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Full text of "Intracellulare pangenesis"

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Marine   Biological   Laboratory 


WOODS    HOLE.    MASSACHUSETTS 


IN     MEMORY     OF 

Edward   Gardiner  Gardiner 


1854-1907 


Intracellular  Pangenesis. 


Von 


Hugo  de  Yries, 

ord.  Prof,  der  Botanik  an  der  Universitat  von  Amsterdam. 


An  organic  being  is  a  microcosm,  a 
little  universe,  formed  of  a  host  of  self- 
propagating  organisms,  inconceivably 
minute  and  numerous  as  the  stars  in 
heaven. 

Darwin,  Pangenesis. 


Jena. 
Verlag  von  Grustav  Fischer. 

1889. 


3x5  3 


Inhaltsubersicht. 


Seite 

Einleitung 1 

Erster  Theil. 
Pangenesis. 

Abschnitt  I.     Die  gegenseitige  Unabhangigkeit  tier  erblichen 

Eigenschaften. 

§  1.     Die  Zusammensetzung  der  Artcharaktere  aus  den  erblichen 

Eigenschaften 7 

§  2.     Die  Uebereinstimmung  in  den  Unterschieden  zwischen  Arten 

und  Organen 11 

§  3.     Die  Uebereinstimmung   zwischen    den    sekundaren    Sexual- 

charakteren  und  den  Artmerkmalen 15 

§  4.     Das  Variiren  der  einzelnen  erblichen  Eigenschaften,  unab- 

hangig  von  einander 16 

§  5.     Die  Mischung  der  erblichen  Eigenschaften 22 

§  6.     Kreuz-  und  Selbstbefruchtung 27 

§  7.     Schlussfolgerungen 31 

Abschnitt  II.    Herrschende  Ansichten  iiber  die  Trager 
der  erblichen  Eigenschaften. 

Erstes  Kapitel.     Die  chemischen  Molekiile  des 

Protoplasma  in  ihrer  Bedeutung  fur  die 

Theorie  der  Erblichkeit. 

§  1.     Einleitung 33 

§  2.     Protoplasma  und  Eiweiss 38 

§  3.     Elsberg's  Plastidule 41 


IV 

Seite 

Zweites  Kapitel.     Die  hypo  the  tisehen  Triiger 
der  Artcharaktere. 

§  4.     Einleitung 47 

§  5.     Spencer's  physiologische  Einheiten 48 

§  6.     Weismann's  Ahnenplasmen 51 

§  7.     Nageli's  Idioplasma 55 

§  8.     Allgemeine  Betrachtungen 58 

Drittes  Kapitel.     Die  hypothetis  chen  Trager 
der  einzelnen  erblichen  Eigenschaften. 

§     9.  Einleitung 60 

§  10.  Darwin's  Pangenesis 61 

§  11.  Kritische  Betrachtungen 65 

§  12.  Schluss 68 


Zweiter  Theil. 
Intracellulare  Pangenesis. 

Abschnitt  I.     Zellularstanimbauine. 

Erstes  Kapitel.     Das  Auflosen  der  Individuen  in 
die  Stammbaunie  ihrer  Zellen. 

§  1.     Zweck  und  Methode 75 

§  2.     Die  Zellularstammbaume  der  Homoplastiden 78 

§  3.     Der  Zellularstammbaum  von  Equisetum 80 

§  4.     Die  Hauptziige  in  den  Zellularstammbaumen 86 

Zweites  Kapitel.     Spezielle  Betrachtung  der 
einzelnen  Bahnen. 

§  5.     Die  Hauptkeimbahnen 90 

§  6.     Die  Nebenkeimbabnen 92 

§  7.     Die  somatischen  Bahnen 98 

§  8.     Ueber  den  Unterschied  zwischen   somatischen  Bahnen   und 

Keimbahnen 101 

§  9.     Phyletische,  somatarche  und  somatische  Zclltheilung  .     .     .  105 

Drittes  Kapitel.     Weismann's  Theorie  des 
Keimplasmas. 

§  10.  Die  Bedeutung  der  Zellenstammbaume  fiir  die  Lehre   vom 

Keimplasma 107 

§  11.  Die  Ansichten  der  Botaniker Ill 

§  12.  Entscheidung  durch  das  Studiuin  der  Grallen 116 


V 

Seite 

Abschnitt  II.     Panmeristische  Zelltheilung. 

Erstes  Kapitel.     Die   Organisation   der 
Protoplast  e. 

§  1.     Die  sichtbare  Organisation 120 

Zweites  Kapitel.     Historische  und  kritische 
B  e  t  r  a  c  h  t  u  n  g  e  n. 

§  2.     Die  neogenetische  und  die  panmeristische  Auffassung  der 

Zelltheilung 123 

§  3.     Die  Zelltheilung  nach  dem  Typus  Mohl's 130 

§  4.     Regeneration  der  Protoplaste  nach  Verwundung     ....  136 

Drittes  Kapitel.     Die.  iutonomie  der  einzelnen 
Organe  der  Protoplaste. 

§  5.  Zellkern  und  Trophoplaste 141 

§  6.  Die  Vacuolen 148 

§  7.  Die  Beziehung  zwischen  Hautschicht  und  Kornerplasnia     .  155 

§  8.  Die  fragliche  Autononiie  der  Hautschicht 159 

Abschnitt  III.    Die  Funktionen  der  Zellkerne. 

Erstes   Kapitel.     Historische  Einleitung. 
§  1.     Historische  Einleitung 166 

Zweites  Kapitel.     Die  Befruchtung. 

§  2.     Die  Kopulation  der  Zygosporeen 168 

§  3.     Die  Befruchtung  der  Kryptogamen 171 

§  4.     Die  Befruchtung  der  Phanerogamen 174 

Drittes  Kapitel.    Die  Uebertragung  der  erblichen 

Eigenschaften  aus  den  Kernen  auf  die  iibrigen 

Organe  der  Protoplaste. 

§  5.     Die  Hypothese  der  Uebertragung 176 

§  6.     Beobachtungen  iiber  den  Einfluss  des  Kernes  in   der  Zelle     180 

Abschnitt  IV.    Die  Hypothese  der  intracellularen 

Pangenesis. 

Erstes  Kapitel.     Pangene  in  Kern  und 
Cytoplasm  a. 

§  1.     Einleitung 187 

§  2.     Aufbau  des  ganzen  Protoplasma  aus  Pangenen 190 


VI 

Seite 

§  3.     Aktive  und  inaktive  Pangene 194 

§  4.     Ueber  den  Transport  der  Pangene 196 

§  5.     Vergleichung  mit  Darwin's  Transporthypothese     ....  202 

§  6.     Ueber  die  Vermehrimg  der  Pangene 208 

Zweites  Kapitel.     Zusammenfassung. 

§  7.     Zusammenfassung  der  Hypothese   der   intracellularen   Pan- 
genesis    211 


Einleitung. 


Im  Jahre  1868  hat  Darwin,  im  zweiten  Bande  seines 
"beruhmten  Werkes  The  variation  of  animals  and 
plants  under  domestication,  die  provisorische  Hypo- 
these  der  Pangenesis  aufgestellt.  Der  Erorterung  dieser 
Hypothese  geht  eine  meisterhafte  Uebersicht  iiber  die  zu 
erklarenden  Erscheinungen  voran.  Durch  diese,  so  wie 
durch  die  klare  Auffassung  des  ganzen  Problems,  hat  dieser 
Abschnitt  seines  Buches  die  allgemeine  Aufmerksamkeit 
auf  sich  gezogen.  In  fast  alien  Werken,  welche  allgemeine 
biologische  Fragen  beriihren ,  finden  wir  ihn  besprochen. 
Wahrend  aber  der  allgemeine  Theil  des  Abschnittes  bis 
jetzt  die  Grundlage  fiir  alle  wissenschaftlichen  Betrach- 
tungen  iiber  die  Natur  der  Erblichkeit  geblieben  ist,  hat 
sich  die  Hypothese  selbst  einer  so  allgemeinen  Anerkennung 
nicht  erfreut. 

Darwin  geht  davon  aus  (Variation  II  S.  369),  dass 
allgemein  angenommen  werde.  dass  die  Zellen  sich  durch 
Theilung  vermehren  und  dass  sie  dabei  im  Wesentlichen 
dieselbe  Natur  behalten.  Dieser  Satz  bildet  fiir  ihn  die 
Grundlage  der  Erblichkeit.  Aus  ihm  lassen  sich  aber 
nicht  sammtliche.  von  Darwin  zusammengestellte  Gruppen 

<\e  Vries,  Intracellulare  Pangenesis.  1 


—     2     — 

von  Erscheinungen  erklaren.  Namentlich  nicht  die  Wir- 
kungen  von  Gebrauch  und  Nichtgebrauch,  die  direkte  Ein- 
wirkung  des  mannlichen  Elementes  auf  das  weibliche  und 
die  Eigenschaften  derPropf hybride.  "Dm  diesen  Erscheinungen 
Redlining  zu  tragen,  ninimt  Darwin  an,  dass  neben  der 
Zelltlieilung  noch  eine  andere  Art  der  Uebertragung  erb- 
licber  Eigenschaften  bestehe.  Jede  Einheit  des  Korpers 
gebe  kleinste  Theilchen  ab,  welche  sich  in  den  Keimzellen 
und  Knospen  ansammeln.  Diese  Theilchen  seien  die  Trager 
der  Eigenschaften  derjenigen  Zellen,  von  denen  sie  stammen, 
und  bringen  diese  somit  auf  die  Keimzellen  und  Knospen 
liber. 

In  den  Eizellen ,  Pollenkornern ,  Sperrnazellen  und 
Knospen  seien  somit  die  sammtlichen  erblichen  Eigenschaften 
des  Organismus  durch  kleinste  Theilchen  vertreten.  Diese 
haben  sie  theils  durch  ihre  Abstammung  aus  friiheren 
Keimzellen,  also  auf  direktem  Wege,  theils  aber  durch 
spatere  Zufuhr  aus  den  Zellen  und  Organen  des  Korpers 
erhalten.  Diese  kleinsten  Theilchen  sincl  nicht  die  che- 
mischen  Molekiile,  sie  sind  viel  grosser  wie  diese  und  eher 
mit  den  kleinsten  bekannten  Organismen  zu  vergleichen. 
Darwin  giebt  ihnen  den  Namen  g  e  m  m  u  1  e  s ,  K e i m clie m 

Die  Annahme  dieser  Keimchen  warf  auf  eine  Reihe 
von  bis  dahin  vollstandig  dunklen  Thatsachen  ein  uner- 
wartetes  Licht.  Und  wenn  man  Darwin's  Auseinander- 
setzungen  aufmerksam  liest,  so  sieht  man  immer  deutlicher 
ein,  dass  fur  ganze  grosse  Gruppen  von  Erscheinungen  die 
Uebertragung  der  Keimchen  bei  der  Zelltlieilung,  von  der 
Mutterzelle  auf  ihre  Tochterzellen,  vollig  ausreicht.  Nur 
einzelne  Gruppen  von  Thatsachen  fordern  daneben  die 
Transport-Hypothese.  Namentlich  die  Lehre  von  den  la- 
tenten  Eigenschaften  und  vom  Atavism  us  wird  durch  Dar- 


—     3     — 

will's  Hypothese  aus  ihrem  friiheren  Dunkel  hervorgerufen, 
und  seine  Besprechung  dieses  Gegenstandes  (S.  368)  zeigt 
klar,  welche  grosse  Bedeutung  er  diesem  Umstande  bei- 
legte.  Sie  fordert  aber  offenbar  nur  die  Uebertragung  der 
Keimchen  bei  der  Zelltheilung,  nicht  den  Transport  aus 
den  wachsenden  und  erwachsenen  Organen  nach  den  Keini- 
zellen. 

Mir  hat  es  immer  gesclrienen,  dass  die  meisten  Schrift- 
steller  diese  beiden  Seiten  der  Hypothese  nicht  hinreichend 
auseinander  gehalten  haben,  und  dass  ihre  Einwiirfe  gegen 
die  Annahme  eines  Transportes  sie  dazu  verfiihrt  haben. 
die  prinzipielle  Bedeutung  der  Keimchenlehre  zu  iibersehen. 

Fur  mich  besteht  Darwin's  provisorische  Hypothese 
der  Pangenesis  aus  den  beiden  folgenden  Siitzen: 

1.  In  jeder  Keimzelle  (Eizelle,  Pollenkorn,  Knospe  u.  s.  w.) 
sind  die  einzelnen  erblichen  Eigenschaften  des  ganzen  Or- 
ganismus  durch  bestimmte  stoffliche  Theilchen  vertreten. 
Diese  vermehren  sich  durch  Theilung  und  gehen  bei  der 
Zelltheilung  von  der  Mutterzelle  auf  ihre  Tochter  iiber. 

2.  Ausserdem  werfen  die  sammtlichen  Zellen  des  Korpers 
zu  verschiedenen  Zeiten  ihrer  Entwickelung  solche  Theilchen 
ab;  diese  liiessen  den  Keimzellen  zu  und  iibertragen  auf 
diese  die  ihnen  etwa  fehlenden  Eigenschaften  des  Organismus 
(Transporthypothese). 

Die    zweite    Annahme    hatte    audi    fur    Darwin    bei 

Pflanzen    und   Korallen    nur    eine   beschrankte   Tragweite. 

indent  er   einen  Transport    von   Keimchen  aus   dem    einen 

Aste  in  den  andern  nicht  fiir  moglich   hielt.     Auf  die  Ar- 

beiterinnen  der  Ameisen   und  Bienen   hatte    sie  keine  An- 

Avendung.     Ebensowenig  auf  die  von  Darwin  mehrfach  be- 

sprochenen  gefiillten  Levkojen,  welche  ja  selbst  keine  Staub- 

iaden  und  Fruchtanlagen  besitzen  und  deren  Eigenschaften 

1* 


—     4     — 

somit  clurcli  die  ungeflillten,  fertilen  Exemplare  der  Race 
von  der  einen  Generation  auf  die  andere  iibertragen  werden 
miissen.  Und  die  Thatsachen,  fur  deren  Erklarung  die 
fragliche  Annahme  aufgestellt  wurde,  haben  in  den  zwanzig 
Jaliren  seit  dem  Erscheinen  des  Darwiirschen  Buches 
weder  an  Zahl  nocli  an  Sicherheit  gewonnen. 

Zweifel  an  ihrer  Nothwendigkeit  sind  somit  wohl  er- 
laubt.  Es  ist  ein  Hauptverdienst  Weisinann's,  diese  Zweifel 
wiederholt  betont  und  die  ziemlich  allgemein  angenommene 
Lehre  von  der  Erblichkeit  erworbener  Eigenschaften  er- 
schiittert  zu  haben  1). 

Liisst  man  aber  mit  diesem  Forsclier  die  zweite  An- 
nahme fallen,  so  ist  damit  noch  kein  Grund  gegeben,  auch 
den  andern  Theil  der  Hypothese  der  Pangenesis  anzu- 
zweifeln.  Im  Gegentheil,  es  scheint  mir,  dass  dadurch 
seine  prinzipielle  Bedeutung  nur  klarer  zu  Tage  tritt. 
Auch  sind  uberzeugende  Einwiinde  gegen  diesen  ersteren 
Satz  bis  jetzt  nicht  vorgebracht  worden,  und  keine  andere 
Hypothese  iiber  das  Wesen  der  Erblichkeit  tragt  den 
Thatsachen  in  so  einfacher  und  klarer  AVeise  Rechnung 
als  diese. 

Dennoch  haben  die  meisten  Schriftsteller  mit  der 
Transporthypothese  auch  jene  von  den  stofQichen  Tragern 
der  einzelnen  erblichen  Eigenschaften  als  von  selbst  wider- 
legt  betrachtet  und  ihr  kaum  eine  besondere  Besprechung 
gewidmet.  Leider  hat  dadurch  Darwin's  Ansicht  nicht 
diejenigen  Friichte  ftir   die  Entwickelung   unseres  Wissens 


J)  Die  Bezeichnung  „erworben"  ist  nicht  grade  gliicklich  ge- 
wahlt.  Es  handelt  sich  um  die  Frage:  ob  Eigenschaften,  welche  in 
somatischen  Zellen  entstanden  sind,  den  Keimzellen  mitgetheilt  werden 
konnen.  Diese  Moglichkeit  wird  von  Weismann  abgewiesen.  Man 
vergleiche  den  letzten  Abschnitt  des  zweiten  Theiles  §  5. 


getragen,  welche  ihr  Urheber  mit  vollem  Recht  davon  er- 
wartet  hatte. 

Es  soil  nun  im  vorliegenden  Aufsatz  meine  Aufgalje 
sein,  den  Grundgedanken  der  Pangenesis,  abgeschieden  von 
der  Transporthypothese,  auszuarbeiten  unci  mit  den  neuen 
Thatsachen,  welche  die  Lehre  von  der  Befruchtung  und 
die  Anatomie  der  Zelle  zu  Tage  gefordert  haben  ,  zu  ver- 
binden. 

Als  Richtschnur  betrachte  ich  dabei  den  Gedanken, 
dass  die  Physiologie  der  Erblichkeit .  und  namentlicli  die 
Lehre  von  der  Variability  und  dem  Atavismus  die  zu  er- 
klarenden  Erscheinungen  anweisen,  wahrend  die  niikrosko- 
pische  Erforschung  der  Zelltheilung  und  der  Befruchtung 
uns  das  morphologische  Substrat  jener  Vorgange  kennen 
lehren.  Nicht  die  morphologischen  Einzelheiten  jener  Vor- 
gange soil  man  zu  erklaren  suchen.  dazu  ist  unsere  Kennt- 
niss  noch  viel  zu  beschrankt.  Aber  im  Einzelnen  das 
stoffliche  Substrat  der  physiologischen  Prozesse  aufzufmden. 
<las  sei,  nach  Darwin's  Vorgang,  unsere  Aufgabe ! 

Als  wichtigstes  Ergebniss  der  Zellenforschung  der  letzten 
Jahrzehnte  betrachte  ich  den  Satz.  dass  im  Zellkern  alle 
erblichen  Anlagen  des  Organismus  vertreten  sein  mussen. 
Ich  werde  zu  zeigen  versuchen,  dass  dieser  Satz  uns  dazu 
fiihrt,  einen  Transport  von  stoff lichen  Theilchen  anzu- 
nehmen,  welche  Trager  der  einzelnen  erblichen  Eigen- 
schaften  sind.  Jedoch  nicht  einen  Transport  durch  den 
ganzen  Organismus ,  oder  auch  nur  von  einer  Zelle  zur 
andern,  sondern  beschrankt  in  den  Grenzen  der  einzelnen 
Zellen.  Vom  Kerne  aus  werden  die  stofflichen  Trager 
der  erblichen  Eigenschaften  den  Organen  des  Protoplasten 
zugefiihrt.  In  den  Kernen  sind  sie  zumeist  inaktiv,  in  den 
iibrigen  Organen  der  Protoplaste  konnen  sie  aktiv  werden. 


—     6     — 

Im   Kerne   sind   alle   Eigenschaften    vertreten ,    im   Proto- 
plasma  jeder  Zelle  nur  eine  bescbrankte  Zahl. 

Die  Hypotbese  wird  somit  zur  intracellular  en 
Pangenesis.  Und  die  kleinsten  Theilchen,  welcbe  je 
Eine  erbliche  Eigenscbaft  vertreten,  werde  icb,  weil  mit  der 
Bezeiclmnng  „Keimchen"  die  Vorstellung  eines  Transportes 
durcb  den  ganzen  Organismus  verbunden  ist,  mit  einem 
neuen  Namen  belegen  und  Pan  gene  nennen. 


Erster  Tlieil. 

Pangenesis. 

Abschnitt  I. 

Die   gegenseitige  Unabhangigkeit  der  erblichen  Eigen- 

schaften. 

§  1.     Die  Zusammensetzung  der  Artcharaktere  aus 
den  erblichen  Eigenschaften. 

Unter  den  vielen  Vorziigen.  welche  der  Descendenz- 
lehre  fur  die  Erforschung  der  lebenden  Natur  eine  so 
hervorragende  Bedentung  verliehen  haben,  nimmt  die  Er- 
schiitterung  des  alten  Artbegriffes  einen  wichtigen  Platz 
ein.  Friiher  betrachtete  man  jede  Art  als  eine  Einheit 
und  die  Gesammtheit  ihrer  Artmerkmale  als  ein  einheit- 
licbes  Bild.  Und  sogar  die  neuesten  Theorien  der  Ver- 
erbung  nehmen  dieses  Bild  als  eine  der  weiteren  Zerlegung 
nicht  bediirftige  Grosse  an. 

Betrachtet  man  aber  die  Artcharaktere  im  Lichte  der 
Abstammungslehre ,  so  zeigt  es  sich  bald ,  dass  sie  aus 
einzelnen.  von  einander  mehr  oder  weniger  unabhiingigen 
Faktoren  zusammengesetzt  sind.  Fast  jeden  dieser  letzteren 
findet  man  bei  zahlreichen  Arten.  und  ihre  wechselnde 
Gruppirung  und  Verbindung    mit   den   seltneren   Faktoren 


—     8     — 

bedingt  die  ausserordentliche  Mannigfaltigkeit  der  Or- 
ganismenwelt. 

Sogar  die  einfachste  Vergleichung  der  verschiedenen 
Organismen  fiihrt,  unter  diesem  Lichte,  zu  der  Ueber- 
zeugung  von  der  zusammengesetzten  Natur  der  Artmerk- 
male.  Das  Vermogen,  Chlorophyll  zu  erzeugen  und  mittelst 
dieses  am  Lichte  die  Kohlensaure  zu  zersetzen ,  ist  offen- 
bar  als  eine  Einheit  zu  betrachten,  welche  zu  eineni  grossen 
Theile  dem  Pflanzenreich  das  eigenthiimliche  Geprage  ver- 
leiht,  welche  aber  manchen  iui  Systeme  zerstreuten  Gruppen 
fehlt,  und  somit  keineswegs  uuzertrennlich  mit  den  iibrigen 
Faktoren  der  Pflanzennatur  verbunden  ist. 

Andere  Faktoren  sind  die  Anlagen,  welche  manchen 
Arten  das  Vermogen  verleihen,  bestimmte  chemische  Ver- 
bindungen  zu  erzeugen.  In  erster  Linie  den  rothen  und 
blauen  Blumenfarbstoff,  dann  die  verschiedenen  Gerbsauren,. 
die  Alkaloide.  atherische  Oele  und  zahlreiche  andere  Pro- 
dukte.  Nur  wenige  unter  diesen  sind  auf  eine  einzelne 
Art  beschriinkt,  viele  kehren  bei  zwei  oder  mehreren ,  oft 
systematisch  weit  entfernten  Arten  zuruck.  Es  liegt  kein 
Grund  vor,  in  jedem  einzelnen  Falle  eine  andere  Ent- 
stehungsweise  fur  dieselbe  Verbindung  zu  vermuthen.  viel- 
mehr  liegt  es  auf  der  Hand  anzunehmen,  dass  demselben 
Prozesse  iiberall,  wo  wir  ihn  finden,  der  Hauptsache  nach, 
derselbe   chemische  Mechanismus    zu   Grunde  liegen  wird. 

In  ahnlicher  Weise  miissen  wir  auch  eine  Zerlegung 
der  morphologischen  Merkmale  der  Arten  als  moglich  an- 
nehmen.  Freilich  ist  die  Morphologie  bis  jetzt  noch  bei 
weitem  nicht  so  weit  vorangeschritten,  dass  sie  eine  solche 
Analyse  in  jedem  einzelnen  Falle  durchfiihren  kann.  Aber 
dieselbe  Blattform,  dieselben  groberen  und  feineren  Ein- 
schneidungen  des  Blattrandes  kehren  bei  zahlreichen  Arten 


—     9     — 

zuriick,  unci  schon  die  gewohnliche  Terminologie  lehrt. 
class  die  Bilder  sammtliclier  Blattformen  aus  einer  ver- 
haltnissmassig  geringen  Zahl  von  einfacheren  Eigenscbaften 
zusammengesetzt  sind. 

Es  ware  iiberfliissig.  die  Beispiele  zu  haufen,  sie  sind 
einem  Jeden  leicht  zuganglich,  unci  es  kommt  nur  darauf 
an,  sich  in  diese  Gedanken  so  yollstandig  einzuleben,  class 
man  iiberall  die  Zusammensetzung  des  Bibles  aus  seinen 
einzelnen  Tbeilen  klar  durcbscbaut.  Es  zeigt  sich  claim, 
dass  der  Cbarakter  jeder  einzelnen  Art  aus  zahlreichen 
erblicben  Eigenscbaften  zusammengesetzt  ist.  von  denen 
weitaus  die  meisten  bei  fast  unzahligen  anderen  Arten 
wiederkebren.  Unci  wenn  audi  zum  Aui'bau  einer  einzelnen 
Art  eine  so  grosse  Zahl  derartiger  Faktoren  erforderlich 
ist,  dass  wir  fast  vor  den  Konsequenzen  unserer  Analyse 
zuriickscbrecken,  so  ist  es  doch  andererseits  klar,  dass  zum 
Aufbau  sammtliclier  Organismen  eine  im  Verbaltniss  zur 
Artenzahl  geringe  Anzabl  von  einheitlichen  erblicben  Eigen- 
scbaften ausreicbt.  Jede  Art  erscbeint  uns  bei  dieser  Be- 
trachtungsweise  als  ein  iiusserst  komplizirtes  Bild.  die 
ganze  Organismenwelt  aber  als  das  Ergebniss  unzabliger 
verscbiedener  Kombinationen  unci  Permutationen  von  relativ 
wenigen  Faktoren. 

Diese  Faktoren  sind  die  Einbeiten,  welcbe  die  Wissen- 
schaft  von  der  Vererbung  zu  erforschen  hat.  "Wie  die 
Pbysik  und  die  Cbemie  auf  die  Molekiile  und  die  Atome 
zuriickgeben,  so  haben  die  biologiscben  Wissenschaften  zu 
diesen  Einbeiten  durcbzudringen.  um  aus  ibren  Verbindungen 
die  Erscbeinungen  der  lebenden  AVelt  zu  erklaren. 

Pbylogenetiscbe  Betracbtungen  fiibren  zu  denselben 
Schliissen.  Die  Arten  sind  allmablig  aus  einfacheren  Formen 
bervorgegangen,  und  zwar  dadurcb,  dass  zu  den  vorhandenen 


—     10     — 

Merkmalen  nach  einander  neue  und  immer  weitere  hinzu- 
gekommen  sind.  Die  Faktoren,  welche  den  Charakter  einer 
einzelnen  Art  zusammensetzen,  sind  also  in  diesem  Sinne 
von  ungleichem  Alter ;  die  Merkmale  der  grosseren  Gruppen 
im  Allgemeinen  alter  als  die  der  kleineren  systematisclien 
Abtheilungen.  Aber  grade  die  Ueberlegung ,  dass  die 
Merkmale  einzeln  oder  in  kleinen  Gruppen  erlangt  worden 
sind,  zeigt  uns  wiederum  von  einer  andern  Seite  ihre  gegen- 
seitige  Unabhangigkeit. 

Es  ist  eine  auffallende ,  aber  bei  weitem  nicbt  bin- 
reicbend  gewiirdigte  Thatsache,  dass  oft  in  entfernten 
Tbeilen  des  Stammbaumes  dieselbe  Eigenscbaft  von  ganz 
verscbiedenen  Arten  entwickelt  worden  ist.  Solcbe  „parallele 
Anpassungen"  sind  ausserst  zablreicb,  und  fast  jede  ver- 
gleicbende  Behandlung  einer  biologiscben  Eigentbumlicb- 
keit  weist  uns  davon  Beispiele  auf.  Die  insektenfressenden 
Pflanzen  gehoren  den  verscbiedensten  natiirlicben  Familien 
an,  dennocb  besitzen  sie  alle  das  Vermogen,  aus  ihren 
Blattern  das  zur  Auflosung  von  Eiweisskorpern  erforder- 
licbe  Gemenge  eines  Enzymes  und  einer  Saure  bervorzu- 
bringen.  Die  von  Darwin  bervorgebobene  Uebereinstimmung 
dieses  Gemenges  mit  dem  Magensaft  der  hoheren  Thiere 
berecbtigt  sogar  zu  der  Annabme  von  erblicben  Eigen- 
scbaften,  welche  jenen  Pflanzen  und  dem  Thierreich  gemein- 
schaftlicb  sind. 

Die  einbeimiscben  rankenden  und  scblingenden  Ge- 
wiichse.  die  tropischen  Lianen.  die  Knollen-  und  Zwiebel- 
pflanzen.  die  fleischigen,  blatterlosen  Stamme  der  Cacteen 
und  Eupborbiaceen,  die  Pollinien  der  Orchideen  und  As- 
clepiadeen  und  zahllose  andere  Beispiele  weisen  uns  solcbe 
parallele  Anpassungen  auf.  Sehr  schone  Bilder  liefern 
einerseits  die  Wiistenpflanzen ,   welche  sich  alle   in  irgend 


—   11    — 

einer  Weise  gegen  die  Nachtheile  der  Verdunstung  zu 
schiitzen  suchen,  und  deren  anatomische  Verhaltnisse  von 
Volkens  so  eingehend  geschildert  worden  sind  a).  Anderer- 
seits  die  Ameisenpflanzen,  in  deren  Anpassungen  an  schad- 
liche  und  niitzliche  Ameisenarten  uns  Schimper  einen  Ein- 
blick  eroffnet  hat  -). 

Ueberall  sehen  wir,  wie  eine  und  dieselbe  erbliche 
Eigenschaft,  oder  wie  eine  bestimmte  kleine  Gruppe  von 
solchen  mit  den  verschiedensten  anderen  erblichen  Eigen- 
schaften  verbunden  werden  kann .  und  wie  durch  diese 
ausserst  variirten  Verbindungen  die  einzelnen  Artcharaktere 
zu  Stande  kommen. 


§  2.     Die  Uebereinstimmung  in  den  Unterschieden  zwischen 

Arten  und  Organen. 

Zu  ganz  ahnlichen  Polgerungen,  wie  die  Vergleichung 
der  Arten  unter  sich.  fiilirt  uns  auch  die  Vergleichung  der 
Arten  mit  den  Organen  eines  einzelnen  Individuums.  Denn 
die  Verschiedenheiten  zwischen  diesen  letzteren  konnen  wir 
in  derselben  Weise  auf  die  verschiedenartigenKombinationen 
der  einzelnen  erblichen  Eigenschaften  zuruckfiibren. 

Schon  die  einfachste  Betrachtung  lehrt  uns  dieses. 
Wie  das  Chlorophyll  manchen  Arten  fehlt,  so  fehlt  es  auch 
in  den  hoheren  Gewachsen  einzelnen  Organen  und  Geweben. 
Der  rothe  Blumenfarbstoff  ist  auf  bestimmte  Pfianzenspezies. 
und  in  diesen  auf  bestimmte  Organe  beschrankt.  Gerb- 
saure,  atherische  Oele  und  dergleichen  pflegen,  wo  sie  vor- 
handen   sind,    eine   lokale   Verbreitung   aufzuweisen.      Der 


J)  G.  Volkens,  Die  Flora  der  Aegyptisch-Arabischen  Wiiste. 

2)  A.  F.  W.  Schimper,  Die  Wechselbeziehungen  zwischen  Pflanzen 
and  Ameisen  im  tropischen  Amerika,  in  dessen  Botan.  Mittheilungen 
aus  den  Tropen,  Band  I,  Heft  1.     1888. 


—     12     — 

oxalsaure  Kalk  fehlt  den  meisten  Farnen  unci  Grasern,  unci 
andererseits  den  Wurzeln  vieler  kalkreiclier  Arten.  Das- 
selbe  gilt,  wie  der  Augenschein  lehrt,  von  den  morpho- 
logischen  Merkmalen ;  davon  brauche  ich  keine  Beispiele 
anzufiihren.  Denn  man  wird  mir  wohl  zugeben,  dass  eine 
sehr  grosse  Uebereinstimmung  obwaltet  zwischen  der  Weise. 
in  der  sich  die  Organe  einer  einzelnen  Pflanze  von  ein- 
ander  unterscheiden.  und  den  Unterschieden  zwischen  zweien 
differenten  Arten.  Beide  beruhen  offenbar  auf  wechseln- 
den  Verbindungen  und  wechselnder  Auswahl  aus  einer 
grossen  Reihe  gegebener  Faktoren. 

Eine  Reihe  von  Erscheinungen.  welche  wir  unter  dem 
Namen  der  Dichogenie  zusammenfassen  konnen ,  fiihrt 
zu  ahnlichen  Schlussfolgerungen.  Ich  meine  alle  jene  Falle. 
wo  die  Natur  eines  Organes  wahrend  seiner  ersten  Anlage 
nocli  nicht  entschieden  ist,  sondern  noch  durch  aussere 
Einfliisse  bestimmt  werden  kann.  So  bilden  die  Auslaufer 
der  KartofFelpflanze  unter  normalen  Verhaltnissen  an  ihrer 
Spitze  die  Knollen,  am  Lichte  aber,  oder  wenn  der  Haupt- 
stengel  abgeschnitten  worden  ist,  wachsen  sie  zu  griinen 
Trieben  aus.  Durch  Abschneiden  des  Stengels  kann  man 
die  Rhizome  von  Mentha,  Circaea  und  vielen  anderen 
Pflanzen  zu  aufgehenden  Stengeln  werden  lassen,  und  merk- 
wiirdig  sind  die  Umbildungen,  welche  die  dicken,  fast  ruhen- 
den  Rhizome  von  Yucca  nach  solcher  Behandlung  auf- 
weisen.  Auf  ahnliche  Weise  gelang  es  GriJbel  die  Anlagen 
von  Bracteen  zu  griinen  Blattern  werden  zu  lassen  !),  und 
Beyerinck  beobachtete  sogar  dieUmbildung  jungerKnospen 
von  Rum  ex  Acetosella  in  Wurzeln'2). 


x)   K.    Gobel,    Beitrage    zur    Morphologie    und    Physiologie    des 
Blattes.     Botan.  Zeitung  1882  S.  353. 

2)  M.  W.  Beyerinck ,   Beobachtungen  und  Betrachtungen    iiber 


—     13     — 

Es  ist  klar,  class  in  solchen  Fallen  in  den  jungen  An- 
lagen  das  Vermogen  ruht,  sicli  in  zwei  verschiedenen  Rich- 
tungen  zu  entwickeln.  Grade  deshalb  mochte  icli  auf  diese 
Erscheinung  den  Namen  Dicliogenie  anwenden.  Und  es 
bangt  offenbar  von  ausseren  Einfliissen  ab ,  welcbe  Rich- 
tung  eingescblagen  wird.  Es  muss  somit  unter  den  vor- 
bandenen  erblicben  Eigenscbaften  der  Art  eine  Wahl  ge- 
troffen  werden,  und  auf  diese  Wabl  konnen  wir  durcb 
kiinstliche  Eingriffe  einen  Einfiufs  ausiiben.  Fiir  die  Lebre 
von  den  erblichen  Eigenscbaften  sind  solcbe  Versuche  also 
vom  hocbsten  Interesse. 

Hier  scbliessen  sicb  in  einfacber  AVeise  die  Erscbei- 
nungen  der  Knospenvariation  an.  Zablreicbe  unter  ihnen 
sind  Falle  von  Atavismus.  Wahlen  wir  ein  Beispiel.  An 
buntblattrigen  Pflanzen  beobacbtet  man  baufig  einzelne 
griine  Zweige.  Da  die  bunte  Pfianze  von  griinen  Vorfabren 
abstammt.  so  l)etracbtet  man  diesen  Fall  als  Riickschlag. 
Das  bunte  Individnum  besass  offenbar  die  Eigenscbaften 
der  griinen  Vorfabren  noch  im  latenten  Zustande;  dureb 
Knospenbildnng  spaltete  sie  ibren  ganzen  Cbarakter  aber 
derart,  dass  in  dem  einen  Zweige  die  bunte  Miscbung,  im 
andern  die  griine  Farbe  zur  Oberberrscbaft  gelangte. 

Als  ein  weiteres  Beispiel  von  Knospenvariation  mocbte 
icb  noch  die  Nectarinen  anfubren.  Diese  sind  unbehaarte 
Pnrsiche?  welcbe  auf  mebreren  Sorten,  und  auf  einzelnen 
dieser  zu  wiederbolten  Malen  durcb  Knospenvariation  ent- 
standen  sind.  Es  liisst  sicb  diese  Tbatsache  nur  so  auf- 
fassen,  dass  man  sagt,  es  konne  das  Vermogen  bebaarte 
Friicbte  zu  bilden,  leicht  und  unabbiingig  von  alien  anderen 


Wurzelknospen  und  Nebenwurzeln.     Veroffentl.  d.  d.  k.  Akad.  d.  Wiss. 
Amsterdam  1886  S.  41—43.     Vergl.  audi  Tafel  I  Fig.  9. 


—     14     — 

Eigenschaften  in  einzelnen  Zweigen  verloren  gehen,  oder 
doch  latent  werden. 

Die  durcli  Knospenvariation  entstandenen  Merkmale 
pflegen  bei  der  Vermehrimg  durch  Propfen,  Stecklinge  u.  s.  w. 
erhalten  zu  bleiben,  und  sind  sogar  in  einzelnen  Fallen 
samenbestandig.  ISTeue  Varietaten  konnen  soniit  auf  diese 
Weise  geziichtet  werden.  Und  da  wir  die  Varietaten  als 
beginnende  Arten  betrachten ,  spriclit  aucli  diese  Ueber- 
legung  fur  dieUebereinstimmung  zwischen  denUnterschieden 
von  Arten  und  Organen. 

An  die  Knospenvariationen  schliesst  sich  nun  weiter 
ungezwungen  die  Betraclitung  monoecischer  Gewachse  an. 
Denn  sie  stimmen  mit  jenen  darin  iiberein,  dass  verschiedene 
Zweige  verschiedene  Eigenschaften  zur  Entfaltung  gelangen 
lassen.  In  der  jungen  Pflanze  sind  die  Geschlechter  noch 
nicht  getrennt;  sie  behalt,  oft  durch  lange  Zeit?  das  Ver- 
mogen,  beide  hervorzubringen.  Schreitet  sie  aber  dazu,  so 
thut  sie  dieses  durch  eine  Art  von  Entmischung:  die  eine 
Knospe  wird  zu  einer  mannlichen,  die  andere  zu  einer  weib- 
lichen  Bliithe.  Oder  es  werden  mannliche  und  weibliche 
Innorescenzen  hervorgebracht,  oder  ganze  Aeste  sind  vor- 
wiegend  weiblich  und  andere  mannlich.  Der  Artcharakter 
war  in  der  jungen  Pflanze  also  als  Ganzes,  aber  im  latenten 
Zustande  vorhanden,  urn  sich  zu  anssern,  musste  er  sich 
erst  in  seine  beiden  Haupttheile  siialten. 

Organbildung ,  Knospenvariation  und  die  Produktion 
mannlicher  und  weiblicher  Zweige  an  monoecischen  Ge- 
wachsen  beruhen  also  auf  einer  Art  Entmischung.  Die  in 
der  jungen  Pflanze  vereinigten  Anlagen  trennen  sich  von 
einander,  um  zur  Entfaltung  gelangen  zu  konnen.  Und  die 
Gruppirung  der  erblichen  Eigenschaften  in  den  einzelnen 
Zweigen    und    Organen    zeigt   eine   sehr   grosse   Ueberein- 


—     15     — 

stimmung  mit  der  Zusammenfugung  solcher  Eigenschaften 
zu  den  verschiedenen  Artmerkmalen  verwandter  Organismen. 


§  3.     Die  Uebereinstinimung  zwischen  den  sekundaren 
Sexualcharakteren  nnd  den  Artmerkmalen. 

In  ahnlicher  Weise  wie  im  vorigen  Paragraphen 
weiter  gehend.  wollen  wir  jetzt  die  sekundaren  Sexual- 
charaktere  in  den  Kreis  unserer  Betrachtungen  herein- 
ziehen.  Denn  sie  fiihren  zu  genau  derselben  Auffassung 
des  Artcharakters. 

Man  siebt  dies  am  klarsten  in  jenen  Fallen,  wo  die 
beiden  Sexen  derselben  Art  bei  ihrer  ersten  Entdeckung  als 
verscliiedene  Arten  beschrieben  worden  sind.  Doch  audi 
sonst  sind  die  sekundaren  Unterscbiede  zwischen  den  In- 
dividuen  der  beiden  Sexen  von  derselben  Ordnung  wie  die 
Unterschiede  zwischen  den  verschiedenen  Arten  in  der- 
selben und  in  verwandten  Gattungen. 

Aehnlich  verhalt  es  sich  mit  jenen  Pflanzen ,  welche 
auf  verschiedenen  Individuen  Bliithen  tragen,  deren  Ge- 
schlechtsorgane  konstante  Differenzen  auiweisen,  den  so- 
genannten  Fallen  der  Heterostylie.  Bei  den  Primeln  unter- 
scheidet  man  die  langgrifflige  und  die  kurzgrifflige  Form, 
bei  Flachsarten  kommen  drei  verscliiedene  Bliithenformen 
auf  verschiedenen  Individuen  vor. 

Obgleich  hier  die  zwei  oder  drei  verschiedenen  Gruppen 
von  derselben  Art  angehorigen  Individuen  weder  im  Ge- 
schlechte ,  noch  der  Generation  nach  verschieden  sind, 
unterscheiden  sie  sich  doch  durch  Merkmale,  welche  eben- 
so  konstant  und  von  derselben  Ordnung  sind  wie  die  den- 
selben  Organen  entnommenen  Artmerkmale  in  verwandten 
Gattungen. 


—     16     — 

Anliangsweise  soil  liier  audi  der  Generationswecbsel 
betrachtet  werden.  Denn  audi  liier  sind  die  Unterschiede 
zwischen  den  physiologisch  ungleichwerthigen  Individuen. 
welche  hier  den  verschiedenen  Generationen  angeh<3ren. 
von  derselben  Ordnung  wie  Artmerkmale.  Dieses  lebren 
uns  die  Uredineen  und  die  Cynipiden  nnd  alle  jene  Fiille. 
wo  das  Vorhandensein  eines  Generationswechsels  erst  ent- 
deckt  wurde,  nachdem  die  einzelnen  Formen  als  Arten  be- 
schrieben  und  verscliiedenen  Gattungen  und  Familien  im 
Systeme  eingereilit  worden  waren.  Und  noch  heute  ist  es 
unmoglich,  die  Zusammengehorigkeit  zweier  Formen  auf 
morphologischer  Grundlage  zu  beweisen :  nur  der  Kultur- 
versucb  bringt  die  Entscheidung.  Die  aufeinander  folgen- 
den  Wechselgenerationen  sind  nicht  auf  dieselbe  Grund- 
form  zuriickzufiihren.  jede  setzt  ihre  Merkmale  durcb  eine 
andere  Auswabl  aus  den  vorbandenen  erblicben  Anlagen 
der  Art  zusammen. 

Fassen  wir  nun  das  Ergebniss  dieses  und  der  beiden 
vorigen  Paragrapben  zusammen,  so  zeigt  sicb ,  class  jede 
eingebende  Betracbtung  des  Artcbarakters  und  jede  Ver- 
gleicbung  mit  anderen  Merkmalen  dazu  fiihrt,  ersteren  als 
ein  zusammengesetztes  Bild  aufzufassen.  dessen  Komponenten 
in  den  verscbiedensten  Weisen  miscbbar  sind. 


§  4.     Das  Variiren   der   einzelnen  erblichen   Eigenschaften 
unabhangig  von  einander. 

Die  vergleicbende  Betracbtung  der  Organismenwelt 
fiibrte  uns  zu  der  Ueberzeugung,  dass  die  erblicben  Eigen- 
scbaften  einer  Art,,  wenn  audi  auf  verschiedenen  Weisen 
mit  einander  zusammenhangend,  doch  prinzipiell  selbstilndige 
Einbeiten  sind,    aus    deren   Vereinigung   der   Artcbarakter 


—     17     — 

liervorgeht.  Wir  wollen  jetzt  untersuchen,  ob  dieseFolgerung 
durch  das  Experiment  bestatigt  wird,  oder  nicht. 

Dazu  wenden  wir  uns  zu  den  Versuchen  liber  Varietiiteii- 
bildung,  namentlicli  zu  denjenigen ,  welche  von  Pflanzen- 
ziiclitern  im  Grossen  angestellt  worden  sind.  Diese  leliren 
uns  nun,  class  fast  jede  Eigenscbaft  unabhangig  von  den 
anderen  variiren  kann.  Zablreiche  Varietiiten  unterscbeiden 
sicb  nur  in  einem  Merkmal  von  ibren  Stammformen.  wie 
/..  B.  die  weissen  Spielarten  rothbliithiger  Spezies.  Die 
rothe  Farbe  gebt  in  der  Krone  in  alien  Abstufungen  in 
Weiss  iiber,  sie  kann  nicht,  nur  in  den  Bliithen.  sondern 
audi  in  den  Stengeln  unci  Blattern  feblen  oder  vorkonimen. 
iiberbaupt  in  jedem  denkbaren  Grade  entwickelt  sein,  obne 
dass  irgend  eine  anclere  erblicbe  Eigenschaft  notwendiger- 
weise  mit  in  Variation  gebracht  wtirde.  In  derselben  AVeise 
konnen  die  Bebaarung.  die  Bewaffnung  niit  Dornen  unci 
Stacbeln,  die  grime  Farbe  der  Blatter,  jede  fiir  sicb  allein 
variiren  unci  sogar  ganz  verscbwinden,  wahrend  alle  iibrigen 
erblicben  Eigenscbaften  vollig  unverandert  bleiben.  Oft 
variiren  zusammengeborige  Merkmale  gruppenweise,  obne 
auf  die  iibrigen  Gruppen  einen  Eintluss  auszuiiben.  So 
gebt  eine  Vermebrung  der  Zabl  der  Blumenblatter  nicht 
selten  mit  blumenblattalmlicher  Entwickelung  des  Kelcbes 
oder  der  Hocbblatter  zusammen,  wabrend  sonst  die  Pflanze 
normal  bleibt.  Icb  kultivire  einen  Dipsacus  sylvestris. 
welcber  in  der  Blattstellung  alle  denkbaren  Abwecbslungen 
aufweist,  sonst  aber  in  Tausenden  von  Exemplaren  konstant 
ist.  Das  Papav  er  s  omnif  eruni  p  olyc  ephal  um  weicht 
nur  in  cler  Umbildung  zablreicher  Staubgefasse  in  Frucbt- 
blatter  ab,  ebenso  das  kultivirte  Sempervirum  t e c t o r  u m. 
SolcberBeispiele  giebt  es,  sowobl  im  Pflanzenreich  als  wie  im 
Tbierreicb,  so  zahlreicbe ,   class    das    unabbangige  Variiren 

de  Vries,  Intracellular  Pangenesis.  2 


—     18     — 

einzelner  Merkmale  Regel.  das  Zusammenvariiren  melirerer 
aber  Ausnahme  ist.  Allerdings  liisst  sich  meist  nicht  ent- 
scheiden,  ob  das  betreffende  Merkmal  durch  eine  einzelne, 
oder  durch  eine  kleine  Gruppe  von  erblichen  Eigenschaften 
bestimmt  wird. 

Andererseits  liisst  sich  eine  Haufung  melirerer  Varia- 
tionen  in  einor  Race  leicht  bewirken ,  und  kommt  solche 
sowohl  in  den  Kulturen  als  in  der  freien  Natur  ganz  ge- 
wohnlich  vor.  Aber  in  den  hinreicliend  genau  kontrolirten 
und  beschriebenen  Fallen  pflegt  sich  dann  zu  zeigen,  dass 
die  einzelnen  Variationen  nicht  gleichzeitig,  sonclern  nach 
und  nach  aufgetreten  sind,  und  dieses  reicht  hin,  um  ihre 
Selbstiindigkeit  zu  beweisen. 

Eine  derart  von  den  ubrigen  isolirte  erbliche  Eigen- 
schaft  kann  nun  Gegenstand  experimenteller  Behandlung 
werden.  Durch  geeignete  Zuchtwahl  lasst  sie  sich  all- 
mahlig  starken  oder  schwachen ,  und  je  nach  der  Willkur 
des  Zlichters  in  ein  bestimmtes  Verhaltniss  zu  den  ubrigen 
unveranderten  Merkmalen  bringen.  Die  rothe  Farbe  der 
Blutbuche  ist  so  weit  verstarkt  worden,  dass  sogar  der  Zell- 
saft  in  den  lebendigen  Zellen  des  Holzes  lebhaft  roth 
wurde,  die  Fiillung  der  Bluthen  geht  mehrfach  bis  zmn 
volligen  Schwinden  der  Geschlechtsorgane.  Und  in  zahl- 
reichen  Fallen  werden  nur  die  der  AVahl  unterworfenen 
Organe  veriindert,  die  ubrigen  bleiben  davon  unbetroffen. 
Die  Anpassung  der  landwirthschaftlichen  Kulturpflanzen 
an  die  Bediirfnisse  des  Menschen  und  der  Gartengewachse 
an  sein  Schonheitsgefiihl  zeigt  uns  dies  in  klarster  Weise. 

Die  experimentelle  Behandlung  1'tihrt  weiter  zu  dem 
Studium  des  Einflusses  ausserer  Umstande  auf  die  Ent- 
faltung  der  erblichen  Eigenschaften.  Auch  dabei  erweisen 
sich  diese  als  Faktoren ,    deren  jede    unabhangig   von    den 


—     19     — 

anderen  variiren  kann.  Gegenstancl  des  Studiums  sind 
namentlich  junge  Varietaten  und  alle  solche.  welche  nooh 
nicht  hinreichend  fixirt  worden  sind.  wo  also  aussere  Ein- 
tiiisse  noch  eine  bedeutende  Rolle  spielen  bei  der  Beant- 
wortung  der  Frage,  ob  aus  einem  gegebenen  Keime  ein 
echtes  oder  ein  atavistisches  Tndividnnm  hervofgehen  wird. 
Ilimpau  und  Andere  liaben  gelehrt,  dass  Storungen  und 
Unterbreclmngen  des  Wachsthums  einen  hervorragenden 
Einfiuss  iiben  auf  die  Anzahl  der  einjahrigen ,  durch- 
scbiessenden  Exemplare  auf  einem  Riibenacker,  bei  gegebenem 
Samen1).  Und  in  der  gartnerischen  und  teratologischen 
Literatur  finden  sicb  zahlreiche  Angaben  zertreut.  aus  denen 
die  Bedeutung  ausserer  Eintliisse  im  Ganzen  und  Grossen 
klar  bervorgelit.  Der  experimentellen  Forschung  aber  er- 
offnet  sicb  bier  ein  weites,  last  unbetretenes  Feld.  In 
tbeoretiscber  Hinsicht  wird  es  auf  diesem  die  Hauptauf- 
gabe  sein,  die  Variationen  in  den  erblicben  Eigenschaften 
soviel  wie  moglich  zu  isoliren,  uni  auf  diesem  Wege  zur 
Erkenntniss  der  einzelnen  Paktoren  des  betreffenden  Art- 
charakters  zu  gelangen. 

Die  Variationen,  welche  wir  in  der  freien  Natur  be- 
obacbten,  erscheinen  uns  haufig  wie  plotzlich  entstanden. 
und  dasselbe  gilt  von  Kulturen  im  Kleinen  oder  bei  un- 
vollstandiger  Kontrole  der  einzelnen  Individuen.  Die  Er- 
fahrung  an  Kulturpfianzen  in  den  ersten  Jabren  nacb  dem 
Anfange  der  Kultur  lebren  aber.  dass  die  Abweichungen 
nur  langsam  und  allmahlig  sicb  entwickeln.  und  dass  die 
abgeanderten  Einflusse  in  der  Kegel  mebrere  Generationen 
hindurch  wirken  miissen .   bevor    sie    ihren   Effekt   derartig 


J)   A.  W.  Rimpau,  Das  Aufschiessen    der  Runkelriiben ,   Land- 
wirtschaftl.  Jahrbucher  1880  S.  191. 

2* 


—     20     — 

haufen  konnen,  dass  er  siclitbar  zu  Tage  tritt T).  Die  dies- 
beziiglicben  von  Darwin  zusammengestellten  Tbatsachen 
macben  ganz  den  Eindruck,  als  ob  die  neuen  Cliaraktere 
erst  nur  ini  latenten  Zustande  entsteben ,  und  in  diesem 
allmahlig  an  Starke  gewinnen,  bis  sie  endlich  denjenigen 
Grad  erreichen,  der  zum  Siclitbarwerden  erforderlich  ist. 
Aucb  bier  muss  man  also  annehmen,  dass  jede  erblicbe 
Eigenscbaft  in  jedem  Grade  mit  den  iibrigen  mischbar  ist. 

Die  Selbstandigkeit  der  erblicben  Eigenscbaften  zeigt 
sicb  am  schonsten  beim  Atavismus.  Durcb  zablreicbe 
Generationen  kann  eine  Eigenscbaft  latent  bleiben,  wabrend 
sicb  alle  iibrigen  in  normaler .  Weise  entfalten.  Von  Zeit 
zn  Zeit  zeigt  sie  sicb  dann  wieder,  meist  obne  dabei  irgend 
einen  Einfinss  auf  die  sonstigen  Merkmale  auzuiiben.  Welche 
aussere  Umstande  dieses  Wiederauftauchen  bedingen,  wissen 
wir  nicbt ;  aller  Wahrscbeinlicbkeit  nach  wirken  diese  nicht 
einfacb  auf  die  atavistiscben  Individuen,  sondern  muss  man 
sicb  vorstellen,  dass  die  betreffende  Anlage  in  den  iibrigen 
zwar  stets  latent,  aber  in  ibrer  Starke  docb  sebr  nuk- 
tuirend  ist.  Aber  nur  die  Gipfel  der  bocbsten  Wellen 
werden  uns  siclitbar. 

Allem  Anscbeine  nach  konnen  solche  Cliaraktere  durcb 
iiusserst  lange  Reiben  von  Generationen  vom  einen  Ge- 
scblecbt  auf  das  andere  iibertragen  werden.  Nacb  Jahr- 
tausenden  recbnet  ibre  Existenz  in  jenen  Fallen,  wo  sie 
offenbar  mindestens  so  alt  sind,  wie  die  Art  selbst.  Icb 
meine  die  Falle  von  Rtickscblagen  auf  die  Vorfabren  der 
Spezies,  von  denen  die  Zebra-iibnlicben  Streifen  des  Pferdes 
ein  so    bekanntes  Beispiel   abgeben  2).     Ein   ahnlicbes  Bei- 


J)  Vergl.  hieriiber  Darwin,  The  Variations  of  animals  and  plants 
under  Domestication  2.  Aurt.  1875  II  S.  39. 
2)  Darwin  1.  c.  I  S.  59. 


—     21     — 

spiel  ist  die  Primula  acaulis  var.  caulescens,  welche 
im  Freien  unter  Tausenden  von  schirmlosen  Primeln  von 
Zeit  zu  Zeit  in  ganz  vereinzelten  Exemplaren  auftritt,  dann 
aber  eine  ahnliche  Inflorescenz  bildet,  wie  die  nachst- 
verwandten,  schirmtragenden  Arten.  Die  Kultur  hat  sich 
dieser  reicher  bliihenden  Varietal  bemachtigt  und  sie  in 
zahlreiclien  Farbenniiancen  in  den  Handel  gebraclit. 

Ich  mochte  diesen  Paragraphen  nicht  abschliessen, 
olme  auf  eine  Erscheinung  hingewiesen  zu  haben ,  welcbe 
das  Studium  der  erblicben  Eigenschaften  in  bobem  Grade 
komplizirt.  Es  ist  dies  der  bereits  mehrfach  erwiihnte 
Umstand,  dass  sie  ganz  gewohnlich  zu  kleineren  und  grosseren 
Gruppen  vereinigt  sind,  welcbe  sicb  wie  Einheiten  be- 
nehmen,  indem  die  einzelnen  Glieder  der  Gruppe  gewolm- 
lich zusammen  in  die  Erscheinung  treten.  Wir  seben 
dieses  in  den  mannlichen  und  weiblicben  Bliithen  und  In- 
florescenzen  einhausiger  Gewachse,  in  den  erwahnten  Fallen 
von  Knospenvariation  und  von  Dichogenie.  Die  Sexual- 
rharaktere  verscbiedener  Individuen  und  die  Unterschiede 
zwiscben  den  Wechselgenerationen  derselben  Spezies  lehren 
u ns  das  Namlicbe. 

Diese  Verbindung  der  einzelnen  Eigenschaften  zu 
Gruppen  ist  somit  ganz  allgemein,  wenn  sie  audi  in  fast 
alien  Abstufungen  vorkommt.  und  wenn  aucb  einige  erb- 
licbe  Eigenschaften,  wie  z.  _B.  das  Vermogen,  rothe  Farbe 
anzunehmen,  sich  in  der  Regel  nicht  mit  bestimmten  anderen 
zu  Gruppen  vereinigen.  Man  erkennt  sie  in  klarster  Weise 
in  jenen  durch  Aphiden,  Phytopten  und  andere  Parasiten 
verursachten  Vergriinungen.  wo  der  Reiz  eine  ganze  Reihe 
von  sonst  in  anderen  Theilen  der  Pfianze  zur  Entwickelung 
gelangenden  Eigenschaften  hervorruft. 

Mit  dieser  Verbindung  der  erblicben  Eigenschaften  zu 


—     22     — 

grosseren  unci  kleineren  Gruppen  hat  jede  Theorie  der 
Vererbung  Rechnung  zu  halten,  und  verschiedene  Schrift- 
steller,  wie  Darwin  und  NSgeli,  haben  diesen  Punkt  klar 
hervorgehoben.  Docb  durfte  grade  hierin  eine  grosse 
Schwierigkeit  gelegen  sein,  welcbe  sich  einer  in's  Einzelne 
gehenden  Ausarbeitung  der  Theorie  entgegenstellt.  Demi 
offenbar  wird  es  in  vielen  Fallen  ausserst  sclrwierig  sein. 
zu  entscheiden,  obman  esmit  einer  einzelnen  erblichen  Eigen- 
schal't.  oder  mit  einer  klcinen  Gruppe  von  solchen  zu  thun 
hat.  Es  liegt  hier,  1'iir  die  morphologische  Analyse,  noch 
ein  weites  Feld,  das  der  Bearbeitung  harrt. 

§  5.     Die  Mischung  der  erblichen  Eigenschaften. 

Die  erblichen  Eigenschaften  sincl  in  jedem  Grade  und 
Verhaltniss  mischbar.  Dieses  sehen  wir  an  bunten  Blattern 
und  gestreiften  Bluraen,  wo  das  Ergebniss  dieser  Mischung. 
nach  entsprechender  Entmischung.  uns  fast  direkt  vor- 
gefiihrt  wird.  East  unendlich  ist  die  Abwechslung  in  der 
Zeichnung  der  bunten  Blatter,  oft  auf  derselben  Pflanze. 
oder  doch  auf  den  verschiedenen  Individuen  einer  selben 
Aussaat.  Gestreifte  Blumen  entstehen  nach  Vilmorin 
durch  partiellen  Atavismus  aus  alten  weissbluthigen  Varie- 
taten  rother  oder  blauer  Arten  ') ;  die  jungen  Varietaten 
pfiegen  sprungweise  zur  Stammform  zuriickzukehren ,  die 
iilteren  aber  stufenweise,  durch  das  Auftreten  einzelner 
Streifen  der  urspriinglichen  Farbe  auf  dem  weissen  Grunde. 
Es  ist.  als  ob  die  Farbenanlage  bereits  zu  sehr  abgeschwacht 
ware,  um  noch  mit  einem  Male  die  gauze  Krone  zu  farben. 
Die  Nachkominen  der  ersten  gestreiften  Blumen  bilden  aber 


y)  L.   Leveque    de    Vilmorin,    Notices    sur    1' amelioration    des 
plautes  par  le  semis.  1886.  p.  39—41. 


—     23     — 

bald  breitere  Streifen  uud  gelien  dann  nach  wenigen  Ge- 
nerationen  wieder  in  die  gleichmassige  Farbe  der  Stamm- 
form  iiber. 

Aeusserst  merkwiirdig  sind  jene  Falle,  wo  erbliche 
Anlagen  im  latenten  Zustande  mit  einander  zusammen  vor- 
kommen.  welche  im  aktiven  Zustande  einander  nothwendig 
ausscliliessen.  Statt  einer  langen  Aufzahlung  vieler  Falle 
mochte  icli  dafiir  hier  ein  bekanntes  Beispiel  aus  der  Lehre 
von  der  Variabilitat  anfuhren,  und  wiihle  dazu  die  Blatt- 
stellung  in  Wirteln. 

Zweigliedrige  Wirtel .  deren  Blatter  an  den  auf- 
einander  folgenden  Knoten  kreuzweise  iiber  einander  stehen. 
gehoren  zu  den  besten  und  konstantesten  Merkmalen 
ganzer  natiirlicher  Familien.  Seltner  sind  Falle  von  drei- 
und  mehrgliedrigen  Wirteln.  Nicht  selten  schlagt  aber 
eine  Art  aus  ihrem  normalen  Typus  in  eine  andere 
Wirtelform  iiber.  und  bei  zahlreiclien  Pfianzen  mit  dekus- 
sirten  Blattern  sind  einzelne  Zweige  mit  drei  oder  mehr- 
gliedrigen Wirteln  beobachtet  worden.  Die  Fuclisien  und 
Weigelien  unserer  Garten  bilden  gewohnliche  Beispiele. 
Die  Uebergange  von  der  einen  Wirtelzabl  auf  die  andere 
finden  meist  sprungweise  statt,  derart,  dass  der  ganze  aus 
einer  Knospe  hervorgebende  Spross  sicb  selbst  in  dieser 
Bezielmng  gleicbbleibt;  aus  seiner  Endknospe  oder  semen 
Seitenknospen  gehen  dann  aber  baufig  Zweige  mit  anderer 
Wirtelzahl  bervor.  Seltener  gebt  ein  Spross  wiihrend 
seiner  Entwickelung  von  der  einen  Zahl  in  die  andere 
iiber.  wie  solcbes  z.  B.  bei  Lysimacbia  vulgaris  Begel 
ist.  Zwiscbenformen  zwiscben  zwei-  und  drei-  oder  drei- 
und  viergliedrigen  Wirteln  sind  iiusserst  selten,  obgleicb 
sie  nach  unserer  jetzigen  Kenntniss  ganz   leicht   entstehen 


—     24     — 

konnten ,  unci  thatsachlich  bei  den  meisten  Pflanzen  mit 
wirtligen  Blattern  von  Zeit  zu  Zeit  beobachtet  worclen 
sind J).  Ich  meine  jene  Wirteln,  in  denen  Ein  Blatt  an 
seinem  Gipfel  mehr  oder  weniger  tief  gespalten  ist,  wabrend 
der  Hauptnerv  sich  gabelig  verzweigt.  Es  kommt  diese 
Spaltung  in  alien  denkbaren  Graden  vor  und  fiihrt  durch 
jene  Blatter,  welche  auf  gespaltenem  Stiel  zwei  Spreiten 
tragen,  zur  vollen  Verdoppelung  des  Blattes  hmiiber.  Die 
Betrachtung  zablreicher  Beispiele  macbt  den  Eindruck,  als 
ob  die  einzelnen  Wirtelformen  sicb  abstossen ,  und  als  ob 
jede  danach  strebt  die  andere  auszuscbliessen.  Nur  selten 
gelingt  dies  nicbt.  und  dann  entsteben  die  erwahnten  Blatter 
mit  gabelig  getbeilten  Hauptnerven,  deren  vollstandige 
Uebergangsreibe  von  Einem  Blatte  zu  zweien  von  Delpino 
abgebildet  und  bescbrieben  worden  ist  -). 

Aucb  solcbe  Eigenscbaften,  welcbe  in  der  entfalteten 
Pflanze  einander  ausscbliessen,  sind  also  ira  latenten  Zu- 
stande,  anscbeinend  obne  Scbwierigkeit .  miscbbar.  Im 
Grunde  verbalt  es  sich  wie  in  unserem  Beispiel  so  audi 
in  den  Erscheinungen  der  Monoecie  und  Dioecie,  ferner 
des  Di-  und  Trimorpbismus  der  Bliithen  und  eigentlich  in 
der  ganzen  Organbildung.  Ueberall  findet  man  Merkmaler 
welcbe  gleichzeitig  in  demselben  Organe  nicbt  existiren 
konnen,  und  dennoch  wabrend  der  Jugend  im  latenten  Zu- 
stande  gemiscbt  vorkommen  miissen. 

Fassen  wir  das  Gesagte  kurz  zusammen,  so  seben  wir„ 
dass  Versucbe  und  Beobachtungen  iiber  das  Entsteben  und 
das  Fixiren  von  Variationen  uns  die  erblichen  Eigenscbaften 
als   Einbeiten  kennen   lebren,    mit  denen  man  experimen- 


2)  Vergl.   F.  Delpino,   Teoria  generale   della  Fillotassi  in   Atti 
della  R.  Universita  di  Genova.     Vol.  IV  Part.  II  1883  p.  197. 
2)  1.  c.  S.  206,  Taf.  IX  Fig.  60. 


—     25     — 

tiren  kann.  Sie  lehren  uns  ferner,  class  diese  Einheiten  fast 
in  jedem  Verbaltniss  mit  einander  mischbar  sind,  indem 
weitaus  die  meisten  Experimente  im  Grunde  nur  auf  eine 
Veranderung  dieses  Verhaltnisses  hinauslaufen. 

In  schlagender  Weise  werden  die  bisher  angestellten 
Betracbtungen  bestatigt  durch  die  Versuche  iiber  Bastar- 
dirung  und  Kreuzung.  Nirgendwo  tritt  so  klar  wie  bier 
das  Bild  der  Art  gegeniiber  seiner  Zusammensetzung  aus 
selbstandigen  Faktoren  in  den  Hintergrund.  Dass  im 
Bastarde  die  erblichen  Eigenscbaften  vom  Vater  und  von 
der  Mutter  durcbeinander  gemischt  sind,  weiss  ein  Jeder. 
Und  die  ausgezeicbneten  Versucbe  zablreicher  Forscber 
haben  uns  gelebrt,  wie  in  den  Nacbkommen  der  Bastarde 
eine  fast  unendliche  Abwechslung  zu  beobacbten  zu  sein 
pflegt,  welche  wesentlicb  auf  einer  in  mannigfacb  ver- 
scbiedener  Weise  stattfindenden  Vermiscbung  der  vater- 
licben  und  der  miitterlicben  Merkmale  berubt. 

Die  Bastarde  der  ersten  Generation  haben  fur  jedes 
Paar  von  Arten  ganz  bestimmte  Merkmale.  Erzeugt  man 
einen  Bastard  von  zwei  Arten .  deren  Kreuzung  bereits 
friibern  Forschern  gelungen  ist,  so  kann  man  sicb  darauf 
verlassen,  dass  die  von  ibnen  gegebene  Bescbreibung  in  der 
Regel  genau  auf  die  neu  erworbene  Mittelform  passen  wird. 
Ist  der  Bastard  obne  Mitbiilfe  seiner  Eltern  frucbtbar, 
und  ziebt  man  seine  Nacbkommenschaft  in  einigen  Genera- 
tionen  in  Tausenden  von  Exemplaren,  so  beobacbtet  man 
fast  stets,  dass  kaum  zwei  einander  gleicb  sind.  Einige 
kebren  zu  der  Form  des  Vaters ,  andere  zu  jener  der 
Mutter  zuriick;  eine  dritte  Gruppe  steht  in  der  Mitte. 
Zwiscben  diesen  stellen  sich  die  iibrigen  in  buntester  Ab- 
wecbslung  vaterlicber  und  miitterlicber  Merkmale,  und  fast 
in  jedem  Grade  gegenseitiger  Miscbung. 


