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ISRAELITISCHE
UND
JÜDISCHE GESCHICHTE
VON
J. WELLHAUSEN
FÜNFTE AUSGABE
BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1904.
Alle Rechte vorbehalten.
Ulrich von Wilamowitz-loellendorff
zugeeignet.
^09:i690
Inhalt.
Seite
1. Geographie und p]thuologie. Chronologie 1
2. Die Anfänge des Volkes 11
3. Die Ansiedlung in Palästina 36
4. Die Gründung des Reiches und die drei ersten Könige 52
5. Von Jerobeam I. bis zu Jerobeam II 72
6. Gott, Welt und Leben im alten Israel , 84
7. Der Untergang Saraariens 111
8. Die Rettung Judas 124
9. Die prophetische Reformation 130
10. Jeremias und die Zerstörung Jerusalems 140
11. Die Juden im Exil 150
12. Die Restauration 163
18. Das Gesetz 179
14. Die zweite Hälfte der persischen Periode 192
15. Die jüdische Frömmigkeit 208
16. Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger 228
17. Judas Makkahäus und seine Brüder 258
18. Die Herrschaft der Hasmonäer 277
19. Die Ausbildung des Judaismus 295
20. Die Zeit Hyrkans II 315
21. König Herodes 325
22. Die Vierfürsten und die Landpfleger 347
28. Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens 360
24. Das Evangelium 381
Erstes Kapitel.
Geographie und Ethnologie. Chronologie.
1. Der großen Wüste, die vom Tigris und Euphrat her bis
zum Indischen Ozean hinunter sich ausdehnt, ist im Westen auf
ihrer ganzen Länge ein Gebirgsstreifen vorgelagert, welcher sie vom
Meere scheidet. Das Meer läuft beständig neben dem Gebirge her,
nur an einer Stelle wird es überbrückt von der Halbinsel des Sinai,
welche sich zwischen die vorgeschobenen Buchten der Ozeane legt
und den Wüstengürtel der Kontinente verbindet. Diese Halbinsel
bildet die Grenze zwischen dem arabischen und dem syrischen
Küstenlande. Die Lage am Mittelländischen Meere ist der Vorzug
des letzteren, die Ursachei seiner größeren Fruchtbarkeit und seiner
wichtigeren Stellung in der Weltgeschichte.
Wo der Euphrat, nach dem Durchbruch der Taurusketten,
Miene macht sich in das westliche Meer zu ergießen, beginnt das
syrische Bergland und von Nord nach Süd streichend bildet es
zwischen Meer und Wüste einen fortlaufenden Damm, die Völker-
straße von Vorderasien nach Ägypten. Ein langer Riesenwall,
nur durch den Einschnitt des Orontes und des Eleutherus unter-
brochen, erstreckt sicli an der Küste her bis gegen Tyrus. Seine
größte Erhebung erreicht er im Libanon. Diesem gegenüber formirt
sich ein paralleles östliches Gebirge, der Antilibanus; dazwischen
liegt ein Tal, von dessen Scheitelpunkt die Flüsse teils nach
Norden, teils nach Süden fließen. Die zwei Gebirgszüge, mit der
Furche in der Mitte, setzen sich nach Süden zu beiden Seiten des
Jordans fort, wenn auch in sehr vermindertem Maße.
Soweit der Jordan geht, reicht Palästina. Am südlichen Fuße
des Hermon liegt eine kleine Niederung, von hohen Bergen ein-
geschlossen; mehrere Bäche strömen hindurch und vereinigen sich
zuletzt in einer sumpfigen Marsch, mit einem dreieckigen Teich, aus
Wellhausen, Isr. Geschichte, ö. Aufl. 1
2 Erstes Kapitel.
dem der Jordan hervorkommt. Mühsam durch Basaltklüfte seinen
Weg sich bahnend stürzt er zuerst ziemlich rasch an sechshundert
Fuß herab, staut sich aber dann vor einer Felsmauer und bildet
das Galiläische Meer. Von da austretend hat er sich in einem
durchschnittlich mehrere Stunden breiten Tal ein doppeltes Bett
gegraben, ein äußeres mit fast senkrechten Wänden und einem
ziemlich graden Laufe, und ein inneres mit beständigen Windungen,
die heutige Flußrinne. So setzt er seinen Weg nach Süden fort,
bis er endlich im Toten Meere sein Grab findet. Die Gegend, die
er in seinem unteren Hauptlaufe von See zu See durchschneidet,
ist eine hie und da von üppigen Oasen unterbrochene Einöde. Man
kann den Fluß nicht die Lebensader des Landes nennen; er ist
beinah nur ein tiefer Abzugsgraben. Das Tal, durch welches er
sich ergießt, ist eine der sonderbarsten Einsenkungen, die es auf
der Erde gibt, einzig in ihrer Art durch die absolute Depression
des Bodens. Während die Furchenbildung zwischen parallelen Ge-
birgsrücken von der Bik'a bis zum älanitischen Busen des Roten
Meeres durchgeht, ist der unterscheidende Zug für die Physiognomie
Palästinas die untermeerische Tiefe „des Einsturzes", Die er-
wähnten beiden Seen liegen mit ihrem Spiegel, der obere sechs-
hundert, der untere dreizehnhundert Fuß niedriger als der Meeres-
spiegel. Im Süden hingegen, unterhalb' des Toten Meeres, erhebt
sich die Mulde bald wieder zu einer normalen Höhe; im Norden
überragt die Bik'a sogar das Gebirgsniveau Palästinas.
Von den beiden Höhenzügen, welche über diese Kluft hinüber
sich ansehen, ist der westliche ein ziemlich höhleureiches Kalk-
gebirge von durchschnittlich zahmer Natur. Mit dem Libanon
hängt am nächsten das obere Galiläa zusammen, es ist der höchste
und rauheste Teil des diesseitigen Landes. Li weiten Absätzen
fällt von da das Gebirge nach Süden ab, bis zu einer Tiefebene,
die im Alten Testament den Namen JezreeP) führt. Diese Ebene,
vom Thabor überragt, macht einen großen Einschnitt durch das
westliche Land. Zwar erstreckt sie sich nicht in ganzer Breite
^) So heißt ursprünglich ein Landstrich, erst später eine Stadt; s.
l.Sam.29, 1. 11. 2. Sam. 2, 9. 4,4, Genau genommen ist das Tal Jezreel von
der Ebene Megiddo zu unterscheiden. Es ist ein wichtiger Teil der Straße
die von Ägypten und dem Philisterlande her über den Paß von Dothan hin-
durch geht, dann den Jordan überschreitet und an den Flußtälern des Jarmuk
und der Zarkä weiter nach Osten hinaufsteigt.
Geographie und Ethnologie. Chronologie. 3
vom Meere bis zum Jordan, sondern wird hüben und drüben durch
weit vorgestreckte Ausläufer der Gebirge eingeengt. Aber Fluß-
täler gehn von ihrem Scheitel nach beiden Seiten durch, und im
Südwesten verbindet sie der Paß von Dothan, zwischen dem Karmel
und dem samarischen Gebirge, mit der Ebene Saron und der Küste
der Philister.
Weiter gegen Süden geht die Ebene in ein freundliches Hügel-
land über, und aus diesem steigt stufenweise der Hauptrücken
Westpalästinas auf, welcher in ziemlich gleicher Höhe von Silo bis
nach Hebron sich erstreckt und die wahre Burg des Landes bildet,
das Gebirge Ephraim und Juda. Der breite Rücken zieht sich in
mannigfachen Krümmungen von Nord nach Süd. Die Täler gehn
von da nach West und Ost, doch spalten sie sich sehr ungleich-
mäßig und unsymmetrisch. Selten fließen perennirende Bäche
hindurch, die meisten Quellen kommen nicht weit. Gegen Osten
ist der Abfall kürzer und steiler, da der Rücken dem Jordan weit
näher läuft als dem Meere. Die Hauptabdachung erfolgt gegen
Westen. Hier stuft sich das Gebirge allmählich zu einer Niederuns;
ab, die sich am Meere herzieht. Südlich von Hebron beginnt ein
kahles Tafelland, der Negeb des Alten Testaments. In bogen-
förmigen Terrassen abfallend ragt es hinein in die Wüste des Sinai.
In Obergaliläa reichen die Felsen noch bis an das Meer;
weiter südwärts lagert sich eine Ebene dem Gebirge vor, vielleicht
das Produkt einer von Ägypten kommenden Windes- und Meeres-
strömung. Unterhalb des Karmel gewinnt die Ebene beständig an
Ausdehnung und geht zuletzt in die Wüste über. Häfen fehlen
der Küste fast gänzlich, aber als Verkehrsweg ist sie wichtig ge-
wesen, wichtiger als die schlecht zu passirende Bergstraße, die
über den Rücken des Landes führt.
Bei dem Höhenzuge jenseits des Jordans tritt die westliche
Abdachung noch entschiedener hervor als gegenüber. Alle Wasser
laufen nach Westen, und zwar zerstreuen sie sich nicht, sondern
sammeln sich in tiefen Schluchten zu beträchtlichen Bächen. Von
dieser Seite empfängt der Jordan seine bedeutendsten Zuflüsse.
Die Wasserscheide, zugleich die natürliche Straße von Syrien nach
Arabien, geht hart 'am Saume der großen östlichen Wüste her,
wenngleich die höchsten Berge weiter westlich liegen. Die Wüste
dringt nach Süden zu weiter vor, im Norden hingegen wird sie
zurückgedämmt durch das Gebirge des Hauran, das wie ein ge-
1 ••
4 Erstes Kapitel.
waltiger Außenposten sich auf eine kurze Strecke den parallelen
westlicheren Ketten vorschiebt.
Das transjordanische Gebirge, das sich steil aus dem Flußtal
erhebt, ist mehr zu Plateaubildung geneigt und hält sich durch-
schnittlich auf größerer Höhe als das cisjordanische. Die breite
und tiefe Senkung, welche im Westlande den nördlichen und den
südlichen Rücken trennt, setzt sich im Ostlande nicht fort; um so
bedeutender aber treten innere Unterschiede in der Terrainbildung
hervor. Im Norden ist der Sitz des Basalt, die ausgebrannten
Vulkane des Haurans bilden sein Zentrum, Der Jarmuk, der
gegenüber der Ebene Jezreel und ihrem östlichen Ausläufer in
den Jordan fällt, bildet die Grenze seines Gebietes, wenngleich
er vereinzelt auch weiter südlich durchbricht. Dann kommt der
Kalk zum Vorschein, er erstreckt sich bis zu dem Wüstenbach, der
in den untersten Teil des Toten Meeres mündet. Seine Region
zerfällt in das Gebirge Gilead (und Gad), welches von der Zarkä ^)
durchschnitten wird, und in die Hochebene Moab, durch welche
der Arnon strömt. Südlich vom Bach der Araba, in Edom, macht
der Kalk mehr und mehr dem Sandstein und dem Urgebirge Platz;
der gleiche Wechsel der Formation vollzieht sich auch drüben, auf
der Halbinsel des Sinai. Basan im Norden und Edom im Süden
sind übrigens nur Grenzländer Palästinas, während Gilead und
Moab als dazu gehörig betrachtet werden können.
Vom Fuße des Hermon bis zum Ende des Toten Meeres hat
das Land eine Länge von etwa dreißig deutschen Meilen. Die
Breite, zwischen Wüste und Meer, ist erheblich geringer, bleibt
sich jedoch nicht gleich und läßt sich schlecht veranschlagen.
Den Flächeninhalt nimmt man auf etwa vierhundert Quadratmeilen
an, von denen zweihundertundvierzig auf die westliche Hälfte
fallen. Palästina ist also zwar klein nach unseren Begriffen, aber
groß im Vergleich zu Attika und Latium. Nicht allenthalben ist
es anbaufähig, gar manche und große Strecken sind AVüste und
Wildnis, oder nur als Weide für Schafe und Ziegen zu gebrauchen.
Für die Bewässerung sind die Flüsse, wegen ihres tiefen Bettes,
von keinem Nutzen, sondern nur die Quellen und Teiche. Vor-
^) Die Zarkä (nicht der Jarmuk, wie ich früher geglaubt habe) ist der
Alttestameutliche Jabbok. Das eigentliche Gilead, mit den Städten Ramath
Mispha und Mahanaim, liegt nördlich davon. Vgl. Smend, ZATW 1902 p. 129 ss.
Geographie und Ethnologie. Chronologie. 5
zugsweise wird die zum Anbau nötige Feuchtigkeit vom Himmel
gespendet. Regelmäßige Regenschauer eröffnen und schließen die
winterliche Jahreshälfte, stärkere Güsse erfolgen im Dezember.
Im Sommer muß der Tau das Beste tun. Die Quelle des Taues
ist das Meer. Zu Handel und AVandel fordert es an dieser Küste
wenig auf, aber auf andere Weise belebt es das Land. Ihm ent-
stammt der starke AVassergehalt der Luft, den die Berge auffangen
und festhalten — sie allein würden sonst im Kampfe gegen die
Wüste hier nicht mehr ausrichten als tiefer südlich in Arabien.
Wie viel dem Meere verdankt wird, zeigt sich in Palästina ebenso
wie beim Libanon in der Bevorzugung der westlichen vor der öst-
lichen Abdachung der Gebirge. Besonders bei dem Karmel ist der
Unterschied der Fruchtbarkeit zwischen der sanft geneigten west-
lichen und der jäh abfallenden östlichen Schulter sehr auffallend.
Überall wiederholt sich die gleiche Erscheinung; die zum Meere
geöffnete Lage bringt Feuchtigkeit und Wachstum, die der Wüste
zugekehrte Trocknis und Unfruchtbarkeit mit sich.
Landschaftliche Reize bietet Palästina wenig. Die Berge zeigen
keine malerischen Linien; Wald und Wiese gibt es nicht, außer
am Karmel, in Galiläa, und namentlich auf den rauhen und
wasserreichen Höhen Gileads; große wildwachsende Bäume kommen
in der Regel nur einzeln vor, so daß sie als Landmarken dienen.
Aber der Rebe, Olive und Feige sagt der Boden zu, die Palme
kommt nur stellenweise vor '). Jene edelen Gewächse verstehn es,
sich in dem Felsen einzuwurzeln und aus ihm ihre Süßigkeit zu
saugen. Wo die Ackerkrume tief genug ist, da wächst Weizen
und Gerste in Fülle, am besten in der Hügelregion und in der
Ebene.
2. So weit die geschichtliche Erinnerung reicht, gehört Syrien
und Palästina vorwiegend zum Gebiete der Semiten. Sie haben
sich dort wie überall von der Wüste her abgelagert. Die arabische
Wüste scheint für alle Semiten der Durchgang zur Weltgeschichte
gewesen zu sein. Autochthon waren sie dort schwerlich; die Zeichen
mehren sich, daß sie vor uralters mit den ostafrikanischen Völkern
') Sie gedeiht nur in den Oasen des Jordans, wo sie jedoch erst in der
griechisch-römischen Zeit in größerem Maße angebaut wurde, wie auch die
Balsamstaude und der Papyrus. Die Palraenstadt ist nicht Jericho, sondern liegt
nach Jud. 1, 16 im Negeb von Arad; die Worte ,mit den Kindern Juda in
die Wüste Juda" sprengen den Zusammenhang,
ß Erstes Kapitel,
in Verbindung gestanden haben. Aber Arabien hat ihnen das
letzte Siegel aufgedrückt, in diesem Sinne kann es als ihr Ur-
sprungsland gelten. Sie haben dort auch ihren primitiven Typus
am treuesten bewahrt. Das kann man zugeben; unrichtig ist es
nur, diesen stehn gebliebenen Typus für ein unveränderliches
Grundwesen der Semiten auszugeben und zu behaupten, sie seien
eigentlich nie recht darüber hinaus gekommen. Soweit diese Be-
hauptung für Arabien zuzutreffen scheint, ist daran nicht der
Semitismus, sondern die Wüste schuld. Man muß im Gegenteil
staunen, wie leicht die Semiten als erobernde Einwanderer sich in
neuen Verhältnissen heimisch machten und von der Barbarei zur
Kultur übergingen. Die Kultur hat auch sie verwandelt und ein-
ander ganz unähnlich gemacht, und es ist bei ihnen genau so
schwer oder unmöglich wie bei andern Völkern, den erworbenen
und variirenden Charakter von dem angeborenen und konstanten
zu unterscheiden.
Die älteste semitische Bevölkerung von ganz Syrien war
kanaanitisch '). Kanaan ist ursprünglich kein geographischer, sondern
ein ethnischer Name für ein echt antikes Gewirr kleiner Völker-
schaften, die nur durch Sprache und Kultur, aber nicht politisch
mit einander verbunden waren. Zwei größere Gruppen darunter,
die jedoch auch keine politischen Einheiten bildeten, waren die
Phönizier und die Amoriten. Die Phönizier wohnten in den Städten
am Meer, namentlich am Fuße des Libanon; sie dehnten sich ur-
sprünglich bis zur ägyptischen Grenze aus und wurden erst durch
die Philister von der palästinischen Küste verdrängt. Amoriten
heißen im Alten Testamente die Kanaaniten des Berglandes zu
beiden Seiten des Jordans, jedoch nur sofern sie den Hebräern
unterlegen und vor ihnen verschwunden sind, nicht sofern sie sich
stellenweise noch unter ihnen behauptet haben'). Ägyptische
Quellen belehren uns, daß die Amoriten im Hinterlande der Phö-
nizier wohnten, im Norden Palästinas, bis über den Libanon hin-
aus^). Sie hatten eine Zeitlang die Vormacht in jener Gegend,
^) Im modernen ethnologischen Verstände sind die Kanaaniten grade so
echte Semiten wie die Hebräer. Im Alten Testamente dagegen hat Sem einen
anderen Sinn und Umfang, und Kanaan steht im Gegensatz dazu.
2) Komposition des Hexateuchs (Berlin 1899) p. 343. — Das Lied der
Debora redet nicht von den Amoriten, sondern von den Königen Kanaans.
3) Vgl. Deut. 3, 9.
Geographie und Ethnologie. Chronologie. 7
verloren sie aber später au die Hethiten. Die Pharaonen der acht-
zehnten Dynastie hatten es mit den Amoriten zu tun, die der
neunzehnten in der selben Gegend mit den Hethiten.
Die Hethiten drangen von Norden oder von Nordwesten her
in Syrien ein und begründeten dort eine umfassende Herrschaft, die
sich bis nach Palästina hinein erstreckte und in die ägyptische
Machtsphäre eingriff. Sie werden in der Völkertafel der Genesis
unter den Söhnen Kanaans aufgeführt und nehmen unter ihnen
nach den Phöniziern die wichtigste Stelle ein, Avährend die Amoriten
fehlen. Sie waren freilich nicht von semitischer Herkunft, hatten
sich aber den Kanaaniten, über die sie herrschten, so assimilirt,
daß sie mit ihnen identihzirt wurden und einfach in die Stelle
der Amoriten traten. Das war jedoch nur in ihren syrischen Sitzen
der Fall; weiter im Norden, wo ihre wahre Heimat war, be-
wahrten sie ihre Eigenart. Sie haben dadurch für uns etwas Zwie-
schlächtiges bekommen.
Abgesehen von den Phöniziern, die ihre Freiheit behaupteten,
gerieten die Kanaaniten überall in Untertänigkeit, wenngleich sie
ihre Sprache, Religion und Kultur nicht aufgaben und dadurch ihre
Herren in starkem Maße beeiuHußten. Der Fluch Noahs ging in
Erfüllung, Kanaan wurde Knecht. Und zwar der Knecht nicht
bloß Japheths, sondern auch Sems '). Nach den Hethiten drangen
nämlich noch wieder richtige Semiten erobernd ein, die Aramäer
und die Hebräer. Daß die Aramäer nicht seit unvordenklichen
Zeiten in Syrien einheimisch waren, hat sich in der Erinnerung
des Alten Testaments erhalten. Dire Einwanderung geschah von
Mesopotamien aus. Von da schoben sie sich gegen die Küste des
Mittelmeeres vor, und zwar in der Richtung von Nord nach Süd.
Denn im Süden, unterhalb von Damaskus, verläuft sich ihr Zug
allmählich, während er gegen Norden nicht abreißt, sondern je
näher dem Tigris um so breiter und massiger wird. Die Hethiten,
auf die sie trafen, scheinen schon vorher erschüttert gewesen zu
') Gen. 9, 20—27. Dieses Stück hat einen ganz anderen nnd engeren
Horizont als die weit ausschauende Yölkertafel in Gen. 10. Die drei Söhne
Noahs sind hier Sem, Japheth und Kanaan; sie wohnen nicht auf der ganzen
Erde, sondern in Syrien und Palästina. Kanaan ist von Sem und Japheth, der
zwischen Sem wohnt, unterworfen. Sem sind die Aramäer und die Hebräer.
Unter Japheth können sehr wol die Hethiten und die Philister verstanden werden;
denn nach Gen. 10 braucht mau sich nicht zu richten.
3 Erstes Kapitel.
sein durch eine von Kleinasien nach Ägypten sich wälzende Völker-
wanderung, infolge deren vielleicht die Philister an ihre späteren
Wohnsitze verschlagen worden sind. Jetzt zersplitterte sich ihre
Macht vollends. Sie behaupteten zwar ihre Herrschaft nicht bloß
in Karchemis, sondern auch an vielen Stellen in Syrien unter der
kauaanitischen Bevölkerung. Aber die Araniäer, vielgeteilt und doch
zusammenhaltend, lagen wie von Natur in Fehde mit ihnen und
drängten immer weiter gegen das Meer zu. Ihrem unausgesetzten
und von einem starken Rückhalt im Nordosten unterstützten Drucke
sind die älteren Bevölkerungsschichten endlich erlegen; im fünften
Jahrhundert war gang Syrien und Palästina, mit Ausnahme der
phönizischen Städte, aramaisirt, und die Anfänge dieses Prozesses
gehn in weit frühere Zeiten zurück.
Zu den Hebräern kann man auch die Ammoniten, Moabiten
und Edomiten rechnen, obgleich der Name vornehmlich an den
Israeliten haftete, die ursprünglich mit den Edomiten vereint waren
und sich auch räumlich eng an jene anschlössen. Wie aus der
Genesis hervorgeht, haben diese kleinen Völker einst eine Art Ein-
heit gebildet und eine gemeinsame Geschichte durchlebt, deren Er-
gebnis war, daß sie sich im südlichen Teile des ostjordanischen
Palästina niederließen, von wo sie ihre Ausläufer (oder ihre Wurzeln)
bis zum Roten Meere erstreckten. Auch im Osten des Jordans
waren die alten Einwohner Kanaaniten, sie wuchsen durch die obere
Schicht wieder empor und beeinflußten die Hebräer '). Vielleicht
haben diese damals die Sprache Kanaans angenommen, als sie noch
vereint in jener Gegend wohnten, vor der Abtrennung der Israeliten.
Jedenfalls redeten nicht bloß die Israeliten, sondern auch die
Moabiten und zweifellos ebenso die Edomiten und Ammoniten
kanaanitische Dialekte. Freilich hat man nur dann nötig darin
') Sie verschwanden auch hier keineswegs vor den Eroberern, sondern
blieben nnter ihnen wohnen. Auf einer großen Strecke in Gilead hielten sich
die Amoriten ganz ununterworfen und verursachten auf diese Weise eine breite,
von den Ammoniten nur notdürftig gesäumte und erst später von den Isra-
eliten ausgefüllte Lücke in der aramäisch-hebräischen Einwanderuugslinie; von
hier suchten sie sogar nicht ohne Erfolg das ihnen entrissene Gebiet im
Süden wieder zu gewinnen. Wo sie aber den Hebräern unterlegen waren,
bildeten sie den Untergrund der Bevölkerung. Der Dienst des Baalpheor ist
eine Spur davon, er ist sicher nicht moabitischen, sondern kauaanitischen
Ursprungs.
Geographie und Ethnologie. Chronologie. 9
einen Sprachwechsel zu sehen, wenn es richtig ist, daß die Hebräer
ursprünglich einem semitischen Zweige angehörten, der von dem
kanaanitischen ganz verschieden war. Sie selber behaupteten das
mit Nachdruck, aber aus Gründen, die für die Ethnologie nicht
entscheidend sind. Sie fühlten sich als Eroberer den Unterworfenen
gegenüber sehr stolz, sie wollten als Herren mit den Knechten, als
freie Hirten mit den Bauern nichts zu tun haben. Sie betonten
dagegen ihre Verwandtschaft mit den Aramäern, von denen sie
sich durch die Sprache unterschieden; sie gaben sich sogar für ver-
sprengte Aramäer aus. Auch dazu konnten sie leicht kommen.
Die Aramäer hatten das gleiche Verhältnis wie sie zu den Xanaaniten.
Erstens in der allgemeinen Hinsicht, daß sie die herrschende, jene
die untertänige Klasse der Bevölkerung bildeten. Zweitens in der
besonderen Art, wie sich die obere über der unteren Schicht ab-
gelagert hatte. Vom Rande der Wüste aus hatten sich sowol die
Aramäer als die Hebräer angesetzt; wo jene aufhörten, in der
Gegend des Galiläischen Meeres, da fingen diese au; zusammen
bildeten sie an der Ostmark Syriens und Palästinas eine fast un-
unterbrochene Anschwemmungslinie. Es lag darum nahe, daß die
Hebräer sich als einen Vorlauf der mächtigeren Welle betrachteten,
welche von Norden uachllutete, als einen vorgeschobenen Außen-
posten der aramäischen Wanderung. Sie taten es um so lieber,
da es eine Ehre war, zu den mächtigen Aramäern zu gehören.
Sicher ist nur die nahe Verwandtschaft der Hebräer mit den
nomadischen und halbuomadischen Stämmen, welche auf der Halb-
insel des Sinai und überhaupt zwischen Palästina und Arabien
ihr Wiesen trieben und den Übergang von den Arabern zu den
Kanaaniten bildeten. Ismael und Midian auf der einen Seite, Kain
Amalek Keuaz auf der andern, sind die bekanntesten darunter. Sie
lieferten das Material zu den hebräischen Volksgebilden, welche
durch die Ansiedlnng entstanden und sich schieden. Zuerst trennten
sich Lot und Isaak; der eine faßte im Norden, der andere im
Süden des Wüstenbaches Wurzel, der von Osten her in das untere
Ende des Toten Meeres einfällt. Innerhalb Lots gelangte dann ein
Teil früher zu seßhafter Geschlossenheit als der andere; Moab sonderte
sich auf diese Weise von Ammou, dem weniger begünstigten Reste,
Avelcher in näherer Verbindung mit der Wüste und dem Wüsten-
leben blieb. Ahnlich war in Isaak. das Verhältnis von Edom und
Israel. Nachdem Edom sich konsolidirt hatte, blieb noch ein un-
10 Erstes Kapitel. Geographie und Ethnologie. Chronologie.
verbrauchter Rest zurück, wie ein loser Schweif an einem festen
Körper; gewisse Familien fanden im Lande Seir keinen Platz oder
waren aus anderen Gründen in der edomitischen Volksbildung nicht
aufgegangen. Das war Israel im embryonischen Zustande. Die
wahre Heimat der Erzväter liegt zwischen Edom und Ägypten, wo
der Süden Palästinas in die Wüste übergeht; das älteste Heiligtum
der Israeliten ist der Sinai, der Berg Pharans.
3. Eine zuverlässige Chronologie ergibt sich für die israelitische
Geschichte erst, seit die assyrischen Synchronismen angehn. Der
erste ist die Schlacht von Karkar 854, an der sich Ahab be-
teiligte. ]>is unter 851 kann der Tod Ahabs nicht herabgerückt
werden; denn bald nachher erscheint schon der Nachfolger seines
Sohnes Joram, Jehu, auf den assyrischen Inschriften. Weiter hinauf
gelangen wir durch die Inschrift Mesas, wo es Zeile 7 — 9 heißt:
Omri nahm das ganze Land Medaba ein und Israel wohnte darin
seine Tage und die Hälfte der Tage seines Sohnes, vierzig Jahre,
und zurück brachte es Kamos in meinen Tagen. Die vierzig Jahre
beginnen innerhalb der Regierung Omris und laufen zu Ende nicht
mit dem Tode Ahabs, sondern in der Mitte seiner Regierung. Je
mehr man Ahab davon gibt, desto mehr verlängert man die Chro-
nologie über die Zahlen des Königsbuches hinaus, weil Ahab
doppelt so lange regierte, als er die Landschaft Medaba besaß.
Gibt man ihm die Hälfte, so hat er 40 Jahre regiert und sein
Vorgänger 20 + x; gibt man ihm ein Viertel, so hat er 20 Jahre
regiert, und Omri 30 -f x. Auf 60 Jahre wird man die beiden
Regierungen zusammen wol veranschlagen müssen. Damit gelangt
man auf 910 als Anfang Omris, dieser Ansatz entfernt sich auf
keinen Fall weit vom Richtigen. Zwischen Omri und Salomo liegen
vier Regierungen; das Ende Salomos kann also nicht viel tiefer
als 950 und der Anfang der Königsherrschaft kaum tiefer als 1020
angenommen werden. Die Dauer der Periode zwischen Saul und
Moses läßt sich noch schlechter veranschlagen, da die sogenannten
Richter in eine ganz künstliche Succession mit ebenso künstlicher
Chronologie gebracht sind. Die ältere Tradition betrachtet den
ganzen Zeitraum nur als ein vorübergehendes anarchisches Inter-
regnum. Die zuverlässigste israelitische Genealogie, die wir aus
dieser Zeit besitzen, ist die des Priesters Abiathar, eines Zeit-
genossen Davids. Zwischen David und Eli liegen danach drei
Generationen; es ist jedoch unbekannt, wie weit Eli von Moses
Zweites Kapitel. Die Anfänge des Volkes. 11
absteht. Das Verzeichnis Gen. 36, 32 — 39 ergibt acht edomitische
Könige bis auf Saul oder David. Der vierte, Hadad ben Bedad,
könnte ein Zeitgenosse Gideons gewesen sein; denn seine Tat war,
daß er die Midianiten schlug im Felde Moab. Der erste, Bela
ben Beor, ist identisch mit Bileam ben Beor, der nur durch Ver-
wechslung zu einem Aramäer geworden zu sein scheint. Dann
wäre er also ein Zeitgenosse Moses und man hätte den terminus
a quo. Indessen erbte die Herrschaft nicht von Vater auf Sohn,
und es ist fraglich, ob die Reihe den ganzen Raum ausfüllt; sie
braucht nicht vollständig zu sein und nicht einmal überhaupt eine
zeitliche Folge darzustellen.
Zweites Kapitel.
Die Anfänge des Volkes.
1. Die Geschichte eines Volkes läßt sich nicht über das Volk
selber hinausführen, in eine Zeit, wo dasselbe noch gar nicht vor-
handen war. Die Erzählungen über die Erzväter in der Genesis
gehn von ethnologischen Verhältnissen und von Kultuseinrichtungen
der Königszeit aus und leiten deren Ursprünge aus einer idealen
Vorzeit her, auf die sie in Wahrheit nur abgespiegelt werden^).
Durch ein vielsagendes Vacuum, durch einen jahrhundertelangen
Zwischenraum, in dessen ereignisloser Stille der Vater Jakob sich
zum Volke Israel ausbreitet, scheiden sich diese Erzählungen von
denen der sogenannten mosaischen Zeit, die von den Vorgängen
handeln, die auf den Einbruch der Israeliten in Palästina und
ihre Niederlassung daselbst auslaufen. Auch sie sind nicht eigent-
lich historisch, aber sie schweben doch nicht frei über dem Boden,
sondern sie stehn an der Schwelle und berühren sich mit dem
Anfang der wirklichen Geschichte. Das Deboralied, ein unbestritten
authentisches Dokument, reicht nahe an die mosaische Zeit heran.
Ähnlich llößen andere sehr alte Stücke des Richterbuches, auch
das schon erwähnte, sicher nicht künstlich fabrizirte Verzeichnis
der edomitischen Könige in der Genesis, Zutrauen ein zu der
Möglichkeit einer allgemeinen Erinnerung an die Zeit, die der
0 Prolegomena (1899) p. 30— 32. 322—331. 344 s. 366 s.
\2 Zweites Kapitel.
Einwanderung in das gelobte Land unmittelbar vorhergegangen ist.
Die bestimmten und farbenreichen Einzelheiten, welche die Sage
über die wunderbare Morgendämmerung der Geschichte Israels
berichtet, können allerdings nicht als glaubwürdig gelten. Nur
die großen Grundzüge der Vorgeschichte, die allgemeinsten Voraus-
setzungen aller einzelnen Erzählungen über dieselbe, lassen sich
nicht als erdichtet begreifen.
Aus der Steppe im Süden Palästinas waren die hebräischen
Geschlechter, aus denen später Israel wurde, übergetreten in die
angrenzende Ostmark des Pharaonenreiches. Sie wohnten nicht
im Tsilland, sondern in Gosen, einem eigentlich noch zu Arabien
gehörenden Weiderevier, das zu allen Zeiten im Besitz von No-
maden gewesen ist. Sie standen dort wol unter der Herrschaft
der Ägypter, kamen aber nicht in nähere Berührung mit ihnen
und wurden von ihrer Kultur kaum beeinflußt. Sie erhielten sich
ihre Sprache und ihr altes Wesen; sie blieben, was sie gewesen
waren, Hirten von Schafen und Ziegen. Wie lange sie sich in
Gosen aufgehalten haben, läßt sich nicht sagen. Etwa um 1250
vor Chr. mag der Auszug erfolgt sein, in einer Zeit, wo Palästina
sich selbst überlassen war und weder die Ägypter noch die He-
thiten ihre Hand darauf gelegt hielten. Die ziemlich boshaften
alexandrinischen Legenden über den Auszug haben das spätere
Judentum vor Augen, welches ein nur durch den monotheistischen
Kultus zusammengehaltenes Gemisch aus allen möglichen Völkern
zu sein schien.
Der Durchgang durch das Schilfmeer ist so, wie er in der
ältesten Version dargestellt wnrd, nicht grade unmöglich'). Aber
die Erzählung gehört doch zu denen, auf die der Natur der Sache
nach kein Verlaß ist. Die ältesten Propheten schweigen gänzlich
über das höchst bedeutungsvolle Ereignis, und das befremdet, da
sie von der Führung aus Ägypten und durch die Wüste gern reden.
Im innersten Wesen unwirklich aber ist das Wunder von der
Bundschließung am Sinai. Wer mag im Ernste glauben, daß
0 Die Vorstellung, daß das Meer sich teilte und zu beiden Seiten des
Durchgangs stand ^\•ie eine Mauer, findet sich erst in der jüngeren Version,
nach welcher der späte Psalm Exod. 15 sich richtet. Dagegen heißt es
IV : i Exod. 14, 4l einfach, das Meer sei trocken gelegt durch einen starken Ost-
wind, der die ganze Nacht wehte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es sehr
seicht an der vorgestellten Stelle und ist jetzt dort längst gänzlich versandet.
Die Aufünge des Volkes. 13
Jahve mit eigener Hand die zehn Gebote auf Stein geschrieben,
ja sie sogar mit eigener Stimme von der Bergspitze herab dem
unten versammelten Volke aus der Gewitterwolke zugedonnert und
darnach noch hoch droben vierzig Tage lang mit jMoses vertraute
Zwiesprache gehalten habe! Und welches sind die wahren zehn
Gebote, die von Exod. 20 oder die von Exod. 34? Denn ihr Inhalt,
der doch auf Tafeln gestanden haben soll, wird in den zwei ver-
schiedenen Berichten, die über die Sache handeln, gänzlich ver-
schieden angegeben. In Wirklichkeit ist die Heiligkeit des Sinai
ganz unabhängig von der Bundschließung Jahves mit Israel, sie
weist nicht auf die Besonderheit der israelitischen Religion hin,
sondern umgekehrt auf ihren Zusammenhang mit einer älteren
Stufe. Der Sinai war der Sitz der Gottheit, der heilige Berg,
nicht bloß für die Israeliten, sondern für alle Stämme der Um-
gegend. Ton dem dortigen Priestertum wurde das Priestertum
Moses abgeleitet, dort war ihm Jahve im brennenden Dornbusch
erschienen, von dort hatte er ihn nach Ägypten entsandt. Dort
blieb Jahve auch für die Israeliten noch wohnen, lange nachdem
sie selber sich in Palästina niedergelassen hatten. Wenn sie also
den Zug dahin überhaupt unternommen haben, so haben sie es
getan, um dort vor Jahves Angesicht zu erscheinen und ihm zu
opfern. „Wenn ich das Volk aus Ägypten befreit haben werde,
hatte Jahve zu Moses gesagt, als er ihn am Sinai berief, so sollt
ihr Gott dienen an diesem Berge." Auch in Exod. 33 herrscht
noch diese Vorstellung'). Erst ein weiterer Schritt führte dazu,
den Sinai zum Schauplatz der feierlichen Eröffnung des besonderen
Verhältnisses zwischen Jahve und Israel zu machen. Es waltete
das poetische Bedürfnis, die Konstituirung des Volkes Jahves zu
einem dramatischen Akte auf erhabener Bühne zuzuspitzen. Übri-
gens scheint es, als ob die Wallfahrt zum Sinai in der ältesten
Sage überhaupt keine Stelle gehabt habe. Es schimmert eine Form
derselben durch, wonach die Israeliten sofort nach dem Ausbruch
1) Der Aufenthalt des Volkes am Sinai wii'd hier nicht von vornherein
als ein zeitweiliger von kurzer Dauer vorgestellt, sondern als ein bleibender.
Es ist eine Strafe, daß sie fortgeschickt werden, und als schwere Strafe wird
es auch reuig von ihnen empfunden. Aber ihre Trauer vermag keine Ände-
rung des Beschlusses zu bewirken, nur einen Ersatz seiner wahren Gegenwart
gibt Jahve ihnen mit, das ist die Lade in der Stiftshütte. Vgl. die Kompos.
des Hexat. (1899) p.92s.
14 Zweites Kapitel.
aus Ägypten auf Kades zogen und dort die vierzig Jahre ihres
Aufenthalts in der Wüste verblieben. Unnatürlich genug ist die
Digression nach einem Punkte, der so gänzlich von dem Ziel der
Ausgewanderten ablag und so weit entfernt war').
Als Tatsache kann nur das Allgemeine festgehalten werden,
daß die Ausgewanderten lange Jahre in der Wüste südlich von
Palästina weilten, ehe sie in dies Land einzogen. Dies wird grade
dadurch bestätigt, daß die Sage daran Anstoß nimmt. Wie war
es möglich, daß ein großes Volk in solcher Einöde seine Existenz
fristete? Nur durch die stete wunderbare Hilfe Jahves, der die
Seinen in der Unvvegsamkeit bei Tag und bei Nacht führte, für
ihren Unterhalt sorgte und sie in jeder Weise auf Händen trug.
Warum aber hielten sie sich so unnötig lange in der Wüste auf
und zogen nicht einfach möglichst rasch hindurch in das gelobte
Land? Das kam von ihrem Ungehorsam. Eigentlich sollten sie
sofort von Süden her in Palästina eindringen, aber sie weigerten
sich anzugreifen. Zur Strafe dafür mußten sie nun vierzig Jahre
in der Wüste gefangen sitzen, bis die ganze Generation der LTnge-
horsamen ausgestorben war^).
Die Schwierigkeiten, die auf diese Weise natürlich nicht ge-
hoben werden können, entstehn durch irrige Voraussetzungen.
Die Sage kann sich das Volk nicht im Werden, sondern nur fertig
vorstellen; als sei es schon aus Ägypten so herausgekommen, wie
es nachher etwa in der Königszeit war. Aber Gosen hatte nur für
wenige Tausende und nur für Hirten Raum. Für ein ausge-
wachsenes Volk, das an die Fleischtöpfe Äyptens gewöhnt war,
wäre der Aufenthalt in der Wüste allerdings eine Unmöglichkeit
gewesen; den Ansprüchen der Hirten von Gosen genügte er. Die
^) Prolegomena p. 347 s. Nach Deut. 33 haben sich nicht die Israeliten
zu Jahve nach dem Sinai begeben, sondern umgekehrt ist dieser vom Sinai
zu ihnen nach Kades gekommen: „Jahve kam vom Sinai und erglänzte von
Seir, blitzte auf vom Berge Pharans und kam nach Meribath Kades." Kades
ist nach Exod. 15, 35 auch der Ort der Gesetzgebung und der Rechtsprache,
es heißt Meribath Kades d. i. die Gerichtsstätte Kades.
^) Wie man sieht, steht diese Betrachtungsweise der vierzig Jahre der
Wüstenwanderung als Strafzeit nicht ganz im Einklang mit der anderen,
wonach sie vielmehr eine besondere Gnadenzeit waren, die Periode der Jugend-
liebe, des besten Einvernehmens zwischen Jahve und Israel. Die Propheten
lassen die W^iderspenstigkeit des Volkes erst mit dem Austritt aus der Wüste,
mit der Ausiedlung im Ackerlaude beginnen.
Die Anfänge des Volkes. 15
Veränderung war für sie nicht groß, sie setzten ihr altes Leben
auf benachbartem Boden fort, unter nicht sehr verschiedenen Be-
dingungen. Die Sage hält es ferner für selbstverständlich, daß
die Hebräer schon bei dem Auszuge aus Ägypten die Absicht ge-
habt hätten, das Land Kanaan zu erobern, worin sie sich schließ-
lich für die Dauer niederließen; darum ist ihr das Haltmachen
vor dem Tore nur begreiflich als Folge einer göttlichen Hemmung.
Aller Wahrscheinlichkeit nach hat aber die Wüste südlich von
Palästina die Hebräer nicht gegen ihren Willen festgehalten, sie
ist vielmehr einfach das Ziel gewesen, das sie zunächst ins Auge
gefaßt hatten.
Der endliche Aufbruch von dort war die Folge einer zufälligen
Veranlassung. Im Ostjordanlande hatten die Amoriten die Bne
Ammon vom Jordan verdrängt und den Bne Moab die Nordhälfte
ihres Landes bis zum Arnon abgenommen; auf der Hochebene
gegenüber Jericho war Hesbon die Hauptstadt ihres Königs Sihon
geworden. Von da aus drohten sie noch weiter um sich zu greifen;
die kleinen hebräischen Reiche, die dort auf der Grenze von Palästina
und Arabien gegründet waren, mußten sich sämtlich gefährdet
fühlen. In dieser Lage kamen ihnen die Israeliten wie gerufen,
denen es in der Wüste von Kades allmählich zu enge wurde. Ohne
Zweifel im Einverständnis mit den Bne Edom und Moab, durch
deren Gebiet sie mitten hindurch mußten, zogen sie nun gegen die
Amoriten zu Felde und zerstörten das Reich Sihons, Infolge dessen
blieb das Land südlich vom Arnon in ungefährdetem Besitze Moabs,
aber nördlich vom Arnon siedelten sich die Sieger selber an. So
wohnten sie nun in einem fruchtbaren Wein- und Weidelande und
schlössen die Lücke in der Reihe ihrer Brudervölker').
Die drei Stationen, die sie hinter sich hatten, behielten die
Israeliten im Gedächtnis, nachdem sie endlich im Westjordanland
dauernd zur Ruhe gekommen waren: Gosen, die südliche Wüste,
das Land zwischen Arnon und Jordan. Davon, was sie auf diesen
Stationen erlebt hatten, bewahrten sie keine zuverlässige Erinnerung.
Der Hauptinhalt ihrer damaligen Geschichte wird die Volksbildung
selber gewesen sein. Sie begann in Ägypten, unter dem Einfluß
aufregender Ereignisse. Sie setzte sich fort auf dem Boden der
Sinaihalbinsel. Dort fanden die Auswanderer verwandte Geschlechter
1) Komposition des Hexat. p. 342s.
-[Q Zweites Kapitel.
vor, die ebenso wie sie den Gott vom Sinai verehrten; sie werden
sich gegen dieselben nicht so negativ und feindlich verhalten haben,
Avie die Sage annimmt, die immer eine abgeschlossene Nation vor
Augen hat. Sie standen vielmehr ihrem Zufluß off"en und ver-
banden sich mit ihnen. Ein Zug der Sage weist darauf hin, daß
die Söhne Jakobs, d. i. die Stämme Israels, hinsichtlich ihrer Be-
ziehung zu Ägypten sich nicht ganz gleich stehn. Joseph hat ein
näheres und ui'sprüngliches Verhältnis zu jenem Lande als seine
Brüder. Daß diese ihm später nachfolgen, ist eine notwendige
Konsequenz der Vorstellung, daß Jakob älter sei als seine Söhne,
daß die Volkseinheit früher bestanden habe als die Stämme. In
Wirklichkeit sind vielleicht die Leastämme niemals in Ägypten ge-
wesen, sondern haben vielmehr nur, von ihren östlich angrenzenden
Sitzen aus, den Söhnen Raheis in Gosen zur Zeit des Auszuges die
Hand geboten und sich erst infolge davon zu einem Volke mit
ihnen vereinigt. Dann würde sich auf eine einfache Weise erklären,
warum Moses von drüben her nach Gosen kommt, um die Er-
hebung gegen die Ägypter anzustiften. Auch die überlegene Sonder-
stellung, welche Joseph als der eigentliche Träger der Geschichte
Israels von Anfang an einnimmt, wäre dann kein Rätsel mehr,
während man zugleich den Anspruch der Bne Lea auf höheres Alter,
und ihres Erstgeborenen Rüben auf die Hegemonie wol begreifen
könnte.
Also erst in der bewegten Zeit, die dem Auszuge aus Ägypten
voraufging, und während des Aufenthaltes in der Wüste, der darauf
folgte, entstand der Bund der Stämme, die später das Volk Israel
ausmachten. W^enn vorher irgend welche Gemeinschaft sie verband,
so kann sie doch nur sehr locker gewesen sein. Andererseits muß
der Bund jedenfalls vor der Eroberung des eigentlichen Palästinas
gegründet sein; denn mit dieser zerfiel er wieder, während doch
die Erinnerung daran sich erhielt. Damit soll indessen nicht be-
hauptet sein, daß alle zwölf Stämme schon in Kades bei einander
waren. Die Söhne der Kebsweiber Jakobs, Dan und Naphthali,
Gad und Äser, gehören ihm oft'enbar nicht in dem selben Sinne
an wie die Bne Lea und die Bne Rahel; sie mögen erst später
hinzugekommen und sehr gemischter Herkunft sein. Ebenso gut
wie Gad hätte auch Gilead mit aufgeführt werden können. Außer-
dem hören wir, daß Benjamin erst in Palästina nachgeboren wurde.
Darnach hätte das älteste Israel aus sieben Stämmen bestanden.
Die Anfänge des Volkes. 17
von denen nur einer auf Rahel kam, Joseph, der aber den übrigen
zusammen an Zahl und Macht gleichstand, an geistiger Bedeutung
sie überwog. Die übrigen sechs waren die Söhne Leas: Rüben,
Simeon, Levi, Juda, Tssachar, Zebuion. Sie werden immer in dieser
Ordnung aufgeführt; daß dabei die beiden letzten von den vier
ersten getrennt und mit Dan-Naphthali zusammengestellt werden,
erklärt sich aus geschichtlichen und geographischen Gründen.
2. Der Überlieferung gilt die mosaische Zeit zwar ebenfalls
als die Schöpfungsperiode Israels, aber ausschließlich oder doch
vorzugsweise als die geistige. jMoses hat den idealen Charakter
des Volkes begründet und normirt dadurch, daß er ihm das Gesetz
gab. Es sind jedoch verschiedene legislative Schichten im Penta-
teuch zusammengestellt, die sinaitische, die deuteronomische und
die priesterliche.') Sie ergänzen sich nicht, sontlern folgen auf
einander; die priesterliche fußt auf der deuteronomischen , diese
auf der sinaitischen. Sie sind aus einem geschichtlichen Prozeß
erwachsen und bezeichnen dessen Stadien. Das Gesetz ist das
l'rodukt der geistigen Entwicklung Israels, nicht der Ausgangspunkt
derselben. Als Ganzes paßt es erst zum nachexilischen Judentum
und zeigt sich da auch erst wirksam; vorher paßt es nicht und
ist vollkommen latent. Daß es in der früheren Zeit nicht gehalten
sei, gesteht auch die systematische Bearbeitung zu, der die histo-
rischen Bücher des Alten Testaments in oder nach dem babylo-
nischen Exil unterworfen worden sind; sie meint aber, es habe
darum doch bestanden und gegolten. Sie verurteilt darum Israel
und Juda, namentlich aber das eigentliche alte Israel, welches wir
das Keich der zehn Stämme zu nennen pflegen, als abtrünnig und
ungehorsam. Sic legt ein jüdisches Maß an, sie verleiht dem Ge-
setz rückwirkende Kraft. Als willkürlicher Abfall kann der Ab-
stand nicht betrachtet werden, der das alte Israel, das fromme
ganz ebenso wie das gottlose, nicht bloß von den Forderungen,
sondern auch von den Voraussetzungen des Gesetzes trennt. Es
ist ein allgemeiner Abstand zweier verschiedener Welten. Wol
') Die sinaitisclie ist in den beiden Dekalogen und in Exod. 20, 22^23, 33
enthalten, die deuteronomische im fünften Buch des Pentatenchs. Alles übrige,
die ganze Kultusgesetzgebung von der Stiftshütte aus, gehört zum Priester-
kodex. Die drei Schichten sind nicht Einheiten im strengen literarischen
Sinn; wol aber können sie, cum grano salis, historisch als solche behandelt
werden.
Wl- lUia US e u, Isr. Geschichte, ö. Aufl. 2
Jg Zweites K.a])itel.
gibt es einzelne Vergleichspuni<te zwischen der älteren Praxis und
dem Gesetze; aber wo sich solche darbieten, da zeigen sich unab-
sichtliche Abweichungen von der gesetzlichen Norm, die eine gänz-
liche Unbekanntschaft mit derselben verraten. Die gelegentlichen
Angaben der historischen Bücher über Zustände und Einrichtungen
des Altertums stoßen die Betrachtungsweise der systematischen
Bearbeitung um. Das Gesetz reicht nicht von ferne an die mo-
saische Zeit heran. Wenn dem so ist, so gibt es keine direkten
literarischen (^)uellen, aus denen der Mosaismus auch nur so zu
erkennen wäre wie etwa die Lehre Jesu aus den Evangelien ').
Will man nicht ganz darauf verzichten, den Anfang der israeliti-
schen Geschichte darzustellen, so bleibt nur übrig, ihn aus der
Fortsetzung zu erschließen, wodurch sich freilich nur ungefähre
Ergebnisse gewinnen lassen. Ein Vorgreifen in die Folgezeit hinein
läßt sich dabei nicht vermeiden.
Die Hauptmasse des Pentateuchs ist Kultusgesetzgebung. Das
Werk Moses besteht darnach in der Einrichtung des Gottesdienstes,
wozu ihm Jahve selber in der Stiftshütte die Anweisung gegeben
haben soll. Die Propheten dagegen behaupten, Jahve habe den
Vätern, als er sie aus Ägypten geführt, nichts befohlen in betreff
von Opfern, und dieselben seien auch tatsächlich in der mosaischen
Zeit nicht dargebracht. Sie gehn darin allerdings entschieden zu
weit; es kann keine Frage sein, daß die alten Israeliten unter
Religion wesentlich den Opferdienst verstanden. Aber dadurch
unterschieden sie sich nicht von anderen Völkern, der Kultus be-
ruht nicht auf besonderer Offenbarung und datirt nicht erst aus
der mosaischen Zeit. Am richtigsten verhältnismäßig ist die Vor-
stellung der in der Genesis enthaltenen Kultussage, die dem Kultus-
gesetz in den späteren Büchern des Pentateuchs gegenüber steht.
Darnach ist die israelitische Praxis des Altardienstes an den
Hauptorten, wo er betrieben w'urde, von den Erzvätern eingeführt,
nicht durch die Gesetzgebung Moses. Die heiligen Sitten und
Bräuche sind nicht durch Statut entstanden, sondern unwillkürlich,
bei irgend einem Anlaß, der in die Vorzeit verlegt wird. Jahve
ringt mit Israel und verletzt ihm dabei die Hüftsehne, aus diesem
') Der Versuch, diese Behauptungen vollständig zu erweisen, ist in der
Komposition des Pentateuchs und in den Prolegomena zur Geschichte Israels
gemacht worden.
Die Anfänge des Volkes. 19
Grunde pflegen die Kinder Israels die Hüftsehne nicht zu essen.
Die Beschneidung der Knäblein wird geschichtlich erklärt als ein
gemildertes Äquivalent für die ursprüngliche Beschneidung der
jungen Männer vor der Hochzeit. Als Moses auf seiner Rückkehr
von Midian nach Gosen unterwegs übernachtete, überdel ihn Jahve,
in der Al)sicht ihn zu töten; sein Weib Sipphora aber nahm einen
Feuerstein und schnitt die Vorhaut ihres Sohnes ab und berührte
damit die Scham Moses und sprach: du bist mir ein Biutbräutigam
— da ließ Jahve von ihm ab. Im ganzen und großen ist der
Kultus der Brauch aller Welt, seit Noah, ja seit Kain und Abel;
der Unterschied ist nur, daß die Israeliten ihn dem Jahve, die
anderen Völker anderen Göttern weihen. Das ist die alte, gesunde,
volkstümliche Betrachtungsweise. Der Kultus ist in Wahrheit das
vorzugsweise ethnische Element in der israelitischen Religion. Die
Kirchenväter fassen ihn auf als ein nachträgliches Zugeständnis an
die Schwachheit, an das tiefgewurzelte Heidentum, des Volkes; die
Veranlassung ihn einzuführen habe erst der Sündenfall Israels ge-
geben, nämlich die Verfertigung und die Anbetung des goldenen
Kalbes am Sinai.
Zugegeben aber, daß der Stoff des Kultus, als gänzlich
irrationell, nicht erfunden ist, sondern auf unvordenklichem Her-
kommen beruht, so könnte doch Moses den vorhandenen Stoff als
Mittel zu höheren Zwecken benutzt haben. Man kann sagen, er
habe nicht den Kultus überhaupt, sondern den legitimen Kultus be-
gründet. Er habe die alten Bräuche von Auswüchsen gereinigt und
sie in eine feste Form gebracht, wodurch der ursprünglich heid-
nische Stoff unschädlich und sogar spezi lisch israelitisch gemacht
worden sei. Wirklich wird im (Jesetz das größte Gewicht auf die
korrekte, feste und gleichmäßige Form des Kultus gelegt, er dient
zur l niformirung der Gemeinde und dadurch zu ihrer Absonderung
von dem Heidentum. Nun aber hängt die feste und gleichmäßige
Form des Kultus ab von seiner Zentralisirung; er darf nur an einer
einzigen Stelle, bei der Stiftshütte oder im jerusalemischen Tempel,
und nur von den dazu berufenen Priestern verrichtet werden. Und
diese Zentralisirung geht nicht in frühe Zeit zurück. Die
frommsten Männer des alten Israel scheuen sich nicht, auch anderswo
als an dem Ort der Bundeslade zu opfern; es gab viele heilige
Stätten. Die hervorragendsten sind .von den Patriarchen gegründet,
infolge von Theophanien, welche darauf aufmerksam machten,
20 Zweites Kapitel.
duß dort die Gottheit wohne. Die Legenden der Genesis glori-
fiziren den Ursprung der Altäre von Hebron und Beerseba, Bethel
und Sichern, Mispha Mahanaim und Phanuel, und betrachten die-
selben keineswegs als gesetzwidrig und ketzerisch. Im Gesetze
selber, in einem alten Spruch, der trotz seiner Ileterodoxie erhalten
ist, sagt Jahve: an jedem Orte, wo ich meinen Namen ehren lasse,
will ich zu dir kommen und dich segnen. Hier wird Erlaubnis
gegeben, überall zu opfern; sie wird allerdings etwas beschränkt
durch den Zusatz: überall wo ich meinen Namen ehren lasse —
aber darin spricht sich nur der Glaube aus, daß die Stätte, wo
der Verkehr zwischen Himmel und Erde vor sich ging, nicht will-
kürlich gewählt, sondern von der Gottheit selbst ausersehen sei.
Die Reformation des Königs Josias im Jahre 621 vor Ghr. war der
erste Versuch, den Opferdienst auf einen einzigen Punkt zu be-
schränken. Er gelang aber nicht gleich; vor dem Exil blieben die
lokalen Altäre noch immer bestehn, an die sich die heiligsten
Erinnerungen von den Vätern her knüpften. Sie fielen erst, als
durch die Losreißung der Nation aus ihrem Mutterboden die Tra-
dition des Lebens, der Zusammenhang mit den ererbten Zuständen,
gänzlich durchschnitten wurde. Und wie die Zentralisirung, so ist
auch die Uniformirung des Kultus erst nachexilisch. In alter Zeit
leidet der Begriff der Legitimität keine Anwendung auf ihn.
Jahvedienst und Götzendienst stehn einander gegenüber, aber nicht
gesetzlicher und ungesetzlicher Jahvedienst. Es gibt natürlich
bestimmte Bräuche und Riten, aber sie sind verschieden an ver-
schiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, und sie passen nicht
in das Schema des Gesetzes; zum Beispiel schlägt das Verfahren
Gideons beim Opfern allen Vorschriften des Gesetzes ahnungslos
in das Gesicht. Am allerwenigsten ist der Kultus bloß ein Mittel,
die Gemeinde zu separiren und dadurch zu heiligen. Er ist viel-
mehr durchaus Selbstzweck, er ist die Höhe des Lebens, Götter
und Menschen haben ihre Freude daran.
Dann ist aber auch die Theokratie nicht der Ausgangspunkt
der israelitischen Geschichte; wenigstens nicht in dem Sinne, wie
sie im Pentateuch gefaßt wird, als eine Verfassung, die auf dem
Kultus beruht und deutlicher Hierokratie zu benennen wäre. Ein
ganzer geistlicher Stamm wird aus dem übrigen Volke abgesondert,
das sind die Leviten. Über ihnen erheben sich die Priester und
über diesen wiederum der Hohepriester. Er ist das Oberhaupt der
Die Aufänge des Volkes. 21
Gemeinde, neben dem ein anderes nicht Platz hat. Mit dem Be-
ginn der wirklichen Geschichte verschwindet alles dies spurlos. Im
Buch der Richter ist einmal von einem Leviten die Rede, aber
er gilt als Rarität. ]\Ian hat andere Dinge zu tun, als ein nach
Tausenden zählendes Kultuspersonal mit AVeib und Kind zu er-
halten. Der Hohepriester hat keine Stelle; die wirklich eingreifenden
Volkshäupter, die sogenannten Richter, sind ganz anderer, durchaus
nicht geistlicher Art. Eine hierokratische Organisation hndet sich
nicht, es findet sich überhaupt keine Organisation, die das ganze
Volk umfaßt. „Jeder tat, was er wollte", nicht weil die alte
Priesterherrschaft verfallen gewesen wäre, sondern „weil es keinen
König in Israel gab". Erst das Königtum erlöste aus dieser
Anarchie, Avelche das Volk zur Beute seiner Feinde, namentlich der
Philister, zu machen drohte. Es gibt zwar im Buch Samuelis
eine Version über die Errichtung des Königtums, worin dieselbe
als ein Widerspruch gegen die Theokratie, als ein unraotivirter
Abfall von Jahve erscheint. Vorher regierte Jahve selber durch
Samuel, und alles war in bester Ordnung. Die Philister waren
durch ein göttliches Wunder zum Lande hinausgetrieben, sobald
die Israeliten vom Götzendienste abgelassen hatten. Welche irdische
Form die Theokratie hatte, wird nicht gesagt. Deutlich ist nur,
daß sie auf ganz anderem Fuße eingerichtet ist als die Reiche
dieser Welt. Sie ist ein geistliches Gemeinwesen, wie denn auch
der geistliche Charakter des Regenten außer Frage steht. Ein
Priester und Prophet ist Reichsverweser, er hat keine äußeren
Machtmittel zur Verfügung und dennoch unbedingte Autorität,
wegen seines Einflusses auf Jahve. Jahve sorgt für alles; seine
Untertanen haben weiter nichts zu tun, als sich seiner Verehrung
zu widmen und den Mahnungen seines Stellvertreters zu folgen.
Auf Mittel, sich wehrfähig zu machen, brauchen sie nicht zu
denken; wenn sie fasten und beten und von ihren Sünden lassen,
so verschwinden die Feinde von selber. All der Aufwand, wodurch
ein Volk sonst seine E.xistenz sichert, ist dann überflüssig; und
man begreift nicht, wie die Israeliten darauf brennen können,
dies bequeme Regiment mit dem menschlichen Königtum, welches
große Ansprüche an sie stellt, zu vertauschen, bloß um es den
Heiden gleichzutun. In Wahrheit ist aber diese ganze Vorstellung
utopisch. Die Israeliten waren eine Nation wie andere Nationen.
Jahve dispensirte sie nicht davon, sich gegen die Feinde zu wehren,
22 Zweites Kapitel.
es war nicht Mutwille, daß sie ihre Kräfte durch das Königtum
zusammen fai3ten, sondern die bittere Not zwang sie dazu. Die
Herrschaft der Philister war keineswegs schon vor Saul und David
gebrochen; der Kampf gegen sie war vielmehr recht eigentlich der
Entstehungsgrund und die Aufgabe des Königtums; kein Gedanke
daran, daß Samuel diesem Arbeit und Verdienst vorweg genommen
habe. Nach der echten Tradition hat er sich auch nicht gegen
das Königtum gesträubt, sondern es selber als Mittel der Rettung
herbeigewünscht; nicht gedrängt von dem Volk, sondern freiwillig
auf Zuraunen Jahves, hat er in Saul den jMann der Zeit erkannt
und ihn zum voraus gesalbt. Dem hebräischeu Altertum galt
überhaupt das Königtum als der Höhepunkt der Geschichte und
die größte Segnung Jahves; wie fern die Vorstellung eines feind-
lichen Gegensatzes zwischen dem himmlischen und dem irdischen
Herrscher lag, sieht man aus dem Namen des Gesalbten Jahves
und aus der prophetischen Hoffnung, die sogar für die ideale Zu-
kunft den Messias nicht entbehren mochte. Der König war auch
der berufene Repräsentant des Volkes vor Jahve. Er verfügte über
die großen Tempel, traf dort Einrichtungen, welche er wollte,
stellte Priester an und setzte sie ab. Das geschah nicht bloß im
Reiche Israel so, nach dem bösen Beispiel, das König Jerobeam
gegeben hatte, sondern auch im Reiche Juda. Nirgends tritt neben
der Regierung oder gar in Konflikt mit der Regierung eine Hiero-
kratie hervor. Erst seit ihrer Vernichtung durch die Assyrer und
der (Jhaldäer wurde die Nation eine wesentlich durch den Kultus
zusammengehaltene „Gemeinde". Die Voraussetzung dieses Ge-
meinde war die Fremdherrschaft, welche die Juden aus dem poli-
tischen Gebiete auf das geistliche drängte').
3. Dennoch kann die Theokratie in einem gewissen Sinne als
der charakteristische Ausgangspunkt der israelitischen Geschichte
festgehalten werden. Nur nicht als ein Gemächt, als eine fertige An-
stalt, die plötzlich den Israeliten in der Wüste aufgezwungen wird.
Nicht als ein geistliches Wesen, das dem natürlichen Volkstum fern
steht und den Gegensatz von Heilig und Profan in schärfster Aus-
^) Vgl. Prolegomena p. 416 ss. Sehr bezeichnend ist die völlige Gleich-
giltigkeit des Priesterkodex gegen alles Staatliche und Nationale. Die Funktion
der Theokratie ist der Kultus, mit der Regierung hat sie nichts zu tun, weil
dieselbe wesentlich der Fremdherrschaft überlassen ist.
Die Antauge des Volkes. 23
bildung voraussetzt. Vielmehr gerade umgekehrt als die engste
Durchdringung der Keligion und des Volkslebens, des Heiligen und
des Nationalen, erwachsen aus vorhandener Wurzel und auf ge-
gebener Grundlage fortbauend. Es wurde keine neue Verfassung
durch Moses eingeführt, sondern die alte blieb; noch im Lande
Kanaan wurde sie beibehalten und sogar durch das Königtum nicht
beseitigt. 8ie gründet sich auf das Blut, es ist ein System von
Familien, Sippen, Geschlechtern und Stämmen. Alle diese Ver-
bände tragen substantivische und singularische Individualnamen '),
gelten als natürliche Einheiten und stehn in einer gegebenen Be-
ziehung zu einander. Ihre Statistik bat die Form der Genealogie:
Isaak ist der Vater der Völker Edom und Israel, Israel der Vater
von zwölf Stämmen, Juda der Vater von fünf großen Geschlechtern,
jedes Geschlecht wiederum der Vater und Großvater von Sippen
und Familien. Mit den Einheiten selber ist auch ihre Gliederung
gesetzt, sie ist den Elementen angewachsen. Es gibt keine chaotischen
Haufen, keine unterschiedslosen Gruppen, sondern überall natür-
liche Organisation, abgestufte Beziehungen, die als Verwandtschafts-
grade aufgefaßt werden^). Niemand gehört zum Stamm, außer
durch die Familie, durch die Sippe, durch das Geschlecht; die Zu-
gehörigkeit zum Ganzen ist stets durch die Zugehörigkeit zu den
Unterabteilungen bedingt. In Wirklichkeit kann freilich nicht das
ganze System rein durch Verzweigung aus einer einzigen Familie
entstanden sein; es dürfte sonst während eines sehr langen Zeit-
raumes gar keine Geschichte gegeben haben.') Vielleicht ist die
') Dergleichcu gibt es mir bei den Semiten. Ion Dorus Äoliis lassen
sich als künstliche Heroes Eponynii gar nicht mit Moab Ammou und Edom
vergleichen. Merkwürdig ist auch die weitgetriebene Personifikation der Collec-
tiva bei den Hebräern und Arabern. Die Völker und Stämme reden von sich
in der ersten Person Singularis.
-) Vielleicht ist dies der Ilauptunterschied der aristokratischen Volker von
den niederen. Die Theorie von der gradloseu Verwaudtschaft und der unter-
schiedslosen Gruppe läßt sich auf die Hebräer und Araber, wie sie historisch
erscheinen, absolut nicht übertragen; das gerade Gegenteil macht den Charakter
ihrer Gesellschaft aus. A'gl. Hunzingers ostafr. Studien p. 475 ss.
^) Lehrreich in vieler Hinsicht ist eine hingeworfene Äußerung von B.
G. Niebuhr (bei Dora Hensler 144). „Man wird finden, daß die großen Volks-
stämme nie durch DifTerenziruug, sondern durch Integrirung entstanden sind.
Daher erkläre ich die ungeheure Verschiedenheit der Sprachen der nordameri-
24 Zweites Kapitel.
aus irgend einem Grunde zu stände gekommene A''izinität, die nicht
blof.) bei den seßhaften, sondern auch bei wandernden Völkern statt-
findet, der Ursprung der meisten Verbände; sie ist auch die Grenze,
bis zu der das Blut wirkt, darüber hinaus verliert es seine zu-
sammenhaltende Kraft. Aber der Ursprung wird vergessen, es
bleibt nicht bei der bloßen Vizinität. Wenn die Mitglieder seit
Urvätern in den Stamm hineingeboren sind, so sind sie durch ihre
Geburt Söhne des Stammes. Wenn ein Verband, wie auch immer
entstanden, eine lange gemeinsame Geschichte durchlebt hat, so
Avird er Blutsverband. Damit schließt er sich ab; die dann noch
neu hinzutretenden Elemente werden nicht für voll aufgenommen
und erst allmählich nostriflzirt; es entsteht ein Unterschied zwischen
Vaterssöhnen und Vizinen oder Beisassen. AVenn also auch nicht
der Ursprung der Einheit in dem Blut liegt, so geschieht doch die
Legitimirung der Einheit durch das Blut. Alle legitime Gemein-
schaft ist Blutsgemeinschaft.
Unter diesen Verhältnissen existirt keine von der Gesellschaft
losgetrennte, hypostasirte Ordnung, keine Obrigkeit, keine Amts-
gewalt. Die einzelnen sind Brüder und V^ettern oder Nachbarn,
keine Untertanen. Die Blutsgemeiuschaft wirkt nicht, wie der Staat,
durch Zwang. Sie wirkt vielmehr durch Pietät, durch die An-
erkennung ihrer Heiligkeit. Es gibt keine besondere heilige Ge-
meinschaft: die natürliche Gemeinschaft, die des Blutes, ist die
heilige. Die Geschlechtsverbände sind in der Regel auch die Kultus-
verbände. Die Götter treten durch das Opfer in enge Verbindung
mit den Kreisen ihrer Verehrer. Einige Stämme identifiziren sich
geradezu mit ihrem Gott und legen sich dessen Eigennamen bei,
wie z. B. Gad und Äser. Andere eignen sich den allgemeinen
Namen El dadurch an, daß sie ihn durch besondere Zusätze differen-
ziren: Ismael, Jerachmeel, Bethuel '). blanche hebräische Personen-
namen bezeichnen ihren Träo;er als Verwandten und Geschlechts-
kanischen Wilden, die sich schlechterdings nicht auf eine Hauptsprache zu-
rückbringen lassen, aber z. B. in Mexiko und Peru sich schon in eine Haupt-
sprache aufgelöst hatten; daher die vielen Synonyma in der ältesten Zeit der
Sprache. Daher behaupte ich, daß man die Sprache in Rücksicht auf die
Theorie der Völkerstämme äußerst vorsichtig anwenden müsse."
') Alle ältesten theophoren Namen scheinen nicht Individual-, sondern
Geraeiuschaftsnamen zu sein.
Die Aufänge des Volkes. 25
genossen des Gottheit'). Die Heiligkeit des IMuts geht nicht neutral
neben der Heiligkeit der Götter her, sondern beides verbindet sich
und verschmilzt durch den Kultus, der von den Genossen eines be-
stimmten Verbandes der Gottheit dargebracht wird.
Wie wir gesehen haben, bauen sich die Verbände genealogisch
über einander auf; über den Familien erhebt sich die Sippe, über
den Sippen das Geschlecht usw. Natürlich deckt sich das Inter-
esse der kleinen Verbände nicht immer mit dem der großen. Das
Blut verbindet am innigsten die kleinsten Kreise; seine Kraft
schwächt sich ab, je entfernter der Grad, je größer der Kreis der
Verwandtschaft wird. Mit einer Art Naturgewalt wirkt es nur in
der Familie; der Familiensinn fällt beinahe noch mit dem Egoismus
zusammen. Der Stamm dagegen wird im Kampf gegen feige oder
trotzige Selbstsucht nur zusammengehalten durch aufopfernden Ge-
meinsinn. Derselbe fühlt sich zwar noch immer als Verwandt-
schaftssinn; aber der Verwandtschaftssinn verändert mit der Quantität
seine Qualität; je mehr er umfaßt, desto moralischer wird er. Je größer
die Gemeinschaft ist, um so mehr wird sie nicht durch das Blut,
sondern durch die religiöse Idee ihrer Heiligkeit zusammengehalten.
Diese ursprünglich mit dem Glauben an das gemeinsame Blut eng ver-
knüpfte Idee muß sich dann über das Blut erheben und es so weit
überwinden, daß die niederen Stufen der Verwandtschaft sich den
höheren unterordnen. Sie muß am reinsten und kräftigsten auf-
treten auf der höchsten Stufe, wo das Blut am schwächsten wirkt.
Aus verwandten Geschlechtern und Stämmen wuchs zur Zeit
Moses das Volk Israel zusammen und erhob sich über sie, die neue
Einheit wurde geheiligt durch Jahve, der zwar schon früher
existirte ''), aber erst jetzt an die Spitze dieses Volkes trat. Jahve
') Ich meine die Namen „mein Verwandter (ammi), mein Bruder (ahi),
mein Vater (abi), mein Oheim (dodi), meine Mutter (immi), ist die und die
Gottheit". So mit ammi: Ammiel, Ammihud, Ammischai (vgl. in der selben
Familie Abischai, Ischai). Mit ahi: Ahija, Ahimelech, Ahiram, Ahitophel (ent-
stellt). Mit abi: Abiel, Abija, Abimelech, Abischai, Abiram, Abihud, Abiner,
Abijathar. Mit immi vielleicht Imminuu (meine Mutter ist die Schlange)
2 Sam. i;j, 20. Verkürzt Iliram, Hiel, Ischai (= Abischai), Ikabod (=Abikabod),
Ehud (= Abihud 1 Chr. 8, 3 neben Gera), Jehu (in der Sept. lou = Abihu).
Andersartig ist Ah-ab. Wie das Volk Schal' Alhlh, so heißt reziprok der Gott
Schai' alQaum.
2) Der Name Jahve scheint nicht so alt zu sein wie etwa Astarte, Kamos,
Kuzah. Die Etymologie ist durchsichtig: er fährt durch die Lüfte, er weht.
26 Zweites Kapitel.
der Gott Israels, Israel das Volk Jalives: das ist der Anfang und
das bleibende Prinzip der folgenden politisch-religiösen Geschichte.
Ehe Israel war, war Jahve nicht; auf der anderen Seite haben die
Propheten Recht zu sagen, daß Jahve es gewesen sei, der Israel
gezeugt und geboren habe. Unzertrennlich wie Seele und Leib
waren beide mit einander verbunden. Israels Leben war Jahves
Leben. Die vornehmste Äußerung des Lebens der Nation war da-
mals und auf Jahrhunderte hinaus der Krieg. Der Krieg ist es,
was die Völker macht; er war die Funktion, in der die Zusammen-
gehörigkeit der israelitischen Stämme sich am ersten betätigte, und
als das nationale war er zugleich auch das heilige Geschäft. Jahve
war das Feldgeschrei dieser kriegerischen Eidgenossenschaft, der
kürzeste Ausdruck dessen, was sie unter sich einigte und gegen
außen schied. Israel bedeutet El streitet, und Jahve war der
streitende El, nach dem die Nation sich benannte^). In dem selben
Verhältnis wie Israel stand auch Jahve zu den Nachbarvölkern und
zu ihren Göttern.
„Jahve ist ein Kriegsmann, Jahve heißt er, Roß und Reiter
hat er gestürzt ins Meer." Zuerst hatte er sich an der Spitze der
Seinen gegen die Ägypter erhoben; dann scheuchte er vor ihnen
die Amoriten, wie eine Hornis die Herde scheucht. Er eroberte
das Land Kanaan und gab es seinen Kriegern zu Lehen; das war
die Großtat, die ihm den meisten Dank und Ruhm eintrug. Er
verlieh „Hilfe" d. i. Sieg gegen die Nationen, die Israel in der
Richterzeit bedrängten; als seinen Kampf führten Saul und David
den Philisterkampf. Die Männer, die Jahve erweckte und mit seinem
Geiste erfüllte, waren demgemäß im Altertum vorzugsweise Kriegs-
helden, wie die Richter. Später galt der König, dessen Amt eben-
falls vorzugsweise das des Heerführers war, als sein Verweser.
Etwas von dieser kriegerischen Natur hat der Gott Israels bis in
die spätesten Zeiten behalten, bis herab zu den Aufständen der
0 Jahve Sabaoth heißt zwar nicht Gott der Sterne (welche das lleer
des Himmels genannt werden, nicht die Heere), aber auch schwerlich der
Gott des israelitischen Heeres. Denn wo der Name zuerst, und in der vollen
Form, vorkommt, bei Arnos, wird er gebraucht, um die Bezeichnung Jahves als
des Gottes Israels zu vermeiden. Es wäre auch wunderlich, das Heer Israels
einfach die Heere zu nennen, im Plural und noch dazu mit Auslassung des
Artikels. Vgl. lob 25, 3.
Die Anfänge des Volkes. 27
Makkabäer und der Zeloten. jSocli in den Psalmen wird Jalive
als eine Art Kriegsgott beschrieben, der mit Schwert und Schild
sich Avappnet, den Kampfruf erhebt wie ein Held, seine Pfeile
schießt, sein Schwert zückt, sein Gewand über und über mit Blut
besudelt, sich labt am Fett der Erschlagenen, ihr Mark schlürft.
Zu solchen Ausmalungen versteigen sich freilich die Alten nicht,
weil sie Jahves Gegenwart im Heer viel wahrhaftiger empfinden,
wie das Deboralied zeigt.
Das Kriegslager, die Wiege der Nation, war auch das älteste
Heiligtum. Da war Israel und da war Jahve. Im Deuteronomium
noch werden zum behuf der Heilighaltung des Lagers Verordnungen
gegeben, wie sie schärfer und strenger kaum für den Tempel ge-
geben werden könnten: keine Unreinheit wird darin geduldet,
kein Entweihter darf sich darin aufhalten.^) Zu sichtbarer Dar-
stellung gelangt die Gegen w^art Jahves im Heere durch die Lade;
sie war das Feldzeichen Israels, ein kriegerisches Wanderheiligtum.
Kades, Sittim, Gilgal, Silo, die Stätten, wo nach einander das Lager
sich für längere Zeit befunden hatte, blieben immerdar geweiht.
Lidem die Lade nach Jerusalem übergeführt wurde, trat das dortige
Heiligtum an die Stelle des alten Lagerheiligtums; und es ist in-
sofern folgerichtig , daß im Priesterkodex die Gesetze über die
heilige Stadt in die Form von Gesetzen über das Lager eingekleidet
werden, welches nun freilich ein völlig geistlicher Begriff geworden
ist. Auch eine besondere Art des Opfers, von dem sich Beispiele
gerade in der ältesten Zeit finden,') die Devotio, weist auf die
enge Verknüpfung des Krieges mit der Religion. Man gelobte, die
Stadt oder den König der Feinde, die Beute oder einen Teil der-
selben dem Jahve zu weihen, wenn er den Sieg gäbe; die Weihujig
geschah durch vollständige Vernichtung der geweihten Menschen,
Tiere und Sachen.
So äußerte sich Jahve vorzugsweise in den großen Krisen
der Geschichte; seine „Tage" waren, wie die Tage der Araber,
Schlachttage. In Zeiten der Ruhe, wie das Richterbuch schildert,
schliefen Israel und Jahve mit einander ein, durch Feindesgefahr
^) Bei den Arabern tritt durch den Krieg ohne weiteres der Zustand des
Geweihtseins ein. Man sieht also, dal^ die betreffenden Bestiunnuugeu des
Deuteronoraiums in alter Anschauung wurzeln.
-) Ai, Jericho, Sichern, Agag.
28 Zweites Kapitel.
wurden sie wieder aufgerüttelt. Immer begann dann das Erwachen
Israels mit dem Erwachen Jahves. Seine Lebensäußerungen waren
durch lange Pausen unterbrochen, seine Wirksamkeit hatte etwas
Gewitterhaftes. Indessen wenn auch das Verhältnis zwischen dem
Volke und seinem Gotte vornehmlich in Zeiten höchster Aufregung
sich betätigte, so erstarb es doch auch in der Zwischenzeit nicht.
Wie die menschlichen Führer den Einlluß, den sie im Kampfe
gewonnen hatten, im Frieden nicht verloren, wie sie aus Kriegs-
fürsten Richter wurden, so ähnlich auch Jahve. Nicht bloß gegen
die Feinde half er, sondern auch im Innern; er schalfte Hecht
unter den Volksgenossen. So kam das Gemeingefühl, das aller-
dings besonders gegen außen sich geltend machte, doch auch im
Innern zu einer gewissen W^irkung. Schon ehe die Israeliten durch
das Königtum zu eigentlich politischer Einheit gelangten, hatten
sie eine Art Rechtseinheit, freilich nicht eine formelle, im Sinne
einer obersten Instanz, sondern eine materielle, im Sinne einer
gleichartigen Rechtsanschauung. Die geheimnisvolle Gewalt, welche
die Gleichheit der Überzeugungen in den verschiedenen Köpfen
hervorbrachte und sowol das Urteil als dessen Anerkennung be-
dang, stellten sie sich nicht als ein Abstractum vor. Sie glaubten
nicht an Abstracta, sie kannten keine unpersönliche Macht, keine
Wirkung ohne wirkendes Subjekt. Es war Jahve, der das allge-
meine Gefühl des Rechtes und des Rechten band und den be-
stimmten Inhalt desselben einzelnen olfenbarte.
Sein war das Gericht; in seinem Namen wurde es ausgeübt,
durch wen auch immer es geschehen mochte. Naturgemäß lag
die Rechtspilege in den Händen derer, die überhaupt die Autorität
hatten, zunächst der Familien-, Geschlechts- und Stammhäupter,
der sogenannten Ältesten, sodann der Häupter von Städten und
Dörfern, auch der Könige und der Beamten. In deren Händen blieb
sie auch, durch Jahve wurde daran nichts geändert. Daneben gab
es aber noch eine andere Instanz, durch welche die Gottheit noch
direkter wirkte. Wenn die Weisheit oder die Kompetenz der ge-
wöhnlichen Richter nicht ausreichte, wenn man in schwierigen
Lagen Rat haben wollte, so wandte mau sich an die Männer
Gottes, an die Priester oder die Seher. Ihr Einfluß beruhte nicht
auf irgend welcher äußeren Machtstellung, sondern darauf, daß die
Gottheit, auf Befragen, durch sie antwortete. Die hebräischen
Namen für Priester und Seher finden sich auch sonst bei den Se-
Die Anfänge des Volkes. 29
miten'). Aber neu war, daß diese Männer in Israel sich je länger
desto ausschließlicher in den Dienst des Volksgottes, Jalives, stellten.
Unter den Männern Gottes waren die vornehmsten die Priester.
Von Haus aus bestand kein Unterschied zwischen ihnen und den
Sehern. Die Gottheit offenbarte sich am sichersten an der Stätte,
wo sie wohnte; Bileam stieg auf einen heiligen Berg und opferte
dort, ehe er ausging zu schauen, ob Jahve, durch Vögel oder
andere „Botschaften", ihm begegnen werde. Durch ihre Ver-
bindung mit den Heiligtümern wurden die Seher zu Priestern; sie
bekamen auf diese Weise einen mehr amtlichen und öffentlichen
Charakter. Die Priester waren keine bloßen Opferer, sondern die
Männer der Gotteskunde. ])as bedeutet ursprünglich nicht, daß
sie wußten, was die Gottheit von den Menschen verlangt, sondern
daß sie die Gottheit zu behandeln, auf sie einzuwirken verstanden.
Sie bedienten sich dazu in ältester Zeit der jMedien, namentlich
warfen sie die heiligen Lose, die Urim und Thummim, um gestellte
Alternativen zu entscheiden.^) Daran schloß sich aber früh eine
allgemeinere Unterweisung und Bescheidung an, die zum Beruf der
Priester gehörte, die Thora. Sie bezog sich auf göttliche und auf
menschliche Dinge, nie aber war sie theoretisch und systematisch,
sondern immer praktisch, für einen bestimmten Fall berechnet,
über den gefragt wurde. Auch die Rechtsprechung gehörte dazu,
wenn die Parteien keine (v>uorulanten waren, sondern wissen wollten,
was eigentlich das Rechte sei: ein Fall, der im Altertum, wo es
kein geschriebenes Recht gab und wo das Recht als heilig galt,
häufiger vorkam als bei uns. Die Priester wurden nach allem be-
fragt und gaben für alles Verhaltungsmaßregeln; sie statuirten,
was erlaubt und was verboten, rein und unrein, recht und unrecht
sei; sie sagten, was Gott gefalle und was nicht, ob er eine Unter-
nehmung gelingen oder mislingen lassen werde.
Als Begründer des Jahvepriestertums in Israel wurde Moses
angesehen. Er galt als der Ahn der Leviten, d. i. nach dem alten
Sinn der Berufspriester. Jonathan zu Dan war sein Enkel, auch
^) So namentlich der t. t. more bei den Kanaaniten (Elon More, Gibeatli
More), bei den Abessiniern (Muri), und den Raltyloniern (tertu). Die Ableitung
des babylonischen tertu von der \Ynrzel nilir (lehren) koiniut mir gar nicht
wahrscheinlich vor.
-) Das Veifaliron wird Ijcsoliriclten l.Sam. 14, 3() — 42: in der Seplnaginta
sind hier die rriiu und Thummim erhalten. Vgl. I.Sam. 23, 2. 30,7.
30 Zweites Kapitel.
Eli zu Silo leitete sich veriiuitlich von ihm ab, ein levitisches
Geschlecht nannte sich nach ihm Miischi ^). I'reilich betrachteten
ihn auch die Propheten als ihren Vorgänger; indessen diese zweigten
sich erst später ab. Die Verbindung des ersten israelitischen
Heiligtums, der Lade, mit Moses hat die Präsumption für sich,
das am meisten Geschichtliche zu sein, was wir von ihm wissen.
Auf diese Stellung Moses gründete sich der Einfluß, den er gehabt
haben muß; ohne einen leitenden Geist kann die Volksbildung
unter der Ägide Jahves nicht vor sich gegangen sein. Er war der
Anfänger der Thora, die nach ihm von den Priestern fortgesetzt
wurde. Er hat nichts ,,Positives", ein für allemal Fertiges hinter-
lassen, kein Gesetz, keine Verfassung für alle Zukunft gegeben.
Aber er hat die Anforderungen der Gegenwart in einer Weise be-
friedigt, daß die Gegenwart eine Zukunft haben konnte.
Der wirkliche Sinn der Theokratie ist demnach, daß Krieg
und Hecht Peligion waren, ehe sie Zwang und bürgerliche Ordnung
wurden. Einen förmlichen Staat von spezifischer Heiligkeit hat
Moses auf dem Satze Jalive der Gott Israels keineswegs auf-
gebaut; oder wenn er es getan hat, so hat das nicht die geringste
praktische Folge und nicht die geringste geschichtliche Bedeutung
gehabt. Aus dem religiösen Gemeingefühl erwuchs erst der Staat,
und zwar nicht ein besonders heiliger Staat, sondern der Staat
an sich. Die alte patriarchalische Verfassung der Geschlechter und
Stämme wurde zunächst nicht angetastet; die faktische und recht-
liche Autorität blieb in den Händen der Ältesten und Geschlechts-
häupter. Zu einer politischen Einheit wurde Israel erst allmählich,
durch die Vorarbeit der Religion, als Volk Jahves.
4. Die Zeit Moses wird überall als die eigentliche Schöpfungs-
periode Israels angesehen, darum auch als vorbildlich und maß-
gebend für die Folgezeit. Damals muß in der Tat durch eine
epochemachende Grundlegung der Anfang der Geschichte Israels
gemacht sein. Die Propheten haben die Eigentümlichkeit des
Volkes wol verschärft, aber nicht geschaffen, denn sie fußen darauf.
^) Aharou ist sein bloßer Dop]ielg:mger (Prol. p. 139). Dagegen macht
ihm Miriam ernstlichere Konkurrenz (Nnm. 12). Gerade auf Kades, den angeb-
lichen Ort der Lade, hat sie berechtigtere Ansprüche; denn sie liegt dort be-
graben. Erst später scheint sie durch „ihren Bruder" in den Schatten gedrängt
zu sein. Mau sieht daraus, daß es eine alte Tradition gegeben hat, in der
Moses Stellung doch nicht so einzigartig war.
Die Anfänge des Volkes. 31
Die Bewegung ferner, woraus das Königtum liervorging, hat zwar
die bis dahin sehr lose verbundenen Teile /.um erstenmal zu einer
wirklichen politischen Einheit zusammengefaßt, aber das geistige
Gemeinbewußtsein Israels ist nicht erst dadurch entstanden. Viel-
mehr verband dasselbe schon in der Periode der Richter die Stämme
und Geschlechter; wenn es damals in zwingenden äußeren Formen
keinen Halt fand, so muß es um so gewisser innerlich vorhanden
gewesen sein. Als die Israeliten sich in Palästina niederließen,
fanden sie dort eine ihnen an Zahl und Kultur überlegene Be-
völkerung vor, welche sie nicht ausrotteten, sondern sich unter-
warfen und allmählich aufsogen. Der Vermischungsprozeß ward
durch die Verwandtschaft der Rasse, durch die Gleichheit der
Sprache i)egünstigt; wie vieles aber auch die Sieger von den Be-
siegten annahmen, Kanaaniten wurden sie nicht, sondern sie
machten umgekehrt diese zu Israeliten. Trotz ihrer minderen Zahl
und geringeren Bildung l)ehaupteten sie dennoch ihre Eigenart, und
zwar ohne dal)ei durch eine äußere Organisation unterstützt zu
sein. Eine gewisse innerliche Eiidieit bestand also, lange ehe sie
in einem politischen Gemeinwesen zum Ausdruck kam. Sie geht
bis in die Zeit Moses zurück und Moses wird als ihr Begründer
anzusehen sein. Der Grund, auf dem zu allen Zeiten das Gemein-
bewußtsein Israels beruhte, war der Glaube: Jahve der Gott Israels
und Israel das Volk Jahves. Moses hat diesen Glauben nicht er-
funden, aber er hat es doch bewirkt, daß er das Fundament der
Nation und ihrer Geschichte geworden ist.
Aber man verlangt, daß Moses doch auch einen neuen Be-
griff von der Gottheit eingeführt haben müsse, und feiert ihn
als den „Stifter" des Monotheismus. Dem widerspricht indessen
schon auf das allerentschiedenste die einfache Tatsache, daß Jahve
ein Eigenname ist, der aus dem Genus ein Individuum heraushelft.
Der Monotheismus war dem alten Israel unbekannt. Sie sahen
die Natur durchaus als gegeben an und fragten nicht nach ihrem
Ursprünge. Jahve kam ihnen nur als der Gründer Israels in Be-
tracht, und erst seit dem babylonischen Exil ward der Gedanke
lebendig — beinahe plötzlich taucht er auf — , daß er die Länder
und Meere mit ihrer Fülle, den Himmel und sein Heer nicht nur
beherrsche, sondern auch gebildet habe. Der Begriff der Welt
selber existirte nicht für sie, bis an seiner harten Realität ihre
Nation zerschellte. Allerdings haben sie wol geglaubt, daß die
32 Zweites Kapitel.
Macht Jahves weit über Israel hinaiisreichc; dazu war er ja Gott,
daß er den Seinen aushelfe, wenn ihre Kräfte nicht reichten.
Aber dieser Glaube wurde nicht systematisch verallgemeinert. Es
genügte im gegebenen Fall, daß Jahve jeder wirklichen Not und
Gefahr, welche Israel bedrohte, gewachsen war. Die Eventualität,
daß der Himmel einstürzen könnte, wurde nicht in Betracht ge-
zogen; und auch zu dem Gedanken schritt man nicht fort, daß
die Feinde selber so in Jahves Hand seien, daß sie sogar den
Kampf gegen ihn nicht ohne ihn unternehmen könnten. Der Gott
Israels war nicht der Allmächtige, sondern nur der Mächtigste unter
den Göttern. Er stand neben ihnen nnd hatte mit ihnen zu
kämpfen; Kamos und Dagon nnd Hadad waren ihm durchaus ver-
gleichbar, minder mächtig, aber nicht minder real wie er selber.
„Was euer Gott Kamos euch zu erobern gegeben hat — laut
Jephtah den die Grenze verletzenden Nachbarn sagen — , das"
gehört euch, und was unser Gott Jahve für uns erobert hat, das
besitzen wir." Die Gebiete der Götter scheiden sich ebenso wie
die der Völker, und der eine hat in des andern Lande kein Recht.
Niemand dachte daran, daß Jahve auch außerhalb Israels verehrt
werden müsse oder auch nur könne. Mußte ein Israelit aus seinem
Vaterlande fliehen, so begab er sich damit in alter Zeit nicht bloß
in die Gemeinschaft eines anderen Volkes, sondern auch eines
anderen Gottes. Daher David dem Saul, der ihn in die Fremde
treibt, vorwirft, er reiße ihn aus dem Erbe Jahves los und zwinge
ihn, fremden Göttern zu dienen. Wenn der Syrer Naeman bei
sich zu Hause dem Gotte Israels, dem er Heilung vom Aussatz
verdankt, Opfer darbringen will, so kann er es nicht anders als
indem er eine Wagenladung Erde aus Palästina kommen läßt und
darauf einen Altar baut, der auch in Damaskus auf Jahves Grund
und Boden steht. Bis in sehr späte Zeiten hinein hat der Grund-
satz seine Geltung nicht verloren, daß der Kultus Jahves nur im
Lande Jahves möglich sei; ursprünglich erklärt er sich aus der
örtlichen Beschränktheit der Gegenwart Jahves.
Ebensowenig wie der universale Gott war Jahve der über-
sinnliche und geistige in unserem Sinne. Es lag in seinem Begriff
ursprünglich nichts, was die bildliche Darstellung verboten hätte.
Allerdings scheinen die ältesten Israeliten die Gottheit nur an
heiligen Orten, bei Stein, Baum und Wasser, lokalisirt, nicht aber
künstliche Gottesbilder besessen zu haben. Der goldene Stier und
Die Anfänge des Volkes. g3
die eherne Schlange, die schon aus der Zeit Moses stammen sollen,
sind gewiß nicht so alt'). Jedoch erklärt sich das Fehlen von
Tempeln und Bildern sowie von künstlichen Altären lediglich als
primitive Einfachheit und hat nicht von Anfang prinzipielle Be-
deutung gehabt. Der Fortschritt zu höherer Kultur brachte die
Aufnahme der Bilder mit sich. Niemand nahm anfänglich Anstoß
daran; Elias und Elisa ließen sie in Frieden, noch Amos hat kein
Wort des Tadels gegen sie. Erst Hosea und Jesaias fingen an
sich gegen die Werke der Menschenhand zu ereifern, durch die
Jahve vorgestellt werden sollte. Man kann übrigens nicht sagen,
daß die jedenfalls echt israelitische Lade besser .sei als die Bilder,
wenngleich sie kein Bild war. Sie enthielt sicher nicht die Gie-
setzestafeln, die ja nicht hätten im Dunkel verborgen, sondern
öffentlich ausgestellt werden müssen, vielleicht aber einen heiligen
Stein. Sicher war sie eine sinnenfällige Repräsentation Jahves.
Derselbe wurde geradezu damit verselbigt, so daß man z. B. in
l.Sam. 4— 6 nie sagen kann, ob er das Subjekt der Aussage i.^t
oder die Lade; es wird kein unterschied gemacht.
Wenn endlich der moralische Grundcharakter des Wesens der
Gottheit als mosaisches Erbe des alten Israel betrachtet wird, so
') Das Stierbild ist dem Baal eigen imd auf Jahve nicht eher iil)ertragen,
als ]>is die Israeliten sich in Palästina niedergelassen hatten. Der Urheber
des in Exod. 32 geraeinten goldenen Stieres ist König .Jerobeara I gewesen-
Mit der Schlange steht es insofern anders, als die Möglichkeit ihrer aUen und
echten Beziehung zu .Jahve nicht in Abrede gestellt werden kann. Indessen
da die eherne Schlange in geschichtlicher Zeit — gleichzeitig mit oder nach
der Lade? — im jerusalemischen Tempel stand und verehrt wurde, gradeso
wie der goldene Stier im Tempel von Bethel, so ist doch ihre Zuriickfmiruug
auf Moses, weil sie sich so leicht ergab (denn den Patriarchen wird die Er-
richtung von künstlichen Bildern nicht zugeschrieben), großem Zweifel unter-
worfen, der dadurch noch verstärkt wird, daß, während die Lade in der frühesten
Geschichte eine große Rolle spielt, von der Schlange, die Moses gemacht
haben soll, seitdem nie wieder die Rede ist, bis wir erfahren, daß König
Hizkia sie abgetan habe. Der Unterschied, der im Pentateuch zwischen Stier
und Schlange gemacht wird, daß jener abgöttisch, diese göttlich gewesen sein
soll, liegt liandgreiflich nicht in der Sache, sondern in verschiedenem Maß
der Beurteilung. Man hat zu bedenken, daß der Stier in Bethel, die Schlange
aber in .Jerusalem sich befand. Hizkia betrachtete auch die letztere als Idol.
Den Stier nennt der Prophet Ilosea spottendcrweise das Kalb, und diese Be-
zeichnung hat sich eingebürgert. Aus seiaer Äußerung „in Splitter geht das
Kalb von Samaria" geht hervor, daß das goldene Bild einen Holzkern hatte.
Wellhausen, Lsr. Ge^^chichte. .'».Aufl. o
34 Zweites Kapitel.
geschieht auch das nur mit sehr beschränktein IJechte. unsere
Begriffe von Moral wenigstens müssen wir fernhalten. Jahve
billigte Perfulie und Grausamkeit gegen die Feinde Israels; gut
war in seineu Augen das, was Israel frommte. Das lehren die
Erzählungen über die Eroberung Kanaans, über die Taten der
Richter und der Könige, und selbst über die der älteren Pro-
pheten. Wie kann man die von Elisa angestiftete Ausrottung des
Hauses Omri mit den Zehn Geboten vereinbaren! Das Deboralied
lehrt den ursprünglichen Geist der israelitischen Religion kennen,
nicht der Dekalog. Mit einem Grundgesetz, dessen Sinn ist, die
individuelle Moral sei die religiöse Forderung, hat Jahve sicherlich
nicht angefangen.
Es führt zu wunderlichen Konsequenzen, wenn man Moses als
den Stifter des Monotheismus ansieht. Er hat dann plötzlich eine
ganz neue Religion eingeführt, die wahrscheinlich den Spekulationen
gebildeter ägyptischer oder babylonischer Priester entlehnt war.
