wollen. Fiir Nissel 
steken, wenn man die beiden Angaben zusanunennimmt, die Jakre 
1621 — 1624 zur Auswahl. 

Bei der zweiten Inskription Nissels am 7. Marz 1647 notiert 
das gedruckt vorliegende Album, dafi diese Inskription gratis 
erfolgte. Bei der ersten Inskription im Mai 1646 fehlt eine solche 
Notiz. Hier ist aber die Ausgabe des Albums unvoUstandig und 
wird durch folgende Mitteilung C. van Vollenhovens (vgl. Anm. 1) 
sekr gut erganzt: „By de eerste inschryving (Nisterius) staat. 


1) Da es denkbar ware, daB die Differenzen nur durch ein Versehen des 
Herausgebers des Album studiosorum entstanden waren, fragte ich in Leiden an 
und erhielt darauf von dem gegenwartigen Rector-magniflcus, C. van Vollenhoven 
die Antwort, daB die verschiedenen Xamensformen und die nicht miteinander 
ubereinstimmenden Altersangaben sich wirklich so im Original selbst finden. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 287 

evenals by die van nog een anderen student, een half onleesbare 
noot van den rector-magnificns “Hi duo ob inopiam oraverunt et 
obtinuerunt, ut beneficium immatriculationis literis ipsis collatum 
sit”, d. i. zy zyn kosteloos ingeschreven.“ 

Anch enthalt das Original, wie mir gleichfalls C. van Vollen- 
hoven mitteilte, beidemal Angaben fiber die Wohnnng Nissels: bei 
der ersten Immatriknlation wohnte er „in het zgn. Statencollegie 
op de Cellebroersgracht“, bei der zweiten „in de Kloksteeg“. 

Ans diesem von den bisherigen Biographen Nissels noch nicht 
verwerteten Material lassen sich folgende Schlusse ziehen: Nissel, 
nicht lange nach dem Ansbruch des dreifiigjahrigen Krieges in dem 
Horfe HaBloch in der Pfalz geboren, gehorte nicht zn den Begfi- 
terten dieser Welt, da er in Leiden „ob inopiam“ gratis immatri- 
knliert wurde. Er stndierte Theologie, trieb daneben aber anch 
Orientalia nnd mu6 diese schon vor seiner Ubersiedelnng nach 
Leiden getrieben haben, da er bereits zwei Monate nach seiner 
ersten Immatriknlation in Leiden eine Oratio syriaca heransgeben 
kounte. Vielleicht hatte er vorher schon anderswo stndiert. Dazu 
wfirde sein Alter bei seiner Ubersiedelnng nach Leiden (etwa 23 
Jahre) gut passen. Anch bezog man zn jener Zeit anslandische 
Universitaten haofig erst nach Absolviernng des normalen Stu- 
diums auf einer heimischen Universitat *). Allerdings habe ich 
Nissels Namen in den bisher gedrnckten Matrikeln anderer Uni- 
versitaten nicht gefunden. — Nissel ist in Leiden zweimal bald 
nacheinander immatrikuliert : im Mai 1646 nnd am 7. Marz 1647. 
Er ist also das erste Mai nur kurze Zeit in Leiden geblieben nnd 
hat sich dann eine Zeitlang in seiner Heimat oder anderswo anf- 
gehalten. Bald jedoch ist er nach Leiden znrfickgekehrt nnd dann 
bis zn seinem Tode dort geblieben. 

Einen akademischeu Grad hat Nissel offenbar nicht er- 
worben. Er zeichnet immer nnr einfach mit seinem Namen, ohne 
demselben ein „M.“ = Magister vorzusetzen, wie es sein Freund 
Petraeus tut (vgl. nnten S. 291 f.), nnd ebenso wird er auf den ersten 
Seiten der nach seinem Tode erschienenen hebraischen Bibel (s. 
unten S. 288 Anm. 2), wo andere von ihm sprechen (in der „Summa 
privilegii“ und den Vorreden), immer nur einfach mit seinem Na- 
men genannt. Auch haben wir kein Anzeichen, daB er eine seinen 
Lebensunterhalt sichernde Stelle bekleidet hatte. Allerdings hat 


1) Vgl. z. B. Hiob Ludolf, der bis zu fast vollendetem 21. Lebensjahre in 
seiner Heimatstadt Erfurt studierte und dann nach Leiden ging (Flemming in den 
Beitragen zur Assyriol. 1 [1890], S. 540). 



288 


Alfred Rahlfs, 


er sich gewiB xun solche Stellen beworben. Wir konnen das we- 
nigstens in einem Falle, wo es sich um eine Anstellung am Gym- 
nasium in Amsterdam handelt, bestimmt nachweisen. Denn in einer 
vom 18. Juli 1655 datierten, mir allerdings nnr ans einer Ab- 
schrift in einem Gottinger Exemplar (Univ.-Bibl. , 4“ Theol. thet. 
1 213’*) bekannten Widmungsepistel seines „Testamentum inter 
Muhamedem et Christianse rehgionis popnlos initnm“ (Willems 
S. 192 Nr. 770, zweite Abteilung) spricht Nissel von „favorabili 
futurae alicnins promo tionis promisso“, das ihm von den Knratoren 
des Amsterdamer Gymnasiums, denen er das Werk widmet, ge- 
macht Worden sei, nnd sagt dann weiterhin, er werde seine Privat- 
studien unermudlich fortsetzen, „usque dum Divina Providentia, 
Summorumqne Virorum, ac Patronorum benevolentia inbeant quem- 
nam portum studia mea inter varies flnctus bine et inde adhne 
titnbantia eligere, ac quamnam fixam sedem in publico Bonarum 
Artium, et Lingnarnm Theatre tandem obtinere debeant“ ; darauf 
riihmt er die Tatigkeit jener Knratoren, welche darin besteht, daB 
sie „ad studiorum propagationem idoneos praeceptores ac informa- 
tores in publicum trahant", nnd empfiehlt sich ihnen geradezu, of- 
fenbar fiir eine Anstellung als Lehrer an ihrem Gymnasium (,et 
me modeste, ac humiliter commendo“). Aber von einem Erfolg 
solcher Bewerbungen erfahren wir nichts nnd konnen mit Sicher- 
heit annehmen, da6 es ihm, vielleicht auch weil er Auslander war, 
nicht gelungen ist, eine derartige SteUe zu erringen. 

Woven Nissel, der von Hans aus, wie wir sahen, nicht be- 
glitert war, unter diesen Umstanden eigentlich gelebt hat, ver- 
mogen wir nicht zu sagen. Als sicher diirfen wir annehmen, da6 
er entsprechend der Sitte jener Zeit von den mehrmals ausdriick- 
lich als „Euergetae“ bezeichneten Gonnern, denen er seine Werke 
widmete ^), Geschenke bekommen hat. Moglicherweise hat er auch 
Privatunterricht erteilt oder sich auf andere Weise etwas verdient. 
Auf jeden Fall hat er sich kiimmerlich genug durchgeschlagen. 
Denn der Leidener Hebraist Allardus Uchtmannns, der an Nissels 
hebraischer BibeP) etwas mitgearbeitet =*) nnd nach Nissels vor- 

1) Kissels idmungen konnte man vollstandig nur sammeln, wenn man alle 
Exeniplare seiner Werke untersuchte. Denn schon aus der Heranziehung relativ 
weniger Exemplare ergibt sich, daB die Widmungen meistens nur gewissen Exem- 
plaren, nicht der ganzen Auflage beigegeben sind. Auch habe ich in einem Falle 
schon das Vorhaadensein verschiedener Widmungen bci demselben Werke fest- 
stellen konnen, s. oben S. 275 Anm. 2. 

2) SACRA I BIBLIA | HEBRACA, | Ex optimis Editionibus diligenter ex-| 
prclTa, & lorma, Literis Verfuunniue | diftinctione commendata; | Lahore et Stu- 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 289 


zeitigem Tode eine empfehlende Vorrede zu ihr geschrieben hat, 
der also jedenfalls fiber Nissels personliche Verhaltnisse wohl un- 
terrichtet gewesen sein muB, sagt in einem Briefe an Hiob Ludolf 
vom 12. Juli 1675, welchen Juncker S. 195 f. abgedruckt hat, daB 
Nissel „oppreffus aere alieno“ gestorben sei. Dies ist auch wohl 
begreiflich ; denn die AnschaiFung einer eigenen orientalischen 
Druckerei nach dem Vorbilde der friiheren Leidener Orientalisten 
Raphelengius und Erpenius und die Herausgabe orientalischer Druck- 
werke auf eigene Kosten, die damals gewiB mit noch groBeren 
Opfern verkniipft war als heutzutage, zeugen zwar von einem 
edlen Idealismus, waren aber, pekuniar betrachtet, eine verfehlte 
Spekulation *). Allerdings hat Nissel seine Druckerei auch mate- 
riell fruchtbar zu machen gesucht. OfiFenbar in dieser Absicht be- 
gann er sogleich nach dem Erwerb derselben (vgl. unten S. 328) 
mit dem Druck einer hebraischen Bibel, die er in Format, Umfang 
und Ausstattung besouders handlich und bequem zu gestalten und 
dadurch vor alien Dingen fiir den Gebrauch der studierenden Ju- 
gend geeignet zu machen suchte *). Aber dieses Unternehmen konnte 

dio I JOH. GEORG. NISSELII, Pal.4TIni, | Linguar. Oriental. Propagatoris. | 
(Motto und Signet.) 1 Cum Peivilegio. | LUGDUNI BATAVOBUM, | Sumptibus 
et Typis Nisselianis. | do loc i.xii. — Vorhergeht auf einem besonderen Blatte 
ein gestochener hebraischer Xitel. 

3) Ucbtman selbst sagt auf der ersten Seite seiner Vorrede zu Nissels Bibel : 
„in emendationis partem aliquam veneram‘‘. 

1) Nissel selbst weist auf die Schwierigkeiten bin, wenn er in der oben 
S. 278 angefiihrten Stelle aus der Widmungsepistel des Buches Ruth weitere 
Drucke in Aussicht stellt, „fi fortuna magis propitia generolis noftris refpondeat 
conatibus“. 

2) Schon in der Widmungsepistel des „Testamentum“ vom 18. Juli 1655 (s. 
oben S. 288) sagt Nissel; „habebitis me confestim in maiori (juodam opere oecu- 
patum, et sedulum, ut vestra Juventus Sacrorum Oraculorum volumcn Hebraeum, 
sive Sacra Biblia Originalia Veteris Testamenti sub portatili ac bene correcta 
forma secum asservare, et cum insigni emolumento perlegere queat“. Auf dem 
Xitel der Bibel selbst (s. oben S. 28 js Anm 2) cmpfiehlt er sie wegen des P’or- 
mats, der Typen und der Versteilung. Ausfulirlicher stellt Ucbtman in seiner 
Vorrede ihre praktischen Vorzuge, offenbar ganz in Nissels Sinne, in das rechte 
Licht; quod cequi rerim ajtimatores, et harum literarum periti ex ipfius 
operis intuitu judicare poterunt; ita fiiijTe injtitutum, ut ufibtis imprimis ftudiofce 
juventutis Chrijliance inferviret, quo etiam nomine illud tanto magis fibi commen- 

datum habebunt Quin ad commendationem fui fuffecturum fperamus ip- 

fum opus, ufui aptiffimiim, verfuum infuper, quod rarum hacUnus, numero di- 
Jlinctum, et mole voluminis ad omnem ujum porlatile, characterumq; proportione 
commodum; qui neq; nimia exigiiitate vi fui officiant, neq; librum efficiant jullo 
majorem, fed mi jungi aliquid convenienter ejiildem Jiudii et materiee queat.'^ 
Vgl. auch die Vorrede der Leidener theologischen Fakultat. 



290 


Alfred Rahlfs, 


ilim naturgemafi in den sieben Jahren, durcb die sich der Drack 
binzog^), noch nichts einbringen, sondem vermebrte znnacbst nur 
seine Passiva. Dock hielt ihn die Hoffnnng anf einen gliicklichen 
Enderfolg anfrecbt, und er trostete sich, wie Petraeus in seinem 
Nachruf anf Nissel sagt, mit dem Psalmvers ,Die mit Tranen saen, 
werden mit Freuden emten“ -). Aber die Ernte sollte er nicht 
mehr erleben, sondern starb gleich nach Vollendnng des Drnckes, 
noch vor der Ansgabe des Werkes (s. Anm. 1). 

Xissels Tod scheint zwischen dem 6. nnd 16. Dezember 1662 
eingetreten zn sein. Denn das vom 6. Dez. 1662 datierte empfeh- 
lende Vorwort der Leidener theologischen Fakultat®), welches 
seiner Bibel an erster Stelle voranfgeschickt ist, erwahnt seinen 
Tod nochmicht, wahrend das darauf folgende Vorwort TJchtmans 
vom 16. Dez. 1662 ihn als 6 t>vv (luxagmig bezeichnet. 


tiber Theodor Petraeus’ Leben wnfite man scbon bisher 
mehr als iiber das Leben Nissels, besonders dnrch M oiler, der 
aus den Werken des Petraeus selbst und anderer Schriftsteller 
allerlei auf sein Leben Beziigliches gesammelt und dies durch miind- 
liche und schriftliche Mitteilungen von Leuten, die mit Petraeus 
in Beriihrung gekommen waren, erganzt und so auf S. 489—493 
des ersten Bandes seiner Cimbria Literata eine einigermafien um- 
fangreiche Biographie und Bibliographie des Petraeus zustande 
gebracht hat. Indessen hat MoUer nicht nur mancherlei ubersehen, 
sondern macht auch eine groBere Anzahl geradezu falscher An- 
gaben. Einige derselben hat neuerdings Vilh. Thomsen richtig- 
gestellt in seinem kurzen Artikel iiber Petraeus in dem von C. F. 
Bricka herausgegebenen Dansk biografisk Lexikon 13 (1899), S. 77 f., 
fiii don er mehrere neue Quellen heranziehen konnte. Doch be- 
darf auch seine Darstellung noch der Berichtigung und Erganzung, 
und diese kann ich urn so reichlicher geben, als es mir gelungen 

1) Uchtman ebenda: „ . . . 6 vvv .uaacgtrjjs johaxnes geokgics nisselius; 
qui liuic conatui vix ad finem perducto e/t immortuus. Eo ujq; tamen lucis hujus 
ufma HU fnti Deiis permijit, ut illud poft feptmnii integri exantlatos lahores 
mole/tiasq; ab/'oluturn tandem mderii.'‘ 

2) Letzte Seite der Vorreden zur hebraischen Bibel: „■ ■ ■ verba Pfalmi 

cxxM. 5 qure NISSELIUS inter hajc BIBLIA imprimenda frequenter in 

ore habuit, iisque ut Symbolo I'uo confolatorio ufus eft; QOI SEMINANT IN 
LACRYMIS, CUM EXSULTATIONE METENT,‘- 

j) Unterzeichnet yon Abr. Heidanus, Job. Coccejus und Job. Hoornbeek. 
Diese drei bildeten damals die theologische Fakultat, s. Album studiosorum aca- 
demiae Lugduno Batavae (1875), S. X. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 291 


ist, allerlei ganz neues oder unbenntztes Material fiir die Biogra- 
phic des Petraeus aufzufinden, besonders in den Akten des Ge- 
heimen Staatsarchivs und der Koniglichen Bibliothek zu Berlin, 
in gewissen Handschriften der Gottingen Universitats-Bibliothek 
und in den Schriften Werners. 

Petraeus stammte aus Flensburg (oder moglicherweise aus 
der Umgebung dieser Stadt). Sein Vater hied nach Moller Peter 
Dircksen, er selbst also Theodor Petersen, was er nach bekannter 
Gelehrtenmanier grazisierte *). Er hat auf verschiedenen TJniver- 
sitaten studiert, besonders aber in Leiden®). Dort ist er laut 
dem Album studiosorum (s. oben S. 285) dreimal immatrikuliert : 
am 16. Dez. 1650, am 23. Marz 1660 und am 10. Juni 1664. Aber 
auch bei ihm weichen, wie bei Nissel (s. oben S. 286), die ver- 
schiedenen Eintragungen voneinander ah : zuerst ist sein Name 
richtig Petraeus geschrieben, dann Petrejus und schlieBlich Petreus ; 
und gar die Altersangaben lassen sich hier noch weniger als bei 
Nissel zusammenreimen, denn nachdem er im Jahre 1650 schon 26 
Jahre alt gewesen ist, soil er 1660 erst 30 Jahre alt sein, dann 
aber wiederum 1664, von beiden friiheren Angaben abweichend, 36 
Jahre’). Petraeus ist an alien drei Stellen als „Holsatus“ be- 
zeichnet. Das erste Mai wird er mit der allgemeinen Bezeichnung 
jLiterarum studiosus ' aufgefiihrt, die beiden anderen Male werden 
speziell die orientalischen Sprachen als sein Studienfach angegeben. 
Alle drei Male ist die Immatrikulation unentgeltlich erfolgt, das 
erste Mai vielleicht wegen Armut oder auf gute Empfehlungen 
hin, das zweite Mai „hum<anitatis> ergo“, das dritte Mai „hon(oris> 
ergo" ; die letzte Notiz beweist, da6 er sich damals einen Namen 
als Gelehrter gemacht hatte. 

Petraeus hat den hochsten Grad seiner Eakultat, die Ma- 
gisterwiirde, erworben^). Schon 1654 setzt er seinem Namen 

1) .\thiopisch nennt er sich „Theodoros der Sohn des Petros“, s. unten 
S. 294. 

2 1 Vgl. Moeslers ^Teltimonium" (s. unten S. 294f.): „non contentus ea, quam 
in celeherrima Batayorum Academia, aliisque eukop.t-; cultioris doctrinse Acade- 
miis a\ide hauferat, Linguarum Orientalium cognitione, ipfam quoque turciam 
adiit“. 

;;) Die Ausgabe des Album studiosorum stimmt, wie mir C. van Vollenhoven 
mitteilte, auch hier mit dem Original uberein, vgl. oben S. 286 Anm. 1. C. van 
Yollenhoven teilte mir aufierdem die drei Wohnungen des Petraeus mit, die bei 
seinen drei Immatrikulationen angegeben sind: 1650 „by Dirk Jacobs Horn'', 1660 
„by Jan Theunisz“, 1664 „in het Hof van Gelderland“. 

4) Friedr. Wilken, Geschicbte der Kgl. Bibl. zu Berlin (1828), S. 21 legt 
Petraeus irrtumlich den Doktortitel bei. Auch in den Akten der Kgl. Bibl., auf 



292 


Alfred Rahlfs, 


in der oben S. 272 nnter Nr. lb angefiihrten Ausgabe seines Erst- 
lingswerkes das „M.“ vor. Wenn er sich in der anderen Ausgabe 
dieses Werkes (Nr. la) nnd auch in den beiden anderen Werken 
desselben Jahres (Nr. 2 nnd 3) nicht als Magister bezeichnet, so 
wird er das ans Riicksicht auf seinen Mitherausgeber Isissel getan 
haben, der seinem Namen keinen derartigen Titel vorsetzen konnte. 

Das Hanptereignis in Petraens’ Leben war seine Orient- 
reise, die er auf Kosten seines Landesherrn, des Konigs Frie- 
drichs III. von Dane mark, machte. Der Konig, der nach 
Moller S. 489 durch den Flensburger Generalsuperintendenten Steph. 
Klotz auf den begabten Jiingling aufmerksam pmacht war, ging 
wohl mit dem Plane um, ibn spater an der Universitat zn Kopen- 
hagen anzustellen ; wenigstens glanbe icb , dab man so die oben 
S. 272 aus der Widmungsepistel von Nr. 1 b angefiibrte Stelle am 
naturlichsten versteht. Unter diesem Gesichtspnnkte wird Frie- 
drich III. den Petraens auch nach dem Orient geschickt haben, 
damit er dort seine wissenschaftliche Ausbildung an Ort nnd Stelle 
vollende. Moller S. 490 Z. 3 setzt die Riickkehr von dieser Reise 
„anno circiter 1653.“ an, otfenbar deshalb, weil mit dem Jahre 
1654 die athiopischen Publikationen des Petraens beginnen. Aber 
dieser Ansatz ist, wie bereits Thomsen (s. oben S. 290) gesehen 
hat, sicher falsch ; das beweist schon die oben S. 276 angefiihrte 
Stelle ans der vom 14. Mai 1660 datierten Widmungsepistel von 
Nr. 5, in welcher Petraens sagt, dab er nnnmehr von der miih- 
seligen nnd langen Orientreise gliicklich nach Leiden zuriickgekehrt 
sei nnd „ceu itineris mei confecti fiv7]fi66vvov‘‘ die vorliegende Aus- 
gabe des athiopischen lonas verofifentliche; auch beruhen, wie oben 
gezeigt, die fruheren athiopischen Publikationen von Nissel und 
Petraens (Nr. 1 — 4) ansschlieblich auf alteren Druckwerken, und 
erst von Nr. 5 an bekommen wir neue, bis dahin noch niemals 
herausgegebene Texte. In Wirklichkeit mub Petraens seine Orient- 
reise im Jahre 1655 oder spatestens zu Anfang des Jahres 1656 
angetreten haben. 

Die Hinreise machte Petraeus iiber Rom und hielt sich da- 
selbst einige Zeit auf. E. C. WerlaulF, Historiske Efterretninger 
om det store kongelige Bibliothek i Kiobenhavn (1844), S. 85 Anm. f 
gibt an, dab Petraeus im Jahre 1656 der Gottorpschen Bibliothek^) 


denen Wilkens Darstellung beruht (Kaszikel III. A. 1 und III. B. 2, vgl. unten 
S. S37 ff.), wird Petraeus nirgends als Doktor bezeichnet. 

1) Siehe fiber diese Bibliothek besonders J. F. L. Th. Merzdorf, Bibliothe- 
karische Unterhaltungen. Neue Sammlung (18-50), S. 75 92. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textaiisgaben und Typen. 2^3 


von Rom aus ein durchschossenes Exemplar von J. Wemmers’ 
Lexicon Aethiopicnm (Rom 1638) mit handschriftlichen Bemerkun- 
gen schickte. Werner Diss. Guelph. S. 4 sagt iiber Petraeus’ Auf- 
enthalt in Rom: „Romae, limulatque illuc perventum effet, Kir- 
cheri, fideris illuftris, converfationem appetiit, atqne impetravit 
etiam : Sed neque ab Armeniis, Maronitis, Aethiopibns &c. iftic 
subfidentibus fefe abftinnit.“ Das laBt auf einen langeren Anfent- 
halt in Rom schliefien, bei dem Petraeus sich in verschiedenen 
orientalischen Sprachen weiter auszubilden bestrebt war. Und da6 
diese Nachricht richtig ist, laBt sich nicht bezweifeln; mindestens 
haben wir zwei sichere Zeugnisse dafiir, dafi Petraeus, ebenso wie 
sieben Jahre znvor Hiob Ludolf '), in dem Abessinierkloster S. Ste- 
fano zu Rom gewesen ist und die dort befindlichen athiopischen Hss. 
benutzt hat : 1) Der Cod. Michael. 264 der Gottinger Univ.-Bibl. ent- 
halt auf Bl. 22a — 23a von der Hand des Christian Benedikt Michaelis 
Exzerpte aus der Apokalypse des Esdras (Esdr. IV, bei den Abes- 
siniem Esdr. I) mit der Uberschrift „£x IV. Lihro Esdrce 'hn^c- 
dorits Petraeus fragmcnta qucedam Rotnce coUegit, qua- hie adferipia 
funV^ und der Unterschrift „Phira non kabuit Tu. P.“ Diese 
Exzerpte, die Michaelis zweifellos von Hiob Ludolf bekommen hat, 
der sie seinerseits den sogleich zu erwahnenden, ihm von Dapper ge- 
schenkten Adversaria des Petraeus entnommen haben wird, stammen, 
wie ich in meinem demnachst erscheinenden Aufsatz iiber alttesta- 
mentliche Hss. von S. Stefano nachweisen werde. aus einer Hs., 
welche sich damals in ebenjenem romischen Kloster befand, und aus 
derselben Hs. stammt auch das Zitat aus der Ascensio Isaiae in 
Petraeus’ lonas-Ausgabe S. 20. Auch die von Petraeus und Nissel 
heransgegebenen Texte der hleinen Propheten, des Buches Ruth 
und der vier ersten Kapitel der Genesis stammen , wie schon auf 
S. 277 if. zu Nr. 5, 6 und 8 bemerkt, aus Hss. von S. Stefano. 
2) Derselbe Gottinger Cod. Michael. 264 hat auf Bl. 77a folgende 
auf „J. L.‘‘ = lob Ludolf zuriickgehende Notiz: „Hic Theod. 
Pttieeus HoJfafus fuit Flenshurgenfis /'nyiitibus liegis Dmiiu’ in Orien- 
tnn profectus. inde rediix Eoniam vend, et cum Gregorio .Mtliiope fami- 
hardatein coluit, eoque priva ptore ufiis est, id ex adverfuriis ejus, qme 
mihi a Dn. D. Oliverio Dappero Amstelodamenfi rfo»jn^fe[so !] fuerunt, 

1) .Juncker S. 48 f. J. Flemming, Hiob Ludolf: Beitrage zur Assyriol. 1 
(18110), S. 542 f. 

2) Dieselbeu Exzeri)te stehen auch am Schlusse der Handschrift Halle a. d. 
Saale, TIniv.-Bibl., Ya. 3, einer Abschrift des Cod. Michael. 264. — Sonst vgl. 
noch Petraeus’ lonas-Ausgabe, wo er auf S. 13 „4. Efdr. c. 4; 15 17.“ zitiert. 

3) Vgl. oben S 279, 284 und uiiten S. 300. 



294 


Alfred Rah Ifs 


perfpexi: idq; accidit Anno 1556. mense Februario. Scripferat nomen 
f uimi : (DA^ : : Gregorius mens illius men- 

tionem fecit in Epistola. J. Hier finden sich allerdings zwei 

Versehen: a) als Jahr ist, wohl nur infolge eines Schreibfehlers 
von Michaelis, 1556 statt 1656 angegeben, b) Ludolf sagt irrtiim- 
lich, Petraens sei damals aaf der Riickreise vom Orient gewesen, 
wahrend er in Wirklichkeit erst auf der Hinreise war. Sonst abet 
macht die ganze Notiz einen so gaten Eindrnck und stimmt auch 
mit der Angabe Thomsens, daB Petraens im Febr. 1656 in Rom 
gewesen sei ^), so genau iiberein, daB sie als durchaus zuverlassig 
gelten darf. Die in ihr zitierten Adversaria des Petraens, welche 
Lndolf von dem Amsterdamer Olfert Dapper gescbenkt bekommen 
hatte, nnd der Brief des Abessiniers Gregor existieren iibrigens 
meines Wissens nicht mehr ®) ; sie werden bei dem groBen Anto- 
dafe, das Lndolfs Erben mit seinen Sammlnngen veranstalteten ^), 
nntergegangen sein. Dock ist die Stelle ans dem Briefe Gregors, 
anf welche Lndolf bier hinweist, vielleicht dieselbe, die er am 
Anfange seines Lexicon Aethiopico-Latinnm, ed. II (1699), anf der 
ersten Seite des „CataIogus librornm** anfiibrt; Gregor spricht 
dort (am 10. Nov. 1657) von „jenem Dentschen“, d. h., wie Lndolf 
selbst erklarend hinznfiigt, Theodor Petraens, nnd von den (Nissel- 
Petraeus’schen) Ausgaben der kathohschen Briefe, die derselbe nach 
Rom mitgebracht hatte. 

Tiber die weitere Reise haben wir Nachrichten von dem Dr. 
med. Joh. Christoph Moesler in dem „Teftimoninm“ fiir Petraens, 
welches dieser vor seinem 1663 in Leiden heransgegebenen Spe- 
cimen des koptischen Psalters®) hat abdmcken lassen®), nnd von 


1) Thomsen (s. oben S. 290); „i Febr. 1656 vides det, at l,au var i Rom“. 
Worauf diese Angabe beruht, sagt Thomsen nuLt. Audi vermochte er mir auf 
meine Anfrage seine Quelle nicht mehr zu nemien. Doch liiht sich aus der be- 
stimmten Art, wie er sich ausdruckt („man wei6“;, schliefien, daB er eine ihm 
als durchaus sicher erscheinende Quelle gehabt hat, Vielleicht geht seine An- 
gabe im letzten Grunde auf dieselbe Quelle zuruik, au.s der die Xotiz im Cod. 
Michael, geflossen ist. 

2) Uber Dapper (f 1690; s. A J. van der Aa , Biographisch Woordenboek 
der >iederlanden 4 (1856), S. 59. Vgl. auch unten S. 340. 

o) In den ion J. hlemming in den Beitragen zur Assyriologie 1 (1839), 
8.567 582 und 2 (1891, resp. 1894;, S. 63 — 110 herausgegebenen Briefen Gregors 
kommt Petraeus nicht vor. 

4) Siehe Juncker, vierte Seite der Vorrede, und Friedr. Chr. Matthiae, Xach- 
richt von Hiob Ludolfs noch vorhandenem Briefwechsel (Schulprogr. Frankf. a. M. 
1817), S, 7 Anm. 

5) (Kopt. Titel) j h. e. I PSALTERIUM DAVIDIS | ix ltxgu.v COPTICA feu 



Isissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Tj-pen. 295 


Werner Diss. Guelph. S. 4 — 8. Moesler sagt iiber Petraeus : „Qaippe 
qui non contentus ea, quam in celeberrima Batavorum Academia, 
aliisque eueop^ cultioris doctrinse Academiis avide hauferat, Lingua- 
rum Orientalium cognitione, ipfam quoque ttjeciam adiit, idque fub 
Aufpiciis . . . FRIDERICI TERTIl . . . : perque gr^ciam , steiam, 
PAL.a:sTiNAM . . . fpretis fumptuum impendiis, & . . . vitse periculis 
ac moleftiis, in ^gtptum tandem feliciter penetravit, ubi in ipfa 
ejus Regionis Meteopoli, orbe illo CRBina cayeo, & natioxom omnium 
OcEANO, dum uno vel altero anno fubfifteret, qnm feliciter in Eu- 
EOPA tractare inchoaverat, Orientalium Linguarum ftudia, ufus cu- 
jusque GENTis, cujus linguam callere ardebat, optimis Magisteis ad 
lummum perduxit perfectionis faftigium.^ Moesler nennt also Grie- 
chenland, Syrien, Paliistina und Agypten. Werner hat 
eine etwas andere Reihenfolge : Griechenland , Konstantinopel, 
Agypten, Jerusalem; doch stellt er Jerusalem wohl nur aus rhe- 
torischen Griinden an den SchluB, bezeichnet er selbst es doch S. 6 
als „itus ad Ortum complementum atque fummum & qusedam co- 
ronis“. Im ubrigen erganzt er Moeslers Darstellung in zwei Punkten: 
1) er nennt auch Konstantinopel und berichtet, daB Petraeus 
dort mit dem bekannten Orientalisten Levin Warner, ^Sereniffimce 
potmtisfimceq; Beipuhl. Belgarum federatornni ad Portam Ottoman- 
nicam Legato “ (S. 4), verkehrt hat, 2) er sagt S. 6, daB Petraeus 
^integrum biennium" in Kairo gewesen ist, vgl. Moeslers nicht 
ganz so deutliches „uno vel altero anno". 

tiberall trieb Petraeus orientalische Sprachstudien 
und bediente sich dabei, wie Moesler an der soeben angefuhrten 
Stelle sagt, der besten einheimischen Lehrer^). Auch suchte er 
auBer anderen Antiquitaten und Raritaten *) vor allem H a n d - 


^GYPTIACA, I una cum VERSIONE ARABICA; | Nunc primiim in LATINUM 
verj'um, et in \ lucem editum | a | M. THEODORO PETRiEO, Cimbeo, | Linguarum 
Orientalium Propagatore. | (Motto und Signet) | LUGDUNI BATAVOBUM, \ 
Sumptihvs Auctop.is. | do loc lxiii. 3 ungezahlte Blatter und 2 Seiten in d”. 
Ich benutzte das Exemplar des Marienstifts-Gymnasiums zu Stettin, das enthalten 
ist in dem Sammelbande „Muller [d. b. aus dem Machlasse Andreas Mullers, vgl. 
unten S. 337 Aum, 4] qu. 4“. 

6 ) Das „Teltimonium" ist datiert „LOXDIXI, 20 . Mart. 1662 “, vgl. unten 
S. 304 Anm 5. Moesler var, wie Andreas Muller in dem von mir benutzten 
Stettiner Exemplar (s. die vorige Anm) handschriftlich bemerkt hat, von Geburt 
ein „Stetinen/is I’omeranus^ . 

1) Vgl. auch die unten S. 299 anznfuhrende Stelle aus Petraeus’ Brief an 
Ludolf wo er von seinem Plane spricht, „«{ iter orientate denuo suscipiam, et 
me Praeceptoribus Asiaticis reforniandtim dem“. 

2) Enter den Raritaten war nach 'NVerner Diss. Guelph. S. 8 ein Stein vom 



296 


Alfred Rahlfs, 


schriften zu erwerben. Nach Nissel (s. oben S. 278) und Werner 
Brev. exp. S. 2 *) kaufte er dieselben besonders in Jerusalem und 
Agypten. Doch wurde, wie wir von Werner Diss. Gruelph. S. 71.^) 
erfahren, ein Teil derselben von den tiirkischen Zollaufsehern als 
nicbt-exportierbar zuriickbebalten. 

Unter den Handscbriften, welche Petraeus gliicklicb nach Eu- 
ropa beimbrachte, waren drei athiopische, die spater in den 
Besitz der Kgl. Bibl. zn Berlin iibergingen, namlich die oben S. 277. 
280. 284 erwahnten Hss. des Psalters and der Homilien und auBer- 
dem eine Hs. mit Zaubergebeten. Alle drei sind beschrieben von 
Ludolf bei lo. Diet. Winckler, KstiiirjXta Bibl. Reg. Berol. Aethio- 
pica descripta (1752), S. XXXIII — LXXIX, und von Dillm. Berl. 
unter Nr. 7, 66 und 73. Die Homilien-Hs. hat Petraeus nach Hot- 
tingers oben S. 281 zitierter Angabe in Jerusalem gefunden. 
Ebenso sagt Werner Diss. Guelph. S. 6, da6 Petraeus von den 
Abessiniern zu Jerusalem „AEthiopica fcripta“ gekauft babe „inter- 
que csetera Conc'mnim facrarum volinmn, qnarum nnam He Chnjio 
mto, reliquarum primitias in lucem jam . . . praemifit". Dies ist 
zweifellos richtig, ja es laBt sich sogar feststellen, in welchem 
jerusalemischen Gebaude die Homilien-Hs. gewesen ist. Auf dem 
Vorsetzblatte am Schlusse derselben ist namlich nach Dillm. Berl. 
S. 57 (vgl. auch Winckler S. LX) ein Verzeichnis der Bucher von 
„Gethsemane“ hinzugefiigt; das ist aber, wie mich H. Duensing 
belehrte, die heutige Kirche Keniset Sitti Marjam im Kidrontale, 
deren westlichen Querflugel die Abessinier innehatten ®). In diesem 
Verzeichnis erscheint nun auch der „Liber Homiliarum“ selbst; 
dazu bemerkt Ludolf bei Winckler S. LX treffend: „Hinc videmus, 
ubi Theodoras Petraeus eum acceperit“ *). IJbrigens berichten auch 

Hugel Golgotha, welchen Petraeus nach Pilgersitte eigenhaudig losgerissen hatte : 
,, Montis Golgothani . . . particulam propria revull'ani manu, de more, Ille [d. h. 
Petraeus] attulit, quam ad lapidis calearii albicantis fimilitudinem quiim proxiine 
accedere offendi,*' Auch auf der geplaoten zweiten Orientreise wollte Petraeus 
laut dem in der vorigen Anm. angefuhrten Briefe ^alias res, vetustate ac raritate 
notahiles^ sammeln. 

1) „MSCRA rarisfima, I'acra, profana, linguarum diverl’arum , quae Ipfemet 
Hierojolymis in Chrijli conditorio et Alexandreice 3Iemphiq; f. Cairi Aeyyptiorwn 
et in Oviente aiibi, MAGNO CVM DISCRTMIAE AC SVMTIBVS conquifivit, 
indeq; ad Europaios apportavit“, Vgl, auch den unten S. 313 Anm. 3 angefuhrten 
Xitel von Werners Mensa solis. 

2) Petraeus brachte viele Hss, heim, „utut magna ipii & inlignis Seriptorum 
pars ad telonea a Turcis infpectoribus, non-exportandorum titulo, adempta jam ellet“. 

3) Vgl. auch Duensing in der Zeitschr. d. Deutschen Palastina-Vereins 33 
(1916), S. 107. 

4) Es ist also nicht ganz genau, wenn Werner, Mensa solis (den ausfuhr- 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben and Typen. 297 

athiopische Notizen auf dem Vorsetzblatt am Anfange der Hs. iiber 
die Stiftmag derselben nach Jerusalem, s. Dillm. Berl. S. 57. Von 
den Abessiniern in Jerusalem stammen aber wohl auch die beiden 
anderen athiopischen Hss. des Petraeus. Hottinger und Werner 
nennen sie zwar nicht ausdriicklich, aber Werner spricht, wie wir 
sahen, von ,,AEthiopica fcripta" in der Mehrzahl; und auch die 
Hss. selbst weisen auf Jerusalem hin. Denn aus der Datiemng 
der beiden Kaufurkunden im Psalter nach selencidischer Ara ist 
gewifi mit Dillm. Berl. S. 5 zu schlieBen, daB die Verkaufer und 
Kaufer Palastinapilger waren. Und am Schlnsse der Hs. mit den 
Zaubergebeten findet sich ein Empfehlungsbrief fiir zwei abessini- 
sche Jerusalempilger, die von Jerusalem aus auch die Stadt Rom 
besuchen wollten, s. Dillm. Berl. S. 67. So sehen wir, daB Pe- 
traeus, wie in Rom, so auch in Jerusalem die dort wohnenden 
Abessinier aufgesucht hat und zu ihnen in engere Beziehungen 
getreten ist. 

Im Jahre 1659 kehrte Petraeus aus dem Orient zuriick und 
zwar Tiber England, wo er sich eine Zeitlang in London aufge- 
halten haben muB. Fiir diese sowohl MoUer als Thomsen unbe- 
kannte Tatsache haben wir folgende Zengnisse : 1) Hottinger sagt 

an der oben S. 281 schon einmal zitierten SteUe seines Disserta- 
tionum theologico-philologicarum fasciculus S. 189 : „Ipfo hoc tem- 
pore, quo haec de Tranflationibus .®gyptiacis nos occupat cura, 
fpecimen . . . Theodorus Petrcens . . . Pfalterii Cc^tici, cujus Edi- 
tionem integram cum verlione Arabica & Latina in AngUa jam 
meditator, communicavit“ und druckt darauf die ersten anderthalb 
Verse des ersten Psalms in koptischem Text (mit griechischen 
Buchstaben), lateinischer Transkription (nach der damals bei den 
Kopten iiblichea Aussprache) und lateinischer Ubersetzung ab. Die 
Widmungsepistel des Hottingerschen Werkes ist vom 5. April 1660 
datiert, die angefiihrte Stelle, da das ganze Werk 387 Seiten zahlt, 
wahrscheinlich schon im Jahre 1659 gedruckt. 2) Nach Chr. Scholtz, 
Grammatica Aegyptiaca utriusque dialecti ... ed. C. G. Woide 
(Oxon. 1778), S. 3 hat Petraeus 1659 in London den ersten Psalm 
koptisch, arabisch und lateinisch veroffentlicht, offenbar als Speci- 
men der von ihm geplanten Ausgabe des ganzen Psalters in diesen 
drei Sprachen. Ein Exemplar dieses Londoner Specimens von 1659 

lichen Xitel s. unten S. 313 Anm. 3) S. 3 von der Homilien-Hs. sagt, Petraeus 
habe sie „e CHRISTI iepulcbro'' mitgebracht. Aber Werner ist ebenda auch 
darin ungenau, daB er die 25 Homilien, von welchen Petraeus selbst spricht (s. 
oben S. 280), kurzerhand verdoppelt und 50 daraus macht („HOMILIA DE 
NATO CHRISTO, Quinquaginta concionum . . . PRIMA“). 

Kgl. Oes, d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 2. 


20 



298 


Alfred Rahlfs, 


habe ich vergeblich gesncht *) ; nur ein abnliches Specimen, welches 
gleichfalls den ersten Psalm koptisch, arabisch and lateinisch ent- 
halt, aber in Leiden 1663 gedrnckt ist, habe ich zu Gesicht be- 
kommen ®). Da nun dieses Leidener Specimen sich als Erstausgabe 
bezeichnet („Nunc primum in LA.TINUM verfmi, et in lucem editum^), 
konnte man an ein Versehen von Scholtz-Woide denken. Aber ein 
solches liegt trotzdem nicht vor. Denn a) Scholtz-Woide geben 
eine genaue Beschreibnng des Dmckes : „in dimidia plagnla 1659, 
Londini, tjrpis vnlgato" ; zu „typis“ wird am Rande bemerkt „Tho- 
mae Roycroft“, der Druck war also in jener grofien Londoner 
Firma hergestellt, die um dieselbe Zeit z. B. auch den Druck der 
Londoner Polyglotte (1657) und der ersten Ausgabe von Ludolfs 
athiopischer Grammatik und Lexikon (1661) besorgte; b) Woide 
gibt an einer anderen Stelle, im Journal des Scavans, Tome 74 
(Amsterd. 1774), S. 32lf. ®) an, daB ein Exemplar des Londoner 
Specimens sich in der Bibliothek des Sion College zu London be- 
findet ; c) Scholtz-W oide geben an, da6 dem koptischen Texte — 
ebenso wie bei Hottinger — eine lateinische Transkription nach 
der damals bei den Kopten ublichen Aussprache beigegeben war, 
und drucken auch den ganzen ersten Psalm in koptischem Texte 
und dieser lateinischen Transkription ab *) ; eine solehe Transkrip- 
tion findet sich aber in dem Leidener Specimen von 1663 nicht, 
folglich kann es nicht mit dem Londoner Specimen von 1659 iden- 
tisch sein®). 3) Auch das oben S. 280 besprochene Druckmanuskript 

1) Auch das Auskunftsbureau der deutschen Bibliotheken zu Berlin ver- 
mochte kein Exemplar aufzufinden. 

2) Siehe den Titel dieses Leidener Specimens oben S. 294 Anm. 5. Audi 
MoUer S. 492 kennt nur das Leidener Specimen. 

3) Diese Stelle ist mir bekannt geworden durch das Zitat aus Quatremere 
bei M. G. Schwartze, Psalterium in dialectum Copticae linguae Memphiticam trans- 
latum (1843), S. XXVI Anm. Die ganze Stelle lautet : „I1 [namlich Th. Petraeus] 
avoit appris m^me la prononciation moderne des Cophtes, et il a fait imprimer 
a Londres sur une feuille le premier Pseaume en Cophte, en y ajoutant en ca- 
racteres Latins cette prononciation. On trouve cette feuiUe, qui est tres rare a 
la Bibliotheque du College de Sion ii Londres. Sur une autre feuille que’la 
Croze avoit trouvee parmi ses papiers, et dont j’ai une copie, il avoit aussi ecrit 
en lettres Latmes la prononciation du Cantique de la Sainte Vierge selon I’usage 
moderne des Cophtes, qui approche beaucoup de la prononciation Arabe, et que 
je ne voudrois pas imiter.“ 

4) Hottinger und Scholtz-Woide stimmen nicht in aUen Einzelheiten der 
Transkription uberein. Es ist also mbglich, daB Hottinger von Petraeus nicht 
das gedruckte, sondern ein handschriftliches Specimen bekommen hat. 

5) Die Bezeichnung des Leidener Specimens als Erstausgabe ist also un- 
genau. Aber der Titel dieses Specimens ist uberhaupt ungenau. Er ist schon 



Kissel und Petraeus, ihre atbiopischen Textausgaben and Typen. 299 


der „Homilia Aethiopica de Nativitate Domini nostri Jesu Christi* 
tragt die Orts- nnd Zeitangabe „Londini typis .... 1659“ ^). Also 
hat Petraeus auch dieses Manuskript 1669 in London ausgearbeitet 
und damals offenbar auch die Absicht gehabt, es gleichfalls in 
London drucken zu lassen. 

Was wir soeben iiber Petraeus’ Tatigkeit in England erfahren 
haben, zeigt uns, dafi er sich sofort nach seiner Riickkehr aus dem 
Orient an die Veroffentlichung der mitgebrachten hand- 
schrif tlichen Schatze machte, und diese blieb auch in der 
Eolgezeit, wie wir sehen werden, das Hauptziel seines Strebens. 
Er woUte die Schatze, die er gehoben und gliicklich heimgebracht 
hatte, nun auch der Allgemeinheit mitteilen, um dadurch seine 
Reise wahrhaft fruchtbar zu machen. Denn „omnis peregrinationis 
finis“, sagt er in der oben S. 276 angefiihrten SteUe ans der Wid- 
mnngsepistel seiner lonas-Ausgabe, „ad nfum aliquem fpectat, fine 
quo ingratus elt omnis labor & opera, qutecunque in illam impen- 
ditur". Zugleich allerdings ging er in ebenjener Zeit auch mit 
dem Plane um, spater noch eine zweite Orientreise zu unternehmen, 
von der er noch groBere Kenntnisse der orientalischen Sprachen 
und noch mehr Handschriften und Altertiimer heimznbringen hofFte. 
Wir erfahren dies aus einer AuBerung des Petraeus am Schlusse 
eines „Index avsxSdtcav suorum“, den er am 6. Jan. 1660, wahr- 
scheinlich noch von England aus, an Hiob Ludolf geschickt hat. 
Das Original dieses Schriftstucks scheint leider, wie so vieles an- 
dere aus Ludolfs Nachlafi®), verloren zu seinj wenigstens findet 
sich nach Matthiae S. 8 — 11 in dem Frankfurter Briefwechsel 
Ludolfs kein Brief von Petraeus. Aber Ludolf hat dies Schrift- 
stiick MoUer mitgeteilt, und dieser hat es nicht nur benutzt (S. 490. 
493), sondem daraus auch die SteUe abgedruckt, an der Petraeus 
von seinem Plane einer zweiten Orientreise spricht. Sie lautet 
(Moller S. 490) : „Hoc utilissinio labore ad umbiliciini perducto, in hoc 
a me elaborabitur, turn, nt iter orientale deniio suscipiam, et me Prae- 
ceptoribus Asiaticis reformandum dem, turn id MSSta rariora, cm the- 
sauros reconditae doctrinae, comparem, et alias res, vetustate ac rari- 
tnte notabiles, studiose perquiram, mecwmque in Europam Ovv ■S'ara re- 
portem'^. — Hieran seien gleich einige Bemerkungen iiber Pe- 
traeus’ Verhiiltnis zu Ludolf angekniipft. In dem bereits 


so formuliert, als lage hier eine Ausgabe des g a n z e n Psalters vor, und auf eine 
solcbe wurde allerdings die Bezeichnung als Erstausgabe passen. 

1) Der Kame des Druckers ist als zweifelhaft noch nicht hinzugefiigt. 

2) Siehe ohen S. 294 Anm. 4. 


20 * 



300 


Alfred Bablfs, 


ofter zitierten Cod. Michael. 264 der Gottinger Univ.-Bibl. linden 
sich anf der letzten Seite der Nissel-Petraens’schen Ansgabe des 
Jadasbriefes zwei anf „t/. i.“ = lob Lndolf znriickgehende Rand- 
noten. Die erste steht bei Z. 6, wo Nissel nnd Petraens liber das 
in Vers 13 vorkommende Verbnm Z.Adi: bemerken: „non occnr- 
rit in Lex. noftro .Ethiopico", nnd lantet folgendermaBen : „Hoc 
est meum Lexicon quod Ao 1649. commodato a me accepit. J.L.'^ Die 
andere steht einige Zeilen tiefer, wo Nissel nnd Petraens den 
Wnnsch anssprechen, falls sie jenes Wort falsch anfgefeifit haben 
soUten, von einem Kundigeren belehrt zu werden („Sin minus, de 
ufn hnjns vocis a peritiori informari cnpunns“), nnd lantet; „Cur 
me non confuluit, utiq; potuisfem ilium informare. tandem tn. [= ta- 
men] didicit Petrceus quid esfet, in notis fuis ad Jonani in fine, vide 
s [== supra] lonam pag. 16.“ (Lndolf zitiert hier Petraens’ Aus- 
gabe des lonas S. 16, wo Petraens das fragHche Verbnm nnter 
Heranziehnng jener Stelle des Jndasbriefes richtig erklart). Lu- 
dolf, der hier iiberall den Singular gebrancht („accepit“, „confuluit“, 
„illum“), meint von den beiden Heransgebem gewifi den Petraens, 
den er ja zum Schluh anch ansdriicklich nennt. Er war also schon 
1649 mit Petraens bebannt nnd hatte ihm sein damals noch hand- 
schriftliches athiopisches Lexikon geliehen^). Und Petraens er- 
kannte 1654 willig Lndolfs Uberlegenheit an; denn da6 er mit 
dem ^peritior" in der Tat Lndolf gemeint hat, daran kann wohl 
kein Zweifel sein. Hieraus erklart sich nun anch leicht, dafi Pe- 
traeus bald nach seiner Riickkehr nach Enropa Lndolf liber die 
Ergebnisse seiner Orientreise Bericht erstattet hat. Ein intimeres 
Verhaltnis hat sich aber zwischen ihnen nicht gebildet, vielmehr 
hat sich Lndolf spater in einem Briefe an Moller vom 27. Febr. 
1692 bitter liber Petraens’ ^invidia* beklagt: ^Theod. Petraeum 
fateor in omni literatura Orientali egregie versatiun fuisse. Sed insigni 
lahoraiit invidia, quani multi in eo culparunt., et ego ipse expevtus sum. 
Cum enim in consoibendo Lexica meo Aetktopico occupatiis essem, ali- 
quoties literas ad eiim dedi, quas recte redditas fuisse novi, sed nun- 
quam ne verbulum quidem I'espondit^ veritus, 7 ie forte alius laudem 
instauratae linguae Aetliiopicae sibi praeriperet“ (Moller S. 491). 

Von London kehrte Petraens im Jahre 1660 nach Leiden 
znriick nnd lied sich dort am 23. Marz 1660 wieder immatriku- 

1) Vgl. oben S. 279. 2S4. 293. 

2) liber die allmahliche Ausarbeitung dieses Lexikons, mit der Ludolf schon 
1644 im Alter von 20 Jahren begann, s. Juncker S, 20f. 33. 38. 53. 80 und Flem- 
ming in den Beitragen zur Assyriologie 1 (1890), S. 539. 544. 546, sowie auch 
Ludolfs Vorrede zur ersten Ausgabe des Lexikons (Lond. 1661). 



Nissel und Petraeiis, ihre athiopischen Textansgaben und Typen. 301 


lieren (s. oben S, 291). Bald darauf folgte die erste Ausgabe eines 
athiopischen Textes, den Petraens von seiner Reise mitgebracht 
hatte, namlich des in Rom anfgefundenen nnd kopierten lonas 
{nebst Gen. 1 — 4), dessen Widmungsepistel vom 14. Mai 1660 da- 
tiert ist (s. oben S. 277). Und diesem schlossen sich dann die 
hbrigen fiinf athiopischen Texte, zum Teil von Nissel heransge- 
geben, in schneller Folge an, drei noch in demselben Jahre 1660, 
die beiden anderen im folgenden Jahre. 

Aber lange blieb Petraens diesmal nicht in Leiden, sondern 
ging bald zum zweiten Male nach London. Moller S. 490 sagt : 
„Leida in Angliam digressus noster, Londini A. 1660. et sequent! 
haesit biennio". Dies wird jedoch nicht richtig sein; denn da Pe- 
traeus die beiden letzten athiopischen Texte erst 1661 in Leiden 
herausgegeben hat, wird er selbst auch mindestens noch zu Anfang 
dieses Jahres in Leiden gewesen sein. Gegen MoUers Darstellung 
spricht iiberdies der Umstand, da6 er nnr von einem einzigen 
Aufenthalte des Petraens in London wei6, wahrend Petraens sicher 
zweimal in London gewesen ist. Der zweite Aufenthalt mujB aber 
schon bald nach der Herausgabe der letzten athiopischen Texte 
begonnen haben. Denn noch im Jahre 1661 nnd, wie wir sehen 
werden, wohl noch im Sommer dieses Jahres hatte Petraens in 
London ein nnangenehmes Renkontre mit Lndolfs Schiiler Wans- 
leben. Lndolf berichtet dariiber bei Moller S. 491 : ^Oum ali- 
quando accidisset, ut nonntdla ejus MSSta Aethiopica, Londini furto 
ablata, in manus Joh. Mich. Wanslebii, clientis quondam mei, qui turn 
correctionem typographicam Lexici mei curabatj incidissent, atque ille 
nonnuUa ex eis describeret, id resciens Petraeus tarn aegre tulit, ut 
libros illos e manibus Wanslebii vi eriperet, ut a verbis ad verbera 
pene prolapsi fuissent, et Wanslebii scripta manca atque mutila ma- 
nerent‘^. Ein anderer, znm Teil noch genauerer Bericht, der gleich- 
falls anf Lndolf znriickgeht, findet sich in dem Cod. Michael. 265 
der Gottinger Univ.-Bibl. Dieser Codex enthalt vor allem eine 
von Christian Benedikt Michaelis angefertigte Abschrift der oben 
S. 280. 296 f. besprochenen Homilien-Hs. des Petraeus , die jedoch 
nicht direkt ans dieser Hs., sondem ans einer im Besitze Lndolfs 
befindlichen Abschrift genommen ist. Dieser Lndolfschen Abschrift 
aber hatte Lndolf eine „Historia huius Manufcripti‘‘ voransgeschickt, 
welche Michaelis anf Bl. 2a mit abgeschrieben hat. Darin erzahlt 
Lndolf dieselbe Geschichte folgendermaBen ; „Theodorus Petraeus, 
Holfatus Flensburgen/is, Regis Daniae Friderici III. fumtibus in 
Orientem profectus varios libros Mamiss.*^, et inter eos etiatn nonnul- 
los Aethiopicos fecum attulerat. Cum autem in Anglia A." 1661. de- 



Alfred Rahlfs, 


302 

geret, miles quidam, effracto eiiis cubiculo, libros quosdam furatus fu- 
erat, eosq; JBibliopego cuidam vendiderat; ab eo redemerat illos Dn. A. 
Murray studiofus Orientaliuni lingiiarum, atq; Wanslebio, tunc temporis 
tneo, kune ipfum librum [d. h. die Homilien-Hs.] commodnuerat. Is 
deferibere coepit Vitas aliquot Sanctorum non ordine, fed prout ipfi 
notabiles vifcB fiierant, cum autem in Vita Samuelis, qua; hie [d. h. in 
Wanslebens Abschrift] fecunda, alias [d.h. in der Hs. selbst, vgl. 
die oben S. 280 zitierten Beschreibnngen der Hs.] fertia ordine fu- 
erat, deferibenda e/fet, fuperuenit Fetnms, et librum fuum repetens, 
cum impetu e manibus Wanslehij eripuit, ita it hiftoria ilia imperfecta 
numferit, ut videre eft p. % Der Bericht bei Moller stammt 
vom 27. Febr. 1692, der im Cod. Michael, wahrscheinlich gleich- 
falls ans dem Jahre 1692, denn Lndolf berichtet bier weiter, da6 
er die Originalbs. ans Berlin, wohin sie die Witwe des Petraens 
verkanft hatte, im Dez. 1691 geliehen bekommen nnd Wanslebens 
Abschrift ans ihr erganzt babe. Folglieh sind die beiden Bericbte 
von dem Ereignisse selbst dnreh gut 30 Jahre getrennt. Trotz- 
dem halte ich sie fiir dnrehans znverlassig, da es sich nm ein recht 
eigenartiges, leicht im Gedachtnisse haftendes Vorkommnis handelt. 
Auch werden sie dadnrch bestatigt, dafi Wansleben am Schlosse 
seiner Vorbemerknng zu Lndolfs athiopischem Lexikon, dessen 
Herausgabe er 1661 in London besorgte, nnter den Hss., die er 
fiir die von ihm selbst hinzngefiigte Appendix, benutzt bat, den 
y, Liber Homiliarum SS. Fatrum quorundani, in Folio, ab amico quo- 
dam mihi commnnicatum [so!]“ anfiihrt. Sonst ist bier noch zn 
bemerken, daB der Brack des Lexikons nach der athiopischen 
SchloBnotiz am 20. Sept. 1661 voUendet ist. Folglieh wtirde das 
Renkontre, wenn es, wie nach Lndolfs Bericht bei Moller anzu- 
nehmen ist, vsrahrend des Druckes stattgefunden hat, in die Zeit 
vor dem 20. Sept, zu setzen sein. 

Den Grand dieses zweiten Londoner Aufenthaltes haben wir 
gewiB vor allem darin zu suchen, daB Petraens, nachdem er meh- 
rere athiopische Texte herausgegeben hatte, nunmehr anch mit der 
Veroffentlichung seiner koptischen Texte, die er ja schon bei 
seinem ersten Londoner Aufenthalt ins Auge gefafit hatte (s. oben 
S. 297 f.), zn beginnen wiinschte. Anf einen solchen Plan weist Nissel 
schon 1660 in der oben S. 278 zitierten Stelle hin: „Sed hactenus 
pro noftra ingenii tenuitate in abditis Abaffinomm caftris verfati, 
nunc iis relictis, ne hifee folis vobis nanfeam, & faftidinm pariamns, 
ad amseniffima .^gyptiorum Perfarumq; vireta ex fpatiari vifnm 
eft“ etc. Und dieser Plan ist um so begreiflicher, als gerade kop- 


NB : Die Anmerkung s. auf S. 304. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 303 

tische Texte bis dahin iiberhaupt noch nicht herausgegeben waren, 
vgl. L. Stern, Kept. Grramm. (1880), S. VII f. Koptische Typen 
aber gab es in Leiden nicbt, nnd Petraens konnte ancb nicht dar- 
anf rechnen, dab etwa Nissel, der durch seine Drnckerei ohnehin 
in Schnlden geraten war (s. oben S. 289 f.), oder die Firma Elsevier, 
welche ihren Betrieb gerade damals immer rnehr einschrankte *) 
nnd so gut wie nichts Orientalisches mehr drnckte, sich eigens fiir 
Petraeus koptische Typen anschaffen sollten. Weit eher konnte 
sich in der Tat eine Gelegenheit zum Drucke koptischer Texte in 
England bieten, wo Manner wie Walton, der knrz znvor die Lon- 
doner Polyglotte herausgegeben hatte, und Edmund CasteU, der 
gerade damals sein Lexicon heptaglotton ausarbeitete, sich aufs 
lebhafteste fiir alle orientalischen Bibeliibersetzungen interessierten, 
und wo wenigstens einige Jahre spater auch schon koptische Typen 
vorhanden waren®). So sehen wir denn auch, dab Petraeus sich 
gerade an diese und andere englische Gelehrte mit der Bitte um 
Forderung seines Planes gewandt hat. Vor seinem zweiten Spe- 
cimen des koptisch-arabischen Psalters (s. oben S. 294 Anm. 5) findet 
sich folgende „Approbatio“ : 

NOS quorum fubfcripta font nomina teftamnr , nos vidiffe 
PSALTERIUM COPTO-ARABICUM , in lingnam Latinam a 
Clar. Doctiffimoque Viro Dn. THEODORO PETR.EO accura- 
tilTime transfufum, una cum LEXICO Coptico ab eodem Dn. 
Th. Petr^o limate admodiun, & quam correctiffime in idem 
Pfalterium conciimato ; Utrumque Opus fummo elaboratum ftn- 
dio judicioque, digniffimum nobis videtur, quod in utiUtatem 
Coptitarum, & in gratiam eomm, qui vel peregrinis delectantur 
linguis, vel variarum SS*® Scriptorae Verfionum collatione (ex 
qua ipfi exoritur Lux fumma, certiffimaque) prelo committa- 
tur, & quamprimum publica fruatur luce. 

BRIANUS WALTHONUS, 
Episcopus Cestrieksis. 

LONDINI, & OXONII, I S A A C U S B A S I R I U S, ss. ih. n. 
i 6 . Febr. & 4 . Mart. Archidiaconus Northumbriae. 

1662 . THOMAS BARLOVIUS, ss. rh. n. 

& Colleg. Reginae Praepofitus. 
EDWARDUS POCOCK. Lingg. Hebr. 

& Arab, in Acad. Oxonienfi Profeffor. 
EDMUNDUS CASTELLUS, 

ss. ih. D. 

THEODORUS HAAK.*) 


KB: Die Anmerkimgen s. auf S. 304. 



304 


Alfred Rahlfs 


Auf diese „Approbatio“ vom 16. Febr. und 4. Marz 1662 folgen 
ebenda unter Nr. „II.“ das oben S. 294 erwahnte „Teftimomum“ 
Moeslers, datiert ^LONDINI, 20 . Mart. 1662 .“, und unter Nr. ;,IV.“ 
ein Gedicht von M. Johannes Megalinus, datiert „LONDINI, die 
Parafcev. Pafchat. 1662 .“ Da Petraeus diese Zeugnisse doch wohl 
personlich von den betreffenden Gelehrten erbeten und erhalten 
hat, wird er mindestens bis Ende Marz 1662 in London geblieben 
sein“). Seinen Hauptzweck aber hat er nicht erreicht: zn einem 
Drucke des laut der „Approbatio“ von ihm ins Lateinische tiber- 
setzten und mit einem koptischen Lexikon versehenen koptisch- 
arabischen Psalters kam es nicht. 

Zu Ende des Jahres 1662 finden wir Petraeus wieder in Leiden. 
Den Nachruf auf Nissel vor dessen Ausgabe der hebraischen Bibel 
(s. oben S. 288 Anm. 2 und S. 290 Anm. 2) datiert er „Lugd. Batavo- 
mm, 26 . Decemb. 1662 .“ Und in Leiden hat er dann 1663 auch das 


NB : Anm. 1 gehiirt zu S. 302, Anm. 2—4 zu S. 303, Anm. 5 zu S. 304. 

1) In dem von Ludolf selbst geschriebenen Original stand bier ofifenbar die 
Seitenzahl von Wanslebens unvollstandig gebliebener, aber spater von Ludolf, wie 
dieser im folgenden und auch bei Moller S. 491 berichtet, nach der Hs. erganzter 
Absehrift. Michaelis hat diese Seitenzahl fortgelassen, da sie fur seine Abschrift 
nicht paBte, und spater auch nicht die entsprechende Seitenzahl seiner eigenen 
Abschrift eingesetzt. 

2) So schon unter Joh. Elsevier, der am 8. Juni 1661 starb, und erst recht 
unter seiner Witwe und seinem Sohne, s. WUlems S. CXCVlIIff. 

3) Reed S. 70; „In 1667 Dr. Fell presented Coptic matrices to Oxford“. 
Proben dieser noch lange gebrauchten Typen s. ebenda S. 147. 

4) Zu dem letzten Namen hat Andreas MiiUer, der erste Besitzer des von 
mir benutzten Stettiner Exemplars (s. oben S. 294 Anm. 5) handschrifthlch „G-er- 
manus^ hinzugeftigt. 

5) Nach echt englischer Datierungsweise wiirden allerdings der 16. Febr., 
4. und 20. Marz 1662 in unser Jahr 1663 fallen, da England damals noch den 
Jahresanfang am 26. Marz hatte (F. K. Ginzel, Handbuch der math. u. techn. 
Chronologic III [1914], S. 163. 275). An sich ware das nicht unmoglich, da das 
Werkchen des Petraeus, in welchem diese Dokumente abgedruckt sind, auch erst 
1663 erschienen ist. Aber wahrscheinlich ist es nicht. Benn das vom Earfreitag 
1662 datierte Gedicht des Megalinus stammt zweifellos aus nnserm Jahre 1662, 
da Ostem (nach julianischem Kalender) 1662 auf den 30. Marz, 1663 auf den 
19. April (Ginzel a. a. 0., S. 417), also Karfreitag beidemal auch nach englischer 
Rechnung in das Jahr 1662 resp. 1663 fiel; mithin wurde das Gedicht bei An- 
nahme englischer Datierungsweise fast ein Jahr vor den iibrigen Dokumenten ent- 
standen sein, wahrend es bei der Annahme gewohnlicher Datierungsweise in den- 
selben Monat wie jene gehort. Petraeus wird beim Abdruck der Dokumente in 
seinem ja nicht in England gedruckten Werkchen die gewohnliche Datierungs- 
weise hergestellt haben. 



Kissel und Petraeus, ihre athiopischen Textaasgaben und Typen. 305 

zweite Specimen seines koptisch-arabischen Psalters (s. 
oben S. 294 Anm. 5) auf eigene Kosten („Sumptibus Auctoris") 
dmcken lassen, wobei er den koptischen Text in Ermangelung 
koptischer Typen mit griechischen Buchstaben wiedergab (SchloB 
des Werkchens : „DEFECTU COPTICORUM CHARACTERIBUS 
GR^CIS USI SUMUS.“). Der Druck dieses zweiten Specimens 
nnd der Abdmck der Empfehlungen der engUschen Gelehrten zu 
Eingang desselben beweisen, dab Petraeus die Hoffnnng, eine Ge- 
legenheit znr Herausgabe des ganzen Psalters zn finden, noch nicht 
aufgegeben hatte. Und nicht nur den Psalter, sondem anch an- 
dere koptische Bibeltexte bereitete Petraeus zu jener Zeit 
fiir den Druck vor ; davon legen die spater in den Besitz der Kgl, 
Bibl. zn Berlin iibergegangenen Abschriften Zengnis ab, welche 
Petraeus damals, offenbar znm Zweck der Herausgabe, hergestellt 
hat, z. B. das „Evangelium Lucae Aegyptiace seu Coptice e vetust. 
Msto. Copt, erntnm opera et stud. Theodor. Petraei Lugd. Batav. 
1662.“, s. M. G. Schwartze, Psalterium in dialectum Copticae lin- 
guae Memphiticam translatum (1843) , S. V f. Anch eine andere 
Arbeit beschaftigte ihn zu gleicher Zeit, namlich die Herausgabe 
eines persischen Werkes, von dem er gleichfalls 1663 und 
zwar zu Anfang des Jahres — die Vorrede ist vom 12. Febr. da- 
tiert — in Leiden auf eigene Kosten ein Specimen unter folgendem 
Titel verofifentlichte : „(Arab. Titel.) | CLAVIS | LINGU.® | ARA - 
BIC.^, PERSICiE I & TURCICA: | SIVE \ Breve LEXICON 
Dictionum ARABI-jCARUM, a PERSIS ufurpatarum, facta Vo-| 
cabulorum TURCICORUM | acceffione ; | Nunc primuni in Latimirn 
verf urn, et publicatum | d | M. THEODORO PETR. 1 EO, Cimbko, ( Lin- 
gnarum OrientaUum Propagatore. | (Turk. Titel und Signet.) | L UG- 
BIJNI BATAVORUM, | Sumptibus Auctoris. | do loc Lxm.“ 8 Sei- 
ten in 4®^). Ein Erfolg war jedoch alien diesen Arbeiten nicht 
beschieden : Petraeus selbst konnte offenbar den Druck so umfang- 
reicher Werke nicht aus eigenen Mitteln bestreiten, und ein Ver- 
leger oder Gonner, der die Kosten ubernommen hatte, fand sich nicht. 

Aus dem folgenden Jahre 1664 ist uns Petraeus’ dritte Imma- 
trikulation in Leiden am 10. Juni bekannt, s. oben S. 291. Diese 
nochmalige Immatrikulation erklart sich daraus, dafi Petraeus bei 
seinem Fortgang nach London im Jahre 1661 znm zweiten Male 
exmatrikuliert worden war. Weshalb er aber erst im Juni 1664, 


1) Auch dieses Specimen findet sich, wie das zweite Specimen des koptischen 
Psalters, in dem Sammelbande „Muller qu. 4“ des Marienstifts- Gymnasiums zu 
Stettin, Tgl. oben S. 294 Anm. 5. 



306 


Alfred Bahlfs 


mindestens IV'a Jahre nach seiner Riickkehr ans London, anfs nene 
• — honoris ergo, s. S. 291 — immatriknliert wurde, wissen wir nicht. 

Aber lange blieb Petraens dann nicht mehr in Leiden, sondern 
siedelte bald nach Amsterdam iiber. MoUer S. 492 berichtet 
anf die Aussage Martin Murrays *) hin , da6 Petraens die erste 
Ausgabe der vollstandigen armenischen Bibel, welche Oskan 1666 
in Amsterdam veroffentlichte, dnrch die Presse gefiihrt habe („Pe- 
traenm Biblia haec in Tjrpographeo emendasse, et editionis Ulomm 
curam gessisse“). Wenn diese Angabe richtig ist, miiBte Petraens 
1665 oder gar schon 1664 nach Amsterdam gekommen sein. Wie 
dem aber anch sein moge, sicher hat Petraens in engen Beziehnngen 
zn den Amsterdamer Armeniern gestanden nnd ist wahrschein- 
lich gerade nm ihretwillen nach Amsterdam ubergesiedelt. Den 
Oskan selbst nennt er allerdings, so viel ich weiB, nirgends; aber 
da6 er ihm doch nahegestanden haben mu6, schlieBe ich ans der 
von Le Long-Masch S. 174 angefiihrten lateinischen Widmnngs- 
epistel, mit der Oskan im Jahre 1669 ein Exemplar jener Bibel 
dem Konige Lndwig XIV. iiberreicht hat. Denn diese stammt, 
wenn nicht aUes triigt, ans der Feder des Petraens, wie folgende 
Znsammenstellnng zeigt : 


Widmungsepistel 
des Petraeus 

au Friedrich III. von Dane- 
mark vom Jahre 1664 
( s. oben S. 272) ; 

Sistit sese, Rex Sere- 
nissime, Domine Cle- 
mentissime , aspectni 
Tno 

longe angnstissimo 
specimen Arabicnm 
et Aethiopicnm , ab 
orbe literato hactenns 
din mnltnmque desi- 
deratum, etc. 


Widmungsepistel 
des Petraeus 

an den GroBen Kurfiirsten 
in der „Doctrina“ vom 
Jahre 1667 (s. untenS. 310): 

Sistit sese, Serenissi- 
me Elector, Gloriosis- 
sime Heros, aspectni 
Tno 

longe splendidissimo 
haec Doctrina Chri- 
stiana Armenica , ab 
Orbe literato 
din mnltnmque desi- 
derata, etc. 


Widmungsepistel 

Oskans 

an Ludwig XIV. 
vom Jahre 1663 
(nach Le Long - Masch) : 

Sistnnt sese, Serenis- 
sime Rex, 

adspectui 
tuae Regiae Majestatis 
longe splendidissimo 
sacra haec Bi- 
blia Armenica, a 
natione nostra 
din mnltnmque desi- 
derata ac expetita, etc. 


Noch naher aber hat Petraeus offenbar einem anderen damals in 
Amsterdam lebenden Armenier gestanden, dem Priester „Dn. Ga- 
rabied Wartabied" *), welchen er 1667 in der Vorrede der 


1) Vgl. iiber ihn Moller Bd. II, S. 565. 

2) Das ist nach der jetzt bevorzugten ostarmenischen Aussprache (Ter-)Ka- 
rapel Wardapet d. h. „(Herr) Karapet, Magister“. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 307 


axmenischen „Doctriiia“, von der bald noch die Rede sein wird, 
geradezu als seinen Lehrer im Armenischen und als seinen Fiihrer 
bei der TJbersetzung der ^Doctrina^ ins Lateinische bezeichnet ‘). 

In Amsterdam bat Petraeus im Jahre 1666 vom GroBen Kur- 
fiirsten einenRuf nach Konigsberg als auBer or dentlicher Pro- 
fessor der orientalischen Spracben bebommen. Das Konzept seiner 
Bestallung ist im Kgl. Gebeimen Staatsarcbiv zn Berlin (Rep. 7, 
n“. 190) und lautet folgendermaBen : 

SBir gribertt^ . . . Xl^un funb unb geben l^iemit 9Kdn= 

niglic^, infonberl^eit benen fofd^eS ju wiffen nbl^tig, in gnaben 
gubernel^men, un| beg |) 0 (?^gela]^tten unferg Ueben getrewen 
Mag. Tbeodori Petraei, erudition unb burd) langmirige unb 
roeite peregrinationes etiangete tt)iflenjct)aften fonberlid^ in ben 
Orientalifd^en fprad^en, untertpnigft gerii’^met njorben, SBir aui^ 
Selbft be^ feiner anwefenl^eit all^iet, fold^eg mit me'^tetm in 
gnoben aal^rgenommen, wir bal^eto bewogen roorben, tl^n gu 
unfernt Extraordinario Profeffore Lingvamm Orientalium bet) 
unferer Academic ju ^bnigPerg in ^JJreuffen, angune'^men unb 
gubefteQen, Xpn audb fotdieg biemit unb in trofft btefeg, unb 
beftellen i^n Mag. Tbeodorum Petrmum gum Professore Bngva- 
rum Orientalium Extraordinario, beb unfer Academie gu ^bnig§== 
berg, bergeftalt unb olfo, bofe er guforberft unb unb unferm 
gburfurfttidien b«ufe getreu unb gewertig fe^n, unb beb biefer 
Academie jeine toiffenftbafften , gu erbauung ber bofelbft Studi- 
renben Sugent, mit ollem fleip anwenben foUe; Sebocb ibme 
babeb freb fteben moge, feiner gelegenbeit nocb fo lange gu Slmb= 
fterbam guberbleiben unb feine Orientalise Siidber bem gemeinen 
wefen gum beften bruden gutaffen, olb er foicbeg nbbtig beftnben 
werbe. SBir befebten barauf biemit gnabigft fomoU unferer iJSreuffi^^ 
f(ben SRegierung, alb aucb Rectori et Senatui oberwebnter un= 
ferer Academie ficb barnacb guacbten, unb mebrgemelten Mag. 
Tbeodorum Petraeum, fiir unfern Profefsorem lingvarum orien- 


1) „iUe autem Interpretis officio functum enix'e juvit fidelis xcitfayayia Dn. 
Garabied Wartabied, Sacerdotis Armeni, et Magi/lri mei in hac lingua hand pte- 
nitendi, ac nunquam fine prcefatione honoris ncminandi^ — Charakteristisch fur 
die engen Beziehungen des Petraeus zu den Amsterdamer Armeniern ist auch 
Diss. Guelph. S. 19, wo Werner erwahnt, da6 Petraeus an einer sehr teuren 
Weltkarte, welche der Schah von Persien bei den armenischen Handlem in Am- 
sterdam bestellt hatte, mitgearbeitet habe : „nuper admodum per Armenios Amfter- 
dami inquilinos, qui in eo etiam ufi funt Petrsei opera, Chartam Cofmographicam 
univerli terranun orbis perfico fermone adomare fibi jnslit Perfa Kex, fex nume- 
ratornm florenorum millibus, & quod excedit, ea re, erogatis“. 



308 


Alfred Rahlfs, 


talium Extraordinarimn , aufjunel^tnett , juerfennen, bafiir 
l^alten, unb babe^ gebiil^renb jufcJ^itlen; SBegen feine§ unter= 
l^altg, wan er ftc^ ju ^onigPerg einftnben mirb, woHen wir ge- 
wip anftalt tierfitgen taffen.’) Upfunbttic^ pBen wir biefe Be= 
ftallung eigenl^anbig unter}(^rieBen unb mit unferm Sprfiirft* 
lichen ©naben SiegeH Befrafftigen laffen, ©egeBen in unfer Re- 
sidentz Slebe, S)en 25. Octobris Ao 1666. 

Wir seben also: Der GroBe Karfiirst hatte Petraeus nach Cleve 
kommen lassen und ihin dort ein Extraordinariat fiir orientalische 
Sprachen in Konigsberg angeboten^), und Petraeus hatte den Ruf 
auch angenommen, aber sich ansbednngen, vorlanfig noch in Amster- 
dam bleiben zu diirfen, nm die Heransgabe seiner orientalischen Werke 
fortznsetzen. Diese Bedingnng war angenommen, aber infolgedessen 
wurde ihm nun auch vorlanfig kein Gehalt ansgeworfen, vielmehr 
sollte dieserhalb beim wirklichen Antritt der Stelle V erfiignng ergehen. 

In Wirklichkeit hat nun aber Petraeus seine Konigsberger 
Stelle niemals angetreten. Und anch eine andere Gelegenheit zu 
akademischer Tatigkeit, die sich ihm spater nach anscheinend glanb- 
wiirdiger Nachricht in Kopenhagen bot, hat er nicht ergriffen; 
Moller sagt namlich S. 490 : „munns Orientis lingvas docendi Aca- 
demicum, istic [d. h. in Kopenhagen] etiam ipsi (uti a Joh. Mohtio, 
Consiliario regio, sum edoctns) oblatum, suscipere itidem detrec- 
tavit" ®). Als Grund fiir dies ablehnende Verhalten des Petraeus 

1) Der Satz „28egen fetne§ unterbalt§ — berfiigen laffen" ist am Rande 
hinzugefugt. 

2) Die Extraordinarii wurden nicht aus den ordentlichen Universitats-Geldern, 
sondern unmittelbar von der Landesherrschaft besoldet und daher auch unmittel- 
bar von der Landesherrschaft, ohne Faknltats-Vorschlag, emannt, s. D. H. Arnoldt, 
Ausfiihrliche und mit Urkunden versehene Histone der Kdnigsbergischen Univer- 
sitat 1 (1746), S. 155. 

3) Moller S. 490 erwahnt auBerdem noch Geruchte fiber geplante oder wirk- 

lich erfolgte Berufungen des Petraeus an die Dniversitat Kiel und nach Leiden 
auf den Lehrstuhl des Golius (f 28. Sept. 1667). Etwas Sicheres daruber hat 
aber offenbar Moller selbst nicht gewuBt, und auch mir ist es nicht gelungen, 
hieniber Klarheit zu schaffen. Doch kann ich dazu folgendes bemerken ; 1) Der 

Cod. Gothanus Chart. B 511 der Bibliothek des Herzogl. Hauses zu Gotha, ein 
„Entwurf einer Geschichte der von Herzog Ernst zu Sachsen-Gotha versuchten 
Beforderung des innem und auBern Wohlstandes der Evangelisch-Lutherischen 
Kirche“, verfaBt von WUhelm Paul Verpoorten (f 1794) hauptsachUch auf Grund 
von Aufzeichnungen seines GroBvaters Wilhelm Verpoorten, der unter Herzog 
Ernst dem Frommen Kirchenrat in Gotha war, enthalt auf Bl. 104 — 107 als „Erste 
Beylage“ einen Bericht fiber die Absicht der Errichtung eines ^Collegium Orien- 
tale“ an der 1665 gegrundeten Dniversitat Kiel. Danach haben drei Professoren 
dieser Dniversitat, namlich Matthias Wasmuth, Christian Ravins und Petrejus, 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 3(19 

gibt MoUer an: ^Ab officiis scilicet publicis abhorrebat, qvod, vi- 
tae jam assvetus desultoriae, novnm in Orientem iter meditaretnr, 
de qvo ipse, anno jam 1660., d. 6. Jan., virum Ulustrem, Jobnm 
Lndolfnm, ... his verbis certiorem reddidit* (folgt das oben S. 299 
Angefiihrte). Ob aber Petraens spater wirklich noch an eine zweite 
Orientreise gedacht hat, ist mir sehr zweifelhaft; Werner, der in 

d. h. unser Petraeus, zu Anfaug des Jahres 1670 „Literse circulares tuegen @r» 
ric^tung be§ Drientdif^en eoacgit auf bet S5rift<tan)»2ll6re(^tS 

UntPerptat tiel" verschickt, deren vollstandigen Xitel Aug. Beck, Ernst der Frornme 
1 (1865), S. 626 Anm. 854, jedoch mit einigen Fehlern, aus jenem Codex abge- 
druckt hat. Hiernach ware Petraeus zu Anfang des Jahres 1670 Professor in 
Kiel gewesen. Ob dies richtig ist, vermag ich nicbt zu sagen. Die „Literae cir- 
culares“ sind auch an Wilhelm Verpoorten behufs Mitteilung an Herzog Ernst 
geschickt, und Verpoorten hat am 25. April 1670 im Namen des Herzogs darauf 
geantwortet; ein Teil dieses Antwortschreibens ist im Anhange des nicbt lange 
darauf veranstalteten Druckes der ^LITERAl CIRCDLARES SESegen (Stric^tung 

eine§ COLLEGH ORIENTALIS • • • 1670“ mitgeteilt. Hiernach 

ist zu erwarten, da6 Verpoorten iiber die Angelegenheit wohl unterrichtet war; 
und wenn die Angaben seines Enkels auch hinsichtlich der Beteiligung des Pe- 
traeus auf seine Aufzeichnungen zuruckgehen, so wurde das sehr fur ihre Zuver- 
lassigkeit sprechen. Aber auf dem Xitel des soeben erwahnten Druckes heiBt es 

nur: ^LIXER.® CIRCULARES STfigeloffen bon CHRISXIANO RAVIO 

unb MATXHIA WASMUXH , D. Profefforibus LL. Orient.“ Und da nach dem 
Cod. Goth, auf dem Xitel der vorher verschickten handschriftlichen „Literae cir- 
culates" gestanden hat: „atbgelaffen bon bre^en au fot^onem Collegio getoibmeten 
Profesforibus lingu. Orient, bufelbft", ohne dafi die Namen der drei genannt war- 
den, bleibt die Sache zweifelhaft, bis es gelingen wird, ein Exemplar dieser hand- 
schriftlichen „Literae circulares" wiederaufzulinden. Sollte Petraeus iibrigens wirk- 
lich bei dem Collegium Orientale beteiligt gewesen sein, so miiBte er sehr bald 
wieder ausgeschieden sein: denn auf dem Xitel des Druckes wird er ja, wie be- 
merkt, nicht genannt, uberhaupt kommt er im Drucke nur in einem im Anhange mit- 
geteilten Briefe Job. Leusdens vor (dies ist eben die Stelle, welche Moller a. a. 0. 
fiir die Kieler und Leidener Aussichten des Petraeus zitiert). 2) Willems 

S. 186 Nr. 751 sagt: „Apres la mort de Golius, le conseil academique le [d. h. 
Petraeus] fit venir a Leyde, pour travailler au catalogue des manuscrits orientaux." 
Der Katalog der orientalischen Hss. des Golius ist 1668 erscbienen, s Berghm. 
S. 14 Nr. 34; in Berghmans Exemplar, dem einzigen ihm bekannten (jetzt in der 
Kgl. Bibl. zu Stockholm, s. G. Berghman, Catalogue raisonne des impressions el- 
zevir. de la Bibl. Roy. de Stockholm [1911], S. 289 Nr. 1990), ist die Jahreszahl 
vom Buchbiuder weggeschnitten, aber die Gottinger Univ.-Bibl. besitzt ein gut er- 
haltenes Exemplar mit der Jahreszahl 1668. Der Katalog enthalt keinerlei An- 
gabe fiber die Art seiner Entstehung und den Verfasser. Woher Willems seine 
Notiz fiber die Autorschaft des Petraeus, den er ganz verkehrt als „ministre pro- 
testant a Amsterdam" bezeichnet, genommen hat, weifi ich nicht. Ubrigens biieb 
der Lehrstuhl des Golius lange Zeit unbesetzt, s. Uchtman bei Juncker S. 195 
und die unten S. 343 f. zitierte Lebensbeschreibung Bernards S. 44 f. (Bernard 
bewarb sich 1683 und spater noch einmal um diesen Lehrstuhl, aber vergebens). 



310 


Alfred Rahlfs, 


der Brev. exp. und der Diss. Gaelph. eingehend iiber Petraeas’ 
wissenscliaftliche Absichten berichtet, deatet mit keinem Worte 
auf einen derartigen Plan kin, sondern spricht immer nur von dem 
Vorhaben des Petraeas, die von der friiheren Reise mitgebrackten 
kandschriftlicken Sckatze keranszugeben , z. B. Brev. exp. S. 2 : 

31. Theodoras Petrceus, MSCRA rarisfima, . . . quae Ipfemet 
. . . ad Enropaios apportavit, praeter caetera autem utrinsq; Te- 
ftamenti libros Ae-gypt-iacd et Aethiopicd lingua operibus typogra- 
phicis publicae paulatini luci dare, defiderio tenetnr fnmmo“. Schon 
vor der Entdecknng der oben mitgeteilten Bestallnng vermutete 
ich, dafi der Hauptgrund, weskalb Petraeas keine Professur iiber- 
nonunen kat, darin zu sncken sei, da6 er fiircktete, durck ein 
solches Amt zn sekr an der Ausfiikrung seiner literariscken Plane 
gehindert zu werden. Die Bestallnng bestatigt jetzt diese Ver- 
mntnng; Petraens kat die Konigsberger Professur zwar angenom- 
men, aber nur unter der Bedingnng, dad er vor ihrem Antritt erst 
seine orientaliscken Werke heransgeben diirfe. 

Im folgenden Jakre, 1667, ist dann auch in der Tat wieder 
ein orientaHsckes Werk von Petraens erschienen, diesmal ein ar- 
menisckes unter demTitel: ,.(Armenischer Titel.) ) DOCTRINA j 
CHRISTIANA, j Armenice, | In Latikum verfa, & publicata ) a | 
I BI. THEODORO PETR.®0, j Linguarum OrientaHum Pro-| 

pagatore. | (Signet.) | Amstelodami, | Impenfis Auctoris, & Typis 
Armeniorum. ] cio loc lxvii.“ 6 nngezaklte Blatter und Seite 3 — 72 
in 12®. Petraeas kat dies Werk dem GroBen Kurflirsten gewidmet 
„ propter memoriam oblati miki ab AnguTta Serbnitate Tua muneris, 
dum me Profeffione Linguarum OrientaJium donare ac decorare 
gratiofiffime placuit“ ^). Er bittet den Kurfursten, das Werk 
„ferena fronte-' aufzunehmen, „quO gratiffimae benignitatis favore 


1 ) Schon ira vorhergehenden Jahre hat auch der armenische Lehrer des 
Petraeus (vgl. ohen S. 307 Anm. 1 ) dem GroBen Kurfursten seinen in Amsterdam 
gedruckten armenischen Psalter gewidmet. Die Widmung ist unterzeichnet „Ga- 
RABiED Wartabied, Sacerdos Armenus“ und datiert „Ant/telodami, 19 . Octobr. 
1666 “; sie stammt also aus derselben Zeit, in der Petraeus vom GroBen Kurfursten 
den Ruf nach Konigsherg bekam (25. Okt. 1666). Am Schlusse der Titel des 
GroBen Kurfursten ist hinzugefugt .DOMINO fuo Clementiflimo, ac Evergetae 
Munificentiffimo", ganz ahnUch wie in der „Doctrina“ : „domixo meo clemex- 
Ti^siMO, NEC NON EVEEGET.E MUNiFiCENTissiMO^. Auch diese Widmung w'ird 
von Petraeus verfaBt sein, ebenso wie Oskans 'Widmungsepistel an Ludwig XIV, 
(s. oben S. 306). Petraeus hat seinen armenischen Freunden offenbar ebenso im 
Lateinischen geholfen, wie sie ihm im Armenischen, 



Mssel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben and Typen. 311 

exftimulatus alia prseclara & rara Mannfcripta, qua facra qua pro- 
fana, variis Linguis Orientalibus contenta, & Tuo Electokali Splen- 
dori ad nunquam intermoriturum honorem refervata, pro medio- 
critate mea publicare valeam'*. Wir sehen also auch bier wieder, 
wie eben bei der Bestallung und scbon bei mebreren anderen Gle- 
legenbeiten, dab das Strebeu des Petraeus vor allem auf die Her- 
ausgabe orientaliscber Werke gericbtet war. 

In der „Doctrina“ bat Petraeus, nacbdem er seit der Heraus- 
gabe der atbiopiscben Texte (1660 und 1661) nur zwei kleine Spe- 
cimina (1663) veroffentlicbt batte, nocb einmal ein ganzes Werk 
herausgegeben. Dadurch bat er aber zugleicb den Grnnd zu sei- 
nem wirtscbaftlicben Puin gelegt , der ibm dann weitere 
Publikationen unmoglich machte. Wir haben daruber einen min- 
destens in der Hauptsacbe darchaus zuverlassigen Bericht von 
dem Dr. theol. Johannes Werner aus Homberg in Hessen, 
einem etwas merkwiirdigen Manne, der damals ancb einige Zeit in 
Amsterdam lebte und durch seine etymologischen Forschungen *) 
in nahere Beziehungen zu Petraeus gekommen war ®). Dieser spricht 

1) Fur die Zuverlassigkeit des zweifellos auf eigene Aussagen des Petraeus 
zuriickgehenden Berichtes spricht vor alien Dingen die Angabe, daB Petraeus die 
Halfte der Dnickkosten der „Doctrina“ getragen hat, s. unten S. 312. Denn aus 
dem „lmpenlis Auctoris^ auf dem Titel der „Doctrina“ wurde man vielmehr 
schlieBen, dafi er die ganzen Kosten getragen hat. 

2) Werner selbst sagt von sich in der Diss. Guelph. S. 3f.: „exemplo viro- 
rum maximorum excitatus, ad rimandas vocum cau/as, Germanicarum potislimum, 
operam baud contemnendam contuli ; in quo quidem ttudii genere, non infitior, me 
mediocriter efle verfatum. Id quod cum primis M. Petreeum ad focietatem mihi 
fuam oiferendam, solicitiusque me permovendum movit; eo prsfertim, quod meum 
illud ftudium ad linguarum moliendam deraum Harmoniam, quam e cseteris cordi 
fibi curseque effe profitebatur, momentum adeo poffet afierre maximum." Ygl. 
auch den von lac. Burckhard, Historiae Bibliothecae Augustae quae Wolffenbutteli 
est, pars III (1746), S. 303 f. abgedruckten Brief, welchen Werner am 1. Mai 
1675 von Leipzig aus an den Wolfenbutteler Bibliothekar Hanisius geschrieben 
hat, und in welchem er sich als „S.S. Theol. Doctor, Caufeeque vocum Inventor‘‘ 
bezeiehnet. Fine Probe seiner Kunst legt Werner ab in „®er ©unnen Xifc^“ (s. 
unten S. 313 Anm. 3) auf Bl. 31 iij recto : „@lei(b al§ nun Ein Sern in ber Srben 
I'etne I'eite ipaltet, unb erft ein eintet Keig auSlafiet, meli^eS fic^ bait nit^t bom 
Sern abl'onbert, ionbern roieber mit bem Sern bereinigt, unb glei^jam bere^tic^t, 
unb l^olt bon 3Ja^rung, ftarcf, Sraft, ©aft unb @eift, fttf) o6er Balb §ernod^ 
burc^ beS Sern§ ftraft unb ©c^mangerung jtoeqet, ober in jmeg^t^eilet (rtmnnen 
^ec bj SBort jibet)g, gleic^ al8 jibet)*ig, feinen 9?amen ijat, bann felten me^t 
Qroeige, ban einer, neben einanber au§ einem 3tft ermoc^fen) Sllfo roorb Slbam in 
ber Erben gebilbet" usw. 

3) Laut seiner Angabe in Diss. Guelph. S. 14 ist Werner auch bei der Re- 
daktion der lateinischen Ubersetzung der ,,Doctrina‘‘ zu Rate gezogen („me quo- 


312 


Alfred Rahlfs, 


namlich in der Diss. Gnelph. S. 14 znnaclist von der Zusammen- 
arbeit des Petraeus mit Garabied Wartabied nnd Oskan bei der 
Heransgabe der „Doctrina“ nnd fahrt dann folgendermaBen fort : 
„Vern e laborum imenfitate aliqnam faltem meffem ut faceret Pe- 
trseus, eosqne perciperet frnctns, qoibus adminiftris arduo fuo in- 
ftitato *) commodius invigilaret, dimidinm fchedamm impreffarnm 
nnmerum fibi tenet, facto tamen & impenfaram dimidio, pro quo 
quidem fidem, peculii re, qnin thefanri librarii parte majore pi- 
gnori data, obftringere coactns fnit, & nadus hodie a rerom geren- 
darum nervo, aere, & ab amicis imparatHS." Petraeus hat also die 
Halfte der Druckkosten der „Doctrina“ getragen nnd dafiir auch 
die Halfte der abgezogenen Exemplare bekommen. Und zur Be- 
streitung der Kosten hat er einen Teil seines nBucherschatzes**, d.h. 
seiner Handschriften and gedruckten Biicher, verpfanden miissen ^)- 

Vielleicht hat den Petraeus damals auch noch ein anderes Un- 
gliick betroffen. Werner Brev. exp. S. 3 sagt: „Mediis vero ad 
rem tantam [d. h. die Herausgabe seiner Werke] optatius perficien- 
dam neceffariis, cafu quodam trifti, pemiciofo atque exitiofo defti- 
tutus, . . und entsprechend in der deutschen Ubertragung der 
Brev. exp. S. 2; Petraeus wurde „&er l^iergu nd^tigen 21?itteln, burc§ 
einen fd^raeren ^wifd^en^gaH unb ©c^oben, gang unherl^offt beraubt". 
Infolge dieser miSlichen Lage, die es ibm unmoglich machte, wei- 
tere Werke auf eigene Kosten drucken zu lassen, hat Petraeus 
dann mit Hilfe Werners versucht, pekuniare Unterstiitzung 
fiir die Herausgabe seiner Werke zu gewinnen. Werner 
berichtet daruber in der Diss. Guelph. S. Ilf. and in der Brev. 
exp. S. 3. Danach haben sich Petraeus und Werner zuerst (viel- 
leicht schon im Jahre 1668, s. oben S. 282 zu Nr. 7 b) an reiche 
Leute in Amsterdam und im ubrigen Holland gewendet, aber ohne 
Erfolg®). Dann hat Werner allein, aber mit Zustimmung des 

que lubinde quod ad ftyli nitore, theologicasq: dieendi rationes attinet, in conli- 
lium adhibito“), 

1) D. h. seinem Vorhaben. weitere orientalische Texte herauszugeben, vgl. 
den oben S. 269 angefuhrten Titel von Werners Brev. exp. („Brevis expositio 
instituti . . . de edendis in lucem . . . manuscriptis orientalibus . . .“)■ 

2) Weitere Xachrichten uber die Verpfandung von Hss. und Biichern in 
Amsterdam s. unten S. 338. 346. 

3) Diss. Guelph. S. 11: „Mecu‘natum . . . acquirendorum varia inita lunt 
conlilia. Amlterdami & in Hollandia alibi funt qusefiti, tanta adhibita a nobis di- 
ligentia, ut rem poffe confici non diffideremus ; at neque inventi tamen illi, neque 
nos multo plus profecimus, quiim qui lavmU laterem.^ Brev. exp. S. 3: „ad I'up- 
petias ferendas Primorum ut & Negociatorum loci [d. h. Amsterdams] hand pau- 
cos, me quoq; comite quandoq;, tentavit: AT FRUSTRA!‘‘ = deutsche Ubertra- 



Nissel und Petraeus, ihre ^ihiopischen Textausgaben nnd Typen. 313 


Petraens*) eine Reise durch Deutschland gemacht und dort 
bei Fursten, Adligen und anderen angesehenen Lenten^) fur Pe- 
traeus geworben, indem er Exemplare von Werken des Petraeus, 
die er aus Amsterdam mitgenommen oder von dort nachgeschickt 
bekommen batte, iiberreichte oder zur Kenntnisnahme vorlegte und 
beim Knappwerden derselben auch eigene Schriften zur Orientie- 
rung fiber das Wirken des Petraeus drucken lieB und verteilte®). 

gang S. 2/3 : „Unb ob Sr tool Oiele Sotne^me Seute felBtger Oerter, auc^ famt 
mir flm aSe^ftanb unb toenigft jum SJorfd^ul etlid^eS @elb§ mit gletg erfu^t, ^at 
er bonnod^ nidbtS er^alten." 

1) Nach Werner Brev. exp. S. 3 = deutsche Ubertragung S. 3 hat Petraeus 
selbst Werner „geBeten, in unfer Beiber [d. h. Petraeus’ und Werners] 91al^men 
ju unfern grofemiltigen, gut^erjigen ®eutfd^en 8u reifen, unb biefelBen neBft un* 
fer§ SBorne^menS Deffnung [d. h. Erofinung, Mitteilung iiber unser Vorhaben, 
weitere orientalische Werke herauszugeben] flm etnc anfe^nlidbe SSe^^fllffe ju bte- 
fem loftBa^ren SBercfe ju erfud^en". Daher setzt Werner unter die Diss. Guelph, 
geradezu den Namen des Petraeus neben seinen eigenen („. . . devotislimi, M. 
Theod. Petr-evs, I Et, qni iUius nomine haec offert humilime [so!], JOH. VVer- 
NERVS“). Und ahnlich unterzeichnet er die lateinische Fassung der Brev. exp. 
^nomine pariter Clarifs. Petraei“ ; auch erbietet er sich in einer Nachschrift, die 
sich in beiden Fassungen der Brev. exp. findet, den Beweis fiir die Zustimmung 
des Petraeus zu erbringen (die deutsche Fassung dieser Nachschrift lantet : „3Iuff 
@. Bege^ren toerbe id^ $. Petraei Confens burd^ beffen Jpanbfd^reiBen, unb bie 
f(f(6ne Aethiopifd^e Arabiftfie unb Annenifd^e ©d^rifften in Originali, ol8 eine 
raritet, borjeigen"). Nach Diss. Guelph. S. 12 f. hat Petraeus sogar den Plan, 
selbst mit Werner nach Wolfenbiittel an den braunschweigiscb-luneburgischen Hof 
zu reisen, erwogen, aber aus Scheu vor einer Unterbrechung seiner Studien auf- 
gegeben; „Agitatum quidem Petr*o Aulai Veftrae adeundse confilium; quo tanto- 
rum Principum munificentiam gravibus piisque rationibus devinctam, ftndiis fuis, 
me Comite atque asfiftente, conciliaret; At veritus, ne quam interim jacturam fa- 
ceret ftudiorum, mihi hoc negocii ut humeris exciperem folus, author fuit, trans- 
misfis aliquot, quae humiliter offerreutur, exemplaribus.“ 

2) Die Brev. exp. widmet Werner „Siaen f»od^berftanbigen Sieb^aBern uub 
Seforberern ber Studien, toe§ StunbS ober aSflrbe fie feqn mflgen", s. den Titel 
oben S. 269. 

3) AuBer den oben S. 269 bereits angefuhrten Schriften (Diss. Guelph, la- 
teinisch ; Brev. exp, lateinisch und deutsch) hat Werner noch eine lateinische und 
eine deutsche Cbersetzung der athiopischen Homilie liber die Geburt Christi (oben 
S. 279 ff. Nr. 7) und einiger kleiner athiopischer Stucke drucken lassen. Der Titel 
der lateinischen Publikation lautet; „MENSA SOLIS; (Mayda: zcehaja:J \ Seu | 
ANIM/E DAPES [ SALUTIFERAE, AB AETHIOPIBUS | fupra Aegyptum peti- 
t£e ; I hoc eft, | Eximia quadam Mmuvienta Ahifjtnica, eandem mm | nostra FI- 
DEM Aethiopim Chrijlianam complexa; \ Nuper, cum variis variarum Ling. 
Orient, facris, profanis Manufcriptis, Al-|kahir8e, Hierolblj'mis & in CHRISTI Con- 
ditorio ftudiofiffime conquilitis. | allata, & lingua tj-poque Aethiopico & Latino 
interlineari, ceu dupUci vafe, | Reip. Chriftianije Ajisterdami appojlta, | A [ M. 
THEODORO PETRAEO, Flexsbiego-Cimbro, | hodie Amfterdami, fingulari Ec- 

Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 2. 21 



314 


Alfred Eahlfs, 


Auf dieser Reise ist Werner, wie wir von ihm selbst horen, unter 
anderem in Ostfriesland und Oldenburg nnd bei dem in Wolt'en- 
biittel residierenden Herzog Rudolf August von Braunschweig- 
Liineburg nnd dessen Brnder nnd damaligem Statthalter, spaterem 
Mitregenten, dem wegen seiner wissenschaftlichen Neigangen be- 
ruhmten Herzog Anton Ulrich von Brannschweig-Lunebnrg ge- 
wesen; fiir diese beiden Welfenfiirsten hat er die Dissertatio Guel- 
pbica anfgesetzt ®). Ferner hat sich Werner z. B. bei der Hoch- 

clefi® Chriftianse Compendio atque 1 Ornamento, inter Mufas orientales degente ; | 
li^unc vero fola verfione Latina, cum Notis, ad excitandos piorum conatuum | 
Promotores ae EvsQyhag, dentio prelo fubjecta. 1 (Folgt ein langes Zitat aus Pom- 
ponius Mela, in welchem vom Sonnentisch die Rede ist.) | ANNO AERAE CIIRI- 
STIANAE CIO. IOC. ilxx [das „i“ vor „l“ ist irrtumlich hinzugefugt]. 8 Blatter 
in 40 . Der Titel der deutschen Publikation lautet; „®et Sonnen ®i[(i^, 1 Dber 
§eqt-Btittgenbe ©eelen-geric^te, bon ben Stbiopern abgefiDlet, i ®a§ ift, | gtlic^e 
filttteffKdie Stbifftniji^e j @ebend«3eic^en, 1 SBelcfie mit un§ etnen ©lanben iimb* 
fangen; 1 iJleutic^, ntit atterict) taren ©d)ttfften in unterid^iebe^lnen Crtentij^en 
©ptadien, ju iSttaQr unb [yerujalem in E^rifti 1 ®rab (ba meift aCe E^riftlidje 
aSdldEer Q^re ®eiftlid^en !^atten) fleiiftgft ciufge)ucbt, unb bon | bannen eingebrot^t, 
unb nebft anbern Sgiid^ern in bet gtl^iojiiic^en nnb £a»|teini)c^en Sprac^en, gleit^ 
a(§ in aroepetlet) ©efapen, bet | raert^en ©^riften^eit auffgefe^t, | buri^ 1 M. THEO- 
DORVM PETRAEVM, bon glenPurg in §oIftein: J iPun ober unfern lieben 
Seutfd^en jum SBoIgefaaen, unb unter bem|felben treu^ergige ©^riftlicfie ©emiit^er 
an unferS ©tubii unb S^riftlid^en Sot^abenS SeHgiinftigung befto mef)r an er- 
toeden, in ®eutfc^ iiberfe|t, unb mit etiicpen 1 Slnmerdungen berme^ret 1 burc^ | 
Johannes SBerner, bon Romberg in §effen, ber §eil. [ ®6ttl. ©t^rifft D. | (I’olgt 
die Stelle aus Pomponius Mela, frei wiedergegeben.) | gu §alberftabt, ] ®rudt0 
3o^ann-®rafmuS ^pni^fd^, | 3nt nat^ ©§rifti ^eiligen ®eburt^ M. DC. LXX." 
12 Blatter in 4“. Hiermit wird die Zahl der von Werner gedruckten Schriften 
erschopft sein. Er verspricht zwar in der Diss. Guelph. S. 10 noch Abhandlungen 
liber das Agyptische und Athiopische, aber in der spater gedruckten Brev. exp., 
in der er auf S. 3 (= deutsche Ubertragung S. 3) von seinen Druckschriften 
spricht, nennt er nur die ohen angefuhrten und stellt weitere erst in Aussicht, 
„fo bolb bie ®itteln fotd^eS berftatten merben". 

1) Diss. Guelph. S. 11 (umnittelbare Fortsetzung des ohen S. 312 Anm. 3 
Zitierten) : „Mutuo conlilio [d. h. nach einem beiderseits, von Petraeus nnd Werner 
gefafiten Plane] adFrilios mihi Comitatumque Oldeburgicum, ubi Petrsei menioria 
ob ftudiorum nobilitatem floret & gratisfima femper fuit, excurritur ; eventu tamen 
votis minime refpondente; eo quod Oldeburgum, quod ad hoc attinet, port Illu- 
ftrisflmi Comitis, gloriofaj memorise, deceffum [d. h. nach dem Tode Anton Giinthers, 
des letzten Grafen von Oldenburg, f 19. Juni 1667] acceffum mihi effet, &c. Quo 
ex literis nunciis intellecto, partim abfuit, quin omni fpe abjecta ille [d. h. Pe- 
traeus] filum horum ftudiorum abrumperet." 

2) Uber Anton Ulrich s. die Allgemeine Deutsche Biographic 1 (1875), S. 487. 
Ihm ist auch die erste Ausgabe von Ludolfs athiopischer Grammatik (Lond. 1661) 
gewidmet. 

3) Siehe den oben S. 269 angefuhrten Titel der Diss. Guelph.; die Namen 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 315 


zeit des Grafen Ludwig zu Solms mit der Grafin Luise zu Dohna 
als Gratulant eingestellt und seine Schrift „®er ©onnen 
(s. oben S. 313 Anm. 3) mit einer Widmung und einem umfang- 
reichen Gliickwunscbschreiben uberreicht ^). Auch hat er, wie der 
von mir benutzte Sammelband der Wernerschen Schriften (Halle, 
Univ.-Bibl., Bb 8. 8®) lehrt, das (protestantische) Kloster Berge 
bei Magdeburg besucht und dem Abte®) seine samtlichen auf Pe- 
traeus beziiglichen Druckschriften iiberreicht; denn jener offenbar 
von Werner selbst zusammengestellte und schon gebunden iiber- 
reichte Sammelband, der zuerst die lateinischen Schriften Brev. 
exp., Mensa solis, Diss. Guelph, und dann die dentschen Ubertra- 
gungen der Brev. exp. und der Mensa solis enthalt, tragt auf dem 
Titelblatte der ersten Schrift in dem gewiB eigens fiir solche De- 
dikationen leer gelassenen Raume hinter „Musagetis cujuscumque 
status et ordinis“ *) den von Werner selbst stammenden handschrift- 
lichen Zusatz „Jmprimis | JR. I). Abbati, toUq; conventui \ Beroensi,'^ 
und daneben auf der Riickseite des Vorsetzblattes die gleichfalls 
von Werner geschriebene Notiz „Pro bibli(.;.',i;ca Abbatice Bergensis ( 
prope Magdeburgum , \ ad perpetuam rerum voftraru niemoriam, | re- 
linquit hcec Author.'^ — Werners Werbereise in Deutschland fallt 
in die Jahre 1669 und 1670. Am 10. Juni 1669 ist er in 
Wolfenbiittel gewesen und hat dort der Herzoglichen BibBothek 


der beiden Herzbge werden allerdings nicht auf dem Titel, wohl aber am An- 
fange der Schrift selbst genannt. Weiteres s. unten S. 316 Anm. 2. 

1) Nach Rudolph Graf zu Solms-Laubach, Geschichte des Grafen- und Fur- 
stenhauses Solms (1865), Tab. VII bei S. 209 hatte diese Hochzeit 1669 statt- 
gefunden. Dagegen ist „Ser ©onnen Siic^" vom Jahre 1670 datiert und muB 
aus dem Anfange dieses Jahres stammen, denn Werner sagt Bl. S3 ij recto, dafi 
„wtr bie §. ©eburt S^rifti, wobon aud^ biefe ©t^iopifi^e Homilia ^unbelt, nod^ 
unlangft gefe^ret, unb onnod^ in frifcber ©ebad^tnig goben". Dies stimmt auch 
vollig dazu, dafi das erste Kind aus jener Ehe nach der angefiihrten Tabelle am 
22. Xov. 1670 geboren ist, zumal jene Ebe sich durch auBerordentlich prompte 
Fruchtbarkeit auszeichnet (die folgenden Kinder wurden geboren am 17. Okt. 
1671, 18. Sept. 1672 u.s.w.). 

2) Widmung und Gluckwunschschreiben linden sich nur in der deutschen 
Fassung von „®er ©onnen SiidEi", nicht in der lateinischen (s. oben S. 313 Anm. 3). 

3) Abt von Berge vrar damals Sebastian GObel (1660—1685), s. H. Holstein, 
Geschichte der ehemaligen Schule zu Kloster Berge (1886), S. 8—10. 

4) Siehe oben S. 269. Den hinter „ordinis“ stehenden Punkt hat Werner, als 
er das Folgende hinzufugte, in ein Komma korrigiert. Auch sonst enthalt der 
Sammelband mehrere Korrekturen, die wohl samtlich von Werner selbst herstam- 
men. In den wenigen Fallen, wo solche Korrekturen in meinen Zitaten aus Wer- 
ners Schriften vorkamen, habe ich sie ohne weitere Bemerkung aufgenommen, da 
es sich dabei nur um die Yerbesserung von Druckfehlern handelte. 

21 * 



316 


Alfred Rahlfs, 


ein Exemplar der von Petraens heransgegebenen armenischen „Do- 
ctrina“ ’) nnd seine eigene, znnachst nnr handschriftlich anfgesetzte 
Dissertatio Gruelphica*) iiberreicht. Spater hat er damn, wie schon 
erwahnt, die Diss. Gnelph. nnd andere Schriften drucken lassen, 
um durch ihre weitere Verbreitnng Interesse fiir Petraens zu er- 
wecken; alle diese Schriften tragen die Jahreszahl 1670®) mit Aus- 
nahme der iiberhanpt nicht datierten Diss. Gnelph., die aber in 
der Brev. exp. S. 3 als bereits gedmckt erwahnt wird, also 1669 
Oder 1670 gedmckt sein moB. — Irgendein nennenswerter Erfolg 
war iibrigens, soviet wir wissen, auch dieser Wemerschen Werbe- 
reise nicht beschieden; sie wird kanm mehr als die Kosten der 
Reise*) nnd des Dmckes der Wemerschen Schriften®) abgeworfen 
haben. 

Seine letzte Lebenszeit hat Petraens nach Moller S. 490 
in Kopenhagen zngebracht. An der Richtigkeit dieser Angabe 
ist nicht zn zweifeln ; denn der Tubinger Professor Benedikt Hopfer, 
der 1671 bei einer Reise durch verschiedene Lander manche Ge- 


1) Werner erwahnt die L'berreichung der „Doctrina“ an die Hzgl. Bibl. zu 
Wolfenbiittel anf dem Titel seiner Diss. Guelph., s. ohen S. 269. Daher fragte 
ich bei der Hzgl. Bibl. an, oh jenes Exemplar der Doctrina noch vorhanden sei 
und etwa eine Widmung Werners mit Angabe des Datums enthalte. Hierauf teilte 
mir der Oberbibliothekar Prof. Dr. G. Milchsack mit, da6 das fragliche Exemplar 
in der Tat da ist (Signatur. 738. 1C Theol. 8°) und anf dem Vorsetzblatt fol- 
gende eigenhandige Widmung Werners tragt: Ad | Serenifsimi Principis a^Dni | 
JD. Budolphi Augusti, Brunsv. \ et Lunehurg. Sc. Duds, prindpis | ac Dni Mei 
Clementifsi j Eibliothecam Augmtam | A M. Theodora Petrao, Holfato, | Linguaru 
Orientaliu propagatore | hunc hutnilime [so!] ojfert libellu 1 Wolfenbiittel, \ 10. Jun. 
1669 1 Joh. Wernerus j SS. Theol. Doctor (die beiden letzten Zeilen stehen vechts, 
die beiden vorhergehenden etwas hbher links). 

2) Das damals von Werner handschriftlich liberreichte Exemplar der Diss. 
Guelph, hat sich jetzt unter den Handschriften der Hzgl. Bihl. zu Wolfenbiittel 
wiedergefunden. Es tragt, wie mir der Oberbibliothekar Prof. Dr. G. Mikhsack 
mitteilt, die Signatur _263. 8 Extr. 4"“. Der Titel stimmt mit dem des Druckes 
(s. oben S. 269), abgesehen von stilistischen Kleinigkeiten, im ganzen liberein, nur 
fehlen natiirlich die Zeilen „Nunc autem chalcographico opere“ bis ^communicator , 
und am Scblusse, wo im Drucke der Druckort und der Drucker angegeben sind, 
steht „Guelpherbyti, \ Anno M DC. LXIX. 10. Junio.“ Die Handschrift er.thalt 
18 heschriebene Blatter. Ihr Text weicht teilweise von dem des Druckes ah; 
AVerner hat also seinen Aufsatz, elie er ihu drucken lieB, nochraals uberarbeitet. 

3) liber die genauere Zeit des Druckes \on „3er Sonnen 2:ifd)" s. oben 
S. 315 Anm. 1. 

4) Werner Brev. exp. S. 3 = deutsche Ubertragung S. 3 spricht selbst von 
den „fi^it)eren 3iet)> unb SehnmgS-Snften", die ihn ofters zur VerauBerung der 
Druckwerke des Petraeus, die er mit sich fiihrte, gezwungen haben. 

5) A^gl. oben S. 313 f. den SchluB von Anm. 3. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben and Typen. 317 


lehrte aufgesncht hat *)» nennt Petraeus unter denjeoigen, die er 

Daniae metropoli“ besucht hat. Hopfers Schilderung des Pe- 
traeus hat MoUer S. 491 abgedruckt ; mir widersteht es, sie hier 
nochmals zu wiederholen, da sie offenbar groBenteils auf gemeinem 
Klatsch beruht. Zuverlassig folgt aus ihr nur, dafi es dem Pe- 
traeus in Kopenhagen recht kiimmerlich ergangen ist ; dazu stimmt 
auch die Angabe Uchtmans (Juncker S. 195), daB Petraeus „re fa- 
miliari satis angusta“ gezwungen sei, Amsterdam zu verlassen. 
AuBerdem gewinnt man aus Hopfers Bericht den Eindruck, daB 
Petraeus gegen Ende seines Lebens, durch die Erfolglosigkeit seiner 
Bestrebungen verbittert, sich von der Welt zuriickgezogen hatte, 

Seine Ubersiedelung nach Kopenhagen mag vielleicht mit dem 
oben S. 308 erwahnten Rufe nach Kopenhagen zusammengehangen 
haben. Als Zeit der Ubersiedelung gibt MoUer das Jahr 1669 an. 
Dies kann aber nicht stimmen; denn Werner bezeichnet noch in 
der letzten seiner Schriften, der Brev. exp., die er sicher nicht 
ganz zu Anfang des Jahres 1670 hat dmcken lassen*), den Pe- 
traeus als in Amsterdam wohnhaft^); und daB Werner darin recht 
unterrichtet war, kann kaum zweifelhaft sein®). 

Als Todesjahr des Petraeus gibt MoUer S. 490 das Jahr 
1673 an. Dies kann aber auch nicht stimmen, vielmehr muB er 
schon 1672 gestorben sein. Denn nach E. C. Werlauff, Historiske 
Efterretninger om det store kongeUge BibUothek i Kiebenhavn 
(1844), S. 84 Anm. b hat Petraeus’ Witwe Clara geb. von Billow'®), 

1) Hopfer berichtet uber die Reise in zwei Briefen, die vom 20. Mai 1673 
und 5. Mai 1674 datiert sind, s. Rolandi Maresii epistolarum philologicarum libri 
II (1687), S. 673 — 688. Die Zeit der Reise gibt er nicht an, doch ergibt sie sich 
darans, dafi Hopfer in Paris Wansleben bei der Vorbereitung fur seine zweite 
Orientreise traf (S. 678). Diese Reise wurde namlich im Marz 1671 beschlossen 
und gegen Ende April 1671 angetreten, s. H. Omont, Missions archeol. franf. en 
Orient 1 (1902), S. 56. 64. Da nun Hopfer in England, wohin er von Frankreich 
ging, keinen vollen Monat bUeb (S. 678), Belgien schnell dnrcheilte (S. 679) und 
dann nur in den Mederlanden sich langer aufhielt (besonders in Utrecht, wo er 
etwa drei Monate blieb, s. S. 679), so wird er noch in demselben Jahre 1671 nach 
Kopenhagen gekommen sein. 

2) A. a. 0., S. 684-686. 

3) Werner erwahnt in der Brev. exp. S. 3 = deutsche Ubertragung S. 3 

die „Mensa solis** = „®ec ©onnen als fruher gedruckt. „2)er Sonnen 

3;ifc^" ist aber zu Anfang des Jahres 1670 gedruckt, s. oben S. 315 Anm. 1. 

4) Siehe den oben S. 269 angefiihrten Titel der lateinischen Fassung der Brev. 
exp. In der deutschen Fassung heiBt es auf S. 2 ; „ju Slmfierbam too^n^ufft". 

5) Indessen ware Petraeus, wenn die oben S. 308 Anm. 3 erwahnte Nach- 
richt richtig ist, zu Anfang des Jahres 1670 Professor in Kiel gewesen. 

6) In den Aktenfaszikoln III. A. 1 und III. B. 2 der Kgl. Bibl. zu Berlin 



318 


Alfred Eahlfs 


die er mit seinen beiden Kindern') in grofier Diirftigkeit zuriick- 
gelassen hat^), schon am 21. Dez. 1672 von der Trinitatis-Kircbe 
in Kopenhagen ein Almosen von 10 Talern®) bekommen. 


Tiber Nissels wissenscbaftliche Personlichkeit nr- 
teilt C. Siegfried in der Allgemeinen Deutschen Biographie 23 
(1886) , S. 702 f. sehr absprechend. Er sagt zuerst : Nissel „nennt 
sick anf seinen Biichertiteln orientalinm linguarum lin- 

gnarom orientalinm propagator^), scheint also anBer diesen selb- 
verliebenen Eigenschaften weiter keine amtliche besessen zu haben“. 
Nacbher berichtet er ansfiihrlicher iiber einen „seltsamen Handel“, 
der sich im XV TTT . Jahrh. an Nissels hebraische Bibel (s. oben 
S. 288 Anm. 2) angeknupft hat. Siegfried sagt da: „Wenn es anf 
dem hebraischen Titel dieser Bibel hieB: >wir haben sie ans einem 
sehr alten Buche abgeschrieben von Buchstaben zn Buchstaben<, 
so mnfite nothwendig jeder denken, daB es sich hier nm Wieder- 
gabe einer sehr alten xmd besonders werthvollen Handschrift handle. 
Und so ward anch die Sache damals [d. h. nach Nissels Tode] zu- 
erst aufgefafit. Tychsen in seinem tentamen de variis codd. hebr. 


(vgl. unten S. 337 ff.) finden sich zwolf Unterschriften der Witwe, von denen sie 
aber nur vier mit ihrer eigenen, sehr unbeholfenen Hand geschrieben hat, wah- 
rend die ubrigen von den Schreibern, die ihre Eingaben aufgesetzt haben, ge- 
schrieben sind. Sie selbst zeichnet Fasz. III. A. 1, . Seite 22 „clara bilon“, 26 
„clara petra geboren nan bilou“, 29 „clara pretrif [so !] geboren nan beilou“, 30 
„clara preti [so!] geboren u bilou“. Die Schreiber zeichnen Fasz. III. A. 1, S. 17 
„Clara von Bulow", 23 „Clara von Bulowin" ; Fasz. Ill, B. 2, Stuck 1 und 2 
,Clara Petraesen gebohme Bulowin“, 19 „Clara Petre gebohrne von Bulowin“, 26 
„ Clara Bulowin“, 29 „ Clara Petri, gebome von Buloin“, drittletztes Stuck „ Clara 
von Bulowin“. Nach Holier S. 490 und Thomsen (s. oben S. 290) ware die Frau 
des Petraeus eine Hollanderin gewesen, aber das wird durch ihren Madchennamen 
widerlegt. 

1) Die beiden Kinder, welche Holler S. 490 erwahnt, kommen auch in den 
Berliner Aktenfaszikeln (s. die vorige Anm.) vor. Der Sohn besuchte um 1688 
die Universitat, s. unten S. 335 Anm. 2. 

2) Auch dies erwahnt die Witwe in den Berliner Aktenfaszikeln, vgl. be- 
sonders die unten S. 335 Anm. 2 angefuhrte Stelle. 

3) Werlauff: ,10 SI. Daler“. Das bedeutet, wie mich Herr Dr. Jan Eyser 
(Kopenhagen) belehrte, „10 Slet(te)daler“ d. h. schlichte Taler, kleinere Taler im 
Unterschiede von „Rigsdaler“ d. h. Reichstalem. 

4) Diesen Titel hat nicht etwa erst Nissel erfunden , vielmehr kommt er 
schon friiher vor; z. B. widmet Joh. Ernst Gerhard seine Orationis Dominicae in 
lingua Aethiopica analysis grammatica (Wittenberg 1647) „Dn. Johanni Zechen- 
dorffio, Philologo inhgni, & Lingg. Orientalinm Propagatori felicifsimo“. 



Nissel und Petraens, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 319 


generibus S. 227, 346 fiihrt N. unter denjenigen aaf , welche nach 
altesten Handschriften das A. T. herausgegeben haben, und ermahnt 

dazu, die Lesarten dieser Ausgabe zu beachten Nach 

einiger Zeit aber entdeckte Tychsen geleitet durch die circelli cri- 
tici unserer Ausgabe, da6 dieselbe nichts weiter als ein Abdruck 
der Ausgabe von Elias Hutter von 1587 sei, auf welche wegen 

ihrer Seltenheit Niemand verfallen war Der Leser wird 

hiernach ermessen, in wieweit N. sich mit Recht einen linguarum 
orientalium propagator nennen konnte.“ Aber diese Ausfiihrung 
Siegfrieds ist ganz schief und seine Beurteilung Nissels entschieden 
ungerecht. Wenn Nissel als Quelle seiner Bibelausgabe ein „altes, 
veraltetes Bnch“ CjWi: Jtt'' iSD, vgl. Lev. 26 lo) angibt, so ist damit 
keineswegs gesagt, dafi dies „Bucli“ eine Handschrift ist ; denn ISO 
an sich heifit nicht „ Handschrift", und mit dem Pradikate „alt“ 
war man damals sehr freigebig, vgl. meine Bemerknngen iiber 
Nissels Bezeichnnng des Potkenschen athiopischen Psalters als ^ve- 
tustus codex" oben S. 275 f. G-anz verkehrt aber ist es, wenn 
Siegfried behauptet, man habe ndie Sache damals [d. h. nach Nissels 
Tode] zuerst so aufgefaBt". Vor Tychsen hat niemand eine solche 
Auffassung vertreten, und da es auf dem lateinischen Titel der 
Nisselschen Bibel (s. oben S. 288 Anm. 2) heiBt: „Ex optimis Edi- 
tionibus diligenter expreffa", so lag eine solche Auffassung auch 
gar nicht nahe. Da6 Tychsen daim aber in der geschUderten Weise 
hereingefallen ist, um nachher selbst seinen Hereinfall zu erkennen, 
kann man doch unmogUch auf Nissels Schuldkonto setzen. 

Will man Nissels Bibelausgabe gerecht beurteilen, so muB man 
sie nach den Anspriichen beurteilen, welche Nissel selbst erhebt. 
Er selbst behauptet aber nicht, einen neuen, aus Handschriften 
verbesserten Text zu bieten, sondem wiU nur, wie schon oben 
S. 289 bemerkt, eine in erster Linie fiir den Gebrauch der stndie- 
renden Jugend geeignete, moglichst praktische Handausgabe liefem, 
die dabei naturlich auch sorgfaltig gedruckt sein soil. Und daB 
er dies Ziel im groBen und ganzen durchaus erreicht hat, wird 
man kaum bestreiten konnen. Von den Neuerungen, welche Nissel 
xmter jenem praktischen Gesichtspunkte eingefiihrt hat, verdient 
besondere Erwahnung die schon auf dem Titel und dann auch in 
den empfehlenden Vorreden der Leidener theologischen Fakultat 
und des Hebraisten Uchtman erwahnte Durchfuhrung der Vers- 
zahlung, welche das Auffinden zitierter Stellen sehr erleichtert. 
Wahrend namlich in den alteren Ausgaben der hebraischen Bibel 
hochstens der jeweils erste, funfte, zehnte, funfzehnte Vers usw. 



320 


Alfred Bahlfs, 


mit den hebraischen Zahlzeichen S , n , , it3 usw. gezahlt waren ^), 

versali Nissel aach die ubrigen Verse mit ihren Zahlen, wahlte 
dafiir aber arabische ZifPem, so dafi der eigentumliche Wechsel 
«, 2, 3, 4, n, 6, 7, 8, 9, ^ 11 osw. entstand, der seitdem in so 
vielen Ansgaben wiederkehrt. Grenau dieselbe praktische Neue- 
rung findet sick allerdings anch schon in der 1661, also ein Jahr 
vor Nissels Ausgabe, zu Amsterdam erschienenen Bibel des Jos. 
Athias und wird anch in deren Vorrede von dem Utrechter Prof. 
Job. Leusden nnter ihren Vorziigen genannt. Folglich ist Athias 
hierin Nissel znvorgekommen. In Wirklichkeit aber gehort die 
Prioritat der Erfindung doch vielleicht Nissel, da dieser voile sieben 
Jahre an seiner Bibel gedruckt (s. oben S. 290 Anm. 1), also ver- 
mntlich vor Athias mit dem Drncke begonnen hat. — Ubrigens 
muB man bei der Beurteilung der Nisselschen Bibelansgabe be- 
denken, dafi Nissel sie, wie schon oben S. 289 bemerkt, offenbar 
hanptsachlich in der Absicht nntemommen hat, durch sie die fiir 
seine Verhaltnisse zweifellos sehr betrachtlichen Unkosten seiner 
Druckerei wiedereinznbringen. Wenn er dennoch diesen Brack 
nicht als blofies Greschaftsnnternehmen behandelt and moglichst 
schnell abgetan, sondem sich redliche Miihe mit ihm gegeben hat, 
so ist schon das anerkennenswert. 

Anfier seiner hebraischen Bibel hat Nissel, zam Teil in 6e- 
meinschaft mit Petraens, die oben S. 271 ff. nnter Nr. 1 — 4. 6. 8 
beschriebenen athiopischen und arabischen Bibeltexte heraasgegeben, 
ferner 1646 die auf S. 285 erwahnte, „exercitu loco“ verfaBte „Ora* 
tio syriaca“ (Berghm. S. 9 Nr. 17) and 1655 das „Testamentam 
inter Mahamedem et Christianse religionis popalos initam“ and die 
14. und 15. Sure (Willems S. 191 f. Nr. 770). Auch fiber diese Ver- 
offentlichungen siad sehr harte Urteile gefallt, z. B. von Ludolfs 
abessinischem Freande Gregorius, der in einem Briefe an Ludolf 
vom 10. Nov. 1657 fiber den athiopischen Text in den Nissel-Pe- 
traeus’schen Ansgaben der katholischen Briefe (Nr. 1 — 3) schrieb: 
„Totus elt mendofus et fphalmatis plenus, nec lectu dignus'^ (nach La- 
dolfs tibersetzung im Lexicon, ed. II [1699], erste Seite des „Cata- 


1) Dies gilt allerdings nur fur die Ausgaben des bloBen hebraischen Textes. 
Dagegen sind alle Verse bereits durchgezahlt a) mit lauter arabischen Ziffern in 
der Antwerpener, Pariser and Londoner Polyglotte, wo eine vollstandige Vers- 
zahlung auch um so unentbehrlicher war, als man nur mit ihrer Hilfe die in die- 
sen Werken zusammengestellten Texte bequem vergleichen konnte; b) mit lauter 
hebraischen Zahlbucbstaben in der 1653 zu Amsterdam erschienenen hebraischen 
Bibel mit dem Kommentare Kaschis, wo die Verszahlen des Textes im Kommen- 
tare wiederkehren. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 321 

logus librorom"). Es lafit sich auch dnrchaas nicht leugnen, dafi 
sehr schlimme Fehler darin vorkommen ; schier unbegreiflich ist es 
z. B., worauf das bei J. H. Zedler erschienene ,Grrofie voUstandige 
Universal-Lexicon" 24 (Lpz. a. Halle 1740), Sp. 1011 hinweist, da6 
Nissel und Petraeus in lac. 1 1 das in den athiopischen Text uber- 
nommene griechische Wort Siaaxopa nicht erkannt, sondern es in 
ihrer lateinischen TJbersetzang vollig sinnlos durch „Ifachar“. wie- 
dergegeben haben. Auch hat Christoph. Aug. Bodius, Pragmenta 
Veteris Testamenti ex versione Aethiopici interpretis (Guelpherb. 
1755) gewifi nicht ungerecht geurteilt, wenn er auf S. 10, wo er 
die alteren lateinischen Ubersetzungen athiopischer Bibeltexte in 
bessere und schlechtere einteQt, die Nisselschen zu den schlechteren 
rechnet*) und auf S. 11 die Nissel-Petraeus’schen Ansgaben neu- 
testamentlicher Stiicke fiir noch fehlerhafter als die in der Lon- 
doner Polyglotte erklart; denn Bode, der selbst alle bis dahin 
heransgegebenen athiopischen Bibeltexte neu ins Lateinische iiber- 
setzt hat, hat diese nebst ihren friiheren lateinischen Ubersetzun- 
gen genau durchgearbeitet and auf S. 12 zum Beweis die Fehler 
von Nissels Ubersetzung des Cant, zusammengestellt. Aber bei 
alledem mufi man, wie auch Ludolf und Bode betont haben, immer 
bedenken, wie durftig die HUfsmittel waren, welche Nissel damals, 
vor dem Erscheinen von Ludolfs G-rammatik und Lexikon , zur 
Verfugung standen. Und auf jeden Fall muB man bei einem Ge- 
lehrten, der alle seine Werke auf eigene Kosten gedruckt und sich, 
nm sie drucken zu konnen, trotz seiner diirftigen Verhaltnisse so- 
gar eine eigene Druckerei angeschafft hat, seinen Eifer fiir die 
Wissenschaft anerkennen, selbst wenn sein Konnen manchmal hinter 
seinem Wollen zuriickgeblieben ist. 

Wie liber Nissel, sind auch fiber Petraeus recht absprechende 
Urteile gefallt. Doch beziehen sich diese auf sein auBeres Leben 
in seiner letzten Zeit, wo es ihm zweifellos sehr kfinunerlich ging, 
und auf seine „invidia“, wie Ludolf sagt (s. oben S. 300), d. h. auf 
den passiven Widerstand, welchen er unter Umstanden alien Ver- 
suchen, ihm sein aus dem Orient mitgebrachtes Wissen abzuzapfen, 
entgegensetzen konnte, und sind schon von MoUer S. 490 f. in ihrer 
Nichtigkeit nachgewiesen, resp. auf ihr richtiges MaB zurfickge- 
ffihrt. Dagegen sind seine Kenntnisse auch von einem so kompe- 
tenten Beurteiler wie Hiob Ludolf, obwohl dieser mit ihm wegen 
seiner „mvidia“ hochst unzufrieden war, voll anerkannt worden 


1) Die anderen „schlechteren“ sind die tob Dudley Loftus und Edmund 
Castell in der Londoner Polyglotte. 



322 


Alfred Rahlfs, 


in dem schon oben S. 300 angefiihrten Satze : „ Theod. Petraeum 
fateor in omni literatura Orientali egregie versatiim f 111836“. FeMer 
kommen natiirlich auch bei Petraeus vor. Besonders die ersten 
IJbersetzungen athiopischer Texte, welche er mit Nissel gemeinsam 
gemacht hat, lassen, wie bemerkt, viel zn wiinscben iibrig; und 
das sinniose „Ifachar“ statt Siaoxopa lac. 1 1 kommt ja doch auch 
znr Halfte auf Petraeus’ Rechnung. Aber damals war Petraeus 
eben, wie Bode a. a. O., S. 10 sagt, „Aethiopismi adhuc parumper 
gnarus“. Spater dagegen bat er seine athiopiscben Kenntnisse auf 
seiner Orientreise bedeutend erweitert, and so stebt Bode nicbt 
an, Petraeus’ spatere Ubersetzungen zu den „besseren“ zu recbnen, 
wenn er ihnen aucb nnr die letzte Stelle unter diesen „besseren“ 
anweist '). 

Mag man aber auch dem Petraeus im einzelnen mancbe Fehler 
nachweisen konnen, auf jeden Fall darf man nicbt verkennen, daB 
er sicb hohe und wahrhaft erstrebenswerte Ziele gesteckt hat. 
Besonders charakteristisch fiir ihn ist es, da6 er sicb nicbt mit 
dem begniigte, was er von okzidentalischen Gelehrten iiber die 
orientalischen Sprachen und Literaturen erfahren konnte, sondern 
das Hauptgewicht darauf legte, von den Orientalen selbst ihre 
Sprachen zu lernen*), wobei er naturlich zugleich in die ganze 
Denk- und Auffassungsweise derselben besser eindrang, und daB 
er besonders bestrebt war, neue Texte aufzufinden und zu ver- 
bfiPentlichen. So suchte er iiberall ein wabrhaft lebendiges und 
authentisches Wissen vom Orient zn erwerben und dieses dn.-nTi 
durch seine Werke aucb auf andere zu iibertragen ®). Dabei be- 
schrankte er sicb nicbt auf einzelne orientalische Sprachen, sondern 
studierte alle, die er noch irgendwie lebendig vorfand, Arabisch 
und Athiopisch so gut wie Persisch und Tiirkisch und wie Kop- 
tisch, Armenisch und aucb Neugriecbisch *). Hatte er mehr Gluck 
gehabt und das, was er woUte, ausfuhren konnen, so wurde er 
zweifelsohne zu den Bahnbrechem der Orientalistik im XVII. Jahrh. 


1) Die ubrigen „besseren“ sind die von Job. Heinr. MichaeUs, 6. C. Biircklin 
und G. Otho, also Schulern Ludolfs, die weit bessere ffilfsmittel zur Verfugnng 
batten als Petraeus. 

2) biebe oben S. 295. Hiermit hangt es zusammen, daB Petraeus aucb die 
damals ubliche Ausspracbe des Koptiscben aufgezeicbnet bat, s. oben S 297 f. 

31 Lber abnbcbe Tendenzen bei Ludolf s. Flemming in den Beitragen zur 
Assynologie 2 (1891, resp. 1894), S. 109. 

4) Werner Diss. Guelpb. S. 8 nennt unter den Werken, deren Herausgabe 
Petraeus geplant bat, aucb „Gracorum Confesfio modernorum, Graca vulgari, cui 
ipfe Latinam verfionem adjecit“. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 323 


zu zahlen sein. Fiir das Koptische z. B. wiirde er durch seine 
Arbeiten, wenn es ihm vergonnt gewesen ware, sie gedruckt zn 
sehen, die bis dabin fehlende nnd dann erst im XVIII. Jahrh. dnrch 
Wilkins gelegte Grnndlage geschaiFen haben, vgl. L. Stem, Kopt. 
Gramm. (1880), S. VIII : „Der erste, welcber sich nm 1660 ans der 
literatnr selbst eine recht ansehnliche kenntniB des koptischen er- 
warb, ohne indefi mit seiner errnngenschaft hervortreten zu konneo, 
war Theod. Petraects ans Flensburg*'. 

in. Nissels und Petraeus’ athiopische Typen. 

Antoine d’Abbadie, der fiir seinen Catalogue raisonne de 
mannscrits ethiopiens appartenant a Antoine d’Abbadie (Paris, Im- 
prim. imper., 1859) die ersten wirklick ganz schonen athiopischen 
Typen hat schneiden lassen, gibt in der Vorrede zu diesem Werke 
auch eine Ubersicht iiber die bis dahin verwendeten athiopischen 
Schriftarten. Er unterscheidet im ganzen fiinf Schriftarten , von 
denen drei dem XVI. und XVU. Jahrhundert angehoren, namlich 
1) die Typen der Propaganda, die aus der Zeit um 1513 stammen 
mussen, da schon Potkens 1513 in Rom erschienener athiopischer 
Psalter mit ihnen gedruckt ist (neuerdings in dem 1815 zn London 
erschienenen P^ter nachgebildet) ; 2) die Typen Hiob Ludolfs, die 
besonders in Deutschland sehr viel gebraucht sind; 3) die Typen 
der Londoner Polyglotte, die auch „dans les livres d’Esdras im- 
primes a Oxford “ (d’Abbadie meint die 1820 von Laurence heraus- 
gegebene Esdras-Apokalypse) verwendet sind. Aber diese Dar- 
stellnng Abbadies ist nicht nur unvollstandig, sondera wirft auch 
in zwei Fallen verschiedene Schriftarten zusammen: die Typen 
Potkens stammen naturlich nicht von der erst 1622 gegriindeten 
Congregatio de propaganda fide nnd unterscheiden sich auch deut- 
lich von den Propaganda-Typen sowohl in der Form vieler Buch- 
staben als auch darin, dafi die Potkensche Schrift anfrecht steht, 
wahrend die Propaganda-Schrift nach rechts geneigt („knrsiv“) ist; 
und die Schrift der Londoner Polyglotte ist der Oxforder Schrift 
zwar im GesarntbUde ahnlich, lauft aber schmaler und weicht 
auch in manchen Einzelheiten ab. 

Einige Verbesserungen bringt die DarsteUnng der athiopischen 
Typographie bei E, e e d S. 69. Doch ist auch sie unvollstandig und 
nngenau. Daher gebe ich hier zunachst einen knrzen tlberblick 
fiber die sonstigen athiopischen Typen des XVI. und XVII. Jahr- 
hunderts, um dann genauer auf die Geschichte der Nissel-Petraeus’- 
schen Typen einzugehen. 



324 


Alfred Rahlfs, 


Im XVI. and XVII. Jahrh. kommen auBer den Nissel-Pe- 
traeas’schen, soviel ich weiB, sechs‘) Arten athiopischer 
Typ e n vor : 

1) in den beiden Psalterdrncken Potkens Rom 1513 (blo6 der 
athiopische Text, aber mit Od. nnd Cant.) und Koln 1518 (Psal- 
terium in quatnor lingnis, nur Ps. 1 — 150), 

2) in dem 1548/49 in Rom von Tasfa-Sejon (Petrus Aethiops) 
herausgegebenen Nenen Testament nnd in der ebenda 1552 erschie- 
nenen Grammatik des Marianas Victorias®), 

3) in der 1630 in Rom veranstalteten Neuausgabe der Gram- 
matik des Victorias, in Athanasins Kirchers Prodromus Coptns 
(Rom 1636) and lacobas Wemmers’ Lexicon Aethiopicum (Rom 1638), 

4) in Job. Ernst Gerhards Neuaasgabe von Wilh. Schickards 
Institationes lingaae Ebraeae (Jena 1647), in ebendesselben Ora- 
tionis Dominicae in lingaa Aethiopica analysis grammatica (Witten- 
berg 1647) and in Job. Friedr. Nicolais Hodogeticam(so !) orientale 
harmonicom (Jena 1670), 

5) in der 1657 vollendeten Londoner Polyglotte and in der 
1661 in London erschienenen ersten Ansgabe von Hiob Lndolfs 
athiopischer Grammatik und Lexikon, 

6) in Hiob Ludolfs 1681 zu Frankfurt a. M. erschienener Hi- 
storia Aethiopica and anderen Werken desselben und anderer Ge- 
lehrten. 


1) Die unten S. 326 bei der secbsten Typenart zu erwahnende altere Neben- 
art ist dabei nicht mitgezahlt. 

2) F. Praetorius, Athiop. Gramm. (1886 ; = Porta ling, or. VII), Litteratura 
S. 22 gibt als Erscheinungsjahr dieser Grammatik 1548 an nnd fugt hinzu: „ite- 
rum editum 1552 et 1630“. Aber dies ist ein Irrtum. Das Werk ist 1552 erst- 
malig erschienen. Der genaue Titel des Werkes ist; „(Athiop. Titel.) | CHAL- 
DEAE I SEV AETHIOPICAE | LINGVAE | IXSTITVTIONES | Nunquam antea 
a Latinis vif®, opus | vtile, ac eruditum. | Item. ] OMNIVM AETHIOPIAE RE- 
GVM I qui ab inundato terraru orbe yfq; | ad noftra tepora imperarunt | Libellus : j 
Hactenus tarn Graecis, quam Latinis ignoratus, | nuper ex Aethiopica translatus 
lingua. I (Signet.)“ Am Schlusse des Werkes steht: „FINIS. | Impreffit oia qum in 
hoc libro cdtinentur, | ex primatu licentia Valerius Dori-lcus Brixien. opera An- 
geli I de Oldradis. | Romae Anno a natali Chrilli. M. D. LII.“ Das Werk umfaBt 
(einschlieBlich der Titelseite) 9‘/2 Quartbogen = 76 ungezahlte Seiten; das auf 
dem Titel an zweiter Stelle angekiindigte Verzeichnis der athiopischen Konige 
nimmt die letzten IV 2 Bogen ein und hat auch noch einen Sondertitel (erste Seite 
des Bogens G). — Auf der Ruckseite des Haupttitels beginnt die 13 Seiten lange 
Widmungsepistel: „MARCELLO CERVINO CARD. | AMPLISSIMO. | Marianus 
Victorias Reatinus. S. P. D.“ Bemerkenswert ist, daB Victorias auf der 10. Seite 
dieser Widmungsepistel sagt, Cervinus habe das athiopische Neue Testament 
drucken und herausgeben lassen („imprimi, sediq; curafti"). 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Teztausgaben und Typen. 325 


Die e r s t e Typenart hat wahrscheinlich Potken selbst in Rom 
schneiden lassen und zwar zwischen 1511, wo er nach seiner An- 
gabe znerst die Abessinier in Rom fand und Athiopisch von ihnen 
zn lernen begann, nnd 1513, wo er znm ersten Male den Psalter 
heransgab ^). Spater mofi er diese Typen nach Koln mitgenommen 
haben, da anch sein Kolner Psalter mit ihnen gedruckt ist. 

Wie die erste, so weist anch die zweite und dritte Typenart 
auf Rom als ihren Ursprungsort hin. Die zweite ist natiirlich 
fiir den Dmck des Nenen Testamentes geschnitten; vieUeicht hat 
Marcello Cervini, der 1555 kurze Zeit als MarceUns II. anf dem 
papstlichen Throne safi, die Anfertigung dieser Typen veranlaSt, 
vgl. oben S. 324 Anm. 2 Schl. Genane Nachricht besitzen wir 
liber den Ursprung der dr it ten Typenart, nnd zwar in der an 
Urban VIII. gerichteten Widmungsepistel der Nenansgabe der 
Grammatik des Victorias. Danach haben die in Abessinien mis- 
sionierenden Jesuiten, als sie dort anf dem Gipfel ihrer (1632 
plotzlich zusammengebrochenen) Macht standen, nach Rom Zeich- 
nnngen der athiopischen Buchstaben in drei verschiedenen GroBen 
geschickt nnd gebeten, diese in Rom fur sie schneiden zu lassen 
nnd ihnen znznschicken, damit sie den romisch-katholischen Glanben 
in Abessinien anch dnrch die Heransgabe von Biichern ansbreiten 
konnten. Der Papst ist diesem Wnnsche nachgekommen und hat 
die Herstellung der T3T)en dem ^Achilles Venerius, Agens Sacr. 
Congregationis de Propaganda Fide" iibertragen, nnd dieser hat 
dann die kleinste jener drei eingesandten GroBen schneiden lassen 
nnd das Schriftgut nach Abessinien geschickt, zugleich aber anch 
einen Fonds derselben Typen in Rom fur den Gebranch der Pro- 
paganda behalten. Als Specimen dieser Typen ist 1630 ebenjene 
Nenansgabe der Grammatik des Victorius veranstaltet^). 

1) Der Druck wnrde laut Potkens Nachschrift zum Cant, am 10. Sept. 1513 
vollendet. In der Vorrede des Psalters sagt Potken, daB er die Abessinier „bien- 
nio vix elapso“ kennen gelernt babe. 

2) Da das Werk kaum allgemein zuganglicb ist, drutke icb bier den ganzen 
Anfang der Widmungsepistel des Achilles Venerius ab : „S. D. N. VEBANO VIII. 
P. 0. M. CATHOLICAE Fidei apud Orietales Aethiopes, quos Abiffinos vocant 
inftauratores, PATEK BEATISS. vt falutarem doctrinam, qua ijs populis viua 
voce promulgare non definunt, editis etiam libris, pofiint quam latiffime propa- 
gare; tranlmiHa hucufque eius linguae tripHci ferie, fola magnitudine differentium 
Litterarum, ad earum fpeciem, & exemplar excufos sereos characteres, caeteraque 
imprefforise artis inftrumenta ab Vrbe libi remitti poftulauere. Id, ego, negotij 
Tuse Sanctitatis iuffu, cum lubenti, alacriq. animo fufcepiffem, ex tribus elemento- 
rum ordinibns eum felegi, formandumque ex aere curaui, qui, quia figuris minori- 
bus erat, aptiffimus vifus eft & expeditifiimus. Nec I'atis mihi fuit vnum dumtaxat 



326 


Alfred Kahlfs, 


tiber die vierte Typenart s. den Nachtrag nnten S. 347 f. 

Die fiinfte Typenart ist gewiB eigens fiir die Londoner Poly- 
glotte geschnitten. 

tiber den TJrsprnng der sechsten Tj^enart berichtet Lndolf 
im Vorworte seiner Historia Aethiopica also : „Impresrionem fufce- 
pit Balthafar Chri/iopJiorus Wuftius, ob typographiam , variarum 
lingnarum typis inftrnctisfimam , etiam inter exteros notns; qui 
per fculptorem egregium Johannetn Adolf uni ©c^tnibt, literas tarn 
iEthiopicas quam Amharicas chalybi infculpi & dein fundi curavit. 
lUae verb tarn cite perfici non potnerunt, ac typothetae reqnire- 
bant, qnam ob canfam veteres quaedam minime elegantes, novis 
elegantioribus mifcendae fuernnt, nt periti illarum facile animad- 
vertent.“ Die beiden Typenarten, von denen Lndolf bier spricbt, 
lassen sich in der Tat leicht nnterscheiden. Die altere, die auch 
in Ludolfs athiopischem Briefe an die Abessinier vom Jahre 1683 *) 
nnd sogar noch auf den ersten Bbgen von Ludolfs 1691 erschie- 
nenem^) Commentarius zur Historia Aethiopica, ja vereinzelt noch in 
Georg Christian Blircklms „Qnatuor prima capita Geneseos, ^thiopice 
et Latine“ (Frankfurt a. M., „Typis & Sumptibns Johannis Wnftii“, 
1696) wiederkehrt, war also schon in der Wnstschen Druckerei 
zu Frankfurt a. M. vorhanden; iiber ihre Herkunft habe ich nichts 
Sicheres ermitteln konnen. Zur Herstellung der Schmidtschen 
Typen hat jedenfalls Lndolf in enger Beziehung gestanden. Auch 
hat spater Lndolf selbst diese Typen oder wenigstens eine gewisse 
Quantitat Lettern erworben; denn die zweiten Ansgaben von Lu- 
dolfs athiopischem Lexikon (1699) und Grammatik (1702), sowie 
auch sein athiopischer Psalter (1701) sind von Martin Jacquet 
„typis et sumtibus autoris" gedruckt, und zu dem Drucke von 


Apparatum conflcere Litterarum, qui, fcilicet, in Aethiopiam flagitantibus mitte- 
retnr, fed alterum prseterea addidi, qui Romie retentus, Sacrae Congregationi Pro- 
pagandse Fidei deferuiat, & hanc linguam Religionis bono addifcere volentibus 
piteifo lit. Huius apparatus vt Ipecimeu aliquod exliiberem, noua iaftrunienta vfu 
ipfo dedicaturus, Aethiopicse lingue Grammaticen a Mariano Victorio ante annos 
pqne octoginta editam , & dein conlumptis exemplaribus velut emortuam , denuo 
his Sacrae Congregationis typis exprefli, & fub al'pectum reuocaui fseculi noftri, li 
Tua Sanctitas, cui multis nominibus quantulacunque res eft, dedicatur, fereno illam 
vultu refpexerit, multo felicius rediuiuam.'^ 

1) Vgl. Juncker S. 167 und I lemming in den Beitragen zur Assyriologie 1 
(1890), S. 552 f. Ein Exemplar des Briefes ist erhalten in dem Sammelbande Kiel, 
Univ.-Bibl., g 50 4°. 

2) Her Druck wird aber schon 1687 begonnen haben. Wenigstens ist der 
Prospekt (gleichfalls in dem Kieler Sammelbande erhalten) nach Juncker S. 171 
im Jahre 1687 ausgegeben. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 327 


Georg Othos Synopsis institutionum Samaritanarmn etc. (1701) 
hat Lndolf, wie er in der Vorrede seiner athiopischen Grammatik 
ausdriicklich sagt, seine eigenen athiopischen Typen hergeliehen ^). 
Diese Typen haben sich dann weit verbreitet. Schon 1702 finden 
wir sie im Besitze der Bnchdrnckerei des Waisenhauses zu Halle 
a. d. Saale ; LudoHs friiherer Amanuensis , der Hallenser Prof. 
Job. Heinr. Michaelis, hat in diesem Jahre seine Nenansgabe der 
schon zweimal von Lndolf selhst herausgegebenen „Confessio fidei 
Claudii regis Aethiopicae“ (Halse Magdeburgic®. Typis & fumtibus 
Orphanoteophii. Anno Chrifti cia loccu) als Specimen dieser offenbar 
auf Michaelis’ eigene Anregung fiir Halle erworbenen Typen ver- 
oifentlicht ®). Ludolfs Typen sind auch jetzt noch nicht ausge- 
storben ; in Gottingen z. B. druckt man noch hentigen Tages mit 
ihnen. 

So viel znr allgemeinen Orientierung iiber die sonst im XVI. 
und XVII. Jahrh. vorkommenden athiopischen Typen. Nunmehr 
wenden wir nns eingehender denjenigen Typen zn, mit welchen 
Nissel und Petraeus ihre athiopischen Texte gedrnckt haben. 

Willems S. 185 Nr. 751 sagt von Nissel : „Tres verse dans 
I’^tude de I’arabe et de l’4thiopien, il avait fait graver pour son 
usage des caracteres orientaux qu’il confiait aux typographes char- 
ges d’imprimer ses travaux*. Willems hat dies offenbar aus dem 
TImstande geschlossen, dad Nissel die Typen auf alien Titeln seiner 
Werke von 1656 an als seine eigenen bezeichnet, s. oben S. 274 ff. 
Aber der SchluB ist falsch. Denn in den friiheren Werken, sowohl 
den drei ersten athiopisch-arabischen Textausgaben, als auch in 
der pOratio syriaca“ von 1646 und den beiden arabischen Drncken 
von 1655 werden die Typen nicht als Eigentum Nissels bezeichnet, 
sondem es heiBt entweder ausdriicklich -ntypis Elzeviriorum'^ (so 

1) Zweite Seite der Vorrede: ^Georgius Otho ... in Synopfi Inftitutionum 
^thiopicarum , cui imprimendse typos noftros commodavimus“. Auf dem Xitel 
von Othos Synopsis selbst steht allerdings „Typis Martini Jacqueti“, aber das 
wird ebenso ungenau sein wie dieselbe Angabe auf dem Xitel von Ludolfs Com- 
mentarius, vgl. auch Ludolfs amharische Grammatik und Lexikon, die beide nur 
den Vermerk „Impreflit Martinus Jacquetus“ tragen. 

2) Siehe die Vorreden zu Ludolfs amharischer Grammatik (1698) und Lexi- 
kon (1698), zum athiopischen Lexikon (1699) und Psalter (1701). 

3) Die Vorrede begiunt : „CVm ad edendum fpecimen literarum Aethiopi- 
carum, quarum accelTione nuper aucta eft typographia Orphanotrophii Glauchenlis, 
aliquid a me peteretur, equidem, poll impreffum Pfalterium, nihil Chriftianis le- 
ctoribus vtilius exiftimaui, quam prtefentem fidei confessionem CLAVDII, Regis 
Habeflinorum." 



328 


Alfred Rahlfs, 


in der ,Oratio syriaca“, s. ofaen S. 286), oder ^ex officina Johannis 
et Banielis (oder blofi Johannis) Elsevier.'^ (so in den iibrigen Wer- 
ben , s. oben S. 271 — 274 and Willems S. 191 f. Nr. 770). Danach 
gehorten die orientaJischen Typen anfangs nicht Nissel, sondem 
den Elseviers. Und dad dies in der Tat so war, liegt mindestens 
bei den arabischen Typen anf der Hand, da die in Nissels Werken 
verwendeten arabischen Typen genau dieselben sind, welche die 
Elseviers schon langst fiir den Brack arabischer Werke verwendet 
batten. Nissel hat also nicht etwa, wie Willems meint, nene ara- 
bische Typen schneiden lassen und diese den Elseviers fiir den 
Brack seiner Werke zar Verfiignng gestellt, sender n einfach die 
Typen verwendet, die er in der Elsevierschen Bruckerei 
vorfand. Wenn er diese Typen aber spater als seine eigenen be- 
zeichnet, so mu6 er sie inzwischen von Job. Elsevier gekauft haben. 
Und zwar mu6 dieser Kauf in der zweiten Halfte des Jahres 1655 
abgeschlossen worden sein. Benn einerseits wird anf den Titeln 
der beiden arabischen Werke Nissels vom Jahre 1655 (Willems 
S. 191 f. Nr. 770) noch Job. Elsevier als Brncker genannt. Baraus 
folgt, dafi Nissel beim Erscheinen dieser Werke die Typen noch 
nicht selbst besa6. Nan ist der friiheste mogliche Termin fur das 
Erscheinen dieser Werke der Mai 1656, da Joh. Elsevier erst seit 
Mai alleiniger Inhaber der Brackerei war (Willems S. 189). In 
Wirklichkeit aber sind sie noch etwas spater erschienen, da die 
Widmungsepistel des „Testamentum“ vom 18. Juli 1655 datiert ist 
(s. oben S. 288). Andrerseits ist der Brack des Cant., des ersten 
Werkes, welches anf dem Titel die Angabe „Typis Authoris* tragt, 
bereits am 3. Mai 1656 beendigt (s. oben S. 275). Auch hat Nissel 
an seiner hebraischen Bibel lant Uchtmans Vorrede (s. oben S. 290 
Anm. 1) voile sieben Jahre gedrackt and ist dann gleich nach Voll- 
endung des Bruckes gestorben. Ba non Nissels Tod wahrschein- 
lich zwischen den 6. and 16. Bez. 1662 fallt (s. oben S. 290), so 
hatte er, falls Uchtmans Angabe ganz genau ist, spatestens im 
Bez. 1665 mit seinem Bibeldruck begonnen. Nissel hat aber mit 
diesem Brucke naturlich erst begonnen^), als er seine eigene 
Bruckerei besaB. Folglich kommen wir auch hier zu dem Schlusse, 
daB er seine Bruckerei in der zweiten Halfte des Jahres 1655 er- 
worben hat. 

Nissels orientalische Typen stammen also von den Elseviers ^). 

1) Den Plan des Bibeldruckes verlautbart Nissel am 18. Juli 1655, s. oben 
S. 289 Anm. 2. 

2) Hierdurch erklart und rechtfertigt es sich auch, daB Nissel in einer Titel- 
auflage seines 1655 bei Joh. Elsevier gedruckten „Testamentum inter Mubamedem 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 329 

DicsG &b6r si6 ihrBrsGits sms dcin ^&chl3>ssG dcs bGruhnitGii 

Leidener Orientalisten Thomas Erpenius, der am 13. Nov. 
1624 vorzeitig an der Pest gestorben war. Erpenius hatte sich 
bekanntlich fiir den Dmck seiner orientalischen Werke eine eigene 
Dmckerei angeschafft und fiir dieselbe mit groBen Kosten neue 
orientalische Typen schneiden lassen. Sein gauzes typographisches 
Material kanfte im Jahre 1626 Isaac Elsevier (s. Willems S. XLIII. 
XLVIIf.); dieser verkaufte dann aber nocb in demselben Jahre 
seine Dmckerei an Bonaventnra und Abraham Elsevier, und von 
diesen ging sie im Jahre 1652 anf ihre altesten Sohne Johannes 
und Daniel und im Mai 1655 auf Johannes allein iiber. Die Her- 
knnft von Erpenius ist bei den in Nissels nnd Petraeus’ Schriften 
verwendeten arabischen und syrischen Typen auch ohne weiteres 
klar, da sie mit den von Erpenius selbst verwendeten Typen ge- 
nau iibereinstimmen. Aber stammen auch die athiopischen Typen 
von Erpenius? 

Man konnte dies zunachst bezweifeln, da Erpenius — wenig- 
stens soweit ich weiB — nichts Athiopisches gedruckt hat, und da 
auch bei den Elseviers vor 1654 nichts Athiopisches erschienen ist. 
Trotzdem ist die Herkunft auch dieser Typen von Erpenius ganz 
sicher. Deim die Elseviers hatten, gerade weil sie bis 1664 nichts 
Athiopisches gedruckt haben, auch gar keinen AnlaB, sich athiopi- 
sche Typen anzuschaffen. Erpenius dagegen hat athiopische Typen 
besessen. Dafiir haben wir ein ausdriickliches und durchaus glaub- 
wiirdiges Zeugnis in der Leichenrede, die ihm Ger. loan. Vossius 
gehalten hat ‘) ; denn es heiBt in ihr auf S. 21 : „fumtuum magni- 
tudine minime territus, typographiam (at in re nova novo nomine 
vocamus) inftituit, idque lingua non una: fed Arabica, Hebraica 
Syriac^, Chaldaica, iEthiopica, Perfica, & Turcica. “ Auch schreibt 
der bekannte Erzbischof James U(s)sher am 16. Juni 1626 an Sa- 
muel Ward in Cambridge, nachdem die orientalischen Handschriften 
des Erpenius bereits fiir Cambridge angekauft sind : „I have alfo 

et Christiana; religionis populos initum“ (Willems S. 192 Nr. 770, zweite Abtei- 
lung), welche er 1661 veranstaltete (Gottingen, Univ.-Bibl,, 4“ Theol. thet. I 213b), 
die Angabe, dafi das Werk bei Job. Elsevier auf Kosten des Autors gedruckt sei 
durch ^Typis et Impen/is Nisseli.vsi.s“ ersetzt bat. Vgl. unten S. 334 uber eine 
analoge Anderung in einer Titelauflage des Petraeus. 

1) Gekaedi Io.vnnis Vossii | ORATIO | In obitum | Clariffimi ac prajlan- 
tiffimi viri, | THOMAE ERPENII, | Orientalium linguarum in Academia Leidenfi 
Profefforis. | Habita ftatim ab ex/equiis in auditorio Theologico, | xv. Novemb. 

Anno CIO ID cxxiv. I I Lugdtmi Batavorum, | Ex Officina Erpeni.an.a. | 

Sumptibus Iohannis Maere. cio io cx.xv. 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachricliten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 2. 


22 



330 


Alfred Rahlfs, 


perfwaded him [namlich den Kanzler der TJniversitat CambridgeJ 
to fend thither [nach Leiden] for the Matrices of the Syriack, Ara- 
hick, JEthiopkk, and Samaritan Letters, and to beftow them like- 
wife upon you“, und eine Woche spater, am 23. Juni 1626. an 
denselben: „Since I wrote unto you laft, I have received intelli- 
gence from Leyden^ that all Erpenius's printed Books are already 
fold ; and his Matrices of the Oriental Tongues are bought by El- 
zevir the Printer there ; fo that now yon muft content your felves 
with his Manufcripts only“ '). U(s)sher wufite also, da6 Erpenius 
neben seinen ubrigen orientalischen Typen auch athiopische hinter- 
lassen hatte, und hat, allerdings vergeblich, geraten, diese nebst 
den ubrigen fiir Cambridge zu erwerben. 

Die Anschaffung dieser athiopischen Typen ist bei Erpenius 
wohl erklarlich. Denn Erpenius hat auch das Athiopische in den 
Kreis seiner Studien gezogen. Er hat, wie Yossius in der Leichen- 
rede S. 15 sagt, in Venedig Athiopisch gelernt: ^Venetijs affidue 
contulit cum ludaeis, & Muhammetanis ; ac, quo plura ab his difce- 
ret, tanto avidius castera concupifcebat. Itaque his magiftris (6 
pulcram animam !) etiam Turcicae , Perficae, & iEthiopicae linguae, 
notitiam acquifivit.* Er hat laut dem Katalog seiner Handschriften 
und gedruckten Biicher in Petri Scriverii Manes Erpeniani (Lugd. 
Bat. 1625) eine athiopische Handschrift „Precationes chriftianae 
.^Ithiopice, in 8.“ und zwei athiopische Bucher, das von Tasfa- 
Sejon 1548/49 herausgegebene Neue Testament und die 1552 er- 
schienene Grammatik des Victorius®), besessen. Und er hat auch 
selbst Athiopisches zu drucken beabsichtigt und ist daran nur 
durch seinen vorzeitigen Tod gehindert worden ; speziell spricht 
Yossius S. 25 von einer athiopischen Grammatik, welche Erpenius 
geplant oder zu schreiben begonnen hatte: „Mitto grammaticen 
.^thiopicam, quae utinam aliquando poftliminio eo redeat, quo 
optamus.“ — tibrigens erklart sich aus dem, was wir soeben fiber 
die in Erpenius’ Besitz befindHchen athiopischen Bucher horten, 
auch die Form seiner athiopischen Typen. Denn diese sind den 


1) The Life Of the Most Reverend Father in God, Janies Usher ... by 
Richard Parr, London 1686, Letter XCVTII und XCIX = The whole work.s of 
. . . James Ussher ed. Elrington 15 (Dublin 1834), Letter CIX und CX. Auf 
diese Stellen hat (in anderem Zusammenhange) schon Reed S. 141 Anm. 2 hin- 
gewiesen. 

2) Dies steht in den nicht paginierten Manes Erpeniani auf der Vorder- 
seite des letzten Blattes von Bogen E. 

3) Letzte Seite der Manes Erpeniani : „TeIlamentum novum Aethiopicum. 
Rom®, in 4.“ und „Grammatica brevis Aethiopica. Rom®, in 4.“ 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 331 

von Tasfa-Sejon und Victorius verwendeten Typen*) im groBen 
und ganzen so ahnlich und weichen dabei doch in manchen Klei- 
nigkeiten so von ihnen ab, dafi man sie unschwer als Kopien der- 
selben erkennt. Erpenius hat also die Typen der beiden athiopi- 
schen Druckwerke, die er besaB, nachschneiden lassen. 

Hiermit ist der Ursprung von Nissels athiopischen Typen fest- 
gestellt, und es fragt sich nun : Wie kam es, daB dies e Typen 
in Nissels Besitz iibergingen? 

Als Bonaventura und Abraham Elsevier am 8. Febr. 1626 den 
Kuratoren der Universitat und den Biirgermeistern der Stadt Leiden 
anzeigten, daB sie die Drnckerei von Isaac Elsevier gekanft 
batten, und darum baten, daB man nunmehr sie statt Isaacs als 
ordentliche und geschworene Universitats-Buchdrucker anstelle, da 
wiesen sie vor allem auch auf die orientalische Drnckerei des Er- 
penius hin, die sie von Isaac mit ubemommen batten, und ver- 
sprachen, im Falle ihrer Anstellung diese orientalische Drnckerei 
der Stadt Leiden zu erhalten^). Daranf erhielten sie am 9. Mai 
1626 die gewunschte Anstellung mit einem jahrlichen Gehalt von 
100 fl., wobei unter anderem auch die Bedingnng gestellt wnrde, 
daB die orientalische Drnckerei des Erpenius in Leiden zur Ver- 
fugung der Universitat bliebe®). Funf Jahre spater aber, am 
9. Aug. 1631, nachdem inzwischen ihr Grehalt schon auf 200 fl. er- 
hoht war, klagten sie ^over den grooten last, van hare druckerye, 
ende sonderlinghe van het onderhoud van den Corrector van de 
Orientaelsche boecken, die zy luyden drucken“, und erreichten 
dadurch in der Tat am 18. Nov. 1631 eine abermalige Erhohung 
ihres Gehaltes auf 300 fl. Dieses Gehalt bezogen sie bis 1650 
aber dann wurde es ihnen am 14. Febr. 1650 gestrichen, weil die 
Universitat mit einer gar zu hoben Rechnung von ihnen unzufrie- 
den war®). Hieran kniipften sich langwierige Verhandlungen, die 
schlieBlich dazu fiihrten, daB zwar nicht mehr Bonaventura und 
Abraham, die am 17. Sept., resp. 14. Aug. 1652 starben, wohl aber 
ihre Sohne und Nachfolger Johannes und Daniel am 26. Aug. 1653 


1) Vgl. oben S. 324f. (zweite Typenart). 

2) W. J. C. Eammelman Elsevier, Uitkomsten van een onderzoek omtrent de 
Elseviers (1845), Bijlage 18 (niederlandisch) = A. de Reume, Recherches histori- 
qnes, gene'alogiqnes et bibliographiques sur les Elsevier (1847), S. 102 Nr. 8 
(franzosisch). 

3) Eammelman Elsevier Bijl. 19 = de Reume S. 102 f. Nr. 11. 

4) Eammelman Elsevier Bijl. 20. 22. 23. 

5) Eammelman Elsevier Bijl. 24. 25 = de Reume S. 103 Nr. 12. 

22 * 



332 


Alfred Kahlfs, 


das friihere Grehalt von 300 fl. wiederbewilligt erhielten’). In 
dieser Zeit nun spielte die orientalische Dimckerei wieder eine er- 
hebliche EoUe. F-iTuna] glichen Bonaventura und Abraham den 
Fortfall ihres Gehaltes wenigstens teilweise dadurch aus, dab sie 
— recht unbarmherzig und pietatlos — ihren bereits 60jahrigen 
orientalischen Korrektor Eusebius Meisnerus aus Basel, der schon 
in der Privatdruckerei des Erpenins tatig gewesen und mit ihr 
znsanunen ubernommen worden war, einfach entliefien^). Sodann 
haben die Elseviers damals ofiPenbar gedroht, die orientalische 
Druckerei iiberhaupt ganz zu verkaufeni denn in einem von Jac. 
Golius verfafiten und von der Universitat am 10. Juni 16o3, also 
kurze Zeit vor der 'Wiederbewilligung des Gehalts, gutgeheibenen 
Memoire wird ausdriicklich verlangt, dab die orientalischen Lettern, 
Matrizen und Punzen nicht verkauft werden sollen, wenigstens 
nicht ohne Vorwissen der Universitat, und es wird darin ein Pro- 
gramm fiir die Belebung und Fruchtbarmachnng der orientalischen 
Druckerei entwickelt *). Jener Gedanke, die orientalische Druckerei 
ganz abzustoben, ist wohl verstandlich : orientalischer Satz wird 
im ganzen sehr viel seltener gebraucht als anderer, rentiert sich 
also schlechter, und erfordert dabei doch ein besonders geschultes 
Personal. 

Im folgenden Jahre, 1654, begannen dann Nissel und Petraeus, 
ihre orientalischen Werke bei Johannes und Daniel Elsevier drucken 
zu lassen und damit in gewisser Weise das eben erwahnte Pro- 
gramm zu verwirklichen. Auch 1655 lieb Nissel noch allein seine 
bereits erwahnten arabischen Werke (Willems S. 191 f. Nr. 770) 
bei Joh. Elsevier, der seit dem Mai 1655 alleiniger Geschaftsinhaber 
war, drucken. Dann aber kaufte er, wahrscheinlich in der zweiten 
Halfte des Jahres 1655 (s. oben S. 328), von Joh. Elsevier einen 
groberen Typenschatz und griindete seine eigene Druckerei. Joh. 
Elsevier hat also damals den Gedanken an einen Verkauf der 
orientalischen Typen, den er, wie wir sahen, schon vorher gehegt 
hatte, wenigstens teilweise zur Ausfiihrung gebracht. Das erklart 
sich leicht aus seiner damaligen Lage. Kurze Zeit vorher hatte 
sein Kompagnon Dan. Elsevier sich von ihm getrennt, um nach 
Amsterdam iiberzusiedeln und dort in das Geschaft des Louis El- 
sevier, dessen Nichte er geheiratet hatte, einzutreten i Willems 
S. CXCIV f.). Diese Trennung aber brachte naturgemab fiir Joh. 


1) Kammelman Elsevier Bijl. 26—35; de Eeume S. 104 Nr. 13. 14. 

2) Eammelman Elsevier Bijl. 16. Vgl. Willems S. CXII f. CLXIX. 

3) Rammelman Elsevier Bijl. 34; de Eeume S. 104 Nr. 13. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textaasgaben und Typen. 333 


Elsevier geschaftliche Schwierigkeiten mit sich. Femer waren 
abermals Differenzen mit der TJniversitat entstanden, da die Kura- 
toren derselben am 24. Febr. 1655 eine Rechnang von Johannes 
und Daniel wieder als gar zu hoch („exorbiterend‘‘) moniert batten *). 
Auch gingen um jene Zeit manche Leidener Grelehrten von der 
Leidener Firma Elsevier zu der Amsterdamer Firma iiber, welche 
gerade damals Louis Elsevier zur Bliite brachte (Willems S. CXCIV). 
So ist es wohl erklarlich, da6 Joh. Elsevier eine sich ihm bietende 
Gelegenheit, einen Teil seines typographischen Materials zu Gelde 
zu machen, gern ergriff. Andrerseits laCt sich aber auch ahnen, 
was Nissel zum Ankauf der Typen und zur Griindung seiner 
eigenen Druckerei bewogen hat. Vermutlich haben die Elseviers, 
die ja gerade zu jener Zeit zweimal durch ihre „exorbitanten“ 
Rechnungen mit der Universitat in Konflikt gekommen sind, ihn, 
den Privatmann, als er anf eigene Kosten bei ihnen drucken lieB, 
noch viel arger geschrbpft, so da6 er geglanbt hat, besser davon- 
zukommen, wenn er sich selbst etablierte und von ihnen nnab- 
hangig machte. 

Nun noch dieFrage; Was hat Joh. Elsevier an Nissel 
verkauft? Das konnen wir aus folgenden Daten erschlieBen. 
Erpenius hatte athiopische und audere orientalische Typen nen 
schneiden lassen. Von diesen neugeschnittenen Typen besaB er 
naturgemaB nicht nur die gegossenen Lettem, sondem auch die 
Matrizen und Punzen (Patrizen, Stempel), und auch diese waren 
beim Ankauf seiner Druckerei in Elsevierschen Besitz ubergegangen 
und werden daher in dem oben erwahnten Memoire von Golius 
ausdrucklich mit genannt*). Nun ist spater, nachdem der letzte 
Leidener Elsevier, Abraham (II.), am 30. Juli 1712 gestorben war, 
die Druckerei am 20. Febr. 1713 versteigert worden (WiUems 
S. CCI), und fur diese Versteigerung ist ein Katalog angefertigt, 
der schon auf seinem Titel (Willems S. 6f. Nr. 11) genaue Auskunft 
iiber das vorhandene typographische Material gibt. Danach sind 
damals, nm nur das uns interessierende orientalische Material her- 
auszuheben, noch vorhanden gewesen : 1) arab., syr., samarit., ath., 
hebr. und rabbin. Lettern, 2) arab., syr. und hebr. Matrizen, 
3) arab., syr. und hebr. Punzen. Also fiir das Arabische, Syrische 
und Hebraische war noch das vollstandige Material einschliefilich 

1) Kammelman Elsevier Bijl. 36. 

2) Kammelman Elsevier Bijl. 34 ; „zoo wel de Orientaelsche afgegoten letters, 
als de matricen ende de poinsons ofte stempels van dien“ = de Reume S. 104 
Nr. 13: -les caracteres des langues orientales, ainsi que les matrices et les poin- 
<;ons“. 



Alfred Rahlfs 


334 

der Matrizen nnd Punzen da, dagegen fiir das Athiopische und 
ebenso fur das Samaritanische und Rabbiniscbe, auf die ich bier 
nicbt eingehe, bloB Lettem. Hierans folgt einerseits, da6 Job. 
Elsevier nicbt sein gauzes atbiopiscbes Material an Nissel verkauft, 
sondem atbiopiscbe Lettern fiir seine eigene Druckerei zuruck- 
behalten hatte ; nnd dies wird aucb bestatigt durcb ein Specimen 
seiner Druckerei vom Jahre 1658, tiber welches Ch. Enschede in 
seinem Aufsatz „De drnkkerij van Johannes Elsevier in 1658“ im 
Nienwsblad voor den Boekhandel 63 (1896), S. 247 Sp. II bericbtet 
hat ; denn dies Specimen gibt anch eine Probe atbiopischen Satzes, 
welchen also Job. Elsevier ancb nach dem Verkanf an Nissel noch 
herzustellen vermochte ^). Andrerseits aber laBt sich ans dem 
Fehlen der atbiopischen Matrizen nnd Punzen schliefien, daJS Job. 
Elsevier, der sonst, soviel wir wissen, nnr Lettem an Nissel ver- 
kanfte, von der atbiopischen Scbrift anch die Matrizen nnd Punzen 
veranBert hat^); nnd die Ricbtigkeit dieses Schlnsses wird sich 
spater bestatigen, s. unten S. 343 IF. 

Nissel starb 1662. Nach seinem Tode ist sein typographisches 
Material in den Besitz seines Frenndes Petraens iibergegangen. 
Wir haben dafur drei Zeugnisse: 1) Petraens selbst hat in der 
Titelanflage der atbiopischen HomiHe, welche er 1668 in Amster- 
dam veranstaltete, das ^Impenfts Auctoris, et Typis Niffelianis'^ der 
Uransgabe durch ^Typis & Impenfis Auctoris“ ersetzt (s. oben 
S. 280. 281) ; folglich befanden sich die friiher Nisselschen Typen 
damals im Besitze des Petraens, vgl. die oben S. 328 Anm . 2 be- 
sprochene analoge Anderung in einer Titelanflage Nissels. 2) Ucht- 
man erwahnt in seinem ofters zitierten Briefe an Lndolf (Juncker 
S. 195) die atbiopischen Typen des Petraens. Tiber ihre Herkunft 
ist er aUerdings falsch unterrichtet; denn nachdem er zuerst fiber 
Nissel gesprochen hat, fiihrt er also fort: „ Theodoras Petraens, 
qui Aethiopica cum ipfo excolnerat, typosqne fibi comparanerat 
. . er weifl also nicht, dafl eigentlich Nissel, nicht Petraens 
sich diese Typen verschafiFt hatte. 3) In einem Glesnch an den 
Knrffirsten Friedrich III. von Brandenburg, das nicht datiert ist, 
aber ans der Zeit bald nach der Thronbesteigung dieses Ffirsten 
(1688) stammen muB (Berlin, Kgl. Bibl., Aktenfaszikel HI. B. 2, 

1) Den Titel des Specimens s. bei Enschede a. a. 0. und bei Berghm. S. 3 
Nr. 1. Nach Enschede enthalt es „6 soorten Hebreeuwsch, edn soort Babbinisch, 
een soort Syrisch, vier soorten Arabisch, een soort Aethiopisch, een soort Sa- 
maritaansch“ usw. 

2) Mbglich ware es aucb, dafi er nur die Matrizen und Punzen verkauft 
imd Nissel sich seine atbiopischen Lettem selbst gegossen hatte. 



Nissel und Petraeus, ihre iithiopischen Textausgaben und Typen. 335 

Seite 1), sagt die Witwe des Petraeus, da6 ihr Maim „ouff feine 
Uiifoften in aEerl^anb Orientalifc^en, iEthiopifd^er, bnb Arabifd^er 
©pra(|en eine etgene S)rudereg ge^atten, unb babur(^^ beS gto^en 
@otte§ (S^te juBeforbern unb ber gelal^rten SBelt jubienen ge^U(^^et". 
Auch bier vermissen wir eine Angabe fiber die Herkunft der Typen 
von Nissel ^). Aber dab Petraeus athiopische und arabiscbe Typen 
besessen bat, wird deutlicb ausgesprochen, und die Ricbtigkeit 
dieser Angabe wird dadurch bestatigt, dafi die Witwe jene Typen, 
wie wir bald seben werden, nocb wirklicb gebabt bat. 

An der soeben angeffibrten Stelle spricbt Petraeus’ Witwe so, 
als babe ihr Mann, ahnlicb wie es einst Nissel getan hatte, danernd 
eine orientalische Druckerei unterbalten ; ja sie leitet daraus sogar 
die Mittellosigkeit ab, in der ihr Mann sie bei seinem Tode zn- 
rfickgelassen hat In Wirklichkeit jedocb bat Petraeus das ibm 
aus Nissels Nacblafi zugefallene typographische Material nur wenig 
benutzt. Meines Wissens hat er nur nocb die bald nacb Nissels 
Tode hergestellten Specimina des koptisch-arabiscben Psalters und 
der arabisch-persisch-tfirkischen Clavis (s. oben S. 305) mit den 
frfiber Nisselschen Typen drucken lassen. Beide tragen allerdings 
auf dem Titel lediglich die Angabe „Sumptibus Atictoris“, ohne daB 
fiber die Typen irgendetwas gesagt wfirde ; aber man braucht nur 
die in ihnen verwendeten Typen mit den frfiheren „Typi Niffeliani" 
zu vergleichen, nm ihre Identitat zu erkennen. Ubrigens kommen 
athiopische Typen blofi in der Clavis vor, wo an einigen SteUen 
athiopische Wiirter zum Vergleich mit den entsprechenden arabi- 
schen herangezogen werden. Aus der Tatsache, daB Petraeus die 
Nisselschen Typen spater nicht mehr benutzt hat, dfirfen wir 
schlieBen, daB er die von Nissel gegrfindete Druckerei nur noch 
kurze Zeit fortgefiihrt und dann aufgelost hat. 

tiber den spater en Verbleib der Nissel -Petraeus’schen 
athiopischen Typen geben uns zwei Notizen Auskunft, welche der 

1) In einem Schreiben an den GroBen Kurfiirsten ans dem August 1679 
(drittletztes Stuck desselben Aktenfaszikels) bietet die Witwe 284 Pfund arabi- 
scher Typen zum Kauf an und behauptet dabei, das Pfund, das sie dem Kur- 
fiirsten fiir 16 Groschen lassen will, babe ihren sel. Mann 1 Rthlr. 6 Groschen 
gekostet. Dies erweckt den Anschein, als babe Petraeus die Typen neu gekauft. 
Aber allzu groBer VerlaB ist auf derartige Angaben der Witwe nicht, zumal wo 
es sicb urn weit zuruckliegende Dinge handelt, um die sie wohl auch nur yon 
Horensagen wuBte. 

2) Die Fortsetzung des eben angefuhrten Passus lautet; „oud^ aHe baS 
©einige babeq aufgefefeet, olfo, baft beq feinen Slbfterben nic^t meBr olg jweg un* 
erjogene ftinber, ba bet ©o^n mit meiner grofeen Selflmmentik auf ber Univer- 
sitat ge^olten wirb, BiuterIo|en''. 



Alfred Kahlfs, 


336 

Hamburger Christoph Schlichting, ein Schiiler Hiob Ludolfs, 
der in den Jahren 1684—1687^) oder noch langer*) bei Ludolf in 
Frankfurt a. M. war, in dem ihm einst gehorigen Sammelbande 
Kiel, Univ.-Bibl., § 50 4°, der hanptsachlich Werke von Nissel und 
Petraeus enthalt , anf einem V orsetzblatte eingetragen hat. Sie 
lauten : 

Typographia ^thiopka & Arabka, qua Dn. Th: Fetmus hifce 
in Opufculis [ nfus eft, Uamburgi apiid Dn: Pauhm mer- 
catorem cum variis guk\busdani vafis argenteis, aliguibus egre- 
giis Orientalium lingg: Ubris \ & veftibus nonntdlis pretiofts fe- 
ricis pro 400 oppignonatu \ TepeTituT- 

Thomas Hyde Bibliothecarius Oxonienfis in Uteris ad J 
Excellentiff : Dn: Jobum Ludolf urn d. 6. Febr: 1687. de | 
hac typographia ita fcribit. 

Hollandi, apud illos^) fimt typi Mthiopki Niffeliani, eorundem 
verb I typorum matrices d' formce chalybeie font apud D: Ber- 
nard um I noftrum. 

Die Richtigkeit der ersten Notiz, nach der die in den 
Werken des Petraeus verwendeten athiopischen und arabischen 
Typen spa ter an einen Kanfmann Paul Kray in Hamburg ver- 
pfandet waren, wird bestatigt dnrch einen Neudruck der athiopi- 
scben Homilie uber die Geburt Christi (oben S. 279 ff. Nr. 7), welchen 
derselbe Schlichting 1691 mit den Nissel-Petraeus’schen athiopi- 
schen Typen in Hamburg veranstaltet hat. Der Titel dieses Neu- 
druckes, der iibrigens auBer der Homilie auch noch einen Bericht 
des Abba Gregorius ,de ministerio ecclesiastico (Habessinorum)“ 


1) Da6 Schlichting mindestens in den Jahren 16S4— 1687 bei Ludolf war, 
lehrt seine Vorrede zu dem von ihm stammenden Cod. Aeth. 6 der Gdttinger 
Universitats-Bibliothek ; vgl. auch Fr. 0. Kramer, Die ath. Ubersetzung des Za- 
charias (Diss. Lpz. 1898), S. 12 f., wonach die Rostocker Univ.-Bibl. „eme 1684 
in Frankfurt a. M. durch Christoph Schlichting gefertigte Abschrift eines im Be- 
sitz Hiob Ludolfs befindlichen Pergam.-Ms. : Organum musicum b. Mariae virginis“ 
besitzt. Sonst vgl. iiber ihn Juncker S. 160. Moller S. 593. Hans Schroder, Lexi- 
kon der hambnrgischen Schriftsteller 6 (1873), S. 560f. (G.) Behrmann, Ham- 
burgs Orientalisten (1902), S. 49f. 

2) 1688 beabsichtigte Schlichting in Frankfurt die „Theologia Aetliiopica“ 
herauszugeben, s. unten S. 337 Anm. 1. 

3) So hat Schlichting ursprtinglich geschrieben, und so stand es wohl in 
Hydes Brief, in welchem das Wort „HoUandi‘‘ zum vorhergehenden Satze gehort 
haben wird. Nachtraglich jedoch hat Schlichting, um seinem Exzerpte einen bes- 
seren Anfang zu geben, „Hollandi, apud illos" in „apud HolIandos“ korrigiert. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 337 

enthalt^), lautet folgendermaBen : „HOMILIA ^THIOPICA | DE 
NATIVITATE DOMINI NOSTRI | JESU CHRISTI, 1 Ante annos 
mnltos ad verbum Latine verfa, | jam vero denuo mendis omnibus, 
quibus plnrimum fcatebat, | emendata, cum lectione, latinis literis 
expreffa, addita etiam | literarnm ^thiopicarnm genuinae lectionis [ 
explicatione, | Quo Studiofse Juventuti hujus lingvae acceffus | ex- 
peditior conciliaretnr. | Loco fpeciminis Typographiae iEthiopicae, ] 
apud PAULUM KRAY, Civem & Mercatorem Hambur-|genfem 
dudum oppignoratae, in Incem edita | a | M. CHRISTOPHORO 
SCHLICHTING, | Hamburg. Lingg. Oriental. Stud. | (Signet.) | 
Sumptibus Anctoris excndebat NICOLAUS ©pieringf, i LL. Orient. 

Hamburgi Anno M DC XCI.'* Die Verpfandung der 
Typen an Paul Kray wird also auch auf diesem Titel ausdrdcklich 
erwahnt. 

Aber wie sind die Typen an Kray gekommen? Hier- 
iiber belehren nns die Akten iiber den Ankauf orientalischer 
Handschriften und Bucher aus dem NachlaB des Petraeus fiir die 
damals Kurfiirstliche, jetzt Konigliche Bibliothek zn Berlin, ent- 
halten in den Aktenfaszikeln III. A. 1 und III. B. 2 der Kgl. 
Bibliothek. Aus ihnen ergibt sich namlich folgendes. 