—     26     — 

Von  zahlreichen  und  hervorragenden  Schriftstellern  ist 
auf  die  Bedeutung  der  Bastarde  fiir  die  Ergriindung  des 
TVesens  der  Befruchtung  hingewiesen.  Mit  demselben  Rechte 
diirfen  wir  sie  anwenden,  um  in  das  Geheimniss  des  Art- 
charakters  einzudringen  zu  versuchen.  Und  dann  beweisen 
sie  uns  klar,  dass  dieser  Charakter  im  Grande  kein  ein- 
heitliches  Gebilde  ist.  Denn  die  Merkmale  eines  Bastardes 
(erster  Generation)  sind  ebenso  scharf  und  ebenso  kon- 
stant.  und  iiberhaupt  von  derselben  Ordnung  wie  jene  der 
reinen  Arten,  und  der  haufige  Speziesname  hybridus1) 
diirfte  beweisen,  dass  aucli  die  besten  Systeniatiker  diese 
Uebereinstimniung  gefiililt  ltaben. 

Zwei,  drei  und  mehr  Arten  sind  von  Kolreuter. 
Gartner  und  Anderen  in  einem  Bastard  vereinigt  worden. 
Und  es  ist  nicht  einzuseken,  dass  dieser  Zahl  eine  andere 
als  eine  rein  praktische  Grenze  gesteckt  ware,  und  dass  im 
Grande  nicht  Merkmale  in  einem  Bastarde  gemischt  werden 
konnten,  welche  einer  unbegrenzten  Reihe  von  verwandten 
Arten  entlehnt  waren.  Dock  darauf  kommt  ja  wenig  an. 
Hauptsache  ist  der  Satz,  dass  der  Charakter  reiner  Arten. 
genau  so  wie  der  der  Bastarde .  zusammengesetzter  Na- 
tur  ist. 

Kreuzungen  von  Varietaten  einer  selben  Art  gekoren. 
namentlich  in  der  gartnerischen  Praxis,  zu  den  gewohn- 
lichsten  Operationen.  Haufig  ist  dabei  der  Zweck  einfach 
der,  Mittelformen  zu  erzeugen.  Nicht  selten  aber  wunscht 
man  einer  gegebenen  Varietat  einzelne  bestimmte  Eigen- 
schaften  mitzutheilen,  und  entlehnt  diese  dann  einer 
anderen  Varietat,  bisweilen  sogar  einer  anderen  Art. 
Harte  gegen  Winterfroste  wurde  mehrfach  in  dieser  Weise 


y)  Z.  B.  Papaver  hybridum  L.,  Trifolium  hybridum  L. 


—     27     — 

von  der  einen  auf  die  andere  Form  iibergefiihrt.  Carriere 
citirt  Beispiele  von  Begonien.  welche  durch  Kreuzung 
rait  einer  buntblattrigen  Varietat  einer  anderen  Art  bunt 
gemacht  worden  sind ,  ohne  dabei  sonst  in  ihren  Eigen- 
schaften  geiindert  zu  werden ]).  TJeberhaupt  ist  in  der 
gartnerischen  Praxis  die  Ueberzeugung  allgemein,  dass  man 
die  Eigenschaften  der  Varietaten  bei  Kreuzungen  nach 
voller  Willlriir  mit  einander  mischen,  und  seine  Ra<;en  so- 
wohl  in  vielen,  als  audi  in  einzelnen  ausgewahlten  Punkten 
nach  Bediirfniss  verbessern  kann. 

§  6.     Kreuz-  und  Selbst  befruchtung. 

In  Anschluss  an  die  im  vorigen  Paragraphen  behan- 
delten  Argumente,  welche  uns  die  Ergebnisse  der  Kreuzungs- 
und  Bastardirungsversuche  bieten,  wollen  wir  jetzt  die  nor- 
male  Befruchtung  behandeln,  und  zusehen.  inwiefern  audi 
auf  diesem  Gebiete  die  Thatsachen  unsere  Vorstellung  von 
der  gegenseitigen  Unabhangigkeit  und  Mischbarkeit  der 
erblich.en  Eigenschaften  stiitzen. 

Die  Bedeutung  der  Befruchtung  zu  ergriinden,  gehort 
zu  den  schwersten  Aufgaben  der  Biologie.  Die  zahllosen 
Anpassungen  dieses  Prozesses  an  die  verschiedensten  Lebens- 
bedingungen,  und  der  machtige  Einfiuss,  den  er  auf  die 
Differenzirung  der  Arten .  namentlich  durch  Ausbildung 
der  sekundaren  Sexualitatscharaktere  geiibt  hat.  drohen 
immer  uns  irre  zu  leiten,  und  uns  durch  die  spater  erlangte 
Bedeutung  das  eigentliche  Wesen  verkennen  zu  lassen. 
Hier,  wie  in  so  vielen  Fallen,    liegen   die  Verhaltnisse  im 

x)  E.  A.  Carriere,  Production  et  Fixation  des  Varietes,  1865 
S.  22.  Andere  Beispiele  bei  Verlot,  Sur  la  production  et  la  fixa- 
tion des  varietes,  1865  S.  46  und  65.  Vergl.  auch  Darwin,  1.  c.  II 
S.  73. 


—     28     — 

Pflanzenreich  klarer  unci  einfacher  als  im  Thierreich,  in 
welchem  namentlich  die  ausscliliefsliche  Beschrankung  der 
Fortpflanzung  der  hoheren  Thiere  auf  den  sexuellen  Weg 
nur  zu  leicht  die  Bedeutung  dieses  Vorganges  iiberschatzen 
lasst.  Dazu  kommt,  dass  fur  das  Pflanzenreich  durch  das 
eingehende  vergleichende  Studium  uber  die  Bedeutung  von 
Kreuz-  und  Selbstbefruchtung,  welches  wir  Darwin  ver- 
danken,  ein  ganz  unerwartetes  Licht  auf  das  Wesen  dieses 
Vorganges  geworfen  worden  ist. 

Darwin's  Versuche  haben  gelehrt,  dass  das  Wesen 
der  Befruchtung  in  der  Vermischung  der  erblichen  Eigen- 
schaften  zweier  verschiedener  Individuen  besteht1).  Selbst- 
befruchtung, welche  im  Pflanzenreich  so  leicht  stattfindet, 
und  experimentell  so  bequem  auszufiihren  ist,  hat  bei  Weitem 
nicht  dieselbe  Bedeutung.  Aus  den  auf  letzterem  Wege 
erhaltenen  Samen  gingen  in  Darwin's  Versuchen  stets 
schwachere  Individuen  hervor  als  aus  der  Ernte  gekreuzter 
Bliithen.  Die  ersteren  waren  kleiner.  weniger  reich  ver- 
zweigt,  weniger  iippig  und  anhaltend  bliihend,  und  trugen 
dementsprechend  audi  weniger  Samen.  Kreuzung  von  zwei 
Bliithen  derselben  Pflanze  war  eher  nachtheiliger  als  Be- 
fruchtung der  Bliithen  mit  ihrem  eigenen  Pollen. 

Sogar  die  Kreuzung  von  verschiedenen  Individuen 
reichte  nicht  aus,  die  Art  normal  zu  erhalten,  wenn  diese 
alljahrlich  auf  demselben  Beete  gezogen  und  vor  der  Be- 
fruchtung durch  Exemplare  anderer  Herkunft  geschiitzt 
wurden.  Die  ganze  Kolonie  kam  im  Laufe  einiger  Jahre 
stetig  und  deutlich  herunter;  die  Pflanzen  wurden  dabei 
nicht  nur  kleiner  und  schwiicher,  sondern  ihre  individuellen 


2)  Darwin,  Origin  of  species,  6.  Aufl.  S.  76—79  und  Cross-  and 
Selffertilisation  of  plants,  1876. 


—     29     — 

Unterscliiecle  nalnnen  derart  ab ,  dass  sie  einander  fast 
vollig  gleich  wurden. 

Eine  einzige  Kreuzung  einer  solclien  Kolonie  mit  In- 
dividuen  anderen  Ursprunges  stellte  aber  die  urspriingliche 
Kraft  wieder  her. 

Der  Befruchtungsprozess  bestelit  somit  in  seinem  Wesen 
niclit  in  der  Vereinigung  der  beiden  Geschlechter,  sondern 
in  der  Vermisclmng  der  erbliclien  Eigenschaften  zweier 
Individuen  von  verschiedener  Herkunft,  oder  doch  von 
solclien,  welche  verschiedenen  ausseren  Bedingungen  aus- 
gesetzt  gewesen  sind.  Eine  Verscliiedenheit  in  den  erb- 
liclien Eigenschaften  ist  somit  offenbar  Bedingung  fur  die 
Erreichung  des  vollen  Nutzens  der  Befruchtung ;  diese  Ver- 
scliiedenheit muss  aber  in  letzter  Instanz  durch  das  Leben 
unter  abweichenden  Einfliissen  erlangt  worden  sein. 

Denken  wir  uns  die  einzelnen  erbliclien  Anlagen  als 
selbstandige  Einheiten,  welche  in  verschiedenen  Verhiilt- 
nissen  mit  einander  zu  dem  individuellen  Charakter  einer 
Pflanze  verbunden  werden  konnen.  Nehmen  wir  weiter  an, 
dass  ihre  relative  Zu-  oder  Abnahnie  von  ausseren  Ein- 
fliissen abhiingt.  Offenbar  bestelit  dann  eine  grosse  Aus- 
sicht,  dass  unter  gleichen  ausseren  Bedingungen  in  ver- 
schiedenen Individuen  dieselben  Anlagen  zuruckgehen  werden, 
wahrend  unter  verschiedenen  Bedingungen  dieses  Loos  in 
jedein  Individuum  andere  Anlagen  treffen  wird.  Kreuzen 
wir  also  nur  die  Pflanzen  desselben  Beetes,  so  werden  die 
gleichsinnigen  individuellen  Abweichungen  verstarkt,  die 
geschwachten  Anlagen  also  noch  schwacher  gemacht  werden. 
Kreuzen  wir  aber  Individuen  aus  moglichst  verschiedenen 
Kulturen,  so  werden  die  Unterschiede  in  den  einzelnen  An- 
lagen offenbar,  wenigstens  zum  Theil,  ausgeglichen  werden. 


—     30- 
Und  zwar  urn    so    mehr,  je   zablreicher    die   von   einander 
abweicbenden  und  zur  Kreuzung  benutzten  Exemplare  sind. 

Ueberbaupt  ist  es  den  Pflanzenziiclitern  wohl  bekannt, 
dass  iippige  und  moglichst  abgewecbselte  Bedingungen  zur 
Haufung  und  Vermelirung  der  individuellen  Unterschiede 
fiibren,  wahrend  einfache  und  einformige  Umstande  diese 
nach  und  nach  verschwinden  lassen  und  also  die  Gleicli- 
tormigkeit  aller  Exemplare  befordern.  Erstere  Methode 
wird  beim  Verbessern  der  Racen,  letztere  beim  Fixiren  der 
neu  gewonnenen  Varietaten  angewandt. 

Fiir  die  Erhaltung  der  Art  mit  alien  ibren  erblichen 
Anlagen  in  dem  erforderlicben  Verbiiltnisse  ist  nur  ge- 
legentlicli  eine  Kreuzung  erforderlicb.  Nicbt  jeder  Gene- 
ration brauclit  solche  voranzugehen.  Wo  gescblechtliche 
Generationen  mit  ungescblecbtlicben  abwechseln,  wie  unter 
<len  Gallwespen,  und  avo  letztere  sogar  in  der  Mehrzabl 
vorkommen,  wie  bei  vielen  Apbiden.  ist  dieses  olme  weiteres 
deutlicb. 

Bei  den  Bienen  werden  die  befruchteten  Eier  zu 
Weibcben,  die  unbefruchteten  zu  Manncben.  Da  aber 
jedes  Miinnchen  notlnvendig  von  einem  durcb  Befruchtung 
'■ntstandenen  Weibcben  abstammt ,  wird  es  der  Vortbeile 
gelegentlicber  Kreuzung  offenbar  in  binreicbender  Weise 
habbaft.  Dass  wir  es  bier  nicbt  mit  prinzipiellen  Verbalt- 
nissen,  sondern  nur  mit  besoncleren  Anpassungen  zu  thun 
baben,  lehren  uns  die  Apbiden,  bei  denen  sowobl  Mannchen 
wie  Weibcben  auf  partbenogenetiscbem  Wege  entsteben. 

Die  sicb  nie  offnenden ,  sogenannten  cleistogamen 
Bliitben,  die  zahlreicben  Einricbtungen  zur  Sicberung  der 
Selbstbefrucbtung  in  Blumen,  fiir  den  Fall,  dass  Insekten- 
besuch  ausgeblieben  ist,  und  die  fast  unbescbrankte  An- 
wendung  der  Vermebrung  auf  vegetativem  Wege  im  Pilanzen- 


—     31     — 

reich  lehren  uns  alle,  class  nur  gelegentlich  eine  Befruch- 
tung  zur  normalen  Erhaltung  der  Arten  erforclerlich  ist. 
Dass  bei  den  hoheren  Thieren  jedes  Individuum  auf  ge- 
schlechtlichem  Wege  entsteht ,  ist  also  offenbar  nur  eine 
besondere  Anpassung. 

Fassen  wir  das  Ergebniss  dieser  Betrachtungen  zu- 
sammen,  so  diirfen  wir  sagen,  dass  das  eigentliche  AVesen 
der  Befruchtung  in  der  Vermischung  der  erblichen  Eigen- 
scliaften  der  verschiedenen  Individuen  einer  Art  besteht. 
Wie  man  sich  diese  Vermischung  vorstellen  muss,  das  lehrten 
uns  die  Bastarde.  Denn  es  kan'n  keinem  Zweifel  unterliegen, 
dass  der  Vorgang  der  Vermischung  im  Prinzip  in  beiden 
Fallen  derselbe  sein  wird.  Und  wie  es  Wichura  gelang, 
Bastarde  aus  sechs  verschiedenen  Weidenarten  zu  erzeugen  ]). 
so  miissen  auch  durch  Kreuzung  die  erblichen  Eigenschaften 
mehrerer  Individuen  in  Einem  gemischt  werden  konnen. 

Im  vorigen  Paragraphen  haben  wir  gesehen,  wie  die 
einzelnen  erblichen  Eigenschaften  als  selbstandige  Ein- 
heiten  in  den  Bastardirungs-  und  Kreuzungsversuchen  auf- 
treten,  und  wie  sie  fast  in  alien  Graden  erreichbar  sind. 
Auf  dieselbe  Weise  miissen  wir  uns  offenbar  auch  beim 
gewohnlichen  Befruchtungsprozesse  jene  Einheiten  als  selb- 
standig  denken. 

§  7.    Schlussfolgerungen. 

Anscheinend  einheitlich  ist  der  Artcharakter  in  Wirk- 
lichkeit  ein  ausserst  zusammengesetztes  Ganzes.  Er  ist  aus 
zahlreichen  einzelnen  Faktoren,  den  erblichen  Eigenschaften 
oder  Anlagen,  aufgebaut.  Je  hoher  die  Art  differenzirt 
ist,  um  so  grosser  ist  die  Zahl  der  zusammensetzenden  Ein- 


y)  Max  AVichura,   Bastardbefruchtung  der  "Weiden.     1865.     4°. 


—     32     — 

heiten.  Weitaus  die  meisten  dieser  Einheiten  kehren  bei 
zahlreichen ,  viele  bei  zahllosen  Organismen  zuriick,  und 
bei  verwandten  Arten  ist  der  gemeinschaftliche  Tbeil  des 
Charakters  offenbar  aus    denselben  Einheiten  aufgebaut. 

Versucben  wir  es,  die  Arten  in  diese  einzelnen  Faktoren 
zu  zerlegen ,  so  werden  wir  von  deren  Zahl ,  welche  bei 
hoheren  Pflanzen  und  Tliieren  wohl  in  die  Tausende  gebt. 
verwirrt.  Betrachten  wir  dagegen  die  ganze  Organismen- 
welt  als  den  Vorwurf  uiiserer  Analyse,  so  wird  die  Ge- 
sanimtzahl  erblicher  Eigenschaften ,  welche  zum  Aufban 
aller  Lebewesen  erforderlich  ist,  eine  zwar  an  sich  grosse, 
im  Verhaltniss  zur  Artenzahl  aber  kleine.  Auf  jenem  be- 
schrankten  Gebiete  fiihrt  unsere  Betrachtungsweise  an- 
scheinend  nur  zu  Komplikationen,  im  Grossen  aber  bahnt 
sie  offenbar  den  Weg  zu  einer  ganz  bedeutenden  Verein- 
fachung  der  Probleme  der  Erblichkeit. 

Die  erblichen  Anlagen,  von  denen  die  erblichen  Eigen- 
schaften die  fur  unser  Auge  sichtbaren  Merkmale  sind. 
sind  selbstandige  Einheiten,  welche  zeitlich  getrennt  von 
einander  entstanden  sein ,  und  unabhangig  von  einander 
audi  wieder  verlofen  gehen  konnen.  Sie  sind  fast  in  jedem 
Verhaltnisse  mit  einander  niischbar,  indem  jede  einzelne 
Eigenschaft  von  volliger  Abwesenheit  an  durch  alle  Stufen 
zur  hochsten  Entwickelung  gelangen  kann.  Haufig  sind  sie 
nur  in  so  ungiinstigem  Verhaltnisse  da,  dass  sie  iiberhaupt 
nicht  in  die  Erscheinung  treten,  sondern  latent  bleiben. 
Und  in  diesem  Zustande  konnen  sie  entweder  Tausende 
von  Generationen  verharren,  oder  daraus  in  jeder  Generation, 
wiihrend  der  Entwickelung  des  Individuums  aus  der  be- 
fruchteten  Eizelle,  in  welcher  sie  fast  samnitlich  latent  sind, 
hervorgehen. 

Die  erblichen  Anlagen  stellen  den  ganzen  Artcharakter 


do 


zusammen .  es  bleibt  nacb  ihrer  Abscheidung  nicht  etwa 
eine  anderweitige  Grundlage  iil>er.  der  sie  eingefligt  waren. 

Obgleich  in  dem  Grade  selbstandig,  dass  sie  jede  fur 
sicb  scbwiicber  werden  und  sogar  vollig  versclwinden  konnen, 
sind  sie  doeh  fiir  gewohnlich  zu  kleineren  und  grosseren 
Gruppen  vereinigt.  Und  zwar  derart,  dass,  wenn  aussere 
Eingriffe .  wie  ein  Gallenreiz .  eine  bestimmte  Eigenscbaft 
zuin  Vorherrscben  bringen,  in  der  Regel  die  gauze  Gruppe. 
zu  der  diese  gehort.  mit  in  erbobte  Thatigkeit  gesetzt  wird. 

Selbstandigkeit  und  Miscbbarkeit ,  das  sind  also  die 
wesentlichsten  Eigenscbaften  der  erblicben  Anlagen  aller 
Organismen. 

Eine  Hypotbese  zu  finden,  welche  diese  Eigenscbaften 
unserem  Verstandniss  naher  fiibrt.  das  ist  nacb  meiner  An- 
^icbt  die  Hauptaufgabe  einer  jeden  Vererbnngstheorie. 


Abschnitt  II. 

Herrschende  Ansichten  iiber  die  Trager  der  erblichen 

Eigenschaften. 

Erst  e  s  Kapitel. 

Die  cheinisclien  Moleki'ilc  des  Protoplasnia  in  ihrer 
Bedeiitung  fur  die  Tlieorie  der  £rbliohkeit. 

§  1.     Einleituug. 

Die  wunderlicben  Erscbeinungen  der  Erblicbkeit  miissen 
nacb  unserer  jetzigen  Auffassung  der  ganzen  Natur  eine 
stofflicbe  Grundlage  haben,  und  diese  Grundlage  kann 
keine  andere  sein.  als  das  lebendige  Protoplasma.  Jede 
Zelle  entstebt  durcb  Tbeilung  aus  einer  bereits  vorbandenen, 

de  Vries,  Intracellulare  Pangenesis.  « 


—     34     — 

die  lebendige  Substanz  der  Mutterzelle  vertheilt  sich  auf 
die  einzelnen  Tochter,  und  geht  auf  diese  mit  alien  ihren 
erblichen  Eigenschaften  iiber.  Die  mikroskopische  Er- 
forschung  des  Zellenleibes  und  die  Kunst  der  Ziichter,  bis 
vor  kurzem  so  weit  von  einander  entfernt,  reichen  sich 
immer  mehr  die  Hand.  Denn  nur  durch  das  Zusammen- 
wirken  dieser  beiden  grossen  Richtungen  des  menschlichen 
Denkens  kann  es  gelingen,  die  Grundziige  fiir  eine  Theorie 
der  Vererbung  zu  schaffen. 

Die  Chemie  lehrt  uns,  class  das  lebendige  Protoplasma. 
wie  jede  Substanz,  aus  chemischen  Molekiilen  aufgebaut 
sein  muss,  und  dass  eine  endgliltige  Erklarung  der  Lebens- 
erscheinungen  nur  dann  erreicht  werden  wird ,  wenn  es 
gelingt,  die  Vorgange  im  Protoplasma  aus  der  Gruppirung 
seiner  Molekule  und  aus  der  Zusammensetzung  dieser 
letzteren  aus  ihren  Atomen  abzuleiten. 

Aber  von  diesem  Ziele  sind  wir  noch  weit  entfernt. 
Die  Chemiker  studiren  vorwiegend  reine,  d.  h.  aus  gleich- 
artigen  Molekiilen  aufgebaute  Korper;  das  Protoplasma 
aber  ist  offenbar  eine  Mischung  zahlreicher,  wenn  nicht 
gar  nahezu  zahlloser  verschiedener  chemischer  Yerbindungen. 
Und  weitaus  die  meisten  dieser  letzteren  sind,  auch  in 
chemischer  Hinsicht,  nur  ausserst  liickenhaft  erforscht 
worden. 

Allerdings  darf  uns  diese  Riicksicht  nicht  davon  ab- 
halten,  die  grossen  Satze  der  Chemie  auf  die  Erklarung 
der  Lebensvorgange  anzuwenden.  Haeckel  und  viele  an- 
dere  Forscher  nach  ihm  haben  darauf  hingewiesen,  welche 
grosse  Bedeutung  fiir  eine  solche  Erklarung  das  Vermogen 
des  Kohlenstoffes  besitzt,  sich  in  den  verschiedensten  Ver- 
haltnissen  mit  anderen  Elementen  zu  verbinden.  „Diese  in 
ihrer   Art    einzige    Eigenschaft    des  Kohlenstoffes    miissen 


—     35     — 

wir  als  die  Grundlage  aller  Eigenthlimlicbkeiten  der  so- 
genannten  organischen  Verbindungen  bezeichnen" ]).  .,Die 
Verscbiedenbeiten ,  welche  sicb  im  Wachsthum  der  orga- 
nischen und  der  anorganiscben  Individuen  finden ,  sind  in 
der  verwickelteren  cbemiscben  Zusammensetzung  und  der 
Imbibitionsfahigkeit  vieler  Koblenstoffverbindungen  be- 
griindet"  2)  u.  s.  w. 

Aucb  von  cbemischer  Seite  ist  diese  Bedeutung  cles 
Kohlenstoffes  bervorgeboben  worden.  In  seinen  Ansichten 
ii  b  e  r  die  organise  he  C  h  e  m  i  e  sagt  van't  Hoff  3) :  ..Aus 
den  chemischen  Eigenscbaften  des  Kohlenstoffes  erbellt, 
dass  dieses  Element,  mit  Hiilfe  zweier  oder  dreier  anderer, 
im  Stande  ist,  die  zabllosen  Korper  zu  geben,  die  fur  die 
so  verschiedenen  Bediirfnisse  eines  lebenden  AVesens  noth- 
wendig  sind ;  aus  der  fast  gleicben  Neigung,  sich  Wasser- 
stoff  und  Sauerstoff  anzulegen ,  folgt  die  Fiibigkeit  der 
Kohlenstoffverbindungen,  sicb  abwecbselnd  fur  Reduktions- 
und  Oxydationsvorgange  zu  eignen,  wie  sie  die  gleiebzeitige 
Existenz  einer  Pflanzen-  und  Thierwelt  erfordert".  Und  nach 
der  Besprecbung  des  Eintlusses  der  Temperatur  auf  die 
Veranderung  der  cbemiscben  Beschaffenheit  des  Koblen- 
stoffes fabrt  er  fort:  ..Alan  geht  also  nicbt  zu  weit  mit  der 
Behauptung.  dass  die  Existenz  der  Pflanzen-  und  Thierwelt 
die  enorme  Aeusserung  der  cbemiscben  Eigenscbaften  sei, 
welche  das  Koblenstoffatom  bei  unserer  Erdtemperatur  bat"'. 

Ziebt  man  nocb  die  zabllosen  Isomerien  in  Betracht. 
welche  namentlicb  die  komplizirteren  Verbindungen  des 
KohlenstoffeSy    wie    die   Eiweisskorper,    nach    den   jetzigen 

a)  E.  Haeckel,  Generelle  Morphologie  1866,  I  S.  121. 

2)  1.  c.  S.  166  und  E.  Haeckel,  Die  Perigenesis  der  Plastidule 
1876  S.  34. 

3)  van't  Hoff,  Ansichten  iiber  die  organische  Chemie  1878 
Bd.  I  S.  26. 

3* 


—     36     — 

chemischen  Theorien  aufzuweisen  im  Stande  sein  miissen. 
so  kann  es  wohl  keinem  Zweifel  unterworfen  sein,  class  es 
einmal  gelingen  wird,  die  erblichen  Eigenschaften  aller 
Organismen  auf  chemische  Verschiedenheiteh  ihrer  proto- 
plasmatischen  Grundlage  zuruckzufiihren  J). 

Aber  so  sehr  audi  solche  allgemeine  Betracbtungen 
im  Stande  sind,  unserem  Bedlirfniss  nach  einer  einbeitlicben 
Auffassung  der  ganzen  Natnr  entgegen  zu  kommen,  so  sind 
sie  doch  nocb  weit  davon  entfernt,  uns  bereits  jetzt  als 
Grundlage  fur  eine  Tbeorie  der  Vererbung  dienen  zu  konnen. 

Der  experimentellen  Pbysiologie  der  Pflanzen  und  der 

Tbiere  ist  es  gelungen,    mancbe  Prozesse   des   Lebens    auf 

die  chemischen  "Wirkungen  der  betbeiligten  Verbindungen 

zuriickzufiihren,   sie  theilweise   ausserhalb   des  Organismus 

zu  wiederholen,  tbeils  aber  auch  ihren  Verlauf  im  lebenden 

Korper,  als  durcb  die  allgemeinen  Gesetze  der  Cliemie  be- 

herrscbt,  nachzuweisen.     In  die  Erkenntniss  der  Vorgange 

der  Athmung,    der  Ernahrung  und   des    Stoffwecbsels  sind 

wir    von    zabllosen    Forscbern    in    geradezu    erstaunlicber 

"Weise  eingefiibrt  worden,  und  audi  die  rein  mechaniscben 

Kraftausserungen,  welcbe  Wachsthum  und  Bewegungen  be- 

gleiten,    sind  zu  einem  wesentlicben  Tbeile  zergliedert  und 

auf  allgemeine  Gesetze    zuruckgefiibrt   worden.     Aber   das 

Hauptergebniss  aller  dieser  Studien  ist,  dass  im  lebendigen 

Korper  Vorgange  zweierlei  Art  stattfinden.    Einmal  solche. 

welcbe  von   der   lebendigen   Substanz    trennbar   sind ,    und 

also  audi  kunstlich  nachgeabmt,  ocler  sogar  genau  wieder- 

holt  werden  konnen.     Dann  aber  solche.  welche  von  jenem 

Substrate  untrennbar  sind,  welche  in  den  Lebensprozessen 

dieses  Substrates  selbst  ihr  Wesen  finden.     Jene  Vorgange 


2)  Vergl.   z.  B.   Haeckel ,    Generelle   Morphologie  I    S.  277   und 
Shigetake  Sagiura,  Nature  1882.     Vol.  27  Nr.  683  S.  103. 


—     37     — 

sind  rein  physikalische  oder  chemische ,  mit  einem  Worte 
aplasmatische  Prozesse;  diese  aber  miissen  wir  als  plas- 
matische ,  d.  h.  in  den  Molekiilen  des  lebendigen  Proto- 
plasma  selbst  stattfindend  bezeichnen.  Jene  gehoren  der 
pbysiologischen  Cbemie  und  Pbysik  an,  diese  aber  bilden 
den  eigentlichen  Gegenstand  der  Pliysiologie.  Aber  grade 
zti  ihrer  Brkenntniss  baben  wir  noch  erst  die  ersten 
Scbritte  gethan. 

Weder  durcb  allgemeine  Betrachtungen ,  nocb  auf 
experimenteller  Grnndlage  konnen  wir  also  schon  jetzt  in 
die  Bezielmngen  zwischen  den  Eigenschaften  der  cbemiscben 
Molekiile  des  Protoplasma  und  den  Erscbeinungen  der  Erb- 
licbkeit  eindringen.  Es  kann  sich  also  nur  darum  handeln, 
durch  Hypothesen  zu  versucben,  uns  eine  Einsicbt  in  diese 
Bezielmngen  zu  eroffnen. 

Die  Berecbtigung  eines  solcben  Versucbes  liegt  auf  der 
Hand.  Aucb  wird  sie  wohl  allgemein  anerkannt.  denn 
mebrere  hervorragende  Forscber  haben  ibre  Ansicbten 
bierliber  veroffentlicht,  einige  baben  sogar  ibre  Hypothesen, 
durcb  logiscbe  Ausarbeitnng  der  sicb  daraus  ergebenden 
Konsequenzen.  der  kritischen  Wurdigung  Anderer  zugang- 
lich  gemacbt.  Und  dass  diese  Hypothesen,  so  sehr  sie  aucb 
jetzt  nocb  auseinandergehen,  in  bohem  Grade  das  wissen- 
scbaftlicbe  Interesse  an  diesen  Fragen  wachgerufen  haben, 
daran  kann  augenblicklicb  wohl  Niemand  zweifeln. 

Die  Ricbtungen,  in  welchen  sich  diese  Hypothesen  be- 
Avegen,  lassen  sich  meiner  Ansicht  nach  in  drei  Gruppen 
zusammenfassen.  Einige  Schriftsteller  geben  direkt  auf  die 
chemische  Zusammensetzung  des  Protoplasma  znriick,  und 
versucben  es ,  aus  dieser  die  Lebensvorgiinge  abzuleiten. 
Andere  aber  nehmen  an,  dass  die  cbemiscben  Molekiile 
zunachst  zu  grosseren,    aber   nocb    unsichtbar    kleinen   or- 


—     38     — 

ganisclien  Einheiten  verbunden  sind,  und  betrachten  diese 
Einheiten  als  die  eigentlichen  Trager  der  Erblichkeit.  Da- 
bei  stellen  Einige  sich  vor,  dass  diese  Einheiten  je  den 
ganzen  Artcliarakter  vergegenwartigen,  und  dass  somit  die 
einzelnen  Trager  der  Erblichkeit  in  derselben  Zelle  ein- 
ander,  wenigstens  bis  auf  geringfiigige  Unterschiede,  gleich 
sind.  Grade  entgegengesetzt  endlich  ist  die  Meinung  der- 
jenigen  Forscher,  welche  fur  jede  einzelne  erbliche  Eigen- 
schaft  eine  besondere  Art  von  stofflichen  Tragern  annehmen  ; 
fur  welche  also  das  Protoplasnia  aus  unzahligen  einander 
ungleichen  hypothetischen  Einheiten  aufgebaut  ist. 

Diese  drei  verschiedenen  Prinzipien  sind  es  nun,  welche 
wir  in  diesem  und  den  beiden  folgenden  Kapiteln  eiuer 
eingehenden  vergleichenden  Priifung  unterziehen  wollen. 
Vorher  mussen  wir  aber  noch  die  Beziehung  zwischen  Ei- 
weiss  und  Protoplasma  einer  kurzen  Kritik  unterwerfen. 

§  2.     Protoplasma  und  Eiweiss. 

In  der  letzten  Zeit  hat  sich  bei  manchen  Schriftstellern 
eine  Verwechslung  der  Begriffe  Protoplasma  und  Eiweiss 
eingeburgert  r).  Diese  hat  sogar  zu  der  hypothetischen  und 
durch  nichts  berechtigten  Annahme  von  lebendigem  Ei- 
weiss gefiihrt.  Audi  auf  die  Theorie  der  Erblichkeit  hat 
diese  Gewohnheit  ihren  Einnuss  ausgeiibt,  und  deshalb  darf 
sie  hier  nicht  unerwahnt  bleiben.  Denn  ohne  diese  Ver- 
wechslung hatte  die  Ansicht,  welche  die  chemischen  Mole- 
kiile  des  Protoplasma  als  Trager  der  erblichen  Eigen- 
schaften  betrachtet,  wohl  nie  Eingang  gefunden. 

Eiweiss  ist  ein  chemischer,    Protoplasma  ein   morpho- 


J)  Bereits  Haeckel   spriclit   das  Protoplasma  als   einen  Eiweiss- 
korper  an:  Generelle  Morphologie  I  S.  278. 


—     39     — 

logischer  Begriff.  Die  Chemie  ist  im  Stande  mancbe  Ei- 
weisskorper rein  darzustellen,  das  "Wesen  des  Protoplasma 
ist  aber  durch  seine  sehr  heterogene  Zusammensetzung  be- 
dingt.  Viele  Eiweisskorper  konnen  in  Losung  iibergehen, 
eine  Protoplasmalosung  in  einem  Reagenzrobrcben  zu  haben, 
wird  aber  Niemand  fiir  moglicb  balten.  Eiweisskorper  sind 
/.war  Produkte  des  Lebens,  aber  nicbt  dessen  Trager,  sie 
bieten  uns  im  cheniischen  Laboratorium  keine  wesentlich 
anderen  Eigenscbaften  wie  die  iibrigen  komplizirteren  Ver- 
bindungen.  Das  Protoplasma  aber  ist  der  Trager  des 
Lebens.  es  imterscbeidet  sicb  von  alien  chemiscben  Sub- 
stanzen  durch  das  Vermogen  der  Assimilation  und  der  Ver- 
mebrung.  Diese  beiden  Vorgange  werden  obne  Zweifel 
einmal  in  ilirem  TVesen  erkannt  werden,  bis  jetzt  aberliegen 
sie  nocli  im  vollsten  Dunkel.  und  selbst  den  kiibnstenDenkern 
ist  es  nicht  gelungen,  audi  nur  eine  Ecke  des  Scbleiers  zu 
lieben,  welcber  sie  verhullt. 

Fiir  die  Bezeichnung  des  Protoplasma  als  einen  Ei- 
weisskoqDer  oder  als  ein  Gemenge  von  solcben  stiitzt  man 
sicb  auf  cbemiscbe  Analysen  und  mikrocbemiscbe  Reak- 
tionen.  Die  letzteren  weisen  obne  Zweifel  die  ganz  ge- 
wobnlicbe  Anwesenheit  von  Eiweiss  im  Protoplasma  nacb. 
Aber  die  Erklarung  dieser  Thatsaclie  liegt  auf  der  Hand: 
das  Eiweiss  kann  im  Imbibitionswasser  des  Protoplasma 
ebenso  gut  gelost  sein,  als  es  im  Zellsaft  nachweislich  baufig 
im  gelosten  Zustande  vorbanden  ist.  Aucb  ist  es  nicbt  un- 
wabrscheinlicb,  dass  beim  Todten  der  Protoplaste  oft  Ei- 
weisskorper gebildet  werden.  Urn  eine  Tdentitat  von  Pro- 
toplasma und  Eiweiss  behaupten  zu  konnen,  sollte  aber 
docb  wenigstens  nacbgewiesen  sein,  dass  Eiweissreaktionen 
keinem  Protoplasten,  und  audi  keinem  einzelnen  ilirer  Or- 


—     40     — 

gane  fehlen.  Unci  solches  scheint  doch  keineswegs  der 
Fall  zu  sein  *).  Zellkern,  Trophoplaste  und  Kornerplasma 
sind  wohl,  in  gut  ernahrten  Zellen.  me  ohne  Eiweiss  be- 
obachtet  worden.  Aber  ob  die  Wand  der  Vacuolen  und 
die  Hautschicht  eiweisshaltige  Gebilde  sind,  diirfte  noch 
sehr  fraglich  sein  2). 

Die  cliemischen  Analysen  haben  olme  Zweifel  wichtige 
Schliisse  auf  mehrere ,  aus  deni  Protoplasma  dargestellte 
Verbindungen  an's  Licht  gefordert.  Aber  ob  diese  Ver- 
bindungen  im  lebendigen  Protoplasma  als  solche  vorhanden, 
oder  erst  beimSterben  oder  durcb  denEinflussderReagentien 
als  Zersetzungsprodukte  entstanden  sind,  das  ist  eine  andere 
Frage. 

Hauptsache  fur  die  Theorie  der  Vererbung  ist  aber. 
dass  das  Protoplasma  uns  stets,  ausser  physikalischen  und 
cliemischen  Merkmalen ,  noch  gewisse  historische  Eigen- 
schaften  bietet.  Diesen  verdankt  es  grade  seine  Eigen- 
thumlichkeit.  Eine  synthetische  Darstellung  der  Eiweiss- 
korper  betrachtet  wohl  Niemand  mehr  als  ein  Ding  der 
Unmoglichkeit.  Aber  ob  es  je  gelingen  wird  lebendiges 
Protoplasma  auf  anderem  als  auf  phylogenetischem  "Wege 
entstehen  zu  lassen,  dieses  wird  begriindeten  Zweifeln  noch 
wohl  lange  ausgesetzt  bleiben. 

Die^  historischen  Eigenschaften  verlangen  einen  mole- 
kularen  Bau  von  so  komplizirter  Natur,  dass  die  jetzige 
Chemie  uns  bei  unseren  Erklarungsversuchen  ganz  im 
Stiche  lasst.  Die  Theorie  muss  somit  einstweilen  sich  da- 
mit  begniigen,  eine  Zusammensetzung  des  Protoplasma  aus 
morphologischen  Einheiten  anzunehmen.  Diese  miissen  selbst- 
verstandlich   selbst   wieder  aus  cliemischen  Molekiilen   auf- 


x)  Vergl.  Zacharias,  Botan.  Zeitung  1883  S.  209. 
2)  Vergl.  Pringsheim's  Jahrb.  Bd.  XVI  S.  512. 


—     41     — 

gebaut  sein,  und  unter  den  letzteren  inogen  Eiweisskorper  eine 
hervorragende  Bolle  einnehmen.  Daraus  aber  ableiten  zu 
wollen,  das  Protoplasma  sei  selbst  ein  Eiweisskorper,  scheint 
mir  durcliaus  unberechtigt. 

Jene  imsichtbaren  morphologischen  Einheiten  sind  aber 
hypothetischer  Natur,  und  wir  wollen  diesen  Gegenstand 
an  dieser  Stelle  somit  nicht  weiter  verfolgen.  Ich  wollte 
nur  zeigen,  wie  uns  audi  diese  Betrachtung  zu  jener  An- 
nahme  von  Pangenen  leitet,  welche  wir  in  den  beiden 
letzten  Kapiteln  dieses  Abschnittes  zu  behandeln  liaben 
werden. 

§  3.     Els  berg's  Plastidule. 

Der  Versuch,  die  Erscheinungen  der  Erblichkeit  aus 
den  Eigenschaften  der  Molekiile  der  lebendigen  Materie  zu 
erklaren,  wurde  am  grundlichsten  von  Louis  Elsberg  und 
Ernst  Haeckel  durchgefiihrt.  Elsberg,  welcher  die  Zellen 
Plastide  nannte,  wahlte  fur  die  konstituirenden  Theilchen 
den  Namen  Plastidmolekiile  oder  durch  Abkiirzung  Plasti- 
dule 1).  Haeckel  hielt  diesen  Ausdruck  statt  des  viel- 
silbigen  Protoplasmamolekiil  fiir  eine  kurze  und  passende 
Bezeichnung  -),  und  wusste  dem  Begriffe  in  seiner  Peri- 
genesis  der  Plastidule  allgemeine  Beriicksichtigung 
zu  verscbaffen  3). 

Nach  Elsberg  bestebt  die  lebendige  Materie  also  ganz 


')  Louis  Elsberg,  Regeneration,  or  the  preservation  of  organic 
molecules;  a  contribution  to  the  doctrine  of  evolution.  Proceed. 
Assoc,  f.  the  Advancement  of  Science,  Hartford  Meeting,  August  1874 
und  Louis  Elsberg,  On  the  plastidule -hypothesis.  Ibid.  Buffalo- 
meeting,  August  1876. 

2)  E.  Haeckel,  Jenaische  Zeitschrift  f.  Med.  u.  Naturw.  VII, 
Heft  4,  1873  S.  536. 

8)  E.  Haeckel,  Die  Perigenesis  der  Plastidule,  Berlin  1876  p.  35. 


—     42     — 

aus  Plastidulen,  welche  sich  clurch  Ernahrung,  Assimilation 
unci  Wachsthum  derart  vermehren,  class  immer  neue  Mole- 
klile  mit  clenselben  Eigenschaften  wie  die  bereits  vor- 
handenen  entstehen.  Bei  jeder  Zelltheilung  gehen  diese 
auf  die  Tochterzellen  iiber.  Die  Aelinliclikeit  der  Kinder 
mit  ihren  Eltern,  Grosseltern  unci  Vorfahren  wird  in  ein- 
facher  Weise  dadurch  erklart,  class  sie  im  Wesentlichen 
aus  gleicbartigen  Plastidulen  aufgebaut  sind.  welclie  sie 
ja  von  ihren  Vorfahren  her  geerbt  haben.  Alle  Individuen 
einer  Art  bestehen  im  Grossen  und  Ganzen,  unci  abgesehen 
von  etwaigen  Varietaten,  aus  denselben  Plastidulen;  jede 
Art  aber  enthalt  die  Plastidule  seiner  ganzen  Ahnenreihe. 
besteht  also  aus  mindestens  so  vielen  verschiedenen  Plasti- 
dulen, als  in  clieser  Ahnenreihe  verschiedene  Arten  ver- 
treten  waren.  Die  Unterschiede  zwischen  den  einaelnen 
Arten  sind  durch  ihre  Abstammung  gegeben  und  somit 
stofflich  in  der  Verschiedenheit  der  Plastidule  begriindet. 
Systematische  Verwandtschaft  beruht  auf  dem  Besitze 
derselben  Plastidule,  systematische  Differenzen  auf  dem 
Vorhandensein  verschiedener  Molekiile  neben  der  Haupt- 
masse  gleichartiger. 

Haeckel,  der  in  seiner  Generellen  Morphologic 
noch  nicht  auf  die  Bedeutung  der  Molekiile  fur  die  Erb- 
lichkeitslehre  eingegangen  war 1) ,  hat  in  seiner  oben  ge- 
nannten  Schrift  den  Gedankengang  Elsberg's  weiter  aus- 
gefiihrt.  „Die  Summe  von  physikalisehen  und  chemischen 
Prozessen,  welche  wir  mit  einem  Worte  „Leben"  nennen, 
ist  offenbar  in  letzter  Instanz  durch  die  Molekularstruktur 


x)  Nur  ganz  fm  Allgemeinen  weist  Haeckel  hier  auf  die  Be- 
deutung „der  zalilreichen  und  feinen  Vei'sckiedenheiten  in  der  ato- 
mistischen  Konstitution  der  Eiweissverbindangen,  welche  das  Plasma 
der  Plastiden  zusammenstellen",  hin.     Gen.  Morphol.  I  S.  277. 


—     43     — 

des  Plasson  bedingt"  1).  Im  kernlosen  Plasson  (oder  Pro- 
toplasten)  sind  die  Plastidule  iiberall  gleichartig ;  in  den 
kernhaltigen  sind  sie  derart  differenzirt,  dass  man  zwischen 
Plasmodulen  und  Coccodulen  (Kernmolekiilen)  unterscheiden 
muss.  Die  Differenzirung  des  Organismus  in  Organe  und 
die  dadurch  erreichte  Arbeitstheilung  fiihrt  Haeckel  auf 
eine  Arbeitstheilung  der  Plastidule  zuriick.  Denn  diese 
sondern  sich  dabei  mehr  oder  weniger,  und  bringen  so 
die  verschiedenen  Protoplasmaarten  hervor.  Die  Befruch- 
tung  besteht  in  der  Mischung  zweier  Protoplaste,  welche 
sich  durch  weitgehende  Differenzirung  ihrer  Plastidule  in 
verschiedenen  Richtungen  entwickelt  haben  2). 

Wir  wollen  uns  auf  diesen  Theil  der  Plastidulenlehre 
beschranken  und  namentlich  nicht  auf  dieSpekulationen  iiber 
die  Wellenbewegung  dieserTheilchen  eingehen.  Unterwerfen 
wir  aber  jenen  Theil  einer  Kritik,  so  konnen  wir  in  den  Vorder- 
grund  stellen,  dass  die  Theorie  aus  zwei  Hypothesen  besteht: 

1.  Das  Protoplasma  besteht  aus  zahllosen  kleinen 
Einheiten,  welche  die  Trager  der  erblichen  Eigen- 
schaften  sind. 

2.  Diese  Einheiten  sind  den  Molekiilen  gleich  zu  stellen. 
Die  erste  dieser  beiden  Hypothesen  hat  offenbar  sehr 

grosse  Vorziige.  Sie  erkliirt  die  Haupterscheinungen  der 
Erblichkeit  in  einfacher  Weise,  und  giebt  namentlich  von 
der  Selbstandigkeit  und  Mischbarkeit  der  einzelnen  erb- 
lichen Eigenschaften  in  geniigendem  Grade  Rechenschaft. 
Sie  ist  identisch  mit  dem  ersten  Satze  der  Darwin'schen 
Pangenesis,  wie  wir  im  dritten  Kapitel  noch  des  weiteren 
sehen  werden.  Hire  ausfuhrliche  Besprechung  wollen  wir 
ulso  bis  dahin  verschieben,  namentlich   auch   weil  Elsberg 


x)  Perigenesis,  S.  34. 
s)  1.  c.  S.  52. 


—     44     — 

sie  urn  mehrere  Jahre  spater,  unci  audi  bei  weitem  nicht 
in  so  scharfer  Weise  ausgesprochen  hat,  wie  Darwin. 

Wir  wenden  uns  also  jetzt  zur  Kritik  der  zweiten 
These.  Elsberg  spricht  sich  nirgendwo  klar  iiber  die 
Identitat  seiner  Plastidule  mit  den  chemischen  Molekiilen 
aus.  Er  definirt  sie  als  die  kleinsten  Theilchen,  in  denen 
die  erblichen  Eigenschaften  einer  Zelle  verborgen  liegen  J). 
Diese  Theilchen  miissen  grosser  sein  als  die  Molekule  der 
gewohnlichen  Eiweisskorper,  das  gehe  aus  ihren  so  viel  kom- 
plizirteren  Eigenschaften  hervor.  Ilaeckel  widmet  dieser 
Identitat  aber  eine  ausfiihrliche  Besprechung  2).  „Die  Plasti- 
dule besitzen  zunachst  alle  die  Eigenschaften,  welche  die 
Physik  den  hypothetischen  Molekiilen  oder  den  zusammen- 
gesetzten  Atomen  iiberhaupt  zuschreibt.  Mithin  ist  jedes 
Plastidul  nicht  weiter  in  kleinere  Plastidule  zerlegbar,  son- 
dern  kann  nur  noch  in  seine  konstituirenden  Atome  zerlegt 
werden"  u.  s.  w. 

So  lange  es  sich  nur  urn  die  Erklarung  der  chemischen 
Prozesse  im  Zellenleben  handelt,  reicht  diese  Hypothese 
allerdings  in  hohem  Grade  aus.  Die  Produktion  von  ver- 
schiedenen  Verbindungen,  wie  z.  B.  von  dem  rothen  Blumen- 
farbstoff,  kann  man  sich  als  eine  Eunktion  bestimmter 
Molekule  des  Protoplasma  vorstellen.  Etwa  in  derselben 
Weise,  wie  die  Wirkung  der  Enzyme  oder  chemischen 
Fermente.  Sogar  die  Abscheidung  der  Cellulose  kann  man 
nach  deren  Analogie  zu  erklaren  suchen.  Sobald  es  sich 
aber  um  morphologische  Vorgange  handelt,  lasst  uns  die 
Hypothese  vollig  im  Stich,  denn  die  oft  versuchte  Ver- 
gleichung  mit  der  Kristallljildung  giebt  ja  nur  eine  ent- 
fernte  Aehnlichkeit. 


J)  Elsberg,  1.  c.  S.  9. 

2)  Perigenesis,  1.  c.  S.  35,  36. 


—     45     - 

Vollig  unbrauchbar  ist  aber  die  Hypothese  gegeniiber 
deni  eigentlichen  Attril)ute  des  Lebens ,  dem  Wachsthum 
durch  Assimilation.  Es  leuchtet  ein,  dass  jeder  Versucb, 
die  Lebensvorgiinge  aus  den  Eigenschaften  der  chemischen 
Molekiile  zu  erklaren ,  diese  Erscheinung  in  erster  Linie 
zu  beriicksichtigen  hat.  Aber  im  grossen  Peiche  des  Leb- 
losen  giebt  es  dafiir  keine  Analogic.  Die  chemischen  Mole- 
kiile wachsen  nicht  derart,  dass  sie  nachher  in  zwei.  dem 
urspriinglichen  gleiche  Molekiile  zerfallen  konnen.  Sie  assi- 
miliren  nicht,  und  sind  einer  selbstandigen  Vermehrung  in 
diesem  Sinne  nicht  fahig.  Sie  besitzen  iiberhaupt  keine 
Eigenschaften,  aus  denen  man  schon  jetzt  das  Wachsthum 
durch  Assimilation  audi  nur  hypothetisch  erklaren  konnte. 

Hier  liegt  die  grosse  Schwierigkeit  der  Plastidulen- 
hypothese.  Allerdings  sagt  Haeckel:  „Ausser  den  all- 
gemeinen  physikalischen  Eigenschaften.  welche  die  heutige 
Physik  und  Chemie  den  Molekiilen  der  Materie  im  All- 
gemeinen  zuschreibt,  besitzen  nun  die  Plastidule  noch  be- 
sondere  Attribute,  welche  ihnen  ausschliesslich  eigenthiimlich 
sind,  und  das  sind,  ganz  allgemein  gesagt,  die  Lebens- 
eigenschaften,  durch  welche  sich  iiberhaupt  das  Lebendige 
vom  Todten,  das  Organische  vom  Anorganischen  in  der 
hergebrachten  Anschauung  unterscheiclet."  Es  leuchtet 
aber  sofort  ein,  dass  durch  eine  solche  Hiilfshypothese  die 
Bedeutung  der  ganzen  Hypothese  umgeandert  wird.  Denn 
mit  demselben  Rechte  konnte  man  sagen,  die  Plastidule 
seien  keine  Molekiile  im  Sinne  der  Physik,  sondern  sie 
unterscheiden  sich  von  ihnen  grade  durch  die  Lebens- 
eigenschaften. 

Es  ware  leicht,  die  Plastidulenhypothese  in  dieser 
Pichtung  weiter  zu  kritisiren.  Sie  fiihrt  zu  reinen  Speku- 
lationen.     Den  Atomen  miissen  wir  nach  Haeckel  Empfin- 


—     46     — 

dung  unci  Willen  beilegen  !).  Die  Plastidule  besitzen  nach 
seiner  Theorie  Geclachtniss ;  cliese  Fabigkeit  fehle  alien 
anderen  Molekiilen  2).  Auch  auf  die  Wellenbewegung  der 
Plastidule  wollen  wir  nicht  eingelien. 

Uns  kommt  es  nur  darauf  an,  zu  zeigen,  dass  der 
Versucb,  schon  jetzt  die  Lebenserscbeinungen  auf  die  Eigen- 
schaften  der  Molekiile  der  lebendigen  Materie  zuriickzu- 
fiihren,  mindestens  verfriibt  ist.  Man  muss  sich  entweder 
rait  Elsberg  auf  solcbe  Folgerungen  bescbranken ,  welcbe 
sicb  aucb  aus  der  Keimcbenbypotbese  Darwin's  ableiten 
lassen,  oder  man  ist  gezwungen,  an  Stelle  von  Erklarungen 
iiberall  Hiilfsbypotbesen  aufzustellen.  Wahlen  wir  aber  den 
ersteren  Weg,  so  gelangen  wir  von  selbst  zu  der  Annabme 
unsicbtbarer  Einbeiten  von  boberer  Ordnung  als  die  Mole- 
kiile der  Cbemie  unci  von  so  komplizirter  Zusammensetzung, 
dass  jede  aus  einer  grossen  Anzabl  von  chemiscben  Mole- 
kiilen zusammengesetzt  sein  muss.  Diesen  Einbeiten  miissen 
wir  Wacbstbum  und  Vermebrung  als  bis  jetzt  unerklarlicbe 
Eigenscbaften  zuscbreiben.  In  gleicb  unerklarter  Weise 
miissen  wir  weiter  annebmen,  class  sie  das  stoffliche  Sub- 
strat  der  erblicben  Eigenscbaften  sind.  Lassen  wir  das 
unerkliirt,  so  konnen  wir  vieles  Andere  uns  klar  macben. 
Auf  die  Molekiile  der  Protoplasma  zuriickgeben  konnen  wir 
dann  aber  nicbt. 

Somit  konnen  fiir  uns  die  stofflichen  Triiger  der  erl)- 
licben  Eigenscbaften  nicbt  mit  den  Molekiilen  der  Cbemie 
identiscb  sein,  sie  miissen  als  aus  diesen  aufgebaute,  viel 
grossere,  wenn  aucb  unsicbtbar  kleine  Einbeiten  aufgefasst 
werden. 

Auf  diese  Einbeiten  den  Namen  Molekiile  oder  lebendige 


J)  Haeckel.  1.  c.  S.  38. 

2)  1.  c.  S.  40. 


—     47     — 

Molekiile  anzuwenden,  scheint  mir  nicht  erlaubt.  Solches 
kann  nur  zu  Verwirrungen  unci  Missverstandnissen  fiihren, 
und  geschieht  thatsachlich  auch  wohl  nur  aus  Mangel  an 
einer  einfachen  Bezeichnung.  Als  solche  diirfte  sich  aber 
der  in  der  Einleitung  vorgeschlagene  Name  „Pangene" 
empfehlen. 


Zweites  Kapitel. 
Die  hypotketisclien  Trager  der  Artcliaraktere. 

§  4.    Einleitung. 

Weitaus  die  meisten  Forscher  nehmen  an,  dass  die 
stofflichen  Trager  der  erblichen  Eigenschaften  Einheiten 
sind,  deren  jede,  aus  zahlreichen  cliemischen  Molekiilen  auf- 
gebaut,  iiberhaupt  ein  Gebilde  anderer  Ot'dnung  ist  als  diese. 

Wachsthum  durch  Assimilation  und  Vermehrung  durch 
Theilung  nimmt  man  fur  sie  stets  an.  Aus  diesem  Grunde 
sind  sie,  wie  bereits  Darwin  bemerkte,  elier  den  kleinsten 
bekannten  Organismen,  als  den  wirklichen  Molekiilen  an 
die  Seite  zu  stellen.  Auf  die  Erklarung  clieser  Eigenscliaften 
wird  niclit  eingegangen;  sie  werden  einfach  als  Tbatsache 
hingenommen.  Die  Theorie  der  Vererbung  bedarf  dieser 
Erklarung  aucli  nicbt;  sie  kann  einstweilen  als  Aufgabe 
fur  eine  spatere  Theorie  des  Lebens  hingestellt  werden. 

Eine  zweite  Annahme  liber  die  Natur  jener  bypotlie- 
tischen  Einheiten  ist  noch  erforderlich.  Sie  bezieht  sich 
auf  ihre  Beziehung  zu  den  erblichen  Eigenscliaften.  In 
welcher  Weise  diese  durch  den  Aufbau  der  Trager  bestimmt 
werden,  dariiber  werden  bis  jetzt  keine  Annahmen  gemacht, 
denn    auch    dieser   Ausarbeitung    bedarf    die   Theorie    der 


—     48     — 

Vererbung  vorlaufig  nicht.  Es  liandelt  sich  nur  um  die 
Frage,  ob  die  Einheiten  Trager  der  ganzen  Artcharaktere 
oder  der  einzelnen  erblichen  Eigenschaften  sind.  Spencer 
und  Weismann  sind  die  Hauptvertreter  der  ersteren  An- 
sicht,  Darwin's  Pangenesis  nimmt  die  letztere  an. 

Wir  haben  jetzt  diese  verschiedenen  Meinungen  einer 
vergleichenden ,  Kritik  zu  unterwerfen.  Es  handelt  sicb 
dabei  vorwiegend  um  die  Frage.  inwiefern  die  Hypothesen 
selbst,  wie  sie  soeben  gescliildert  wurden,  und  ohne  weitere 
Hiilfshypothesen  zu  einer  Erklarung  der  Erscbeinungen 
der  Erblichkeit  fiihren  konnen. 


§  5.    Spencer's  physiologische  Einheiten. 

In  seinem  beriihmten  Systeme  der  synthetischen  Philo- 
sophic hat  Herbert  Spencer  wohl  zum  ersten  Male  den 
Versuch  gemacht,  eine  stoffliche  Vorstellung  der  Erblich- 
keit zu  schaffen.  Seine  Prinzipien  der  B  i  o  1  o g i  e  . 
welche  den  zweiten  und  dritten  Band  jenes  Systemes  bilden, 
erschienen  1864  und  1867,  also  noch  vor  der  Veroffent- 
lichung  von  Darwiii's  Pangenesis  (1868).  Sein  Gedanken- 
gang  ist  im  AVesentlichen  der  folgende. 

Die  Knospenbildung  aus  Blattern  u.  s.  w.  lehrt  uns. 
dass  die  lebendigen  Theilchen  dieser  Organe  das  Vermogen 
der  Reproduktion  besitzen,  und  dasselbe  zeigt  bei  Thieren 
der  Ersatz  verlorener  Glieder.  Diese  Theilchen  konnen 
nun  nicht  die  Zellen  selber  sein,  denn  auch  manche  Zellen 
konnen  verlorene  Theile  ersetzen.  Ebenso  wenig  konnen 
es  die  chemischen  Molekiile  sein,  da  diese  viel  zu  einfach 
gebaut  sind  fur  die  Erklarung  aller  morphologischen  Diffe- 
renzen.  Es  miissen  also  Einheiten  sein,  welche  zwischen 
jenen  beiden  Grossen  stehen,   unsichtbar   kleine,   aber  aus 


—     49     — 

zahllosen  Molekulen  zusammengesetzte  Einheiten.  Spencer 
nennt  diese  physiological  units1). 

Jede  solche  Einheit  vergegenwartigt  den  ganzen  Art- 
charakter;  kleine  Verschiedenheiten  in  ihrem  Baue  be- 
dingen  die  Differenzen  zwischen  verwandten  Arten  (S.  183). 

Eine  Schwierigkeit  empfindet  Spencer  bei  der  Er- 
klarung  der  Befruchtung.  Diese  hat  ja  keinen  Sinn,  wenn 
zwischen  den  beiden  sich  mischenden  Gruppen  von  phy- 
siologischen  Einheiten  nicht  irgend  eine  Differenz  obwaltet. 
Somit  ninnnt  er  an.  dass  auch  die  Einheiten  verschiedener 
Individuen  in  geringern  Grade- ungleich  sind.  Es  folgt  dann 
aber,  dass  in  dera  Kinde  die  beiden  Arten  von  Einheiten 
der  beiden  Eltern  gemischt  sind ,  im  Kleinkinde  die  vier 
verschiedenen  Einheiten  seiner  Grosseltern  u.  s.  w.  Auf 
diesem  Wege  wiirde  man  grade  zu  dem  Gegentheile  ge- 
langen  von  dem.  was  man  anfangs  angenommen  hat,  nam- 
lich  die  Gleichartigkeit  aller  Einheiten  in  demselben  In- 
dividuum  (S.  253.  254  und  267). 

Urn  sich  aus  dieser  Schwierigkeit  zu  retten,  weist 
Spencer  auf  die  Bastarde.  In  diesen  sind  die  physio- 
logischen  Einheiten  zweier  Arten  gemischt.  Aber  die  Ba- 
starde pflegen  in  folgenden  Generationen  nicht  konstant 
zu  bleiben,  sondern  in  die  elterlichen  Formen  zuruckzu- 
kehren.  Die  ungleichartigen  physiologischen  Einheiten  setzen 
sich  der  Mischung  also  entgegen,  sie  stossen  einander  ab. 
und  suclien  jede  mit  Ausschluss  der  andersartigen  das 
ganze  Individuum  zu  bilden  (S.  268).  In  derselben  Weise 
schliessen  nun  auch  bei  der  normalen  Befruchtung  die  un- 
gleichen  physiologischen  Einheiten  einander  aus .  und  in 
dieser  Weise  wird  die  Gleichformigkeit  innerhalb  jeden 
Individuums  in  hinreichender  Weise  gesichert. 

')  H.  Spencer,  Principles  of  Biology.  Vol  I,  2.  Aufl.  S.  180—183. 

de  Vries,  Intracellular  Pangenesis.  4 


—     50     — 

Die  physiological  units  vermehren  sich  auf  Kosten 
der  Nahrstoffe  (S.  254),  und  erzeugen  dabei  in  der  Regel 
vollig  gleiche  neue  Einlieiten.  Unter  dera  Einflusse  ausserer 
Umstande  erleiden  sie  aber  bisweilen  geringe  Aenderungen 
bei  dem  Vorgange  der  Vermehrung,  und  dieses  ist  die  Ur- 
sache  der  Variability  (S.  287).  Durch  die  Befruchtung 
wird  das  in  dieser  Weise  gestorte  Gleiehgewiclit  aber  wieder 
hergestellt  (S.  289). 

Auf  dieser  Grundlage  lasst  sich  die  Erblichkeit  leicht 
erklaren ,  sie  beruht  darauf ,  dass  dem  Kinde  vom  Vater 
und  von  der  Mutter  die,  seine  Eigenschaften  bedingenden 
stofflichen  Einlieiten  mitgegeben  werden.  Vorherrschende 
Aehnlichkeit  des  Kindes  mit  einem  seiner  beiden  Eltern 
beruht  auf  dem  Vorwalten  der  betreffenden  physiologischen 
Einlieiten ;  Atavismus  auf  dem  Vorhandensein  der  von  dem 
betreffenden  Vorfahren  ererbten  Einlieiten.  Viele  andere 
Erscheinungen  werden  von  Spencer  in  ahnlicher  einfacher 
Weise  erklart. 

Spencer's  Theorie  hat  ohne  Zweifel  die  Vorziige  eines 
klaren,  in  sich  abgeschlossenen  Systemes.  Aber  dem  in 
unserem  ersten  Abschnitte  entwickelten  Gedankengange  tragt 
sie  keine  Rechnung.  Geht  man  von  jenen  allgemeinen  Be- 
trachtungen  aus ,  so  kann  sie  somit  nicht  befriedigen. 
Namentlich  die  Organdifferenzirung  kann  sie  nicht  in  ge- 
niigender  Weise  erklaren,  und  der  Versuch,  sie  mit  dieser 
in  Uebereinstimmung  zu  bringen.  wiirde  ihre  Grundlage  als 
unberechtigt  erkennen  lassen.  Da  solches  aber  audi  von 
Weismann's  Theorie  der  Ahnenplasmen  gilt,  so  verweise 
ich  den  Leser  in  Bezug  hierauf  auf  den  Schluss  des  nachsten 
Paragraphen. 


—     51     — 

§  6.     We  is  ni  a  iin's  Ahiienplasmen. 

In  einer  Reihe  von  gedankenreichen  Schriften  hat 
August  Weismann  in  dem  letzten  Jahrzehnte  die  allgemeine 
Theilnahme  des  wissenschaftlichen  Publikums  fur  die  prin- 
zipiellen  Fragen  der  Erblichkeit  rege  zu  machen  gewusst. 
Er  basirt  sich  dabei  auf  die  neuesten  Errungenschaften 
auf  dem  Gebiete  der  Zellenlehre  und  des  Befruchtunsts- 
prozesses. 

Ausgehend  von  der  Ueberzeugung,  dass  die  Entstehung 
der  Kinder  aus  stofflichen  Theilchen  ihrer  Eltern   die  Ur- 
sache   der   Erblichkeit  ist   und   dass   im    molekularen    Ban 
des    Protoplasma    im    Grunde     die    Losung    des    grossen 
Kiithsels  zu    suchen   sei .  sucht   er    sich    von    diesem    Baue 
eine   bestimmte    Vorstelltmg   zu    machen.     Er   geht   davon 
aus,  dass  bei  niederen  Organismen.   welche  nocli  keine  ge- 
schlechtliche  Differenzirung  besitzen,  das  Keimplasma  eines 
jeden  Individuums  nocli  vollig  gleichartig  sein    muss.     Bei 
der  Befruchtung  muss  aber  eine  Mischung  der  beiden  elter- 
lichen    Keimplasmen    stattfinden .    und    so    finden    sich   im 
Kinde  zwei ,    im    Kleinkinde    vier   Arten    von   Keimplasma 
gemengt ]).     In  den  Kindern  der  ersten  geschlechtlich    er- 
zeugten  Generation  werden    die    beiden    Arten    von  Keim- 
plasma jedes  nur  in  halber  Menge  enthalten    sein.    in    den 
Kleinkindern    nur    in     einem    Yiertel    der    urspriinglichen 
Menge.      In  jeder  folgenden   Generation   wird    das   Keim- 
plasma also  aus  einer  grosseren  Zahl   von  .unter   sich   un- 
gleichenEinheiten,  den  sogenannten  Ahiienplasmen.  bestehen. 
Dieses  kann  aber  nur  so  lange  zunehmen,  bis  die  Zahl  der 
Ahnenplasmen  die  der  kleinsten  Einheiten  der  ganzen  Ver- 


x)  A.  Weismann.   Deber  die  Zahl  der  Riclitungskorpercben.  1887 
S.  30. 

4* 


—     52     — 

erbungssubstanz  erreicht.  Diese  Einheiten,  anfanglich  unter 
sick  ganz  gleich,  sind  es  jetzt  niclit  mehr,  sie  tragen  aber 
jede  in  sich  die  Tendenz,  unter  gewissen  Verhaltnissen  die 
gesammten  Eigenschaften  der  betreffenden  Ahnen  auf  den 
neuen  Organismus  zu  iibertragen. 

"Wenn  nun  bei  Arten  mit  derart  zusammengesetztem 
Keimplasma  geschlechtliche  Fortpflanzung  stattfindet,  —  und 
alle  lebenden  sexuell  differenzirten  Arten  miissen  offenbar 
dieses  Stadium  langst  erreicht  haben,  -  -  so  kann  eine  weitere 
Yermehrung  der  Almenplasmen  im  Keimplasma  nicht  mehr 
stattfinden.  Es  muss  somit  von  Zeit  zu  Zeit  die  Zahl  der 
Almenplasmen  reduzirt  werden.  In  der  Abtrennung  der 
Richtungskbrperchen  von  dem  Eie  vor  der  Befruchtung 
erblickt  er  einen  Prozess,  dessen  Aufgabe  grade  diese  Re- 
duktion  ist ]). 

Diese  Verminderung  der  Erbstiicke  im  Ei,  wie  sie 
Weismaim  nennt,  ist  offenbar  eine  nothwendige  Folge  von 
der  urspriinglichen  Annahme  der  Gleichformigkeit  des 
Keimplasmas.  Es  ist  sehr  lehrreich.  dass  zwei  so  hervor- 
ragende  Denker  wie  Spencer  und  Weismann,  von  der- 
selben  Hypothese  ausgehend,  zu  einer  im  Prinzipe  gleichen 
Hiilfshypothese  gelangt  sind.  Man  darf  daraus  wohl 
schliessen,  dass,  wer  die  letztere  nicht  annehmen  will,  audi 
das  Prinzip  der  Gleichformigkeit  des  Keimplasmas  auf- 
geben  muss. 

Weismann  hat  s'eine  Theorie  in  klarer  Weise  mit  den 
Resultaten  der  Zellenforschung  in  Verbindung  gebracht. 
Er  nimmt  an,  dass  der  Kern  das  Wesen  seiner  Zelle 
beherrsche  und  bestimme,  und  dass  also  fiir  sammtliche 
Funktionen  der  Zelle   die  stoff lichen  Trager   der  erblichen 

J)  1.  c.  S.  32  ff. 