Für die „gemeinen" Israeliten war dieselbe viel zu hoch, sie hatten
einen natürlichen Widerwillen dagegen und eine entschiedene
Neigung zum Heidentum. Um sie wenigstens äußerlich bei Jahve
festzuhalten, dazu diente die auf den Kultus gegründete Theokratie,
eine Art geistlicher Zvvangsanstalt ^). A^'oher stammte denn die
Gewalt, um sie in diese Zwangsanstalt zu stecken, um ihnen diese
eigentlich völlig esoterische Religion aufzupfropfen! Wie war es
') In dieser Auffassung stimmen sachlich — trotz verschiedener Ausdnicks-
weise — Orthodoxie und Rationalismus im ganzen zusammen; es macht keinen
grollen rnterschied, ob der Monotheismus aus Ägypten, wo er nicht zu finden
ist, oder, immerhin etwas vernünftiger, aus dem Bimmel imjiortirt wird.
Kuenen führt einen bezeichnenden Satz aus Comte (cours de philosophie positive
3 ed. 5, 206) an: la petite theocratie juive, derivation accessoire de
la theocratie egyptienne et peut-etre anssi chaldeenne, d'oü eile emanait tres-
probablement par une sorte de colonisatiou exccptionnelle de la caste sacer-
dotale, dont les classes superieures, des longtemps parvenues au monotheisme
]iar leur propre developpement mental, ont pu etre conduites ä instituer, ä
titre d'asile ou d'essai, une colonie pleinement monotheique, oü, malgre l'anti-
pathie permanente de la population inferieure contre un etablissement aussi
premature, le monotheisme a du cependant couserver une existence penible,
mais pure et avouee, du moins apres avoir consenti ä perdrc la majeure parlie
de ses ölus ])ar la celebre Separation des dix tribus. — Natürlich darf man
nicht jeden ägyptischen Einfluß bestreiten. Moses und Phinehas führen un-
zweifelhaft ägytisclie Namen, beide gehören zu dem Priestei-geschlecht, unter
dessen Obhut die heilige Lade stand.
Die Aufäuge des Volkes. 35
möglich, den etwa aus Ägypten entlehnten Weltgott auf eine ganz
äußerliche und künstliche Weise zum israelitischen Yolksgott zu
machen! Wir haben gesehen, daß es eine Theokratie als geist-
liche Anstalt im alten Israel nicht gegeben hat und daß Jahve
auf (his allerinnigste mit der Nation verwachsen war. Er war ihr
Stolz, sie hatten nicht die stete Neigung, ihm zu widerstreben.
Sobald die Idee Israels ins Spiel kam, war er der einzige Gott;
aber es vertrug sich mit seiner Souveränetät, zu glauben, daß es
auch andere, auf ihrem Gebiet anbetungswürdige Götter neben ihm
gäbe. Als Weltgott hätte Jahve niemals ein „partikularistischer"
Gott werden können. Er war vielmehr von Haus aus der Gott
Israels und wurde dann sehr viel später der universale Gott; auf
geschichtlichem Wege, infolge des Untergangs der Nation. Mit
einem „geläuterten" Gottesbegriflf hätte Moses den Israeliten einen
Stein statt des Brotes gegeben; höchst wahrscheinlich ließ er sie
über das Wesen Jahves an sich, abgesehen von seiner Beziehung
zu den Menschen, denken, was ihre Väter darüber gedacht hatten.
Mit theoretischen Wahrheiten, nach denen nicht die mindeste
Nachfrage war, befaßte er sich nicht, sondern mit praktischen
Fragen, die bestimmt und notwendig durch die Zeit gestellt wur-
den. Jahve der Gott Israels bedeutete also nicht, daß der
allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden vorerst nur mit
diesem einen Volke einen Bund geschlossen hätte zu seiner Er-
kenntnis und Verehrung. Er bedeutete, wie wir gesehen haben,
nur, daß die nationalen Aufgaben, innere und äußere, als heilige
erfaßt wurden.
Die israelitische Beligion hat sich aus dem Heidentum erst
allmählich emporgearbeitet; das eben ist der Inhalt ihrer Ge-
schichte. Sie hat nicht mit einem absolut neuen Anfange be-
gonnen. Doch hat sie bei einem Punkte angesetzt, an den eine
fruchtbare Entwicklung sich anknüpfen konnte. Durch die Be-
ziehungen auf die Angelegenheiten der Nation wurde der Gottes-
begriff nach und nach moralisirt. Jahve ging zwar nicht sofort auf
in zielbewußtem Wollen; ein dunkles, unheimliches Grundelement
seiner Natürlichkeit blieb zurück. Aber es trat doch in der Vor-
stellung sehr zurück hinter seinem Walten in einem bestimmten
Menschenkreise; sein Wesen füllte sich mit einem neuen Inhalte,
welcher der moralischen Welt entnommen war, deren Ziele er zu
den seinigen machte.
36 Drittes Kapitel.
Die Religion beteiligte nicht das Volk am Leben der Gottheit,
sondern die Gottheit am Leben des Volkes. Sie war nicht fest-
gebannt und verknöcherte nicht in einem unfruchtbaren Zauber-
kreise, sie hatte praktische Aufgaben, sie war die treibende Kraft
der Geschichte. Jahve wuchs heran im Kampfe. Er hatte zu
kämpfen, um im Innern die Stämme und Geschlechter der Einheit
eines Gemeinwesens zu unterwerfen und zugleich ihre alte religiöse
Bedeutung zu beseitigen: es hat Mühe gekostet, ehe der Dienst des
Volksgottes alle privaten Dienste verdrängte und ersetzte. Er
hatte zu kämpfen, um die von außen neu zutretenden Einflüsse
fremder Ivultur zu bewältigen. Im Gegensatze gegen die kanaani-
tischen Naturgötter ist er erst wahrhaft zum Gott des Rechts und
der Gerechtigkeit, und von da aus, als die Assyrer Israel ver-
nichteten, zum Weltgott geworden. So war er in der Tat ein
lebendiger Gott, und seine Religion eine fortschreitende Religion.
Es gab zwar Einrichtungen, welche für Stabilität sorgten und den
Zusammenhang mit der Vergangenheit wahrten. Aber sie ließen
Raum für den schöpferischen Geist, der in der freien Tat und dem
gesprochenen Worte ungewöhnlicher Individuen sich offenbarte. Das
göttliche Recht der Männer des Geistes wurde anerkannt — und
Jahve ließ es nicht an solchen Männern fehlen.
Warum die israelitische Geschichte von einem annähernd
gleichen Anfange aus zu einem ganz andern Endergebnis geführt
hat als etwa die moabitische, läßt sich schließlich nicht erklären.
Wol aber läßt sich eine Reihe von Übergängen beschreiben, in
denen der Weg vom Heidentum bis zum vernünftigen Gottesdienst
im Geist und in der Wahrheit, zurückgelegt wurde. Das soll
in der folgenden Darstellung etwas ausführlicher geschehen, als es
in den vorhin gemachten andeutenden Bemerkungen möglich war ').
Drittes Kapitel.
Die Ansiedlung in Palästina.
1. Das nördliche Moab genügte den Israeliten nicht auf die
Dauer, und die Zersplitterung der Kanaaniten westlich des Jordans
') Es sei hier bemerkt, daß ich für die folgende Darstellung- die P^r-
gebnisse meiner kritischen Uutei'suchnngen über die historischen Bücher des
Die Ansiedhiug iu Palästina. 37
in uneudlich viele 8tädte und Reiche lockte sie zum Einbruch.
Den ersten Versuch machte Juda, im Verein mit Simeon und Levi,
aber er gelang nicht gut. Simeon und Levi wurden gänzlich auf-
gerieben; Juda behauptete sich zwar in dem Berglande westlich
vom Toten Meere, erlitt aber gleichfalls sehr schwere Verluste, die
erst durch den Zutritt gewisser kainitischer Geschlechter des Negeb
wieder ersetzt wurden ').
Infolge dieser Ereignisse trat nun anstatt der alten Teilung
des Volkes in Lea und Rahel eine andere ein, die in Israel und
Juda. Israel umfalöte sämtliche Stämme außer Simeon, Levi und
Juda; die letzteren kommen schon im Liede der Debora nicht
mehr als dazu gehörig in Betracht, wo die anderen mit absicht-
licher Vollständigkeit gemustert werden.
Der halb fehlgeschlagenen ersten Einwanderung in den Westen
folgte eine mächtigere zweite, die weit besseren Erfolg hatte.
An ihrer Spitze stand der Stamm Joseph, dem sich die übrigen
Stämme anschlössen; nur Kuben und Gad blieben in den alten
Sitzen zurück. Zunächst ward die Gegend nördlich von Juda in
Angriff genommen, wo später Benjamin Avohnte. Erst nachdem
mehrere Städte dieses Gebietes einzeln in die Hände der Eroberer
gefallen waren, setzten ihnen die Kauaauiten gemeinsamen AVider-
stand entgegen. Aber in der Nähe von Gibeon wurden sie von
Josua auf das Haupt geschlagen. Der Sieg machte die Israeliten
zu Herren des mittelpalästinischeu Gebirges. Das bis dahin bei-
behaltene erste Lager bei Gilgal, an der Jordanfurt, wurde nun
aufgehoben, die Lade Jahves wanderte weiter landeinwärts und
machte endlich in Silo Halt. Hier war fortab das Standquartier,
VI einer Position wie gescluilfen zu Ausfällen iu die nördlich
darunter liegende fruchtbare Landschaft. In dem bis dahin ge-
wonnenen Gebiete ließen sich die Bne Rahel nieder, zunächst der
judäischen Grenze Benjamin"), dann Ephraim bis über Silo hinaus,
und am weitesten nördlich, bis zur Ebene Jezreel, Manasse. Der
Schwerpunkt der Bne Rahel und damit des gesamten eigentlichen
Israels lag schon damals in Ephraim; in dem Gebiet dieses
Alteu Testaments (in der Komposition des Iloxateuchs nud iu den Prolegomena)
im allgemeinen voraussetze.
^) Kompos. d. Ilex. p. 208s. 321. Prol. p. UOss. Gen. 38. 1 Chr. 2.
^) d. i. der Südstamm, vom Standpunkte Josephs aus. Das Gentile lautet
Je mini ^ der Südliche.
38 Drittes Kapitel.
Stammes hg Silo, der Ort, wo die J^iide stand, und nicht weit
davon Gibeath Phiuelias, wo das älteste und vornehmste israelitische
Priestergeschlocht seinen Landbesitz hatte, ebendort Thimnat Ileres,
wo sich Josua ansiedelte, der ja auch von Geburt ein Ephraimit
war. Der Name Ephraim für den Stamm ist indessen erst späteren
Ursprungs, eigentlich hieß so die Landschaft und zwar weit über
die Grenze des Stammes hinaus.
Als letzte Tat Josuas wird berichtet, daß er den König Jabin
von Hasor und die mit ihm verbundenen Fürsten Galiläas an der
Quelle von Maren geschlagen und dadurch den Norden für die
Ansiedlung geöft'net habe. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß erst
ein großer Schlag mit vereinter Kraft gegen die Kanaaniten des
Nordens geführt werden mußte, ehe die Ansiedlung erfolgen konnte.
Der König Jabin von Hasor lebt allerdings später noch einmal
wieder auf, aber au einer Stelle, wohin er nicht gehört.
Die Israeliten unterwarfen die ältere Bevölkerung nicht syste-
matisch, sondern schoben sich zwischen sie ein. Hernach gehörte
noch immer eine zähe Arbeit der einzelnen Kreise dazu, um an
dem bestimmten Fleck, wo sie sich eingenistet hatten, Wurzel zu
fassen. Die Ansiedlung war weiter nichts als eine Fortsetzung des
Kampfes im kleinen, nachdem nur die erste grobe Vorarbeit durch
gemeinsame Anstrengung getan war. Von einer vollständigen Er-
oberung des Landes war keine Eede. Die Ebene an der Küste
wurde kaum in Angriff genommen, auch das Tal Jezreel, mit dem
Gürtel fester Städte von Akko bis Bethsean, blieb größtenteils
unangetastet. Gewonnen wurde besonders das Bergland, nament-
lich das südlichere, das Gebirge Ephraim; doch blieben auch hier
nicht wenige Städte im Besitz der Kanaaniten, wie Jerusalem, Sichenij
Thebes. Es dauerte Jahrhunderte, bis die Lücken ausgefüllt oder
die kanaanitischen Enklaven zinsbar gemacht wurden.
Der großen Zersplitterung ihrer Feinde hatten es die Israeliten
zu danken, daß sie ohne viel Kunst zu einem vorläufigen Ziele
gelangten. Verhältnismäßig rasch legte sich der erste Sturm; Er-
oberer und Unterworfene lel)ten sich in die neuen Verhältnisse ein.
Da sammelten sich die Kanaaniten noch einmal zu einem Rück-
schläge. Unter der Hegemonie Siseras^) kam ein großes Bündnis
ihrer Könige zu stände, die Ebene Jezreel war der Mittelpunkt
') Der Name klingt uusemitisch, er könnte helhitisch sein.
Die Ausietlluiig iu PiiUistiua. 39
ihrer neu sich bildenden Macht, von hier aus machten sie Streif-
züge nach Norden und nach Süden. Merkwürdig, wie wenig die
Israeliten sich dagegen zu helfen wußten; kein Schild und Speer
schien sich zu linden unter vierzigtauseiid streitbaren Männern.
Endlich brachte ein Impuls von oben Seele und Bewegung in die
träge Masse, Diesmal ging er von einem Weibe aus, von der
Seherin Debora. Sie gehörte dem Stamme Issachar an, der in
der Ebene Jezreel wohnte und wol am meisten von den Kanaaniten
zu leiden hatte. Es gelang ihr, die Häuptlinge von Issachar, vor
allem den Barak ben Abinoam, zu einer Erhebung zu ermutigen.
Dann wurden auch die übrigen Stämme beschickt; aber nur die-
jenigen, die zu beiden Seiten der Ebene im Gebirge wohnten,
leisteten Hilfe. Von Süden' sandten Ephraim und ^lanasso und
Benjamin, von Norden Zebuion und Naphthali ihre Scharen zu
Tal. Sisera und seine Bundesgenossen hatten ihre Macht bei
Thaanach und Megiddo, östlich von Karmel, zusammengezogen;
dort griffen die israelitischen Bauern sie an. Barak führte sie an,
Debora sang ihnen das Lied. Dem Ungestüm des Fußvolks Jahves
vermochten die Feinde mit ihren Rossen und Wagen nicht zu
widerstehn, sie jagten in wildem Schrecken davon. Aber der
liegen und der angeschwollene Bach Kison hinderten ihre Flucht.
Sisera verließ seinen Wagen, um zu Fuß zu entlaufen; an einem
Ilirtenzelt vorüberkoramend bat er die Frau darin um einen Trunk
Wasser. Sie reichte ihm Milch in einer schönen Schale und
machte ihn so der Gastfreundschaft sicher. . Während er aber
sorglos vor ihr stand und gierig trank, führte sie mit einem
schweren Hammer einen Schlag auf seine Schläfe, so daß er zu-
sammenbrach und tot zu ihren Füßen niederfiel. Diese Frau hieß
Jael und war keine Hebräerin, sondern gehörte einem kainitischen
Geschlechte an, das in dieser Gegend weidete. Im übrigen scheint
doch ein großer Teil der Flüchtigen glücklich entkommen zu sein;
es ward ein Fluch ausgesprochen über die Bewohner von Meroz,
weil sie auf der Verfolgung nicht "herbeikamen, um Jahve zu
helfen. Der Residenz Siseras drohte offenbar keine Gefahr, die
festen Städte in der Ebene Jezreel verblieben auch fürderhin im
Besitze der Kanaaniten, und der Stamm Issachar selber geriet
nachmals unter ihre Botmäßigkeit: er gab seine starken Knochen
zum Lasttragen her wie ein Esel und ward zum zinsl)aren Knecht.
Aber eine Gefahr für Israel wurden die Kanaaniten nicht w'ieder;
40 Drittes Ka|>itel.
oder wenn sie es wurden, so wurden sie es als Freuude, nicht als
Feinde.
Die Aufregung der Sieger über ihren Sieg ist verewigt in dem
Deboraliede, dem frühesten Denkmal der hebräischen Literatur.
Es wirft einen hellen Schein auch über die allgemeine politische
und geistige Beschaffenheit des damaligen Israels. Von Issachar
ergeht ein Aufruf an die Stämme hüben und drüben; sie siud
mehr oder weniger bereit zur Hilfe. Es ist etwas Außerordent-
liches, daß sie sich zusammentun, und sie tun es nur zu einem
vorübergehenden Zweck. Wenn die Not gewandt ist, gehn sie
wieder aus einander, sie sind nur moralisch verpflichtet, im Be-
dürfnisfall einander zu helfen. Israel ist kein Organismus, zu
dessen regelmäßigen Funktionen etwa die Kriegführung gehörte;
Israel ist nur eine Idee. Und Israel als Idee ist gleichbedeutend
mit Jahve; nur daß Jahve mehr ist als eine Idee und dem Wunsche
die Macht zur Verfügung stellen kann: die regengebenden Gestirne
und der angeschwollene Bach Kison kämpfen auf sein Geheiß
gegen Sisera. In dem Enthusiasmus des Heeres wird Jahves Gegen-
wart verspürt, der Geist, der die Menge fortreißt, ist der Geist
ihres göttlichen Führers. Wer nicht zur Hilfe Jahves kommt, wer
sich dem Strome entgegensetzt, verfällt der Acht. Aus der Bot-
schaft Jahves, welche den Fluch über Meroz ausspricht, schallt
vernehmlich die Stimme des Volkes; zur Hilfe Jahves bedeutet
zur Hilfe Israels. Der Krieg ist heilig und heiligt seine Mittel,
Grausamkeit und Tücke; der Haß Israels, der sich nicht sowol
gegen die Kanaaniter selber, als gegen ihre Könige, ihre liosse
und Wagen richtet, ist der Haß Jahves; die leidenschaftliche
Wonne befriedigter Ivache, das Schwelgen im Spott über den un-
verhoirten Ausgang Siseras sind legitime, sind religiöse Emplin-
dungen, die Jahve billigt und teilt. So formlos, so vielfach unver-
ständlich das Lied ist — der Augenblick, die Stimmung des Augen-
blicks, welche mit übermenschlicher Gewalt alle Gemüter gefangen
nimmt, ist darin auf unnachahmliche W^eise festgehalten. Trium-
phirend spricht sich darin das glückliche Zutrauen aus, womit ein
jugendliches Volk in den großen absichtslosen Momenten seiner Ge-
schichte, in denen sein Gesamtgeist aus der Tiefe aufschauert, die
Gottheit vor sich her schreiten sieht, durch sich hin rauschen hört.
Noch nach diesen Tagen gingen einige fundamentale Ver-
änderungen in den Wohnsitzen und dem gegenseitigen A^erhältnis
Die Ansiedlimg iu Pulästiua. 41
der Stämme vor. Die Daniten vermochten ihr Gebiet an der
Küste, westlich von Benjamin und Ephraim, gegen die nordwärts
vordringenden Philister nicht zu halten ^). Um ihre Freiheit und
Selbständigkeit zu behaupten, faßten sie den Entschluß, sich eine
neue Heimat zu suchen. Oben im Norden des Landes, am Fuß
des Hermon, hatten ihre Kundschafter ein schönes Tal entdeckt,
mitten unter den Gebirgen versteckt, wo an der Jordanquello die
Stadt Lais lag. Die Einsassen waren friedliche Leute, die für sich
lebten und mit keinem größeren Gemeinwesen in Verbindung
standen. Dorthin begab sich der Stamm, aus dem Kriegslager, in
das er zusammengedrängt war, auf die Wanderung. Weiber,
Kinder und Troß zogen voran, es folgten die Krieger, nur sechs-
hundert Mann, aber trotzige, verzweifelte Gesellen. Im tiefsten
Frieden überfielen sie die nichtsahnenden Bewohner von Lais und
machten sie nieder; kein Hund und kein Hahn krähte darnach.
J)arauf richteten sie- sich häuslich in der eroberten Stadt ein und
nannten sie nach ihrem Vater Dan. Auch einen Tempel Jahves
gründeten sie darin, wol an der Stelle eines alten Baaltempels an
der Jordansquelle. Priester und Gottesliild dazu hatten sie schon
mitgebracht. Als sie nämlich unterwegs auf dem Gebirge Ephraim
an dem neu errichteten Gotteshause eines gewissen Micha vorbei-
kamen, raubten sie das Ephod nebst Zubehör daraus untl nahmen
auch den Hüter mit, Jonathan bcn Gersom, den Enkel Moses:
dessen Nachkommen behielten das Priestertum an dem nachmals
weitberühmten Heiligtume Jahves zu Dan") bis zur Auflösung des
israelitischen Reichs durch die Assyrer.
Auf diese Weise saßen nun die westjordanischen Kebsstämme,
Äser Naphthali Dan, alle bei einander in der Nordmark des Landes.
Im Ostjordanlandc sank Kuben rasch von seiner alten Höhe, er
teilte das Schicksal seiner nächstältesten Brüder Simeon und Levi.
Wenn Eglon von Moab Benjamin zinsbar machte, so mußte vorher
schon das Gebiet Rubens in seiner Hand sein. Dies Gebiet blieb
seitdem ein beständiger Zankapfel zwischen Moab und Israel; aber
') Über Simsou, den Richter von Dan und Feind der Piiilister s. die
Komposition des Ilexateuchs (1899) p. 225. Der Spruch Geu. 49, 1(! kann sich
nicht auf ihn beziehen.
-) Smeud vermutet mit Recht, daß für h'schilo Jud. 18, ol zu lesen
sei b'Iaischa (in Lais = Dan).
42 Drittes Kapitel.
nicht von Rüben gingen die Versuche es wiederzugewinnen aus,
sondern von Gad. Xach Gen. 49 sah sich Gad rings von Feinden
umgeben, wußte sich ihrer aber zu erwehren. Nicht bloß mit den
Moabiten hatte er zu kämpfen, sondern auch mit den Ammoniten.
Vorzugsweise aber bedrängten die Ammoniten den Stamm Gilead,
der nördlich vom Jabbok wohnte^). Noch weiter nördlich, in
Bnsan, saßen manassitische Geschlechter, denen die Heimat zu eng
geworden war; an ihnen blieb nachmals der alte Name Makir
haften, der im Deboraliede für Gesamtmanasse westlich des Jordans
gebraucht w'ird. Daß die Kolonisirung Basans durch Manasse erst
geraume Zeit nach dem Einbruch Israels in Kanaan geschah, wissen
wir genau; aber auch Gad und Gilead scheinen erst später im
Ostjordanland emporgekommen und von Bedeutung geworden zu
sein. Was also die Hebräer dort im Süden etwa an Terrain ver-
loren hatten, brachten sie im Norden reichlich wieder ein. Sie
hatten dort freilich außer mit der Feindschaft der Ammoniten auch
mit der Konkurrenz der Aramäer zu tun, die gleichfalls erobernd
vordrangen.
2. Die alte Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen,
war den Israeliten leicht geworden; eine neue zu gründen, wurde
ihnen schwer. Den Zwischenzustand wußten die Kinder der "Wüste
auszunützen; die unsicheren bewegten Zeiten waren dazu angetan,
ihnen das Kulturland zur Beute zu machen. Midianiten werden
sie genannt, es war aber ein bunter Haufe, verschieden von den
weidenden Stämmen der Sinaihalbinsel, zu denen die Israeliten
selbst gehört hatten; sie machen gleichzeitig, wie es scheint, auch
den Edomiten und Moabiten zu schaffen (Gen. 36, 35). Es waren
keine Schafhirten, sondern richtige ruhelose Kamelnomaden; sie
fielen nicht ein, um zu erobern und sich niederzulassen, sondern
um Beute zu machen und damit das ^Veite zu suchen. Alljährlich
um die Erntezeit kamen sie mit ihren Zelten und Kamelen und
fraßen das Land kahl wie ein Heuschreckenschwarm. Von der
Wüste zogen sie am Jabbok herunter und ergossen sich dann durch
das Tal von Bethsean in die Ebene Jezreel und weiter nach Süd-
westen über Dothan in das Küstenland, vorzugsweise die offenere
Gegend heimsuchend, die auch die ergiebigste Beute lieferte. Am
^) Über Jephtah, den Richter Gileads, s. d. Komiiositiou des Hexat. 181)9
p. 224.
Die Aiisiedhmg in Palästina. 43
meisten hatte die Ebene Jezreel mit dem im Süden und Norden
daran grenzenden niedrigen Ilügellande von ihnen zu leiden.
Es mußte sich jetzt zeigen, ob die Israeliten mit Recht Herren
des Landes waren, welches sie den Kanaaniten abgenommen hatten,
ob sie die Kraft hatten, es gegen diese Räuber zu schützen. Zu-
nächst hatte es nicht den Anschein. Sie waren den schnellen
Kamelreitern gegenüber hilflos; jeder Bauer sorgte für sich selber,
um seine Ernte so gut es ging in irgend einem Schlupfwinkel zu
bergen. Aber endlich ward dem Faß der Boden ausgeschlagen.
Auf einem ihrer Raubzüge hatten zwei Häuptlinge der Midianiten
einige vornehme Gefangene auf dem Thabor geopfert, dem heiligen
Berge, der von Norden auf die Ebene Jezreel herabschaut. Die
Getöteten gehörten zu dem Geschlechte Abiezer von Manasse, wel-
ches in Ophra, im Süden der Ebene, seinen Mittelpunkt hatte.
Wie nun ihr Bruder Jerubbaal ben Joas erfuhr, was ihnen geschehen
war, bot er das Geschlecht zur Rache auf und eilte mit dreihundert
Mann von Abiezer über den Jordan, den Jabbok hinauf, hinter
den Midianiten her, die inzwischen mit ihrem Raube auf- und
davongegangen waren. Er überfiel sie am Rande der Wüste, wo
sie sich sorglos gelagert hatten, um die Beuteteilung zu feiern.
Nach Nomadenart wehrten sie sich nicht lange, sondern suchten
nur mit dem Raube zu entkommen. Auch die beiden Häuptlinge
(lohen, aber Jerubbaal, der es eben auf sie abgesehen hatte, ruhte
nicht in der rastlosen Verfolgung, bis er sie gefaßt hatte. Dann
kehrte er um und züchtigte unterwegs zwei Städte im Jabboktal,
die ihm auf dem Hinwege kein Brot für seine erschöpften Leute
hatten geben wollen. Zu Hause angelangt, hielt er Gericht über
seine beiden Gefangenen. Weil er mit eigener Hand an den A\'ehr-
losen die Rache zu nehmen sich scheute, so übergab er die Pflicht
ihrem Erben, seinem Erstgeborenen Jether. Der fürchtete sich
al)er, das Schwert zu ziehen, denn er war noch ein Knabe. Da
forderten die Gefangenen ihn auf, selber den Streich zu führen,
und er tat es.
Es scheint, daß die Midianiten noch einmal wiederkamen.
An der Stelle, wo die Ebene Jezreel östlich zu dem nach Bethsean
herabführenden Tale sich verengt, hatten sie ihr Lager aufgeschlagen;
dort überfiel sie Jerubbaal mit seinen Abiezriten und zersprengte
sie. Sie flohen dem Jordan zu, aber, inzwischen war der Land-
sturm aufgeboten und die Männer von Ephraim hatten die Furten
44 Drittes Kapitel.
des Jordans besetzt. Dadurch erst wurde den Nomaden der ver-
nichtende Schhig beigebracht; am stärksten war das Würgen in
der Nähe eines Felsen am Jordan, welcher der Rabenstein genannt
ward. Der Erfolg machte die Ephraimiten ül)ermütig. Sie machten
dem Jerubbaal zornige Vorwürfe, warum er sie nicht gleich anfaugs
gerufen habe, als er in den Kampf gezogen sei. Aber er ant-
wortete ihnen: was habe ich denn jetzt getan im Vergleich zu euch?
ist nicht die Nachlese Ephraims besser als die Ernte Abiezers?
Da legte sich ihre Hitze, als er so redete.
Ursprünglich hatte Jerubbaal aus einem rein persönlichen Be-
weggrunde gehandelt-, die Pflicht der Blutrache, die ernsteste und
heiligste die es gab, hatte ihn in den Kampf getrieben. Aber der
Erfolg seiner Tat ging weit über die Absicht hinaus, in der sie
unternommen war; und er selber wuchs mit dem Erfolge. Er
wurde der Retter der Bauern vor den Räubern, des Ackerlandes
vor der Wüste. In seiner Stadt Ophra, wo er inmitten seines Ge-
schlechtes wohnen blieb, hielt er ein großes Haus; er nahm sich
viele AVeiber und hatte von ihnen eine Menge Kinder. Auf einem
seiner Familie gehörigen Grundstücke, wo ein heiliger Stein und
eine Terebinthe stand, stiftete er ein Gotteshaus und ein Jahvc-
bild darin, das er mit dem Golde, welches ihm als Führeranteil
von der midianitischen Beute zugefjdlen war, überzogen hatte. Er
hinterließ seinen Söhnen eine Herrschaft, welche sich nicht auf
Abiezer und Manasse beschränkte, sondern auch über Ephraim sich
erstreckte, wie lose und mittelbar sie immer sein mochte.
Auf der Grundlage, welche Jerubbaal gelegt hatte^ versuchte
sein Sohn Abimelech ein Königtum über Israel, d. h. über Ephraim
und Manasse, zu gründen. Indem er aber die Herrschaft, die sei-
nem Vater als Frucht seiner Verdienste in den Schoß gefallen
war, seinerseits für einen Raub ansah und sie auf Gewalt und
Frevel stützte, zerstörte er die gedeihlichen Anfänge, aus denen
schon damals ein Reich im Stamme Joseph hätte entstehn können.
In den Grenzen der Herrschaft Jerubbaals lagen mehrere noch
kanaanitische Städte; Sichem war die wichtigste. Die Städte
erfreuten sich einer ziemlichen Unabhängigkeit^ scheinen aber doch
die israelitische Oberhoheit anerkannt zu haben. Dem Jerubbaal
waren auch diese Kanaaniten Dank schuldig dafür, daß er die
midianitische Landplage beseitigt hatte. Er stellte sich freundlich
zu ihnen und verschwägerte sich mit einer vornehmen Familie von
Die Ansiedluiifj in Palästina. 45
.Sichern. Als er nun starb, war für die Nachfolge in der Herrschaft
nicht gesorgt, alle seine Söhne traten in das Erbe ein. Diese Un-
ordnung kam dem Abimelech zu statten, dem tatkräftigsten und
rücksichtslosesten unter ihnen. Seine Mutter war die Sichemitin,
welche Jerubbaal geheiratet hatte; durch sie hatte er zu Sichern
Beziehungen, die er sich zu nutze machte. Er gewann zunächst
die Verwandten seiner Mutter und dann auch die übrigen Siche-
miten für sich, und sie gaben ihm siebzig Silberlinge aus dem
Tempel des El Berith. Damit warb er eine Schar loser Leute,
überfiel mit ihnen die nichtsahnende Stadt Ophra und machte alle
seine Brüder, die Söhne Jerubbaals, nieder. Darauf wurde er bei
der Eiche der Masseba in Sichern zum Könige gesalbt.
So brachte er die Herrschaft in seine Gewalt, mit siebzig
Silberlingen und einer Hand voll Abenteurer. Er ward ihrer aber
nicht froh. Das Einvernehmen zwischen ihm und den Sichemiten
hielt nicht lange vor. Obwol sie ihm nichts, er ihnen viel ver-
dankte, hatten sie an ihm doch einen härteren Herrn als an sei-
nem Vater, und es konnte sie nicht trösten, daß er von ihrem
Fleisch und Blut war, denn er fühlte sich trotzdem als Israelit
und die iMänner von Israel waren seine Krieger. Olfenen Abfall
wagten sie indessen vorerst nicht, sie begannen nur eine versteckte
Fehde, indem sie durch Wegelagern die Straßen unsicher machten.
Dadurch angelockt kam nun ein Parteigänger, Goal ben Ebed, mit
seiner Schar in die Stadt und ward mit offenen Armen von den
Bürgern aufgenommen; sie konnten ihn gebrauchen und verließen
sich auf ihn. Der Mut schwoll ihnen , und als beim Feste der
Weinlese im Heiligtum ihre Köpfe erhitzt waren, fielen große
Worte; sie aßen und tranken und fluchten dem Abimelech. Goal
bestärkte sie darin, er aber schalt auch auf den Obersten der
Stadt, den mit anwesenden Zebul, der ja doch nur ein Statthalter
Abimelechs sei und kein Herz für die gemeine Sache habe. „AVäre
ich an seiner Stelle, so würde ich dem Abimelech aufkündigen
und ihm sagen: mehre dein Heer und rück an!" So sagte Goal,
um Zcbul zu verdrängen und selbst an die Spitze der Bürgerschaft
zu gelangen; er schimpfte ihn einen Diener Abimelechs, um seine
Gesinnung zu verdächtigen. Bisher hatte Zebul mit der Bewegung
sympathisirt, obgleich er es nicht zu offenem Abfall hatte kommen
lassen. Da er nun aber sah, daß ein anderer durch den Aufstand
emporgetragen wurde und ihn in seiner Stellung bedrohte, änderte
4(i Drittes Kapitel.
er seinen Kurs und traf Maßnahmen um Goal los zu werden.
Er machte Abimelech, der nicht weit von Sichern in Beth-Ruma ')
wohnte, heimlich auf sein Treiben aufmerksam und riet ihm, un-
vermutet vor der Stadt zu erscheinen. Abimelech kam; Goal,
durch Zebul bei seinen großen Worten und bei der Ehre gegriffen,
rückte ihm Schanden halber entgegen, ließ sich aber alsbald in
die Stadt zurückschlagen. Da hatte er ausgespielt, noch selbiges
Tages vertrieben ihn die Sichemiten, nachdem unter diesen Um-
ständen Zebul, seiner Rechnung gemäß, wieder Oberwasser erlangt
hatte. Damit glaubten sie zugleich den Zorn Abimelechs gesühnt
und das alte Verhältnis zu ihm hergestellt zu haben, und da er
sich wieder nach Beth-Ruma zurückzog, so gingen sie am folgenden
Tage sorglos hinaus auf das Feld an ihre Arbeit. Abimelech aber war
von Anfang an über die Vorgänge in Sichem wol unterrichtet ge-
wiesen, er wußte wie er mit Zebul und den Übrigen daran war,
und ließ sich nicht dadurch täuschen, daß sie alle Schuld auf Goal
zu wälzen suchten. Als ihm von ihrem sorglosen Gebaren Meldung
gemacht wurde, überfiel er unversehens die Stadt und eroberte sie
nach hartem Kampfe. Dann zerstörte er sie bis auf den Grund
und säte Salz auf ihre Stätte. Nicht besser erging es der Akropolis,
die am Berge Salmon lag. Die Einwohner hatten sich in eine
Krypta-), die zum Heiligtum des El Berith gehörte, geflüchtet;
Abimelech aber ließ Feuer davor anzünden, und alle Flüchtlinge,
gegen tausend, kamen um. Darauf wandte er sich gegen die süd-
östlich von Sichem belegene Stadt Thebes, die sich dem Abfall
angeschlossen haben muß. Er nahm sie ohne Mühe ein, aber die
Einwohner retteten sich in die Burg, die hier mitten in der Stadt
lag. Als nun Abimelech Anstalt machte auch diese Burg in Brand
zu setzen, warf ein Weib einen Stein von oben herab, der ihn auf
den Kopf traf. Da befahl er seinem WalYenträger ihm den Todes-
streich zu versetzen, damit es nicht heiße, ein Weib habe ihn
') In Jud. 9, 31 ist die Ansspraclie b'thonna iinriclitig; das Betli kann
nicht Piäpositiou sein, sondern mnß zum Stamm gehuren. Es liegt der Eigen-
name eines Ortes vor, des gleichen, der in v. 41 erwähnt wird, also wol
Beth-Ruma. Das erste Wort von v. 41 ist vajaschob (er kehrte zurück)
zu sprechen.
-) Zeitschrift für Assyriologie 189G p. 322. Richtig schon Renan in der
Histoire du peuple Isr. 1,333: hypogee.
Die Ansiedlung in Palästina. 47
umgebracht. Als aber die IMänner von Israel sahen, daß Abimelech
tot war, gingen sie ihrer Wege.
Er starb wie Pyrrhus, sonst erinnert er an Jehu. Ebenso wie
dieser hat er großen Eindruck gemacht und einen Erzähler ge-
funden, der Sinn für die Energie des Bösen besaß. Es war eine
Figur aus dem Holz, aus dem Könige geschnitzt werden können.
Er hatte aber die Züge des Bastards: ganz auf eigene Kraft gestellt,
ohne Pietät, feindlich gegen sein Geschlecht. Der einzige dauernde
und wichtige Erfolg seiner Tätigkeit war die Demütigung der
Kanaaniten in der Mitte des israelitischen Landes. Sichern wurde
als kanaanitische Stadt zerstört und als israelitische wieder auf-
gebaut. Das Salz hatte keine AVirkung, sehr I)ald gewann der
äußerst günstig gelegene Ort seine frühere Bedeutung wieder, und
nach dem Falle Silos wurde er der Alittelpunkt von Ephraim.
Im Üln'igen fiel mit dem Könige auch das Königtum. Ein sehr
minderwertiger Ersatz dafür war die politische Hegemonie, welche
die Priester bei der Lade Jahves in Silo eine AVeile über den
Stamm Joseph ausgeübt zu haben scheinen. Die Erinnerung
daran knüpft sich an Eli, einen Nachkommen des alten Priesters
Phinehas').
3. Der wichtigste Vorgang der Richterperiode ging im all-
gemeinen ziemlich geräuschlos vor sich, nämlich die Verschmelzung
der neuen Bevölkerung des Landes mit der alten. Die Israeliten
der Königszeit hatten eine sehr starke Beimischung kanaanitischen
Blutes, sie waren keineswegs reine Abkömmlinge derer, die einst
aus Ägypten gezogen und in der Wüste gewandert waren. An
eine Ausrottung der sämtlichen Ureinwohner zu denken, verbietet
schon die Art und Weise der Eroljerung. Von größeren Städten,
welche unbezwungen blie1)en, ist uns ein ziemliches Verzeichnis
erhalten, welches gleichwol ganz lückenhaft ist und sogar aus
-) Er ist der Erlie von dessen Priestertum und hat auch seinen Sohn
nach ihm genannt, der merkwürdige Familiennnarae würde allein genügen, um
die Yerwandlschaft zu beweisen; vgl. Prolegomena p. 138. Verwunderung muß
es erregen, daß Elis ücrkuuft nicht angegeben wird, nicht einmal sein Vater.
Es erklärt sich indessen daraus, daß der Anfang seiner Geschichte aligeschnittten
ist; s. meine Bemerkung zu 1 Sam. 1,3. — Die Gründe, warum Jephtah und
Simson nicht in eine historische Darstellung gehören, sind in der Komposition
des Hexateuchs 1899 p. 22oss. entwickelt. Über Jud. 19— 21 vgl. Komposition
]). ■229 SS. und Prolegom. p. 23Gs.
48 Drittes Kapitel.
unserer doch so ärmlichen Kunde sich vervollständigen läßt. Erst
im Laufe von zwei drei Jahrhunderten wurden diese Städte eine
nach der anderen unterworfen; unter den ersten Königen waren
immer noch etliche übrig. In einigen Fällen wurde dann wol der
Bann, die Devotio, vollstreckt und alles zur Ehre Jahves getötet
und verbrannt; oder wenigstens die Bürgerschaft niedergemacht
und die Stadt neu besiedelt, wie wir es bei Sichem gesehen
haben '). Al)er in anderen vollzog sich der Übergang in israeli-
tische Herrschaft nicht so gewaltsam; manche Städte werden kapi-
tulirt haben, dem Beispiel folgend, das zuerst Gibeon gegeben
haben soll. Dann wurde die Bürgerschaft nicht ausgetrieben, sie
mußte nur die Tore offnen und vor allen Dingen Tribut entrichten.
So geschah es bei den Städten der Ebene Jezreel. „Manasse ließ
uneingenommen Bethsean nebst Töchtern, und Thaanach nebst
Töchtern, und Jibleam nebst Töchtern; als aber Israel stark wurde,
machte es den Kanaaniten zinsbar, trieb ihn jedoch nicht aus dem
Besitze." Übrigens wurden diese Städte vielfach nicht von den-
jenigen Stämmen unterworfen, in deren Gebiet sie lagen, sondern
von anderen mächtigeren, so daß die Staramgrenzen stellenweise
kraus durcheinander gingen.
Aber auch in den Landesteilen, in deren vollen Besitz sie
früh gelangten, ließen die Eroberer die alten Insassen großenteils
ruhig unter sich wohnen. „Nicht in einem Jahre will ich sie ver-
treiben, sagt Jahve Exod. 23, damit nicht das Land eine Wüste
werde und das Wild des Feldes dir über den Kopf wachse, ganz
bei kleinem will ich sie dir fortschaffen, bis du dich mehrest und
das Land in Besitz nehmen kannst." Was hiernach Jahve selbst
gewollt und geordnet hat, wird freilich von der späteren Über-
lieferung als ein schlimmer ITngehorsam gegen seine Befehle be-
trachtet; aber auch damit wird doch eben anerkannt, daß das
angebliche Ausrottungsdokret nie vollzogen worden ist. Durch die
Bevölkerung des platten Landes empfingen die Einwanderer den
beträchtlichsten Zuwachs, und zwar gleich in der ersten Zeit ihrer
Niederlassung. Die Fellahen waren leicht zu gehorsamen LTnter-
tanen zu machen, sie waren wol schon vorher hörig gewesen und
standen ihren neuen Herren in den Lcbenscowohnheiten vielleicht
') Die Erobening Sii'liems mit Scliwert und Rogen erscheint Gen. 48, 22
als Ausualiine.
Die Ansiedliuig in Palästina. 49
näher, als ihren eigenen Landsleuten in den Städten. Natürlich
ging der Assimilirungsprozeß in den kleinsten Kreisen vor sich,
die beiden verschiedenartigen Hälften standen sich dabei nicht
kompakt gegenüber. Für die Hebräer war es ein Glück, daß sie
zuerst grade dies Element in sich aufzunehmen hatten, dessen sie
auch geistig Herr werden konnten, und daß dann die Städte, die
ihnen in mancher Hinsicht überlegen und jedenfalls weit schwerer
verdaulich waren, erst nach und nach hinzutraten, „als Israel stark
geworden." Späterhin ward nur auf die Städter, die sich noch
so lange ihre Nationalität erhalten hatten, der Name Kanaaniten
angewandt, mit dem Nebenbegriff des Händlers, während die
l)auern von ihnen unterschieden und garnicht nach ihrer Nationa-
lität, sondern nach ihrem Stande bezeichnet wurden, als Phereziten
d. h. Dörfler. Freilich verschwand das Bewußtsein nicht, daß
auch die Dörfler eigentlich zu Kanaan gehört hatten. Bhjß in
den nördlichen Marken, wo die Ureinwohner in starken Massen
sitzen geblieben waren, polarisirten sich die Gegensätze, und es
kam zu keiner rechten Überwindung des einen Elements durch das
andere.
Als die Israeliten im Lande Gosen und in der Wüste von
Kades Platz fanden und auch noch als sie im Lande Moab nörd-
lich vom Arnon wohnten, können sie kein zahlreiches Volk gewesen
sein. Im Deboraliede werden die waffenfähigen Männer auf vierzig-
tausend veranschlagt, wobei die Absicht ist eine möglichst hohe
Zahl zu nennen: unter einer solchen Menge habe sich kein Wider-
stand gegen die Bedrücker erhoben. Der Stamm Dan zählte bei
seiner Wanderung nach dem Norden sechshundert Krieger; er mag
allerdings durch die vorhergehenden Kämpfe mit den Philistern
etwas zusammengeschwunden sein. Große Verwunderung hat bei
den Späteren die Handvoll Leute erregt, womit Jerubbaal zur Ver-
folgung der iMidianiter auszog; sie versuchen die dreihundert Mann
als letzten Rest zu begreifen, auf den sein ursprünglich weit größeres
Heer herabgeschmolzen sei. In auffallendem Kontrast zu diesen
Angaben aus der Richterperiode stehn diejenigen aus der Zeit der
Könige, die im Pentateuch einen verfrühten Widerhall gefunden
haben. Hier begegnen wir immer sehr großen Zahlen, der übliche
Anschlag der Gesamtsumme scheint sechshunderttausend Streiter
zu sein, die etwa zwei bis drei Millionen Seelen entsprechen würden.
Ist nun gleich auf die Genauigkeit der Zählung durchaus kein
We 1 1 h a u s e n , Isr. Gcscbiclito. '>. Aufl. ^
50 Drittes Kapitel.
Verlaß, so steht doch die ungewöhnlich starke Vermehrung des
Volks seit der Ansiedlung in Palästina außer Zweifel. Sie w-ar die
Hauptursache, als solche von Bileam im Geiste erschaut, w^eshalb
Jakob seine älteren Brüder, Moab, Ammon und Edom, so sehr
überflügelte, denen er ursprüglich an Zahl gleich kam oder nach-
stand. Die Erklärung des Faktums liegt nicht fern ; die einverleibten
Kanaaniten liefern den Schlüssel.
Im Lande Gosen und in der Wüste können die Hebräer nur
als wandernde Hirten gelebt haben; es wird auch ausdrücklich
bezeugt, daß sie dort Schafe und Ziegen geweidet hätten. Durch
die Eroberung Palästinas wurden sie ansässig, binnen kurzem finden
wir sie völlig zu Bauern geworden. Hätten sie die alteingesessenen
Landeskinder vertilgt, so würden sie das Land zur AVüste gemacht
und sich selbst um den Gewinn der Eroberung gebracht haben.
Indem sie sie schonten und sich selber ihnen gleichsam aufpfropften,
wuchsen sie zugleich in ihre Kultur hinein. In Häuser, die sie
nicht gebaut, in Felder und Gärten, die sie nicht urbar gemacht
und angelegt hatten, nisteten sie sich ein. Überall traten sie als
glückliche Erben in den Genuß der Arbeit ihrer Vorgänger. So
vollzog sich bei ihnen eine folgenreiche innere Umwandlung; sie
wurden rasch ein sogenanntes Kulturvolk. Auch in dieser Hinsicht
kamen sie mit einem Schlage ihren Brudervölkern voraus, die zwar
viel früher ansässig geworden, aber am Rande der Wüste haften
geblieben waren und noch immer mit einem Fuß darin standen.
Diese Veränderung des Lebens zog natürlich auch ihre re-
ligiösen Folgen nach sich. Der Kultus, wie ihn die Israeliten in
der Königszeit hatten, bestand sehr wesentlich in der Feier von
Festen, an denen die Erstlinge oder der Zehnte von der Ernte
dargebracht wurden. Diesen Kultus können sie nicht aus der
Wüste mitgebracht haben, da er auf den palästinischen Garten-
und Feldbau sich gründete. Sie haben ihn von den Kanaaniten
übernommen. Dies ist um so sicherer, da sie mit den Wohnorten,
den Keltern und Tennen auch die Heiligtümer, die sogenannten
Höhen'), von jenen übernahmen. Es war schwer, von den Stätten
des Gottesdienstes die bisher dort üblich gewesenen Einrichtungen
und Bräuche abzutrennen. Nahe lag es dann ferner, daß die
Hebräer sich auch den Gott aneigneten, der von den kanaanitischen
0 Baum. Es bedeutet ursprünglich Höhe, dann Altar,
Die Ansiedluno- in Palästina. 51
Bauern als der Spender von Korn, Wein und Ol verehrt wurde,
den Baal, den die Griechen mit Dionysus gleichsetzen. Der Abfall
zum Baaldienst in der ersten Generation, welche die Wüste ver-
lassen hatte und zur Landsässigkeit übergegangen war, ist durch
die prophetische und historische Tradition gleichmäßig bezeugt^).
Zuerst gingen ohne Zweifel der Baal als Gott des Landes Kanaan
und Jahve als Gott des Volkes Israel neben einander her; im
Deboraliede wohnt Jahve noch nicht in Palästina sondern auf dem
l^erge Sinai in der Wüste und kommt von dort, wenn es nötig
ist, den Seineu zu Hilfe. Es war aber auf die Dauer unmöglich,
daß der Landesgott ein anderer sein sollte, als der Gott des herr-
schenden Volkes. In dem Maße, wie Israel mit dem eroberten
Lande verwuchs, verwuchsen auch die Gottheiten. Es entstand
dadurch eine gewisse Theokrasie, eine Mischung zwischen dem
Baal und Jahve, die noch in der Zeit des Propheten Hosea nicht
überwunden war. Indessen wurden doch mehr die Funktionen des
Baal auf Jahve übertragen als umgekehrt. Kanaan und der Baal
waren der weibliche, Israel und Jahve der männliche Teil in
dieser Ehe. Auch drang die Fusion nie so allgemein und voll-
ständig durch, daß nicht das Bewußtsein des Unterschiedes sich
erhielt und ab und zu in weiteren Kreisen lebendig wurde. So
entstand gleich anfangs jene merkwürdige Spannung zwischen zwei
') Hierein. 2, 1 — 8. Osee 2,16s. 9,10. Num. 25, 3: mit dem Übergänge
von der Wüste iu das Fruchtland beginnt sofort der Abfall, die Gaben des
Dionysus ziehen den Kult des Dionysus nach sich; darum ist Baalpheor für
die prophetische Geschichtsbetrachtung von entscheidender Bedeutung. Baal
ist zunächst Appellativ. (Daß häufig ein Ortsname im Genitiv dahinter steht,
ist freilich kein Beweis dafür, da das sich auch bei göttlichen Eigennamen
findet; im Arabischen entspricht dem Baal nicht dhu, sondern rabb). Dann
aber wird es, wie El, auch als Eigenname (z. B. in .Jerubbaal) gebraucht für
einen Gott, der dem griechischen Dionysus nah verwandt ist. Von Haus ist
allerdings der Baal gewiß wie der Pan ein Gott der fruchtbaren Wildnis, des
Hains, der Wiese und des Quells, gewesen; ein Gott der Kultur ist er erst
hernach geworden, genau so wie der arabische Dusares. Die dem Baal ziu-
Seite stehende Astarte führt einen richtigen, gänzlich undurchsichtigen Eigen-
namen. Es ist der einzige Eigenname einer großen Gottheit, der allen
Semiten gemeinsam ist; er findet sich bei Babyloniern und Assyrern, Kanaaniten
und Moabiten, Süd- und Nordarabern, und auch bei den Abessiniern (Zeitschr.
d. D. Morgcnl. Ges. 1894 p. 377). Den Israeliten wurde die Astarte keine so
große Gefahr wie der Baal, vielleicht, weil sie als W^eib mit .Jahve nicht kon-
fiuidirt werden konnte.
4*
o2 Viertes Kapitel.
Polen, die den ganzen weiteren Verlauf der israelitischen Religions-
geschichte beherrscht. Siö veränderte freilich mit der Zeit ihren
ursprünglichen Charakter sehr stark. Der natürliche Gegensatz der
Volksindividualitäten vergeistigte sich, der Kampf zwischen Jahve
und dem Baal bedeutete schließlich sehr viel mehr als den Kampf
zwischen Israel und Kanaan.
Wären die Israeliten in der Wüste und in der Barbarei ver-
blieben, so wäre schwerlich ihre folgende geschichtliche Entwick-
lung möglich gewesen; sie wären geworden wie Amalek, oder
höchstens wie Edom Moab und Ammon. Die Aufnahme der
Kultur war ein* unzweifelhafter Fortschritt; aber ebenso auch eine
unzweifelhafte Gefahr. Sie brachte eine gewisse Überladung an
Stolf mit sich, der nicht sogleich assimilirt werden konnte. Das
religiöse Gemeinbewußtsein der Nation drohte durch die sich auf-
drängenden Aufgaben des gemeinen Lebens erstickt zu werden.
Der kriegerische Bund der Stämme zerfiel unter den friedlichen
Verhältnissen, die Ansiedlung zerstreute die durch das Lager- und
Wanderleben Geeinigten. Der enthusiastische Aufschwung, wodurch
die Eroberung geglückt war, wich der trivialen Arbeit, wodurch
die einzelnen Familien, jede in ihrem Kreise, sich in die neuen
Verhältnisse einbürgern mußten. Doch unter der Asche blieben
die Kohlen glühen; sie zu entfachen war die Geschichte das Mittel.
Sie machte fühlbar, daß der IMensch nicht allein von Brot und
Wein lebt und daß es noch andere Güter gibt als die Baalsgaben;
sie brachte den heroischen Gott der Aufopferung der Person für
das Ganze wieder zu Ehren.
Viertes Kapitel.
Die Gründung des Reiches und die drei ersten Könige.
1. Die Philister weckten Israel und Jahve aus dem Schlummer.
Sie wohnten in der Niederung am Meere, welche dem Gebirge Juda
westlich vorgelagert ist. Wie die Aramäer und Israeliten, mit
denen sie der Prophet Amos zusammengestellt, waren sie erst in
historischer Zeit in das Land Kanaan eingewandert. Von den
unterworfenen L^rbewohncrn hatten sie Sprache und Religion (Dagon,
Die Gründung des Reiches und die drei ersten Könige. 53
Astarte) angenommen, jedoch nicht die Beschneidung. tTrsprünglich
gehörten sie nicht zu der semitischen, sondern wol zu der Idein-
asiatischen Völkergruppe, ähnlich wie die herrschende Schicht bei
den Ilethiten. Sie scheinen sich selber Kreth genannt zu haben;
so heißen sie bei dem Propheten Sephania und daher trägt noch
in späten Zeiten der Ilauptgott ihrer wichtigsten Stadt den Bei-
namen Kretagenes ^). Ihr Land war eine großenteils fruchtbare
Niederung und zum Getreidebau wol geeignet. Indessen scheinen
sie doch wesentlich ein Stadt- und Handelsvolk gewesen zu sein.
Von dem hafenlosen Meere hatten sie zwar keinen Vorteil, al)er
desto schwunghafter war der binnenländische Karavvanenhandcl ;
denn die Völkerstraße nach Ägypten lief über diesen breiten
Küstensaum. Land und Volk waren in fünf Städte eingeteilt, Gaza
Gath Asdod Askalon Akkaron, von denen nur Gath landeinwärts
und abseit der Straße lag. Diese Städte waren der Sitz der Herr-
schaft und der herrschenden Bevölkerung, an der Spitze einer jeden
stand ein Fürst, und die fünf Fürsten waren zu einem Bunde ver-
einigt. Durch ihr städtisches Wesen, ihre politische Organisation
und militärische Disziplin zeichneten sich die Philister vor den
Israeliten aus.
Man meint gewöhnlich, die Philister hätten zunächst ihr Hinter-
land Juda angegriffen und bezwungen; aber die Trennung Judas
von Israel, die man auf diese Weise zu erklären sucht, bestand
schon früher und hatte tiefer liegende Ursachen. Sie drängten
vielmehr nach Norden in die Ebene Saron und erst von da nach
Osten. Das war die natürliche Fortsetzung ihres Landes und da
ging die große Straße, auf deren Besitz es ihnen vielleicht am
meisten ankam: durch die El)ene Jezreel und das Jarmuktal nach
Damaskus und an den Euphrat. Nachdem sie die Daniten, die
ihnen mannhaften Widerstand entgegensetzten aber gegen ihre
Überzahl nichts ausrichten konnten, aus dieser Gegend vertrieben
hatten, trafen sie auf den Stamm Joseph, die Vormacht von Israel.
1) Schwerlich reicht der Mythus von Zeus' Geburt in Kreta zur Erklärung
dafür aus, daß grade der Ilauptgott der Philister in Gaza so genannt wurde,
der ursprünglich Dagon (Jud. Iß, 21 — 30), später Marna (aramäisch = unser
Herrj hieß. Vgl. Soph. 2, 5. 1. Sani. 30, 14. Ezech. 25, 16. Gewill mit Recht
werden auch die Krethi und Phlethi mit den Philistern zusammengebracht.
Weil die Philister Kreth heißen, hat man die Insel Kaphthor, woher sie nach
dem A. T. gekommen sind, für Kreta erklärt.
54r Viertes Kapitel.
Es kam zu einer Schlacht bei Aphek, einem strategisch wichtigen
Orte der Ebene Saron am Eingang des Passes von Dothan, durch
welchen der Weg zur Ebene Jezreel führt"). Eine erste Schlappe,
welche die Israeliten erlitten, schrieben sie dem Umstände zu, daß
Jahve nicht in ihrem Lager sei. Also ward die heilige Lade von
Silo herbeigeholt, die beiden Söhne des Priesters Eli, Hophni und
Phinehas, begleiteten sie. Dann ward der Kampf erneuert, aber
nicht mit besserem Erfolge. Die Israeliten wurden auf das Haupt
geschlagen, die Lade geriet in die Hände der Philister, ihre beiden
Träger fielen. Als der alte Eli nach bangem Warten den Ausgang
der Schlacht erfuhr, daß Jahve eine Beute der Feinde geworden
sei, fiel er rücklings von seinem Stuhl und brach den Hals. Er
erlebte den Trost nicht mehr, daß auch Dagon den Hals brach,
als er niederfiel, um dem gefangenen Jahve zu huldigen.
Die Folgen dieser Niederlage waren verhängnisvoll, die Macht
Josephs wurde gebrochen. Die Philister wußten ihren Sieg aus-
zunutzen, sie unterwarfen sich nicht bloß die Ebene Jezreel und
die südlich daraustoßende Hügelregion, sondern auch die eigentliche
Burg des Landes, das Gebirge Ephraim. Das alte Heiligtum zu
Silo zerstörten sie, die dortige Priesterfamilie flüchtete südwärts
und ließ sich in Nob, im Stamme Benjamin, nieder^). Bis über
Benjamin dehnten sie ihre Oberherrschaft aus, in Gibea befand sich
ein Vogt der Philister. Aber die Behauptung, sie hätten alle AVaffen
konfiszirt und alle Schmiede ausgeführt, ist eine starke Übertreibung
— ließen sie es doch sogar geschehen, daß die Boten einer be-
lagerten ostjordanischen Stadt ihre westjordanischen Landsleute zum
Entsätze aufbieten konnten.
Die Scham über solche Schmach äußerte sich bei den Israeliten
zunächst in einer religiösen Erregung, welche sich der Gemüter be-
mächtigte. Banden von ekstatischen Schwärmern tauchten hie
und da auf, veranstalteten unter Musik Aufzüge, die oft zu wilden
Tänzen wurden, und zogen auch ganz nüchterne Menschen mit
ansteckender Gewalt in ihre tollen Kreise. An sich war die Er-
scheinung im Oriente nichts Ungewöhnliches, bei den Kanaaniten
^) Über die Lage von Aphek s. Komposition p. 251 u. 2, Delitzsch Paradis
p. 287. Die Philister lagerten in Aphek, die Hebräer in Ebenhaezer.
") Komposition p. 240; Prolegomena p. 250s.
Die Gründung des Reiches und die drei ersten Könige. 55
hatte es diese Nabiim — so hielBen sie — laugst gegebeo, und sie
erhielten sich dort iu alter Weise, nachdem sie in Israel ihr ur-
sprüngliches Wesen schon gänzlich verändert hatten. Das Neue
war, daß dieser Geist jetzt auf Israel übersprang und die Besten
mit sich fortriß. Auf diese wortlose Weise machte die dumpfe
Aufregung sich Luft.
Nicht die Abschaffung des Baalsdienstes war das Ziel des er-
wachenden Eifers, sondern der Kampf gegen die Feinde Jahves.
Die Religion war damals Patriotismus. Den Sinn des Geistes ver-
stand ein Greis, der zu Rama im südwestlichen Ephraim wohnte,
Samuel beu Elkana, der patriotische Prophet in Sonderheit. Er
gehörte nicht selber zu den Nabiim, sondern war ein Seher vom
alten Schlage, wie es sie seit jeher bei den Hebräern ähnlich wie
bei den Griechen oder den Arabern gegeben hatte '). Durch seine
Sehergabe zu großem Ansehen gelangt, beschäftigte er sich auch
noch mit anderen Fragen als solchen, deren Beantwortung ihm die
l^eute mit Gelde lohnten. Die Not seines Volkes ging ihm zu Herzen,
die Nachbarvölker lehrten ihn das Heil in der Zusammenfassung
der Stämme und Geschlechter zu einem Reiche erkennen. Aber
sein eigentliches Verdienst war nicht die Entdeckung dessen was
Not war, sondern des Mannes, der der Not abhelfen konnte. Er
hatte einen Benjaminiteu kennen gelernt aus der Stadt Gibea, Saul
ben Kis, einen Mann von riesiger Gestalt und von raschem en-
thusiastischem Wesen. Dem sagte er, er sei zum König von Israel
bestimmt.
2. Gar bald hatte Saul Gelegenheit zu zeigen, ob Samuel
recht gesehen hatte. Die Stadt Jabes in Gilead wurde von den
Ammoniten belagert, und ihre Bürger erklärten zieh zur Übergabe
bereit, falls sie binnen einer kurzen Frist keine Hilfe bei ihren
Volksgenossen finden würden. Ihre Boten gingen durch ganz Israel,
ohne mehr als Mitleid zu linden; bis Saul von der Sache hörte,
als er eben mit einem Joch Rinder vom Felde kam. Er zerstückte
seine Rinder, ließ die Stücke überall hinsenden und dazu sagen:
also solle den Rindern eines jeden geschehen, der nicht mit aus-
') Der Verfasser von 1 Sam. 9. 10 unterscheidet den singularischen Seher
Samuel sehr deutlich von den pluralischen Nabiim, die er ebenfalls kennt und
erwähnt. Die Glosse 1 Sam. 9, 9 ist nur halb richtig, und 1 Sam. 19, 10 — 24
kann gegen 10, 11 nicht aufkommen.
56 Yiertes Kapitel.
ziehe zum Entsätze von Jabes. Das Volk gehorchte, ehies Morgens
überfielen sie die Ammoniten und befreiten die belagerte Stadt').
Darauf aber ließen sie den Saul nicht wieder los, nachdem sie
in ihm ihren Mann gefunden hatten. In Gilgal, der alten Lager-
stätte Josuas, salbten sie ihn zum Könige. Samuel war nicht da-
bei, aljer das Wort, das er dem Saul ins Ohr gesagt hatte, hatte
gewirkt; die Stimme Jahves hatte sich bewahrheitet und wurde
durch die Stimme des Volkes bestätigt. Aus freier Notwendigkeit
war das Königtum erwachsen. Seine Ausstattung bestand in der
niicht, den Kampf gegen die Philister aufzunehmen und zu führen.
Saul machte sich an die Aufgabe, indem er nach Hause ging und
in seiner Stadt Gibea die Seinen um sich scharte. Das Zeichen
zum Losbruch gab sein Sohn Jonathan, indem er den Vogt der
Philister zu Gibea erschlug. Infolge dessen rückten diese nun gegen
den Herd des Aufstandes vor und machten nördlich gegenüber
von Gibea Halt, nur durch die Schlucht von Michmas von dem
Orte getrennt. Saul hatte nur einige hundert Benjaminiten zur
Verfügung. Eine verwegene Heldentat eröffnete den Kampf. Wäh-
rend die Philister sich raubend über das Land verbreiteten, über-
fiel Jonathan, allein mit seinem Waffenträger und ohne Wissen
seines Vaters, den schwachen Posten, den sie am Paß von Michmas
zurückgelassen hatten. Nachdem er die ersten überrascht und
niedergemacht hatte, flohen die anderen, wol in dem Glauben, es
kämen noch mehrere Angreifer hinter den zweien her. Sie trugen
den Schrecken in das verlassene Lager, von da verbreitete er sich
über die Streifscharen. Gegenüber in Gibea bemerkte man die
Unruhe, und ohne den Bescheid des priesterlichen Orakels abzu-
warten, beschloß König Saul den Angriff auf das feindliche Lager.
Er gelang vollkommen, die Philister hielten nicht stand. Damit
nun die Seinen sich nicht an die Vorräte im Lager machten und
derweil die Feinde laufen ließen, setzte Saul einen Fluch darauf,
wenn jemand vor Abend einen Bissen in den Mund stecke. Er
') 1 Sam. 11 ist der Kern der älteren Version; vgl. Prolegomcna p. 254ss.
Ganz so poetisch kann sich die Sache iu Wirklichkeit nicht zugetragen haben,
aber die Erzählung verträgt keine Pragmatisirung und muß belassen werden,
wie sie ist. Saul war vielleicht der Führer von Benjamin, als er Jabes ent-
setzte, und zog durch diese Tat dann die Aufmerksamkeit von ganz Israel
auf sich.
Die Grüuduug des Kelches und die drei ersten Könige. 57
erreichte aber seine Alisiclit nicht, der Hunger entkräftete die Leute
und machte ihnen die Verfolgung unmöglich. Nach Sonnenunter-
gang ßelen sie gierig über das erbeutete Vieh her und verschlangen
das Fleisch, ohne auch nur das Blut dem Jahve ausgegossen zu
haben. Solchem Frevel zu steuern, errichtete Saul einen großen
Stein als Altar und befahl, sie sollten alle dort schlachten und
essen. Als sie sich nun erholt hatten, gedachte er, mitten in der
Nacht die Verfolgung wieder aufzunehmen. Aber der Priester von
Nob, den er bei sich hatte, wollte erst das Ephod befragt wissen.
Jahve gab keine Antwort — ein Zeichen, daß eine Schuld begangen
war. Das heilige Los brachte den Schuldigen heraus; Jonathan
hatte sich unbewußt gegen den Fluch seines Vaters vergangen und
noch vor der erlaubten Frist etwas Honig gegessen. Er war dem
Tode verfallen, aber das Volk löste ihn durch einen stellvertretenden
Ersatz '). In dieser seltsamen, für die antike Art höchst bezeich-
nenden Weise endete der glänzend begonnene Tag.
Saul war kein schüchterner Jüngling, als er auf den Thron
kam; schon damals stand ihm ein erwachsener Sohn zur Seite. Er
war auch nicht von geringem Herkommen, sein Geschlecht war
ausgebreitet und sein Erbgut beträchtlich ■). Seine Wirtschaft in
Gibea blieb die Grundlage seiner Herrschaft; unter einer hoch-
gelegenen Tamariske daselbst, auf seine Lanze gestützt, erteilte er
Audienz und hielt Rat mit den Seinen. Die Männer, auf die er
zählen konnte, waren seine benjaminitischen Verwandten. Andere
öifentliche Aufgaben als den Krieg kannte er nicht, die inneren
Verhältnisse ließ er wie er sie gefunden hatte, er regierte auch
wol nicht lange genug, um wirksam in sie eingreifen zu können.
Der Krieg war die Aufgabe und zugleich die Hilfsquelle des jungen
Königtums. Gegen die Philister wurde er beständig fortgesetzt,
wenn auch für gewöhnlich nicht im großen Stil, sondern nur als
Grenzfehde. Aber noch andere Feinde mußten bekämpft werden;
so die Amalekiten auf der Sinaihalbinsel, die wie einst die Midia-
niten die Schwäche Israels zu räuberischen Einfällen benutzten.
Saul brachte ihnen eine schwere Niederlage bei und fing ihren
König Agag lebendig, der dann bei dem Siegesfest in Gilgal dem
Jahve als Opfer geschlachtet wurde.
») Miiidani Arab. Prov. 14, 10.
-) 2 Sam. 9, 9 SS.
58 Viertes Kapitel.
Es ist nicht olme Bedeutung, daß die kriegerische Erhebung
der Nation von Benjamin ausging. Durch die Schlacht von Aphek
hatte Ephraim die Hegemonie zugleich mit ihren Symbolen ver-
loren. Der Schwerpunkt Israels verlegte sich für eine Weile weiter
nach dem Süden zu, und Benjamin wurde das Mittelglied zwischen
Ephraim und Juda. Es scheint, daß dort die Herrschaft der Philister
nicht so drückend war. Ihre Angriffe erfolgten nie über Juda,
sondern immer von Norden aus; dagegen llüchtete man vor ihnen
nach Süden, wie das Beispiel der silonitischen Priester zeigt. Durch
Saul trat Juda positiv in die Geschichte Israels ein, es gehörte zu
seinem Reich und gerade dort hatte er tatkräftige und treue
Anhänger. Seinen Zug gegen Amalek hat er zu gunsten Judas
unternommen, denn nur Juda konnte von diesen Räubern zu
leiden haben.
Unter den Judäern, welche der Krieg nach Gibea führte, tat
sich David ben Isai aus Bethlehem hervor; durch sein Saitenspiel
kam er in nähere Verbindung mit dem Könige. Er wurde sein
Waffenträger, weiterhin der vertrauteste Freund seines Sohnes,
endlich der Gemahl seiner Tochter, Wie aber dieser Mann den
Hof bezauberte, so wurde er auch der erklärte Liebling des Volkes,
zumal ihn beispielloses Glück in allem was er unternahm beglei-
tete. Das erregte die Eifersucht Sauls, wie es sich kaum anders
erwarten läßt, in einer Zeit, wo der König notwendig auch der
beste Mann sein mußte. Ein erster Ausbruch ließ sich als Anfall
einer Krankheit erklären, aber bald blieb kein Zweifel, daß sich
die Liebe des König zu seinem Eidam in tiefen Haß verwandelt
hatte. Jonathan warnte den Freund und ermöglichte ihm die
Flucht, die Priester von Nob versorgten ihn mit Waffen und Zeh-
rung. Er ging in die Wüste von Juda und wurde der Führer
von allerhand landrtüchtigen Leuten, die sein Name verlockte, ein
freies Leben unter ihm zu führen. Es waren darunter seine Ver-
wandten aus Bethlehem, aber auch Philister und Hethiten. Aus
dieser Schar, unter der sich besonders die Söhne der Seruja ') und
von ihnen wieder der gewaltige Joab ben Seruja auszeichneten,
Avurde später die Leibwache Davids. Auch ein Priester war dabei,
0 Seruja war die Tochter des Nahas (von Bethlehem?), nicht des Isai,
und also nicht die Schwester Davids. Man niul.') auf 2 Sam. 17,25 mehr Ge-
wiclit legen, als auf 1 Chr. 2, 16.
Die Gründung des Reiches und die drei ersten Könige. 59
Abiathar ben Aliimelech ben Ahitub ben Pliinehas beii Eli, der
einzige aus dem Blutbade entronnene, welches Saul unter den
Söhnen Elis zu Nob angerichtet hatte, weil sie nach seiner Meinung '
mit David unter einer Decke spielten. Er brachte das Gottesbild
von Nob mit, dadurch hatte David die Möglichkeit, das heilige
Orakel zu befragen. Auf die Dauer indessen konnte er sich in
Juda vor Sauls Verfolgung nicht halten, zumal seine Landsleute
im allgemeinen nicht auf seiner Seite standen. Er tat einen ver-
zweifelten Schritt und stellte sich dem Philisterkönig Achis von
Gath zur Verfügung. Der empfing ihn mit offenen Armen und
wies ihm die Stadt Siklag zum Wohnsitz an. Hier trieb er mit
seiner Schar das alte Wesen weiter, machte Raubzüge gegen Amalek
und andere Nomadenstämme der Sinaihalbinsel, und erhielt gelegent-
lich auch Gegenbesuch von ihnen.
Inzwischen sammelten die Philister wieder einmal ihre Heere
und zogen auf der gewöhnlichen Straße gegen Israel. Saul ließ sie
nicht bis Gibea kommen, sondern erwarteten sie in der El)ene
Jezreel. Hier kam es zur Schlacht am Berge Gilboa, die für ihn
den unglücklichsten Ausgang nahm. Als er seine drei älteren
Söhne um sich her hatte fallen sehen, stürzte er sich in sein
Schwert. Die Philister schnitten ihm den Kopf ab und hängten
den Rumpf auf an der Mauer von Bethsean; aber die Bürger von
Jabes nahmen denselben nachts ab, verbrannten ihn und begruben
die Gebeine unter der Tamariske von Jabes. So erstatteten sie
den Dank für ihre einstige Rettung, die seine erste Tat gewesen war.
Eine Klage über den Fall Sauls und Jonathans ist uns erhalten
und damit eine gleichzeitige und authentische Kunde von den beiden.
„ . . . (Jonathan) liegt erschlagen auf deinen Hohen, wie sind die
Helden gefallen! Sagt es nicht an zu Gath, verkündet es nicht in
den Straßen Askalons, sonst freuen sich die Töchter der Philister,
sonst frohlocken die Töchter der rnbeschnittenen. Kein Tau noch
Regen falle auf euch, ihr Berge von Gilboa, wo der Schild der
Helden im Staube liegt, der Schild Sauls ungesalbt mit Öle. Vom
Blut der Gefallenen, vom Fett der Helden, ließ Jonathans Bogen
nicht ab, und Sauls Schwert kam nicht leer zurück; wie die Adler
flogen, wie die Löwen kämpften sie. Ihr Töchter Israels, über Saul
weint, der eure Glieder mit Purpur kleidete, der goldenen Zierat
auf euren Anzug brachte. W^ie sind die Helden im Streit gefallen,
Jonathan erschlagen auf deinen Höhen! Es ist mir weh um dich.
60 Viertes Kapitel.
mein Bruder Jonathan; ich habe Freude und AVonne an dir gehabt,
deine Liebe war mir mehr als Frauenliebe. Wie sind die Helden
gefallen und untergegangen die Wallen des Streits!"
An dem hohen Alter des rein profanen und sehr persönlichen
Liedes läßt sich nicht zweifeln. Es ist von einem nahen Freunde
Jonathans und von einem Poeten verfaßt. Beide Eigenschaften
vereinigten sich in David. Dessen Autorschaft ist aber angefochten
worden, weil er über Sauls Fall nicht so hätte fühlen können. Es hat
sich eine sehr ungünstige Vorstellung über ihn im Verhältnis zu
Saul gebildet, auf grund gewisser Traditionsschichten im Buch
Samuelis, die ihn auf Kosten Sauls herausstreichen wollen und in
Wahrheit das Gegenteil erreichen.
Das Buch Samuelis heißt nach Samuel, und dieser ist in der
Tat zwar nicht für die Geschichte selber, wol aber für Art und
Stand der Tradition von solcher Bedeutung, daß seine Gestalt als
Gradmesser dafür benutzt werden kann. Vier Stufen lassen sich in
seinerAuffassuug unterscheiden. L^rsprü nglich (lSam.9,1— 10, 16)
ist er ein einfacher Seher, jedoch zugleich ein patriotischer Israelit,
dem die Not seines Volkes zu Herzen geht und der seine Autorität
als Seher benutzt, um einem Manne, den er als geeignet erkennt,
in das Ohr und in den Sinn zu setzen, Jahve habe ihn zum Helfer
und Führer Israels ausersehen. Seine Größe besteht darin, daß er
den erweckt hat, der nach ihm kommt und größer ist als er; er
verlischt, nachdem er das Licht entzündet hat, welches nuü in
hellem Glänze brennt. Sein meteorisches Auftauchen und Ver-
schwinden hat aber Verwunderung erregt und früh zu einer Jugend-
geschichte geführt, wo er schon als Knabe den Zusammenbruch des
vorköniglichen Israels vorausschaut (1. Sam. 1—3). Nachdem er
das getan, schlägt jedoch das Dunkel wieder über ihm zusammen;
schon in 1 Sam. 4 — 6 verlieren wir ihn völlig aus den Augen und
erst als Greis treffen wir ihn wieder. Auf der anderen Seite hat
der Umstand, daß er auch nach der Begegnung mit Saul alsbald
wieder in den Hintergrund zurücktritt, der Meinung Vorschub
geleistet, daß es sehr bald zu einem Bruch zwischen den beiden
gekommen sei. Dieser Meinung begegnen wir auf der zweiten
Stufe, welche durch die prophetischen Erzählungen 1. Sam. 15. 28
repräsentirt wird. Erzeugt ist sie aus dem Widerspruch, daß Jahve
den, den er zum Könige ersehen hat, dennoch hinterher in seinem
Königtum nicht bestätigt und seine Dynastie stürzt. Also muß
Die Gründung des Reiches und die drei ersten Könige. 61
Samuel, der 8aul gesalbt hat, zu seinem Kummer ihn hinterher
verwerfen. Er erscheint dabei schon nicht mehr als ein einfacher
Seher; er betrachtet den Gesalbten Jahves als seine Kreatur und
gibt ihm 15,1 herrische Befehle, während er ihn dagegen nach
10,7 ausdrücklich seinen eigenen Inspirationen überläßt. Von da
ist der Schritt zur dritten Stufe nicht groß. Hier überträgt
Samuel die Salbung, gleich nachdem er sie Saul entzogen hat, auf
])avid und setzt ihn als den nunmehrigen König von Gottes Gnaden
dem verworfenen Vorgänger entgegen. Sein Ansehen hat sich in-
zwischen noch gesteigert; wie er nach Bethlehem kommt, zittern
ihm die Ältesten der Stadt entgegen. Noch immer aber gilt er
bisher als der intellektuelle Urheber des Königtums. Erst der
letzten Stufe in der Entwickelung der Tradition ist es vorbe-
halten, ihn umgekehrt als denjenigen darzustellen, der dem Ver-
langen des Volkes einen König zu haben, seinerseits aus allen
Kräften widerstrebt. Hier ist das vorkonigliche Israel zu einer
Theokratie nach den Begriffen des späteren Judentums, in der für
einen König kein Raum ist, geworden und Samuel zu ihrem Haupt:
daher erklären sich seine Empfindungen.
Die spätere Phase der Tradition hat nun modernen Forschern
Anlaß gegeben, die dem Königtum feindselige Hierokratie in Samuel
verkörpert zu sehen. Woher sollte jedoch Samuel seine Macht-
stellung gegenüber dem Königtum haben? Soll er sich etwa auf
die Nabiim gestützt haben? Aber diese entstanden damals eben
erst aus einer formlosen Begeisterung, die sich noch nicht auf
ordensmäßig abgeschlossene Kreise beschränkte; außerdem hatte
nach der alten Überlieferung wol der König, aber nicht der Seher
Beziehungen zu ihnen. Oder konspirirte Samuel mit den Priestern
zusammen gegen Saul? Dafür beruft man sich auf 1. Sam. 21. 22,
wo der Priester Ahimelech von Nob den flüchtigen David mit Brod
versieht und zur Strafe dafür samt seinem ganzen Geschlecht den
Tod erleidet. Aber erstens stehn diese Priester mit Samuel in keiner
Verbindung; zweitens läßt es sich mit nichts wahrscheinlich machen,
daß sie mit David im Einverständnis waren und von dessen ehr-
geizigen Plänen — angenommen er habe sie schon damals gehabt
— etwas wußten; drittens steht umgekehrt das fest, daß sie dem
Könige gegenüber gar keine Macht besaßen, vielmehr auf Gnade und
Ungnade von ihm abhingen und auf einen leisen Verdacht hin
sämtlich hingerichtet wurden, ohne daß Hund oder Hahn darnach
132 Viertes Kapitel.
krähten. Wer die Hierokratie iu diese Zeiten zuiückträgt und sie
dem Samuel als Basis für sein angebliches Auftreten gegen das
Königtum unterlegt, der hat zu einem historischen Verständnis des
hebräischen Altertums noch nicht den Anfang gemacht. Dann ist
also auch das Licht falsch, welches von da aus auf das Verhältnis
von Saul und David fällt. Saul als Bekämpfer der geistlichen
Herrschsucht zu verehren und David als einen ihm von dersell)en
in feindlicher Absicht entgegengestellten Prästendenten zu verab-
scheuen, ist weiter nichts als ein Anachronismus. Man übersieht
dabei die unterschiedlichen Schichten der Tradition und folgt in
bezug auf die Tatsachen der jüngsten, freilich nicht in bezug auf
das Urteil. Das moderne Urteil wird durch Samuels Fluch zu
gunsten Sauls, und durch Samuels Segen zu Ungunsten Davids ein-
genommen.
o. Die Niederlage Sauls schien das Werk seines Lebens zu
vernichten. Zunächst wenigstens gewannen die Philister die ver-
lorene Herrschaft über das westjordanische Land wieder. Aber
jenseit des Jordans machte Abner, Sauls Vetter und Feldhaupt-
mann, dessen noch unmündigen Sohn Isbaal zum Könige in Maha-
naim, und es gelang ihm von hier aus die Herrschaft des ILnuses
Saul über Jezreel Ephraim und Benjamin wieder auszudehnen,
natürlich in fortgehendem Kampfe mit den Philistern. Nur Juda
gewann er nicht. David benutzte die Gelegenheit, sich hier, mit
Bewilligung der Philister und wol als ihr Vasall, eine Sonder-
herrschaft zu begründen, deren Schwerpunkt im Süden lag, wo
nicht die eigentlichen Judäer, sondern die Bne Kaleb und Jerach-
meel wohnten. Er hatte durch Heiraten mit ihren Edlen Be-
ziehungen angeknüpft, durch Gefälligkeiten und Geschenke sie zu
gewinnen gesucht. Jetzt zog er mit seinen sechshundert Mann
nach Hebron, um sich den Altesten anzutragen; sie waren klug
genug ihm zu Willen zu sein, und salbten ihn zum Könige
über Juda. A^ergebens versuchte Abner ihm dies Gebiet streitig
zu machen. Li der langwierigen Fehde zwischen dem Hause Sauls
und David neigte sich das Glück je länger je mehr auf die Seite
des letzteren. Persönliche Anlässe brachten endlich die Entscheidung.
Da nämlich Abner ein Kebsweib Sauls, mit Namen Rispha, zu
sich genommen hatte, so argwöhnte sein Neffe, er wolle in sein
Erbe eingreifen, und stellte ihn über den Punkt zur Rede. Das'
war dem Abner zu viel, von stund an gab er die Sache seines
Die Gründung des Reiches und die drei ersten Konige. 63
^lündels auf, die ihm so wie so unhaltbar scheinen mochte, und
trat in Unterhandlungen mit David zu Hebron. Als er aber heim-
kehren wollte, fiel er von der Hand Joabs im Tore von Hebron,
ein Opfer der Blutrache und der Eifersucht. Doch was er gewollt
hatte, kam auch ohne ihn zu stände. Nach seinem Tode war
Israel führerlos und in großer Verwirrung. Isbaal hatte nichts
zu bedeuten, nur aus dankbarer Treue gegen seinen Vater hielt
man an ihm fest. Da fiel auch er von Mörderhand, zwei ben-
jaminitische Häuptlinge schlichen sich in sein Haus zu Mahanaim
ein, als er Mittags der Ruhe pflegte und auch die Türhüterin
beim Weizen verlesen eingeschlafen war, und brachten ihn um, in
der vergeblichen Hoff'nung auf Davids Dank. Nun zögerten die
Ältesten Israels nicht länger, zu David nach Hebron zu gehn und
ihn zu salben, nachdem er ihnen vor Jahve ihre Bedingungen be-
schworen hatte.
Sofort verlegte er seine Residenz von Hebron nach Jerusalem,
einer bis dahin noch kanaanitischen Stadt, die er erst eroberte,
die alle ihre Traditionen von ihm empfing. Sie lag auf der Grenze
zwischen Israel und Juda, noch im Gebiete von Benjamin, aber
nicht weit von Bethlehem; nahe auch bei Nob, der alten Priester-
stadt. David machte sie, wie zur politischen, so auch zur heiligen
Metropole, indem er die Lade Jahves dorthin überführte. Diese
hatte an Ansehen nichts eingebüßt dadurch, daß sie in Feindes
Gewalt geraten war. Die Philister wurden ihres Besitzes nicht
froh, da sie überall wohin sie kam Verderben brachte, sie setzten
sie nach kurzer Zeit auf einen Wagen und ließen die Kühe damit
ziehen wohin sie wollten. So kam sie nach Bethsemes und, da sie
auch dort Unheil anrichtete, endlich nach Baal Juda, wo sie in
einem frei auf einem Hügel gelegenen Hause aufgestellt und von
einem Sohn des Hauses als Priester bedient wurde. Jetzt holte
sie David in fröhlichem Zuge nach Jerusalem; da aber unterwegs
ein Unglück geschah, brachte er sie dort vorläufig bei einem seiner
Hauptleute unter, und erst, als sie in dessen Hause sich segen-
bringend erwies, wagte er es sie in das Zelt zu bringen, welches er
auf seiner Burg, östlich gegenüber der alten Stadt, für sie hatte
errichten lassen. Sie verdrängte mit der Zeit das Orakelbild, welches
Abiathar von Nob mitgebracht hatte.
Noch jetzt war das Königtum nicht bloß ein Vorrecht, sondern
eine schwere Aufgabe; und das hat ohne Zweifel am meisten zur
ß4 Viertes Kapitel.
Erbebung Davids beigetragen, daß er als der rechte Mann für die
Lösung der Aufgabe überall bekannt war. Die Aufgabe war noch
immer der Krieg gegen die Philister; das war das Feuer, worin
das israelitische Reich geschmiedet wurde. Die Kämpfe begannen
mit der Verlegung der Residenz nach Jerusalem; leider erfahren
wir wenig über ihren Verlauf, fast nur Anekdoten über die Groß-
taten einzelner Helden. Das Endergebnis war, daß David voll-
endete, was Saul angefangen hatte, und das Joch der Philister für
alle Zeit zerbrach. Es war jedenfalls die wichtigste Tat seiner
Herrschaft.
Von der Verteidigung gegen die Philister aber ging David
weiter zu Angriffskriegen über, in denen er die drei Brüder Israels,
Moab Ammon und PJdom, seiner Herrschaft unterwarf. Zuerst
scheint er mit den Moabiten in Kampf geraten zu sein; er be-
siegte und unterjochte sie vollständig. Aicht lange darauf starb
Xahas, der König von Ammon; seinem Nachfolger Hanun ließ
David durch seine Gesandtschaft sein Beleid bezeugen. Hanun
argwöhnte darin eine Form der Kundschaftung — ein Argwohn, der
sich leicht erklärt, wenn David damals Moab schon unterworfen
hatte. Mit halb abgeschorenen Barten und halb abgeschnittenen
Kleidern schickte er die Gesandten ihrem Herrn zurück, und rüstete
sich zugleich auf den Krieg, indem er sich mit verschiedenen ara-
mäischen Königen, namentlich mit dem mächtigen König von
Soba, verbündete. David eröffnete den Feldzug und sandte unter
Joabs Führung das israelitische Heer gegen die Stadt Rabbath
Ammon. Die Aramäer rückten zu ihrem Entsätze heran; al)er
Joab teilte seine Mannschaft, und während er durch seinen Bruder
Abisai die Belagerten in Schach hielt, zog er selber gegen die
Aramäer und trieb sie ab. Als sie dann stärker wie zuvor wieder
zu kommen drohten, zog ihnen David in Person mit großer Macht
entgegen und schlug sie bei Helam jenseits des Jordans. Es scheint,
daß infolge davon das Reich von Soba zerstört und Damaskus
zinsbar gemacht wurde '). Nun konnte auch Rabbath Ammon
nicht länger widerstehn, und die Ammoniten teilten das Schicksal
') Wo Soba lag, ist unbekanut; sicher nicht in Mesopotamien, sondern
in Syrien und zwar wahrscheinlich nördlich von Damaskus etwa in der Breite
von Hamath, an das es gegrenzt zu haben scheint (2 Sam. 8, 10). Vgl. Delitzsch
Paradis p. 279s. Bis zum Eiiphrat ist David schwerlich vorgedrungen. Es
Die Gründung des Reiches und die drei ersten Könige. 65
ihrer moabitischen Brüder. Gleichzeitig wurde endlich Edom be-
zwungen und seiner Männer beraubt. So traf ein, was Bileam
geschaut hatte; das jüngste der vier hebräischen Yölker trat die
drei älteren unter seine Füße.
Hinfort hatte David vor äußeren Feinden Ruhe, zu Hause
aber erwuchsen ihm aus seiner eigenen bunten Familie Gefahren,
die nicht dazu dienten, seinen Ruhm zu vermehren. Sein ältester
Sohn Amnou ben Ahinoam lockte heimtückisch, indem er sich
krank stellte, seine Halbschwester Thamar bath Maacha als Pflegerin
an sein Bette, stillte seine Lust an ihr und trieb sie dann mit Schimpf
und Schande aus dem Hause, anstatt sie zu heiraten wie er ge-
konnt und gesollt hätte. David sah böse dazu und tat weiter
nichts. Statt seiner nahm Absalom ben Maacha, der rechte Bruder
der Thamar, in dessen Haus sie sich zurückgezogen hatte, Rache
für seine Schwester und ließ bei günstiger Gelegenheit den Amnon
durch seine Knechte erschlagen. Darüber geriet der Vater in
hellen Zorn, und Absalom mußte außer Landes gehn. Nach drei
Jahren ließ sich der König zwar durch eine von Joab angestiftete
weise Frau bewegen, dem Sohne die Rückkehr zu gestatten, jedoch
verbannte er ihn in sein Haus und verbot ihm den Hof. Mit
Mühe brachte es Absalom endlich dahin, wiederum durch Joabs
Vermittlung, daß er zu vollen Gnaden angenommen und als Erbe
des Reiches rehabilitirt wurde. Aber er war nun seinem Vater,
durch dessen verkehrte Milde und verkehrte Strenge, gänzlich ent-
fremdet. Er bereitete einen Aufstand gegen ihn vor, zu dem er
eine Verstimmung benutzte, welche sich der Judäer bemächtigt
hatte; wahrscheinlich glaubten diese von David nicht genug bevor-
zugt zu werden^). In Hebron war der Herd des Aufstandes, der
Judäer Ahitophel war seine Seele, der Judäer Amasa, ein Vetter
Joabs, war sein Arm. Doch wurde auch das übrige Israel hinein-
gezogen, die Erinnerung an Saul war noch lebendig und besonders
die Benjaminiten haßten den Mann, der an Stelle ihres Königs
getreten war und dessen Erben allmählich und unauffällig aus dem
heißt 2 Sam. 10, 16 nur, daß der König von Soba auch die mesopotamischen
Aramäer aufgeboten habe; in 8,3 ist der letzte Satz unverständlich und das
Subjekt von b'Iekto zweifelhaft.
') Über die eigentlichen Gründe des Abfalls werden wir nicht unterrichtet.
Der Verf. von 2Sam.9ss. schreibt die Geschichte des jerusalemischen Hofes
darauf ist sein Interesse beschränkt.
We 11 ha US e n, Isr. Geschichte. 5. Aufl. . 5
QQ Viertes Kapitel.
Wege geräumt hatte. David wurde von dem Abfall völlig über-
rascht; er dachte nicht daran sich in Jerusalem zu behaupten.
Seine Herrschaft hatte noch keine tiefen Wurzeln geschlagen; er
stützte sie nicht, wie Saul, auf seinen Stamm, sondern auf „seine
Knechte", eine aus seinem persönlichen Gefolge erwachsene Truppe.
Mit dem Kern derselben flüchtete er sich unter Zurücklassung seiner
Weiber über den Jordan nach Gilead, wo er freundliche Aufnahme
fand. Diese exponirte Ostmark, die den AV'ert der Zugehörigkeit
zu einem mächtigen Reich zu schätzen wußte, erwies sich wieder
einmal als feste Burg des Königtums. In Mahanaim, von wo auch
Abner einst das Reich wiederhergestellt hatte, sammelte David seine
Getreuen; Absalom ließ ihm dazu Zeit, gegen Ahitophels 1-iat, und
rückte ihm erst nach, als er eine erdrückende Übermacht hinter
sich zu haben glaubte. In der Nähe von Mahanaim, in der Wildnis
von Ephron, kam es zur Schlacht. Das Volksheer hielt den gut
geordneten, kriegsgewohnten Knechten Davids nicht stand ; Absalom
floh und wurde auf der Flucht von Joab erstochen. Sein Tod
betrübte den alten König weit mehr, als ihn der Erfolg freute; mit
Mühe ward er endlich bewogen, sich seinen siegreichen Truppen zu
zeigen.
Der Aufstand war niedergeschlagen. Zuerst begannen die
Israeliten sich ihres Verhaltens gegen David zu schämen; sie be-
schlossen ihn heimzuholen. Als er davon erfuhr, mahnte er die
Ältesten Judas, doch nicht anderen den Vortritt zu lassen; zugleich
bot er dem Judäer Amasa, dem Feldobersten Absaloms, die Stelle
Joabs an, den er als den Mörder seines Sohnes haßte. Das wirkte;
die Judäer waren zuerst zur Stelle, um den König bei der Jordan-
furt von Gilgal zu empfangen. Mit ihnen kamen auch tausend
Benjaminiten, die besondere Ursache hatten, um gut Wetter zu
bitten. Die Israeliten waren die letzten; sie äußerten laut ihren
Unwillen, daß man ihnen hinterlistig zuvorgekommen sei und ihnen
den König gestohlen habe. Die Judäer verteidigten sich so gut
sie konnten: sie wären doch nun einmal Davids nächste Verwandten,
hätten übrigens bisher von ihm keinen Profit gehabt und wären
von ihm nicht vorgezogen worden. Die anderen gaben sich aber
nicht zufrieden: Israel sei der Erstgeborene und habe zehnmal
mehr Recht auf den König als Juda! In diesem Augenblick stieß
ein Benjaminit, Seba ben Bikri, in die Posaune und ließ den Ruf
erschallen: wir haben nichts gemein mit David und nichts zu teilen
Die Grüudimg des Reiches und die drei ersten Könige. 67
mit dein Sohn Isais, geh deiner AVege, Israel! Die Israeliten folgten
dem Rufe, nur die Jiidäer blieben bei David und geleiteten ihn
von Gilgal hinauf nach Jerusalem. Dort angelangt, gab der König
dem Amasa Auftrag, binnen drei Tagen den Heerbann Judas auf-
zubieten und damit dem Seba nachzusetzen. Da aber jener die
Frist nicht einhielt, mußte er doch auf „seine Knechte" zurück-
greifen. Joab trat wieder an ihre Spitze, benutzte zunächst eine
sich darbietende Gelegenheit seinen Vetter Amasa aus dem Wege
zu räumen, jagte dann den benjaminitischen Rebellen durch ganz
Israel und schloß ihn endlich in der Stadt Abel, oben im Norden,
ein. Eine weise Frau bewirkte, daß er in Frieden abzog, nachdem
ihm der Kopf Sebas über die Mauer zugeworfen war. Damit war
die Sache vorläufig zu Ende. Sie wirkte aber nach für die Zukunft.
Man sieht, wie David den schwachen Boden, auf dem seine Herr-
schaft stand, selber noch dadurch unterhöhlte, daß er im unge-
eignetsten Augenblick die Israeliten vor den Kopf stieß. Aller-
dings war es vielleicht für ihn die klügste Politik, die Judäer zu
gewinnen, über deren Unsicherheit er durch Absaloms Aufstand
belehrt war.
Bald darauf scheint David gestorben zu sein. Seine geschicht-
liche Bedeutung kann man nicht leicht zu hoch anschlagen. Juda
und Jerusalem waren lediglich seine Schöpfungen, und wenn auch
das gesamt-israelitische Reich, das er zusammen mit Saul gegründet
hatte, bald zerfiel, so blieb doch die Erinnerung daran allezeit der
Stolz des ganzen Volkes. Sein persönlicher Charakter ist vielfach
sehr abschätzig beurteilt worden. Daran ist vor allem seine Ka-
nonisirung durch die spätjüdische Tradition schuld, die einen levi-
tischen Heiligen und frommen Hymnendichter aus ihm gemacht
hat. Dazu stimmt es dann nicht, daß er besiegte Feinde mit
Grausamkeit behandelte, daß er sich nicht scheute die männlichen
Glieder der Familie seines Vorgängers unschädlich zu macheu und
dabei doch den Schein der Pietät zu wahren suchte, wie er denn
auch die Boten, die ihm den Fall Sauls und Isbaals meldeten,
hinrichtete, obwol ihm die Nachrichten willkommen waren '). Nimmt
man ihn indessen wie er ist, als einen antiken König in barbarischer
Zeit, so wird man milder urteilen. Ein waghalsiger Mut mischte
sich in ihm mit einer weichen Empfänglichkeit; auch als er die Krone
1) 2Sam. 9. 1. 16,7. 19,28. 21,7.8. 4, lOss.
()8 Yiertes Kapitel.
trug, blieb ihm der Zauber einer überlegenen und doch ge\Yinnenden
Persönlichkeit. Ein wahres Pantheon von Helden sammelte sich
um ihn; nirgends im Alten Testament figuriren so viele namhafte
Personen als in der Geschichte Davids. Von der Einfachheit Sauls
war er allerdings abgekommen, er blieb nicht in Bethlehem auf
seiner Hufe und stützte sich nicht auf seine Geschlechtsvettern,
sondern hielt in Jerusalem glänzenden Hof, umgeben von einer
Leibwache fremder Söldner. Er zog nur selten noch selber in den
Krieg, seine Getreuen ließen das nicht zu; dagegen kamen von
allen Stämmen Israels die Leute zu ihm nach Jerusalem um Pecht
zu suchen. Sein abgefeimt scheußliches Benehmen in dem Handel
mit Uria wird, wenn auf die Erzählung Verlaß ist, durch seine
tiefe und offene Reue einigermaßen wieder gut gemacht: nicht viele
Könige würden, auf die Vorhaltung ihrer Schuld, sich so l^enommen
haben. Am wenigsten zur Ehre gereicht ihm die Schwäche, die er
gegen seine Söhne zeigte. Sein letzter Wille, dessen Ausführung
er auf dem Todbette seinem Nachfolger zur Pflicht gemacht haben
soll, kann ihm nicht zur Last gelegt werden; da hat ihn ein
Späterer, der ihn verherrlichen wollte, aufs schwerste verunglimpft.
Ebenso ist es unberechtigt, ihm die Ermordung Abners und Amasas
in die Schuhe zu schieben, oder ihn für den Untergang Sauls, zu
dem er sich mit der Hierokratie verbündet habe, verantwortlich zu
machen ').