Im April 1677®) ist die Wit we des Petraeus, Clara geb. 
V. Biilow ®). nach Berlin gekommen und hat dem GroBen Kurfursten 
ein Exemplar der armenischen „Doctrina“, welche ihr Mann ihm 
einst gewidmet hatte (s. oben S. 310 f.), uberreicht und ibrn zu- 
gleich orientalische Bucher, Handschriften und Typen aus dem 
NachlaB ihres Mannes, die sie in Hamburg versetzt hatte, zum 
Kauf angeboten. Daraufhin laBt der GroBe Kurfiirst im Juni des- 
selben Jahres dem Propst Andreas MuUer*), den er bei dieseu 


1) Dies ist das achte Kapitel der „Theologia Aethiopica“, fiber welche J. 
Flemming in seinem Aufsatz fiber Hiob Ludolf in den Beitragen zur Assyriologie 
1 (1890), S. 546 Anm. berichtet. Die Gottinger Hss. dieses Werkes, von denen 
Flemming spricht, sind Aeth. 5 und 6 und Luneb. 116. Die beiden ersten stam- 
men von Schlichting ; aus dem Titel der ersten (s. Verzeichniss der Hss. im 
preussischen Staate. I: Hannover. 3: Gottingen 3 [1894], S. 310) geht hervor, dafi 
Schlichting das ganze Werk 1688 in Frankfurt a. M. zu veroffentlichen beab- 
sichtigte. 

2) Das Datum ergibt sich aus Faszikel HI. B. 2, Stfick 6, wo Propst Mfiller 
am 28. Juli 1677 sagt, die Witwe sei nun schon 16. SEBoi^en biefec SSild^ec 
halber" in Berlin, 

3) Vgl. oben S. 317 Anm. 6. 

4) tiber Andreas Mfiller aus Greifenhagen in Pommern s. besonders .Aug. 
Mfiller in der Zeitschrift der Deutschen Morgenl. Gesellscbaft 35 (1881), S. IV 
—XVI. 



338 


Alfred Rahlfs, 


Verhandlungen stets als Begatachter nnd Unterhandler gebraucht, 
120 Taler auszahlen „jur einlofung berer in Hamburg t)erfe|tett 
Petrseiic^en Siid^er unbt orientalifd^en ©(i^rifften [= Typen], fo jur 
Sl^urfiirftL Bibliothec geliefert toerben ioHen" ') , nnd am 28. JuH 
bann Miiller bericbten, da6 nnnmehr sowobl die Bucher nnd Hand- 
schriften, als aucb die arabischen nnd atbiopischen Typen ans 
Hamburg gebommen seien. Die Typen wiegen mit dem „Kastlein“ 
284 U nnd sind etwa 142 Taler went nnd „noc^ me!^r, tno bte ma- 
trices 0 . nnd] ftempel babeg tnel^ren. (£§ ift ober bag Sdftlein 
noc^ nt(^t gebfnet" ^). Zwei Tage spater, am 30. Juli 1677, kauft 
der Kurfiirst die Biicber nnd Handschriften nnd laBt dafiir noch 
101 Taler 3 Groschen zu den friiheren 120 Talern hinzn an Propst 
Muller auszablen®); die Typen aber findet er nnnotig, „juma'^len 
wan bie matrices unb ftempel ni(i^t barbe^ jeinb" ^). 

Im folgenden Winter bietet dieWitwe dem Knrfiirsten aber- 
mals Handschriften an: „9iun ftel^en nod^ berfc^iebene manu Scripta 
tion grofeen SBel^rte, bie mein fel^I. ©I^emon au§ orient mit gebrai^t 
in Slmbfterbam bor 250. borfeget". Sie bittet nm 125 Taler 

VorschnB, um sie einznlosen, nnd bietet dafiir „^nm Wirdlid^en un= 
terpfanbe" die bei Muller stehenden ,284. U. arabifc^e Literen“ 
an®). Der Kurfiirst fordert am 7. Jan. 1678 von MiiUer ein Gnt- 
achten^), nnd dieser befiirwortet denVorschuB, wobei er bestatigt, 
daB die arabischen Typen „bon. 284. U. !^ie gewogen" bei ihm 
stehen®). Das sind natiirlich dieselben 284 U, die im Jnli 1677 
ans Hamburg nach Berlin gekommen waren; hatte MiiUer anfangs 
gesagt, es seien arabische nnd athiopische Typen, so war diese 
Angabe nngenan gewesen, da es in Wirklichkeit nnr arabische 
waren, aber die Ungenanigkeit erklart sich leicht daraus, daB, wie 
Miiller selbst bemerkt hatte, „bog Kaftlein noc^ nid^t gebfnet" war, 
nnd daB er bei der Einlosnng der Typen in Hamburg offenbar 
beabsichtigt nnd gemeint hatte, alle dort befindlichen Typen ein- 


1) 4'aszikel III. B. 2, Stuck 10 = Faszikel III. A. 1, Seite 7. Faszikel III. 
B. 2 enthalt das Konzept, Faszikel III. A. 1 die vom Kurfiirsten unterzeichnete 
Eeinschrift (ebenso im Folgenden, wo ich beide Faszikel nebeneinander anfiihre). 
2j Faszikel III. B. 2, Stuck 6. 

3) Faszikel III. B. 2, Stuck 8 = Faszikel III. A. 1, Seite 14. 

4} Faszikel III. B. 2, Stuck 7. 

5) Die Eingaben der Witwe siod samtlich ohne Orts- and Zeitangabe. Sie 
sagt bier aber, daB das Yorige „im berwi^enen Sommer" passiert sei. 

6) Faszikel III. A. 1, Seite 15 f. 

7) Ebenda, Seite 18. 

8) Ebenda, Seite 19 f. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textansgaben und Typen. 339 

znlosen. Auf Mullers Gutachten hin befiehlt der Kurfiirst am 12. 
Jan. 1678, der Witwe den erbetenen VorschnB von 125 Talern 
anszuzablen; die Typen sollen auf die Kurfiirstliche Bibliotbek 
geliefert und dort verwahrt werden^). Beides geschieht, und die 
Handscbriften und Biicher werden nun in Amsterdam eingelost 
und nacb Hamburg gebracht, dort aber von dem Kaufmann Paul 
Krey oder Kreye — so wird der Name in den Berliner Akten 
geschrieben — festgehalten , weil dieser der Witwe gleicbfalls 
Geld zu ihrer Einlosnng geliehen hat und sich weigert, die ein- 
gelosten Handscbriften und Bucher heranszugeben , bis er vbllige 
Sicherheit fiir die 375 Taler, welche die Witwe ihm schuldet, be- 
kommen hat. Endlich jedoch wird anch diese Angelegenheit nach 
vielen Schreibereien und mehr als halbjahrigem personlichem 
Aufenthalte der Witwe in Berlin®) gliicklich geregelt, und der 
Kurfiirst kauft die Handscbriften und Biicher und lafit dafiir der 
Witwe am 16. und 20. Aug. 1679 noch 530 Taler auszahlen^). 
Kurz zuvor aber hat die Witwe noch ein fiir uns wichtiges Schreiben 
an den Kurfiirsten gerichtet*). Sie beklagt sich darin zunachst 
dariiber, dafi Muller und der kurfiirstliche Bibliothekar Hendreich 
ihre Handscbriften und Biicher so niedrig taxiert haben, und bittet 
den Kurfiirsten, so viel hinzuzufugen , daB sie im ganzen minde- 
stens 900 Taler bekommt. Sodann bietet sie nochmals die in Berlin 
befindlichen 284 U arabischer Typen an*) und auBerdem „bte ju 
Hamburg nod^ tjorl^anbene ^thiopifd^e Suc^ftoben, fo 114. ffi. wte= 
gen". Zum Schlusse betont sie, daB sie „i|o bon booren mittein 
fel^r entblbbet" ist und Geld zur Bezahlung der gemachten Schulden 
und Auslosung versetzter Mobilien braucbt, und bittet den Kur- 
fiirsten um Auszahlung der ihr zugedachten Gelder. Diese Bitte 
wird erfiillt, der Ankauf der arabischen Typen jedoch abgelehnt, 
da sie „nid^t bollftdnbig" ^) und dem Kurfiirsten „nid^tg nu|e" sind®); 
sie werden der Witwe zuriickgegeben , indessen darf sie die 125 
Taler VorschnB, die sie darauf bekommen hat, behalten. Auf die 


1) Faszikel III. B. 2, Stuck 9 = Faszikel III. A. 1, Seite 22. 

2) Faszikel III. B. 2, Stack 11 ff. 

3) Ebenda, Stuck 19. 

4) Faszikel III. A. 1, Seite 29/30 und 23/26. 

5) Faszikel III. B. 2, drittletztes Stuck. 

6) Was sie bier uber den Preis dieser Typen sagt, ist bereits oben S. 335 
Anm. 1 angefuhrt. 

7) Dies bezieht sich wohl nur darauf, dafi die Matrizen und Stempel nicht 
dabei sind. 

8) Faszikel III. B. 2, Stuck 31 = 32, vgl. Mullers Gutachten ebenda Stuck 11. 



340 


Alfred Rahlfs, 


noch in Hamburg befindlichen athiopischen Typen wird nicht ein- 
gegangen. 

Im Jahre 1681 bietet die Witwe zum dritten Male orientalische 
Bucher an. Der Kurfiirst bewilligt ihr 20 Taler Reisegeld^), of- 
fenbar behnfs tJberbringung der Biicher nach Berlin. Weitere Akten 
dariiber liegen nicht vor; es wird also nichts weiter erfolgt sein. 

SchlieBlich hommt die Witwe bald nach dem Tode des GrroBen 
Kurfiirsten in einer Bittschrift an seinen Naehfolger Friedrich III. 
noch einmal anf ihre Verhandlongen mit dem GrroBen Rurfiirsten 
zuriick und sagt, derselbe habe ihr, da sie mit dem Taxat Mullers 
und Hendreichs nicht znfrieden war, „etne special @nabe“ ver- 
sprochen. Daranfhin habe sie ihn gebeten, dem Paul Krey, dem 
sie noch 500 Taler schuldet, und der von ihr die Zahlung dieser 
Schnld fordert, „iuxna.^)Un er t|t burc^ einen gro^en process tota- 
liter rniniret", gnadigst zu verstatten, daB er eine Quantitat Holz, 
die er in Mecklenburg gekauft hat, zollfrei durch das kurfiirstliche 
Gebiet nach Hamburg einfiihre, damit er so „eine Sergeltung l^aben" 
und sie „bon Sl^m fre^ gefprod^en roerben mod^te". Der GroBe Kur- 
fiirst wiirde diese ihre Bitte auch erfiillt haben, wenn er nicht 
gestorben ware. So bittet sie nun, Friedrich III. moge jetzt jene 
Bitte erfiillen oder ihr eine andere Gnade erweisen. Auch in die- 
sem Falle sind keine weiteren Akten vorhanden; es wird also 
nichts daraus geworden sein. 

Durch aUes dieses erhalt die Angabe Schlichtings ihre voll- 
standige Erklarung und Bestatigxmg. Die Witwe des Petraeus 
ist oflPenbar nicht in Kopenhagen geblieben, wo wir sie in der 
ersten Zeit nach dem Tode ihres Mannes noch fanden (s. oben 
S. 317 f.), sondem nach Hamburg verzogen nnd hat dort bei dem 
Handler Paul Kray, der sich mit aUerlei Geschaften, auch mit 
Holzhandel, abgab, nach und nach alle moglichen Wertobjekte aus 
dem NachlaB ihres Mannes und aus ihrem eigenen Haushalte*) 


1) Ebenda, letztes Stuck des Faszikels. 

2) Ebenda, erstes Stuck des Faszikels. Diese Bittschrift reichte die Witwe 
an Danckelmann, den Erzieher und vertrauten Ratgeber Friedrichs III., ein mit 
der Bitte um Befiirwortung beim Kurfiirsten, s. das zweite Stiick des Faszikels. 

3) Die Eingaben der Witwe sind, wie schon S. 338 Anm. 5 bemerkt, ohne 
Orts- und Zeitangabe, aber man kann doch nach allem nur auf Hamburg als 
ihren Wohnsitz schlieBen. Auch sagt sie in Faszikel III. A. 1, Seite 23, dafi sie 
nunmehr nach Abschlufi des Geschaftes ihre Reise „innet 2 Shagen auff Hamburg 
fortjufelen" gedenke. 

4) Die Witwe selbst spricht, wie wir sahen, ?on versetzten Mobilien, Schlich- 
ting von Silbersachen und Seidenkleidern. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 341 


versetzt. Die Hohe der ihr dafiir von Kray geborgten Gelder hat 
natnrgemaB im Laufe der Zeit gewechselt: 1677 hat der GrroBe 
Kurfiirst darch Miiller fiir 120 Taler Handschriften , Bucher und 
Typen einlosen lassen, aber Kray — um ihn wird es sich jeden- 
falls handeln, obgleich sein Name in diesem Falle noch nicht ge- 
nannt wird — hat damals nicht, wie Muller erwartet hatte, aUe 
Typen geschickt, sondem die athiopischen zniiickbehalten *) ; 1679 
schuldet die Witwe dem Kray 375 Taler, nach dem Tode des 
Grofien Knrfiirsten 500 Taler; Schlichting nennt 400 Taler als 
die Summe, fiir welche zu der Zeit, wo er sich seine Notiz macht, 
die athiopischen und arabischen Typen nebst orientalischen Biichern ^), 
Silbersachen und Seidenkleidern verpfandet sind. 

Tiber die Typen erfahren wir ans den Akten der Kgl. Biblio- 
thek, daB 284 S arabische und 114 ffi athiopische Lettern vorhanden 
waren. Beide waren schon 1677 in Hamburg versetzt. Die arabi- 
sehen warden dann zwar eingelost und nach Berlin geschafft, aber 
der GroBe Kurfiirst hat sie weder 1677, noch 1679 gekauft, sondern 
sie nur zeitweise als Faustpfand angenommen und dann der Witwe 
znruckgeben lassen, und diese hat sie oflPenbar wieder mit nach 
Hamburg genommen und bei nachster Gelegenheit anfs neue bei 
Kray versetzt. In Hamburg sind dann wenigstens die athiopischen 
Typen 1691 in dem Werkchen Schlichtings, dessen Titel oben S. 337 
angefiihrt ist^), noch einmal zur Verwendung gekommen^). Schlich- 

1) Wie Faszikel III. A. 1, Seite 9 lehrt, hat er damals auch nicht alle in 
Hamburg befindlichen Bucher, sondern nur einen Teil derselben geschickt. 

2) DaB auch nach dem zweiten Verkauf an den GroBen Knrfiirsten in der 
Tat noch orientalische Bucher vorhanden waren, wird bestatigt durch das dritte 
Angebot der Witwe vom Jahre 1681,. s. oben S. 340. 

3) Dies ist das erste in Hamburg gedruckte athiopische Werk. Nach Moller 
S. 490 Anm. 13 ware allerdings schon 1681 ein athiopisches Werkchen, die „Ca- 
pita Catechetica“, von Joh. Henr. Majus in Hamburg herausgegeben. Aber dies 

ist ein Irrtum. Das Werkchen, das den Titel tragt „ praecipua tidei .aithi- 

opum Christianorum . . . CAPITA, Quibus tenera aetas et Neophyti imbui I'olent, 

Separatim in Itudiofae Juventutis gratiam edita a Johaune Henrico Majo“, 
trat't nur die Jahreszahl 1681, aber keinerlei Angabe iiber Druckort und Drucker. 
Da"^ aber die Vorrede beginnt „Dum edend® Hiftori® vKthiopicse Illuftris V. J. 
Ludolfi pr®l’um [vgl. Ludolfs Vorrede zur Hitt. .SCth., erste Seite], has ah Abba 
Gregorio HabelTino, jufiu Seren. Sax. Ducis Ernesti confignatas & laudato Operi 
[Lib. Ill, cap. 5, § 89 if ] infertas Quieftiones Catecheticas feparatim vulgare vifum 
fuit [vgl! ebenda die zweite Seite von Ludolfs Vorrede]“, und da der athiopische 
Text mit Ludolfschen Typen (s. oben S. 32 :) gedruckt ist, so kann man als Druck- 
ort mit Sicherheit Frankfurt a. M. erschliefien. 

4) 1690, also ein Jahr vorher, ist in Hamburg von Henning Brendeke das 
erste arabische Werk gedruckt ; „Testamentnm et pactiones init® inter Muham- 



342 


Alfred Rahlfs, 


ting hat dies Werkchen auf eigene Kosten dracken lassen, be- 
zeichnet es aber zngleich als Specimen der bei Paul Kray ver- 
pfandeten athiopischen Typen; dies ist offenbar auf den Wunsch 
Krays nnd der Witwe des Petraeus geschehen, die wohl hofPten, 
ihre Typen, wenn sie auf diese Weise der gelehrten Welt bekannt 
wiirden und dann andere athiopische Druckwerke folgten, doch 
noch mit einigem Kutzen absetzen zu kbnnen. Aber bei jenem 
Specimen ist es m. W. auch geblieben Allerdings bat Schlich- 
ting auch spater wohl daran gedacht, etwas Athiopisches drucken 
zu lassen ; das sehen wir aus einer Notiz iiber ihn bei {G.) Behr- 
mann, Hamburgs Orientalisten (1902), S. 49f. ; „1697 erwahnt Lu- 
dolph [so!] ihn in einem Brief an Johann Friedrich Winckler^); 
ScUichting babe die Absicht, etwas Aethiopisches herauszugeben 
und Ludolph habe ihm geraten, ein Psalterium Aethiopicum drucken 
zu lassen. “ Aber Schlichting ist zur Ausfuhrung eines solchen 
Planes nicht gekommen ; charakteristisch ist eine spatere AuBerung 
Ludolfs iiber ihn, welche Behrmann gleichfalls mitteilt; ,1703 fragt 
Ludolph Winckler : Quid quaeso agit Schlichtingus, vivitne adhuc?“ 
Und auch Winckler^), der nach Ludolfs Vorrede zur athiopischen 
Grammatik (1702) ,in jKthiopica lingua verfatiffinias“ war, und 
der etwa 9 Jahre lang am akademischen Gymnasium zu Hamburg 
orientalische Sprachen dozierte *), bat sich zu keiner athiopischen 
PubKkation aufgeschwungen. 

In den Akten der Kgl. Bibliothek zu Berlin wird inuner nnr 
Ton arabischen und athiopischen Typen gesprochen, und es wird 
mehrmals betont, daB es sich dabei nur urn Lettern handelt; Ma- 


medem et Christianse Fidei cultores“ (dasselbe Werk, das auch Nissel wiederab- 
gedruckt hatte , s. oben S. 320). Der Herausgeber Abraham Hinckelmann be- 
zeichnet es in der Widmungsepistel ausdrucklich als „primitias . . . Typographise 
Arabicse nuper in hac urbe excitat8e“. Die darin verwendeten arabischen Typen 
sind den Nissel-Petraeus’schen ahnlich, aber m. E. nicht mit ihnen identisch. 

1) Die beiden von Schroder (s. oben S. 336 Anm. 1) unter Nr. 4 und 5 an- 
gefuhrten, ubrigens nur aus je einem Foliobogen bestehenden Programme Schlich- 
tings vom Jahre 1693 (vgl. auch Juncker 8. 160), in denen er sich zur Erteilung 
athiopischen Unterrichts erbietet, habe ich nicht auffinden kiinnen, vermag also 
nicht zu sagen, ob darin etwa auch atbiopischer Satz vorkommt. 

2) Uber Winckler s. Allgemcine Deutsche Biographic 43 (1898), S. 375 f. 
und Behrmann a. a. 0., S. 55 — 57. Behrmann erwahnt auch die 52 Briefe Ludolfs 
an Winckler, welche die Hamburger Stadtbibliothek aufbewahrt. 

3) Siehe Behrmann a. a. 0., S. 2 f. 56. Ygl. auch Adolf Wohlwill in der Zeit- 
schrift des Vereins fur Hamburgische Geschichte 13 (1908), S. 389 Anm. 3: „Die 
altere Amtsbezeichnung lautete vielfach: Hebraicae ceterarumgue orientalium lin- 
guarum Professor'^. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 343 

trizen und Punzen sind nicht dabei. Hierans folgt, da6 Nissels 
typograpbisches Material langst nicht mehr beisammen war. Denn 
Nissel batte, wie seine Drucke lebren, nicbt nur arabiscbe und 
atbiopiscbe Scbrift gebabt, sondern aucb syriscbe, bebraiscbe, grie- 
cbiscbe, dentscbe und verscbiedene Sorten lateiniscber Scbrift, und 
er batte fur das Atbiopiscbe, wie scbon S. 334 erwabnt, aucb die 
Matrizen und Punzen besessen. Tiber den Verbleib der ubrigen 
Scbriftarten v/issen wir nicbts; moglicberweise bat sie Petraeus 
scbon bald nacb Nissels Tode bei der Auflosnng seiner Druckerei 
(s. oben S. 335) verauBert. Tiber die atbiopiscben Matrizen 
und Punzen aber belehrt uns die oben S. 336 mitgeteilte zweite 
Notiz Schlichtings , und auf diese miissen wir nunmehr ein- 
gehen. 

Diese zweite Notiz stammt laut TJberscbrift aus einem Briefe 
des Oxforder Bibliotbekars Tbomas Hyde an Hiob Ludolf vom 
6. Febr. 1687^). Das Original des Briefes ist verloren gegangen; 
wenigstens findet sich nacb Mattbiae (s. oben S. 294 Anm. 4) S. 8 
— 11 in dem Frankfurter Briefwecbsel Ludolfs kein Brief von 
Hyde. TJm so dankbarer sind wir Scblicbting, dafi er, der ja ge- 
rade zur Zeit des Eingangs jenes Briefes bei Ludolf war (s. oben 
S. 336 Anm. 1), uns dies Exzerpt aufbewabrt hat. — Hyde schreibt 
an Ludolf zunachst, die Nisselscben Typen seien bei den „HoUandi‘‘, 
d. b. wohl in der Elsevierschen Druckerei zu Leiden, die ja, wie 
wir sahen (S. 334), in der Tat einen Fonds dieser Typen fiir sich 
behalten batte. Dann aber fahrt er fort, die Matrizen und die 
„formce chabyhem‘‘, d. b. die Stahlstempel oder Punzen, seien „apnd 
J): Bernardum nollrum‘‘. Damit meint er den Oxforder Edward 
Bernard, welcben Juncker S. 127. 170 neben Hyde als Freund 
Ludolfs nennt*). TJnd schlagen wir nun die „Yita Clariffimi & 
doctiffimi Yiri, Edwardi Bernardi, S. Theologise Doctoris, et Aftro- 
nomise apud Oxonienfes Profefforis Saviliani. Scriptore Tboma 
Smitho“ (Lond. 1704) nacb, so finden wir da auf S. 43 f. zunachst 
die Angabe, dafi Bernard von dem Amsterdamer Biirgermeister 
Nicolaus Witsen®) mit dem „Dictionario Coptico, quod Y. Cl. 


1) Auch hier werden wir, wie in den oben S. 304 Anm. 5 besprochenen Fal- 
len, nicht die damalige englische Datierungsweise, nach welcher der 6. Febr. 1687 
unserm 6. Febr. 1638 entspricht, sondern die gewbhnliche Datierungsweise anzu- 
nehmen haben. 

2) Bernard erscheint auch bei Matthiae (s. oben S. 294 Anm. 4) S. 9 unter 
den Korrespondenten Ludolfs. 

3) Vgl. iiber ihn besonders J. F. Gebhard, Het leven van Mr. Nicolaas Cor- 
nelisz. Witsen. 1. 2. Utrecht 1881. 1882. 



344 


Alfred Rahlfs, 


Theodorus Petrsens Holfatns olim ex ^gypto aavexerat“ beschenkt 
worden sei'). TJnd dann heifit esweiter: „Quafi vero de folo Ber- 
nardo optime meruiffe perexigui momenti fibi efie videretur, pro 
maximo bonis literis benefaciendi ftndio, typographdnm Oxonienfe 
typis ferreis Copticis ^thiopicifqne, ad Beraardom tranfiniffis, ex 
mnnificentia fua idem Vir fammns anno M.DC.LXXX.VI. aactam 
ornatumqne voluit.“ 

Wir haben also folgende Nachrichten: Hyde berichtet im Febr. 
1687 an Lndolf, da6 Bernard die zn den Nisselschen athiopischen 
Typen gehorigen Matrizen nnd Pnnzen babe. Smith erzahlt, 
da6 das atypographenm Oxordense“ 1686 von Witsen dnrch Ver- 
mittelung Bernards koptische nnd athiopische ^typi ferrei“, d. h. 
ofFenbar gleichfalls Matrizen nnd Pnnzen, erhalten babe. Hier 
lassen wir die koptische Schrift beiseite ; sie wird von Smith irr- 
tiimlich, vielleicht nnter dem Einflnsse des vorher erwahnten kop- 
tischen Lexikons, hinzngefiigt sein. Anch Smith’s Angabe, da6 
die Oxforder Bmckerei die Typen 1686 bekommen habe, ist irrig; 
nach Hydes fragelos anthentischer Mitteilnng waren sie im Febr. 
1687 noch „ajmd D: Bemarclum“, also nicht im Besitze der Drnckerei. 
Aber Smith hat sich hier doch nur im Datum geirrt: das Jahr 
1686 wird das Jahr sein, in welchem Bernard die Matrizen nnd 
Pnnzen bekommen hat^); nachher sind sie aber tatsachlich in den 
Besitz des ^typograph^um Oxoniense", d. h. des ^Oxford Uni- 
versity Press “, anch „Theatrum Sbeldoniannm“ nnd ^Clarendon 
Press“ genannt *), iibergegangen. Dariiber gibt den anthentischsten 
Anfschlu6 Horace Hart in seinem Prachtwerke „Notes on A Cen- 


1) Acscheinend fallt diese Schenkung in das Jahr 1683, welches Smith vor- 
her auf S. 42 genamnt hat, Ubrigens vgl. auch Witsens Brief an Gijsbert Cuper 
vom 12, Okt, 1712 bei Gehhard a. a, O,, Bd, 2, S, 343, durch welchen diese „Schen- 
kung“ in ein etwas eigen tumliches Licht geriickt wird: ,1k hebbe in eygendom 
gehadt een groot boek met de hant in Egypte geschreven in folio wesende een 
dictionarium copticnm, ik hebbe het selve ten gebruycke overhandigt aen seker 
engels professor genaemt Bernard, die aennam het selve int licht te geven, en 
mij daerbij te gedenken, dog bernard is gestorven en de Academie tot Oxford 
heeft dit boek dat een juweel is na sig genomen en heeft de restitntie aen mij 
geweygert,“ (Gleich darauf sagt Witsen; „Een geestelijk koptisch kerkboek is 
nog onder mjj“, Aucb dieses wird aus dem Nachlasse des Petraeus, welchen 
Witsen nicht erwahnt, gestammt haben,) 

2) Hierzu pa6t es vorziiglich , da6 Hyde am (5, Febr, 1687 Lndolf davon 
Mitteilnng macht, Denn dies laBt schlieBen, daB Bernard die Typen erst neuer- 
dings bekommen hat uud Lndolf noch nicht darnm weiB, 

3) Vgl. Keed S. 153. 156 nnd F. Madan, A brief account of the University 
Press at Oxford (1908), S, 9 if. nnd S. 35. 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 345 

tnry of Typography at the University Pre6, Oxford 1693 — 1794“ 
(Oxf. 1900), in welchem er den Inhalt der acht aus der Zeit von 
1693 — 1794 erhaltenen Specimens des Oxford University Press mit- 
teilt *). Schon in dem altesten dieser Specimens, also dem von 1693, 
erscheint, wie die Nachbildung bei Hart S. 35 zeigt, genau die- 
selbe athiopische Schrift, mit der die Werke von Nissel und Pe- 
traeus gedruckt sind'^). Auch lehrt uns Hart ebenda, dab die 
Punzen, 208 an Zahl, und die Matrizen noch jetzt vorhanden sind, 
und daB in dem der Bodleiana gehorigen Exemplars jenes Speci- 
mens bei der athiopischen Schrift handschriftlich bemerkt ist ; 
,,Pi(nchions and Matrices bought of I)' Bernard'"^). Danach hat also 
der Oxford University Press die athiopischen Punzen und Blatrizen 
in der Tat bald nach 1686 von Bernard bekommen, aber nicht, 

1) Diese acht Specimens hat auch schon Reed S. 153 ff. benutzt. Auf S. 1(521. 
stellt er sie zusammen unter genaiier Angabe der Titel und der Fundorte der 
noch erhaltenen Exemplare. 

2) Wie ich nachtraglich sehe, hat schon Moller S. 493 (im letzten Absatz 
des Artikels iiber Petraeus) auf Grand der auch von mir herangezogenen Stelle 
in Smith’s Leben Bernards mit Recht vermutet, daB das durch Witsen nach Ox- 
ford gekommene typographische Material von Nissel und Petraeus stamme. 

3) Da Harts Werk schwer zuganglich ist (ich erhielt es aus der Bibliothek 
des Bursenvereins der deutschen Buchhandler in Leipzig), dructe ich Harts An- 
merkung zu der athiopischen Schrift, die im Specimen als „HCthiopick, Great 
Priraer“ bezeichnet ist, hier ab (Hart S. 35); 

zEthiopick, Great Primer. There are io8 punches for various characters. 
The matrices are struck upside down. The only other instance in which this 
has been done is the case of the Great Primer Roman and Italic shotvn on 
pp. 138 and 139. The fount was probably cast in a mould with the nicks in 
the bottom (or left) instead of the to}) (or right) half, and the existing odd 
sorts (about 15 lb ), with ichich the above example has been reproduced, are 
probably the remains of the original fouiit. 

[Bemerkung iiber die von Hart auf derselben Seite verwendete 

lateinische Schrift.] 

After the above heading Hithiopick, Great Primer in the Bodleian copy 
of the 1693 Specimen , a MS. note adds ‘Punchions and Matrices bought of 
I>'' Bernard.' 

An example of a similar zEthiopic fount appears in Oratio Dominica, 

1700. 

Proben der Oxforder Aethiopisch findet man auBer bei Hart auch bei Reed S. 154 
(„from the original matrices“) und bei Henry R. Plomer, A short history of Eng- 
lish printing (Loud. 1900), S. 215. — Uber die „Oratio Dominica, 1700“, welchc 
Hart am Schlusse seiner Anmerkung erwahnt, s. Reed S. 154 f. ; es ist eine von 
dem Londoner Drucker B. Motte herausgegebene Polyglotte, deren orientaliscbe 
Texte, daruuter auch der athiopische, nicht in London, sondern in Oxford ge- 
druckt sind, woraus sich die von Hart bemerkte „Ahnlichkeit“ der athiopischen 
Schrift mit der Oxforder sofort erklart. 

Kgl. Ges. d. Whs. Nachrichten. I'hil.-hist. Klasse. 1917. Heft 2. 


23 



346 


Alfred Rahlfs 


wie Smith angibt, als Geschenk Witsens, sondem durch Kauf. Als 
Datum des Kaufes gibt Reed S. 154 das Jahr 1692 an; falls dies 
richtig ist, wiirde Bernard die Punzen und Matrizen von 1686 — 
1692 besessen und dann an den Oxford University Press verkauft 
haben. 

Bernard besafi also die athiopischen Punzen und Matrizen, die 
friiher Nissel und Petraeus gehort batten, seit 1686, nnd er hatte 
sie seinerseits von Witsen bekommen. Wie aber waren sie in 
den Besitz Witsens gelangt? Petraeus batte in der zweiten 
Halite der secbziger Jahre in Amsterdam gelebt und war dort in 
recbt mifiliche pekuniare Verbaltnisse geraten. In seiner Not hatte 
er, wie wir horten (S. 312), einen Teil seiner Handscbriften und 
Bucher verpfandet, nnd nocb im Jahre 1678 standen solche ver- 
pfandeten Handscbriften and Biicher in Amsterdam, bis sie dann 
die Witwe des Petraeus einlbste nnd an den GroBen Knrfiirsten 
verkanfte (S. 338 f.). Anch die beiden koptischen Hss. , welche 
Witsen besafi (S. 344 Anm. 1), und die Adversaria des Petraeus, 
welche Dapper an Ludolf schenkte (S. 293 f.), werden in Amsterdam 
verpfandet gewesen und dann von der Witwe oder beim Verfall 
vom Pfandleiher an Witsen und Dapper, die ja beide in Amsterdam 
wohnten und auch untereinander Beziehungen batten*), verkauft 
worden sein. Und auf dieselbe Weise werden auch die athiopischen 
Punzen und Matrizen in den Besitz Witsens gelangt sein. Wir 
haben zwar fiber ihre Verpfandung keine Nachricht; aber an sich 
ist eine solche Verpfandung keineswegs unwahrscheinlich, da, wie 
wir sahen (S. 336 ff.), auch die arabischen und athiopischen Lettern 
des Petraeus in Hamburg und Berlin verpfandet gewesen sind^). 

Durch Witsen sind die athiopischen Typen des Erpenius, welche 
einst U(s)sher aus seinem Nachlasse ffir Cambridge zu erwerben 
gesucht hatte (s. oben S. 329 f.), schliefilich doch noch nach England 
gekommen, nur nicht nach Cambridge, sondern nach Oxford. Und 
zwar nicht die gegossenen Lettern — die sind, wie wir sahen, 
teils in Leiden geblieben , teils nach Hamburg gekommen und an 
beiden Orten, wie es so leicht geht, dem Untergang verfallen — , 
sondern gerade das, was viel wichtiger und dauerhafter ist, die 

1) Dapper liat Witsen seine „Naukeurige beschryving van gantsch Syrie, en 
Palestyn" (Amst. 1677) gewidmet. 

2) Eine andere, mir aber weniger wahrscbeinliche Moglichkeit ware es, daB 

Petraeus selbst wahrend seines Amsterdamer Aufentbaltes die athiopischen Punzen 
und Matrizen an Mitsen, der im Oktober 16G7 von seinen Auslandsreisen nach 
Amsterdam zuriickgekehrt war (s. die olien S. 343 Anm. 3 zitierte Biographic 
Bd. 1, S. 47), verkauft hatte. , 



Nissel und Petraeus, ihre athiopischen Textausgaben und Typen. 347 

Punzen und Matrizen, mit denen man sich jederzeit wieder Lettern 
gieCen kann'). So erklart es sich denn auch, da6 die Typen des 
Erpenius gerade in Oxford ein zahes Leben bewiesen haben oder, 
richtiger gesagt, erst im XIX. Jahrhundert zu neuem Leben er- 
weckt worden sind und der athiopischen Philologie und der bibli- 
schen Wissenschaft noch wichtige Oienste geleistet haben. Die 
athiopischen Textausgahen von Richard Laurence, welche ganz 
neue Quellen fiir die Literatur des spateren Judentums erschlossen 
haben, Ascensio Isaiae vatis (1819), Libri Enoch prophetae versio 
Aethiopica (1838), auch Primi Ezrae libri . . . versio Aethiopica 
(1820), samtlich ^Oxoniae, typis academicis“, und Dillmanns Ka- 
talog der athiopischen Handschriften der Bodleiana („Oxonii, e 
typographeo academico“, 1848) sind mit jenen auf Erpenius zuriick- 
gehenden Typen gedruckt. 


Nachtrag zu S. 326. 

Tiber denUrsprung der vierten Typenart erhalten wir Nach- 
richt in dem ersten mit ihr gedruckten Werke, Job. Ernst Gler- 
hards Neuausgabe von Wilh. Schickards Institutiones linguae Ebraeae 
(Jena 1647). Gerhard, ein am 15. Dez. 1621 geborener Sohn des 
bekannten Jenenser Theologen Job. Gerhard, hat namlich diesem 
Werke eine Widmungsepistel vorausgeschickt „. . . | Dn. D. JO- 
HANNI CAMMANNO, 1 JCto celeberrimo. t Aec non | Inclutte 
Reipubl. Brunfuiceniis Confiliario, | ac Syndico Primario graviffimo, 
&c. i . . und in dieser sagt er auf der dritten Seite: „SilcnfiJ 
fipario diutJis involvere nefas puto puMkmn et ad feram posteritatem 
propagandum hoiefichim immortale, quod in typos 2Ethiopicos, quibus 
non Germania taniiim nostra: (Coloniam excipio, nhi fitperiori fecido 
Pfalteriiim Lingua hdc littcrisq; prcdiitj f(d et Anglia, Gallia, Hifqa- 

1) Zeitweise war der Oxforder Letternvorrat sehr durftig, s. Reed S. 151 
Anm. 2. 



348 


Alfred Rahlfs, Nissel und Petraeus. 


nia, imtnb et Linfiuarum Orientallum cultrix jiudiofiffima Belgium ^), 
hncu.'iq: caruit, Jence fundendos, ultra obtuUsti, line imicu de cau/fd, quo 
libri manuferipti, lingua hue extantes publicce luci genuinis littcris 
cornmitii pof]'ent. Et cum ex me cognofeeres, iwffidere me lihcllnm 
Precationum lingua hac et characterihus exaratum, auctor mihi extitisti 
ct adhortator fedulus, nt in Latinam funderem Lingiiam, et preemiffis 
mvmorata Lingiae Inflitutionihns cum hi publicum prodire jii- 

berem. Id quod factum etid jam him fuiffet, nifi nefcio qua’ impedi- 
menta totis ac voluntati noftroe fiiiffent reluctata. Ke tamen frustrd 
hactenus liberalitatem Tvah nos admififfe, vel benefeium Turn occidtare 
voluiffe videamur, en ciini jmefens Linguarum Ehr. Cliald. Syr. Arab. 
Harmonia fuafu nonnullorum, quibus refragari nolui. ncc potui etiam, 
ejfet concinnanda, Linguam ^thiopicani in confortium fumere ac Tvo 
hie beneficio publicc frui voluimus. Tibi igitur foli Lingg. amafij ad- 
feribant mine, fi quid ex opusculo hocce percepturi utilitatis vel jucun- 
ditatis. Tv enim es, qui non foltm fumtus ad typos ^thiopicos pro- 
curandos obtidisti, fed et cum aliis viris magnis audacice nostree juve- 
nili calculum adjecisti; fine quo fane fuiffet, primis quaternionibus ex- 
cufis manum, utpote tali operi incequalem, a feriptione retraxiffem.‘' 
Die Widmungsepistel ist vom Mai 1646 datiert (,, Wittebergee ex 
a'dibus Lyferianis d. XVI. KL. Jiinl Anni cIj he XLVI.^), der 
Druck des Werkes hat, wie die hinter der Widmungsepistel ab- 
gedruckten „ Judicia“ lehren, etwa im August 1645 begonnen. Nicht 
lange vorher muB also der Braunsebweiger Syndikus Johannes 
Camman^) die athiopischen Typen in Jena haben schneiden lassen. 
Schon sind sie nicht, aber sie sind doch denkwiirdig als Zeichen 
dafiir, wie wenig selbst die Note des dreiBigjahrigen Krieges die 
idealen Bestrebungen unserer Vorfahren zu ertoten vermocht haben. 


1) Von den athiopischen Typen der Elseriers weiB Gerhard also nichts. 
Das ist leicht erlslarlirh, da dieselben ja damals noch gar nicht zur Verwenduiig 
gekommen waren. 

2) So schroibt Gerhard den Namen ohne lateinische Endung (B1 b i recto). 
Ebenso schreibt Caniman selbst in der Widmung seiner 1010—1012 in GieCen 
entstandenen, aufierordentlkh umfangrcichen akademischen Schrift Collegiiira Po- 
litico-.Turidicum sen Disputationes regales de juribus majestatis (^Johannes Cam- 
man Br(unopolitanus)“). 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an 
Hengstenberg. 

Von 

N. Bonwetsch. 

Voi’gelegt in der Sitzung vom 17. Marz 1917. 

I. 

Eine der markantesten Erscheinnngen unter den deutschen 
Hi.-:torikern des 19. Jakrhunderts ist Heinrich Leob- An dem 
gruBen Aufschwnng der Geschichtswissenschal’t in seiner Zeit ist 
er freilich in verhaltnismaBig geringem Mafie beteiligt, nnd eine 
historische Schule hat er nicht begriindet. Ein Vergleich mit 
Leopold Eanke zeigt am dentlichsten die Sonderart Leos and seine 
Schi anken. Auch Eanke sympathisierte mit dem Tnrnwesen und 
den Bestrebnngen der Burschenschaften; aber einem Leo gait zeit- 
weilig jedes Wort des Tnrnvaters Jahn ,wie ein Evangelram“ und 
zur Wartburgfeier trug er das Banner von Jena bis Eisenach 
barhauptig, die christlich-germanischen Ziele der Burschenschaft 
haben in gewissem Sinn seinem politischen Verhalten fiir immer 
die Eichtlinien gegeben (Kragelin S. 51). Als nach Sands ver- 
hangnisvoller Tat iiber solche Handlungen wie die des Brntus und 
der Charlotte Corday im Kreise Leopold Eankes verhandelt wurde, 
entschied dieser einfach mit den in tiefem Ernst gesprochenen 

1) Otto Kraus, Aus Heinrich Leos geschichtliohen Monatsberichten und 
BiiclVn. Allgenieine konservative Monatsschrift f. d. christl. Deutschland Bd. 50. 
51 (.IfiOo. 1894). Paul Kraegeliii, Heinrich Leo. Teil 1. Sein Leben und 
die Entwicklung seiner religiosen, politischen und historischen Anschauungen bis 
zur Hohe seines Mannesalters (1799—1844). Leipzig, R. Vogtlander, 1908 (Bei- 
tr;;ge zur Kultur- und Universalgeschichte , herausgeg. von K. Lamprecht). Die 
treffendste tVurdigung Leos bei G. v. Below, Arehiv f Kulturgesch. IX (1911) 
S. 199 ff. und Die deutsche Geschichtsschreibung v. d. Befreiungskriegen bis zu 
uiis. Tagen. Leipzig 1916 S. 21 ft'. (Leo Stellung zu den Quellen abweichend von 
Pianke). 73. 89. 159 ff. — Ein Stuck fesselnder Selbstbiographie ist .,Meine Ju- 
gendzeit.“ Gotha 1880. 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil. -hist. Klasse. 1917. Heft 3. 


24 



350 


X. Bonwetsch, 


Worten: „Da sollst nicM toten! Das ist Grottes Gebot“ i) ; Leo 
dagegen ward von Begeisterung fiir Sand erfiillt (Kragelin S. 54). 
Wie Ranke der Theologie nahe stand, aach einmal gepredigt 
hat , so hat auch Leo die theologische Prilfung bestanden , je- 
doch ohne die Absicht Pfarrer zu werden. Uber Ranke konnte 
Leo urteilen, dab dessen Art der Grescbichtsbetrachtnng keine not- 
wendige Verbindung mit dem Universitatsunterricht babe , und 
fast wie in einer Art von Monolog warden obne nnmittelbare 
Rlicksicht auf die Horer von Ranke die zu schildemden Vorgange 
vorgefiihrt; dagegen war Leo mit ganzer Seele Dniversitatslehrer 
— er hat wiederholt seine frukeren Collegienhefte verbrannt, um 
jeder Generation das zu bieten, was gerade ihrem Bediirfnis ent- 
sprach (vgl. Br. 63) — und darauf gerichtet sein Yerstandnis der 
Gescbichte seinen Horern nahe zu bringen, da nur dies dem Ernst 
der Sache entspreche (vgl. auch Kragelin S. 75 f.). Sab Ranke, 
wie bekannt, die Aufgabe des Historikers darin, festzustellen, was 
geschehen, so iibte Leo Kritik an den Vorgangen und wirkte hin 
auf eine Stellungnahme zu ihnen. Gerade dutch seine „oft leiden- 
schaftliche Beteiligung an der Sache“ fesselte er und rib die Horer 
mit sich fort. Sick selbst legte er hinein in das, was er als Histo- 
riker vortrug. Eben dies zog nun aber auch Schranken seinem 
Wirken nach der Seite historiscker Forschung. Er, der entschlos- 
sene Gegner des Subjektivismus und Vorkampfer fiir die Bedeu- 
tung des Objektiven, ist dock subjektiv auch als Historiker. 
In seiner sturmbewegten Seele konnte die Gescbichte sich nicht 
in Klarkeit wiederspiegeln. Auch sucht er stets mit seinem Ver- 
standnis der Vergangenheit auf die Gegenwart einzuwii’ken. Er 
tritt hinein in das Parteitreiben seiner Zeit und sieht dabei fiir 
seine Aufgabe an, hervorzuheben, was andere zu sagen unterlassen. 

Die herausfordernde Form, in der er seinen Widerspruch gegen 
die herrschenden Anschauungen erhob, weckte dabei ihm nock in 
besonderem Mabe Gegner. Er liebte zornmiitige Worte, weil sie 
,.mit ganz anderem sittlichen Akzent ins Ohr fallen" (Kragelin 
S. 38). Einzelne solcher Ausspriiche, schnell zu gefliigelten Worten 
ge Worden, bestimmten im W^esentlichen die Vorstellung von ihm. 
So jener vom „Hecht im Karpfenteich", und namentlich jene Aube- 
rung beim Beginn des orientalischen Kriegs, in der er herbei- 
wiinscht zur Erlosung „von der Volkerfaulnis" einen „frischen, 
frohHchen Krieg, der Europa durchtobt, die Bevolkerung richtet 
und das skrophulose Gesindel zertritt, was jetzt den Raum zu 


1) Vgl. Fr. H. Eanke, Jugenderinnerungen. Stuttgart 1873. S. 105. 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 351 


eng macht“ ; „ein einziger, ordentlicher, gottgesandter Kriegsregen 
wiirde die prahlerische Bestie“ — „die Canaille des materiellen 
Interesses“ — ^init wenigen Tropfen schon zum Schw eigen und 
Verkriechen gebrackt haben^. — Aber Leo war das, was so man- 
chem zu Unrecht nachgeruhmt wind, tatsacblicb — eine Person- 
licbkeit. 

Ein verebrnngsvoller Zuhorer Leos, A. Boretins, hat als das 
Vorziigliche seiner Anffassung geriihmt, „da6 er alles Irdische auf 
(xott bezieht“ (Kragelin S. 4). So sehr war Leos G-eschichtsver- 
standnis dnrch seine religiose Tiber zeugung bestimmt. Die- 
selbe — zugleich seine damit verbundene kirchliche Stellnng — 
gelangt besonders zum Ausdruck in seinen Briefen an den Heraus- 
geber der Evangelischen Kirchenzeitung, Hengstenberg. Sie geben 
daher zur Erkenntnis seines ganzen wissenschaftlichen Strebens 
einen beachtenswerten Beitrag, zugleich ein Bild mannigfacher Er- 
scheinungen seiner Zeit. Es war vor allem die Begierungszeit 
Friedrich Wilhelms IV.: die der Anbahnung des Jahres 1848, der 
Vorgange dieses Jahres und dann der einsetzenden Reaktion, endlich 
der „neuen Aera*. 

Wie Leos poRtische Anschauungen , so haben auch seine re- 
ligibsen und kirchlichen eine Wandlung erfahren, jedoch die letz- 
teren betrachtlich spater als die ersteren. Von dem Sturm nnd 
Drang seines demagogischen Burschenschaftlertums wandte er sich 
schon 1819 ab („Hegelingen“- S. 52. 54), Hallers Schriften warden 
schon in der Gottinger Studienzeit fur ihn maBgebend nnd mit seiner 
j,Habi]itationsschrift „Uber die Verfassung der freien lombardischen 
Stadte im Mittelalter“ wurde jener Bruch 1820 vollkommen. HaUer 
und Hegel bestimmten nun seine staatlichen Anschauungen. Schon in 
Erlangen wurde er „als ein verhallerter Aristokrat ausgetragen" 
(Hegelingen S. 52). — In religioser Hinsicht dagegen war zwar der 
Grund seiner spateren Uberzeugungen schon in friiher Jugend in 
ihn gelegt worden '), — sein friih verstorbener Vater ein Mann luthe- 
rischer Rechtgliiubigkeit, zugleich Verehrer Herders (Br. 64), bei 
der Mutter hat er beten gelemt — , aber in der Schule zu Rudol- 
stadt herrschte der Rationalismus oder eklektische Orthodoxie; 
kein die Gewissen ernst anfassender Religion sunterricht wirkte 
dem dort herrschenden ^Seelenschlaf^ entgegen, so daB Leo bei 

1) Er bemerkt dabei, — Meine Jiigendzeit (Gotha 1880) S. 10 f. — daB 
da.s Oogmatische im Katechismusunterricbt ihn voUig interesselos liefi; dagegen 
jAiattathias von Modin [der Vater der Makkabaer] war ganz mein Mann‘-. .Her 
Eifer vor dem Herrn, der mir als die Spitze alter Tapferkeit erschien, scbien der 
eigentliche Inhalt alles dessen werden zu wollen, was von Religion in mir v. ar“. 

24* 



352 


X. Bonwetsch 


aller erziehenden Einwirkung seiner Lehrer Abeken und Grb tiling 
sich als einen am Ende seiner Schnlzeit religios vollig indiffe- 
renten Menschen beurteilt. (Meine Jngendzeit S. 78). Wahrend 
seines Stadiums und in den Anfangen seiner Docententatigkeit 
diirfte darin sich etwas geandert haben (von ihm selbst nur 
wenig bemerkt) durch den Verkehr in Erlangen mit dem jiingeren 
Puchta , in Berlin besonders innig mit den Staaatsrechtslehrern 
Philipps und Jarcke^). Aber in seinen „Vorlesnngen iiber die Gre- 
schichte des judischen Staates“ zeigt er sich besonders durch de 
Wettes alttestamentliche Kritik bestimmt (Br. 7), und erscheint ihm 
das Christentum als der „hochste Giipfel der Spekulation und Wahr- 
heit“, da in ihm Gott als der der Welt immanente Geist ,,denkend‘‘ 
erfafit werden konne®). Und als 1830 Ludwig von Gerlach in 
Hengstenbergs , Evangel. Kirchenzeitung^ die Halleschen Profes- 
soren Wegscheider und Gesenius wegen ihres Rationalismus an- 
grifi', unterzeichnete Leo nicht nur die Petition Haliescher Pro- 
fessoren an den Minister mit der Bitte um Schutz gegen solche 
^Insinuationen“, sondern er war auch der Hauptverfasser eines 
anonymen Artikels in der Augsburger Allgem. Zeitung, welcher 
gegen die „geistige Verkriippelnng der pietistischen Hierarchie in 
PreuGen". das doch als Staat Friedrichs des GroBen der Hort „des 
freien wissenschaftlichen Gedankens“ zu sein babe (Vorwort zu den 
Hegelingen u. Kragelin S. 68), protestierte. 

Gerade Ludwig von Gerlach aber ist entscheidend ge- 
worden fiir die Wandlung in Leos religibsem Leben. Die Julire- 
volution lieB Leo die Bedeutung der Kirehe fiir das staatliche 
Leben erkennen. HeiB ersehnte er nun die Bekanntschaft Gerlachs, 
ur.d doch scheute er sich ihn aufzusuchen, aus Furcht vor dem Ver- 

1) G. H. Schubert an ^uperiut. Kothe in .Mlstoilt v. 2.j. 7. lL'2.j : .,I)r. Leo 
ist nicht nichr hier ... ich kenne ihn aber gut. Er ist ein talent- und kenntuili- 
reicher, gelehrter junger Mann, dabei fur alles Gute wach und empfanglich und 
von der Erkenntnili des Christentuins gewiB nicht fern stehend. In damagogische 
Ge.'chichten war er wohl nie vc-rwickelt. Ich sake ihn inimer mit den edelsten, 
stilLstPii .Tiinglingen, besonders nut dc-m sehr crust thristlich gesinnten jungen 
Prof. Puchta unigehen‘‘. 

2 ) Die.s wird bestatigt durch Leos cnrcnc Bemerltuug (Hegelingen- S. 102 
Anni.) uber die Voraussetzungen oine^ Lmsangs mit Jarcke. 

3) Hegelingen- S. 54 f.; ^So bin i' h ohne Gompafi und iSteuer zur ! 'ni\>;r- 
sitnt geschickt worden, und habe rc.ich von den ver.scliiedensten Richtungen freilien 
lassen; d.mn von jeder hatte ich die Ilottnung, sie werde mich zum Ziele fuhren, 
zum Friden Gottes, und von jeder mulko ich na'.h oiniger Zeit wahrnehmen, dad 
sie mich noth weiter von Gctt abfnhre, bis ich zuletzt bei jenem Rationalismus 
mit lii'gelischer Teinture anlangte, in dessen Dienste ich die Vorlesungen nber 
jiiiiische Gesehichte vesclirieben habe*^. 



der Historiker Heinrich Leo in seineu Briefen an Hengstenberg. 353 

dacht der Unlauterkeit. Er machte sie im November 1832. So 
verschieden beider Naturen, so waren sie wiederum doch einander 
verwandt durch ihre romantischen Neigangen, auch durch die, 
gesonderte Wege zu gehen. Fortan besuchte Leo die pietisti- 
schen Versammlungen in Grerlachs Hause. Gerade, dad sie ihn 
aus der Gefahr gerettet, „sich in burgerliche Wohlhabigkeit zu 
verlieren“, schatzte er besonders an der von ihm erfahrenen Wand- 
lung. 

Fiir das, was ihm als neues Lebensprinzip aufgegangen, ist 
Leo dann mit Einsetzung seiner ganzen Person eingetreten. Es 
hat ihm schwere Kampfe zugezogen. Im Anschlud an Leos Send- 
schreiben an Gorres, gegen dessen aus Anlad des Kolner Kirchen- 
streites verfafiten „ Athanasius trat Huge in den ^Halleschen Jahr- 
buchern“ unter heftigen personlichen Invectiven gegen ihn auf. 
Leo antwortete durch seine gegen die Junghegelianer gerichtete 
Schrift „Die Hegelingen. Aktenstucke und Belege zu der soge- 
nannten Denunziation der ewigen Wahrheit“, Halle 1838, und nun 
erhob sich gegen ihn ein Ansturm der ganzen Linken der Hegel- 
schen Schule. 

Dieser Streit war es, der zur ersten Annaherung Leos an 
Hengstenberg*) fiibrte, erst brieflich, dann auch persbnlich. Die 
Menge der Gegner, und zwar in seiner unmittelbaren Umgebung, 
die Empfindung des Isoliertseins hatte Leo zeitweilig in starke 
Erregung versetzt; jener Besuch in Berlin gab ihm die Sicherheit 
wieder (vgl. Br. 1 — 4). Fortan ist die Beziehung zu Hengstenberg 
nicht abgebrochen worden; Leo wurde nicht nur ein Mitarbeiter 
an der Evang. Kirchenzeitung sondem auch ein warmer Freund 
seines Hanses, besonders mit Hengstenbergs mutvoller Schwieger- 
mutter sympathisierend. 

tiber Werke aus den verschiedensten Gebieten, bis hin zu Eugen 
Sue’s Eomanen, hat Leo Hengstenbergs Vorschlagen willfahrend 
referiert; die Anzeige selbst zumeist nur der Ausgangspunkt fur 
seine eigenen Darlegungen (vgl. Br. 7. 23. 43. 65). Aber nicht auf diese 
literarische Unterstiitzung des Freundes beschrankt sich Leo ; Liber 
alles was ihn politisch und kirchlich bewegt. spricht er sich in 
seiuen Briefen an ihn aus. Er berichtet iiber die Vorgange an 
der halleschen Universitat, wie z. B. bei der Promotion M. Baum- 
gartens (Br. 5—7), des spater in Rostock GemaBregelten, und Thieles 


1) Schou zuvoi- in einem Briefe an Schubert in llunchen begruBt Hengsten- 
berg freudig „die plotzliche Veranuerung die bei I.eo vorgegangen‘^ und wunscht, 
daB sie ,.zu einer bleibenden Umwandelung‘‘ verde. 



354 


N. Bonwetsch 


(Br. 8. 9), dessen akademische Tatigkeit trotz des fiir ihn zunachst 
giinstigen Ausgangs des Streites (Br. 11) scheiterte (aus Mangel an 
Mitteln). Auch Befiirchtungen, die er hegt, gibt er Ansdrack (vgl. 
Br. 11. 17), und er sncht den Breund zu interessieren fiir eine ge- 
eignete Besetznng der Stelle des Universicatscnrators in Halle 
(Br. 25. 26). Seinen Kampf mil der ihm feindlichen Rngeschen 
Partei schildert er ihm (Br. 3. 11). Ebenso aber anch die Vorgange 
auf dem kirchlichen Gebiet z. B. das Wirken der Lichtfreunde 
Wislicenns und Uhlich (Br. 19. 32. 35. 46) oder die Kampfe der 
Intherisch gerichteten hallischen Prediger wie Seiler und Hoffmann. 
Anch iiber Binge seiner personlichen Religiositat (Br. 44. 46. 70), 
spater anch iiber sociale Eragen nnd innere Mission (Br. 56 — 58). 
Gelegentlich bestimmt ihn anch das Interesse fiir jiingere Leute wie 
A. Bromel — spater in Ratzebnrg und Verfa.sser der ^Homileti- 
schen Charakterbilder“ — , Rumpel — hernach Direktor in Gii- 
tersloh nnd Provinzialschnlrat — zum Schreiben (Br. 24. 29). Mit 
lebendiger Teilnahme verfolgt er die ersten Regiernngshandlnngen 
Friedrich Wilhelms IV (Br. 13), er erkennt die Schwierigkeiten, die 
ihm die Verhaltnisse und seine eigene Art bereiten (Br. 15. 44. 54), 
er sieht das Kommen der Ereignisse von 1848 sick vorbereiten 
(Br. 40). Als sie eintreten, empfindet er sie mit tiefem Schmerz 
(Br. 47), aber begegnet ihnen freudigen Mutes und sieht unter 
ihnen eine Wendung zu Besserem sich anbahnen (Br. 50); im De- 
cember 1848 lieB er seine Signatura temporis ausgeben. Die Riick- 
kehr in das alltiigliche Geleise nnd das Abebben des voriiberge- 
henden idealen Aufschwungs erregt sein Bedauern (Br. 68). Die 
Vorgange 1848 fiihrten ihn in den nachsten Jahren zu einer ge- 
steigerten Wertnng der katholischen Kirche (vgl. Br. 58). Seine 
Monatsberichte im „Volksblatt fiir Stadt nnd Land“ von Nathusius 
1852 und noch mehr sein Brief an seinen Jugendfreund Emil W. 
Krummacher in Duisburg (ebd. 1853 S. 33 ff.), die seinen Sympa- 
thien starken Ausdruck gaben, riefenden Widerspruch auch Hengsten- 
bergs hervor. Leo hat in seinen Briefen an diesen seine Auffas- 
sung dngehend zu begriinden gesucht (Br. 58. 60. 61). Die Kehr- 
seite jener katholischen Sympathien sind abfallige Bemerkungen 
iiber die Reformatoren und ihr Werk. So richtig er hervorhebt, 
wie diese iiberzeugt sind, nur die wahrhaft katholische Kirche zu 
vertreten und wie sie nicnt eine neue Kirche begriinden wollen, 
und so zutreffend er das ihnen mit Rom Gemeinsame erkennt ^), 


1) Vgl. schon Hegelingen S. 5K. ,daB erstens was die Reforniatoren selbst 
betrilit, lieiner von ihnen auLl; nnr entternt den Plan hatte, etwas eignes H e u e s 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 355 


SO ist ihm doch andererseits das Verstandnis fiir den eigentlichen 
Wesensunterschied zwischen Katholicismus und Protestantismus 
nicht aufgegangen ’). Nicht nur die protestantische Umgebung, 
sondern auch sein personliches Gewurzeltsein in der Glaubensge- 
recbtigkeit (vgl. Allg. kons. M.-S. 1893 S. 947) hat ihn davor be- 
wahrt, die Wege nach Pom einznschlagen. — Die Worte von Otto 
Krans, dad Leos „politische Ansichten bisweilen, seine religiosen 
nicht selten, seine kirchlichen sehr oft anfechtbar“ (1893 S.817), zeigen 
sich als nicht unberechtigt. Anch dankbare Verehrer haben sich 
oft genng iiber seine nicht gerechte Beurteilung der Reformation 
ausgesprochen. Aber immer bleiben Leos Ausfiihrnngen nicht nnr 
interessant; sie schlieBen auch meist ein verkanntes Wahrheitsmo- 
ment in sich. — Die neue Aera regte seinen kampfesfrendigen Sinn, 
ahnlich wie 1848 nur frisch an-). Und wie er, der als Absolutist 
Verschrieene die Yerfassnng freudig begriiBt hat, so auch die Er- 
folge 1866, denn der Beruf Preufiens fiir Deutschlands Einheit und 
Ereiheit in PrenBen war ihm immer deutlich geblieben. Schon in 
einem Brief an Leopold von Gerlach am 4. Nov. 1849 spricht er 
die Zuversicht aus, daB nach dem Fiasco des Frankfurter und Er- 
furter Parlaments „ein Stiick von Deutschland nach dem andern 
nnter PreuBens starken Flugeln’' nnterkriechen werde, „das ist 
der naturgemaB, der historisch sich entfaltende Boden des neuen 
deutschen. d. h. preuBischen'*) Reichs“ (Allg. Kons. Mtschr. 50(1893) 
S. 1165). Nicht grundlos hat ihn daher Treitschke als einen „Feuer- 
geist von iibersprudelnder Kraft** geruhmt. 


zu inachen“ und S. 03 ; ..Gabe es fur mkb keine andere Wahl als zwischen 
dieser damoniscben (begelingischeu) Philosopbie und dem Katholizismus — sicher, 
ich tiobe zu Boms Altaren um Rettung zu sucben und tbate BuBe vie Gregorius 
auf dem Steine“. — Vgl. aber auch den Brief an Rappard vom 27. Febr. 1846 
I Allg. Kons. iltsschr. 1893 S. 933): „ob\vobl icb nach der Seite der Lehre deci- 
dirter Calvinist bin** (anders seit 1850, vgl. ebd. S. 1287); vom 5. Mai 1851 (ebd. 
8. 1282): die unierte Kirche ist ihm .,hochst willkomnien als neutraler 
Roden". 

1) Allg. Kons. Mtsschr. 1893 S. 1282 .,Betraehten wir die Reformation in 
ihreui tiefsten Kerne, so ist das was sie wollte, nichts Neues, sondern eine Rich- 
tung, die in der alten katholischen Kirche auch war, es ist die mystisch-reaUstische 
Richtuug des heil. Augustin, der Victoriner, des Albertus Magnus. “ 

2) In dem Brief an Ludwig v. Gerlach am 5. Marz 1860 gedenkt Leo lessen, 
wie ihn 1848 cin Gefuhl der Erlosung uberkommen habe, als jener zu ihm gesagt, 
nun breche gerade der Tag fiir sie an; so fuhle er sich auch jetzt frischer im 
Yergleich mit den letzten Jahren und sehne er sich nur danach, daB die jetzige 
Regierung auf den Ambos der Taten gelegt werde. Vgl. auch unten Br. 69. 

3) An Leop. v. Gerlach 8. Juli 1855 (Allg. Kons. Mtsschr. 1894 S 454): „Ich 



356 


X. Bonwetsch, 


Scharf, aber beachtenswert ist sein Urteil liber slavische Art*). 
Noch interessanter das liber England ^). — Da6 Leo es liebte, gegen 
den Strom zu schwinunen und eigentiimliche Anscbauungen zu ver- 
treten. haben schon seine Zeitgenossen erkannt, und hat er selbst 
nicht geleugnet. Dennoch ist er anch von dem Strom seiner Zeit 
getragen und getrieben worden. Mit ihr hat er die romantische 
Stimmung und die freiheitliche Begeisterung in seiner Jugend ge- 
teilt, mit ihr der Hegelschen Philosophie gehuldigt , dann an der 
religibsen Neubelebung seit den dreiBiger Jahren teilgenommen, 
mit den Bestrebungen der Anfangszeit Friedrich Wilhelm IV . S3'm- 
pathiesirt. Als man in kirchlichen Kreisen sich zu einer Annaherung 
an hierarchische Ideale und zu Manchem im romischen Kultus neigte. 
hat Leo sich mehr als andere dafiir erwarmt und dem starkeren 
Ausdrnck gegeben. So darf Leo auch als — nur eigenartiger — 
Vertreter geistiger Strbmungen seiner Zeit das Interesse bean- 
spruchen. Seine Briefe verdienen Beachtung nicht nur als eine 
Selbstbiographie unmittelbarster Art, sondern auch als ein Denk- 
mal der Geschichte seiner Zeit. 

Im personlichen Verkehr hat Leo trotz aller seiner Leiden- 
schaftlichkeit Milde und gewinnende Warme zu zeigen gewuGt. 
Den Studierenden und ihren Anliegen kam er in weitgehender 
Weise entgegen (vgl. Br. 65). Wenn er an von anderen gefeierten 
Personlichkeiten Kritik iibte, so geschah dieses, weil er es fiir eine 
Pflicht der Gerechtigkeit erkannte (A. K. Mtsschr. 1893 S. 932). 


lialie eine Ahnung davon, da6 PreuBen, wenn es seinen Gott nicht f'ahren latlt, 
den aller-, allergrOBesten Dingen in der Welt entgegengeht, denn was Hel- 
fendes in Deutschland ebenso wie in PreuBen ist, lehnt, stiitzt und kraftigt sich 
alles an PreuBen". An Ludwig v. Gerlach 2. Oct. 1866 (ebd. S. 1012^ „Ich hatte 
schon .Jahre lang nach einem ordentlicheu Kriege gelechtzt, . . nun vollenis dieser 
meiner Anschauung nach berechtigste gegen dieses . . diabolische Oesterreich . . 
Bismarck ist niir eigentlich im Ilerbst 18 Ls . . gnig Ijerj, gewachsen". — Freilicli, 
inuerliche Emeuerung erwartet Leo nur von einer Erziehung durch ernste Er- 
falirnisse, Eurcht Gottes sei das Bedurriiis der Zeit, dazu aber gehbre fuhlbares 
Ungliick und lang e Bedrohung(Br. anv. Piappard Marz 1850, ebd. 1393 S. 1169). — 
Ludwig v. Gerlach hat Leos Stellung zuni Krieg 1566 als Pantheismus beurteilt 
iu t. Brief an Hengstenberg u. Allg. Kons. Monatsschr. 1594 S. 1012. 

1) .Vllg. K. Mtsschr. S. 935 1893 .,Es ist in alien diesen Slaven ein eigeutum- 
liches Gemisch zarter, sanft verschwehender Emplindsamkeit und wilder , rohauf- 
tiackernder Leidenschaft". 

2) Allg. K, Mtsschr. 1S94 S. 234f. : .Die Liebe das Englanders zu England 
und allera was englisch ist, tragt uberall den Charakter eines egoistischea, eitl en 
M esens, welches vor sich im Spiegel stehend . . sagt . . geradezu : du hist der 
Xormalmensch und die Normalnation. 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg, 


357 


Da6 ilim selbst ein gerechtes Urteil werde, dazu diirfte der Ein- 
blick in seine Briefe die besten Dienste tun . denn in ihnen stellt 
sich sein Wesen am nnmittelbarsten dar. 


1 . 

Hochverelirtester Herr Professor! 

Seit acht Tagen gehe ich damit um . Ihnen zu schreiben, in- 
dem ich nach freundlichen Worten , die friiher durch Tholuck an 
mich gelangt sind . und bei , wie mir scheint , so deutlichem Zu- 
sammenstimmen in den Dingen. welche Hauptsache im Menschen- 
leben sind, theils das Bediirfnis directer Mittheilnng dringender, 
theils vor alien Dingen auch mich getrieben fiiblte, Ihnen fiir viel- 
fache Erkraftigung und Auffrischung meinen innigsten Dank zu 
sagen. Ob es wohl schon einmal eine Zeit, wie die unsrige ge- 
geben hat, wo der Streit um das Hochste die Welt bewegt. und 
doch die Individuen sich so ode, schlaff und blasirt daneben fiihlen V 
Znm Blasirtsein fiihle ich zwar in mir noch keine Xeignng; aber 
wie oft siuken mir die Hande matt in den Schoos und ich gehe 
mit geschlossenen Augen und verbissenen Zahnen Monatelang fort 
— bios deshalb fort, weil ich mir’s vorher vorgenommen habe ; 
wie sich etwa ein Officier. der mit seinen Truppen einen bestimmten 
Punct erreichen soil und will, durch keine Meldung, keine De- 
sertion, keine Unwegsamkeit abhalten laBt vorwarts zu gehen, 
wenn er auch almalig alle Vorstellung verliert wie die Erreichung 
des Ziels mbglich sein wird. In solchen stumpfverbissenen Zu- 
standen ist mir oft die evangelische Kirchenzeitnng trostreich an 
die Seite getreten und hat mir auf Monate hin das voile religiose 
Lebensgefiihl wider mitgetheilt. Dafiir also meinen herzlichsten, 
herzlichsten Dank! 

Was ich auBerdem noch zu schreiben hatte, ist alles so daB, 
wie ich die Eeder ansetze, es mir innerlich ist, als konnte ich nicht 
schreiben. wenn nicht einmal eine milndliche Verstandigung vor- 
aus^eo-angen. Ich will dies Gefiihl auch nicht iiberzwingen; es 
scheint mir etwas richtiges zu Grunde zu liegen. 

Beifolgende gedruckte Blatter bitte ich nachsichtig aufzu- 
nehmen. Ich fiihle — abgesehen von der auBern Noth wendigkeit, durch 
eine Publication dieser Art mein VerhaltniB zu dieser Art Lenten 
ganz in’s Reine zu bringen — ist der gute Wille das beste daran. 


1) Offenhar „die Hegelingen‘- : vgl. oben S. USo. 



358 


N. Bonwetsch, 


Ich habe weder Zeit nocb Neigung micb jetzt in philosophische 
Erorterungeu zu vertiefen. 

Mit innigster Hochachtung Ew. Hochwilrden treuergebenster 

Heinrich Leo. 

Halle, den 4 ten Sept. 1838. 


2 . 

Mein hochverehrtester Herr und Freund! 

. . . Ja wohl sind in unserem Vaterlande der Herzen noch 
viele, die sich dem Baal nicht bengen ; — aber sie sind nicht bios 
zerstreut, sondern auch in ihrem Handeln vereinzelt, wahrend 
die Gegner immer in alien Richtungen Chorus machen. Freilich 
reifit die Tenfelsfaust immer nur einzelnes ein, und wahrend sie 
an der einen Seite reifit, wachst das eingerissene auf der anderen 
Seite wieder — aber ein Vorwurf fiir uns bleibt es doch, daB die 
welche den besten Willen haben dem Herrn zu dienen durch die 
Planlosigkeit ihres allgemeinen Wissens diesem vereinzelten Ein- 
reiBen mehr Raum geben, als sie verantworten konnen. . . Fiir 
diese Kriegsstellung kommen mir nun gerade die Studien bei denen 
ich eben bin zu recht — namlieh bei den Genossen bei Port-Royal. 
Ich kann nicht sageii, wie sehr ich mich an diesen Menschen stiirke 
und ercjuicke — aber be3onder.s auch an ihrer Einigkeit und an 
ihrem planmaGigen, in einander greifenden Wirken; wie sie mit 
Adlerblicken iiberschauen, wo ibre Sache bloB erscheint und sofort 
fiir die BloBe den rechten Mann finden, der als Schriftsteller, 
Redner, Seelsorger. Hofmann oder Geschaftsmann , wie sie ihn 
eben brauchen, sofort mit seiner ganzen Person in die BloBe tritt, 
aber bei deren Deckung auch von alien Freunden uuterstiitzt wird. . . 

Freilich zu solchem Thun gehort nicht bios ein gottlicher Bei- 
stand der einzelnen, sondern auch des Ganzen — Fundamente, wie 
wir sie schwerlich in Deutschland je iinden — ich mochte sagen: 
physische, von der Natur gegebene Anbalte — wie jene fran- 
zosische Maccabaerfamilie der Aiuauld's und Limaitres ; ein localer 
Mittelpunct wie die Einsidelei von Les Granges war bei Port- 
royal — Manner von einem Flammengeist wie St. Cyran — von 
einem patriarchalischen, Individuen zusammenklammernden Ansehen 
wie der alte Robert Arnaud bald es hatte — Heldinnen wie die 
Mutter Angelique, die schon mit 17 Jahren an geistige Helden- 
taten gieng . . . 

Fiir Ihre Aulforderung in Beziehung auf die Ev. K.Z. meinen 
herzlichsten Dank. Fiir den ersten Moment muB ich leider ablehnen. 
[Leo arbeitet am 4. Bd. der Universalgesch. und an der zweiten 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 359 


Auflage des 2.], und was mir an Zeit iibrig bleibt, wird von der 
Spannung welche die rob aasgesprocbene Feindschaft der Herren 
E,uge und Wigand , und gegen die icb meinen Streit doch 
immer im Auge bebalten mud, bervorbringt, verdorben. 

Die Triarier will icb laufen lassen. Antworte icb so, dafi icb 
die feindlicbe Seite berauskebre , so verbittere icb unnotbig — 
kebre icb die freundlicbe beraus . so setze icb die Kriegsstel- 
lung die unser Staat, die unsere evangeliscben Briider in Baiern 
gegen das katboliscbe Wesen haben, aufier Augen. Also scbeint 
mir das Beste, icb scbweige zunacbst . . . 

Der Herr erbalte und iordere Ihre berrlicbe Kraft zu seiner 
Ebre ; mir aber gonne er aucb ferner Ibre woblwollende Freund- 
scbaft. 

Hucbacbtungsvoll treu ergebenst H. Leo. 

3. 

Hocbverebrtester Herr und Freund ! -) 

Beifolgend ubersende icb Ibnen meine Entgegnung auf alle die 
gemeinen und gemeinsten Angriffe der Hegelingen, die icb als An- 
hang zu einem neuen Abdruck der unter dem Titel Hegelingen 
zusammengestellten Actenstiicke babe drucken lassen. Aufricbtig 
gestanden ist mir. indem icb so geseben, wie auf die Sacbe nocb 
so gar, gar nicbts erwidert worden ist von meinen Gegnern, 
und sie micb lediglicb durcb gegen meine Person gericbtete Scbma- 
bungen und Dreckwlirfe zum Schweigen bringen wollen zuweilen 
trotz dem, daS Gott sie verblendet und getrieben bat, sicb selbst 
weit starker zu denunciiren als icb sie denunciirt batte, der Atbem 
kurzatbmig geworden. Icb babe micb notbwendig gefragt — was 
soil das fiir <ein) Ende nebmen? Erst bort man von alien Leuten 
scbreien und scbimpfen unter der Hand iiber das TJnwesen der 


Ij Vgl. J. liesscr an Hengstenberg am 28. Juui; ,,Dr. Huge hat gegen 
Le.j eineii Brief geschleudei't in tlen 4 letzten Stucken der hall. Jahrbucher, wo 
diesem Galliliier so hohnisch geflucht wird ... die Menschen entbloden sich nicht, 
den Christen, der im Apostel Panins die vollkommene tVahrheit findet, mit dem 
Vogel Wend eh als zu vergleichen, „der den Kopf iiach dem Steifie zu drehen 
weifi‘‘. . . Leo wird in der Vorrede zur zweiten Auliage seines Antigorres, die 
morgen erscheint, in seiner Sprache dies Unwesen zuthtigen“. Er hat neulich 
in oifentlicher GesellscLaft Rugen erklart; er solle ihn' aus der Zahl der Mitar- 
heiter streichen, denn sein Motto lautete ; Soil ich hei Dir hausen, la6 die Bestie 
dranBen !“ 

2) Vgl. dazu EKZ. 1839 S. 20ff. , Einzelnes in direkter Anlehnung an den 

Brief. 



360 


N. Bo n wet sc b, 


Hegelianer, wie es zum Treffen kommt, lassen mich alle mit meinen 
vier jungen Leuten den Kampf nun schon fiinf Monate ganz 
allein fiihren; Menzel ist der einzige AUiirte, der sich dazu ge- 
funden hat, und der hat doch nur ein populares, nicht ein wissen- 
schaftliches Gewicht. Ullmann'') schreibt mir. mit wie groBem 
Interesse er dem Streite folge, dafi das Unwesen der HegeUnge 
emporend sei — aber er selbst hat noch nicht genug philosophische 
Studien gemacht, um zugreifen zu konnen. Lucke ‘') desgleichen, 
dab ich versichert sein diirfe, tausende druckten mir im Stillen 
fur meinen AngrifF die Hand, aber er sei nicht gerustet mit ein- 
zugreifen. Kinimmacher ■*) driickt mir seine Teilnahme noch ener- 
gischer aus, aber er selbst thut nichts j Hase j freut sich auf alles, 
was bei dieser Gelegenheit den Hegelianern hartes aufgetischt 
werden wird, aber er selbst hat zu viele Prorectoratsgeschafte. 
Die Rationalisten sind bereits so weit herunter, dafi ihr Beistand 
nichts helfen kann, und so ziihle ich Bretschneiders Zugreifen 
fiir nichts. 

Diese Isolirung, in der ich mich fiihle, wird mich allerdings 
nicht zum stillen Manne machen , sondern ich werde Kopf und 
Kragen an diesen Kampf setzen, der am Ende zugleich ein Kampf 
gegen bedeutende Einfliisse in Berlin zugleich ist, und, wenn ich 
allein bleibe. mich in ineiner biirgerlichen Stelluug gern herab- 
dciicken wird. Das thut nichts — ich habe es voraus gewuJCt und 
darauf gewagt — abar wenn man das Opfer bringt, gliihende Kohlen 
mit bloBen Handen anzugreifen, wiinscht man doch auch eiiiige 
Hiilfe zu sehen, von denen die das Opfer anerkennen. Sie , ver- 
ehrtester Freund, werden nun freilich sagen, und mit Eecht sagen 
— wie komme ich zu dieser Predigt; das ist ja wie wenn ein 
Geistlicher die wenigen Kirchenganger . welche kommen, abstraft 
durch eine Predigt, welche die horen sollten. welche gerade nicht 
kommen. Habe ich nicht in meine Zeitung alle an dieselben ge- 
sandte Artikel gegen die Hegelingen bereitwillig aufgenommen, 
und dafiir das grobste Geschimpfe iiber mich geduldig ergehen 
lassen miissen? 

Ja! Sie haben Eecht! ich kann mich iiber Sie nicht beklagen, 
da6 Sie mich im Stiche gelassen — aber Sie miissen mehr thun. 

1) Darunter Besser, lialmis (vou dicbeni .Dr. Huge und Hegel. Ein Beitrag 
zur Wiirdigung Hegelscher Tendenzen“. Quedlinburg 1838). 

2) Seit 1836 in Heidelberg. 

3) In Gottingen. 

4) Oft'enbax Emil Krummacber, Leos I'reund. 

.5) Karl Hase in Jena. 



der Historiker Heiniich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 3Gi 

Ich habe, weil es mir Anfangs strategisch king schien, den dummen 
Streich gemacbt, alle Philosophie weit weggeworfen, und babe nun 
den Lohn dieser Weltklugbeit ; jetzt! wo alles darauf ankame, 
das gegnerische Pack auf seinem eigenen Terran anzngreifen nnd 
nnd auch da zu pochen nnd zu treiben, bin ich gefesselt und ge- 
bunden. Besser ist’s freilich . wenn dieser entscheidende Streich 
von einem Theologen ausgeht. nicht von mir — aber wenn Sie 
mich im Stiche lassen, weifi ich nicht, welcher Theolog die weitere, 
die eindringende Klage aa=|j='ac gegen dieses damonische Philoso- 
phengesindel beschafFen soil — alle kriechen ja ! wie die Manse in 
ihre Locher — Tholuck. dem die friiher bei anderen Gelegenheiten 
erhaltenen Schlage ') noch viel zu wehe than, dem das Bediirfnifi 
allseitiger wissenschaftlicher Anerkennung viel zu tief in das 
Fieisch geboren ist, als dad er nicht auch einmal sich an einem 
Almosen von Anerkennung. was ihm hie und da die halleschen 
Lehrbiicher speiiden, freuen solle, Tholuck mag ich gar keinen 
Antrag dieser Art machen — aber Sie miissen zugreifen oder 
einen handfesten und schufifesten Zugreifer schaffen — sonst bin 
ich ein nutzloses Opfer — Opfer von Herzen gern — aber 
nutzlos ? das thut bitter weh — obwohl, wenn’s sein soli , ich den 
Kelch auch hinunter schlingen werde. 

Schreiben Sie mir doch wenigstens olFen und ohne alle Scben 
vor Verletzung, welchen Eindruck auf Sie meine jetzige Zu- 
gabe zu den Aktenstiicken macht. Es ist das einer der hartesten 
Fliiche, die mit der Isolirung in der ich mich mehr und mehr 
fiihle, verbunden ist. dad man in ihr die Sicherheit des Taktes und 
nnd Gefiihles liir die eigenen Aeuderungen verliert. Geben Sie 
mir diese Sicherheit durch einen recht olFenen, geraden. wie Ihr 

Sinn Sie treibt : strafenden oder ermunternden Brief wieder ; 

und falls Sie meine Antwort an die Hegelingen nicht ganz schlecht 
finden, lege ich Ihnen noch die drei Exemplare [zur Weitergabej 
bei . . . Bedenken Sie dad ich Freunde und vielleicht in Kurzem 
Schiitzer brauche, denn ich werde weiter gehen und immer klihner 
zuschlagen, wenn Sie nicht ganz abrathen. Sorgen Sie also ein 
wenig frir mich, um unsrer Fahne willen. 

Der Herr schenke Ihnen frohliche Feiertage und ein gliick- 
liclies Neujahr ! 

Halle den 23 ten Dec. 183R. Treuergebenst H. Leo. 


1) "NVobl namentlicli, als Tliuluik fiiv den Vertasser des .A.ngrifis aiif Gesenius 
imd Wegscheider (oben S o52i gehaiten 'Aurde. 



362 


K. Bonwetsch, 


4. 

Mein hochverehrtester, theuerster Freund! 

Schon fortwaFrend seit icF den Aufsatz der Ihre Zeitung 
dieses Jahr begonnen hat, zu Ende gelesen, babe ich daran gedacht 
Ihnen zu schreiben und meinen herzlichsten Dank zu sagen; dock 
nicht allein fiir die freundliche Waffengenossenschaft, sondern auch 
fiir die zwei schdnen Stunden, die ich mit Ihnen in Berlin zuge- 
bracht babe. Mir war die Reise, mit der ich mein Jahr begonnen 
habe, bitter noth — aber nur in dem Verlauf, den sie hatte, und 
den nicht ich ihr geben konnte, sondern dessen Wirkung auf mich 
Ihnen, Gerlachs und einigen wenigen auherdem als Verdienst zu- 
fallt. Ich iibersehe jetzt erst in welcher aufgescheuchter, krank- 
haft erregter Stimmung ich die letzten beiden Monate des ver- 
flossenen Jahres am Ende doch zugebracht habe — und will um 
mich nicht zu sehr zu demuthigen nachtraglich nicht untersuchen 
wie grofi der Antheil meiner Eitelkeiten an dieser Krankhaftigkeit 
war. Genug, da6 ich weiB, da6 ich es nicht mir sondern Gott 
und lieben Freunden zu danken habe, wenn seit meiner Riickkehr 
nicht mehr ein forcirter, mich selbst beliigender sondern ein natiir- 
licher Friede in meine Seele zuriicbgekehrt ist. Freilich mit ihm 
auch eine gewisse Abspannung, die ich gern wieder los sein mochte, 
und leider um so weniger los zu werden vermag, als ich allmalig 
in meinen Arbeiten fiir die Universalgeschichte in die Recapitu- 
lation und Vervollstandigung meiner Studien iiber die geistreiche 
Umwiilzung- und Schandlitteratur der Franzosen im 18 ten Jh. 
hereingeriickt bin. 

. . Bis zu den Ferien denke ich das franzosische Gesindel ab- 
schiittelt zu haben . . . 

Sodann ist in der Gorres-Phillipsischen Zeitschrift ein — oder 
vielmehr es sind zwei Sendschreiben an mich erschienen auf die 
ich weit grdfiere Lust habe zu antworten als auf Gorres Triarier • 

In manchem Betrachte werde ich dem Manne Recht geben miissen 
— in manchem misversteht er mich, ich will nicht hoffen bos- 
willig .... 

Mit freundschaftlicher Hochachtung treuergebenst H. Leo. 

Halle den 24 ten Febr. 39. 


1) J. Gorres, Die Triarier H. Leo, Dr. pb. Marheinecke und Dr. K. Bruno, 
Regensburg 1838. 



der Historiker Hemrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 363 


6 . 

Mein liochTerehrtester. thenerster Freund ! 

. . Dubois’s Bnch mufi ich ganz ablehnen . . In mir ist die 
Macht des Mitleids mit jammerbaften socialen Zustanden so gro6 
als sie in Dubois nur sein kann. Ich bin dem Bettler, dem Herab- 
gekommenen gegeniiber oft geradezu charakterlos schwach, und 
dennoch babe ich die Einsicht, dafi so lange unsere Statswirth- 
schaft nicht eine ganzliche Umwalzung erleidet, eine Umgestaltung 
dahin, daB die sitlichen Riicksichten wieder iiber die arithmetischen 
gestellt werden, all unsere Sorge nicht nur eitel ist, sondern den 
Kropf am Halse unserer socialen Verhaltnisse vermehrt und alles 
gutmiithige Thun das Ungllick aufnahrt statt es zu dammen . . . 
Smith ist fiir unser Europa machtiger als chemisches Element denn 
alle Jakobiner zusammen genommen. Unsere Statswirthschaft ist 
das eigentliche Brutnest der Revolution. Wer wird die Axt an 
die Wurzel legen? 

Unser Freund Gerlach braucht nur die Jansenisten kennen zu 
lernen, die ja Alles was uns der Katholicismus achtbar machen 
kann, behalten ja! vorzugsweise pflegen wollen. Wie sind die 
Armen zerschlagen, mit Gemeinheit zertrieben worden? Sie sind 
nun in eine Stellung und Gesinung so hineingestoBen, um die sie 
niemand beneiden wird. Gerlach konnte in ihrem Schicksal die 
Geschichte seines Innern lesen, wenn dies Patronat der katholischen 
Kirche bei ihm je mehr als eine durch eine wahre Liicke in un- 
seren protestantischen Kirchenzustanden leicht erklarte Liicke wiirde. 
Fiir etwas mehr halte ich es nicht. Er hat das BedurfniB eines 
groBartigen Zusanunenhanges , eines machtigen Wirkens oder we- 
nigstens Wirkensehens . . Ich fiihle Gerlacbs Sehnsucht mit und 
theile sie oft krankhaft aufgeregt — demohnerachtet wird mich 
mit Gottes Hiilfe nie jemand unter katholischen Fahnen sehen. 

Noch freue ich mich nicht iiber die Ziiricher Entwickelungen 
zu sehr. Wenn die Hirzelsche oder vielmehr alt Usterische Partei 
nicht vom Brette gestoBen wird, wird vielleicht StrauB jetzt abr 
geschlagen und einige Jahre temporisirt. Aber die ganze Aufre- 
gung hat dann nur dazu gedient tausenden das StrauBische Gift 
zuzutragen; die Regierung hort nicht auf dem hollischen Feuer 
der religiosen Verwirrung und des Zweifels Vorschub zu thun . . . 

... Von Dr. Baumgarten werden Sie wohl triibselige Nach- 
richt erhalten . . . Ich habe leider nicht geahnet, daB er so wenig 
die blanken Waffen rascher Wendung oder ruhig ablaufenlassenden 
Witzes fiihrt, und sah nach dem der zweite Opponent mit ihm 
fertig war, daB er sich auf dem Katheder in die Lage eines Opfer- 



364 


N. Bonwetseh, 


thieres hatte bringen lassen, nm welches Bruder Studio sein Kreuzige f 
herumjauchzte. Es ist nur zu klar, dafi von der anderen Seite 
alles verabredet war . . Der moralische Eindruck dieser Dispu- 
tation auf die Studenten ist nicht zu berechnen und die Macht 
der Deseniusse, Fritsche, Niemeyer. Badigere hat sich als eine 
solide Phalanx bewahrt . . . 

Trenergebenst H. Leo. 

6 . 

Mein hochverehrtester Freund! 

Tausendmal bitte um Verzeihung, da6 ich Sie schon wieder 
niit einigen Zeilen belastige. Ich habe eben durch Dr. Bessers 
Giite das letzte Blatt der Ev. K.-Z. welches ich durch die Buch- 
handlung erst nachsten Sonntag bekomme, im voraus gelesen, und 
darin einen Correspondenzartikel aus Halle gefunden *), den Sie 
durchaus in einer gewissen Weise wieder desavouiren miissen, 
wenn Sie unseren Gegnern nicht seibst einen schmahlichen Trinmpf 
bereiten wollen. 

Allerdings namlich hat das Verfahren der theologischen Fa- 
cultat bei der beriichtigten Disputation “), wie Ich ihnen auch schon 
schrieb, auf jeden der Augen hatte den Eindruck gemacht, dafi 
man mit absichtlicher Malice verfahren habe — nur darf die be- 
wufitc Absichtlichkeit nicht alien Einzelnen Schuld gegeben werden, 
und Thilo z. B. ohngeachtet er allerdings die Absicht gehabt hat 
die Disputation so ernst und streng zu nehmen wie moglich, ist 
doch gewiB nicht bewuBter Weise im Complott gewesen. sondern 
erst wahrend der Disputation von dem schlangenklugen Gesenins 
aufgestachelt von der Ungeschicktheit, die doch nicht zu laugnen 
auch Baumgarten bei dieser Gelegenheit entwickelt hat, in Har- 
niscli gebracht worden. 

. . Dies [die beabsichtigte Strengej kann ihm nicht versagt, 
anderes nicht nachgewiesen werden, und er kann getrost den 
ganzen SchluBsatz des Correspondenzartikels, den sie aufgenommen 
fiir eine Liige erklaren. AVas sollen wir dabei thun, wenn Sie 
nicht seibst dabei zuvorkommen in einer eigenen Erklarung? 

. . . Etwas m ii s s e n Sie thun. Thilo wird eine Broschiire 
von Stapel lassen, in welcher er besonders droht gegen Tholuck und 
von Gerlach zu Felde zu ziehen. Das mag er thun. Tholuck wird 


1) f.KZ. Ib39 S S. lOo ^SrhluBwort uber die hall. Disputation“. 

2 ) 41. Baumgartens, am 2. Marz (s. o. S. 353). 





der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. oH' 

es ganz gesund sein, wenn er sieht, da6 alles Laviren ihm hier 
doch kein ruliiges Lager bereitet ; dad er dieses, wenn er es haben 
will, mit blanken WafFen erkampfen mu6 . . . 

Verzeihen Sie meine Dreistia-keit. Die Sache schien sie zu 

O 

fordern — die Sache, in deren Namen, wenn es nothig ware, ich 
Thnen ja auch weiteste Vollmacht gebe, meine Person allenfalls 
sogar mit Fiifien zu treten. 

Meinen Aufsatz iiber Port - Royal *) erbalten Sie in etwa 8 
Tagen; ich bin mitten dabei. 

28. 3. 39. Treuergebenst H. Leo. 

7. 

Hochverehrtester Freund! 

Beifolgend erhalten Sie den ersten der von mir besprochenen 
Autsatze. Sie werden sehen, es i.st keine Anzeige des Buches vun 
Reuchlin im strengeren Sinne, sondem allerhand iiber den Inhalt 
dieses Buches und aus ihm, was mir eben fiir unsere Zeit paBlich 
schien. Sicher bin ich dabei freilich nicht ganz ob es auch Ihnen 
alles paBlich scheinen wird; worliber sich dann weiter sprechen 
liillt. Ich halte Reuchlins Buch hoher als Sie; wenn man das con- 
fuse Wesen der franzosischen Memoiren dieser friiheren Zeit . . 
in Anschlag bringt; die viele Spreu, die iiberwunden sein will in 
Briefen . . ; so wie die anstrengende Schwierigkeit die die Lectiire 
eines Buches wie der Augustin des Jansen bietet — wenn man 
Alles das betrachtet, und dafi Reuchlin doch wirklich fast iiberall 
selbst an die Quellen gegangen ist, da6 er . . eigentlich keine 
brauchbare Vorarbeit hatte, ist es von einem so jungen Manne 
alles mogliche, was er nach der historischen Seite geleistet hat . . . 

ileinen Aufsatz iiber die Miinchner Blatter erhalten Sie nicht 
.sofort ; ich will nun erst Ihren dritten Band -) ungestort durch an- 
dere Lecture auslesen. Er erbaut mich auberordentlich. Ich hatte 
nicht geglaubt, daii sich so Schritt fiir Schritt antworten liefie; dafi 
sich so oft die sichersten Stiitzen unserer Widerparte in Munition 
gegen sie verkehrten. Es ist doch einer der diimmsten Streiche. 
die ich in meinem Leben gemacht habe, dafi ich mir damals in 
Berlin von de Wette’s Beitragen so imponiren lieB, um im Grunde 
lediglich auf seine Autoritiit hin die Vorlesungen iiber die jii- 
dische Geschichte auszuarbeiten. 

Was die hiesige Disputation anbetrifft, so habe ich mit Dr. 

1) xinzeige von D. Reuchlin, Geschichte von rort-Royal. 1. Brt. leSli. 

2) Beitrage z. Einl. im AT. (ul)er den Pentateuch) 

Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 3. 


25 



366 


N. Bonwetsch, 


Franke Riicksprache genommen. Er hat mich iiberzeugt, dafi die 
Einzelheiten wo er wie ich glaubte Falsches berichtet hatte . 
sich in der That so verhalten haben, wie er die Sache angiebt . . 
Gresenius hat wirklich das licet ausgesprochen . . — Es bleibt nun 
also an dem Artikel nichts mehr zu tadeln als der SchluBsatz in 
Betreif Thilos. 

Im Grunde tind AUes in AUem betrachtet war die Opposition 
zugleich eine Ohrfeige, die die hiesige Facultat der Berliner hat geben 
wolleu, und das verlengnen die Leute auch gar nicht. — Meine 
besten GriiBe an Tholnck. . . Scharfen sie die Zahne seiner Sage ! 

3. 4. 39. Treu ergebenst H. Leo. 

8. 

Mein hochverehrtester Freund ! 

Sie erwarten wahrscheinlich schon in diesen Tagen . . die Zu- 
sendung eines Artikels uber die historisch - politischen Blatter. 
Allein ich bin in den letzten Wochen in groBter Spannnng einem 
academischen Acte entgegengegangen , so daB auBer den Vorar- 
beiten fur meine Vorlesnngen . . nichts hat vorriicken noch fertig 
werden wollen. Dieser Act hat nun so geendigt, daB ein groBerer 
Scandal kaum moglich ist. . . Der ganze Vorgang . . ist fol- 
gender ^). 

Im Februar 1838 promovirte bei uns ein Doctor Thiele aus 
Marienwerder, der frilher Theologie dann hier nnter meiner Lei- 
tung Geschichte studirt hatte, und beabsichtigte spater academi- 
scher Docent zu werden. Er liferte eine Dissertation de ecclesiae 
Britannicae primordiis, worin er den dunklen Gegenstand mit groBter 
Accuratesse behandelte, machte anch ein gates Doctorexam^en und 
erhielt deshalb im Diplom ein hochst lobendes Pradicat. Nun zo- 
gerte er mit seiner Anmeldung zur Habilitation bis gegen Weih- 
nachten, als er sich aber meldete war der Eindruck seiner fruheren 
Leistungen noch ein solcher, dafi Geh. E. Voigtel den Vorschlag 
machte, ihm das sonst herkommliche Colloquium zu erlassen, und 
die Facultat aus freien Stucken ihm dies ehrenvolle Anerbieten 
machte, was abzulehnen er gar keine Ursacbe hatte. Er hatte 
also nur von der Promotion her, wo er es wie oft geschieht, auf- 
geschoben hatte, eine Disputation nachzuholen, und eine zweite 
Habilitationsdisputation zu halten. 

Inzwischen hatte er sich durch sein lebhaftes Interesse in den 


Ij Bei Rud. von Delbriick, Jugenderinnerungeu I, 94ff, 
Tom Standpunkt der Gegner Leos aus. 


eine Darstellung 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 367 

beriichtigten Leo-Rugeschen Streitigkeiten, dnrch sein treues halten 
zu mir, durch seine Freundschaft mit Kahnis die ganze Eugische 
Partei zn Feinden gemacht. Aber auch noch ein anderes Interesse 
grifF . . ein. Er hatte namlicb letzten December bei unserem aca- 
demiscben Leseinstitut den Vorschlag gemacht, man moge . . die 
Hannoversche [statt der Leipziger Zeitung] anschafFen. Nun miissen 
Sie wissen, da6 wir bier seit den Hannoverschen Verfassungs- 
streitigkeiten eine gegen den Konig von Hannover fanatisch wii- 
thende Partei haben . . . [Daber] scbaumte Pott, war Meier zu 
allem feindlicben entscblossen [Leos Facnltatscollegen], 

■ • erste der beiden Disputationen . . war vorigen Sonn- 

abend den 27 ten April. Tbiele batte nun die Unklugkeit, wie es 
die Klugen nennen werden, sich im ortbodoxesten lutberiscben 
Sinne auszusprecben, und . . [es] wahlten . . aUe drei Opponenten 
(Dr. Besser, Dr. Scbmidt, Kabnis) nur die tbeologiscbe oder pbilo- 
sophiscbe . . 

Sofort waren dadurcb die alten Leute in unserer Facnltat, die 
sicb nocb auf dem breiten Bacbe rationalise. sober Humanitat berum- 
trieben, ebenfalls zu Thieles Verderben entscblossen. Sie machten 
also den Antrag . . , da die Disputation einen wesentlicb tbeolo- 
gischen Verlauf genommen . . , miisse ihm die frUhere Gunst, da6 
er ein Collocjuium nicht zu balten brauche, entzogen werden. Ich 
fubr in der Facultat los, zeigte ihnen, dafi Thiele nie eine solche 
Gunst gesucht, dad die Facultat sie ihm freiwillig, auch obne 
mein Zutbun angetragen . . Das sahen sie ein. Die zweite 
Disputation ward also statuirt — aber nun veranladte ich Dr. 
Thiele, daB er s e 1 b s t darum einkam . . , daB ibrn . . gestattet 
werden moge , . . sich einem Colloquium als von ihm gewiinscht 
zn unterwerfen. 

Als die Feinde auf diese Weise . . einen Angriffspunct ver- 
loren, beschlossen sie die zweite Disputation pro facultate docendi 
. . zu benutzen, um Dr. Thiele . . zu verderben. Wir erfuhren . . , 
daB bei Dr. Euge die Verabredung getrofFen sei, daB Dr. Prutz 
einen niederwerfenden Angriff machen wolle. Die Disputation 
[am 1. Mai] nahm nun ihren Fortgang obne irgend eine wesent- 
liche, Tbiele nachtheilige Wendnng bis zum Auftreten des D’ 
Prutz . . [Prutz] sagte er komme nicht um zu opponiren sondeiu 
nm zu gratuliren , denn daB jemand mit einer so kindischen , 
schiilerbaften Dissertation und so abgeschmackten Tbesen sicb ha- 
bilitiren diirfe, sei mebr als Gliick. Dabei schrie dieser Elende 
so und batte die von der Eugeschen Partei aufgehetzten Studenten 
so zu einer mitschreienden Hiilfe, dafi Tbiele gar nicht zu Worte 

25* 



368 


N. Bonwetsch, 


kommen konnte. Der Decan Eiselen . . sa6 . . stumm und lie6 

dem Scandal seinen Eortgang . bis . . icb aufsprang nnd . , 

daran erinnerte, 'was ans der Disputation werden solle . . . Thiele 
habe auch ein E,echt zu reden . die Stndenten waren still, nnd 
Thiele erhielt Ranm , den frechen Menschen, den Prutz, abzufer- 
tigen. Dabei gebrancbte er den Ausdruck. er wisse dab Prutz 
partium studio getriben opponirt babe . . . Pott . . erhob sich als 

Opponent. Er begann sogleich damit; . . er . . mlisse . . fragen, 

was Thiele unter dem Ansdrucke partium studio verstanden habe. 

. . um so mehr ... da es bekannt sei, dafi Thiele zu den „turpes 
partes eoimm qui in hac urbe sint pietistae‘‘ . . gehbre. Thiele na- 
tiirlich wendete sich an den Decan; . . der Decan moge ihn schiitzen. 
Der Decan erklarte die Disputation fiir geschlossen. Wir alle 
standen auf, nm fortzugehen. Pott aber erklarte die Disputation 
sei keineswegs zu Ende . . Natiirlich gab es nun Tumult . . Die 
Stndenten waren schon iiber Potts Schimpfen emport gewesen und 
batten getrommelt; nun sprangen sie iiber die Barriere, welche 
das Catheder von den Zahoreraitzen scheidet. Wir noch anwe- 
senden Professoren . . .schaarten uns um den Decan und um Thiele ; 
die anwesenden Doctoren und ein Theil der Stndenten ebenfalls 
— so geboten wir Pott Stillschweigen nnd hielten den Decan, der 
davon laufen wollte , ant dem Platze. — die Rugianer waren 
getlonen und batten Pott im Stiche gelassen, der nun . . mit 
schlotternden Knieen dastand, bis er . . die Wahltstatt schwankend 
verliefi. 

Ohnerachtet nun Thiele auch nicht das Allergeringste bei dor 
ganzen Geschichte sich hat zu Schulden kommen lassen. hat mir 
Meier . . erklart, dab sie . . ihn nun nicht einmal zum Colloquium 
in Halle zulassen wollten . . Mir wollen j,ie den Proceb machen, 
dab ich die vortreffliche Prutzische Procedur gehindert batte . ! 

Dab ich thun werde, was in meinen Kraften ist, um Thiele 
zu vertheidigen, versteht sich von .selbst 

So stehen wir also mitten im Kriegslager mit aller Unruhe 
kriegerischen Lebens . . . 

Mit unverbriichlicher Anlninglichkeit treu ergebenst 

H. Leo. 

9 . 

. . Ich hiitte ihnen sogleich antworten soUen , aber das war 
mir unmoglich, denn aus der Thieleschen Habilitationssacho hat 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg, y jB 

sich ein ganzer Berg academihcher Processe entwickelt. Alle alten 
'V^'iinden sind mit einemmale aufgebroclien. Zunachst haben . ■ 
Tholuck und icb Pott verklagt bei Delbriick, wegen des Ausdracks 
turpes pietistarum partes . Hierauf hat Pott . . eine Klage 
gegen mich eingereicht . . schreit nach Satisfaction, welche darin 
bestehen mtisse, dab ich eine Zeitlang von den Facultatsgeschaften 
zu excludiren sei. Unser Concilium magnum hat mich nun aber . . 
zu einer der vier Senatorenstellen gewahlt. [Man habe dann bei 
einer 3 . Abstimmung in der Facultat Thiele abgewiesen]. Natiirlich 
habe ich, so wie Thiele seine Abweisung in Handen hatte , beim 
Curatorium Einspruch gethan . . Nun ist aber bei dieser Gelegen- 
heit die ganze Grundsuppe der alten Basenmaklerei in der Fa- 
cultat, dab alles fast nach Wilkiihr und ohne Ordnung betrieben . . 
wird . . zur Sprache gekommen, . . es ist so viel Personliches . . 
in die ganze Verhandlung gekommen, dab Gott weib, wie alles zu 
Ende gehen soli. Das Curatorium wiinscht, und ich wiinsche es 
auch, dab wo mbglich die Sache hier am Orte einen Vergleichungs- 
ausgang nehme — allein das kann kein andrer sein, als dab Thiele 
zugelassen wird, . . dab endlich in unserer Facultat einmal Ord- 
nung geschaffen und dem schlumpigen Treiben der alten Herren 
ein Ende gemacht wird ... Nun leben wir hier aber fortwahrend 
auf der Vedette und einstweilen in mosaischem Criminalrecht d. h. 
Aug um Aug , Zahn um Zahn . . und viele, viele Stunden gehen 
bei der Bitterkeit dieses Kampfes, der fast auf moralisches Leben 
und Tod gefiihrt wird, in solcher Aufgeregtheit bin, dab alle Ar- 
beit liegen mub. . . 

Mit inniger Hochachtung treu ergebenst H. Leo. 

P. S. . . Was Sie iiber Hannover sagen , ist auch ganz meine 
Meinung. Da aber hier in Halle die 7 Gottinger Professoren das 
Panier geworden sind, um welches sich ein ubermiithiger Libera- 
lismus gesammelt hat, der sich herausnimmt jeden wie einen halb- 
ehrlosen Menschen zu tractiren, der in der hannoverschen sache 
anders denkt als gerade sie, babe ich es und haben es meine Freunde 
fiir nothwendig gehalten sich gegen diesen nichtswiirdigen mora- 
lischen Despotismus aufzulehnen. 

10 . 

Verehr tester Freund. 

Nach langer Zeit erhalten Sie wieder einmal eine kleine Zu- 


1) Ygl. EKZ. 1839 Sp. 400. 



370 


K. Bonwetsch, 


sendung*) . . Fast ware der Aufsatz zum dritten Male . . zer- 
rissen worden. 

Die Schwierigkeit besteht namlich darin, da6 ich einerseits 
nach der politischen Seite fast in alien Stiicken mit den Heraus- 
gebern der Miincliner Blatter harmonire ; daB ich anch viele 
AenBemngen nach der kirchlichen Seite hin, sobald ich sie mir in 
mein protestantisches System ubersetzen darf, nur nnterschreiben 
kann, und dafi bei diesem Uebereinstinunen in tausend Puncten, 
wieder tansend daneben sind, wo . . es mir so dentlich ist, daB 
die Leute sich selbst und in noch weit grofierem TJmfange (wie 
sie meinen in majorem Dei gloriam) die Welt beliigen und ein so 
fratzenhaftes Spiel mit ihrem dnmmen katholischen Zeuge treiben, 
daB ich sie nach der Reihe ohrfeigen mochte. Es ist wie in der 
Musik wo anch die sich zunachst liegenden verschiedenen Tone 
die schreiendsten Disharmonien enthalten — gerade so ist es mit 
mir und meinem alten Freunde Phillips, dem ich doch trotz all 
dieser katholischen Narrheit, Dummheit, ja wenn Sie wollen Nichts- 
wiirdigkeit personlich nur gut zu sein vermag. . . . Muller -) ist 
nun hier und hoffentlich gefallt er den Studenten so allgemein wie 
den Professoren . . 

(7ott gebe iibrigens ein Semester mit gesammelterer Stimmung 
der Lehrer wie der Studenten. Die letzten drei Semester waren 
jetzt ganz anders als die anderen, und von entschiedener Domi- 
nation der Hegelei im Sommer 1838 sind wir zu fast entschiedener 
Domination des Rationalismus im BewuBtsein der Studenten im 
Sommer 1839 gekommen. Gott besser’s! 

Treu ergebenst der Ihrige jj 


11 . 

Theuerster Freund! 

Ich sende Ihnen beifolgend einen zweiten Artikel uber die 
Zeitschrift von Gorres und Phillips — freilich mit einigem Zweifel, 
oh er ihnen behagen wird. . . 

Im ubrigen geht hier aUes still weg . . . Ganz im Geheimen 
sehe ich einige Ereignisse heranschleichen. . Nachsten 12 ten Juli 
wind Meier (welcher mir seit der Thieleschen Angelegenheit so 

1) Vgl. EKZ, .39 S. 725. Her erste Artikel beginnt; „Ein frischer Krieg 
i8t faesser als ein fauler Eriede-. Aber „die Vertheidigung einer so in aUem De- 
tail festen, wir moehten sagen, versteinerten Sache, wie die romiscbe Kirche ist, 
geeen alle, auch die gerechten Vorwurfe.. ist.. eine geschminkte Leicbe-'. 

2) Julins Muller. 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 


371 


lacherlich feind ist, daB er ausspuckt, wenn er micli sieht) Decan 
der philosophischen Facnltat. Natnrlich werden die Leute aile 
Krafte aufbieten tun zur nachsten Rectoratswahl anch einen von 
den ihrigen zum Rector zu machen; anch dieser tritt sein Amt 
den 12 ten Jnli an — und dann sehe ich kommen, daB von dem 
Decan aus ein Gesuch betrieben werden diirfte , den Dr. Rage 
zttm Professor zu emennen . . . nnr damit der Prof. Meier, und 
Consorten mir nnd Erdmann *) . . (der sich anch sehr in der Thiele- 
schen Angelegenheit interessirt hatte) die Antwort nicht schnldig 
bleiben, fiir die Niederlage, die sie erlitten haben. 

An eine solche Kleinlichkeit academischer Personlichkeiten, 
an so kindische Eitelkeit, so kindischen HaB, so bettelhafte Auf- 
geblasenheit wie ich sie seit einem Jahre hier habe kennen lernen, 
habe ich sonst nie geglaubt, und fast komme ich auf des verstor- 
benen Gans Schliche, der immer sagte, das lacherlichste von alien 
Gescbopfen sei ihm ein dentscher Professor an einer kleinen Uni- 
versitat. 

Doch wozu Gedanken spinnen uber Dinge, die entweder noch 
nicht sind oder nicht zn audem sind? Frisch durch — es ist genug 
daB jeder Tag seine eigne Last habe . . . 

Halle den 9 ten April 1840. Trenergebenst H. Leo. 


12 . 

Mein theurer, hochverehrter Freund! 

. . Rankes Bach®) wiirde ich gern anzeigen, hatte ich nicht 
zwei Pnncte darin auszusetzen, die er mir iibel nehmen diirfte 
(denn etwas empfindlich ist er), und einen den wohl anch Sie nicht 
ganz unterschreiben mochten. Der letztere ist der , daB er die 
Tactik eines geschickten Mahlers beobachtet hat, die befreundeten 
Figuren immer in die mogRchst vortheilhafte Stellung zu gruppiren, 
die nicht befreundeten aber nicht immer dieses Vortheils genieBen 
zu lassen. Jene beiden Puncte aber sind, daB er Luthers Ver- 
haltniss zu den Ebernburgern, den EinfluB seiner Stimmung in der 
Zeit, wo dieses Verhaltniss statt land auf seine Schrift an den 
deutschen Adel und was damit zusammenhangt doch zu sehr zu- 
riickgestellt hat. Luther war einmal damals in bedenklicher 
Richtung; es ist grofi und zeugt von seinem guten Tacte daB er 


1 ) Der Philosoph. 

2) In Berlin. — Am 17. Sept. 1840 schreibt Leo, daB er bis zum 12. Sept, 
gelesen und die letzte Woche noch duplirt habe. 

a) Offenbar die Geschichte der Reformation. 



372 X. i) on wet 3 eh. 

sich rasch daraus gezogen hat, aber so leicht wie Ranke hatte man 
nicht dariiber hinschliipfen diirfen; sodann thut er wirklich den 
bairischen Fiirsten TJnrecht, dafi er ihnen den Bruch der deutschen 
Nation in die Schuhe gieBt. — Diese meine Ausstellungen abge- 
rechnet. bewundere anch ich das Buck was an Reichthum der For- 
schung und tiichtiger Richtnng der Gesinnung sowohl als an histo- 
rischer Kunst seines Gleichen sucht. Etwas festere, klarere dogma- 
tische Ansicht konnte vielleicht nichts schaden; vielleicht hat er sie 
alier, und will sie nur in einem historischen Werke nicht pedantisch 
entwickeln. Ich wurde, wie gesagt, gern die Anzeige iabernehmen, 
ware ich nicht friiher einmal in einer Weise mit ihm zusanimen 
gerathen, bei welcher ich Schuld trug und ihm TJnrecht gethan 
habe , und fiirchtete ich nicht , dafi er am Ende doch glauben 
konnte, es sei in mir irgend etwas feindliches zariickgebliehen, 
trotz des mehrfachen ofnen Eingestandnisses meines damals in 
einer Stimmung, die er selbst und Gans andrerseits in mir her- 
vorgeprickelt hatte, begangenen Unrechts. TJnter diesen Umstanden 
verzeihen Sie, das ich ablehne. 

Tholuck wird man so gehen lassen miissen, wie er ist — seine 
Natur i.st zu eigenthiimlich und kranklich zugleich, um nicht 
am Ende an tuchtigen und vorzugliehen Seiten zu leiden, wenn 
man ihn gewaltsam in eine Bestimmtheit hinein manoeuvriren wolte, 
dif einmal seinem Wesen versagt ist. [Gedenkt des Vorworts fiber 
den Pietismus EKZ 1840] — ob es aber auch klug war jetzt den 
Pietismus in dieser Weise zur Sprache zu bringen? 

Zu meiner TJniversalgeschichte kbmmt allerdings noch ein 5 ter 
Band, der die Revolutionsgeschichte bis 1815 — sodann die Ent- 
wicklung des religiosen BewuBtseins in England und Deutschland 
seit dem Anfang des 18 ten Jh’s — die Entwicklung der stats- 
wirthschaftlichen Theorien von den Physiokraten an, und was sich 
daran ffiglich anschlieBt des spanischen und euglischen Colonial- 
wesens und der daraus hervorgegangenen Staten im 19 ten Jh.; 
endlich den Beginn einer Belebung des Slavenstammes und was im 
Grunde dasselbe ist, eine Schilderung des Verhaltens EuBlands 
und der Tfirkei (denn die Neugriechen rechne ich zu dem Slaven- 
pack) in den letzten Zeiten enthalten wird . . 

Mit herzlichster Liebe und Hochachtung treuergebenst 

H. Leo. 

P. S. Von meinen Aeufierungen gegen Rosenkranz waste ich 
liar eine, die . . AnstoB geben kbnte. Er hatte gegen das un- 
christliche religiose Yerurtheilen der Hegelianer gesprochen und 
micii gauz i'reundschaftlich gefragt, ob ich glaubte den rechten 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefeii an Ilengstenberg. ii7o 

_Glauben im Pachte zu haben. Worauf ich ihm antwortete, davon 
wolle ich nicht reden, das aber wisse ich allerdings, dafi diese auf- 
Ibsende Richtung unser Volk zu Grunde richte . . V'^as librigens 
den Glauben anbetrafe, so miiste ich leider bekennen. daB es mir 
vorkame als glaube in unserer Zeit kein Mensch. — Was ich da- 
mit wolte verstund er nicht. und entgegnete. wie ich mir so hoch- 
miithige Dinge anmaBen konne, meinen Zeitgenossen den Glauben 
abzusprechen. Hierauf antwortete ich ihm. wenn ich die Apostel 
und die Heiligen der alten Kirche betrachtete. mit welcher Freude 
sie ihr Leben daran gegeben, unter alien Umstanden von Christo 
gezeugt und keine Qual und Verfolgung geachtet hatten, so miisse 
ich wohl annehmen . ihr Glaube sei intensiv ein anderer gewesen 
als der der Glaubigen in unserer Zeit, denn hiitten diese den apo- 
stolischen Glauben so vviirde sich ein heiliges Zeterrufen an jeder 
Strafienecke erheben. und in alle Hauser wiirden sie dringen das 
Heidenthum zu verfolgen. und keine Statsordnung und Polizei 
wLirde im Stande sein den heiligen Eif'er zu dammen . . . Das ver- 
stund er nicht, und schwatzto immer fort von dem Hochmuth an 
andrer Glaube nicht zu glauben . . 

13 . 

Mein hochverehrtester Freund ! 

Sie haben mir mit Ihrem Briefe eine groBe Freude gemacht. 
Ich hatte so lange von Ihnen gar nichts vernommen, und eine Zn- 
sendung, die ich Ihnen vor aeht Tagen machen wollte . . hat durch 
Zufall einen anderen V'eg genommen. Ein bei Spittler u. Comp, 
in Basel . . erschienenes Schriftchen. was den Titel fiihrt „Gbtt- 
liches Recht und der Menschen Satzung“ . . hatte mich so ange- 
regt, daB ich zu seiner Empfehlung einige Herzensergiisse nieder- 
schrieb ... Es sucht unseren Gesetzgebern, Richtern und Ad- 
vocaten nahe zu legen, dafi die heilige Schrift ihnen eine lebendigere 
Recht-quelle sei als Codex und Pandecten — eine Rechtsquelle 
nicht in dem abgeschmackten Sinne der englischen Anabaptisten, 
welche mosaische Institutionen nachahmten — sondern in dem 
Sinne, daB unsere Gesetzgelehrten etwas zu lernen hatten in 
welcher G e s innun g Christen die Gesetze, die ihre Zeit bringe 
Oder fordere, anzuwenden oder zu geben hatten. Es ist ein Buch 
voll frommen Sinnes ohne tactlose Manier , voll Gelehrsamkeit 
(nicht blofi Belesenheit in der Bibel) und voll richtigen Urtheils 

— es riihrt von einem erfahrenen, wohlgesinnten Manne her. Wie 
wolte ich mich freuen. wenn Pras. von Gerlach es anzeigen muchte 

— . . es muB ihm meines Erachtens ein Labsal sein. . 



374 


N. Bonwetsch, 


. . Einen dritten letzten . . Artikel ^ iiber die Muncliner Zeit- 
schrift kann ich Ihnen erst in den Herbstferien arbeiten — . . in 
diesem Artikel mu6 ich mich wegen des Bekenntnisses calvinisti- 
scher Abendmahlslehre rechtfertigen, wobei ich doch . . so zu 
Werke zu gehen habe, dab ich mir die Sache noch einmal recht 
griindlich und klar am Geiste voriiber gehen lasse, wie sie eigent- 
lich nach alien Seiten steht, denn die Miinchner haben mir hart 
zugesetzt. — Was die Franciscaner des heiligen Grabes anlangt, 
so gebe ich Ihnen im Augenblicke Recht, wenn Sie von den con- 
ci'eten Individuen reden . . Aber schliigt dies die Sache ? Sollen 
die Russen am Ende am Grabe dominiren , wie auf dem Sinai '? 
Soli die frankische Mission ganz untergehen ? untergehen, well zu- 
fiillig im Angenblick nur eine Reprasentation mbglich ist, die nichts 
erfiilt, als das Dasein rettet . . . Ich mag Bauem nicht leiden, 
die in ihrem Banmgarten sofort im -Herbst niderschlagen , wenn 
sie eine Gelegenheit sehen im nachsten Friihjahr edlere Stamme 
zn kaufen. Sie konnen ja almalig edlere junge zwischen die un- 
edleren alten Stamme zu pflanzen suchen, fort und fort Frlichte 
sammeln und mit einiger Geduld zu selbem Ziel gelangen . . Was 
thun bei solchen armen Leuten nicht schon die historischen Er- 
innerungen, die an ihnen haften . . . 

Was Sie mir iiber die MaBregeln Seiner Majestat schreiben, 
hat rnich allerwege erquickt. So ist’s die rechte Weise; einzelnes 
nach bestimmten, klaren Principien entscheiden, aber mit den Prin- 
cipien nicht sofort herausfahren. Niemand kann in unserer Zeit 
regieren ohne die Masse der schwacheren Subjecte zu schonen. 
Glauben Sie nur, eine solche Entscheidung wie die in Betreff' des 
Pastor Feldner wirkt besser als ein entsprechendes Princip, denn 
sie macht die schwacheren Charactere nachdenken and gewahrt 
ihnen Zeit, sich zu recolligiren. Kommen noch einige Entschei- 
dungen dieser Art in dieselbe Provinz, so preisen in einem halben 
oder ganzen Jahre S. Majestat wegen solcher Handlungsweise, und 
wenn die Principien ausgesprochen wei’den, auch wegen der Prin- 
cip'.en Leute, die wenn jetzt die Principien vorgeschoben wiirden 
vom Geschrei der feindlich Gesinnten gefangen genommen, das 
Geschrei verstiirkten . . WoUte man jetzt durchfabren, so wiirde 
man kauni die Leute zuni Durchfabren haben, denn dafi auf un- 
serer Seite so iiberschwenglich viele tiichtige Geister und Charactere 
stiinden, sehe ich wenigstens nicht; es kleben uns fast alien Siinden 
und Scbwachen an. mit denen wir mehr oder weniger in unseren 

1) Erschienc-n 1840 8. 721. 

2) Spater separierter Lutheracer. 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 375 


Umgebungen gefangen sind. LaBt man diesen letztem Zeit sich 
zu zerbrockeln, so werden eine Menge Menschen in ihrer Weise 
frei — und dann kann man getrost Lenten wie David Schulz 
den Heroismus lassen, den sie vielleicht haben, sich consequent zu 
bleiben — sie helfen damit ihrer verlorenen Sache nicht mehr. 
In diesem Interesse wiinschte ich, unser Ministerium bliebe noch 
ein halbes Jahr oder langer unbesetzt — jeder Monat weiter wird 
die tiicbtige, energische Besetzung erleichtern. Wolte Gott wir 
bekamen einen General. 

In freundschaftlicher Verehrung treu ergebenst H. Leo. 

P. S. Aus Halle schreibe ich Ihnen diesmal nichts — wir leben 
passabel miserabel. Die Gesenius-Meierisch-Hegelingische Clique 
bildet eine so feste Allianz . dafi wir in alien allgemeinen Uni- 
versitatsangelegenheiten so wie in alien Angelegenheiten der philos. 
Facultat fortwahrend den Kurzeren ziehen. Ware es nicht , dafi 
ich ihnen den Pfahl im Fleisch lassen mochte, ich ware langst mit 
der Bitte eingekommen, mich von alien Facultatsangelegenheiten 
zu entbinden. — In nnserer Provinz wird eine Umkehr zum Ge- 
sunden verhaltnismaBig den hartesten Kampf kosten ; nberall stecken, 
wie mir scheint, schottische Briider hinter den Johannislogen und 
halten den Deismus der Humanitat mit Handen und FuBen fest. 
Draseke '^) steht in Magdeburg nur so haltlos und schwach, weil er 
in Bremen treuer Bruder war, und in Magdeburg der Loge untreu 
geworden ist. Das ist fiir ihn eine Quelle der Drangsale, Ver- 
hohnung und Schwache geworden von Anfang an. Auch in Ham- 
burg stecken die Logen hinter allem kirchlichen Verfall [vgl. S. 377]. 

14. 

Beifolgend, hochverehrtester Freund, erhalten Sie das Schreiben 
von Kahnis an Se. Majestat. 

Bei uns ist die Besorgniss aut'gestiegen . ., daB wenn Kahnis 
Bittschritt den ordinaren Geschaftsgang geht, d. h. von Sr 
Majestat dem Minister, von diesem der hiesigen Facultat zum Be- 
richt gegeben wird, Kahnis nichts erreicht. Namlich die, welche 
ihn in der hiesigen Facultat kennen d. h. Thilo, Tholuck und Muller 
werden sich in diesem Falle so giinstig und entschieden fiir Kahnis 
aussprechen, wie sie es bereits in ihren Privatzeugnissen gethan; 
allein von Seiten der iibrigen wird der ganze neuentloderte HaB 
gegen Tholuck iiber Kahnis hereinbrechen, den sie viel mit Tholuck, 

1) Vgl. EKZ. 1839 ?>ii. 60-5. tU5 

2) Der Generalsuperintendent. 



376 


B 0 11 w e t s c h ; 


meiner Wenigkeit und Wilke geseken haben , . . und da das De- 
canat n u r in ihren Handen ist, . . scheitert die Sache nothwendig . . 
Lafit sick nun nicht irgendwie andeuten, dak eine Anfrage in Halle 
bei dem bekannten Znstande der Facultat diese Folgen kaben 
werde ? lakt sick nicht auf den Grand kin. dak alle Eacultats- 
o’lieder. welcke Kubnis wirklich kennen. ibr Votum in dem aus- 
gestellten Zeugnisse bereits gegeben, die Facultat ganz vermeidenV 
. . Die Gemeinheit des kiesigen Pflasters ist in der That so, 
dak man zuweilen davon lanfen mochte . . 

Mit treuster Ergebenheit der Ihrige H. Leo. 

P. S. . . Unsere ganze halliscke Misere ist nur die Folge und 
Erbsckaft der sauberen Politik des Herrn von Altenstein, iiberall 
die keterogensten Ricktungen nickt nur dickt zusammen zu bringen, 
sondern auck fortwiihrend in schwebendem Streite zu erhalten, 
damit seine Wenigkeit oder Vielheit zwiscken den sick zausendeii 
Parteien frei und vollkommener Herr bleibe. Auf Universitaten in 
kleineren Stadten ist aber die nothwendige Folge davon Vernich- 
tung aller Pietat, alles Vcrtrauens der Studenten, unreifes Urteil, 
sckwankende Oberflacklichkeit derselben und ein endJoses Geklatsck 
der Weiber und des Pdbels. — Hire Tkaten folgen ihnen nach I 

15. 

Ick iil ersende Ibnen, verehrtester Freund, beifolgend den Ar- 
tikel iiber Lasptyres Werk iiber die katholische Kircbe in Preuken *). 

Dr. Besser wird Iknen gesagt haben. wie mick frappirt hat, 
Was Tkoluck Iknen privatim uber Kahnis gescbrieben. Ick, war 
in der That einige Tage toll und bbse, denn obwokl Tkoluck 
mir anfangs aknliches gesagt, hatte er wie es sckien durck meine 
Griinde bewogen dock alles fallen lassen — und so erschien es 
mir als eine arge Perfidie dak er einerseits durck Ausstellung des 
erbetenen Zeugnisses die Sache zu unterstiitzen, andrerseits durck 
Abratken bei Ihnen zu hindern sckien. Am Ende babe ick bedacht, 
dak wir dock alle Schwacken an einander zu ertragen haben, dak 
ick [!] nicht weik Gott weik welcke Sckwiicke von meiner Seite ikm 
miiksam zn ertragen i.st. und daB der ganze Schritt bei seinem 
iSfaturell ganz leicht erklarbar bleibt, da er nie eine freudige Ju- 
gend auf Schule und Universitat gehabt, keine ofFne, frische Mit- 
tkeilung mit Genossen die Eitelkeit und Verletzbarkeit austreiben. 
Er hat sick miihsam aus Kranklichkeit und Armuth in die Hoke 
bringen miissen, solche Zustande werfen den Menschen mit seinen 
Gedanken immer auf sick selbst zuriick. zwingen dazu den Korper 


I) Vcl. EKZ. 1641 Sp. 121. 



der Historiker Heim i. ii Leo in seiiieii Briefen an Hengsteiiberg. 3 < t 

und die Stellung in der Gresellschaft zn wabren und stets im Auge 
zn haben, sie machen den Menschen leicht verletzbar. argwobniseb. 
So bald mir erklarlicb war, psyehologisch erklarlicb , wie Tboluck 
kleine Verletznngen durch Kahnis in friiherer Zeit weit schmerz- 
hafter empfnnden haben muu, als sie jeder andere an seiner Stelle 
empfunden hatte, dafi diese Seite seines Xaturells mit seinem ganzen 
Leben zusammenhange, wie er ja im Ganzen keinen eigentlichen 
Umgang halt, als wo er geistig entschieden dominirt oder doch 
einigermaBen gehatschelt wird — war mein Groll hinweg — tran- 
seat cum caeteris — nur thuts mir leid, mein Vertrauen hat einen 
StoB erhalten der zu natiirliclier Xatur ist als dafi er dnrcb kiinst- 
liebe Mittel der Reflexion sofort reparirt werden konnte. 

Fiir Kahnis Angelegenheit . . nocbmals meinen herzlichsten Dank. 
Xocb einen anderen Dank aber mu6 icb aussprechen — ich las heute 
Morgen wieder Ihr Vorwort zum .Jahrgang 1839 der Ev. Kircben- 
zeitung — las es nun mit der Stimmung wie man eine voriibergegangene 
Zeit betracbtet, und war von innigstem Dankgefuhl ergriffen, wie 
freundschaltlicb und ritterlicb Sie sich meiner damals gegen das he- 
gelingische Pack angenommen haben. Ich war ganz erbant von ihrer 
Prische — und zugleicb von lebhaftestem Dank gegen Gott er- 
t'illlt, der iuzwischen durch die Ereignisse der Zeit die Frechbeit 
dieser Rotte so daruieder geschlagen hat. 

Die Stimmung in der Provinz Sachsen ist weit und breit unter 
dem gebildeten Mittelstande schlecht . . Zum Theil ist es nur 
die Folge davon . daii sich die Leute zuerst unsinnige Hofnungen 
gemacht batten; es ist Schmerz um diese todtgebornen Kinder. 
Zum Theil aber ist zu viel Methode darin, als daB man nicht auch 
eine kiinstliche Verbreitung von der Hauptstadt her annehmen iniiBte. 
Mbglich , . auch dab die Rriider des Herzogs von Sussex [vgl. S. 375] 

die bei Akaziendufte in reinem Licbte arbeiten ihr anticonfes- 
sionelles Wesen in diesen Stimniungen verbreiten. Sie sprachen 
friiber einmal ihre Xeiguug gegen mich aus, gelegentlich diese 
Leute zu treten. Ich mbchte davon abrathen — wir . . werden 
schon noch einmal dieser Diener des Melkarth Herr . . — jetzt 
aber ware es viel zu friili mit dem Seine in dem Ameisenhaufen 
zu wiihlen. Wenn nur auch Se Majestat sich nicht gegen die 
bft'entliche Meinung verschanzt und eigriren laBt, sondern mit ver- 
achtender Gleichgiltigkeit ohne etwas zu iibertreiben seinen ge- 
me^senen Gang geht. Die ileinungen der Menschen, welche die 
Triiger dieses Weltsehmerzes siud, nutzen sich in vier Wochen ab. 

Mit besten Wiinschen fiir unser neues Jahr in aufrichtiger 
Liebe H- 



378 


N. Bonwetsch, 


P. S. Hassenpflug hat mich ein wenig aufgeregt fur den Gre- 
dankcn, da6 . . leicht etwas diplomatisches gethan werden konne 
fur die Sicherung der Christen in Jerusalem . . . konnen Sie nicht 
einiges . . mit thun, die offentliche Meinung zu bearbeiten ? 

16 . 

Beifolgend, verehrtester Freund, erhalten Sie den versprochenen 
Artikel ttber die Hallischen Jahrbiicher *). Sie vermissen vielleicht, 
daB ich nicht tiefer auf den speciellen Punct der Theologie in 
dieser Zeitschrift eingegangen bin ; allein ich habe billig Bedeiiken 
getragen dies zu thun. . . 

Sollte es in Berlin irgend einmal zu MaBregeln gegen die 
Hallischen Jahrbucher kommen, so mochte ich Sie doch bitten, 
Ihren EinfluB aufzubieten , da6 der ganze V erlag der Gebriider 
Wiegand ins Auge gefafit wurde. Wenn ein Schenkwirth sein 
Hans zum offenkundigen Sitze des Lasters macht, entzieht man 
ihm die Concession — hier aber ist ein Sitz der Bevolution und 
des Antichrist und zwar ausgesprochener MaBen. Die Leute haben 
gar kein Hehl dad sie bei ihrem Verlage der politischen und re- 
ligibsen Kichtung nach betheiligt sind. . . DaB sie Schriften in 
ihrem Verlage seit der Konigsberger Huldigung nicht aufgenommen 
haben, mit dem Bemerken, sie verlegten nichts was zu Gunsten 
PreuBens sei, weiB ich hier vom Buchhiindler Anton. Wenn diese 
dummen Menschen so den HaB gegen PreuBen . die Begeisternng 
fiir Republik und kirchKche Auflosung, und also fiir Umkehr aller 
statlichen Ordnung in Deutschland zur Schau tragen , soil man 
da mit ihnen langen ProceB machen — soil der preuBische Stat 
ihnen seine Posten noch fiir ihre Versendungen zur Disposition 

steUen — ihrem Erwerb und Gewerb freien Lauf lassen ? Ich 

habe lange die Meinung gehegt, man miisse die Hallischen Jahr- 
bucher ihren Weg gehen lassen; sie vermochten sich doch auf die 
Dauer nicht zu halten, und thaten so groBen Schaden nicht. Die 
Bewegungen . . letzten Winter haben mich hinsichtlich des Scha- 
dens eines besseren belehrt — und bei der Gesinnung des Ver- 
legers und der Hauptbetheiligten ist zu erwarten, daB diese Blatter 
sogar bei pecuniaren Schaden fortgesetzt werden werden 

Ich habe den gemeinen Angriff der Jahrbucher auf Goschel 
nicht besonders hervorheben mogen. so wie iiberhaupt keinen per- 


il EKZ, 1841 S. 34 .jC 

2) Ende Juni 1841 warden die Halleschen Jahrbucher fur PreuBen verboten, 
ygl Kragelin S. 191, wenigstens der Sache nach. 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 379 


sonlichen AngrilF als den auf Hegel, well icli diesen Schmutz nicht 
aufrilhren nnd speciell ins G-edachtniS bringen wollte. Wollte man 
sich auf Alles einlassen, man diirfte nicht einen Artikel, man 
miiBte ein Buch schreiben. 

Meine freundlichsten GruBe an die Gerlachs , Goschel nnd 
Hassenpflug. 

In unverbriichlicher Anhanglichkeit Ihr H. Leo. 

Halle, den 5 ten Mai 1841. 


17. 

Mein hochverehrtester Fi’eund. 

Heute erhalten Sie einen Brief von mir , der nicbts enthalt 
als Herzenserleichternngen nnd gar nichts von Geschaften — also 
im Grunde auch nichts Mothwendiges — folglich ein Attentat auf 
Ihre Zeit. Sie miissen sich aber das Geklatsch . . schon einmal 
gefallen lassen, vielleicht ist es doch gut zu etwas. 

Rage ist nach Karlsbad gegangen zu Schelling. Er schreibt 
hieher . ., wie leicht und vollkommen er sich mit Schelling ver- 
standigt habe ; er sei taglich mit ihm. Ein anderer Brief, nicht 
von Ruge, sondern aus Dresden an GR. Perrdce berichtet, Schel- 
ling habe in Karlsbad erklart, er sei mit Feuerbach im Grunde 
ganz einverstanden. — Was sagen Sie dazu? — Es konnen halb 
Liigen, halb Misverstandnisse sein ! — meinetwegen. Aber vor 
vierzehn Tagen der hochst sonderbare Artikel von der Isar in der 
Allgem. Augsb. Zeitung, der bereits die Coalition der Schellinge 
und Hegelinge in Aussicht stellte? — . . Schelling lag als junger 
Mann im Rausche des Ruhmes — was er seit dem Aufgeben jener 
in der Jugend gewonnenen Stellung auch versucht hat, nichts hat 
seinem Namen wider ein recht ziehendes Gewicht gegeben — erst 
die Opposition gegen Hegel, das XJnbefriedigtsein von Hegel hat 
ihm wider Augen zugewendet. Auf Hegel selbst voll Bitterkeit, 
die Althegelianer als Leute ohne frische Triebe nicht brauchen 
konnend — sieht er die Hegelingen als eine kecke, himmelstiir- 
mende geistige Macht — eine Reihe gewandte Federn, uner- 
schrockene Mauler unter ihnen — die deutschen Jahrbiicher ganz 
von ihnen redigirt — in Kurzem ein zweites Journal in Wurtem- 
berg in gleichem Geiste in Aussicht gestellt • — die AUgem. Augsb. 
Zeitung gewissermaBen zu ihrer Disposition . . — offenbar erscheinen 
sie ihm als eine Macht. — Wie nun ! wenn er fur die Neige seines 
Lebens dadurch wieder eine Aufsehen machende Bedeutung suchte, 
daB er sich an die Spitze dieser Rotte stellte? daB er ihre Ver- 
sohnung mit Preufien versuchte? daB er sich ausposaunen liefie 



380 


X. B 0 n w e t s c li , 


von ihnen? — . . Mir ware fiir meine Person die Sache sehr lieb 

— und vielleicht kommt sie mir glaublicher vor, weil sie mir lieb 
ware — und dies ist sie mir, weil ich dann fiir meine Verachtung 
der Philosophie, die ich jetzt immer halb maskiren und wie ein 
Loch im Strumpfe anstandig verstecken muB, mehr Sympathie 
hoffen durfte. — Aber sind Sie darauf vorbereitet? -- es ist mir 
d.jch so vorgekummen, als erwarteten Sie einiges fiir unsere In- 
teressen von Schelling. Mochten Sie doch in utrumque parari ! 

Ein zweites Gespenst was mich plagt, ist unser Reformations- 
fest. Den 31 ten Oct. u. Iten Nov. soil Jubilaum sein des Durch- 
dringens der Reformation in Halle *). In anderen Zeiten etwas sehr 
unverfangliches. In dieser Zeit aber so, dall es jetzt schon von 
den G-elbschnabeln anf der Gasse ausgeschrieen wird: „das werde 
einmal eine Hauptdemonstration geben fiir Licht und Gedanken- 
freiheit“. Mochten die Philister ihre Lichtsauce in allem Behagen 
geniefien und die s. g. Freiheit des Geistes nicht bloB zu ihrem 
Vergniigen schlachten und schinden, sondern als Hache und Sau- 
ciss ms verspeisen! — aber die Universitat muB nothwendig auch 
von der Partie .sein — und nicht bloB die Universitat wird von 
der Partie .sein, sondern sie wird. urn sich fiir das Guttenbergfest 
zu revangiren, Leipzig und Jena zum Festschmause einladen (wenn 
namlich das Ministerium Geld giebt). — Ich fiir mein Theil 
gehe auf jeden Fall in diesen Tagen aus Halle fort — fiir mich 
inacht jfcder Confluxus von Leuten, die nicht recht wissen was sie 
wollen eine Marter schon allein aus — dies Schafgeblar in Toasten 
und Weinreden, was hier vorauszusehen , ist aber vollends unei’- 
traglich — aber wie komme ich dabei in Rechnung! — DieHaupt- 
sache sind die Studenten, die da eben aus den Ferien gekommen 
sind, noch einiges Geld haben, alles mitmachen — und fiir das 
ganze Semester in miserable, geistigempbrerische Stimmung gesetzt 
werden. Wozu leidet man nur so langweiligen Unfug, der im 
Augenblick ein Ende hatte. wtnn das Ministerium einfach sagte: 
macht was ihr wollt, aber von mir erwartet keinen Heller Geld 

— ich habe dazu keines! . . 

Unverbriichlich der Ihrige Leo. 

Halle den 8 ten Aug. 41. 


18. 

Ich habe, theuerster Freund, sofort den Brief des Frommen von 
Welt gelesen . . und glaube allerdings auch daB es nichts schaden 


1) EKZ. 1842. 18.511. 



der Historiker Heimich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 3'^! 

kann, wenn ich antworte '■), da im Ganzen nur die seit drei Jakren 
bekannten Vorwilrfe daB man der wissenschaftlichen Seite nicht 
genug thne und daB ich schimpfe, widerholt werden . . . Ohn- 
geachtet ich min glaube, ich hatte Ihnen eben so leicht schon 
jetzt einen Artikel statt eines Versprechens desselben zusenden 
konnen, will ich doch erst nachste Woche daran gehen. Weim 
ich zaerst einen solchen Wisch lese, ballt sich mir die Faust un- 
willkiirlich, und ich denke es ist besser ich declamire nicht mit 
geballter Faust. Kalte Malice wird freilich auch beim Warten nicht 
an mich bommen, obgleich es die dem Gegner gleichste WaiFe ware . . 

TJebrigens sind sammtliche Hegelianer hier thatiger als je. Ruge 
war unmittelbar nach dem Reformationsteste einige Tage hier und 
hat den Kreis seiner Freunde, d. h. Herrn Doctor Duncker, Herrn 
Licentiat Schwarz, Heri’n Doctor Haarbriicker, Herrn Professor 
Pott ii. s. w. mit neuem Feuer durchdrungen . . . Wnnderbarer 
Weise habe ich diesmal selbst einige unserer Haupthegelinge z. B. 
den Strussen Haym^) unter meinen Znhorern. In treuer Liebe 
der Ihrige H. Leo. 

P. S. TJnser Reformationsiest ist leidlich genug abgelaufen bis auf 
den Schmauss, der zuletzt eine Art Sauferei ward . . Einige haben 
zuletzt auch im Festsaale gespieen und in einem Nebenzimmer, 
wo Herr Prof. Meier und . . auch einer unser Prediger gesessen 
und geschmaufit haben, sind zur Reformationsfeier Sauflieder mit 
Halleluja . . gesungen worden. 


19 . 

Ich beliistige Sie, verebrtester Freund, abermals mit einem 
Briefe [Wilcke und Tippelskirch haben es ihm „dringend an die 
Seele gelegt^. Es handelt sich um die Besetzung der Superinten- 
dentur]. Ich habe Ihnen friiher schon geschrieben, daB in unserer 
Provinz noch eine aparte Bedeutung der Maurerei sich gebildet 
habe, in wiefern namlich hier die verschiedenen Logen einen Kern 
von Mannern haben, die entschieden die Logen benutzen, um alien 
kirchlichen Bestrebungen entgegen zu arbeiten. In diesem Kern 
der Freimaurerei streicht Herr Professor Fr. die erste Violine . . 

In Beziehung auf den Aufsatz iiber Wislicenus (das gemeine 
Volk hier wird mit dem Namen nicht recht in seinem Munde fertig, 
und sagt deshalb gewohnlich : MiBliche Venus) bemerke ich noch, 
daB es dem Mann gar nicht viel Miihe macht, wie sich Ihr Mitar- 

1) Vgl. EKZ. 1841 Sp. 701 (1. Dec.). 

2) Vgl. E. Haym, Aus m. Leben, Berlin 1902, S. 99. 

3) EKZ. 1844 Sp. 420. D. Br. gehbrt somit hinter Xr. 31. 

Kfil. Ges, d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 3. 26 



N. Bonwetsch, 


382 

beiter denkt, bei seiner Gesinnnng zu taufen oder die Liturgie 
vorzutragen, denn er tauft nicht auf den dreieinigen Gott, sondern 
(wie sich durch Zeugen hinsicMlicb der Tanfe eines Kindes . . eines 
getauften Jiiden dartbnn laBt) auf den guten Geist, und die 
Liturgie soil er, was sicb iibrigens bei dem Mangel an Kirchgangem 
schwer wird erbarten lassen , in den Worten des Glaubens ganz 
verandern . . Der Kerl muB nothwendig wenn er nicht selbst 
seiner Wege geht fortgeschafft werden. Zu Grande wird er nicLt 
gehen; ohne Zweifel wird in der Mannheimer Zeitung das Deutsch- 
land, fiir dessen heiligste Rechte er kampft, zu seiner Pensioni- 
rungaufgeboten werden <and> die Lichtfreunde der Provinz werden 
ihn schon dotiren . . 

In treuer Liebe H. Leo. 


20 . 

Beifolgend, verehrter Freund, sende ich Ihnen einen klein.-n 
Aufsatz ') . . Auf das Argument — den Socialismus und Commu- 
nismus Frankreichs — komme ich noch einmal ausfiihrlicher zu- 
rucb. Dad die Gedankenmacht , welche die franzosische Revo- 
lution hervorgerufen, noch nicht todt ist, ist uns alien klar, wir 
fiihlen es taglich und nehmen es war, zunachst an der vorhandenen 
Spracbverwirrung. Aber auch der Satz ist richtig, dafi diese 
Gedankenmacht jetzt am socialen Leben arbeitet und brttht, und 
da6 alle Gange die sich die Wiirmer weiter fressen in letzter In- 
stanz auf die Aufhebung des personlichen Eigenthums und 
der FamUie hinarbeiten. als auf ihr kiinftiges politisches Ziel . . 

In treuer Liebe H- Leo. 


21 . 

. . Wenn ich zeither fast immer nur Arbeiten publicirt babe, 
die entweder eine prabtische Veranlassung oder ein praktiscbes 
Bediirfniss batten, so babe ich doch seit dem ersten Beginne meiner 
historischen Studien vor nunmehr 25 Jahren eine tiichtige Ge- 
schichte der Volkerwanderung als die Aufgabe meines Trachtens 
als Historiker gewahlt, und . . immer komme ich darauf zuriick 
und suche mir stiickweise schwierigere Indicenzpuncte durch ein- 
zelne Arbeiten klar zu machen. Unter diese Gattung von Ar- 
beiten gehoren meine rectitudines ^). — Jetzt babe ich ein anderes 
ahnliches Thema vor. Durch einen hier lebenden irlandischen 
Pastor bin ich vorigen Herbst veranlaBt worden galisch zu lernen, 


1) Wohl „Die vollbrachte Kevolution“ EKZ. 1842 Sp. 449. 
3) Rectitudines singularum personarum. Halle 1842. 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 383 


und durch Z^ifall habe ich im Januar entdeckt, dad die zeither 
fiir ziemlich unerklarlich gehaltenen malbergischen Grlossen keltisch 
und zwar den galischen Dialecten entschieden verwandt sind. . . 

In trener Liebe Ihr H. Leo 

Halle den 5 ten April 1842. 

22 . 

Ich hatte, theuerster Freund, in der letzten Zeit eine solche 
Sebnsncht, einmal etwas von Ihnen zu horen, dafi ich schon daran 
dachte, ohne specielle Veranlassung zu schreiben, als ich gestern 
Ihren Brief erhielt. Da ich von Pamphletlitteratnr in der Regel 
gar keine Notiz nehroe, hatte ich auch Marheinekes Schrift noch 
nicht gelesen — da habe ich den heutigen Sonntag sofort daran 
gewandt, und schreibe Ihnen auch sofort wie ich die Broschiire 
aus der Hand lege [Leo halt sich fiir ungeeignet, denn er wiirde 
M.s „Einleitung iib. . . d. Hegelsche Philos, in d. Theol.‘‘ [EKZ. 1842, 
465] „mit ein paar Worten bei Seite schioben und das Votum in 
Bauers Sache [des von seiner Ivehrtatigkeit ontfernten Bruno Baner] 
in den Vordergrund des Artikels ziehen m4ssen“ . .] Ich habe selbst 
zu sehr meine innigste Freude an dem Gedeihen der Ev. Earchenzei- 
tung, als dad ich ihr elnen halb farblosen Aufsatz von mir wiin- 
schen sollte. . . Marheinekes Arbeit gehort unter die Dinge, die 
so verwaschen dumm sind, dad es einem schwer wird etwas kluges 
dariiber zu sagen . . 

Die Schrift von Gorres rathe ich fiirs Erste gar nicht anzu- 
zeigen, bis sich die Dinge in Wiirtemberg erst weiter entwickeln. 
Gegen die Wurtemberger ist sie eigentlich gerichtet — und hier 
scheint mir Gorres recht zu haben, denn eine plumpere, grobere 
Art Kirchensachen zu behandeln als dies wiirtembergische Mi- 
nisterium gegen die Katholiken entwickelt, kenne ich nicht. In 
dem Kern der Sache miidte man also im Grunde Gorres sogar bei- 
stehen — dad er an diesen Kern nun so viel Altweibergeschwatz . . , 
so viel schiefes und wortklingelndes anhangt ist ein Jammer. . . 
Es ist ja wahrhaftig wie wenn einer eine alte Rocktasche mit 
Brodkrumen und Papierschniitzeln umkehrt und einem so verschim- 
melten Sallat zum Verspeisen vorsetzt. . . 

Schellings Schicksal in Berlin scheint mir ein wohlverdienc. s 
— ich kann nach allem, was ich hore, wenig mehr iu ihm sehen 
als einen vornehmen Charlatan, und von Herzen freut es mich, 
dad Neanders brummige Anmadung und Einbildung bei dieser 
Niederlage eine Schlappe mit bekommt. Sie kann ihm nichts 
schaden — anders machen wird sie ihn freilich auch nicht, aber 

26* 



384 


N. Bonwetsch, 


vielleicht doch ein Bischen anders stellen und mehr auf die Linie 
seines wahren Werthes reduciren . . . 

Halle 19. 6. 42. In treuer Liebe H- Leo. 

23. 

[Leo iibersendet eine von H. erbetene Anzeige i)J. Ich gestehe 
gern, dab icb dabei ein Wenig in Verlegenheit gekommen bin, 
denn die Berecbtigung, die grofie Berechtigang der Pnritaner gegen 
die englische biscbofliche Kirche, so wie das beillose, todte Formen- 
wesen, was sich in dieser wieder seit des gottlosen Kerls des 
Oraniers Wilhelm Zeiten festgesetzt hatte, bis in die letzten Zeiten 
erkenne ich ja ebenfalls an, und bin keineswegs von diesem Zeuge 
erbaut — so wie ich denn auch nicht umhin kann die Wendung. 
welche die jerusalemitische Sache genommen, mit nicht sehr freu- 
digen Augen anzusehen — ich sehe nicht recht, was uns das Juden- 
bisthum weiter angeben soli. Andrerseits sind Charaktee. Art 
und Mittel der Leute, die jetzt in Deutschland iiber die englische 
Kirche und iiber das Bis; hum in Jerusalem herfallen der Art, dab 
sie mich noch mehr argern — man fiihlt ja iiberall durch, wie 
ihre Angriffe eigentlich andern Dingen gelten und sie fiir kirch- 
liche Lockerheit und Flauheit streiten. 

Ich habe mich zwischen Scylla und Charybdis durch gewunden, 
so gut es hat gehen wollen, und so diirfen Sie sich nicht wundern, 
dab beifolgende Anzeige weniger eine Anzeige des Schriftchens, 
als die Wahrnehmung einer Gelegenheit ist auf Ihren Herrn Ober- 
Con. 7 istorialrath M. [Marheineke] einige Hiebe zu fiihren. — Wenn 
der Mann cloch lieber Ober-Fisch- und Bratenrath hiebe, denn dus 
ist das Einzige, was ich ihn in meinem lioben in der Perfection 
habe thun sehen ; einen Zander vorlegen und einen Braten schneiden. 
Ich weib nicht, wie sehr mich diese geschminkte Leiche allezeit, 
auch in Hegels Hause versteinert und geliihmt hat, wo ich in 
seine Nahe gekommen bin. 

Schwarz hat sich nun habilitirt. Freilich ist das. wie die 
Zeiten stehen, hoffentlich so viel als: er ist in eine Mausefalle 
gegangen — indessen habe ich mich doch geargert, dab unsere 
theologische Seite hier so .schwach war ibm diesen letzten Schritt 

1) „Das Aiiglo-PieuBische Bistiuim /ii St. .lakob in .Jerusalem und was dar.iii 
li.mgr. Freiburg, lr42“; varl. KKZ. 1842 S. 4 'j 7 if. (20. (i). Als jener in Bern 
veifalJten und verlegten Sclirift eigentumlicli wird bezeiclinet „eme gewisse, dem 
Itcuts'.heu Philister aller Klassen. und also auch dem gelehrten eiguendeHa- 
m i e hk eit" und „elendeste Advokateuheuchelei''. 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 385 


der Disputation, an welchem der gute Baumgarten scheitern sollte, 
auch nicht ein kleines Bischen sauer zu machen. Er hat iiber- 
miithig genug sein diirfen mit seinem Freunde Dr. Haarbriicker 
eine Combdie auffuhren zu diirfen, deren steter Refran war, Ihr 
Name sei ihm ein Grauel und AergerniB — mit welcher Meisen- 
pfeife er natiirlich den ganzen hegelischen und rationalistischen 
Anhang unter den Studenten auf seinem Eiloben zieht — nun wird 
er nachsten Winter ein Privatum nach Umstanden voll , ein Pu- 
blicum iibervoll haben — wird wie es in der Art solcher Ratten- 
augen liegt, sich vor allem eigentlichen Scandal hiiten, und iiber 
lang Oder kurz anfangs bescheiden und zuletzt mit Handen und 
Fiifien an die Thiire des Ministerii klopfen nm Professor zu werden. 
Zu einem Inventarstiick auf irgend einer deutschen TJniversitat 
bringt er es am Ende doch vielleicht. . . 

[Kein Datum]. Treuergebenst H. Leo. 


24. 

Theuerster Freund! 

Nehmen Sie mir nicht iibel, wenn ich mich einmal an Sie in 
einer Angelegenheit wende, die ins biirgerliche Leben eingreift. 
Wissen Sie nicht einen Answeg fiir den braven, gnten Menschen ‘), 
dessen Verhaltnisse beiliegender Brief von ihm an mich erlantert. 
Er ist durch und durch wohl gesinnt, glaubig, auch nicht ohne 
Gelehrsamkeit, von sehr angenehmer Bildung und nur noch ein 
wenig timid in seinem Wesen. Die Grandees von Rudolstadt im- 
poniren ihm zu sehr. Ich babe allerdings noch einen Versuch ge- 
macht auf seine Entschliisse zu wirken — ihn an Charaktere wie 
Dalvin und Knox verwiesen, und dafi eben weiter nichts dabei sei, 
wenn er auch in Rudolstadt keinen Umgang mit den geistigen 
Grandees, will sagen mit dem Herrn Generalsuperintendent Z. und 
dem Gymnasialprofessor S. habe ; daB selbst das auBerste, was ihn 
treffen konne, namlich eine scandalose Austreibung als Pietist ihm 
nur zur Empfehlung gereichen konne — indessen . . vermag ich des 
Mannes Charakterstarke in Leiden nicht einigermaBen zu taxiren 
und . . habe ich die Verantwortlichkeit directen Zurathens nicht 
auf mich nehmen mogen. 

Fiir Rudolstadt ware allerdings die Einleitung eines Gah- 
rungs-Processes von unendlicher Wichtigkeit. AuBer der Furstin 
Mutter und ihrer Schwester, der Princessin Karl von Schwarzburg, 


1) Cand. Albert Bromel, zuletzt in Ratzeburg, Verfasser der ,,Homiletischen 
€l;arakterbilder“, 1869. 1874. 



386 


N. Bonwetsch, 


ist fast keine lebendige Christenseele im Orte. Beide Damen sind 
aber nun alt, und durch die Art wie sie friihere Bemtihungen, die 
von ibnen ausgiengen verdrebt und verleumdet geseben baben, 
wobl aucb ein wenig eingescbiicbtert ; sie baben sicb auf einen 
sebr kleinen Kreis des TJmganges znriickgezogen. Im iiorigen ist 
vielleicbt kein Ort in Deutschland, wo so wie dort das ganze 
Leben aus Bier, Bratwiirsten und langer W eile — aus Armutb und 
armseligen Servilismus der biirgerlicben Beamtenkreise — mit einem 
Worte aus zabem Pbilisterscbleim zusammengeknetet ist. In Wei- 
mar und Gotha ist docb noch ein Anflug litterarischen Interesses 
— in Rudolstadt das nicbt einmal — alle Notabilitaten der Stadt 
sind anerkannte Charactere, die fiir einen gewissen Lebenskreis 
das Urtheil gepacbtet baben, und so erbiilt jedermann alles fix 
und fertig, denn es ist Hochverrath einen dieser Grandees in seinem 
Bereicb zu bezweifeln — hochstens in der i'orm des Bierwitzes 
jst solcberlei mbglich — gegen die glaubig - christlicbe Ricbtung 
steht aber die ganze Reihe dieser Grandees fiir Einen Mann, denn 
die bat keiner unter die Motive seines UrtheBens jemals aufge- 
nommen. Die Candidaten . . treiben die Tbeologie wie das Kase- 
macben — und hinsicbtlich des Verbal tnisses der Pfarrer zn den 
Herren die bei Hofe gelten, ist kaum Thiimmels Wilbelmine unter 
die veralteten Schilderungeu zu rechnen. 

Das es einem armen Teufel Angst wird, wenn er in solcbes 
Treiben Breche schiefien soil . . finde icb zu menschlich-naturlich. 
Es ist geradezu ein Wunder, wie eine Natur wie dieser Bromel 
sicb aus solchen Verhaltnissen hat emporwinden konnen . . . 

Halle den 14 ten Aug. 1842. 

In treuer Liebe H. Leo. 


25. 

Theuerster Freund! 

Scbon wieder falle icb Ibnen mit einem Briefe bescbwerlich. 
Unser Regierungsbevollmachtigter, GR Delbruck, liegt nun wirk- 
licb boffnungslos darnieder, und obwohl sicb sein Ende aucb noch 
wochenlang hinzieben kann, ist es docb ebenso alle Tage mbglich, 
dafi er erliegt. Es lafit sicb aber vorausseben, dafi in dem Augen- 
ohck, wo dies Eraugnis eintrit. vielleicbt aucb scbon friiber, viel- 

liberate und unglaubige Partei bier alle 
Rrafte aufbieten wird durcb ibre gewobnlicben Vermittler, Hum- 
boldt namKch und Boeckb, dabin zu wirken, dafi entweder ein con- 
stitutionel-liberal und rationalistisch gesinnter, oder wenigstens 
ein vollig indifferenter Mann an Delbriicks Stelle komme. Diese 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 387 


Stelle ist nun aber im Augenblicke von der ho chsten Wichtig- 
keit. Die ganze Stimmung die von den preuBischen, namentlich 
aber von unseren sachsischen Gymnasien her in unseren jungen 
Lenten dominirt ist theils geradezu hegelingisch oder doch hegelisch, 
theils rationalistisch und freiheitsschwindlich. Die weit verbreitete 
Lecture der deutschen Jahrbiicher und der Leipziger Allgemeinen, 
neuerdings auch der rheinischen Zeitung, . . so wie die hegelischen 
und rationaliatischen Docenten hier erhalten die geistige Atmo- 
sphare, die die Studenten schon als Schuler suchten, auch auf der 
Universitat, und wenn es nicht mit Hiilfe der breiten Basis libe- 
ralistischer Modephrasen hier schon zu ahnlichen , ja argeren Zu- 
standen als in Kbnigsberg gekommen ist, ist es besonders, ja in 
letzter Instanz fast allein Delbriicks still wirkendem, aller frei- 
heitsschwindlerischen und extremen Stimmung feindlichen Einflufi, 
den die Eeigheit auch der in dieses Loch thutenden academischen 
Lehrer scheute, zu danken. Ein Mann, der diesem Wesen durch 
die Einge sahe oder es gar hatschelte, wiirdc sofort bewirken. 
dafi das Vblkchen Chorus machte — wo dann . . die Eeigheit des 
Einzelnen von dem BewuBtsein der Masse getragen und iibertragen 
werden wUrde. Die Wahl des kiinftigen Regierungsbevollmach- 
tigten von Halle ist eine Lebensfrage mit fur die kirchlichen Be- 
strebungen, nicht blo6 fiir die politischen. Wie die Sache hier 
steht konnen Sie daraus sehen, da6 immer von meinen 40 — 50 Zu- 
horern Auslander, namlich Braunschweiger, Hannoveraner, Hessen, 
Badenser, Baiern, Englander imd Amerikaner sind, welche Leute 
unbefangen iiber die BloBen und Mangel liberalistischer Richtungen 
in Kirche und Staat mit sich reden lassen, wahrend fast nie ein 
Ungar oder Siebenbiirge, selten ein anderer PreuBe bei mir hurt, 
als wer glaubt mir des kiinftigen Examens wegen ,sein Compliment 
mathen zu miissen. Allerdings thnt dabei viel, daB unsere preu- 
Bischen Theologen hier mit ihrer Wissenschaft in der Regel in 
den drei Jahren so viel zu thun haben daB sie auBer an eigent- 
liche Philosophica, an nichts gehen konnen. was auBerhalb der 
Theologie liegt, daB sie also verhiiltnismaBig auch sonst keine 
pnilologica hbren — aber wenn ich die freudige Anhanglichkeit 
der Fremden ... — wenn ich dies in Anschlag bringe, ist mir 
die Sache doch ein deutliches Zeichen der vorhandenen Stimmung, 
die alles was nicbt in die dominirenden Moderichtungen hineinthut 
hochstens notitiae caussa, jedenfalls ohne inneren Antheil hinnimmt. 
Lassen Sie nun noch einen Mann als Yertreter der Regierung, als 
Vergeber oder doch Controleur fast aller Stipendien . . auitreten, 



388 


X. Bonwetscli, 


der die Frondeurstimmung begiinstigt — so wird es in Zeit von 
vierzehn Tagen in Halle arger als in Konigsberg. . . 

Halle den 19 ten Oct. 42. 

In trener Liebe H. Leo. 

2b. 

Theuerster Freund! 

Ich incommodire Sie in dieser Zeit recbt ott mit meinen Briefen. 

. . Icb babe Tholuck, in Beziehnng auf welcben icb bei meiner vor- 
jiihrigen Anwesenheit in Berlin Grelegenbeit hatte zn bemerken, 
wie viel sein Urtheil bei HE. von Tbiele Excellenz gilt, zugesetzt, 
dafi er sich vertranlich an letzteren wenden, nnd ihm die Wich- 
tigkeit der Stellung eines RegiernngsbevoUmacbtigten bei der 
Universitat Halle darlegen mochte. Er hat es gethan, aber dabei 
in mich gedrungen , ich solle dasselbe than. [Leo habe es ver- 
sprochen, aber empfinde dies nun doch als Indiscretion ; aber Tho- 
luck konnte sich auf sein Schreiben berufen haben; so bittet er 
nun, Hengst. moge Sr. Excellenz das Verhaltnis darlegen. Er gibt 
dazu Details]. 

.Furs Erste, was die Wichtigkeit der Stellung anbetrifft, habe 
icii hervorzuheben ; dafi der Regierungsbevollmachtigte in Halle 
eine ganz andere sociale SteUung und Aufgabe hat, als der in 
Berlin. Breslau oder Konigsberg, Halle ist ein verhaltnismafiig 
kloiner Ort, und die Universitat hat in demselben ihre alte Stel- 
lung, die wichtigste Corporation des Ortes der Gegend zu sein 
bewahrt. Sie findet sich aber weniger in dem wechselnden . . 
Rector, als vielmehr in dem Regierungsbevollmachtigten als ihrem 
Haupte reprasentirt. Diese Stellung hat aber der Eegierungsbe- 
vollmachtigte nicht blofi nach aufien, sondern bei der Universitat 
selbst, und so wie er entweder in diesem seinen Einflusse annullirt 
Oder einer schlechten Clique hingegeben erscheint, haben alle 
kleineii, schlechten Velleitaten bei der Universitat freien Lauf — 
freien Lauf bei den Professoren — freien Lauf bei den Studenten . . 

[In Halle sei noch ein Kreis] der alteii , vollig mattherzigen 
Professoren, die die Universitat bis vor zehn Jahren durch ihre 
Ivlattbeit auf einen erschreckendeu FuB der Roheit batten herab- 
kommen lassen . . In diesem Kreise der Professoren diirfte gegen- 
wiirtig Professor Meier als das kraftigste Agens betrachtet werden, 
der durch seine judischen Qualitaten hinlanglich zu einem Agenten 
ausgestattet ist; . . und dafi Delbriick dieser Agentur nie zu- 
ganglich war , hat vornehmlich Delbriicks SteUung erschwert . . 
Diese Lente . . haben lange Zeit alles bier in Handen gehabt, und 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 389 

auf welchem Grad es kurz zuvor ehe Delbrlick hierher kam, mit 
der Disciplin gekommen war, kann ich Ihnen (lurch eine Reihe 
Anecdoten versinnlichen ; namlich daC man damals Studenten voll- 
standig hetr unken auf der StraBe fand, war Regel: ich selbst 
babe dreimal brantweinbetrunkene Studenten an der Seite der 
StraBe liegend. sich im Kothe walzend mit eigenen Augen gesehen. 
[Leo erzahlt dann eine Reihe von nicht wiederzugebenden Fallen 
fast unglaublicber studentischer Roheit] . . DaB Delbriick dem 
Senate zu Leibe gieng, die Disciplin selbstandig wahmahm; 
die Verbindungen, welche GefaBe der Vbllerei waren. mit Stumpf 
und Stiel ausrottete ; die schwachmiithigen Urtheile des Disciplinar- 
senates trotz alles Geschi-eis der Professoren vom Mi- 
nisterium cassiren oder reformiren lieB — das und das ganz 
all e in hat Halle vbllig umgewandelt. Aber dieselbe Zucht ware 
in einem halben Jahr wieder hier, so wie jemand Regierungsbe- 
vollmachtigter wiirde, der dem Ge rede der P r of e s s or en von 
beeintrachtigter Wiirde des Senates, von beeintrachtigtem Rechte 
des Rectors u. s. w. nachgabe. TJeberdies ist diese Professoren- 
clique gerade das rechte Nest alles schlechten Deismus, Rationa- 
lismns und Liberalismus — und sie wieder das Haupt erheben 
sehen und diese Richtungen hier wieder in einen Theil ihrer alten 
Geltung e'nsetzen ware dasselbe. Mit einzelnen MaBregeln ist 
dann gar nichts geholfen; der sociale Eindruck im Ganzen 
kann allein helfen, und wie beschrankt Delbriicks Fahigkeiten ge- 
wesen sein mogen, diesen social en Eindruck hat er durch seine 
redliche Treue, und unbeugsame Strenge in alien Hanptsachen her- 
vorgebracht. 

. . Das ist auch eine neue Erscheinung des Studentenlebens, 
daB auf alien Commercehausern von Politik die Rede ist, und 
Zeitungen gebalten werden. Daran dachte sonst nicht einmal die 
Burschenschaft. [Leo bittet noch, wenn moglich zu vermitteln], 
daB das Ministerium durch eine allgemeine Verfiigung alien Do- 
centen der orientaliscben Sprachen. die nicht zugleich bei einer 
inlandischen Facultat Licentiaten derTheologie geworden sind, 
die Interpretation biblischer Biicher ganz untersagt. . . 

In treuer Liebe H. Leo. 

[Es handelt sich urn Griindung eines politischen Blattes, an- 
geregt von HuberJ Doch wozu alles Gercde — es wird weder et- 
was groBes noch etwas kleineres zu Stande kommen unJ wir werden 
unseren Train fortzappeln wie bisher. Es ist auch am Ende besser 
der liebe Gott macht die Binge, als die Menschen machen sie, — 



390 


N. lionwetsch, 


freilich die Rolle eines ungetrenen Haushalters spielen wir dabei, 
denn sowohl gesellschaftlich als wissenschaftlich hat &ott in unsere 
Hande dermalen ein grbheres Pfand gelegt, als in die unserer Wider- 
sacher ; und doch spielen wir im Ganzen in den Augen der Nation 
die Eolle des begossenen Hundes. . . 

In treuer Liebe H. Leo. 

27 . 

Beifolgend, thenerster Freund! meinen schonsten Dank fiir die 
Bemiibungen bei Sr. Excellenz — und sodann acht Exemplare einer 
kleinen Flugschrift von Huber . . Wenn sie nicbts dagegen haben, 
ser.de ich Ihnen in den nachsten W ochen einen kleinen Artikel 
als Anzeige der Schrift in der evangeliscben K. Z. . . 

Da6 es Duncker nun doch durchgesetzt hat, Professor zu 
■werden ^), haben Sie aus der Statszeitung crseben ; dafi das i\Ii- 
nisterium die Gelegenheit benutzt hat, mich nebenbei in aller 
Weise zu compromittiren, werden Sie aber nicht wissen. Icb war 
vorm Jahr aufgefordert wordon, mich gutacbtlich iiber den Mann 
zu auGern — und that es wie ich es fiir meine Pflicht hielt . . Ich 
hatre geglaubt solche Gutachten waren, um dem Minister wirklich 
otfene, vertrauliche Mittheilungen zu verschatfen, eine Sache, die mit 
Discretion behandelt werde — aber schon voriges Weihnachten als in 
Berlin gewesene hie.sige Professoren zuriickkehrten, batten diese 
in Berlin von meinem Gutachten gehort, Gliicklicher Weise ist 
es so sorgsam und nach alien Seiten so wohlbedacht ausgearbeitet, 
dati es jeden Augenblick gedruckt werden kann. Hatte es der 
Minister dem Drucke iibergeben, so hatte ich gar keine Ursache 
zur Klage, denn Duncker selbst miiBte, wenn er nicht ein com- 
pleter Esel ware, die Richtigkeit desselben anerkennen. Statt 
dessen aber schreibt man ihm jetzt. wo man ihn zum Professor 
erncrint. man macho ihn zum Professor obwohl eine iichtbare 
Stiinnie sich misbilligend iiber .‘^ei^.e Richtang geauBert . . Solches 
schv.-ac!;liches, gutgemeintes .’.bra then sollte man, anch abgesehen 
davon daB man unter Umstanden Leute. wie bier mich, damit com- 
prcmittirt, doch ganz weglassen — in unserer Zeit wo k einer 
allein steht und eines jeden wissenschaitliche und sittliche Hal- 
tu’ g von Freunden controlivt wird, ist dergleichen zum Fenster 
hin.iusgeworfen. Endlich hat man auch damit nicht genug gehabt. 
sondern seine Ernennung der hiesigen IJniversitat so angekiindigt, 
daG or \oigtel und mir zur Unterstiitzung ernannt sei. . . 


1 1 Kr wiirde es im Okto'uer 1S42. 



der Historiker Heiniich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 391 


Unterstiitzung setzt ein freundliches Verhaltnis voraus. Duncker 
aber ist von Anfang an nnr mit meinen bittersten Feinden: Ruge, 
Meier, Voigtel, Giutike n. s. w. umgegangen — so hat also diese 
s. g. Unterstiitzung im Rescript des Ministers entweder gar keinen 
Sinn, oder den mich vor meinen Collegen zu demiithigen. Ich 
trag’s wie anderes. nur weiB ich nicht, wie ich dazu komme, und 
was ich in aller Welt dem Ministerio in den Weg gelegt habe. 

In den Weihnachtsferien bin ich nicht hier. . . 

In treuer Liebe H. Leo. 


28. 

[Leo gedenkt eines anonymen Drohbriefs ans London]. Wegen 
meiner Revolutionsgeschichte bringt man mich „elenden Pharisaer 
mit dem Doctorhute“ mit Kotzebue in gleiche Kategorie, und kiin- 
digt mir an, „da6 Gottes himmlische Freiheit iiberall aufwachse 
trotz meiner und der Dunkelmanner Teufeleien‘' . . Nachgerade 
werde ich sto(lz auf) das Bnch . . . 

Mit besten Griifien an alle Freun<de) (H. Leo.) 

Halle 20. 3. 43. 


29. 

. . Endlich habe ich noch einen vierten Punct auf dem Herzen : 
Sie kennen RumpeU) und wissen wie wohlgesinnt, frisch, dem 
Besten zugewendet und zugleich wie talentvoU und wirklich griind- 
lich unterrichtet er ist. Es hat mich schon immer gejammert, 
da6 so gute Kriifte bei wirklich armseligen Lohn in ganz unter- 
geordneter Thatigkeit verkummern. 

In diesen Tagen 1 iii. t mir auch Bemhardy . . ausgesprochen, 
wie sehr er es beklage . . . Konnen Sie nicht irgend einen Kanal er- 
bffnen, durch den das Scbifflein unsere.s jungen Freundes aus dem 
Gedrange heraus in besseres Fahrwasser gebracht werden konnte? 

In treuer Liebe H. Leo. 

Halle den 27 ten Xov. 1843. 

30. 

Mit zwei Worten, theuerster Freund, eine rasche Antwort. 
Die Anzeige des Bettinaschen Buches will ich iibernehmen ; in der 
Sache moglichst scharf; wenn mich meine Einfalle nicht ganz im 
Stiehe lassen, wo moglich blutig; in der Form aber mit Ihrer 
giitigen ErlaubniB hbflich . . . [s. Br. 31]. 

1) I'or spatere Guters’.obor Diieetor und hernacli Schulrat; s. o. S. 6. 



392 


K. Bonwetsch, 


Mtiller fvgl. Br. 10] hat den Vorwand, den ihm die Konigl. 
Kabinetsordr hot, benutzt, sich aus dem Grustav Adolfsverein einst- 
weilen zuriickzuziehen, in dessen Provincialvorstand er war. Dieser 
Vorstand war erwahlt, den AnschluB an Leipzig zu betreiben 
da ein directer AnschluB nun unmoglich ist. erklart Muller seinen 
Auftrag fiir erloschen und hat sich zuriickgezogen. Er war nur 
eingetreten in den Vorstand, weil die beiden nachst hoch rnit 
vStimmen versehenen Ziesche[?j und Duncker waren . . . Tholuck 
ist mit Niemeyer, Franke und Bertram im Vorstande geblieben. 
Was sie eigentlich noch wollen weiB icb nicht. Ich spreche aul- 
richtig gestanden iiber gewisse Dinge mit Tholuck nicht gern. Es 
liegt unverbesserlich in seiner Natur ein Hang in vielen Dingen 
Einflufi zu haben ; sich zu diesem Ende instinctmiifiig selten in ein 
k!ar ausgesprochenes Wort gefangen zu geben; mit einem Scherz 
Oder mit einen Gefiihlswort iiber dnnkle Grenzen hiniiberzuglitschen, 
und einem am Ende noch mit einer Grimasse abzulohnen. Seine 
Art ist zu alt. und von Anfang an zu instinctmaBig, als daB sich 
etwas andern oder gewinnen liefie ; ihn drangen. ihm ziisetzen heiBt 
bei jemanden. der ihm nicht wie Gerlach imponirt, sich ihm ganz 
zuwider machen : unter der Hand wird er mir ohnehin nicht all- 
zuzartlich gesinnt sein. Da vermeide ich lieber ganze Reihen von 
Gesprachen mit ihm. Da unsere Seite hier in Halle sich unter 
dem Gesichtspuncte der Partei ohnehin vollig undisciplinirt zeigt, 
scheint es mir, hat der einzelne die Pflicht moglichst alles zu 
meiden, was weiter die Herzen trennen kbnnte. In diesem Sinne 
handle ich mit Th. und gehe wie die Katze um den heiBen Brei 
herum. 

[Wiinscht dringend Pemice, den derzeitigen Rector, als Cu- 
rator^). Bezeichnet es als ,.greuliche Anomalie“. daB alle anderen 
Zeitungen der Censur unterworfen seien, die A. Litt. Zeitung „ dieses 
mehr und mehr radicale Blatt ohne alle Censur“ bestehe; 
denn sollte dies auch von der EKZ. gelten], . . 

In treuer Liebe H. Leo. 

Halle 17. Marz 1841. 


31. 

Sie erhalten, theuerster Freund, etwas spater als mein Wille 
war. beifolgenden Artikel fiber das Kbnigsbuch -) . . 

Sie sehen bald, mein Vorsatz hoflich zu schreiben und mehr 


1) YgL Br. 25. 32. 

2) Von Bettina von Arnim, vgl. Br. ,i0. 



der Historiker Heinrirli Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 


393 


hohnend aufzutreten , ist mir iinter den Handen zu Wasser ge- 
worden. Ich kannte das Bucli noch nicht — und bin nun der 
Meinung. ein Weib was so aller -weiblichen Scham baar anftritt, 
verliert auch die Privilegien ihres Geschlechts ganz. Vielleicht 
bin ich hie und da in dem augenblicklichen Eindruck der Lecture 
etwas zu grub geworden; ein Stuck habe ich selbst wieder weg- 
geschnitten. Anderes streichen Sie vielleicht — ich kann es nicht, 
denn noch bin ich in soicher Stimmung, dafi ich mir eher wegen 
Milde Vorwiife mache als wegen Grobheit. Ich habe meine Chiffre 
daruntergesetzt ; sollte Jak. Grimm mit soicher Pietat an s o 1 - 
chem Weibe hiingen, daB er mir’s iibel nimmt, so kann ich mir 
aach nicht helfen. "Ich nehmc gern Riicksichten in der Welt, wo 
sie den Sachen nicht zu viel vergeben, aber — cela est trop fort ! 

Gerlachs Aufsatz uber den Gustav A’s Ver. hat mich wahrhatt 
erquickt — unser kleiner Tippelskirch aber macht ein Gesicht 
wie ein leberkranker Baschkir ; er tindet den Anfsatz entsetzlich 
riicksichtslos — und er wenigstens hat Baucbgrimmen davon oder 
doch Herzgrimmen. 

Ich gehe nicht nach Gnadau diesmal, weil die zu besprechenden 
Theinata so sind, dafi sie mich interessieren zwar, aber mehr in 
den Resultaten als in den Discussionen . . 

Herzlichste GriiBe an alle Freunde ! In treuer Liebe 

14 ten Apr. 44. H. Leo. 


32. 

Mein theuerster F reund ! 

Ich habe so lange, langc nichts von Ihnen und von Berlin ge- 
hort. dafi ich endlich einnialgeradezu anklopfen muC . . Nun meine 
ich aber eine fortlaufende Verstandigung ist durchaus nothwendig. 
Man kommt sonst in Gefahr einzelne Dinge doch von einander 
gar nicht unterstiitzenden Seiten anzufassen — imd dann liegt in 
jeder Isolierung eine Verkiiramerung, was sie freilich im Centrum 
weniger empfinden, als wir in den Radien. 

IJnsere sachsiscben Stimmungen schreiten fort sich feindlich 
zu organisiren. Uhlig . . taucht iiberall auf. Um ihn organisirt 
sich eine rationalistisch, liberale Heeresniacht. Er hat alle Schlangen- 
gewandtheit. die seine Partei wunschen mag. Einen ahnlichen 
Mittelpuiicl hat die entgegenstehende Partei gar nicht, gerade weil 
in ihr auf alien Puncten mehr Personlichkeit , nicht so viel fiir 
sich denken und sorgen lassende Gemeinheit, also auch nicht so 
viel Hingiebigkeit ist. Aber darin hangt auch eine Ungeschickt- 
heit, die uns in tausend Puncten schlagt. So hat im Halleschen 



394 


K. Bonwets ch, 


Gustav-Adolfsverein wohl die liberal - rationalistische Partei eine 
Niederlage. aber dafiir im Verein der ganzen Provinz einen voll- 
standigen Sieg erfochten. Guerickes Angriif auf Wislicenus konnte 
ein reiner Sieg sein — aber Guerickes TJngeschicktkeiteii in der 
Magdeburger Zeitung und die personlicben Anerkennungen, die er 
diesem gemeinen Kerle in Privatbriefen, die dieser wieder in der 
Magdeburger Zeitung an die Glocke gescblagen hat , widmete, 
haben der Sache wider den Beischmack einer halben Niederlage 
gegeben. Pernicens Ernennung') ist fiir uns ein Sieg — aber ich 
sehe in den nachster Tage bevorstebenden Waklen des Museums- 
vorstandes einen Sieg der andern Partei voraus, . . der ibr die 
Mittel in die Hande geben wird dieses fiir unsere Universitat so 
wichtige Lese- und Gesellschaftsinstitut ganz in ihrem Sinne fiir 
die Verbreitung ihrer Ueberzeugnng durcb alle Lumpenblatter 
ihrer Richtung, durch otfentliche Vorlesungen . . auszubeuten, und 
den Familien Prutz, Duncker u. s. w. eine gesellschaftliche Stellung 
fiir ganze Kreise zu geben . . . Vor’m Jabr scblug ich vor, wir 
woUten austreten aus dem Museum und eine neue Gesellscbaft 
bilden . . Diese Leute , welche unsere Gegner sind , leben nur 
durch den Gegeiisatz, aus ihm ziehen sie ihre besten Krafte, . . 
die ungehinderte Entfaltung ihres Wesens stoBt bald das brei- 
maulige Publicum auch zuriick. . . 

Eins noch muB ich Ihnen schreiben. Icli hatte zeither in meiner 
allgemeinen Antipathic gegen alles, was von Israeliten ausgeht, 
versaumt von Stahls Biichern die mindeste Notiz zu nehmen. In 
diesen Tagen sah ich mich aber veranlaBt seine Rechtsphilosophie 
zu lesen, und lese sie in wahrem Jubel. In alien Grundlagen fiihle 
ich mich wie praedestinirt einstimmig. . . Wenn Sie Stahl sehen, 
sagen Sie ihm die schbnsten Dinge als Ausdruck meiner Verehrung 
— vis a vis solcher Einsicht und Gesinnung fallen auch vor meinen 
Augen alle Yolkerscheiden und der Geist des Christenthums bewahrt 
seine wahrhaft allgemeine Macht. . . 

In treuer Liebe H. Leo. 

Halle den 4 ten Juli 1844, 


.33. 

Theuerster Freund ! 

Endlich kann ich Ihnen meinen sechsten Band zusenden, und 
hoffentlich sind Sie mir nicht hose. daB ich ihn zugleich benutzt 


1) Zum haliescheu Uniyersitatscurator, vgl. Br. 30. 



der Histoiiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 395 

habe, meiner herzlichen Neigung zu Ihnen einen Ausdruck zu 
gbnnen ^). 

. . Was ich Yon Gutzkow’s Sachen angesehen hat auf mich 
den Eindruck jammervollsten Wesens gemacht. Besteht die dentsche 
Nation nur nock aus Nahmamsells, Kammerjungfern und Kramer- 
lehrlingen, da6 solches Zeug auch nur einige Beachtung finden 
kann? Ich hatte das Gefllhl mich vollstandig zu encanailliren, 
wenn ich den Kerl offentlich anfahte — und wenn es auch dann 
und wann Pflicht ist. in den Koth zu treten — so tief, dah er 
mir in die Krawatte kommt, habe ich doch keine Lust mich mit 
ihm einznlassen. Bettina’s Friihlingskranz, den ich nachher ge- 
lesen, schien mir dagegen wieder zu unschuldig — es sind eine 
ganze Menge schoner Blumen in diesem Garten dem man freilich 
im Fiiihling schon ansieht, dafi er im Herbst verwildert sein wird. 
Aber AnstoB glaube ich giebt wenig darin und das TalentYolle 
soil man doch auch ein wenig gewahren lassen . . 

Tholuck sagt mir, da6 Sie wohl und heiter zuriickgekehrt sind. 
Gott erhalte Sie dabei und mir Ihre Liebe. H. Leo. 

Halle den 13 ten Oct. 1844. 

34. 

Theuerster Freund ! 

Gottes segen zu nenjahr, und, wie wir in Diiringen sagen, 
alles was an leib und seele niitz und gut ist; — und auBerdem 
herzlichsten dank fiir den neuen band Ihrer psalmen, der mir 
richtig zugegangen ist, und mir manche gute stunde machen soil, 
denn die psalmen sind mir von alien biichern alien testamentes das 
wertheste, und halte ich auf alle biicher zu deren besserem verstandniss 
grosze stiicke, von St. Augustin und St. Bernhard bis auf Dewette 
grosze stiicke, wobei Sie sehen, dasz Calvin und Sie mir ohngefahr 
in die mitte kommen, wo ich selbst am liebsten wohne . . . 

In treuer Liebe H. Leo. 

35. 

In alter eile musz ich Ihnen doch noch ein paar worte zur 
post geben. Die suspension von Wislicenus hat hier einen durch- 
weg guten eindruck gemacht. und wlirde einen noch beszeren ge- 
macht haben wenn das consistorium weniger zaghaft verfahren 
und ihr nicht die form gegeben hatte eines urlaubs, den er ge- 
nommen hat. Sogar leute, hinsichtlich deren ich fest iiberzeugt 
war, dasz sie gegen das consistorium schreien wiirden, auszem 

1) Uurch die Widmung. 



396 


X. Boiiwetsch, 


ganz entschieden, das consistorium sei im rechte, und wenn Wisli- 
cenus abgesetzt werde, geschehe nnr, was nothwendig sei. Trotz 
dieser stimmung setzt sich die handvoll enragirter freymaarer 
dirigirt von Dr. Schwetschke and die handvoll Hegelingen dirigirt 
von Dr. Schwarz mit macht ans werk. Schwetschke hat eine 
protestation ausgearbeitet namens der stadt, die er, da noch meh- 
rere freymaurer , lichtfreunde und den Hegelingen zugewandte 
leute im stadtverordnetencollegio sitzen , wohl bei diesem sicher 
durchbringen wird. Man soli sich nicht teuschen laszen: es ist 
nicht die stadt die redet. sondern das haufchen stadtverordneter 
oder eigentlicb nur etwa vier unter ihnen. und mein barbier sagte 
mir heute, er komme doch ziemlich in der stadt herum, aber jeder- 
mann fast schimpfe nur uber Wislicenus, und wenn die regierung 
falls diese protestation abgehe, die sache genau untersuchen lasze, 
werde sich einfach die liige ergeben , falls die protestation fiir 
einen ausdruck der hiesigen gesinnung ausgegeben werde. Indessen 
werden die leute rasch alles thun die stimmung zu bearbeiten — 
heute schon steht ein gedicht mit der iiberschrift : muth! im 
hiesigen courier — was den refran hat: »wie werden sie .sich 
schneiden, die alten perucken da“. Morgen ist in Kothen 
groszer randal — da wird die sache an die grofie glocke kommen 
und in ganz Deutschland durch alle lumpenblatter gehen. — Also : 
was ich eigentlich sagen wollte: verkitnden Sie das den leuten 
in Berlin im voraus, machen Sie sie auf die ungehenre zu grunde 
liegende unwahrheit aufmerksam; die stadt ist wider erwarten so 
gut gesinnt, trotz aller dieser demonstrationen, als die regierung 
nur wiinschen kann, und man soil sich von dieser handvoll nase- 
weiser buben kein x fiir ein u machen laszen. 