—     53     — 

Eigenschaften  im  Kerne  liegen  miissen.  Er  nimmt  weiter 
an ,  class  diese  letzteren  in  clem  chromatischen  Faden  des 
Kernes  reihenweise  angeordnet  sind,  unci  weist  darauf  hin, 
wie  bei  dieser  Annahme  durch  die  Langsspaltung  der  Kern- 
schleifen  die  erblichen  Anlagen  alle  getheilt,  unci  jede  den 
beiden  Tochterzellen  zugewiesen  werden  miissen. 

Auf  diesen  unci  ahnlichen  Vorstellungen  fussend,  be- 
handelt  er  auch  die  Frage  nach  der  Ursache  der  Ver- 
schiedenheiten  zwischen  don  einzelnen  Organen  eines  In- 
dividuums.  Es  ist  klar,  dass  diese  Frage  eine  grosse 
Schwierigkeit  der  Theorie  bildet.  Denn  die  Annabme  von 
den  Almenplasmen,  deren  jedes  die  gesammten  Eigen- 
schaften eines  Individuums  vergegenwiirtigt ,  kann  an  sicb 
eine  Antwort  nicbt  geben .  namentlieh  in  Verbindung  mit 
der  soeben  erwahnten  Tbese.  dass  die  Natur  des  Kernes 
die  Eigenscbaften  seiner  Zelle  bestimmt. 

Sehen  wir  zu,  welcbe  Hiilfshypotbese  Weisinann  wahlt. 
Die  Theorie  der  Vererbung  fordert,  dass  auf  den  Keini- 
bahnen a)  die  Vollstandigkeit  des  Keimplasmas  gewahrt 
bleibe.  Denn  jede  Eizelle  und  jede  Knospe  erhalt  im 
Grunde  dieselben  erblichen  Anlagen,  wie  die  Keimzellen 
der  vorherigen  Generation.  Auf  alien  Generationsfolgen 
von  Zellen,  welcbe  von  einer  Eizelle  zu  den  nachstfolgenden 
Keimzellen  fiihren,  unci  das  sind  ja  die  Keimbahnen,  muss 
also  das  Keimplasma  dasselbe  bleiben.  In  alien  iilnigen 
Zellen  aber,  welcbe  nicht  zu  reproduktionsfahigen  Organen 
gehoren.  braucht  solches  nach  Weisuiaim  nicht  der  Fall 
zu  sein.  Im  Gegentheil.  aus  der  einseitigen  Differenzirung 
dieser  Zellen  glaubt  er  auf  eine  entsprechende  Reduktion 
ihres  Keimplasmas  schliessen  zu  miissen.     Jede  somatische 


a)  Vergl.  den  ersten  Abschnitt  des  zweiten  Theils. 


—     54     — 

Zelle  erhalte  bei  ihrer  Entstehung  nur  diejenigen  erblichen 
Anlagen,  deren  sie  selbst  und  ihre  Nachkommen  bediirfen 
werden. 

Gegen  diese  Annalime  sincl  von  verschiedenen  Seiten 
Bedenken  erhuben  worden ,  und  einige  davon  werden  wh- 
in unserem  Absehnitte  iiber  die  Zellularstammbaume  aus- 
fiihrlicher  schildern.  Hier  aber  miissen  wir  auf  die  prin- 
zipielle  Seite  der  Frage  eingehen,  namlich  auf  die  Beziehung 
der  Hiilfshypotliesen   zuin  Prinzipe    unseres  Autors    selbst. 

Das  Prinzip  ist  die  Annalime  von  Einheiten,  deren 
jede  die  sammtlichen  oder  doch  naliezu  sammtlichen  erb- 
lichen Eigenschaften  der  Art  zu  reproduziren  vermag.  Es 
gebe  fiir  jedes  Individuum  nur  eine  Vererbungssubstanz. 
nur  einen  materiellen  Trager  der  Vererbungstendenzen  J). 
Allerdings  ist  dieser  aus  unter  sicli  in  geringem  Grade 
verschiedenen  Ahnenplasmen  zusammengesetzt.  Einer  iiber- 
massigen  Anhaufung  verscbiedenartiger  Vererbungsten- 
denzen miisse  nothwendig  durch  irgend  welche  Einrichtungen 
vorgebeugt  werden.  Die  Differenzirung  der  Organe  fordert 
aber.  wie  wir  in  unserem  ersten  Absehnitte  gesehen  haben. 
die  Theilbarkeit  jener  kleinsten  Einheiten  des  Keim- 
plasmas,  und  zwar  in  genau  demselben  hohen  Grade,  welchen 
die  Verschiedenheiten  der  einzelnen  Glieder  und  Zellen 
eines  Organismus  selbst  erreichen.  In  den  somatischen 
Zellen  muss  das  Keimplasma  somit  allmahlig  in  jene  Kom- 
ponenten  zerlegt  werden,  und  diese  sind  somit  die  Trager 
der  einzelnen  erblichen  Eigenschaften. 

Erlauben  wir  uns  fur  einige  Augenblicke  auf  dieser 
Folgerung  weiter  zu  bauen,  ohne  die  Hauptannahme  zu 
berucksichtigen.      Dann    muss    offenbar    das    Keimplasma 


')  Ueber  die  Zahl  der  Riehtungskorper,  S.  29. 


—     55     — 

iiberall  aus  diesen  selben  Komponenten  bestehen.  und  so 
wohl  bei  den  niedersten,  der  Befruchtung  niclit  theilhaften 
Organismen,  wie  in  den  Keimzellen  der  hoheren  Pflanzen 
und  Thiere  miissen  wir  als  stoffliche  Grundlage  der  Erb- 
lichkeit  zahlreiche,  den  einzelnen  erblichen  Eigenschaften 
entsprechende,  mit  einander  nicht  untrennbar  verbundene 
stoffliche  Trager  annebmen.  Diese  Annahme  macht  aber 
die  der  Ahnenplasmen  vollig  iiberfliissig.  Ebenso  liegt 
kein  Grund  mehr  vor  anzunehmen,  dass  die  Ahnenplasmen 
nach  der  Befruchtung  getrennt  neben  einander  im  Kerne 
liegen  wiirden,  viel  wahrscheinlicher  ist  es,  dass  ihre  einzelnen 
Komponenten  sich  hier  mischen  werden.  Es  ist  leicht  ein- 
zusehen,  dass  dabei  die  ganze  Hiilfsbypothese  einer  gelegent- 
lichen  Reduktion  der  Zahl  der  Ahnenplasmen  hinfallig 
werden  kann. 

Mit  einem  Worte :  Unter  Beriicksichtigung  der  Organ- 
differenzirung  leitet  Weisilianil's  Theorie  von  selbst  zu  der 
ganz  entgegengesetzten  Annahme  von  einzelnen  stofflichen 
Tragern  fiir  die  einzelnen  erblichen  Eigenschaften. 

§  7.     Nageli's  Idioplasma. 

In  seiner  mechanisch  -phy  siol  ogis  chen  Theorie 
der  Abstammung  hat  X3g:eli  vor  einigen  Jahren  den 
Begriff  des  Idioplasmas  aufgestellt  l).  Im  Gegensatze  zum 
iibrigen  Protoplasma  ist  es  der  Trager  der  erblichen  Eigen- 
schaften. Jede  wahrnehmbare  Eigenschaft  ist  als  Anlage 
in  ihm  vorhanden;  in  jedem  Individuum  derselben  Art.  ja 
in  jedem  Organe  einer  Pflanze  ist  es  etwas  anders  zusammen- 
gesetzt.     Es  ist  niclit   auf  den  Kern   beschrankt,    sondern 


J)  C.  v.  Niigeli.  Mechanisch-physiologische  Theorie  der  Abstam- 
mungslehre  1884,  S.  21—31. 


—     56     — 

clurchzieht  den  ganzen  Protoplasten  als  vielfach  gewundener 
Strang.  Alle  Querscheiben  in  diesem  Strange  sincl  sich 
gleich,  jede  enthalt  alle  erblichen  Anlagen.  Dalier  bei 
der  Zelltheilung  die  Tocbterzellen .  mit  ihrem  Theile  des 
Stranges,  aucb  alle  erblichen  Anlagen  mit  bekommen. 

Die  Beschaffenheit  des  Idioplasmas  wird  dnrch  seine 
moleknlare  Ziisammensetzung  bestimmt.  nnd  namentlich 
durch  die  Anordnung  seiner  kleinsten  Theilchen.  Diese 
sind  zu  Schaaren  vereinigt,  welch e  wiederum  zn  Bin- 
heiten  hoherer  Ordnnng  verbunden  sind.  Diese  letzeren 
stellen  die  Anlagen  fur  die  Zellen ,  Gewebssysteme  und 
Organe  dar.  Das  Idioplasma  ist  eine  ziemlich  teste  Sub- 
stanz,  in  welcher  die  kleinsten  Theilchen  durch  die  in  dem 
lebenden  Organismus  wirksamen  Krafte  keine  Verschiebung 
erfahren,  denn  grade  die  gegenseitige  Anordnung  der 
Molekiile  bedingt  die  Natur  der  erblichen  Anlagen. 

Im  Idioplasma  sind  die  Merkmale,  Organe,  Einrich- 
tungen  und  Funktionen,  die  alle  uns  nur  in  sehr  zusammen- 
gesetzter  Form  wahrnehmbar  sind,  in  ihre  wirklichen  Ele- 
mente  zerlegt.  Diese  Elemente  sind  offenbar  die  einzelnen 
erblichen  Anlagen,  durch  deren  mannigfach  wechselnde 
Zusammenftigung  die  sichtbaren  Eigenschaften  entstehen. 
Diese  Elemente  selbst  werden  von  Niig'di  aber  nicht  scharf 
in  den  Vordergruncl  gestellt,  es  kommt  ihm  mehr  darauf 
an,  zu  betonen ,  dass  auch  ihre  Eigenschaften  durch  ihren 
molekularen  Bau  bedingt  sind,  und  dass  sie  selbst  wieder 
durch  ihre  gegenseitige  Aneinanderlagerung  das  ganze  Idio- 
plasma aufbauen. 

Riicksichtlich  der  Anordnung  der  Elemente  im  Idio- 
plasma, sowie  bezuglich  der  Frage,  wie  das  Idioplasma 
seine  Anlagen  zur  Entfaltung  bringe,  lassen  sich  aus  der 
Theorie  keine  bestimmte  Folgerungen  ableiten;  hier  ist  den 


Hypothesen  noch  ein  weites  Feld  geoffnet 1).  Ueberhaupt 
ist  aber  die  feste  gegenseitige  Anordnung  der  Elemente 
der  wichtigste  Punkt,  in  welchem  Xiigeli  von  seinen  Vor- 
gangem  abweicht.  TVeder  Spencer  noch  Weismann  gehen 
auf  diese  Frage  ein,  und  Darwin's  Pangenesis  nimmt  grade 
eine  verhaltnissmassig  lose  Verbindung  jener  Elemente  an. 
eine  derartige  wenigstens,  welche  einer  gegenseitigen  Durch- 
dringung  und  Mischung  kein  Hinderniss  entgegenstellt. 
Die  Frage,  wie  sich  die  Idioplasmastrange  der  beiden  Eltern 
bei  der  Befruchtung  vereinigen,  wird  von  Xageli  audi  nur 
kurz  beriihrt  -),  und  die  ganze  Darlegung  dieses  Gegen- 
standes  zeigt  die  grossen  Schwierigkeiten,  welche  die  Hypo- 
these  von  dem  festen  Zusammenhange  des  Idioplasmas  bietet. 
Xiigeli's  Theorie  erklart  uns  das  Wachsthum  durch 
Assimilation  und  die  Vermehrnng  der  stofflichen  Trager 
der  Erblichkeit  ebenso  wenig  wie  jede  andere  Theorie. 
Dass  die  Eigenschaften  jener  Elemente  durch  ihren  mole- 
kularen  Auf  bail  gegeben  sind,  ist  ebenso  wenig  ein  Vorzug 
seiner  Theorie,  es  ist  eine  aus  unseren  allgemeinsten  Be- 
griffen  abgeleitete  Folgerung,  welche  sich  auf  die  hypo- 
thetischen  Einheiten  einer  jeden  Vererbungstheorie  mit 
gleichem  Rechte  anwenden  liisst.  Wie  aber  jener  mole- 
kulare  Bau  die  erblichen  Anlagen  erklart,  dariiber  erfahren 
wir  hier  selbstverstandlich  ebenso  wenig  wie  bei  den  anderen 
Theorien.  Es  ist  eine  schwache  Seite  des  Xiigeli'schen 
Werkes,  dass  diese  bis  jetzt  unerklarlichen  Thatsachen  nicht 
klar  als  solche  bezeichnet  werden ,  und  dass  die  gemein- 
schaftliche  Basis  der  verschiedenen  Theorien  nicht  einfach 
als  solche  hingestellt  wird. 


J)  1.  c.  S.  68. 

8)  1.  c.  S.  215-220. 


58 


§  8.     Allgemeine  Betrachtungen. 

Meiner  Ansicht  nach  beweisen  die  oben  kurz  geschil- 
derten  Theorien  klar,  dass  der  Grundgedanke  der  Pan- 
genesis, differente  stoffliche  Trager  fur  die  einzelnen  erb- 
licben  Eigenschaften ,  nicbt  zu  umgehen  ist.  Spencer. 
welcher  vor  Darwin  schrieb,  hatte  diesen  Gedanken  nicht. 
ihra  war  es  unmoglich,  eine  befriedigende  Erklarung  der 
Organdifferenzirung  zu  geben.  Weisinann's  Theorie  leitete, 
wie  wir  bereits  geseben  baben ,  ihren  Urheber  selbst  in 
dieser  Richtung ,  und  zwang  ilm ,  eine  Theilbarkeit  seines 
Keimplasma  in  diesem  Sinne  melir  oder  weniger  klar  zu  zu- 
geben.  Und  aueh  NRgeli's  Idioplasma  ist  im  Grunde  aus 
jenen  Elementen  aufgebaut. 

Je  genauer  wir  diese  Theorien  betrachten,  um  so  melir 
werden  wir  finden,  dass  ihre  Leistungsfahigkeit  in  jener 
implicite  gemacbten  Annahme  liegt,  wabrend  ihre  Schwierig- 
keiten  zum  grossten  Theil  durch  die  iibrigen  Hypothesen 
entsteben.  Nennen  wir  die  stofflicben  Trager  der  einzelnen 
erblichen  Eigenschaften,  aus  denen  man  sicb  die  physio- 
logischen  Einheiten,  die  Ahnenplasmen  und  das  Idioplasma 
zusammengesetzt  denken  muss,  einstweilen  ihre  Elemente. 
so  reicht  offenbar  die  Annahme  soldier  Elemente  an  sicb 
bin,  um  die  Thatsache  der  Erblichkeit  zu  erklaren.  Die 
vorberrschende  Aebnlichkeit  der  Kinder  mit  einem  der 
beiden  Eltern,  und  die  Erscheinungen  des  Atavismus  werden 
uns  dadurcb  ohne  weitere  Annahmen  verstandlich. 

Die  von  Spencer  und  Weismann  als  notbwendig  be- 
tonte  Folgerung  ihrer  Theorie,  die  Reduktion  der  Zabl 
der  Einheiten,  welche  der  erstere  durch  gegenseitige  Ab- 
stossung,  der  letztere  durch  die  Richtungskorper  zu  Stande 
komnien  lasst,  ist  eine  Schwierigkeit,   welche  aus  dem  von 


—     59     — 

beiden  Denkern  angenommenen  Verbande  der  „Elemente". 
niclit  aus  der  Annahme  dieser  selbst  hervorgeht.  Lasst 
man  die  Gruppirung  der  Elemente  zu  Einheiten  oder  Ahnen- 
plasmen  fallen ,  so  ist  eine  solche  Reduktion  vollig  iiber- 
tiiissig  geworden,  da  die  einzelnen  Elemente  sich  nach  der 
Befruchtung  im  Ei  in  ahnlicher  Weise  anordnen  konnen, 
als  vorher  im  Ei  und  in  der  Spermazelle.  Und  die  Er- 
scheinungen  des  sogenannten  Art-atavismus,  in  denen  die 
Arten  latente  Eigenschaften  behalten,  welche  sie  von  ihren 
Vorfaliren  geerl)t  haben,  wie  z.  B.  die  Primula  a  caul  is 
caulescens,  zeigen,  dass  latente  Eigenschaften  niclit  ab- 
geworfen  zu  werden  brauchen.  sondern  durch  Tausende  von 
Generationen  belialten  werden  konnen.  Im  Idioplasma  ist  die 
feste  Verbindung  der  ,.Elemente"  am  weitesten  ausgearbeitet. 
Aber  grade  daran scheitert  dann  auch  jeder  Versuch,  die  Hypo- 
these  mit  den  Vorgangen  der  Befruchtung  und  der  Bastar- 
dirung  in  Einklang  zu  bringen.  Denn  diese  Prozesse  lehren 
uns.  dass  die  erblichen  Anlagen  mischbar  sind,  die  Idio- 
plasmastrange  sind  dieses  aber  niclit. 

Die  Variabilitat  lehrt  uns.  dass  die  einzelnen  Anlagen 
unabhangig  von  anderen  sich  bedeutend  vermehren,  und 
andererseits  fast  verschwinden  konnen.  Und  bei  der  Arten- 
bildung  ist  dieses  Vermogen  im  grossartigsten  Maassstabe 
ausgeniitzt  worden.  Im  festen  Verbande  des  Idioplasmas 
diirfte  ein  solches  Benehmen  der  einzelnen  „Elemente"  aber 
im  hochsten  Grade  erschwert.  wenn  nicht  gar  unmoglich  sein. 

Den  festen  Verband  der  ,,Elemente"  zu  physiolo- 
^ischen  Einheiten,  Ahnenplasmen  oder  Idioplasma  konnen 
wir  also  nicht  aufrecht  halten.  Er  leitet  nicht  nur  in  den 
hervorgehobenen  Fallen,  sondern  fast  uberall  zu  Wider- 
spriichen  mit  den  Thatsachen.  oder  doch  zu  iiberfiussigen 
Annahmen.      Grade    auf   diesen    Verband    haben   aber   die 


—     60     — 

Urheber  dieser  Theorien  das  grosste  Gewicht  gelegt.  die 
Annahme  der  „Elemente"  haben  sie  nirgendwo  als  selb- 
standige  Annahme  liervorgehoben  urid  von  ihren  iibrigen 
Hypothesen  getrennt  betrachtet. 

Lassen  wir  diesen  Verband  fallen ,  so  ist  der  Kern 
aller  Theorien  derselbe,  wie  der  der  Pangenesis,  wie  im 
Anfange  dieses  Paragraphen  bereits  liervorgehoben  wurde. 


Drittes  Kapitel. 

Die  hypotlietisclieii  Tr&ger  der  einzelnen  erbliclien 

Eigenschaften. 

§  9.     Einleitung;. 

Die  im  ersten  Abschnitt  niedergelegten  Ansichten  iiber 
das  Wesen  der  Erblichkeit  fiihrten  uns  zu  der  Ueber- 
zeugung,  duss  die  erbliclien  Eigenschaften  Einheiten  sein 
miissen,  welche  in  hohem  Grade  selbstiindig.  und  in  den 
verschiedensten  Gruppirungen  in  der  Natur  zusammen- 
gestellt  sind. 

Andererseits  leitete  uns  eine  kritische  Betrachtung 
der  bisher  besprochenen  Theorien  dazu,  in  alien  einen 
mehr  oder  weniger  scharf  ausgebildeten  Kern  zu  erkennen. 
welcher  fur  die  einzelnen  erbliclien  Eigenschaften  stoffliche 
Trager  annimmt.  Diesen  Kern  herauszuschalen  war  unsere 
Aufgabe.  ihre  Berechtigung  war  durch  jene  Ansichten  ge- 
geben.  Wahrend  die  Losung  dieser  Aufgabe  uns  aber 
bisher  nur  mit  Miihe  gelang,  liegt  in  Darwin's  Pange- 
nesis grade  dieser  Kern  offen  zu  Tage. 

Die  Annahme  der  differenten  stofflichen  Trager  der 
einzelnen  erbliclien  Eigenschaften  wurde  von  Darwin  zum 


—     61     — 

ersten  Male  ausgearbeitet.  Die  grossen  Erscheinungen  der 
Natur.  Avelche  diese  Annahme  fordern,  und  von  denen  ich 
im  ersten  Absclmitt  nur  ein  schwaches  Bilcl  entwerfen 
konnte.  wurden  von  ilim  klar  erfasst  und  in  meisterhafter 
Weise  zusammengestellt.  Das  ganze  Werk  iiber  das  Variiren 
der  Pflanzen  und  Thiere  lauft  gleichsain  auf  die  Begriin- 
dung  dieses  Grundgedankens  aus.  den  er  dann  in  der  Pan- 
genesis weiter  ausgearbeitet  und  mit  den  widerstrebenden 
Erfahrungen  in  Einklang  zu  bringen  gesuclit  hat. 

Merkwiirdig  ist .  dass  Darwin  mit  beschamender  Be- 
scheidenlieit  diesen  Grundgedanken  als  eine  berrscbende 
Ansicht.  niclit  als  eigene  Entdeckung  hinstellt.  Er  lioffte 
sogar  seine  Meinung  mit  Spencer's  Tlieorie  identifiziren  zu 
konnen1).  Aber  so  wenig  war  diese  Ansicht  herrschend, 
dass  seine  Kritiker  sic  nur  in  einzelnen  Fallen  von  den 
Hulfshypothesen  getrennt  haben,  und  dass  die  meisten  mit 
diesen  JSTebenannahmen  audi  den  Grundgedanken  verworten 
haben.  Doch  gehen  wir  zu  der  Analyse  der  Darwin'schen 
Tlieorie  iiber. 

§  10.     Darwin's  Pangenesis2). 

Die  sogenannte  provisorische  Hypothese  der  Pangenesis 
besteht.  wie  bereits  in  der  Einleitung  erwahnt.  nach  meiner 
Auffassung  aus  den  beiden  folgenden  Theilen: 

I.  In  den  Zellen  giebt  es  zahllose,  unter  sich  ver- 
schiedene  Theilchen,  welche  die  einzelnen  Zellen.  Organe. 
Punktionen  und  Eigenschaften  des  ganzen  Individuums  ver- 
gegenwartigen. 


J)  Darwin,  Variations  II  S.  371  Note. 

2)  Die  wichtigsten  Satze   aus   diesem  Paragraplien  babe   icb  be- 
reits in  der  Einleitung  zusammengestellt  (S.  1 — 6) ;  eine  Wiederbolung 


lasst  sich  aber  nicbt  gut  vermeiden. 


—     62     — 

Diese  Theilchen  sind  viel  grosser  als  die  chemischen 
Molekiile  imd  kleiner  als  die  kleinsten  bekannten  Orga- 
nismen  *) ;  jedoch  am  meisten  mit  den  letzteren  vergleich- 
bar,  da  sie  sich,  wie  diese,  durcli  Ernahrung  und  Wachs- 
thum  theilen  und  vermehren  konnen. 

Sie  konnen  durcli  zalillose  Generationen  unthatig  bleiben, 
und  sich  dann  dementsprechend  nur  schwach  vermehren,  um 
spater  einmal  wieder  aktiv  zu  werden,  und  anscheinend 
verlorene  Eigenschaften  zur  Ausbildung  gelangen  zu  lassen 
(Atavismus). 

Sie  gehen  bei  der  Zelltheilung  auf  die  Tochterzellen 
iiber ;   dieses  ist  der  gewohnliche  Vorgang   der  Vererbung. 

II.  Ausserdem  sondern  aber  die  Zellen  des  Organismus 
in  jedem  Entwickelungsstadium  solche  Theilchen  ab,  welche 
den  Keimzellen  zugefiibrt  werden  und  diesen  jene  Eigen- 
schaften mittheilen,  welche  die  betreffenden  Zellen  wahrend 
ihrer  Entwickelung  etwa  erworben  haben. 

Diese  beiden  Theile  miissen  getrennt  von  einander  be- 
trachtet  werden.  Sie  verdienen  dieses  um  so  mehr,  als 
ihre  Bedeutung  bis  jetzt  allgemein  verkannt  wurde. 

Die  hypothetischen  „Theilchen"  hat  Darwin,  wegen 
der  im  ersten  Hauptsatze  erwahnten  Analogie,  „gemmides" 
oder  „Keimchen"  genannt.  Ein  ungliicklich  gewahlter  Aus- 
druck;  der  viel  dazu  beigetragen  hat,  seiner  Theorie  un- 
iiberwindliche  Schwierigkeiten  zu  bereiten.  Sie  hat  bei 
vielen  Lesern  die  Vorstellung  von  „vorgebildeten  Keimchen" 
wachgerufen,  welche  docli  der  Darwin'schen  Auffassung 
nicht  im  entferntesten  entspricht.  Im  Gegentheil  miisste 
man  nach  dem  zweiten  Hauptsatze  sagen,  dass  sie  erst  nach 
der  Erwerbung  bestimmter  Eigenschaften,   oder   hochstens 


x)  Darwin,  Variations  II  S.  372. 


—     63     — 

gleichzeitig  mit  diesen  entstiinden.     Doch  wollen  wir  darauf 
nicht  weiter  eingehen. 

Weitaus  die  meisten  Eorscher  haben  in  ihrer  Kritik 
nur  den  zweiten  Hauptsatz  beriicksiclitigt.  Wo  von  Pan- 
genesis die  Rede  ist.  wird  fur  gewohnlich  nur  diese  Hypo- 
these  gemeint.  Die  ganze  Theorie  wird  mit  dieser  Hiilfs- 
annahme  identifizirt,  der  Transport  der  Keimchen  als  die 
Hauptsaclie  betrachtet. 

Ich  gestehe,  dass,  wenn  man  jenes  Kapitel  oberflachlich 
liest,  es  leiclit  diesen  Eindruck  macht.  Aber  wenn  man  es 
zu  wiederliolten  Malen  aufmerksam  liest,  tritt  immer  mehr 
die  Transportliypothese  in  den  Hintergrund,  der  in  dem 
ersten  Hauptsatze  wiedergegebene  Grundgedanke  aber  in 
den  Vordergrund. 

Es  liegt  dieses  zum  Theil  in  der  Schwierigkeit,  sicli 
sogleich  in  die  grossen  Gedanken  des  genialen  Forschers 
einzuleben,  zum  Theil  aber  auch  in  dem  bereits  hervor- 
gehobenen  Umstande,  dass  Darwin  selbst  die  ersten  Siitze 
als  selbstverstandlieh  und  allgemein  bekannt  hinstellt,  und 
nur  den  letzten  als  seine  eigene  Hypotliese  vorfiihrt1). 

Die  Annahme  des  Keimchentransportes,  welcbe  schon 
von  Darwin  selbst.  namentlich  fur  Pflanzen,  in  hohem 
Grade  beschrankt  war,  ist  so  oft  und  mit  so  vielem  Scharf- 
sinn  bestritten  worden,  dass  es  uberniissig  ware,  sie  bier 
weiter  zu  kritisiren.  Namentlich  hat  Weisuiann  sich  das 
grosse  Verdienst  erworben  zu  zeigen,  wie  wenig  sie  von  gut 
bekannten  Thatsachen  und  gesicberten  Erfahrungen  ge- 
fordert  wird.  Die  von  Darwin  zusammengestellten  Falle, 
welcbe  sie  zu  fordern  schienen  2),  waren  ja  Ausnahmen,  und 


:)  Auch  iu  seinen  Briefen  legt  er  den  meisten  Nachdruck  auf  diesen 

Theil.   Vergl.  Life  and  Letters  of  Charles  Darwin,  Vol.  Ill  S.  72—120. 

2)  Die  bekannten  Versuche  von  Brown-Sequard ,   welche  so  oft 


—     64     — 

ihre  Glaubwiirdigkeit  ist  von  Weismann  tief  erschiittert 
worden J).  Icli  glaube  somit  hier  nur  auf  die  Schriften 
dieses  Forschers  binzuweisen  zu  baben  -). 

Befreit  von  der  Hypotbese  des  Keimclientransportes 
erscheint  uns  nun  die  Pangenesis  in  reinster  Form.  Sie 
ist  die  Annabme  besonderer  stofflicber  Trager  fur  die  ver- 
scliiedenen  erblicben  Eigenschaften.  Zwar  spriclit  sicb 
Darwin  liber  das,  was  er  Eine  erblicbe  Eigenscbaft  nennt. 
niclit  iiberall  deutlicb  aus,  und  gelegentlicb  werden  kleine 
Gruppen  von  Merkmalen,  oder  gewisse  morpbologiscbe  Ein- 
beiten  Avobl  als  solcbe  betracbtet.  Aber  das  liegt  in  der 
Unvollstandigkeit  unserer  dermaligen  Kenntnisse,  welche 
jetzt  nocb  in  vielen  Fallen  niclit  gestatten  das  Prinzip 
durcbzufiibren.  denn  iiber  dieses  selbst  ist  unser  Autor  sicb 
vollig  klar.  Jede  Eigenscbaft,  welcbe  unabhangig  von 
anderen  variiren  kann,  muss  nacb  ibm  an  einen  besonderen 
stofflicben  Trager  gebunden  sein s). 

Ueber  die  Art  und  Weise ,  wie  diese  bypotbetiscben 
Trager  in  den  Zellen  vereinigt  sind,  bat  Darwin  sicb  niclit 
ausgesprochen,  er  bebt  nur  bervor,  dass  jede  sicb  unab- 
bangig  von  den  anderen  vermebren  kann,  wenn  aucb  haufig. 
wie  die  Erscbeinungen  der  Variabilitat  lebren,   diese  Ver- 


als  Stiitzen  fiir  die  Lehre  von  der  Erblichkeit  erworbener  Eigen- 
schaften angefiihrt  werden,  wurden  von  Darwin  selbst  als  seiner  Hy- 
potliese  des  Keimclientransportes  entgegenstebend  betracbtet.  Vergl. 
Darwin,  Variations  II  S.  392. 

x)  A.  AVeismann.  Ueber  die  Vererbung  1883;  Derselbe,  Die 
Bedeutung  der  sexuellen  Fortpflanzung  fiir  die  Selektionstheorie,  1886 
S.  93  u.  s.  w. 

2)  Aucb  die  sogenannten  Propfbybride  und  die  Angaben  iiber 
einen  Einfluss  des  mannlichen  Elementes  auf  die  den  Keim  umgeben- 
den  Theile  beweisen  nacb  meiner  Ansicbt  die  Notbwendigkeit  der 
Annabme  eines  Transportes  nicht.  Vergl.  den  zweiten  Theil ,  Ab- 
scbnitt  IV  §  5. 

3)  Darwin,  Variations  2.  Ed.  1875  II  S.  378. 


—     65     — 

mehrung    in    kleinen    Gruppen    von    Tragern    gleichzeitig 
stattfindet. 

In  der  Einleitung  habe  ich  die  Griinde  genannt,  welche 
mich  bestimmen,  den  Namen  „Keimchen"  aufzugeben.  Er 
ist,  in  Aller  Vorstellung,  zu  sehr  mit  der  Transport- 
hypothese  verbunden.  Es  sei  mir  gestattet,  die  hypo- 
thetischen  Trager  der  einzelnen  erblichen  Anlagen  mit 
einem  neuen  Namen  zu  belegen  und  Pangene  zu  nennen1). 

§11.     Kritische  Betrachtungen. 

Unter  Darwin's  Kritikern  verdient  in  erster  Linie 
Han  stein  genannt  zu  werden.  Denn  Keiner  hat  von  der 
Pangenesis  eine  so  klare  und  richtige  Wiirdigung  gegeben 
wie  er,  Keiner  in  so  deutlicher  Weise  die  Schliisse,  zu 
denen  sieleitet,  auseinandergesetzt.  Leidermusste  Hanstein, 
durch  seine  besondere  Geistesrichtung,  diese  Folgerungen. 
und  somit  auch  die  gauze  Theorie,   verwerfen  -). 

Hanstein  verwirft  zunachst  mit  gutem  Grunde  den 
Namen  Keimchen  und  nennt  die  Darwin'schen  Einheiten 
Mikroplaste  oder  Archiplaste.  Und  inclem  er  die  Transport - 
hypothese  leugnet,  schliesst  er  aus  der  Pangenesis  3) :  „Man 
miisste  sogar  die  Hypothese  raachen,  dass  jede  Zelle  des 
ganzen  Pflanzenleibes  bei  ihrer  Entstehung  sofort  von  ihrer 
Mutterzelle  mit  jeder  Art  von  Archiplasten  beschenkt 
werde'"'4).  Die  Richtigkeit  dieser  Polgerung  wird  wohl  jetzt 
von  alien  Lesern  als  nothwendige  Konsequenz  der  Annahme 
der  Archiplaste  zugegeben  werden.  wie  denn  auch  diese  in 

')  Vergl.  die  Einleitung  S.  6. 

2)  J.    Hanstein ,     Beitrage     zur    allgemeinen    Morphologie    der 
Pflanzen  in  Botan.  Abhandl.  Bd.  IV  Heft  3  1882. 

3)  1.  c.  S.  219. 

4)  1.  c.  S.  223. 

d  e  Vrie s,  Intracellular  Pangenesis.  5 


—      66     — 

den  Ei-  unci  Spermazellen  von  der  einen  Generation  auf  die 
andere  iibergefiihrt  werden  ]). 

Die  Einwande  Hanstein's  mochte  ich  hier  iibergehen. 
Sie  beruhen  vorwiegend  auf  seiner  Ueberzeugung,  dass  es 
unerlasslich  sei,  fur  die  Organismen  eine  eigene  Naturkraft 
anzunelimen  -). 

Weismann  hat  sich  gegen  die  Annahme  differenter 
Trager  der  einzelnen  erblichen  Eigenschaften  in  seinem 
Vortrage  iiber  die  Vererbung  (1883.  S.  16)  ausgesprochen. 
Es  lasst  sich  bei  dieser  Auffassung,  nach  ihm,  nicht  ab- 
sehen,  wie  diese  „Molekiile"  genau  in  derjenigen  Kombi- 
nation  beisammen  bleiben  sollten,  Avie  sie  eben  das  Keim- 
plasma  der  betreffenden  Art  ausmacht.  Ohne  Zweifel  ist 
das  die  Hauptschwierigkeit,  und  wie  schwer  diese  wiegt, 
zeigt  uns  der  Umstand,  dass  sie  die  wichtigste  Veranlassung 
zu  der  Aufstellung  der  im  vorigen  Kapitel  besprochenen 
Theorien  gewesen  ist. 

Diese  Schwierigkeit  ist  aber  kein  Einwand.  Allerdings 
lasst  sich  nicht  angeben,  wie  die  einzelnen  Pangene  etwa 
zusammengehalten  werden  konnten.  Aber  die  neueren 
Untersuchungen  iiber  die  Kerntheilung  haben  uns  eine  Ein- 
sicht  in  iiusserst  komplizirte  Vorgange  eroffnet,  welche 
offenbar  eine  gesetzmassige  Vertheilung  der  erblichen  Eigen- 
schaften auf  die  beiclen  Tochterzellen  zum  Zweck  haben. 
Es  ist  nicht  anzunelimen,  class  wir  bereits  heute  am  Ende 
der  Kernforschung  stehen  sollten ,  im  Gegentheil  diirfen 
die  bis  jetzt  gemachten  grossen  Entdeckungen  in  uns  die 
Hoffnung  wachrufen,  dass  noch  manche  andere  verwickelte 
Yorgange,  von  denen  wir  jetzt  keine  Ahnung  haben,  in 
den    Kernen    einmal     aufgefunden     werden    konnen.      Die 


J)  1.  c.  S.  219. 
«)  1.  c.  S.  225. 


—     67     — 

Thatsache,  dass  wir  nicht  wissen.  wie  die  hypothetischen 
Pangene  zusammengehalten  werden,  ist  also  kein  Einwand 
gegen  diese  Annahme.  Sie  braucht  nicht  durch  Hiilfs- 
liypothesen  beseitigt  zu  werden,  sondern  ist  einfach  dem 
weiteren  Studium  der  Vorgange  in  den  Protoplasten  und 
ihren  Kernen  anlieim  zu  stellen. 

Ein  vielfach  gemachter  Einwand  ist  die  Nothwendig- 
keit,  so  zahllose  differente  Pangene  anzunehmen  r).  An- 
scheinend  ist  allerdings  die  Annahme  von  Tragern  des 
ganzen  Artcbarakters  viel  einfacher.  Es  bedarf  dann  fur 
jede  Art  nur  Einer  hypothetischen  Einheit.  Aber  be- 
schranken  wir  uns  nicht  auf  die  Betrachtung  Einer  Spezies, 
sondern  dehnen  wir  unsern  Blick  auf  die  ganze  Organismen- 
welt  aus,  so  fiillt  dieser  Einwurf,  wie  bereits  im  ersten 
Abscbnitte  bemerkt,  in  sich  zusammen. 

Denn  dann  miissen  wir  so  viele  Einheiten  annehmen, 
als  es  Arten  giebt  und  gegeben  hat,  und  die  Zahl  wird 
unendlich  viel  grosser.  Denn  die  Darwin'schen  Einheiten 
kehren  fast  jede  bei  zahlreichen .  viele  bei  nahezu  alien 
Pfianzen  oder  Thieren  zuriick,  und  es  reicht  eine  relativ 
geringe  Anzahl  soldier  hypothetischen  Pangene  aus .  urn 
durch  die  verschiedenen  moglichen  Gruppirungen  die  ge- 
sammten  Artunterschiede  zu  erklaren.  Ira  Grunde  ist  so- 
mit  die  Annahme  von  Pangenen  die  einfachste,  welche  wir 
machen  konnen,  und  dieses  ist  offenbar  ein  grosser  Vorzug. 

Eine  weitere  Vergleichung  der  Pangenenlehre  rait  den 
von  anderen  Forschern  aufgestellten  Theorien  glaube  ich  an 
dieser  Stelle  unterlassen  zu  konnen.  Denn  sie  ist  im  Grunde 
in  meiner  Kritik  jener  Ansichten  enthalten  und  wild    sich 


J)  Vergl.  Weismann.  Die  Bedeutung-  der  sexuellen  Fortpflanzung- 

1886  S.  102  £f. 

5* 


—     68     — 

ferner   von   selbst    a.us   der   im    folgenden  Paragraphen    zu 
gebenden  Ausarbeitung  des  Grundgedankens  ergeben. 

§  12.     Schluss. 

Die  Betrachtungen  des  ersten  und  die  kritischen  Er- 
orterungen  des  zweiten  Abschnittes  haben  uns  dazu  ge- 
fiihrt ,  Eine  Hypothese  iiber  die  stoffliche  Grundlage  der 
erblichen  Eigenschaften  als  unumganglich  anzuerkennen. 
Sie  ist  gewissermassen  ein  Postulat,  zu  welchem  ein  Jeder, 
der  iiber  diese  Fragen  nachdenkt,  mehr  oder  weniger 
sicber  gelangen  muss .  und  welcbes  wir  denn  auch  in  den 
besten  Tbeorien  der  Vererbung  stets  als  Kern  haben  zuriick- 
finden  konnen. 

Versuchen  wir  zum  Sclilusse  diese  Hypothese  moglichst 
einfach  vorzufiihren  und  die  wichtigsten  Erklarungen  an- 
zudeuten,  welche  sie  uns  olme  Hiilfshypothesen  zu  geben 
im  Stande   ist. 

Im  ersten  Abschnitt  haben  wir  die  Ueberzeugung  ge- 
wonnen.  dass  die  erblichen  Anlagen  selbstandige  Einheiten 
sind.  aus  deren  zahllosen  verschiedenen  Gruppirungen  die 
Artcharaktere  hervorgehen.  Jede  solche  Einheit  kann  un- 
abhangig  von  den  andern  variiren,  jede  kann.  in  unseren 
Kulturversuchen,  fiir  sich  Gegenstand  experimenteller  Be- 
handlung  sein. 

Die  erblichen  Eigenschaften  sind  gebunden  an  die 
lebendige  Materie;  die  Erblichkeit  beruht  darauf,  dass  die 
Kinder  aus  einem  stofflichen  Theile  ihrer  Eltern  entstehen. 
Die  sichtbaren  Merkmale  der  Organismen  werden  durch 
die  unsichtbaren  Eigenschaften  der  lebendigen  Materie  be- 
stimmt. 

In    dieser    lebendigen    Substanz    nehmen    wir  fiir   die 


—     69     — 

einzelnen  erblichen  Eigenschaften  besondere  stoffliche  Trager 
an.  Dieses  ist  der  Grundgedanke  von  Darwin's  Pange- 
nesis, zu  ihm  gelangten.  mehr  oder  weniger  klar,  fast  alle 
spateren  Forscher.  Oder  es  fiihrt  dock  die  kritische  Er- 
orterung  ihrer  Ansichten  schliesslich  zu  diesem  Postulate 
zuriick.  Man  moge  von  den  Molekiilen  des  Protoplasmn, 
oder  vom  Keim-  und  Idioplasma  als  Trager  des  gesammten 
Artcharakters  ausgehen;  man  moge  die  Erscheinungen  der 
Erblichkeit  in  den  Vordergrund  stellen,  oder  mit  Sachs 
und  Godlewski  sich  auf  Wachsthums-  und  Regenerations- 
prozesse  basiren 5) ,  stets  gelangt  man  schliesslich  zu  der 
Annahme  differenter  Trager  der  ererbten  Anlagen.  Am 
sichersten  und  klarsten  aber  gelangt  man  dazu,  weim  man 
nach  Darwin's  Beispiel  die  ganze  Organismenwelt  von 
einem  moglichst  allgemeinen  Gesichtspunkte  betrachtet. 

Je  nach  den  weiteren  Hypothesen  tiber  die  Natur 
dieser  Einheiten  sind  sie  mit  verschiedenen  Namen  be- 
legt  worden.  Fiir  die  von  mir  angenommenen  babe  ich 
den  Namen  Pangene  gewiihlt. 

Diese  Pangene  vergegemvartigen  nicht  jede  ein  mor- 
phologisches  Glied  des  Organismus,  eine  Zelle  oder  einen 
Theil  einer  Zelle,  sondern  jede  eine  besondere  erbliche 
Eigenschaft.  Diese  sind  daran  zu  erkennen,  dass  sie  jede, 
unabhangig  von  den  ubrigen.  variiren  konnen.  Ihr  Studium 
(iffnet  der  experimentellen  Forschung  ein  weites,  viel  ver- 
sprechendes  Feld. 

Die  Pangene  sind  keine  chemischen  Molekiile,  sondern 
morphologische,  jede  aus  zahlreichen  Molekiilen  aufgebaute 


a)  J.  v.  Sachs ,  Ueber  Stoff  und  Form  der  Pflanzenorgane .  in 
Arbeiten  des  Bot.  Instit.  Wiirzburg  Bd.  II,  und  E.  Godlewski  im 
Botan.  Centralblatt  Bd.  34  Nr.  2/7  Jahrg.  IX  Nr.  1520  1888  S.  1. 


—     70      — 

Gebilde.    Sie  sind  die  Lebenseinheiten,  deren  Eigenschaften 
nur  aaf  historischem  Wege  zu  erklaren  sind. 

Die  Hauptattribute  des  Lebens  mlissen  wir  einfach  in 
sie  verlegen,  ohne  sie  erklaren  zu  konnen.  Wir  miissen 
also  annehmen,  class  sie  assimiliren  und  sicli  ernahren,  da- 
durcli  wachsen  und  sicli  dann  durch  Theilung  vermehren. 
wobei  in  der  Regel  bei  jeder  Spaltung  zwei;  clem  urspriing- 
licben  Pangene  gleiche  neue  entstehen.  Abweichungen  von 
dieser  Regel  bilden  einen  Ausgangspunkt  fiir  die  Ent- 
stehung  von  Varietiiten  und  Arten. 

Bei  jeder  Zelltheilung  gehen,  in  der  Regel.  alle  vor- 
handenen  Arten  von  Pangenen  auf  die  beiden  Tochterzellen 
Tiber.  Welcher  Verband  dieses  bedingt,  und  welche  Be- 
ziehung  die  im  Grossen  und  Ganzen  gleichmassige  Ver- 
mehrung  der  verschiedenartigen  Pangene  eines  Individuums 
bewirkt,  wissen  wir  niclit. 

Die  Pangene  miissen  in  kleineren  und  grosseren  Gruppen 
derart  zu  einander  in  Bezielmng  steben .  dass  die  Glieder 
Einer  Gruppe  in  der  Regel  zusammen  in  Thatigkeit  treten5). 

Alle  diese  Satze  ergeben  sich  von  selbst,  wenn  man 
den  Grundgedanken  mit  den  bekannten  Erscheinungen  der 
Erblichkeit  unci  der  Variabilitlit  in  Verbindung  zu  bringen 

sucbt. 

Die  ganze  Tragweite  dieses  Grundgedankens  wircl. 
glaube  icb,  am  besten  klar  werden,  wenn  icb  jetzt  die 
wicbtigsten  Vorziige  der  Hypotbese  bei  der  Beantwortung 
einiger  grossen  biologischen  Fragen  kurz  zusammenstelle. 
Denn  ganze  grosse  Gruppen  von  Erscbeinungen  werden 
uns  durch  sie  in  einfacher  Weise  verstandlich .  und  zvvar 
ohne  jede  Hiilfshypothese,  unter  einfacher  Beriicksichtigung 


J)  Darwin  nannte  diese  Gruppen  „compound  gemmules",  Varia- 
tions II  S.  378. 


—      71      — 

der  stets  wechselnden  relativen  Mengen,  in  denen  sich  die 
Pangene  je  nach  der  Natur  und  clem  Alter  der  Zellen  be- 
finden  miissen. 

Im  Wesentlichen  sind  diese  Vorziige  bereits  von  Dar- 
win zusammengestellt  worden. 

Die  Erscheinungen  der  Erl)lichkeit  beruhen  offenbar. 
in  der  Darwin'schen  Vorstellung,  darauf ,  dass  die  leben- 
dige  Materie  des  Kindes  aus  denselben  Pangenen  anfgebaut 
ist,  als  die  seiner  Eltern.  Herrschen  im  Keime  die  Pan- 
gene  ties  Vaters  vor,  so  wird  das  Kind  diesem  ahnlicher  als 
der  Mutter,  herrschen  nur  bestimmte  Pangene  des  Vaters 
vor,  so  beschrankt  sich  diese  Aehnlichkeit  auf  einzelne 
Eigenschaften.  Treten  gewisse  Pangene  in  Zahl  hinter 
den  iibrigen  zuriick,  so  ist  die  von  ilmen  bedingte  sicht- 
bare  Eigenschaft  nur  schwach  entwickelt;  treten  sie  sehr 
stark  zuriick,  so  wird  die  Eigenschaft  latent.  Bedingen 
aussere  Ursachen  spater  eine  relativ  starke  Vermehrung 
soldier  Pangene,  so  tritt  die  bis  dahin  latente  Eigenschaft 
wieder  in  die  Erscheinung,  und  man  beobachtet  einen  Fall 
des  Atavismus.  Horen  gewisse  Pangene  ganz  und  gar  auf 
sich  zu  vermehren,  so  geht  die  betreffende  Eigenschaft  de- 
finitiv  verloren;  doch  scheint  dieses  sehr  selten  vorzu- 
kommen. 

Im  Protoplasma,  oder  doch  wenigstens  in  den  Kernen, 
der  Ei-  und  Spermazellen.  sowie  aller  Knospen  sind  alle 
Pangene  der  betreffenden  Spezies  vertreten;  jede  Art  von 
Pangenen  in  gewisser  Anzahl.  Vorwiegenden  Eigenschaften 
entsprechen  zahlreiche,  schwach  entwickelten  Merkmalen 
wenig  zahlreiche  Pangene. 

Die  Differenzirung  der  Organe  muss  darauf  beruhen, 
dass  einzelne  Pangene  oder  Gruppen  von  solchen  sich  starker 
entwickeln   als   andere.     Je   mehr   eine   bestimmte   Gruppe 


—     72     — 

vorherrscht ,  um  so  ausgepragter  wird  der  Charakter  der 
betreffenden  Zelle.  Damit  hangt  zusammen ,  dass  aussere 
Einfliisse  oft  den  Charakter  eines  Organes  in  friihester 
Jugend  umandern  konnen,  dass  dieses  aber  um  so  schwie- 
riger  wird,  je  weiter  es  in  seiner  Ausbildung  vorgeschritten 
ist,  d.  h.  je  starker  bereits  bestimmte  Pangene  vorherrschen. 

Die  Reproduktion  abgetrennter  Gliedmassen,  der  Ersatz 
kleinerer  verloren  gegangener  Gewebeparthien  und  das 
Schliessen  von  Wunden  beruhen  offenbar  darauf,  dass  die 
Pangene  der  verloren  gegangenen  Theile  niclit  anf  diese 
beschrankt  waren,  sondern  dass  alle  reproduktionsfahigen 
Zellen  alle  dazu  erforderlichen  Pangene  in  sicb  enthalten. 

Einige  Pangene  vertreten  Eigenscbaften  .  welche  sich 
nur  in  ganz  bestimmten  Organen  zu  entfalten  pflegen.  Ge- 
langen  diese  an  falsclien  Stellen  zum  Vorherrschen ,  so 
haben  wir  die  Erscheinungen  der  Metamorphose 1).  Ge- 
langen  z.  B.  die  Gruppen  von  Pangenen,  welche  die  Eigen- 
thiimlichkeiten  der  Blumenblatter  bestimmen ,  zur  Ent- 
wickelung  in  den  Hochblattern ,  so  entsteht  die  Petalodie 
der  Bracteen  u.  s.  w. 

Andere  Pangene  vergegenwartigen  Eigenscbaften.  welche 
sich  in  vielen  oder  alien  Gliedern  der  Pflanze  aussern  konnen. 
Und  damit  hangt  es  offenbar  zusammen,  dass  solche  Eigen- 
schaften  so  gar  haufig  in  alien  jenen  Gliedern  gleichmassig 
stark  oder  schwach  entwickelt  sind.  So  fehlt  den  weiss- 
bliithigen  Varietaten  rother  Arten  der  rothe  Farbstoff  meist 
audi  in  Stengel  und  Laub,  und  fiihren  buntbliittrige  Ge- 
wachse  nicht  selten  auch  bunte  Eriichte  u.  s.  w. 

Die  Erscheinungen  der  korrelativen  Variabilitat  finden. 
soweit  sie  nicht  rein   historischer  Natur  sind,    d.  h.  durch 


])  Darwin,  Variations  II  S.  387. 


—     73     — 

gleichzeitiges  Akkumuliren  zweier  unabhangiger  Eigen- 
scbaften entstanden  sind,  in  der  Vereinigung  der  Pangene 
zu  Gruppen  ihre  Erklarung. 

Die  systematisclie  Verwandtschaft  beruht  auf  dem  Be- 
sitz  von  Pangenen  derselben  Art.  Die  Anzahl  der  gleich- 
artigen  Pangene  in  zwei  Species  ist  das  wirkliche  Maass 
ihrer  Verwandtschaft.  Die  Systematik  sollte  auf  experi- 
mentellem  Wege,  durch  die  Abgrenzung  der  einzelnen  erb- 
lichen  Eigenscbaften ,  die  Anwendung  dieses  Maasses  er- 
moglichen.  Systematisclie  Differenz  beruht  auf  dem  Besitze 
verschiedener  Arten  von  Pangenen. 

Nacli  der  Pangenesis  kann  es  zwei  Arten  von  Varia- 
bility geben.  Diese  werden  von  Darwin  in  folgender 
Weise  unterschieden ]).  Erstens  konnen  die  vorhandenen 
Pangene  in  ihrer  relativen  Zahl  abwechseln,  einige  konnen 
zunehmen,  andere  konnen  abnehmen  oder  gar  fast  ver- 
schwinden .  lange  Zeit  unthatig  gebliebene  konnen  wieder 
aktiv  werden ,  und  schliesslich  kann  die  Verbindung  der 
einzelnen  Pangene  zu  Gruppen  moglicherweise  eine  andere 
werden.  Alle  diese  Vorgiinge  werden  eine  stark  fluktuirende 
Variabilitat  reichlich  erklaren.  Zweitens  aber  konnen  einige 
oder  mehrere  Pangene,  bei  ihren  successiven  Theilungen, 
ihre  Natur  mehr  oder  weniger  andern,  oder.  mit  anderen 
Worten ,  es  konnen  neue  Arten  von  Pangenen  aus  den 
bereits  vorhandenen  entstehen.  Und  wenn  die  neuen  Pan- 
gene sich,  vielleicht  im  Laufe  mehrerer  Generationen,  all- 
mahlig  so  stark  vermehren,  dass  sie  aktiv  werden  konnen, 
miissen  neue  Eigenscbaften  an  dem  Organismus  zur  Aus- 
bildung  gelangen. 

Mit  einem  Worte :  Veriindertes  numerisches  Verhaltniss 


J)  1.  c.  S.  390. 


—     74     — 

der  bereits  vorhandenen ,  und  Bildung  neuer  Arten  von 
Pangenen  miissen  die  beiden  Hauptfaktoren  der  Variabilitat 
sein.  Leider  ist  es  noch  nicht  gelungen,  die  beobachteten 
Variationen  so  weit  zu  analysiren,  dass  man  fur  jeden  dieser 
beiden  Faktoren  den  Antheil  an  ihnen  bestimmen  konnte. 
Aber  es  ist  klar,  dass  die  erstere  Art  mehr  die  individuellen 
Unterschiede  und  die  zahllosen  kleinen .  fast  alltaglichen 
Variationen  und  Monstrositaten  bedingen  muss ,  wahrend 
die  zweite  hauptsachlich  jene  Variationen  bervorzubringen 
hat,  auf  welclie  die  allmahlig  steigende  Differenzirung  des 
ganzen  Tbier-  und  Pflanzenreichs  beruht. 

Diese  Auffassung  der  pbylogenetischen  Variabilitat 
weist  uns  darauf,  dass  auch  die  Pangene  ibre  Stammbaume 
baben  miissen.  welcbe  den  Stammbaumen  der  betreffenden 
Merkmale  entsprecben.  Bei  jedem  Schritte  auf  dem  Stamm- 
baume der  Spezies  miissen  eine  oder  mehrere  neue  Arten 
von  Pangenen  aus  den  vorhandenen  entstanden  sein.  Die 
Pangene  selbst  werden  somit  in  den  niedrigsten  Organismen 
relativ  einfach,  und  unter  sich  nur  wenig  verschieden  ge- 
wesen  sein.  Mit  zunehmender  Differenzirung  miissen  sie 
auch  selbst  komplizirter  und  unter  sich  immer  mehr  ver- 
schieden geworden  sein. 

Doch  je  weiter  wir  uns  von  den  Thatsachen  entfernen, 
urn  so  sicherer  werden  wir  uns  in  falsche  Spekulationen 
verlieren.  Meine  Aufgabe  war  auch  nur.  den  Grundgedanken 
der  Darwin'schen  Pangenesis  in  ein  klares  Licht  zu  stellen. 
Moge  mir  dieses  gelungen  sein ! 


Zweiter  Tlieil. 

Intracellulare  Pangenesis. 


Abschnitt  I. 
Zellularstammbaume. 

Erstes  Kapitel. 

Das  Aiifldsen  der  Individiieii  in  die  Stainmbauine 

ilirer  Zellen. 

§  1.     Zweck  und  Methode. 

Seit  der  Begriindung  der  Zellenlehre  durch  ScMeiden 
und  Schwann  sind  die  Zellen  immer  mehr  in  den  Vordergrund 
anatomischer  und  physiologischer  Betrachtungen  getreten. 
Audi  die  Lehre  von  der  Erblichkeit.  welche  noch  vor  etwa 
zwei  Jahrzehnten  fast  keine  Beriihrungspunkte  mit  der 
Zellenlehre  hatte,  hat  diese  isolirte  Stellung  aufgegeben 
und  erblickt  in  den  neueren  Untersuchungen  liber  die  Zell- 
theilung  und  den  Befruchtungsvorgang  eine  wesentliche 
Forderung  ihrer  Aufgaben. 

Omnis  cellula  e  cellula.  Dieser  Satz  beherrscht  niclit 
nur  die  mikroskopische  Wissenschaft .  er  schwingt  sich 
immer  mehr  zur  Herrschaft  iiber  die  ganze  Biologie  empor. 
Dass  jede  Zelle  aus  einem  kbrperlichen  Theile  ihrer  Mutter- 
zelle  entstanden  ist,  und  dass  sie  diesem  Ursprunge  ihre 
spezifischen  Eigenschaften  verdankt,  giltjetzt  in  der  Erblich- 


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tat  von  Weisinann  rfer  Weise  hervorgehoben  worden  ; 

bilden    obii  die  Grundlage    fur  die  Lehre  von 

den  Zell<  osl 

\  »sweisi    t'iilirt  leicht  zu  einer  ein- 

Problemes.     Wir  miissen  vielmebr 

fiir  sammtlii  K    rpers  ihre  V'orfahren- 

ihe  an:  Zelle .   aus  welcher  der 

Organismus  isl      Zwar   wird   dfe  Aufgabe 

und   komplizirter,   and  es  fragl 

b,    "1,    w.  iusrei(  anatomische    und 

<»n*    i  Losuug    vorhanden   ist. 

A  b  r  our  in  dieser  W  eise  eine  gleicb- 

T  anbabnen,    und  die  vor- 

hai  sie  uns  oicbt 

h    nicb  I     bersi  liatzung   der 

Bedeutung  >n     uns    willkiirlicb    ausgewahltei 

Zellenl 

\\  fiir  0        Ismus   d(  n 

S   immbaum  Zellen  •  fen.     <  Ider  niit 

anderen   W(  illen   das    [ndividuum   auflosen    in 

Z  •      i ,  :  eiben.     I  He    Ent- 

wickelu  rderlicben  That- 

sachen  zu  omtlichenReproduktions- 

arten  zu    ira 

I '  Z  llularstammbaume    Bind    rein 

empiris  baben,    wie   3chon   Sachs  bervor- 

bob,  inn    dii   T  ii     loglichsl  einfacher  Zusammen- 

und  zuzusehen,  welche  Folgerungen 
■    i  [3  .  ableiten  lassen.     Die 

I  •  eugung  nach  .  eine  vie]  reichere 

".  ale   •  :  3ten   Blick  vermuth*  u  liess. 

Sa<  ba  ib(  r  ]  1882 


—     78     — 

Dass  die  Hauptergebnisse  cler  Betracbtung  der  Zellu- 
larstammbaume  im  Pflanzenreicb  und  im  Thierreich  zu 
denselbenallgemeinenScblUssen  leiten  werden,  daran  zweifelt 
augenblicklich  wohl  Niemand.  Aber  die  Verhaltnisse  liegen 
im  Pflanzenreicb  ganz  anders  wie  irn  Tbierreicb.  Die  ver- 
scbiedenen  Arten  der  Reproduktion  kommen  im  letzteren 
bei  weitem  nicbt  in  so  ausgiebiger  Weise  zur  Geltung  als 
im  ersteren.  Das  Studium  der  Tbiere  ist  also  in  viel 
boberem  Grade  der  Gei'abr  einseitiger  Bebandlung  aus- 
gesetzt,  als  das  der  Pflanzen.  Aucb  bat  sicb,  unter  dem 
Einflusse  Molil's  und  Nageli's,  seit  fast  einem  balben  Jahr- 
hundert  bei  den  Botanikern  die  Ueberzeugung  viel  tiefer 
gewurzelt,  dass  die  anatomiscben  und  ontogenetiscben  Unter- 
sucbungen  stets  mindestens  bis  auf  die  einzelnen  Zellen 
durcbzudringen  baben.  Demzufolge  ist  in  zabllosen  Fallen 
die  Vorfabrenreibe  weitaus  der  meisten  Zellen,  wenn  aucb 
nicbt  liickenlos,  so  docli  in  ibren  Hauptziigen  mit  geniigender 
Sicberbeit  nacbzuweisen. 

Icb  werde  mich  daber  in  diesem  Abscbnitte  obne 
Gefabr  auf  die  Zellularstammbaume  der  Pflanzen  be- 
schranken  konnen.  Und  dieses  um  so  mebr,  als  die  wich- 
tigsten  Ziige  aus  jenen  Stammbaumen  fur  das  Tbierreicb 
von  Weismann  und  Anderen  in  der  letzten  Zeit  vielfacb 
bervorgehoben  worden  sind,  und  eine  Vergleichung  beider 
rleicbe  in  diesem  Punkte  daber  keine  wesentlicben  Scbwie- 
rigkeiten  macben  kann. 


§  2.     Die  Zellularstammbaume  der  Homoplastiden. 

Bei  den  einzelligen  Arten  fallen  die  Stammbaume  der 
Individuen  mit  den  Zellularstammbaumen  zusammen.  Solcbes 
ist  aber  aucb  mit  jenen  wenigzelligen  Organismen  der  Fall, 


—     79     — 

deren  Zellen  noch  einander  vollig  gleich  unci  nicht  zu  ver- 
schiedenen  Funktionen  eingerichtet  sind.  Die  Oscillarien 
sind  vielzellige  Faden,  aber  jede  Zelle  gleicht  der  andern, 
jede  ist  zur  Fortpfianzung  der  Art  in  gleicher  Weise  be- 
iahigt.  (xotte  hat  solche  Wesen  mit  dem  Namen  der 
Homoplastiden  belegt,  gegeniiber  den  Heteroplastiden, 
deren  Zellen  verschiedenen  Funktionen  angepasst  sind. 

Es  ist  klar,  dass  die  Zellularstammbaume  der  Homo- 
plastiden nur  aus  unter  sioh  gleichartigen  Aesten  bestehen. 
Es  hangt  nur  von  iiusseren  Umstanden  und  vom  Kampf 
urn's  Dasein  ab,  welclie  Zellen  zu  neuen  Individuen  werden, 
welche  Aeste  des  Stammbaumes  also  die  Deszendenz  durch 
die  Reihe  der  Generationen  fortf'iihren  werden. 

Bei  den  hoheren  Pflanzen  und  Thieren  leiten  dagegen 
im  normalen  Laufe  der  Entwickelung  nur  bestimmte  Aeste 
des  Zellularstammbaumes  zu  den  Anfangszellen  der  folgenden 
Generation,  die  ubrigen  Aeste  sind  bereits  durch  ihre  An- 
lage  von  der  Theilnahme  an  der  normalen  Fortpfianzung 
der  Art  ausgeschlossen.  Die  Aeste  des  Zellenstammbaumes 
sind  hier  also  nicht  nur  morphologisch  verschieden,  sondern 
auch  in  ihrer  Beziehung  zu  dem  Stammbaume  der  ganzen 
Sippe  wesentlich  ungleich. 

Mit  der  Entstehung  der  Heteroplastiden  aus  den 
Homoplastiden  hat  die  Differenzirung  der  Zellenstamm- 
baume  angefangen.  Die  unclifferenzirten  Zellularstamm- 
baume der  letzteren  bieten  uns  keine  Anhaltspunkte  zur 
Beurtheilung  der  Erscheinungen  der  Erblichkeit.  Wir  ver- 
lassen  sie  somit  und  wenden  uns  im  Folgenden  ausschliess- 
lich  den  Heteroplastiden  zu. 


—     80     — 

§  3.     Der  Zellularstanimbaum  voin  Equisetum. 

Bevor  wir  dazu  schreiten,  die  ausserst  verwickelten 
Zellularstammbilume  der  hoheren  Pflanzen  wenigstens  in 
ihren  Hauptziigen  zu  schildern,  wollen  wir  die  ganze  Methode 
an  einem  ziemlicli  einfaclien  Beispiele  erlautern.  Icli  wahle 
dazu  die  Gattung  der  Schachtelhalme  (Equisetum).  Ihr 
Zellularstammbaum  gehort,  trotz  des  Generationswechsels. 
zu  den  einfachsten,  welch e  unter  den  blattbildenden  Pflanzen 
oder  Cormophyten  gefunden  werden.  Zwei  Wege  giebt  es, 
um  sich  von  den  grossen  Ziigen  des  Bildes  eine  Vor- 
stellung  zu  machen.  Der  eine  ist  der  progressive,  der 
andere  der  retrogressive.  Der  erste  folgt  der  Ontogenie 
auf  der  Spur,  der  zweite  steigt  in  entgegengesetzter  Richtung 
auf.  Handelt  es  sich  darum,  das  Bild  fiir  die  sammtlichen 
Zellen  einer  Pflanze  zu  entziffern,  so  ist  offenbar  der  erste 
Weg  der  einfachste  und  sicherste.  Aber  auf  ihm  kann 
man  nur  dann  bei  jedem  Schritt  den  relativen  Werth  der 
beiden  neuen  Zweige,  in  denen  sich  der  Ast  spaltet,  be- 
urtheilen,  wenn  man  stets  die  Endpunkte  der  Zweige 
gleichzeitig  im  Auge  behalt.  Gilt  es  aber  nur  die  Haupt- 
ziige  des  Bildes  zu  skizziren ,  so  ist  es  in  den  meisten 
Fallen  viel  bequemer,  den  umgekehrten  "Weg  zu  betreten. 
Denn  in  riicklaufiger  Folge  leiten  alle  Wege  offenbar  zu 
der  Eizelle  zuriick,  nirgendwo  ist  in  dieser  Richtung  eine 
Verirrung  zu  befiirchten. 

Ich  nehme  an,  dass  durch  die  Vereinigung  beider 
Methoden  das  Bild  des  Zellenstammbaumes  einer  Equi- 
setumart,  z.  B.  von  E.  p  alu  str  e,  entwickelt  worden  ist 
und  vor  uns  liegt 1). 


J)  Abbildungen  der  erforderlichen  Entwickelungsstadien  fiudet 
man  in  K.  Goebel,  Urundziige  der  Systematik  und  speziellen  Pflanzen- 
morphologie  1882  S.  286-304. 


—     81     — 

Die  befruchtete  Eizelle  im  Archegoniuin  fangt  ihr 
Wachsthum  durch  Theilungen  an,  deren  erste  nahezu  senk- 
recht  zur  Axe  des  Archegoniums  steht;  darauf  folgen  zwei, 
auf  dieser  und  auf  einander  senkrechte  Wande.  Aus  den 
unteren  Oktanten  entstehen  die  Wurzel  und  der  Fuss  der 
Keimpflanze ;  letzterer,  indem  durch  fortgesetzte  Theilungen 
ein  kleinzelliger  Gewebekorper  gebildet  wird.  Diese  Aeste 
des  Stammbaumes  erreichen  damit  ihren  Abschluss.  Aus 
einem  der  oberen  Oktanten  des  Embryo  entsteht  die 
Scheitelzelle  des  ersten  Sprosses,  die  anderen  betheiligen 
sich  an  der  Bildung  des  den  ersten  Blattwirtel  vertretenden 
Ringwalles  und  scliliessen  ihr  Wachsthum  also  bald,  unter 
fortgesetzten  Theilungen,  ab. 

Das  Wachsthum  des  ersten.  sowie  aller  folgenden 
Sprosse  steht  unter  der  Herrschaft  der  Scheitelzelle.  Diese 
nimmt  den  Gipfel  des  Sprosses  ein  .  ihre  obere  Wandung 
ist  kugelig  gewolbt.  wahrend  sie  nach  unten  von  drei  fast 
planen  Wanden  begrenzt  wird.  Sie  hat  somit  die  Form 
einer  umgekehrten.  dreiseitigen  Pyramide.  Sie  theilt  sich 
nur  durch  Wande,  welche  den  drei  Pyramidenseiten  parallel 
sind;  jedes  abgesclmittene  Stiick  heisst  ein  Segment.  Je 
drei,  auf  einander  folgende,  und  den  drei  Seiten  der  Pyra- 
mide parallele  Segmente  bilden .  unter  zahllosen  Theilun- 
gen. zusammen  ein  Internodium  mit  clem  seinem  oberen 
Ende  aufgesetzten  Blattquirl.  Der  ganze  Spross  besteht 
somit  aus  Abschnitten,  welche  je  einem  Segmentquirl  der 
Scheitelzelle  ihren  Ursprung  verdanken. 