4. Hl seinen alten Tagen war David krank und schwach an
Leib und Seele. Sein Erbe war, nach Amnons und Absaloms
Tode, sein Sohn Adonia ben Haggith. Er sah sich selber dafür
an und benahm sich als solcher mit tatsächlicher Billigung Davids,
er ward auch von ganz Israel dafür gehalten, insbesondere von
den Hauptwürdenträgern des Reichs, dem Feldhauptmann Joab und
dem vornehmsten Priester Abiathar, und von den Prinzen des
königlichen Hauses. Aber es bildete sich unter der Führung des
Propheten Nathan eine Gegenpartei, die den jugendlichen Sohn
Davids aus seiner verbrecherischen Ehe mit. der Bathseba auf den
Thron bringen wollte. Zu dieser Partei gehörten der Priester Sadok
und der Oberst der Leibwache Benaja, die mit Abiathar und Joab
rivalisirten und an deren Stelle zu kommen hofften. Durch Nathan
und Bathseba verfügten die Verschworenen über den altersschwachen
') Vgl. oben p. 60—62.
Die Gründung des Reiches und die drei ersten Könige. 69
David, und durch Benaja über die sechshundert Leibwächter, mit
denen sich unter den damaligen Umständen in Jerusalem alles
durchsetzen ließ. So ward Salomo König, nicht zufolge seines
Rechts, sondern durch eine Palastintrigue, noch bei Lebzeiten Da-
vids, aber kurz vor dessen Tode. Er fand bald Gelegenheit nicht
nur den Adonia, sondern auch den alten Joab, den verdientesten
Mann im Reich, über die Seite zu schaffen; den Abiathar ver-
bannte er nach Anathoth und setzte den Sadok an seine Stelle,
den Ahnherrn des späteren Tempeladels von Jerusalem. Weniger
schneidig erwies er sich den äußeren Feinden gegenüber, die als-
bald nach Davids Tode ihr Haupt erhoben. Er ließ es geschehen,
daß an Stelle des zerstörten Aramäerreichs von Soba ein neues
in Damaskus erstand, welches eine viel größere Gefahr für Israel
in sich barg. Er konnte nicht verhindern, daß Edom sich wieder
einen König gab; doch blieb der Hafen von Äla in seinem Besitz.
Über Moab und Ammon erfahren wir nichts; es ist möglich, daß
auch sie damals abgefallen sind. Wenn aber die Kriegführung
nicht Salomos Sache war, so kümmerte er sich dagegen mehr als
seine beiden Vorgänger um die inneren Angelegenheiten; in seiner
Tätigkeit als Richter und Regent bestand nach der Tradition seine
Stärke.
Mit der Gründung des Königtums geriet die Einverleibung der
Kanaaniten in rascheren Fluß. Saul in seinem Eifer für Jahve
und Israel brauchte Gewalt, um die Stadt Gibeon israelitisch zu
macheu. David, überhaupt sehr weitherzig gegen Ausländer, be-
nahm sich klüger. Er nahm Jerusalem mit stürmender Hand,
machte aber die Bürger nicht rechtlos, sondern beließ sie sogar
im Besitz ihres Grundeigentums; die Stelle, auf welcher sich nach-
mals der Tempel Jahves erhob, erstand er für Geld von dem Je-
busiten Arauna. Den Gibeoniten, an denen Saul sich vergriffen
hatte, ^ab er sieben Söhne Sauls heraus, daß sie sie aufhängten
vor Jahve zu Gibeon. Mit Hirom von Tyrus hielt er gute Freund-
schaft; der Hethitenfürst Thoi von Hamath sandte ihm durch seinen
Sohn Joram (?) Geschenke und Glückwünsche zur Bezwingung des
Königs von Aram-Soba, der auch Thois Feind gewesen war. Dies
Motiv ist wichtig; wie einst die durch Jerubbaal gehobene midia-
nitische Gefahr Israeliten und Kanaaniten einander nahe gebracht
hatte, so vereinigte sie jetzt das gleiche Interesse gegen die zur
Küste vordrängenden Aramäer, mit denen umgekehrt Moab, Ammon
70 Viertes Kapitel.
und Edom gemeine Sache machten; das kriegerische Königtum
Davids erschien als der Hort des ganzen westlichen Syriens und
Palästinas gegen die östlichen Feinde (p. 8). Salomo bekam die
Stadt Gezer als Mitgift seiner ägyptischen Frau, deren Vater sie
erobert und zerstört hatte. Unter ihm scheinen die Kanaaniten
in Israel vollends aufgesogen zu sein. Sie waren ein stamm-
auflösendes und staatverkittendes Element, ihre Assimilirung war
ein großer Schritt zur Befestigung des Staates. Salomo konnte
es zum ersten male wagen , unbekümmert um Stämme und Ge-
schlechter, das Reich in zwölf Bezirke einzuteilen, deren jedem
er einen königlichen Vogt vorsetzte'); nur Juda scheint er von
dieser Einteilung ausgenommen zu haben — ein bezeichnendes
Zugeständnis. Er legte auf diese Weise den Grund zu einer
strengen und geordneten Verwaltung, wie sie nach ihm in Israel
vielleicht nicht wieder erreicht worden ist. Er hatte dabei natürlich
nicht das Beste seiner Untertanen, sondern seinen eigenen Vorteil
im Auge; er verfolgte damit gleiche Zwecke wie mit seinem Pferde-
handel und mit seiner Ophirfahrt, die in Gemeinschaft mit Tyrus
ins Werk gesetzt wurde und den Zweck hatte, den arabischen
Karawanenhandel überflüssig zu machen. Seine Leidenschaft waren
Bauten, Prunk und Weiber, er wollte es darin den übrigen orien-
talischen Königen, zum Beispiel seinem ägyptischen Schwiegervater,
gleichtun. Dazu gebrauchte er Mittel: Menschenkräfte, Natural-
lieferungen, Geld. Er schämte sich nicht einen Landstrich in Ga-
liläa für einhundertundzwanzig Talente Gold an Hirom von Tyrus
zu verkaufen; dadurch wird sein Reichtum und die angebliche
Silberentwertuug zu seiner Zeit, die man aus der naiven Angabe
1 Reg. 10, 21. 27 hat erschließen wollen, sehr zweifelhaft. Besonders
der Ausbau Jerusalems zu einer festen und glänzenden Königsstadt
lag ihm am Herzen. Der Tempel, den er baute, war nur ein Teil
seiner gewaltigen Burg; Herrschersitz und Heiligtum waren nach
antiker Sitte vereinigt in der Akropolis. Dieselbe umfaßte eine
Menge privater und öffentlicher Gebäude, die verschiedenen Zwecken
dienten.
Durch die Reichsgründung kamen neue Zuflüsse in den Strom
der bisherigen Entwicklung. Man fühlte sich auf eine höhere
^) Auch später unter Ahab, finden wir das Reich Israel in Medinoth,
Regierungsbezirke, eingeteilt, an deren Spitze ein Beamter steht, der aber nicht
mehr den alten Titel Na^ib führt, sondern Sar haMedina heißt.
Die Gründung des Reiches und die drei ersten Könige. 71
Stufe emporgehoben. Die vorhergehende königslose Periode er-
schien als eine Zeit der Verwirrung und der Bedrängnis, wo jeder
tat was er wollte und die Feinde leichtes Spiel hatten, als ein
uocli nicht zum Ziel gekommener Anfang. Jetzt war man zu
Ordnung, Macht und Ruhe durchgedrungen ; geachtet und gefürchtet
von den Nachbaren konnte man endlich des eroberten Landes und
seiner Güter sich erfreuen: kein Wunder, daß das Königtum als
göttliches Geschenk betrachtet w^urde. Dem politischen Fortschritt
folgte der geistige. Handel und Wandel hoben sich, die Städte,
von den Königen bevorzugt, traten in den Vordergrund und drängten
das Land in den Schatten. Wie einst, nach der Ansiedlung, die
Kultur der kanaanitischen Bauern eingedrungen war, so wairden
jetzt der orientalischen Kultur im höheren und weiteren Sinne die
Schleusen geöffnet. Der nähere Verkehr mit dem Auslande er-
weiterten den geistigen Horizont des Volkes. Israel trat in die
W^elt ein, Beziehungen nach allen Seiten wurden angeknüpft oder
ergaben sich von selber. Die Erinnerung hat sich erhalten, daß
diese Entwicklung besonders durch Salomo befördert sei. Sie wurde
nicht allgemein freudig begrüßt, aber sie war notwendig. Wenn
Salomo in seinem Iloftempel phönizische und ägyptische Ein-
richtungen auf den Jahvcdienst übertrug, so mochten zu seiner
Zeit die richtigen alten Israeliten daran Anstoß nehmen (Exod. 20,
24 s.); dennoch ist dieser Tempel hernachmals von großer und
segensreicher Bedeutung für die Religion geworden. Allerlei heid-
nische Vorstellungen und Mythen fanden Eingang, aber die Jahve-
religion erwies sich mächtig genug, ihnen ihr Gepräge aufzudrücken
und sie sich zu eigen zu machen; es wäre schade, wenn die ersten
elf Kapitel der Genesis ungeschrieben geblieben wären. Überhaupt
aber ist der Schwung, der mit dem Königtum in die Geschichte
des Volkes kam, auch dem Gotte des Volkes und dem Leiter seiner
Geschichte zugute gekommen^).
') Daß aucli allerlei schädliche Folgen mit unterliefen, braucht nicht ge-
leugnet -werden. Darin üluigens verdient der König schwerlich Tadel, daß
er bei Jerusalem Altäre für ammonitische und ägyptische Gottheiten erbaute.
Denn diese Altäre blieben unangefochten stehn bis auf Josias, während es
doch mehr als einen frommen König zwischen Salomo und Josias gegeben
hat, der sie hätte zerstören können, wären sie ihm so wie dem Deuteronomium
ein Greuel und Ärgernis gewesen.
72 Fünftes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Von Jerobeam I. bis zu Jerobeam TL
1. Nach Salomos Tode besannen sich die Altesten Israels auf
ihr Kecht, den König zu salben oder auch nicht zu salben, und
versammelten sich zu diesem Behuf in Sichern. Salomos Sohn und
Nachfolger, Rehabeam, bequemte sich ebenfalls dort zu erscheinen.
Sie erklärten sich bereit ihm zu huldigen, wenn er das Joch seines
Vaters leichter mache. Die Abgaben, die Frohnarbeiten, die Be-
amtenverwaltung, welche die hergebrachte Geschlechterverfassung
zu verdrängen drohte, waren nicht nach ihrem Geschmacke. Der
König nahm ihre Forderungen entgegen und erwog sie einige Tage,
um sie schließlich schnöde abzulehnen. Da kündigten sie ihm den
Gehorsam, und als er dann noch unterhandeln wollte, steinigten
sie seinen Abgesandten, den Frohnvogt Adoram, aufgebracht durch
die Wahl grade dieses Mannes. Sie riefen nun den Ephraimiten
Jerobeam ben Nebat zum Könige aus, der schon gegen Salomo
einen Aufstandsversuch gemacht und sich darauf nach Ägypten
geflüchtet hatte, jetzt aber in Sichem zur Stelle war. Juda und
Jerusalem blieben dem Hause Davids treu. Nur die Israeliten
hatten sich in Sichem versammelt, von ihnen allein gingen die
Klagen über das schwere Joch des Königtums aus, sie empfanden
es oftenbar als Fremdherrschaft. Ihre Eifersucht gegen Juda, die
sich schon unter David, und nicht ohne Grund, geregt hatte, spielte
bei dem Abfall sehr wesentlich mit ein. Der Stolz Josephs, des
Erstgeborenen und des Gekrönten unter seinen Brüdern, bäumte
sich gegen das judäische Königtum auf.
Durch die Philister war die Macht Josephs gelähmt, durch
das Königtum der natürliche Schwerpunkt Israels nach Süden ver-
schoben. Jetzt stellte er sich wieder her, denn er lag in Joseph
und nicht in Juda. Man kann es kaum einen Abfall nennen,
wenn die Israeliten sich die judäische Herrschaft nicht länger ge-
fallen lassen Avollten. Und ganz unberechtigt ist es, den politischen
Abfall zugleich als einen religiösen zu betrachten. Die Religion
stand damals der Spaltung durchaus nicht im Wege; der Prophet
Ahia von Silo war der erste, der in Jerobeams Gedanken den
Samen seiner zukünftigen Bestimmung gesät und ihn aufgefordert
Von Jerobeain I. bis zu Jerobeam II. 73
hatte, sich gegen das Haus Davids zu erheben. Der Kultus von
Jerusalem war noch nicht der einzig legitime, sondern derjenige
zu Bethel und Dan mindestens ebenso sehr berechtigt '). Gottes-
bilder gab es dort sowol wie hier und überall wo es ein Haus
Gottes gab; niemand nahm damals Anstoß daran. An dem Rechte
der angeblich schismatischen Priester des Nordreichs zweifelt der
Prophet Hosea nicht im mindesten; sie gelten ihm sämtlich als
richtige und berufene Diener Jahves, denn sonst könnte er ihnen
nicht drohen, Jahve werde sie verwerfen, sodaß sie ihr Recht
verlören. Wenn Jerobeam und seine Nachfolger Tempel bauten,
Bilder stifteten, Priester anstellten, so taten sie, was David und
seine Nachfolger auch taten; diese Befugnis hatten die Könige.
In dem religiösen und geistigen Leben der beiden Reiche bestand
überhaupt kein inhaltlicher Unterschied. Nur pulsirte es in Israel
stärker. Da wirkten die großen Propheten, bis auf Amos und
Hosea, da spielte die eigentliche Geschichte der Theokratie, von
da gingen alle Impulse aus. Das war freilich nicht bloß ein
Vorzug, sondern auch ein Nachteil. Dem raschen aufgeregten
Treiben im Nordreich steht das geschützte Stillleben des Klein-
staats im Süden gegenüber. Dort warf der geschichtliche Strudel
außerordentliche Persönlichkeiten aus der Tiefe hervor, hier be-
festigten sich die bestehenden Institutionen. Der unterschied zeigt
sich in seiner Wurzel beim Königtum selber. Die Israeliten
schafften es nicht etwa ab; es hatte seine Notwendigkeit doch zu
sehr erwiesen. Aber im Gegensätze zu den Judäern wechselten sie
fortwährend mit den Dynastien. Dadurch haben sie sich selber zu
gründe gerichtet.
Rehabeam fügte sich dem Aufstande nicht gutwillig. Er suchte
ihn mit Waffengewalt zu unterdrücken, anfänglich mit gutem Er-
folge, wie es scheint. AVenigstens fand sich sein Gegner bewogen,
sich nach Phanuel (bei Mahanaim) jenseit des Jordans zu verziehen,
wie einst Abner nach der Schlacht am Gilboa und David bei der
Erhebung Absaloms. Freilich könnte er dazu auch durch den
Pharao Sisak veranlaßt worden sein, der in dieser Zeit in Palästina
einfiel und nicht bloß Jerusalem brandschatzte, sondern wie es
scheint unterschiedslos jüdische sowol als israelitische Städte").
') Prolegomena p. 187 s.
^) Es ist jedoch kein Verlaß anf die Liste der eroberten Städte in der
Siegesinschrift des Sisak, er kann einfach eine ältere Liste eines seiner Vor-
74 Fünftes Kapitel.
Wenn aber Reliabeam wirklich anfangs Erfolge gehabt hat, so sind
sie doch nicht von Dauer gewesen. Die Unterdrückung des Auf-
standes gelang ihm nicht, die Israeliten behaupteten sich gegen-
über der Kriegsmacht des judäischen Königtums. Bald wendete
sich das Blatt zu ihren gunsten.
Als Jerobeams Sohn und Nachfolger Nadab die Stadt Gibbe-
thon der Philister belagerte, verschwur sich Baesa ben Ahia von
Issachar gegen ihn, erschlug ihn und setzte sich an seine Stelle.
Er wählte die Stadt Thirsa zu seiner Residenz. Dieser Baesa
drehte den Spieß um und ging seinerseits zum Angriff gegen Juda
über, um es wieder zum Reiche zu bringen. Er befestigte die
nahe bei Jerusalem gelegene Grenzstadt Rama und versperrte den
Judäern die Straße nach Norden. Die Sperre muß unerträglich
gewesen sein; Asa, der Sohn oder der Enkel Rehabeams, wußte
sich endlich nicht anders zu helfen als dadurch, daß er Benhadad
von Damaskus seinem Gegner auf den Hals zog. Er erreichte seinen
Zweck, aber durch ein gefährliches Mittel ').
Baesas Sohn Ela wurde bei einem Gelage im Hause seines
Hausmeisters zu Thirsa ermordet, durch Zimri, den Obersten über
die Hälfte der Wagen. Dieser konnte sich jedoch seinerseits gegen
den Feldhauptmann Omri nicht halten, der von Gibbethon, wo er
mit dem Heere lag, gegen ihn heranrückte; er zog sich in den
Palast zurück, setzte ihn in Brand und kam in den Flammen um.
Dem Omri wiederum erstand in einem anderen Teile des Landes
ein Gegenkönig, Thibni ben Ginath; erst nach dessen Tode wurde
Omri allgemein anerkannt (vor 900 a. Gh.). Er ist der Gründer
der ersten eigentlichen Dynastie in Israel und der Neubegründer
des Reiches, dem er in der Stadt Samarien seinen bleibenden
Mittelpunkt gab. Die Bibel erzählt fast nichts von ihm, seine Be-
deutung erhellt aber daraus, daß der Name „Reich Omris" bei den
Assyrern die gewöhnliche Bezeichnung Israels blieb. Nach der
ganger reproduzirt haben (Pietschmann). In 1 Reg. 14 ist nur von der Er-
oberung Jerusalems die Rede.
') Nach I Reg. 15, 20 „schlug* Benhadad damals verschiedene Städte im
isr. Norden und Osten, darunter Dan. Daß er sie in Besitz genommen habe
(wie 2 Reg. 15, 29), wird nicht gesagt. Zur Zeit des Yf. von Jud. 17. 18 scheint
Dan zum Gebiet von Aram Beth Rehob gehört zu haben. Damaskus war nicht
das einzige aramäische Reich, das sich auf Kosten der Nachbarn ausbreitete,
sondern nur das mächtigste neben vielen andern.
Von Jerobeam I. bis zu Jerobeam II. 75
Inschrift Mesas war er es, der Moab, das beim Tode Davids oder
Salomos abgefallen war, zinsbar machte und die Landschaft Medaba
zu Israel schlug. Nicht so glücklich war er gegen die Damaszener,
denen er in seiner Hauptstadt Samarien gewisse Vorrechte ein-
räumen mußte.
Auf Omri folgte sein Sohn Ahab. Während der längsten Zeit
seiner Tvegierung scheint dieser König eine Art Oberherrschaft der
Aramäer von Damaskus anerkannt zu haben. Nur dadurch läßt
es sich erklären, daß er ihnen in der Schlacht von Karkar (854)
Heeresfolge leistete gegen die Assyrer. Aber eben infolge dieser
Schlacht, unter Benutzung der politischen Konstellation, die ihm
dadurch klar ward, löste er das Verhältnis zu ihnen. Nun be-
gannen ihre wütenden Angriffe auf Israel. Ahab begegnete ihnen
mit Mut und Glück; er schlug sie in einem siegreichen Ausfall
zurück, als sie ihn in seiner Hauptstadt belagerten; und als sie
im nächsten Jahre wiederkamen, besiegte er sie in offener Feld-
schlacht bei Aphek und nahm den König Benhadad gefangen. Zum
Arger manches eifrigen Israeliten behandelte er ihn indessen milde
und gab ihn unter gewissen Bedingungen frei; namentlich sollten
die den Israeliten entrissenen Städte in Gilead, darunter die wichtige
Festung Rama, wieder herausgegeben werden. Aber das geschah
nicht, und so entschloß sich Ahab im dritten Jahr seinerseits zum
Angriff auf die Aramäer überzugehn und ihnen Ramath Gilead')
mit Gewalt zu entreißen. Vor seinem Auszuge befragte er die
Propheten Jahves in Samarien, vierhundert Mann; sie antworteten
einhellig, Jahve werde Rama in seine Hand geben. Sedekia ben
Kanaani machte sich eiserne Hörner und sagte: damit wirst du
Aram stoßen bis zur Vernichtung. Nur Micha ben Jimla, der
immer Unheil verkündete, brachte auch diesmal einen Miston in
die Harmonie der patriotischen Musik'). „Ich sah Israel zerstreut
auf den Bergen wie Schafe ohne Hirten, und Jahve sprach: sie
haben keinen Herrn, sie kehren zurück, ein jeder ungefährdet nach
Hause." Er empfing den verdienten Lohn, Sedekia gab ihm einen
Backenstreich, der König ließ ihn einsperren, um ihn zu richten.
0 So und nicht Ramoth G. muß gesprochen werden, wenn der Absolutus
Rama (2 Reg. 8, 29) richtig ist. Die Stadt ist \ielleicht nicht unterschieden
von Mispha; sie lag nach Gen. 31 nördlich voni Jarmuk, hart an der ara-
mäischen Grenze bei Karnaim und Lodebar.
-) Ein merkwürdiges Pendant dazu findet sich Hier. 28, 29.
76 Fünftes Kapitel.
wenn er glücklich Aviederkomme. Aber er kam nicht Avieder. In
der Schlacht gegen die Aramäer, die sich bei Rama entspann, wurde
er von einem Pfeil zu Tode getroffen; da das Gefecht vorwärts
ging, so konnte er nicht aus der Front heraus, sondern mußte in
seinem Streitwagen und in seiner Rüstung bleiben, bis er abends
starb. Auf die Kunde davon zerstreute sich das Heer, die Leiche
des Königs wurde mitgenommen nach Samarien und dort ehren-
voir) bestattet (±851).
Noch unter Ahab, in der Mitte von dessen Regierung, hatte
König Mesa von Moab sich unabhängig gemacht, die Landschaft'
Medaba zuzückgewonnen, die Omri vierzig Jahre vorher seinem
Vater abgenommen hatte, und altisraelitisches Gebiet dazu erobert.
Ahab scheint keine Zeit gehabt zu haben ihn in seine Grenzen
zurückzuweisen, auch sein Sohn Ahazia, der auf ihn folgte, mußte
ihn gewähren lassen. Aber nach dessen vorzeitigem Tode zog sein
Bruder und Nachfolger Joram gegen ihn zu Felde, in Gemeinschaft
mit den Königen von Juda und Edom^). Man drang nach einer
siegreichen Schlacht von Süden her in Moab ein, zerstörte die Ort-
schaften, warf Steine auf die Äcker, verschüttete die Quellen und
hieb die Bäume um. Mesa hatte sich mit dem geschlagenen Heer
in seine Festung zurückgezogen, dort wurde er belagert. Nach-
dem er vergeblich versucht hatte den Ring zu durchbrechen, nahm
er seinen erstgeborenen Sohn und opferte ihn auf den Mauern der
Stadt: da kam ein großer Zorn über Israel und sie zogen ab von
ihm und gingen heim.
Joram konnte diesen Zug gegen Moab nur dann unternehmen,
wenn die Aramäer ihn zufrieden ließen. Es scheint in der Tat,
daß sie nicht in der Lage waren den Sieg über Ahab auszubeuten:
ohne Zweifel wurden sie daran gehindert durch die assyrischen
Angriffe in den Jahren 850. 849. Als diese eine Weile nachließen,
wandten sie sich sofort gegen Joram, trieben ihn hinter die Mauern
seiner Hauptstadt zurück und belagerten ihn dort. Schon war in
Samarien die Not aufs äußerste gestiegen, da zogen eines Tages die
Feinde unversehens ab, weil sie von einem Angriffe der „Ägypter
>) Prolegomena p. 29.3 s.
■^) Die luschvift Mesas ist vor dem Zuge Jorams, aber erst nach dem Tode
Ahabs abgefaßt. Denn wenn darin von der Hälfte der Regierungsjahre
Ahabs die Rede ist, so muß schon die Dauer der ganzen Regierung bekannt
gewesen sein.
Von Jerobeam I. bis zu Jerobeam IL 77
und Hethiten" auf ihr Land gehört hatten. ^löglich, wenngleich
nicht gerade notwendig, daß diese Ägypter und Hethiten vielmehr
wiederum die Assyrer waren, die im Jahre 846 aufs neue in Aram
einfielen. Dem gemeinen Mann in Israel waren die Assyrer noch
unbekannt, und so konnten in der volkstümlichen Erzählung be-
kanntere Mächte an ihrer Stelle gesetzt werden^). Infolge dieser
"Wendung atmete Joram wieder auf; begünstigt durch einen Dy-
nastiewechsel in Damaskus scheint er den Aramäern sogar die
Festung Ramath Gilead abgenommen zu haben, in deren Besitz
Ahab vergeblich zu kommen trachtete. Da aber brach plötzlich
über das Haus Omris eine Katastrophe ein, welche seit längerer
Zeit von den Propheten vorbereitet war.
2. Als die Nabiim zuerst auftauchten, vor dem Ausbruch der
Philisterkriege, waren sie in Israel eine fremdartige Erscheinung.
Mittlerweile hatten sie sich so eingebürgert, daß sie ganz wesent-
lich zu dem Bestände der Jahvereligion gehörten. Manches von
ihrem alten Wesen hatte sie abgeschlift'en, beibehalten aber hatten
sie das scharenweise Auftreten und das Leben in Vereinen mit
gemeinsamer auffallender Tracht. Diese Vereine hatten keine außer
ihnen selber liegenden Zwecke; die rabbinische Ansicht, es seien
Schulen und Lehrhäuser gewesen, wo das Gesetz und die heilige
Geschichte getrieben wurde, überträgt spätere Verhältnisse auf die
alte Zeit. Große Bedeutung hatten die Nabiim im Durchschnitt
nicht. Aber ab und zu erwuchs unter ihnen ein Mann, in welchem
der Geist, der in ihren Kreisen gepflegt wurde, gewissermaßen
explodirte. Geschichtliche AVirkung übten vor allem diese Heroen
aus, die über den Stand hervorragten, sogar in Opposition dazu
traten, doch aber auch wieder ihren Rückhalt darin fanden. Das
Prototyp dieser Ausnahmepropheten, die wir indessen nicht mit
Unrecht als die wahren Propheten zu betrachten gewohnt sind, ist
Elias von Thisbe in Gilead, der Zeitgenosse des Königs Ahab.
Seiner tyrischen Gemahlin Izebel zu lieb hatte Ahab dem ty-
rischen Baal einen Tempel und einen reichen Kultus zu Samarien
gestiftet. Dem Jahve dadurch Abbruch zu tun, war nicht seine
Meinung; Jahve blieb der Reichsgott, nach welchem er auch seine
') Merkwürdig ist dann die Voraussetzung, daß die Könige der Hethiten
Feinde der Damaszener waren. Sie wird verständlich aus dem, was früher
(p. 8. 70) über das Geschiebe und das Verhältnis der Völker in Syrien ge-
sagt ist.
78 Fünftes Kapitel.
.Söhne Aliazio und Jorani benannte. Von Zerstörung der Altäre
Jahves und Verfolgung seiner Propheten war keine Rede, nicht
einmal von Einführung des fremden Gottesdienstes außerhalb der
Hauptstadt. Da also der Herrschaft Jahves über Israel nicht zu
nahe getreten wurde, so fand der Glaube des Volkes nichts An-
stößiges an einer Handlungsweise, die hundert Jahre früher auch
Salomo befolgt hatte. Nur Elias protestirte dagegen. Für ihn war
es ein Hinken auf beiden Seiten, ein unvereinbarer AViderspruch,
daß man Jahve als den Gott Israels verehrte und daneben doch
dem Baal in Israel eine Kapelle erbaute. Die Menge hatte er
dabei nicht auf seiner Seite; sie staunte ihn wol an, aber sie be-
griff ihn nicht.
Elias hat keinen Vatersnamen. Einsam ragte dieser Prophet,
die grandioseste Heldengestalt in der Bibel, über seine Zeit hervor:
die Sage konnte sein Bild festhalten, aber nicht die Geschichte.
Man hat mehr den unbestimmten Eindruck, mit ihm in ein neues
Stadium der Religionsgeschichte zu treten, als daß mau ausmachen
könnte, worin der Unterschied gegen früher bestand. Nachdem
Jahve zunächst im Kampfe gegen äußere Feinde die Nation und
das Reich gegründet hatte, reagirte er jetzt innerhalb der Nation,
auf geistigem Gebiete, gegen die fremden Elemente, die bis dahin
ziemlich ungehindert hatten zutreten dürfen. Die Rechabiten, die
damals aufkamen, protestirten in ihrem Eifer für Jahve gegen die
ganze auf den Ackerbau begründete Kultur und griffen grundsätz-
lich zurück auf das urisraelitische Nomadenleben in der A\'üste;
die Naziräer enthielten sich wenigstens des Weines, des Haupt-
symbols der dionysischen Zivilisation. Hierin tat allerdings Elias
nicht mit; sonst wäre er wol auch der Menge verständlicher gewesen.
Aber den Geist begreifend, aus dem diese Wunderlichkeiten her-
vorgingen, erfaßte er Jahve als einen Herrn, mit dessen Dienst
sich kein anderer Dienst vertrage. Dis Errichtung jenes königlichen
Tempels für den tyrischen Baal in Samarien gab ihm den Anlaß
zum Kampf gegen den Baalskultus überhaupt, gegen die zwischen
Baal und Jahve schillernde Unentschiedenheit, von der sich nur
wenige in Israel ganz frei gehalten hatten. Ihm bedeuteten Baal
und Jahve, wie man annehmen möchte, einen Gegensatz der Prin-
zipien, der letzten und tiefsten praktischen Überzeugungen; sie konn-
ten nicht beide Recht haben und neben einander bestehn. Für ihn
gab es nicht auf verschiedenen Gebieten deichberechtig;te anbetuno-s-
Vou Jerobeam I. bis zu Jerobeam IL 79
würdige Kräfte, sondern überall nur ein Heiliges und ein Mäch-
tiges, das nicht in dem Leben der ]S'atur, sondern in den Gesetzen
der menschlichen Gemeinschaft, durch die allein sie bestehn kann,
in den sittlichen Forderungen des Geistes sich offenbarte. Er sah
auch den Kampf der Götter nicht, wie es hergebracht war, für
einen Kampf der Nationalitäten an. Der Gott Israels hatte ganz
unabhängig von Israel seinen eigenen ewigen Inhalt, er identifizirte
sich nicht mit seinem Volke und dessen je\^■eiligen Wünschen und
Zielen. Besonders wichtig in dieser Hinsicht ist der Standpunkt,
welchen Elias zu den schweren Unglücksfällen und Drangsalen
einnimmt, die damals über sein Volk hereinzubrechen begannen
und es an den Rand des Unterganges brachten. Sie werden ihm
zum voraus angekündigt, um seine Klage zu beschwichtigen, daß
seine Arbeit vergeblich gewesen sei; es ist ihm ein Trost zu hören,
daß nur diejenigen, die ihre Knie nicht dem Abgott gebeugt haben,
siebentausend Manu, von Israel übrig bleiben, alle anderen dem
Schwert zum Opfer fallen sollen'). Wenn Jahve über den Baal
triumphirt, so hat Elias seinen Zweck erreicht, mag Israel darüber
bis auf einen kleinen Rest zusammenschwiuden. Das ist der Ein-
druck, den der Erzähler der Theophanie auf dem Horeb von dem
Wirken dieses Propheten hat, und schwerlich ist sein Eindruck
unrichtig gewesen. Die Gottesidee begann damals in Einzelnen,
wie es scheint, sich über die nationale Schranke zu erheben.
Ähnliches Geistes Kind wie Elias, und ebenso einsam stehend wie
er, war sein Zeitgenosse Micha ben Jimla, der im Namen Jahves
') Nach der vulgären Erklärung von 1 Reg. 19 soll Elias, der Schlächter
der Baalspfaffeu, durch die Theophanie bedeutet werden, er solle nicht so
heftig, sondern fein sanft sich benehmen; das sei Jahve gemäß. Aber Elias
ist in Verzweiflung, weil er vergeblich gearbeitet hat, und er wird von Jahve
damit getröstet, daß nicht bloß die Baalspriester, sondern alle Baalsdiener
in Israel, hunderttausende, ausgerottet werden sollen. Das sanfte Säuseln
Jahves kann also unmöglich seiner eigenen Sturmnatur als mahnendes Vorbild
entgegen gehalten werden. Jene sentimentale Ausdeutung der Theophanie ist
ein abscheuliches Misverständnis, an dem allerdings eine Verunstaltung des
Textes zum Teil die Schuld trägt; vgl. die Kompos. des Hex. p. 280 n. 1.
Die Theophanie ist rein sinnlich und malerisch; ihre Phasen folgen sich der
Natur gemäß und enthalten keinerlei moralischen Gegensatz. Sturm und Beben
und Blitze sind Jahves Vorreiter, darnach kommt er selbst in dem leisen
Säuseln, womit das Gewitter schließt, und macht sich dem Propheten ver-
nehmlich.
80 Fünftes Kapitel.
Unlieil schaute über Israel — ganz gemäß dem Wesen des wahren
Propheten, wie es Jahrhunderte später Jereraias (28, 8) bestimmte,
an den man überhaupt durch Micha ben Jimla sich erinnert fühlt.
3. Diese Männer waren ein Vorspiel der Zukunft, für die
Gegenwart war ihr Wollen verloren. Was die unmittelbaren Nach-
folger Elias von ihm verstanden hatten, beschränkte sich darauf,
daß man den Baalsdienst in Samarien und das Haus Ahabs dazu
mit Stumpf und Stiel ausrotten müsse. Zu diesem praktischen
Ziel benutzte Elisa ben Saphat von Abel Mechola am Jordan, der
Jünger Elias, praktische Mittel. Als einst Elias wie ein Blitz auf
König Ahab getroffen war, wie er am Tage nach der Hinrichtung
Naboths dessen Acker in Besitz nahm, und ihm den blutigen
Untergang gedroht hatte, war ein Kriegsoberster zugegen gewesen,
Jehu ben Nimsi; der Auftritt war ihm unvergeßlich geblieben.
Dieser Mann nun stand an der Spitze der Truppen in Ramath
Gilead, nachdem Joram ben Ahab sich vom Kriegsschauplatze hatte
zurückziehen müssen, um sich in Jezreel, dem Lieblingsaufenthalt
der Könige aus dem Hause Omri, von einer Verwundung heilen zu
lassen. Dem Elisa schien der Augenblick geeignet zur Vollstreckung
der Drohung Elias gegen das Haus Ahabs. Er sandte einen Pro-
pheten nach Rama mit dem Befehl Jehu zum Könige zu salben.
Der Bote fand ihn in einer Gesellschaft von Hauptleuten. Er rief
ihn heraus in ein heimliches Gemach, goß Ol auf sein Haupt und
verkündete ihm, Jahve habe ihn zum Könige über sein Volk
gesalbt. Dann öffnete er die Tür und verschwand. Als Jehu
wieder zum Vorschein kam, fragten ihn seine Kameraden, was der
Verrückte gewollt habe; nach einigen Ausflüchten sagte er ihnen
die Wahrheit. Da breiteten sie ihre Kleider auf dem Altan aus
als Teppiche unter seinem Stuhl, ließen ins Hörn blasen und aus-
rufen: Jehu ist König geworden '). Es wurde beschlossen, sofort mit
einem reisigen Haufen den Joram in Jezreel zu überfallen, ehe ihn
die Kunde von dem Vors-ange erreiche. Der Wächter auf dem
') Ganz so drastisch, wie es hier und bei der ganzen Revolution scheint,
ist es doch nicht zugegangen. Das erhellt aus den in den Hauptbericht nach-
getragenen trockenen Angaben 2 Reg. 9, 14. 15. Nach 1 Reg. 19, 16 ist Jehu
auch gar nicht erst von einem Jünger Elisas gesalbt worden, sondern lange
vorher durch den Propheten Elias. Dieser wird nun dabei allerdings nicht die
Hand im Spiel gehabt haben, aber historisch wertvoll ist doch die Voraus-
setzung, daß die Salbung nicht erst im letzten Moment geschah.
Von Jerobeam I. bis zu Jerobeam II. 31
Turm von Jezreel sali die Anstürmenden von ferne, Joram sandte
ihnen einen Reiter entgegen und noch einen zweiten, um Nachricht
einzuziehen; beide kehrten nicht wieder. Inzwischen kamen die
Wagen und Reiter näher; der Wächter erkannte an dem tollen
Jagen den Jehu. Darauf ließ Joram anspannen und fuhr selber
dem Jehu entgegen. Bei dem Acker Naboths traf er ihn und
fragte, was geschehen sei; die Antwort, die er erhielt, veranlaßte
ihn schleunig umzuwenden. Aber Jehu schoß ihm einen Pfeil
durch den Rücken ins Herz; die Leiche ließ er durch den Schild-
knappen, der neben ihm im Wagen stand, auf den Acker Naboths
werfen. „Denn ich gedenke, als wir paarweise hinter Ahab her
ritten, wie Jahve über ihn den Spruch tat: fürwahr das Blut Na-
boths und seiner Söhne habe ich gestern fließen sehen, und ich
zahle es dir heim auf diesem Acker." Bei seiner Einfahrt in
Jezreel guckte die Königin-Mutter Izebel festlich geschmückt aus
dem Fenster und rief ihm einen höhnischen Gruß zu. Er ließ
sie von zwei ihrer eigenen Kämmerer auf die Straße stürzen, ging
darauf in den Palast, setzte sich zu Tisch und ließ es sich gut
schmecken. Alle übrigen vom Hofgesinde zu Jezreel, Verwandte,
Beamte und Priester Ahabs, verfielen gleichfalls dem Tode. Aber
die Hauptstadt des Reiches, der eigentliche Sitz der Dynastie und
der Wohnort der Hauptmenge ihrer Angehörigen, war nicht Jezreel,
sondern Samarien. Dahin schrieb nun Jehu einen Brief an die
Obersten und Altesten der Stadt mit der Aufforderung, den besten
und tüchtigsten unter den Königssöhnen auf den Thron zu setzen
und für ihn zu kämpfen. Sie antworteten: wir sind deine Knechte,
wir wollen alles tun, was du uns sagst, wir wollen niemand zum
König machen, tu, was dir gefällt. Nun befahl er ihnen in einem
zweiten Briefe, alle Königssöhne umzubringen, die sie bei sich
hätten. Da schlachteten sie sie alle, ihrer siebzig Mann, legten
ihre Häupter in Körbe und schickten sie ihm nach Jezreel, wo sie
am Tore aufgeschichtet wurden. Als er am anderen Morgen die
beiden Haufen sich betrachtete, sprach er seine Verwunderung aus
über den Eifer seiner freiwilligen Mitarbeiter, deren Mut er so
richtig geschätzt hatte. Mit leichter Mühe hatte er sein Spiel ge-
wonnen^ er fuhr nun selber sofort nach Samarien und vollendete
dort sein Blutwerk an dem Rest des Hauses und des Hofes Ahabs.
Dann ging er an den anderen Teil seiner Aufgabe. Unter dem
Verwände, dem Baal ein Fest feiern zu wollen, versammelte er die
Wellhausen, Isr. Geschichte. 5. Aufl. Q
82 Fünftes Kapitel.
in der Hauptstadt befindlichen Priester und Propheten des Gottes
in dessen Tempel. Er selber brachte das Opfer; nachdem er damit
fertig war, gab er seinen Trabanten einen Wink, die draußen
zurückgeblieben waren. Sie drangen in das Heiligtum ein und
ließen niemand lebendig hinaus. Hernach zerschlugen sie die Säule
des Baal' und zerstörten sein Haus; die Trümmer dienten später
zu einem Abort.
Aus der Weise, wie Jehu die Priester und Propheten des Baal
in die Falle lockte, geht hervor, daß niemand bisher daran dachte,
in ihm den Vorkämpfer Jahves zu erblicken. Seine Verbindung
mit den Propheten war geheim, Elisa hielt sich im Hintergründe;
wenn es richtig ist, daß Jonadab ben Rekab, der Stifter der Recha-
biten, mit ihm auf seinem Wagen in Samarieil einfuhr, so kann
dieser noch nicht allgemein als Baalshasser bekannt gewesen zu
sein. Der Baal ist es nicht gewesen, der das Haus Ahabs zu Eall
gebracht hat, sondern gemeiner Verrat. Die Eiferer haben ein recht
unheiliges Werkzeug zu ihren Zwecken aufgeboten, von dem sie
dann selbst als heiliges Mittel zu seinen Zwecken benutzt wurden.
Es ist ihnen keineswegs gelungen, das Volk zum Sturm gegen den
Baal mit fortzureißen. Von einer allgemeinen Bewegung gegen die
Dynastie wurde Jehu nicht getragen, die Menge stand wie gelähmt
vor den Schlag auf Schlag sich folgenden Greueln, noch hundert
Jahre später war der Schauder über die Bluttat von Jezreel lebendig.
Die ganze große Umwälzung wurde durch eine Offiziersverschwö-
rung zu Stande gebracht. Jehu hatte nur die Berufssoldaten hinter
sich, mit denen konnte er noch damals ähnliches ausrichten wie
dreihundert Jahre früher Abimelech mit einer handvoll loser Leute.
Man sieht die Schwäche des Königtums in Israel, es ruhte nur auf
dem Heere und den Kriegsobersten. Das Volk zeigte sich merk-
würdig apathisch und feige, es ließ sich von dem verwegenen Manne,
der so entschieden und so sorglos auftrat, alles bieten und kam
erst zur Besinnung, als er das Spiel gewonnen hatte.
Jehu begründete die zweite und letzte Dynastie des Reiches
Samarien. ]\Iit der Erbschaft des Hauses Omri fiel ihm auch die
Aufgabe zu, sich der Ai»amäer von Damaskus zu erwehren. Da
er ihnen nicht gewachsen war, suchte er an ihren alten Feinden,
den Assyrern, eine Stütze zu gewinnen. Seine Gesandten brachten
dem assyrischen Könige Geschenke dar, wol keine regelmäßigen,
sondern einmalige, die nur von der Eitelkeit des Großkönigs als
Vou Jerobeaiu I. bis zu Jerobeam II. 83
Tribiitleistungen eines Vasallen aufgefaßt wurden. Gleichzeitig be-
warb sich freilich auch Hazael von Damaskus mit Geschenken bei
dem Assyrer; er scheint indessen damit nichts erreicht zu haben.
Denn in den Jahren 842 und 839 erfolgten wiederum assyrische
Feldzüge gegen die syrischen Aramäer. Dann aber hörten die-
selben für lange Zeit auf, und die samarischen Könige, Jehu und
seine beiden Nachfolger, waren auf sich selber angewiesen. Das
waren schlimme Zeiten für Israel. Mit hartnäckiger Grausamkeit
wütete die Grenzfehde im Lande Gilead; dazwischen kamen auch
große Expeditionen vor, deren eine den König Hazael bis in das
Philisterland und bis unter die Mauern von Jerusalem führte.
Amnion und Moab sekundirten den Syrern; auch die Philister
machten sich die Situation zu nutz^). Nur durch die größte An-
strengung ward die Selbständigkeit Israels gerettet. Noch einmal
ging die Religion Hand in Hand mit der Nation; in merkwürdigem
Gegensatz zu seinem Vorgänger Elias war der Prophet Elisa die
Hauptstütze der Könige, Wagen und Reiter Israels im Kampf gegen
die Aramäer. Es gelang endlich dem Enkel Jehus, Joas ben Joahaz,
ihnen mehrere und entscheidende Schläge beizubringen. Unter Joas'
Sohne, Jerobeam IL, erstieg das Reich sogar einen Gipfel äußerer
Macht, der an die Zeiten Davids erinnern konnte. Moab wurde
wieder unterworfen, die südöstliche Grenze reichte bis an den Bach
der Heide, im Nordosten wurden Karnaim und Lodebar erobert').
Die aramäische Gefahr war durch den Königsstamm Joseph und
seinen erstgeborenen Stier, den Gesalbten Jahves, abgewiesen. „Sein
erstgeborener Stier hat Hörner, mit denen er die Völker stößt, das.
sind die Myriaden Ephraims und die Tausende Manasses," „Die
Pfeilschötzen reizten und schössen ihn, aber sein Bogen blieb zu-
verlässig und seine Arme spannkräftig." Gilead blieb Israel er-,
halten, Laban und Jakob schlössen einen Friedensvertrag, wodurch
die Grenze zwischen ihren Völkern bestimmt und gesichert wurde.
1) Arnos 1. Isa. 9, 11.
^) Arnos 6, 13. Isa. 15. 16. Moab scheint sich von dem Schlage nicht
■wieder erholt zu haben; Ammon tritt hinfort an die Stelle.
34 Sechstes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Gott Welt und Leben im alten Israel.
1. Hier ist der Ort, vor dem Auftreten derjenigen Propheten,
welche das neue Israel schufen, einen kurzen Blick auf das alte
zu werfen, welches mit dem Reiche Samarien unterging. Von einer
früheren Periode als dem Jahrhundert von 850 — 750 läßt sich
kaum eine Statistik geben. Denn während die großen Begeben-
heiten der Geschichte ziemlich zuverlässig durch lange Zeit be-
wahrt werden können, ist für die Schilderung von Zuständen,
wenn sie nicht, wie in Arabien, stagniren, eine gleichzeitige Lite-
ratur unentbehrlich. Die hebräische Literatur aber erblühte erst
ia dieser Periode, namentlich wie es scheint nach der glücklichen
Abwehr der Syrer. Geschrieben wurde zwar schon früh'), aber nur
Urkunden, Rechnungen und Verträge, außerdem Briefe, w'enn der
Inhalt der Botschaft das Tageslicht scheute oder aus anderen
Gründen geheimgehalten werden sollte; die ältesten Aufzeichnungen
sind kurz und undeutlich, als ob sie nur Hilfen und Anhaltspunkte
der Erinnerung sein sollten, man sparte an der Schrift. Früh ent-
wickelte sich auch im Zusammenhange mit der Religion der histo-
rische Sinn des Volkes, die großen Taten Jahves d. i. Israels wurden
in Liedern besungen, aber diese Lieder wurden ursprünglich nur
mündlich überliefert. Die Literatur begann mit der Sammlung und
Aufzeichnung derselben, das Buch der Kriege Jahves und das Buch
des Redlichen waren die ältesten Geschichtsbücher"). Dann ging
^) Die Briefe von Tel Amarua sind noch nicht in phönlcischen Buch-
staben, sondern in babylonischen Keilzeichen geschrieben, nicht lange vor der
Einwanderung der Israeliten. Die älteste, bis jetzt gefundene Inschrift in Buch-
staben scheint die auf der Schale von Limassol zu sein. Die Angabe Jud. 8, 14
ist verdächtig.
2) Num. 21, 14. Jos. 10, 13. 2 Sam. 1, 18. 1 Reg. 8,53 Sept. Die
als Beläge in die Erzählung der historischen Bücher aufgenommenen Lieder,
zu denen 2 Sam. 22. 23, 1 — 7 nicht gehören, sind inhaltlich von den Psalmen
sehr verschieden, gleichen ihnen aber in der poetischen Form. Die Form ist
das Sag', das sich bei den Arabern von alter Zeit her im Munde der Seher bis
auf Muhammed erhalten hat. Eine Anzahl ganz kurzer, vielfach paralleler Sätze
wird durch den Sinn zu einem Verse zusammengefaßt. Der Reim, der im Ara-
bischen die Kola auch äußerlich zu einem größeren Ganzen verbindet, fehlt im
Hebräischen noch: dafür ist vielleicht die Zahl der Kola etwas fester begrenzt.
Gott Welt und Leben im alten Israel. 85
man dazu über, auch in Prosa Geschichte zu schreiben, unter Be-
nutzung von Urkunden oder Familienerinnerung; in den Büchern
der Richter, Samuelis und der Könige ist uns ein ziemlicher Teil
dieser alten Historiographie erhalten, verbunden mit Annalen der
Könige'). Gleichzeitig wurden auch schon Sammlungen von Rechts-
grundsätzen undWeistümern aufgeschrieben, wovon wirinExod. 21.22
ein Beispiel besitzen. Erst später folgte die Aufzeichnung der Sagen
über die Patriarchen und über die Urzeit, welche nicht sehr früh
entstanden sein können. Merkwürdig insonderheit ist das Auf-
kommen einer schriftlichen Prophetie. Den Propheten lag doch das
Schreiben nicht nahe; sie wirkten persönlich und unmittelbar durch
das Wort. Noch Elias und Elisa haben nicht geschrieben. Warum
aber griff hundert Jahre später Arnos zur Feder? Es läßt sich kaum
anders erklären als durch den literarischen Zug seines Zeitalters").
Wir beginnen mit unserer Statistik bei den Familienverhält-
nissen. Polygamie war selten, Monogamie die Regel, doch galt es
für unanstößig, Kebsweiber zu haben oder in einer fremden Stadt
bei Huren Herberge zu halten. Sitte und Liebe wies den Ehefrauen
eine angesehene Stellung an^), aber Spuren von einem Recht, wo-
nach sie gekauft wurden und dann zum vererbungsfähigen Besitz
^) Letztere ganz in der Form der tyrischeu Annalen: Hirom ward König
im Alter von 5o Jahren und regierte 34 Jahre; ißaatXs'jaEv hat gerade wie va-
jimlok den doppelten Sinn: er ward König und regierte (Josephus c. Ap. 1, 117).
Den unter dem Personal der Hofbeamten aufgeführten Mazkir darf man aber
mit den ganz kurzen und immer erst nach dem Tode des betreffenden Königs
verfaßten Annalen nicht in Verbindung bringen.
-) Die historische Literatur des alten Testaments ist anonym, die poeti-
sche nicht durchaus, die prophetische durchaus nicht. Jeremias ("23, 30) schilt
auf Diebe, die das Wort Jahves anderen abstehlen.
^) Nach Gen. 2. 3 ist die Frau die ebenbürtige Gehilfin des Mannes.
Daß sie seiner Herrschaft unterworfen ist und daß sie mit Schmerzen Kinder
gebiert, gilt als ein Fluch, als eine Verkehrung des Ursprünglichen. Der
Mann verläßt Vater und Mutter, um mit seinem Weibe eine neue und unab-
hängige Familiengemeinschaft zu gründen. Jedoch der Umstand, daß der Priester
nur um seine nächsten Blutsverwandten, nicht aber um seine Frau trauern darf,
zeigt, daß die Frau doch nicht völlig zur Familie gehörte, nicht völlig mit dem
Manne zu einem Fleisch (Gen. 4, 24 = Verwandtschaft) verwachsen war. Als
Mutter, Söhnen gegenüber, hatte sie eine ganz andere Stellung wie als Gattin.
Auf Ehebruch der Frau stand die Steinigung oder nach Gen. 38 (bei einer
Witwe) die Verbrennung.
86 Sechstes Kapitel,
gehörten, erhielten sich noch bis in dieses Zeitalter '). Verwandten-
heirat, sogar mit der Halbschwester, war nicht verpönt, der Vater
gab seine Tochter lieber einem Vetter als einem anderen Manne ').
Über die Kinder hatten die Eltern volle Gewalt, sie durften sie
opfern und auch in Sklaverei verkaufen, doch wurde ein großer
Unterschied zwischen Söhnen und Töchtern gemacht '). Die Sklaverei
scheint nicht das schlimmste Los gewesen zu sein. Die Knechte
und Mägde standen gesellschaftlich ihren Herren und Frauen ziem-
lich gleich und waren sogar rechtlich einigermaßen geschützt. Die
Sklaverei hatte nicht die politische Bedeutung wie bei den Griechen
und Römern; sie hätte aufgehoben werden können, ohne daß da-
durch dem Gemeinwesen seine Grundlage entzogen wäre.
Die Ansässigkeit war jetzt vollkommen durchgedrungen, der
unterschied zwischen Hebräern und Kanaaniten entweder ver-
schwunden oder zu einem bloßen Standesunterschiede geworden.
Erscheinungen wie Goal, Jephtah, Simson, David in der Wüste
Juda, w^ären in dieser Zeit kaum möglich gewesen; an die Stelle
des freien schweifenden Lebens war ein ganz anderes Ideal getreten,
wie die Patriarchen zeigen. Die Hirten nomadisirten nicht mehr,
Jakob blieb daheim bei den Hürden, während Esau schweifte. Die
Viehzucht überwog nur noch strichweise, zum Beispiel in Teilen
von Juda und vom Ostjordanlande, im ganzen trat sie zurück
gegen die Ackerwirtschaft'). Der Feld- und Gartenbau galt als
1) Gen. 35,22. 49,4. 2 Sam. 3, 7. 12,8. 11. 16,21s. 1 Reg. 2, 22.
■) Gen. 20, 12. 29, 19. 2 Sam. 13, 13. Die weitgehenden Beschränkungen
Lev. 18 lind 20, Dt. 27, 20-23 stammen größtenteils aus sehr später Zeit;
vgl. Dt. 23, 1. 25, 6 (dagegen Lev. 18, 16. 20, 21. Dt. 27, 25). Heiraten mit Aus-
länderinnen waren nicht verboten; für die Erhebung einer Kriegsgefangenen
zur Ehefrau werden besondere Vorschriften gegeben Dt. 21, 10 ss.
3) Auf störrischer Vernachlässigung und Lästerung der Eltern, auch der
Mutter, stand der Tod; die Strafe konnte allerdings nur von dem Gemeiude-
gericht verhängt und vollzogen werden, aber in ältester Zeit war der patria
potestas diese Schranke schwerlich gezogen. Der freiwillige Verkauf wird nur
bei der Tochter erwähnt Exod. 21,7. Er unterschied sich nicht viel von der
Dahingabe der Tochter zur Ehe, die ebenfalls für Geld geschah. In dem Falle
2 Reg. 4, 1 verlangt der Gläubiger von der Witwe den Verkauf ihrer Kinder;
vgl. Mich. 2, 9, lob. 24, 9.
') Das Rind diente zum Pflügen, der Esel zum Reiten; Kamele gab es
in ^ dem gebirgigen Lande nicht. Ein und das andere nomadische Wort ist
beibehalten, z. B. nave (das Reiseziel, daher sowol die Weide als die
Wohnung).
Gott Welt imd Leben im alten Israel. 37
der eigentliche Beruf des Menschen'); geruhig unter seiner Rebe
und unter seinem Feigenbaum zu sitzen, war das Ziel der Wünsche
eines richtigen Israeliten. Von freiwilliger Fruchtbarkeit war das
Land freilich nicht, die Wüste fraß um sich, wo ihr nicht ent-
gegengearbeitet wurde. Aber der Schweiß des Angesichts tat hier
Wunder. Die terrassirten Berge waren mit Wein und Oliven
bedeckt, die Täler und Ebenen trugen Weizen und Gerste die Fülle.
Offenbar stand der Anbau auf einer sehr hohen Stufe'). Handwerke
und Künste dagegen arbeiteten nur für den einfachen Hausbedarf;
Weben, Töpfern, Zimmern und Schmieden waren die wichtigsten.
Bei goldenen Geräten wird das Gewicht, nicht die Kunst geschätzt
(Gen. 24, 22), wie sie auch sonst im Orient einfach in Zahlung
gegeben werden, selbst nachdem es schon Münzgeld gab.
Die hergebrachte Lebensweise war einfach. Die Ortschaften
waren meistens 'offen, gemeiniglich auf halber Höhe eines Hügels
gelegen, unterhalb des Altars und der Tenne und oberhalb des
W^assers. Ringmauern waren in alter Zeit kaum vorhanden; die
Befestigung bestand iu einer Burg, wohin sich die Bevölkerung in
Zeiten der Not zurückzog'). Die Häuser wurden aus Lehm gebaut
und hatten in der Regel nur ein Zimmer, das Licht kam durch
vergitterte Luken; aus denen, die am Dach angebracht waren, zog
der Rauch*). Der Herd hatte keine feste Stellung im Hause und
keine religiöse Bedeutung'); in dem Punkte berührten sich die
') Gen. 2, 15. 3, 17 ss. Die Verordnungen Exod. 21. 22 beschäftigen sich
nur mit bäuerlichem Privatrecht. In Gen. 4, 20—22 dagegen werden die Acker-
bauer gar nicht genannt, sondern nur die Hirten, Musikanten und Schmiede.
Eine Aufzählung von Getreidearten und Sämereien findet sich Isa. 28, 23 ss.
Die Gartenvegetation hat sich in der persischen und griechischen Zeit sehr
verändert, wie man namentlich aus dem Hohenliede ersieht.
■) Künstliche Bewässerung in größerem Maße fand nicht statt (Deut.
11, 10 s.). Darum wird in Exod. 21 s. vom Wasserrecht nicht gehandelt, welches
sonst in einer Bauerngesetzgebimg nicht hätte fehlen dürfen.
3) Jud.8,9. 17. 9,6. 20. 51. Die Burg von Sichern und auch die von
Jerusalem heißt Beth Millo. Migdol ist eigentlich nur ein Turm.
*) Os. 13, 3. Nach Marc. 2,4 war die Stiege außen am Hause angebracht;
ebenso bei den Arabern (Vaqidi 170. Baladh. 46, 15. Tabari 1 1379, 7). Die
Araber haben für Haus und Zimmer nur ein Wort.
') Es gibt im Hebräischen kaum ein Wort für den Herd, der Name
aschphot (J.D.Michaelis Suppl. No. 187) hat bezeichnenderweise die Be-
deutung „Dreckhaufen" angenommen. Das zeigt den Unterschied von dem
88 Sechstes Kapitel.
Israeliten mit den Arabern und unterschieden sich von den Griechen,
denen sie sonst in den Dingen des täglichen Lebens viel näher
standen. Die Möblirung eines Obergemachs wird einmal be-
schrieben, sie bestand aus Lagerstatt, Tisch, Stuhl und Leuchter.
Die allgemeine Tracht war Rock und Mantel, d. h. Unterkleid und
Überwurf; der Überwurf diente auch als Schlafdecke'). Stab und
Siegelring kamen hinzu. Die Füße wurden geschützt, Kopfbedeckung
dagegen war nicht üblich. Fleisch gab es für den gemeinen Mann
nur an den Opfertagen, dreimal im Jahr, zu essen; das war auch
vorzugsweise die Gelegenheit, Wein zu trinken. Gewöhnlich
mußten Mehl und Ol für die Küche genügen, beides wurde in
irdenen Krügen aufbewahrt. Das Brot, von Gerste und späterhin
gewöhnlich von Weizen, wurde in der Regel gesäuert"). Die alte
Hauptmahlzeit fand, wie es scheint, nicht abends sondern mittags
statt ^). Verglichen mit den Ägyptern kamen sich die Israeliten
robust und unverzärtelt vor, weniger von Krankheiten geplagt.
Jahve Avar ihr Arzt; sie brauchten keine Heilküustler, kaum Heb-
ammen.
indoeuropäischen Herde, dem Hausaltar; für das nicht verlöschende Herdfeuer
tritt bei den Hebräern die ewige Lampe ein. Das älteste Mittel, dessen man
sich zum Garmachen bediente, waren glühende Steine (ri(,^pha, ebenso
arabisch und auch syrisch). Man tat sie in einen Eimer oder Schlauch, um
das Wasser oder die Milch heiß zu machen; man legte sie in Reihen auf die
Asche, um zu backen und zu braten, der Ofen ist ursprünglich nur ein Schlot
darüber.
1) Exod. 22,26. Am. 2, 8.
^) Das Wort, das die Hebräer für Olivenöl gebrauchen, bedeutet im
Arabischen Butterschmalz. Auch das irdene Gerät — bei nebel findet sich
der Bedeutungsübergang von Schlauch zu Krug — unterscheidet sie höchst
charakteristisch von den Arabern; sie nehmen es sogar auf den Feldzug mit
(Jud. 7, 16. 20). Ebenso das gesäuerte Brot; in Jud. 7, 13 ist ein kugelndes
(also nicht fladenartiges und ungesäuertes) Gerstenbrot das Symbol der israe-
litischen Bauern, das Zelt das Symbol der midianitischen Nomaden. Als Zu-
kost kommen vor Feigen, Zwiebeln, Knoblauch, Gurken, Kürbisse, Linsen,
bittere Kräuter; als Leckerbissen Kuchen von gepreßtem Obst. Der Gebrauch
des Salzes ist alt, nicht aber der des Essigs, der den späteren so unentbehr-
lich war. Honig scheint immer wilder Honig „aus dem Felsen" zu sein wie
bei den Beduinen; zur Zeit der arabischen Eroberung gab es jedoch in Syrien
Bienenzucht und Bienenkörbe (Baladh. 57). Kerzen aus Wachs kommen nicht
vor, nur Öl und Docht. Die Fackeln sind Späne.
3) Gen. 43, 16. 25.
Gott Welt und Leben im alten Israel. 89
Jedoch die Zeiten fingen an sich zu ändern. Der Handel war
lange nur von den kanaanitischen Städten betrieben, so daß der
Name Kanaanit sogar geradezu zur Bezeichnung eines Händlers
diente '). Jetzt aber trat Israel in Kanaans Fußstapfen, zum Leid-
Avesen der Propheten^). Die Könige selber, seit Salomo, waren mit
gutem oder schlechtem Beispiel vorangegangen, indem sie in Ge-
meinschaft oder in Konkurrenz mit den Tyriern überseeischen
Handel und andere Geschäfte in großem Maße betrieben. Die
Städte gewannen an Bedeutung, das Geld entwickelte seine Macht ^),
es bahnte sich eine Umwälzung an, die kein frommer Eifer zu
hemmen vermochte. Kornwucher, Latifundien, Häufigkeit der Ver-
pfändungen und der Schuldknechtschaft sind Anzeichen, daß der
gleichmäßig verteilte Besitz gegenüber den großen Vermögen sich
nicht zu halten vermochte*). Der Riß zwischen Reich und Arm,
A^ornehm und Gering wurde breiter, die oberen Tausende unter-
^) In der Gesetzgebung wird wahrscheinlich absichtlich auf Handel und
Gewerbe keine Rücksicht genommen, sondern nur auf Landwirtschaft; nur der
Grundbesitz verlieh die vollen bürgerlichen und religiösen Rechte. Aber schon
in Exod. 21 s. wird nicht mit Vieh, sondern mit Geld bezahlt, und das Geld
spielt im Recht eine große Rolle, freilich nur bei Schadeusersatz, Buße und
Komposition.
-) Os. 12, 8. 9: Was tut Jakob? macht es wie Kanaan, in dessen Hand
trügerische (Geld-) Wage ist, das da liebt zu übervorteilen. Ei, spricht
Ephraim, ich bin doch reich geworden, habe mir Vermögen erworben — all
sein Vermögen reicht nicht aus für die Schuld, die es sich zugezogen.
") Abimelech dang sich mit 70 Sekel eine Leibwache, David kaufte um
50 Sekel die Tempel-Area und ein Joch Rinder dazu. Dagegen kostet Ex. 21,
32 (vgl. Gen. 37, 28) ein Knecht 30 Sekel, Dt. 22, 29 eine Jungfrau 50 Sekel,
Gen. 23, 16 eine Grabhöhle 400 Sekel, und 1 Chr. 21, 25 wird der Preis der
Tempel-Area, die David kaufte, von 50 Sekel Silber auf 600 Sekel Gold erhöht.
VgLJud. 17,3 mit v. 4; 8,21 mit v. 24—26. Das Geld (Silber) wurde natür-
lich nicht gezahlt, sondern gewogen. Doch soll keschita Gen. 33, 19 der
Name einer kleinen Münze sein und sich als solcher in Karthago bis zu den
Zeiten des R. Akiba im Gebrauch erhalten haben.
*) Am. 8, 5. Isa. 5, 8. Os. 5, 10. Dt. 19, 14. Daraus daß der Über-
gang von Freien in Knechtschaft oft vorkam, erklärt sich die Verordnung
Exod. 21, I SS., die aber nicht durchdrang (Hier. 34) und später ermäßigt
wurde (Lev. 25,28); vgl. 2 Reg. 4,1. Über Verpfändung s. Dt. 24,10—13.
Exod. 22,26. Am. 2,8. Zins wird Exod. 22,24 untersagt; um so mehr hielt
man sich am Pfände schadlos. Von Kreditwirtschaft findet sich keine Spur:
die Schulden sind immer Notschulden. Immerhin gab es noch ums Jahr 740
sechzigtausend vermögliche Männer in Israel (2 Reg. 15, 19. 20).
90 Sechstes Kapitel.
schieden sich in ihrer Lebensweise immer mehr von dem gemeinen
Volke. Sie bauten sich Häuser aus Quadersteinen; sie aloen den
Festbraten täglich, tranken den Wein wie Wasser und versalbten
das beste Öl. Mit welchem Raffinement die Weiber sich putzten, hat
der Prophet Jesaias so genau beschrieben, daß man auf den Ver-
dacht gerät, die Mode sei in sein eigenes Haus eingeschlichen.
Daß der materielle Fortschritt auch gemeinnützigen Unternehmun-
gen, wie dem Bau von Brücken, Straßen, Wasserleitungen, zu gut
gekommen sei, davon hören wir wenig; es läßt sich trotzdem wol
annehmen. Die religiöse Kunst war, wenngleich nicht original,
doch gewiß nicht so unbedeutend, wie man gewöhnlich annimmt.
Erst von den späteren Juden wurde sie verabscheut, nur zu gunsten
der Musik machten sie eine Ausnahme.
2. Das Königtum bewahrte im Zehnstämmereich notgedrungen
seinen kriegerischen Charakter '). Unter den damaligen Verhält-
nissen, bei den ewigen Kriegen, war der Herrscher zuvörderst Sol-
dat; neben ihm war der Feldhauptmann die wichtigste Person im
Reich. Noch war allerdings das Volk das Heer, und die Gemeinden
die Regimenter'); und zwar lag die Pflicht des Kriegsdienstes auf
den vollberechtigten Grundbesitzern, weshalb der Ausdruck Kriegs-
mann die Bedeutung des vermöglichen Mannes annahm. Aber
daneben bildeten sich doch schon, um den Kern der Leibwächter
des Königs und der Statthalter^), die Anfänge eines soldatischen
Standes aus, da der alte Heerbann den veränderten Ansprüchen
der Kriegführung nicht mehr genügte. Denn man focht nicht mehr
ausschließlich zu Fuße, wie es noch zur Zeit Davids geschehen
war, sondern Rosse und Wagen, die es bei den Kanaaniten und
Aramäern längst gab, galten für unentbehrlich; Salomo scheint sie
eingeführt zu haben. An die Stelle des Schildknappen, der dem
Schwertkämpfer die Waffen trug, trat der Adjutant, der neben dem
Pfeilschützen auf dem Streitwagen stand und ihn mit dem Schilde
^) Bezeichnend ist es, daß Elias auf einem Kriegswagen gen Himmel
fährt, und daß Elisa „Wagen und Keiter" Israels genannt wird.
-) Am. 5, 3. Freilich soll nach Exod. 18 schon Moses Obersten über
Tausend und Hundert und Fünfzig und Zehn eingesetzt haben, nicht bloß für
den Krieg, sondern auch für den Frieden. Das würde eine völlige Auflösung
der Geschlechter bedeuten, die für die ältere Zeit nicht angenommen
werden darf.
3) 1 Reg. 20, Us.
Gott Welt und Leben im alten Israel. 91
deckte. Auch die Art der Ausrüstung änderte sich, Schwert und
Lanze traten zurück, der Bogen wurde die Hauptwafte. Ein
weiterer Fortschritt bestand in der Ummaueruug der Städte, beson-
ders der Metropolen. Früher iloh die Bevölkerung in Kriegsläuften
in die Höhlen und Wälder, jetzt rettete sie sich hinter die Mauern
der Festungen. Die gute alte Zeit, wo es weder Rosse und Wagen
noch Festungen, d. h. überhaupt kein ausgebildetes Kriegswesen,
gegeben hatte, war dahin und wurde vergeblich von den Propheten
zurückgewünscht.
Im Innern griff das Königtum nicht tief ein. Es war nicht
viel mehr als das größte Haus in Israel, wie denn der oberste
Regierungsbeamte den Namen Hausmeister führte. Der Hof er-
weiterte sich zur Hauptstadt, der Burgemeister von Samarien war
ein königlicher Beamter^). Obgleich es königliche Landpfleger
in den Provinzen gab, war dieW^irkung der Zentralgewalt in die Ferne,
über die Hauptstadt hinaus, doch schwach, wie in allen primitiven
Staatsbildungen. Mit dem Schutz der Grenzen machte der König
gewöhnlich keinen rechten Ernst, er zog sich in seine Stadt zurück
und die Landpfleger mit ihrem Gefolge folgten ihm dahin. Worin
die Einkünfte des Reiches bestanden, wissen wir nicht recht. Regal
war die „Mahd des Königs", d. h. der erste Futterschnitt, in Rück-
sicht auf die zu unterhaltenden Kriegsrosse'). Vielleicht gab es
außerdem auch in Israel, wie in Juda, Krongüter, von denen der
König an seine Diener Lehen geben konnte^). Von einer regel-
mäßigen und allgemeinen Steuer hören wir nichts, sondern nur
von außerordentlichen Umlagen auf die Wolhabenden; der Zehnte
gebührte der Gottheit, nicht dem Könige*). Auf alle Fälle scheint
die Grundsteuer in Palästina unbekannt gewesen zu sein, wie man
aus dem Berichte über ihre Einführung in Ägypten durch Joseph
schließen darf. Einigermaßen wurde der fehlende Staatsschatz
ersetzt durch den Tempelschatz, der wenigstens in Jerusalem den
Königen zur Verfügung stand und den sie oft genug angriffen.
1) 1 Reg. 22, 26.
^) Arnos 7, 1. 1 Reg. 18, 5. Syrisch-römisclies Rechtsbuch ed. Bruns und
Sachau § 121.
3) Ez. 46,16—18. 1 Sam. 7, 14.
■») Gegen W. R. Smith, Religion of the Semites (1894) p. 246 ss. Daß
Salomo den Israeliten Frqhndienste auflegte, erregte die größte Erbitterung
und kam gewiß später im Nordreiche nicht wieder vor.
92 Sechstes Kapitel.
Von Verwaltung und Polizei, als Aufgaben der Obrigkeit, war
nicht die Rede; in einem modernen Staate würden sich die alten
Hebräer wie in einer Zwangsjacke gefühlt haben. Die hergebrachten
Begriffe von orientalischem Despotismus leiden auf das israelitische
Königtum nur beschränkte Anwendung. Wollte Naboth seinen
Acker nicht gutwillig verkaufen, so sah Ahab keine Möglichkeit, in
den Besitz desselben zu gelangen; man begreift die verwunderte
Äußerung seiner tyrischen Gemahlin: du willst den König spielen
in Israel! Um die Mittel anzuwenden, durch die es dann doch ge-
lang, ihm den Weinberg zu verschaffen, dazu brauchte man nicht
König zu sein; daß sie aber der König anwendete, kostete seinem
Hause den Thron. Auch persönlich machen die Könige, wenn
wir sie näher kennen lernen, im allgemeinen nicht den Eindruck
von Despoten; ihre sprichwörtliche Menschlichkeit scheint mehr als
Redensart gewesen zu sein '). Daß sie einzelnen Propheten ein
Auftreten gestatteten, welches denselben heutzutage leicht den Hals
kosten könnte, beruhte wol freilich nicht so sehr auf Milde, als
auf Furcht oder Geringschätzung.
AUgemeingiltige Verpflichtungen scheinen zuweilen so zu
stände gekommen zu sein, daß der König und die Vertreter des
Volkes einen sie gegenseitig bindenden Vertrag vor Jahve schlössen,
etwas zu tun oder zu lassen^). Eigentliche Gesetze gab es nicht;
wol aber ein altes Gewohnheitsrecht, von dem sich einige Auf-
zeichnungen erhalten haben. Es zeichnet sich aus durch seinen
Mangel an Formalismus; feste Vorschriften für die Anbringung
und Einleitung der Klage, symbolische Handlungen und poetische
Bräuche finden sich fast gar nicht. Die Parteien heißen der Zeuge
und der Redestehende, Zeuge bedeutet in der Regel den Kläger.
Ohne Klage gab es kein Recht, doch war die Anklage manchmal
nichts weiter als ein zur Anzeige bringen^). Das Strafrecht, der
Maßstab für das Verhältnis der öffentlichen Rechtspflege zur Selbst-
hilfe des einzelnen, war bei den Israeliten ziemlich ausgebildet.
1) 1 Reg. 20,31.
2) Exod. 24. 2 Reg. 23. Hier. 34, 18. Daher der Name Bund für
Gesetz.
^) 1 Reg. 21,10. Im Deuteronomium hat die Behörde die Pflicht der lu-
quisition, und in einigen Fällen auch der nächste Verwandte die Pflicht der
Anzeige und Anklage. Der Satan, der etwas vom. Staatsanwalt an sich hat,
findet sich erst in späterer Zeit.
Gott Welt lind Lebeu im calten Israel. 93
Bei den alten Arabern konnte sich das Geschlecht gegen einen
Störenfried eigentlich nur dadurch helfen, daß es sich von ihm los
sagte und ihm den Schutz entzog; die israelitische Gemeinde be-
genügte sich nicht mit der Verbannung, Sündern verhängte die Todes-
strafe. Die alte Form der Hinrichtung war die Steinigung, wobei
sich jeder einzelne an der Tötung des Verbrechers beteiligte und
sein Blut auf sich nahm. Es gab „Ruchlosigkeiten, die nicht ge-
schehen dürfen in Israel", die als Schuld auf dem Lande und auf
dem Volke lasteten und durch Austiigung des Schuldigen „ausge-
fegt" werden mußten; insbesondere Lästerungen gegen Gott und den
König, Impietät gegen die Eltern, auch Inceste und ähnliche Ver-
letzungen des Volksgewissens. Zu dieser Art Verbrechen gehörte
auch der Mord. Die eigentliche Blutfehde, wobei die Familie des
Totschlägers für ihn Partei nimmt, die Familie des Erschlagenen mit
ihr kämpft und die Rache sich unaufhörlich fortzeugt, scheint bei
den Israeliten der Königszeit ein überwundener Standpunkt gewesen
zu sein'). Nur das war noch übrig geblieben, daß der Bluträcher
ohne Prozeß den Totschläger verfolgen und töten durfte. Wenn der
letztere nicht absichtlich gehandelt hatte, so fand er Schutz beim
Heiligtum, besonders bei gewissen asylberechtigten Heiligtümern, und
konnte eventuell mit einer Geldbuße abkommen. Lag dagegen Mord
vor, so wurde er auch vom Altare fortgerissen""*). Dabei legte sich
also die öffentliche Gewalt ins Mittel; sie hatte, wie im Islam, die
Pflicht, den Mörder zu sistiren^). Dem Rächer verblieb dann nur
die Exekution. Diese mußte er aber vollziehen, er hatte nicht die
Freiheit, von seinem Rechte abzustehn. Wergeid anzunehmen war
ihm nicht gestattet, das war nur zulässig bei unbeabsichtigter Tötung.
Blut um Blut wurde gefordert, wie Auge um Auge, Zahn um Zahn*).
Das ungerächte Blut schrie zum Himmel und rief den göttlichen
Zorn auf das Land herab. Wenn ein von unbekannter Hand Er-
schlagener auf dem Felde gefunden wurde, so mußte die Stadt, die
der Stelle am nächsten lag, eine Kuh statt des Mörders hinrichten,
') So weit war man aber noch nicht, wie in Gen. 9, 6, wo der Mensch
an Stelle des Israeliten gesetzt wird.
2) Exod. 21, 13. m vgl. 1 Reg. 2, 28 ss."
3) Exod. 21, 14. Dt. 19, 12.
*) In Exod. 21 gibt es nur Talio und Geldbuße; im Deuterouomium kommt,
wie im Islam, die Prügelstrafe hinzu, etwas ganz Neues und Andersartiges. Eine
alte Form der Strafe scheint die Zerstörung des Zeltes oder des Hauses zu sein.
94 Sechstes Kapitel.
um die Schuld von sich abzuwaschen'). Also war die Blutrache
ihres persönlichen und leidenschaftlichen Charakters schon ziemlich
entkleidet und zur Talio geworden, gerade in dem ältesten Rechts-
buch (Exod. 21) tritt sie in ihrer angeborenen Farbe am wenigsten
hervor. Das Gemeinwesen regelte und gewährleistete die Rache des
Einzelnen, wie im Islam. Eine Art religiöser Selbsthilfe blieb der
Fluch, der über den unbekannten Verbrecher, namentlich den Dieb,
ausgesprochen wurde und ihn ereilte, wenn er sich nicht bewogen
fand, sich anzugeben und Ersatz zu leisten. Die Selbst Verfluchung
hatte als Schwurform im Recht große Bedeutung'*).
Noch immer hatte das volle Bürgerrecht nur der Mann, der
im Stande war, die Pflicht der Blutrache zu leisten und das Schwert
zu führen. Der Name für Bluträcher bedeutet auch den Erben').
Nur die Schwertmagen erbten, besaßen Grundeigentum, und losten
über das wie es scheint von Zeit zu Zeit neu zu verteilende Ge-
meindeland*). Mit den bürgerlichen Pflichten und Rechten gingen
die sakralen Hand in Hand, sie hafteten ebenfalls an den vollbürti-
gen erbgesessenen Männern. Die Religion war männlich, kriegerisch,
aristokratisch. Der Kultus gründete sich auf die Abgaben vom Er-
trage des Ackers und der Herde, also auf Landeigentum. Der Ka-
hal, die Versammlung der Ortsgemeinde, hatte ebensowol politischen
als religiösen Charakter; wer politisch nicht vollberechtigt war, war
es auch religiös nicht. Ausländer konnten erst nach mehreren Ge-
nerationen in den Kahal hineinwachsen, ortsfremde Israeliten fanden
vielleicht weniger Schwierigkeit. Der Unterschied der Stände war
erheblich, wenngleich es keine Kasten gab und der Begriff der Mis-
heirat fehlte. Die zahlreichen Beisassen wurden nur aus gutem Willen
zum Opfermahl mitgenommen, vor Gericht bedurften sie des Schutzes
1) Die Hiurichtung am Bach, die Dt. 21, 9 gefordert wird, kommt auch
1 Reg. 18, 40 vor; ferner BAthir 3 287,4. 5. 24, 22. 146, 12. Tab. 2 1580, 3.
Kamil 560, 11. Agh. 2 171,25. Das Wasser sollte vermutlich das Blut weg-
schwemmen und dadurch verhindern, daß es zum Himmel schrie. Vgl. 2 Reg.
23, 12.
-) Vgl. Reste arab. Heidentums 1897 p. 192. Dem fortgeschrittenen mo-
ralischen Gefühl galt der Fluch als unzulässig, lob. 31, 30.
^) Goel, eigentlich vindex (lob. 3, 5). Die Pflichten der Reklamation,
der Lösung, und der Rache gehn zusammen und liegen allesamt dem Erben ob.
*) Das Erbe ist auch bei den Hebräern arvum, das Grundeigentum. Über
die Verlosung des Landes s. Mich. 2, 5. Hier. 37, 12; über den Ausnahmefall
der Erbtochter Num. 36.
Gott Welt und Leben im alten Israel. 95
und der Vertretung. In ähnlicher Lage befanden sich auch die Waisen,
so lange sie niclit das Alter hatten, um im Kahal zu erscheinen,
imd die Witwen, denen der männliche Rechtsbeistand fehlte").
Der Kahal war auch die Gerichtsversammlung. Die ordent-
liche Rechtspflege lag noch immer in den Händen der Geschlechter
oder der Gemeinden; sie wurde von den Ältesten, aristokratischen
Kollegien, ausgeübt. Auch den Blutbann hatte noch die Orts-
gemeinde"''). Die Richter saßen, um sie herum stand der Kahal.
Das Tor war das Forum; nur gewisse Formalitäten wurden beim
Heiligtum vollzogen, die Hegung einer feierlichen Sitzung war mit
einem Fasten verbunden. Da nun das Richten der hauptsächlichste
Teil des Regiereus war — beides wird im Hebräischen durch das
selbe Wort ausgedrückt — , so hatte sich also der alte vorstaat-
liche Zustand aggregirter Kommunen, die nur durch das religiöse
NationalgefühP) zusammengehalten wurden, in einem sehr wesent-
lichen Punkte auch unter der Königsherrschaft erhalten. Er genügte
aber nicht mehr, die alten einfachen Zeiten waren verschwunden,
die Verhältnisse der Gesellschaft hatten sich geändert. Die Un-
gleichheit des Vermögens und des Standes wurde drückend em-
pfunden, auch die Religion war demokratischer geworden. Da hätte
nun der König eintreten können. Er galt als der oberste Richter;
der-Zuruf „Hosianna" ist eigentlich der Hilferuf des Unterdrückten,
der bei dem Könige Recht sucht ^). Wer bei der Gemeinde nicht
') Alles dies erhellt noch aus dem Deuterouomium, dessen Text in Kap. 23
allerdings Zusätze aus späterer Zeit (Mamzer) aufweist. Merkwürdig ist der
Ausschluß der Zeugungsunfähigen (Dt. 23, 2). Ursprünglich deckten sich Kriegs-
lager, Gerichtsversamralung und Kultusgemeinde; alles drei war heilig. Daß
die Religion vorzugsweise die Männer anging, erhellt auch daraus, daß den
Frauen keine religiösen (d. h. mit Jahve komponirteu) Namen gegeben wurden
und daß keine Bedenken gegen die Heiraten mit Ausländerinnen bestanden.
2) 2Sam. 14, 7 (Geschlecht), IReg. 21, 9ss. (Gemeinde).
^) Der K^hal (und zwar jeder einzelne Kahal, Micha 2,5) war ein Kahal
Jahves; es herrschte eine gewisse Übereinstimmung über Recht und Unrecht,
Sitte und Unsitte, in ganz Israel: und die Gemeinden unterstützten sich gegen-
seitig in der Sistirung des Verbrechers. Wirklich einigermaßen konzentrirt
und von Einer Stelle geleitet war aber doch nur das Kriegswesen; Kriegsherr
war allein der König.
4) 2 Sam. 15,2. 1 Reg. 3, 9. 2 Reg. 15,5. Daher Schophet (Richter) =
Regent. Einzelne Fälle 2 Sam. 12 und 14. 1 Reg. 3, 15ss. 2 Reg. 6, 16ss. Bei
den Persern ist fariädras (der, zu dem der Hilferuf kommt) Beiwort des
Königs, Schahn. ed. Yullers 1 291, 162.
96 Sechstes Kapitel.
zum Ziel kam oder eine Ausnahme von der geltenden Regel er-
wirken wollte, wandte sich an ihn '). Der Schwache erwartete bei
ihm Schutz gegen den Starken, er sollte den Niederen Recht schaffen
und die Gewalttäter in die Bahn zurückweisen^). Aber er war zu
schwach, um den Begriff der Obrigkeit und der staatlichen Gerichts-
hoheit zur Geltung zu bringen. Seine gelegentlichen Entscheidungen
nahmen sich nicht viel anders aus als die Gewaltsprüche, mit
denen auch die kleineren Herren in die ordentliche Rechtspflege
eingriffen ^). Er erhob sich nicht hoch genug über die Kreise, aus
denen er stammte, die ihn erhoben hatten und auch wieder stürzen
konnten. Das Königtum in Israel hatte keine Macht, weil es nicht
zu einer wahren Legitimität gelangen konnte. Die steten gewalt-
samen Dynastiewechsel stellten die bestehende Ordnung immer
wieder in Frage.
Bei so bewandten Umständen versteht es sich, daß die kleinen
Kreise auch unter dem Königtum ihren Schwerpunkt in sich be-
hielten. Mochte das Reich aus den Fugen gehn, sie wurden von
den politischen Umwälzungen in der Hauptstadt nicht erschüttert.
Insofern war allerdings die alte Form des Gemeinwesens alterirt,
als an die Stelle der Geschlechter in der Regel Städte getreten
waren, welche die Gerichtsstätte*) auch für die Dörfer bildeten und
„Mütter" derselben genannt wurden. Jedoch war durch diese
Änderung der Zusammenhana; der Elemente nicht lockerer geworden.
^) 2 Sam. 14, 1 SS.; ein typisches Beispiel, das ähnlich, wenngleich mit
charakteristischen Unterschieden, auch bei den Arabern öfters vorkommt
(Agh. 2, 139. 13,63). Dagegen 2 Reg. 4, 13: ich habe beim Könige nichts zu
suchen, ich wohne unter meinem Volke, d. i. unter meinen Verwandten.
-) Jesaias hat genau den selben Begriff vom Amte des Herrschers wie
Abubekr oder Omar: „euer Schwächster wird mir als der Stärkste erscheinen,
bis ich ihm zu seinem Rechte verholten habe; und euren Stärksten werde ich
als den Schwächsten behandeln, bis er sich dem Rechte fügt". Eine sehr
unfreundliche Ansicht über das Königtum kommt in der Parabel Jothams
(Jud. 9) zum Ausdruck. Es ist das Ziel des Ehrgeizes nur für den, der zu
sonst nichts taugt. „Habe ich mein Fett oder meine Süßigkeit eingebüßt, daß
ich über den Bäumen schweben soll", sagen Olive und Rebe; aber der Dorn-
busch gibt sich her, der nur zum Unheilstiften gut ist.
^) 2Reg. 4, 13: man wendet sich an den König oder an den Feld-
ha^iptmann.
*) Die Städte heißen im Deuteronomium Tore d. i. Gerichtsstätten und
Märkte.
Gott ^Yelt und Leben im alten Israel. 97
Die festeste Einheit war die Familie, im engereu und weiteren Sinne.
Auf ihr Fortbestehn wurde der größte AVert gelegt; es war die
einzige Art von Unsterblichkeit, die man kannte'). Wenn der
Vater eine Todesschuld auf sich geladen hatte, w'urden die Kinder
mit hingerichtet'). Bei Flüchen war es darum Sitte, sich und
seines Vaters Haus zu verwünschen. Auch im Grabe blieben die
Verwandten geeint. Die Familie aber und die Gemeinde waren
der Herd der Sitte, sie hielten ihre Angehörigen mit festen Banden
zusammen. Durch die Schwäche der Regierung, durch die Revo-
lutionen in der Hauptstadt wurde der geistige Fortschritt nicht
gehemmt, das Gefühl für das Rechte und Gute nicht beeinträchtigt ;
ja gerade in dieser Periode, in der die Literatur ihre Blütezeit
erlebte, stand die geistige und sittliche Bildung in Israel auf einer
Höhe, die selten wieder von einem orientalischen Volke erreicht ist.
2. Neben Königen und Ältesten erscheinen als Pfeiler des
gemeinen Wesens die Priester und die Propheten. „Den Ältesten
wird der Rat nicht ausgehn, noch die Weisung dem Priester, noch
das Wort den Propheten" — so lautete ein tröstliches Sprichwort.
Im Deuteronomium werden diese drei leitenden Stände als die be-
rufenen Organe der Theokratie neben einander aufgeführt. AVir
pflegen die Propheten als die wahren Repräsentanten von der Art
und Macht der Religion Jahves zu betrachten, und nicht ohne
Grund. Indessen darf man nicht übersehen, daß die großen Pro-
pheten Ausnahmen waren und daß die größten für die Zukunft
weit mehr bedeuteten als für ihre Gegenwart. Die gewöhnlichen
Propheten, die sich in Orden zusammenscharten, waren keine
Aufreger Israels, vielmehr nur zu geneigt, den Machthabern nach
dem Munde zu sprechen. Im allgemeinen war die Religion eine
friedliche Macht, welche das Bestehende nicht angriff, sondern
stützte. In höherem Ansehen als die Propheten zu ihrer Zeit standen
durchschnittlich die Priester, welche die feste Stellung am Heiligtum
voraus hatten. Sie waren noch immer die Berater der Laien in
allen Lebensfragen; von der eigentlichen Rechtspflege und ebenso
1) Daher der Levirat und die Zulassung der einzigen Tochter zum Erbe,
damit „das glimmende Feuer nicht gar erlesche" (2 Sam. 14, 7).
^ Jos. 7, 2-4. 2. Reg. 9, 26. Diesem Grundsatz entspricht die Ausrottung
gestürzter Dynastien, die als selbstverständlich gilt.
Wellliausen, Isr. Geschichte, ö. Aiill. 7
98 Sechstes Kapitel.
vom Orakel-erteilen, mit oder ohne Medien, scheinen sie sich aller-
dings in der Königszeit zurückgezogen zu haben. Sie hatten sich
sehr vermehrt und befestigt, ihr Amt war meist erblich geworden.
Sie fühlten sich durch ihren Stand verbunden und gaben dem
dadurch Ausdruck, daß sie sich von einem gemeinsamen Ahn ab-
leiteten und sich Leviten nannten'). Ihre Einnahmen waren prekär,
sie lebten vom Opfer, ohne indessen ein Privileg gerade auf das
Opfern zu haben; ihr eigentliches Amt war vielmehr die Thora,
die Weisung und Lehre. Äusere Macht besaßen sie nicht, in den
Residenzen und auch sonst bei den Heiligtümern waren sie könig-
liche Diener. Der König selber, der Führer des Volkes und des
Heeres, hatte das oberste Priesterrecht; Bethel und Dan waren
königliche Tempel. „Gott und der König" war eine beliebte Zu-
sammenstellung und keine so leere Redensart wie bei uns Thron
und Altar. Der Gesalbte Jahves galt als die Spitze der Theokratie,
mochte er auch auf sehr unheiligem Wege emporgekommen sein.
Die Salbung durch einen Propheten (d. h. durch Jahve) war nur
eine weissagende Vorausnahme der Salbung durch das Heer oder
das Volk, d. h. durch dessen Repräsentanten: das wahre Subjekt ist
ein Plural. Salben bedeutet ursprünglich nichts anders als Streichen
oder Streicheln; es steht auf gleicher Linie mit dem Küssen und
auch mit dem Handschlage, der arabischen Form der Huldigung,
Durch das körperliche Kontagium entsteht überall geistige Gemein-
schaft und die Verpflichtung dazu. Auch Idole wurden gestreichelt,
gesalbt und geküßt.
Die volkstümliche Praxis der Religion war noch immer der
Kultus''). Es gab eine Menge von Stätten, wo „der Name der
Gottheit gerufen wurde", weil sie dort gegenwärtig war. Die
Heiligkeit solcher Stätten war nicht die Wirkung, sondern die
Ursache des Kultus daselbst; sie haftete als natürliche Eigenschaft
am Boden und strahlte von ihm in Theophanien aus, lange bevor
^) Eigentümlich ist es, daß die Priester durchschnittlich Gerim, d. i,
Schutz verwandte waren und nicht zum Geschlechts verband des Ortes gehörten,
wo sie amteten. Es könnte sich teilweise daraus erklären, daß sie mit den
Altären von den Kanaaniten übernommen waren. Vgl. Reste arab. Heiden-
tums 1897 p. 131, Prolegomena p. 142.
-) Zum Folgenden überhaupt sei auf die Reste arabischen Heidentums
(Berlin 1897) verwiesen.
Gott Welt und Leben im alten Israel. 99
dort ein Kultus bestand^). Diese heiligen Hage lagen frei und gern
auf Höhen; sie hießen geradezu Höhen. Ihr Mittelpunkt war in
alter Zeit ein Felsblock oder Stein, der zugleich als Altar und als
Idol diente und mit der Gottheit verselbigt wurde; es wurden auch
mehrere Steine kreisförmig zusammengestellt (Gilgal) oder auf einen
Haufen geschüttet (Gal). Hinzu kam sehr häufig ein Baum, eine
Eiche, Tamariske, Therebinthe, Palme, oder auch eine Baumgruppe.
Auch ein Wasser fand sich wol , so in Kades, Beerseba und
anderswo. Von heiligen Höhlen hören wir nichts; daraus folgt aber
schwerlich, daß es keine gegeben hat^).
Später trat die Kunst an Stelle der Natur. Es wurden große
Altäre gebaut oder gegossen; auch die alten Steinmale, die mit
verminderter Bedeutung neben den Altaren stehn blieben, wurden
von Menschenhand bearbeitet, hie und da sogar durch eherne Säulen
ersetzt. Die natürlichen Bäume verschwanden zwar nicht, wo sie
waren; aber notwendiger als sie gehörte der künstliche Baum,
die Aschera, zur ordentlichen Einrichtung eines Heiligtums. Wo
man kein Wasser hatte, machte man ein ehernes Meer ^). Der Haupt-
fortschritt bestand in den geschnitzten und gegossenen Bildern, die
ersten wurden von Gideon und von dem Ephraimiten Micha ge-
macht*). In Jerusalem befand sich eine eherne Schlange; am ge-
wöhnlichsten scheint Jahve als Stier dargestellt zu sein, er wird
^) Bezeichnend ist der Name Phanuel (Gegenwart Gottes) für eine Kultus-
stätte, ebenso die Erzählung von der Himmelsleiter in Bethel und von den
Engeln in Mahanaim.
2) Heilige Steine bei Bethel (Gen. 28), bei Ophra (Jud. 6), bei Bethsemes
(ISam. 6); öfters mit Eigennamen: Eben haEzer, E. haEsel, E. Zochelet.
Heilige Bäume (bei dem Stein oder Altar, vgl. Jud. 9, 6 Elon Masseba)
werden in der Genesis erwähnt, als von den Patriarchen gepflanzt, dann be-
sonders bei den Propheten. Die Höhlen haben bei den Aramäern und den
Arabern, darum ohne Zweifel auch bei den Kanaaniten, große Bedeutung
gehabt; es ist wol Zufall, daß sie im Alten Testament nicht vorkommen. Vgl.
Gen. 23, 17.
^) Analoga des ehernen Meeres zu Jerusalem finden sich bei den Phöni-
ciem und besonders bei den Ägyptern. Die mythologisirenden Ausdeutungen
sind überflüssig.
*) Das gegossene Bild (masseka) wird von dem geschnitzten (phesel) ur-
sprünglich unterschieden. Der Unterschied ist aber später nicht mehr streng;
denn oft hatte die Masseka einen hölzernen' Kern und der Phesel einen me-
tallenen Überzug (Isa. 30, 32. Hierem. 10, 3. 4).
7*
100 Sechstes Kapitel.
auch der Stier Jakobs genannt^). Für die Bilder wurden dann
die Häuser auf den Höhen gebaut; ein Gotteshaus setzt immer ein
Idol voraus^). Übrigens deckte sich der Tempel niemals mit dem
Heiligtum; er stand innerhalb des abgegrenzten Raums, der vor
ihm heilig gewesen war und auch nach seiner Zerstörung heilig
blieb ^).
Für den Gottesdienst blieb der Altar, ehedem der Stein, der
Mittelpunkt. Die wichtigsten Opfer wurden auf ihm verbrannt
und dadurch transsubstantiirt, himmlisch gemacht. Sie heißen
darum Räucherungen oder Feuerungen, und der Altar ein Herd
Gottes. Aber ursprünglich hatte die Gottheit so wenig einen Herd
wie die Menschen, das Feuer hatte für den Kultus keine Bedeutung,
das Verbrennen der Opfer war keine alte Sitte. Der alte Brauch
war vielmehr bei den Tieropfern einfach das Streichen oder Aus-
schütten des Blutes auf den Stein oder den Altar, wie bei den
Arabern; die Fleischstücke wurden dann entweder von den Dar-
bringern gegessen oder den Vögeln und wilden Tieren preisgegeben*).
Die Blutausschüttuug hat sich auch später immer uud überall er-
halten, sie galt aber nicht mehr als genügend für ein richtiges
Opfer ^), sondern wurde, für sich allein geübt, zum Ritus der pro-
fanen Schlachtung. Wie das Blut, so wird auch Öl und Wein
— Milch findet sich nicht — auf den Stein ausgeschüttet. Dem
Ausschütten entspricht das Aufstellen (struere) der nichtflüssigen
eßbaren Sachen, z. B. der gesäuerten Brote oder etwa der Kuchen
von gepreßtem Obst; dieses Aufstellen blieb selbst beim Verbrennen
noch immer Sitte. Ein merkwürdiger Übergang zeigt sich beim
Opfer Gideons; er setzt Kesselfleisch und Brühe einfach auf einen
Stein, aber aus dem Stein schlägt die Lohe und verzehrt die zu-
bereiteten Speisen.
1) Neben den Keruben wurden die Stiere auch als Symbole oder Orna-
mente von der heiligen Kunst vorzugsweise verwendet. Das eherne Meer
wurde von Stieren getragen. Stierköpfe und -hörner befanden sich an den
Ecken der Altäre ; daher der Ausdruck : dem Altar das Genick brechen
(Ose. 10, 2).
2) Isa. 44, 13.
3) Hierem. 41,5. Joseph. Aut. 13,70.
*) 1 Sam. 14, 32 SS.; es wird dort nicht protestirt gegen das Essen des
rohen Fleisches, sondern gegen das Essen des Fleisches, ohne das Blut auf
den Stein geschüttet zu haben. Gen. 15, 11. Hier. 34, 18.
^) Das Sündopfer ist nur eine BuHe oder Entschädigung.
Gott Welt imd Leben iüi alten Israel. 101
Die Opfer sind zum Teil weiter nichts als Gaben an die Gott-
heit. Sie werden dann entweder an heiliger Stelle aufbewahrt,
oder vernichtet, oder auch liegen gelassen; der letztere Fall gibt
manchmal Anlaß zur Entstehung gebotener Almosen, so daß die
Armen das bekommen, was eigentlich der Gottheit gegeben wurde.
Aber bei den Altaropfern, namentlich bei den blutigen, überwiegt
die Idee der Bundschließuug. Durch den Ritus des Blutstreichens
wird eine Verbrüderung mit der Gottheit bewirkt, ebenso auch
durch das heilige Mahl, das Bündnis zwischen Lebensfreude und
Andacht, welches für den altisraelitischen Kultus genau so wichtig
war wie für den griechischen. Ursprünglich sühnt das Opferblut
nicht, sondern es kittet; die Versöhnung ist aus der Commuuio
erst abgeleitet. Zur Teilnahme an dem Essen und Trinken, an der
Freude vor Jahve, gehört die Heiligung, die darin besteht, daß
man sich tags zuvor gewisser Dinge enthält und die Kleider wäscht
oder wechselt.