Treulichst H. Leo. 


36. 

Theuerster Freund I 

Beifolgend erhalten Sie meinen letzten artikel iiber Eugen 
Sue's biicher • 

V erzeihen Sie auszerdem . dab dieser dritte artikel genau in 
demselben tone gehalten ist, wie die beiden friiheren. Ich weisz 
wohl, dasz ich mit diesen artikeln gerade, da sie in eine menge 
populare dinge eingreifen Ihrem blatte einen groszen theil des 
haszes zuwege gebracht habe. der es nun trifft — allein einmal 
sehe ich diesen hasz eher als einen triumpf und als ein gliick an 
— und sodann konnte ich unmeglich unter jetzigen umstanden 

1) EKZ. 1845 Sp. 3G9ff. 841ft. 



der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenherg. 397 

mit einem male eine sanftere flote snchen — subjectiv ware das 
eine feige beachelei, and objectiv gar nicbt zu recbtfertigen — 
also ich mtiste ganz schweigen, wenn ich mir nicM gleich bleiben 
wollte. Halten Sie ersteres flir nothwendig in irgend einem ho- 
heren interesse, so haben Sie voUstandigste voUmacht meinen anf- 
satz ins feuer zn werfen — aber sanftcr floten werde ich unter 
keinen umstanden und nun erst nicht. 

Uebrigens sind alle aus den artikeln der ev. k. z. genommenen 
angriffe nur vorwandte — waren es diese nicht, so nahme man 
andere, denn die gauze bewegung gegen Sie geht von den frei- 
maurern aus, die Ihnen eintranken wollen, dasz Sie vor zwei jahren 
gewagt haben hand an ihre logen zn legen. 

Halle den 16 ten oct. 18-15. 

In treuer liebe und ergebenheit H. Leo. 

37. 

Theuerster Freund! 

. . Bindewald ') sagt mir, daB Sie rasch etwas fiir die ev. 
kirchenzeitung wiinschten — leider werde ich Ihnen den artikel 
iiber Niebuhr nicht unter vier wochen besorgen konnen. Mein 
alter freund Tucker hat mir einen artikel zugeschoben iiber die 
bairischen protestantenzankereien, und diese ohngeachtet ich voll- 
kommen einsehe, daB sich die leute riihren und wehren miiszen, 
haben doch eine advocatische aparte art an sicb, so dasz mir schon 
die lecture ihrer beschwerdeschrift ein gefiihl erregte, als hatte 
ich unreifes obst gegessen und schauderhaft stumpfe zahne. Nun 
wollte ich den artikel machen und hatte innerlich gar keinen freu- 
digen beruf dazu — bin also um die ganzen osterferien gekommen 

denn ich setzte mich jeden morgen hin, schrieb zehn zeilen, 

strich sie wieder aus. schrieb sie wieder und strich sie wieder aus, 
bis endlich nach vier wochen ein leipziger artikel, dem man in 
jeder zeile das geprefite und gemacbte ansieht zu stande gekommen 
ist — ich aber um alles freudige erholungsgefiihl , um meine zeit 
iiherdies gekommen und mit alien arbeiten im riickstand bin. Haben 
Sie also einige wochen geduld . . Ich musz aber das Niebuhrsche 
buch nothwendig noch einmal lesen, da mir die friihere lecture 
schon sehr erblichen ist, wie notwendig wenn man schon vor einigen 
monaten zu dreihundert friiheren darstellungen desselben gegen- 
standes die dreihundert und erste abends im bette vor dem ein- 
schlafen gelesen hat. 

1) ’SVohl der altere der heiden Binder (s. Br Td), nicht der Assessor, der 
L. V. Gerlach 1844 nach England hegleitet hatte. 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 3. 


27 



398 


X. Bonwetsch, 


Ich woUte Sie hatten einmal etwas fiir mich, wo ich so recht 
aus eignem inneren herzensgrnnde mich freuen und jubeln konnte 
in der anzeige — das wird bei dem Niebuhrschen buche auch nur 
in sehr hombopathischen dosen der fall sein konnen. Leider bin 
ich durch die nachlaszigkeit meines buchhandlers um die erste auf- 
lage von Carlyle’s Cromwell gekommen, die ich im voraus bestellt, 
(der?) es aber so verdommert hatte, daB sie als ich ihn erinnerte 
vollig vergriifen war. Es wird zwar bereits scharf an der zweiten 
anflage gedruckt — aber bis diese fertig, musz ich nun warten — 
bitte aber im voraus darum, dasz Sie mir das buch, wenn Sie es 
nicht aus aparten grunden einem andern bestimmt haben, mir auf- 
heben. 

Vor der wahl zum laiendeputirten in Sachsen brauche ich 
mich weniger zu sorgen, als der fuchs um die zu hoch hangenden 
trauben — kann aber auch aufrichtiger als der fuchs hinzufiigen, 
dasz ich in keinem fall ein semester vorlesungen an die sechs- 
wocheutliche umgangsfreude mit alten superintendenten wenden 
wiirde, und das miiste ich bei der kiirze des semesters und einer 
sechsstundigen vorlesung — wie ich 30 vorlesungen in dem reste 
des semesters nachholen soUte, wuste ich nicht auszudenken. 

Mit besten wiinschen fiir volliges ges unden in treuer liebe 

Halle den 15 ten april 1846. H. Leo. 

38. 

Sie werden mir bose sein, theuerster freund , daB ich Sie so 
lange habe auf den versprochenen aufsatz iiber Niebuhr warten 
lassen . . Es thut mir leid, daB ich dabei nicht so ganz mit der 
sprache heraus konnte — ich hatte in beziehung auf manches gern 
harten, hohnenden tadel ausgesprochen , denn hie und da hat sich 
Niebuhr persbnlich Wunderlich gehen laszen und in vielen partieen 
ist es sichtbar wie der ledernste liberalismus zugang zu ihm ge- 
funden hat. Allein einmal im allgemeinen halte ich es nicht fiir 
gut, wenn die evangelische kirchenzeitung immer nur an den der 
nation hoch stehenden mannern tadelt , und zumal hier wo neben 
dem tadel doch auch wirklich hohes lob zu spenden war — und 
sodann ins besondere hielt ich es in diesem falle nicht fiir gut, 
wo einem jeder in den ziigel fallen und sagen kann, was Du da 
niederreitest ist gar nicht Niebuhr , sondern es sind seine nach- 
schreiber. Bei durchlesung des aufsatzes werden Sie sehen, wie 
ich mir zu helfen, der wahrheit genugzuthuen und doch Niebuhr 
selbst moglichst aus dem spiele zu laszen gesucht habe . . 

Halle den 26 ten Mai 1846. In treuer liebe H. Leo. 



Die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 

Von 

R. Reitzenstein. 

Vorgelegt in der Sitzung voni 23. Juni 1917. 

1 . 

Lie Anregang zu der nachfolgenden Untersuchung gab mir 
vor einer Reihe von Jahren Rr. Meineckes gedankenreiches Bach 
‘Weltbiirgertuin und Nationalstaat, Studien znr Genesis des deut- 
schen Nationalstaates’, das mir eigene, sehr unznlangliche Versnche 
in die Erinnerung zuriickrief, die politische Bedeutung zweier 
Schriften Ciceros zu erkennen. Ich habe sie dann im Eriihling 
1912 zum ersten mal einem kleineren Kreis in Freiburg*) und 
spater den Collegen in Gottingen vorgetragen; vor der Veroffent- 
lichung schreckte mich ab, dab die Ergebnisse uberwiegend bekannt 
sind und ich nur in ihrer Begriindung und Verkniipfung Eigenes 
bieten zu konnen glaube. Die Grundfrage freilich, ob vor Augustus 
schon eine bestimmte Idee des Principates bestand und in welchen 
Elreisen und unter welchem Einflub sie sich zunachst gebildet hat, 
scheint in dieser Form noch nicht aufgeworfen *). Um ihre Bedeu- 
tung klarzusteUen, darf ich vielleicht von dem uns naheUegenden 
Beispiel, der Griindung des neuen deutschen Kaisertums, ausgehen, 
mich aber dabei auf die Darstelltmg in den Gedanken und Erinne- 
rungen Bismarcks ®) beschranken, ohne auf die historischen Fragen, 

1) Ihre Erganzung bildete mir damals der Versucb, die planmaBige Arbeit 
an der Erweckung eines italischen Nationalempfindens in der augusteischen Zeit 
zu schildern. 

2) [Auf Berbhrungen mit Birt, Romische Cbarakterkbpfe - S. 137. 206. 210 
A. 1 -werde ich nachtraglich aufmerksam. Doch unterscheiden wir uns stark in 
der Auifassung und Herleitung des Principats.] 

3) Bd. II Kap. IV S. 115 ff. 


27 * 



400 


R. Reitzenstein, 


die an sie kniipfen, einzugehen. Bismarck tritt nach seinem Be- 
richt bei der notwendigen Erweiterung des Norddentschen Bundes 
mit aller Kraft fiir die Einfiihrimg des Kaisertitels ein , weil er 
ein werbendes Element fiir Einheit and Centralisation biete; er 
erwartet von dem Titel einen festigenden Druck anf die Reichs- 
institntionen nnd betont, welcbe groBe Schwnngkraft in dem Worte 
liege ^). IJm seinen koniglicben Herren zn zwingen , seinen auf 
den Traditionen des PrenBentnms bembenden Widerstand aufzn- 
geben, veranlaBt er den Konig von Bayern die zugesagten, aber 
noch nicht ratificierten Concessionen von der Annahme dieses Titels 
abhangig zu machen. Sie gelten nnr dem dentschen Kaiser, aber 
nicht dem Konig von PreuBen. Granz aufier acht bleibt in dieser 
Darstellnng die unmittelbare Vorgescbichte der Kaiseridee, die 
den Widerstand Konig Wilhelms erst erklart nnd die Annahme 
des Titels bedentungsvoll macht. Mit Recbt ist sie von den Zeit- 
genossen als die Versohnnng von Nord nnd Slid nnd zugleich als 
nachtragliche Rechtfertigung der friiheren Gegner Bismarcks, also 
fiir ihn als sittliche Tat, empfunden worden 

Die Erinnerung an diese Tatsachen rechtfertigt zunachst wohl, 
wenn im Folgenden der Titel besondere Beachtnng iindet. Auch 
ist eine Ideengeschichte ohne Wortgeschicbte fiir die altere Zeit 
ja nnmoglich. Sie rechtfertigt zngleich aber wohl , da6 im Eol- 
genden die staatsrechtliche Stellung des spateren Principates auBer 
Acht bleibt. Es gilt gerade zwischen der Idee selbst nnd den 
auBeren Formen, in welchen der praktische Staatsmann sie spater 
verwirklicht, moglichst scharf zu scheiden®). Lebt doch bis zu 
einem gewissen Grade die Idee auch nach ihrer Verwirklichung 
selbstandig fort und iibt, wie gerade das gewahlte Beispiel zeigen 
soli, weiter ihren EinfluB. 

Ueber die Worte princeps und principatus hat im Grunde schon 
Mommsen das Nbtige gesagt; sie driicken ausschlieBlich den all- 


1) Auch der Hinweis auf die Befiirchtung des Kronprinzen, daB damit das 
neue Kaisertum dem rdmischen Kaisertum Karls des GroBen angeglichen werde, 
auf seinen Wunsch, den Titel Konie der Deutschen wieder zu erwecken und seine 
Annahme zu erzwingen, sowie auf Bismarcks Kritik, daB die Anwendung der 
Starke PreuBens in der damaligen Gegenwart die Schwache der Zukunft Peutsch- 
lands geworden ware, ist mir fur meinen Zweck nicht gleichgiltig. 

2) Ein Gegenbild im Kleinen bietet die Verhandlung mit v. Unruh vor dem 
Kriege gegen Oesterreich , in der Bismarck das Ersuchen um Indemnitat schon 
vorbereitet. 

3) Auf die letzte Darstellnng von 0. Th. Schulz ‘Das Wesen des romiscben 
Kaisertums der ersten zwei -lahrhunderte', Studien zur Geschichte u. Kultur d. 
Altertums VUI 2, Faderborn iniG sei beilautig verwiesen. 



die Idee des Principals bei Cicero nnd Augustus. 


401 


gemein anerkannten Zustand aus, daS jemand in dem Staat an 
Wiirde nnd EinfluB besonders hervorragt; so ist princeps weder als 
Titel noch als Anrede zunachst im Gebranch oder bezeichnet princi- 
patus irgend eine Funktion oder ein Amt. In republikanischer 
Zeit heifien principes die Manner, auf welche man besonders hort, 
also bei Beratungen des Consuls wohl die Manner, die vor ihm 
einmal das bochste Amt bekleidet haben and die Tradition ver- 
treten, in der Umgangssprache alle irgendwie Bevorrechteten, die 
Adligen, die Senatoren, kurz die Spitzen *). In der Einzahl erscheint 
das Wort etwas seltener, dock spricht man zu aller Zeit von dem 
besonders angesehenen Manne als princeps civitatis {princeps civis), prin- 
ceps in re puhlica oder in rebus publicis ^). In den Parteikampfen der 
letzten republikanischen Zeit seheint sich hiermit eine feste V orstel- 
lung zu verbinden, and zwar seltsamer Weise sowohl bei Demokraten 
wie Aristokraten. Ein Aristokrat ziimt ; Caesar ist so verblendet, 
daB er seine Herrschaft fur einen Principat halt ®). Ein Demokrat 
lobt: Pompejus will lieber mit dem guten Willen des Volkes prin- 


1) Vgl. den Gebrauch bei Cicero De repuhlica, wo es ganz fur aptstot, electi, 
optimates, senatus eintritt. Ich stimme M. Gelzer ‘Die KobUitat der rSmischen 
Kepublik’ S. 35 if. nicht ganz zu; seine Listen vereinigen V'erschiedenes. Doch 
erkenne ich gem das Verdienst der Erorterung an, die einen von dem meinigen 
verschiedenen Zweek verfolgt. 

2) Ich erwahne als charakteristiscL etwa Cicero ep. I 9, 11 ego si ah im- 
prohis et perditis civibus rein public am teneri viderem . . . cum aufem in 
re publica On. Pompeius princeps esset vir, is qui hanc potentiam et 
gloriam maximis in rem puhlicam mentis praeslantissimisque rebus gestis esset 
consecutus (Cicero hat seine dignitas friiher gefordert und ordnet ihr jetzt in 
manchem seinen Willen unter ; einem Cinna wiirde er sich nie angeschlossen haben). 
Charakteristisch ist, wie oft Pompejus als princeps bezeichnet wird. 

3) Cicero De off. I 26 temeritas C. Caesaris, gui omnia iura divina et hu- 
viana pervertit propter eim, quern sibi ipse opinionis errore finxerat prin- 
cipat um (es ist vielmehr doJninaius), vgl. I 13 adpetitio psincipatus (in lobendem 
Sinn, fast voile Freiheit), I nimia cupiditas prindpatus {crklait princeps omnium 
vel potius solus esse-, dabei kann die aequitas nicht gewahrt bleiben). Charak- 
teristisch ist I 86 gravis et fortis civis et in re publica dignus prindpatu (er halt 
sich den Parteien fern und strebt nicht nach Macht und EinfluB, sondern will 
nur dem Staate dienen und stellt die Gerechtigkeit iiber alles). DaB hier Panaitios 
wirkt, macht die Stellen wichtig. Charakteristisch ist ferner P7u7. XIV 17—18 
utinam quidem illi principes viverent, qui me post meum consulatum, cum eis ipse 
cederem, principem non inviti videbant (der principatus beruht auf freiwilligem 
Nachgeben der andern) . . quod si quis de contentions principatus laborat, quae 
nulla debet esse, stultissime facit, si vitiis cum virtute contendit (das ist, wie das 
Folgende zeigt , gegen die dignitas, also Widersinn) ... ego enim malis sententiis 
vinci non possum , bonis forsitan possim, et libenter (nur der innerlich Beste ist 
princeps). 



402 


E. Reitzenstein, 


ceps sein, als mit den Fiihrern der Coterien dominiis ’). Das Wort 
wird meist im lobenden Sinn von einem dem Staat niitzlicben. auf 
sittlichem Streben begriindeten EinflnB gebraucht oder bezeichnet 
den Gegensatz zn einer auf Gewalt begriindeten, driickenden Herr- 
schaft. Das laBt sich naturlicb ans dem Wort selbst herleiten ; 
der BegriiF primus setzt die pares fast vorans. Aber notwendig 
ist gerade diese Betonung nicht; sie fehlt ja auch ahnlichen Be- 
gritfen im Griecbischen (:tpwtoc iroXsco?). Es scheint danach, 
daB die Idee eines Principats damals bereits bestand nnd an sich 
mit der repnblikanischen Verfassung vereinbar schien. hlindestens 
lohnt es diese Vermutung genaner zu priiten. 

Es ist seltsam, daB man znm V erstandnis des politischen Den- 
kens der Zeit die einzige groBere politische Schrift noch gar nicht 
benutzt hat, die nns ans ihr wenigstens in gewaltigen Triimmern 
erhalten ist, eine Schrift, die zur Bettnng der Repnblik nnd der 
nationalen Tradition fiir Rom einen Principat fordert und sich in 
ihrer Tendenz als Lehrbuch fiir den erhofften Princeps gibt. Wie 
wir dies nach den sprachlichen Beobachtungen erwarten miissen, 
stellt sie diesen Princeps in Gegensatz zn dem Gewaltherrscher 
nnd entwickelt eine republikanisch-aristokratische Idee 
des Principats als der Leitung eines sittlich begriindeten freien 
Staatslebens eines weltbeherrschenden Volkes. Es ist Ciceros Werk. 
De re publica, das er gegen die Machtpolitik Caesars als Appell an 
die Besten des Volkes und zugleich an die principes um Beginn 
des Jahres 51 v. Chr. veroffentlichte ^). Erganzend treten die 


1) Sallust Hist. or. Maori 23 Pompeiuvi tantae glorias adulescentem malle 
prindpem volentibus vohis esse quam Hits dominationis socium. (Vgl. Cicero ep. 
I, 9, 11). 

2) Als Tendenz gibt er selbst Ad Attic. VIII 1 1, 1 an, er babe das Bild des 
wahren moderator rei publicae zeichnen wollen, quo referre celinnis omnia. In 
der Tat ist das der Hauptinhalt des ersten Werkes und erklart seine Anlage ; so 
kann z. B. die Erorterung uber Gerechtigkeit und politische Klngheit (Buch III) 
erst eingefuhrt werden, nachdem II 51 und II 67 die Stellung dieses Mannes 
innerhalb des Staatslebens dargelegt ist (die Anknupfung an Plato wirkt nur 
anfierlich mit). Er wird geradezu als qmnceps bezeichnet V 9 {prindpem dvitatis 
gloria esse alendum, et tarn diu stare rent publicam, quam diu ab omnibus honor 
prindqn exhiberetur, doppelt bezeugt). Von hier empfangt die Betonung, dad Scipio 
selbst princeps rd publicae ist (I 34), ihre Bedeutung; er heifit so nicht als Con- 
sular (das waren andere Unterredner auch) sondem als jener princeps dignitate, 
den das Werk verlangt. Die Schilderung der dissensio civium nach der Ermordung 
des Ti. Gracchus (VI 1. I 31, vgl. 32) ist so gehalten, daB sie direkt auf die 
Gegenwart (nach der Zusammenkunft der Triumvirn in Lucca) iibertragen werden 
kann , der Preis des ‘Tyrannenmordes’ des Nasica (VI 8) klingt wie eine Drohung. 
Selbst, wenn wir nicht wiiBten, daB Cicero eine Zeit lang daran dachte, die Rolle 



die Idee des Principals bei Cicero und Augustus. 


403 


Reste der etwas spateren Fortsetzung Finzu, des nie veil zu Ende 
gefiihrten Werkes Be legihus, das, urspriinglichgleichzeitig entworfen 
nnd mehrfack wieder aufgenommen, Cicero nock vor Ausbruck des 
Kampfes mit Antonius besckaftigt zu kaben scheint ^). Die Bedeutung 
des ersten Werkes liegt nicht nur in der kiinstleriscken Vollendung, 
die Cicero selbst in keiner andem Sckrift annakernd erreicht, son- 
dem in dem Einblick, den es in das politische Empfinden der Zeit, 
ja vielleickt zugleick einer nock friikeren Zeit nnd eines fest bestimm- 
baren Kreises gewakrt. Wenn bei Cicero Laelius erwaknt, Scipio babe 
aknlich oft vor Polybios und Panaitios gesprochen (I 34), so ist der 
jetzt allgemein beliebte Schlnfi, dad es sick kier um eine ganz zwecklos 
erwaknte kistoriscke Tatsacke handle und man nur zu untersuchen 
brauche, wann diese Gespracke stattgefnnden katten -), mindestens 
nicht zwingend, ja erinnert vielleicht etwas stark an die Art, wie 
Teuffel u. a. friiker literarhistorische Fragen behandelten ®). Cicero 
benutzt nachweislick sowokl Polybios wie Panaitios , und einen 
Zweck hat jene Bemerkung nur, wenn sie erklaren soil, dad, 
was Scipio vortragt, sick stark mit den Ausfiikrungen der beiden 
Griechen beriihrt. Die Moglichkeit muB von vornkerein zugegeben 
werden, daB wir es kier nur mit einem sckriftsteUerischen Mittel 
zu ton kaben, zwei Hauptquellen anzugeben. Ist dies ricktig, so 
braucht die spatere Bemerkung (II 21. 22), daB Scipio zuerst die 
Frage nach dem besten Staat an einem wirklichen Beispiel eror- 
tere, nicht zu besagen, daB diese einschneidende Neuerung auf 


des Scipio sich selbst zu geben, durften wir die Schrift nicht eigentlich zu den 
pbilosophischen rechnen. Es ist eine politische Schrift, allerdings groBartigsten 
Stils, (vgl. meinen Aufsatz in der Festschrift zu Th. Mommsens funfzigjahrigen 
Doctorjubilaum ‘Drei Vermutungen zur Geschichte der romischen Literatur’ S. 1 f.). 
Ob man aus dem Brief Ad Attic. VIII 11,2 schlieBen darf, daB Cicero eine Zeit 
lang hoffte, Pompejus werde die Rolle des princeps in seinem Sinne spielen, mag 
dahingestellt bleiben. Der Gegensatz von princeps und dominus, principatus und 
regnim ist Ad Attic. VIII 11 klar ausgefuhrt. 

Ij DaB Bucb I Be legibus spater zugefiigt ist und der altere Entwurf mit II 7 
beoinnt, babe icb a. a. 0. S. 5 ff. ausgefuhrt. Da der Principat keine verfassungs- 
m..6i''e Einrichtung ist und mit den Gesetzen nicbts zu tun hat, tritt er notwendig 
bier zuruck. Dock ist aucb die Stimmung im ganzen eine andere ; mehrfache 
Correcturen (z. B. in der Beurteilung des Volkstribunats) sind fiihlbar. 

2) In dieser Fassung nach v, Scala zuerst bei Susemihl ‘Griech. Literatur d. 
Alexandrinerzeit’ II 73, 55, vgl. S. 65, S. 86 und 89, 44 ; angenommen von Scbmeckel 
‘Pbilosophie d. mittlern Stoa’ S. 4 und dann von Cichorius Rhein. Mus. 63, 222, 
fortgefuhrt von R. Laqueur ‘Polybius S. 247. 

3j Vgl. Leo ‘Plautinische Forschungen ” S. 63 if. Wie Cicero jene Gesprache 
kennen konnte, wird nicht gefragt. 



404 


R. Reitzenstein 


Cicero zaruckgeht ; den Anstofi hat ja offenbar Polybios gegeben; 
ob Panaitios ahnlich verfubr, ist znnachst nicht za sagen, doch 
darf man von vornherein mit der Moglichkeit rechnen, dafi er 
seine Politik ebenso veie seine Ethik fiir einen romischen Schiiler- 
kreis schuf. Die Frage nacb den Quellen Ciceros taucht also mit 
Notwendigkeit auf. Ich glanbe sie ani "inem neuen Wege etwas 
fordem zu konnen, mochte aber davor warnen, ihre Bedeutong zu 
iiberschatzen. Es ware gewifi wichtig, wenn ihre Entscheidung nns 
gestattete, die Grundanschauungen des Werkes bis ins zweite 
Jahrhnndert hinanf zuverfolgen; aber wichtiger ist jedenfalls fiir 
die Betrachtung des Principates die Tatsache, die hiervon ganz 
unabhangig ist, da6 eine scharf ansgepragte Vorstellung eines 
Prineipats schon in den Jahren 60 — 50 v. Cbr. besteht, an die Oc- 
tavian sich anschlieBen konnte. 

Der Grundgedanke beider Werke Ciceros ist, dafi die romische 
Verfassung die beste aUer denkbaren, ja die Verfassnng sei, nach 
der die Philosophie der Griechen so lange Jahrhnnderte gesucht 
babe. Das ist bekanntlich der Grundgedanke auch des Polybios 
(Buch VI), der den wunderbar schnellen Aufstieg Roms von der 
vernichtenden Niederlage, die es bei Cannae erlitten hatte, bis zur 
weltbeherrschenden Stellung seinen Volksgenossen begreiflich und 
annehmbar machen wollte, indem er ihn nicht als Werk des Zn- 
falls oder der Genialitat eines einzelnen Mannes, sondern als 
notwendige Folge der inneren Tuchtigkeit des ganzen Volkes 
erwies. Sie beruhe auf der wunderbaren Verfassung^), die 
diesem Staate die Moglichkeit gevrahre , alle V olkskrafte zu ent- 
wickeln. Vereinige sie doch in sich in vollkommenster Verbindung 
die drei einfacben Verfassungstypen, deren jeder an sich seine 
Vorziige und Gefahren habe, Konigtum, Aristokratie und Demo- 
kratie. Der Konigsgewalt entspreche in Rom die fiir den Griechen 
Staunen erregende Machtfulle der beiden Consuln, der Aristokratie 
der grofie Einflufi des Senates , der Demokratie die ausgedehnten 
Befugnisse der Volksversammlung. Jede der drei Gewalten sei 
durch die beiden anderen beschrankt und eben dadurch vor der 
Entartung gesichert, zu der sie ihrem Wesen nach neige, ja in 
die sie allein notwendig verfalle, das Konigtum in die Tyrannis, 
die Aristokratie in die Oligarchie, die Demokratie in die Ochlo- 
kratie. Infolge jener wechselseitigen Beschrankung konne in Rom 


1) Nachdrucklich wird VI 1,9. 10 betont, dafi die Verfassung die Quelle 
und Haupterklarung fiir Gliiek und Ungluck eines Staates ist; nur in der Einzel- 
ausfdhrung treten neben die vop.o> die ISt; (-17,2). 



die Idee des Principats bei Cicero and Augustus. 


405 


jede der drei Gewalten nur .die ihr eigenen Vorzuge entwickeln; ihre 
Mischung ist hier gliicblicher als in den andern Staaten, bei denen 
man denselben Versuch beobachten kann, ja Roms Verfassung 
ist die ideale Verfassung; sie hat sich in diesem Barbarenvolk 
mit Natnrnotwendigkeit geschichtlich entwickelt nnd gibt zu- 
sammen mit der unvergleichlichen Heeresverfassung diesem Staate 
das Uebergewicht iiber alle anderen, kann aber eben darum auch 
der in sich selbst ewig imeinigen griechischen Staatenwelt die be- 
harrende and gleichmafiige Kraft bieten, der sie sich nnterordnen 
nnd angliedem sollte, um zu ruhiger und gleichmaBiger Entfaltung 
zu kommen. Der Grundgedanke hangt so innig mit des Autors 
Lebenserfahrungen, seiner sittlichen Personlichkeit und dem Zweck 
des ganzen Werkes zusammen, dafi die Frage, ob er ihn von einem 
andern iibemommen babe, von vornherein unberechtigt erscheint. 
Wiirfe man sie wirklich auf, so dtirfte man nach einer philosophi- 
schen Quelle sicher nicht suchen^). Auch die Einfiihrung der ein- 
zelnen Gedanken ist, selbst wenn sie sich mit philosophischen Aus- 
fiihrungen beruhren, so unphUosophisch wie moglich : in Frage 
bonnen iiberhaupt nor die historisch belegbaren Verfassungen 
kommen; Theorien scheiden aus (47, 7); die ^roXttsia ist selbst- 
verstandlich die beste, denn so ist Lyknrgs Verfassung, welche 
sich bisher als beste und dauerhafteste erwiesen hat (3, 6 —8) ; 
gewifi soil ein langer Exkurs das zugleich theoretisch begriinden, 
aber gerade die Einfiihrung zeigt, vde wenig Polybios selbst Phi- 
losoph ist (5, 1 — 3). DaB er in seinen allgemeinen sittlichen An- 
schauungen der Stoa nahe steht und daher auch im W ortgebrauch 
bfters mit ihr iibereiustimmt ^), entscheidet noch nicht; nirgends 
geht er mit seinen Angaben iiber das hinaus , was ein gebildeter 


1) Wiederbolt betont (VI 4, 13 ; 9, 13 -/.otTa aOiiv, vgl. V’llI 2 (4, 4) 'Y'iyrJ, 
erklart VI 10, 13 (in den einzelnen Kampfen und Entscbeidungen wablten die 
Earner immer das Beste). Der Gegensatz ist , nach einer Theorie (Beispiel 
Lykurg). 

2) Der Staatsmann und Historiker spricht liberall, zugleicb der adlige Herr, 
der in seinen Empfindungen seine Vergangenheit nicbt verleugnet. DaB das Auf- 
treten der allbezwingenden Barbarenmacht ihm ein Problem bietet, ist obne alle 
Einwirkung der Pbilosopbie begreiflich. Genau so batte die Ueberlegenbeit des ab- 
soluten Konigtums iiber den Stadtstaat, die unter Alexander und den ersten Dia- 
dochen zu Tage trat, nicbt nur die Pbilosopben zur Rechtfertigung der Monarcbie 
gefiibrt. Erwiesen sich jetzt die hellenistischen Monarcbien und Bunde der Bar- 
barenrepublik gegeniiber als ohnmachtig, so muBte auch hierfur aus der Struktur 
der letzteren die innere Erklarung gewonnen werden. Was fiir den Pbilosopben der 
Zeit zunacbst ein muBiges Tbeoretisieren gevvesen ware, war fiir Pol} bios Lebensfrage. 

3) Naturlich durchaus nicht nur in diesem Abschnitt. 



406 


K. Reitzeustein, 


Laie cler Zeit notwendig wissen muBte, und die Gegner, die er 
beriicksichtigt, sind Historiker und Politiker alterer und neuerer 
ZeitM. Der geistreiche Versuch E.. Laqueurs "Polybios 1913, S. 
223 it'.), in diesem Teil zwei ganz verschiedene Anschauungen und 
pbilosophische Quellen (Dikaiarcb und Panaitios) nachzuweisen, 
scheint mir in dem Grundgedanken wie der Einzelausfiihrung un- 
gliicklicb ^). Dagegen ware es an sich dm chaus mbglich, daB die 

1) .?ie Laben Sparta und Karthago wegen ihrei' ur/.T/f r.'j.i-v.'x geruhmt. Po* 
lybios entdeckt, daS in Rom auch diese Verfassungsart , aber in nocb vollkom- 
menerer b'orm besteht. Charakteristiscb fur ihn ist, wie wenig er versucht, die 
anderen Faktoren, die er hervorhebt, Heeresverfassiiiig oder Geldverwaltung , ja 
selbst die sittlichen Anschauungen des Volkes in ein System einzuordnen. 

2) Ich kann die prinzipiellen Bedenken gegen die Metbode des mir personlich 

nahestehenden und verdienstvollen Forscbers (z, H. gegen seinen ‘Nachweis’ von 
Doubletten in stilistisch beaitsichtigteu, oft sogar notwendigen Wiederholungen) bier 
naturlich nicht darlegen. Willkurlieh scbeint mir in dem Absihnitt iiber die Ver- 
fassungen (Polybios Buch VI) zunachst S. 244 die Peliauptung, dafi VI 51 denVer- 
fasser nicht ala Anhanger einer stabilen Mischverfassung, sondern lediglich als 
Aristokratea zeige. Zur Widerlegung genugt es auf die beiden ersten Bucher 
Ciceros zii verweisen : daS das ota^ooAsisjdon Saciie der i'pisrot sein soil, gilt selbst- 
verstandlicb aucli in der .u'zvr, -oXiTEt'a. Beide Staaten , die Polybios vergleicht, 
haben die ro/'Tsm, aber in Rom ist sie noch in der dxrji/,, in Karthago nicht 

mehr (-ciofy/actCsv;: im ersten punischen Ivrioge war sie noch in beiden auf 
der Kobe (so I 13, 12: die Behandlung dieser Stelle .S, 237 und die Bebauptung, 
Poiybios erstrecke die 'jiiz-azu der romisehen Verfassung bis zur Schlacht von 
Cannae, kbnne also im ersten Kriege ibr noch nicht die cixji/, zuerkennen, sind 
willkurlieh und sebaffen kunstlich CViderspruche). Im zweiten punischen Krieg 
uberwiegt in Karthago schon die eine der drei Gewalten. DaB etwas derartiges, 
ja uberhaupt eine Veranderung in der -o'/.ixdct rein mechanisch ausgeschlossen 
sein soli, ist eine an sich vielleicht raogliche, aber dem ganzen Zusammenhang 
widerstreitende Deutung dor Stellen 10, 6 und 18, 7 ; dann durfte Polybios eigentlich 
auch nicht von einer allmahlichen Ausbilduiig einer solchen Verfassung reden. 
Laqueur wild durch das logische Verfolgen dieser Deutung naturlich gezwungen, 
uberall WiJerspruche zu finden. So scheint ibm VIII > nur die Tycbe als Ur- 
heberin der rdmiseben Verfassung bezeichnet, den Romern also jegliches Verdienst 
dabei abgesprochen, und wenn Poiybios VI 57 einsebrankend sagt, als schlechtbin 
ewig wolle er naturlich keinen .''taut und keine Verfassung bezeichnen, Gefabren 
seien immer vorhanden (am meisten voni ofjuo;), so stebt das fur ihn in direktem 
Widerspruch zu der Bebauptung, Rom babe eine oizvr, -o/.iteG Icb sebe darin 
nur den Gedanken, daB ein T:»p77.u.v7civ vielleicht auch fur Rom moslich ist und 
sich in Anzeichen spuren laCt, finde ihn schon ion Cuntz ('Poiybios und sein Werk’ 
S. 37 ff.) zu schart formuliert, wage aber dessen Hypothese einer nacbtraglichen 
besebeidenen und leicht vorstellliaren Erganzung im Hinblick auf 57, 5 uiebt direkt 
zu widersprechen. DaB Poiybios jemals geglaubt babe, wenn ein Staat von der 
Tycbe eine at-xtr^ -z'/izda bekommen babe, brauche er fur ihre Erbaltung nichts 
zu tun und babe selbst kein Verdienst an seinem weiteren Erbluhea, ist ein mir 
unmoglicber Gedanke (vgl die Kritik an dem spartanischen Staat, das Lob der 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


407 


Darlegungen des Polybios, die ja auch fiir romische Leser berecbnet 
waren (VI 11, Sff.), von einem Philosopben, der spater fiir denselben 
Kreis scbrieb, zugrnnde gelegt, erganzt und kritisiert warden. 
Das konnte dann nach Lage der Dinge nur Panaitios gewesen 
sein. Was mick zu dieser Vermutung veranlaBt, ist die Beoback- 
tung, dak die beiden ersten Bucher Ciceros nicht nur die Grrund- 
ansckauung des Polybios zur Voraussetzung kaben, sondern auck 
bestandig an ikm Kritik iiben, und zwar eine Kritik vom Stand- 
punkt der mittleren Stoa, und dak die leitenden Gesicktspunkte 
dieser Kritik auck alle nachfolgenden Bucher beherrschen. Cicero 
bietet wirblich ein grokes einkeitliches System, das auf den Tat- 
sachen aufgebaut ist, die Polybios beobacktet hat, sie aber in ganz 
neuem Sinne verwertet. Dak er ein Werk des Panaitios benutzt 
hat, ist sicker ; dak er es fiir das ganze Werk De re puhlica zur 
(jrundlage genommen hat -), lakt sick nur dnrck den Zusammen- 
hang des Systems und sein Verhaltnis zu Polybios beweisen. Ich 
schicke, eke ick den Inhalt des ciceroniscken Werkes zu skizzieren 
versuche, voraus, worauf sick die Kritik an Polybios hauptsacklich 
richtet. 

Die unklaren Ausdriicke, in denen Poly bios von dem Werden 
der romischen Verfassung spricht, werden direkt anfgenommen ®), 

eSr, in Rom, die Bemerkungen uber die Einsicht des Senats u. a.), Laqueur fubrt 
ihn konsequent durch. Die Theorie vom stabilen Gleichgewicht widersprieht nach 
ihm schroff der Lebre von einer notwendigen Entwicklung und einem Kreislauf 
der Verfassuiigen; also beruhen die entsprechenden Abschnitte auf verschiedenen 
Quellen (Dikaiarch und Panaitios). Dafi die Gleichgewicbtstheorie der pcatf, von 
Anfang an auf der Lebre von einer notwendigen Degeneration der einfachen Ver- 
fassungstypen beruht und dad Panaitios, den er fiir letztere als Quelle des Po- 
lybios bezeichnet, nachweislich die p.!/.Tr, -oXi-zit verlangte, beriicksichtigt La- 
queur nicht. Doch tragt der m. E. methodisch verfehlte Versuch trefflich dazu 
bei, die Kritik, welche Ciceros stoische Quelle an Polybios iibt , verstandlicb zu 
maclien. Ich hatte sie fiir mich festgestellt , lange bevor ich Laqueurs Ausfiih- 
rungen genauer priifen konnte. 

1) Fiir die ersten Bucher hat dies bekanntlich A. Schmeckel ‘Die Philosopbie 
der mittleren Stoa’ S. 47—85 schon vermutet. Seine Begriindungen iiberzeugen 
mich nicht immer. Ganz unglucklich scheint mir der Versuch, das Werk des 
Panaitios vor Polybios zu rucken (S. 64 — 66). Allgemeiuplatze wie der uber den 
Unterschied von Tier und Mensch (Polybios VI 6, 4, De o/)ic. 1 11— 14) besagen fiir 
die Benutzung eines bestimmten Werkes nichts. 

2) Natiirlich mit starken eigenen Zntaten. Cicero hat an dem Werke lange 
gefeilt und viel gelesen. Nur um die Grundanschauung handelt es sich fur mich. 

3) Vgl. II 30 in optimum staium natwali quodam itinere et cursu venientem 
.... non fortuito populum Eomanum sed consilio et disciplina confirmatum esse, 
nee tamen adversante Fortuna. Die beiden Schlagworte xava tpoiiv und vr/r^ sind 
hier beriicksichtigt; das erste empfangt die Umdeutung ‘in organischer Entwick- 



408 


E. Reitz enstein, 


aber zu einer neaen Anschaaung des Begriffes ‘historisch geworden’ 
umgebildet, der die Darstellung voa der ersten Einleitang an 
beherrscht. Hatte Polybios selbst erklart, da6 die Verfassung 
sich bildete, indem die Romer in den inneren Kampfen and Schwie- 
rigkeiten stets den besten Answeg wahlten, so betont der Ver- 
fasser : den Ansschlag hat also von Anfang an immer die Einsicht 
des einzelnen Mannes gegeben. Mit diesem streng durchge- 
fiihrten Gesichtspunkt hangt die weitere Polemik zusammen: es 
ist falsch, auf die Verfassung aUein aUes Gewicht zu legen. 
Das Konigtum z. B. wird erfahrnngsmaBig nicht dadurch zur Ty- 
rannis, da6 ein Konig neue Rechte beanspracht. sondem dadurch, 
daB ein Konig die uberkommenen Rechte in ungerechter Weise 
auslibt. An der Person, nicht an der Institution hangt alles; der 
sittliche Charakter des einzelnen Mannes entscheidet dabei^). 
Sittliche Gesnndheit der leitenden Manner nnd des Volkes kann 
auch bei unzulanglicher Verfassung einen Staat gesund und seine 
Politik richtig erhalten ^). Daraus aber folgt weiter: k ein e Ver- 
fassung kann sich selbst oder das Volk vor Entartnng schiitzen, 
auch die [nzT-ij ■KoXitsia nicht, wenn sie auch die relativ sicherste 
ist. Immer bedarf es des einzelnen Mannes, des conservator rei 
puMkae, der dem Volk die sittliche Gesundheit erhalt. Es ist die 
Kritik des Philosophen an dem praktischen Staatsmann, der die 
entscheidende Eolgerung aus der phRosophischen Behandlung der 
Staatslehre nicht gezogen hat, daB die Hauptaufgabe des Staates 
die Erziehung zur Sittlichkeit (Gerechtigkeit) ist. — Eng verbindet 
sich hiermit ein weiterer Gesichtspunkt : es muB ein festes Kri- 
terium dafiir geben, ob eine Verfassung besser oder schlechter 
sei ; die Lobspriiche der einen oder anderen in der Literatur (die 
testiiHonia), auf die sich der Praktiker allein beruft, geniigen nicht. 


lung und von innen heraus' (ohne gewaltsame Uebertragungen fremder Idesn) ; an 
dem poljbianischen Gegensatz sijet — ri-jm wird dabei Kritik geubt (vgl. die feine 
Bemerkung Diltheys, Archiv f. Geschichte d. Philosophie IV 617). 

1) Vgl. U 51 non nocam potestatem nactus, sed, quam habebat, usus iniuste, 
vgl. U 45 ft'. Da Oligarchie und Ochlokratie spater ebenso als Tyrannenherr- 
schaften bezeicbnet werden , trifft das Gleiche auf alle Degenerationsformen zu. 
Ueberall ist die Ungerechtigkeit in der Ausubung des bestehenden Recbtes Anhalt 
und Ausgangspunkt (iiber Polybios \gl. oben S. 404, 1. 406, 1). 

2) So die voile Demokratie in Rhodes (III 4S). Hier ist zugleich die Quelle 
klar GewiB konnte an sich Cicero selbst die Beobachtung gemacht haben ; aber 
zu jenem Lobe, das hier der aristokratischen Neigung des Pelybios entgegenge- 
setzt wird, hatte er schwerlich Grund, und nimmer hatte er Rhodes als Ver- 
treterin der Demokratie sogar vor Athen genannt, wie dies I 47 geschieht. An 
beiden Stellen ist Panaitios als Quelle sicher. 



409 


die Idee des Principals bei Cicero nnd Augustus. 

wir bediirfen argumenta. Das Kriterium bietet die Vemunft, in- 
dem sie uns zwei ideale Vorbilder der harmonischen Znsammen- 
fassnng aller Krafte zu gegenseitiger Forderung zeigt, die von 
Gott regierte Welt und den von derVemnnft regierten Weisen ^). 
Wenn daher bei Polybios das Konigtnm wobl als alteste , aber 
durchaus nicbt als beste der drei einfachen Verfassnngsformen er- 
scheint, so mn6 der Philosoph es von vornherein als die an sich 
beste Form bezeichnen ^). Nur weU die sittliche Entartung eines 
einzigen Mannes geniigt, es zur schlechtesten zn machen, ist die 
[t’-xfij zoXitsi'a notwendig und sogar besser. Aber auch sie wird 
das Lob nur verdienen, wenn sie einer Art Monarchie in anderer 
W eise Kaum labt , d. h. wenn sie die geeignetste Form fiir den 
dauernden EinfluB des besten Slannes darstellt’). 

Priifen wir unter diesen Voraussetzungen die Darlegung Ci- 
ceros. Die personliche Einleitung mahnt — - im Gegensatz zu be- 
stimmten philosophiscben Lehren — znm Staatsdienst , nennt das 
Thema und rechtfertigt, dafi gerade Cicero es behandelt (1 — 13); 
der einleitende Teil des Gespraches hebt in der Rede des Laelius 
(§ ilO) die Etbik und vor allem die Staatslehre als den Teil der 
Philosopbie hervor, den zu pflegen dem Romer anstehe; Scipio 
ubernimmt auf Bitten die Aufgabe, als princeps civitatis, zngleich 
aber als Kenner der griechischen Theorien fiir Romer eine Staats- 
lebre zu geben. Er beginnt (§ 39) mit der Definition der res pu- 
hlv:u als res pupidi und des pupulus als coetus (a6atYjp.a) imiltitw.Hnis 
nil is conseitsii et utihtatis conimaniGne sodatus, dann mit der Her- 
leitnng dieser Vereinigung aus dem Gesellschaftstrieb Der Staat 


1) Dieser Kritik dient ziinuclist der gauze Abscbnitt I .54 ff., der schein’uar 
ubertiussig eingelegt ist, Ihm niussen die Ausfuiirungen, die II 6G beginuen, ent- 
^prochen haben. Die stoisclie Quelle ist klar. 

2) Der Gedanke ist an sich so unromisch und dem Cicero widerstrebend 
wie meglich. Wo er hervortritt, bezeugt er eine einbeitliche griechische Quelle. 

3) Wenigstens so viel muBte klar sein, daB in dieser philosophiscben Um- 
Mldung des polybianischeu Systems die SasiXsioc nur auBerhch durch das Doppel- 
kunigtum der beiden Jal.resbeamten vertreten sein kanu. A'ur der praktische 
btaatsmami, nicbt der Philosoph konnte hierauf kommen. Lctzterer muBte die 
Eiuheitliehkeit der Leitung in der dauernden Stelluiig eines JIannes suchen. 

4) Eine klare Polemik gegeu Polybios liegt in den Worte (§ 30) pnma 
causa coeundi est non tain imbecillitas quam naiuralis quaedam hominum con- 
yregatio (gewiB ist die imbecillitas damit als Nebengrund anerkannt, aber bei 
Polybios VI 5,7 ist sie der Hauptgrund, ja der einzige; denn die Erwahnung des 
wji und XoYt 3 (j.o; VI 6, 4 hat mit dem Gesellschaftstrieb, den Cicero dann sofort 
besprii ht, nichts zu tun ; vollig verkehrt ist es, Lattanz Inst. VI 10, 10 und 10, 13 — 17 
auf Cicero zuruckzufuhron ; nur 18 ist er benutzt). Kein PIttz ist fernei' bei 



410 


E. Keitzenstein 


schlieBt an die G-riindung der roXt? tind verlangt von Anfang an 
die Verfassung, deren Zweck ist, das Ziel der Vereinignng immer 
dnrchzusetzen. Drei einfache Typen bieten sich , keiner an sich. 
fehlerlos und vollendet, aber doch ertraglicb, Konigtum. Aristo- 
kratie und Demokratie. Mit jeder dieser drei Verfassungen sind 
notwendig Mangel verbunden (die res piihhca ist in ihnen nicht 
voll rec po'puli oder die Gerechtigkeit nicbt aeqiiabilis) und jeder 
baftet vor allem ein Gr und Libel an. die Gefahr der Entartung in 
Tyrannis, Oligarchie oder Ochlokratie (§ 44). Daher gehen sie be- 
standig in einander iiber und es entsteben jene Kreislaufe gesetz- 
mabig sicb andernder Verfassungen, die der Pbilosoph kennt und 
der Staatsmann kennen sollte, urn die Zukunft seines Staates zu 
berecbnen und das StaatsschifF richtig zu lenken (§ 45) '). Daher 
sei eine vierte Art’), namlich die ftixtij roX'tsLa die beste. Scipio 
will gleicb zu ihr iibergehen, aber Laelius bittet vorber um ein 
Werturteil iiber die drei einfachen Typen: es werde auch fiir die 
Erkenntnis des vierten von biutzen sein^). So wird zunachst die 
minderwertigste, die Demokratie, welche wenigstens die liherhis 


Cicero fur die von Pol\l>ios breit geschilderte aovoip/ia des Starksten. Das Heerden- 
leben der Mensclien ^^-ird niir kurz erwahut, veil der Gesellscbaftstrieb schon in 
ihm die Eintracht herstellt, die fur die cicitas notig ist. Aus ihm mu6 (etwa wie 
in De leg. I, besouders § 33j das Rechtsempfinden umnittelbar abgeleitet sein. 
Die Lucke vor § 41 (nur ein Blatt) ist ferner so klein, daB fiir die Erklarung 
der Entstehung des sittlicben Empfiudens , die Polybios in selbstgefalliger Breite 
vortragt, uberhaupt kein Raum ist. Dagegen zeigt der Yergleich des verstiimmelten 
Anfangssatzes von § 41 mit De legibus I, daB zu Anfang von § 41 dem Sinne 
nach zu erganzen ist: [neqae iilla est gens tarn fera ajjnd quam non iustitiae 
quae}dam quasi Semina neque reliquamm virtiitiim nee ipsius rei publicae repe- 
riatur ulla institutio. Der Staat wird von Anfang an mit den semina virtutum 
in uus, besonders mit den semina iustitiae in Verbindung gebracht; dann geht 
die Schilderung von den blofien coetus sofort znr Stadtgriindung iiber {hi coetus 
igitur hac de qua exposui causa instituti — es ist der Gesellscbaftstrieb, und er 
allein — sedem primum . . . constitaeruut). die Stadt verlangt die Verfassung. 
Scbmeckel, der sowobl Cicero wie Polybios aus Panaitios herleiten mochte, mis- 
deutet bier bestandig beide und wirit zwei ganz versebiedene Tbeorien durcheinander. 

1) Die Berubrung mit Polybios VI 4, 11 ; 5, 1—9, 13 ist klar , aber Polybios 
kennt nur einen Kreislauf, Cicero erwahnt schon bei dieser beilauiigen Bemer- 
kung versebiedene orbes et circuities. 

2) Cicero zahlt also die Entartungen nicbt als selbstandige Typen (wir boren 
spater, daB sie im Grunde eins sind, Tyrannis, Aufbebung der Gerechtigkeit und 
damit des Staates). Es ist ein prinzipielier Gegensatz zu Polybios. 

3) In der Tat wird neben dem libertreibenden Preis auch der wirkliche 
Vorzng jedes der drei Typen geschildert. Der Teil, welcber in seiner Gesamtbeit 
eine Kritik an Polybios iibt, ist nicht Einlage, sondern fiir den xAufbau unbedingt 
notwendig. 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


411 


bietet, besprochen (47 — 50); dann die Aristokratie , die. wenn die 
sittlich und intellektuell Besten gemeint sind , sowobl die W ohl- 
fabrt der Burger wie die wahre Gerechtigkeit (aequabilitas) besser 
sicker stellt (51 — 53)^), eudlich, durch eine erneute Frage desLae- 
lius und eine besondere Einleituiig abgehoben, der Preis des Konig- 
tums. Philosophiscb wird gegen den Vertreter des Altromer turns, 
Laelius, erwiesen, dad es in seiner idealen Gestalt die beste Ver- 
fassnugsform sei'^). Nur dad die sittliche Minderwertigkeit eines 
Mannes geniigt, urn alles Staatsleben aufzubeben, ist seine Scbwache 
(54 — 64). Da daher auch Scipio es in der Praxis nicbt befiir- 
wortet, greift Laelius auf jene friiher nur erwahnte GesetzmaBig- 
keit der Verfassungswecbsel zuriick nnd mochte iiber sie Naheres 
hbren. Scipio verspricht eine voile Darlegung fiir spater®), wenn 
er erst das Wesen der [i'xrij TtoXitsia dargelegt haben werde, die 
freilich selbst diesem Wechsel am wenigsten ansgesetzt sei. Fiir 
jetzt werden nur einzelne Proben herausgegriifen, die Cicero Ge- 
legenheit zur Einlage glanzender Uebersetzungen aus Plato geben 
und zugleicb auf die romische Vergangenheit oder Gegenwart ge- 
deutet werden konnen*). Dann schlieBt Scipio zuriickgreifend 
(§ 69), daB das Konigtum zwar die beste der einfacben Verfas- 
sungsformen sei, aber dock minder gut als eine Miscbung aller drei 
Formen. Sie wahre die libeiias ^) und babe die beiden weiteren 
Vorziige groBerer Festigkeit und groBerer Gerechtigkeit®). Es 

1) Zu beachteu ist, wie viel aus ihrem Lobe in der spateren Sehilderung 
des Principates wiederkehrt. Das ist innerlicb begrundet, oowto; (sittlich) kann 
nur Einer sein. 

2) DaB in § 50 auf die ti-ia genera iheologiae des Panaitios bezug genommen 
werde mufi ich leider Scbmeckel bestreiten; er scheint mir die Worte fabularum 
similia zu misdeuten. — Wichtigkeit hat fur alles Folgende der § 60 in qua {re 
puhlica) si in plures translata res sit, intellegi iam hcet nullum fore quod praesil 
imperium, quod quidem nisi unum sit, esse nullum potest (der Begriff des im- 
perium verlangt die Einheit; vgl. Tacitus Ann. 16). Der Preis der Monarchie 
bildet tatsachlich die Grundlage des Systems. 

3) Dies scheint vollig von Schmeckel u. a. ubersehen. Offenbar werden wir 
auf den ersten Teil von Buck VI verwiesen (vgl. VI fr 1 prudentiam huius rec- 
toris, quae ipsum nomen hoc nacta est ex protidendo mit I 45 prospicere impen- 
dentis). Ein Vergleich der folgenden Beispiele mit Polybios ist daher iiberhaupt 
unmbglich. Wir sehen nur, daB Ciceros Quelle auch bier mehrere gesetzmafiige 
cursus mutationum kennt. 

4) Besonders auf die Parteiherrschaft unter Sulla und die Zueellosigkeit 
der Demokratie, in deren Fiihrern Cicero schon jetzt das Streben nach Tyrannis 

gewahrt. 

5) Das ist in § 69 allerdings nur angedeutet {aequabilitatem . . qua carere 
diutius vix possunt liberi), dock vgl. § 47 und die Vorbereitung in § 43. 

6) Vgl. § 69 aequabilitatem quandam magnam. Der Vorzug ist bei der Er- 



412 


R. Reitzenstein 


miisse daher in dem Staat eine eiaheitliche Spitze, eine Art Konig, 
geben, sodannprbjcf^es von besonderem Ansehen {auctoritas), endlich 
bestimmte Rechte der Biirgerschaft. TJm nicht zu sehr ins Theo- 
retisieren zu geraten, wolle er im folgenden Teil die Beschreibung 
dieser Verfassung an dem Beispiel des romischen Staates geben 
und damit zugleich dessen urspriingliche V erfassnng als die denkbar 
beste erweisen. Von einer gegenseitigen Beschrankung und Bin- 
dung der drei Gewalten ist hierbei nicbt die Rede^). 

Das zweite Buch gibt in seinem ersten TeU, oifenbar in Ri- 
valitat mit Polybios, die Schildernng, wie sick Roms Verfassung 
historiscb entwickelt hat®). Die Siedlnng der Arkader und die 
Ankunft des Aeneas muBte wegfallen, damit die Grriindung Roms 
das einleuchtende Beispiel wird, wie ein Staat yuoet entsteht: die 
Kraft macbt den einzelnen zunachst zum Fiihrer einer zerstreuten 
Menge, die Weisheit zum Griinder der entwicklungsfahigen Stadt 
und ihrer ersten Verfassung, die rasch ihre Entwicklung in der 
Richtung einer p-cxti] iroXecsia nimmt. Einen Hbbepunkt erreicht 
die Darstellung bei dem Ende der Konigsherrschaft (§45 if.), und 

■vvabnung der Aristokratie bieit gescliildert (vgl. § 53 die aeqiiahilitas verlangt 
den dilectus dignitatum, sonst ist grade die aeguitas in Wahrheit iniquissima. vgl. 
die Vorbereitung in § 43 aequabilitas est iniqua , cum hahet nullos gradus digtii- 
tatis). Die Festigkeit, die gegemiber dem Kbnigtum betont wird, beruht darauf, 
daB nur eine groBe L as terhaf ti gkeit aller j>rincipes diesen Staat 
erschuttern kann (vom Volke ist bezeicbnender Weise nicht die Rede). 

1) Schmeckel finder sie freilich am Scblufi des § 69 nmi entm est causa 
cowersionis, ubi in suo quisque est gradu firmiter coUocatus, et non subest, quo 
praecipitet ac decidat. Ich sehe darin nur die Betonung der nach der dignitas 
verschiedenen Stellung; dieser Begriff, der spater niiber zu besprechen ist, tritt 
immer mehr in den Vordergrund. 

2) Cicero knupft die Betrail.tung an ein AVort des Cato, das Scipio selbst 
gehort haben will, und verweist zugleich auf die Origines ; da auBerordentlich 
oft literariscbe Citate in ccTO-.pilr/u.'Krce umgewandelt sind (ein Beispiel bietet Tacitus 
Ann. VI 6j und die Einzelausiuhriing sicher nicht aus Cato stammen kann (vgl. 
die skizzierte Entwicklung .Athens), wird man einen Gedanken der Origines als Grund- 
lage annehmen durfen. Laqueurs \ ermutung, es handle sich um eine echte miindliche 
AeuBerung Catos, die dureh Scipio dem Panaitios und durch dessen' Werk dem Polybios 
liekannt gewordeu sei und nun die Grundlage seiner Betrachtung bilde, ist mehr 
kunstiicli als wabrscheinlich und ruckt das Verhaltnis zwischen Cicero und Poly- 
bios in falscbes Licht. Polybios stellt nur Lykurgs Verfassung der romischen 
gt genuber (VI 10, 12 ft’.); letztere ist nicht v.d t/.yj'j, auf Grund der Einsicbt eines 
Alannes, eutstanden, sondern hat sich in Kampfen allmahlich herausgebildet T>as 
brauchte er nicht von Cato zu erfahren, und mehr sagt er nicht. Erst der Phi- 
losopb, der Rom als den Idealstaat hinstellen will, kann sagen, daB dies die einzig 
richtige Entstehungsart der besten Verfassung ist. Er kann es freilich nur, wenn 
die Aufgalje der ein/elnen Staaten und .Menschen sich fur ihn nach ihrer Indivi- 
dualitiit bestimmt, wie fur Panaitios. 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


413 


Scipio mahnt ausdriicklich. auf diese erste TJmwalzung zn achten : 
id eiiim est caput civilis pmdentiac, in qua omnis haec nostra versatur 
oratio, videre itinera flexusque rerum pitblicarum, ut, cum sciatis quo 
qiiacque res incJinet, retinere nut ante possitis occurrere. Das stimmt 
eng zn Polybios VI 3, 1 nnd 4, 11, ist aber in den erbaltenen Teilen 
des Werkes Ciceros nicht ganz vorbereitet. Als typisch wird nun 
das Paar Tarquinius Superbus und Junius Brutus geschildert. Der 
Schlechte, also nacb stoischem Begriff Wahnsinnige, der, znr Herr- 
scbaft gelangt, weder sich nocb die Seinen ziigeln kann, das Ur- 
bild des Tyrannen, auf welches Scipio spater — und wieder kann 
nur Buch VI gemeint sein — eingehender zuriickznkommen ver- 
spricht (§ 48). und ihm gegeniiber der Weise nnd Staatskundige, 
der quasi tutor et jit'ocnrator rt-i puhhcnc. Cicero will mit dieser 
Bezeichnung den wahren Lenker eines Staates benennen ; aber 
weil er im folgenden immer wieder den ungebranchlichen und et- 
was schwerfiilligen Ausdruck verwenden rniiSte, schlagt er zugleich 
fiir diesen Gegensatz zu dem dominits und tyrannus eine andere 
kiirzere Bezeichnung vor. die leider verloren ist (§ 51). Ich finde 
keine andere in dem Werke selbst und dem Sprachgebrauch der 
Zeit als princeps. Gleich bei der ersten Erwahnung (§ 46) wird 
hervorgehoben. Brutus babe als Privatmann die ganze Leitnng iiber- 
nommen und zuerst in diesem Staate gezeigt, daB es, sobald es 
sich um die Wahrung der Preiheit, also den Kampf gegen den 
Tyrannen, handle, keinen Privatmann gebe. Es ist das stoische 
Paradoxon nuiuquuiii priratiini esse supientem, das Tusc. IV 51 von 
Scipio is’asica. dem ilorder des Tiberius Gracchus, gebraucht wird, 
also von dem Manne. mit dessen Lobe Laelius die Darlegung be- 
ginnt (I 31) und schlieCt (VI 8). Da Cicero in demselben Buch 
der Tnsculanen (§ 1) eine ausfiihrliche Inhaltsangabe des Werkes 
Be re pubJica gibt. es also damals Irisch in Erinnerung hat, darf 
man annehmen, daB er auch in Buch VI auf die Stellung des Na- 
sica naher eingegangen ist: der erste und der letzte jener prin- 
cipe> handelten nur vermoge eines innercn Ilechte.s. — Die Ver- 
treibung der Konige bringt trotz der leidenschaftlichen Erregung 
des Volkes diesem selbst nicht wesentlich neue Rechte, dank der 
Staatsklugheit des Valerius Publicola. Die Einfiihrung des Tri- 
bunals freilich war eine Durchbrechung des Grundgedankens der 
Verfassung, lag aber in der natiirlichen Entwicklung des Staates 
i§ 57) nnd iibte bei der Weisheit der jeweili„,en Staatslenker zn- 
nachst heinc allzuschlimme Wirkung. Die weitere Schilderung 
muB. wenn wir das Gesetz in Be hy'diu^ 111 vergleichen, bis zum 
Ausgleich des Standekampfes und dem AbschluB der Beamtenord- 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil. -hist Klasse. 1917. Heft 3. 2S 



414 


R. Reitzenstein, 


nrmg gefiihrt sein. Mit iiim scMieBt die Darstellung des ^ratpio? 
TcoXtTcia Roms. 

Auf einen Einwurf, dafi damit zwar Roms Verfassung ge- 
priesen, nicht aber uber den Staat im allgemeinen gehandelt und 
ferner nicht bestimmte Lehren aufgestellt seien, wie man den 
Staat begriinden und erhalten konne, antwortet Scipio, lezteres 
zu tun, werde sich spater Gelegenheit bieten ; ersteres sei eigentlich 
schon geschehen, da er fiber die Urtypen und ihre Entartungen so- 
wie fiber dieVorzfige einer gemischten Verfassung gesprochen und 
dann die Art der Mischung an dem Beispiel (^rapaosiYira) Roms 
gezeigt babe. Wenn das Beispiel des bestimmten Staates nicht 
gentige, so sollten Abbilder (Beispiele) aus der ‘Natur’ die Sache 
verdeutlichen. Die wenigen Trummer, die uns aus dem Folgenden 
erhalten sind, zeigen, dafi wenn nicht auch der Makrokosmos (die 
TuoX'-c ■O-Ewv xal avd-pwatov) so der Mikrokosmos, namlich der Weise, 
zum Vergleich herangezogen war. Er ist yaigleich der prudcns, der 
politisch einsichtige Leiter, der in sich selbst die Leidenschaften 
(jtad'Tj) beherrseht und lenkt, wie der Lenker des Elephanten mit 
leichter Hand das ungefiige Tier (§ 67. 68) ’). Also ist die Quelle 
stoisch, ja gehort, da die zddYj nicht dem rationellen, sondern dem 
unvernunftigen, uns mit den Tieren gemeinsamen Seelenteil zuge- 
schrieben werden, sicher erst der mittleren Stoa an. Alle Wahr- 
scheinlichkeit spricht ffir Panaitios. Wir sehen hier, wie prudens 
und prudentia in dem ganzen Werk mit Absicht fur sapiens und 
sapientia eingesetzt werden. Nicht ganz klar ist, wie Cicero dann 
von der Schdderung dieses Mannes, der eigentlich ja nur als Bei- 
spiel fur die beste Verfassung eingefuhrt war, zu seiner Aufgabe 
im Staatsleben fibergegangen ist (§ 69). Ein bestimmtes officimn 
und miinus erffillt er eben damit, da6 er ist, wie er ist, und sich 
bestandig selbst beobachtet; damit spornt er seine Mitbfirger zur 
Nachahmung; er bietet ihnen seine Person und sein Leben als 
Spiegel, in dem sie die eigene TJnvollkommenheit erkennen konnen. 
Es ist klar, dad das auf den Satz num^ucuH pvivatuiu esse sapientetu 
herauslauft, auf den Scipio schon frfiher verwiesen hat. Indem die 
Bfirger so nach ihm sich bilden, entsteht die op-dvoia im Staatswesen, 
die Harmonie, die man als Seele im Staatskorper bezeichnen konnte. 
Ihre Voraussetzung aber ist die Gerechtigkeit ^). Scipio hebt ihre 

1) Die vier Traftr, warea aufgezahlt. als letzte die {cjuarta anxitiido, 

spater aegritudo). Die Auseinandersetzung in den Tusculanen Buch III und IV 
ist zu yergleichen. 

2) Sie mufi an dem prudens schon hervorgehoben gewesen sein; sonst ist der 
Debergang zu ihr unmoglich. 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


415 


Bedeutung zunachst hervor, indem er damit den noch mehr 

als den apycMi; schildert ; hierher gehoren die Fragmente IH 11 
Ziegler : qtiae virtus praeter cetcras totani se ad alicnas porrigit utilitatis 
afqiie expliccd und iustitia joras spectat etpiroiecta tota est utqiie eminet ^). 
Sie bilden mit ibrer Definition der iustitia (smim cidque tribuit) die 
Voraussetzung fiir das folgende Buch. Philus wendet ein, dafi 
dies zwar den Ansichten der alien Philosophen entspreche ; da aber 
durcb Carneades jetzt die Ansicht, daB gerade der Staatsleiter ohne 
Unger echtigkeit nicht auskommen konne, auch in Bom weit ver- 
breitet sei, rnusse man sick erst mit dieser auseinandersetzen (hierher 
gehort das Fragment ut Canicadi yes 2 JO)idcatis , qiii saepe optimas 
cansus ingenii caluiitnia ludificari sold, III 9 Ziegler). Auch Laelius 
stimmt zu and verspricht auszudauern, auch wenn alle andem 
Horer versagen (vgl. Ill 32) ; es sei von entscheidender Wichtig- 
keit. mit zwingenden Griinden zu erweisen, daB der beste Staat 
ganz erfiillt sei von Gerechtigkeit. Scipio stimmt zu, vertagt aber 
die Erorterung auf den folgenden Tag^). 

Das dritte Buch bringt zunachst eine persbnliche Einleitung 
Ciceros, welche den (romischen) praktischen Staatsmann mit dem 
(griechischen) Philosophen vergleicht, dann eine scenische Einfiih- 
rung der Redeschlacht (vgl. § 42), in welche sich die Auseinander- 
setzung mit Carneades bei ihm verwandelt. Auf Scipios Bitten*) 
iibernimmt Philus die Rolle des Angreifers, auf Bitten eines an- 
deren Teilnehmers, der von LaeUus darum ersucht war, dann 
dieser selbst die Verteidignng der Gerechtigkeit. Fiir die Rede 
des Philus liegt uns auBer einer Anzahl Palimpsestblattern und 
wortlichen Citaten eine Inhaltsangabe bei Lactanz vor, die in 
ihrem Anfang noch in das zweite Buch zuruckgreift {Inst. V 14, 
3 — o und 16,3 — 11)^). Der Verlauf stellt sich etwa folgender- 
maBen dar: 


1) Gewollter Gegensatz zu dem Lobe des prudens ; numquam a se ipso in- 
txiendo contemplandoque discedat (§ 69). 

2) In der neusten Ausgabe von Ziegler ist Plasbergs treffliche Darlegung 
Eheiu. Mus. 53, 66 leider ubersehen. Auch Lactanz {Inst. V 14, 3—5, Epit. 50, 5—8) 
nimmt uberwiegend noch auf diesen SchluBteil des zweiten Buches bezug. 

3) Den Anfang von § 8 muB man nach Plasbergs sicherer Herstellung a. a. 0. 
S. 70 lesen. 

4) Erganzend tritt fiir den Schlufi V 12,5 — 6 hinzu, deren Stellung dadurch 
gesichert wird, daB das Excerpt aus der Rede des Laelius V 18, 4—8 sicher deren 
SchluB angehort und auch nach Lactanz’ Empfinden den Ausfiihrungen V 12, 5—6 
entspricht. Dagegen ist im VI. Buch des Lactanz das Werk De officiis und an- 
dere Quellen zu grunde gelegt ; die lange Auseinandersetzung uber die Definition 
der mrtus bei Lucilius (VI 5 ff.) nimmt nicht einmal in dem Abschnitt 6, 19—23 

28 * 



416 


R. Eeitzenstein, 


Palimpsest und wSrtliehe Citate. Lactanz’Inhaltsangaben. 

Aufzahlnng der Verfechter der Gre- Vgl. Inst. V 14, o — 6 
rechtigkeit bis zu Chrysipp (§ 12). Es 
gibt kein in der Xatur begriindetes Recht; 
das zeigt zunachst die Verschiedenheit 
der Rechtsanschaunngen bei den ver- 
schiedenen Volkern nnd ihr Wechsel bei 

dem einzelnen (kleine Liicke) Der Grand ist, daB die 

Rechtsordnung nach dem 
Xutzen festgesetzt wird 
und dieser sich andert 
[Inst. V 16, 3). 

Gabe es ein in der Natnr begriindetes 
Recht, so miiBte es fiir alle gleich sein 
(§ 13—18). Scheidet man zwischen den 
Rechtsordnungen (Gcsetzen) nnd dem 
Rechtsempfinden nnd fiilirtnur das letztere 
auf die Xatur zuriick. so entstebt zu- 
nachst die Frage wie weit sich dies nn- 
bestimmte Empfinden erstrecken soil. 

Consequent ware, es bis aufs Tierreich 
zn erstrecken (§ 19). Aber gerade hier 
zeigt die Praxis '), {daB damit unser Le- 
ben verarmen wlirde. Wir lassen uns 
dem Tier gegenliber nur durch unsern 
Xntzen bestimmen, toten es, zwingen es 
in unsern Dienst, haben unsere Lust es 
zu beherrschen. Dem Menschen gegen- 
iiber sucht man andere Namen fiir das 
gleiche Verhalten. Die Selbstsuchr, das 
Streben nach Vorteil, GenuB, Herrschaft, 
ist einzig bestimmcnd) ; aber der Gewalt- 
herrscher nennt sich Kdnig. die Coterie 
Adel, das Volk spricht von Freiheit and 

fiihll.ar aiif De re puHica I.czucr; YI 0, 2— 0 ist selbstandig freilich mit Erimie- 
ruajicn an den fruher (in Biich Vi Iiciniidelten Stoif jreformt. Ganz anszuschoi 
hat Tertullian Apol 2.5 (vg! hliniuiiis Felix 25), Hier hamlelt es sich uherh.a.ij)t 
nieht urn die iniustitia. sondern nm die iniurin deorum und die Beliauptung, daB 
Horn dur:h seine FrommigkeH , 2 r.,d gpworden ist. Lactanz hat nur noeh VI 8, 7—9 
ein Ciwt aus' der Bede des Laelius. 

1) Her Hesiiin der Widerk-ening zeist, daB der Hedankengans anders ah hei 
8nxt'is Emnii 5 us Ailr. riiyx T 129 — 121 wav 



die Idee des Principals bei Cicero und Augustus. 


417 


meint Ziigellosigkeit. Eine Beschrankung 
wird nur durch die wechselseitige Furcht 
der einzelnen, der Stande und Volksteile 
geschaffen. Sie begriindet jede Verfas- 
sung, auch die ^roXitsta. Das Recbts- 
empfinden entstebt erst aus der Rechts- 
ordnung; sie beruht auf Vertrag und 
dieser auf der Schwache*). Dm nicbt 
geschadigt zu werden, entschlieBt man 
sich, nicht zu schadigen (§ 23). 


Die Weisheit'j gebietet das TtXsovsxtsiv 
dem einzelnen wie dem Staat ; wem es 
gelingt, der wird gelobt ; die Gerechtig- 
keit gebietet das Gegenteil. An den 
Staaten laBt sick das am klarsten zeigen. 
1st Rom durcb Weisheit oder durcb Ge- 
rechtigkeit zur Weltmacht gekommen 
(§ 24)? (Und doch ist alle Knechtschaft 
ungerecht) ®). 


Da die Gerechtigkeit 
(nach der Definition ihrer 
Verteidiger) ganz un- 
eigenniitzig ist , jedes 
Lebewesen aber von Na- 
tur eigensucbtig ist, kann 
sie nicht auf einem Na- 
turtrieb beruhen. Gibt 
es jetzt scheinbar einen 
solchen Trieb, so beruht 
er auf falschem Urteil, 
ist also nicht Weisheit 
(Klugheit), sondern Tor- 
heit {Inst. V16, 3). 

AUe grofien Reiche, 
besonders das weltbe- 
herrschende Rom, miiB- 
ten freiwillig zu ihren 
armlichen Anfangen zu- 
ruckkehren , wenn sie 
der Gerechtigkeit folgen 
woUten. 

Aehnlich laBt sich der 
Gegensatz des Nutzens 
und der vermeintlichen 
Gerechtigkeit im Leben 
des einzelnen verfolgen. 
Sehon auf eigenen Ge- 


1) Es ist der Standpunkt, den Polybios vertreten und Scipio im ersten Buck 
abgelehnt hat (I 39). 

2) Den Anfang von § 24 hat Ziegler unglucklich gestaltet. Mit den Worten 
sapientia iubet augere muB ein neuer Satz beginnen. 

3) Als Hauptbeweis bervorgehoben bei Augustin De civ. dei XIX 21. 



418 


R. Reitzenstein 


winn zn verzichten, um 
andere vor Schaden zu 
behiiten, ist Torheit, wenn 
es aucb die Gierechtigkeit 
verlangte (Beispiele : V er- 
kauf des Sklaven oder 
Hanses mit verborgenen 
Hehlern, Kanfdes Goldes 
als Messing, Jws^.VlG, 5 
— 7). Noch mebr, selbst 
sein Leben zn gefahrden, 
nm andere zn retten 
(Insi. V 16, 9—11). 

(Handelt es sich hier noch nm gesetzlich 
nicht strafbare oder nicht faBbare Aen- 
fierungen der Selbstsncht , so gilt das 
Gleiche dock anch von allem, was als 
Verbrechen bezeichnet wird. Nnr die 
Macbt entscheidet). Der gefangene Pirat 
behauptete ganz richtigAlexander gegen- 
iiber, das gleiche Kecht zu haben, nnr 
die geringere Macbt (Nonius 125 , 12 ; 

318, 18 ; 534, 15, zn erganzen ans Angnstin 
Be civ. dei IV 4). (Der Krieg der Staaten 
nntereinander ist genau ebenso zu benr- 
teilen wie die Gewalttat des einzelnen, 

Mord oder Ranb ‘). XJnd doch enthalt 
die Urgeschichte jedes Volkes das Lob 
derartiger Taten. Ist doch banm ein 
Volk in seiner nrsprlinglichen Heimat 
nnd seinem urspriinglichen Besitz ge- 
blieben, wie das ein in der Natnr be- 
griindetes K.echtsemp6nden verlangen 
miiBte). Nnr Athener nnd Arkader ha- 
ben ans Angst, es mbchte sich ein solches 
Rechtsempfinden einmal nachweisen lassen. 


1) Eine Rekonstruktion, welche die communia (Lactanz V 16, 5) , d. h. die 
vom Staatsleben entnommenen Beispiele, vereinigte, ist durch die Abfolge der Pa- 
limpsestblatter ausgeschlossen. Sie miissen innerhalb der Unterteile immer wieder- 
kehren, weil sie allein beweisend sind. Fur die Staaten fehlt ja die Rechtsord- 
nung mit Strafen und Lohn. 



419 


die Idee des Principals bei Cicero und Augustus. 

das Marchen erfunden, sie seien Autoch- 
thonen (§ 25). 

Einwande gegen diese Anschauung 
werden zunachst von den Epiknrern er- 
hoben, die freilich den Zusammenhan" 

O 

zwischen Weisbeit nnd Sittlichkeit nnr 
kiinstlich herstellen konnen. Die Furcht 
vor den Strafen, welche die Rechtsord- 
nung festsetzt, laBt dem Weisen nichts 
ihr Widerstreitendes wiinschenswert er- 
scheinen, selbst wenn er ihnen vielleicht 
entgehen konnte (§ 26). 

(Den Epiknreern miissen, wie die Ge- 
genrede des Laelius zeigt, die eigentlicben 
Verteidiger der Gerechtigkeit gefolgt 
sein. Sie iibersehen. daB seit der Rechts- 
ordnang, die anf bestimmte Handlnngen 
Strafe , anf andere Belohnung nnd Lob 
gesetzt hat, sich eine nene nicht natur- 
gemaBe Allgemeiniiberzeugang kiinstlich 
gebildet hat ‘), die es dem einzelnen wiin- 
schenswert macht, als gerecht nnd sitt- 
lich zn erscheinen. DaB es nnr hier- 
anf, nicht aber anf das Sein ankommt, 
zeigt das von Plato fingierte Beispiel). 

Wenn der vollendet Unsittliche es fertig 
bringen konnte, als gerecht nnd tugend- 
haft zn gelten, der vollendet Gerechte 
aber als Verbrecher galte und bestraft 
wiirde, so wlirde jeder Mann lieber der 
erstere als der letztere sein (§ 27). Ge- 
nau so bei den Staaten. Jeder wird 
lieber durch Unrecht hber andere herr- 
schen, als durch Wahrung der Gerech- 
tigkeit selbst in Knechtschaft veriallen. 

Roms eigene Geschichte zeigt, daB der 
Staatsnutzen im einzelnen Fall immer 
entscheidet und entscheiden muB (§ 28). 

(Nnr wird es wiinschenswert sein, da- 


1) Eine anders gefafite zariiyr,3t; ruiv ttoXXibv wird den Stoikem hier mit 
Absicht entgegengebalten. 



420 


R. Reitze nstein 


bei den Schein des Rechtes zn wahren, 
was dem Klugen (Weisen) als Hanptauf- 
gabe zufallt. Je besser er den Nntzen 
des Staates in der an sich ungerechten 
Handlung mit der durch die Rechtsord- 
nung. geschaffenen AUgemeinanschaunng 
scheinbar in Einklang zu stellen weifi, 
nm so voUer erfiillt er seine Pflicbt, and 
da er die Recbtsordnung nnd die Staats- 
leitung nach dem eigenen Nutzen gestaltet, 
dient er zngleich am besten sich selbst). 

Fiir die Antwort des Laelins liegen auBer einigen wortlichen 
Anfuhrnngen zwei Inhaltsangaben bei Angnstin (De civ. dei 1121 
nnd XIX 21) vor ‘). Erst zom SchluB setzt der Palimpsest wieder 
ein. Fiir den Gang der Darstellung ist das von Schmeckel zuerst 
voU betonte Verhaltnis zu De leyihiis I wichtig. Die Ueberein- 
stimmung ist freilicb nicht derart, daB man unbedingt die gleiche 
Quelle annebmen muB. Jede jiingere stoische Darlegung (auch 
Antiocbos) mufite dieselbe Gedankenfolge bieten. 

Ungefahr folgender Gedankengang laBt sich herstellen : 

WSrtliehe Citate. Augustins lubaltsaugabeii. 

Der Begriff des Sixaiov, 
der iiberall erscheint, 
setzt eine angeborene 
Vorstellungvon dergott- 
lichen AizYj voraus. Auf 
ihr, nicht auf dem Nutzen 
der Herrschenden beruht 
das Recht und die Ge- 
rechtigkeit {De civ. dei 
XIX, 21 Eingang). 

So ist das Gesetz , um das es sich 
einzig dabei handeln kann, der >, 070 ; 
und es ist allgemeingiltig und unveran- 
derlich ; ihm nicht folgen heifit der eigenen 
Natur untreu werden und die schwerste 


1) Die zweite wird von den Herausgebern ubersehen, laBt sich aber in ilirer 
Bedeutung durch einen Vergleich mit De legibus 1 erweisen. 

2) Der scenischen Einleitung und dem ersten entriisteteu Urteil des Laelius 
gehuren die Fragmente Gellius I 22, S und Konius 323, 18; 324, 15. 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


421 


Strafe auf sich nehmen (Lactanz Inst. 

VI 8, 6—9). 

Der Gresellschaftstrieb im Mensehen 
ist von Natur gegeben und beruht auf 
der olzsicoat?. Es ist eine nuturalis hem- 
volentia, die sich je nach der Nahe der 
Zugehorigkeit und dem MaaBe der Aehn- 
lichkeit bis zu der gleichen Starke wie die 
SelbstUebe steigert (Cicero Ad VII 2. 4, 

zu erlautern aus Be leri. I 28 — 34). 

Auf dieser Grundlage beruhen ae- 
quitas, fides, iustitia. Leitet man die ihnen 
entsprechenden Handlungen aus dem 
Nutzen her, so gibt es iiberhaupt keinen 
sittlich guten Mensehen, nur schlaue (Ci- 
cero Be fin. II 59. vgl. ad Att. VII 2, 4. 

Be leg. I 40—41)'). 

(Fiir den Staat, der aus jenem Na- 
turtrieb hervorwachst, ist die Herrschaft 
von Anfang an notig, freilich eine Herr- 
schaft, die auf diesen Tugenden beruht, 
also nur den Nutzen des Beherrschten 
im Auge hat, wie das die Lehre der 

Philosophen von jeher verlangt). Es ist unwahr, da6 die 

Herrschaft an und fiir 
sich etw'as Ungerechtes 
sei ; wenn sie diese we- 
senhafte Bedingung er- 
fiillt, ist selbst die Herr- 
schaft einer imperiosa ci- 
I'itas iiber andere berech- 
tigt und gottgewollt. 
Das zeigen die Bei- 
spiele aus derNa- 
t u r. die als Naturgesetz 
erweisen, da6 der Bes- 
sere iiber den Schlech- 

1) Vgl. die hicraiif liezugliche Rekapitulatiou iJe leg. II 8 uud ferner Be 
leg. 1 18. 19. Dort mufi Cicero mit der Definition der lex beginne.'j, bier mit der 
Definition der GerecLtigkeit. Zur Verbindung beider vgl. Be leg. I 2.8. 

2J Das Selbstcitat in Be fin. II 59 beginnt erst bei den Worten perspicuum 
est enim. 



422 R. Reitzenstein, 

teren herrscht {Be civ. 
dei XIX 21)>). 

So herrscht Gott iiber die Menschen, 
der Geist iiber den Korper, der Verstand 
iiber die irrationeUen nnd daher laster- 
haften Seelenteile (Augastin Adv. lid. 

Pdarj. IV 12,61, vgl. Be ci«. dei XIX 21). 

Diese Beispiele zeigen zugleich, da6 
man verschiedene Arten der Herrschaft 
scheiden mnfi. Das Regiment des Geistes 
iiber den willig gehorchenden Korper 
laBt sich mit dem des Konigs oder der 
Magistrate iiber Untergebene, der vor- 
herrschenden civitas iiber die Bnndesge- 
nossen vergleichen, das des Verstandes 
iiber die Leidenschaften mit dem driicken- 
den Regiment des Herrn iiber die Sklaven, 

{des Staates iiber die vollig Unterworfe- 
nen) (Augustin Adv. lid. Pelag. IV 12, 61, 

vgl. Be civ. dei XIV 23). Denn anch ein solches 

Verhaltnis kann gerecht 
sein , wenn das unter- 
worfene Volk znchtlos 
war , die andem scha- 
digte nnd nnr dnrch 
Zwang davon abgehalten 
werden kann {Be civ. dei 
XIX 21). 

TJngerecht ist dagegen eine Knecht- 
schaft, die denen anferlegt wird, die frei 
sein konnten (ohne andere zu gefahrden). 

(Nonius 109, 2). 

(Hieraus folgt, daB der Krieg dnrch- 
ans nicht immer ungerecht ist. Es kommt 
anf den Kriegsgrund an). Wohl wird 
der sittlich geleitete Staat Kriege nnr in 
Selbstverteidigung ®) oder ans Bundestreue 

1) Umfonnung der sophistischen Fassnng: da6 der Starkere iiber dea 
Schwacheren herrscht. 

2) Die Psychologie weist dahei anf Panaitios, vgl. oben S. 414. 

3) Der Begriff wird nach Isidor a. a. 0. ziemlich weit ausgedehnt; auch zu- 
gefugte UnbRl zn bestrafen, ist sittlich hinreichender Grund zum Kriege. Es ist 



die Idee des Principals bei Cicero und Augustus. 


423 


unternehmen (Augustin De civ. del XXII 
6) und auch dabei gewisse Formen wahren 
(Isidor Etijm. XVIII 12, Cicero Be offic. 
I 36). (Aber da die Bestrafung eines 
unberecbtigten Angriffes auch Forderung 
der Gerechtigkeit ist, fiihren sie notwen- 
dig auch zur Unterwerfung des Angrei- 
fers. DaC der gerechtere und sittlichere 
Staat herrscht, ist ein Naturgebot oder 
vielmehr Gottes Gebot). 

(Die V ersuche, die Entstehung eines Ge- 
rechtigkeits- und Sittlichkeitsempfindens 
nachtraglich aus der Bechtsordnung der 
Staaten zu erklaren, die Furius im zwei- 
ten Teil seiner Rede kritisiert hat, kon- 
nen natiirlich auch Laelius nicht geniigen. 
Am ertraglichsten ware noch die Beto- 
nung der Furcht vor Strafe durch die 
Epikureer. So ungeniigend sie bei dem 
einzelnen ist, fiir Staaten lafit sie sich 
ernsthaft erwagen). Die Strafen fur sie 
bestehen ja nicht in jenen leicht zu er- 
tragenden IJebeln wie Geldverlnst, Ver- 
bannung, Kerker, Schlagen, auch nicht 
in dem Tod, der fiir den einzelnen oft 
Rettung und Zuflucht ist; fiir die Staa- 
ten ist die eigen tliche Strafe der Verlust 
der Existenz, und das ist fiir sie nicht 
etwas Natiirliches, sondern dasWiderna- 
tiirlichste, das sich denken la6t. Soil 
doch der Staat so organisiert sein, da6 
er ewig dauert, wahrend der einzelne ver- 
geht. Seine gewaltsame Vernichtung ist 
etwas ahnlich dem Denken Widerstre- 
bendes, wie es der Untergang der Welt 


etwas befremdlich, wenn man selbst in so modemen Werken wie ‘Deutsche Kultur 
Katbolizismus und Weltkrieg’ (S. 20) wieder liest, der Begriff des gerechten Krieges^ 
der nur des wahren Friedens halber gefuhrt werden diirfe, sei erst vom Christen- 
tum geschaffen. DaB Augustin Cicero benutzt, scheint ehenso unbekannt wie 
daB Cicero auch in De officiis dasselbe aus Fanaitios rorbringt. Fiir den Stoiker 
dem die Welt die eine -oXi; Bcuiv xai avBpmsiov ist, ist der Satz geradezu not- 
wendig. 



424 


B. Reitzenstein , 


ware (Augustin De civ. del XXII 6) ^). (So 
lasse es sich in der Tat horen, da6 der 
Leiter eines Staates bestandig in Sorge 
sein miisse, dafi ein anderer oder eine 
Coalition anderer macbtiger werde als 
sein Staat '^) und hierdurch — gerade 
entgegengesetzt den Gedanken Epikurs 
— zum Streben nacb Macht getrieben 
wiirde). Denn so viel sei zuzugeben : 
eine Gerechtigkeit, die bestandig in Ge- 
fahr und Sorge lebe, konne der Weise 
nicht wollen (Priscian I 399, 13 H.). (Aber 
der Glaube an ein Walten der Vernunft 
in dem Geschehen und die Betracbtnng 
der Gescbicbte mu6 von dieser Sorge be- 
freien. Die auf Eroberungsziige begriin- 
deten Reiche sind zerfaUen), aber der 
romiscbe Staat hat sich durch die Ge- 
rechtigkeit, namlich durch seine Bundes- 
treue, stetig vergrofiert und zur Welt- 
herrschaft emporgeschwungen (Nonius 
498, 18). 

(Sehr viel ungliicblicher sind die 
Verweise der Akademiker auf die Wir- 
kung der fiir Uneigenniitzigkeit ausge- 
setzten Belohnungen. Ihnen fehlt jede 
Empfindung fiir die GroBe und Denkart 
des wahrhaft sittlichen Mannes), der fiir 
ein Gut nur halt, was xaXov, fiir ein 
Uebel nur, was aiaxpov ist (Cicero Ad Att. 
X 4,4). Welche Belohnung konnte einen 
Mann reizen, der als Giiter nur die Tu- 
genden selbst anerkennt und seinen Besitz 
daher fiir gottlich, alles AeuBere aber fiir 


1) Augustin folgert hieraus, daB dyr Redende als Platoniker die tVelt fur 
iinverganglich halte, und dies beciufluCt offenhar Schmeckel zu folgern, spreche 
ein Stoiker, so konne es nur Panaitios sein , da dieser den Weltuntergang be- 
streite. Bedenkt man die sprichwdrtlichen Wendungen wie quid si nunc caelum 
ruat, so ist dieser Beweis kaum zwingend. 

2) Vgl. fur die sophistiscben Grundlagen dieser Lehre die interessanten 
Aiisfiihrungen v. Arnims ‘Gerechtigkeit und Xutzen in der griechischen Aufkia- 
ruiigsphilosophie’, Frankfurter Rektoratsrede 1916. 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


4-5 


menschlich nnd nichtig halt? (Lactanz 
Infit. V 18,4)? (Sollte er es erstreben. 
•so miifite er es ja erst vermissen). Hat 
etwa Fabricius das Gold des Pyrrhus 
oder Curias,' der breit geschildert wird. 
den Reichtum der Samniten begehren 
konnen (Nonius 132, 17 ; 522, 26 ; 68. 13)? 
Oder gibt es wirklich einen vollwiegenden 
Lohn fur die Tapferkeit, Tatkraft und 
Ausdaner eines solchen ilannes (^Nonius 
125,18)? Konnte etwa ein Denkmal far 
ihn gro6 genug sein (Priscian I 255, 9 H.) ? 
GewiB gibt es einen Lohn auch fiir die 
Tugend, das Lob ; sie nimmt es leichthin 
und treibt es nicht streng ein, S'mdern 
findet, wenn die Gesamtheit nndankbar 
ist Oder viel Neider und machtige Feinde 
ihr diesen Lohn versagen, ihren Trost 
in sich selbst und ihre Frende an dein 
eigenen Glanz (Lactanz V 18, 4 und 6 — 8) '). 
<An der Tatsache der Existenz wahrer 
Tugend scheitert die.ser ganze Erklarungs- 
versuch. In ihr haben alle Volker von 
jelier etwas Gottliches empfunden ; wenn 
griechischer Glaube den Herakles-), ro- 
mischer den Romulus zum Himmel empor- 
steigen Itifit), .-^o kann daniit nur gemeint 
sein. dafi man empfand ibre Seelen miihten 


1; 111 der Ausgabe Zieglers siml die .lus (.'icero bei Lactanz angeiubrten 
\Yor;e mechanisch aneinauder gereiht and dalier sinnlos gemacht. Lactanz giljt 
ausdiu.dilii h an. daB er da.s Sa^i'chen uuic iu tiro nuas divitias obitic’! .... ana 
bona ditina iiidicat oiiieui auderu Zv'-raimenb.uig entniniiii^ (icli babe es daber 
ca.-h olieii gerinkt) An den batx tint pome tirins liotiorem . . exigit non acerbe 
selibeBt ii.idi Lactanz selb’t acd inti ingra'i . . ne ilia ae . . ipsa sustenfnt. 
Da ard nnr den (legens.it/ zu no)i iXigit euiiidu'!: . wird man \orher nur leicht 
interpungiereu und emeu eiii/igcn S.ilz beistellen mussen 

■2\ Die sto\ eiLuterr geradic aii ihm , dall die Tugend Gott gleicb ma bt ; 
a'iS nimiscbes c'.cgeLbild wird ilini Rnmulua zur ^ieite gosteilt (vz! II 4 coiiceda- 
II. it^ enini faiiiae hoiiiiniiiii praeariiiiii iwf (Htcii.rntae aohim sed rtkiw sapienter a 
nunoidma proditne, hem meriti dc rebus coiiitiiunihi/s ut genere rtiam pntanuticr 
neu solinii ijigcniu ease dicinc. vel. S 17. Aeiudiib stellt sicb Varro ini Ilin- 
bl '"i' aril raesRF (Aumistin Uc c"*. ill 4 — Aittupt rcr dii: 1 21- Amalidt. 



426 


R. Reitzenst ein 


vomHimmelstammen (Augustin i)g dv. ^.ei 
XXII 4)1). 


In alien Stiicken er- 
weist sick die Ungerech- 
tigkeit als dem Bestande 
des Staates feindlich. 
Xur die Gierecktigkeit 
kann ihm die Dauer ge- 
ben {De civ. dci II 21). 

(Nickt die Furcht, nur die Liebe 
kann eine Herrschaft sichern). Anf ihr 
ruhte friiher Roms Vorherrschaft. Jetzt 
ist fiir das Recht die Gewalt eingetreten 
und daher die Dauer dieses Staatswesens 
in Frage gestellt. Es konnte fiir die 
Ewigkeit begriindet sein, wenn man die 
Einrichtungen und Sitten der Vater ge- 
wahrt hatte {Falimps. fol. 249. 250). 

Die Anwesenden stimmen eifrig dem Laelius zu und Scipio 
erklart die Frage fiir erledigt ^), zieht aber in einem weiteren Teil, 
fiir den die treflliche Inkaltsangabe Augustins {De civ. del II 21) zu 
grunde zu legen ist, hieraus die Consequenzen. Er wiederholt 
seine Definition des Staates. Der Nutzen solcher Definitionen 
zeige sick jetzt, denn von kier lasse sick die Frage entsckeiden, 
ok die Entartungsformen (Tyrannis, Oligarckie, Ocklokratie) als 
Arten von Staatsverfassungen zu betrackten seien. Das ist aus- 
scklieBlick eine Kritik an der pedantiscben und selbstgefalligen 
Bekauptung des Polybios (VI 3, 5) , die Lehrsysteme zaklten nur 
drei Arten anf, es gabe aber seeks, denn jene Entartungsformen 


1) Ich habe das Fragment nur zogernd so eingeordnet, wiewohl dem Wort- 
laut damit etwas Gewalt geschieht. Dafi es niclit voll der Lehre des Panaitios 
entspricht, sei wenigstens erwahnt. Einigermafien stimmt dazu fr. inc. 6 (Lactanz 
Inst. I 18, 11). 

2) Eine Auseinandersetznng , ob fiir den einzelnen Klugbeit und Gerecbtig- 
keit auseinanderfallen bonnen, ist nicht erfolgt, jedes Eingehen auf die angefiihrten 
Einzelfalle vermieden. Die dogmatischen Voraussetzungen der Stoa sind zugrunde 
gelegt. Es ist, wie wir aus De officiis wissen, das Yerfahren des Panaitios. Lac- 
tanz, der dies tadelt, zeigt freilich in der Charakteristik Inst. Y 16, 13 ut videatur 
idem Laelius non naturalem, quae in crimen stultitiae venerat, sed illam civilem 
defendisse iustitiam , quam Furius sapientiam quidem esse concesserat, sed in- 
iustam, nur wie wenig er von der ganzen Frage verstanden hat. 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


427 


seien als Verfassungen zu rechnen. Scipio zeigt breit und mit 
Beispielen, dafi zunachst bei der Tyrannis von einem Staate nicht 
die Eede sein kbnne, da das Eecbt fehle , das Voraussetzung fiir 
den Staat sei (§ 43; : ebenso l)ei der Oligarchie {fadio § 44), endlich 
bei der Ochlokratie (§ 45). Alle diei Entartungsformen sind im 
grnnde nur Spielarten der Tyrannis. deren Wesen in der Aufhe- 
bung des Eechts und der Gerechtigkeit , damit aber in der Auf- 
hebung der Verfassung und des Staates besteht^). Dagegen sind 
in dem gerecht verwalteten Staate die Verfassungsformen Konig- 
tum, Aristokratie und Demokratie denkbar und mit Beispielen zu 
belegen. Natiirlick wird das Gleicbe auch fiir die mX'.Tsia 

gelten, wahrsckeinlich sogar in erkobtem Grade. 

Den Nackweis kierfiir soli das vierte Buck geben und damit 
das I 70 gegebene Versprecken einlosen [sinml ct qtiulis sit et op- 
timam esse ostendam). Im Eingang verweist Scipio wortreick auf 
das schon mekrfack benutzte ‘Beispiel aus der Xatur', den Men- 
scken selbst, dessen Geist iiber den Korper kerrsckt und dessen 
Vernunft iiber die unverniinftigen uns mit dem Tier gemeinsamen 
Seelenkrafte herrscben soli (§ 1). Eine kurze Erwahnung der Ver- 
fassung (der grandlegenden Normen, welche die grndus dignitatis 
abstufen, § 2) wird fortgefiikrt durck die Betracktung der instituta, 
die mit den leges zusammen dem Grundzweck des Staates dienen. 
Ikre Erorterung beginnt bei der Jugenderziehung mit einer Po- 
lemik gegen Polybios (§ 3) ; sie ist in Rom unvergleichlick besser 
wie in Griechenland. Den SckluB bildete ofiFenbar die Sorge fiir 
den Totenkult (Nonius 174, 7) O- Die weitere Abfolge der ein- 
zelnen Themata labt sick nickt mekr bestimmen ; bekandelt sind 
Besitz, Eke, Recktsverkehr, Amtsbewerbung, offentliches Lob oder 
bffentlicker Tadel, die einzelnen Tugenden, die Schatzung der 
Kiinste u. a. Es ist der von Poly bios allerdings vorbereitete Ver- 
suck, in weiterem Umfang die Eigentiimlichkeiten nationaler Sitten 
und Empfindungsart darzustellen. 

Das fiinfte Buck bringt die dritte personlicke Einleitung Ci- 
ceros, die an den beriikmten Vers des Ennius scklieBt morihus an- 
tiquis res stat Eomana virisque. Er sckeint ikm in klassiscker Form 
anszudriicken, was die ganze biskerige Untersuckung als die Griinde 


1) tVieder zeigt sieh, daB dem Polybios als bloBem Praktiker das Kriterium 
fiir die Staatsformen gefehlt hat, das nur die Philosophie geben kann. DaB diese 
Polemik nicht von Cicero selbst herruhren kann, sollte klar sein; auf Panaitios 
weist das Lob der rhodischen Verfassung. 

2) Vgl. die Abfolge in De hgibus II. 



428 


R. Reitzenstein, 


und Bedingungen der Grofie des romischen Staates ergeben hat. 
Er wird zugleich zar schwersten Anklage der lebenden Generation, 
welche die aatpio? TroXtTS’la Roms schon wie ein verblaBtes and 
verdnnkeltes Gemalde iiberkommen and sie so wenig selbst darch 
das Aaftreten sittlicher and einsichtiger Manner wieder aafge- 
frischt and belebt hat, dab ein romischer Staat nar dem Namen 
nach noch besteht; Scipios diistere Ahnung, dab auch der beste 
Staat darch grobe Lasterhaftigkeit seiner principes antergehen 
konne (I 69)^), hat sich in Wahrheit erfiillt oder ist im BegrifF 
sich za erfiillen. 

Dennoch handelt das folgende Bach nicht von den principcs, 
sondern von dem princeps^). Aas dem Kreise der principcs mab 
offenbar der Eine hervorgehen, der dem Staate die monarchische 
Leitang sickert. Zwei Themata scheinen haaptsachlich behandelt, 
die Aafgabe des princeps and die Erziehang des princcps. Jene 
wird zanachst im Allgemeinen festgestellt (§ 8) huic nwdcratori 
rri pnhlicae Iteuta civium. vita propusita ist , nt optbns firnui , copiis 
locfplrs, tjhria ampla, rirtnf/'. hortesta sit: hains eniiii uperis 
maxnni ii'tcr honi'ines atqxc nptinn ilium esse perfecto- 
rcm volo. Seine Haaptaufgabe wird dabei selbstverstandlich die 
Erziehang zur Sittliehkeit sein, die in dem natiirlichen Streben der 
Gaten nach Lob and Anerkennang and in ihrer Scham dem Tadel 
gegeniiber weit starkere Hilfsmittel hat als in der Farcht vor 
der gesetzlich festgelegten Strafe. Dies Schamgefiihl hat der 
wahre Staatslenker darch Beeinflassang der Meinangen von Anfang 
an gestarkt and darch Einrichtangen and Zacht voll entwickelt; 
dann hringt er seinen Mitburgern die Schatzung der staatlichen 
Ordnnng and die Ueberzengong bei, dab sie nar in einem wohl 
verwalteten Staat selbst Gliick finden konnen (§ 6. 7). Waiter scheint 
iiber seine Tatigkeit and Leistnng im einzelnen gesprochen. Cha- 
rakteristisch. dab sie von Anfang an aas der Tatigkeit des Kdnigs 
hergeleitet wird. Als der angekrdnte Konig seines Volkes s dl 
dieser primi-jis erscheinen. So behaaptet ein Teilnehmer — der 
jagendliche Scaevola oder 3Ianilias , wie Ziegler vermatet — er 
miisse Rechtsbescheide and Rechtsbelehrangen geben, well dies die 
alte Konigspflicht gewmsen sei. die z'.veifellos aach Xama geiibt 


1) Y^i. '\ iederi olnag ui'fl rmbieiung ck-sselben Gedankens III 41. 

2) Die Eezeii Laima selL.^st limiet s-ih § ‘J ivgl. obeaS. 4if2, 2j, vgl. auCeiJem 

ai’P den weiiigen Iraamenten g ;i hunt' civis. tie tpio agimus, g 5 nviter liic rectur, 
g (i ille rector rennu pahhccrum. g .S hinc u.O'leratoi ret pubhcac . . pairiae 

rectoreiii, g suit/ua riri iniloln.i. 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


429 


habe. Anch die Gesetzgebnng und Sorge fur die Religion rechnet 
er zu seinen Aufgaben. Scipio gibt das in gewisser Weise zu, 
nur will er alles RachmaBige und Kleinliche der Ausiibung und 
Berufsarbeit als zu gering fiir seinen princeps ablehnen (3 — 6). 
Dagegen ist offenbar die Feldherrenkunst, die ja anch zu den Ko- 
nigspflichten gehort hat (§ 3), voll anerkannt. Ebenso die zweite 
adlige Kunst des Romers , die Beredsamkeit. Wohl ist sie ver- 
achtlich, ja eigentlich schwerer Strafe wiirdig, wenn sie gebraucht 
wird, um das Recht zu beeinfiussen (§ 11), und zu den Kiinsten 
der griechischen Rhetoren wird sich der princeps nicht herablassen, 
noch weniger dem Volke nach dem Munde reden, da er sich ja 
um den Xutzen, nicht um die Gunst der Menge miilit. Ktirze der 
Rede wird er erstreben ; eine gewisse Sorge um Anmut und W ohl- 
laut ist nicht ausgeschlossen '). 

Zu diesem Teil, den ich mit Absicht vorher nach den wortlich 
erhaltenen Fragmenten charakterisiert babe, gehprt offenbar die 
von Osann mit Unrecht in den Anfang des VI. Bnches gestellte 
Inhaltsangabe ^) : in Folitia svu (licit Tullius rei publicce rectorem 
sunuHHin cirum et doctissiiuuin esse debere, ita id sapiens sit et iuscns 
et temperans et eluqacns. id possit facile currente eloquentia animi 
secreta ad reqendam pltlnjin exprimere. scire etiam debet ius (vgl. V 
>5 5), Graents nosse litterus, quod Catonis facto pi'obatur^), qui in 
sununa senettute Graecis Idteris operaui dans indicavit quantum utili- 
tatis habcicnt. Moglich, dad in diesem Zusammenhang die vier 
Kardinaltugenden aufgezahlt waren und daU die Definition der 
fortitiidu (Nonius 201, 29, vgl. De off. I 67) hierher gehort. 

Wichtig ist der vielleicht nur kurze Abschnitt de instituendo 
principe. (§ 9), da er am besten zeigt, daB die griechiscbe Quelle, 
die wir voraussetzen miissen. sich ahnlich wie des Panaitios Werk 
liber die Pflichten an einen Schiilerkreis wendete, der sich aus 
vornehmen, fiir den Staatsdienst schon nach ihrer Abstammung be- 
stimmten Mannern zusammensetzte. Nur fiir sie und nur fiir RompaBt 
die Vorschrift (prinapem) alenduni esse (jloria'^). Auf erne hiermit 
vielleicht verbundene Schilderung der Vcrschiedenheit der Charak- 


1) Otienbar denkt Cicero aii die ihm bekannteii Reden des Scipio (und 
Laelius). 

2) Aus einer vollereu Grillius-HandschriftV 

3) Also sprach wohl hauptsacblich ^eijdo. 

4) Charakteristiscb fur das Streben und fur die Laiilbahn Scipios. Die 
hiervon abzusondernde Behauptung tarn diu stare rem publicarn , quam din ab 
Omni' us honor prmcipi exhiberetur zeigt wieder die koniglirbe Stellung des princeps. 

Kgl. Ges. d. Wiss, Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 3. 29 



430 


R. Reitzenstein, 


tere und Anlagen weist Nonius 337, 34 Marcellus id acer et pugnax, 
Maximus id consideratiis et lentiis (vgl. Be off. I 107. 108). 

Fiir das sechste Buch ist entscheidend, daB Cicero selbst Ad 
Att. VII 3, 2 versichert, es babe ein Bild dieses einen Mannes ge- 
geben, der obne Riicksicht auf den eigenen Vorteil oder Rubm 
(ambdiose) freimiitig das Staatsinteresse vertritt and das honestum 
fiber das idile stellt. Also wird die Beschreibnng des princeps 
fortgesetzt, aber sie tritt unter einen neuen Gesichtspunkt, der in 
den ersten Fragmenten klar hervortritt: wie wird jener prudens 
oder princeps bandeln bei Zwietracbt oder gar bei offenem Auf- 
stand der Bfirger? Hier wird ja jene politische Einsicbt, die das 
notwendig Eintretende vorhersieht, sich besonders zeigen mfissen; 
hier ferner kommt es mehr als zu irgend einer Zeit auf den inneren 
Wert, die dignitas, des einzelnen Mannes an und sind die Stimmen 
zu wagen, nicht zu zahlen^). Allein nicht nur das Bild des prin- 
ceps in dem Bfirgerzwist war gezeichnet. In den frfiheren Bfichern 
ist mehrfach auf eine einheitliche Schilderung des Tyrannen ver- 
wiesen worden. Nur hier laBt sie sich unterbringen, und die ffir 
das Buch bezeugten Fragmente bestatigen das. Sie zeigen zu- 
nachst, daB tatsachlich hier der Volksffihrer als tyranniis bezeichnet 
war; wird dock Tiberius Gracchus, oj0fenbar nach Cicero, so be- 
zeichnet (§ 8). Wie ferner der prudens die Herrschaft des Ver- 
standes im Menschen vertritt, so die Oligarchie die Herrschaft 
der Begierden (Nonius424, 81, vgl. dominae cogitationum). Eine 
Erklarung ffir das Aufkommen der parteipolitischen Gegensatze 
war offenbar ganz ahnlich wie bei Polybios VI 57, 5 ff. gegeben ; 
nur so erklart sich die breite Wiedergabe von Xenophanes eleg. 
fr. 3 Diels ^). Ffir die Hauptschilderung laBt sich aus dem Ab- 
schluB des theoretischen Teils, der ffir Scipio Nasica als den Ty- 
rannenmorder das StandbRd verlangt, und aus den Andeutungen 
in dem Traume Scipios einiges entnehmen. Bei dem Bfirgerzwist 
wird der prudens die unbedingte konigliche Gewalt (die Diktatur) 


IJ Buch V zeichnet also nur das Tun und den EiniluB des princeps in dem 
gewohnlichen Verlauf der Dinge, seine Pflicht in normalen, d. h. nach romischen 
Anschauungen normalen Verbal tnissen. 

2) Zu beachten sind in dem Xenophanes-Fragment die Worte o<ppa fjpawirjj 
^aav «v£u orjyepfjs. Mit der Schilderung des einfachen Lebens der Vorfahren und 
der Gefahren der jetzt eingetretenen Ueppigkeit laBt sich wohl die Emahnung 
der Rede des Laelius fiber die Einfachheit der Opfergerate in Verbindung bringen. 
Wenigstens zeigt Cicero Paradoxa 11 ahnlichen Gedankenzusammenhang (wohl 
aus Erinnerung an Be re pubiica). Ueberhaupt ergeben die Paradoxa viel Ver- 
gleichsmaterial (vgl. besonders 33—41 und 50). 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 431 

auf gesetzmaBigem Wege erstreben miissen, um den Staat nen zn 
konstituieren. Bei offener Grewalt oder Eecbtsverletzung durch 
die Gegner wird er dem Staat anf jede Weise zu Hilfe kommen 
nnd selbst Tor der Verwendung recbtswidriger Mittel nicht zu- 
riickscheuen. Dann tritt er aucb als Privatmann kraft inneren 
Eechtes an die Spitze des Staates, der sich in ihm gleichsam ver- 
kbrpert nnd dnrcb ihn in Notwehr bandelt. Es ist die hochste 
dk/nitas, zu der der Eiazelne sick erheben kann, derartig sein Volk 
nnd seinen Staat zu vertreten; ihre Voraussetzung freilich ist die 
voile Selbstlosigkeit und innere Gerechtigkeit. Wenn es einen 
Lohn fiir solche Taten gibt — und der Begriff dignitas setzt in 
der Tat immer den Anspruch auf Lobn voraus — , so kann er 
nicht mehr irdisch sein. Aus diesem Empfinden wahlt Cicero sich, 
in Xachahmung Platos den deutlich abgebobenen SchluB , jenen 
stilistisch wundervoll gelungenen Traum Scipios , fiir den seine 
Vorlage, wenn sie wirklich anf Panaitios zuriickgeht, hochstens 
einen gewissen Anhalt geboten haben kann ; die Grundempfindnng 
stammt fiir Cicero aus Poseidonios, die Ansfiihmng keinesfalls ans 
ihm allein ^), Einzelheiten wohl aus Anregongen der alexandrinischen 
Dichtung (dem Hermes des Eratosthenes oder jiingerenNachbildungen). 

Das Werk bildet eine Einheit in sich, wie wir sie in den 
spateren eigentlich philosophischen Schriften nicht mehr wieder- 
finden. Wohl rniigen einzelne Einlagen aus Nebenquellen wahr- 
scheinlich sein und mag der SchluBteil (die Aufgabe des pnidens 
bei der dissensio civium) starker herausgearbeitet sein. Cicero hat 
nachweislich fiir dies Werk besonders viel gelesen und verfolgt 
mit ihm einen bestimmten politischen Zweck, muB also auf die 
Verhaltnisse der Gegenwart (das Trinmvirat) Riicksicht nehmen. 
Ihm den ganzenkiihnenGedankenzuzuweisen, einphilosophischesLehr- 
buch der praktischen Politik fiir einen Weltstaat zn schreiben, die 
Herrschaftsfrende in ihm zu rechtfertigen und in den Dienst einer 
groBen sittlichen Idee zu stellen und das Machtstreben seiner 
Adligen ahnlich in sittliche Bahnen zu lenken, wiirde ich von 
vomherein Bedenken tragen. Der Anhalt, den Polybios hierfiir 
tatsachlich geboten hat, ware zu klein, ein so nngeheurer EinfluB 
gerade dieses Historikers auf Cicero wenig wahrscheinlich. Um 

1; Einen Hinweis auf die Gbttlichkeit des Herakles (oder besser: seiner 
Seele) wiirde ich auch bei Panaitios nicht fiir unmoglich halten, ja hier erwarten. 

2) Ich verdanke den Hinweis darauf meinem Collegen Prof. Pohlenz. 

3) So auBer dem Scmnium Scipimiis die Uebersetzungsproben aus Plato 
(Ygl. I 66, das man mit dem spater geschriebenen Abschnitt De leg. II 17 ver- 
gleichen mufi), die Rede des Philus, Einzelnheiten aus anderen Schriftstellern. 

29* 



432 


R. Reitzenstein, 


SO scharfere Beachtung verlangt das sacMiche Verhaltnis der Aus- 
fuhrungen beider Manner. 

Fiir Polybios vertreten die beiden Consnln wegen ihrer fast 
nnbeschrankten vollstreckenden Gewalt and ihres gegenuber alien 
anderen Beamten hoheren Recbtes das Kbnigtnm. Das war einer- 
seits durch die ibm ja bekannte historische Entwicklung, andrer- 
seits durch das ganze Empfinden des Griechen gegeben, der eine 
ahnliche Machtfiille bei Beamten kanm kannte; das Doppelkonig- 
tum in Sparta muBte ibm das Verstandrus erleichtern. Die Quelle 
Ciceros iibernahm das tatsachlich (mit dem Zusatz, dab die vollere 
Kachbildung des Konigtums die Dictator sei), schilderte aber in 
dem Hauptteil des Systems nicht die Doppelherrschaft zweier 
Jahresbeamten, sondern den dauernden EinfluB des Einsichtigen 
und Gerechten, den Principat, als Vertreter des Konigtums. 
DieErklarung bietet die stoische Philosophie, die den Weisen allein 
als Herrscher oder dock mit dem Vermbgen zur Herrschaft begabt 
hinstellt und in jenem Paradoxon, anf das Cicero selbst hinweist 
(oben S. 413), ausspricbt, er sei im Staate nie ohne Amt. Von 
den koniglichen Rechten des Consuls ist, da das Werk fiber die 
Verwaltung gar nicht handelt, nicht weiter die Rede ; sie begegnen 
erst De legibus III 8 wieder. Man ware versucht, einen Wechsel 
der Quellen anzunehmen, wenn sich nicht die Erklarung in den 
romischen Verhaltnissen selbst bote. Auf den vornehmen Romer 
iibertragen enthielt jenes Paradoxon der Stoa ja eiiJeuchtende 
VVahrheit. Fiir ihn bedeutet nicht das eine Jahr, in dem er die 
Fulle der ausiibenden Gewalt besitzt, den Hohepunkt des politi- 
schen Einflusses. Im Staatsregiment ist er seit seinem Eintritt 
in den Senat, rechtlich verpflichtet, zu jeder Sitzung zu erscheinen 
und bei jedem BeschluB mitzuwirken; er ist kein Privatmann mehr, 
wenn er auch so bezeichnet wird, so lange er nicht mughtratus 
ist. Ist er Consular, so erhbhen sich Recht und Zwang; man 
verlangt, daB er zu jeder wichtigen Sache seine Meinung begriin- 
dend darlegt (Cicero Fkil. I 14. 15). Da er niemanden iiber sich 
hat, erwartet man, daB er es frei tut. Scipio beschreibt in dem 
bekannten Fragment (Meyer p. 106) die Laufbahn des adligen 
Mannes; tx innocentia uu^dtar dignitas, ex dignitute honor, ex lio- 
noie uiiperiiini, ex imptrio hhertns'). Von den sittlicben und geistigen 
Eigenschaften des einzelnen wird e.s dann abhaiigen, wie vicl Ein- 


1) Dem .Vclli^eu gibt sehon Unbeseholtenheit clen Auspruch auf die Ehrung 
durcli das Volk; sie faint zuni toiisulat (dem vollen impernm) uud dies zuletzt 
zur Unabb.ingigkeir. 



die Idee des Principats bei Cicero and Augustas. 4(j3 

floB er auf die Staatsleitang gewinnt; die Moglichkeit dazu bietet 
die Stellnng als Consular. Ich darf, ehe ich naher darauf eingehe, 
vielleicht darauf aufmerksam machen, dad wohl kein grieckischer 
Philosopb diese oberflachlicher Betrachtung sich entziehende Eigen- 
heit des aristokratischen Regiments in Rom so klar erkennen und 
so tief empfinden konnte als Panaitios, der den Bezwinger Kar- 
thagos auf jener groBen und wichtigen Gesandtschaftsreise in die 
Reiche des Orients in den Jahren 141 — 139 begleiten durfte. Der 
Gedanke, durch den einen fiihrenden Mann, der sich ihm als wil- 
ligen Schuler bot, auf die herrschenden Kreise und die gauze Po- 
litik des machtigsten Staates EinfluB zu gewinnen , konnte schon 
damals in seiner Seele auftauchen. Aus Scipios Stellung und Per- 
sonlichkeit ist fiir ihn der Grundgedanke von De rc puhlica leicht 
begreiflich, und es gewinnt jetzt eine gewisse Wichtigkeit , dafi 
Panaitios tatsachlich die {iixtI] 7roXtTS’'a fiir die beste erklart hat ’) 
und sich iiber die Vorzuge einer unnraschrankten Gewalt des 
obersten ausubenden Beamten Gedanken gemacht hat ^). DaB die 


1) Das geht hervor aus Diogenes Laertios VII 131 noXtxei'av S’ipis-njv x^v pixxrjv 

EX XE oTjfAOxpaxi'x; xal xx'i dpixxoxpaxfas (am SchluB der Etbik). Das kann nur 

auf einen Philosophen der mittleren Stoa zuruckgeben. Im ubrigen wird schon 
Sphairos, der die wxpt'ij roXixEia Spartas wiederherstellen und den Konigen zu 
ihrem Recht verhelfen wollte, Lykurgs Yerfassung als jjuxxt) ixoXtxEfa betrachtet 
haben (vgl. Plutarch Lykurg 5, nach altem Vorbild, vgl. Plato Leg. IV 712 d). 

2) De leg. lllltff. Die Behandlung der Stelle bei Schmeckel a. a. 0. 63 
sclieint mir unglucklich. Festzubalten ist zunilchst, daB die Entscheidung der 
Grundfrage De leg. Ill 15 ff- vullig init De re p. II 57 ubereinstimmt (das Volks- 
tribunat ist theoretisch nicht zu rechtfertigen, da es dem Consulat den Cbarakter 
des Konigtums nimmt; aber praktiscb dient es innerhalb gewisser Grenzen der 
fuxxtj -oXixEi'a). Auch das Hauptbeispiel (das spartanische Ephorat) kehrt an 
beiden Stellen wieder. Ein Vechsel der Hauptquelle ist also unwahrscheinlicb. 
Gerade daB fur Panaitios die Bedeutung des Consulafs als Vertretung des Konig- 
tums zuruckgetreten ist, ermoglicht ihm diese Concession. Erst bei der zweiten 
Behandlung dieser Frage in De leg. Ill 19 ff. (die erste schlieBt an § 6 der lex, 
an die Worte iusta imperia und erortert den Grundbegriff des imperium, schlieBt 
aber formell natiirlich zugleich an § 8 regio imperio-, der Zwischenteil des Ge- 
setzes schien keine besondere Bemerkung zu verlangen ; die zweite schlieBt an 
§ 9 plehes quos pro se) setzt die Kritik an der Hauptquelle ein; es ist charakte- 
ristisch, daB Cicero selbst hervorhebt, eigentlich sei die Frage schon erledigt. 
Was er jetzt nachtragt, ist auBerordentlich diplomatisch gehalten ; er gibt zu, 
daB das Tribunat sich tatsachlich zur Oefahr fur den Staat ausgewachsen hat, 
lafit aber erkennen, daB er selbst es auf keinen Fall beseitigen wolle , sondern 
schon wissen werde, es unschadlich zu machen. Ich halte das fur einen Zusatz 
aus der letzten Zeit, wo er selbst der prvnceps rei pitblicae sein wollte (vgl. Phil. 
HI und IV) und fiir sein Staatsideal warb. Auch in der Einleitung der ersten 



434 


R. Reitzenstein, 


Vorstellung von dem pt inceps fiihlbar aus der Person Scipios ab- 
geleitet ist, weist mit innerer Notwendigkeit auf Panaitios als 
Quelle. 

l\Iit der Vorstellung von dem princeps aber bangt ein weiterer 
BegrilF znsammen, der fiir das romisebe Empdnden ent^^cbeidende 
Bedeutnng bat und nocb einige Worte der Erklarung bedarf, der 
Begriff der dignitas. Man kann geradezu sagen, daB sicb nur aus 
ihm die Idee des Principats und der BegritP princeps erklart ^). Das 
Wort bedeutet zunackst in weitestem Sinne den Wert einer Sacbc") 
Oder eines Menscben, und bei diesem ebensowobl den inneren Wert, 
den er wirklich hat, SeelenadeP) oder Verdienst, wie deujenigen, 
welchen andere ihm beimessen, also die Gleltung oder das Ansehen, 
das auf der Abstammung, der Person, dem Amt oder den Taten 
beruht®), endlich den Anspruch darauf. Denn die Wiirdigkeit 
gibt in diesem ganz von Ehrgeiz und Rechtsgefiihl beherrschten 
Volke der Allgemeinheit gegeniiber den Anspruch auf Ehrung, sei 
es durch das Amt, sei es durch anderweitige Anszeicbnungen durch 
das Volk oder die Standesgenossen ■*), vor allem aber den Anspruch 

Besprechung empfinde ich einen Zusatz. Zuuachst wird gesagt: die Eriauterung 
eiflzelner Fragen des Beamteurechts ist von Theophrast begonnen, von Diogenes 
weiter ausgebaut und besonders eingehend von Panaitios behandelt {ista in § 14 
Anfang kann sich nur auf die propria quaedam von i; 13 beziehen; Zeno und 
andere alters batten sie uberbaupt nicht bebandeltp Panaitios ist der jiingste, 
also wabrscheinKcb die Quelle. Dann scbiebt sich eine Recbtfertigung der Aus- 
wabl dieser Manner ein (in Frage konnen nur diejenigen Philosophen kommen, 
die auf die realen Verhaltnisse Riicksicht genommen haben); sie beginnt die Reibe 
mit Plato (naturUcb dem Plato der N'ipot) und fiihrt uber Aristoteles, Tbeophrast 
(der nocb einmal mit besonderem Lobe genannt wird), Herakleides, Dikaiarcli zu 
Demetrios von Pbaleron. Er allein ist praktiscber Staatsmann und Pbilosopb zu- 
gleich gewesen. Nur Cicero kann das Gleiche von sich ruhmen. IVieder empfiehlt 
Cicero sicb selbst als den geeignetsten princeps rei piiblicae. Als den tecbniscb ge- 
schulten PhRosopben kann er erst in seiner letzten Lebenszeit sich binstellen. 
Auch formell kann die zweite Liste der Vorganger nicht gleicbzeitig mit der 
ersten entworfen sein. Theopbrasts Name wird wiederbolt, der des Diogenes nicht ; 
Plato, der in JDe re publica ganz von den praktiscben Staatslehrern getrennt war, 
erbffnet bier die Reibe derjenigen, welche die realen Verhaltnisse beriicksichtigt 
haben. Cicero prunkt mit seinen pbilosophischen Kenntnissen. Ich halts es da- 
nacb fiir unwahrscheinlitb, daB auch die zweite Reihe aus Panaitios stammt, wie- 
wohl das sachlich wohl mdglich ware. 

1) Man beachte, wie hautig beide Worte verbunden werden princeps dignitate. 

2) Plautus JBacch. 131 (nach abnlichen Stellen Apuleius Met. X 18). 

3) Cicero De inn. 11 166 dignitas est alicuius honesta et ciiltu et honore et 
verecundia diyna auetoritas (auctoritas ist oft als Synonym gebraucht). 
Als Gegensatz erscheint iniuria oder cowtumeZia (vgl. Sallust F(p. ad Caesarem i,S 
die Stelle zeigt, wie nahe sich die BegrifFe principatus und dignitas kommen konnen). 

4) Vgl. Cicero pro Murena. 



die Idee des Principals bei Cicero und Augustus. 


43.5 


auf besondere Beriicksichtigung und personlichen EinfluB, die frei- 
willig gezollt werden sollen, well sie innerlich berechtigt, wenn 
auch durch kein Gesetz oJer formelles Recht erzwungen sind^j. 
Es ist Mannespfliclit , diesen Anspruch wie jeden andern Besitz 
mit alien Kraften zu verteidigen. So erklart Caesar sick die 
Feindschat't des Pompeius (i*. c. I 4) cinod neminem dignitate seam 
exaequari voJehat (vgl. Floras IV 2, 11) und laBt (III 91) seine Sol- 
daten vor der Schlacht rufen, sie kampften fiir die eigene Freiheit 
und fiir die dignitas ihres Feldherm-). Als Brutus Rom von der 
Herrscbaft Caesars befreit hat, empfindet er die bescheidene pro- 
vinda , die Antonius ihm als gewesenen Praetor iibertragt , als 
Yerletzung seiner dignitas, wiewohl er recktlicli keinen Anspruch 
auf mehr hat. Er glaubt mit den Walfen fiir sie eintreten zu 
miissen, und auch Cicero empfindet es als sittliche Pflicht, sich 
dafiir einzusetzen. Das Verhangnis fiir Cicero selbst liegt im 
grunde darin, daB er als Consul wirklich eine Leistung fiir den 
Staat vollbringen durfte und fiir sie sogar iibertriebene Ehrungen 
erfuhr ; von da an muB er eine dignitas, die fiir’ ihn zu groB ist, 
aufrechterhalten und immer wieder seinen Anspruch auf EinfluB 
prasentieren, bis er endlich zum Kampf urn die Stellung des prin- 
ceps getrieben wird’). Aus ihm selbst kann man am besten er- 
kennen, daB es bei diesem Kampfe um Wahrung und Mehrung 
der dignitas eine Grenze gar nicht geben kann. Wohl entspricht 
auBerlich gefafit die dignitas der Rangstufe in der Amtslaufbahn 
und ist daher auf der gleichen Stufe fiir alle gleich (daher die 
gradus dignitatis) , aber innerlich gefa£t ist sie nach Leistung und 
Ehrung des einzelnen verschieden, und jede neue Leistung oder 
Ehrung gibt weiteren Anspruch und fiihrt von selbst zu dem 
Streben, den groBten Anspruch und damit den entscheidenden Ein- 


1) Cicero ep. IV 14, 1 ego autem si dignitas est bene de re publica smtire et 
bonis viris probare quod sentias, obtineo dignitatem meam-, sin autem in eo dignitas 
est, si quod sentias aiit re efficere possis aut denique libera oratione defenders, ne 
vestigium quidem ullum est reliquum nobis dignitatis agiturque praeclare, si nosmet 
ipsos regere possumus (eigentlich wiirde zu seiner dignitas gehoren, daB er die andern 
leitet). Die Stelle erlautert zugleich die oben angefiilirten Worte Scipios ex in- 
Hocentia nascitur dignitas, ex dignitate honor, ex honors imperium, ex imperio 
libertas (vgl. das Oxymoron servire cum aliqua dignitate. Ad Attic. XV 5, 3). 

2) Ebenso Cicero Pro Lig. 18; ahnlich Velleius II 7 si civilem dignitatis 
concupissent modum, quidquid timultuando adipisci gestierunt, quietis dbtulisset 
res publica. 

3) Er erhebt den Anspruch klar Phil. Ill 28. 33. 36. IV 1. 16. DaB die 
neuen Consuln ihm die auBerliche Anerkennung versagen (Phil. V 5), macht sachlich 
nichts aus. 



436 R- Reitzen stein, die Idee des Principats bei Cicero und Augustas. 

flofi im Staate za haben. Die aufSere Stellung im Senate hangt in 
der Eegel damit zusammen, darf aber nicht einseitig betont warden. 
Das Empfinden fiir die dignitas oder auctoritas des andern, das zu 
einer freiwilligen Einschrankung des eigenen Machthnngers fiihrt, 
(ob. S. 401, 2. 3) ist die starkste moralische Kraft in dem romischen 
Staatsleben. Ihre Wirkung sehen wir in der Regel nnr in dem 
Verhaltnis des Beamten zam Senat; aber die einzelnen Wendnngen, 
welche die Begriffe dignitas und libertas verbinden (oben S. 435, 1), 
zeigen klar, da6 auch die bestandige Riicksichtnahme auf das, was 
Abstammnng, innerer Adel, Amtslanfbahn nnd personliche Leistnng 
als inneres Recht des Standesgenossen erscheinen lassen, dem ein- 
zelnen als sittlicbe Pflicht zu gelten bat; sie ist nicht nnr selbst- 
verstandliches Gebot der politischen Klngheit. 

GewiB bildet sick ein derartiges Gefiihl fiir die dignitas not- 
wendig in jeder alten Aristokratie nnd ist andrerseits leicht be- 
greiflich als Grundfordernng einer ganz anf die Gerechtigkeit auf- 
gebanten philosophischen Staatslehre. Dennoch empfinde ich die 
Art, wie in dem Werke De re pnblica das ganze System auf diesem 
echt romischen Empfinden aufgebaut und ans ihm die phUosophische 
Forderung der Herrschaft des Weisen hergeleitet wird, als eine 
gewaltige Tat. Fiir Panaitios ist sie wegen seines Verhaltnisses 
zu Scipio am leichtesten verstandlich, und dies bestimmt mich vor 
allem, das ganze einheitlich gedachte System der Politik, das nnr 
fiir den romischen Staat entworfen sein kann xmd doch offenbar 
im Interesse der Abhiingigen, besonders der Griechen, entworfen 
ist, auf ihn allein zuriickznfiihren. 

Die hohe Bedentung, die ich seinem Werke zuscbreiben mochte, 
liegt nicht in der Originalitat der philosophischen Gedanken — 
sie lassen sich ja fast alle leicht bei Plato und Aristoteles nach- 
weisen — , wohl aber in dem kiihnen V ersuch , die philosophische 
Theorie auf das Leben der Gegenwart zu iibertragen und dessen 
Fordemngen anzupassen, und liegt ferner in dem feinen Empfinden 
fiir die Individualitat auch des fremden Volkes und in der Festig- 
keit des Glaubens, dafi das sittlich Gute die einzig dauernde Kraft 
in dem Weltgeschehen ist. Es ist das letzte Mai, dafi uns der 
Idealismus des Hellenentums in solcher Selbstverstandlichkeit nnd 
Sicherheit entgegentritt. Die Frage, wie weit solchem Glauben 
eine Wirkung anf das Leben beschieden war, wtirde schon an sich 
die Miihe einer Untersuchung lohnen. 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift uiid die Entstehunsr 
der semitisclien Schrift. 

Von 

Kurt Sethe. 

Vorgelegt in der Sitzung vom 20. Juli 1917. 

Als ich der Koniglichen G-esellschaft der Wissenschaften in 
ihrer ofFentlichen Sitzung vom 4. Nov. 1916 meine Arbeit iiber 
den Ursprung des Alphabets vortrug^), bonnte ich, noch abge- 
schnitten von der wahrend des Krieges erschienenen wissenschaft- 

Da ich nuch mit der vorliegenden Arbeit auf einem Gebiet bewegen muBte, 
auf dem ich einesteils dock nur Gastrecht, nicht Hausrecht geniefie, und das an- 
dernteils ungepflugtes Xeuland ist, hielt ich es fiir richtig, mein Manuskript ror 
der Drucklegung den befreundeten Kollegen Littmann imd Lidzbarski zur 
Begutachtung vorzulegen Sie haben es dankenswerterweise einer grundlichen 
Durchsicht imterzogen, deren Spuren an verschiedeneu Stellen deutlich zu Ta^e 
tritt. Beide liaben mich zur VerOffcntlichung meiner Ausfiihrungen ermutii^t trotz 
der problematischen Natur, die Vieles darin hat und nach Lage der Din^e haben 
muB, und trotz der Zweifel, die der eine Oder der andere gegeniiber einzelnen 
meiner Gedanken hegen zu mussen glaubte. Ich selbst bin mir des Wagnisses 
das meine Kombinationen vielfach bedeuten, durchaus bewuBt, meine aber mit 
Littmann und Lidzbarski, daB diese Dinge einmal, auch auf die Gefahr 
des Irrtums bin, ausgesprochen werden mussen, um die Bahn ftir weitere wissen- 
schaftliche Erorterungen zu eroffnen. Thatsachlich ist aber, wenn man die Iden- 
titat der neuentdeckten Sinai-Schrift mit der spateren semitischen Schrift zucfibt 
der Kreis der Moglichkeiten durch die gegebenen Dinge (einerseits das semitische 
Alphabet mit seinen bekannten Buchstabennamen und -zeicheu, anderseits die 
Sinai-Schrift mit ihren deutlich erkennbaren Bildzeichen und dritterseits die aegyp- 
tische Hieroglyphenschrift) ganz bestimmt umgrenzt, sodaB fur uferlose Hypo- 
thesen kein Raum ist. Im Ubrigen will aber auch, was ich an neuen Kombina- 
tionen ausspreche, nur als Vorschlag oder Anregung aufgenommen werden, nicht 
als anspruchsvolle Hypothese. 

1) Nachr. d. Gott. Ges d. Wiss , Geschaftliche Mitteilungen, Heft 2, S. 88 ff. ; 
m Folgenden zitiert Urspr. 



43S 


Kurt Sethe, 


lichen Literatur des feindlichen Anslandes, nicht ahnen, daB be- 
reits am Anfang desselben Jahres 1916 in England aus der Feder 
von Alan H. Gardiner erne Arbeit erschienen war’), die sich 
mit dem gleichen Problem beschaftigte nnd das, was ich auf theo- 
retischem Wege zu zeigen versucht babe, anf praktischem Wege 
mit Htilfe neaer, bisher nnveroifentlicbter Materialien endgultig 
bewiesen zu haben scheint, den aegyptischen Ursprung des pboni- 
zischen Alphabets. 

Es ist mir eine besondere Freude, als einer der ersten^) die 
wissenschaftliche Welt Deutschlands anf diese hochst bedeutsame 
Arbeit des mir nah befreimdeten ansgezeichneten englischen Ge- 
lehrten hinweisen zu konnen, der sich trotz aller Stiirme, die zur 
Zeit die Welt durchtosen, den ruhigen Blick fiir die Dinge seinen 
dentschen Frennden gegeniiber nicht hat triiben lassen. Ich ver- 
danbe meinerseits die Kenntnis dieser Arbeit einem freandlichen 
Hinweise von H. Schafer nnd bin durch die Liebenswiirdigkeit 
von L. Borchardt in den Stand gesetzt, das der E b e r s - Biblio- 
thek des Dentschen Archaologischen Institute zu Kairo gehbrige 
Exemplar zu benutzen. 


1 . 

Die im Jahre 1905 vom Egypt Exploration Fond nach den 
altaegyptischen Denkmalstatten auf der Sinai-Halbinsel entsandte, 
von Flinders Petrie, dem unermudlichen Pionier der aegypti- 
schen Altertumswissenschaft, geleitete Expedition entdeckte u. A. 
in den seit der 1. Dynastie von den Aegyptern ausgebeuteten 
Kupfer- und Malachitminen des Wadi Maghara nnd in den Euinen 
des der „Hathor, Herrin des Malachits“ geweihten Tempels von 
Serabit el Chadem oder Sarbut el Chadem eine Anzahl von rohen 
Denkmalern aegyptisierenden Stiles, aber offenbar nnaegyptischer 
Arbeit, mit Inschriften in einer Schrift, die eine Mischung von 
anscheinend sinnlos zusammengereihten aegyptischen Hieroglyphen 
und fremdartigen Zeichen darzustellen schien. 

Der kurze vorlaufige Bericht, den Petrie iiber diese, von 
ihm vermutungsweise in das 15. Jh. vor Chr. gesetzten Funde in 
seinem Werke Researches in Sinai (London 1906) , S. 129 ff. gab, 
und die Probe, die er dabei veroiFentlichte, lieBen die Tragweite 
seiner Entdeckung nicht erkennen und haben daher nicht bloB im 

1) The Egyptian Origin of the Semitic Alphabet, im Journal of Egyptian 
Archeology III, S. 1 £P. 

2) Einen kurzen Hinweis gibt auch die soeben erschienene Jahresiibersicht 
iiber die Fortschritte der Aegyptologie von G. Roeder in der Z.D.M.G. 1917, 282. 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift und die Entstehiing der semitischen Schrift. 439 

Kreise der Aegyptologen, sondern auch dariiber hinaus, keineswegs 
die Beachtung gefunden, die sie verdienten. 

An vereinzelten Versuchen, die Inschrift der von Petrie mit- 
geteilten Probe als altkana'anaisch oder phoniziscb zn denten, hat 
es freilich nicht gefehlt '), dock mufiten diese Versnche, von denen 
einer der Wahrheit ziemlich nahe kam ■^), haltlose Luftgebilde blei- 
ben, solange nicht das gesamte Material znr Benrteilung vorlag. 
Erst die Zusammenstellung desselben hat es Gardiner, in dessen 
Hande die Bearbeitnng der inschriftlichen Ausbente der Petrie’ 
schen Expedition gelegt ist, ermoglicht, die Sache anf festen Fn6 
zu stellen. 

In seiner eingangs erwahnten Arbeit legt nns Gardiner das 
gesamte Material in Photographien nnd Zeichnungen vor. Die er- 
steren smd in der Reproduktion leider von geringem Nntzen, so- 
dafi man sich an die letzteren halten mn6. Anf S. 440 habe ich 
versncht, die Inschriften nach diesen, wie Gardiner selbst be- 
merkt, im Einzelnen noch der Berichtignng bediirfenden Zeich- 
nungen®) in skizzenhafter Form wiederzugeben. 

Es handelt sich, wie man sieht, nm 11 Denkmaler mit meist 
nnr kurzen Inschriften, bei Gardiner mit den Ordnnngsnnmmern 
345 bis 355 bezeichnet, namlich eine knieende menschliche Fignr 
aus Sandstein (Nr. 346, die von Petrie veroffentUchte Probe), 
eine menschliche Biiste mit knrzer, ans nnr drei Zeichen bestehender 
Anfschrift anf der Vorderseite (Nr. 347), eine kleine ruhende 
Sphinx, die aufier den fremdartigen Inschriften zn ihren beiden 
Seiten anch echte aegyptische Inschriften anf der Schulter und 
zwischen den Klaaen tragt (Nr. 345), sowie 8 leider stark ver- 
witterte und fragmentierte kleine Denksteine (Stelen) der iiblichen 
Form, oben abgerundet (Nr. 348 — 355), darunter einer mit dem 
Bilde des aegyptischen Gottes Ptah, der als Schutzpatron der 
Handwerker in den Sinai-Minen von den Aegyptem viel verehrt 
gewesen zu sein scheint (s. u. Abschnitt 7). Die Stelen fanden 
sich in den Felswanden bei den alten Minen eingehauen, teils IV 2 
englische Meilen vom Serabit el Chadem-Tempel entfernt, teUs im 


1) Ball, Proceed. Soc. bibl. arch. 30, 243. — Bruston, Rev. de theol. 
de Montauban 1911, 177. 1912, 175. Mir ist hiervon nur ein Resume des Ver- 
fassers (datiert Marz 1912) unter der Uberschrift .4dditions III auf S. 41 — 43 
einer nicht naher feststellbaren Druckschrift durch Spiegelberg’s Giite be- 
kannt geworden. 

2) der von Bruston, s. u. 

3) Diese riihren, nach einer gelegentlichen Bemerkung Gardiner’s zu 
schlieBen, nicht von ihm selbst, sondern von anderer Hand her. 



440 


Kurt Sethe, 



Die neuen 'Sinai-Iiischriften (nach den Faksimiles bei Gardiner). 











Die neuentdeckte Sinai-Schrift imd die Entstehung der semitischen Schrift. 441 

Wadi Maghara; die erstgenannten Rondskulpturen warden in 
dem genannten Heiligtume selbst aufgefanden. 

Die Inschriften dieser 11 Denkmaler enthalten im ganzen ca. 
150 einzelne Zeichen. Die Mehrzahl sind deutiich erkennbare Bilder 
konkreter Giegenstande, die in ibrer Zeichenweise so sehr an aegyp- 
tische Hieroglyphenzeicben erinnern, dad man sie zunachst fiir robe 
spieleriscbe Nacbabmungen ecbter aegyptiscber Hieroglypben balten 
wiirde. wie sie sicb in den nacbgeabmten Hieroglypbeninscbriften 
der romiscben Obelisken und moderner Spielereien finden. Die an- 
sicheren, ungleichartigen, stark variabeln Formen, die unverhalt- 
iiismafiig grode Ausfiihrung mancher Zeicben, die dem Zeicbner 
oiFenbar mebr Miibe macbten als andere (z. B. der Fiscb in Nr. 352), 
und die baufige Wiederkebr derselben Bilder konnten wobl aaf 
einen derartigen Gedanken fiihren. 

Ein solcber Verdacbt wil d jedoch, wie Petrie bereits in sei- 
nem Bericbte bemerkte (a. a 0. S. 130), dnrch eine Gruppe von 5 
bestimmten Zeicben ausgescblossen, die sicb in derselben Reiben- 
folge auf verscbiedenen z. T. weit von einander entfernt aut'gefun- 
denen Denkmalem wiederbolt. Scbon Petrie scbloB daraus, dad 
es sicb um ein ricbtiges Scbriftsystem, nicbt um ein Spiel der 
Pbantasie bandeln miisse. 

Unter den 150 Scbrit'tzeicben konnte Gardiner nur 32 ver- 
scbiedene Typen unterscbeiden , von denen mebrere iiberdies ver- 
mutlicb nur Varianten anderer Zeicben darstellen werden *). Aus 
diesem Befunde ziebt er den Scblud, den aucb Petrie scbon ge- 
zogen batte^), dad es sicb aller Wahrscbeinlicbkeit nach um eine 
alpbabetiscbe Scbrift bandeln werde. Diese mutmadlicbe alpha- 
betische Scbrift mit dem phoniziscben Alphabet zu vergleicben, 
legte der Fundort und die Tbatsacbe nabe , dad das pboniziscbe 
oder altsemitiscbe Alphabet das alteste bekannte reine Alphabet 
und allem Anschein nacb der Stauimvater aller andern reinen Al- 
phabete auf Erden gewesen ist. 

1 ) Sillier wobl 5, iiamlieh Nr. 20. 22. 20 — 31 tier Libte ; wahrscbeiulich mit 
Nr, 14 iJontisch ist Nr. 27, wiewohl es daneben in ein und derselben Inscbrift 
(Nr. o.jo) vorkoiiimt, vielleidit auch Nr. IS, wenn es nioht eine absiebtliche Dift'e- 
renzicruiig darstellt (s. u Absehiiitt 4); endlicb werden Nr. 24 und Nr. 25, wie 
Gardiner sellist bemerkt, lielleiiht mit einander identiseb sein, indem Nr. 25 
nur eine uuvullstandigo Form darstellt. Nr. 19 konnte mit Nr. 15 identiseb sein, 
obwobl es in dprselbeu lusehritt (Nr 352) vorkommt. 

2) P. wollte darin, im Sinne seiner Tbeorie von dem common Mediierranenn 
aiijnary, aus dem alle Alpbabete des Altertums gesebopft sein sollen (Urspr. 
S. Ill), one of the many alphabets ivhich were in use in the Mediterranean lands 
Jong before the fixed alphabet selected by the Phoenicians sehen. 



Kurt Set he 






nQi noaci 

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Bm, OM/) <^i tdjter- /ncuH TBcti/i) ■'SeccfCt 










































l)ie iieueiitdeckte Sinai-Sihrift iind die F.utsteliung der scmitisclien Schrift. 443 



eLu/rci\. «u*- %. 
































444 


Kart Sethe 


Wenn man von den vereinzelt vorkommenden und vielleicht 
nicht ganz zweifelsfreien Zeichen absieht, so sind in fast alien 
Fallen deutlich aegyptische Hieroglyphenbilder zn erkennen, die 
fast itberall anch mit einem Zeichen der semitischen Schrift (sei 
es der phonizischen , sei es der sndsemitischen) verglichen werden 
konnen : 

1) Ochsenkopf von der Seite gesehen (Nr. 1), wie das aeg. 
Zeichen, das in den Opferformeln als Abkiirzung fiir das Wort 
„Rind“ gebrauchlich ist; dem phon. Buchstaben ’Aleph (Rind) in 
der Form genan entsprechend. 

2) GrimdriB eines Hanses in wechselnden Formen (Nr. 2. 30), 
den aeg. Zeichen fiir „Hans“ {prj nnd h .t) entsprechend; von Gar- 
diner mit Beth (Hans) verglichen, das im Siidsemitischen eine 
dazu passende Form hat (s. n. Abschnitt 4) und dessen phonizische 
Form sich gleichfalls ans einem solchen Bilde leicht ableiten laBt 
(Urspr. S. 143). 

3) Stehender Mensch mit emporgehobenen Armen (Nr. 16), dem 
aeg. Zeichen fiir /i') „jubeln“. fjy ,hoch“ gleichend ; von Gardiner 
mit keinem semitischen Buchstabenzeichen verglichen, m E. aber 
unverkennbar der siidsemitischen Zeichenfamilie fiir die 3 //-Laiite 
entsprechend und als Grundform fiir die drei augenscheinlich erst 
sekundar differenzierten Zeichen sehr willkommen. Der Name des 
Buchstaben, den man a priori fiir den altesten von den dreien 
halten wird, ist He-). Das konnte der Ansruf he (hebr. sn, also 

i) Zum Folgouden vergl. die richrifttafel auf S. 442/3. Die tier im Text der 
Kennung der einzelnen Zeichen in Klammern beigefilgten Nuramern beziehen sich 
auf Gardiners Kumerierung der 32 Zeichen; sie sind auch in der Schrifttafel 
angegeben. Die daselbst den phonizischen, sndsemitischen und griechischen Bnch- 
stabennamen vorgesetzteu Zahlen geben die Steile an, die der betr. Buchstabe in 
der Ordnung seines Alphabets cinninimt. Die sndsemitischen Buchstabennamen 
sind uns nur durch das Aetbiopischo uberliefert, sind aber zweifellos aus dem 
Sabiiisohen iibernommen, vgl .Vb^chn. 4. 

2) Das schliefit naturlich nicht in sub, da6 die Zeichenform , die nach der 
Differenzierung gerade diesen Laut bezeichnet, auch der Grundform des Zeicheus 
am nd' hsten stehen musse. Im Gegenteil scheint das Zeichen fur h hinsichtlich 
der “Wiedergabe des Kopfes, das tur Ij, vielleicht hinsichlich des FuBes den Typus 
der Grundform am Besten bewahrt zu haben, Vgl. dazu den ahnlichen Fall der 
Differenzierung des Waw im Griechischen, wo das alte IVaw-Zeichen in unveran- 
derter Gestalt als Y fur den Vokal ii, ein neues nach dem Cluster des benacli- 
barten Buchstaben E gebildetes Zeichen, das Digamma F, aber an der Steile (als 
6. Buchstabe des Alphabets) nnd mit dem Namen (Wau) und Werte des alten 
Zeichens fur den Konsonanten ic bezw. it gcbraucht wird. Auch die Uuterschei- 
dung der urspninglidi durch ein gemeinsames Zeichen wm bezeiihneteu Laute 
m und M im Aegyptisi hen (Urspr. S. 1.5.3) bietct etwas -Analoges. 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift iind die Entstehimg der seinitischen Schrift. . 445 


genau wie der Buchstabenname geschrieben und vokalisiert, arab. 
Art ,.o“) sein; und das Bild des Menschen mit den erhobenen Handen 
konnte eben dies wobl darstellen oder versinnbildlicben, wie es im 
Aegyptiseben bei den synonj'men Interjektionen i und h (letztere 
mit dem semitischen he wobl identiscb) mittels eines ganz abnlichen 
Zeicbens (rufender Menscb mit einem erbobenen Arm, s. die Schrift- 
tafel S. 442) zu gescbehen pflegt. 

4) Menscblicbe Hand wie das aeg. Zeicben flir d, jedocb auf- 
recbt gestellt (Nr. 5); dem semitiscben Jod (Hand) nacb der Be- 
deutung des Bucbstabennamens zu vergleichen. Die Aufrechtstel- 
lung des Bildes wiirde mit der Tatsacbe, dab die spiitere semiti- 
scbe Scbritt keine liegenden, sondern nnr stehende Zeicben kennt, 
in Einklang steben. 

5) Zeicben, das man der aeg. Hieroglypbe fiir Pllanze ver- 
gleicbea kann (Nr. 6), die in abgekiirzter Form oft genau so aus- 
feiebt. Das Zeicben siebt anderseits dem pboniziscben Kapb sebr 
abnlicb und wird daber von Gardiner mit diesem vcrglichen. 
Stimmen diese Vergleicbungen, so wiirde der seroitiscbe Name, cler 
Hand bedeutet. auf einer IJmdeutung des alten Bildes beruhen, 
falls nicbt an eine iibertragene Bedeutung des Wortes .,Hand“ 
= Zweig zu denken ist, wie sie nach einem Hinweis von Rahlfs 
in dem feminin. r'.ES Levit. 23,40 („Hande der Palmen“) und in 
dem differenzierten Femininum nE3 „Palmzweig“ tatsachlich vor- 
liegt. Vgl. unten zu 13. 

6) Strick Oder Faden in der iiblichen aeg. Darstellung (Nr. 7), 
von Gardiner (in unbewubter TJbereinstimmung mit Bruston) 
einem umgekebrten Lamed verglicben, wie es sich in der siidsemi- 
tischen Scbrift und in den altesten griechischen Inschriften findet. 
Da der Name des Bucbstaben nach Noldeke’s Peststellungen 
urspriinglich hund oder lohl gelautet haben soli, konnte man an 
arab. lubnd „Wolle“ denken. das auch im spateren Hebraisch in 
der Bedeutung Wolizeug. Filz vorkommt M. 

7) Zickzacklinie wie das aeg. Zeicben fiir _Wasser“, das im 
Aeg. als Buchstabe fiir "■ alt aucb fiir m, verwendet wurde (Nr. S); 

1) Iin Samaritanisditii lun iler Xaiae fles Bueli-taiien ^enau diese Form 
Lahad. L i t tmanii und Iddz barski aufiern irleiflnvolil lieide Bedenken gegen 
den obigen Erklarungsvor.'^chlag. wohl weniger aiis launirhen Grunden, als wegen 
der Bedeutung von labad , bei dem man eher an ziis :mmengedrchto Wolle und 
an FHz denke. kli glaube, liies wurde .jedorli kein ernstliches Hiudernis sein. 
Der Aegypter verwendet jedeiifalls unsev Hdd nidit .selten aurli als Ersatz fiir 
das Ideogramm des Kleiderstotfes. Bis eine bessere Erklarnng des Biirhstahen- 
iiamens gefunden ist, wird man daber doch vielleicht daran denken diirfen. 

Kg! Oes. d. Wiss. Nachrichten. I’hil.-hist Klasse. 1917. Heft 3. 30 



446 


Kurt S ethe, 


dem semitischen Mem (Wasser) gleich, das von jeher damit ver- 
glithen vforden ist. Im Siidsemitischen ist das Zeichen aufrecht 
gestellt. 

8) Schlange. wie das aeg. Buchstabenzeichen flir d (Xr. 10), 
dem semit. Xun zn vergleichen, das eine ganz ahnlicbe Form hat 
und im Aethiopischen den vermutlich aus altem kana'anaischen 
Xahas (Schlange) *) verderbten Xamen Xahas fiihrt. 

9) Fisch in der iiblichen aeg. Weise gezeichnet, horinzontal 
schwimmend (Nr. 9). Da der Buchstabe Xun , dessen (kana'aniii- 
scher) Name im Aramaischen und Assyrischen „Fisch“ bedeutet, 
bereits in der Schlange seine Entsprechung gefunden hat, kann 
er fiir dieses Zeichen des Fisches, mit dem er anch keinerlei Ahn- 
lichkeit hat, nicht in Betracht kommen. Den Fisch um des Wortes 
dart willen. das in historischer Zeit die kana'anaische Bezeichnnng 
fiir Fisch ist, dem Daleth gleichzusetzen, wie das Cowley wilD), 
verbietet Form und Name des Daleth (s. u. Abschnitt 9). Ich 
mochte zui‘ Erwagung stellen, ob man nicht das Samekh darin zu 
erkennen habe, dessen altphonizisches Bild wohl aus einem auf- 
recht gestellten Fischbilde entstanden sein konnte und dessen sonst 
nnerklarter Name uns vielleicht ein friih veriorenes kana'anaisches 
Aquivalent des arab. samah „Fisch“ erhalten haben konnte^). SchlieB- 
lich muG dem Samekh recht sein, was dem Nun billig war. So 
gut man den Namen Nun aus einem auf kana'anaischem Sprach- 
gebiet nicht vorkommenden, nur aramaisch und assyrisch belegten 
Worte fur „Fisch“ erklaren woUte, wind man den des Samekh 
vielleicht auch aus einem solchen, in historischer Zeit nur im Ara- 
bischen noch lebenden Worte fiir denselben Gegenstand erklaren 
konn.en, zumal der entsprechende Verbalstamm „stutzen“ dem 
Arabischen und dem Kana'anaischen gemeinsam ist. 

10) Menschliches Auge, von vorn gesehen, ganz in der charak- 
teristischen Zeichenweise der Aegvpter (Nr. 11), nur bisweilen auf- 
recht gestellt (vgl. oben nnter 4) ; dem semitischen 'Ajin (Auge) 
dem Namen nach entsprechend und da, wo die Pupille fehlt, auch 
in der Form sehr nahe kommend (s. u.), in diesem Falle auch von 
Bruston schon richtig so gedeutet. 


1) Urspr. S. 134 versehentlich Nehaset genannt, richtig S. 143. 

2) In einem Zusatz zu Gardiner’s Aufsatz. 

3) Der Kiirper zu dem langen Hauptstrich, die Flossen zu den drei Quer- 
•strichen geworden. 

4) Die samaritanische und syrische Form des Buchstabennamens Semicat 
wurde dann das Nomen unitatis (arab. samakat „ein Fisch**) dazu enthalten. 



Die neuentdeckte Sinai-Scbrift und die Entstehung der semitischen Schrift. 447 

11) Zeichen. das dem phonizischen 'Ajin noch. ahnlicher sieht 
als das vorige. neben dem es in einem und demselben Texte auf- 
tritt (Xr. 12), von Gardiner dem aeg. Zeichen des Mnndes gleich- 
gesetzt, das im x'^eg. als Lautzeichen das r bezeichnet, und dessen 
Eorm dem pnpillenlosen Bilde des Auges in der Tat fast (in fliich- 
tigen Inscbriften oft ganz) gleichsieht. Das siidsemitische Pe (Mund) 
hat genau dieselbe Form und ist bereits von Ho mm el (Siidarabi- 
sche Chrestomathie S. o) mit dem aeg. Bilde znsammengebracht 
worden. 

12) Henschlicher Kopf, von der Seite gesehen (Nr. 13), von 
der aeg. Hieroglyphe fur ^Kopf* durch das Feblen des Bartes ver- 
schieden ; dem semitischen Eesch (Kopf) zu vergleichen (vgl. TJrspr. 
S. 134 1. 

13) Zeichen, das der aeg. Hieroglyphe filr den sogen. nubi- 
schen Bogen ohne Sehne, einem verhaltnismaBig seltenen Zeichen, 
gleifht (Nr. 14, vgl. Nr. 18 und Nr. 27); von Gardiner wohl mit 
Recht dem phonizischen Scbln (Zahn) verglichen, da es wohl denk- 
bar ist, daB man darin spater, eventuell nachdem das Zeichen 
spitzige Formen bekommen hatte, zwei Zahne erkannt habe. Es 
wiirde hier also eine ahuliche Umdeutung des .Bildes durch den 
Semiten stattgefnnden haben, wie unter Umstanden in dem Falle 
des Kaph. Bedenklich ist jedoch, daB die sudsemitische und die 
griechische Form des Buchstaben auf eine gemeinsame Grondform, 
die aufrecht gestellt war, zu deuten scheinen. 

Der griechische Name des Buchstaben legt aber noch 

eine andere Erklarung des Schriftzeichens nahe, nSmlich aus dem 
im Hebraischen zu C30 gewordenen Worte silm „Nacken“, „Schulter“, 
„Riicken“, indem das y der griechischen Namensform nach dem 
Muster der von /.-Stammen gebildeten griechischen Nomina auf -ga 
wie TCUQaSeLyiia (von dft'xrrgi), xijQvyfioc (von xrjQveeco, xijQv^), doyjia 
(von doyJa), usw. zu erklaren ware. Man konnte in dem Bilde 
der Sinai-Schrift ein Schultertragholz oder Joch erkennen, oder 
auch, wie mir Bertholet vorschlug, das Bild eines Gebirgs- 
riickens, da das hebraische Wort gerade auch diese Bedeutung, 
z. B. in dem Namen der Stadt Sicbem (Septuaginta Hlxifitt) , hat. 
Alsdann wiirde nicht der „nubische“ Bogen, sondern das Ideogramm 
des Gebirgslandes IHMl, ein sehr gewohnliches Zeichen der aeg. 
Schrift, als Vorbild anzusehen sein. Der spatere phbnizische Buch- 
stabenname Schin wiirde auch dann auf Umdeutung und Umbenen- 
nung des spitzformig gewordenen Zeichens beruht haben. — [Diese 
letztere Erklarung gewinnt in der Tat, je langer man sich die 


30 * 



448 


Kurt Sethe, 


Sache iiberlegt, an Wahrscheinlichkeit ; insbesondere auch die von 
Bertholet angeregte Dentnng des Zeichenbildes. S. auch S. 474] 

14) Anfrecht stehendes Kjreuz (Nr. 15), der altesten Form des 
phonizischen Taw vollig gleich, dem aeg. Zeichen fiir hnj „befind- 
lich in“ zn vergleichen. 

15) Zeichen wie das aeg. Zeichen fiir den Laut h (hir. 21). Von 
semitischen Buchstabenzeichen wiiBte ich keins zu vergleichen, es 
sei denn das Sade, das in den thamudenischen nnd den Safa-In- 

schriften znweilen eine Form hat, wie sie das aeg. ^ abgekiirzt 

auch oft annimmt. Die volleren Formen dieses Buchstaben im Sa- 
baischen scheinen jedoch anf eine ganz andere Konstitntion des 
Bildes hinzudenten, das danach wohl eher sekundar aus dem Sa- 
mekh (Sat) abgeleitet ist (s. u. Abschnitt 4). — [Vielleicht ist das 
semitische Koph darin zu suchen, das, wenn sich die unten zur 
Erwagnng gestellten Zeichenidentifikationen bestatigen sollten,. 
eigentlich allein noch dafiir in Betracht kommen konnte.] 

16) Zeichen, das -iem aeg. Zeichen fiir )ifr ,.gut“ gleicht, je- 
doch liegend statt stehend (Nr. 24, vgl. Nr. 25). Man konnte nach 
der Form eventuell an Koph denken; in diesem Falle ware dann 
das Bild aber spater aufgerichtet (also wie die Hand und das 
Auge in der Sinai-Schrift) nnd im Verbal tnis zu seinem aegypti- 
schen Urbild anf den Kopf gestellt worden. Anch an ein aus dem 
Kreuze (Taw) mittels eines angehangten Kreises differenziertes 
Zeichen entsprechend dem phonizischen Teth kann gedacht werden 
(s. u. Abschnitt 4). 

17) Zeichen, das dem aeg. Zeichen der Sandale ahnelt. aber 
liegend (Nr. 26). Liegende Zeichen kennt die semitische Schrift 
spater, wie gesagt, nicht; man wird also auch hier das Bild auf- 
zurichten haben, um es mit einem semitischen Zeichen vergleichen 
zu konnen. 

Zu diesen 17 Zeichen, die unter den aegyptischen Hieroglyphen 
ihre G-egenstiicke haben oder zu haben scheinen, kommen endlich 
noch 2, bei denen mir das minder evident erscbeint, bei denen 
aber ihr Aussehen den Vergleiob mit einem semitischen Buchstaben- 
zeichen nahelegt: 

18: Stehende Gabel mit 2 nach oben gekehrteu Zinken (Nr. 3), 
von Gardiner dem phonizischen Waw gleichgesetzt und mit dem 
seltenen aeg. Zeichen fiir Stiitze (z, B. des Himmels) verglichen. 

19) Zeichen, aus 2 wagerechten Strichen bestehend, die dnrch 
einen senkrechten Querstrich verbunden sind (_Nr. 4), von Gar- 
diner dem phonizischen Zajin [Z^ra] verglichen. Die Kriimmung 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift und die Entstehung der semitischen Schrift. 449 

^es unteren Striches in dem einzigen vorkommenden klaren Bei- 
spiel kbnnte an das aeg. Bild des Schlittens erinnern, das den 
phonetischen Wert tm kat. 

Man mag iiber die oben aufgefubrten Vergleicbungen und Den- 
tungen der Bucbstaben im Einzebien denken , was man will , die 
Tatsacbe wird niemand bestreiten, dafi unter den vermutlicb alpha- 
betischen Zeicben der neuen Sinai-Scbrift nicbt weniger als 8 sind, 
die vollig deutlicb in aegyptiscber Weise ansgesucbt eben die Ge- 
genstande darstellen, nacb denen Bucbstaben des pbbniziscben Al- 
phabets benannt sind und die in diesen Bucbstaben aller Wabr- 
scbeinlicbkeit nacb aucb urspriinglicb dargestellt waren. Es sind 
die folgenden ; 

1. Ocbsenkopf = ’Alepb. 

2. Haus = Betb. 

4. Hand = Jod. 

7. Wasser = Mem. 

8. Scblange = Nun (Nahas). 

10. Auge = 'Ajin. 

12. Kopf = Rescb. 

13. Kreuz = Taw. 

In 7 von diesen 8 Fallen (1. 2. 7. 8. 10. 12. 13) ist zugleicb 
aucb eine unbestreitbare Ubereinstimmung in den Formen zwiscben 
den spateren semitiscben Bucbstaben und den aegyptiscben Bildern 
der Sinai-Schrift festzustellen. 

Das sind Tatsacben, die die Stellung dieser neuentdeckten, 
auf einem Boden, der seit den altesten Zeiten der aegyptischen 
Geschichte von Semiten bewobnt und von den Aegyptern beherrscht 
worden ist, auftretenden Schrift auBer alien Zweifel setzen. Wir 
miissen es bier mit einer Zwischenstufe zwiscben der aegyptiscben 
Schrift und der spateren pboniziscben bezw. semitischen Buchsta- 
benschrift zu tun haben. Hier ist das missing link fiir die Ab- 
stammung des pboniziscben Alphabets von der aegyptiscben Schrift 
gefunden. Diese Abstammung selbst, fiir die man bisber nur theo- 
retisch eine innere Notwendigkeit statuieren konnte, wird damit 
praktiscb als Tatsacbe erwiesen. 

Gardiner selbst ist geneigt, nocb die Moglichkeit zuzugeben, 
daB in der Sinai-Scbrift nocb nicbt die richtigen Anfange der spa- 
teren semitischen Schrift, sondern nur ein Versuch in der gleichen 
Eichtung vorliegen kbnne, der jedenfalls eine gute Analogie fur 
die Herleitung der semitischen Schrift aus der aegyptiscben Schrift 
bilden wurde^). Icb glaube das ist zu groCe Vorsicht. Die oben 

1) „If the new Sinaitic script is not the particular script, from which the 



450 


Kurt Seth e 


hervorgehobenen Tatsachen, die Ubereinstimmang in der Auswahl 
der Biider — darunter ein so wenig von selbst gegebenes wie 
der Ocbsenkopf — nnd in ihren Formen, schliefien die Annahme 
eines blofien Versnches schon ans '). Hier bandelt es sicb nicbt 
um Analogieen, sondern um Identitaten. Der Versnch, wenn es 
ein solcher gewesen sein sollte, ware also nicbt aufgegeben wor- 
den, sondern hatte in der spateren semitiscben Schrift seine di- 
rekte Fortfuhrnng gefnnden. Er ware ihre Grnndlage geworden 
nnd hatte ihr eine ganze Eeihe von Elementen nnverandert iiber- 
geben, sicher nnd nnbestreitbar die eben genannten 8 Zeichen, 
wahrscheinlich aber vielmehr; wenn sich die oben S. 444 ff. ansge- 
sprocbenen Deutnngen nnd Identifikationen , die mir einen hohen 
Girad von Wahrscheinlichkeit zu haben scheinen, samtlich bestatigen 
sollten, waren es mit dem Tiirfliigel = Daletb, der zufallig in 
den Inscbriften nicbt vorkommt, nngerechnet die nnten noch zu 
erorternden, wobl gleicbfalls nicbt nnwahrscheinlichen Identifika- 
tionen von Tetb nnd Sade (s. n. Abscbn. 4), ibrer 18, d. h. fast 
der ganze Zeichenbestand des spateren phoniziscben Alphabets, das 
22 Zeichen besitzt. 

Da6 auch die lautliche Bewertung der Bilder, die der spateren 
semitiscben Schrift und der Sinai-Scbrift gemein waren, in beiden 
dieselbe war, ist, wenn anders die letztere einem semitiscben Volke 
gehort haben soli, a priori anznnehmen; bandelt es sich dock bei 
den Bildern nm so einfache BegrifFe wie Hans, Auge, Kopf, Hand, 
Wasser, die in fast alien semitiscben Sprachen einen nnd denselben 
Namen haben. Den Beweis dafur diirfte aber Gardiner erbracht 
haben, indem er, gleichsam die Probe anfs Exempel machend, die 
Lesnng eines in den Sinai-Inschriften bfters vorkommenden Wortes 
mit grofier Wahrscheinlichkeit bestimmte. Es ist das der Hohe- 
pnnkt seiner Arbeit, die eigentliche Entdecknng, die er gemacht 
hat. Dem ganzen, sich wie von selbst errichtenden Ban ist da- 
durch der SchlnBstein eingefiigt, der letzte Zweifel an der wirk- 
lichen Identitat der Sinai-Schrift und der spateren semitiscben 
Schrift wird damit beseitigt. 


Phoenician and the South-Semitic alphabets are descended, I can see no alter- 
native to regarding it as a tentative essay in that direction, which at all events 
constitutes a good analogy upon which the Egyptian hypothesis can be argued“. 

1) Daran da6 es ein Versuch sein konnte, eine nicht-semitische Sprache al- 
phabetisch zu schreiben, denbt Gardiner augenscheinlich nicbt, und die geo- 
graphischen und historischen Verhaltnisse lassen das ja auch nicht in Betracht 
kommen. 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift und die Entstehung der semitischen Schrift. 451 


2 . 

Bereits Petrie bemerkte in seinem Berichte (Researches in 
Sinai S. 129), da6 sich die Gruppe von 5 Zeichen, die er in Pig. 139 
in groBerem MaBstabe ans der als Probe mitgeteilten Inschrift 
Nr. 346 abbildete, auf mehreren andern Monumenten wiederhole 
(vgl. oben S. 441). Er schlofi daraus, daB nicht etwas fiir das 
einzelne Denkmal Eigentiimliches. wie ein Personenname (des Stif- 
ters), sondem etwas von allgemeinerer Geltung, wie ein religioser 
Ansdruck (some religious phrase'), darin stecken werde. 

Ans Gardiner’s Arbeit zeigt es sich nnn, daB die Behaup- 
tnng von Petrie genau genommeu nur fiir die 4 letzten (in der 
Probe rechts stehehden) Zeichen von jenen 5 gilt. Das erste Zeichen 
kehrt zwar in der linken Inschrift der Sphinx (Nr. 345) auch vor 
der Grnppe wieder; in der rechten Inschrift desselben Denkmals 
(wo das 5. Zeichen weggebrochen ist) und in den Inschriften Nr. 
348. 353. 354 aber steht statt seiner das Bild des Menschen mit 
emporgehobenen Handen, wahrend in Nr. 352 an dieser Stelle eine 
Llicke klafft. 

Die 4 verbleibenden Zeichen, die in alien 7 Fallen am Ende 
einer Zeile, in 5 davon angenscheinlich, in den beiden andern mog- 
licherweise auch am Ende des ganzen Textes, stehen, sind das 
Haus, das Auge, der Strick und das Krenz. Gibt man jedem dieser 
Zeichen den Lautwert, der ihm nach seiner Bedeutung und seinem 
Aussehen im spateren semitischen Alphabet znkame, so erhalt man 
das Wort nb?'i ..Herrin’' (BaalTig), das semitische, spezieller ka- 
na'anaische Aquivalent des Namens der aegyptischen Gottin Hat- 
hor, der das Heiligtum von Serabit el Chadem geweiht war und 
der als „flathor, Herrin des Malachits" das ganze Bergwerksgebiet 
des Sinai gehoren sollte, derselben Gottin, die in der echt aegyp- 
tischen Inschrift auf der Schulter der Sphinx (Nr. 345) tatsachlich 
als Empfangerin der Widmung des Denkmals genannt ist (s. dazu 
u. Abschn. 7). Eine negative Bestatigung dieser Deutung sah Gar- 
diner darin, daB die in Rede stehende Grnppe auf dem Denk- 
stein (Nr. 351) , der rechts neben seiner Inschrift das Bild des 
Gottes Ptah zeigt, nicht erscheint. 

Vielleicht laBt sich Gardiner’s ansprechende Deutung noch 
erganzen. Ist die Lesung Ba'alat richtig, so ist das Zeichen, das 
dem Worte in Nr. 345 links und in Nr. 346 vorangeht, 1] ^an 
wird darin gern die Praposition des Dativs b erkennen. Das Zei- 
chen, das in 4 andern Fallen (Nr. 345 rechts, Nr. 848. 353. 354) 
an SteUe dieses I erscheint, der Mensch mit emporgehobenen Ar- 
men, wird von Cowley als Deter minativ fiir Gottin angesprochen. 



452 


Kurt SetLe 


Dabei bliebe sein Fehlen dort, wo dafiir das I steht, unerklart. 
Das Zeichen wurde nun oben mit der slidsemitischen Form des 
Bucbstaben h verglichen. 1st wirklich dieser Bnchstabe darin zu 
seben, so wiirden wir hier unter Umstanden den bestimmten Ar- 
tikel haben kbnnen, der spater im Hebraischen dem selbstandig als 
Grottesbezeicknung gebranchten Worte haul at notwendig vorangehen 
miiBte, der aber in Verbindung mit der Praposition b in der Schrift 
nicht hervortreten wiirde. So wiirden wir derm einmal nbyab Jah- 
ba\tJat „fur die Herrin das andere Mai nbyan habba^alai „die 
Herrin“ zu lesen haben ‘). 

Fin seltsames Spiel des Zufalles, nnd zugleich eine schbne 
Bestatigung fiir Gardiner’s Lesung, ist es, daB die 3 letzten 
Buchstaben des mntmaBlichen Ba'alat bereits von B rust on bei 
seinem Deutnngsversuch der von Petrie verbffentlichten Inschrift 
genau ebenso rby gelesen worden sind nnd daB Gardiner diese 
Lesung des franzosischen Gelehrten nicht kannte, als er seine Le- 
sung vorschlug. Bruston kam zu seiner Lesung dadarch, daB 
das 'Ajin-Zeichen gerade in der von Petrie abgebildeten Inschrift 
eine dem spatereu phonizischen 'Ajin nahe kommende Gestalt (ohne 
Pupille) bat. Eben das liefi ihn, dem ja die aegyptiscben Dinge 
ferner lagen, aber auch den wahren Zusammenhang der Dinge nicht 
erkennen. Er kam nicht auf die Gleichsetzung des Hanses mit 
dem phonizischen Beth wie Gardiner, sondern nahm das Bild 
als Ideogramm (coar ou parvis). Er iibersetzte denmach die 4 Zei- 
chen, in denen Gardiner die Gottin Ba'alat erkannt hat, mit 
„Opferhof“, indem er rby fiir den Status constructus des spateren 
nbb „Opfer“ („les holocaustes“j nahm und dieses Wort mit einem 
angeblich folgenden Worte (von ihm Tir7 gelesen und auf die 
Hathor gedeutet) verbindeh wollte. Diese Deutung wird durch 
die Parallelstellen, die Gardiner jetzt verbffentlicht hat, ausge- 
schlossen. Sie zeigen, daB dem Worte tatsachlich nichts folgte 
und daB Bruston im TJnrecht war, als er die Inschrift, um sie 
von rechts nach links lesen zu konnen, auf den Kopf stellte und 
so das als Anfang nahm, was den SchluB bildete. 

Gardiner hat sich wohlweislich auf die Deutung des einen, 
6 bis 7 mal wiederkebrenden und dadurcb in seiner Lesung ge- 
sicherten Wortes Ba'alat beschrankt ’). Was Cowley in einem, 


1) Will man den Artikel in so friiher Zeit nicht gelten lassen, so konnte 
nachLittmann und Lidzbarski bei dem n auch an die Interjektion „o“ ge- 
dacht werden. 

2) „rnfortunately, however, I have no suggestions for the reading of any 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift and die Entsteliung der semitischen Schrift. 453 


der G- a r d i n e r ’ schen Abhandlung angehangten Essay, z. T. unter 
Mitwirkung von Sayce. aus den kurzen und schlecht erkaltenen 
Inschriften sonst zn lesen versucht hat, ist nicht sehr ermutigend. 
DaB zwei Inschriften auf der Figur Nr. 346 mit □?: 5? , eine an- 
dere auf der Stele Nr. 349 mit ■'tS „ich" (geschrieben nur iS) be- 
ginnen sollen, ist noch das Wahrscheinlichste ^). In der 2. Zeile 
von Nr. 349 lesen Sayce und Cowley pj: n „Herr der Negeb- 
Leute“, ohne daB der Zusammenhang klar ware oder sonst etwas 
die Lesung a fiir das dem Gimel so unahnliche Zeichen (Nr. 28) 
rechtfertigte -j. Die aus den 3 Zeichen ~'.r. l)estehende Inschrift 
der Biiste Nr. 347 wird von Cowley Tanit gelesen. In dem mut- 
maBlichen T, mit dem Nr. 351 anfangt, ist Bertholet nr „dieser‘^ 
resp. „dies ist“ zu vermuten geneigt. 


other word, so that the dcuplierment of the name Ba'alat must remain, so far 
as I am concerned, an utueriflahle hjpothesis“. 

1) Auf die Deutung des Aufangs von A’r. 349 als „ich‘‘ sind ohue Kenntuis 
von Cowley’s Vermutuug und unahhangig von einander auch Littmann und 
Lidzbarski gekomtnen. In der Tat fangen semitische Inschriften ja gern mit 
dem Pronomen 1. sing. an. Lidzbarski legt Gewicht darauf, daB dieses mut- 
niafiliche Pronomen nicht die in den kana'anaischen Inschriften iibliche Eorm 

(= hebr. habe, und will daraus schlieBen, daB wir es mit einem nord- 

arabischen Di.iiokt, nicht einem kana'anaischen zu tun haben ; ein SclduB, der 
mil’ wenig historische 'Wahrscheiulichkeit zu haben scheint. 

2) Sucht man fur das Gimel, den eiuzigen Buchstaben des semitischen Al- 
phabets, der nach den oben gegebenen und den unten in Abschn. 4 noch zu ge- 
benden Identilikationen scldieBIhh noch zu linden librig bleibt, nach einem Aqui- 
valent in der Sinai-Schrift auf Grand seiner Gestalt, so kann wohl nur Nr. 17 
dafiir in Betracht konimen, (ias eiuen Winkel oder ein Geleuk darzustellen scheint 
und allenfalls dem aeg. Zeichen fur Ecke hib verglichen werden konnte; dieses 
steht freilich anders, aber dem sudserait. Gaml und dem griech. Gamma gleich. 
Der Buchstabenname Gimel (gaml, rduficc) lieBe sich uher das arabische rjamala 

verbindeu*’, „vereinigen‘-, Infinitiv gumlun, vielleicht damit vereinigen. Er 
konnte etwas wie jxinctura. artus, &q&'qov bedeutet haben. Ein auf die Bedeu- 
tung „verbinden", „Tereinigen“ deutendes Wort gamla. od. cjimHa, nGespann*-, 
Brucke“, das aufl'allend an den Buchstabennamen erinnert, verzeichnet Levy, 
Neuuehr. u. chald. Worterb. I S. 341 in der Tat fur das spatere Hebraisch. Je- 
denfalls ist die Deutung des Buchstaben als Kamel bezw. Kamelskopf. fiir die ich 
Urspr. S. 134 143 noch eingetreten bin, jetzt zweifelhafter denn je geworden. 
Bekanntlich kommt das Kamel in Aegypten (abgesehen von einer Figur aus einem 
priihistorischen Grabe von Abusir el Meleq, die auf ein Kamel gedeutet worden 
ist Holier, Hitt. d. D. 0. G. Nr. 30, S. ITj, weder in Wort noch in Bild jemals 
vor der griechisch-rOmischen Zeit vor An einem VorbiWe tiir ein Zeichen, das 
einen Kamelskopf darstcllte, fehlte es jedenfalls in der aeg. Schrift. 



3. 

Was ergibt sich ans dem Petrie-Gardiner’schen Funde 
nun fitr die Entstebungsgeschichte des pnonizischen Alphabets ? 
Wie weit werden die Scbliisse, zu denen icb in meiner Arbeit iiber 
den Ursprung des Alphabets gelangte, dadurch beriihrf? 

Solange man in dem der altaegyptischen Schrift inkorporierten 
Alphabet, den einkonsonantigen Lautzeichen, das Urbild des pho- 
nizischen Alphabets suchte, war fiir die Ableitung von Zeichen 
aus Zeichen in erster Linie mit de E-ouge an die aegyptische 
Kursivschrift, das Hieratische, zu denken. Dem widersetzte sich 
indeB ^), von den palaographischen Hindernissen ganz abgesehen, 
die Tatsache, da6 in dieser hieratischen Schrift die urspriingliche 
Gestalt der Bilder verloren war, wahrend die phonizischen Buch- 
staben ihrerseits noch mehr oder weniger deutlich durch ihre For- 
men und ihre Namen ihre Entstehung aus bildlichen Darstellungen 
erkennen lassen (vgl. TJrspr. S. 103. 143). 

Dieser Punkt gab denen Eecht, die die Ableitung aus den 
aegyptischen Hieroglyphen vorzogen. Nur war es ein Widerspruch 
in sich, die phonizischen Buchstaben, wie es Halevy tat, aus den 
lautlich entsprechenden aegyptischen Hieroglyphenzeichen, den 
Buchstaben, abzuleiten, da die mechanische Ubernahme jedes ein- 
zeinen Buchstaben mit seinem gegebenen Lautwerte eben doch nur 
aus der tatsachlich gebrauchten Schrift des taglichen Lebens zu 
verstehen ware. 

Ware das aegyptische Alphabet selbst (nicht blo6 die aeg. 
Schrift) wirklich das direkte TJrbild des phonizischen gewesen, so 
miiBte de Eouge’s Ableitung im Prinzipe richtig gewesen sein, 
dann konnte aber das phonizische Alphabet nicht aus erkennbaren 
Bildern konkreter Gegenstande bestanden haben, es sei denn, daB 
der Schopfer des Alphabets samtlichen Buchstabenzeichen eine neue 
Bildbedeutung untergelegt und sie demgemaB umgestaltet hatte. 
Bestand aber das phonizische Alphabet aus natiirlich entstandenen 
Bildern, so konnte es in dem aegyptischen Alphabet nicht sein 
direktes Urbild haben, da dieses im praktischen Gebrauch die Bild- 
gestalt langst verloren hatte. 

Der Ausweg aus diesem Dilemma schien eben zu sein, daB das 
aegyptische Alphabet, wie das Lidzbarski zuerst erkannt hat 
und wie ich es neu begriindet habe, nicht das Urbild, sondern nur 
das Vorbild des phonizischen Alphabets war. Das bestatigt sich 
in einer Hinsicht jetzt in uberraschender Weise. In anderer zeigt 


1) Dies hatte ich Urspr. S. 130 sagen sollen. 



Die neuentdeekte Sinai-Schrift und die Entstehung der semitischen Sclirift. 455 

sich aber dariiber hinaus aueh etwas, was wir nicht ahnen konnten, 
eine enge Abhangigkeit des phonizischen Alphabets von der aegyp- 
tischen Schritt (^nicht dem Alphabet) in der auBeren Gestalt der 
Zeichenformen. 

Die nene Sinai-Schrift besteht ans einer Anzahl beliebiger, ohne 
Riicksicht auf ihre aegyptische Verwendung und Bedeutung aus- 
gewahlter Hieroglyphen , die nur in einigen wenigen Fallen (4) 
dem engeren Kreise der aegyptischen Buchstabenzeichen entnommen 
sind. Xach Ausweis der ans ihr hervorgegangenen spateren semi- 
tischen Schrift und des von Gardiner gelesenen Wortes Ba'alat 
hat der entlehnende Semit diese wie alle andern Zeichen vollig 
neu von sich aus ihrer Bildbedeutung gemaG benannt und ihnen 
die daraus nach dem Grundsatze der Akrophonie sich ergebenden 
Buchstabenwerte beigelegt. 

Das ist, wie Gardiner richtig bemerkt, das, was Lenor- 
mant seinerzeit vorausgesetzt hatte, spater aber unter dem Ein- 
druck von de Rouge’s Theorie aufgegeben hat. Was ich iiber 
Lenormant gesagt habe (Urspr. S. 129), bedarf also der Berich- 
tigung. Das Prinzip seiner Ableitungen , d. h. die vollige Prinzi- 
pienlosigkeit der Zeichenentlehnung, erweist sich als richtig, wenn 
auch diese Ableitungen selbst im Einzelnen verfehlt waren. 

Wenn ich mich Urspr. S. 131 dahin aussprach, „da6 die pho- 
nizischen Schriftzeichen selbst nun und nimmer aus der aegypti- 
schen noch aus einer anderen Schrift abgeleitet sein kbnnen“, weil 
sich die Selbstandigkeit des semitischen Alphabets in der Auswahl 
und Bewertung der Zeichen immer klarer herausgestellt hat, so 
bedarf das jetzt einer Einschrankung. Es traf nur in der Voraus- 
setzung zu, dafi bei der Ubernahme die Zeichen mit dem Laut- 
werte, der ihnen urspriinglich zukam, iibernommen sein miiBten. 
An die Moglichkeit einer rein auBeriichen Zeichenentlehnung aus 
dem Kreise der nichtalphabetischen Zeichen vermochte ich gerade 
wegen der inneren Abhangigkeit der semitischen Buchstabenschrift 
von den aegyptischen Lautzeichen (Buchstaben) nicht zu denken. 
Eine solche Entlehnung hiitte ja auch aus jeder andem Schrift, 
die noch keine Zeichen fiir einzelne Laute besaB, erfolgen konnen. 

So wie sich das Abhangigkeitsverhaltnis zwischen der aegyp- 
tischen und der semitischen Schrift jetzt auf Grund der neuen 
Sinai-Schrift darstellt, hat der Schopfer des semitischen Alphabets 
beides, Geist und Kbrper fiir seine Schbpfung der aegyptischen 
Schrift entnommen, aber seltsamerweise nicht etwa verbunden, 
sondern getrennt. Die Urspr. S. 133 gegebene Formulierung be- 
darf jetzt der Abanderung ; sie muB lauten : Die aegyptische Schrift 



456 


Kurt Set he, 


ist hinsichtlich der aufieren Grestalt des semitischen Alphabets sein 
IJrbild, hinsichtlich seiner inneren Grestaltung sein Vorbild gewesen. 

Mit diesem Hanptergebnis der Entdeckung und EntzilFerung 
der Sinai-Schrift berichtigt sich natiirlich auch das, was ieh TJrspr. 
S. 134 iiber den Unterschied in der Zeichenweise der aegyptischen 
Hieroglyphen und der in den phonizischen Buchstaben enthaltenen 
entsprechenden Bilder feststellen zu konnen glaubte. Und zwar 
gilt diese Berichtigung nicht nur im Allgemeinen, sondern auch 
gerade fiir mehrere der Eaile, an denen ich jene vermeintliche 
Verschiedenheit der Zeichenweise darzutun versucbte. 