Die  Scheitelzelle  stellt  also  offenbar  den  Hauptstainm 
unseres  Stanimbaumes  vor;  jedes  Segment  entspricht  einem 
Aste.  Der  Hauptstainm  bleibt  wahrend  der  Entwickelung 
des  Sprosses ,  also  wahrend  des  ersten  Vegetationsjahres 
des  Individuums  einfach,  er  schliesst,  da  der  erste  Spross 

ue  Vries,  Intracellularo  Paugeuesis.  6 


—     82     — 

nie  eine  Sporenahre  tragt,  ohne  Aenderung  seiner  Thatig- 
keit,  mit  dem  Tode  des  Sprosses  am  Ende  des  ersten 
Sommers  ab. 

Jedes  von  der  Scheitelzelle  abgeschiedene  Segment 
theilt  sich  zunachst  in  eine  obere  und  untere  Halfte ;  diese 
durch  weitere  Wande  zu  einem  Gewebekorper ,  aus  dem 
nun  die  sammtlichen  Zellen  des  betreffenden  Theiles  des 
Internodiums  und  des  Blattquirls  bervorgehen.  Die  Thei- 
lungsfolge  ist  von  Cramer  und  Reess  klargelegt  worden 
und  im  Lebrbuch  der  Botanik  von  Sachs  und  Goebel 
nachzulesen.  Aus  ihr  ist  bier  zunachst  nur  bervorznbeben, 
dass  in  der  ausseren  Zellscbicbt  des  Gewebekorpers,  und 
mit  den  Zahnen  der  Blattscbeide  alternirend,  bevorzugte 
Zellen  gebildet  werden,  deren  jede  zu  einem  Seitensprosse 
auswacbsen  kann.  Die  griinen  Sprosse  alterer  Pflanzen 
pflegen  thatsacblicb  in  jedem  Blattquirl  einen  Kreis  von 
ebenso  vielen  Zweigen  zu  tragen ,  als  der  Quirl  Glieder 
aufzuweisen  hat.  Im  ersten  Sprosse  gelangen  diese  aber 
gewohnlich  nicht  zur  Ausbildung.  Jede  Seitenknospe  be- 
sitzt,  wenn  sie  sich  zum  Sprosse  ausbildet,  eine  Scheitel- 
zelle, welche  die  Entwickelung  des  Zweiges  in  derselben 
AYeise  leitet  wie  die  Gipfelzelle  des  Hauptsprosses. 

In  jedem  Zweige  bildet  also  wieder  die  Scheitelzelle 
die  Hauptlinie  des  Stammbaumes.  Diese  Linie  ist  dem 
Hauptstamme  zwar  nicht  in  einfacher  Weise  angesetzt; 
sie  lasst  sich  jedoch  durch  die  ersten  Theilun'gen  des  Seg- 
mentes  offenbar  bis  zu  dem  Stamme  zuriickverfolgen.  Wir 
betrachten  nun  jedes  Segment,  und  in  diesem  wahrend  der 
ersten  Theilungen  jedesmal  diejenigen  Zellen,  aus  deren 
Theilungen  spater  die  Scheitelzellen  der  Seitenzweige  her- 
vorgehen,  als  Hauptaste  unseres  Stammbaumes.  Alle  anderen 


—     83     — 

Zellenfolgen  sind  fur  uns  Nebenzweige.    Denn  nur  in  dieser 

Weise  ist  ein  klares  Bild   zu  entwerfen. 

Kehren  wir  jetzt  zum  Sprosse  des  ersten  Vegetations- 

jahres   zuriick.     Dieser    gelit    am   Ende   des    Sommers    -zu 

Grunde.     Eine  Seitenknospe    in    einem    der   basalen  Blatt- 

quirle  bleibt  aber  am  Leben  und  entwickelt  sich  im  folgen- 

den  Jahre  zu  einem  neuen  Sprosse,  der  starker  und  grosser 

wird  als  der  erste,   aber  noch  keine  Fruktifikationsorgane 

tragt.     Dieses  Spiel   wiederholt  sich  einige  Jahre,   bis   die 

Pfianze  hinreichend  kraftig  geworden  ist.     Zuweilen  schon 

der   dritte    oder   einer   der  foigenden  Sprosse  wachst  dann 

abwarts  in  den  Boden.  um  das  Rhizom  zu  bilden,  welches 

von    nun  an    den  Hauptspross    der  Pfianze    darstellt,   sich 

unterirdisch  verzweigt  und  die  oberirdischen  blattbildenden 

und     sporentragenden    Sprosse     erzeugt.     Diese    letzteren 

sind  bei  E  q  u i s  e  t u m  arvense  und  einigen  anderen  Arten 

getrennt;   im  Fruhjahr    entstehen  die  blassen,  fertilen.  un- 

verzweigten  Sprosse.  im  Soramer  die  reichverzweigten  griinen, 

aber  sterilen  Aeste. 

Der    Zellenstammbaum    der    ganzen    grossen    Pfianze 

wiirde    leicht     bald    ein    unentwirrbares    Bild    darstellen. 

Um    dieser  Gefahr   vorzubeugen,    miissen    wir   die   Haupt- 

linien  besonders  markiren,    sie  etwa  durch   dickere  Striche 

andeuten.     Audi  wollen  wir  sie  zu  moglichst  graden  Linien 

ausziehen.    Denken  wir  uns  dieses  ausgefiihrt,  so  bekommen 

wir  einen  Stammbaum  der  Scheitelzellen,  welcher  im  Bilde 

als  zusammenhangendes  System  klar  hervortritt,   und   dem 

alles  librige  seitlicli  eingef'iigt  ist.     Die  Linien  des  Scheitel- 

zellenstammbaumes  wollen  wir  die  Aeste,  die  iibrigen  Ver- 

astelungen    die   Zweige   nennen.     Es    soil    hier   noch,    um 

Missverstandnissen   vorzubeugen ,     daran    erinnert   werden, 

dass  der  Scheitelzellenstammbaum  nicht  ausschliesslich  aus 

6* 


—     84     - 

Scheitelzellen  besteht,  da  ja  diese  nicht  direkt  auseinander 
hervorzugehen  pflegen. 

Dieser  Definition  gemass  ist  die  Entwickelung  der 
Zweige  des  Stammbaumes  stets  eine  begrenzte,  nur  den 
Aesten  wohnt  die  Fahigkeit  neuer  Astbildung.  und  somit 
der  Fortsetzung  der  Hauptlinien  des  Stammbaumes  bei. 
Aber  nicht  alien  Aesten  in  gleichem  Maasse,  wie  wir  bald 
seben  werden. 

Unserem  Bilde  feblen  nocb  zwei  wicbtige  Tlieile. 
Einerseits  die  Wurzeln .  andererseits  die  Reproduktions- 
organe. 

Die  Wurzeln  bediirfen  nur  einer  kurzen  Erwahnung. 
Sie  wacbsen  mittelst  Scheitelzellen  wie  die  Sprosse  und 
werden  in  den  Seitenknospen  angelegt,  bevor  diese  nocb 
aus  den  Blattquirlen  hervorbrechen.  Jede  Knospe  pflegt  zu- 
nachst  nur  eine  Wurzel  zu  bilden,  welche  sich  aus  einer  inneren. 
auf  ihrer  Unterseite  befindlichen  Zelle  entwickelt.  Diese 
Zelle  wird  zur  Scheitelzelle  der  jnngen  Wurzel.  Im  Stamm- 
baum  ist  jede  Wurzel  also,  genau  wie  ein  Spross,  durch 
einen  Ast  mit  seinen  zahlreichen  Zweigen  vertreten.  Die 
Wurzeln  konnen  sich  verzweigen.  Da  sie  aber  nie  Blatt- 
knospen  tragen.  wie  bei  vielen  Farnen  und  Phanerogamen. 
und  es  also  auch  nie  zur  Bildung  von  Reproduktionsorganen 
bringen ,  so  sind  sie  stets  nur  sterile  Aeste  des  Stamm- 
baumes. 

Sie  theilen  dieses  Loos  bei  Equisetum  arvense 
mit  weitaus  den  meisten  tibrigen  Aesten  des  Zellenstamm- 
baumes.  Denn  unter  diesen  sind  hier  nur  diejenigen  der 
blassgelben  cbloropbylllosen  Sprosse  der  spateren  Jahre 
zur  Reproduktion  der  Art  uuserlesen.  Wir  unterscheiden 
also  auch  hier  sterile  und  fertile  Aeste. 

Am  Gipfel  der  fertilen  Sprosse  stehen  die  Sporangien 


—     85     — 

in  gedriingten  Aehren  von  vier-  bis  sechseckigen,  in  ilirer 
Mitte  gestielten  Schildchen.  Jedes  Schildchen  tragt  urn 
den  Stiel  herum  zahlreiche  Sporensacke.  Jedes  entspricht 
seiner  Entstehung  nach  einem  Zahne  eines  Blattquirles. 
Die  Zellenstammbaume  der  einzelnen  Schildchen  lassen 
sich  also  in  ahnlicher  Weise  von  der  Scheitelzelle  des 
Sprosses  ableiten,  wie  im  vegetativen  Theile,  nnd  in  der- 
selben  Weise  lasst  sich  fur  jede  einzelne  Spore  ihre  Ab- 
stammung  bis  zu  jener  zuriickfuhren.  Diese  Linien  nennen 
wir  wiederum  Aeste,  alle  zu  den  anderen  Zellen  des  Spo- 
raugiumstandes  luhrenden  Folgelinirn  aber  Zweige.  Denn 
auch  hier  besitzen  diese  Aeste  das  Yermogen  der  Fort- 
set/.ung  des  Stammbaumes.   die  Zweige  aber  nicht. 

Die  Sporen  liefern  bei  der  Keimung  die  mannlichen 
und  die  weiblichen  Prothallien ,  die  ersteren  tragen  nur 
die  mannlichen  Geschlechtsorgane  oder  Antheridien. 
die  letzteren  nur  die  weiblichen  oder  Archegonien.  Tn 
ihren  Zellularstammbaumen  denken  wir  uns  wieder  die- 
jenigen  Zellenfolgen .  welche  zu  den  Eizellen  resp.  zu  den 
Sperniatozoiden  leiten,  durch  dickere,  grade  gezogene  Linien 
bezeichnet.  Diese  sind  fur  uns  die  Aeste.  alles  iibrige 
sind  Zweige. 

Wir  sind  am  Ende  unserer  Skizze  augelangt'').  indem 
wir  den  reichverzweigten  Weg  von  der  befruchteten  Eizelle 
zu  den  neuen  Keimzellen  durchgemacht  und  seine  zahllosen 
Seitenstrassen  betrachtet  haben.  Ueberblicken  wir  das 
Gauze  noch  einmal,  so  sehen  wir.  dass  durch  das  Hervor- 
treten  der  Aeste  gegeniiber  den  Zweigen  das  Bild.  trotz 
der   grossen  Komplikation.    doch    einfach    und   klar    wird. 


')  Die  Vermehrung  auf  vegetativem  Wege  habe  ich  bier  nicbt 
besprocben,  um  das  Beispiel  nicbt  zu  kompliziren;  ich  komrne  bieraul' 
im  niichsten  Paragrapheu  zuriick. 


—     86     — 

Unter  den  Aesten  aber  haben  wir  wieder  zu  unterscheiden 
gehabt  zwischen  den  fertilen  und  den  sterilen.  Nur  die 
ersteren  fiihren  schliesslicb  wieder  zu  Eizellen  resp.  zu 
Spermatozoiden,  d.  li.  also  zu  neuen  Individuen;  die  sterilen 
Aeste  thun  dies  nicht.  Sie  verhalten  sich  also  den  fertilen 
gegeniiber  im  Grande  wie  dieZweige;  an  dem  Stammbaum 
der  Sippe  nelimen  sie  keinen  Antheil. 


§  4.     Die  Hauptziige  in  den  Zelliilarstammbaiimen. 

Fur  diejenigen  Zellenfolgen,  welche  im  Zellularstamm- 
baume  von  der  befruchteten  Eizelle  durch  das  Individuum 
liindurch  auf  die  folgende  Generation  hinuberleiten,  mochte 
ich  im  Anschluss  an  Weismann's  klare  Darlegungen  den 
Namen  der  Keimbahnen  wahlen.  Dieser  Begriff  ent- 
spricht  also  genau  den  „fertilen  Aesten"  des  Zellen- 
stammbaumes  im  oben  gewahlten  Beispiel.  Wir  wollen 
fiir  sie  im  Folgenden  diese  kiirzere  Bezeiclmung  beibehalten 
und  alle  iibrigen  Generationsfolgen  von  Zellen,  sowohl  die 
„sterilen  Aeste",  wie  die  „Zweige"  unseres  Beispiels  ihnen 
gegeniiber  somatische  Balm  en  nennen. 

Eine  Keimbulm  fiihrt  also  in  unserem  Zellenstamm- 
baum  stets  von  der  befruchteten  Eizelle  zur  neuen  Ei-  resp. 
Spermazelle ;  wir  denken  sie  in  unserem  Bilde  moglichst 
grade  ausgezogen  und  klar  hervortretend.  Somatische 
Bahnen  fangen  an  alien  Punkten  der  Keimbahnen  an,  und 
fiihren,  reich  verzweigt,  zu  sammtlichen  vegetativen  Zellen 
des  Korpers.  Die  Zellen ,  welche  auf  den  Keimbahnen 
liegen,  kann  man  Keimbahnzellen,  oder  mit  Jager  phylo- 
genetische ,  oder  vielleicht  noch  bezeichnender  phyletische 
nennen.  Sie  sind  dadurch  hinreichend  von  den  onto- 
genetischen  oder  somatischen  Zellen  unterschieden. 


—     87     — 

Es  leuchtet  ein.  class  die  eingefiihrten  Unterscheidungen. 
und  somit  auch  die  Namen  und  ihre  Definitionen  rein  be- 
schreibender  Natur  sind.  Ob  sie  richtig  sind,  kann  keiner 
Frage  unterworfen  sein ,  denn  sie  sind  vollig  willkiirlich. 
Es  fragt  sicb  nur.  ob  sie  praktisch  sind.  d.  h.  ob  sie  uns 
zu  einer  klaren  Einsicht  fiihren  konnen. 

Dem  Begriffe  der  Keimbalmen  diirfen  wir  keine  tkeo- 
retische  Bedeutung  unterschieben  wollen.  Denn  sonst  wiirde 
die  Definition  keine  vollig  scharfe  sein.  Weisniamr  s  Keim- 
zellen  fallen  somit  auch  niit  nnseren  Keimbahnzellen  nur 
in  der  Hauptsache,  und  nicht  liberal]  zusammen.  Es  zeigt 
sich  dieses  zumal  in  dem  Umstande,  dass  nach  ihm  haufig 
die  Geschlechtszellen  von  den  Korperzellen  abgespalten 
werden,  und  dass  er  der  Thatsache,  dass  die  Abspaltung 
in  einigen  Gruppen  des  Thierreiches  friiher,  in  anderen 
spater  eintritt.  ausfiihrliche  Besprechung  widmet1). 

In  meinem  Bilde  aber  werden  nie  Geschlechtszellen 
von  den  somatischen  abgespalten,  sondern  die  Hauptlinien 
stets  durch  die  Vorfahrenreihen  der  Keimzellen  gezogen. 
Deinzufolge  spalten  diese  die  sammtlichen  somatischen 
Zellenreihen  ab.  Man  sieht,  es  handelt  sich  nur  um  die 
Wahl  der  Hauptlinien  fiir  das  Bild.  nicht  um  die  Auf- 
fassung  der  Thatsachen.  Aber  bei  ineiner  Wahl  wird  das 
Bild  einfach  und  klar,  und  der  Hauptsache  nach  dasselbe 
fur  Pfianzen,  wie  fiir  Thiere.  Die  Keimzellen  der  Hydroiden 
und  Phanerogamen  werden  meiner  Ansicht  nach  nicht,  wie 
WeisHiann  annimmt,  vom  Metazoon  selbst  abgeschieden  -'). 
sie  werden,  wie  bei  alien  iibrigen  geschlechtlich  differenzirten 
Heteroplastiden,  auf  den  Keimbalmen  gebildet.     Nur  dass 


J)   Weismann .    Zur  Frage   nach   der   Unsterblichkeit   der   Ein- 
zelligen.     Biolog.  Centralbl.  IV.  Bd.  Nr.  21,  22  S.  683  ff. 
2)  1.  c.  S.  685. 


—     88     — 

die  Zalil  der  Zelltheilungen,  welche  auf  dieser  Balm  ihrer 
Entstehung  vorangehen,  hier  eine  sehr  grosse  ist. 

Nie  entsteht,  nach  meiner  Definition,  eine  Keimbahn 
aus  einer  somatischen  Balm.  Eine  Kontinuitat  der  Keim- 
zellen  findet  fur  micb  niclit  etwa  in  den  allerseltensten  Fallen 
statt J) ,  sondern  ist  ii  Derail  und  ausnahmslos ,  wenn  auch 
oft  auf  langera  AVege,  durch  die  Keimbahnen  gegeben. 
Die  ganze  Frage,  ob  somatiscbes  Plasma  sicb  in  Keim- 
plasma  verwandeln  kann  -),  entbebrt  daber  bei  meiner  Auf- 
fassung  der  thatsachlichen  Grundlage.  Allerdings  ist  es 
nicbt  immer  leicbt,  zu  entscheiden ,  ob  eine  Balm  als 
somatiscbe  oder  als  Keimbahn  anzusehen  ist,  wie  im  nachsten 
Kapitel  gezeigt  werden  wird. 

Fiir  eine  klare  Auffassung  der  Erscheinungen  der 
Erblichkeit  scheint  mir  der  Begriff  der  Keimbahnen,  wie 
er  oben  umscbrieben  wurde ,  von  prinzipieller  Bedeutung 
zu  sein.  Denn  die  Naturziichtung  operirt  nur  scheinbar 
mit  den  Qualitaten  des  fertigen  Organismus,  in  Wahrheit 
aber  mit  den  in  den  Keimzellen  verborgenen  Anlagen 
dieser  Eigenschaften 3).  Dieser  wichtige  Satz  ist  durch 
die  Erfahrungen  der  Thier-  und  Pflanzenziicbter  iiber  alien 
Zweifel  erhoben  worden.  Vilmorin  unterscbied  bei  seinen 
Ziiclitungsversuchen  die  Individuen,  welche  in  hoherem,  von 
denjenigen,  welche  in  geringerem  Maasse  die  Fahigkeit 
batten,  ihre  sichtbaren  Eigenschaften  auf  ihre  Nachkommen 
zu  iibertragen  4).  Die  ersteren  nannte  er  bons  e talons, 
nur  sie  wahlte  er  zur  Zucht  aus.  Aber  ob  eine  Pflanze 
zu  dieser  bevorzugten  Gruppe  gehorte,  konnte  an  ihr  selbst 

v)  Weismann,  Die  Kontinuitat  des  Keimplasmas  S.  11. 
2)  1.  c.  S.  52. 

2)  Weismann,  Ueber  die  Vererbung  S.  56. 

4)  L.  Leveque  de  Vilmorin,   Notices    sur  l'amelioration  des 
plantes  par  le  semis.  Nouvelle  Edition  1886  p.  44. 


—     89     — 

nicht  gesehen  werden.  Dariiber  entschied  erst  ihre  Nach- 
kommenschaft,  und  nach  dieser  richtete  denn  auch  der 
grosse  Ziichter  die  Walil  seiner  Stammpflanzen. 

Der  Korper  des  Individuums  ist  somit  nur  eine  ein- 
seitige  und  hochst  unvollstandige  Abspiegelung  der  in  semen 
Keimbahnen  vertretenen  Anlagen.  Aber  wenn  man  aus 
seinen  Samen  Hunderte  und  Tausende  von  Exemplaren 
erzieht ,  so  liefern  diese  ein  so  vielseitiges  Bild .  dass  das 
Mittel  als  Kriterium  jener  latenten  Merkmale  betrachtet 
werden  darf. 

"Weitaus  die  meisten  erblichen  Anlagen  gelangen  nur 
in  den  somatischen  Balmen  zur  Entfaltung.  nur  hier  werden 
uns  die  entsprechenden  Eigenschaften  des  Organismus  siclit- 
bar.  Aber  die  Ueberlieferung  eines  Charakters  und  seine 
Entwickelung  sind.  wie  Darwin  sagt,  distincte  Vermogen  *), 
welche  nicht  nothwendig  mit  einander  parallel  laufen.  Die 
Ueberlieferung  geschiebt  in  unsicbtbarer  Weise  auf  den 
Keimbabnen,  die  Entwickelung  zumeist  auf  den  somatiscben 
Balmen.  Nur  mit  Vorsicbt  diirfen  wir  die  letzteren  zur 
Beurtbeilung  der  ersteren  verwenden. 

Im  folgenden  Kapitel  werde  icb  die  Keimbabnen  und 
die  somatiscben  Balmen  in  den  Zellularstammbaumen  der 
hoheren  Pfianzen  eingebender  betracbten.  Icb  werde  die 
ersteren  dabei  eintbeilen  in  Haupt-  und  Nebenkeimbahnen. 
Beide  leiten  von  der  befrucbteten  Eizelle  zur  neuen  Ei- 
resp.  Sperm azelle.  Die  ersteren  aber  auf  dem  kiirzesten 
Wege,  das  beisst  in  gewolmlicben  Fallen  innerhalb  Eines 
Individuums,  und  beim  Generationswecbsel  durcb  die  von 
dieser  vorgeschriebenen ,  Avobl  meist  geringen  Anzabl 
von  Individuen.     Die   letzteren  aber   fiibren    auf  Umwegen 


')  Darwin,  Variations  II  S.  368. 


—     90     — 

zum  Ziel.  mittelst  vegetativer  Vermehrung,,  z.  B.  durch 
Adventivknospen.  Sie  konnen  oft  anscheinend  unbegrenzte 
Reihen  von  Individuen  durchlaufen,  ehe  sie  wieder  zur  Ei- 
zelle  zuriickkehren. 


Zweites  Kapitel. 
Spezielle  Betraclitung  der  eiiizelnen  Bahnen. 

§  5.     Die  Hauptkeiiubalmeii. 

Hauptkeimbabnen  nenne  icb  die  Generationsfolgen  von 
Zellen ,  welche  von  der  befruchteten  Eizelle,  in  dem  nor- 
malen  Entwickelungsgang  des  Organismns ,  zu  den  neuen 
Keimzellen  (Eizellen.  Spermatozoen.  Pollenkornern)  fiihren. 
Sie  sollen  den  Gegenstand  dieses  Paragrapben  darstellen. 
Die  durcb  adventive  Knospen  leitenden  Nebenkeimbahnen 
aber  sollen  im  nachsten  Paragrapben  Hire  Besprecbung 
finden. 

Die  Hauptkeimbabnen  bilden  also  die  iibliclien,  oder 
docb  die  kiirzesten  von  den  iibliclien,  Wege  von  der  einen 
zu  der  naclistfolgenden  Generation  von  Eizellen.  Sie  sincl 
nie  vollig  unverzweigt,  denn  auf  ibrer  Verzweigung  berubt 
die  normale  Vermehrung  der  Art.  Sie  geben  wobl  stets 
auf  ihrer  ganzen  Lange  somatiscbe  Zweige  ab.  Aber  die 
Art  und  Weise  ibrer  Verzweigung,  die  Anzabl.  Lage  und 
relative  Bedeutung  der  einzelnen  somatiscben  Babnen  ist 
vielfacber  Abvvecbslung  unterworfen. 

Als  extreme  Falle  gelten  einerseits  das  bekannte  Bei- 
spiel  von  den  Dipteren,  andererseits  die  Wirbeltbiere,  und 
beiden  gegenuberstehend  die  boberen  Pflanzen  und  die 
Korallen.     Bei  den  Dipteren  entwickeln  sicb  einzelne  unter 


—     91      — 

den  ersten  Zellen ,  welche  sich  iiberhaupt  im  Ei  bilden. 
zu  den  Sexualdriisen  des  Korpers.  Die  Anfangszellen  fur 
nahezu  den  ganzen  Korper  werden  also  bereits  bei  den 
ersten  Theilungen  von  der  Keimbahn  abgespalten ;  diese 
bildet  nachlier  nnr  nocb  die  in  den  Sexualdriisen  liegenden 
somatischen  Bahnen.  Den  Dipteren  scbliessen  sich  die 
Daphnoiden  und  Sagitta  an,  fur  deren  ganzen  Korper, 
mit  Ausnabme  der  Fortpflanzungsorgane,  die  Anfangszellen 
gleichfalls  sebr  friihe  und  mittelst  einer  relativ  geringen 
Anzabl  von  Zelltheilungen  von  der  Keimbahn  abgespalten 
werden.  Bei  den  Wirbelthieren  durchlauft  die  Keimbahn. 
behufs  der  Bildung  des  Korpers,  wohl  Hunderte  von  auf- 
einanderfolgenden  Zelltheilungen .  bevor  sie  zu  der  Ent- 
wickelung  der  Sexualorgane  schreitet. 

Die  den  Korper  zusammensetzenden  somatischen  Bahnen 
entspringen  also,  wenn  wir  die  Sexualorgane  ausser  Betracht 
lassen,  bei  den  Dipteren  als  einziger  Zweig,  bei  den  Daph- 
noiden und  bei  Sagitta  als  einige  wenige,  bei  den  Wirbel- 
thieren aber  als  sehr  zahlreiche  Zweige  aus  der  Keimbahn. 
Aber  stets  sind  die  sammtlichen  Bahnen  fur  den  Korper 
gebildet.  bevor.  im  Gebiete  der  Sexualorgane.  die  Keim- 
bahn sich  in  gleichwerthige  Aeste  zu  spalten  anfangt. 

Hierin  liegt  nun  der  Unterschied  zwischen  den  hoheren 
Thieren  und  den  Pflanzen.  Denn  bei  diesen  letzteren 
spaltet  sich  die  Keimbahn  schon  sehr  friihe,  und  die  Haupt- 
masse  der  somatischen  Bahnen  entspringt  nicht  clem  un- 
verastelten  Hauptstamme  der  Keimbahn ,  sondern  zum 
wesentlichsten  Theile  den  Keimbahnasten.  Das  Bild  des 
Stammbaumes  fiillt  hier  mit  dem  Bilde  des  reichverastelten 
Organismus  selbst  zusammen ,  es  bedarf  nicht  einer  ein- 
gehenden  Schilderung.  Aehnlich  verhalt  es  sich  bei  den 
Kolonien  bildenden  Polypen. 


—     92     — 

Am  klarsten  wird  der  Unterschied,  wenn  wir  in  das 
Bilcl  nur  die  Keimbahnen  eintragen,  die  somatischen  Bahnen 
aber  weglassen.  Der  Zellularstammbaum  eines  hoheren 
Thieres  steht  danh  als  ein  grader,  nur  an  seinem  Gipfel 
ein  wenig  verastelter  Baum  da,  wahrend  der  der  hoheren 
Pflanzen  von  seinem  Ursprunge  ab  so  reich  und  wiederholt 
verzweigt  ist,  dass  der  Hauptstamm  von  seinen  Aesten  oft 
weit  iiberragt  wird,  und  im  Bilde  nicht  selten  in  den  Hinter- 
grund  tritt.  Oder  richtiger  gesagt,  dass  ein  eigentlicher 
Hauptstamm  nicht,  oder  kaum  vorhanden  ist. 


§  6.     Die  Nebeukeinibahnen. 

Den  hoheren  Thieren  fehlen  die  Nebenkeimbahnen,  im 
Pflanzenreich  sind  sie  weit  verbreitet.  Es  ist  zumal  dieses 
Verhaltniss,  welches  das  Studium  der  Zellularstammbaume 
im  Pflanzenreich  so  viel  fruchtbarer  macht  als  im  Thier- 
reich,  und  die  Einwiirfe,  welche  von  Sachs,  Strasblirger 
und  anderen  Botanikern  gegen  Weismann's  Auffassung 
gemaclit  worden  sind,  betreffen  im  Wesentlichen  den  Urn- 
stand,  dass  Letzterer  den  Nebenkeimbahnen  nicht  in  ge- 
biihrender  Weise  Rechnung  getragen  hat. 

Denn  die  Nebenkeimbahnen  lassen  sich  keineswegs  als 
Ausnahmen  betrachten.  Keinem  Baume,  keinem  Strauche 
tehlen  sie.  Unter  den  perennirenden  Gewiichsen  sind  sie, 
wenn  nicht  allgemein,  so  doch  wenigstens  ausserst  verbreitet, 
und  nur  die  ein-  und  zweijahrigen  Arten  pflegen  dieser 
Art  der  Fortpflanzung  zu  entbehren.  Andererseits  weisen 
die  adventiven  Bildungen  so  viele  Formen,  so  hohe  Differen- 
zirungen  und  so  schone  Anpassungen  auf,  dass  sie  audi 
in  dieser  Hinsicht  kaum  den  Hauptkeimbahnen  gegeniiber 
in  den  Hintergrund  treten. 


—     93     — 

Drei  Fiille  sind  fur  unseren  Zweck  auseinander  zu 
halten : 

1 .  Es  konnen  sicli  nahezu  samtliche  Zellen  des  Korpers 
zu  neuen  Individuen  entwickeln. 

2.  Adventivknospen  entstehen  nur  aus  bestimmten,  dazu 
vorgebildeten  Zellengruppen  oder  Zellenziigen.  und  zwar : 

a.  aus  meristematischen  Geweben, 

b.  aus  erwachsenen  Zellen. 

Die  Regenerationserseheinungen  der  Thallophyten  und 
Muscineen  sind  in  den  letzten  Jahren  wiederholt  Gegen- 
stand  der  Untersuchung  gewesen,  and  es  hat  sicli  fur  sie 
die  Ueberzeugung  gewurzelt,  dass  wenigstens  in  manchen 
Fallen  nach  einer  Verstiimmelung  jede  oder  doch  fast  jede 
unverletzt  gebliebene  Zelle  zu  eineni  neuen  Individuum  aus- 
wachsen  kann.  Pringsheim  untersuchte  die  Laubmoose. 
VOchting  die  Lebermoose,  Brefeld  die  Pilze  *).  Kultivirt 
man  abgeschnittene  Stiicke  dieser  Gewachse  unter  giinstigen 
Bedingungen  weiter,  so  kann  man  aus  jedem,  nicht  zu  kleinen 
Theile  eine  Pnanze  erziehen.  Die  Stiele  und  Htite  der 
Pilze  treiben  aus  den  Schnittflachen  neue  Hiite  liervor.  die 
Laubmoose  bilden  Knospen  aus  jeder  beliebigen  Zelle  der 
Wurzeln,  Blatter  und  Sprosse,  ja  sogar  aus  der  Sporen- 
fruclitund  aus  deren  Stiel.  Zunachst  wachsen  die  Zellen  dabei 
zu  dem  fadigen  Protonema  aus,  auf  welchem  dann  die  Laub- 
knospen  in  Iiblicher  Weise  entstehen  konnen.  Die  Marchan- 
tiaceen  kann  man  nach  Vocliting"  zu  einem  feinen  Hacksel 
zerschneiden,  jedes  Stiickchen .  welches  nur  so  viele  un- 
verwundete    Zellen    hat,    dass   es    sich   am  Leben   erhalten 


J)  N.  Pringsheim,  Ueber  Sprossung  der  Moosfriichte  in  Jahrb. 
f.  wissenschaftl.   Bot.    Bd.    XI   S.  1. 

O.  Brefeld,  Botanische  Untersuchimgen  iiber  Schimmelpilze  Bd.  I. 

H.  Yrochting,  Ueber  die  Regeneration  der  Marchantiaceen  in 
Jahrb.  f.  wiss.  Bot.  Bd.  XVI  S.  367. 


—     94     — 

kann,  bildet  erne  neue  Pflanze.  Fiir  die  Marchantia 
polymorph  a  kann  ich  diese  Beobachtung  aus  eigener  Er- 
fahrung  bestiitigen. 

In  diesen  Fallen  bilden  also  sammtliche,  oder  nabezu 
sammtliche  Verzweigungen  des  Zellularstammbaumes  ent- 
weder  Haupt-  oder  doch  Nebenkeimbalmen.  Somatische, 
d.  h.  nothwendig  sterile  Zweige  sind  fiir  sie  nicht  nach- 
gewiesen,  wenn  auch  moglicherweise  vorhanden.  Dieser 
Fall,  der  fiir  Wcismaim  erne  Ausnalime  bildet,  und  eine 
besondere  Annahme  zu  ihrer  Erklarung  verlangt 1),  ist  fiir 
uns  nur  ein  Extrem  in  der  reicben  Fiille  der  Bilder. 

Die  zweite  Gruppe  der  Nebenkeimbahnen,  die  Ad- 
ventivknospen  ans  meristematischen  Geweben,  ist  im  Pfian- 
zenreich  weitaus  am  meisten  verbreitet.  Adventivknospen 
entstehen  theils  direkt  aus  den  normalen  meristematischen 
Geweben,  theils  durch  Vermittelung  des  zur  Verschliessung 
von  Wunden  fiihrenden  Callusgewebes.  Diejenigen,  welche 
aus  Stammen  oder  Aesten  entstehen,  werden  gewohnlich 
zu  neuen  Zweigen  des  sie  tragenden  Individuums,  die  blatt- 
biirtigen  und  die  Wurzelknospen  aber  meist  zu  neuen 
Pflanzchen. 

Knospenbildung  aus  Callus  findet  man  vorwiegend  bei 
holzigen  Gewachsen,  und  fast  jeder  Theil  eines  Astes  oder 
einer  Wurzel  kann,  zum  Steckling  abgeschnitten  oder  sonst 
verletzt,  aus  den  jugendlichen  Zellen  der  zwischen  Holz 
und  Rinde  liegenden  cambialen  Zone  jenes  undifferenzirte, 
wie  Tropfen  einer  dickfliissigen  Substanz  bervorquellende 
Gewebe  entwickeln,  in  welchem  sich  nachtraglich  Kork, 
Rinde  und  Holz,  sowie  auch  die  Anlagen  zalilreicher  Knos- 
pen  ausbilden.     Je   nach  Umstanden  "werden  die  Knospen 


l)  Weismann,  Die  Kontinuitat  des  Keimplasmas  S.  68. 


—     95     — 

zu  Wurzeln  oder  zu  beblatterten  Zweigen,  gewohnlich  er- 
ganzen  sie  dabei  dem  Individuum  die  fehlenden  Glieder. 

Da,  soviel  wir  wissen ,  jede  Zelle  des  Cambiums  zum 
Callus  beitragen  and  in  diesem  die  Mutterzelle  einer  Knospe 
liefern  kann.  so  miissen  wir  das  ganze  Cambium  als  Neben- 
keimbalm  bezeiclmen,  eine  Keimbahn,  welche  so  reich  ver- 
iistelt  ist.  wie  der  Zellenstammbaum  des  betreffenden  Cam- 
biums selbst,  und  welcher  die  normalen  Produkte  seiner 
Thatigkeit,  Holz  und  Rinde,  als  zahllose  somatische  Zweige 
tragi  Jedoch  ist  zu  beachten,  dass  manchen  Zellen  des 
Holzes  und  der  Rinde  noch  wahrend  langerer  oder  klirzerer 
Zeit  das  Vermogen  verbleibt,  zur  Bildung  des  Callus  bei- 
zutragen ,  und  wohl  audi  Muttefzellen  von  Callusknospen 
zu  liefern  a).  Die  Grenze  zwischen  Nebenkeimbabnen  und 
somatischen  Balmen  ist  hier  somit  in  hohem  Grade  ver- 
wischt,  vielleicht  gar  nieht  nacbweisbar. 

Callusknospen  findet  man  aucb  bei  vielen  krautigen 
Pflanzen.  Audi  auf  Blattern  sind  sie  niclit  selten,  bilden 
dann  aber  gewohnlich  neue  bewurzelte  Pflanzchen. 

Adventive  Knospen  auf  Blattern  sind  bei  den  Farnen 
sehr  haufige  Erscheinungen.  Bei  den  Phanerogamen  ent- 
stehen  sie,  am  Grunde  abgetrennter  Blatter,  namentlich  bei 
den  Zwiebelgewachsen  und  den  Crassulaceen.  Sehr  bekannte 
Beispiele  liefern  ferner  B  r  y  o  p  h  y  1 1  u  m  c  a  1  y  c  i  n  u  m  , 
Cardamine  pratensis  und  Nasturtium  officinale2). 


x)  Dieser  Punkt  ist  allerdiogs  noch  eingehender  Untersuchung 
bediirftig. 

2)  Aus  der  reichhaltigen  Literatur  dieses  Gegenstandes  citire  ich: 
Kegel,  Vermehrung  der  Begonien  aus  ihren  Blattern,  Jenaische  Zeit- 
schrift  f.  Naturw.  1876  S.  478.  Beyerinck.  Over  hetontstaan 
van  knoppen  en  wortels  uit  bladeren,  Xed.  Kruidk'.  Arcbief. 
Ill  S.  1  1882  en  J.  H.  Wakker,  Onderzoekingen  over  adventieve 
knoppen,  Amsterdam  1885. 


—     96     — 

Dass  in  alien  diesen  Fallen  in  jedem  Blatte  eine,  meist 
reich  verzweigte  Keimbahn  vorhanden  ist,  kann  keinem 
Zweifel  unterworfen  sein. 

Wurzelknospen  sind  wohl  die  gewohnlichsten,  undjeden- 
falls  die  am  ausfiihrlichsten  und  griindliclisten  untersuchten 
adventiven  Knospen1).  Und  da  viele  Blatter,  genau  wie  die 
Stecklinge  aus  Stammen  und  aus  Wurzeln.  sich,  nachdem 
sie  von  der  Pflanze  abgetrennt  worden  sind.  bewurzeln  und 
durch  diese  Wurzeln  wieder  neuen  Pfianzchen  das  Leben 
schenken  konnen,  so  ist  die  Bedeutung  der  Wurzelknospen 
kaum  zu  uberschatzen.  Manche  Pflanzen,  wie  die  Mono- 
tropa,  vermeliren  sich  ausser  durch  Samen  nur  durch 
sie,  andere,  wie  Bum  ex  Acetosella  und  die  Disteln. 
werden  durch  sie  zu  den  zahesten  Unkrautern.  Fiir 
sammtliche  Arten,  welche  dieses  Vermogen  besitzen.  diirfen 
wir  also  sagen ,  dass  audi  ihr  Wurzelsystem  im  Zellular- 
stammbaum  eine  vielverzweigte  Keimbahn  mit  ihren  soma- 
tischen  Zweigen  vorstellt. 

Gern  wiirde  ich  dieses  reichhaltige  und  verlockende 
Gebiet  noch  weiter  betreten.  Der  in  der  Literatur  be- 
wanderte  Leser  wird  aher  meiner  Fiihrung  nicht  bediirfen, 
um  sich  das  Bild  der  Nebenkeimbahnen  im  Zellularstamm- 
baum  auszumalen  und  zu  der  Einsicht  zu  gelangen ,  dass 
fast  jeder  grossere  Ast  dieses  Baumes  als  eine  Keimbahn 
zu  betrachten  ist. 

Uns  eriibrigt  noch  der  dritte  Fall,  der  der  adventiven 
Knospen  aus  erwachsenen  Zellen.  Die  Nebenkeimbahnen 
laufen  hier  also  durch  ausgebildete  Zellen,  welche  oft  erst 


')  Dieser  Gegenstand  ist  in  erschopfender  Weise  behandelt  von 
Dr.  M.  W.  Beyerinck  in  seinen  Beobachtungen  und  Betrach- 
tungen  iiber  Wurzelknospen  und  Neben wurzeln.  Ver- 
handl.  d.  kon.  Akad.  v.  Wetenschappen  te  Amsterdam  1886. 


—     97     — 

im  yorgeschrittenen  Alter  dazu  iibergehen,  sicli  zu  verjiingen 
unci  zu  Knospen  auszuwachsen.  Es  ist  das  Beispiel  der 
Begonien.  das  schon  Darwin  in  seiner  Pangenesis  zur 
Erlauterung  der  fast  allgemeinen  Verbreitung  der  erblichen 
Eigenschaften  iiber  alle  Theile  des  Pflanzenkorpers  an- 
fiihrte *),  und  das  von  Sachs  und  Strasburger  der  Weis- 
lnann'schen  Theorie  des  Keimplasmas  entgegengelialten 
wurde.  Von  Kegel,  Bcyerinck  und  IVakker  wurde  diese 
Erscheinung  eingehend  studirt  -).  und  sie  scheint  mir  wichtig 
genug,  sie  hier  in  iliren  Hauptziigen  zu  skizziren. 

Die  Epidermiszellen  der- Blatter  und  Blattstiele.  und 
bei  manchen  Formen  (z.  B.  Begonia  phyllomani  aca) 
auch  die  des  Stammes  und  seiner  Zweige.  besitzen  das 
Vermogen  zu  Knospen  zu  werden.  Es  sind  nicht  einzelne 
bevorzugte  Zellen.  wenigstens  niclit  auf  den  Blattern.  sondern 
alle  Zellen  der  Oberhaut  in  gleicliem  Maasse,  namentlicb 
diejenigen  der  Nerven.  Legt  man  ein  Stuck  eines  Blattes 
in  feuchter  Luft  auf  Erde.  nachdem  man  die  Nerven  an 
verschiedenen  Stellen  durchschnitten  hat,  so  kann  man 
nacli  einiger  Zeit  in  der  Nahe  von  jeder  Wunde  eine  oder 
mehrere  neue  Pflanzchen  finden.  Die  erste  Anlage  dieser 
ist  eine  wahre  Verjiingung.  Die  inbaltsarme  Oberhautzelle 
tlieilt  sich,  olme  zunaclist  an  Grosse  zuzunelnnen,  zu  einem 
kleinzelligen  Gewebekorper .  in  welchem  man  jetzt  einen 
reiclien  protoplasmatischen  Inhalt  beobaclitet.  Allmahlig 
wachst  diese  Neubildung  nun  hervor  und  differenzirt  sich 
unter  zahllosen  weiteren  Zelltheilungen  zu  einer  Knospe. 

Diese  Keimbahnen,  welche  durch  '-ine  erwachsene  und 
sich  verjiingende  Zelle  zu  einer  neuen  Generation  hiniiber- 
fiihren.  werde  ich.   da  sie  wegen  ihrer  liohen  theoretischen 


')  Darwin,  Variations  2.  Ed.  II  S.  374. 
-)  11.  cc. 
de  Vries,  Intracellulare  Pangenesis. 


—     98     — 

Bedeutung  im  Folgenden  noch  mehrfach  Erwahnung  finden 
werden,  mit  einem  besonderen  Nam  en  belegen  und  pseudo- 
somatische  nennen. 

§  7.     Die  soniatischen  Bahnen. 

Die  Keimbahnen  sind,  wie  Nussbaum  es  trefflicb  aus- 
driickt,  „der  kontinuirlicbe  Grundstock  der  Art,  von  dem 
die  einzelnen  Individuen  nach  kurzem  Besteben ,  wie  die 
Blatter  eines  Baurnes,  welkend  abfallen".  Nur  dass  jedes 
Blatt  dem  Baume  an  einem  Punkte  angebeftet  ist,  wahrend 
die  meisten  Individuen  aus  den  Produkten  zahlreicher,  nach- 
einander  der  Keimbabn  entsprungener,  somatiscber  Babnen 
besteben,  und  somit  nicht  ohne  ein  Stiick  des  Grundstockes 
abfallen  konnen. 

Die  das  Individuum  zusammensetzenden  somatiscben 
Bahnen  pflegen  unter  sicb  ausserst  verscbieden  zu  sein. 
Nicht  nur  morphologisch ,  in  Hinsicht  auf  die  Art  der 
Zellen,  Gewebe  und  Organe,  zu  denen  sie  leiten,  sondern 
auch  in  ibrer  Grosse  und  dem  Grade  ibrer  Verzweigung. 
Die  ganze  oberirdiscbe  Pflanze  von  Equisetum  in  den 
ersten  Lebensjabren  stellt  ein  somatiscbes  Zweigsystem  vor. 
Die  im  Herbste  abfallenden  beblatterten  Zweige  von  Taxo- 
dium,  die  Blatter  aller  jener  Pflanzen,  welcbe  ihre  Art 
durch  cliese  Organe  nicht  zu  reproduziren  im  Stande  sind, 
sind  weitere  Beispiele.  Von  diesen  zu  den  einzelligen,  sich 
nicht  weiter  verzweigenden  somatiscben  Bahnen,  wie  z.  B. 
den  vom  Cambium  abgeschieclenen  Holzfasern  mancher 
Baume,  giebt  es  eine  ununterbrochene  Reihe  von  Zwischen- 
stufen. 

Die  somatiscben  Bahnen  sind  im  Allgemeinen  die 
Zellularstammbaume  der  einzelnen  Zellen  des  erwachsenen 
Individuums,    mit  Ausnahme   der  Keimzellen.     Man   kann 


—     99     — 

sie  fur  jede  Zelle  und  jede  Zellengruppe  bis  auf  die  Keim- 
bahn  zuriickverfolgen ,  aus  der  sie  entsprungen  sind.  Bei 
den  Pflanzen  sind  wohl  die  sammtlichen  reichverzweigten 
Haupt-  und  Nebenkeimbahnen  auf  ihrer  ganzen  Lange  diclit 
mit  solchen  biischeligen  Seitenzweigen  besetzt.  Diese  geben 
unserem  Bilde  das  charakteristische  Aussehen.  Bei  den 
Dipteren  entstammen  sie,.  der  Hauptsache  nach,  aus  einem 
Punkte  der  Keimbahn.  und  das  Bild  wird  dadurch  ein  ganz 
anderes.  Bei  den  hoheren  Thieren  aber  zweigen  sie  sich 
vom  unverastelten  Theile  der  Keimbahn  nach  und  nach  ab. 
und  ubertreffen  diese  bei  weitem  in  dem  Reichthum  der 
weiteren  Verzweigungen. 

Die  Zellen  auf  den  somatischen  Bahnen  pfiegen  aus 
denselben  protoplasmatischen  Organen  aufgebaut  zu  sein, 
wie  die  der  Keimbahnen.  Nur  dass  diese  Organe  hier 
haufig  anderen  Funktionen  angepasst  sind,  und  somit  auch 
andere  Namen  tragen.  So  gehen  die  Amyloplaste  der 
Keimbahnzellen  in  manchen  somatischen  Elementen  in 
Chlorophyllkorner  fiber.  Die  Veranderung  ist  aber  ge- 
wohnlich  nicht  nur  eine  speziellere  Anpassung,  sondern  so- 
gleich  eine  weitere  Differenzirung.  Namentlich  finden  wir 
die  einzelnen  Theile  der  Keimbahnzellen,  Kern,  Tropho- 
plaste,  Vacuolen,  Kornerplasma  und  Hautschicht,  fast 
ausnahmslos  in  alien  somatischen  Zellen  zuriick. 

Dieser  allgemeinen  Regel  gegeniiber  sind  nun  einzelne 
Ausnahmen  zu  erwahnen.  Ich  sehe  davon  ab,  dass  zahl- 
reiche  Zellen,  wie  viele  Holzfasern  und  die  Stein-  und 
Korkzellen,  bald  nach  ihrer  Ausbildung  absterben  und  ihren 
ganzen  Protoplasten  verlieren.  Sie  leisten  dem  Organismus 
ihre  Dienste  im  todten  Zustande  und  sind  das  extreme 
Beispiel  einer  Reduktion  auf  den  somatischen  Bahnen. 

Aber  es  kommen  auch  Falle  geringerer  Reduktion  vor. 

7* 


—     100     — 

Oefters  schwinden  bei  den  Algen,  wie  Selimitz  beschreibt. 
„im  Innern  von  Zellen,  die  im  Hausbalt  der  ganzen  Pflanze 
ausscbliesslicb  fiir  eine  bestimmte  Einzelfunktion  ausge- 
riistet  und  angepasst  werden,  die  Chromatophoren,  deren 
es  nicbt  niebr  bedarf"  ').  Nainentlich  in  den  grosseren. 
reicb  gegliederten  und  bocb  differenzirten  Algen  ist  dieses 
nicbt  selten.  Bisweilen,  wie  es  scheint,  in  den  innersten 
Gewebezellen,  zumeist  aber  in  den  Haaren  und  Bhizoiden. 

Ein  weiteres ,  lebrreicbes  Beispiel  bilden  die  Sporen- 
schlauche  der  Ascomyceten.  In  diesen  keulenformigen 
Zellen  entsteben  durcb  die  Tbeilung  des  Kernes  die  Kerne 
fiir  die  einzelnen  Sporen.  die  Mutterzelle  aber  b  eh  alt  dabei 
nacb  den  vorhandenen  Angaben,  keinen  Kern.  Nacbdem 
die  Sporen  ausgebildet  sind,  ist  die  Mutterzelle  somit  zu 
einem  kernlosen  Protoplasten  geworden  ,  obgleicb  sie  ihre 
Lebensaufgabe  nocb  keineswegs  vollendet  bat,  denn  am 
Ausscbleudern  der  Sporen  hat  sie  sicb  nocb  kraftig  zu  be- 
tbeiligen  und  dazu  im  Innern  ibrer  zablreichen  Vacuolen 
den  erforderlicben  osmotiscben  Druck  zu  erbalten. 

In  unserem  Zellularstammbaume  bildet  der  reife  Sporen- 
scblauch  den  letzten  somatischen  Zweig  der  in  seinen  Sporen 
gipfelnden  Keimbabn.  Dieser  Zweig  ist  einzellig,  d.  h.  er 
braucbt  sicb  nicbt  weiter  zu  verzweigen.  Was  aber  diesem 
Beispiele  seinen  Wertb  verleibt,  ist  die  jetzige  Auffassung 
Yon  der  Bedeutung  des  Kernes.  Denn  ist  dieser  der  Sitz 
der  latenten  erblicben  Eigenschaften,  so  diirfen  wir  an- 
nehmen,  dass  solche  dem  reifen  Ascus  feblen.  Und  offenbar 
bedarf  er  ibrer  zur  Ausiibung  der  ibm  nocb  obliegenden 
Funktionen  nicbt. 

Wir  baben  bier  also  ein  Beispiel  einer  somatischen 
Balm    ohne    latente    erbliche     Eigenschaften.      So    sicher 

x)  Schmitz,  Die  Chromatophoren  der  Algen  1882  S.  137. 


—      101      — 

wenigstens.  als  die  Beobachtung  solches  beim  gegenwartigen 
Zustande  der  "Wissenschaft  uberhaupt  nachzuweisen  ver- 
mag.  Und  es  leuchtet  em .  dass  dieses  Beispiel  uns  die 
Vermuthung  aufdrangt .  dass  auch  auf  manchen  anderen 
somatischen  Bahnen  eine.  wenn  auch  weniger  weitgehende, 
Reduktion  der  erbliclien  Eigenscbaften  stattfinden  konne. 
Da  aber  unsere  Aufgabe  war.  Thatsachen  zu  gruppiren 
und  keine  Verniuthungen  aufzustellen,  so  diirfen  wir  hier 
diesen  Punkt  nicht  weiter  beriihren. 


§  8.    Ueber  den  Uuterschied  zwischen  somatischen  Bahnen 

und  Keimbahnen. 

In  grossen  Ziigen  liegt  das  Bild  der  Zellularstamm- 
baume  fiir  die  hoheren  Ptlan/.en  jetzt  vor  uns.  Und  wer 
raeiner  Schilderung  aufmerksam  gefolgt  ist.  wird  gesehen 
haben,  dass  das  Bild  em  rein  empirisches  ist,  in  welchem 
die  hervortretenden  Linien  zwar  willkiirlich  gewablt,  aber 
ohne  jegliche  Hypotbese  gezogen  worden  sind.  Namentlich 
der  Unterschied  zwischen  den  somatischen  und  den  Keim- 
bahnen ist  ein  rein  thatsachlicher.  unserer  jetzigen  Kenntniss 
llechnung  tragender.  Er  beansprucht  weiter  nichts,  als 
die  Andeutung,  ob  irgend  eine  Zelle  durch  ihre  Nach- 
kommen  zur  Fortpflanzung  der  Art  beizutragen  vermag 
oder  nicht. 

Als  Gruncllage  fiir  theoretische  Betrachtungen  erhalten 
die  Zellenstammbaume  aber  erst  dann  ihren  vollen  Wertli. 
wenn  man  sich  iiber  die  Bedeutung  des  Unterschiedes 
zwischen  somatischen  und  Keimbahnen  klar  geworden  ist. 
Dieser  Unterschied  ist  nicht  etwa  ein  prinzipieller1),  sondern 


x)  Weismann,  Zur  Annahme  einer  Kontinuitat  des  Keimjilasmas 
Ber.  d.  Naturf.  Ges.  zu  Freiburg  Bd.  I  1886  S.  7. 


—     102     — 

nur  em  gradueller.  Solches  wird  uns  am  klarsten,  wenn 
wir  die  Grenze  genau  zu  bestimmen  suchen.  Wir  werden 
dann  linden,  dass  eine  anscheinend  ununterbrochene  Reihe 
von  Zwischenformen  von  den  Keimbahnen  zu  den  somatisclien 
Bahnen  hiniiberfiihrt. 

Ira  Zelhilarstammbaum  der  Einzelligen  und  der  Homo- 
plastiden  sind  sammtliche  Zweige  Hauptkeimbahnen.  Bei 
den  nachsthoheren  Gewachsen  ist  zwischen  Haupt-  und 
Nebenkeimbalmen  zu  unterscheiden ,  und  je  holier  der 
Organismus  differenzirt  ist,  urn  so  mehr  treten  die  letzteren 
in  den  Hintergrund.  Den  hoheren  Thieren  feblen  sie. 
Aber  noch  bei  so  bocb  entwickelten  Thallophyten,  wie  die 
Pilze.  und  sogar  bei  den  Laub-  und  Leberraoosen  scheint 
es,  dass  noch  alle  Zweige  in  unserem  Bilde  den  Werth 
von  Keimbahnen  haben.  Wenigstens  sind  sterile  Seiten- 
zweige,  d.  h.  somatische  Bahnen  dort  noch  nicht  nach- 
gewiesen.  Bei  den  Gefasspfianzen  aber  konnen  olme  Zweifel 
die  meisten  Gewebezellen ,  wenigstens  im  ausgewachsenen 
Zustand,  die  Art  nicht  mehr  reproduziren.  Die  somatischen 
Bahnen  nehmen  hier  also  an  dem  Bilde  einen  wichtigen 
Antheil. 

Vergleichen  wir  nun  aber  die  somatischen  Bahnen  der 
Gefasspfianzen  mit  den  Nebenkeimbahnen  der  Muscineen. 
Ware  uns  die  Bedeutung  der  letzteren  nicht  durch  die 
Untersuchungen  von  Prill  gslieim  und  V  editing  bekannt, 
so  wiirden  wir  wenigstens  manche  unter  ihnen  als  somatische 
Bahnen  bezeichnen.  Denn  nur  die  Frage,  ob  Reproduktions- 
vermogen  vorhanden  ist,  oder  nicht,  entscheidet.  Umge- 
kehrt  aber  wird  sich  von  manchen  somatischen  Zellen  der 
Gefasspfianzen  vielleicht  spater  noch  zeigen,  dass  ihnen 
dieses  Vermogen  doch  zukommt,  und  was  wir  jetzt  somatische 


—     103     — 

Bahnen  nennen,  werden  wir  dann  als  Nebenkeimbahnen 
betrachten  miissen. 

Die  sornatischen  Bahnen  sind  offenbar  phylogenetisch 
aus  den  Nebenkeimbahnen  entstanden.  Aber  nicht  plotzlich 
und  mit  einem  Sprunge,  sondern  ganz  allmahlig.  Der  Ver- 
lust  des  Reproduktionsvermogens  machte  sie  zu  solchen. 
Damit  ist  aber  nur  eine  Anpassung,  keine  prinzipielle 
Differenz  gegeben.  Allerdings  konnen  durch  weitere  An- 
passung  immer  grossere  Unterschiede  entstanden  sein :  die 
Anwendung  des  Reproduktionsvermogens,  anfangs  anfseltene 
und  immer  seltenere  Falle  beschrankt,  kann  scliliesslich 
vollstandig  unmoglich  geworden  sein.  indem  nicht  nur 
die  adaptiven ,  sondern  auch  die  inneren  Bedingungen 
dazu  verloren  gingen.  Zu  den  kernlosen  Sporenschlauchen 
werden  ja  ohne  Zweifel  alle  Uebergange  durchgemacht 
worden  sein. 

x^ber  weitaus  die  meisten  somatischen  Bahnen  sind  im 
Pflanzenreiche  den  Nebenkeimbahnen  offenbar  noch  so 
ahnlich ,  dass  ein  prinzipieller  Unterschied  zwischen  ihnen 
nicht  angenommen  werden  darf.  Dieses  zeigt  sich  am 
klarsten  in  jenen  Fallen,  wo  morphologisch  gleiche  Organe 
unter  verwandten  Arten  bei  der  einen  nur  aus  somatischen 
Bahnen  bestehen,  bei  der  anderen  aber  neben  diesen  auch 
Nebenkeimbahnen  enthalten. 

Das  lehrreichste  Beispiel  sind  die  pseudosomatischen 
Keimbahnen  der  Begonien1).  Phylogenetisch  sind  diese 
offenbar  aus  solchen  Bahnen  entstanden,  welche  wir  soma- 
tische  nennen  wiirden.  Aber  grade  der  Umstand,  dass  auf 
dem  Wege  der  Artbildung  dieses  Reproduktionsvermbgen  in 
Zellen  auftreten  kann,  denen  es  bei  fast  sammtlichen  anderen 
Phanerogamen  fehlt,  lehrt  uns,  dass  dieses  Fehlen  nur  ein 

])  Vergl.  S.  98. 


—     104     — 

adaptives,  ich  mochte  fast  sagen,  nur  ein  scheinbares  ist. 
Wir  werden  also  dazu  gezwungen,  den  Oberhautzellen  der 
Blatter  der  Phanerogam  en  allgemein  ein  latentes  Repro- 
duktionsvermogen  zuzuschreiben.  Doch  bleiben  sie  in 
unserem  empirischen  Bilde  als  somatische  Bahnen  ver- 
zeichnet.  Aber  dass  der  Unterschied  kein  prinzipieller  ist. 
scheint  mir  dabei  vollig  klar  zu  sein. 

Die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  wird  iibrigens  durch 
die  gar  nicht  seltenen  Beispiele  gewahrt,  wo  Pflanzentheile.. 
welche  normal  keine  Knospen  bilden  konnen,  solche  in  zu- 
falligen  Variationen  oder  in  Varietiiten  hervorbringen. 
Bliithentragende  Zweiglein  hat  man  auf  einem  Blumenblatte 
einer  Clarkia  und  einer  Begonia,  am  Spindel  des 
zusammengesetzten  Lanbblattes  von  Ly  cop  ersicum  ,  auf 
den  Blattern  von  L  e  v  i  s  t  i  c  u  m ,  S  i  e  g  e  s  b  e  c  k  i  a ,  R  h  e  u  m . 
Urtica  und  Chelidonium  beobachtet,  und  Caspary  sab 
deren  mehr  als  hundert  auf  einem  Blattstiele  von  Cucumis. 
Die  Bliithen  auf  den  Spelzen  der  als  Hordeum  trifur- 
c atum  kultivirten  Gerstenvarietiit  sincl  wohl  Jedem  bekannt. 

Manche  Blatter  konnen  sich  bewurzeln.  wenn  sie  ab- 
geschnitten  und  in  feuchte  Erde  gesteckt  werden.  Die- 
jenigen  der  Aucuba  und  von  Hoy  a  carnosa  sah  ich 
in  dieser  Weise  iiber  zwei  Jahre  am  Leben  bleiben ,  ohne 
Knospen  zu  bilden ;  einige  sollen  selbst  an  sieben  Jahre  in 
diesem  Zustande  gelebt  haben.  Ob  aus  den  AVurzeln  solcher 
Blatter  je,  sei  es  normal  oder  nach  Verletzung,  wieder 
Knospen  entstehen ;.  scheint  nicht  bekannt.  Doch  ist  es 
gar  nicht  unmoglich,  und  verdient  der  ganze  Fall  uberhaupt 
eingehender  untersucht  zu  werden.  Andere  Blatter  bewurzeln 
sich  unter  gleichen  Umstanden  nicht  und  gehen  einfach 
zu  Grunde.  Die  der  Crassulaceen  und  der  Zwiebelgevvachse 
treiben  aber   aus  ihrer  Basis  Knospen   hervor.     Audi  hier 


—     105     — 

ist  offenbar  die  Grenze  zwischen  somatischen  Bahnen  unci 
Nebenkeimbahnen  keine  scharfe,  jedenfalls  keine  prinzipielle. 
Schliesslich  ist  noch  hervorzuheben.  dass  gar  haufig  das 
Reproduktionsvermogen  auf  die  Jugend  beschrankt  ist. 
Dieses  zeigt  sich  am  klarsten  bei  der  Callusbildung  der 
holzigen  Gewachse.  an  der  die  alteren  noch  lebendigen 
Zellen  der  Rinde  und  des  Holzes  keinen  Antheil  zu  nehmen 
pflegen.  In  den  Blattstielen  saftreicher  Gewachse,  wie 
Peperomyia,  nehmen  audi  ausgewachsene  Zellen  an  der 
Callusbildung  Antheil,  jedoch.  wie  es  scheint,  nur  in  unter- 
geordneter  Weise.  Vielleicht  kommt  weitaus  den  meisten 
somatischen  Zellen  der  Pflanzen  in  ihrer  Jugend  dieses 
Vermogen  zu.  und  die  Grenze  zwischen  Nebenkeimbahnen 
und  somatischen  Bahnen  wiirde  dadurch  noch  mehr  an 
Scluirfe  verlieren. 


§  9.     Phyletische,  soinatarche  und  somatische  Zelltlieilung-. 

AVir  wollen  jetzt  die  auf  den  einzelnen  Bahnen  liegenden 
Zellen  selbst  etwas  eingehender  betrachten.  Bei  den  Honio- 
])lastiden  haben  alle  Zellen  und  alle  Zelltheilungen  die 
gleiche  Bedeutung.  Die  beiden  aus  einer  Mutter  entstehen- 
den  Tochterzellen  haben  denselben  Werth. 

Bei  den  hoheren  Pflanzen  sind  aber  solche  Vorgange 
relativ  selten.  Sie  kommen  wesentlich  nur  dort  vor,  wo 
eine  Keimbahn  sich  in  zwei  gleichwerthige  Aeste  theilt, 
oder  wo  auf  einer  somatischen  Balm  ein  gleichformiges 
Gewebe  angelegt  wird.  Weitaus  die  meisten  Theilungen 
liefern  aber  ungleiche  Produkte ;  hierauf  beruht  ja  die  gauze 
Differenzirung. 

Wichtiger  scheint  mir  die  Unterscheidung  zwischen 
phyletischen,  somatarchen  und  somatischen  Zelltheilungen. 


—     106     — 

Phyletische  sind  offenbar  solche ,  wo  eine  Keimbahnzelle 
sicb  in  zwei  Tochterzellen  theilt,  welche  beicle  die  Keim- 
bahn, wenn  audi  auf  verscbiedenen  TVegen ,  fortsetzen. 
Somatische  Zelltbeilungcn  sind  sammtliche  Tbeilungen  auf 
den  somatischen  Babnen.  Somatarcbe  aber  jene,  durcb 
welcbe  eine  solcbe  Balm  angelegt  wird,  wo  also  aus  der 
Tbeilung  einer  Keimbahnzelle  einerseits  eine  die  Keimbahn 
fortsetzende,  und  andererseits  eine  somatische  Zelle  entstebt. 

Dass  bei  den  pbyletiscben  Theilungen  die  erblichen 
Anlagen  auf  die  beiden  Tochterzellen  iibergehen,  kann 
keinem  Zweifel  unterworfen  sein.  Ebenso  wenig,  dass  solches 
bei  den  somatarchen  Theilungen  fiir  die  die  Keimbahn 
fortsetzende  Tochterzelle  der  Fall  ist,  Ob  es  aber  auch 
fiir  die  andere  Schwester  gilt,  welche  den  An  fang  einer 
somatischen  Balm  bildet,  dariiber  gehen  die  Meinungen 
noch  auseinander.  Und  ob  bei  den  somatischen  Zellthei- 
lungen  neben  der  immer  weitergehenden  Anpassung  und 
Spezialisirung  der  Zellen  auch  stets  eine  entsprechende 
Reduktion  der  latenten  Anlagen  einhergeht,  soil  im  nachsten 
Kapitel  besprochen  werden. 

Hier  ist  noch  hervorzuheben,  dass  die  aus  somatarchen 
Zelltheilungen  hervorgehenden,  aufeinanderfolgenden  Gene- 
rationen  von  Keimbahnzellen  keineswegs  unter  sicb  gleich 
sind.  Man  hat  sie  bisweilen  alle  als  Keimzellen,  oder  auch 
als  embryonale  Zellen  bezeichnet.  Dazu  liegt  aber  im 
Pflanzenreich  kein  zwingender  Grund  vor.  Allerdings  sind 
sie  alle  darin  gleich,  dass  sie  Triiger  der  sammtlichen  erb- 
lichen Eigenschaften  der  Art  sind.  Aber  nur  im  latenten 
Zustande.  In  Bezus  auf  Hire  aktiven  erblichen  Eigenschaften 


*.-i 


konnen  sie  wesentlich  verschieden  sein.  Und  durcblauft 
die  ganze  Keimbahn  auch  nicht  eine  so  reiche  Fiille  von 
Eormen    und    Anpassungen,    wie   sie   uns    die   somatischen 


—     107     — 

Zellen  bieten,  verglichen  mit  einer  einzelnen.  audi  noch  so 
reich  verzweigten  somatischen  Balm  diirfte  sie  dieser  an 
Abwechslung  meist  gar  niclit  nachstelien.  Im  Gegentheil. 
grade  das  Vermogen,  nach  einander  die  verschiedensten 
soniatischen  Bahnen  aus  sich  hervorzubringen ,  deutet  auf 
eine  fortwiihrende  Veranderung  in  ihrer  Thatigkeit. 

Die  Keimbalmzellen  sind  gar  niclit  immer  solche,  welche 
zeitlebens  im  jugendlichen  Zustande  verweilen,  oder  welche 
zwischen  rasch  aufeinanderfolgenden  Zelltheilungen  nur  ein 
kurzes  individuelles  Leben  haben.  Die  Prothallien  der 
Fame  und  Equiseten  besteheri  aus  griinen,  kraftig  assimi- 
lirenden  Zellen.  durch  deren  Theilung  zunachst  nur  ihre 
Anzahl  vergrossert  wird,  bis  schliesslich  aus  einigen  unter 
ihnen  die  Geschlechtsorgane  hervorgehen.  Die  Zellen  auf 
den  Hauptkeimbahnen  sind  bier  also  (lurch  kein  sichtbares 
Merkmal  von  den  rein  vegetativen  Zellen  unterschieden. 
Dasselbe  gilt  von  den  bereits  mehrfach  erwatmten  pseuclo- 
somatischen  Keimbahnen  der  Begonien. 

Ueberall  tritt  uns  klar  der  oben  citirte  Ausspruch 
Darwin's  entgegen,  dass  die  Ueberlieferung  unci  die  Ent- 
wickelung  erblicher  Eigenschaften  differente  Vermogen  sind. 
Sie  gehen  im  Zellularstammbaume  fast  nirgendwo  parallel. 


Drittes  Kapitel. 
W<'JN»m:uiii°s  Theorie  des  Keiuiplasmas. 

§  10.     Die  Bedeutung  der  Zellenstammbaunie  fur  die  Lehre 

vom  Keimplasma. 

In  den  beiden  ersten  Kapiteln  dieses  Abschnittes  habe 
ich  die  Zellenstammbaume  fur  das  Pfianzenreich  eingehend 


—     108     — 

geschildert,  unci  um  ein  klares  Bild  zu  entwerfen,  bin  ich 
gezwungen  gewesen,  eine  Reihe  neuer  Namen  anzuwenden. 
Die  Tliatsache,  dass  alle  Zellen  des  ganzen  Pflanzenkorpers 
durcli  Tbeilung  entstehen,  wird  jetzt  allgemein  anerkannt, 
unci  damit  wird  die  Moglichkeit  der  Aufstellung  der  Zellen- 
stammbaume  selbstverstandlich  zugegeben.  Audi  baben 
verschiedene  Forscher,  sowobl  von  botaniscber  als  von 
zoologiscber  Seite,  auf  den  wissenschaftlicben  Wertb  solcber 
Betracbtungen  bingewiesen. 