Der Kultus bevorzugt gewisse Tage. Der Neumond wurde
feierlich begangen; mit ihm wird der Sabbath zusammengestellt,
der, wie es scheint, ursprünglich nach den Phasen des Mondes sich
richtete '). Der Sabbath ist der Feiertag der Woche, an dem die
Schaubrote aufgelegt werden; die Ruhe, ursprünglich nur die Folge
der Feier, ist erst allmählich bei ihm gesteigert und zu seinem
besonderen Merkmal geworden. Stärker als diese Mondfeste treten
in der Königszeit die Jahresfeste hervor. Auch sie haben keine
geschichtlichen, sondern natürliche Anlässe. Sie fallen auf die
Semesteranfänge im Herbst und Frühling; die Feier besteht darin,
daß die Erstlinge und Zehnten, als Dank für den Segen des
Landes und der Herde, an heiliger Stelle dargebracht, geopfert
und verzehrt werden ^). Das Hauptfest ist das Herbstfest der Lese
') Über den Zusammenhang des Sabbaths mit den Planeten vgl. Idelers
Handbuch der Chronologie 1, 178ss. 2,177 s.
^) Als Erntefeste sind sie von den Kanaaniten übernommen (p. 50),
obgleich die Termine, an den Äquinoktien, älteren Ursprungs sind. Nur das
Pascha kann althebräisch gewesen sein, es tritt beim Auszug aus Ägypten
stark hervor, ward aber später von den Erntefesten überschattet. Diesem
Feste ist am frühesten eine historische Unterlage gegeben worden: in' der
alten Form der Sage gilt indessen der Auszug nicht als Veranlassung des
Festes, sondern umgekehrt das Fest als Veranlassung, oder doch als Vorwand,
des Auszuges (Prolegomena 1899 p. 86. 100). Neben den Semesterfesten gab
102 Sechstes Kapitel.
beim Wechsel des Jahres '), zugleich das abschließende Dankfest
für den Ertrag von Tenne und Kelter überhaupt; es wird schlecht-
hin „das Fest" genannt. Dem entspricht sechs Monate früher das
Osterfest der ungesäuerten Gerstenfladen; es bezeichnet den Anfang
der sieben Wochen des Getreideschnitts, an deren Schluß Pfingsten
steht, das Fest der gesäuerten W^eizenbrote. Auf Ostern fällt auch
das Pascha, das Fest der Darbringung der männlichen Erstgeburten
von Rindern und Schafen, ursprünglich auch von Menschen
(Exod. 22, 28, korrigirt in 34, 20). Das waren die drei großen Opfer-
gelegenheiten, regelmäßige tägliche blutige Opfer wurden nicht dar-
gebracht. „Dreimal im Jahr soll jeder Mann vor Jahve erscheinen,
und nicht mit leeren Händen." Der ältere Dekalog gibt als am
Sinai geoffenbartes Grundgesetz für Israel beinah nur Vorschriften
für die Feier dieser Feste*). Darin bestand der volkstümliche
Gottesdienst, diesen Eindruck gewinnt man auch aus den Propheten
und sogar noch aus dem Deuteronomium. Von den Erstlingen
und Abgaben, auf welche die Feste begründet waren, oder auch
vom Erlös derselben wurden fröhliche Opfermahle veranstaltet;
man aß und trank, man freute sich vor Jahve. Laute Freude, rau-
schender Jubel war der allgemeine Charakter der Feier. Auch die
Weiber nahmen, geputzt und mit Silber und Gold geschmückt.
es noch andere, von denen wir nur zufällig erfahren. In Gilead feierten die
Töchter Israels alljährlich vier Tage lang auf den Bergen das Andenken der
gemordeten jungfräulichen Tochter Jephtahs; die ganze Geschichte Jephtahs
ist weiter nichts als die Ätiologie dieser Feier, die einigermaßen an das
Weinen der Weiber über den Thammuz (Ezech. 8, 14) erinnert.
^) Der Wechsel des Jahres erfolgte nicht im Frühling, sondern im Herbst;
Tgl. Prolegoraena p. 106 ss. Über die Berechnung des Jahres und die Schal-
tung haben wir keine alten Nachrichten; nach dem Priesterkodex hatte es
365 Tage, wie aus den Angaben über die Lebenszeit des Henoch und über
die Dauer der Sündflut erhellt. Ygl. dagegen Odyssee 12, 129 s.
2) „1. Du sollst keinen fremden Gott anbeten. 2. Gußgötter sollst du
dir nicht machen. 3. Das Massothfest sollst du feiern. 4. Alle Erstgeburt ist
mein. 5. Das Fest der Wochen sollst du halten. 6. Und das Fest der Lese
bei der Wende des Jahres. 7. Du sollst nicht mit Saurem das Blut meines
Opfers vermischen. 8. Das Fett meines Festes soll nicht bis zum anderen
Morgen übrig bleiben. 9. Das Beste der Erstlinge deiner Flur sollst du zum
Hause Jahves deines Gottes bringen. 10. Du sollst das Böcklein nicht in der
Milch seiner Mutter kochen." Vgl. Compos. p. 85. 333.
Gott Welt und Lebeu im alten Israel. 103
daran teiP). Es fehlte nicht an Excessen; männliche und weib-
lich Hierodulen waren auch bei den israelitischen Heiligtümern
zu finden. Trauer und gewisse körperliche Zustände, Leiden und
Gebrechen, machten unrein und schlössen vom Kultus aus; er war
nur für die Fröhlichen und die Gesunden da^). Auf die Sünde
und die Sühnung hatte er keine Beziehung; der Versöhnungstag
der späteren Juden fehlt in dem älteren Festcyklus und paßt durch-
aus nicht hinein. In Zeiten der Not rief man ein Fasten aus,
man machte auch wol tastende Versuche, Jahves Angesicht zu
glätten. Wenn er aber sichtlich zürnte, in Zeiten allgemeiner
Verzweiflung, wagte man überhaupt nicht sich ihm zu nahen ^).
Neben dem öffentlichen Gottesdienst gab es auch eine Religion
für den Hausgebrauch. Flüche, Schwüre d. i. bedingte Selbstver-
fluchungen, und Gelübde waren gewöhnlich. Wer unter dem Ge-
lübde stand, durfte in gewissen Fällen keinen Wein trinken und
sich das Haar nicht scheren*). Eine Menge privater Observanzen
säumte das tägliche Leben und faßte es ein. Sie waren zwar nicht
gesetzlich und dienten nicht zur strengen Absonderung der Israe-
liten von den Heiden^), aber sie existirten, als allgemeine und selbst-
verständliche Praxis. Das Kind wurde nach der Geburt mit Salz
abgerieben. Von der Sitte, ihm Honig an den Gaumen zu streichen,
zeugt nur noch die Etymologie eines Wortes, welches dann die all-
gemeine Bedeutung einweihen bekommen hat. Die Beschneidung
') Exod. 3. 20: die hebräischen Weiber leihen sich von den Ägypterinnen
Kleider und Schmuck für die Festfeier in der Wüste. Ose. 1,13. 4,14.
''') Der Unterschied von solchen, denen die Teilnahme am Kultus erlaubt,
und von solchen, denen sie verboten war, schnitt tief ein und griff weit. Smend
vermutet, daß nach dieser Rücksicht die Zwieteilung 'a^ür und 'azüb zu
verstehn sei; arab. mu'^ir bedeutet menstrua. Vgl. Deutsche Literatur-
zeitung 1900 p. 292.
^) Amos 6, 10. Diese antike Scheu findet sich sehr ausgesprochen noch
bei dem christlichen Syrer Ephraem (Opp. 3, 635 unten).
*) Nazir kommt von einer Wurzel, welche geloben bedeutet. In ältester
Zeit gab es kriegerische Nazire wie Simson. der den lebenslangen Kampf gegen
die Philister sich auferlegt hatte; vielleicht darf man auch mit W. R. Smith
Jud. 5,2 so verstehn: als die Haare lang wuchsen = als viele zu kämpfen
gelobten. Später wurden die Nazire friedlicher, und die Gelübde ermäßig-
ten sich.
^) Man wunderte sich über die Exklusivität der Ägypter, daß es ihnen
ein Greuel war, mit anderen Leuten zu essen (Gen. 43,32, dagegen Galat. 2, 12).
104 Sechstes Kapitel.
war vielleicht ursprünglich eine Zeremonie der Aufnahme in den
Kahal, eine barbarische Probe der Mannhaftigkeit, die zugleich das
Recht zur Heirat verlieh'). Über Zeremonien der Eheschließung
ist nichts bekannt, abgesehen von der Eheschließung mit einer kriegs-
gefangenen Frau. Um so mehr erfahren wir über die Leichenfeier.
Die bei anderen Völkern üblichen Trauergebräuche waren auch
bei den Israeliten in älterer Zeit nicht verboten. Man verhüllte
Haupt und Bart, legte den Sack an und einen Strick als Gürtel,
streute Asche auf das Haupt oder setzte sich in die Asche. Man
zerriß die Kleider, schür die Haare und den Bart, zerkratzte und ver-
wundete sich. Klageweiber heulten laut und zerschlugen sich die Brust.
Die Leiche wurde manchmal einbalsamirt, gewöhnlich nur einge-
hüllt. Verbrennen galt als große Grausamkeit, als totale Ver-
nichtung des Toten (was es auch ursprünglich sein sollte); doch
scheint ein Beispiel pietätvoller Feuerbestattung vorzukommen, auf
die dann aber noch das Begräbnis der Gebeine folgt. Denn das
Begraben war die unerläßliche alte und allgemeine Sitte ^), es gibt
dafür ein nur in diesem technischen Sinne gebräuchliches gemein-
semitisches Wort. Nach der Angabe vom Tode eines Königs folgt
in den Annalen regelmäßig die Angabe, daß und wo er begraben
wurde. Es gab Gräber in der Erde, gekennzeichnet durch einen
Baum oder Stein oder Steinhaufen. Lieber aber begrub man in
Höhlen, oder in Grabkammern, die in den Fels gehauen waren. Es
wurde dafür gesorgt, daß die Häuser der Toten fester und ewiger
waren als die der Lebendigen. Die Familienmitglieder ruhten da-
rin bei einander, das Familiengrab war das Zeichen des Heimats-
rechtes. Auf einer allgemeinen Begräbnisstätte beigesetzt zu werden
galt für eine Schande^). Man hoffte nicht in den Himmel zu kommen,
') Über Exod. 4,25 s. oben p. 19. Ausländer, auch wenn sie israeliti-
sche Sklaven waren, wurden in der älteren Zeit nicht beschnitten; vgl. Ezech.
44,7. 9 gegen Gen. 17,12.
-) Auch die Hingerichteten sollten nach dem Gesetz begraben werden.
Das geschah auch in den Fällen 1 Reg. 2, 34. 2 Reg. 9, 54. Aber allgemeine
Sitte war es nicht. Als David die sieben Söhne Sauls in Gibeon henkte, blieben
die Leichen liegen. Erst durch das rührende Benehmen der Mutter, die un-
unterbrochen bei den Gehenkten wachte, des Tages die Vögel und des Nachts
die wilden Tiere verscheuchte, wurde der König veranlaßt, die Gebeine zusammen
mit denen Sauls und Jonathans im Erbbegräbnis der Familie zu bestatten.
3) Isa. 22, 16. Hier. 26, 23.
Gott Welt und Leben im alten Israel. 105
sondern zu Vater und Mutter, zu den Ahnen, zu den Geschlechts-
genossen versammelt zu werden. Die Vorstellung von der Hölle,
d. h. der Unterwelt, wo alle Toten der ganzen AVeit bei einander
waren, zu der hinabzufahren man sich fürchtete, steht dazu freilich
in einem seltsamen Widerspruch, der nicht dadurch gelöst werden
kann, daß in den Grabkammern bloß die Leiber, in der Hölle aber
die Seelen sich befinden.- Zu einer Ausgleichung der Widersprüche
auf diesem Gebiet ist aber auch durchaus kein Anlaß.
Auch richtiger Totenkultus wurde getrieben. Die Speisung der
Toten, die im Deuteronomium erwähnt und nicht einmal verboten
wird, weist auf ein Totenmahl und ein Totenopfer; vielleicht ist
auch die Haarschur ähnlich zu beurteilen. Nicht bloß bei der Trauer,
sondern auch beim Gebet brachte man sich Einschnitte und Ver-
wundungen bei. Bäume, Steine und Steinhaufen kommen eben so
wol bei Gräbern als bei Altären vor. Es wird eine Anzahl heiliger
Gräber im Alten Testament genannt, namentlich von Frauen, wie
Rahel, Debora, Miriam; sehr bezeichnend ist es, daß Moses von Jahves
eigener Hand an einem unbekannten Orte bestattet wird, damit sein
Grab nicht zu einer Kultusstätte werde. Wenn man so großen
Wert darauf legte, mit seinen Vätern im Erbbegräbnis vereinigt zu
werden, so mußte man glauben, davon irgend welchen Genuß zu
haben. Die Vorstellung, daß die Toten in die Hölle gebannt wären
und keine Empfindung mehr hätten, beherrschte die alten Israeliten
nicht ausschließlich. Die Rephaim, d. h. die Schatten, hausten auch
auf der Oberwelt; sie hatten Ähnlichkeit mit Dämonen'). Sie
konnten aus der Hölle heraufbeschworen werden, zum Zweck von
Zauber und Weissagung; sie werden geradezu Götter genannt").
Es ist dies nicht die einzige Spur vom Glauben an Dämonen
und von den damit verbundenen Praktiken. Das Verbot von Zau-
berei und Wahrsagung beweist, daß die Neigung dazu bestand. Ver-
schiedene Methoden werden erwähnt, darunter auch das Hindurch-
gehnlassen durch das Feuer'). Die Gegenzauber und Amulette haben
1) Mit dem CXD") püy vergleicht Renan (Hist. du Peuple Isr. I. p. 11 (j
n. 4) C''~i^*^ p?2> in Gen. 14, das er ohne Zweifel richtig als Dämonental
deutet. Die Rephaim, ebenso wie die vermutlich gleichwertigen Xephilira, sind
auch Riesen.
2) 1 Sam. 28. Ygi. Schwally, Das Leben nach dem Tode, Gießen 1892.
3) Deut. 18. A'gl. Reste arab. Heidentums 1897 p. 189.
IQß Sechstes Kapitel.
sogar im Gesetz Aufnahme gefunden, freilich nachdem sie ihrer Be-
deutung mehr oder weniger entkleidet waren. So die Quasten am
Kleidersaum, die Gehänge (Totaphoth) auf der Stirn, die Phylak-
terien am Arm, die unseren Hufeisen auf der Schwelle vergleich-
baren Mezuzoth an den Pfosten. Man fühlte sich überall von Geistern
umgeben, die Erde war bevölkert von ihren Heeren. Man hatte
darum eine gewisse Scheu vor der Natur, sie wurde nicht als Sache
betrachtet. Jahve selbst hatte göttliche Wesen niederer Ordnung
um sich; die Göttersöhne gehörten zu seinem Geschlecht. Ein Unter-
schied zwischen guten und bösen Geistern wurde nicht gemacht, sie
waren elementare Mächte, die nützen und auch schaden konnten.
Die moralische Unterscheidung von Gut und Böse beherrschte
überhaupt die populäre Religion weniger als der sakramentale Gegen-
satz von Rein und Unrein. Der Zustand der Trauer wegen eines
Todesfalls, die Berührung der Leiche und des Aases machten un-
rein. Ebenso gewisse Krankheiten und alle geschlechtlichen Vor-
gänge, in besonderem Maße die monatliche Reinigung und die Ge-
burt. Es war verboten, gewisse Tiere, z. B. Schweine, zu essen,
Blut zu essen, die Hüftsehne zu essen. Verschiedene Ursachen haben
die gleiche Wirkung; nicht bloß die Berührung des Ekelhaften ver-
unreinigt, sondern auch die des Heiligen. Das Blut und die Hüft-
sehne sind heilig; vielleicht ist auch die Unreinheit einiger Tiere
daraus zu erklären, daß sie ursprünglich irgend einem Gott oder
Dämon geweiht waren. Den Glauben, daß die Dämonen in Tier-
gestalt umgehn, haben nicht bloß die späteren Juden, sondern sicher
auch die alten Israeliten gehabt. Im übrigen unterscheiden sie sich von
den Syrern dadurch, daß sie Fische essen, von den Arabern da-
durch, daß sie das Kamel nicht essen. Die Unreinheit hat einen
zeitweiligen Ausschluß von der Teilnahme an der Gemeindever-
sammlung und am Gottesdienst zur Folge. Die Wiederaufnahme
geschieht durch eine Reinigungszeremonie. Gewöhnliche Verfahren
sind die Waschung des Leibes und namentlich der Kleider, das
Scheren des Haares und das Beschneiden der Nägel; auch Reinigung
mit einem Ezobbüschel und mit lebendigen kleinen Vögeln kommt vor.
Was rein war und was unrein, erlaubt oder verboten, war
keineswegs immer klar und allbekannt. In Zweifelfällen wurden
die Priester darum gefragt und entschieden darüber, darin bestand
wesentlich ihre Thora. Sie waren zugleich Gewissensräte und Ärzte,
sie hatten dadurch einen tief in das Leben greifenden Einfluß.
Gott Welt lind Leben im alten Israel. 107
Das Heiligtum überhaupt war keineswegs bloß für den großen
öffentlichen Gottesdienst da, der nur selten gefeiert wurde, sondern
auch für die privaten Bedürfnisse der Einzelnen. Wie sie sich
dort Bescheid holten, so trugen sie dort auch ihre Bitten und
Wünsche vor. Der Altar war die Wunschstätte, und das Opfer
häufig die Einleitung für die Anbringung irgend eines Anliegens
an die Gottheit, ein Versuch, zu einem bestimmten Zweck auf sie
einzuwirken '). In der selben Absicht wurde auch allerlei Zauber
beim Altar getrieben^).
Der große Gottesdienst war, wie wir gesehen haben, kanaa-
nitischen Ursprungs, die Observanzen des kleinen Kultus wurzelten
in verschiedenen Schichten älteren Heidentums. Dieser Stoff wurde
im ganzen als mit der Jahvereligion verträglich angesehen, auf
sie übertragen oder wenigstens in Beziehung zu ihr gesetzt. Das
Verhältnis war verschieden. Manche Bräuche waren abgestorben,
man hatte ihren Ursprung und ihre Bedeutung vergessen, sie ließen
sich überall leicht einpassen. Daß die Feste übernommen wurden,
daß der Dank für die Ernte, wie früher dem Baal, so jetzt dem
Jahve abgestattet wurde, war durchaus angemessen, obgleich aller-
dings durch die Veränderung der dativischeu Beziehung nicht auch
sofort die innere Art der Feier sich änderte. Befremdlicher mutet
es uns an, daß die Theraphim in den Gotteshäusern Platz fanden,
daß die heilige Unzucht in den Dienst Jahves eindrang. Vielleicht
geschah dergleichen nicht überall mit gutem Gewissen oder jeden-
falls nicht, ohne daß eine Opposition sich regte. Wie dem aber
auch sei, ein bewußter und gewollter Abfall von Jahve erfolgte
niemals; die Beweise, die dafür angeführt werden, zeigen nur, daß
die späteren Juden ihrem Gesetz rückwirkende Geltung beimaßen.
Und Jahve wuchs doch über das Heidentum, das ihm anhaftete
oder sich ihm ansetzte, mehr und mehr hinaus. Daß seine Religion
fortschreitend an Bedeutung zunahm, läßt sich aus der geschicht-
') Daher "iinj/'H opfern für flehen.
^) Dahin gehört die schon erwähnte Sitte, sich selber zn verwunden, um
eindrücklicher zu flehen (Os. 7, 14. 1 Reg. 18, 28). Vielleicht hat von dieser
Sitte das hebräische Wort für beten den Namen, ebenso wie nach W. R.
Smith das aramäische: die Wurzel 'ppi bedeutet im Arabischen Risse, Ein-
schnitte haben. Merkwürdig ist auch, daß "iHiJ' (suchen, aber vorzugs-
weise Gott suchen) zugleich zaubern bedeutet. Vgl. tanahhus = suchen
Ham. 104,2.
108 Sechstes Kapitel.
liehen Literatur deutlich erkennen. Ein unverdächtiges Zeugnis
dafür liefern auch die Eigennamen; die mit Jahve zusammen-
gesetzten sind anfangs sehr selten und gewinnen dann nach und
nach die Oberhand ^).
„Jahve der Gott Israels" war und blieb der Fundamentalsatz
des Glaubens. Die Zusammengehörigkeit beider war eine gegebene
Tatsache; der Gedanke, Jahve habe sich Israel angeboten und
Israel sich dann für ihn erklärt, wurde in älterer Zeit nicht ge-
streift. Das Verhältnis war ein angestammtes, natürliches; es war
nicht lösbar und beruhte nicht auf einem Vertrage. Betätigt wurde
es von dem Volke durch den Kultus, welchen es Jahve weihte;
von Jahve durch den Beistand, welchen er Israel gewährte. Gott
bedeutete Helfer, das war der Begriff des AVortes. Hilfe, Unter-
stützung in irdischen Angelegenheiten wurde von Jahve erwartet,
kein Heil im christlichen Sinne. Die Vergebung der Schuld war
etwas Untergeordnetes, sie lag in der Erlösung von dem Übel ein-
geschlossen und wurde nicht geglaubt, sondern erlebt. Die Haupt-
sache war, daß Jahve Regen und Sieg verlieh. Er schenkte dem
Lande Fruchtbarkeit und beschützte es gegen die Feinde; dem-
entsprechend bestand auch der Gottesdienst wesentlich in der Dar-
bringung der Erstlinge des Landes an den Festen. Die Ernte war
der Gradmesser für den Stand des religiösen Verhältnisses. In
dem Segen des Feldes schmeckte und sah man die Freundlichkeit
1) Anfangs überwiegen profane Namen, wie Moses, Sipphora, Debora, Jael,
Samgar, Gideon, Saiil, David, Salomo. Yon Tieren sind hergenommen Lea,
Rahel, Simeon (arabisch Sim'än), Sipphora, Debora, Jael, Goal (Käfer, Jud. 9),
Aija, Saphan, Akbor, Hui da, Phar^osch: von Bäumen Salomo (arab. Salämäu),
Ela, Elon, Thamar. Kis (arab. Qais), Ner, Barak, auch Nun und Nahas muten
heidnisch an; Jerubbaal, Meribaal, Isbaal zeigen ebenfalls, daß der Gegensatz
zum Heidentum nicht scharf empfunden wurde. Über Abischai etc. s. p. 25
n. 2, über Jerobeam Reste arab. Heidentums 1897 p. 4. n. 2. Zu Nebat vgl. Corp.
Inscr. Sem. IV. 90, 10; es ist verkürzt, wie Saphat. Thibni (Sept. Thabenni)
ist der selbe Name wie der sidonische Thabnit; Baesa findet sich nach De-
litzsch Paradies p. 295 bei den Ammoniten wieder. Mit Jahve komponirte
Namen finden sich in alter Zeit wenige, einige Beispiele sind zweifelhaft
(Kompos. des Hexat. p. 371). Seit Elia und Jonadab mehren sie sich; als
Königsnamen sind sie vor Josaphat von Juda und Ahazia von Israel nicht im
Gebrauch, seitdem aber fast ausschließlich. Sie nationalisiren die Religion:
an Johanan kann man den Israeliten, an Hanuilml den Phönizier, an Henadad
den Damascener erkennen. Frauennamen mit Jahve kommen kaum vor (Renan,
Histoire 1, 198).
Gott Welt und Leben im alten Israel. 109
Jalives, Miswachs und Verwüstung wurden als religiöse Schmach
empfunden. Es war nicht ausgeschlossen, daß Jahve mit den
Seinen unzufrieden war, sie züchtigte und strafte. Am Ende aber
half er ihnen doch immer aus aller Not und erlöste sie von den
Feinden, in deren Hand er sie zeitweilig überliefert hatte.
Jahve überschattete das Gestrüpp des Bodens, auf dem er
stand; die Schlingpflanzen, die ihn umrankten, erstickten ihn nicht.
Daß er aber ein Prinzip bedeutete und nicht tolerant, sondern
eifersüchtig war, kam erst allmählich zu deutlicherem und allge-
meinerem Bewußtsein. Seine prinzipielle Bedeutung erwuchs aus
der nationalen. Der Yolksgott verdrängte die Stammgötter und
setzte sich an ihre Stelle^); die Bilder der namenlosen Familien-
götter, die Theraphim, verschwanden aus den Häusern und nur in
den Tempeln erhielt sich eine Spur von ihnen. Langwieriger und
ernsthafter war der Kampf gegen den Kanaanitismus. Es war kein
äußerer, sondern ein innerer Kampf; er wurde nicht gegen die
Kanaaniten selber geführt, welche sich völlig mit den Israeliten
vermischt hatten und nicht mehr ausgeschieden werden konnten,
sondern gegen das mit ihnen eingedrungene fremde Wesen, welches
die nationale Eigenart zu zerstören drohte, gegen den Luxus und
die Üppigkeit und den Sinnenrausch, gegen die Beteiligung der
Gottheit am Leben der Natur statt am Leben der Menschen und
des Gemeinwesens. Durch ihre ausschließliche Beziehung auf die
Nation trat die Religion Jahves endlich auch in Gegensatz zu dem
vielgestaltigen Chaos des unausrottbaren niederen Heidentums,
welches in den verschiedensten, zufälligsten Erscheinungen spiri-
tistische Kräfte wirken sieht und dieselben durch allerhand wunder-
liche Mittel den Wünschen der Selbstsucht untertänig zu machen
strebt. Das Fehlen der geheimen Künste machte nach einem alten
Spruch den eigentümlich unheiduischen Charakter Israels aus'),
Zauber und Hokuspokus galten als Götzendienst. Geister- und
Gespensterwesen, Totenbeschwörung und Totenkultus w\aren ein
Greuel für Jahve. Damit hängt zusammen die für das Alte Testa-
ment so bezeichnende Gleichgiltigkeit gegen die religiöse Psychologie,
^) Der Staat sanktionirte bei den Hebräern die Geschlechtsgötter nicht.
Aber indem dieselben dem Jahve Platz machten, entstand die Gefahr, daß
dieser auf ihre Stufe herabsank, da der Geschlechts kul tu s blieb, wenngleich
er auf Jahve übertragen wurde.
2) Num. 23, 23 vgl. Deut. 18, 9ss.
110 Sechstes Kapitel. Gott Welt und Leben im alten Israel.
gegen die Frage des Lebens nach dem Tode. Es genügte, daß
das Volk ewig lebte; über den Einzelnen ging das Rad der Ge-
schichte hinweg, ihm blieb nur Ergebung, keine Hoffnung. Er
mußte seinen Lohn in dem Wolergehn des Volkes finden. Man
hat das als einen Mangel der israelitischen Religion betrachtet;
aber dieser Mangel hat sie wenigstens von Spuk und Aberglauben
befreit. Es war gut, daß sie dem einzelnen als autonome Macht
gegenübertrat, die ihn für Jahve und Israel bedingungslos ver-
pflichtete, und daß sie nicht ein bloßes Mittel war, seine privaten
Wünsche zu befriedigen. Vgl. Herod. 1,132.
Mit dem Zauber steht die Wahrsagung auf einer Linie. Auch
sie widerstrebte dem Wesen Jahves. Die Medien entlockten ihm
keine Antwort, er teilte sich freiwillig mit, wenn er es für nötig
hielt. Nicht durch Eingeweide und Vogelflug, sondern durch
Menschen sprach er zu den Menschen. Nicht durch den Buchstaben,
sondern durch den Geist offenbarte er sich je nach Bedürfnis und
Anlaß der Geschichte; er hatte noch nicht sein Testament gemacht,
er lebte und sein Wort war lebendig. Aus den Propheten wählte
er die Interpreten der Absichten, die er mit Israel hatte. Es ist
ihr Verdienst, daß die Geschichte, nicht die vergangene, sondern
die gegenwärtige, als bedeutungsvolles Produkt göttlichen Handelns
verstanden wurde. Die Ereignisse waren Wunder und Zeichen,
der Zufall Fingerzeig einer höheren Hand. Der Glaube erhielt
auf diese Weise eine stimmungsvolle Lebendigkeit, der Gottes-
begriff eine großartige Präsenz. Großartig auch darum, weil das
Wirken der Gottheit über alle Spekulation, über alle Einengung
durch berechenbare Heilszwecke, durch einen untergeschobenen
Heilsplan, hinausgehoben wurde. Männer des Geistes schauten
mit dem zweiten Gesicht, was Jahve tun wollte; es gab aber
keine Gottesgelehrsamkeit, die ihn nüchtern konstruirte. Er war
zu real, zu jugendlich und gewaltig; auch wollte man nicht seine
Grundsätze kennen, sondern sein nächstes Vorhaben, um sich dar-
nach für das eigene Handeln einzurichten. Nie wurde das W^ort
zur Mutter des Gedankens gemacht, die lebendige Evidenz des
Gefühlten vertrug sich vielmehr mit großer Sorglosigkeit des Aus-
drucks. Die Wahrhaftigkeit der Empfindung hatte auch vor Wider-
sprüchen keine Scheu. Jahve hatte unberechenbare Launen, er
ließ sein Antlitz leuchten und verbarg es, man wußte nicht warum;
er schuf Gutes und schuf Böses, strafte die Sünde und verleitete
Siebentes Kapitel. Der Untergang Samariens. 111
zur Sünde — der Satan hatte ihm damals noch keinen Teil seines
Wesens abgenommen. Sein Zorn wirkte wie eine losgelassene
elementare Ge\Yalt, man hatte ein Grauen davor, man konnte sich
nicht dagegen schützen. Bei alledem wurde Israel doch nicht an
ihm irre. Es waren eben im ganzen bisher gute Zeiten gewesen;
die Inkongruenz der äußeren Erfahrung und des Glaubens war
noch nicht so stark zur Empllndung gekommen, daß das Bedürfnis
entstand, sie auszugleichen. Jetzt aber kamen böse Zeiten, und
damit trat die Nation und die Religion in eine neue Periode.
Siebentes Kapitel.
Der Untergang Samariens.
1. Unter König Jerobeamll. , zwei Jahre vor einem großen
Erdbeben, das den Zeitgenossen zur Datirung diente, trug sich in
Bethel, dem vornehmsten und größten Heiligtume Jahves in Israel,
ein bedeutungsvoller Auftritt zu. Die Menge war dort mit Opfern
und Gaben zum Feste versammelt, als ein Mann herzukam, der die
Freude der Feier mit jähem Ernste unterbrach. Es war ein Judäer,
Amos von Thekoa, ein Schafzüchter aus der Wüste am Toten
Meer. In den Jubel der Lieder, die beim heiligen Gelage zu Pauke
und Harfe erschollen, warf er einen gellenden Miston, den Weheruf
der Leichenklage. Denn durch all den Lärm des rauschenden
Lebens hindurch vernahm er ein Todesröcheln: gefallen ist, steht
nicht mehr auf die Jungfrau Israel; liegt hingestreckt im eigenen
Land und niemand richtet sie auf! Er verkündete den nahen Sturz
des gerade damals in seiner Macht sich fühlenden Reiches und die
Fortschleppung des Volkes in ein fernes nördliches Land.
Schon einmal hatte das Schicksal an die Tore gepocht, als
die Aramäer von Damaskus mit aller Gewalt nach Westen drängten
und Schlag auf Schlag gegen die Barriere führten, durch die sie
vom Meere getrennt wurden. Diese Gefahr ging vorüber, Israel
schien neu aufzuleben. Aber es war nur eine Atempause. Die
Zeiten waren glänzend, aber sie waren nicht glücklich, es herrschte
ein banges unheimliches Gefühl unter den Leuten. Der ewige Krieg
112 Siebentes Kapitel.
hatte die Bevölkerung heruntergebracht; auch unter der Veränderung
der Wirtschaft und des Besitzes, und unter der mangelhaften
Rechtspflege, hatten die niederen Stände schwer zu leiden. Um so
gefährlicher wurde der Schade Josephs, je weniger die berufenen
Ärzte sich darum kümmerten. Indessen das war nicht der Grund,
warum Amos das Ende Israels voraussah. Es war keine allgemeine
Schwarzseherei, die ihn hinter der Herde weg trieb; bestimmt
genug drohte die Wolke, die er am Horizonte wahrnahm. Es
waren die Assyrer. Schon früher hatten sie einmal die Richtung
gegen Südwesten eingeschlagen, ohne damals den Israeliten eine
Gefahr zu werden. Nachdem aber die Vormauer gegen sie, das
Reich von Damaskus, in Verfall geraten war, eröffnete jetzt eine
Bewegung, die sie in der Zeit Jerobeams II. gegen den Libanon
zu unternahmen, den Israeliten die erschreckende Aussicht, über
kurz oder lang den Anprall der unaufhaltsamen Lawine gewärtigen
zu müssen.
Was dann? Der gemeine Mann, nicht im stände, die Gefahr
ganz zu würdigen, lebte des Glaubens, daß Jahve die Seinen nicht
im Stiche lassen werde. In den höheren Kreisen trotzte man auf
die kriegerische Macht Israels, wenn man sich nicht durch Be-
rauschung der Sinne gegen das Nahen des Verhängnisses zu betäuben
versuchte. Amos aber hörte die Frage laut und er wagte sie zu
beantworten: das Ende ist gekommen, das Ende über mein Volk
Israel. Es war eine Lästerung, das zu äußern, denn mit dem Volke
stand und fiel auch Jahve. Aber das Unerhörteste folgt noch.
Nicht Assur, sondern Jahve selber bewirkt den L^ntergang Israels;
Jahve triumphirt durch Assur über Israel. Ein widerspruchsvoller
Gedanke — als ob Jahve sich den Boden unter den eigenen Füßen
abgraben wollte! Bedeutete doch der Glaube au Jahve den Gott
Israels, daß er seinem Volke beistehe gegen alle Feinde, gegen
die ganze Welt; gerade in Zeiten der Gefahr war es Religion, sich
auf diesen Glauben zu steifen. Wol konnte Jahve sein Angesicht
zeitweise verbergen, er machte nicht jeden Wochenschluß die
Zeche; zuletzt aber erhob er sich doch immer gegen die widrigen
Mächte. „Der Tag Jahves" war ein Gegenstand der Hoffnung in
schwerer schwüler Zeit; es war selbstverständlich, daß das Gericht,
oder wie wir sagen die Krisis , zu gunsten Israels ausfallen werde.
Amos nahm die volkstümliche Vorstellung vom Tage Jahves auf,
aber wie sehr veränderte er ihren Inhalt! „Wehe denen, die den
Der Untergang Samariens. 113
Tag Jahves herbeiwünschen! was soll euch der Tag Jahves? er ist
Finsternis und kein Licht!" Seinen Gegensatz zum Volk hat der
Prophet zugespitzt in einem Paradoxon, welches er als Thema dem
Hauptteil seiner Schrift voranstellt. „Uns kennt Jahve allein",
sagen die Israeliten, daraus folgernd, daß er auf ihrer Seite stehe
und für sie eintreten müsse. „Euch kenne ich allein", läßt Arnos
den Jahve sagen, „darum — suche ich an euch heim alle eure
Sünden."
Worauf beruhte die Beziehung Jahves zu Israel? Nach dem
populären Glauben wesentlich darauf, daß Jahve nicht bei den
fremden Völkern, sondern in Israel angebetet wurde, daß er hier
seine Altäre und seine Wohnung hatte. Der Kultus war das Band
zwischen ihm und seinem Volke; wenn man das Band fester an-
ziehen wollte, so verdoppelte und verdreifachte man die heiligen
Leistungen. Aber für Amos ist Jahve kein Richter, der sich be-
stechen läßt; auf das zornigste eifert er gegen die Vorstellung, als
sei es möglich durch Opfer und Gaben auf ihn einzuwirken. Darum
weil Israel allein ihm gedient hat, legt er doch keine andere Richt-
schnur an dies Volk, als an alle anderen. Kennt er es am besten,
so ist die Folge nicht, daß er um der guten Bekanntschaft willen
das Auge zudrückt und blindlings seine Partei ergreift. Jahve und
Amos kennen nicht zweierlei Maß, Recht ist überall Recht, Frevel
immer Frevel, möge er auch an Israels grimmigsten Feinden be-
gangen sein. Was Jahve fordert, ist Gerechtigkeit, nichts anderes;
was er haßt, ist das Unrecht. Die Beleidigung der Gottheit, die
Sünde, ist durchaus moralischer Natur. jMit so ungeheurem Nach-
druck war das nie zuvor betont worden. Die Moral ist es, wodurch
allein alle Dinge Bestand haben, das allein Wesenhafte in der
Welt. Sie ist kein Postulat, keine Idee, sondern Notwendigkeit
und Tatsache zugleich, die lebendigste persönliche Macht — Jahve
der Gott der Mächte. Zornig, zerstörend macht sich die heilige
Realität geltend; sie vernichtet allen Schein und alles Eitle.
2. Amos war der Anfänger und der reinste Ausdruck einer
neuen Phase der Prophetie. Der drohende Zusammenstoß Assurs
mit Jahve und Israel, der Untergang Israels ist ihr Thema. Bis
dahin bestanden in Palästina und Syrien eine Anzahl kleiner Völker
und Reiche, die sich unter einander befehdeten und vertrugen, über
ihre nächsten Nachbaren, nicht hinausblickten und um das Draußen
unbekümmert ein jedes sich um seine eigene Axe drehten — bis
Wellliausen, Isr. Geschichte. .5. Aufl. S
114 Siebentes Kapitel.
plötzlich die Assyrer diese Kreise störten. Wie Vogelnester nahmen
sie die Völker aus, und wie man Eier sammelt, sammelten sie die
Schätze der Welt, da half kein Flügelschlägen und Schnabelauf-
sperren und Gezirp. Sie zerrieben zuerst die Volksindividualitäten
des Altertums, sie rissen die Zäune nieder, in denen dieselben ihre
Sitte und ihren Glauben hegten, und leiteten so das Werk ein,
welches nach ihnen Chaldäer Perser und Griechen fortsetzten und
welches die Römer vollendeten. Sie führten einen neuen Faktor,
den des Weltreiches oder allgemeiner den der Welt, in die Ge-
schichte der Völker ein. Dem gegenüber verloren dieselben ihren
geistigen Schwerpunkt, die rauhe Tatsache, vor die sie sich unver-
sehens gestellt sahen, vernichtete ihre Illusionen, sie warfen ihre
Götter in die Rumpelkammer, zu Ratten und zu Fledermäusen.
Nur die israelitischen Propheten ließen sich nicht von den Ereig-
nissen überraschen und dann von der Verzweiflung aus allen Sinnen
ängstigen, sie lösten zum voraus das furchtbare Problem, das die
Geschichte stellte. Sie nahmen den Begriff der Welt, der die
Religionen der Völker zerstörte, in die Religion, in das Wesen Jahves
auf, ehe er noch recht in das profane Bewußtsein eingetreten war.
Wo die anderen den Zusammensturz des Heiligsten erblickten, da
sahen sie den Triumph Jahves über den Schein und über den
Wahnglauben. Was auch fallen mochte, das Wertvolle blieb be-
stehn. Die Gegenwart, die sie erlebten, wurde ihnen zum Mythus
eines göttlichen Dramas, dem sie mit vorausempfindendem Ver-
ständnis zuschauten. Überall die selben Gesetze, überall das gleiche
Ziel der Entwicklung. Die Völker sind die agireuden Personen,
Israel der Held, und Jahve der Poet der Tragödie.
Die Propheten, deren Reihen Amos eröffnet, wollen nichts neues
verkündigen, sie kennen keine andere Wahrheit als die ihnen
innerhalb ihres Volkes überlieferte, das Produkt göttlicher Leitung
und Weisung desselben. Das religiöse Subjekt ist auch noch ihnen
nicht der Einzelne, sondern Israel, und wenngleich Jahve der
Nation über den Kopf zu wachsen beginnt, so ist doch die gewaltig
realistische Persönlichkeit von dem alten Volksgotte beibehalten.
Sie gleichen den bisherigen Propheten nicht bloß in der allgemeinen
Form ihres Auftretens und im Stil ihrer Rede, sondern auch darin,
daß sie keine Prediger sind, sondern Seher wie jer^e. Nicht die
Sünde des Volkes, an der es ja nie fehlt und deretwegen man in
jedem Augenblick den Stab über dasselbe brechen kann, veranlaßt
Der Untergang Samarieus. 115
sie zu reden, sondern der Umstand, daß Jahve etwas tun will, daß
große Ereignisse bevorstehn. In ruhigen Zeiten, seien sie auch
noch so sündig, verstummen sie, wie in der langen Periode des
Königs Manasse, um sofort ihre Stimme zu erheben, wenn eine
Bewegung eintritt. Sie erscheinen als Sturmboten, wenn ein ge-
schichtliches Gewitter aufzieht; sie heißen Wächter, weil sie von
hoher Zinne schauen und melden, wenn etwas Verdächtiges am
Horizont sich sehen läßt.
Bei alle dem unterscheiden sie sich doch beträchtlich von den
alten Sehern. Von diesen verlangte man bestimmte praktische
Weisungen, und darum Kenntnis des Terrains, auf dem die Praxis
sich bewegt, d. h. des Details der nächsten Zukunft. Die Propheten
dagegen sehen in dem Weltlauf das Wirken der allgemeinen mora-
lischen Gesetze, die allem Handeln die Schranken vorschreiben, in
denen es sich halten muß, möge das Ziel sein wie es wolle. Sie
gehn zwar durchaus von der Zeit aus, erheben sich aber zu ewig
giltigen Gedanken, die sie darum auch durch die Schrift befestigen:
sie wissen, daß sie nicht für die Gegenwart arbeiten. Die Ereig-
nisse sind nur der Anlaß, der den Fortschritt der Moral und der
Gotteskenntnis bei ihnen entbindet. Sie exponiren „die Dialektik
der Begebenheiten", sie vollziehen die durch den Zusammenstoß
mit der Geschichte angeregte und erforderte Läuterung des Glaubens.
Sie können es fassen, daß Jahve das von ihm gegründete Volk und
Reich jetzt vernichte. Zu oberst ist er ihnen der Gott der Gerech-
tigkeit, Gott Israels nur insofern als Israel seinen Ansprüchen ge-
nügt; sie kehren die hergebrachte Anordnung dieser beiden Fun-
damentalartikel des Glaubens um. Dadurch wird Jahve der Gefahr
entzogen mit der Welt zu kollidiren und an ihr zu scheitern, die
Herrschaft des Rechts erstreckt sich gleichmäßig über Israel und
Assur. Dies ist der sogenannte ethische Monotheismus der Pro-
pheten; sie glauben an die sittliche Weltordnung, an die ausnahms-
lose Geltung der Gerechtigkeit als obersten Gesetzes für die ganze
Welt. Von da aus scheint nun die Prärogative Israels hinfällig zu
werden, und Amos, der das Neue am schroffsten und rücksichts-
losesten ausspricht, streift bisweilen hart daran sie zu bestreiten.
Er nennt Jahve, vielleicht mit einem neu geschaffenen Ausdrucke,
den Gott der Mächte d. h. der Welt; höchst auffälliger Weise nennt
er ihn nie den Gott Israels. Er macht aus dem Bestehn des Volkes
keinen Glaubenssatz, ja er wagt es zu sagen: seid ihr Kinder Is-
8*
116 Siebentes Kapitel.
raels mir nicht wie die Mohren, spricht Jahve; habe ich nicht Is-
rael aus Agj^ptenlaud geführt und die Philister aus Kaphthor und
die Syrer aus Kir? Indessen das besondere Verhältnis Jahves zu
Israel war doch wirklich da; die praktische Wahrheit, die sich jetzt
hoch über Israel erhob, war doch innerhalb Israels entstanden und
noch immer nur dort zu finden, und die Propheten waren die letzten
es zu leugnen. Sie machten das Verhältnis nur aus einem natür-
lichen und notwendigen zu einem bedingten. Der Vorzug Israels
besteht darin, daß Jahve sich diesem Volke und keinem anderen
durch Tat und Wort offenbart hat — das ist aber ein Vorzug, der
eine große Verantwortung einschließt und eine schwere Pflicht auf-
legt. Denn Jahve stellt nun auch die vollen Anforderungen seiner
Gerechtigkeit eben an Israel, weil es sein Volk ist und seinen Willen
weiß. So praktisch wird sofort der Monotheismus der Moral ge-
wandt, er wird durchaus nicht zu einer theoretischen Korrektur des
hergebrachten Gottesbegriflfs benutzt: die mußte sich stillschweigend
von selber vollziehen.
„Hört Jahves Wort, ihr Sodomsrichter, vernimm die Weisung
unseres Gottes, du Gomorrhavolk ! Wozu mir eure vielen Opfer,
spricht Jahve; ich bin der verbrannten Widder und des Fettes der
Mastkälber satt, und das Blut von Rindern und Schafen mag ich
nicht. Meine Seele haßt eure Neumonde und Feste, sie sind mir
eine Last, ich bin es müde sie zu tragen. Und wenn ihr eure
offenen Hände ausstreckt, so verhülle ich mein Gesicht vor euch;
ich höre nicht, wenn ihr gleich des Betens viel macht: eure Hände
sind voll Blut! Waschet, reinigt euch, schafft euren bösen Wandel
mir aus den Augen, laßt ab vom Bösen, lernet Gutes tun ! trachtet
dem Rechte nach, weiset den Gewalttätigen in die Bahn, schafft
der Waise Recht, führt die Sache der Witwe! Glaubt ihr euch
ungerecht von mir behandelt? Wenn eure Sünden wie Scharlach
sind, sollen sie dann für weiß gelten wie Schnee? wenn sie sich
röten wie Purpur, sollen sie dann wie Wolle sein? W^enn ihr folgt
und gehorsam seid, so werdet ihr das Gute des Landes genießen;
wenn ihr euch aber weigert und widerstrebt, so kriegt ihr das
Schwert zu fressen, denn der Mund Jahves sagt es". Dies Pro-
gramm kündet nicht Vergebung der Sünden, sondern einzig und
allein gerechte Vergeltung an. Mit dem größten Nachdruck betonen
die Propheten die Bedingtheit des Verhältnisses zwischen Jahve und
Israel, mit anderen Worten die Forderungen, die Israel erfüllen
Der Untergang Samariens. 117
mui3, um das Volk Jahves zu sein und zu bleiben. Sie rücken
den Begriff — noch nicht den Namen — des Gesetzes in die Mitte
und machen ihn zum Fundament der Religion. Was den Inhalt
ihrer Gerechtigkeit betrifft, so ist nicht die individuelle, sondern die
soziale gemeint. Sie fordern nicht sowol ein reines Herz als ge-
rechte Institutionen; sie haben weniger den Einzelnen, als das Ge-
meinwesen und die Gesellschaft im Auge, sie zeigen dabei eine be-
merkenswerte Sympathie für die niederen und rechtlosen Stände,
welche sogar dauernd auf den religiösen Sprachgebrauch eingewirkt
hat. Besonders beflissen sind sie zu sagen, worin die Gerechtig-
keit nicht bestehe. Die negative Konsequenz ihres ethischen Mono-
theismus ist ihre Polemik gegen den Kultus, sofern nämlich der
Kultus ein Versuch ist, den allgemeinen Bedingungen der Gerech-
tigkeit zu entgehn und eine Ausnahmestellung zur Gottheit zu er-
langen, damit sie von ihrer Strenge zu gunsten der Opfernden ab-
sehe. Indessen nicht bloß so prinzipiell widersprach der damalige
Kultus der Alleinherrschaft der Moral, er schlug ihr auch recht grob
und äußerlich ins Gesicht. Es ging in Saus und Braus her bei den
Opferstätten, durch Schlemmen und Saufen und schlimmere Greuel
wurde der heilige Name Jahves entweiht. Die Propheten ließen
das gar nicht als Jahvedienst, was es sein sollte, gelten, sondern
sahen es als Baaldienst an, was es auch ohne Zweifel ursprünglich
gewesen war. Sie eröffneten mit aller Macht den Kampf gegen
das Heidentum in Israel, gegen alles was in der Religion der Mo-
ral, der Idee des heiligen und gerechten Gottes, widersprach, und
sie schritten in diesem Kampfe von einer Stufe zur anderen fort.
Den Propheten ist an der Hand der Weltgeschichte der furcht-
bare Ernst der Gerechtigkeit Jahves aufgegangen, sie sind die Be-
gründer der Religion des Gesetzes, nicht die Vorläufer des Evan-
geliums. In den messianischen Weissagungen besteht ihre Bedeutung
nicht; eher darin daß sie die Heilsverkündigung der patriotischen
Seher, die auch zu ihrer Zeit noch die Mehrheit bildeten, als Lüge
und Verblendung bekämpfen. Optimisten sind allerdings auch sie
und zwar von der kühnsten Art; nämlich in dem Sinn, daß sie
auf das festeste von dem endlichen Triumph des Rechts und der
Gerechtigkeit auf Erden überzeugt sind. Es kommt ihnen nie der
geringste Zweifel an Jahve, sie sind seiner so gewiß wie ihrer
eigenen Seele. Ihre Gottesgewißheit ist hinreißend und höher als
alle Vernunft. Aber der Glaube, daß die Geschichte das AVeit-
118 Siebentes Kapitel.
gericht und daß die historische Notwendigkeit göttliche Gerechtig-
keit sei, war unter den damaligen Umständen kein Trost, am
wenigsten für den Einzelnen. Die Geschichte rechnet nicht mit
gutem Willen, überhaupt nicht mit Personen, sondern mit Taten,
sie beschränkt die Wirkungen der Tat nicht auf den Täter, sie
straft Torheiten und Schwäche härter als Sünde, sie macht keine
Handlung ungeschehen und nimmt nicht Rücksicht auf die veränderte
Gesinnung des Herzens — kurz die Geschichte, in ihrer Wirkung
auf den Einzelnen, ist Tragödie, und keine Tragödie hat einen be-
friedigenden Schluß. Die Position der Propheten mußte dazu
führen, über das Volk und über die Welt hinauszugehn.
3. Amos nächster Nachfolger, an seine Wirksamkeit anknüpfend,
war Hosea ben Beeri, ein Israelit. In seinen frühesten W^eissagungen
verkündete er ebenso wie Amos den Untergang des Reiches und
Volkes Israels als gleichzeitig mit dem Sturz des Hauses Jehu.
Als Schuld und Ursach gab er die Bluttat von Jezreel an, die
Ausmordung des Hauses Ahab durch Jehu. Jehu hatte nun aber
nach dem Worte Jahves gehandelt; wenn Hosea seine Tat ver-
urteilte, so verurteilte er zugleich ihre Anstifter, die Propheten. In
Jezreel soll das Blut Naboths an Ahab heimgesucht werden, hatte
Elias gesagt; Elisa und Jehu hatten das Urteil vollstreckt so wie
sie es verstanden. Hundert Jahre später setzte Hosea, mit be-
wußter Anknüpfung, die Kette in seiner Weise fort: in Jezreel ist
die Bluttat Jehus begangen, in Jezreel soll sie an Jehus Hause
und an Israel gerochen werden. Die Prophetie war fortgeschritten,
sie war menschlicher und unparteiischer geworden.
Indessen fiel die Dynastie des Jehu nicht, wie Amos und
Hosea erwarteten, durch die Assyrer, und Israel überlebte ihren
Sturz noch um zwei Jahrzehnte. Es war eine unglückselige Henkers-
frist. Nach Jerobeams II. Tode brachen wilde Parteikämpfe aus;
es war als hätte die äußere Gefahr für den Bestand des Reiches,
die jetzt mit Händen zu greifen war, zum voraus alle inneren Bande
aufgelöst. Keiner der auf- und untertauchenden Könige hatte
Macht, keiner schaffte Ordnung. Sie suchten Halt bei den Assyrern,
die an der nördlichen Grenze des Landes standen, dann auch wieder
bei den Ägyptern, den Antagonisten der Assyrer, und vermehrten da-
durch nur die Schwierigkeit der Lage. In diese Zeit fielen die späte-
ren Weissagungen Hoseas: die Assyrer hatten damals schon ihre
Tatze auf das Land gelegt, aber noch nicht ihre Krallen gezeigt.
Der Untergang Samariens. 119
Hosea ist, mit Jeremias, der individuellste aller Propheten,
und in dieser Beziehung der größte Gegensatz zu seinem Yorgcänger.
Er wird nicht wie jener hinter der Herde weggerufen, um eine
Botschaft Jahves auszurichten und wieder zur Herde zurückzu-
kehren, nachdem er seine Pflicht getan; sein persönliches Leben
verwächst mit der Prophetie. Sein Weib hat ihm die Ehe ge-
brochen, und er liebt sie doch. Schwermütig über sein häusliches
Unglück ist er zugleich erfüllt von Schmerz über die allgemeine
Not und Yerderbtheit seines Volkes. Da schießen die beiden Ge-
danken zusammen, er sieht die Ähnlichkeit zwischen dem Kleinen
und dem Großen, im einen das Bild des anderen: als Vertreter
Jahves, als Prophet, als den er sich nunmehr erkennt, hat er tun
müssen was er getan, erleben müssen, was er erlebt hat. Sowie
sein AVeib ihm untreu ist, so hurt auch Israel ab von seinem Gotte;
so wie er die Ehe löst, indem er die Frau aus seinem Hause schickt,
so löst Jahve sein Verhältnis zur Nation, indem er sie aus seinem
Lande treibt; aber so wie er sein Weib dennoch liebt, so kann auch
Jahve von Israel nicht lassen. Dieser Ausgangspunkt der Prophetie
Hoseas ist für die ganze Art derselben bezeichnend. Wenn aus
Arnos die göttliche Notwendigkeit wie mit ihrer eigenen Stimme
redet, so durchdringt Hosea das Wort Jahves vollständig mit seiner
menschlichen Empfindung. Seine Weissagungen fallen auch äußerlich
aus dem prophetischen Stile heraus, es sind beinahe Monologe einer
durch eigenes Leid und starkes Gemeingefühl tief aufgeregten Seele.
Hosea eifert besonders gegen zwei Grundübel, an denen Israel
kranke. Einmal gegen den Kultus, nicht bloß gegen seine falsche
Wertschätzung, als sei der Gottheit an Opfern gelegen, sondern mehr
noch gegen seine verkehrte kanaanitische Art, gegen die Bilder,
gegen das Fressen und Saufen und vor allem gegen die Unzucht
dabei. Er ist ihm schlechtweg Hurerei, eine Hurerei, die, wenn
sie auch zu Jahves Ehre geschieht, doch in sich selbst ein Abfall
von ihm ist. Das ist kein Jahvedienst, es ist weiter nichts als
Dienst der Baale, der vorisraelitischen Ortsgottheiten. Den Baalen
werden die Neumonde und Sabbathe gefeiert, ihnen wird an den
Jahresfesten der Dank für die Gaben des Landes dargebracht, ihnen
mag die lärmende Ausgelassenheit, die tolle rauschende Lust an-
stehn. Und den so gearteten Gottesdienst leiten die israelitschen
Priester, die Diener- Jahves! Statt ihrem Berufe gemäß das Volk
von seiner Unkenntnis des wahren Wesens Jahves zu heilen, be-
120 Siebentes Kapitel.
lassen sie es vielmehr bei dem Wahn, er habe Wolgefalleu an
dieser Art der Verehrung; denn sie haben Vorteil davon, sie nähren
sich von der Sünde des Volkes. Der zweite offene Schade, in den
Hosea die Sonde legt, ist politischer Art. Arnos redet nicht von
Politik, unter Jerobeam IL war kein dringender Anlaß dazu. Ho-
sea aber hatte die völlige Zersetzung des Reiches vor Augen, das
beständige Salben und Stürzen von Königen und Regenten, die
innere Haltlosigkeit aller Regierungen und ihr unsicheres Schwanken
zwischen der Anlehnung bald an diese bald jene Großmacht. Er
wollte überhaupt nichts mehr wissen „von König und Obersten".
Das auf Offiziere und Beamte gestützte Königtum hatte in der Tat
die alte Ordnung, nach Stämmen Geschlechtern und Sippen, an
deren Spitze ihre geborenen Vertreter standen, weder überwunden
noch ersetzt; es hatte zu einem unheilvollen Zwischenzustand ge-
führt, nicht zu einer Organisation des Ganzen, sondern zu einer
losen und willkürlichen Herrschaft des Heeres, des Hofes und der
Hauptstadt über das Land. Die Krone ward als ein Raub ange-
sehen; wer sich Manns genug fühlte und Helfershelfer hatte, griff
darnach. Diese Schwäche des revolutionären Königtums betrachtet
Hosea als einen der Listitution an sich selber anhaftenden Mangel,
es schien ihm durch das traurige Ergebnis verurteilt auf das es
ausgelaufen war, es hatte sich nicht als Schirm und Hort von Ord-
nung und Recht erwiesen, sondern als Quell einer beinah perma-
nenten Anarchie. Man sieht, aus der Menge seiner Anspielungen
auf uns unbekannte Einzelheiten, wie viel tiefer er in dem Hexen-
kessel steckt als sein judäischer Vorgänger. Er zeigt sich auch weit
mehr affizirt als jener, Arnos zürnt und Hosea schaudert. Trotz-
dem, oder auch gerade deswegen, bringt er es nicht über das Herz,
Israel einfach das Todesurteil zu sprechen. Der gänzliche Unter-
gang Israels ist ihm ein undenkbarer Gedanke, Jahve kann von
der Liebe zu seinem Volke nicht lassen, und wenn er es jetzt aus
seinem Lande verbannt, so geschieht das nur, damit es sich bekehre
und er es dann wieder heimführe und das zeitweilig unterbrochene
Verhältnis neu für ewig anknüpfe. Es ist anders gekommen, Is-
rael verschwand spurlos vom Erdboden. Die Hoffnung hat den
Hosea betrogen. Dennoch war es nicht umsonst, daß er den Glau-
ben an die Liebe Jahves festhielt.
4. In den Propheten Amos und Hosea, die uns einen Einblick
in die Stimmung des untergehenden Volkes gewähren, wie wir ihn
Der Untergang Samariens. 121
aus den genauesten Urkunden nicht zu gewinnen vermöchten,
müssen wir einen Ersatz dafür suchen, daß wir über die äußeren
Ereignisse dieser letzten betrübten Zeiten noch ungenügender als
gewöhnlich unterrichtet sind. Jerobeam IL muß bald nach der
Mitte des achten Jahrhunderts gestorben sein. Sein Sohn Zacharia
Avurde nach kurzer Regierung durch Sallum ben Jabes ') gestürzt.
Dieser aber konnte sich auch nicht halten, ein grausamer Bürger-
krieg brach aus, aus dem Menahem ben Gadi als Sieger und König
hervorging. Er muß den Thron etwa um das Jahr 745 bestiegen
haben. Damals kam Phul, der König von Assyrien, ins Land, und
Menahem gab dem Phul tausend Talente Silbers, daß er es mit
ihm hielte und ihm das Königreich bekräftigte, und legte das Geld
den Vermögenden in Israel auf, ein sechzigstel Talent auf einen
jeglichen Mann. Darnach erkaufte sich also Menahem, zum Schutz
gegen innere und vielleicht auch gegen äußere Angriffe auf seine
Regierung, die Hilfe des Königs Thiglathpileser, welcher damals
der assyrischen Erolierung in diesen Gegenden einen neuen Schwung
gab. Später scheint er aber auch, nach Hoseas Andeutungen zu
schließen, mit den Ägyptern geliebäugelt zu haben, denen man
sich immer in die Arme warf, wenn man die Assyrer satt hatte
und von ihnen los zu kommen wünschte. Denn den Ägyptern
lag natürlich sehr daran, Palästina, den Schlüssel ihres Landes,
nicht in die Hand der Assyrer fallen zu lassen. Menahem war
der letzte König, der die Regierung auf seinen Sohn vererbte.
Sein Sohn Pekahia trug indessen die Krone nicht lange, da erschlug
ihn der Gileadit Pekah ben Remalia, sein Adjutant, und wurde
König an seiner statt (dz 735). Von ihm erfahren wir mehr wie
sonst, weil er in Berührung mit Juda kam. Er verbündete sich
mit Reson von Damaskus zu einem Feldzuge gegen Jerusalem, um
den dort eben auf den Thron gelangten König Ahaz ben Jotham
zu stürzen und einen syrischen Vasallen au seine Stelle zu setzen.
Ahaz parirte aber den Streich, indem er sich dem Assyrer in die
Arme warf, den vielleicht die Allianz zwischen Aram und Israel
so wie so zum Einschreiten veranlaßt haben würde. Thiglathpileser
^) Die richtige Aussprache leX^r^fA ist in der Sept. 2 Reg. 22, 14 erhalten;
es ist Perf. Piel mit ausgelassenem Gottesuamen. Phönizisch 'LzXr^ii., Corp.
Insc. Sem. I 119. Jal^es ist sonst Ortsname; wenn ein solcher hinter ben
stehn darf, so könnte auch (Thibni) ben Ginath so aufgefaßt werden.
122 Siebentes Kapitel.
erschien 734 zuerst an der Seeküste Palästinas und hausete dann
in diesem oder dem folgenden Jahre im Reich der zehn Stämme.
Nachdem er Galiläa und Gilead heimgesucht und die Bevölkerung
dieser Grenzlande fortgeschleppt hatte, schloß man in der Haupt-
stadt Samarien dadurch Frieden, daß man ihm den Kopf des
Königs Pekah und einen ansehnlichen Tribut zu Füßen legte. Statt
Pekahs wurde dessen Mörder Hosea ben Ela auf den Thron erhoben
und von dem Assyi^er als Herrscher über das freilich sehr ge-
schwächte und beschnittene Reich Samarien anerkannt. Etwa ein
Jahrzehnd hielt sich dieser still und entrichtete pflichtschuldig seine
Schätzung. Als aber nach Thiglathpilesers Tode die syrisch-
palästinischen Reiche sich überall gegen das Joch erhoben, wurde
auch Samarien von dem Taumel des patriotischen Fanatismus er-
griffen. Im Vertrauen auf die Hilfe Seves, des äthiopischen Ober-
königs von Ägypten, wagte Hosea den Abfall von Assur. Aber
die Ägypter ließen ihn im Stich, als Salmanassar ^), der Nachfolger
Thiglathpilesers, mit Heeresmacht in sein Land einbrach. Noch
vor dem Fall Samariens kam Hosea in die Gewalt des Assyrers.
Die Hauptstadt leistete drei Jahre lang verzweifelten Widerstand,
erst der Nachfolgers Salmanassars, Sargon'), vermochte es sie zu
bezwingen (721). Darnach ergriff er die beliebte assyrische Maß-
regel, um ein Land zu pacifiziren, er deportirte die Blüte der
Bevölkerung. Nur im Zentrum, wo Samarien Sichern und Bethel
lagen, scheint sich ein etwas konsistenterer Rest von Israeliten
erhalten zu haben, er wurde aber mit fremden Kolonen, aus rebel-
lischen babylonischen Städten, versetzt. Die weiter entlegenen
Teile im Norden und Osten verfielen wol größtenteils den Aramäern.
Diese hatten dort längst sich einzunisten angefangen, doch scheint
das Volk L^s (Aus) neu eingewandert zu sein und früher andere
Sitze gehabt zu haben. Es ist merkwürdig: die Aramäer sollen
politisch durch die Assyrer und Babylonier gebrochen sein, und
das Resultat ist, daß ihre Sprache in dem von jenen begründeten
Reiche die herrschende wird und die assyrisch-babylonische, die
doch die Trägerin der Kultur war, verdrängt, und daß ihr Volkstum
') Menauder bei Joseph. Ant. 9, 284 ed. Kiese 2£Ac([j.iJ;as, Lat. Sala-
manassis.
2) Die Aussprache wird bestätigt durch den Namen von Chorsabad bei
Jaqut III 382, 1.
Der Untergang Samariens. 123
sich überall ausbreitet. Aber auch z. B. die Ammouiten, hinter
denen die Moabiten völlig zurückgetreten sind, griffen auf alt-
israelitisches Gebiet über. „Wo sind die Kinder und Erben Israels
geblieben? warum hat Milkom die Gaditen verdrängt? und warum
hat sein Volk (Ammon) in ihren Städten Platz genommen?" fragt
ein Prophet, der wol älter ist als Jeremias.
Die von den Assyrern fortgeführten Israeliten wurden fern von
der alten Heimat angesiedelt^). In ihren neuen Wohnsitzen verloren
sich die exilirten Israeliten spurlos unter den Heiden. Für den
damaligen Stand und die spätere Fortentwicklung der Religion ist
diese Tatsache sehr bezeichnend, wenn man dagegen hält, daß die
Judäer, die noch eine hundertjährige Frist hatten, ihren Glauben
im babylonischen Exil festhielten und sich selber dadurch unter
allen Umständen behaupteten. Es lag an den Propheten, wenn der
Untergang Samariens die Religion Jahves nicht schädigte, sondern
befestigte. Sie empfanden ihn auf grund der Religion als notwendig
voraus, sie retteten den Glauben, indem sie die Illusion zerstörten,
sie verewigten auch Israel dadurch, daß sie Jahve nicht mit in
den Sturz des Volkes verwickelten. Es war aber ein Glück, daß
dieser Sturz nicht zu früh und daß er nicht auf einmal eintrat,
daß der Abbruch des Volkes, des Reiches und des Kultus langsam
und allmählich vor sich ging.
^) In Assyrien, genauer in Chalach, am Chabor dem Flusse Gozans, und
in den Städten Mediens (2 Reg. 18, 11. 17,6). Die Städte Mediens OlD i")I/*)
möchten eher die Berge von Miuni OJC ^"IH) sein, die vermutlich auch in
njionn (Amos 4, 3) und in Mtvüa; (.Jos. Ant. 1, 95) stecken. Aber der Chabor,
der Fluß Gozans, führt in eine ganz andere Gegend. GoEan ist eine meso-
potamische Stadt (2 Reg. 19, 12), von der die Landschaft Gauzauitis (Ptol. V
18, 4) den Namen hat. Thenius will, zufolge der Lesart der Septuagiuta
(Chalach und Chabor, die Flüsse Gozans), aus Chalach den Beiich machen,
unter Annahme eines alten Schreibfehlers. Indessen ist Gozan eine Stadt, die
doch nicht gut am Chaboras und Belichus zugleich gelegen haben kann. Auch
wird damit die Ilauptschwierigkeit nicht beseitigt, daß die aufgezählten Land-
schaften weit von einander entlegen sind.
124 Achtes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Die Rettung Judas.
1. Bis dahin hatte Juda im Hintergründe gestanden. Die
politische Geschichte des kleinen Reiches war fast ausschließlich
durch sein Verhältnis zu Israel bestimmt. Rehabeam Abiam und
Asa führten Krieg mit Jerobeam und Baesa ihr Leben lang. Die
ursprüngliche Feindschaft ging unter der Dynastie Omri in enge,
vielleicht nicht ganz freiwillige Freundschaft über. Juda befand
sich vollständig im Schlepptau des mächtigeren Nachbarstaates und
scheint sogar Heeresfolge geleistet zu haben. Josaphat zog mit
Ahab gegen Aram zu Feld und mit dessen Sohne gegen Moab, an
dem von ihm beabsichtigten Ophirhandel sich zu beteiligen ge-
stattete er allerdings dem Bundesgenossen nicht. Der Sturz des Hauses
Omri wurde auch für Juda verhängnisvoll; Jehu mordete den König
Ahazia ben Jehoram ben Josaphat, der in Jezreel bei dem ver-
wundeten Joram einen Krankenbesuch abstattete, und im Vorüber-
gehn noch zweiundvierzig andere Davididen, die ihm in die Hände
Helen. Was er aber vom Hause Davids übrig gelassen hatte, wol
zumeist unmündige Kinder, mordete die Königin-Mutter Athalia,
die Tochter Ahabs und Witwe Jehorams, man weiß nicht aus
welchen Gründen. Nur ein kleiner Knabe, Joas, wurde vor ihrer
Wut geborgen und nach sechs Jahren, durch eine glückliche Ver-
schwörung des obersten Priesters mit den Führern der Trabanten,
wieder auf den Thron seiner Väter gesetzt. Damals dehnten die
Aramäer ihre Einfälle über Philisthäa und Juda aus, Joas erkaufte
ihren Abzug von Jerusalem mit den Schätzen des Tempels. Viel-
leicht war es diese Schmach, welche er mit dem Tode bezahlte;
ebenso wie sein Nachfolger Amasia vielleicht deshalb unter Mörder-
händen fiel, weil er, durch einen Erfolg gegen die Edomiter über-
mütig geworden, einen leichtsinnigen Krieg gegen Israel unternahm
und darin schimpflich unterlag. Als sich Israel nach glücklicher
Beendigung der Aramäerkriege neu zu erholen begann, erlebte
auch Juda seine Blütezeit; was Jerobeam IL für das nördliche
Reich war, war Uzzia für das südliche. Er scheint Edom, die
einzige von David eroberte Provinz, die in den Machtbereich Judas
fiel, für längere Zeit festgehalten und vom Hafen Äla aus den
Die Rettung Judas. 125
Handel Salomos wieder aufgenommen zu haben. Seine lauge
Regierung wurde nur dadurch getrübt, daß er in seinen alten Tagen
am Aussatz erkrankte und die Geschäfte seinem Sohne Jotham
übergeben mußte. Jotham aber sclieint gleichzeitig mit seinem
Vater gestorben und dann Ahaz ben Jotham gefolgt zu sein, in
einem noch sehr jugendlichen Alter.
Konnte Juda sich an politischer und überhaupt an geschicht-
licher Bedeutung mit Israel nicht messen, so hatte es doch auch
manchen Vorteil vor dem größeren Reiche voraus. Vor äußeren
Feinden war es weit mehr gesichert, denn die Ägypter waren in
der Regel ungefährliche Nachbaren. Der Hauptsegen war die feste
Dynastie, wobei man es freilich in den Kauf nehmen mußte, daß
unbedeutende Persönlichkeiten und selbst Kinder auf den Thron
kamen. David hatte Juda und Jerusalem zu historischer Bedeutung
erhoben, sein Haus verwuchs aufs innigste mit Stadt und Land,
ja mit der Religion. Zweimal kam es vor, daß ein judäischer
König von Untergebenen ermordet wurde, in beiden Fällen aber
ereignete sich das Unerhörte, daß „das Volk des Landes" gegen
die Mörder sich erhol) und wieder einen Davididen auf den Thron
setzte. Die einzige wirkliche Revolution, von der berichtet wird,
war gegen die Athalia gerichtet und hatte die Einsetzung des
rechtmäßigen Thronerben zum Zweck. Die judäische Aristokratie
scheint das Königtum weniger beengt zu haben als die israelitische.
Die Davididen stützten sich auf eine Leibwache, die aus fremden
Söldnern bestand, und setzten öfters Ausländer, sogar Mamluken,
in hohe Ämter, sowie auch David, im Unterschied von Saul, es
gemacht hatte. Unter dem Schutz des Königtums gewannen auch
die übrigen Institutionen eine ganz andere Legitimität als in Israel,
wo alles auf die Individuen ankam und die Institutionen immer
wieder in Frage gestellt wurden. Nicht so dramatisch und auf-
regend, aber solider gestaltete sich das Leben in Juda. Dazu
mochte auch die größere Abgeschlossenheit des kleinen Landes, der
nähere Zusammenhang mit der Wüste, und die dadurch bedingten
primitiveren Verhältnisse beitragen.
Freilich in der Hauptstadt waren die Verhältnisse nicht pri-
mitiv, und die Hauptstadt überwog an Bedeutung das Land. Die
Könige sorgten für ihren Ausbau, besonders Hizkia ben Ahaz
machten sich in dieser Hinsicht verdient. Vor allen lag ihnen
der Tempel am Herzen, der nicht bloß Hof-, sondern auch Reichs-
126 Achtes Kapitel.
tempel war und früh sehr große Anziehungskraft auf das ganze
Volk ausübte. Sie gestalteten den Kultus daselbst, dessen regel-
mäßigen täglichen Betrieb sie bezahlten, nach ihrem Geschmack,
führten ein und schafften ab was sie wollten, und verfügten auch
über den heiligen Schatz nach Belieben. Wenngleich die Priester
verhältnismäßig große Macht hatten — die Verschwörung gegen
Athalia ging nicht von einem Propheten, sondern von einem
Priester aus — , so waren sie trotzdem Untergebene des Königs
und handelten nach dessen Befehlen '). Daß der Jahvedienst zu
Jerusalem sich stets reiner gehalten habe als der zu Bethel oder
zu Samarien, ist eine Behauptung, die mit mehr als einer sicher
bezeugten Tatsache in Widerspruch steht. Ein wesentlicher Unter-
schied bestand in dieser Hinsicht nicht zwischen Israel und Juda.
Erst von Israel aus übertrug sich die Reaktion gegen den Baals-
dienst auch auf Juda, Israel hatte überhaupt die Initiative. Dort
machte man die Experimente, und in Jerusalem zog man die Lehre
daraus. Welch inniger Anteil sogar in einer kleinen judäischen
Landstadt an der Geschichte des Hauptreiches genommen wurde,
lehrt das Beispiel des Arnos von Thekoa.
2. In dem Grade, wie Israel nach dem Tode Jerobeams IL
verfiel, wuchs die Bedeutung Judas; es bereitete sich vor auf die
Erbschaft. Der Mann, der den Übergang der Geschichte von Israel
auf Juda vermittelte und dem letzteren Reich noch eine Frist be-
wirkte, welche für die Befestigung der Religion von segensreichster
Folge war, war der Prophet Jesaias. Er unterscheidet sich von
Amos und auch von Hosea dadurch, daß er nicht wie jene der
Regierung ferne stand, sondern dicht am Steuerruder saß und den
Kurs des Schiffes wesentlich mit bestimmte. Er hatte großen Ein-
fluß und er gebrauchte ihn. Die Geschichte seiner Wirksamkeit ist
zugleich die Geschichte Judas in jener Periode.
Seines Berufes wurde Jesaias inne durch eine Vision im Todes-
jahr des Königs Uzzia, seine ältesten Reden stammen aus dem
Anfang der Regierung des Ahaz. Er schaut in ihnen den nahen
Untergang Samariens und droht auch Juda seinen Teil von der
') Sie hatten wol die Polizei im Tempel uud durften einen, der sich
gegen die Ordnung verging, in den Stock setzen, konnten ihn al>er nicht
richten, sondern mußten ihn vor dem ordentlichen Gerichte verklagen. Das
lernt man aus der Lebensgeschichte Jeremias.
Die Rettung Judas. 127
Strafe. Er bewegt sich dabei ganz in den Bahnen des Arnos und
hält sieh noch ziemlich im allgemeinen. Bestimmt und praktisch
aber griff er ein bei Gelegenheit des Feldzuges der Aramäer und
Israeliten gegen Jerusalem. Noch in der letzten Stunde versuchte
er den König Ahaz davon abzuhalten, daß er die Assyrer zu Hilfe
rufe; er versicherte ihn des Beistandes Jahves und bot ihm zur
Bürgschaft dafür ein Zeichen an. Da Ahaz es ablehnte, hatte er
den Beweis in Händen, daß es zu spät und das Kommen der
Assyrer unabwendlich sei. Die augenblickliche Gefahr, sagte er
nun, werde allerdings dadurch beseitigt, aber eine viel größere
heraufbeschworen. Denn dem Vordringen der Assyrer würden sich
die Ägypter entgegenstellen und Juda als der Kriegsschauplatz
vollkommen verwüstet werden; nur ein kleiner Rest solle bleiben
als Grundlage einer besseren Zukunft.
Die Folgen der Politik des Königs erwiesen sich jedoch nicht
so schlimm. Die Ägypter ließen die Assyrer ruhig gewähren und
rührten sich nicht, um Samarien und Damaskus beizustehn. Juda
wurde zwar ein assyrischer Tributärstaat, erlebte aber dabei, wäh-
rend der Regierung des Königs Ahaz und in den ersten zehn Jahren
seines Nachfolgers Hizkia, ganz leidliche Zeiten. Das war vorzugs-
weise Jesaias Verdienst. Von der Beteiligung an der hohen Politik
suchte er das kleine Land auf alle AVeise abzudrängen, damit es
sich um so ernsthafter den notwendigen internen Aufgaben zuwende.
Der schlimme Erfolg aller Erhebungsversuche bestätigte ihm den
Glauben, daß Assur die von Jahve geschwungene Zuchtrute der
Völker sei, unter deren eisernes Regiment sie sich zu beugen hätten.
Es gelang ihm wirklich in Jerusalem den Frieden zu erhalten,
wenn ringsum in den kleinen Nachbarreichen der Sturm gegen die
Unterdrücker tobte.
Dreißig Jahre dauerte für Juda diese merkwürdige Friedens-
periode inmitten des allgemeinen Krieges. Da fiel, im Jahre 705,
der gewaltige König Sargon von Assur durch Mörderhand; es regte
sich unter den Völkern. Der Babylonier Mardochbaladan benutzte
den Regierungswechsel zu einem Aufstande, durch eine Gesandt-
schaft redete er auch dem Hizkia zu, das Joch jetzt abzuwerfen.
Diesem schien in der Tat die Gelegenheit günstig, sich unabhängig
zu machen, er trat an die Spitze einer kleinen Koalition, zu der
besonders einige philisthäische Städte gehörten, und wagte den
Abfall. Dadurch, daß Sargons Nachfolger Senaherib zunächst in
128 Achtes Kapitel.
Babylonieu beschäftigt war, gewann man in Palästina Zeit; durch
die Bewältigung des babylonischen Aufstandes aber ließ man sich
nicht irre machen. Für alle Fälle wurden Verhandlungen mit
den Ägyptern angeknüpft, um sich ihres Beistandes in der Not zu
versichern.
3. Diese Zeit ist die Glanzzeit Jesaias, obwol er damals schon
ein bejahrter Mann war. Die Yorbereitnngen zum Aufstande, die
Unterhandlungen mit Ägypten waren ihm verheimlicht, ein Zeichen,
wie man am Hofe ihn fürchtete. Als er davon erfuhr, mußte er
den Dingen ihren Lauf lassen. Aber seinem Zorne konnte er Luft
machen, und er tat es in einer drastischen Rede, die er im Vorhof
des Tempels hielt, nach einem großen Opfergelage, bei dem man
sich, wie es scheint, zu der bevorstehenden Aktion Mut getrunken
hatte. Das Land bedürfe der Ruhe und des Friedens, statt dessen
werde es nun von dem trunkenen Leichtsinn seiner weltlichen und
geistlichen Führer in das Verderben gehetzt. Ein auf Lüge und
Verblendung gegründeter Trotz verstecke sich gegen das Wort
Jahves, doch werde er der Wahrheit durch den Zwang der Not
schon Geltung verschaffen. Wer auf seine vernünftige Sprache
nicht höre, zu dem werde er auf assyrisch reden, daß ihm Hören
und Sehen vergehe. Nicht minder empört, wie über die Torheit
des Königs und seiner weisen Räte und über den Fanatismus der
Priester und Propheten, zeigt sich Jesaias über den Gleichmut und
den Stumpfsinn der ihn ob seiner aufgeregten Rede verwundert
anstarrenden Menge. Der Ernst der Zeit reiße sie aus der Alltäg-
lichkeit nicht heraus, das lebendige Tun Jahves sei ihnen ein ver-
siegeltes Buch, ihre Frömmigkeit bestehe lediglich in der angewöhnten
Menschensatzung.
Inzwischen rückte Senaherib an der Spitze eines großen Heeres
von der phönizischen Küste her gegen Philisthäa und Juda vor
(701). Nachdem er Askalon bezwungen, wandte er sich gegen
Akkaron und belagerte die Stadt. Das zu ihrem Entsätze abge-
sandte ägyptisch -äthiopische Heer wurde bei Eltheke geschlagen,
Akkaron fiel und ward grausam bestraft. Gleichzeitig wurden in
Juda mehrere Festungen bezwungen und das platte Land gründlich
verwüstet. Hizkia geriet in Angst und bot erschrocken dem
Assyrer seine L^nterwerfung an. Sie wurde angenommen, er mußte
eine hohe Strafe bezahlen, durfte aber Jerusalem behalten. Er
schien mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.
Die Rettung Judas. 129
Nachdem er die Bahn frei hatte, drang Senaherib weiter nach
Süden vor; denn die Ägypter sammelten ihre Macht gegen ihn.
Je näher er an den Feind kam, um so bedenklicher mußte es ihm
vorkommen, eine Festung wie Jerusalem in der Hand eines Va-
sallen hinter sich zurückzulassen, der wie es scheint sich trotz dem
kaum abgeschlossenen Vertrage sofort wieder untreu oder min-
destens zweifelhaft erwies. Er forderte nun doch die Auslieferung
der Stadt und glaubte sie aus der Ferne, durch bloße Drohungen,
erreichen zu können. Er wäre damit vielleicht zum Ziele gekommen,
den König und seine Umgebung taxirte er richtig genug, es herrschte
die größte Mutlosigkeit in Jerusalem. Aber es gab einen Mann,
der sich nicht einschüchtern ließ. Das war der unbequeme Schul-
meister, von dem man sich nicht wie ein Kind hatte behandeln lassen
wollen und zu dem man nun doch demütig zurückkehren mußte.
So wenig wie früher von dem Trotze, ließ Jesaias sich jetzt von
dem Verzagen anstecken. Er sprach dem Könige Hizkia im Namen
Jahves Mut ein und bewog ihn die Stadt nicht zu übergeben. Die
Assyrer würden sie nicht einnehmen, keinen Pfeil hineinschießen,
nicht mit dem Schilddache gegen ihre Mauer vorrücken. „Dein
Stehn und dein Sitzen, dein Kommen und dein Gehn kenne ich —
so redet Jahve den Assyrer an — und auch dein Toben gegen
mich. Und ich lege meinen Ring in deine Nase und mein Gebiß
in deine Lippen und führe dich zurück auf dem Wege, den du
gekommen bist." Es kam wirklich so. Durch eine noch unauf-
geklärte Katastrophe wurde das assyrische Hauptheer an der ägyp-
tisch-palästinischen Grenze vernichtet, der König mußte sich eilig
nach Nineve zurückziehen, Jerusalem war gerettet. Große äußere
Bedeutung hatte dies Ereignis freilich nicht, 'es war kein Wende-
punkt in der Weltgeschichte. Die Macht der Assyrer brach sich
nicht an den Mauern Jerusalems, sie blieb unversehrt und erreichte
erst nachher ihren Gipfel. Senaherib selber konnte zwar die Scharte
nicht auswetzen, weil er im Osten beschäftigt war. Aber sein
Sohn Esarhaddon, der ihm im Jahre 681 folgte, nahm den Krieg
gegen Ägypten wieder auf und hatte besseren Erfolg; er eroberte
das Nilland und trieb die Äthiopen zu paaren. Es versteht sich,
daß dann auch die kleinen palästinischen Reiche in das alte Ab-
hängigkeitsverhältnis zurückkehrten. Bei alle dem machte es doch
einen außerordentlichen Eindruck auf die Zeitgenossen, daß Jerusalem
aus der Gefahr, der Samarien erlegen war, gerechtfertigt hervorging,
Wü 11 hausen, Isr. Geschichte. 5. Aufl. 9
130 Neuntes Kapitel.
iiiid dieser Eindruck, der durch die prophetische Voraussaguug des
Ereignisses noch erhöht und bedeutsamer gestimmt wurde, ging
nicht mit dem Augenblicke vorüber, sondern hatte sehr nachhaltige
Folgen. Der Tempel von Jerusalem gewann ein so einziges Ansehen,
daß bereits unter Hizkia der Prophet Micha von Moreseth gegen
den Aberglauben protestirte, daß derselbe besser sei als andere
Heiligtümer, und sich veranlaßt sah, seine Zerstörung zu weissagen.
Neuntes Kapitel.
Die prophetische Reformation.
1. Von einem unbedeutenden Winkel der Erde verfolgte Je-
saias den Lauf der Begebenheiten, tief ergriffen und doch uner-
schüttert von dem, was er sah und hörte. Indem er Jahve sprechen
ließ, bewährte er eine durchdringende Kenntnis der Menschen und
der Verhältnisse. Er verspottete die Politik und verstand trotzdem
mehr davon, als die kurzsichtigen Praktiker seiner Tage. Von dem
unbewegten Zentrum in der Mitte des Wirbels, der die Welt be-
wegte, übersah er die Situation. Wenn die außerordentlichen Er-
eignisse den Weisen einen Strich durch die Rechnung machten, so
bestätigten sie seine Erwartung; wenn die Lebenden verzweifelt
Rat bei den Toten suchten und an jeden Strohhalm sich klammer-
ten, so war er getrost. In dem Unwetter, das Eichen knickte und
Türme stürzte und alles hohe und erhabene Menschenwerk zu Bo-
den warf, vernahm er das Rauschen Jahves, der sich aufmachte,
sein befremdliches, unerhörtes Geschäft zu verrichten. Ihm war
dasselbe nicht befremdlich; er zürnte, daß es nicht jedermann längst
von ferne kommen sah. Eine Art tragischer Freudigkeit, ein Herois-
mus des Glaubens, zeichnete ihn aus.
Arnos und Hosea waren noch in der alten Zeit aufgewachsen,
Jesaias in der neuen, die unter dem Zeichen des Weltreiches stand.
Die Assyrer drohten nicht mehr aus der Ferne; der Strudel, der
von Nineve ausging, hatte die kleinen Völker Syriens und Pa-
lästinas bereits in sich hinein gezogen. Der Untergang Israels hatte
den Amos hinter der Herde weggerissen und dem Hosea das Herz
Die prophetische Reformation. 131
gebrochen; Jesaias sah ihn von vornherein als notwendig an, und
als er eintrat, blieb er gelassen. Für jene beiden fiel mit Israel
auch Juda, das Lied war aus. Aber die Geschichte machte einen
Unterschied zwischen Israel und Juda. Jesaias ließ Israel fahren,
er glaubte nicht, wie Hosea, an die Auferstehung dieses Volkes von
den Toten; aber der Faden war damit nicht abgeschnitten, er spann
sich fort in Juda. Was für seine Vorgänger der Schluß des Dra-
mas war, war für ihn nur der erste Akt, das Gericht über Sama-
rien nur der Anfang einer Reihe von Gerichten, und das Endziel
der langen Krisis war positiv. Aus Juda sollte ein Rest heraus-
gesichtet werden, der die Gemeinde Jahves auf Erden fortsetzte;
dieser Same der Zukunft sollte den Assyrern trotzen, und bei dem
Versuch ihn zu vernichten sollten sie zu gründe gehn.
Die Herstellung des Restes überließ nun aber Jesaias nicht
allein den Gerichten Jahves, sondern er arbeitete auch selber daran
ein neues Juda zu schaffen. In dem schwachen Regiment und der
mangelhaften Rechtspflege ') AVandel zu schaffen, mußte er aller-
dings Jahve überlassen; er konnte nur sein Ideal aussprechen. In
seinen sogenannten messianischen Weissagungen malt er nicht träu-
merische Zukunftsbilder von der dereinstigen Größe und Herrlich-
keit seines Volkes, zu deren Verwirklichung nicht die geringste
Aussicht sich bot, sondern er stellt Ziele auf, die schon in der Gegen-
wart Geltung haben oder haben sollten, zu denen das Gemeinwesen
seiner wahren Natur nach hinstrebt. Der starke und gerechte
König, den er in Bälde aus Davids Stamme erhofft^), hat nichts
Nebelhaftes an sich, und es wird ihm nichts zugemutet, was über
das Maß des unter den damaligen Umständen in Juda Möglichen
hinausgeht. Er schafft dem Geringen und Niederen Recht und tötet
durch seinen Richterspruch den Frevler und den Gewalttätigen,
so daß das Lamm sich nicht fürchtet vor dem Wolfe, allgemeine
Sicherheit herrscht und allgemeines Vertrauen — nicht etwa auf
^) Wie es zur Zeit Hizkias in Juda damit stand, sieht man aus Mich. 3.
Die Meinung, als habe der allgemeine Zustand des Landes gewechselt und
sich in Extremen bewegt, je nachdem der jeweilige Regent im Buch der Könige
die Note gut oder schlecht bekommt, ist absurd. Sie spukt aber noch immer
in den Köpfen.
^) Er erwartet in der Zeit des syrisch-ephraimitischen Krieges, daß der
Messias etwa innerhalb einer Generation auftritt; er muß ihn darum schon
im Jahre 734 geboren werden lassen, damit er als Mann den Thron besteige.
9*=
132 Neuntes Kapitel.
der ganzen Erde, sondern auf dem heiligen Berge Jahves, in Jeru-
salem als Mittelpunkte Judas'). Das messianische Keich bedeutet
die Beseitigung der inneren Rechtlosigkeit und Anarchie, die Her-
stellung von Gerechtigkeit Ordnung und Frieden. Es bleibt auf
Jerusalem und Juda beschränkt, nicht einmal von einer Herstellung
der Grenzen, wie sie zur Zeit Davids waren, ist die Rede. Die
Assyrer sollen zwar über die Marken getrieben werden, aber keines-
wegs soll dann nach ihrem Sturz Israel als herrschende Weltmacht
an ihre Stelle treten. Nicht in der selben Sphäre konkurriren die
stillen erquickenden Wasser Siloahs mit den brausenden Wogen
des allüberschwemmenden Euphrat. Die Theokratie, wenn man
den Ausdruck gebrauchen darf, hat rein innere Aufgaben, die im
kleinsten Kreise realisirt werden können; sie ist kein Weltreich,
freilich auch keine Kultusgemeinde^ sondern um den modernen
Ausdruck zu gebrauchen, ein Rechtsstaat. Die politischen Aspira-
tionen, welche ehedem von der Religion getragen wurden, werden
von Jesaias im Namen der Religion abgelehnt.
An einen anderen Schaden dagegen konnte Jesaias selber Hand
anlegen, das w\ar der Gottesdienst des Volkes in seiner damaligen
Gestalt. So schlimme Greuel wie in Israel, waren, wie es scheint,
auch auf diesem Gebiete in Juda nicht mehr zu bekämpfen. Aber
der Monotheismus zog seine Konsequenzen; wenn die Gottheit von
jeder Einzelerscheinung, von allem Sinnlichen, unterschieden werden
sollte, so war es gefährlich ihre Anbetung im Bilde zu dulden.
Schon Hosea hatte über den Bilderdienst gespottet; Jesaias machte
ihn zu einem Hauptgegenstande seiner Polemik. Er sah darin eine
Anbetung des Menschenwerks, die ihm gerade so schlimm schien,
wie das Vertrauen auf den Trug von Macht und Klugheit und Reich-
tümern. Die' Kultusstätten selber zu beseitigen fiel ihm nicht ein,
er beanstandete noch nicht einmal die heiligen Bäume und Steine,
sondern wollte nur die Ephode, die mit Silber oder Gold überzo-
') „Er richtet die Geringen mit Gerechtigkeit und die Niederen mit Billig-
keit, den Frevler trifft er mit der Rute seines Mundes und mit dem Hauche
seiner Lippen tötet er den Gewalttätigen. Dann kehrt der Wolf beim Lamme
ein und der Löwe frißt Heu wie das Rind, der Säugling streichelt der Natter
Fühlhorn und nach des Basilisken Leuchte streckt ein Entwöhnter die Hand.
Kein Frevel geschieht und kein Unrecht auf meinem ganzen hei-
igen Berge." Poesie, aber keine Utopie, kein weltumfassendes goldenes
Zeitalter.
Die prophetische Reformation. 133
geuen hölzernen Idole Jahves, aus den Heiligtümern entfernen.
Ohne Zweifel unter seinem Einfluß kam in der Tat eine entsprechende
Reinigung des Kultus zu Stande. Der König Hizkia hieb die
Aschera im Tempel von Jerusalem um und zertrümmerte die eherne
Schlange Moses, der man bis dahin dort geopfert hatte'). Schwer-
lich aber ist er weiter gegangen, als Jesaias sich träumen liei3, und
hat auch die sämtlichen Altäre außerhalb Jerusalems zerstört. Alles
spricht dagegen, daß jemand diesen Schritt dem Könige Josias zu-
vorgetan habe; insbesondere wissen wir genau, daß die Altäre Sa-
lomos bei Jerusalem bis auf Josias unzerstört geblieben sind.
Einen Rückhalt für seine Bestrebungen schuf sich Jesaias in
einer Partei, die er aus seinen Hausgenossen, seinen Schülern und
Anhängern um sich sammelte. Diese prophetische Partei erhielt
sich nach seinem Tode und führte durch, was er unvollendet ge-
lassen hatte ^). Man darf sogar behaupten, daß sie der Keim der
späteren Gemeinde der Frommen geworden ist. Jedenfalls war sie
das Vorspiel zu dem Unterschiede des wahren und des nominellen
Israel, zu der Trennung zwischen Gemeinde und Volk, die in der
Folge so bedeutsam wurde.
2. Mit Jesaias betrat die Prophetie den Weg der Reform; es
kostete lange Kämpfe, ehe sie auf diesem Wege auch nur äußerlich
zum Ziele kam. Wie groß die Neuerung war und wie tief sie
empfunden wurde, davon ist die Periode Manasses der deutlichste
Beweis. Denn der Rückschlag, der damals erfolgte, ging sicherlich
nicht von der Willkür des Königs aus; vielmehr wehrte sich die
Volksreligion auf Leben und Tod gegen ihre Angreifer, in dem
Bewußtsein, daß ihre Existenz gefährdet und daß kein Friede
möglich sei. Manasse ben Hizkia folgte seinem Vater in sehr ju-
gendlichem Alter und regierte ein halbes Jahrhundert in Jerusalem.
Daß er wieder unter assyrische Oberherrschaft geriet, scheint wenig
Eindruck gemacht zu haben ; seit Ahaz war Juda an dies Verhältnis
gewöhnt. Nur wie es im Innern unter seiner Regierung aussah,
wird uns berichtet. Er war ein schlechter Regent, der es geschehen
') 2 Reg. 18,4. Num. 21,8.9. Von der heiligen Lade ist nicht die Rede,
man weiß nichts über ihren Verbleib. Sie ist ohne Sang und Klang ver-
schwunden; sie konnte auch nicht ewig halten.
^) Smend sagt mit Recht, daß die prophetische Partei auch unter den
Häuptern des Volkes ihre Anhänger hatte und vielleicht zumeist unter ihnen.
Das ergibt sich besonders aus der Geschichte Jeremias.
134 Neuntes Kapitel.
ließ und an seinem Teile dazu beitrug, daß unschuldiges Blut
„von Leuten, die nicht auf Einbi'uch betroffen waren" in Strömen
vergossen wurde. Es ist merkwürdig, daß diese Eigenschaft bei
ihm, wie bei seinem späteren Gegenbilde Jojakim, mit Bigoterie
verbunden war — ein vielleicht mehr als zufälliges Zusammentreffen,
das dem wahren Geiste der israelitischen Religion im innersten
zuwider war. Der hauptsächliche Charakterzug der Regierung
dieses Königs war, wie bereits erwähnt, daß er der Reformpartei
feindlich gegenüber trat und sich auf Seite der Reaktion stellte.
Dürfen wir dem Zeugnis Jeremias trauen, so fraß das Schwert in
jener Zeit die Propheten wie ein wütiger Löwe. Der populäre,
halbheidnische Jahve sollte auf alle Weise gegen den strengen und
heiligen Gott der Propheten wieder zu Ehren gebracht werden.
Die abgeschafften Herrlichkeiten wurden wieder hervorgeholt, und
neuer Firlefanz aus allen Weltgegenden, vorzugsweise aus Assur
und Babylon, importirt, um den alten Gottesdienst aufzufrischen;
der Gott des Himmels wurde mit dem Heer des Himmels umgeben
und bekam auch eine Königin des Himmels beigesellt, die passender
Weise namentlich von den Weibern verehrt wurde '). Doch wie
es zu gehn pflegt, stellte die Restauration des Alten nicht einfach
das Alte wieder her. Was früher naiv gewesen war, war jetzt
Aberglaube geworden und konnte nur dadurch gehalten werden,
daß ihm künstlich eine tiefere Bedeutung untergelegt wurde. Ein
blutiger Ernst verdrängte die alte Fröhlichkeit des Kultus, es wurde
ihm eine vorwiegende Beziehung auf die Sünde und ihre Sühne ge-
geben. Je unnatürlicher und schwerer die Leistungen für die Gottheit
waren, um so wertvoller erschienen sie; dies ist die Zeit, wo die
längst abgekommene Sitte, nicht bloß die tierischen, sondern auch die
menschlichen Erstgeburten männlichen Geschlechts zu opfern, wieder
aufgenommen wurde. Im Tal Geenna befand sich ein Altar von ganz
besonderer Heiligkeit, auf dem man die geschlachteten Kinder für
Jahve verbrannte "'*). Die Gegenreformation war von der Reformation
1) Reste arabischen Heidentums 1897 p. 41. Es scheint doch die Göttin
des Morgensternes zu sein. Der Morgenstern (Helel, arab. Hiläl Neumond)
ist zwar bei den Hebräern Masculinum, aber das beweist nur, daß sie die
Göttin des Morgensterns nicht selbst geschöpft, sondern von den Assyreru
oder Babylonieru entlehnt haben.
2) Nicht tophet, sondern tephät = reuerstelle; s. J. D. Michaelis, Suppl.
nr. 187, und W. R. Smith, Lectures on the Religion of the Semites 1894 p. 377.