Das Ange ('Ajin), das in der spatern phonizischen Schrift als 
Kreis erscheint und demzufolge von mir als Pupille gedeutet wurde, 
ist in der nenen Sinai-Schrift durch ein regelrecht nach aegypti- 
scher Weise dargestelltes ganzes Auge vertreten, das in einzelnen 
Fallen aufrecht und einmal auch der Pupille beraubt erscheint. 
Gardiner erkennt hierin mit Recht die Ubergangsform zn der 
spatern Form des 'Ajin, das demnach nicht die Pupille des Auges, 
sondern das Auge ohne Pupille darstellen wird. Die ovale Ge- 
stalt, die der phonizische Buchstabe zuweilen, und so auch gerade 
in der altesten bekannten phonizischen Inschrift, der Ba'al Leba- 
non-lnschrift, hat. wiirde in der Tat gut dazu passen. 

Auch das Bild der Hand, das im phonizischen Jod ^ so ganz 
anders als das aegyptische Zeichen fiir d aussieht, hat in der 
Sinai-Schrift eine Gestalt, die dem aegyptischen Zeichen entspricht ; 
es unterscheidet sich von ihm nur darin, daB es wieder aufrecht 
gestellt erscheint. Hier scheint mir nun freilich auch heute noch 
ein so starker Unterschied die phonizische Form von der aegypti- 
schen und der sinaitischen zu trennen, daB ich mich ernstlich fragen 
muB, ob hier wirklich beide Formen identisch sein konnen und ob 
nicht vielmehr in der phonizischen Form ein neues Bild an die 
Stelle des alten getreten ist, was im einzelnen Falle ja durchaus 
nicht undenkbar ware. 

Ahnliches konnte man auch fiir das Pe vermuten. das im Phb- 
nizischen ^ so ganz anders als das aegyptische Bild des Mundes 
<:::> aussieht, dem sich das von Gardiner auf Grund der siid- 
semitischen Form als p angesprochene Zeichen der Sinai-Schrift 
anschlieBen wiirde. Doch ist hier eine Entstehung der historischen 
phonizischen Form aus einer so gestalteten alteren Form nicht 
undenkbar. Sie konnte sogar auf einer absichtlichen Differenzie- 
rung von dem zu ahnlich gewordenen 'Ajin (dem Nachbarbuchstaben 
des Pe in der Anordnung des phonizischen Alphabets) beruhen. 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift und die Entstehung der semitisehen Schrift. 457 

4. 

Dnrch die neue Sinai-Schrift wird nun aach ein Problem wie- 
der in den Vordergrimd geriickt. das ich bei meiner Untersuchung 
absichtlich wegen seiner hoffnungslosen Verworrenheit und chro- 
nologischen Unsicherheit beiseite gelassen hatte, das der siidsemiti- 
schen Schrift. Die siidsemitische Schrift weicbt in ihren Zeicben- 
formen z. T. stark von dem altesten bekannten Typns der pboni- 
zischen Schrift ab und zeigt demgegeniiber in einzelnen Fallen 
eine uberraschende Ubereinstimmang mit der griechischen Schrift. 
Man hat daher nicht nur einen engern Zusammenhang zwischen 
griechischer und sudsemitischer Schrift annehmen, sondern auch an 
der Abstammung des griechischen und des sudsemitischen Alpha- 
bets von dem phonizischen zweifeln wollen *). Diese Zweifel waren 
insofern nicht ganz unberechtigt, als dabei an die Form des pho- 
nizischen Alphabets gedacht wurde, in der es uns anf den altesten 
bekannten Denkmalern aus dem 10. Jh. vor Chr. entgegentritt. 
Sie werden hinfallig, sobald man sich klar macht, dab das phdni- 
zische Alphabet bier doch gewib nicht in seiner urspriinglichen, 
rein erhaltenen Form vorliegen wird, sondern dab es Vorstufen 
gehabt haben mu6, auf deuen die in Betracht kommenden Zeichen 
noch eine den abweichenden Formen der griechischen und der siid- 
semitischen Schrift naher stehende Form gehabt haben konnen. 
Mit andern Worten : die griechische und die siidsemitische Schrift 
werden von einer altern Stufe des phonizischen Alphabets, die vor 
dessen erstem inschriftlichen Auftreten lag, abgezweigt sein ^). 

DaB tatsachlich die griechische Schrift auf keinen andern Zweig 
der semitisehen Schrift, als die phonizische (kana'anaische) zuriick- 
geht. kann ja, wie ich das des Kaheren ausgefiihrt habe (Urspr. 
S. 90), angesichts der alten Tradition, der Namen und der Reihen- 
folge der Buchstaben, sowie auch des groBten Teiles der Bnch- 
stabenformen selbst, kein Zweifel sein. 


1) Die uiiCerliche Lbereinstimmiing gewisser sudsemuib Jior Buchstaben (liin- 
sichtlich der Form, nicht des Lautwertes) mit den sekundaren Buchstaben des 
griechischen Alpi aliets, auf die namentlicli Praetorius wiederholentlich hinge- 
'.viesen hat, kbnnte, wenu sie nicht auf Zufall beruhen sollte, wohl nur mit Dus- 
saud, Les Aiabes en Syrie avant I'lslam S. 78 dabin gedeutet werden, daC die 
siidsemitische Schrift diese Zeichen aus der griechischen entlehnt hahe, nicht urn- 
ffekehrt, Eine Ahhangigkeit der sudsemitischen Schrift ini Ganzen von der grrie- 
chischen, wie sie Dussaud a a. 0. 8.90 imstuliert, kann jedoch nicht in Frage 
kommen. Das durfte jetzt dnrch die Entdeckung der ^inai-SchI■ift vollig aiisge- 
sriilossen sein. * 

Vgl. Praetorius Z D.M.G 09. 191. 



458 


Kurt Sethe, 


Die Xamen der Buohstaben machen dasselbe auch fur die siid- 
semitische Schrift wahrsclieinlieh. "Ale^ih, JJ ih-th, Waw sind spezi- 
fiscli kana'anaisclie Worte, die nur im Kana'anaisclien die in den 
betreffenden Buchstabenbildern dargestellten Begriife bezeicbnen 
(Rind, Tiirfliigel, Haken). Es sind also nickt etwa bloB die Xamen. 
sondern auch die Bilder, deren lautliche Bevvertung als Buchstaben 
ja auf den Xamen bernht, kana'anaischer Herknnft. Die alien 
zu den griechiscben Formen rdfiuu. AeXrc'. stimmenden ein- 

silbigen Formen AJf, Gaitil. Dauf. unter denen die dreilantigen 
Bucbstabennamen noch im Aetbiopischen er.scheinen, bezengen, wie 
X 0 1 d e k e gezeigt bat, daB sie aus dem alteren Sabaiscben iiber- 
nommen sind und ebenso alt wie die Abzweignng der siidsemiti- 
scben Schrift vom pbonizischen Hauptast sein werden. 

Das ungefabre Bild, das man sicb biernach von der V erwan Jt- 
schaft der sudsemitiscben und der pbonizisch-kana'anaiscben Schrift 
machen muBte, scbeint sicb durcb die neue Sinai-Schrift zu be- 
statigen und an Deutlichkeit zu gewinnen. Es zeigt sicb jetzt, 
daB einzelne sudsemitische Zeichen in der Tat nocb Formen haben, 
die den aegyptiscben und also auch den sinaitischen Grundformen 
naber stehen, als die spateren pbonizischen Bucbstabenforraen des 
10. Jh. vor Chr. Gardiner wies das nicbt nur an den oben 
S. 444 IF. unter 2. 6. 11. besprochenen Zeichen fiir Beth, Lamed, Pe 
nacb, sondern auch am Daletb, das in der Sinai-Schrift zufallig 
nocb nicbt belegt ist*). Die sudsemitische Form stellt, wie das 
iibrigens vor langer Zeit schon Hommel (Siidarabiscbe Chresto- 
matbie S. 5) geseben bat, die Ubergangsform zwiscben der ublicben 
aegyptiscben Hieroglyphe fiir den Tiirflugel und der pboniziscb- 
griechischen Form dar^), fiir die auch ich bereits ganz ricbtig eine 
solche Entstebung gefordert babe (Urspr. S. 143). Die von mir 
oben S. 444 unter 3 vorgeschlagene Deutung des Zeichens , das 
einen Menscben mit erhobenen Armen darstellt, als He wiirde 
einen weiteren Beleg dafiir geben. 

Wo und wann die siidsemitische Schrift sicb von der altka- 
na'anaiscben Schrift, von der die Sinai-Schrift eine alte, wenn 
nicbt die alteste Entwicklungsphase darstellen wird, abgezweigt 
hat, bleibt natiirlich ganz im Ungewissen, aber in recht alter Zeit, 
lange vor Salomo und seinen Ophirfahrten, wird es geschehen sein 
mils sen. 


1) Wenn es nicht vielleicht in dem Zeichen Xr. 23 zu erkennen ist. 

2) S. d. Schrifttafel auf S. 442. 



Die neiientdeckte Sinai-Sclirift und die Entsteiiung der semitischen Schrift. 459 


Einen teriuiniift ante qnem, freilich unbestimmter Art konnte 
man dafiir vielleicLt in den sekundar differenzierten Zeicken 
snchen ^), Denn auf den ersten Blick scheint es, daB die Differen- 
ziernng in beiden Schriften in vei’scbieilener Weise erfolgt ist. 
Das pboniziscbe Hetb und tfade scbeinen aus He und Schin durcb 
Anfiigung eines senkrechten Stricbes an der linken Seite des Grund- 
zeichens abgeleitet zu sein. Die siidsemitiscben A-Laate, drei an 
Zabl, unterscbeiden sick dagegen durch Umgestaltung teils des 
FuBes (gerade oder geknickte Linie' teils des Knpfes (feblt oder 
ist da) des mutmaulichen Grundbildes, das uns die Sinai-Schrift 
keunen gelehrt hat (s. ob. S. 444). Das slidsemitische Sade aber 
hangt, wenn seine Untersclieidung iiberbaupt sekundtir ist (s. ob. 
S. 448), augenscheinlich mit dem Samekh (aeth. .sr'r). nicht mit dem 
Schin (aeth. smf) zusammen. Auch das Teth, das sich im Phoni- 
zischen so gut aus dem Taw ableiten laBt, zeigt im Slldsemitischen 
nichts Paralleles. doch laBt seine Form eine Yerwandtschaft mit 
der phonizischen Form (es fehlt eigen tlich nur der Querstrich des 
Kreuzes) sehr wohl mogUch erscheinen. 

Andererseits sind die aethiopischen Namen der Buchstaben 
Tait und Sadai aber augenscheinlich mit den phonizisclien Teth 
und Sade identisch. Darf man annehmen, daB diese Bnchstaben- 
namen erst spater nach der Erweiterung des phonizischen Alpha- 
bets durch jene Differenzierungen zu den Sudsemiten gekommen 
seien V Und weiter : soil etwa auch der Gedanke, das alte Alpha- 
bet auf diese Weise zu erganzen, damals mit jenen Buchstaben- 
namen zu den Sudsemiten gebracht worden sein, die ihn dann 
naturgemafi an den bei ihnen vorhandenen Zeichen in einer ihnen 
gut scheinenden Form ausgefuhrt hatten? In der Tat ist es an 
sich wohl nicht sehr wahrscheinlich, daB die Idee einer solchen 
sekundaren Unterscheidung von Lauten durch Abanderung des 
alten gemeinsamen Zeichens in analoger Weise ganz unabhangig 
von einander an zwei getrennten Stellen entstanden sei. 

Diese Punkte miissen die Frage, ob die Differenzierung der 
Laute Teth und Sade nicht doch vieUeicht alter als die Trennung 
der beiden Zweige der altsemitischen Schrift sein sollte, in Be- 
tracht ziehen lassen. Unter den wenigen bisher noch nicht iden- 
tifizierten Zeichen der Sinai-Schrift glaube ich in der Tat zwei zu 
finden, die unter Umstanden den spateren phonizischen Zeichen 
jener beiden Laute zugrunde gelegen haben kbnnten und die man 

1) Vgl. Urspr. S. 94, Anm. 2 ; S. 102, Anm. 2. Das Samekh wird, wenn das 
oben S. 446 Vermutete zutrilft, nicht linger als Ableitung aus Zajin gelten konnen. 



460 Kurt Sethe, 

zngleicli als DifFerenzierungen der Zeichen fixr Taw und Schin an- 
sehen konnte. 

Xr. 24, dem aeg. Zeichen fiir nfr ahnelnd, scheint aus einem 
Kreuz wie das Taw und einem angehangten Kreise zu bestehen, 
d. i. demselben Element, das im spateren pboniziscben Teth um 
das Kreuz des Taw hernmgelegt erscheint. Ahnlich konnte Xr. 18, 
das stark an das von Gardiner als Scbin gedeutete Zeichen er- 
innert und unter Umstanden wohl auch nur cine miBlungene Form 
desselben darstellen konnte, als ein solches Schin, bei dem die eine 
Halfte durch einen derartigen Kreis erzetzt ist, angesehen werden. 
Eine gewisse Ahnlichkeit oder besser Analogie mit dem spateren 
phcinizischen Sade scheint mir in der Tat nicht zu veAennen zu 
sein. Die Gestalt des Sinai-Zeichens wlirde sogar die friiher iib- 
liche Deutung des Buchstabennamens als ^Angelhaken^ rechtfer- 
tigen, die aber natiirlich nur eine Ausdeutung des Bildes darstellen 
konnte, wenn es wirklich eine Differenzierung des Schin gewesen 
sein soli. Der Kreis dieser Kombinationen scheint sich fast zu 
schlieBen, sobald man die Form des siidsemitischen Sade betrachtet. 
Es unterscheidet sich von dem Samekh (Sfii), das ihm zugrunde zu 
liegen scheint, tatsachlich eben durch einen .stdchen angesetzten 
Kreis. 

Hiernach wiirden also das phonizische (kana'anaische) und das 
.■rudsemitische Sade aus verschiedenen (Irundzeichen in der niim- 
lichen Weise abgeleitet sein, wie das Teth aus dem Taw. Die 
Differenzierung miiBte also, wenn sich dies bestatigen sollte. .so 
alt wie die Trennung der beiden Schriftzweige sein, aber von den 
Siidsemiten, womoglich gleich bei der tJbernahme der Schrift, da- 
hin abgeandert worden sein, da6 an die Stelle des phonizischen 
Sade ein entsprechend gebildetes neiies Zeichen gesetzt wurde, 
vielleicht weil in der siidsemitischen Aussprache das Schin vom 
Sade zu stark verschieden warO. 

Etwas anderes. das die altsemitische Buchstabenschrift vor 
der Abzweigung -der siidsemitischen Schrift jedenfalls wohl noch 
nicht gekannt haben wird, ist die Ordnung des Alphabets, die die 
Griechen bei der Rezeption des phonizischen Alphabets schon fertig 

1) An sich wsre natiir]i<!i ancL clas deiikba;', dali das phonizische hp:.\r, 
sinaitische Sade von jeher selhstancig .ais wirklirlies Bild des Angelhakens existicrt 
haiie und dad es erst spater zn Unrecht tin- eine DifFpreiizierung des Schin au- 
•resehon worcpn sei und die Siidsemiten zur Bilduiig eines entsprechonden Difr'e- 
renzierungszeichens vom Samekh (Sat) vcranlaBt hahe. Doth fehlt es tatsachlich 
an einem geeigneten Voibild fur das Zeichen in der aegyptischen Hierogljiihen- 
schrifr 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift und die Entstehung der semitischen Schrift. 461 


vorgefunden haben. Das aethiopische Alphabet hat eine selb- 
standige, dutch kein Prinzip gegebene Anordnung, die schlechter- 
dings nichts mit jener Ordnung gemein hat ^). 


5. 

Eine groBe IJberraschung bereitet uns das Verhalten der neu- 
entdeckten Schrift hinsichtlich der Schriftrichtung. Da die spatere 
phbnizische Schrift (und die semitische Schrift iiberhaupt fast all- 
gemein) in diesem Punkte mit der aegyptischen Schreib schrift, dem 
Hieratischen, vollig iibereinstimmt , so war hiernach auch fiir die 
Urform der semitischen Schrift das Gleiche zu erwarten, also links- 
laufige Schrift (von rechts naeh links) in wagerechten Zeilen. 

So findet sich die Sinai-Schrift (die Bilder nach links blickend 
wie in der spateren phonizischen Schrift) auf den erhaltenen Denk- 
malern aber nur einmal: auf dem Denkstein Nr. 349, einem offen- 
bar sorgfaltiger gearbeiteten Stuck mit Linien. Uberall sonst sind 
die Inschriften in senkrechten Kolumnen (meist ohne Linien) ge- 
ordnet und die Schriftrichtung scheint, nach dem Worte Ba'alat 
und nach der Richtung der einzelnen Bilder zu schlieBen, bald 
links-, bald rechtslaufig zu sein. Und zwar finden sich beide 
Schriftrichtungen auch nebeneinander auf einem und demselben 
Denkmal, so z. B. auf den benachbarten beiden Seiten der Uigur 
Nr. 346, dergestalt daB beide Inschriften von der zwischen ihnen 
liegenden Ecke aus zu lesen sind. Auf der Stele Nr. 352 scheinen 
beide Schriftrichtungen sogar innerhalb derselben Inschrift durch- 
einander zu gehen. 

Die Sinai-Schrift folgt also der Schreibweise der aegyptischen 
Denkmaler, die gleichfalls nach rein dekorativen Riicksichten bald 
senkrecht bald wagerecht, bald in normaler linkslaafiger Schrift, 
bald in rechtslaufiger (Spiegelschrift) beschrieben werden. Diese 
tibereinstimmung paBt ja auch durchaus zu der Tatsache, daB es 


U Wie Dillmann (Gramm, der .aetli, Spracbe - S. 17) in seinem Bemiihen, 
wenigstens noch Spuren dieser Ordnung darin naehzuweisen , sagen konnte, es 
zcige sich, wenn man das aethiopisehe Alphabet in 2 Reihen zerlege, wie es beim 
hebraisLhen in dem sogen. Athbasch geschah, die merkwurdige Erscheinung, daB 
im Wesentlichen die zweite Keilie des aethiopischeii Alphabets der ersten hebrai- 
schen, die orste aethiopisehe der zweiten hebraischeu e.dspreche, ist mir unver- 
stilndlich, euthalt doch die Keilie der ersten 13 aeth; ipischen Buchstaben, die 
tatsachlich mit Alf, nicht mit Xahfis. v.ie Dillmann annalini, schlieCt, die Laute 
It, h b h, ) die im hebraischen Alphabet elienlalls der ersten H.ilfte angehoren 
odei’ angehoren wurden , und die zv, cite aethiopisene Reihe die Eaute , p, .s, d, 
jy, die der zweiten hebraischeu an- oder zugehoren. 

Kgl. Oes. d. Wiss. Nachricliten, Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 3. 


31 



Kurt Sethe, 


46-2 

die aegyptische Denkmalerschrift, die Hieroglyphen, und nickt die 
daraus abgeleitete Kursivschrift , das Hieratische, ist, die der Si- 
nai-Schrift zugrunde gelegt ist. 

Das Beispiel der aegyptiscben Schrift gibt uns nun aber wohl 
auch die Losung fiir das Batsel, das der Unterscbied der Scbrift- 
ricbtung in der spateren phoniziscben Schrift gegeniiber der Sinai- 
Schrift zu bilden scbeint. Wir baben es bei der Sinai-Schrift eben 
auch mit einer Denkmalerschrift zu tun und miissen uns dazu die 
im praktischen Leben gebranchte Schrift in ahnlichem Verhaltnis 
denken, wie es zwischen der hieratischen nnd der hieroglyphischen 
Schrift hestand. 

Die Freiheit im Wechsel der Schriftrichtung wird bei der alt- 
semitischen Schrift, die uns jetzt durch die Denkmaler vom Sinai 
hekannt geworden ist, wie bei den Aegyptern nur auf die Denk- 
maler beschrankt gewesen sein. Als Schreibschrift , die sich des 
Papyrus, der Tierhaut oder des Ostrakons und der Tinte bediente, 
wird dieselbe Schrift dagegen, ebenso wie das Hieratische und 
spater das Demotische der Aegypter, nur in diner Hichtung ge- 
schrieben worden sein, von rechts nach links in wagerechten Zeilen. 
Die spatere phonizische Schrift, wie sie uns auf den Denkmalern 
des 10./9. Jh. vor Chr. mit alien Anzeichen einer abgenutzten 
Schreibschrift entgegentritt, wird aber naturgemaB auf diese wirk- 
lich gebranchte, linkslaufig geschriebene Schrift zuriickgehen. 

Ebenso wohl auch die siidsemitische Abzweigung trotz des 
stark monumentalen Charakters der sabaischen Schrift, die uns ja 
selbst auch nur auf Denkmalern hekannt ist. Die Bustrophedon- 
Schreibweise bei den Minao-Sabaern wird doch wohl als IJbergangs- 
form zur rechtslaufigen Schreibung, die spater in der aethiopischen 
(abessinischen) Schrift durchgedrungen ist, anzusehen sein wie bei 
den Griechen. Sie laBt sich in keiner Weise mit der rein rechts- 
laufigen Schreibweise in Zusammenhang bringen, die auf manchen 
Denkmalern der Sinai-Schrift so wohl bei senkrechten Kolumnen 
als bei wagerechten Zeilen an Stelle der linkslaufigen auftritt. 

Die Unterscheidung, die bier zwischen der wirklich geschrie- 
benen Schrift und der auf Denkmalern gebrauchten Schrift ge- 
macht wurde, braucht sich bei der altsemitischen Sinai-Schrift 
aber nicht auch auf die Formen der Zeichen erstreckt zu haben, 
wie das bei der aegyptischen Schrift der Fall war, bei der sich 
Hieroglyphisch und Hieratisch in Folge Jahrhunderte langen Ge- 
brauches schon zu stark von einander entfernt batten. Bei der 
Sinai-Schrift hahen wir es allem Anschein nach doch noch mit 
einer relativ jungen Schrift zu tun, deren Anfange nicht allzuweit 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift imd die Ectstehung der semitischen Schrift. 463 

zuriickliegen durften. Darauf scheint die starke Veranderlichkeit 
in den Formen mancher Buchstaben {b, h, tt, s) deutlich hinzu- 
weisen. Andererseits tragt sie, obwobl sie uns hier in Stein ein- 
gegraben entgegentritt , doch schon ebenso den Charakter einer 
wirklich geschriebenen „linearen“ Schrift wie die spatere phonizi- 
sche Schrift auf den Denkmalern des 10./9. Jh. Die Zeichen be- 
steben — gerade wie die hieratischen und demotischen Zeichen, 
wo sie auf Denkmaler gebracht werden — aus Linien und Punk- 
ten ; sie sind nicht als V ollkorper ausgemeiSelt, wie es die aegyp- 
tischen Hieroglyphen, sieht man von fliichtigen Kritzeleien ab, zu 
sein pflegen. Was der Aegypter in seinen Inschriften so gestaltet 

^ ™ Sinai-Schrift so aus: ^ ^ . 

Man wird sich diese Schrift also geschrieben nicht viel anders 
aussehend zu denken haben, als gemeifielt. Auch die Ubereinstim- 
mung der Zeichenformen mit einzelnen siidsemitischen Buchstaben 
zeigt ja, da6 wir es bei der Sinai-Schrift nicht etwa mit einer 
kiinstlichen Schrift zu tun haben, die nnr zum Zwecke der Denk- 
maler nach dem Muster der aegyptischen Hieroglyphen geschaffen 
gewesen ware und neben einer anders gearteten Gebrauchsschrift 
gestanden hatte, wie das bei der gleichfalls aus der aegyptischen 
Schrift abgeleiteten meroitischen Schrift der FaU gewesen ist (s. 
u. Abschnitt 8). 

6 . 

Wie man sich die Entwickluiig der spateren semitischen Schrift 
aus der von Gardiner entzifferten Sinai-Schrift im einzelnen zu 
denken hat, ist natiirlich eine Frage der Znkunft. Man wird je- 
denfalls aber wohl mit der Moglichkeit zu rechnen haben, daB 
nicht alle Zeichen der spateren Schrift aus den Zeichen der Sinai- 
Schrift durch normale Fortentwicklung bezw. Abnutzung abzuleiten 
sein werden. 

Es wird hinundwieder auch eine absichtliche Umgestaltung 
der Zeichenformen z. B. zum Zwecke der tJnterscheidung von Zei- 
chen, die sich zu ahnlich geworden waren, stattgefunden haben, 
so vielleicht im Falle des Pe, s. ob. S. 456. Auch mag wohl ein 
altes Bild, wenn es der Bedeutung seines Kamens nicht mehr ge- 
nugsam entsprach, durch ein neues deutlicheres Bild ersetzt worden 
sein, so vielleicht im Falle des Jod, s. ob. ebenda; wie ja auch die 
alten Buchstabennamen in einzelnen Fallen spater durch neue Na- 
men ersetzt worden sind, z. B. Nahas durch Nun im Kana'anai- 
schen, Jod durch Jaman im Aethiopischen. 


31 * 



464 


Kurt Sethe, 


Darch solcbe nachtraglichen Umgestaltungen wiirde sich manche 
bisher noch unerklarKche Differenz zwiscben der phonizischen and 
der siidsemitischeii Schrift erklaren. 

tiber die Diiferenzierong der Buchstaben He, Taw and bchin 
ist schon oben S. 459 gesprochen worden. Es spricht, wie gesagt, 
manches dafiir, daB sie, sei es in einem Ealle (He) oder in alien 
Eallen, erst nach der Trennnng des siidsemitiscben Zweiges vom 
phonizisch-kana'anaischen Hanptast erfolgt sei. Bei dem letzteren 
wiirde das dann voranssichtlich nicht mehr anf aegyptischem Boden, 
sondem bereits in Kana'an gescbehen sein. Es ist vielleicht ein 
nicht gar zu nnwahrscheinlicher Gedanke, denBertholet anregte, 
mit der endgiiltigen Ausgestaltnng des phonizischen Alphabets anf 
dem Boden Kana'ans die Tatsache in Zusammenhang zu bringen, 
da6 die palastinensische Stadt Dabir im Stamme Jnda in alter Zeit 
vor der Einwanderung der Israeliten „Schriftstadt“ (hebr. Kirjaf- 
sepher, in der Septaaginta iibersetzt p nohg rav ppccfiftcaon’) ge- 
heiBen haben soil *). Sie mag bei jener Ausgestaltnng der Schrift 
eine besondere Rolle gespielt haben. Das Vorkommen eines ent- 
sprechend gebildeten Xamens Bt-fpr ("iEpT‘'3 „Schrifthaus“) unter 
andern palastinensischui Stadten in einem aegyptischen literarischen 
Werk aus der Zeit Ramses’ II. (Papyrus Anastasi I 22, 5), also 
aus dem 13. Jh. vor Chr., darf als Zeugnis fiir das Alter der Be- 
nennung gelten^l. 


Ij Die griecliische Umsohreibung des hebr. Ausdrucks Kagiaaa&cpciQ, die 
auf eine Benennung ^Bchreiberstadt** statt _Schriftstddt“ deuten wurde. neben 
der Ubersetzung an der Stelle Jiidic. 1, ii {KagiaaaibfpccQ Ttolig ygd^ixcirav) ist, wie 
mir Rah If s zeigte, nichts als eine der jungern Rezension des Cod. Vatiranus (1!) 
angehorende geleurte Interpolation, die in der altern Rezension des Cod. Alexan- 
drinus (A) fehit. Der Text lautete bier wie an der Parallelstelle Jos. 15, i 5 iir- 
sprunglirh einfach : to di drojXK rijs zlccpeig f,v (ungoBd-sv -xolig ygauudrcov, der 
Fassung des folgenden Verses (Judic. I.12 = Jos. l.j, ic: rljv TtoXiv x&v ygauud- 
rcov) entsprerhend. Littmann verinutct, dad die Ir.terpolarion KagLCiBOfbrpag 
nnter dem EinfluB des persischen ..''chreiber" ertolgt sei, das nac!; Audieas 

bereits in der Arsazidenzcit vorkommen soil und also geniiaend alt dafur sein 
wurde. 

2) Die Behauptung von \V. ilax Mailer (Asien und Europa ITOj, die 
^chrc'iliung des Xamens an dieser .Stelle bestatige die oben erw'ahnte Form A'k- 
giacatbcpag, ist unzutreiitnd.. Es .stei t ie'iigiicli fpr in der iur Fremdw’drter ii'i- 
lichen ..syllabischen Orthographie'' da ohne Vokalbezeiehuung, mit Jem Lleo.gramm 
tiir sthieiben (das S<’hreibzeuc) und ohne Personendeterminativ , das, wenn 
_t'Cbroiber" genieint ware, unbedinn't zu eiwarcen ware. 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift und die Entstehung der semitischen Schrift. 465 

7. 

Was Zeit, Ort und TJmstande der Entstehung des semitischen 
Alphabets betrifft, so scheint die nene Sinai-Schrift die beste Be- 
statigung fiir das, was ich daruber gesagt habe (Urspr. S. 135 iff.), 
zu sein. Das war, da6 das phonizische Alphabet sehr wahrschein- 
lich in Aegypten bezw. in seinen Grenzgebieten von einem dort 
ansassigen semitischen Stamm , vermutlich im 17. Jh. von den so- 
gen. Hyksos, erfnnden und spater, eventuell im Anfang des 16. Jh., 
nach Palastina gebracht worden sein werde. 

Die Sphinx (Nr. 345), auf der die neue Sinai-Schrift neben echt 
aegyptischen Hieroglypheninschriften auftritt, hat sich in einem 
Teile des Tempels von Serabit el Chadem gefonden, der gegen 
Ende der 12. Dynastie (Ende des 19. Jh. v. Chr.) begriindet und 
unter der 18. Dynastie (15. Jh. v. Chr.) vollendet worden ist. 
Petrie, der das hohere Alter des Gebandes nicht erkannt hatte. 
wollte die Sphinx der letzteren Zeit zuweisen; er glaubte eine 
Bestatigung dafiir in dem Sandsteinmaterial zu finden, das zu keiner 
andern Zeit als unter Thutmosis III. (1501 — 1447 v. Chr.) gebraucht 
worden sei, und in dem Auftreten der nenen Schrift iiber der Mine 
L, die er in die gleiche Zeit setzen wollte. 

Gardiner ist seinerseits geneigt, eher an die erstere Zeit 
(Ende der 12. Dynastie) zu denken, da die Darstellung des Gottes 
Ptah auf der Stele Nr. 351 der auf den Denkmalern der 12. Dy- 
nastie zn Serabit el Ch§,dem ublichen entspricht, die sich von der 
ebenda spater unter der 18. Dynastie ublichen deutlich unter- 
scheidet. Der Umstand, dafi zu Serabit el Chadem in den In- 
schriften aus der Zeit Amenemmes’ III. (1849 — 1801 vor Chr.) und 
nur in diesen ofter von Asiaten (‘} m . «•), naher bezeichnet als Leute 
von Rtmv (Syrien, einschliefilich Palastinas), die Rede ist, die die 
aegyptischen Expeditionen zum Sinai begleiteten, ist ihm eine Be- 
statigung fiir diese Vermutung. Er meint, es sei wohl nicht zu 
phantastisch, in dem auf mehreren Stelen dieser Zeit genannten 
„Bruder des Fiirsten von Etmv‘‘, namens Hbdd oder Hbddm^), oder 
seinem Gefolge die Urheber der Denkmaler mit der altsemitischen 
Schrift zu vermuten. Gegen diese letztere Vermutung kann man 
inde6 geltend machen, dafi es sehr zweifelhaft erscheinen mufi, ob 
sich unter der starken Herrschaft Amenemmes’ III. Semiten be- 
reits die Freiheit zum Setzen ihrer Denkmaler in den aegyptischen 
Tempel- und Minenanlagen des Sinai hatten nehmen diirfen. Sie 
scheinen nach den Funden der Petrie’ schen Expedition in dieser 


1) Vgl. Petrie, Researches in Sinai S. US. 



466 


Kart Sethe, 


Zeit noch aegyptische Denkmaler gesetzt zu haben *) oder sich 
mit ihrer Nennung auf den Denkmalern der Aegypter begniigt zu 
baben. 

Fiir Gardiner’s Meinnng oder zum mindesten fiir das bo- 
bere Alter der Denkmaler konnte nocb ein Punkt sprechen. Die 
sinnwidrige Aufrechtstellung horizontaler Zeichen, wie sie sich bei 
den Bildern des Anges nnd der Hand in der nenen Sinai-Schrift 
beobacbten la6t nnd auch der spatern semitiscben Schrift eigen- 
tiimlich zu sein scheint (s. ob. S. 455 iF.)» ist eine spezifische Eigen- 
tiimlichkeit gerade des mittleren Eeichs (Dyn. 1] — 14) und dem 
neuen Reiche (Dyn. 18) wieder vollig fremd^). Die Neigung zu 
einer solchen Behandlung der Bilder wiirde der semitiscben Schrift, 
wenn ibre Wurzeln bis in die Zeiten des mittleren Reiches zuriick- 
gingen, sozusagen in die Wiege gelegt worden sein. 

Wie dem nun ancb sei, in die Zeit zwiscben 1850 und 1500 
vor Chr. werden die Sinai-Denkmaler mit der neuen Schrift jeden- 
faJls gehoren. In eben diese Zeitspanne fallt aber auch die Hyk- 
sosinvasion, mit der man die Entstehung der semitiscben Bucb- 
stabenscbrift in erster Linie in Zusammenhang zu bringen batte. 
Vielleicht birgt eines jener Denkmaler sogar den Beweis fiir diese 
Vermutung oder jedenfalls die Losung der Datierungsfrage. Die 
mebrfach erwahnte Sphinx tragt zwiscben den Klauen nnd auf 
der Schulter auch zwei aegyptische Inscbriften, einen nnleserbcben 
Konigsnamen („Horusname“) und das dazu gehorige Pradikat „ge- 
liebt von Hathor, der Herrin des Malachits“, das mit ihm ver- 
bunden die Bedeutung einer Dedikation hat: „K6nig X. weihte 
dies der Hathor, Herrin des Malachits“. 

Die Vermutung ist nicht abzuweisen, dafi die beiden kurzen 
semitiscben Inschriftzeilen zu beiden Seiten der Sphinx die Uber- 
setzung oder wenigstens eine Paraphrase dazu enthalten, zumal 
die eine, wenn nicht beide®), nacb Gardiner’s scbarfsinniger 


1) Z. B. den Obelisken der drei Semiten Jehanem , Baascha und Keni (wie 
Petrie die Namen vokalisiert) Petrie, Researches in Sinai Fig. 121. 

2) So konnen es sich z. B. nur gewisse Inscbriften des mittleren Reiches er- 

lauben, der Wasserlinie (n) gelegenthch die unnatiirliche Stellnng | zu geben, 
Louvre C. 1, 8. 14. 18 . Leid. V. 3 (Dj-n. 13/4). Sharpe Eg. Inscr. I 25. Berlin 
13772; desgl. dem Munde (r) ^ Louvre C. 1, 4. i6. LD. II 123 d. 144 s; desgl. dem 

Korbe, der die Worte fiir Fest determiniert, Leid. V. 4, ii. Berlin 13772. 

3) Der einen fehlt das Ende; es ist daher moglich, daB sie nicht auf das 
Femininum Ba'alat, sondern auf das Maskulinum Ba'al endigte, das dann even- 
tuell Bestandteil eines Personennamens sein konnte. 



Die neuentdeckte Sinai-Scliriit imd die Entstehung der semitischen Sthrift. 4d7 

Deutang ja wirklich mit dem Worte Ba'alat, dem semitischen Aqui- 
valent des Kamens der Gdttin, endigt. Wenn man nicht annehmeu 
will, dafi entweder die semitischen oder die aegyptischen Inschriften 
erst nachtraglich auf das bereits in anderer Sprache beschriftete 
Werk gesetzt worden seien, wofiir nichts spricht, so wird man in 
der Sphinx, dem traditionellen Abbild der aegyptischen Konige, 
doch wohl oder iibel die Weihung eines semitischen Herrschers 
von Aegypten zn vermnten haben, das ware also eines Hyksos- 
konigs ‘). 

DaB die Urheber der Sinai-Denkmaler mit der neuen Schrift, 
obwohl semitischer Nationalitat, aus Aegypten gekommen sein wer- 
den, hat Petrie mit Recht betont und scheint auch von Gar- 
diner vorausgesetzt zn werden (s. ob. S. 465). Die bilinguen In- 
schriften der Sphinx nnd die Darstellung des Gottes Ptah anf der 
Stele Nr. 351 sprechen zn stark dafttr. Den am Sinai ansassigen 
Beduinen wird man Denkmaler und Schrift der Art kanm zn- 
trauen ; sie miiBten dann anch gewiB in groBerer Zahl anftreten. 
Aller Wahrscheinlichkeit nach riihren sie von Lenten her, die mit 
den Aegyptem znm Ausbeuten der Minen dorthin kamen, wie jene 
'UK . tc von Rtnw, von denen die Inschriften aus der Zeit Amenem- 
mes’ III. solches bezengen. Seit der Mitte der 12. Dynastie hat 
das Niltal augenscheinlich eine immer starker werdende Einwan- 
derung von Semiten erlebt, die bei den Aegyptem Dienste als 
Soldner oder Diener suchten *). Es sind die V orlanfer der bald 
nach dem Ende der 12. Dynastie einbrechenden Hyksos gewesen, 
ahnlich wie die germanischen Soldner im Romischen Reiche die 
Vorlanfer der Gothen und Vandalen gewesen sind. 

Sollten die Denkmaler aber von Semiten herriihren, die unab- 
hangig von den Aegyptem und nicht von Aegypten aus die Minen 
am Sinai ausgebeutet und sich in dem etwa zeitweBig von den 
Aegyptem verlassenen Heiligtum von Serabit el Chadem einge- 
nistet hatten®), so konnte das doch eben wieder nor in der Zeit 
zwischen der 12. und der 18. Dynastie, zwischen 1780 und 1580 


1) Die Horusnamen der Hyksoskonige sind uns groBtenteils noch unbekannt. 
Die Moglichkeit, da6 der kurze unleserliche Name einem der Konige dieser Reihe 
(Dyn. 15/6) gehorte, besteht also. DaB er keinem Konige der 12. Dynastie ge- 
hort ist sicher; also konnte neben den Hyksos eigentlich nur noch einer der 
obskuren Konige der 13. oder 14. Dynastie in Betracht kommen. 

2) Vgl. das bekannte Bild von Benihassan und die Abrahamsage. 

3) Es ware nur moglich unter der Voraussetzung, daB der Horusname auf 
der Sphinx nicht gleichen Alters wie die semitischen Inschriften desselben Denk- 
mals sei. 



468 


Kurt Sethe, 


vor Chr. geschehen sein, in der Aegypten durch. innere Wirren 
zerriittet war tmd nach aufien kraftlos dastand, sodafi es eben 
deshalb leicht die Beute der Hyksos werden konnte. Vorher und 
nachher batten die Aegypter unter den genannten beiden Dynastien 
ihre Hand zu fest anf dem Sinaigebiet, als da6 eine seiche fremde 
Besitzergreifung und Betatignng in den Minen hatte stattfinden 
konnen. 

So vereinigt sich denn aides zn dem Schlusse, da6 die altsemi- 
tische Bnchstabenschrift, wie sie Petrie und Gardiner am Sinai 
gefunden haben, anf Semiten, die in Aegypten in der Zeit zwischen 
dem mittleren und dem neuen Reiche ansassig waren, zuriickgehen 
wind, also ganz das, was ich fiir die Entstehung des phoniziscben 
Alphabets anf anderm Wege erschlieBen zu miissen glanbte. 

8 . 

Die Entstehung des altsemitischen Alphabets, wie sie sich jetzt 
vor unsern Augen darstellt, hat iibrigens eine um mehr als andert- 
halb Jahrtausende jiingere Parallele gehabt, die in mehr als einer 
Beziehung lehrreich ist, in der Entstehung der sogen. meroitischen 
Bnchstabenschrift, die uns zur romischen Kaiserzeit anf den Denk- 
malern Nubiens entgegentritt *). 

Diese meroitische Schrift, ein Alphabet, das nicht direkt vom 
phoniziscben Alphabet abstammt, vermutlich aber unter dem sug- 
gestiven EinfluB einer aus diesem abgeleiteten Schrift, der griechi- 
schen, entstanden ist (ahnlich wie die altpersische Keilschrift unter 
dem EinfluB der aramaischen Schrift aus der assyrisch-babyloni- 
schen Keilschrift), liegt in zwei Erscheinungsformen vor. 

Einmal haben wir da eine kursive Schreibschrift , die der 
aegyptischen demotischen Schrift sehr ahnelt und zum mindesten 
zur Halfte ihres Zeichenbestandes von 23 Bnchstaben auch offen- 
sichtlich von ihr abhangt. 13, wenn nicht 16, aegyptische Zeichen 
finden sich in ihr mit geringer Veranderung der Form und unter 
Beibehaltung ihres alten Lautwertes wieder. Daneben enthalt sie 
aber auch einige andere Zeichen, die zwar aegyptischen Zeichen 
auBerlich gleich sehen, aber im Meroitischen einen ganz auderen 
Lautwert haben (e, i) und wieder andere, die auch in ihrer Form 
ganz fremdartig aussehen (r, t, q). 

Dieser Kursive steht eine spezifische Denkmalerschrift zur 


1) Entziifert von F. LI. Griffith. Eine Ubersicht iiber den Zeichenbestand 
findet man in seinen Meroitic Inscriptions I (Arcbaeol. Survey of Egypt Vol. 19j, 
S. 49. 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift and die Entstehung der semitischen Schrift. 469 


Seite, die ans der aegyptischen Hieroglyphenschrift abgeleitet ist 
und wie diese aus im allgemeinen deutlich erkennbaren Bildzeicben 
in aegyptiscber Zeichenweise besteht. Diese lediglich auf die of- 
fiziellen Tempelsbulptnren beschrankte meroitische Hieroglyphen- 
schrift verwendet die aegyptischen Zeicben, von denen nur wenige 
geringfiigige Veranderungen in ihrer Gestalt erfahren baben (c, r, 
^), im allgemeinen mit einem ibrem urspriinglicben Gebraucbe ent- 
sprecbenden Lautwert , also anders als die altsemitiscbe Sinai- 
Schrift. Die Zeichen sind teils die alten aegyptischen Bucbstaben- 
zeicben selbst {p, rn, r, h, q, t), teils sind es zn Bucbstabenbomo- 
pbonen entwertete alte mebrkonsonantige Schreibnngen , die ancb 
im spateren Aegyptiscb abnlich gebrancbt werden (n + n — n, s 
+ S = s, j + j = j, nn = n, iii = u’, hi = h, Si = S\ ric = I) 
Oder gebrancht werden konnten (fi + h = f, tvdi . t „beiles Ange“ 
= z). Nnr in einem Falle {k) scbeint wirklicbe Akropbonie vor- 
zuliegen und aucb da wobl nur scbeinbar'). 

Neben diesen ganz nacb den alten Grundsatzen der aegypti- 
schen Schrift gewahlten Buchstabenzeichen stehen nun 5 Zeichen, 
deren Bewertung durchaus ratselhaft ist, namlich das Zeichen fiir 
te (Horn oder Zahn?) und die 4 Vokale, die ja der aegyptischen 
Schrift feblten : 

a, bezeicbnet durch den sitzenden Mann, der im Aeg. das Deter- 
minativ fUr Person, insbesondere aucb der 1. Person Singularis 
bildet. 

e, bezeicbnet durch die StrauBenfeder, die im Aeg. den Wert §w 
hat. 

c , bezeicbnet durch den Ochsenkopf, der dem altsemitiscben Aleph 
gleicht; im Aeg. Ideogramm fur Rind. 
i, bezeicbnet durch einen stehenden Mann, der die eine Hand er- 
bebt ; im Aeg. Ideogramm fiir Rufen, insbesondere aucb Deter- 
minativ der Interjektionen (s. ob. S. 442). 

Das Auftreten des Ocbsenkopfes, der im semitischen Alphabet 
so bezeichnend bervortritt, bier unter diesen 4 von dem Meroiten 
eigens ausgewablten und selbstandig bewerteten Zeicben beriihrt 
sebr eigentiimlich. Es ist um so befremdender, als der Ochsenkopf 
gerade in der spateren Hieroglyphik kaum noch vorkommt. Man 


1) Der Gebrauch des Bildes der Gans fur fc wird auf die aegyptische Schrei- 
bung des Gottesnamen Kfi^ (alt Gbh) zuriickgehen, die aus dem Bild der Gans 
und dem Buchstaben 6 (ibrem phonetischen Komplement) bestand. Vermutlich hat 
man dabei aber — das werden wir aus dem meroitischen Gebrauch zu lernen 
haben — die Gans spater einfach als Bezeicbnung des fc-Lautes genommen. 



470 


Kurt Sethe, 


konnte versacht sein, an irgendwelche Beziehungen zu Abessinien 
zu denken, hatte das Aleph-Zeichen sich nieht gerade im Siidseini- 
tischen fast bis zur TJnkenntlicbkeit seines urspriinglichen Bildes 
verandert, hatte nicht gerade dort die Vokalbezeichnnng dnrch 
selbstandige Zeichen ganz oder so gut wie ganz gefehlt^) and 
waren bei den anderen Zeichen gleichfalls Spnren eines solchen 
Einflnsses zn hemerken. So wird man denn wohl in der Wahl 
des Ochsenkopfes dnrch den Meroiten nur eine merkwiirdige psy- 
chologische Parallele zu dem gleichen Schritt des alten Semiten 
zu sehen haben. 

Eine andere Erscheinnng, in der sich das meroitische Hiero- 
gtyphenalphabet gleichfalls iiberraschenderweise dem altsemitischen 
Alphabet an die Seite stellt, ist die Schriftrichtung. Im Meroiti- 
schen wird gleichfalls linkslaufig geschrieben bezw. gelesen, wie es 
im Aegyptischen das Hormale imd in der Kursive das allein mbg- 
liche ist, aber die Bilder blicken nach links, nach dem Ende der 
Zeile hin, im Gregensatz znm Aegyptischen nnd zn fast alien an- 
dern alten Hieroglyphenschriften. Anch hier kann wohl nur von 
einer psychologischen Parallele die Eede sein, da die semitische 
Schrift ja zur Zeit, als die meroitische entstand, seit mehr denn 
einem Jahrtausend (zum mindesten fiir den ihrer G-eschichte Un- 
kuudigen) den Charakter einer aus Bildern bestehenden Schrift 
verloren und den einer Linearschrift angenommen hatte. 

9. 

Seiner Behandlung der neuen Sinai-Schrift hat Gardiner 
eine allgemeinere Erorterung des Problems der Herkunft der se- 
mitischen Schrift voransgeschickt. Sie beriihrt sich naturgemaB in 
vielem mit dem, was ich in meiner Arbeit iiber den Ursprung des 
Alphabets gesagt habe. Ich freue mich konstatieren zn konnen, 
daB wir uns iiberall in volliger tlbereinstimmung befinden. 

Das gilt insbesondere auch von der W^ertung der semitischen 
Buchstabennamen. Auch Gardiner tritt auf das Entschiedenste 
dafur ein, daB diese Namen ein kostbares altes Gut sind; daB sie 
nicht willkiirlich gewahlte Benennungen gleich den Baumnamen im 
russischen Alphabet oder den nick-names der englischen Eibeln (s. 
Urspr. S. 143) sind, sondern mit der Bildbedentung der Buchstaben- 


1) Die Bezeichnung der Diphthonge durch die Konsonanten w und j im Sa- 
baischen ist natiirlich keine Ausnabme j u und i der semitischen Diphthonge 
sind gewiB ebenso konsonantischen (halbvokalischen) Ursprungs wie im Aegyp- 
tisch-Koptischen. 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift iind die Entstehnng der semitischen Schrift. 471 

zeichen aafs engste zusammenliangen, d. h. also eben die Gegen- 
staade nennen, die die Bilder darstellen ; eine Auffassung, die jetzt 
durch die Deutung der neuen Sinai-Schrift ihre schonste Bestati- 
gung gefunden hat. 

Die Argumente, die Gardiner dafiir anflihrt, sind z. T. nea 
und verdienen, wie mir scheint, alle Beachtung. Die Art, wie er 
die Vertreter der entgegengesetzten Meinung ad absurdum fUhrt, 
ist in ihrer Kiirze und Scharfe einfach glanzend. Denen, die ge- 
neigt waren, ohne weiteres liber all da, wo Name nnd Bild eines 
Bnchstaben nicht iibereinstimmen oder der Name sinnlos erscheint, 
eine Umbenennung anznnehmen, wie sie ja in der Tat in einzelnen 
Fallen stattgefnnden hat, stellt er den gesnnden Grnndsatz ent- 
gegen: Ob uns die Namen passen oder nicht, wir haben sie als 
gegeben zu betrachten. Gerade da, wo sie zum Bilde nicht stim- 
men, mu6 dieser TJmstand sie fiir uns unantastbar machen. Sie 
konnen da wertvolle Zeugnisse fiir Veranderungen sein, welche 
die Zeit an der Form des Buchstabens hervorgerufen hat und 
durch welche die urspriingliche Ubereinstimmung zwiscben Bild 
und Namen zerstort worden ist. Wo Bild und Name trotz der 
starken Abnutzung, die die Bilder im Gebrauch notwendig erfahren 
muBten, noch aufs Schonste Iibereinstimmen, ist ein Verdacht gegen 
das Alter des Namens eher berechtigt, als da, wo sie nicht iiber- 
einstimmen. Die Ubereinstimmung konnte, wo sie verloren war, 
unter Umstanden durch Umdeutung und Umbenennung, eventuell 
auch durch Umgestaltung des Zeichens wiederhergestellt werden. 
Die Diskrepanz dagegen ist der beste Beweis, daB kein solcher 
kiinstlicher Eingrilf in das historisch Gewordene erfolgt ist. 

Gegen diese gesunden Grundsatze verstoBt Cowley, wenn 
er den Fisch in der Sinai-Schrift wegen des kana'anaischen Wortes 
dciff „Fisch“ = d, den von Gardiner als Schin gedeuteten Bogen 
ohne Sehne (Gebirgsriicken) wegen iieset „Bogen“ = ^ setzt, ob- 
wohl die Namen dieser beiden Bnchstaben Daleth und Koph lauten 
und also auf ganz andere Gegenstande denten. 

Ein Zeugnis fiir das Alter der phonizischen Buchstabennamen 
will Gardiner (a.a. 0. S. 10) in der Verwendung der Zeichen 
’Aleph, He und 'Ajin fiir die Vokale a, e, o durch die Griechen 
erkeimen. Er meint, dafi hier die semitischen Konsonantenzeichen 
von den Griechen nach dem gleichen akrophonischen Prinzip auf 
Grund ihrer Namen bewertet worden seien wie einst bei den Se- 
miten. ’Aleph als a, weil sein Name fiir das griechische Ohr mit 
a begann, ein Gedanke, den schon Praetorius gelegentlich ausge- 
sprochen habe; ebenso He als e. Fiir das 'Ajin ist G. geneigt, 



472 


Knrt Seth e, 


eine unter dem EinfluB des Kehllautes nach o gefarbte Aussprache 
des a anzunehmen, wofiir er sich auf Brockelmann , GrundriB der 
vergl. Gramm, der semit. Sprachen I § 74 d. /3. y beruft '). 

Dasselbe Prinzip wiirde die Griechen dann spater, nacli der 
Psilose des h, zur Verwendung des Hetha fiir offenes e(«) gefiihrt 
haben. 

Mit dieser Erklarung wiirde aach fiir Zweifler die Coexistenz 
der phonizischen Buchstabennamen und der Rezeption des Alpha- 
bets durch die Griechen bezeugt werden. Fiir die meisten wird 
es eines solchen Beweises aber kanm noch bediirfen, da die Buch- 
stabennamen ebenso wie die Reihenfolge des Alphabets verniinfti- 
gerweise mit dem Alphabet znsammen und nicht spater, womog- 
lich nach Jahrhunderten, iibemommen sein werden. 

10 . 

Das akrophonische Prinzip, das hiernach in der griechischen 
Schrift noch ebenso lebendig gewesen ware wie in der phonizischen 
Schrift bei deren Entstehung, hat, wie ich in meiner Arbeit zeigte, 
den Aegyptern bei der Entstehung ibrer Bucbstaben fern gelegen. 
DaB es auch spater bei der Verwendung von entwerteten mehr- 
konsonantigen Zeichen als Buchstabenhomophone noch keine RoUe 
gespielt hat, habe ich an dem spateren Zeichen fiir f gezeigt 
(Urspr. S. 123) und auch im Exknrs 15 durch mehrere Beispiele 
belegt. Ich bemerkte indeB, man konne sagen, der Aegypter habe 
das akrophonische Prinzip gewissermaBen unbewuBt und unabsicht- 
lich gefunden, wie er die Buchstaben selbst ungesucht erfunden 
hatte (Urspr. S. 128). 

Ich hatte hinzufiigen konnen, daB es auch Anzeichen dafiir 
gibt, daB sich die Aegypter dieser Erfindung spater selbst bewuBt 


1) Die Analogie von Beth (Bijra) > bait wurde fur das 'Ajin wohl eher 
eine Aussprache 'en > 'ain erwarten lassen. Melleicht bezeugt aber, wenn G.’s 
Gedanke richtig ist, umgekehrt die griechiscbe Verwendung des Buchstaben als 
0 , daB bereits damals bei der Rezeption des phiin. Alphabets durch die Griechen 
zwischen den Buchstabennamen Beth und 'Ajin dieselbe unerkliirliche , aber von » 

uns hinzunehmende Differenz bestanden hat, wie spater. Lidzbarski meint, daB 
sich im Namen 'Ajin {'ain) die diphthongiscbe Aussprache ai unter dem EinfluB 
des Kehllautes langer gehalten haben konne, als in Beth {bit > bait) und daB die 
Griechen den Namen oiv gehort haben mbgen ; in der Tat sei die Wiedergabe 
des 'Ajin-Lautes durch o spater in griechischen Transskriptionen nicht selten, 
z. B. osyrj = SSI? 'ege (Ephemeris II 277m). Unerklart bleiht auf.alle Falle, 
weshalb der Buchstabe nicht seinen semitischen Kamen behalten hat, wie das 
Alpha, also ’Aiv oder ’Oiv lautete statt ov (d. i. nach Ed. Hermann geschlos- 
senes d). Liegt hier .Analogie zu si = He vor oder was? 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift und die Entstehnng der semitischen Schrift. 473 


gewesen sind. So wenig die Akrophonie in der normalen Schrift 
bis in die spatesten Zeiten bin znr Geltong kommt, so scheint sie 
doch in einer Abart der Hieroglyphenschrift, der sogen. aenigmati- 
schen Schrift oder Geheimschrift *), die die hieroglyphischen Bilder 
absichtlich nicht mit ihrem historischen Werte verwendet, sondern 
in spielerischer Weise mit nenen Werten versieht^), verschiedent- 
lich angewendet zu werden. So wird in solchen spielenden Tem- 
pelinschriften der griechisch-romischen Periode das Bild des Obe- 
lisken (/hu) fiir t verwendet, das der Lotosbliite fiir n, das 

des fliegenden Sonnenkafers i^pj) fiir das Bild des Zweizacks 
(•s«) fiir s, das Bild der Lunge {smi) fiir s, das Bild des Vogels 
nh fiir n , das Bild des Korbes [nh) fiir n, das Bild des Sitzes 
.t) fiir n usw. In „anigmatischen" Inschriften aus alterer Zeit 
scheint diese akrophonische Verwendung der Bilder durch den Ge- 
branch des Tierfelles (hun.t) fiir k, des Speichels {if-, pig) fiir t 
oder p, des Eis {sn-h . t) fiir s vertreten zu sein. 

Die Zahl der wirklich sicheren Ealle einer solchen akrophoni- 
schen Zeichenverwendung, in denen keine andre Erklarung miiglich 
erscheint, ist indefi nur klein. In den meisten Eallen aus grie- 
chisch-rbmischer Zeit, in denen sie sonst vorzuliegen scheint. han- 
delt es sich um die Bilder von einkonsonantig gewordenen Worten, 
bei denen die natiirliche Erklarung durch lantliche Entwertnng 
wie bei den Buchstabenhomophonen der normalen Schrift moglich 
ist, z.B. wenn das Bild der Wahrheit (wj'./, kopt. wc) fiir m ge- 
braucht wind. 

Enter den Beispielen, fiir die es zur Zeit nur die akrophoni- 
sche Erklarung gibt. wie auch unter diesen nach Art der normalen 
Buchstabenhomophone zu erklarenden Fallen finden sich bemer- 
kenswerterweise wieder verscbiedene, in denen dem betr. Buch- 


1) S. hierxu meine Bemerkungen bei Northampton, Spiegelber"- 
Newberry, Keport on some excavations in the Theban Necropolis during the 
winter of ISOti — ‘J, S. 3*ff. 

■2) Viclfach liegt dabei eine spielerische Vertauschung mit Bildern synonjmer 
Worte vor, wie z. B, wenn der Stierschenke! Hips) statt des menschlichen Amies 
(') fur der Falke iHr) statt der fiiegenden Cans ipi) fur p, die Gans (rf) oder 
der Adler (ij statt der Wachtel (ic) fur tr, der Finger {db') statt des Armes (') 
fur der kreisrunde Kucben und das Brot im Napf (r) statt des Brotes (t) fur 
t, die Dattel (bur „siiB‘‘) st,itt des Baumes (iim „angenehm“) fur m, die ober- 
aegyptische Krone ihd.t) statt der oheraeg. Pflanze (sii; t) fur s, das Wasser- 
becken (mr) statt der Wasserlinie (ti) fur n, die Pflanze {Jin) statt des Sci.ilf- 
blattes {{) fur i gebraucht wird, Es ist miiglich, dafl sich eiiies oder das andere 
der im Folgenden genannten Beisjiiele fur scheinhar akrophonischen Gehrauch 
in Wahrheit auch auf ciese Weise erkh it 



474 


Kurt Sethe, 


staben ein vokalischer Laut voranging, der bei der Bewertang un- 
beriicksichtigt gelassen ist, wie in dem Beispiel von df nFleiscb**, 
dessen Bild als Homophon fur f gebraucht wird. So heiBt der 
Gott Osiris, dessen Bild spielerisch fiir s gebrauckt wird. Tj»ire, 
der Horizont (alt dessen Bild als dient, ahe, der Geister- 

vogel. dessen Bild ebenfalls als li verwendet wird, Ih, usw. 

Wie alt die „aenigmatische“ Schrift ist, ist ungewifi. Am 
Anfange des neuen Reicbs, unter der 18. Gyn. tritt sie nns bereits 
verschiedentlich in Anwendung entgegen ; vermutlich wird sie also 
mindestens noch in die Zeit des mittleren Reichs zuriickreichen. 
DaB sie nicht alter als diese Periode war, kdnnte vielleiclit aus 
der Yerwendung des Bildes des Phallus fiir den Bnchstaben t zu 
schlieBen sein, die bereits in der 18. Dyn. ebenso iiblich ist wie 
in griechisch-romischer Zeit ; denn sie kann nach nnserer Kenntnis 
eigentlich wohl nur auf das Wort fj „Mann“ „mannlich“ zuriick- 
gehen nnd diirfte, wenn das der Fall ist, also den Ubergang des 
alten < in ^ voraussetzen, der erst im mittleren Reich zn beoh- 
achten ist. 

Wie dem nun auch sei, jedenfalls war die Akrophonie den 
Aegyptern zur Zeit, da die Semiten sich ihr Konsonantenalphabet 
bei ihnen schufen, gegen Ausgang des mittleren Reiches, bereits 
bewufit geworden, sodafi die Semiten auch hinsichtlich dieses im 
iibrigen sehr nahe liegenden nnd sich fast von selhst anbietenden 
Prinzipes unter dem EinfluB ihrer aegyptischen Lehrmeister ge- 
standen haben kbnnten. 

Xachtrag zu S. 447, 13. Gegen die ohen vorgeschlagene Er- 
hlarung des ionischen Buchstabennamens Ziyjia konnte man die 
Benennnng desselben Bnchstaben bei den Dorern Zldv (Herodot 1, 
139) geltend machen, die bisher mit dem phbn. Namen Schin zu- 
sammengebracht wurde. und auf die Moglichkeit verweisen, den 
Namen Illyria entweder, wie es bisher meist geschehen ist, auf den 
phon Namen Samekh zuriickzufuhren, wogegen indeB die Form des 
Sigma und seine Stelle im Alphabet sprechen, oder, wie das unter An- 
deren Roberts woUte, von dem onomatopoetischen Verbum 
pzischen" (Perf. eidiya, Fut. &Cico,,0iyn6g, „Zischen“, dies alles 
in Wahrheit vielleicht nur wegen des Xamens Uiy^cc so gebildet?) 
abzuleiten und als ,,Zischlaut‘‘ zu erklaren. DaB das letztere fiir 
den Ursprung des Namens im Ernste nicht in Frage kommen kann, 
lehrt die Tatsache, daB der Name Ziyfia in alterer Zeit (noch bei 
Plato) ebenso indeklinabel ist, wie die andern auf a ausgehenden 
Buchstabennamen; erst spat wird er dekliniert und scheint dann 



Die neuentdeckte Sinai-Schrift und die Entstehiing der semitischen Schrift. 475 


in der Tat in einer Art Yolksetjmologie von aitco abgeleitet wor- 
den zn sein. DaB andererseits der dorische Kame Zlciv in dieser 
seiner Form kanm der urspriinglichen Reihe der bei der Rezeption 
des pbonizischen Alphabets gebildeten griechischen — nacb Ed. 
Hermann’s Feststellung iiber die Namen Ilsi und Rijta (s. unten) 
vermutlicb eben ionischen — Buebstabennamen angehort baben 
kann. macbt das Feblen der Endung a wabrscbeinlicb. Es ist sonst 
nur bei den fiir das griecbiscbe Obr vokaliscb ausgebenden Bueb- 
stabennamen {Ei, Mv, Nv, Oi). Ust, ^Pa, Teev, Bav) za konstatieren. 
Der Rame Yagart des nur nocb als Zablzeicben fiir 900 bin ter dem 
Omega verwendeten Zeicbens, das man in dem fiir 66 gebrauebten 
Buchstaben T in einigen kleinasiatiscben Iiiscbriften hat erkennen 
wollen, ist bekanntlicb jung (Larfeld, Handb. der grieeb. Epi- 
grapbik I S. 358). 

Auf die Frage, ob die in alteren doriseben Inschriften des 7. 
und 6. Jb. auBerhalb Kleinasieus iiblicbe Form des San M, die 
sich von der spiiter allgemein iiblichen ionischen Z nur durch die 
Stellung untersebeidet, wirklicb, wie man auf Grrund der Abece- 
dare von Formello meist annimmt, auf das §ade zuriickgeht and 
niebt vielmehr von Haus aus mit dem Sigma (Sebin) identisch war, 
kann ich micb bier niebt einlassen. 

Zu dem oben S. 447 anfangs ins Auge gefaBten Vergleich des 
Sinai- Scbriftzeicbens mit einem sehnenlosen „nubischen“ Bogen 
findet sick iibrigens eine bemerkenswerte Parallele bei Athen. 454 d; 
dort ist die Gestalt des griechischen Sigma mit einem skytiseben 
Bogen verglichen. 


Ubersicht der im Vorstehenden erorterten semitischen 

Buchstaben. 


’Alepli S'. -144. 458. 471. 

Beth S. 444. 

Gimel S. 453. 458. 

Daleth S. 458. 

He S. 444 452. 458. 471. 

Waw S. 444 Anm. 2. 448. 458. 
Zajin S. 448. 

Heth S. 444. 449. 472. 

Teth S. 459. 

J5d S. 445. 456. 

J£aph S. 445. 


Lamed S 445. 

Mem S, 445. 

Nun S. 446. 

Samekli 8. 446. 

‘A jin S. 447. 456. 471. 
Pe S. 447. 456. 

Sade S. 448. 459. 

Kopli S. 448. 

Resch S. 447. 

Schin S. 447. 474. 

Taw S. 448. 



Die Buchstabennamen Pi and Beta iind die Erlindung 
der griechischen Schrift. 

Von 

Eduard HermaBii. 

Vorgelegt (lurch Ilerrn Setlie in der Sitzung am 23. Juni 1017 

DaB die griechische Schrift und die griechischen Bnchstaben- 
nameii phdnizischer Abkunft sind, darf als ein sicheres Ergebnis 
der Wissenschaft betrachtet werden, auf das die Nachrichten ans 
dem Altertum, die Buchstabenformen und die ungriechischen Namen 
flihren. Noch nicht entschieden ist aber die Frage, bei welchem 
griechischen Stamm die phonizische Schrift zu dem griechischen 
Uralphabet umgebildet wnrde. So einfach , wie Gercke Hermes 
41.543 und Wiedemann Z. ost. Gymn. 1908, 674 meinen, ist sie 
nicht zu beantworten. Die folgenden Bemerkungen bringen eben- 
sowenig eine Losung dieser schwierigen Frage, sind aber vielleicht 
nicht ungeeignet, kiinftiger Forschong vorzuarbeiten. 

1. Der Name P> lautete nach Ausweis inschriftlicher Uber- 
lieferung s. 3Ieisterhans - Schwyzer Gramm, att. Inschr. ® 5 fg. in 
Athen im 4. Jahrhundert v. Chr. Ttet. Mit dieser Schreibung 
kann nicht ein alter Diphthong ei gemeint sein, da der Buchstaben- 
name mit Diphthong ganz iinbegreiflich ware, a kann hier nichts 
anderes bedeuten als in siui. (piA,siTc, d. h. die sonst nur in Ersatz- 
dehnung und Kontraktion erscheinende sekundare Lange e, die 
sich durch groBere Geschlossenheit von dem olfeneren rj unterschied. 
Dieses kam aber in den Buchstabennamen ebenfalls vor z. B. 
in Wahrend wir andere Buchstabennamen in verschieden- 

artiger Form kennen, gw neben go, }]tk neben J]xa u. a. , ist uns 
nichts davon bekaiint. daB ittl und jiiju ihren Namen irgendwann 
im Altertum geiindert batten. Nicht einmal der Verdacht liegt 



die Buchstabennamen Pi iind Beta iind die Erfindiing der griech. Schrift. 477 

nahe , dafi eine Anderung vorgenommen worden ist. Der Name 
des Epsilon, der uns als ei iiberliefert ist. d. h. also kdnnte die 
geschlussene .Klangfarbe des r erst bei Scheidung der beiden e- 
Lante s nnd r] in der Schrift nachtriiglich erhalten haben. Auch 
mbgen yei, tpsi, anf iim, nnd weiin el schon yorhanden war, 
aoch auf dieses gereimt worden sein. nst ist also wohl der alteste 
Buchstabenname mit geschlossenem f gewesen. Dab er selber erst 
auf einen der andern gereimt worden ist, kommt mir recht un- 
wahrscheinlich vor. Ebenso wenig Anlab liegt zu der Annahme 
vor, dab &ijra auf ein etwa erst spater, seit Scheidung 

der r-Laute in der Schrift, mit d gesprochenes gereimt worden 
seien. Dann hat aber das griechische Uralphabet schon mit e 
und i/dtfi mit n enthalten. Demnach hat derjenige Stamm, bei dem 
das griechische Alphabet aufkam. den TTnterschied zwischen f (ei) 
und ii (),) gekannt. 

Ob er auch die beiden langen b-Laute, das geschlossene o und 
das olfene o, unterschied, muB dahin gestellt bleiben. Denn wenn 
auch beide in den Buchstabennamen wiederkehren : b in der Fort- 
entwicklung zu u in ov. dem alten Xameu des Omikron, und 0 in 
i&Tcc, Qu und a, dem alten Namen des Omega, so ist dock die 
Moglichkeit nicht ganz ausgeschlossen , dab erst die lonier durch 
ihre Unterscheidung der o-Laute in der Schrift das vor Pi stehende 
O mit geschlossener Aussprache p, spater ov genannt haben. Das 
ist allordings wenig wahrscheinlich angesichts der Tatsache , dab 
das r.tue Zeic.ien ij gerade fur den olfenen Laut gebraucht wurde. 
Immerhin lliGt sich aus den Buchstabennamen nicht der sichere 
Schlub ziehen, daG der Erfinder des griechischen Uralphabets auber 
f und a auch o und t sprach. 

2. Auf den ersten Blick kbnnte es einfach erscheinen, mit 
Hilfe der gewonnenen Aussprachemerkmale den Erfinder des ur- 
griechischen Alphabets in die griechischen Stamme einzureihen. 
Scharf geschieden sind die ofteiien und geschlossenen e- und b-Laute 
nur im lonisch-Attisrhen ; in den dorischen Mundarten in weitester 
Bedeutung scheint eine allmiibliche Entwicklung zu scharferer 
Scheidung vorzuliegen (Thumb Handbuch der griech. Dialekte 202 fg.) ; 
die iibrigen Mundarten, die im wesentlichen das Altachaische fort- 
setzen, kennen einen Unterschied der beiden Laute uberhaupt nicht. 
Danach wiirde das lonisch-Attische die mei.ste Aussicht haben, die 
Heimat eines Kadmos oder Palamedes zu sein. Die Dinge .sind 
aber dock vielleicht nicht so einfach. 

Das Booti.sche schreibt fiir alte und neue Langen h bez. 
ra; danach waren hier die beiden c-Laute vermutlich geschlossen, 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil. -hist. Kiasse. 1917. Heft 3. 32 



478 


Eduard Hermann, 


die beiden d-Laute ofl’en. Im Thessalischen scheint es, nach 
der Schreibung si, und ov fiir beiderlei Laute zu nrteilen, nur die 
geschlossenen Liingen gegeben zu haben. Das Lesbische, das 
Ersatzdebnuugsiange nicht einmal in der Beschrankung wie das 
Thessaliscbe kenut, verwendet nur r] und a fiir alte und kontra- 
hierte Langen. Im Arkadischen kamen ebenso wie im Elei- 
s c b e n nur und m zur Anwendnng, was auf ofFenere Aussprache 
schlieBen liiBt. Das Kyprische nnterscheidet die beiderlei Langen 
zwar nicht, gestattet uns aber bei seiner Silbenschrift keinen Ein- 
blick in die Eeinheiten der Aussprache. Der SchluBfolgerung, daB 
diese sechs im wesentlichen achaische Ziige aufweisenden Mund- 
arten die alien und neuen c- und d-Laute zusammenfallen lieBen, 
wiirde das Kyprische natiirlich nicht widersprechen. Es ist aber 
sehr fraglich, ob man dieses Zusammenfallen ins Urachaische ver- 
legen darf, zumal da das Endergebnis in den sechs Mundarten 
nicht zusammenstimmt. Vielleicht gelingt es spaterer Forschung 
genauer festzustellen, wann die r- und d-Laute in diesen Mund- 
arten schon vor Einfiihrung der ionischen Schrift zusammengefallen 
Oder kaum unterschieden waren. Dann wird sich vielleicht auch 
eher sehen lassen als jetzt , welchem Stamm ‘Kadmos’ angehbrt 
haben kann, welchem nicht ^). 

3. Wenn nun im griechischen Uralphabet die Namen ns und 
fiijTa zwei verschiedene d-Lante enthielten, liegt die Vermutung 
nahe, daB der Erfinder der griechischen Schrift diese Verschieden- 
heit aus den phonizischen Namen herausgehort hatte. In gewisser 
Beziehung findet diese Vermutung ihre Bestatigung, wie mich 
Horovitz, Rahlfs und Sethe freundlichst belehrt haben-). 


1) Vorhanden waren sekundare Langen jedenfalls schon recht friihe, schon 
vor der Umw^andlung des a in tj, was zur Absonderung des Ionischen - Attischen 
gefiihrt hat; auch das in Ersatzdehnung entstandene k wurde zu rj in t/rsts, 
aslijvri. DaB diese Ersatzdehnung besonders alt ist, ergibt auch die kretische 
Orthographie ijfisv und Ahnliches im Theraischen, Ehoischen usw., s. Brause, 
Lautlehre der kret. Dialekte 146, BlaB SGDI III, 2, 148, Gunther IF 32, 382 Anm. 
Bemerkenswert ist aber, dafi diese Ersatzdehnung, die man doch ins Urgriechische 
hinaufverlegen wdrd, nicht gemeingriechisch ist; denn sie findet sich nicht im 
Thessalischen nnd Lesbischen. Andererseits zeigt wie die kretische, theraische 
usw. Orthographie so auch die ionische Lautgestaltung , daB die Kontraktion 
gleichartiger Vokale nach Ausfall von s, j junger ist. Wir haben ionisch «aga- 
Sov.ia und v.gsa, wogegen bei Aeschylus und eKtjTTj bei Herodian als Ana- 
logiefornien aufzufassen sind (auf Grund jonischer Formen wie a^^sog, ayJnsog). 

2) Den drei Herren danke ich auch die Bekanntschaft mit der einschlagigen 
semitischen Literatur. 



die Buchstabennamen Pi und Beta und die Erfindung der griech. Schrift. 479 


Der Unterschied ist allerdings nicht derselbe, aber die den 
beiden Namen zugrunde liegenden Appellativa sind im Hebraischen 
in der Vokalisation wenigstens auch geschieden. Leider kennen 
wir ja gerade die Vokalisation des Pbonizischen nicht; icb wilrde 
vermuten , daB die beiden Xamen in der gebenden phonizischen 
Mundart dem griechischen jt£ und ^rjta recht nahe standen. Und 
zwar wilrde es mir am wabrscheinlichsten vorkommen, daB dies 
die Vokalisation des Status absolutus war (s^gl. dazu Xoldeke Bei- 
trage zur semitischen Sprachwissenschaft I. 185). Wie es kommt, 
daB die Buchstabennamen in der jetzigen hebraischen Aussprache 
bald den Status absolutns. bald den Status constructus, bald et- 
was Drittes aufweisen (Ajhi. Pe) , werden die Semitisten zu 

untersuchen haben. 

Wenn die Vermutung aufgetaucht ist, daB der Buchstabe Zajm 
eiumal Zrt hieB , was den Olbaum bezeichnet . so stimmt hierzu 
nicht nur die griechische Wiedergabe des syrischen Alphabets aus 
dem 7. Jahrhnndert (bei Noldeke I, 128), die auf Versehen beruhen 
kdnnte, sondern auch die griechische Form gjjm mit einem »?. Wie 
und im Vokal ubereinstimmen , so ist das auch der 

Fall mit hebraisch let ‘Hans’ und zet ‘Olbaum’. 

4. Die j linger en griechischen Buchstabennamen (psl, lel, 
reimen alle auf ctst (und st). Im lateinischen Alphabet, das 

die fremden Xamen aufgegeben hat, ist dieser Reim zum Prinzip 
erhoben bei den Namen der VersschluBlaute auBer bei 1-, q. Be 
Be waren durch den ersten Teil der Worter ^qta, dekra leicht 
gegeben, Te Ce Ge kamen neu hinzu. Die nicht so leicht ver- 
klingenden Laute (Vokale, Xasale, Liquiden und s, s. W. Schulze 
SBA 1 904, 760 fg.) bekamen ihren Namen wie griechisch i, d nach 
dem Laut selbst. 

5. Aber nicht nur das lateinische und jiingere semitische 
Alphabete zeigen Buchstabennamen , die aus dem Laut und einem 
folgenden e-Laut zusammengesetzt sind (s. Noldeke 131), sondern 
auch das kyprische Syllabar enthalt etwas Ahnliches^). Ein aus- 
lautender Konsonant wurde durch das Silbenzeichen mit dem Vokal 
e wiedergegeben, itrohg schrieb man po' to 'li' se. Nur drei Kon- 
sonanten stehen im Griechischen im absoluten Auslant v, q, o, 
daher schrieb man iie re se. Auch fiir erfand man, wohl erst 


1) Es sei noch bemerkt, dafi bei dem russischen BucLstabieren, das Tolstoj 
in der kleinen Erzablung Fiiipol- beschreibt (s. Berneker, PiUssiscLes Lesebuch® 17), 
■wie miih K. Fritzler belebrt, kein e, sondern ein a dem Konsonanten angehiingt 
wird. 


32 * 



480 Eduard Hermann, d. Buchstabennam. Pi u. Beta u. d. Erf. d. gr. Sdir. 

veranlafit dnrch das griecMsclie ein einheitliclies Zeichen, also 
im Auslaut ein xe. isannte man das Zeichen etwa auch |i wie 
bei den anderen Griechen? Da6 ein Zeichen | hier nichts Altes 
war, ergibt sich auch daraus, da6 zum Teil noch zwei Zeichen 
geschrieben werden, s. Meister IF 4:,18ofg. , ASItW 1909, 303, 
SEA 1910, 151. 

Die Kyprer waren also nahe daran, von der Silbenschrift zur 
-Buchstabenschrift hberzugehen ; sie brauchten nur iiberall die Zei- 
chen mil <r- fiir die Konsonanten zu verwenden. Besteht aber wohl 
irgend ein Zusammenhang zwischen der Schreibnng ne, rc, .sc. xe 
fiir -i\ -Q, -g, und den griechischen Xamen auf c: arf, qpi nsw.? 
Oder hat eine fremde Sprache, die wie das Franziisische ein au.s- 
lantendes -e hatte verstnmmen lassen, mit seiner Schrift den Ky- 
prern das VorLild geliefert? DaB man vielleicht mit letzterem 
rechnen mnB , lehrt Herbigs Hinweis (Kleinasiatisch - etrusk. Na- 
mengleich angen 34) ai f die Tatsache, daB im Lykischen wie im 
Etrnskischen hinter dem anslautenden Konsonanten gelegentlich 
ein iiberschus.siges <■ auftaucht. 



Die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


Von 

R. Reitzenstein. 

Vorgelegt in der Sitzuug vom 23. Juni 1917. 

II. 

Das Ziel, das der Diktator Caesar in den letzten Jahren ver- 
folgt hatte, scheint einigermaBen klar: es war die Weltmonarchie 
in den Formen des hellenistischen, auf die Militarmacht begriin- 
deten Konigtums , das in seiner vollen Ausgestaltong alle natio- 
nalen Schranken beseitigen muBte und unter dem als Reichsgott 
verehrten Herrscher nur Untertanen kennen konnte, die sich rechtlich 
im wesentlichen gleich stehen. Es war die voile Vernichtung des 
romischen Staates in seiner historisch gewordenen Form, die Ver- 
letzung aller nationalen Empfindungen. Den jedem Rbmer ver- 
hafiten, dem Giriechen, wenigstens des Ostens, allerdings heiligen 
Titel Kbnig hat er annehmen, den Sitz der Herrschaft vielleicht 
wirklich nach dem Osten verlegen wollen. Sein fahigster Greneral 
Antonias nahm diese Plane zum Teil wieder auf. Was Octavian, 
sein Adoptivsohn, schuf, war nicht ein internationaler Weltstaat, 
sondern die Weltherrschaft des italischen Volkes, nicht erne 
Monarchie, sondem ein eigenartiges Grebilde, das man hohnend als 
Republik mit monarchischer Spitze bezeichnet hat und 
oft nur als Uebergangsform und Vermummung eines auf die voile 
Monarchie gerichteten Strebens fa6t. Octavian selbst versichert, 
da6 er die Republik, und zwar in der Form, wie sie in der besten 
Zeit der Vergangenheit gedacht war, wieder hergestellt habeb, 
und seine innere Politik steht zu der Caesars in scharfem Gegen- 

1) Die Worte optimus status (rei puhlicae) in dem Edikt bei Sueton 28 and 
die Hoffnnng mansura in vestigia suo fimdamenta rei publicae quae iecero er- 
wahne ich als besonders charakteristisch. 



482 


R. Eeitzenstein, 


satz. Der Senat, den Caesar herabgedriickt und entwurdigt hatte, 
wird innerlich wieder gehoben und auBerlich in die alte Stellung 
eingesetzt, die Aristokratie, Caesars Todfeindin. der Octavian selbst 
in seiner Jugend die scbwersten Wunden geschlagen hat. wird mit 
liebevoUer Sorgfalt wieder belebt und erhalt jetzt die alten Amter 
und Ebren wieder zuruck '). Was die geordnete Reicbsverwaltung 
an Neuschopfungen notig macht, schiebt sicb in nnscheinbarer Form 
als Leistung des Princeps und seines Hausgesindes oder seiner 
Vertrauten ein; neue Amtsbezeichnungen werden tnnlichst ver- 
mieden. Wohl hat Octavian auch Garantien verlangt, da6 sein 
EinfluB sicb innerhalb der alten Verfassnng wirklich durchsetzen 
kann, aber sie kniipfen sicb im wesentlichen an diese personliche 
Leistung und die Amtsbefugnisse, die er un Rahmen jener alten 
Verfasstmg ubemehmen kann*). Er spricbt mebrfach davon, sie 
nocb bei Lebzeiten aufgeben zu wollen, und nach seinem Tode ist 
lange im Senat dariiber verhandelt worden, ob das Staatsinteresse 
verlange, daB diese Garantien und Leistungen wieder e i n e r Person 
iibertragen wiirden*). Der groBe Historiograph des romiscben 
Kaisertums hat eine Zeit lang ernstlich geglaubt, sein Geschichts- 
werk mit innerem Recht erst bei diesem TJebergang des Principats 
innerhalb der Familie beginnen zu sollen; als er es berausgab, 
stand ihm freilich scbon fest, daB er den Ausgangspunkt friiher 
hatte suchen miissen. 

Hat sicb nun in dem Laufe der Untersuchung wirklich gezeigt, 
daB neben jener hellenistischen Idee der Militarmonarchie seit dem 
Ende des zweiten Jahrhunderts eine angeblicb altrbmische Idee von 
dem Principal des besten Mannes stebt, so kdnnen wir nicht nur 
begreifen, daB den Besten seiner Zeitgenossen Octavians Werk so 
erschienen ist, wie er selbst es darstellte, sondern auch die innere 
Notwendigkeit unter der es entstand klarer erkennen. 

Wie jeder rbmische GroBe der Zeit hat Octavian zunachst 
personliche Politik, und zwar unverhiillte Machtpolitik, getrieben. 
Als Erbe Caesars tritt er auf; er nennt sicb Sohn des Gottes; 
dieser Adel ist der Rechtstitel, unter dem er einen Platz fiir sicb 
fordert; die Soldaten seines Vaters sollen ihm eine Machtstellung 


1) Wer emporkommen will, muB einen Stammbaum erfinden; der princeps 
betont stark, daB er der adligste Mann Roms ist. 

1) Er meidet demonstratiy das Amt, an das Caesar seine Herrschaft ge- 
knupft hat (es war inzwischen durch Gesetz aufgehoben als unrepublikanisch). 

2) Gerade weil Augustus alle andern so weit uberragt hat , muB man jetzt 
fragen, ob nicht wieder mehrere principes vorhanden sind, die sich in sie teilen 
soUten (Tacitus Ann. 1 1 1 j. 



die Idee des Principals bei Cicero und Augustus. 


483 


begriinden *). Aber in dem zwolfjabrigen wecbselvollen Ringen 
um diese Stellung, in dem er selbst sich vom sittenlosen Jiingling 
zum ernsten und reifen Manne entwickelt, wird seine Politik immer 
nationaler. An die Verwaltung Italiens hat er sich von Anfang 
an geklammert, hier in den Municipien und bei dem kleinen Mann 
zuerst Vertranen und Liebe gefunden. Ungeheure Opfer hatte er 
dem durch lange Biirgerkriege zerriitteten Lande zomuten miissen, 
aber GroBes auch fiir es erreicht, als die letzte Entscheidung heran- 
nahte. Sie fand ihn in scheinbar hoffnungsloser Lage ; die aus- 
schlaggebenden Beamten und ein Teil des Senates waren fiir seinen 
Gegner Antonins. Durch einen Staatsstreich muBte er ihre Macht 
brechen, sich an das Volk wenden und alle national en Empfin- 
dungen des waffenstolzen Italertums, die groBen Erinnerungen seiner 
Vergangenheit und den HaB gegen den Osten wachrufen. Als er- 
wiihlter Fiihrer dieses Krieges, den das Volk fiir seine Weltstellung 
und sein Eortbestehen auf sich nehmen zu miissen empfand, hat 
Octavian dann den personlichen Gegner niedergeworfen, seine Haus- 
macht in eigenen Besitz genommen und das Reich im Osten neu 
geordnet. Als er heimkehrte, hatte er allerdings mehr als jemals 
Caesar die auBere Macht, eine heUenistische Weltmonarchie zu 
errichten, und wie jener die klare Erkenntnis der Notwendigkeit einer 
einheitlichen Leitung des Reiches. Aber fiir den Plan Caesars fehlte 
die innere Moglichkeit ^). Nur auf nationalem Boden und nur im 


1) Es handelt sich zunachst schwerlich um mehr als das Wahren der dignitas, 
die ihm durch die Erbschaft und die Anerkennung der acta Caesaris zugefallen 
ist, schwerlich um klare Plane und eine bestimmte Form der Herrschaft. 

2) Nur durch einen unerhorten Treubruch an seinem Volke hatte er sich 
vollziehen lassen ; die Anwendung seiner Starke in der Gegenwart hatte notwendig 
die Schwache der Monarchie in der Zukunft nach sich gezogen (vgl. Bismarcks 
Worte oben S. 400, 1). Antonins war nicht als Feind des Staates (hostisj erklart; 
der Kampf gegen ihn fallt also unter den Begriff der inimicitia (vgl. das Wort 
des Asinius Pollio bei Velleius 1186 mea in Antonium maiora merita sunt, illius 
in me benefieia notiora; itaque discrimini vestro me subtraham et era praeda vic~ 
toris). Wer hierbei dem Octavian Treue schwur, begab sich in seine fides (ami- 
citia)- das Verhaltnis ist anders, als bei denSoldaten, die ihrem Feldherrn bereits 
geschworen haben. Tatsachlich sind die Formen fiir die Ankiindigung der inimi- 
citia fast pedantisch festgehalten worden; nur tritt fur die sonst ubliche Verbf- 
fentlichung tiktiver Reden notwendig die Verdffeutlichung der „Briefe“ ein; da- 
dnrcb erklart sich ihr uns befremdlicher Charakter. Eine Verletzung der fides in 
diesem Treuverhaltnis scheint dem Eiimer als der schwerste sittliche Delikt und 
ware fiir den Betrogenen die iniuria, die unbedingt Rache verlangt. Ihre hoch- 
herzige Wahrung, besonders dem seinerseits sehr unsicheren Senat gegeniiber, 
ist das meritum des princeps. Da diese privaten Kriegserklarungen uns so seltsam 
erscheinen und bisher wenig beachtet sind, erwahne ich beilaulig, daB die denun~ 



484 


E. Reitzenstein, 


Eahmen der Traditionen, die er selbst wieder wachgerufen hatte, 
lieB .'ich ein neues Staatswesen begriinden. Bei dieser Erkenntnis 
und den an sie schlieBenden Erwagungen kann es in der Tat wick tig 
gewesen sein, daB eine Theorie schon bestand, welche den ent- 
scheidenden EinflnB eines einzelnen Mannes als einzige Grewahr 
der unerschiitterlichen Daner der Repnblik, als notwendige For- 
derung der Grofie des Reiches und zngleich als Ernenerung der 
TraTptoc ::o)aisia Roms hinstellte. Preilich verlangte diese Theorie 
eine streng aristokratische Staatsverwaltung *) , also den olfenen 
Bruch mit Caesars Bestrebungen und eine gewisse Aenderung auch 
der bisher von Octavian befoigten Politik ; sie stellte gerade die 
Gegner von gestern unmittelbar neben den Herrscher. Aber an 
ein aristokratiscdies Staatswesen kniipften ja die groBen Erinne- 
rungen des Volkes, und nur so bot sich eine Moglichkeit, die 
Ueberwundenen zu versohnen. Octavian hat lange gezogert nnd 
verhandelt und, was er endlich bot, dentlich als einen Verzicht 
bezeichnet, in dem man seine Hochherzigkeit und SeelengroBe er- 
kennen sollte. Der Beiname Augustus, mit dem er die Anerken- 
nung als yrlnctps empfing, zeigt, was er selbst mit letzterer Be- 
zeichnnng verbunden wissen wollte und was der Senat feierlich 
anerkannte : der inneren dignitas, welche die gleichzoitige Stiftung 
des goldenen Ehrenschildes in seiner Inschrift noch besonders an- 
erkennt, wird die nie erhorte auBere Ehrung gezollt, die den 
hbchsten Anspruch auf Rucksicht und Ehrfurcht (verecnndia) gibt; 
mit der gbttlichen Verehrung des hellenistischen Konigs, wie sie 
Caesar fiir sich erstrebt hatte, hat der Name zunachst nichts 
zu tun. 

In dem Mowimenttim Ancyramim (VI 21) driickt Augustus be- 
kanntlich die Bedeutung dieser Anerkennung in den Worten aus ; 
post hi iemptis praestiti omnibus dignitate, potestutis autein nihilo am- 
pUns Jiabsi, qitnm qui fnerunt mihi qiioqac io magistratu conJeqae^). 

tiatio inimicitiae spater noch gegen Cornelius Gallus erfolgt ist (Sueton Aug. 65), 
sogar in der Form, daB er dadurch in den kaiserlichen Provinzen vogelfrei wird. 

1) Nur der drMzoi twv dpi'sTmv ist ziu- Herrschaft berechtigt und verpflichtet ; 
nur aus den principes kann der princeps hervorgohen. 

2) Es ist charakteristisch, daB Octavian selbst den letzten Schritt, dem 
Tolke die Beamtenwahlen zu nehmen, seinem Nachfolger iiberlassen hat. Die 
alten, innerlich langst gegenstandslos gewordenen Parteigegensatze sollten erst 
vergessen werden. Es wird mit der Gesetzgebung almlich stehen ; auch hier wird 
die Beseitigung des Volkes schon auf einen Plan des Augustus zuriickgehen. Vur 
brauchte er nicht ausgesprochen zu werden. 

3) Griechisch ttz'vtojv Ss/jvcyzz, oi oiioh -t rXtXo'i iT/yi tiuv 

auvotplctvrtuv poi. 



die Idee des Principats bei Cicero nnd Augustus. 


485 


Mit voUer Scharfe scheint mir bier ansgesprochen, dafi der Prin- 
cipat als solcher zunachst kein Amt ist und keinerlei rechtliche 
Befugnisse gibt. Nur Nebenamter geben sie ; er selbst grundet 
sich auf die Riicksicht, die dem bifentlich von den beruienen Stellen 
anerkannten hochsten Verdienst gezollt werden moB. Aebnlich 
scharf drlickt dies das bekannte Wort des Tiberius bei Dio LVII 
8, 2 aus : SsanozriQ jisv iwv SouXoiv, auiozpatwp 8k tibv atpattoiTdiv, twv 
8k Sij Xom&'j ^rpdxpitd? si|j.'. Wenn Tiberius sich wirklich daneben 
einmal als princeps scnafii)^ bezeichnete (Dio ebenda) ^), so meinte er 
wohl damit nur, was Cicero mit den Worten priu.-p.ps optimatium 
bezeichnet (unten S. 487) : der Senat umfaBt ja die electi, die dcp'.aio'. 
In dem Wort liegt nur, dafi liber die namliaften Biirger einmal 
ein offizielles indicium gefallt und dieser Eine als alle andern ilber- 
ragend anerkannt ist. Das Neue an dem Principal liegt also nach 
die.ser Seite nur darin. dad ein solches TJrteil iiberbaupt au.'ge- 
sprochen wird. Seine Consequenz ist, da6 ein Versagen der vere- 
Ciuidin, die man der hochsten dignitas schuldet, und damit ein Wett- 
streit um den Principat jetzt als Auflehnung gegen ein Urteil der 
hochsten staatlichen Instanz erscheint; nur diese selbst kann das 
Urteil andern^). Es ist durchaus begreiflich, dad Tiberius im VoU- 
besitz aller amtlichen Befugnisse, die Augustus als Garantien seiner 
Stellung verlangt hatte, auf einem solchen iudiciitm des Senates 
besteht^). Er handelt damit durchaus im Geiste des Augustus. 
Als sich in Tiberius wieder die gleichen Befugnisse mit der An- 
erkennung der dignitas als princeps verbinden, wird der Principat 
tatsachlich selbst zur Magistratur, zum Amf*). 

Aus dieser Aulfassung wird mir der Rechenschaftsbericht des 
Augustus erst voll verstandiich. Notwendig muB er die Taten 
und die personlichen Opfer aufzahlen, die der Princeps dem Staate 


1) Dio selbst versteht das Wort fals.-b (vgl. Mommsen, Romisches Staats- 
recht^ II 2 S. 895, 3). 

2) Von einem Niederlegeu des Principats kaim eigentlich also nicht die 
Rede sein ; nur die an besondere Amter gebundenen Befugnisse kann der Princeps 
niederlegen. Auch Sueton, wenn er augeblich von Abdankungsplanen des Augustus 
redet (cap. 28), wahlt dock die Ausdrucke so, daC es sich nur urn amtlicbe Be- 
fugnisse handelt. 

3) Ergeht es nicht, so will er jene Befugnisse ganz oder teilweise nieder- 
legen. Da6 die Modalitaten dieses Ubergangs vorher reiflich erwogen sind, viel- 
leicht mit Augustus selbst, liegt in der Aatur der Sadie. 

4) Als solches schildert ihn dann Mommsen in meisterhafter Darlegung. 
Kur fiir die Entstehung ist jene Scheidung zwisrben potestas und dignitas wichtig. 
Wir diirfen nicht ohne weiteres das scharf umrissene Bild des Principats schon 
in das Jahr 27 oder auch nur 23 v. Chr. zuruckversetzen. 



486 


R. Reitzenstein, 


gebracht hat, notwendig aber anch alle Ehrungen, die Senat and 
Volk ihm je erwiesen haben. Er will ja nachweisen, da8 nie ein 
Romer eine ahnliche dignitas erworben hat. Wenn sich als letzter 
Anspruch hieran die Forderung sehlieBt, nach seinem Tode fiir 
sein Volk als divus za gelten, so steht aach das in vollem Ein- 
klang mit der philosophischen Staatslehre, die ich im vorigen Aaf- 
satz dargelegt habe, stellt ihn selbst neben seinen gottlichen Adop- 
ti water and sichert zugleich dem Nachfolger die dignitas, aaf die 
Octavian einst selbst sich znerst berafen hat. In der Aafzahlong 
der Taten mag mauche TJebereinstimmang mit jener Theorie nicht 
als voll beweisend erscheinen, so gleich in dem ersten Satz die 
schwere Betonnng, daB er als Privatmann den Staat von der 
Knechtnng anter eine Parfcei befreit habe, oder die Art, wie die 
Wiederherstellnng des vollen Friedens als Rahmestitel angefiihrt 
wird, oder die Versicherang, daB er alien anBeren Feinden, denen 
man ohne Gefahr fiir das Reich verzeihen konnte, Schonnng ge- 
wahrt habe and in der Errichtnng von Clientelstaaten dem Vor- 
bilde der Vergangenheit gefolgt sei. Ohne jede Kenntnis einer 
bestimmten politischen Theorie konnte Angnstus so schreiben. 
Wenn er aber in der Anfschrift sich riihmt, den Weltkreis dem 
romischen Volke anterworfen za haben ’), and in der Aasfiihrnng 
seiner Behaaptang, er habe alle G-renzprovinzen erweitert, hinza- 
fiigt nulli genti per inktriam hello inlato, so Bnde ich hier in 
der Tat einen gewissen Widerspruch der Empfindangsweise, der 
nnr aas der Anschaanng des Panaitios, daB gerade der vollkommen 
gerecht geleitete Staat notwendig zar Vorherrschaft iiber die Welt 
gelangt, and aas seiner Lehre von dem gerechten Kriege voll ver- 
standlich wird. Entscheidend scheint mir die Bedeatung, die An- 
gastas in dem Bericht and in seiner ganzen Politik der Hebnng 
der Sittlichkeit and der Erneaerang des alten Vater branches bei- 
miBt. Nicht nar er selbst, anch das Pabliknm maB dies als Haapt- 
aafgabe des princeps angesehen and zngleich als sein Haaptmittel 
betrachtet haben, daB er in der eigenen Person and dem eigenen 
Leben die alten Sitten erneaert and sich den Biirgern als Vorbild 
bietet^). Ein bestimmtes Bild von dem echten princeps besteht, 
and es ist genan das Bild, das — nach Panaitios — Cicero zeichnet. 


1) Als Herrschaft erscheiut dabei, wie in dem System des Panaitios, die an- 
erkannte Stellung als Vormacht. Ahnlich spricht Cicero von dem priticeps po~ 
pulus and der princeps civitas. 

2) Auf Einzelnheiten einzugehen wird uberflussig sein. Wenn Augustus 
Wert darauf legt, dafi man im Publikum weiB oder glaubt, seine Gewandung 
werde von der eigenen Frau und Tochter hergestellt, oder wenn er dem Volke 



die Idee des Principals bei Cicero und Augustus. 487 

Es wird lehrreich sein, schon hier zu vergleichen. wie Horaz 
die Aufgabe and Tatigkeit des Princeps fafit {ep. II 1, 1 ff.) : 
cum tot SHStimas et tanta nepotia solus, 
res Jtttlas (trnvs tuferis, inoribtis ornes, 
legibus emendes, in publim commoda peccem, 
si longo sermone morer tua tempora, Caesar. 

Aehnlich ist die Beschreibung des prmcqxs schon bei Cicero Pro 
Sestio 138 ; nach einer Skizziernng der ^ratptoc ttoXttsta heiBt es : 
haec qui pro virili parte defe^idiint, optumates sunt, cuiuscumepie sunt 
ordinis; qui a a t e m p r ae c i pu e snis oervicibiis tanta niunia 
atque rem public am sustincnt, hi semper habiti sunt optu- 
matinni principes, auctores et conservatorcs civitaiis '■). Wenn 
Horaz im folgenden die dii ex hominihns adsumpfi Liber, Castor, 
Pollux, Eomnlus und Hercules mit Augustus vergleicht und ihnen 
demgemafi als Tatigkeit zuschreibt dum terras ho)nin unique cohint 
genus ^), aspera hella componimt, agros adsignant, oppida condunt, so 
wiederholt er damit einen Gedankengang, den er schon friiher in 
dem Liede breiter ausgefiihrt hat, das nach meiner Empfindung 
den neuen princeps begriiBen soil, ich meine die dritte Romerode. 
Wohl hat die mit v. 16 beginnende Ballade in ihr selbstandiges 
Leben. Mit dem Epos wetteifernd will sie die Prophezeiung der 
Weltherrschaft, die Rom beschieden ist, berichten. Schon hierbei 
wird schwer hervorgehoben, dafi nicht Habsucht und Eigennutz 
die romischen Waffen bis an die Grenzen der bewohnten Erde 
liihren werden®), und in den zornigen Worten der Gottin fiber 
Troja soli, wieHeinze^) trefHich hervorhebt, der Horer empfinden, 
wie Hngerechtigkeit und WoUust der Ffihrer eine Stadt und ein 
Reich dem sicheren Verderben anheimgeben. Die doppelgliedrige 
Einleitung (v. 1 — 8, 9 — 16) muB diese Gedanken irgendwie vorbe- 
reiten ; ihr erster Teil nennt in den gewaltigen Einleitungsworten 
die beiden Haupteigenschaften, die .Cicero von dem princeps fordert, 
fredich noch nicht in Verbindung mit der Gegenwart und in greif- 


durch Edikte beherzigenswerte Taten oder Reden aus der Vorzeit bekannt macht, 
wenn Senat und Volk ihm zur Hebung der Sittlichkeit besondere Vollmachten 
aufnbtigen wollen und er gerade bei dieser Gelegenheit seinen Grundsatz hervor- 
hebt, kein Amt anzuuehmen, dafi nicht in der alten Verfassung begriindet sei, so 
gibt sich immer dasselbe streng mit Cicero ubereinstimmende Bild. 

1) Vgl. auch § 139 sudandum est Us pro communibus commodis. 

2) Vgl. Heinzes feine Erklarung des doppelsinnigen Ausdrucks. 

3) Man erinnert sich unwillkurlich daran, wie Sallust die Habsucht als Grund 
der unersattlichen Eroberungsgier der fruheren Zeit geschildert hat. 

4) Kiefiling-Heinze Horaz I® S. 276. 



488 


R. Reitzenstein, 


barer Beziebung auf Augustus; der stoische Weise, der gegeniiber 
dem Tyrannen wie dem Volk unerschiitterlich an dem festhalt, 
was er als das Recht empfindet, wird dem Hbrer vor Augen ge- 
stellt. Erst die nachsten beiden Stropben nenneu unter den Typeu 
der dti ex honunihus uclsumpti den princeps mit seinem religiose 
Weihe bedeutenden Namen, verbinden ibn mit Hercules und Ro- 
mulus, die Cicero in seiner philosopbischen Staatslebre aucb er- 
wabnt, und versicbern wie Cicero, dafi nur jene Gottlicbkeit der 
Seele, die der Weise durcb die Tugend erlangt, zu solcben Ebren 
emporbebt. Icb wiirde sagen, nur jene Scbritt Ciceros gebe die 
ungezwungene Verbindung der drei Hauptgedanken uiid der Em- 
pfindungen, die im Horer geweckt werden soilen. namlich daB Oc- 
tavian sich in dem langen Ringen als der wabrbaft gerecbte und 
zielbewuBte Staatslenker bewabrt und dadurch fiir das neugeord- 
nete Reich die Weltherrschaft und fiir sicb selbst den Lohn einer 
zukiinftigen Vergottlicbung errungen hat, — wenn icb nicbt scbon 
in dem Schlufi der Sestiana § 143 ahnlicbe Gedanken fande: cpiare 
imitemur nostros Brutos, Camillos, Ahalas, Decios, Curios, Fahricios, 
Maximos, Scipiones, Lentulos, Aemilius, iitnumerabiles alios, qui hanc 
rein pitbUcam stahilivenmf ; quos equideni in deoriun immortaliiim coetu 
ac numero repono. amemus patriam, pareanms senatui, consiilamus 
bonis . . . cogitemus denique corpus virorim fortium magnorumque 
Itomimm esse mortale, animi vero niotus et virtutis gloriam sempiter- 
nam, neque, hanc opinionem si in illo sunctissinto Hercule consecratam 
videimis, cuius corpore ambusto vitam eius et virtutem imniortalitas exce- 
pisse dicatur, minus existimemus eos, qui hanc tantam reni publicam suis 
consiliis aid labmubus aid auxerint aut defenderint aut servarint, esse 
immortalem gloriam consecutos. Es sind ja die gleichen Gedanken 
wie in dem Werke Be re pablica, die Cicero scbon bier vorbringt ^), 
wabrscheinlich nacb der gleichen Quelle oder besser einer weit 
bekannten Tbeorie. Von ihr mag aucb Horaz abbangig sein, obne 
direkt auf Ciceros Werk Be re Riicksicht zu nebmen. DaB 

sie in dieser Zeit wieder auflebte und alien gegenwartig war, ist 
leicbt begreiflicb; wabrscheinlich, daB scbon sie die Wahl des Bei- 
namens Augustus bestimmt hat. Wir erkennen, wie gerade die 
Besten der Zeit die Neuordnung des Staates im Jahre 27 v. Cbr. 
tatsachlicb als Wiederber.stellung der res publica und zwar des 
optinms status rei publicae fassen konnten. 

1) Vgl. besonders III 40 Ziegler (dazu oben S. 425) ; quorum (Hercules imd 
Romulus) non corpora sunt in caelum elata; neque enim natura pateretur , ut id 
quod esset e terra, nisi in terra maneret. Doch geht die Ubereinstimmung uber 
a “ ganze Werk. 



(lie Idee des Principals iiei Cicero und Augustus. 


489 


Damit treten nun die Worte in ein etwas anderes Licht, mit 
denen Augustus seine Tat bezeichnet {Mon. Anc. VI 13) in con- 
.sifJatii sexto et septinio, hello nhi vicilla exstbixcrain per consensuin 
nniversorum }‘otifus rerun/ omu'/um, rem publicum ex men potestate in 
senatus populiep//- Bomani arhitrium /rnn.^fuli. (pm pro nterito nieo 
e. q. s. Sie enthalten an sich die voile Wahrheit; die Anerkennung 
der dignitas des prirceps scMieBt nach der aristokratischen Auf- 
fassung die Existenz der Repnblik iiicht aus. sondern .sichert sie 
und kront das Gebaude. Die Uebertragnng bestimrcter Befugnisse 
und Garantien. die nocb dazu znnacbst aur Zeit verliehen und nur 
bis zur volligen Gesundung des Staates fiir notwendig erklart 
werden, iindert daran um so weniger. als Vorbilder fur sie in der 
republikaniscben Zeit vorliegen, ja gerade von den Mannern raid 
fiir die Manner geschaffen sind, welche in der iiberlebenden Aristo- 
kratie als die Vertreter der lilmra re-/ p/d/Uca galten und z. T. als 
Parteifilbi’er verehrt wurden, Pompeius. Cas.sius und Brutus. Was 
ihnen als prii/cipes zugebilligt war, konnte man jetzt dem Augustus 
als princeps gar nicht versagen. In dieser Ankniipfung an jene 
Vorbilder erkenne ich einen meisterhaften Zug seiner Politik. 

Schon Mommsen hat ausgesprochen, daB die auBerordentlichen 
Imperien miiitarischer Art, wie sie iiberwiegend der letzten Phase 
der Republik angehoren, recht eigentlich die Vorstufe der augustei- 
schen Monarchie seien. Besonders das gabiuische Gesetz vom 
Jahre 6S7 d. St. sei der Keim, aus welchem der Principat hervor- 
gegangen sei ; scbon zu Gunsten des Pompeius seien die Grund- 
gedanken der Republik aufgegeben worden -). Er nennt als die 
wichtigsteu einzelnen Momente. die in den auBerordentlichen Im- 
perien des Pompeius und iiberhaupt dieser Epeche hervortraten, 
(lie Beseitigung der Annuitat des Feldherrenamtes, die Combina- 
tion mehrerer Provinzialkommandos , die Uebernahme der Stadt- 
halterschaft ohne personliche Anwesenheit, die freie Uebertragbar- 
keit des Imperiums und die daraus entwickelten Hilfsimperien, das 
allgemeine Kommando zur See , das allgemeine imperium mains in 
Konkurrenz mit den ordentiichen Oberbeamten, ja selbst die Ober- 

1 ) Romisches Staatsreclit-' II 1. OG2 (zu \LTg!ekheu ist besonders J. Kro- 
mayer.s trefflicbe Dissertation Die recbtlicl.e Begnmdiing des Principats, Marburg 
(St'rabburg) It-Ss S. 34 tf. und die oben S 400,3 genaimte Arbeit von'O. Th. Schulz; 
aiif die staatsreflitlichen Einzelfra.gen gehe ich hier nicht ein). Die Ubertrei- 
bimsen Dirts (vgh oben S. o99, 2). der die A.n!ehnung Octaviaus an Pompeius falsch 
verstelit und ihn danehen jede Zeile Ciceros kennen und ganz unter seinem Ein- 
fluC slehen hifit, erwahne iih nur. 

0) Als Gegensatze vrerden ni^ht Monarchie und Republik, sonuern doinvnotm 
ujid lihertas empfunden. 



490 R- Reitzenstein, 

aufsicht iiber die hauptstadtisclie Zafuhr. Xatiirlicli gebiihrt ein 
solches mains imperium vor allem dem eps, ja gibt in gewisser 
Weise den prindpaUis^). So wird es dem Pompeius immer wieder 
iibertragen. nnd es scheint, daC auch Pompeius selbst eine be- 
stimmte Vorstellung von dem Principat gebabt hat. Man erinnere 
sich, wie Tacitus Aim. Ill 28 iiber jenes dritte Consulat obne Col- 
legen, das ihm an Stelle der von ihm erstrebten Dictatur '^) iiber- 
tragen wurde, spricht: tiun Cn. JPompeius terflirni coiistiJ corrigendis 
tnorihiis ddectus et gruvior rnniediis, quam ddirfa erant, stinrnmqtie 
Jeguin audor ideni uc sidn-ersnr. Als Quelle hat Leo die Schrift 
eines kaisertrenen und daher de m P ompeiu s feindlichen 
Juristen erwiesen: sie bezeichnete den Pompeius als den ungerechten 
nnd dai'um falschen Voriaufer des Octavian gerade in seiner Haupt- 
tatigkeit*) nnd gibt uns wohl die Erklarung, warum Augustus in 
seinem Bericht so nachdriicklich hervorhebt, da6 er fiir diese Hanpt- 
aufgabe des princeps die ihm angebotene diktatorische Grewalt ab- 
gelehnt nnd sein Werk auf Grund der trihiouiia potestas vollendet 
habe °). Dann aber gewinnt eine andere Beobachtung, die sich mir 
vor flinfondzwanzig Jahren aufdrangte, vielleicht eine gewisse Be- 
deutung. Cicero gibt cp. V 7 dem Pompeius Antwort auf ein offi- 
cielles Schreiben iiber die TJnterdriickung der catilinarischen Ver- 
schworung und triigt ihm dabei ein politisches Biindnis (amicitia) 
an mit den Worten: ut tihi midto n.aiori, qvam Africamis fuit, me 
non iindto mhiorem quam Laelium facile et in re puhlica et in amicitia 
adirnd ion esse puf/are. Das gewinnt voile Beziehung, wenn Pompeius 
selbst Scipio als sein politisches Vorbild betrachtete und bezeich- 
nete, und tatsachlich laBt sich seine Politik, die Mommsen ver- 
spottet, zunachst von hier am besten begreifen, Ihm schwebte 
wohl das Bild des besten Mannes vor, welcher das Vaterland rettet, 
so oft es in Gefahr ist, in der Zwischenzeit aber nur durch die 


1) Als Cicero es fur Cassius beantragt hat (Phil XI 30), murren seine 
Gegner; nirnium ■ ■ Brutum, nimium Cassium ornari. Cassio vero . . . dominatum 
et principatiim dan (Cicero selbst wurde die beideu Sulstantiva nidit verbinden ; 
seine Feinde sind es, welchen dieser principatus als eine Art Tyrannis erscheint). 

2) f5tarre Republikaner wie Brutus batteu sie als dominatio bekampft, ygl. 
Brutus bei Quintilian IX 3, 95. 

3) In diesen Xachricliten 189G S. 191 ff. XAturlicb reicht die Quelle nur bis 
zu den Worten quis pjace et principle uteremur. 

4) Es ist charakteristisch , wie Tacitus in seiner eigenen Darstellung den 
Vorwurf, daB er die eigenen Gesetze zu seinem Vorteil ignoriert habe, dann gegen 
den princeps Augustus wendet, 

5) Ygl. zur Deutung der Einzelnbeiten Mommsen Eomiscbes Staatsrecht® 
II 2 S. 882. 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


491 


innere Grewalt der eigenen Personlichkeit ohne Bruch der Verfas- 
sung sich Greltung verschafft. Er wollte wirklich hrincpps sein ; 
die Idee dieser Stellung hat in ihm auch auBerlich in Erscheinung 
zu treten begonnen (vgl. oben 401. ’J). Da6 er dafiir zu wenig 
weitblickend und zu eitel und ungeschickt war, andert daran nichts. 
Eine direkte Einwiiknng einer philo.sophischen Theorie auf Pom- 
peius braucht man dabei nicht einmal anzunehmen. 

Fiir Augustus, der ja .selbst Stoiker war, nehme ich eine solche 
in der Tat an und mochte besonders auf seine Stellung zu den 
Gresetzen hinweisen, mu6 aber dabei etwas weiter ausholen. Eine 
gewisse Geringschatzung des geschriebeneu Gesetzes gegeniiber der 
Person des wahren Herrschers. des afj/’.y.bc avTjp, bildet sich zu- 
nachst in der Philosophic aus — ich darf an Platos Politikos nur 
erinnern — und ist fiir die friihe Stoa mit ihrer Opposition gegen 
das historische Kecht und die vfdkstumliche Rechtsanschauung be- 
sonders charakteristisch. Sie wirkt auch auf Panaitios nach und 
bestimmt jene ganze Polemik gegen Polybios mit, die nicht die 
Yerfassung, sondern den Cliarakter des jeweils eiuHuBreichsten 
Mannes als das Entscheidende bezeichnet. Platos Ansfiihrnngen, 
daB die Gesetze allein nie dem Einzelfalle und Einzelbediirfnis 
derartig gerecht werden konnen, wie die Entscheidung des ^acAt- 
y.d? Oder avrjp, miissen seinem Individnalismus besonders 

entsprochen und zugesagt haben. Dem Griindgedanken dieser 
Theorie entspricht nun die Bedeutung, die den cict<i, den Yerord- 
nungen des Princeps, von Anfang an gegegeben wird. Schon fiir 
Augustus ist ja nach dem ^enidnsconsidtam de imperio Vespasiani 
die Bestimmung getroffen ufi qiiaecdmpie ex usu rei puUicae maiesta- 
if-que divinarum humanaritm publkarum privcdaruwque rennn egse 
coisehif, ci apere faccre ins potesfcisqiie sit, und die kaiserliche consti- 
i^itio erganzt von da an die lex, dentet sie, mildert ihre Harten, 
ja tritt allmahlig fiir sie ein. Die Rechtsgiiltigkeit der acta Cae- 
sar is oder der adn der triumviri rei piddicae constitueudae geniigt 
zur Begriindung dieses kaiserlichen Rechtes sicher nicht ; anf diese 
auBerordentlichen Gewalten hat Octavian bei der Constituiemng 
des Principats ja eben nicht zuruckgegriifen, wohl aber laBt sie 
sich aus dem Begriff des princeps als des apx'-7.b? dvijp herleiten ^), 
ja ist in gewissem Unifang schon langst aus ihm hergeleitet worden. 

1 1 Mommsen a. a. 0. 909. 

2 1 Er ist das lebeudige Gesetz, weil sich der Staat in ihm gleichsam ver- 
korpert. Alles was er tut, geschieht im offentlichpn Interesse. Als Augustus im 
ProzeC des Primus ungeladen als Zeuge erscheint und der Verteidiger ihn fragt 
-i or, IvTctotv TtoiEt;, antwortet er A criao'oiov {DioLI\,3). 



492 


R. Reitzenstein, 


Im Ausnahmezustand tritt der cir cliynibsiDiu-s ganz fiir den Staat ein 
uad; was er auch immer tut, ist reclit. Diese Anschauung vertritt 
Cicero in den I’hdipptcue, die in ihren staatsreclitlichen Ansfilhrungen 
eng mit I)e re. inihUcu iibereinstmimen, vgl. z. B. XI 27 hjitur 
BrutuA exspti.fai-it ilecretn nostra, citni stiuJia uossd? ntyue chin/ cst 
in procinuani snnni Creiam profedus, in Maadoniam alienuni adcoiacd, 
omnia, .sita piitavit, quae vos vestru esse rciitis . . . .quid? C. Cassius jiuri 
moqriitudine anhni d consUu praeditus ionne, eo ex Italia consdio 
profedus est, ut jirohibcrd Syria Dolabeliam? equu lege, quo hire? eo 
quod luppiter ipse sanxif, ut oiunui, quae ret publiLue sulutaria essent, 
iejifiniu ct iasta habererdur^). est eniui lex viJnl tdhtrl nisi reda et 
a nuHiine dcorurn tracta ratio imperans hoix'stu, prohihens e-mirii, ia. 
Jiitte igitur legi paruit Cassius, min est in Syriam profeefus, ulienaiu 
prorinciam, si homines leyibus scripfis /derentur, his cero oppressis 
suam lege naturae-). Fur Brutus seibst ist es offenbar innere 
Beberzeugnng, dab seine dignitus ihm das Recht gibt , ohne jed(?s 
Gesetz im Namen des Staates zu handeln'9. 

Mit dieser Theorie kreuzt sich nun in dem System des Pa- 
naitios eine andere. die auf der Bewunderung der Epigonenzeit 
fiir die groBe Vergangenheit beruht. Mit ihr hangt die Bewun- 
derung der ;:arp'.o? ^roXitsta, oder dessen, was dafiir gilt, zusammen. 
Hier hat die griechische Rhetorik dem Philosophen vorgearbeitet, 
und schon der Stoiker Sphairos zeigt sich von dieser aligemeinen 
Stimmung beeinfluBt, wenn er die unter argster Gewalttat erfolgte 
VerfassungsanJerung des Kleomenes durch seine Schriften iiber 
die cratpto? TcoA'.TS'la Spartas vorbereitet oder rechtfertigt. Panaitios. 
der die ethische Bedeutung jenes populai en Kultes der Vergangen- 
heit auch sonst gewlirdigt zu haben scheint. macht in seinem po- 
litischen System umfassendsten Gebrauch vun ihm, ja griindet es 
geradezu darauf. Die Theorie des Polybios bot den Anhalt ; starke 

1) In Be leyibus 111 b wird der flruiid&alz auf die Consuln als Trager des 
vollen impcriuin ausgeclehnt ; ollis sains popult supremo lex esto. Es ist die aus- 
driickliche Unterordnung aller geschriebenen Gesetze unter den Staatszvveck, die 
sich naturlich auch aus rumisci.em Emphnden rechtferticen laBt, hier aber offenbar 
auf gi'iechiscbe Gedardren znruckgeht (vgl, z. B. Be inventiom I 6l) und 55). 

i) DaB Cicero ihm jetzt die Bestatigung durch den Senat erwirkt, macht 
ihn zum princeps (vgl. oben S. 49o, 1). 

3) Fur den Motstand ist die voile Aufhebung aller geschriebenen Eechts- 
normen tbeoretisch seit Beginu der Revoliitionszeit gerechtfertigt v,-orJen. belbst 
ein Mann wie Scipio bat die graBliche Erniurdung des Gracchus und der Seinon 
fur rechtlich einwandsfrei erklart, und Cicero hat niemals an dor Berechtigung 
ahnlicher Gewaltmittel gezweifelt — , was man fur die Beurteiluiig seines eigenon 
Rechtsbruches wohl mit berucksichtigen diirfte. 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


493 


Stromungen auch in Rom liefien sich dadurch seinem Hauptzweck 
dienstbar machen. So erhalten die alien Glesetze und Einrich- 
tungen gesteigerte Ehrwiirdigkeit und Heiligkeit ; an ihrer Wieder- 
herstellung oder Bewahrung hangt die Rettung des Staates ^). Wie 
stark die beiden ersten princ'i pes diese Theorie und Stimmung fiir 
ihre Zwecke benutzen, braucbe icb nicht auszufiibren ^). Ihr Werk 
soli wirklich als die prisui ilia et antiqim rei publicae forma revocata 
erscbeinen (Velleius II 89). 

Die politische Leistung des Begriinders des romischen Kaiser- 
turns wird dadurch nicht verkleinert, dafi wir erkennen, wie auch 
in seiner Schopfung der Sieger sich die Idee des Besiegten zu 
eigen macht. Steht doch der Principat, den Augustus tatsachlich 
schuf, zu dem, welchen Panaitios fiir die Welt ersehnte, kaum 
viel anders als das durch Bismarck in die Wirklichkeit gerufene 
neue deutsche Kaisertum zu jenem Kaisertum des besten deutschen 
Mannes, das einst Ludwig Uhland gefordert hatte. Wie weit 
Augustus selbst dabei geglaubt hat, durch die realen Garantien, die 
er fiir die Stellung des dignissimus als princeps schuf, das Wesen 
des Staates zu iindern. wird sich nie entscheiden lassen®). DaB 
jene auBerordentliche Gewalt. die er tatsachlich mit dem Principat 
verband, nur als Uebergangsform erscheinen durfte, bis das Staats- 
leben voU gesundet sei , d. h. bis jeder Burger freiwillig dem an- 
erkannt Besten den entscheidenden EinfluB auf die Staatsleitnng 
einraume^). war allerdings notwendig, und schwerlich wird Augustus 

1) Ein wuutlerliclier Gegeusatz in Ciceros „politischem Denken“ erkliirt sich 
von bier. Dem geschriebenen Gesetz miBt er an sich zu keiner Zeit besondere 
Heiligkeit bei. Was ein marhtgieriger Beamter bei einer urteilslosen Menge dnrch- 
setzt, ist ihm nicht Gesetz im wahren Sinne. Und doch miBt er in andern LaCTen 
wieder jeder Einzelbestimmung eines alten Gesetzes, jeder AuBerlichkeit eines 
V a t erbrauches allerhochste Bedeutung bei und verzweifelt bei ihrer Verletznng. 
Sobald man die Scheidung zwiscben altem und neuem Recht beachtet and die Zeit- 
umstiinde und literarischen Stromungen bedenkt, ist das leicht erklart, Freilich 
steht der Einzelne dabei iramer innerlich iiber dem Gesetz; er fallt frei die Ent- 
scheidung, ob das Gesetz wertlos oder wertvoll ist, wie er entscheidet, ob er den 
Staatsleiter als princeps anerkennen oder als vipa-ivo; bekampfen soil. Darin lie^t 
die Scbwache des antiken Staatsempfindens seit dem Eindringen der phUosophischen 
Kritik am Staat. 

2) Auch bier ist beachtenswert, wie Tacitus dies Streben bei Tiberius her- 
vorhebt und zugleich kritisiert (Ann. II 30 novi hiris repertor). 

3) Pompeius hat sicher nicht geglaubt, dafi wuhrend seiner auBerordent- 
lichen Kommandos oder seiner Stellung als Consul ohne Kollegen die res publico 
aufgehoben sei. 

4) Icb erinnere an das Fragment Ciceros turn diu stare rent publicam quam 
dill ab omnibus honor principi exhiberetur (V 9). 

Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hisf. Klasse. 1917. Heft 3. 


33 



494 


R. Reitzenstein, 


den Eintritt dieses Zustandes je in naher Znknnft erwartet haben. 
Der Principat an sicb sollte danern, nnd die eigene Anfgabe mufite 
er darin erkennen, diesen Znstand eines danernden Principates 
schon jetzt, also noch wahrend des Bestehens jener (xarantien, den 
Geleiteten als das Ideal, als den optimus status rei publicae, er- 
scheinen zn lassen *). Zugleich sichert ihm diese Form des Vor- 
gehens die Freiheit der Aenderung in den Einzelnbeiten, die sich 
als driickend erweisen^), ja selbst die Moglichkeit einer Umkehr. 
Sie sichert vor allem seiner Scbopfnng eine Art ‘historischen Wer- 
dens’ , das gerade die Theorie des Panaitios richtig zn bewerten 
gelebrt hat. Die zveifellos wirklich auf ihn zuriickgehende Um- 
gestaltung der Beamtenwahl nnd Gesetzgebnng nach seinem Tode 
zeigt das am besten. Die Voranssetznng war allerdings, dab we- 
nigstens die nachsten Nachfolger sich der Anfgabe gewachsen 
zeigten. Dennoch konnen wir verstehen, dafi er trotz der schweren 
Sorgen, die er hieriiber sich machen mufite, Ueber Unklarheiten 
an seiner Schopfung duldete, als den Eindruck gefahrdete, dafi sie 
im wesentlichen die Erfiillung des Sehnens der Vater sei. 

Die Hauptunklarheit liegt in der Frage der Nachfolge ; gerade 
sie lafit sich vielleicht anf Grand der hier vertretenen Scheidung 
zwischen dignitas and potestas in ihrer Notwendigkeit etwas deut- 
licher erkennen. Dafi die letztere nicht vererbt werden kann, ist 
ebenso selbstverstandlich wie, dafi die erstere eine gewisse Erblich- 
keit nahe legt, ja fast verlangt. Beruht dock die dignitas fiir dies 
aristokratische Empfinden zum groBen Teil anf der Stellnng nnd den 
Leistungen der Familie — Augustus hat es sehr stark — , und da 
der Trager der hochsten dignitas faktisch wie nach der Theorie des 
Panaitios auf die honores der kleineren Standesgenossen Einflufi hat, 
kann er auch fiir die Erhohung der dignitas der Glieder seines Hanses 
Sorge tragen. Er kann sogar, wie Mommsen richtig hervorhebt, 
seinen Nachfolger in gewisser Weise designieren, indem er ihm 
mit Bewilligung des Senates Anteil an den beiden Garan- 
tien seiner eigenen dignitas, also an imperium und trihtinicia po- 
testas, gibt und ihm damit zugleich die zweite dignitas im Staate 


1) Er spricht das im grande selbst aus Sueton c. 58. 

2) Die entscheidende Aenderung des Jahres 23 v. Chr. entspricht wieder der 
Theorie wenigstens Ciceros ; das Volkstribunat wird ungefahrlich, wenn immer ein 
Trager der tribunicischen Gewalt vorhanden ist, der ganz im Sinne des princeps 
handelt. Zugleich bleibt fiir den Ehrgeiz der Aristokratie, der noch immer an 
dem Empfinden des Stadtstaates haftet, das vornehmste Amt in doppeltem Um- 
fang frei. 

3) Dafi er dabei an die zukiinftige Stellung denkt, zeigen die ‘Entschuldi- 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


495 


verleiht , und die aus beiden Gewalten folgenden Befugnisse 
dauern sugar nach dem Tode des princeps zunachst fort. Dennoch 
mnfi der Senat in einem eigenen TJrteil wieder feststellen, wer 
jetzt der Wurdigste, also der princeps, ist. Er ist dnrch seine frii- 
here Bewilligung nicht gebunden. Eine ‘rechtlicbe Kontinuitat 
des Oberamtes’ kann nicht stattfinden, wed der Principat kein 
Amt, nur die Anerkennung einer Eigenschaft ist. Ist sie dem 
bisherigen Mitherrscher zuerkannt, so konnen ihm naturlich nicht 
geringere Gewalten zngesprochen werden, als er formed bereits 
hat^). Die rechtdche Gleichheit der Garantien des Principates 
wird dnrch diese Form der Mitherrschaft festgelegt nnd zngleich 
— im normalen Verlanf der Dinge — dem Senat die Mbglichkeit 
gegeben, iiber dieselbe Personlichkeit mehrfach ein TJrteil zu faden. 
Unmoglich scheint notwendig auch mir die Annahme, dafi nach der 
urspriingdchen Anschannng auch die Anerkennung des Heeres recht- 
lich das imperium and damit den Anspruch auf den Principat ver- 
leihen kann^); dann muBte in noch viel hoherem Grade der vom 
Senat gebidigte Besitz des imperium dem Mitherrscher den Prin- 
cipat selbstverstandlich verleihen. Die an sich wiinschenswerte 
‘Kontinuitat des Oberamtes’ ware damit wirklich hergestedt ; 
aber der Principat ist der Idee nach nicht die Vodendtmg der 
Demokratie , sondem der Aristokratie , und sein Inhaber nicht 
seinem Wesen nach der Vertreter des Volkes gegeniiber dem 
Senat, sondern zunachst der Delegierte des Senats. Insofern scheint 
mir die Begriffsbestimmung Dyarchie fiir die urspriingdche Idee 
des Principates nicht ganz gliicklich gefaht. Die Herrschaft hat 
der Idee nach der Senat, aber es ist eine Bundesherrschaft der 
groBen Hauser, und in diesem Bunde sichern die Mitglieder einem 
bestimmten den iiberwiegenden EinfluB zu. Doch vielleicht ist es 
unklug, ohne Hot auf diese neu aufgeworfene rechtliche Erage 
einzugehen, in der ich mich nicht voU kompetent ftihle. 

gungen’ des Tiberius durch Augustus, von denen Sueton Tib. c. 68 und Tacitus 
Ann. 1 10 reden. 

1) In proximo sibi fasHgio collocavit sagt Tacitus Hist. 1 15 sehr scharf von 
diesem z. T. rein formellen Mitregententnm. 

2) Wiirde sie ihm nicht zuerkannt, so ware er moralisch gezwungen, von 
jenen Gewalten zuruckzutreten. 

3) Der Treueid des Volkes in dem Konflikt mit Antonius kann dafiir das 
Vorbild nicht geben ; auf ihn hat Augustus den Principat nicht gegriindet, sondem 
die vom Volke ubertragene Gewalt ausdnicklich niedergelegt, um sich vom Senat 
eine neue wiedergeben zu lassen, die dann vom Volke freilich bestatigt und vom 
Heere bekraftigt wird. 

4) Mommsen a. a. 0. 844. 



49'5 


E Eeitzenstein, 


Die politische Theorie des Panaitios bleibt bekanntlich weiter 
bestehen. Das beweist nicht so sehr der Redner Aristides, der 
in seiner Anah^se der romischen Verfassung (E'.? To)p.7jv § 90. 91) 
die jrr/.TY] ::o).n:sta in handgreiflicher Anlehnung an sie feiert ’), als 
dab die gleicbe Auffassnng von Tacitus Ann. IV 33 oifenbar als 
die herrschende vorausgesetzt nnd bestritten wird : es gibt nur 
die bekannten drei Verfassungstypen; der vierte, die 
ist ein Phantasiegebilde der Lobredner und kann in Wirklich- 
keit nicht vorkommen oder bestenfalls nur kurze Zeit bestehen; 
in Rom haben wir jedenfalls faktisch die Monarchic -). Der Be- 


1) Wenn er z. B. vou der Herrschaft der Romer uber die Unterworfenea 

sagt ij.o'rfoi ydp oEoyovre; w; eirsTv zara so iibertragt er d^n Aus- 

druck, der von der Verfasbung gebraucht war, auf die Herrschaft, weil der Phi- 
losoph Beispiele ‘aus der Natur’ fiir sie angefuhrt batte {so herrscht Gott uber 
die Welt, der Geist uber den Korper; vgl. oben S. 421. 422: der Gegensatz ware 
P’z, durcli Eroberuug, vgl. oben 424); wenn er vom Princeps sagt si; ot tov rctv- 
Tmv TO'JTUJV esop'iv tz zai rrpjrzviv flAriot;, nap’ oO vo) -z to tup/avsiv cov 3o'j- 

Astzi zzi tol; oAiyot; to i”p/_itv zzi ojvatBoit, tootov izEtvov op5, tov 

syovtz ;jovc<p'/!av , tupdvvo'j t2 zzzujv ifiotpov zzt ^aat/.Eio; tcavotTjto; [xs'.jova, SO 
fand er in seiner Quelle, dad diese auf Ebrfurcht begrundete Herrschaft des 
scqikntissimiis et units (Tacitus Bialogus 41) das der gbttlichen Herrschaft eut- 
sprechende Idealbild der 5Ionarchie ist. Etwas weiter laBt die recht ungeschickte 
Ubertragung der Theorie auf Athen Panathen. p, 314 ff. Bind, die Quelle verfolgen. — 
Eine Kenntnis dieser Theorie finde ich sehr viel fruher in den beiden demokra- 
tischen Flugschriften oder Deklamationen, die nnter Sallusts Namen gehen und 
und die jedenfalls viel enthalten, was nur vor der Begrundung des Principats 
vorgebracht werden konnte. Wenn der Verfasser des Briefes 7, 12 auf die Ge- 
richtsverfassung der Rhodier verweist , so wird Panaitios wohl indirekt fur ihn 
Quelle sein ; wir lernen aus ihm wie Pe re p. 11148 sich fortsetzte. Aber der 
Verfasser, der ganz unhistoriscb und im Grunde unrdmisch emplindet, warnt vor 
den griechischen philosophischen Werken 9, 3 giiippe (pii clomi libertatem siiam per 
■inertiam amiserint. censesnc eoruiii praeceptis imperium haberi posse? Direkt gegen 
eine Schrift uber die rbmische natpto; no/.itEia wendet sich der Verfasser der Eede^ 
wenn er auch selbst eine Sittenverbesserung verlangt, 5,4; non ad vetera instituta 
revocans, quae iam pridem corruptis moribus ludibrio sunt. Diese echt demokra- 
tische Stimmung konnte kein spater Rhetor mehr erfinden. 

2) In der Besprechung dieser Stelle Nachrichten 1914 S. 248 ff. irrte ich 
freilicb in so weit, als ich bei der uiztf, -oKi-zii hauptsachlicb an jene Mischung 
von prindpatus und lihertas dacbte, von der aus einem etwas abweichenden und 
jungeren Gedankengang Tacitus Ayric. 3 redet. Andresen behalt soweit Recht, 
daB nur die Mischung der drei Urtj-pen gemeint sein kann, hatte aber auf die 
politische Bedeutung dieser Theorie und den Sinn der Annalenstelle wohl eingehen 
sollen. Die von Plinius im Panegyricus und (in starker Einschrankung) von Tacitus 
in den Ihstoriae vertretene Theorie fafit dann die Adoption selbst als Wahl 
dutch den princeps, und /.war als Wahl des dignissimiis in re publica (Tacitus 
Hist. 1 15). Sie macht den princeps tatsachlich zum magistratus, wahrt also die 



die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 


497 


griff umfafit, wie der Zusammenhang zeigt, paotXsia und tupavv;? (die 
Verfassung ist in beiden gleich, nur die Charaktere der Herrscher 
machen den Unterschied). 

Die Schopfnng des Principats beruht noch weniger auf rein 
theoretischen staatsmannischen Erwagungen als die Schopfung un- 
serer Reichsverfassung. Sie ist. abgesehen von den Riicksichten 
auf die realen Verbaltnisse , entscheidend mitbeeinfluBt von einer 
philosophischen oder besser sittlichen Idee der notwendigen Herr- 
schaft des besten Mannes (), die auf den ersten Inhaber des Anites 
so besonders zu passen scbien. Augustus hat die nicbt leichte 
Rolle. die sie ihm auferlegte. mit ehrlicher Hingebung und Ent- 
sagung durcbgefiihrt. So hat er tatsachlich seine Herrschaft auf 
die Ehrfurcht mitbegriinden konnen, ja hat einem zuchtlos e-e- 
wordenen Volke das Emptinden der Ehrfurcht erst wiedergeschenkt. 
Da6 jene Idee dabei von Anfang an dem romi.schen nationalen 
Empffnden angepafit war, in einer freilich gewaltsamen Konstruk- 
tion der Vergangenheit ihre Berechtigung nachzuwei.sen versuehte 
und dem Staate eine erhabene Zukunft verhieB. hat den Griinder 
des Principat.s zugleich zum Schopfer einer neuromischen Natio- 
nalitat gemacht. Es ist bedeutsam, daB der erste Romer, der 
diese rein griechische and doch fiir das Fremdvolk zurechtge- 
machte Idee romisch nachzuempfinden und in Worte zu kleiden 
vermochte. M. Tullius Cicero ist. Er ist tatsachlich Vorbereiter 
des Principats. 

So hat der griechische Philosoph. auf den ich noch einmal den 
Blick lenken mbchte. zuletzt doch erreicht, was er wollte, beson- 
ders fiir sein eigenesVolk. Dem unterworfenen Orientalen mochte 
und sollte die griechische Bildung die eigene Nationalitiit nehmen ; 
die griechische Bildung machte ihn zum Griechen. wie spater die 
neuromische Bildung den Barbaren desWestens zum Romer. Dem 
Romer bot Panaitios in seinem ^¥erk die Herr-schaft iiber die 
Griechen an; die Erhaltung eines kraftigen rbmischen Volkstums 
muBte daher auch ihm am Herzen liegen: aber die sittliche Schu- 
lung. die nur die griechische iraiosia geben kann. sollte es in seinen 
herrschenden Kreisen adeln ; nur dann kann diese Herrschaft dauern 
und den Beherrschten zum Segen werden. So kniipft er in den 
beiden in ihrem ganzen Geist und zahlreichen Einzelnheiten iiber- 

lihertas. Tacitus scheint dabei nur eine starbere Mitwirkiuiii des Senates zu ver- 
lariuen ; erst seine Zustimmung macht ja den .-Vdoiitierten zum Kronprinz (vgl. I It; 
SchluB, 1 19 Anfang). 

1) Moderne Begriffc wie ‘konstitutionelle Monarcbie’ oder gar ‘liberale 
Monarchie’ passen darum auf diese Sclidpfung schlecbt 



498 R- Reitzenstein, die Idee des Principats bei Cicero und Augustus. 

einstimmenden Werken, der Pflichtenlehre und der Staatslehre 
an das Empfinden und die Traditionen der romischen GrroBen und 
suckt sie in seinem Sinn umzugestalten. Seine Gredanken nimmt 
zunachst der Kreis Scipios, dann Schuler dieses Kreises wie Cicero 
and Varro auf; widerspruchslos verbinden sick in einer wesentlich 
aristokratischen Tradition der romantische Kult der eigenen Vor- 
zeit und die Bereicherung des Seelenlebens dnrch die griechische 
Ethik. Die VoUendung bringt Augustus ^). Er und die Manner, 
die sich ihm in dem geistigen Kampf als Grehilfen bieten, wirken 
planmaBig im Sinne dieser Verbindung. So ist es wohl be- 
greiflich, dafi auch die politische Schbpfung des Kaisers von 
diesem Ideal beeinfluBt werden muBte. Ihm dankt diese Schopfung 
den leuchtenden Glanz, der ihren Ur sprung umstrahlte und sie 
allein lebensfahig machte, ihm freilich auch die Schwache des in- 
neren Baus, die beim Versagen der nachsten Herrscher gerade fur 
Rom unheilvoU wurde. 


1) Man muB auf diese Ubereinstimmungen bin die beiden AVerke nachein- 
ander lesen und sich — besonders bei der ersten Halfte von Be officiis — die 
Frage vorlegen, ob solche Schriften fur Rhodes oder selbst fur Athen damals 
noch moglich waren. Dahei wird aus der Pflichtenlehre die Staatslehre erst 
voll verstandlich. Warum ich trotz der unbestrittenen Korruption der rSmi- 
schen Aristokratie in der nachsten Zeit doch eine starke Wirkung der Pflichten- 
lehre annehme, habe ich versucht, in dem Vortrag ‘Werden und Wesen der 
Humanitat im Altertum’ (StraBburg 1907) anzudeuten. Man miiBte zur Ergan- 
zung die wenigen, meist eng begrenzten sittlichen Begriife des Altromertums mit 
den spateren vergleichen. Fur die Wirkung des anderen Werkes mSchte ich hier 
nur auf den Gegensatz zwischen dem Beamtentum des neuen Principats und der' 
Gefolgschaft Caesars verweisen, deren tiefe Verderbtheit selbst demVerfasser der 
demokratischen Oratio ad Caesarem senem klar ist, 

2) Wie er in Edikten das Volk an Taten oder Werk der Vorfahren erinnert, 
so mahnt er seine Umgebung in den von ihm selbst vorgetragenen hortationes ad 
philosopMam (Sueton 85). 


Nachtr ag. 

S. 402 A. 2 Zeile 2 von oben .'sind die Worte qm referre veil- 
mils omnia zu tilgen. 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an 
Hengstenberg. 

Von 

X. Bonwctseh. 

' Vorgelegt in der Sitzung vom 17. Marz 1917. ■ 

II. 

39. 

Theuerster freimd ! 

Seit ewigen zeiten habe ich nichts unmittelbar von Ilmen ge- 
lioi-t — bin al)er freihch die letzte zeit auch selbst scbuld daran, 
da icli meinerseits lange nichts von mir babe horen und beifol- 
gende arbeit iiber vier wochen babe im pulte liegen laszen. Ich 
wunscbte aber S'ie erst an Sie gelangen zu laszen, nacbdem Sie 
nacb Berlin zuriickgekebrt wiiren. 

Mit der opposition, die Sie neuerdings in der evangeliscben 
K. Z. gegen die synodalentwiirfe erbeben, bin icb nicbt ganz ein- 
verstanden. Ich erkenne sie allerdings als eine vollkommen be- 
recbtigte an. nur sehe icb nicbt recht, was damit geholfen ist. 
Die hanptsache wird immer sein: stehen unsere geistlicben in der 
gnade oder steiien sie nicbt darin? Ist ihr geist gegrlindet in der 
wnrzel Christi oder nicbt? Stehen sie darin, sind sie darin ge- 
-..griindet, so werden Sie mir zugeben, konnte man sicb mit der 
formel der sjmode zufrieden geben — ist das gegentheil der fall, 
80 bilft ihnen ancb die verpflichtung streng auf alle symbole nichts 
— wozn soli dieser dlirre glanbe dann belfen und fiihren? — So 
lange Sie also nicbt solche geistliche aus dem amte setzen konnen, 
die die gnade nicbt haben — scheint mir wenig ansgericbtet. Da- 

Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil. -hist. Klasse. 1917, Heft 4, 34 



500 


K. Bonwetsch, 


gegen giebt es viele, denen Sie gnadengaben und wahrhaft christ- 
liches denken uicht absprechen konnen, wie z. B. unseren Miiller, 
die sich bei der synodalformel vollkommen beruhigt fiiblen. — 
Freilich den sinn hat dann die opposition noch, dasz die schwach- 
heit des nachgebens in der synode — die schwachheit , dasz man 
iiberbaupt nacb dieser seite formelbestimmungen neu aafzustellen 
fiir irgend wichtig hielt, ifare strafe erhalte, und dagegen babe 
ich nicbts. 

Was meinen beifolgenden aufsatz*) anbetriflPt, so nehmen Sie 
boffentlich keinen anstosz ihn aufzunehmen daraue, dasz Cromwell 
in dem gericbt sasz, welches iiber Karls 1 letztes schicksal ent- 
schied. Ich habe seine schuld in dieser hinsicht oder vielmehr 
seine stellung (denn er hielt Karl fiir einen feind gottes und 
dachte sich zu ihm znletzt in einem verhaltnis wie £hud der sohn 
Jemini zu Eglon) so bestimmt als moglich zn bezeichnen gesucht, 
habe aber aus alien unmittelbaren anszerungen Cromwells, aus 
alien seinen briefen und reden den eindruck, dasz er ein wahrhaft 
frommer mann, ein lebendiger knecht gottes war. Sollten sie den- 
noch zu bedenklich sein irgend etwas zu Cromwells lobe , auch 
etwas wohl verklausulirtes, wie ich glaube dasz meine rede es ist, 
anfzuaehmen, so haben Sie die giite, mir den aufsatz wieder zu- 
rtick zuschicken. — Ich habe ubrigens meinen namon diesmal ganz 
ausgeschrieben , weil ich mich jedesmal iiber die commentlosigkeit 
der litteraten argere, die keine ahnung von dem litterarischen re- 
spect vor einer chiffre haben. Um mir also den arger zu sparen, 
schreibe ich den namen lieber ganz aus. 

Hoffentlich sind Sie aus dem alpengriin und der alpeneinsam- 
keit vollkommen erfrischt und gesundet zuriickgekehrt. Grott wird 
ja weiter helfen in unsren wnrmfraszigen zeiten! 

Halle den 14 ten October 1846. In treuer liebe H. Leo. 

40. 

liieuerster freund! 

. . Das jabr scheint zur entscheidung zu drangen — so^ habe 
ich freilich schon seit zehn jahren jedes neujahr gedacht, und habe 
jedes kommende weihnachten noch den alten leim zwischen den 
fingern gefiihlt. Grott starke uns alle, das wird fur alle falle das 
beste sein. 

Herzlichste griiBe an alle freundel In treuer liebe H. Leo. 

Halle den 14 ten jan. 1847. 


1) Nicht in der EKZ. erscliienen; Tgl. Br. 45. 



Uer Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 501 

41. 

Theuerster freund! 

Ich dachte meine herzenserleichterung im volksblatte iiber 
das bairische memorandum babe der sache genug gethan. Herr 
von Gerlach meint, es miisze weit mehr gescbehen . . 

Ich habe gestern iiberlegt bin und her . ich suchte im freien 
hilfe vor meinen gedanken, aber wie ich die flur nach Leipzig und 
Merseburg hin vor augen hatte, diese flur die noch von jedem 
kampfe um die giiter und ehren unseres volkes beruhrt worden 
ist von den Wendenkriegen bis anf Billows einnahme von Hallo, 
diese flur wo fast jeder fuszbreit mit deutschem blute getrankt 
ist, iiberfiel mich der gedanke, ob sie auch einmal von einem ge- 
schlechte bewohnt werde, dem die ehre gottes und der eignen 
vorfahren eitler wind sei, voUends wie ein geharnischter mann. 
Es litt mich nicht! ich mnflte nach hanse und schreiben. 

Das beste was ich nnter diesen umstanden zn schreiben ge- 
wust habe liegt bei . . Jedenfalls habe ich mich gegen Gerlach 
gelbst — und wenn Sie’s nicht zn drucken wagen, will ichs als 
ein gottesurtheil ansehen und schweigen. 

Der Herr schenke Ihnen ein frohliches fest! 

Halle den 3 ten apr. 1847. In treuer liebe H. Leo. 


42. 

Verehrtester freund! 

In aller eile, wie man sagt. nur zwei zeilen. wenn’s auch zehn 
werden. Allerdinga ist etwas providentielles dabei, dasz mein ar- 
tikel iiber die bairische schweinerei nicht hat gedruckt werden 
diirfen, und laszen Sie nun auch das fragment. Die todten reiten 
schneU. sagt das biirgersche gedicht — wie weit liegt Abel schon 
hinter uus, nicht eine gewohnliche, nein! eine eisenbahntagreise . . 
Eine traurige geschichte ists und bleibt’s — aber der mensch musz 
unwillkuhrlich in dem reinlichsten gerichte eine partie dreck mit 
fteszen, wiszen die gefallenen also selbst nirgends achtbare sym- 
pathieen acht wochen nach ihrem falle heraufzubeschworen — so 
heifit mein commando : strait forworth and never mind ! 

Ich wollte Ihnen nachstens einige historische artikel schicken 
unter der iiberschrift: das christentum und das deutsche volk — 
deren inhalt Sie aus der einleitung meines baii-ischen manifestes 
etwa abnehmen konnen — aber haben Sie auch fiir so fern und 


1) Vgl. auch Allg. Kons. MS. 1S93 S. 948 (Br. an v. Rappard 16. Marz 1847). 

34* 



502 


X . B o n w e t s c h . 


kalt objektiv claliegende themata ein platzchtn? Die censar wird 
Sie dabei iiicht hiadern, das verspreche ich im voraus. 

Halle den 4ten Mai 1847. In treuer Hebe H. Leo. 


43. 

. . . Tch bin mit dem fragment sebr zufriedeiD' — und meine 
der Hebe gott ist selbst im hintergrunde censor gewesen. Das 
fragment macht meiner meinung nach einen weit kraftigeren ein- 
drack ais wenn mein gauzcr anfsatz, der vielfach spnren schwacb- 
licher anfregnng trug, gedrnckt worden ware. 

[Leo hat versprochen _Dittmars s. g. christliclie weltgeschicl.te '^ 
anzuzeigen, und mu6 nun sein Ver.sprechen erfiillen] d. h. einen 
anfsatz liber christlicbe geschichtsbetracbtung und gescnichts- 
scbreibung im allgemeinen . . schreiben und den titel des buches 
dariiber . . setzen . . Das buck ist unbedeutend aber herzensgut 
gemeint — ieb mags also weder loben noch tadein . . 

Dasz die kirchlichc entwickelung eiuige zeit rube, finde ich 
aucb gat und erwiins' ! ‘ — aber da nun der landtag selbst in ver- 
waschenster wei,-e die religiosen fragen in die hand genommen, 
ware es doch gut, Sie b itten einen mitarbeiter der mit einer reebt 
kiu'z gehaltenen energi.^c’ ' n terz in dieses naturalisirende hernm- 
vagiren mit dem zungendegen bineintuhre und die beckerathiseben 
nissen [?] etwas litterariscb spieszte. Der anfsatz miistc aber kurz, 
beitzend und mit deijenioen schneidenden verachtung gesebrieben 
sein, die diese loson sebwatzer auf lancleskosten verdienen. Mir 
wird almalig brochiibel fiber dies geistig ordinai'e pack welches 
sich der verebruug des landes dcirstollt, und wenig dinge machen 
mir nocb iibler, namlicli dies dasz v.ii’ pbbel in so ilberschwang- 
Hcbcm masze in den gcbildetcn kreisen baben. dasz diese leute 
wirklich die vei ehrung findi n, die sie ambitioniren — dasz die re- 
giernng mit so rnaszloser geduld solcbe esel liehandelt, uiid eudlicb 
am alleriibelsten macht mir, dasz nnter den beszeren leuten des 
landtages kein ein/.iger zu sein scheint. der e.s (K r miihe worth bielte 
Oder die courage hatte einmal r.dt nachdriicklMier energie die hohle 
blase angesichts des ganzen landes aufznsteehen unddiesen schwatzen- 
den jahnbagel der almiiiig aucb gaszenjungenmanieren entwickelt 
nacbdrucklich an dv.;. ^;angv.i' ,:u .-tellen. Qaousque tandtuil — 
Bei dic.scr art gutnifitbi^keit kienmt iiicbts herans als elende .skla- 
verei unter geistigen pbbel lilr uns alle, aneb fiir die regierung 
— oder wenn diese endlich den falscben weg verlaszt : gewalt- 

1) vi;l. I'.KZ ls47 s.j). .yOdiT., eiii ia der Tat ausgp/eklinetcs Wort. 

• 2 ) I'er Verleger liiu siehuber die Iteceiision bitter beschwert. 



Dei’ Historiker Heinrich T.eo in sciiien Briefen an Hengstenberg, 


503 

same verhaltnisse ! — Da bei uns die regierung doch zu reicli an 
mitteln ist, als dasz es auf diesem wcge iiber einen gewissen punct 
hinausgienge , sebe icb also gevvaltsame verhaltnisse als sicher 
bleibenden hintergrund. Tu Tas vouln, George Dandin! 

In trener Liebe H. Leo. 


44 . 

Theuerstei- freund ! 

[Leo dankt flir den letzten Band von Hecgstenbergs Psalmen- 
kommentar.] Mir sind die psalmen fortwiihrend das liebste buck 
des alien testaments , aiif welches ich immer unj immer zuriick- 
kumme — auch haben sie mich im grundc dem christenthum wider 
zugefiihrt und sind nicht ohne groszen einflusz gewesen auf die 
art und wei-e wie dieses macht iiber mich bekommen hat — jal 
auch wie e.s diese macht heute noch iibt. Ibr inhalt liegt mir 
naher, ist mir deutlicher als alle propheten. 

Was mich heute eigcntlich bewegt, d. h, den iiuszeren, tnt- 
scheidenden anstosz giebt, zu schreibtn . . ist eine historische be- 
trachtung. Die oranische familie in den Niederlanden hatte eine 
noch weit miszlichere stelluug zu den magistratischen reichen kauf- 
mauiisfamilien, init eiucm worte zn dem in den provincialstaaten 
der Xiederlaiide dominirenclen stadtadel als nnseres kbnigs Majestat 
zu den liberalen landtagsgliedem, denn liei uns brauchte ja doch 
Majestat nur den wirklichen willen zu haben, die mittel die gott in 
seine hand gegeben hat, biauchen zu wollen und morgen ware die 
landtagsopposition zermalmt — aber otfeubar will der kbnig das 
aus anderen griinden nicht und die folge ist, dasz diese opposition 
einen gewaltigen einflusz auf stimmung, haltung und steuerung der 
bff'entlicheii meinung und iiberhaupt dcs landes ausiibt, dasz sie 
also, wenn auch durch seine gnade erst eine ahnliche stellung ein- 
nimint; wie die provincialstatische partci der magistratsl'amilien in 
den Xiederlandcn — und bei weiterer entwicklung dieser dinge 
kbnnte man doch nicbt wiszen. ob nicht auch ein gegengewicbt 
der regierung erwiinscht sein diirfte. Die Oranier nun, unseres 
kbnigs vorfaliren in den Xiederlanden, haben unter den scbwie- 
rigsteri verhaltnissen doch immer wider iiber die provincialstaaten 
gesiegt mittelst des gegengewichtes des volkes, und ihre organe 
fiir die bewegung desselben sind allezeit die predig cr gewesen 
— die iibrigens ohne alle politiscbe stelluug, ohne alien politischen 
einflusz doch so oft der kaufmaniiische stadtadel in den provincial- 
staten die Oranier beclriingte, dem volke klar luachten, dasz seine 
wahre hilfe und sein anhalt. die vertretung seiner interesstn 



504 


X. Bonwetsch 


bei der oraniscben familie sei. — Die wahre stimmung des volkes, 
der Se. Majestat schon die ehre erzeigt bat, an sie in der tbron- 
rede zu appelliren, wird anch bei uns allezeit das sachgemasze,^ 
natiirliche gegengewicht gegen die etwaigen anmaszungen der 
opposition sein. — Konnen Sie diese einfacbi‘ politiscLe einsicbt 
nicht an einfluszreicher stelle zur evidenz bringen? — Granz na- 
tiirlicb und von selbst finden nnd bieten sich die anfange dieser 
opposition gegen die opposition bei uns in der . . adresse der pre- 
digersynode TJnna — so etwas natiirlich ervvachsenes und iiberdies 
den gegnem voUkommen ebenso uimachahmbares als es uns zweck- 
freszerei u. dergl. ist, sollte man doch nicbt unfruchtbar auf den 
boden fallen laszen! Wenn diese lente eine balbweg ermunternde 
antwort erbalten, bant sicb ganz von selbst und ohne dasz Ma- 
jestat weiter eine hand zn riihren braucbt, eine opposition gegen 
die opposition auf — und aucb flir die geistlicbkeit wird es von in- 
nerer frncbt sein, zn der practisch geltend gemachten erkenntniss 
zu kommen, dasz ihr repriisentant im lande nacb der politischen 
seite ganz allein Se. Majestat ist. 

Halle den 28 ten juli 47. In treuer liebe H. Leo. 


45. 

Wie konnen Sie glauben, verehrtester freund! dasz icb selbst 
wenn icb die zurucksendung meines aufsatzes iibel empfunden hatte 
deshalb von der ev. k. z. ablaszen wiirde, so lange Sie mich dabei 
brauchen konnen? . . 

Was nun Cromwell selbst anbetrifft, so gebe icb micb so 
leichten kaufs nicht gefangen Die auBerung gegen seinen beicbt- 
vater, auf die Sie sich berufen ist im hochsten grade apokryph 
nnd wahrscheinlich geradezn eine liige . . Cromwell hatte die feste 
zuversicbt gehabt, dasz non die zeit eines ganz christlichen regi- 
mentes anbreche, in dieser teuschenden hofPnnng, um dem beiligen 
platz zu machen, hatte er die hand allein erhoben fiir die sache 
des parlementes und gegen den konig. Nachdem die berufung 
eines parlementes der gottseligen leute (Barebones parlement) aber 
so elend gescheitert war , kam er almiilig zu der einsicht dasz 
frommigkeit und tuchtigkeit fiir statsgeschafte sich nur hochst 
» selten wie in seiner person vermahlten, dasz seine fruhere zuver- 
sicht zu entstehung eines christlichen regimentes ein gutmiithiger 
traum war, — noch hielt er ihu so weit fest, dasz er die wirk- 
lichkeit dieses traumes wenigstens glaubte vorbereiten zu konnen, 
weshalb er, da er diese vorbereitung wesentlich an seine person 
gekniipft sah, seitdem seine gewalt in ganz auderer weise festhielt 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 505 


und handhabte wie friilier, wo er wahrscheinlich gott gedankt 
hatte, wenn ihm jemand die ganze last abgenommen batte. — Nun 
mitten in diesem streben, obne im wesentlicben einen scbritt weiter 
gebommen zu sein als zu der zeit der auflosung von Barebones 
parlement, nacbdem er im gegentbeil wabrgenommen dasz durcb 
die art wie er zuletzt das regiment gebandbabt ibm zeitber nabe 
stebende manner, zn deren speciellen traumen wieder sein regiment 
nicbt pafite, ihm entfremdet, die scbwierigkeiten tiiglich gemehrt 
warden — nun ergrifF ihn eine krankheit, deren gefabr er wobl 
fiihlen muste — sollte da ihm, dem armen preBhaften manne auf 
dem todtenbette nicbt, aucb obne dasz an friihere beuchelei zn 
denken ist, die angst kommen : wie wenn dies nnn ein gottesurtheil 
ware gegen deine sacbe, gegen alles was dn gewollt, wofiir du 
gelebt hast? — In dieser noth bielt er sicb an dem gewissen ge- 
fiihl fest dasz er, wo er gebandelt, im glauben und in dem festen 
bewnbtsein der ihn begleitenden gnade gottes gebandelt und so 
erklart sicb wobl die frage : ob jemand ans der gnade fallen kdnne 
— wenn diese frage iiberhaupt statt gefunden — aber icb glaube 
nicbt darau, und ein wirklicb zwingendes bistoriscbes zengniB ist 
nicbt dafiir — im gegentbeil sind sebr deutliche zeugnisse dafiir, 
dasz Cromwell aucb dem tode gegeniiber das feste bewustsein be- 
halten babe, in gottes gnade zu stehen und mit seinem herrn im 
frieden zu sein. 

Dasz nach Cromwells zeit zu ganz divergenten religiosen 
richtungen in England der same ausgestreut war, ist ganz natiir- 
lich, mochte er personlich nocb so fromm sein. Denken Sie doch 
nur an die religiose aufregung alien, aucb der theologisch unge- 
bildeten oder halbgebildeten schicbten und an die auszerlicb iiber- 
miithige art, wie nacb der restauration von seiten der staatskircbe 
mit alien diesen religiosen trieben umgegangen wurde. Glauben 
Sie dasz es in dreiszig jahren bei uns beszer stande, wenn morgen 
mit einem male die kircbe von einer wesentlich auszerlicben macht 
recbtlich wieder ganz sicber gestellt wiirde, und in der freude 
und dem iibermuthe dieser auszerlicben sicherstellung sicb um alle 
die aufgeregten triebe geistig-niederer (wenn aucb auszerlicb vor- 
nehmer) schicbten gar nicbt weiter kiimmerte? Icb denke es 
wiirde zehnmal scblimmer als in England eine generation nach 
Cromwells tode. 

Eiir die ev. k. z. stehe icb Ibnen zu diensten, wo Sie mich 
braucben, und wo icb niitzen kann . . D.s buck ist gut gemeint . . 

Was das andere buck, die strausziscken novellen^) anlangt .. 


1) Von Victor [von] StrauB; vgl. EKZ. 1847 Sp. 353 ff. 



506 


X. Boiiwetsch, 


selie ich nicht reclit was dieser von Schubert ausgestreute christ- 
liche novellensamen helfen soil, wenn er von so schwachen poe- 
tischen kraften unterstiitzt wird, wie bier. Fiir eine gewisse 
schiclit leute mag die unterhaltung immer noch heilsam sein — mir 
aber i.>t es nicht gegeben fiir diese schicht heilsam zu reden — 
und in otFentlichen zustanden, die auf alien seiten dem communis- 
mus in die hande arbeiten in ihrer behandlung des gewerbslebens 
tmd grundeigenthams, gegen den communismus gelegentlich von 
novellen zu reden, scheint mir auch zeitverschwendung ... es ist 
weggeworfene miihe. So lange eigenthum und gewerb als inte- 
grierende stiicke der personlichen freiheit gelton^), wird der com- 
munismus mit jedem jahre eine wachsende macht werden — wer 
aber das jetzt den leuten sagt, erregt nur ibr vornehmes be- 
dauern — in drei jahren ist vielleicht eher zeit wider einmal und 
dann einleuchtender auf dies thema zu kommen. 

. . Ich wollte es giibe etwas, was ich von herzen loben konnte, 
und lernte es durch Sie kennen — denn in der stimmnng in die mich" 
almalig all unser politisches und kirchliches gekoche und gebraue 
versetzt hat, babe ich einen durst einmal etwas loben und riiumcn 
zu konnen . . Mit keulen mbchte man zu zeiten dazwischen 
schlagen, wenn die sachen nicht wieder gar zu Iticherlich und mit- 
leidswerth zugleich waren. 

Nun! Gott beszers — und erhalte mir Hire liebe H. Leo. 

46. 

Theuerster freund ! 

Beifolgend erhalten Sie die gewiinschte anzeige der schrifi von 
Strausz-). Ich wollte nicht eher schreiben, bis ich sie fertig hatte 
— und es war diesniai ein saurer apfel, den Sie mir vorsetzten. 
Mir siud solche luuipenschriften in innerster soele zuwider . . Knn 
endlich habe ich mich doch entscldoszen. hauptsiichlich um schliesz- 
lich den leuten sagen zu konnen, sie sollten in zukunft von solchem 
zeuge gar keine notiz niehr nchmen. 

Ihre auszerungeu uber den ostreichischen katholicismus sind 
ganz dem gemasz, was ich in fruherer zeit in katbolischen liindern 
gesehen . . Andrerseits freilich spricht das wieder fiir den festen 
kirchenbau der katbolischen welt, der noch halt, und in der mog- 
lichkeit sich wider mit christlichem geiste zu fiillen halt, wahrend 


li Vg! d.miber aucli Allg cuns. M.S. ns04 S. TSoif. 702. 

2) t riedr. StraiiB, Ber Roinaiitdn r uuf dein Throu dor Cusiren odor 
Julian dor Alitriiiinige. Mannlirim ISIT : ig! EKZ 1847 Sp, .S73ff. 



Der Historiker Heinricli Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 5117 

doch derinalen sein ganzes innere so morsch ist. Ich habe mich 
hauptsachlich aucb aus diesem grunde gefreut. dasz praes. v. Ger- 
lach diesmal eine gewissermaszen katholische reise geinacht. Mit 
bestimmtheit babe ich angenommen, dasz ibii mancbe von ihiii ver- 
geistigte seite des batholicisinus wenn er sie in der wirklichkeit 
sahe, nur anwidern konne. Eben bore icb auch von Tholuck. dasz 
er iiber die dummheit der katbol. gei.-tlichen klage. 

Was ihre apocalyptischen studien anbetridt, so werde icb Ibnen 
da schwerlicb nacligehen kbnnen. Es ist gut dasz dor liebe gott, 
wie er seine erde mit mannicbfaltigem gewlichs zur nahrung fur 
mancberlei getbier ausgestattet, er aucb sein beiliges bueh sehr 
mannigfaltig zusaminengcsetzt und fiir sehr verscbiedene seelen 
gesorgt bat. Scbun das evangeliuin Jobannis macbt mir wenn icb 
e.s zu lesen anfange immer von vorn herein den einclruck. dasz 
bier die saiten nieiiier seele nicbt mitklingen und erst wenn ich 
weiter herein und gegen das ende koinme iiberwaltigt mich der 
inbalt. Die apocalypse abcr liiszt mich durcbaus fremd und obne 
se 'lenschwingung. Im neuen testameute sind mir des Lncas ra- 
higer vortrag und Pauli tiefe und scbtirfe des gedankens immer 
als die niiicbtigsten ingredienzen in beziebung ant die eigne seelen- 
ert'abrung erscbieiien. 

Die Ub.licbscben gesebiehten scheiiien mir. wenn sicb der erste 
lauscb gelegt baben vvird. so katzonjaniiiierlicb auszugeben, wie 
die von Wislizenus und Eongc. und tbut mir nur leicl. dasz sie 
zur gelegenbeit gewordon .■^ind G..s schat'skiipfige natur so unbe- 
streitbar an deu tag zu legen. \\'ir lenken iibrigens denke ich 
almalig in eiii gutes. gesundes, nUcIitornes wesen mit iinseren kircb- 
licben angelegenbeitcn ein, und icb sebe sehr lix-udig nnd getrost 
fernerer entwicklung entgrgen, die nns nothwendig politiscli einen 
gnten boden bereitot. [Hase , KG. a. d. Gr. ak. York III, 2. 2, d82J. 

Halle den 31 ten Oct. -17. In treuer liebe H. Leo. 


47. 

Halle am cbaitreitage 1S48. 

A’or linein jahre zum diarfreitag sebrieb ic'u den aufsatz, den 
Sie als fragment drucken laszeu musten — mich jammerte damals 
des deutschen laiides, dasz cs si-lche .-rchmach tragen sollte 
— und wie ist es nun gekomm.en! welcbe scbmacb tragt es 
heute I Kun sind war allesamt wie die unreinen nnd alle unsore 
gereebtigkeit ist wie ein unflatig kleidi 

Die dinge glaube ich einigennaszen zu faszen — aber die 
menschen werden mir zum tbeil ein ratlisel. Lin doppelt tieber 



508 


N. B o n w e t s c h , 


tobt in unsern gliedern — von dem einen denke ich hilft uns 
Hecker und consorten. Es scheint, sogar nun nock versteht man 
dies spiel nicht, was diese s. g. repnblicanische secte in Deutsch- 
land treibt ; wie sie ihre forcen verbirgt, ihre zei'den in die reihen 
der gemaszigten schiebt und wo sie einmal, nm zu probiren los- 
gebrochen sind, sich wieder ducken, um die verwirrung nnd ver- 
hetznng der kdpfe nachwirken zu laszen. — Gerade wie ich Ihnen 
genau das schicksal Oberitaliens vorhergesagt hal'e. sage ich Ihnen 
nun vorher, ehe ein monat, vielleicht ehe 14 tage nm sind sind 
die regiernngen von Baden und Darmstadt verjagt und in Frank- 
furth weht entweder schon die rotbe fahne oder schrecken und 
rathlosigkeit gemischt mit halbem nnd ganzem verrath machen ihr 
den platz eben. In norddentschland allerdings hat die republik, 
wie ich mich vor kurzem auf einer reise nach Westphalen liberzeugt 
habe. so gut wie gar keine hotfimng, und so nnvorbereitet wie der 
Berliner schlag trifft dergleichen die gemuther nicht mehr. Aber 
dieses deutsche parlamentsfieber glaube ich wird durch die vor- 
gange im siidwesten in eine, vielleicht sehr heilsame krise kommen. 
— Waren wir nur dazu erst das andere fieber, dasz der anar- 
chischen regnngen in PrenJBen selbst los. Allerdings sind diese 
regungen scheinbar nocb ohnmachtig, aber wenn sie noch vier 
wochen anl die menschen wirken, weisz kein mensch was wird. 
Behandelt man diese dinge mit der energielosigkeit, wie zeither 
die Badenser ilire republicaner, so wird eine entsetzliche sittliche 
zerriittung folgen. — Niemand glanbe dock die republicanischen 
regungen seien zu ende, wenn sie sich vielleicht noch einmal nach 
irgend einer art schlappe auf acht tage in den winkel legen. 

Der here ist gutig und eine veste zur zeit der noth und kennet 
die so auf ihn trauen — das ist mein trost — menschlicher weise 
weisz ich nicht viel. Laszt man die otFentlichen gewalten noch 
vier wochen in der bisherigen weise verwusten — so bleibt keine 
rettung als durch einen rechtschaffenen militardespotismns — ich 
weisz aber nirgends, wer das zeug dazu hatte, ihn in die hand zn 
nehmen. Die zukunft liegt mir dunkel vor den augen — und ich 
sehe sogar diese dnmmheit kommen, dasz wenn nun diese republik 
vom Bodensee bis zum Main und vielleicht bis zur Lahn sich auf- 
thut, ^ man den stier bei den hornern packt und den hauptangriff 
auf die nordlinie desselben richtet, ihre anhanger nach der Schweiz 
zu treibt, nnd dadurch diese zwingt, die basis herzugeben, wahrend 
man aus den gegenden von Ulm gegen Stockach mit der hanpt- 
m^ht vorgehend die leute von dieser basis langhaltiges wider- 
widerstandes abschneiden, A 1 1 wurtemberg rasch nachhaltige hilfe 



Der Historiker Heinrich Leo in seineu Briefen an Hengstenberg. 509 


bringen, und an der nordseite, wobin ohne zweifel das republi- 
canische volk in der dumniheit seine hauptstarko wirft. ein wurzel- 
loses zusammenwelken herbeifiihren konnte. 

Sie werden mich fiir einen erzphantasten, fiir einen greulichen 
tranmer halten. Ich will es in diesem falle wiinschen, dasz icbs 
bin, Icb glaube es aber nicbt — denn wie mir auch in der nabe 
mebr nnd mehr der schliiszel zu manchen menschen schwindet — 
diese kumpane in Darmstadt und Baden glaube icb nocb ricbtig 
zu erkennen. 

In treuer Liebe der Ihrige H. Leo. 

P. S. Der brief ist liegen geblieben bis heute den ersten 
ostertag, und es siebt den zeitungen nacb aus, als waren obige 
voraussetzungen eitle birngespinste — icb bleibe aber docb dabei 
— ists Hecher nicbt, so ists ein andrer.- Diese siidwestecke Deutscb- 
lands ist reif zu diesen streicben und wird wie ein reifer apfel 
vom baume fallen, sobald ein unversebener wind den ast scbiittelt. 

Die leicben der zwei zeugen gottes, des alten und neuen 
testamentes, liegen am beutigen tage unbegraben auf den gaszen 
der groszen stadt, welcbe Sodom und Aegypten heiszt und wo 
der HErr gekreuzigt worden — mogen die drei tage und ein balber 
bald um sein! . . . [Apuk. 11, 3fF.] 

48. 

Ich scbicke Ibnen die beiliegenden zeilen in dem bestimmten 
gefiihle, dasz es vielleicht unmoglich werden wird, sie drucken zu 
laszen. Der erste badische aufstand ist gescbeitert durch die 
jammerlichkeit der ftibrer und die liiderliche vorbereitung, aber 
das material ist nocb vollstandig vorbanden. Wabrscbeinlich bricbt 
in dieser woche der schaden von neuem auf, diesmal am untermain 
und das terran von der Lahn im norden bis nacb Basel zu beiden 
seiten des Rheines wird mehr oder weniger davon ergriffen werden. 
Bayerhoffer ziebt in Heszen herum; die demopotischen vereine 
tagen in Frankfurth ; die studenten in Eisenach — unsere hiesigen 
woUen als opposition auftreten und holFen auf unterstiitzung von 
Bonn und Erlangen — es wird den goldnen j ungen nicbt viel 
belfen ; die Wiener, Breslaner, Leipziger hundertweise und be- 
waffnet bis an die zahne geben den Jenaern und anderen zn 
entschiedenen nacbdruck — iiberdies ist alles so eingerichtet dasz 
es nicbt sowohl eine studentenversamlung als eine volksversam- 
Inng wird. Leute, die nicbt studenten sind, sollen mit tagen und 
reden diirfen. In der ganzen turingischen umgegend ist aufregung. 



510 


Is', li 0 n n' e t s c h , 


Es .?cheint darauf abgesehen einen hanf'en dort fortzureiszen ui^d 
ebeiifallri damit nach Frankfurth zii marschiren. In der gaiizen 
umgegend von Frankfnrth sagen die leute man miisze die ver- 
samlung auseinanderjagen, wenn sie das programni der auszersten 
linken nicht annahmen. In Wiesbaden ist scbon in einer versam- 
lung der vorschlag gcmacbt worden. den herzog fortzujagen in 
diesen tagen. Aber nicht Idosz am iinterinain wird der kampf los- 
brechcn. sondern aucb in Berlin und BresJaa, ja in Paris, in London 
wo die pfiiigstwoche als zeitpunkt des ausbruches bezeichnet ist, 
wie in Posen. Ob also Ihre presse nicht unter Helds dictatur 
steht ehe Sie meinen aufsatz drucken laszen konnen ist mir .sehr 
zweifelhaft. 

Ich kann nicht sagen, dasz niicli alle diese aussichten sehr 
kiimmerten. Dasz wir diirch schlimmere zustande als die jetzigen 
durcbmiiszen, wenn es besser werden soil, ist klar — also immer- 
hin! Ohngeachtet ich, wenn die besoldung zum Iten JuK aus- 
bleibt im eigentlichen sinue bi’odlos bin, bin ich doch nicht im 
mindesten besorgt iini den andern tag — Gott hat mir in liiirteren, 
anch inncrlich zerriszenen lagon heirlicli .seinen beistand gewiihrt 
— und wenn einmal nicht — nun auch gut ! Piinzelne von uns 
mogen drauf gehen — das reich musz uns doch bleiben I wir 
haben die gdttliche verheiszung der zukuntt . . . 

in trener liebe H. Leo. 


49. 

Potsdam 22 n nov. -18. ILeo bittet um Hengstenbergs Gastfreund- 
schaft]. Wir laden zwar da zwei objecte des volkshaszes ins Haus, 
indessen da Berlin gegenwiirtig des einzigen verniinf'tigen d. h. 
des belagerungszustandes als besonderer wohlthat gottcs genieszt, 
wagen Sie es vielleh ht darauf. 


50. 

Theuerster ireun'l I 

Isuchmals meinen herzlicLsten dank fiir Hire gastfreundliche 
aufnahme. die Sie hoffentlich auch auf das beifolgende Leosche 
sbhnchen ausdehnen werden, wonu Sie aucii gegen manche glieder 
dessclben mistrauische augen machen werden, namentlich wie ich 
nun weisz dagegen, dasz ich mich in agyptiacis Bunsen so weit 
hingegeben habe. Am wlchtigsten ware mir, Ihre ansicbt zu cr- 
halten liber den aoschnitt, der voii den Chamiten im allgemeinen 
handelt . . . 

Hier steht alias v rtrefFlich und ist volLtlndige umwendung. 



Dcr Hisioriker Heiniicb Leo in seinen Briefea an Heng&tenberg 


511 


Wir betreiben eben eine aclresso an Se. Majestkt um reclit lange 
beibehaltung des popularsten ministerii Brandenburg, wobei man 
aber unendlich mit der philisterei zu kiimpfen bat. Jeder fast 
sagt: ja das ist ricbtig, aber' es ist in der inebrzahl noch nicht 
zur einsiclifc geworden, und doch ist das das einfache mittel die 
einsicht herauszubringen . . . 

In treuer liebe nnd verebrung Ibr 11. Leo. 

Halle den 5 ten dec. 18-18. 


51. 

. . Meine propbezeiung in bezug auf Baden und den mittel- 
rbein, bei der icb voriges jabr zu scbanden geworden bin, ist denn 
nun nacbtraglicb docb nocb eingetroffen. Darmstadt wird scbwer- 
licb einen festen wall bilden — der* Odenwald ist bereits in be- 
wegung, und so die sacbe ibre voile erledigung linden d. b. Wetterau 
und Tannu.s suweit ibn Mainz nicbt im zaum bait nacbfolgen. 
Hoffentlicb baben die secb-uudsecb-szig scbock Frankfurtber profes- 
soren den reicbsverweser vorgestern abgesetzt, der dann seiner- 
seits seine gewalt in die bande der flirsten niederlegt, wtibrend 
die secbsunusocbsig scbock eine neue reichsgewalt bestellt. Dann 
recbne icb darauf dasz die commandantur in Mainz dieso neue 
gewalt nicbt anerkennt und die ostr. und preuB. truppen aus 
Frankf'urtb znriickziebt, damit der sttsze Wetterauer pobel, die Ha- 
nauer und Bockenbeimer terner die execution an den baiben ge- 
macbiicb vollzieben kann — die execution an den ganzen voll- 
ziehen wir dann mit der von Struve und Blind znsammen. — Icb 
gebe aucb meine italieniscbe propbezeiung nocb nicbt auf ; Sie 
werden seben, die Oestreicber miiszeu erst docb nocb einmal ber- 
aus — nocb baben sie viol zu scbr mit samthandscbuben gear- 
bcitet . . . 

Treulicbst Ibr H. Leo. 

5-;. 

Verebrtester freund! 

Die liicke aber, die icb . . fiiblte war die ausgebliebene 
frage : wie soli nun aber das misverbaltnifi ausgeglicben werden 
zwiscben der menscblicben scbwacbe der triiger der staatsgewalt 
und dem actnellen bediirlniB? ~ . . meine antwort ist die: es 
gicbt dafiir allerband auszere vorkebrungen allein diese sind nicht 
sticbhaltig fur sich — bintcr allem n.usz nothwendig der lebendige 
glaube also die gnade gottes steben, sonst ist alles (park — ist 



612 


Is . B 0 n w e t s c h , 


aber der glaube mit uns , so scbafft sicb alles was bedurft wird 
aus dem leben und den umstanden von selbst . . . 

In treuer Hebe der Ihrige H. Leo. 

[Ohne Datum, nach dem 1. Juni 1849]. 

53. 

Wir baben bier ein hiibsches probchen cholera gehabt — in 
der woche vom 3 ten zum 10 ten juni etvvas iiber 400 todte in einer 
stadt wie Halle . . Uebrigens sei es, dasz schon einiger gute 
samen mehr im volke war, sei es dasz die gauze zeit schon andere 
ansatze hat, wirkt die krankheit nach der sittlichen seite sehr gut. 
Sie ist anlasz, dasz sich tausendfach im gemeinen volke eln ab- 
scheu gegen die gottlosen frnher in Halle betriebenen richtungen 
ausspricht und ein erwachen zum glauben . . 

Am leidesten hat mir das benehmen unserer hiesigen studenteii 
gethan. Das vorigemal als die cholera kam, wo doch ein weit 
grbszerer schrecken vor ihr hergieng, wich eigentlich keiner. und 
als Gesenius, der gewichen war, wider kam, ward er von den stu- 
denten verhont, und als er sich entschuldigend sagte, er habe nur 
das eine leben, kam das den studenten so gemein und unwiirdig 
vor, daS sie laut briillten, obngeachtet sie ihn persdnlich damals 
noch sehr gern batten. Diesmal haben die studenten, ohne dasz 
auch nur ein einziger von ihnen bereits erkrankt war, angefangen 
und sind vor der krankheit auseinandergestoben wie die hiihner 
vor dem geier — kaum dasz wir hier ein paar hundert zusammen 
gehalten haben, die begreifen, dasz es eine moralische pflicht, und 
zugleich eine starkung und erhebung ist, auf einem bedrohten posten 
auszuhalten und dasz man selbst innerHch herabkbmmt, wenn man 
anfangt zu weichen. Bis jetzt ist von den hiergebliebeneu erst 
einer bedenklicher erkrankt gewesen, und ein zweiter . . der schon 
einigermaszen erkrankt noch gesoffen hat, ist vorgestern abend ge- 
storben . . Bei meinen zuhorem bin ich doch von 50 nie unter 
30 gekommen . . andere haben ein paar tage ganz feiern miiszen. 

Halle den 16ten juni. In treuer Hebe H. Leo. 

54. 

Theuerster freund! 

W^ie gern kame ich zu Ihnen nach dem Heben Gramzow, aUein 
es geht diesmal wirklich nicht . . . Da . . . , wiirde ich in einer 
zeit, die doch noch nirgends einen festen boden hat, hier alles 
ohne die geringste iibersicht und aufsicht einer magd iiberlaszen 
muszen . . zumal mein hauswirth ein niedertrachtiger kerl ein 



Der Hibtoriker Hemrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 513 

demokrat von reinstem waszer ist, der mir schon vorigen herbst 
janhagel auf den hals hetzen half. 

. . Eine besprecbung was ans Deutchland, aus PreuBen wird, 
auf dem grunde des von der religion losgesagten staates scheint 
mir um so weniger meine sache, als die ganze lage doch im grunde 
nur formell entschieden ist. Weit wichtiger schiene es mir die 
freiheit, die durch diese formelle entscheidung die kirche gewinnen 
kann auszubeuten . . Man sollte ohne vieles anfsehen und gerede 
hand ans werk legen mit griindung ganz unabhangiger institute. 
Ich war deshalb hocli erfreut iiber eine anfrage des pfarrer KrafFt 
in Diisseldorf nach christlichen gymnasiallehrern ^) . . . nur dies 
eine weisz ich , dasz hier der base im pfefPer liegt ; wenn noch 
etwas von Juda iibrig bleiben jal wenn alle zwblf stamme wider 
zusanimenkommen sollen. 

Die Lebninweiszagnng ') hat Meinhold in wirklich grobsinniger 
art in die hand genommen. Dasz es urspriinglich eine ordinare 
weiszagung — vielmehr wahrsagung — ; ein miisziges gedanken- 
spiel — . . kann man Giesebrecht zugeben — aber so glatt wie 
ein lackirter prasentirteller, wie Giesebrecht meint, wird dadurch 
die sache nicht. Hat einmal ein miisziges wort so gegriffen wie 
diese wahrsagung so wird es eine damonische macht — der teufel 
treibt sein spiel damit und der trust ist nor, dasz der dumme kerl 
zuletzt doch immer gottes knecht ist und dessen grosze thaten 
zahneknirschend vollbringen hilft. Wie tief mag der haken dieser 
weiszagung in e i n herz eingegriffen haben — und wenn des ver- 
faszers absicht wirklich war, den Hohenzollern noth zu machen, 
so hat er die erreicht, meiner ansicht nach. Vielleicht fiihrt die 
noth wie so oft znm guten. Aber diese deutscbe krone ist ein 
unberechenbarer fleck. XJeber diese sachen zu schreiben, hilft 
meines erachtens gar nicht — dasz das gedicht nur eine wahrsa- 
gnng sei, ist nachdriicklichst geltend ^emacht — damit verliert 
sie ihren stachel nicht; ihre hexenmaske lockt doch . . . 

Ich freue mich. vorigen herbst durch Senff't veranlaszt, ein 
kleines memoire iiber die deutschen angelegenheiten aufgesetzt zu 
haben, was durch herrn general auch an die rechte schmiede ge- 
kommen ist, und da grosze verwunderung (walirscheinlich nicht 
gerade angenehme) erregt hat. Ich freue mich deshalb well bis 
jetzt alles, was ich darin als wahrscheinlich angenommen habe, 
eingetroffen ist, mit ausnahme davon dasz im laufe des friihjahres 
die Oestreicher von neuem aus Italien herausgeworfen werden 


1) Vgl. Allg. Kons. MS. 1891 S. 457 (Br. an v. Rappard v. 12. Ap. 1850. 



514 noawetsch, 

wiirden. Indessen ist nocli nicht aller tage abend. Ich freue mich, 
weil icb dadurch jeJesfalls meine seele gewascben babe. B. und 
V. R. ‘ i sind lioscre zugaben als die Lebniner wahrsagung, nament- 
lich der erstere, der sich in Fr. und bier vullig verwascben ge- 
auszert — und neben diesen beiden geistrefcben damonen erscbeinen 
wir anderen docb nur als sebr blosze scbafskbpfe von menschen. 

Die taktik der deutscbeu radikalen sclieint zu sein, krawalle 
rings nna Frkf. zn erregen — dadurcb inogliehst die truppen, na- 
mentlicb PreuBen und Oestr. wegznlucken and dann in Frkf. das 
parlament zu iiberfallen, in Polan und Diiringen loszuputscben — 
wir miiszens ja in den nach.^ten tagen scbon sehen , da nun die 
grosze wabl statt gelunden und scbeinbar den babiloniscben thurm 
gescbloszen bat. 

In treuer liebe PI. Leo. 

Halle den SUten m. [l!>50?] 


.00. 

Tlieuerster frcund! 

. . Sip baben docb meinen nacb Gramzow' gesandten Brief 
richtig erbalten? 

Verzeihen Sie. dasz ich kurz abbrecbe, icb bin aber in etwas 
miserable!' lage — meine Frau ist voi’gestern abend spat krank 
voii Xaumburg zuriick gekommen; das dienstmadchen infolge eines 
cboleraanfallcs nocli krank und abwesend ; eine ausbelfende handfrau 
war gerade vorgestern abend aucb fernerhin unmbglich geworden, 
eine andere abbilfe ist noch nicbt gescbafft und auszer einem kleinen 
lauljungen noch nichts aufzutreiben, so daB ich einstweilen selbst 
einheitze, katfe koche, kranke warte u. s. w. Ein nordamerikanisches 
pflanzerleben mitten in der guten civilisirten stadt Halle! nun. es 
bat das aucb seine reitze — und meine innere frbblicbkeit und 
geduld einen kingeren €adeii als dasz ic’i selbst multiplicirten 
diijgen dieser art eine woitere wicbtigkeit beiuiasze, als dasz sie 
micb an mancbeni anderen liindern . . . 

In treuer liebe H. Leo, 

55. 

Theuerster freund ! 

Ihrem sobne babe ich leider noch sebr w'enig sein konnen. 
[Leos baben keine Gesellschatten, da seine Frau krank]. Von selbst 
aber sebeint Ibr Emanuel scheu zu tragen, mich zu besuchen, so 


1) Beckcidtli uiid von RaduwitzV 



Der Historiker Hoinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 515 


gern ich auch mit ihm verkehre — wahrscheinlich haben Sie ihn 
an ein strcnges gelehrtenregime zu bause gewbbnt, wabrend das 
bei mir gar nicbt der fall ist. Anf eine stunde babe icb immer 
zeit, fiihre gar kein gelebrten regime nnd arbeite immer imter 
tansend unterbrechungen halb wie im bivouac. 