Die  Ausarbeitung  des  Bibles  scbien  mir  aber,  wie  be- 
reits  im  Anfange  dieses  Abscbnittes  bemerkt  wurde,  des- 
halb  unerlasslicb ,  weil  bis  jetzt  die  hoheren  Tbiere  bei 
Betracbtungen  dieser  Art  in  den  Vordergrund  gestellt 
worden  sind,  unci  weil  dieses  nur  zu  leicbt  zu  einer  ein- 
seitigen  Auffassung  fiibrt.  Denn  bier  ist  der  Unterscbied 
zwiscben  den  Keimzellen  und  den  Korperelementen  ein  so 
grosser,  dass  er  nur  zu  leicbt  den  Eindruck  eines  prin- 
zipiellen  Gegensatzes  macht. 

Dieser  Gegensatz  ist  von  Weisiunnn  in  seinen  an- 
ziebenden  Spekulationen  iiber  die  „sterblicben"4  Korper- 
zellen  unci  die  „unsterblicben"  Keimzellen  scbarf  betont 
worden  1),  und  bildet  zu  einem  grossen  Theile  die  Grund- 
lage  fur  seine  Tbeorie  cles  Keimplasnias. 

Diese  Lebre  und  die  darauf  gegriindete  Hypotbese  der 
Abnenplasnien  baben  wir  bereits  im  ersten  Tbeile  einer  Kritik 
unterworfen.  Bei  jener  Gelegenbeit  (S.  54)  babe  ich  darauf 
bingewiesen,  dass  sie  audi  einer  eingehenden  Betrachtung 
der  Zellenstammbaume  gegenuber  nicht  aufrecht  erhalten 
werden  kann.     Jetzt,  nachdem  wir  diese  eingehender  baben 


x)  AVeismann,  Ueber  die  Dauer  des  Lebens  1882;  Ueber  Leben 
und  Tod  1884. 


—     109     — 

kennen  gelernt,    ist   es   soinit   unsere  Aufgabe,    cliesen  An- 
spruch  zu  begriinden  zu  suclien. 

Die  wahre  Bedeutung  des  Unterscliiedes  zwischen 
Keimbahnen  und  somatischen  Zellen  kann  man  nur  dann 
richtig  beurtheilen,  wenn  man  den  ganzen  Reichtlium 
der  Verastelungen  eines  hoch differ enzirten  Zellenstamm- 
baumes  uberblickt.  Und  nur  bei  den  Pflanzen  erreicht 
diese  Differenzirung  den  hochsten  Grad.  Zabllose  Zwischen- 
formen  fiihren  hier  mit  fast  unmerklichen  Uebergangen 
von  der  Hauptkeimbahn  auf  die  somatischen  Bahnen 
liiniiber. 

Grade  aus  diesem  Grunde  babe  ich  auf  die  Behand- 
lung  der  Nebenkeinili;ilinen  besonderes  Gewicbt  gelegt.  Sie 
feblen  den  hoheren  Tbieren.  Im  Pflanzenreich  sincl  sie 
in  alien  Abstufungen  vorhanden.  Eine  scharfe  Grenze 
zwischen  ilinen  und  den  Hauptkeimbahnen  nacbzuweisen, 
babe  ich  nicht  versucht;  ein  soldier  Versuch  wiirde  an 
denselben  Schwierigkeiten  scheitern .  welche  die  genaue 
Umgrenzung  des  Begriffes  Individuum  unrnoglick  machen. 
Man  muss  sich  bier  mit  einer  willkiirlichen  Grenze  be- 
helfen  und  wiihlt  dazu  diejenige.  welche  die  bequemste  zu 
sein  scheint. 

Ganz  anderer  Art  sincl  die  Schwierigkeiten,  welche 
uns  auf  der  Grenze  zwischen  Nebenkeimbahnen  und  soma- 
tischen Bahnen  begegnen.  Hier  sind  sie  in  der  Unvoll- 
stancligkeit  unserer  Kenntnisse  begriindet.  Somatische 
Bahnen  nenne  ich  solche,  welche  zur  Fortptlanzung  der 
Art  nicht  fiihren.  Aber  manche  Zelle,  mancher  Gewebe- 
komplex,  welchen  wir  aus  diesem  Grunde  jetzt  somatisch 
nennen,  wird  sich  bei  spateren  Versuchen  als  mit  dem  Ver- 
mogen  der  lieproduktion  ausgestattet  zu  erkennen  geben. 
Die  Gruppe  der  pseudosomatischen  Bahnen  moge  als  Bei- 


—     110     — 

spiel  erwalmt  werden  J),  und  auf  weitere  Beispiele  komme 
ich  im  letzten  Paragraphen  dieses  Abschnittes  zuriick. 

Keimzellen  und  somatische  Zellen  stehen  im  Pflanzen- 
reich  somit  nicht  in  prinzipiellem  Gegensatz.  Sie  sind  die 
Extreme  einer  langen  Reihe  von  graduellen  Unterschieden. 
Diesen  Satz  betrachte  ich  als  eins  der  wichtigsten  Er- 
gebnisse  der  Betracbtung  pnanzlicber  Zellenstammbaum*. 
Sachs,  Straslmrger  und  Andere  baben  die  Bedeutung 
dieses  Satzes  hervorgehoben,  und  es  scbeint  mir,  dass  die 
vorangebenden  ausfiibrlichen  Scbilderungen  dazu  werden 
beitragen  konnen,  der  Ueberzeugung  von  seiner  Richtigkeit 
allgemeinen  Eingang  zu  verschaffen. 

xAuf  den  Gegensatz  zwischen  Keimzellen  und  soma- 
tiscben  Zellen  bat  Weismann  seine  Tbeorie  des  Keim- 
plasmas  gegrtindet.  Dieses  ist  der  stofflicbe  Trager  der 
erblicben  Anlagen ,  und  muss  somit  in  alien  Keimzellen 
vorbanden  sein.  Aber  nach  Weisinaiiii  braucbt  es  nur  in 
diesen  erbalten  zu  werden.  den  somatiscben  Zellen  darf  es 
feblen.  Denn  diese  konnen  die  Art  docb  nicht  reprodu- 
ziren ;  sie  sind  auf  die  Entfaltung  einer  beschrankten  Zahl 
erblicber  Anlagen  bescbrankt.  Sie  brauchen  somit  nur  den 
dazu  erforderlichen  Tbeil  des  Keimplasmas  zu  entbalten. 
Diese  Erwiigungen  fiibren  Weismaim  dazu,  das  Keim- 
plasma  als  eine  besondere  Substanz  zu  betracbten,  welcbe, 
im  Gegensatz  zum  iibrigen  oder  somatiscben  Plasma,  der 
Trager  der  Erblicbkeit  ist. 

Im  ersten  Theile  baben  wir  gesehen,  wie  uns  die  Tbeorie 
des  Keimplasmas  bei  der  Erklarung  der  Organdifferenzirung 
im  Sticb  lasst.  Dort  reicbt  die  Annabme  Einer  Substanz 
nicht  bin;    besondere    stoffliche  Trager   der  einzelnen  erb- 


:)  Vergl.  dieses  Kapitel  §  6  S.  97. 


—    Ill    — 

lichen  Anlagen,  die  sogenannten  Pangene,  waren  zur  Er- 
klarung  erforderlich.  Ihre  Annahnie  machte  aber  die  An- 
nahme  des  Keimplasmas  mit  deren  Konsequenzen  tiber- 
iiussig. 

Jetzt  haben  wir  nachgewiesen ,  dass  die  empirische 
Grundlage  fiir  die  Annahme  des  Keimplasmas,  welche  ja 
im  prinzipiellen  Gegensatz  von  Keim-  und  somatischen 
Zellen  liegen  sollte,  nur  eine  scheinbare  ist  und  bei  einer 
moglichst  eingehenden  und  allseitigen  Behandlung  der 
Zellularstammbaume  verschwindet. 

Die  Annahme  des  Keimplasmas  konnen  wir  also  auch 
von  dieser  Seite  nicht  als  berechtigt  anerkennen.  Denn 
wollten  wir  alien  Zellen  des  ganzen  Organismus  Keiiu- 
plasma  zuschreiben ,  so  wiirde  die  Hypothese  dadurch 
iiberfliissig  und  die  Bezeichnung  nahezu  gleichbedeutend 
mit  Kernplasma  werden. 

Diese  allgemein  gehaltenen  Auseinandersetzungen  mochte 
ich  in  den  beiden  folgenden  Paragraphen  dieses  Kapitels 
mehr  in's  Einzelne  verfolgen. 


§11.    Die  Ansichten  der  Botaniker. 

Dass  sammtliche  Keimbahnzellen  die  erblichen  Eigen- 
schaften  ihrer  Art,  aktiv  oder  latent,  in  sich  enthalten 
miissen ,  dariiber  kann  ein  Zweifel  wohl  nicht  obwalten. 
Wie  sich  aber  in  dieser  Beziehung  die  somatischen  Zellen 
verhalten,  lasst  sich  im  Grossen  und  Ganzen  durch  das 
Experiment  nicht  entscheiden.  Namentlich  nicht  im  ver- 
neinenden  Sinne,  denn  das  Fehlen  latenter  erblicher  Eigen- 
schaften  ist  wohl  nie  experimentell  zu  beweisen.  Hochstens 
machen  die  ganz  vereinzelten  kernlosen  Zellen  kernhaltiger 
Organismen   eine    Ausnahme.     Positive  Yersuchsergebnisse 


—     112     — 

aber  fiihren  meistens  dazu,  die  untersucbten,  bis  dahin 
somatisch  genannten  Zellen  als  Elemente  einer  Neben- 
keimbabn  erkennen  zu  lassen.  Sie  verschieben  also  die 
Grenze,  entsclieiden  die  Frage  aber  niclit. 

Dennoch  ist  die  Frage,  wie  wir  im  vorigen  Paragrapben 
geseben  baben,  von  boher  tbeoretiscber  Bedeutung.  Und 
so  lange  iiberhaupt  liber  diesen  Punkt  nachgedacht  worden 
ist,  sind  die  Botaniker  der  Meinung  gewesen,  class  siimmt- 
licbe .  oder  dock  wenigstens  weitaus  die  meisten  Zellen 
des  Pfianzenkorpers  in  Bezug  auf  die  latenten  Eigenscbaften 
gleicb  begabt  sind.  Turpin  und  Schwann,  spater  Mttller 
und  Hanstein ,  in  den  letzten  Jabren  vor  Allen  aber 
Yochting  baben  zur  Vertheidigung  und  Entwickelung 
dieser  Ansicht  die  Feder  ergriffen. 

Dieser  herrschenden  und  so  vielfach  begriindeten  Lebre 
trat  im  Jahre  1885  lVeisniann  entgegen.  Er  stellte  seine 
bekannte  Theorie  iiber  die  Kontinuitat  des  Keimplasmas 
auf  und  sucbte  dadurcb  eine  Grundlage  fur  eine  Tbeorie 
der  Vererbung  zu  scbaffen. 

Keimplasma  nennt  Weisinann  den  stofflicben  Trager 
der  erblicben  Eigenscbaften  in  ibrer  Gesannntbeit,  also  mit 
Einscbluss  der  latenten.  Somatiscbes  Plasma  dagegen  die 
Trager  der  in  der  betreffenden  Zelle  aktiven  Eigenscbaften. 
Keiner  Zelle  feblt  somit  somatiscbes  Plasma,  denn  alle 
sind  in  gewissem  Grade,  sei  es  audi  nur  zur  weiteren 
Theilung,  aktiv.  Das  Keimplasma  aber  soil  nacb  ibm  auf 
diejenigen  Zellen  bescbrankt  sein,  welche  damit  beauftragt 
sind,  die  erblicben  Eigenscbaften  auf  die  spateren  Gene- 
rationen  zu  iibertragen.  Den  eigentlicben  somatiscben  Zellen 
soil  es  feblen. 

Innig  mit  dieser  Auffassung  verbunclen  ist  fur  Weis- 
inann der  Satz,  dass  der  Cbarakter  einer  jeden  Zelle  durch 


—     113     — 

ihren  Kern  bestimmt  wird  ])-  Das  spezifische  Wesen  einer 
Zelle  berulit  nacli  ihm  in  der  Molekiilarstruktur  ihres 
Kernes .  jede  histologisch  differenzirte  Zellart  besitzt  somit 
ihr  spezifisches  Kernplasma  -).  Identisches  Nucleoplasma 
bedingt  ceteris  paribus  auch  identische  Zellkorper;  bei 
jeder  somatarchen  Zelltheilung  und  ebenso  bei  den  meisten 
somatischen  Theilungen  muss  sicb  somit  das  Kernplasma 
in  zwei  ungleiche  Halften  spalten,  indem  jeder  Tochterzelle 
nur  derjenige  Theil  der  erblichen  Eigenscbaften  beigegeben 
Avird;  dessen  sie  zur  Erzeugung  ihrer  Nachkommenschaft 
bedarf3).  1st  letztere  unbegrenzt,  wie  auf  den  Keim- 
bahnen ,  so  erhalt  der  Kern  das  voile  Keimplasma;  da 
aber  die  Nachkommenschaft  einer  somatarchen  Zelle  be- 
grenzt  und  in  ihrem  morphologischen  und  physiologischen 
Entwickelungskreis  beschrankt  ist ,  so  bekommt  sie  auch 
nur  den  entsprechenden  Theil  der  erblichen  Eigenscbaften. 
Somit  kein  wahres  Keim-,  sonclern  nur  somatisches  Plasma. 

Auf  die  Hypothese  des  Keimplasmas  baut  Weismann 
die  des  Ahnenplasmas,  welche  der  Pangenesis  direkt  ent- 
gegengesetzt  ist  und  im  letzten  Abschnitt  des  ersten  Theiles 
einer  Kritik  unterworfen  wurde.  Hier  gilt  es  aber,  die 
empirische  Berechtigung  der  Grundlage  jener  Annahme 
moglichst  allseitig  zu  beleuchten. 

Dass  es  Weismann  nicht  gelungen  ist,  die  Botaniker 
zu  iiberzeugen ,  zeigen  die  verschiedenen ,  namentlich  von 
Sachs  und  Strasburger  ihm  gemachten  Einwiirfe.  Diese 
laufen  im  Wesentlichen  darauf  hinaus,  dass  Weismann 
die  Nebenkeimbahnen  nicht  hinreichend  beriicksichtigt  hat. 
und    sich    dadurch    hat    verleiten    lassen,    einen    schroffen 


J)  Z.  B.  Kontinuitat  des  Keimplasmas  S.  30. 

■)  1.  c.  S.  70. 

3)  Vergl.  auch  den  ersten  Theil,  Abschnitt  II  Kap.  II  §  6. 

<le  Vries,  Intracellulare  Pangenesis.  o 


—     114     — 

Gegensatz  zwischen  Keimplasma  unci  somatischem  Plasma 
anzunehmen.  Nun  lehrt  nicht  nur  das  so  wiederhoit  be- 
tonte  Beispiel  der  Begonien,  sondern  die  ganze  so  iiberaus 
reiche  Lehre  von  den  Adventivknospen .  dass  es  zwischen 
Nebenkeimbalmen  und  somatischen  Bahnen  in  der  Pflanze 
nirgendwo  eine  scharfe  Grenze  giebt.  Die  letzteren  sincl 
nur  ganz  allmablig  aus  den  ersteren  entstanden.  Und  wenn 
sie  audi  oft  das  Vermogen  der  Reproduction  tkatsachlich 
verloren  haben,  so  spricht  doch  Alles  dafiir,  dass  sie  es 
gar  haufig  potentiell  noch  besitzen.  Mit  anderen  Worten. 
mit  dem  Verluste  der  Anpassung  an  die  Reproduktion 
braucht  der  Verlust  des  Keimplasmas  keineswegs  noth- 
wendig  zusammen  zu  gelien. 

Vochting  hat  in  seinem  Buche  liber  Organ  bil  dung 
im  Pflan  z  enr  ei  ch    vor   etwa   zehn   Jabren    die   damals 
bekannten  Tbatsachen  mit  den  Ergebnissen  seiner  eigenen 
reichen    Erfahrung    zusammengestellt.      Am    Schlusse    des 
ersten  Bandes  diskutirt  er  die  schwebende  Frage  eingehend. 
Die  Experimente  lehren  direkt  (S.  251),  class  „in  jedem  aueh 
nur  kleinen  Brucbstiick  der  Glieder   eines  Pflanzenkorpers 
die   Elemente    ruhen ,    aus    denen   sich   bei   Isolirung    der 
ersteren  unter  geeigneten  ausseren  Bedingungen  der  ganze 
komplexe  Korper  aufbauen   kann".     Allerdings  gilt  dieses 
nur  unter  der  Bedingung,    dass   das  Bruchstuck    eine  An- 
zahl  von  Cambialzellen  enthalt.     Auf  dieser  Grundlage  wircl 
nun  die  Frage  diskutirt.    „ob  sich    ein   genugender  Anhalt 
bietet,      unseren     Satz     auf     jeden     beliebigen    Komplex 
lebendiger    vegetativer   Zellen    auszudelmen".     Diese   Dis- 
kussion   fiihrt  nun   zu   der   Annahme,    class  jede   morpbo- 
logische  Gewebeform    potentiell    im    Stande   ist,    Cambial- 
zellen zu  erzeugen,   und   somit   den  ganzen  Organismus  zu 
reproduziren.     Da   aber   die   Versuche   bei   Isolirung    sehr 


—     115     — 

kleiner  Gewebeparthien  auf  uniiberwindliche  Schwierig- 
keiten  stossen,  und  da  andererseits  das  Vermogen  der  Re- 
produktion  als  Anpassung  in  vielen  Geweben  sehr  wohl 
verloren  gegangen  sein  mag,  so  wird  selbstverstandlich  kein 
„strenger  Beweis  zu  liefern  versucht,  sondern  nur  darge- 
than,  class  eine  selir  nahe  liegende  Annalime  wahrschein- 
lich  ricbtig  ist"  '). 

Diese  Annahme  aber  ist.  in  der  jetzt  iiblicb  ge- 
wordenen  Sprache,  keine  andere  als  die,  dass  alle,  oder 
d  o  c  h  w  e  i  t  a  u  s  die  m  e  i  s  t  en  Z  e  1 1  e  n  d  e  s  P  f  1  a  n  z  e  n  - 
korpers  die  s a ra m 1 1  i c h e ii  erblichen  Eigenschaf- 
ten  der  Art  i  in  la  ten  ten  Zustande  e  nth  alt  en. 
Und  diese  selbe  Annalime  babe  icb  durcb  die  eingehende 
Schilderung  der  Zellularstammbaume  an  der  Hand  der 
neuesten  Untersucbungen  iiber  die  Regenerationserschei- 
nungen  soweit  wie  moglich  empiriscb  zu  begriinden  ge- 
sucht. 

Allerdings  ist  nicbt  zu  leugnen,  dass  die  Ansicbt 
Weismann's  in  der  iiblichen  Oekonomie  der  Natur  eine 
wicbtige  tbeoretiscbe  Stiitze  bat.  Wozu  zahllosen  Zellen 
und  langen  Zellgenerationen  Eigenschaften  mitzugeben, 
deren  sie  docb  nie  bediirfen  werden  ?  Docb  ist  nicbt  zu 
vergessen,  dass  eine  solcbe  Sparsamkeit  vielleicbt  beson- 
dere  Anpassungen  erforderlicb  machen  wiirde,  und  dass  es 
somit  im  Grunde  wohl  einfacher  sein  konnte;  in  Bezug  auf 
die  latenten  Eigenschaften  uberhaupt  keine  DifFerenzen 
zwiscben  den  einzelnen  Zellen  einzurichten. 

Ich  mochte  aber  nicht  so  weit  gehen ,  sammtlicben 
somatiscben  Zellen  alle  latenten  Eigenschaften  zuzuerkennen. 
Erstens   ware    eine   solcbe  Ansicbt,    wie  im  Anfang  dieses 


])  1.  c.  S.  251—253. 


—     116     — 

Paragraphen  betont  wurde,  einer  experimentellen  Beweis- 
fiihrung  doch  unfahig,  und  somit  dauernd  steril.  Dann 
aber  babe  ich  auf  die  kernlosen  Ascusschlauche  hinge- 
wiesen,  welche  wobl  obne  Zweifel  somatiscbe  Balm  en  obne 
latente  erblicbe  Anlagen  darstellen,  und  somit  die  An- 
nabme  einer  Reduktion  dieser  Eigenscbaften  auf  anderen 
Babnen  gestatten.  Ueberbaupt  ist  eine  in  geringen  Stufen 
fortschreitende  Differenzirung  und  Spezialisirung  aucb  bier, 
unserer  ganzen  jetzigen  Auffassung  der  lebendigen  Natur 
nach,  weitaus  wahrscheinlicher,  als  der  scbroffe  von  Weis- 
mann  angenommene  Gegensatz  zwiscben  den  auserkorenen 
Tragern  der  Erblichkeit,  und  den  nur  mit  den  iiberbaupt 
fiir  ibre  Funktioiien  erforderlicben  Erbstiicken  ausgestatte- 
ten  somatiscben  Zellen. 

Aucb  spricht  sicb  Weismailil,  auf  Grund  der  bota- 
nischen  Tbatsacben,  dabin  aus,  ,.dass  er  kein  tbeoretisches 
Hinderniss  sehe,  warum  Keimplasma  nicbt  unter  Umstan- 
den  aucb  Zellen  von  ausgepragtem  bistologiscben  Charakter, 
ja  sogar  alien  Zellen  der  ganzen  Pflanze  beigemengt  sein 
konnte".  Fiir  die  Lebermoose  giebt  er  diesen  Scbluss.  wobl 
beispielsweise ,  als  ricbtig  zu 1).  Unci  je  mebr  man  die 
Zellenstammbaume  im  Pflanzenreich  studirt,  um  so  mebr 
dringt  sicb  uns  die  Ueberzeugung  auf,  dass  ein  prinzipieller 
Gegensatz  zwiscben  Keimbabnzellen  und  somatiscben  Zellen 
in  der  Natur  nicbt  vorbanden  ist. 


§  12.     Entscheidung:  durch  das  Studium  der  Gallen. 

Mebrfacb  wurde  im  vorigen  Paragraphen   die  Unmog- 
licbkeit   einer   experimentellen   Entscheidung,    im   Grossen 


!)  Zur  Annahme   einer   Kontinuitat   des  Keimplasmas ,   Berichte 
der  Naturforsch.  Ges.  in  Freiburg  Bd.  I  Heft,  1  1886  S.  10. 


—     117     — 

unci  Ganzen,  der  schwebenden  Frage  betont.  Die  Repro- 
duktionserscheinungen  an  abgeschnittenen  Pflanzentheilen 
weisen  bis  dabin  unbekannte  Nebenkeimbahnen  auf,  iiber 
die  Natur  der  iibrig  bleibenden  somatiscben  Bahnen  lehren 
sie  uns  nichts. 

Das  Experiment,  welches  wir  nicht  durcbfiiliren  konnen, 
macben  aber  die  gallenbildenden  Parasiten  in  so  grosser 
Abwechslung,  dass  ein  Blick  auf  ibre  Produkte  an  dieser 
Steile  wobl  gestattet  sein  mag.  Die  ausfiihrlichen  und  ein- 
gebenden  Untersuchungen  Bcyerinck's  baben  unsere  Kennt- 
niss  auf  diesem  Gebiete  derart  erweitert,  dass  die  ganze 
Entwickelungsgeschichte ,  sowie  der  anatomische  Ban  im 
ausgewachsenen  Zustand  fur  alle  wicbtigeren  Formen  von 
Gallen  klar  vor  uns  liegt ]).  Es  baben  sicb  dabei  haupt- 
sacblich  zwei  fur  unsern  Zweck  wichtige  Satze  ergeben. 
Erstens  sind  die  Gallen,  audi  bei  hochster  Differenzirung, 
nur  aus  solchen  anatomiscben  Elementen  aufgebaut,  welcbe 
auch  sonst  in  der  sie  tragenden  Pfianze  gefunden  werden. 
Nur  die  eigenthiimliche ,  sicb  spater  in  ein  diinnwandiges 
Nabrungsgewebe  verandernde  Steinzellenscbicbt  mancber 
Cynipidengallen  macht  eine  bis  jetzt  nicht  vollig  erklarte, 
jedoch  wobl  nur  scheinbare  Ausnahme  von  dieser  Regel. 
Zweitens  aber  baben  die  Pflanzen  keine  speziellen  An- 
passungen  zum  Zwecke  der  Gallenbildung;  die  Adaption 
liegt  vollig  auf  der  Seite  des  Parasiten,  und  dieser  arbeitet 
nur  mit  den  seinem  Wirthe  iiberbaupt  zukommenden  Eigen- 
schaften. 


J)  M.  W.  Beyerinck ,  Beobachtuugen  iiber  die  ersten  Ent- 
wickelungsphasen  einiger  Cynipidengallen.  Veroffentlicht  d.  d.  k.  Akad. 
d.  Wiss.  zu  Amsterdam  1882.  —  Derselbe,  Die  Galle  von  Cecidomyia 
Poae,  in  Bot.  Zeitung  1885  Nr.  2,  und  Ueber  das  Cecidium  von  Ne- 
matus  Capreae,  Bot.  Zeitung  1888  Nr.  1. 


—     118     — 

Aber  die  Gallen  sind  keineswegs  beschrankt  auf  die 
anatomischen  Elemente  der  Organe,  auf  denen  sie  entstehen. 
Zellen,  welche  die  Pflanze  sonst  nur  in  der  Rinde  ihres 
Stammes  bildet,  kann  man  haufig  in  den  Gallen  blatt- 
bewohnender  Cynipiden  und  Dipteren  linden.  Dasselbe  gilt 
fur  die  Gallen  des  Stammes  und  der  Wurzel.  Wir  diirfen 
daraus  ableiten,  class  das  Vermogen  zur  Hervorbringung 
dieser  Elemente  niclit  nur  jenen  Organen  eigen  ist,  welche 
sie  im  normalen  Laufe  entwickeln,  sonclern  wohl  auch  alien 
iibrigen  Theilen  der  Pflanze. 

Ganz  besondere  Beachtung  verdienen  bier  die  Wurzeln, 
welche  zur  Bedeckung  der  Gallen  von  Cecidomyia 
Poae  an  einem  Orte  entstehen.  wo  im  Laufe  der  normalen 
Entwickelung  weder  die  sie  tragende  Pflanze,  Poa  nemo- 
ralis,  noch  wohl  irgend  eine  andere  Grasart  im  Stande  ist. 
Wurzeln  zu  erzeugen  1).  Die  Larven  benutzen  hier  also  ein 
Vermogen,  dessen  Existenz  wir  ohne  sie  wohl  nie  hatten 
vermuthen,  viel  weniger  nachweisen  konnen.  In  Beyerinck's 
Versuchen  wuchsen  diese  Gallwurzeln  zu  normalen,  reich- 
verzweigten  Wurzeln  aus;  die  durch  den  Gallenreiz  zur 
Thatigkeit  gebrachten  Zellen  des  Internodiums  mussten 
also  die  dazu  erforderlichen  Eigenschaften  im  latenten 
Zustande  besitzen. 

Sogar  eine  direkte  Umwandlung  von  anscheinend  sonia- 
tischen  Bahnen  in  Keimbahnen  ist  durch  die  Untersuchungen 
des  genannten  Eorschers  wenn  auch  niclit  vollig  gelungen, 
so  doch  ihrem  Abschlusse  ziemlich  nahe  gebracht  -')•  -Die 
Gallen,  welche  die  Blattwespe  Nematus  viminalis  auf 
den  Blattern  von  Salix  purpurea  erzeugt,  besitzen  eine 
ausserordentliche  Vitalitiit.     Im  Anfange  des  Herbstes  von 


x)  Bot.  Zeitung  1885  1.  c. 

2)  Bot.  Zeitung  1888  Nr.  1  u.  2. 


—     119     — 

ihren  Bewolmern  verlassen,  sind  sie  noch  vollig  turgescent. 
Werden  sie  jetzt  in  feuchten  Humus  vergraben,  so  iiber- 
wintern  sie  und  konnen  selbst  im  nachstfolgenden  Sommer 
ein  neues  Leben  antreten.  Sie  bilden  dabei  neues  Chloro- 
phyll und  ernahren  sich  mittelst  dieses,  und  die  besten 
unter  ihnen  gehen  nun  allmahlig  dazu  liber,  adventive 
Wurzeln  hervorzutreiben.  Diese  entstehen  entweder  an  der 
ausseren  oder  auch  an  der  inneren  Flache  der  die  Hohlung 
umgebenden  Wand ,  und  setzen  sich  stets  den  Gefiiss- 
biindelchen  der  Galle  an.  Hirer  mikroskopischen  Struktur 
nach  sind  diese  zu  einer  Lange  von  einigen  Centimetern 
heranwachsenden  Wiirzelchen  mit  den  normalen  jungen 
Wurzeln  der  betreffenden  Weidenart  identisch.  Die  dazu 
erforderlichen  erblichen  Eigenschaften  miissen  also  in  der 
Galle,  in  der  wohl  Niemand  sonst  eine  Keimbahn  vermuthet 
hatte,  im  latenten  Zustand  vorhanden  sein. 

Diese  wichtigen  Versuche  werden  fur  unseren  Zweck 
noch  lehrreicher  werden.  wenn  es  gelingt,  die  Gallwurzeln 
sich  so  weit  entwickeln  zu  lassen,  dass  sie  zur  Bildung  von 
Adventivknospen  befahigt  werden.  Da  aber  die  Wurzeln 
aller  holzigen  Gewiichse  dieses  Vermogen  besitzen,  diirfen 
wir  schon  jetzt  voraussagen,  dass  dieses  Experiment  ge- 
lingen  wird.  Vielleicht  wird  es  dazu  besonderer  Maass- 
regeln,  wie  z.  B.  eines  Pfropfens  auf  die  Wurzeln  emer 
Weidenpflanze,  bedurfen.  Aber  ohne  Zweifel  diirfen  wir 
aus  der  von  Beyerinck  nachgewiesenen  volligen  Ueberein- 
stimmung  im  anatomischen  Bau  ableiten,  dass  auch  die 
physiologischen  Eigenschaften  der  normalen  und  der  Gallen- 
wurzeln  dieselben  sein  werden. 

Und  gelingt  es  einmal,  auf  diesem  Wege  aus  der  Galle 
eine  ganze  Weidenpflanze  zu  erziehen.  so  ist  es  klar,  dass 


—     120     — 

in    ersterer   die   sammtlichen    erblichen   Eigenschaften   der 
Weide  latent  vorhanden  sind. 

Dieses  wiircle  nun  offenbar  viel  nutzloser  sein,  als  ihre 
Anwesenheit  auf  irgend  welchen  beliebigen  normalen  soma- 
tischen  Bahnen.  Die  Folgerung  aber.  d a s s  Keiraplasma 
keineswegs  auf  diejenigen  Z  ell  en  beschrankt 
i s t ,  w e  1  c h  e  dessen  z u  i h r  e r  e  i  g  e n  e n  Entwicke- 
1  u  n  g  o  d  e  r  i  n  i  h  r  e  r  N  a  c  h  k  o  m  m  e  n  s  c  h  a  f  t  b  e  d  ii  r  f  e  n , 
konnen  wir  aber  schon  jetzt  als  vollig  gesicliert  betrachtem 

Und  dieses  ist  wolil  die  wichtigste  Folgerung,  welche 
wir  aus  diesem  ganzen  Abscbnitte  ableiten  dUrfen.  Mit  ihr 
liaben  wir  Einen  der  Satze  gewonnen,  welche  als  Grundlage 
fiir  unsere  Hypothese  Verwendung  finden  werden.  Wir 
kommen  aber  hierauf  im  letzten  Absclmitt  zuriick. 


Abschnitt  II. 
Panmeristische  Zelltheilung. 

Erstes  Kapitel. 
Die  Organisation  der  Protoplaste. 

§  1.     Die  sichtbare  Organisation. 

Das  Protoplasma  ist  der  Trager  der  Lebenserscheinungen 
und  somit  auch  der  erblichen  Eigenschaften.  Jede  Theorie 
der  Vererbung  muss  also  von  einer  bestimmten  Ansicht 
iiber  den  Bau  dieses  wichtigen  Korpers  ausgehen.  Aber 
die  anatomische  Forschung  hat,  trotz  der  erstaunenden 
Fortschritte  des  letzten  Jahrzehntes  grade  auf  diesem  Ge- 


—     121     — 

biete.  zu  einer  klaren  unci  allgeraein  anerkannten  Auf- 
fassung  seiner  Struktur  noch  nicht  gefiihrt. 

Wesentlicb  liat  dazu  der  Umstand  beigetragen,  dass 
die  neueren  Methoden  im  Studium  des  Zellkernes  und  seiner 
Theilung  ein  so  wichtiges  und  an  iiberraschenden  Ergeb- 
nissen  reiches  Grebiet  baben  erkennen  lassen,  dass  die  Auf- 
merksamkeit  sicb  diesem  Organe  vorwiegend  und  oft  aus- 
scbliesslicb  zugewandt  bat.  Hauiig  begegnet  man  sogar 
Ansicbten ,  welcbe  das  Protoplasma  dem  Kern  gegeniiber 
in  den  Hintergrund  treten  lassen. 

Die  Kernforscbung  ist  aber  jetzt  so  weit  vorgeschritten, 
dass  von  dieser  einseitigen  Bebandlung  Abstand  genommen 
werden  kann.  Die  Untersucbungen  von  Flemiiiing',  Stras- 
burger  und  so  vielen  anderen  Forschern  haben  den  Bau 
des  Kernes  und  die  Veranderungen  dieses  Baues  wabrend 
der  Theilung  entbiillt  und  unsere  Kenntnisse,  der  Haupt- 
sache  nacb,  zu  einem  gewissen  Abscblusse  gebracht.  Jetzt 
tritt,  namentlicb  auf  botaniscbem  Gebiete,  die  Zelltheilung 
selbst  wiederum  in  den  Vordergrund  der  Forschung.  Und 
dabei  gilt  es  nicht  nur,  das  Verhalten  des  Kernes  dem 
Cytoplasma  gegeniiber  festzustellen,  sondern  eine  el)enso 
wesentlicbe  Aufgabe  ist  es.  zu  ergriinden,  wie  sicb  die  ein- 
zelnen  Organe  des  letzteren,  und  namentlicb  die  Vacuolen. 
das  Kornerplasma   und   die   Hautscbicbt  dabei  benehmen. 

Denn  vollstiindig  wird  unsere  Kenntniss  von  der  Zell- 
theilung erst  dann,  wenn  dabei  die  sammtlichen  Organe 
der  Protoplaste  gleichmassig  beriicksichtigt  werden. 

Der  geschilderte  Gang  der  Forschung  erklart  es,  dass 
sogar  eine  praktische  und  einfache  Bezeichnung  fiir  den 
lebendigen  Inhaltskorper  in  der  Zelle  sich  noch  nicht  zur 
allgemeinen  Anerkennung  hat  aufschwingen  konnen.  Eine 
solche  wurde  von  Hnnstein  in  seinen  bekannten  Vortragen 


—     122     — 

in  dem  Worte  „Protoplast"  vorgeschlagen 1).  Das  Wort 
,.Protoplasma"  wurde  ja  von  Mohl  gebildet  fur  die  halb- 
fiiissige,  stickstoffhaltige  Substanz,  „welche  das  Material 
fur  die  Bildung  des  Nucleus  und  des  Primordialschlauches 
liefert".  und  aus  der  die  ersten  festen  Bildungen  der  kiinf- 
tigen  Zelle  hervorgehen 2).  Den  geformten.  aus  dieser 
Substanz  aufgebauten  Korper  nannte  man  vielfacli  Proto- 
plasmakorper,  Plasmakorper.  bisweilen  sogar  Protoplasma- 
kliimpclien  ocler  Plasmatropfen,  Ausclriicke,  welclie  offenbar 
ungeeignet  sind,  eine  klare  Vorstellung  bei  Lesern  und 
Horern  wachzurufen. 

Diesen  Bezeicbnungen  gegeniiber  hebt  das  Han- 
stein'sche  Wort  die  Individualitat  des  lebendigen  Zellen- 
inbaltes  scharf  und  deutlich  hervor.  Diese  Individualitat 
ist  scbon  seit  langer  Zeit  von  den  besten  Forschern  an- 
erkannt  worden.  Sagte  doch  scbon  Briicke  im  Jabre 
1862,  das  Protoplasma  sei  ein  organisclier  Korper,  kein 
Fliissigkeitstropfen ,  sondern  ein  Elementarorganismus  -). 
Docb  der  Mangel  eines  geeigneten  Namens  scbadete  der 
Klarung  der  Begriffe,  und  diesem  Mangel  wurde  erst  durcb 
Han  stein  abgeholfen.  Klcbs  und  Andere  haben  seine  Be- 
zeicbnung  acceptirt.  und  durcb  ihren  Einfluss  wird  sie  ohne 
Zweifel  in  immer  weiteren  Kreisen  Eingang  finden. 

Die  Protoplaste  sind  im  wabren  Sinne  des  AVortes 
Elementarorganismen.  Sie  besteben  deutlich  aus  einzelnen, 
mebr  oder  weniger  scharf  von  einander  getrennten  Organen, 
welche  einander  gegeniiber  einen  hohen  Grad  von  Selbstiin- 
digkeit  besitzen.     Bei    weitaus   den  meisten    Pflanzen   liegt 


!)  J.   von   Hanstein,   I)as   Protoplasma   als   Trager   der  pflanz- 
lichen  und  thierischen  Lebensverrichtungen  1880,  1.  Theil. 

2)  Mohl,  Bot.  Zeitung  1846  S.  75. 

3)  E.  Briicke,  Sitzungsber.  d.  k.  k.  Akad.  Wien,  1861. 


—     123     — 

dieser  Bau  klar  vor  uns,  bei  den  niedersten  Organismen 
aber  fehlt  diese  Differenzirung  vollig  oder  ist  sie  doch  nur 
in  beschranktem  Maasse  vorhanden.  Bisweilen  begegnet 
man,  aucb  fiir  keineswegs  jeder  Gliederung  entbehrende 
Organismen,  dem  Ausdrucke  „nicht-organisirtes  Plasma". 
Aber  obne  Zweifel  hat  man  diese  Bezeichnung  nur  so  auf- 
zufassen,  dass  die  bis  dahin  angewandten  Mittel  eine  Ein- 
sicht  in  die  Organisation  noch  nicht  eroffnet  liaben ,  nicbt 
aber  so;  als  ob  das  Fehlen  jeglicber  Gliederung  eingehend 
studirt  und  endgiiltig  nacbgewiesen  ware. 


Z  w  ei  t  es  Kap  i  t  el. 
Historische  mid  kritisclie  Betraclitungen. 

§  2.    Die  neogenetische  und  die  panmeristiscue  Auffassung 

der  Zelltheilung. 

Koch  vor  wenigen  Jahrzehnten  nahm  man  allgemein 
an .  dass  die  einzelnen  Organe,  wie  der  Kern  und  die 
Chlorophyllkorner,  jedesmal,  oder  doch  wenigstens  sehr 
hiiung  durch  Differenzirung  aus  dem  undifferenzirten  Proto- 
plasma  entstehen  konnten.  Diese  Neubildung  ist  aber 
durch  die  Untersuchungen  der  letzten  Zeit  in  keinem  ein- 
zigen  Falle  bestatigt  worden.  Ueberall.  wo  man  die  Ent- 
stehung  eines  Organes  genau  und  eingehend  mit  den 
jetzigen  Hiilfsmitteln  erforscht  hat,  hat  sich  gezeigt,  class 
sie  auf  einer  Theilung  bereits  vorhandener  differenzirter 
Glieder  beruht. 

Die  Organisation  der  Protoplaste  ist  keine  periodische 
oder  nur  in  den  erwachsenen  Zellen  zu  Tage  tretende. 
Sie  ist  eine  permanente,  alien  Zellen  in  alien  Entwickelungs- 


—      124     — 

zustanden  zukommende.  Die  Annalime  der  Neubildung 
maclit  iiberall  der  Erkenntnis  der  Theilung  Platz :  die  neo- 
genetische  Auffassung  weicht  der  panmeristischen  2). 

Von  Interesse  ist  es,  den  Gang  der  Entwickelung 
unserer  Kenntnisse  zu  iiberblicken.  In  seiner  Lebre  von 
der  Pfanzenzelle  bescbreibt  Hofiueister  die  Ent- 
stelmng  der  Zellkerne  nach  den  damaligen  Kenntnissen. 
Sie  taucben  im  Protoplasma  als  Tropfen  oder  Massen  durcb- 
sichtiger  bomogener  Substanz  auf,  entweder  in  wenigkernigen 
Zellen  gleicb  anfangs  von  der  definitiven  Grcisse,  in  viel- 
kernigen  Zellen  aber  zuniicbst  als  kleinere,  sicb  durch 
Wachstbnni  vergrossernde  Gebilde.  Bisweilen  entbalten 
sie  bei  ibreni  ersten  Sicbtbarwerden  scbon  Kernkorpercben. 
oft  sind  sie  dann  aber  obne  alle  feste  Bildung  im  Innern 
und  bekommen  solcbe  erst  spaterbin.  Jeder  Zelltbeilung 
pflegt  ein  Verscbwinden  des  Kernes  voranzugehen,  dem 
dann  das  Auftauchen  zweier,  resp.  mebrerer  neuer  Kerne 
folgt *). 

Die  umfassenden  Untersucbungen  von  Strasbnrger  und 
Schmitz  baben  zunachst  fur  einzelne ,  dann  aber  fur 
immer  mebr  Falle  diese  Ansicbt  als  irrtbiimlicb  dargetban. 
und  iiberall,  wo  man  bis  dabin  ein  Verscbwinden  und 
nacbberiges  Auftaucben  von  Kernen  annabm,  die  Ent- 
stebung  der  neuen  Kerne  durcb  Tbeilung  des  urspriing- 
licben  nacbgewiesen.  Ausnabmen  von  dieser  Regel  sind 
jetzt  nicbt  mebr  bekannt. 

Genau  in  derselben  Weise  ist  es  mit  den  Cbloropbyll- 


2)  Panmeristisch  nenne  ich  die  Ansicht,  dass  sammtliche 
Organe  der  Protoplaste  sich,  in  der  Regel ,  nur  durch  Theilung  ver- 
mehren.  Diese  Ansicht  wurde  fur  die  Pflanzenzellen  zuerst  in  meinen 
Plasmolytischen  Studien  aufgestellt.  Vergl.  Pringsh.  Jahrb.  Bd.  XVI 
S.  489 ff. 

")  Hofraeister,  Die  Lehre  von  der  Pflanzenzelle  1867  S.  79. 


—     125     — 

kornern  gegangen.  Noch  in  der  letzten  Auflage  seines 
Lehrbuchs1)  sagte  Sachs:  „Die  Chlorophyllkorper  entstelien 
in  den  jungen  Zellen  durch  Sonderung  des  Protoplasrnas 
in  farblose  und  in  ergriinende,  sich  scharf  abgrenzende 
Portionen.  Der  Vorgang  kann  so  aufgefasst  werden,  dass 
in  dera  anfangs  homogenen  Protoplasma  kleinste  Theilchen 
von  etwas  verschiedener  Natur  verbreitet  sind  oder  erst 
entstelien ,  die  sich  dann  an  bestimmten  Stellen  sammeln 
und  als  gesonderte  Massen  auftreten."  Dass  die  so  ent- 
standenen  griinen  Korner  sich  durch  Theilung  weiter  ver- 
raehren  konnten,  und  dass  die  Chlorophyllkorper  vieler 
Algen  gewohnlich  bei  jeder  Zelltheilung  von  der  sich  bil- 
denden  Wand  durchschnitten  werden,  ist  der  Beobachtung 
leicht  zuganglich,  und  war  auch  damals  nicht  unbekannt. 
Aber  erst  Sclimitz  zeigte.  dass  Theilung  bei  den 
Algen  der  einzige  Weg  ist,  auf  dem  die  Chromatophoren 
neugebildet  werden  2).  Diesen  Gedanken  bei  den  Phanero- 
gamen  verfolgend,  entdeckte  dann  Sckiinpcr  die  farblosen 
Orgaue  der  jugendlichen  Zellen,  welche  in  diesen ausschliess- 
lich  mit  der  Stitrkebildung  beauftragt  sind,  und  durch  deren 
Brgriinung  die  eigentlichen  Chloropbyllkorner  gebildet  wer- 
den. Jene  Amyloplaste  vermehren  sich  in  alien  beobachteten 
Fallen  nur  durch  Theilung,  und  ScMmper  sowie  Arthur 
Meyer  haben  die  Beobachtungen  iiber  diese  Entstehungs- 
weise  derart  gehiiuft,  dass  die  fruhere  Ansicht  jetzt  wohl 
von  alien  Botanikern  verlassen  worden  ist.  Manche  spe- 
zielle  Fiille  barren  allerdings  noch  der  Klarung,  so  lange 
sie  aber  nicht  genau  untersucht  sind,  liegt  kein  Grund 
vor,  die  alte  Auffassung  fur  sie  als  wahrscheinlicher  zu  be- 
trachten  als  die  neue. 


J)  Lehrbuch  der  Botanik,  4.  Aufl.  1874  S.  46. 

-)  F.  Schmitz,  Die  Chromatophoreu  der  Algen,  1882. 


—     126     — 

Aehnlich  verhalt  es  sich  mit  den  Vacuolen.  Noch 
vor  etwa  vier  Jahren  betrachtete  man  diese  allgemein  als 
durch  Neubildung  im  Protoplasma,  in  Folge  der  Aus- 
scheidung  iiberfliissigen  Imbibitionswassers,  entstanden.  In 
meinen  „Plasmolytischen  Studien  iiber  die  Wand  der 
Vacuolen"  habe  ich  aber  die  Meinung  begriindet,  dass  auch 
fiir  sie  die  fiir  Kern  und  Trophoplaste  ')  giiltige  Ent- 
stehungsweise  die  einzige  wirkliche  sein  diirfte 2).  Ich 
stiitzte  micli  dabei  auf  den  Nachweis,  dass  sammtliche 
Vacuolen  von  einer  lebendigen  Wand  umgeben  sind,  welche 
nach  der  von  mir  vorgeschlagenen  Methode  stets  leicht 
und  sicker  naclizuweisen  ist,  und  welche  ich  mit  demselben 
Rechte  wie  die  Kerne  und  Chromatophoren  als  ein  Organ 
des  Protoplasten  betrachten  zu  diirfen  glaubte. 

Diese,  aus  meiner  panmeristischen  Auffassung  der 
Zelltheilung  abgeleitete  Folgerung  ist  durch  die  Unter- 
suchungen  Went's  vollig  bestatigt  worden 3).  Damit  ist 
aber,  meiner  Ansicht  nach.  die  Berechtigung  dieser  Auf- 
fassung gegeniiber  der  neogenetischen  bewiesen  worden. 
Die  Sachlage  hat  sich  jetzt  umgekehrt.*  Wahrend  bis  da- 
hin  noch  das  Verhalten  des  Kerns  und  der  Chromatophoren 
als  ein  eigenthtimliches  betrachtet  werden  konnte,  spricht 
jetzt  die  Wahrscheinlichkeit  viel  mehr  dafiir,  dass  die  ver- 
schiedenen  Glieder  eines  Protoplasten  dieselbe  Entstehungs- 
weise  besitzen  werden,  und  dass  sie  somit  nur  insofern  auf 


x)  Mit  diesem  Namen  bezeichnet  Arthur  Meyer  die  Amyloplaste 
und  ihre  Derivate  (Chlorophyllkorner,  Farbstoffkorper  u.  s.  w.). 

2)  Pringsheim's  Jahrbiicher  fiir  wissenschaftl.  Bot.  Bd.  XVI  1885 
S.  489—505. 

3)  F.  A.  F.  C.  Went,  De  jongste  toestanden  der  vacuolen,  Amster- 
dam 1886.  Les  premiers  etats  des  vacuoles,  in  Archiv.  Neerl.  1887 
und:  Die  Vermehrung  der  normalen  Vacuolen  durch  Theilung,  in 
Pringsheim's  Jahrb.  f.  wiss.  Bot.  Bd.  XIX  1888  S.  295. 


V 


—     127     — 

den  Rang  selbstandiger  Organe  Anspruch  haben ,  als  sie 
dieser  Regel  folgen. 

Nachdem  nun  fur  Kern.  Trophoplaste  und  Vacuolen 
die  Entstehnngsweise  in  der  Hauptsacbe  feststeht,  und 
nachdem  die  Arbeiten  Wakker's  die  Kristalle.  die  meisten 
Kristalloide  und  die  Aleuronkorner  als  Inhaltsgebilde  der 
Yacuolen  haben  kennen  gelehrt J) ,  dreht  sich  die  Frage 
orwiegend  urn  die  Hautschicht  und  das  Kornerplasma  -)• 
Ueber  ihr  Verhalten  bei  der  Zellbildung  sind  unsere 
Kenntnisse  noch  wesentlich  dieselben .  wie  zu  den  Zeiten 
Mollis  und  Hofineister's.  Allerdings  ist  unsere  Vor- 
stellung  iiber  den  Zelltheilungsprozess  nainentlich  durch 
Strasburger's  Arbeiten  eine  viel  eingehendere  geworden, 
aber  grade  die  Frage  nach  der  ersten  Anlage  der  Scheide- 
wand.  welche  langere  Zeit  in  neogenetischer  Richtung  ent- 
scbieden  schien,  ist  durch  die  spater  zu  besprechende  Ent- 
deckung  des  Zellringes  von  Went3),  so  wie  durch  die  Ein- 
wiirfe  anderer  Forscher  wieder  iiusserst  unsicher  geworden. 

Aus  diesen  Griinden  glaube  ich,  dass  eine  kritische 
Revision  unserer  Kenntnisse  auf  dieseni  Gebiete  jetzt 
wesentlichen  Nutzen  haben  kann.  Es  wird  sich  dabei 
zeigen,  wie  fast  in  alien  Fallen  das  Verhalten  von  Haut- 
schicht und  Kornerplasma  bei  der  Zellbildung  thatsachlich 
unbekannt  ist.  Wenigstens  in  alien  Fallen,  welche  der 
panmeristischen  Auffassung  zu  widersprechen  scheinen. 

Es  handelt  sich  dabei    nicht   um   die  Frage ,   ob  diese 

!)  J.  H.  Wakker,  Studien  iiber  die  Inhaltskorper  der  Pflanzen- 
zellen.  Pringsheim's  Jahrb.  f.  wissenschaftl.  Bot.  Bd.  XIX  1888 
S.  423.  Vorlaufige  Mittheilungen  finden  sich  im  Maandblad  v.  Xatuur- 
wetensch.  1886  Xr.  7.  1887  Xr.  5  u.  6  und  Botan.  Centralblatt  Bd. 
XXXIII  Xr.  12. 

2)  Vergl.  diesen  Abschnitt  §  6. 

3)  Vergl.  diesen  Abschnitt  §  7  u.  8. 


—     128     — 

letztere  Auffassung  richtig  ist,  oder  nicht.  Dieses  scheint 
mir  durch  die  Untersucliungen  der  namhaft  gemachten 
Forscher  iiber  alien  Zweifel  erhoben.  Sondern  nur  darum, 
ob  bei  dieser  Auffassung  Kornerplasma  und  Hautschicht 
als  zwei  prinzipiell  differente  Organe  zu  betrachten  sind. 
welche  ebenso  wenig  in  einander  iibergehen  wie  der  Kern 
und  die  Chromatophoren,  oder  ob  sie  zu  einander  in  einer 
ahnlichen  Beziehung  stehen  wie  die  Amyloplaste  und  die 
Chlorophyllkorner.  So  lange  man  meinte,  dass  das  Korner- 
plasma durch  innere  Differenzirung  die  ubrigen  Glieder 
hervorzubringen  im  Stande  war,  lag  es  auf  der  Hand,  eine 
ahnliche  Entstehungsweise  fur  die  Hautschicht  anzunehmen. 
Es  kann  uns  also  nicht  Wunder  nehmen,  dass  diese  audi 
jetzt  noch  allgemein  als  die  thatsachlich  vorhandene  be- 
trachtet  w-ird. 

Allbekannt  ist  das  Beispiel,  welches  schon  von  Moiil 
als  Typus  der  Zelltheilung  hingestellt  wurde,  und  an 
welches  sich  die  historisch  merkwiirdigen  Diskussionen 
kniipften  iiber  die  Frage,  ob  der  Protoplasmakorper  bei 
diesem  Vorgange  eine  passive  oder  eine  aktive  Rolle  spielte. 
Wie  3Iohl's  Typus  der  Fadenalgen,  CI  ad  op  h  or  a,  ver- 
halt  sich  die  in  neuerer  Zeit  fiir  dieses  Studium  beliebtere 
Spirogyra.  Hautschicht  und  Kornerplasma  falten  sich 
auf  der  kiinftigen  Grenzlinie  zu  einem  Ringe,  welcher  von 
aussen  nach  innen  fortwachsend  den  ubrigen  Theil  des  Zell- 
inhaltes  anscheinend  einfach  durchschniirt.  Die  beiden 
neuen  Theile  der  Hautschicht  fiir  die  Tochterzellen  ent- 
stehen  als  Fortsetzung  der  alten  Hautschicht, 

Ein  schones  Beispiel  panmeristischer  Zelltheilung  bieten 
auch,  nach  Klobs'  klaren  Darstellungen,  die  Eugleniden  ]). 


J)  G.  Klebs  in  Arbeit  en   d.   Bot.   Instit,   in   Tubingen  I  S.  282. 


129     — 

Es  ware  ausserst  unwahrsclieinlich ,  class  bei  einem 
solchen  prinzipiellen  Vorgang  die  hoheren  Pflanzen  sich 
anders  verhalten  wiirden  wie  die  niederen.  Dass  in  Neben- 
saciien  Verschiedenheiten  obwalten,  ist  selbstverstandlich, 
and  Jedermaim  weiss,  dass  namentlich  in  der  relativen 
Dauer  der  einzelnen  Abscbnitte  des  Prozesses  wichtige 
Unterschiede  vorhanden  sind.  Und  dasselbe  gilt  von  der 
Art  und  Weise,  wie  dafiir  gesorgt  wird,  dass  jede  Tochter- 
zelle  ibren  eigenen  Kern  bekommt.  Dass  aber  die  Er- 
ganzung  der  Hantscbicbt  durch  Einscbaltung  eines  vollig 
neugebildeten  Stiickes  stattfinden  wiirde,  istunserensonstigen 
Kenntnissen  gegeniiber  so  abweichend.  dass  man  es  keines- 
wegs,  auf  die  alteren  Untersnelmngen  stiitzend,  annebmen 
darf.  Jedenfalls  muss  es  so  lange  angezweifelt  werden,  bis 
direkte  Beobacbtnngen  angefiihrt  werden  konneu. 

Solcbes  ist  aber  augenblicklich  niclit  der  Fall,  wie  ich 
in  dem  letzten  Kapitel  dieses  Abschnittes  zu  zeigen  ver- 
sucben  >verde.  Im  Gegentbeil  sprecben  mancbe  That- 
sacben  bereits  jetzt  fiir  die  vollige  Autonomie  der  Hant- 
scbicbt. wenu  audi  noc-b  nicbt  rnit  binreicbender  Sicher- 
lieit.  urn  einen  endgiiltigen  Beweis  zu  liefern. 

Wie  dem  aber  sein  mag,  ob  die  Hautschicht  ans  dem 
Kornerplasma  bervorgeben  kann,  oder  ob  beide  einander 
gegeniiber  autonom  sind,  jedenfalls  stebt  es  test,  dass  einer- 
seits  diese  beiden.  und  andererseits  der  Kern,  die  Tropbo- 
plaste  and  die  Yacnolen  selbstandige  Organe  sind,  welcbe 
sicb,  im  normalen  Lanfe  der  Dinge .  nnr  durch  Tbeilnng 
vermebren. 

Die  Organisation  der  Protoplaste  ist  somit  erblicb,  und 
zwar  nicbt  in  dem  Sinne,  wie  die  Organisation  der  hoheren 
Organismen  in  jedem  Individnum  durch  die  Entwickelung 
unsichtl>arer  erblicber  Anlagen  reproduzirt   wird .    sondern 

el  e  Vries,  Intracellulare  I'angenesis.  9 


—     130     — 

(lurch  direkten  Uebergang  aller,  den  Organismus  zusammen- 
stellenden  Organe  aus  der  Mutterzelle  auf  ihre  Tochter. 

Die  Bedeutung  dieses  Satzes  fur  unsere  Hypothese  der 
intracellularen  Pangenesis  wird  im  letzten  Abschnitte  be- 
sprochen  werden.  Hier  uber  wollen  wir  die  thatsachliche 
Grundlage  eingehender  kennen  lernen,  auf  welche  er  sicb 
stiitzt. 

§  3.     Die  Zelltheilung  nach  dem  Typus  Mo  Ill's. 

Die  „Grundziige  der  Anatomie  und  Pliysiologie  der 
vegetabilischen  Zelle"  von  Hugo  von  Mohl  *)  sincl  durch 
lange  Zeiten  die  wesentlichste  Quelle  gewesen.  aus  der  die 
angehenden  Botaniker  ihre  Kenntnisse  iiber  diesen  Gegen- 
stand  schopften.  Erst  FTofmeister's  Pflanzenzelle  (1867) 
und  das  Lehrbuch  von  Sachs  (1868)  haben  ihrer  Herrschaft 
ein  Ende  gemacht,  doeb  sincl  wohl  noch  zablreiche  Ab- 
bildungen  und  Satze  aus  jenen  Grundziigen  bei  den  alteren 
Botanikern  in  lebhafter  Erinnerung. 

Die  Vermebrung  der  Zellen  durch  Theilung  wird  in 
diesem  Buche'2)  von  Mohl  in  folgender  Weiso  beschrieben. 
Sie  „wird  durch  Veranderungen  eingeleitet,  welche  der 
Primordialschlauch  der  sich  theilenden  Zelle  erleidet,  in 
deren  Folge  sich  Scheidewande  entwickeln,  welche  von  der 
Peripherie  der  Zelle  allmahlig  nach  innen  zu  wachsen  und 
die  Zellhohlung  in  zwei  oder  mehrere  getrennte  Hohlungen 
abtheilen".  Zu  unterscheiden  sind  dabei  die  Falle,  wo  der 
Zelltheilung  eine  Verdoppelung  des  Kernes  vorangeht,  von 
denen.  wo  solches  nicht  der  Fall  ist  (unseren  jetzigen  viel- 
kernigen  Zellen).     Dieser  letztere  seltnere,    aber  einfachere 


a)  In  Waguer's  Handworterbuch  der  Pliysiologie,  1851,  ersehienen. 
-)  1.  c.  S.  211. 


—     131      — 

Fall  tritt  bei  Conferva  glomerata  auf.  und  deshalb 
fangt  Mohl  seine  Schilderung  mit  dieser  Alge  an.  Aber 
auch  dort .  wo  die  Bildung  zweier  nexier  Kerne  der  Ent- 
stelmng  der  Scheidewand  vorangeht,  geschieht  dieser  letztere 
Prozess  auf  dieselbe  Weise  wie  bei  der  genanriten  Con- 
ferva. Und  zwar  sowohl  unter  den  Algen  .  wie  bei  den 
hoheren  Gewachsen. 

Stets  erganzt  sich  also  nach  Mohl  die  Hautschicht  in 
der  Art.  dass  die  neuen  Theile  aus  den  alten  hervorwacbsen. 

In  historischer  Hinsiebt  ist  nun  hervorzuheben .  dass 
dieser  Satz  fur  die  von  Mohl  in  den  Vordergrund  gestellten 
Algen  von  sammtlicben  spateren  Untersuchern  bestatigt 
worden  ist1).  Hier  ist  seine  Richtigkeit  iiber  alien  Zweifel 
erhoben,  und  kann  von  Jedem  leicht  kontrolirt  werden. 
Wer  also  aus  theoretischen  Griinden  anzunehmen  geneigt 
ist,  dass  bei  der  Zelltheilung  iiberall  im  Pflanzenreich  die- 
selben  Prinzipien  gelten;  wird  den  in  Rede  stehenden  Fall 
nocli  stets  mit  Mohl  als  Typus  betrachten  miissen. 

Bei  den  einkernigen  Zellen  pflegen  ausserst  merkwiirdige 
Einricbtungen  vorhanden  zu  sein.  deren  Aufgabe  es  ist,  die 
neue  Scheidewand  genau  zwischen  den  beiden  neuen  Kernen 
hmdurchzufiihren.  Nach  unserer  jetzigen  Auffassung  von 
der  Bedeutung  des  Kernes  kann  dieses  kein  Wunder  nehmen, 
denn  was  ware  eine  Zelle  ohne  ibre  crblicben  Eigenscbaften ! 
Bei  den  hoheren  Ptlanzen  sind  diese  Einricbtungen  noch 
nicht  in  jeder  Beziebung  klargelegt,  solches  ist  aber  fiir 
die  Spirogyren,  namentlich  durch  die  wiederbolten  Ver- 
offentlichungen  Strasburger's  in  hohera  Maasse  der  Fall. 
Wir   wollen    also    den  Vorgang   bei    dieser  Pflanze    an    der 

a)  Zelltheilung  durch  Einschniirung  ist  bei  den  niederen  Algen 
weit  verbreitet.  Vergl.  z.  B.  Klebs,  Arbeiten  d.  Bot.  Inst,  in  Tubingen 
Bd.  I  S.  336—343. 

9* 


—     132     — 

Hand   der   letzten  Beschreibung   dieses  Forschers   so   weit 
schildern,  als  fiir  unsere  Zwecke  erforderlicli  ist. 

In  der  Zeit ]).  wo  der  Kern  sieli  dem  Ende  der  Pro- 
phase nahert,  sammelt  sicb  das  Protoplasma  urn  ilm  an 
und  nimmt  in  der  Gegend  der  Pole  des  Kernes  parallel- 
streifige  Struktur  an.  Es  wird  bald  klar,  dass  es  sicli  urn 
die  Anlage  der  Spindelfasern  bandelt.  Diese  bilden  sich 
rascli  aus  und  setzen  sich  dnrch  das  Innere  der  Kernhohle 
bindurch  fort,  um  von  den  beiden  Endflachen  her  mit 
einander  in  Beriihrung  zu  treten.  Fiir  die  etwaige  Annalime, 
dass  die  im  Innern  dieser  Hohle  auftretenden  Spindelfasern 
anderen  Ursprungs  als  die  ausserhalb  behndlichen  sein 
sollten.  liegt  kein  sticlihaltiger  Grand  vor.  Im  Aequator 
der  Spindel  hauft  sich  die  chromatische  Substanz ,  die 
einzelnen  Fasern  an  ihrem  Umkreise  beriihrend. 

Nun  vollzieht  sich  die  Ausbildung  und  Langsspaltung 
der  Kernschleifen,  von  der  Trennung  und  dem  Auseinander- 
riicken  der  beiden  Halften  der  Segmente  gefolgt.  In  dieser 
Periode  sieht  man  klar,  dass  es  nicht  alien  Spindelfasern 
gelungen  ist,  sich  mit  den  gegeniiberliegenden  zu  verbinden. 
Nur  diejenigen,  denen  dieses  gelang,  werden  als  Verbindungs- 
fasern  zwischen  den  beiden  auseinander  riickenden  jungen 
Kernen  erhalten.  Der  zwischen  diesen  entstehende  Raum 
ist  nach  aussen  von  einem  Protoplasmamantel  umgrenzt. 
und  augenscheinlich  sammelt  sich  in  ihm  ein  osmotisch 
wirksamer  Stoff  an,  der  die  Vergrosserung  dieses  Raumes 
besorgt  und  die  jungen  Kerne  auseinander  drangt.  In- 
zwischen  wird  die  Zahl  der  Verbindungsfaden  auf  dem 
Mantel  dieses  Raumes  immer  geringer,  der  Mantel  selbst 
in  transversaler  Richtung  immer  mehr  hervorgetrieben  und 


')   Das   Folgende   nach    Strasburger,    Ueber    Kern-    und   Zell- 
theilung  im  Pflanzenreich,  1888  S.  9—23. 


—     133     — 

dementsprechend  diinner.  Doch  bleibt  er  scharf  und  deut- 
licli  sichtbar.  Der  Raum  hat  jetzt  die  bekannte  Tonnengestalt 
angenommen,  seine  Wand  wird  als  Verbindungsschlauch 
bezeichnet  und  bleibt  dauernd  als  eine  allseitig  gescblossene 
gespannte  Blase  sichtbar.  Schliesslich  erreicht  dieser 
Schlauch,  indem  er  in  aquatorialer  Richtung  stark  gedehnt 
wird,  die  protoplasmatiscbe  Ansammlung  am  Rande  der 
vordringenden  Scheidewainf.  Er  verbindet  sich  init  dieser 
und  wird  jetzt  allmahlig  von  ilir  eingedriickt  und  schliess- 
lich durchgeschnurt. 

Nach  den  von  Went  und'mir  aufgefundenen  Prinzipien 
der  Vacuolenlehre  1st  es  wahrscheinlich.  dass  der  osmotische 
Stoffe  enthaltende,  vomVerbinduugsschlauch  umgrenzte  Raum 
eine  Vacuole  ist,  welche  dann,  Strasfourgers  Auffassung 
entgegen  *),  von  aussen  her  zwischen  die  beiden  jungen 
Kerne  eingedrungen  sein  muss.  Ebenso  deutlich  ist  es, 
dass  diese  Vacuole  von  einer  eigenen  Wand  umgeben  sein 
muss,  und  dass  diese  also  die  innere  Schicht  des  Verbin- 
dungsschiauches  bildet.  Letzterer  ist  gegen  die  iibrigen 
Vacuolen  des  Zellraumes  gleichfalls  durch  eine  Wand  ab- 
gegrenzt,  und  zwischen  beiden  Wanden  liegt.  wenigstens 
anfangs,  Kornerplasma  Die  Veranderungen  jener,  das 
Innere  der  Tonne  bildenden  Vacuole  wahrend  des  ganzen 
Prozesses  bediirfen  aber  selbstverstandlich  noch  einer  spe- 
zielleh,  an  lebendem  Material  anzustellenden  Untersuchung  -). 

Keinem  Zweifel  kann  aber  die  Richtigkeit  von  Stras- 
burger's  Auffassung  unterworfen  sein,  wo  er  den  ganzen 
Vorgang   der   Zelltheilung ,    mit   alleiniger   Ausnahme    der 

»)  1.  c.  S.  17. 

2)  Zacharias  betont  in  seiner  Besjjrechung  der  Strasburger'schen 
Arbeit  in  der  Bot.  Zeitung  1888  S.  449  gleichfalls,  „dass  am  lebenden 
Objekt  Dinge  vorbanden  sein  konnen ,  die  man  dort  besser  erkennen 
und  beurtheilen  kann,  als  am  fixirten  und  tingirten". 


—     134     — 

Theilung  des  Kernes,  in  clas  Protoplasma  selbst  veiiegt. 
Die  Tochterkerne  sincl  dabci  passiv ,  das  Cytoplasma  ist 
allein  das  treibende  Element. 

Die  Chlorophyllbander,  die  Vacuole  und  das  Korner- 
plasina  werden  von  der  in  das  Innere  hineinwachsenden 
Hautschicht  einfach  durcligeschniirt ;  die  Hautscbicht  selbst 
trennt  sicb  am  Ende  in  derselben  Weise,  nacbdem  sie  das 
in  der  Mitte  des  Ringes  iibrig  gebliebene  Locb  vollig  ver- 
scblossen  bat. 

Bei  denjenigen  vielkernigen  Algen,  deren  Kerne  regel- 
massig  iiber  das  ganze  wandstandige  Protoplasma  vertbeilt 
sind,  bat  man  keine  besondern  Einrichtungen  beobachtet. 
um  bei  den  Zelltheilungen  jeder  Tocbterzelle  den  Besitz 
einer  oder  mebrerer  Kerne  zu  sicbern.  Aucb  scbeinen 
diese  bei  der  grossen  Anzahl  und  der  gleicbmassigen  Ver- 
breitung  der  Kerne  gar  nicbt  erforderlicb  zu  sein.  Kern- 
spindel  und  Kerntonne  haben  also  bier  ibre  Bedeutung 
verloren,  und  sind  dementsprecbend ,  wenigstens  in  der 
Regel,  wobl  aucb  nicht  vorbanden.  Die  Zelltbeilung  wird 
wesentlicb  nur  von  der  Hautschicht  und  dem  Korner- 
plasma  besorgt. 