Die prophetische Reformation. 135
selber nicht unberührt, wenngleich sie den religiösen Ernst in
anderem Sinne verstand und das Heidentum im Kultus nicht zu
entfernen, sondern neu zu beseelen suchte. Auf der anderen Seite
hat dann auch wieder die Reaktion einen spürbaren Einfluß auf
das Endergebnis der Reformation ausgeübt.
Ein Dokument aus der Zeit jManasses besitzen wir vielleicht
im sechsten Kapitel des Buches Micha. Darin gelangt der pro-
phetische Standpunkt gegenüber dem Raffinement des Kultus zum
reinsten und ergreifendsten Ausdrucke. „Womit soll ich Jahve
entgegen kommen, mich beugen vor dem Gott der Höhe? soll ich
mit Brandopfern vor ihm erscheinen, mit jährigen Kälbern? hat
Jahve Gefallen an Tausenden von Widdern, an Myriaden von 01-
bächen? soll ich meinen Erstgeborenen als meine Buße geben,
meines Leibes Frucht zur Sühne meiner Seele? .... Es ist dir
gesagt, Mensch, was frommt und was Jahve dein Gott von dir
fordert: vielmehr Recht üben uud Güte, und demütig wandeln
vor deinem Gotte." Vielleicht stammt aus dieser Zeit auch der
Dekalog, der das Bilderverbot an die Spitze setzt, über den Opfer-
uud Festkultus schweigt, und fast nur solche Gebote zum Grund-
gesetz für Israel macht, die für alle Menschen insgemein Giltigkeit
haben ').
Manasse lebte sehr lauge, sein Sohn Amon wandelte in seinen
Wegen. Aber er starb nach kurzer Regierung, und mit Josias, dem
Sohne Amons, welcher im Alter von acht Jahren auf den Thron
gelangte, brach eine neue Zeit für Juda an. Sie wurde eingeleitet
durch die große weltgeschichtliche Katastrophe, in der das Assyrer-
reich zusammenbrach. Die Scythen bereiteten den Übergang der
Weltherrschaft von den Semiten auf die Arier vor. Ihr Einfall in
Vorderasien versetzte der assyrischen Monarchie den ersten ge-
wichtigen Schlagt) und löste den ohnehin lockeren Zusammenhang
') Der Dekalog von Exod. 20 ist ein Gegenstück zu dem alten von Ex. 34.
Der Anfang ist analog, an Stelle der Festgesetzgebung tritt das Sabbatsgebot
und moralische Vorschriften. Angeredet wird der Einzelne, nicht wie in Ex. 34
die Gemeinde; denn die Moral ist Sache des Einzelnen, der Kultus Sache
des Volks.
2) Herodot erzählt, Niueve sei durch die Scythen aiis der ersten modischen
Belagerung gerettet worden. Aber Sephania erwartet nicht die Befreiung,
sondern die Zerstörung Isineves von den Scythen, und Nahum, der zur Zeit
der letzten Belagerung schrieb, sagt ausdrücklich, sie sei die erste und die
136 Neuntes Kapitel.
ihrer Bestandteile. Die Provinzen bröckelten ab, das Reich schrumpfte
allmählig auf die Landschaft Assur zusammen.
Der Scythensturm rief in Juda die Stimme der Propheten
wieder wach, im dreizehnten Jahre Josias (626). Sephania und
Jeremias drohten mit dem unlieimlichen nördlichen Feinde, wie
einst Amos und Hosea mit den Assyrern. Wirklich brachen die
Scythen in Palästina ein und drangen bis Ägypten vor; aber sie
zogen am Meere hin und berührten Juda nicht. Die so nahe
gerückte und doch vorübergegangene Gefahr, die eingetroffene und
doch gnädig abgewandte prophetische Drohung scheint einen großen
Eindruck auf die Judäer gemacht zu haben. Jedenfalls trat ein
Umschwung zu gunsten der reformatorischen Partei ein, und diese
wußte auch den jungen König für sich zu gewinnen. Die Um-
stände ließen sich günstig an, um mit dem umfassenden Programm
einer Neugestaltung der Theokratie hervorzutreten. Im Jahre 621,
vor Ostern, wurde das Deuteronomium als zufällig wieder auf-
gefundenes Buch des Gesetzes dem Könige in die Hand gespielt').
Unter dem Eindruck der Flüche, die Moses darin gegen die Un-
gehorsamen und Übertreter ausspricht, beschloß er den so lange
ignorirten Forderungen Jahves noch in letzter Stunde Geltung zu
verschaffen. Er berief die Bewohner von Stadt und Land zu einer
Versammlung in den Tempel, las ihnen das Gesetz vor und ver-
pflichtete sie feierlich darauf. Er reinigte sodann zunächst den
Tempel und die Hauptstadt von dem Unrat, der sich dort ange-
sammelt hatte. Er zerstörte die heidnischen Altäre und die Häuser
der heiligen Unzucht im Tempel, verbraunte die Aschera und tat
die der Sonne geweihten Rosse und Wagen ab. Er entweihte die
letzte, er keuut keine frühere. Auf den Scythensturm bezieht sich die Angabe
des Abydenus: Saracus certior factus quod exercitus locustarum instar mari
exiens impetum faceret, Busalossorum ducem confestim Babelonem misit. Denn
das Antrittsjahr — nicht das erste Jahr — des Nabopolassar (Busalossor) in
Babylon ist 626, und dieses Jahr, das lo. des Josias, ist dasjenige, in welchem
der Sturm von Norden den Jeremias bewog, als Prophet aufzutreten. Durch
die sehr auffällige Beglaubigung des Datums — des eiuzigen zuverlässigen
über den Scytheneinbruch, das wir besitzen — gewinnt die Angabe des
Abydenus selber an Wert; wenigstens ist sie bloßem Kannegießern einstweilen
vorzuziehen. Das Jahr 1 der Ära (der Unabhängigkeit) von Babel ist 625.
') Tempelrestauration war auch in Assur und Babel eine beliebte Ge-
legenheit zum Fund uralter Dokumente.
Die prophetische Reformation. J37
Brandstätte im Tal Geeiiua und die Höhen, die sich außerhalb des
Tempels noch in Jerusalem befanden, unter anderen die, welche
Salomo für Astarte, Kamos und Milkom errichtet hatte. Alle Wahr-
sager und Totenbeschwörer, die Bilder und Medien und alle Greuel
fegte er aus. Weiter aber entweihte er alle Anbetungsstätten Jahves
außerhalb Jerusalems und setzte sie außer Gebrauch. Er griff
dabei sogar über die Grenzen seines Landes hinaus und zerstörte
das Heiligtum zu Bethel, wo ein altisraelitisches Priestergeschlecht,
das ausdrücklich zu diesem Zweck aus der Verbannung zurück-
gesendet war, den Dienst Jahves in alter landesüblicher Weise
betrieb.
Zu allen Zeiten wird die Beihilfe des weltlichen Arms in An-
spruch genommen, um Änderungen .des Gottesdienstes herbeizu-
führen, die bis in die breiten Schichten des Volkes durchdringen
sollen. Die israelitischen und jüdischen Könige hatten unbestritten
das Recht zu solchen Änderungen und übten es nach ihrem Ge-
schmack aus. Indessen einen so gewaltsamen Eingriff, wie ihn
Josias mit der Beseitigung sämtlicher provinzialen Kultusstätten
unternahm, hat vor ihm doch niemand gewagt. Was bisher das
Heiligste gewesen war, das wurde nun wie eine böse Wurzel aus-
gerodet. Die Altäre Jahves, an denen schon die Erzväter und nach
ihnen so viele Geschlechter ihre Opfer gebracht hatten, wurden
geschändet; es war ein Sakrileg, ein Schlag ins Gesicht der Pietät
des Volkes. Die Provinzialstädte und Landgemeinden büßten ihren
heiligen Mittelpunkt ein und sollten aufhören selbständige religiöse
Gemeinden zu sein; an den lieben alten Stätten sollten die Bewohner
nicht mehr dem Jahve dienen, in ihrer Heimat nicht mehr die
Ernte und die Lese ihm dankend feiern, sondern nur in der fremden
Hauptstadt. Es ging viel verloren mit dieser Abstreifung des
lokalen Charakters der alten Volksreligion. Die ganze Tradition,
der Zusammenhang mit dem heiligen Erbe der Vergangenheit,'
wurde von Josias kurzer Hand durchschnitten. Und noch in einer
anderen Hinsicht machte seine Reformation Epoche. Er gründete
sie auf ein Buch. Er begann damit, daß er ein Buch, enüialtend
die Ordnung des Gottesdienstes, des Rechts und der Sitte, ver-
öffentlichte und zum Reichsgesetz erhob. Er hat auf diese Weise
den ersten Schritt getan, um der Theokratie eine kodifizirte Grund-
lage zu geben und das Volk des heiligen Wortes in ein Volk der
heiligen Schrift zu verwandeln. Es war ein sehr folgenreicher
138 Neuntes Kapitel.
«
Schritt, indessen traten seine AVirkungen nicht sofort hervor. Zu-
nächst hatten die radikalen praktischen Maßregeln größere Bedeu-
tung, wodurch der König das Gesetz, so viel an ihm lag, alsbald
in die Wirklichkeit übertrug.
3. Das Deuteronomium krönt die Arbeit der Propheten. Sie
schärften beständig ein, daß die Gnade Jahves bedingt sei durch
die Erfüllung seiner Forderungen, sie hoben die Notwendigkeit
einer Bekehrung des Volkes hervor, aber was nun eigentlich ge-
schehen sollte, das sagten sie nicht bestimmt genug. Um zur
Richtschnur dienen zu können, mußte der Inhalt der Forderungen
Jahves zunächst dargelegt und einigermaßen greifbar formulirt
werden. Der erste Schritt dazu geschah im Dekalog; aber hier
blieben die Gebote zu individuell und, was das selbe sagt, zu all-
gemein, um die Grundlage der Reformation eines Volkes abzu-
geben. Der zweite und erfolgreichere Schritt geschah mit dem
Deuteronomium. Das Deuteronomium gibt sich als Supplement
des Dekaloges und ergänzt denselben in der Tat durch eine wirk-
liche Volksgesetzgebung, welche größtenteils auf einer Modifizirung
alter Weistüm er beruht^). Es war das erste Gesetzes- und Bundes-
buch, oder vielmehr, es war zu seiner Zeit und auf lange hinaus
einfach das Buch des Bundes. Deutlicher als irgendwo zeigt sich
hier, daß Propheten und Gesetz kein Gegensatz, sondern identisch
sind und im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehn.
Die Gesetzgebung wird im Deuteronomium eröffnet durch das
Gebot, die sämtlichen Kultusstätten Jahves, bis auf die von Jeru-
salem, abzuschaffen. Man verzweifelte, die Bamoth reinigen zu
können, an denen der kanaanitische Ursprung unausrottbar haftete;
es war genug, wenn das beim Tempel Salomos gelang, einer rein
israelitischen Stiftung, wo die Bedingungen weit günstiger lagen.
Daneben wirkten wol noch andere Rücksichten, um die radikale
Maßregel zu veranlassen. Die Beschränkung des Opferdienstes, die
0 Die Söhne sollen nicht mehr in die Schuld und in die Strafe des
Vaters verwickelt werden. Das Weib soll nicht mehr vom Vater auf den
Sohn übergehn. Zins wird verboten, das Pfandrecht gemildert. Die Besitz-
losen, die Aufenthalter und die Sklaven werden billiger Rücksicht empfohlen.
Aber es ist nur ein juristischer Grundsatz, nichts weiter, daß der Sohn nicht
für den Vater zu büßen hat. Die Eheverbote beschränken sich auf einen Fall
(über Deut. 27 vgl. die Kompos. des Hexat. 1899 p. 362 s). Es ist auffällig, wie
weit schon Ezechiel in diesen Punkten über das Deuteronomium hinaus geht.
Die prophetische Reformation. lo9
Verminderung der religiösen Bedeutung des Sclilachtens, mußte
auf prophetischem Standpunkte an sich als ein Vorteil gelten, und
aus dem Monotheismus schien die Folge zu Hießen, daß der eine Gott
auch nur an einer Stelle auf Erden wohnen und angebetet werden
könne. Daß diese eine Stelle dann Jerusalem sein mußte, verstand
sich von selbst. Der Tempel besaß tatsächlich das Übergewicht
über die Höhen; er verdiente es aber auch, weil der dortige
Kultus mehr Bezug auf die Nation und ihre Geschichte hatte, echter
israelitisch und nicht so naturalistisch war, wie der auf den Höhen,
Im Mittelpunkte des Reiches trat das Verhältnis Jahves zu Israel,
das historisch-politische oder das theokratische Moment, mehr in den
Vordergrund, als Ackerbau und Viehzucht. Die Zentralisation des
Kultus leistete seiner Denaturirung Vorschub, insbesondere bei den
Festen, bei denen der Naturdienst noch ziemlich unverschleiert war.
Überall scheint der Monotheismus als das Motiv der Konzen-
tration des Kultus im Deutoronomium durch, der Kultus an sich
ist durchaus nicht der Zweck der Gesetzgebung. Sie beschäftigt
sich mit demselben auch nur exoterisch, soweit er das ganze Volk
angeht, und kümmert sich ebenso sehr um die übrigen Gebiete
des Volkslebens. Die Sympathie für die niederen Stände tritt stark
hervor und führt zu Bestimmungen, welche hart an Utopien grenzen.
Das soziale Interesse wird dem Kultus übergeordnet, indem den
Opfern und Bräuchen, so weit nur immer möglich, humane Zwecke
beigelegt werden, die ihnen freilich schon von Haus aus nicht fern
lagen. Das alles sind Zeichen prophetischer Gesinnung. Nirgend
klarer als in den Motiven des Deuteronomiums findet sich der
Grundgedanke der Prophetie ausgesprochen, daß Jahve nichts für
sich haben wolle, sondern als Frömmigkeit ansehe und verlange,
daß der Mensch dem Menschen leiste was recht ist, daß sein Wille
nicht in unbekannter Höhe und Ferne liege, sondern in der Allen
bekannten und verständlichen sittlichen Sphäre. „Die Forderungen,
welche ich an dich stelle, sind nicht unerreichbar für dich und
nicht fernliegend; nicht im Himmel, so daß man sagen könnte:
wer kann hinauf in den Himmel und sie herabholen und uns mit-
teilen, daß wir sie erfüllen! nicht jenseit des Meeres, so daß man
sagen könnte: wer kann herüber über das Meer und sie holen und
uns mitteilen, daß wir sie erfüllen! — sondern sehr nahe liegt dir
die Sache, in deinem Munde und in deinem Herzen, so daß du
sie tun kannst."
140 Zehntes Kapitel.
Aber Erfolg hatte die prophetische Reformation doch wieder
bloß auf dem Gebiete des Kultus. Dies Gebiet galt doch noch
immer als das eigentlich religiöse, und nur hier stellte das Deute-
ronomium Forderungen, die neu waren und Eindruck machten.
Die sozialen und moralischen Forderungen, welche dasselbe mit
nicht minderem Nachdruck erhob, waren seit lange gepredigt und
eben so lange überhört. Sie richteten sich zudem besonders an
die oberen Stände, und diese zur Selbstverleugung zu zwingen
war nicht so leicht, wie das Volk zum Verlassen seiner Altäre.
Die Zerstörung der Höhen und die Vereinigung der Opfer zu Jeru-
salem war die einschneidendste und doch die ausführbarste Maß-
regel in dem Programm des Deuteronomiums. Das Resultat, worauf
die prophetische Bewegung hinauslief, entsprach somit ihren ur-
sprünglichen Intentionen nicht vollständig. Der Dienst Jahves
wurde auf Jerusalem beschränkt und überall sonst abgestellt —
das war die populäre und praktische Form des prophetischen Mo-
notheismus. Die Bedeutung des Tempels und des Tempelkultus
wurde dadurch aufs höchste gesteigert, und den Vorteil davon
hatten die jerusalemischen Priester, die Bne Sadok. Der deutero-
nomische Gesetzgeber hatte zwar durchaus nicht ihr Interesse im
Auge, er verordnete ausdrücklich, daß die provinzialen Priester
nicht mit den provinzialen Altären fallen, sondern künftig das
Recht haben sollten, in Jerusalem zu opfern so gut wie ihre dort
erbgesessenen Brüder. Aber das wurde nicht durchgesetzt; die
Zentralisirung des Kultus erwies sich als kräftigster Hebel der
Hierokratie.
Zehntes Kapitel.
Jeremias und die Zerstörung Jerusalems.
L.Noch dreizehn Jahre überlebte Josias sein großes Werk.
Es war eine glückliche Zeit äußeren und inneren Wolbehagens.
Man hatte den Bund und man glaubte ihn zu halten. Erreicht
schienen die Bedingungen, von denen die Propheten das Fort-
bestehn der Theokratie abhängig gemacht hatten; waren ihre
Drohungen an Israel in Erfüllung gegangen, so war nun Juda Erbe
Jeremias und die Zerstörung Jerusalems. 141
ihrer Verlieißiingen. Schon im Deuteronomium wird die „Erweite-
rung der Grenzen" in Aussicht genommen, und Josias legte Hand
an, um zu diesem Ziele zu gelangen. Religion und Patriotismus
schienen nun endlich mit Recht Hand in Hand gehn zu dürfen.
Nur Jeremias ließ sich von der allgemeinen Stimmung nicht an-
stecken. An der Einführung des Deuteronomiums hatte er mit-
gewirkt, zeitlebens eiferte er gegen die illegitimen Altäre in den
Städten Judas und gegen die Anbetung der heiligen Bäume und
Steine. Aber mit den Wirkungen der Reformation war er keines-
wegs zufrieden, nichts schien ihm gefährlicher, als das Vertrauen,
Avelches sie erzeugt hatte, auf den Besitz des Gesetzes Jahves und
seines einzig wahren Tempels. Dies Vertrauen, sagte er, sei ein
Wahn, die innere Sachlage habe sich nicht verändert. Im Gegen-
satz zu Jesaias hob er geflissentlich hervor, Juda sei um kein Haar
besser als Israel. Die erfolgte Bekehrung sei nur äußerliches
Scheinwerk geblieben, ein Säen unter die Dornen, kein tiefes Um-
pflügen des verrotteten Ackers.
König Josias fiel in der Schlacht von Megiddo (G08) gegen
Pharao Necho ^). Der Pharao scheint ausgezogen zu sein, um sich
seinen Teil an der Erbschaft Nineves vorwegzunehmen, während
die Meder und Chaldäer die Stadt belagerten. Josias aber ge-
dachte nicht, die lang entbehrte Unabhängigkeit, die ihm durch
den Niedergang der assyrischen Macht in den Schoß gefallen Avar,
dem Ägypter zu opfern. Er ergriff" sogar die Offensive und stellte
sich ihm auf offenem Felde entgegen, weit außerhalb der alten
Grenzen seines Landes. Der unglückliche Ausgang der Schlacht
bereitete den Hoffnungen und dem Glücke Judas ein unvermutetes
Ende. In der Angst vor dem Anrücken der Feinde strömte das
Volk zu einem Fasttage in den Tempel, um sich an Jahve und an
seine heilige Wohnuna; anzuklammern. Diese Gelegenheit benutzte
') Die Ägypter kamen zu Land, nur dann erklärt sich die Eroberung von
Kadytis d. i., wie zuerst Hitzig erkannt liat, Gaza (llerod. 2, 1,59. Hier. 47, 1).
Die Schlacht von Magdolos (Pelusium) gegen die Syrer, die Herodot erwähnt
und vor die Einnahme von Gaza setzt, ist wol eine von ihm selber oder seinen
Gewährsmännern begangene Verwechslung mit der Schlacht von Megiddo —
welche Syrer sollten damals einen Angriff auf Ägy])ten gemacht haben? Auch
Mende für Megiddo, bei Josephus Ant. 10, 75, muß ein Versehen sein. Daß
Kineve noch stand, als der Pharao auszog, ergiebt sich u. a. aus 2 Reg. 23,29;
„wider den König vou Assur".
142 Zehntes Kapitel.
Jeremias, um wirksam seine Meinung zu äußern. „Verlaßt euch
nicht auf Aberghauben, zu sagen: dies ist der Tempel Jahves, der
Tempel Jahves, der Tempel Jahves. Ihr stehlt, mordet, hurt, schwürt
Meineide, und räuchert fremden Göttern, und dann kommt ihr her
und tretet vor mich in diesem Hause, das nach meinem Namen
genannt ist, und sagt: hier sind wir sicher! etwa um all diese
Greuel auszuüben? Ist dies Haus, das nach mir benannt ist, eine
Räuberhöhle geworden? ich habe auch Augen, spricht Jahve. Geht
nur hin zu meiner Stätte in Silo, wo ich anfangs meinem Namen
Wohnung gab, und seht, was ich der getan habe, wegen der Bos-
heit meines Volkes Israel. Nun also, weil ihr diese Dinge übt und
trotz meinem eifrigen, rechtzeitigen Reden nicht hört und trotz
meinem Rufen nicht antwortet, so tue ich dem nach mir genannten
Hause, worauf ihr euch trügt, und der Stätte, die ich euch und
euren Vätern gegeben habe, wie ich Silo getan habe, und werfe
euch hinaus von mir, wie ich eure Brüder, die Ephraimiten, hin-
ausgeworfen habe." Für solche Lästerungen gegen den Glauben
der Menge hätte er, auf die Anklage der Priester und Propheten,
fast mit dem Tode büßen müssen; aber er ließ sich nicht irre
machen. Auch als die Zeiten wieder ruhig wurden, hielt er fest
an seiner Unheilsverkündigung, unter Lebensgefahr, unter allge-
meinem Spott und Gelächter. Momente der Verzweiflung kamen
über ihn; daß er aber den Wert der großen Bekehrung des Volkes
richtig geschätzt hatte, bestätigten schon jetzt die Tatsachen. Ob-
wol unter Jojakim, der als ägyptischer Vasall die Nachfolge seines
Vaters Josias erhielt, das Deuteronomium nicht formell abgeschafft
wurde, so fand es doch tatsächlich keine Nachachtung mehr, zu-
mal da ja die Schlacht von Megiddo gelehrt hatte, daß man, trotz
dem Bunde, mit Jahve nicht besser daran war als vordem. Joja-
kim lenkte wieder ein in die Bahnen Manasses, nicht bloß hinsicht-
lich seiner Vorliebe für die Superstition, sondern auch hinsichtlich
der Nichtachtung von Leben und Eigentum seiner Untertanen.
(Hier. 22,15—17).
Endlich führten die Ereignisse auch den äußeren Sturz der
Theokratie herbei, auf den Jeremias lange vergebens gewartet hatte.
Nachdem die Ägypter in mehrjährigen Kämpfen sich Syrien unter-
worfen hatten, trat ihnen, wie es scheint nach dem Falle Nineves,
Nabukodrossor von Babylon entgegen und schlug sie am oberen
Euphrat bei Karchemis (604). Die Judäer frohlockten über den
Jeremias und die Zerstörung Jerusalems. 143
Fall Nineves, sie frohlockten auch über die Niederlage der Ägypter;
aber das bittere Ende kam nach, als die Sache für sie auf die Aus-
sicht hinauslief, für das ägyptische Joch das chaldäische einzu-
tauschen'). Von der Macht der Chaldäer hatte man nichts geahnt^),
und nun waren plötzlich die Assyrer in ihnen neu aufgelebt. Nur
Jeremias hatte Anlaß, den Kopf höher zu heben. Sein alter viel
bespöttelter Feind aus Norden, mit dem er seit Anfang seines Auf-
tretens gedroht hatte, kam jetzt endlich zu Ehren, wenn er auch
nicht den Namen der Scythen, sondern der Babylonier führte. Es
war eine Epoche, ein Abschluß der Rechnung: für ihn stimmte sie.
Darum erhielt er gerade jetzt den göttlichen Auftrag, aufzuschreiben
was er seit dreiundzwanzig Jahren verkündet hatte, was immer
für unmöglich gehalten und nun so nahe gerückt war.
In Folge des Sieges bei Karchemis verdrängten die Chaldäer
den Pharao aus Syrien, und auch Jojakim mußte sich ihnen unter-
werfen (=t 602). Drei Jahre bezahlte er seinen Tribut, dann hielt
er ihn zurück: ein durch religiösen Fanatismus entflammtes Frei-
heitsfieber durchglühte mit unheimlicher Gewalt die leitenden Kreise,
die Großen, die Priester und Propheten, und erfaßte auch den
König. Nabukodrossor begnügte sich zunächst, das abtrünnige
Land durch Einfälle chaldäischer Streifscharen zu strafen, denen
sich die feindlichen Nachbaren mit Vergnügen anschlössen. Erst
im Jahre 597 erschien ein größeres Heer der Chaldäer vor Jerusalem,
bei welchem bald auch Nabukodrossor in Person eintraf. Die Stadt
mußte sich ergeben, der jugendliche König Jechonia, der Sohn des
inzwischen verstorbeneu Jojakim, wurde gefangen und mußte die
Schuld seines Täters im Kerker zu Babel büßen, in dem er bis
zum Tode Nabukodrossors verblieb. Mit ihm wurden zehntausend
Jerusalemer fortgeschleppt und in Babylonien angesiedelt, lauter
vornehme und wolhabende oder kunstfertige Männer, die Blüte und
') Nabnm 1 — 3. Hier. 46. Dagegen gehört Ilabaliuk in eine spätere Zeit.
Daß Hier. 46 nicht von Jeremias stammt, ist klar. Sein Buch schließt mit
Kap. 45; das Folgende ist ein Anhang und besteht aus Stücken verschiedenen
Alters und verschiedener Herkunft. Ygl. Josephus Ant. 10, 219ss. und contra
Ap. 1, 135ss.
^) Nach Gen. 22, 22 scheinen die Chaldäer Aramäer zu sein, die in Baby-
lonien eingedrungen sind; die Stellen Hierem. 35, 11. 2 Reg. 24, 2 sprechen
schwerlich dagegen. Die babylonischen Chaldäer werden im A. T. nicht friili
erwähnt, sondern zuerst bei Jeremias, Ezechiel und Habakuk.
144 Zehntes Kapitel.
der Kern der Bevölkerung. Zum Könige über den Rest wurde
Sedekia ben Josia gemacht.
2. Es war ein gehöriger Aderhiß. Aber das Fieber wurde da-
durch nicht unterdrückt. Das Haus Jahves stand ja noch und er
wohnte darin. Die Verbannten zweifelten nicht, daß er in kurzer
Zeit die Herrschaft der Heiden stürzen und sie heimführen w^erde,
sie schürten das Feuer in Jerusalem. Ezechiel, der sich unter ihnen
befand, konnte kein vernünftiges Wort mit ihnen reden, bis sie
durch die Zerstörung Jerusalems betäubt und ernüchtert wurden.
Und die Zurückgebliebenen waren ähnlich gestimmt. Sie legten
sich alles zum besten zurecht, betrachteten die Verbannten als die
verwehte Spreu und hielten sich für den gesichteten Weizen ').
Schon in den ersten Jahren Sedekias war ein Aufstand gegen die
Chaldäer im Werke, Gesandte von Edom Moab und Tyrus kamen
nach Jerusalem um ihn zu betreiben. Als Bescheid von seiner
Seite gab ihnen Jeremias Stricke und Joche an ihre Auftraggeber
mit, er selber erschien im Tempel mit einem hölzernen Joch um
den Hals. Die öffentliche Meinung war zwar wol auf der Seite
des Propheten Hanau ia, welcher weissagte, daß die chaldäische
Herrschaft binnen zwei Jahren zu Fall kommen werde, und des
zum Zeichen das Joch am Nacken Jeremias zerbrach. Aber an
leitender Stelle drang diesmal doch die Vernunft durch, der Auf-
stand kam nicht zum Ausbruch. Sedekia reiste selber nach Babel,
vielleicht um sich zu entschuldigen und um gut ^\'etter zu bitten.
Als sich jedoch im Jahre 588 eine bestimmte Aussicht auf die
Hilfe des Pharao Hophra (Apries) zeigte, war der Freiheitsdrang
nicht mehr zu bändigen. Der Abfall wurde erklärt — binnen
kurzem (Januar 587) lag ein chaldäisches Heer vor Jerusalem. Einen
Augenblick schien sich alles zum besten zu wenden; die Ägypter
kamen zum Entsatz heran, und die Chaldäer mußten die Belagerung
aufgeben, um ihnen entgegen zu ziehen. Darüber herrschte in Jeru-
salem große Freude; sie fand darin einen bezeichnenden Ausdruck,
daß man die hebräischen Slaven wieder einfing und knechtete, die
man kurz vorher in der Angst freigegeben hatte, um durch Er-
^) Jeremias (Kap. 24) und Ezechiel (14, 21 — 23) protestiren dagegen und
behaupten umgekehrt, die Deportirten seien die Guten, die Zurückgebliebenen
die Schlechten; insofern ohne Zweifel mit Recht, als jene die Elite der Be-
völkerung waren. Übiigens gab es in Jerusalem nach 597 auch manche, die an
Jahve verzweifelten und nichts mehr von ihm wissen wollten (Ezech. 8, 12. 9, 9).
Jeremias und die Zerstörimg Jerusalems. 145
füllung des deuteronomischeii Gebotes Jahve gnädig zu stimmen.
Nur Jeremias beharrte bei seiner Schwarzseherei; selbst wenn das
ganze Heer der Chaldäer aufgerieben würde und nur einige Ver-
wundete übrig blieben, so würden diese genügen, Jerusalem einzu-
nehmen und in Brand zu stecken. Er behielt Recht, die Ägypter
zogen sich zurück, die Belagerung begann von vorne. Jerusalem
war zum wahnsinnigen Widerstände entschlossen; vergebens suchte
Jeremias, unter steter Gefahr seines Lebens, noch jetzt zur Kapi-
tulation zu ermahnen. Der König, der ihm Recht gab und ihn
schützte, so viel er konnte, wagte doch nicht seine Meinung gegen
den patriotischen Terrorismus geltend zu machen. Endlich im
Juli 586 drangen die Chaldäer ein, nachdem der Hunger ihnen vor-
gearbeitet hatte. Der König floh durch einen Ausgang der Süd-
mauer'), wurde aber eingeholt und mit anderen vornehmen Ge-
fangenen nach Ribla im Lande Hamath geführt, wo Nabukodrossor,
der sich dort aufhielt, streng mit ihnen zu Gerichte ging. Die meu-
terische Stadt wurde zerstört, die Mauer niedergerissen, der Tempel
eingeäschert; dabei leisteten die Edomiten den Chaldäern beflissene
Hilfe. Von der Bevölkerung, diesmal nicht bloß der Stadt, sondern
auch des Landes, wurde zum zweiten mal ein erheblicher Teil nach
Babylonien verpflanzt").
Nicht lange vor der Eroberung der Stadt hatte Jeremias von
einem Verwandten einen Acker zum Kauf angeboten erhalten;
einigermaßen überrascht ging er am Ende doch auf den unzeit-
gemäßen Handel ein, denn er merkte, daß es das Wort Jahves
sei, welcher dadurch eine Zukunft vorbilde, wo der gegenwärtig
wertlose Besitz wieder Wert haben solle. Auf den Trümmern des
Tempels weinte er nicht, sondern blickte freudiger Hoftnung voll
in die Zukunft. Schon früher hatte er der Verbannung Israels und
Judas eine Frist von einigen Jahrzehnden gesetzt, dann solle die
chaldäische Tyrannei ein Ende nehmen und die in Knechtschaft ge-
führten Völker wieder Herren in ihrem Hause werden. Jetzt sah
er im Geist die Zeit, wo seine verwüstete Heimat von fröhlichem
Volke, von weidenden Herden, von grünen Bäumen und Saaten
1) So nach 2 Reg. 25,4. Aber nach Ezech. 12,4.12, wie es scheint,
durch eine Bresche.
-) Nach Hier. 52, 28. 29 wurden während der Belagerung 3023 Judäer und
nach dem Fall 823 Jerusalemer weggeführt; die Zahlen sind unglaublich niedrig.
We 1 1 li a u s e n , Isr. Gescliichtc'. ö. Aufl. 10
X46 Zehntes Kapitel.
wieder bedeckt war, wo Jalive die Schuld vergeben uud das ab-
gebrochene Verhältnis erneut hatte.
Noch immer blieben nicht wenige Juden in Palästina zurück,
sie gehörten allerdings meist dem niederen Stande oder der Land-
bevölkerung an. An ihre Spitze setzte der König von Babel einen
einheimischen Statthalter in der Person des Gedalia ben Ahikam,
eines Gönners Jeremias, der vielleicht eben deshalb für chaldäisch
gesinnt galt. Er nahm seinen Wohnsitz zu Mispha, nicht weit von
Jerusalem; dorthin sammelten sich zu ihm von allen Seiten die
Versprengten. Auch Jeremias begab sich dorthin, die Chaldäer er-
wiesen ihm große Rücksicht und gestatteten ihm die freie Wahl
seines Aufenthalts. Man hoffte, daß Mispha einen Mittelpunkt ab-
geben würde für eine Fortsetzung und Neubildung der Theokratie
auf dem alten heiligen Boden ^). Aber diese Hoffnung, die wol
auch Jeremias teilte, erfüllte sich nicht. Ein Hauptmann davidi-
schen Geschlechts, der den ungewöhnlichen Namen Ismael trug,
ermordete meuchlings den Gedalia, weil derselbe das Haus Davids
von der Herrschaft zu verdrängen drohte; er war dazu angestiftet
von dem Ammoniterköuige Baalis, der ein mögliches Wiederer-
starken Judas gefürchtet zu haben scheint^). Das war ein schlimmer
Schlag, er wurde noch verschlimmert durch die iVrt und Weise,
wie sich die Juden dabei benahmen. Ihr Verhalten brachte dem
alten Jeremias die schwerste Enttäuschung seines Lebens, die defi-
nitive Bestätigung seiner früheren reichen Erfahrung von der Ver-
geblichkeit seines Wirkens, nachdem er eine Zeit lang Mut und
Hoffnung gehegt hatte.
In der Furcht, daß die Chaldäer die Ermordung ihres Statt-
halters auch an den Unschuldigen rächen würden, beschloß die
Kolonie von Mispha nach Ägypten auszuwandern, wohin schon seit
der ersten Eroberung Jerusalems manche Juden geflüchtet waren ^).
Vorher wurde Jeremias befragt, nach zehntägigem Warten erhielt
er Bescheid von Jahve und widerriet den Zug, da man in Ägypten
erst recht den Chaldäern in die Hände fallen werde. Es half aber
nicht, man sagte ihm, er hole sich die Parole von seinem Schreiber
') Ezech. 33,23—29.
2) Kuenen (Gottesdienst IL p. 85) hält es für möglich, daß mit diesem
Ereignis die Deportation vom Jahre 581 in Verbindung steht, von der Hier. 52, 30
die Rede ist.
3) Hier. 24, 8.
Jeremicas und die Zerstörung Jerusalems. 147
Baruch, der einzigen treuen Seele, die er hatte. Er mußte mit
auswandern. Das Letzte, was wir von ihm hören, ist, daß ihm
in Ägypten von den jüdischen Weibern der Mund gestopft wurde.
Als er sie schalt, daß sie noch immer nicht vom Dienst der Königin
des Himmels abließen und aus solcher Halsstarrigkeit alles Un-
glück herleitete, wurde ihm entgegengehalten, daß das Unglück
umgekehrt erst eingetreten sei, seit man versäumt habe, der Königin
des Himmels zu räuchern und zu spenden. Er konnte gegen diese
Betrachtungsweise nicht aufkommen. Die Propheten betrachten die
Wahrheit immer als das, was da war im Anfang, und den Irrtum
als Abfall von der Wahrheit; sie tun so als seien sie das böse
Gewissen des Volkes und als argumentiren sie von Zugestandenem
aus. Zur Korrektur dafür dient die Unbefangenheit, mit der hier
einmal eine andere Ansicht vertreten wird. Praktisch hatte natür-
lich Jeremias auch in diesem Falle Recht. Die also heidnisch ge-
sonnenen Juden verloren sich im ägyptischen Heidentum, und es
kam wahrscheinlich bald dahin, wie er wenngleich in etwas anderem
Sinne gedroht hatte, daß Jahves Name in ganz Ägyptenland nicht
mehr genannt wurde von eines einzigen Menschen Mund, der da
sagte: so wahr der Herr Jahve lebt!
3. Wie sich die Situation des untergehenden Samariens für
das untergehende Juda wiederholte, so wiederholte sich auch die
der Situation entsprechende Prophetie. In Jeremias lebten Amos
und Hosea wieder auf, nur vereinigte er die Eigenschaften, durch
die sich jene unterschieden. Rücksichtslos zerschlug er die Hlu-
sionen des populären Glaubens, mit zornigem Hohne entlarvte er
die auf Bestellung gelieferten, fremden Mustern abgestohlenen Heil-
weissagungen seiner prophetischen Standesgenossen. Den Gegensatz
gegen sie trieb er so weit, daß er die Regel aufstellte, die wahren
Propheten seien von jeher immer nur Unglückspropheten gewesen;
im Kampfe gegen den patriotischen Fanatismus scheute er sich
nicht, den Schein des Landesverrats auf sich zu nehmen. So eisen-
hart er aber den Königen und Großen, den Priestern und Pro-
pheten und der Menge im Namen Jahves Trotz bot, so tief und
warm empfand er doch mit seinem Volke. Das Herz blutete ihm,
wenn er der beweglich um Regen flehenden Gemeinde im Namen
Jahves die Tür weisen und weit Schlimmeres als Dürre androhen
mußte; es brach ihm fast bei dem Anblick der ihm immer vor
den Augen stehenden Einöde, in die das blühende Land bald ver-
10*
148 Zehntes Kapitel.
wandelt werden sollte: über die kein Vogel flog, die kein Geräusch
der Mühle bei Tage und kein Schimmer eines Lichtes in der Nacht
belebte. Er litt bis zur Verzweiflung unter der nicht bloß geistigen
Vereinsamung, welche die Erkenntnis der Wahrheit für ihn zum
Gefolge hatte; er fluchte seiner Geburt, weil ihn die Gemeinschaft
mit Jahve von jeder anderen Gemeinschaft ausschloß. Sein inneres
Leben war ein steter Seelenkampf, eine stetige Überwindung seines
Selbst, seiner menschlichen Wünsche und Sympathien, durch Jahve.
Gern hätte er ihm zu Zeiten seinen Beruf vor die Füße geworfen,
aber immer ließ er sich wieder von unwiderstehlichem Drange
verlocken: wenn Jahves Worte sich fanden, so verschlang er sie
und sie schienen ihm Freude und Wonne des Herzens.
Ehedem war die Nation das realisirte Ideal gewesen, jetzt
zerfiel Jahve mit Israel. Die Propheten setzten der Nation das
Ideal entgegen. Überzeugt davon, daß sie nicht als Menschen, sondern
als Organe der Gottheit redeten, stabilirten sie ihre individuelle
Autorität gegenüber der überlieferten und hergebrachten, und ver-
langten gebieterisch, daß mau sich ihren Forderungen fügen solle.
Sie wendeten sich dabei an das ganze Volk und erstrebten durch
ihre Wirksamkeit eine allgemeine Bekehrung desselben; Israel blieb
auch ihnen das Korrelat zu Jahve, freilich nicht Israel wie es war,
sondern Israel wie es sein sollte. Aber diese allgemeine Umge-
staltung eines Volkes auf grund einer Idee oder eines Gesetzes
gelang nicht, wenigstens nicht den Propheten; erst als ihre Stimme
längst verstummt war, kam sie halbwegs zu stände, unter der
Beihilfe erschütternder Ereignisse und unter dem Druck der per-
sischen Oberherrschaft '). Die Propheten predigten zu ihrer Zeit
tauben Ohren und sahen keinen Erfolg ihres Wirkens. Es war
ihnen auch schwierig, namentlich nach der Reformation Josias,
dem fragenden, hadernden Volk den Grund anzugeben, warum trotz
allem der Untergang unabwendlich sei. Die Katastrophe war ihnen
an sich gewiß, die nötige Sünde mußten sie suchen und griften
dabei gewöhnlich in die Vergangenheit zurück, sie borgten sie bei
den Vätern.
Am meisten litt darunter der letzte und in mancher Hinsicht
größte Prophet, Jeremias. Je mehr er rief, desto weiter liefen sie
') Quae gens observavit mandata tua? ITomiues quidem per uomiua in-
venies servasse mandata tua, gentes autem non invenies- 4 Esdr. 3, 36.
Jeremias und die Zerstörung Jerusalems. 149
weg; sie wollten, sie konnten sich nicht bekehren. Sein Bemühen,
die Kluft zwischen Jahve und dem Volke auszufüllen, brachte nur
einen tiefen Riß zwischen ihm selber und dem Volke hervor.
Seine Arbeit an dem Volke war vergeblich. Aber nicht vergeblich
war sie für ihn selber. Durch den Miserfolg seiner Prophetie
wurde er über die Prophetie hinausgeführt. Mochte der Inhalt der
Worte Jahves, die er zu verkündigen hatte, ihm Hohn und Ver-
folgung zuziehen — die Tatsache, daß Jahve zu ihm sprach, hielt
ihn aufrecht und erquickte ihn. Daß er um seinetwegen litt, war
ihm Trost; von den Menschen abgewiesen, flüchtete er sich zurück
zu ihm, der ihn zu seinem Boten erwählt und dadurch den Zugang
zu sich eröffnet hatte. Seine verschmähte Prophetie ward ihm die
Brücke zu einem inneren Verkehr mit der Gottheit; aus seinem
Mittlertum zwischen Jahve und Israel entstand, da Israel davon
nichts wissen wollte, ein religiöses Privatverhältnis zwischen seiner
Person und Jahve, das nicht auf enthusiastische Augenblicke be-
schränkt blieb, in dem nicht bloß Jahve sich durch ihn dem Volke
offenbarte, in dem er vielmehr selber, in all seiner Menschlichkeit,
sich vor Jahve ausschüttete. Diese Zwiesprache, in der sich seine
Seele löste, ward sein menschliches Bedürfnis, das Brot, von dem
er zehrte. Unter Schmerzen imd Wehen entstand in ihm die Ge-
wißheit seiner persönlichen Gemeinschaft mit der Gottheit, das
tiefste Wesen der Frömmigkeit wurde bei ihm entbunden. Das
bewegte Leben mit Gott, welches er lebte, machte er nun freilich
nicht zum Gegenstande seiner Lehre; er verkündete nur schroff" und
drohend, wie die übrigen Propheten, das göttliche Gesetz. Aber
als ob er doch die Bedeutung der Vorgänge in seinem Innern
geahnt hätte, zeichnete er einzelnes davon auf. Sein Buch enthält
nicht bloß seine Reden und "Weissagungen, sondern mitunter auch
Konfessionen über seine Leiden und Anfechtungen und über seine
verzweifelten Kämpfe, in denen er sich zwar keineswegs zur Ruhe
und Seligkeit durchrang, wol aber zum Bewußtsein des Sieges in
der Niederlage. Daran hat die Folgezeit sich erbaut. Seine Er-
fahrung zeugte fort und wiederholte sich in den Erfahrungen der
Frommen nach ihm. Was ihn bewegte und was ihn hielt, hat
auch die edelsten Geister des Judentums bewegt und gehalten: das
Leiden des Gerechten, das Wirken der Kraft Gottes in den Ge-
beugten und Verachteten. Er ist der Vater des wahren Gebets,
in dem die arme Seele zugleich ihr untermenschliches Elend und
150 Elftes Kapitel.
ihre übermenschliche Zuversicht ausdrückt, ihr Zagen und Zweifeln
und ihr unerschütterliches Vertrauen. Die Psalmen wären ohne
Jeremias nicht gedichtet. An seine Sprache lehnte sich die Sprache
der Frömmigkeit an, und einige Gleichnisse der geistigen Poesie
wurden aus den Schicksalen seines Lebens gewählt. So löste sich
aus der Prophetie nicht bloß das Gesetz aus, sondern zum Schluß
auch noch die individuelle Religiosität.
Elftes Kapitel.
Die Juden im Exil.
1. Die von den Assyrern fortgeschleppten Samarier hatten sich
unter den Völkern aufgelöst, in deren Gebiet sie angesiedelt waren.
Es |kam darauf an, ob die verbannten Juden in Babylonien —
diese allein kamen in Betracht, nicht die nach Ägypten versprengten
und auch nicht die in der Heimat verbliebenen — sich gegen-
über dem sie umgebenden Heidentum behaupten würden. Sie
konnten das nur, wenn sie an der von den Propheten eingeleiteten
Reformation festhielten, welche darauf abzielte, sie völlig aus dem
Heidentum herauszureißen und in scharfen Gegensatz dazu zu
bringen. Freilich hatte ihnen diese Reformation bisher wenig ge-
holfen, und dadurch, daß sie den Untergang nicht hatte verhindern
können, schien sie vollends gerichtet.
Die Geschichte lehrt, daß die Juden die schwere Probe be-
standen haben, die ihnen auferlegt wurde. Die Sündflut, die sie
zu ersäufen drohte, ist ihnen ein Bad der Wiedergeburt geworden.
Sie sind nicht unter den Babyloniern aufgegangen, haben vielmehr
damals in der Fremde die Fähigkeit erworben, die sie später aus-
zeichnete, ihre nationale und religiöse Art, auch außerhalb des
einheimischen Grund und Bodens auf dem sie sonst allein gedeiht,
unter allen Umständen zu bewahren. Sie haben trotz allen
Zweifeln festgehalten an ihrer Vergangenheit und an ihrer Zukunft,
an der Leitung ihrer Geschichte durch Jahve. Die Reformation ist
schließlich gerade durch das Exil zum Ziel gekommen, durch das
sie allerdings zunächst sehr gefährdet war.
Die Juden im Exil. 151
Die Juden müssen doch damals in ihrer Eigenart schon viel
gefestigter und sich derselben bewußter gewesen sein als ihre israe-
litischen Brüder vor vier Menschenaltern. Wir hören, daß sie
schon vor dem Exil eben deshalb von ihren Nachbarn und Vettern
gehaßt und verfolgt wurden, wie der weiße Rabe von den schwarzen,
weil sie etwas anderes und besseres sein wollten '). In der
Verbannung kam es ihnen zu statten, daß sie nicht über das Land
zerstreut wurden, sondern gruppenweise beisammen wohnen blieben,
Häuser und Gärten besaßen und in leidlichem Wolstand lebten.
Eine Art Volksgemeinschaft blieb bestehn, und sie hielt auch die-
jenigen fest, welche an Jahve zweifelten und von ihm abfielen.
Der Staat war zerstört, aber die natürliche Gliederung durch das
Blut ersetzte ihn halbwegs. Die ethnische Genealogie, auf deren
Grundlage sich das Volk einst erbaut hatte ehe es landsässig ge-
worden war, wurde durch die Umstände der Zeit neu belebt. An
Stelle der Monarchie mit ihren Beamten trat wieder die Aristo-
kratie der Geschlechtshäupter oder Ältesten.
Der große Gemeindekultus ruhte notgedrungen in der Fremde^).
Erstlinge, die nicht in Jahves Lande gewachsen waren, konnten
ihm nicht dargebracht, also auch keine Feste gefeiert werden.
Dagegen wurde der Sabbat beibehalten, wenngleich nicht als
Opfertag so doch als Versammlungstag^). Es entstand auf diese
Weise im Exil die heilige Versammlung ohne Opfer, und damit
wurde der Grund gelegt zu einer fundamentalen Veränderung des
Gottesdienstes überhaupt. Es ist kaum anders denkbar, als daß
schon damals, wie später in der Synagoge, der Mittelpunkt der
Versammlung das Wort war. Zwar nicht nur das geschriebene,
sondern auch noch das lebendige Wort. Aber da in der bleiernen
Zeit nach 586 schwerlich überall an jedem Sabbat ein Prophet
zu finden war, der reden konnte, so wird man wol oder übel zur
1) Hier. 12,9. Ez. 25, 8: weil die Moabiten und Amraoniten sagen: die
Juden sind wie alle anderen Völker, darum werden sie von Jahve
gerichtet.
2) Vgl. Ezech. 14,3ss. 20,30ss.
^) Hosea stellt den Sabbat mit den Festen noch ganz auf gleiche Linie
und denkt nicht anders, als daß auch der Sabbat wie die anderen Feiertage
im Exil nicht begangen werden könne (2,13). Aber tatsächlich ging er seine
eigenen Wege und trennte sich von den Festen. Es dauerte freilich lange,
ehe die Forderung der absoluten Ruhe am Sabbat durchdrang.
152 Elftes Kapitel.
Verlesung und erbaulichen Erklärung alter Schriften gegriffen
haben, des Deuteronomiums, der prophetischen und der sie ergän-
zenden historischen Bücher. Diese Sabbatsversammlungen waren
ein Mittel, die Gemeinschaft zu stärken, den Zusammenhang mit
der Vergangenheit in einer eigentümlichen Weise zu beleben, und
den Gebrauch der hebräischen Sprache zu erhalten. Zugleich aber
wurde der Sabbat an sich, als Ruhetag, ein nach innen ver-
bindendes und nach außen unterscheidendes Erkennungszeichen aller
derer, die zur Judenschaft gehörten. Der Name und Begriff des
religiösen Zeichens, d. h. des Abzeichens, kam damals auf und
gewann große Bedeutung'). Die Beschneidung war seit jeher Brauch
gewesen, ohne daß grade ein besonders religiöses Gewicht darauf
gelegt worden wäre; sie wird in keinem alten Gesetze gefordert.
Jetzt wurde sie neben dem Sabbat, als Symbolon des Judentums,
von allergrößter Wichtigkeit. Ebenso wurden noch manche
andere alten Bräuche jetzt geflissentlicher geübt, als ehemals, weil sie
zur Versteifung der jüdischen Besonderheit, zur Abschließung gegen
das Heidentum dienen konnten. Dabei fanden die durch die Zer-
störung des Tempels außer Dienst gesetzten Priester Gelegenheit
einzugreifen und auf Befragen aus ihrer Thora Bescheid zu erteilen,
was rein sei und was unrein, was erlaubt und was verboten, im
täglichen Leben jedes Einzelnen.
Die zähe Selbstbehauptung wurde nun aber den Verbannten
nur ermöglicht durch die Hoffnung, daß sie bald heimkehren
würden. Diese Hoffnung hegten sie in der Tat anfangs, so lange
Jerusalem noch stand, im höchsten Grade. Die Deportirten von 597
betrachteten ihr Exil als ganz vorübergehend, dachten nicht daran
sich auf längeren Aufenthalt in der Fremde einzurichten, sondern
lebten im Geist in ihrer alten heiligen Stadt fort, zu der sie die
lebhaftesten Beziehungen unterhielten. Bei dem letzten Aufstande
Sedekias waren sie überzeugt, daß Jerusalem nicht erliegen, sondern
über die Chaldäer triumphiren werde. Das war praktisch nicht
ohne Nutzen. Sie hatten auf diese Weise keine Veranlassung,
sich zu akklimatisiren, sie hielten sich genau so, wie sie es in der
alten Heimat getan hatten, wohin zurückzukehren sie immer auf
dem Sprunge standen. Durch mehr als zehnjährige Übung kamen
') Ezech. 20, 12. 20.
Die Juden im Exil. 153
sie allmählich in eine Gewohnheit, die auch dann noch anhielt, als
die Ereignisse ihre Illusion zu schänden machten.
Der Fall Jerusalems im Jahre 586 wurde als ein betäubender
Schlag empfunden. In der Stadt und im Tempel, nicht im Volke,
wohnte Jahve; Sion war, statt Israel, der Name der Theokratie
geworden. Jetzt war es entschieden, daß Jahve das Land ver-
lassen hatte, daß er auf und davon gegangen war'). Manche mögen
an ihm irre geworden sein. Die meisten jedoch waren bereit, ihm
Recht zu geben und sich für schuldig zu erklären. Aber wenn sie
sein Yerdammungsurteil auch annahmen, so verstanden sie es doch
nicht. Sie versanken unter seinem Zorne in dumpfe Verzweiflung,
sie wußten nicht, wie sie herauskommen sollten. Ihre Stimmung
wird gekennzeichnet durch den damals umlaufenden Ausspruch:
unsere Sünden lasten auf uns und wir vermodern darin.
In diesem großen Schiffbruch wurde jetzt die Prophetie — nicht
die landläufige, sondern die oppositionelle, wie sie zuletzt durch
Jeremias vertreten war — der Rettungsbalken für die, die sich daran
hielten. Sie hatte bis dahin den Untergang des Gemeinwesens ge-
weissagt; schon das war tröstlich, daß sie denselben als notwen-
dig im Namen Jahves vorausgesehen und verstanden hatte. Jetzt
aber, als die Notwendigkeit Tatsache geworden war, schlug die
Weissagung um, aus der Drohung in die Verheißung. Das Exil
bildete einen Wendepunkt. Waren die Propheten früher den Illu-
sionen der Zeit entgegen getreten, so traten sie nun ihrer Hoff-
nungslosigkeit entgegen und richteten den Glauben an die Zukunft
auf. Strom und Wind, womit sie so lange hatten kämpfen müssen,
hatten sich zu ihren gunsten gedreht. Ihre Gegner, die patrio-
tischen Fanatiker, waren durch die Ereignisse Lügen gestraft und
zum Schweigen gebracht; sie aber hatten Recht behalten. Das
Haupthindernis, das ihrer Wirksamkeit früher im Wege stand, war
beseitigt; die alte Tradition, wie sie auf dem Boden des kanaani-
tischen Landes mit dem Volke aufgewachsen war, wurde durch
die gewaltsame Losreißung des Volkes aus seinem Lande ge-
brochen.
2. Der Anfänger der exilischen und nachexilischen Prophetie
war Ezechiel, ein vornehmer jerusalemischer Priester, der sich unter
den Verbannten von 597 befand. So lange Jerusalem noch stand.
1) Ezech. 1-11. Vgl. Joseph. Bellum 6,299: |j.£rc(,37.(vu)iJ,£v lv-£-j8ev
154 Elftes Kapitel.
ging seine Tätigkeit darin auf, der Gegenwart den Sündenspiegel
der Vergangenheit vorzuhalten und den baldigen Untergang auch
des Restes der Theokratie zu verkündigen. An dessen Fortbestand
knüpften seine Mitverbannten alle ihre Hoffnungen, sie glaubten
ihm nicht und hörten nicht auf ihn, bis er es endlich aufgab ihnen
zu predigen. Da fiel Jerusalem, und mit einem Schlage vertauschten
sich die Rollen. Dem Propheten wurde der Mund weit aufgetan,
aber jetzt nicht mehr zu Drohungen, sondern von stund an zu
Verheißungen. Drohung und Verheißung sind bei Ezechiel haar-
scharf geschieden. Die Verheißung aber ist weit bezeichnender
für ihn als die Drohung. Trotz dem ingrimmigen Schelten und
dem bissigen Gezänk mit seinen Landsleuten, dem er Jahre lang
ausschließlich oblag, ist er in Wahrheit doch der Prophet, mit dem
die Weissagung den sogenannten messianischen Charakter annimmt.
Er verheißt die Auferweckung des von den Chaldäern getöteten
Volkes durch den Hauch Jahves, die Zurückführung nicht bloß
Judas sondern auch Ephraims nach Palästina, und ihre Vereinigung
unter dem Szepter eines Davididen: dann soll die Herde nicht
mehr von ihren eigenen Hirten mishandelt und von fremden Räubern
aus einander gescheucht werden, sondern ruhig weiden, in einem
Lande, auf dem aller Welt sichtlich der Segen Jahves ruht. Er
bedroht die bis dahin verschont gebliebenen Nachbarreiche Judas;
Ägypten -und Tyrus werden ebenfalls den Chaldäern, Edom Moab
und Ammon den Arabern erliegen; die Edomiten müssen das heilige
Land, in das sie sich eingedrängt haben, räumen und werden durch
Verwüstung ihres eigenen Gebietes heimgesucht. Aus Rücksicht
auf sich selber, um seines Namens willen, muß Jahve Rache nehmen
an den Heiden, die ihn in den Sturz seines Volkes verwickelt
glauben; seine eigene Ehre steht auf dem Spiel, wenn auf seinem
Lande die Schmach der Verödung ruht. Von der Vernichtung der
Chaldäer redet Ezechiel nicht, obgleich er sie voraussetzt. Statt
dessen führt er in dem König Gog von Magog einen phantastischen
Vertreter der heidnischen Weltmacht ein, dessen Erscheinung er
allerdings in eine unbestimmte Zukunft verschiebt. Wenn die
Gefangenschaft der Juden bereits gewendet und die Theokratie
hergestellt ist, werden noch einmal alle Heere der Völker gegen
Jerusalem anstürmen, aber bei dieser Gelegenheit vernichtet werden.
Dadurch soll einmal eine bis dahin unerfüllt gebliebene Drohung
älterer Propheten über den Einbruch wilder nördlicher Reiterscharen
Die Juden im Exil. 155
in Juda nachträglich verwirklicht werden '). Außerdem aber genügt
es nicht, daß Jahve seine Macht bloß den Ägyptern Tyriern Edo-
miten und den übrigen Nachbaren der Juden erweist und ihnen
gegenüber seine Ehre herstellt; die ganze feindliche Welt muß vor
ihm gedemütigt und gebrochen werden, in der Weise, daß sie an
der heiligen Stadt, die ihr ehedem erlegen war, sich zuletzt den
Kopf einrennt. Mit dieser Weissagung über Gog und Magog beginnt
die jüdische Eschatologie, welche die Ereignisse auf grund theolo-
gischer Ideen postulirt, nicht auf grund der schon in der Gegen-
wart sie ankündenden Zeichen voraussieht.
Mitten unter diesen Orakeln findet sich ein Stück, aus dem
man sieht, daß Ezechiel seine Aufgabe, die Verbannten aufzurichten,
auch noch auf eine ganz andere Weise angefaßt hat. Das Volk
war tot und konnte nur durch ein Wunder Jahves auferweckt
werden. Allein die Einzelnen lebten noch. Der Beruf des Wächters,
der eigentlich darin besteht, über die Stadt zu wachen und die
der Stadt drohenden Gefahren zu melden, verwandelt sich dem
Propheten durch die Zerstörung Jerusalems in den Beruf des Seel-
sorgers; die Rechtbeschaft'enheit der Einzelnen war die Vorbedingung
für die Auferstehung des Ganzen. Sehr eigentümlich verwendet er
nun den Individualismus als Trostgrund. „Ihr sprecht: unsere
Sünden lasten auf uns und wir vermodern darin, wie könnten wir
genesen! Aber Jahve sagt: fürwahr, ich will nicht den Tod des
Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe; bekehrt euch,
bekehrt euch, warum wollt ihr sterben!" Gegenüber einer Ver-
zweiflung, die in dem sündigen Zusammenhang des Ganzen zu
versinken glaubte, hebt er die Möglichkeit der Bekehrung hervor.
Die sittliche Freiheit legt zwar dem Einzelnen eine schw^ere Ver-
antwortung auf, aber sie gewährt ihm auch den Trost, daß er aus
der Kausalität heraus kann, daß er sich bekehren kann und leben.
In der Bekehrung liegt die Sündenvergebung eingeschlossen. Freilich
verdirbt Ezechiel wieder alles und verwickelt sich in die größten
Widersprüche dadurch, daß er dennoch die Sündenvergebung in
der Aufhebung der Strafe sieht und nun eine genaue Korrespondenz
zwischen dem inneren Wert jedes Einzelnen und seinem äußeren
Ergehn statuirt, als notwendigen Ausfluß der göttlichen Gerechtig-
1) Gog von Magog vollstreckt bei Ezechiel (38, 17. 39, 8) die Weissagungen
Sephanias und Jeremias über die Verwüstung Judas durch die Scythen.
156 Elftes Kapitel.
keit, die nicht dulden könne, daß die Gegenwart unter der Schuld
der Vergangenheit und das Individuum unter der Schuld der
Gemeinschaft leide.
Am Schluß seiner Schrift gibt dieser Prophet ein ausgeführtes
Bild davon, wie er sich die wieder in Gang gebrachte Theokratie
vorstellt. Seine Schilderung des Neuen Jerusalem hat den Apo-
kalypsen als Vorbild gedient. Es ist die kühnste Hoffnung, wenn
er, in einer Zeit die sich durchaus nicht so anließ als ob die Juden
je aus Babylonien wieder herauskommen würden, genau die Zahlen
und Maße für den Wiederaufbau des Tempels angibt und die
Details des Tempeldienstes ordnet. Aber er knüpft zugleich so eng
an den früheren Bestand an und hält sich so in den Schranken
des Durchführbaren und Zeitgemäßen, daß sein Zukunftsbild auch
faktisch das Programm für die Organisation der nachexilischen Ge-
meinde geworden ist: in den Gleisen, die er vorgezeichnet hat, hat
dieselbe sich verwirklicht.
An ein jüdisches Weltreich denkt er nicht, überhaupt nicht
an ein Reich, sondern nur an eine Kuitusgemeinde. Die Theokratie
ist Sion. Aber Sion ist nicht mehr wie in Isa. 11 die Stadt
Davids, wo gutes Regiment, Recht und Friede herrscht, sondern
die Stadt des Tempels, wo Jahve so verehrt wird wie es seiner
Heiligkeit entspricht. Der König kommt nur insofern in betracht,
als er die öffentlichen Opfer zu bezahlen hat, wofür an ihn die
Abgaben entrichtet werden. Im übrigen haben ihn die Priester
in den Schatten gedrängt, denen auch das Gericht übertragen wird.
Das eigentlich Politische wird völlig ignorirt, die Hauptsache ist,
daß der Kultus an der richtigen Stätte in der richtigen Weise von
den richtigen Leuten betrieben wird. Das Ideal ist nicht die Ge-
richtigkeit, sondern die Heiligkeit. Schon in den Sündenregistern,
die im ersten Teil seines Buchs einen so breiten Raum einnehmen,
tritt hervor, welchen übermäßigen Wert Ezechiel auf den Kultus
legt. Obwol er da gelegentlich (Kap. 18) ein sehr feines und fort-
geschrittenes moralisches Gefühl zeigt, so verweilt er doch weit
weniger bei den Sünden der Menschen gegen die Menschen, als bei
ihren Sünden gegen Jahve, gegen den Ort und das Land seiner
Wohnung. Das Land Jahves ist von einer ganz gefährlichen Hei-
ligkeit, es speit seine unwürdigen Bewohner aus. Die Entweihung
des heiligen Landes durch Götzendienst ist die Hauptschuld. Sie
ist vorzugsweise begangen durch das Essen im Blut, auf den Höhen
Die Juden im Exil. X57
außerhcalb des Tempels. Ezechiel sieht die Opfer auf den Höhen
einfach als Götzenopfer an, das Fleisch derselben weder als richtig
geopfert noch als richtig geschlachtet, daher die Opfermahle als ein
Essen im Blut. Er fußt dabei auf dem Deuteronomium, behandelt
indessen das, was dort frisch verboten wird, seinerseits als einen
niemals irgend zulässig gewesenen, ganz entsetzlichen Greuel. Ebenso
geht er zwar von der deuteronomischen Gesetzgebung aus, über-
bietet sie aber und sanktionirt eine von ihr nicht gewollte Folge
der Abschaffung der Höhen, indem er auch die Priester der Höhen
ihres Priesterrechts verlustig erklärt, zur Strafe dafür, daß sie es
an der falschen Stelle ausgeübt haben, und sie degradirt zu Hand-
langern der Söhne Sadoks von Jerusalem, die künftig allein Priester
bleiben sollen, zum Lohne dafür, daß sie immer an der richtigen
Stelle amtirt haben. Er korrigirt das Deuteronomium von seinen
Tendenzen aus. Er zieht aber auch den Kultus in weit größerem,
womöglich im ganzen Umfang in das Gebiet der Gesetzgebung
hinein, in der Absicht, ihn von allem Götzendienst zu säubern.
Er hat den wichtigsten Schritt getan zur Systematisirung des Kul-
tus im Geiste des Monotheismus.
Man merkt, daß dieser Prophet ein Priester und ein Sohn
Sadoks war. Indessen stimmten seine persönlichen Wünsche und
Neigungen überein mit dem, was die Verhältnisse verlangten. Der
Tempel hatte von jeher eine unverhältnismäßige Bedeutung in dem
kleinen Juda. Durch die Zerstörung Samariens und weiter durch
die Reformation Josias wurde er die einzige Anbetungstätte Jahves
auf Erden. Gleichzeitig wuchs der Verlust an politischer Macht
dem Kultus als Gewinn zu. So war es schon vor dem Exil; seit-
dem beförderte die Fremdherrschaft diese Richtung der Entwicklung.
Sie ließ den Juden nur auf dem Gebiete des Kultus freien Spiel-
raum, nur als Kultusgemeiude erlaubte sie ihnen sich zu organisiren.
Auch ohne Ezechiel wäre dieser Gang der Dinge vorgezeichnet
gewesen. Er war der Zeit nur um einen Schritt voraus. Eben
deshalb ist er der Ivonstitutor der nachexilischen Gemeinde geworden,
eben deshalb hat sie sich auf den Grundzügen seines Planes auf-
gebaut. Auf das geistige Leben der Juden hat er freilich keinen
bestimmenden Einfluß ausgeübt, nur auf ihre Organisation. Aber
die Organisation war dainals die wichtigste Aufgabe, wenngleich
sie noch nicht unmittelbar drängte.
3. Die Zeit nach der Zerstörung Jerusalems war keine bewegte.
158 Elftes Kapitel.
Daher erklärt sich die ungeschichtliche Art der Weissagungen Eze-
chiels, er lebte in Reminiszenzen und Phantasien, nicht in einer
Krisis der Gegenwart. Die Ruhe dauerte so lange Nabukodrossor
lebte. Unter seiner langen starken und weisen Regierung stand
das chaldäische Reich fest. Aber bald nach seinem Tode (562)
begann der Verfall. Sein Sohn und Nachfolger Evilmardoch*),
der den Jechonia aus dem Gefängnis frei ließ, wurde nach zwei-
jähriger Herrschaft von seinem Schwager Neriglissar gestürzt (560).
Neriglissar regierte vier Jahre, ihm folgte sein Sohn Labosomardoch,
noch ein Knabe. Gegen den verschwuren sich nach kurzer Zeit
„die Freunde", schlugen ihn tot und setzten den Nabuned, einen
Mitverschworenen, auf den Thron (556). Unter ihm brach das
Gleichgewicht der Mächte in Vorderasien zusammen, welches sich
nach dem Ablauf der scythischen Überschwemmung, nach dem
Sturze Assurs und nach der Schlacht der Sonnenfinsternis heraus-
gebildet hatte. Cyrus, der Sohn des Cambyses, König von Persien
und Elam, griff den Meder Astyages an, besiegte ihn und nahm
ihn gefangen (550). Ohne viel Mühe scheint er sich dann der
Hauptstadt und der Provinzen des medischen Reiches bemächtigt
zu haben, bis zur lydischen Grenze am Halys. Crösus fühlte sich
durch den Eroberer bedroht und schloß gegen ihn mit Amasis und
mit Sparta ein Bündnis, dem auch Nabuned beitrat (547). Er
wartete aber nicht auf die Hilfe der Bundesgenossen, sondern be-
gann ohne sie den Angriff und überschritt den Halys. Das kostete
ihm sein Reich. Cyrus fügte Lydien und ganz Kleinasien bis zum
ägäischen Meere seiner Herrschaft hinzu (546).
Die Reihe mußte nun an Babel kommen, man konnte auf den
Zusammenstoß gespannt sein. Frohlockend antezipirten prophetische
Stimmen die Rache Jahves an den Chaldäern. Allein in der
Mehrzahl waren die verbannten Juden nicht so hoffnungsfreudig
gestimmt. Sie mochten daran denken, was bei dem Falle Nineves
schließlich für Juda herausgekommen war. Ein fünfzigjähriger
Aufenthalt in der Fremde hatte sie eingewöhnt und die Sehnsucht
nach der Heimat abgestumpft. Wenn "wirklich der Perser das
1) Die Form der babylonischen Königsnamen ist die bei Berosus in Jo-
sephus contra Apionem 1, 146ss. (Ant. 10, '229ss.). Nur habe ich aus Laboro-
soardoch auf grund der Inschriften Labosomardoch gemacht. Die hebräische
Schreibung und Aussprache "J"1X"1D Mapuihay ist höchst auffallend. Nur in
MapSo/aios findet sich das Übliche.
Die Juden im Exil. 159
unüberwindliche Babel bezwingen sollte, so vermochten sie doch
daraus keinen Trost zu schöpfen. Sie wollten nicht glauben, daß
er das Werkzeug Jahves sei, uro die Verheißungen zu verwirklichen.
Aus Israel mußte doch der Held hervorgehn, der das Joch der
Heiden zerbrach und das Reich Davids herstellte; die Wieder-
herstellung Sions durch einen Perser, wenn sie gelänge, würde ja
nur als beiläufige Folge einer geschichtlichen Bewegung erscheinen,
die eigentlich auf ein ganz anderes Ziel sich richtete.
Dieser Stimmung trat der prophetische Schriftsteller entgegen,
den wir Isa. 40 ss. verdanken. Laßt die Trauer fahren, die Er-
lösung steht vor der Thür. Leidet nicht immer unter euch selber,
Jahve nimmt die Last der Vergangenheit von euch ab und vergibt
euch, wendet euch dem Neuen zu, das er schafft. Cyrus ist sein
Messias, dessen Siegeslauf er geleitet, den er berufen hat zum
Vollstrecker seines Werkes. Ist es denn etwas Erniedrigendes,
daß Israel von einem Perser befreit wird? ist es nicht vielmehr
ein Beweis der weltbeherrschenden Macht des Gottes Jakobs, daß
er von den Enden der Erde her seine Werkzeuge zu seinen Zwecken
aufbietet? Wer anders als Jahve sollte Cyrus gesandt haben? doch
nicht die Götzen, die derselbe zerstört? Jahve allein hat die jetzt
sich erfüllenden Ereignisse vorausgesagt und vorausgewußt: er hat
sie also vorbereitet und beschlossen und nach seinem Rate werdien
sie ausgeführt. Er reicht euch die Hand, greift zu, jubelt dem
nahenden Heile entgegen, rüstet euch auf die Heimreise.
Das ist eine andere Sprache als die Ezechiels. Es werden
keine phantastischen und kleinlichen Zukunftsbilder entworfen, es
wird verwiesen auf das Tun Jahves in der bewegten Gegenwart.
Das Heil verwirklicht sich schon, es keimt und sprießt und wächst,
es ist mit Händen zu greifen '). Wie anders aber auch wird hier
zu der weltgeschichtlichen Epoche Stellung genommen, als ehedem
in ähnlichen Fällen von den alten Propheten! wie anders wird hier
') Die herrlichen Stellen über die wunderbare Siegeslaufbahn des Cyrus
müssen geschrieben sein, bevor er Babel erobert hatte. Sonst hat man bis-
weilen den Eindruck, als werde in Isa. 40ss. die Eroberung schon voraus-
gesetzt. So namentlich am Schlüsse von Kap. 48, aber auch schon früher, au
den Stellen, wo der Verf. sich bemüht, die Hindernisse aus dem Wege zu
räumen, welche die Wüste der Heimkehr zu bereiten schien. Das war doch
eine cura posterior, die erst nach dem Falle Babels eintreten konnte. Daß
Isa. 56ss. nicht ursprünglich zu Kap. 40ss. gehören, halte ich für erwiesen.
160 Elftes Kapitel.
der Perser begrüßt als einst der Assyrer von Arnos oder der Clial-
däer von Jeremias! Sein zerstörendes Werk hatte der Weltgott
an Israel vollbracht, jetzt baute er es wieder auf. Unser Prophet
ist wie trunken von der Idee des Allmächtigen, der Hymnus von
ihm rauscht in gleichmäßigem Gewoge durch alles was er sagt.
Er zuerst feiert ihn nicht bloß als den Lenker der Weltgeschichte,
sondern auch als den Schöpfer der Natur, des Himmels und der
Erde, als den Ersten und Letzten, den Einzigen und Alleinigen.
Was ihn dabei erhebt und begeistert, ist die Zuversicht: dieser
Weltgott ist und bleibt unser Gott. Er hat zwar Israel verbannt
und dahin gegeben, so daß es kein Reich und kein Volk mehr
ist. Aber dem in den Staub getretenen, verachteten, verzweifelten
Rest wendet er seine Gnade zu, der elende Wurm ist ihm wert,
mit Rücksicht auf ihn lenkt er den Weltlauf. Er hat nun einmal
Sion erwählt, und er empfindet trotz allem das Leid Sions wie
sein eigenes. Sein Name und seine Ehre ist mit seinem Tempel,
seiner Stadt; seinem Volke, mit jedem Einzelnen der ihn anruft,
verwachsen; die Schande der Seinen fällt auf ihn selber zurück,
und sich selber bringt er zu Ehren, indem er Israel zu Ehren
bringt.
Der wahre innere Grund für die Hoffnung der Juden liegt
aber darin, daß sie Recht haben. Im Namen der Gerechtigkeit
muß Jahve sie erlösen und zum Siege führen. Zwar ist es keine
Ungerechtigkeit, daß er sie schwer 'geprüft hat; sie haben es um
ihn wol verdient. Ihm gegenüber ist ihre Schuld ohne weiteres
zuzugeben. Jedoch nicht bloß mit Jahve, sondern auch mit den
Heiden haben sie es zu tun. Die Weltgeschichte wird als ein
Prozeß zwischen ihnen und den Heiden aufgefaßt. In diesem
Prozeß sind sie zwar augenblicklich unterlegen, haben aber Recht;
dem Heidentum gegenüber vertreten sie die gute Sache, die Sache
Jahves. Sie allein kennen und verehren ihn, unter ihnen allein
gilt sein Recht und seine Wahrheit. L^m deswillen können sie
nicht auf die Dauer erliegen, sonst erläge die Wahrheit der Lüge.
Das Recht ihrer Sache, das zur Zeit durch die Strafe ihrer Sünden
und durch den Sieg des Heidentums verdunkelt ist, muß ans Licht
kommen und auch äußerlich durch ein aller Welt sichtbares Gottes-
gericht zur Anerkennung gebracht werden.
Veranlaßt durch die Zertrümmerung seines Volkes denkt der
Verfasser von Isa. 40 ss. nach über das unzerstörbare, ewige Wesen
Die Juden im Exil. Ißl
desselben. Er liodet es in der Lehre, dem Rechte, der Wahr-
heit, d. h. in der Jahvereligion, wie die Propheten sie verstanden
und gepredigt hatten und wie sie jetzt bei den verbannten Juden
fertiges Gemeingut geworden war. In der Tatsache, daß sie und
nur sie die Wahrheit besitzen, erblickt er den Hort ihres Trostes
und ihrer Hoffnung, die Bürgschaft und das Unterpfand ihrer Auf-
erstehung aus dem Grabe des Exils. Es gibt keinen Gott als Jahve
und Israel ist sein (Knecht d. h.) Prophet — so lautet das trium-
phirende Credo. Das nationale Selbstgefühl ist außerordentlich,
aber engherzig ist es nicht, deshalb, weil das Sonderverhältnis Israels
zu Jahve nur eine Vorstufe ist, weil die Geschichte Israels in die
Weltgeschichte mündet. Der Besitz der Wahrheit schließt für
Israel den Beruf in sich, sie den Völkern zu verkünden; die Wahr-
heit siegt über das Heidentum, um auch die Heiden zu erlösen.
Eben das Exil macht den Übergang von der Volksreligion zur Welt-
religion, es bewirkt die Metamorphose Israels zum Missionar der
Weltreligion. Allerdings soll Israel auch als Volk und Reich
wiederhergestellt werden; ein solches rechtfertigendes und rehabili-
tirendes Gottesurteil ist notwendig. Aber die Messiasidee tritt doch
vollkommen zurück gegen die Idee des Knechtes Jahves, wie ja
auch die Aufgabe Babel zu zerstören dem Perser überlassen bleibt.
Israel überwindet die Welt nicht mit dem Schwert, sondern mit
dem Wort.
Geflissentlich wird in Isa. 40 ss. der Blick von der Vergangen-
heit abgelenkt und der Zukunft zugewendet. Nur an einigen
wenigen Stellen ist es anders '). Da wird das zum Problem, was
') Isa. 42, 1—4. 49, 1—6. 50, 4—9. 52, 13—53, 12. Die Stücke sind gegen
Ende des Exils geschrieben und bald nachher von dem Verfasser der Haiipt-
schrift aufgenommen. Derselbe benutzt sie als Themata zu seineu Predigten,
in ziemlieh einseitiger, den Gehalt nicht erschöpfender Weise, zur Glorifizirung
seines Volks. Darin aber hat er Recht, daß er unter dem Knechte Israel
versteht, als Träger der Wahrheit und ihren Vermittler an die Heiden. Es
wäre vermessen, von dieser Deutung abzuweichen und au ein Individuum zu
denken. Die Annahme ist abenteuerlich, daß im Exil ein unvergleichlicher
Prophet, womöglich von seinen eigenen Landsleuten, zum Märtyrer gemacht,
dann aber verschollen wäre. Die Aussagen passen auch nicht auf einen
wirklichen Propheten. Der hat nicht die Aufgabe und noch weniger den
Erfolg, sein eigenes Volk herzustellen und alle anderen Völker zu bekehren.
Auf einen solchen sind nicht die Augen der ganzen Welt gerichtet, die Heiden
können nicht in der Weise Notiz von ihm nehmen, daß sie seine Vergangenheit
Wellli aus en, Isr. Geschichte. 5. Aufl. U
162 Elftes Kapitel. Die Juden im Exil.
sonst als ohne Zweifel gerechte Züchtigung hingenommen wird,
das tragische Geschick des Volkes in Vergangenheit und Gegenwart.
Der Besitz der Wahrheit und der Beruf sie auszubreiten hat den
Knecht Jahves vor schmählichem Untergang nicht gerettet und ihm
die Verachtung der Heiden eingetragen. Er erscheint durch sein
Schicksal in den Augen der Welt als von Gott gerichtet, wie ein
Aussätziger oder ein todeswürdiger Verbrecher. Aber er ist kein
Verbrecher, er ist unschuldig und büßt eine Strafe, die die Heiden
verdient hätten. Eine befriedigende Lösung wird damit nicht
gegeben. Man fühlt jedoch, daß der Knecht aus innerer Notwen-
digkeit zum Mann der Schmerzen werden muß, daß Prophet und
Märtyrer zusammengehört, daß die Wahrheit siegt durch das Blut
ihres Zeugen; und auch das blickt durch, daß Jahve sein Angesicht
vor dem Elenden in Wahrheit nicht verhüllt, daß die Gemeinschaft
mit ihm durch Kreuz und Tod nicht zerstört sondern besiegelt
wird. Zum Schluß folgt auch hier, als Nachspiel der Tragödie,
der Ausblick in die Zukunft: da wird der Knecht verherrlicht und
erhält die Welt zur Beute, die Heiden werden sich wundern.
Mit größerem Rechte als Ezechiel können Jeremias und der
ungenannte Verfasser von Isa. 40 ss. als die geistigen Väter des
Neuen Jerusalems betrachtet werden. Wie von dem Leben Jere-
mias, so hat die Folgezeit gezehrt von den Gedanken des großen
Anonymus. Das Evangelium, daß der in der Höhe Wohnende den
Verachteten und Zertretenen nahe sei, die Lehre von dem inneren
Recht, dem der Sieg, die äußere Rechtfertigung nicht fehlen könne,
hat die Gemüter auf lange Zeit hinaus gehoben und bewegt. Auch
die Frage nach der Bedeutung des Schmerzes und der Leiden für
die Religion ist durch die Betrachtung des Exils als eines Todes,
der zum Leben, einer Sündflut, die zur Wiedergeburt führe, ins-
geheim angeregt worden.
verachten und über seine Zukunft erstaunen. Er kann nicht zugleich als
Aussätziger sterben und als Verbrecher hingerichtet werden. Seine künftige
Größe läßt sich nicht so denken, wie sie 53, 12 und 52, 13—15 beschrieben
wird. Seine Auferstehung aus dem Grabe wäre nicht so einfach, daß sie gar
nicht besonders erwähnt zu werden brauchte, und ließe sich nicht so ohne
weiteres mit seiner Verherrlichung gleichsetzen, wie es in Kap. 53 geschieht:
nur bei einem Volke decken sich beide Begriffe. Endlich ist das Zusammen-
treffen doch sehr sonderbar, daß für diesen Propheten gerade wie für Israel
das Exil der Durchgang vom Tode zum Leben sein soll. Vgl, Giesebrecht
Beiträge p. 146 ss. Ps. 22,
Zwölftes Kapitel. Die Restauration. 163
Zwölftes Kapitel.
Die Restauration.
1. Lange Zeit wurde die Geduld der Juden auf die Probe ge-
stellt. Sardes war schon im Jahre 546 gefallen, der Kampf gegen
Babel, dessen Beginn bis jetzt unbekannt ist, entschied sich erst
im Jahre 539/38. Da Nabuned das Feld gegen die Perser, unter
Gobryas, nicht halten konnte, fielen seine Untertanen von ihm
ab. Ohne Kampf zog Gobryas in Babel ein. Einige Zeit später
kam Cyrus selber und ordnete die Verhältnisse; die Statthalter
und Vasallen des chaldäischen Reiches kamen herbei, um sich zu
unterwerfen und zu empfehlen. Bei diesem Aufenthalte in Babel,
der längere Zeit dauerte, gab er den Juden Erlaubnis heimzu-
kehren^).
1) Auf dem Cyruszyliuder und in den Annalen Nabuneds steht nichts
davon. Nach dem Vorgänge von M. Vernes bestreitet Kosters, daß schon unter
Cyrus eine Rückwanderung babylonischer .luden nach Palästina stattgefunden
habe; eine solche sei erst mit Ezra erfolgt. Er beruft sich auf das Schweigen
von Haggai und Zacharia, und auf das Zeugnis Nehemias, der im Anfange
seiner Memoiren die palästinischen Juden als verschont von der Deportation
bezeichne, nicht als zurückgekehrt aus dem Exil. Den Bericht Esd. 1 verwirft
er, als eine Erdichtung des Chronisten. Der Chronist teilt indessen nur die
allgemeine Überzeugung, die auch in manchen anderen Stellen der Bücher
Esd. und Neh. gelegentlich zu Tage tritt, daß der Kern der nachexilischen
Gemeinde schon vor Ezra aus zurückgewanderten Babyloniern bestanden habe
(Esd. 4, 12. Neh. 7, 5. 6. 61. 12,1. Esd. 9, 4. 10,6). Diese Überzeugung wird
bestätigt durch die prophetische Schrift Isa. 40 — 48, deren großes baldiges und
bleibendes Ansehen sich kaum verstehn ließe, wenn eine so bestimmte Weis-
sagung über Cyrus als Messias der Juden gänzlich unerfüllt geblieben wäre.
Auch das fällt ins Gewicht, daß der Verfasser von Isa. 40ss. die Restauration
Sions sich gar nicht anders denken kann als durch Rückströmung von Baby-
lonien aus. In der Tat ist sonst das palästinische Judentum in seiner Ent-
stehung nicht zu begreifen. Von dem im Lande verbliebenen Rest würde der
alte volkstümliche Höhendienst wieder hergestellt sein; statt dessen finden
wir den legitimen Kultus in Jerusalem und eine zahlreiche Hierokratie
schon vor Ezra; an dem eigentlichen Tempeldienste hat dieser nichts mehr zu
reformiren. Wie konnte sich, ohne Rückwanderung, das in Babylonien geborene
Judentum seit dem Sturz der chaldäischen Herrschaft nach Palästina übertragen
und dort, anerkannt auch von den in Babylonien Zurückgebliebenen, seine
weitere Entwicklung finden? Ohne jene Voraussetzung erklärt sich ferner nicht
11*
154 Zwölftes Kapitel.
Vor dem Jahre 537 konnten die Juden die Reise nach Pa-
lästina schwerlich antreten. Auch machten durchaus nicht alle
Gebrauch von der Erlaubnis. Es war keine Kleinigkeit, sich aus
dem gesegneten Babylonien loszureißen, mit Weib und Kind und
fahrender Habe eine beschwerliche Reise zu machen, um aufs un-
gewisse hin in den Ruinen des verwüsteten Judäa sich anzusiedeln
— nach sechzig- und fünfzigjähriger Abwesenheit. Viele, nament-
lich wolhabende Leute blieben zurück, gaben aber ihr Judentum
darum nicht auf, sondern behaupteten es mit Eifer. Sie unterhielten
Verkehr mit ihren zurückgewanderten Brüdern, nahmen Anteil an
ihrem Geschicke, unterstützten sie und sandten ihnen von Zeit zu
Zeit neuen Zuzug. Babylonien ist seitdem die zweite Heimat des
Judentums geblieben.
Wie groß die Zahl der Heimkehrenden gewesen ist, wissen
wir nicht. Als der von Cyrus eingesetzte erste Landpfleger wird
Scheschbassar genannt, ein vornehmer Jude mit babylonischem
Namen. Einige Zeit später finden wir den Davididen Zerubabel
als Landpfleger, dessen Verhältnis zu Scheschbassar nicht recht
klar ist^). Neben ihm genoß der Priester Josua, aus dem Ge-
schlechte der Söhne Sadok, das größte Ansehen. Der Klerus bil-
dete einen unverhältnismäßio; starken Bestandteil der Kolonie.
die schon zur Zeit Haggais und Zacharias in Jerusalem herrschende Depression
darüber, daß die Wirklichkeit den Erwartungen doch keineswegs entsprach;
wozu die aus eigener Kraft aus der Tiefe allmählich sich heraufarbeitenden
Palästiner keinen Grund gehabt hätten. Außerdem weisen auf den Durchgang
durch das babylonische Exil hin 1) die genaue Datirungsweise und die Früh-
lingsära, die wir plötzlich bei Haggai und Zacharia finden (Prolegomena
p. 106 SS.), 2) die babylonischen Eigennamen Scheschbassar, Sareser, Regem-
melek, Meschezabel, deren Gewicht man durch Sanballat, den Kuthäer, nicht
entkräften kann.
0 Die Laudpfleger in Jerusalem pflegten Juden zu sein, und auch Schesch-
bassar war kein Perser, wie de Saulcy und Stade meinen, denn er trägt einen
babylonischen Namen. Die Etymologie hat Hoonacker gefunden: Schamasch-
balossor (Academy 30. Januar 1892). Kosters hat in "lifNJti' 1 Chr. 3, 18 (vgl.
Savaßaaaapos in 1 Esd., "iy~Jö und iy~)DJti^ bei Lidzbarski) den Schesch-
bassar erkannt; darnach wäre er der Oheim und Vorgänger Zerubabels ge-
wesen. Nach dem griechischen Esdras hat Scheschbassar die Juden geführt,
die unter Cyrus, Zerubabel die, die unter Darius, dem Willensvollstrecker des
Cyrus, heimkehrten. Indessen hat das apokryphe Zwischenstück 1 Esd. 3, 1 — 5, 6
nicht den geringsten geschichtlichen Wert; es widerspricht auch den Vor-
aussetzixngen des Zusammenhangs, in den es eingelegt ist.
Die Restauration. 165
Man wüßte gern, wie es in Palästina damals ausgesehen hat.
Im Norden von Judäa wohnten die Samarier, ein Mischvolk, ent-
standen aus der Verbindung der altisraelitischen Bevölkerung mit
fremden Kolonen, welche durch die Assyrer dort angesiedelt waren ^).
Ihr Mischlingscharakter zeigte sich auch in der Religion; doch über-
wog wol der alte halbheidnische Jahvedienst, wenngleich derselbe
seit der Zerstörung des Heiligtums von Bethel durch Josias kein
rechtes Zentrum mehr hatte. Im Westen waren die Asdodier die
Nachbarn, im Osten die Ammoniten, die vereinzelt über den Jordan
vorgedrungen zu sein scheinen "'). Im Süden hatten die verhaßten
Edomiten bereits angefangen, den Negeb Juda zu okkupiren, da-
mals noch nicht gedrängt von den Arabern (Ez. 35, 10). Inmitten
dieser Völkerschaften hatte sich in Juda auf dem Lande ein Rest
der alten Bewohner erhalten ^), der aber, ob wol an Zahl nicht ge-
ring, doch keinen festen Mittelpunkt hatte und aus eigener Kraft
kaum im stände war, sich gegen die heidnische Umgebung auf die
Dauer zu behaupten. Die herrschende Sprache in Palästina scheint
schon damals die aramäische gewesen zu sein, deren Eindringen in
die Gebiete kanaanitischer Zunge schon früh begonnen hat und durch
die gewaltsame Volksmischerei der Assyrer und Chaldäer sehr be-
fördert worden ist.
Die Verbannten verbreiteten sich bei ihrer Rückkehr nicht
über das ganze alte Gebiet des Stammes und Reiches Juda; das
wäre Selbstmord gewesen, sie mußten sich bei einander halten. Sie
siedelten sich in und hei Jerusalem an. Man denkt, sie hätten
nichts eiligeres zu tun gehabt, als den Tempel wieder aufzubauen*).
^) Der assyische König, der 2 Reg. 17,25 ss. gemeint ist, scheint der
Zerstörer Samariens zu sein; Esd. 4,2. 10 werden Asarhaddon und Osnappar
genannt.
-) Schon gleich nach der Zerstörung Jeruralems griif der Ammouiterkönig
Baalis in jüdische Angelegenheiten über (Hier. 40, 14). Gleichzeitig oder
etwas früher mag das Ammoniterdorf in Benjamin (Jos. 18, 24) entstanden
sein. Ton Moab ist nicht mehr die Rede, wenngleich der Name an der Land-
schaft haften blieb. Vgl. oben p. 83. 123.
^) Dies geht besonders aus den Klageliedern hervor, da dieselben oder
wenigstens einige von ihnen während des Exils in Judäa verfaßt sind.
*) Dies ist die Vorstellung von Esd. 5 und die damit in diesem Punkte
ganz übereinstimmende von Esd. 1 und 3, die indessen dem authentischen
Zeugnis von Ilaggai und Zacharia widerspricht. Mit dem Bericht in Esd. 5
fällt auch das Edict des Cyrus in Kap. 6. Überhaupt sind alle persischen
166 Zwölftes Kapitel.
Aber sie ernchteteii zunächst nur einen Altar auf der heiligen
Stätte. Sie hatten alle Hände voll zu tun, um sich selber einzu-
richten und über Wasser zu halten. Die Ernten waren schlecht
und andere Misstände machten sich fühlbar, die einer jungen
Kolonie selten erspart bleiben. Jerusalem erhob sich nur langsam
aus den Trümmern, die Straßen waren öde, man sah weder Greise
noch Kinder. Es gab nichts zu verdienen, der Verkehr war ge-
hindert durch die Unsicherheit der Straßen, man wagte sich nicht
heraus. Von Fürsorge der Perser war nichts zu merken, die Ab-
gaben dagegen waren nicht niedrig und bedrückten die ärmere
Bevölkerung (Neh. 5, 4). Unter diesen Umständen war die Stimmung
trübe, Mut und Freude konnten nicht aufkommen. Die Fasttage
wurden weiter gefeiert, als wäre man noch in der Trauer. War
das die Zeit des Heils, die ja nach dem Fegefeuer des Exils an-
brechen sollte? Sie entsprach nicht den Erwartungen. Man wohnte
zwar wieder im Lande der Väter, aber das persische Joch, weil es
den Verheißungen so gänzlich widersprach, wurde drückender
empfunden, als vordem das chaldäische. Die Krisis war eingetreten
und doch war alles beim alten geblieben, das Gefängnis war ge-
wandt, und doch mußte die eigentliche Wendung erst kommen.
Der Frohndienst war noch nicht beendet, die Sünde nicht vergeben.
Jahve war noch immer nicht in sein Land zurückgekehrt, sein Zorn
lastete noch auf seinem Volke. Selbst wenn man im stände ge-
wesen wäre, ihm den Tempel zu bauen, wie hätte man es nur
wagen können!
Im zweiten Jahre des Darius Hystaspis (521/20) scheinen sich
günstigere Aussichten aufgetan zu haben. Gleichzeitig traten da-
mals die Propheten Haggai und Zacharia auf ^), mit der Forderung
Königsurkunden im Buche Esd. ebenso unecht wie die bei Jos. Ant. 11,118 s.
Die Form (z. B. das beständige Fehlen des Patronyms bei den Königsnamen)
ist verdächtig und der Inhalt unmöglich. Vgl. Gott. Gel. Anz. 1897 p. 89 ss.
') Der Anlaß ihres Auftretens ist nicht die Hoffnung auf den Zusammen-
bruch des persischen Reiches in folge der Aufstände, die nach der Ermor-
dung des Magiers gegen Darius ausbrachen; diese Deutung von Agg. 2,6 ist
unzulässig. Nach Esd. 9, 9 war es AÜelmehr der Huld persischer Könige zu
verdanken, daß der Tempel hergestellt werden durfte; das wird man fest-
halten müssen, obgleich der den Baubefehl des Cyrus erneuernde Erlaß des
Darius, nach welchem die ganzen Kosten des öffentlichen Kultus in Jerusalem
dauernd auf die Reichskasse übernommen werden sollen, den Stempel der
Die Restauration. X67
uican solle endlich Hand anlegen an den Tempelbau. „Warum zögert
ihr? eure trübselige Lage rechtfertigt es nicht, sie kommt vielmehr
eben daher, daß ihr euch nur um euch selbst und eure profanen
Geschäfte kümmert, nicht um Jahve und um das Heilige! Wenn
nur der Tempel erst da ist, wird euch auch alles andere zufallen;
dann kommt Jahve zu seinem Tempel und die Heiden bringen
ihm ihre Schätze. Noch zwar trotzen die Heiden, es hat sich
nichts in der Welt geändert dadurch, daß einige tausend Juden
von Babel nach Jerusalem verzogen sind. Aber bald tritt die
große Bewegung des Himmels und der Erde ein, aus welcher die
messianische Zeit hervorgehn wird. Der Messias ist schon da, es
ist der Davidide Zerubabel. Nicht lange, so wird er die Krone
aufsetzen, die durch babylonische Juden bereits gestiftet und de-
ponirt ist."
Der Tempelbau kam zu stände und ward im sechsten Jahr
des Darius vollendet, aber die daran geknüpften Hoffnungen er-
wiesen sich als eitel. Jahve zog nicht in seinen Tempel ein. Das
Joch der Heiden wurde nicht zerbrochen, man lebte nach wie vor
von der Gnade der Fremdherrschaft. Zerubabel wurde nicht König,
er vererbte nicht einmal die Statthalterschaft auf sein Geschlecht.
Die Verhältnisse blieben in ihrem engen Rahmen. Das wichtigste
Ereignis der ersten Jahre oder Jahrzehnte war, daß die babyloni-
schen Kolonen (Gola, Bne haGola) sich mit ihren im Lande ver-
bliebenen Brüdern verbanden. Sie waren nicht spröde gegen sie,
sondern nahmen sie mit offenen Armen auf und zogen sie an sich
heran. Sie selber scheinen sich vorzugsweise in Jerusalem nieder-
gelassen zu haben, während jene sich in der Nähe konzentrirten,
Fälschimg an der Stirne trägt. Marquart meint, daß die Niederwerfung des
babylonischen Äufstandes durch Darius A. 521 in Jerusalem als Angeld auf
das messianische Heil begrüßt sei. Das ist nicht unwahrscheinlich. Darius
verdunkelte bei den späteren Juden den Cyrus, weil er ihnen als der eigent-
liche Strafvollstrecker an Babel galt; denn Cyrus war friedlich in die gottlose
Stadt eingezogen und hatte ihr nichts zu leide getan. Es kam dazu, daß die
siebzig Jahre des Interdikts damals voll wurden, auf welche die ursiirünglichen
vierzig Jahre (bei Ezechiel) später erweitert waren. — In Isa. 66, 1 — 4 wird
ein Protest gegen die Erneuerung des Tempels und des Opferdienstes laut.
Man preßt gewöhnlich aus diesen Versen einen Sinn heraus, der dem Wort-
laut schnurstracks zuwiderläuft, indem man das Attribut illegitim hinein
fälscht. Richtig verstanden sind sie von Stephanus Act. 7, 49 s.
168 Zwölftes Kapitel.
im nördlichen Juda und in Benjamin '). Die Landschaft, welche
Jerusalem und Jericho zu Hauptstädten hat, heißt fortan Judäa;
der Negeb und die Schephela gehören nicht mehr dazu"). Die
Palästiner standen allerdings auf einer andern religiösen Stufe als
die heimgekehrten Babylonier; die alte volkstümliche Tradition,
aus der die Verbannten gewaltsam herausgerissen waren, war bei
ihnen nicht gebrochen. Sie brachten allerhand halbheidnische
Sitten und Neigungen mit und legten sie nicht sofort gänzlich ab'^).
Aber es gelang doch den Babyloniern, sie zu sich heraufzuziehen
und ihnen ihren Stempel aufzudrücken; das aufgepfropfte Reis ver-
edelte die wilde Wurzel. Der Tempel behauptete seine Allein-
herrschaft gegenüber den Höhen, dank der zahlreichen Priester-
schaft, die sich in Jerusalem angesiedelt hatte. Der legitime Kultus
verdrängte die alten landesüblichen Bräuche; er wurde in der vom
Deuteronomium und von Ezechiel vorgeschriebenen Richtung immer
fester und feiner ausgebildet. Es war keine geringe Leistung für
die Gemeinde, den täglichen Opferdienst und das zahlreiche Tempel-
personal zu unterhalten. Auch der kleine Kultus der frommen
Übungen und Reinigungen drang durch; sogar eine so beschwer-
liche Forderung, wie die der allgemeinen Brache im siebten Jahr,
die vor dem Exil niemals ausgeführt war, fand jetzt Nachachtung.