Dasz man in Berlin wider marchandirt hat, thut mir doch in 
der seele web. Bei solchem verfahren sehen wir noch lange kein 
festes land, sondern immer nur kleine inseln — wir werden wohl 
die ganze erde des constitutionalismus umscbifFen muszen, nm zu- 
letzt wie in Spanien immer nur so lange wirklicbe rube zu haben, 
als ein general wirklich generalisch a la Narvaez mit pnlver nnd 
blei das regiment fiihrt. Auch allcs reden iiber die socialen fragen 
hilft nicbts, so lange niemand hinlanglich feste nerven hat, um 
disciplin durch strenge corporativ-polizeiliche ordnnngen zu trclFen. 
Im biirgerstand ist noch jetzt (and noch mehr war 184S) die beste 
neigung solcben dingen bereitwillig entgegen zukommen; der ur- 
schlamm der subjectiven freiheit findet aber in vornehmen kbpfen 
so viel verwandtes element, dasz er immer siegt. Gott beszers 
und sorge dasz man endlich erkennt, dasz Christi ziel das war 
den seelenfr ieden zu bringen, nicbt aber die kriippel zu beilen 
und die leiblich hungrigen zu speisen allein — ich finde wohl dasz 
er einige gebeilt und auch einige mal bewirthet hat um dem 
schwacben glauben zu helfen, aber dasz er seine zeit wesentlich 
mit mysterieuser chirurgie und garkocherei zugebracbt, ist mir 
nicbt bekannt geworden. 

Griiszen Sie die Ihrigen . . bestens — namentlich aber Ihre 
liebe frau und ihre vortrefflicbe frau schwiegermutter, die noch 
eine frau von altem schlage ist und etwas beszere nerven bat als 
unser nachwuchs. In seiuen nerven hat dieser auch die beste 
grnndlage seines glaubens verwiistet, denn eine korperliche grund- 
lage verlangt auch der — und wo er nur anfangt, schafFt er sie 
von neuem — der frieden der seele macht der unrube , die nicbt 
blosz die mutter der stinde sondern auch der krankheit ist, ein 
ende. 

In treuer liebe Ihr H. Leo. 

P. S. Ihrem premier Berlin im beurigen jabrgange der e. k. 
stimme ich natiirlich fast ohne ausnahme bei — nur bitte ich zu 
bedenken, dasz eine zeitnng gleich ist einem kriegsbeere, was auf 
eroberung fur eine ansicht ausgesandt wird — wenigstens ist das 
der fall mit einer guten zeitung — und auch ein gut-christlich 
beer braucht seine busaren und kosacken, seine freicorps, seine 
Kgl. Oes. d Wiss. Nachrichten. Phil. -hist. Klasse. 1917. Heft 4. 35 



616 


N. Bonwetsch, 


marketender — and ist es ganz unmoglicli zu hindern dasz dies 
lickte gesindel nicht einiges stiehlt und verwiistet, zumal in zeiten 
harterer actiouen und Jjei boshaften verhalten des feindes. Christas 
selbst hatte das nicht hindern konnen , wenn er sein verfaliren 
nicht vollig hatte andern wollen. Dann hatte er auch statt deni[!] 
Judas eine kasze fiihren zn laszen, selbst miinzen mttszen, meinet- 
wegen so oft er’s branchte mit einem handschnippchen. Das hat 
er nicht gethan , und wiirde er also wahrscheinlich , wenn er die 
neue preufiische redigirt hatte, seine Judasze gehabt haben. 

57. 

Theuerster freund! 

. . Von den von Huber vorgeschlagenen buchern habe ich 
Alton Locke und Jeast*) bereits gelesen, und will mit diesem 
schriftsteller nichts zu than haben — es ist scheaBlich, greulich, 
durch und durch dilettantisch — fiir auffaszung standischer, po- 
litischer verhaltnisse durch dilettantische sentimentalitat vollig 
verdorben — ein quacksalber erster grosze. — Ich werde alle tage 
mehr an Huber irre und werde ihn am ende auch noch fiir eine art 
dilettantischen quak halten miiszen, wenn er solchem zeuge — 
was freilich recht hiibsch geschrieben ist, irgend einen werth bei- 
mifit. Freilich der groszeste theil der fiir die innere mission in- 
teressierten leute ist ganz im selben zuge and nach und nach ils 
commencent m’embeter aver cette mission interieure. Ich bleibe 
dabei dasz das nur theilweise schones — der hauptmasse nach 
bodenloses zeug ist. Man macht die kothige strasze trocken mit 
aufschiittung trockner erde dasz sie beim nachsten regen doppelt 
kothig werde. 

Das buch von Balzac will ich doch ansehen obwohl Huber es 
vorgeschlagen . . 

Halle 6./8. 51. In alter liebe und treue H. Leo. 

68 . 

Mein theuerster freund ! 

. . Was zuerst Ihre vorschlage in mancherlei beziehungen zur 
inneren mission Ihnen aufsatze oder einen aufsatz zu liefem an- 
betrifft, so bin ich glaube ich dazu weniger als irgend ein mensch 
befahigt . . Wahrend ich nicht nur so gut wie irgend ein mensch 
fiir elend alien art, geistiges und leibliches, ein mitgefuhl habe, 


1) Beide ron Kingsley. — V. A. Hubers sociale Gedanken sind znm Teil in 
der spateren socialen Gesetzgebung verwirklicht worden. 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 517 


sondern iinter umitanden wo es an mich herantritt armselig scbwach 
in meineni gefiihl dafiir sein kann, bringfc es dock mein ganzer 
lebensberuf, meine studien, meine betrachtungsweisen — aides bringt 
es mit sich, dasz ich mir diese dinge so wie icb nicbt unmittelbar 
durch auge oder obr gefangen bin, untei* eine allgemeine beleucbtnng 
stelle, sie als eine dauernde zugabe zu menscblicben zustanden, 
gewissermaszen wie die rinde zur kruine betracbte, und dasz 
mir von diesem standpuncte aus vieles als thorieht erscheint, was 
andere in spannung zu bringen vermag. Gerade desbalb ware icb 
vielleicbt der recbte. mann fiir diese dinge — wenn nocb eins 
ware — wenn in mir die recbte practiscbe einbeit beider pole 
ausgebildet ware. Ware icb z. B. ein geistlicber, der in mebr- 
-jahriger, ausgebreiteter seelsorge die scbwache des gefiibles beim 
anbl’.ck geistigen uad leiblicben elendes verstandig iiberwanden 
aber das gefiibl selbst in steter iibung erbalten batte einerseits' 
und der die in barter consequenz sicb darstellende allgemeine be- 
tracbtung dieser dinge aus ibrer abstracten gestalt am studirtiscbe 
in Imndert practischen fallen zu concreten wirklichkeiten gemacbt, 
gesehen batte was die dinge im einzelnen fiir gesicbter macben 
andretseits, batte icb mich in liebender iibung mit so vielen kern- 
stellen der scbrift iiber die schrauken und gebrechen der iibnng 
getrostet und micb mit ebensovielen dabei erbalten — dann ware 
icb gerade der recbte mann. So sehe icb nnr durcb alle einzel- 
beiten bindurcb wie das elend selbst immer zuletzt wurzelt in 
verschieftem verstande und dessen verscbiefung in verwiistetem 
oder nie erwacbsenem glauben ^), es ist mir aber selbst oft bei den 
gebildetsten, aucb bei in mancber beziehung nabestebendsten ver- 
sagt, den leuten nur deutlicb zu macben, wo eigentlicb die kraft 
des glaubens und wo ihre verscbiefung sitzt — und wabrend icb 
^ott nicbt genug danken kann fiir einen taglich neu werdenden froh- 
licben und muthigen sinn der zuversicbt und des glaubens, hat er 
mir fast alle magnetiscbe wirkung auf andere versagt — in folge 
davon aucb alle bier gerade notbwendigste erfabrung. Es baben mir 
zwar ab und zu aucb junge leute gesagt, dasz sie aucb nacb dieser 
seite mir etwas zu danken batten, da ist dann aber sicber nicbt 
meine kraft daran schuld gewesen, sondern dasz es der liebe goit 
gerade so gefiigt hat, dasz ein wort von mir zu recbter zeit auf 
ibre seele fiel — ich babe nie das bewuBtsein gebabt auf seeleu 
anders als allenfalls anregend gewirkt zu baben — mir feblt alles 
erbaulicbe, feierlicbe, vollstiindig das was man salbung nennt — 


1) Vgl. Allg. Kons. MS 1893. S. 1107. 


35 * 



518 


N. Bonwetsch 


nnd eigentlich priesterlichen handen sollten Sie docli die dinge 
der inneren mission anvertranen. Ich meine namlich : laszt man 
die dinge so gehen, dasz man wie bislier das einzelne gebrecben 
in’s ange faszt, so schiittet man krafte in ein danaidenfasz — man 
musz es also so anfaszen dasz man den seegen fiir ein allgemeines 
gewinnt, auch wenn die kraft im einzelnen in die gosze geschlittet 
ist — dies allgemeine kann aber nur das reich Christi in seiner 
geordneten festen gestalt — es kann nnr die kircbe sein. Grerade 
aber kinsichtlich der kircbe stehe ich anf nnseligstem boden. Wah- 
rend niemandem deutlicher das recht und die notbwendigkeit der 
reformation einleucbten kann wie mir, sehe ich doch gerade durch 
die art, wie die reformation in die hande genommen worden ist, 
den eigentlichen boden der kirche auch zerschlagen. Ich kann 
mich darein finden dasz man im 16 ten jahrhundert in die lutbe- 
rische nnd calvinistische kirche als nnter ein nothdach kroch, in 
eino bretterbude neben dem herrlichen pallast der alten kirche, 
der durch schlechten gcruch unbewohnbar geworden war — aber 
dasz wir uns heute noch mit alien in jenem kampfe auch erwach- 
senen vorurtheilen, mit allem doctrinaren basz und eitelkeiten als 
mit einer legitimen erbschaft ansstatten sollen, dasz die sehnsucht 
nach dem alten fundament nirgends sich auszern soil ohne den 
vorwurf anf sich zu laden , man habe keine nase oder man liebe 
schlechten gemch — das b.at mir nie einleucbten wollen. Man hat 
mir deshalb schon vor 1848 oft schuld gegeben ich katholisire, 
und hat darin gewiB in soweit recht, als ich iiber eine menge groszer 
redensarten die anf unsrer seite wie scheidemiinze von Land zii 
hand gehen lache, und meine es seien spielmai'ken — aber darin 
gewiB furchtbar unrecht, wenn irgendwer meint es ware mir je* 
mals eingefallen fiir meine person zu der rbmischen kirche iiber- 
zulaufen — aber wenn dies letztere auch heute noch so gewiB wie 
vor 1848 mir vollstandig gegen die ganze natur anliefe , haben 
doch die eraugnisse seit 1848 mir fiir eine zu grosze reihe von er- 
augnissen des 16 ten jahrhunderts als erschrecklich erlauterndes 
correlat gedient — ich habe den respect vor dem 16 ten jahrh. 
fast ganz au-igezogen — und die impotenten versuche in unserer 
kirche theUs sich in jene abgelegten kleider von neuem zu stecken,. 
theils sich aus dem abgctrageiien trodel neue rdckchen zurecht zu 
flicken, sind fiir mich nichts weuiger als anziehend — wahrend 
ich trotz alles noch in dem alten pallast umziehenden schlechten 
geruches seine fnndamcnte dauerhaft, auch heute dauerhaft und 
alle auf jener seite vorgenommcnen reparaturen fruchtreich sehe> 
Mir fallt es wie gesagt nicht ein in den schlechtriechenden pallast 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 


519 


zu ziehen, ich wiirde nur fiir nieinen theil schlecbten gernch arnten 
obne die mindeste aussicbt, ibn austreiben zu konnen — aber dasz 
statt des alten ti ddels und des neuen flickwerks auf unserer seite 
nicht im ganzen die sebnsucbt erwachst den scblechten geruch 
mit vereinten kraften auszutreiben und die fundamente des kir- 
chengebaudes wider zu gewinnen, dasz zeigt mir dasz icb dock 
stuckweise eine sehr verschiedene seele babe von der, die sicb in 
unserem kirchenleben regt — oder mit anderen worten dasz icb, 
ein wie guter clirist icb auch taglich den lieben gott bitte, dasz 
er niich sein laszen und werden laszen moge , ich doch zu allem 
was jetzt auf unserer seite kirchlicli gescbieht nur eine halbe 
seele babe. — Wie soil ich nun iiber innere mission etwas scbreiben, 
wenn ich einerseits die iiberzeugung babe, sie sei eine verlorene 
sacbe auszer die kirche bemachtige sicb ihrer — und anderer seits 
zu dieser kirche, die sicb ihrer bemiichtigen soil dock selbst nur 
ein halbes herz babe? — Das gebt nicbt! das seben Sie aucb ein. 

— Fragen Sie mich nun was icb denn nun aber unter diesen um- 
standen iiberbaupt wolle — so weisz icb freilicb nicbts zu sagen 
als: anerkennen dasz wir in einem provisorium sind — uns 
nicbt abstrarapeln um dinge, die erst reif werden miiszen — uns 
einstweilen frei machen von blendungen die aus feuersbriinsten 
frliherer zeiten beiTiihren, at»cr festbalten was unser krantz und 
unsere krone ist — abwarten dasz der liebc gott in dem alten 
kircbengobaude mit seinem blitze ein luftlocb scblagt, durcb wel- 
ches der gestank einen ausgang gewinnt und dann frei von den 
alten vorurtbeilen und blendungen in masse einziehen in das ge- 
reinigte haus — nicht aber vorber die notbstalle. zu scbdnen glatten 
hauserii ausbauen, — mir ist gerade die unirte kirche als eine 
solche die nicbt mebr als ein halbes berz verlangt und doch alle 
grundlagen des christentums bewabrt, die rochte fiir mein bediirfniB 

— nicht aber fiir das bedurfnifi der innern mission. Sie ist ein 
nothstall — mebr will ich nicbt; der nothstall aber musz die 
innere mission mebr oder weniger dem subject iiberlaszen — und 
vor diesem subjectiven. undisci plinirten treiben babe ich ein 
grauen 

Was icb Ihnen bier so weitliiufig und wahrscbeinlicb aucb 
langweilig liber den einen punct geschrieben babe — dient balb 
aucb zu dem zweiten. Sie deuten mir an, dasz Sie es gern baben 
wurden, wenn ich vom bistoriscben standpuncte aus Ibren com- 
mentar liber die apocalypse zur hand nahme. Wie gern tbate 
icb es, wenn icb es nur konnte — ich thiite es schon desbalb gern, 
um meine dankbarkeit an den tag zu legen, dasz Sie mir diesen 



520 


N. Bonwetsch, 


theil des neuen testamentes nicht nur moglich sondern lieb ge- 
macht haben. Friiber wo ich von der symbolik dieses buches so 
gar nicbts faszte, machte es mir ein grauen — jetzt ist es mir 
eine tiefe, herrliche, in prachtigstem rythmns sicb bewegende com- 
position — ein scblufistein des nenen testamentes wie es keinen 
berrlickeren geben kann. Das danke ich Ihnen! und namentlich 
dieser zweite theil wider hat mich viel beschaftigt und gestarkt 

— aber es ist nnmoglich ihn in die Land zu nehmen ohne klagen 
und aussichten hinsichtlich der kirche mit in die hand zu nehmen 

— ich miiste heraus, wie es zu Ihrer zeitung schwerlich paBt. wie 
es zu dem provisorinni in dem w i r leben, und in dem wenigstens 
ich iebe, in keiner weise paBt — mit balben worten reden ist das 
schlimmste, auch das gefahrlichste reden in solcnen sacLen — und 
mit ganzen gebt dock wider nicht, weil man in einem provisorium 
weisz. dasz alles nicht provisorisch gefaszte reden vom iibel ist, 
und einem nicht nur selbst scLadet, sondern auch den sachen 
Echadet — ich wiirde es in einiger zeit bitter bereuen und in 
solche lage wollen Sie mich doch selbst nicht fiihren . . . 

In alter liebe und treue H. Leo. 

59 . 

. . Zunachst aber babe ich Ihnen noch meinen dank zu sagen 
tiir den schlusz Ihres coinmcntars iiber die apokalypse — ich babe 
nur zu wiederholen dasz ich Ibnen gewissermaszen die apokalypse 
selbst verdanke . . . 

Sodann schicke ich Ihnen beiliegend das Balzacsche buch — 
ohne referat — zuriick. Ich weisz nicht , was ich mit der dar- 
stellung der heillosigkeit t’ranzosischer landlicher verhaltnisse an- 
fangen soil fiir die evang. kirchenzeitung . . Ich wiirde immer 
dadurch bei der behandlung solcher dinge sebr gehindert sein, 
dasz ich meinen eigentlichen hintersten gedanken nicht preis- 
geben darf . . Der kern desselben ist aber der, dasz bei der 
jetzigen atomisirung der massen, das einzelne glied dieser massen 
nur dann aus eignen geistigen mitteln einigermaszen mit sich i’ertig 
werden kann , wenn es einer bkonomischen stellnng genieszt . die 
ihm musze genug zum denken gewahrt — dieser musze, sich der 
geistigen vorarbeiten der welt in selbstandiger entwicklung zu be- 
machtigen, entbehrt die ganze masze des volkes und diese hat also 
das brod ihres lebens an der autoritat — sowohl in relio-ioser als 
in politischer beziehung — dieser autoritat wird es sich aber nie 
in heilsamer weise fiigen. wenn sie nicht zugleich eine gewusser- 
maszen allgegenwartige wind d. h. wenn die geistige leitung blosz 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. ^ 521 

eine allgemeine kirchJiche nnd politische, nicht eine besondere, 
taglich, jedaugenblicklich zu tage tretende wird, wozu eben mir 
die noth, allmalig und ohne dasz vorher eine agitation hindernd 
dazwiscben tritt, fiihren kann. Solche allgemeine strbmungen kann 
aber nur gott erregen und dirigiren und wir baben an dem von 
ihm gegebenen anzukniipfen. So weit dies die innere mission that 
— d. b. nacb ihrer lebrenden, die berzen ofFnenden seite — ist sie 
mir ganz recbt und berecbtigt — so weit sie aber die notb selbst 
beben will (wie Huber mit seinen friiberen proletariergemeinden 
fur den einzelnen, mit seinen jetzigen proletarierauswanderungen 
fill- die masse), greift sie gerade in das gottlicbe regiment bindernd 
ein. Strenges staats- und kircbenregiment, feste zunftcorpora- 
tionen, die guten seiten der borigkeit wieder aufnebmende polizei 
werden nie zu stande kommen, wenn wir niebt vorber viel, viel 
grbszere noth durchmacben, als wir bis jetzt erlebt baben, 
obne viel reden . . , 

In treuer liebe H. Leo. 

(30. 

Verehrtester freund! 

Sie baben mir eine grosze freude gemacbt durcb Ihren brief, 
durch Ibre biicber — und zum theil dureh die fremden biicber . . 

Von den fremden blicbern schicke icb Ibnen das merziscbe um- 
gehend wider — icb kann mir nicht denken, daB icb und Merz 
zusammenpasseu schon der titel frauenbilder . . iibt auf mich 
die abstoszendste wirkung. Wenn er Sie zur rede stellt, warum 
icb nicht gewollt, so geben Sie ibm folgendes manns b i 1 d : als icb 
ein bursche von 12—14 jabren war, besuchte icb zuweilen im herbst 
einen vetter, einen alten superintendenten, mit dessen sbbnen. Der 
mann batte einen dobnenstrich von 1200 biigeln und 3 vogel- 
beerde, fiir jede sorte wetter einen. Da man um secbs nhr in der 
zugzeit bei gutem winde friib auf dem vogelheerde sein und vor- 
ber die dohnenschneisz absucben muste, damit nicht diebe zu- 
vorkamen, ward friib balb vier geweckt und gegen vier ausmar- 
scbirt. Wir jungen aber waren barenhauter und kamen nicht auf 
den ersten ruf, dann suchte sich der vetter eine lebendige katze 
zu fangen und scbmisz sie uns schlaftrunknen aufs gesicht, von 
wo sie mit ein paar tucbtigen krallen abfubr — ’s war grund- 
urspriinglicbe wildbeit des alten mannes, der ein braunes, haariges 
ansebn batte wie ein seebundsfelliiberzogener reisekoffer und nicht 


1) Vgl. Meine JugenJz^it S. 30. 



522 


N. Bonwetsch 


daran dachte, dasz eine kralle auch ein mal ins auge kommen und 
ein auge kosten konnte ; er liesz es eben bei seinen sohnen und uns 
darauf ankommen — nun schreiben Sie also Merz ein mannsbiM 
was als junge mit der katze geweckt worden sei um in nacht und 
nebel eine dohnenschneisz abzusuchen gebe sick auck wenn es 
spater etwas polirt worden sei dock sein lebtag nickt mit frauen- 
bildern ab, es sei denn um sie zu beiszen oder katzen auf sie 
zu werfen, und da ick dock aus seiner entgegnnng kerausgefiiklt 
katte, dasz er im grunde ein guter kerl sei, woUe ick auck seine 
frauenbilder weder beiszen noch katzen auf sie werfen — er solle 
anderen umgang fiir sie suchen; ick sei zu diiringerwaldsuperin- 
tendentisck grob fiir so zarte wesen. 

Auf Ikre arbeit iiber das hohe lied frene ick mick ganz apart 

— ick koffe und vertraue , Sie gewinnen mir das buck, wie Sie 
mir die apocalypse gewonnen kaben. Bis jetzt wuste ick wenig 
mit dem koken liede anzufangen, und seit ick einmal vor zwanzig 
jakren und langer eine kleine sckrift, ick glaube gar sie war von 
Ewald, dariiber kinuntergewiirgt hake, welcke ein drama daraus 
machte, bin ick dem buche als mir unzuganglicker waare aus dem 
wege gegangen. Ick koffe, „sekr mit Unreckt" — und werde gern 
busze fiir mick mit danke fiir Sie verbinden. 

Tkackeray’s arbeiten werden meine feder nicht in bewegnng 
setzen — vorigen sommer wo ick fiir Sie auf engliscbe romane 
jagd macbte, babe ick unter anderen auch seine sacken a lie ge- 
lesen — babe aber nickts daraus zu machen verstanden, und halte 
ihn fiir ein groszes aber nie zu gedanken gesammeltes talent. Es 
ist natiirliche anlage, die ihn hie und da gates treffen laszt — mit 
der zeit aber wird er vollig flack werden . . Dagegen kbmmt 
jetzt ein neuer roman von Boz (Bleak house) der etwas verspricht 

— verrechne ick mick nickt, so erhalten Sie iiber denselben einen 
artikel so wie iiber Jeremias Gottkelf Zeitgeist und Berner geist. 

Empfekltn Sie mick alien den lieben Ikrigen bestens und ver- 
geszen Sie groszmiittercken nicht. 

In alter treuer liebe Ihr H. Leu. 

Halle 23. 3. 62. 

Da ick aus Ibren auszerungen iiber Copperfield seke, dasz Sie 
selbst dieser art lecture zuweilen einige stunden widmen, will ick 
Sie aufmerksam machen auf Kavenscliff, worin Sie einzelnes ganz 
ansprecliende finden werden. Aber scbeuen Sie die neue von Huber 
geprie^ene scbule, biicher wie Alton locke, Jeast, die Jerroldscben 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 523 


biicher und dergleichen — da verkauft man seine zeit nnr an. 
marternde empfindungen und hochst nnklare argerliche gebilde. 

61. 

. . Was die freimaurer betrifft, so bin ich in der beurtheilung 
der erscheinniig mit Ihnen einverstanden, nicht in der ansiclit vom 
angriff. Ich glanbe man darf sie gar nicht angreifeii von un- 
serer seite — denn einmal thun sie wirklich in gewissem sinn 
niitzliches d. h. sie gewahren einer menge untergeordneten lenten ein 
terran znr befriedigung ihrer ambition, mit der sie sonst bedeu- 
tendere kreise turbiren warden. Sie sind nach dieser seite niitz- 
lich wie die orden d. h. liitschcn fiir grosze kinder — und fiir's 
zweite greifen wir sie scliarf an, so konnen sie leicht der organi- 
sationsstock fiir unsere bosesten feinde in ganz anderem sinne 
werden als sie es bis jetzt sind. Ein wahres leben ist jetzt nicht 
in ihnen — sie sind sammelpuncte grbszesten theils indifferenter 
leute — die allerdings wie jede gesellschaft fiir einzelne momente 
libel influirt werden konnen, aber durch ihre raattheit im ganzen 
und das obsiegende egoistische gefiihl der einzelnen doch fiir alle 
groszere action voUkommen labm sind . und wenn es gelingt auf- 
merksamkeiten und mittel des mittelmannes almalig in anders ge- 
richteter ambition in anspruch zu nehmen. sterben sie von selbst an 
der schwiudsucht. Einer geistigen achtung genieszen sie nicht mehr 
— kein bedeutender mann bekennt sich in ihren bestrebungen — 
sondern alle sagen mit einem verschamten lacheln, dasz sie irei- 
maurer seien. Der kaufmannstand, der niedere beamtenstand und 
gewisse hohere handwerker sind ihre rekrutirungsprovinzen — 
hbchstens noch einige kiinstler. — Laszen Sie das zeug an seiner 
eignen langen weile sterben. Auch ist es in der natur der sache 
liegend dasz in jeder loge, da sie ein terran ist fiir die ambition 
untergeordnete leute, eine entsetzliche menge eifersucht, neid, hasz 
und zwietracht im stillen operirt — dann and wann in lacherlich 
ordinarer art ausbricht und dann wieder in breitgeriihrter biirger- 
licher art blosz iiberkleistert wird. Ein nachhaltiger bedeutender 
angriff' von auszen kbnnte das zeiig auch in sich einiger und 
kraftiger machen . . . 

In alter lieb nnd tren Ihr H. Leo. 

Halle den 3 ten juni 52. 


62. 

Theuerster freund! Dasz Sie sich wiirden in irgend einer 
weise gegen meine auslaszungen erklaren miiszen, habe ich ^vor- 



52i 


X. B o n w e t b c h , 


ausgesehen — doch habe ich Ihre erklarung nocb nicLt za gesiclit 
bekommen . . . Icli karin Ihnen folglich atich im einzelncn Boch 
nicbts iiber Ibre erklaruBg schreiben — und auch. nicbt ob ich mich 
gendthigt erachten werde, Sie um aufnahBie einer gegenerklarung 
zu bitten. Ich besorge indessen nicht, dasz ich in dieser .sache 
ncchmals die feder in dinte dnnken miisze . . . Im allgemeinen 
habe ich zu weiteren auslaszungen nicht die mindeste lust in dieser 
sache — nach dem langen briefe an Krummacher in den letzten 
blattern des volksblattes [s. o. S. 354] wiiste ich meinerseits kaum 
noch etwas zazuf'ugen — fiir das publicum — denn da man nie 
fur ein publicum schreibt, was man sich auslesen kdnnte, sondern 
jedesmal auch eine gute partie rindvieh d. h. s. g. gebildetes pu- 
blicum in den kauf nehmen miiste kann man theils nie rem von 
der leber reden (wenigstens ich nicht) theils musz man das , was 
man sagt um dieses rindviehes willen so verclausuliren, dasz es 
einen am ende stlbst anekelt. Sie werden meinen standpnnct und 
die position die ich in einer gi’enzbnrg gegen das katholische laud 
hin, aber noch auf vollkommen protestantischem grunde genommen 
habe, verstelion und vollkommen erkennen, dasz ich es absichtlich 
vermeide gewisse puncte [amEand; „So zum beispiel kbnnte ich 
alles, was Sie im vorworte iiber die jesuiten, iiber das eigensinnige, 
lieblose verhalten der katholischcn kirche sagen, ebensogut meiner 
iiberzeugung nach geschrieben habcn — aber ich schreibe es .nicht, 
weil Sie und andere es thuo, und ich mir einen andereii bernf ge- 
setzt habe. Ich sehe das als einen wesentlichen mangel und als 
eine armuth in unserer bisherigen prutesiantischen praxis an, dasz 
jeder immer die ganze last schleppt . . Es ist hier wie mit den 
negersclaven in America — wiiren die guten Americaner nicht in 
dem gegensatze gefangen : vollkommener sclav oder vollkommen 
freier mann — hatten .sie neben dem vollkommen als waare gel- 
tenden sklaven eine stufenleiter von sklaven die an die scholle 
gefestet sind und nur mit dieser verkauft werden durfen; dann 
von lenten die so an die scholle gefestet schon des rechtes eigner 
familiengriindung und eigenes vermbgenserworbes sich erfreuen, 
endlich von lenten die personlich schon vollkommen frei ‘^ind, aber 
so lange sie die bestimmte scholle haben gewisse lasten und dienste 
tragen, langst wiire die mehrzahl ihrer sklaven frei, jedesfalles 
waren die greulichsten bilder des sklavenlebens verschwunden und 
die freiheit aller wiire in voller aiibahnung. Der glatte, harte 
gegensatz verdirbt .sie — und so halte ich das wiithen gegen alle 
vorgeschobenen stellungen auf katholischer wie protestantischer 
seite fiir einen wesentlichen mangel"], wo ich der rbmischen kirche 



Der Histoi’iker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 525 


in’s angesicht schlagen rniiste, zu besprechen. Dahin mbcbten mich 
die leute drangen — liesze ich mich dahin driingen , so giibe ich 
aber die stellung und aufgabe selbst anf, die ich mir gewahlt — 
namlich einerseits den batholiken die iiberzeugung zu gewahren, 
dasz sie auf nnserer seite darauf rechnen konneu, einige leute zu 
finden die mit wirklicher liebe und billigkeit selbst ihre schwachen 
seiten betrachten und andrerseits die prt.testanten daran zumabnen, 
welche grosze giiter ihnen die romische kirche auch als vorbild 
vorhalten kann. Dasz der walil dieser stellung und dieser stellung 
selbst bei mir der glaube an eine dereinstige, wahrhaft ka- 
tholische kirche zu grunde liegt. wiszen Sie — ich bin ein mann 
der hoffnung — diese holfnung kann man lacherlich, ja wahn- 
sinnig finden — gut ! ich leide dann an diesem wahnsinn , da er 
mir aber frieden des geistes und gewiszens gewahrt so nehme ich 
ihn als eine zuversicht des glaubens ■ — auch an solche dinge 
die noch nieraand mit augen gesehen hat und von denen kein 
menschlicher verstand sagen kann, wie sie wahr werden sullen. 
Dasz der redacteur der ev. K. Z. jetzt eine solche stellung nicht 
haben und nehmen kann, begreife ich vollkommen — ja! wenn 
Sie sie nehmen woUten, wiirde ich Sie vielleieht abzumahnen fiir 
meine pflicht halten, denn fiir die erfiillung meiner hoffnnngen 
nimmt die ev. K.Z. einen wesentlichen platz darin ein, dasz sie den 
hbhenpunct, den hbchsten hohenpunct des kirchenlebens jeder- 
zeit marliirt, auf welchem die evangelische chrislenhc-it angvkoinmen 
ist, um der erfiillung meiner hoffnungen entgegen zu reifon. Be- 
trachten Sie Ihren weg zwanzig jahre riickwarts, und Sie werden 
mir recht geben, dasz die sache so ist , und iustiactmaBig so ist, 
falls Sie selbst nicht eine wahrhaft katholische kirche der znkunft 
im auge haben sondern eine schon fixirte enge gestalt der christen- 
heit als deren polarsterii zur richte genommen haben sollten. Der 
HErr bewahre Ihnen auch ferner diesen instinct — und wenn ich 
ihn einmal an Ihnen vermiszen sollte, wiirde ich als bettelmann 
zu Ihnen kommen , und 1 hnen denselben anzubetteln suchen. Sie 
miiszen langsam geben , mit dem bewustsein der evangelischen 
christenheit streng schritt halten und als fiiigelmann eben nur 
einen schritt vorhalten , damit sich die linie luich ihnen richten 
kann — ich als laie darf schon den fuseiier spielen und in die 
tirailleurlinie laufen und da auch einige hakenspriinge machen, 
mich auch einmal um sicherer zu schieszen an den boden werfen 
— es thut nichts — ich behalte hochstens einigen koth an den 
kleidern hangen. 

Meine herzlichsten griisze an die Ihrigen — namentlich an 



526 


N. Bon\vetsch, 


Ihre liebe frau und die tapfere grcazmatter. Unser personliches 
verhaltniB . . wird (wenigstens was mich anbetrifFt) durch keine 
erklarung geandert — selbst nicht durch eine vielleicht strenge. 
Ich babe die teste gewiBheit in mir, dasz nm darin eine ande- 
rung zuznlaszen, viel zn viel ewiger boden unter unseren fiiszen 
ist, und wer die krafte die ihm aus diesem ewigen boden anch in 
personlichen verbaltnissen znstromen zwiscben nns vergeszen konnte, 
wtirde wie ich fest glaube bald einige rene empfinden. 

In alter Kebe und treue der Ihrige wie immer H. Leo. 

Halle den 20 ten jan. 1853. 

P. S. Sie danken mir fiir den dritten theil und ich habe Ibnen 
nocb nicbt eiiimal gedankt fur das hohe lied, was meine weibnacbts- 
erquickung gewesen ist. Sie erobern mir ein unzuganglicbes bucb 
der bibel nacb dem anderen. Bisber wuste icb gar nichts mit 
dem bobenliede anzufangen — und wenn es micb nicbt anwiderte 
wie die apocalypse, ebe ich Ihre erklarung gelesen batte, war dies 
nur der fall well die bilder alie mahleriscber , wenn icb so sagen 
.soil lebenslaufiger sind — aber ein verstandniB des bucbes als 
geisteswerk fehlte mir vbllig — nnd nun sehe icb es ist die hocbste 
und kiibnste religiose lyrik, die nocb in eines menschen sinn ge- 
kommen ist. 


63. 

Theuerster freund! 

Icb habe nun das betretfende blatt der ev. k. z. gelesen und 
danke Ihnen znvbrderst fiir die, wie ich anerkenne, ausdriicklich 
anerkenne, wirklich briiderliche weise in der Sie Ihrer pflicht 
geniigt haben obne mir wehe zu tbun. Ich werde keinen anhang 
dazu schreiben. Ich sehe meine gedanken gehen zum theil gauge, 
die so auszerbalb der eingelebten auffaszungen liegen, dasz ich 
dnrch jedes wort weiter das groszere publicum nur noch weiter 
verwirrte . . — iiberdies die hauptsache die ich zu sagen habe, 
habe icb .echon in dem briefe an Krummacher drucken laszen. Ich 
habe fiir Sie nur eine kleine nachlese zu halten , die dann beszer 

1) EKZ. 18-5.3 Sp. 53 if. Ilengstenbeijr woiidet sioh namentlich {regen die 
worte „daB v. ir im Gi'iindc keinen Altar mehr haben“ und dagegen : ,.wir brauclien 
die katholische Kircbe so nothwendig, daC wir obne sie gar nicbt bestelien 
konnteu, daB wir, tveun sie morgen nut ciuem Sebwamme vom Erdboden getvisebt 
ware, kein Vierteljabriiundert uns vor dem Scbicksal bewabren wifrden, entweder 
im Schlamme de.s .^nticliristenfums luitr-rzugehcn oder von den AVinden der Phi- 
losopliie .tN Star.b vpiwt-bt zu werden 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Biiefen an Hengstenberg. 527 


unter uns bleibt. — Ich verdenke Ihnen nickt. dasz Sie sick gegen 
meinen satz wehren, wir katten fast keinen altar mehr — aber 
nnn stellen Sie sick . . dock einen augenblick anf meinen standpunct 
und betrackten Sie sick mit mir die sache, wie Sie znnachst auszer- 
lich rmd dann anck innerlich m i r erscheint — ich glaube Sie 
werden mir dann auch recht geben und mir dann nur sagen, ich 
hatte mich gefahrlich ausgedruckt — dies gebe ich wiederum zn, 
nor, wenn ich die sache offentlich weiter erlauterte und dadurch 
die gefakrlichkeit meiner auszerung in diesem satze aufkobe, wiirde 
die gefakrlichkeit in zehn nebensiitze weichen — sobald man den 
guten willen nicht mitbringt iiber auszernngen nachdenken zn 
wollen, wie sie gemeint sein kbnnen, sondern vielmehr die pra- 
tension der sich auszernde m ii s z e sich nur so auszern, dasz es 
allgemein verstanden werde, sind alle anderen wege als die aus- 
getretenen abgeschnitten. 

Also zunachst auszerlich : — wir haben fast keinen altar mehr 
denn 1. dieser altar ist seeks tage in der woche hinter scklosz 
und riegel — folglick kaben wir nur den siebenten theil nock des 
altars der alten kirche. 2 . unser volk ist so erzogen, dasz es 
anch von diesem siebenten theil wenig sieht — denn wahrend der 
predigt ist nicht der altar sondern die kanzel, wahrend des liedes 
nicht der altar sondern die orgel hauptplatz der kirche und wah- 
rend dem nimmt der altar die stellnng eines menbels im kirchen- 
raum ein. Die liturgie wird ganz nur etwa vun der halben ge- 
meinde gehort, die andere halite sammelt sick wahrend derselben 
und stort die librigen . . Die liturgie wird nickt einmal iiberall 
am altar gehalten — Tholuck z. b. in unserer domkirche, wo ein 
schoner alter altar stekt, tritt dabei an den reformirten tisch 
mitten in der kirche — und endlick uusere liturgie ist unvoll- 
standig, das opfer der encharistie fehlt darin — dieses ist iiber- 
hanpt abhangig von der zufalligen meldung von commnnicanten, 
und wenn es statt iindet, iat es wider eine art subjectives gottes- 
dienstes naeJh den gemeindegottesdienst und von der gemeinde 
lanft alles nack hanse, was nickt entweder selbst commnnicirt oder 
durck zufallige bande den commimicanten verbunden ist. Summa 
es ist uns vom altar nicht der siebente sondern kaum der sieb- 
zigste theil geblieben. Konnen Sie diese thatsacken leugnen? — 
Nnn innerlich 1. wie viele aus den protestantischen gemeinden 
wiszen was der altar ist? diese erkenntniB hangt zusammen mit 
dem wiszen von opfer. In meinem ganzen christlichen religions- 
nnterricht habe ich auszer in andachtigen phrasen oder citirten 
bibelstellen nicht ein wort vom opfer — von diesem mittel- 



328 


N. B o n w e t s c h . 


puncte uiid polarsterne alb-s gottcodienstes — gehdrt. Es wird 
hundei ttuusenden so gegaiigen sein, wie mir — der begrilf des 
opfers ist unter protestanten in einer art verruf — damit aber 
aucb der begriff des altars. 2. das abendmiahl hat sich ganz los- 
getrennt vom gedanken des opfers — ich will nicht blosz von den 
weitaus die mehrzahl bildenden abendmahlsgangern reden, die im 
abendmahl nnr eine moralische feier sehen — sondern selbst die, 
welche eine abnnng haben von der bedeiitung desselben, denken 
dabei hbchstens bei der beichte an ein geben, beim abendmahl 
selbst nur an ein uehmen. Durch die einmengung des popularen, 
greulichen begriffs der materie, der nie und nirgends vor dem 
tiefen gedanken aushalt, ist das rechte verhaltnifi von substantia 
und species ini abendmahl vollig getriibt — die substanz wird den 
meisten zu einem rein geistigen, subjeetiven verhaltnisse, die spe- 
cies reiszt den haupttheil der substanz an sich , die calvinistische 
autfasz'ing ist die herrschende — 99 hunderttheile von denen die 
sich lutherisch bekennen haben nie die energie gehabt diesen ge- 
gedcinkenkreis zu endc zu denken — ich selbst . habe, selbst als 
ich schon nach vielen anderen seiten mit meinem leben mich der 
kirche wider anzuschlieszen die sehnsucht hatte, ■ die lutherische 
lehre gar nicht verstanden, fiir baaren unsinn genommen und nur 
die calvinistische auftaszung zu I'aszen vermocht. Wie mir wird 
es tausend und aber tausend anderen gehen. Wenn es im popu- 
lareii gedanken der katholiken gerade umgekehrt ist und vielmehr 
die substanz den haupttheil der species, zuweilen in greulichster, 
materiellster weise an sich reiszt, so ist wenigstens der katechis- 
mus klar und halt substanz und species in feiner, sachgereehter 
weise zu einander, erst durch den catechismus romanus habe ich 
die lutherische abendmahlslehre begriilen — unsere catechismen 
haben nie zu dieser scharfe hingelangen konnen, weil der deutschen 
sprache ein wort fehlt fiir substanz. — Dieser mangel ist wahr- 
haft funest — man konnte wesenheit dafiir brauchen — aber da 
das wort „wesen“ selbst zum reinen abstractum geworden ist, 
wird das misverstandnih, die gedankendestillation, der mangel an 
concrete!’ auffaszung immer wider hineingreifen in das bekenntnifi 
dasz brot und wein ihrer wesenheit nach der wahre leib und blut 
Christi, derselbe leib und dasselbe blut Christ! seien, welche 
am kreuze geopfert worden. — Dies opi'er am kreutze ist aller- 
dings nur einmal gebracht, und den triiben ausfliiszen aus der 
identification des kreutzesopfers und [1. „mit“] dem opfer der eu- 
charistie in der katholischen theologie das wort zu reden fallt 
mir nicht ein — aber ich muste Ihre eignen auslaszungen fiber 



I)er Ilistoriker Heinrich Leo in seinea Briefen an Hengstenberg. 529 

das (ipfer gar.z inisverstanden habeii, wenn ich von Ibrer seite aaf 
eine vollige opposition stiesze niit meiner bebauptnng dasz die 
encharistie im gedanken des opfers wnrzelt, dasz sie der mittel- 
purct, die sonne des ganzen christlichen gottesdienstes ist — und 
dasz eine, sonnenfinsterniss in diesem eintritt, wenn man jenem 
mittelpuncte das licbt des opfers nimmt. — bTach allem diesen, wo 
ist noch der altar in der protestantischen kirche als in der an- 
dacbt einzelner? — meinetwegen in mancken gegenden recht 
vielt r — Sie konnen aber auch ganze gemeinden, viele gemeinden 
durchgehen, wo nicht einmal die pfarrer etwas vom opfer wiszen 
und wiszen wollen, wo also niemand etwas vom altar weisz — 
und dieser nur eine zierrath, ein meubel in der kirche ist. Und 
ist dieser zustand etwa ohne schuld der kirche? — und nun 
in welchem lichte strahlt das alles in der katholischen kirche? 
taglich ist er zuganglich , dem ganzen gottesdienst ist er mittel- 
punct; mit ausnahme nur dieses dienstes der fur gott an den 
menschen in der predigt verrichtet wird und der also wenigstens 
ebensolcher menschendienst als gottesdienst i.st — dem altar neigt 
sich, sobald die thtiren der kirche offen sind sogar jeder glaubige 
an der kirche voriibergehende — sein dienst wird nicht gestort 
durch gehen und kommen, denn die thiiren klappen nicht well sie 
offen stehen, und um die sitze ist kein wesen, weil keines einen 
fiir sich hat. Nur wo die katholische kirche mit protestantischen 
oder der hauptsache nach verweltlicht katholischen kirchgangem 
behelligt ist, wie in Dre.sden z. b. macht das gehen und kommen 
denselben spectakelhafteu eindruck — sonst, selbst in Deutschland, 
wird niemand gestort — jeder kommt still und kniet wo er kann. 
Protestanten nehmen ein naseriimpfendes argerniss daran, dasz 
die kuchenmagd in die messe am wochent^e mit dem marktkorbe 
kommt und neben demselben niederknieend eine messe hort — mir 
hat das etwas ruhrendes, etwas wahrhaft menschliches. Selbst 
wenn gar kein gottesdienst ist und man betende in katholischen 
kirchen sieht gegen den altar gewendet — fiihlt man noch die 
macht von grundanschauungen , die uns abhanden gekommen 
sind — zwar nicht in der theologie aber in der gemeinde, im 
kirchenleben und auch im kirchenregiment. Ich brauche Ihnen 
nicht erst zu versichem, dasz ich die berechtigung der reformation 
vollstandig anerkenne, und dasz meine ganze opposition darin 
wurzelt, dasz man nicht einfach bei dieser berechtigung stehen 
geblieben ist, und wie die reformation selbst das gefiihl der ein- 
heit der kirche und die sehnsucht nach practischer vereinigung 
^epflegt hat — dasz man von den negationen zumeist aus, die 



530 


N. Bonwetsch, 


jene berechtigung begleiteten, ein neues geschafFen hat, was sich 
seiner natur nach immer tiefer in negationen verwickelt, je writer 
es von der alten kircbe wegstrebt. Dies aber festgestellt : dasz 
ich kein tridentinischer katholik bin noch werde — erlauben Sie 
mir Ihnen zu versichern, dasz ich, wie ich jetzt erst bei weiterem 
nachdenken sehe, gerade dem geiste der andacht der trotz alter 
entstellungen so machtig in der katholischen kirche sich aufiert, 
nnendlich viel zu danken habe. Als ich in Italian war, war ich 
ein ganz lockerer, frivoler bursch — rationalistisch in den spateren 
schuljahren nnd in den universitatsjahren gebildet, zwar noch mit 
alierhand religiosen anwehnngen aus der romantischen schule her 
genahrt, aber im wesentlichen doch c-in antiker heide der spateren 
zeit des alterthums voll sinnlich wnchernder phantasie nnd knnst- 
freade und schlingelhafter abenthenerlicbkeit and romanhaftes 
hasardirens ware ich ohne zweifel ganz ans einander gefahren and 
zu griinde gegangen, wenn nicbt in der katholischen kirche so 
breit in den tag und selbst in die nacbt die andacht hineinreichte. 
Wenn man den tag liber wenig gearbeitet, viel kunstanschauungen 
also sinnliche geistesnahrang in sich bineingesogen, aaf den mahler- 
kneipen den abend tolles zeng geredet und ausgeheckt, nachher 
noch halb voll siiszes weines die abentenerlichsten wagnisse ans- 
gefiihrt Latte — und ich lag dann nachts in meinem bette und 
horte einsame glocken weit iiber die breite stadt her zu mir tbnen 
— wie oft ist mil' da durch solchen klang, den doch nur der 
dienst der nonnen und monche am altar vcranlaszte, das gewiszen 
wider scharf geworden sind mir gute gedanken gekommen. Eine 
zeitlang wohnte ich neben einem nonnenkloster drei treppen hoch, 
von einem gauge des hauses hatte man in den klostergarten sehen 
konnen — der hauseigenthumer muste deshalb nach dieser seite 
den gang durch einen bretterverschlag decken. Mich argferte das 
so, dasz ich nun zam possen auf das flacbe dach stieg, wo ich 
hinabsehen konnte, und den nonnehen alierhand zeichen machte — 
nach ein paar tagen erhielt der vermiether die weisung vom buon 
governo mich anszumiethen und ich selbst die warnung, wenn ich 
nicht ins castell spatzlren wolle, solle ich unfug laszen — und 
wpirend ich so ein ungezogener schlingel war, wie oft doch hat 
mich das horensingen der armen madchen, die ich bei tage argerte, 
des nachts auf meinem lager geruhrt, getrostet, gebeszert. Wie 
olt wenn ich friih, ganz friih mit dem vetturin aus einem kleinen 
neste abfahren sollte, babe ich mich vorher den zur ersten messe 
gehenden angeschloszen nnd da diese wenigstens die so friih 
gott suchen alle andachtige leute waren, hat mich der anblick 



Der Historiker Heinrich Leo in seiuen Briefen an IIen«stcnberg. 531 


ihrer andacht, ihres betens geriihrt und den ganzen tag zn einem 
bcszeren menscben gemacht. Das completoriam der weihnachts- 
nacht horte ich in der kapelle des Qairinal, ich hohnte unter 
meinen lustigen kumpanen liber die lange reihe cardinale die da 
mit ihren rothen kappchen in den cborstiihlen sasz wie eine reihe 
stieglitze nnd Christ. Brentano, den ieh andachtigst knieend sah, 
meinem damaligen taglichen tischgenossen, schnitt ich. als er ein- 
mal aufsah eine hohnische fratze — und eine stunde spater als ich 
in Sta Maria Maggiore die matntina horte und das vom gebirg 
hereingekommene einfache volk in seiner andacht sah. ward mir 
doch selbst so Wunderlich, dasz ich mir eine dunkle ecke suchte 
und selbst mitkniete. Kurz ! ware dieses breite element christ- 
liches wesens, was von allem aus in jede fuge des lebens dringt, 
nicht in Italien gewesen und hatte mich in aller frivolitat doch 
immer wider gefaszt und geriihrt — ich ware vielleicht vbllig 
haltlos in iibermuth und frevel vererzt. — und diesen eindrnck 
hat es auf mich den fremden, den kirchlich getrennten, den frivol 
gestimmten gemacht! — wir haben in der that keine rechte vor- 
stellung wie diese fiille christlicher beziehnngen das katholische 
leben doch durchzieht und belebt. — Auszer dem altar, den man 
uns beschnitten — ist aber unserer kirche auch fast der ganze 
zusammenhang der geschichte durchschnitten — im j. 1543 unter- 
schied sich der lutherische gottesdienst von der katholischen messe 
fast nur dadurch dasz in der liturgie die elevation der hostie 
wegblieb — als kleines kind weisz ich mir meinen vater noch 
bei der abendmahlsliturgie , die vor der predigt war , im weiszen 
cborhemd liber den schwarzen chorrock zu erinnern ^), und die chor- 
knaben zu beiden seiten des altars in weiszen mantelchen die 
sammetnen altar tiichlein halten , dasz von hostie und kelch nicht 
ein broselein, nicht ein trbpfchen verloren giengen — als ich nachher 
in Erfurt mit in katholische kirchen gieng schien mir der unter- 
schied von diesen geringer als von den dortigen lutherischen geist- 
lichen die in periicke und radkrause auftraten. Jetzt ist doch der 
gewohnliche protestantische gottesdienst eigentlich zu etwas einem 
schulredeactus ahnlichen zusammengeschrumpft . . Wollen Sie’s mir 
auch unter vier augen iibel nebmen, wenn ich sage, wir hatten 
fast keinen altar mehr? 

Sie sagen unsere kirche habe herrliches neues — unter an- 
deren ihre theologie, die weit iiber allem stihe, was die katho- 
lische welt aufzuweisen habe. Sie haben recht — nnter an- 

1) Vgl. Meiue Jugendzeit S. 37. 

Kgl. Ges, d. Wiss, Nachrichten. Phi!. -hist. Klasse. Heft 4. 


36 



532 


N. Bonwetsch, 


deren liat unsere kirche auch eine theologie, die weit iiber der 
katholiscken steht — aber daneben zebu andere theologieen die 
weit darunter stehen — oder vielmehr die kirche als solche , als 
kirchenregiment , hat eigentlich gar keine als eine probabilitats- 
theologie, denn sonst hatte sie nicht pfarrer von allerverschie- 
densten richtungen ertragen konnen und ertriige sie noch. Auch 
hat das kirchenregiment um die theologie die Sie und ich ver- 
ehren und als einen preis des HErrn anf unsrer seite betrachten, 
fast gar kein verdienst. Sie ist anf ewigem grande aber mit sub- 
jectiven mitteln erwachsen — weder herr von Altenstein, noch 
Eichhorn noch der oberkirchenrath haben sich darum sehr verdient 
gemacht. 

Was ich damit habe sagen wollen unsere kirche sei eine re- 
publik scheinen sie mir so sehr misverstanden zu haben wie die 
anderen. Der gedanke des bisthums ist monarchisch und dieser 
real gewordene monarchische gedanke stromt monarchische krafte 
aus — der gedanke der s3modalverfassung oder des consistoriums 
ist republicanisch. Das werhaltniss des landesherrn zur kirche bei 
uns ist ein nothbehelf, fiir den wir ‘gott zn danken haben, dasz 
er ihn hat finden laszen (wenn auch anf rechtsverletzender basis) 
denn es ist das letzte endchen monarchic in unserer kirche. Halten 
wir es also zunachst fest bis gott zu beszerem wider hilft. Wenn 
Sie aber das kiinstliche, republicanische, verkriippelte unseres 
kirchenregimentes recht lebhaft fiihlen wollen, so denken Sie sich 
dasselbe gegenuber einem personlichen verhaltnisse. Der katholik 
kann zu dem herzen seines kirchhchen oberen, auch des obersten 
unter diesen oberen, fluchten — er kann seinem bischoffe, er kann 
dem pabste beichten, er kann im zweifel der lehre oder des ge- 
wiszens sich an ihn wenden und hat eine ganze person vor sich 
— thue dock ein protestant etwas ahnliches ! er wind keine person 
finden sondern ein abstractum, eine behorde — an die er schreiben 
musz in officiellen formen. Neben der officiellen form steht aber 
beim bischoff ein ganzer mensch mit einer ganzen verantwort- 
lichkeit vor gott dem hilfesuchenden gegeniiber — nicht ein 
herr oberkirchen- oder consistorialrath mit seiner Vs V’ oder Vio 
verantwortlichkeit (d. h. gar keiner) und seinem gerede von dem, 
was das collegium dazu sagen werde. Bei uns ist leider die un- 
vemunftige aufnahme republicanischer formen schon bis in die 
schnle gedrungen, denn ein rector kann keinen lausejungen fort- 
jagen, keinen guten jungen fiir reif erklaren ohne ein lehrercolle- 
gium, ohne ein collegium was ihm zur seite sitzt ohne dasz er es 
berufen und bestellt hat — kein rector ist mehr auf vertrauen 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 533 

angestellt and ihm die schule za lehen gegeben and kein rector 
hat deshalb eine reine, ungetheilte verantwortlichkeit fur seine 
schule und kann fortgejagt werden, wenn sie in verfall gerath 

— denn er kann ja seine klassenlehrer nicht auf vertrauen an- 
stellen oder fortjagen und musz iiberall gehen am officiellen gangel- 
bande — was hinaufreicht bis oben hin. Nirgends kann ein mensch 
mehr gezwungen werden aus der sache zn handeln, sondern nur 
aus den officiellen abmachungen. Dasz die justizeinrichtung so 
ist, ist begreiflich denn in dieser dreht es sich ja allenthalben nicht 
um etwas ewiges , um eine sache , sondern nm menschliche ab- 
machungen, festsetzungen — aber dasz auch schule und kirche 
und verwaltung von diesem scheuBlichen republikanischen geiste 
durchdrungen sind, ist furchtbar und die revolution wird nicht 
eher vollstandig besiegt, bis dieaer geist wider ausgetrieben ist, 
der immer von neuem repnblik ausathmet. Wenn mir entgegnet 
wird, unsere kirche sei wohl monarchisch, Christas sei ihr hanpt 

— so ist das gerade so, wie wenn morgen nnsre heeresverfaszung 
aufgehoben — die unteren chargen nach einem examen von den 
compagnieen vergeben wiirden oder diese wenigstens gelragt werden 
mtisten und sich die berufung des officiers im wesentlichen auf den 
vorschlag eines examinirten reducirte und dann im ubrigen ein ge- 
misch von anciennitat und meriten die beforderung bestimmte — 

— wenn ich dann iibermorgen sagte, dies heer ist kein monar- 
chisches mehr sondern ein republicanisches — und mir geantwortet 
wiirde — wohl ist es ein monarchisches denn in alien officiers- 
patenten steht dasz sie im namen des konigs ausgefertigt sind, 
und viele von den officieren und gemeinen lieben auch den konig 

— wiirden sie mit der antwort zufrieden sein, wiirde dadurch 
dies biirgerwehrartige republicanische heer zu einem monarchischen 
corpus ? 

Die wiszenschaftliche hoheit und tuchtigkeit, die in der pro- 
testantischen kirche erwachsen ist anzufechten ist mir nie einge- 
fallen. Sie ist unser ruhm; ein gut was uns fiber viele mangel 
trosten musz, die wesentlich darin wurzeln dasz der protestantis- 
mus nach manchen seiten mehr eine theologische als eine religiose 
erscheinung ist. Sie ist unser beruf, unsere welthistorische auf- 
gabe — aber gerade darin ruht auch die nothwendigkeit , dasz 
wenn wir nicht mehr durch eine spannung nach auszen — duvch 
eine spannung die uns an die kirche, an deren einheit, allge- 
meinheit, unbesiegbarkeit erinnerte — zusammen gehalten wiirden 

— wir in zehn theologieen anseinander ffihren, die in der nachsten 
generation zu hundert und in der widernachsten zu tausend 

36* 



534 


N. IS 0 n w e t s c h , 


■wurden. Sowohl das vorbild des katholicismus Bach einigen , als 
das schreckbild desselben nach anderen seiten halt uns allein zu- 
sammen — dariiber ist bei mir kein zweifel. Dasz ich vollkommen 
recht liatte, wurden Sie sehen. wenn wir einmal nur ein jahr ohne 
die katholische kirche neben uns lebten. Dhne die angreifenden 
Oestreicher und Preussen waren in der franzosischen revolution 
nie wirkliche heere ans den aufgebotenen biirgerwebren erwachseu. 
Heute noch ohne die eitelkeit neben und die furcht vor dem aus- 
laude zerfleischte sich Frankreich auf der stelle im inneren. Der 
vergleich hat viel schiefes und hinkendes — aber vvcnn Sie ihn 
unbefangen nehmen wollen auch ciniges wahre. 

Sie mahnen die iiber den mangel des altars redenden iro volks- 
blatte mochten ilin noch nicht mit aller gewiszenhaftigkeit gesucht 
haben. Sie mbgen darin vollkommen recht haben und ich will 
mir die mahnung recht zu herzen nehmen — nur bedenken Sie 
dasz zu jeder personllchen vorrecbnung auch eine personliche 
gegenrechnung gehort — da diese aber in das gebiet der beichte 
hiniibergreift und ich 1 drle, dasz ich kein recht habe , Sie auch 
noch damit zu belastigen und zu langweiien, schliesze ich rait der 
bitte mir auch die sen langen brief zn verzeihen. 

Sleine herzlichsteu empfehlungen an alle die Ihrigen. 

In alter liebe und treue Ihr H. Leo. 

Halle den 28 ten Jan. 53. 


(53. 

Herzlichstcn dank . theuerster freund , flir Hire freundlicbe 
gabe . . Es hat mir die zeit iiber durch die halbe trennung von 
der ev. k. z. ordentlich etwas gefehlt — aber ich denke wir waren 
dariiber stillschweigend in beiderscitigem verstandnisse, dasz ich nach 
dem aufsehen was vorigos jahr meine artikel im volksblatte gemacht 
hatten, zunachst an kirchlichen orten (und dahin ist doch w’ohl die 
ev. kz. zu rechnen) schwieg, bis der rausch der leute einigermaszen 
voriiber ware, und sie sich daran gewohnt hatten, mich in der 
stellung, in der ich bin, zu sehen, ohne micli fiir eincn kryptoka- 
tholiken zu halten. Ich konnte mich in dieser hinsicht . . vollig 
auf Ihren tact in der sache verlaszen, und da ich die iiberzeugung 
hatte, dasz Sie mich zu nehmen wu.sten und mir persiinlich niclit 
groliten, noch mich beargwohnten , liesz ich ruhig die sache an 
mich kommen, ob auch dann und wann eine voriibergehende regung 
in mir kam zu einer auszerung iiber dies oder das in Ihrem blatte. 

Es thut mir nun von herzen leid, dasz ich fiir den moment 
Ihnen nicht s o thatig beispringen kann, wie ich mochte . . Allein 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg, 535 


die bemerkung , dasz nach 1848 allmahlig ein ganz anderes gc- 
schlecht d. h. ein geschlecht mit ganz anderen spaniiungen und 
interessen auf unsere universitat kommt als vor 1848, hat mich 
nachdem ich schon mehrere Jahre iiber meine fanlheit nicht hatte 
berr werden konnen, voriges friihjahr zu dem heroischen ent- 
schlusze vermi cht, alle meine alien collegienhefte in den ofen zu 
schieben. Daraus folgt, dasz ich seitdeni taglich mein pensum 
ganz aus dem frischen fiir meine vorlesungen zu arbeiten habe 
und aus der hand in den mund lebe. Nun hat mich aber iiberdies, 
wie man im gemeinen leben sagt, der narre geritten, so dasz ich 
zu anfange der letzten herbstferien ein ganz neues buch druckeu 
zu laszen angefangen habe . . Endlich kommen noch die prorec- 
toratsgeschalte hinzu und wabrend Pernices abwesenheiten die 
unaufsbhiebbaren curatorialgescbafte — was alles zusammen eine 
arbeitsmasse bildet, die mich mebr schiittelt als ich gedacbt habe 
. . Nebmen Sie deswegen nicht iibel, wenn ich die anzeige „der 
weiten, weiten welt“ ablebne . . . 

Meine scbbnsten griisze an Ibre liebe frau und frau schwieger- 
mutter — und Ihnen alien im neuen jahr gesundheit, woblergehen 
und alles was an leib und seele niitz und gut ist ! 

Halle den 31 ten Dec. 53. Der Ibrige H. Leo. 


64. 

Mein bochverehrter freund! 

illit grbszestem vergniigen bin icb bereit, Ihnen wie bisher 
als treuergebener mitarbeiter zur hand zu sein, nur diirfen die 
sacben . . niir nicht . . eigentliche studien notbig machen. denn 
ich bin eben dabei den zweiten band meiner vorlesungen iiber 
deutsche gescbichte drucken zu laszen, und ohngeachtet icb fiir 
diese vorlesungen meine wirklichen als grundlage habe, macht mir 
die sache im einzelnen dock noch unendliche arbeit . . Es ist un- 
endlich viel fiir deutsche gescbichte in den letzten decennien ge- 
schehen und so anerkeunenswerth im einzelnen, so sehr auf der 
andern seite fast durcbgangig in einem grundverschiedenen sinne 
und in grundverschiedener totalfaszung von der meinigen. Alles 
was volker trennt und bildet ist meiner ausicht nach der gedanke 
gottes — und sogar die sprachen differenzieren sich entschieden 
durch andere faszung des gottesgedankens — fiir so etwas haben 
aber die leute kein interesse die gewbhnlich die deutsche gescbichte 
schreiben. Sie betrachten die nationalitat als etwas hbchst- und 
an sich berechtigtes und schleppen zum theil interessen der neuesten 
zeit gegen lebtnsverfaszung, coelibat, fiir deutsche kaisermacht etc. 



536 


N. Bonwetsch, 


in die alte. Mit jedem schritt weiter nnserer zeit entgegen, trete ich 
in scharferen gegensatz za diesen lenten, ohne mich (wenn ich nicht 
eine bibliothek statt eines baches schreiben will) anf polemik einlaszen 
zn konnen. Da macht mir die nmarbeitnng grosze noth . . . 
Deshalb thut es ndr leid, dasz ich fast zu alien von Ihnen vor- 
geschlagenen thematen nur nein sagen kann. Allerdings ware 
Herder wohl werth gegenstand der abhandlung der ev. kz. zn 
sein. Aber ohngeachtet ich von kindheit anf Herders werke in 
meines vaters nnd dann in meiner matter bibliothek breit vor 
mir habe stehen sehen, babe ich nie den geringsten zug zn diesem 
geiste gehabt nnd alles was ich von ihm gelesen habe beschrank:^ 
sich anf den letzten theil seiner ideen znr philos. der gesch. der 
menschheit . anf den Cid, anf die volkslieder, anf einzelnes aus 
den zerstrenten blattern nnd das biichlein iiber das stadium der 
theologie — aber diese ganze lecture fallt vor das jahr 1816 — ■ 
seit 1816 — also seit 40 jahren habe ich keine zeile von Herder 
wider gelesen. Ich weisz nicht worin diese antipathie bei mir 
eigentlich wurzelt — ich glaube spater hanptsachlich darin dasz 
ich so regelmaszig gebildete jnden and Gervinns. von Herder er- 
baut fand. Ich miiste also nm iiber Herder zn schreiben geradezn 
sein stadium erst vornehmen nnd 40 bande mir nicht sehr an- 
ziehender art erst dnrchlesen. 

Fast ebenso geht es mir mit Jean Panl — ich habe spater 
einmal die flegeljahre wider lesen wollen, es gieng nicht — von 
den blumen frncht and domenstiicken gieng nnr der erste band, and 
das einzige Jean Paulsche buch was ich seit 18*20 ganz wider ge- 
lesen ist Dr. Katzenbergers badereise. ... 

In alter Hebe and treue der Ihrige Leo. 

65. 

Theuerster Ireund! 

Von den vorschlagen, die Sie die giite haben mir zn machen, 
vermag ich nnr anf die schrift des grafen Fiquelmont: iiber die 
religiose seite der orientalischen frage einzugehen. Ich kenne 
zwar deren inhalt nicht — daranf aber kommt es auch wenig an, 
denn ich werde jedenfalls das thema selbststandig faszen, die 
schrift blosz als anlasz nehmen and was iiber diese selbst zu 
sagen ist, ergiebt sich dann leicht nebenher, sie mag einen inhalt 
haben, welchen sie will . . . 

Der schlnsz des semesters hat mir , da ich der meinung bin 
das fundament eines guten verhaltnisses zwischen rector and stu- 
denten bestehe in der frenndliehen gednld, mit welcher der rector 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 537 


ohne pedajitisch an zeitbestimnmng und form zu halten den sta- . 
denten behilflich zu sein sucht, ein seiches iiberlaufenwerden ein- 
getragen dasz iiber acht tage lang an gar keine arbeit zu denken 
war .... 

Haben Sie fiir Eritis sicut deus^) nicht einen besseren refe- 
renten als mich so miiszen Sie mir wenigstens bis zum sommer 
zeit laszen. Ich habe das buch gleich im november gelesen und 
obwohl mich der dritte theil durch seine Eugen-Sue-artige faszung 
sehr abstiesz , doch im ganzen das buch so anziehend gefunden, 
dasz ich hier die leute anstiesz, es zu lesen. Die folge war, dasz 
ich das geschwatz dariiber mit den successiven lesern des buches 
respective leserinnen den ganzen winter nicht los geworden bin; 
es noch einmal lesen muste um diesen an- und nachfragen ge- 
wachsen zu sein — ja! theilweise es dreimal gelesen habe. Im 
augenblick aber ist’s mir nun in folge davon zu viel und das 
thema steht mir zum halse heraus. Ich musz erst einige zeit ruhe 
davon haben . . 

Mich hat das buch nebenbei wunderbar bewegt. Ich habe 
diese hegelingische philosophic und geniusanbetung und vergotte- 
rnng der individuellen kraft durchgelebt in einer zeit, wo alles 
dabei noch unschuldiger war als in der zeit der Tubinger blatter 
— aber einmal habe ich das nachgefiihl davon, dasz nach der 
asthetischen seite allerhand wirklich berechtigte dinge hier in 
siindlicher form und verbindung zu tage gestrebt haben, und so- 
dann liegt in einem mit vollen segeln — und damals glatt, sturm- 
los und bei gutem wetter — durchschifften gewaszer doch auch 
eine masse fortwiihrend reitzender erinnerung, wenn auch spatere 
erfahrungen das triigerische , gefahrliche und verfiihrerisch-ver- 
derbliche dieser gewaszer gezeigt haben. Sie wahlen in mir einen 
gefahrlichen referenten; denn ich werde nur theilweise frisch ein- 
hauen kbnnen, theilweise durch gestalt und minen sehr gefangen 
und gelahmt sein . . . 

In alter liebe und treue der Ihrige H. Leo. 

Halle den 28 ten marz. [1854] 

66 . 

Mein verehrtester freund! 

. . Was Sie iiber Gindely’s buch*) sagen, ist ganz richtig — 
aber dazu ist doch der verf. auch gar nicht verpflichtet seine 

1) Eritis sicut Deus. (Ein anonymer Roman in 3 Banden). Hamburg, 
Agentur des Rauhen Hauses. 1854. 

2) Anton Gindely, Gesch. d. bohm. Briider. I. Prag 1867 ; vgl. EKZ 1857 S. 793 ff. 



538 


K. B o n w e t s e li , 


kirche an den pranger zu stellen — da es sick iibeidies hinsicht- 
lick dieses ersten bandes nicbt um die katholiken, sondern nm die 
ntraquisten bandelt, die eine anzabl der gebrecben der iibrigen 
. . katholiscben kirche nicbt thoilten. Ich glaube gern dasz die 
bohmischen Briider fiir subjective erbaunng viel schones producirt 
baben — aber daran leiden dock alle diese winkelkirchlein, dasz sie 
die subjective erbaunng und die cbristlicb . wabre empfindung des 
einzelnen eigentlich ganz vorwiegend ins auge faszen, und ganz 
vergeszen dasz wenn die allerdings oft einengenden und allerdings 
aucb eigentbiimlichen gebrecben ausgesetzten groszen kirchenver- 
bande ganz gescbwacbt werden, um nur der subjectiven erbauung 
raum zu scbaffen , nicbts die dauer des feuers dieser subjectiven 
erbauung sicbert als das fortwabrende erleiden von verfolgung. 
Es war ja in der altesten kirche ebenso , dasz die verfolgungen. 
die ein wichtiges und wesentliches glied in der okonomie gottes 
waren, immer von neuem die spreu und den waitzen sondern 
niusten. Wo diese verfolgung aufbbrt gebt in kleinen kircblein 
die subjective erbauung in der regel schon in der nachsten gene- 
ration in manier und in der dann folgenden in raucb auf — wah- 
rend eine grosze, allgemeine kirche zwar aucb viel verderben aber 
immer eben durch ibre grosze aucb viel beilkraft in ihrem inneren 
birgt und die gesundeu tbeile weit leicbter gegen die kranken 
reagiren. Mir erscheint desbalb noch beute die lutberiscbe kirche 
als ein wesentUcber tbeil der katholiscben — die romiscbe ist 
krank und die Intheiiscbe ist krank — beide krank seit ihrer 
trennung — aber die reaction der einen 'auf die andere bilft jeder 
von ibnen — wabrend die strong reformirte eigentlich einen 
anderen gott hat, einen allmacbtigen nicbt in dem sinne, dasz 
alle wabre macbt im bimmel und auf erden nur in ihm wurzelt 
und es keine macbt giebt auszer der seinigen — sondern in dem 
ganz abstracten sinne, dasz er alles thun kann, also aucb 
das ungottlicbe, die siinde, denn wenn er nicbt aucb das kbnnte. 
was er nicbt tbun kann, ware er ja nicbt im abstracten sinne all- 
machtig einen aliwdszeuden nicbt in dem sinne, dasz alles wabre 
wiszeu im bimmel und aul erden nur in ibm wurzelt und es kein 
wiszeu und keine wabrbeit giebt auszer der seinigen — sondern 
in dem ganz abstracten sinne, dasz er alles, also aucb alles 
V orber wiszeu und foiglich aa gottes wiszeu ein energiscbes , ini- 
manentes ist, aucb alles vorherbestimmt baben musz, dasz er mit- 
wiszen und also mittbun musz , was er nicbt mitwiszen und mit- 
thun darf namlicb frevel und siinde, wabrend dock bier sein antheil 
nur in d e 1 allgegenwart bestebt, dasz nicbts gescbaffen ist auszer 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 


539 


in gottes ordnung und dasz er so. weil niclits aus seiner ord- 
nung fallen kann, allerdings bei allem dabei ist, ntimlich bei der 
siinde in der gestalt der strafe — so dasz er in seiner ordnung 
allerdings alles begleitet unsichtbar und unbesinnlich wie die 
schwere den kbrper, sogar den teufel in der holle, der ja ganz 
gott verlaszen ware, wenn ihn die strafe vcrliesze. 

Dicse abstracten leute inachen allerdings ibr rechenexempel 
auch fertig , indem sie sagen gott kann alles thnn, er konnte 
auch siinde tkun — ware er niclit zugleick allheilig d. b. wider: 
abstract heilig — er weisz alles und hat alles vorberbestimmt, 
aber auch die freiheit des menschen durcb die dieser ohne dasz 
gott mitbestimmer und mitabfaller ist, auch von ihm abfallen 
kann und wie das abstracte larifari weiter heiszt , was man nur 
naber zu betrachten braucht, um sick zu ilberzeugen , dasz bier 
eine leerbeit der abstraction der anderen aufhelfen soli. — Seit 
mil' dies abstracte giundgcwebe des Calvinismus deutlicb geworden 
ist (und nach einzelnen seiten bin litt ja auch Luther an einem 
abstracten v(er)standeszuge nach dieser seite), ist mir erst die 
lutberisebe kirche (die allerdings vo(n Luthers) im ganzen und 
vollen ricbtig steuernden natur die hauptdirection ei'balten bat) 
<ehr)wurdig und in ihrem basz gegen die roformirten begreidicb 
geworden. Freilicb die deutscben reformirten darf man dabei 
nicbt recbt in's auge faszeu, denn Luthers bestes wesen hat ja 
immer auch sie bis auf einen gewis.-en giad mitgenommen — ob- 
wobl sie fortwabrend die ofl'ene stelle boten wo fjansosiscbe und 
niederlandisch eigentlicb calviniscbe abstractionen leicbt berein- 
zieben konnten. 

Halle 29. 7. 57. . . in alter liebe und treue Ibr H. Leo. 

, 67. 

[Obne Datum, aber Herbst 1857] 
Mein verehrtester freund! 

. . Die evangeliscbe alliance war nun auch da. Der dunst 
isl vor den menschen in die bohe gestiegen — und weiter ists nun 
auch nichts — und so wirds init vielem, vielem anderen auch 
nichts sein. Einige menschen finden durcb solche dinge gelegen- 
heit sicb wichtig zu macben oder wider in erinnerung zu bringen 
— selten zn ihrem vortheil: einige blamiren sicb auch gelegent- 
lich gegen ihren willen. Die waszcr rauschen und rauscben — 
eine welle nach der anderen — der welcher die felsen sprengt, 
die alle diese unrube macben . i:^t noch nicbt gelunden — wirds 



540 


N. Bonwetsch, 


auch so bald nicht warden. Also niutbig vorwarts steurmannf 
noch ist das fahrwaszer breit genug. 

Ich bin in diesen herbstferien anch einmal verreist — oder 
bin eigentlich verreist worden, Meine frau war den sommer ttber 
zn klaglich gewesen ; in ein bad wollte sie nicht wider — sie hat 
nun Kosen, Franzensbad, Karlsbad, Swinemiinde und Warnemiinde 
dnrchprobirt — und es war mit ihr nach jedem bade ebenso wie 
nach der evangelical alliance — es war eben nicbts — sie sperrte 
jedesmal nach der badecur ein vierteljabr lang das fenster der 
erwartnng auf, wie die juden beim gewitter, um den Messias der 
nachwirkungen herein zu laszen — wie es wahrscheinlicb die pro- 
pheten der evangelical alliance anch machen werden — aber es 
war umsonst, es kam nicht. Da wollte sie nicht wider in ein 
bad , sondern sich vier wochen lang von den haussorgen frei ins 
grline setzen, und ich sollte mit. Allein mich vier wochen blosz 
auf die diat der gegend setzen laszen, nicht einmal mit ausrei- 
chender lectiire fiir eine arbeit versehen — und was mich gerade 
in dieser zeit interessirte liesz im voraus nicht ermeszen was alles 
fiir hilfsbiicher ich braucben wiirde — das gieng iiber meine krafte 
— lieber wollte ich vier wochen lang mit dem generals uperinten- 
dent Hoffmann oder dem consistorialrath Eicbter in einem bette 
schlafen — das gieng nicht, da schlug ich ihr eine reise an den 
Bodensee vor. Die gegend von Esslingen ttber TJlm zum Bodensee 
und vom Bodensee nach Augsburg kannte ich noch nicht — ich 
war frtther nur westlicher oder ostlicher durch Sttddeutschland 
passirt, da konnte ich meine terrananschauungen erweitern und 
es interessirte mich Stuttgart, was ich seit 34 jahren, und Mttn- 
chen, was ich seit 33 jahren nicht widergesehen einmal wider zu 
sehen. Die reise war denn auch vom schonsten wetter begleitet 
und meine frau, einen einzigen tag abgerechnet, immer gesund 
auf derselben — so dasz ich sie recht schon nennen wiirde, ware 
mir in Stuttgart und Mttnchen nicht gar zu wehmttthig zu sinne 
gewesen ^). Ich bin dort frtther offer in der armsten und bedriing- 
testen, aber auch hoffuungsreichsten , kecksten und frohlichsten 
zeit meines lebens gewesen, und nun fand ich von alien die ich 
damals gehaszt, geliebt oder auch nur gekannt hatte, keinen mehr. 
In Stuttgart waren alle todt — herr von Soden — die ganze 
V. Hallerische Familie — Boiszerees, geringere leute gar nicht 
zn rechnen. In Mttnchen lebte zwar Niethammer (der reichsrath) 
noch aber schwerlich war er da, sondern auf seinen gfitem, und 


1) Vgl. Br. an Leop. v. Gerlacli, Allg. Kons. MS. 1894 S. 21. 



Der Historiker Heinrirh Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 


541 


■wenn er auch da war, da ich waste, dasz er zu jenen alten tagen 
eine ganz veranderte erscheinung bilden wiirde, babe ich mir lieber 
die miihe nicht gegeben, ihn aufzasQchen. Von all dem jnngen 
mahlervolk mit dem ich mich damals hernmgetrieben, lebt nur noch 
der jetzt alte Rngendas, den ich aber anch gar keinen versuch 
gemacht habe anfzusuchen, denn schwerHch wiirde er sich meiner 
als einer nnr voriibergehenden erscheinung noch erinnert haben 
und im verhaltnisz zn dem jnngen, tollgenialen hause, hiitte ich 
doch nur wahrscheinlich ein altes gewiirm wider gefnnden. Ueber- 
haupt trat mir an statten, die ich so lange nicht gesehen, mein 
eignes alter mit macht entgegen — in der gewohnlichen um- 
gebung kommen alle veranderungen so allmahlich, dasz man gar 
nicht gewahr wird, wie alt man wird. Lasanlx, Ringseis und 
Spruner die ich in Miinchen wirklieh aufsnchte, waren nicht da, 
sondem auf ferienreisen. Kurz ! ich wiirde mich entsetzHch ver- 
waist gefiihlt haben, hatte ich nicht in Stuttgart meinen alten 
freund von Jena und Breslau her, Menzel, gefnnden und in Miin- 
chen meinen alten freund von Heidelberg, Erlangen und Niirnberg 
her, Tucher, und meinen neuen von Halle her, Merkel — so mochte 
es gehen — aber wehmiithige ansatze, mir die widerlichsten von 
alien , lagen doch fortwahrend in meiner seele nur seicht unter 
dem waszer — Dagegen am Bodensee hat es mir prachtig gefallen, 
und vermag ich im nachsten jahre eine arbeit anszofinden, die nur 
einen berechenbaren und nicht zu groszen umfang von biichern 
verlangt, so setze ich mich mit meiner frau die ganzen herbst- 
ferien in das s. g. Schachenbad bei Lindau. Ganz unerwartet 
trafen wir Hubers in Bregenz, die sich diesmal in ahnlicher weise 
da niedergelassen hatten .... 

Einen groszen respect habe ich auch auf der reise wider vor dem 
catholischen clerus bekommen. Ich bin ihm in schaaren auf der 
reise begegnet — denn als ich auf den Bodensee zureiste, naherte 
sich das fest und die grosze procession des heiligen Gebhard in 
Bregenz bereits und als ich vom Bodensee abreiste war eben ein 
erinnernngsfest der zoglinge des Kemptener seminars in Kempten 
geschlf szen , dem an 400 geistliche beigewohnt hatten, die sich 
nun wider zerstreuten. Alle diese geistlichen hatten eine ausge- 
zeichnete haltung — wenn ich auch nur von einem ein unruhiges 
wort, ja nnr eine unruhige bewegung gesehen hatte — iiberall er- 
schienen sie mir als vornehme leute, die sich natiirlicherweise und 
ohne es zu wiszen in alien ihren gliedmaszen in der gewalt haben. 
Und auch das benehmen der laien gegen sie war ein ganz anderes 
als ich es vor einigen dreiszig jahren zu sehen gewohnt war — 



N. Bonwetsch, 


542 


damals setzten sich alle reisenden kaufleute und namentlich alle 
reisenden staatsbeamteste darauf die geistlichen zu necken oder 
mehr oder weniger verdeckt zu verhohnen. Jetzt gieng eine so 
einfache, aiigezwungene acbtung iiberall vor den geistlichen her. 
dasz ich in ihrer gegenwart kein nngntes wort gehbrt habe. Als 
ich einem kaufmann das friiher erlebte erzahlte, schien es ihm un- 
begreiflich — und als ich ihm uni den unterschied der darnaligen 
staatsdiener hervorzuheben erzahlte, dasz im jalire 1816 oder 1817 
(ich weisz nicht mehr genau) in Miinchen eine anzahl sogar schon 
hbherer staatsdiener zum Chaifreitag eiii diner gchalteii bei dem 
sie sich ^ on nakten kellnerinnen batten bedienen laszen, wollte er 
mil- die nur zu sichere sache gar nicht glauben. So ist jene zeit 
wie mit einem schwamme aus dem andenken hinweggewischt. In 
der frauenkirche in Miinchen horte ich ein bruchstiick einer predigt 
iiber die wirkungen des lieiligen geistej, welches gaiiz vortrefflich 
war — und wenn die Miinchner bevolkerung im ganzen auch an 
eigenthiiTpliclikoit und kraft verloren hat, mein altes Munchen auch 
wie mit einem schwamme weggewischt war, und die leute einen 
im ganzen so blasirt und abgetrageii aus ihren augen heraus aii- 
sahen wie alle residenzianer fast Europas , schien doch auch da 
das kircheiibesuchende publicum eine total amlre haltung zu haben 
und eine sonst nicht in Munchen zu findende personliche demuth 
und wirkliclie andacht die leute in und aus der kirche zu geleiten. 
Dies katholische volk ist wirklich in den 33 jahren ein anderes 
geworden in Baiern und Wurtemherg. Dagegen in Konstanz an 
table d’hote traf ich des sonntags vier ehrwiirdige pfarrer von 
Grunau ganz in alter weise — leute ans dem Thurgau mit diekeii 
bauchen, dicken wurstlippt-n und klumpigen nasen, jede handbe- 
wegung gehenlaszende bequemlichkeit , bei tische ohne ende von 
dem apfel- und kartoffelseegen predigend, und nach tische hochst 
gemUthlich die halb durcLgekaute pfeife neben dem kalFe hand- 
habend und die ungeschickten huldigungen ein paar elegant we- 
delnder candidaten annehmend — o wie wiinschte ich unseren pfar- 
reru bischofliche seminare zur zucht und keine weiber, resp. braute 
— deun sie sind ja dock das mark der wedelnden bewegungen der 
herren candidaten. 

Nun habe ich aber mehr als genug geschwatzt! 

in alter liebe und treue H. Leo. 

1) Vgl. Meiiic Jugenclzpit S. 289 f. 



Per Hi'toriker Ileiiiri h Leo in seinen Briefeu an Hensrstenbei" 543 

68 . 

Theuer.^ter freund! 

. . Unsere allgemeinen verhaltnisse sehe ich ohngefahr an wie 
Sie. Was micli dabei am besorgtesten macbt, ist aber nicht irgend 
eine constellation in den oberen regionen , sondei n die erkentniss 
da^z die pccuniaren interessen alles volk lahm legen. Wahrend 
diese interessen in der einen oder anderen weise alles denken ein- 
nehmen, kommen gate gedanken immer nnr stoszweise und oline 
dnrchgreifende wirkung, nnr beunrnhigend an die leute und macben 
sie immer widerwilliger dagegen. Wahrend 48 und folgende jahre 
die pecuniaren intereszen sich bald ganz mit den guten gedanken 
alliierten. Noch bei dem widerstande gegen verwickelung in den 
russischen krieg giengen alle pecuniaren interessen mit den guten 
gedanken. Gothaer und demokraten musten krumm liegen. Jetzt 
wo den leuten der friede so .sicher sclieint, bricht der alte unrath 
unaufbaltsam aus. Die leute der conservativen partei siud noch 
da aber fast alle ohne herz d. h. die vorstellung des conservativen 
hat sich mit der vorstellung der ruhe um jeden preis identificirt, 
und wenn morgen die regierung bei uns die verfaszung mit dem 
fnsze bei seite schiebt und napoloonische wirthschaft einfuhrt 
jauchzt ihr alles entgegen, Der eine hat einen flnszhafen gebaut, 
der anderc eine reibe banplat/.e an sich gebracht, beide brauchen 
um sie nutzbar zu machen die gunst und gewahrung einer reihe 
Gothaer, demokraten, rationalisten etc. - - alle solche noch vor 
zwei jahren trennende unterschiede fallen nun, man geht briider- 
lich arm in arm, hat natUrlich nun nie eigentlich auf die^e unter- 
schiede einen accent gelegt, sondern .sich darin nnr der ordnungs- 
partei accomodirt nun aber ist alles ordnungspartei , da fallen 
der bruder mit dem ordensband und die schwester mit dem leinen- 
mieder einander in die arme — ein dritter will sein gliick bei 
den freimaurern machen, ein vierter braucht ein kapital, was ihm 
ein demokrat bietet — kurz ! wir sind im urbrei . . . Conser- 
vativ ist [in Halle] die ganze stadt d. h .sie schwarmt fur die re- 
giernngsgewalt — aber ob diese napoleonisch oder wie sonst ein- 
gerichtet sei, ist ihr ganz einerlei, wenn nur so lange ihre geld- 
geschafte gut gehen ruhe und ordnung ist. Herr Mammon regiert 
— ware unsre partei nieht dutch den biirgermeister . . geschlagen 
worden, so wiirde sie noch eine zeitlang in wachsendem masze den 
zanber behalten haben . . . Ich klage iiber diese wendung *nicht. 
Ich habe von anfang an gewust, dasz es nur zwei parteien in 
Prenssen giebt — eine die an den lebendigen Gott und eine die 
an den mammon glaubt, und bin eigentlich heilsfroh mit der ersteren 



544 


K. Bonwetsch, 


partei znnachst bankerntt zu macben, und dadurch der langwei- 
ligen and marternden verpflichtung, der letzteren zuzureden, los 
zu sein. [Ygl. Allg. Kons. MS 1894 S. 787 ff.] 

Ihre wiinsche binsichtlich des Strauszischen baches [Hutten] 
kann ich leider nicht erfiiUen . . . Der objective grand aber ist 
der, dasz Sie mich nicht nothigen diirfen aaf solche veranlaszang 
hin wie das bach iiber eine partie der reformationsgeschichte za 
schreiben, weil Sie and andere freande wohl wiszen, dasz ich im 
kerne der sache nicht blosz die vollstiindige berechtigang der re- 
formation, sondern aach die wesentlichen schritte daza von seiten 
der latherischen partei, also namentlich die aagsburgische con- 
fession vollstandig und treu anerkenne — aber andrerseits aach 
dasz ich nicht wie die meisten blind bin fiir die tollen spriinge, 
die nnsre reformatoren auch gemacht haben , dasz ich uberzeugt 
bin, dasz sie an der zerfahrenheit der Sickingenschen partei ihrer- 
seits — und zwar gerade darch das mit schnld tragen, was neaer- 
dings so oft als das eigentliche wesen der reformation gepriesen 
wird. Ich kann nicht blosz bestens acceptiren dasz nns Strausz 
die voUen beweise liefert, dasz Hatten ein genialer wildfang ein 
saufer, hurer und spieler . . gewesen ist — ich kann nicht bestens 
acceptiren, dass es ein gliick war, dasz die reformatoren mit dieser 
rotte der humanisten auseinanderfuhren , ohne auch fiber sie in 
einer weise zu reden die unser protestantischer geistlicher pobel 
nicht im mindesten zu nehmen weisz — wollen Sie mich nun ohne 
noth noch mehr zum popanz werden and Ihr blatt selbst in folge 
^avon verleumden laszen — doch wohl nicht? . . 

Halle 30. 11. 57. In alter liebe und treue H. Leo. 

69. 

Mein alter, theurer Freund! 

Sie schatteln mich mit einem male aus angelsachsischen und 
sanskritischen studien, in denen ich seit September mich dick ein- 
gewickelt hatte, durch Ihren mahnbrief auf, mit welchem gleich- 
zeitig einer von der kreuzzeitung ankam. Ich hatte mir wie 
Odysseus gefahrten beim syrenengesang die ohren mit wachs ver- 
stopft gegen all das klein-argerliche zeug, was in der welt um 
einen herum vorgeht — nun wird mir das wachs mit gewalt aus 
deu ohfen geriszen, und es versteht sich von selbst, dasz ich der 
mahnung folge. 

Sie sollen einen aufsatz von mir haben. Was ffir einen? — 
ich weiB es noch nicht. Ueber Savonarola keinesfalls. Deutsche 
und zumal deutsch-protestantische leute haben ffir die ganz eigen- 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 545 

thumliclie signatur einer italieniscben seele wenig sinn — am we- 
nigsten fiir die sanfte nnd dann wider steif in die bohe fahrende 
mystik einer frommen italieniscben seele, die so liebenswiirdig ist 
in ibrer milden, farbigen pbantasie und so ungescbickt einbilderisch 
nnd eigentlich rob zugreifend so wie sie allgemeine gedanken nnd 
grosze ordnnngen in die hand nebmen will. Icb vermochte nn- 
seren lenten gerade nur das an Savonarola znm bewnstsein zu 
bringen und zum verstandnisse. was mir gar nicbt an ibm gefallt 
— und meinen kleinen, lieben, nervenzarten mbnch mit den kinder- 
augen — der sicb aucb wie ein kind von seinem anhange in die 
politik herein hat scbleppen laszen und dann darin stecken ge- 
blieben ist — den verstanden sie doch nicht. Wie die kinder 
bangens spielen und dann plotzlicb vor bbsen buben, die ihnen 
einen streicb spielen, einen schreck kriegen, davon lanfen und den 
im spiele gehangten wirklich ersticken laszen — so ist im grnnde 
diese ganze gescbichte — so naiv diirfte icb sie ja aber den lenten 
gar nicht darstellen — dafiir hat ja kein menscb bei uns ein ver- 
standniss. 

Icb will mir Vogels arbeit iiber Diocletian . . in diesen feier- 
tagen ansehen und iiberlegen ob icb etwas damit anfangen kann, 
Freilich wohl kaum in dem sinne, den Sie andeuten. Icb begreife, 
dasz Sie, der . . von alien seiten die leute . . gewaltige klagen 
und befiircbtungen iiber kleine dinge aussprecben hbren, am ende 
aicb fortreiszen laszen auch in eine solche besorgliche stimmung 
nnd der meinung werden, man kbnne aucb die leute im allgemeinen 
beroiscb und pbilomartyrisch stimmen. Teuscben Sie sicb nicht ! 
das ist hohler boden. Erstens steht, so viel icb sehe, die sacbe 
nocb gar nicht so uberaus schlimm — falls wir nicbt unsre sub- 
jectiven wiinsche als objective maszstabe betracbten — und dann 
thut nirgends wirkliche demutb mehr noth als in kirchlicben dingen. 
Machen kbnnen wir gar nicbts; das ist des Herren werk und 
seiner wunder. Wenn morgen die Spree austrocknet und Sie alle 
Berliner aufbieteii konnen mit feuereimem und von jedem brunnen 
der guten stadt Berlin zum Spreeufer reihen bilden, die sicb die 
eimer zureichen und sie gieszen tag und nacht ohne nnterlasz aus 
alien brunnen, so bringen Sie nocb nicht einmal eine Spree zu 
stande, wahrend sie jetzt der HErr mit leichtigkeit rinnen und nicbt 
blosz alle brunnen Berlins sondern aller orte am ufer ihres ganzen 
lanfes aus ihr tranken laszt. Machen konnen wir gar nicbts — 
und nun betracbten Sie einmal die situation ganz niichtern — wir 
haben statt eines herren , der beim allerbesten wiUen, doch dem 
kirchlicben leben, wie es nun fiber alle seine erngelebten auffas- 



516 


N. B o n w c t s c L , 


zungen hiiiausgewachsen ist, nur einen herben sclilag nach dem 
anderen versetzt hat, und der wcnn nicht eine machtigere stro- 
mung bereits in den gemiithern ware, eine vollige confusion ver- 
anlaszt baben wiirde — wir haben statt dieses einen herren be- 
kommen, der sick wenig eigentlich urn die kirche bekiimmern, nur 
wo sie ihm hinderlicli zwischen die fiisze kommt, etwas grob zu- 
treten wird , nnd dem deshalb alle grobsinnigen leute im voraus 
zujanchzen. Was ist dabei groszer schade! falls man nicht ge- 
radezu dumme wege einschlagt und absichtlich zwischen die beine 
lauft. Im ganzen wird jedesfalls der gewinn heraus kommen, 
dasz sich die leute iiberzeugen, welch ein schwaches, wetterwen- 
disches, lumpiges ding das subjective christenthum ist, so lange es 
nicht an einem festen kircheninstitut einen rnckhalt hat — und 
das, was ich protestantische kirchenseheu nenne (eine der iiblen 
und giftigen friicbte, die sich der protestantismus von dem hoch- 
gewachsenen baume des hasses gegen Rom gepfliickt hat und 
taglich pfllickt), wird einigen banqueroute machen , wenn man be- 
merkon wird, wie vortrefflich die katholiken solchem herrn und 
seinem anhange gegentiber fahren werden im vergleich mit uns. 
So stark ist aber doch auch wider das lutherische bewustsein in 
Deutschland, dasz es bei diesem banqueroute derer die alien accent 
auf das gottselige subject legen nicht zu grunde gehen kann. Sollte 
die sache wirklich grob werden, so wird man ja sehen iS.'-welche 
dornhecken man mit den fliszen stampft — und Sachsen, 'Mecklen- 
burger, Hannoveraner und Baiern werden sich dann auch riihren 
und die ganze erwartung gothaischer popularitat in dunst und 
ranch aufgehen und damit der hauptfactor der adoptirten deutsehen 
politik. All solch zeug ist jetzt ephtmer — die kirchenspree 
lauft voll waszer und bedarf der feuercimerreihen gar nicht — 
wenn man nur nicht in kindischer ungeduld diese reihen stellt ehe 
sie nothig sincl — wir werden sehen, dasz un^Ve hausbrunnen- 
noch alle aus der kirchenspree getrankt werden — auch werden 
ja grosze politische interessen in bedrauender gestalt gar nicht 
lange auf sich warten laszen und so viel wirklich zu thun machen 
und aus confusion und rathlosigkeit herans noch zehnmal mehr 
arbeit bringen als eigentlich nothig ware, dasz von dieser seite 
alles herumarbeiten an der kirche bald aus den augen verloren 
werden wird. Es wird gar nicht lang danern , so wird in siid- 
deutschen kammern das geschrei nach volksreprasentanten in Frank- 
furt nach einem parlament neben den fiirstlichen gesandtschaften 
von neuem beginnen, und diesmal auch in unserem ahgeordneten- 
hause ein sehr lebhaftes echo finden — ich freue mich schon im 



Der Historiker Heinrich Leo in seineu Briefea an Hengsteiiberg. 547 


voraus auf den spektakel. Pie italienischen geschichten stehen 
hart am rande des losbrechens, und wenn fiir’s erste Napoleon 
auch nnr damit zn spiel en scheint — anderen lenten ist’s bitter 
ernst nnd iiber lang oder kurz wird das spiel mit ziindholzchen 
znr fenersbrunst fiibren. Den Oestreichern aber fehlt ein mittel- 
punct der dnrch kalte entschloszenheit, alter und einfache be- 
scheidenheit so aller zntrauen gefangen halt und alien eifersucht 
entwaffnete wie Radetzky. Auch die freundschaft zwischen Frank- 
reich und England halt nicht lange mehr vor — kurz ! Sie werden 
sehen, ehe jahr und tag um ist, hat man in Berlin viel zn viel 
anderes zu thun, als dasz man an die fatale orthodoxie denken 
diirfte. Wenn sie inzwischen dann auch ein neues ehegesetz machen, 
wenn sie dabei nur, wie nicht anders zu vermuthen ist, die aus- 
hilfe mit civilehe treffen — wird das meiner ansicht nach der 
kirche eher freie bahn machen als sie bedriicken. Honette frauen 
begniigen sich doch nicht mit der civiltrauung, und wenn die 
kirche einstweilen die minder honetten vom abendmahlstische los 
wird — wenigstens ideell los wird (und das letztere auszusprecheu 
kann sie ja kein mensch hindern) ist es eher beszer. — Kurz ! ich 
sehe in der ganzen lage mehr eine probe auf nnsere kirchenzn- 
stande, als eine gefahr fiir dieselben. Wir werden der wahrheit 
und wirklichkeit einmal ins gesicht sehen, nnd das ist uns alien 
beszer und'gesunder, als hocheinhergehendes geschwatz und besonders 
begnadigte einzelne gottseligkeit. Laszen Sie nnr dem Herrn Herm 
freie bahn und glauben Sie nicht die kirche liege gleich in triimmern, 
wenn ein paar kalte blitzschlage auf ihre thurmspitzeu fallen. 
Spielen wir um gottes willen nicht die alberne rolle der franzo- 
sischen protestanten, die, so lange ich denken kann, von verfol- 
gungen geschwatzt hat[!], wenn ihr einige lumpige polizeichicanen 
ab und zu als erinnerung dienten, dasz sie in einem katholischen 
lande etablirt sei.’- Erinnern wir uns, dasz wir in einem ratio- 
nalistischen lande mit unserer kirche etablirt sind, und dasz wir 
auch vor einigem gebrlill und einigen chicanen nicht gleich uns 
als martyrer gebarden diirfen, wenn wir nicht ausgelacht sein 
wollen. Das deutsche reich ist auf die kirche gebaut gewesen nnd 
in eben dem masze aus den fugen gegangen, als die beziehung znr 
kirche gebrochen ward und sich verwiistete. Das preuBische reich 
ist auf das absehen vor aller kirche gebaut — und wird seinen 
character, seine aufgabe und seine gestalt andern miiszen in eben 
dem grade, wie die kirchlichen fragen ernster und ernster in den 
vordergrund treten — es kann an diesem processe auch zu grunde 
gehen — das bedenken Sie! und haben Sie geduld und sehen 

Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 4. 37 



548 


N. Uonwetsch 


Sie diesem groszen welthistorischen proceB nicht aufgeregter zu 
als nothig ist. 

Herziiche griisze an Ihre liebe frau , an die liebe groszniama 
nnd alle die Ihrigen ! 

In alter liebe nnd trene Ihr H. Leo. 

Halle 22 . 10. 58. 


70. 

Verehr tester frennd ! 

. . Von bier babe icb Ibnen im grunde gar nicbts zu berichten. 
Wie viel lowen Tbolnck bereits mit Grerard erlegt hat, ist nocb 
nicbt bekannt geworden. . . Neben Ibrem Ribbeck^j nnd znr re- 
creation von seiner langziebenden breite babe icb eben der konigin 
von Navara Heptameron . . gelesen, und darans geseben, dasz das 
denken, sinnen und selbst die religiosen nnd etbischen gedanken 
dieser leute der reformationszeit in Frankreicb um ein gates theil 
fleischerner, greifbarer und daber derber waren, als das unsrige . . 

In alter liebe nnd trene Ibr H. Leo. 

HaUe 6. 4. 58. 

Wenn docb nur nnsere jungen pfarrer die widerkonft des 
berm vor dem gericht and das mit seinem tausendjabrigen reicbe 
verbundene irdische Zion bei seite laszen wollten. Mir ist dieser 
ganze gedankenzug so innerlicbst fremd and zuwider, dasz mir 
die lente nocb eine kircbenscbeu damit in den leib predigen werden 
— es beriibrt dieser ganze gedankenflng nicbt blosz einige auszen- 
werke, sondem giebt allem sinnen und faszen eine andere farbe — 
und eine mir ganz specifiscb widerwartige. Vor solcbem zeuge 
war man docb so viel icb weisz zu aller zeit in der romiscben 
nnd bisber aucb in der lutberiscben kircbe sicber. Dabei ist die 
ganze wendung so miiszig — und meinem eindruck nacb eine vollig 
erscblaffende pbantasiespielerei, die dem lieben subject wieder ein 
kapellcben nnd altarcben apart in die kircbe zu banen sucbt. Wenn 
die leute docb lieber an die anstreibung des oberkircbenratbes mit 
kircblicben biscbofen, an die neubelebnng des opfergedankens beim 
sacrament des abendmables , an die objective wirknng der sacra- 
mente uberbaupt und dergleicben denken wollten . . 

71. 

Theuerster frennd ! 

Icb will es versucben, Ibren wunscben nacbzukommen, obwobl 

1) Donatus und Augustinus. Elberf. 1858. 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 549 

€s mir eine ziemlich schwierige schiffarth sein wird. Ich sehe 
wohl ein, dasz die ev. kirchenzeitung der zeiterscheinung dieses 
Schillerjubels gerecht zu werden suchen musz. Sie werden es an- 
drerseits natiirlich finden, dasz die ScMllerschen nachkommen und 
was ihnen naher steht, diese dinge mit anderen augen ansehen als 
wir, and dasz sie also leicht dazu kommen eine unmittelbar nach- 
her folgende besprechung in anderem sinne als eine auszerung ha- 
mischer sinnesart zu faszen. Das aber mochte ich nm jeden preis 
vermeiden. Meine mutter war in Rudolstadt vorsteberin eines 
fiirstlichen erziehungsinstituts fiir tochter unbemittelt gestorbener 
fiirstlicher diener, eben solcher pfarrer und schnllehrer, vmd Schillers 
schwiegermutter, frau oberhofmeisterin von Lengefeld war zwanzig 
jahre lang ihre unraittelbare vorgesetzte, bis sie starb und die 
alte fiirstin keine solche mittelperson wider emaunte. So lange 
frau von Schiller lebte, brachte sie alle jahre etwa 5 oder 6 mo- 
nate in Rudolstadt bei ihrer mutter zu; da sie aber nicht bei 
dieser auf dem schlosze wohnen konnte, wohnte sie mit ihren 
kindern in dem institutshause meiner mutter und ich bin so zu 
sagen mit ihren jungeren kindern d. h. den beiden tochtem aufge- 
wachsen, obwohl die altere etwa fiinf jahre alter war. Sie haben 
beide Rudolstadter geheirathet, die altere den hiitteninspector 
Junol, die jungere einen spiel- und scfiulkameraden von mir einen 
herm von Gileicben - Rub warm. So wohl die Schiller als deren 
schwester, frau von Wollzogen, sind mir allezeit sehr freundlich 
gewesen, ihre empfehlungen haben mich so lange sie lebten bei 
einer menge leute eingefiihrt — und Sie werden begreifen, dasz 
ich um jeden preis unter diesen umstanden vermeiden mochte, dasz 
gerade ich diesem familienkreise, so weit er noch am leben ist, 
erschiene als einer der versucht hamischer weise einen bitteren 
tropfen in ihre frcude zu traufeln. Ich musz eben sehen, wie ich 
der sache genug thue und die klippe doch umschiife . . 

In alter liebe und treue der Ihrige H. Leo. 

Halle 16. 11. 59. 

72. 

Verehrtester herr und freund!^) 

Ich incommodire Sie mit einer zuschrift, weil es mir doch 
unrecht scheint, Sie von beziehungen die ich in den letzten mo- 
naten angeknupft habe , oder die vielmehr mit mir angekniipft 


1) Nicht an Hengst., sondern offenbar an Stahl, vgl. Br. 73 — Vgl. dazu 
_Allg. Rons. MS 1894 S. 897 ff. 


37 * 



550 


N. Bonwetsch, 


worden sind, nicht zu nnterrichten, da sie doch irgend eine be- 
dentung auch fur die conservative sache im allgenieinen haben 
werden. Ich hatte gleich anfangs an Sie gescbrieben und mir 
Ihren rath erbeten . hatte ich gewust mit bestimmtheit , wo ich 
Sie suchen sollte. Am besten ist es wobl ich schreibe Ihnen die 
historische entwicklung der ganzen sache. 

Am ende des letzten sommers schrieb mir ein katholischer 
pfarrer, aus Albachten bei Miinster , era gewisser Dr. Michelis 
der schon seit mehreren jahren . . gegen die materialistische auf- 
faszung der natur gekainpft hat . . ; es sei doch ein jammer, dasz 
solche Christen die, positiv glaubig, noch so viele schatze gemeinsam 
zu hiiten hatten, dem gemeinsamen feinde gegeniiber ganz einzeln 
kampfen miisten — wir d. h. glaubige katholiken und glaubige 
protestanten sollten uns doch zusammen findeu, personlich einander 
naber treten und gemeinsam gegen revolution und antichristenthum 
front machen. Mir getiol der gedanke, doch traute ich meinem 
gefiihle nicht allein und sprach mit Merkel. Dieser war der mei- 
nung, weim ein katholis' her pfarrer so scbriebe, ihue cr es keines- 
falls ohne riicksprache, vielleicht im auftrage seines bischofes (vvorin 
er recht hatte), und er rathe mir nicht auf die correspondenz weiter 
einzugehen, da man nie wisze wie man bei katholiken abschneide. 
Diese unbestimmte ai’t mistrauen war mir nun allerdings ganz 
gegen die natur, ja eigentlich innerlichst zuwider; sie eigentlich 
allein (nicht die positivoa reformationswiinsche) hat ja unsere 
kirchentrennung zu einem wabren risz in die nation gemacbt. Ich 
hatte inzwischen auch an prasident von Gerlach geschrieben, und 
von diesetn kam nun die positivste aufforderung ich mbchte ja auf 
die sache eingehen ; es sei schon eine blosze gemeinsame aussprache 
in hoherem wahrhaft katholischen sinne, wie sie hier doch be- 
absichtigt vverde, von hiichsten werthe in unserer zeit. Nun schrieb 
ich also Michelis dasz ich auf seinen gedanken einer conferenz mit 
solchen mannern, die iiber die kirchlichen differenzen hiniiber sich 
im allgemeinen christlichen sinne die hand gegen gemeinsame feinde 
reichen wollten, eingehen wolle, doch wiirde ich von meineu freunden 
wahrscheiulich nicht viele geneigt finden, zunial ich bedenken triige 
preuBische protestantische geistliche dazu aufzufordern, indem sie 
wohl nur, wenn sie in massen beitraten sich nicht allerhand mis- 
liebigkeiten aussetzten. und au m.issen zu denken fehlten mir die 
mittel. Er antwortete sehr erfreut und schrieb dasz Professor 
Perthes in Bonn und Wolfgang Menzel in Stuttgart schon eben- 

1) Spatov Aligeordneter, aueli Ahkatliolik. 



Der Historiker Heiiiricli Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 551 


falls ihre billigang des ganzen gedankens ansgesprochen batten. 
Er woUe nun an alle , die ihm zuganglich seien einladnngen er- 
gehen laszen nnd ihnen vorschlagen. dasz wir kurz nach mitte 
September in Erfurt znsammen kommen wollten. Als mitte Sep- 
tember herankam aber schrieb er mir, es sei gegangen wie mit 
den hochzeitseinladungen im evangelio — so lange er im allge- 
meinen von der sache geschrieben . babe er von alien seiten nur 
billigende, znm tbeil entbnsiastiscbe antworten erbalten , nun er 
zu einem bestimmten tage einlade, babe der das, jener jenes zu 
bestellen nnd niemand babe zeit. Wir miisten die sache aufgeben. 
Icb war nicht so enthusiasinirt dasz icb nicht ziemlich gleichgiltig 
die sache hatte fallen laszen ; da icb aber mit zusammenbringung 
von notizen iiber die friiheren verhaltnisse meiner familie seit 
liingerer Zeit beschaftigt, dafiir nothwendig in Erfurt die alteren 
kirchenbiicher noeh einiger kirchen dnrchzuseben hatte nnd dies 
als die conferenz in vorschlag kam nan mit dieser verbinden wollte, 
gieng icb den 10 ten sept, auf cinige tage nach Erfurt dort dies 
abzumachen. Als icb zuriickkam faud icb wider einen brief von 
lilicheiis vor, es batten nun noch nachtiaglich (fraf Stolberg in 
Eraunau. Dr. Roth von Scbreckensteiii in Niirnberg and einige 
Jiltin.sterer und Paderborner freunde zugesagt nnd so babe er nocb- 
mals an alle geschrieben, ihnen den ‘22ten September bestimmt 
und es moge nun nach Erlurt kommen wer wolle, icb mbge doch 
aucb kommen. Icb schrieb nun noch rascb an Nathusius, Binde- 
wald. V. Grerlach, Ablfeld und meinen vetter generalsup. Leo in 
Rudolsradt. und reiste bin. Von den von mir eingeladenen war 
niemand gekommen als Bindewald — und so sind wir 5 protestan- 
tiscbe laien, 5 katholische laien und 6 kathoiiscbe geistliche bei- 
sammen gewesen — die namhatteren leute darnnter waren graf 
C'ajus von Stolberg. ein Freiherr von Ascbeberg aus dem Olden- 
burgischen. Dr. Michelis aus Miinster, professor Ebelt aus Pader- 
born. Freiherr von Friesen aus Dresden, gebr. Bindewald und 
gebr. Volk. 

Persbnlicb Labe icb den eindruck . dasz alle anwesenden ehr- 
lich und aui'ricbtig bei der sache waren — aber allerdings bat die 
sache dadurch ibre schwierigkeiten, dasz da das uns trennende ge- 
rade auf dem religiosen oder vielmehr kirchlkken gebiete liegt, 
alle positiv religibsen discussionen von den allgemeinen verhand- 
lungvn ausgeschlossen bleiben miiszen — nach der religiosen seite 
miiszen wir uns ganz auf die negative gegen unsere feinde be- 
schranken — im politischen dagegen waren wir, wie es schien, aucb 
positiv voUkommen einig. 



552 


X. Bonwetsch, 


Was mich nun auch abgeselien von dem interesse der neu- 
gierde und experienz bei der sache festhalt, ist, dasz icb im letzten 
jahre inne geworden bin wie erscbrecklich man sich scbritt fiir 
schritt gewohnt hat, revolutionare dinge ganz natiirlich zu finden ; 
wie in ein haus dessen dach kleine locker hat, die fenchtigkeit 
immer tiefer zerstorend in die mauern drrngt, fiihle ich an mir 
selber und anderen diese wirknng des revolutionaren geistes so 
dasz ich ganz dariiber erschrocken bin. Von seiten upserer zeit- 
herigen conservativen parteibildung sehe ich dagegen keine hdfe — ■ 
grade das was die groszeste gefahr bringt, ist nnseren ordinaren 
conservativen gar nicht recht zum bewuBtsein zu bringen und ihre 
interessen haben sich grosztes theils an puren einzelheiten ange- 
hackt, wo sie sich eigensinnig verbittern, schimpfen aber allge- 
meiner auffaszungen kaum fahig sind. Sie toben iiber unbedeu- 
tende einzelheiten, eifem gegen personlichkeiten, aber dabei bleibts^ 
In dieser neuen stromung liegt doch eine erfrischung , schon da- 
dArch dasz es sich hier nicht nm die interessen einzelner land- 
schaften, sondern um deutsche handelt. Zwar haben uns die siid- 
deutscben ganzlich im stiche gelaszen. Roth von Schreckenstein 
hatte bestimmt zugesagt, wollte aber erst noch nach Miinchen 
reisen — wenn er nicht krank geworden ist, wind ihn Bollinger 
wohl zuruckgehalten haben. Denn in der katbolischen kirche ist 
ja auch eine partei, welche von solchem zusammengehen mit pro- 
testanten gar nichts wiszen will. 

Ich schicke Ihnen nun beiliegend das gedruckte ergebniss un- 
serer zusammenkunft. Wir wollen in ditesem spatjahr noch einmal 
eine groszere versamlung versuchen — wollen nun siiddeatsche 
kommen, so wollen wir sie wider in Erfurt, sonst wo moglich in 
Magdeburg halten. Haben Sie die gvite, mich mit Ihrem rath zu 
bedenken und mir Ihre sentiments iiber die sache mitzutheilen, 
falls Sie namlich zeit haben — und wenn Ihnen die sache selbst 
nicht ganz von der hand zu weisen scheint, so kommen Sie doch 
selbst. Ich wiirde Ihnen dann ort und zeit noch naher angeben . . 

Konnen Sie, falls Sie die sache einigermaszen billigen, mir 
nicht nach siiddentschland einige hofthunggebende adressen an- • 
geben? oder selbst leute bewegen dasz sie kommen — namlich 
protestanten und namentlich protestantische geistliche. Eiir die 
batholiken sorgen schon die Munsteraner , denn das hat ja weit 
festeren zusammenhang als wir. Es ist freilich gefabrlich mit 
bairischen protestanten , sie sind meist zu wuthig gegen die ka- 
tholiken als dasz sie zu solchem verkehr wohl zu brauchen waren. 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 553 

Meine besten griisze an Ihre verebrte frau gemahlin und 
Hengstenbergs alle ! 

In alter liebe und treue Ihr H. Leo. 

Halle 2. 10. 60. 


73. 

Theuerster freund! 

Schoftaten dank fiir die beiden zusendungen. Ich werde sehr 
gera die anzeige des Vilmarschen buches*) iibernebinen . . Sie 
nennen das meiste hineinlegung — ich weisz, was Sie damit 
meinen, mochte aber die sache noch anders bezeichnen. Der gro- 
szeste theil der ersten abtheilung des Faust gehort in Gothes 
jimgere jahre, wo er noch kein so durchgegerbter heide war, wie 
spater nachdem classische und pbilosophische studien und nament- 
lich der umgang mit dem weimarischen kreise, namentlich mit 
Herder auf ihn gewirkt batten. Herder namlich, so viel edle ele- 
mente in ihm waren, hat es nie weiter als zu einer vermittelungs- 
theologie gebracht — und bringe man die religion durch philo- 
sophische vermittlungen dem menschen noch so nahe — zuletzt 
bleibt immer eine kluft, die auf diesem wege den menschen yon 
der religion trennt und wenn einer sieht dasz der vermittelnde 
theolog selbst zu geistig hochmiithig ist den sprung zu thun, dasz 
er nie positiv und hart mit gottes wort einherfahrt, wird ihm die 
seele ledern und er halt die theologie selbst nur noch fiir eine 
gebildete spielerei. Sie brauchen nur Gothes briefwechsel mit 
Herder durchzugehen, um sich davon zn iiberzeugen. Ich habe das 
auch Tholnck in beziehung auf sein letztes buch gesagt, mit 
dessen inhalt man ja auch in allem wesentlichen iibereinstimmen 
konnte, wenn er nicht ganz und gar dieser leidigen vermittelungs- 
theologie angehorte, von der sich Tholuck guter friichte riihmt, 
wahrend ihm der schade, der aus dem ganzen weg hervorgeht, 
verborgen bleibt. — Nun also ehe Gothe in dieser vermittelungs- 
gerberei zu einer ledernen seele kam, trug es ein otfner kopf und 
ein otlnes herz auch in den schbpfungen seiner phantasie noch da- 
von — seine seele war noch nicht satt und mancherlei gute sehn- 
suchten trugen ihn. Da hat er instinctmaszig , indem er die ein- 
driicke der ihn in der jugend umgebenden christlichen welt fort- 
wahrend an sich erfuhr, oft richtiges und gutes objectiv geschaffen 

1) Otto Vilmar, Zum Veistandnisse Gothes. Marburg 1860; vgl. KKZ 1860 
Sp. 1113. 

2) Wohl „Die Propheten und die Wcissagungen“, schwerlich die „Vorge- 
schichte des Eationalismus“. 



554 ^ 


N. Bonwetsch 


— und Vilmars hineinlegen findet mir soweit otatt, dasz er Gothe 
ein bewustsein bei diesem guten scbaffen zuschreiben mbchte — 
wahrend Gothe das sicker unbewust passirt ist . . . 

Dasz Sie mich mit heimgangsgedanken ersckrecken, ist reckt 
garstig von Ihnen — dazu ist nock lange nickt zeit nack mensck- 
licker weise zu denken. Gottes gedanken sind freHick oft ganz 
anders, und wir sind beide in ein alter vorgerLickt, wo mit krank- 
heit nickt zn spaszen ist. Laszen Sie es sick aber jedenfalls eine 
mahnung sein, bei zeiten auch darauf zu denken, dasz weun einmal 
gott einen strich mackt, ein ersatz da ist. Dieser gedanke ist bei 
mir eiu kauptgfund des zurlickziekens vom volksblatte gewesen 

— die uns zunackst folgende, etwa 30 jakre jiingere generation 
kat es sick zeitker viel zu bequem gemackt. Unsereins kat sick 
vom 20 ten jakre an, selbst durck viele misgriffe und blamiruiigen 
hindurck kerumgeschlagen und die junge generation kat die ganze 
zeit iiber mit wenigen ausnakinen das maul aufgesperrt und bildet 
sick ein ikr pelz bekomme unaustilgbare flecken, vvenn sie einmal 
quer in die welt kineinfdhre. Man musz die sicheren jungen zwingen 
auck etwas zu wagen und auck einmal uuter die traufe zu treten, 
wenn’s regnet . . . 

Hinsichtlick der katkoliken kabe ick Stabl bereits geschrieben, 
dasz ick seinen griindeu die ehre gebe und mick bei zusammen- 
kiiiiftea vor der band nickt weiter betheiJigen werde . . Uebrigens 
haben Sie, in dem man sofort den abgesckloszenen tkeologen sick 
gegeniiber sieht , eine ganz andere stellung den leuten gegeniiber. 
Mir kaben sie sick, auck die geistlicken, fast alle imbefangen 
menscklick gegeniiber ge^^tellt, so dasz ick mit ihnen auck iiber 
nnsre gegenseitigen kirckenverbaltnisse ganz frei kabe sprecken 
konnen — wobei ick freilich auck wiederum anders steke als sie, 
denn ineines eracktens ist unsere lutkcriscke kircke eine bereck- 
tigte rebellenkirche, wie die brabantiscke landsckaft eine berech- 
tigte rebellenlandsckaft war so oft der kerzog die jageuse entree 
gebrocken und sie ibn deskalb aus dem lanJe getrieben batten, 
aber dock nickt leugnen konnten, dasz . . es duck ikr kerzog 
sei und sie einen andereu gar nickt kaben konnten. Es giebt nur 
eine kircke Ckristi und die ist keine unsicktbaie , die romiseke 
ist der recktsverletzende kerzog und wir sind die recktsvertkeidi- 
gende rebellenlandsckafL in dieser kircke — aber das kebt nickt 
anf, dasz die rbmiscke kircke dock die kircke auch bieibt. 

Halle 12. 10, GO. In alter liebe und treue Ikr H. Leo 


1; Von do;; 'eu i... YoItiMa.t fur Staut und Laud. 



Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Hengstenberg. 


ooo 


74 . 

Mein theurer Hengstenberg! 

Sie treiFen es diesmal recht schlecht uiit Ihren wiinschen. dooh 
ganz im stiche laszen wind Sie aucli diesmal Ihr bullenbeiszer (so 
hat mich ja . . heir Schneckenburger einnial charakterisirt) keines- 
weges. 

Auf die vun Ihnen vorgeschlageneu theinata einzugehen. trage 
ich allerdings groszes bedenken . . vor alien dingen well icu jetzt 
uin jeden preis spectakel vermeiden mocbte . . 

Dagegen schlage ich Ilmen vor, Ihnen einen artikel iiber tra- 
dition zu liefern. Ich babe mich die letzten jahre iiber viel mit 
gedanken dariiber herumgeschlugen . . Ich werde natiirlich den 
aufsatz allgemein halten und nicht direct auf die controverse 
zwischen protestanten imd katholiken eingehen , indessen indirect 
wird er dieselbe dock auch trelfen . . Spectakel holFe ich dabei 
gllicklich zu umschifl'eu , cbwohl ich voraussehe dasz ich manchen 
lenten, namentlich alien streng reformirteu und selbst mehreren 
hiesigen geiehiten vermittelungstheologen manches tirgerniB be- 
reiten werde. 

. . Von der prachtigen stiminung der letzten pastorejicoiite- 
renzen in Berlin hat mir schon Ahrendts . . bericbtet. Es that 
mir leid, dasz ich nicht selbst da war, aber so large die dinge 
sind wie jetzt, bringea mica so lange ich es menschlieher weise 
vermeiden kann, zean pferdekrafte nicht nach Berlin — es sei 
dean in der zeit. wo alle welt im bade und au;' reiseii ist . . . 

In alter iiebe und treue Ihr H. Leo. 

Halle zl, 6. (il. 


to. 

Theuerster freund ! 

Nachdem ich mir die von Ihnen vorgeschlagenen themata uaher 
betrachtet . . h»be ich mich fiir das, was ich gleich aniangs mir 
als das convenirendste herausliihlte, entscbicden, -namlich iiir Scho- 
penhauer. Ich bin Ihnen dankbar dafiir, dasz Sie die veraalaszung 
geworden sind nieiner naheren bekanntscnatt mit den schriiten 
dieses mannes, der alleidings darin, dasz er den Irevel gegen die 
sprache begieng, das wort wille, welches so viel ich weisz keine 
sprache auf die ohne intellectuelle motive statt habenden hundlungen 
ausdehnte (am wenigsten auf den drang und die nothwendigkeit 
in der natur) , zu einem so allgemeineu, abstrakten begriii auszu- 
dehnen, sich auch das auge vbllig triibte fur ethische aullaszungen, 
aber trotz dera darin weit iiber millionen unserer zeitgenoc.zen 



556 


N. Bonwetsch, 


steht dasz er die abhangigkeit der erkenntniB vom willen klar 
ins auge faszte. Es ist das ein znsammentreiFen mit einer der 
tiefsten vom chrisfcenthum offenbarten wahrlieiten (se jemand will 
des willen than, der wirdinne werden, ob diese lehre von 
Gott sei. Oder ob ich von mir selber rede). Die Scbopenhauersche 
lehre vom cbristlichen standpuncte aus iiberhaupt preisen, kann 
natiirlich niemand — aber dem manne gerecht werden und zeigen 
dasz der cbrist anch von ihm vieles lernen konne, das geht — 
zeigen dasz jede zeit, in dem was als nnkraut in ihr anfzuwachsen 
scheint, oft anch grosze heilkrafte producirt, das scheint mir sogar 
pflicht, und wenn der arme kerl einerseits ein recht scharfes bild 
gewahrt, was eine zeit die im leben das christenthum verloren hat 
{wie Schopenhauers bildnngszeit wirklich war — nnd es ist ja 
anch in hohem grade noch unsre eigne bildnngszeit) anch aus be- 
gabtcn menschen fiir carricaturen macht, so geht andrerseits seine 
erkenntnifi oft haarscharf an christlicher erkenntniB hin — den 
zu bekehren getrante ich mir, wenn er noch lebte. Allerdings hat 
er den egoismus scharf erkannt, und ihm nicht blosz eine breite, 
vielleicht zu breite seite in seiner Weltanschauung geoifnet — aber 
das ist einerseits nur die folge seines misbrauches mit dem be- 
griffe des willens, der ihn dahin bi’achte nur die negative seite 
des wollens nicht die gottliche, p os i t iv e seite desselben recht 
zu erkennen — andrerseits, war doch alles was grosz and schon 
im menschenleben ist dem interesselosen denken vindicirt und dies 
selbst als die hochste leistung des menschen erkannt — wer 
schreiben kann : „der gate character lebt in einer seinem wesen 
homogenen auszenwelt: die anderen sind ihm kein nicht -ich, 
sondem ich- n o ch- einmal. Daher ist sein urspriingliches ver- 
haltniB ein zu einem jeden befreundetes ; er fvihlt sich alien wesen im 
inneren verwandt, nimmt unmittelbaren theil an ihrem wohl und 
wehe, und setzt mit zuversicht dieselbe theilnahme bei ihnen vor- 
aus. Hieraus erwachst dertiefefriede seines inneren, 
und jene getroste, beruhigte, zufriedpne stimmung, 
vermoge welcher in seiner nahe jedem wohl wird“ — 
der braucht nur einen kleinen schritt zu thun, um zu erkennen 
dasz die sunde darin ihre schrecklichste seite hat, dasz sie die 
heilsthat dessen, der in wahrheit nur aller heil suchte, theilweise 
vemichtet und dessen leiden nnd schmerzen nnd sorgen um den 
sunder fruchtlos also zum quell des tiefsten schmerzes macht. 

. . Was ich schreibe wird der ausdruck eines tiefen, tiefen 
mitleides sein mit einem manne, der an so vielen puncten so treff- 
lich beobachtet, so klar seine gedanken gesammelt hat. dasz die 



Der Historiker Heinrich Ijeo in seinen Briefen an Hengstenberg. 557 


carricatur die er ntm darstellt ein jammer ist anbetrachtlich, dasz 
ihm so wenig, wenig fehlte um die carricatur in ein vortreffliches 
werk zu verwandeln; — wird weiter die ermahnung sein, auch 
hier alles zu priifen nnd das gute zu behalten, und sich iiberhaupt 
nicht auf zu engem boden zu beschranken, gerade weil das christen- 
thum bei dem festen standpuncte, den es selbst gewahrt, das 
ausstrecken der geistigen fiihlfaden und interessen uber alle er- 
scheinungen der geisteswelt zolaszt wie nichts anderes. „Es ist 
alles Euer ! “ 

In alter Hebe und treue Ihr H. Leo. 

Halle 9. 8. 62. 


76. 

Mein hochverehrtester freund ! 

. . an gutem willen Ihnen beizustehen feblt es mir in keiner 
weise — aber leider auf Renan babe ich, studentisch zu reden, 
kein fiducit. Diese ganze litteratur, Straus z und Renan einge- 
schloszen, babe icb allezeit als micb gar nicbts angebend betracbtet. 
Die tbatsacbe, dasz das cbristentbum nnd mit solcber gewalt, 
dasz selbst seine gegner nur aus dessen brocken ihr leben fristen, 
in der welt ist, ixberhebt micb aller kritik seiner quellen und der 
anfechter derselben. Ich bin nach dieser seite vollstandig katholik 

die kirche hat den canon des neuen testaments anerkannt, 

er ist ibre tradition und ihr fundament — w e r die einzelnen 
st«ine zu diesem fundament geliefert hat, ist mir, der tbatsacbe 
selbst gegenuber, gleich null. Ich babe micb daher um diese for- 
schungen nie bekiimmert und wiirde mogHcherweise wenn ich micb 
so ex abrupto auf die syrische dorfgeschichte des Herrn Renan 
wiirfe, vieHeicbt sehr ungewaschenes zeug zum vorscbein bringen. 
Meiner ansicht des wesens der sprachen nach musz scbon der um- 
stand, dasz die e.vangeHsche geschichte in anderer sprache ge- 
schrieben als gelebt ist, die autoritat der schriften des neuen 
testamentes selbst vor der autoritat, die ihnen die tradition der 
kirche verleiht, zurucktreten laszen; und scbwerlicb wiirdea Sie 
gerade an meiner auffaszung der inspiration groszes gefallen baben. 

Ich bin sehr gem zu anderen geeigneten themen geneigt — 
aber anzngeben wiiste ich Ihnen zunachst selbst nichts . . Die 
trockenheit der beschaftignng der letzten fiinf vierteljahre von 
der ich immer mehr absorbirt worden bin mit allem sinnen und 
denken mag daran schnld sein. Ich bin beim 4 ten bande meiner 
deutschen geschichte — und da mir aufgefallen war, wie aller 
der jammer von dem die deutschen historiker hinsichtlich des s. g. 



558 


N. B o n \v e t s c h , 


interregnum iiberflieszen, doch eigentlich grnndlos ist, bin ich daran 
gegangen . . eine iibersicht aller dynastischen und dynastenabn- 
licben familien und gebiete, sammt den bedeuteren geistlicben und 
stadtgebieten zu arbeiten vom 13 ten jahrhundert an bis ins 17 te 
jahrbundert — jetzt stecke ich in Rhein-Franken . . Dergleichen 
genealogisch-geographische studien . . setzen einen auf die dauer 
in einen zustand, wie wenn man starke cig'arren raucht — der 
geiat wird wie in einei- mittelalterlichen wolke gefangen, durcb die 
hindnrch das wirkliche umgebende leben sicli nur nocb wie ein 
traumbild ausnimmt . . Kaiim dasz die groszen , iriscben schlage 
unseres sieges mich einmal ani stunden auf den boden , unserer 
zeit mit festeren berzschlagen springen laszen — die vielen eitel- 
keiten. die sich auch da iiberall anhangen, laszen mich immer bald 
wider ins 13 te llte jahrh. zariiekspringen, wo es freilich an eitel- 
keiten auch gewimmelt haben wird, von denen aber doch in den 
urknnden nicht viel zu tage kbinmt, sondern mehr die bittei e geld- 
und andere noth. 

Dasz Sie mit der auswahl eines arbeiters liber Dollinger be- 
hutsam zawerke gehen, finde ich sehr rathlich. Vor allem mliste 
er etwas tiefer in die katholischen kreise selbst hineinsehen. Del- 
lingers treunde sind durch den klerns von ziemlich ganz Deutsch- 
land verbreitec, biideii eine ziemlich zusammenhitngende partei, in 
der sich treibende krafte riihren — von der vorsicht aber und 
riicksichtsvollen taetik dieser leute unter einander und gegen die 
ihnen gegeniiberstehende partei haben wir unbefangener uns geh'en 
laszcnden protestanten doch keine rechte vorstelluug, ebenso wenig 
wie von ihiem concentrirfcen, gerade durch die wachsamkeit con- 
centrirten eifer — niir scheint, es bereiten sich, noch vom boden 
bedeckt, grosze processe vor in der katholischen kirche . . . Es 
Sind alles dinge, die an sehr feinen faden verlaufen. und die man 
eigentlich sich scheuen muste durch fremdheriges dazwischentappen 
zu storeii. So lange der jetzige papst lebt, werden diese dinge 
schwerlich zu klaier einsicht zu bringen sein 

In alter liebe und treue der Ihrio-e H Leo 

Halle 21. 7. 64, 

77. 

Mein theuerster Freund! 

Es hat mil uuendlich leid gethan . Sie diesmal , seit dreibig 
Jahren das ei sternal, trotzdem daB ich in Berlin war, nicht ge~ 
sprochen zu hal)en. Ich ware den Donnerstag Abend, da ich weifi, 
dab da Luchsei bei Ihuen zu sein pflegt, und Sie also doch einmal 



559 


Der Historiker Heinrich Leo in seinen Briefen an Henqstenberg. 

nicht bei der Arbeit sitzen, auch ohne Einladtmg za Ihnen ge- 
kommeii, aber Bismarck hatte mich schon zwei Tage voiber zum 
diner d. b. nacb unserer diiringiscben Redeweise zum Abendessen, 
uamlich um 6 TJhr Abends einladen lassen, und war dann noch 
iiberdies einige Zeit langer bei Seiner Majestat, so daG wir erst 
6‘/4 zu Tische und zn spat davon wegkamen, als da6 ich nock 
unternommen hatte zu Ihnen zn kommen. 

[Behandelt Hallesche Facultatssachen] . . . solch Professoren- 
Handwerksgezank ist mir greulich — und macht unsere Universi- 
taten beim Publicum . . nur lacherlich . . 

■ ■ In alter Liebe und Treue Ihr Dr. Leo ^). 


1) Unter dem 16. Febr. 1663 soiireibt Loo; „Tbenerster Freund! Ich babe 
mich beeilt, Hire Wiinscbe sowcit meine Scliwacbbeit es znlaBt, zn crtullen. Konnen 
Sie die Sacbe nicht branclien, so werfen Sie sie in den l’apierkorb.'‘ l>er Anfsatz 
„Ueligion, Tbeologie und IIumanismiis“ ist am 11. u 16. Marz 1666 Sp. 241 tf. 
265 ff. in der EKZ. erschienen. 


Die Bi'iete Leos sind der Sammlung der Briefe an Hengsten- 
berg entnommen. Die Direktion der Koniglichen Bibliothek in 
Berlin hat die sehr groBe Giite gehabt, mir die Correspondenz 
Hengstenbergs lange Zeit hindurch zur Benutzung in der Got- 
tinger Bibliothek zu iiberlassen. Warmen Dank dafiir mogen 
diese Zeilen ihr aussprecben. 



Nochmals Platos Lysis. 

Von 

Max Pohlenz. 

Vorgelegt in der Sitzung vora 9. Juiri 1917. 

H. V. Ainim liatte sich in seinem Werke ^Platos Jugenddialoge 
und die Entstehungszeit des Phaidros* bei der Polemik gegen die 
genetische AufFassung von Platos Philosophie fast ausschlieBlich 
gegen mein Bach „Au8 Platos Werdezeit“ gewendet. Das zwang 
mich in einer Rezension der GGA. 1916, S. 252 5“. meine Stellang 
za seinen Aasfiihrungen darzulegen. Gegen diese Rezension hat 
.V. Arnim jetzt einen Anfsatz „Platos Lysis“ (Rhein. Mas. 1916, 
S. 364) gerichtet. Zu dem gereizten Ton, in dem dieser gehalten 
ist, glaube ich durch die Form meiner Kritik keinen AnlaB geboten 
za haben. Wer meine Rezension gelesen hat, wird wohl erstaant 
sein bei v. Arnim S. 372 die Anschauang zu findeu, er habe ,;den 
heftigen Zorn .seines Gegners erregt“. Vielleicht wird er es auch 
bedaaern, wenn ein Mann wie v. Arnim sich in einer wissenschait- 
lichen Polemik den Blick soweit truben laBt, da6 er die Aaffassang 
seines „ Gegners “ in ganz entstellendem Lichte sieht und daraaf- 
hin einen Ausfall wie den folgenden fiir angebracht halt : „Erklart 
sich der Zorn vielleicht daraus, daB gerade diese Ansicht, man 
liebe einen Menschen nur, wenn and solange man etwas von ihm 
wolle, meinem Gegner ebenso sympathisch wie mir unsympathisch 
ist?“ Ich gedenke nicht in diesem Tone zu antworten, beabsichtige 
aach nicht noch einmal den ganzen Lysis durchzusprechen, uber- 
lasse es vielmehr den Mitforschern an der Hand des Platotextes 
sich selbst ihr Urteil zu bilden. Doch halte ich es fur meine Pflicht 
auszusprechen , daB in einem wichtigen Punkte mich v. Arnims 
Polemik iiberzeugt hat ; andrerseits hoffe ich der Sache za dienen, 
wenn ich durch eine eingehende Interpretation einzelner Abschnitte 



Nochmals Plafos Lysis. 561 

genaner begrunde, warum ich seine Gesamtauffassung des Dialoges 
nach wie vor fiir unrichtig halte. 

Nach einem kurzen Vorgespriich, das nur den Zweck hat die 
Yield eutigkeit des Wortes ytXo? vor Augen zu fuhren, behandelt 
Sokrates im Hauptgesprach mit Lysis znnachst die Frage, zwischen 
wem (piXia bestehe (213 d— 216 e). Es zeigt sick dabei: 

a. Freundschaft kann nicht zwischen ojtowt bestehen, 
a) nicht zwischen Schlechten, 

P) aber auch nicht zwischen Guten, da die Guten als Gute 
auTdpxstc sind und keinen Freund brauchen, 

b. ebensowenig aber zwischen svavcto'.; 

c. danach bleibt nur iibrig : tio dYaS-«j) dpa i6 p.T(ts aYa&ov 

xaxov [J.6yq) govov anp-Paivst ffitXov (216 e). 

Da6 das Ergebnis ernst gemeint ist, la6t sich schlechterdings nicht 
bezweifeln und ist auch von v. Arnim zngestanden (Jugendd, S. 49). 
Erreicht ist es durch einen mehrgliedrigen Gedankengang, in dem 
kein Glied entbehrlich ist, auch bei kcinem Gliede von Plato an- 
gedeutet wind, dafi es anders zu beurteilen sei als die iibrigen. 
Trotzdem behauptet v. Amim fiir eins dieser Glieder] (ap), es sei 
nicht ernst gemeint. Nur als Antilogiker stelle Plato den Satz 
auf, zwischen den Guten als Guten bestehe keine Freundschaft; 
in Wirklichkeit stehe er auf dem entgegengesetzten Standpunkt, 
ja er lasse sogar nur die Freundschaft der Guten als wahre, voU- 
kommene Freundschaft gelten, neben der die im SchluBergebnis 
anerkannte Freundschaft der neutralen Menschen zum Guten nur 
eine niedere Stufe darstelle. Da6 gegen diese Auffassung der 
gauze Aufbau des Abschnittes spricht, bedarf keines Wortes. 
Plato hatte in diesem FaUe nicht bloB den Leser bewuBt irre- 
gefiihrt — das konnte man zur Not noch hinnehmen, wenn nach- 
her die geniigende Anfklarung erfolgte — , sondern er hatte auch 
das SchluBergebnis, das er ernsthaft vortragt, durch TrugschluB 
erscblichen. Denn sobald ein Glied des Beweises fehlt, stiirzt der 
ganze Bau zusammen. Was Plato aber zu solchem Verfahren 
veranlaBt haben sollte, ist unerfindlich. 

Hatte Plato den Satz, dafi die Guten als Gute aotapxsi? sind 
und deshalb keinen Freund brauchen, nur als Antilogiker aufge- 
stellt, so diirften wir nach seinen Gepflogenheiten wohl auch eine 
Andeutung dariiber erwarten, worin die Unhaltbarkeit dieses Satzes 
liege. Tatsachlich gibt er nicht den kleinsten Fingerzeig dafiir 
DaB aber ein solcher nicht uberfliissig gewesen ware, kann uns 
Aristoteles zeigen, der das angebliche Paradoxon Nik. Eth. IX, 9 
sehr ernst nimmt und einer ausfuhrlichen Widerlegung fiir wert halt. 



562 


Max Pohlenz, 


Ob Aristoteles bei den Vertretern dieses Satzes, die er be- 
kampft, speziell an Plato denbt, bleibe dahingestellt ; jedenfalls 
diirfen wir ans nicht mit v. Arnim Jngendd. S. 46 anf ihn berufen 
and aus seiner Ansicht Riickschliisse anf die Platos ziehen. Von 
den beiden Stellen aus Platos eignen Werken, anf die v. A. dort 
nocb verweist, werden wir die eine spater bebandeln, die andre 
ist die des Phaidros 255b: oo ‘■(otp SnjroTs sifraptai xaxov xaxtp ®[Xov 
ou5’ afab-ov {itj 'piXov elvoLi. Sie beweist tatsacblich, daS Plato, 

als er den Phaidros schrieb, einen andern Standpnnkt einnahm. 
Aber da6 wir nicbt von vornberein berecbtigt sind, die Anscbau- 
ungen eines Dialoges anf einen andern zu iibertragen^ sondem 
jeden znnachst aus sich heraus interpretieren miissen, bestreitet 
grundsatzlich auch v. A. nichf. 

Die Hauptsache ist ihm wobl auch der innere Orund, der es 
ihm unmoglich macht den Satz Plato zuzutranen. „In diesem Satz, 
der die Autarkie des stojschen Weiscn nocb iiberbietei, Platos 
wirkliche Ansicht zu sehen, ware eine starke NaivitatA Dem- 
gegeniiber hatte ich daranf hingewiesen, da6 Plato grade in dem 
mit deui Lysis eng vcrwandten Menexenos p. 247 e und‘ ebenso an 
einer Stelle des Staates (387 d) die Autarkic des gnten Menschen 
sehr stark horvorhebt. v. A. gibt das zu, bestreitet aber, da6 
diese Stellen ftir die des Lysis etwas beweisen, da dnrch die Au- 
tarkic die Guten nicht von der gegenseitigen 'ftXta ausgeschlossen 
wiirden. Ich gehe desbalb auf Rep. 387 d genauer ein. 

Plato kritisiert dort die Dichterstellen, wo Helden oder gar 
Gotter in Klagen uber den Tod eines izaipog oder eines Angehorigen 
ausbrechen, und sagt dabei: 

d>a(i.sv 8s S-fj OTi 6 sxtsix-ijc avtjp rij) ixisixsl, ooTrsp xal izrxlpotz 
Ictiv, TO Ts&vava' ob 8=iv6v TQ-p/josTa’.. 

<|)ap.sv yoLp. 

Obx apfx OTzip y' sxstvoo me Sstvov ti Trs-ovd-oTo; dSopoit’ av. 

Ou S-^ra. 

’AXXa p.TjV xal x65e Xs^op-sv, me d totouToe p-aXiota abxoe o.hzGp 
autdpxYje irp6e to so QrfJ xal o'a^spdvTme tcov dXXmv TjXiura STspoo 

TTpoaSsLTat. 

’AX'/jd'/j, s'f-q. 

■TlxiOTa ap’ auTcp Ssivov OTSpirj'&f^vat bsoe ij ddsXipoo i] 5 (pY)p,dTwv T] 
SXXoo TOO Tmv TO'.ooTmv. 

'THx’.aTa [lEVTOt. 

"HxtOT' apa xal dSopsa^a: {jtpsxsi), ipspeiv 8s me irpofOTaTa, oxav 
eie aoTOV xotauTT] aop,!popd xaTaXdpifj. 

Plato wendet bier das uns aus den spateren Trostschriften 



Xochmals f’latos Lysis. 


563 


wohlbekannte Schema an, daB der Mensch bei einem Todesfall 
weder um des Verstorbenen noch nm seiner selbst willen Schmerz 
empfinden solle. Fiir das zweite Glied wahlt er als Beispiel den 
Verlust, den wir durch den Tod eines Angehorigen erleiden, fiir 
das erste den Tod des sTaipo?. DaB auch bei diesem die Antarkie 
des Gnten es ist, die jede starke Gemiitsbewegung verbietet, ergibt 
ausser dem ganzen Zusammenhang der allgemeine Ausdrnck Yjxiata 
izipoo ^poadslzm, and anch v. A. bestreitet das nicht. Nun finden 
wir Lys. 215 a die genau entsprcchende Wendung: Tt 5e; 6 

.y.a'fl-’ oaov aya'&6<;, zata toaoutov txavoc av sIy] aotw; — Nai. 
— '0 Ss Ys ixavo? ouSsvo? Seoixsvos xaza ■r'jjv txavor^Ta, und daran 
schliefit sich die Folgernng; '0 Ss p.ij too Ss6p.svos ooSs tt a^a- 
;nj)Y] ay. — Oo ^ap ouv. — "0 Ss jitj aYampu], ooS’ av — Ou 

S^ta. — '0 Ss p-Yj 'piXoiv ys oo tpiXo^. Im Staate findet sick diese 
Foigerung nicht, weil es sich dort eben garnicht um die Frage 
nach dem Wesen der (p'Xta handelt; aber soviel ist doch klar: Im 
Lysis wird diese Foigerung aus einer Anschannng, die nnbedingt 
Platos ernste tlberzengung ist, formell vollkommen korrekt ent- 
wickelt; nichts deutet auch auf eine sachliche Inkorrektheit bin. 
Da hat dor Interpret doch die Verpflichtung auch diese Foigerung 
hinzunehmen, wie sie ausgesprochen und fiir den ganzen Znsammen- 
hang notwendig ist.* Wer dies nicht tut, hat seinerseits die Pflicht 
die Unmoglicbkeit dicser Erklaruug darzutun. 

Nun findet freiiich v. A. grade in den Worten der Republik- 
stelle 'pap.sv Ss Srj ott 6 sTrtstztj? dvijp ttp l~t£txsi, ooKsp xal itaipoc 
soil, to tsd-vdva'. 00 Sscvov fj'ffjostat den Beweis, „daB auch hier Freund- 
schaft nur zwischen Guten angenommen wird. Der Zusatz ooTisp 
xai staip6?^s<3ti soli ja beweisen, daB der Gute nicht in die Lage 
kommen wird, seines Freuncles Tod um des Freundes willen zu 
beklagen. Denn der Freund des guten Menschen ist immer auch 
selbst ein guter Mejisch; fiir einen solchen aber ist es kein Ubel 
tot zu sein. Unzweifelhaft ist staipoc hier !piXo?“. In Wirklich- 
keit haben wir naturlich an sich gar kein Recht eine' Stelle, die 
dem Guten staipoi zuspricht, fiir eine Untersuchung zu verwerten, 
wo es sich grade um die scbarfe Festlegung des Wortsinnes von 


1) Die "Menexenosstelle betont die Autarkic des Guten fast noch starker, 
und wenn es dort lieiBt: ozt'i ydp dvoft ei; iaoTov av'OTfiTi'- zi -rji; 


tfEpOVTa T, iffJS TO'JTC'J, Xai |XTj iv 7. 


i.Xot; ivSpi'jTtoic aiu)7i'.z7i, S; luv 7^ eo t, xa/.ili; 


!tpa$avt(i)v 


Tri-YvasitaE Yj'.EEyv.ccSTcu y.cd xa exeGo'j, xouxw Y&'.xxa “apEa/.soaaxat ^'7,^, so 
empfin(fet man hesonders den Zusammenhang rait dem Problem bei Aristoteles 
(1169b 3): 'z;j.tpici^TjTEtxai oe xcti TTEpt xov EooatiJLOva, e? ozrfizzM t, irq. oothv yoip 

<fa3i 5 eTv tpiXtov TOi; jraxoipioi; xat aoxdpxEXiv ' •j"'Jpy_Etv yip aoxEii; xxyoiDx. 

Kgl Oes. d. Wiss. Nachrichten. I’hil.-hist Klasse. 1917. Heft 4. 38 



564 


^lax Polilenz. 


um die philosophische Beetimmung des Begritfs handelt. Aber 
ich will gern zugeben, daB Plato hier schwerlich einen scharfen 
Unterschied zwischen itatpoc und machen will. Viel wichtiger 
ist ein aiidies lloment, das v. A. auch jetzt ganz verkennt, obwohl 
ich schon in meiner Rezension auf seine Bedeutung hingewiesen 
hatte ^). Grade wenn man mit der Stelle des Staates die des Lysis 
vergleicht, tritt als das Charakteristische an dieser bervor, daB 
Plato hier den Leser ausJriicklich notigt, die Worte ganz scharf 
im technisch - pbilosophischen Sinne zn fasscn. Wenn Plato Rep. 
387 d von sjrictxitc spricht, so w'endet er dieses Wort (ebenso wie 
sraipo?) nach dem gewbhnlichen Sprachgebrauch an, denkt nicht 
etwa an absolut Gate, an Gute in strengem pbilosophischen Sinne 
nnd spricht ihnen deshalb auch keine absolute Autarkie zu (6 tot- 
ouTo? p-aXtata auto? autcp aotapxYjs itpbc to so Ct/v xal Sta^spovtooc 
twv aXXwv Tjxtata Itdpoo itpooSsitai). Im Lysis dagegen warden 
schon die 214 e als die absolut Gleichen gefaBt, die, wenn man 
sie eben rein begrift'lich als Gleiche betrachtet, sich gegenseitig gar- 
nichts geben, sich nicht fordern konnen; (6 op,oto<; tcj) 6p,oiq> 

Saov op. oioc (fiXos, xal Sottv •^prjmp.oc 6 toiooto; t(}) totobtep; p.aXXov 
Sk wSs • bttoov op.otov 6 t({)oov 6p,o!tj> ttva (k'f sXiav ttva pXdpTfjv 

dv irof^aat Sovatto, 6 fiij xal aoto aotcji; . . . td oi) toiabta Kwi; dv ujt’ 
dXXniXoav dYaTCrj&siY), p.rjSsp.tav Ijctxoopiav dXXYjXo’c l^ovta; lativ — 

Oux lattv). Damit ist eigentlich die Frage auch fur die Guten 
schon ei ledigt, denn diese sind, wenn man sie nur in ihrer Eigen- 
schaft als Gute in Betracht zieht, einander eben op.oiot und werden 
hier als eine Klasse von diesen behandelt. Um aber jeden Einwand 
abzuschneiden, fragt Plato noch weiter: ’AXXd dij 6 p.Ev op-oto; t^ 
dp-otcp 00 yiXoc, 6 5e d7ad6c t* d^a^’ijj xad^’ oaov aYado C, 00 xad’ 
oaov 5p.oi0 5, ytXoc dv el>]; — Uawi;. — T£ Si; ob^ 6 iffx&oi, xad’ 
5oov aytxd'Oi. x(itd toaootov txavS; dv soj abtij); — Nai. — '0 
Si 7s b'-aw's ouSeVo; 6edp.svo(; xatd tijv ixavdtYjta. — Ilw? 7dp 00; 

— '0 Si P.TJ too Ss(5p,svoc ooSi ti d7(Z7r(j)Yj dv. — Ob 7dp obv 

IIw? ouv ol d7a^ol toic d7a^oi5 i^p.tv ipiXoi laovtai tijv dp^cijv, 0? p.TfjTs 
dxdvtsc xo^sivoi dXXnjXoic — Ixavoi 7dp laotoi? xai ovts? — p-iits 

jcapdvtsc xpstav abtwv Hier wird der Begriff des d7a&6c 

ebenso stneng gefaBt wie vorher der des op-oto?. Es ist der absolut 
Gute, der im Besitz der d7add ist und dadurch eine solche Voll- 

1) Jugendd. 47 sagte er weuigstens von der Idee des Guten, si« sei mit ab- 
soluter Autarkic begabt, und auf sie moge zutreffen, daB sie niemandes Freund 
sei, fiigte aber hinzu: „Fur den Mensclien, der nur an der Idee des Gtuten teU 
hat, gilt cs, auch sofern er gut ist, nicht“. Aber mit dieser Behauptung tritt er 
.eben in direkten Widersprnch zu dem, was Plato im Lysis sagt. 



Xochmals Platos Lysis. 


566 


kommenheit hat, da6 er, wenn man eben dieses Wesen fiir sich ins 
Ange fafit, sich schlechthin genug ist und keiner Erganzung bedarf. 
Nur darum konnen ja auch die Guten unter die Rubrik der op-otoi 
fallen, die OTpdvTs? )(psiay autwy s^fooatv. Es handelt sich also 
hier nicht sowohl um den konhreten Menschen, lessen Wesen sich 
niemals in seinem Charakter als otfadoc erschopft, als vielmehr um 
eine abstrakte Eormulierung, die der rein begriff lichen Losung des 
Problems dienen und auf die fiir Plato allein wesentliche Eolgerung 
vorbereiten soil : Tcp dfadip dpa 1:6 \yqzs d'ca&ov xaxov p,dv({) 

{idvov aoiipatvsi (ptXoy. Sobald man sich das klarmacht, 

verliert auch der Gedanke, zwischen den absolut Guten bestehe 
keine (pilia, well sie als solche keinen Freund brauchen und sich 
gegenseitig niclits geben kounten, was nicht jeder von ihnen schon 
hatte, das Befremdliche, das er im ersten Augenblick gewifi hat, 
und es ist durchaus keine „Naivitat“ in ihm Platos emste Meinung 
zu sehen. Andrerseits ergibt sich, dab tatsachlich fiir Plato zum 
Wesen jeder ytXta ein gegenseitiger Anstausch gehort, bei dem die 
Freunde sich erganzen und der eine dem andern gibt, was dieser 
nicht hat. Naturlich wird von vornherein kein verstandiger Leser 
Platos an eine Banausenfreundschaft denken, bei der man etwas 
Materielles vom andern will; und im Verlauf des Dialoges wird 
ja deutlicher werden, was Plato vorschwebt: eine Freundschaft, 
bei der ein Anstausch geistiger Guter stattfindet, bei der die 
Menschen lurch das Gefiihl zusammengetuhrt werden, dab ihre 
Gemeinschaft sie auf dem Wege zu idealen Zielen fbrdert, sie 
personlich vervollkommnet und dem wahrhaft Guten naher bringt. 
Ob auch dieser Gedanke v. Arnim „unsympathisch ist“, weib ich 
nicht. Jedeufalls haben wir Plato nicht nach unsern Sympathieen 
zu interpretieren, sondem nach dem, was der Text besagt, und 
fiber den Sinn des Textes kann kein Zweifel bestehen. 

Aus dem Gesagten ergibt sick auch, dab v. A. gegen den Satk 
oi afadol xad’ oaov aYah'ol 06 ipiXoi mit Unrecbt einwendet, Plate 
strebe ja grade danach in seinem Staate die iptXia der Guten her- 
znstellen. Er behauptet allerdings: „Die durch musisch-gymnasti- 
sche Erziehung fiir den Wachterstand ausgebildeten Menschen sind 
eben die Guten und gehoren nicht mehr zu den gTjtE dfadol [rijTj 
xaxoi“. Aber einen Beweis fiir diese Bebanptung hat er nicl.t 
versucht und konnte er nicht erbringen. Allerdings will Plato 
seine Wachter w; peXtiaioos zotsiv und segt z. B. 395 d; 'pap.sv osiv 
aozobi avSpa? aYad&b? -(Eveahai. Aber dab er keineswegs an eine 
so voUkommene Wirkung der Erziehung glaubt, wie sie v. A. an- 
ninunt, sehen wir, wenn er ruhig von den besseren und schlechteren 

38* 



566 


Max Pohlenz 


unter den Wachtern redet oder sogar mit dor Feigheit bei ihnen 
rechnet (459 d, 468 a), noch mebr, wenn er ausdriicklicb erklart, 
auch bei der richtigen Erziehnng seien die scharfen Vorsichts- 
mafiregeln der kommunistischen Lebensweise notig, damit die 
Wachter ihre Macbt gegenuber dem dritten Stande nicbt miB- 
braucben (416 c). Wo er von den Wachtern als von aYadoi spricbt, 
tritt oft genng hervor, daB er das Wort nicbt in strengstem Sinne 
meint (z. B. 468 cd). TJnd ausdriicklicb sagt er ganz allgemein, 
daB die Manner, die er konkret fur seinen Staat voraussetzt, kein 
absolutes Ideal darstellen.- Er tut das nicbt nur in gelegcntlicben 
AnBerungen ^), sondern aucb in einer progranimatiscben Erklarung 
472 b: ’Eav sopoDgsv olov iott S'xatoaovTj, ocpa xal avSpa rov Sixaiov 
atitoaop-sv p.7jSsv Ssiv exstvTj? 5ia'pip='v, aXXa xotourov 

Etvai otov Sixatoauv/j saxiv; yj a.^(OLTziiao\Lsv, lav ot' k^'ioxoLza aur^? fj xal 
xXEioxa T(jijv aXXoiv Ixswtjc ; — OSxtoc, aYa3r7]3op.5V, — Ila- 

pa§£i'fp,axo? apa evaxa, fjV o’ sCYjxoop-sv aoxo xs otxacooovYjv oldv saxi, 
xal divSpa xdv xsXsmi; Sizaiov =1 ysvoixo, xal oio; 3v sIyj Y-vopLEVo;, xal 
aSixiav ah xal xdv aotxtfxaxov, tva {>.q ixsivooc a;ro|3X£rovxEc, oio'. av 
vip-rv ifatvojvxa' sdoa'.p.ovto.; xs jxspt xotl xo5 ivavxtoo, avoYxaCwp.i&a xal 
nspt 7;|xd)v adxiov o? av sxstvo'-c ox: opoidxaxo? •(], xfjv exsivY]? 

p-otpoiv dp-otoxanrjv s$s:v, aXX’ od xooxoo svsxa, tv’ azoSat^wp-sv w; Sovaxa 
xaoxa Und konnte denn Plato iiberbaupt andrer Ansicbt 

sein, ohne in Widersprncb zu seiner Grundanscbuuung zu geraten, 
daB die Idee in allem konkreten Sein nur nnvollkommen in Er- 
sebeinurg tritt? DaB er darum die Weisbeit nur den (lottern 
zusebreibt, spricbt er ja Pbaidr. 278d deutlicb aus, und es ist 
rein tbeoretiscb, wenn er daneben Lys. 218 a mit einem weisen 
Idealmenscben als Moglichkeit recb. et (vgl. meine Rez. S. 254). 
Aber dieselbe Lysisstelle notigt uns zu der Folgerung, daB das 
Gleicbe auch fiir den Cbarakter als aya&bg gilt. Wenn wir dort 


lesen : Aia xauxa St] ^aip.$v av xai xod? Tjdvj ao'pod; p.YjX£xi 'f.Xoao’fsiv, 
s’(xs ■9 'EoI slxs avdpwTtoi slotv ouxo:, odd’ ad sxsivooc cctXoaoxtsiv xod? ouxwe 
aYVO'.av s^ovxa; waxs xaxod? siva: ■ xaxdv yap xal dp.a&^ odSsva biXo- 

ao’fstv Std oYj xal cptXoao'pouatv ol ouxs otYaO-ol o’ixs xaxo: tco) 

d'vxsc, 0301 os xaxol, od 'ptXoacpooaLy, odds ot otYadot, so miissen wir 


uns docb sagen, daB sich die Begriffe aoBo? : 'ptXoooBoc : dixad/jc und 
ayad-oi; : p.T5xs otYa&dc p.'/jxs v.axdc : xaxdc entspreeben und die Bezeich- 
nung als aYadd? ebons j vie die als oobo? nur Gott oder boebstens 


1) .043 4 -/.a! TaOrn, w; s'ji/.y;, r.i).)Mo ext x/<uv zO.i'/ t£ -/.at i'vopa weist sogar 
darjiufbin, daC selbst die Schilderung von Idealstaat und Idealmeiisvl!, dia er gibf,. 
nicbt das Hbchsto darstellt. 



Nochmals Plates Lvsis. 


oG7 

noch einem theoretisch denkbaren Idealmenschen zukommt^). 
Darauf bin hatte ich S. 254 als Plates Ansicht hingestellt : „Prak- 
tisch erreicben wir Mensebenkinder das Hoebste, wenn wir ^tXo- 
ooyoujtsv, und ebenso mugen wir zufrieden sein, weim war zu den 
{TYits aYa&ol jJiTjts zazol geboren, die nacb dem Guten streben“. 
Nacb V. A. S. 376 hatte Plato diesen Satz wegen des in ibm ent- 
baltenen Widerspruebs nie gutbeiBen kbnnen. „Wer sicb damit 
zufrieden gibt, zu den afa&ol {rvjts zaxot zu geboren, der 

strebt nicht nacb dem Guten und ningekehrt : wer nacb dem 
Ganzen strebt, der gibt sicb nicht mit Halbheiten zufrieden“. 
Aber den Widersprueb konstruiert er doch nnr daduich, daB er 
fiii- meine Worte ^zufrieden sein‘d ein „sicb zufrieden geben“ (von 
ibm gesperrt gedruckt) einsetzt und darunter eine satte Befriedi- 
gung, ein Stebenbleiben versteht, w'ahrend meine Worte klar be- 
sagen: „Wir miissen zufrieden sein, wenn wir das BewnBtsein 
baben diirfen, zu denen zu geboren, die sicb strebend bemiiben". 
TTnd gegen diesen Satz biitte Plato nichts eingewendet. AYar-^ias'., 
lav ozi lYYUtata S'xaioaovrjs xal teXsiota twv aXXwv IxstvYjc gs- 
— dieser Satz gilt von dem besten Menschen. Plato ist 
seinen Schiilern als der aya&bi xai soSaipiwv erschienen: er selber 
bat diese Bezeichnungen nicht fiir sicb in Ansprucb genommen. 
Wie er auf intellektuellem Gebiete niemais zu den Fertigen ge- 
bbren w’ollte, die sicb einbilden, sie brauchten niebts zuzulernen, 
an iliren Anscbauuugen niebts zu andern. so hatte er es aucb als 
Vermessenheit betrachtet. wenn er sicb zu den etbiscb Vollkom- 
menen gerechnet hatte. Das Streben nacb dem Ideal ist des Slen- 
seben Lus, nicht die Vollkommenheit, die niebts mebr brauebt und 
desbalb ein Yorsvartsstrebeii ratsseblieBt (Symp. 200). Mit die.ser 
Grundanschauung Platos liangt es aufs engste zusammen, wenn er 
den ganzen ersten Teil des Lysis auf den Xacbw^eis anlegt, daB 
die u-fjTS a^xitol [J.fys xaxoi es sind, die durcb (piXiT. mit dem Guten 
verbunden siiul-). 


1) Am' (lioielb:- Oleiclisolzun" fiiliit ancli ilio Purallcl.stelle Symp 2ota, wie 
wir nachher seheii wonleu. 

2) Xach dem, was icli in diesem Abselinitt ausgefuisrt liabe, kaun icli auch 

jetzt niclit anerkonneu, dali die Stclle Ges. 716 c. die \. A Jugeudd. S. 62 und 
E!i Mus S. 374 licrar.zielit, eine Fixundscbaft der Guten i :n Sinne des I.ysis 
vorauosetzt. Plato scharfr dort ein, jcderniann niusse Gott iiachzufolgen tracliten. 
,.Ti; ^'jv oi, cfO.T, y.cci ^v-oXo-jDo; llEta; yh, xai s/oc Xv'O-/ r/o'jla ypyito-/, ij-'. ~<'i 

opobo TO op.oiov dvT'. ;j.£Tpup cptXov dv Ta 0 o'p-tTpy ootE dXXr'Xoi; o’jte toi; 
I'afjL^Tpoi;. is'uii ist Gott das MaC aller Dinge, wer also ilim lieb sein will, muli 
sicli bemuhen ilim durcb vwTpojivrj abnlica zu wcidcii,'- Die Worte £;j.rj.ETpa und 



568 


Max Pohlenz, 


Aach naeh v. A. Jugendd. S. 49 ist es „unverkennbar“, da6 
Plato dieses Ergebnis ernsthaft vortragt. Um aber doch die 
Ereurdschaft der Guten festhalten zu konnen, bilft er sich mit 
der Annahme, Plato babe zwei Arten von 'fiXia angesetzt, die 
der nentralen Menschen zum Gnten nnd die Preundsebaft der 
Guten untereinander. in dieser aber babe er die bohere Stuf'e ge- 
seben, eine wahre Freundschaft im Sinne der tEXei'a ^iXta des Ari- 
stoteles. IJm diese Auffassung zu widerlegen, geniigt es eigentlich 
schon darauf zu verweisen, da6 Plato 216 e sein Scblufiergebnis 
ausdriicklich so formuliert : tw apa to jj-Tjts aya&bv p.Ti'cs xaxov 

{lovov aop.paivet (fiXov und unmittelbar vorber reka- 

pitulierend einscbarft: obts taYallip obts to xotxbv tw xazw 

obts tafadov Kp xax^> ^tXov sivat, woxsp obS’ 6 sp,jrpoaPsv Xo-fo? eoj.. 
Sie erledigt sich natiirlich mit der Erkenntnis. daB Plato eine 
Freundschaft der absolut Guten nicht anerkcnnt. Trotzdem will 
ich hier doch auch nochmals auf die einzige Stelle eingehen. wo 
iiberhaupt der Ausdruck aXTjd-ijc 'fiXtoi im Lysis vorkommt. 

In dem Abschnitt, wo Plato den Satz kritisiert, ozi zb 5p.o'.ov 
up 6p.oi(p avdYXT] «sl cpiXov stvat, weist er zunachst nach, daB damit 
jedenfaUs nicht die Schlechten gemeint sein konnten. da diese nie 
wahrhaft bgotot seien. Er schlieBt mit denWorten ab; Tobto toivov 
amzzcivzai, w<; 4jioi Soxobo'.v, « staips, ol to opio'.ov tcp 6|J.oi(p '^iXov Xs- 
YOVTs;, o)? 0 aya&bi; dYad’^ [i6voc p-ovip (ptXoc, 6 Sk xax6; obts dY«^V 
obts xax^ ob5sJtots si? aXrjd”^ fiXiav ipystai (214 d). Hier stellt also 

aaetpa, die Plato einschrankeiid zu dem Satzo liber die Gleicheii hinzufugt, setzt 
V. A. einfach mit ifaftd und -ai/A gleich. Das mag gelten, weiin man dioseWorte 
nicht in streng tecl.nischem Sinne nimmt. Die absolut Guten des Lysis, die alles 
Gute besitzen und deshalh nichts brauchen, nicht mehr nach dem Guten streben 
(Symp. 200), sind nicht gemeint. Das zeigt der Zusammcnb.nng Plato mahnt ja 
doch hier jedermann (-dvTcc dSopoi), soweit es in seinen Kraften steht, 
mogliclist gottahnlich zu werden (si; o-lvapnv on ’lohonu, vgl. Rep. OlSa it 6.), 
und ■\\enn er daran anschliebt : zai zard toOtov or^ roo XAfoo o oev jibisptov '(puiv 
beoj ciXo{, opoio; faf. So ist hti diesem scbcpmv nicht an den Menschen zu denken, 
der die absolute Gottgleichheit uiid Vollkoramenheit hereits eireicht hat, scndern 
sthon wer nach diesem Idealc streht und ihm nahe kommt, ist Gott woblgcfallig. 
Ein solcher gehdrt aber nai h der Tenninologie des Lysis nkir zu den dyallo!, 
sondern zu den vorwartsstrehcuden oijtc dyaboi oozz zzzoi. Akrpui; bezeiclmot bier 
so wenig den schlechtbin Guten wie etwa 955 e; DeoTii oe avzHrjaarz ypEibv hvi.t-nj% 
-rdv [jLE-ptov d'vopa dMariDEVTa ocopEisHat oder im sechsten liriefe, wo Plato 322 e von 
Erastos und Koriskos sagt, cs felile ihncn nocb die Kenntnis der schlechten Men- 
scben : d'nEtpoi ydp sisi Bid to iaeiP r^iiwo irETpiuiv ovTtuv zai o'j zaziov 3'J'/vov otZTETpi- 
tffioci Tov [iioo, Im Staate 486 d lieiSt EpoEtoo; der T’Xo'rocpo;, nicht der aocpo?- DaS 
dcr Mensch nicht vollkommeu Heio; oder auch nnr DEOsi'/r,; .sein kann, Loica wir 
dort 500 c, 501 c u. li. 



Xochmals Platos Lysis. 


5(i9 

Plato zusammenfassend fest, daB die Schlechten keine Freundschaft 
unter sicli oder mit Gaten haben. Der Zusatz si? f^'.Xtav kann 

nack dem Vorigen nnr besagen, daB die vulgare Aiischauung wohl 
von einer solchen redet,. daB diese aber keine vvahre Freundschaft 
ist, den Xamen Freundschaft nicht verdient^). Grammatisch ge- 
hort dieser Zusatz nur znm zweiten Glicde 6 os xaxo; . . . spys'C')'.'. ; 
aber auch sachlich fdhrt nichts darauf ihn auch znm ersten, das 
als Uberleitung zum Folgenden hinzugefiigt ist, zu ziehen. Denn 
fiir den Beweis geniigt es ducchaus, wenn als dc-r einzig etwa 
noch mogliche Sinn des Sprichworts ins Auge gefaBt wird, t<>c 6 
aya&bc x(j> a.-{a&ib [j.6vo? [j.6v(i) 'ptXoc, der Satz, der im folgtnden Teile 
sofort widerlegt wird. Aber wollten wir auch mit v. A. dem Zu- 
satz si? aXT/^-^ ^tXGv eine „indirekte“ Beziehung zum ersten Gliede 
geben, so konnte er jedenfalls nicht das besagen, was v. A. in der 
Stelle sucht, nicht eine Scheidung einer wahren vollkommenen 
Freundschaft von einer niederen andeuten. Denn die sogenannte 
Freundschaft der Schlechten ist eben — das ist ja der Kern des 
bier abgeschlossenen Teiles — nicht etwa eine niedere 
Freundschaft, sondern sie ist im philosophischen 
Sinne liberhaupt keine Freundschaft. Sie scheidet also 
fiir die Frage nach dem Wesen der Freundschaft iiberhaupt aus, 
und da die vorlaufig angenommene Freimdscbaft der Guten sofort 
dasselbe Geschick hat. so bleibt eben nur die der [xfjts aYadoi p.fjT 2 
xaxot iibrig. Das ist die einzige. die wahre Freundschaft. Der Satz 
0 rep *x 0 V 0 ^ ixovcp ^iXoc kann neben dem Schlub- 

ergebnis Tcj) apxO'tj) ctpa to jxiixs /x'fo.'d'dv [xfjts xwxov |tbv 4 ) [xovov oujt- 
yi-f'/sadai tpiXov nicht etwa bestehen bleiben und womoglich eine 
hbhere Stufe bezeichnen, sondern er wird dadurch aufgehoben. 

Schwerlich wiirde auch v. A. hier den klaren Sachverhalt ver- 
kannt haben, wenn er nicht auch im zweiten Teile dts Lysis diese 
wahre Freundschaft der Guten zu finden meinte. Aber da ist er 
selbst der Vieldeut igkeit des Wortes fiXog zum Opfer gefallen, 
auf die, wie er richtig hervorhebt, Plato den Leser hinweist. 
p. 219 fiihrt Plato aus, daB alle s'Xa schlieBlich auf ein letztes 
(ftXov hinweisen, das nicht mehr um eines hbheren Zwmekos willen 
lieb ist. sondern ein absolutes Gut darstellt, von dem alle einzclnen 
^iXa nur Abbilder sind. Dabei heiBt es 219 d: todto o'/] sativ 6 Xipco, 
jiTj fjSia; xaXXa TidvTv., a sijrofxsv exeivoo ivsxa fiktx stvai, woTtsp sl'SwXa 
atxa ovta aotoo 3’ sxsivo to Trpiorov, o w? aXTjh-w; soti kIXov 

und 220 a: ooa ydp (fapsv ’fiXet slvai fjp.iv sv=xa 'fiXou tivo? sTspoo, 

1) Rep. .57Ga a’/.hz ci/.T|ttou; -i-ist; dci iyE'j-JTo;. 



570 


Max Polilenz, 


pTfijiatt cpatvdjij&a Xs^ovts^ aotd ' ^tXov Ss T(j) bvv. Mvdovsost Ixstvo auto 
s'.va:, sic o jrdaa’ autat at Xs^d^isvat ^tXtat tsXsutwatv (vgl. 220 e). Hier 
wird tatsiichlich ein aXr^&wc iptXov den einzelnen abgeleiteten <plXa 
gegeniibergestellt. Aber darf man daraus eine aXrid-ri? iptXta zwi- 
schen den Guten folgern? In dem einen Falle baben wir das 
Gnte, das nur in passivem Sinne iftXov heifien, nur Gegenstand 
der Liebe sein kann, im andern ein Gegenseitigkeitsverhaltnis der 
Guten, die in aktivem Sinne iptXot, Sabjekt des ipiXsiv waren. Das 
sind dock ganz verschiedene Dinge. Im spateren Abschnitt kann 
man tatsachlich eine doppelte (ptXta finden, eine wahre vollkommene, 
die das ttjj dvtt 'fiXov, und eine niedere, die dessen Abbilder zum 
Objekte hat. Aber das TJnterscheidungsmerkmal ist da eben das 
Objekt; das Subjekt sind beide Male die [Jt7]Ts otYaS-ol [i.-/)ts xazot, 
die ja dock auch die Liebe zum absolnt Guten in sick tragen 
(z. B. 220 d). Mit der angeblichen Sckeidung zwiscken einer Frennd- 
schaft der Guten und einer der iibrigen Menscken hat das nichts 
zu tun. 

Der Gedanke, den Plato p. 219 entwickelt, hat flir ihn zentrale 
Bedeutung. Es ist die Uberzeugung von der objektiven Realitat 
eines absoluten die uns erst berechtigt im Einzelfalle ein 

Ding, eine Handlung, einen Menschen als gut zu bezeichnen, eines 
aYa&dv, vou dem alle Einzelformen nur s’tdtoXa atta sind. Das 
Streben nach diesem Guten ist in der Natur des Menschen be- 
griindet, und so ist jenes absolute Gute das Ziel, das allem mensch- 
lichen Streben die Richtung weist. Insofern ist dieses Gate im 
letzten Grunde selbst der Gegenstand unsrer Liebe und unsres 
Strebens, ist das t^) dvtt 'ptXov. Die einzelnen konkreten Bestrebungen 
des Menschen dagegen richten sich auf die abgeleiteten a-ca&a der 
Erscheinungswelt. Diese sind also der nachste Gegenstand unsres 
Strebens. Aber hier ist auch die Frage nbtig, warum wir nach 
ihnen streben. Und da der Grand der ist, daG wir (unbewubt) 
durch sie an dem absoluten dYadov Anteii zu bekommen hoffen, so 
kann dieses absolute otYadov a.uch als der Grand fur unsre 'ptXla 
im Einzelfalle, fur unsre Einzelbestrebungen bezeichnet warden, 
als das ou i'vcxa flir unser Verhalten. 

Diesen Unterschied mu6 man sich gegenwartig halten, wenn 
man den letzten Teil des Lysis verstehen will. Den ersten Punkt 
habe ich — darin gebe ich v. Arnim recht — in meiner friiheren 
Analyse nicht gewiirdigt, den zweiten laBt er selber unberiick- 
sichtigt und kommt dadurch auch hier zu falschen Anschauungen. 

Plato wirft in diesem letzten Teile des Lysis die Frage nach 
den Grtindeu der Freundschaft auf, und indem er ausdriicklich das 



Noclimals I’latos Lysis. 


571 


Ergebnis des vorigen Teiles aufmmmt, stcllt er zmiachst fest: to 

Y.ay.bv [iTjts a'ca'&ov S;a xaxoo icapooatav too aYafl-oo 'pilov slvat 
(218 c). Neben dem 3d S ist aber noch nach dem oo svsy.a zu fragen. 
Da dieses nnr das Giute sein kaim, das Gate selber aber geliebt 
wird wie das Scblecbte gebafit, so scheint sich die Folgermig zu 
ergeben ; to outs xolxov outs aYaObv apa o'.a to xazov xal to sy&pov too 
a.’jad'ob 'piXov sotlv svsv.a too aYa&oo xal '^’Xoo oder wie Plato das Er- 
gebnis gleich noch paraduxer formuliert; svsxa apa too 'piXou to 
^iXov too (piXou aiXov 8ia to syS-pov (219 b). Oftenbar ist die Formu- 
liernng gewahlt, urn zu zeigen, wo der Fehler steckt. Wir diirfen 
den Grund der rpiXla nicht so bestiininen. dab wir ibn wieder in 
einem tciXov suchen. Die Frage nacb dem Grunde selbst wird da- 
durch natiirlich keineswegs ausgescbieden, sondern niir die Autgabe 
festgestellt ein aufierbalb der s'X'la liegendes Prinzip auizufinden, 
das den Grund fiir sie abgibt. Sot'ort wird dcnn aucb in dem 
vorhin scbon beriihrten Abscbnitt geze.igt, dafi alle einzelnen aiXa 
auf cin letztes 'ftXov zuriickweisen, das seiuem XVesen nach nicht 
mehr als ^>Xov. sondern absolut als wcahov bestimmt werden muB 
(219 b — 220 b). Freilich ergibt .'^ich damit auch. daB da.s Problem 
nicht so einfach liegt. wie es zunach.->t sohien. Es geht nicht an 
schlechthin nach dem Grunde des fiXsiv zu fragen. Denn auch das 
absolute Gate ist ein tpiXov, weil es 'f.Xs-ta;, imd bei cliesem nach 
einem weiteren auBerhaib von ihm liegen.len Prinzip, da.-5 den 
Zweck dieser Liebc darstellte, zu fragen ware sinnlos, Hier 
scheidet also die Frage nach dem oo svsxa ans, oder wie wir auch 
sagen kiinnen, hier ftillt der Finalgrund der Liebe mit ihrem 
Gegenstand zusammeii. Ganz anders liegt aber die Saciie, wenn 
wir an die einzelnen ’sO.'.r'. des Lebens denken. Woiieu wir uiese 
in ihrem Wesen erfassen, so niiissen wir uns eben klarmachen, 
dall chis konkrete ayaitov, das unsre Liebe erregt, dies nur deshalb 
tut, weil uns unbownfit das absolute aYaOov als Zielpunkt unsres 
Strebens vorschwebt. Sobald man, wie es Plato verlangt, zwisclien 
dem tii) ovti ciXov und den auf dieses bezogenen (riXa, zwischen dem 
absoluten i'cah'ov und den abgeleiteten avah-a scheidet, hat der Satz 
to oiks xay.ov obts too dvaD-ob 'f'Xov iotlv ivs'/.o. too apahoo 

seinen autcn Sinn, und wir diiifen nicht mit v. A. sagen, mit dem 
Kachweis, daB das absolute aYo.t>ov letzter Gegenstand der Liebe 
sei, werde seine Bedeutung als Finalgrund I'iir die fitly., die uns 
zum einzelnen afa^bv hinzieht oder uns mit dem eiuzelnen Menschen 
verbindet, eliminiert. 

DaB dieser Abscbnitt die spezielle Auigabe hat die tautolo- 
gische Erklarung des 'flXov zu bcseitigm, wird zum ScliluB noch- 



572 


Max Pohlenz, 


mals eingeschnrft : Touto otj ajrfjXXotXTa:., \ui 'itXou uvoc i'vsxa zb 
'fiXov 'fiXov slvai i220b), und es kann jetzt anf den nrspriinglichen Be- 
grifF des Guten znrnckgegn’tfen werden: aXX’ apa to dYa&dv loiiv 
c’lXov; — '£11017= Sozsi. Die iin vorigen Abschnitt crledigte Frage 
nach dom Finalgrunde beriibrt Plato nicbt noch einmal und sagt anch 
nicht ausdriicklicli, dafi wir bei dem Guten sownhl an das absolute 
Gut wie an die abgeleiteten denken kbnnen. Denn diese DitFeren- 
zierung ist fiir das Tbema des jetzt folgenden Teiles, zu dem diese 
Feststellung iiberleitet, unnotig. Weil der paradoxe Satz svsza 
TO'j (siXou TO 'ptXov TOO 'p'lXoo tttXov nocb den Zusatz oid to sy^pdv 
batte, nimmt notwendig Plato bier die Frage nach dem 5 '.’ o 
wieder auf. Das Problem stellt sicb jetzt so, dab geprilft werden 
mufi, ob denn die Liebe .^um Guten wirklicb durcb die xazou tra- 

pooaia bedingt sein soli Naeb Platos ganzer Weltanschauung ist 

das unmbglicb, und so -weist er denn sofort nacb, daB das Gute 
seinen positiven Wert aucb bebalten miiBte, wenn alle Ubel ver- 
schwanden. Und ebensowenig laBt sicb die Existenz von Ubeln 
als Vorbedingung fiir die Begchrungen wie Hunger und- Durst be- 
zeicbnen, olme die wir uns kein Lebewesen denken konnen. Denn 
diese Begchrungen sind nicht ibrer Natur nach schlecht und 
braucbten deslialb anch nicbt mit den -/.axa aufzuhbren. Mit dem 
Begehren ist aber das Lichen notwendig verbunden. ’'EoTai lipa 
y.ai Td)v xazwv a-oXojisvwv, to? sotxsv, fiX’ XTTa. — Nat. — Oox av, 

SI 7s TO xaxov xI't'.ov TjV too 'f(Xov Tt sivat, oox av -^v tootoo artoXo- 

;iivoo 'itXov Irspov STspo). alria? 7ap aroXogsvTj? aoovaTov jtoo fjV iv’ 
sxsivo slvat, 00 TjV aortj vj at Tia. — ’Op 9 -w? XsYst?. Damit scblieBt 
Plato diesen Teil ab und bringt aufs .scharfste nochmals zum Aus- 
di'uck, daB es sicb darin um die Frage gebandelt hat, ob als Real- 
grund der ciX-a die xaxoo xapooata festgehalten werden darf. Dazu 
stimraen vollkommen die folgenden Worte: Ooxouv (bgoXoY-tjTai 7 /jitv 
TO KtXov ciXeiv Tt xal Sta Tf xal (;)-/jdrj[isv tots 7s Sta to xaxov to 
( ifjTs otYadov pfjTs xaxov to aYaS-ov iptXstv. — 'AXri&?j. — Nbv os 7s, 
w? sotxs, yaivsTai aXXr^ tt? aitta too 'piXsiv ts xat cttXstadat. — ’'Eoixsv. 
Nach dem Wortlaut wie nacb dem ganzen Gange der Untersuchung 
ist es ausgescblossen, daB bier, wie v. A. meint, das gesamte friibsr 
erreicbte Ergebnis preisgegeben wird. Um die Frage nacb dem 
Subjekt und Gegen-tand der Liebe hat es sicb ja in diesem Teile, 
dessen Abschlufi wir bier vor uns haben, nicbt gebandelt. Aus- 
schlieBlich die Bestimmung des Realgrundes Sta xaxoo trapooatav 
wdrd aufgegeben. Darauf weist. wie ich schon friiber betont babe, 
schon die Stellung von oia to xaxov in dem Satze (ptid-Yjiisv tots 7$ 
Sid TO xaxov TO p.rjTs ija&bv «njTs xaxov to ayzi&b'/ 'ptXstv bin, die 



Xnehraals Platos Lvsis. 


578 


genau dem Anfaug dieses Teiles 'Ap' ohy 5'a to 7 .a-/. 6 v to ava&ov 
(ptXsitai; (220 b) entspricht. Wie v. A. sagen kann, der Realgrund 
der Liebe werde hier iiberhaupt eliminiert, verstehe ich gai-nicht. 
Denn mit den Worten (b[i.o). 67 TjTa> -/jP-iv to 'piXov cciXsiv rt xal o'. a zi 
wird dock grade die Emmiitigkeit dariibei- festgestellt, daG ein 
solcher existiert nnd dementsprecbend im nacbsten Satze vjv 2 s 
(B? soixs, 'pottvsTat aXXvj tic aiTiot to' 3 ptXsiv ts xal cciXsia&a'. sofort 
nochmals die Bestimmnng dieses Realgrundes als Thema gekenn- 
zeichnet. Die Sache liegt so klar, daG gewiG auch v. A. sie nicbt 
verkeanen wiiide, wenn nicbt die Fortsetznng wirkliche Schwierig- 
keiten bote : ’^Ap’ oov Ttp ovt;, wo"£p apTt iXsYop-s'./, -q lrct&o[j.ia t?,? 
'ptX'lac alT'la, xai to sKiitogoBv ptXov sotIv to'jtw o '3 iff'S-oiisi: xal tots 
OTHV STS'.&UJl.fp 0 2s TO JTpOTSpoV sXs'/OflSV 'piXoV S’va'., 'idXoc Ttc 'ijv, W3X£p 
OTiTjga f gaxpov auY'<‘Sip-£vov ; — K'.v2ov£bs'.. sstj. Hier erinnert nns 
zwar der Eingang nocbmals daran, da 6 wir uns in dem Teile be- 
finden, der nach dem (trnnde der Freundschaft fragt, Mit den 

Worten xai to sTcid'ujj.oBv -piXov lartv tootw o'S ix'da'isi xal tots oTav 

IxiG'Ujj.fj scheint aber Plato anzudeuten. dab die nene Bestimmnng 
des Realgrundes dazu liihren kbnnte auch die Bestimmungen liber 
Subjekt nnd Gegenstand der piXta neu zu tretFe'n, und damit tancht 
also jetzt wirklicb die Moglichkeit auf alle t'luheren Ergebnisse 
umzustoGen. Aber zur Xotwendigkeit wurde diese Moglichkeit 
docb nur, wenn die neue Bestimmnng gesicbert ware und in wirk- 
lichem Widersprucb zu dem Frilheren stande, sicb nicbt mit diesem 
ausgleichen lieBe. Da mabnt uns aber zur Vorsicht scbon die 

Form der Frage: „Ist nun wohl wirklicb die Begierde der 

Grund?“ wie aucb das zweifelude X'v2'jvsb$t der Antwort. Tat- 
sachlich zeigt sicb donn auch sofort, daG die ix'-S-ogto. jedenfalls an 
sicb keine ausreichende Losung des Problems bietet. Denn einmal 
ist die s~tdug'a mit der ziXicn so unmittelbar verbunden (vgl. 221 b), 
daG gleich darauf o ts spwc xod fj zikia xal -q ez!.\lo[iia zu einem 
einbeitlicben Begriff verwachseu (221 e, vgl. scbon vorber 217 e : 
TTjC TJ sxid'Dp.iac 5jjia 7 . 0.1 Tr,c 'fiXiac too a-fa^ou), und eine Ersetzung 
des cinen Wortcs dnrch das ondre wdrde deshalb keine ausreicbende 
Wesensorklarung geben (vgl. v. Arnim sclbst Jugendd. 55j. Andrer- 
seits weist die £::'.di)p.ia selbst auf einen andern Begriff zuriick; 
’AXXa IJ.SVT 0 ’ TO 7 = S^iG'op.o'jv, oo otv svossc f,. tooto'j Itti&ou.sI. Fragen 
wir aber, in welchem logiscben Verbaltni.s dor Begrift’ des Mangels 
zu dem des Begehrens steht. so branchen wir wirklicb kaum an 
die vorber als Bcispiele gewtihlten Begierden von Hunger und 
Durst zu denken, um zu erkennen, daG die svosia den Realgrund 
der Begierde darstellt. So werden wir dock wieder auf das Tbei! a 



574 


Max Polilenz, 


des letzten Teiles hingefiibrt und vor die Frage gestellt, ob wir 
nicbt statt der xax&o das Gefiihl eines Mangels als den 

Grand der y;Xia aiisetzen sollen. Und diese neue Bestimmung des 
Kealgrundes kann sehr wohl dazn dienen die Untersuchnng positive 
weiterzufiihren. Unertraglich war fur Plato der Gedanke, dad 
die reale Existenz des Scblechten es sei, die erst das Streben naeli 
dem Guten hervorrufe and dessen Wert bedinge. Dagegen ist es 
vom platonischen Standpankt jedenfalls nicbt von vornberein nn- 
denkbar, daC es ein GefiiLl des Jiangels, der Unvollkommenheit 
ist, das uns den aaBei’en AnstcS zn diesem Streben gibt. 