Fiir  das  ricbtige  Verstandniss  der  Vorgange  der  nor- 
malen  Zelltbeilung  ist  ein  Satz  von  bervorragender  Be- 
deutung, welcber  durcb  kiinstlicbe  Theilungsversucbe 
lebendiger  Protoplaste  in  alterer  und  neuerer  Zeit  ge- 
wonnen  worden  ist.  Ich  meine  nicht  die  adaptiven  Regene- 
rationsvorgange  nach  Verwundungen.  Diese  sollen  im 
nacbsten  Paragrapben  besprocben  werden.  Sondern  das 
Durcbscbniiren  des  iibrigens  unverletzten  Zellinbaltes  in 
ganzen  Zellen  und  die  Theilung  der  Protoplaste  in  zwei 
oder  mehrere  Stiicke  bei  der  Plasm  olyse.  Die  betreffen- 
den  Falle  habe  ich  in  meinen  Plasmolytiscben  Studien  iiber 


135     — 

die  Wand  der  Vacuolen  zusammengestellt ' ) ;  sie  lehren, 
<lass  bei  kiinstliclier  Durchschnttrung  eines  Protoplasten 
die  Hautschicht,  die  Wand  der  Vacuole  mid  das  Korner- 
plasma  anscheinend  olme  irgend  welche  Schwierigkeit  ihre 
Rander  schliessen  mid  sich  zu  einer  neuen  Einheit  ab- 
runden.  Bei  plasmolytisclien  Versuchen  ist  solclies  leicht 
zu  konstatiren;  hier  sieht  man  aucb,  wie  bei  der  Auf- 
liebung  der  Plasmolyse  ofters  die  Theilstucke  wieder  zu- 
sammenfiiessen,  indem  ihre  Glieder  sich  mit  den  gleich- 
namigen  Organen  der  iibrigen  Theilstucke  desselben  Proto- 
plasten verbinden. 

Dieses  Vermogen,  sich  mit  gleichnamigen  Theilen  zu 
verbinden,  scheint  den  drei  namhaft  gemachten  Organen 
der  pflanzlichen  Protoplaste  allgemein  zuzukommen.  Die 
Wande  der  Vacuolen  zeigen  es  uberall  dort,  wo  die  zahl- 
reichen  Saftblasen  junger  Gewebezellen  sich  wahrend  des 
raschen  Wachsthumes  beini  Uebergang  in  den  fertigen  Zu- 
stand  zu  einer  einzigen  grossen  Vacuole  vereinigen.  Bei 
der  Vereinigung  zweier  oder  mehrerer  gleichartiger  Proto- 
plaste zu  einem  sogenannten  Syniplasten  findet,  wenigstens 
in  nianchen  Fallen,  ahnliches  sowohl  mit  diesen  Wanden, 
wie  mit  der  Hautschicht  unci  dem  Kornerplasma  statt,  wie 
die  Ontogenie  der  Milchsaftgefiisse  wohl  am  deutlichsten 
lehrt.  Ein  Verschmelzen  gleichnamiger  Theile  ist  auch 
bei  den  Fiisschen  mancher  Rhizopoden  wiederholt  beobachtet 
mid  beschrieben  worden. 

Zu  dieser  Verbindung  bedarf  es,  ausser  dem  erforder- 
lichen  Grade  der  Homogenitat,  soviel  wir  wissen,  nur  der 
cinfachen  Beriihrung.  Wir  diirfen  sie  also  als  einen  mecha- 
nischen  Vorgang  betrachten  und  als   Element  bei  der  Er- 


])  Pringsh.  Jahrb.  Bd.  XVI  S.  501—505. 


136 


klarung  cler  normalen  Zelltheilung  beniitzen.  Sie  besorgt. 
bei  den  Spirogyren  offenbar  den  Anschluss  des  Verbindungs- 
schlauclies  an  den  nach  innen  hervorwachsenden  Ring 
und    beherrscht   spater    den    endgiiltigen    Schluss    der    im 


Ringe  verbleibenden  Oeffnung. 


§  4.    Regeneration  der  Protoplaste  nach  Verwundung. 

Wenn  audi  im  normalen  Laufe  der  Entwickelung  die 
einzelnen  Organe  sicli  nur  durch  Theilung  vermehren,  so 
folgt  darans  noch  niclit  mit  Nothwendigkeit,  dass  diese 
Regel  eine  ausnahmslose  sein  muss,  und  dass  es  niclit  Falle 
geben  kann ,  wo  die  Natur  in  anderer  Weise  ihre  Zwecke 
zu  erreichen  sucht.  Namentlich  dort,  wo  durch  aussere 
Bingriffe,  wie  Verwundungen  oder  Zerstiickelungen,  ein- 
zelne  Glieder  eines  Protoplasten  vollstandig  verloren  ge- 
gangen  sind ,  liesse  sicli  erwarten,  class  eine  Regeneration 
auf  anderem  Wege  moglich  sein  konnte. 

Augenblicklich  sprechen  die  vorhandenen  Beobach- 
tungen  allerdings  nicht  dafur,  dass  solche  Fiille  thatsach- 
lich  vorkommen.  Das  schliesst  aber  deren  Moglichkeit 
noch  keineswegs  aus.  Und  auf  diese  Moglichkeit  mochte 
ich  hier  mit  grosser  Bestimmtheit  hinweisen ,  weil  die 
Hypothese  der  intracellulars!  Pangenesis  eine  gelegent- 
liche  Neubildung  von  solchen  Organen  aus  den  vom  Kern 
ausgegangenen  Pangenen  gar  nicht  als  unnioglich  betrachten 

lasst. 

Nach  den  bis  jetzt  veroffentlichten  Thatsachen  zu  ur- 
theilen,  scheinen  sicli  aber  die  Erscheinungen  der  Regene- 
ration nach  Verwundung  den  normalen  Vorgangen  eng 
anzuschliessen.  Eine  Neubildung  von  Kern  und  Chroma- 
tophoren  ist  dabei ,    wenigstens    in   der   letzten  Zeit,    wohl 


—     137     — 

von  Niemand  behauptet  worden.  Ueber  ein  etwaiges  Anf- 
tauchen  von  neuen  Vacuolen  liegen  nur  wenige  Beobach- 
tungen  vor.  Diese  wurden  von  Went  grade  zur  Priifnng 
der  einschlagigen  Frage  angestellt  und  lebren  wenigstens 
das  Eine  mit  Bestimmtheit,  dass  iiberall  dort,  wo  man 
bis  daliin  eine  Neubildung  normaler  Vacuolen  glaubte  an- 
nelimen  zu  miissen .  eine  solclie  nicht  stattfindet.  Denn 
die  beobachteten  Vacuolen  entstelien  theils  durch  Ab- 
schnlirung  aus  der  grossen  Saftblase  der  Zelle.  theils  durch 
Anschwellen  der  kleineren  im  Kornerplasma  suspendirten. 
Namentlich  fiir  die  zuerst  von  Hsuistein  und  nachher  von 
so  vielen  Forschern  studirte  Vaucheria  kann  hierliber 
ein  begriindeter  Zweifel  wohl  niclit  mehr  obwalten  ]). 

Seitdera  ich  in  meinen  Plasmolytischen  Studien  die 
Meinung  ausgesprochen  und  zu  begrunden  gesucht  babe, 
dass  die  Hautschicht  ein  besonderes  Organ  des  Protoplasten 
ist2),  sind  entsclieidende  Tbatsachen  iiber  diese  Frage  nicbt 
aufgefunden  worden.  Wohl  ist  Klebs  meiner  Auffassung 
auf  Grund  seiner  an  Vaucheria  angestellten  Beobach- 
tungen  entgegengetreten :5).  Dieser  Forscher  hat  in  das 
Studium  dieser  Vorgange  eine  neue  Methode  eingei'iihrt. 
welcbe  es  gestattet .  die  ersten  Anfiinge  einer  Zellhaut- 
bildungumausgetreteneProtoplasmamassen  leicbt  und  sicher 
nachzuweisen.  Er  farbt  das  Wasser  oder  die  verdiinnte 
Losung,  in  der  die  Faden  durchschnitten  werden ,  mit 
Congoroth ,  welches  grade  von  den  jungen  Zellhauten  mit 
grosser  Begier  gespeichert  wird. 

Zu  einer  Entscheidung  iil)er  die  von  mir  aufgeworfene 


J)   F.   Went    in    Pringsheim's    Jahrb.    f.    wiss.    Bot,    Bd.    XIX 
8.  330-341. 

2)  Pringsh.  Jahrb.  f.  wiss.  Bot.  Bd.  XVI  S.  493. 

3)  Arbeiten  des  Bot.  Instituts  in  Tubingen,  Bd.  II  S.  510. 


—     138     — 

Frage  fiihrt  diese  Methode  aber  noch  nicht,  da  es,  wie 
audi  Klebs  hervorhebt.  an  einem  Mittel  fehlt,  urn  fiber  die 
An-  oder  Abwesenbeit  einer  Hautscbicbt  an  einer  Zellhaut 
bildenden  Portion  des  zerstiickelten  Protoplasten  zu  ent- 
scheiden.  „Unter  den  freischwimmenden  Plasmaballen  giebt 
es  dann  immer  eine  Anzahl  selbst  ganz  grosser  und  inhalts- 
reicber,  welcbe  mebrere  Tage  leben,  aber  obne  Zellbaut 
'  zu  bilden."  Bei  den  meisten  zeigen  sich  aber  sehr  bald 
Anfange  der  Zellhautbildung 1).  Worin  aber  der  Unter- 
schied  in  dem  Verhalten  dieser  beiden  Arten  von  abge- 
trennten  Tbeilen  begrfindet  ist,  wurde  von  Klebs  nicbt 
naher  untersuchL  Meine  Vermuthung,  dass  den  ersteren 
die  Hautscbicbt  mangelt,  die  letzteren  aber  dieses  Organes 
bei  ibrer  Abtrennung  tbeilbaft  geworden  sind,  ist  dadurcb 
soniit  nocb  keineswegs  widerlegt. 

Aucb  scbeint  mir  die  grosse  Debnbarkeit  der  Haut- 
scbicbt bei  dem  enormen  Anscbwellen  der  spater  Zellbaut 
bildenden  Blasen  keineswegs  unwabrscbeinlich  oder  aucb 
nur  auffallend.  Dass  die  Debnbarkeit  nicbt  nur  der  Haut- 
schicht,  sondern  aucb  der  Vacuolenwand  unci  vielleicbt  aucb 
des  Kornerplasma  eine  sebr  bedeutende  ist.  lebren  uns  die 
plasmolystiscben  Versucbe  fast  bei  jedem  Scbritt.  Unci 
dass  die  angescbwollenen  Ballen  der  Vaucheria  nur 
solche  Vacuolen  enthalten,  welcbe  durch  Vergrosserung  unci 
raeist  aucb  durch  Theilung  aus  in  der  unverletzten  Pflanze 
vorhandenen  Saftblasen  entstanden  sind,  hat  Went  grfind- 
lich  dargethan.  Die  Annahme  einer  Dehnbarkeit  der  Haut- 
scbicbt, welcbe  nicbt  wesentlich  grosser  zu  sein  braucbt 
als  die  nachgewiesene  Debnbarkeit  der  Vacuolenwand,  kann 
also  nicht  besonders  befremden. 

Die    Regenationserscheinungen    der    Vaucheria    be- 

')  1.  c.  S.  507. 


—     139     — 

diirfen  also  in  diesem  Punkte  noch  erneuter  Untersuchung. 
Solange  aber  ein  thatsachlicher  Beweis  fur  eine  Zellhaut- 
bildung  oline  Hautschicht,  oder  fiir  eine  von  der  alten  un- 
abhangige  Neubildung  dieses  Organes  nicht  erbraclit  worden 
ist,  kann  diesem  Beispiele  nicht  jene  grosse  Bedeutung 
zuerkannt  werden,  welche  manche  Schriftsteller  ihm  zu- 
schreiben. 

Wiclitig  sind  hier  auch  die  BeobacLtungen  von  Haber- 
landt  iiber  dieselbe  Erscheinung  ').  Dieser  Forscher  richtete 
seine  Aufmerksamkeit  vonviegend  auf  die  Zellkerne  und 
lehrte  deren  Yerhalten  bei  der  Regeneration  kennen.  Die 
Kerne  haufen  sicli  ini  von  Chlorophyllkorpern  entblossten 
Plasma  in  der  Nahe  der  Wunde,  und  sind  fiir  das  "Wachs- 
tliuni  der  neuen  Zellhaut  offenbar  wichtiger  als  diese.  In 
den  ausgetretenen  Plasmaballen,  welche  am  Leben  bleiben, 
gelang  es  Haberlandt  last  stets  einen  oder  mehrere  Kerne 
nachzuweisen,  niemals  alter  das  Felilen  eines  solclien  fest- 
zustellen.  Trotzdem  gelangten  diese  nicht  alle  zur  Bildung 
einer  neuen  Zellwand.  ..Zuweilen  treten  membranlose  Zell- 
formen  mit  reichlichem  Plasma  auf.  Bei  fehlendem  Saft- 
raurn  liegen  die  Chlorophyllkorner  zusammengeballt  in  der 
Mitte,  die  Kerne  im  peripheren  farblosen  Plasma.  Ist  ein 
Zellsaftraum  vorhanden,  so  liegen  die  Chorophyllkorner 
in  der  innersten  Schicht  des  Plasmakorpers,  die  Zellkerne 
weiter  aussen"  2).  Der  Besitz  von  Zellkernen  reicht  somit 
allein  nicht  zur  Bildung  einer  Zellhaut  aus.  Wichtig  ware 
es  zu  untersuchen,  ob  die  betreffenden  Plasmaportionen 
vielleicht  grade  jene  sind,  deuen  kein  Theil  der  alten  Haut- 
schicht mitgegeben  wurde. 


')  G.  Haberlandt,  Ueber  die  Beziehungen  zwischen  Funktion  und 
Lage  des  Zellkernes,  1887  S.  83—97. 
2)  1.  c.  S.  92. 


—     140     — 

Von  besonderem  Interesse  scheint  es  mir,  die  ganze 
schwebende  Frage  von  einem  anderen,  audi  schon  von 
Habcrlandt  beriihrten  Standpunkte  nus  zu  betrachten.  Die 
Regeneration  ist  offenbar  eine  Anpassung  zur  Wahrung 
gegen  die  Nachtheile  von  in  der  Natur  haufig  vorkommen- 
den  Verletzungen.  Die  hoheren  Pflanzen  pflegen  in  solclien 
Fallen  die  getroffenen  Zellen  aufzugeben,  die  grosszelligen 
unci  namentlich  die  von  Sachs  als  niclitcellular  bezeichneten 
Algen  und  Pilze  konnen  dieses  offenbar  niclit  thun.  All- 
gemein  findet  man  denn  auch  bei  ihnen  das  Vermogen. 
Wunden  zu  schliessen.  Dass  es  aber  von  besonderer  Be- 
deutung  sein  wtirde,  ausgetretene  Plasmaballen  am  Leben 
zu  erhalten,  ist  um  so  unwahrscheinlicher,  als  solches  meist 
nur  in  merklicli  konzentrirteren  Losnngen  gelingt.  als  die- 
jenigen  sind,  in  welchen  die  betreffenden  Pflanzen  in  der 
Natur  leben.  Das  Schliessen  der  "Wnnde  ist  also  primar, 
die  Vorgange  am  ausgetretenen  Plasma  sind  sekundar. 
Aus  den  fur  das  erstere  vorhandenen  adaptiven  Eigen- 
schaften  miissen  sich  die  letzteren  erklaren  lassen.  Und 
so  lange  das  erstere  olme  die  H}rpothese  einer  unabhangigen 
Neubildung  von  Hautschicht  erklart  werden  kann.  muss 
diese  Annahme  fiir  die  letzteren  mindestens  fur  unwahr- 
sclieinlich  gehalten  werden. 

Diese  Betrachtung  fiihrt  dazn.  audi  das  Schliessen  von 
Wunden  in  Milchsaftrohren  in  das  Bereich  dieser  Studien 
hineinzuziehen.  Die  Untersuchungen  von  Schmidt  iiber 
die  Milchsaftgefasse  und  von  Schwendener  iiber  die  Milch- 
zellen  konnen  dabei  als  wichtige  Anhaltspunkte  dienen ]). 
Denn  sie  lehren,  dass  in  Milchrohrentheilen.  welclie  an  die 


')  E.  Schmidt,  Der  Plasmakorper  der  Milchrohren,  Bot.  Zeitung 
1882  S.  462.  —  S.  Schwendener,  Einige  Beobachtungen  an  Milchsaft- 
gefassen.     Sitzungsber.  der  k.  Akad.  d.  Wiss.  Berlin  XX,  1885  S.  323 


—     141     — 

Schnittwunde  grenzen ,  ein  Verschluss  der  Kohre  in  der- 
selben  Weise  hergestellt  werden  kann,  wie  bei  manchen 
vielkernigen  Siphoneen  (z.  B.  B r y o p s i s ,  Codium,  Der- 
b  e  s  i  a)  und  bei  vielen  Pollenschlauchen  der  verletzte  Ab- 
schnitt  des  Zellraumes  von  clem  unverletzten  Theile  ge- 
trennt  wird  1). 


Dritt  es  Kapi tel. 
Die  Aulononiie  der  eiiizclnen  Organe  der  Protoplaste. 

§  5.     Zellkern  und  Trophoplaste. 

Eine  Zusammenstellung  unserer  Kenntnisse  liber  die 
Autonomic  des  Zellkernes  kann  an  dieser  Stelle  als  iiber- 
fllissig  betrachtet  werden.  Sie  ist  jetzt  als  eine  feste  Er- 
run gen sch aft  der  Wissenschaft  anzusehen,  deren  Bedeutung 
fur  die  Theorie  der  Vererbung  wohl  nicht  mehr  angezweifelt 
wird.  Flemmingaufzoologischem,  Strasbiirgerund  Schmitz 
auf  botaniscliem  Gebiete  haben  die  Balm  gebrochen,  und 
ilire  Beobachtungen  sind  von  zahlreichen  anderen  Forscbern 
in  der  Hauptsache  bestatigt  and  erweitert  worden. 

Ob  die  araitotisclie:).  durcb  Ein-  und  Durchschniirung 
entstandenen  Kerne  t'iir  die  Vererbungsfrage  eine  Bedeutung 
baben,  oder  ob  sie  nur  in  somatischen  Zellen  und  nielit 
auf  den  Keimbahnen  vorkommen,  scbeint  noch  nicbt  vollig 
entschieden  zu  sein.  Bei  Chara  theilen  sicb  naoh  Johow  - 
Untersuchungen  die  Zellkerne  in  den  Scbeitelzellen  nacb 
dem  iiblicben  Schema  der  indirekten  Kerntheilung;  die 
kleineren  Zellen  der  erwachsenen  Pflanze.  z.  B.  in  den 
Knoten,  bleiben  zeitlebens  einkernig.    die  grosseren  Zellen 


J)  E.  Schmidt,  1.  c.  S.  462. 


—     142     — 

aber  werden  durch  Einschniirung  vielkernig.  Auf  diese 
Art  der  Kernbildung  folgt  claim  aber  nie  eine  Zelltheilung1). 
NachZimirermrnn  ist  die  direkte  Kerntheilung  imPflanzen- 
reicb  „nur  auf  diejenigen  Fiille  beschrankt,  in  dcnen  mit 
der  Kerntheilung  kerne  Zelltheikmg  Hand  in  Hand  gebt"  -). 
In  den  vielkernigen  Zellen  der  Valonia  hat  Schmitz  die 
Kerntbeilung  vielfach  beobachtet,  und  zwar  stets  durch  Ein- 
schniirung.  Wie  bier  und  bei  anderen  Sipbonocladiaceen 
die  Kerne  fur  die  Schwarmsporen  entstehen .  ob  durch 
direkte  oder  indirekte  Theilung,  scheint  noch  nicht  fur  alle 
Falle  sicher  gestellt  zu  sein. 

Dem  gegeniiber  ist  zu  erwahnen ,  dass  nach  Vail  T»c- 
n  e  den  und  Jul  in  in  der  Spermatogenese  von  As  car  is 
megalocephala  direkte  und  karyokinetische  Kern- 
theilung mit  einander  abwecbseln 4).  Dieser  Gegenstand 
ist  somit  fiir  eine  theoretische  Verwerthung  noch  nicht  reif. 

Trophoplaste  nennt  Arthur  Meyer  die  Amyloplaste 
mit  ihren  sammtlichen  Derivaten,  unter  denen  die  Chloro- 
phyllkorper  die  wiclitigsten  sind.  Bei  den  niedersten  Ge- 
wachsen  sind  sie  noch  nicht  differenzirt,  und  soweit  diese 
den  Phycochromaceen  angehoren,  ist  nach  Scliinitz  das 
ganze  kernlose  Protoplasma  der  Zellen  gefarbt 5).  Doch 
hat  spater  Hansgirg  bei  einigen  Algen  aus  dieser  Gruppe 
Zellkerne  und  Chromatophoren  nachgewiesen 6).     Von   den 


2)  Johow,  Bot.  Zeitung  1881  S.  729. 

*)  A.  Zimmermann,  Morphologie  und  Physiologie  der  Pflanzen- 
zelle  S.  34. 

3)  Schmitz,  Die  vielkernigen  Zellen  der  Sipbonocladiaceen.  1879 
S.  27. 

4)  Van  Beneden  et  Julin,    „La  spermatogenese   chez  l'Ascaride 
niegalocephale".  Bruxelles  1884. 

6)  Schmitz,  Die  Chromatophoren  der  Algen,  S.  9. 
6)  A.  Hansgirg,  Ber.    der  deutsch.  Bot.  Gesellsch.  1885  Bd".  Ill 
S.  14. 


—     143     — 

Chlorophyceen  aufwiirts  sind  sie  bei  den  griinen  Pflanzen 
allgemein.  Bei  den  hoheren  Gewachsen  pflegen  sie  in  den 
jugendlichen  Zellen,  wo  sie  von  Schimper  entdeckt  wurden, 
farblos  zu  sein.  Solches  bleiben  sie  gewohnlich  auch  in 
den  unterirdischen,  im  normalen  Leben  dem  Licht  nicht 
ausgesetzten  Theilen. 

Phylogenetiseh  sind  also  die  Gewachse  mit  undifferen- 
zirtem  farbigen  Protoplasma  wohl  alter  als  diejenigen. 
welche  besondere  Chromatophoren  besitzen.  Diese  miissen 
wir  uns  somit  als  durcli  Differenzirung  aus jenen  entstanden 
denken.  Eine  weitere  Stufe  der  Differenzirung  ist  dann 
die  Ausbildung  farbloser  Zustande  dieser  Chromatophoren. 
Solche  fehlen  den  niederen  Algen  noch .  kommen  erst  in 
den  hochsten  Gruppen  aus  dieser  Klasse  zum  Vorschein. 
und  erreichen  ihre  voile  Bedeutung  erst  bei  den  hoheren 
Gewachsen.  Mit  anderen  Worten.  wir  miissen  die  Amylo- 
plaste .  obgleich  sie  jetzt  allgemein  die  jugendlichen  Zu- 
stande sind.  aus  denen  sich  die  Chlorophyllkorper  ent- 
wickeln ,  dennocli  als  Folgen  hoherer  Differenzirung  be- 
trachten  und  annehmen,  dass  sie  phylogenetiseh  aus  diesen 
entstanden  sind.  Diese  Erorterung  ist  deshalb  wiehtig. 
weil  sie  die  nicht  seltenen  Formanderungen  der  Tropho- 
plaste  auf  den  Keimbahnen  unserem  Verstandniss  naher 
luhrt.  Im  Grossen  und  Ganzen  sind  die  Keimbahnzellen 
der  hoheren  Pflanzen,  wie  manche  Schriftsteller  betonen, 
embryonaler  Natur.  und  solche  Zellen  besitzen  wohl  stets 
farblose  Trophoplaste.  Aber  diese  Kegel  besitzt,  nach 
unserer  Definition  der  Keimbahnen .  vielfache  Ausnahmen. 
So  bestehen.  urn  nur  Ein  Beispiel  zu  nennen.  die  Prothallien 
der    Fame    im  jugendlichen    Zustande    aus    griinen ,    sich 

*)   Schimper,    Ueber    die  Entwickelung    der   Chlorophyllkoraer 
und  Farbkorper.     Bot.  Zeitung  1883  Xr.  7. 


—     144     — 

tlieilenden  Zellen ,  mit  wohl  ausgebildeten  Chlorophyll- 
kornern,  aus  denen  nachher  die  Amyloplaste  der  Eizellen 
entstehen  werden.  Audi  bei  der  Callusbildung  in  abge- 
schnitteneii  Blattstielen  von  Begonia,  Peperomyia 
und  anderen  Arten  diirfte  eine  Riickbildung  von  griinen 
Trophoplasten  in  farblose,  namentlicb  behufs  der  Anlage 
der  Adventivknospen,  stattfinden.  Und  da  nun  im  All- 
gemeinen  die  Amyloplaste  in  jungen  Zellen  und  ihre  Deri- 
vate  in  ausgewaclisenen  Protoplasten  vorkommen,  so  wiirden 
in  diesen  und  ahnlichen  Fallen  Beispiele  einer  ausge- 
sprochenen  Verjiingung  vorliegen. 

Auf  den  Keimbalinen  pfiegen  die  Amyloplaste  eine 
einfache  rundliclie  Form  zu  besitzen ,  auf  den  somatisclien 
Balinen  andern  sie  ihre  Gestalt .  und  damit  die  Struktur 
und  Grosse  der  von  ilmen  liervorgebracliten  Starkekorner 
vielfach  ab. 

Zu  den  merkwiirdigsten  Eigenschaften  der  Chromato- 
phoren  in  Bezug  auf  die  Organisation  der  Protoplaste  ge- 
koren  ihre  autonomen  Bewegungen.  Seit  den  Unter- 
suchungen  von  Sachs  liber  diesen  Gegenstand  weiss  man. 
dass  die  Chlorophyllkorper  mancher  Pflanzeii  von  den 
Stromen  des  Kornerplasmas  derart  verschoben  werden,  dass 
sie  unter  dem  Einflusse  des  Lichtes  bestimmte ,  fiir  die 
Assimilation  der  Kohlensaure  gtinstige  Lagen  eiiinehmen. 
Dabei  sind  sie  aber  passiv.  Die  schonen  Untersuchungen 
Stahl's  haben  aber  eigene  Bewegungen  dieser  Gebilde 
unter  dem  Eintiusse  desselben  Beizes  kennen  gelehrt.  Sie 
bestehen  der  Hauptsache  nach  in  Gestaltanderungen,  durch 
welche  die  betreffenden  Organe    sich  entweder  der  Kugel- 


s)  Sachs,  Ber.  d.  math.-phys.  Klasse  der  k.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss. 
1859. 

-)  Stahl,  Bot.  Zeitung  1880  S.  21. 


—     145     — 

form,  oder  der  Gestalt  einer  flachen,  runden  Scheibe  mehr 
oder  weniger  nahern.  Sie  erreicben  dadurch,  dass  sie  dem 
Sonnenlichte  eine  kleinere,  dem  diffusen  Tageslichte  aber 
eine  grossere  Flache  zur  Aufnahme  der  Strahlen  bieten. 
Uns  aber  geben  sie  dadurch  einen  Einblick  in  den  hohen 
Grad  ibrer  inneren  Differenzirung.  wie  wir  ihn  durch  das 
einfachere  Studium  ihrer  chemischen  Thiitigkeit  bei  weitem 
nicbt  hiitten  gewinnen  konnen. 

Auch  die  iibrigen,  gelben  und  orangenen  Farbstoff- 
korper  machen  bisweilen,  nach  Weiss,  autonome  Be- 
wegungen,  welche  nach  den  Beschreibungen  dieses  Autors 
an  die  Formanderungen  der  Amoben  und  der  farblosen 
Blutkorperchen  erinnern x).  Auch  diese  Gebilde  diirften 
somit  hoher  organisirt  sein ,  und  eine  wichtigere  Rolle 
spielen,  als  der  einfachen  Aufgabe,  den  betreffenden  Pfianzen- 
theilen  ihre  Farbe  zu  verleihen,  entsprechen  wiirde. 

Ich  mochte  auf  diese  Erscheinungen  bier  besonderen 
Nachdruck  legen,  weil  sie  fiir  die  Theorie  der  Vererbung 
bis  jetzt  wolil  noch  nicbt  verwerthet  worden  sind.  Je 
deutlicher  uns  aber  die  Selbstiindigkeit  der  einzelnen  Or- 
gane  der  Protoplaste  vor  Augen  steht,  und  je  klarer  unsere 
Ueberzeugung  wird,  dass  sie,  zur  Ausiibung  ihrer  Funk- 
tionen,  einer  hohen  inneren  Differenzirung  bedurfen,  desto 
mehr  werden  wir  geneigt  sein,  ihnen  den  gebiihrenden  Platz 
in  unserer  Theorie  einzuraumen,  und  namentlich  ihre  Be- 
ziehung  zu  den  im  Kerne  angehauften  erblichen  Anlagen 
urn  so  eingehender  aufzuklaren  suchen. 

Ueberall,  wo  es  bis  jetzt  gelang,  die  Entstehung  von 
Trophoplasten  mit  voller  Sicherheit  nachzuweisen,  geschieht 


x)  A.  Weiss,  Ueber  spontane  Bewegungen  und  Formanderungen 
von  Farbstoffkorpern,  in  Sitzungsber.  d.  k.  Akad.  d.  Wiss.,  Wien 
Bd.  XC  1884. 

de  Vries,  Intracellulars  Pangenesis.  10 


—     146     - 

diese  durch  Theilung  der  bereits  vorhandenen.  Dass  die 
Chlorophyllkorper ,  sowolil  bei  den  hoheren  Pflanzen  als 
auch  bei  den  Algen,  sich  durch  Ein-  und  Durchschniirung 
vermehren  konnen,  war  seit  langer  Zeit  bekannt.  Doch 
erst  Schmitz  zeigte,  dass  dieser  Prozess  fiir  die  Algen  die 
einzige  Form  der  Vermehrung  ist 1).  Bei  den  Characeen 
entdeckte  er  in  den  Scheitelzellen  die  farblosen  Korper, 
aus  denen  die  griinen  Organe  dieser  Pflanzen  in  derselben 
Weise  hervorgehen.  Diese  Untersuchungen  sind  jetzt  so 
allgemein  bekannt,  dass  es  iiberfliissig  ware,  sie  hier  im 
Einzelnen  zu  reproduziren.  Hervorgehoben  sei  nur.  als 
besonders  wichtig,  dass  auch  die  Schwarmsporen  nur  solche 
Chroraatophoren  besitzen,  welche  sie  aus  ihrer  Mutterzelle 
mitbekommen  haben ,  was  namentlich  bei  Cladophora 
und  Halosphaera  konstatirt  wurde  2). 

Die  Untersuchungen  von  Scliimper  und  Anderen, 
welche  dieselbe  Kegel  fiir  die  Phanerogamen  kennen  lehrten, 
wurden  bereits  in  einem  der  vorigen  Paragraphen  be- 
sprochen. 

Besondere  Erwahnung  verdienen  noch  die  von  den 
allgemeineren  Chromatophoren  abgeleiteten  selteneren  For- 
men.  In  ersterer  Linie  ist  der  bei  vielen  Schwarmsporen 
beobachtete  Augenfleck  zu  nennen 3) ,  welcher  nach  der 
Meinung  derjenigen  Forscher,  welche  ihn  genauer  unter- 
sucht  haben ,  vermuthlich  ein  metamorphosirtes  Chroma- 
tophor  ist,  wie  die  von  Arthur  Meyer  studirten  Farbstoff- 
korper  der  hoheren  Pflanzen  4).  Nur  bei  Euglenen  ist  seine 
Entstehung  von  Klebs  genauer  studirt  worden,  sie  geschieht 

J)  Schmitz,  Die  Chromatophoren  der  Algen  1882. 

2)  1.  c.  S.  135,  136. 

3)  Vergl.  Zimmermann,  Die  Morphologie  und  Physiologie  der 
Pnanzenzelle  1887  S.  71. 

4)  Arthur  Meyer,  Das  Chlorophyllkorn  1883. 


—     147     — 

hier  stets  (lurch  Theilung,  indem  das  Organ  in  den  Dauer- 
zellen  erhalten  bleibt 1).  Ob  die  Pyrenoide  in  den  Chloro- 
phyllkorpern  von  Spirogyra  und  anderen  Algen  als  be- 
sonders  differenzirte  Theile  dieser  Organe  zu  betrachten 
sind.  ist  wohl  noch  nicht  definitiv  entschieden.  Wohl  aber 
scbeint  es  sicher,  dass  sie  sich,  wenigstens  in  einzelnen 
Fallen,  durch  Theilung  vermehren  2). 

Ueber  die  Entstehung  des  Oeles  in  Pflanzenzellen  ist 
noch  wenig  Sieheres  bekannt.  Schon  Pfeffer  hat  nach- 
gewiesen,  dass  das  Oel  nicht  in  den  Vacuolen  entsteht, 
sondern  ini  Kornerplasma  eingebettet  liegt.  Besondere  Or- 
gane ,  welche  es  in  sich  anhaufen ,  sind  neuerdings  von 
Wakker  in  Vanilla  planifolia  beschrieben  und  Elaio- 
plaste  genannt  worden.  Obwohl  es  nicht  gelang ,  ihre 
Entstehungsweise  zu  ermitteln.  so  liegt  doch  die  Vermuthung 
am  nachsten,  dass  es  metamorphosirte  Chromatophoren 
sind  3).  Die  Oeltropfen  der  Algen  liegen  in  manchen  Fallen, 
wie  z.  B.  bei  den  Diatomeen,  offenbar  nicht  in  den  Chro- 
matophoren. und  dies  ist  nach  Sclimitz  eine  allgemeine 
Regel 4).  Bei  den  hoheren  Pflanzen  scheint  solches  aber 
bisweilen  der  Fall  zu  sein  5). 

In  letzter  Linie  sind  hier  die  Mikrosomen  zu  nennen. 
Was  sie  sind,  scheint  in  den  ineisten  Fallen  unbekannt  zu 
sein.  Kleine  Oeltropfchen  und  Starkekornchen,  inaktive 
Vacuolen  und  Amyloplaste,  Eiweisskornchen ,    welche  beim 


')  Klebs,  Ueber  die  Organisation  einiger  Flagellatengruppen. 
Unters.  Tubingen,  Bd.  I  S.  233. 

2)  Schmitz.  Die  Chromatophoren  S.  42  u.  65 ;  Schmitz  in  Pringsh. 
Jahrb.  Bd.  XV  S.  142.  Strasburger,  Ueber  Kern-  und  Zelltheilung 
1888  S.  26. 

3)  J.  H.  Wakker,  De  Elaioplast,  Maandbl.  v.  Natuurwetensch. 
1887  Nr.  8. 

4)  Schmitz,  1.  c.  S.  164. 

5)  Vergl.  Arthur  Meyer,  Das  Chlorophyllkorn  S.  14  u.  31. 

10* 


—     148     —      . 

Fixiren  durch  die  Coagulation  des  im  Protoplasma  gelosten 
Eiweisses  entstehen,  und  vielleicht  noch  mancherlei  andere 
Gebilde  werden  haufig  unter  diesem  Namen  zusammen- 
geworfen.  Mit  grossem  Recht  hat  Strasfourger  betont, 
„dass  nicht  die  Mikrosomen,  sondern  das  Hyaloplasma  als 
die  aktive  Substanz"  aufzufassen  seien  ]).  Ueberbaupt  sollte 
man  nie  vergessen ,  dass  das  Wort  Mikrosomen  nur  ein 
Fragezeichen  bedeutet,  und  dass  von  einer  Einsicbt  in  die 
Bedeutung  dieser  Gebilde  erst  dann  die  Rede  sein  kann, 
wenn  die  dadurch  gestellte  Frage  nacb  ibrer  Natur  in  den 
betreffenden  Fallen  beantwortet  sein  wird. 

§  6.     Die  Vacuolen. 

Die  Vacuolen  wurden  frtiher  als  leere  Raume  im 
Innern  des  Protoplasma  betrachtet.  Dalier  riilirt  ibr  Name, 
und  dadurch  erklart  sicb  das  geringe  Interesse .  welches 
ihnen  beim  Studium  der  Zellenanatomie  bis  vor  kurzem 
entgegengebracht  wurde.  Erst  durch  die  Entdeckung  von 
Sachs,  dass  die  Steifbeit  wachsender  Zellen  nicht,  wie  man 
bis  daliin  meinte ,  durch  eine  Imbibition  von  Wasser  in 
ihren  Wanden  zu  Stande  kommt,  sondern  durch  osmotische 
Spannung  zwischen  der  Wand  und  dem  Zellsaft,  wurde 
die  Aufmerksamkeit  auf  die  Bedeutung  der  Vacuolen  ge- 
lenkt 2). 

Noch  mehr  war  letzteres  der  Fall  durch  den  von  dem- 
selben  Forscher  gelieferten  Nachweis.  dass  die  Dehnung, 
welche  wachsende  Zellluiute  durch  den  Zellsaft  erleiden. 
eine  der  wesentlichsten  mechanischen  Ursachen  des  Flachen- 


x)  Strasburger,  Neue  Untersuchungen  1884  S.  107. 
2)  Sachs,   Lehrbuch   der   Botanik   3.   Aufl.    1872;   4.    Aufl.   1874 
S.  757. 


—     149     — 

wachsthums  dieser  Haute  ist.  Derm  mit  diesem  Nachweise 
hat  Sachs  die  audi  jetzt  noch  giiltige  Grundlage  fur  die 
ganze  mechanische  Theorie  des  Langenwachsthums  gelegt. 

Auf  dieser  Grundlage  fussend  haben  zahlreiche  Forscher 
unsere  Kenntniss  der  mechanischen  Ursachen  des  "Wachs- 
thums in  verschiedenen  Richtungen  erweitert.  Einige  haben 
vorwiegend  den  Grad  der  Dehnbarkeit  der  Zellhaute  und 
die  Grosse  der  vom  Zellsaft  gelieferten  Krafte  gemessen 
und  analysirt.  Andere  haben  die  Ursachen  studirt,  welche 
die  an  verschiedenen  Stellen  und  in  verschiedenen  Rich- 
tungen obwaltenden  Ungleichheiten  in  der  Dehnbarkeit  der 
Wand  einer  und  derselben  Zelle  beherrschen .  und  diese 
rait  grosser  Wahrscheinlichkeit  zuriickgefiihrt  auf  lokale 
Differenzirungen  im  Protoplasten  selbst,  welcher  diese  Dehn- 
barkeit durch  Ausscheidung  gewisser  Enzyme  wiirde  regeln 
konnen.  Wieder  Andere  haben  die  Intussusceptionslehre, 
welche  zur  Zeit  der  namhaft  gemachten  Entdeckungen 
die  herrschende  war,  angegriffen  und  als  unrichtig  nach- 
gewiesen,  und  versucht,  an  deren  Stelle  die  alte  Appo- 
sitionstheorie  in  neuer  Form  wieder  zu  beleben. 

Wenn  audi  von  manchen  Seiten  Missverstandnissen 
ausgesetzt x) ,  hat  die  Sachs'sche  Theorie  sich  in  der 
Pflanzenphysiologie  eine  hervorragende  Stellung  erworben 
und  ist  in  den  beiden  seit  ihrer  Aufstellung  verflossenen 
Dezennien  in  immer  grosserem  Umfange  zum  Ausgangs- 
j)unkte    neuer    Untersuchungen    geworden.      Sie    ist    ohne 


')  In  meinen  Untersuchungen  iiber  die  mechanischen  Ursachen 
der  Zellstreckung  (1877  S.  3)  habe  ich  ausdriicklich  betont,  dass  es 
auch  vom  Turgor  unabhangige  Wachsthumserscheinungen  gebe,  und 
dass  der  Turgor  somit  nicht  die  einzige  oder  auch  nur  die  erste  Ur- 
sache  des  Wachsthums  sei.  Zu  dieser  Ansicht  gelangten  spater  auch 
Krabbe  und  Klebs.     Vergl.  Arbeiten  Tubingen,  Bd.  II  1888  S.  530. 


—     150     — 

Zweifel  einer  der  fruchtbarsten  Gedanken  fur  die  Aus- 
bildung  unserer  Wissenschaft  gewesen. 

Das  weitere  durch  diese  Theorie  angeregte  Studium  des 
Zellsaftes  und  der  Vacuolen  hat  in  morphologischer,  uns 
hier  ausschliesslich  interessirender  Hinsicht  zum  Nachweise 
der  Vacuolenwand  als  ernes  wesentlichen ,  nie  fehlenden 
Tlieiles  pflanzlicher  Protoplaste  gefiihrt ]).  Die  Methode, 
welche  diese  "Wand  iiberall  nachweisen  liess,  war  die  Be- 
handlung  der  lebenden  Zellen  mit  einer  zehnprozentigen 
Salpeterlosung ,  welche  mittelst  Eosin  roth  gefarbt  ist. 
Entweder  sofort,  oder  nach  kiirzerer  oder  langerer  Zeit 
stirbt  in  diesem  Reagens  das  aussere  Protoplasina,  wahrend 
die  Wand  der  Vacuolen  zunachst  am  Leben  bleibt.  Sie 
ist  dann  als  eine  gespannte,  von  den  todten  Theilen  mehr 
oder  weniger  vollstandig  getrennte  Blase  sichtbar,  welche 
dem  Eosin  den  Eintritt  vollig  verwehrt.  In  farblosen 
Zellen  ftihrt  die  Blase  somit  einen  wasserhellen  Inhalt. 
wahrend  sich  das  iibrige  Protoplasma  mit  dem  Eosin  roth 
oder  braun  farbt.  Haufig  hat  sich  dabei  die  ursprtingliche 
Vacuole  in  mehrere  kleinere  getheilt;  nicht  selten  kann 
man  diesen  Prozess  unter  dem  Mikroskope  audi  direkt 
verfolgen. 

Die  Wand  der  Vacuolen  ist  als  ein  besonderes,  die 
Ausscheidung  und  Anhaufung  der  im  Zellsaft  vorhandenen 
gelosten  Stoffe  regelndes  Organ  der  Protoplaste  zu  be- 
trachten  und  hat,  dieser  Eunktion  entsprechend,  den  Namen 
Ton  op  las  ten  erhalten.  Haufig  werden  aber  jetzt  die 
Saftraume  mit  ihrer  Wand  zusammen  als  Vacuolen  be- 
zeichnet. 

In  den   lebenden    Zellen   sind    die   Tonoplaste   in    der 


l)  Plasmolytische  Studien  iiber  die  Wand  der  Vacuolen.  Pringsh. 
Jahrb.  Bd.  XVI  1885  S.  465  Taf.  XXI— XXIV. 


—     151     — 

Regel  nicht  sichtbar,  da  sie  vollig  durchscheinende  Blasen 
von  ausserster  Diinnheit  darstellen.  Klar  und  deutlich 
treten  sie  uns  aber  in  den  Tentakelzellen  mancher  Insekten- 
fressenden  Pflanzen,  und  namentlich  der  Drosera  rotun- 
difolia  und  D.  intermedia  vor  Augen.  Der  hier, 
wahrend  der  Verdauung  der  Beute  vor  sich  gehende.  von 
Darwin  entdeckte  Aggregationsprozess  gehort  zu  den  merk- 
wiirdigsten  Erscheinungen ,  welche  uns  das  Leben  einer 
Zelle  bewundern  lasst1).  In  den  ruhenden  Tentakelzellen 
liegt  meist  eine  grosse  Vacuole,  mit  rotliem  Zellsaft.  Unter 
der  Einwirkung  des  Reizes  theilt  sich  diese  in  mehrere, 
bald  in  sehr  zahlreiche  kleinere.  Diese  ziehen  sich,  unter 
Ausstossung  eines  Theiles  ihres  Inhaltes,  zusammen ,  und 
werden  nun  von  den  Stromchen  des  Kornerplasma  mit 
grosser  Schnelligkeit  in  den  verschiedensten  Richtungen 
durch  die  Zellen  herumgefiihrt.  Dabei  liegen  sie  als  rothe 
Blasen  in  ungefarbter  Umgebung.  und  sind  somit  leicht 
und  scharf  zu  sehen.  Wahrend  dieser  Bewegungen  erleiden 
sie  auffallende  Formanderungen;  bisweilen  werden  sie  zu 
langen  Rohren  ausgezogen  und  darauf  in  zahlreiche  kleine 
Kiigelchen  gespalten,  bisweilen  vereinigen  sie  sich  zu  zwei 
oder  mehreren,  um  grossere  Blasen  zu  bilden.  Gegen  das 
Ende  der  Erscheinung  bekommt  dieser  letztere  Prozess 
den  Vorrang,  und  schliesslich  haben  sich  alle  Saftblasen 
wiederum  zu  einer  einzigen,  vom  anfanglichen  Volum,  ver- 
einigt -). 

Die  skizzirten  Erscheinungen  bei  der  Aggregation  und 
die  Theilung  der  Vacuolen,  wie  sie  bei  der  Plasmolyse  so 
haufig  beobachtet  wird,   stellten   die  Fahigkeit   dieser  Or- 


J)  Darwin,  Insectivorous  plants  1875  Chapt.  III. 
2)  Ueber  die  Aggregation  im  Protoplasma  von  Drosera  rotun 
difolia.     Bot.  Zeitung  1886  S.  1. 


—     152     — 

gane,  sich  durch  diesen  Prozess  zu  vermehren,  ausser 
Zweifel.  Aus  der  Analogie  dieser  Gebilde  rait  den  Chroma- 
tophoren  leitete  ich  dann  die  Vermuthung  ab,  dass  „sie 
ebenso  wenig  wie  die  Amyloplaste  auf  anderem  Wege  als 
durch  Theilung  hervorgebracht  werden  konnen"  :). 

Diese  Vermuthung  ist  seitdem  von  Went  vollig  be- 
statigt  worden  2).  Er  zeigte  zunachst,  dass,  der  herrschen- 
den  Meinung  entgegen ,  audi  in  den  jiingsten  Zellen  des 
Meristems  Vacuolen  vorbanden  sind.  Diese  vermehren  sich 
bier  fortwahrend  durch  Theilung,  und  die  Beobachtung 
lehrt,  dass  bei  den  Zelltheilungen  die  Halfte  der  vor- 
handenen  Vacuolen  auf  die  eine  und  die  andere  Halfte 
auf  die  andere  Tochterzelle  iibergeht.  Bisweilen  gelang  es 
fur  dieselbe  Vacuole  die  Durchschniirung  und  nachher  den 
Uebergang  der  beiden  so  entstandenen  Saftblasen  auf  die 
Tochterzellen  zu  verfolgen.  Aus  den  Vacuolen  des  Meri- 
stems lassen  sich  also  die  sammtlichen  Vacuolen  der  ganzen 
Pflanze  ableiten.  Theilungen  dieser  Gebilde  findet  man 
iiberall;  Neubildungen  nirgendwo.  Ebenso  entstehen  bei 
den  mit  einer  Scheitelzelle  wachsenden  Kryptogamen  die 
samtlichen  Vacuolen  aus  den  ursprunglichen  in  diesen  Zellen 
vorhandenen  Blasen. 

Diesen  Untersuchungen  zufolge  verhalten  sich  die  Va- 
cuolen also  genau  wie  die  Chromatophoren,  sie  sind  ebenso 
selbstandige  Bildungen  in  den  Zellen  wie  diese.  Und  durch 
den  Nachweis  dieser  Selbstiindigkeit  ist  die  panmeristische 
Auffassung  der  Zell theilung,  der  friiheren  neogenetischen 
gegeniiber,  definitiv  als  richtig  erwiesen. 

Nach  spateren  Mittheilungen  desselben  Autors  gelang 
es   ihm    auch    die   Entstehung    der   Vacuolen   in   manchen 

*)  Pringsheim's  Jahrb.  f.  wiss.  Bot.  Bd.  XVI  S.  505. 
2)  Went,  Jahrb.  f.  wiss.  Bot.  Bd.  XIX  S.  295. 


—     153      - 

speziellen  Fallen,  welche  friiher  noch  nicht  studirt  worden 
waren,  zu  beobachten.  Hervorzuheben  ist  hier  die  Bildung 
dieser  Organe  bei  den  Schwarmsporen.  welche  nach  brief- 
lichen  Mittheilungen  Went's  durch  Theilung  der  in  der 
Mutterzelle  vorhandenen  Saftblase  derart  zu  Stande  kommt, 
dass  jeder  Schwarmer  einen  von  dieser  Blase  abgeschniirten 
Theil  in  seinen  Korper  aufnimmt. 

In  der  Literatur  ist  haufig  eine  Entstehung  von  Saft- 
raumen  in  Kernen,  Chromatophoren,  oder  auch  im  Korner- 
plasma  ausserhalb  der  vorhandenen  Vacuolen  beschrieben 
worden.  Die  Priifung  dieser  Fiille  ergab  aber,  dass  es 
sich  hier  nicht  am  normale  Vacuolen  handelt,  sondern  um 
pathologische  Bildungen .  welche  beirn  Altern  oder  beim 
Absterben  der  Zelle  auftreten.  Haufig  entstehen  sie  auch 
durch  den  Einfluss  des  Wassers ,  in  welchem  die  Pr;i- 
parate   zur  Beobachtung  gelangen  ]). 

Aus  dem  Satze,  dass  die  Vacuolen  nur  durch  Theilung 
entstehen,  lasst  sich  ableiten,  dass  die  Saftblasen  keimen- 
der  Samen  von  den  in  den  reifenden  Saraenknospen  vor- 
handenen abstammen,  und  dass  im  reifen  Zustande  also 
die  Vacuolen  zwar  ausgetrocknet  sein  miissen,  aber  nicht 
vollig  fehlen  konnen.  Diesen  Gedanken  verfolgend  ge- 
langte  Wakker  zu  der  merkwiirdigen  Entdeekung,  dass  die 
Aleuronkorner  die  trockenen  Zustande  der  Vacuolen  im 
Samen  sind  -).  Wahrend  des  Reifens  nimmt  der  Gehalt 
des  Zellsaftes  an  gelosten  Eiweissstoffen  allmahlig  zu,  bis 
die  Fliissigkeit  dicht  schleimig  wird.  Beim  Austrocknen 
kristallisiren  einige  Eiweisssubstanzen   und   bilden   die   be- 

')  F.  Went,  De  jongste  toestanden  der  vacuolen  S.  45—65. 

"2)  J.  II.  Wakker,  Aleuronkorrels  zyn  vacuolen.  Maandbl.  v. 
Natuurw.  1887  Nr.  5;  Bot.  Centralbl.  Bd.  XXXIII  Nr.  12  und  Jahrb. 
f.  wiss.  Bot.  Bd.  XIX  S.  423.  Seitdem  wurde  dieses  Ergebniss  be- 
statigt  durch  Werminski,  Ber.  d.  Bot,  Gesellsch.  Bd.  VI  1888  S.  199. 


—     154 

kannten  Kristalloide.  wahrend  das  iibrige  Eiweiss  um  diese 
herum  zu  einer  amorphen  Masse  erstarrt.  Beim  Einweichen 
des  Samens  losen  sich  diese  Massen  allmahlig,  um  spater 
als  Nahrstoffe  Verwendung  zu  finden.  Durch  Anwendung 
einer  Losung  von  einem  Theil  Salpetersaure  in  vier  Theilen 
Wasser  kann  man  in  dem  nocli  fliissigen  Zellsaft  die  Er- 
starrung  willkiirlich  hervorrufen,  und  so  die  Entstehung 
von  Aleuronkornern  unter  seinen  Augen  kiinstlich  herbei- 
fiihren. 

Wichtig  ist,  dass  in  einigen  Samen  mehr,  in  anderen 
weniger,  die  Vacuolen  sich  beim  Reifen  in  mehrere  kleinere. 
oft  in  sehr  zahlreiche  ausserst  kleine  Blasen  theilen,  welche 
dann  im  Anfange  des  Keimungsprozesses  allmahlig  wieder 
zu  Einer  grossen  Vacuole  zusammenschmelzen. 

Die  Vorgange  in  den  Samen  schliessen  sich  somit  in 
schonster  Weise  an  die  Vorstellung  von  der  alleinigen 
Entstehung  der  Vacuolen  durch  Theilung  an1). 

Wie  die  Chromatophoren  sich  zu  den  verschiedensten 
Organen  differenziren  konnen .  so  auch ,  obgleich  in  be- 
scheidenerem  Umfange,  die  Vacuolen.  Went  beobachtete. 
wie  in  verschiedenen  Zellen  Vacuolen  liegen,  welche  zeit- 
lebens  getrennt  bleiben.  und  sich  durch  verschiedenen  In- 
halt  unterscheiden 2).  Haufig  sind  die  einen  gefarbt,  die 
anderen  farblos  oder  die  einen  enthalten  Gerbstoff,  welcher 


J)  In  den  Miiller'schen  Korperchen  der  Ameisenpflanze  Cecro- 
pia  a  den  opus  bildet  Schimper  im  Zelleninhalte  Gebilde  ab,  welche 
auf  den  ersten  Blick  ausseben  wie  Vacuolen,  und  welche  er,  wegen  ihres 
dickfliissigen  Inhaltes,  mit  den  Aleuronkornern  vergleicht.  Hire  Ent- 
stehung aus  Vacuolen  ist  wohl  nicht  zweifelhaft.  A.  P.  W.  Schimper. 
DieWechselbeziehungenzwischenPflanzenundAmeisen 
1888.  Vergl.  namentlich  Taf.  II  Fig.  11.  Vergl.  auch  Wakker  in 
Pringsh.  Jahrb.  Bd.  XIX  S.  467. 

2)  AVent,  1.  c.  S.  65—91. 


—     155     — 

den  iibrigen  fehlt.  Meist  lasst  sicli  dann  Eine  Saftblase 
als  Hauptvacuole  von  den  iibrigen  unterscheiden.  Diese 
letzteren  werden  dann  von  unserera  Autor  adventive  Va- 
cuolen  genannt. 

Die  kontraktilen  oder  palsirenden  Vacuolen  bilden  ein 
besonderes  System.  In  den  Schwarmsporen  der  Algen 
entstehen  sie  wohl  aus  den  iibrigen  Vacuolen 1)  durcli 
weitere  Differenzirung ,  bei  den  Euglenen  vermehren  sie 
sich  aber  nacli  Klebs'  Untersuchungen  durch  Theilung2). 
Sie  besitzen  bier  eine  eigene  Wand,  welche  mit  den  Wanden 
gewohnlicher  Vacuolen  in  ihrer  grossen  Resistenzfahigkeit 
iibereinstimmt.  Klel)S  beobachtete,  wie  das  Pulsiren  nocb 
langere  Zeit  vor  sich  geben  kann,  nachdem  man  den  iibrigen 
Protoplasten  durch  irgend  welchen  mechanischen  Eingriff  ge- 
todtet  hat.  Die  Ansicht,  dass  bei  der  Systole  der  Inhalt  dieser 
Vacuolen  in  die  Umgebung  hinausgestossen  wircl,  wahrencl 
bei  der  Anastole  Fliissigkeit  aus  dem  Protoplasten  ent- 
nommen  wird,  ist  jetzt  fiir  Rhizopoden  unci  Flagellaten  wohl 
allgemein  angenommen.  Durcli  eigene  Beobachtung  iiber- 
zeugte  ich  mich  von  ihrer  Richtigkeit  bei  Actinophrys 
Sol.  Dieselbe  Meinung  diirfte  audi  auf  die  pulsirenden 
Vacuolen  im  Pflauzenreich  Anwendung  finden  3). 


§  7.     Die  Beziehung  zwischen  Hautschicht  mid 
Kornerplasraa. 

Wahrend  iiber  die  bis  jetzt  besprochenen  Organe   der 
Protoplaste  die  Untersuchungen    der   beiden  letzten  Jahr- 


J)  Oder  sollten  vielleicht,  phylogenetisch,  die  Turgorvacuolen  aus 
den  pulsirenden  entstanden  sein? 

2)  G.  Klebs,  Arbeiten  Tubingen,  Bd.  I  S.  250  ff. 

3)  Pfeffer,  Pflanzenphysiologie  S.  399—401. 


—     156     — 

zelmte  ein  helles  Licht  verbreitet  haben,  liegt  die  Beziehung 
zwischen  Hautschicht  und  Kornerplasma  noch  vollig  im 
Dunklen.  In  unserer  Kenntniss  von  der  Entstehungsweise 
der  Kerne,  Trophoplaste  und  Vacuolen  findet,  wie  ich  in 
diesem  Abschnitt  zu  schildern  suchte,  die  Theorie  der  Ver- 
erbung  ihre  unerlassliche  Grundlage ;  iiber  die  gegenseitige 
Beziehung  der  beiden  anderen  genannten  Theile  der  Proto- 
plaste  sind  noch  keine  Thatsachen  aufgefunden  worden, 
welche  fur  die  Theorie  verwerthet  werden  konnten. 

Es  ist  nun  allerdings ,  wie  bereits  erwahnt,  fiir  die 
Hypothese  der  intracellularen  Pangenesis  nicht  von  prin- 
zipieller  Bedeutung,  welcher  Art  jene  Beziehung  ist.  Doch 
bleibt  es  eine  wichtige  Frage,  ob  Kornerplasma  und  Haut- 
scbicht einander  gegenuber  ebenso  unabhangig  sind  wie 
Kornerplasma  und  Vacuolenwand,  oder  ob  sie  zu  einander 
in  ahnlichem  genetischen  Verhaltniss  stehen,  wie  Amylo- 
plaste  und  Chlorophyllkorner.  So  lange  diese  Frage  nicht 
entschieden  ist.  ist  die  Anwendung  meiner  Hypothese  auf 
die  Hautschicht,  und  damit  auf  das  Machenwachsthum  der 
Zellhaut  und  die  ganzen  Gestaltungsvorgange  der  Zellen, 
in  hohem  Grade  erschwert.  Aus  diesem  Grunde  sei  es 
mir  gestattet,  die  einschlagigen  Erscheinungen  einer  kri- 
tischen  Revision  zu  unterwerfen.  um  dadurch  zu  einem  ge- 
naueren  Studium  davon  anzuregen.  Es  wird  sich  dabei, 
wie  mir  scheint,  zeigen,  dass  die  herrschende  Meinung  von 
der  jedesmaligen  Entstehung  der  Hautschicht  aus  dem 
Kornerplasma  durch  sicher  und  eingehend  beobachtete 
Thatsachen  augenblicklich  nicht  gestiitzt,  sondern  nur  aus 
langer  Gewohnheit  angenommen  wird.  Letzteres  scheint 
mir  aber,  den  neueren  Erfahrungen  iiber  die  Entstehung 
der  Vacuolenwand  gegeniiber?  keineswegs  gestattet  zu  sein. 
Denn  so  lange  man  keine   besondere  Wand  der  Vacuolen 


—     157     — 

annahm.  lag  es  auf  der  Hand,  auch  die  Hautschicht  nicht 
als  besonderes  Organ  zu  betrachten.  Seitdem  die  Selb- 
standigkeit  der  ersteren  nachgewiesen  wurde,  ist  solche 
offenbar  auch  fur  die  letztere  die  wahrscheinlichere  An- 
nahme  :). 

Gegen  die  herrscliende  Meinung  sprechen,  ausser  der 
im  nachsten  Paragraphen  naehzuweisenden  Unvollstandig- 
keit  der  Beobachtungen,  einerseits  der  ganze  Entwickelungs- 
gang  unserer  Kenntnisse  auf  dem  Gebiete  der  Zellen- 
anatomie,  andererseits  die  bereits  mehrfach  beschriebenen 
Differenzirungen  der  Hautschicht  und  des  Kornerplasma. 
Letzteres  bildet  keineswegs,  der  alten  Vorstellung  ent- 
sprechend,  eine  durch  ihre  Bewegungen  sich  stetig  mischende. 
und  also  nicht  im  gewohnlichen  Sinne  organisirte  Grund- 
masse  des  Protoplasma.  Am  deutlichsten  sieht  man  dies 
bei  den  Characeen.  Hier  besteht  es  zunachst  aus  einem 
stromenden  und  einem  ruhenden,  die  Chlorophyllkorner 
enthaltenden  Theil.  Wenn  bisweilen  die  griinen  Korner 
ans  ihrer  Lage  losgerissen  und  vom  Strome  fortgefiihrt 
werden,  sieht  man.  dass  sie  nicht  einzeln  der  Hautschicht 
anlagen.  Denn  sie  werden  nicht  einzeln,  sondern  in  Bandern 
und  Gruppen  mitgeschleppt,  wahrend  innerhalb  dieser  die 
Korner  ihre  gegenseitige  Lage  und  Entfernung  behalten. 
Aber  auch  der  stromende  Theil  bildet  nicht  ein  Ganzes, 
die  Stromesgeschwindigkeit  ist  keineswegs  iiberall  auf  dem 
Querschnitt  dieselbe.  Sie  ist  in  der  Nahe  der  Chlorophyll- 
korner grosser  als  an  der  Vacuolenwand,  und  nimmt  ferner 


')  Ganz  besonders  erwiinscht  ware  eine  Methode,  um,  in  ahn- 
licher  Weise  wie  durch  starke  plasmolytische  Reagentien  die  Vacuolen- 
wand, auch  die  Hautschicht  iiberall  kiinstlich  vom  Kornerplasma 
trennen  zu  konnen.  Auch  zur  Beurtheilung  der  auf  S.  159  Note  2 
zu  erwahnenden  Hypothese  iiber  das  Dickenwachsthum  der  Zellhaute 
wiirde  eine  solche  Methode  grosse  Dienste  leisten  konnen. 


—     158     — 

von  den  beiden  Indifferenzstreifen  nach  der  Mitte  der  durch 
diese  getrennten  griinen  Felder  zu.  Bei  sinkender  Lebens- 
energie  kommen  zuerst  die  trageren  Strome  zur  Ruhe, 
wahrend  die  rascheren  noch  sich  fortbewegen ,  und  mit 
weiter  abnehmender  Geschwindigkeit  nimmt  aucb  die 
Breite  des  Stromes  ab. 

Ganz  allgemein  scbeint  das  Kornerplasma  im  Pflanzen- 
reich  aus  stromenden  und  ruhenden  Theilen  zu  bestehen, 
deren  Grenze  durcli  mehr  oder  weniger  giinstige  Lebens- 
bedingungen  verschoben  werden  kann,  oder  auch  im  Laufe 
der  Entwickelung,  den  sich  and  era  den  Bediirfnissen  ent- 
sprechend,  sich  selbstthatig  verschiebt. 

Letzteres  lebren  die  schonen  Untersucbungen  von 
Dippel,  Criiger  und  Strastourger  iiber  die  Beziehungen 
zwischen  den  Plasmastromen  und  der  inneren  Skulptur  der 
Zellwand  a).  Denn  allgemein  laufen  denjenigen  Stellen  ent- 
lang,  wo  in's  Innere  hervorspringende  Leisten  in  der  Ent- 
stehung  begriffen  sind,  kraftige  Stromcben ,  welclie  offen- 
bar  die  erforderlicben  Nahrstoffe  herbeischaffen  und  ver- 
theilen.  Diese  Differenzirung  im  Kornerplasma  wird  aber 
allem  Anscbeine  nach  von  einer  entsprecbenden  Differen- 
zirung in  der  Hautschicht  beherrscht.  Denn  nach  Dippel 
bestehen  die  Bander,  welche  die  Celluloseleisten  bilden, 
aus  einem  ausseren  hyalinen  Bande.  welches  dicker  ist 
wie  die  sonstige  Hautschicht ,  sich  aber  ebenso  wenig 
wie  diese  mit  Jod  gelb  farbt,  und  einer  inneren  stromen- 
den Schicht  des  Korner  fiihrenden  Plasmns,  welche 
letztere  durch  Behandlung  mit  Jod  einen   hochgelben  Ton 


x)  L.  Dippel,  Abhandl.  d.  naturf.  Ges.  zu  Halle  Bd.  X  1864 
S.  55.  Criiger,  Bot.  Zeitung  1855  S.  623.  Strasburger  in  Jenaisclie 
Zeitschr.  f.  Naturwiss.  1876  Bd.  X  Heft  IV  S.  417. 


—     159     — 

annimmt1).  Offenbar  ist  das  hyaline  Band  ein  differenzirter 
Theil  der  Hautschicht,  welcber,  auf  seiner  Innenseite  vom 
Strome  bedeckt  und  ernabrt,  auf  seiner  Aussenseite  den 
Zellhautleisten  bildet 2). 

In  nackten  Protoplasten  sprecben  aucb  dieCilien  fur  eine 
innere  Organisation  der  Hautscbicht.  Fiir  die  Schwarmer 
von  Vaucheria  wurde  diese von Strasburger  beschrieben  3). 
Hier  sitzt  jede  Cilie  einem  dicbteren  Theile  dieser  Scbicbt 
auf;  es  sieht  aus,  als  ob  sie  ibr  mit  einer  dicken  Wurzel 
eingepflanzt  ware. 

§  8.     Die  fragliche  Autonomic  der  Hautschicht. 

Wahrend  bei  der  Zelltbeilung  nacb  clem  von  Mohl 
beschriebenen  Typus  die  Vermehrung  der  Hautscbicht 
durch  Tbeilung  und  Wachsthum  allgemein  anerkannt  wird, 
nimmt  man  gewohnlich  fiir  die  Zellbildung  der  boheren 
Pflanzen  die  Einschaltung  einer  neuen  Platte  und  deren 
Verbindung  mit  der  alten  Hautscbicht  an.  Ausserdem 
giebt  es  einige  Fiille  von  Zellbildung,  welcbe  ganz  direkt 
fiir  eine  Neubildung  der  Hautschicht  aus  dem  Korner- 
plasma  zu  sprechen  scheinen. 

Alle  diese  Falle  scheinen  mir  erneuter  Untersuchung 
dringend  zu  bediirfen.  Nur  mit  der  Absicht,  dazu  anzu- 
regen,  sollen  sie  hier  kurz  besprochen  werden. 

In  Bezug   auf  die    gewohnliche   Art   der    Zelltbeilung 


1)  1.  c.  S.  57,  58. 

2)  Strasburger's  Hypothese  des  Zellhautwachsthums  durch 
schichtweise  Umanderuug  der  aussersten  Lagen  der  Hautschicht  in 
Zellhaut  lasst  sich  ohue  Schwierigkeit  mit  der  Annahme  der  Auto- 
nomic dieses  Organes  gegeniiber  dem  Kornerplasma  verbinden ,  und 
bedarf  daher  an  dieser  Stelle  keiner  eingehenderen  Besprechung. 

3)  Strasburger,  Studien  tiber  das  Protoplasma  1876  S.  400. 


—     160     — 

hat  sich  die  Sachlage  im  vergangenen  Jahre  wesentlich 
geandert  durch  eine  Entdeckung  von  Went1),  welche  von 
Strasburger  bestatigt  wurde  -).  Diese  Entdeckung  gilt  der 
Natur  der  sogenannten  Zellplatte,  welche  sich,  nachdem 
die  Kerntheilung  abgeschlossen  ist,  in  der  Mitte  der  jetzt 
tonnenformigen  Figur  bilden  sollte.  Wie  der  Name  es 
ausdriickt,  betrachtete  man  die  Zellplatte  als  eine  die 
Figur  quer  durchsetzende  Schicht,  welche  sich  nachher 
in  zwei  Schichten  theilt  und  zwischen  diesen  die  neue  Cel- 
luloselamelle  ausscheidet.  Diese  beiden  Schichthalften 
waren  die  Ergiinzungsstiicke  der  Hautschicht;  sie  wuchsen, 
wahrend  die  Tonne  sich  abplattete  und  sich  seitlich  aus- 
dehnte,  nach  alien  Seiten  hinaus.  bis  sie  die  alte  Haut- 
schicht der  Mutterzelle  erreichten  und  mit  dieser  ver- 
schmolzen. 