Das alles erklärt sich nur daraus, daß die Babylonier in Jerusalem
einen herrschenden Einfluß auf die Landbewohner ausübten. Sie
waren das Rückgrat der Gemeinde^).
Auch nichtjüdische Elemente wurden aufgenommen, wenn sie
Jahve und seine Gebote anerkannten; w^er sich vom Heidentum
los sagte, wurde willkommen geheißen. Die Beisassen und die
') Nehemia (1, 2) scheint die Stadt Jerusalem zu unterscheiden von der
Menge der von der Deportation verschont gebliebenen Juden, Vgl. Neh. 11,1.
-) Zach. 7,7.
3) Isa. 56 s. 65 s.
*) Neh. 7 ist ein Verzeichnis der Bewohner des persischen Regierungs-
bezirks Jerusalem, aus einer Zeit, wo die Exulanten bereits lange in Judäa
wohnten und die Provinzialen durchsäuert hatten; daher die verhältnismäßig große
Zahl 7,66, daher auch die persischen Namen Babai, Bagoi und Aspadat
(Sept. 7,7), daher endlich die Sänger und Türhüter, die doch nicht schon in Babel
vorhanden waren, und von denen noch der Priesterkodex nichts weiß. Die
Verschmelzung hat sich sehr bald und sehr vollständig vollzogen; dte Pro-
vinzialen werden in Esd. und Neh, gewöhnlich nicht mehr von der Gola unter-
schieden, die Amme haAra^oth sind immer reine Heiden, im Gegensatz zu
Die Restauration. 169
Sklaven wurden religiös den Juden gleichgestellt; der Ausdruck Ger
(Aufenthalter) bekam die Bedeutung Proselyt. Aber auch solche,
die gar nicht in die Gemeinde eintraten, durften sich ihr nähern
und näherten sich ihr. So vor allen Dingen die Samarier. Aber
auch die Philister (Asdodier) und Ammoniten hatten nicht bloß seit
alters nahe Beziehungen zu den in Palästina verbliebenen Juden,
sondern standen auch in gutem Verhältnis zu den Exulantenkindern
in Jerusalem. Besonders die regierenden Aristokraten machten
Freundschaft mit den vornehmen Familien der Nachbarschaft, mit
denen sie sich durch Rang und Stellung verbunden fühlten.
Heiraten der Juden mit fremden Frauen fanden häufig statt. Sie
waren auch früher üblich gewesen und im Gesetz nicht eigentlich
verboten. Aber die Verhältnisse lagen jetzt anders. Das Juden-
tum lebte auch in Palästina, nicht bloß in Babylonien, vom
Gegensatz gegen das Heidentum. Durch weitherzige Expansion
kam es bei der herrschenden Theokrasie jener Zeit in Gefahr, sich
in einen allgemeinen unbestimmten Monotheismus aufzulösen. Die
Mischehen stifteten eine natürliche Verbindung mit heidnischen
Geschlechtern, durch welche der religiöse Charakter der Gemeinde
gefährdet wurde.
2. Gegen diese Gefahr erhub sich nun eine Opposition, die
zw^ar gegen den Übertritt zum Judentum nichts einzuwenden hatte,
aber für die Heiligkeit der Gemeinde, für ihre Absonderung von
den Heiden, mit allem Eifer eintrat. Es ging eine Spaltung durch
das jüdische Volk. Der Gegensatz war nicht ganz reinlich; die
Eiferer waren nicht die einzigen Frommen; Idealisten vom Schlage
des Verfassers von Isa, 40ss. konnten in der Praxis mit den
Profanen und Gleichgiltigen übereinstimmen. Aber in der Haupt-
sache standen doch die Frommen auf der einen, die Weltlichgesinnten
auf der andern Seite. Die Priester neigten wol im allgemeinen
dem späteren jüdischen Sprachgebrauch. Jedoch die allgemeine Anwendung des
Namens Bne haGola für die palästinischen Juden überhaupt findet sich noch
nicht in den Memoiren Nehemias. Dieselbe erklärt sich daraus, daß die
babylonischen Juden die Normaljuden waren, nach denen die anderen sich
richten mußten. Sie schieden sich streng von den Heiden und hielten zäh
an der väterlichen Sprache; nicht bloß der Schriftgelehrte Ezra, sondern auch
der Laie Nehemia beherrscht das Hebräische vollkommen, und das zu einer
Zeit, als bereits anderthalb Jahrhunderte seit der Deportation vergangen
waren.
170 Zwölftes Kapitel.
zu der Partei der Eiferer; doch nicht alle und grade die vor-
nehmsten nicht. Wie tief der Riß war, wie er auch durch die
Familien ging und die Söhne den Vätern verfeindete, sieht man
aus dem Buch Malachi. Die Frommen hatten geringe Hoffnung
durchzudringen und befanden sich in verzweifelter Stimmung.
Der Prophet stellt ihnen zum Trost das Gericht in nahe Aussicht,
das Spreu und Weizen in der Gemeinde scheiden solle. Damit
aber Jahve, wenn er erscheine, nicht allzuviel auszurotten und
zu strafen finde, verheißt er einen Boten, einen Vorläufer, der ihm
die Bahn bereite und die gröbsten Anstöße aus dem Wege räume.
Der Bote kam aus Babylonien, es war ein Gelehrter von
priesterlichem Blut und er hieß Ezra. Durch ihn brachte die
babylonische Frömmigkeit der palästinischen Zuzug und Hilfe').
Im Jahre 458 erbat und bekam er von Artaxerxes Longimanus
(464 — 424) die Erlaubnis in die alte Heimat überzusiedeln, mit
denjenigen, die sich ihm anschließen wollten. Der König unter-
1) Nach Kosters ist mit Ezra überhaupt zuerst eine Gola aus Babylonien
zurückgekehrt und durch ihre Vereinigung mit den palästinischen Juden, die
Nah. 8—10 erzählt sein soll, die Gemeinde gestiftet. Umgekehrt schlägt
Renan die geschichtliche Bedeutung Ezras sehr gering an, unter Berufung
darauf, daß Nehemia und Jesus Sirach (auch 2 Macc. 1. 2) ihn nicht er-
wähnen, und daß die Berichte über ihn legendarisch seien. Es befremdet
allerdings, daß die späteren Juden ihn ignorirt haben. Seine Memoiren sind
so zugerichtet, daß man jetzt nicht mehr erkennen kann, weshalb sie Anstoß
au ihm nahmen.
Im griechischen Esdras folgt Neh. 8—10 sofort auf Esd. 7—10. Diese
Ordnung ist jedenfalls jünger als die des hebräischen Textes, wird aber neuer-
dings vielfach gebilligt, um Ezra aus der Verbindung mit Nehemia, der nichts
von ihm sagt, zu lösen, so daß er entweder dessen A'orgänger oder sein Nach-
folger wird. Nach Josephus ist er als alter Mann gestorben, ehe Nehemia nach
Jerusalem kam. Die Neueren setzen ihn lieber nach Nehemia, oder in die Zeit von
dessen zweitem Aufenthalt in Jerusalem; denn Ezra baue auf der von Nehemia
gelegten Grundlage, nicht umgekehrt. Dieser innere Grund soll dazu berech-
tigen, die Erzählungsstücke in Esd. und Neh. total zu derangiren und dann nach
eigenem Ermessen neu zu arrangiren? Die überlieferte Reihenfolge mag keine
genügende Gewähr ihrer Richtigkeit bieten; wenn sie aber überhaupt nur
möglich ist, so ist es immer noch besser, dieser Möglichkeit zu folgen, als
zwischen beliebigen selbsterdachten zu wählen. Neh. 8—10 schließt nicht an Esd.
10; man kann auch nicht etwa Neh. 8 auf Esd. 8, und dann Neh. 9. 10 auf Esd. 10
folgen lassen. In der Situation von Esd. 7—10 hat der Thirschatha von Neh.
8 — 10 keinen Platz, und für die Verstellung des letzteren Stücks sucht man
vergebens nach Gründen. Der Chronist hat es an seinem gegenwärtigen Ort
Die Restauration. 171
stützte ihn für die Reise und gab ilim Empfehlungen mit an die
Beamten der Provinz Transeuphratene. Es meldeten sich 1496
Männer, die mit ihm ziehen wollten, uneingerechnet zwei priester-
liche und eine davidische Familie. Leviten waren nicht dabei,
erst auf das Drängen Iddos, des Hauptes der Gola, ließen sich
38 Leviten und 220 Hierodulen bereit finden. Zum Sammelplatz
der großen Karawane wurde eine Stelle am Kanal von Ahava be-
stimmt. Dort hielt Ezra ein Fasten, um Jahves Hilfe für das be-
schwerliche und gefährliche Unternehmen zu erflehen; denn er
schämte sich vom Könige ein Geleit anzunehmen. Im April wurde
die Reise angetreten; zwölf Priester und zwölf Leviten trugen die
kostbaren Gaben, die wahrscheinlich von reichen babylonischen
Glaubensgenossen für den Tempel gestiftet waren. Im August kam
man in Jerusalem an, die Geschenke wurden an den Tempel ab-
geliefert, die Empfehlungen den Beamten übergeben. Ein Dankopfer
feierte die Vollenduns; der fünfmonatlichen Reise.
•0 und in der gegenwärtigen Verbindung schon vorgefunden (Esd. 3, 1 = Neh.
7, 72, 8, 1). Der auflfallende Umstand läßt sich auf keine Weise beseitigen,
daß Ezra die Aufgabe, zu der er vorn Könige gesandt sein soll (das Gesetz
einzuführen), bei seiner Ankunft in Jerusalem liegen läßt und sich an eine
ganz andere macht.
Für die Gleichzeitigkeit Ezras und Nehemias spricht 1) daD Ezra im
Jahre 7 des Artaxerxes einen Sohn des Hohenpriesters Eljaschib zum Freunde
hatte und daD Nehemia im Jahre 32 des A. einen verheirateten Enkel des
Eljaschib aus Jerusalem verbannte, 2) daß in Neh. 3 (einem allerdings wol
nicht zu den Memoiren gehörigen Verzeichnis) zwei oder drei Personen ge-
nannt werden, die auch in Esd. 7 — 10 vorkommen. Daß mit dem Thirschatha
Neh. 7 — 10 wirklich Nehemia gemeint sei, halte ich darum für wahrscheinlich,
weil es in jener Zeit (der des Ezra) schwerlich noch regelmäßige Landpfleger
in Judäa gegeben hat.
Eine weitere Frage ist, unter welchem Artaxerxes Ezra und Nehemia ge-
wirkt haben. Ich halte die Annahme, daß Esd. 4 hinter Esd. 5. 6 stehn
muß, für berechtigt, besonders wegen des kuriosen Überganges 4, 24. Dann
folgen sich ordnungsmäßig: Darius Hystaspis, Xerxes, Artaxerxes Longimanus.
Unter dem letzteren Könige wird nach Esd. 4 die Mauer von Jerusalem zer-
stört. Dies ist mm der Anlaß, weshalb Nehemia sich Urlaub erbittet; der
Artaxerxes der Memoiren Ezras und Nehemias wäre also Longimanus (466 — 424).
Die Ansicht, es sei Mnemon (405 — 361), stützt sich auf die ganz unerweis-
liche Gleichzeitigkeit des Hohenpriesters Jaddua mit Alexander und Darius
Codomannus. Für den historischen Pragmatismus macht es allerdings gar
keinen Unterschied, ob Longimanus gemeint ist oder Mnemon — so glänzend
sind wir über die Anfänge des Judentums unterrichtet.
172 Zwölftes Kapitel.
Einen Landpfleger fand Ezra in Jerusalem nicht mehr vor, der
Sitz der persischen Regierung war wol in Samarien. Die Ver-
waltung von Jerusalem lag in den Händen der dortigen Aristokratie,
die in der Regel selbständig schaltete und nur gelegentlich darin
von den persischen Beamten gestört wurde. Zu Anfang hatte
Ezras Auftreten große Wirkung. Die Frommen betrachteten ihn
als ihren Bundesgenossen, der ihnen in der Gemeinde zum Siege
zu verhelfen bereit und auch autorisirt sei; sie hatten ohne Zweifel
Grund und Ursach zu dieser Annahme. Gleich nach seiner
Ankunft klagten sie ihm, daß Vornehme und Geringe sich nicht
scheuten auswärtige Frauen zu heiraten und den heiligen Samen
mit der Unreinheit der Heiden zu vermischen. Ezra war außer
sich; er tat so, als wäre ihm die Sache ganz neu, obwol er gewiß
schon in Babylonien davon unterrichtet und grade auch dadurch
veranlaßt war nach Jerusalem zu gehn. Zur Zeit des Abend-
opfers verlieh er öffentlich vor zahlreichen Zuhörern der Zer-
knirschung Ausdruck, w^elche sie empfinden sollten. Dem Eindruck,
den er zu machen wünschte, gab im Einverständnis mit ihm der
fromme Sekania ben Jehiel Widerhall, indem er zugleich das
Vertrauen, daß nicht alles verloren sei, aussprach und den
ernsten Willen, das Übel zu beseitigen. „Laßt uns alle uns vor
Gott verpflichten, alle ausländischen Weiber und ihre Kinder
hinaus zu tun, nach dem Rate des Herrn und derer die zitternd
seinem Gebote folgen, daß nach dem Gesetze gehandelt werde."
Da stand Ezra auf und nahm einen Eid von den Obersten der
levitischen Priester und des ganzen Israel, daß man nach diesem
Worte tun wolle. So geschwinde indessen wie sie wünschten kamen
die Frommen nicht zum Ziel. Erst mußte die Angelegenheit vor
die Gemeinde gebracht werden. Zum Dezember, vier Monat
nach der Ankunft Ezras, wurden alle jüdischen Männer nach
Jerusalem geladen. Sie erschienen dort vollzählig zu der bestimmten
Frist, au einem unangenehmen regnerischen Tage. Zitternd vor
Aufregung und vor Kälte, gelobten sie zwar dem Ezra im all-
gemeinen was er von ihnen verlangte, erklärten es jedoch zugleich
für untunlich, die weitläuüge und schwierige Sache in einer all-
gemeinen Versammlung binnen zwei drei Tagen zu erledigen, zumal
bei solchem Wetter. Es sollten vielmehr die in Mischehe lebenden
Männer aus jedem Orte besonders zu einem bestimmten Termin
nach Jerusalem vorgeladen werden, zugleich mit den Ältesten
Die Restauration. 173
und Richtern ihres Ortes. Trotz dem Einspruch einiger Eiferer
wurde dieser Vorschlag angenommen und alsbald ein Ausschuß
für Ehesachen in Jerusalem gebildet, der zu Anfang des folgenden
Monats seine Tätigkeit begann. Eine Anzahl von Männern, welche
Ausländerinnen geheiratet hatten, wurden ermittelt, darunter auch
einige Priester und Leviten. Bei diesem Punkte aber ist der
Bericht plötzlich abgeschnitten. Vielleicht war das Ende ein Fehl-
schlag. Wenn es aber ein Erfolg war, so hatte derselbe keine
Dauer. Ezra konnte seinen Willen nicht mit Gewalt durchsetzen').
Er hatte nicht die Macht, die ihm in dem Ferman des Artaxerxes
(Esd. 7) gegeben wird, Beamte einzusetzen, Hinrichtungen und
andere schwere Strafen vollstrecken zu lassen. Jener Ferman
ist also erdichtet. Das folgt auch daraus, daß darin als die
eigentliche Mission Ezras die Einführung des Gesetzes erscheint.
Wenn er diesen Auftrag und die nötige Vollmacht dazu wirklich
vom Könige erhalten hätte, so hätte er ihn auch ohne Verzug
ausführen müssen. Er hatte aber nicht die geringste Eile damit.
Das Gesetz war ihm überhaupt nur Mittel zum Zweck. Sein
eigentliches Ziel war die Beseitigung der Gefahr, daß die palästi-
nischen Juden allmählich mit ihren heidnischen Nachbarn verwuchsen.
Auf dieses Ziel ging er grade los, indem er die Mischehen bekämpfte,
wobei er sich nicht auf das Gesetz stützte und auch gar nicht
direkt stützen konnte. Das Gesetz hat er erst viel später ver-
öffentlicht, erst nachdem die eigentliche praktische Arbeit durch
ihn und Nehemia geschehen war.
Es kamen unruhige Zeiten über Syrien, es war der Sitz des
Aufstandes des Megabyzus, des Bezwingers der Ägypter und Athener,
der sich dort unabhängig machte und mehrere Jahre gegen den
Oberkönig Krieg führte. Die Juden scheinen diese Unordnung be-
nutzt zu haben, um Jerusalem zu befestigen. Der Bau der Mauer
der bis dahin nicht ummauerten Stadt lag besonders den Frommen,
den Exklusiven, am Herzen (Ps. 51, 20), wol weil sie glaubten, die
äußere Absperrung erleichtere die innere. Es gelang den Mauer-
^) Hätte er eine äußerlich hervorragende Stellung in Jerusalem einge-
nommen, so hätte Nehemia kaum umhin gekonnt, ihn zu erwähnen. — Auf
den Ausschluß der Samarier vom Konnubium bezieht sich die spätere Rezen-
sion von Gen. 34. Das Interesse au der Umarbeitung der alten Geschichte
weist in diese Zeit,
174 Zwölftes Kapitel.
ball ins Werk zu setzen '). Aber dann sollen die persischen Pro-
vinzialbeamten dazwischen getreten sein, weil sie in der Befestigung
der Stadt eine Gefahr für das Reich erblickten. Jedenfalls wurden
Breschen in die Mauer gelegt und die Tore verbrannt^).
3. Es dauerte indessen nicht lange, so gelang es den Frommen
wieder die Gunst des Artaxerxes zu gewinnen. Sie hatten einen
Freund und Landsmann, der Mundschenk, wahrscheinlich Eunuch,
am Hofe zu Susa war, den Nehemia ben Hakalia^). Dem gaben
sie Nachricht von dem betrübenden Stand der Dinge in Jerusalem.
Nehemia erwirkte sich Urlaub von dem ihm überaus geneigten
Könige, um eine Zeit lang nach Jerusalem zu gehn und die Stadt
des Grabes seiner Väter zu bauen. Er bekam Briefe mit an die
Beamten der Provinz jenseit des Euphrat, und eine Anweisung
an einen königlichen Forstmeister daselbst auf Lieferung von Bau-
holz. Er war mit weit größerer Macht ausgestattet als Ezra; er
durfte in Jerusalem schalten und walten wie er wollte. Den Rat
der Ältesten brauchte er nicht zu fragen und die persischen Beamten
hatten ihm nicht darein zu reden. Er stellt sich selber mit den
früheren Landpflegern auf eine Stufe; indessen war es kein regel-
mäßiges Amt, das er bekleidete. Er trat nicht als Glied in eine
Reihe ein, er verdrängte keinen Vorgänger und ließ keinen Nach-
folger zurück. Als er abging, blieb sein Platz leer, und als er
dann noch einmal zurückkam, konnte er ihn ohne weiteres wieder
einnehmen. Er war ein außerordentlicher Bevollmächtigter des
Königs zu einem bestimmten Zweck, ein richtiger Diktator, der
sich vor Reibungen mit der Landesaristokratie und mit den Pro-
vinzialbehörden nicht zu fürchten brauchte, sondern unbehindert
seinem Ziele nachgehn konnte. Es ist eigentümlich, daß Arta-
xerxes Longimanus in dieser A¥eise seine Macht für die Zwecke
des exklusiven Judentums zur Verfügung gestellt hat.
') Die Meinung- indessen, daß in Esd. 4, 12 nur von Ezra und seiner
Gola die Rede sei, ist schwerlich richtig. Denn die Gola Ezras konnte doch
nicht für sich allein die Ummauerung unternehmen und mußte auch nach
zwölf Jahren mit den übrigen Jerusaleraern verschmolzen sein. Vgl. G. G. A.
1897 p. 92 s.
■^) Diese Tatsache steht durch Neh. 1 fest und läßt sich darnach datiren.
Daß die Mauer auf Befehl des Artaterxes selber zerstört sei, läßt sich schwer
glaiiben, da Nahemia von einem solchen Befehl nichts weiß.
^) Die richtige Aussprache von Hakalia ist nach Böhme HakkePja (warte
auf den Herrn!).
Die Restauration. 175
Zu Anfang des Sommers 445^) machte sich Nehemia auf den
Weg. Drei Tage nach seiner Ankunft machte er des Nachts einen
einsamen Ritt um die Stadt und überzeugte sich von der traurigen
Beschaffenheit der Mauer. Darauf kündigte er den Priestern und
den Obersten des Volkes an, zu welchem Behuf ihn der König
gesandt hätte; sie gingen gehorsam auf die Anregung ein und be-
schlossen die Mauer herzustellen. Priester und Leviten, Geschlechter
und Gilden, einzelne reiche Privatleute übernahmen Strecken des
Baus; auch manche auswärtige jüdische Städte beteiligten sich.
Noch ehe aber die Arbeit begann, mischten sich Sanballat der
Horonit, Tobia der Ammonit und Goscham') der Araber darein
und versuchten sie zu hintertreiben. Sie waren bisher in Jerusalem
aus- und eingegangen und fast als heimatberechtigt betrachtet,
nicht bloß in der Stadt, sondern auch im Tempel. Tobia und
sein Sohn Johanan führten jüdische Namen und waren mit vor-
nehmen jerusalemischen Familien, sogar mit der hohepriesterlichen,
verschwägert. Die Absicht des Mauerbaus war ohne Zweifel, die
heilige Stadt gegen aui3en, gegen den ungehinderten Verkehr mit
Fremden, abzuschließen. Sanballat und Genossen fühlten sich
vorzugsweise durch diese Maßregel getroffen, sie empfanden, daß
sie nun keinen Anteil und kein Recht mehr an Jerusalem haben
sollten. Seitdem verwandelte sich ihre frühere Freundschaft in
Haß gegen die Juden, oder richtiger gegen die damals aufstrebende
exklusive Partei. Wie Ezra die Mischehen auflöste, so zeigte Nehe-
mia den fremden Hospitanten die Zähne und wehrte ihnen den
Zutritt in die heilige Stadt. Das war der Zweck des Mauerbaus;
er erklärte ihnen bei dieser Gelegenheit mit dürren Worten, sie
hätten in Jerusalem nichts zu suchen.
') In Esdr. 7, 8. 9. 8, 31 werden die Monate vom Frühling an gezählt, so
daß der Ostermonat der erste und der Herbstmonat der siebente heißt. Aber
im Jahre geht nach Neh. 1, 1. 2, 1 dennoch der Kislev (d. i. der neunte Mo-
nat) dem Msan (d. i. dem ersten) voran; im Kislev des 20. Jahres des Artaxerxes
erhält Nehemia die Botschaft aus Jerusalem und im Nisau des selben Jahres
bittet er um Urlaub. Das bürgerliche und königliche Jahr wird nach der
syrischen Weise vom Herbste gerechnet und nur die Benennung der Monate
nach der babylonischen Zählung beibehalten. Ähnlich liegt die Sache im
ersten Makkabäerbuch und vielleicht schon in Hierem 36, denn nach 36, 1. 9
scheint im 7. Monat das Jahr zu wechseln. Anders allerdings Agg. 1, 1. 2, 10.
Zach. 1, 7.
2) Sprenger, die alte Geographie Arabiens p. 232.
176 Zwölftes Kapitel.
Die Abgewieseneil machten ihrem Arger zunächst durch höh-
nische Redensarten Luft. „Was wollen diese elenden Juden? laßt
sie nur bauen; wenn ein Fuchs kommt, so bricht er dadurch!"
Als aber die Mauer in die Höhe stieg und die Lücken überall er-
gänzt wurden, sollen sie beschlossen haben, das Werk mit Gewalt
zu stören. Von vielen Seiten drangen Nachrichten nach Jerusalem,
sie hätten einen Anschlag vor. Es scheint, daß Nehemia durch
blinden Lärm geschreckt werden sollte. Er war zwar auf der Hut
vor einem plötzlichen Überfall, und auch als er keine Gefahr mehr
besorgte, behielt er einen Teil der Maurer unter den Waffen. Aber
der Bau wurde bei alledem unentwegt fortgesetzt, verdoppelte An-
strengung glich die Verminderung der Mannschaft aus.
Jedoch ein neues Hindernis trat ein. Es herrschte viel Armut
in Jerusalem und in folge davon ein starker Gegensatz der Stände.
Die Besitzlosen waren den Vermögenden verschuldet, sie hatten
ihnen ihre Äcker und Weinberge oder auch ihre Kinder verpfänden
müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten oder die Steuern
bezahlen zu können. Es scheint, daß ihre Not durch den Mauer-
bau, während dessen sie nichts verdienen konnten, noch verschärft
war. Jedenfalls hielten sie die Gelegenheit für günstig, um einen
Tumult zu machen und laut ihre Klage zu äußern. Der Land-
pfleger nahm Partei für sie, vielleicht nicht bloß aus Menschen-
freundlichkeit, sondern auch deshalb, weil die Feinde der Armen
auch seine Feinde waren. Er ließ die Vornehmen in einer großen
Versammlung, die er gegen sie berief, hart an, verwies sie auf sein
eigenes Beispiel, daß er sein Einkommen lediglich zum besten der
Gemeinde aufwende, und schüchterte sie so ein, daß sie die Zinsen
erließen und die Pfänder zurückgaben.
Nach diesem Zwischenfall wurde die Mauer glücklich fertig
gestellt; es blieb nur übrig, die Türen in die Tore einzuhängen.
Noch zu guter letzt machten die Feinde, im Bunde mit der durch
die Seisachthie dem Nehemia noch übler gesinnten Aristokratie,
Versuche, das Werk zum Stillstand zu bringen. Sie richteten ihre
Anschläge jetzt gegen die Person Nehemias, der die Seele des
Ganzen war. Sie suchten ihn aus der Stadt hinaus zu locken,
angeblich zu einer Besprechung. Aber vergebens. Er kam auch
dann nicht, als sie ihm schrieben, worüber sie mit ihm sprechen
wollten: es gehe nämlich das Gerücht, er baue die Mauern, um
sich gegen die Perser zu erheben und selber König der Juden zu
Die Restauration. j^yr
werden, er habe schon Propheten bestellt, die ihn als den Messias
ankündigen sollten. Da die plumpe List fehlschlug, so legten sie
ihm zuletzt unterirdische Fallen in Jerusalem selber. Aber es half
alles nichts; er ließ sich nicht fangen, von der in der Stadt herr-
schenden Aufregung nicht anstecken, und an seinem Unternehmen
nicht irre machen. Im Herbst des selben Jahres, in Avelchem er
angekommen war, konnten die Türflügel eingehoben werden. Da-
mit war die Arbeit glücklich vollendet, unter großen Schwierig-
keiten in sehr kurzer Zeit, denn sie hatte nur zweiundfünfzig Tage
in Anspruch genommen'). Man muß freilich bedenken, daß es
sich nur um eine Restauration handelte; bloß die Türen mußten
offenbar neu gemacht werden.
Darauf wurde ein regelmäßiger Wachdienst eingerichtet. Bür-
ger von Jerusalem besorgten ihn, jeder in der Gegend seines Hauses ;
den Befehl führten Hanani, ein Bruder Nehemias, und Hanania,
der Burgvogt'). Die Tore durften nicht früher geöffnet werden,
als bis die Sonne heiß ward. Da der Mauergürtel zeigte, wie
schwach Jerusalem noch bewohnt war, so wurde auf Anregung
Nehemias in einer Versammlung der Obersten und des Volks eine
Maßregel beschlossen, um die Bevölkerung zu mehren. Jeder
zehnte Mann mußte vom Lande in die Stadt ziehen; manche, die
nicht vom Lose getroffen waren, taten es freiwillig. Auch die
Leviten und Sänger, die außerhalb wohnten, suchte Nehemia in
Jerusalem zu vereinigen.
Er hatte von Artaxerxes nur beschränkten LMaub zu einem
bestimmten Zweck erhalten, und als er diesen Zweck erreicht
hatte, kehrte er zum Könige zurück'). Er kam aber zwölf Jahre
1) Nach Josephiis (Ant. 1], 179) nahm der Manerbau 2 Jahr und 4 Monat
in Anspruch, er begann im 25. Jahr des Xerxes und ward im 28. vollendet.
Josephus, welcher der Ordnung des griechischen Esdras folgt und Esd. 4,7 ss.
unmittelbar hinter Esd. 1 stellt, verwandelt den Artaxerxes von Esd. 4 in
C'ambyses und den von Esd. 7 ss in Xerxes. So bringt er alles richtig in
Reihe: Cyrus, Gambyses, Darius, Xerxes.
-) Hanani und Hanania neben einander (Neh. 7, 2} fallen auf, ebenso die
Erwähnung der Bira. Sie findet sich freilich auch 2, 8, aber dort fehlt;[sie
in der Septuaginta.
2) Nach Neh. 2, 6 ist es wenig glaublich, daß Nehemia seinen ersten Ur-
laub vom persischen Könige auf zwölf Jahre sollte ausgedehnt haben, zumal
alles was von seinem Tun erzählt wird sich auf etwa ebensoviel Wochen
zusammendrängt und nur den Mauerbau nebst Konsequenzen betrifft. Die An-
We 1 1 h a u s e n , Isr. Geschichte, ö. Aufl. j 2
178 Zwölftes Kapitel. Die Restauration.
später (432) noch einmal wieder, weil die jerusalemischen Ver-
hältnisse abermals sein persönliches Eingreifen zu erfordern schienen.
Die jüdische Aristokratie, an welche die oberste Gewalt zurück-
gefallen war, zeigte noch immer keinen Eifer für das Heilige. Der
Sabbat war nicht streng eingehalten; er wurde als Markttag be-
handelt, an dem die Landleute und die tyrischen Krämer ihre
Waren zur Stadt brachten. Nehemia ließ vom Freitag- bis Sabbat-
abend die Tore schließen und verleidete den Händlern den Besuch
des unheiligen Marktes. Er entdeckte auch, daß die Mischehen
noch immer nicht ganz aufgehört hatten. Er fand Juden, deren
Weiber aus Asdod und von Moab und Ammon waren, deren Kinder
großenteils nicht jüdisch, sondern asdodisch redeten. Er schalt
und mishandelte die offenbar den niederen Ständen angehörenden
Männer und nahm ihnen dann einen Eid ab, daß sie ihre Söhne
und Töchter nicht mit Heiden verheiraten wollten^). Er scheute
sich aber auch nicht, gegen die Vornehmen j'ücksichtslos aufzu-
treten, die ihre alten Verbindungen mit den benachbarten Adels-
familien wieder angeknüpft hatten. Der Ammonit Tobia war nach
Jerusalem gekommen und hatte eine Sakristei im Heiligtum ein-
geräumt bekommen, die bis dahin zur Aufbewahrung von Tempel-
Geräten und -Vorräten gedient hatte. Nehemia warf die Sachen
Tobias hinaus und gab den Raum seiner alten Bestimmung zurück.
Ein Enkel des Hohenpriesters Eljaschib, ein Sohn des Jojada, hatte
eine Tochter des samarischen Fürsten Sanballat geheiratet; Nehemia
jagte ihn fort aus der Stadt.
Der Zehnte war nicht nach Vorschrift verteilt, die Leviten,
für die er vorzugsweise bestimmt war, hatten nichts abbekommen
gäbe 13, 6 ist nun auch sehr unklar; man weiß nicht, ob Nehemia im 32. Jahre
des Artaterxes nach Susa oder nach Jerusalem zurückgekehrt ist; die Aus-
leger umgehn die Schwierigkeit, indem sie das Datum sowol auf die eine
als auch auf die andere Reise beziehen. In 5, 14 stimmen die zwölf Jahre
schlecht zu dem Folgenden, wo wie sonst nur von der kurzen Zeit des Mauer-
baus die Rede ist. Vielleicht beruht 5, 14 auf 13, 6. Vgl. Hitzig, Geschichte
des Volkes Israel p. 297,
1) Nehemia hat hier nur einen Rest zu beseitigen, über dessen Vor-
handensein er sich wundert. In der Hauptsache muß also das Verbot der
Mischehen schon früher, während seiner ersten Anwesenheit, durchgedrungen
sein. Aber es ist bemerkenswert, daß Nehemia nicht, wie einst Ezra, fordert,
daß die bestehenden Mischehen gelöst, sondern nur, daß keine neuen ge-
schlossen werden sollen. Der Fall mit dem Sohne Jojadas lag anders.
Dreizehutes Kapitel. Das Gesetz. 179
oder waren doch verkürzt worden. Nehemia bildete nun eine ge-
mischte Kommission aus vier zuverlässigen Männern, die den Zehnten
in Empfang nehmen und gerecht verteilen sollten. Es kam ihm
darauf an, es den Leviten und Sängern durch ein festes Einkom-
men zu ermöglichen, daß sie in Jerusalem blieben und sich ihrem
geistlichen Amte widmeten; denn sie hatten sich schon gezwungen
gesehen, die Stadt zu verlassen und den Acker zu bauen. Er
sorgte aber nicht bloi3 für die Leviten, sondern ordnete überhaupt
die Verhältnisse des Klerus, die sich noch immer nicht ganz ge-
festigt hatten. Er säuberte die Priester und Leviten von unreinen
und fremden Elementen, er wies ihnen ihre festen Geschäfte und
Ämter an. Die Hierokratie scheint damals durch ihn ihre defini-
tive Gestalt erhalten zu haben; leider müssen wir uns an kurzen
Andeutungen darüber genügen lassen.
Es ist ISehemia gelungen, das Werk, dessen Anreger Ezra
war, für die Zukunft sicher zu stellen, die Juden vor der Unrein-
heit der Heiden und vor dem Eückfall ins Heidentum zu schützen.
Ezra und Nehemia sind, durch die Gnade des Königs Artaxerxes,
die definitiven Konstitutoren des Judentums geworden. Hir Eifer
erscheint uns beschränkt und engherzig, aber sie waren von hin-
gebendem Gemeinsinn beseelt, und ergriffen zu ihrem Zweck die
richtigen Mittel. Als Kinder einer neuen Zeit zeigen sie sich da-
durch, daß sie beide sich gedrungen gefühlt haben, ihre Memoiren
zu schreiben. Leider sind uns nur die des Nehemia authentisch
wenngleich fragmentarisch erhalten. Er hat sie geschrieben, damit
ihm Gott all des Guten gedenke, das er für sein Volk getan habe,
er reicht damit gewissermaßen sein Guthaben ein, damit es in
das himmlische Konto eingetragen werde.
Dreizehntes Kapitel.
Das Gesetz.
1. Die Einführung des Gesetzes diente dem selben Zwecke,
dem Ezras und Nehemias Wirksamkeit überhaupt diente, der Be-
festigung des Judaismus, der Absonderung von dem Heidentum').
^) Dieser Zweck tritt bei jeder Gelegenheit hervor, nicht bloß Esd. 9. 10,
sondern auch Neh. 9, 2. 13, 1—3, Schon J. D. Michaelis hat das richtig erkannt.
12*
180 Dreizehntes Kapitel.
Sie war aber nicht der Anfang, sondern das Ende der Reformation;
sie machte bei weitem nicht solche Schwierigkeiten, wie etwa die
Auflösung der Mischehen. Sie krönte das Werk, nachdem es
vollendet war, sie verewigte den Sieg der exklusiven Partei. Die
Zeit der wichtigen Maßregel läßt sich nur ungefähr bestimmen,
dadurch, daß Nehemia sich damals bereits in Jerusalem befand;
sie fällt also mindestens dreizehn Jahr nach der Ankunft Ezras in
der heiligen Stadt '). Auch über die Vorbereitungen ist uns nichts
überliefert. Unterrichtet sind wir nur über den Schlußakt, der
wirkungsvoll in Szene gesetzt wurde, wie Ezra es liebte und wie
es bei dieser Gelegenheit sich auch schickte.
Am ersten Tage des siebenten Monats, zu Neujahr im Herbst,
man weiß nicht welches Jahres, versammelte sich das Volk auf
dem Markte vor dem Wassertor, zu dem Zweck um Ezra aufzu-
fordern, daß er das Bach der Thora Moses vorbringe, das Jahve
Israel geboten. Der Schriftgelehrte war präparirt, dieser Auf-
forderung zu entsprechen. Vom frühen Morgen bis zum Mittag
las er vor. Die Wirkung war, daß ein allgemeines Weinen sich
erhub, weil man sich bewußt war bis dahin die Gebote Gottes
nicht befolgt zu haben. Nehemia und Ezra und die Leviten mußten
die Aufregung dämpfen, sie sprachen: dieser Tag ist Jahve eurem
Gotte geweiht, trauert nicht und weint nicht, geht hin, eßt was
fett ist und trinkt was süß ist und gebt denen ab die nichts mit-
gebracht haben! Da zerstreuten sich die Versammelten und ver-
anstalteten eine große Freude. Am andern Tage wurde die Ver-
lesung fortgesetzt, aber bloß vor den Familienhäuptern; und zwar
kam ein zeitgemäßes Stück an die Reihe, nämlich die Verordnungen
über die Feste, insbesondere über das unter grünen Zweigbuden
zu feiernde Hüttenfest am 15. Tage des siebenten Monats, des-
^) Das Jahr ist in Neh. 8 — 10 nicht angegeben. Die Erzählung gehört
nicht zu den Memoiren Nehemias, die schon 7,5 abschneiden; aus der Stelle
wo sie steht läßt] sich kein sicherer Schluß auf die Chronologie machen.
Kosters vermutet, sie gehöre eigentlich hinter Kap. 13, das Gesetz Ezras sei
nicht schon bei der ersten Anwesenheit Nehemias in Jerusalem veröifentlicht,
sondern erst bei der zweiten. Dadurch würde dann aber der Zwischenraum
zwischen diesem Ereignis und der Ankunft Ezras noch vergrößert; oder man
müßte sich entschließen, das Datum seiner Ankunft, das doppelt bezeugt
ist, nach Gutdünken zu verändern. Es scheint allerdings, daß Nehemia, bei
seiner ersten Anwesenheit, sich nur um den Mauerbau gekümmert hat.
Das Gesetz. 181
jenigen, in dessen Anfang man grade stand. Mit großem Eifer
ging man daran, die seit den Tagen Josuas nicht gehörig begangene
Feier nun zu rüsten, und mit allgemeiner freudiger Beteiligung
beging man sie vom 15. — 22. des Monats, nach der Vorschrift des
Gesetzes Lev. 23. Am 24. aber ward in Sack und Asche ein
großer Bußtag gehalten. Mit der Gesetzeslektion wurde auch
jetzt begonnen, darauf folgte ein Sündenbekenntnis, das im Namen
des Volks von den Leviten gesprochen wurde und mit der Bitte
um Gnade und Erbarmen schloß. Das war die Vorbereitung zu
dem Haupt-' und Schlußakte, worin die w^eltlichen und geistlichen
Beamten und Ältesten der Gemeinde, fünfundachtzig an der Zahl,
sich schriftlich auf das durch Ezra veröffentlichte Gesetzbuch ver-
pflichteten, alle übrigen aber sich mit Eid und Fluch verbindlich
machten zu wandeln in der Thora Gottes, gegeben durch seinen
Diener Moses, und zu halten alle Gebote Jahves und seine Satzungen
und Rechte.
Es war eine Erneuerung des Bundes, durch den einst der
König Josias das Volk verpflichtet hatte, aber auf w^eiterer Grund-
lage. Im Exil war die heilige Praxis von ehemals, als sie nach
der Zerstörung des Tempels nicht mehr ausgeübt werden konnte,
zum Gegenstande der Theorie und des Studiums gemacht worden,
damit sie nicht unterginge. Ein verbannter Priester, Ezechiel, hatte
den Anfang gemacht, ein Bild von ihr, wie sie gewesen war und
wie sie sein sollte, aufzuzeichnen, als Programm für die zukünftige
Herstellung der Theokratie. Andre Leviten schlössen sich ihm an,
und so entstand im Exil aus dem Priesterstande eine Schule von
Leuten, die das, was sie früher praktisch getrieben hatten, jetzt
auf Schrift und in ein System brachten. Das war der Ursprung
einer neuen Art von Thora, die sich mit der Agende der Priester
befaßte. Ihr Endergebnis liegt im Priesterkodex des Pentateuchs
vor. Den Priesterkodex hat Ezra zum Gesetz gemacht, allerdings
nicht für sich, sondern als Bestandteil des Pentateuchs'). Aber
') Der Pentateuch besteht aus dem Jehovisten, dem Deuteronomium uud
dem Priesterkodex. Das deuterouomische Gesetz ist schon im Exil oder bald
nachher mit dem jehovistischen Geschichtsbuche verbunden. Die auf diese
Weise entstandene Verbindung von Erzählung und Gesetz hat dem Priester-
kodex als Muster vorgelegen: er stellt die Thora im Rahmen der Geschichte
dar, als wenn das in der Natur der Sache läge, und stimmt dabei in der
Anordnung des historischen Stoifs mit dem Jehovisten überein. Der Priester-
182 Dreizehntes Kapitel.
er war doch das Neue im Pentateuch und gab dem Ganzen das
letzte Gepräge.
2. Der Priesterkodex bringt das Kecht, die Stellung und die
Gliederung der Priester zu Buch, ferner ihre Thora, enthaltend die
todex ist dann mit dem älteren historisch -legislativen Werke zum Hexateiich
verarbeitet. Gesetz ist aber nicht ■ der Hexateuch geworden, sondern nur der
Pentateuch. Wäre das Buch Josua jemals mit Gesetz geworden, so wäre es
auch Gesetz geblieben (besonders bei den Samaritern) und nicht mit unter
die Propheten gekommen. Aber es paßte nicht zum Gesetze Moses, und so
mußte es abgeschnitten werden. Die jehovistische Erzählung spitzt sich
durchaus zu auf die Eroberung Kanaans. Aber durch die Aufnahme des Ge-
setzes wurde auch der Schwerpunkt ins Gesetz verlegt und die Eroberung
Kanaans nach dem Tode Moses erschien als hors d'oeuvre. Vielleicht hat in-
dessen schon der ursprüngliche Priesterkodex nicht mehr in das Buch Josua
hineingereicht, dann wäre die Abtrennung des letzteren möglicherweise schon
bei der Verbindung des Deuteronomiums mit dem Jehovisten erfolgt. Vgl.
Prolegomena p. 363 s.
Da schon die Samariter nicht den Priesterkodex, sondern den Pentateuch
von den Juden überkamen, so ist die nächstliegende Annahme, von der man
nicht ohne zwingende Nötigung abgehn darf, daß auch Ezra nicht den Priester-
kodex für sich, sondern den Pentateuch zum Gesetz erhoben hat. Dafür
sprechen noch andere Gründe. Die Bestimmungen der geschriebenen Thora
Moses, auf die sich die Gemeinde in Neh. 10 verpflichtet, sind keineswegs
ausschließlich im Priesterkodex enthalten; namentlich finden sich die Proteste
gegen die Ehen mit den Völkern Kanaans nur im (erweiterten) Deuteronomium.
Das Deuteronomium war das alte heilige Buch und genoß das größte Ansehen;
es ließ sich nicht durch den neuen Kodex verdrängen, sondern mußte damit
vereinigt werden.
Intrikat ist die Frage nach dem literarischen Anteil Ezras an dem „Gesetz
seines Gottes". Er soll es aus seinem Geburtslande mit nach Palästina ge-
bracht haben. Aber der Jehovist und das Deuteronomium sind nicht durch
ihn importirt. Und auch der Priesterkodex kann nicht fertig aus Babylonien
gekommen sein. Seine Ursprünge liegen allerdings dort. Indessen die von
Ezechiel ausgehenden Anregungen hatten lange vor Ezra in Jerusalem gewirkt,
lange vorher hatte sich der dortige Kultus in der Richtung des Priesterkodex
entwickelt, wie man aus Haggai und namentlich aus Malachi erkennt. Der
eigentliche Tempeldienst bedurfte keiner Reinigung durch Ezra mehr, er war
schon vorher dem Priesterkodex wesentlich konform. Hätte Ezra denselben
von Hause mitgebracht, so hätte er sich die Aufgabe gestellt, ihn sofort ein-
zuführen; es lagen ihm jedoch andere Dinge am Herzen. Der Priesterkodex
kann auch nicht von einem Babylonier verfaßt sein, der in Juda nicht
Bescheid wußte. Ezra könnte ihn also nur in den dreizehn Jahren, die
zwischen seiner und Nehemias Ankunft lagen, geschrieben haben. Dann
müßte er aber hinterher auch noch den Pentateuch bearbeitet haben. Wahr-
Das Gesetz. 183
Regelung der religiösen Formen des Privatlebens und der An-
forderungen des Kultus an die Laien, und endlich vor allem ihre
Praxis, nämlich das Ritual des Tempeldienstes. Das Deuteronomium
hatte, abgesehen von Aufzeichnungen aus der priesterlichen Thora,
nur erst wenige und negative Vorschriften über den Kultus gegeben;
es hatte die Höhen, die heiligen Steine, Bäume und Pfähle verboten
und den Opferdienst auf den Tempel von Jerusalem beschränkt.
Der Priesterkodex stellt den ganzen Ivultus positiv dar; er nimmt
alle Riten und Bräuche, öffentliche und private, in die Gesetz-
gebung auf und stempelt sie zu Bausteinen eines Systems der
Theokratie. Das Deuteronomium enthält noch eine Menge juristi-
schen Stoffes aus älteren Volksrechten. Der Priesterkodex befaßt
sich ausschließlich mit dem Kultus. Er kennt kein Volk Israel
mehr, sondern nur die Gemeinde der Stiftshütte, d. i. des
Tempels '). Die Gemeinde ist ein vorwiegend geistlicher Begriff,
die Zugehörigkeit zu ihr ist weniger an das Blut als an die Religion
scheinlich ist er nur der Redaktor des Gauzeu. Wenn der Pentateuch, oder
speziell der Priesterkodex, seinem Stoff nach ein Werk der jerusalemischeu
Priester-Schriftgelehrten vor Ezra ist,- so läßt sich -verstehn, daß die Samariter
ihn übernommen haben, die erst seit Ezra und Nehemia in ein feindliches
Verhältnis zu den Juden gerieten und bis dahin vielleicht in Jerusalem an-
beteten. Dagegen läßt sich schwer glauben, daß Ezra als A'erfasser des
Priesterkodex nichts von seiner Polemik gegen die Jlischehen und die Sama-
riter hineingebracht hätte.
Dem hat man neuerdings entgegengehalten, daß Ezra in dem Edikt des
Artaxerxes mit säphar data geradezu als Autor des Gesetzes bezeichnet
werde. Diese dem gesunden Menschenverstände außerordentlich naheliegende
Beobachtung hat den Beifall gefunden, den sie verdient. Sie ist aber nicht
richtig. Denn sopher kommt nicht vom Verbum sphr (zählen), sondern
vom Substantiv sepher (Buch). Es ist ein Berufsname und bedeutet den
Schrift- und dann auch den Schreibkundigen von Fach, den Literaten und
den Sekretär. Es ist intransitiv, nicht transitiv, hat nicht das akkus. Objekt
im Genitiv hinter sich, und heißt niemals „der Verfasser" oder „der da
geschrieben hat". Mit säphar data wird also Ezra nicht als Schreiber des
Gesetzes bezeichnet, sondern als Gesetzesgelehrter. Gewöhnlich wird er ein-
fach hasopher genannt, ohne genitivische Ergänzung. Als Genitiv des tran-
sitiven Objekts könnte aber data nicht weggelassen werden. Ezra kann
wol schlechthin „der Schriftgelehrte" heißen, aber nicht schlechthin „der
Verfasser".
0 Die Juden sind nur noch die Beisassen Jahves, ihm allein gehört das
Land, er duldet sie nur bedingungsweise darin. Lev. 25, 23.
184 Dreizehntes Kapitel.
geknüpft. Sie hat ihren alten aristokratischen Charakter (p, 94)
verloren; auch die Beisassen und Knechte werden durch die Be-
schneidung darin aufgenommen. Die Theokratie ist Hierokratie
geworden und bedeutet die Herrschaft des Heiligen in der Ge-
meinde. Um den Ort, wo der Heilige wohnt, bildet die Gemeinde
ein Lager in konzentrischen Kreisen von abgestufter Heiligkeit;
zuerst kommen die Priester, dann die Leviten, dann die Laien.
Die Aufgabe der Priester ist, durch den großen Kultus des Opfer-
dienstes die Funktion der Theokratie in Gang zu halten; die der
Laien besteht darin, durch den kleinen Kultus der täglichen Reini-
gungen und übrigen Observanzen das Heilige vor Entweihung und
Befleckung zu schützen. Die ganze Gemeinde ist ein heiliges Volk
und ein Reich von Priestern. Heilig ist das Adjektiv von Gott,
die Bedeutung wechselt je nach den Vorstellungen über das Sub-
stantiv. Von den Propheten war der Begriff in das Moralische
erhoben worden. Jetzt wird er wieder materialisirt; das Moralische
wird zwar nicht abgestreift, aber völlig mit dem Liturgischen ver-
mischt. Heilig ist geistlich, priesterlich ; das Göttliche haftet an
den rituellen Observanzen. Das Ideal der Heiligkeit der Gemeinde
ist das Ideal ihrer Vergeistlichung. Merkwürdig zeigt sich diese
Vergeistlichung auch im Sprachgebrauche. Der Schofar war früher
die Kriegsdrommete oder das Hörn der Wächter, um Lärm zu
machen, das Analogen unserer Sturmglocke; ertönte der Schofar
in einer Stadt, so erschraken die Leute — jetzt ist er ein fried-
liches lustriiment in den. Händen der Priester, niemand erschrickt
ihn zu hören. Die Teru'a war in älterer Zeit das Kampfgeschrei,
jetzt ist es die Tempelmusik. Das Wort für Heer und Kriegsdienst
selber ist vergeistlicht , Saba ist auf die Liturgie des niederen
Klerus übertragen.
Der Priesterkodex fordert nun aber nicht, wie die Theokratie
sein soll, sondern er beschreibt, wie sie ist. Es ist nicht bloß
Manier, wenn er seine Gesetze in historischer Form gibt und so
tut als seien sie von allem Anfange an erfüllt gewesen. Er setzt
in der Tat das geistliche Gemeinwesen^) als bereits fungirend und
im ganzen und großen richtig fungirend voraus; er gibt ihm nur
J) uad damit die Fremdherrschaft. Die jüdische Kirche ist entstanden,
als der jüdische Staat unterging, dadurch trat die Scheidung von Geistlichem
und Weltlichem ein. Alles Politische im Gesetz ist phantastisch; nur die
Das Gesetz. X85
die abschließende gesetzliche Unterlage. Er ist nicht das Pro-
gramm einer Reformation; er steht nicht in, sondern über dem
Kampfe. Selbst in Dingen, die etwa noch streitig sind, in Fragen,
die die Gegenwart noch erregen, hütet er sich meist, deutlich ein-
zugreifen und irgendwie aktuell und parteiisch zu erscheinen; er
bewahrt überall seine olympische Gravität, hüllt die Gegenwart in
die Vergangenheit und verschleiert die praktische Tendenz durch
rein theoretisches Beiwerk. So enthält er zwar ein ganzes Bündel
von Verboten der Ehe zwischen zu nahen Verwandten, aber ein
Verbot der Ehe zwischen Juden und Heiden gibt er überhaupt
nicht ausdrücklich, sondern läßt es höchstens zwischen den Zeilen
lesen, in den Erzählungen über die Sorge der Erzväter für die
Beinhaltung ihres Blutes. Er berührt hier einen Punkt, über den
damals in der palästinischen Gemeinde ein lebhafter Streit ent-
brannt war, streicht ihn aber gar nicht besonders heraus, sondern
redet darüber historisch in Ermahnungen der Patriarchen '). Er
hat immer Jerusalem und den Tempel vor Augen und nennt
beides doch niemals, sondern statt dessen das Lager der Wüste
und die mosaische Stiftshütte. Aus dieser merkwürdigen Objektivi-
tät und scheinbaren Zeitlosigkeit des Priesterkodex, weil er sich
möglichst in der Vogelperspektive und fern von dem Schmutz der
Wirklichkeit hält, begreift es sich, daß er, eingehüllt in die älteren
Teile des Pentateuchs, nicht bloß bei den Juden leichten Eingang
gefunden hat, sondern schließlich sogar auch das Gesetzbuch der
Samariter geworden ist.
.3. Der Priesterkodex zieht die Summe aus der Entwicklung,
welche die Volksreligion unter dem Einfluß der Verhältnisse und
der Propheten seit der Zerstörung Samariens und seit Jesaias durch-
gemacht hatte. Er ist das Resultat der prophetischen Reguliruug
Rechtspflege ist allerdings in gewissem Umfange noch im Besitz der Gemeinde.
Diese wird übrigens wenig berücksichtigt, da das Deuteronomium auf diesem
Gebiete meist als genügend erachtet wird.
1) Die Erzählung von Phinehas (einer Figur, die dem Ezra oder Nehemia
ähnelt) und von seinem Eifer gegen das Huren mit den midianitischen Frauen
ist schwerlich gegen die Mischehen gerichtet; es handelt sich in Nuni. 25 nicht
um Ehen mit den Töchtern des Landes und überhaupt nicht um Ehen, sondern
um Unzucht beim Heiligtum. Vgl. dagegen Num. 31, 18. — Daß der Priester-
kodex von der Tempelmusik, von Sängern und Türhütern nichts sagt, wird
allerdings wol daran liegen, daß er davon noch nichts weiß.
186 Dreizehntes Kapitel.
des Kultus, die unter Hizkia und Josias begann, durch das Exil
mächtig gefördert wurde, und nach dem Exil zum Siege gelangte.
Er geht über Ezechiel auf das Deuteronomium zurück, er tut den
letzten Schritt, jenes den ersten. Das Hauptgebot des Deutero-
nomiums ist das der Zentralisirung des Opferdienstes im Tempel
zu Jerusalem. Die Forderung war neu und schnitt scharf ein.
Sie war durchaus polemisch, und das Motiv der Polemik tritt klar
hervor. Den vielen Anbetungsstätten wird die richtige entgegen-
gesetzt, den lokalen und trotz dem gleichen Namen doch verschie-
den verehrten Gottheiten die einzig wahre, dem volkstümlichen
halbheidnischen Kultus auf den Höhen der auf grund des prophe-
tischen Monotheismus gereinigte bildlose und moralische zu Jeru-
salem. Im Priesterkodex merkt man kaum mehr etwas von dem
Kampf gegen den Bilderdienst und die Unzucht auf den Höhen,
davon, daß der gesetzliche Kultus in feindlichem Gegensatz zu dem
alten populären seinen Ursprung hat. Die Polemik ist überflüssig
geworden. Der Kampf hat längst zum Siege geführt, sein Ergebnis
ist vollendete Tatsache und darum keiner Motivirung bedürftig.
Das Korrekte scheint aus der Natur des Kultus zu fließen, nichts
erinnert mehr daran, daß es auf Korrektur beruht, nach Ideen die
von anderswo stammen und eigentlich jedem Kultus feind sind.
An Stelle der Verbote tritt eine umfassende positive Darstellung.
Alles wird geregelt und genau geordnet, so daß kein Abweichen
nach rechts oder links, kein Zuviel und kein Zuwenig mehr mög-
lich ist. Der gesetzliche Gottesdienst hat den populären einfach
verschlungen, mit Haut und Haar, so daß auch nicht wenige
abergläubische und ausgesprochen heidnische Bräuche mit hinein-
gekommen sind, ohne im System irgend welchen Schaden anrichten
zu können ^). Gefordert wird die Zentralisation, scharf und deut-
1) So die Phylakterien, die Glöckchem am Mantel des Hohenpriesters (um
die Dämonen zn verscheuchen), das Fluchwasser (Num. b), der Reinigungsvogel
(Lev. 14), der Sündenbock für Azazel, die rote Kuh (wie starken Anstoß sie
erregt hat, sieht man aus der zweiten Sure des Korans), und anderer Sühn-
nnd Reinigungszauber echt heidnischer Art. Manches davon steht allerdings
erst in den späteren Teilen des Priesterkodex; denn er ist, wenn auch in
Tendenz und Materie durchaus einheitlich und darum historisch als Einheit
zu verwerten, doch literarisch keine Einheit, sondern im Laufe der Zeit (auch
noch nach Ezra) beträchtlich erweitert. Im vollen Umfange die sämtlichen
Riten und Bräuche auf Schrift zu bringen, war überhaupt nicht möglich;
Das Gesetz. 187
lieh, mit der polemischen Spitze, aus der sie allein verständlich
ist, nm* im Deuteronomium. Im Priesterkodex wird sie nicht ge-
fordert, aber sie wird vorausgesetzt, seit Moses und sogar seit den
Erzvätern, und ihre Folgen zeigen sich viel weiter und viel tiefer
greifend. Sie hat sich nach jeder Richtung ausgewirkt und ist
Ursach geworden, daß schließlich der ganze Kultus ins Gesetz ein-
gezwängt worden ist.
Das Deuteronomium will darum, weil es den Kultus auf den
Höhen verbietet, doch nicht auch die Priester der Höhen ihres
Dienstes entsetzen, sondern verstattet ihnen, denselben künftig im
Tempel von Jerusalem auszuüben. Aber sie wurden von den dor-
tigen Priestern nicht als gleichberechtigt zugelassen und gerieten
in eine untergeordnete Stellung. Ezechiel sucht diese im Wider-
spruch zum Gesetz erfolgte Degradirung der Landpriester zu recht-
fertigen; er erkennt zwar ihr bisheriges Priesterrecht voll an, legt
aber dar, daß sie sich dessen unwürdig gemacht haben. Im
Priesterkodex gilt der auf diese Weise entstandene Unterschied
zwischen Priestern und Leviten für so alt wie die Theokratie
selber; so völlig legitim ist hier schon eine illegitime Konsequenz
des deuteronomischen Gesetzes geworden. L^nd wie in diesem be-
kannten und augenfälligen Beispiele, so zeigt sich überall im
Priesterkodex, wie die Zentralisation, weit über die ursprüngliche
Absicht hinaus, unwillkürlich mit einer in ihr selbst liegenden
Kraft gewirkt hat. Sie hat nicht bloß die lokalen Priesterschaften
beseitigt, sondern auch die lokalen Gemeinden. Es gibt nur die
Una Sancta im Priesterkodex, die eine große Gemeinde der Stifts-
hütte; sie hat alle kleinen Sakralgenossenschaften aufgezehrt. Zu-
gleich hat die Zentralisation den Kultus selber äußerlich und inner-
lich umgestaltet. Durch die Verpflanzung aus dem Lokal hat er
seine Beziehung zu den bunten Kreisen und den bunten Anlässen
des Lebens verloren und einen monotonen statutarischen Charakter
angenommen. Er ist ein Ding für sich geworden, in einer eigenen
abgeschlossenen Sphäre; zum Ersatz für den verlorenen Sinn dient
die immer weiter gehende Regelung der legitimen Form. Es ist
eine Scheidung zwischen Natur und Gottesdienst, zwischen Welt-
gerade einige sehr alte finden sich nicht verzeichnet, z. B. das Barfußgehn
der Priester, die Heiligung der Laien vor dem Opfer, das Nichtessen der
Ilüftsehne.
188 Dreizehntes Kapitel.
lichem und Geistlichem eingetreten, die das Altertum nicht kannte,
wo vielmehr der Kultus aus dem Leben emporblühte und es ver-
goldete. Freilich aber soll das Geistliche vorherrschen und wo-
möglich das ganze Leben in die Uniform des Kultus eingezwängt
werden.
Die Feste waren in alter Zeit und noch im Deuteronomium
Erntefeste. Ln Priesterkodex ist ihr natürlicher Anlaß verschwun-
den, nur noch aus einigen versteinerten Rudimeuten läßt er sich
erkennen. Jahve hat befohlen, sie so und so an dem und dem
Tage zu feiern — das genügt. Die alten Festopfer waren die
Erstlinge der Jahreszeit, die von den einzelnen Familien darge-
bracht und größtenteils in Freudenmahlen vor Jahve verzehrt
wurden. Ln Priesterkodex hat sich davon nur beim Paschalamm eine
Spur erhalten, im allgemeinen sind sie zu bloßen Abgaben ge-
worden, als Festopfer sind an ihrer Stelle eintönige Opfer der
Gesamtgemeinde eingeführt. Zugleich haben die Feste sehr an
Bedeutung verloren. Ehedem und noch im Deuteronomium waren
sie der Libegriff des großen, d. h. unter allgemeiner Beteiligung
gefeierten Kultus. Ln Priesterkodex ragen sie nur noch als Reste
des Alten in den neuen Gottesdienst der Gemeinde hinein, in den
sie nicht mehr passen, weil derselbe aus etwas Außerordentlichem
etwas Regelmäßiges geworden ist und nicht bloß mehr drei mal
im Jahre, sondern alle Tage fortgehend gefeiert wird. Der wahre
heilige Tag ist der allwöchentliche, der Sabbat, und das wahre
Opfer ist das tägliche, das Thamid. Nicht mehr in den Festen,
sondern im Thamid besteht der öffentliche Kultus; dadurch wird die
Verbindung der Gemeinde mit dem Himmel beständig unterhalten.
Früher war das Aufhören der Feste, jetzt ist das Aufhören des
täglichen Opfers gleichbedeutend mit dem Untergange der Theo-
kratie. Eine polemische Absicht ist bei dieser Denaturirung und
Herabdrückung der Feste im Priesterkodex nicht mehr zu bemerken;
sie hat aber doch vielleicht unbewußt mitgewirkt, denn der Ur-
sprung gerade der Feste aus dem kanaanitischen Naturdienst liegt
auf der Hand.
Das alte Hauptopfer war das Mahlopfer, welches in kleinen
Kreisen an heiliger Stelle verzehrt wurde und eine Tischgemein-
schaft zwischen den Gästen und Jahve stiftete. Die Feste waren
zusammengelegte Mahlopfer; da mußte, bei einem alle gleichmäßig
angehenden Anlaß, jedermann im Heiligtum erscheinen, um sich
Das Gesetz. 189
zu freuen, zu essen und zu trinken vor Jahve. Neben diesem
regelmäßigen und allgemeinen Anlaß zu opfern brachte das Leben
eine Fülle außerordentlicher und besonderer. Wenn man schlach-
tete, so opferte man auch; jede Schlachtung war ein heiliger Akt.
Aber seit der Zentralisation des Kultus in Jerusalem mußte die
profane Schlachtung gestattet werden. Im Priesterkodex besteht
dieselbe schon seit Noah und den Patriarchen, sie hat hier das
Mahlopfer stark zurückgedrängt. Eine solche Mischung von Gottes-
dienst und Leben, von Heiligem und Profanem, ein so fröhliches
und unbefangenes Hineinziehen der Gottheit in alles Menschliche
paßt nicht in diesen tristen Ernst. Will man sich freuen und
Fleisch essen, so kann man schlachten; vor Gott soll der Gottes-
dienst rein und ausschließlich das Geschäft sein. Was das Mahl-
opfer verloren hat, ist einerseits dem Brandopfer zugewachsen; es
wird ganz und ausschließlich der Gottheit geweiht, und zwar nicht
von einer kleinen Gesellschaft, die sich dabei an heiliger Stätte
beteiligt, sondern von der abstrakten Gemeinde, die gar nicht dabei
anwesend ist. Als Privatopfer andrerseits ist das Sündopfer ein-
getreten; es ist privat im strengsten Sinn mit Ausschluß jeder
Idee von Gemeinschaft, und es ist kaum noch ein Opfer überhaupt,
sondern eine Buße, die in fest vorgeschriebener Weise zu leisten
ist. Diese letztere Opferart, die vor dem Exil unbekannt war, wird
jetzt besonders zeitgemäß. In dem Maße wie die speziellen Anlässe
und Zwecke der Opfer wegfallen, tritt ein gleicher allgemeiner
Anlaß hervor, die Sünde, und ein gleicher allgemeiner Zweck, die
Sühne. Im Priesterkodex ist bei allen Tieropfern das eigentliche
Mysterium die Sühne durch das Blut; am reinsten ausgebildet er-
scheint dieselbe bei den Sündopfern. Deshalb werden diese bevor-
zugt, zumal bei ihnen auch am meisten für die Priester abfällt.
Den Gipfel der Sühnzeremonien bildet der große Yersöhnungstag,
er ist der Schlußstein des ganzen Systems und bezeichnet dessen
Geist am besten: Heiligkeit und Sühne gehören zusammen.
Die Siindopfer und der große Versöhnungstag verbinden den
Tempelkultus mit dem kleineu Kultus der Leistungen und Obser-
vanzen, die den Laien vorgeschrieben sind; denn die eben dabei
begangenen Versäumnisse und Versehen sind der Gegenstand der
Sühne. Wir haben gesehen, daß diese Heiligung des Konven-
tionellen vermutlich durch das Exil begünstigt ist, in einer Zeit,
wo der ganze Kultus pausirte. Damals erhielten die ererbten
190 Dreizehntes Kapitel.
Bräuche eine besondere religiöse Würde, und es zeigte sich, daß
sie ein ausgezeichnetes Mittel waren, um das Judentum zu erhalten.
Durch die Wiederherstellung des Tempels büßten sie von der
einmal gewonnenen Bedeutung nichts ein. Im Priesterkodex werden
einzelne hervorgehoben als Zeichen des Bundes der Juden mit
Jahve und ihrer Gemeinschaft unter einander. Andere sollen dem
Herzen eine beständige Mahnung sein, nicht abzuschweifen in
sündige Neigungen. Im allgemeinen dienen sie als Zaun und
Schutz, damit das Heilige nicht verunreinigt werde. Es zeigt sich
eine gewisse Neigung, Vorschriften, die ursprünglich nur für die
Priester galten, auf die Laien auszudehnen. Als Anwohner und
Beisassen des Tempels sollten auch die Laien ihr Leben geistlich
und priesterlich führen, in einer bestimmt vorgeschriebenen reli-
giösen Form. Sie sollten das heilige Geschäft nicht den Priestern
allein überlassen, sondern sich selber daran beteiligen. Der Ein-
zelne mußte sich durch fortgesetzte Anstrengung zum Juden machen.
Der große öffentliche Kultus gab der neuen Theokratie einen festen
einheitlichen Mittelpunkt. Aber das Judentum konnte auch ohne
ihn bestehn, wie das Exil gezeigt hatte; es ruhte viel sicherer auf
dem character indelebilis der Beschueidung und auf der Arbeit des
Individuums, sein Leben nach Vorschrift zu regeln. Es ist be-
zeichnend, daß im Gesetz der Sabbat fast nur Ruhegebot für jeden
Einzelnen und als solches Abzeichen des Juden ist, dagegen seine
Bedeutung für den Kultus zurücktritt.
4. Der Kultus war das heidnische Element in der Religion
Jahves, größtenteils erst bei der Einwanderung in Palästina von den
Kanaaniten entlehnt; und er blieb vor dem Exil immer das Band,
welches Israel mit dem Heidentum verknüpfte, eine stete Gefahr
für die Moral und den Monotheismus. Er wurde daher von den
Propheten bekämpft, aber er ließ sich nicht einfach abschaifen.
Er war zu tief mit dem Volke verwachsen, eine Volksreligion ohne
Kultus ließ sich nicht denken. Es entstand vielmehr die Aufgabe,
ihn zu korrigiren. Die Reformation begann mit dem Deutero-
nomium; im Priesterkodex ist sie so vollständig durchgedrungen,
daß über der Wirkung die Ursache vergessen scheint. Der
ganze Kultus ist hier gesetzlich geregelt. Es wird ihm dadurch
eine große Wichtigkeit gegeben, und das ist unleugbar ein Zu-
geständnis an die herrschende Richtung der Menge, ein Kompromiß
von den Kompromissen, wie sie so häufig in der Religionsgeschichte
Das Gesetz. 191
vorkommeu. Er wird jedoch zugleich dadurch auch ungefährlich
gemacht; die alten Bräuche werden entgiftet und entseelt; was
übrig bleibt, sind leere Formen, tote Werke, die nicht an sich?
sondern nur dadurch Sinn und Wert haben, daß sie von Gott be-
fohlen sind, und genau nach Vorschrift verrichtet werden. Die
Notwendigkeit aber, die alten Formen neu zu verwenden, lag in
dem Bedürfnis, die durch schwerste Schicksalsschläge zerschmetterte
und zersprengte Nation wieder in Rand und Band zu bringen und
weiteren Zerfall zu verhüten. Die Organisation, die Fassung und
Abschließung des Judentums war die nächste und dringendste Auf-
gabe der Zeit. Ihr diente der Tempel und das Priestertum, ihr
diente die Disziplin, durch welche die Laien zusammengehalten
und abgesondert wurden, ihr diente überhaupt die Heiligung des
Äußerlichen. Die prophetischen Ideen ergaben nicht die Mittel
zur Gründung einer Gemeinde; im Gegenteil bedurften sie selber
einer Verschalung, um nicht der Welt verloren zu gehen. Der
gesetzliche Kultus lieferte diese Verschalung; aus ursprünglich
heidnischem Material wurde ein Panzer des Monotheismus ge-
schmiedet. Der Widerspruch, daß der Gott der Propheten sich
jetzt in einer kleinlichen Heils- und Zuchtanstalt verpuppte und
statt einer für alle ^Velt gültigen Norm der Gerechtigkeit ein streng
jüdisches Ritualgesetz aufstellte, der Bund, wodurch der all-
mächtige Schöpfer Himmels und der Erden ein Sonderverhältnis
mit den Juden einging, war für diese Zeit praktisch gerechtfertigt.
Verleugnen tut sich auch im Priesterkodex der moralische Mono-
theismus keineswegs. Er ist zwar gewöhnlich unter der aus altem
vertragenen Stoff neu gewebten Decke Mosis verhüllt, aber bis-
weilen leuchtet er klar und deutlich hindurch. So in der
Patriarchengeschichte, in der Offenbarung an Abraham: ich bin der
Allmächtige, wandle vor mir schlicht und recht! Namentlich
aber in der Schöpfungsgeschichte, wo die Welt durch Gott aus
dem Nichts hervorgerufen und die Natur zur Sache erniedrigt
wird, der Mensch aber ihr gegenüber und auf Seite Gottes zu stehn
kommt, wenngleich auch er Kreatur ist. Die hier zum Ausdruck ge-
langende Weltanschauung hat der Praxis für lange Zeit eine gesunde
Grundlage gegeben; wie befangen zeigt sich dagegen die Geschichte
vom Garten Eden! Die Poesie hat gelitten, die Moral aber sich
befreit und gehoben. Der Fortschritt ist auch in den Ehe- und
Keuschheitsgesetzen deutlich verspürbar.
]^92 Vierzehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Die zweite Hälfte der persischen Periode,
1. Über die äui3ere Geschichte dieser Zeit erfahren wir beinah
nichts. Die biblische Geschichte hört eigentlich schon mit der
Zerstörung Jerusalems durch die Chaldäer auf, jedenfalls aber mit
Ezra und Nehemia. Eine schwache Kunde hat sich erhalten von
einer Beteiligung der Juden an dem syrischen Aufstande gegen
Artaxerxes Ochus, der durch den Vezir Bagoas niedergeworfen
wurde; zur Strafe soll eine Anzahl von ihnen an das südliche
Ufer des Kaspischen Meeres nach Hyrkanien verpflanzt worden
sein '). Damals müßte die von Josephus berichtete Mordgeschichte
im Tempel sich zugetragen haben: Bagoses (Bagoas?) hatte die
Absicht, an Stelle des regierenden Hohenpriesters Johannes dessen
Bruder Jesus zu setzen; der darüber entstandene Wortwechsel der
Brüder im Tempel endete damit, daß Johanan den Josua tötete;
infolge dessen drang Bagoses in den Tempel ein und verfolgte die
Juden sieben Jahre lang; er legte ihnen auf, für jedes beim täg-
lichen Opfer geschlachtete Lamm fünfzig Drachmen an den Fiskus
zu entrichten ''*).
Über das auch für Palästina so bedeutungsvolle Vordringen
der Araber in die Länder aramäischer Kultur läßt sich einiges
aus den darauf bezüglichen Weissagungen der späteren Propheten
entnehmen. Der Prophet Ezechiel überläßt ihnen in seinem Bilde
') Eusebius Ctiron. ed. Schöne 2, 112. 113.
-) Dies ist eine von den losen Anekdoten zweifelhafter Herkunft, mit
denen Josephus die Lücke zwischen Nehemia und den Makkabäern zu füllen
sucht. Nach Hugo Willrich (Juden und Griechen 1895 p. 21. 89s.) spiegelt
sie den Streit der vormabkabäischen Hohenpriester wieder. Den regierenden
Hohenpriester will sein Bruder mit Hilfe des heidnischen Gewalthabers ver-
drängen, es entsteht blutiger Streit zwischen ihnen, der Heide mischt sich
ein, dringt in den Tempel und verfolgt die Juden sieben Jahre: das ist die
Geschichte der Juden unter Antiochus IV. Bei dem streitenden Brüderpaar
decken sich auch die Namen mit den im 2. Makkabäerbuch genannten; Johannes
ist Ouias (vgl. den hebr. Sirach 50, 1 und den arab. Josippus § 56) und Jesus ist
Jason. Die sieben Jahre der Verfolgung entsprechen der letzten Heptade im
Daniel. Vor A. IV., namentlich unter persischer Herrschaft, ist eine solche
jüdische Religionsverfolgung in der Tat höchst unwahrscheinlich.
Die zweite Hälfte der persischen Periode. 19d
von der Zukunft Palästinas das ganze Ostjordanland. Aus Malachi
und Obadia scheint zu erhellen, daß sie in der ersten Hälfte des
fünften Jahrhunderts die Edomiten aus ihrer alten Heimat ver-
drängt haben, so daß diese nun auf das südliche Juda beschränkt
wurden, welches sie teilweise schon früher okkupirt hatten. Ziem-
lich gleichzeitig müssen die Araber auch in Moab und Ammon
und in den Süden des Philisterlandes eingedrungen sein; Goscham,
der dritte im Bunde mit Sanballat und Tobia, wird nicht eben
weit von Jerusalem gewohnt haben ^). Die Juden gönnten den
Nachbarn ihr Schicksal von Herzen, vor allen den Edomiten oder
Idumäeru, wie sie griechisch heißen. Auf diese hatten sie seit
dem Exil eine unaussprechliche Wut, weil sie bei der Zerstörung
ihrer Stadt geholfen und einen großen Teil ihres Landes an sich
gerissen hatten; auf der andern Seite bewunderten sie freilich
auch ihre Weisheit. Auch auf die Philister waren sie nicht gut
zu sprechen; sie nannten sie die Bastarde, die Mischlinge. Diese
westlichen Nachbarn vermittelten ihnen den Verkehr mit der See
und mit der Kultur; sie waren ein wichtiges Handelsvolk, nach
ihnen wurde Palästina benannt. Unter ihren Städten trat damals
neben Gaza besonders Asdod bedeutend hervor; mit den Asdodiern
hatten die Juden die nächsten Beziehungen.
Das Verhältnis der Juden zu den Samariern gestaltete sich
dadurch um, daß sie jetzt von diesen Bastarden reinlich geschieden
') Die Weissagimg Se]ihanias über das Vordringen „der Hirten" gegen
die Pliilister (2, 7) sclieint sich auf die Araber zu beziehen: in der palästiniscli-
ägyptischen Wüste, die sich bis über Gaza hinaus erstreckt, erscheinen sie in
der Tat am frühsten. Ihr Vordringen gegen Moab und Aminon kündet
Ezechiel (25,4. 10) an. Die Edomiten sind vor der Jlitte des 5. Jahrhunderts
durch die nabatäischen Araber in den Negeb Juda gedrängt, der seitdem
Idumäa heißt; Strabo (p. 760) sagt mit einem leicht erklärlichen Irrtum, sie
seien Nabatäer, aber durch einen Aufstand aus dem Nabatäerland vertrieben.
Vgl Isa. 21 und meine Bemerkungen zu Malachi und Obadia; in Ps. 83, 8
trägt das alte Land Edom den arabischen Namen Gebäl. Es braucht jedoch
nicht angenommen zu werden, daß die Edomiten allesamt aus ihrem alten
Lande auswanderten; ein großer Teil mag unter arabischer Herrschaft ver-
blieben und der eigentliche Träger der nabatäischen Kultur gewesen sein;
daher die Weisheit von Theman und die hebräischen Eigennamen bei den
Nabatäern. Im Libanon werden die Araber zuerst erwähnt bei der Belage-
rung von Tyrus durch Alexander (Arrian 2 20, 4); sie heißen dort Ituräer
(Gen. 25, 15. 1 Chron. 5, 19).
We 1 1 li a u s e n , Isr. Geschichte. 5. Aiifl. 13
194 Vierzehntes Kapitel.
wurden, und zwar infolge der Gründung der Gemeinde von Sichern ^).
Jener vornehme Priester, den Nehemia wegen seiner anstößigen
Heirat aus Jerusalem vertrieben hatte, soll zu seinem Schwieger-
vater Sanballat geflohen sein und, nachdem ihm von diesem ein
Tempel auf dem Berge Garizzim bei Sichem erbaut war, dort die
samaritische Gemeinde und den samaritischen Kultus organisirt
haben, nach dem Vorbilde der jerusalemischen Hierokratie und
auf grund des nur wenig geänderten jerusalemischen Pentateuchs").
Hatten die Samarier sich eine Zeitlang an die Gemeinschaft der
Juden herangedrängt, so wollten sie später ebensowenig mit
jenen zu tun haben als jene mit ihnen. Der Tempel auf dem
Garizzim war das Symbol ihrer Selbständigkeit als eigener reli-
giöser Sekte, wenngleich sie in Wahrheit nur die Nachtreter der
Juden waren.
2. Für die innere Geschichte sind wir zwar auch nur auf Rück-
schlüsse angewiesen. Wir können daraus aber mit Sicherheit er-
kennen, daß es sehr falsch ist, sich diese Periode als eine Art
Winterschlaf der Gemeinde vorzustellen. Sie ist im Gegenteil wenn
nicht für die Entstehung, so doch für die Entwicklung der Institute
sehr bedeutend gewesen.
Der Hierokratie wurde erst jetzt die Krone aufgesetzt, da-
durch daß der Hohepriester Ethnarch wurde. Es lag in der Natur
') Der alte Kultusort war Bethel gewesen, bis auf Josias. Die Stadt
Samarien blieb heidnisch, und gehörte nicht zu der Gemeinde der Samariter;
der Unterschied wird durch die Homonymie von Stadt und Land leicht ver-
wischt, man muH ihn aber wol beachten. Im griechischen Sirach 50, 26 werden
die Samarier als Ethnos mit den Philistern zusammengestellt und von der
Gemeinde der Sichemiten, die ich im Gegensatz zu den Samariern als Sama-
riter bezeichne, unterschieden; im hebräischen und syrischen steht freilich
dafür Seir. Antiochus IV. soll einen Vogt zur Unterdrückung des mosaischen
Kultus in Sichem angestellt haben (2 Macc. 5, 23). Hyrkan I. verleibte zu-
nächst die Gemeinde von Sichem ein, erst viel später die Stadt Samarien.
Josephus nennt Ant. 11,344. 12,262 die Samariter die Sidonier in Sichem,
und Sanballat ihren Satrapen; in der Stadt Samarien residirten die persischen
und später die griechischen Beamten. Seit Herodes werden die Sebastener
von den Samaritern auch durch den Namen unterschieden.
-) Joseph. Ant. 11,302— 312 vgl. Neh. 13, 28. Es steht fest, daß die
Samariter das jüdische Gesetz und den jüdischen Kultus übernommen haben,
und zwar schon vor Alexander. Daß dies durch Vermittlung eines jerusale-
mischeu Priesters geschehen ist, daß die Samariter auch die Eierokratie von
Jerusalem bezogen haben, ist nichts weniger als unglaublich.
Die zweite Hälfte der persischeu Periode. 195
der Dinge, daß in dem geistlichen Gemeinwesen das Haupt der
Geistlichkeit das Haupt der Nation wurde, ihr Vertreter gegenüber
der heidnischen Oberherrschaft und der Verwalter auch der welt-
lichen Angelegenheiten, die ihr noch überlassen blieben. Im Priester-
kodex ist das auch bereits vorgesehen. Hier nimmt der Hohepriester
die Stelle des Königs ein, soweit für einen solchen unter den da-
maligen Umständen noch Platz wMr, er empfängt bei der Investitur
die Salbung, er trägt den Purpur und das Diadem. Ansprüche
auf eine solche Stellung mochte er in der Tat früh genug erheben,
schon Zerubabel scheint Grund zur Eifersucht auf ihn gehabt zu
haben (Zach. 6, 13). Aber die Meinung ist irrig, daß er schon
etwa am Ausgang des sechsten Jahrhunderts der Nachfolger des
Davididen geworden sei. Ethnarch blieb vielmehr der Landpfleger,
zu dem die Perser auch nach Zerubabels Abgange einen vornehmen
Juden ernannten '). Der Posten war freilich unbedeutend, er wurde
schließlich eingezogen und Jerusalem dem Verwaltungsbezirk Sa-
marien unterstellt. Den Vorteil davon hatte aber zunächst die
jerusalemische Aristokratie. In der zweiten Hälfte des fünften
Jahrhunderts waren die Ältesten, die Vornehmen und Notablen die
einheimische Obrigkeit^), für die Stadt und für die Landgemeinden;
der Stadtrat und der städtische Gerichtshof war den entsprechenden
Landbehörden übergeordnet. Die Priester hatten an der Rechts-
sprechung teil, vielleicht ursprünglich als Konsuiten, wegen ihrer
Kenntnis der Theorie^). Sie gehörten aber noch nicht mit zu der
Gerusie; Eljaschib war der Tempelfürst, aber nicht der Fürst der
Gemeinde. Indessen verlor doch, durch das Eingehen des Land-
pflegeramtes, der Hohepriester den einzigen Nebenbuhler, der ihm
das Gegengewicht halten konnte; er bekam eine Stellung ohne
^) Aus der Art, wie Neheraia sich mit den alten Landpflegeru vor seiner
Zeit vergleicht (5, 15), erhellt, daß sie Juden gewesen sind; wenigstens wäre
der Ruhm nicht fein, daß er sein Volk weniger bedrückt habe als fremde
und heidnische Vögte. Der Tirschata Neh. 7—10 ist jedenfalls ein Jude.
-) Esd. 5: die Altesten. In den Memoiren Nehemias stehn die Notabein
und die Adligen nebeneinander (2, 16. 4, 8. 13. 5, 7. 7, 5) und für einander
(2, 16. 12, 40 vgl. mit 6, 17; 13, 11 vgl. mit 13, 17). , Vgl. Jos. Ant. 11, 111
(4, 223): TzoXiTticf. y_p(up.£voi ciptaroxpaTixT^ (jistä ö^tyctp/iot; — die Oligarchen
sind die Hohenpriester.
2) Vgl. Ezech. 44, 24. Deut. 17 und dazu die Kompos. des Hexat. 1899
p. 358.
18*
196 Vierzehntes Kapitel.
gleichen. Sein Einfluß übertrug sich allmählich auch auf das
politische Gebiet. Er kam nun an die Spitze der Gerusle; mit
ihm zugleich drangen seine vornehmen Amtsgenossen in dieselbe
ein, wenngleich sie noch nicht einen förmlichen Stand darin
bildeten. Man darf jedoch nicht glauben, daß damit die Priester
überhaupt in das Regiment gekommen wären. Die gemeinen
Priester hatten doch nur mit dem Kultus zu tun, in gesellschaft-
licher und politischer Hinsicht waren sie von dem Priesteradel,
aus dem der Hohepriester hervorging, durch eine breite Kluft ge-
trennt. Die adligen Priester fühlten sich ihren weltlichen Staudes-
genossen näher verbunden als ihren geistlichen Brüdern niederer
Herkunft und machten sich aus ihrem Rang und ihrer Macht mehr
als aus ihrem Dienste. Sie hatten große Einkünfte und erwarben
sich Reichtum.
Zu der Befestigung der Hierokratie, die sich in dieser Zeit
vollzog, haben die Maßregeln Nehemias und Ezras sehr wesentlich
beigetragen. Sie sorgten dafür, daß die Abgaben, auf welche die
Macht und die Unabhängigkeit des Klerus sich gründete, regel-
mäßig bezahlt und ordentlich verteilt wurden. Sie scheinen auch
die innere Gliederung des Tempelpersonals erst durchgeführt zu
haben. Bis dahin herrschte ein ziemlicher Wirrwarr. Die Verord-
nung Ezechiels, betreffend die Scheidung von Priestern und Leviten,
hatte sich keineswegs glatt vollzogen; noch Malachi ignorirt den
Unterschied. Nicht wenige Leviten hatten ihr Erbamt behauptet,
auch zweifelhaftere Elemente waren in den Priesterstand einge-
drungen. Durch Nehemia und Ezra ward nun eine Sichtung und
Neuordnung vorgenommen. Im ganzen und großen wurden die
Leviten, denen es gelungen war sich tatsächlich als Priester zu
halten, nicht etwa entsetzt, sondern vielmehr legitimirt. Der Name
Aharon (im Priesterkodex) gewährte das Mittel, sie mit den Söhnen
Sadoks zusammenzufassen; er erweiterte den Kreis der Priester
beträchtlich über die Grenze, die Ezechiel gesetzt hatte. Ein Rang-
unterschied zwischen den Söhnen Sadoks und den gemeinen Söhnen
Aharons blieb natürlich bestehn, aber manche Nachkommen der
früheren Landpriester wurden doch in die Tempelpriesterschaft auf-
genommen.
Andere mußten sich freilich die Degradation gefallen lassen;
sie allein hießen fortan Leviten, während die Priester sich Söhne
Aharons nannten. Ihre Familiennamen bezeugen zum Teil ihre
Die zweite Hälfte der persischen Periode. 197
Abkunft von dem alten Klerus der jüdischen Landschaft'). In-
dessen so wenig die späteren Priester alle aus Söhnen Sadoks be-
standen, so wenig bestanden die späteren Leviten alle aus Erben
der alten Hohenpriester. Es schlüpften manche Nichtleviten in
den niederen Klerus ein, nicht allein in der Zeit vor der Refor-
mation Nehemias und Ezras, sondern auch noch später. Die
Tempelsklaven fremdländischen Ursprungs, die Ezechiel aus dem
Heiligtum verbannen wollte, blieben dennoch darin, Sie wurden
anfangs noch als Nathinäer von den Leviten unterschieden, gingen
aber allmählich unter ihnen auf. Almlich die Säuger. Diese wurden
mit der Zeit sogar den Leviten übergeordnet und erlangten zu
allerletzt, unter Agrippa H., eine wenigstens äußerliche Gleich-
stellung mit den Priestern.
Die Musik gewann eine sehr große Bedeutung für den Kultus.
Sie hatte freilich auch in alten Zeiten nicht gefehlt, war aber nach
der Beschreibung des Amos von ziemlich roher Art gewesen. Hire
Blüte entwickelte sie erst im nachexilischen Tempel, sie wurde
zugleich würdiger und kunstmäßiger. Nicht bloß die Begleitung,
sondern auch der Gesang lag in der Hand geschulter Techniker;
die Gemeinde fiel nur gelegentlich mit Halleluja und Amen oder
mit einem Refrain ein. Aber wenngleich von Chören ausgeführt
war es der Idee nach doch Gemeindegesang; der Kultus fand da-
mit in der Gemeinde ein Echo, wurde über das Opus operatum
des Priesters emporgehoben, popularisirt und geistig beseelt. Der
Inhalt der gesungenen Lieder war keineswegs bloß liturgisch. Nur
die jüngeren Psalmen sind zum Teil ausdrücklich für den Gottes-
dienst gedichtet, die älteren durchaus nicht. Sie nehmen vielmehr
gar keine Rücksicht darauf, sondern sind völlig unbefangene Herzens-
ergießungen, in denen sich die ganze, allerdings enge Welt des
Empfindens der jüdischen Frommen abspiegelt. Und doch sind
sie frühzeitig im Gottendienste verwandt; das zeigen die musika-
lischen Beischriften, die nur bei ihnen, nicht bei den eigentlich
liturgischen Psalmen vorkommen und verhältnismäßig alt sein
müssen, weil sie später nicht mehr verstanden wurden; das zeigt
^) Libni, Hebroui, Kor a In sind von judäischen Städten und Ge-
schlechtern abgeleitet, deren Priester diese Leviten einst gewesen waren.
Gerschom, Muschi führen auf Abstammung oder vielmehr Herleitung von
Moses.
198 Vierzehntes Kapitel.
auch ihre Zurückführung auf die Sängergeschlechter und auf deren
Meister David, welche auch nur in den drei ersten Büchern durch-
geht. Merkwürdigerweise ist im Gesetz von den Sängern neben
den Leviten noch gar keine Rede. Diese Lücke in der Beschrei-
bung des nachexilischen Gottesdienstes macht sich sehr fühlbar.
Sie wird von der Chronik ausgefüllt. Da muß David ausführlichst
nachholen, was Moses versäumt hat. Er richtet die Sängerchöre
ein und die ganze musikalische Liturgie; dadurch erhält dieselbe
die ihrer gegenwärtigen Bedeutung entsprechende historische "Weihe.
Die Chronik bewegt sich natürlich bei dieser Umformung des alten
Recken in einen geistlichen Sängerfürsten ganz in dem Gleise der
Anschauungen ihrer Zeit; sie liefert uns ein vollgiltiges Zeugnis
für die Popularität des Gesanges und der Musik und für den außer-
ordentlich breiten Raum, den sie damals im Kultus eingenommen
haben müssen.
3. Zu dem Kultus als geistigem Mittelpunkt der Gemeinde
kam das Gesetz als ein zweiter hinzu. Durch seinen Lihalt stützte
es allerdings den Kultus und erhöhte die Würde und Macht der
Priester. Aber durch seine Form hatte es eine andere "Wirkung;
es war kein Manuale für den Klerus, sondern ein öffentliches Buch
zum Unterricht und zur Nachachtung für die Gemeinde. Das Ende
war sogar, daß die Hierokratie durch die Nomokratie verdrängt
wurde, freilich erst im Lauf einer langen Zeit.
Neben den Tempel traten die Synagogen. In ihnen lebten
gewissermaßen die alten Bamoth wieder auf, an deren Stätte sie
oft genug gestanden haben mögen. Nur waren sie nicht Gottes-
häuser im antiken Sinne, bestimmt zur "Wohnung der Gottheit und
zu ihrer Bedienung, sondern Gotteshäuser im modernen Sinne, be-
stimmt zur Versammlung und Erbauung der Menschen. Ihre Ur-
sprünge liegen im Dunkel, wie die Ursprünge alles Lebendigen und
spontan Erwachsenen. Sie hängen nicht mit den alten politisch-
sakralen "V^ollbürgerversammlungen zusammen, eher mit den im
Psalter öfters erwähnten Konventikeln der Frommen. Schon im
babylonischen Exil haben fromme Versammlungen ohne Opfer
stattgefunden. Regelmäßiger und von allgemeinerer Bedeutung sind
dieselben aber erst seit der Einführung des Gesetzes geworden.
Die Vorlesung des Gesetzes stand im Mittelpunkte des synagogalen
Gottesdienstes, daran schloß sich die Vorlesung der Propheten.
Ebenso wichtig und vielleicht noch älter war aber auch das ge-
Die zweite Hälfte der persischen Periode. 199
meinsame Gebet. Es war der Rest des Opfers (Isa. 1,15. 56, 7)
und trat an die Stelle des Opfers, wie die Synagogen (die Bet-
häiiser) an Stelle der alten Opferstätten. Es bezeichnet vielleicht
am meisten den Unterschied des jüdischen Gottesdienstes von dem
ethnischen, der sich freilich auch bei den Juden im Tempel noch
fortsetzte, aber eigentlich veraltet war. Die Juden haben dadurch
ein für die Zukunft äußerst folgenreiches Vorbild gegeben, nicht
bloß durch die Einrichtung selber, sondern auch durch den von
ihnen dafür ausgebildeten Stil '). Die feste Liturgie freilich gehört
einer späteren Zeit an, ebenso wie die Ordnung der Amter. Syna-
gogenhäuser werden in einem makkabäischen Psalm erwähnt, als
für den Bestand des Judentums wichtig.
An die Seite der Priester traten die Schriftgelehrten. Zuerst
erscheinen sie einzeln, Ezra wird als der erste genannt, dann noch
ein zweiter, Sadok, aus der selben Zeit. In der Chronik bilden
sie schon einen Stand, sogar mit fester und natürlich genealogisch
begründeter Gliederung (1 Chr. 2, 55). Die Schriftgelehrsamkeit
war von Priestern im Exil, von Ezechiel und seinen Nachfolgern,
begründet worden, das priesterliche Gesetz war ihr Produkt. Auch
Ezra stammte aus priesterlichem Geschlechte; Leviten standen ihm
bei der feierlichen Einführung des Gesetzes zur Seite und legten
die daraus verlesenen Stücke den Hörern aus. Indessen wenn
auch die Schriftgelehrten ursprünglich aus den Kreisen der Priester
hervorgegangen sind, so unterschieden sie sich doch später von
ihnen als Theoretiker von den Praktikern. Sie rekrutirten sich
mehr und mehr aus Laien, und verschiedenartige Elemente der
Bildung vereinigten sich in ihren Kreisen. Sie berührten sich mit
den Weisen, die ebenfalls in dieser Periode blühten. Man darf
sie nicht verwechseln mit den pharisäischen Rabbinen; die älteren
Schriftgelehrten waren keine Juristen und hatten keinerlei amtliche
Stellung. Sie waren die Pfleger der Bildung und der Literatur.
Aber freilich hatte die Bildung der Zeit durchaus religiöse Farbe,
und das literarische Interesse war durch die heilige Überlieferung
bestimmt. Das Studium derselben, der Midrasch, war die eigent-
^) Die Verbindung von Gebet und Vorlesung hat der Kirche i:nd dem
Islam als Vorbild gedient. Das Gebet ist der Vorlesung übergeordnet; Calät
bedeutet schlechthin Gottesdienst und schließt Koran ein. Der Stil des jüdischen
Gebetes tritt z. B. im Vaterunser hervor.
200 Vierzehntes Kapitel.
liehe Arbeit der Scliriftgelehrten, während die Weisen ihre Weisheit
aus Erfahrung und Beobachtung, auf der Gasse und in der Natur,
schöpften. Auf grund ihres Studiums waren sie auch die Lehrer
des Volkes, indessen auf eine ganz freie, von selbst sich ergebende
Weise. Die »Synagoge war nicht direkt die Stätte ihres Wirkens;
noch in späterer Zeit durfte dort jeder lesen und lehren, ein ge-
wisses Vorrecht hatten nur die Priester und Leviten.
Das Gesetz trat durch seine öffentliche Anerkennung nicht in
ausschließenden Gegensatz gegen die sonst erhaltene Literatur. Es
war nicht bloß Gesetz, sondern auch Lehr- und Erbauungsbuch.
Dadurch trat es den älteren Lehr- und Erbauungsbüchern an die
Seite; es verdrängte sie nicht, sondern hob sie zu sich empor und
ergänzte sich durch sie. Wie im Pentateuch selber das Deutero-
nomium und der Jehovist neben dem Priesterkodex, so blieben
neben dem Pentateuch die prophetischen Bücher bestehn, zu denen
auch die historischen zählten, weil die Geschichte das Arbeitsfeld
Jahves und seiner Vertreter war. Ein Widerspruch zwischen den
Propheten und dem Gesetz ward nicht empfunden; im Gegenteil
lebte noch das Bewußtsein, daß sie die Urheber des Gesetzes
seien (Esd. 9, 10s.). So dehnte sich die öffentliche und rechtliche
Geltung, welche der Pentateuch durch einen formellen Akt bekommen
hatte, auch auf die prophetischen und historischen Bücher aus, deren
Autorität auf langjähriger stillschweigender Anerkennung beruhte.
Das Gesetz erweiterte sich unter der Hand zur Sammlung der hei-
ligen Schriften. Die Große Synagoge, welche den Kanon fest-
gestellt haben soll, ist ein Erzeugnis gelehrter Phantasie.
Man klammerte sich an das Alte an, machte es sich aber
mundgerecht und suchte manchmal nur Deckung hinter seinem
Namen. Die überlieferte Literatur wurde damals durch und durch
judaisirt. Die Sanktion war zugleich eine Überarbeitung. Schon
im Exil begann dieser Prozeß, damals im großen Stil; er setzte
sich durch Jahrhunderte fort, selbst nach der Kanonisirung der
Schriften, schließlich allerdings nur in allerlei Retouchen und La-
suren. Bekannt ist die Redaktion der historischen Bücher auf
grund des Deuteronomiums: die Handlungen der Regenten werden
nach diesem Gesetz beurteilt und ihre Geschicke daraus erklärt,
die Propheten begleiten mit ihren Mahnungen und Drohungen
regelmäßig alle Epochen. Erst dadurch entsteht eigentlich die
heilio;e Geschichte. Auf die deuteronomistische Bearbeitung; folgt
Die zweite Hälfte der persischen Periode. 201
eine spätere, die ein etwas anderes Ideal hat und die Vergangen-
heit nach diesem Ideal nicht bloß beurteilt, sondern umdichtet.
Die heilige Gesamtgemeinde tritt da handelnd auf um einen Greuel
aus Israel auszurotten, die geistliche Republik unter der Leitung
eines priesterlichen Propheten wird als die gottgewollte Form der
Eegierung der weltlichen Monarchie entgegengesetzt, die Erhebung
eines Menschen zum Könige gilt als Abfall von Jahve. Weniger
einförmig, aber in noch größerem Maße sind die Propheten dem
Bedürfnis und dem Geschmack des Judentums angepaßt. Kur
Ezechiel ist uns in der ursprünglichen Form und im ursprünglichen
Umfange erhalten; in Jesaias, Jeremias und den Zwölfen sind über-
all die Drohungen durch Heilsw^eissagungen gemildert und abge-
stumpft. Die Epigonen trugen teils durch kleinere Interpolationen
und Korrekturen in diese Bücher ein, was sie dabei empfanden und
darin vermißten, ihre Gefühle und Hoffnungen; teilweise aber
ließen sie durch große Einschübe und Anhänge von neueren Er-
zeugnissen das gewünschte Licht auf die alten Weissagungen fallen.