Ehe wir aber diesen Faden weiter verfolgen, wollen wir zu- 
nacbst nocbmals feststellen, daB die Interpretation dieses ganzen 
Alschnittes uns keinesvvegs auf v. Arnims Annahme hinfiihrt, Plato 
babe bier das Ergebnis der g-esamten friiberen Untersucbung preis- 
gebeu wollen. Gegen diese Annabrne sprioht aucb der Aufbau des 
Dialoges. Denn es ist nicbt glau'olicb, daB Plato die gesamte 
triiliere Ercirterung ohne jede Nacbpriifung zu Gunsten einer neueii 
Hjv’potbese babe fallen lessen. Am starksten wiegen aber die sach- 
licben Erwiigungen. Icb braucbe nicbt besonders darai;f binzuweisen, 
daB grade noch im zidetzt bebandelten Teile Plato an seine frUberen 
Aufstellungen erinnert, weiai er 22()d sagt: dp’ outto rs zai 

(cu.zlt'j.'. Old zh y.azbv o's twv [iEtajo ovriov too zazoo is 

zai td-Y^doo; oder wcnn er gleich darauf die Scbeidung zwiscben 
dem T(p dvT'. 'fiXov, das um seiner selbst willen begebrt wild, und 
den cinzelnen 'sO.a, die um des hocbsten Guten willen erstrebt 
werden, ins Gediicbtnis zuriicbruft. Vielmebr kann ich micb ein- 
facb auf v. Aruim berufen, der Jugendd. S. 58 ausdrticklicli betont. 
die Preisgabe de.3 frttheren Ergebni.sses sei nur formell; sacblicb 
miisse man durcLaus annehmen, daB Plato die wichtigsten Punkte 
fe.stbalte. sIPir werden uns dadurcb nicbt von der Ansicbt ab- 
bringen lassen. daB es nacb Plato wirblicb eine Liebe des neu- 
tralen Subjelctes gibt, die sich auf das ihm feblende Gute ric’atet; 
daB diese Liebe zu dem un.s fehlenden Guten notwendig niit sin- 
(spw^) verbunden ist, duG aber docb nicbt die sTud'Dpia als 
Grund der Liebe zum Guten betrachtet werden kann, die vielmebr 
fortbesteben vviirde, aucii wenn wir es besaBeu, und daB nocb viel 
weuiger das Gate seinWesen darin hat, begebrt zu werden, daB 
es nicbt gut ist, weil e.s begebrt wird, soudern umgekebrt begebrt 
wird. weil es gut ist.“ Hier stebt der Satz, die Liebe zum Guten 
schlieGe zwar den Eros in sicb, wiirde aber docb fortbesteben, 
aucb wenn wir das Gate besaGen, in direktem Widerspruch zu 
der im Lys;.^ 215a vorausgesetzten und Symp. 200 aasgefiihrten 



Xochnnils Platos Lysis. 


o ^ a 


AnscLauuiig Platos, daB der Besitz des Guten das Streben danach 
ansschlieBt. Sonst kann man alles, was v. A. bier ausspricbt, 
onterschreiben. Dann haben wir abor erst recbt keiuen AnlaB, 
an eine formelle Preisgabe eben dieser Siitze an der besprocbenen 
Stelle za glauben. 

Allerdings baben wir das Hauptargumeiit, das v. A. zn dieser 
Annabme gefiibrt bat, nocb nicht beriibrt. Er rneint namlicb, iin 
Verlanf der folgenden TJntersucbung wiirden die friiberen Ergeb- 
nisse, da.s neutrale Subjekt der Liebe and das Gate als ihr Objekt, 
nicbt mebr berucksicbtigt ; sie seien also otfenbar von Plato formell 
preisgegeben. Ob diese Behauptung richtig i.st, muB die Inter- 
pretation des ScbluBteiles des JDialoges entscbeiden. Dieser Teil 
ist der schwierigste des Lj^sis. Denn wie in den andern Dialogen, 
die mit einer Aporie enden, verlaBt Plato absicbtlicb bier den 
graden Weg und stellt deo Leser vor die Aufgabe sicb selbst den 
Pfad durcb ein scbeinbarcs Gestriipn zu sucben. Immerbin feblt 
es bier so wenig wie sonst an Wegemarken, die nacb bcstiinmter 
Eichtung zeigen. 

Die Snche nacb deni Realgruud der '-c'-Xia batte zuletzt auf 
den Begritf des Mangels gefiibrt. Aber selbstverstandlich kann 
nicbt der Mangel als solcher Grand der Liebe seia ^). Es drangt 
sicb vielmebr sofort die Frage auf, woran wir Mangtd empiinden 
miissen, damit in uns das Streben entstebt. Nacb dem Gange 
der bisberigen Erorterung und nacb der Parallelstelle Symp. '.iOlc 
kbnnten wir erwarten das Gute als das genannt zu seben, was 
uns mangelt. Damit ware an die Stelle der /.azoo irapouaia das 
Feblen des Guten gesetzt, das durcb die unvollkommene Verwdrk- 
licbung des Guten in der Erscbemungswelt bedingt ist, das Gute 
selber aber ware als die einzige positiv bestimmende Macbt in 
der Welt festgebalten -). Statt dessen wird ein neuer Begriff ein- 
gefiibrt: 'EvSss? Ss '/'^vsTai oo av w — Ilib? S’ oo; — Too 

olzsiou o'q, 0 )? sor/.sv, o ts spoi? xai q fiXia xai ^ ema-ofiia zu’c/A'^s'. 
ohaa. Und dieser Begriff scheint die Untersucbnng iiberrascbend 
scbnell ibrem Ziele zuzufiibren. Die Liebe ricbtet sicb auf das 
oizs’ov; Lysis und Menexenos sind wie alle andern Freunde des- 


1) ’Wern v. A. im Rh. M. yS2. y Argnmente gegen diese Annabme anfnbrl-. 
so kampft er ivie aueh sonst mci.ifach gegen vVindmiihlon. 

2) Im lib. -M. S. 3^2 sagt v. Aruim: „Der Realgrund oi' 'i-ti-M-i rob ipBob 
wiirde tautologiseh sein, da sebon in der Kennzeiclinung des Sniijekrs als 
d-'diiv; u.r'-e v.'ix'j'/ seine evoeta too ay^tSoo ausgediiicl-. t ist*'. .-tber nicbt ist aus- 
gedruekt, daB dieser Mangel am Guten der Grund dafur ist, daB in uns das 
Streben nacb dem Guten entstebt. 



0/6 


Max r o ii 1 e n z , 


halb Freunde. weil sie 'sbast rif, oixsloi tind: to otj (poasi otxstov ava'c- 
7.atov zi'^avzai f.Xslv (222 a,'. 

So scheint alles glatt aufzugeben ; aber wir haben die Empfin- 
dung, dafi der neue Jiegriff nocli keineswegs geniigend geklart ist. 
Und wicbtiger ist nocb das andere : Das olxstov, an dem wir Mangel 
haben, bat sich zugleicb als der G-egenstand nnsrer Liebe horaus- 
gestellt. Als dieser Glegenstand der Liebe war aber in der fruheren 
Entersucbung das Gate festgelegt. Damit ergibt sicb scheinbar 
ein Widerspruch; der das einc oder das andre Ergebnis unmoglich 
macbt. Wenn sicb also Plato begniigte den neuen Satz, dad das 
or/.ziov Objekt der Liebe sei, als Ergebnis zn formulieren und damit 
den Dialog schlosse, so miiBten wir wirklicb mit v. A. annehtnen, 
er babe das fruhere Ergebnis als aafgegeben betrachtet, so auf- 
fallig es auch ware, wenn er dieses mit keinem Worte mehr er- 
wabnte. Tatsachlicb verfahrt Plato aber eben anders. Er scblieBt 
nicbt bier a'u, sonderu bringt die Fortsetzung, die wir nacb dena 
ganzen Gauge der Uiitersuchung erwarten mlissen. Er erklart 
namlicb ausdriicklicb sofort die Frage f'iir notwendig, ob sicb nicbt 
auf Grund der fruheren Feststellungen Einwande gegen das neiie 
Ergelmis erheben lassen. El gsv it to olxsiov too 6p.oioo dinfipti, 
av Ti, begiiint Sokrates pooXd[j,svo? tov Xd^ov smaxsfjiao&at 222b; 
^^setzen wir dagegen olxjtoy = o(j,o’.ov, so ist nacb der fruheren 
L’ntersuchung die Freundschaft der olxsto; unmoglich. Zur Ab- 
kiirzung des langen Ge^pracbs lafit sich Sokrates die Versebieden- 
heit dieser bciden Begritfe einfaob zugeben und fabrt daun fort: 
ndrspov ouv xai taf'xdov olxstov di^oofisv ;ravTt, to 5s xaxov otXXdrptov 
stvat; f( TO p,EV xaxdv tcp xaxtp otxstov, Ttp os otYa^tj) to dtfaddv, Ttp 
5e pujTi p.TjTs xax^ p.-qxs aya&bv [jltjts xaxdv;') Der tlber- 

gang zu dem Begriff des Guten erscheint bier v. A. so abrupt, 
dafi er Jugendd. S. 60 eine Liicke vorher annimmt. Aber wir 
miissen eben daran denken, da6 Plato bier die fruhere Unter- 
suchung vor uns voruberziehen laBt, und in dieser folgte auf die 
Erorternng des op-otov die des (XYa^ov (214 e— 215 b) und nachher 
wurde das Gate als das Objekt der Liebe festgestellt ; to aya^dv 
iazi tpiXov hatte nocb der letzte Teil 220b begonnen. Da driingt 
sich naturgemafi die Frage auf, in welchem Verbaltnis zu diesem 
Guten das otxsiov steht, das zuletzt tils Objekt der Liebe sich 

1) In meiner Re-;cusion liabe ich S. 2.57 den Satz so paraplirasiert ; „WoIlen 
wir nun so gar soweit gehen, das oUv.o'j mit dem gleich zu setzen, was fur jeden 
gut ist, odei wollen wir dock sagen usw.“. Aber das zai hinter rr^irepov o5v ver- 
bindet ^vohl einfach die beideu Frageu: oov . . . ^topiev 

exEpov Ti eivat to otzetov -o~j vftofcu; und rotcpov o'j-i oizjfov 9i^30(xsv iravTi xtX. ; 



Xf ci.mals riatAS L^sis. 


577 


lierausgestellt hat, und die Losung, die zuniichst jedenfalls in Be- 
tracht gezogen warden muG. ist die, diiG das oixstov mit dem Guten 
ident'isch ist oder sieh auf diesoii Eegrilf zuruekfiihren laGt. TJnd 
endlich kunimt hinzu, daS der Satz zb a-jOLd-by olzstov sou dem Leser 
von Plato ganz bewuGt schon vorhor suggeriert worden ist. Das 
geschieht in dem protreptischen Gtsprach des Sokrates mit Lysis, 
das in folgendem Gedankengange gipfelt (210 b— d); „\Venn wir 
kein Wissen erwerben, so werdon uns die Dinge, in denen wir 
unwissend sind. nicht wahrhaft gehbreii, da wir keinen GenuG von 
ihnen haben Es werden uns auf dieseni debit te alle in den Weg 
treten, ■ ou jxov jv oi aXXotpiot. osXXd zai 6 jtottY,p xal t, [J. 7 iTY]p xal sV zc 
TOOTtov oixsidtspov sottv. . . . Ap’ oov ^'IXo'. iudp.sda xai ti? 

^iXijOit iv xo'Jtotq, sv oi; av wiisv avw'fsXsii;; — Oii S-^ia, s'f/j. — 
Nuv apa ouSs 6 Txottijp ouSs aXXo? aXXov ouSsva 'fiXsi. y.ah-’ oaov av 
a^fpYjUxoc- — ■ Oux sotxsv, s(pY^. — ’Eav p.ev apa ao'pd? “Csvtq, to itai, ;cav- 
Tsi; aot (piXot xal xavts? ooi olxsioi soovtat — / pf^otiios yap xal 
aYa^QS eaxi — , si os aoi outs aXXo? ov>5sic outs 6 xanjp 91 X 0 ? 
§'atai oiixs q outs ol olxsiot*). Aus dem protreptischen Ge- 

sprSche selber ist diese Zuspitzung des Gedankens schlechterdings 
nicht zu erklaren. Sie soli otfenbar zunachst den Zusammenbang 
mit dem Gespriich liber die Freuudschaft herstellen, indem sie den 
dort s) wichtigen Gedanken anklingen liifit, daG ip’.Xia als Gegen- 
seitigkeitsverhaltnis nur da besteht, wo die Beteiliglen sich gegen- 
seitig etwas bieten konnen, einander nicht dvw^sXsl? sind. Aber 
damit ist noch nicht erklart, warum Plato auch von den oixstoi 
spricht und ausfiihrt, dafi der Gate als niitzlich den andern olxsioi; 
ist, wahrend die durch auGere Bande mit uns verkniipften olxslot 
in Wirklichkeit nicht olxsioi sind. Der Grand kann nur der sein, 
daG Plato schon hier in bedeutungsvoller Weise auf den Begritf 
aufmerksam maclien will, den er am SchluG des Dialoges wieder 
braucht, in den er die ganze Erorterung auslaufen laGt. D«nn 
Tcrlangt er natiirlich aber auch, daG wir uns dort an die frlihere 
Stelle erinnern sollen. Wenn also 222a Sokrates erklart, keiner 
wiirde spio? oder ^iXla zu einem andern empfinden, si (j. 7 j olxsio? Tqj 
x«i> Ep(op.iv([) Ixu-fyaysv iov q xaxa XTjv liiuyiiv fj xaxa ti Tjdo; 


1) .^n dem ernsten Kerne dieser Ausfiilirungcn ist kein Zweifel; aber Plato 
formuliert allerdiugs diese mit bewuUter Einseitigkeit, I»enn dafi die Elteni 
jetzt schon den Lysis lieb baben, daB uberbaupt die Elteniliebe sich nicht bloB 
auf Kinder erstrcckt, die klug und niitzlich sind, weiB jeder Leser ohne weiteres 
und hort er 212 aE. ausdriicklicb. In dieser ipiXta steckt also ein Problem, das 
am Lysis absichtlicb ausgescbieden wird. Aufklarung fiber die letzten Grfinde 
dieser Liebe bringt das Symposion, 



578 


Max r o b 1 e n z , 


Tj zpor.ooi; -q =lSoc, iind es claranf Inn heifit: Flavo 7$, I'f/j 6 MsvsSsvo;, 

6 Ss Aoais $at7Y;o=v, so ist der Grand f'iir Lysis’ Schweigen nicht 
sowohl in dcr Verschiedenh'eit seines Wesens von dem des Me- 
ncxenos zn suchen als vielmehr darin, dsB er an das Gesprach 
denkt, das er in Abwesenheit des Menexenos mit Sokrates gefuhrt 
hatte. Uiid mit ihm sollen anch wir uns der Tragweite des Ge- 
dankens bewufit werden, da6 die oixstdrir)? nicht anf einer auBeren 
Verwandtscbaft, sondern auf einer psychischen Beschaffenheit be- 
rnht. Zngleich soil nns aber aucb der Satz, daB der Gate olxsto; 
fur die andern ist, ins Gediichtnis kommen, and damit sind wir 
psycbologisch auf die Frage sotspov Ta7ad'6v ot/siov dviaop-sv savt'. ; 
vollkommen vorbereitet. Die Frage selbst mag uns anregen den 
dort ohne weiteren Beweis vorgetragenen Satz auf seine Bichtig- 
keit zu prlifen. Jedenfalls ist aber die Stellung dieser Frage nur 
verstiindlich, wenn Plato die Notwendigkeit vorschwebt den Satz 
zb ry.v.iio'j •fD.o'j lotlv mit dcm friiheren -a7ad-ov iftXov e^rlv in Ein- 
klang zu bringen. wenn das ta7a&6v 'piXov sativ ihm dtn H'a-stab 
dafiir abgibt, ob das neue Ergebnis baltbar ist. Dann kann aber 
natiirlich das alte nicht von ihm, wie v. A. meint, pveisgegoben sein. 

Uni'icbtig ist es aber auch, wenn v. A. in dem zweiten Gliede 
der hier ge.stellteii Alternative den Bewei.s sieht, daB Plato an 
dem neutralen Subjekt der Liebe nicht mehr festhalt. Er sagt 
Eh. Mas. a. a. 0. S. 385: „Ganz unverkennbar aber zeigt .sich, daB 
in dieser Untersuchung iiber das oixitov die Beschrankung auf das 
neutrale Subjekt fallen gelassen ist, wenn es 222c heifit: v; ib plv 
xaxov tq) xax<() oixsfov, tw oz ifad-th to iyoid-oy, 5s p.Tjte 7,7ad^ 
(jL-qTS xxxq) TO [J.r,TS a7ad'6v pnjTs xaxov. Es wird bier auch das Gate 
und das Schlechte ausdriicklich als moglichcs Subjekt der Liebe 
in Erwagung gezogen“. Tatsiichlich handel*; es sieh doch aber in 
den ausgeschriebenen ’W'orten garnicht um das mogliche Subjekt 
der Liebe, sondern um da.s der otxsidrrjc. Die.se Frage war 
vorher naturgemafi iiberhaupt noch nicht beriihrt. Sie wird jetzt 
aufgeworfeu, nm zu ermitteln, wie das Wesen des oixsiov bestimmt 
werden muB, wenn nach den friiheren Ergebnissen iiber das Sub- 
jekt der Liebe der Satz to oixsiov 'piXov sotIv Geltnng haben soli. 
Diese friiheren Ergebnisse bilden also wieder den Priifstein fiir 
die Haltbarkeit de.s neuen Ansatzes, sind aLo keinesfalls auf- 
gegeben. XJnd wenn Sokrates erklart: TriXiv apx, w irotiSs;. ou? 
zb rpwTOV '/.oyo'jc a:T;J3aXop.s3’a ::=pi 'ptXia?, zi^ tootou? sia;:z7rzw'/.oi^sv ' 
Cl yeep a^ixo? Tto iC-'/.ip xcti o xaxo? tqj xaxw '^rtov s'jvoci tj 

6 ifa^bi T(j) 'i7a{l(;), so stiitzt er sich damit ausdriicklich auf Einzel- 
heiten der Untei suchung , die vorlier zu dem Ergebnis fiihrte, 



Nochmals Platos Lysis. 579 

dafi bei der ^tXia nur das neutrale Snbjekt in Frage kommen 
kann (213 d — 216 e). 

Grade das Festhalten an den friiheren Ergebnissen ist es, daa 
immer nene Bedenken gegen die Verwertbarkeit des Begriffes 
olxeiov wachmft und den Dialog scbeinbar mit einer absoluten 
Aporie enden laBt. Denn wie das zweite Glied der von Sokrates 
gestellten Alternative, so fiihrt auch das erste scbeinbar in unlos- 
bare Widerspriicbe znm Friiheren. Tt to a^adov xal to oixsiov 
fiv taotov <pw[i.sV shai, aXko tt t] 6 dtYot'&os tip afu&ij) p.dvov tpiXo?; — 
Ildvo ye. — ’AXXdt [itjv xal tootd ye ^^eXsY^at Tjfiai: autoo? • 

00 [idixvTjads ; — MsfivYjirsda. Da6 Plato bier nur die Erorterung 
der Frage ndtspov tdiYadiv otxetov -difioopLsv Ttavti; geben kann, bat 
V. A. S. 61 sehr richtig ansgefiihrt und ebenso ricbtig empfunden, 
dafi die Erorterung iiberrascbend und inkorrekt verlauft. Jedem 
*Leser muBte es ja autfallen, daB aus* dem Satze tdYotdov olxeiov 
itavti der andre abgeleitet werden soil: 6 aytx&bi tip dtYa&tp p.6vov 
yiXo?. Aber wenn nun v. A. meint, Plato wolle bier nocbmals den 
Satz von der Freundschaft der Guten, der seiner wahren Meinnng 
entspreche, ins Gedachtnis zuruckrufen, so ist das, auch wenn wir 
von unsern friiheren Feststellungen abseben, tmmoglich. Dieser 
Satz war 214 efF. teils durch den Hinweis auf die Autarkie der 
Guten widerlegt, teils durch deren Rubriziernng unter die op.oiot, 
die sich, xa^ ooov op-otot slow, gegenseitig nicbts bieten konnen, und 
grade dieses Argument wird im ScbluBabschnitt in einer Weise 
wiederholt, daB an dem Ernste von Sokrates’ Worten nicbt gezweifelt 
werden kann (222 b): oo aTtopaXstv toy TCpoodsv Xoyov, wi; oo 

to op-oiov tip 6{j.ot(p xata tf,y opotdtTjta otyjiTjotov, to 81 a)(p7]otov ^iXov 
6p.oXoYsiv ^XTjp.p.sX^? '). Demgegeniiber fallt es auch nicbt ins Ge- 
wicht, daB Plato ganz am SchluB sagt: oXXa (iTjv xal tooto ye ^dp-sda 
kieXiyidi a.hzoii<:' 7] oo In dem ^dp.sda konnte ge- 

wiB die Bedentnng des bloBen Sicheinbildens liegen (v. Arnim, 
Jugendd. 62, Rh. M. 374); daB es aber keineswegs notwendig ist, 
zeigen Stellen wie Rep. 543 b: npo? SI taic totaotau; oixijoeat xal 
toe xtf,acte, St p.vTi}{i.ovc6sie, 5tu)p.oXoY7]aap.e^a xoo olai loovtoi aotoic. — 
’AXXa jivTjpLOVSoo), I'pn], ott ye obSlv ooSivo ^dpeda Ssiv xsxtfjO'd'at wv 
vov 01 SXXot, 454 e: aXX’ Itt olTjodpeda Selv ta aOtd iTcitTjSeoetv too? ts 
^oXoxos fjp.iv xal tde yovaixet^ abzdiv, 420 b nsw. Es ware ja aucb 
merkwiirdig, wenn Plato eine „ nur sebr kiinstlich zu reebtfertigende 
Folgerung" beniitzt biitte, um einen von ibm fiir ricbtig gehaltenen 


1) Ansdriicklich hieB es 215 b nicbt bloB von den opoioi, sondern auch von 
den dyaBoi, daB sie (iVioi sapoviet yoehw vj~an eyoultv. Vgi- S. 5. 

Kgl. On. d. Wiss. Nacbrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 4. 39 



580 


Max Pohlenz, 


und besonders hoch bewerteten Satz erneut einzuscharfen. Viel- 
mehr werden wir scblieBen: Wcnn Plato die absolute Aporie durch 
eine uberrascliende und inkorrekte Folgerung herbeifiihrt, so will 
er wie in andem Dialogen den Punkt bezeicbnen, wo der Leser 
bei selbstandigem Einschlagen eines andren Weges zu einer posi- 
tiven Losnng gelangen kann. 

Worin bestebt nnn die Inkorrektbeit, die auf den unmoglichen 
Satz 6 aYaftbc tip jtovov (ptXos zuruckfiihrt? Vor allem ist 

es ein Moment. Wahrend in der Frage TtoTspov taYa^ov olxsiov 
<30{i,Ev jravu sivat; nur die Pradicierung des olxsiov von dem Gruten 
in Anssicht genommen war, wird mit den Worten to aYaS’OV xai 
t 6 olxeiov av taoTov ^cap-sv slvai die Identitat beider Begriffe ein- 
gesetzt. Dabei ist soviel doch obne weiteres klar, daB das Gate 
fiir Plato ein absoluter, das olxstov aber ein relativer Begriff ist. 
Was das fiir einen Unterschied bedentet, empfinden wir am deut- 
lichstcn nun eben, wenn Plato von der Frage nach dem Gegen- 
stand der (piXta zu der nach ihren personlichen Tragem abbiegt. 
Denn in dem Satze ol iyot^oi dXXiyXotc f 'ikoi elolv kommt die Re- 
lation nur durch das Pradikat herein, wahrend sie bei ol oIxeTo'. 
f'Xoi sloiv bereits im Subjekt liegt. Hier wurde auch eine einfache 
Gleichsetzung der Begriffe olxsiot und dYadol unserm natiirlichen 
Empfinden am starksten widersprechen. Und wenn vorher 221 e 
gesagt war, die Freunde miiBten tpban X'o oixsiot sein, so hinderte 
schon der beschrankende Zusatz an absolute aYafi-ol im Sinne von 
p. 215 a zu denken. Von diesen haben wir p. 21 4 d ja auch gebort, 
daB sie einander op-oiot sind, wahrend fiir die olxsiot die Gleich- 
setzung mit opoioi 222 b abgelehnt wurde. So kann also der Satz 
0 oixsios Tip olxEi(p {tdvov ^(Xo? IotIv sehr wohl auch in Platos Augen 
richtig sein, ohne daB man dafiir 6 ajad'oi; zip dYa^ip [tovov ^iXoc 
saTiv einsetzen diirfte. Aber noch eins miissen wir bedenken. Gut 
bleibt das Gute, in welcher Relation wir es auch vorstellen mogen. 
Aber ist es auch oixetov fiir jedes Lebewesen? Wenu wir an die 
ursprungliche Naturanlage des Menschen denken, hat der Satz 
taY*'&bv oixEiov JcavTi gewiB seine Berechtigung und sogar groBte 
Bedeutung fiir Plato F assen wir aber das Problem rein begriff- 
lich, wie dies 214 ff. geschieht, und betrachten das Verhaltnis des 
Guten zu den xaxoi xa^^ ooov xaxot, oder denken wir auch an die 
konkrete Wesensbeschaffenheit der Menschen, so konnen wir ihn 
auf die xaxot nicht ausdehnen, zu deren Wesen eben das Gute 
nicht gehort, denen es also nicht oixsiov im Sinne von 221 e ist. 


1) T. Amim, Jugendd. S. 62. 



Nochmals Platos Lysis. 


581 


Andererseits kann dariiber kein Zweifel sein, dad auch fiir die 
Neutralen die Wesenszugehorigkeit des Gruten gilt. Wie steht 
es dann aber mit der von Plato formulierten Alternative : Korspov 
ouv y.al taYa^bv olxsiov dTjacpsy icavti, to 3s xaxbv aXXdtp'.ov slvai; t] 
to [JLsv xaxbv t({) xax(p olxstov, tip Ss iya&iji to aY*^dv, tip 3s [iTjts 
(XYa&ip jj-Tfjts xaxip to pifite dcYadbv {iijts xaxdv ; ? Sie ist nicht er- 
schopfend. Denn sie beriicksichtigt die Moglichkeit nicht, daB das 
Gnte zwar nicht fiir alle, aber doch auch nicht bloB fiir die Guten, 
sondem auch fiir die Neutralen olxetov ist. Grade diese Moglich- 
keit* ist es aber, die nach Platos ganzer Anschanung wie auch 
nach dem Gedankengange des Dialoges der Wirkhchkeit entspricht, 
und mit ihr fallt die Folgerung 6 aYafl-o? tip iY«^¥ P-bvov <ptXoc 
uhne weiteres dahin. Wir konnen aber noch einen Schritt weiter 
gehen. Ausdriicklich haben wir 221 e gehort, daB das der (p-Xta im- 
manente Streben sich auf das richtet, was wir als olxsiov, als znge- 
horig empfinden, obwohl wir es noch nicht haben. Also scheiden 
die absolut Guten, die das Gute schon besitzen, als Trager der 
^tXia aus, und es folgt, daB der Satz to aYadbv olxsiov tip (injts 
a.ja.&ij) p-vits xaxip mit dem alten Ergebnis t^ otYadip t6 (jnjte Styad-ov 
(inits xaxbv p.dvij) p.6'vov oop,13atvgt ylyvea&ai ffiXov in bestem Einklang 
steht. 

Wir sehen, wie Plato vorgeht. Auf dem Umweg iiber die 
IvSsia gewinnt er das olxsiov als Objekt der Liebe, und indem er 
den neuen Begriff sofort auf die Trager der tpiXia ausdehnt, bringt 
er schnell das Gesprach zu einem vorlaufigen AbscbluB. Aber 
sofort formuliert er das weitere Problem, man miisse das Wesen 
des olxsiov so bestimmen, daB der Satz to olxsiov iplXov lotlv ohne 
Widerspruch mit den friihreren Ergebnissen bestehen kann. Er 
selber gibt die Losung des Problems nicht, sondem iiberlaBt sie 
den Lesern, deutet aber den Weg an, auf dem sie zu finden ist. 
Wir miissen das Verhaltnis des olxsiov zum iyad’bv klaren, den 
neuen Begriff auf den alten zuruckzufiihren suchen. Das olxsiov 
muB das Gute sein, sofern es zu uns in einer bestimmten Beziehung 
steht. Und wenn wir die Andeutungen beherzigen, die Plato 
namentlich 221 e gegeben hat, werden wir in dem Satze t^ iyad'o* 
to piTjte xaxbv {tdvip jtdvov oop.patvEi Y'TVsodat fiXov an 

Anfang fiir den allgemeinen Begriff des Guten das olxsiov einsetzcn 
als das zu unsrem Wesen gehorige Gute, das Gute, das unsre Liebe 
dadurch erregt, daB wir seine Abwesenheit als einen Mangel an 
unserm eignen Ich empfinden. 

Es ist also nicht richtig, wenn v. Amim, der selbst den Satz, 
daB das Gute olxsiov fiir die Menschen ist, als philosophischen 

39 * 



582 


Max Pohlenz, 


Reinertrag des Lysis ansieht (Jugendd. 62), doch meint, die Ein- 
fnhrnng des Begriffes olxstov in p. 221 e diene nicht dazn die Frage 
nach dem Wesen der ^dta weiterznfnbren, sondem verfolge nur 
den Zweck anorganisch am Schlnsse Kritik an einer fremden 
Theorie, die Plato ablehne, zu uben*). Gegen diese Anffassung 
spricht auch die vorher von nns besprocbene, bei v A. garnicht 
beachtete Tatsache, da6 schon im protreptischen Gesprach mit 
Lysis Sokrates den BegriflP olxsto? in bedentongsvoller Weise ein- 
fuhrt. Wenn Plato 2l0c erklart, Lysis werde andern Menschen 
ein Freund nur sein konnen, wenn er als gnter Mensch mit ihnen 
dnrch (^xsidnrj? verbnnden sei®), so tat er das, weil er schon hier 
dem Leser die Losang des Problems, das er am ScbloB des Dia- 
loges formuliert, snggerieren will. TJnd wieder in derselben Ge- 
daukenricbtang Hegt es, wenn an der bekannten Stelle des Sym- 
posion 20Be Sokrates den Ruckblick anf Aristophanes’ Rede dazu 
benutzt das olxsiov, das man liebt, anf das Gate znriickzafnhren. 
00 yap tb sautwv otpat sxaotot aaxdCovtat, el [lij et tt? to pev d^adov 
olxeiov xaXef xai saoroo. to de xaxov dXXdtptov®)' w? o^Sev ys &kXo 
iottv 00 IpAatv av^pMJcot rj too dfadoo. 

Das Wesentliche bleibt aber natiirlich: nach dem ganzeaa 
Schlnfiteile des Lysis selber mussen wir nns sagen, daB das olxeiov 
als Objekt der Liebe sich mit dem vorher gewonnenen, anch nach 
V. Amim vollgiiltigen Ergebnis to aya^v fikslrat dnrchans ver- 
tragt. Klar dentet aber anch Plato an, warnm er sich nicht 
begniigt das Gate anch im konkreten Einzelfalle als Gegenstand 
nnsrer ^iX(a zu bestimmen, sondern den Begritf des olxeiov einsetzt. 
Znnachst wird der nene Begriff eng mit der Bestimmnng des Real- 
gmndes verknHpft. Dadnrch, dali wir ein aufierhalb nnsres Ichs 
liegendes Gates als zu nns gehorig empfinden, wird erklart, wie 
es kommt, daB in nns snbjektiv das Gefiihl eines Mangels, das 
Bediirfnis nach Erganznng nnsres eignen Wesens entsteht, das den 
AnstoB zn dem der ^tXia zngmnde liegenden Streben gibt^). Aber 

1) Moglich ist, da8 Plato fremde Gedanken aufnimiiit und umbildet. 

2) 210 d: „Wenn du gut bist, -.dtxt; aoi oixEtoi Eiovtai". Moglich ware 
nafnrlich auch niJiv oixEto; foiQ. Es Hegt ein Gegenseitigkeifsverhaltnis vor. — 
SelbstverstandHch wird niemand hier an den absoluten dyaSo; xail’ osov dfaSo; 
denken. 

3) Lys. 210 b heidt es vcn den Dingen, in denen wir ein Wissen hab«st 
i/fiizead te xauta iazai ' dvTjadfiieSla yap dr:’ uixiiiv, VOB den andern ; loxat dXXoxpia. 
ou5e-< yap aiz’ auxuiv ivT^adfiEba Im Symposion steht vorher, dafi die Menschen 
sich sogar Glieder abnehmen lassen, £av auxols oox^ xd tauxcov r:ovr;pd eIvou. 

4) Hierin liegt die selbstandigc Bedeutuog des Realgrundes nebcn dem Final- 
grnnde. 



Nochmals Platos Lysis. 


583 


wichtiger ist das andre. Wir pflegen im gewohnlichen Leben 
weniger von dem olxsiov zu reden, das nnsre Liebe erregt, als 
von dem otxstos, mit dem uns iptXi'a verbindet, und so geht aach 
Plato von dem olxsiov als dem Objekt der Liebe sofort zu deren 
persbnlichen Tragern uber. „Wenn ihr beide“, sagt Sokrates zu 
Lysis nnd Menexenos, „Freande seid, so miiBt ihr irgendwie von 
Natnr einander olxstot sein. Und so ist es allgemein. Liebe nnd 
Preundschaft zwiscten zwei Menschen gibt es nnr, wenn diese in 
irgend einer Beziehung einander olxeiot sind t] xata t7]v ^ 

xata Tt t/ji; 7] eI8oc“ (220a). Fiir v. A. sind das nur 

SpaBe, die dazu bestimmt sind, die fremde Theorie ins Lacherliche 
zu ziehen. Aber auch wenn man den Zusammenbang der Ein- 
kleidung des Gespracbs mit seinem philosopbischen Inhalt grtind- 
satzlich ignoriert wie v. Amim, muB man sick dock fragen, ob 
denn diese Satze in sick widersinnig sind oder Platos Lesern so 
ersckeinen konnten. Und ist es denn fiir die Ereundsckaft ein 
bedeutungsloser Zug, daB sie zwei ganz bestimmte Individuen 
verbindet, die sick als znsammengekorig betrackten? Konnte also 
Plato iiberkaupt, wenn er das Tkema der Ereundsckaft ersckopfend 
bekandeln wollte, an diesem Pkanomen vorubergehen ? Wer jeden- 
falls in Plato nickt bloB den abstrakten Pkilosopken siekt, der 
nur fiir die Welt der reinen Begriffe Interesse kat, sondern auch 
den Kiinstler und Dickter, wer sick vor Augen halt, wie Plato 
auch als Denker im Symposion den Problemen des individuellen 
menschlichen Seelenlebens nackgeht, wird ihm das nickt leickt zu- 
trauen. Nein, Plato kommt kier auf das individuelle Moment in 
der (pikia, nnd zu dessen Erklarnng geniigt nickt der allgemeine 
Begriff des Guten, kier muB das oixsiov herangezogen werden. 

Allerdings wird dieser Begriff nickt bis ins Einzelne klar- 
gesteUt. Wie ^iXoc, so ist auch olxsio? ein mehrdeutiges Wort; 
das trat sckon im protreptischen Gesprach kervor. Wir gebrauchen 
es von dem Objekt der (piXia wie von ikrem Subjekt. olxsioc heiBt 
dabei fiir Plato der Freund zunachst, wed er Trager des olxeiov ist, 
das unsre Liebe erregt. Das ist aber ein Gutes, das wir nock 
nickt haben. Insofern ist also jedenfalls der olxeioc von uns ver- 
schieden, und die Untersckeidung der beiden Begriffe olxsio? und 
SjjLotoc erklart Plato ausdriicklich als notwendig. Andrerseits kann 
diese Versckiedenkeit nickt vollige Ungleickheit des Wesens be- 
deuten, da dann das Gefuhl der Zusammengekorigkeit unerklarlich 
ware und der olxeio? dock etwas in sick tragt, was wir als von 
Natur zu unserm eigenen Wesen gehorig empfinden. Nur darum 
ist es dock auch notwendig, daB man sick den Untersckied der 



584 


Max Pohlenz, 


beiden Begrilfe olxelo? und o{i.oioc erst besonders klar macben mufi, 
Und tatsachlich ist es ja selbstverstandlich, daB zwei Freunde, die 
sich so znsatnmengehorig fiihlen, daB nach dem alien Worte der 
Freund ein aXXo? aotb? ist, einander irgendwie ahnlich. wcsens- 
verwandt sein miissen. Wie sich aber diese beiden Faktoren, die 
Yerwandtsehaft und die Verscbiedenheit, zueinander verhalten, wie 
es kommt, daB wir einen andem Menschen als olxsloc, ja als ein 
Stuck unsres eignen Ichs betrachten, das stellt Plato nicht klar. 
Und das kann er, so diirfen wir hinzufiigen, nicht klarstellen. 
Denn hier handelt es sich um ein Geheimnis des Individuelien, 
das begrifflich nicht festzulegen ist. Im Symposion kommt Plato 
auf das Problem der individuelien Liebe zuriick. Da gibt er zu- 
nachst dem Dichter das Wort, dem die Vertiefung in das indivi- 
duelle Seelenleben, dem das Spiel der Phantasie statt der Begrilfs- 
dialektik ansteht. Dem legt Plato natiirlich auch keine philo- 
sophischen Termini in den Mund. Aber wenn wir sehen, wie 
Plato nachher die Gelegenheit sucht, um dem, was der Herzens- 
kiinder empfindet, dadurch eine pbilosophische Grundlage zn geben, 
dafi er den Begriff des oixsiov einfuhrt und diesen in einer Weise 
bestimmt, wie er es uns am SchlnB des Lysis nahegelegt hat 
(205 e, vgl. oben S. 582), so ist es gewiB keine Willktir, wenn wir 
den engen Zusammenhang beiden Stellen annebmen. Wir diirfen 
noch welter gehen. Wie wir beim Protagoras darans, daB er das 
am SchluB des Laches formulierte Problem zum Thema nimmt, auf 
seine Entstehung kurz nach diesem Dialoge schlieBen , so muB 
auch am SchluB des Lysis Plato bereits der Plan vorgeschwebt 
ha ben, die Frage der individuelien Liebe in dem Sinne, wie es im 
Symposion geschieht, wieder aufzunehmen. 

Damit sind wir nun beim Symposion angelangt, und nachdem 
wir die Analyse des Lysis ganz aus diesem Dialoge selbst heraus- 
gegeben haben, diirfen wir jetzt darauf hinweisen. daB die hier 
entwickelte Auffassung ihre voile Bestatigung durch die wohl- 
bekannten Ideen des Symposion erhalt. Fiir v. A. besteht der 
pbilosophische Reingehalt des Lysis ausschlieBlieh in den zwei 
Satzen, daB das Gute fiir den Menschen oixstov und Gegenstand 
der (piXia ist und daB die Freundschaft als Gegenseitigkeitsverhaltnis 
nur zwischen gnten Menschen moglich ist (Jugendd. 62). Das zweite 
ist unrichtig, das erste ist richtig, darf aber nicht allein ins Auge 
gefaBt werden. Vielmehr denkt Plato, wie wir sahen, in dem 
ganzen Dialoge auch an die siXta, die uns zu einem einzelnen 
a.’(ad‘bv hinzieht, an die Freundschaft, die uns mit dem einzelnen 
Menschen verbindet. Hier ist aber das absolute Gute nicht der 



Nochmals Platos Lysis. 


585 


Gegenstand der Liebe, sondern das oo Ivsxa, der Finalgrund, sofern 
es das letzte Ziel Jarstellt, dem wir unbewufit dnrcb die Gemein- 
schaft mit dem Freunde naher zn kommen hoffen. Den Realgrnnd 
aber bildet das Gefiihl des Mangels, das subjektive Bediirfnis der 
Erganzang unsres Wesens, das im einzelnen Falle den AnstoB zn 
dem Streben nach dem von nns als olxsiov empfnndenen Gnten gibt. 
Nach V. A. waren Realgrnnd wie Finalgrund der Theorie eines 
Zeitgenossen entlebnt und die ganze Erbrterung iiber beide nur 
zn dem Zwecke angestellt, nm sie als sinnlos zu eliminieren 
(Jugendd. 50. od). Sollen wir das glaaben, wenn wir im Sym- 
posion Realgrund wie Finalgrund nnverkennbar in der Theorie 
vom Eros als dem Sohne von Penia und Poros wiederfinden und 
dabei mehrfach durch engste wortliche Anklange auf den Zu- 
sammenhang der Dialoge hingewiesen werden? Die Sache liegt 
klar, und nur an das Wichtigste mag bier nocb einmal erinnert 
werden^). Lys. 218a lesen wir; Ata taota S-?j ’^aip-ev av xal roos 
iJSTj aoyo'js {iTjXst’. (pAoao^stv, sVxs Haol secs avfl-pcojtoi ela’.v onto'.' oi)S’ 
au IxstvoD? ;ptXoao<pstv tot)? outw? ^fvotav I'yfovta? wore xaxooe slvai • 
xaxov xai ouSsva (fiXooofslv. Xsixovtai 5 tj ot I/ovtsc p-sv 

xb xaxbv xoOxo, xyjv Siyvoiav, Sb bx’ abxou b'vxsc; aY'''wp‘'0'’'SC p-'/jSs 

apa&si?, «XX’ ix; Tj^oupavot p-ij slSsvai a loaatv. Sib Si] xai ^iXooo^oooiv 
oi ouxs a^ah-ol oiixe xaxoi xcm b'vxsc, ocoi Se xaxoi, ob tpiXoao'foboiv, 
obSs o'l afadoi. Symp. 204 a heifit es : "E/si “(dp u)8s- ■O-siuv obSslc 
(fiXoco'f si obS’ sitidup.si ao'fb? 7 Svso&at — laxl fap — ooS’ st xi? aXXo? 
ocifbc, ob (fiXooo'fsi. obS’ ab oi dpad-si? 'piXoao^fouoi obS’ sxt&up-ouoi oo'fol 
^svsn&ai • abxb fap xoutb saxi ^aXsxbv dp.a'&io, xb pi] bvxa xaXbv xd^a&bv 
pTjSs ippbvipov ooxeiv abxt]) slvai ixavbv. o’bxouv exi&opsi b pi] olopevo; svSsi]c 
sivai 00 dv pi] oiTjxai iriSsiallai. Hier zweifelt wohl niemand, daB Plato, 
als er die Stelle des Symposion schrieb, die des Lysis in Erinne- 
rung hatte. Dann diirfen wir aber gewiB die eine Stelle zur Er- 
klarung der anderen heranziehen. Das erste, was sich dabei ergibt, 
wurde schon hervorgehoben; Plato behalt wie die Weisbeit so den 
Cbarakter des d^a^bc den Gottern und theoretiscben Idealmenscben 
vor-). Die gewbhnlichen Menschen sind nur (piXoao'pouvxsc. Es sind 
das oi psxajb b'vxsc ao'fwv xal dpaS’wv, so horen wir gleicb darauf 
im Symposion (204 b), und entsprechend heiBt es nocb im letzten 
Teile des Lysis 220 d: ipiXsixai xa^adbv bip’ Tjpwv, xwv psxa4b b'vxwv 
xou xaxou xs xal xd-]ab' 0 'j. Das zweite ist; An der Symposionsstelle 


1) Vgl. au.h S. 577 

2) tbcr die Lysisstelle s. S. 566. DaB anch im Symposion die Parallele von 
oc/tfo; und clYa8o; gilt, zeigt der Ausdruck pij ovxa xa/.iv v-iYCiiiriv pr,?! cpyiv.uov. 



586 


Max Pohlenz, 


wird dafiir den Weisen und Gnten, da sie schon im Besitz dieser 
Giiter sind, der Eros und die abgesprochen (vgl. auch 

Symp. 200 b) nnd damit auch das (piXoao^stv, to ^tXsiv rijv aofiav. 
Das ist die Grundanscbauung, von der aus im Lysis der Satz er- 
wacbst, dafi die absolut Gruten, da sie im Besitze alles Guten sind, 
nicbt fiXoi sein konnen. Und endlich: im Lysis wird die ganze 
Lehre von den tpiXoaofoUvxss nur eingefubrfc, um damit zu erweisen, 
dafi wir eine otaxoii irapooota als Realgrund der fiXicx. ansetzen 
miissen (218 b). Schon das weist darauf hin, dafi die Frage nach 
dem Realgrunde aus Platos eigensten Gredankengangen erwachst. 
Freilich erweist sich im Lysis die vorlaufig getroffene Bestimmung 
nachher als unhaltbar, aber wenn dafur 221 d die s;tidup.ta einge- 
setzt nuH daran der Satz angeschlossen wird: aXXa p. 2 vtot to' ys 
ijct'9'op.ouv, 00 av ivSes? " 5 ], toutoo xtX., so habeu wir auch 

hier wieder die wbrtliche Beriihrung mit der vorhin ausgeschrie- 
benen Stelle des Symposion: ooxoov l7itOop,si 6 p.7j ol6p,£vos IvSs-iji; 
elvat 00 av p.-?] oiYjtat smSstoOai sowie mit dem ganzen Abschnitt 
p. 201, auf den diese Worte zuruckveisen. Im Symposion haben 
aber diese Ausfiihrnngen als Teudenz den Nachweis, da6 die Mutter 
des ’'Epw? die Ilsvta, der Grund fiir das Streben der das 

Gefiihl eines Mangels ist (a 1 1 1 a dk aotip xal tobtwv Tj yiviai!; • itatpoc 
p.£v 7 ap aotpoij lati xal iorcdpoo, jiYjtpo? 8s oo oo®'^; xal ditopoo 204b). 
Ist es da denkbar, da6, wie v. Arnim meint, diese Bestimmung des 
Realgrundes im Lysis nur aus einer fremden Theorie entlehnt wird 
und als sinnlos eliminiert werden soli? Ebensowenig ist zu ver- 
kenuen, da6 die Einfuhrung des Poros im Symposion denselben 
Motiven entspringt, die im Lysis zur Aufstellung des Finalgrundes 
fiihren, und wenn im Lysis angedeutet wird, da6 bei der Freund- 
schaft, die uns mit dem einzelnen Menschen verbindet, uns unbe- 
wufit das hochste Gut vorschwebt, dem wir naher zu kommen 
hoffen, so werden diese Gedanken im Symposion zwar unendlich 
vertieft, aber daO es sich im Lysis um dieselbe Grundanscbauung 
handelt, ist auch klar. Die tpiXia des Lysis ist zunachst die Liebe, 
die Zuneigung, die uns ein konkretes iytx&bv und dessen Trager 
einflofien. Aber es ist durchaus ernst gemeint, wenn Plato 221 e 
sagt: Too olxeloo Si], w? sotxsv, o ts Ipw? xal r, fiXla. xal rj I Jit- 
s' op. I a to 7 x«vet ooaa, w? tpatvetai. Mit der Liebe ist ohne weiteres 
der Eros gegeben, das Streben nach einer personlichen Vervoll- 
k’ommnung, die wir bewufit oder nnbewuBt von der in der Freund- 
schaft ermoglichten Erganzung unsres eignen Wesens erwarten. 

In den Jugenddialogen S. 39 sagt v. Arnim: „Die aus der 
Statistik geschopfte Meinung, da6 der Lysis vom Laches und Char- 



Nochmaig Platos Lysis. 


587 


mides zn trennen iind an das Ende der ersten Periode zu riicken 
sei, hat manche Grelehrte verfiihrt, den inneren Zusammenhang 
seines Gedankengehalts mit dem des Symposion (und Phaidros) zu 
iibertreiben und das anmutige Gesprach zu mifideuten". Diese 
Darstellung ist nicht richtig. Nicht die sprachstatistischen Griinde, 
sondern die augenfalligen Ubereinstimmungen itn Inhalt sind es 
gewesen, die fast alle modernen Forscher, darnnter auch die von 
V. Arnim zitierten Th. Gomperz und Bonboffer veranlaBt haben 
die beiden Dialoge in engste Verbindnng zu setzen. Aber wert- 
ToU ist es, dab v. Arnim selbst betont, grade die moderne Sprach- 
statistik babe zum spateren Ansatz des Lysis AnlaB gegeben. Er 
selbst ist mit seiner sprachstatistischen Methode zn andem Ergeb- 
nissen gelangt. Aber wenn er sich die Tatsache, dab ich mich 
beim Lysis diesen nicht ohne weiteres beiige, nur dnrch eine vor- 
gefabte Meinung iiber die Reihenfolge der platonischen Dialoge 
erklaren kann, die „im einzelnen durchaus nicht auf stichhaltigen 
Beweisen, sondern teils auf den Ergebnissen der friiheren, noch 
in den Kinderschuhen steckenden Sprachstatistik, teils auf reiner 
WiUkar berabt“ (Rh. M. 370), so kommt diese Geringschatzung 
der gesamten sonstigen Sprachstatistik zwar bei v. Arnim selbst 
nicht iiberraschend. Denn er sieht eben erst in seinen Untersuchnngen 
liber die Zustimmungsformeln der platonischen Dialoge den ent- 
scheidenden Schritt, der es ermoglicht hat, die Zeitordnung der 
Dialoge im einzelnen auf Grund der Sprachstatistik festzustellen 
(Jugendd. 38). Aber ich babe nicht den Eindruck, dab die For- 
schung im ganzen sich diesen Standpunkt zu eigen gemacht hat. 
Und man kann auch wirklich den Wert dieser Untersuchungen 
trotz mancher Bedenken sehr wohl anerkennen, ohne darum gleich 
iiberzeugt zu sein, dab erst durch sie die Sprachstatistik mit einem 
Male den Kinderschuhen entwachsen ist und dab durch diese doch 
immerbin nur eine Art von Spracherscheinungen beriicksichtigenden 
Forschungen alle friiheren Ergebnisse der Sprachstatistik iiber den 
Haufen geworfen worden. So wird es denn fiir die meisten For- 
scher immer noch einiges Gewicht haben, wenn ein Mann wie Con- 
stantin Ritter noch in seinem Platon S. 503 iiber den Lysis sagt : 
„Der Inhalt zeigt mit dem der Rede des Sokrates im Symposion 
die engste Berlihrung, wie auch der sprachliche Befund dafiir zeugt, 
dab Lysis und Symposion nicht weit auseinander liegen*. 

Ritter betont auch die erheblichen Unterschiede zwischen dem 
Lysis und den Jugenddialogen wie Laches und Charmides. Was 
den Lysis auberlich mit diesen verbindet, ist namentlich die schein- 
bare Ergebnislosigkeit. Aber auch hier mub man eins beachten. 



588 


Max Pohlenz, 


In den friihen Dialogen ist es einfach die sokratische Manier, die 
znr Aporie fiihrt, wahrend zweifellos Plato selbst eine feste Lo- 
snng vorschwebt. Im Lysis wird Plato zran SchluB auf das Ge- 
heimnis der individuellen Zuneigung gefiihrt, daB sich begrilflicher 
Festlegung entzieht. Hier liegt es also in der Natur des Problems 
selber, dafi jedenfalls nicht in alien Punkten eine voile Losung 
gegeben werden kann. 

Endlich nock ein Wort fiber die Methode der Interpretation. 
V. A. meint, mein Verfahren unterscbeide sich in Wirklichkeit nicht 
von dem seinen, da auch ich einzelne Beweisgange des Lysis nicht 
ffir stichbaltig hielte and deshalb das Recht in Anspruch nahme 
trotz des scheinbar ganz negativen Ergebnisses eine Meinung fiber 
Platos positive Ansicht zn auBern. Aber es ist doch ein Unter- 
schied, ob man zu der Anffassung kommt, Plato habe wie in so 
manchem andern Dialoge den Lesor auf gradem Wege fast bis an 
das Ziel herangeffihrt und ihn nnr znm Schluss vor eine scheinbare 
Wildnis gestellt, durch die er sich selbst mit Hilfe gegebener Einger- 
zeige hindurcbfinden soil, oder ob man ihm ein Verfahren zutraut, 
wie es v. A. voraussetzt. Was ich bei diesem ffir methodisch nn- 
zulassig balte, ist, um es nochmals zu sagen, Eolgendes. Auch 
nach V. A. gibt Plato p. 213 d — 210 e einen geschlossenen Beweis- 
gang, der zu einem durchaus ernst gemeinten Ergebnis fiihrt. 
Trotzdem nimmt er an, daB eine regelrecbt ans platonischen Vor- 
aussetzungen gewonnene Pi'Smisse des Beweisganges in diametralem 
Gegensatz zu Platos wirklicher Ansicht steht. Er nimmt dies an, 
obwohl damit der Beweis ffir die ernstgemeinte These unvollstandig, 
ja zum TrugschluB wird. Er nimmt ferner an, daB Plato diese ernste 
These so formuliert : to (it^ts aYa^ov p.yjTs xazov povcp pdvov 

ouapaivei yiyjsad-a.i (piXov, tatsachlich aber den andern Satz ; 6 
Ttp povo? povtp 'ftXo? nicht blofi daneben anerkennt, sondern 

ihm sogar allein die voile Wahrheit zubilligt. Das ist es, was ffir 
Plato beispiellos ware nnd in sich unglaublich ist. Dies ist aber 
der Pnnkt, von dem aus auch nachher v. A. zu der Annahme kommt, 
Plato habe nicht bloB die — auch nach v. A. durchaus ernsthaft 
vertretene — notwendig mit dem Eros verbundene Liebe anerkannt, 
von der er p. 220. 1 allein redet, sondern daneben und als hohere 
Form die vollig wunschlose ytXia der Guten, die er ausdrficklich 
216 a verwirft. Es ist der Punkt, von dem aus v. Arnims Gesamt- 
auffassung des Dialoges beeinfluBt ist. Wer den Auf bau des Lysis 
im ganzen betracbtet und aus sich erklart, statt wie v. A. Jugendd. 
46 sofort andre platonische Dialoge und Aristoteles zur Erklarung 
heranzuziehen, wird das Ttpmtov (jieoSo? nicht verkennen. 



Bmchstiick eines Gedichtes aus der Karolinger - Zeit. 

Veroffentlicht von 
j Wilhelm Meyer aus Speyer 

Professor in Gottingen. 

Vorgelegt in der Sitzung vom 0. Jniii 1917 durch E. Schroder, 


Der Codex Laudianus der Bodlejanischen Bibliothek in Oxford, 
no 252 der Codices miscellanei im Catalog von Coxe p. 214, ist 
geschrieben im 9. Jahrhundert mit schoner Karolingerminuskel. 
Auf 124 Slattern in 2® enthalt er 35 Briefe des Hieronymus und 
nur wenig Anderes, wie eine Homilie des Augustin. Das erste 
Stiick ist der Brief des Hieronymus ad Pammachium de dormitione 
Paulinae (ed. Vallars. I 391). Xack diesem Briefe beginnt das 10. 
Blatt mit den folgenden 36 Hexametern: 

Qui terram variis per totum cultibus 3.11111110 
Incolit et glebis semen commendat opertis, 

Postea, cum gelidas aquilo sufflaverit auras 
Ac vemi redeunt flores et farris aristae, 

5 Semine gramineo gaudebit pinguibus arvis: 

Qui vero cupiet pigro sub pectore somnum 
Semper habere novum putridam nec spargere terram 
Nec sulcare velit, vacuus quoque fruge carebit. 

Diximus en quanto cupidi cultura coloni 
10 Excolitur studio: caeli dicamus ab axe 
Sermonem. purum quotiens obnubilat aether 
Obducitque polum tetra caligine nubes, 

Nec sol inradiat terras, non pallida luna 
Comutam pandit faciem nec stella cornscum 
15 Lumen habet: caelum sed cum vaga nubila mestum 



590 


Wilhelm Meyer, 


Condere cessarint, clara sol lace nitescit. 

Actenns ex terris caeloque exempla profari 
CarmiDibus libnit nostris : nunc aequore verbum 
Samamas. felix satis est, qui per mare gestit 
20 Pergere, ventoram rabidos discernere mores 
Si scit: tutus erit pelagi luctantibus undis. 

Ast ignarus aquas qui volt transire feroces 
Hue Ulucque vagas discurrens nauta per undas, 

Si non vela sapit ventum distendere contra, 

25 Haut dubium, capietur aquis turgentibus atque 
Pronus ab arce ratis fundum mergetur in imum. 

Quae tantis poterit verborum copia dictis 
Respondere tuis vel quae vox ferrea sensum 
Explanare tuum ? iam pectore et ore fatigor. 

30 Verba latent sensusque fugit. noli inde mirari. 

Arte carens naper stultorum garrula proles 
Librorum despector eram ceu Tullius essem. 

Desine quapropter forti me tangere versa. 

Quidam ‘fessus’ ait ‘bos calcat firmiter arva’. 

35 Quodsi multa velim percurrere dicta Maron[is] 

Aut revocare tuos gentili sorte poetas . . . 

Vers 1 — 34 fiillen die erste Spalte des 10. Blattes; mit V. 35 
beginnt die 2. Spalte. Aber schon mit der 2. Zeile hort der 
Schreiber auf and lallt die ganze iibrige 2, Spalte leer. In der 
Handschrift beginnt V. 25 mit Est V. 35 percurre hat die Hft; 
am Ende ist ‘is’ weggeschnitten. 

Die Schrift ist schon and klar; Interpunction fehlt ganzlich. 
Abkiirzungen sind sehr selten; 5 Mai ist schliebendes m durch 
einen Strich ersetzt; dann ist je 1 Mai que per and nris gekiirzt. 
In der Silbe an findet sich 2 Mai offenes a (V. 29 und 33). Die 
Worttrennung ist fast durchgefuhrt. Der Dichter hat also im 
9. Jahrhundert oder vorher gelebt. Er war Christ, wie V. 36 re- 
vocare tuos gentili sorte poetas zeigt. 

Die Form der Verse gibt keine besondern Anhaltspunkte. Die 
Casur ist die gewohnliche : in 33 Versen nach der- 3. Hebung und 
nur in 3 Versen nach der Senkung des 3. FuBes mit Nebencasuren 
nacb der 2. und 4. Hebung (V. 25. 30. 32). 

Der Versschlufi wird nur durch Worter von 2 oder 3 Silben 
gebildet. Elision ist sehr selten (V. 29. 30). Einen Fehler gegen 
die Prosodie habe ich nur in V. 30 mirari gefunden. Heim spielt 
gar keine Rolle, Alliteration eine sehr geringe (V. 9. 16). 



Bruchstuck eines Gedichtes aus der Karolinger-Zeit. 


591 


Der Dichter ist aber schon betraehtlich spat. Das beweist 
die Unsicherheit iiber die eigentliche Bedentung lateinischer Wor- 
ter, wie V. 2 variis cultibus terrain incolit statt colit oder excolit. 
Der Dichter kann also zur friihen karolingischen Renaissance ge- 
hort haben. 

Besonders in dieser Zeit bewirkt die Unsicherheit fiber die 
eigentliche Bedentung der Synonyma oft Unklarheit des Ans- 
drnckes. Hier kommt noch ein anderes Hindernifi dazn. Die 36 
Verse beste*hen aus 2 Hauptgruppen, V. 1 — 26 und V. 27—36; aber 
unklar blieb mir, 1) was jeder Theil eigentlich will, und 2) ob 
und wie die beiden Theile znsammengehoren. Defihalb scheint es 
mir das Beste, die Verse commentirend zn besprechen und zu se- 
hen, ob man aus dem Einzelnen das (lanze erratben und begreifen 
kann. 

Die Verse 1 — 26 behandeln die Erde, den Himmel und das 
Meer. Der 1. Theil (V. 1 — 9) lehrt, dafi der eifrige Bebaner des 
Bodens sich reicher Ernte erfreut, wahrend der fanle hnngern mu6. 
V. 2 incolit statt colit, excolit. V. 2 opertis statt opertum. Der 
seltsame Ansdrnck ‘snfflaverit auras’ scheint zn bedenten ‘wenn 
der Nordwind kalte Liifte hereingeblasen hat’ d. h. wenn es Winter 
gewesen ist. V. 5 Semine gramineo = fiber den in Halme ge- 
schossenen Samen. Unpraktisch war es allerdings, schon vorher 
die farris aristae zu erwahnen. V. 7/8 snlcare = arare und pu- 
tridam spargere terram = Dungerde ausstreuen. V. 9 quanto = 
quantopere; cupidi = eifrig, fleiBig; excolitur = promoveatur. 

V. 10—16 handein vom 2. Theile, vom Himmel. dicamus ser- 
monem muB bedenten ‘wir wollen den Redestoflf holen’, = V. 18 
sumamus verbum; also ist wohl zn andern: dncamus sermonem. 
Auch hier wird der Gegensatz des bewolkten und des unbewolkten 
Himmels durchgefiihrt. Der 1. Satz zerftllt in den Vordersatz 
‘purum — nubes’ und den Nachsatz ‘nec sol — lumen babet’. Statt 
‘nec sol’ sollte also ‘non sol’ stehen. V. 11 aether ist Accnsativ ; 
nicht selten ist der Plural aethera. 

V. 17 — 26 nehmen ihren Redestoff vom Meere. V. 17 pro- 
fari = fari, vorbringen. carminibus = versibus. V. 18 ‘aeqnore 
verbum sumamus’ = e mari verba, exempla, argumenta sumamus. 
Wiederum wird der Gegensatz durchgefuhrt ; also ist V. 22 Ast 
das richtige. Aeqnore, mare, pelagi, nndas, aquas, fundum: eine 
beUebte Haufong der Synonyma, wie sie besonders im Mittelalter 
oft sieh findet. 

Die crsten 26 Verse bilden offenbar ein Gauzes, das aus 3 
gleichbmrechtigten Theilen besteht. Der erste und dritte Tlieil 



592 


Wilhelm Meyer, 


lehrt ofFenbar, daB ein sachknndiger und eifriger Baner und Schiffer 
Grliick hat, wahrend der unerfahrene und fanle Schaden erleidet 
und zu Grund geht. Der zweite Theil arbeitet, wie der erste und 
der dritte, mit dem Gegensatz des bewolkten und wolkenlosen 
Himmels; jener verbirgt das Licbt von Sonne, Mond und Sternen, 
dieser laBt das Sonnenlicht hell erstrahlen. Weiter ist das ter- 
tinm comparationis nicht ausgefiibrt. Die Thatigkeit des Menschen 
spielt bier keine RoUe. 

Der zweite Theil der 36 Verse, V. 27 — 36, enthalt die Gegen- 
rede eines Anderen. Die Einleitung scheint durch den Gedanken 
gebildet zu werden: die von dir vorgebrachten Gedanken sind so 
hoch, da6 es meine Kraft iibersteigt, ihnen gerecht zu werden 
(V. 27. 28. 29). Da ist das Wort respondere am Platze; autfallend 
aber ist ‘explanare’. Die vox ferrea ist ein aus Aeneis VI 626 
entlehnter, sehr beliebter Ausdruck, der neben centum linguae und 
centum ora eine machtige Anstrengung des Sprechenden bezeichnet. 
Aber dazu und zu respondere paBt wenig ‘explanare’: darlegen. 
Er muhe sich vergeblich, die ricbtigen Gedanken und Worte zu 
finden. Die Worte ‘dariiber wundere dich nicht’ scheinen die 
Begriindung einzuleiten. 

V. 31 und 32 scheinen die Entschuldigung anzngeben: als Kind 
einfacher Eltern und ungebildet habe er noch vor Kurzem sich 
nichts um Bucherweisheit gekiimmert. Schwer verstandlich ist der 
Znsatz ‘ceu Tullius essem’. Das scheint zunachst zu bedeuten: 
als ob ich ein Gicero, d. h. Genie oder hochstgebildeter Geist ware. 
Allein wenn er friiher Gelehrsamkeit verachtete, dann war er eben 
dem Cicero, dem Gipfel geistiger Bildung, nicht gleich. V. 33 
reiht daran die Bitte, ihn deBwegen nicht scharf zu tadeln. Desine 
heist wahrscheinlich nicht ‘hore auf , — denn bis jetzt ist ja kein 
derartiges Wort gefallen, — sondern ‘sine, noli’. 

V. 34 fordert langere Erorterung. Alcuin in seinen Briefen 
(Monumenta, Epistolae IV) gebraucht das Sprochwort 2 Mai. Im 
13. Brief (S. 39, 18) greift er den Adressaten an wegen seiner Vor- 
liebe fiir Virgil: ut vel iratus aliqnid rescriberes, quia bos laesus 
fortius figit tmgulam. Die Handschriften baben hier neben laesus 
auch lessus, laessus oder laetus. Im 128. Briefe (S. 190, 15) er- 
mabnt Alcuin den Aethelhard, er solle Bufie than, in seinen ver- 
lassenen Bischofssitz zuruckkehren und in eifriger Pflichterfiillung 
sich mit seiner Gemeinde aussohnen und schlieBt : Saepe miles vul- 
neratus fortius pugnat, sicut bos lassus fortius figit ungulam. Eine 
Variante zu lassus wird hier nicht notirt. Aber an beiden Stellen 
des Alcuin scheint der ZusammenhaBf laesus zu verlangen. An 



Bruchstiick eines Gedithtes aus der Karolinger-Zeit. 


beiden Stellen zeigt aucb der Ausdruck ‘figit ungalam’, daB Alcuin 
«ine besondere Quelle benutzt hat. Denn Hieronymus, aus dessen 
102. Briefe an Augustin (Migne Cnrsus 22 Sp. 831) das Citat 
stammt, ist alternd von dem jiingem Augustin angegriffen und 
antwortet: nobis debetur otium; simulque, ne solas mihi de poetis 
aliquid proposuisse videaris (Augustin hatte ihm mit einem Citat 
aus Stesichorus zugesetzt), memento Daretis et Entelli (Aeneis V 
362 — 485, wo der alte Entellus den jiingern Dares im Faustkampf 
besiegt,) et vulgaris proverbii, quod bus lassus fortius figat i>edem. 
Das ist wahrscheinlich ein Spruchvers nach Art des Publilius Syrus 
gewesen: Bos (namque) lassus fortius figit pedem. Bei Hierony- 
mus ist natiirlich lassus die echte Lesart, und auch nnser Hexa- 
meter muB diesen Sinn haben ; ein milder Ochse stampft den Boden 
heftig. V. 35/36 bedeuten doch wohl : W elite ich viele Ausspriicbe 
des Virgil durchlaufen d. h. vorbringen oder deine d. h. die von 
dir geliebten heidnischen Dichter citiren, so * *. Hier bricht der 
Schreiber ab und laBt fast eine ganze Spalte leer. 

Zunachst werfen sich drei Fragen auf: welches ist der Sinn 
der V. 27 — 36? Was war wohl der Inhalt der Fortsetznng? und 
endlich: Welches innere Band verband die V. 27 — 36 und ihre 
Fortsetzung mit den V. 1 — 26? Ich bekenne, daB ich auf keine 
dieser Fragen eine befriedigende Ant wort oder Vermuthung vor- 
bringen kann. Es scheinen aber diese Verse das Bruchstiick eines 
beachtenswerthen Gedichtes der Karolingerzeit zu sein, DeBhalb 
verofiFentliche ich sie. Vielleicht kann ein Anderer die vorliegen- 
■den Fragen beantworten. 



Kythmische Paraphmse des Sedulius von einem Iren. 

Veroffentlicht von 

f Wilhelm Meyer ans Speyer 
Professor in Gottingen. 

Vorgelegt in der Sitzung vom 9. Jnni 1917 durch E. Schroder. 

Die lateinische Handschrift in Paris 9347 ist in Reims im 9. 
Jahrhnndert geschrieben. Sie enthalt anf 135 Blattern grofiten 
Formats in 2 Spalten geschrieben anfier Jnvencus, Prosper, Arator 
und Fortnnat im Anfange den Sedulins. Diesem gehen auch 
sonst hanfig einleitende Stncke voran. Diese schliefit fol. 3 die 
Epistola ad Macedonium. Bei Hnemer in der Ausgabe 1885 S. XV 
las ich nun: fol. 4“ epistnlam excipit argnmentnm qaoddam libri 
primi: Genitoreni ncUi atque filium pafris peto qiioque sanctum spiri- 
tum trinitatem in substantia una ciii semper sua seruauit factura uti 
possim proferre de plurihus paiica tieriis licet radihns etc. Der Ton- 
fall nnd die Reime verriethen mir die rythmischen Zeilen. Fine 
Photographie bestatigte den Fund nnd brachte die nachfoJgenden 
25 Zeilen zum Vorschein. 

Ich darf bei der Besprechung dieser Verse wohl von der 
Form derselben ausgehen. Denn sie haben dieselbe Form, wie 
das Reisegebet des Grildas. Das habe ich ja anf demselben Wege 
znerst in einem alten Drneke entdeckt nnd in diesen Xachrichten 
(1912 S. 48ffl.) herausgegeben, wobei ich S. 61 fl. auch die Zeilen- 
form eingehend besprochen habe. Darnach ist schon ziemlich 
sicher, dafi ein Ire oder Angelsachse diese Verse verfaBt hat. Das 
zweisilbige i'am in Z. 17 spricht entscheidend far einen irischen 
Verfasser. Der ans dem FSnfzehnsilber 8 — u-f 7u_ verkiirzte 
Elfsilber 4_u-f-7u_ halt diese Silbenzahl stets ein. Die erste 
Kurzzeile zn 4_w scblieBt immer sinkend, bleibt also auch frei 



Wilhelm Meyer, Kythmische Paraphrase des Sedulius von einem Iren. 595 


vom Taktwcehsel. Die zweite Kurzzeile 7u_ hat, wie oft bei 
den Iren und Angelsachsen, 4 Mai (in 3. 4. 15. 23) unreinen SchluB; 
in den 21 iibrigen Zeilen finden sich 4 oder 5 Taktwechsel (in 5. 
9.13.22; 15?). Der Reim bindet stets 2 Zeilen (Reimpaare); 
er ist meistens einsilbig; doch findet sich auch zweisilbiger (7/8) 
Oder gar dreisilbiger (5/fi. 9/10. 19/20) Reim oder Assonanz. Zwei- 
silbige Assonanz steht in 1/2. 8/4 and 15/16. Alliteration 
stebt ziemlich oft (vgl. 2. 4. 5. 24). Hiate finden sich nnr 5 (in 
1 3. 14. 16). Diese Reimpaare sind durch den Sinn und Inhalt, 
stets zu vierzeiligen Gruppen oder Strophen verbnnden. For- 
mell pafit also dieses Gedicht durchans zu den bis jetzt bekannt 
gewordenen irisch - angelsachsischen Beispielen dieser Zeilenart. 

Den Inhalt bezeichnet Huemer als ‘argnmentum quod, 
dam libri primi’. Raturlich ist, dafi der Verfasser wie den Inhalt- 
so auch manche Redewendung dem Sedulius entlehnt. Etliche der- 
selben, wie 10 absque. 11 contigit. 18 saucia. 25 flagrans beweisen, 
dafi er das Carmen, nicht das Opus paschale beniitzt hat. V. 1 
— 8 enthalten die Einleitung. V. 9 — 12 (Enoch) sind = Sedulius 
I 103 — 106. V. 13 — 16 (diluvium) ist bei Sedulius V. 74 nnr be- 
ruhrt. V. 17—20 (Sarra) sind = Sed. V. 107—113; V. 21—24 
(Loth) sind = Sedulius V. 121 — 126. Der V. 25 beginnt die Ge- 
schichte vom brennenden Dornbuscb, bei Sedulius I 127 — 131. Die 
voile Zeile schliefit mitten im Worte rub(usb Dann folgt in neuer 
Zeile: Hoc opus Sedulius . . d. b. die sonst oft sich findende Notiz, 
dafi Turcius Rufius Asterius das Werk des Sedulius herausgegeben 
habe. 

Wir I'.aben also in diesen 25 Versen nur ein Bruchstlick vor 
uns. Nach der langen Einleitung (V. 1 — 8) zu schliefien, sollte 
das Ganze betrachtlich grofier werden. Unklar bleibt, was der 
Verfasser eigentlich mit seiner Dichtung gewollt hat. Ich habe 
sonst keine Spur von diesem Gedicht finden konnen. Doch mufi 
man bei der grofien Zahl der Sedulins-Handschriften die Augen 
offen halten. 

Genitorem nati atque filium 

patris peto, sanctum quoque sph’itum; 
trinitatem in substantia una, 

4 cui semper sua servit factura: 

- sanctum quoque Meyer, quoque sanctum Codex 4 rgl. Sedulius I 30 
cui convenit uni Facturam seivire suam. 

5 uti possim proferre de pluribus 
pauca . . . verbis licet rudibus. 

Kgl. Oes. d. Wiss, Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 4. 


40 



B96 Wilhelm Meyer, Bythmische Paraphrase des Sedalios von einem Iren. 

quis . . enim cuncta fari poterit, 

8 quae salvator nostra causa fuerit? 

5 uti possumus C von 1. Hand, uti possim C nach Sasur 6 pauca 
C ; es ist tooM quaedam ausgefaOen 7 ecquis enim? in 7 tmd S ist 
cuncta and causa von anderer Hand zu cunctas and causas gedndert statt 
nostra (JHeyer) hat G nur nr (noater) ob zu 7l8 zu vergkichen ist: Sedul 
I 96 audaci perstringere pauca relatn und 101 cuncta quis «xpediet? 

9 Enoch ergo translatus divinitus 
absque chao hinc migravit primitus 
ac per multos contigit innumera 

12 annos vitae propagatae tempera. 

11 mult'as. , mit Punkt vor a und nach a, hat G; innumera hat G 1. 
Hand-, innumeros 2. Hand in G 12 propagate G Vgl. Sed. I 103 Pri- 
mus abusque chao meritis vivacibus Enoch { multa per innumeros iam sae- 
cula contigit annos. Remigius gibt dazu die Note: abusque pro ab ponitur. 

13 Deinde fertur fuisse diluvium 
larga aqua implens totum seculum; 
quod com omnes subverteret ubique, 

16 sunt salvatae tantum octo animae. 

15 saluate G Sedulius erwdhnt nur I 73 genus humanum . . diluvii 
rapida spumantis mole sepultum. 

17 lam Sarrae senescebant viscera 
emarcente parto sine saucia; 

quae cum prolen non habere credidit, 

20 bonum natnm deo datum edidit. 

17 iam zweisilbig, toie after bei den Iren 18 trieUeicht ist in G partus 
zu lesen 19 que G Sedulius spricht 107 — 113 von Sarra: Saucia iam 
vetulae marcebant viscera Sarrae . . prolemque negabat . . ftigidus . . san- 
guis : , . edidit et serum suspendit ad nbera natum. 

21 Doctus quoque divinis oraculis, 
ne periret, Loth fngit a Sodomis. 
cOius uxor dum respexit post terga, 

24 est effecta statim salis statoa. 

21 divinis oraculis Meyer, diuinus oculis Godex 23 cuius Meyer, cT 
Godex Vgl- Sedulius I 121 : Loth Sodomae fngiente chaos, dum respicit 
uxor, I in statuam mutata salis stupefacta remansit. 

25 Inde flagrans ignibus innocnis 

Moysi rub. Ende der Zede und des ffedichtes. 

Vgl. Sedulius 127 : Igmbus innocuis flagons apparuit olim | non ar-, 
dens ardere rubus. 



Poetische Nachlese aus dem sogenannten 
Book of Cerne in Cambridge und aus dem Londoner 
Codex Regius 2 A. XX. 

Von 

t Wilhelm Meyer aas Speyer. 


Vorgelegt in der Sitzung vom 23. Juni 1917 durch E. Schroder. 

Das ‘Book of Ceme’ ist eine Handschrift wohl noch aos der 
ersten Halfte des 9. Jhs., ehemals in der Benedictinerabtei von 
Cerne in Dorsetshire; hera. von Kuypers. Cambridge 1902. Dort 
als A nhan g anch der Text des Cod. Reg. 2 A. XX (S. 201 — 25). 

Die Vorderseite des 21. Blattes ist mit 18 Zeilen von ver- 
schiedenfarbigen Tinten beschrieben. Die Anfangsbnchstaben dieser 
18 Zeilen sind alle Majnskelbuchstaben und ergeben das Akrosti- 
^hon: AEDELVALDEPISCOPVS (womit vgl. 10 En onmipotenti 
■deo libellnm banc ad landem scribere f6cit). Die Zeilen sind ver- 
schieden lang — sie enthalten 17 — 23 Silben — , so daB sie wie 
Hexameter anssehen. Sie sollen wohl anch wirklich Hexameter 
sein, aber rythmische, welche mir bei den Angelsachsen sonst noch 
nicht vorgekommen sind. Denn in den ZeUen 1 — 15 ist stets die 
vorletzte und die funftletzte Silbe accentuirt, wie in den Eexa- 
metern: christo paratns; semper beavit; piacnla d61e. Zeile 17 
nnd 18 sind zweifelhaft; atque seraphin; d4ns Zab&oth. Die ein- 
xige Z. 16 widerstrebt: misericorditer relaxa cnlpis; also ist bier 
nmznstellen: cnlpis relaxa. Alliteration vielleicht in 
3 Donam dignam dabit in caelis sedem qne sanctam semper beavit. 
11 Patrem aetemum postnlandam viam vitae aet^mae salutis. 

14 Copiosa praemia carpentes caelomm cnlmino enm agminibns 
sanctis. 


40 * 



598 


Wilhelm Meyer, 


Beda’s Paraphrase you Psalm 113. 

Das Book of Cerne enthalt auf Blatt 42“ (= Kuypers S. 83) 
zunachst 9 Hexameter ‘Laudate altithronum’ ; dann noch 11 Hexa- 
meter ‘Sidereo genitor residens’. Diese letzteren sind ein Aus- 
schnitt aus des Javencus Evangelica Historia I 626 — 636. 

Die ersten 9 Hexameter woUte Traube herausgeben ; vgl. Mo- 
numenta Germ. Auctores antiquissimi XIV p. xn; dock Blume 
kam ihm zuvor nnd gab in den Analecta hymn. 50 , 116 am 
Schlnsse bedaischer Diehtungen ans 4 deutschen Hften 12 Hexa- 
meter herans, welche in mehreren Hften die TJberschrift tragen: 
Carmen venerabilis Bedae presbyteri de psalmo 112. Ahnliche 
Diehtungen Beda’s werden wir noch aus dem Londoner Codex Re- 
gius 2 A. XX f. 39 zu besprechen haben. 

Fiir die von Blumo edirten Verso ist das Book of Cerne fol. 
42 noch nicht beniitzt. Uberschrift steht hier keine. Der Text 
der 6 ersten Hexameter ist ganz derselbe; nur 4 ‘ymnis’ 6'; 6 ‘tran- 
scendit’ C. Statt der 6 Hexameter 7 — 12 stehen in C imr die 3: 

7 Quis domini est similis sedes cui perpes in altis. 

Die andem Hften haben ’domino’. V. 8, 9 und 10 fehlen in 6'. 
Dann hat 6’: • 

■ 11 Inque domo sterilem habitare benignus et amplo 
12 Laetari (ans -re co. r.) tribait natomm germine matrem. 

Der 11. Vers lantet bei Blume: 

In sterilem habitare domo miseratur et amplo 
mit den Varianten: ‘In sterili’ Aj5 ; ‘Inque sterilem habitare domos’ 
( 7 ; ‘miseratus’ RD und ‘opimos’ 1). Die 3 Verse (8, 9 und 10) hat 
der Schreiber von Cerne wohl -weggelassen , weil er sonst mehr 
als 20 Zeilen auf die Seite hatte schreiben miissen , mehr als er 
gewohnt war. 

Cerne Bl. 46* steht dasselbc Gedicht ‘Ambulemus in prospe- 
ris’, welches im Regius 2 A. XX fol. 25* geschrieben steht. Bride 
Abschriften gehen auf verschiedene Textesquellen zuriick. So fehlen 
in Cerne die Zeilen 3,3 und 5,3; dagegen im Regius fehlen: 2.4 
und 3,1 und 6,2. Blume hat in den Analecta 51, 294/5 dies acht- 
strophische. wegen des gehauftenReimes und der vollstandig schwan- 
kenden SchluBcadenz merkwurdige Gedicht herausgpgeben. 

In Blame’s Noten bessere : Cerne hat die Uberschrift ‘Oratio 
matutinalis , nicht ‘matutina’. Zu 4, 1 und 2 ‘In operibus iustorum,. 



Poetische Naclilese aus d. Book of Cerne u. aus d. Codex Begins 2 A. XX. 599 

In virtute monachorum’ notirt Blame : ‘4. 1 imd 2 ‘iustoram’ u. ‘mo- 
nachornm’ umgestellt. AB\ Das gilt nur von I? i Cerne); dagegen 
in A (Regius) fehlen ganzlich die Worte : iustoram in virtute. 
6, 4 ‘in caritatis sensibus’ hat nur Blame ; dagegen in beiden Hand- 
schriften steht: ‘in acutis sensibus’, mit einer kleinen Rasar nach 
‘acutis’ in ^(Regius). 

Blatt 50“ schlieBt: Laus dei. 

20 Gloria in excelsis deo et in terra pax hominibus 
Bl. 50*’. 1 bonae uoluntatis et reliqua. Laudent earn caeli ac 
terra, mare et omnia quae in eis sunt, gloria 
3 et honor deo uirtus et imperinm. gloriam canamus 
Christo atque sancto spiritu (tui di. , 2 ). Cui honor et 
potestas in aeterna 

5 saecula. Omnis terra adoret te et psallat tibi: 
psalmum dicam nomini tuo altissimi. 

Kuypers notirt zu Z. 20: Luc. 2,14; 1: Laudent; Ps. 68, 36 
(doch hat Vulg. 'et omnia reptiiia in eis’). Act. 4, 24 (omnia quae 
in eis sunt). Zu Z. 5 citirt er Ps. 65, 4 ; da steht ‘dicat’ nnd 
fehlt ‘altissimi’. Nicht erkannt sind die dazwischen stehenden 
drei rythmischen Fiinfzehnsilber (8 _ ^ + 7 u _) : 

Gloiia et honor deo, virtus et inij-crium. 

Oloriam canamus Christo atque sancto spiritu. 

Cui honor et potestas in aeterna saecida. 

Nach I Paral. 16, 28 ‘afferte domino gloriam et imperium’ findet 
sich die Formel ‘Cui est gloria et imperium in saecula saeculorum’ 
in I Petr. 4,11 = 5, 11 = Apoc. 1,6. Die Formel ‘Cui honor et 
imperium sempiternum’ I Tim. 6, 16 ; Judae 26 ‘Soli deo . . gloria 
et magnificentia , imperium et potestas’. Ahnliche Verbindungen 
mit ‘virtus’: gloria et virtute II Petr. 1,3. Apoc. 19,1; honoris, 
gloriae et virtutis 1 Petr. 1,7. Apoc. 4,11. Also entspricht die 
neugewonnene dichterische Benedictio durchans der neutestament- 
lichen Pormelsprache. 

Nach einem langen Gebet beginnt die Handschrift: 

Bl. 51’’ et in saecula saeculorum Amen, dextera me domini conservet 
semper in aevum. Gratia me christi iugiter defendat 
3 ab hoste. Dirige domine cor meum in viam pacis. 

Kuypers citirt zu Z. 1 : Ps. 117,16 und zu Z. 3: Jer. 31,21 und 
Luc. 1,79. Die beiden letzten Citate sind ziemlich richtig; nicht 
das erste. Denn Ps. 117, 16 lautet: Dextera domini fecit virtutem, 
dextera domini exaltavit me, dextera domini fecit virtutem. Hier 



600 Wilhelm Meyer, 

aber handelt es sich um eine neue Benedictio in 2 nicht erkannten 
Bexametem : 

Dextera me domini conservet semper in aevum. 

Gratia me Christi iugiter defendat ah haste. 

Diese ErkenntniB hilft uns anch eine verderbte Stelle des Codex 
Begins fol. 33'’ (Knypers S. 215) zn verbessern. 

Das irische Gedlcht: Oratio sancta ad dominnm caeli. 

In der 5. Zeile der Seite 53’’ steht die TJberschrift : Oratio 
sancta ad dominnm caeli. Diese ist gemacht nach der ersten Zeile 
des folgenden langen Textes, welcher endet in der 8. Zeile der 
Seite 54’’. Paley hat in ‘The borne and foreign Review’ (London 
1862) p. 476 wenigstens den Reim erkannt nnd darnach die Zeilen 
1 — 24 richtig abgesetzt.' Knypers 1902 druckt genau die Zeilen 
der Hft. ab nnd bemerkt in der Note ‘In a rough metre, sometimes 
rhymed’. Bln me hat in der Hymnodia Hibemo-Celtica (Bd. 51 
der Analecta hymnica) dies Gedicht nbersehen. 

Der irische Ursprnng ist sicker. Das beweisen die rythmischen 
nnd die rhetorischen Formen. 

Das Gedicht besingt die Frenden des Himmels nnd zwar in 
SiebensUbern, In welchen Formen diese Zeilen in der rythmischen 
Dichtnng der alten Iren gewohnlich auftreten, das habe ich in der 
Abbandlnng ‘Die Verskunst der Iren in rythmischen lateinischen 
Gedichten’ (Nachrichten 1916 S. 605 — 644), wo ich S. 607 anch dies 
Gedicht angemeldet habe, des Nahem dargelegt. Doch werden 
hier die gewohnlichen Gesetze nur so lange festgehalten, als anch 
der Inhalt der gewohnliche ist, d. h. in den Langzeilen 1 — 24. Hier 
werden als Bewohner des Himmels Personen genannt, welche ge- 
wohnlich anch im Amfange von Litaneien znsammen anfgezahlt 
werden : Engel, (die 24 Altesten nnd die 4 Wnnderthiere der Apo- 
balypse nebst den 4 Paradiesesfliissen) , Patriarchen, Propheten, 
Maria mit Gefolge, Apostel, nnschnldige Kindlein, Martyrer, hei- 
lige Jungfranen nnd Manner (vgl. Cerne S. 113, Z. 8 ff.) ; dann 
folgen ganz andere Wesen. 

Diese 24 Langzeilen einfachen Inhaltes, denen 2 Zeilen Prosa 
als Einleitnng vorangehen, zeigen anch die Siebensilber in der ge- 
wbhnlichen irischen Weise behandelt. Die Siebenzahl der Silben 
wird festgehalten (Verskunst S. 609). In 3 nnd 5 ist ‘quattnor’, 
in 14 ‘praemiis zweisilbig. Doch sind manche Zeilen durch den 
Abschreiber verdorben (5. 8. 9. 10. 16. 22). Dagegen war in diesen 
Siebensilbern die SchlnBcadenz von den Iren fast freigegeben 



Poetische Nachlese aus d. Book of Cerne u. aus d. Codex Regius 2 A. XX. 001 

(S. 607/8. 609); der SchluB ‘laudantes’ wechselt mit ‘gloria’. Doch 
ist hier ein kleiner TJnterschied zu bemerken; der erste Sieben- 
silber der 24 Langzeilen scblieBt nor in 7 (und 22) steigend, sonst 
sinkend, dagegen der gereimte SchlnB der Langzeilen schliefit 8 
Mai sinkend nnd 16 Mai steigend. Die Siebensilber treten zu- 
nachst zu Langzeilen znsammen ; dann werden dnrch den Sinn und 
dnrch Reim zwei Langzeilen verbunden zn einer Strophe oder einem 
Reimpaar. Also wie die ambrosianlschen Strophen ans 4 Knrz- 
zeilen mit leichter Sinnespanse in der Mitte bestehen, so ebenfalls 
diese Siebensilberstrophen. Der Reim in der letzten Silbe der 
Langzeilen ist stets rein. Er ist einsilbig nnr in den Fremd- 
wortern 16 ‘apostolis’: 16 ‘cathedris’. Der sinkende Reim ist 
rein zweisilbig in 3/4 nnd 9/10, assonirend zweisilbig in 11 ‘pleni’ ; 
12 ‘veri’. Der steigende Reim ist selten zweisilbig (1/2 ‘milia’ : 
‘gloria’) , meistens dreisilbig rein (5 ‘animalia’ ; 6 ‘magnalia’ ; 7/8 ; 
17/18; 23/24) oder assonirend (13 ‘virginibns’ : 14 ‘snblimibns’). 
Die 12 Strophen oder Paare von Langzeilen in Z. 1 — 24 sind hier 
rhetorisch dadurch hervorgehoben, da6 jede Strophe mit dem Worte 
‘Ubi’ beginnt, abhangig von den Worten der Einleitung ‘dednc me 
(eo)’. Ebenso beginnt Columban in der Sehilderung der himmli- 
schen Freuden (Analecta hymn. 51, 353) 7 Langzeilen von Sieben- 
silbem mit ‘Ubi’. 

Die Zeilen 25 etc. Die zweite Abtheilung dieses Gedichtes 
ist zwar auch in Siebensilbern geschrieben und schildert himmlische 
Freuden, nnterscheidet sich aber sonst stark von der ersten (I — 24). 
Zunachst im Inhalt : denn hier werden nicht himmlische Personen 
anfgezahlt, wie in 1 — 24, sondern abstracte Begriffe, wie ‘felicitas’, 
‘pax’, ‘gaudium verum’ ; dann Zustande (positive oder negative), wie 
‘invenis floret’, ‘pauper non plorat’. Dann in der rhetorischen Form, 
in der Wiederholnng von ‘ubi’. Das Wort ‘Ubi’ beginnt fast jeden 
Siebensilber. Dadurch wird fast jeder Siebensilber selbstandig. 
Was aber besonders iibel ist bei diesem nachlassigen Schreiber: 
die Moglichkeit wird sehr vergroBert, daB des Abschreibers Ange 
von einem ‘Ubi’ zum andern springt und daB so mancher Sieben- 
silber ausgefallen ist. Und vielleicht ist auch ein anderes HUfs- 
mittel weggefallen, das sonst helfen konnte, Liicken zu bestimmen, 
nemlich der Reim. Hier schlieBen 4 Siebensilber auf -itas (V. 25/26), 
4 oder 6 auf -it (29/31) ; dann 10 auf -a (33/38) ; 8 auf -um (39/42), 
3 auf -um (45/46), 3 auf -i (46/48). 

So ist die kritische WiederhersteUung dieses Theiles des Ge- 
dichtes verzweifelt schwierig und man kommt allerdiugs anf den- 
selben Gedanken, wie Paley, der willkiirlich lange Ketten von 



602 


Wilhelm Meyer, 


Kurzzeilen aimalim. Die wichtigste Frage ist die, ob die im 1. 
Then geltenden rythmiscben Regeln des Reimes und der Gliede- 
rung der Strophen wirklich im 2. Theile ganzlich fehlen. Da ist 
wichtig, da6 der starke ReimschluB der Langzeilen festgehalten 
zu seia scheint, wie in 25/26 ‘nritas’. Aber weU durch die vielen 
‘Ubi’ die Langzeilen zerrissen sind, schliefien oft auch die ersten 
Kurzzeilen mit einem Reim, nur mit einem scbwacheren, einem 
Caesurreim; vorbildlich ist Z. 25/26: itas, liritas : itas, liritas. 
39/40 inum, erum : arum, enum. Also sind Reimpaare vorbanden. 
Das Reimpaar 25/26 ruht anf den 4 Begriffen : ‘felicitas’ und ‘secu- 
ritas’, ‘sauitas’ und ‘mentis puritas’ ; das Reimpaar 31/32 auf den 
dWbrtem: ‘senex’ und ‘iuvenis’, ‘laesus’ und ‘pauper’. Das heifit 
also, wir diirfen hofFen , daB nicht nur Reimpaare hier zu finden 
sind, sondern auch, daB die Zeilen der Reimpaare ahnlichen Sinn 
cnthalten. Nach diesen Erkenntnissen will ich versuchen, die 
einzelnen Reimpaare auszuscheiden. 

Das Reimpaar 25/26 ist schon besprochen. Spiiter ist durch 
den doppelten Reim, den Caesurreim ‘urit’ und den SchluBreim dbit’, 
sowie durch den negativen Inhalt das Reimpaar 29/30 sicher ge- 
stellt. Also mussen die zwischen 26 und 29 stehenden Worte das 
Reimpaar 27/28 enthalten. Ebenso dentlich tritt das Reimpaar 
31/32 hc-rvor. In der folgenden Kette von 10 Zeilen auf a tritt 
deutlich hervor die Zeile 35 ‘Ubi vita est vera, Ubi nec mors 
amara’. Also mussen 33/34 ein Zeilenpaar gebildet haben, da das 
andere 35/36 mit dem assonirenden Reim ‘amara : mala’ folgte. V or 
d6m sichern Reimpaar 39/40 bleibt also das verstiimmelte 37/38. 
Auf die beiden sichern Reimpaare 39/40 und 41/42 folgt das un- 
sichere 43/44. Im Rcste der Zeilen ist wohl nur das Reimpaar 
‘chori : poli’ sicher, sehr xinsicher ‘tetra : secla’. 

Hervorzuheben ist, daB die Zahl der Langzeilen wahrschein- 
lich 48—50 gewesen ist. Mit Z. 25 beginnt sicher der 2. Theil 
des Gedichts, der vom ersten stark verschieden ist. Also scheint 
auch dieser Dichter die beiden Theile arithmetisch gleich gemacht 
zu haben. 


Oratio sancta ad dominum caeli. 

Deus pater omnipotens, domine caeli ac terrae, 
deduc me, obsecro te, per misericordiam pietatis tuae, : 
1 Ubi resplendent semper angelorum milia 
regem regum laudantes cum ingenti gloria. 

3 Ubi viginti quattuor seniores sunt proni, 
agnum dei laudantes ante conspectum throni. 



Poetische Nachlese aus d. Book of Cerne u. aus d. Codex Regius 2 A. XX. 603 

Vgl. Apocal. 4,4 viginti quatuor seniores; 6 in conspectu sedis; 10 
procidebant et adorabant. 5, 6 ecce in medio throni . . et in medio senio- 
rum agnum stantem. 

5 Ubi mystica quattuor (adstant) animalia, 
tota oculis plena tarn mira magnalia. 

Vgl, Apoc. 4, 6 quatuor animalia plena oculis ante et retro. Colum- 
ban (Anal, bymnica 51, 278, Str. 22): tripudiis angdorum quatuorque ple- 
nissimis animalibus oculis cum viginti felicibus quattuor senioribus . . lau- 
datur trinitas; Apoc 7,11. adatant (W. Meyer) fehlt in der Hft. 

7 Ubi ilia flumina bis bina manantia. 
uno e fontis rore (terras) ini-igantia. 

terras (W. Meyer) fehlt in der Hft-, inrigati Hft: inrigantia Paley 
Vgl. Gen. 2, 10 Fluvius egrediebatur de loco voluptatis ad irrigandum pa- 
radisum, qui inde dividitur in quatuor capita. Columban (Anal. 51, 277 
Str. 15): paradisum, cuius ex fonte tlumina quattuor sunt manantia. 

9 Ubi (sunt) patriarchae primi creclentes deo, 
cives iirbis divinae [reguantes] sine fine cum eo. 

sunt (W. Meyer) fehlt in der Hft. in V. 10 druchte Paley diurnae; 
die Zeile hat 3 Silben zu viel ; regnantes tilgt W. Meyer. 

11 Ubi prophetae puri, spiritu sanoto pleni, 

Christum conlaudant clara causa luminis veri. 

1 2 clari ? 

13 Ubi sancta Maria sanctis cum virginibus, 
vitae fruentcs praemiis in thronis sublimibus. 

15 Ubi Petrus et Paulus Christi cum apostolis 
regnant cum rege sedentes in cathedris. 

16 cathhetiuds Hft. Hem Verse fehlen 2 Sdben. Paley ergiinzt altis 
Oder cum suo rege; Meyer: rege regum (pder regum rege). 

17 Ubi sequuntur agnum turbae innocentium, 
virginitatis flore amoeno florentium. 

Vgl. Apoc. 14, 4 hi . . virgines sunt, hi sequuntur agnum. 

19 Ubi martyrum chori amicti stolis albis 
Christo canentes habentes vitae palmam. 

vgl. Apoc. 7,9 = 13 amicti stolis albis et palmae in mauibus eorum. 
In 20 fehlen 2 Silben nnd der Eeim ; Paley : Christo canentes habent aeternae 
vitae palmam. 

21 Ubi virgines sanctae castitatis nimiam 
habent palmam gloriae regni regiae. 

in 22 fehlen 2 Sdben nnd der Eeim, Paley: regiam. 

23 Ubi sanctorum turbae domino canentium 
gaudent cum pace firma in terra viventium. 



604 


Wilhelm Meyer, 


25 TJbi est felicitas, Ubi et seciiritas, 

Ubi semper sanitas, Ubi mentis piiritas. 

27 Ubi nullus dolor, Ubi nec mentis (aus mentes co/r.) 
nec irae furor. Nec dolor laborantibns. 

Paley drucU (25): Ubi est felicitas, Ubi est securitas his (34) Ubi 
nec molestia in Zeilen von 5 — 8 Silben und scMieJit: ‘and so on for a con- 
siderable number of verses. In the fifth and fdUncing lines of the short hymne 
there seems to be some corruption. Probably it should be read thus : Uhl 

nullus dolor Ubi non est mentibus Nec dolor nec furor Ira labo- 
rantibus.’ Idi bin uberzeugt, daji hier verderbt vorliegen zwei gereimte Vier- 
ssehn-SMer, etwa : 

27 Ubi nuUus est dolor nec maeror maerentibus 
Ubi nec irae furor ulius laborantibus. 

29 Ubi nullus esurit, Ubi nec nllus bibit, 

Ubi ignis non urit, Ubi nullus peribit. 

31 Ubi senex non marcet, Ubi invenis florebit, 

Ubi lesus non gemit, Ubi pauper non plorat. 

Stott marcet (W. Meyer) hat die Hft. manet. Stott florebit ist ein 
zweisilbiges Verbum, toie floret, zu finden, das mit plorat reimt Oder ossonirt. 

33 Ubi pax perpetua, Ubi et laetitia, 

* * * , Ubi nec molestia. 

Ein mit Ubi beginnender und mit a endender Siebensilber ist ausgefaUen 
35 Ubi vita est vera, Ubi nec mors amara. 

Ubi semper divina, Ubi non nocent mala. 

36 ubi quies divina? 

37 Ubi caritas firma, * * * 

Ubi alma gloria Christi regis regia. 

37 die Hft. hotte zuerst regiae, dann ist das schliejjende e ausradiert. 

39 Ubi lumen divinum, Ubi gaudium verum, 

Ubi poculum purnm vitae perennis plenum. 

41 Ubi nomen praeclarum Christi regnantis thronum. 

Ubi est rector rerum, Ubi salus cunctorum. 

41 vgl. Apoc. 4, 9 sedenti super thronum ; in der Hft. ist in vor tbro- 
num herein eorrigirt. 

43 Ubi unitas. Ubi divinitas. Ubi trinitas. 

Ubi veritas vera. Ubi virtus divina. 

43 Ubi trinitas una, Ubi unitas trina. gdbe ein richtiges Reimpaar, 
45 Ubi dens deorum Ubi dominus dominomm. 

* * * » ♦ 

Vgl. I Tim. 6,15 = Apoc. 19,16 Kex regum et dominus dominan- 
tium; dann Apoc. 17,14 quoniam dominus dominorum est et rex regum. 



Poetische NacMese aus d. Book of Cerne u. aus d. Codex Regius 2 A. XX. 605 

die populate Form ‘domnus’ und ‘domnorum’ wiirde die richtige Silbensaht 
ergeben. Dann ware V. 46 mit dem Seim ‘orum’ awsgefcdlen. 

47 Ubi rex regum. Ubi caelorum chori. 

Ubi lux lucis. TJbi fons vivas fulget in summa poli. 

47 regain ^Christus) TJbi? Dann vieUeicht 

48 Ubi lucis fons vivus fulget in summo poli. 

49 Ubi vox laudis resonat domino regi. 

Ubi voces resonant laudis domino regi. (??) 

51 * ♦ * Ubi nox nulla tetra. 

Ubi regnum regnorum saeculorum in saecula. Amen. 

52 saeculorum in saecla? mit zweisilbiger Assonanz. 

Die ‘Oratio utilis de membra Christi’, welcbe Ceme Bl. Sd*" — 
56* zu lesen ist, spielt oft mit der Alliteration z.B. ‘per caput 
tuum Christe castissimum miserere meo capiti criminoso’ oder ‘eripe 
me de persecutione pravorum hominum et praesta mibi pacem et 
tranquillitatem in temporibus meis’. 

(Bussgedicht?) Cerne Bl. 61/62 gibt ein ziemlich kurzes 
BuBgebet mit der Uberschrift ‘Oratio utilis’. Der Anfang scheint 
aus Zeilen zu 8_u, dann zu 8v/ — Ich drucke den Text nach 
Kuypers S. 122 und bezeichne mit [], was ich tilge,; mit <), was 
ich zusetze, imd mit (), was ich selbst bemerke: 

Confitebor tibi, pater, 
domine caeli et terrae, 
omnia peccata m4a, 
quaecumque feci et gessi 
omnibus diebus vitae [meae]. 

[domine] deus meus qui creasti [me]. 

Omnia peccata mea (nostra?) 

[tu nosti] indulge et miserere, [quia peccavi tibi] 
Peccavimus cum patribus 
nostris, iniuste egimus, 
iniquitatem fecimus. 

Parce nobis, domine. 

Ego patrem et filium 
[et] spiritum sanctum unicorn 
dominum (deum ?) nostrum confiteor. 

Veniam peto ante te, 
pins deus, pro omnibus 
peccatis meis, quae commisi, 
quia crimina agnosco. ek. 



60G 


Wilhelm M e V e r 


In der Abhandlung ‘Drei Gothaer Rythmen’ habe ich in diesen 
Nachrichten 1916 S. 665 — 667 nachgewiesen , da6 der Verfasser 
des II. Rythmus theilweise wortlich ausgenntzt hat eine dem Au- 
gustin zugeschriebene Oratio, welche beginnt: Deus iustitiae te 
deprecor. Dieselbe findet sich in Cerne Bl. 73* — 74'’ = Kuypers 
S. 145 — 148 und im Codex Regius Bl. 47'’ — 49* = Kuypers S. 222/3. 
Wie aber diese Literatur in den Kopfen der Geistlichen bin und 
her flo6, mag das folgende Beispiel beweisen. 

Cerne Bl. 62* (Kuypers S. 123) enthalt eine kleine Oratio san- 
cta ‘Domine deus mens confiteor tibi delicta mea’. Fast die Halfte 
dieser Oratio ist aus jener Oratio Augustini entlehnt. Denn die 
Worte p. 123, 14 ‘miserere mei dens, ne me perire patiaris’ bis 
p. 124, 1 ‘iacula non penetrent’ finden sich aus C bei Kuypers 
146,14 und 147, 13 — 19 und aus dem Codex Regius p. 222 (Bl. 
48* und Bl. 48'’ und 49*}. Und wiedernm ist diese ganze Oratio 
von C Bl. 62* = Kuypers p. 123, noch einmal, ohne da6 demand 
es gemerkt hatte, wortlich enthalten im Codex Regius Bl. 28'’ Z. 4 : 
‘domine deus meus confitebor tibi’ bis zum Ende der Seite. 

Cerne Bl. 62'’ bringt ein rythmisches Kunststiick der alten 
Iren, das ich schon in der ‘Verskunst’ (Nachrichten 1916 S. 607) 
erklart habe. Die Zeile 8_u haben sie nicht zn selbstandigen Ge- 
dichten verwendet, wohl aber deren Abart 4 _ u -f 4 _ u ‘stabat 
mater dolorosa’, indem sie durch auifalligen Reim diesen sin- 
kenden Viersilbern einen recht seltenen Klang gaben: sancte sator 
suffragator. Darauf beschranken sich die beiden Kunststiicke, die 
Blume, Anal. 51, 299 und 301 gedruckt hat: ‘Sancte sator suf- 
fragator’ und ‘Christum peto Christum preco’. Dagegen Cerne 
Bl. 62'’ bringt in 13 Viersilberpaaren eine neue Spielart. Denn 7 
Viersilber sind durch ein einsilbiges Wort geschlossen; wenn nun 
das dreisilbige Anfangswort proparoxytonon ist, so bleibt der 
sinkende SchluB des Viersilbers: ‘Heli Heli domine mi; diligam 
te instrue me’ ; wenn aber dies Anfangswort paroxytonon ist, so 
wird die SchluBcadenz der Viersilber steigend : ‘adiiiro te cnstodi 
me’ und ‘custodi me amantem te’. 

Die dann folgenden 6 Zeilen sind in ein echtes, altirisches 
Ma6 gebunden (4 ^ u 4- 7 u — ) und ziemlich stark gereimt : 

Unitas (Unus?) triplex te deprecor merita, 
ne inputas (inputes?) peccata praeterita. 

Dens dele delicta praesentia, 
pari modo multa inminentia. 

Ut extinguas maligni iacula, 



Poetische Nachkse aus d. Book of Cerne u. aus d. Codex Regius 2 A. XX. 607 


ut sim sanns (xiune) hie et in secula. 

Viersilhigts i'acala ist hei den altpii Iren nicht selkn 6 in fu- 
ture seculo Hft. 

Cerne BI. 79'’ — Kuypers S. 158/9 stehen die 8 ambrosiani- 
schen Strophen ‘Sancte Petre apostole’, welche Blume Anal. 51, 
349/350 herausgegeben hat nnd ich Gothaer Rythmen (Nachrichten 
1916 S. 652) besprochen habe. Str. 1,3 fehlt ‘servo’ in C. Str. 
3, 1/2 lautet ‘Agnoscoque mea crimina denm peto ueniam’, soda6 
wohl mit Blnme ‘que’ nach ‘deo’ umznstellen ist. 

Cerne Bl. 81“''' = Kuypers S. 161/2 enthalt 12 Strophen ‘0 
Andreas sancte’, deren jede 4 Knrzzeilen zn 6_u enthalt. Zu 
den Reimkiinsten, welche Blume Anal. 51, 317 und ich Verskunst 
(Nachrichten 1916 S. 617) genannt habe, ist noch hinzuznfiigen, 
daO die Kurzzeilen in je 2 Langzeilen gebnnden sind. Die Schlusse 
der beiden Langzeilen, also je die 2. und 4. Kurzzeile, reimen 
»zweisilbig mit vollem Reim oder mit Assonanz. Aber auch die 
Anfange der beiden Langzeilen, also die 1. und 3. Kurzzeile jeder 
Strophe, sind nicht ganz reimlos, sondern der Anfang der 2. Lang- 
zeile, also die 3. Kurzzeile, reimt stets einsilbig mit dem Schlusse 
der beiden Langzeilen, also mit der 2. xmd mit dcr 4. Kurzzeile. 
So in Strophe 2. 3. 5. 6. 7. 8 und 11. 

11 Eris civis clarus civitatis mirae, 

regnabis cum roge regura sine fine, (irae, . e, . . ine) 

8 Tu verus piscator generis humani, 

sagina cum leni evangelii clari. (ani, ..i, . . ari). 

In den ubrigen 5 Strophen reimt auch die 1. Kurzzeile wie 
die 3., also : 

9 Tu virilis victor, tu fortis bellator, 

tu meus adiutor, tu meus sanator (or, . . ator, . . or, . . ator). 

Blume’s ‘senator’ ist ein Druckfehler. 

Barstellung der Apostel bci Christi Himmelfahrt. 

Wir gelangen nun zu dem Gedichtc, welches dem Inhalt nach 
das interessanteste, aber auch der Uberlieferung nach das schwie- 
rigste dieser ganzen Sammlung ist. 

C In der 5. Zeile der Riickseite des 85. Blattes des Book 
of Cerne (Kuypers S. 170) steht roth geschrieben der Titel : ijmniim 
de apostolis sanctis domini nosiri lesu Christi. Mit dem Anfang 
Luce uidet Christum quern Petrus node negauit folgen 12 Distichen, 
von denen jedes einen anderen Apostel beschreibt. 



608 


Wilhelm Meyer, 


F Dieses Gredicht ist schon 1564 gedruckt worden. Georg 
Fabricius Chemnicensis bat 1563/4 bei Opormus in Basel heraus- 
gegeben ‘Poetarnm vetemm ecclesiasticorum opera Christiana’ nnd 
hat dem Textbande von 872 Spalten in 4® als II. Band einen Com- 
mentarins beigegeben. Dieser, 144 Seiten gro6, behandelt nnter 
alphabetisch geordneten Schlagwortem viele Stellen des I. Bandes. 
Da sagt nun Fabricius S. 10 unter Aposfoli: ‘De iis legi antiquum 
Epigramma Honorii Romani episcopi, quod e manuscripto 
hue adjiciam. agit autem de Christi ad coelos ascensu’. Es folgen 
die 12 Distichen. Einen fruhem Druck oder eine friihere Er- 
wahnung konnte ich nicht finden. 

B (1589) Sacrae Bibliothecae sanctorum Patrum . . tomus VIII 
(divite christianorum poeniatum gaza instructissimus) per Margari-' 
num de la Bigne, Paris. 1589, bringt Spalte 638 nach den Gedichten 
von und iiber Sedulius unser Gedicht mit der Uberschrift : D. 
Honor ii I. P. Maximi de Apostolis, in Christi ad coelos ascensione 
obstupescentibus Epigramma. Anf der naebsten Seite beginnen die 
Gedichte des Arator. 

B (1654) Magna Bibliotheca vetemm Patrum ... in XVII 
tomos distribnta. Tomus octavus. Paris, apud Job. Billaine. 1654. 
S. 680 nach Sedulius und vor Arator steht wiederum unser Ge- 
dicht, genan mit derselben Uberschrift, wie in der Sacra Biblio- 
theca ‘). 

B (max) In der Bibliotheca maxima veterum Patrum, Lug- 
duni Bat. seit 1677, ist vol. XII p. 215 unser Gedicht aufgenommen. 

GewiB ist der Text von B 1589 nnd 1659 aus F genommen 
und nur in V. 1,9 und 12 durch Conjectnr geandert. Der Text 
von B max. ist aus B 1589 oder B 1654 genommen und in 2 
Versen (16 und 19) v/ohl nur durch Leichtsinn geandert. Aus B 
stammt der Abdruck in Migne’s Patrologie 80, 483 , den Vattasso, 
Initia patrum, citirt. 

1) Wie der 8. Band der Sacra Bibliotheca Patrum von 1589, so enthalt 
auch der 8. Band der Magna Bibliotheca Patrum nur Gedichte. Darunter enthalt 
B 1589 den Tenantius Fortunatus auf Spalte 779 — 970. B 1654 enthalt, wie 
es scheint, genan dieselbe Sammlung, nur mit mehr am Band notirten Varianten, 
anf S. 752 — 837. (Freilich beginnt dieser 8. Band der Magna Bibliotheca mit 
S. 461 = Qq). Leo erwahnt in seiner Ausgabe S. XIV/XV die Venetianer Aus- 
gabe des Solanius von 1578, dann die Mainzer Ausgabe des Brower von 1603. 
Dann sagt er: ‘Magnae bibliothecae veterum patrum vol. VIII pag. 752, Paris. 1644 
^statt 1654?), continet vitam Martini et carminum libros (desinit in XI, 26, 10) ex 
codice non multum ah B diverso expressos, lectione ab editoribns passim corrects’. 
Znnhchst milfite das Yerhaltuifi des Oruckes von 1654 zu dem von 1589 festge’- 
stellt werden. 



Poetische Nachlese aus d. Book of Cerne u. ans d. Codex Regias 2 A. XX. 609 

Der Text beruht also anf dem ZeugniB von C und von F. 
Bis jetzt ist nnr der Text von Fabricins benntzt worden. Er 
scheint anch der echte zu sein in V. 11/12; 14; 15. Dagegen scbeint 
<7 in V. 2 ‘cemit’ und vielleicht V. 6 ‘destina’ das XTrspriingliche 
erhalten zu haben. 

Dies VerhaltniB der Qnellen ist zunachst wichtig, wenn wir 
nach dem Verfasser fragen. Das Book of Cerne nennt keinen 
Namen. Fabricins sagt, in seinem Manuscript habe er gefunden 
‘antiquum epigramma Honorii Romani episcopi’, woraus die Biblio- 
theca Patrum wohl mit Recht gemacht hat: Honorii I pontificis 
maximi (625 — 638). Einige Distichen von ihm finden sich unter 
einem Mosaik in der Apsis der Kirche S. Agnes fuori le mura 
(bei De Rossi, Mnsaici Cristiani delle chiese di Roma, tav. 18). 

(Inhalt) Nach Fabricins handelt das Gedicht ‘de Christi ad 
coelos ascensu’. Die Bibliotheca Patrum hat mit Recht zugesetzt : 
‘de Apostolis in Christi ad coelos ascensione obstupescentibns’. M. 
Manitius, Geschichte der christlich-lateinischen Poesie bis zur Mitte 
des 8. Jahrhunderts (1891) 395, bespricht das Gedicht und schlieBt: 
‘Jeder Apostel erhiilt ein Distichon. Da sich nun die Uberschrift 
Epigramma findet und Vers 19 mit Hie beginnt, so stehe ich nicht 
an, das Gedicht fiir den erklarenden Text eines Bildes 
zu halten, auf welchem Christi Himmelfahrt und die Jiinger 
in den verschiedenen Situationen dargestellt waren. Die Kiirze 
der Darstellung sowie der ganze Ton des Gedichtes durfte eben- 
falls fur diese Auffassung sprechen’. 

Diese Erklarung des Gedichtes ist unzweifelhaft richtig. Sie 
ist aber wichtig, erstlich fur den Text des Gedichtes selbst. Denn 
so wird ohne Weiteres klar V. 9 ‘vocat sine voce Philippus’ und 
ohne Weiteres wird in V, 2 klar, da6 cernit dominum pergere ad 
astra suum (C) richtig, dagegen cecinit {FB) falsch ist. MiStrauisch 
wird man hier gegen jedes Perfectum, da eigentlich kein Perfec- 
tum historicum hier vorkommen darf. 

Wichtiger aber ist die richtige Erklarung dieses Gedichtes fur 
die Kunstgeschichte. Da der Pabst Honorius 638 gestorben ist, 
so ist hier ein Bild der Himmelfahrt geschildert, das noch zu den 
altchristlichen Bildwerken gerechnet werden kann. Das Merk- 
wurdige an diesem Bildwerk ist die groBe Sorgfalt, die der Kunstler 
offenbar auf die Unterscheidnng und Charakterisierung der 12 
Apostel verwendet hat. In Stein ist eingehende Charakterisimng 
der Haltung und der Gesichtszuge schwieriger und deBwegen war 
das beschriebene Knnstwerk wohl nicht eine groBe Marmortafel, 
sondern ein Gemalde und zwar nach der Liebhaberei jener Jahr- 



mo 


W ilh elm Meyer, 


hnnderte wohl ein Mosaikgemalde. Die altchristliche Kunst ver- 
wendete gem die Reihe der Apostel. Besonders fiir gekriimmte 
Wandflachen von Absiden oder Kuppeln war die Darstellung der 
Hiramelfahrt ein geeigneter Stoff. 

Auffallend ist bier hanptsachlicb, dab Christus nicht erwahnt 
wird. Er mu6 eigentlich sichtbar sein. Freilicb V. 19 ‘migrasse’ und 
nocb mebr 20/21 ‘portae coeli defixns inbaeret’ und ‘abisse’ geben 
die Moglicbkeit der Vorstellung, dafi Cbristus eben scbon im Himmel 
verscbwnnden ist oder da8 von ibm in der Wolke nur nocb die 
FttBe sicbtbar sind. Bei der Himmelfahrt ist sonst meistens 
Ma ria gegenwartig; bier nicbt. Die Apostel sind die im ersten 
Kapitel der Apostelgeschicbte V. 13 genannten elf, deren Namen 
icb die Zablen nacb unseren Disticben vorsetze : (1) Petrns et (4) 
Joannes, (3) Jacobus et (2) Andreas, (5) Pbilippns et (7) Tbomas, 
(6) Bartholomaeus et (8) Matthaeas, (9) Jacobus Alphaei et (10) 
Simon Zelotes et (12) Judas Jacobi. Hiezu kommt als 11. der 
nacbgcwiihlte Matthias (Act. 1,25 cecidit sors super Jlattbiam et 
annnm^ratus est cum undecim apostolis). 

Natiirlieb sind die meisten Apostel erscbrocken oder sehr er- 
staunt. AuBerJem scheint verscbiedenen Aposteln besondere Hal- 
tung zugescbrieben zu werden, die icb bei den einzelnen Disticben 
besprecben will. Aber icb babe nicht erkennen kbnnen, da6 durch 
Alter, Bartlosigkeit, Steben, Sitzen, Laufen usw die 12 (xestalten 
in bestimmte (Iruppen geschieden waren. 

Jedenfalls muBte der Kiiiistler es verstanden baben, die ein- 
zelnen Apostel (denen wohl die Namen beigesetzt waren) lebendig 
zu unterscheiden, so da6 unser Dichter veranlaBt werden konnte, 
diese Cbarakterisirungen durch seine Verse au.szudriicken. Diese 
lebendige Charakterisierung ist fiir die altchristliche Kunst (wir 
diirfen wohl sagen: Roms) merkwiirdig und sie verdient es. von 
den Kunsthistorikern beachtet zu werden. Johannes Ficker hat 
‘die Darstellung der Apostel in der altchristlichen Kunst’ 1887 
(Beitrage zur Kunstgeschichte, neue Folge V) eingehend besprochen; 
allein weder bier, nocb in seinem Aufsatze iiber ‘Die Bedeutung 
der altchristlichen Dichtungen fur die Bildwerke’ in den ‘(Jesam- 
melten Studien zur Kunstgeschichte’ (Leipzig 1885 S. 18) kennt er 
diese Dichtung. 

1 Luce videt Christum Fetrtis, quern nocte negavit, 
et cernit dominum pergere ad astra suum. 

C und F habea: quem Petrus; B: ‘Petrus quern’, was wohl nur eine 
Conjectur ist, aber eine nothwendige. Dann hat C : ‘cernit‘, dagegen F und 



Poetische Nachlcse aus d. Book of Ceme n. ans d. Codex Regius 2 A. XX. 611 

B: cecinit. Petrus sieht erstens jetzt seinen Herrn im Lichtglanz und zwar 
sieht er ihn in den Himmel eingehen. Diese Anreihung ist konstlos, aber 
dnrchaus moglich. Dagegen ‘cecinit’ ist wofal nur eine zwar alte, aber be- 
denkliche Correctur. In die Schilderung des Bildes paBt nicbt das erzah- 
lende Perfect. Manitius S. 394: ‘Petrus erhebt seine Stimme zum Lob- 
gesang^, nach F und B, aber unrichtig. Aber sieht Petrus den ganzen 
schwebenden Kbrper oder nur noch die Fufie, wabrend der Korper schon 
von den Wolken des Kimmels verhiillt ist? 

3 Territus Andreas orat: Miserere, magister! 
in regnum patris collige discipulum! 

So CFB. Andreas ist erschrocken; zugleich driickt seine Haltung 
die Bitte aus: ‘Meister, nimm deinen Jtinger mit dir in das himmlische 
Seich !’ Das will wohl auch Manitius S. 394 sagen : ‘Andreas bittet, dafi 
ihm dasselbe widerfahren moge’, Collige: nim m mit! vgl. Math. 25,25 
hospes eram, et collegistis me. 

5 Jacobus expavit, hominem per nubila ferri. 

C: 6 snbponit scapulas destina nota deo. 

FB: 6 supponit scapulas, dat pia vota deo. 

5 Jacobus expavit FB, expavit Jacobus C; auch in V. 17 ist gemeesen 
‘JScbbQs Alphaei’, nicht ‘Jacobus’. 

In V. 6 gehen die Handschriften stark auseinander. Die sichem Worte 
‘subponit scapulas’ scbeinen anzuderiten, dafi Jacobus beim Anblick dea 
durch die Luft fliegenden Menschen sich znsammenduckt. Die Worte ‘dat 
pia vota deo’ geben nur den oberflachlichen Sinn, welchen Manitius S. 394 
dem ganzen Distichon gibt: ‘Jakobus wendet sich erschreckt zum Gebet’, 
Destina bezeicbnet eine Stutze; so wird Atlas ‘destina caeli’ und der 
Feldherr Thomas ‘Libycae nutantis destina terrae’ genannt.' Konnte so 
hier ‘destina nota deo’ (C) andeuten, dafi Jacobus sich zusammenduckt, da- 
mit etwa der dahin fahrende Christus auf .ihm landen konne? ‘nota’ wiirde 
dann andeuten, dafi der licib eines wohl bekannten Menschen die Stutze 
bilde. Ist diese Lesart ‘destina’ die richtige und ursprungliche, dann ist 
der Text von F hier stark abgeandert und verwassert. 

V Haeret ab aspectu tremulus per membra Johannes 
et turbatus adhuc sic stetit, ut placeat. 

heret G Manitius: ‘Johannes bleibt starr vor Erstannen’. stetit = 
i6Tt;ne, nicht iitij- Der Evangelist Johannes wurde oft als Greis darge- 
stellt; dagegen der Apostel und Lieblingsschuler Christi oft als schoner 
Jiingling. Trotz des Ausdrucks des Schreckens macht daher seine Gestalt 
einen wohlgefalligen Eindruck. 

9 Quin sequimur te, Christe! vocat sine voce Philippus 
C: 10 isto proiectus ego liberet inplicitus. 

FB: 10 num proiectus ego liber et implicitus. 

9 Quin B: Quern G und F; ‘quin’ ist mu: Correctur ; doch eine noth- 
wendige. Philippus driickt durch eine heftige Bewegung aus, dafi er Christus 
nacheilen will, ‘vocat sine voce’ ist bei der Schilderang des Bildes eine 
gliickliche Wendung. Manitius S. 394 : ‘Philippus ruft aus : Warum folgen 
wir dir nicht?’ 

Kgl. Oes. d. Wise. ' Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft 4. 


41 



612 


Wilhelm Meyer, 


10 Isto proiectua (C) ist schon metrisch unmdglich; aber auch den 
Text von FB kann ich nicht verstehen. Oder darf man dieser Zeit die 
halbbarbarische Satzfiigung zutrauen, da6 ‘ego liber’ Subject ist und ‘proiec- 
tu9 et inplieitus’ Pradicat = ‘Woblanf, Christo nach! Bin denn beim 
freien Gebrauch meiner Glieder ich etwa zu Boden geschlagen und mit 
Fesseln gebunden?’ 

11 Bartholoinaee pedes Christi pendere tremiscis 

12 et vis, si capias, tendere posse manus. 

So hat F und B. G dagegen hat den Text ; 

11 Bartholomeos reditum Christi perdere tremescit 
es uult si capiat tendere posse manus. 

Der Text von G ist metrisch und sachlich unmoglich. Dagegen der 
Text von F und B gibt einen geniigenden Sinn. Manitius S. 394 erklart: 
‘Bartholomaeus will die PuBe des aufsteigenden Christus erfassen'. Aber 
auch, wenn wir defihalb, weil die Gestalt Christi iiberhaupt nicht genannt 
und beschrieben wird, annehmen, daB am Himmel nur ein oder beide FiiBe 
des in einer Wolke verschwindenden Christus sichtbar waren — wie z. B. 
Bonst iiber dem auttahrenden Christus sich eine Hand aus den Wolken ihm 
«itgegenreckt — , selbat zu dieser Annahme pafit der Text von F und B : 
‘du miihst dich, im Stands zu sein, die Hande so weit auszustrecken usw.’ 
Statt ‘posse’ hat B: pace. Das ist nur eine Conjectur von La Bigne und 
wie ich glaube, eine unrichHge. 

CFB 13 Thomas ex toto nondum satiatus amore 
C: 14 palpitat et palpat tangere membra, latus. 

FB\ 14 se palpare putat vnlnera membra latus. 

Gesagt ist wohl, daB die Liebe des Thomas noch nicht gesattigt ist 
imd daB er wie traumend seine Hande bo erhebt, als ob er noch immer 
Christi Leib betaste. Diesen Sinn gibt der Text von F und B und diesen 
will wohl auch Manitius (S. 394) ; ‘Thomas glauht immer noch, daB er 
aeine Finger in die Wundmale lege’. Der Text von G ist mir unverstandlich. 
C: 13 Matheus interpres babuit correptus in ipso 
C: 16 et timer inaasit dicere verba senem. 

FB: 15 Mattbeus muto similis, per scripta locntus. 

FB: 16 nam timor invasit, nota tacere senem. 

In V. 16 bring! die Bibliotheca maxima patrum Lugd. XII p. 215 
‘alere’ statt tacere: wohl nur ein Schreibfehler. 

Manitius erklart den Text von F und B-. ‘Matthaus scheint Buch- 
etaben mit der Hand zu malen; denn die Sprache hat ihn verlassen’. Der 
Text von FB scheint allerdinga zu besagen, daB Matthaeus hier dargestellt 
war, wie er sein Evangelium schrieb. Der Text von C ist zonachst sinn- 
los. SoUte statt ‘habuit’ zu sehreiben sein ‘tacuit’, so daB dieselbe Sache, 
der schreibende Evangelist, auch hier geschildert wiirde : ‘der dolmetschende 
Matthaeus ist verstummt, in sich zusammengekauert ; denn der Alte furchtet 
sich 2U sprechen’? ‘interpres’ deutet vielleicht darauf, daB Matthaeus sein 
Evangelium in aramaeischer Sprache verfaBt haben soil. Es ware merk- 
Stcrdig, wenn hier wirklich zwei parallele Textfhssungen vorlagen. Viel- 
leicht ware V. 6 ‘destina nota deo’ und ‘dat pia vota deo’ zu vergleichen. 



Poetische Nachlese aus d. Book of Cerne u. aus d. Codex Begins 2 A. XX. 613 

17 Jacobus Alphaei pallet sine morte sepultus 
djins comites oculos, reddere quod potuit. 

So haben G (Alphei) wie F und B. Also scheint ein sicherer Text 
vorzuliegen. Manitius erklart : ‘Jakobua, des Alphaeus Sohn, ist mit starren 
Augen einem Toten gleich in den Anblick versunken’. Ich kann kaum 
«ine Erklarang finden. TJnser Ausdruck ‘Leichenblasse’ kann uns dem 
VerstandniB des Hexameters naher fiihren. ‘pallet sine morte sepultus* 
deutet wohl darauf, dafi dieser Apostel ohnmachtig leicbenblaB ausgeatreckt 
da liegt. Dem konnte dann der Pentameter sieh anschliefien, mit dem 
Sinne; indem er jedoch seine Augen Christo naehsendet, da er, sonst wie 
ein Toter regungslos, wenigstens bereits die Augen wieder offnet und ihren 
gewohnten Dienst verrichten laBt. Da lage es freilich nahe, ‘quos’ (statt 
■‘quod eos’) zu schreiben. 

19 Hie stupet adtonitus Simon migrasse tonantem 
et fugit affectans fulgura velle pati. 

C hat ‘aduectans’ ; die Bibliotheca max. Patrum Lugd. XII, 215 bat 
■‘sonantem’ statt tonantem : wohl nur ein Sehreibfehler. Manitius erklart ; 
‘Simon fiirchtet sich und flieht, um den Blitzen zu entgehn’, mit der Note, 
‘Jedenfalls muB es heiBen ‘fulgura nolle pati’, fiir ‘velle’’. ‘Nolle’ verschlecbtert 
eher den Sinn. VieUeicht driickt die Geberde des Simon einerseits hoebstes 
Erstaunen aus, anderseits Trotz gegen jede Gefahr. Das Perfect ‘migrasse’ 
paflt ' besonders, wenn nicht mehr die ganze Gestalt Christi zu sehen ist. 

21 Mathias portae caeli defixus inhaeret, 

omnia cum Christo teste abiisse putans. 

21 so FB'. ‘in portam’ und ‘inheret’ bat C 22 so FB: testis abisse 
<7 Manitius erklart: ‘Mathias blickt nach der Himmelspforte, da er mit 
Christi Weggang alles fiir verloren halt’. M. starrt nach derWolke, durch 
die Christi Gestalt verschwunden ist, da alles Irdische ohne Christi An- 
wesenheit fur ihn werthlos geworden ist. ‘testis’ oder ‘putans’ ware moglich ; 
beide Worter zusammen gehen nicht. ‘teste’ = ‘praesente’ ist ertraglich. 
Auch diese Worte sind vertiaglich mit der Vorstellung, dafl in der Wolke 
inoch Christi FuB oder FiiBe zu sehen waren. 

23 Judas e cunctis corpus sine fronte levatns 
conspicit occisum vivere in orbe deum. 

So F und B. Dagegen C: Judas et unctis e. s. £r. denwnstrat (24) 
■et uidet occ. viv. in o. d. 

Manitius sucht zu erklaren: ‘Judas (Jacobi oder Thaddaens) endlich 
erschaut das Leben des getbteten Gottes in der Welt*. ‘et unctis’ und 
‘demonstrat’ sind schon metrisch falsch. ‘Corpus sine fronte’ bezeichnet 
vieUeicht einen von hinten gesehenen Korper. Gerade am Ende der Apostel - 
reihe konnte Einer, der einzige in der ganzen Schaar, fiber die andern n- 
hoben, von rfickwarts dargestellt sein. In V. 24 gehort wohl ‘in oriw’ 
durdhaus zu ‘occisum’, nicht zu ‘vivere’. Aber wie konnte der Kiinstler as 
dsH-stellen, daB in erhohter Stellung ein abgewendeter Apostel Christo in 
seine himmlische Herrlichkeit nachblicken konnte? 


41 * 



614 


Wilhelm Meyer, 


Cerne Bl. 86* = Kuypers S. 171 schlieBt sich an die Hexa» 
meter fiber das Bild von Christi Himmelfahrt ‘Ymnum pro pec- 
catis : Pro peccatis amare’, 12 reich gereimte rythmische Strophen, 
welche Blame Anal. Bl, 351 gedmckt hat (6, 1 hat C ‘lacrimae ce- 
dite’, nicht ‘cadite’). 

Ceme Bl. 86’’ = Kuypers S. 172 enthalt die 16 ambrosiani- 
schen Strophen ‘Domine dens Jesa’, zu deren Ansgabe Blame Anal. 
51, 172 noch eine zweite, eine londoner Handschrift benfitzte. 

In Ceme Bl. 87* = Kuypers S. 173 schlieBen sich an die 14 
Paare von Alexandriuern : ‘Amici nobiles Christi sunt virgines’. 
Der Text ist reichlich verderbt. Da aber ‘virgines’ = ‘casti’, so 
sind die masculinen Formen richtig : 6,3 qui; 9,1 isti; 11,4 iuncti 
und 13,3 iuncti. Dann ist kein Grand zu andem: 1,4 ‘ipso’ and 
8,2 in ‘ore virginum’. 10,3 hat C ‘quod sol cum radis’ und 12,3 
‘triumpha nobiles’. 


Hexameter Beda’s. 

Im Codex Regius endet eine groBe aipbabetische Gebetsreihe 
mit dem Schlusse des 38. Blattes. 

Die Vorderseite des 39. Blattes beginnt mit dem Distichon: 
Me similem cineri ventoque umbraeque memento, 
graminis utque decor sic mea vita fugit. 

Solche Distichen folgen; im Ganzen sind’s 20 Verse, so viel 
als gewohnlich eine Seite in dieser Handschrift ffillen. Die Rfick- 
seite des 39. Blattes ist wieder mit Distichen gefiiUt und zwar 
wieder mit 20, beginnend : 

Quam dilecta tui fulgent sacraria templi, 
atria cuius amor flagrat ad alma mens. 

Dann beginnt das 40. Blatt mit der Uberschrift: 

Versus cvd de sca trinitate. 

Dann folgen die 14 Hexameter, welche schon Dreves aus dieser 
Hft copirt und in den Analecta bymnica XI, 1891, p. 11 veroifent- 
licht hat: 

Mente canam domino grates laudesque rependens 
pro cunctis, tribuit sacra quae mihi gratia Christi. 



Poetische Nachlese aus d. Book of Cerne u. aus d. Codex Regius 2 A. XX. 615 

3 Credo deum patrem, verbo qui cuncta creavit, 
qui genitor rerum mundum sub lege cohercet 

5 et nulla sub lege manet ; cui condere velle est , 
quem frons nulla videt, sed totum conspicit ipse. 

7 Credo deum Christum, passns qui cuncta novavit, 
omnia pacificans unum qui fecit ntraque ; 

9 qui dens et homo natura perfectus ntraque 
certa salus constat vitae spes unica terris, 

11 qui regit aetherium princeps in principe regnum. 

Credo deum pariter summum te, spiritus alme, 
qui caelo veniens purgasti crimina mundi 
14 multiplicique hominum replesti pectora dono. 

V. 2 sacra quae mihi Dreves, quae Lccrc ll^(j 4 cohercet Dreves, 
cohercens Beg V. 8? 10 vgl. Beda bei Dreves Anal. .oO, 115,31: 

tete, spes unica vitae. 1 1 aetemum Dreves. 

In der IJberschrift hat eine neuere Hand Cud. mit ‘cuiusdam’ 
aufgelbst ; doch ist es wahrscheinlich aufzulosen mit Cudberthi, 
es bezeichnet also als Dichter dieser Hexameter den Cndberthns; 
den Schuler und Freund des Beda. Das pa6t hier durchaus. 

Fiir die 20 Distichen , welche BI. 39* und 39’’ fiillen , ist die 
erste Frage, ob sie wirklich, wie F. E. Warren, The Antiphonary 
of Bangor II 101 , sagt , nichts Anderes sind als : An elegiac 
poem of forty lines commencing with the lines: ‘Me similem cineri'. 
Das ist ein Irrthum und ein seltsamer. Denn schon David Chasley 
in seinem Catalogue of the MSS of the Kings Library (1734) ver- 
zeichnet p. 20 als no 11 der Handschrift : ‘Psalmus 84 etc. carmine 
elegiaco’ und ebenso E. Maunde Thompson, Catalogue of ancient 
manuscripts II (Latin) 1884, pag. 61: no 21 f. 39’' Version of the 
83’ (84”*) P.salm in elegiac verse, beg. ‘Quam dilecta tui’. Das ist 
offenbar das Richtige, was auch Walter de Gray Birch, An an- 
cient manuscript, Appendix p. lOS (1889, Hampshire Record Society 
no 21 aufnahm. 

Also mit Bl. 39’' de.s Codex Regius beginnt ein neues, bis jetzt 
noch nicht verzeichnetes Gedlcht, eine Paraphrase des 83Psal- 
m e s : Quam dilecta tabernacula tua domine virtutum usiv. Ich lasse 
dieses abgeschlossene und vollstandige Gedicht zunachst hier folgen : 
Quam dilecta tui fulgent sacraria templi. 
atria cuius amor flagr.it ad alma meus ’). 

3 Spiritus hoc meus, hoc ipsi laetantur et artus, 


1 ) ad CP jus ah)ii' attiu ancor meu.'< flayrat 



616 


Wilhelm Meyer, 


viventem at liceat mente videre denm. 

5 Dulce taa redolet quod dextera condidit altar, ’) 
turicremo purgans crimina cuncta lare. 

7 Felices, h^abitant qui illins in aedibus anlae, 

Ians in saecla pios qua tua perpes alit. 

9 Cerneris inque Sion castis, dens alme deorum, 
celsa tno Solymae moenia sole replens. 

11 Dulcior nna dies caeli mihi falget in anla 
qnam millena soli ®) florida saecla rosis. 

13 His mallem fieri licet nltimns incola castris 
quam lati trabeis mundi et honore frai. 

15 Transit enim terrena. poli pax alma manebit, 
vera nbi vita pios Christas in axe heat. 

17 Da modo, summe, tni, genitor, mibi Ininina verbi, 
lux iter et lampet nunc tua, Christe, meum, 

19 Ut tenebris mundi tete lucente fugatis 

spiritus alta levet nos super astra tuus.'*) 

Die Prosodie ist verletzt in V. 5 Dulce tan rcdolvi. Die 
metrische Form der Distichen ist noch rein; die Hexameter 
schliefien mit einem zwei- oder dreisilbigen Wort, die Pentameter 
nur mit einem dreisilbigen. Mit Ausnahme von V. 18 tritt in 
jedem Pentameterscliliffi kraftige Sinnespause ein. 

Wer ist der Dichter dieser Paraphrase des 83. Psalmes, 
welche fol. 39*’ des Codex Regius fiillt? Das lafit sich ziemlich 
sicher festsetzen mit Hilfe der 10 Distichen, welche die Vorder- 
seite des Blattes 39* fiillen: Me similem cineri etc. 

Bcda’s Oratio ad denm. 

Die 10 Distichen auf Bl. 39* des Codex Regius ‘Me similem 
cineri’ bis ‘ore melos’ warden von Warren, The Antiphonary of 
Bangor, 1895, II 101, und von Kuypers 1902 mit den 10 Distichen 
auf Bl. SO*" ‘Quam dilecta tui’ als ein Gedicht von 20 Distichen 


1) Aulce redolet altar, quod ... ‘ 

2) so schreib ich ; die Ifandsclirift giebt; laus qua tua perpes alit in sae- 
cula pios. ‘laus alit pios' kann bedeuten ; ‘deiue Lobpreisung beschaftigt und 
erhebt die Frommen’. Metriscli betrachtet kann aber in saecla pios wegen des 
Spondeus im zweiten Tbeil des Pentameters nicbt stehen, wobl aber a!s ScbluB 
des ersten ; ‘qua tua perpes alit’ bildet dann gut die zweite Halfte ! 

3) soli gehort zu saecla. 

4) V. 17 — 20; Die Hymnen scblieBen in der Regel mit dem i.ob der Tri- 
nitiit ; ebenso schlieBt der Dichter seine Umdiebtung des Psalms. 



Poetische Xachlese aus d. Book of C’erne u. aus d. Codex Regius 2 A. XX. 017 

angesehen und defilialb auch das Initium ‘Quam dilecta tui’ nnter- 
schlagen und nur das Initium ‘Me similem cincri’ aufgenommen 
(Chevalier’s Eepertorium no 29576). Aber auch G'hasley, Thompson 
und Birch, welche die Selbstandigkeit der Psalmparaphrase er- 
kannten, wuhten mit den ersten 10 Bistichen nichts anzufangen. 
Da konnte ich Hilfe bringen. 

In den Gottinger Nachrichten babe ich 1912 S. 228 — 235 einige 
Verse behandelt, welche in der Handschrift in Orleans no 184 
(161) s. IX S. 296 erhalten und daraus schon ofter gedruckt waren. 
Sie haben die Uberschrift ‘Oratio Bedae presbyteri’ und besteheu 
1) aus 13 verlotterten flexametem, 2) aus 13 verlotterten Penta- 
metern. Schiebt man die Pentameter zwischen die Hexameter, so 
ergeben sich 13 Distichen, deren Inbalt, wie ich Nachrichten 1912 
S. 229 und Nachrichten 1916 S. 643/1 Note nachgewiesen babe, der 
Uberschrift ‘Oratio Bedae presbyteri (ad deum)’ genau entspricht. 

Ich gebe hier zunuchst den Wortlaut der Handschrift 184 
(161) von Orleans S. 298 (0) nach eigeuer Collation, wozu ich die 
Varianten der 3 Ausgabeu (edd) notire ; dabei bezeichnet d : Mar- 
tene, Tractatus de antiqua ecclesiae disciplina (1706) 637; r: Mar- 
tene, de antiquis ecclesiae ritibus III (1737) 670; //i: Jligne, Pa- 
trologia latina 101, 1397. 

Oratio Bedae presbiteri. 

0 deus aeternae mundo spes unica vitae, 
fida manens miseris solus in axe salus : 

3 Da mihi sutfragium in tanto discrimine firmum 
et famulum a nece, rex magne, tuere tuum : 
ne caro succumbat validis infirma tyrannis, 

6 si sola innumA'is obvia tela paret. 

So lauten die ersten 6 Zeilen in der Hft von Orleans nnd in 
den 3 Drucken ; nur hat V. 1 aeterne edd. 

Aber V. 7 lautet in Orleans : 

Me similem cineri ventoque umbraeque memento 
und V. 26 : Dauit coque sacrum personet ore melos. 
d. h. die 10 Distichen, welche im Codex Regius die Vorderseite 
von Bl. 39 fallen, sind gleich V. 7 — 26 der Oratio ad deum 
Beda’s. ' Mit Bl. 39 beginnt die 3. Hand im Codex Regius zu 
schreiben. Es ist also moglicb, da6 zwischen Bl. 38 und 39 jetzt 
ein Blatt fehlt, das einst die ersten 6 Verse von Beda’s Oratio 
entbielt. Jedenfalls trifPt es sich sebr gut, da6 wir fur die etwas 
verwickelten Verse des Beda mit der festlandischen, zunachst aus 
Fleury, weiterhin aus Regensburg stammenden Handschrift von 



618 


Wilhelm Meyer 


Orleans (0) die insulare Handschrift Royal MS. 2 A. XX (R) ver- 
gleichen konnen. 

7 Me similem cineri ventoque umbraeqae memento ! 

graminis utque decor sic mea vita fugit: 
sed tua perpetno pietas quae fulget ab aevo 
eripiat semper fraudis ab ore tuum! 

11 Tegmine qui carnis veniens vestitus ab alto 
ancipiti chelydrum percutis ense ferum, 
aerios caro quo posset devincere flatus 
et vaga signifero vertere castra deo : 

15 Proelia si fremitent, conclamet et hostica salpix 
truxque cruenta citet miles in arma suos: 
te duce fidentem facilis victoria ditet, 

nexa tibi nullus pectora turbat hydros: 

19 Liber ut a laqueis tete protegente profundis, 
altithrone, merear lucis adire vias 
et, rex magne, tui florere per edita templi 
atque sacris superum celsus adesse choris ! 

23 Nam tua noster amor sitit atria dulce decusquc 
cernere glorificae laeta per arva domus, 
audiat angelico dulces qua carmine laudes 
Daviticoque sacrum personet ore melos. 

9 tuae e<M pietas R ut coniecenit Meyer, pietatis 0 edd 11 ue- 
stitus JJ (ilf), uestiu 0, vestitur edd 12 femun d 13 posset JRO, possitt* 
Meyer 1 4 vertere R Meyer, uetere 0 edd 1 4 castro 0 15 conclamet 

R Meyer: condamet Od, condamnet rm 17 fidentem R, fidente 0 edd 
17 hinter ditet seheint eine andere Hand notirt zu haben: { a, = uel a 
(ditat ?) 1 ft nexat d 18 turbat R O edd , toi'bet ? Meyer Liber at ? 

Meyer 20 merear d 21 aedita R 23 noster R edd, nostra O 
24 glorifice 0, gloiificet edd carmine R Meyer , carmina 0 edd 

26 Dauiticoque R, Dauit coque O (Davit (^uoque edd). 

Boda ist der Dichtcr der Paraphrase des 8d. Psalms des Codex 

Regius f. 39’’. 

Die Bl. 40“ folgenden Hexameter sind von Cub, d. h. von 
Beda’s Freund and Schuler Cudberthus, gedichtet. Die Bl. 39’ voran 
gehenden Disticben sind von Beda gedichtet. So spricht AUes 
dafiir, dafl aueb die unmittelbar folgenden Disticben von demselben 
Beda gedichtet sind. 

Friiber wufite man nichts von derartigen Dichtungen Bedas. 
Aber naebdern Ludwig Traube darauf hingewiesen (Monumenta 
Germ., Auctores antiqu. XIV p. XVIi, sind jetzt solche verolFent- 
licht. Blame. Analecta hy’-mn. 50, 114 hat verotfentlicht ‘Soli- 



Poetische Nachlese »us d. Book of Cerne u. aus d. Codex Begins 2 A. XX. 619 

loqniiini venerabilis Bedae presbyteri de psalmo 41 : ‘Cervus at ad 
fontes sitiens festinat aqaarum’, 46 Hexameter, in 4 Handschriften 
erbalten. Dann ‘Carmen ven. Bedae presbyteri de psalmo 112; 
Laudate altithronum pueri, laudate tonantem’, 12 Hex. ebenfalls 
in 4 Handschriften erhalten, zn denen als 5. Handschrift das Book 
of Cerne (ed. Knypers p. 83) kommt, s. oben S. 598. In 2 Hften 
folgen noch 3 Hexameter, welche 3 Psalmverse paraphrasiren (Ps 
3, 7 ; 66, 7 and 70, 23). Also pa6t diese Paraphrase des 83. Psalms 
gut zur ubrigen poetischen Thatigkeit Bedas; denn daran liegt 
Nichts, da6 diese in Distichen, die beiden andern in Hexametem 
abgefaBt sind. Der Versbau und die bescheidene Alliteration in 
diesem Gedichte (vgl. 15 ‘Transit terrena, poli pax . .’ 16 ‘vera ubi 
vita’) pafit zu den ubrigen Gedichten. Endlich auch die Aus- 
drucksweise. V. 6 altar purgans crimina turicremo lare (wo ‘lare’ 
offenbar fur ‘flamma’ oder ‘ignis’ steht) ist bedaisch; s. Blume 50, 
97; V. 8 ‘perpes’ ist bei Beda beliebter Ersatz fiir ‘perpetuus', 
‘lampare’ ist iiberhaupt ein seltenes Zeitwort, aber sonst intransitiv; 
Dagegen Beda gebraucht es transitiv: hier V. 18 ‘lux tua lampet 
iter meum’ ; ebenso aber in den Hymnen : ‘creator lampavit orbem 
lumine’ und ‘sacra gratia omnes pios lampet’. 

Wie die Oratio ad deum, so konnen auch die Psalmen-Para- 
phrasen ihren Platz gefunden haben in dem ‘Liber hymnorum di- 
verso metro sive rythmo’, das Beda selbst im Verzeichnifi seiner 
Schriften aufzahlt, von dem wir aber sonst nichts Bestimmtes 
wissen. 

Unter Alcuin’s Dichtungeu ist in den Poetae aevi Carolini I 
324 folgende Inschrift gedruckt (aus einer unbekannten Quelle) : 

Quam dilecta, deus. mihi sunt tua templa, Sabaoth, 
virtutum dominus, rex raeus atque deus. 

Te, pater alme, meum cor, te caro quaerit ubique 
tuque deus vivus gaudia magna mihi. 

. Qui(iue tuis tectis habitant, sunt valde beati 
et resonant laudes hi tibi perpetuas. 

Hie mihi, quaeso, domum tribue, mitissime pastor, 
utque tuas laudes hie sine fine canam. 

Diese A’^erse umschreiben den 83. Psalm , wie die obigeu Di- 
stichen Beda’s ; aber Beda’s Hmdichtung scheint dem Alcuin oder, 
wer der Dichter war, nicht bekannt gewesen zu sein. 


Regius foi. 38'’ ist von der ersten Hand mit 9 Zeilen eines 
Gebetes beschrieben. Danii hat eine andere, aber gleichzeitige 



620 


Wilhelm 2*leyer, 


Hand weitere 8 Zeilen gescbrieben, so da6 die 2., 4., 6. und 8^ 
Zeile mit rother Farbe gescbrieben sind: 

Dextera nos salvos conservit in aevum. 

2 Dextera nos Christi infesto defendat ab hoste. 

Dextera nos domine tneatnr tempore in omni. 

4 Te dens oranipotens verbis laudamus et actis. 

Te dens omnipotens animo celebramns et ore. 

6 Te deus omnipotens semper benedicimus omnes. 
lesus omnipotens dens adinva me sine fine, 

8 Qui vivis et regnas in saecnla saeculornm. Amen. 

Warren (Antiphonary of Bangor 11 100) in seiner Beschreibung 
des Codex Regius sagt: ‘A poem in eight rude hexameter lines 
commencing ‘Dextera nos salvos conservit in aeuum’ ; some word, 
such as ‘semper’, has been left out in this line’. Darnach hat Che- 
valier, Repertorium hymnol. die 8 Hexameter unter no ‘25470 ver- 
zeichnet mit ‘D. n. salvos [.semper] conservet in aevum’. Doch 
zunachst ist im 1. Vers ‘domini’ zu erganzen nach Cerne 51’’ (oben 
S. 599); 

Dextera me domini conservet semper in aevum. 

Gratia me Christi ingiter defendat ab hoste. 

Dann haben wir hier nicht eine Benediction Von 8 Hexametern vor 
uns, sondern drei verschiedene. Die drei Hexameter der ersten Bene- 
diction beginnen mit ‘Dextera’ (V. 0 schreibe ‘domini’) ; die 3 Hexa- 
meter der zweiten beginnen mit ‘Te deus’; die dritte besteht aus 
dem einzelnen Vers ‘Jesus’ etc. Dann folgt die beliebte Schlufi- 
formel. 


Oratio Moucaiii. 

Nach einem Bitt- und Bufigebet beginnt in der zweiten Zeile 
des 42. Blattes ein ahnliche.s Stuck , mit der Uberschrift: Ora’ 
moucani (d. h. Oratio Moucani). Deum patrem deum filium deum 
deprecor. Spiritum sanctum ; s. Kuypers p. 219 u. 220. Es" zer- 
fallt in 9 Abschnitte oder Gebete. Der 1. schlieBt mit: eloe sa- 
baoth. ia. adonai eli eli. laba. sabacthani. Die andern schlieBen 
mit ‘eloe sabaoth’ oder ‘eloe’ allein; der 9. schlieBt im Anfang 
von Bl. 45 genau so wie der erste. 

Aus rythmischen Griinden interessirt mich das Stiick. 'Mou- 
cani’ enthalt natiirlich den Namen des Verfassers. Ich hielt ihn 
fiir irisch, fand ihn aber nicht genannt. So frug ich bei Thurn- 
eysen an. Er antwortete: ‘Aloucan(us) ist kein irischer Heiliger,^ 
sondern ein britannischer, wohl kymrischer (walisischer). Bei J. 



Poetische Nachlese aiis d. Book of Cerne u. aus d. Codex Begins 2 A. XX. 621 

Loth, les Noms des Saints Bretons, 1910, p. 89/90 findet sich Eol- 
gendes: Die neukymrische Form Meugan lebt in den Ortsnamen 
LJan-fcugan (Brecknockshire): Capd 3Ieugan en Anglesey (Rees, 
Essay 269) fort. ‘Le Meugan gallois pent etre par composition, 
ponr un plus ancien Maucan en passant par Bloucan. La vie de 
saint Dewi mentionne un monasterium Maucanni (Rees, Lives 117). 
Vorher: Maugan (saint): ancien ev^che de Saint-Malo. Comme 
c’est en pays de langue francaise, et que le nom est ecrit de fa^on 
diverse, il est possible que Maugan soit pour 31alcan ou Malcant, 
nom parfaitement brittonique. Rous avons surement 3Inwgnn ou 
Mougan dans le Lomogan de S‘''-Seve (Cotes du Xord) Bretagne.’ 
Das Gebet war, so viel icb sebe, den Keltologen bis jetzt nicht 
bekannt’. 

Wie den Namen des Verfassers, so vermocbto icb anch das 
Oder die Gebete sonst nicht zu finden. Der Yerfasser ist wohl 
nach der Gewobnheit jener Jahrhunderte zum Heiligen avancirt. 
Die Gebete bieten durcb ihre Form einiges Interesse. Sie sind 
inbaltlicb grofientheils ein Mosaik von Stellen der Vulgata ; aber 
sie sind durchaus in Reimprosa geschrieben. Deren Geschichte ist 
aber noch nicht ganz klar. Hier reimt nur die letzte Silbe und 
zwar in Reimpaaren. Hie und da finden sich Zeilen ohne Reim. 
Die Silbenzahl der Reimzeilen ist oft die gleiche. oft um einige 
Silben verschieden. 

Es schien mir wiinscbenswerth, dafi einige Proben dieses Stiickes 
verbtfentlicbt wiirden, und icb babe dazu no 1, 4, 6 und 7 aus- 
gearbeitet. Die Reimzeilen babe icb abgesetzt, sie mit Reihen- 
zahlen versehen und die Silbenzahl notirt. Wo Reim fehlt, babe 
icb * gesetzt. Der benutzte Bibeltext ist die Yulgata gewesen. 
In der Hft stent nur eine Anzahl Punkte als Interpunction. Icb 
babe da, wo sie in der Hft steben, den folgenden Anfangsbuch- 
staben grofi setzen lassen, aber nur in no 1 und no 4. no 6 und 
7 babe icb nacb unserer Art setzen lassen. 

Oratio Jloucani. no 1. 

1 Deum patrem, deum filium, i9) 

2 deum deprecor Spiritum sanctum ; ( 1 0 j 

3 cuius magnitude inmeiisa (9) 

4 giro conplectitur universa, (10) 

5 Trinum in personis, (6)* 6 et unum in natura, (,7)* 

7 Simplum et trinum ; ( 5)* 

8 terram super limpbas ponderanteni, (10) 

9 Aetbram cum astris suspendentem, ^^9) 



622 


Wilhelm M eyer, 


10 Mihi ut propitias peccatori fiat, (13) 

11 Qui omnes impios pie iastificat; (12) 

12 vivit vivens continue. Fiat. 

13 dens benedictns in saecula amen. fiat. fiat. 

Eloe. sabaoth. ia. adonai. 

eli eli. laba. sabacthani. 

Hier sind keine Vulgatastellen verwendet; hochstens vgl. zu 11; Pror. 
17,15 qui iustificat impium; zum Refrain vgl. Matth. 27, 46 Eli, Eli, lamma 
sabacthani = Marc. 15,34 

No 4 (Bl. 42** Ende = Kuypers p. 219). 

1 Pater peccavi in caelum et coram te. (12) 

2 miserere mei et exandi me. (11) 

3 Jam non sum dignus vocari filius tuus. (13) 

.4 Jn adintorium meum intende dens. (13) 

5 Fac me sicut unum de mercenariis tnis. (15) 

6 Ignosce et parce peccatis meis. (11) 

7 Quia valde esurio tibi. (10) 

3 Dele impietatem peccati mei. (12j 

9 Propitius esto mihi domine peccatori. (16) 

10 Erne animara meam de manu inferni. (14) 

1 1 Memento mei domine in tuo regno. ( 1 3) 

12 Eripe me de peccati Into. (10) 

13 Et spiritum .sanctum tunm ne auferas a me. (14) 

14 Neque in furore tuo corripias me. (^13) 

15 Ad te confagio patrem piissimum. (12) 

16 non habens praeter te refugium. (lO) 

17 Solent et ad patres fugere nati. (ll) 

18 licet post vulnera vel verberati. (11) 

19 Pone me uuxta te, domine deus virtutum. (14) 

20 quia cogno.sco peccatum. (8) 

21 Domine deus, virtus salutis meae. (12i 

22 ne derelinquas me usquequaque. (lOi Eloe. 

Hier ist eine Menge Vulgatastellen verwendet, am auffalligsten im An- 
fange. Die beiden fur reuige Sunder so geeigneten (vgl. Cod. Reg. Bl. 
26'. Oratio milite in templo) Verse des verlorenen Sohnes (Lucas 15, 18 
‘pater, peccavi in coelum, et coram te’ und 19 'Jam non sum dignus vocari 
filius tuus ; fac me sicut unum de mercenariis tuis’) sind hier zerschnitten 
zu den Reimzeilen 1, 3 und 5 durch 2 ganz andere. Z. 2 = Ps. 26,7 
miserere mei et exaudi me, und Z. 4 = Ps. 69,2 deus in adiutorium meum 
intende {vgl. 37,22). 6; Job 14,16 parce peccatis meis. 8: Ps. 31,5 

remisisti impietatem peccati mei. 9; Luc. 18,13 deus propitius esto mihi 
peccatoii. 10: Ps. 38, 49 eraet animam suam de manu inferni. 11: Luc. 



Poetische Naehlese aus d. Book of Cerne u. ans d. Codex Regina 2 A. XX. 623 

23,42 domine, memento mei, cum veneris in regnum tuum. 12; Ps. 
68,15 eripe me de luto. 13: Ps. 50,13 et spiritum sanctum tuum ne 
auferas a me. 14 wiederum ein seltsamer Fall ! Ps. 6,1 ist gleich 37, 1. 
Sabatier verzeichnet als Text der Vulgata ‘ne in furore tuo arguas me ne- 
que in ira tua cortipias me’ in'beiden SteUen nnd als Text Hebr. in 6,1, 
Dagegen ‘ne in ira tua arguas me, neque in furore tuo corripias 
mu’ als versio antiqua 6,1 und Hebr. in 37,1. 19: Job 17,3 pone 

me iuxta te. 20: II Beg. 19,20 agnosco enim semis tuus peccatum 
meum. 21: Ps. 139,8 domine, domine, virtus salntis meae. 22: Ps. 
118,8 non derelinquas (me) usqnequaque. 

no 6 (Bl. 43^’ = Kuypers S. 220). 

1 Osanna rex Nazarene! (8) 

2 meo ex ore laudem perfice! (10) 

3 quia tacai, inveteraverunt (11) 

4 peccata mea et praevaluernnt. (11) 

5 alieni in me insnrrexernnt (11) 

6 et portae mortis conclusernnt. (9) 

7 snpergressi sunt caput meum deiicta mea (14) 

8 et anima mea est incurvata. (11) 

9 contnrbaverunt me (O)* 

10 dolores mortis (5)* 

11 et torrentes iniquitatis (9)* 

12 sufFocaverunt me. (6)* 

13 quare me dereliquisti V (8) 

14 longe a salute mea. deus mens converte mihi (17). 

Eloe. sabaoth. 

2 : Ps. 8, 3 ex ore infantiiun . . perfecisti laudem. 3 : Ps. 31,3 quoniam 
tacui, inveteraverunt. 5: Ps. 53, 15 alieni adversum (in) me insurrexenmt. 
7 : supergressa eorr. Ps. 37, 5 iniquitates meae supergressae sunt caput 
meum. 8: Ps. 56,7 incurvaverunt animam meam. 9. 10. 11: Ps. 17,5 
circumdederunt me dolores mortis, et torrentes iniquitatis contnrbaverunt 
me. Dolores infemi circumdederunt me. Vielleicht ist bei Moucan umzu- 
stellen: et suffocaverant me torrentes iniquitatis. 13, 14: Ps. 21,2 qmu« 
me dereliquisti ? longe a salute mea verba delictorum meorum. 

no 7 (Bl. 43’’ == Kuypers p. 220). 

1 Erue a framea animam meam, (12) 

2 et de manu canis solve earn. (10) 

3 Miserere mei, deus, miserere mihi. (14) 

4 parce, omnipotens, quia peccavi. (ll) 

5 paenitentem ex corde suscipe. (10) 

6 pauperem de stercore erige. (lO) 

7 Si iniquitates meas observaberis, (18) 



624 


Wilhelm Meyer 


8 sicut cera liqaefiam a facie ignis. (14) 

9 plumbi pondere praegravata, (9) 

10 velut arena peccata mea. (10) 

11 Verbnm dei mei semen (8) 

12 suiFocat in me spinarnm noxium gramen. 

Eloe. sabaoth. 

1 : Ps 21, 20 erue a framea deus animam meam et de manu canis 
ttnicam meam 3 : Ps 66, 2 miserere mei, deus, miserere mei. 6 : Ps 

112.7 de stercoi’e erigens pauperem. 7: Ps 129,3 si iniquitates obser- 
vaveris. 8 : Ps 67, 3 sicut fluit cera a facie ignis, sic pereant peccatores 
a facie dei. 11 und 12 sind gebildet mit Hilfe von Matth. 13,7; Marc. 

4.7 nnd Luc. 8,7 ‘spinae seminata suffocant’ und (Luc. 8,11) ‘semen est 
verbum dei. 

• 


Die Handschrift Royal 2 A. XX nennt anf Bl. 46’’ eine Anzahl 
liimmlischer Wesen und biblischer Personen, welche den Betenden 
bei Gott durch ihre Fiirsprache empfehlen sollen: Ordines ange- 
lorum archangelorum iastos chernbin sanctam pnlso. Intercessores 
thronos principatus et seraphin potestates dominationes vos invoco 
virtutes. Abel iustus et Noe . . intercedant pro me. etc. Hier 
ist vielleicht zn interpungieren : pulso intercessores. Thronos etc. 
= VOS invoco virtutes. 

Den ausgeschriebenen Worten geht in der Handschrift fol- 
gender Text voran: Te deprecor pater sancte ut digneris me sal- 
uare et non sinas interire in peccato et crimine. Christe cmci 
defixus per qnam liberasti adinna me ac defende magni factor se- 
«»Ji. Septiformis spiritns Incis largitor spendidae(!) qni es fons 
luminis. Trinitatis totins esto inluminator meae magnns animae. 
Trinitas et nnitas deitatis dininitatis defendat me inmensitas magni 
regis et potestas. 

Dieser Text ist znsammen gebnndcn durch die Ausdriicke: 
pater sancte . . digneris me salvare; Christe . . adinva me; 
spiritns . . esto inluminator meae animae. trinitas . . de- 
fendat me. Der Inhalt aller Glieder ist also gleichartig; aber 
sehr ungleich ist ihre Form. Dmm wahrend im Anfang Vers- 
form nnd Reim sicher erhalten sind, werden sie nachher immer 
nnkenntlicher. 

Te deprecor, pater sancte, 
nt digneris me salvare 
et non sinas interire 
4 in peccato et crimine. 



Poetische Xaclilese aus d. Book of Cerne u. aus d. Codex Eegius 2 A. XX. 025 

Also 4 rythmische Achtsilber, von denen mit irischer Freiheit 
3 sinkend, 1 steigend geschlossen ist. Sicker ist der einsUbige 
Reim anf e ; unsicher ist die zweisilbige Assonanz : ante : are ; ire : 
ine. Die zweite an Christus gericktete Stropke ist schon reckt 
mangelkaft : 

5 Christe, crnci defixas, 
per quam (mundam) liberasti, 
adiuva me ac defende, 

8 magni factor secoli. 

Hier ist die Silbenzahl von 3 Versen unrichtig; nock schlimmer 
stekt es um den Reim. Z. 1 Ckriste, in defixus crnci? Z. 4 
magni creator seculi? 

Weiterkin sprack die 3. Stropke den k. Greist an, die 4. die 
Trinitat. Der SckluB dieser 4. Stropke ist sicker, der Anfang 
sekr unsicker. Vielleicht so: 

13 Divinitatis trinitas 
et deitatis unitas, 
defendat me inmensitas 
16 magni regis et potestas. 

Fiir die an den k. &eist gericktete 3. Strophe (32 Silben) bleiben 
hier voile 42 Silben. Hier scheint also nicht nnr geandert, son- 
dern besonders zugesetzt worden zu sein. 

Die Worte ‘Lucis largitor splendide’ oder ‘splendidae’ finden 
sick sonst als der Anfang eines alten Hymnns (s. Analecta 51, 9) ; 
‘trinitatis’ scheint ans der 4. Strophe sick hierher verirrt zn kaben. 
Die iibrigen Worte ‘Septiformis spiritns, qui es fons Inminis to- 
tins, esto inlaminator meae magnns animae’ ergeben das richtige, 
sachliche Gerippe der dritten Stropke. Die Form des Ansdrucks 
vermochte ich nicht wieder zu erkennen. (Sept, spiritns | et lu- 
minis fons totins, | inluminator tu meae | esto benignns animae ?). 

Diesen letzten Beitrag Wilhelm Meyers hat Herr Dr. phil. Bruno Crome 
fiir den Druck hergerichtet und korrigiert 




Ge'ez-Studieii. 

Von 

Enno Littmann. 

Vorgelegt in der Sitzung vom 3. Febrnar 1917. 

L 

Pealtn 1 — 12 uiid Marcus- Evangelium Kap. 1 — 5 in Urtext 

und Uraschrift. 

Die Ge'ez-Studien, von denen hier der I. Teil verofifentlicht 
wird, sollen mehrere Mitteilungen umfassen: 1) den athiopischen 
Text von Psalm 1 — 12 und von Marcus-Evangelium Kap. 1 — 5 in 
Urtext und phonetischer Umschreibung; 2) eine phonetische TJm- 
schreibung der Tabellen im Anhang zu Dillmann’s Grammatik der 
athiopischen Sprache; 3) vergleichende Studien iiber Lautlehre und 
Formenlehre des Athiopischen nach der iiberlieferten Aussprache; 
4) ein Verzeichnis der in Teil I — III vorkommenden Worter. Wah- 
rend Teil I des rascheren Verstandnisses wegen Urtext und Um- 
schrift enthalt, werden in Teil II und III die athiopischen Worter 
nnr in Umschrift gegeben werden; in Teil IV werden natiirlich 
die athiopischen Wortstamme nach dem Alphabet in Urschrift auf- 
gefiihrt werden, die dazu gehorigen Foimen jedoch in Umschrift. 

AIs ich im Jahre 1906 eines Tages mit dem damaligen Herr- 
scher von Nordabessinien, dem Diigazmac Gabra-Sellase, sowie einer 
grofien Anzahl von Priestern vor der Kathedrale von Aksum, der 
heiligsten Statte der abessinischen Christenheit, stand, sah ich eine 
spate athiopische Inschrift iiber den Eingangen zu der Kirche. 
Ich las sie vor und sprach dabei die Laute, namentlich die soge- 
nannten Guttnrale'), so aus, wie sie urspriinglich gelautet haben 

1) D. s. die eigentliclien Laryngale h. > und d»s velare J 
Kgl. Oes, d. Wiss. Nachrichten. Phll.-hist. Klassc. 19)7. Heft 5. 42 



6-28 


Enno Lit t man n, Ge'ez-Studien. I. 


mlissen und wie sie jetzt noch im Arabisclien und in den nord- 
abessinischen Dialekten gesprochen werden. Da hbrte ich, wie 
einer der liinter mir stebenden Priester zu seinem Nebenmann 
sagte : ^Der spricht wie ein Bauer !•' Die Bedeutung dieser Worte 
wurde mir erst spater klar. 

Wabrend der Stunden, die in Aksuin nicbt durcb meine an- 
deren Arbeiten in Anspruch genommen waren, bescbaftigte ich 
micb mit Studien liber das Tigrina und liber die traditionelle Aus- 
spracbe des Ge'ez. Filr die letztere hatte ich einen gelebrteu 
Priester namens Gabra-Mika’el Dabayu zum Lehrer. Dieser Priester 
stamnite aus dem nordlichen Abessinien, seine Mutterspracbe war 
das Tigrina; aber er hatte mehrere Jahre in Gondar, der bohen 
Schule der abessinischen Gelehrten, „studiert“. Ich merkte sofort, 
dab er das Altathiopische fast ganz nach amharischer \^'eise aus- 
sprach. Die Laute h, h, h fielen bei ihm in h zusammen ; ' wurde 
wie ’ gesprochen; e und o wnrden meist mit einem kurzen Vor- 
scblagsvokal ausgesprochen (' und ") n. s. w. Daranf hatte sich also 
die Bemerkung des Priesters bezogen, der mir bauerische Aus- 
sprache nachsagte : im Tigrina, der Landessprache von Aksum, der 
Sprache des Volkes, werden und (dies aber nur als spirantisch 
gewordenes li nach Vokalen), ferner auch ' gesprochen; aber die 
Aussprache nach amharischer Weise gilt eben als feiner und ge- 
lehrter. 

Gabra-Mika’el Dabayu diktierte mir die ersten 5 Kapitel des 
Marcus-Evangeliums, ferner die ersten 12 Psalmen, dann las er 
mir die Tabellen in Dillmann’s Grammatik vor und macbte mir 
noch eurige Mitteilungen liber das Alphabet sowie liber grammati- 
sche Ausdriicke. Diese Arbeiten erstreckten sich liber zwei Wochen, 
in denen einerseits ich mich nach meinen Freistunden richten 
muBte, andererseits aber auch mein Lehrer nur von Zeit zu Zeit 
zu mir kommen konnte. Ich muBte mich, da ich selbst die athio- 
pischen Texte nicht vor Augen hatte, allein auf mein Gebbr ver- 
lassen. Dadurch sind manche Inkonsequenzen in meinem Manu- 
skript entstanden, besonders auch deswegen weil mir eine nach- 
tragliche Kontrolle leider nicht mehr mbglich war. Hatte ich Zeit 
gehabt, nach Abschlufi der ersten Niederschrift das Ganze sorgsam 
zu studieren, ein einheitliches System der IJmschrift auf Grund 
d-ieses Studiums herzustellen, mir dann das Ganze noch einmal vor- 
lesen zu lassen, wombglich von einem anderen Manne, so ware 
vielleicht etwas wie der Anfang zu einer abessinischen „Masora“ 
daraus entstanden. Ich bin mir daher der Unzulanglichkeiten meiner 
Arbeit vollauf bewuBt ; glaube aber, zumal die Moglichkeit einer 



Ge'ez-Studien. I. 


629 


Durclipriifung an Ort und Stelle jetzt in weite Feme geriickt ist, 
durch A^erufPentlichung und A^erarbeitung des Materials, wie es ist, 
der Wissenschaft einen Dienst zu erweisen. Es sei von vorn herein 
betont, da6 nicht nur meine Umscfirift zu verschiedenen Zeiten 
etwas inkonsequent ausfiel, sondern auch mein abessinischer Lehrer 
in seiner Aussprache otters schwankte. 

Die Schwankungen in meiner Umschrift beziehen sich eigent- 
lich nur ant die AV^iedergabe der Laute iv und y, ferner des sechsten 
A^okals (i) und der eingeschobenen Hilfsvokale. Die Schwankungen 
in der Aussprache meines Lehrers beziehen sich hanptsachlich auf 
die AA^iedergabe des Q , der Vokale e und o, sowie des a und d 
und einzelner anderer Vokale bei Gutturalen, endlich einzelner 
Gutturale selbst. Bei den Verben tawuMdla und yat^susa habe ich 
einige Male die Verdoppelung des zweiten Radikals nicht notiert, 
ebenso bei denjenigen Formen der Substantiva l^^y und gns, in 
denen sie erscheinen miifite ; ich glaube, da6 hier mein Lehrer wirk- 
lich ohne Verdoppelung gesprochen hat, aber ich will nicht be- 
streiten, claB ich mich vielleicht verhort baben kann. Bei der Her- 
stellung der Texte fur den Druck bin ich nun so verfahren, da6 
ich meine eigenen Inkonsequenzen in der Schreibung nach Mog- 
lichkeit ausgeglichen, die der Aussprache meines Lehrers aber bei- 
behalten habe. Dies gescliah, damit die an und fixr sich schon 
ziemlich groBe Mannigfaltigkcit in der AA'iedergabe nicht zu sehr 
anschwelle und nicht zu verwirrend wirke. Uber die Verande- 
rungen, die ich an meinem Manuskripte vorgenommen habe, sei 
hier nun Rechenschaft gegeben. 

Die Laute tv und y sind gerade im Athiopischen von sehr la- 
biler Xatur. Ihr A\"^esen als Halbvokale und Halbkonsonanten tritt 
hier besonders stark hervor. Ich habe zu ihrer Umschreibung die 
IZeichen i, i und y, und entsprechend », u und iv gewahlt. Die 
Zeichen i und u stehen fixr JB und (O’ in den kurzen Diphthongen 
ai und cm ; die Zeichen i und n in den langen Diphthongen «i und 
an] y und tv stehen am Anfang von AVortex’n und Silben vor Vo- 
kalen sowie zwischen Vokalen im Innern der AVorter. AxiBerdem 
steht i auch am Anfang der AVorter vor Konsonanten in Verbal - 
formen wie igdbhor. Hier kann man auch yagdbbar 6der y^gabh.>- 
horen, aber fiir gewbhnlich ist es nur ein halbvokalisches i, mancl.- 
mal sogar ein rein vokalisches i mit leisem Einsatz. AVeim nun 
vor eine solche Verbalform ein proklitisches AVort tritt, so pflegt 
nicht ein kurzer Diphthong zu entstehen, sondern ein ganz knrzer 
VokalanstoB nach dem i lautbar zu werden ; daher nicht ivatgcibbsr, 
^sondern ival^gubbor. Beim Antritt der Negativpartikel ’f vor das 

42 * 



630 Enno Littmann, 

Verbum babe ich die konsonantische Natur des Lautes wieder 
starker wahrzanehmen geglaubt und daher 'nfijahhdr gescbrieben, 
Zwischen Vokalen werden y und tv meistens als ganz sckwache 
Gleitlaute gesprochen. Wenn hier also y und iv einheitlich durcb- 
gefiihrt slnd, so ist dabei stets im Auge zu behalten, dafi meist 
ebenso gut i und u oder hochgestelltes ’ und " stehen konnten. 
In meiner urspriinglichen Niederschrift herrscht daher in diesen 
Fallen auch eine bunte Mannigfaltigkeit. Statt i am Anfang steht 
ia-, •?-, ys-, if- ; bei kurzen Diphthongen steht zuweilen aj, und <ni, 
bei langen fti und du. Die intervokalischen y und w sind dort 
meistens dureh hochgestelltes ‘(i) und “(«) wiedergegeben, was ja 
auch der tatsachlichen Aussprache wohl am nachsten kommt, also 
z, B. lebbo'a und vagm t(“0. Das o wird vor dem y oft wie ein of- 
fenes i gesprochen, das ■? vor w fast regelmaBig wie «; ich babe 
daher zwar a vor y beibehalten, vor w aber u gesetzt, wo es im 
Manuskript steht. Nur bei den fremden Namen auf -eos {-uiog}, 
die im Ge'ez graphisch durch -eyds oder -ewos wiedergegeben wer- 
den, habe ich mich nicht entschliefien konnen den Vollkonsonanten 
zu scbreiben, sondein l.abe den kurzen Gleitlaut deutlich durch * 
bezw. ” gekennzeichnet. 

Ferner babe ich der Gleichmafiigkeit wegen die Wiedergabe 
des sechsten Vokals etwas einheitlicher durchgefiihrt. Neben y 
lautet er bekanntlich oft wie i. So hat mein Manuskript fur JBfk 
u. s. w. fast durchgiingig yib<u u. s. w. Hier mag das i durch den 
kurzen i-Laut in der 2. Sylbe noch besonders deutlich horbar ge- 
wcsen sein. Aber wahrend mein MS. z. B. auch yihl hat, ist fur 
ijiill und im Imperf. Passivi fast immer yvt- geschrieben. 
Ich habe daher einheitlich ya- hergestellt. Beim u-Laut aber ist 
der Unterschied zwischen .7 und u so deutlich, daB ich hier genau 
meinem MS. gefolgt bin ; hier gibt die gedruckte Umschrift also 
alle Schwankungen, wie ich sie gehort zu haben glaube, genau 
wieder. Wenn also Fornien wie tugdU’u, taynh'/ii und taydhuu ne- 
ben einander vorkommen, so ist die erste die volkstumliche Form^ 
der Urogangsspracbe entsprechend, die zweite ist ganz literarisch 
kiinstlich, die dritte entbiilt wenigstens in dieser literarischen Form 
noch eine volkstumliche Vokalharmonie. 

Bei Doppelkonsonanz im Auslaut entsteht vor einem konso- 
nantisch anlautenden Worte oft eiu Hilfsvokal; dieser ist im MS, 
teilweise durch ein a auf der Zeile, teilweise durch ein hochge- 
stelltes ' ausgedriickt. Im Druck habe ich das a stets auf die- 
Zeile gesetzt. 

Das Wort fiir ..Gott“ wurde von meinem Lehrer meist 



Ge'ez-Studien. I. 


G31 


gesprochen; und diese Schreibujig babe ich durchgefiibrt. ZuweilCTi 
feblte im MS. der kurze VokalanstoB in der vorletzten Silbe; an 
ganz wenigen Stellen ist auch c statt « geschrieben. Einige Male 
ateht ein Gregenton auf dem a; dieser ist von mir, wie alle Ac- 
cente, im Druck beibehalten. Zuweilen war das Wort wegen der 
Scbnelligkeit des Diktats im MS. nicht ansgeschrieben. 

Eine gewisse Scbwierigkeit bereitet der sechste Vokal nach 
Gutturalen. Die abessinischen Sprachen haben ebenso wenig gem 
wie das Hebraiscbe eine vokaJlose Gutturalis im Sylbenanslaut, 
Auch verdoppeln die abessinischen Sprachen die Gutturale eben- 
sowenig wie das Hebraiscbe. Im Silbenauslant entstebt ein kurzer 
Hilfsvokal, den ich durcb ein hochgestelltes * bezeichnet babe. W enn 
aber in der folgenden Silbe der wie *a ansgesprochene Vokal steht, 
so wird wegen der folgenden scheinbaren Doppelkonsonanz der 
Hilfsvokal etwas voller gesprocben; also la Ha, aber IcCAHihU. Im 
MS. ist im letzteren Ealle zuweilen auch ein hochgestelltes ’ ge- 
schrieben; im Druck steht es immer auf der Zeile. Genau so ist 
hei ’dDian'ahii verfahren, das im MS. ofters ’c>m’n‘cihn geschrieben 
war. Zuweilen lautet der Hilfsvokal wie ein kurzes i; das ist 
z. B. bei fast regelmaSig der Fall. Daher hat das MS. 

bier die Schreibweisen 'a'mdra, ’’aimdra, ’a'’mdm. Ich habe letztere 
Form im Druck, der GleichmaBigkeit wegen, durchgefiihrt ; aber 
ich mochte ausdriicklich darauf hinweisen, dab die Aussprache ge- 
wohnlich wie Hlj,mdra klingt. Wo der Hilfsvokal der Gutturalis 
im MS. fehlt, babe ich ihn auch im Druck nicht gesetzt. 

Die Schwankungen in der Aussprache des Gabra-Mika’el habe 
ich beibehalten. Fiir e und o sprach er moist '« und "o; zuweilen 
auch a (einige wenige Male e) und o (in wenigen Fallen o). Das 
« im Imperfektum des 2. Verlalstammes verkiirzte er oft zn ii. 
Kurzes a sprach er mehr oder weniger deutlich wie il. Das a bei 
Gutturalen sprach er oft lang aus, umgekehrt das lange n offers 
kurz. Langes « wurde vor /i im Auslaut zuweilen kurz gesprocben. 
Einige wenige Male liefi er sich durch seine Muttersprache ver- 
leiten ein ' oder ^ zu sprechen; da hiitte ich ihn bauerischer Aus- 
sprache zeihen konnen. Das ’ lieb er nach amharischer Weise im 
Wortanlaut oft ans; hatte das ’ den Vokal a, so fiel er auch aus. 
Daher steht z. B. neben ’hma auch swd. Wenn letzteres nun hier 
auch am Anfang eines Verses erscheint, so ist das durch das fort- 
laufende Diktieren zu erklaren. Hatte der Vorleser dort eine 
Pause gemacht, so hatte er wohl ’is/na oder Ls/ad gesprocben. 

Das A wird ja im Amharischen und im Tigrifia ofters spi- 
rantisch gospi ochen. Dann wird es jedoch weder zum labiodentalen 



632 


Enno Littmann, 


V (gemeindeutschem ic), noch zum semitischen und englicchen Halb- 
vokal IV, sondern zum bilabialen Konsonanten ic, der ger.au dem 
bayrischen w entspricht. Icb umschreibe ihn bier mit f>- das MS. 
bat V. IJberall wo icb diesen Laut borte, babe icb ibn aucb nie- 
dergescbrieben. Aber mein Lehrer war darin ganz inkonsequent. 

Der Accent ist in der Ausspracbe des Gie'ez ebenso mannig- 
faltig wie im Tigrina und im Tigre. Und ebenso wie in den letz- 
teren beiden Sprachen scheint er manchmal scbwebend zu sein. 
Aber es ist nicbt zn verkennen, da6 sich bei der Ausspracbe des 
Ge'ez ein starkes Streben nacb Panultima-Betonung geltend macbt, 
so da6 es, wenn man einen Abessinier aus der Bibel vorlesen hbrt, 
oft den Anschein bat, als ob alle Wbrter auf der zweitletzten 
Silbe betont waren. Das ist aber in Wirklichkeit durcbaus nicbt 
der Fall. Icb babe nun alle im MS. angegebenen Accente genau 
wiedergegeben ; wo er in knrzen Wortern wie kama, irssta, 'ctsiiui 
oder im sog. Stat. constr. nicbt gescbrieben war, babe icb ibn im 
Druck natiirlich nicbt binzugefiigt, da diese Wbrter im Kontext 
keinen eigenen Ton haben. Nun wird man im Folgenden ein gewisses 
Schwanken der Accente beobachten. Dies Scbwanken ist wobl auf 
dreierlei Ursachen zuriickzufiibren. Erstens wurden offers dieselben 
Wbrter einmal imKontert, das andere Mai in Pausa gehbrt; wenn 
der Vorleser eine Pause macbte, um mir Zeit zum Scbreiben zu lassen, 
sprach er natiirlich mit Pausalbetonung. Zweitens steben mancbe 
Wbrter im Vokativ; im Anruf wird der Accent manchmal zarttck- 
gezogen, manchmal aber auch auf die letzte Silbe geworfen. Drit- 
tens muB das Streben nacb Panultima-Betonung in Betracht ge- 
zogen werden. Da ist es mbglich, daB in mecbaniscber Weise — 
wie ja iiberhaupt die abessinischen Sprachen oft sehr schematisch 
nnd pedantisch sind — ein Accent auf die vorletzte Silbe gelegt 
wurde, wabrend er in Wirklichkeit anderswobin gehbrte nnd auch 
zu anderen Zeiten ricbtig gesprochen wurde. Innerbalb des Kon- 
textes mufi auch der „ruckweichende Accent“ beachtet werden. 
Im Einzelnen bieten sicb mir bier noch mancbe Scbwierigkeiten. 
Icb hotfe in Teil III dieser Studien ausfiihrlicher darauf zuriick- 
zukommen und dann auch Trumpp’s Arbeit iiber den Accent im 
Ge'ez zn vergleicben. (Vgl. Nachtrag}. 

An Einzelheiten sei noch Folgendes bemerkt. 

Die Laute / und r sind stimmlos ; z. B. madr, i/vhl. In solchen 
Wbrtern geht dann meist auch der Stimmton des vorletzten Kon- 
sonanten verloren, so daB wir hier stimmlose lenes haben. Solche 
Wbrter sind durcbaus einsilbig; wenn sie zweisilbig gesprochen 



(ie'ez-'-^tuJien. I. 633 

werden sollen, so wird ein Hilfsvokal aiigohangt. z. B. yihli, und 
dann bleibt auch der Stimmton. 