Es  gelang  nun  Went,  die  ganze  Zelltheilungsfigur 
im  fixirten  und  tingirten  Zustande  aus  den  Zellen  heraus- 
zulosen  und  frei  in  der  Fliissigkeit  des  Praparates  herum- 
schwimmen  zu  lassen.  Dadurch  war  es  moglich,  die  bis 
dahin  nur  von  der  Seite  studirte  und  abgebildete  Zellplatte 
sich  drehen  zu  lassen  und  in  polarer  Ansicht  zu  studiren. 
So  lange  die  Zellplatte  kleiner  ist  als  die  Tochterkerne. 
lehrt  diese  Ansicht  selbstverstandlich  nichts,  da  es  nicht 
moglich  war,  die  Kerne  zu  entfernen.  Sobald  die  Zellplatte 
aber  seitlich  zwischen  den  Kernen  lierrvorragte,  zeigte  sich. 
dass  sie  keineswegs  eine  kontinuirliche  Platte,  sondern  nur 
ein  ziemlich  dunner  Ping  ist.  Dieser  Ring  liegt  in  dem 
Verbindungsschlauche ,  der  das  Innere  der  Figur  von  der 
Umgebung   trennt,  und  wohl  dieselbe  Bedeutung   hat  wie 


5)   F.   A.   F.   C.   Went,   Beobachtungen   iiber  Kern-    und   Zell- 
theilung.     Ber.  d.  d.  bot.  Gesellsch.  1887  V  S.  247,  Taf.  XI. 
2)  Strasburger,  Ueber  Kern-  und  Zelltbeilung  1888. 


—     161     — 

bei  Spirogyra1).  Dieser  „Zellring",  wie  wir  die  Zell- 
platte  jetzt  nennen  miissen,  ist  es  nun,  der  sich  vergrossert, 
bis  er  erst  an  einer,  dann  allmahlig  auf  alien  Seiten  mit 
dem  wandstandigen  Protoplasma  der  Mutterzelle  in  Ver- 
bindung  tritt. 

Dass  die  Ebene  des  Zellringes  der  Ort  ist,  wo  sich  die 
Scheidewand  ausbildet,  stehtfest  und  stimmt  mit  der  friiheren 
Vorstellung  von  der  Zellplatte  im  Wesentlichen  iiberein. 
Aber  ob  im  Zellringe  die  Ausscheidung  von  Cellulose  be- 
reits  anfangt,  bevor  er  sich  wenigstens  an  einer  Seite  der 
Wand  der  Mutterzelle  angeschlossen  bat,  konnte  bis  jetzt 
nicht  festgestellt  werden.  Sobalcl  sie  sich  durch  Reagentien 
nachweisen  lasst,  schliesst  die  neue  Haut  wenigstens  auf 
einer  Seite  der  Mutterzellwand  an  2).  Ebenso  wenig  ist  es 
entschieden,  wenn  auch  nicht  unwahrscheinlich,  ob  in  der 
Ebene  des  Ringes  eine  Membran  ausgespannt  ist,  welche 
die  dort  befindliche  Vacuole  quer  durchsetzt  und  in  zwei 
getrennte  Saftblasen  spaltet. 

Es  ist  klar,  dass  durch  die  Entdeckung  des  Zellringes 
die  alte,  der  Autonomic  der  Hautschicht  widersprechende 
Auffassung  von  der  Zelltheilung  hinfallig  geworden  ist.  Zu 
ihrer  definitiven  "Widerlegung  bedarf  es  aber  weiter  fort- 
gesetzter  Untersuchungen ,  welche  namentlich  auch  die 
Vacuolenwande  in  der  Theilungsfigur  zu  berlicksichtigen 
haben  werden. 

Ich  befinde  mich  bier  in  Uebereinstimmung  mit 
Zacharias,  welcher  nach  Beobachtungen  an  Char  a  ver- 
muthet,    dass   die  Zellplattenelemente   aus   dem   die  Kern- 


1)  Vergl.  S.  132—134. 

2)  Strasburger,  Bot.  Praktikum,  1884  S.  597  und  Ueber  Kern- 
und  Zelltheilung  1888  S.  171  ff. 

de  Vries,  Intracellulare  Pangenesis.  11 


—     162     — 

figur  umgebenden  Zellplasma  stammen1).  Auch  mochte 
ich  hier  an  einen  Ausspruch  Flemming's  erinnern,  nach 
welchem  die  Zelltheilung  bei  Pflanzen  und  Thieren  all- 
gemein  mit  einer  Einschniirung  des  Protoplasten  aniangt. 
Diese  Einschniirung  sei  nur  deshalb  in  manchen  Praparaten 
nicht  beobachtet,  weil  sie  oft  einseitig  ist,  und  also  einen 
bestimmten  Stand  der  Zelle  unter  dem  Mikroskope  ver- 
langt,  um  gesehen  werden  zu  konnen  2). 

DieAnsichtPlatner's,  dass  die  Spindelfasern  Stromchen 
des  Kornerplasnia  sind.  mochte  ich  hier  noch  zur  Nach- 
untersuchung  empfehlen.  Dazu  kann  aber  nur  die  direkte 
Beobachtung  am  lebenden  Objekte  dienen.  Offenbar  sind 
die  Plasmastrome  beim  Studium  der  Zelltheilung  bis  jetzt 
in   unverdienter  Weise  vernachliissigt  worden. 

Es  eriibrigt  uns  jetzt  noch  einen  Blick  zu  werfen  auf 
die  Beispiele  der  sogenannten  freien  Zellbildung,  welche 
wohl  die  auffalligsten  Ausnahmen  von  der  Regel  der  auto- 
nomen  Entstehung  der  Hautschicht  darstellen.  Als  freie 
Zellbildung  bezeichnete  man  die  Falle,  in  denen  nicht  der 
gesammte  Protoplast  der  Mutterzelle  bei  der  Bildung  der 
Tochterzellen  Verwendung  findet 3).  Die  neuen  Zellen 
dachte  man  sich  im  Innern  der  Mutterzelle,  also  ohne  je- 
den  Kontakt  mit  der  Hautschicht  entstanden,  und  es  lag 
also  auf  der  Hand,  dass  ihre  Hautschicht  aus  dem  Korner- 
plasma  hervorgegangen  sein  musste. 


')  Bot.  Zeitung  1888  S.  456. 

2)  Flemming,  Zellsubstanz,  Kern-  und  Zelltheilung  1882  S.  243. 

s)  In  der  neuesten  Zusammenfassung  der  diesbeziiglichen  Literatur 
schlagt  Zimmermann  vor,  den  Namen  freie  Zellbildung  nicht  fur 
diese  Erscheinungen,  sondern  fur  die  Bildung  freier,  d.  h.  mit  der 
Mutterzelle  nicht  im  Gewebeverbande  stehender  Zellen  zu  benutzen. 
Sollte  sich  herausstellen ,  dass  eine  freie  Zellbildung  im  alten  Sinne 
im  Pflanzenreich  nicht  vorkommt,  so  ware  dieser  Vorschlag  gewiss  an- 


—     163     — 

Als  erstes  Beispiel  galten  friiher  die  Vorgange  iin 
Embryosack  1).  Namentlich  die  Eizellen  der  Angiospermen 
wurden  oft  als  kugelrunde,  frei  im  Protoplasma  des 
Embryosackes  liegende  Zellen  betraclitet.  Em  genaues 
Studium  der  neuesten  Literatur  lehrt  aber,  class  die  ge- 
nannten  Gebilde  stets  der  Membran  der  Mutterzelle  an- 
liegen  -),  unci  also  offenbar  durcli  gewohnliche  Tbeilung  aus 
dein  Embryosacke  hervorgehen.  Von  der  Richtigkeit  dieser 
Folgerung  iiberzeugt  man  sich  sowohl  fur  die  Eizellen  wie 
fiir  Synergiden  und  Antipoden  am  leichtesten ,  wenn  das 
Protoplasma  des  Embryosackes  durch  kontrahirende  Rea- 
gentien  allseitig  von  seiner  Zellhaut  losgelost  worden  ist. 
Icli  fiihre  als  Beispiel  die  Abbildungen  des  Embryosackes 
von  Daphne  an,  welche  Prohaska  gegeben  hat3).  Hier 
sieht  man  deutlich ,  wie  dieser  Protoplast  bei  seiner  Zu- 
sammenziehung  sich  von  den  Eizellen,  Synergiden  und  Anti- 
poden zuriickgezogen  hat,  diese  liegen  mit  breiter  Flache 
der  Membran  der  Mutterzelle,  des  urspriinglichen  Embryo- 
sackes, an.  Dass  sie  durch  den  gewohnlichen  Vorgang  der 
Zelltheilung4)aus  diesem  entstanden  sind,  kann  wohl  keinem 
Zweifel  unterliegen;  sie  sind  somit  nicht,  wie  friiher,  als 
Tochter,  sondern  als  Schwestern  des  jetzt  noch  vorhandenen 
Theiles  des  Embryosackes  zu  betrachten.  Auch  liegen  sie  in 
dem  erwahnten  Beispiel  neben  diesem,  und  nicht  in  seinem 
Innern.  Dass  die  Eizellen  und  Synergiden  sich  vor  der 
Befruchtung  nicht,  wie  die  Antipoden,  durch  eine  Zellhaut 


zunehmen.     Vergl.   Die   Morphologie   und  Physiologie    der  Pflanzen- 
zelle  1887  S.  160. 

')  Vergl.  z.  B.  Sachs,  Lehrbuch  4.  Aufl.  S.  559. 

2)  van  Tieghem,  Traite  de  Botanique  1884  S.  857,   868  u.  s.  w. 
und  Zimmermann,  1.  c.  S.  161. 

3)  Prohaska,  Bot.  Zeitung  1883  S.  865  Taf.  VIII  Fig.  2-4. 

4)  Speziell  durch  sogenannte  Vielzelltheilung. 

11* 


—     164     — 

vom  Embryosack  trennen,  beeintrachtigt  diese  Auffassung 
offenbar  nicht. 

Ich  finde  in  der  mir  zuganglichen  Literatur  nicht,  dass 
Jemand  die  alte  Auffassung  bestimmt  angegriffen  und  als 
unrichtig  bezeichnet  hat.  Sie  scheint  von  den  besten 
Forschern  nur  unmerklich  verlassen  worden  zu  sein.  Je- 
doch  diirfte  die  oben  gegebene  Darstellung  des  Vorganges 
jetzt  von  ihnen  wohl  als  die  einzig  richtige  angesehen  werden. 
In  den  Zeichnungen  der  letzten  Jahre,  und  namentlich  in 
den  Arbeiten  Strasburger's,  findet  sie  vielfache  Stiitzen1). 

Auch  bei  der  Bildung  des  Endospermes  scheint  neue 
Hautschicht  nur  in  Beriihrung  mit  derjenigen  der  Mutter  - 
zelle  zu  entstehen.  In  schmalen  Embryosacken,  wo  jeder 
Kerntheilung  eine  Zelltheilung  folgt,  liegen  die  Verhaltnisse 
offenbar  nicht  wesentlich  anders  als  bei  der  vegetativen 
Zellbildung.  Und  fiir  die  weiteren,  nach  der  Befruchtung 
noch  wachsenden  Embryosacke  gelingt  es  mir  nicht  in  der 
vorliegenden  Literatur  irgend  einen  Beweis  gegen  die  Rich- 
tigkeit  dieser  Annahme  zu  finden  2). 

Bei  manchen  Algen  (Acetabularia,  Hydrodictyon, 
Ulothrix  u.  A.)  entstehen  die  Schwarmsporen  nur  aus 
einem  Theile  des  Protoplasma  der  Mutterzelle.  Dieser 
Theil  ist  dann  stets  die  wandstandige  Schicht,  und  jede 
Schwarmspore  erhalt,  soweit  die  vorliegende  Literatur  dies 
zu  beurtheilen  gestattet,  nicht  nur  einen  Kern,  Chromatophoren 
und  Vacuolen  3),  sondern  auch  einen  Theil  der  Hautschicht 
der  Mutterzelle.     Aehnliches  scheint  auch  unter  den  Pilzen. 


*)  Vergl.  z.  B.  Strasburger,  Befruchtung  und  Zelltheilung  1878 
Taf.  Ill  Fig.  110-119,  Taf.  IV  Fig.  120—122  u.  s.  w.  und  Guignard, 
Ann.   d.  Sc.  nat,  6.  Serie   Taf.  XIII  S.  176,   Taf.  VII   Fig.  160-165. 

2)  Vergl.  namentlich  Hegelmaier,  Zur  Entwickelungsgeschichte 
endospermatischer  Gewebekorper.     Bot.  Zeitung  1886  S.  529. 

3)  Nach  der  S.  153  erwahnten  Mittheilung  Went's. 


—     165     — 

z.  B.  bei  Protomyces  macrosporus  vorzukommen 1).  Fiir 
Hydrodictyon  giebt  Pringsheim  an,  class  das  farblose, 
Cilien  tragende  Vorderende  der  Schwarmer  der  miitter- 
lichen  Hautscbicht  entspricbt  -). 

Auch  bei  den  Saprolegnieen  werden  die  Oosporen 
derart  gebildet,  dass  jede  einen  Theil  der  miitterlichen 
Hautschicbt  in  sich  aufnimmt3). 

Eine  grossere  Schwierigkeit  bilden  die  Ascosporen.  Aber 
Hire  Entstelmng  ist  in  den  letzten  Jaliren  nicbt  eingebend 
studirt  worden.  Namentlicb  seitdem  man  weiss,  class  ihrer 
Bildung  stets  Tbeilungen  des  Mutterkernes  vorangeben.  hat 
man  sich  die  Frage,  wie  sie  in  den  Besitz  ihrer  iibrigen  Organe 
gelangen,  noch  nicbt  vorgelegt.  Dass  jede  Spore  eine  oder 
mebrere  Vacuolen  durcb  Tbeilung  der  miitterlichen  Saft- 
blasen  erhalten  muss,  ist  klar,  aber  wie  dieses  geschieht, 
bat  noch  Niemand  untersucht.  Audi  die  Frage,  woher  sie 
ibre  Hautscbicht  bekommen,  muss  also  neuen  Unter- 
sucbungen  aufs  dringlichste  empfohlen  werden. 

Ebenso  harrt  die  Entstelmng  der  Eizelle  im  Oogonium 
der  Peronosporeen  des  Studiums  nacb  den  jetzigen  Methoden. 
Ueber  die  Entstebung  der  Hautschicbt  lasst  sich  auch  in 
diesem  Falle  vorlaufig  noch  nichts  Sicheres  aussagen. 

Ueber  die  Hautscbicht  der  Spermatozoiden  vergleiche 
man  den  folgenden  Abschnitt  (S.  172—174). 

Als  Schlussergebniss  dieses  Ueberblickes  dtirfen  wir 
also  sagen,  dass  in  alien  Fallen,  in  denen  die  Entstebung 
neuer  Hautscbicht  ausser  Beriihrung  mit  der  alten  ange- 
nommen  wird,    diese  Annahme  wesentlich  auf  alteren  und 

x)  Vergl.  de  Bary,  Vergleichende  Morphologie  und  Biologie  der 
Pilze,  Mycetozoen  und  Bacterien  1884  S.  86. 

*)  Monatsber.  der  k.  Akademie,  Berlin  1871,  S.  246. 

3)  de  Bary,  Abh.  d.  Senckenb.  naturf.  Gesellsch.  1881  Bd.  XII 
S.  261. 


—     166     — 

nach  unvollkommenen  Methoden  angestellten  Beobachtungen 
berubt.  Ausnabmen  von  der  Regel  sincl  also  keineswegs 
mit  Sicherheit  bekannt,  wenn  sie  audi  nach  nnserer  Hypo- 
these  von  der  intracellularen  Pangenesis,  nicht  a  priori  als 
unmoglich  angeseben  werden  diirfen. 


Abschnitt  III. 
Die  Funktionen  der  Zellkerne. 

Erst es  Kapitel. 
Historische  Einleitiing. 

§  1. 

Der  erste  Schriftsteller ,  welcber  den  Kern  als  das 
Organ  der  Vererbung  bezeicbnet  bat,  ist  Ernst  Haeckel. 
Im  zweiten  Bande  seiner  Grenerellen  Morpbologie 
der  Organism  en1)  begriindet  er  diese  Auffassung,  in- 
dem  er  sicb  namentlicb  auf  das  Verbalten  des  Kernes  bei 
der  Zelltheilung  stiitzt.  Fiir  ibn  hat  „der  innere  Kern  die 
.Vererbung  der  erblichen  Cliaraktere,  das  aussere  Plasma 
dagegen  die  Anpassung,  die  Akkomodation  oder  Adaption 
an  die  Verhaltnisse  der  Aussenwelt  zu  besorgen".  Und 
wie  der  Kern  seine  Hauptrolle  bei  der  Fortpflanzung  spielt, 
so  sei  die  Ernahrung  die  Hauptaufgabe  des  Plasmas.  In 
den  niedrigsten,  kernlosen  Organismen  seien  beide  Funk- 
tionen noch  nicht  getrennt. 

Durch  fast  zehn  Jahre  ist  dieser  prophetische  Aus- 
spruch  ohne  merkliche  Wirkung  auf  die  Fortschritte  der 
Zellenanatomie  und  der  Befruchtungslehre  geblieben.  Erst 
die  Entdeckung  Oscar  Hertwig's,  dass  bei  der  Befruchtung 
die  Spermatozoiden  mit  dem  Kerne  der  Eizellen  kopuliren, 

_1)  1866  S.  287—289. 


—     167     — 

hat  Haeekel's  Gedanken  zum  Ausgangspunkte  fiir  eine 
neue  Forschungsrichtung  erhoben  1).  Hertwig  beobachtete 
diese  Thatsache  zuerst  bei  den  Eiern  der  Echiniden.  und 
stellte  fest.  dass  die  Befruchtimg  niclit  etwa  auf  einem  ein- 
fachen  Aneinanderliegen,  sondern  auf  einer  gegenseitigen 
Durchdringung  der  beiden  Kerne  beruhe. 

R,  Hertwig,  Fol,  Selenka,  Flemming  und  Andere 
haben  diese  Meinung  durch  weitere  Beobachtungen  gestiitzt. 
und  demzufolge  ist  sie  in  der  zoologischen  Wissenschaft 
jetzt  wohl  zur  allgemeinen  Anerkennung  gelangt. 

Auf  botaniscliem  Gebiete  hat  sich  Strasburger  das 
grosse  Verdienst  erworben,  den  Satz.  dass  die  Befruchtung 
wesentlich  auf  der  Vereinigung  der  Zellkerne  beruht,  durch 
langjahrige  Untersuchungen  festgestellt  und  definitiv  be- 
wiesen  zu  haben.  Seine  ersten  Studien  iiber  die  Befruchtung 
der  Coniferen,  und  die  spateren  liber  denselben  Vorgang 
bei  den  Angiosperraen  -)  bilden  jetzt  die  Grundlage  fiir 
diesen  Theil  unserer  Wissenschaft. 

Die  iibrigen  Organe  der  Protoplaste  nehmen  bei  der 
Befruchtung  an  der  Kopulation  keinen  Antheil.  Und  da 
die  Glieder  der  befruchteten  Eizelle  dennoch  spater  die 
Eigenschaften  der  beiden  Eltern  besitzen,  so  ist  es  klar.  dass 
eine  Uebertragung  cler  erblichen  Eigenschaften  aus  dem  be- 
fruchteten Kerne  auf  sie  stattfinden  muss.  Diese  Ueber- 
tragung ist  aber  der  Beobachtung,  wenigstens  jetzt,  noch 
nicht  zuganglich.  Doch  sprechen  bereits  manche  Thatsachen 
auch  ausserhalb   der  Befruchtungslehre    fiir   ihre  Existenz. 

Es  ist  meine  Absicht,  in  diesem  Abschnitte  alle  That- 

1)  O.  Hertwig,  Beitrage  zur  Kenntnis  der  Eildung,  Befruchtung 
und  Theilung  des  thierischen  Eies,  Morpholog.  Jahrbuch  I  1875  S.  347. 

2)  Strasburger,  Ueber  Befruchtung  und  Zelltheilung  1878. 
Derselbe,  Neue  Untersuchungen  iiber  den  Befruchtungsvorgang  bei 
den  Phanerogamen  1884. 


—     168     — 

sachen,  welche  auf  das  "Wesen  dieser  Uebertragung  ein 
Licht  werfen  konnen,  moglichst  vollstandig  zusammen  zu 
stellen.  Die  herrschende  Auffassung  betrachtet  diesen  Vor- 
gang  als  einen  dynamischen,  wahrend  meine  Hypothese  der 
intracellularen  Pangenesis  einen  Transport  stofflicher  Theil- 
chen  als  Trager  der  erblichen  Eigenschaften  annimmt.  Es 
handelt  sich  also  darum ,  zu  untersuchen ,  welche  dieser 
beiden  Auffassungen  in  dem  vorhandenen  Beobachtungs- 
material  die  besten  Stiitzen  findet. 


Z  weites  Kapitel. 
Die  Befruclituiig. 

§  2.    Die  Kopulation  der  Zygosporeen. 

Sehr  lehrreich  ist  das  Verhalten  des  Chlorophyllbandes 
der  Spirogyren  wahrend  der  Kopulation.  Schon  de  Bary 
hatte  beobachtet,  dass  bei  manchen  einspirigen  Arten  die 
beiden  Chlorophyllbander  der  kopulirenden  Zellen  sich 
derart  mit  den  Enden  aneinanderlegen,  dass  sie  ein  kon- 
tinuirliches  Band  darstellen.  Fur  die  einspirige  Art  S.We- 
beri  hingegen  hat  in  neuester  Zeit  Overton  beschrieben 
und  abgebildet,  wie  das  Band  der  miitterlichen  Zelle  sich 
bei  der  Kopulution  in  der  Mitte  spaltet,  und  wie  darauf 
das  vaterliche  Band  sich  zwischen  diese  beiden  Halften 
einschiebt  und  sich  mit  seinen  Enden  an  sie  anlegt 2). 
Spater  werden ,  durch  die  bedeutende  Anschwellung  der 
Amylumherde,  sowie  durch  andere  Vorgange,  die  Win- 
dungen    des    Bandes    allmahlig    undeutlicher,    um    in   der 

3)  De  Bary,  Die  Conjugaten  S.  3. 

2)  C.  E.  Overton,  Ber.  d.  d.  bot.  Gesellsch.  Bd.  VI  1888  S.  70 
Taf.  IV. 


—     169     — 

Zygospore  ganz  unkenntlich  zu  werden,  unci  erst  bei  deren 
Keimung  wieder  zum  Vorschein  zu  kommen  1). 

Diese  Angaben  geniigen  vollstandig,  um  uns  iiber  die 
Herkunft  der  Chlorophyllbander  der  jungen  Keimpflanze 
eine  Vorstellung  zu  machen.  Wir  nehmen  dabei  als  Er- 
gebniss  der  erwahnten  Untersuchungen  an,  dass  das  Chloro- 
phyllband  der  keinienden  Zygospore  aus  den  in  der  einen 
oder  der  anderen  AVeise  mit  den  Enden  aneinandergelegten 
Bandera  der  beiden  Sexualzellen  bestebt.  AVas  wird  jetzt, 
bei  den  ersten  Theilungen  der  jungen  Pflanze  mit  diesen 
beiden  Theilen  des  Bandes  geschehen?  Offenbar  wird  die 
erste  Zelltheilung,  indem  sie  das  Band  in  der  Mitte  durch- 
schneidet,  in  dem  von  de  Bary  bescbriebenen  Falle  die 
mutterlicbe  Halfte  der  einen.  die  vaterliche  Halfte  der 
anderen  Tocbterzelle  zuweisen.  Bei  S.  AVeberi  werden 
dieses  aber  erst  die  beiden  folgenden  Tlieilungen  tbun ;  die 
mittleren  Zellen  des  vierzelligen  Fadens  fiibren  dann  das 
vaterliche,  die  beiden  Endzellen  das  miitterlicbe  Band. 

Aus  dieser  Betracbtung  ergiebt  sich,  dass  es  fur  die 
einzelnen  Zellen  eines  einspirigen  Sp  irogyra-fadens  vollig 
gleichgultig  ist,  ob  sie  ibr  Cbloropbyllband  vom  Vater 
oder  von  der  Mutter  bekommen.  Aber  olme  Zweifel  be- 
sitzen  nachber  die  sammtlichen  Bander  der  jungen  Pflanze 
die  gleichen  erblichen  Eigenschaften,  audi  wenn  zwischen 
Vater  und  Mutter  individuelle  Unterscbiede  vorbanden 
waren.  AVir  miissen  also  annebmen,  dass  sie  diese,  soweit 
erforderlicb ,  vom  Kerne  nach  der  Befrucbtung  bezogen 
baben.  Wenn  wir  iiberbaupt  dem  Kopulationsvorgange 
eine  Bedeutung  fiir  die  aktiven  erblichen  Charaktere  zu- 
schreiben  und  seine  AVirkung  nicht  durch  alle  Generationen 


J)  Vergl.  hieriiber  auch  Klebahn,   Ber.  d.  d.  bot.  Ges.  VI  1888 
S.  163. 


—     170     — 

auf  die  Kerne  beschranken  wollen,  sincl  wir  offenbar  zu 
dieser  Annahme  gezwungen. 

Maclien  wir  sie  aber,  so  liegt  bier  die  Notbwendigkeit 
einer  Uebertragung  der  erblicben  Eigenscbaften  vom  be- 
frucbteten  Kerne  auf  die  ubrigen  Organe  der  Protoplaste 
in  einem  einfacben  Beispiele  vor  uns. 

Wir  wollen  diesen  Satz  verallgemeinern  und  sagen, 
dass  es  im  ganzen  Pflanzenreicb  fur  das  neue  Individuum 
gleicbgiiltig  ist,  ob  es  die  Organe  seiner  Protoplaste,  mit 
Ausnabme  des  Kernes,  vom  Vater  oder  von  der  Mutter 
beziebt.  Nur  der  Kern  muss  von  beiden  berriibren.  Die 
in  den  beiden  folgenden  Paragraphen  zu  besprecbenden 
Tbatsacben  lebren,  dass  bei  der  eigentlicben  Befrucbtung 
die  ubrigen  Organe  nur  von  der  Mutter  stammen.  Das  ist 
aber  nur  als  eine  besondere  Anpassung  zu  betracbten. 

Die  Cbromatophoren  der  ubrigen  darauf  untersucbten 
Zygosporeen  verbalten  sicb  im  Wesentlicben  abnlicb  wie 
diejenigen  von  Spirogyra.  Sie  legen  sicb  an  einander 
(Epithemia)  oder  vereinigen  sicb  nicbt  (Zygnema  und 
viele  andere) ,  kopuliren  aber  niemals  im  eigentlicben 
Sinne  des  Wortes 1).  Stets  miissen  also,  bei  den  ersten 
Tbeilungen  des  Keimlings,  die  vaterlicben  und  mutterlicben 
Cbloropbyllkorper  auf  die  einzelnen  Zellen  des  Fadens 
vertbeilt  werden. 

Sclimitz,  der  wobl  zuerst  die  Kopulation  der  Kerne 
bei  den  Zygosporeen  beobacbtete  und  das  eigentbiimlicbe, 
oben  gescbilderte  Verbalten  der  Cbromatopboren  eingebend 
studirte,  bebt  dabei  in  klarer  Weise  hervor,  dass  es  aucb 
in  diesen  Fallen  ,,bei  der  Befrucbtung  wesentlicb  nur  auf 
die  Vereinigung  des  Zellkernes  der   mannlicben  Zelle    mit 

])  Sclimitz,  Die  Chromatophoi-en  S.  128.  Vergl.  auch  Overton 
und  Klebalm  11.  cc. 


—     171     — 

clem  Zellkern  der  weiblicben  Zelle  ankomnie"  1).  Unci  die 
spater  aufgefundenen  Thatsachen  haben  diesen  Ausspruch 
vollig  bestatigt. 

§  3.     Die  Befruclitung  der  Kryptogainen. 

Scliniitz  hat  in  seiner  inhaltreichen  Scbrift  iiber  die 
Chromatophoren  der  Algen  ausfiihrlicli  dargethan,  dass  diese 
Gebilde,  welche  bei  jeder  vegetativen  Zelltheilung  von  der 
Mutterzelle  auf  ihre  Tochter  iibergehen,  den  Spermatozoiden 
in  der  Kegel  vollig  fehlen  -).  Die  Eizelle  besitzt  diese 
Organe  aber  stets.  Nach  der  Befruclitung  vermehren  sie 
sich  durch  Theilung  unci  bilden  so  die  Chromatophoren  des 
neuen  Individuums.  In  Bezug  auf  diesen  Punkt  wird  so- 
mit  die  Organisation  der  Protoplaste  direkt  von  der  Mutter, 
unci  nicht  vom  Vater  geerbt. 

Pragen  wir  nun,  wie  sich  dabei  die  ubrigen  Glieder 
der  Protoplaste ,  mit  Ausnahme  des  Kernes,  verhalten. 
Allem  Anscheine  nach  besitzen  die  Spermatozoiden  ebenso- 
wenig  Vacuolen  wie  Farbstoffkorper,  und  gilt  fur  erstere 
also  dasselbe  wie  fur  letztere. 

Nach    den   besten   neueren   Untersuchungen    entstehen 

die  Spermatozoiden  nicht,  wie  manche  Schriftsteller  friiher 

annahmen,  nur  aus  dem  Kerne  der  Mutterzelle,  sondern  es 

betheiligt  sich  an  ihrer  Bildung  audi   das   iibrige  Plasma. 

Allerdings   bildet   der  Kern    die  Hauptmasse   des  Korpers 

der  mannlichen  Fortpflanzungszelle.     Bereits  Seliacht  hatte 

auf  Grund  eigener   und  Anclerer  Beobachtungen    den  Satz 

aufgestellt:  ., class   sich   der  Zellkern   in  sehr   wesentlicher 

Weise  bei  der  Bildung  des  Spermatozoids   betheiligt,  und 

gewissermaassen   in   dasselbe    aufgeht"3).     Er   hebt  ferner 

^\.  c.  S.  128  Note  2. 

2)  Schmitz,  1.  c.  S.  120  ff. 

s)  Schacht,  Die  Spermatozoiden  1864  S.  35. 


—     172     — 

hervor,  class  dabei  der  kornige  Inhalt  der  Mutterzelle  ver- 
schwindet.  Dieser  Uebergang  des  Kernes ,  obgleich  im 
Anfange  der  neueren  Untersuchungen  von  hervorragenden 
Forschern  geleugnet x),  wird  jetzt  allgemein  als  der  wich- 
tigste  Theil  des  ganzen  Prozesses  anerkannt. 

Ausserhalb  des  Kernes  liegt  in  den  Spermatozoiden 
die  Hautschicht ,  welche  dieses  Organ  gegen  aussere  Ein- 
fliisse  schiitzt,  und  gewissermaassen  das  Schiffchen  bildet, 
welches  ihn  nach  seinem  Bestimmungsorte  befordert.  Die 
Unterscheidung  dieser  beiden  Theile  verdanken  wir  nament- 
lich  Zacharias,  der  die  mikrochemischen  Reaktionen  der 
mannlichen  Fortpflanzungszellen  ausfiihrlich  studirte,  und 
wiederholt  auf  das  verschiedene  Verhalten  ihrer  ausseren 
und  inneren  Partien  hinwies 2).  Namentlich  gilt  das  Nu- 
clein  als  chemisches  Merkmal  fur  die  Substanz  der  Zell- 
kerne.  Fliissigkeiten,  welche  diese  Substanz  leicht  losen 
und  ausziehen,  entfernen  nur  die  inneren  Theile  der  Sper- 
matozoiden, lassen  aber  die  aussere  Schicht  und  die  Cilien 
im  Allgemeinen  ungelost.  Dagegen  losen  sich  die  Cilien 
in  Pepsin,  und  bestehen  somit  nicht  aus  Nuclein  3).  Auch 
nach  Campbell  entstehen  die  Cilien  der  Spermatozoiden 
nicht  aus  dem  Kern,  sondern  aus  dem  Cytoplasma  der 
Mutterzelle  4). 

Bei  der  Befruchtung  spielt  aber  offenbar  der  Kern 
allein  eine  Rolle.  Das  tiefe  Eindringen  des  ganzen  Sper- 
matozoids  in  die  Eizellen  lehrt,  dass  von  einer  Kopulation 
seiner  Hautschicht    mit    derjenigen    der   Eizelle    nicht    die 


J)  Vergl.  z.  B.  Sachs,  Lehrbuch  4.  Aufl.  S.  303  und  Strasburger, 
Zellbilduug  und  Zellthedung  III.  Aufl.  S.  94;  ferner  Bot.  Zeitung 
1881  S.  847  u.  848. 

2)  Zacharias  in  Bot.  Zeitung  1881—1888. 

3)  Zacharias,  Bot.  Zeitung  1881  S.  828,  836  u.  850. 

4)  Campbell,  Ber.  d.  d.  bot.  Ges.  1887  S.  120. 


—     173     — 

Rede  sein  kann.  Vielmehr  verschwinden  dieses  Organ  und 
die  Cilien  innerhalb  der  Eizelle,  olme  dort  irgend  welche 
merkbare  Rolle  zu  spielen. 

Ausnahmsweise  besitzen  die  Spermatozoiden  kleine 
Chromatophoren,  deren  sie  dann  wohl  auf  der  Reise  nach 
der  Eizelle,  sei  es  zum  Einscblagen  des  richtigen  AVeges, 
sei  es  zu  anderem  Zwecke,  bediirfen.  So  z.  B.  bei  Fucus, 
wo  Schmitz  den  Nachweis  lieferte,  dass  sie  durch  Thei- 
lung  aus  den  Chromatopboren  der  Mutterzelle  entsteben  1). 
Dass  sie  aber  bei  der  Befrucbtung  eine  Rolle  spielen 
wiirden,  dafiir  spricbt  keine  Beobacbtung. 

Pbylogenetiscb  sind  die  Spermatozoiden  der  Algen 
wobl  obne  Zweifel  aus  kopulirenden  Schwarmsporen  ent- 
standen.  Dabei  baben  sie  allmahlig  ibre  Farbstoffkorper 
und  wohl  aucb  ibre  Vacuolen  eingebiisst.  Fiir  das  Ver- 
schwinden der  ersteren  beschreibt  Schmitz  eine  Anzabl 
von  Zwischenstufen.  Aus  seiner  wichtigen  Behandlung 
dieses  Punktes  sei  es  gestattet  bier  die  folgenden  Satze  zu 
citiren  2) :  „Bisweilen,  namentlich  da,  wo  die  Differenz  der 
beiderlei  Sexualzellen  noch  keine  sebr  bedeutende  ist, 
schliessen  sie  (die  Spermatozoiden)  sich  durchaus  den  Iso- 
gameten  an,  und  bebalten  wie  diese  die  Chromatophoren 
unverandert  (z.  B.  bei  Scy  to  siphon  lomentarium). 
Wird  dagegen  jene  Differenz  grosser,  so  zeigen  die  Chroma- 
tophoren der  mannlichen  Zellen  eine  deutliche  Tendenz 
zum  Schwinden,  namentlich  wird  ibre  Farbung  eine  weniger 
intensive  (Bryopsis)." 

Dieses  vergleicbende  Studium  iiberbriickt  also  die  Kluft, 
welche  zwischen  der  Kopulation  und  der  Befrucbtung  liegt, 
und  welche  wohl  hauptsacblich  dadurch  bedingt  wird,  dass 

J)  Schmitz,  1.  c.  S.  122. 
9)  1.  c.  S.  121. 


—     174     — 

bei  letzterer  die  Organisation  cler  Protoplaste ,  morpho- 
logisch  nur  von  der  Mutter,  bei  ersterer  aber  in  einigen 
Zellen  von  dieser,  in  anderen  vom  Vater  geerbt  wird. 
Andererseits  aber  fiihrt  die  erwahnte  phylogenetische  Be- 
trachtung  zu  der  Ueberzeugung,  dass  die  Hautschicht  der 
Spermatozoiden  dieselbe  Bedeutung  imd  dieselbe  Entstelmng 
hat  wie  die  der  Schwarmsporen,  unci  ebenso  unentbehrlich 
ist,  wie  diese. 

§  4.     Die  Befruchtung  der  Phanerogamen. 

Aucli  bei  den  Bliithenprlanzen  wird  die  Organisation 
der  Protoplaste  direkt  nur  von  der  Eizelle  geerbt.  Aus 
dem  Pollenschlauche  dringt  nur  der  Kern  in  diese  hinein ; 
sonstige  Theile,  auch  wenn  sie  zum  Uebertragen  des  Kerns 
erforderlich  sein  unci  diesen  begleiten  sollten,  spielen  aber 
beim  eigentlichen  Befruchtungsprozesse  keine  Rolle. 

Jedermann  kennt  die  hervorragenden  Untersuchungen 
Straslmrger's  auf  diesem  Gebiete,  welche  seit  1878  zu 
wiederbolten  Malen  diesen  Punkt  behanclelten  und  den 
vollstandigen  Nachweis  fiir  die  obigen  Satze  erbracht  haben. 
Es  ware  iiberfliissig,  sie  hier  zu  wiederholen,  oder  die  Be- 
statigungen,  welche  sie  durch  andere  Forscher  erhalten 
haben,  aufzuzahlen. 

Wie  die  Kerne  sich  bei  der  Befruchtung  vereinigen, 
ist  eine  bei  weitem  noch  nicht  vollstiindig  beantwortete 
Frage.  Auch  herrschen  hier  Differenzen,  welche  wenigstens 
sehr  auffallend  sind.  Nach  Strasburger  kopuliren  nicht 
nur  die  Kernschleifen ,  sondern  auch  die  Kernhohlen  und 
somit  gleichfalls  der  Kernsaft 1).  Nach  van  Beueden  lagern 
sich  bei  Ascaris  megalocephala  die  Kernschleifen 
der  mannlichen   und  der  weiblichen  Zelle    einander  gegen- 

x)  Strasburger,  Ueber  Kern-  und  Zelltbeilung  1888  S.  230. 


—     175     — 

liber,  um  den  Furchungskern  zu  bilclen  1).  Sie  sclieinen  sich 
dann  an  den  Enden  zu  verbinden,  um  zusammen  einen  ein- 
zigen  Kernfaden  zu  bilden,  in  welchem  soniit  nur  eine  An- 
einanderlagerung,  nicbt  eine  gegenseitige  Durchdringung  der 
beiderseitigen  Elemente  stattfinden  wiirde.  Wiibrend  aber, 
nacb  den  vorhandenen  Angaben,  bei  den  Thieren  die  Kopu- 
lation  ira  Stadium  der  sternformig  angeordneten  Kern- 
schleifen  vor  sich  gebt,  soil  sie  bei  den  Pflanzen  im  Sta- 
dium der  Rube  geschehen.  Ob  dieser  Unterschied  wirklich 
vorbanden  ist,  und  wie  sicb  allgemein  die  Kernfaden  ver- 
einigen,  sind  Fragen,  welche  nocb  weiterer  Untersuchung 
bediirfen  2). 

Wicbtig  ist,  dass  die  Anzabl  der  Kernscbleifen  nacb 
Straslmrger's  neuesten  Untersuchungen  auch  bei  Pflanzen 
in  den  generativen  Zellen  fur  jede  Pflanzenart  konstant, 
und  zwar  fiir  die  mannlichen  Zellen  dieselbe  ist  wie  fur  die 
weiblicben.  Bisweilen  ist  sie  fiir  grosse  Gruppen  dieselbe, 
so  bei  den  Orcbideen  16 ;  bei  den  Liliaceen  wechselt  sie 
aber  zwiscben  8,  12,  16  und  24 3).  Fiir  As  car  is  me- 
galocepbala  ist  sie  2,  fiir  A.  lumbricoides  24.  Eine 
systematische  Bedeutung,  oder  eine  einfacbe  Beziebung  zu  den 
erblicben  Eigenscbaften  bat  diese  Zahl  also  offenbar  nicht. 

Von  der  Fortsetzung  der  Untersucbungen  auf  diesem 
Gebiete  diirfen  wir  aber  wichtige  Aufscbliisse  iiber  die 
Frage  erwarten,  welcbe  Tbeile  des  Kernes  die  eigentlichen 
Trager  der  latenten  erblicben  Eigenscbaften  sind.  Augen- 
blicklich  spricht  vieles  dafiir,  dass  sie  in  dem  Kernfaden 
zu  sucben  seien4).     Fiir  die  weitere  Ausarbeitung  der  Ver- 


')  E.  van  Beneden ,  Recherches    sur    la   maturation    de 
l'oeuf  1883. 

2)  Strasburger,  Ueber  Kern-  und  Zelltheilung  1888'  S.  240. 

3)  Strasburger,  1.  c.  S.  239,  242. 

4)  Roux,  Ueber  die  Bedeutung  der  Kernfiguren  1883. 


—     176     — 

erbungstheorie  ist  dieses  olme  Zweifel  vom  hochsten  In- 
teresse;  fiir  unsere  Hypothese  ist  eine  Entscbeidung  aber 
nicbt  unbedingt  notbwendig. 


Drittes  Kapitel. 

Die   Uebertragung  der  erblichen  Eigeiisehaften  aus 
den  Bio ru on  anf  die  iibrigen  Organe  der  Protoplaste. 

§  5.    Die  Hypothese  der  Uebertragung. 

Schon  mebrfach  war  von  einer  Uebertragung  der  erb- 
lichen Eigenschaften  aus  den  Kernen  auf  die  iibrigen  Or- 
gane der  Protoplaste  die  Rede.  Ueberblicken  wir  aber  die 
sammtlichen  im  vorigen  und  in  diesem  Abschnitt  zusammen- 
gestellten  Thatsachen,  so  tritt  uns  die  Notbwendigkeit  der 
Annalime  einer  solchen  Uebertragung  mit  voller  Kraft  vor 
Augen. 

Die  pflanzlichen  Protoplaste  besitzen  eine  sicbtbare 
Organisation,  welche  bei  jeder  Zelltheilung  durch  Theilung 
der  einzelnen  Organe  direkt  von  der  Mutterzelle  auf  ibre 
Tochter  iibergeht.  Die  Erblichkeit  ist  bier  eine  sicbtbare. 
keine  latente.  Die  einzelnen  Organe  aber  sind  von  ein- 
ander  in  ontogenetischer  Beziehung  unabhangig;  sie  ent- 
stehen  nur  durch  Theilung  bereits  vorhandener.  Und  wenn 
sie  auch  im  Laufe  der  Entwickelung  verschiedenen  Funk- 
tionen  angepasst  werden  und  dabei  andere  Namen  erhalten 
haben,  und  ihre  Entstehung  in  einzelnen  Fallen  noch  nicbt 
aufgeklart  ist,  so  steht  doch  im  Ganzen  und  Grossen  so 
viel  fest,  dass  der  Kern,  die  Chromatophoren,  die  Vacuolen 
und  das  Kornerplasma,  und  vielleicbt  auch  die  Hautschicht, 
Hauptorgane  sind,  welche  nie  aus  einander  bervorgeben, 
sondern  nur  neben  einander  sich  vermehren. 


—     177     — 

Jedes  dieser  Hauptorgane  besitzt  eine  Fiille  von  Eigen- 
schaften  mid  Anlagen .  welche  zusammen  den  Charakter 
der  Spezics  ausmachen.  Diese  Eigenschaften  sind  entweder 
direkt  unter  dem  Mikroskope  sichtbar,  oder  verrathen  ihre 
Anwesenheit  durcli  bestimmte  Funktionen.  Dass  die  erb- 
lichen  Eigenschaften  in  den  entsprechenden  Organen  der 
Protoplaste  liegen.  dariiber  besteht  kein  Zweifel.  Ob  sie 
aber  in  Zellen .  wo  sie  nur  als  Anlagen  vorhanden  sind, 
ebenfalls  in  diesen  liegen.  dariiber  geben  uns  die  Vorgange 
der  vegetativen  Fortpflanzung  keine  Entscheidung. 

Diese  bietet  uns  der  Befrucbtungsvorgang.  Die 
Bastarde  lehren.  und  die  alltaglichen  Beobachtungen  am 
Menscben  bestatigen  es,  dass  die  Kinder  im  Mittel  im 
gleicben  Maasse  ihre  Eigenschaften  von  beiden  Eltern  er- 
halten.  Die  befruchtete  Eizelle  aber  erhalt  ihre  Organe 
nur  aus  der  Mutter,  vom  Yater  gelangt  nur  der  Sperma- 
kern  zur  Kopulation  mit  dem  Kerne  der  Eizelle.  Die 
sammtlichen  erblicben  Eigenschaften  des  Vaters  miissen 
also  im  Kerne,  als  Anlagen.  im  latenten  Zustande,  iiber- 
gehen.  Und  bevor  sie  in  den  iibrigen  Organen  der  Pro- 
toplaste aktiv  werden  konnen.  miissen  sie  also  offenbar  aus 
dem  Kern  auf  diese  ubertragen  werden. 

Diese  Uebertragung  ist  somit  eine  Hypothese,  deren 
Annahme  beim  jetzigen  Zustande  unserer  Kenntnisse  wohl 
als  nothwendig  betracbtet  werden  darf. 

Es  sei  mir  gestattet,  diese  Uebertragung  durcli  einige 
Beispiele  zu  beleuchten.  Icb  entlehne  sie  den  Bastarden, 
weil  bier  die  Verhaltnisse  am  klarsten  und  am  beweis- 
kraftigsten  vor  uns  liegen.  und  wahle  die  Farben  der  Blumen, 
da  diese  der  Betraclitung  leicht  zuganglich  sind. 

Zunachst  die  rothe  Bliithenfarbe.  Pbaseolus  mul- 
ti  f  1  o  r  u  s  hat  rothe,  P  h  a  s  e  o  1  u  s  vulgaris  nanus  weisse 

de  Vries.  Iutracellulare  Pangenesis.  l.s 


—     178     — 

Blumen.  Durch  Bestaubung  des  letzteren  mit  dem  Pollen 
des  ersteren  entstand  mehrere  Male,  und  so  auch  in  1886 
in  meinen  Kulturen,  ein  Bastardsame.  Dieser  weicht 
ausserlich  von  den  normalen  Samen  seiner  Mutterpflanze 
nicht  ab,  entwickelt  sich  aber  zu  einer  Pfianze,  welche  im 
Habitus  dem  schlingenden  Ph.  multiflorus  ahnlich  ist, 
jedoch  kleiner  bleibt  als  dieser.  Die  Blumen  des  Bastardes 
sind  blassroth;  ihre  Farbe  halt,  wie  ich  mich  selbst  iiber- 
zeugen  konnte,  nahezu  die  Mitte  zwischen  beiden  Eltern. 
Der  rothe  Farbstoff  aber  findet  sich,  gelost,  in  den  Va- 
cuolen  der  Zellen  der  Blumenblatter. 

Die  Eigenschaft  der  Vacuolen,  das  rothe  Erythrophyll 
zu  bilden,  riihrt  also  in  diesem  Bastard  vom  Vater  her. 
Die  Vacuolen  des  Bastardes  stammen  aber  morphologisch 
von  denen  der  Mutter  ab.  Das  Erythrophyllbildende  Ver- 
mogen  muss  also,  im  latenten  Zustande,  in  dem  Pollenkern 
des  Vaters  auf  den  Kern  der  Eizelle  iibergegangen  und  aus 
diesem,  friiher  oder  spater,  den  Vacuolen  des  Bastardes  mit- 
getheilt  worden  sein. 

Dasselbe  lehren  viele  andere  Bastarde,  wie  z.  B.  Digi- 
talis lu tea  $- purpurea  cT,  Linaria  vulgaris  §X 
purpurea  S ,  Linaria  genistae folia  $  X  pur- 
purea S  u.  s.  w.1). 

Die  gelbe  Farbe  der  Bluthen  verhalt  sich  in  derselben 
Weise.  Digitalis  luteo  —  purpurea  giebt  das  beste 
Beispiel.  Die  beiden  Formen  D.  purpurea?  XluteacJ 
und  D.  lutea  $  X  purpurea  $  sind  einander  bis  auf 
einige  Abiinderungen  in  der  Bliithenfarbe  vollig  gleich 2). 
Eine  Abbildung  des  Bastardes  giebt  Nau (I in ;  die  Bliithe 
besitzt  in  der  einen  Traube  eine  rein  gelbe  Farbe,  in   der 


x)  Vergl.  Focke,  DiePflanzenmischlinge  S.  311,  315  u.  a.  a.  Stellen. 
2)  Focke,  1.  c.  S.  315. 


—     179     — 

ancleren  sincl  gelb  und  blassroth  mit  einander  vermischt 1). 
Yon  den  beiden  genannten  Bastarden  der  Linaria  finde 
ich  die  reciproken  Formen  nicht  erwahnt. 

"Wie  die  Eigenschaften  der  Yacuolen,  so  mlissen  auch 
die  der  Chromatophoren  bei  der  Bastardirung  im  Pollen- 
kerne  des  Vaters  im  latenten  Zustande  dem  Bastarcle  mit- 
getheilt  werden.  Als  Beispiel  nenne  ich  Raphanus  sa- 
tivus  $  X  Bras  sic  a  oleracea  $ ,  Medicago  sa- 
tiva  $  X  falcata  $,  Geura  album  $  X  urban um  <$, 
Yerbascum  phoeniceum  §  X  blattaria  <52). 

Aehnliche  Beispiele  lassen  sich  in  grosser  Zahl  der 
reichhaltigen  Literatur  iiber  Bastardirungsversuche  ent- 
nehmen.  Aber  ein  ausfiihrliches  mikroskopisches  Studium 
der  Bastarde  in  Beziehung  zum  anatomischen  Bau  ihrer  Eltern 
bleibt  stets  in  hohem  Grade  Bediirfniss  fur  die  Wissenschaft. 

Nocli  schlagender  und  allgemeiner  tritt  uns  die  Noth- 
wendigkeit  der  Annahme  einer  Uebertragung  entgegen, 
wenn  wir  die  Bastarde  in  der  zweiten  und  folgenden 
Generationen  betracbten.  Fast  stets,  wenn  diese  in  hin- 
reicbend  grosser  Zahl  kultivirt  werden,  schlagen  einige  auf 
die  Grossmutter.  andere  auf  den  Grossvater  zuriick.  Die 
letzteren  konnen  dem  Grossvater  bis  zum  Yerwechseln  ahn- 
lich  sein.  Es  lehrt  uns  dieses,  dass  beim  Bastardiren  sammt- 
liche  Eigenschaften  des  Yaters  auf  den  Bastard  iiber- 
gehen,  um,  soweit  sie  in  ihm  nur  als  Anlagen  vorhanden 
sincl ,  in  einigen  seiner  Kinder  wieder  aktiv  zu  werden. 
Alle  Organe  der  Protoplaste  mtissen  also  ihre  aktiven 
Eigenschaften  aus  dem  Kerne  beziehen  konnen. 


*)  Nautlin,  Nouvelles  recherches  sur  l'hybridite ,  in  Nouvelles 
Archives  du  Museum  d'histoire  naturelle  de  Paris  1869  p.  95  PI.  2. 

2)  Diese  Beispiele  nach  Focke,  wo  leicht  mehrere  zu  finden  sind. 
Ich  hatte  leider  nicht  die  Gelegenheit,  die  Natur  des  gelben  Farb- 
stoffes  zu  kontroliren. 

12* 


—     180     — 

Im  Bastard  sind  aber  die  Eigenscliaften  des  Vaters 
und  der  Mutter  in  gleicher  Weise  vertreten.  Namentlich 
sind  die  beiden  Bastarde.  welche  zwei  Arten  bervorbringen 
konnen,  indem  die  eine  Art  das  eine  Mai  als  Vater,  das 
andere  Mai  als  Mutter  fun  girt,  unter  sicb  mit  wenigen  Aus- 
nabmen  im  Wesentlicben  gleicb.  Es  liegt  also  kein  Grand 
vor,  anzunehmen,  class  die  in  der  Eizelle  und  im  Sperma- 
tozoid  latenten  erblicben  Eigenscliaften  in  prinzipiell  anderer 
Weise  vom  Vater  als  von  der  Mutter  geerbt  werden.  Und 
somit  kommen  wir  zu  der  Folgerung,  dass  audi  die  letzteren 
im  Kerne,  und  nicbt  iiber  die  einzelnen  Organe  der  Eizelle 
vertbeilt,  liegen  miissen. 

Die  Kerne  sind  somit  die  Trager  der  latenten  erb- 
licben Eigenscliaften.  Diese  miissen,  um  aktiv  zu  werden, 
wenigstens  zum  weitaus  grossten  Tbeil  r),  aus  ihnen  in  die 
iibrigen  Organe  der  Protoplaste  iibergeben. 

§  6.     Beobachtungen  iiber  den  Einfluss  des  Kernes  in 

der  Zelle. 

Dass  dem  Zellkerne  irgend  eine  bervorragende  Rolle 
im  Leben  der  Zellen  zukommt,  dariiber  waren  schon  die 
ersten  Beobacbter  dieses  Organes  sich  vollig  klar.  Sie 
baben  dieser  Ueberzeugung  in  dem  Namen  selbst  Ausdruck 
gegeben.  Und  wenn  audi  spater  das  vermeintliclie  Fehlendes 
Kernes  bei  grossen  Gruppen  unter  den  Tballopbyten  Zweifel 
an  der  Bichtigkeit  dieser  Meinung  aufkommen  liess  2) ,  so 
sind  diese  durcb  die  neueren  Untersucbungen  vollig  beseitigt. 

Welcber  Art  aber  jene  Rolle  war,  dariiber  gelang  es 
anfanglicb    gar    nicht,    sich    eine   Vorstellung   zu  macben. 


1)  Die  Eigenscliaften,    welche   die  Kerntkeilung  regeln,   werden 
wohl  in  den  Kernen  selbst  aktiv. 

2)  Vergl.  Briicke,  Sitzungsber.  d.  k.  Akad.  d.  Wiss.  Wien  1861. 


—     181     — 

Erst  die  im  ersten  Kapitel  dieses  Abschnittes  genannten 
Forscher,  Hacckel,  Hertwig,  Fleiimiing,  StrasTburgeru.  A., 

haben  uns  gelehrt,  den  Kern  als  das  eigentliche  Organ  der 
Vererbung  anzusehen.  Und  noch  in  den  letzten  Jahren 
linden  sich  Schriftsteller,  welche  den  Kern.  HaeekePs  be- 
stimmter  Aeusserung  entgegen,  als  ein  Organ  der  Ernahrung 
betrachten ,  indem  sie  ihm  einen  Einfluss  auf  die  Bildung 
von  Eiweiss,  Starke  oder  anderen  Assimilationsprodukten 
zuschreiben. 

Durch  den  Einfluss  der  namhaft  gemachten  Forscher 
ist  die  Aufmerksamkeit  in  den  letzten  Jahren  immer  mehr 
auf  den  Kern  geriehtet  worden.  Und  demzufolge  sind  eine 
Reihe  vonBeobachtungen  geraacht  und  veroffentlicht  worden, 
welche  dafiir  sprechen,  dass  grade  auf  die  wichtigsten  Prozesse 
im  Zellenleben  der  Kern,  obgleich  nicht  selbstthatig,  doch 
einen  bedeutenden  Einfluss  ausiibt.  Im  Grossen  und  Ganzen 
sind  die  beobachteten  Verhaltnisse  ohne  Zweifel  darauf 
zuriickzufuhren,  dass  die  erblichen  Eigenschaften.  so  lange 
sie  latent  sind,  im  Kern  aufbewahrt  werden .  wahrend 
sie  erst  in  den  iibrigen  Organen  der  Protoplaste  in  Thatig- 
keit  zu  gerathen  pflegen.  Doch  ist  nicht  zu  vergessen,  dass 
im  Einzelnen  spezielle  Korrelationen  zwischen  Kern  und 
Protoplasma  obwalten  konnen.  welche  auf  spezifische  An- 
passungen,  und  nicht  auf  allgemeine  Gesetze  zuriickzufiihren 
sind.  Im  Einzelfalle  diirfte  es  meistens  schwierig  sein, 
zwischen  diesen  beiden  Moglichkeiten  zu  entscheiden. 

Zunachst  fiihre  ich  einige  bereits  von  alteren  Forschern 
hervorgehobene  Verhaltnisse  an.  In  jungen  Zellen  liegt 
der  Kern  in  der  Mitte  der  Zelle.  Bei  zunehmender  Ver- 
grosserung  der  Vacuolen.  wenn  das  Protoplasma  in  den  so- 
genannten  schaumigen  Zustand  gelangt,  bleibt  er  an  jener 
Stelle  liegen   und  ist  durch  von  ihm  ausstrahlende  Bander 


—     182     — 

und  Leisten  mit  alien  Theilen  des  wandstandigen  Plasma 
auf  dem  kiirzesten  Wege  verbunden.  Dieses  bekannte  Bild 
und  die  bervorragende  Grosse  des  Kernes  in  jungen  Zellen 
mogen  wobl  die  ersten  Griinde  gewesen  sein,  aus  denen 
man  die  besondere  Wichtigkeit  dieses  Organes  abgeleitet 
hat.  Bei  zunelmiendem  Waclisthum  der  Zellen  wachst  der 
Kern  nicht  in  entsprecliender  Weise,  er  wird  relativ  kleiner, 
und  durch  das  Versclimelzen  der  Vacuolen  wird  er  ge- 
zwungen  seine  centrale  Lage  aufzugeben.  Fiir  gewolmlich 
nimmt  er  nun  aber  keine  andere  Stellung  als  fest  an,  son- 
dern  wird  von  den  Stromen  des  Kornerplasma  durch  die 
Zelle  herumgefiihrt.  Hiiufig  legt  er  dabei,  wie  Hansteiii 
liervorhebt,  innerhalb  weniger  Stunden  einen  vielver- 
schlungenen  Weg  zuriick  und  durchsegelt  sein  Gebiet  in  alien 
Richtungen,  „als  ob  er  es  iiberall  zu  inspiziren  hatte"  1). 
Alles  spricht  dafiir,  dass  die  Thatigkeit  des  ganzen  Proto- 
plasten  unter  dem  regulirenden  Einfluss  der  Zellkerne  steht 2). 

Neben  diesem  allgemeinen  Verhalten  der  Zellkerne 
haben  uns  nun  in  den  letzten  Jahren  die  Untersuchungen 
von  Tangl,  Haberlamlt,  Korsclielt  und  Anderen  eine  be- 
sondere Beziehung  der  Kerne  zu  einzelnen  Prozessen  im 
Zellenleben  kennen  gelehrt. 

Tangl  beobachtete  Zwiebelschuppen  von  Allium  Ce- 
p  a,  welche  vor  kurzer  Zeit,  z.  B.  am  vorigen  Tage,  verwundet 
waren  3).  Er  sah?  dass  in  der  Nahe  der  Wundflache  die 
Zellkerne  nicht  wie  sonst  regellos  iiber  die  Zellen  zerstreut 
liegen,  sondern  dass  sie  sich  sammtlich  nach  derjenigen 
Seite  ihrer  Zelle  begeben  batten,   welche  der  Wunde   am 


:)  Hansteiii,  Das  Protoplasma,  1880,  I  S.  165. 

2)  Vergl.  Strasburger,  Neue  Untersuchungen,  1884  S.  125. 

3)  Tangl ,    Zur    Lehre    von    der    Kontinuitat    des    Protoplasma. 
Sitzber.  d.  k.  k.  Akad.  d.  Wiss.  Bd.  XO.  1884. 


—     183     — 

nachsten  lag.  Mit  ihnen  war  auch  das  Kornerplasma  an 
jenen  Wanden  angehiiuft.  Je  geringer  die  Entfernung  von 
der  Wunde,  um  so  scharfer  war  die  Erscheinung  ausge- 
pragt,  doch  bis  in  einer  Entfernung  von  etwa  0,5  mm  war 
sie  noch  deutlich  zu  erkennen.  Diese  Verhaltnisse  deuten 
wohl  darauf  hin,  dass  die  Regenerationsvorgange,  welcbe 
die  Wunden  hervorzurufen  pflegen,  hier  miter  dem  Ein- 
flusse  der  Kerne  vor  sich  gehen. 

Haborlandt  hat  in  einer  langen  Reilie  von  Fallen,  in 
denen  die  Zellen  der  hoheren  Pflanzen  an  bestimmten 
Stellen  ihres  Umfanges  ein  lokal  starkeres  Wachsthum 
zeigen,  die  Lage  des  Kernes  wahrend  dieses  Prozesses  auf- 
gesucht1).  Theils  dort,  wo  durch  lokalisirtes  Flachen- 
wachstlium  sich  die  Form  der  Zellen  andert .  theils  wo 
einseitige  Verdickungen  der  Membran,  oder  eine  bestimmte 
Wandskulptur  angelegt  werden.  Und  obgleich  bei  der 
Fiille  der  Einzelerscheinungen  eine  ausnahmslose  Kegel 
nicht  zu  erwarten  war,  so  fand  er  doch  im  Grossen  und 
Ganzen,  dass  der  Zellkern  sich  zumeist  dorthin  begiebt, 
wo  das  Wachsthum  am  ausgiebigsten  ist,  und  am  langsten 
dort  verweilt,  wo  letzteres  am  langsten  andauert. 

Fiir  thierische  Zellen  gilt  nach  Korschelt  im  All- 
gemeinen  dieselbe  Regel 2).  Es  gelang  diesem  Forscher  in 
einer  Reihe  von  Fallen,  bei  vorwiegend  einseitiger  oder  lokal  er 
Thatigkeit  in  den  Zellen,  eine  bestimmte,  dem  Orte  dieses 
Prozesses  moglichst  genaherte  Lage  fiir  den  Kern  zu  be- 
obachten.  Haufig  auch  ist  der  Kern  mit  solchen  bevor- 
zugten  Stellen  bei  entfernterer  Lage  durch  Bander  und 
Anhaufungen  von  Protoplasma  verbunden. 


x)  G.  Haberlandt,   Ueber   die   Beziehungen  zwischen  Funktion 
und  Lage  des  Zellkemes  1887. 

»)  E.  Korschelt,   Biolog.    Centralblatt  Bd.  VIII  Nr.  4  S.  HOff. 


—     184     — 

Wo  cler  Kern  nicht  durch  Ortsanderungen  seinen  Ein- 
fluss auf  die  Vorgange  im  Protoplasma  zu  erkennen  giebt, 
geschieht  solches  oft  durch  eine  bestimmte  Anordnung  dieses 
letzteren  um  den  Kern  hernm.  Die  Anhaufung  der  Amy- 
loplaste  in  der  nachsten  Umgebung  des  Nucleus,  wie  sie 
in  jungen  Zellen  so  oft  beobachtet  wird,  ist  von  ver- 
schiedenen  Forschern  auf  einen  Einfluss  des  Kernes  auf 
ihre  Thatigkeit  zuriickgefuhrt  worden  1).  Pringsheim  hat 
nachgewiesen,  class  in  den  Zellen  cler  Spirogyren  die  Fiiden, 
welche  von  cler  Kerntasche  ausstrahlen .  sich  speziell  den 
Amylumkernen  cler  Chlorophyllbander  anheften  unci  durch 
Verzweigung  oft  mehrere  derselben  direkt  mit  clem  Kerne 
in  Verbindung  setzen 2).  Bei  cler  Zellbildung  in  jenen 
Embryosacken,  wo  die  neuen  Zellen  nach  der  Bildung  zahl- 
reicher  Kerne  in  einer  wandstandigen  Schicht  entstehen,  hat 
Strasburger  mehrfach  Strahlenfiguren  beschrieben,  welche 
die  Kerne  mit  einander  verbinden,  unci  welche  nicht  nur 
zwischen  den  beiden  Tochterzellen  einer Mutterzelle  vorhanden 
sind,  sondern  auch  zwischen  den  nicht  in  diesem  Verwandt- 
schaftsgrade  stehenden  Kernen  angelegt  werden.  Diese 
Strahlenfiguren  beherrschen  augenscheinlich  die  Entstehung 
der  neuen  Zellwande  unci  bedingen  es.  class  sie  in  cler  erforder- 
lichen  Richtung  mit  Bezug  auf  die  Kerne  angelegt  werden. 
Dass  den  Strahlen  entlang  irgend  ein  Einfluss  von  den 
Kernen  ausgeht.  unci  bei  der  Zelltheilung  sich  geltend  macht, 
kann  nach  den  wiederholten  Ausfiihrungen  dieses  Forschers 
wohl  nicht  mehr  angezweifelt  werden  3). 

Fiir    eine    hervorragende    Bedeutung    cles    Zellkernes 

2)  Vergl.  z.  B.  Strasburger,  Ueber  Kern-  unci  Zelltheilung  1888 
S.  195,  Schimper,  Pringsh.  Jahrb.  Bd.  XVI  S.  1  unci  Haberlandt, 
Flora  1888. 

2)  Pringsh.  Jahrb.  Bd.  XII  S.  304. 

3)  Vergl.  z.  B.  Botan.  Praktikum,  1.  Aufl.  S.  610. 


—     185     — 

spriclit  audi  die,  namentlich   von  Schmitz    entdeckte    mid 
eingehend   studirte   Vielkernigkeit   der  Coeloblaste 1).     Die 
Kerne  liegen  hier  gewohnlich  nicht  im   stromenden  Theile 
des  Kornerplasma,  sondern  sind  dessen  ruhenden  Schichten 
eingebettet.  Sie  liegen  dabei  regelmassig  in  nahezu  gleichen 
Entfernungen  von  einander,  und  sind  meistens  klein  und  so 
zahlreich,  dass  jedes  abgetrennte  Stuck,  wenn  es  nicht  Iiberhaupt 
zu  klein  ist,  um  amLeben  zu  bleiben,  wohl  stets  einen  oder  meh- 
rere  Kerne  enthalt.  Alle  Theile  des  Protoplasten  konnen  hier 
offenbar  unter  dem  unmittelbaren  Einfluss  der  Kerne  stehen. 
Neben  den  Beobachtungen  an  unverletzten  Zellen  sind  in 
letzter  Linie  die  Untersuchungen  an  verwundeten  Protoplasten 
zu   besprechen.     Bereits  Schmitz   hat   darauf  aufmerksam 
gemacht,   class    ausgetretene  Protoplasmaballen  von  V au- 
di eria    und     anderen    Siphonocladiaceen    nur    claim    im 
Stande    sincl    eine   nene    Zellhaut    zu    bilclen    und    sich   zu 
neuen  lebensfahigen   Individucn   zu   regeneriren ,   wenn   sie 
einen  oder  mehrere  Kerne  besitzen  2).     Nicht,  class  der  Kern 
die  einzige  Bedingung  ware;    die  Cliromatophoren  unci   die 
iibrigen  Organe  der  Protoplaste  cliirfen  ebenso  wenig  fehlen, 
aber   von    diesen   ist   die    Bedeutung    fiir  Wachsthum   unci 
Ernahrung  derart,  dass  ihre  Unentbehrlichkeit    als   selbst- 
verstandlich    betrachtet    werden    kann.      Nussbaiim    und 
Grruber  haben  dann  durch    ausgedehnte  Theilungsversuche 
an   Protozoen    bewiesen .    class    auch    hier   Theilstiicke    der 
Protoplaste  sich  nur  dann  vollig  regeneriren  konnen,  wenn 
ihnen  mindestens  der  Kern  nicht  fehlt3). 


')  Schmitz,  Die  vielkernigen  Zellen  der  Siphonocladiaceen, 
Festschr.  d.  naturf.  Gres.  zu  Halle  1879. 

-i  1.  c.  S.  34. 

')  Nussbaum,  Ueber  die  Theilbarkeit  der  lebenden  Materie,  Ar- 
chiv  fiir  mikr.  Anatomie  1886.  —  Gruber,  Biol.  Centralbl.  Bd.  IV, 
und  Ber.  d.  naturf.  Ges.  zu  Freiburg  i/B.  1886. 