Diese Einschübe und Anhänge mögen zum Teil durch Zufall an
ihre jetzige Stelle geraten sein; gewiß ist, daß sie überall sich
zeigen, daß sie für die neue Zeit das Alte erst genießbar machen
und die Richtschnur seines Verständnisses abgeben.
Der Pentateuch war von vorherein modern, sofern der
Priesterkodex den Ton angab und das Ganze stimmte. Aber auch
hier arbeiteten unsichtbare Hände weiter, säuberten und glätteten,
verbesserten und vermehrten die Ausgaben. Neben umfangreichen
formellen Zusätzen, die namentlich in der Beschreibung der Stifts-
hütte erscheinen, zeigen sich auch materielle Änderungen. Die
Einführung des goldenen Räucheraltars stammt erst aus der Zeit
nach Ezra, ebenso die Erhöhung der heiligen Kopfsteuer von einem
dritten Sekel auf einen halben, und die Herabsetzung des Ein-
stellungsalters der Leviten von dreißig Jahren auf fünfundzwanzig.
Das Alte wurde mit dem Neuen verquickt und durchwoben.
Aber nicht allein durchwoben, sondern auch umwoben. Um das
Gesetz bildete sich eine Sphäre der Gewohnheit und der authen-
tischen Interpretation, die sich immer w^eiter ausdehnte und größere
Wichtigkeit erlangte als der geschriebene Buchstabe. Diese soge-
nannte Überlieferung der Ältesten, welche teilweise aufhob, meist
aber ergänzte und zusetzte, wurde nicht aufgezeichnet und konnte
um so besser mit der Zeit fortschreiten und sich ihr anschmieden.
202 Vierzehntes Kapitel.
Das war eine verhältnismäßig gesunde, konsequente und praktische
Fortentwicklung. Von ganz anderer Art war der Nebel, der sich
um den Stoff der alten Erzählung herumlegte und ihr Bild ver-
wischte und verzerrte. Davon haben wir einen schriftlichen
Niederschlag in der Chronik, einem Midrasch zum alten Buch
der Könige. Es ist eine wahre Travestie der Geschichte, die geist-
liche morjilisirende Tendenz vernichtet den ästhetischen Wahrheits-
sinD, stellt die Dinge nicht dar wie sie sind, sondern verwendet
sie nur als Beispiele für ein paar dürftige Ideen und dichtet
sie nötigenfalls mit großer Dreistigkeit darnach nm. An die
prophetische Literatur schloß sich die eschatologische an. Ihr
Begründer war Ezechiel, der erste rein schriftstellernde Prophet,
der die göttliche Offenbarung als ein Buch verschlang, und als ein
Buch wieder von sich gab. Die eschatologische Weissagung ist
immer Schriftstellerei, immer anonym und mit Vorliebe pseudonym:
man verbarg sich im Schatten des Altertums.
Doch schrieb man daneben auch freier und selbständiger. Der
Kanon schloß nicht ab, sondern wies nur die Richtung an. Er
beförderte geradezu das Erblühen einer neuen Literatur, die dann
zum Teil allmählich selbst wieder kanonisch wurde. Wenn im
dritten Jahrhundert des Büchermachens kein Ende w^ar, so wird
es im vierten und fünften nicht viel anders gewesen sein. Aus
jenem besitzen wir das überraschende Zeugnis, aus den beiden
anderen aber weit mehr Reste. Die Hagiographen stammen aus
dieser Zeit, sie sind ein Erzeugnis des Judentums. Sie zeigen uns
größtenteils ganz neue Arten des Schrifttums. Wer hätte früher
daran gedacht, seine Memoiren zu schreiben, wie Ezra und Nehemia
es taten ! Auch die Psalmen haben keine Analogie in vorexilischer
Zeit. Es sind Gebete in ganz anderem Sinn wie das Altertum sie
kannte, einzig in ihrer Art; sie beruhen auf der Verzweiflung
Jeremias und auf der Zuversicht des großen Anonymus'). Im
Buch lob besitzen wir gar eine Art philosophischen Dialogs; die
Frömmigkeit selber wird hier zum Problem gemacht. Die Sprich-
wörter sind allerdings in ihrer Form alt oder vielmehr zeitlos,
^) Sie sind allerdings nur zum kleinsten Teil originell, zum größten
Imitationen, die den Satz Yom -vielen Schreiben illustriren, vielfach auch gar
keine wirklichen Gebete, sondern Predigten und gar Erzählungen in Form des
Gebetes. Man sieht, -nie das Gebet eine Kunst und eine Literaturgattuug wird.
Die zweite Hälfte der persischen Periode. 203
aber als Literatlirgattung dennoch neu und in ihrem vorherrschenden
Geiste jüdisch. Am alleroriginellsten ist das Hohelied; Namen und
Sachen, die darin vorkommen, weisen seine jetzige literarische
Gestalt mit Entschiedenheit in unsere Periode. Man sieht daraus,
daß das Gesetz den Juden die Liebespoesie noch nicht verbot und
den Genuß des Lebens nicht unmöglich machte. Ein Rätsel ist es
nur, wie das Buch in diese Gesellschaft geraten ist; wahrscheinlich
weil man es geistlich umdeutete.
Das Wichtigste bei alledem ist die Verbindung von Religion
und Literatur. Das Alte Testament war den Israeliten unbekannt,
es ist eine Einrichtung — zur größeren Hälfte auch ein Produkt —
des Judentums, erst die Juden sind aus einem Volk des Wortes
das Volk des Buches geworden (1 Mach. 12, 9). Die Propheten
fanden innerhalb des geistlichen Gemeinwesens keinen Spielraum
mehr, das Gesetz verdrängte sie, die freie Rede erlag der festen
Autorität der Schrift '). Man darf aber den Vorteil dabei nicht
übersehen, daß die Offenbarung durch das Buch zum Gemeingut
gemacht wurde. Die Propheten hatten über den Mangel der
Gotte;?kenntnis bei der Menge gescholten oder ihn auch wol ent-
schuldigt mit ihrer gedrückten Lage; aber den Versuch sie müh-
') Zur Zeit Nehemias finden wir noch Propheten als politische Agitatoren
(6, 7). Wenn sie nach Zach. 13 unterdrückt werden sollen, so werden sie
eben damit doch noch als bestehend vorausgesetzt. „Ich schaffe die Pro-
]iheten und den unreinen Geist aus dem Lande, und wenn noch einer als
Prophet auftritt, werden sein Vater und seine Mutter ihn totschlagen, weil er
Lüge geredet hat im Namen Jahves. Jenes Tages wird jeder Prophet sieh
seines Schauens, wenn es ihm ankommt, schämen und den härenen Mantel
nicht mehr anlegen um zu betrügen, sondern sagen: ich bin kein Prophet,
ich bin ein Ackersmann, der Acker ist mein Besitz und Gewerbe von meiner
Jugend auf." Der Protest nimmt sich etwas sonderbar aus im Munde dieses
Verfassers der doch selber weissagt. Aber er tut es schriftlich und anonym,
er protestirt nur gegen das öffentliche demagogische Auftreten im härenen
Mantel. Die anonyme oder Pseudonyme prophetische Schriftstellerei wucherte
sogar von nun an. Indessen starb auch der demagogische Enthusiasmus
nicht ganz aus und brach in aufgeregten Zeiten öffentlich hervor. Nur mit
der anerkannten Autorität der Propheten war es vorbei, sie wurden von den
leitenden geistlichen Kreisen mit Mistrauen angesehen und es haftete ein
Makel au ihnen. Die Polemik gegen die Demagogen, „die mein Volk irre
führen", findet sich übrigens schon bei Micha und Jeremias; die Unter-
scheidung zwischen wahren und falschen Propheten Jahves ist der erste Schritt
zur Unterdrückung der Prophetie.
204 Vierzehntes Kapitel.
sam zu sich emporzuheben hatten sie nicht gemacht, sie standen
ihr ziemlich schroff gegenüber. Jetzt fiel dieser Gegensatz fort;
die Schrift war das Mittel, dai3 alle von Gott gelehrt wurden.
Sowol der Kultus als die Prophetie standen nun im Buche, und
jedermann konnte und sollte darüber Bescheid wissen. Die heilige
Literatur war durchaus nicht esoterisch, sondern für alle Kreise
bestimmt. Was davon nicht verstanden wurde, wirkte als Mis-
verständuis um so erbaulicher, und für das Misverständnis war
gesorgt. Die Bibel wurde die Fibel, die Gemeinde eine Schule,
die Religion Sache des Lehrens und des Lernens. Frömmigkeit
und Bildung gehörten zusammen; wer nicht lesen konnte, war kein
rechter Jude. Man kann sagen, daß auf diese Weise die Anfänge
des Yolksunterrichts geschaffen wurden. In Avelcher Weise das
geschah, liegt freilich im Dunkel; in der Synagoge, „der Juden-
schule", lernte man doch nicht lesen und schreiben und die
Schriftgelehrten waren keine Elementarlehrer. Aber das Ziel der
Bildung um der Religion w^illen war aufgesteckt und erw^eckte den
Wetteifer, wenn es auch nicht mit einem Schlage erreicht wurde.
4. Der großen geistigen Regsamkeit dieser Zeit entsprach ein
äußerer Aufschwung. Unter dem beginnenden Verfall des persi-
schen Reichs hatte freilich grade Syrien und Palästina viel zu
leiden. Um die öffentliche Ruhe und Sicherheit scheint es schlecht
bestellt gewesen zu sein, die Oberherrschaft hatte weder die Macht
noch den Willen, den Fehden zu wehren und den Landfrieden
aufrecht zu halten. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinde und
zu Jerusalem fehlte es nicht an schlimmen Zwisten und Wirren.
Wir hören in den Psalmen von Mord und Totschlag, falschen An-
klagen, Verläumdungen und Ränken aller Art. Aber doch begannen
damals die Juden sich aus der Dürftigkeit emporzuarbeiten. Ihr
Hauptgewerbe war nicht etwa der Handel '), sondern die Land-
wirtschaft. Darauf ruhte der Segen Gottes und dadurch kamen sie
zu Wolstand. Es war eine Freude zu sehen, wie in einem fetten
Jahr die Triften sich mit Vieh füllten, die Täler mit Korn be-
1) Der Handel wurde scheel angesehen (Sir. 26, 20 — 27,3) und noch in
dieser Zeit vielfach den „Tyriern" und „Kanaaniten" überlassen, d. h. wahr-
scheinlich vorzugsweise den Asdodiern. Doch mehren sich die Spuren der
Belianntschaft mit der Schiffahrt (Prov. 23, 34. 31, 14. Ps. 107, 23ss. Jona).
Das Sabbatjahr konnten die Juden nur feiern, wenn sie nicht rein auf den
Ertrag des Ackers und des Gartens angewiesen waren.
Die zweite Hälfte der persischen Periode. 205
deckt waren, und auf den Bergen die Obstpflanzungen rauschten
wie ein Wald, wie in einem ordentlichen Haushalt die Wirtschaft
unter der Hand einer tüchtigen Frau vor sich kam.
Mit dem Wolstand stieg auch die Bevölkerung. Noch zur
Zeit Nehemias waren die Juden eine unbedeutende Sekte, die in
Jerusalem und der Umgegend Platz fand. Herodot nahm keine
Notiz von ihnen. Wäre er nach hundert Jahren des Weges ge-
kommen, so würde er vielleicht nicht so achtlos an ihnen vorbei
gegangen sein. Damals hatten sie sich vermehrt und ausgebreitet
zu einem nicht mehr zu übersehenden Volke. Hekatäus von Abdera
sagt, bei der Austreibung der Fremden aus Ägypten seien die
Tüchtigsten nach Hellas gegangen, die große Menge aber nach
Judäa — ein Landesname, der Esd. 5, 8 zuerst erscheint. Manetho
betrachtet die Juden als die Summe von Hyksos und Unreinen,
also als einen sehr zahlreichen Haufen. Beide Schriftsteller folgen
einer ägyptischen Legende, welche älter sein muß als Alexander.
Die Ursache des Menschenreichtums der Juden erkennt Hekatäus
in der ihnen vom Gesetz auferlegten Verpflichtung, Kinder aufzu-
ziehen. Sie waren wol in der Tat, wie sie sich rühmten, eine
sehr fruchtbare Nation. Aber es kommt vielleicht noch eine
andere Ursache hinzu, aus der sich ihre starke Vermehrung erklärt.
Sie werden Zuwachs von außen bekommen haben, besonders aus
ihrer Nachbarschaft in Palästina. Hatten sie sich eine Zeit lange
in sich selbst zurückgezogen, so streckten sie nun wieder ihre
Fühlhörner und Fänge weit aus; auf die Dauer ließ sich der in ihrer
Religion liegende expansive Trieb nicht unterdrücken. Ezra und
Nehemia hatten diesem Triebe Zügel angelegt; die Juden mußten
zunächst ihr jüdisches Wesen gegenüber ihrer Umgebung behaupten,
um sich nicht in ihr zu verlieren. Nachdem sie sich aber durch-
gekämpft und als Herren in ihrem Hause gezeigt hatten, konnten
sie die Paganen wieder heranziehen und aufnehmen, in der Gewiß-
heit zu assimiliren und nicht assimilirt zu werden'). Ganz aus-
geschlossen war freilich die Gefahr der Ansteckung noch immer
nicht, wie sich in der griechischen Periode zeigte. Schon Hekatäus
sagt, die Juden hätten infolge ihres Verkehrs mit Fremden, unter
der persischen und macedonischen Herrschaft, ihre alten Bräuche
vielfach geändert.
*) Die drei samarischen Bezirke Aphärema Lydda uud Ramatha müssen
in dieser Zeit judaisirt sein, d. h. religiös, nicht politisch.
206 Vierzehntes Kapitel.
Eine auffallende Probe, wie sie sicherer und weitherziger im
Verkehr wurden und von ihrer ängstlichen Exklusivität zurück-
kamen, liegt darin, daß sie ihre angestammte alte Sprache all-
mählich verlernten. Welch wirksames Mittel sich zu isoliren gaben
sie damit preis! wie hätte Kehemia sich darüber ereifert! Sie be-
gannen im täglichen Leben aramäisch zu reden, wie ihre Nach-
barn '). Das Hebräische wurde nur als Literatursprache beibehalten,
als solche freilich noch lange Zeit. Eine wichtige Folge davon war
die Notwendigkeit, die heiligen Schriften nach der Verlesung in die
Landessprache zu übertragen. Das Targum ward ein Teil des
synagogalen Gottesdienstes, daran schloß sich jetzt die erbauliche
Erläuterung und die Predigt an, die noch bei den Syrern Turgam
heißt.
Mit der Erstarkung des Judentums in der Heimat hängt ohne
Zweifel auch die Diaspora zusammen, die freilich erst in der
griechischen Zeit ihre geschichtliche Bedeutung gewann, aber doch
wol schon vorher begann. Li einigen Psalmen finden sich An-
spielungen darauf. Der Ivnecht Jahves ist sich seiner Aufgabe,
die Welt zu bekehren, bewußt. Freiwillige aus den Heiden haben
sich dem Volke des Gottes Abrahams angeschlossen; Jahves Name
und seine Lobpreisung ist über die Enden der Erde verbreitet.
Sion ist der Mittelpunkt einer sehr ausgedehnten Gemeinde, ihre
Kinder sind weit und breit zerstreut, sie bleibt ihrer aller Mutter
und ihre eigentliche Heimat. Alle mit einander, wo sie auch sich
aufhalten, betrachten sich als Beisassen und Schutzbefohlene des
Tempels und der Gottheit; beim Gebet richten sie sich dorthin.
Es wäre fein und lieblich, wenn die Zusammengehörigen auch zu-
sammen wohnten; da das nicht sein kann, , so treffen sie sich
wenigstens bei den Festen *''). Die Bedeutung der Feste verändert
^) Nehemia entsetzte sich, Familien zu finden, deren Kinder nicht jüdisch,
sondern asdodisch redeten. Asdodisch ist schwerlich ebenfalls hebräisch und
vom Jüdischen nur durch geringe Nuancen -verschieden, sondern es ist der
aramäische Dialekt, der bei den westlichen Nachbarn der Juden geredet wurde.
Die angebliche Münze von Asdod mit angeblich hebräischer Legende, aus der
man geschlossen hat, daß im vierten vorchristlichen Jahrhundert zu Asdod
noch nicht aramäisch gesprochen worden sei, ist in Wahrheit eiue persische
Satrapenmünze, wie sich jetzt herausge'stellt hat.
^) Ps. 47. 48. 51. 84. 122. 132. Am merkwürdigsten ist Ps. 87, dessen
Text allerdings so beschaffen ist, daß man ihn nicht übersetzen, sondern nur
Die zweite Hälfte der persischen Periode. 207
sich und wächst ungemein durch die Wallfahrten; sie geben die
Gelegenheit zur Pflege der Gemeinschaft zwischen den entferntesten
Brüdern '). Ein anderes wichtiges Bindemittel ist die Tempelsteuer,
die allen Juden obliegt.
Die zehn Stämme sind spurlos unter den Heiden aufgegangen,
sie haben mit der Diaspora in Wirklichkeit nichts zu tun, obgleich
sie in der messianischen Weissagung zuweilen den Namen dafür
hergeben. Die Diaspora ist durchaus jüdisch. Sie befolgt überall
das mosaische d. i. das jüdische Gesetz; nirgends gibt es darunter
Israeliten vormosaischer Observanz. Für die älteste Diaspora-
gemeinde kann die babylonische gelten; sie ist aber in der Tat
mehr als das, sie ist neben der jerusalemischen Gemeinde der zweite
Mittelpunkt des Judentums. Die eigentliche Diaspora ist nicht
durch das Exil bewirkt, sondern erst nach dem Exil ausgegangen,
und zwar hauptsächlich von Jerusalem ^). Sie beruht zunächst auf
der Auswanderung palästinischer Juden, dann aber auch, und wahr-
scheinlich in viel größerem Umfange, auf der Propaganda, welche
die Auswanderer in der Fremde machten. Jeder Jude trug das
ganze Judentum unter den Sohlen, ein Samenkorn genügte unter
Umständen um einen Baum zu erzeugen. Im Ps. 87 werden als
AVohnsitze auswärtiger Verehrer Jahves, abgesehen von Babylonien,
den Sinn erraten kann. „Wie herrlich ist Gottes Stadt, die er gegründet hat
auf heiligen Bergen I Jahve liebt die Tore Sions, vor allen anderen Woh-
nungen Jakobs. Herrliches sagt man von dir, du Stadt Gottes. Aus Rahab
und Babel, aus Philisterland Tyrus und Kusch, ist dieser und jener meiner
Bekenner gebürtig. Aber Sion nennt ein jeder seine Mutter, und er selbst,
der Höchste, hält sie fest. Jahve schreibt an in dem Yölkerbuche: dieser ist
da und jener dort gebürtig; aber Vornehme und Geringe, ihrer Aller Heimat
ist in dir, Jerusalem." Das Völkerbuch ist eine von Jahve geführte Bürger-
liste seiner unter den Völkern versprengten Untertanen.
') Joseph. Ant. 4, 203 s.
-) Die Propheten sprechen manchmal die Hoffnung aus, daß die durch
Assyrer und Chaldäer in alle Welt zerstreuten Israeliten und Juden aus der
Zerstreuung in ihre Heimat wieder zusammengebracht werden sollten; man
darf daraus aber auf den wirklichen Bestand der Diaspora im persischen
Reiche keine Schlüsse ziehen. Von Babylonien aus verbreitete sich das Juden-
tum in Medien und am Euphrat und Tigris (Buch Tobit, Jos. Ant. 11, 133
12, 149. 15, 14), aber vielleicht erst in der griechischen Zeit. Nisibis Ant.
18, 312 kann nicht das bekannte in Mesopotamien sein, wenn es wirklich Ijei
Kahardea in Babylonien liegt.
208 Fünfzehntes Kapitel.
angegeben: das Philisterland und Tyrus, Ägypten und Meroe^). Man
meint gewöhnlich, in Ägypten hätten sich die Kolonen fortgepflanzt,
die mit Jeremias dorthin auswanderten; das ist jedoch sehr un-
wahrscheinlich dem gegenüber, daß der Prophet ihnen auf das be-
stimmteste den völligen Untergang voraussagt. Hekatäus und
Manetho sagen nicht, daß sich zu ihrer Zeit Juden in Ägypten
befanden; indessen wenn das nicht der Fall war, so ist das feind-
liche Interesse der aus vorgriechischer Zeit stammenden ägyptischen
Legende an ihnen kaum zu begreifen. Sie scheinen also schon
während der persischen Herrschaft hingekommen zu sein.
Fünfzehntes Kapitel.
Die jüdische Frömmigkeit.
1. Das Gesetz hat keinen plötzlichen Einschnitt in die bis-
herige Entwicklung gemacht. Seine erstickende Wirkung hat es
erst allmählich ausgeübt; es dauerte lange, bis der Kern hinter
der Schale verholzte. Bis auf den Pharisaismus blieben die freien
Triebe in lebendiger Kraft, die von den Propheten ausgegangen
waren; das ältere Judentum ist die Vorstufe des Christentums.
Was im Alten Testament noch heute wirkt und ohne historische
Vorbildung genossen werden kann, ist zimi größeren Teil Erzeugnis
der nachexilischen Zeit.
Die Juden fühlten sich als Epigonen und sie waren es auch
in gewissem Sinn, obgleich sie den Abstand zwischen Sonst und
Jetzt anders empfanden als er wirklich war. Sie zehrten von der
Vergangenheit, von der alten Geschichte, von der alten Literatur.
Jahve erweckte keine Helden mehr, der Mund der Propheten
schwieg, die Oft'enbarung war ein Buch geworden. Aus der freien
') Isa. 27, 13 werden nur Assur (d. i. Syrien) und Ägypten aufgeführt.
Dagegen Isa. 11,11 im masor. Texte: Assur, Unterägypten, Oberägypteu, Äthiopien,
Elam, Babylonien, Hamäth (Egbatana?) und die Inseln des Meers. In der
Septuaginta: Assur, Ägypten, Babylonien, Äthiopien, Elam, das Ostland
und Arabien. Bei Aphraates p. 368: Assur, Ägypten, Tyrus und Sidon und
die fernen Inseln.
Die jüdische Frömmigkeit. 209
Luft fühlen wir uns in ein Treibhaus versetzt. Die Frömmigkeit
wurde methodisch betrieben, als das Geschäft des Lebens. Das
hatte üble Nebenwirkungen; die aufdringliche Pedanterie des geist-
lichen Wesens und der geistlichen Phrase machen sich unangenehm
bemerkbar. Aber darüber darf man den großartigen Erfolg der
Disziplin, der die Juden sich unterwarfen, nicht übersehen. Aus
den zerschmetterten Resten ihres untergegangenen Gemeinwesens
stellten sie ein neues her, das der natürlichen Bedingungen eines
Yolkstumes entraten konnte. In dem Chaos des Weltreiches, in
dem die Nationen und damit zugleich Religion und Sitte sich auf-
lösten, standen sie fest wie ein Fels im Meer.
Sie hingen mit allen Fasern an ihrer Gemeinde. Sion war
ihnen die rechtmäßige Erbin des alten Israel und seiner Ansprüche,
die heilige Stadt Gottes auf Erden. Wie Jahve das Volk, als es
jung war, geleitet hatte, so verließ er es auch im Alter nicht.
Das ungebrochene religiöse Selbstgefühl, wodurch das Volk ehedem
sich mit seinem Gotte unmittelbar eins gewußt hatte, lebte zwar
nicht wieder auf; man bedachte, daß Jahves Wege und Gedanken
höher seien als die der Menschen. Aber man scheute sich doch
noch immer nicht sein lebendiges W'irken auf Erden leibhaftig zu
schauen, wenn auch weniger in den Ereignissen der ereignislosen
jüdischen Geschichte, als in denen der W^eltgeschichte. Man staunte
über seine große Taten, man sah, wie er sich als Richter zeigte
unter den Völkern. Das genügte; es war nicht nötig, daß sein
Gericht gerade den Seinen besonders zu gute kam. Schien das
aber einmal wirklich der Fall zu sein, um so besser. Dann schwang
sich das fromme Gemeinbewußtsein zu stolzer Höhe auf, wie der
Triumphgesang zeigt, der das unerreichte Vorbild von Luthers Ein
feste Burg ist '). „Gott ist unsere Zuflucht und Wehr, ein Beistand
wol erprobt in der Not. Darum fürchten wir uns nicht, wenn die
Erde gährt und die Berge wanken im Herzen des Meeres. Laß
^) Die Situation von Ps. 46 ist niclit die Zeit der Belagerung Jerusalems
unter Senaherib. Die Heiden sind niciit vor der heiligen Stadt versammelt,
sondern selber in ihren eigenen Ländern betroifen. Eine Umwälzung der
sämtlichen Verhältnisse eines großen politischen Systems, wie sie durch
Alexander geschah, würde den Psalm erklären, eine Erschütterung der ge-
samten alten Welt, die aber Jerusalem unerschüttert ließ und den Juden als
Tat Jahves zur Vorbereitung eines Reiches erscheinen konnte, in dessen weiten
Grenzen der Gottesfriede angebahnt wurde und die Fehden der Nationen ver-
weil hause n, Isr. Geschichte. ü.Aufl. 14
210 Fünfzehntes Kapitel.
brausen, schäumen seine Wogen, laß Berge beben bei seinem Un-
gestüm: Jahve Sabaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unsere
Burg. Ein Bach, dessen Wasser Gottes Stadt erfreuen, ist der
Höchste in seiner heiligen Wohnung. Gott ist in ihrer Mitte,
darum wankt sie nicht; Gott hilft ihr wenn der Morgen tagt.
Völker toben, Reiche wanken, Donner hallt, die Erde verzagt:
Jahve Sabaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unsere Burg.
Kommt her und schaut die Taten Jahves, was für Wunder er tut
auf Erden! Der den Kriegen steuert in aller Welt, Bogen knickt,
Speere zerbricht, Wagen mit Feuer verbrennt. Laßt ab und er-
kennt, daß ich Gott bin, ich triumphire über die Völker, triumphire
über die Welt. Jahve Sabaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist
unsere Burg."
Die Stimmung hing indessen von Wind und Wetter ab, auf
solcher Höhe behauptete sie sich nicht lange. Die Juden wurden
durch ihr Geschick nicht verwöhnt. Die bitter empfundene Fremd-
herrschaft blieb auch nach der Befreiung aus dem Exil bestehn.
Sion war zwar wieder gebaut, doch im Druck der Zeiten. Der
Widerspruch hörte nicht auf, daß das messianische Heil längst
fällig war und doch nicht eintrat, und so blieb die Grundstimmung
auch der späteren Juden gespannt. Die Restauration des Kultus
war nur ein Angeld auf etwas Größeres. Die Gesetzesarbeit war
eine beständige Vorbereitung auf den Advent des Herrn zu seinem
Volke und eine beständige Bitte, daß er komme. Man hoffte auf
die Zukunft, in der Zukunft sollte die Vergangenheit wieder auf-
leben. Die bedrückend unzureichende Gegenwart lag wie ein Interim
dazwischen; es konnte zur Verzweiflung bringen. Man suchte sich
selbst notdürftig über Wasser und die Gottheit an einem schwachen
Bande mit allen Kräften festzuhalten.
Die jüdische Eschatologie, die nicht erst mit Daniel, sondern
schon im Exil mit Ezechiel einsetzt, ist immer messianisch und
immer utopisch; ihr Gott ist der Gott der Wünsche und der Illusion.
Sie malt sich auf dem Papier ein Ideal, zu dem von der Wirklich-
keit keine Brücke hinüberführt, welches plötzlich durch das Ein-
greifen eines deus ex machina in die Welt gesetzt werden soll.
stummten. An Alexander konnten in der Tat eben so große Hoffnungen
geknüpft werden wie an Cyrus (der hier natürlich nicht in Frage kommen
kann), und die Begrüßung wäre seiner wert.
Die jüdische Frömmigkeit. 211
Sie empfindet nicht, wie die alte echte Prophetie, das schon im
Werden Begriffene voraus und stellt auch keine Ziele für das
menschliche Handeln auf, die schon in der Gegenwart Geltung haben
oder haben sollten. Sie schaut nicht das lebendige Tun der Gott-
heit, sondern hält sich an den heiligen Buchstaben, in dem sie
die Verbriefung ihrer Wünsche sieht, und behandelt ihn als Quelle
für ihre dogmatische Spekulation. Die alten Weissagungen waren
mit der Erlösung aus dem Exil nur scheinbar erfüllt und bedurften
erst noch der wahren Erfüllung. Von diesen unerfüllten Weis-
sagungen geht die Eschatologie seit Ezechiel aus, sie prolougirt den
nicht eingelösten Wechsel auf einen späteren und immer wieder
auf einen späteren Termin^). Sie benutzt aber auch markante
Züge der alten heiligen Geschichte; das Reich Davids war ja das
Ideal, das wieder in Erscheinung treten sollte. Die Zukunft war
der Revenant der Vergangenheit, das Alte wurde zu einem neuen
gespenstischen Leben auferweckt, das Erste wurde das Letzte').
Das war der Aufzug des phantastischen Gewebes. Dazu lieferte die
Gegenwart einen wechselnden Einschlag; denn so starr wie die heutige
christliche Eschatologie war die jüdische doch noch nicht. Sie war
noch immer einigermaßen an die Zeitverhältnisse gebunden, sie be-
darf der historischen Erklärung, vor allem der Datirung. Verhältnis-
mäßig untergeordnet sind allerhand mythologische Vorstellungen, die
ebenfalls vorkommen und vorzugsweise dem großen babylonischen
Magazin entnommen zu sein scheinen; sie verhüllen und veranschau-
lichen zugleich, oder haben auch wol nur ornamentalen Wert.
Die große Krisis verläuft nach einem einfachen und festen
Schema. Sie wird angekündigt durch Zeichen verschiedener Art:
Heuschrecken, Verfinsterung von Sonne und Mond, Krieg und Mord,
Auflösung der inneren Bande in Gemeinde und Familie. Die Er-
eignisse der Zeit führten den Tag Jahves nicht mehr herbei, sondern
waren nur Symptome, daß er nahe. Darauf tritt zunächst eine
Reinigung und Sichtung innerhalb der Gemeinde ein. Die
Sünden und die Sünder in der Gemeinde hindern die Ankunft des
Heils. „Wir brummen alle wie die Bären und girren wie die
Tauben, in ungeduldiger, sehnsüchtiger Erwartung, aber unsere
^) Vgl. meine Skizzen und Vorarbeiten 6 (1899) p. 226ss. Sirac. 33.
-) Elias, Gog und Magog, und der Sephoni sind auffällige Beispiele: vgl
meine Bemerkungen zu Soph. 2, 15. Joel 2, 20. 3, 1. Mal. 3, L
14*
212 Fünfzehntes Kapitel.
Missetaten erklären die Verzögerung." Das Exil hat also noch
nicht genügt, es muß noch einmal ein Rest ausgesiebt werden,
noch einmal eine Läuterung der Juden selber erfolgen, ehe Jahve
bei ihnen Wohnung nehmen kann. Das ist die große Worfelung
in Ps. 1 und in vielen anderen Psalmen, das innere Gericht und
die Apokatastasis bei Malachi.
Es ist nicht in Vergessenheit geraten, daß jener Tag ein Tag
des Zornes auch für die Juden sei, aber seine eigentliche Spitze
richtet er doch nicht gegen sie, sondern gegen die Heiden. Seit
dem Verfasser von Isa. 40ss. betrachten die Juden das Heil als ihr
Recht und die Weltgeschichte als einen Prozeß darum, der sich
zwischen ihnen und den Heiden abspielt. Der Prozeß hätte längst
zu ihren gunsten entschieden sein sollen; sie sind enttäuscht und
beinah erbittert, daß sie das Recht, das sie haben, noch immer
nicht bekommen. Das Gericht soll es ihnen verschaffen, es soll die
Herrschaft der Heiden brechen. Zu einem letzten Ansturm gegen
die Theokratie versammelt, sollen sie vor den Toren Jerusalems
zertreten werden: das ist die Vorstellung, die seit Ezechiel für die
Eschatologie charakteristisch ist'). Man träumte indessen noch
nicht von einem jüdischen Weltreiche. Die Heiden werden nicht
den Juden, sondern nur Jahve Untertan sein, d. h. ihn als den
wahren Gott und Jerusalem als die Stätte seiner Verehrung aner-
kennen und dorthin ihre Opfer und Gaben bringen^). Das Gericht
ist also identisch mit dem Heil oder wenigstens mit der Verwirk-
lichung des Heils. Die Herabführung des himmlischen Jerusalems
wird erst in späterer Zeit davon unterschieden. Diese Erwartung
lehnt sich an Ezech. 40ss. Ezechiel beschreibt dort zwar nicht
das himmlische, sondern das irdische Jerusalem, wäe es nach dem
Exil wieder aufgebaut werden soll. Aber sein Jerusalem blieb doch
in mancher Hinsicht künftig und so wurde es himmlisch, wie alle
Güter der Hoffnung bei Gott im Himmel thesaurirt sind. Die ersten
Ansätze zu der Vorstellung finden sich Isa. 60, Joel 4 und Zach. 14.
In der Vergangenheit waren die Juden eine politische Nation
gewesen, und in der Zukunft hofften sie wieder eine zu werden.
1) Ezech. 38. 39. Joel 4. Zach. 12. 14. Mich. 4. 5.7. Sophon. 3 Ambak. 3.
-) Agg. 2. Isa. 60. Die Bekehrung der Heiden ist der Punkt, wo die
menschliche Arbeit dazu helfen kann, daß das Reich Gottes komme. Vgl.
Ps. 51,15.
Die jüdische Frömmigkeit. 213
Das Reich Davids sollte wieder hergestellt werden, das war ihr
Ideal. Darauf indessen legten sie kein Gewicht, daß wieder ein
König an ihre Spitze trete. Sie liebten im allgemeinen die Könige
nicht, die sie nur noch als Tyrannen kannten; sie fanden, daß
Menschenherrschaft sich nicht vertrage mit der Gottesherrschaft ').
Die Souveränetät wurde darum gern auf das Volk übertragen. Wie
Israel der Knecht, d. h. der Prophet Jahves ist, so ist Israel auch
der Messias und der Erbe Davids, vorläufig in Schwachheit, künftig
in Kraft ^). Doch erhielt sich daneben auch die Idee des monar-
chischen Messias.
Wie aus alledem erhellt, war die Hoffnung doch nicht etwa
transzendent, die Erde blieb der Schauplatz. Nicht das Irdische
sollte himmlisch werden, sondern das Himmlische irdisch. Der
Himmel w\ar weiter nichts als der vorläufige Aufbewahrungsort der
von Gott beschlossenen Dinge. Verwirklicht wurden sie nur da-
durch, daß sie auf die Erde herabkamen. Der Trost, auf den man
wartete, war die Auferstehung des Volkes. Das Volk stirbt nicht
und bedarf keines Jenseits, die Auferstehung eines Volkes fällt
nicht in das Gebiet des Übernatürlichen. Es ist höchst auffallend
und in gewisser Hinsicht großartig, wie lange auf diese Weise eine
so aufrichtige und ernsthafte Frömmigkeit den Glauben an persön-
liche Fortdauer und jede religiöse Metaphysik hat entbehren können.
Die Psychologie hat mit der Religion noch immer nichts zu tun.
Der Einzelne stirbt und damit ist es aus, Leib und Seele gehn zu-
sammen. Das Leben ist der Hauch Gottes, der durch die Kreaturen
geht; zieht er ihn zurück, so verscheiden sie. Die Schatten in der
Hölle haben kein Leben, keine Beziehung zu Gott und Welt^); in
^) 1 Sam. 12. Au die Stelle des Königs ist nach dem Exil die Gemeinde
getreten. Der Königstempel ist ein Gemeindetempel geworden und das Königs-
opfer ein Gemeindeopfer (das Thamid). Die Kosten des öffeutlichen Gottes-
dienstes, die bei Ezechiel noch der König trägt, werden durch eine Kopfsteuer
der Gemeinde aufgebracht — es äußert sich freilich mehrfach der Wunsch,
sie aiif den fremden Oberherrscher abzuwälzen.
-) Ps. 28, 8 (lies leammo für lamo) 80, 18. 84, 10. 89, 39. 52. 105, 15
132,10. Ambak. 3, 13. Dan. 7, 27. Wie sonst Abraham, so wird in Ps. 89
und 132 David als Vertreter des ganzen Volkes betrachtet; ganz Israel gilt
als Erbe des von ihm erworbenen Verdienstes iind der ihm gegebenen Ver-
heißungen.
^) Ganz ist diese Neutralisirung der Toten freilich doch nicht durch-
gedrungen. Sie haben eine Empfindung davon, wenn der Wurm sie nagt und
214 Fünfzehntes Kapitel.
den Psalmen wird die Bitte um Rettung aus Gefahr und Todesnot
fast regelmäßig damit motivirt, daß nach dem Tode auch das
Verhältnis des Frommen zu Gott ein Ende habe: wer kann dich
in der Hölle preisen! Daraus erklärt sich der ungeheuere Wert,
den die Juden, sehr im Gegensatz gegen die ältesten Christen, auf
das irdische Leben legen; es ist auch in religiöser Hinsicht der
Güter höchstes.
2. Die Juden arbeiteten für das Ganze und hoft"ten für das
Ganze. Ihre Gemeinschaft ging ihnen über alles. Durch den Kultus
wurde sie genossen und gepflegt. Die Opfer gaben nur den äußeren
Anlaß den Tempel zu besuchen, der wahre Grund lag in dem Be-
dürfnis, sich durch die Gemeinschaft des Geistes zu erquicken und
zu stärken; daher die Sehnsucht, teilzunehmen an den schönen
Gottesdiensten des Herrn und mitzuwallen im Haufen der Feiernden.
Ahnlich steht es mit der Beschneidung, dem Sabbat und den
anderen Bräuchen: der Geist der Gesamtheit drückt sich aus durch
an sich leere Zeichen, die jedoch allenthalben Widerhall erwecken
und an alles erinnern. Die Gemeinschaft beruht nun zwar auf
natürlicher Grundlage, aber sie ist doch keine einfache Volksgemein-
schaft, sie ist mehr und sie ist auch w-eniger. Mehr insofern, als
sie etwas Inniges hat, etwas von freiwilligem Zusammenschluß
gleichgestimmter Seelen. Weniger insofern, als ihr die selbstver-
ständliche Solidarität eines Volkes fehlt. Sie hat einen pietistischen,
separatistischen Grundzug; die Frommen waren ihre Schöpfer und
ihre eigentlichen Träger. Sie machten mit einigem Recht den An-
spruch, das Ganze zu beherrschen, und mit Hilfe der persischen
Könige gelang es ihnen auch, dem Ganzen durch das Gesetz ihren
Stempel aufzudrücken. Aber den Widerspruch der Natur gegen
den geistlichen Zwang konnten sie nicht beseitigen. Es blieb immer
die tiefe Kluft zwischen dem Israel nach dem Geist und dem Israel
nach dem Fleisch; die Psalmen zeigen die Gemeinde von bitterer
Feindschaft zerrissen. Über dem durch besondere Anlässe be-
stimmten Wechsel der Parteigruppirung schwebt im Ganzen der
das Feuer sie brennt. Sie leiden darunter, wenn ihre Gebeine aus dem Grabe
gerissen und verstreut werden, vor Sonne, Mond und Sternen. Jereniias kann
für die verstorbenen Väter, welche die Hauptschuld an dem Frevel haben, für
den die Söhne büßen müssen, keine andere Strafe finden, als daß ihre Gebeine
bei der Einnahme Jerusalems durch die Chaldäer aus ihren Kuhestätten auf-
gewühlt werden (Kap. 8).
Die jüdische Frömmigkeit. 215
allgemeine und gleichbleibende Gegensatz der Weltkinder und der
Frommen. In der Regel haben jene die Macht und diese befinden
sich in der Opposition. Freilich decken sich die beiden Lager nicht
ganz mit den Ständen und die Rollen können sich vertauschen; es
kommt vor, daß ein frommer Mann an der Spitze steht, den dann
die Gottlosen zu stürzen suchen. Die Frommen betrachten ihre
Gegner als gar nicht zur Gemeinde gehörig, sie werfen sie mit den
Heiden zusammen. Sie hassen sie mit rechtem Ernst und fluchen
ihnen, daß es eine Art hat; sie machen aus ihrem rachsüchtigen
Herzen keinen Hehl und sind höchst aufrichtig in der Äußerung
ihrer Gefühle vor Gott. Dieses Richten, nach der Idee oder auch
nach dem Parteistandpunkte, ist bezeichnend für die Art der jüdischen
Gemeinde. Daß das iunere Recht auf Seiten der Frommen war,
muß man zugestehn.
Daraus erhellt nun schon, daß trotz allem der Schwerpunkt
des Judentums nicht mehr in der Gesamtheit liegt, sondern in dem
Individuum ^). Der geborene Jude muß sich doch noch selbst zum
Juden machen. Die gleichgesinnten Individuen halten zusammen.
Die Gemeinde ist das fromme Ich; es ist bezeichnend, daß man
darüber streiten kann, ob in den Psalmen ein Einzelner oder die
Gemeinde redet. Früher war die Religion gemeinsamer Besitz des
Volkes, etwas Selbstverständliches und Natürliches, wodurch sich
keiner vom anderen unterschied. Jetzt beruht sie auf der Arbeit,
dem Streben und der Gesinnung des Einzelnen. Sie ist auf dem
Wege, Religiosität zu werden. Sie stellt ein Lebensideal auf, die
Gerechtigkeit. Das ist nicht mehr die soziale und foreuse Gerechtig-
keit, welche die alten Propheten forderten, obgleich dieselbe nicht
etwa vernachlässigt wird. Sie besteht auch keineswegs bloß in
der genauen Beobachtung äußerlicher Vorschriften. Der Tempel-
kultus, der für die Organisation der Gemeinde und für ihren Zu-
sammenschluß große Bedeutung hatte, wird doch nicht als Er-
füllung des Gesetzes angesehen. Die Gottheit thront nicht über den
Rauchsäulen des Altars, sondern über den Gebeten Israels — das
Gebet, diese originelle jüdische Schöpfung, ist der wahre Kultus.
^) Ich brauche wol nicht zu bemerken, daß der Gegensatz von Gesamt-
heit und Individuum nie streng gefaßt werden kann, sondern immer nur a
potiori und cum grano salis; ebenso wie der von Überlieferung und Origi-
nalität.
216 Fünfzehntes Kapitel. .
Sie fragt nichts iicacli dein Blute von Stieren und Böcken, sie ver-
langt bessere Opfer, Hat jemand in der Not ein Gelübde getan,
so muß er es bezahlen; aber die wahre Schuld, die dem Retter
gebührt, ist der Herzeusdank des Geretten, den er ausspricht in
Lobgesängen '). Wichtiger als der große Kultus ist der kleine der
frommen Übungen, die nicht von den Priestern, sondern von den
Einzelnen verrichtet werden. Sie sind eine beständige Erinnerung
an Gott, eine Mahnung, ihn stets vor Augen und im Herzen zu
haben. Sie stehn, als Mittel der Disziplin, in naher Verbindung
mit der Moral. Die Moral ist die eigentliche Gerechtigkeit. Die
Moral und nicht der Kultus ist die Quintessenz des Gesetzes^);
es findet sich sogar, daß der Kultus dem Gesetz geradezu ent-
gegengesetzt wird, als sei er gar nicht darin geboten^). Daraus,
daß Jahve im Tempel wohnt und die Juden seine Beisassen sind,
wird nicht gefolgert, daß sie ihm Opfer bringen, sondern daß sie
ihre Pflichten gegen den Nächsten erfüllen, reine Hände und reine
Herzen haben müssen. Auf nichts wird größeres Gewicht gelegt,
als auf Simplizität, Treue und Redlichkeit. Die Verschmitzten
und Verzwickten sind dem Herrn ein Greuel; die Graden und
Einfältigen gefallen ihm. Schlicht und recht, das ist das Ideal*);
Schwung und Heroismus fehlen. Die sittlichen Anforderungen
werden nicht übertrieben, in den Proverbien sind sie sogar ziemlich
mäßig. Sie gelten nicht für unerfüllbar; das Streben nach dem
^) In den Psalmen geschieht das Bezahlen der Gelübde überall durch
Preis und Dank in den frommen Versammlungen.
-) lob 31 ist besonders interessant durch das was nicht darin vorkommt.
^) Sirac. 31. 32. Die £vvo[ao; ßtcuat? bedeutet bei Jesus Sirach etwas ganz
anderes, als was sie ein oder zwei Jahrhunderte später bedeutete.
^) Das beweist natürlich nur, daß die Juden schlicht und recht zu sein
wünschten. Ob sie es wirklich waren, ist eine andere Frage. Nach den
Psalmen sind falsche Anklagen, Verleumdungen, Ränke aller Art in Jerusalem
au der Tagesordnung. Es ist schwierig, zwischen all den lauernden Fallen
glücklich hindurch zu finden; die gewöhnlichste Bitte ist die um Leitung auf
den richtigen Weg, d. h. um praktische Weisheit in vorliegenden Schwierig-
keiten und Gefahren auf schlüpfrigem Terrain, nicht bloß um theoretische
Kenntnis der Gebote. Noch schlimmer scheint es in der Zeit des Siraciden
ausgesehen zu haben. Aus dem Siraciden ergibt sich auch, daß es mit der
Keuschheit in der Tat recht schlecht bestellt war, obwol die Anforderungen
daran in lob 31 fast ebenso hoch gestellt werden wie in der Bergpredigt. In
den Proverbien wird nur vor Ehebruch gewarnt und zwar aus höchst äußer-
lichen Gründen.
Die jüdische Frömmigkeit. 217
Guten erzeugt Befriedigung und nicht Verzweiflung über das Mis-
verhältnis von Wollen und Können; das Sündengefühl entsteht
nicht aus dem Gesetz, sondern aus der Strafe d. h. aus dem Un-
glück. Vernünftiger Lebensgenuß gilt für durchaus erlaubt, die
konventionellen Observanzen sind nicht in dem Sinne Ascese, wie
wir das Wort gewöhnlich gebrauchen. Nur das Fasten, das mit
Wachen und Beten verbunden ist, kann dafür gelten. Damit wird
das Almosen zusammengestellt, es steht in sehr hoher Schätzung^).
Das Motiv der Moral, wodurch sie religiös wird, ist die Furcht
Gottes. Gott ist ein strenger Herr, er gebietet Knechten, die er
aus dem Staube ruft und wieder in Staub verwandelt. Der Ab-
stand des Ewigen, der da war ehe denn die Berge worden, von
den Eintagsfliegen, die ihre Tage hinbringen wie ein Geschwätz,
wird tief empfunden und ergreifend geschildert; kein Gedanke an
Pantheismus, an Schwärmerei und Uberhebung. Aber von dem
Gott des neunzigsten Psalms sogar zermalmt zu werden ist ein
Trost. Die Furcht Gottes, so schwer sie lastet, hat doch nichts
Niederdrückendes; sie befreit von jeder anderen Furcht und be-
rechtigt zum Vertrauen. Wer unter dem Schatten des Höchsten
sitzt, erschrickt vor keinem Gespenst, vor keiner schleichenden
Seuche, vor keiner plötzlichen Gefahr. Der jüdische Monotheismus
ist keine religiöse Arithmetik, wie ein Spötter sich hat vernehmen
lassen, sondern der Glaube an die Allmacht des Guten. Das ist
abstrakt ausgedrückt, Abstrakta aber existiren nicht. Es handelt
sich nicht um Ideen, sondern um Gott und Menschen. Gott hilft
dem Frommen und vernichtet den Bösen, das ist der Hauptartikel
des jüdischen Glaubens.
Die Frommen und die Gottlosen sind sich feind, aber sie stehn
auf dem Boden der selben Religion. Indessen greift doch der Gegen-
satz auch in das Gebiet der Überzeugung ein und geht über in
Prinzipienstreit '0- Die Gottlosen sind der Meinung, daß Gott sich
nicht um die Menschen kümmere: wenn sie dieselbe auch nicht
') Es heißt bereits bei Sirach und Dau.4, 24 oixaioS'jvTj. Freilich ist 9 ad aq a
xirsprÜD glich vielleicht bloß die Gebühr d. h. die Abgabe. Aber die Juden
scheinen es doch als Gerechtigkeit verstanden zu haben, denn sie haben dafür
auch z akut d. i. Reinheit gesagt. Dies Substantiv ist zwar bis jetzt nur in der
Sprache des Islams nachzuweisen, doch hat sich das denominative Verb auch
im Jüdischen erhalten.
-) Das Wort für praktische Überzeugung, Lebenspriuzip ist Rat. So der
218 Fünfzehntes Kapitel.
aussprechen, so handeln sie doch darnach. Von den Anderen wird
das als tatsächliche Leugnung Gottes angesehen. Ein neutraler
Gott ist kein Gott. Für die Menschen existirt er nicht, wenn er
zwischen dem der ihn sucht und dem der nicht nach ihm fragt
keinen Unterschied macht, sondern zu dem einen das gleiche Ver-
hältnis hat wie zu dem andern. Dann ist die Frömmigkeit Illusion,
sie streckt ihre Hand in die leere Luft, nicht einem Arm vom
Himmel entgegen. Sie bedarf des Lohns, nicht um des Lohns
willen, sondern um ihrer eigenen Realität sicher zu sein, um zu
wissen, daß es eine Gemeinschaft mit Gott gibt und einen Zugang
zu seiner Gnade. In der Behauptung ihrer Position haben nun
aber die Verteidiger einen schweren Stand, weil das Terrain, auf
dem der Kampf geführt wird, den Angreifern viel günstiger ist.
Nämlich ob die Frömmigkeit zu etwas nütze sei oder nicht, soll
sich auf Erden zeigen. Hienieden auf Erden muQ Gott dem
Frommen seine Gnade, dem Gottlosen seinen Zorn deutlich bezeugen,
jenem die Sünde vergeben, diesem sie behalten '). Wenn es ein
Jenseits gäbe, so könnte das Zeugnis Gottes bis dahin aufgeschoben
und der Glaube von der äußeren Erfahrung unabhängig gemacht
werden. Da aber nur das Volk, nicht der Einzelne ewige Hoffnung
hat, so muß sich die göttliche Gerechtigkeit gegen den Einzelnen
innerhalb der Grenzen seines irdischen Lebens bewähren. Auch
die Frommen sehen sich also genötigt, ihre religiöse Überzeugung
auf die Erfahrung zu stützen und daran zu erproben. Der Wider-
spruch zwischen innerem Wert und äußerem Ergehn des Menschen
erschüttert die Grundlage der Religion. Es ist das schwerste
Ärgernis, wenn der Frevler florirt, wenn der Gerechte leidet. Denn
es steht dabei immer das Prinzip auf dem Spiel, die Frage, ob die
Frömmigkeit oder ob die Gottlosigkeit mit ihrer Grundüberzeugung
Recht hat. Jeder Einzelfall verallgemeinert sich sofort, das Leiden
eines Frommen berührt alle Frommen. Sie triumphiren, wenn er
genest und gerettet wird; sie sind niedergeschlagen, wenn er dem
Rat der Gottlosen lob. 10, 3. 21,16. 22,18. Ps. 1,1; der Rat des
Frommen Ps. 14, 6.
^) Denn Sünder sind sie beide, und wenn Gott Sünde zurechnet, so ist
der eine nicht besser daran als der andere, also die Frömmigkeit vergeblich.
„Denn bei dir ist die Vergebung, damit man dich fürchte", d. h. damit Gottes-
furcht möglich und motivirt sei. Die Sündenvergebung ist das Motiv der
Gottesfurcht: sie wird applizirt durch Straferlaß.
Die jüdische Frömmigkeit. 219
Tode verfällt oder zu verfallen scheint. Ebenso ereifern sie sich
ingesamt über das Glück eines Gottlosen und jubeln gemein-
schaftlich über seinen Sturz, nicht aus Neid oder Schadenfreude,
sondern weil ihr Glaube je nachdem in Frage gestellt oder bestätigt
wird. Die Entrüstung ist gefährlich, weil sie sich leicht gegen Gott
selber kehrt, und es wird häufig davon abgemahnt. Aber trotzdem
bleibt es das jüdische Ceterum censeo: die Gottlosen müssen zur
Hölle fahren').
Ganz streng wird freilich die Theorie nicht durchgeführt; einige
Konzessionen macht die Dogmatik den Tatsachen. Nicht in jedem
Momente ist das Ergehn des Menschen ein genauer Gradmesser
dafür, wie er bei Gott stehe. Die Leiden des Frommen sind zwar
immer Anklagen oder Zeugen seiner Sünde; Zeichen, daß Gott ihm
mistraut, ihn sondirt oder ihn warnt. Aber wenn er die Prüfung
besteht oder die Warnung sich zu Herzen nimmt, so wird ihm die
Sünde vergeben d. h. die Strafe abgenommen; Gott zeigt ihm sein
Angesicht, nachdem er es verborgen hatte. Ein endgiltiges Yer-
dammungsurteil ist erst der Tod, d. h. nicht der Tod an sich,
sondern der böse Tod, gewissermaßen die göttliche Hinrichtung,
durch plötzliche Katastrophe, durch Schwert und Elend, durch Pest
und Aussatz. Daher in den Psalmen die namenlose Angst der
Frommen, wenn sie in böser Krankheit oder schlimmer Gefahr
stecken, hingerafft zu werden mit den Sündern, den Tod der Gott-
losen zu sterben, lebendigen Leibes in die Grube zu fahren; daher
in solcher Lage ihr krampfhaftes Festhalten am Leben. Es kommt
alles auf das Ende an; nach dem glücklichsten Leben kann das
Ende schlecht sein, und nach allem Unglück kann Gott dem Dulder
zuletzt noch den Anblick seiner Huld gönnen, ihn aus dem Schreken
retten und friedlich sterben lassen. Dadurch wird die Bedeutung
der äußeren Erfahrung für die religiöse Überzeugung und die Mög-
lichkeit des Konflikts zwischen beiden allerdings eingeschränkt,
wenngleich nicht so gänzlich beseitigt, wie es durch die Verlegung
des göttlichen Urteils in das Jenseits geschieht. Man verlangt nicht
viel, man verlangt keinen materiellen Genuß, keinen Ersatz für
erlittenen Schaden. Man will nur einmal Gott schauen, einen
Strahl seiner Gnade erleben, der als Absolution gilt, das Gewissen
^) Höchst unpassend kommt uns der Ausdruck dieses frommen Wunsches
z. B. in Ps. 104,35 oder 139, 19 vor. Vgl. meine Note zu Sophon. 1,3.
220 Fünfzehntes Kapitel.
des Angefochtenen beruhigt und seine Unschuld der Welt objektiv
dartut'). Was in Wahrheit auf dem Spiel steht, ist nicht der
jS'utzen der Frömmigkeit, sondern die Gerechtigkeit Gottes. Um
diese festhalten zu können, greift man zu allen Mitteln der Apo-
logetik. Man sucht die Erfahrung möglichst zu modeln und in die
Dogmatik einzuzwängen. Man gibt den frommen Bruder preis, der
im Unglück verendet ist, und hält ihn nachträglich für einen Gott-
losen; man nimmt selber in Not und Trübsal alle Schuld auf sich
um Gott keine Torheit beizumessen und seine Gerechtigkeit an-
zuerkennen; man übertreibt die allgemeine Sündhaftigkeit des
Menschen, um das Prinzip zu retten^).
3. Auf diese Weise war das Prinzip nicht zu retten. Die Er-
fahrung gab den Gottlosen Recht. Das Martyrium des Gerechten
konnte nicht geleugnet werden und wurde nun Problem der Religion.
Nachdem man glücklich so weit war, anzuerkennen, daß die Moral
die religiöse Forderung sei, ergab sich weiter die schreckliche Auf-
gabe, Stellung dazu zu nehmen, daß die Moral nichts nützt. Ein
Anfang dazu wird im Buch lob gemacht.
lobs Gottesfurcht steht außer Zweifel und doch verfällt er
einer verrufenen unheilbaren Krankheit. Ein Ende mit Schrecken
steht ihm bevor. Zu Anfang sucht er noch die Lebenshoft'nung
festzuhalten, um an der Frömmigkeit festhalten zu können. Sein
Weib rät ihm: sag Gott Valet und stirb; er weist sie zurück. Aber
auf die Dauer kann er sich der Evidenz nicht verschließen: er
muß den Tod der Verdammnis leiden und ist doch kein Gottloser.
Die Freunde suchen den Widerspruch dieser beiden Sätze aufzu-
heben, indem sie anfangs den ersten, schließlich den zweiten leugnen.
Zunächst suchen sie es ihm auszureden, daß es so gefährlich mit
ihm stehe; er solle doch nur nicht am Leben verzweifeln, nicht
1) Das wird Rechtfertigung genannt. Auch hier findet sich der
Sprachgebrauch vom doppelten Recht, dem inneren und dem äußeren: das
innere muß, wenn es verdunkelt ist, durch einen sichtbaren Spruch Gottes
(Rettung aus Gefahr etc.) zum äußeren gemacht werden. Das äußere ist gleich-
bedeutend mit Sieg, Heil, Glück. Der selbe Sprachgebrauch findet sich im
Aramäischen.
2) Renan, Histoire du Peuple d'Israel 5, 169: „Tel Saint de Mayence, en
allant au supplice, invente ä sa charge tous les crimes imaginables et s'eu
accuse pour justifier la Providence, pour maiutenir ce principe fondamental
que Dieu ne saurait finalement abandonuer son serviteur." Das ist ganz im
Geist des älteren Judentums (Ps. 51,6).
Die jüdische Frömmigkeit. 221
SO ungeduldig und ungeberdig sein, sondern die wolgemeinte Züch-
tigung annehmen; dann werde sich bakl alles zum besten wenden.
Sie demonstriren ihm, daß der Mensch immer im Unrecht sei, daß
Gott stets Ursach habe ihn heimzusuchen. Dann aber ändern sie
den Ton und erklären ihm, daß seine Frömmigkeit, wie sich jetzt
oft'enbar zeige, Heuchelschein gewesen sei: sie haben ein ganzes
Register seiner vermutlichen Sünden bereit, das sie ihm vorhalten.
Dadurch bewirken sie nun, daß er die Rücksichten abwirft, die ihn
verhindern den Tatsachen seiner eigenen Erfahrung ins Auge zu
sehen. Er bäumt sich gegen die Freunde auf. Welch ein Spott,
ihm Genesung in Aussicht zu stellen! Was ist das für eine Ge-
rechtigkeit, daß der Schöpfer die Kreaturen wiegen ihrer Kreatürlich-
keit straft und sie nicht vielmehr darum mild behandelt, weil sie
von Natur allesamt schwach und unrein sind! Er mishandelt seine
Geschöpfe und treibt mit ihnen ein grausames Spiel; sie haben
allerdings kein Recht gegen ihn, aber nur deshalb, weil er die
Macht hat. „Wie könnte ich mich mit ihm in Streit einlassen!
Obwol im Recht müßte ich meinen Widerpart anflehen, denn es
gibt keinen Richter, der über uns beiden die Hand hielte. Er würde
mich im Sturm anschnauben und mich keinen Augenblick zu mir
selber kommen lassen. Ich soll Unrecht haben, vergeblich sträube
ich mich dagegen. Wäre ich weiß wie Schnee, so würde er mich
in eine Grube tauchen, daß mir vor mir selber ekelte Ich
bin unschuldig — mir liegt nichts am Leben. Es ist eins, darum
sage ich: Fromm und Gottlos vernichtet er gleichmäßig. Wenn die
Pest plötzlich tötet, so spottet er der Qual der Schuldlosen. Die
Erde hat er dahingegeben in die Hand des Frevlers, er verhüllt
die Augen ihrer Richter — wenn nicht er, wer sonst?" lob leidet
nicht unter Krankheit und Tod, sondern unter der Verkennung
seiner Unschuld. Und sein Fall widerspricht nicht der Regel, ist
keine unerhörte Ausnahme, sondern ein allgemeines Problem. Wie
ihm, so geht es dem Weibgeborenen überhaupt; Trübsal und Leid
ist sein Los, mag er es verdienen oder nicht. Nirgend zeigt der
Weltlauf die Harmonie mit der Gerechtigkeit, welche die Dogmatik
fordert. Kriege und Seuchen wüten unterschiedlos; was lebt in
Wasser Luft und Gras, unterliegt dem Leiden. Es fällt ihm nicht
ein, sich mit der Allgemeinheit des Leidens zu trösten; es wird
ihm dadurch der Widerspruch, den er in sich selbst erlebt, nur
unleugbarer und substantieller. Gleichwol kommt es ihm noch
222 Fünfzehntes Kapitel.
immer wie eine Lästerung vor, seine Unschuld zu behaupten; er
tut es auf die Gefahr seines Lebens hin, das er freilich kaum mehr
zu verlieren hat.
Die allerschlimmste Anfechtung bleibt ihm jedoch erspart,
nämlich der Gedanke, daß der Gott, unter dessen Tritten er sich
windet, gar kein Gott sei. Er zweifelt keinen Augenblick an ihm;
er schwört: sowahr Gott lebt, der mir mein Recht entzogen! Er
leugnet nur den Gott der Freunde, dessen Gerechtigkeit sich überall
in der Welt manifestiren soll. Sie verdrehen die Tatsachen durch
ihre theologische Apologetik, sie nehmen für Gott Partei, sie lügen
für ihn — bedarf er solcher Advokaten? Es schimmert der Gedanke
durch, daß Gott die Wahrheit schon ertragen wird, so vernichtend
sie scheint. Wenngleich lob den Widerspruch der Wirklichkeit
gegen die angebliche moralische Weltordnung rückhaltslos darlegt,
kann er doch den Glauben an den Sieg der Moral durch Gott nicht
aus sich losreißen; er tut den ersten Schritt, ihn über alle äußere
Erprobung hinauszuheben. An dem Wendepunkt der höchsten Auf-
regung (Kap. 16. 17) fordert er Rache für sein ungerecht vergossenes
Blut. Die Rache ist aber an Gott zu vollstrecken, wer kann da
der Rächer sein? Es bleibt keiner übrig als Gott selber, und so
taucht der frappante Gedanke in ihm auf, daß Gott gegen Gott für
seine Unschuld eintreten werde, nachdem er sie erst gemordet. Von
dem Gott der Gegenwart appellirt er an den Gott der Zukunft;
doch wird die Identität zwischen beiden festgehalten, und schon
gegenwärtig ist der Gott, der ihn mordet, der einzige Zeuge seiner
von der Welt und von seinen Freunden preisgegebenen Unschuld,
wie er es sein muß, wenn er ihn künftig rächen soll. Gestützt
auf die unüberwindliche Macht seines guten Gewissens ringt er sich
heraus aus seinem Seelenkampf; er traut seinem unmittelbaren
Selbstgefühle mehr als dem Urteil des Geschicks, das ihn trifft,
und dem LTrteil der Welt, das sich darnach richtet; und neben
dem schrecklichen Gott der Wirklichkeit gewinnt der Zeuge im
Himmel, der gnädige und gerechte Gott des Glaubens siegreich
Raum. Allerdings hat der Glaube vorzugsweise die Form der Sehn-
sucht '), und zwar der Sehnsucht, „Gott zu schauen", d. h. ein sicht-
') „0 daß ich wüßte, wie ich ihn finden und zu seinem (Richter-)Stuhle
kommen möchte!" Kein Gottloser hat solche Sehnsucht, darum ist sie dem
lob ein Trost. Er wirft die Frage auf, ob nicht aiich Gott sich nach ihm
Die jüdische Frömiuigkeit. 223
bares Zeichen seiner wahren Gesinnung gegen den Dulder, ein frei-
sprechendes Urteil, von ihm zu erlangen. Da der Tod im Aussatz
unvermeidlich ist, so wird die entfernte Möglichkeit in Aussicht
genommen, daß Gott vielleicht noch nach dem Tode des Märtyrers
Gelegenheit habe zu seiner Rechtfertigung. Es wird dabei aber nur an
ein momentanes Aufleben aus dem Grabe, eben zu diesem Zwecke,
gedacht, nicht an eine künftige Entschädigung für die zeitliche
Trübsal.
lob bescheidet sich am Ende, die Wege Gottes nicht zu ver-
stehn'). Das ist der negative Ausdruck dafür, daß er trotz allem
an sich und an Gott festhält, daß er sich sein Gewissen von außen
her nicht mehr verwirren läßt, daß das innere Gefühl entscheidet.
Das innere Gefühl der Gemeinschaft Gottes mit dem Frommen
tritt uns auch in einigen Psalmen als eine unerschütterliche Ge-
wißheit entgegen. Es war ein gewaltiger Schritt, daß die Seele
wagte auf sich selber zu stehn und ihrem eigenen Zeugnis, dem
von Gott gegebenen gewissen Geiste, zu trauen. Ursprünglich
standen nur einzelne Bevorzugte, die Propheten, in unmittelbarem
Verhältnis zu Gott, aber nicht zu ihrem eigenen besten, sondern
zum besten der Gesamtheit. Für Jeremias wurde sein Mittlertum
die Brücke zur persönlichen Frömmigkeit; durch ihn vollzog sich
der Übergang der Prophetie zu der Religion, in dem Sinne, daß
sie das Mysterium der Verbindung zwischen Gott und Mensch im
Individuum bedeutet. Sein Leben mit Gott, wne er es in seinen
Bekenntnissen aufgezeichnet hatte, wurde das Vorbild für verwandte
Seelen der Folgezeit. Die innere Erfahrung der Gemeinschaft Gottes
wurde ihnen zu einer Macht, durch welche sie allen Schrecken
der äußeren Erfahrung trotzten. Dadurch triumphirte der ver-
achtete und getötete Knecht über die Welt, das verzagte und
zerschlagene Herz wurde mit dem Leben und der Kraft des all-
sehne: so wenig kann er von dem Gedanken lassen, daß die Frömmigkeit kein
einseitiges und eingebildetes, sondern ein wechselseitiges nnd wirkliches Ver-
hältnis ist. Zuweilen erhebt sich die Sehnsucht zum Gebet — der einzig adä-
quaten Form des Glaubensbekenntnisses.
') Der ohne Zweifel echte Schluß (Kap. 42) trägt so wenig zur Lösung
des Problems bei, wie der zweifellos echte Prolog (Kap. 1.2); man sieht daraus
nur, daß der Stoff der Fabel dem Dichter gegeben war und daß er sich daran
hielt. Eine erkenntnismäßige Lösung ist unmöglich: das Kreuz Christi ist nur
eine Potenzirung des Rätsels.
224 Fünfzehntes Kapitel.
mächtigen Gottes iu der Höhe ausgestattet. Zum kühnsten
Schwünge erhebt sich dieser göttliche Geist der Gewißheit am
Schluß des dreiundsiebzigsten Psalms. „Dennoch bleibe ich stets
an dir, du hältst mich bei meiner Rechten, du leitest mich nach
deinem Rat, du ziehst mich dir nach mit deiner Hand. Wenn
ich dich habe, so frage ich nicht nach Himmel und Erde; wenn
mir Leib und Seele verschmachten, so bist du Gott allezeit meines
Herzens Trost und mein Teil." Das hingegebene Leben wird hier
in einem höheren Leben wiedergefunden, ohne daß die geringste
Hoffnung auf ein Jenseits sich äußert; gegen Tod und Teufel
wird die innere Gewißheit der Gemeinschaft Gottes in die Wag-
schale geworfen. Das ist freilich eine Stufe der Religion, die nur
für Wenige AVahrheit hat; jedenfalls ist damit die Grenze des
Judentums weit überschritten. Die Juden sind im ganzen auf
dem Standpunkte der Freunde lobs stehn geblieben. Sie sind
grundsätzlich mit ihnen einverstanden und tadeln sie nur deshalb,
daß sie ihre richtigen Grundsätze bei lob auf die falsche Person
anwenden. Das sieht man aus den großen und kleinen Inter-
polationen des Buches.
4. Mit der persönlichen Frömmigkeit ist das Meditiren ver-
bunden, sie hat Probleme. Eben dadurch unterscheidet sie sich
von der ethnischen Stufe, auf der die Religion naturgemäßes Her-
kommen von den Vätern ist, welches der Einzelne als etwas Selbst-
verständliches mitmacht. Es ist gründlich verkehrt, die Bank der
Spötter, von der im ersten Psalm die Rede ist, mit dem Lehrstuhl
zu vergleichen, auf dem jetzt die Philosophie gelehrt wird. Die
Spötter sind Gottlose, die Gottlosen aber sind im Alten Testamente
reine Praktiker und verhöhnen die Leute, welche sich Gedanken
machen. Sie verleugnen Gott nur dadurch, daß sie handeln als
ob er sich um die Menschen nicht kümmere. Sie beruhigen sich
bei der Religion des Herkommens, die freilich in keiner Weise
moralisch auf sie wirkt; sie sind eher Orthodoxe als Zweifler.
Zweifeln und Bangen sind Kennzeichen der Religiosität. Das
lehren die Psalmen, eben darum sind sie mancher frommen Seele
so anziehend gewesen.
Allerdings wird nicht für jedermann der Glaube aus Zweifeln
geboren. Für die Menge ist nach wie vor die Religion Über-
lieferung. Indessen wird sie nicht durch das bloße Herkommen
überliefert, sondern durch die Lehre. Darin zeigt sich doch auch
Die jüdische Frömmigkeit. 225
wieder das theoretische Element. Die Lehre findet sich nicht in
einem systematischen Handbuch verzeichnet, sondern in einer
historischen Sammlung von Schriften verschiedener Art aus ver-
schiedenen Zeiten. Sie läßt sich daraus nicht fix und fertig ent-
nehmen; dem selbsttätigen Nachdenken, der freien Interpretation
wird großer Spielraum gelassen. Ganz fest stehn nur ihre einfachen
Grundlagen: der ^Monotheismus und die Moral.
Auf diesen Grundlagen fußt auch die sogenannte Weisheit,
unter deren Zeichen die Zeit stand. Die Erkenntnis, die meist in
kurzen Sprüchen niedergelegte Erfahrung der Alten, gilt als der
Weg, der zur Gottesfurcht führt. Alle Wissenschaft gehört zur
Religion; zwischen praktischer und theoretischer Einsicht wird
nicht unterschieden. Die Weisheit lehrt Zucht und Sitte und
kluges Benehmen, doch befaßt sie sich auch mit der Kosmologie,
zum Lobe des Schöpfers. Es wird einerseits die Gesetzlichkeit in
der Natur hervorgehoben, die durchgehende Ordnung nach Maß
und Zahl; wer die Erscheinungen messen und wägen könnte, hätte
den Schlüssel zu ihrer Erklärung. Andererseits wird die unabseh-
bar bunte Fülle der Arten der Geschöpfe bewundert, die gestalten-
zeugende Bilduerkraft Gottes, die krause üppige Phantasie, die ihm
all diese Formen vorspielte, als er die Welt schuf). In alter Zeit
führte die Natur ein geheimnisvolles Leben für sich, sie war noch
unerobert vom Monotheismus und erweckte Grauen, als Gebiet der
Dämonen. Jetzt ist der Bann dahin, sie ist Gott untertau, der
Mensch steht ihr furchtlos gegenüber. Der Glaube an die Allein-
herrschaft Gottes und an die Autonomie der Moral hat ihn von
ihr befreit und die Bahn gebrochen zu ihrer Erkenntnis und Be-
herrschung. So klein er ist, er ist das Ebenbild Gottes. „Wenn
ich deinen Himmel, das Werk deiner Finger, sehe, den Mond und
die Sterne, die du geschaffen, — was ist der Mensch, daß du an
ihn denkest, und ein Menschenkind, daß du es beachtest ! Du hast
^) Prov. 8. Ps. 104. Die wundersame Fauna des Meeres hat Gott ge-
schaffen, um damit zu spielen (104, 26). Eigentümlich tritt später die religiöse
Kosmologie in Zusammenhang mit der Eschatologie. Die Eschatologie wird
zur Erkundung der Geheimnisse Gottes in Geschichte und Natur. — Das poly-
theistische und ästhetische Element, die bunte Fülle der Natur, wird dem
monotheistischen und moralischen, der Gesetzmäßigkeit, untergeordnet. Himmel
und Erde müßten durch Anarchie zu gründe gehn, wenn darin Götter neben
Gott wären — sagt Muhammed Sur. 21, 22.
Wellhausen, Isr. Geschichte. 5. Aufl. 15
226 Fünfzehntes Kapitel.
ihn nur wenig hinter göttlichem Wesen zurückstehn lassen, ihn
gekrönt mit Ehre und Hoheit, ihm die Herrschaft gegeben über die
Geschöpfe deiner Hand, ihm alles unterworfen!" Diese Stimmung,
der Gegensatz von Genesis 1 zu Genesis 2. 3, ist charakteristisch
für die Zeit, wenngleich gelegentlich daran erinnert wird, daß die
Erkenntnis doch ihre engen Grenzen hat ').
Die Erkenntnis will allgemeingiltig sein. Die jüdische Weis-
heit, obwol durchaus religiös, hat doch den universalistischen
Grundzug an sich, welcher der Reflexion natürlich ist. Es ist sehr
merkwürdig, daß sie sich mit derjenigen Weisheit, die gleichzeitig
bei benachbarten Völkern, namentlich bei den Edomiten und
Nabatäern blühte, ganz auf gleiche Linie stellt, daß im Buch lob
die schwierigste religiöse Frage, an der die Juden sich quälten,
von Syrern und Arabern diskutirt wird, gleich als wäre diese
Frage, und die Religion selbst, keine jüdische, sondern eine all-
gemein menschliche Angelegenheit. Auch der Siracide preist den
Schriftgelehrten, der durch die Länder zieht um Weisheit zu
lernen. Der Monotheismus hat einen Zug zum Internationalen
und ebenso die Moral. Schon Arnos hatte Mühe, die Prärogative
Israels vor anderen Völkern festzuhalten. Erleuchtete Geister der
späteren Zeit erkannten sie nur darin, daß Israel zum Propheten
für die Welt berufen sei. Zum behuf der Selbsterhaltung, um
sich nicht im Heidentum zu verlieren, schaalten sich die Juden
nach dem Exil freilich doch wieder in den Formen ihrer alten
ethnischen Religion ein. Sie betrachteten das als eine Notwendig-
keit, aber sie ließen sich trotzdem die Weitherzigkeit und die
Rationalität nicht rauben, welche in dem moralischen Monotheis-
mus liegt: es ist die wundersamste, nur geschichtlich einiger-
maßen zu begreifende Antinomie. Selbst der Priesterkodex stellt
als das eigentliche Muster der Frömmigkeit den vormosaischen
Erzvater Abraham auf, kennt also eine vom Kultusgesetz unab-
hängige Frömmigkeit. Der Apostel Paulus hat Recht, sich darauf
zu berufen. Wie Abraham, so können seit dem Exil auch seine
Söhne in der Fremde ein Gott wolgefälliges Leben führen; sie
^) Prolegomena p. SlOss. Nach lob 28 ist die Weisheit im eigentlichen
Sinn nur Gott vorbehalten, dem Menschen aber versagt; ihm ist es Weisheit
dies einzusehen und an stelle der ihm unerreichbaren Erkenntnis die Frömmig-
keit zu setzen. Ebenso sind nach Kap. 38 ss. die Werke Gottes den Vor-
stellungen des Menschen incommensurabel.
Die jüdische Frömmigkeit. 227
können in Babylonieu ebenso gute Juden sein, wie in Palästina;
die Religion hat sich von dem heiligen Lande gelöst, an das sie
früher völlig gebunden war. Auch über das Volk greift sie
hinaus und zieht die Heiden heran. Die Heiden stammen wie die
Juden von Noah ab, dieser ist der Vertreter einer gewissen
natürlichen Religion, welche auch noch bei den Heiden durch-
schimmert und an der sie sich genügen lassen können. Wie wenig
Schwierigkeiten es den Juden machte, sich einen heidnischen
Monotheismus vorzustellen, der dem jüdischen sehr nahe kam, zeigt
die Gestalt Melchisedeks und aus späterer Zeit die des Jonithos
und der Magier aus dem Morgenlande. Sie sträubten sich nicht
dagegen, das was sie mit den Heiden gemeinsam hatten anzuer-
kennen; sie freuten sich darüber, daß die Verehrung des einen
und wahren Gottes überall in der Welt durchzudringen schien. „Vom
Aufgange der Sonne bis zu ihrem Niedergange ist mein Name
unter den Völkern groio; überall wird meinem Namen reine Gabe
geopfert, weil mein Name groß ist unter den Völkern." Der Ver-
fasser des Buches Malachi, der diese Worte schreibt, redet von
einer Tatsache der Gegenwart. Er hofft nicht etwa, daß in Zu-
kunft die Heiden sich bekehren würden; er hat auch nicht solche
im Auge, die das Judentum angenommen hatten, denn diese durften
nicht „überall" opfern, und er redet nicht von Einzelnen, sondern
von den Völkern. Er erkennt also den Monotheismus in den
Religionen der Völker an. Schwerlich denkt er bloß an die Perser,
die zu seiner Zeit allerdings die herrschende Nation waren. Er
begrüßt vielmehr das Endresultat der alten Weltgeschichte: die
durch die Zerstörung und Mischung der Nationen bewirkte Theo-
krasie, die aus den Göttern den allgemeinen Gott abstrahirte und
diesen zur Hauptsache machte.
In diesen Zusammenhang gehört als wichtigstes Faktum, daß
die Juden damals begannen, sich ihres alten Jahve zu entledigen.
Es heißt zwar, daß fromme Scheu sie bewogen habe, den Namen
nicht mehr auszusprechen; sie hätten ihn aber doch nicht aufgeben
können, wenn ihr geschichtlicher, nationaler, ihnen allein eigener
Gott noch wahrhaft lebendig gewesen wäre. Statt Jahves kamen
allgemeine Gottesnamen in Gebrauch, gleiche oder ähnliche wie
bei den Aramäern, Syrophöniziern und Arabern: Elohim und El,
Adonai und Elion; letzterer (der höchste Gott) ist der bezeich-
nendste für die Zeit, wenngleich er nicht grade häufig angewandt
15*
228 Sechzehntes Kapitel.
wird. Es hieß nicht mehr: der Gott Israels, sondern: der Gott
des Himmels; später wurde auch geadezu der Himmel gesagt für
Gott'). Man sieht aus diesen sprachlichen Erscheinungen am
allerdeutlichsten, wie sehr der Universalismus die Juden beherrschte,
wie international sie im Prinzip gerichtet waren, trotzdem daß sie
noch in den Fesseln ihrer alten Bräuche lagen.
Die jüdische Frömmigkeit geht über den Begriff, den das Alter-
tum mit Religion verband, hinaus. Die Richtung des jüdischen
Geistes konvergirt mit der Richtung, die der griechische Geist etwa
seit dem sechsten Jahrhundert genommen hat. Hier wie dort stellt
sich der Gegensatz zum Ethnicismus dar; wer Empedokles und
Äschylus oder gar Sokrates und Plato Heiden nennt, verbindet
mit dem Wort keinen Begriff mehr. Man verwirft das Leben
in den Tag hinein, man fragt nach seinem Sinn und richtet es
ein auf grund einer persönlichen Überzeugung. Der Monotheis-
mus selber ist in gewissem Sinne Philosophie, das Ergebnis einer
gewaltigen Abstraktion des Geistes von allem Sinnenfälligen. Ein
Wunder ist es nur, daß den Juden ihr Gott kein Abstraktum
geworden, sondern die lebendigste Persönlichkeit geblieben ist. So
erhielten sie sich doch ihre Religion, sie waren davon ganz anders
durchdrungen und überzeugt als die Griechen von ihrer Philosophie,
die gegen den Götterglauben des Volkes gewöhnlich eine merk-
würdige Toleranz bewies.
Sechzehntes Kapitel.
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger.
1. Alexander der Große machte der persischen Herrschaft
ein Ende und brachte das Reich an die Griechen. Nach dem Siege
von Issus bog er südwärts ab und setzte beinah zwei Jahre daran.
^) Daher die coelum metuentes Judaei bei Horaz und die coelicolae
im Kodex Theodos. und Justinian. Bei den heidnischen Aramäern und Phö-
niziern taucht im zweiten vorchristlichen Jahrhundert der Name Beel Sche-
min (schon bei Plautus) auf; er ist für die universalistische Zeitströmung
charakteristisch. „Der höchste Gott" ist ursprünglich heidnisch, wie schon der
Superlativ erkennen läßt. Daß die Juden den Namen (Gen. 14. 18 — 20) auf-
genommen haben, zeugt gleichfalls für die Universalität ihres Monotheismus.
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 229
um sich den Besitz von Syrien und Ägypten zu sichern. Dann
lieferte er dem Achämeniden die letzte Schlacht und drang vor bis
zu den Enden der Erde, und die Erde war ruhig zu seinen Füßen.
Da starb er, und sie wurde sehr unruhig. Die großen Satra-
pen machten sich unabhängig und gründeten selbständige Throne.
Nicht durchweg in schroffem Gegensatze zu der Idee der Universal-
monarchie. Der Gedanke des geschlossenen Staates innerhalb
natürlicher Landesgrenzen wurde am entschiedensten in Ägypten
gefaßt und ausgeführt, das Land bot die günstigste Position dafür
und Ptolemäus verstand sie auszunützen. Anders lagen die Ver-
hältnisse in Asien. Die Länder am Euphrat und Tigris, vom per-
sischen bis zum mittelländischen Meer, in denen jetzt allgemein
aramäisch gesprochen wurde, waren der Sitz des „Reiches" d. h.
der L'niversalmonarchie seit lange gewesen, und sie blieben es auch
fürderhin.
Zwischen Asien und Ägypten in der Mitte, vom Taurus und
Amanus bis zur Wüste des Sinai sich erstreckend, lag Syrien. In
vergangenen Tagen war es von beiden Seiten umworben und um-
stritten gewesen, dies alte Spiel wiederholte sich jetzt. Zuerst
wurde das Land, mitsamt der davor liegenden Insel Cypern, die
Beute des Ptolemäus, der es im Jahre 320 dem Laomedon abnahm.
Als dann aber Antigonus, durch die Überwältigung des Eumenes
Herr von Asien geworden, die Hand nach der Weltherrschaft aus-
streckte, begann er den Kampf gegen die Koalition, die sich nach
der Vertreibung des Seleucus aus Babylon gegen ihn gebildet hatte,
mit dem Angriff auf Ptolemäus. Er entriß ihm Syrien mit leichter
Mühe (315), mußte sich dann aber nach Westen gegen Lysimachus
und Kassander wenden. Getrieben von Seleucus, der aus seiner
Provinz Babylonien zu ihm geflüchtet war, brach nun Ptolemäus
wieder in Syrien ein, schlug den jungen Demetrius, den Antigonus
ihm entgegensandte, bei Gaza (312) und bemächtigte sich wenigstens
der südlichen Hälfte des Landes. Er räumte sie indessen schon
im nächsten Jahre, als Antigonus selber herankam. Einen dau-
ernden Gewinn trug der Sieg von Gaza nur dem Seleucus ein^).
Mit geringer Macht gelang es ihm, sich wieder in den Besitz seiner
^) Daniel 11,5: unter den Nachfolgern Alexanders erlangt der König von
Ägypten besondere Macht, aber einer seiner Hauptleute (Seleucus) wird noch
mächtiger und gründet eine gewaltige Herrschaft.
230 Sech zehntes Kapitel.
eben herrenlos gewordenen alten Satrapie zu setzen, wo er von
früher her gute Verbindungen hatte. Babylon und der Osten blieb
seitdem für Antigonus verloren.
Der Friede von 311 löste die Spannung der Verhältnisse nicht.
Die Fehde entbrannte von selbst wieder, wenngleich zunächst nicht
im Zentrum der Verwicklung, sondern in der Peripherie. Der alte
Antigonus blieb in Syrien, gründete dort seine Stadt Antigonia
am Orontes und sorgte für die Mittel des Krieges. Die Führung
desselben überließ er seinem Sohne Demetrius. Dessen Hauptmacht
war die Flotte, durch einen großen Seesieg entriß er Cypern den
Ägyptern (306). Die Miserfolge der nächsten Zeit beugten ihn
nicht nieder, und in den Jahren 804. 303 zeigte er sich in Griechen-
land so gefährlich, daß sich eine neue Koalition gegen ihn und
seinen A^ater bildete. Bei Ipsus in Phrygien kam es zum Ent-
scheiduugskampfe, Antigonus fiel und mit ihm sein Reich in Asien
(301). Aber Demetrius entkam mit einem Reste des Heeres. Er
besaß noch Cypern Tyrus und Sidon, und er behauptete die See.
Nach langen Kämpfen gelang es ihm, in Europa festen Fuß zu
fassen. Als er aber Anstalt machte, auch Asien wieder zu erobern,
erlag er einer allgemeinen Treibjagd (287/6) und endete in der
Gefangenschaft des Seleucus (283). Es ist merkwürdig, daß er
trotzdem der Begründer der macedonischen Dynastie geworden ist.
Bei Ipsus hatten Lysimachus und Seleucus zusammen gestanden
gegen Antigonus. Den Sieg indessen hatte vorzugsweise Seleucus
erfochten, mit den vielen Elefanten, die er dem Inder Sandrakottus
verdankte. Demgemäß fiel ihm der größte Teil der Erbschaft zu;
am Ende seines Lebens, zwanzig Jahre später, eroberte er auch
noch die Herrschaft des Lysimachus und gewann fast ganz Klein-
asien. Er erschien den Orientalen als der wahre Nachfolger
Alexanders, und nach ihm rechneten sie die Ära der Griechen ').
^) Es ist die älteste fortlaufende Ära, die es gibt; sie findet sich in der
Geschichtschreibimg zuerst bei den Juden (l Macc.) angewandt und hat sich
auch bei ihnen am längsten im Gebrauch erhalten, innerhalb gewisser Grenzen
bis auf die Neuzeit. Sie beginnt im Herbst 312. Da also das Seleucidenjahr
nur mit einem Viertel vor den 1. Januar fällt, dagegen mit drei Vierteln da-
rüber hinaus, so kürze ich öfters ab und schreibe nicht 312/311, sondern ein-
fach 311 für A. Seleuc. 1 u. s. w., wenn besondere Genauigkeit unnötig oder
unmöglich ist. Der Herbstanfang des Jahres war allgemein im westsemitischen
Kulturgebiet und wurde nicht etwa erst durch die Macedonier eingeführt.
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 231
El' blieb aber, nach der Schlacht von Ipsus, nicht im Osten wohnen,
sondern setzte dort seinen Sohn Antiochus zum Eegenten ein,
während er seine eigene Residenz nach Syrien verlegte, wo auch
Antigonus gewohnt hatte, in die „Seleucis". Nicht w^eit von An-
tigonia baute er Antiochia, mit dem Hafen Seleucia. Wie in
Ägypten ebenso lag nun in Asien der Sitz der Regierung am
äußersten Ende des Reichs, an der Küste des mittelländischen
Meeres. Das schien notwendig, um die Beziehung zur griechischen
Welt wahren und in die große Politik eingreifen zu können.
Seleucus gelangte jedoch nicht in den Besitz von ganz Syrien.
Seine unbestrittene Herrschaft reichte nur bis zum Flusse Eleu-
therus. In Judäa und Samarien dagegen, in Tyrus und Sidon hatte
Ptolemäus sich festgesetzt'). Dies Gebiet war ihm als Bollwerk
für Ägypten sehr nützlich, von Natur gehörte es aber zu Asien,
zum Reiche des Seleucus. So entstand aus der alten Ursache wie-
derum die alte Spannung zwischen Asien und Ägypten, die seit
dem Tode der beiden ersten Herrscher in einen andauernden,
wenngleich häufig latenten Kriegszustand überging. Syrien war
das wichtigste Objekt des Kampfes, doch nicht der gewöhnliche
Schauplatz. Isoliren ließ sich damals nichts, die Politik brachte
das Entfernteste in Wechselbeziehung. Die Seemacht Ägypten
stand gleichmäßig den beiden Landmächten, Asien und Macedouieu,
gegenüber und suchte zu verhindern, daß sie sich befestigten. Sie
setzte sich ihnen allenthalben auf die Nase durch Besetzung ge-
eigneter Küstenpunkte, sie trieb ihnen Pfähle ins Fleisch durch
Unterstützung der hellenischen Freiheit und der in Kleinasien sich
erhebenden Zwischenreiche.
Über die Geschichte der syrisch-ägyptischen Kriege haben Avir
größtenteils nur sehr dürftige und unklare Nachrichten. Die erste
Phase wird geschlossen und die zweite eröffnet durch den be-
rühmten Frieden, zu dessen Besiegelung Antiochus II. die Tochter
des Ptolemäus IL, Berenice, heiratete (249/8). Sie brachte ihm,
wenn auch nicht Land und Leute, so doch eine ungeheure Mitgift
zu. Aber ihretwegen mußte er seine ältere Gemahlin Laodice, mit
zwei heranwachsenden Söhnen, entfernen, und das war sein und
seines Hauses Verderben ^). Laodice hatte eine einflußreiche Partei
0 Niese, Geschichte der griechischen und makedonischen Staaten 2, 124 s.
2) Dan. 11, 6 und Hieronymus z. d. St.: Antiochus Theos adversus Ptole-
232 Sechzehntes Kapitel.
auf ihrer Seite; der König knüpfte wieder mit ihr an, als er im
Jahre 247/6 sich in der Gegend von Sardes befand. Sie vergiftete
ihn und ließ ihren Sohn, Seleucus IL, zum König ausrufen.
Berenice fand mit ihrem Söhnchen in Antiochia einen grausamen
Tod. Die Rache übernahm ihr Bruder Ptolemäus III. Er brach
mit ganzer Macht in Asien ein und durchzog es siegreich wie einst
Sesostris '), bis ihn eine Empörung in Ägypten zurückrief. In
einem Teile Kleinasiens hatte sich indessen Seleucus II. behauptet.
Von da aus dehnte er, bald nach dem Abzüge des Ptolemäus,
seine Herrschaft wieder über die Seleucis und die Gegend am
Euphrat aus; ein Augriff auf Cölesyrien misglückte freilich"').
Da warf sich in Kleinasien sein jüngerer Bruder, Antiochus Hierax,
gegen ihn auf. Es folgte ein langwieriger, hin und her schwankender
Krieg zwischen den beiden Brüdern, den Freunde und Feinde auf
kosten des Reiches sich zu nutze machten. Parther und Galater,
Ägypter und Pergamener griffen darin ein. Die kriegerischen
Galater standen auf Seite des Hierax, freilich als sehr eigenmächtige
und gefährliche Helfer. Sie brachten dem Seleucus bei Ancyra
eine schwere Niederlage bei. In folge davon brachen die Parther
unter Arsaces Tiridates in das östliche Medien ein. Seleucus sah
sich veranlaßt, gegen sie zu Feld zu ziehen, besiegte sie auch,
wurde dann aber durch einen Aufstand in seiner Hauptstadt nach
Syrien zurückgerufen. In Kleiuasien fochten indessen die Per-
gamener wenn nicht für ihn, so doch gegen seine Feinde. Attalus
erwehrte sich der gefürchteten Galater mit Glück und gewann
mehrere Siege über sie, die in den berühmten Denkmälern von
Pergamum verewigt sind. Hierax geriet mehr und mehr ins Gedränge,
hatte auch in Mesopotamien, wohin er sich wandte, kein Glück,
maeum Philadelphum gessit bella quam pluriina et totis Babylonis atque Orientis
viribus dimicavit. Yolens itaque Ptolemaeus post multos annos molestum fiuire
certameu filiam suam uomine Berenicen Antiocho uxorem dedit de-
duxitque eam usque Pelusiuin et infinita auri et argenti milia dotis nomine
dedit: unde phernophoros appellata est.
^) Dan. 11,7.8: an Stelle des Ptolemäus II. tritt sein Sohn, rüstet ein
Heer, dringt in das Bollwerk der Syrer ein, besiegt sie gänzlich, und schleppt
ihre Götter und Bilder nebst anderer reicher Beute nach Ägypten.
^) Dan. 11,9: Ptolemäus IL steht einige Jahre von Seleucus II. ab, der
dringt seinerseits in ägyptischen Besitz vor, muß aber umkehren in sein Land.
Über Seleucia vgl. Niese 2, 168.
I»ie Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 233
konnte sich dann in Kleinasien gegen Attalus nicht halten und
wurde schließlich in Thracien ermordet, wohin er übergetreten
war. Seleucus aber überlebte den Tod seines Bruders nur um
ein Jahr, er starb im Jahre 226 in folge eines Sturzes vom
Pferde ')•
Er hatte doch nicht umsonst sein Leben verkämpft. Sein
Reich brach nach seinem Tode nicht zusammen, sondern erhob
sich neu. Er hinterließ zwei jugendliche Söhne. Der ältere,
Seleucus III., wurde im Jahre 223 ermordet, als er den Kampf mit
Attalus aufnahm, der nach dem Tode seines Vaters fast alle
seleucidischen Besitzungen diesseit des Taurus erobert hatte. Ihm
folgte der jüngere, Antiochus III., der bis dahin in Babylon residirt
hatte. Dieser überließ die Fortsetzung des Krieges in Kleinasien
seinem Vetter Achäus, der sich dem Feinde durchaus überlegen
zeigte. Er selber benutzte den Thronwechsel in Ägypten, wo ein
sehr minderwertiger vierter Ptolemäus auf den dritten gefolgt war,
und griff Cölesyrien an, im Sommer 221. Allerdings ohne Nach-
druck und Erfolg; denn in seinem Rücken waren die Statthalter
von Medien und Persien abgefallen. Nachdem er mit diesen
fertig geworden war, nahm er den Kampf gegen Ptolemäus IV.
wieder auf, bezwang Seleucia, das bis dahin immer noch in Feindes
Hand geblieben war, und dehnte sich in Cölesyrien aus (219. 218).
Aber im Frühling 217 wurde er von dem Ägypter, der inzwischen
Zeit zu umfassenden Rüstungen gefunden hatte, bei Raphia in der
Nähe von Gaza geschlagen und räumte seine Eroberungen. Er
hatte in Kleinasien zu tun, um sich Achäus aus dem Wege zu
schaffen, der sich dort zum Könige gemacht hatte. Dann war er
wieder Jahre lang im fernen Osten beschäftigt. Er unterwarf sich
den Partherkönig, schloß nach hartnäckigem Kampf Freundschaft
mit den Griechen von Baktra, erneuerte die alten Beziehungen
seines Hauses zu dem indischen Nachbar und kehrte endlich durch
das mittlere und südliche Iran zurück an den persischen Golf, an
dessen arabischer Seite er den Handelsstaat der Gerrhäer sich und
seinen Zwecken dienstbar machte. Bald darauf starb Ptolemäus IV.
(205), ein vierjähriges Kind war der Erbe des von inneren Ge-
fahren schlimm bedrohten Reiches. In diesem Augenblick ver-
bündeten sich die Könige von Asien und Macedonien zu einer
1) Niese 2, 151 — 171.
234 Sechzehutes Kapitel.
Teilung Ägyptens. Antiochus bemächtigte sich Cölesyriens bis auf
einzelne Punkte, ohne Widerstand zu finden. Dann drang zwar,
unter dem Atoler Skopas, ein ägyptisches Heer vor, aber er
rückte dem Skopas entgegen, besiegte ihn bei dem Panium an
der Jordanquelle im Sommer 200') und nahm auch das feste
Sidon ein, wohin sich jener geworfen hatte. Damit war der
Besitz von ganz Syrien für die Seleuciden endlich entschieden.
Von einem Angriff auf Ägyten selbst mußte Antiochus vorläufig
abstehn, er schloß einen Frieden und bekräftigte ihn durch die
Verlobung seiner Tochter Kleopatra mit dem jungen Ptolemäus V.
Aber eben dadurch sicherte er sich eine Handhabe für zukünftige
Einmischung; er dachte nicht daran, sein Versprechen zu halten,
daß die Braut Cölesyrien als Mitgift bekommen sollte^).
2. Die Juden sahen zu, wie Alexander die Welt eroberte
und wie nach seinem Tode die macedonischen Heerfürsten um
seinen Nachlaß Würfel spielten. Sie waren die fremde Herrschaft
gewohnt und behielten ihr Gleichgewicht, wenn sie den Namen
wechselte; sie freuten sich sogar über den allgemeinen Zusammen-
bruch der Erdenmächte (Ps. 46). Sie fügten sich den Umständen
und versuchten nicht irgendwie in den Lauf der Dinge einzu-
greifen; so blieben sie in ihrem geistlichen Gemeinwesen unter
der Vorsteherschaft ihrer Hohenpriester ziemlich unangefochten.
Daß sie mit Alexander beinah hart aneinander geraten wären,
wegen ihrer Treue gegen die persische Dynastie, ist eine plumpe
Erfindung. Die Angabe, daß Ptolemäus I. sich an einem Sabbat
Jerusalems bemächtigt habe, ist zwar besser bezeugt, läßt sich
aber nicht datiren^). Mehr hören wir von Samarien. Diese Stadt
0 Niese 2, 578. Der gewöhnliche Ansatz ist 198; er \Yird von Strack
in den Gott. G. A. 1900 p. G48 verteidigt, wie mir scheint mit unzureichenden
Gründen.