Die Laate c und y werden genau aut der Grenze zwischen t 
und bezw. d und (j gesprochen. Darum stebt im MS. airch zu- 
weilen P fur c, und d' fur //. Da sie zusammengesetzte Laute sind, 
ist im MS. und im Druck bei vorgesetztem .E der voile Vokal y 
beibehalten, also z. B. y.yi'jd. 

Die Verba und (D^A svurden md^n und ivum ge- 
sprochen, d. h. in Wirklichkeit tndsa und da ja mit nach- 

fulgendem KehlkopfverschluC gesprocbeii wird. Hier ist eine Ha- 
plologie eingetreten: am.sVe statt V’u. 

Eckige Klammern [ ] bedeuten Zusatze zum blS., spitze Klam- 
mern () bedeuten, daB die Buchstaben im MS. stehen, fiir das Ver- 
standnis des Textes aber ausfalleii miissen. Runde Klammern ( ) 
stehen zuweilen bei „ Verdoppelangen“ zum Zeichen, daB der Kon- 
sonant kurz oder lang gesprochen werden kann. 

Gabra-Mika’el las mir die Toxte aus Handschriften vor, die 
er mitbrachte. Der Bibeltext war naturlich nicht immer ganz in 
OrJnung. Textkritische Untersuchungen konnen aber hier, wo es 
nur auf die Sprache ankommt, nicht angestellt werden ; sie wiirden 
auch keine wichtigen Resultate ergeben. Ich habe den iithiopiscben 
Text des Psalters nach Ludolf’s Au.'^gabe gegeben und auch dessen 
Vers- und Zeileneinteilung hier beibehalten. Den Text des Evan- 
geliums habe ich nach der Ausgabe der Britischen Bibelgesellschaft 
gegeben. An einzelnen Stellen muBte ich den mir diktierten Text 
ins Athiopische zurlicktranskribieren. Hie und da maBte ich von 
den Klammern Gebraiich machen. 

Wo sich im MS. Schreibfehler fanden, sind sie angemerkt. 
Freilich beziehen sich nicht alle Anmerkungen auf Schreibfehler 
des Manuskripts ; hie und da wird, wo ich in der Anmerkung eine 
Verbesserung vorgeschlagen habe oder im Texte verbessert, in der 
Anmerkung aber die Lesart des MS. angegeben habe, Gabra-Mi- 
ka’el sich versprochen oder verlescn haben, oder auch seine Hand- 
schrift fehlerhaft gewesen sein. 

Die traditionelle Aussprache des (ie'ez ist also im amharischen 
Sprachgebiete festgelegt worden ; darauf deutet ja auch die schrift- 
liche tiberlieferung der athiopischen Literaturwerke. Ware die 
Aussprache in Aksum, der alien Konigsstadt. der heiligen Stadt 
Abessiniens, der .Mutter der Stadte Athiopiens“, uberliefert wor- 
den, so wiirde sie zum Teil ganz anders aussehen. Es ist merk- 
wiirdig. daB die Schriftgelehrten nicht in Aksum bei Priestern und 
Monchen blieben; denn die GeisGichkeit war doch in Abessinien 



634 


£nao Littmann, 


fast ausschliefilich die Tragerin der Literatur. AUein auch fiir 
die Schriftgelehrten waren wohl die Verdienstmoglichkeiten am 
Konigshofe und in der weltlichen Hauptstadt groBer als in der 
geistlichen Hauptstadt. AuBerdem brauchten die Konige die besten 
Schriftkundigen fiir ilire Verwaltung und ihre Chronistik. Als 
daher der Scbwerpunkt des Reiches sick im 12. oder 13. Jahrhun- 
dert nach Siiden verschob und Gondar znr Hauptstadt wurde, sie- 
delten auch die Trager der Literatur dorthin fiber. 

Die nun folgenden Texte bieten den AnlaB zn interessanten 
und methodisch nicht unwichtigen Beobachtnngen iiber das Leben 
einer heiligen Bucbsprache; davon wird in Teil III des Weiteren 
die Rede sein. 


1 . 

1 ; h :: 

dpti'p : I 

(DHAim : arti'P : 1 :: 

2 : ih? ; 5\mA-nrh,C : 

aiH/h*) : jpj-n-n : ; cd aa.'I’ :: 

3 : oo : Al't’ ; itCi: : 

A^'i' ; : 4:4V : nn^Ftv :: 

(DTtA ? : H7-n4 : :: 


1. 

m 

fakkaid zasadaqan wazahate’an; mazmiir zadawlt. 

1, basil’ ba’a^i za’ihara bamakra rasi’an 
waza’iqOma wasta fonota hata’an 
waza’inabara wasta manbara mastasalaqan. 

2. zada’amd haga 'gzi’ab bar samratfi 
wazahagg''6 yanabbeb ma’alta wal'dlita. 

8. wai^kanwan kama ’as ’anta takalt haba mohaza mai 
’anta tabub far'Sha babbagizaha. 

4. waq'‘as4a-ni ’lyatnaggaf 
wakullo zagabra yaf'assam. 

1) So -MS ; . mfihdia oler muliuta. 


Ge'cz-Studien. I. 


635 


5 

: Hje^rh^ : i4^f\ ; a^7A : 

6. (DnA'i'™ : : 

(DA'J'I'A'? : arii't’ : *? ;: 

7 Afic^: J»Af^C:A7H.A-nrh.C 

:^m 4 :A :: 


fiAl'i’ : 5 iCh+fi :; 

1 . AP^^^;A^ 7 A 7 -:AfhH*fl: 

(Dfh'H'fa : inn- ; 'n'?^ :: 

2 . a)'M^*^A:i 7 ^'t':f^^C: 

(DcJ^AA 5 i^i. : 'I’iJ'n A : : 'i [ 

AOA : A7aA*flfh.C : (DAO A : i7=»arh' :: 

(D‘i7j?-4: : Af^ AO Ai : ACc^-f-^ .*: 

4. Hj;i-nc:(D’fiit':jij?jB.\Ei*^Ai<i>c3^: 

(DA7a A'Ofh.C : ^O A^ : AO AUPc^ .*: 


5. ’akko kamazg bata’ana-sa ’akko kamaz5 

da’emn kama mar'St zai’gahafo nafas ’omgusa modi*. ’) 

6. waba’enta-zg ’iyatnassu’u rasi’an ’amdain 
wa’ihata’an wasfca makra &ad3qan. ' 

7. ’esma ya’amm8r*’9gzT’ab“bar fbnotOmu lasadaqan 
wafenotOmu-sa labate’an tatafta’. » 


tanbit ba’eiita krastos. 

1 . laaignt ’angalagu ’ah^zab 
wabazbe-ni nababu kanto. 

2 . watansg’u nagasta madr 
wamala’ 6 kt 9 -nl tagabii’u maslabumu habiira 
la’da ’ 9 gzl’ab‘’bai’ wala’^la masihii. 

3. n9batt9k ’9m9n'aiia raa’aserihomu 
wanagaddaf ’amla’alana ’af’utomu. 

4. zai®nabb9r westa samdi isabeqbmu 
wa’agzrab'har isallaq la’dabbrnu. 

1 ) MS. tiixlr. 2 ) So MS.; 1 ipssdlhtn. 


636 


Enno Littmann, 


5 i^n : .EiD <^ : I (Dn^^u-fc : puar'oc^^ :: 

6. A^/i:'PUJP^^Yp:*?*Mu:nAOAU’«^l 

nitP'l : :: 

7. Y1C73 ; : ^AHF : A’A°2H. A-n/h,C 1 

A^BLA'flfh.C : JBflAi. : (DAJP’P : A^'P 1 

(D A5 : p-p^ : (D :; 

8 flAA:A^^ip:a)Al^nYl:AftlHn:AC^l^Yl: 

: AfiYi : A/r? z , : :; 

9. (D^^0P’c3^:nn^z:'JA,‘?l 

(DYi<^ : ITP : A'fi'^fi : :: 

10. (D^AH^Ii^P^t-IA-nCD^l 

(D'P^UJ/i- : : A A ; : af=>^C 

11. 'p<i){p:AAmA'Ofh>C:n4:Cu^: 

(D'PrhUJP’ : A't: : 0/^0;?* :; 

12. A/t^OT.'A^n-nrYi^Ta.-A^^^^^^-’ 

AmA'Orfi.C: 

0) iV : Af^4:4"'P ■■ :: 

13. 


5. s6ba inabbOmu bama’atu wabama’atfi yahauw^komil. 

6. ’an-sa tasayamku nagOsa bala’^MhOmu 
basawOn badabra mciqdasii. 

7. kama ’gngar *) ta’azazS la’agzi’ab^hRr 
’agzi’ab'h&r yab'alannl waldbya ’anta 
wa’ana yOm waladkdka. 

8. sa’al ’aiii'’naya ’ahubakka ’ah^zaba larastaka 
wamak”nanika-ni ’aska ’asnafa moilr. 

9. •watara’ay“6inn babatra hasin 
wakama nawaya labha taqataqciatomu. 

10. waya’az‘S,-iif nagast labbuwu 

watagasasu -) kuUakemmu ’alia tak'*'annanuwa lamadr. 

11. taqanayu la’agzl’ab'’har bafarhfit 
watahasayu lotii bara’sd. 

12. ’asna’nwa latabab .kama ’iyatma’a’ ’agzl’ab^har 
\va’itatliag'‘alu ’amfanota sadq. 

13. soba naddat fatiina ma’atfi 


1) MS ; aiU'li ‘anger. 


2} L. 


Ge'ez-Studien. I. 


637 


■ne-q,^ : w-A ’ka : ^(D*o A : p-t :: 


3. 

n7\1 A : :: n A'5't’ : TiCP+ii :: 

1- AmA:c3^n'H'J.:AA;jBU/^P^: 

AOAP :: 

2 AJ^fiP: 

A. : Af^A5iYx 

3 A'?AA:AmA:f^P'o^p:A'?Al 

?i*nCP : (Dc^AO A : CAhP :: 

4 ^AP:'in:AmA'flfh,C:AA.^¥p: 

(Dfl^^Di : :: 

5 Alj*i:A*n'nYp:(D^°^^^i 

(D'P’jiwayp: AmA-nrti>C : Alv^Ai :: 

6 K^A,C ^ : A A A4: : A/hH-n : 

A A :o7'fei:(D<t><3^:AOAP:: 

7. •p'?P^A:A7H.A:Af^A‘aP:(DA^'^J^: 

Afi^^ : Ah't : ‘PUJAi'p^ : avy-ao^ : A a : 


basu’an kullliinu ’dlla ta\vak[k]alu botfi. 

3. 

ba’anta ’ab’l'^’alom . ba’anta krasios. 

1. ’agzl’o mi bazhu ’alia isac|q9yriiu 
bazuhtin qOmu la’Aoya. 

2. bazuhdn yob'aliiwa lanafsaya 
’iyadahanaccl ’amlakaci. 

3. ’anta-sa ’agzi’b iiieskayoya ’anta 
kebraya wamakala ra'a^oya. 

4. qalaya baba ’egzi’abaMr sarah^ku 
wasam’anni ’amdabra maqdasn. 

5. ’an-sa sakabku wan“dmku 
watansa’^ku ’asma ’agzi’ab'bar ’ansa’anni. 

6. ’iy®farrab ’am a’*laf ’ab'zdb 
’alia ’agatimi -v^aq^dmu la'daya. 

7. tansa’ ’agzl’o ’amlacaya wa’adbananni 

’asma ’Snta qasafkbmu lakulldmn ’alia j-assarrarimi bakantu. 


638 


Enno Littmann, 


: ahCyi :: 

8 H'h^H.A-ndi.C : I AOA : : 

H/'YiA'Yi :: 


4. 

1 i*in : ATO^p) : A-nrh,C : l 

(DAf^^^ap : ACfhn : a.-p :: 

2 . 'plwuAi:a)il^^Di:AA>A'P:: 

3. : A,*^A:Ai?^/hj>(ir : AfiYi : arKH,i ^ : pYi-n^: 
An5l<3^: 

'n’?'P : (D'P-^up : rhA'P :: 

4. AAf^yC, : n<^ : 'PA'fifh : A"7ftA-nrh.C : i 

’hiHA-nohC : : An : aZi^Yp : 'uaiP :: 

5. 'pf^O-.-CDA'PA-nft-: 

(i)H^di,AP ; nA-fl 5 i< 3 ^ : orA'P : p^A*na 5 i< 3 ^ : 


sananihomu labata’An sabarka. 

8. za’agzl’ab‘’hftr ’adhano la’^la hazbaka (wa)barakataka. 


4. 

tanbit bd’anta mani. 

1. s6ba sawa’®kiiwo la’agzrab'’har samVmnl sadqaya 
wammandab'aya ’arhaba llta. 

2. tasahalanni wasam’anni *) sak'otaya. 

3. da(;iqa 'g“ala-mma-hayau ’oska ma’az'a-nii takabbadii labba- 

kammu 

lainant[a] tafaqqaru kanto watahasriu hassata. 

4. ’a’‘maru kama tasabbaha ’agzl’ab^har Lasadeqa 
’egza’^b'^bir isamma’anni sOba sarah”ku hab'Shii. 

5. tama’u wa’ita’abbasu 

wazatah’allayu balabbakammu wasta maskabikammu yat’a- 
waqqammij. 


1 ) So ; 1 wasoni'anni. 



Ge'ez-Staclien. I. 


639 


6. 

n7\!?H.A-flA,c ;;^ 

7 : AA.\Ba>v j*CAP{: 

•poar*!* : qaoaj : -flCV} : 7/tYi ; /\7HA :: 

: jhC5*^ : (D(D^^ : (o^-n^ : nw :; 
9 nfiA(?^:P't;5^fi5i-n:a)A{(irp^:: 

A^^C'fti:: 


5. 

^ j : ^z^'i ;: 

1 ^AP;A^f^A:A7aA:(DAa:^/«^p:: 

^ (DA^f^Ai.'M.aAA^P:: 

37-RP5. :CDAP^A?1P£ :: 

A : n^s-a/h ; ap :: 

4 n/^Qrh : ■A<l»arf^ : 4>^c3S{'a: (DAii'PCA. : a^ :: 
5. Afi<^:a'o‘?Yi:Af^ATi:Hot^9:jPi4;4>C: 


6. sd’u maswa’®ta sadq watawakflijalu ba’agzi’ab'har. 

7. bazuhdn ’alia yab'aln inannu yard’eyanna sannaito 
ta’auqa bala’al'Sna barhana gasaka ’agzi’O. 

8. wawadaika t8fo9h‘'ta westa labbaua 
’amfar'S, sarnai wawain waqab’a bazha. 

9. basalrim b"6tii ’asakkab wa’anauwam 

’asma ’anta ’agzi’6 batasfd bahtitaka ’ah®darkanni. 


5. 

tanbit ba’anta tarufan. 

1. qalaya ’asma’ agzi’d walabbu sarahaya. 

2. wa’asma’anni qala sa’alataya 
naguseya-Bl wa’amlaksya-ni. 

3. ’asma hab"dka ’es'SJli 

’agzl’o bas9balj sam’anni qalaya. 

4. basabah ’aqauwam qadam’dka wa’astara’i laka. 

5. ’asma ’ikdnka ’amlaka za’amasa yafaqqar 



640 


E n n o L i 1 1 111 a n 11 , 


(DA.P'5j?'4, : AYi- A,Yi :: 

6 (DA.^j'O^, : : hOjsn-tXi : 

AA/\Yi: 7\mA:YY*iVc3^:7nC'i’:ot^9i 

: A‘rf*iV«3^ : 7 \a : : rfifi'i’ :: 

7 -0:^1% : : (D>/hAT : j»fi‘l>CC:X7H,A-nd4.C:: 

(D:Kfi7^ ■ : arfi'i' ; itC/h : Yi :; 

9 A7FiA:f^Crh^:n/t;?'^'Ql 

(Dnx^'t’ ; A AX^p : AC'l’0 : 4 -^^^ : :: 

10. Arii^:AAo:/f;?'^:arfj't’:A^U’«3^: 

(DAAfhO)-: :■■ 

; -fm-i : ^-n i 

'Kti^ : Af^Z4.Yi : AmA :: 

13. : -fiYi : ■nf’YVc?^; aa : i 

AOj Af^ : .E^fh lUP : cP'i’-^rP’C : AO Aif :: 


wa’iy^haddaru ’ekkuyan masl'Ska. 

6. wa’Iy^nabbern ’ammasayan qadma ’a’%’antika 
sala’*ka ’agzi’6 kallOmu gabarta ’amasa 
watagaddafOmu lakullOmu ’alia inabbu hassata. 

7. ba’as’S, dam wag^ahalaw'S yasq^orrar ’agzl’ab^har. 

8. wa’dnsa babazha mahrataka ’abauwa’ b'ataka 
wa’asaggad wasta sarba maqdasaka bafarihotaka. 

9. ’agzl’o niarhanni basadqaka 

waba’anta sala’^taya ’arta’ fanbtaya qadem’aka. 

10. sma ’albo sadq wasta ’afuhomu 
[wajlabbSmu-Dl kanto *). 

11. kama maqdbar kasttt g^ara’ilOmu 
wasalhawu balasanatihomu. 

12. k"annan6mu ’agzi’o waMaqu bawad'at(t)(imu 
wabakama bazba hablomu sadaddOmu 
’asma ’amraraka ’agzl’d. 

13. wajatf'assabu baka kalldmu ’alia yatw'dkkalnka 
la’alam yathassayu watahaddar la’al'ahomu. 


1 ) So MS.; 1 lunitt. 


641 


» (Ic'ez-Stiidien I. 

MiTi ; ; "h a ; .p.4^4. : 

14. Xfic7=>;A^^;^nc:‘o;A>i;p^>: 

: aiAj' : : yi aa^i if :; 

(*. 

; AfirtiVf^ :; 

1 ‘hiH.s ; ncT^ul^'n ; i 

a)nc73^iU4:^'n : a.^71«aj. ;: 

2 l'WUA£:A7H.A:Ah<^.\]?CD.^:A5: 

a)A;(m*i{. ; Ai'i<^: 't’U(i>''n : ao/cp^-^p :: 

3 (D54^fiP£:'puap'n‘p:z5:;p-4.^: 

(DA^'Pi : X7H,A : XfiYi : d9XH>{. :: 

4. 'l'c73p/p;X7H.A:(DaAHi:Ai4:i^P: 

: nxi'p ; f^rh/:^Yi ;: 

5 : AAo ; nopfi'p ; cp^ ; H.EH,Yi-4'a \ 

(dhjXaa i : ; p AP^m :: 

6 jriA,rh^p:np^‘?^ap: 

0) A*? 0-n lYf’iv: A A.'p : oA.t-p 1 


wayatm'akkrfhu boka kullbnui ’olla yafacjqaru samaka. 
14. sma ’anta tabarrakb lasddaq 

’egzi'6 kama walta semur kalalkanna. 


0. 

tonbit ba’.'mta 'ab'As'albm. 

1. ’agzl’o bama’ataka ’itaqsafaiinl 
wabamaqsaftaka 'Itagassasanni. ‘) 

2. tasahalanni ’agzl’b ’asma duwui ’Una 
wafauwasanni -j ’asma tahauka V'’^9mt4ya. 

3. [wa]nafsaya-nf tabiiukat fadlada 
wa’anta-ni 'gzl’o ’gska ma’az'a-nu. 

4. tamayat ’sgzl’o wabalaha lanafsaya 
wa’adhananni ba’anta mahratAka. 

5. ’asma ’albo bawasta mot zayaz[z]’akkerakka 
wabasl’rda-ni mannu ya’ammanakka. 

6. (’asma) sarah’ku bamandab'aya 
wa’ahassab kulld I'allta ’arataya 

MS. ’it9gas!!>'>nnni 2) Wie trafag^isdnni 



642 


Enno Littraann 


(Dn A^-nop : ACrfihYi- : 

7 (D't’U(ir*Qi’:A<?^^:o^’?p: 

(Dn AjB^p ; n-J n : ^A>a ^ : aaaI'P ;: 

8 yCrfi‘P:A<^tp:W*A5i<3o^:7nC'P:o<^§^l 

9 (Dfif^Oi : ■K7HA-nfh>C : ^l■AA^P I 
(D't'CD^i A : :K7H.A-nfh>C : A A”^p :: 

10 AjE^-i/l^, : (D^^i*i4.: : aaaI’P = 

A^7-n A : 

(D4.(n'i :: 


nA^'p : AYX/Tk/IA : (onA’J'P : ¥piX :: 

1 A 7 H.A.Af^A'np:-n^:'pa)YiAYp:A^’?.P’^i- 

: A A ic^i. : (DOA/hi :: 

2 ^i^;AJBP^ii'?'‘P:'nc^;A 3 nfi:Ai 4 ^fiP[ 

a^h: AAP : : (dh^qaAi :; 

3 A7fiA;Af^A5ip:A£5®jfi:*n^?^*H:7nC¥Pi 

(DA^J^io : o<7=*9 : dpii'p : a^opp :: 


waba’anbe’eya ’arhaskn msskabaya. 

7. watahaukat ’amma’dt ’ainaya 
wabalaiku bahaba ktillomu sala’-teya. 

8. rahaqu ’aman*Sya kullakammu gabarta ’amassl 
’asma sam’anni ’agzi’ab®har qala bakayaya. 

9. wasam’anni ’agzi’ab®li8,r sa’alataya 
watawakfa ’agzl’ab®Lar sal“otaya. 

10. layathafaru wayah®saru kullomu sala’^loj^a 

layagbu’u dahrahomu wayathafarn fadtiida fatfina. 


7. 

ba anta acitof’ftl waba’anta kusi. 

1. ’agzi’6 ’amlacaya baka tawakkalkii ’itagdafanni 
wa’adhaEannl ’amkullomu ’alia r”6dnni wabaPhannl. 

2. kama ’lyamsatuua kama ’anbasa lanafsaya 
’anza ’albo zayadahan wazaiabEllah. 

3. ’agzl'6 ’amlacaya ’dmma-sa kama-zS gabarku 
wa’dmma-ni bo ’amassi wasta ’adawaya. 




Ge'ez-Studien. I. 


643 


4. (D'Kc^i. : : A'hA : : Xtt*P : 

A : A A>i^p : 0/n^p :: 

5. ®^;e^5’:ez,^:AJ4:fip:®^C¥iai 

: arii'p : : Arhje^i’P :: 

® : orfi'p : : A 5 i-ncp :: 

6 . 

® -PADA : : AAAX^P :.* 

7 . 'p’iw’K : : Af^A?iP ; civ^cv ^ : H AHU^ :: 

(X)(Fi'^az , : AihH-n ; poar^Yi i 

8 ®nA‘?'P*H : 'pcpp'p : ox/i'p : acjpp^ :: 

A^RA-fifivC : ; AAAiH-n :; 

9 4 :^*rh : A'P : a^ra : ap^a 5 ip : nTi<^ : l 

‘ifpJl : nYi<7^: ptv ^p ;: 

10. p^a^:A¥ip*<3^:A'J'PA^i 

: AKJ^-^'i i 

^A^'i : An : ® ■nf-A j>'p : AmA-O/ii.C :: 

11. Ad=i‘i:^z.^hi.:'KiH.A-nahCi 

H : AC-tqjf : A-fl :; 


4. wa’emma-ni fadaikuwOmu la’ella ifaddayonl ’akkdya 
laya^daqanl sala’^teya ’eraqaya. 

5. wayod’aggenna sarSwi lanafsaya wayerkabba 
wayacidda westa medf lahapjwataya. 
wayahs^rro wasta mar'St lakabraya. 

6. tansa’ agzi’6 bama’ataka 
watala’al mal’altOmu lasala’^taya. 

7. tansa’ ’agzi’6 ’amlacaya basar’at za’azzdzka 
wamah®bara ’ah*zab ya’auwadakka. 

8. waba’anta-zg tamayat wasta ’aryam 
’agzi’ab®hSr yek^'annanOmu la’ah’zdb. 

9. fdtah lita ’agzl’o ’amlacaya bakama sadq^ka 
w^°kunanni bakama yaq*hataya. 

10. yahallaq ’akayOmu labata’dn 
wataratta’dmu lasadaqan 
ifattan labba wak"aryata ’agzi’ab'Mr, 

11. ’aman iradda’anni [’agzrab®lidr] 
zayadahanOmu laratu'ana labb. 

Kgl. Ow. d. Will. Naclulclitea. Pbil.-hiit Klasie. 1917 . Haft 5 . 


43 



644 

12. 


Enno Littmann, 


X 7 H,A*nA,C : i 

‘iS>A : (Dc^fii-D^ri I 
(D A. X : : YY-iV : Acfiz . :: 

‘t’h'f'i : (D't'/C : (DAh-r^AO) :: 

14 (DAYi't'J?Aa):P't:Aif^H:H^‘p^Ai 

(D AAiXihi : AX A : : 7-nz ;: 

15 

el jY : nxoc : (D(DA^ : *im. Al’ :: 

16 YniYlZP.CDJ^diP: 

: (xrtrr : "?-ft : H 7 -n 4 :: 

17 (D^7'nx:x<J?u-:je.n:CXiY'l 

(D ^ :: 

18. X7{.:AX7HA-niiv.c:nYii7^:/?^^: 
cDXH,f^C : Ah<^ : X7H. A-fifiEC : Ao-A ;: 

8. 

: nx‘?'p : YiCh'f-ii :: 

1 X7H,A:X7H.Xi:'P<p:i’jY'n£h:fif^Yi:n‘nfA^: 
f^^C: 


12. ’8gzi’ab*h5,r mak"annana sadq 
haiyal wamasta’aggss 
wa’iyamassa’ mansttta kull6 ’amira. 

13. {waj’amma-sa ’itamayatkammu saifo imallah 
qasto-ni watara wa’astadalawa. 

14. ■wa’astadalawa botu hamza zai’qattal 
[wa]’ahsahu-m [la]’411a inaddu gabra. 

15. nahu hamma ba’amasa 

§ansa basa’“r wawalada hati’ata. 

16. g5bba karaya wadahaya 
wai®waddaq w^sta gabb zagabra. 

17. wai’gabba’ samahtt diba ra’asd 
watawarrad ’amasahu diba damahii. 

18. ’aganni lagzi’ab^hdr bakama sadqQ 
wa’az’dmmar lasama 'gzi’ab“Mr la’dl. 

8 . 

tanbit ba’anta krastos. 

1, agzl 6 agzi ana taqqa tasabbdka samaka bakoUu mddf. 



Ge'ez-Stiidien. I. 


645 


2 . ; i’ADA : Onp : : ^^AOA'P : 

:: 

nA^-p.AAA,: 

tQt73 ; ; aaaa. : (DA74.^ :: 

4. A : fi£J=? : i-az . : A A-flq5.Ti I 

(DC-i : (DTiT^i-fl'P : HAA.YI : ^z,Ca :: 

: a;? A : Acp/h j’or : : 'PrhOPA :: 

6. Ai^. ArhXit'O.-Ac^AA^'tYl: 

: (D^l■^l^h•p ; yi aa'o :: 

: ,R.n : YY- A* : i-fiA : AJ?‘P I 
7 oYY-A’ : tnz,Oa : iV-t : :: 

AQ^Di : (DYY-A^ : AAU^=^'p :: 

3. a)AOTA:Yij?jBi;a)q,ix/'t';a/hC: 

(DHi : PAvox’C : (D’Yi'p : 4 .^^ : aAiC :: 

9 A^H,A : A“?H.A? : : 'PA-fidi : ; aW-iV : 


2 . ’asma tala’ala ’sbaya sabhatika mal’alta samayat. 

3. ’am’afa daeiq wabasanit ’astadaloka sabhata ba’anta sala’i 
kama tansatto lasala’i walagafd’i. 

4. ’asma nar'S’I samayAta gabra ’asaba’ika 
warha wakawakabta zalalika sararka. 

6. manta-nu wa’atu sab kama tazkarro 

wamanta-nd 'g”ala-mma-hayau kama tahawasso. 

6. haqqa ’ahsasko ’ammala’aktika 
kabra wasabhdta kalalko. 

was'amko wasta') kuUd gabra ’adawika 

7. ■wakullo ’agrarka lotd tah'ta ’agarlhd. 

’abaga’a-nl wakuUd ’alhamta. 

8. wa’a’^wSfa samaya-ni wa’asdta bahr 
wazanf yahanwar^) wasta fanota baby. 

9. ’agzi’6 ’agzi’ana taqqa tasabbaha samaka bakuUd madf. 


1) L. diha. 


2) W’ie yahdgg’^ur. 



646 


Enno Littmann, 


9. 

: “2^0 : CD'i’74.'i :: 

1 :K7i:AYi:7\m^:n'nf*A‘:A-np; 

(D'KiiC : 'nf-A> : :: 

2 X'l'4,wAi:a)'K^rfiiujB;'nYi: 

; AD-A :: 

JBJ^-CDP : (D^ ^/hT A- ; ; 7/f ^ :: 

4. 7vri<^:7nc*a:A.'i':4:^AiP;(Dn‘j>APi 
a)jnCTi:je.n:<7^^nc^: 

3 7UUit'Oc3^:AAftiH-n:(D'l’rh>A*:iiiXq,*5: 

(D : ficpa^ : a^ac^ : ^A(^ :: 

6. 0Ci*i : 'P7f^y!:, : a*ha>;^ :: 

a)AU7-zir<3^i : i 

7 (D'Wioc ; TVi\c<^ : ^ctA :: 
a)A7aA'nrf>,c .’^i-nc ia ^ a^i 

8 (DAfi-pjeACD ; AYi-’i ^ :: 

(DOT A-t : : A^Af^ : l 


9. 

ba’anta gafii’ watagafa’i. 

1. ’aganni laka ’agzl’o bakalld labbaya 
wa’anaggar kallo sabhatfka. 

2. ’atf'dssah wa’athassai baka 
wa’az'dmmar lasamaka la’dl. 

3. s''6ba gab ’a sala’Haya dahrahomn 
yadwayu wayathag^alu ’amqadma gasaka. 

4. ’asma gabarka llta fathaya wabaqalaya 
wanabarka dlba manbaraka mak”annaiia §adq. 

6. gasa§k6mu la’ah®zab watahag[®]lu rasl’dn 
wadamsaska samOmu la’alama ’alam. 

6. sara-s4 tagamru bak“inat lazalufd 
wa’ahgurlhomu-nf nasatka. 

7. watasa’ar zakrdmu habdra 
[wa]’agzi’ab*b5r inabbar la’alam. 

8. wa’astadalawa manbard lak'annand 
wawa’^tu yak”*annana la’alam basadq 




Ge'ez-Studien. I. 


647 


: AAfhH-n : nCTO :: 

(D4;?AU’<^: arA-t ; ;; 

10. (DjB^^Yi A- ; -nYi : 'nf-A-<3^ : A a ; j’/44>4. : l 

: AAA : p-iUhYi ; A^H,A ;: 

11 HP=»4.: AA?H.A•^lrh,C:HP■^^C:ar^l■t•.^8■P'^l 

w’i^CiDo ^ ; AA/hH-n ; :: 

(DK/^ivj : oar :: 

13. 'PuiUAi : A^tLA : (DCA : : :pd\a^i : 

AAA^P: 

14. HJ»AOAi : Af^A^'^A : ll 

Yi <^ : ’A'i^C : YY* iV : iP i 

n A^'^A.v : AOiA'p ; KP-'i l 

15. 0)1^4, W/h:nA;?’^^^!Q: 

m°7o» ; AAiH-fl ; Hi-nz ^ : 

16. oin^A't ; A^-p.-'i'nA.'Pii/^/c ; 

A'7C<3^:: 

1 7. j» Af^C : A"?HL A*ndi.C : 7a^ : 4:^^ l 


way0k“’ann9n6inu la’ah®zab barat’a. 

9. wak''0n6mu ’agzl’ab’hSr maskayOmu lanadayfin *) 
warada’Ihdmu we’atu bagTz'a mandab'abomu . 

10. wayatw'akkalu baka kulldmu ’alia yafaqqaru samaka 
’asma ’ItahaddagDmu la’alla yahassfika ’agzl’6. 

11. zanunaru lagzl’ab’bSr zayahaddar wasta sawon 
wanagrawdmu la’ab^zdb magbarO. 

12. ’asma tazakkara zayatbassas damOmu. 
wa’iras’a ’auyatOmu lanadaydn. 

13. tasabalannl ’agzi’d wara’i zakama yahammiinl sala’^taya 

14. zayal'a’alanni ’am’anaqasa mot. 
kama ’angar [kuUd] sabhatihn 
ba’anaqosiha lawalatta §aw6n. 

16. wanatf’fisaah ba’adhanotaka 

tag"’!! ’ab“zab bagagaydmu zagabru 

16. wabaya atl masgart ’anta hab’il tasagra ’agrdmu. 

17. ya’ammar ’agzi’ab^hfir gablra fath 

1) MS.: kmdaidn. 2) MS.: lanida'dn. 


648 


Enno Littmann, 


(DHM^ : w : ;: 

a)mv<3^ : A/hH-n : Aa: jB^fiOp : 
AAmA-OrhoC:: 

19. Afi<^:A'o:A*HAi:Hjii’Z'^0:fMl 

(D A J*rh>A* : : J J? : a^ap^ :: 

20. 't'liiJA : A“?aA : (D A^/t^o : KlA : Act^Ai j>(ir I 

(DjB f. ; AAiH-n : nA>;^ :: 

21 . mp^:AmA:i^p^UiC:Ai!?:A 0 AU’c 3 ^l 

(D : AAiH-n : : A2 a : Ac^/h j’or : 

A<3^1*fe:: 

22 . Af^^^:A° 2 H-A:«i>P^*n:AP^Crh'A>: 

(D^A'^CDC : n^H. : J?ap :: 

23. n^oa-tiA'j'j'Ar^arci::?.?^ : 

(D^ UJ 7 /i, : narje'S'i?^: Al'P : aap :: 

24. Afi<^;jB't'T^ii:'j^A:n4:^a)'t’:i4:i^? 

25. (Drfi^n.-j'PA.AA^RA-nfii^C:: 

(D u) : nn<^ : -nw : ^^o-t ; 


wabag0bra ’adawibu tasagra hats’. 

18 . yagba’u hata’an wasta si’ol 

wakuUomu ’ah'zab ’alia irassa’iiwo lagzl’aVbSr. 

19 . ’asma ’akko lazalufd zayatrassa’ nadai 
wa’iyahaggiilu ta’agastOmu nadayan la’alam. 

20 . tansa’ agzi ’6 wa’iyasna’ ag^ala-mma-hayaQ 
wayatk^annanu ’ah^zab baqadam’S-ka. 

21 . sIm ’agzi ’6 mamhara hag la’shahomu 
waya’‘m 6 ru ’ah®zab kama 'g^ala-mma-hayau ’amuntu. 

22 . lament ’agzi ’6 q'' 6 mka ’amrahttq 
watat’*aawar ba^z’a mandab'&ya. 

23 . bata’abita lahata’ yau’i nadai 
wayassaggaru bawad‘at 6 mu ’anta hallayu. 

24 . ’asma yatw’&ddas hata’ bafat® 6 ta nafstt 
wa’amma§l-ni yatbarrak. 

25 . wahak 6 hata’ lagzi’ab®hSr 
wa’iyathassas 6 bakama b§zha ma’atu 


Ge'ez-Studien. I. 


649 


26. a)AAo:7\mA-firh.C:n^;?<^^U':: 

(DCTt-fi : fY-iV : : 

27. 

: AYY*A’<3^ : AAA-t " 

28. a)jB'nA:nAn-:A,jB^U(D5i: 

: ^OTA^ : A..E45in^ : AfirjB :: 

29. : A^ih : : (D>?Adi-ir I 

(D j- Ai't' : A'^if. : KOI : (D :: 

30. ^Alfh:®jElo-.v^fiA:-flo-A‘?: 

: AlR-fti : • 

31. (D AO^IW^ : 'in : iJRM : j’fi-t-rfijBA :: 

jBA’irh : QA : : A*?ni^ : arfi't’ : “2-n : 

32. a)^A'?/h:Yl<^:jBf^flfrk:Ai;?JB: 

(D^ c^fl/Tv ; Aj.^^ : : 

33. a)jP'ihC:n<^\w7C'fe:: 

^^‘l>AO : (DjB(D^^ : Pn : : aj.^.e :: 

34. (D^ -nA : AAfb I 'KlH.hndh C I 

(Dc3Sfli : 7 A : : A.^ C ajb : An<^/n :: 


26. wa’albo ’8gzi’ab*h§,r baqedem'ahu. 
warakds kullu fanawihu. 

27. wanasdt k“annan*aka baq3d3m'8,hii 
wai^qannayDinu lakuUomu sala’^tu. 

28. wayabla balabbd ’iyathauwak 
latauleda ta^lad wa’Iy®rakkabanni ’akkdi. 

29. maid’ ’afuhd margam wasalhdt 
[wa]tah“ta lassdnu sama wahamdm. 

30. isannah wai‘’n6’u masla ba’ulan 
kama yaqtallo lanasdh basammit 

31. wa’a’^yantikd-Dl baba nadai yastahayassa. 
j§annah wayathabba’ kama ’anbasa wasta gabb 

32. [wa]i'’saiineh kama yemsatto lanaddi 
[wa]i®massatd lanaddi wai"sahab6. 

33. wayabassaro bamasgartd 

yatqassa’ wai^waddaq sdba qanayd lanadai. 

34. wayabla balabbd [ijras’anni ’agzl’ab®hdr 
wam'^ta- gas[§]d kama [’ijyar’ai lagamurd. 



650 Enno Littmann, 

35. •r'iw’h : ; Af^A5iP ; (d A- A’Aoa : l 

(DK^Ch ^<^ : Af J?JP1 :: 

36. nx^'p ; ap^o^p : -j 'I'X : aX 3H. A*nrh.C i 

Xfi<^: JB-OA : nAfi' : :: 

37 . A.J. : YX (^ : : (Dc^O't'l 

(DYi<^ : : arii^ : XJe^i i 

38. AOAm;X^^i:'t’7JB*x:JJ?^i 
(DA^'pj. : yCJ?AiP: ax;?.a:<^®’^' 

39. ; A'i'PX : (D axTi*^ l 
:'i/aA'fc : nx^irAih : a)^A' 4 ¥i'n ;: 

40. ^Ht^;X7H.A*nrh.C:Aq,A<^;PjAf?^: 

(Dje A'diT A : AAiH-n : :: 

41. 4:Aa)'f'<3^:A{J?j»l:AP^p:X7H.A*nih.c:: 

(D/h A^ : AP<3^5. : A^f^A^ ; X*Hf. :: 

42. 4:Arfi':AJj?^:(DAX3A:if?arj': 

; Tiin: X."^ a : x^^/h j>ar : AO-np-: 
n^n : :: 


35. tdnsa’ ’egzl’d ’atnlacaya watatlifi’al ’9d'S,ka. 
wa’Itersa’Omu Ian ad ay an. 

36. ba’anta mant ’am’a’6 hata’ la’agzi’ab^hSr 
’asma yabla balabbfi ’iyathassasanni. 

37. tar'3.’i-nn kama lalika tan'8.ssar sama wama ata 
wakama tamattnwo wasta ’ad'Ska 

38. la’®raka-nn ’anka tagadfa nadai 
wa’anta-ntt rada’ihn la’ag^ala mauta. 

39. qatqat mazra’’t6 lahata’ wala’akkfii 
watathassas hati’ato ’) ba’anti’ahu watatrakkab. 

40. inaggas ’agzl’ab^bar la’alatna ’alam 
wayathagg^alu ’ah^zab ’ammadf. 

41. fatwatOmu lanadayan sam’a ’agzl’ab^har 
wahallma labbomu-ni ’asma’at ’aznfi. 

42. fathd lanaddi wala’ag''ala ma^td 

kama ’lyargamu ’anka ’ag"ala-mma-bayau ’a’^bayo 
’afuhdmu badiba madr. 


1) So MS. 


Ge'ez-Studien. I. 


651 


10 . 

1 A-nrh.c : 'Tcdyi a Yi* : 'ka. : ^-oat ; 

Af4^fiPI 

AojBA : orfi'p ; A;?-aC : :: 

2. ; 5'U' ; : (d A*!? : <i>fi'f’c3o. ; 

(D Ari't*J?A(D. : AfhA'tUc^^ : arfi'i’ : 

; .E^^4:jD : AC-to ; A-n : n/r :: 

3 ; HAl't' : iua,oyi : i m-t i 

(D : 7-04 :: 

4. A^H.A-flrfi.C.CD’il't'.itCrhlc^^.ElV: 

A7H.A-ll/rh,C : Orfi'T : : 

: P/h-f- : A7\;? A : Ac^^/h jpor :: 

6. A^H.A'flrft.C : Pdi^'f- ; I (DA'^'i^'K I 

(DH A : A4i^A : Au<^^ : aaa ; ;; 

7 ^mf^:^^W7C:AOA:'5'PA^[ 


10 . 

ba’enta sa’61. 

1. ba’agzi’ab^hSr tawakkalku ’afFo tabliiwa lanafsaya 
’a’aiyil wasta ’adbftr katna ’of. 

2. ’asma nahu hata’an wasaqu qastomu 
wa’astadalawu ’ah®satib6mu wasta mag”anapatihomu 
kama yandafiiwo laratd’a labb basammit. 

3. ’asma nahu za’anta sara’^ka ’arniintfi nasatu 
[wajsadaqa-sa manta gabra. 

4. ’agzi’ab'’har wasta sarha maqdasu 
’agzi’ab°h9,r wasta samai manbard. 

5. wa’a’^^yantikd-ni haba naddi yan’assara 
waqaranabtihd-ni yahatto la’ag''ala-mma-hayau. 

6. ’agzl’ab'’har yahattato lasddaq walahdta’ 

[wa]za-sa ’afqard la’amasd sal’a nafsu. 
izannam masdgar la’da hata’an 

1) MS. : sirha. 


7 . 




652 


Enno Littmann, 


: oariV : : 

(DCTOfi : J'CAP' : 7Ji :: 


11. 

: fh*H^ j>fi : ci'h’i'P: : Hc^l :: 

cDor ftij? : JP®’ :: 

2 ‘Q'?'f-;jBl’5'74.:Afh;^:f?^fiA:*aAA.: 

rin^4:/: : > Ai A^'l’ : An : ®nA-n : :: 

3 ^UiCfl)l:A7H.A-OA.C:AY1^4:>!::>/hA*^: 

CD AAn*? : ’K'i'T : :^u^. : Jan :: 

4 7\ A : .E-HA* : ^oa : Anf-t J : (DTl^^-ah. : "Jaf : 

(Dn’h’i'P : 7oC ^ : I 

jB'hH, : ‘K^iui'K : jea : T^^H.A-ncii.C i 


’asat watai manfas[a] ’aulo makfalta suwa’Omu. 
8. ’asma sddaq ’agzI’ab'hRr wasadqa ’afqara 
warat’a-sa tara’ajo gasso. 


11. 

ba’anta hasqayas ba’anta samanit zaman. 

1. ’adhananni ’agzi’6 ’asma halqa bar 
wawahada haimaaOt ’am’ag'^ala-mma-hayau. 

2. kantO yatnaggaru ’ahadu masla k'ala’a 
bakandPra g”ab“lttt Idbba wabalabb (’i)yatnaggaru. 

3. yas^arruwOn ^agzi’ab®h8.r lakandf^ra g”ahldt 
walalassdn ’anta ta’abbi nabiba. 

4. ’alia yablu na’abbi lassanatina wakanaf®rina-iii hab’dna ’amuntQ 
mannu wa’atu ’agzi’®na. ') 

5. ba’dnta bamamfimfl lanadaydn 
waba’anta ga’arOmu lamuquban 
ya’az'd ’atnassa’ yab’S, 'gzl’ab®har. 

1) So MS. 


Ge'ez-S'udien. I. 


653 


6 

7 3’A:7\mA'nfh.C:^A:*?/t/h: 

: -nz^C : : 'kp^j^C. : 

H A/? /!;jBp : :: 

8. A'?'t’:Am>>:04>n?i 

(D't^ :^ar A.^* : (DAhTi ; :: 

(DAYic^^ : onp : aoa^'Til : iua,0*o«3^ : : 

MAiAc^fh.p®’:: 


13. 

n’Al'p : Aart.iVf^ :: 

1 A7o^z,i 

AfiYi : : 7A*a : A^^iP :: 

2 AhYi:if}AH.f.:A?-nc.:rhm:(D’fi't':54:^iP: 

Q)^HX)Zi . : A-np : yy-a° : h<fiz i 

3 AfiYi:<??AH>J.:.E^qi.aP:AAA^p:AOAP:: 
iKZi . : (DhP^Oi' A7H, A : Ai^ AUPl 


6. wa’ar'Essi madhanita wa’agabad botn. 

7. qala ’agzi’ab'’h&r qal nasah 

kama barUr sardi [wajnatfif wafatfln ’ammadr 
za’asrayuwo masba’ita. 

8. ’anta ’agzi’6 ’aqabanna 
watamah®sananna ’amzati taqlad ’aska la’alam. 

9. ’auda yahauwaru rasi’an 

wabakama ’abaya la’elannaka sara’^’komu ladaoiqa 
'g“ala-mma-hayau. 


13. 

ba’anta ’ab’daRlOm. 

1. ’aska ma’az’a-nd ’agzi’6 tarassa’anni lagamura 
’aska ma’az'i-nd tamaiyit gassaka ’aman’dya. 

2. ’aska ma’az'a-na ’andbbar hazana wasta nafsaya 
watas'a’aranni labbaya kuU6 ’amira. 

3. ’aska ma’az'i-nd yaf’abbayu sala’®taya la’daya 
nassardnni wasam’anni ’agzi’6 ’amlacaya. 


£ nno Littmann 


4. A-ncir"? : a ;: 

CDYlc^ ; A.^n A-5. ; a a A^p : «PA5'U- 1 

5 (DA Aft : ^uzA>Fi : ; aac^ ; 'PUcd^p :; 

(D A*?!^ ; : 'Pcd yi : 

6 jeY’4,^rfi£:A-fip;nA^^^”Y'^l 

AiY-ftff' : aA° 2H. A-ilff^c : : 

(D AH.p^C : Aftc^ ; A"?H. A-nCrfi.C : ao-a :; 


(Dl7A;HiJ9C4>ft:: 

1. 

1 A(D12A : APft-ft : : cdaj? : A°? 

2. H. AYifh^C :: — ■ (D’ft'i’ : : 

AftJB^^i : iLXJ^ : 5‘i> ; A4,J* : ^^A A'rtP : : 

3 7A-Y1 : HJBA^ Ai .* V. - ^ A .' DTA : ft 

'(151 ; n7J?f^ ; (dje-oa ; A.rh-A : : aA7h. A-n 

4 /h,c : (DoCP ; — (DUA’ ; P*rfi5ft : 

f^A>: n7J?(^ : (D^Eft-fiYi; 


4. ’abrahon la’a’^yantaya kama ’lyanflina lamawit. 
wakima ’ly’baldni sala’®taya ni"o’®nahn. 

5. [waj’alla-sa isaqqayflni y9tf‘assahu la’amma tahawakku 
wa’ansa bam8h®rat9ka tawakkalku 

6. yatf’assehanni labbaya ba’adkanotaka 
’os'abbaho la’8gzi’ab®har zarad’anni 
wa’az'ammar lasama ’3gzi’ab®hSr la’dl. 


wanyS,! za-marqos. 

1 . 

1. qadamihu lawangSla ’iyasds krastos walda ’8gzi’ab®hSr. — 

2. bakama sabdf wasta mashafa ’isaiyas nabii nabd ’ef’Snnu 

3. marakeya qadma gassaka zai®saiyih f8n“otaka. — qdla ’awddl 
zai®sabbek bagadam wayabla ?fbu-’a fandtS lagzi’ab®h8r wa- 

4. ’arriyu masyahto. — wahallo yohannas yatammoq bagadam 
wai®sabb'ak tamqata kama inassuhu waysthaddag Idmu hati’a- 


Ge'ez-Studien. I. 


655 


5 : 'iaxh-i'O^ :: - (DPrhor^, : 

’iiiU' : : A-nX; A,f^ : (djp 

: aw*a>«3^ : nz.Ai : P’C^^'ii : ‘k'^h : 

6. ;: — a)A*njft' ; AP-/h^fi : 

'oi : 'Kf^AJ-z. : : (D^5'*t : haap^ ; arii-p : 

rhjtU' ; (DiX'^iP : A3n<Ti : (Dcf^uz : am^ ;: — 

7. ©iinTi : a : : hjb a^o{. : p : 

HA.^^A(Di ; : (DA4::Pfti : : aiha 

8 £.ih : Af^A^ziP :; - (da^a : :n 

<fiji : (DOT A-tA : : 4>^A :: 

9. — (DarA'P : hcfiz : <^a:k : a.pa«a : Af?^7A.A: 

uiz : : (DA'Pc?^*** : P'Ai^a : nAA7: p*C 

10. jp4°A :: — (D(Dg.A : a^^jb : cap ; 't-C'icD : mfijB : 

(D(Dzx : : 4>;?.A : y\<^ : C7-n : (Diaz : a 

11 ai>:AA.PA-A:: — oxT^ifA.^A : Af^AJ7^:HjB 
•OA : A^'p : orA-i: : (DA;P’P:HA/l^C:a)^j»A: 
12.13. uj<?^C*inf :: — (daop^a; :: ~ (Di 

az : rfi^ A : AC-n^^ : o a-p : (d AC-nq? : a a.-p : (djp 
(D iaz .v^aa: AZn^^ : (d^^aa 


5. tOmu. . — wai‘’hau®ru hab'Shu kuUomu sab’a ihdda wa’iyarusa- 
Idm wayatammaqOmu lakaUomu bafalaga yordanos ’anza yet- 

6. ’ammanu hatl’atomu. — walabsti layohannas kona ’amsag“ 9 ra 
gamal waqanatd za’adlm wasta haq"llhu wasisayd ’anbata wa- 

7. ma'ara *) §adana. — wasabaka wayab'S, : imassa’ zai®sanna’anni 
’amdahrSya zai’“dallawaimi ’adnan*) wa’aftah t“otana ’asa’*- 

8. nihu ’am’agarihd. — wa’ansa ’atammaqak(k)ammu bamdi wa- 

9. wa’atu-sa yataiimiaqak(k)ammu bamanfas qaddds. — wawa’ata 
’amlra masa ’iyasds ’amgallla bagara naz“r’^t wa’atmaqo yO- 

10. hannas bafalaga yordanos. — wawasi’6 ’ammai ra’aya tara- 
hawa samai wawarada manfas qaddds kama ragb wanabara 

11. dib'Shu laiyasds. — wamasa qal ’amsamdi zayabj ’anta wa’5tu 

12. waldaya za’afaqqar waciyaka samarku. — wa’aqsa’6 manfas 

13. gaddma. — wanabdra haq“la ’arba’d 'alata *) wa’arba’d I'dlita 
wayam'Skkard saitan wanabara mdsla ’arawlt wayatla’akiiwo 


1) So MS. 


2) MS. ’iidttm und ’Jdmn. 


3) So MS. 



656 


Enno Littmann, 


14. :: - : A'^'Hjb : AP/ii 

■5fi ; <f^RK : APA'fi : 7 a,a : a)fia*n : (D'?'2 a ; 

15. : A7H.A'nfh>C :: — (D^a : aRih : 2H.U- : (d 

‘PCn'P : : fid9^ : {firfi- ; a)A<^J. : ncD^ 

16 iA : A7IiA'nrh>C :.* - (DA^PI : P-iA^: .■ : 

aAiA : 7AA : ^^oc7=>' ; Afl^^^p■? ; (DAAi;p-CjPfi : 
A'j.ip ; J*UJ74, : (D'^i'P ; aAiC : ‘Kh <^ : : 

17 A<3^1*t: :: - (Dj^aA>c;^ : apa-^i : '?o- : ^ao).^ : 

18 (DAf:A^hP5ic5^. ^?5UJ7A,j:i*i-nA:: — 

19. aouiqziya ^ : (D'PAOrp : I'^av :: — CD-i AA : 

UP : fh<P ; /.Tina^ : a j*04>-n ; (d AP-Alfi : : 

H-UrSpa ; (D AAiP^. ■ Air<3^ ; arfi'i’ : di«^C : 

20. j>imp ; :; — cdaot^pc^^ ; : 

H'Ojepav : Aairc?^ : f^tiA : : arfiT : d\ 

21 cj^c : cD/f'/C, : (P't’AorjD :: — :j : 

(i)PA:niiin^ : f^'fY’A,n:a)A'iH:^p^uC‘3^:: 

22 — u) A^Yi4. : ^^UC'^': : yk^ : : jb<h 

23. uc<3^.*a)A'o;Yi‘^:A/rii4^'f-c?^;;- (DUiV.-nAix: 

HPi"? ; A'ifp^ ; aw: arh-r ; ; (poarpo) :; 

24. - (D^a : yip: f^hAn : apA'^i ■* ^"ha.'P : 


14. mala’akt. — wa’.Jind3h''ra ’abazuwo layobannas masa ’iyasds 

16. galild *) wasabaka wangala mangasta ’agzi’ab‘’har. — wayab'a 
ba§®ha giz'ShQ waqarbat mangasta samaj nassuhii wa’amanu 

16. bawangfila ’agzi’ab^Mr. — wa’anza yabaUaf mangala bahra 
gal'ila rakabomu lasam’on wala’andaryas ’ahdhu yasaggaru 

17. wasta baby ’asma masaggardn ’amdntu. — wayab’dlomu ’iya- 
sds na’d tal®wdiii wa’ana ’ar'assiyak(k)aiiuiiu masaggardna sab. 

18. wahadagu masagarihdmu watalawuwo sSb'aha. — waBalifd 

19. ’anohaya haqqa rakabdmu laya aqob walayokaonas .darfqa 
zabda^os walalihu-nl maslabdmu wasta hamar yaa'annayu. ma- 

20. sagarihOmu. — wa§auwa’6iau wahadagu zabdd"osa-ha ’abba- 

21. hdmu masla ’assabu wasta hamar wahdru watalawiiwo. — 
[wahdru] qafranahom wabd’u basanbat mak^ardba wa’ahaza ysm- 

22. harrOmu. — wa’ankaru mahr“dt6 ’asma kama makonnan yam'ft- 

23. harSmu wa’akkd kama sahaftdmu. — wahallo ba’asf zagan’dn 

24. ’akkdi ’ahazO wasta mak^rdb wa’auyawa. — wayab’S, mant 

1) MS. fakchlich ’dvigalUu. 2) Im MS. siud die beiden Worte umgestellt. 


Ge'e.z-Stuuie;i. I. 


657 


: :t'P4:Ai : : A’?'!’ : ^ 

25. : AAmA'fl/h.C :; — a)7iUA : APi^ti : (djb 

26. aiV : : 0 ) 9 A : AP^ii> :: - o) Afi 0 'A. 7 < 9 : 

arA-t : pi’i : AYi*^ : a)Darpa) : noa^ : : (DO) 

27. OA ; Af^ia :; — a)j?^7e-: : 0)jBaA* : nn 

: 'H’j-fe ; ; di^h : h 

n^AHa ; ^A7 ih<^ : AAP’i^^: ’ATt'j^’iiwm 

2 s. a)j>a)9Ao^:n^pyV :: - : J74, : nYY- 

29. A':nrtiarC'P : 7AA :: — axD^A : AP^Yt-Zi-fl : pa : 

a'p : : 0)p^fi Aa : a^.?*C : o) : 

30. (DP'rfi'Jfi :: - : ^AOl : (D{7 

31 cp : nA‘?a-Av :: - a)0>Cn:mv;o)A'5H:A;ev: 

0)A1F^A : a)*?.^;?; :pay : (DO’H^a^ : 0)0’ 

32. AAYi'f'CJ^:: - a)i73fiP':2H.:PDC-n:0iA^:Af^ 

/t A : ma ; “nf-A : ^(ir.p{ : (DA a ; apJ'?^ : An- 

33. j>i:; — A : m a : Yif- A : U7C: "in ; aj^k :: 

34. — ( dacdi ^ o ^ : A-HH-'^l : ^ orj?^ ; a)/h(^j7'? ; 

( DA ( ir ^ A <^ : A-fiH-ir^ : ap'?'?‘p : oiaJ’-hac?^ : 

^^•na : aa<^Cp : or A-t : 


baya masl'aka ’iyasus naz^rflwi masa’^ka-nii tatfs’anna ’a’'mar- 

25. naka mannu ’anta qaddtisu la’agzi’ub^hftr. — waga[s]saso ’iya- 

26. sus wayab'alo tafasam wasa’ ’aman'aliu. — wa’astaragaso wa’atu 
gan’ftn ’akkni wa’auyawa ba'abfya qal wawasa ’aman'ahu. — 

27. wadangasu kullomu wayab'fl.lu babainatibomu manta-nd zantu 
tamhaA haddls zabata’azazu *) ya’’azzaz6mu la’agaiiant ’akk“a- 

28. ydn warakusan wayawas(s)a’6mu baqaln. — watasam’a nagard 

29. bakulld babawarta galila. — wawasl’d ’ammukrab bo’a b’Sta 

30. sem’dn wamasl'Shu ’andaryas waya’aqOb wayohannas. — wa- 

31. hamdtu lasam’on tafassan wanagaruwo ba’anti’abd. — wa- 
qarba hab'aba wa’abaza ’ad‘d,ha wa’ansa’d wabadaga fasantS. 

32. sob’fiha watansa’at watala’akattdmu. — wamasiyd glz'8,-) 
ya’arrab sabdi ’amsa’u bab'ftbd kulld duuydna®) wa’alla ’aga- 

33. nant ’akk“ayan. — watagaba’u hab’abd kalld hagar baba ’an- 

34. qa§. — wafauwasdmu labazubdn du\jyan wabamumdn wa’au- 
sa’dmu labazubdn ’aganant wa’iyababdmu yanbabu ’asma ’a’*- 

1) MS. auch 3abas»Udnu. 2) MS. soba ; gx^ii ist durchgestrichen. 

3) MS. auch dug'‘ydna. 


658 


Enno Littmajin, 


35. - (Dn>f Qfh ; : (DAAap ; : (dcd^a : 

36. - a)nup;je7'?p:iif^ipl: 

(DA a: au* : (DZ Yi-np ; (D^a Ap); : w- a: 

37. p-j^uiuYi;; — (DjeaA£3^;<^Ai>;AlYi:lAC: 

38. VIA A-p^ : hmz. : ; nup^ : Afi*n5i ; ~ 'Kh<^: 

AlnjBJ : 'H'j'fc.cD^A Yp: od^^aA'q-: (D^z.i(rr^" 

39. - (D A-i ; (D nan : ; (DhYPA : ^ 

u-j? ; (Dfi^AcD’C'tv : (D7AA ; (djpcd^a ; a:71^'P :: 

40. — (Di^/t A: HAf^/f .'jaip: (DAfi'p-n/C Yi: (d Afi'P 

: (DjBa A : A7 h. a : : ^5ia ; 

41 ai/paA'P:: — (Dc7=»/hC:A.Pi*i*fi:(DA4:rfi:A;eiJ*: 

42 . a) 7 fiP : (DjBA A : : lAAi ;: — (D*n^A ; 

43. : rh^o) ; Af^/t :pav :: - (D71 ua : G)Zi(D:: 

44. — (D^nA ; d-4> ; A/t'i ic : (d a ; (d ac : <J> 

A 4 :^’i : C AfiYi : a viul : (d A- nx : : nx 

? 'p ; HiAfhH: nn^:HAHH : : 

45 hf^o : AOAir<^ :: - (Dcd^a ; a-jh : jBii-fi^fi : 
(D^j^C : 'OH-'J : Xfi^ ; jpj51^ : YY-a : U7C : (d 
fiXi : A : U7C : yiup p : aa : A4:a : 7Xf^ : Mi 

•nc : (djb^^a : ’itiU ' : X(^ ypav :: 

35. maruwo kama wa’atu krestos. — wabasabah tansa’a wa’al'a- 

36. laya t^qa wawasi’6 kora wasta haq|. — wabahaya d’ftganuwo 
s5m’on wa’5Ua masl'Shu warakabuwo wayab'aliiwo ’anga kullu 

37. yahassasakka. — wayab'Slomu malla’u ’anka nahor kal’ata-ht 

38. ’ah'gnra kama bahaya-ni ’asbak. — ’asma ’anbaina z5ntu wa- 

39. sa’®ku wamasa’®ku watafannanku. — wahora wasabaka bama- 
k^rabomu wabakullii ihuda wabahawartiha wagalila waya- 

40. wa§sa’ ’agananta. - — wamasa /.alams hab'Shd wa’astabraka 
wa’a8tabq“’0 wayab'alo ’agzi’6 ’dmlna-sa faqad“ka takj ’aii?a- 

41. hotaya. — wamahard ’iyasds wasafha ’adahd wagasasd wa- 

42. yab'Ild ’afaqqad ndsak. — wabahild kamaza haiwa lamsd s6- 

43. bdha. — wagas[s]asd wafannawd. — wayab’ald ’dq ’Itdagar 

44. wa’ilamaimdhi wahdr wa’aftan ra’asaka lakshan wa’aba’ 
mab’dka ba’anta-za nasah’ka bakama za’azzaza mus'd kdma. 

45. ydkun s5m’a la’^llddmu ^). — wawasi’d ’ahaza yasbak wayangar 
bazdha ’dska yanakkaru kulld hagar wasa’ana bawf’a hagar 
kasdta ’alia ’af ’a gaddm inabbar waa®massa’u hab'dhti ’amkullahS. 
1) So MS.; besser re’asdka. 2) So MS.; wohl verhort fiir -I'dhomu. 


Ge'ez-Stadien. I. 


659 


2 . 

1 (DOA : non:u72;: 

2 Yic^ : uA’.arfi'i' : n.^ :: — : -HH-'i*? ; 'hti 

Yi : A.jP7f^C<^ ; : cDA.*5n; : cdjbj^C 

3 <3o.;^A>:AAA:<3®/tA:mU':: - 

dhP: (D^ AorCfi) : nuA,^ : ACao-t ; oje 

4. or :: — ®r»n : ^lAf. : A-fiA-f- : -in : UA» : \Pffti : 

iw-P: aiAA : (DAarz^prp^fiA : oa.’P : h Afiu* : • 
6 jen^i-n : orAi: : :: — (DCAp* : apa-^i: 

: ^n.A> : Aor A-fe : : (da^p : -p 

6. ■?j^7;AYi:'}m.A^Yi:: — <dua(i>.: Ad\4:^:^j 

7. -n^.-cDdiAP-nAPis^;: — (DjBftA*: 

: jBJ-fi-n : ^C^'p : (D^f, : 5 ia : *$ je. 7 : -jm. 

8. A^:HA^nA:Afh^;A7H.A'nA.C:: - (DAA^^ 

C <^ : APA-ii : yh^'h : ^/h.AF : 

(D^ aA“C 3 ^ : ^ihAP : nA-n^ic;^;: 

9. — : jB^AA : Af^-n^Ap-t : AH^-t : 

> 0 : : AYi : -iflx A^Ti : a)A^^'n\£iV•i: ; •p'? 

10 . iwA:a)^WA:DA.'PYi:a)rh*C:nA 7 Z¥i:: — 


3. 

1. wab"aa ka’®ba hagara qafranahom g^andbyO wasdm’u kama 

2. hallo wasta b'ftt. — watagdb’u bezuhan ’aska ’iyagammarOmtt 
makan wa’ihaba hohat wai'’nag(g)ar6ma qalo la’alla masu ha- 

3. b'ahd. — wa’amsa’u daqyana '■) masag”a’a wai’sauwariiwo ba’a- 

4. rat ’arbaHa ’adau. — wasoba sa’anu ’aba’oto baba hallo ’iya- 
sQs (wa)nasatu tafara wa’auraduvo masla ’aratu zadib'fthu 

5. isakkab wO^’Otu itiasag“a’. — • wara’aya*) ’iyasfts haimanotOmu 
yab’alo lawa’dtu masag^a’ waldaya tahadga laka hati’ataka. — 

6. wahaUaw" sahaft (wa)inabbaru wahallayu balabbomu. — wa- 

7. yab*dlu lamant kamaza inabbab sarfata wamannu zayakj ha- 

8. diga hati’dt za’anbala (a)hadu ’agzi’ab^hdr. — wa’a’*iaar6mu 
’iyasds bamanfasQ kama kamaza yah'allayu wayab'dlomu la- 

9. manta kamaza tah'allayu baJabbakammu. — manta iqallal ’am- 
bahllotn lazantu masag"a’ tahadga laka hati’ataka wa’ambe- 

10. hllotd tansa’ wanasa’ ’arataka wahur ba’agarika. — kamsu 

1) MS. auch du(f'ydna\ 1. ddwAya. 3) L. n’ayo. 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-liist. Klasse. 1917. Heft 5. 


44 



660 


Enno Littraann, 


: 'll®’ : A>-fe : a® A J? : ^2 ^ ; 7\<^fh 

1 1 j*®’ : : * 5 fa A'l’ : n An : A-C :: - ® non : 

; A®'A'i: ; : An : a-oah : 'T'iw’K : 

12. ®^ufh:oz,'t’n:®A-t:a’t’n:: - 

oay ; ® J ^A : o/j.-t- : n^A^^ : : ® A An» 

1’P) : AAiH.A-ndi.C : ® jea a : la^A , : A.C A? : h 

13. Tic^n:: — ®A<^*H:A^:non:c^l7A:afhC: 

® : -iau- ; : ArhH'n : :: - 

14. (5)'ixA : : CAP* : a : ® : 

AA 4 ;P’a : AlH ; ^ j-nc : -in : : ®^a A : 

15 ^A®i:®'i’lP'A:®'t*Ap:: — ®Af^'H:c^adi: 

na*!* : : ®-nH-'ii : -i'PA^ : ®c?=A'n'4i^ : 

z,A ,^ : f^aAiP : ® AC^AU’i : ©■nH-'S'? : Ac?^ 

16 i-fe:: - ®'t*A®.: Afh4^^:®A:An®*i»'?;®CAP’ 

^nAO : p^aA : 'i'PAl : ®i 3 ^A'a^‘? : ^ 
aApc?^ : AAC^ AU* : Af^"?^ : : jenAO : 

17 . f^a A : 'j'PAl ; :: — ® aca^i : APa^a : 

jea A<3^ : iho^cR'^ : ^ : Au^pa : w/^.jb : ® 

An : : 'j'pAf : ^^aah* : aa ®’0 : ® An ; 

A^^ { : iT’AAn* : AA®*o : ® An : 'itt-rhi : 

18 Aia^:: - ®AC-PAa*:AP*rhia:®AAy:AC 


ta’‘m8r kama bawah l6tu lawalda 'g”ala ’ammaliaySu yahdag 

11. hati’ata badiba madr. — waka’®ba yab'alo lawa’atu dawai laka 

12. ’ablakka tdnsa’ wandsa’ arataka wa’dtu b'fttaka. — watansa’a 
sObdhd wands’a ’arato baqadma knllomu wa’a’%”atuwo la’ag- 

13. zi’ab^hdr wayab^Slu gamura ’ira’Sna zakamaza. — wa’amza 
h6ra ka’aba mangala bahr wahora hab’ahn kullomii ’ah^zab 

14. wamaharomu. — wahalifo 'mlidya ra’ayo lal'ftwi ma§abbahawi 
walda ’alfa'os anza jnabbar hdba masabbah wayab'dlo tala- 

15. wdnni watansa a watalawo. — wa’dmza masha bab'fita sam’On. 
wabazubdii hata an waina§abbalian rafaqu masl’£h.u wa’arda- 

16. ’ihu-ni wabazuhdn amfintS. — watalaw” sakaft wafarlsaw*yan 
wara ayomu kama iballa’ masla hata’an wamasabbahan yab'a- 
luwOmu la’arda’ihu lamant llqakammu jballa’ masla hata’in 

17. wamasabbahdn. — wasami’o ’iyastts yab'dlomn hamuman ifaq- 
qaduwo la’aqqab'd sarai wa’akko t^’uyan hata’ana masa’^ku 
asanwa wa akk6 sadaqEna, rasuhana masa’^kfl ’asauwa’ wa- 


Ge'ez-Studien. 1. 


661 


^ Yio) : jBKora^i (Dff^z^: 

(D^iiAp : cYh^: hC^KU - : AP’A'^fi : : 

(DAC^A.ir<3^i : A^zi^or jpl : jBAorc^ : (daC^ 

19. A.'nfi;A.jBA(ir<?^:: — (D^ft/Vc3^:A.PA*fi.\E^ 

A*J, : : (D Aup : A^^^^ : u 

20. A ? : Air«3^ :: — (oa/h-t : ^ 

TOA : A<^ : JBJP^Ap : ac^C^^ : ; cDor 

21 A't’ : : .EAorc^o.;: — (daao : : l 

: orfi't' : fimm : A-nii : -fl : (DA 

: '5'4>n'f' : (Dj*c7-nP’: a 

22 fimm*;: — (DAAo:H^(DJe.:(D^{:rh-R.i*i:(D’fi't': 

; -nyv^ : : (djb 5 : di^fi : a*h4> : 

•n A-jB : (D(DjBf.yL : jb^tiocd’ : (dh*®^ : je Wta : 

(D A(D J2^jl.Vh Ah: (D’h'D : .* rfi Ah : ^(D A*AP: 

23. (D^^o^n-; fines' w^^:: — (DAf^*H:^on: 
(DAz. : APjh'h : nhln^ : A*?*!’ : c^^7a : 7A»(D’U : 
(DACA AiP^ : f^h AU':(DA'iH-: Af^rfiCD- : h‘E'1’ : 

24. (DA A.rh- : iV-t : 4^^'r :: — (DAftAp : AA^ar^’i : 

CA : : A7*n4- : acaati : nhln^ : H AA 


18. ’akko n9s[s]uhana lansdsaha. — wa’arda’ihrt layohannss wa- 
’allQhi ’arda’ihomu lafarlsaw''yan ikauwdnii isauwsmu wa- 
horu wayab^aluwo ba’affo ’arda’ihti layohannas isauw^mu wa- 
’arda’ihomu ni lafurisaw’yan isauw4mu [wa’arda’ika-sa ’iy- 

19. sauwamu]. — wayab'alOmu ’iyasfis yaklu-nb daclqd lamar- 
’awi sawima walah“w6 ’amtana') hallo mar’dwl masl&homu. 

20. — wabah'tfi imassa’ mawa’^k ’ama inassa’iiwo lamar’awi 

21. ’aman'ahomu wawa’ata ’amfra isauw^mu. — wa’albo zai*taqq9b 
g^mda darg^ha^) w^sta sstata labs baldi wamma’kD-sd yanas- 

22. su’6 wayanaqqu’6 taqbato waya’abbayo lasatatii. — wa’albo 
zai^waddi waina haddisa wasta zaqqa baltii ’asma yanaqqu’6 
waina haddis lazaqqa balrii wawainQ-hi yetka’au wazaqqd-hl 
y 0 thagg"al walawain 0 -sa haddis wosta zaq haddis iwaddiiwO 

23. wayat’aqqat)'! babainatihomu. — wa’omza ka’*ba wafara ’iya- 
sfls basanbat ’anta mangala garawoh wa’ardii’ihfi-ni masl'^hu 

24. wa’ahazti yamha^" sawita wai^sihu l“otd fandta. — wayab'S- 
liiwb fansriw°ydn ra’i zakama igabbaru ’arda’ika basanbat 


]) L. ’amtdna. 


2) L. (hrgg'ha. 



662 Enno Littmann, 

25. ^0-^ ; A7aC;: — a)jBaA>c3^ : A.pitii : 

A. ; H7'n^i : : h <^ : Oia : or A 

26 : ®XA : A,ih :: — : nA : a'p : A7H. 

A-nfh.C: A'Jh.a-ojpO'C: a.<i>: nWY’: ®nAo: 

: i^pj‘P0:HA..EYi(ir4" : AnA^-HAlfnA; 
j?Ac?^ ; A^ow^ : Aa/ht'i-<^ : (dcdupc?^ ; a'A 

27. A^:f^iiAU-:a)nAo*:: — 

n A^'t’ : A-n A ; ; ® AP : fi-fiA : nA^'f : 

28. AYfiY':: - cDA7H.A;A/i'?n'l-:(DA.i?:A;?A: A 

3. 

1. 0PA : 'OOP : f^Y¥*z,n: (dua: up : -nAP, .HP-n 

2. p^:A.eih:: — 0jB^o<i>-ii[D:AA<?=»:jB/^,(0’p;n 
3 tiicVt- : pc^.\pP'Pt;?’^P :; - © jea^; AorA-t; 

•OAiX ; : A^ih : 'P^i^A : (D^p^ : (ffK 

4. yia:: - a)jBaA<3^:jBYi(ir‘?i>:na'?n'l’:7a-i: 

UJ5*JB : Aor.^a^: AYpjb: A/A^jd: : (D<a<^: 

5. ip-tA :: (X)hC<^o ^ ;; — (DJ AC<^.’ a^h : 


26. zaiy'kauwen lagabir. — wayab'ftlomu ’iyasos gamura iyan- 
babk6minu-nU zagabra dawit ’ama r6haba wa’atu-m wa 611a 

26. masbShu. — zakama b“6’a b’Sta ’agzl’ab^hSr ’anza ’abyatar 
liqa kahanat wabal’a hab^sta mesuwa’ zaiy®kauwan6 labalf’ 
zanbala da’*mn lakahandt labahtitomu wawahabOmu la’6lla-bf 

27. masl'ahd wabdl’u. — wayab'alOmu sanbata-sa ba’dnta sab ta- 

28. fatrat wa’akko sab ba’anta sanbat. — wa’agzi’d lasdnbat wal- 
da-g"ala-mmahayau. 

3. 

1. wabo’a ka’^ba mak^raba wahaUo haya ba’asi zayabsat ’ad'fihn. 

2. — wayat’aqqabuwo la’amma yaf’SuwasO basanbat kama yasta- 

3. wadiyiiwo. — wayab'tlo lawa’dtu ba’asi zasawwds ’ad'Shu 

4. tansa’ waqnm ma’®kala. — wayab'al6[mu] ikauwana-hfi basan- 
bat gabira sannfii ’au gabf ra ’akkni ’ahayawO nabs ^)-nd wa- 

5. mima qatil wa’armamu. — wanagaromu®) ’anza yatma’a’ wa- 

1) MS. ‘mma. 2) MS. auch nahs. 3) L. wanassaromu. 


Ge'ez-Studien. I. 


663 


: apc 3^ ; (Djea a> : Aor 
"hi: : : (Dj*i4:rfi : : cdai 

€. ^0)^ : : *aA:h j* :: — (D(D^s<^ : : 

^^flA : jft-n A : yc^ii : :: 

7. — (D'l'^AiUJ ; A.Pi^ii : ^^^lA : ac.J^a.ip ; <^^7a ; 

QitiC : (Di'Aorp : •nH-'jl : : Af^7A,A : AfiYi: 

8. :: — (DAf^A.PZ,'*! Af^:a)Af^A,jef^j*fi: (d 

: cDAf^/aCii : (DiX^^ : a):AP^ 
: AU7-C : A. : : W-zv ; 

8 H7-n4:: -a)JBaA><3^:AACJ?A.l^:JPit■?^h•:iV■t: 

10. /hc>^z:Ti<^:A.^74:op:fi'nA:: - 

: Arhppo^ : (D Afi'p'n‘i>*op : : ^7fiJip : 

11. - cd‘Ka^:A'J.H}:ap1^^: 

CA^p.jba^^ :iV-t:(D^ACrfi': 

(D^-fiA* : A^'p : (DA-t : (DA^: A7H.A'nfh>C :: — 

12. (DA-nH-'il : ^ : A^zfi^p ; 7 vj? :: 

13. — (DOC7 : ^-n/. : (daopo : aa : : or A-t : a)£f> 

14. — (dzap: c7UJC'p:a)?iAA'p:(Dfi<3^ 

v -<^ : diTC4”P : : pua- : aip : 0)^ z^p 


yat'akkez ba’enta ’Grata JabbOmu wayab'Elo lawa’atu ba’asf 

6. s6fah ’ad*a,ka wasafha ’ad'ahfi wabaiwat kama kGla’ata. — wa- 
wasi’omu farisaw’ydn masla sab’a harodas tamakaru kama 

7. yaqtaluwo^). — watagahasa iyasns masla ’ardaihn^) mangala 
babr watalawuwo bazuhan ^aqqa ’amgallla ’aska ihuda. — 

8. wa’am ’lyarusalSm wa’am yadnmayds wama’®d6ta yordanos 
wa’am tiros wasidona wa’ambazuban ’ab®gnr masu hab*ahd sa- 

9. mi’omu kuUo zagabra. — wayab*al6mu la’ardaibd^j yasniihu®) 

10. lotu hamara kama ’iyagfa’uwo sab. — ’asma bazuhan ’ahya- 
wOmu wa’astabaq“a’uwo kama yaksasuwo kullomu hamurndn. 

11. wa’alla-M ’ahuzan[a] ’aganant rekusdn (wa)’amkama ra’ayuwo 
isaggadu l^Std wai^sarrahu wayablu ’anta wa’atu walda ’ag- 

12. zi’ab®hSr. — walabazuhan yagassasOmu kama ’iy®rassayuwo 

13. gahada. — wa’arga dabra wasauwa’a ’alia faqada wa’atu wa- 

14. boru bab'Shu. — warassaya ’asarta wakal’dta wasamaydmu 
hawGr'yata kama yahallu masl’Shu wai®fannuwDmu yasbaku. 


3) MS. yasnuhu. 


1) MS. yeqtaluuo 


2) So! 



664 


Enno LittmanB, 


15. :: — (DA-fl/i^c;^ : J’Or^A- : A 

: (D^z.artf : j^(Sh:Pi : (om^ ; uuj 
C't’ ; cp5iAA>'t' : cDAc^P’O^ : nnAficJ^'tu’^^^ :: - 

16 17. (DfiiT^p- : ;AWii:: — a)A.P04>-n: 

(daa: H-n^ph : (D AP•^h■?^l : A'^.lh : 

18 nAiC'Zfi : : ■H'^a :: — a)Ai;?’C 

jph : (DAA/ifi : a)nCPA’<iJ^pfi : : (D-f* 

: (Dj^o^l’-n : (da^: AAAP^l 

19 pof3-5 ■ ;; — (DjBlhJ? : Afi»i>CJ'^ : H A^-flA : 

20. (DUAp:: — a)a«pAc3^:a't':<^/fA-;-flH''j^: A 
AiH-n : non : Ann : AJP'O/hp : ^ -oao ; A5ia :: 

21. — A'Hif?AU’i3^;A>4. :PA'iTJp:An 

22. i73:A-n,?:.EnAp:: - a)Afh4:'l'i;AA:(DAft:A 

f?^AP4,OAf^ : : naA*HaA: (on^^AAn 

23. a^ : — (DAop 

<p<^ : APitn : (sx^tiA : : (Pjea : AA : 

24. jB’iiA : n^ : aopoa -i- : AtijBfn'i :: — 

: Hnci^ny : ; ^A-t ; 

25. ;; - (D'K<^i ; jft-nA .’ a^ .' A^ 

26. <i>apf?^.\BA't;a^;: ~ a)i*u2'Ti'?'i:AA<^:'i’lv^ 


15. — wa’abahotnu soltan yayse’u ’agfmanta rakusana wai’fauwasu 
duuydna*) was-ama ’asarta wakal’&ta wasamayOmu babba’as- 
16.17. matihomu. — wasamayO lasam’on p'atros^). — walaya’aqob 
walda zabd§,os®) walayohannas ’ehuhri wasamayomu ba’an*ar- 

18. g'3,s daoiqa nag“adg"ad bahfl. — wa’and^ryas wafilappos wa- 
bartal“6ma“os waraat'S,"os wat^Omas waya’5q6b walda ’alfa^os 

19. watadda^os wasam’bn qarjanawl. — [wai®huda ’asqorotawl] 

20. za’agba’O wa’alawO. — wabawl’omu b’fi,ta masu bazuhan ’ah®- 

21. zab ka’®ba ’aska ’iyabahiiwo yobla’ ’akla. — wasami’omu ’az- 

22. madihomu horu ya’abazuwo sma ’abda yab'Iluwo. — wasahaf- 
ta-ni ’alia waradu ’am ’lyariisalSm yab’alu bab'alzabnl waba- 

23. mal akomu la aganont yawassa’Oinu la’aganant. — wasauwa’omu 
’iyasus wamassala l“6inu wayab'lldmu ’affo yakl saltan ’ausa- 

24. ’otO lasaitan. — wamangaste-nf zababainlltiha tatnatFaq ’ite- 
23. qauwam ya’ati mangest. — wa’amma-nf sab’a b'8,t tanafaqu 
26. ’itoqauwam ya’ati b'at. — wasaitana-lil la’amma tansa’a ba- 

1) MS. aiuli ihwuyi'uM uiid ihr/'iiijuna. 2) L, p'titros. c) MS. ...6s. 




Ge'ez-Studien. I. 


666 


A : nn : A.^4>(irp^ : : 

27. AA:Ji'iA^'t’:j2/5i*n:: — (!)AAP:HjB5iA:a'i': 

'i.PA : n^EA : (DnC-nC i’ : ^tp- ; : 

AiXC-f- : Aor A-fe : '} jpa : (D A^^“H : jBn4-ac : a-*- : 

28. a)'5TP :: - aj95 : h<fn : A-ii a51c?^ ; yy-a* : -jm. 

A^ : je^?^ Y : ayy* a-:a;^a : A^73/h.pap:: 

29. — (dha : : An : : 4>An : A..E^-i^7 : 

iV-t : AP?A^^ : (DjE'l'Y>fi : aab"? : A*HA';if;: - 

30. 31. Ani73;3il :CYPfi: A-iF^ jeaAp:: — ox^/fA: 

A<^^ : (DA'i‘PLP : (D4><3^ ; A^A : cda ayp ; 'jaiP : 

32. ^Aopop :: — aijBJ-nc : n-nA : alp : 

cDjeaAp : i ¥'<^ : A^^Yi i : d) A-i Yii : A^: A : 

33. (ipc;^:a)Pfhi«uhYi:; - (PAopv^a: (D^aA: a 

HJ7C : : opA-fe : Af^p : (da-jopp ; (DJ ac<^ : 

34. AAA:jB?'n4.:ma:D(iPA:: — (D^a.iP'c^^. A 

35. f^p^ : (D A'idpPi :: — ayk^ : yy-a: H^7-nc : as 
A’ : A Aap : Hnnc^jp^ : opA-fe :Af^Pi : (D A'f.p^ : 
aiA'i^Pi:: 


bain'atlhri watanaf'aqa ’iyaqauwam mangastu ’alh\ mahlaqta ') 

27. irakkab. — wa’aibO zayekj b'ftta haiyal bawi’a wabarbarota 
nawayO la’amma ’Iqaddama ’asiroto lawa’atu haiyal wa’amza 

28. ibarabbar b'StO wanawayo. — ’aman ’arndn ’ablakkammu kulld 

29. hafi’at wasarfat yatliaddag lakulla g^ala-mma-hayau. — wazisa 
sarafa d‘iba manfas qaddos ’lyathaddag l“otfi la’alam wayat- 

30. konnan badain lazalufn. — ’asma gan'Sn rakns ’ahazO yab'S- 

31. liiwo. — wamasn ’anund wa’ahawibd waqdms ’af’d wala’akii 

32. hab’Shd isauwa’uwo. — wai^nabbar sab’[a] bazdh masbShu wa- 
yab'dluwo nayomu ’ammaka-m wa’ahawfka-ni ’af’a iqauw^mu 

33. wayahassasdka. — wa’aasa’a wayab’dld lazanagard mannu 
wa’^tu ’ammaya wa’ahawaya wanas[s]ar6mu la’alla inabbdru ha- 

34. b'dhd ’audo. — wayab'a(l6) nayOmu ’ammaya-ni wa’ahawSya-nf.' 

35. — sma kulltl zai^gabbar faqado la’abuya zabasamaydt wa’atu 
’ammaya-ni wa’ahdya-ni wa’ah’taya-nf. 


1) MS. mahlakta. 


2) MS. irabarbarot i 



666 


Enno Littmann, 


4 . 

1 (D A-iH : non : : a A AiH-n : m n : a/h 

C : a)'^,^■n A : •OH-'i : n-AA : -i aim Aon : poc^ : 

2 (D'h't'iihc^C:: — a)'nf*yv:fi-n:(irii'p:f^^:je 

3. nor’?:: — (D<?3UC‘^:®‘^fiA:A’<3^:-nH-*j:a)^ 

4 aA><;^:A*5H: - fif^o-:(D/t4A:je 

•HA. A : H^HCA : (D A^H : ^ HCA : (DP : H(D;?’<i> : 
(D’O'P : 4^4”^: : AOta : : (onAOp :: 

5. - (Dp:H(D^4>:(D'ii'p:n>'nf*^:'}n:AAP:<3®A 
^ : (D4:flp? : n'P’A : Afi^?^ : aap : 0<^^ : A 
6 — (DUJz4>:e^h^:A(D'OP*IAA<^:A’PJ: 

0<3^4> : : (DAAP : \^C(xr : p-nn : n^av :: — 

7. (DP : H(Djp-4> : (D’jTi'P : : (D^A4° : : (DAA 

8 zp:: — (DP :H(D;p*<i>:(D’ii'P:(^j?*C:iU5'jB:(D 

9 n<P»A : (DAU4> : (daap:: - (D(Dun:4:A : p: h 
UJAO : (DP : Hoo : (dp : -in : p^a^ :: (DHp : 

10. A*H^ : Acao : AjjAi^o :: - (DAp^*h : 'PfiAAp : 

naAi't'f'O^ : aa.au- : f^^iiA : omc-t : (daa A-t : 
11 ACJ?AU* : (=^oau- : A’H{7C :: - (D.EaA<3^: 
\ptt-h : A5i<3^ .••p(D’Un : p^v^ch./'n : ac^TIV^-p : 


4 . 

1. wa’ahdza ka’-ba yamharromu la’ah-zib bahaba baby wataga- 

2. ba’u bazdh sab hab’Shu ’aska ya’arrag wasta hamar. — wa- 

3. kuUa sab wasta madp ikauwan. — wamaharDmu wamassala 

4. l6mu bazdba wayab'alomQ ’anza yam'abaromu. — samii’u wa- 
fara-’d ydzra’ zai^zarra’ wa’^nza izarra’ wabd zawadqd wdsta 

6. fan^ot wamasu a ®wafa samdi wabaFuwo. — wabo zawadqo 
wasta k"ak“b baba ’albo mar'dt baziib wafatrma baq"ala sma 

6. ’albo ’amaq lamar'dtu. — wasariqo sabdi ’au’ayO ’asma ’ikona 

7. amdqa. mar'atfl. wa albo sara yabsa bagizdba. — wabo za- 

8. wadq'O wasta s"6k wadafanO s^ok wa’Iftiraya. — wabo za- 
wadq^o wdsta madp sannai wabaq”ala walah^qa wafaraya. — 

9. wawahaba ®) far’d bo zasaldsa wabO ^ zasassE wabo baba mO’at. 

10. wazabo az“n sami a layasma’. — wa’amzs tasa’aliiwo bababti- 
tomtt ’ali’abfi mOsla ’asarta-wakardtu ’arda’ibd massal’abii la- 

11. zanagar. wayab’dldmu ’iyasds lakammn taqbaba mastira *) 

1) MS. aueh sma. 2) MS. auch wabo. 3) M3, auch %vawahdba. 

4) L. imstlrd. 




Ge'ez-Stndion. I. 


667 


A'flfh.C : (DA Afi : A 4 : A A .* 'rt'A I JB 

12. YKD’l. Ac?^:: — yi^^:^c;ap:(DA.j*ap^4.:(da 

(fiS) : : (DA. jeA-ncD. : (dyi^?^ : A,.EJfi/h- : (d 

A.jJWUAc!^ ; (da.jb^'^j?^ : A<3^."i/n.A-*-<3^:; — 

1 3. (D.Ea : A S' : Hl'i' ; A : A : 
14 j'Af^/C. : A’?‘q : Af^>^ A :; — HjBHCAfi : ^ a : A 

15. mA-fi/h,C:.EHCA:: — (DAA:Ac3^1-t;AA:(D’ 

: 4^4^^ : 'in : toc: A : ^’A : (DAf^Yi^^ : 

9 A : (djbj i«a:A(?^apc 3^: Pav: 

16. H't'HCA.AOAU-:: - (DnonrAArAc^o-^-t.-H 
(D’fl-t’ : n-YY-rh : 'DHC A : A A : .Efif^o. : 9 A : (D.E 

17. ^TYi4:p:pav:n4:i"^:: - (DAApc3^:i*^C(D’: 

A2H.V : ^Ac3^ : :(DAf^ Yic?® : p} : j?a: 

18 (Dh^^:nA^'i'’H:?7C:POA(D.:pn,y:: — (daa: 

Ac3^^-t : A A : (D’fiD : yjft : 'PHCA: AA;.EAf^ 

19 Ojd:a^a;: — (d^a^.'h^'P.'^ap^; (D4:^(D'P: 

-nOA : (Daoj?i : 'nf-A : 4:^(D'D : .pxkd'Ajd : a^’A ; 

20 (DnA*i't'*H : :: - (da a: A c^^^-t ; aa :(D’ 

fi'i' : : 105*^ : 'PHCA : AA:.Efif^op :a4>a: 


lamangesta ’agzi’ab’hSr wa’alla-sa ’af’a bamessal’S kulld ikau- 

12. wan l“0inu. — kama yar’ayu wa’Iya’'m9ru wasami’a yas- 
mii’u wa’iy'iabbiiwu -) wakama ’iy®nassv\hu *) wa’iyassahalomu 

13. -wa’iyathadag l^omu hati’atOma. — wayab’alomu ’ita’amma- 
ru-nd zanta massarS ’affonu-mma ta’ammaru ’dnka ’amsdla. — 

14. 15. 2 ai®zarra’-sa qal[a] ’agzl’ab^hSr izarra’. — wa’alld-muntd 
’alia wasta fanot haba tazar’a qdl wa’amkama sam’u qdla imas§a’ 
saitdn wai°nassa’ ’amlabbOmu sob'aha zatazar’a la’ardhu. — 

16. wakd’^ba ’alld-muntd zawasta k"ak''h tazar’a ’alia isamma’u 

17. qdla wayatw’akkafuwo sob'aha bafassahd. — wa’alt)D[inu] sara 
lagiz'dha da’^md ’amuntd wa’amkama kona manddbjk wasaddat 

18. ba’anta-za nagar ya’alliiwu sob’aha. — wa’alld-muntd ’511a 

19. wasta s^dk tazar’a ’aUa isamma’uwo laqdl. — wahallina z5ntu 
’alam wafatwata ba’*l waba’®da-ni kulld fatwata yabauwa’uwo 

20. laqdl waba’anta-zs ’iy®farri. — wa’alld-muntd ’aUa wasta madp 
sanndi tazar’a ’alia isamma’viwo laqdl wayatw'akkafdwo wai®- 

1) MS. wa’iyya’mdru. 2) MS. isammiVu ica'iyyaVdhhuiou. 3) MS. 

"iydnassuhu. -t) MS. iva’iy9ssahal6mu. 5) MS. waHyydthddag. 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist Klasse I9J7. Heft 5. 45 




668 


Enno Littmann 


(DjBi’T Yi 4 :p : (DjB/iCP : Arh^ : nuj A*^ : o) Adi^: 

21. nii>*i ; (DAfh;?. : :: — : of. : A 

: HP-i-t : : *n.4C : Aar : j'/h'P : 

; ^A<3^ ; j»{*nC‘F : : (D:PnCtJ : 

22. AY¥-Ac3^:AA:arfi+:aA’:: — (DAAPi^n-AiH 

23. A^A'YIUJ^ : (DAAP : HA.EA'0(D?> :: — (D 

24. HP;A‘H'?:fiiao:A^acf}0:: - (DjBaAcJ^. A-n 

a>. : A^ Yi : H : nor A-t ; : u^a,C 

25. 510^:^1-14:4 .: A5i<3^: CD :: —Aa<^: 

AHpa : ^ ii'-flp : (DjB¥fi5ip : (Daha : aap : A 

26. Aw:pu^,i?-p:: — a)^aAcJ^:AP}.:5i^’H-’^ 

o^fiA : j*A': *noo ;-nAiX : hjbhCA : 

27. ujfp : hCA: araA':?z,ui: :: - (djt^p: jbA’JIHA: 

: (D A A'l’ ■* (DJB A’JIM A : (D^ A’rfi® a : AhYl : 

[Y^A : AAiP : (dhca : ^a,/. ; cdjeau4> :: 

28 - (DA’U-fl ; 4.Ay : : A>.e ^9*^: u/04 : (da 

: A-n A ; a a (D Af^*H : 4: ^ 

29. C5*p: arAt’.* A-fl a:: - a-oat: 

a)4:CP't’ : Aav : JB4.J. : : a a<^ : n/tdi : cr 

30. A4C:: — (D^a.'fif^'JA; AA't’^AA:A<?®’57t*^-t’: 


farrayu ’ahadu basalasa wa’ahadu basassS wa ahadu bama at. 

21. — wayab'ElOmu b5-na ’anga zayahattu mah^tota tah®ta kaf§.r 
’aa tah’ta ’arat da’^md yanabbariiwa diba taq^dma watabarrah 

22. lakuUomu ’alia wasta b'&t. — wa’albD habd’ za[i]yatkassat 

23. wa’albo kaddn za[i]yat’aawaq. — wazabd ’az®n sami’a layasma’- 

24. — wayab'alomu labbawu ’anka zatasammu’u bawa’atu masfart 

25. zasafarkammu isalfaru lakammu wayaw'assakukammu. — sma 
lazabo-sa ihubuwb wayaw’assakuwo walaza-sa ’albo ’alla-bf-bO 

26. yahaiyadiiwo. — wayab’alOmu ’akko-nu kama-zs tamassal man- 
g5sta samaySt kama ba’asi zai'zarra’ sannaya zar’a wasta ga- 

27. rah^td. — wanawimo yatnassa’ ma’alta wal'Slita wayatnassa’ 
wayathauwas ’aska baq”ala madrd lallbd wazar’d ifarri wai*- 

28. lahaq. — watahub farSha madj* qadamdw’i, <’a>sa’*ra wa’amzi 
sabla malu’a sawita wa’amzl fassdma sarndya wasta sablu. — 

29. — wa’amzS fassdma sabldta wafaryata s6b’3,ha yaf’annu ma’*- 

30. sads ’asma basha ma’*rar. — wayab'3, bamant ’astamassala la- 

1) MS. auch wa'dlbo. 


Ge'e*-Stttdien. I. 


669 


31. A'fifh.C : :: — 

itim-r : AST : Al'i' : HC A : -nxjx : arH'i' ; : 

(D^*? Afi : : A*HCA^ : Horfi'l’ : :: 

32. — : HCAT : ^n<i>'A : (d^au^ ; (D-t’ 

oa : : A^<?9 A^ ; a)^7-nc : : an 

: AfiYi: AOT4 : ticfijs : jpaa/v : j’Ai'i’ : AO/t 

33. :: - (DnHn<?5*H ; ap^«*iA : ^ A- : 

34. nAf^^J : JE51 A : n j^o :: — (dha^ha : An; 

A.'l’ 5 ‘ 7 C‘^ : (DAO : A AC J? Al^ : JB 4 , 51 C : 

35. : 'nf- A :: — (D^A'i' : A<3^: 

36. AACJ^AU'.'loje.ri^o^'i'::— (D-j^-icj^iAA/hH-n: 

(Df^AjD : nfhi?^C : (do : ^AA^i : Afhi??C : f^n 

37. Aua ^ :: - (Dc^^itA : oota : aaje : {4.n : (D^n 
(D'P : <?7jB ; arn'i' ; di<^C : Ann : <^a A : j7P : a 

38. <^c:: - arA*i:n;<73l7A:n(DA:Ai?®C:'i’'i’CAn; 

: ® A34>uji) : (DjeaAp : a 4> : A^'A'Hjnf. ; 

39. A‘?H:l<J®(iri’;: — cD'i’ii«A:a)7iUA;A<^?nnA: 
QAC: a)AC<^<^:nav: (DifJ?7: j-^n; (Df^f : 

40. oa^:: - (DjBaA<3^.v^^'t':l’4CU’;a)f^'Ji’:jp 


31. mangssta ’agzi’ab’hSr wamanta tamassal. — tamassal kama 
hattata *) sandp'a ’anta zar’a ba’asl wasta madf watana’as ’am- 

32. knllii ’azra’at zawdsta madp. — wa’amkama zar’iiwa tabaq- 
q®al watalabaq wata’abbi ’amkolld ’ah'maldt watagabbar ’a’*- 
stiqa ’abbaita ’dska ’a’^wdfa samdi yasalldlu tdh"ta 

33. qfha. — wabazakamazd ’amsdl yatnaggarOmfi qalD ba’am- 

34. jdklu sami’a. — waza’anbala massal’d-sa ’itanagarCmii 

35. walabahtitdmu la’arddilm yaf'Skkar l^Omu koUo. — waya’dta 

36. ’amtra masiyo yab'dlOmu la’ardaiha na’adu ma’*d6ta. — waha- 
dagdmu la’ab’zub wanas’uwo bahamar wabo kal’dta-nt ’ah*mdr 

37. masrahomu. — wamasa ’aulo ’abiya nafds wayassauwat mdi 

38. wdsta hamar ’aska mal’a maya hamar. — wa’dtu-sa®) manga! a 
kawdla^) hamar tatar’isO n6ma wanqahiiwo wayab'dluwo !l{ 

39. ’Inahazzanakka-nCi ’dnza namanwat. — watansa’a wagas[s]as6 ’) 
Iama’®bala bahp wa’armdma sSb'dha wahadaga nafds wakon 

40. zah®n 'abli. — wayab'aldmu manta tafarrdhu wamant yadanag- 

1) MS. h9fdfa. 2) MS. kurz a in 2. Silbe. 3) MS. hat u'a'itu-sd hinter 
noma. 4) L. IcawalA -, vielleicht von mir verschrieben. 5) MS. wagasdso. 

45 * 



670 


Enno Littmann, 


; vjBd94”^ : q?JR,5l<3^: 

41 *h:: — (D4Ca':oap:4^CU'i':(D't'auA*: fines’ 
'tua^ : ; arx-fc ; 1111: : hjbI’A.hh- : A> 

i::afhCi:(DJ4.i^i:: 


5. 

1 ® : a/hC:i n : : icifh^r’i :; 

2 - (D(Dz^<3^:■h^^^h^^C:l'‘^>nA>:I*lav:•n7\Jx: 

: pil : AOAih : (dq.^ : :: — 

3. (D axf. : A/tlfJ'f' : n<7^Tl> All’ : XIH : haz . : jb^p 

l>AijD : (DPol>*np) ; : cdaap : hjbHa : 

4. tp'f-:: — :^A-nc:a)^<i>ml>'P:H 

5. A.d:: — (DPO(ir,p-:(D’jii’:i7=>^*nc:(D(irii't’:A;?* 

OC : (DHAX : PDCDP : aa.I’ : (Dc^A'P : nariii’ : A 

^ac : oinarfii’ ; nc : : toip : n A 

6. xal ;; - (dpa : CXP’ : a A.P ii'fi : Xf^Cdi-l* : C a : 

7 (DA?,? : jv-p:: ~ (daci : noaje.^A: (D^ftA«: 

^?^ll’ r-np : : \ptfh ; oda^ : xmA-n 

rtfcC : AQ-A : Af^rfi Alpn : nX'2a A*n/ii,c : /h jpor : 


41. gasakk^miriu ’odakumana haimanot ’adikammu kamaz^. — wa- 
farhu 'abiya farhdta watabahalu babainatihomu mannfl ’angi 
wa’dtu zanttt zayaf’azzazu l^ctd bahra-nl wanafasa-ni. 

5. 

1. wabasihOmu ma’^dota [baby baba b°bdra] gargas'5,n6ii ^). — 

2. wawarldOmu ’ambamar taqabbalo sob’ftbfi ba’asi za’akkni ga- 

3. n‘S,ii la’al'Sbu wasi’o ’amna maqabar. — wasd’anu ’asna’otd 
bamawaqabt ’anza zalfa im’’oqqabuwo waya’aqqabuwO daqq 

4. wa’albo zaydkla ’adkamotO. — wamawaqahta-ni isabbar wai*- 
B. qataqqat zalfa. — waya’auwad w^sta maqabar wawasta ’adbar 

wazalfa ya’awaiyu I'allta wama’alta bawasta ’adbdr wabawBsta 

6. maqabar wayag^ammad sagaha ba’a’'baa. — wasoba ra’ayd 

7. la’iyasds ’amrabfiq r6sa lyasagada l“otd. — wasarba ba’abiya 
qdl wayab'dlo manta l^ya masl'Ska ’iydsus walda 'gzi’ab®bRr 
la’dl*) ’ambalkdka ba’agzi’ab^bdr baydu kama ’itasaq’anni. — 

1) MS. bdhra gargai'dnSn. 2) MS. fast wie hwdl. 




Ge'ez-Studien. I. 


671 


8 : iaA’ : Aor^vfe : m : 

9. : ■Kf^AOAU’ :: — (Di’fi'h A ; iiPxVii : 

(DjBaA:<3^f.:iif^Yi : (D^aA: or^^i: :pi'? : XYi-je: 

10. A 7 {D’i : : •nn-'j'? : ‘iitvi :; — (da^'I’ 

JP-je ; A 4 : a : AP^-n/ii,c :: 

11 . ^ (DP:up;< 7 =»A.OP. A/hC<ir;-nH''i;^^>'DP:cj^ 

1 2. ‘iiA : ^-nc :: — (d A a'i'*n4>'Op : -nH-iJ: (d^ aAp: 
z.'im ; ara't' : AAiCor:^*^; ^aA.-AOAac;^;: 

13. — (DA-Oft'CT^: APa-^i : Yii7=».\EaA:AOA:AAiC(ir; 

(DCD^^c;^ ; ‘Kcr^'i’P ; AU'Jl A'.n A : AO A ; AAiCar; 

(DA-n^ : c75A,op;A/hCar : (DO A : ara'p: 

14 qAiC:; - a)'pp:4”AA';(Daj(D^: AAUT-CrcDAA 

15 . oa,^A':(D(doa:^CAp:hP{:: - (dcap-cj^i^p 

/tA: -ia: api’i-o: (D.cYi'np.-AHiJi'j : A^p^.A 
■5H : ; jB{-nc : (D/icop ; cdaot A- ta : 7-0 A .* 

16. Aa:a)Aaa:A-na:*H^i-;HA-5H:7i^:; — wa 
iorfDo^: Aa: CAp;hyi<j®: pj. h;?!'? : (dhhA 

17 l-p.-AAiCori :: — (D A-iH-; j»a*t’*n«p'Op : :m 

IS. oA:A<^j?a)A<^;: — (DDzIc’^.'arat*; fh<?®C: 


8 . 9 . sma yab'alO lawe’etu gan'an ’ekkdi sa’ ’8inla’8l’8,hu. — wa- 
tasa’alO ’iyasds wayeb'alo mannu samdka wayab’alo wa’dtu ga- 

10. n^Sn ’akkdi lagawOn samaya ’dsma bazubin n 9 b‘’na. — wa’a- 

11. stabq“3’d bazdha kama ’ayasdaddo ’af’a ’amb®bar. wabo 

12. haya mara’aya ’abr§ij bazdh yatra ayu mangala daby. — wa- 
’astabq“ uwo bazdha wayab‘aluwo fannawdnna wa^ita ’ahrau 

13. kama naba’ la’al’ahomu. — wa’abahdmu ’iyasds kama ibd’u 
la’“la ’ahr^Q wawasi’omu ’amdntu ’aganant b"6’u la’*la ’ahrdQ 

14. wa’abdu mara’aya ’ahrdu wasadfu wabd’u wasta bahf. — wa- 
g^aiyu noldt waz^finawu i) la’ah^gdr wala’a’»§adat wawasu yar- 

15. ’dyu zakdna. — wara’aydmu masu baba 'iyasds warakabuwo 

lazagan'an lag'awOn ’abazO ’anza inabbar wafarhdwo walawa- 
’atu-sa gab’a labbd walobds labsa zakd za’abazo gan’an. 

16. [waz'ana'wuwdmu ’alia ra’ayu zakama kdna zagan'Sn] waza- 

17. ba’dnta ’ahrau’'-m. — wa’abazu yastabq'‘’uwo kama yd§a’ ’am- 

18. dawalOmu. — wa’arigOmu wdsta hamar ’astadq^’o wa’atu za- 

1) MS. u-az'dnduu. 2 ) Feblt im MS. 



672 


Enno Littmann, 


Ahi’-n<i>^ AU-:: 

19 — (DYiAA : A.Pi^fi : (D^ n,A ; /h-C : ft't'Yi : ’in : 

A aayi : (Dl^C : ff-A : : H7-n^ : a'q : A 7H. 

20. A-nih.C ; (DHYi^^ : 't'U/UA'a :: - (D ; cd a-jh : 
^ ii-nn ; AouJCt : aut-c : w-a ; : At ; A. 

21 PA»fi;(DA^*Q4,;'nf*A<3^;AA:i*if^Op:: — (Dvi 
On : u^(D : A.PA'fi : ndi^^C : : cotj^-nA : 

22. -nH-^rn-nA.-iau-.-^nrfhjBt.aAiC:: — (dua: 
■J ftip : Adi^e. : -nAix : 

AjPKCh : (D4¥in : a ap A'^l : (Dfi7J? ; At: t Ait : 
23 A7zi> :: — (D-HH-'J : AOt-nt'#? ; (Djeft :(DAtP: 
AA Att : : (DQ/ht : : a)A^*nc : A 

24. jeYi:AOAv;a)t/hP:: — (DA2!::A.Pi^fi:f^iiA: 
acj?Aip: (Dt Aorp): n-HA: (Dt:74:OiD:: 

25. — a)<^A*At : -nAn,^ : A^ t ; : ^ar A iH ;a 
26 f^oujCt:(D5iAAt:5i^p^t;; - (D-nH-u.-A/h 

; A^H : : ot-flt : v*' 

: (DAiltTOAt ; W- A : : ® A^Att : (D 

AAP ; : HA*?nA : j?a<7^ : : h A/h 

27. ; (DH-flAO :: — (DAi?=iO» : nA‘?t : A?I^^l .* 


19. gan*fin kama ihor masl'Shu. — wakal’o ’iyasfls waygb'Slo klir 
b'ataka baba ’ali’aka wanagar kullo zakona zagabra laka 

20. ’agzI’aVhJr wazakama tasahalakka. — wahora wa’ahdza y^s- 
bak la’asartn ’ab®gur kallo zagabra l6tu ’iyasfls wa’ankaru 

21. kullomu ’alia sam’uwo. — waka’®ba ’adawa ’iyasQs babam3,r 
ma’^dOta watagaba’u bazuh sab hab’Shu baba baiqa baby. — 

22. waballo bab'§,bd ’abadu ba’asf maggab’a muk''rab zasamd ’lya- 
’fros warakabo la’iyasOs wasagada l"6td tdh'ta ’agarlbd. — 

23. wabazdha ’astabq® d wayab'd walatdya ’alsaqat tamut waba- 

24. h'tu na a dai wa dnbar ad’dka la’al'ahd watahaiyu. — wahdra 
’iyasds masla ardaibd watalauwb bazuhdn sab’[a] *) wataga- 

25. fa’uwo. — wamasat ba’asft ’anta dam iwahazd ’am’asdrtu wa- 

26. kal’atd karamt. — wabazdha ’ah*mamuwa ’anza[i]yaf ‘auwasuwa 
bazabdn aqabta sarSi wa’astawasa’at kallo nawayd wa’ah®la- 
qat *) wa albo zabaq” a za’anbala da’®md fadfada za’ahmamd 

27 . wazaba asd. — wasami’d ba’dnta yasds masat wabd’at ma’*- 

1) [a] fehit im MS. 2 ) MS. wa'ah'ldkat. 




Ge'ez-Studien. I. 


673 


A^: (DP A^: A Yi A .'ji'n A ; 

28. A-nr^ : :: - a^h : ^-oa ; ap^ykt^; 7A 

29. fiYi*:it^4;A-flrt':ArhF::- (Dpav:{/f4:f4>o: 

: (D A5 : C At*! : rL<^ : di jb(D^ : Af^j^TV :: 

30. — (DAAc?^^: APA'^i:'a^:(D^A:'}^A:-nH-'i: 

A(^iih:(D't’<J^^m: An : n-n A : (d^ iiiVc;®' : <^i, : 
31 7/in^:/t^A;;A'nhp:nA-'i-^p:: — (D^aAfD.A 
C A AID ; A : n-n A : ^ ^;74 :uyi : (d^-oa : <3®{. : 

32. 7nni:A-^/i: A-fifip:: - (D'pcTajBmrTDT^r^CA^: 

33. h7iip:: - (D/4Cu^.\BA't;'nAiX^;(DCOJ?^: 

: Afi<^: h’Kc^z^ : htpjiao A v : : -jn : 

APrt *^1 : (Dn7j?^ : A*t : (Diiz-i- : W-A : :: 

34 — (D^aA:(DA‘l'P:v^j?4”^Ti.: AfhP(D't'Yx:A 
35. ^‘E:nnAf^;(D/hp^:AP^j?TYx.: — cdaw:^ 
l’^r7C : Av : : ^'id : 

A.-fl : (D^ AAfl) ; (D A^Yin : : (d aipap^jd : 

36 AlYiiAA^:: — (Dfiij^tfj.APn-njH^'p.A'JH: 
j^iiCiD : A<?^;?a : : jBa a : a^4:a.u : j? 

37. AcJ^.-PAiT^^:: - (D‘aAA:AAP:H^'i’Ap):HA1t 

HA : : (D j*o<i>-n : (DP'/hin : A'J.id : a 


28. kala sab wagasasat sgnfa labsQ badahr&hu. — ’enza t^bj ’smka- 

29. ma gasasku sanfa labsd ’ahaiyu. — wasob’aha nasfa naq’a damd 

30. wa’ankarat ra’asa kama haiwat ’amdawaha. — wa’a’‘mara ’iya- 
sds kama wasa haila bazuh ’aman'Shu watamaita dlba sab wa- 

31. yab'alOmu mannu gasasanni sanfa labsaya badahr'Sya. — wa- 
yab’aluwO ’ardaihu tar*3,’i sab yatgaffa’akka watabj mannu 

32. gasasanni sanfa labsaya. — watamaita kama ydr’ai zagasasO. 

33. — wafarhat ya’ati ba’aslt wara’adat teqqa ’asma ’a’’marat za- 
kona la’araha wah6ra[t baba] *) ’iyasns wasagadat l®6td wana- 

34. garattS kulld sadqa. — wayab'ald walatdya haimanotaci ’ahya- 
36. watacci ’atawi basaldm wahayawi ’amdaw'S,ci. — wa’dnza yat- 

naggar masraha kamaza nahd masa maggdb’S, mak”rab waye- 

36. b'Sliiwo walataka-sa mdtat wa’itasamawd ’6nka lallq. — wa- 
sami’d ’iyasds zanta ’anza inaggaruwo lamaggdb'S, muk“rdb 

37. yab’illo ’itafrah dd’amu ta’amman. — wakdla’ ’albo zai°tallawO 

za’anbala petros*) waya’dqob wayohannas^) ’9huhd laya’dqob. 
1) Fehlt im M?. 2) So MS. 




674 


Enno Littmann, Ge'ez-Stndien. I. 


38. - (DPA.-ft-f: 

Dc^: ^ I’UCD'rt- : (Djen^iB ; (Dpoo) jjo). : ■hh-'J ; 

39. (DJBAC'J.;: - (D^ftA>c7^: Af^^^.-^l’UCD^P.- 

CD^n^lP :/h9'5fi: ; aa 

40. -pAi^l :jBaA‘ia)iU/h4>jD:: — (DAp^'h. aj?^: 

■nf-A- : (D{ w <3^ ; A Afi-y : (D aAc^ ; A/h9^ : (D A A ; 

41 f^fiAUfJ^.-cDPAr-inruA®^; Aiy?:: — (DA-jh; 
. A;ev : Aihg^ : (DjeaA :^a^’ : ^<3^ : cda 

42. 'i'P;-ny;A:n'l'C2<3^iP:: — (D-p'JraA': pav: 

jBAt: : (DA't' ; cda^pjKdA' : (ooujc-fe : (Dm A-t : 

43. S' I (DJ?^70. : pay : oap : :: — (D7UJ 

: AAoy : (Daa^^ : -nH-'S : a.^ ^ 74 . : (da.a<^ 

^y : Yi<J^ ; AAf » ; h j»Af^C : (dahh : pu-ht : H 

^PAP:: 


38. — wabo’a b'ato lamaggib'a innk"rab warakabOmu yathauwaku 

39. wai®bakk4yu waya’awaiyuwu beznha waj’^arruhu. — waya- 
b'Slbmu lam^nta tathauwaku watabakk^yu lia§dna-sd ’imStat 

40. ’alia tanauwam da’^mu ta’amman yab’&lo wasahaquwo. — wa- 
’emzi sadada kuUo wanas’Omu la’abuha wala’amma lahasan 

41. wa’alla masrahomu wabo’a baba hallawat hasan. — wa’ahaza 
’ad'Sha lahasan wayab'ald talita qdml tansa’i ’) walataya bahfl 

42. batarg'‘ain'S,ku. — wantanse’at sob'Sha ya’atl walat wa’anso- 
sawat [waj’asartu wakara(t)tri karamta. wadangasu sob'aha 

43. ’ablya dangas’S. — wagas[s]as6mu la’abuha wala’amma bazuha 
’lyangaru^j wa’ilamannd-hi kama ’albo zaya’ammar wa’azzaza 
yahabuwa zataballa’. 

1) MS. tabitci tansd^i iraqtwn 


2) MS. 'iy3nghu. 



Ge'ez-Studien. 


Von 

Ebuo Littmann. 

Vorgelegt in der Siteung Tom 3. Marz 1917. 

n. 

Alphabet, Paradigmata der Verbal- und Nominalformen in 

Umschrift 

Die mir von Gabra-Mika’el Dabayu in Aksnm diktierten Para- 
digmata sind nach den Tabellen in Dillmann’s Athiopischer Gram- 
matik, 2. Auflage von C. Bezold, gegeben. Die Transkription ist 
dieselbe wie in Teil I dieser Studien; man vergleiche also, was 
dort in der Einleitung gesagt ist. Dazu ist bier nnr noch We- 
niges hinzazufiigen. 

Aus meinen Notizen gebt bervor, da6 Formen wie 
{j,f'a.§pm) und (jjitgabha, Indikativ) aucb oft mit kurzem 

a, bezw. a gesprochen werden. Dies ist aber nur selten besonders 
angemerkt worden. 

Besondere Schwierigkeiten bereitet die TJmschreibung des be- 
tonten a vor w und y. Fast konnte man sagen, dad in einer Form 
wie i7C(I) cbi -o ^ die suffixlose Form {7^ angehangt 
ware, also nagaruo. Aber es ist wohl immer ein mehr oder minder 
starker Gleitlaut vorhanden. Daber linden sicb in meinem MS. 
(s. u. S. 695) die Scbreibungen -9wo, -uwo, -iiuo und ano ; man konnte 
aber aucb oft ebensogut -u^*o scbreiben. Die zwiscben -taco und 
-hvO stebende Form -nwo, mit kurzem «, findet sicb in den Texten 
von Teil I. 

Wahrend sonst die Scbreibung ya-, bezw. i, fiir ziemlicb 
durcbgefiibrt ist, wie bereits in Teil I, S. 629, gesagt wurde, ist bei 



676 


Enno Littmann, 


einem Worte wie J2F>'fl*fl doch das yii'abhdb meines MS. beibe- 
halten, da dnrch das Zasammenbreffen der beiden y der 6. Vokal 
bier ganz zum. i wird ; meine Umschrift dieses Wortes ist auch 
nur ein Versuch die inerkwiirdige Lautfolge schematisch wieder- 
zngeben. 

In Teil I ist die Lautfolge a’* auBer bei dem Verbum 'a'mara 
als Einheitsform gegeben; vgl. dort Einleitung S. 631. Somit sind 
bier die Formen dea MS. 'a^mdra, 'a'hndr, nnd yahmr beibebalten, 
aber 'a'lUig und sogar 'ah'gur, das wobl auf einem Schreibfehler 
bernbt, sind zu ’a’^dug nnd 'ah^gtir verandert worden. Man halte 
dabei das im Teil I Bemerkte im Ange. 

Da in der Aufzahlnng der Paradigmata alle Worter in Pausa 
gesprochen warden, sind bier auch die Accente manchmal anders 
angegeben als in Teil I; daher bier pium, t^num. Bei dem schwe- 
bend gesprocbenen Accent war es mir znweilen scbwierig, zwischen 
der Folge ' ' und ' ' za unterscbeiden. Hier 6nden sicb in meinem 
MS. Inkonsequenzen. Dariiber vergleicbe man den Nachtrag. In 
der masoretischen Uberlieferung des A. T., die ein gates Gregen- 
stiick zu meinen Aufzeichnungen bildet, sind ja auch genug Inkon- 
sequenzen vorbanden. Eine Parallels zn dem sogenannten Scb'wa 
mobile warden Formen wie ndin^Im bilden; vgl. nnten die Verba 
mediae (D und P. 

Da Gabra-Mika’el mir nur die auf den Tabellen gegebenen 
Formen vorlas, feblen einzelne Formen, die bei Dillmann im Texte 
der Grrammatik, aber nicht in den Tabellen verzeichnet sind ; so u. a. 
die vollere Form der 2. Pers. Plur. fern. Perf. mit Suffixen, /li 
Dillmann S. 308. Aber in einigen wenigen Fallen 
fugte Gabra-Mika’el sie aus dem Gedacbtnis ein; so 'snt9k'‘d und 
von denen jedocb bei Dillmann * S. 294 nar die erstere Form 
angefuhrt ist. Moglicherweise ist 'aU9h'‘d erst eine Neubildung. 

Die Anordnung der Paradigmata babe icb bier griindlich nm- 
gestaltet, und zwar aus praktiscben Griinden. Die Formen sind 
bei Dillmann nach den Tempora angeordnet; ich babe sie nacb 
Verbalklassen gegeben, so da6 man jedesmal eine ganze Verbal- 
klasse uberseben kann und nicht immer auf verschiedenen Seiten 
nacbzuscblagen braucbt, um das ganze Paradigma eines Verbums 
zusammen zu baben. Fiir die Verbalstamme gebraucbe ich die 
Bezeicbnungen Oi 02 Os Ai As As Ti Ts Ts SL Sts Sts, die ohne 
Weiteres verstandlich sind; mit diesen Bezeicbnungen babe ich 
auch im Unterricbt bei den Anfangern die besten Erfolge gehabt. 

Die Namen Verba mediae geminatae sowie die Bezeicbnung 
,guttaralis‘' babe ich aus dem einfachen Grtmde beibehalten, weil 



Ge'ez-Studien. 11. 


677 


sie eingebiirgert sind xmd kurz einen bestimmten Begriff bezeichnen. 
Die ^Gutturalen" nmfassen die Laryngalen A O rfl nnd das 
velar e 'i 

Der Name Gabra-Mika’el ist in den Anmerknngen zu G.-M. 
abgekurzt. 


Das Alpliabet. 


U halleta ha 

A la 

H sa 


/h hdmdr ha 

<7® ma 

P ya 


"i boeulian ha 

L, ra 

^ da 

^ A:"d 

UJ nogiis sa 

<l> qa 

7 ga 

*po 2“d 

fl ’osdt sa 

n ba 

ta 

1° 9'‘a 

A Wa 'a 

't' ta 

A pa 

“ho h'^a 

U ’aino 'a 

i na 

A. fa 


A soyon fa 

*Q M 

T pa 


U fo/idi fa 

Q) tea 




In dieser Reihenfolge, nnd mit diesen Namen wurde mix das 
athiopische Alphabet von Gabra-Mika’el diktiert. 

Die alien Bnchstabennamen sind hier vollig verschwnnden. An 
ihre Stelle ist der Lantwert der betreffenden Zeichen mit einem 
Vokale getreten. Hier ist also ein Prinzip ganz durcbgefuhrt, 
das sich bereits im Arabischen stark bemerkbar macht (i_< ba, o 
ta, pa u. s. vr.) and das in den enropaischen Alphabeten zwar 
ziemlich dnrchgangig, aber doch nicht so restlos wie hier znm 
Ansdruck gekommen ist. 

Die Lantwerte einzelner altathiopischer Buchstaben waren im 
Amharischen nnd somit in der dnrch das Amharische nmgestalteten 
Aussprache des Athiopischen zusammengefallen. Man hatte sie 
dnrch die alien Namen voll nnterscheiden konnen; hoi, haut, harm 
Oder ’alf, 'ain waren ohne Weiteres erkennbar gewesen. So horte 
ich einmal bei einer Vorlesung in der Azhar-Moschee , wie ein 
Dozent nns die Schreibung eines arabischen Wortes erklarte „his- 
sd, la bis-sin‘‘ ] er sprach, wie die meisten stadtischen Agypter, 
nnd beide wie s ans, hatte aber dnrch den Namen die Moglich- 
keit der Unterscheidung. In der Benennnng der athiopischen Buch- 
staben aber muBten die Bnchstabennamen, die nun nm des Prinzips 
willen ganzlich gleich lanteten, dnrch Zusatze genauer bezeichnet 
werden. Es ist leicht verstandlich, dafi fur UJ das Wort 



678 


Enno Littmaun, 


(n9gus) gewahlt wtirde ; denn von ihm ist in der Literatur und in 
der Unterhaltnng viel die Rede. Piir A wahlte man weil 

Aksnm, die heilige Stadt Athiopiens, das abessinische Zion ist, weil 
die „Bundeslade“, die Menelik 1. von Jerusalem nach Aksum ge- 
bracht haben soil, „Zion“ genannt wird, und schlieBlich weil die 
Jungfrau Maria, die dort zn Lande eine unbegrenzte Verehrnng 
genieBt und deren Kult in mancben Landeeteilen auf den einer 
heidnischen Gbttin zuriickgehen muS, auch „Zion“ heiBt. Fiir die 
Wabl von war wohl der Umstand entscbeidend, daB 

dies Wort in den Psalmen, die ja von alien Teilen der Bibel dort 
am meisten gelesen werden und an denen die Anfanger das Lesen 
lernen, sehr oft vorkommt. Es ist eigentlich iiberfliissig zu sagen, 
daB nagus sa bedeutet „das sa von nagus'^ ^ay&n so, „das sa von 
soyon^, hazuhctn ha „das ha von basuhan'^ u.s. w. Ich erwahne dies 
nur, weil kiirzlich in dem vortrefflichen Tigrina-Worterbuch von 
Coulbeaux-Schreiber diese BenennungTniBverstanden zu sein scbeint ; 
vgl. meine Besprechung im Literarischen Zentralblatt 1916, No. 18, 
Spalte 471. 

Hier sei noch kurz darauf hingewiesen, daB in dem nnten S. 700 
angefiihrten Buche 

'30'H das Alphabet in der gewohnten Reihenfolge gegeben wird; 
neben den durch Beiworter unterschiedenen Buchstaben stehen dort 


die Worter hallc, hamdr, nagds, 'asdt, haztiMn, ’nUf, 'ain, saUt, §alidi. 

Eiir die einzelnen Buchstaben gibt es nun auch noch Merk- 
worter, die alle mit h, dem ersten Buchstaben des Alphabets an- 
fangen und den zu merkenden Buchstaben als dritten Radikal 
haben. Nur fiir h selbst, sowie fiir w und y sind Ausnahmen ge- 
macht; in diesen drei Fallen tritt I, der zweite Buchstabe des 
Alphabets ein. Das war bei h selbstverstandlich ; bei iv und y 
ware es nicht notig gewesen, aber bei diesen beiden ist’ dann h 
wenigstens als zweiter Radikal gebraucht. Fiir die in der Aus- 
sprache zusammenfallenden Buchstaben (U, ftl, UU, J*l; A, 
D ; A , 0) g‘bt es nur je ein Merkwort. Die Merkworter lauten 
nach Gabra-Mika’el folgendermaBen. 


ha 

lahaha 

na 

haimdna 

la 

haldla 

’a 

hds'a 

ma 

haldma 

ha 

handJca 

sa 

liammdsa 

ica 

lahdwa 

ra 

hdsni (hdbra, haqqdra) 

za 

hahdza 

qa 

hdlqa • 

ya 

lahaya 

ha 

haldba 

da 

harbdda 

ta 

lalldta 

ga 

hamdga 


* 



Ge”e2-Stadlen. II. 


679 


ta idbta sa hdssa 

pa harpdpa fa haldfa 

Fur T wurde kein Merkwort angegeben. — Man sieht 
sofort, da6 der Gedanke, iiberall zu Anfang der W brter den ersten 
Buchstaben des Alphabets zn haben, nnr illusorisch ist; denn in 
der Mehrzahl der Falle mnfiten Worter mit ff\ oder "5 — die ja 
freilich anch mit h gesprochen werden — zu Hiilfe genommen wer- 
den, da die Anzahl der mit U beginnenden Worter im Athiopi- 
schen ziemlich gering ist. 

tiber die Anssprache der einzelnen Lante ist nicht vi'el zn 
beraerken. Es ist langst bekannt, da6 das sogenannte „eigcntum- 
liche Geransch im Monde", mit dem £11, A, .A gesprochen 
werden, nichts weiter ist als der Kehlkopfverschlufilaut. Diese 
Lante haben eben eine doppelte Artikulation, eine im Munde nnd 
eine im Kehlkopf. Der MundverschloB wird kraftig gesprengt, 
der Kehlkopfverschlnfi wird sofort danach gelost. Man sollte also 
eigentlich q', f, s', p' nmschreiben. Der Einfachheit halber ist das 
Zeichen ’ weggelassen. Ahnliche Lante kommen in kaokasischen 
nnd mittelamerikanischen Sprachen vor. Wenn sie verdoppelt wer- 
den, so wird der MundverschlnS longer angehalten, der Kphlkopf- 
verschlnB naturlich nnr einmal gelost. Demnach waren die dop- 
pelten qq, tt, ss, pp anfznlosen in qq', if, pp, aber nicht ia 
q'q", t'f n. s. w. Wenn auch ? sehr kraftig artikuliert wird, so 
wird es doch nie zur Affrikata, (<s); in popularen Werken kann 
man immer noch lesen, dafi das abessinische A ('9) dem dentschen 
B entsprache. 

Von '1', T ist zu bemerken, daB sie, wie /: nnd t im 
Arabischen, leicht aspiriert ansgesprochen werden {h’', f', p''), also 
wie die entsprechenden norddeutschen Laote, nicht wie k, t, p im 
Franzosiscben, Italienischen oder im Sachsischen. 

tiber die Anssprache dieser Lante sind besonders die Ausfuh- 
rnngen Mittwoch’s zn vergleichen in der Einleitong zu seinen 
Proben ans amharischem Volksmande“, Mitt. d. Sem. fur Oriental. 
Sprachen, Bd. X, II. Abt., Berlin 1907. 



m 


Enn 0 Littmsnn, 


Starkes dreiradikaliges Verbam 
(Transit! v). 
Grnndstamm (Oi). 


Pers, 

Num. 

Perfectum 

Imperfectum 

Imperativ 

3. m. 

Sing. 

nagara 

Indikativ 

inaggar 

Jussiv 

ygngar 


3. f. 

ji 

nagarat 

tonaggar 

t^ngar 

nag^r 

2. m. 

B 

nagarka 

tanaggar 

tdngar 

2. f. 


nagarci 

tanaggarl 

tang^ri 

nagdrl 

1. c. 

• 

nagarkS 

’anaggar 


3. m. 

Pint. 

nagaru 

jnagg^ru 

yang^rfl 


a.f. 

It 

nagara 

inaggdra 

yangdrS 

nag§ru 

2. m. 

B 

nagarkdmmu 

tanaggSra 

tangSru 

2. f. 

B 

nagarkan 

tanagg^ra 

tang^ra 

nagara 

1. c. 

n 

nagdrna 

nanaggar 

S 8i 1 

njjngar 



(Iiitransitiv). 

Grnndstamm (Oi). 

Pers. Num. Perfectum Imperfectum Imperativ 

Jussir 

3. m. Sing. Jabsa y albas 

3. f. „ labsat t^lbas 

2 . m. „ labaska tdlbas labaa 

2. f. „ labasci talbasi labSsi 

1. c. B labasku ’albas 

3. m. Plnr. labsu yalbasu 

3. f. „ labsa yalbl.sa 

2, m. „ labaskSmmu talbasu lebSsu 

2, f, , labaskan talbasa labS-sa 

1. c. B labasna n^lbaa 

Anm. ; Im Jussiv ist yilbas und yilbas u. s w. angegeben. 

Abgeleitete Stamme. 

Oj 0, Aj A, A, 

Perfectiim fassama baraka ’angara ’afassama ’alaqdsa 

Impf. Indik. if'Sssam ibarrak yanaggar yaf'ftssam yalSqqas 

Impf. Jussiv ifassam jbdrak ygngar yafassam yalaqas 

Imperativ fa$sam bdrak ’angar ’afassam ’aldqas 



Qe'ea-Studien. II. 


681 


Perfeotum 
Impf. Indik.' 
Impf. Jussiv 
Imperativ 


Perfectum 

Lnpf. Indik. 
Impf. Jussiv 
Imperativ 


T, 

tafassama 

yatf'&ssam 

yatfa§sam 

tatassam 


tamasata 

yatmassat 

yatmasat 

tamasat 


T, 

tandgra 

yatnaggar 

yatnagar 

tanagar 

Stj 

i ’astanfasa ] 
’astasagala| 
yastanaffas 
ydstanfas 
’aatanfas 


St, 

’astasannasa 

yastas’dnnas 

yastasannas 

’astasannas 


T. 

tanagdra 
yatnaggar 
yatnagar 
tandgar 

St, 

’astanagdra 

yastanaggar 

yastanagar 

’aatandgar 


Verba mediae geminatae. 
Grundstamm (Oi). Intransitiv. 


Pers. 

Num. 

Perfectum 

Imperfectum 
Indikativ Jussiv 

3. m. 

Sing. 

nddda 

jnaddad 

ydndad 

tdndad 

3. f. 

Ji 

ndddat 

tandddad 

2. m. 

JJ 

naddd^ka 

tanaddad 

tdnddd 

2. f. 

n 

naddd^ci 

tanaddddi 

tandddi 

1. c. 

If 

naddd’ku 

’anaddad 

’dndad 

3. m. 

Plur. 

ndddu 

inaddddu 

yandadu 

3. f. 

» 

nddda 

inaddddd 

yandada 

2. m. 


nadad’kammu 

tanaddadu 

tandddu 

2. f. 

» 

naddd^kan 

tanaddada 

tanddda 

1. c. 

it 

naddd^na 

nanaddad 

ndndad 


Imperativ 


nbddd 

nadadi 


nadadu 

nadada 


Anm. : Die Formen tdndddi, inaddu u. s. w. waren dem Gewahrsmann un- 
bekannt. Fur den Jussiv gab er auch yt'tuhd und tindgd an. 


Grundstamm 

Anm.: Bei der Ausspracbe von i 


obachtet. 

Pers. 

Num. 

Perfectum 

3. m. 

Sing. 

nababa 

3. f. 

n 

nababat 

2. m. 

If 

nababka 

2.f. 

Tt 

nababcl 

1. c. 

9 

nababka 


(Oi). Transitiv. 
und 6 warden starke Schwankungen be- 

Imperfectum, Jussiv Imperativ 
ydnbab 
tanbab 

tanbab nabdb 

tanbabi nabbi, nabdbl 




682 


Enno Littmann, 


Pers, yum. 

Perfectum 

Imperfectum, Jussiv 

hnperativ 

3. m. Plur. 

nababu 

janbabu 


3.f. 

nababa 

yanb^ba 


2. m. 

nababk^mmu tanbdbu 

n^bbS, nab^bu 

2f. 

nababkan 

tanbSba 

nSbba, nab4ba 

1. c. 

nababna 

nanbab 



Abgeleitete Stamme. 



Os 

Oj A, 

As 

Perfectum 

k^^nnana 

sarara ’andada 

’ak^lnnana 

Impf. Indik. 

yak^'annan 

isarrar yanaddad 

yak^'innan 

Impf. Jassiv 

ik”^nnan 

isarar yandad 

yak'^nnan 

Imperativ ■ 

k"innan 

sArar ’dndad 

’ak'^nnan 


T, 

T. 

Ts 

Perfectum 

tanabba 

tahasisa ta’azzaza 

tanababa 

Impf. Indik. 

yatnabbab 

yathassas yaf'Ezzaz 

yatnabbab 

Impf Jussi V 

yatnabab 

yathasas yat’azzaz 

yatnabab 

Imperativ 

tanabab 

tahasas ta’azzaz 

tanabab 


Perfectum 
Impf. ludik. 
Impf. Jussi V 
Imperativ 


St, 

’astahasasa 

yastahdasds 

yastdhsas 

’astahsss 


Sts 

’astasSrara 

yastasdrrar 

yasta§arar 

’astasarar 


Imperfectum 
*Pers. Num. 


3. m. 
3. f. 
2. m. 
2. f. 
1. c. 


Sing. 

7} 

7i 

» 

V 


Perfectum 
Impf. Indik. 
Impf. Jussi V 
Imperativ 


Verba primae guttoralis. 

Gr undstamm (Oi). 


ya’amman 

ta’amman 

ta’amman 

ta’ammOTl 

’a’amman 


Plur. ya’amm^nu 
„ ya’ammana 
„ ta’ammanu 
„ ta’ammana 
„ na’amman » 


Abgeleitete Stamme. 


O. A, A, 

haddasa ’a’'mara ’a’arraya 

ih’llddas ya’ammar ya’'3,rri 

ihaddas *) ya’‘m9r ya’arri 

haddas ’a’‘m 0 r ’a’drrl 


1) Se MS.; Tielleicht verhort fiir yahaddas. 



Ge'ez-Studien. II. 


683 


Perfectum 

Impf. Indik. 
Tmpf. Jussiv 
Imperativ 


St, Stj Stg 

I’kstSiml astaakaya 

yastahaqqar yasta’’S,gg8s yasta’dkkT 

yastak^qar yasta’agges yasta’dcl 

’astah®q9r ’asta’aggas 


Yerba mediae gnttnralis. 
Grundstamm (Oi). 


Pers. 

Num. 

Perfectum 

Ii^erfectum 

Imperativ 




Indikativ 

Jussiv 


3. m. 

Sing. 

mahara 

imabar 

yambar 


3. f. 

» 

maharat 

tamabar 

tambar 


2. m. 


maharka 

tamabar 

tambar 

mabar 

2. f. 

» 

maharci 

tamabarl 

tambdri 

mabari 

1. c. 

» 

mabarku 

’amAbar 

’amhar 


3. m. 

Plnr. 

maharu 

imabaru 

yambdru 


3. f. 

» 

mahara 

jmahara 

yambdra 


2. m. 

» 

maharkammu tamabarn 

tamhdrn 

mabdru 

2. f. 


maharkan 

tamahdra 

tambdra 

mabara 

1. c. 


maharna 

namabar 

ndmbar 


Anm. : Der 

abeesinisohe Gewahrsmann hat 

hier 

und 

verwechselt; das kommt auoh in Handschriften oft vor. 




Abgeleitete Sta 

mme. 




0 , 

A. 


A, 

Perfectum 

mahara 

’adhana 

j’ala’dla) 
t al ala | 

’awabada 

Impf. 

Indik. 

im'Ahar 

yadAhan 

yal’d’al 

yawdbad 

Impf. 

Jussiv 

imabar 

yadhan 

yala’al 

yawdbad 

Imperativ 

mahar 

’adban 

ala’al 

’awabad 



T, 

T, 

T, 



Perfectum 

taga’oza 

1 jtasa’ala] 

tamabala 


taga’aza 

1 |ta§a’ala ) 


Impf Indik. , 

yatga’az 

yas'a’al *) 

yatmabal 

Impf Jussiv 

yatga’az 

yasa’al *) 

yatmdbal 

Imperativ 

taga’az 

tasa’al 

tamdbal 



St, 

Stg 

Perfectum 

9- 

a 

star(a)bdqa 

’astadahara 


Impf. Indik. yastar^haq yastadshar 

Impf. Jussiv yastarhaq yastadAhar 

Imperativ ’astarhaq ’astadahar 

1) Statt yss- 1. y9ss-, 

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist, Klasse. 1917. Heft 5. 


46 



684 


Enno Littmann, 


Verba tertiae gattaralis. 

Grundstamm (Oi). 


Pers. 

Num. 

Perfectum 

Imperfectum 

Jussiv 

Imperativ 

3. m. 

Sing. 

sdr’a 

yasra’ 


3.f. 

Ji 

sar’at 

tdsra’ 


2. m. 

n 

sara’*ka 

tasra’ 

sard’ 

2. f. 

» 

sar5’*ci 

t^ra’f 

serai 

1. c. 

» 

sara’®kn 

’dsra’ 


3. m. 

Plur. 

sdr’u 

yasra’fi 


3. f. 

n 

sar’a 

yasra’d 

t'asra’d 


2. m. 

» 

sara’*kanmiu 

sara’d 

2. f. 

n 

sara’*kan 

tasra’S 

sara’a 

1. c. 

n 

sar4’*na 

nasra’ 



Abgeleitete Stamme. 

Oj O 3 Aj Aa Tj 

Perfectum nasseha baliha ’agba’a ’asabbSha tamal’a 

Impf. Indik. jn'^ssab iballah yagabba’ yas'8,bbah yatmalla’ 
Impf. Jussiv inassah ibdlab yagba’ yagabbah yatmala’ 

Imperativ nassah balah ’agba’ ’asabbah tamdla’ 

T, T, 

Perfectum tafass^ha tagabd’a 

Impf. Indik. yetf’Sssah yatg^bba’ 

Impf Jussiv yatfassah yatgiba’ 

Imperativ tafassah tagiba’ 

St, St, St, 

^ „ (’astabq”9’a 1 

Perfectum {’astaqaii^’a} ’astafassdha ’astagaba’a i) 

Impf. Indik. yastabaqqV yaBtaPSssah yastagabba’ 

Impf. Jussiv yastabq“a’ yastafdssah yastagdba’") 

Imperativ ’astdbq“a’ astafdssah ’astagdba’ ‘) 


1 ) So im MS. ; Wechsel von 6 und 8. 



Ge'ez-Studien. II. 


685 


Verba primae G). 

Grundstamm (Oi). 

Imperfectum Imperatir 

Pers. Num. Indikativ Jossiv 

3. m. Sing, iwallsd ydgar') ilad yahaz®) i§a’ 

3. f. „ tawallad tdgar talad tahdz tasa’ 

2 . m. „ tawallad tdgar talad tahaz tasd’ 9 gdr*) lad sa’ 

2 . f. „ tawaUadi tugarT talddi tahazi tasa’i ^gari ladi §a’i*) 

1 . c. „ |,^|wallad ’dgar ’alad ’ahaz ’asa’ 

3. m. Plnr. iwallddu yugaru iladu yahdzu isa’d 

3. f. „ iwallada yugara ilada yahdza isa’a 

2 . m. „ tawallddu tfigaru taladu tahdzu tasa’d ^garu ladu ?a’d^) 

2 . f. „ tawalldda tiigara talada tahdza tasa’a Qgdra lada sa’d*) 

1 . c. „ nawdllad ndgar naiad nahdz nd^a’ 

Abgeleitete Stamme. 

0, A, A, T, T, 

Ferfectum walldta ’anldda ’awattana tawdlda tawassdka 

Impf. Indik. iw'dllat yawallad yaw’d^n yatwdllad yatw'issak 
Impf. .Tassiv iwdllat yd^lad yawdttan yatwdlad yatwdssak 

Imperativ wdllat ’s^lad ’awdttan tawdlad tawdssafc 

T 3 St, St, St, 

Ferfectum tAwalata ’astanhdsa ’astawakkdla ’astawahdba 

Impf. Indik. yatwdllat yastawehas yastaw’ftkkal yastawdhab*) 

Impf Jussiv yatwalat yastanhas yastawdkkel yastawdhab*) 

Imperativ tawalat ’astanhas ’astawakkal ’dstawdbab 

1 ) Nach G.-M. bedeutet „er werfc mit Steinen“, igSr „er zunde Weih- 
ranch an“. 2) Nach G.-M. exietiert auch yuhax, tuhtu u. s. w. 3) Statt 
ffgir wurde auch mgir notiert; G.-M. gab auch an gar aStreue Weihrauch*, 
g&k, gdrh, gSrh. 4) Das a in saH, si’u und das erste a in sit’d ist kurzM 
geschlossenes a. 5) MS. auch yastawdh»b. 6 So MS. 


46 * 



686 


Enno Littmann, 


Verba primae P. 

Grrundstamm (Oi). 

Imperfectnm Indikativ 


Pers. 

Num. 


Hum. 

3. m. 

Sing. 

yayabbas 

Plnr. yayabbasu 

3. f. 

JJ 

tayabbes 

„ yayabbasa 

2. m. 

JJ 

tayabbas 

„ tayabbdsn 

2.f. 

n 

tayabbasi 

„ tayabbdsa 

1. c. 

75 

|,^iyabbas 

„ nayabbas 


Abgeleitete Stamme. 

Oa A, T, T, 

Perfectum yabbaba ’aibasa tayad’a tayaawaha 

Impf. Indik. yii'9,bb3b yayabbas yatyadda’ yaty’Suwah 

Impf. Jussiv yayabbab yaibas tayada’ yatyauwah 

Imperativ yabbab ’dibas yatyada’ tayduwah 


Verba mediae (D. 


Gr 


Pers. 

Num. 

Perfectum 

3. m. 

Sing. 

nOma 

3. f. 

71 

nomat 

2. m. 

77 

nOm'ka 

2. f. 

77 

nOm’ci 

1. c. 

n 

n6m'’ktt 

3. m. 

Plur. 

nomu 

3. f. 

n 

nOma 

2. m. 

77 

nom^kammu 

2. f. 

71 

nOm'kan 

1. c. 

77 

n6ni®na 


ndstamm (Oi). 


Imperfectum 


Indikativ 

Jussiv 

inauwam 

inOm 

tananwam 

tanum 

tananwam 

tandm 

tananwam! 

tandmi 

’ananwam 

’andm 

inanwamti 

indmu 

inauwama 

intima 

tananwamu 

tandmu 

tan an warn a 

tandma 

nanauwam 

nandm 


Imperativ 


niirn 

nflmi 


numii 

noma 


Perfectum 
Impf. Indik. 
Impf. Jussiv 
Imperativ 


Abgeleitete St 

0 . 

kauwala 'a.‘;ora 

icduwal yasaowar 

ikauwal ydsur 

kauwal ’dsur 


’aqama ’asanwana 

yaqauwam yas'duwan 

yaqam yasauwan 

’aqam ’asauwan 



Ge'ez-Studien. II. 


687 



Ti 


T. 


Ts 

Perfectiun 

tahanka (tahawaka) 

tafauwasa 

tarawa§a 

Impf. Indik. 

yathauwak 


yetf'&uwas 

yatrduwas 

Impf. Jussiv 

yathawak 


yatfanwas 

yatrSwas 

Imperativ 

tahawak 


tafanwas 

tariwas 



Stj 

Sts 



Perfectum ’ 

astabawaha 

’astamawaqa 


Impf. 

Indik. 


yastamauwaq 


Impf. Jussiv 


yastamSwaq 


Imperativ 


’astamawaq 



Verba mediae P. 




Grundstamm 

(Oi). 



Pers. Kum. 

Perfectum 

Imperfectum 


Imperativ 


Indikativ 

Jussiv 



3. m. Sing. 

s'§,ma 

jsaiyim 

isim 



3.f. 

s'Smat 

tasaiyim 

tasim 



2. m. „ 

s'8,m®ka 

tasaiyim 

tastm 


sim 

2. f. 

s’3,m*cl 

tasaiyimi 

tasfml 


simi 

1. c. „ 

s‘8,m®ku 

’asaiyim 

’asim 



3. m. Plur. 

s’8,mu 

isaijdmu 

isimn 



3.f. 

s'§,ma 

isaiyuna 

isima 



2. m. ^ 

s'amkammu 

tasaiyimu 

tasfmu 


simu 

2.f. 

s'amkan 

tasaiyima 

tasima 


sima 

1. c. 

s'Sm®na 

nasaiyim 

nasfm 




Abgeleitete Stamme. 



0, 

Aj A 2 


Perfectum 

taiyaqa 

’acSda ’ataiyaqa 

tasaima 

Impf. Indik. 

*yacaiyiq^) yakaiyid yacfi,iyiq 

yassaiyam 

Impf. Jussiv 

itaiyiq 

yacid yataiyiq 

yassayam 

Imperativ 

taiyiq 

’acid ’afaiyiq 

tasayam 



Ts St, 

Sts 

Perfectum 

tataiyaqa 

takayada *’astahaiyasa ®) 

’astahayasa 

Impf. Indik. 

yaccSiyaq 

yatkaiyad *yastab'iiyis ®) 

yastahaiyis 

Impf. Jussiv 

yattaiyaq 

yatkayad yastahaiyis 

yastahayis 

Imperativ 

tataiyaq 

takayad *’astahaiyis 

’astahayis 

1) Auch ydfhmi-ak. 

2) Auch tahawak. 3) MS. ; 

is’tm und ebenso 


mit 'i in mehreren Formen des Jussiv nnd des Impv. 4) Diese Form wurde 
versehentlich nicht diktiert. 5) MS.: mit einfachem y (nicht iy). 6) MS.- 
yastahiciiyis. 



688 


Enno Littmann, 


Verba tertiae (D. 


Grandstamm (Oi). 

Perfectum Imperfectum Imperativ 


Pers. 

Num. 


Indikativ 

Jussiv 


3. m. 

Sing. 

talawa 

itallu 

yatlu 


3. f. 

7i 

ialdwat 

tatallu 

tetlu 


2. m. 


Jtaldnkaj 



talii 

Ji 

italska 1 
j talaaci ) 

tdtalla 

tatlu 

2. f. 


Ti 

( taloci f 

tdtalldwi ’) 

tatluwi 

telawi *) 

1. c. 


( talaoku ) 




V 

(taloku ) 


’dtlu 


3. m. 

Plur. 

talaw® 

jtalluwn 

ystliiwu 


3. f. 

n 

talawa 

italldwa 

yetldwa 


2 . m. 


1 ialaokdmmQ ) 

tatalliiwu 



7 ? 

(talokdmmu ) 

tetluwu 

taluwu ®) 

2. f, 

1, c. 

79 

1 talaokan ) 
Ital6k9n ) 
|talaana| 

tetalldwa 

tatldwa 

ndtlu 

taldwa 

7) 

Galona ) 

nstallu 



Imperfectura Imperativ 

Indikativ Jussiv Intransitiv Med. Gntt. 


Pers. 

Num. 

zugleich 
med. gutt. 

Intransitiv 

Med. Gutt. 



3. m. 

Sing. 

ika’u 

yaftau 

yak’au 



3. f. 

n 

taka’u 

taftau 

tak’au 



2. m. 

li 

take’u 

tdftau 

tdk’au 

fatdu (fato) . 

ka’au 

2. f. 

79 

teke’dwi 

taftawi 

tak’awi 

fatawi 

ka’awi 

1. c. 

n 


j,^jftau 

’dk’au 



3. m. 

Plur. 

ika’iiwu 

yeftaw” 

yak’aw" 



3. f. 

79 

ika’awa 

yaftdwa 

yek’awa 


. 

2. m. 

7) 

take’uwu 

taftaw” 

tak’aw® 

fatawu 

ka’awu 

2. f. 

79 

taka’dwa 

taftawa 

tok’awa 

fatawa 

ka’awa 

1. c. 

» 

nake’u 

naftau 

nak’au 


1) MS. : auch titallxml. 


2) MS.: auch tdlmn. 


3) MS.: auch teUvm. 



Ge'ez-Studien. II. 


689 


Abgeleitete Stamme. 

O2 O3 Ai Aj Ag 

Perfectum fannawa lahawa ’atlawa ’azammawa ’aipamawa 

Impf. Indik. if'ftnnu ilahu yatallu yaz’ammu yasdminu 

Impf. Jussi V ifannu ildhil ydtlu yazammu yasgmu 

Imperativ fannu Idhfl ’atlu ’azammu ’astmn 

T. T, T, 

Peifectum tafat''wa tasagg4wa tatalawa 

Impf. Indik. y9tfattau(-6) y9Ss*i,ggan(-6) y9ttaIIan(-6) 

Impf. Jussiv y9tfatau(-o) y9ssaggau(-6) y9ttdlau(-o) 

Imperativ tafatau(-d) tasaggau(-6) tatalaa(-6) 

St.2 St, 

Perfectum ’astasaffawa ’astafanawa 

Impf. Indik. yastas'i,ffu yastafdnnu 

Impf. Jussiv yastasaffii yastafanu 

Imperativ ’astasaffu ’astafdnu 

Verba tertiae P. 

Transitiv. 

Grundstamm (Oi). 


Perfectum Imperfectum Imperativ 


Pers. 

Num. 


Indikativ 

Jussiv 


3. m. 

Sing. 

karaya 

ikarri 

y^kri 


3. f. 


karayat 

takarri 

takri 


2. m. 

n 

karaika 

takarri 

takri 

karf 

2. f. 

73 

karaici 

takarriyi 

takriyi 

kariyi 

1. c. 

73 

karaiku 

j,^ Ikarri 

|.“!kri 


3. m. 

Plur. 

karayu 

ikarrayu 

yakrayu 


3. f. 

77 

karaya 

ikarraya 

yakraya 


2. m. 

Ti 

karaikammii 

takarrayu 

tekrayu 

karaya 

2. f. 

» 

karaikan 

takarraya 

takrdya 

karayd 

1. c. ’ 

n 

karaina 

nakarri 

nakri 



1) Das bei Dillmann gegebene Beispiel (TO hielt G.-M. fur 

und diktierte demgemaB ta’adddwa, y9t’'Mdan(-o), yef‘addau-(o), ta’addau-(6). 



690 


£nno Littmann 


Intransitiv. 


Pers. 

Niun. 

Perfectum 

Imperfectum, Jussiv 

Imperativ 

3. m. 

Sing. 

’abya 

ya’^bai 


3. f. 

Ti 

’abyat 

ta’“bai 


2. m. 

» 

’abaika 

ta’^bai 

’abai 

2. f. 


’abaici 

ta’^bayi 

’abayl 

1. c. 

» 

’abaiku 

’8’»bai 


3. m. 

Plur. 

’abyu 

ya’®bayu 


3. f. 

» 

’abya 

ya’^baya 


2. m. 

n 

’abaikammu 

ta’®bayu 

’abayu 

2. f. 


’abaikan 

ta’®baya 

’abaya 

1. c. 

V 

’abaina 

n§’»bM 



Tertiae P nnd mediae gntturalis. 


Pers. 

Num. 

Perfectum 

Imperfectum, Jussiv 

Imperativ 

3. m. 

Sing, 

r^’aya (CXP) 

yar’ai (JBCOJB) 


3, f. 

7) 

ra’ayat 

tar’ai 



2. m. 

n 

ri’lka 

tar’ai 

rg’ai (40JB) 

2.f, 

n 

ri’ici 

tar’ayi 

ra’dyi 

1. c. 

n 

rfiku 




3. m. 

Plur. 

ra’ayu 

yar’ayu 



3.f. 

B 

ra’aya 

yar’aya 



2. m. 

n 

ri’ikaininu 

tar’ayu 

ra ayu 

2. f. 

n 

ri’ikan 

tar’aya 

ra’aya 

1. c. 

n 

ri’ina 

ner’ai 




Primae (D, mediae gnttaralis 

and tertiae 

P. 



Imperfectum 



Pers. 

Num. 

Indikativ Jussiv 


Indikativ 

Jussiv 

3. m. 

Sing. 

iw§’i ya’ai 

Plur. 

iwa’ayu 

ya’aya 

3. f. 

7) 

tawa’I ta’ai 

7i 

iwa’aya 

ya’aya 

2. m. 

B 

tawa’I ta’ai 


tawa’dyu 

ta’ayu 

2.f. 

7J 

tawa’iyi ta’ayl 


tawa’aya ®) 

ta’ayS 

1. c. 

B 

’awa’i ’a’ai 


nawa’i 

na’ai 


1) Im MS. ist die Spirantisierung von der 2. Perf. fem. Sing, an nicht be- 
zeichnet. 2) MS.: iivd'i'u. 8) MS.: auch -’aya. 



Ge'ez-Studien. II. 


691 


• Abgeleitete Stamme. 



O3 

O3 

A, 

A, 

^3 

Perfeetum 

sannaya 

saqaya 

’astaya 

’asannaya 

’awakaya 

Impf. Indik. 

is’dnni 

isacel 

yasattl 

yas’dnnl 

yawScci 

Impf. Jussiv 

isanm 

isaoi 

yasti 

yasannl 

yawdei 

Imperativ 

sdnni 

sdfi 

’dsti 

’asanni 

’awdei 



T. 

T, 

T3 



Perfectam taharya tasannaya taganaya 

Impf. Indik. yatharrai yass’annai yatgdnnai 

Impf. Jussiv yatharai yassannai yatgdnai 

Imperativ taharai tasannai tagdnai 

St, St, Sts 

Perfeetum ’astasraya ’astarassaya ’astasanaya 

Impf. Indik. yastasarri yastar'assi yastasannl 

Impf Jussiv yastasri yastarassi yastasdni 

Imperativ ’astasrl ’astarassi ’astasSnl 


Mehrradikalige Verba. 

Starkes Verkuin. 

0, A, T, T, 

Perfeetum dangasa ’adangasa tamandaba tasanasala **) ’ang^arg'dra 

Impf. Indik. idanaggas yadanagges yetmanaddab yassanassal yaDg’'araggar 

Impf Jussiv idangas yadangas yatmandab yassandsal yang^argur 

Imperativ dangas ’adangas tamandab tasandsal ’ang''drgur 

Verba mit Gutturalen. 

Secundae gutturalis. 

0, A, T, 

Perfeetum mahraka ’amabsana tamahsdna 

Impf. Indik. imaharrak yamaha§s9n yatmahassan (yatmaka’ab) 

Impf. Jussiv imahrak^) yamahsan yatmab^san 

Imperativ rndhrak *) ’amahsan tarndh^san 

1) MS.: isdqi. 2) MS.: auch taharai. 3) Dillmann fuhrt noch an 

als IV 1 dies las G.-M. jedoch ’astasana’dla. 4) MS.: 

auch mit kurzem ri. 



692 


Enno Littmann, 


Quartae gutturalis. 



0, 

A. 

T, 

Nj (tertiae) 

Perfectum 

gafta’a 

’amagza’a 

tamask^a’a 

’anfar’asa 

Impf, Indik. 

igafatta’ 

yamagazza’ 

yatmasakk*a’ 

yanfara’as 

Impf. Jussiv 

igafta’ 

yamagza’ 

yatmask''a’ 

yanfar’as 

Imperativ 

gafta’ 

’amagza’ 

tamask’’a’ 

’anfar’as 


Secundae et quartae 

gutturalis. 



Oi 

A. 

T, 

Ni 

Perfectum 

bah^blha 

’arahrSba 

tarah’raba 

’ansa’sa’a 

Impf. Indik. 

ibah'*§bbah 

yaraharrah 

yatraharrah 

yansa’assa’ 

Impf. Jus-siv 

ibah“buh 

yarahrah 

yatrah®rah 

yans4’“sa’ 

Imperativ 

bah“bah 

’arahrah 

tarah*rah 

’ansa’*sa’ 


Tertiae gemiaatae. 


0, 

A, 

T. 

Ts 

Nx 

Perfectum damsasa 

Impf. Indik. idamassas 
Impf. Jussiv idamsas 
Imperativ damsas 

’amarsasa 

yamarassas 

yamarsas 

’amarsas 

tazang"ag”a 

yazzanagg^ag® 

yazzang®ag® 

tazang®ag” 

tatanaqdqa 

yattanEqqaq 

yattanEqaq 

tatanSqaq 

’ant”6lala 

yant®611al 

yant“dlal 

*’aiit®dlal 


Secundae 

a. 

Secundae e. 

0. 

A. 

T, 

0. 

Ax 

Perfectum masana 

Impf. Indik. imEssan 

Impf. Jussiv imasan 

Imperativ mEsan 

’amasana 

yEmEssan 

yamEsan 

’amasan 

tamEsana 

yatmEssan 

yatmEsan 

tamEsan 

pgana (^75) 
ig%gan 
igSgan 
gSgan 

’agEgana 

ysgaggan 

yEgSgan 

’agSgan 


Secundae o. 



Perfectum 

Impf. Indik. 
Impf. Jussiv 
Imperativ 

0, 

tosaha 

it°6ssah 

ifOsah 

t“dsah 

Ax 

’flm®oqaha 

yain®6qqah 

yam®6qah 

’am“6qah 

Tx 

tam®oqaba 

yatm“6qqab 

yatm®6qah 

tam®dqah 


1) MS.: 

Uel. 






Perfectum 
Impf. ^^dik. 
Impf. Jussiv 
Imperativ 

Perfecttun 
Impf. Indik. 
Impf. Jussiv 
Imperativ 


Perfectum 
Impf. Indik. 
Impf. Jussiv 
Imperativ 


Perfectum 
Impf. Indik. 
Impf. Jussiv 
Imperativ 

Perfectum 
Impf. Indik. 
Impf. Jussiv 
Imperativ 

Perfectum 
Impf. Indik. 
Impf. Jussiv 
Imperativ 


Ge'ez-Studien. II. 


693 


Qaartae (D. 


0 , 

sanqawa 

isanaqqu 

isanqu 

sanqu 


A, 

’amansawa 

yamanassu 

yamansu 

’amansu 


T, 


tasana’awa 

yassana’au 

yassana’au 

tasand’au 


Sta 

’astasana’awa 

yastasand’u 


T. 

tamansawa 

yatmanassaa 

yatmansau 

tamansaa 

N. 

’anqa’*dawa 

yanqa’addu 

yaaqa’^da 

’anqd’“du 


Quartae P. 

0. A. T, T, 

g'andaya ’ag“andaya tasamhaya tasakataya 

ig”anaddi yag^anaddi yas§amahai yassakdttai 

ig"andi yag^andl ya^^amhai yassakdtai 

g“andi ’ag”andl tasamhai tasakdtai 


Mehrfach schwach. 


0. 

A, Tx 

Nx 

gagaya l"olawa 

’agagaya tal’dlaya ’angagaya 

igdggi il^oUu 

yagdggl yat^rdllai yang^gl 

igdgi il®6lu 

yagdgi yat’bdlai yangdgi 

gdgi l^Olu 

’agagi tal'dlai 

’angdgl 

0. 


Ax 

s'awawa 

’auyawa 

’asdnawa 

is'Suwu 

ya’awd(i)yu 

ya^’dnnu 

is’dwu 

ya’dw®yu 

yas'dnu 

s’dwu 

’aw^yu 

’as'anu 

Tx 

Ta 

Nx 

tab'dzawa 

tazayanawa 

’ans'’6sawa 

yatb’dzzau 

yazzaydimau 

yans“6ssu 

yatb'dzau 

yazzaydnan 

yans“6su 

tab’dzau 

tazaydnau 

’ans^Osu 


1) MS. hat in diesem Faradigma yersehentlich k statt g. 

2) MS.: 'ansosii. 



694 


Enno Littmann, 


Pronomina. 

Demonstrativpronomina. 





a) ,dieser“. 





m. 

f. 

m. 

f. 

Sing. 1 

N»m. 

zS 

za 

zantu 

zatti 

Acc. 

za 

za 

zanta 

zatta 

Plra. 1 

Nom. 

’allu 

alia 

’all“6ntu ’allantu 

Acc. 

— 

— 

’all“dnta ’ollanta 




b) „jener“. 





m. 

f. 

m. 

f. 

Sing. 1 

Nom. 

zakd 

’entakd 

zaktu 

’antaktl 

Acc. 

zak^a 

[’antak”a] *) 

zakta 

’antakta 




c. 


c. 

Plur. 1 

Nom. 

’allakd (’alluku) 


’allak'tu 

Acc. 


[’allak^a] ") 


’allak”ta 




Relativpronomen. 





Sing. 

Plur. 




m. 

f. 





za 

’anta 

’alia 





Fragepronomina. 



^wer? 

iCl 

„was ?“ 

^welcher ?“ 





Sing. 

Plur. 

Nom. manna 

mant 

’si 

Nom. ’ay at 

Acc. 

manna 

manta 


Acc. ’ayata 


Personalpronomina. 


Pers. Num. 



1. C. Sing. 

’ana 

Plur. nahna 

2. m. „ 

’anta 

„ ’antammu 

2.f. 

’antx 

„ ’antan 

3. m. n 

wo’atn. Acc.: wo’ata 

„ *’8mdntvi ®) oder w9’3t“Omtt 

3.f. „ 

ya’ati. Acc.: ya’ata. 

, ’amantu oder wo’oPOn 

1) MS. : 

auch ’mtiiku. 2) Diese beiden bei Dillmann nicht angefuhrten 

Formen wurden von G.-M. hinzugefugt. 

3) Diese Form wurde versehentlich 

nicht diktiert. 





Anbaagnng der Verbalsnfdxa. 

Perfectum. Singular. 


Ge'ez-Studien. II. 


695 


leS 

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cd ^ od ^ cd 

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p P •od cd p p p S ^ ^ C 

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bO& 0 ^o 3 6 o&X) ^bObOtCbC 
cddASqcd ^cdodcdcd 

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S I® 'ig 

is 'ig i sL & 

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CQ oS cd 03 cd 

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1 S 


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p 

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q 

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p 

q 

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R 

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^ -q 

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P P P 

q q q 

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§ a '§ 

a § w 

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IS .a .id 

.id .a is 

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^ 'Cd 03 

Pi 

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SO SO 
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P. Pi Pi 

^ Sd ^ 

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q q q 

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a a cd 
R fl R 


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Cq 05 CO aq aq 


ac* 4 aipjc 5 act^ac* 4 <d 
CO CO cq" cq r4 c6 co’ aq oq t-h 



696 


Enno L ittmann, 


10$ 


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§3 Ic &C lo 3 3 M 
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60 6o 60 

60 B c3 
e B B 
O CD ® 


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B 


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'ic3 'leS 

B B 
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c3 c3 

B, B, 


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02 


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s 

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60 

.3 ^ 

02 


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“ 


0 

c 4 

S CfH Cf4 c5 0 ^ c3 

CO CO CQ tH c 6 CQ tH 


I 


CO 



Ge'ez-Studien. II. 


697 


Jussiv. 3. m. Sing. 

1, c. 2. m. 2. f. 3. m. 3. f. 

Sing, yengaranni yengarka yangarcl yangarro yang^rra 
Plnr. yangaranna yangarkammu yengarkan yangarrOmu yangarron 


Imperativ. 


Pers. Num. 

1. c. 

3. m. 

2. m. Sing. 

nagrannl 

nagarro 

» n 

nagranna 

nagarrOmn 

2.f. „ 

nag(a)ranni 

nagriyyo 

Jl » 

nag(a)ranna 

nagriyOmu 

2. m. Plnr. 

nag(a)rdni 

nagrnw5 ®) 

n n 

nag(a)rdna 

nagrnwomu 

2. f. „ 

nag(a)rani 

nagrahd 

» 

nag(a)rana 

nagrahdmu 


3. f. 
nagarra 
nagarron 
nagriyya 
nagriyyon 
nagrdwa 
nagriiwon ®) 
nagraha 
nagrahon 


Genns- nnd Namenusbildnng der Nomina. 
1. Adjective und Partizipien. 



1. 



2. 


m. 

f. 

m. 

f. 

Sing. 

hayd^ 

haya^*t 

haddis 

haddds 

Plnr. 

hayawan 

hayawdt 

haddisdn 

1 haddasdt 

1 haddlsdt 


3. 


l 

4. 

Sing. 

fassdm 

fassamt 

baq^a’ 

baq"a'’t 

Plnr. 

fassurndn 

fassumdt 

baq^a’an 

baq'‘a’at 


5. 



6. 

Sing. 

sannai 

sanndit 

madangas 

madangast 

Plnr. 

sannaydn 

sannaydt 

madangasdn 

madangasdt 


7, 



8. 

Sing. 

mafr^i 

mafrait 

mabdrl 

mabdrit 

Plnr. 

mafraydn 

mafrayat 

mahar’ydn 

mahdPydt 


9. 

manfasawi manfasawlt 
manfasanyin manfasa^yat 


1) MS.; -inm. 


2) MS. : -inna. 


3) MS. hat -ujfM!- start -uw-. 



698 


Enno Littmann 


II. Die PInralbildnng der Substantive. 


a) AaBere Pluralbildung. 


«) Mit Masbnlinendnng des Plurals. 


1 . 

Sing, ’abd 
Plur. ’abdan 


2 . 

hata’ 

hata’an 


3. 

mamhar 

mamharan 



/3) Mit Femininendung de 

s Plurals. 



1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

Sing. 

’azaqt 

k”alft 

’amat 

zabtat 

ma^saft 

Plur. 

’azaqat 

k'aliyat 

’amatat 

zabtatat 

maqsaftat 


6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

Sing. 

ta’amart 

dammana 

sagd 

mafsjsal’a 

gabo 

Plur. 

ta’amartat 

dammanat 

sagayat 

ma[s]saryat 

gabawat 


11. 

12. 

13. 

14. 

16. 

Sing. 

zaq 

habr 

delaqlaq 

gas 

qal 

Plur. 

zaqqat 

habrat 

dalaqlaqat gassat 

qalat 


16. 

17. 

18. 

19. 

20. 

Sing. 

zaman 

tabab 

’alam 

mankar 

zanam 

Plur. 

zamandt 

tababdt 

’alamit 

mankarat 

zanamat 


21. 22. 23. 24. 

Sing. ba’al saltan ta’azaz mahram 

Plur. ba’aldt saltanat ta’ezazat mahramat 


Sing. 

Plur. 


Amtsnamen 

25. 

kahan 

kahanit 


Eigennamen 

26. 

maqaris 

maqarisat 


b) Iiinere Pluralbildung. 


Erstc Bildung. 
Sing, ’azn ’ab 

Plur. ’azan ’abau 


Zweite Bildung. 
dabr labs 
’adbar ’albas ’aflag 


Dritte Bildung. 
’adg hagar 
’a’®dflg ’ah®gnr 


Vierte Bildung. 
Sing, batr 
Plur. ’abtar 


Fiinfte Bildung 
nasf naqa’ lah'm 
’ansart ’anq4’»t ’alhamt 


Sechste Bildung. 
sahaff t^bib nagfls 
sahaft t^babt nagast 


1) So MS.; vielleicht Schreibfehler fur 


maqaris, -arisat. 



6e'ez-Sta«ien. II. 099 

Siebente Bildnng. 



1. 

2. 

Sing. 

sansal 

k^dkab 

Plur. 

sanasal 

kawakabt 


6. 

7. 

Sing. 

kasdd 

basin 

Plnr. 

kasdfld 

hasawant 


11. 

12. 

Sing. 

’a^ba’^t 

sak®ana 

Plur. 

’asaba’ 

sak^dnu 


3. 4. 5. 


dabtara 

ta’amart 

masfan 

dabatar 

Ita’ammar 

Ita’anardt 

masafant 

8. 

9. 

10. 

bati’dt 

matbah’t 

manfas 

hatawa’ 

matabab 

manafast 

13. 

14. 

15. 

’arw'S 

gan’an 

baga’ 

’arawft 

’aganant 

’abaga’ 


Anhangnng der Nommalsnffixe. 

a) An Siugularstamme, 
a)dieaufa, ?, dauslauten: 

Nom. u. iSing. sag&ya §agS,ka §9gS,ci sagSlni segaha 

Acc. |Plur. § 0 gaiia sagakammn sag^kan sagahoma saglhon 


A- fpt?; 


/3) die auf l auslauten: 
ba’dslya ba’asika ba’esfcl ba’ssihd’) be’ssiM 
ba’eslna be’asikaminu be’asikan ba’asihomu ba’esihon*) 

ba’asiya ba’as’dka ba’se'Sci ba’asihn ba’asiha 
— ba’as'akammu ba’as'akan ba’asihomu ba’asihOn 


y) die konsonantisch auslauten; 
sar’ataya sar’ataka sar ’abaci sar’atu sar’atd 

sar’atana sar’at®kammu sar’at'kan sar’atOmu sar’atOn 

sar’ataya sar’ataka sar’ataci sar’ato sar’atA 

sar’atana sar’atak^mmu sar’atkkan sar’atdmu sar’aton 


b) An Pluralstamme. 


/Sing. 

Nom. u. J ji 
Acc. i Plur. 


mala’aktdya 

mala’aktihd 

mala’aktina 

maJa’aktihdmu 


mala’aktika 

mala’aktihd 

mala’aktikammu 

mala’aktihdn. 


mala’aktici 


mala’aktik^n 


1) Bei diesen Formen fehlt im MS. der Vorton. 


Kfl. 0«. d. Wus. NachrickiM, PU.- kist KlaMC. 1917. Heft 5. 


47 



700 


Enno Littmann 


Nachtrag. 

Die ob^n auf S. 632 und S. 676 angedeuteten Scliwierigkeiteii 
in der Accentfrage werden vielleicht ilire Losnng finden durcli die 
Unterscheidung des masikalischen and expiratoriscken Accents, auf 
die ich leider bei der Aufzeichnnng der Texte nicht geachtet babe. 
W 0 icb durcb den Gravis einen „Vorton“ oder „Gegenton“, dnrcb 
den Akut aber den Hauptton angegeben babe, bezeicbnet moglicber- 
weise der eine von beiden den masikalischen Hochton, der andere 
den expiratorischen Hauptdrack. Da6 der musikalische Accent 
— ::poaM3ia, accentus bedeutet ja nrspriinglicb nichts anderes als 
diesen — namentlicb bei einer far den gottesdienstlichen Vortrag 
bestimmten Sprache eine groBe Rolle spielt, ist sebr verstandlich, 
J. Kolmodin sagt sogar in dem Vorbericbte iiber seine Stadien- 
reise in Abessinien (Le Monde Oriental IV, 1910, S. 22 des Son- 
derdrucks), dafi die ortboepische Tradition der Abessinier in erster 
Linie nur fiir die Wortmelodien Zengnis ablegt, iiber den expira- 
torischen Accent aber keine sicberen Anfschlusse geben kann; als 
Scbwede hatte er fur diese Dinge von vorn herein ein natiirliches 
VerstSadnis. Andererseits besteht aber doch, wie Kolmodin mir 
im Sommer 1917 in Berlin miindlich mitteilte, ein Unterscbied 
zwischen dem eigentlichen ndbdb, dem Vortrag in der Kircbe, and 
dem getrennten Lesen der einzelnen Worter, das eiae Vorstafe 
zu ersterem ist: bei ersterem sei die Tonbohe, bei letzterem die 
Expirationsstarke die Hauptsache. W egen der Kiirze der Zeit, die 
mir fiir meine Aafnabmen zur Verfiigang stand, war es mir nicht 
mbglicb, beide Arten des Lesens aaseinander za balten. Meist las 
mein Lebrer jedes Wort fiir sich, bin und wieder aber faBte er 
auch mehrere Worter in Sprechtakte zusammen; solcbe Worter 
warden im Hebraiscben durcb Maqqef-Striche verbunden werden. 

Nun sind aber auch zwei kleine Werke eines Abessinier s er- 
schienen, die sicb mit diesen Eragen beschaftigen : ■ 

Afii : :: and : (D^a-n : : 

"JOTI :: von Aa^'t’51 A : : (D aj? : , beide 

in Rom ni(DSprq,<;=>'f : :: In ihnen ist nur von 

4iner Art Accent die Rede, und zwar wird unter- 

schieden zwischen auf dem ersten, dem letzten und den 

mittleren Buchstaben eines Wortesj der Begriff der Silbe ist 
bei ihm unbekannt. Im Allgemeinen stimmt der von Takla-MSr- 



Ge'ez-Studien. II. 


701 


yam angegebene Accent, sei es nun AAOA auf dem ersten 
Buchstaben) oder ( anf einem mittleren Bucbstaben) oder 

Aif?^ auf dem letzten Bucbstaben) mit dem von mir durch 
den Akut bezeicbneten Hauptton iiberein ; in einzelnen Fallen trifft 
sein Accent aber mit dem von mir durch den Giravis bezeicbneten 
„Vorton“ oder „Gegenton“ zusammen. Ob Takla-Maryain die Ton- 
bohe oder den Expirationsdruck bezeichnet, kann ich vorlaufig 
noch nicht entscheiden, zumal er zwischen dem A"20H, d. i. dem 
Lesen der einzelnen Worter — am besten durch „Skandieren“ zu 
ubersetzen — und dem nur den einzigen TJnterscbied macbt, 

dafi bei ersterem langsam, bei letzterem schneller gelesen werde, 
und dab bei letzterem einzelne Worter, wie Partikeln, Praeposi- 
tionen, Worter im ^Status constructus“ u. s. w., ihrenTon verlieren. 
Er sagt im : s. s a , Anm. r : (oia-n : 

A.'oj : nAA : : c\lr'h ^ : nn : A'iH 

: Hn A^OH I A'?H : : ^aa. : (da a : 

V : : ■t'DC4: :: (DA^n^ ?*H :haa“20p: 't’/c/h/i : 

„Und nsb&b ist nichts Anderes als das 
Sprechen der Worter in schnellem Tempo je mit ihren Accenten, 
die sie beim Skandieren haben ; indem man die Satze scheidet und 
bei den Satzenden (wortlich „den vier Punkten*) ausruht. Abge- 
sehen davon gilt das, was fiir das Skandieren geschrieben ist, aucb 
fur den Vortrag“. 

Einige Male macbt Takla-Maryam aucb Angaben iiber Ver- 
scbiedenheiten in der Accentlebre innerbalb der abessinischen Uber- 
lieferung. Starkere Abweichungen finden sich bei ihm in der Be- 
zeicbnung der „Verdoppelung“ der Konsonanten die 

Paradigmata im A**!? weichen ofters von den 

Texten, die er im gibt, ab. Erst wenn die 

von E. Mittwoch und von J. Kolmodin umschriebenen Texte ver- 
ofFentlicbt sind, wird sicb daruber ein Urteil fallen lassen. Hier 
sei nur bemerkt, dab das W ort Af^i bei Takla-Maryam ’amgnna, 
bei Kolmodin (nach einer brieflichen Mitteilung) ^ammmna lautet, 
wahrend Mittwoch (nach einer miindlichen Mitteilung) und ich 'amna 
aufgezeichnet haben; daneben steht bei mir aber 'mwn'ahu. Die 
Verdoppelung des m und des n ist natiirlich sekundar. So ist os 
auch verstandlich, wenn Mittwoch und ich dnrchgangig -himmi* 
geschrieben haben, wahrend Kolmodin und Takla-Maryam -Jedmu 
bieten, eine Form, die urspriinglicher ist. So werden sich wohl 
noch manche Verschiedenheiten herausstellen , die zum Ted auf 
Unterschiede in der einheimischen Uberlieferung zurvickgehen. 

47 * 



702 


Enno Littmann, Ge'ez-Studien. II. 


Unter diesen Umstanden ist qs ratsamer, wenn die oben S. 627 
in Aussicht gestellten TeUe III imd IV erst nach Erscheinen von 
Mittwochs und Kolmodins Texten verfaBt werden. Sie wurden 
dann TeU IV und V dieser Ge'ez-Studien bilden ; inzwischen boffe 
ich in einem dritten Teile die von Takla-Maryam gegebenen Texte 
und die von ihin liber den Accent gemachten Angaben zu verwerten. 

Von Druckfehlern babe icb vorlanfig oben S. 632, Z. 4 v. «. 
yebl (zu lesen ydU) bemerkt. 



Wiedererkennungsmarchen iind Placidas-Legende. 

Von 

W. Bousset. 

Vorgelegt in der Sitzung am 9. Juni 1917. 

In meinem Artikel in den Nachrichten 1916 S. 469 — 551 un- 
tersuchte ich die Geschichte eines Wiedererkennnngsmarchens. Ich 
glanbte, die Abhanglgkeit der beriibmten Placidas-Legende in ihrer 
mittleren Partie von dem Marcben erweisen zu konnen und kam 
von bier aus zu einer Auffassnng von dem Verbaltnis unserer al- 
testen Zeugen der Legende, der alteren griecbiscben nnd der al- 
teren lateiniscben Rezension, die mit derjenigen in Wilbelm Meyers 
Aufsatz in den Nacbricbten 1915 S. 226 — 287 in einem teilweisen 
Gegensatz stand. Auf meine Darlegung antwortete W. Meyer zu- 
nacbst in den blacbricbten 1916, S. 745 — 800. Er bielt an seiner 
Auffassnng des Verbaltnisses von L und G fest, und gelangte von 
seiner These aus zu der gegenteiligen Bebauptung der Abbangig- 
keit des Marchens von einer sekundaren, im 7. Jahrhundert ent- 
standenen Fassung der Legende. Er vertrat seine Ansicbt unter 
Vorlegung neuen und unter alien Umstanden sebr v^ertvollen Ma- 
terials. Ich antwortete ibm sofort brieflich, daB er mich in einer 
Reihe von Einzelbeiten widerlegt babe, daB ich aber an meiner 
Auffassnng im GroBen und Ganzen meinte festbalten zu mlissen. 
Mein Plan, die Untersuchung von neuem aufzunehmen, wurde da- 
durch bestarkt, daB mir Herr Bibliothekar Dr. W. Liidtke mit 
auBerordentlicber Freundlicbkeit eine Fiille neuen, wertvollen Ma- 
terials zur Verfiigung stellte. Wahrend ich beim Niederschreiben 
der Arbeit war, erbielt ich die Nachricbt vom Tode des hochver- 
ehrten frliheren Gottinger Koilegen. Mein erster Gedanke war, 
die Feder still bei Seite zu legen. Und wenn unsere Differenz 



704 


W. Bousset, 


nnr die Prioritat von L oder G der Placidas-Legende betrafe, ware 
ich sicher diesem Gedanken gefolgt. Jetzt aber hat nnsere Ans- 
einandersetzimg so weite Kreise gezogen, dab die wichtigsten all- 
gemeinen Fragen iiber Wandernngsverhaltnisse des Marchens, das 
Verbal tnis von Marchen nnd Legende mit hineingezogen sind. Auch 
lockte mich das von Wilhelm Meyer selbst beigebrachte Material 
zn emeuter Bearbeitnng. Wie sehr ibn selbst diese Frage be- 
schaftigte, zeigt der in seinen letzten Lebenstagen geschriebene, 
nach seinem Tode veroffentlichte zweite Artikel zu nnserer Streit- 
frage in den Nachrichten 1917 S. 80 — 95, den ich nun gleichfalls 
in die Auseinandersetzung mit hineinznziehen habe. So glaube ich 
auch im Sinne des V erstorbenen zu handeln, wenn ich das Problem 
noch einmal aufnehme. Ich hoffe die Auseinandersetzung mit der 
Ehrfurcht vor dem Tode und mit der personlichen dankbaren Er- 
innerung an den grofien und vorbildlichen Gelehrten und den al- 
teren Kollegen, der mir so oft seit den Anfangen meiner Forschung 
ein freundlicher Berater nnd Forderer gewesen ist, verbinden zu 
konnen. 


I. 

Auch bei dieser nochmaligen Aufnahme der Debatte mochte 
ich vor alien andem Ausfiihrungen den Hauptgesichtspnnkt stark 
betonen, der mich schon bei der ersten Untersuchung leitete. Die 
Placidas-Legende ist, wie niemand verkennen kann, eine oberflach- 
liche Zusammenklitterung dreier verschiedener Bestandteile , die 
alle zu einander nicht recht passen wollen. Namentlich gilt, das 
von ihrem zweiten und dritten Teil. I)er zweite Abschnitt, das 
Wiedererkennungsmarchen, ist durchaus auf ein gliickliches Ende 
angelegt, er ist in der Tat „die spannende Geschichte von dem 
Niedergang und Aufstieg einer Familie“. TJnd daher muBte er 
etwa enden mit einem SchluB, wie ihn die unten zu besprechende 
aramaische Fassung der Erzahlung erhalten hat: „Dann priesen 
sie Gott, der sie noch in dieser Welt vor dem Tode wieder ver- 
einigt hatte“. Man ist geradezu verbliilft, wenn man nun erfahrt, 
daB die Familie, die sich gliicklich wieder zusammengefnnden hat, 
insgesamt den Mart3rrertod erleidet. Ein Redaktor, der diese zwei, 
so verschiedenen Welten entstammenden Motive mit einander ver- 
band, zeigt damit schon einen gewissen Mangel an kiinstlerischem 
Empfinden, so geschickt er auch im einzelnen erzahlen mag. Man 
mag einwenden, daB der am Martyrium interessierte christliche 
Erzahler diesen Schlufi als nicht storend, das Martyrium der Fa- 



Wiedererkennungsmarchen und Placidas-Legende. 


705 


miKe als Kronung ihres Greschicks empfanden habe. Aber man 
wird docb zageben miissen, dafi bier ein Greist ans einer andern 
Welt spricbt, als der in welcbem jenes einfacbe Marcben zn Hauseist. 

Es bommt binzn, daS wenigstens im griecbiscben Text der 
Legende jede Hindeutung anf das zukiinftige Martyrium ihres 
Helden im Anfang , wo ihm sein Giescbick geweissagt wird , fehlt. 
TJnd wenn im Lateiner diese offenbare Naht der Komposition darch 
den eingeschobenen Satz , donee pervenias ad martyrii trinmpbalem 
coronam“ verdeckt hat, so kann icb das nach wie vor trotz des 
Einspruebs von W. Meyer (757) nnr fur einen Beweis balten, dad 
L an diesem Pnnkt gegeniiber G seknndar ist ’). 

Ahnlich, wenn auch nicht so schlimm, steht es mit dem Zusam- 
menhang zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Legende. 
Hirscblegende und Anagnorismos sind zwei Erzahlungen, die docb 
eigentlich rein gar niebts mit einander zn tun baben. Sie liegen 
auf das Ganze gesehen schon in anderer Hobenlage. Icb wiirde 
die eine Erzahlung so wie sie vorliegt, eine Legende, die andere 
ein Marcben nennen. Sie sind nnr auBerlich als Erlebnisse des- 
selben (erdichteten) Helden zusammengebraebt. Aucb bier liegt 
eine deutlicbe Naht zwischen den beiden Gescbichten, Es wird 
namlich in der Legende erzablt, daB Placidas nach seiner Bekeb- 
rong durch die wunderbare Ersebeinung des Hirsches und nach 
seiner Tanfe noch einmal an den Ort gekommen sei, wo er den 
Hirsch zum ersten Mai erblickt, und daB er nun die Weissagung 
Tiber sein kiinftiges Geschick erhalt, durch welche das Wieder- 
erkennungsmarcben eingeleitet wird. W. Meyer fand freilich bier 
die Darstellung der Legende gut motiviert^). Es sei menschlich 
und selbstverstandlich, daB Placidas zum Ort seiner Bekebrnng 
zuriickkebre, so wie „zwei gliicklich Vereinte den Ort aufsuchen, 
wo sie sich zuerst gesehen, oder zuerst gekuBt baben “. Icb fiirchte 
wirklicb, daB bier denn docb ein wenig zu viel zwischen den Zeilen 


1) W. Meyer will eine Andeutung auf das Martyrium freilich auch in G 
in der Wendung xo[ji'Ct, tcv ar^tpavov rij; vixir,; finden, Notwendig erscheint mir 
das nach dem Zusammenhang, in welchem eben nur von der Restitution der Fa- 
milie die Rede ist, nicht. Wenn Wilhelm Meyer Recht hat, so wiirde ich urteilen, 
daB in G ein feiner, in Lat ein groberer Versuch vorliegt, die Naht der ur- 
spriinglichen Erzahlung zu verdecken. M. E. liegt bier nur eine Reminiszonz an 
Jak. 1 12 vor (ij-ax^pio; dvf,p, S; h-otJievEt jTEtpaOfiov, oxt 8oxijj.o; yEvojxEvos XfjiJjExai xov 
ax^tfovoM xfj? Zvifis), die sich auch ganz allgemein auf den Lobn der Standhaftig- 
keit des Placidas im Leide beziehen lafit. 