—     186     — 

Wichtig  sincl  auch  die  Versuche  von  Klel)S  iiber  die 
Kultur  plasmolysirter  Zellen  1).  Ich  entnehme  diesen  das 
Folgende:  Wenn  man  Zellen  von  Zygnema  unci  Oedo- 
gonium  in  einer  zehnprozentigen  Losung  von  Glucose 
plasmolysirt,  trennt  sicli  in  den  langeren  Zellen  der  In- 
halt  nicht  selten  in  zwei  oder  melirere  Stiicke,  welche,  an- 
fangs  durcli  diinne  Faden  verbunden,  sicb  spiiter  vollig  von 
einander  isoliren.  Kultivirt  man  nun  die  Fiiden  in  dieser 
Losung  am  Lichte,  so  umgeben  sicli  die  kontrahirten  Pro- 
toplaste  mit  einer  neuen  Zellwand,  welclie  allmahlig  an 
Dicke  zunimmt.  Friiher  oder  spiiter  fangen  sie  an  zu 
wachsen  und  sich  zu  theilen ,  wobei  sie  die  alte  Zellhaut 
durchbrechen  konnen.  In  jenen  Zellen  aber,  wo  der  In- 
balt  in  zwei  oder  mehrere  Tbeile  gespalten  worden  ist,  von 
denen  selbstverstandlich  nur  der  eine  den  Kern  entlialten 
kann,  macbt  stets  audi  nur  dieser  Theil  eine  neue  Zellhaut; 
die  kernlosen  Stiicke  konnen  zwar  Starke  bilden  und  sicli 
erriahren,  zum  Wachsthum  sind  sie  aber  nicht  befahigt. 

Um  iiber  die  Rolle  des  Zellkernes  weitere  Aufschliisse 
zu  erhalten,  ware  offenbar  eine  Methode  erwiinscht,  welche 
es  gestattete,  den  Zellkern  zu  todten,  ohne  den  Zellkorper 
sonst  zu  schadigen.  Vielleicht  lasst  sich  diese  gewinnen 
durch  Anwendung  des  von  Pringslieiili  angegebenen  Prin- 
zipes  der  partiellen  Todtung  von  Zellen  im  Brennpunkte 
einer  Linse 2).  AVahlt  man  die  Linse  so,  dass  sie  einen 
einzigen  Punkt  der  Zelle  zu  treffen  gestattet,  und  bringt 
man  bei  schwacher  Beleuchtung  den  Kern  dorthin,  so 
diirfte  sich,  durch  kurze  Besonnuug,  das  gewiinschte  Resul- 
tat  wohl  in  manchen  Zellen  erreichen  lassen.     Ich  mochte 


!)  G.  Klebs,  Bot.  Centralbl.  Bd.  28  S.  156  und  Arbeiten  d.  Bot. 
Institute  in  Tubingen  Bd.  II  1888  S.  565. 
3)  Pringsh.,  Jabrb.  Bd.  XII  S.  331  ff. 


—     187     — 

desbalb  diese  Methode  zur  weiteren  Ausbildung   in   dieser 
Ricbtung  auf  s  dringlichste  empfehlen. 

Fassen  wir  die  Resultate  der  besprochenen  Beobach- 
tungen  zusammen,  so  sehen  wir,  dass  die  Kerne  einen  Ein- 
fluss  auf  die  Thatigkeit  der  iibrigen  Glieder  des  Plasma- 
leibes  besitzen.  Sie  iiben  diesen  Einnuss  nur  so  lange  aus, 
als  die  betreffenden  Glieder  noch  im  protoplasmatiscben 
Zusammenhang  mit  ilmen  steben ,  und  am  liebsten  auf 
kiirzestem,  oder  docb  durcb  direkte  Plasmabander  dar- 
gestelltem  Wege. 


Abschnitt  IV, 
Die  Hypothese  der  intracellularen  Pangenesis. 

Erstes  Kapitel. 
Pangene  in  Kern  und  Cytoplasnia. 

§  1.     Einleitiing. 

Die  Scblussfolgerungen,  zu  denen  uns  im  ersten  Tbeile 
die  kritiscbe  Betracbtung  der  bisberigen  Tbeorien  iiber  die 
Erblicbkeit,  und  im  zweiten  die  Uebersicbt  iiber  den  jetzigen 
Stand  der  Zellenlehre  gefuhrt  haben,  wollen  wir  jetzt  mit 
einander  in  Verbindung  zu  bringen  sucben. 

Das  Ergebniss  des  ersten  Tbeiles  war,  dass  die  ver- 
gleicbende  Betracbtung  der  Organismenwelt  von  einem 
mbglicbst  breiten  Standpunkte  uns  zwingt,  die  Artcbaraktere 
aufzufassen  als  zusammengesetzt  aus  zahllosen,  mebr  oder 
weniger  selbstandigen  Faktoren,  von  denen  weitaus  die 
meisten  bei  verscbiedenen,  und  viele  bei  ausserst  zabl- 
reicben     Arten     wiederkebren.      Die     fast     unubersehbare 


—     188     — 

Mannigfaltigkeit  der  lebenden  und  der  ausgestorbenen  Or- 
ganismen  wird  dadurch  zurlickgefiihrt  auf  die  zahllosen 
verschiedenen  Kombinationen,  welche  eine  verhaltnissmassig 
geringe  Anzahl  von  Faktoren  zulasst.  Diese  Faktoren  sind 
die  einzelnen  erblichen  Eigenschaften,  welche  allerdings 
zumeist  nur  ausserst  schwierig  in  dem  verwickelten  Ganzen 
der  Erscheinungen  als  solche  zu  erkennen  sind,  welche 
aber  doch,  da  jede  unabhangig  von  den  iibrigen  variiren 
kann,  in  vielen  Fallen  getrennt  der  experimentellen  Be- 
handlung  imterworfen  werden  konnen. 

Diese  erblichen  Eigenschaften  mlissen  in  der  lebendigen 
Materie  begriindet  sein ,  jede  vegetative  Keimzelle ,  jede 
befruchtete  Eizelle  muss  die  sammtlichen ,  den  Charakter 
der  betreffenden  Art  zusammensetzenden  Faktoren  potentiell 
in  sich  enthalten.  Die  sichtbaren  Erscheinungen  der  Erb- 
lichkeit  sind  somit  die  Aeusserungen  der  Eigenschaften 
kleinster  unsichtbarer ,  in  jener  lebendigen  Materie  ver- 
borgener  Theilchen.  Und  zwar  muss  man,  um  sammtlichen 
Erscheinungen  Rechenschaft  tragen  zu  konnen,  fur  jede 
erbliche  Eigenschaft  besondere  Theilchen  annehmen.  Ich 
bezeichne  diese  Einheiten  als  Pangene. 

Diese  Pangene,  unsichtbar  klein,  aber  doch  von  ganz 
anderer  Ordnung  wie  die  chemischen  Molekiile  und  jedes 
aus  zahllosen  von  diesen  zusammengesetzt,  mlissen  wachsen 
und  sich  vermehren  und  sich  bei  den  Zelltheilungen  auf 
alle  oder  doch  nahezu  alle  Zellen  des  Organismus  ver- 
theilen  konnen.  Sie  sind  entweder  inaktiv  (latent)  oder 
aktiv,  konnen  sich  aber  in  beiden  Zustanden  vermehren. 
Vorwiegend  inaktiv  in  den  Zellen  der  Keimbahnen,  entwickeln 
sie  fiir  gewohnlich  ihre  hochste  Aktivitat  in  den  somatischen 
Zellen.  Und  zwar  derart,  dass  in  himeren  Organismen 
wohl  nie  sammtliche  Pangene  in    derselben  Zelle    zur  Ak- 


—     189     — 

tivitat  gelangen,  sondern  so.  dass  in  jeder  eine  oder  einige 
wenige  Gruppen  von  Pangenen  zur  Herrschaft  gelangen 
und  der  Zelle  ihren  Charakter  aufpragen. 

Die  Befruchtung  besteht  in  einer  Kopulation  der  Zell- 
kerne.  Das  Kind  erhalt  vom  Vater  nur  das,  was  im  Kerne 
des  Spermatozoids  oder  des  Pollenkornes  enthalten  war. 
Sammtliche  erblichen  Eigenschaften  miissen  also  in  den 
Kernen  durch  die  betreffenden  Pangene  reprasentirt  sein. 
Die  Kerne  gelten  deshall)  als  die  Bewahrstatten  der  erb- 
lichen Eigenschaften. 

In  den  Kernen  bleiben  aber  weitaus  die  meisten  Eigen- 
schaften zeitlebens  latent.  In  die  Erscheinnng  treten  sie 
erst  in  den  ubrigen  Organen  der  Protoplaste.  Schon 
Haeckel  sprach  es  aus,  „dass  der  innere  Kern  die  Ver- 
erbung  der  erblichen  Charaktere ,  das  aussere  Plasma  da- 
gegen  die  Anpassung,  die  Akkomodation  oder  Adaptation 
an  die  Verhaltnisse  der  Aussenwelt  zu  besorgen  hat" 
(Vergl.  S.  166).  Es  muss  also  in  irgend  einer  Weise  eine 
Uebertragung  der  erblichen  Eigenschaften  vom  Kerne  auf 
das  Cytoplasma a)  stattfinden ,  und  die  im  vorigen  Ab- 
schnitt  mitgetheilten  Beobachtungen  liefern  wichtige  Argu- 
mente  fiir  die  Richtigkeit  dieser  Folgerung. 

Das  sind  die  Schliisse,  zu  clenen  die  vorhandenen  That- 
sachen  meiner  Ansicht  nach  in  vollem  Maasse  berechtigen. 
Die  Annahme  von  Pangenen  ist  fiir  mich  eine  Hypothese. 
welche  mir  beim  jetzigen  Stande  unseres  Wissens  uner- 
lasslich  scheint.  Sie  ist  zur  Erklarung  der  verwandtschaft- 
lichen  Beziehungen  der  Organismen,  vorausgesetzt  dass 
man  diese  Erklarung  auf  materieller  Grundlage  versuchen 
will,  meiner  Meinung  nach  durchaus  nothwendig. 


J)   Unter  Cytoislasma  verstehe   ich  hier   das   ganze   Protoplasma 
mit  Ausnahme  des  Kernes. 


—     190     — 

Ich  verlasse  nun  diese  allgemeinen  Betrachtungen  unci 
werde  versuchen  zu  schildern ,  wie  ich  mir  die  Beziehung 
der  Pangene  zu  den  Erscheinungen  des  Zellenlebens  denke. 
Ich  bin  mir  wohl  bewusst,  dass  das  Ausarbeiten  einer 
Hypothese  in  ihre  aussersten  Konsequenzen  nur  zu  leicht 
zu  Irrschliissen  fiihrt,  und  nur  dann  fur  die  Wissenschaft 
niitzlich  ist,  wenn  es  zu  bestimmten,  experimentell  zu  be- 
antwortenden  Fragen  leitet.  Ich  werde  mich  daher  mog- 
lichst  beschriinken  und  nur  Eine  Hypothese  aufstellen, 
welche  mir  sich  durch  ihre  Einfachheit  zu  empfehlen 
scheint.  Diese  Hypothese  mit  den  sich  direkt  daraus  er- 
gebenden  Folgerungen  soil  der  Gegenstand  des  vorliegenden, 
letzten  Abschnittes  bilden. 

Diese  Hypothese  lautet:  Das  gauze  lebendige 
Proto plasma  besteht  aus  Pangenen;  nur  diese 
bilden  darin  die  lebenden  Elemente. 


§  2.     Aufbau  des  ganzen  Protoplasnia  aus  Pangenen. 

Aus  Hertwig's  beruhmter  Entdeckung  haben  einige 
Forscher  abgeleitet,  dass  nur  der  Kern  Trager  der  erb- 
lichen  Eigenschaften  sei,  dass  diese  vollig  auf  ihn  beschrankt 
seien.  Es  ist  dieses  nach  meiner  Meinung  eine  viel  zu 
weitgehende  und  durch  nichts  berechtigte  Folgerung.  Die 
Kopulation  der  Kerne  bei  der  Befruchtung  beweist  nur, 
dass  sammtliche  erblichen  Eigenschaften  im  Kerne  ver- 
gegenwartigt  sein  miissen ;  dass  sie  nicht  daneben  auch  im 
Cytoplasma  vorhanden  sein  konnen,  dariiber  entscheidet 
diese  Thatsache  nichts. 

Die  Organe  der  befruchteten  Eizelle  sincl  noch  die- 
selben  wie  die  der  unbefruchteten ;  die  junge  Pflanze  hat 
ihre  Chromatophoren   und  Vacuolen    als   solche   von  ihrer 


—     191     — 

Mutter  geerbt.  In  cler  langen  fteihe  von  Zelltheilungen, 
welche  von  cler  befruchteten  Eizelle  ausgehen,  gehen  jene 
Organe  jedesmal,  unter  stetiger  Vermelirung  durch  Theilung, 
auf  die  Tochterzellen  tiber.  Sie  haben  sozusagen  ihren 
unabhangigen  Stammbaum  neb  en  dem  der  Zellkerne.  Es 
giebt  also  offenbar  aucb  eine  Erblichkeit  ausserhalb  der 
Zellkerne. 

Die  kleinsten  morphologischen  Tbeilcben,  aus  denen 
die  Cbromatophoren  aufgebaut  sind,  miissen  sich  offenbar 
selbstandig  vermebren  konnen,  sonst  ware  weder  das  Wachs- 
tbum  noch  die  wiederholten  Tbeilungen  dieser  Gebilde  zn 
erklaren.  In  dieser  Hinsicbt  stimmen  die  Theilcben  offenbar 
mit  den  Pangenen  des  Kernes  uberein.  Das  Vermogen, 
den  Cbloropbyllstoff  zu  erzeugen,  muss  in  den  entsprechen- 
den  Pangenen  des  Kernes  im  latenten  Zustande  vorbanden 
sein,  in  den  kleinsten  Tbeilcben  der  Cbromatophoren  ist  es 
bei  den  hoheren  Pfianzen,  so  lange  die  betreffenden  Glieder 
im  Dunklen  verweilen,  gleicbfalls  inaktiv,  um  erst  am 
Licbte  aktiv  zu  werden. 

Wir  werden  somit  entweder  Chloropbyll-pangene  im 
Kerne  und  besondere  Chloropbyll-bildende  Tbeilcben  in 
den  Cbromatophoren  annebmen  mtissen ,  oder  aber  diese 
beide  identifiziren  und  uns  vorstellen.  dass  jene  hypothe- 
tischen  Einheiten,  im  Kerne  inaktiv,  selber  zu  den  Chroma- 
tophoren  gehen,  um  in  diesen  aktiv  zu  werden.  Die  zweite 
Annabme  ist  offenbar  die  einfachste ;  denn  die  erste  fordert 
fiir  jede  Punktion  zweierlei,  sich  durch  "Wachsthum  und 
Theilung  vermehrende  Einheiten,  welche  dazu  noch  stets 
derart  in  Wechselwirkung  stehen  miissen,  dass  die  Einheiten 
im  Chromatophor  nur  so  arbeiten  konnen,  wie  es  die  ent- 
sprechenden  Pangene  im  Kerne  vorschreiben. 

Genau  dieselbe  Erorterung  lasst  sich  auf  die  ubrigen 


—     192     — 

Eigenschaften  der  Chromatophoren  unci  auf  die  anderen 
Organe  der  Protoplaste,  mit  einem  Worte  auf  alle  erblichen 
Eigenschaften  anwenden. 

Betracbten  wir  unsere  Frage  vom  Standpunkte  der 
Deszendenzlehre.  In  den  ersten  nocli  kernlosen  Organismen 
miissen  wir  uns  selbstverstandlich  aucb  die  einzelnen  erb- 
lichen Eigenschaften  an  Pangene  gebunden  denken.  Diese 
miissen  hier  aber  offenbar  im  Protoplasma  liegen.  Und 
sobald  die  Differenzirung  so  weit  vorgeschritten  war.  dass 
nicht  alle  Eigenschaften  zu  gle'icher  Zeit  in  Thatigkeit  zu 
sein  brauchten.  miissen  in  diesen  einfachsten  Protoplasten 
aktive  und  inaktive  Pangene  neben  und  zwiscben  einander 
gelegen  haben.  Je  nach  Alter  und  ausseren  Umstiinden 
wiirden  das  eine  Mai  diese,  das  andere  Mai  jene  Pangene 
in  Thatigkeit  gerathen.  Hier  ware  es  ganz  iiberfliissig,  fur 
jede  Funktion  zweierlci  Art  von  Einheiten  anzunehmen, 
einmal  inaktive,  nur  die  Vererbung  besorgende  Pangene 
und  ein  anderes  Mai  Theilchen.  welche  die  latenten  Eigen- 
schaften jener  aussern  konnten.  Viel  einfacher  ist  fur  diese 
niederen  Lebewesen  offenbar  die  Annahme,  dass  dieselben 
Pangene  je  nach  Umstanden  aktiv  oder  inaktiv  sein  konnen. 

Dass  das  Protoplasma  aus  kleinsten  Theilchen  besteht. 
welche  sich  selbstandig  vermehren  konnen,  kann  wohl  nicht 
bezweifelt  werden.  Es  ist  ja  dieses  das  eigentliche  Attribut 
des  Lebens.  Und  class  wir  nur  diese  Theilchen  als  Lebens- 
einheiten  zu  betracbten  haben,  neben  denen  alles  iibrige, 
Eiweiss,  Glucose,  Salze  u.  s.  w.,  nur  gelost  im  Imbibitions- 
wasser  vorhanden  ist,  scheint  mir  ebenfalls  klar.  Wie  diese 
Theilchen  konstituirt  sind,  ob  sie  selbst  Imbibitionswasser 
enthalten  oder  nicht,  und  wie  durch  ihren  Bau  die  sicht- 
baren  Merkmale  der  Organismen  bedingt  sind,  wissen  wir 
nicht,  viel  weniger  wie  sie  sich  theilen  und  vermehren  konnen. 


—     193     — 

Abgeseben  von  diesen,  jecler  Theorie  anklebenden  Scbwierig- 
keiten,  ist  aber  die  Annabme,  dass  diese  Theilchen  iden- 
tisch  sind  mit  den  Tragern  der  erblichen  Anlagen,  offenbar 
die  einfacbste.  welcbe  man  liber  den  Bau  der  lebendigen 
Materie  machen  kann. 

Die  Entstehung  des  Zellkernes  in  der  phylogenetischen 
Differenzirung  der  niedersten  Organismen  erscheint  uns, 
von  diesem  Gesicbtspunkte  aus,  wie  eine  ausserst  praktiscbe 
Arbeitstheilung.  Bis  dahin  lagen  die  aktiven  und  die  in- 
aktiven  Pan  gene  iin  Protoplasma  iiberall  zwischen  und 
neben  einander.  Und  einen  je  boheren  Grad  die  Differen- 
zirung erlangt  batte,  urn  so  grosser  musste  die  Zahl  der 
unter  sicb  verscbiedenen  Pangene  in  demselben  Protoplasten 
sein.  Um  so  grosser  rniisste  aber  aucb  jedesmal  die  Menge 
der  inaktiven  zwiscben  den  aktiven  werden.  Die  letzteren 
wiirden  dadurch  auf  einen  verbiiltnissraassig  grossen  Raum 
vertheilt  werden ,  und  die  Leistungsfiiliigkeit  des  Ganzen 
musste  dementsprechend  abnehmen.  Durcli  die  Ausbildung 
des  Kernes  konnte  diese  Sacblage  geandert  werden.  Die 
inaktiven  Pangene  wiirden  in  diesem  angehauft  und  auf- 
bewabrt  werden ;  die  aktiven  konnten  sicli  naber  aneinander 
anscbliessen. 

Malen  wir  dieses  Bild  weiter  aus.  Sobald  der  Augen- 
blick  fiir  bestimmte  bis  dabin  inaktive  Pangene  gekommen 
war,  sicb  in  Tbiitigkeit  zu  versetzen,  miissten  sie  jetzt 
offenbar  aus  dem  Kerne  in  das  Cytoplasma  iibergeben. 
Dabei  wiirden  sie  aber  ibre  Eigenscbaften,  und  namentlich 
ihr  Vermogen  zu  wacbsen  und  sicb  zu  vermebren  bebalten. 
Nur  wenige  gleicbartige  Pangene  brauchten  also  jedesmal 
aus  dem  Kerne  auszutreten,  um  durcb  ibre  weitere  Ver- 
mehrung  die  von  ibnen  getragene  Eigenscbaft  dem  betreffen- 
den  Tbeile  des  Cytoplasma   aufzupriigen.     Dieser  Vorgang 

de  Vries,  Intracellulare  Pangenesis.  lo 


—     194    — 

wiirde  sich  bei  jeder  Aenderung  der  Funktion  ernes  Proto- 
plasten  wiederholen,  jedesmal  wiirden  neue  Pangene  aus 
dem  Kerne  austreten,  urn  aktiv  werden  zu  konnen.  In 
dieser  Weise  wiirde  bald  das  ganze  Cytoplasma  aus  den 
vom  Kern  bezogenen  Pangenen  und  ihren  Nachkommen 
bestehen. 

§  3.     Aktive  und  inaktive  Pangene. 

Schon  Darwin  bat  betont,  dass  die  Ueberlieferung 
eines  Charakters  und  seine  Entwickelung,  wenn  sie  audi 
haufig  zusammengehen,  dennoch  distinkte  Vermogen  sind1). 
Dieser  aus  den  Erscbeinungen  des  Atavisnius  abgeleitete 
Satz  bat  durch  die  Entdeckung  der  Funktion  der  Zellkerne 
eine  hervorragende  Bedeutung  in  der  Zellenlebre  erhalten. 
Die  Ueberlieferung  ist  die  Funktion  der  Kerne ,  die  Ent- 
wickelung ist  Aufgabe  des  Cytoplasma. 

Die  bisherigen  Tbeorien  nebmen  dabei  einen  vollstan- 
digen  Gegensatz  zwiscben  Kern  und  Cytoplasma  an,  indem 
sie  sich  die  erblicben  Eigenscbaften  auf  den  ersteren  be- 
schrankt  denken,  und  im  iibrigen  Protoplasma  nur  ein 
passives  Substrat  erblicken,  mittelst  dessen  jene  arbeiten. 
So  wurde  der  Kern  das  Wesentliche  in  der  Zelle ;  er  be- 
herrscbte  nicht  nur,  sondern  bestimmte  aucb  vollstandig  die 
Funktionen.  Aber  die  Versucbe  von  Nussoaum,  Gruber, 
Klebs  und  Anderen  baben  gelehrt,  dass  auch  kernlose 
Tbeilstiicke  niederer  Organismen  gewisse  Funktionen  aus- 
zuiiben  im  Stande  sind.  Namentlich  solche,  mit  denen  sie 
vor  ihrer  Abtrennung  bereits  beschaftigt  waren,  scbeinen 
sie  nacbber  fortsetzen  zu  konnen.  Der  Einfluss  des  Kernes 
braucbt  also  jedenfalls   fur   solche  Funktionen  kein  konti- 


J)  Darwin,  Variations  II  S.  368. 


—     195     — 

nuirlicher  zu  sein;  hat  er  einmal  stattgefunden,  so  kann  die 
Arbeit  nachher  auch  ohne  seine  Mitwirkung  fortdauern. 

Offenbar  ist  die  einfachste  Erklarung  unsere  Annahme, 
dass  Kern  und  Cytoplasma  beide  aus  denselben  Pangenen 
aufgebaut  sind.  Nur  dass  im  Kerne  alle  Arten  von  Pan- 
genen der  betreffenden  Spezies  liegen ,  im  iibrigen  Proto- 
plasma  in  jeder  Zelle  aber  wesentlich  nur  diejenigen,  welche 
in  ihr  in  Thatigkeit  gelangen  sollen.  Im  Kerne  sind  die 
meisten  inaktiv ,  d.  b.  sie  haben  sich  nur  zu  vermehren. 
Selbstverstandlich  muss  es  daneben  im  Kerne  auch  aktive 
Pangene  geben,  z.  B.  jene.  welche  den  verwickelten  Prozess 
der  Kerntheilung  besorgen ;  dieses  andert  an  der  Haupt- 
sache  aber  nichts.  In  den  Organen  des  Protoplasten  konnen 
die  Pangene  ihre  Yermehrung  fortsetzen ,  und  allem  An- 
scheine  nach  fangen  sie  hier  wohl  stets  mit  einer  verhalt- 
nissmassig  starken  Vermehrung  an.  Dabei  konnen  sie  hier 
kiirzere  oder  langere  Zeit  inaktiv  bleiben .  oder  auch  ab- 
wechselnd  aktiv  und  inaktiv  sein.  Manche  werden  gleich 
nach  ihrer  Ankunft.  andere  spater,  einige  unabhangig  von 
ausseren  Umstanden ,  wieder  andere  erst  in  Reaktion  auf 
bestimmte  Reize  die  ihr  eigene  Thatigkeit  anfangen. 

Die  ausserst  merkwiirdigen  Vorgange,  welche  sich  bei 

der  Kerntheilung  im  Innern  der  Kerne  abspielen,  sind  mit 

der  Annahme  der  Pangene  in  vollem  Einklang.    Die  meisten 

Forscher    betrachten    den    chromatischen    Faden    als    den 

morphologischen  Ort,  wo  die  erblichen  Anlagen  aufbewahrt 

werden.     Dieser  Faden  wiirde  somit  aus  den  zu  kleineren 

und  grosseren  Gruppen  vereinten  Pangenen  bestehen,  und 

er  zeigt.   bei  grosster  Dicke ,    deutlich    einen  Bau   aus  be- 

sonderen.    aneinander  gereihten  Theilen.     Wir  konnen  uns 

ganz  an  die  Meinung  von  Roux  anschliessen,  wo  er  in  der 

Langsspaltung  der  Kernschleifen  den  sichtbaren  Theil  der 

13* 


—     196     — 

Tremmng  cler  miitterlichen  Anlagen  in  zwei  fur  die  beiclen 
Tochterzellen  bestimmte  Halften  erblickt 1).  Diese  Auf- 
fassung  ist  in  vollster  Uebereinstimmung  mit  der  Pangenesis. 

§  4.     Ueber  den  Transport  der  Pangene. 

Unsere  Hypothese ,  class  das  ganze  Protoplasrna  aus 
Pangenen  bestehe,  leitete  uns  zu  der  Folgerung,  class  alle 
Arten  von  Pangenen  im  Kern  vertreten  sind.  Hier  sind 
die  meisten  unter  ihnen  inaktiv,  wahrend  sie  spater  im 
iibrigen  Protoplasrna  aktiv  werden  konnen.  Daraus  folgte, 
class  von  Zeit  zu  Zeit  aus  dem  Kerne  Pangene  nach  den 
iibrigen  Organen  des  Protoplasten  transportirt  werden 
miissen. 

Es  ist  mir  vollig  klar,  class  diese  Folgerung  bei  den 
meisten  Lesern  die  Hauptscbwierigkeit  gegen  meine  Ansicht 
bilden  wird.  Die  Pangene  sind  unsichtbar,  ihr  Transport 
entzieht  sich  also  cler  Beobachtung.  Die  im  vorigen  Ab- 
schnitt  besprocbenen  Versucbe  von  Nusslmum ,  Grruber 
unci  TClebs  beweisen  zwar,  dass,  wenn  die  Gelegenbeit  zum 
Transporte  abgesclmitten  ist,  die  Funktionen  cles  Proto- 
plasten in  liobeni  Maasse  beschrankt  werden,  aber  es  sind 
bier  ja  vielleicbt  nocb  so  viele  andere  Wirkungen  im  Spiele. 
Icb  mochte  desbalb  hier  hervorheben,  class  man  bei  Ver- 
werfung  meiner  Hypothese  nicht  zu  einer  befriedigenden 
Ansicht  iiber  die  Beziehung  zwischen  Zellkern  und  Cyto- 
plasma  gelangt. 

Vervvirft  man  meine  Hypothese,  und  folgt  man  also 
der  berrschenden  Vorstellung  iiber  den  Gegensatz  zwischen 
Kern     und    Cytoplasma ,     so     kann    man     sich    die    Wir- 


J)  Roux,  Ueber  die  Bedeutung-  der  Kerntheilungsfiguren.     Leip- 
zig 1888. 


—     197     — 

kung    des   Kernes    entweder    dynamisch    oder    enzymatisch 
denken. 

Strasburger  vertritt  die  erstere  Ansicht.  Die  Wechsel- 
wirkung  zwisclien  dem  Zellkern  und  dem  Cytoplasma  ist, 
nach  ihm,  eine  dynamische ,  d.  h.  sie  findet  ohne  Stoff- 
wanderung  statt x).  Denn  eine  Abgabe  siclitbarer  Theilclien 
hat  dieser  Eorscher  bei  seinen  ausgedelmten  Studien  nie 
beobachten  konnen.  „Vom  Zellkern  aus  pflanzen  sick  auf 
das  umgebende  Cytoplasma  moleknlare  Erregungen  fort, 
welche  einerseits  die  Vorgange  des  Stoffwechsels  in  der 
Zelle  beherrschen,  andererseits  dem  durch  die  Ernahrung 
bedingten  Wachsthum  des  Cytoplasma  einen  bestimmten 
der  Spezies  eigenen  Cbarakter  geben."  So  lange  es  sich 
nur  um  eine  allgemeine  Einsicht  bandelt,  reicht  diese  An- 
nahme  wohl  aus,  sobald  man  aber  seine  Aufmerksamkeit 
auf  einzelne  Prozesse  lenkt,  stosst  man  auf  uniiberwindliche 
Schwierigkeiten.  Die  morpliologischen  Vorgange  sind  aller- 
dings  noch  bei  weitem  niclit  hinreicliend  analysirt,  um  ein 
tiefes  Eindringen  zu  gestatten,  dafiir  kann  man  sich  aber 
an  die  viel  einfacheren  chemischen  Prozesse  wenden. 

Wahlen  wir  ein  Beispiel.  Es  ist  eine  erbliche  Eigen- 
schaft  von  weitaus  den  meisten  Pflanzen,  Aepfelsaure  be- 
hufs  der  Erhaltung  ihres  Turgors  zu  bilden  und  in  ihrem 
Zellsaft,  meist  in  Verbindung  mit  anorganischen  Basen, 
anzuhaufen.  Die  Abscheidung  dieser  Saure  im  Innern  der 
Zelle  konnen  wir  uns  nicht  anders  als  an  bestimmte  Theil- 
clien gebunden  denken,  denen  dieses  Vermogen  kraft  ihrer 
molekularen  Konstitution  zukommt,  und  welche  wohl  am 
nachsten  mit  Enzymen  verglichen  werden  konnen. 

x)  E.  Strasburger,  Neue  Untersuchungen  uber  den  Befruchtungs- 
vorgang  bei  den  Phanerogamen  1884  S.  111.  Vergl.  auch  A.  Weis- 
mann,  Die  Kontinuitat  des  Keimplasmas  als  Grrundlage  einer  Theorie 
der  Vererbung  1885  S.  28. 


—     198     — 

Es  hat  nun  keine  Schwierigkeit  anzunehmen,  dass  diese 
Theilchen  nur  dann  in  Thatigkeit  gerathen,  wenn  sie  da- 
zu  durch  molekulare  Erregungen  vom  Zellkern  aus  ver- 
anlasst  werden,  und  icli  zweifle  nicht,  dass  solche  Korre- 
lationen  haufig  vorkommen.  Aber  die  Scbwierigkeit  liegt 
in  der  Frage,  wober  bekommt  das  Cytoplasma  diese  Theil- 
cben.  Denn  offenbar  kann  die  Fahigkeit,  Aepfelsaure  zu 
bilden,  nicht  jedem  beliebigen  Substrate  durch  jene  Er- 
regungen mitgetbeilt  werden.  Solche  Erregungen  konnen 
nur  auslosen,  und  ausgelost  kann  nur  das  werden,  was 
potentiell  bereits  vorhanden  war.  AVoher  stammen  also 
die  Aepfelsaurebildner  des  Cytoplasma? 

Diese  Frage  wird  von  der  dynamischen  Theorie  nicht 
beantwortet.  Aber  die  Bastarde  lehren  uns,  wie  bereits 
friiher  betont  wurde ,  dass  ahnliche  Eigenschaften  vom 
Vater  geerbt,  und  also  im  latenten  Zustand  im  Sperma- 
kerne  iibergefiihrt  werden  konnen.  Die  Aepfelsaurebildner 
miissen  also  auch  selbst  aus  den  Kernen  stammen.  Sie 
sincl  nur  die  aktiven  Zustande  der  im  Kerne  inaktiven 
Aepfelsaurepangene.  Und  dasselbe  muss  offenbar  in  gleicher 
Weise  von  den  ubrigen  erblichen  Anlagen  gelten. 

Wir  gelangen  also  auch  auf  diesem  Wege  zu  der  be- 
reits friiher  gemachten  Annahme,  dass  die  Pangene  des 
Cytoplasma  aus  den  Kernen  stammen. 

Auf  die  Moglichkeit  einer  enzymatischen  Wirkung  des 
Zellkernes  auf  das  Cytoplasma  hat  Haberlandt  hingewiesen. 
Die  Bedeutung  der  eigenthlimlichen,  von  diesem  Forscher 
beobachteten  Lagen  des  Zellkernes  in  der  Nahe  des  Ortes 
kraftigster  Thatigkeit  in  der  Zelle  bleibt  nach  ihrn  die- 
selbe,  „wenn  jene  Wirkung  keine  dynamische,  sondern  eine 
stoffliche  sein  sollte,  wenn  also  eine  Diffusion  bestimmter 
chemischer  Verbindungen,  die  der  Zellkern  ausschiede,  durch 


—     199     — 

das  Plasma  zur  Wachsthumsstatte  hin  stattfinden  wiirde: 
die  Wirksamkeit  dieser  Stoffe  ware  zweifellos  vom  Kon- 
zentrationsgrade  ihrer  Losung  abhangig,  so  zwar,  dass 
erst  bei  einer  bestimmten  Konzentration  das  Cytoplasma 
darauf  reagiren  wiirde"  1). 

Aber  um  auf  die  vom  Kerne  ausgeschiedenen  Stoffe 
in  bestimmter  Weise  reagiren  zu  konnen ,  muss  das  Cyto- 
plasma bereits  die  entsprechenden  Eigenschaften  besitzen. 
Auf  eine  Ausscheidung  von  Diastase  reagirt  die  Starke, 
aber  nicht  jedes  beliebige  Substrat.  Aucb  die  Annalime 
enzymatiscber  Wirkungen  fordert  das  Vorbandensein  erb- 
licher,  vom  Kerne  bezogener  Eigenscbaften  im  Cytoplasma. 

Mag  also  die  Annahme  einer  Abgabe  von  Pangenen 
seitens  des  Kernes  an  das  Cytoplasma  auf  den  ersten  Blick 
aucb  nocb  so  fremdartig  scbeinen,  dennocb  gelangt  man 
auf  den  verscbiedensten  Wegen  zu  der  Erkennung  ihrer 
Berecbtigung. 

Eine  wicbtige  Frage  ist  die  nach  dem  Zeitpunkte.  in 
welcbem  dieser  Transport  hauptsachlich  stattfindet.  Eine 
vergleichende  Betracbtung  der  verschiedenen  Formen  der 
Variability  wird  hoffentlich  einmal  das  erforderlicbe  Ma- 
terial zur  Beantwortung  geben,  einstweilen  aber  diirfen  wir 
es  als  wahrscbeinlich  betracbten,  dass  sowobl  kurze  Zeit 
nacb  der  Befruchtung,  als  aucb  wiihrend  oder  nach 
jeder  Zelltheilung  ein  soldier  Transport  stattfindet.  Fur 
das  erstere  sprecben  die  Bastarde  und  jene  Variationen, 
welche  die  sammtlicben  Glieder  einer  Pflanze  in  gleicher 
"Weise  affiziren.  Fiir  das  andere  die  friiher  besprochenen 
Erscbeinungen  der  Dichogenie,  wo  wabrend  der  friibesten 
Jugend  eines  Organes  dessen  spatere  Natur  durch  iiussere 


J)  G.  Haberlandt,   Ueber   die   Beziehungen   zwischen  Funktion 
und  Lage  des  Zellkernes  1887  S.  14  Note. 


—     200     — 

Einfiiisse  bestimmt  werden  kann.  Wenn  zum  Beispiel  die 
Endknospe  eines  Rhizoms  vorzeitig  zum  aufrechtwachsenden 
Spross,  oder  die  Anlage  eines  Niederblattes  zum  normalen 
Blatte  wirdj  so  diirfen  wir  annehmen ,  dass  andere  Pan- 
gene  vom  Kerne  abgegeben  werden,  als  ohne  den  kiinst- 
lichen  Eingriff  der  Fall  gewesen  ware.  Somit  muss  in 
jenem  Jugendstadium  die  normale  Abgabe  noch  nicht  ab- 
gescblossen  sein.  "Wenn  erwaclisene  Zellen  zur  Bildung 
von  Callus  oder  Wundkork,  oder  wie  bei  Begonia  zur 
Neubildung  von  ganzen  Pflanzchen  gereizt  werden,  werden 
audi  wohl  die  dabei  in  Thatigkeit  gerathenden  Pangene 
erst  aus  ihrer  Ruhestiitte  hervorgeholt  werden  miissen. 

Der  Transport  der  Pangene  und  ihre  Beforderung  an 
die  richtigen  Stellen  fordert  ganz  besondere  Einriclitungen, 
deren  Existenz  wohl  mancher  Leser  es  nicht  wagen  mag 
zu  vermuthen.  Aber  wer  hatte  es  vor  einem  Jahrzelmt 
gewagt,  den  merkwiirdig  komplizirten  Bau  des  Zellkernes 
zu  vermuthen?  Wir  miissen  in  unseren  Hypothesen  mog- 
lichst  sparsam  sein ,  diirfen  uns  andererseits  aber  nicht 
vor  der  Wahrnehmung  verschliessen ,  dass  die  Forschung 
im  Bau  der  Protoplaste,  seit  Mohl's  Zeiten,  stets  weitere 
Differenzirungen  hat  erkennen  lassen ,  und  dass  wir  wohl 
bei  weitem  niclit  am  Ende  angelangt  sein  konnen. 

Eine  Einrichtung  zum  Zwecke  dieses  Transportes  bilden 
meiner  Ansicht  nach  die  Stromungen  im  Protoplasma. 
Jedermann  weiss,  wie  diese  in  jugendlichen  Zellen  haupt- 
sachlich  in  vom  Kerne  ausstrahlenden  Bahnen  stattfinden, 
und  neuere  Forschungen  haben  gelehrt,  wie  sie  die  Stellen 
vorwiegender  Thatigkeit  gar  oft  direkt  mit  dem  Kerne  ver- 
binden. 

Vor  wenigen  Jahren  war  die  Ueberzeugung,  dass  diese 
Stromchen  eine  ganz  allgemeine  Eigenthumlichkeit  pfianz- 


—     201     — 

licher  Zellen  bilden,  noch  bei  weitem  nicht  die  lierrschende. 
Man  dachte  sich  die  Erscheinung  auf  eine  Reihe  von  Bei- 
spielen  beschrankt.  Ilanstein  hatte  bereits  darauf  hin- 
gewiesen ,  wie  wenig  diese  Ansicbt  berecbtigt  war 2),  und 
Telten  liatte  die  Existenz  vom  Stromcben  in  alien  von  ihm 
darauf  gepriiften  Pfianzen  nacbgewiesen  2).  In  der  Botan. 
Zeitung  1885  babe  icb  den  Nachweis  geliefert,  dass  mecha- 
niscbe  Einricbtungen  zum  Transport  der  assimilirten  Niihr- 
stoffe  in  den  Pfianzen  nicht  ausreicben ,  und  dass  dieser 
unter  den  bis  jetzt  bekannten  Prozessen  nur  von  den 
Stromungen  des  Protoplasma  besorgt  werden  kann  :3).  Bei 
dieser  Gelegenbeit  habe  icb  die  Angabe  von  Telten  aus- 
fiibrlicb  gepriift  und  das  ganz  allgemeine  Vorkommen  von 
Stromcben  in  kraftig  lebenden  Zellen  bestatigt  gefunden4). 

Die  mecbanische  Moglicbkeit  eines  Transportes  von 
Pangenen  ist  also  fiir  alle  pflanzlicben  Zellen  hinreicbend 
sichergestellt.  jSTur  Eine  Scbwierigkeit  war  nocb  zu  be- 
seitigen.  Nacb  dem  Vorgange  Hofmeisters  wurde  allge- 
mein  angenommen,  dass  die  Stromungen  in  den  Zellen  erst 
am  Ende  der  meristematiscben  Periode  anfangen,  und  dass 
das  Kornerplasma  bis  dabin  sich  in  Rube  befindet.  Und 
nun  ist  gerade  die  meristematische  Periode  jene,  in  welcber 
die  Zellen  nicht  nur  entstehen,  sondern  in  der  audi  ibr 
sptiterer  Cbarakter  zum  grossten  Theile  bestimmt  wird. 
Gerade  in  diese  Zeit  miissen  wir  also  den  wicbtigsten  Theil 
des  Transportes  der  Pangene  verlegen. 

Aber  Hofmeister's  Aussprucb  berubte  auf  ungeniigen- 


')  Hanstein,  Das  Protoplasma  1880  S.  155. 

2)  Velten,  Botan.  Zeitung  1872  S.  645. 

3)  Bot.  Zeitung  1885  S.  1. 

4)  Over  het  algemeen  voorkomen  van  circulatie  en  rotatie  in  de 
weepelcellen  der  planten,  Maandbl.  v.  Natuurw.  1884  Nr.  6.  Vergl. 
ibid.  1886  Nr.  4  und  Bot.  Zeitung  1885  S.  17. 


—     202     — 

den  Beobachtungen.  Eine  von  Went  nach  den  neueren 
Methoden  vorgenommene  Nachpriifung  flihrte  zu  ganz 
anderem  Resultat 1).  Allerdings  sind  die  Bewegungen  lang- 
sam,  und  bei  einmaliger  Besichtigung  des  Objekts  nicht 
zu  sehen.  Setzt  man  aber  die  Wahrnehmung  an  demselben 
Objekt  unter  giinstigen  Lebensbedingungen  stundenlang 
fort,  so  beobachtet  man  iiberall  Yerscbiebungen ,  welcbe 
das  Vorhandensein  langsamer  Stromungen  ausser  Zweifel 
setzen. 

Der  Annabme ,  dass  der  Transport  der  Pangene  in 
Pflanzenzellen  durcb  die  Stromungen  des  Kornerplasma 
stattfindet,  stebt  somit  von  dieser  Seite  keine  Schwierigkeit 
im  "Wege.  Auf  tbierpbysiologiscbem  Gebiete  allerdings 
reiclit  unsere  Kenntniss  von  den  Stromungen  des  Proto- 
plasma  in  dieser  Hinsicbt  bei  weitem  noch  nicht  aus. 
Doch  sind  die  Schwierigkeiten  der  Untersuchung  hier  wohl 
bedeutend  grosser  als  im  Pnanzenreich. 

§  5.     Vergleichung  mit  Darwin's  Transporthypothese. 

Mancber  Leser  wird  vielleicht  eine  grosse  Ueberein- 
stimmung  erblicken  zwiscben  der  im  vorigen  Paragrapben 
gemacbten  Annabme  eines  Transportes  von  Pangenen  aus 
dem  Kerne  nach  den  iibrigen  Organen  der  Protoplaste 
einerseits  und  Darwin's  Hypothese  des  Keimchentrans- 
portes  andererseits.  Diese  Uebereinstimmung  ist  aber  nur 
eine  scheinbare,  keine  wesentliche.  Im  Grunde  sind  beide 
Hypothesen  durchaus  verschieden. 

Darwin  nahm  einen  Transport  seiner  Keimchen  durch 
den  ganzen  Korper  an;  meine  Ansicht  fordert  nur  eine 
Bewegung   im  engen  Bezirke  einer  einzelnen  Zelle.     Aber 


x)  F.  Went,  Jahrb.  f.  wiss.  Bot.,  Bd.  XIX  S.  329. 


—     203     — 

nicht  dieses  ist  der  Hauptimterschied.  In  der  Keimchen- 
lehre  konnen  die  von  einer  Zelle  oder  eineni  Gliede  ab- 
getrennten  Theilchen  sich  wieder  in  neue  Zellen.  namentlich 
in  die  Keimzellen  begeben.  und  diese  somit  mit  neuen  erb- 
lichen  Anlagen  bescbenken.  Letztere  konnen  dann  nicht 
etwa  nur  in  der  betreffenden  Keimzelle  znr  Entfaltung  ge- 
langen,  sondern  audi  auf  alle  ihre  Nachkommen  iibertragen 
werden.  Dazu  miissen  sie  aber,  nach  der  jetzigen  Lage 
der  Zellenanatomie  und  der  Befruchtungslehre.  in  die  Kerne 
aufcenommen  werden.  Eine  solche  Annabme  macht  nun 
die  Hypotbese  der  intracellularen  Pangenesis  offenbar  nicbt. 
die  einmal  vom  Kerne  ausgegangenen  Pangene  brauchen 
nicbt  wieder  in  diesen  aufgenommen  werden  zu  konnen. 
weder  in  den  Kern  der  selben,  noch  in  denjenigen  irgend 
einer  anderen  Zelle. 

Allerdings  kann  man  auf  Grund  unserer  jetzigen  ana- 
tomiscben  Kenntnisse  die  Moglicbkeit  eines  Ueberganges 
von  Pangenen  von  einer  Zelle  zur  anderen  nicht  leugnen. 
Die  Untersucbungen  von  Tailgl,  Kussow  und  vielen  anderen 
Forschern  iiber  die  direkten  Verbindungen  der  Protoplaste 
benachbarter  Zellen  durch  die  feinen  Porenkanale  der 
Tlipfel  weisen  sogar  den  AVeg,  auf  welcbem  ein  soldier 
Uebergang  eventuell  stattfinden  konnte.  In  den  Milchsaft- 
gefassen  sind  die  Stromungen  desProtoplasnia  ohne  Zweifel 
nicbt  auf  die  einzelnen  konstituirenden  Zellen  bescbrankt, 
sondern  der  Strom  geht  ohne  Rucksicht  auf  die  fruheren 
Zellengrenzen  weiter.  So, namentlich  die  Massenbewegung 
nach  Verletzungen,  aber  wohl  audi  die  eigenen  Bewegungen 
des  Kornerplasma  im  normalen  Zustande.  Nehmen  wir  an, 
dass  das  ganze  lebendige  Protoplasma  aus  Pangenen  besteht, 
so  ist  bier  deren  Uebergang  von  einer  Zelle  zur  anderen 
nicht  zu  leugnen.     Aber  fiir  die  Erblichkeitslehre  hat  diese 


—     204     — 

Erscheinung  offenbar  keine  Bedeutung.  Aelmliclie  Betrach- 
timgen  liessen  sich  fiir  anclere  Falle  von  Zellfusionen  oder 
Symplasten  anstellen. 

Aeusserst  merkwiirdig  ist  auch  die  von  Kolderup- 
Roseimnge  entdeckte  Entstehungsweise  der  sekundaren 
Tlipfel  der  Florideen 1).  Die  Bindenzellen ,  z.  B.  von 
Polysiphonia,  theilen  sich  dabei  mit  vorangehender  Kern- 
theilung  in  tiblicher  Weise.  Aber  der  eine  Theil  umfasst 
nahezu  den  ganzen  Protoplasten,  der  andere  nur  eine  kleine 
Ecke  an  dessen  Grande.  Die  zwischen  beiden  Hiilften 
entsteliende  Wand  bildet  einen  primaren  Tiipfel.  Darauf 
wird  die  "Wand  zwischen  der  abgetrennten  Ecke  und  der 
unterliegenden  Zelle  aufgelost ,  und  die  beiden  jetzt  in 
Beruhrung  gelangenden  Protoplaste  verschmelzen.  Die 
alte  tiipfellose  Querwand  wird  sornit  durch  eine  neue  tiipfel- 
haltige  ersetzt.  Aber  was  fiir  unsere  Zwecke  so  merk- 
wiirdig ist,  ist  der  Umstand,  dass  die  unterliegende  Zelle 
jetzt  einen  Kern  aus  ihrer  oberen  Nachbarin  erhalten  hat. 
Sie  ist  zweikernig,  und  wird  spater  durch  Kerntheilungen 
vielkernig.  Fiir  alle  Diejenigen,  welche  den  Kern  als 
Trager  der  erblichen  Anlagen  betrachten,  findet  hier  eine 
Uebertragung  der  letzeren  von  einer  Zelle  zur  anderen 
statt.  Aber  offenbar  wieder  ohne  Bedeutung  fiir  die  Erb- 
lichkeitslehre. 

Die  Moglichkeit  eines  Ueberganges  von  stofflichen 
Tragern  erblicher  Anlagen  von  einer  Zelle  zur  anderen 
lasst  sich  also  nicht  leugnen.  Weitere  Untersuchungen  werden 
ohne  Zweifel  noch  andere,  in  derselben  Richtung  verwert- 
bare  Thatsachen  zu  Tage  fordern.     Und  dass  sich   in   den 


J)  L.  Kolderup-Rosenvinge,  Sur  la  formation  des  pores  secon- 
dares chez  les  Polysiphonia.  Botanisk  Tidsskrift  17.  Bind,  1.  Haefte 
1888. 


—     205     — 

Pflanzen  auf  ahnlichen  Wegen  hier  unci  dort  Vorgange  ab- 
spielen ,  welche  mit  der  Erblichkeit  in  direkter  Beziehung 
stehen,  lasst  sicli  natiirlich  a  priori  nicht  verneinen. 

Eine  ganz  andere  Frage  ist  aber  die,  ob  ein  soldier 
Uebergang  allgemein  vorkommt  und  bei  der  Uebertragung 
erblicher  Anlagen  uberall  im  Pflanzen-  und  Thierreich  eine 
wichtige  Rolle  spielt. 

Diese  Frage  zu  beantworten,  dazu  reichen  anato- 
mische  Thatsachen  nicht  bin.  Aus  ihnen  lasst  sicli  nur 
die  Moglichkeit  der  Uebertragung  ableiten,  oder  richtiger 
der  Schluss,  dass  unsere  jetzigen  Kenntnisse  uns  noch  keine 
Griinde  aufweisen,  welche  jenen  Transport  unnioglich 
machen  sollten.  Doch  konnen  solche  ja  vielleicht  spater 
noch  entdeckt  werden.  Aus  der  Moglichkeit  auf  das  that- 
sachliche  Stattfinden  eines  allgemeinen  intercellularenTrans- 
portes  von  Tragern  erblicher  Anlagen  zu  schliessen,  wird 
aber  wohl  Niemand  fiir  erlaubt  achten. 

Die  Beantwortung  der  aufgeworfenen  Frage  muss  also 
auf  ganz  anderem  Gebiete  versucht  werden.  Die  Lehre  von 
der  Erblichkeit  muss  uns  sagen,  ob  es  Thatsachen  giebt, 
zu  deren  Erklarung  die  Annahme  eines  intercellularen 
Transportes  unerlasslich  ist. 

Meiner  Ansicht  nach  ist  nun  solches  nicht  der  Fall, 
wie  ich  bereits  in  der  Einleitung  hervorgehoben  babe.  Ich 
babe  dort  auf  Weisiuaiin's  Schriften  verwiesen,  welche  den 
ausfuhrlichen  Nachweis  entbalten,  dass  alle  Beobachtungen, 
welche  eine  solche  Annahme  bis  jetzt  zu  fordern  schienen, 
in  Wirklichkeit  ebenso  gut  und  meist  besser  ohne  sie  er- 
klart  werden  konnen. 

Es  ist  namentlich  die  angebliche  Erblichkeit  der  so- 
genannten  erworbenen  Eigenschaften,  welche  hier  zu  er- 
wahnen   ist.      Bereits   an    anderer  Stelle    habe   ich    darauf 


—     206     — 

aufmerksam  gemacht,  class  es  sicli  hier  in  vielen  Fallen  nur 
urn  Missverstandnisse  handelt 1).  Beschrankt  man  die  Be- 
deutung  jenes  Ausdruckes  auf  die  Variationen,  welche  auf 
somatischen  Bahnen  entstanden  sind ,  und  fragt  man,  ob 
diese  auf  die  Keimbahnen  des  Organismus  iibertragen  werden 
konnen,  so  hat  die  Frage  einen  klaren  Sinn.  Dann  aber 
kann  man  sie  mit  Weismaiiii  ruhig  mit  nein  beantworten. 
Neimt  man  aber  aucli  solclie  Eigenschaften  erworben,  welche 
auf  den  Keimbahnen  entstanden  sein  konnen,  so  hat  die 
Frage  fur  das  uns  hier  beschaftigende  Problem  keine  Be- 
deutung  mehr  2). 

Auf  botanischem  Gebiete  werden  die  Propfhybride 
und  die  Xenien  als  Argumente  fur  erne  intercellulare 
Uebertragung  erblicher  Anlagen  angefiihrt.  Beide  Gruppen 
von  Erscheinungen  bediirfen  aber  sehr  einer  kritischen 
Priifungj  bevor  man  sie  zuverliissig  in  dieser  Richtung  ver- 
wenden  kann.  Die  Uebertragung  der  erblichen  Eigenschaften 
des  Edelreisses  auf  seine  Unterlage  3)  ist,  nach  meiner  An- 
sicht,  in  keinem  Falle  wissenschaftlich  bewiesen  worden, 
und  wird  dieses  auch  nicht  werden,  bis  nicht  neue  Versuche 
angestellt  sind,  in  denen  die  eigenen  Variationen  der  Unter- 
lage griindlich  studirt  und  genau  bekannt  sind.  Denn  so 
lange  ist  die  Vermuthung  nicht  ausgeschlossen,  dass  diese 


J)  Over  steriele  Mais-planten.  Jaarboek  v.  h.  Vlaamsch  kruidk. 
Genootschap,  Bd.  I.     Gent,  1889. 

2)  Der  Begrifi  der  Keimbahnen  und  somatischen  Bahnen  in  dem 
im  ersten  Abschnitt  dieses  zweiten  Theiles  entwickelten  Sinne  diirfte 
grade  hier  zur  Klarung  des  gegenseitigen  Verstandnisses  sehr  zu  em- 
pfehlen  sein.  So  z.  B.  in  Bezug  auf  Eimer's  Erorterungen  in  dessen 
Werk :  Die  Entstehung  der  Arten  auf  Grund  von  Vererben  erworbener 
Eigenschaften,  Theil  I,  1888. 

3)  Vergl.  die  kritische  Zusammenstellung  des  einschlagigen  Be- 
obachtungsmateriales  von  H.  Lindemuth,  Vegetative  Bastarderzeugung 
durch  Impfung.     Landw.  Jahrb.   1878  Heft  6. 


—     207     — 

eigene  Variability  der  Unterlage  den  wichtigsten  Faktor  in 
den  beobachteten  Ersclieinungen  abgiebt. 

Die  Falle,  wo  der  Bliithenstaub  ausserlialb  der  be- 
frucliteten  Eizelle  und  des  aus  ihr  hervorgehenden  Embryos 
auf  die  Gewebe  der  miitterlicben  Frucbt  erbliche  Eigen- 
scbaften  iibertragen  haben  soil,  sind  von  Foeke  unter  dem 
Namen  von  Xenien  ausfiihrlich  zusammengestellt  worden  1). 
Seine  Uebersicbt  zeigt  aber  klar ,  class  man  es  bier  mit 
Ausnahmefiillen  zu  tbun  hat,  welcbe  wobl  nie  grlindlich 
untersucht  und  hinreichend  kontrolirt  worden  sind.  Ohne 
eine  auf  kritiscber  Nachprufung  beruhende  Kontrole  darf 
man  aber  diesen  Angaben  meiner  Ansicbt  nacb  nicht  jene 
weittragende  Bedeutung  beilegen,  welche  sie  zu  Stiitzen 
far  eine  Annahme  einer  thatslichlichen  intercellularen 
Uebertragung  von   erblicben  Eigenschaften   macben  wiirde. 

Die  bis  jetzt  bekannten  Thatsachen  der  Erblichkeit 
erfordern  somit,  meiner  Auffassung  nacb,  die  Annahme 
eines  intercellularen  Transportes  von  Pangenen  nicht.  Die 
einmal  vom  Kerne  ausgegangenen  Pangene  brauchen  nicht 
wieder  in  diesen,  nocli  audi  in  irgend  einen  anderen  Kern 
eindringen  zu  koimen.  Der  Stammbaum  der  Pangene  liegt 
in  den  Kernen,  seine  protoplasmatischen  Seitenzweige  endigen 
alle,  wenn  audi  oft  nach  zahlreichen  Zelltheilungen,  blind. 

Das  Austreten  der  Pangene  aus  den  Kernen  ergiebt 
sich  aus  meiner  Ansicbt,  in  Verbindung  mit  unseren  jetzigen 
Kenntnissen  liber  die  physiologische  Bedeutung  der  Kerne, 
als  eine  nothwendige  Folgerung.  Ein  Eindringen  der  aus- 
gewanderten  Pangene  oder  ihrer  Nachkommen  in  andere 
Kerne  brauche  ich  nicht  anzunehmen.  Und  diese  Hypo- 
these   ware   unerlasslich ,   wenn   man   Darwin's   Keimchen- 


')  Focke,  Die  Pflanzenmischlinge  1881,  S.  510-518. 


—     208     — 

transport  mit  den  Ergebnissen  der  neueren  Zellenforschung 
in  Verbindnng  bringen  wollte.  Man  wiirde  in  diesem  Falle 
somit  zu  einer  neuen  Hiilfsbypotbese  greifen  miissen,  um 
Tbatsachen  zu  erklaren ,  welcbe  nach  den  obigen  Erorte- 
rungen  eine  solcbe  Erklarung  gar  nicht  fordern. 

Fassen  wir  den  Unterscbied  der  beiden  Transportbypo- 
tbesen  zusammen.  Die  Pangene  der  intracellularen  Pange- 
nesis braucben,  einmal  aus  den  Kernen  ausgetreten,  nie 
wieder  in  Kerne  zuriickkebren  zu  konnen.  Fiir  die  Keimcben 
der  Darwin'scben  Transportbypotbese  ist  dieses  Verrnogen 
aber  die  wesentlicbste  Bedingung,  denn  obne  dieses  konnen 
die  erblicben  Anlagen,  deren  Trager  sie  sind,  sicb  in  den 
Nacbkonimen  der  betreffenden  Keimzellen  nie  zu  sicbtbaren 
Eigenscbaften  entwickeln. 


§  6.     TJeber  die  Vermehrung  der  Pangene. 

Aus  der  Hypotbese,  dass  die  ganze  lebendige  Substanz 
einer  Zelle  aus  Pangenen  aufgebaut  sei,  ergiebt  sicb  von 
selbst,  dass  in  jedeni  Protoplasten  von  jeder  Art  Pangene 
deren  zablreicbe  vorbanden  sein  miissen.  Aucb  bat  die 
relative  Anzabl,  in  der  sicb  die  Trager  der  einzelnen  erb- 
licben Anlagen  befinden,  eine  sebr  grosse  Bedeutung.  Im 
Cytoplasma  entscbeidet  diese  iiber  die  Funktion  der  ein- 
zelnen Organe,  im  Kerne  iiber  die  Kraft  der  Vererbung. 
Wenn  eine  neue  Eigenscbaft  im  Kerne  erst  durcb  wenige 
(unter  sicb  gleicbartige)  Pangene  vertreten  ist ,  so  ist  die 
Aussicbt  auf  das  Sicbtbarwerden  dieser  Eigenscbaft  offenbar 
gering.  Je  grosser  aber  die  Anzabl  jener  Pangene  im  Ver- 
baltniss  zu  den  iibrigen  wird,  desto  mebr  wird  die  Eigen- 
scbaft bervortreten.  Icb  babe  aus  Samen  eines  tordirten 
Exemplares  von  Dipsacus  sylvestris  iiber  1600  Pflanzen 


2(19 


gezogen,  von  denen  nur  zwei  wiederum  die  Zwangsdrehung 
des  Stammes  zeigten.  Die  diese  Drehung  bedingenden 
Pangene  mussten  somit  relativ  so  wenig  zahlreich  sein, 
dass  ihre  Aussicht  aktiv  zu  werden  hochstens  etwa  Ein  pro 
mille  betrug.  In  anderen  jungen  Varietaten  verhalt  sich 
dieses  giinstiger,  und  bei  richtiger  Auswahl  nimnit  jene 
Anssicht  bekanntlich  im  Laufe  von  einigen  Generationen 
ganz  bedeutend  zu.  Die  einfachste  Erklarung  ist  offenbar 
die.  dass  durcli  Ziichtung  derjenigen  Exemplare  in  denen 
die  Eigenschaft  durch  die  meist'en  (unter  sicli  gleichartigen) 
Pangene  vertreten  ist,  die  relative  Anzahl  dieser  all- 
mahlig  grosser  werden  wird. 

Schon  wiederholt  habe  ich  betont.  dass  nach  meiner  Hypo- 
these  die  Pangene  sich  sowohl  im  Kerne  als  auch  im  Cyto- 
plasma  vermehren  miissen.  Diese  Vermehrung  ist  gleicher 
Ordnung,  wie  die  Vermehrung  der  Zellen  und  der  Orga- 
nismen  selbst.  Wenn  ein  grosser  Baum  alljahrlich  Tau- 
sende  von  Samen  triigt.  so  miissen  sich  die  Pangene  der 
Eizelle.  aus  weleher  der  Baum  entstanden  ist,  in  unglaub- 
licher  Menge  vennehrt  liaben.  Und  dasselbe  lehrt  uns  die 
enorme  Zahl  der  Eier,  welche  ein  einzelner  Bandwurm 
hervorbringen  kann.  Solchen  Erscheinungen  gegeniiber  ist 
die  Vermehrung  der  Pangene  im  Cytoplasma  einer  einzelnen 
Zelle  nur  geringt'iigig. 

Die  Abgabe  der  Pangene  seitens  des  Kernes  muss 
selbstverstandlich  stets  derart  geschehen.  dass  alle  Arten 
von  Pangenen  im  Kerne  vertreten  bleiben.  Stets  darf 
nur  eine  verhaltnissmassig  kleine  Zahl  von  gleichartigen 
Pangenen  den  Kern  verlassen.  Die  Theilung  der  Zell- 
kerne  muss  dagegen  so  stattfinden,  dass  alle  Arten  von 
Pangenen  gleichmassig  iiber  die  beiden  Tochterzellen   ver- 

d  e  Vries,  Intracellulare  Pangenesis.  14 


—     210     — 

theilt    werclen.     Nur    bei    gewissen    somatarclien  Zellthei- 
lungen  J)  wird  von  dieser  Gleichmassigkeit  abgewichen. 

Die  beiden  Arten  der  Variabilitat,  welche  Darwin 
auf  Grund  der  Pangenesis  unterscheidet,  sind  selbstverstand- 
lich  audi  aus  der  hier  gegebenen  Vorstellung  abzuleiten  2). 
Die  fiuktuirende  Variabilitat  beruht  einfach  auf  dem  wech- 
selnden  numerischen  Verhaltniss  der  einzelnen  Arten  von 
Pangenen,  welches  Verhaltniss  ja  durch  deren  Vermehrung 
und  unter  dem  Einflusse  der  ausseren  Umstande,  am 
rascbesten  aber  durch  Zuchtwahl,  verandert  werden  kann. 
Die  „artenbildende"  Variabilitat,  dieser  Prozess,  durch 
welchen  die  Differenzirung  der  Lebewesen  in  ihren  grossen 
Ziigen  zustande  gekommen  ist,  muss  aber  im  Wesentlichen 
darauf  zuriickgefuhrt  werden ,  dass  die  Pangene  bei  ihrer 
Theilung  zwar  in  der  Regel  zwei  dem  ursprunglichen 
gleiche  neue  Pangene  hervorbringen,  dass  aber  ausnahms- 
weise  diese  neuen  Pangene  ungleich  ausfallen  konnen.  Beide 
Formen  werden  sich  dann  vermehren,  und  die  neue  wird 
danach  streben ,  einen  Einfluss  auf  die  sichtbaren  Eigen- 
schaften  des  Organismus  auszuiiben. 

Hiermit  ist  im  Einklang,  dass  wir  uns  die  hoheren 
Organismen  als  aus  einer  grosseren  Zahl  von  unter  sich 
ungleichartigen  Pangenen  zusammengesetzt  denken  miissen 
als  die  niederen. 


>)  Vergl.  S.  100  und  105. 
2)  Vergl.  S.  73. 


—     211     — 

Zweites  Kapitel. 
Z  ii  Na  in  in  e  11  fassimg. 

§  7.     Zusammenfassung  der  Hypothese  der   intracellulareii 

Paugenesis. 

Pangenesis  nenne  ich,  abgetrennt  von  der  Hypothese 
des  Keimchentransportes  durch  den  ganzen  Korper,  die 
Ansicht  Darwin's,  dass  die  einzelnen  erblichen  Anlagen 
in  der  lebenden  Substanz  der  Zellen  an  einzelne  stoffliche 
Trager  gebunden  sind.  Diese  Trager  nenne  ich  Pangene; 
jede  erbliche  Eigenschaft,  sie  mag  bei  noch  so  zahlreichen 
Spezies  zuriickgefunden  werden,  hat  ilire  besondere  Art  von 
Pangenen.  In  jedem  Organismus  sind  viele  solche  Arten 
von  Pangenen  zusammengelngert .  und  zwar  um  so  zahl- 
reichere,  je  holier  die  Differenzirung  gestiegen  ist. 

Intracellulare  Pangenesis  nenne  ich  die  Hypothese,  dass 
das  ganze  lebendige  Protoplasma  aus  Pangenen  aufgebaut 
ist.  Im  Kerne  sind  alle  Arten  von  Pangenen  des  betref- 
fenden  Individuums  vertreten ;  das  iibrige  Protoplasma 
enthalt  in  jeder  Zelle  im  Wesentlichen  nur  die,  welche  in 
ihr  zur  Thatigkeit  gelangen  sollen.  Diese  Hypothese  fiihrt 
zu  den  nachstehenden  Folgerungen.  Mit  Ausnahme  derjenigen 
Sorten  von  Pangenen,  welche  bereits  im  Kerne  thatig 
werden ,  wie  z.  B.  die  die  Kerntheilung  beherrschenden, 
miissen  alle  andere  aus  dem  Kerne  austreten,  um  aktiv 
werden  zu  konnen.  Die  meisten  Pangene  einer  jeden 
Sorte  bleiben  aber  in  den  Kernen,  sie  vermehren  sich  bier 
theils  zum  Zwecke  der  Kerntheilung,  theils  behufs  jener 
Abgabe  an  das  Protoplasma.  Diese  Abgabe  betrifft  jedes- 
mal  nur  die  Arten  von  Pangenen,  welche  in  Funktion 
treten  miissen.  Diese  konnen  dabei  von  den  Stromchen 
des  Protoplasma   transportirt  und   in  die  betreffenden  Or- 


—     212     — 

gane  des  Protoplasten  gefiilirt  werden.  Hier  vereinigen 
sie  sich  mit  den  bereits  vorhandenen  Pangenen,  vermehren 
sicb  und  fangen  ihre  Thatigkeit  an.  Das  ganze  Proto- 
plasma  besteht  aus  solchen  zu  verschiedenen  Zeiten  aus 
dem  Kerne  bezogenen  Pangenen  und  deren  Nachkommen. 
Eine  andere  lebendige  Grundlage  giebt  es  in  ihm  nicht. 
Die  im  vorigen  Kapitel  gegebene  Ausfiihrung  dieser 
Hypothese  ist  nur  eine  Schilderung,  deren  Zweck  es  war, 
den  Hauptgedanken  verstandlich  zu  machen.  Diesen 
letzteren  halte  ich  fur  vollig  berechtigt,  er  ist  derzeit  die 
einfachste  Form,  in  welcher  die  Pangenesis  unseren  jetzigen 
Kenntnissen  vom  Bau  der  Zelle  Rechnung  tragen  kann. 
In  der  Ausfiihrung  aber  bin  ich  mir  wohl  bewusst.  niclit 
iinmer  das  Richtige  getroffen  haben  zu  konnen.  Es  kam 
mir  auch  nur  darauf  an  zu  zeigen ,  wie  leicht  die  so  sehr 
verkannte  Pangenesis  alien  diesen  nach  ihrer  Aufstellung 
entdeckten  Thatsachen  Rechnung  triigt! 


G.  Patz'sche  Buchdr.  (Lippert  &  Co.),  Naumburg  a/S. 


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