2) Ich sehe bier von unserer Differenz in der Beurteilung der Fassungen 
von G und L ah. 



706 Wilhelm Bousset, 

gelesen ist. In der einfachen Angabe des Lat., ubi apparuerat 
ei dominns Christns, vermag ich nichts davon za entdecken ; und 
sehe in alledem nnr einen Redaktor, der den Placidas noch. 
einmal an Ort nnd Stelle erscheinen la6t, damit nan durch. die 
Weissagung zn dem Wiedererkennungsmarchen iibergeleitet werden 
kann. 

So wlirde ich die Placidas-Legende ansehen, anch wenn iiber- 
hanpt keine Parallelen zu ihr vorliegen. Ron aber entspricht 
diesem Urteil der Tatbestand dieser Parallelen in ausgezeichneter 
Weise. Wir finden jene beiden Erzahlungen, die Legende nnd das 
Marchen, die nnser Redaktor znsanunengewoben hat, beide als 
Sonderexistenzen in einer ungemein weitverzweigtenUberlieferung'). 
Ja es ist geradezu erstaunlich, da6 abgesehen von den direkten 
Bearbeitnngen , Ubersetzungen , TJmdichtnngen nnserer Legende in 
der ganzen Masse der Parallelen im weiteren Sinn — mit einer 
oder zwei Ausnabmen *) — die beiden hier vereinten Grlieder der 
Erzahlnng immer nnr gesondert auftauchen. 


1) Fur die Hirschlegende, dercn genauere Untersuchung aufzunehmen ich 
nicht in der Lage bin, vcrweise ich noch eiamal anf die von mir im ersten Ar- 
tikel S. 470 erwiihnten Versuche des Nachweises indischen Ursprungs, die ich al- 
lerdings bis jetet fiir gewagt halte, und besonders aul C. Psclimadt, die Sage 
von, der verfolgten Hindin. Greifswald (Dissert.) 1911. Da6 wir es hier mit einem 
weitverbreiteten Motiv der verfolgten Hindin, des verfolgten Hirsches zu tun haben 
liegt auf der Hand. (Ich verweise noch in aller Kiirze auf die Grimmschen Miir- 
ohen Jfr. 9 „die 12 Bruder“ [zum SchluB der Erzahlung vgl. Pschmadt 101], 
Nr. 49 „die sechs Schwane“ [Anbang] und Kr. 60, Reklam-Ausgabe S. 295). Es 
wurde die Frage zu erheben sein, ob nicht auch die speziellere Form, in welcber 
uns diese Erzahlung in der Placidas-Legende entgegentrht (Pschmadt Typus II, 
1. S. 45 ff.) Tom Verfasser dieser Legende nicht komponiert, sondern nur iiber- 
nommen sein konnte. Ich verweise im Voriibergehen auf eine Beobachtung. In 
G wie in L wird namlich erzahlt, daB der dem Placidas erscheinende Hirsch ein 
hellstrahlendes Kreuz auf seinem Geweih getragen babe und dazu das Bild des 
Erlosers mitten zwischen den Hbrnem. (In G spricht dann der Erloser durch 
den Hirsch, in L heiBt es: (salvatoris), cuius vocem audivitj. Die Verdoppelung 
des Motivs ist auffallig und wiederholt sich, soweit ich sehe, in keiner der selb- 
standigen Parallelen (vgl. Pschmadt S. 48. 52. 54. 63 f.). Zugleich ist die Iler- 
kunft des Doppelmotivs in unserer Legende deutlich: Nicht nur das lichtstrah- 
lende Kreuz, sondern das heilige Bild des Erlosers selbst erscheint dem Jager. 
Die Placidas-Legende in GL — wir erhalten damit einen terminus a quo 
fiir ihre Abfassung stammt aus derZeitgesteigerterBildverehrung. 
Ihre gegenwartige Form ist also siclier sekundar. Es bleibt ja moglich, daB jene 
Parallelen (Hubertus, St. Meinulf, Felix und Valois) auf eine altere Fassung un- 
serer Legende zuriick-gehen konnten. 

2) Vgl. ineinen ersten Artikel S. 550. 



Wiedererkennungsmarchen und Placidas-Legende. 


707 


GewiB, das konnte ein Zufall sein. A priori laBt sich die 
Moglichkeit nicht bestreiten, da(5 sich die einzelnen Stiicke unserer 
Legende, die so anfierlich mit einander verbunden waren, wieder 
abgelbst batten und so weitergewandert waren. Aber e.^ ware 
ein merkwurdiger Zufall *) , und ich meine, dad wer diesen postu- 
lieren will, sebr starke Grriinde wird aufbieten miissen. 

II. 

Doch das iiberhebt uns ja nicht der Untersuchung im einzelnen, 
und diese muB also nock einmal aufgenommen werden. Ich hatte 
in meiner Abhandlung die Abhangigkeit der mittleren Partie der 
Placidas-Legende (des Wiedererkenuungs-Marchensl von einem 
orientalischen Marchenkreis behauptet, dessen Glieder in armeni- 
scher, jiidischer, arabiscber (1001-Nacht) und berberischer IJber- 
lieferung vorliegen. Auch W. Meyer erkannte an, dafi diesen 
Erzahlungen trotz aller Variationen im einzelnen ein noch deut- 
lich erkennbares gemeinsames Urbild zu Giunde liege, das mit 
der Placidas-Erzahlung eng verwandt und vergleichbar sei. Er 
drehte jedoch seinerseits (mit Monteverdi) das Abhangigkeitsver- 
haltnis um, leitete diesen ganzen Typus aus dem Mittelstuck des 
Placidas ab und suchte ihn als Abwandlung von dorther zu be- 
greifen. 

Ich mochte im folgenden zunachst dagegen nachweisen, da6 
sich mit groBer Wahrscheitilichkeit gerade fiir das sekundarste 
Stiick jener Erzahlungsfamilie eine Datierung nachweisen laBt, 
die fiir W. Meyers Konstruktion zum miiidesten eine erhebliche 
Schwierigkeit bedeutet. 

Es handelt sich um die jlidische Erzahlung Xr. 4 meiner Samm- 
lung, die uns in einem interessanlen Abschnitt der jdngercn (agyp- 
tischen) Rezension von 1001-Xacht aufbewahrt ist. Dieser tragt 
dortdie Uberschrift Igtirar, die triigerische Welt, und enthalt einen 
Kranz gleichartiger kleiner Erzahlungen, die zumeist aus einem 
ausgesprocheri judischen Milieu stammen. Ich bin darauf schon in 
meinem ersten Aufsatz eingegangen und habe an der Hand von 
Gasters und Perles’ verdienstvollen Nachweisen darauf aufmerksam 
gemacht, wie Parallelen zu eiiier ganzen Reihe dieser Erzahlungen 

1) AnJrerseits liegeu zahlreiche Beispiele derartiger Legondenklitterungen 
vor. Reitzenstein vsiweist micli auf die neuen XaLliweise vou L Radermacher 
Hippolytus uud Thekla (^itz.-Ber. d, Akad. d. 'Wisbensdi , Wien I'JlC, Bd. 1''52, 3), 
liber die Koraposition der Tbekla-Akten. Ferner auf die Arbeit Rabboivs liber 
Maitiuian, Wiener Studien If, 131)5, S. 2.53 if. Vgl. dazu Reitzeustein, Hist. Lan- 
siaca und Momu boruin S -oti. 



708 


Wilhelm Bousset 


bereits in der miscbnaisch-talmudiscben Literatur des Judentums 
begegnen (S. 483 — 487 ^)). 

Fiir die Bestimmung des Alters nnserer Sammlung ist es ferner 
beacbtenswert, dab sich in ihr (neben einer Erzablung von Alexander 
dem (iroBen, mit dessen Gestalt sich das Jadentum mit Vorliebe 
beschaftigte) eine Anekdote von dem Sassaniden Chosroes Anu- 
shirwan findet. Geschichten, die von den Chosroiden handeln, tau- 
chen zwar anch sonst in 1001-Nacht anf , z. B. in der Anebdoten- 
sammlnng in der Ubersetznng von Henning VIII 46 (voq Anu- 
schirwan), VIII 50 (von dessen Enkel). Aber hier stehen sie dock 
nnr vereinzelt unter einer Reihe von Anekdoten von Herrschern 
ans der OmajSden- and Abassiden-D 3 mastie, die in nnserer Samm- 
lung ganzlich fehlen. Es finden sich allerdings weiter in unserer 
Sammlung zwei spezifisch islamische Bekehrnngslegenden , deren 
eine in die Zeit des zweiten Khalifen Omars und der Belagernng 
von Damaskus verlegt ist. Ganz ohne islamische Abstempelung ist 
also diese Sammlung judischer Geschichten nicht vom Islam uber- 
nommeu. Aber es scheint doch manches dafiir zu sprechen, dab 
hier eine altere jiidische Anekdoten- Sammlung in der Friihzeit des 
Islam von diesem ubernommen ist, um dann spater in die grobe 
Sammlung von 1001-Nacht anfgenommen zu werden*). 

Fiir diese Vermutung labt sich nun ein auberes Zeugnis er- 
bringen. Es ist das Verdienst Victor Chauvins, dessen einschla- 
gigen Artikel*) ich noch nicht kannte, als ich meinen ersten Ar- 
tikel in dieser Frage veroffentiichte, darauf hingewiesen zu haben*). 
Ein arabisches Werk „A1 tibr al masbuk“ (Ausgabe von 1306) 
schreibt ausdrucklich die erste Erzahlung (Legende vom Konig und 
Tod) in nnserer Reihe dem aus dem Judentum stammenden Islamiten 
Wahb ibn Munabbih zu. Von diesem Wahb ibn Munabbih wird 
ferner sehr haufig ein Werk, „Liber rerum Israeliticarum* (Chau- 

1) Ich mache hier uebenbei auf uie interessante Parallele, die sich zu Xr. 11 
(Ein Schmied, der die Gabe hat feurige Kohlen anfassen zu kbnnen) in Rufins 
Hist. Monach. c. 15 (Apelles) findet, aufmerksam. Vgl. jetzt auch die Parallelen 
zu unserer Sammlung bei J. bin Gorion, der Born Judas 1917, 114. 117. 365. 

2) Es ware sogar, wie ich jetzt sehe,' moglich, dafi die islamis%hen Bekeh- 
rungsgeschichten Ummodelungen von judischen Tendenzerzahlungen gewesen sein 
konnten, die naturlich bei ihrer Aufnahme in 1001-Xacht umgcwandelt werden 
muBten. Die erste derselhen, der moslemische Held und die Christin, hat eine 
merkwiirdige Parallele in der judischen Geschichte „eine Bekei;rung“ ; Born Judas 
S. 128. 

3) Vgl. Bibliotheque de la faculte de philosophie et lettres de Liege VI 1899; 
La recension egvptienne des Mille et une nuits. 

4) Chauvin p. 31 u. 59. 



Wiedererkennungsmartlien und Placidas-Legende. 


7U9 


vin: Choses d’Israel) zitiert. Chauvin ist nun der Ansicht, dad 
es sich bei jener Notiz des A1 tibr al masbuk nnr um dieses Werk 
des Wabb ibn M. handeln konne, und stellt deshalb bei seinem 
Versucb der Rekonstruktion desselben samtliche acbtzehn Erzah- 
lungen unserer lOOl-Nacbt-Sammlnng in dieses ein (p. 59if.). Wabb 
ibn Munabbib ist nacb der tlberlieferung 90 Jabre alt im Jabre 
728^) oder etwas spater gestorben; er war selbst Konvertit oder 
Sobn eines zum Islam iibergetretenen Juden, Verfasser zablreicber 
Werke, unter denen das eben erwahnte vielfach zitiert wird (Chau- 
vin 50 — 53). Da er schwerlich seine Schriften im hochsten Alter 
gescbrieben hat, so wird jene Sammlung jiidischer Erzahlungen, 
als deren Auszug Chauvin die Sammlung in 1001-Nacht betrachtet, 
etwa um 700 existiert baben. Das stimmt alles so gut zu dem 
Befnnd unserer Sammlung selbst, dab ich nicbt anstehe, Chauvins 
Kombination fiir zum mindesten recbt wahrscheinlicb zn halten. 

Ist das aber richtig, so wiirde W. Meyers Konstruktion der 
Abhangigkeitsverbaltnisse fiir die Zeugen unserer tlberlieferung, 
wie er sie S. 767 entwickelt, bereits von starken, ja uniiberwind- 
licben Schwierigkeiten bedriickt sein. Nacb seinen Ansatzen soil 
namlich die urspriingliclie lateiniscbe Fassung der Legende etwa 
im 6./6. Jahrhundert entstanden sein, die Urform dann vor 700 
eine Umarbeitung, wahrscheinlicb zunachst in griechischer Sprache 
(6) erfahren baben. Aus diesem griechischen Text babe sicb dann 
diemittlere Partie losgelost, und sicb, wiederum verwandelt, „durcb 
verscbiedene Lander Asiens bis nacb Indien verbreitet“. 

Nun repriisentiert aber die jiidiscbe Erzahlung der 1001-Nacht 
der ganzen Anlage nacb fast das jungste und sekundarste Glied 
der in Betracbt kommenden Familie. Denn in dieser stellen die 
beiden jiidischen Erzahlungen (Nr. 3 und 4 meiner Liste) bereits 
einen besondern Untertypus dar (Motiv des Versprechens , nie- 
mals einen Eid abzulegen, dadurch herbeigefiihrte Verarmung des 
Helden). Und im Vergleich mit der Erzahlung Nr. 3 ist wiede- 
rum die in 1001-Nacht erhaltene (Nr. 4) weniger urspriinglich 
(ganzHches Verscbwinden des Flufiuhergangs, des Cbarakteristi- 
kums T^pserer ganzen Erzahlungsreihe, Ersatz durch das gelaufige 
Motiv des SchifFbruchs). 

Zwischen der Placidaslegende und unserer jiidischen Erzahlung 
wiirden also nacb der Konstruktion von W. Meyer folgende Etappen 
liegen : 1) lat. Legende im 5./6. Jahrhundert, 2) griecbiscbe Um- 
arbeitung (vor 700), 3) Losldsung der mittleren Partie der Le- 


1) Ygl. auch Brockelmann, Geschichte der arabisclien Literatur, I 65. 



710 


Wilhelm Bousset, 


gende, 4) Umarbeitung zu dem Marchen, wie es in dem Archetypus 
der orientalischen Grappe vorliegt, 5) Entstehung des judischen 
Typus, 6) Sekundare TJmarbeitang dieses Typus, 7) Aulnahine der 
so entstandenen Gescbichte in ein Sammelwerk, das wenn Chauvins 
Kombination richtig ist, aus dem ersten Jahrhundert des islami- 
schen Zeitalters stammt. Ich meine, da wird der zur Verfiigung 
stehende Zeitranm fiir alle diese Wandernngen und Wandelungen 
sehr knapp, selbst wenn man den Zeitansatz fiir die griechische 
Umarbeitung der Legende moglicbst nahe an den terminus a (juo 
(Zeit der Abfassung von L) heranriicken wiirde. Denn andrerseits 
wird man, .nach dem was oben S. 706 Anm. 1 iiber den terminus a 
quo der Legende ausgefiihrt ist, kaum geneigt sein, weit iiber das 
sechste Jahrhundert mit ihr hinaufzugehen. — Somit ergibt sich 
schon hier eine starke Wahrscheinlichkeit fiir die Behauptung, dafi 
als unsere Placidas-Legende entstand, bereits ein Wiedererken- 
nungsmarchen des orientalischen Typus im Umlauf war. 

III. 

Viel entscheidender ist freilich fiir unsere Untersuchung die 
Frage, ob W. Meyer mit seiner Beurteilung der indischen Paral- 
lelen unseres Erzahlungstypus im Recht ist. Es handelt sich hier 
in erster Linie um die Patacara-Legende. Hier bin ich nun zuniichst 
Wilhelm Meyer zu besondrem Dank fiir das Material verpflichtet, 
das er p. 770 ff. zur Gescbichte der Patacara-Legende beibringt. 
Ich lerne von ihm, da6 man mit den weseiitlichen Ziigen der Le- 
gende iiber Buddaghosa und Dhammapala (5./6. Jahrh.) bis zum Apa- 
dana (vor dem 2. Jahrh. nach Christus) hinaufgehen kann , und 
da6 eine eng verwandte Rezension im tibetischen Kandjur (Dsang- 
lun) existierte. Um so mehr bedaure ich, auch hier in der Beur- 
teilung des Tatsachenmaterials von ihm abweichen zu miissen. W. 
Meyer leugnete kurzer Hand (S. 775) jegliche Beziehung der Pate- 
caralegende zu unserm Marchenkreis und ist der Meinung, daB die 
von Gaster, Ogden, Garbe u. a. aufgeste.llte Behauptung einer ver- 
wandtschaftlichen Beziehung bloBe Vermutung sei. Ich meine aber 
doch , da6 bei dieser Beurteilung dem Zufall etwas reichiich viel 
zugetraut soi. Ich will noch kein solches Gewicht darauf legen, 
daB beide Male eine Familie, die genau aus Vater und Mutter und 
zwei Kindern (Sohnen) besteht , auf einer Reise ein MiBgeschick 
ereilt, das sie alle von einander trennt, resp. der Frau ihre Lieben 
durch den Tod nimmt. Entscheidend scheint mir aber zu sein, 
daB sich hiiben und driiben das Motiv des FluBiibergangs findet. 
bei dem beide Kinder genau in der Weise verloren gehen, wie es 



Wiedererkennungsmarchen und Placidas-Lcgende. 


711 


bei zahlreichen besten Zeugen unseres Uberlieferungskreises er- 
zahlt wird, namlich so, dab das eine von einem Tier (Habicbt 
Schakal) geraubt wird, das andere in den Flub fallt. Ich vermag 
es nicht fiir wahrscheinlich zu halten, dab die menschliche Phan- 
tasie zweimal durcb Zufall eine derartige ganze Reihe von IJber- 
einstimmungen geschaffen haben sollte. 

Ich batte im Anschlub an Gaster die Vermutung ausgesprochen, 
dem Verfasser der buddhistischen Legende babe eine alte volks- 
tiimlicbe Erzahlung vorgelegen, diese babe in Folge bnddhistiscber 
Tendenz ihre zweite Halfte (das Wiederfinden) verloren, und auber- 
dem sei, weil es sich um Verherrlichung einer Scbulerin Buddhas 
handle, eben die Frau an Stelle des Jlannes getreten. W. Meyer 
wendet S. 775 zwar ein: „Wesbalb hat er (der buddhistische Dichter) 
sein Vorbild verdreht? War denn die tragische Wirkung der Pata- 
cara-Geschichte nicht genau dieselbe, wenn Patacara . . . mit- 
erlebte, wie der Vater versuchte, die beiden Kinder iiber den 
gefahrlichen Strom hiniiber zu tragen, wie dann beide durch wilde 

Tiere oder Wassergewalt vor ihren Augen verungluckten 

u. s. w.“ Ich meine doch, dab die Umwandelung gerade an diesem 
Punkt eine durchaus notwendige war. Die ganze markante Szene 
des Flubiibergang ist einfach nur dann denkbar, wenn nur eines 
von den Eltern bei den Kindern war, entweder der Mann oder 
die Frau. Sollte die Frau die Heldin der Legende werden, so 
mubte der Mann verschwinden. Ich kannte bisher nur ein Bei- 
spiel in der weitverzweigten tJberlieferung , bei dem alle vier 
Glieder der Familie beim Ubergang beteiligt waren (Nr. 1 nach 
meiner Zahlung im ersten Artikel). Ein zweites und drittes hat 
W. Meyer beigebracht (S. 781. 784). Man sehe sich aber die Er- 
zahlungen an: wie sehr ist hier der einfache Wurf des Haupttypus 
verdorben oder ganzlich umgemodelt! 

Und da sich also auch die Abweichungen der Patacara-Le- 
gende von dem Haupttypus durch die Annabme einer buddhisti- 
schen Tendenz restlos erklaren, so fallt auf die Ubereinstimmungen 
um so starkeres Gewicht. Ich glaube nicht, dab man so einfach 
an ihnen voriibergehen und dem Zufall hier das Spiel hberlassen 


Besonders dankbar bin ich W. M, fiir die Nachweise, die er 
fiir die Verbreitung unserer Erzahlung in Indien in spaterer Zeit 
erbracht hat. Uber die beiden Geschichten aus Kaschmir und 
Pendschab, die ich nur aus Ogdens Andeutungen kannte and die 



712 


Wilhelm Bousset, 


aufzntreiben ich mich vergeblich bemiilite, bringt er erscbopfende 
Nacbweise; er gesellt sogar zwei neue Fassnngen* hinzu : eine bu- 
gische, deren Heimat die siidwestlicbe Halbinsel von Celebes ist, 
und eine malaisch-siamesiscbe, mit ihr eng verwandte. 

AUerdings bringt er den gesamten StofF, nm endgultig mit der 
etwa noch vorhandenen Moglichkeit altindischer Uberliefemng auf- 
zuranmen. „Diese beiden Fassangen sind erst im Ende des vo- 
rigen J ahrhunderts aus dem Mand von Indern aufgezeiclmet worden. 
Sie sind also nicbt altindiscb, sondern modern". „Ich glanbe K. 
und P. sind in vielen Stiicken Fabrikate des 19. Jahrhnnderts". 
Er bezeichnet meine Vermutnng, da6 die von Ogden am Kaschmir 
und Pendscbab nachgewiesenen Marcben mit leichter TJmwandelung 
wahrscheinlich direkt der alten indiscben, vorbuddhistischen Volks- 
erzablnng entstammten, als „etwas voreilig und ungliicklich". 

Ich mu6 nun freilich gestehen, da6 ich den nun vorliegenden 
Befund als meiner Vermutnng durchaus nicht nngiinstig ansehe. 
Auch vermag der wiederholte Hinweis daranf, dab die betreffende 
Erzahlung erst im 19. Jahrh. anfgezeichnet sei (vgl. anch die Be- 
merkung S. 763 (,armenisch, um das Jahr 1850 anfgezeichnet . . . 
bei den Kabylen um 1893 anfgezeichnet") nicht sonderlich iiberzen- 
gend auf mich zu wirken. Ebensowenig, wie etwa die Bemerknng, 
dies und jenes deutsche Marcben sei von den Briidem Grimm erst 
im Jahre 1812 anfgezeichnet, mich in meiner Uberzeugnng , ein 
altes primitives Marchen vor mir zn haben, wankend machen wiirde. 

Doch ich beginne — dankbar fiir den nenen schonen beige- 
brachten Stoff — die Untersnchnng im einzelnen. Znnachst lafit 
sich mit leichter Miihe feststellen, dab die vier — wieder paar- 
weise — znsammengehorigen Erzahlungen (W. Meyer 776 — 786) 
an demselben Ast des weitverzweigten Banmes nnserer Uberlie- 
ferung gewachsen sind. Ich hebe nnr wenige entscheidende Ge- 
sichtspunkte hervor. In alien vier Geschichten ist der Held ein 
Konig (oder ein Fiirst, Baja u. dergl.), wird er, nachdem er all 
das Seine verloren hat, von einem Elephanten (Elephant nnd Fal- 
ken) znm Begenten gekiirt nnd gekront; in alien vieren ist die 
Geschichte vom Flnbiibergang eigenartig — weim anch wiederum 
in verschiedener Weise — eutstellt, bleiben die beiden Knaben nn- 
getrennt (eine Veranderung, welche die Komposition der Erzah- 
Inng stort s. u.), werden von einem Fischer (Wascher) aufgefischt 
und spater dem Konige zngefiihrt ; in alien vieren klagt die Mntter 
nach der Wiedererkennung ihre Sohne falschlich an , nm so das 
entscheidende Gericht nnd die endgiiltige Wiedervereinigung der 
ganzen Familie herbeizufiihren. 



Wiedererkennungsmarchen nnd Placidas-Legende. 


713 


Dann aber konnen wir nanmehr eine waiter e Wandernng un- 
serer Erzahlung vom Pendschab und von Kaschmir iiber Siam bis 
nach Celebes und dem malayiscken Archipel nacbweisen. Wir 
stoBen fiir alle vier Erziihlungen — keine ist als die Quelle der 
ubrigen anzuseben — auf einen gemeinsamen Arcketypus, der dock 
wokl um manchos Jahrhundert kinter dem „19. Jakrkundert“ zu- 
ruckliegen dttrfte. Hat dock "W. Meyer selbst (783 3 ) in dem ma- 
layiscken Marcken die Entstellung eines altindiscken Stadtenamens 
angenommen. 

Lebrreiclf sind aber auch in mancher Hinsicht die vielen Ab- 
weichungen und Willkurlickkeiten der einzelnen Erzakl ungen. 

Ich beginne mit einer der wichtigsten Umgestaltungen unseres 
Marckens, in welckem die beiden Fassungen aus Kaschmir und 
dem Pendsckab ubereinstimmen. In beiden ist die Erzaklung vom 
FluB-TJbergang mit einem fremden Motiv verwoben und dadnrck 
entstellt: der Vater wird bier bei dem Versnch, auch den zweiten 
Sohn hinuberzutragen , von einem Fischungetiim resp. von einem 
Alligator verscklungen. Das FluB-Ungehener wird dann gefangen, 
geschlachtet nnd der Held der Erzahlung so aus dessen Bauch 
befreit. — Es scheint gewagt, iiber die Heimat und Herknnft dieses 
neuen, in der ganzenWelt in dieser oder jener Gestalt verbreiteten 
Motivs ein Urteil abgeben zu wollen. Es mag aber darauf hin- 
gewiesen werden, da6 H. Schmidt') in seiner breit angelegten 
Untersuchung zu dem Urteil gelangt, da6 die Heimat derselben 
„an'den Kttsten und auf den Inseln der Meere des siidlichen Asiens 
zu suchen ist“ ^). Wichtiger nock scheint mir der Tatbestand zu 
sein, da6 die spezielle Ausgestaltung unseres Motivs gerade auf 
indisckem Boden lokalisierbar ist. Bei Schmidt S. 137 If. finde ich 
nickt weniger als drei Erzahlungen, in denen der Fisck den Helden 
versckluckt, dann gefangen und aufgeschnitten wird®). — Die Um- 
wandelung unserer Erzahlung, die Einfiigung des fremden Mo- 
tivs in den Arcketypus von K. P. diirfen wir also mit groBer 
Wahrscheinlichkeit in Indien lokali sieve n. 

Und an diesem Punkt taucht nun eine hockst interessante und 


1) Jona, eine Untersuchung zur vergleichenden Keligions-Geschichte, 1907, 
Forsch. z. Rel. u. Lit. d. A. u. N. Test. Heft 9 (I. Serie). 

2) a. a. 0. S. 155. 

3) Schmidt S. 137 — 139. Die erste steht im 25. Kap. des Kathasaritsa- 
gara des Somadeva. — Besonders mache ich noch auf die Erzahlung yom „Prinzen 
Tref0ichst“ (Dttamacaritrakathanakam) aufmerksam, weil in ihr auch ein anderes 
Motiv unseres JErzahlungskreises „Ranb der Frau dutch den bosen Schiffsherren" 
auftaucht. 



714 


Wilhelm Bousset 


weit abgelegene Parallele zu unserer Uberlieferung in K. und P. 
anf ! In einem Marchen ^), das sich in Befiarabien bei einem eine 
tiirkische Mnndart sprechenden Stamme erhalten hat, nnd das mit 
Sicherheit unserm Kreise angehort, findet sich der FluBubergang 
folgendermaBen erzahlt: Sie kamen an einen FluB, der Vater machte 
eine Schankel nnd setzte eins der Kinder hinein, das andere aber 
schleppte ein Wolf weg. Der Vater Bel ins Wasser, und ein Fisch 
verschiang ihn. — Man konnte bei den starken Variationen noch 
zweifeln, ob hier wirklich direkte Beziehungen vorliegen, zumal 
die beBarabische Erzahlung von der indischen auch darin abweicht, 
daB sie den Vater anf dessen Bitte vom Fische ansgespieen werden 
laBt (Jonasmotiv). Aber alle Zweifel verschwinden, wenn wir nun 
in der beBarabischen Erziihlung weiter horen, daB in dem betref- 
fenden Lande gerade Konigswabl war nnd der Vater von einem 
Vogel, der s’oh anf dessen Kopf setzt, znm Konig gekiirt wird. 
Bei dieser Hanfung der verwandten Motive scheint jeder Zufall 
ausgescblossen. Es muB eine direkte Verbindung zwi- 
schender tiirkischen und der indischen Uberlieferung 
vorliegen. Und wenn wir so die Wahl haben, dtirfte doch wohl 
die Prioritat bei der indischen Erzahlung liegen. Aber wie scblagen 
wir die Briicke zwischen Kaschmir und Pendschab anf der einen 
Seite, BeBarabien auf der andem Seite? Eine Vermntung mag 
hier wenigstens schon ausgesprochen werden. Wir wissen jetzt, 
daB indische Kultnr bis etwa zum elften Jahrhundert in starkster 
Weise bis nach Ost-Turkestan hinubergewirkt nnd ihren EinfluB 
auf die dort vorhandene tiirkisch-uigurische Kultnr ausgeiibt hat. 
Sollte damals vielleicht unser Marchen in seiner speziellen nord- 
isdischen Gestalt das tiirkische Milieu erreicht haben und dann 
von einem turbischen Stamm bis nach BeBarabien gebracht sein? 
Wir kommen auf dieses Thema noch einmal zuriick, zumal jene 
tiirkische Erzahlung keineswegs alleinsteht, sondern einem groBen 
Kreise verwandter Erzahlungen angehort, die wir weiter unten 
bespreche*^ werden. 

Andrerseits zeigen wiederum die bugische nnd die malayisch- 
siamesische Fassung gemeinsame starke Abweichnngen. Ganz neu 
und eigentiimlich ist hier die Erzahlung vom FluBubergang aus- 
gestaltet. Es scheint hier eine rationalisierende Erfindnng des 
Verfassers des Archetypus dieser Gruppe vorzuliegen. 

Ihren Charakter aber erhalt die malaisch (siamesisch)-bngische 


1) S. die Sammkmg you W. Ludtke (im folgenden Artikel) Nr. 7 : dort auch 
die genaueren Angaben, uber Herkonft und Uberlieferiaig. 



Wiedererkennungsmarchen nnd Placidas-Legende. 


715 


Fassung offenbar durch die Verwebnng nnserer Erzahinng mit dem 
Tarteltaubenmotiv : die Familie wird zur Strafe daftir getrennt, 
da6 der Vater dem jiingeren Sohn auf dessen Wunsch junge Tur- 
teltauben aus dem Nest holt ond diese von ihren Eltern trennt. 
Dazn weifi ich vorlaufig nichts zu bemerken. Hochinteressant aber 
ist der Anfang der bugischen Erzahlong, eine weitere Aus- 
schmiicbnng, die wohl nur durch oberflachliche Assoziation (ad vo- 
cem Turteltaube) hierhergeraten ist. 

„In seinem Garten sieht der Kbnig eine Turteltaube und holt 
sie mit dem Blasrohr herunter. Sie bittet, sie wolle ihm drei gute 
Lehren geben, wenn er sie frei lasse. Doch vom sicheren Baum 
herunter nennt sie ihn einen Dummkopf. Drei Tage verfolgt er 
sie und zerreiBt Kleidnng und Leib ; doch er bekommt nur neuen 
Spott zu hbren“ *). Von der albernen Fortsetznng, durch welche 
in der bugischen Fassung dies Motiv mit der Haupterzahlung ver- 
kniipft ist — der Konig wird wegen dieses dummen Streiches ab- 
gesetzt — konnen wir fiiglich absehen. Aber das verdient her- 
vorgehoben zu werden, dafi uns die bugische Fassung hier eine 
kostbare Reliquie aufbewahrt hat. Denn das Marchen, das uns 
hier im Auszug erhalten ist, ist offenbar identisch mit der be- 
kannten Parabel vom Vogelsteller und Vogel, das uns in ausfuhr- 
licher Gestalt im Roman Barlaam und Joasaph*) entgegentritt. 
Fiir dieses Marchen geniigt es, auf die Ausfiihrungen und Lite- 
raturangaben bei Benfey Pantschatantra I 380 f. und Kuhn (s. u. 
Anmerk. 2) hinzuweisen ®). Beide kommen zu dem SchluB, daB die 
Urgestalt der Erzahlung in Pantschatantra III 13 zu suchen sei. 
Doch ist Barlaam und Joasaph der alteste Zeuge fiir die bestimmte 
Fassung, die fiir uns in Betracht kommt (Kuhn 75). Es darf viel- 
leicht noch hervorgehoben werden, daB in einer interessanten Hand- 
schriftengruppe der 1001-Nacht sich eine fast wortliche Paral- 

1) Nach W. Meyer 781. 

2) Vgl. Vita Barlaam et Joasaph Migne Patr. Graeca 96. c. 10. Sp. 941. — 
liber die Parallelen in den orientalischen Uberlieferungen des Rdinans s. Eubn 
Abb. d. Bair. Akad. philol.-histor. Kl. XX, I, S. 21. — An der oben festgestellten 
Identitat ist kein Zweifel moglich; die „drei guten Lehren“ werden hier tatsach- 
lich gegeben. 

3) Vgl. aucb Chauvin, Bibliogr. des ouvrages arabes III 103. (VI 110). 

4) In Betracht kommen die Handschriften Paris 1723 (Chavis-Cazotte), Hand- 
schrift von Beirdt (in der Beiruter Ansgabe von Salhani Bd. V. Supplement be- 
nutzt) und Gotha 2562. — fiber diese s. V, Chauvin Bibliogr. des ouvrages arabes 
p. 199. 202. 204. Es ist die Handschriftengruppe, die uns unter anderm auch die 
arabische Gestalt der Achikar-Novelle (Erzahlung vom weisen Heikir) mit ihren 
ansgesprochen indischen Motiven erhalten hat. 

Kgl. Oes. d. Wits. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1917. Heft S. 48 



716 


Wilhelm Boasset, 


lele za der Barlaam Joasaph-Parabel findet, in ;,der Greschichte 
des Vogels mit dem Vogelsteller“ (Reklamiibersetzung von Hen- 
ning XXII 118 ff.)- — Nnn liefert nns die bugische Erzahlung mit 
jener Parabel-Reliqnie den kostbaren Nachweis, da6 die Barlaam- 
J oasaph-Parabel in d i e s e r Gestalt wirklich bereits auf indischem 
Boden vorhanden gewesen ist. Denn nur so erklart sick die Uber- 
einstimmnng zwischen diesen entlegenen Zeugen. 

Die malayisch-bugische Passnng hat nns am SchluB noch eine 
Answeitung der Erzahlung erhalten, die mit dem Hauptstrang der 
Erzahlung allerdings in hochst torichter Weise verkniipft ist. Denn 
wahrend bei den andem indischen Zeugen durch die List der 
Mutter (falsche Anklage gegen ihre Sohne) sofort die endgiiltige 
Entscheidung und die Wiedererkennung der gesamten Familie her- 
beigefiihrt wird , werden bier wider alles Erwarten die Sohne 
durch ein vorschnelles Urteil zum Tode verurteilt. Aber durch 
das Auftreten von 3 Henkern oder 4 Torwachtern, die nach der 
Reihe ihre warnenden Erzahlungen gegen ubereiltes Handeln vor- 
tragen, wird ein Aufschub erwirkt, bis endlich eine ordentliche 
Untersuchung die Unschuld der Jiinglinge an den Tag bringt. 
W. Meyer hat S. 785 die dritte der malayischen Torwarterge- 
schichten, die sich in der bugischen Passnng nicht findet, skizziert. 
Es i%t die Geschichte vom zahmen Wiesel, das, um zwei Wiegen- 
kinder zu erretten, eine Schlange tot beifit, von den Eltern wegen 
seiner blutigen Schnauze fiir den Morder der Kinder gehalten und 
erschlagen wird. Diese Noliz hilft uns, die Herkunft jener ganzen 
Interpolation von den Henker- oder Torwartergeschichten einiger- 
mafien ins Licht zu stellen. Das f unite Buch des Pantschatantra 
beginnt (Benfey II 321) mit Erzahlungen, die den Spruch illu- 
strieren sollen: „Was nicht genan gesehn oder gehort, erknndet 
und gepriift, das vollziehe ein Mensch niemals“. Als zweite Er- 
zahlung finden wir hier die der unsrigen genaue Parallele: die 
Brahmanin und das Ichneumon. Die Variante — hier Ichneumon 
dort Wiesel — ist nicht uninteressant. Denn nach Benfey I 479 
teilt unsere Erzahlung den Zug mit dem siidlichen Pantschatantra 
(Dubois), der arabischen Rezension und dem Hitopadesa *). Auch 

1) In der Sanskritrezension gilt auBerdem ganz marchenhaft das Ichneumon 
als der Erstgeborene der Brahmanin. — In der griechischen Ubersetzung heiBt 
das Tier v6,u.!pTj, was Wiesel bedeuten soil (Benfey I 480), im Sindibad-nkmeh ist 
es eine Katze geworden (I 482), in der Syntipas-Uberlieferung ein Hand (V. 
Chanvin 1. c. VIIl 66). — Eine mongolische Erzahlung liefert einen weisen litis 
als Helden (Benfey I 481). — Nur in der malaischen Erzahlung tbtet ilbrigens 
4ie Schlange wirklich die Kinder in alien iibrigen wird das Kind ron dem klugen 



WiedererkennuDgsmarchen and Placidas-Legende. 


717 


tier stehen wir wieder aof dem besten Boden weitverzweigter in- 
discher tlberlieferung, die bis in das altbaddhistische Milieu (Benfey 
I 481) zoriickreicht. 

Der IJberblick uber die abweichenden Zuge der einzelnen Er- 
aablungen nnseres Kreises hat sich recht lehrreich gestaltet. Von 
modernen Erfindongen, vielleicht gar erst des neunzehnten Jahr- 
hunderts, kann keine Rede sein, wenn wir von ganz vereinzelten 
singularen Auswiichsen absehen. Vielmehr stiefien wir auch bei 
fast alien fremden Motiven and Interpolationen anf echtes altin- 
disches Gut. Selbst die Verkniipfung dieser neuen Motive mit 
dem Hauptstrang der Erzahlung wird kaum „modem“ sein. Das 
konnte wenigstens fiir eines der charakteristisch neuen Motive 
durch die Aufdeckung der tiirkisch-beBarabischen Erzahlung sicher 
festgestellt werden, ist fiir die andern Ziige durch die gelieferten 
Nachweise iiber ihre Herkunft sehr wahrscheinlich. Wir miissen 
schon fiir diesen einen Zweig der tlberlieferung mit langen Zeit- 
raumen derselben rechnen. Das beweist vor allem auch die Ver- 
breitong dieses Typus von BeBarabien bis Celebes nnd dem malai- 
schen Archipel. tlnd nachdem wir in alien den Answei- 
tungen nnserer Erzahlungen echt indisches Gut nach- 
gewiesen haben, drangt sich doch zum mindesten die 
Wahrscheinlichkeit auf, daB auch die Eaupterzah- 
lung auf indischem Boden gewachsen sein konnte. Die 
Beobachtung, daB uns in der Patacara - Legende eine Erzahlung 
vorliegt, die mit dem iibrigen Marchenkreis in unleugbarem Ver- 
wandtschaftsverhaltnis steht, ist aus ihrer Isoliertheit befreit. Es 
Irann nicht mchr als eine allzuklibne Behauptung erscheinen, wenn 
wir in den vier indisch-bugisch-malaischen Erzahlungen Nachkomm- 
linge des alten indischen Volksmarchen sehen, das entweder aus 
der Patacara-Legende entstand, oder sogar — und aus inneren 
Griinden ist das wahrscheinUcher — diesem zu Grande lag. Je- 
denfaUs — ich wiederhole es — mit Zafallen , wie sie das Zeit- 
alter des modernen Verkehrs herbeigefdhrt hat, diirfen wir hier 
micht mehr rechnen. 


V. 

Diese indische tiberliefemng stellt sich nun weiter als ein 
wertvoUes Glied in der gesamten Uberlieferungskette heraus. 


Tier errettet. — Die rationalisierende Anderung der malayischen Erzahlung wird 
sekundar sein. — Ubrigens waren auch die ubrigen Torwarter-Henkergeschichten, 
deren Inhalt W Meyer leider nicht skizziert hat, auf ihre Herkunft zu priifen. 

48 * 



718 


Wilhelm Bousset, 


Sie ist znnachst auf das engste verwandt mit dem von mir an- 
genommenen Typus 1 des Erzahlnngskrei&es (Nr. 1—5 [7]). Der 
wesentliche Gang der Erzahlung, oft bis in geringfiigige Einzel- 
heiten hinein, ist Mben und driiben derselbe. Namentlich erhalten 
Einzelziige, in denen die beiden wertvollsten Glieder dieses Typus 
(Nr. 1 nud 2) bisher allein standen, ibre wertvolle Bestatigung. 
Wie im Armenier und in der lOOl-Nacht-Erzablung ist der Held 
des Marchens in den samtlicben Zeugen des neuen Kreises ein 
Konig Oder ein Fiirst. Vor allem ist es wichtig, daB der scbone 
Marcbenzug von der Wabl des neuen Konigs durcb einen weiBen 
Adler oder einen weiBen Elepbanten (Kr. 1) in den indiscb-malai- 
isch-bngiscben Erzablnngen in seinen beiden Varianten bestatigt 
wird. 

Auch an diesem Pnnkt verlohnt sich ein etwas weiter aus- 
holender tjberblick '). Das Motiv der wunderbaren Kronnng ist 
im MiLrchen weit verbreitet. Bald wird in ibm erzahlt, daB- die 
Einwohner einer Stadt oder eines Reicbes vor das Tor hinaus- 
ziehen und den ersten besten Fremden, der ibnen an einer be- 
stimmten Stelle begegnet, zum Konig nebmen®); bald ist es ein 
Tier, das die Wahl berbeifuhrt, gewohnlich ein VogeP) (Adler^ 


1) Vgl. den tiberblick iilier das Material bei Bolte-Pob'vka, Anmerkungen 
zu den Kinder- u. Hausmarchen der Gebruder Grimm I., zu dem M&rchen Grimm 
Nr. 33. — Vor allem V. Cbauvin, Bibliographie des ouvrages arabes VI 75. 

2) Gerade dies Motiv ist sehr weit verbreitet, vgl. Cbauvin a. a. 0. ; z. B. die 
bekannte Erzahlung von Ali Schar und Sumurrud aus 1001 Nacht Henning VII 
49 (Reklam). Es begegnet unter den seltsamsten Verkleidungen. Vgl. die Erzah- 
lung von der Wahl des Bischofs Alexander von Jerusalem (an Stelle des Nar- 
kissos) Euseb. Hitt, ectles. VI 9 — 11. Die Erzahlung von den beiden Bischofen 
wird zu einem guten Teil aus wandemden Motiven heransgesponnen sein. Auch 
die Flucht des B. Narkissos ist ein oft wiederkehrender anekdotenhafter Zug. 
W. Ludtke fiigt hinzu; In der albanesischen Variants „das Madchen im Kasten* 
wird der zum Konig gemacht, dem man nach einer schlimmen Winternacht zuerst 
auBerhalb des Tores der Hauptstadt begegnet (A. Leskien, Balkanmarchen 1915 
Nr. 56 = Gustav Meyer, albanesische Studien V 1896, Wiener Sitz.-Ber. 134 S. 36). 

3) Ein noch viel weiter verbreitetes Motiv. Ich notiere bier zunachst zwei 
* Erzahlungen von der Kronung einer Frau durch einen Vogel: ,die Liebenden aus 

Syrien“, Henning, 1001 Isacht XXIV. 56, Chauvin V. 34, und das hocbinteressante 
turkijche Marchen bei Radloff Volksliteratur der tiirkischen Stamme IV 143 ff. 
Das letztere gehort ganz und gar, das erstere zum guten Teil in den Kreis der 
von mir im ersteii Aufsatz 533 — 538 besprochenen Erzahlungen, nur daB hier die 
verheiratete Frau — und das scheint das Urspriingliche zu sein — schlieBlich 
noch Konigin wird. W. Ludtke fiigt noch folgendes hinzu : In einer armenischen 
Parallele zu dieser weitverbreilfeten Erzahlung (Aame, Verzeichnis der Marchen- 
typen N. 881) die „Anfangs Diener und dann Konig- betitelt ist, erfolgt die Wahl 



Wiedererkennangsmarchen und Placidas-Legende. 


719 


Falke, ein nicht naher bezeichneter Vogel, der „RegierangsvogeP 
(s. a. Abschnitt VI), eine Taube^), oder ein Elephant; bald wird 
der neue Konig durch irgend einen Zufall*) orakelhaften Cha- 
rakters erkannt. 

Es muB aber in diesem Vergleich noeh ein wesentlicher Punkt 
besprochen werden, an dem sich unsere bisherige Beobachtung — 
Verwandschaft des indischen tlberlieferongkreises mit Nr. 1 und 2 
— nicht bestatigt. Samtliche vier Erzahlungen des indischen 
Kreises berichten zum SchluS, da6 die Fran durch eine List, indem 
sie vorgibt, die beiden ihr gesandten Jiinglinge (ihre Sohne) hatten 
denVersuch gemacht, ihr Gewalt anzutun, das bffentliche Gericht 
und damit die groBe Wiedererkennungsszene erzwingt. — Dagegen 
erzahlen Nr. 1 und 2 ubereinstimmend, daB der Kaufmann (Schiffs- 
herr) die Briider in innigem Beisammensein uberrascht, Larm 
schlagt und so seiu Verderben selbst herbeifiihrt. Andererseits 
stimmefn nun die sekundaren Zeugen, die beiden jiidischen und die 
berberische Erzahlung (Nr. 3 — 5) mit der indischen Uberlieferung 
iiberein. Die Entscheidung , welche von diesen beiden Varianfcen 
die ursprungliche sei, fallt recht schwer. Beide Abschlusse der 
Erzahlung sind ungefahr gleich gut. Ich komme aber auf diesen 
Punkt noch einmal zuriick. 

JedenfaUs hat sich die Giite der Tradition der indischen Uber- 
lieferung bei diesem Vergleich gezeigt. Sie stimmt in allem we- 
sentlichen mit dem Typus in Nr. 1 — 5 iiberein, bestatigt eine Reihe 
altertiimlicher Ztige in 1 — 2, ist aber auch von diesen Zeugen 
keine.swegs direkt abhangig, sondern zeigt an einem entscheidenden 
Punkt tlbereinstimmung mit 3 — 5. D. h. die indische Uberlieferung 
steht dem gemeinsamen Archetypus von Nr. 1 — 5 noch sehr nahe, 
einem Archetypus, als dessen terminus ad quern wir mit groBer 

durch einen Adler (Sbornik, materialov dlja opisanija . . . Karkaza 19. 1894 II 9 

167—180). 

1) (Nach W. Liidtke:) KOnigswahl durch eine Taube in einem ruthenischen 
Marchen s. den folgenden Artikel. In einem tiirkischen Marchen von dem Manne, 
der das Furchten lemen wollte, setzt sich eine Taube dem Erwahlten auf den 
Kopf (Ignaz Kiinos, Turkische Volksmarchen aus Stambul 1905 S. 14 f.). Eine 
weiBe Taube soil in der sizilianischen Umgestaltung der Legende von Gregorius 
auf dem Stein den Papst wahlen (Gonzenbach Nr. 85 S. 161 : Vom Crivolin). — 
Ich verweise noch auf das Grimmsche Marchen Nr. 33 „die drei Sprachen^ (vgl. 
auch die Anmerk. bei Grimm, Reklam-Ausgabe S. 69 f.) ; Taube bei der Wahl des 
Papstes. 

2) Beispiele bei Chauvin VI 73 und auch VI 75. — In dem aus dem 13. 
Jahrh. stammenden deutschen Passional wird der hlg. Gregor durch eine vom. 
Himmel herniederkommende Lichtsaule als Papst bezeichnet (W. Liidtke). 



720 


Wilhelm Bousset, 


Wahrscheinlichkeit (s. o. S- 709f.) das siebente Jahrhrmdert ansetzen 
konnen. Wir haben bier in der Tat ein hiibsches Beispiel, wie 
wir mit einer Uberlieferung , die anfierlich betrachtet nicht fiber 
das 19. Jabrhundert hinfiberznreichen scheint, durch Abhornng 
aller Zeagnisse mit grofier Sicherheit viele Jabrhunderte rfickwarta 
schreiten konnen. 


VI. 

Aber damit ist das Material der Untersnchnng noch immer 
nicht erschopft. Der Gfite des Herrn Dr. Lfidtke, der in dem 
folgenden Artikel selbst sein Material vorlegen wird, verdan 
es, dafi ich die Untersnchnng jetzt noch nm ein wesentliches Stfick 
weiterffihren kann. Es haben sich eine ganze Eeihe von Parallelen 
in tatarischer, tfirkischer, bnlgarischer nnd serbischer Uberliefernng 
gefnnden, die wiedemm dem von uns konstrnierten Archetypns 
anf das engste verwandt sind nnd znr Anfstelinng des ganzen 
Wanderproblems einen weiteren Ertrag liefern. 

Ich bespreche die einzelnen Glieder. Am wenigsten abwei- 
chende Zfige von dem Archetypns zeigt wohl das tatarische Kinder- 
marchen (Lfidtke Nr. 1). Der Held desselben ist ein Konig. Der 
traumt in einer Nacht dreimal, er werde im Kampf mit seinen 
Feinden das Eeich verlieren. Da haben wir zngleich einen Zng 
am Anfang des Marchens, der uns trotz starker Abwandelnng 
lebhaft*) an den Eingang des Armeniers (Offenbarnng dnrch einen 
Genins) erinnert. Der Konig ranmt anf jene Weissagung bin 
freiwillig das Feld. Kun erfolgt die Trennnng der Familie. Ans 
dem „ Schiffsherrn* ist hier natnrgemaB in der Uberlieferung eines 
Stammes der Steppe der Inhaber einer Karawane geworden, der 
die Fran mit List einfangt*). Wertvoll aber ist die Erzahlnng 
des Flnfiuberganges. Der eine Sohn wird von einem Wolfe ge- 
raubt, der andere vom Find fortgerissen. Da haben wir eine direkte 
Bestatignng des Armeniers, der bisher mit diesem Zng der Erzah- 
lnng in seiner gesamten Familie ganz einsam stand. Einen gnten 
Eindrnck macht es anch, dad die beiden Sohne hier getrennt werden. 
Es erfolgt wie im Armenier die Wahl des (nenen) Konigs durch 
einen Vogel, hier den Dewlet-Knschi (Regiernngsvogel) , der sich 


1) Vgl. die interessante genauere Farallele mit meiner Nr. 12 : Wilhelm v. 
England hort des Nachts dreimal eine Stimme, die ihm befiehlt, auBer Landes zu 
gehen. 

2) Vgl. auch den Kaufmann Eundan in der Pendschab-Erzahlung, W. Meyer 
S. 770. 



Wiedererkennungsmarchen und Placidas-Legende. 


721 


dem unbekannten Fremdling dreimal aof den Kopf setzt. Bis zum 
SclilnB geht dann die ErzaUung im groBen and ganzen mit dem 
Armenier. Wie dort fehlt hier die „List der Mutter". Der Kauf- 
mann findet die Diener des Konigs in seinem Zelte schlafend. 

In der bulgarischen Erzahlung aus Sophia (Ludtke Nr. 3) ist 
der Held der Erzahlung der Konig Peter. Der hort dreimal hinter 
einander eine geheimnisvolle Stimme, die ihn auiFordert zu wahlen, 
ob er das ihm bestimmte Geschick in der Jugend oder im Alter 
haben wolle ! Da haben wir nun endlich eine direkte Bestatignng 
jenes charakteristischen Marchenznges, mit welchem der Armenier 
bisher in der orientalischen Uberlieferung ganz allein (zusammen 
mit Placidas G) stand ‘). Der Konig Peter trifft seine Wahl. 
Hier finden wir zum ersten Mai innerhalb der bisher in Betracht 
gezogenen Uberlieferungskreise eine etwas starkere beaphtenswerte 
Abweichung. Nicht mehr wird hier einfach der Konig durch einen 
andern besiegt und vertrieben. Wie in der Placidas-Legende wird 
der Held der Erzahlung durch gehaufte Schicksals - Schlage dazu 
getrieben, das Land zu verlassen. An eine Abhangigkeit der Le- 
gende wird jedoch, da sich die Einzelziige der Schilderung gar 
nicht decken, schwerlich zu denken sein. Es scheint vielmehr hier 
und bei den folgenden Erzahlungen einfach das bekannte Hiob* 
motiv vorbildlich gewesen zu sein, wie auch in der Placidas- 
Legende. Eerner findet sich hier und in den folgenden Erzah- 
lungen der neue eigentumliche Zug, dafi der Konig sich als ein 
Hirte (Kuhhirte) bei einem andern rerdingt. Seine Frau wird 
von einem Kaufmann, der hier wieder den SchilFsherrn verdrangt, 
listig geraubt^). — Der Flufiubergang ist wie im Armenier und 
wie im tatarischen Miirchen erzahlt. Ebenso die Krdnung durch 
den Konigsvogel, die hier freilich eine Erweiterung und Steigerung 
erhalt. Zum SchluB ist die Erzahlung ein weiiig entstellt und 
undeutlich geworden. Von der List der Frau ist auch hier nicht 
die Eede. Der Kaufmann muB dem Konig dessen Frau und Sohne 
selbst zufilhren. 

Nach dem Verwandschaftsverhaltnis mochte ich neben die Er- 
zahlung aus Sophia das tiirkisch beBarabische Marchen Nr. 2 (Ludtke 
Nr. 7) stellen, das zum Teil bereits oben besprochen wurde. Auch 
hier ist der Held der Erzahlung ein Konig, der Anfang ist stark 


1) Vgl. in der europaisch mittellalterlichen Tradition Nr. 15 Meistergesang 
vom Grafen v. Savoyen. Nr. 14 (Ritter Ysambrace). 

2) Die Art der Entfiihrung erinnert etwas an die jiidische ErzaUung Nr. 3 
(die Frau als Wascherin). 



722 TVilkelmBousset, 

verkurzt, doch wird das Schema der vorhergehenden Erzahlang 
zn Grande liegen, mit der diese auch das Motiv der Yerdingnng 
des Konigs als Hirten (dann als W einbergsgartner) gemeinsam hat. 
Die Fortschleppung der Frau ist nur angedeutet, und diese ver- 
schwindet dann ganz ; es wird auch am SchluB nur die Wieder- 
erke n nun g der Bruder und dann der Sohne mit dem Vater be- 
richtet. Tiber die Abwandelung der Szene vom FluBiibergang ist 
bereits gehandelt; die Verschlingung des einen der Briider durch 
den Wolf ist dennoch stehen geblieben (vgl. Armenier, tatarische 
nnd Sophioter-Erzahlong). Die Knaben bleiben getrennt. Auch 
hier die Kronung durch den Regiernngsvogel mit einer Erweiterung 
und Steigerung wie in der vorhergehenden Erzahlnng. 

Eng verwandt ist auch die Erzahlang aus Veles (Liidtke Nr. 2). 
Aus dem Konig ist hier freilich ein reicher Mann geworden. Dem 
wird wie im Armenier und der Erzahlnng aus Sophia die Schicksals- 
frage „jetzt oder spater“ gestellt. Von den Schicksalsschlagen, 
die den Konig Peter trefien, ist hier nur der eine Zug, da6 Feuer 
sein Haas zerstort, stehen geblieben. Das Verdingnngsmotiv ist 
auch hier eingedrungen. Ein Kaufmann, der mit einer Karawane 
kommt (vgl. das tatarische Marchen) raubt die Frau. FluBiifter- 
gang : der eine Sohn wird durch ein Tier geranbt, der andere vom 
FluB fortgerissen. Die Knaben werden zunachst getrennt. Zum 
SchluB verlauft die' Geschichte in der gewohnten Weise. Von der 
List der Frau ist nicht die Rede, der Kaufmann findet bei seiner 
Ruckkehr Mutter und Sohne in inniger Umarmung. Der reiche 
Mann erhalt sein verlorenes Gut wieder ; das Konigs - Motiv ist 
verloren gegangen; also auch die Kronung durch den Konigs- 
Vogel. 

Etwas weiter ab steht das erste beBarabische Marchen (Liidtke 
Nr. 6). Auch hier ist ein reicher Mann der Held, wie in der vor- 
hergehenden Erzahlang. Wie er hingehen und seine Heerde be- 
sehen will (Hochmuts-Motiv) , stellt ihm sein ^Ungliick** , das ihm 
am Schlaf beim Brunnen erscheint, die Schicksalsfrage : tlngliick in 
in der Jugend oder im Alter. Das Hereinbrechen des TJngliicks 
wird ausfuhrlich geschildert, wie in dem Marchen vom Konig Peter. 
Das Verding^ungsmotiv ist auch hier vorhanden. Die Frau wird 
durch einen der 12 Vertrauten des Konigs geraubt, bei dem die 
Familie sich spater zusammenfindet. FluBubergang : der eine Sohn 
durch einen Wolf geraubt, — auch der andere wurde, ehe der Vater 
zuriickkehrt, fortgeschleppt. Beide werden von Bauern gerettet. 
Sie werden Soldaten, Burschen bei Oifizieren. Einer dieser Offi- 
ziere ist es. der die Mutter geraubt und zum Weibe genommen. 



Wiedererkennungsmarchen und Placidas-Legende. 


723 


Die Sohne sitzen eines Abends znsammen und nnterhalten sich 
fiber ibr Scbicksal, die Mutter bort es. Wiedererkennnng. Der 
Konig des B-eiches stirbt. DieAltesten wahlen gerade den „Vater“ 
zum Konig. Die Sbbne erkennen ibren Vater, jener Offizier wird 
hingericbtet. 


VII. 

An diesemOrt mfissen nan aucb die beiden aramaiscben Va- 
rianten unserer Erzablung eingestellt werden, aaf die Alfons Hilka 
und Wilhelm Meyer in den Nachrichten 1917 S. 80 if. bingewiesen 
haben ^). 

Es kann kein Zweifel daran sein, daS sie zu der eben bespro- 
chenen Sippe von Marcben geboren. Freilich linden wir den An- 
fang, den die meisten Glieder dieses Kreises erbalten baben, die 
dem Helden frei gestellte Wahl der Zeit seines Ungliicks, nicbt. 
Entscheidend aber ist, dab aucb bier (in beiden Rezensionen) aus 
dem SchilFsherrn , der die Frau auf seinem Schiffe entffihrt, ein 
(judischer) Kaufmann, der mit seiner Karawane durcb die Wtiste 
zieht, geworden ist. Die Verlegung der Situation vom Meer in 
die Wfiste ist also keine Eigentiimlichkeit der aramaiscben Rezen- 
sion, wie W. Meyer S. 86 nacb den ihm bekannt gewordenen Daten 
zu urteilen geneigt vfar. Die Erzablung vom Flufiubergang — 
der eine Sobn wird vom Wolf geraubt, der andere fallt in den 
Flufi — hat wenigstens Aramaer II in der Fassung dieses Typus 
' getreulicb bewahrt, wahrend Aram. I bier stark andert. Der 
Rettung des Knaben durcb einen Landmann und einen Mfiller (ta- 
tarisches Marcben) oder durcb einen Fischer und einen Hirten (Be6- 
arabienll) entsprichtAram.il: Rettung durcb Muller und Hirten ^). 
— Vor allem entscbeidend aber ist wiederum die marchenhafte Konigs- 
wabl in Aram. II. Dreimal lafit sich bier der „V ogel der Herr- 
schaft‘‘ auf den armen Settler zum Erstaunen der nur wider- 
willig das Orakel annehmenden versammelten Menge berab. Ebenso 
eriulgt im tatariscben Marcben die Wahl des neuen Herrschers 
durcb den Dewlet - Kuscbi (Regierungsvogel), der sich dem 
unbekannten Fremdling dreimal auf das Haupt setzt. Abnlicb 
fiberliefert das Marcben von Sophia, und BeBarabien II hat sogar 
wiederum den Diivlet - Kusu getreulicb erbalten. Begreiflicb ist 


1) Bei M. Lidzbarski Geschicliten u. Lieder a. d. neuaramiiischen Hand- 
schriften d. Kgl. Bibl. zu Berlin = Beitrage z. Volks- und Volkerkunde IV 1896 
S. 108—113 u. S. 195—198, 

2) In der Placidaslegende sind es Hirten und Bauern. 



724 


Wilhelm Bousset, 


es dann, dafi der Kanfmann in Aram. I. II anch znm SchluB der 
Erzahlung als Karawanenfiihrer und nicht als Schiffsherr erscheint, 
die Wiedererkeimmigszene zwischen Matter und Briidern also in 
der Niederlassnng der Kara wane stattfindet, wo die Bruder sich 
die Geschichte (nach Aram. I u. II) vor der Kiste erzahlen, in 
der die Matter gefangen gehalten wird. — Anch in den andern 
verwandten Erzahlangen unseres Typs verschwindet mit einigen 
noch zu besprechenden Ansnahmen das Schiffsmotiv. Im tata- 
rischen Marchen erzahlen die Bruder sich ihr Geschick vor dem 
Zelt der Frau. (Das barbarische Motiv der Einsperrung der Frau 
in eine Kiste ist hier nicht mchr vorhanden.) — Und endlich stimmt 
anch der SchluB der Erzahlung in Aram. I und II mit unserm 
Typ. Der Kaufmann findet entweder sofort oder am andern Morgen 
die Briider mit der Mutter zusammen; er erhebt deshalb Anklage 
vor dem Kbnige und fiihrt so selbst das Verderben herbei. Dem 
entspricht der Bericht des tatarischen Marchens und die Erzahlung 
von Veles, wahrend die iibrigen mehr oder minder stark abweichen^). 

Dock nun handelt es sich damm, diesen immer klarer heraus- 
tretenden Untertypu.s , der dnrch den tixrkisch-tatarischen Kreis 
und Aram. I. II dargestellt wird , mit dem schon bekannten Ma- 
terial in Beziehung zu setzen und ihm seinen Ort in der gesamten 
tiberlieferang-sgeschichte zuzuweisen. Was beim Vergleich in die 
Augen springt und bereits vielfach hervorgehoben wurde, ist die 
Verwandtschaft samtlicher besprochener Erzahlangen mit dem ar- 
menischen Marchen (Nr. 2). Und man siebt deutlicb, daB dieser 
Zeuge trotz seines knappen and nur andeutenden Textes eine 
auBerordentlich gate Uberlieferung un seres Typus darstellt. Es 
bietet fast durchweg diejenigen Ziige, die sich nns als die charak- 
teristischen und der Familie eigentumlichen herausstellten. Der 
Held ist hier ein Konig geblieben, wie im tatarischen Marchen^ 
Sophia, BeBarabien II, wahrend er in den Erzahlangen von Veles, 
BeBarabien I, in Aram. I and II ein (reicber) Privatmann unter 
Abweichung vom Archetypus geworden ist. Die Schicksalsfrage 
am Anfang findet sich in dreien dieser Erzahlangen wieder : So- 
phia, Veles, BeBarabien I ^), wahrend das tatarische Marchen einen 
ganz ahnlichen Zug bietet, und nur BeBarabien II, Aram. I. II 
hier am Anfang kiirzen. Die Erzahlung des Armeniers vom FluB- 


1) Auch die List, mit der in Aram. I die Frau zur Karawane des fremden 
Kaufmanns gelockt wird, entspricht genau der Erzahlung des tatarischen Marchens. 

2) Vgl. im Anhang auch die Erz&hlung von Demirhissar und das bosnische 
Marchen. 



Wiedererkennungsmarchen nnd Placidas-Legende. 


725 


ubergang wird bestatigt durcb das tatarische Marchen , Sophia, 
Veles '), Aram. II, halbwegs durch BeBarabien II. Nnr bei BeBa- 
rabien scheint auch der zweite Sohn durch ein Tier fortgeschleppt 
zu werden. Auch nach dem Armenier vollzieht sich die 
Konigswahl durch dreimaliges Herabsenken des Ad- 
lers auf einen unbebannten Bettler vor der zur Wahl 
versammelten Volksmenge*). Hier riicken nun die Berichte des 
Armeniers, des Aram. II und des tatarischen Marchens ganz nahe 
zusammen; aber auch Sophia und BeBarabien 11 bestatigen den 
Zug , vrahrend BeBarabien I rationalisiert und einfach die Wahl 
durch die Altesten an die Stelle setzt und Aram. I die Konigs- 
wahl iiberhanpt streicht. Das barbarische Motiv der in eine Kiste 
' oder einen Kasten eingesperrten Frau , mit dem der Armenier 
gegeniiber der ganzen Gruppe alleinsteht, erhalt jetzt seine uber- 
raschende Bestatigung durch die aramaische Rezension. Von der 
List, mit welcher die Frau die SchluB - Erkennung.sszene herbei- 
fiihrt (s. 0 .), zeigt sich weder beim Armenier, noch bei einem der 
andern Glieder der Familie eine Spur. Es bleibt nur noch 
eine Frage zu erortern. Wir sahen, wie in unserer Gruppe von 
Zeugen die Figur des SchifFsherm so gut wie ganz verdrangt war, 
und daB an seine Stelle der Karawanenfuhrer getreten ist. Wie 
stellt sich der Armenier zu dieser Yariante? Wenn wir seinen 
‘Text noch einmal darauf im Lichte, das die nachstverwandten 
Zeugen auf ihn werfen, anschauen, so stellt sich herans, daB der 
armenische Text auf die Frage, ob Schiffsherr oder Karawanen- 
ftihrer®), iiberhanpt keine Antwort gibt. Nichts in seinem Bericht 
deutet irgendwie darauf hin, daB wir die Alternative in ersterem 
Sinne zu Ibsen -batten. So gewinnen wir freieHand zu der hochst 
wahrscheinlichen Annahme, daB der Armenier auch hier auf der 
Seite der Gruppe steht, mit der er sonst iiberall verbunden ist. 

Somit erhalten wir nun einen bis ins einzelne rekonstruier- 
baren Typus unseres Marchens, der durch die Zeugen: Armenier, 
tatarisches Marchen, Sophia, Veles, Bessarabien I. II, Aramaer 
I. II. vertreten ist. Als dessen Haupt erweist sich uns der Ar- 
menier, in ihm laufen alle Linien der tJberlieferung zusammen, 

1) Vgl. im Anbang das bosnische Marchen. 

2) Ich hatte in meinem ersten Aufsatz den Bericht des Armeniers verkiirzt 
■wiedergegeben ; da hier die genaueren Parallelen, die uns jetzt bekannt geworden 
sind, noch ganzlich fehlten. Das ist von W. Meyer S. 84 f. scharf getadelt worden. 
Aber meine Skizziernngen der einzelnen Erzahlungen sollten doch den Originaltext 
nicht ersetzen. 

3) Vgl. bereits die Ausfiihrungen von W. Meyer 85 u. 89. 



726 


Wilhelm Bousset, 


sein leider recht kurzer Bericht gibt ein nur an einem Punkt 
durch Verkurzung undeutlich gewordenes Abbild des der Familie 
zu Grunde liegenden Typs. 

Auf Grand dieser Erkenntnis muG ich freilich mein Urteil, 
dafi der Armenier der getreneste Zeuge der Uriiberliefernng resp. 
dessen, was W. Meyer die orientalische Urform unserer Erzahlung 
nennt, revidieren. Der Armenier vertritt als deren Haupt nur 
eine Untergruppe , in der eine entscheidende Abwandlung des 
Marchens eingetreten ist, namlich die Beseitigung der die Erzah- 
lung beherrschenden Gestalt des Schiffsherrn und des Raubes 
der Frau auf einem Schiff. Dafi bei unserer Gruppe sich die Ur- 
form der Erzahlung nicht erhalten haben kann, ergibt schon ein 
Verhor der gesamten Zeugen; die indischen Erzahlungen ') , die 
Placidas-Legende, die Geschichten aus 1001 Racht und die judische 
Uberlieferung schlieGen sich an diesen Punkt gegeniiber unserer 
Gruppe zu einer Einheit zusammen, die das entscheidende TJber- 
gewicht hat. 

Unsere Variante mu6 andererseits in einer Wiisten- oder 
Steppengegend, in einem Milieu, das durch die umherziehende Ka- 
ra wane charakterisiert wird, entstanden sein. W. Meyer dachte 
ohne weiteres auf Grund seiner aramaischen Zeugnisse an die sy- 
rische Wiiste. Aber man kann zweifeln, ob in Gegenden, wo ara- 
maische Sprache gesprochen wurde, das Meer, die Schiffahrt, oder 
wenigstens groGe schiffbare Strome so fern lagen, daG hier ein 
notwendiger Grand zur Entstehung der Variante gegeben war. 
Jedenfalls beweist ein Uberblick iiber unsere Zeugen, daG noch 
ganz andere Mbglichkeiten gegeben sind , und daG diese uns 
mit groGerer Wahrscheinlichkeit in das Steppengebiet von Tur- 
kestan weisen. Denn die Existenz des tatarischen Marchens in 
der Gegend von TiGis and der Erzahlungen, die sich in BeGarabien 
bei tiirkischen Stammen fanden, femer die Tatsache, daG eines 
dieser beGarabischen Marchen mit der indischen Uberlieferung starke 
Verwandschaft zeigt, legen die Vermutung nahe, daG es tiirkische 
Nomadenstamme waren, in deren Mitte diese Form unseres Mar- 
chens entstand , um dann nach Armenien , in die angrenzenden 


1) Eine Ausnabme bildet das Marchen aus dem Pendschab, W. Meyer 773 f., 
in welchem ebenfalls alle Erinnerung an Schiffahrt und Meer verschwunden und 
aus dem Schiffsherrn ein wandernder Kaufmann geworden ist, wahrend das Milieu 
der Wiiste freilich nicht vorbanden ist. Vielleicht liegt hier eine Ubergangs- 
form vor. 

2) Each Lidzbarski pag. X hat sich der neuaramaische Dialekt, sonst rom 
arabischen verdrangt, wesentlich in der Gegend sudlich von Armenien etwa von 



WiedererkennuDgsmarcben und Placidas-Legende. 


727 


aramaisch redenden Bezirke, zu den Bnlgaren und Serben zn wan- 
dern. Es mag zur Unterstutzung dieser These noch auf eine Be- 
obachtuDg hingewiesen werden. In den aramaischen Varianten 
nnserer Erzahlung ist das Milieu des Meeres und der Schiffahrt 
restlos verschwunden , in Aram. I sogar der Flubiibergang. Da- 
gegen finden wir in einigen andern Gliedem unserer Gruppe deut- 
liche Reste des urspriinglichen Tatbestandes. So erzahlt das Marchen 
von Sophia zum SchluB trotz des andersartigen Anfangs, da6 
ein SchiflFsherr die Frau an den Hof des Konigs bringt und lafit 
die Wiedererkennung zwischen Mutter und Briidem auf dessen 
Schiff stattfinden. Selbst im tatarischen Marchen heibt es noch, 
daB der Held der Erzahlung seine Befahigung als Kdnig erweist, 
indem er sich erfabren in der Schiffahrt zeigt. Es scheint als 
wenn das alte Motiv erst allmahlich verloren gegangen ist. Und 
dann standen die aramaischen Versionen am SchluB und nicht am 
Anfang der Entwicklung. 

Sind diese Verwandschaftsverhaltnisse richtig gesehen und 
besteht es also zu Recht, daB Aram. I. II ein spates Glied der 
bereits sicher sekundaren tiirkisch-tatarischen ,Nomadenform“ 
unserer Erzahlung darstellen, so ist der Versuch, den W. Meyer 
in seinem letzten Artikel unternommen hat. eine direkte literarische 
Herkunft von Aram. I. II aus der Placidaslegende abzuleiten und 
dann gar die Abhangigkeit der gesamten „orienta]ischen“ Ur- 
form von- dieser zu erweisen, von vomherein von kaum iiberwind- 
baren Schwierigkeiten bedriickt. Doch sehen wir, wie es um den 
Beweis bestellt ist. 

Den Hauptbeweis findet W. Meyer in der Erzahlung der Wieder- 
erkennungs-Szene der beiden Briider in der Legende und in beiden 
Fassungen, namentlich aber in der zweiten der aramaischen Rezen- 
sion. Die Beriihrung sei hier so eng, daB sie sich nur aus literarischer 
Benutzung der schriftlich fixierten Legende erklart und zwar in 
der Form, wic sie uns in G (dem Text der Bollandisten) vorliege. 
Die Parallelen sind von W. Meyer S. 91 f. zusammengesteUt, und 
man moge dort die Texte nachlesen. Ich kann mit dem beaten 
Willen den Beweis nicht fUr iiberzengend halten. Die ganze wort- 
liche tibereinstimmung bescbrankt sich darauf, daB der eine Brudef, 
als der andre mit seiner Erzahlung fertig ist „aufspringt, ihm 
um den Hals fiillt und ihn kiiBt und zu ihm spricht: ich 


Urmia bis Diabekr gehalten. Als Beispiel einer groEen Stadt gilt bei Aram. II 
(Lidzbarski 197) das etwas sudlicher gelegene Mossul (der Vatcr ging narh einer 
Stadt, wie die Stadt Mossul). 



728 


Wilhelm Bousset, 


bin . . . dein Bruder". Dabei fehlt das xXaiwv G’s in Aram, and 
das autov xatsyi'Xst steht in G an anderm Ort. Aber davon abge- 
sehen, — das sind doch wahrlich Ziige, die bei lebendiger Erzah- 
Inng derselben Situation sich von selbst wieder and wieder ein- 
stellen konnen. Und nichts zwingt uns, diese TJbereinstimmung 
durch die Annahme zu erklaren, dab die aramaische Version hier 
eine Spur davon erhalten babe, wie der erste Erziihler der orien- 
talischen TJrform des Marchens von einer Lektiire der Legende 
abhangig sei. Es kommt noch hinzu, dab die beiden Parallelen in 
dem eigentlich Charakteristischen von einander abweichen. G lafit 
namlich den Bruder sprechen : „Wabrlich bei der Kraft Christi ich 
bin dein Bruder. Mir ist bekannt, was du mir erzahlt hast. Und 
die, welche mich aufgezogen haben, haben mir dies erzahlt: wir 
haben dich dem Wolf entrissen“. Demgegeniiber lautet Aram. I: 
,Da bist mein Bruder and ich bin jener dein Bruder, der vom Wolfe 
davongetragen wurde“. G bietet hier gerade einen sehr reflek- 
tierten Text ; er stellt sich« die Aufgabe nachzuweisen , wie der 
jiingere Bruder aus seiner friihen Jugend noch die Erinnerung 
haben kann, die es ihm moglich macht, seinen Bruder an dessen 
Erzahlung zu erkennen. Von alledem hat die aramaische Rezen- 
sion nichts, sie ist schlicht und einfach. 

Man konnte freilich demgegeniiber darauf hinweisen, dab die 
aramaische Rezension auch sonst einige Beriihrungen mit der Le* 
gende aufweise. So hat sie vor allem mit ihr die Auffassung 
gemein, die in Pla(5idas-G sogar pointiert heraustritt, dab die 
beiden Sbhne in einem und demselben Dorfe erzogen werden (W. 
Meyer 88) und die eingehende Schilderung der Lage des Helden 
nach dem Verlust von Frau und Kindern im Aram, erinnert etwas 
an die Erzahlung der Legende und die Rede, die sie ihren Helden 
halten labt (W. Meyer 87 f.). Die erste der beiden Beriihrungen 
fallt etwas emsthafter ins Gewicht. Doch handelt es sich hier 
sicher um einen sekundaren Zug, der die Tendenz des Marchens, 
Trennung aller Familienmitglieder, und vor allem die Schlubszene, 
die Wiedererkennung der beiden Briider, empfindlich stort. Wie 
man hier also auch iiber das Verhaltnis von Aram, und Legende 
urteilen mag, so ergibt sich daraus gar nichts fiir das Verhaltnis 
von Legende und „orientaliscber Urform**. 

Auch mag in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen 
werden, dab iiberhaupt gerade innerhalb der Gruppe, die uns hier 
beschaftigt, sich gewisse starkere Beriihrungen mit der Legende 
zeigen. DemVerfasser der Legende wird in der Tat das Wieder- 
erkennungsmarchen in einer Form vorgelegen haben, nach welcher 



Wiedererkennungam&rchen und Placidas-Legende. 


729 


der Held nicht ein Konig ist, der ein Reich verliert, sondern ein 
reicher Mann, der durch verschiedene, sich haufende Schicksals- 
schlage Vermogen und Stellung verliert. Derartige Expositionen 
der Erzahlungen fanden wir in den Miirchen von BeBarabien und 
Veles*). Vor allem ware hier das Verdingungsmotiv zu nennen, 
das uns in den Erzahlungen von Veles, Sophia, BeBarabien I and 
jetzt auch in Aram. I (W. Meyer 82) entgegentritt , das so gut 
zum Ton des Marchens paBt, daB man fast meinen konnte, wir 
batten es hier mit einem ihm urspriinglich angehorenden Zug zn 
tun. Dieses Verdingungsmotiv erscheint in der Legende bekannt- 
lich wieder, nnr daB es hier nicht mit der Person des Helden, 
sondern mit dem der Erau verbunden erscheint. Die Schicksals- 
- frage im Anfang der Erzahlnng ist Gemeingut gerade unserer 
Gruppe und der Legende. Auf die Tatsache, daB wiedernm in 
beiden Zeugen die Erzahlnng vom EluBiibergang am besten be- 
wahrt ist, komme ich im Lauf der Untersuchnng noch einmal zuriick. 
Eine immerhin bemerkenswerte und innerhalb der Gruppe singn- 
lare Beruhrnng mit der Legende zeigt endlich noch BeBarabien I. 
Hier and nur hier warden wir, wie in der Legende, in die Umwelt 
des Militars versetzt, die beiden Sohne werden Burschen bei Offi- 
zieren am Hofe des Konigs, wie in der Legende Centurionen oder 
Tischgenossen beim Eeldherrn ; sie lassen sich eines Abends in der 
Nahe der Matter, welche die Frau eines Offiziers am Hofe ge- 
worden ist, nieder und erzahlen sich ihre Geschichte. 

Aber wie gesagt. das alles laBt sich auch, mit Ausnahme der 
letzten Beobachtung , soweit es nicht auf Zufall beruht , genau 
so gut von der Yoraussetzung aus erklaren, daB diese Glieder in 
der langen Uberlieferungskette des Marchens uns hier und da die 
Form erhalten haben (sei diese die urspriingliche oder eine sekun- 
dare), in der der Verfasser der Legende das Marchen benutzte. 

W. Meyer urteilt zum SchluB seiner zweiten Untersuchung 
(S. 92 f.) : ,,Deshalb kann ich Boussets These, diese Geschichte sei 
in alten Zeiten beim indischen Volk in aller Stille geboren, dann 
durch verschiedene Volker Asiens langsam weiter gewandert und 
zuletzt in Griechenland durch Umwandlung in die Placidas-Legende 
wiedergeboren und literarisch fixiert worden, nicht fur richtig halten. 


1) Man Tergleiche auch die Fassung von Sophia : der Konig Peter verlaBt 
sein Reich wegen der Schicksalsschlage, die ihn treffcn. 

2) Man konnte fast geneigt sein, bei diesen ganz singularen Zugen eines 
einzelnen Gliedes der Gruppe einen spateren RiickeinfluB der Legende anzu- 
nehmen. 



730 


Wilhelm Bousset, 


Denn wie konnte ein Stuck der noch fliissigen W'^andergeschichte 
mit der noch nicht fixierten Legende wortlich und sachlich gleich 
sein“. Ich glaube gezeigt zu haben, aus welchen Griinden diese 
Beweisfiihrung fiir mich nicht iiberzengend sein kann. 

Anhangsweise seien hier noch die von Liidtke in der BeUage beigelegten 
Marchen , das serbische aus Bosnien (Nr. 5) , das bulgarische aus Demirhissar 
(Nr. 4) kurz behandelt. Sie weichen beide stark von dem bisher behandelten 
Typus ab und stellen nns vor ein neues Problem, das in diesem Zusammenhang 
leider nur gestreift werden kann. Zunachst ist za notieren, dafi sowohl die 
bosnische, wie die bulgarische Erzahlung wiedernm im Anfang das Motiv der 
Schicksalsfrage bieten. In dem Marchen von Demirhissar geht der Held der Er- 
zahlung in den Wald , um Holz zu hacken. Es ist ein alter Mann , der ihm 
die Frage stellt. In dem bosnischen Marchen kommt eine Stimme aus einem 
Steinhiigel, die einem alten(!) Mann die Wahl anbietet. Dann finden wir den 
FluBiibergang in der Fassung unseres Typus: der eine Knabe vom Wolf geraubt, 
der anclcre vom FluB fortgerissen. Danach gehen beide Marchen ihre eigentiim- 
lichen und wunderlichen Wege. Doch in hohem Mafie beachtenswert sind die 
neuen Motive, die sich hier einstellen. Im bosnischen Marchen verkauft der 
Mann seine Frau (hier ein altes Miitterchen I) an einen Reiter. Das erloste Geld 
wird von einem Vogel geraubt. Nachdem der V ater seine Sohne wiedergefunden, 
entdecken die Sohne in einem Vogelnest einen Hut voller Dukaten, das vom Vogel 
fortgeschleppte Geld. Sie finden dann die Frau als reiche Herrin und zwar als 
Mann verkleidet wieder. Auch in dem Marchen von Demirhissar verkauft der 
Mann seine Frau, und wird das Geld ihm gestohlen. Die beiden Motive Verkauf 
der Frau (und deren Verkleidung) , Raub des Geldes durch einen Vogel fuhren 
uns hiniiber zu dem mittelaMerlichen Dichtungskreis, den ich im ersten Aufsatz aus- 
fuhrlicher besprach (rgl. S. 617). Sind hier Einfliisse vom Westen nachtraglich heruber- 
gedrungen, so dafi sich hier der Kreis der Wanderung geschlossen hatte? Oder 
deuten diese Erzahlungen den Weg an, auf dem unser Wiedererkennungsmarchen 
im Mittelalter in die germanisch-franzosisch-englische Dichtung gewandert ist? 
Dann wurden meine Vermutungen im ersten Aufsatz S. 541 zu revidieren sein. 
Ich fiihle mich augenblicklich aufier Stande dies Problem zu Ibsen. 

vni. 

Ich komme zu dem Versuch eines Uberhlickes iiber das Gauze. 
Das Material hat sich derart gebauft, die Verwandschaftsverhalt- 
nisse der einzeluen Glieder und Gruppen sind derart durcheinander 
gewirrt, dafi es schwer wird, aus diesem Marchenwald und dem 
Dickicht sich kreuzender und verastelnder Beziehungen wieder 
herauszufinden. 

Ich versuche noch einmal die Hauptpunkte, auf die es an- 
kommt, heranszuheben. In der weitaus verbreitetsten Form des 
Marchens ist der Held ein Konig, der sein Reich verliert, die Le- 

1) Das „sachlich“ steht hier m. E. falsch; nar „wbrtliche“ Cbereinstimmung, 
etwa in ganz charakteristischen Ausfuhmngen, Reden u. dgl. konnte beweisend sein 



Wiedererkennungsmarchen und Placidas-Legende. 


731 


gende hat einen Feldherm, der dnrch verschiedene Schieksalsschlage 
sein Vermogen und seine Position verliert und deshalb auswandert, 
in einigen Griiedem der Nomaden-Gruppe ist der Held ein reicher 
Mann, der ebenfalls durch gehaufte Unfalle sein Vermogen verliert 
und sein Land verlaBt ^). — Die Schicksalsfrage am Anfang hat 
die Legende in der Fassung G gemeinsam mit der Nomadengrnppe. 
In dieser Gruppe ist der Schiffsherr und die Entfiihrung der Frau 
auf dem Schiff — sicher ein tfrzug des Marchens — verchwunden, 
wir finden dafiir einen Kaufmann, der mit einer Karawane umher- 
zieht, also das Milieu der Steppe. Die Legende steht auf Seiten 
der Mehrheit der Zeugen und der nrspriinglichen Uberlieferung. 
Der tJbergang uber den Flufi ist am besten erhalten in der No- 
madenform des Marchens, der Legende und der altesten indischen 
tiberlieferong (Patacara-Legende). Das Motiv der marchenhaften 
Kbnigswahl hat sich erhalten in der Nomadenform, in den Haupt- 
zeugen des indischen Kreises, in der Erzahlung aus lOOl-Nacht 
(Nr. 1), die iibrigens in Indien lokalisiert ist; es ist weithin ver- 
schwunden, auch in der Legende. Die charakteristische Szene, in 
welcher die beiden Sohne auf dem Schiff des Kaufmanns ihre 
Mutter bewachen und sich ihre Geschichten erzahlen, hat sich er- 
halten in der (indischen) malayisch bugischen Fassung (Kaschmir 
ist undeutlich geworden), in der Erzahlung aus lOOl-Nacht (Nr. 1), 
in der jiidisch-mozarabischen Uberlieferung und in der Sophioter 
Erzahlung, die hier in bemerkenswerter Weise von ihrer Gruppe ab- 
weicht. Sie ist ver.schwunden und mubte infolge der andern Exposition 
verschwinden in der Nomadenform; die Placidaslegende steht hier 
ganz abseits vom Strom der Uberlieferung und findet in BeBarabien I 
(s. 0 .) eine gewisse Parallele. Zum SchluB spaltet sich die Uber- 
lieferung in zwei Varianten, die beide gleich urspriinglich aus- 
sehen. Nach der indischen Uberlieferung (Kaschmir, Pendschab, 
bughisch-malaische Fassung), sowie nach der jUdisch mozarabischen 
Uberlieferung (Nr. 3 — 5) fiihrte die Mutter durch eine List, falsch- 
liche Beschuldigung ihrer Sohne, die Endentscheidung herbei ; nach 
den ubrigen Zeugen, namentlich in der Nomadenform, erhebt der 
Kaufmann die Anklage und fiihrt sein Geschick selbst herbei. 
Die Placidaslegende steht wiederum ganz abseits. 

Deutlicher haben sich in der Untersuchung die einzelnen Haupt- 
gruppen von einander abgesondert. Die armenisch-tiirkisch-ara- 
maisch'bulgarisch-serbische Fassung schlieBt sich zu einer deutlich 


1) Auch in der judisch-mozarabiscben tberlieferung (Nr. 3—5 meiner Zah- 
Inng) handelt es sich um einen reichen Kaufmann oder einen armen Holzhacker. 

Kgl. Oe«. d. WiK. Nachricbten. Pl«l.-hist. Klasse. 1917. Heft 5. 49 



732 


Wilkelm Boasset, 


erkennbaren Einheit, der Nomadenform, zasammeH. Ihr treten di« 
iibrigen Zeagen : die indischen (mit Ausnahme etwa der Pendschab- 
Erzahlung), die Erzahlong in 1001-Nacht (Nr. 1), die jadisch 
mozarabische IJberlieferung als eine — wenn aach nicbt so deut- 
lich erkennbare Einheit gegeniiber, der im groBen und ganzen 
die relativ bessere und urspriinglichere Tradition zugesprochen 
werden mu6. Die beiden Legenden, die Placidas-Legende and die 
altindische Patacara-Legende stehen jede fiir sich, abseits vom 
Hauptstrom. 

Fiir die erstere, die ja eine eigentiimliche Verwandtschaft mit 
der Nomadengruppe im einzelnen zeigt, doch aber wieder in dem 
Hanptpqnkt (Motiv des SchifPsherm) nnabhangig von jener dea 
Archetypus rein bewahrt hat, wird man annehmen diirfen, daS sie 
aus dem Seitenzweig der Uberliefernng stammt, ans dem sich dans 
spater jene Steppen-Rezension gestaltete. 

Aber nirgends ist das Urspriingliche ganz rein erhalten, bald 
neigt sich die Entscheidnng der einen, bald der andern Seite zu. 
Und wiedernm durchkreuzen sich die Beziehnngen innerhalb der 
einzelnen Crruppen ; sehr haufig springt das eine oder andere Glied 
von seiner Grnppe ab und gesellt sich znr Gegenseite. Daneben 
verschlingen sich neue Marchenmotive mit der alten Erzahlung. 
Jedenfalls liegt der noch recht dentlich erkennbare Archetypus 
der Erzahlung hinter alien Gruppen und alien Einzelgliedern. 

"Was nun die Frage nach der urspriinglichen Heimat des 
Marchens betrifft — ich betone iibrigens, da6 auch mit der even- 
tuellen Annahme einer westlichen Heimat desselben seine Prioritat 
vor der Placidas-Legende durchaus bestehen bleibt — so muB ich 
nach wie vor daran festhalten, daB die Patacara-Legende in den 
Kreis unsrer Erzahlungen hineingehort, daB diese aller Wahrschein- 
lichkeit nach eine buddhistische TJberarbeitung eines altern volks- 
tumlichen Marchens ist, daB die Nachkommen dieses Marchens noch 
heutigen Tags in der Welt indischer Kultur von Kaschmir bis zum 
malaiischen Archipel vorhanden sind, und daB damit ein Alters- 
beweis geliefert ist, der die Annahme einer indischen Heimat un- 
seres Marchens auBerordentlich wahrscheinlich , wenn nicht sicher 
macht. 

Zugleich glaube ich, daB sich die Wandemng unseres Marchens 
Tiber die weite Welt von dieser Annahme aus am besten erklart. 
Wie ich mir diese Wanderung denke, habe ich in meinem ersten 
Aufsatz S. 541 f. kurz dargelegt. Das neue Material , das sich 
seitdem hierzu gefunden hat, fiigt sich vortrefflich in das gezeich- 
mete Bild ein. Wir begreifen, wie das MSrchen von seiner in- 



Wiedererkenmmgsmarchen und Placidas-Legen^. 7^ 

dischen Heimat so weit nach dem Osten nnd Sudosten, bis Celebes 
and znm malaiischen Archipel wandern konnte. Namentlich er- 
klart sich von bier aus die Entstehung der Nomadenform anseres 
Marchens vortrefflich. In den Jahrhnnderten, in denen die nord- 
indischen Reicbe der ersten ehristlichen Jahrhunderte bliihten and 
ihren EinfluB bis tief in die G-ebiete des iranischen Reiches nnd 
dariiber hinaus nach West- nnd Ost-Tnrkeslan erstreckte , mag 
unser Marchen zn den tiirkischen Steppen-Stammen Tnrkestans 
gewandert nnd dort seine neue Form erhalten haben. Tiirkischs 
Stamme haben es dann anf ihrer Wanderong auch in den Westen 
des kaspischen Meeres, nach Armenian, in das Gebiet, wo die ara- 
maische Znnge noch zu Hause war, ja bis nach BeBarabien ge- 
bracht. Von ihnen haben Bulgaren and Serben es iibernommen. 
Alles begreift sich von hier ans anf das Beste, nnd nnser Marchen 
wnrde ein neues Beispiel fiir die Frnchtbarkeit der knltnrellen 
Beziehungen bilden, die sich auf dieser alten HeerstraBe der Kultur 
ansbildeten nnd von der wir jetzt staunend dnrch die Fnnde in 
Ost-Tnrkestan verbiirgte Kunde erhalten *). 

Ich gestehe gern, daB das zuletzt Ausgefuhrte nur ein Dentnngs- 
versuch eines vorliegenden Tatbestandes ist, der keineswegs jede 
andere MogUchkeit ausschlieBt. Aber was ich behanpte ist, daB mein 
Schliissel besser schlieBt, als die Hypothese W. Meyers, nach der 
im siebenten Jabrhandert sich ans der mittleren Partie der Placidas- 
Legende das Wiedererkennungsmarchen sich losgelost hatte, um dann 
seine Wanderung liber die weite Welt anzntreten. Ich meine, daB 
die letztere Losnng des Ratsels schon von starken anfieren Schwie- 
rigkeiten bedriickt ist. Sie wiirde bereits fast unmoglich sein, 
wenn Chauvin mit seiner Catiernng des jiidischen Legendenkreises 
in 1001-Nacht nnd. damit des in ihm sich lindenden jiidischen Mar- 


1) A. Kuhn urteilt in seiner Untersuchung (Abhandl. d. Akad. Miinchen 1897 
Bd. XX I, S, 38) iiber die Wanderung des Barlaam-Joasaph-Romans von Indien 
nach dem Westen bis in die christliche hagiographische Literatur: „uberhaupt 
ieigt f erade das Radloifsche Werk (Volksliteratur der tiirkischen Stamme), welche 
bedeutende Eolle diese iranisch - tiirkischen Grenzgebiete (des indischen Kultur- 
reiches) in der Verbreitung des Erzahlungsstoffes gespielt haben (woriiber man 
Bemerkungen im Lit.-Bl. f. orient. Philol. Ill 115 vergleichen mag), und der Bar- 
laam und Joasaph ist nur eine weitere Bestatigung derselben". Unter den ma- 
nichaischen Fragmenten, die Le Coq in Turfan (Chotscho) fand, finden sich zwei 
Fragmente, die darauf hindeuten, dafi die einem alten tiirkischen Reich Ost- 
Turkestans angehorenden Manichaer den indisch-christlichen Barlaam- Joasaph- 
Roman in tiirkischer Sprache besafien. Vgl. Le Coq S.-Ber. d. Berl. Akad. 1912, 
1208- Abhandl. d. Berl. Akad. 1911, Turkische Manichaica aus Chotscho 1 1 IF. 
und dazu Luders S. Ber. Berl. Akad. 1914, 100. 


49 * 



734 Wilhelm Bousset, 

chens Recht behielte. Aber aach abgesehen davon hanfen sicb 
bei naherem Zasehen die Schwierigkeiten. Der Beginn der Wan- 
derung nnseres Marchens wurde nach Wilhelm Meyers Aaffassong 
erst za einer Zeit begonnen haben, in der der Islam sicb wie ein 
Bollwerk awischen den christlicben Westen und den fernen Osten 
(etwas spater anch zwischen den indischen Siiden und die Steppen- 
gegenden von Turkestan) einscbob. Dafur dad in dieser Zeit ein 
europaisches Marchen, aus christlichem Milieu entstanden, nocb 
seine Wanderung nach Indien und weit daruber hinaus angetreten 
hatte, fehlt uns jegliches Analogon, dafi man aber andrerseits zur 
Erklarung der weiten Verbreitnng desselben im Osten nicht mit 
den Zufalligkeiten modernen Verkehrs und etwa christlicben Missions- 
einflusses zu rechnen hat, glaube ich erwiesen zu haben. Dazu 
fugt sicb Grlied an Glied in der Kette der Uberlieferung viel zu 
gut. Und eine Reihe von verbliiffenden Einzelheiten, so die enge 
Bervihrung der beiden Erzahlungen von Kascbmir und Befiarabien, 
der indischen Erzahlungen mit denen von 1001-Nacht, bleiben vollig 
unerklart. 

Doch alle diese auBeren Bedenken gegen W. Meyers Ableitung 
des Marchens aus der Legende wiegen mir kaum so schwer, wie 
die Abwagung der inneren Griinde, der ich mich jetzt zuwende. 

Wilhelm Meyer hat S. 786 ff. seines ersten Anfsatzes in der 
Tat auch seinerseits den letzten entscheidenden Beweis fiir seine 
These dadurch zu fiihren gesucht, daB er „die orientalische Ur- 
form“ des Marchens von Punkt zu Punkt mit der Placidas-Legende 
verglich. Und der Vergleich ergab nach seiner Meinung iiberall 
die Prioritat der Legende gegeniiber den Marchen. Der Beweis 
iiberzeugt mich nicht, und meine entgegenstehende Auffassung 
griinde ich auf eine allgemeine Beobachtung. Es scheint mir namlich 
auf der Hand zu liegen, daB wir.in der „orientalischen Urform“ 
ein echtes Marchen vor uns haben.. Kein storender Zug ist 
darin, der nicht in das Gebiet des Marchens hineingehorte. Dem- 
gegenuber hat auch die Wiedererkennungsszene der Legen(k den 
Marchenton weithin noch erhalten ; aber dieses Marchen ist in eine 
Welt hineingeriickt, in die es eigentlich nicht hineinpaBt; und so 
ist die schone Harmonic der einfachen Marchenerzahlung vielfach 
gestort. Das gilt es im einzelnen zu beweisen. 

In der Urform des Marchens ist der Held ein Konig, der sein 
Reich gewinnt und wieder verliert. Sein Reich liegt irgendwo, 
sein Name wird nicht genannt, oder er heiBt einfach Konig Peter. 

In andern sekundaren Ausgestaltungen des Marchens handelt 
es sich um irgend einen Kaufmann, einen Holzhacker, einen reiohem 



Wiedererkennungsmarchen nnd Placidas-Legende. 


735 


Mann. In der Legende ist der Held Placidas - Eustachins Feld- 
herr des Trajan. Es wird zum SchluB gar der tJbergang der 
Herrschaft von Trajan an Hadrian gemeldet. Schon dadnrch kommt 
eine Storung in die einheitliche Stimmnng der Erzahlung. Dieser 
Held der Legende ist in keiner der beiden Welten zn Hause, er 
gehort nicht in die Welt der Wirklichkeit nnd stort die Welt 
des Marcbens. 

Dem Konig des Marcbens stellt ein Genius oder eine Personi- 
fikation des Scbicksals die Erage, ob er sein Ungliick lieber in der 
Jugend Oder im Alter erdulden wolle. Ich glanbe nicbt falsch zu 
urtoilen, wenn icb bier einen ecbten Marcbenzug sebe. DaB mit 
solcben allgemeinen Hindeutungen auf das kiinftige Gescbick die 
Erzahlung eroffnet wird, ist Marcbenton (man vergleicbe etwa die 
Einleitung von Dornroscben). Dieser Zug findet sicb nun aucb in 
der griecbiscben Rezension der Legende. Aber er ist bier bereits 
entstellt. Die Frage lautet bier v5v . . . i;cl sa'y^atwv twv 
T ouTwv. Icb gebe W. Meyer recbt, wenn er S. 753 geneigt ist, 
diese AVorte auf das eschatologiscbe Gericbt zn beziehen. Aber 
dieses Entweder — Oder ist in unserm Zusammenbang sinnlos. 
Also ist der G-Text der Legende gegeniiber der fast einstimmigen ’) 
tiberlieferung des Marcbens sekundar. Die Legende bringt in 
dieses einen ganz fremden religiosen Ton hinein. Ich sebe schlechter- 
dings nicht ein, wie man dieses Urteil in sein Gegenteil verkehren 
konnte. Wilhelm Meyer freilich, der die Rezension G ftir sekundar 
ansah und das Marchen aus der sekundaren Rezension ableiten 
wollte, muBte diesen schonen Marcbenzug zur Erfindung eines 
motivierungssiichtigen Redaktors stempeln (S. 758), dessen Torheit 
und TJnzulanglichkeit hervorzuheben er nicht mude wurde. 

Der Konig wird im Marchen durch einen Nacbbar besiegt 
und verliert Sein Reich ; bier ist alles einfacb und klar. Aucb die 
Nebenform des Marcbens, die erzahlt: ein reicher Mann verliert 
durch fortgesetzte sicb haufende Ungliicksfalle all sein Hab und 
Gut und zieht aufier Landes, urn sein Heil in der Fremde zu ver- 
suchen, ist in sicb uberzeugend. Aber was sollen wir von dem 
romiscben Feldherrn Placidas sagen, der iiberNacbt durob allerlei 
Ungliicksfalle verarmt und nicbts andres zu tun weiB, als sicb an 
einen einsamen Ort zuriickzuziehen, sicb dort^) von Raubern aus- 

1) Nur im „Grafen von Savoyen“ (Jfr. 14) heiBt cs ebenfalls : „jetzt oder 
ewiglich“. Ich glaube, daB bier nur eine parallele Entwicklung, nicht Abhangig- 
keit von der Placidas-Legende vorliegt. 

2) Ich mu6 an meiner Auffassung des Textes gegen W. Meyers Ausfiihrungen 
759 festhalten. Der Text von Combehs lautet: ei: dva*e-/mpij(iEvov rorov. xal 



736 


WilliAla Beaiiet 


plimdern zn las3«n and dann ganz in die weite Welt zu yer- 
fchwinden ? Diese Metamorphose des Feldherm Placidas za einem 
wandernden Marchen-Helden hat schlechterdings keine innerliche 
tJberzeagan gskraft. 

Ich komme zum Raab der Frau. Der hose Schiffsherr, der 
die Frau auf sein Schiff raubt, sie dort in einer Kammer oder gar 
in einer Kiste (so die armenische und aramaische tlberlieferung) 
Jahre hindurch eingesperrt halt — ist doch deutlich eine echt 
erientalische Marchengestalt ^). Man wird auf den ersten Blick 
geneigt sein, die Legende, die den Schiffsherrn sehr bald sterben 
lafit, und der Frau dann eine verhaltnismaBig selbstandige StelTung 
zuschreibt, die so stark betont, daB die Frau in unberiihrter 
Keuschheit geblieben sei, fiir eine AbschwSchung und Abmilderung 
auf dem Boden okzidentalischer Kultnr zu halten : civis Romana 
sum ... a barbaro incontaminata. W. Meyer versuchte die um- 
gekehrte Beurteilung. Einem Orientalen erschien die allzu selb- 
•tandige Stellung der Frau nnmbglich. Daher anderte er. Man 
wird dagegen einwenden konnen, daB der Orientale ein anderes 
probates Mittel hatte, die selbstandig handelnde Frau in seiner 
Erzahlung einzufiihren, das ist das Motiv von der verkleideten 
Frau (Beispiele in meinem ersten Artikel S. 535 — 539). Immerhin 
es soli zugestanden werden: a priori durchaus unmoglich®) mag jene 
Konstruktion nicht sein. Und dennoch kann hier die Entscheidung 
fur die Prioritat der einen oder andern Fassung herbeigefiihrt 
werden. Man wird die Frage aufwerfen miissen, ob nicht die Um- 
anderung auf der einen oder der andern Seite eine Storung im 
Bahmen der Gesamterzahlung hervorgerufen hat. Und so mag 
schon hier darauf hingewiesen werden, daB in der Tat der SchluB 
nnsrer Erzahlung, die letzte Wiedererkennungs-Szene, durch die 
friihzeitige Beseitigung der Figur des Schiffsherrn in der Legende 
wenig iiberzeugend ausgefaJlen ist, wahrend das Marchen hier 
gerade eine iiberzeugende Kraft und Eleganz hat. 

Ich will nicht leugnen, daB gerade unter diesem allgemeinen 
Gesichtspunkt ein Grand W. Meyers fiir die Prioritat der Legende 


♦casajjiEVof tive; tiuv xaxo'jpymv t7,v avaj^iipTjSiv aicruiv, ^TreXSo'vxEj vuxto«, om-x'pjio’jjt 
Ttavta Ta bitdiiyo'na ouxuiv Iv te ypu3i’«> -/.at apyupitp xai lp.aTiap.ip, (o; fj-rjSh 
TtEoSai oiafat airuiv, itWjv iov -EpiEpE^Xr^vTO. 

1) Vgl. den hiibschen Hinweis W. Meyers S. 787 „irie noch heute solche 
Haremskisten auf den turkischen Passagierschiffen sollen zu sehen sein“. 

2) Ich mache ubrigens darauf aufmerksam, daJB gerade in einer orientalischen 
Form das Marchen (s. meine Nr. 4 . S. 487) stark abgemildert und der damo- 
niscke Schiffsherr ein braver Kaufmann geworden ist. 



WiedererkennnBgsmarchen and Flacidas-Legende. 737 

•inen starken Eindruck auf mich macht. Das ist der scheinbar 
recht nrsprtlDgliche Charakter der Legende in der Erzahlnng vom 
FlnBiibergang. Die beiden Bander werden bier Ton zwei verschie- 
ienen Tieren (Lowe and Wolf) geraubt. Diesen Doppelzng hat 
Bar die Legende, er kehrt erst in der europaischen mittelalter- 
lichen Dichtnng vereinzelt wieder, dagegen in keiner der vielen 
©rientalischen Formen. Die orientaliscbe Urform ist demgegen- 
iiber schwer zu erkennen, die Zengen Tariieren; sie scheinen in 
der Tat yielfach abgeschwacht und das rein marchenhafte Motir 
des Baabes durch die Tiere beseitigt za haben. Wenn andrerseits 
nnn die gesamte „Nomadengrappe“ *) wenigstens den Zng erhalten 
hat, da6 der eine Knabe durch einen Wolf geraubt, der andere 
Ton der Stromung fortgerissen wird, so konnte es fast so scheinen, 
als hatte die Legende hier allein das Ursprhngliche, das dann all- 
mahlich rerschwindet, und als stellte die „Nomadengrnppe“ eine 
XJbergangsstufe dar. 

Ich halte aber doch dafiir, daB eine andere Erklarung des 
Tatbestandes hier die wahrscheinlichere ist. Bei Lichte besehen 
ist die Erzahlnng der Nomadengruppe genan so marchenhaft, wie 
die der Legende. Es wird fiir die Legende eine Verdoppelung 
des Motivs (Raub durch zwei Tiere) stattgefunden haben, wie man 
das so oft in derartigen Erzahlungen beobachten kann*). 

Und an diesem Punkte durfen wir noch einmal auf die alt- 
indische Legende der Patacara zuriickgreifen. Auch hier wird nur 
der eine Sohn der Patacara durch ein Tier (einen Habicht) geraubt^ 
wahrend der andere vom FluS fortgerissen wird. An diesem 
Punkte benutze ich nun mit groBer Dankbarkeit die Nachweise, 
die W. Meyer S. 771 f. iiber die Parallelen unserer Erzahlnng in 
der tibetanischen Tradition beigebracht hat. Sie findet sich hier 
in doppelter IJberlieferung im tibetischen Kandjur und im Dsanglun ®) ; 
im Kandjur ist die Heldin Krisa Gautami, wie es scheint, eine 
Doppelgangerin der Patacara auch in der indischen TJberlieferung 
(W. Meyer 771), im Dsanglun er scheint sie wieder unter an- 
derm Namen. Das fiir uns in Betracht kommende Stiick, der 
charakteristische FluBubergang, ist in beiden gut erhalten. Und 
hier wird der jiingere Knabe von einem Schakal (Kandjur), von 

1) Vgl. ubrigens die sekundare Erzahlang aus 1001-Nacht in der Liste 
neines ersten Anfsatzes STr. 6. 

2) Vgl. W. Meyers Urteil S. 87 (wir raiissen sagen), dafi in der orientalischen 
Urform bei dem FluBubergang ein Lowe nicht rorkam — er war auch wirklicb 
fiber fliissig — sondem nur ein Wolf. 

8) Quellenangabe bei W. Meyer S. 771 f. 



738 


Wilhelm Bousset, 


einem Wolf (Dsangltin) geranbt (W. Meyer 773), der altere vom 
Flufi fortgerissen. Es stellt sich also eine fast verbluffend genaae 
tybereinstimmung zwischen einem Zweig der altindischen Tradition 
und der Erzahlung des Armeniers nnd seiner Sippe heraus. — So 
werden wir mit grofier Wahrscheinlichkeit urteilen durfen, da6 
tatsachlich die Variante : Eanb des einen Sohnes durch ein Tier 
(Wolf Schakal), Untergang des andern im Flufi, die TJrform des 
Marchens darstellt. Die Legende hat in eleganter Weise weiter- 
gebildet und gewissermafien vereinfacht. 

DaB der so weit bezeugte Zng von der Kronnng des Kbnigs 
durch den weiBen Elephanten oder den Konigsvogel ein echter 
Marchenzug ist und der urspriinglichen Tradition angehort, diirfte 
nun kaum nach dem oben beigebrachten Material bezweifelt werden. 
Dafi er in der Legende vom Feldherrn Placidas verschwinden 
muBte, liegt anf der Hand. Als Ersatz dafur bietet die Legende 
die nette Erzahlung von der Anffindung des Feldherrn durch seine 
alten Soldaten. 

Das Marchen fiihrt mit leichter Hand die beiden Sohne uner- 
kannter Weise in die unmittelbare Nahe des Vaters; sie werden 
Pagen, (Hr. 1); seine Trabanten (Nr. 2); er ernennt sie zu Kadis 
(Nr. 5); zu Wachtem des Frauengemachs (Erz. v. Pendschab) ; zu 
Beteldosentragern (bugisches Marchen) ; seinen unmittelbaren Dienern 
(Aram. 11). Der Zug hat sich, wie ich bereits betonte, auch noch 
in der griechischen Uberlieferung der Legende gehalten. Denn 
hier macht Placidas seine Sohne zu Tischgenossen. Das paBt 
nun freilich in die Erzahlungen der Legende gar nicht mehr hinein. 
Wie ist es denkbar, daB ein rbmischer Feldherr unbekannte Re- 
kruten zu seinen Tischgenossen macht ! ? Man sieht, die lateinische 
Fassung hat alien Grand, abzuandern, und wenn hier nun die Sohne 
als einfache Centurionen im Heere ihres Vaters erscheinen, so ist 
das Marchenhafte in der Tat grundlich beseitigt. Und nach allem 
Vorhergegangenen glaube ich nun urteilen zu durfen, daB die Ent- 
wicblong auf dieser einfachen und klaren Grundlinie verlaufen ist : 
Marchen zur Legende mit ihren Mischziigen bis zu der rationalen 
Umgestaltung des Lateiners. 

Und nun endlich der SchluB der Erzahlung! Ich freue mich 
mit W. Meyer darin iibereinzustimmen , daB auch er (S. 787) der 
urspriinglichen orientalischen Form den Zug zuweist, daB die Frau 
durch List, d. h. durch die falsche Beschuldigung ihrer Sohne, die 
letzte Jlntscheidung und die endgiiltige Wiedererkennung aller 
Glieder der Familie herbeifiihrt. Auch hat er erkannt, daB dieser 



Wiedererkennungsmarchen und Placidas-Legende. 739 

Zng sehr gut zu der Uberlieferung des Armeniers paBt, nach der 
die Frau ihrer Freiheit beraubt in einer Kiste eingesperrt ist ^). 

Dieser AbschluB des Marchens aber ist jedenfalls von un- 
mittelbar einleuchtender Kraft und uberzeugender Einfachheit. 
Grut ist auch die Variante, die wir nnnmehr als Uberarbeitung 
anzusehen haben, der ungerechte SchifPsherr iiberrascbt die Frau 
mit ibren Sohnen, rnft das Grericbt zur Siihne an und zieht so 
selbst sein Verderben herbei. Und nun sehe man den Schlufi der 
Legende sich an : Die Mutter erkennt ihre beiden Sohne ; nach Gr 
wartet sie einen Tag ehe sie irgend etwas unternimmt, nach L 
handelt sie sofort. Nach beiden eilt sie zum Feldherrn, um sich 
zu beklagen, daB sie als rbmische Staatsangehorige hier gefangen 
gehalten werde. Bei dieser Grelegenheit erkennt sie dann durch 
Zufall ihren Mann (an iiuBeren Kennzeichen). 

Wie ist doch hier alles maBig, ja schlecht motiviert! Warum 
gibt sich die Mutter ihren Sohnen nicht sofort zu erkennen, und 
wenn sie unsicher war, ob es wirklich ihre Sohne waren, warum 
forscht sie nicht bei ihnen selbst weiter nach?*). Und wie unmo- 
tiviert erscheint es, daB sie nun in dieser zweifeinden Stimmung 
ganz etwas anderes beginnt, als man erwarten sollte, und beim rb- 
mischen Feldherrn ihre Freiheit erbittet. W. Meyer muBte (S. 750) 
interpretieren : „zuerst will sie also feststellen lassen, daB sie ihre 
Mutter sein kann, daB sie nicht eine eingeborene Bauerin ist, son- 
dern eine Rbmerin . . . das zu konstatieren war vor Allen der 
romische Feldherr berufen. Das ist verstandlich“. Doch das ist 
alles doch nur zwischen den Zeilen gelesen und macht auBerdem 
die Sache nicht viel besser. Die ganze Motivieruug der Erzahlung 
ist einfach schlecht. Und das liegt daran, daB aus dem alten 
Marchen die beherrschende Figur des Schiffsherrn herausgebrochen 
ist und der Dichter der Legende nicht fahig war, eine glatte and 
saubere Erfindung an die Stelle zu setzen (s. o. S. 733). 

Die Legende ist nach alien inneren Anzeichen vom Marchen 


1) Freilich ist gerade bei dem Armenier von der List der Frau nicht die 
Eede. Der Archetypus muB auch hier konstruiert werdcn. 

2) Mit meisterhafter Klarheit ist das bereits von dem Herausgeber der Bol- 
landisten-Akten erkannt. Er bemerkt; qui pro mero figmento totam hanc histo- 
riam habent , possunt scriptorem hie inscitiae arguere. Etenim vero si fa- 
bulam texere luberet, nollemtalemmatremfingere, quae tenerrime 
filios diligat, dudum amissos doleat, ex signis indubiis tandem praesentes agnoscat 
. . . differatque tamen suum gaudium et amorem prodere, dum convenerit ignotum 
hactenus sibi hominem . . . exercitus dueem rogatura, ut se extorrem in patriam 
reducat. (Acta Sanct. Sept. VI p. 136 [Note p]l. 



740 


Wilkela Bem&£«t, 


abhangig. Es ist das ja an nnd fiir sich dcr wahrscheinliche Gang. 
Die frei sehwebende Dichtnng des Marchens pflegt sicb leicbt an 
Kguren der Sage, der Legende oder der Geschichte anzuheften. 
Dafiir aber dafi ans einer Legend® ein Marchen von so reinem 
€harakter wie das nnsrige entstehen, and dafi bei dieser TJmwan- 
delnng alle Stilmangel der Legend® verschwinden konnten, fehlt 
sair jegliches Analogon. 


IX. 

Wenn das aber richtig ist, dann ist zngleieh an gewissen 
Pnnkten wenigstens die Prioritst der griechisehen IJberliefernng 
der Legende vor der laieinischen anfier alien Zweifel gestellt. 
Entscheidend ist vor allem, dafi uns nnr G — nicht L — den aus 
dem Marchen stammenden Zng am Anfang — Wahl des Unglucks 
in der Jugend oder „m diesen letzten Tagen “ — noch erhalten hat. • 
Ans der Marcheniiberlieferang scheint anch der Zng in G za 
stanimen, dafi Placidas and die Seinen sich an einen einsamen Ort 
zuriickziehen , and dort von Ranbern bis auf die Kleider, die sie 
anf ihrem Leibe tragen, ansgepliindert warden (vgl. meinen Artikel 
S. 546 a. 479). Doch soil daranf kein allzu starkes Gewicht gelegt 
werden. Entscheidend aber ist wieder, dafi der echte Marchenzng, 
dafi der Feldherr seine von ihm nicht erkannten Sohne zn Tisch- 
genossen macht, in G erhalten geblieben, in L rationaii.siert ist. 
TJnd damit hangt dann offenbar eine andere Differenz zwischen G 
and L am Schlafi zasammen. G erzahlt, dafi der Feldherr sein 
Feldhermzelt in der Nahe des Gartens aafgeschlagen habe, in dem 
seine Fraa weilte, and dafi so die beiden Jiinglinge, eben seine 
Tischgenossen, in der Nahe and gerade bei jener Qaartier be- 
kommen batten. Dieser Zag der Erzahlnng verliert seinen Sinn 
wenn die Jiinglinge nicht die Vertraaten and Tischgenossen des 
Feldherrn sind, sonLm nur einfache Zentarionen. In L kommen 
die beiden Jiinglinge daher nar zafallig in den Garten der Frau. 
Und L hat hier iiberhaapt die fliissige and an diesem Pankt wohl 
motivierte Erzahlnng von G fast bis zar Unverstandlichkeit ge- 
kiirzt^). Dnd endlich — auch jener orientalische Zng in G, dafi 
die Mutter, die ihre Sohne erkannt zn haben meint, einen ganzen 
Tag wartet, ehe sie zum Feldherrn geht, erklart sich m. E. dann 
am besten, wenn dem Dichter der Legende die tlberliefernng des 
Marchens vorlag, in welchem fast iiberall die endgnltige Wieder- 


1) An diesem Eindruck kann mich auch die Erklarnng der Erzahlung in L 
bei W. Meyer S. 754 nicht irremachen. 



WiedererkMnanfgjBkrches mad Plaeidas-Legende. 


741 


•rkennung am folgenden Tage, Hachdem die Matter ihre Sohn* 
wkannt hat, stattfindet. L. der verstandige Bearbeiter bat dana 
aach diesen onpassenden Zng beseitigt. 

Dieser Tatbestand, dafi mit der Prioritat des Marchens vor 
der Legende zugleich die Prioritat der Rezension Gr der Placidas- 
Legende von L gesichert sei, dnrchschante anch W. Meyer durcb- 
ans, and deshalb mufite er den Versuch machen, die ganze Be- 
teachtnngsweise umznkehren and L der Placidaslegende ganz sm 
den Anfang zu setzen. Die folkloristiscbe und die rein textkri- 
tische Frage sind auf das engste mit einander verkettet. 1st aber 
W. Meyer der Nachweis fur die Prioritat der Legende nicht ge- 
langen, so mu6 sein TJrteil fiber das Verhaltnis von G nnd L bis 
zn einem gewissen Grade revidiert werden. 

Ich hatte deshalb meiner in der entgegengesetzten Richtung 
laufenden BeurteUung derSacblage folgend die Frage aufgeworfen. 
eb nicht dies Verhaltnis von G nnd L ein doppeltes sein konnte, 
so dafi ein gemeinsamer Archetypus nach verschiedener Richtung 
bearbeitet, hier erweitert dort verkfirzt ware. W. Meyer erklarte 
auch ein« solche vermittelnde Hypothese fur eine TJnmoglichkeit (761). 
„Denn von zwei Zeugen wird jeder zum Teil dasselbe aussageu 
wie der andere, zum Teil Eigenes; unmoglich ist, dafi der eine 
Zeuge erstens genau all das aussage, was der andere aussagt, dann 
aber noch eine Menge Neues“. Ich kann nicht linden, daB dieses 
Verdikt die Frage erledigt. Jener Tatbestand wiirde doch genau 
dann herauskommen, wenn von zwei Redaktoren eines gemeinsamen 
Archetypes der eine den Text erweitert, der andere verkfirzt hatte. 
Warum soUte das a priori unmoglich sein? 

Nun wiirde eine nochmalige Durchprfifung des Verhaltnisses 
der beiden in Betracht kommenden Texte der Placidas - Legende 
und die dabei notwendig werdenden schwierigen Einzeluntersu- 
chnngen aus dem Rabmen des gegenwartigen Aufsatzes heraus- 
faUen. M. E. wird man bei der gegenwartigen Textfiberlieferung 
iiberhaupt auf eine Herstellung des Urtextes verzichten mfissen. 
Ich beschranke mich noch auf einige allgemeine Bemerkungen und 
verweise dabei auf die neuen Beitrage zur Geschichte der Text- 
fiberlieferung von W. Lfidtke im folgenden Aufsatz. Ich gebe 
meinerseits nun gem zu, daB ich bei der Abfassung meines ersten 
Artikels im Vcrfolg der ffir mich entscheidenden oben zu- 
sammengestellten Beobachtnngen in einer Reihe von Fallen allzu 
schnell und offenbar irrtfimlich die Prioritat von G gegenfiber L 
behauptet habe. Ich lasse mich hier gerne belehren. Mir sollen 
die Pnnkte genfigen, die ich nunmehr durch erneute TJntersuchung 



742 


Wilhelm Bousset, 


(z. T. in den einleitenden Bemerknngen nnd vor allem in der so- 
eben gegebenen Darlegung) meine endgultig festgestellt zu haben ^). 

Ich mochte aber fiir meine These, dafi der Redaktor von L im wesentlichen 
die Erzahlung gekiirzt hat, noch eine Beobachtung ins Feld fiihren. Ich verweise 
auf die Schilderung der Hirschjagd des Anfangs in L: Inter quos erat unus 
pulcherrimus et omni decore mirabilis. Quern videns magister militum relictis 
omnibus qui apparuerant ei ipsum tantum persequebatur et deficientibns ad 
persequendum secum euntibiis ipse solus persecutus est eum in silva 
condensa. et pertransivit cervus in vertice montis .... Und nun vergleiche man 
damit die Erzahlung in dem Text von Combefis (mir zugiinglich bei Migne Patr. 
Gr. 105 Sp. 377 — 380) Oder den in der Acta. Wie viel anschaulicher ist hier die 
Jagdszene, vor allem die allmahliche LoslSsung des Placidas von alien sciaen Ge- 
nossen geschilders. Aus Psehmadts oben erwahnter Ahhandlung liber die Legenden 
von dem die Ilindin oder den Hirsch verfolgenden Jager lerne ich, vrie gerade 
dieser Zug der T rennung des Jagers von seinen Genossen charakteristisch fiir den 
ganzen zusammengehorigen Marchenkreis ist. GewiB der Zug findet sich auch im 
Lateiiier, aber wie ist er bier auf die wenigen Worte et doficientibus ad perse- 
queiidum secum euntibiis ipse solus zusammengedrangt ! Das ist nicht der Stil 
des iirspriinglichen Marchens und der ursprunglichen Legeuden-Erzahlung. Das 
ist genau derselbe Telegrammstil wie er am Schlufi in der Szene der Wiederer- 
kenniing zwiseben Matter und Sohnen vorwaltet: et ecce illi duo juvenes, qui erant 
centiiriones , ingressi sunt in quendam hortura , qni erat juxta tabernaculum , in 
quo adsistebat mulier, quae per fenestram intuebatur eos et ignorabat, quod esset 
mater eorum. 

Ich bekenne , dafi ich von hier aus in der Tat an vielen 
Punkten erheblich gunstiger iiber den langeren Text urteile, als 
W. IJIeyer. Auf Grund der Zusammenstellung , die er in seinem 
ersten Aufsatz S. 234 — 237 fiir den Anfang der Erzahlung von 
den beiden Texten gegeben, war W. Meyer seiner Sache iiberall 
a priori ganz sicher. Er urteilte einfach so: das Plus, das der 
Grieche bietet, ist im Zusammenhang der Erzahlung entbehrlich 
und deshalb G sekundar. Er sah und suchte dann iiberall in 
G die Absicht motivierender und den Stoff interessanter machender 
Ansmalung. G bat seinen Text „aufgeputzt mit unnbtigen ja sto- 
renden Lappen“. „ Auch hier nur die gewohnliche jammerliche Moti- 
viernngssucht des byzantinischen Umarbeiters und Ausmalers“. 
„der griechische Text mit vielerlei teils unnotigen teils abge- 
schmackten Lappen behangt“. Etwas seltsam sticht dagegen das 
Urteil ab (S. 761): „Dabei miissen wir dem bearbeitenden Griechen 
eine Art von Gewissenhaftigkeit zuerkennen“. „Unser erster grie- 
chischer Bearbeiter hat alle Bestandteile des lateinischen Textes 
iibernommen nnd alle in derselben Reihenfolge belassen“. 

1) Ich halte also fest an den Bemerkungen S. 545 des ersten Artikels Nr. 1. 
2. G. (7.) 10. 11. 12. 15. Rundweg aufgeben mufi ich Nr. 4. 5. (?) 8. 14. Die ubrigen 
halte ich fur wenig bedeutend. 



743 


AViedererkennungsmarchen nnd Placidas-Legende. 

Ich mnB gestehen , dafi ich in vielen Fallen der Beurteilung 
W. Meyers nicht zu folgen vermag. Ich finde, daB vielleicht nur 
an wenigen Punkten ein sekundarer Charakter von Gr sich so evi- 
dent heransstellt , wie die Prioritat von G wenigstens in einigen 
der von mir oben beigebrachten nnd in dieser Untersuchxing von 
neuem erharteten Beobachtungen. Ich will dafiir nur auf einen 
Fall hinweisen, bei dem W. Meyer mit ganz besonderem Nachdruck 
verweilt (756). In G wird erzahlt, dafi die HIrten, wie sie sahen, 
dafi das geraubte Kind nnverletzt vom Lowen weitergeschleppt 
wurde , darin ein Zeichen gbttlicher Vorsehung erblickten und so 
den Mut gefafit batten den Lowen anzugreifen. Ich kann bier 
wirklich nicht ,die gewohnliche jammerliche Motivierungssucht des 
bj’zantinischen Umarbeiters und Ausmalers' erblicken , sondern 
glaube darin nur den etwas reichlich kindlichen, uns allerdings 
fremd anmutenden Stil der Legende zu erblicken. Ich halte es 
wenigstens fur moglich, dafi der sehr verstandige lateinische Be- 
daktor diesen ihm iiberfllissig und cntbehrlich erscheinenden Einzel- 
zug gestrichen hat. Wenn W. Meyer dem umarbeitenden Griechen 
eine Art von Gewissenhaftigkeit zuspricht, so will ich gerne dem 
kiirzenden Lateiner ein gutes Mafi stilistischen Geschicks zusprechen 
er hat auf die Hauptmomentc der Erzahlung wohl Acht gegeben, 
das Notwendige herausgearbeitet und ist deshalb in flagranti nicht 
leicht zu ertappen. 

Noch einmal: ich verscbliefie mich dem Eindruck gar nicht. dafi 
G an manchen Punkten den Eindruck einer erweiternden tlber- 
arbeitnng macht, und neige mich nach wie vor einer vermittelnden 
Hypothese zu ’), sehe auch nicht ein, weshalb diese unmoglich sein 
sollte. 

Zum ScLluB mochte ich noch eine Frage stellen, deren Beantwortung ich 
Kundigeren uherlassen mufi und die uns zu einer Beurteilung des dritten Teils 
der Legende, des Martyriums, hinuberfuhren wurde. Als Datum des Martyriums 
des Placidas giht die Rezension L den 20. Mai an, samtliche andere Glieder der 
tiberlieferung, der griechisehe und der lateinische Text der Acta, der Text Com- 
befis, die spat-byzantinische Bearbeitung der Analecta Bollandiana, die syrische 
Uber'setzung^), die russischen Lese-Menaen des Metropoliten Makarij haben den 

1) AVie schwer oft bei der Beurteilung zweierTexte die Frage zu entsclieiden 
ist, ob der eine Text durch den Bearbeiter interpoliert oder der andere verkurzt 
und zusammengestrichen ist, dafur liegt ein gutes Beispiel in der Uberlieferung 
der Tobit-Erzahlung vor. Hier streiten die achtungswertesten Forscher bis zum 
heutigen Tage um die eine oder die andere Mdglichkeit. 

2) Bedjan, Acta Martyrum III 215—253 (vgl. p. 253). 

3) S. dariiber Herrn Dr. Liidtke im folgenden Artikel. Der Kopte hat den 
20. Dezember = Thoth der Agypter. Der Armenier (s. folgenden Artikel) a. d. 
Vni. Kal. Oct. = 22. September. 



744 


Wilhelm Bousset 


20. September. Die gelehrte Zusammenstellung in der Bollandistenausgabe (Acta 
Sanct. Sept. VI p. 113 ff.) zeigt, da6 in der Uberlieferang des Datums eine starke 
Schwankung rorliegt. Die Zeugen teilen sich in zwei groBe Gruppen. Nach den 
einen soil das Martyrium am 2. (1.) November stattgefunden haben (so namentlicb 
einer Reihe der abendlandischen Bearbeiter des Martyrologium Hieronymianum) ; 
die Uberlieferang der griechischen Menologien etc. tritt geschlossen fiir den 20. Sep- 
tember ein, daneben auch wichtige abendlandische Zeugen, anch das romiscbe 
Brevier. Fiir das Datum des 20. Mai ist in den Acta unter der Wolke des ange- 
fiihrten Zeugen nur notiert, das Manuscr. Casinense, d. h. eine der Handschrifte i 
unserer Rezension L, und ^illustrissimus de Aste in Notis ad Martyrologium Ro- 
manum**. Sollte wirklich in L die ^teste Uberlieferang unseres Martyriums vor- 
liegen, wie ist es dann zu erklaren, daB dessen Datum, der 20. Mai, so 
vollig verschwunden ist ? Bollten wir es nicht doch bier mit einer Redaktion zm 
tun haben, in der eine abweichende lokale Uberlieferang des Todesdatums einga- 
tragen ist ? 

Uberhaupt erheben sich, inbetretf des dritten Teiles der Legende noch man* 
cherlei Fragen. Lag dem Dichter der Legende bereits ein alteres Martyrium vor 
von einem sonst unbekannten und verschollenen Martyrer der fruhen Kaiserzeit 
dessen Name etwa Placidas war? Darauf konnte die Tatsache hindeuten, daB 
sowohl G wie L ziim SchluB die Erbauung einer basilica (eines oTzo; EuxTTjpto;) 
erwahnen, die spater iiber dem Grabe der Martyrer errichtet wurde. Wir batten 
in der Placidas - Legende dann eine Dichtung zu seben, die an eine schon vor- 
handene, gewiB sehr bescheidene kultische Uberlieferung angeknupft hatte*). 
Und diese Dichtung hatte dann erst den Placidas-Eustachius zum beriihmten Hei- 
ligen gemacht. Oder ist auch die ganze SchluBerzahlung vollstandig frei erfunden? 
Gegenuber dem bestimmten Hinweis auf Kult und Datum des Martyrium will mir 
das weniger wahrscheinlich vorkommen. 

DaB der Dichter der Legende auch zum SchluB mit uberkommenem Material 
arbeitet, ist ja freilich ganz sicber. DaB die Martyrer in einen gliihenden eisernen 
Stier geworfen, daB nach drei Tagen ihre Leichname ohne jede Brandspur, glan- 
zend wie Schnee aufgcfunden warden, daB diese dann von den Heiden, um sie 
der Verehrung der Cliristen zu entziehen, vergraben (resp. wie in der im folgenden 
erwahnten Legende in den FluB geworfen werden), daB die Christen sich heimlieh 
der Leiche bemachtigen, — das alles sind Zuge der Wanderlegende. H. Gunter 
Legendenstudien S. 20 f. hat eine Reihe von Parallelen zusammengestellt. Be- 
sonders und mit Recht verweist Gunter auf die genaue Analogie mit dem Marty- 
rium des Bischofs Philipp von Heraklea und seine.s Diakonus Hermes. 

Ob uns an diesem Punkt zur Verfolgung der Ubertragungen und Kombi- 
nationen, die hier stattgefunden haben, die liberlieferten Daten der einzelnen Mar- 
tyrien noch helfen werden? Bis jetzt ist es mir nicht gelungen, hier etwas Ent- 
scheidendes zu finden. Sollte es z. B. nur ein neckischer Zufall sein, daB das 
zumeist uberlieferte Kalenderdatum fiir den big. Hubertus der 3. November ist, 
wahrend die abendlandische Uberlieferung dem Placidas Eustaohius den (1.) 2. 


1) Eine gewisse Analogie zu dieser Annahme liegt nach dem Resultat der 
Dissertation von R. Gerhardt „Uber die Akten des hlg. Anthimus u. d. hlg. Se- 
bastianus“ (Jena 1915), auf die mich Reitzenstein verwies, in diesen Akten vor. 
(Zu ekiem vorgefundenen Namen wird im 6./6. Jahrh. eine Novelle erfunden.) 

2) Vgl. dazu noch Radennacher ,Hippolytus und Thekla“, S. 7/. 



WiedererkeDnungsMjirche* uad Plaeidas-Legende. 


745 


Norember gibt? Auch die yerschiedenen Daten in der Uberliefernng der Placidas- 
Legende konnten darauf hindeuten, da6 in ihr verschiedene Legendenhelden kom- 
biniert sind. — 

Dock mogen diese Fragen Berufeneren uberlassen bleiben. Der Beitrag, dos 
ieh zur Geschichte der mittlerenJPartie der Legende Ton neuem Torlege, wird da- 
durch ja weiter nicht berulirt. 


Naehtrag. 

Ich verweise auf £en Artikel von Clemen, Theol. Lit.-Zeit. 1917 
No. 13 nnd namentlich auf die Angabe dort tiber Darstellungea 
.der Visvantara-Legende auf den Stupas aus dem dritten oder zweiten 
vorchristlichen Jahrhundert. Bo us set. 


Inlialtsiibersicht. 

I. Allgemeine Charakterisierung der Placidas-Legende als einer Korapilation. 
n. Ein wahrscheinlicbes Datum fur das in 1001-Nacht aufgenommene jiidischa 
Marcbea. 

III. Die Patacara-Legende. 

IV. Die spatere indische Uberlieferuug, ihre Verzweigung und ihr Alter. 

V. Das Verhaltnis der indischen Uberlieferung zu den iibrigen Zeugnissen. 

VI. Die tatarisch-turkisch-bulgariscb-serbische Uberlieferung (vgl. im folgenden 
Artikel die entsprechenden Texte). 

VII. Die neuen *aramaischen Texte. Vergleich der Texte von V und VI mit 

dem armenischen Marchen; „die Nomadengruppe“, 

VIII. Vergleich der gesamten Zeugen , die sich herausstellenden Hauptgruppen, 

Urspriinglichkeit des Marchens vor der Legende. 

IX. Die beiden Rezensionen der Placidas-Legende. 



Jseue Texte zur Geschichte eines Wiedererkennungs- 
marchens und zum Text der Placidas-Legende. 

Von 

W. Lttdtke in Kiel. 

Vorgelcgt von R. Reitzenstein in der Sitzung vom 9. Juni 1917. 

A. Turko-tatarische und slawische Marche n. 

Bei den mannigfachen Beziehungen, die die Armenier des Kan- 
kasus zu den Tataren haben, und dem groBen EinflnB der tatari- 
schen Literatur auf die Kaukasusvolker muBte man mit der Mog- 
lichkeit rechnen, dafi anch das von Haxthansen im Auszuge mit- 
geteilte armenische Marchen nicht echt armenisches Giut, sondem 
auf eine tatarische Quelle zuruckzufiihren ist. Diese Moglichkeit 
wird zur GewiBheit nicht nur durch die von mir aufgefundene 
tatarische Variante, sondern namentlich auch durch die bulgari- 
schen Texte. Diese sind ebenfalls kein altslawischer Besitz, son- 
dern rniissen durch ein tiirkisches Mittelglied mit den kaukasi^chen 
Fassungen zusammenhangen. Bousset hat in dem voranstehenden 
Aufsatz dies ausfuhrlich erortert. 

1. Tatarisches Kindermarchen aus der Stadt Nucha (zwischen 
Tiflis und Baku), in russischer Ubersetzung mitgeteilt von S. Ab- 
durachman im Sbornik materialov dlja opisanija mSstnostej i pie- 
men Kavkaza, Vyp. 35, Tiflis 1905, Abt. II, S. 95—99 : ich gebe 
nur einen Auszug. 

Ein Konig traumt in einer Nacht dreimal, er werde im 
Kampf mit einem Feinde sein Eeich verlieren. TJm der Schmach 
zu entgehen, verzichtet er auf den Thron und verbirgt sich mit 
seinem Weib und seinen beiden Sohnen. Als sie eines Abends im 
Walde lagem, ruft ein Mann das Weib zu einer in der Nahe 
lagernden Karawane, um einer Frau in ihrer schweren Stunde zu 
helfen. Die Sohne schicken den Konig aus, ihre zu lange aus- 



Neue Texte znr Geschichte eines Wiedererkennungsmarchens usw. 747 

bleibende Mutter zu snchen; doch er fiudet keine Spur von der 
Karawane. Der eine Sobn wird im Wald von einem Wolf geraubt, 
der andere beim TJbergang eines Flnsses von der Stromnng fort* 
gerissen. Sie werden von einem Landmann nnd einem Muller ge- 
rettet und als eigene Sohne aufgezogen. In dem Lande, wo der 
unglncklicbe Vater schlieBlich lebt, stirbt der Konig. Die Wahl 
eines neuen Herrschers erfolgt durch den „Dewlet-Kuschi“ [Re- 
giernngsvogel], der sich dem unbekannten Fremdling dreimal auf 
den Kopf setzt. Den Befahigungsnachweis fiihrt er dadurch, da6 
er sich als erfeihren in der Schidahrt zeigt. Seine Sohne kauft 
er den Pflegevatem gelegentlich ab. Sie werden eines Abends 
abkommandiert, um die Waren eines reichen Kaufmanns zu be- 
wachen, der vom Konig zum Dank fiir kostbare Geschenke zum 
Abendessen und Nachtlager in den Palast eingeladen ist. Der 
eine Bruder erzahlt dem andern seine Geschichte, mn den Schlaf 
zu verscheuchen. Die Mutter belauscht in ihrem Zelte die Unter- 
haltung und ruft sie hinein. Morgens findet der Kaufmann die 
Diener des Konigs in seinem Zelte schlafen. Das Weib gibt dem 
Konig die notigen Erklarnngen; der Kaufmann wird aus dem 
Reiche ausgewiesen. 

S, M. Arnaudov weist in seiner Ubersicht liber die bulgarischen 
Volksmarchen drei Varianten der Erzahlung nach, die ich hier 
im Anszuge mitteile. 

Aus der Gegend von Veles (Kjopriilii), aufgezeichnet von 

D. Matov: Sbomik 5 (1891), Abt. HI, S. 170-172. 

Al s ein reicher Mann einst seine beiden Kinder auf Bitte 
seiner Frau, ihren Schlaf nicht zu stbren, nicht mit zur Kirche 
nahm, wie es seine Gewohnheit war, traf er unterwegs einen alten 
TVfnnTi mit weiBem Bart, der ihm die Wahl zwischen Ungliick jetzt 
Oder spater stellte*). Er beriet sich dariiber mit seiner Frau; 
kanm hatte sich diese fiir sofortiges Ungliick entschieden, als schon 
Feuer ihr Hans verzehrte. Mit zwei geretteten Broten und den 
beiden Kindern wanderte das arme Ehepaar nach der Stadt, fand 
aber dort keine Teilnahme. Auf der Riickkehr rasteten sie an 


1) Bulgarskite narodni prikazki : Sbornik za narodni umotvorenija 21 (1905), 
Abtfl, S. 86 f. Aufierdem notiert er noch; K. A. Sapkarev, Bulgarski prikazki i 
verovanija, Sofija 1894, Nr. 162 (schwache Reminiszenz am Anfang). 

2) Zum Thema derWabl hat Gerould Material gesammelt (ygl. Nachr. 1916, 
S. 550]. Ich rerweise noch aufler auf Zeitschrift- des Vereins fiir Volkkkunde 6 
(1896), S. 68 auf P. Kretschmer, Neugriechische Marchen, Jena 1917, Nr. 1, S. 1. 
In bulgarischen Marchen kommt es haufig vor: Tgl. J. Polirka, Sbornik za narodni 
umotvorenija 18 (1901), I, S. 625, Nr. 162. 

Kg). Gts. d. Wiss. Nachriclilen. Phil. -hist Klasse. 1917. Heft 5. oO 



748 


W. Liidtke, 


einer Quelle; wahrend der Mann im Schatten einer Eiche schlief, 
wurde die Frau von einem Kaufmann, der mit einer Karawane 
vorbeikam, entfiihrt. Beim Uberschreiten eines Flusses wurde der 
eine Sohn von einem wilden Tier geraubt, den andern lied der er- 
schrockene Vater ins Wasser fallen. Ein Konig, der gerade auf 
der Jagd war, rettete den einen; ein Fischer zog den andern aus 
dem Strom und gab ihn diesem Konig, der beide als seine eigenen 
Kinder erzog. Als sie herangewachsen waren, nahm der Konig 
fur sie einen Mann an, der ihre Trnthiihner und Granse httten 
muBte : und das war ihr Vater. Einst kam der Kaufmann mit 
der geraubten Frau an den Hof des Konigs. Auf seine Bitte, 
seiner Fran ein Zimmer anzuweisen und zwei Kawasse zu stellen, 
entsandte der Konig seine beiden Pflegesohne. Die Frau erkannte 
ihre Kinder und in dem Gansehirten ihren Mann. Sie fragte die 
Wachter nach ihren Schicksalen aus. Gliickliche Vereinigung. Der 
Kaufmann fand die drei am anderen Morgen schlafend in inniger 
Umschlingung. Er beschwerte sich beim Konig; da kam seine 
Untat ans Tageslicht. Die Fran lieB den Gansehirten herbeirnfen 
und Zeugnis ablegen, der Kaufmann wurde zum Tode verurteUt, 
seine Schatze erhielt das schwer gepriifte Ehepaar, da* dadurch 
reicher wurde, als es friiher gewesen war. 

3, Aus der Gegend von Sofia, aufgezeichnet von Vnkadinov: 
Sbomik 14 (1897), Abt. Ill, S. 128—131. 

Es war einmal ein Konig Peter, der jeden Tag nach seinem 
Landgut hinausritt. An zwei Tagen hinter einander horte er eine 
geheimnis voile Stimme, die ihn aufforderte zu wahlen, ob er das 
ihm bestimmte Geschick in der Jugend oder im Alter haben wolle. 
Nach Beratung mit der Konigin entschied er sich beim dritten 
Anruf fiir das erste. Da brach auch schon sein Pferd unter ihm 
zusammen, sein Landgut fand er in Flammen, und die Konigin 
kam ihm znhause weinend mit der Trauerbotschaft entgegen, ihr 
altester Sohn sei gestorben. Sie beschlossen, in die Welt hinaus- 
znziehen. Als sie ihre Geldkiste offneten, fanden sie sie leer, so 
dafi sie ganz verarmt mit ihren beiden iibrig gebliebenen Sohnen 
fortwandern mufiten. In einem fernen Dorfe nahm der Konig die 
Stelle eines Kuhhirten an und versah sie sehr gewissenhaft. Einst 
kam ein Kaufmann ins Dorf und fragte den Tschorbadschy [No- 
tablen des Dorfes], wo er gut seine Hemden waschen lassen konne. 
Die Arbeit wurde der Hirtenfrau zugewiesen und von ihr so sauber 
ausgefiihrt, dafi der Kaufmann neugierig wurde, sie zu sehen. Durch 
die Aussicht, mit ihm das Leben einer vornehmen Dame zu fiihren, 
bewog er sie, ihren Gemahl zu verlassen. Als der arme Peter 



Neue Texte zur Geschichte eines Wiedererkennungsmarchens usw. 749 

abends seine beiden Sohne allein in der Hiitte vorfand, zog er 
mit ihnen weiter. Beim FluBUbergang wurden sie ihm dorch den 
Wolf and die Stromung entrissen. In dem fernen Lande, wohin 
Peter schlieBlich kam, wurde ein Konig durch einen Vogel aas- 
gewablt. Als sich aber dieser auf den Fremden niederlieB, wollten 
die Leute von seiner Herrschaft nichts wissen. Sie sperrten Peter 
ein and gaben ihm nichts za essen and za trinken. Da aber gleich- 
zeitig aach der Vogel verschwand, blieben sie ohne Konig. Nach 
einem Jahr kiimmerten sie sich endlich um das Greschick des 
Fremden, auf dessen Scholter sie im Gefangnis aach den Vogel 
wiederfanden. Der Kuhhirt warde als Konig anerkannt and nahm 
seine herangewachsenen Sohne za Dienem an, ohne sie zu er- 
kennen. Einst kam ein Kaufmann an den Hof, der dem Konig 
etwas von Konig Peter erzahlen wollte. Die beiden Diener warden 
abgesandt, am sein Schiff zu bewachen. Der eine erzahlte seine 
Schicksale and fuhrte dadurch die Erkennung mit dem Bruder and 
mit der Matter auf dem SchifFe herbei. Der Kaufmann schiitzte 
vor, er habe noch etwas auf dem Schiff zu besorgen and werde 
spater von Konig Peter erzahlen, Der Konig beaaftragte ihn, 
seine Fran mitzubringen. Sie erschien auch mit den beiden Die- 
nern : den Kaufmann ereilte die gerechte Todesstrafe, die getrennte 
Familie wurde glucklich wieder vereinigt. 

4, Eine stark veranderte Form der Geschichte hat St. D. 
Bozev in der Gegend von Demir-Hisar aufgezeichnet (Sb. Nar. 
Umotv. 9, Sofija 1893, Abt. II, S. 169 — 171). Es wind zunachst 
von den reichen Eltern des Helden erzahit, deren kinderlose Ehe 
nach langem Flehen mit einem Sohne gesegnet wird. In der Nacht 
vor seiner Geburt sieht der Vater im Traume drei Frauen*), die 
das Schicksal des Knaben verkiinden. Als er herangewachsen ist, 
heiratet er ein schbnes Madchen. Eines Tages geht er in den 
Wald, um Holz zu holen; dort trifft er einen Greis, der ihm die 
Schicksalsfrage vorlegt. Er berat sich mit seiner Fraa, and sie 
entscheiden sich fiir Gliick im Alter. Schnell bricht das Ungluck 
iiber ihn herein. Der Wagen, auf dem er Holz nachhaase fahren 
will, bricht zusammen. Es kommen llngliicksbotschaften von seinen 
Pferde-, Kuh- and Schafhirten. Das Geld, das er aus dem Ver- 

1) Erzahlungen, in denen die Schicksalsfrauen {orisnici u. a.) vorkommen, 
verzeichnet Arnaudov a. a. 0. S. 83 ff. Vgl. Adolf Strausz, Die Bulgaren, Leipzig 
1898, S. ITOiF., 243 fF.; Albert Thumb, Die Schicksalsgottinnen im neugriechischen 
Volksglauben : Zeitschrift des Vereins fur Volkskunde 2 (1892), S. 123 — 134. Sis 
Sind auch den Rumanen bekannt- Laz&r Sainenu, Basmele romane, Bucuresci 
1895, S. 780 £F. 


50 * 



750 


W. Liidtke, 

kaaf seiner Acker nnd Wiesen lost, wird ihm gestohlen ; sein Hans 
brennt ab. Vergebens sucht das verannte Ehepaar Arbeit, so da6 
der Mann die Fran anf dem Bazar verkaaft. Der Erlos wird ihm 
gestohlen, wahrend er schlaft. Er wandert ans nnd ist 6 Jahre 
Schafhirt. In einem andem Dorf hiitet er 12 Jahre die Schafe 
eines reichen Mannes. Als dieser anf dem Totenbette liegt, empfiehlt 
er seiner Fran, den Hirten zn heiraten. Dieser will nicht nnd 
erzahlt dei^Witwe (d. i. seiner ehemaligen Fran) seine Greschichte, 
die nnnmehr ein gliickliches Ende erreicht. 

5. Eine andere schlecht erzahlte Fassnng hat Friedrich S. 
KranB ans der handschriftlichen Sammlnng „bosnischer“ Marchen 
mitgeteilt, die von den Schiilem der Djakovaer Geistlichen Schnle 
veranstaltet worden ist: Sagen nnd Marchen der Sndslaven 2 
(1884), Nr. 73 (nach S. XLII aufgezeichnet von dem Monche J. F. 
MiloS evic in Kregevo). Erne Stimme ans einem Steinhiigel stellt 
einen al ten Mann vor die Wahl. Die Fran rat ihm, znantworten: 
,Im Alter, denn meine Jngend hat mich schon verlassen“. Das 
alte Miitterchen wird von dem Mann nnterwegs als nnniitz fiir 
einen Hnt voll Dukaten an einen Reiter verkanft. Ein groBer 
Vogel stiehlt das Geld, wahrend der Mann schlaft. Er watet mit 
seinen z w e i Sohnen dnrch den FluB : der eine wird von der Stro- 
mnng fortgefiihrt, der andere am jenseitigen Ufer dem Vater von 
Wolfen entrissen. Nach drei, vier Jahren findet er seine Sohne 
wieder : er erkennt sie in den Dorfem, wo sie herangewachsen 
sind, an den Anspielnngen anf ihr merkwurdiges Geschick, die 
ihnen die jungen Burschen beim Steinwerfen znrnfen. Die Sohne 
entdecken anf dem Banme, unter dem ihr Vater vor Jahren ge- 
schlafen hat nnd jetzt wieder einnickt, ein groBes Nest: in ihm 
liegt der Hut voll Dukaten. Nach weitern zwei, drei Jahren 
kommen die doei in eine schone Stadt and hitten in einem herr- 
lichen Palast um Essen. Der Besitzer in pelzverbramtem Rocke 
erkennt sie wieder nnd kleidet sie in kostliche Gewander. Die 
Wiedervereinigung der Ehegatten wird dadurch noch etwas ver- 
zogert, daB die Alte zuerst ein Mannergewand anzieht. 

6. In dem bunten Volkergemisch Beesarabiens finden wir auch 
einen kleinen rechtglaubigen, aber eine tiirkische Mnndart spre- 
chenden Stamm, die Gagausen; sie sind zwischen 1750 nnd 1846 
ans Bnlgarien eingewandert, wo ihre Stammesgenossen am Ufer 
des Schwarzen Meeres wohnen. Bei ihnen hat V. Moschkoff zwei 
Varianten nnserer Geschichte aufgezeichnet, die ich ohne Kiirznng 
nach seiner mssischen Ubersetznng ins Deutsche iibertragen habe: 
W . RadlofF, Die Sprachen der tiirkischen Stamme. 1. Abth. Proben 



Neue Texte zur Geschichte eines Wiedererkennungsmarchens usw. 751 

der Volkslitteratur. Theil 10, No. 38 and 38a, Petersburg 1904, 
Text S. 54—56; Ubers. S. 55-B8. 

„No. 38. Marchen iiber das Thema ‘vom groBen Dulder Hiob’. 

Es war eininal ein reicher Mann, der in der ganzen Welt be- 
kannt war. Eines Tages sprach er bei sich selbst : Ich will geben 
und meine Herden besehen. Er kam an einen Brunnen und legte 
sich schlafen. Im Traume erschien ihm sein Ungliick^) und fragt: 
Soli ich in der Jugend zu dir kommen oder im Alter? Als er 
erwacht war, iiberlegte er: Moge es in der Jugend kommen! Er 
macht sich auf den Heimweg, schaut hin, seine Ochsen brennen. 
Er kommt nachhause — seine Hauser sind abgebrannt. Dem 
Manne blieb nur seine Frau und zwei Kinder iibrig. Was thun? 
sagt er; ich will gehen und irgendwo Arbeit suchen und mich 
ernahren. Er geht und wird als Arbeiter in einem Gemusegarten 
angenommen. Als er sich bei dem Gartner verdungen hatte, kam 
ein Herr an und fiihrte ihm seine Frau weg. Dieser Herr nun 
war einer von den zwolf Vertrauten des Konigs. Der Mann nimmt 
die Kinder und macht sich vor Kummer auf den Weg, wohin die 
Augen schauen. Er kommt an einen Flu6 und machte Halt. Er 
nimmt den altesten Sohn, um ihn durch den FluB zu tragen, und 
lieB den jiingern am TJfer zuriick. Wahrend er durch den FluB 
ging, trug den jiingem Sohn ein Wolf fort. Den altern brachte 
er hiniiber und kehrt zuriick, um den jiingern zu holen; doch in- 
zwischen wurde auch der altere fortgeschleppt. Der Mann verdang 
sich als Hirt. Seine Kinder nber waren inzwischen von Bauern 
gerettet worden. Sie wuchsen heran, gingen unter die Soldaten, 
und wurden beide am selben Orte Burschen bei Offizieren. Doch 
sie wuBten nicht, daB sie Briider waren. Einer der Offiziere war 
gerade der Herr, der ihre Mutter geraubt hatte. Ernst saBen sie 
abends und unterhielten sich. Ein Wort gab das andere, und sie 
begannen zuriickzudenken, wie ein jeder friiher gelebt hatte. Die 
Frau dieses Offiziers belauschte ihr Gesprach und erkannte, daB 
es ihre Sohne waren. Alle drei umarmten sich und weinten. Zu 
dieser Zeit starb der Konig, in dessen Dienst die Burschen standen. 
Die Altesten versammeln sich, um einen neuen Konig zu wahlen, 
und wahlen gerade jenen Mann, dem der vornehme Herr die Frau 
geraubt hatte. Die Sohne horten den Familiennamen des neuen 

1) Text; gorgy. — Eine Personifikation des Scbicksals z: B. auch bei Laura 
Gonzenbach, Sicilianische Marchen, Nr. 52, S. 335; Nr, 55, S. 352 (geheimnisvolle 
Stimme). Ygl. ferner A. N. Veselovskij, Razyskanija XIII. Sud'ba-Doija : Sbornik 
Gtdeleni^ russkago jazyka 46,6 (1839), S. 173—260; P. Kretschmer, Neugriechi- 
:sche Marchen, S. XII. 



752 


W. L u d t k e 


Konigs nnd sprechen: 1st das nicht nnser Vater? Sie schicktea 
einen Brief an ihn ab. Ihre Vernmtung erwies sich als richtig. 
Der Konig kam und schnitt dem Offizier, der seine Fran entfiihrt 
hatte, den Hals ab.“ 

7. ^No. 38 a. Variante von No. 38. 

Ein Konig fiel in Armnt, nahm Fran nnd Kinder nnd ging 
in ein anderes Reich. Er kam in ein Dorf nnd verdang sich als 
Hirt. Einst^ trieb er die Kiihe in ein Saatfeld, und sie rissen anch 
nicht ein Ahrlein aus. Doch wer weiB wie es znging — abends 
kam die Knh eines Bauern nicht nachhause. Die Lente liefen zu- 
sammen und schelten den Hirten. Er ging fort nnd sagt: Diese 
Gelder bringen mir kein Gliick, ich habe sie fortan nicht notig. 
Er verliefi den Ort nnd vermietete sich als Weinbergswachter. Er 
diente dort drei Wochen und brachte einmal znsammen mit dem 
Herrn nnd einem nenen Arbeiter Friichte auf den Markt. In- 
zwischen wnrde seine Fran fortgeschleppt. Als er sie nicht fand, 
sprach der Mann zu den Kindern: LaBt nns fortziehen, hier ist 
fiir nns ein Unglticksort ! Sie kamen an einen FloB, er machte 
eine Schankel nnd setzte eins der Kinder hinein : das andere aber 
schleppte ein Wolf weg, Der Vater fiel ins Wasser, nnd ein Fisch 
verschlang ihn. Einer seiner Sohne geriet nnter Fischer, und der 
andere wnrde von Hirten gerettet, blieb bei ihnen nnd wnrde selbst 
Hirt. Der Vater begann den Fisch zu bitten: ‘Lafi mich herans. 
Sie werden einen neuon Konig wahlen, wenigstens will ich hin- 
gehen nnd znsehen’. Der Fisch ging ans Ufer nnd spie ihn ans. 
Er zog Bastschnhe an nnd wanderte bin. Es war eine Bekannt- 
machnng fiber die Kfinigswahl erlassen worden, und alle Welt 
versammelte sich. Er kam hin nnd stand weit ab. Sie lieBen den 
Dfivlet-Kusn [den Regierungsvogel] los : auf wessen Kopf er sich 
setzt, der soil anch Konig werden. Der Vogel flog nnd setzte 
sich anf seinen Kopf. Alle riefen: ‘Das ist ein Irrtnm!’ Sie 
setzten den Vogel in ein Bauer, bewachten ihn drei Tage, 
liefien ihn los: wiederum setzte er sich ihm anf den Kopf. Wie- 
derum sagen sie: ‘Irrtiimlich hat er sich hingesetzt!’ Von nenem 
bewachten sie den Vogel; doch als sie ihn loslieflen, setzte er sich 
von nenem ihm auf den Kopf. Sie sprechen: ‘Er soil Konig sein!’ 
Sie kleideten ihn ein. Seine Sohne aber kamen zu ihm und wurden 
als Diener angenommen. Einmal begannen sie, von ihrem Leben 
zu erzahlen. Beider Berichte stimmten uberein, nnd sie erkannten, 
dafi sie beide Brtider seien, und dafi der Konig ihr Vater. Er 
herrscht dort noch bis auf diesen Tag." 

8. Die wenigen Parallelen, die Moschkoff (Text S. 66 Anm.) 



Neue Texte zur Geschichte eines Wiedererkennnngsmarchens nsw. 763 

anfiihrt, sind teilweise schlecht gewaUt. Das ruthenfsche Marchen 
Zbior wiadomo^ci do antropologii krajowej 9 (1885), S. 92 enthalt 
z. B. nur den weit verbreiteten Zng „K6nigswahl durch eine 
Taube“. Leider war mir 0. Kolberg, Lnd Ser. 21, cz, 2, S. 198 
nicht zuganglich. 

Auch die kurze Erzahlung, die Cubinskij aus dem rntbenischen 
Orte Miropol (Gonvernement Wolynien) mitteilt, kann bier unbe- 
riicksichtigt bleiben; sie hat mit dem Eustathius-Texte nur einige 
Ztige gemeinsam (Wahl, das Haus brennt dreimal ab, Verkauf der 
Frau; die Kinder fehlen, Wiedervereinigung erst nach dem Tode 
des Entfiihrers ; Beweis des Eigentums an dem Geld im Nest 
durch die Einghalfte) : vgl. Trudy etnograficesko - statisticeskoj 
ekspedicii v zapadno-russkij kraj. Jngo-zapadnyj otdel: Materialy 
i izsledovanija sobr, P. P. Cubinskim. T. 2, Petersburg 1878, 
S. 539 f., wo auf die mir nicht zugangliche Sammlung kleinrussi- 
scher Marchen von Rudcenko (Vyp. 1, Kiev 1869, S. 161 und 164, 
Nr. 67) fiir ahnliche Ziige verwiesen wird. 

B. Zur tiberlieferung der Legende. 

Dieser Teil ist langer ausgefallen, als ich urspriinglich beab- 
sichtigt hatte. Uber den S 3 rischen Text habe ich mich ganz kurz 
gefafit, da er Interessenten vielleicht leichter zuganglich ist, als 
die von mir behandelte alte slawische Ubersetzung. Wichtiger als 
diese ist fiir die Geschichte der Legende der ebenfalls noch nicht 
untersuchte armenische Text. Ich glaube, die Rekonstruktion der 
iiberlieferungsgeschichte, die ich versucht habe, stiitzt Boussets 
Anschauungen iiber die Entwickelung vom Marchen zur Heiligen- 
geschichte, und halte deshalb die Ausfiihrlichkeit meiner Mit- 
teilungen fiir gerechtfertigt. 

In seine gro6en Xiesemenaen hat der Metropolit Makarij, der 
Zeitgenosse Iwans des Schrecklichen, unterm 20. September die 
slawische Ubersetzung der Eustathius- Vita aufgenommen 0- M. N. 
Speranskij rechnet sie zum Bestande des slawischen Urmenaums; 
in alien von ihm benutzten Handschriften (5 mit russischer Ortho- 
graphie und einer, die der Siidslawischen Akademie in Agram ge- 
hort, mit serbischer: s. XV-XVI) steht die Vita unter diesem 
Datum ^). Wenn auch der Text nicht so bedeutend von den be- 

1) Velikija Minei fietii sobrannyja vserossijskim mitropohtom Makanem. 
Izd. Archeograficeskoj Kommissii. Sept., Lieferung2: vom 14.-24., St.-Peters- 
burs 1869 Sp. 1286 — 1298. (Vorhanden in der Universitats-Bibliothek zu Gottingen). 

^ 2) s’entiabr'skaja Mineja-C'et'ja do-makar'evskago sostava : Sbornik Otdelenija 
russkago jazyka T. 64, Nr. 4, St.-Petersburg 1896, S. 10, 15 (auch abgedruckt m 
den Izvestija Otdelenija 1, 2, 1896, S. 235—257). 



754 


W. Liidtke, 


kannten griechischen Handschriften abweicht wie das den Sep- 
tember einleitende Leben des Styliten Symeon von Lietzmanns 
griechischen Codices, so sind wir doch berechtigt, das Original der 
slawischen IJbersetzung als eine besondere Redaktion anzusprechen. 
Ich habe in der Berliner Philologischen Wochenschrift 1911, Sp. 
1597 f. bei Vergleichung der Acta Guriae et Samonae mit der 
slawischen IJbersetzung anseinandergesetzt, daB wahrscheinlich das 
Studion - Kloster den Slawen die Texte der Lesemenaen geliefert 
hat. Es verdient deshalb noch angemerkt au werden, daB die 
tibersetzer auch ein Martyrium des Eustathius iibemommen haben, 
das von dem Presbyter Hilarion, dem Abt des Studion - Klosters, 
verfaBt ist : Inc. Gott der hochherrliche, groBe, wunderbare and 
Vater nnsers Herrn Jesu Christi . . . (anscheinend wenig verbreitet; 
enthalten in den Lesemenaen der Troicko-Serg. Lavra III, Nr. 669 
von Anfang des XV. Jahrh. ; nach Nikol'skij, Materialy [Sbornik 
Otd^Ienija 82, 4 1907] S. 509 unterm 20. Nov.). 

Bei den Siidslawen waren bis in die neuere Zeit die TJber- 
setzungen der Reden des Daraaskenos, Monches and Hypodiakonos 
von Studion, sehr beliebt; er hat auch das Martyrium des GroB- 
martyrers Eustathius, ,.des neuen Hiob“, bearbeitet (bulgarische 
Handschrift des 17. Jahrhnnderts aus BrSstovica bei Philippopel, 
beschrieben von L. Miletic: Sbornik za narodni umotvorenija 18, 
1901, I, S. 50). Von der Bearbeitung der Legende, die der Monch 
des Rila - Klosters Josif Bradati (ca. 1690 — 1750) lieferte, druckt 
D. Marinov die Einleitung und den SchluB ab (Sbornik, a. a. 0- 
S. 113 f.): auch hier wird Eustathius der „neue Hiob“ genannt. 

Mak. hat sachlich nichts Neues, stimmt aber weder ^mit dem 
griechischen Texte der Acta SS. noch mit Combefis (MPG. lOo, 
376) im Wortlaut iiberein. Wie die alte latginische Ubersetzung, 
hat auch Mak. nicht die Vorrede; sie fehlt ubrigens auch in dem 
noch nicht genauer untersuchten Paris, gr. 683. Um eine Vor- 
stellung von Mak. zu geben, habe ich den Anfang ins Griechische 
znriickiibersetzt. 

’Ev tat? PamXeCac Tpaiavoo, slSwXoXatpsiai; xpx- 

ToocTjc, Tt; otpatTjXdnfjc, 6v(5p.aTi IlXaxiSa?, otYadou y^vooc ’tal sir’.- 
Sd|oo, TrXo'JOio? Ss O'pdSpa oTrep jrdvtas )(po3iq) xai Xoix'g TOptouaiof. 
"EXXrj'i^ Ss oTT'^PXs tijv ^pTjoxsiav, roic 51 epyoic v^C StxaiooovTj? sx=- 
xoaiATjto, diazpsfmv, Si'Jiwvtac tcouCwv, Y0|J.voi)i: ctp.yt£vv{)wv, 

Trsooooiv si? dvdYXTjv ^or^d'MV, sx SsajJiwf/jptoo podjisvci;, icatvtt Xaip 
ditaCajrXwi; ^orjd’wv ^). Et/s 5e xai yovaixa S^pyjay-stai; xal td 

1) Man beachte, daB hier sowohl G als auch der alte Lateiner einen Hinweis 
auf den Cornelius der Apostelgeschichte einschieben (Nachr. 1915, S. 236). 



Nene Texte zur Geschichte eines Wiedererkennungsmarchens usw. 755 

ama. Spytx Tcoioooav. ’'Etsxov 81 860 TcoclSac xai avltpsyov aotou? iv 
aoTg aYa^'j) itpoatp^asi. ’’Hv 8s toaoutov JceptyavT]? 6 avTjp outo; It:’ 
otpsr^ xal loxot xai 8ovdi|isi w? savtac tooc sdvixooi; xal pappdpooc lx 
TOO ovop-ato? p,6vov 'popsiadai a^tov • ouv av8pstoc atpodpa, xa’i ■9''i(jp£0'rijc 
linon^Hwv, xata Ttaaav i^p-spav i^8s'wc xovYjY&v. ’AXX’ 0 (ptXdv^ptoTro? 
■fteo? p 7:pooxaXo6|i£voc jravtots jravta^^oo xooz laotou a^too; ovta? ou 
jrapsi8sv aoTov Iv tip oxdtsi etSwXoXatpsta?, aXXa xatd rb ysypap.- 
[ilvov on Tcd? avS’pwxos 0 yoPoupsvoc tov ■ftsov Iv travel edvst Ssxto? 
aUT(p loTlV, IpooXsTO TOUTOV Olhl^eiV tpontp TOtipds . . . 

Des. . . . xal [istoc to rtaDod-^vat toy 8t<0Yp.dy, vaov IrcloTjiJiov 4 »xo- 
SdiiTjoav ot )(piaTiavot xal xaTe^svto ta acopLata twv aYteuv p-aproptov, 
8o|dCovtss TOV XQpiov TQpdiy ’Itjogov XptOTOv, ^ Sd^a, Ttp.r] xal jrpoaxuvirjo'.i; 
aov T(j) dvdp)((p IlaTpl xal T(p j^avoiyiip IlysopLaT', xal vov xal dsl xal si? 
TOO? alwva? twv alwvwv • ap.7]y (also kiirzer als G and ohne Datie- 
rong). 

Die Abweichungen von der griechischen Uberlieferong sind 
niebt dem Ubersetzer zur Last zu legen, sondern wir haben hier 
die Stilubung eines griechischen Bearbeiters vor nns. Auch die 
syrische Ubersetzung (Bedjan 3, S. 215—253), die noch viel weniger 
als Mak. mit den gedruckten Texten (G L) ubereinstimmt, aber im 
Gange der Handlung sich G eng anschliebt, auch in den vorkom- 
menden Eigennamen xmd Lehnworten deutlich die griechische Vor- 
lage verrat, geht auf eine griechische Metaphrase zuriick. 

Das Vorhandensein einer russischen Ubersetzung der Acta 
Eustathii bezeugt Nestor, Zitie Borisa i Gleba, hrsg. von Bodjan- 
skij, S. 3 : angefuhrt von Golubinskij, Istorija russkoj cerkvi 1, 1 ^ 
(1901), S. 908. Bei den Slidslawen scheint eine andere Ubersetzung 
im Umlauf gewesen zu sein. Unter den Fragmenta glagolitica 
Pisinensia (geschrieban um 1300 : friiherer Besitzer Kukuljevic, 
jetzt in der Bibliothek der Agramer Akauc.nie) ist ein Stiick des 
Eustathius-Lebens erhalten: vgl. Starine 33 (1911), S. 145. Wah- 
rend aber Mak. in dem Satze liber die Namensanderung bei der 
Taufe mit Acta SS. § 6 geht (TaTiavijy, jrpwTOToxov), laBt das gla- 
golitische Fragment mit Combefis TanavTijv aus und hat rpMTov 
(MPG 105, 385 C). 

Erwahnen mochte ich noch, da6 auf den russischen Volks- 
bilderbogen der Text der Legende aasfiihrlicher ist, als es bei den 
meisten audern Heiligen zu sein pflegt: vgl. D. Rovinskij, Russkija 
narodnyja kartinki 5 (1881), S. 201 f. 

Von einer georgischen Ubersetzung, die ebenfalls auf G zuriick- 
zufiibren ist, und die in der Handschrift des Klosters Iviri Nr. 50 
aus dem 10. Jahrhundert erhalten ist (oder bis vor kurzem er- 



756 


W. Ludtke 


halten war ?) gibt N. Marr in seinen „Hagiograpliischen Materialien 
nach den georgischen Handschriften von Iviri“ kurze Nachricht: 
Zapiski vostocnago otdelenija Imp. Arch. Obsc. 13, 2/3 (1901), 

5. 4 f. Die Bekanntschaft der Georgier mit der Legende wiirde 
bis in die erste Halfte des 6. Jahrhunderts hinanfreichen, wenn 
man annahme, der heilige Eustathius von Mzchetha hatte sich 
diesen seinen christlichen Namen bei der Taufe nach dem heiligen 
Feldherm beigelegt, nicht nach Eustathius von Sebaste, an den 
Harnack denkt (Berliner Sitzungsberichte 1901, S. 876, Anm. 8), 
Dab im Kaukasus die Legende schon friih bekannt geworden ist, 
beweist die altertiimliche armenische Fassung, die ich im folgenden 
analysieren will. Pater Nerses Akinian in Wien nimmt aus sprachr 
lichen Griinden an, dab die Ubersetzung wahrscheinlich aus dem 

6. — 7. Jahrhundert stammt. Er weist auch darauf hin, dab die 
Erscheinung des Herrn in Hirschgestalt in der Nahe von Akn 
(tiirkisch Egin) lokalisiert wird: an der Stelle steht ein armenisches 
Kloster, das die dreifache Benennung nach dem heiligen Erloser, 
der heiligen Erscheinung und dem heiligen „ApIakida“ tragt (vgl. 
H. K. Oanicean, Hnouthiunkh Aknaj [Altertiimer von Akn], Tiflis 
1895, S. 35)! 

Der armenische Text ist 1874 in Venedig gedruckt^; ich 
iibersetze zunachst den Anfang: 

„Im zweiten Jahre des Kaisers Marcianus war bei ihm ein 
sehr beriihmter Feldherr, geiibt in Kampfen und noch erprobter 
in Sachen der Hirsche und Behe und kleinerer Yierfiibler, und 
sein Name war Eustathius, und der Name seiner Frau Mariane 
[verderbt aus Tatiane: eine Handschrift hat Matiane]. Und sie 
batten zwei Sohne, den ersten von seeks Jahren und den 
zweiten von vier. Und der Mann war alltfi teuer, und er war 
sehr reich an alien Mitteln, an Herden und Sklaven, die die Zah- 
lung iiberstiegen, an Pferden und Kamelen ; denn auf seinen Tisch 
kamen 300 silberne Schiisseln zu seiner Bedienung. Und er selbst 
war ein Heide dem Gottesdienste nach, hilfsbereit fiir alle Hun- 
grigen und Verwundeten. Denn die Nackten bekleidete er mit 
Gewandern, die Hungrigen sattigte er, die von den Kriminal- 
gerichten Verurteilten nahm er oftmals in seinen Verkehr auf und 
die Sklaven entlieb er nach Ablauf von 40 Jahren in die Frei- 
heit mit Geschenken, and alien Bediirftigen war er ein Aufseher 


1) Warkh eu wkajabanouthiunkh srboc [Leben und Martyrien der Heiligen] 
1, S. 422 — 434. Das Exemplar der Koniglichen Bibliothek in Berlin war mir 
nicht zuganglich; doch Preuseben hatte die Gute, auszuhelfen. 



Neue Texte zur Geschichte eines WiedererkennuDgsmSrchens usw. 757 

and trng Sorge fiir sie. Dieeen wollte die gottliche Vorsehxing 
nicht tmter das Joch der Knechtschaft in diesem Leben fallen, 
sondern zur Freiheit der hochheiligen Tanfe Christ! gelangen 
lassen“. 

Die Horner des wunderbaren Hirsches reichten bis zn den 
Wolken. DerHirsch spricht zu Eustathius : ,,0 Eustathius, warum 
verfolgst du mich? Denn deinetwegen bin ich gekommen, und 
von dir werde ich verfolgt. Auch Saulus nauilich, wie auch du, 
verfolgte mich einst; aber ich der Verfolgte nahm an meinen 
Busen den Verfolger, Und so auch du jetzt, o Eustathius !“ Die 
Horner des Hirsches scheinen dem Feldherrn voller Friichte zu 
sein, und „zwischen den Hornern ein strahlenformiges glanzendes 
Kreuz mit Perlen'^j diese „Figur des Kreuzes sah er auf dem Ge- 
sichte eines Menschen". Die lange Rede, die dieser an Eustathius 
richtet, enthalt Hinweise auf die Schopfung und alttestamentliche 
Personen^); sie schlieBt: „Aber well mit Rechtlichkeit dein Wandel 
geschmiickt war, sage, ob du jetzt erniedrigt sein willst 
oder danach; denn es mu6 alles geschehen, was iiber dich ge- 
schrieben ist“. Eustathius will sich mit seiner Frau be- 
raten und am nachsten Tage Bescheid bringen. — Zum ersten 
Mai begegnete uns also in einem Texte der Heiligenlegende die 
aus den Marchen (vgl. die slawischen Texte oben) bekannte Ent- 
scheidung gemeinsam mit der Frau. Die andere Steilung, die G 
der Aufforderung zur Wahl gegeben hat, erweist sich dadurch als 
sekundar. 

Die Reden der Fiau vor der Taufe stehen G § 5 ziemlicb 
nahe; in dem Satze iiber die Namensanderung fehlt hier Tatiane, 
Theopiste und Theopistus sind ins Armenische iibersetzt, Eusta- 
thius behalt seinen Namen, da der Text den Namen Placidas nicht 
kennt^). Die Rede des Priesters Johannes = G § 6. Die Schil- 
derung des zweiten Zusammentreffens mit dem Herrn ist im Arm. 
gegen G § 6 (SchluB), 7 etwas gekiirzt, die gemeinsame Grundlage 


1) „. . . als auch das Weib, aus dem Manne hervorgekommen, ‘Auferstehung’ 
genannt wurde wcgen des kunftigen Kommens der Adoption; denn Eva wird 
‘Ftihrung’ {ucoumn) iibersetzt gemaB der Ausdehnung der Sprache der Gamir 
[Kappadocier]“ (S. 424). In den Onomastica sacra von Wutz finde ich fiir diese 
Erklarung keinen Beleg. 

2) Der armenische Synaxar-Text aber, auf den mich Akinian binweist, kennt 
ihn. Wie sich dieser zu der „vollstandigen Geschichte“ des Heiligen, aus der er 
nach seinen eigenen Worten ausgezogen ist, verhalt, babe ich nicht untersuchea 
kbnnea. Auch die andern Eigenuamen im Synaxar stimmen nach Akinian mit G 
iiber ein. 



758 


W. Liidtke, 

aber tmverkeimbar. Nur hat der Arm. die Antwort auf die 
Frage ^Jetzt oder Spater“ an anderer Stelle: „Und auf sein Gre- 
sicht niederfallend rief er sagend; Ich flehe dich an, da da bisfc 
Christas der Sohn des lebendigen G-ottes, and jetzt bin ich ge- 
kommen, am dich, den anverganglichen Herrn, za bitten, da 6 
wir jetzt die bestimmten Leiden erdulden mochten 
statt zur Zeit des Alters". In G and Syr. stehen Frage 
and Antwort am SchlnB der zweiten Zasammenkanft, die bei 
ihnen schlecht motiviert ist. 

Arm. erzahlt die Schicksalsschlage and das Siegesfest iiber die 
Perser anders als G, stimmt aber in der Aufforderong der Frau, 
auszawandern, wieder ziemlich mit G uberein. Der Yater tragt 
die Knaben in einem Sack (X o r b). Sie finden einen Xapitan aos 
dem Volke der Hundskopfe. Vgl. die Note Useners uber die 
Kuvoaxe^aXot in den Acta S. Marinae et S. Christophori, Bonnae 
1886, S. 57 ; zar nahem geographischen Bestimmang der Heimat des 
Xapitans ist diese Angabe wohl kaum zu verwerten. 

Wahrend Arm. in der Schilderung der Seefahrt von G im 
Wortlaut abweicht, stimmen sie in der Beschreibung des Flafi- 
iibergangs (§ 10) ziemlich uberein; nur werden die Kinder nach 
Arm. von dem Lowen and dem Wolf^) gleichzeitig geranbt. Die 
Klage des Eustathius stimmt in ihrem Aufbau, mancbmal auch in 
einzelnen Satzen, mit G § 11 uberein; auch Meyers Lat. gibt sie 
ziemlich ausfubrlich. Das Dorf, in dem Eustathius sich 15 Jahre 
aufhalt, heiBt bei Arm. Batison. Ein anderer Konig kam auf xmd 
vermifite die Hilfe des erprobtep Feldherrn: vom Einfall der Bar- 
baren wird nichts berichtet; dock das ist wohl nur zufiillig aus- 
gefallen, ebenso wie der Satz uber den Tod des Kapitans. Die 
Soldaten, die Eustathius fiuden, heiBen Antiochus and Acacias. 
Das Gebet^) and die Stimme vom Himmel sind im wesentlichen 
= G § 13. Das gilt auch von der Bewirtung der Gaste and der 
Wiedererkeimung ; aber das Weinen wird anschaulicher geschUdert: 
„Dnd wabrend sie sich setzten, mischte (der Haaswirt) ihnen Wein, 
aber Eustathius kochte Wasser und brachte es herbei. TJnd 
als er hinausging, weinte er und wusch sich das Gesicht and be- 
diente wieder". Die Dorfbewohner, die die Junglinge als Fremde 
den Werbern iibergeben, erhalteu 30 Talente Entschadigung. Wah- 
rend G § 15 (SchloB) die Tischgenossen des Feldherrn als u:rip 


1) Also keine Ubereinstimmiing mit dem armenischen Mircken ! 

2) keatr,; yevoiaoh tujv [aeKuiv [aoo Arm. = Acta SS. (gegea xexvujv Combef., 
Mak., Syr.;. 



Neue Texte *ur Geschichte eines Wiedererkennungsmarchens U8W. 759 

Tcavtai; E&stSst? beschteibt, nennt sie Arm.: ,ausgezeichnet durch 
ihr Angesicht wie die Sonnenstrahlen, beredt nnd in allem makel- 
los“ : vgl. Meyers alien Lat. § 20 (Nachr. 1915, S. 280): in loqua- 
citate oris. Mit diesem Lat. stimmt Arm. anch (gegen G § 16 
TSdaitKjv) indemknrg darauf erwahnten FluBnamen iiberein: „Und 
die Himaer durchziehend schlag er nieder, und den D a n o b durch- 
ziehend (Lat. transivit Dannbinm) gelangten sie in das Innerste 
der Barbaren, so dad die Vorsehnng Christi ihn an den Ort fiihrte, 
wo seine Frau vohnte. Aber der Feldherr wohnte in der Hiitte®) 
seiner Fran". DcitcIi ein Fenster der Hiitte (vgl.' per fenestram 
des alien Lat. § 22) belanscht die Fran die Unterhaltung der beiden 
Krieger, die sich mn. Ilittag in ihrem Garten nnter einem Banme 
niedergelassen batten. 

Mit dem Wortlaot dieses Gespraches nahert sich dann Arm. 
wieder G § 16, 17: bis znm Dankfest § 19 Mitte. ,Und wiedemm 
mit groBem Siege gftlangten sie nach Rom. Und bevor er znriick- 
kehrte, start sein geliebter Konig, nnd es wnrde ein anderer Konig 
namens Trajanns, der nicht Cbristns kannte, aber anch nicht En- 
stathins." Der Apollotempel wind nicht erwahnt. Das Martyrinm 
wird kiirzer erzahlt als in G. Arm. hat aber eine sehr merk- 
wurdige Einzelbeit: „IJnd der Lowe kam nnd betete sie an nnd 
sprach mit menschlicher Stimme: ‘Ich bitte encb, die ihr 
wurdig seid des Reiches Gottes, habt keine Angst; denn unfrei- 
willig bin ich zo ench gelangt’. Und als er dies gesagt hatte, 
ging er ans der Arena weg“. 

J)es. : . nnd sie iiberlieferten ihre Seelen in Frieden. Aber 

das GefaB der Martem wurde ihnen znm Bethans. — Das Ge- 
dachinis der siegreichen Martyrer nnn wird vollendet am 8. vor 
den Kalenden des Oktober, welcher ist der Monat Khalotz. Und 
sie sind Fiirsprechet fur die, welche glanben an Christns Jesus 
nnsem Herr: dem Hnhm . . . Amen“. 

Trotz der rbmischen Datierung sehe ich keinen Grnnd, ein 
anderes als ein griechisches Original (= 0®) fiir die armenische 
^bersetznng anznnehaen. Dies steht der Urform {= 0) der Le- 
gende naher als die andem Textzengen, da es anfier den Ans- 

1) Ein solcies Volk am rechten Donauufer tinde ich nicht. Gemeint sind 
wohl die EXofiaTot. Pas war wahrscheinlich anch die Ansicht dessen, der statt 
der Donau den Hydasp^s in den Text setzte. Vgl. den Commentarius praevius 
der Acta SS. § 37 uher dm persiscben Hydaspes. Oder soli man lieber „Donau“ 
fur sekondar erkliren? 

2) Das armenisch^ t chorani heifit eigentlich m dem ZtUe = tv 
Ein Zelt hat aber kein^ Fenster. 



760 W. Liidtke, Neue 'fexte z. Gesch. eines Wiedererkennungsmarchens usw. 

schmuckungen der Erscheinung des Hirsches, den Handskopfen und 
dem sprechenden Lowen den wichtigen, auch im Marchen vor- 
kommenden Zug der Beratnng mit der Fran hat, dnrch den das 
Wiedersehen des Enstathius mit dem Erloser eigentlich motiviert 
wird. Dem griechischen Bearbeiter (== Fj, der die allzn iippigen 
Answiichse beschnitten hat, ist anch die Befragung der Frau zam 
Opfer gefallen: er hielt es angenscheinlich nicht far angemessen, 
daB diese einen EinflnB auf den EntschluB des Feldherrn ansubte. 
Trotz aller Anderungen ist in F ein mit 0 gemeinsamer Grand- 
stock erhalten geblieben. Der Gang der Erzahlnng, wie er von 
F festgestellt wurde, war dann maBgebend fiir die spatern Texte 
(G, Mak., Kopt., Syr.), die sachlich nichts andern, wohl aber stUi- 
stisch ummodeln’). G und die Vorlage von Mak. stehen sich sehr 
nahe: vielleicht ist diese etwas alter als G. Noch enger als Mak. 
schlieBt sich Kopt. (ed. E. A. Wallis Badge, Coptic martyrdoms, 
London 1914, S. 102 — 127, Ubersetzang S. 356 — 380) an. Doch 
ist zu bemerken, daB Kopt. (Fol. 7’’, 8®) die Wahl zwischen der 
Zeit des Ungliicks nnterdruckt ^), Syr. geht anf eine nns nicht 
mehr erhaltene griechische Umarbeitung zaruck, wie schon oben 
erwahnt. 

Wie ist nun Meyers alter Lateiner einzuordnen? Seine Be- 
ziehungen zu G (F) liegen klar zu Tage; ich habe oben auch die 
Faden anfgezeigt, die ihn mit 0“ verbinden. Man muB also seine 
griechische Vorlage, die er wohl ziemlicb willkurlich behandelt 
hat, als eine Zwischenstafe X von 0 and F ansetzen, and zwar 
naher an F als an 0. Diejenigen, die von der Prioritat von L 
iiberzeagt sind, haben die Aufgabe, sich mit den Schwierigkeiten, 
die die Heranziehung von Arm. ihrer Position bereitet, abzufinden. 

1) Die Schicksale des alien lateinischen Textes sind eine Parallele zu diesem 
Vorgang. Auch im Syriscben gibt es noch eine zweite Fassung: Paris, syr. 234, 
Stuck 14 (wahrscheinlich s. XIII; Zotenberg, Catalogue S. 182); vgl. Bedjan, T. 3, 
S. VI. 

2) Budge ubersetzt: „ Eustathius, there shall be unto thee as great a temp- 
tation as thou canst wish in that which thou shalt have in the last days“ (= G 
§7 Schlufi). Vgl. damit L! — Die Einleitung von G gibt Kopt. frei wieder. In 
G § 1 (Nachr. 1915, S. 236, 8) stellt Kopt. die Worte von Acta SS. (om. Combefls) 

um: fjv Se jrepi^avijt 6 avljp ijtt xafs E'ljtpayiaic xoti tosooxov Sia^orjxo; xai; 
ouvaJTEfats (= Budge S. 358 : »and the man was exceedingly well known because 
of the good works which he was in habit of doing, and he was so celebrated for 
his personal strength and valour that — Als Ort der Beisetzung wird am 

Schlufi ausdrilcklich Rom genannt. 








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Ay Department of Archaeology 

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cle^n « and moving. 


S. Bn t4B. N. DELHI.