-) Dan. 11,10 — 19. Der hebräische Text ist vielfach unverständlich, aber
die Erklärung des Hieronymus oder in Wahrheit des Porphyrius ist die Haupt-
quelle für die Geschichte des letzten Kampfes xim den Besitz Cölesyriens, da
die Erzählung des Polybius nur restweise erhalten ist (Jos. Ant. 12, 129 ss.).
— Die Behauptung des Josephus, daß die Steuern Cölesyriens, nach 197,
zwischen Seleuciden und Ptolemäern geteilt seien (Ant. 12, 155), ist wol nur
eine Verlegenheitsannahme zur Beseitigung eines Widerspruchs in der Geschichte
des Tobiaden Josephs.
3) Agatharchides bei Jos. contra Ap. 1, 209 s. Ant. 12, 6; vgl. Niese 1, 230
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 235
wurde nach einem Aufstaude durch Alexander selber oder durch
Perdiccas bezwungen uud mit macedonischen Soldaten besiedelt;
sie war vollkommen heidnisch und stand mit der Gemeinde der
Samariter nicht in Verbindung. Als Ptolemäus im Jahre 311
Cölesyrien vor Antigouus räumte, zerstörte er vorher außer Akko
Jope und Gaza auch Samarien. Im Jahre 296 wurde es von
Demetrius dem Ptolemäus entrissen. Es war schon ehedem der
Sitz der persischen Behörden gewesen und es blieb auch unter
dem griechischen Regiment der politische und militärische Mittel-
punkt jener Gegend. Vergleichsweise scheinen die Juden wenig
unter den Stürmen der Zeit gelitten zu haben. Seit dem Jahre
301 standen sie unter der Herrschaft der Ptolemäer.
Aber auch für sie war doch eine neue Zeit angebrochen.
Die Welt drehte sich nicht mehr um Babel und Susa, sondern um
Alexandria und Antiochia. Ihr eigenes Land lag in der Mitte
zwischen den Sitzen der beiden Hauptmächte, und sie beobachteten
das Ringen derselben aus nächster Nähe. Das vierte Reich, eben
das griechische, galt ihnen zwar als die Fortsetzung der drei
früheren; aber sie fanden, daß es sich merklich von jenen unter-
schiede (Dan. 7, 7). Die Perser, obwol Arier, waren doch auch
Orientalen gewesen. Sie hatten die ihnen unterworfenen semiti-
schen Völker nur beherrscht, innerlich aber nicht eben stark be-
einflußt; sie hatten mehr empfangen als gegeben. Die Griechen
dagegen besaßen eine von der orientalischen sehr verschiedene
Kultur, und sie drangen damit tief in das Morgenland ein ').
Alexander wollte Orient und Occident vermählen. Bei den
n. 4, Den Dius bei Jos. c. Ap. 2, 82, der Jerusalem bezwungen haben soll,
korrigirt Niese in Pius und versteht darunter den Sidetes, nach Ant. 13, 244.
^) Die Bedeutung des Gegensatzes zwischen Ariern und Semiten ist von
den Sprachvergleichern und noch mehr von ihren Nachtretern über alle Grenzen
ausgedehnt. Die Griechen sind Griechen und keine bloßen Indoeuropäer: es
ist sehr ungerecht, das was wir von den Griechen bekommen haben, die Kunst,
die Wissenschaft, die Humanität, dem indoeuropäischen Insgemein gut zu
schreiben und es gegen die Semiten in die Schale zu werfen. In der Kultur,
z. B. im städtischen Leben, standen die Griechen den Aramäern viel näher
als den Iraniern. Von dem macedonischen Adel kann man das allerdings
nicht sagen. Der glich in seiner Yorliebe für Reiten, Jagen, Fechten und
Zechen dem iranischen Adel, nur daß dieser keinen Philipp und Alexander,
keinen Demetrius imd Pyrrhus hervorbrachte — Männer, deren aristokratische
Leibes- und Geisteskraft griechisch geschult war.
236 Sechzehntes Kapitel.
Iraniern, auf die er es vorzugsweise abgesehen liatte, gelang es am
wenigsten. In Ägypten gewann zwar das Griechentum nicht bloß
in der neuen glänzenden Hauptstadt, sondern auch im Delta und
im Faijum sehr feste Positionen, aber das einheimische Wesen
wurde wenig davon berührt und blieb in Wahrheit ziemlich ebenso
starr und abgeschlossen, wie es früher gewesen war. Viel zugäng-
licher waren dem griechischen Wiesen die Völker aramäischer Zunge
im seleucidischen Reiche. Hier lag der Ursprung und das eigent-
liche Gebiet des Weltreichs. Hier hatten die Assyrer und die
Chaldäer wirksam vorgearbeitet, eine Mischung der Stämme und
Götter erzeugt und ein großes Verkehrsgebiet mit gemeinsamer
Sprache geschaffen. Die Nationalitäten waren hier längst gebrochen ;
jedoch entstand daraus nicht etwa ein einheitliches starkes und
selbstbewußtes Volk, sondern innerhalb des losen Verbandes ein
Chaos von Einzelbildungen, ähnlich wie im heiligen Römischen
Reich nach der Niederwerfung der Stammherzogtümer. Hier konnten
die Griechen überall in die Fugen dringen; sie fanden einen durch
das Eisen mürbe gemachten, durch alte Kultur und freien Verkehr
aufgeschlossenen Boden. Die griechischen Städte schössen hier wie
die Pilze aus dem Boden, namentlich in Syrien. Sie wurden von
dem Städtegründer Seleucus und von seinen Nachfolgern zunächst
als Residenzen und als Militärkolonien angelegt. Die kriegerische
Invasion brach aber dann einer friedlichen die Bahn, mit den
Macedoniern kamen die längst wanderlustigen Griechen, der
Orient wurde ihr Amerika. Man muß freilich nicht glauben, daß
erst dadurch das städtische Wiesen bei den Aramäern eingeführt
worden sei; es bestand bei ihnen seit weit älteren Zeiten. Nur
sehr wenige Städte entstanden damals wirklich neu, meist wurden
schon vorhandene umgegründet und umgenannt, zuweilen rebellische
zerstört und wieder besiedelt. Griechische Stadt bedeutet nur Stadt
mit griechischer Kolonie und griechischer Verfassung. Die ange-
siedelten Macedonier, die von Kopfsteuer befreit waren, bildeten
die bevorrechtete Bürgerschaft; in zweiter Linie standen die eigent-
lichen Griechen. Daneben blieb aber die einheimische Bevölkerung,
und sie wuchs durch die Steigerung des Verkehrs, die damals
eintrat. Handel und Gewerbe blühten auf, der Orient erlebte trotz
aller Unruhe eine Zeit glänzender Prosperität. Die kosmopolitische
Sprache und Zivilisation war die griechische; ihrem Einfluß konnten
sich, wenigstens in Syrien, auch diejenigen Städte nicht entziehen.
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 237
die gar nicht irgendwie kolonisirt waren. Allerdings ging der
Hellenismus nur bis auf die Haut, nicht bis auf die Knochen.
Er beherrschte nur die größeren Städte, nicht das platte Land.
Das Dorf blieb aramäisch und die Wüste arabisch. Und selbst in
den Städten wurde die aramäische Kultur, die nicht von gestern
war, und die aramäische Sprache nicht verdrängt, w'enn auch stark
beeinflußt ').
In den Bereich der aramäischen Kultur fielen auch die Juden,
politisch aber gehörten sie während des ersten Jahrhunderts der
griechischen Periode zu Ägypten. Daher kam es, daß sie zuerst
von dort her die Einwirkung des Hellenismus erfuhren. Indessen
nicht so sehr im Zentrum als in der Peripherie, nämlich in der
Diaspora. Ägypten war das früheste Gebiet der Diaspora und blieb
lange Zeit das wichtigste^). Alexander soll die Juden in Alexandria
augesiedelt, Ptolemäus I. sie zu vielen Tausenden nach Ägypten
übergeführt haben ^). In Wahrheit werden sie auf die selbe AVeise
dorthin gekommen sein, wie die Samarier und die Syrer überhaupt,
teils gezwungen als Sklaven, teils um des Verdienstes willen als
Arbeiter und Händler. Sie wurden aus der Provinz in die Welt
1) Nöldeke Zeitschrift der DMG 1885 p. 336. Mit dem Aufhören der
griechisch-römischen Herrschaft hörte auch der Hellenismus auf, weil das
Land, aus dem die Stadt sich rekrutirt, nicht griechisch geworden war. Leider
können wir uns von der aramäischen Kultur nur aus den Inschriften einen
schwachen Begriff machen; die Literatur ist verloren und die Altertumswissen-
schaft hat grade diesen Verlust tief zu beklagen, wie jetzt mehr und mehr
klar wird.
-) Vgl. zum Folgenden überhaupt Willrich, Juden und Griechen 1895.
Dies Buch ist weiterhin immer gemeint, wenn nur der Name des Verfassers
genannt ist.
^) Diese Nachricht fließt aus trüben Quellen. Im Aristeasbrief steht, der
König, milde zugleich und energisch, habe eine Menge Leute aus Syrien teils
als Ansiedler, teils als Kriegsgefangene nach Ägypten gebracht, darunter
100000 Juden, von denen er 30000 Männer bewaffnete und als Besatzungen
in den festen Plätzen verwendete. Pseudohekatäus (contra Ap. 1, 186 vgl. 194)
sagt, nach der Schlacht von Gaza hätten sich viele Leute aus Syrien dem
Ptolemäus wegen seiner Leutseligkeit angeschlossen und seien nach Ägypten
gezogen, darunter auch der 66jährige Hohepriester Ezechias. Bei Diodor heißt
es 19, 85, Ptolemäus habe nach der Schlacht von Gaza 8000 kriegsgefangene
Soldaten des Demetrius nach Ägypten geführt, und w'eiter 19, 86, er sei ein
wolwollender milder Herr gewesen: hierin vermutet Willrich den Ausgangspunkt
für die Fälschungen der jüdischen Literaten.
238 Sechzehntes Kapitel.
hinausgelockt, namentlich in die Weltstadt Alexandria; ihr Talent
zum Handel entdeckten sie in dieser Zeit. Fest steht, daß sie
bereits unter dem zweiten und dritten Ptolemäer nicht bloß in
Alexandria, sondern auch in andern ägyptischen Städten und
Dörfern gewohnt haben '). Sie schmiegten sich nicht den Kopten
an, sondern den Griechen; sie trugen vereinzelt neben ihren he-
bräischen auch schon griechische Namen -). Verhältnismäßig schnell
vertauschten sie die aramäische mit der griechischen Sprache und
gebrauchten sie sogar im Gottesdienste. In Alexandria wurden
ihre heiligen Bücher in ein Griechisch übertragen, welches im Bau
der Sätze und im Gebrauch der Partikeln und Metaphern freilich
durchaus hebräisch Avar. Wann dies geschah, läßt sich leider nicht
mit Sicherheit bestimmen. Der Anfang wurde jedenfalls mit dem
Gesetze gemacht, der Name Septuaginta bezieht sich eigentlich nur
auf den griechischen Pentateuch. Die vier großen und die zwölf
kleinen Propheten können erst nach den makkabäischen Kriegen
übersetzt worden sein, ebenso auch die Psalmen^). Das älteste
Zeugnis dafür, daß das Gesetz und die Propheten und noch andere
väterliche Schriften griechisch vorhanden waren, stammt von dem
Enkel des Jesus Sirach, der im Jahre 132 nach Ägypten kam^j.
Die Diaspora vermehrte sich durch fremde Elemente, die sich
ihr anschlössen, meist aus den niederen Klassen; zu den Juden
^) Papyri aus dem dritten Jahrhundert nennen ein Dorf Samareia im
Faijum, unterscheiden Juden und Hellenen als Bewohner eines Dorfes Psenyris
ebendaselbst, führen Namen jüdischer und syrischer Arbeiter auf. Ein Ptole-
mäer verleiht in der Inschrift C. I. G. III suppl. 6583 einer jüdischen Proseuche
die Asylie; welcher gemeint ist, ist nicht ganz sicher.
') ['"'^PXl'^^M'OS ^s "'^"'^ auptaxt 'IiuvocOöc; Flinders Petrie pap. ed. Mahaify 2,23.
3) Das Buch Daniel, die Kapitel Zach. 9—14 und das Stück Isa. 19,26—25,
ferner die Psalmen 44. 74. 79. 83 149 u. a. sind nicht viel früher verfaßt, also
auch nicht früher übersetzt.
*) Der Aristeasbrief kann nicht vor dem ersten Jahrhundert (ante Chr.
nat.) angesetzt werden, wie Willrich nachweist. Jüdische Häfen im Plural —
darauf kommt es an, nicht auf die einzelnen Namen, die genannt werden —
hat es erst seit Jannäus gegeben, und die griechischen Eigennamen bei den
palästinischen Juden sind erst spät gewöhnlich geworden. Die übliche frühe
Datirung von Eupolemus und Demetrius steht auf schwachen Füßen. Der
jüdische Philosoph Aristobulus (2 Macc. 1, 10) ist dem Josephus unbekannt,
sonst hätte er ihn gegen Apion zu Felde geführt: dies Stillschweigen kann
•nicht als unerheblich angesehen werden.
Die Zeit Alexanders imd seiner Nachfolger. 239
kamen die Judengenossen hinzu. Der Schweif" verwuchs nach
einiger Zeit mit dem Kern, ergänzte sich aber immer aufs neue.
Die werbende Kraft der Juden war andersartig und auf die Länge
viel wirksamer und nachhaltiger als etwa die der Phönizier und
Ägypter, die ebenfalls in ihren Siedelungen Propaganda für ihre
Kulte machten; nur die Samariter konnten halbwegs mit ihnen
wetteifern. Was die Heiden anzog, war erstens der Monotheismus,
auf den sie bereits einigermaßen vorbereitet waren, und sodann
das feste geschlossene Wesen der Juden, das ihnen den Halt bot,
dessen sie bedurften. Die Zeit war wüst und unheilig, friedlos
und müde. In der Geschichte wirkten weder Götter noch Völker
mehr, sie wurde von Strategen und Politikern gemacht, mit be-
rechneten und durchaus materiellen Mitteln, mit Soldaten und
Schiften, mit Heiraten und Meuchelmorden, und nicht zum wenigsten
mit Geld. Die alten beschränkten Kreise und mit ihnen die ge-
weihten Bande des Lebens waren zersprengt. Über den gestürzten
Fundamenten und den verrückten Grenzen, befördert durch das
allgemeine Durcheinanderwandern, entstand ein geistiges Chaos.
Die Welt bot keine Heimat, man mußte sie in der Seele suchen.
Das Bedürfnis nach innerem Glück und Frieden wurde in weiten
Kreisen gefühlt. Dem kam die Philosophie entgegen. Sie war
damals nicht mehr aristokratische Wissenschaft, sondern eine An-
weisung zum glückseligen Leben für Hoch und Kieder. Die Phi-
losophen bauten dem Heiligen in der Menschenbrust Altar und
Thron, als es draußen mit Füßen getreten oder zu Spiel und
Aberglauben erniedrigt wurde. In ihre Schulen und Vereine flüch-
teten sich Tausende, die um der Welt willen ihre Seele nicht
verlieren wollten. Dem Bedürfnis der Zeit kam aber auch die
jüdische Religion entgegen. Sie hatte mit der Popularphilosophie
das gemein, daß sie ebenfalls nach dem höchsten Gut und der
gottgewollten Führung des Lebens fragte; nach damaligen Begriffen
war sie selber Philosophie^), sie paßte besser für diejenigen, die
nach Massivem Verlangen hatten und das Absurde gern mit in
Kauf nahmen. Dazu kamen aber wesentlichere Vorzüge. Die
Juden empfanden unbeirrter als die griechischen Philosophen, daß
das Reale nicht Abstraktum ist, sondern Individuum. Sie setzten
nicht die Idee an Stelle des Geistes. Sie faßten das Göttliche
') Vgl. die Anekdote bei loseph. contra Ap. 1, 177 — 181.
240 Sechzehntes Kapitel.
nicht bloß als Kraft oder Eigenschaft anf, sie glaubten an einen
wirklichen und lebendigen Gott, der richtete und half. Und auch
die Heimat, welche sie hatten, befriedigte mehr als die, welche
die Philosophie gewährte. Sie hielten viel enger zusammen als
die philosophischen A^ereine, nicht bloß an ihren einzelnen Wohn-
orten, sondern in der ganzen Welt. W^o sie sich auch aufhalten
mochten, behielten sie Fuß in Sion. Sion repräsentirte die ideale
Einheit der Theokratie, die sich über der Diaspora erhob und sie
fest umschloß. Die jüdische Kirche erwies sich stärker als die
griechischen Schulen.
Die beiden geistigen Mächte, die im Stillen an der Arbeit
waren aus der gegenwärtigen Verwitterung und Verwesung eine
neue Zukunft vorzubereiten, gingen nun nicht neutral neben ein-
ander her, sondern sie trafen zusammen. Die Berührung fand
aber nicht auf den Höhen statt, sondern in den niederen Regionen,
zwischen dem Allerweltsgriechentum und dem Allerweltsjudentiim;
der Geist hat auch abseits der Straße des Lehrens und Lernens
seine Kommunikationswege. Vor allem ist der Einfluß der grie-
chischen Sprache hoch anzuschlagen, sie führte die Juden in eine
neue Begriffswelt ein^). Denn die Juden waren in diesem Ver-
hältnis vorzugsweise die Empfangenden. Jedoch verloren sie sich
dabei nicht selber, sie nahmen die dargebotenen Bildungsmittel
einer höheren Kultur mehr in ihren Dienst, als daß sie sich davon
innerlich beherrschen ließen. Es entstand eine eigentümliche
Mischung, deren lächerliche und häßliche Züge über ihre welt-
geschichtliche Wichtigkeit nicht täuschen dürfen. Dies war der
Boden, auf dem das Evangelium (nicht entstanden, aber) eingepflanzt
und die Kirche erwachsen ist.
Die Diaspora hat sich anfangs auf Ägypten beschränkt; über
Syrien und Kleinasien hat sie sich erst ausgedehnt, seit die Juden
unter die Herrschaft der Seleuciden kamen. Wenn Josephus ihre
Ansiedlung in Antiochia dem Seleucus I. zuschreibt, ebenso wie
die in Alexandria dem Alexander, so schiebt er das, was im Ver-
lauf der Periode geschehen ist, in ihren Anfang zurück, nach be-
währtem Muster. An einer Stelle^) sagt er selber, sie hätten vor-
^) Die Bekanntschaft einzelner hervorragender Juden mit den edlen Er-
zeugnissen der klassischen Literatur ist späteren Datums und bleibt für uns
hier außer Betracht.
2) Bellum 7, 44.
t)ie Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 241
zugsweise nach dem Tode des Antiochus IV. in der syrischen
Hauptstadt unbehelligt wohnen dürfen — freilich auch nicht auf
grund von Überlieferung, sondern von Vermutung. Aus dem
ersten Makkabäerbuche ergibt sich, daß es noch im Jahre 145 in
Antiochia keine anderen Juden gab als die 3000 Mann, welche
Jonathan auf Bitten des Königs Demetrius dorthin gesandt hatte,
und daß auch in dem ursprünglich ägyptischen Cölesyrien die Zahl
der Juden außerhalb Judäas, z. B. in Galiläa, geringfügig war;
Antiochus IV. hat einfach deshalb die Diaspora nicht mit verfolgt,
weil er in seinem Bereiche keine vorfand^). Josephus behauptet
ferner, Alexander habe die jüdischen Ansiedler in Alexandria ^),
Seleucus I. die in Antiochia und in seinen anderen Gründungen
von vornherein der herrschenden Klasse, den Makedoniern, gleich-
gestellt^). Das kann ebensowenig richtig sein; es Aviderspricht
allem, was wir sonst über die politische Stellung der Diaspora-
gemeinde wissen, namentlich aus den römischen Edikten seit Julius
Cäsar, welche die hergebrachten Rechte dieser Gemeinden schützen
und sie nicht etwa beschneiden, sondern eher vermehren*). Dar-
nach waren die Juden fest organisirt und wohnten häufig in be-
sonderen Quartieren zusammen; ihre Vereine waren vom Staate
anerkannt und ebenso ihr Kultus, auf den sich jene gründeten.
Sie genossen allerlei Privilegien und Freiheiten, um ihre religiösen
Obliegenheiten erfüllen zu können; sie hatten in gewissen Grenzen
auch eigene Jurisdiktion, weil ihre Religion mit dem Recht unzer-
trennlich verbunden war; sie durften die im Gesetze Moses ge-
botene Kopfsteuer für den Tempeldienst (das Didrachmon) erheben
und nach Jerusalem abführen. Sie waren also in der Tat bevor-
zugt, aber das eigentliche Bürgerrecht, das Recht am Stadtregiment,
ij 1 Macc. 11,47. Kap. 5. Dagegen gehört 1 Macc. 15,22 — 24 zu einer
Interpolation. Der Befehl des Antiochus III. an seinen Strategen Zeuxis, 2000
jüdische Familien im inneren Kleiuasien anzusiedeln (Ant. 12, 148ss.), betrifft
nicht palästinische, sondern babylonische Juden; die Urkunde ist übrigens ver-
dächtig, weil die Namen der Kolonien nicht angegeben werden.
2) Contra Ap. 2, 35. Bell. 2, 487.
3) Ant. 12, 119 s. Ap. 2,39.
*) Willrich hat mit seinem Urteil (zuletzt in den Beiträgen zur alten
Geschichte 3, 403ss.) über die angebliche Isopolitie der Juden in Alexandria
u. s. w. Recht. Andere (Mommsen, Niese, Duchesne) sind freilich in diesem
Punkt schon vor ihm der selben Meinung gewesen, haben sie aber nicht so
entschieden polemisch geäußert.
Wellhauseu, Isr. GescW eilte. 5. Aufl. 16
242 Sechzehntes Kapitel.
hatten sie nicht nnd konnten es nicht liaben, da sie ja selber von
dem gemeinen Wesen und dem öffentlichen Kultus sich aus-
schlössen '). in den Grundzügen war ihre Stellung überall die
gleiche, als flösse sie aus der Natur der Sache; daß sie nun grade
in den hellenistischen Hauptstädten ganz anders gewesen sein soll,
läßt sich schwer annehmen. AVie sollten die Juden in Alexandria
Antiochia Ephesus das Vollbürgerrecht besessen haben, wenn sie
es sogar in der von ihrem eigenen Könige in ihrem eigenen Lande
angelegten Hafenstadt Cäsarea vergebens beanspruchten? Man wird
dem Josephus nicht Unrecht tun^), wenn man ihm zutraut, daß
er unbescheidene Ansprüche zu verbrieften Rechten erhoben hat.
Es ist verdächtig, daß diese Rechte nicht allgemein anerkannt sind,
sondern demonstrirt werden müssen. Daß die Juden in Alexandria
Antiochia Ephesus und in allen jonischen Städten die Jsopolitie
mit den Macedoniern teilen, soll daraus folgen, daß sie sich Alexan-
driner, Antiochener, Ephesier usw. nennen, und daraus, daß sie
eine Entschädigung erhalten, wenn sie in den öffentlichen Bädern
sich nicht mit heidnischem Öle salben^). Es soll freilich auch aus
Erlassen Alexanders und der Diadochen hervorgehn, aber diese
werden nicht irgendwie näher bezeichnet, und sie sind nicht bloß
') Ell dehors de l'assimilation religieuse, il etait impossible de faire d'un
Jiiif im veritable Grec, im citoyen d'iiiie ville helleüiqiie. II y avait douc
lä im obstacle. On le tourna eu s'abstenant d'introduire les colons juifs dans
le Corps des citoyens, et en se bornant ä leur donner, parmi les non-citoyens,
ime Situation privilegiee. Ils eurent, ce que n'avaient point, par exemple, las
Syriens ä Antioche et les Egyptiens ä Alexandrie, une Organisation administra-
tive et judiciaire tont ä fait ä part. La communaute juive obeissait ä des
chefs speciaux, choisis parmi ses membres; c'etait comme une cite de second
ordre, intermediaire eutre la cite hellenique et la ])opiilation sujette. De plus,
il fut prescrit de respecter leurs scrupules religieux: onnepeutles coutraindre
ä violer le sabbat, p. e. poiir comparaitre en justice; on les exempta de cer-
taines charges qui leur repugnaient, comme le service militaire. (Diichesne,
Origines 1889 p. 2).
^) Während Apio es den Juden in Alexandria zur Schande anrechnet,
daß sie in einem entlegenen Quartier am hafenlosen Strande für sich wohnten,
sieht Josephus das als eine ihnen von Alexander oder den Diadochen erwiesene
Ehre an: sie seien in der Nähe der Königsburg angesiedelt. Ap. 2, 33. 35,
Bell. 2, 488.
2; Ap. 2, 38. 39 (abweichend davon und auch von Ant. 19, 281 wird § 36
behauptet, sie trügen den Namen Macedonier). Ant. 12, 120. Zu 2 Macc. 4,
9. 19 (die Jerusalemer durften sich Antiochener nennen) vergleicht mau „die
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 243
dem Apio, sondern auch dem Philo unbekannt^). Nikolaus von
Damaskus beruft sich vor Agrippa nur auf die römischen Edikte,
welche den Juden keineswegs die volle Politie gewähren. Josephus
selber muß zugestehn, daß nur diese unanfechtbar seien ^). In
mehr als einem Falle sieht man, wie er unbestimmte Ausdrücke
vom Positiv zum Superlativ steigert und von Recht und Woh-
nungsbefugnis in raschem Übergange zu Voll recht und Bürger-
tum gelangt*).
3. Über den Hellenismus in Jerusalem während der ägypti-
schen Periode sind wir nicht unterrichtet. A^on allgemeinem und
tiefgehendem Einfluß scheint er in jener Zeit dort nicht gewesen
zu sein*). Eine (iefahr für das palästinische Judentum wurde er
Antiochener in Ptolemuis" auf den Münzen \on Akko. Niese a. 0. 3, 228 will
die Angabe so erklären, daß die Stadt .lerusalem fn Ehren des regierenden
Königs Antiochus IV. den Namen Antiochia angenommen habe. Akko hat aber
den Namen Ptolemais beibehalten.
^) Der Kaiser Claudins hat sich nach Ant. 19, 281 überzeugt, walirschein-
licli durcii den König Agrippa, daß die Juden in Alexandria von den Dia-
dochen mit der Isopolitie begabt seien; er selber bestätigt ihnen aber nur ihre
gewöhnlichen religiösen Privilegien, und weiter verlangen sie auch nichts. In
den Worten Ant. 12, 125 „das Bürgerrecht, welches Antiochus der Enkel des
Seleucus ihnen gab" bezieht sich ihnen nicht auf die Juden, sondern auf die
Jonier in Ephesus.
2) Ant. 14, 187.
"') Den Schritt von der -/aTOi'xrjat; oder der [).tTOVAia zur tooroXtreia hält
er für unbedeutend (Bell. 2, 487. 7, 44). Zu Alexaudria nnd Antiochia standen
auf ehernen Tafeln geschrieben die oixat«)[j.aTa der Juden (Ap. 2, 37. Bell. 7,
100 SS.); diese spezifisch jüdischen cixatio|j.aTa verwandelt er Ant. 14, 188.
12, 221 in das alexandrinische und antiochenische Bürgerrecht schlechthin.
*) Der Prediger zeigt keine nähere Bekanntschaft mit dem epikuräischen
oder einem andern System. Doch ist damit nicht ausgeschlossen, daß er An-
regungen unbestimmter und allgemeiner Natur von der griechischen Philosophie
bekommen hat. Dieselben haben dann eine ganz interessante Verwirrung in
seinem Geiste angerichtet, die für uns durch die Verwirrung des Textes noch
vergrößert wird. Des vergeblichen Kopfzerbrechens endlich müde, beschließt
er sich beim Hergebrachten und Gewöhnlichen zu beruhigen. Alles ist eitel,
sowol die praktischen als die theoretischen Versxiche, die auf das Lebensglück
gerichtet sind: am meisten doch die Theorie, das Nachdenken und Forschen,
und das viele Bücherschreiben. In Ps. 119, 99 scheint das Gesetz der griechi-
schen Modeweisheit, die sich auch den Juden (^Ich) aufdrängte, entgegen-
gesetzt zu werden. Es ist freilieh nicht ausgemacht, daß der Prediger und
Ps. 119 aus vorseleucidischer Zeit stammen. Aber auch Jesus Sirach hat schon
einen großen Zorn gegen die Griechen.
16*
244 Sechzehntjes Kapitel.
erst während der syrischen Periode. Damals fand er, von Antiochia
aus, Eingang bei den oberen Ständen, und zwar in einer äußer-
lichen, faulen und frivolen Form. Die leitenden Männer traten in
Beziehung zum Hof und zu der Hofgesellschaft; sie lernten, wie
das Regieren gemacht werde und was das Leben sei. Der glän-
zende Firnis der fremden Kultur blendete sie, der Luxus und das
Vergnügen zog sie an. Die Welt ladete sie ein, und sie setzten
sich mit an den Tisch.
Gegen Ende des dritten Jahrhunderts drohte der Zusammen-
bruch des ägyptischen Reiches, während die seleucidische Macht
sich glänzend erhob. Die Juden scheinen die Zeichen der Zeit
erkannt und sich dem kommenden Manne zugeneigt zu haben ').
Durch den Sieg über Skopas bei Panium gewann Antiochus IIL
die Herrschaft über Palästina. Es heißt, daß die Jerusalemer ihn
freundlich empfingen, als er sich ihrer Stadt nahte, für den Unter-
halt seines Heeres sorgten und ihm bei der Belagerung der noch
in ägyptischen Händen befindlichen Burg halfen, und daß er sich
dafür erkenntlich erwies durch allerlei Gnaden und Hulden, die er
gewährte oder bestätigte ''). Sie konnten glauben einen guten Tausch
gemacht zu haben. Aber die Herrlichkeit dauerte nicht lange.
Die Niederlage von Magnesia knickte die Macht der Seleuciden für
immer. Antiochus mußte Kleinasien bis zum Taurus abtreten und
sich zur Zahlung einer ungeheuren Buße verstehn. Bei dem Ver-
suche, sich an dem Schatze eines reichen elymäischen Tempels zu
erholen, kam er um und hinterließ die Abtragung der Kriegsschuld
seinen Erben. Es folgte ihm zuerst Seleucus IV. (187 — 175), dann
dessen Bruder Antiochus IV. Epiphaues (175 — 164^). Die Geld-
not der Könige fiel den Untertanen zur Last, und auch die Juden
mußten ihr Teil tragen. Die Abgaben waren mannigfalt und
hoch*); es wurde dafür aber gewöhnlich eine Aversionalsumme ge-
1) Dan. II, 14.
2) Ant. 12, 138ss. Die Urkunde erklärt auch Niese (2, 579) für äußerst
verdächtig nach Form und Inhalt.
^) Vgl. über die Chronologie der seleuc. Könige Niese im Hermes 1900.
p. 491 SS. und Straßmaier in der Ztschr. für Assyriologie 1893 p. 106 ss.
*) Angaben darüber, aber schwerlich authentische, finden sich Ant. 12, 142.
1 Macc. 10, 29-31. 11,34.35. 'Die Kranzsteuer, welche Ant. 12, 142 neben
der Kopfsteuer erwähnt wird, bestand in Ägypten schon unter Ptolemäus If.;
vgl. Wilcken, griech. Ostraka 1, 295 ss.
j Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 245
zahlt, d. h. die Steuer verpachtet. Der Kegel nach pachtete sie
der Hohepriester, doch konnten es auch andere tun. Es war ein
Geschäft dabei zu machen, man steigerte sich in Angeboten au
die Oberherrschaft um den Zuschlag zu erhalten. Daraus ent-
stand im Schöße der jerusalemischen Aristokratie ein Zwist, der
die gefährlichsten Folgen hatte. Simon IL, der Sohn des Onias IL '),
war der letzte Hohepriester, der seine Autorität noch vollkommen
behauptete (+ 200). Nach seinem Tode wui'de die Stellung der
legitimen hohenpriesterlichen Familie erschüttert, namentlich durch
das Emporstreben eines Seitenzweiges, der Tobiaden.
Über das Aufkommen dieser Familie teilt Josephus (Ant. 12,
154 ss.) folgenden Bericht mit. Zur Zeit des Ptolemäus und der
Kleopatra säumte der alte Hohepriester Onias aus Geiz den Tribut
zu zahlen. Gegen die Drohung von Ptolemäus' Abgesandten
Athenion war er taub und brachte dadurch die Gemeinde in große
Aufregung. Er hatte aber einen Schwestersohn, Joseph den Sohn
des Tobias. Dieser junge Mann legte sich ins Mittel, beruhigte
den Athenion durch ein ansehnliches Geschenk und sagte ihm bei
seiner Abreise, er werde ihm bald selber nachreisen zum Könige.
Das tat er denn auch, nachdem er zuvor in Samarien etwa
20000 Drachmen sich geliehen hatte. Zufällig traf er unterwegs
zusammen mit den Vornehmen der syrischen Städte, die auch
nach Alexandria wollten; denn da wurden alle Jahr die Steuern
an die Vornehmen einer jeden Stadt verpachtet. Sie schätzten
den Juden gering und waren deshalb nicht wenig erstaunt, da sie
ihn als Gast des Hofes sahen. Er war durch Athenion empfohlen,
und hatte den Könic; durch sein Wesen und seine Reden alsbald
^) Eine Hohepriesterreihe für die persische Periode steht Neh. 12, 22; sie
endigt mit Jaddua, dem angeblichen Zeitgenossen Alexanders. Auf diesen
läßt Josephus in der griechischen Periode folgen: Onias I. Sohn Jadduas (11,
347. 12, 226), Simon I. Sohn Onias' (12, 43), Eleazar Bruder Simons (12, 44),
Manasse Oheim Simons (12, 157), Onias II. Sohn Simons (12, 157) usw. Er
schöpft aber seine Kunde aus sehr zweifelhaften Quellen (Willrich p. 107 ss.),
nur den Ezechias des Pseudohekatäus (contra Ap. 1, 186) ordnet er nicht mit ein.
Gut bezeugt ist erst Onias IL als Vater Simons II. Von diesem letzteren ent-
wirft der Siracide (Kap. 50) eine glänzende Schildemng, sein Bild steht ihm
lebendig vor Augen, namentlich wie feierlich er die Liturgie am großen Ver-
Sühnuugstage vollzog, und er schwelgt in der Erinnerung an ihn, da gegen-
wärtig die Verhältnisse in der Hierokratie nicht mehr so erfreulich sind (50,
23. 24 Hebr.).
246 Sechzehntes Kapitel. ,
für sich eiugenommen. Bei der Versteigerung der Steuern betrug
die Summe der Einzelgebote der syrischen Vornehmen 8000 Talente.
Joseph bot 16000 für das Ganze und erhielt den Zuschlag, nach-
dem er unverlegen Ptolemäus und Kleopatra selber als seine Bürgen
genannt hatte. Mit 500 in Alexandria aufgenommenen Talenten
und mit 2000 Soldaten ging er nun an die Einziehung. Die Aska-
lonier wollten nicht zahlen, da tötete er zwanzig vornehme Steuer-
verweigerer und sandte ihr eingezogenes Vermögen an den Fiskus
ein. Ebenso verfuhr er in Scythopolis. Das gefiel dem Könige
und machte Eindruck auf die übrigen Städte, sie gaben was Joseph
forderte. Er erwarb sich ein großes Vermögen und deckte sich
den Rücken durch fortwährende Geschenke an Ptolemäus und
Kleopatra und an das Hofgesinde. Er behielt seine Stellung 22 Jahre
lang, bis zu seinem Tode. — Neben sieben älteren Söhnen hatte
Joseph noch einen jungen, von der Tochter seines Bruders Solymius
in Alexandria, die dieser ihm, damit er nicht sündige, statt einer
Tänzerin unterschob, und die er dann ehelichte. Er hieß Hyrcanus.
Es war sein Lieblingssohn, den Brüdern überlegen und von ihnen
gehaßt. Als zur Prinzengeburt in Alexandria gratulirt werden
mußte, war der Vater zu alt, die Brüder aber mochten nicht,
sondern rieten Hyrcanus zu schicken, den sie bei dieser Gelegen-
heit los zu werden hofften. Er ging hin, versehen mit einer An-
weisung an den Verwalter Arion, bei dem der Alte 3000 Talente
liegen hatte. Er verlangte sofort nach seiner Ankunft in Alexandria
1000 Talente von ihm, und da Arion sie nicht zahlen wollte, legte
er ihn in Banden. Vor Ptolemäus gefordert verantwortete er sich
so, daß er dessen Gunst gewann. Er erhielt nun die 1000 Talente,
stach durch seine Geschenke die übrigen syrischen Gratulanten
gänzlich aus und brachte auch die Höflinge auf seine Seite, welche
die Brüder gegen ihn angestiftet hatten. Mit Empfehlungsschreiben
des Königs an Vater und Brüder und an die Beamten Cölesyriens
versehen kehrte er heim. Die Brüder, die ihn mit den Waffen
den Weg vertraten, besiegte er und tötete ihrer zwei. Da er jedoch
in Jerusalem sich nicht behaupten konnte, so wandte er sich über
den Jordan, baute nicht weit von Hesbon die Burg Tyrus, und
kämpfte mit den Arabern. Er herrschte über diese Gegend sieben
Jahre lang, die ganze Zeit der Regierung des Seleucus JV. Er
hatte zwar in Jerusalem Anhänger, die auch nach dem Tode seines
Vaters Joseph und des Hohenpriesters Onias für ihn Partei er-
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 247
griffeo, aber er kehrte doch nicht dahin zurück, da die herrschende
Majorität und der neue Hohepriester Simon gegen ihn waren. Aus
Furcht, daß Antiochus IV. ihn wegen seiner Taten gegen die Araber
strafen würde, legte er endlich Hand an sich selber. Antiochus
konfiszirte sein Vermögen.
Es sind hier zwei Berichte mit einander verbunden, über
Joseph ben Tobia und über Hyrcanus, seinen Jüngsten. Beide
enthalten manche anekdotische Züge, die in dem obigen Referat
übergangen oder nur kurz angedeutet sind. Die Jugendgeschichte
tritt übermäßig hervor und ähnelt sich sehr bei Vater und Sohn:
beidemal steht der unternehmende Junge dem geizigen Alten gegen-
über, beidemal sticht er durch sein flottes Auftreten seine Kon-
kurrenten bei Hof aus. Der Anlaß, weshalb Joseph an den Hof
geht, ist doppelt angegeben: er kommt um den Zorn des Königs
über den alten Onias zu besänftigen, und er kommt zugleich mit
den syrischen Steuerpächtern. Ganz unmotivirt ist es, daß Hyr-
canus als Deputirter nach Alexandria geht und als Feind seines
Vaters und seiner Brüder wiederkommt, daß in der Zwischenzeit
sich in Jerusalem alles verändert hat. Das hängt mit der unmög-
lichen Chronologie zusammen. Alles spielt unter Ptolemäus V.;
ein alter Interpolator sucht ihn zwar in Ptolemäus HI. zu ver-
wandeln, aber dieser war nicht der Gemahl der Kleopatra und
reichte auch nicht bis an Seleucus IV. Unter Ptolemäus V. und
Kleopatra (seit 193) konnte nun Joseph kein ägyptischer Steuer-
pächter in Cölesyrien sein; denn damals hatten die Seleuciden und
nicht die Ptolemäer Cölesyrien zu besteuern; die Behauptung, daß
sich die beiden Mächte in die Einkünfte des Landes geteilt hätten,
ist eine Verlegeuheitsauskunft des Josephus, die den Voraussetzungen
der Erzählung selber nicht gerecht wird. Da Ptolemäus V. 181
starb, so ist auch zwischen 193 und 181 kein Raum für die
22 Jahre Josephs, noch weniger für das Aufwachsen Hyrkans, der,
obwol erst einige Jahre nach 193 geboren, doch schon 182 bei
dem Geburtsfest des ägyptischen Prinzen als Gratulant bei Hofe
erscheint und sogar zu Anfang der Regierung des Seleucus IV. ')
d. h. 187 in die Moabitis entweicht, an stelle seines plötzlich in
kürzester Frist zum Greise gewordenen Vaters. Endlich kann
Unias IL, dessen anfänglich großer Altersunterschied zu seinem
') die nur zu 7 Jahren gerechnet wird.
248 Sechzehntes Kapitel.
Neffen Joseph sich zum Schlüsse völlig ausgeglichen hat, nach 193
nicht mehr im Amte gewesen sein; schon etwa 200 war sein Sohn
Simon Hoherpriester und ward es nicht erst unter Seleucus IV.
Die Erzählung ist also im ganzen unhistorisch, wenngleich darum
nicht wertlos. Nur gegen den Schluß wird sie historischer, seit
Seleucus IV. und Antiochus IV. auftreten und über das Ende des
aus der Art geschlagenen, hochfliegenden und seiner Sippe ver-
feindeten Hyrcanus berichtet wird. Er mußte aus Jerusalem weichen,
weil er gegen die dortige, von den Seleuciden bestätigte Eegierung
eine Erhebung versucht hatte, und gründete sich eine Tyrannis im
Ostjordanlande, konnte sich dort aber gegen Antiochus IV. nicht
halten und endete im Selbstmord. Im 2. Makk. 3 ist von Geldern
die Rede, welche er im Tempel von Jerusalem deponirt hatte. Er
wird dort der Sohn des Tobias, nicht des Joseph genannt. Das
kann indessen Abkürzung sein. Man braucht daran nicht zu zweifeln,
daß Joseph der Sohn des Tobias der eigentliche Begründer der
Familie war. Aber dem Wesen nach ist der Vater Joseph weiter
nichts als der Inbegriffseiner Söhne, die ihm zugeschriebenen Taten
sind nur der Reflex von dem Treiben der Tobiaden, die unter
Seleucus IV. und Antiochus IV. mittelst des Hebels der Steuerpacht
die alte hohepriesterliche Familie aus dem Sattel hoben, speziell
den Hohenpriester Onias, und zwar nicht den zweiten, sondern den
dritten.
Über diese wichtigen Vorgänge, die Vorgeschichte des makka-
bäischen Aufstandes, schweigt sich das erste Makkabäerbuch voll-
kommen aus, weil sie höchst unerfreulich waren. Wir erfahren
darüber näheres nur aus dem zweiten Makkabäerbuch, das sich
vielfach als unzuverlässig zeigt wo man es kontrolliren kann, und
also auch da Mistrauen verdient wo man es nicht kontrolliren
kann^). Der Bericht lautet wie folgt.
^) Nieses eingehende Kritik der beiden Makkabäerbücher im Hermes 1900
p. 268 SS. 453 SS hat mich zwar vielfach belehrt, aber nicht überzeugt, daß
das zweite Buch älter sei als das erste und den Vorzug verdiene. Nur das räume
ich bereitwillig ein, daß auch das erste Buch nicht frei von Tendenz ist und
namentlich die Kunst des Yerschweigens übt, daß es in den Zahlen übertreibt
und nicht bloß den Ausdruck, sondern auch die Sachen nach biblischen Re-
rainiscenzeu stilisirt. Man darf also in der Tat nicht alles durch die Brille
des ersten Buches ansehen. Aber es bleibt trotzdem nichts übrig, als es zu
gründe zu legen. Auch Procksch (Theol. Lit.blatt 1903 p. 457ss.) bringt mich
nicht von dieser Meinung ab.
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 249
Unter Seleucus IV. geriet ein gewisser Simon, Inhaber eines
vornehmen Tempelamtes, mit dem Hohenpriester Onias über die
Agoranomie in Streit. Er mußte nachgeben, rächte sich aber für
seine Niederlage dadurch, daß er den geldbedürftigen König durch
ApoUonius Thrasäi, den Statthalter von ( olesyrieu, auf die großen
Summen aufmerksam machen ließ, die ungenutzt im Tempel
lägen. Im königlichen Auftrage erschien nun der Reichskanzler
Heliodor in Jerusalem, um einmal nachzusehen. Durch die Er-
klärung des Hohenpriesters, das Geld bestehe aus Depositen, be-
sonders von Witwen und AVaisen, ließ er sich nicht irre machen.
Er drang in das Heiligtum ein, aber ein Wunder bewirkte, daß
er unverrichteter Sache abziehen mußte. Simon war erbost und
gab den Hohenpriester für den Urheber des Wunders aus, er
intriguirte gegen ihn und stiftete einen Zwist in der heiligen Stadt
an, der sogar zu Blutvergießen führte. Da nun Onias den Schaden
sah, machte er sich auf zum Könige, nicht um sein Volk zu ver-
, klagen, sondern um Frieden und Ordnung herzustellen. Als aber
Seleucus starb und Antiochus Epiphanes zur Regierung kam,
trachtete Jason, Onias Bruder, nach dem Hohenpriestertum. Er
bot dem neuen Könige B60 Talente, wenn er ihn in das Amt
setze. Er bat außerdem um das Recht, in Jerusalem ein Gym-
nasium und Ephebeum zu errichten und den Einwohnern den Titel
Antiochener zu verleihen, wofür er weitere 150 Talente zu zahlen
sich verpflichtete. Er erreichte seinen Wunsch und hielt sein
Versprechen. Er baute ein Gymnasium unterhalb der Akra, die
Priester verließen den Altar um den Spielen zuzuschauen. Er
sandte sogar 300 Drachmen zur Bestreitung eines Festopfers für
den tyrischen Herkules, die jüdischen Überbringer schämten sich
freilich und bestimmten das Geld zu anderen Zwecken. Der König
befand sich damals selber zur Feier der vierjährigen Spiele in
Tyrus und kam von da später auch nach Jerusalem, wo ihm ein
glänzender Empfang bereitet wurde; es war die Zeit der Thron-
besteigung des Ptolemäus VI. Philometor (nach dem Tode seiner
Mutter Kleopatra, A. 17o). Aber nach drei Jahren benutzte
Menelaus, der Bruder Simons, das Vertrauen, das Jason ihm
schenkte, um ihn zu stürzen. In seinem Auftrage nach Antiochia
gesandt nahm er den König gegen ihn ein, bot 300 Talente mehr
für das Hohepriestertum und w^urde demgemäß ernannt. Nachdem
er bestallt und Jason geflohen war, konnte er freilich das ver-
250 Sechzehntes Kapitel.
sprochene Geld dem Befehlshaber der syrischen Besatzung in der
Akra nicht zahlen, der den Auftrag hatte es in Empfang zu
nehmen. Darüber nach Antiochia vorgefordert, fand er den König
bei seiner Ankunft abwesend auf einem Feldzuge gegen die Tarsier
und Malloten, und den Andronikus an seiner Stelle. Diesen wußte
er sich durch kostbare Geschenke günstig zu stimmen, die aus dem
Tempel Jahves stammten. Die Sache kam aber dem abgesetzten
Hohenpriester Onias zu Ohren, er begab sich nach Daphne und
machte von da aus Lärm. Aber Andronikus lockte ihn aus dem
Asyl heraus und tötete ihn dann treulos. Dieser Mord erregte
jedoch allgemeinen und lauten Unwillen, nicht bloß bei den Juden.
Antiochus selber war in der Seele betrübt, als er aus Cilicien
zurückgekehrt von dem Frevel erfuhr; er jammerte und weinte
und ließ sofort den Andronikus am Orte der Tat hinrichten. In-
zwischen brach in Jerusalem ein Aufstand aus gegen den Stell-
vertreter des Menelaus, seinen Bruder Lysimachus, der ihm zu
gefallen fortgesetzt den Tempel beraubte; Lysimachus wurde er-
schlagen. Drei Abgeordnete der Gerusia erschienen infolgedessen
vor Antiochus in Tyrus, um die Jerusalemer zu rechtfertigen und
die Schuld auf Menelaus zu werfen, der durch den von ihm an-
gestifteten Tempelraub der wahre LMieber des Aufruhrs war. Die
Sache stand schlimm für ihn; da half ihm das Geld, daß er frei-
gesprochen und seine Ankläger hingerichtet wurden. Antiochus
zog nun von Tyrus -weiter nach Ägypten (A. 170). Es verbreitete
sich das Gerücht, er solle tot sein. Daraufhin brach Jason mit
1000 Mann aus der Ammanitis hervor, wohin er sich geflüchtet
hatte, bemächtigte sich Jerusalems und trieb Menelaus in die Akra.
Er konnte sich aber nicht halten, da er die Jerusalemer als Feinde
bebandelte, floh wieder zurück und mußte endlich im Elend sterben.
Als Antiochus den Vorfall hörte, zog er voll Zorn aus Ägypten
heran, nahm Jerusaleai mit Gewalt ein, wütete fürchterlich in der
Stadt, und drang auch in den Tempel ein, wobei er Menelaus zum
Wegweiser hatte.
Was in diesem Bericht über Onias IIL erzählt wird, ist un-
haltbar'). Onias geht nach Antiochia, um seine jerusalemischen
Gegner zu verklagen : eine Handlungsweise, wiegen deren der Erzähler
ihn zu entschuldigen sucht und die in der Tat befremdlich ist bei
1) Vgl. Gott. Gel. Anzeigen 1895 p. 9.51s.
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 251
dem rechtmäßigeu Hohenpriester im Besitz der Macht. Dann ver-
lieren wir ihn völlig aus den Augen. Es wird nicht gesagt, daß
er in Antiochia geblieben oder zurückgehalten sei, wir hören nur,
daß er ebendaselbst drei Jahre später ein blutiges Ende gefunden
habe, und es bleibt uns überlassen zu schließen, daß er sich also
wol bis dahin dort aufgehalten habe. Seine Ermordung ist ange-
stiftet durch Menelaus, damit sein Tempelraub nicht ans Licht
komme: es ist sehr unwahrscheinlich, daß dieser Tempelraub ihm
zu einer großen Schuld angerechnet wäre, zumal die Absicht war,
das vom Könige geforderte Geld zu beschaffen. Der Vollstrecker
des JMordes ist kein geringerer als der Reichsverweser Andronikus,
der dann selber zur Strafe hingerichtet wird, weil ganz Antiochia
über die Schandtat entrüstet ist und der König selber demon-
strativ darüber jammert. Alles ganz unbegreiflich. Daniel sagt
nichts von der Sache ^), auch Josephus weiß nichts davon. Andro-
nikus nun gibt uns die Handhabe zur Lösung des Knoten. Diodor
(30 7,2) sagt über ihn: Andronikus ermordete den Sohn des Se-
leucus und wurde dann selber hingerichtet; er gab sich zu einer
gottlosen Handlung her und verfiel dann dem gleichen Schicksal
wie der, gegen den er gefrevelt hatte; denn die Großen pflegen
sich durch das Unglück der Freunde aus eigener Gefahr zu retten.
Dazu Johannes Antiochenus (frgm. 58): Antiochus mistraute dem
Sohne seines Bruders Seleucus und brachte ihn um durch die Hand
Anderer, die er dann auch der Sicherheit wegen hinrichtete. Dar-
nach ist es sehr wahrscheinlich, daß die Ermordung des Prinzen
mit ihren Umständen im zweiten Makkabäerbuch auf den Hohen-
priester übertragen ist. ') Für den Sohn des Seleucus paßt es, daß
der Reichsverweser persönlich Hand an ihn legt, daß der König
in das große Lamento um ihn von ganzem Gemüte und aus allen
1) Das jikkaret ma.scliih Dan. 9,26 bedeutet iiacli dem üblichen he-
bräischen Sprachgebrauch: das Hohepriestertum hört auf, nicht: ein
Hoherpriester wird ausgerottet. Es entspricht als Ende dem ad maschih
V. 25 als Anfang der Periode, wo Jerusalem unter der Herrschaft der legitimen
Hohenpriester steht, wenngleich im Druck der Zeit. Mit dem uegid beritli
Dan. 11, 22 ist nicht der Hohepriester gemeint. Vgl. Renan 4, 358, Baethgen
ZATW 1886 p. 280.
2) Den Andronikus 2 Macc. 4, 34 fallen zu lassen und das Übrige, dem
von Andronikus Getanen merkwürdig Analoge, beizubehalten, scheint mir eine
vollkommen unerlaubte und unnötige Auskunft zu sein.
252 S echzehntes Kapitel.
Kräften einstimmt, und daß er das vornehme Werkzeug des Mordes
sofort aus dem Wege räumt. Davon, daß er Zuflucht in Daphue
gesucht habe, sagt das Fragment bei Diodor zwar nichts — dafür
ist es Fragment. Onias, der Sohn des Simon, ist nicht ermordet,
sondern im Jahre 170 vor Antiochus nach Ägypten geflohen. So
berichtet Josephus im Bellum, das mit Recht für zuverlässiger gilt
als die Antiquitäten, an zwei Stellen (1,33. 7,423). Auch Theo-
dorus von Mopsuestia sagt zu Ps. 55, daß Onias III., da er das Übel
in Jerusalem um sich greifen sah, von dort nach Ägypten geflohen sei
und den Tempel von Leontopolis gebaut habe; er korrigirt in diesem
Punkte die Erzählung von 2. Macc. 3. 4, der er sonst getreulich folgt ^).
Völlig unbrauchbar ist darum der Bericht von 2. Macc. 3 — 5
doch nicht. Die Chronologie ist in Ordnung, die Grundzüge der
Situation und auch einzelne Angaben erscheinen glaublich und
werden durch anderweitige Daten, die allerdings sehr sparsam
fließen, bestätigt. Unter Vergleichung dieser anderweitigen Daten
kann man sich etwa folgende Vorstellung von dem Verlaufe der
Dinge machen.
In Jerusalem befeindeten die Tobiaden^) den Hohenpriester
Onias III. und suchten ihn zu verdrängen. Sie schoben seineu
Bruder Jason gegen ihn vor, da ihnen selber die oberste Würde
zunächst noch unzugänglich erschien, weil sie nicht von der erb-
berechtigten Familie waren. Jason erbot sich zur Steigerung des
jährlichen Tributs oder, was auf eins hinausläuft, der Steuerpacht,
und erhielt die Stelle. Dies geschah im Jahre 173, als nach dem
Tode der Kleopatra das Verhältnis zwischen Syrien und Ägypten
sich feindlich zuspitzte. Es ist darum möglich, daß bei Anti-
ochus IV. auch die Verdächtigung gegen Onias ausgespielt wurde,
er neige zu Ägypten, wenngleich Onias in Wirklichkeit wol erst
1) Baethgen ZATW 1886 p. 274 ss. Ebenso heißt au zwei Stellen des
Talmud der Gründer des Tempels von Leontopolis Onias Simonis nnd nicht
Onias Oniae; s. J. Derenbourg, Palestine (1867) p. 49. 52.
2) Daß Simon und Menelaus Tobiaden sind, geht aus Jos. Bell. 1, 31 ss.
hervor und aus der Legende von Joseph ben Tobia. Mit der Erblichkeit des
Hohenpriestertums scheint es in der Praxis nicht so streng gehalten worden
zu sein wie in der Theorie; Streitigkeiten waren dadurch zu keiner Zeit aus-
geschlossen. Übrigens wird möglicherweise den Tobiaden die priesterliche Ab-
kunft mit Unrecht bestritten (2 Macc. 3,4: von Benjamin d. h. aus Jerusalem,
aber nicht von Levi und Aharon).
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 253
durch das Vorgehen des Antiochus gegen ihn auf die Seite seiner
Feinde, d. h. der Ptolemäer, gedrängt wurde. Jason regierte bis
zum Jahre 171'). Nachdem er den Tobiaden drei Jahre vor-
gearbeitet hatte, glaubten sie den letzten Schritt wagen zu dürfen,
um an das Ziel ihres Ehrgeizes zu gelangen. Menelaus, ihr da-
maliges Haupt, wußte den König durch das alte erprobte Mittel
zu bewegen, daß er ihn in das höchste Amt einsetzte. Als aber
Antiochus auf seinem ersten Zuge in Ägypten war^) und das Ge-
rücht von seinem Tode in Jerusalem Glauben fand, sah sich Mene-
laus seiner einzigen Stütze beraubt. Unter diesen Umständen
muß Onias noch einmal wieder zurückgekommen sein und sich
der obersten Gewalt bemächtigt haben ^). Menelaus floh mit den
Tobiaden zu Antiochus, und dieser zog auf dem Rückwege von
Ägypten über Jerusalem, um ihn wieder einzusetzen*). Gegen ihn
konnte sich Onias natürlich nicht halten. Er ging nach Ägypten
1) 2 Macc. 4, 23. Nach Dan. 9, 26. 27 hat nicht vor 171 die Linie der
rechtmäßigen Hohenpriester aufgehört und die Regierung des Menelaus an-
gefangen. In 2 Macc. 1, 7 ist von der Absetzung des Jason durch Antiochus
im Jahre 171 die Rede: ßctatXei'a kann nichts anderes sein als die Herrschaft
(die Ethnarchie), und iniaxt] bedeutet dann so viel wie i^ir.tatv. Vgl. zur
Chronologie noch p. 26G n. 3.
^) Der Verfasser des Buches Daniel, ein Zeitgenosse, der es genau wissen
mußte, kennt nur zwei ägyptische Feldzüge des Antiochus (der dritte Dan.
11, 40 ist unerfüllte Weissagung), ebenso der des ersten Makkabäerbuchs.
Damit sollte die Frage, ob zwei oder drei ägyptische Feldzüge anzunehmen
sind, billiger Weise für entschieden gelten.
^) In diesem Punkte muß man die Darstellung von 2 Macc. 5 korrigireu,
wenn man von da Anschluß an Bellum 1, 31 ss. erreichen will. Vielleicht
jedoch ist es richtig, daß auch Jason damals noch einmal in Jerusalem aufge-
taucht ist. So gewinnt man Raum, den markantesten und schwerlich hinter-
gruudslosen Zug der Bagosesgeschichte (p. 192) einzusetzen, daß nämlich Jo-
hannes seinen Bruder Jesus im Streit an heiliger Stätte erschlägt; man müßte
dann annehmen, daß Onias den Jason aus dem Wege geräumt hat um selbst
sein Recht geltend zu machen. In 2 Macc. 5 fällt es auf, daß Jason nicht
vor Antiochus flieht, sondern einer Volksbewegung weicht: diese mag den
Onias emporgetragen haben. Die Irrfahrten Jasons 2 M. 5,7—10 nehmen sich
romanhaft aus.
*) Die Situation von Bellum 1,31 ss. entspricht nicht der von 2 Macc. 3.4,
sondern der von 2 Macc. 5 und Ant. 12, 239 s. Es handelt sich nicht um die
erste Einsetzung, sondern iim die Restitution des Menelaus und der Tobiaden.
Menelaus, von einem legitimistischen Rivalen vertrieben, ist zu Antiochus ge-
flüchtet und wird von diesem retablirt.
254 Sechzehntes Kapitel.
zum Könige Ptolemäus VI. Philometor, begleitet von zahlreichen
Emigranten, die zu seiner Partei gehörten. Er ward der Gründer
des Tempels von Leontopolis im heliopolitanischen Gau, wo sich
an illegitimer Stätte das legitime Hohepriestertum fortpflanzte,
während an der legitimen Stätte von Jerusalem die späteren
Hohenpriester samt und sonders illegitim waren '). Die Flucht
des Onias und das Einrücken des Antiochus in Jerusalem geschah
im Jahre 170').
Diese Wirren brachten nun zugleich eine schwere innere
Krisis zum Ausbruch. Jason bat den König um Erlaubnis, grie-
chische Einrichtungen und Sitten in Jerusalem einführen zu dürfen;
er hätte ihm kein willkommneres Zugeständnis machen können.
Der Boden war vorbereitet, viele Juden hielten die Zeit für ge-
kommen, die lästigen und barbarischen Bräuche der Väter auf-
zugeben und gebildet zu werden wie die Griechen. Jason ist nicht
plötzlich und nicht im vollen Widerspruch zu der öflentlichen
Meinung von den Traditionen seiner Familie abgefallen. Das Juden-
tum war vor der makkabäischen Periode durchaus nicht so streng
und ausschließlich wie seitdem; erst in Folge der schlimmen Er-
fahrungen jener Zeit trat eine starke Reaktion an. Man darf sich
also nicht vorstellen, die legitime Hohepriesterfamilie und ebenso
die Menge der Jerusalemer sei im allgemeinen „altgläubig" und dem
1) Auf die Kolonie des Onias bezieht sich Isa. 19, 18—25. In v. 23. 24
ist von Ptolemäern und Seleuciden und von der Ausgleichung des Gegen-
satzes zwischen Juden und Heiden in der Zeit des Hellenisnnis die Rede, in
V. 19 vom Tempel in Leontopolis. Dort befindet sich sowol die Masseba als
der Altar; beides ist nur wegen des Parallelismus der Glieder aus einander
gezogen. Die fünf jüdischen Gemeinden unterscheiden sich dadurch von den
übrigen, daß sie nicht griechisch, sondern kanaanäisch d. h. aramäisch i-eden
und also erst vor kurzer Zeit die Heimat verlassen haben. Eine wird genannt,
es ist Heliupolis, nicht Leontopolis, wo nur der Tempel stand. Bemerkenswert
ist, daß die Stelle nicht erst in die Septuaginta, sondern in den palästinischen
hebräischen Text eingeschoben ist. Es ergibt sich daraus, daß es Literaten
in Jerusalem gegeben hat, die sich sehr freundschaftlich zu Leontopolis stell-
ten; was nicht Wunder nehmen kann, da der Vorzug des Kultus von Jerusa-
lem damals keineswegs so ausgemacht war. Der Oniastempel wird beschrieben
Bell. 7, 426 SS.
^) Ins Jahr 170 fiel der erste ägyptische Zug des Antiochus und in dem
selben Jahre erfolgte nach Bellum 7, 438 (lies 243 statt 343) die Gründung des
Oniastempels, die mit der Flucht des Onias gleichgesetzt wird.
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 255
Griechentum feindlicli gewesen. Die Jerusalemer waren anfangs
gleichgiltig und wurden erst später die Größe der Gefahr gewahr; die
Frommen waren durchaus in der Minderheit, eine unbedeutende Sekte.
Die Hohenpriester betrachteten ihr heiliges Amt nur als ein Piedestal
der weltlichen Herrschaft; nur so erklärt sich das Aufkommen
der Tobiaden. Alcimus stammte aus der legitimen Familie; seine
Antecedentien verbanden ihn aber mit den Abtrünnigen. Onias
selber war gewiß nicht ursprünglich dem Hellenismus abge-
neigt; er kämpfte nicht um Prinzipien, sondern um die Macht, und
nach dieser Rücksicht nahm und wechselte er seine Stellung.
Wenn er den Tempel von Leontopolis gebaut hat, so ist er doch
nicht gerade als altgläubig zu bezeichnen. Der Siracide scheint
seinen frommen Vater Simon als den letzten würdigen Vertreter
des Amts zu betrachten. In der Frömmigkeit unterschieden sich
die Söhne Sadoks'), die nicht umsonst den Sadducäern den Namen
gegeben haben werden, von den Tobiaden zu anfang schwerlich;
nur ihres Blutes wegen waren sie — auch Jason und Alcimus —
legitime, und jene illegitime Nachfolger Aharons.
Man muß hinzunehmen, daß der Hellenismus, so wie er auf
friedlichem Wege durch Jason Eingang fand, kein Abfall von der
Religion sein sollte, sondern nur eine Abstreifung ihrer sonderbaren
und stachlichen Außenseite. Der gesetzliche Kultus im Tempel
zu Jerusalem wurde in hergebrachter Weise fortgesetzt. Bezeich-
nend sind die Namensänderungen: Jason für Jesus, Alcimus für
Eljakim, Menelaus für Menahem oder Manasse. In diesem Stil
war anfangs das Ganze gedacht und gehalten, so konnte auch Zeus
für Jahve gesagt werden. Man kann sich das emanzipirte Jung-
jerusalem vorstellen: Turco fino, mangia porco e beve vino. Der
Gipfel der alamodischen Bildung war das nackte Turnen, bei dem
sich die Beteiligten nur ihrer Beschneidung schämten.
Den Juden wurden erst die Augen geöffnet, als Antiochus IV.
auf dem von der jüdischen Aristokratie selbst angebahnten Wege
gewaltsam vorging. Er kam 170 mit einer starken Schaar nach
Jerusalem, um Menelaus wieder einzusetzen und statt des ent-
ronnenen Schuldigen die Stadt zu bestrafen, die allerdings schwer-
lich unschuldig war. Er betrat den Tempel, raubte die deponirten
Gelder und die kostbaren Geräte, den goldenen Altar, Leuchter und
0 Der Name findet sich noch im hebr. Sirach 51, 12 add.
256 Sechzehntes Kapitel.
Tisch, und zog mit der Beute ab. Blut vergoß er nicht, er ent-
weihte nur das Heiligtum und führte lästerliche Reden ').
Schlimmer erging es der Stadt nach zwei Jahren, nachdem
Antiochus durch Popilius Länas von seinem zweiten ägyptischen
Feldzuge heimgeschickt war (168). Wodurch ihn die Juden da-
mals gereizt hatten, wird nirgends gesagt; ihre Entrüstung über
seinen Einbruch in den Tempel, ihr Zorn gegen ihn und die
Tobiaden muß sich wol unzweideutig kund gegeben haben. Er
kam indessen nicht selber, sondern schickte einen Offizier mit
einer beträchtlichen Ileeresmacht. Dieser zog zuerst friedlich in
Jerusalem ein, fiel dann aber unversehens über die Stadt her und
mordete, plünderte und sengte darin. Die Mauern und zum Teil
auch die Häuser der Stadt wurden niedergerissen, ihre Kinder
flohen teils in die Wüste, teils nach Ägypten, nur die Abtrünnigen
blieben und heidnische Fremde siedelten sich an. Die Stadt Davids
dagegen wurde zu einer starken Festung, der Akra, umgebaut^) und
mit einer zahlreichen Besatzung belegt, um als eine Art Zwing-
burg zu dienen. Wir haben hier ein Beispiel des nicht ungewöhn-
lichen Verfahrens der Kolonisirung eines störrischen Gemeinwesens.
Nach solchen Vorbereitungen folgte der Hauptschlag. Ein
schriftlicher Befehl von Antiochia wurde in Judäa verbreitet, daß
1) *I)ovoxTovfa 1 Macc. 1, 24 ist nicht Mord, sondern Schändung; vgl. Sep-
tuaginta Num. 35, 33 Ps. 105, 37 und Schleußners Lexikon. Es wird damit
das Vorhergehende zum Schluß zusammengefaßt und beurteilt, nicht nach-
träglich das Allerschlimmste noch neu hinzufügt. Die Angabe 2 Macc. 5, 12 ss.
ist falsch; auch in Dan. 11, 28 steht nichts von Blutvergießen. Vgl. noch
contra Ap. 2, 79-97. Diodor 84, 1.
2) Die Akra lag auf dem östlichen Bergrücken von Jerusalem, südlich
vom Tempel, von dem sie durch eine Schlucht getrennt war, die später aus-
gefüllt wurde (Bell. 5, 139. A 13, 215). Die Perser hatten keine Besatzung in
Jerusalem, wenigstens nicht zur Zeit von Ezra und Nehemia. Nach Sir. 50 hat
der Hohepriester Simon II, wahrscheinlich gegen Ende der ptolem. Herrschaft
in Palästina, den Tempel befestigt, zum Schutz gegen Feinde; das konnte er
nicht, wenn damals in der Zitadelle südlich vom Tempel fremdes Militär lag.
Dadurch wird die Angabe Ant. 12, 138 zweifelhaft, daß Antiochus III. die
Ägypter aus der Akra vertrieben habe. Demnächst wird die Akra und eine
syrische Besatzung darin erwähnt 2 Macc. 4, 12. 27, 5, 5, noch vor dem Aus-
bruch der Religionsverfolgung. Dagegen lautet 1 Macc. 1, 33 so, als gehöre
der Umbau der alten Davidsburg ziir Akra zu den Feindschaftsmaflregeln des
Antiochus IV. gegen die Juden: xal ifivtxo aütot; ei? axpav. Ebenso 1 Macc.
14, 36, wo ot inoir^aay Übersetzungsfehler für tjv iTroc'rjaav ist.
Die Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. 257
der bisherige Kultus aufzuhören habe. Sabbat und Feste sollten
nicht mehr gefeiert, die Beschneidung nicht mehr vollzogen, die
heiligen Bücher ausgeliefert werden. Altäre und Bilder wurden
in den Landstädten errichtet und die Juden dort unreine Opfer zu
bringen gezwungen: besondere Aufseher waren bestellt, um über
den Vollzug der Befehle zu wachen. Der gesetzliche Dienst in
Jerusalem hörte auf, der Tempel wurde teilweise zerstört und der
Altar Jahves zum Piedestal eines Altars für Zeus Olympius ge-
macht. ") Dieser heidnische Altar soll am 25 Kislev (Dezember) ein-
geweiht sein; es war der Greuel des Entsetzens an heiliger Stätte.
Ob Menelaus jetzt Zeuspriester wurde, erfahren wir nicht; als
Ethnarch scheint er eTst durch Judas Makkabäus beseitigt zu sein,
aber auch dann seine Ansprüche auf die Stelle nicht aufgegeben
zu haben.
Das Verhalten des Königs Antiochus Epiphanes war nicht so
unmotivirt, wie es namentlich im ersten Makkabäerbuch erscheint.
Der Streit der jüdischen Aristokratie gab ihm Anlaß und Hand-
habe, um in die inneren Angelegenheiten der Gemeinde einzu-
greifen. Dabei machte es sich von selbst, daß die von ihm des
Hohepriestertums beraubte Familie ihre Sympathie den Ägyptern
zuwandte, während die Tobiaden sich mit ihm identifizirten und
er sich mit ihnen. Es machte sich ebenfalls von selbst, daß dann
der Gegensatz zwischen der ägyptischen und der syrischen Partei
in Jerusalem sich verquickte mit dem Gegensatz zwischen der alt-
väterischen und der hellenistischen. Früher hatten sich die Juden
aus freien Stücken dem Hellenismus zugewandt, so lange sie noch
der syrischen Herrschaft ergeben waren; daß sie hernach nun doch
zäh an ihrem Gesetz festhielten, erschien als eine Form ihrer
politischen Widersetzlichkeit. Allerdings wäre der weltgeschicht-
liche Zusammenstoß vielleicht auch ohnehin erfolgt, er hatte in
der Tat noch tiefere Gründe. Der König wollte, daß alle Völker
seines Reiches ihre besonderen Religionen und Götter aufgäben^);
d. h. er wünschte sein buntscheckiges Reich nach Kräften zu helleni-
siren. Die Aramäer waren ihm gefügig, das Heidentum vertrug
sich mit dem Hellenismus, es konnte sich in dessen Formen hüllen
0 Zu 2 Macc. 6, 2 vgl. Willrich Judaica (1900) p. 139 s.
2) Dan. 11, 36. 1 Macc. 1, 41 ss. 2, 19. 3, 29.
We 11 haus en, Isr. Geschichte. 5. Aufl. 17
258 Siebzehntes Kapitel.
und doch bleiben was es war '). Anders verhielten sich die Juden.'
Es kennzeichnet den Wert und das Wesen ihrer Religion, daß sie
allein dem König widerstanden, daß er nur gegen sie Gewalt
brauchte und doch nichts ausrichtete. Ihm ist es aber nicht als
Schuld anzurechnen, daß er den Unterschied zwischen Juden und
Heiden, zwischen Jahve und Zeus nicht erkannte und anerkannte.
Vor allem konnte er nicht wissen, daß er für eine verlorene Sache
kämpfte.
Siebzehntes Kapitel.
Judas Makkabäus und seine Brüder.
1. Die Juden waren doch noch nicht reif für den Hellenis-
mus. Er fand nur in den oberen Schichten der Gesellschaft
Boden, nicht bei dem Kern der Nation und nicht außerhalb
Jerusalems. Viele fügten sich allerdings der Gewalt, aus Furcht
und gegen ihr Gewissen. Andere aber boten der Verfolgung Trotz,
wenn sie sich ihr nicht durch die Flucht entziehen konnten, und
starben lieber, als daß sie den Gott ihrer Väter verleugneten und
seinen Dienst verließen. Voran in der Treue gingen die Frommen,
die jetzt unter dem Namen der Asidäer als ein fester Verein er-
scheinen, und mit ihnen die Lehrer des Gesetzes, die sich auch
als Täter bewährten^). Aus diesem Kreise ist das Buch Daniel
hervorgegangen, eine ]\Iahn- und Trostschrift für die Verfolgten,
bestimmt sie zu stärken und aufzurichten durch die Gewißheit,
daß binnen kurzem der überspannte Bogen brechen werde. Nur
eine kleine Frist wird es noch dauern; dann ist die letzte und
schlimmste Heptade von den siebzig Heptaden um, auf die Jeremias
das Gefängnis Sions bestimmt hat^). Dann wendet sich die Zeit
^) Hellenismus und Aramaismus schien gleichbedeutend; was Paulus
Hellenen nennt, nennen die Juden und die christlichen Syrer Aramäer
(= Heiden). In Isa. 9, 12. Sept. heißen die Philister "EXXtjvei;, statt dXXocpuXot.
2) 1 Macc. 2, 42. Dan. 11, 32 ss. 12, 3.
^) Die erste Hälfte der letzten Jahrwoche ist bereits verflossen, sie läuft
bis zur Errichtung des heidnischen Altars in Jerusalem Dezemb. 168. »Zwischen
1G7 und 1G4 schreibt also der Verfasser. In Kap. 11 ist v. 40 der Punkt,
wo die Vergangeuheit in die Zukunft, die Zeit des Endes, übergeht. An-
Judas Makkabäus und seine Brüder. 259
und die Dulder erben das Reich; cauch die Märtyrer stehn aus dem
Grabe auf und nehmen teil an der Herrlichkeit. Antiochus ist
der Antichrist, er bezeichnet den Höhepunkt der widergöttlichen
Entwicklung der Weltgeschichte. Darauf erfolgt der Umschlag,
der Übergang der Herrschaft an den Messias d. i. an Israel. Die
Tiefe ihres Elends bürgt diesen Juden dafür, daß nun ihre Zeit
gekommen sei; die AVut ihrer Feinde kündigt ihnen die bevor-
stehende Peripetie an,
Sie hielten es indessen nicht alle für ihre Pflicht, sich willig
abschlachten zu lassen, bis das Reich des Himmels aus den Wolken
auf die Erde herabkäme. Es bildeten sich Haufen von Flücht-
lingen, die sich nötigenfalls gegen die Verfolger zur Wehre setzten.
Es fehlte ihnen aber die Rücksichtslosigkeit, die zum Kriege ge-
hört; wenn sie am Sabbat angegriffen wurden, so rührten sie
keinen Finger um sich zu verteidigen. Es fehlte ihnen die ent-
schlossene Führung. Die Aristokratie versagte gänzlich; auch das
alte hohepriesterliche Haus entzog sich seiner Pflicht; die letzten
drei Vertreter, die uns bekannt sind, Onias HL, Jason und Alcimus,
hatten nur ihr dynastisches Interesse im Auge. Da erweckte
ihnen der Herr noch einmal einen Richter und Retter, wie in der
Vorzeit. Die Tage der Vergangenheit kehrten wieder, die Religion
erzeugte den Patriotismus. Anfangs griff"en die Juden lediglich für
das Gesetz zum Schwert. Aber der einmal aufgenommene Kampf
führte dazu, daß sie sich von der Fremdherrschaft befreiten und
wieder zu einem Volke und zu einem Reiche erhoben. Die
messianische Weissagung schien sich durch ihre Hand zu ver-
wirklichen.
In Modein, einem Orte auf dem Gebirge zwischen Jerusalem
und dem Meere, wohnte ein Priester Mattathias, der Sohn des
Johannes, ein schon betagter Mann. Er war das Haupt einer
Familie, die den Namen der Hasmonäer führte, und der angesehenste
Mann des Ortes '). Da nun die syrischen Soldaten auch nach
tiochus wird ganz Ägypten nebst Dependenzieu erobern, aber auf ein plötz-
liches Gerücht hin voller Zorn nach Palästina zurückgehn und zwischen Jeru-
salem und dem Meere seinen Untergang finden. Von dem östlichen Feldzuge
und dem wirklichen Ende des Antiochus hat der Verfasser nichts gewußt,
also noch vor 165 geschrieben.
^) Niese (Hermes 1900 p. 456 ss.) wird darin Recht haben, daß der Alte
im 1 Makk. über Gebühr vorgeschoben wird, um dem Judas die Priorität der
17*
260 Sieb'zehntes Kapitel.
TModein kamen und dort einen Altar errichteten, um von den
Einwohnern eine Probe ihres Abfalls vom Gesetz zu verlangen,
forderten sie zuerst ihn auf, mit gutem Beispiel voranzugehn,
vielleicht gar als Priester bei dem illegitimen Opfer zu fungiren.
Aber er weigerte sich, und als vor seinen Augen ein anderer
das Opfer zu bringen sich anschickte, erschlug er ihn samt dem
Hauptmann der Schar und zerstörte den Altar, Darauf war
seines Bleibens in Modein nicht länger. Er sammelte seine Ver-
wandten und Freunde und floh mit ihnen ins Gebirge. Grade
damals war es vorgekommen, daß gegen tausend jüdische Flücht-
linge sich an einem Sabbat ohne Gegenwehr hatten niedermetzeln
lassen. Die Leute von Modein beschlossen, es anders zu machen,
sich auch am Sabbat zu verteidigen und überhaupt Gewalt gegen
Gewalt zu setzen. Sie zogen durch das Land, zerstörten die Altäre,
beschnitten die Kinder, verfolgten die Heiden und die heidnisch
Gesinnten. Von den Juden des flachen Landes ging der Kampf
aus. Daß der Verein der Asidäer sich ihnen anschloß und unter
ihren Schutz begab, war ein nur moralisch wertvoller Zuwachs.
Mattathias starb schon 166') und wurde im Grabe seiner
Väter zu Modein bestattet. Der wahre Führer war schon bisher
Führerschaft zu rauben und dadurch das Recht Simons auf das Erbe seines
Vaters zu verstärken, (Vgl. meine Skizzen und Vorarbeiten VI p. 177 n. 1.)
Aber darüber kann kein Zweifel sein, daß Mattathias der Vater Simons und
seiner Brüder gewesen ist. Auch das braucht nicht bestritten zu werden, daß
er von priesterlicher Herkunft war, nur nicht von dem jerus. Geschlecht, welches
die Hohenpriester stellte. Woher die Familie den Namen der Hasmonäer hat, der
in den Makkabäerbüchern freilich gar nicht vorkommt (14, 29), ist unklar. Er
ist abgeleitet von Hasmon. So heißt eine Stadt im alten Juda, die aber da-
mals längst nicht mehr zu Judäa gehörte.
1) Eigentlich 167/66 = 146 Seleuc. Das. Seleucidenjahr beginnt auch im
ersten Makkabäerbuch im Herbst. Petavius will es dort im Frühling anfangen
lassen, um auf diese Weise eine Differenz mit dem zweiten Makkabäerbuch
auszugleichen, und seine Meinung ist die herrschende geworden. Aber der
Hauptgrund dafür, die Zählung der Monate nach Ostern, ist schon von J. D.
Michaelis zu 1 Macc. 10, 21 bündig widerlegt. Michaelis selber hat dann frei-
lich auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht, daß Balas im Jahr 160 Sei.
König wird imd Jonathan zum Hohenpriester macht, dieser aber schon im
Herbst 160 antritt, das wäre im Anfang des selben Jahres, wenn es im Herbst
begönne. Indessen zur Beseitigung dieser kleinen Schwierigkeit darf man nicht
die viel größere schaffen, daß es den Juden, die sonst das bürgerliche Jahr
immer vom Herbst an rechneten, plötzlich eingefallen sei, das Seleucidenjahr,
Judas Makkabäus und seine Brüder. 261'
sein dritter Sohn gewesen, Judas Makkabäus, ein begeisterter und
begeisternder Mann, der eigentliche Held der Zeit, von dem der
Aufstand und die Aufständischen mit Recht den Namen bekommen
haben.') Er setzte den Kampf zunächst auf die alte Weise fort,
in überraschenden Streifzügen gegen den Götzendienst und die
Götzendiener; seine Erfolge wuchsen, seine Anhänger mehrten sich,
von allen Seiten strömten sie ihm zu. Die Streifzüge waren zu-
gleich Plünderungszüge, sie mußten die Mittel für den Unterhalt
der Aufständischen liefern, und dadurch wHirden auch solche angelockt,
die mehr die Raublust als der Eifer trieb. Wer die AVaffen zu
führen verstand, war naturgemäß im Heer willkommener als wer
nur das Gesetz auswendig konnte; aber doch w^ar die Religion die
Fahne und wurde als solche geflissentlich hochgehalten. Die
syrischen Behörden, die dem Spiel lang genug zugeschaut hatten,
fanden endlich für gut einzuschreiten. Zuerst rückte ApoUonius, •
der Landvogt von Judäa und Samarien, gegen die Empörer ins
Feld. Er erlitt eine Niederlage und fiel, Judas selber erlegte ihn
und führte seitdem sein Schwert. Nach ihm kam Seron, der
Strateg von Cölesyrien; er wurde ebenfalls geschlagen, am Paß
von Bethhoron. Darauf sandte Lysias, dem Autiochus vor seiner
Partherfahrt die Verwaltung von ganz Syrien und die Pflege seines
unmündigen Sohnes anvertraut hatte, eine beträchtliche Truppen-
macht zur Unterstützung des Gorgias, der in Philisthäa kommandirte.
Die makkabäischen Streiter sammelten sich in Mispha. Diese
Stätte vertrat ihnen Jerusalem, das in der Heiden Gewalt war;
dort hielten sie einen Bettag in Sack und Asche, dort brachten sie
auch die fälligen Erstlinge und Zehuten dar und schüren die Naziräer,
das sonst ebenfalls überall im Herbst anging, ausnahmsweise einmal mit Ostern
anzufangen. Der Umstand, daß nicht schon IM. 7, 43. 49, sondern erst
l.M. 9, 3 und zwar beim, ersten Monat der Jahreswechsel (152 Sei.) bemerkt
wird, ist kein Beweis dafür, daß derselbe mit dem ersten Monat, d. h. mit
Ostern angenommen werde — ich halte es für möglich, daß schon 1 M.
7,43 in das Jahr 152 fällt, für wahrscheinlicher aber, daß zwischen den beiden
Terminen (7,43 und 9,3) dreizehn Monate liegen. In 1 Macc. 1, 10 wird
der Antritt des Epiphanes auf das Jahr 137 Sei. gesetzt, was nur dann
richtig ist, wenn das Jahr bis zum Herbst 175 sich erstreckt. Vgl. Mese
a. 0. p. 507.
') „Er erzürnte große Könige und erfreute Jakob und sein Andenken
bleibt gesegnet in Ewigkeit." Aber Jakob hätte ihn vergessen, wären nicht
die Bücher der Makkabäer von der Kirche aufbewahrt.
262 Siebzehntes Kapitel. , .
die ihre Gelübdezeit vollbracht hatten. Nach diesen Vorbereitungen
ordnete sie Judas unter Obersten, Hauptleuten und Feldweljeln ')
und führte sie den Syrern entgegen, die bei Emmaus Lager ge-
schlagen hatten um von dort ins Gebirge vorzudringen. Er über-
fiel das Lager und zwang den Gorgias das Feld zu räumen
(165). Da fand der Regent sich bewogen selber zu kommen (Herbst
165). Er marschirte nicht von Westen ein, wie Seron und
Gorgias, sondern von Süden über Idumäa und lagerte sich bei
Bethsura, wenige Meilen südlich von Jerusalem. Dort wurde er
von Judas angegriffen, erlitt große Verluste und fand es geraten,
umzukehren.
Die Glaubenskämpfer zogen nun siegreich in Jerusalem ein;
nur die Akra bezwangen sie nicht, sie begnügten sich die Be-
satzung so zu beschäftigen, daß sie keinen Schaden anrichten
konnte. Sie fanden den Tempel verwüstet, den Altar entweiht,
die Tore verbrannt, die Anbauten niedergerissen, in den Vorhöfen
Dorn und Distel. Sogleich machten sie sich ans Werk, das Heilig-
tum zu reinigen und herzustellen. Ein neuer Altar wurde er-
richtet, das abgetragene Material des alten an einer geeigneten
Stelle deponirt, bis ein Prophet aufstünde und entschiede, was damit
zu machen sei. Auch die goldenen Geräte, die geraubt waren,
wurden neu beschafft, Leuchter, Tisch und Räucheraltar, und andere
dazu*). Im Dezember 165 konnte der regelmäßige Gottesdienst
wieder in Gang gesetzt werden, nachdem er drei Jahre lang unter-
brochen gewesen war; acht Tage lang feierte man Fest^). Den
') 1 Macc. 3, 55: Vorgesetzte über Tausend und Hundert und Fünfzig und
Zehn. Anderswo heißen sie die Ypo((j.[AaT£T; toü Xaoü d. i. schotere haain
(5, 42). Die höheren Offiziere scheinen vorzugsweise Priester gewesen zu sein,
wie Mattathias und seine Söhne auch (5, 67). Reiterei gab es nicht, anfangs
fehlte es auch an Helmen und Schwertern (4, 6 vgl. 6, 6). Der Kampf wurde
womöglich nicht in der Ebene geführt.
2) Von der Diaspora wurden die Makkabäer dabei nicht unterstützt; denn
die syrische war noch ganz unbeträchtlich und die ägyptische wollte damals
noch schwerlich von dem neuen Kultus in Jerusalem etwas Avissen, dessen
Stätte entweiht war, dem die rechten Priester nicht vorstanden und dem das
heilige Feuer fehlte.
^) Es wird angegeben, man habe den großen Altar an dem gleichen
Tage, an dem er drei Jahre früher entweiht sei, wieder eingeweiht und sofort
beschlossen, diesen Tag, den 25. Kislev, für immer als ein Fest zu feiern —
was freilich vor 152 nicht regelmäßig geschehen konnte. Der 25. Kislev (De-
Judas Makkabäus und seine Brüder. 263
Gottlosen in Jerusalem, den abtrünnigen Syrerfreunden, erging es
schlecht; sie wurden verfolgt und mußten sich flüchten, nur in
der Burg fanden sie Schutz.
2. Das war der glückliche Abschluß der ersten Periode des
Krieges. In den beiden folgenden Jahren blieben die Juden von
der syrischen Oberherrschaft unbehelligt. Sie verwandelten den
Tempelberg, den Sion, wieder in ein großes Kastell und legten
eine stehende Besatzung hinein — was um so nötiger war, da die
südlich gegenüberliegende Akra in den Händen der Feinde blieb.
Sie befestigten auch Bethsura, die Grenzstadt gegen Idumäa, um
die Straße zu versperren, auf der jüngst Lysias versucht hatte
einzudringen. Und noch zu kühneren Unternehmungen benutzten
sie die Zeit, wodurch sie weit über die Grenzen Judäas hinaus-
geführt wurden. Sie hatten sich durch ihre Streifzüge, bei denen
sie auch friedliche Untertanen nicht verschonten, sondern nach
Krieges Brauch unterschiedslos raubten und mordeten, den Haß
der Heiden ringsum zugezogen, den diese am bequemsten an der
Diaspora auslassen konnten, die unter ihnen wohnte. Leute aus
Ptolemais, Tyrus, Sidon und anderen Städten hatten sich zu einer
großen Jagd auf die Juden in Galiläa vereinigt. Gegen sie wurde
Simon, der zweite Sohn des Mattathias, gesandt; er zersprengte sie
und führte die galiläischen Glaubensgenossen mit Weib und Kind
nach Jerusalem. Ein noch größerer Haufe hatte sich im nördlichen
zerüber) war aber ursprünglich das Fest der Wintersonnenwende, das mit
Liciitern und grünen Zweigen begangen wurde (2 Macc. 10, 5—7. Jos. Ant. 12
325), später auch der Geburtstag des unbesiegbaren Sonnengottes, des Mithras.
Auf diesen Tag hat man also, um ihm die nötige jüdisch-historische Berechti-
gung zu geben, das Fest der Tempel weihe gelegt, welche ungefähr in der
gleichen Jahreszeit stattgefunden hatte. Die verbindende Idee zwischen dem
heidnischen und dem jüdischen Feste war die Wiederkunft des heiligen Feuers
(einerseits des Sonnen-, andrerseits des Altarfeuers); daher erklärt es sich
auch, daß in 2 Macc. 1, 18 die Entzündung des Altarfeuers zur Zeit des Nehemia
neben der Entzündung desselben zur Zeit der Makkabäer (2 M. 10,3) als Anlaß
der Feier genannt wird. Dann hat man weiter rückwärts gehend die Coinci-
denz der Wiedereinweihung und der Entweihung des Altars geschaffen; merk-
würdigerweise wird aber die letztere 1 Macc. 1,54 nicht auf den 25., sondern
auf den 15. Kislev gesetzt. Vgl. A. G. Wähuer, de festo Encaeniorum judaico,
origine nativitatis Christi (Ilelrastädt 28. Sept. 1715). Die ägyptischen Juden
feierten das Hanukkafest nicht mit, so lange sie den neuen Tempel und das
neue Hohepriestertum nicht anerkannten (2 Macc. 1, 10 ss.).
264 Siebzehntes Kapitel.
Ostjordanlande zusammengerottet, die Juden in Tubiene umgebracht
und die in Galaaditis in die Feste Dathema zusammengedrängt, wo
sie belagert wurden '). Dahin wandte sich Judas, trieb durch einen
mörderischen Angriff die Heiden ab, als sie eben einen Sturm
unternehmen wollten, und befreite die Belagerten. Dann nahm er
im Vorübergehen blutige Rache an mehreren von den Städten, die
das Hauptkontingent zu der Rotte gestellt hatten. Indessen sam-
melten sich die Feinde wieder und verstärkten sich durch gedun-
gene Araber; der Führer war ein gewisser Timotheus, der schon
früher einmal in Ammanitis mit Judas zusammengeraten war.
Hinter dem tiefen Flußbett des Jarmuk nahmen sie eine feste
Stellung ein, aber Judas passirte die Schlucht, griff an und trieb
sie nach Karnain hinein. Auch da waren sie nicht sicher, er er-
oberte die Stadt und verbrannte das Heiligtum daselbst, in das
sich viele Flüchtlinge gerettet hatten. Nachdern er genugsam unter
den Heiden gewütet hatte, machte er sich auf den Heimweg, indem
er die Juden von Galaaditis ebenso mitnahm wie Simon die von
Galiläa. Er zog den Jarmuk hinunter, öffnete sich gewaltsam den
Weg durch die Stadt Ephron, die ihm den Durchlaß verweigerte,
ging bei Scythopolis über den Jordan und kam mit seiner Beute
von erlösten Menschen glücklich in Jerusalem an^).
Man gewinnt aus dieser und ähnlichen Erzählungen einen
lehrreichen Einblick in die Verhältnisse. Die Juden in Palästina,
außerhalb Judäas, erscheinen als eine kleine Minderheit. Die in
Galaaditis gehn all zusammen in ein Kastell hinein, das ihnen als
Zuflucht in Gefahr dient; die in Tubiene Ermordeten, die Gesamt-
heit der Männer, werden auf etwa Tausend geschätzt, und die in
1) Tubiene ist das alte Land Tub (Jud. 11,3. 2 Sam. 10,6); irrig Niese
3, 226 n. 1. Die alte Hauptfeste von Gilead war Rametba, sie heißt noch
jetzt so. ü und 11 sind in der späteren semitischen Schrift zwar fast iden-
tisch, aber die Transposition von M und Th erklärt sich nicht leicht, so daß
die nahe liegende Vermutung der Identität beider Namen Bedenken unterliegt.
2) 1 Macc. 5, 9 — 54. An dem üblichen Misverständnis dieser Erzählung
sind V. 26. 27 schuld, nämlich die Präpositionen et; und h vor den Stadt-
namen und der Plural xi öyupcuiJLCtTa. Der Zusammenhang fordert den Sinn;
„viele Heiden aus Bossora etc. haben sich zusammengerottet vor der Feste
(Dathema)"; Judas entsetzt die Feste und stattet vorher und nachher den
nichtsahnenden Heimatstädten der Belagerer unwillkommene nächtliche Be-
suche ab. Die Verse 55 — 62 schließen sich unmittelbar an 9 — 54 an; in
loserer, vielleicht nicht streng chronologischer Beziehung dazu stehn v. 1 — 8
Judas Makkabäus und seine Brüder. 265
Galiläa sind auch nicht viel zahlreicher. Denn sie können insge-
samt mit Weib und Kind nach Jerusalem überführt werden und
dort Unterkommen finden. Die Heiden sind ihnen überall feind
und aufsässig, nicht bloß die im Norden diesseit und jenseit des
Jordans, sondern ebenso die Idumäer, die Philister, und die Araber
in Ammauitis und Maabitis: nur die Nabatäer sind ihnen wolge-
sinnt, Aveil im antiseleucidischen Interesse mit ihnen verbunden,
und in Samarien haben sie nichts zu leiden. Der Haß wird
natürlich von den Juden vollauf erwidert, mit der Grausamkeit
gerechter Rache vergießen sie das Blut der Götzendiener und zer-
stören ihre Heiligtümer, sie fühlen und erweisen sich ihnen ge-
waltig überlegen. Von Regierung und Behörden merkt man nichts;
es ist als ob dergleichen Friedensbrüche damals in Syrien ebenso
in der Ordnung gewesen wären wie bei uns im Mittelalter. Auch
dadurch wird man an das Mittelalter erinnert, daß überall Burgen
und Türme auftauchen, im Besitz teils von einzelnen großen Herren,
teils von Gemeinschaften.
Autiochus IV. starb 164') im fernen Osten. Durch den
Thronwechsel erklärt sich zum Teil, daß die Syrer die Juden
so lange ruhig gewähren ließen. Sie regten sich erst Avieder, als
jene begannen die Akra ernstlich zu belagern, die der wichtigste
und festeste Sitz der macedonischen Oberherrschaft war (Ende 163).
Damals kamen einige Leute von der belagerten Besatzung und
viele abtrünnige Juden nach Antiochia und beklagten sich bitter
darüber, daß sie in stich gelassen würden und ihre Treue gegen
den König schwer büßen müßten. So raffte sich denn Lysias auf
und brach mit einem großen Heere gegen Jerusalem auf, in Be-
gleitung des neunjährigen Königs Antiochus V. Er rückte wieder
von Süden her ein, schlug den Judas bei Bethzacharia und zwang
Bethsura zur Kapitulation. Darauf belagerte er lange Zeit den
Tempelberg. Die Juden litten unter der Wirkung eines Sabbat-
und V. 63 — 68. Wahrscheinlich ist v. 67 identisch mit v. 55—62, vielleicht
auch V. 65 mit v. 3. — Für die 1 Macc. 5, 54 erwähnte Siegesfeier scheint
Ps. 68 gedichtet: Juden, die vereinsamt unter den Heiden in Basan wohnten
und von diesen bedrängt wurden, sind von einem jüdischen Heeie gerettet
und nach Jerusalem übergeführt: das ist die Menschenbeute, die Gott von seinem
Zuge heimbringt.
^) Seleuc. 148, nicht erst 149, wie es 1 Macc. 6, 16 heißt: s. Niese a. 0.
p. 495 s.
2f)6 Siebzehntes Kapitel.
Jahrs, in dem die Ernte ausfiel'); um so mehr, da durch die
Überführung so vieler Familien aus Galiläa und Galaaditis die Zahl
der hungrigen Mäuler sehr gewachsen war. Viele liefen über^).
Die Belagerten sahen sich endlich zu Unterhandlungen genötigt,
auf die Lysias bereitwillig einging. Sie erhielten die Erlaubnis,
ihre Religion und ihre väterlichen Sitten beizubehalten, mußten
aber die syrische Herrschaft anerkennen und sich gefallen lassen,
nicht nur daß die fremde Besatzung in der Burg blieb, sondern
auch daß die Befestigungen des Tempelberges geschleift wurden.
Es heißt, Lysias sei darum so bereit zu einem billigen Frieden ge-
wesen, weil er gegen Philippus freie Hand haben wollte, einen
Rivalen, der gestützt auf den letzten Willen des verstorbenen
Königs sich in seinem Rücken erhob. Indessen hat er gewiß über-
haupt nicht die Absicht gehabt, den Religionszwang fortzusetzen;
das wäre Aberwitz gewesen. Er hat nur zugestanden, was unter
allen Umständen zugestanden werden mußte. Und er hat erreicht,
was er erreichen wollte — vielleicht mit Ausnahme eines Punktes.
Denn zur politischen Unterwerfung der Juden hätte es gehört,
daß sie den früheren Hohenpriester wieder hätten einnehmen
müssen. Menelaus befand sich in der Tat im syrischen Lager und
suchte sich in Jerusalem möglich zu machen. Aber er war und
blieb unmöglich. Lysias ließ ihn fallen, ja bald nach seinem Ab-
züge richtete er ihn hin, wol aus Arger über den verdrießlichen
Handel, in den er die Regierung verwickelt hatte ^).
Mit Philippus wurde Lysias leicht fertig, aber bald darauf
(nach 1G2) erlag er samt seinem königlichen Mündel einem anderen
1) Das Jahr 150 der sei. Ära, in dem die Belagerung stattfand (1 Macc.
6, 20), beginnt erst im Herbst 163. Wenn das Sabbatjahr wirklich vom Herbst
164 an lief, so liegt 1 M. 6, 49. 63 ein kleines Versehen vor, das aber gar
keine pragmatische Bedeutung hat; denn die Wirkung des siebenten Jahres
macht sich erst im folgenden recht empfindlich.
-') 1 Macc. 6,54. Über 2. Macc. 11,27—32 bin ich im Unklaren. Daran,
daß Menelaus noch als offizieller Hohepriester erscheint, nehme ich keinen
Anstoß; das Stillschweigen des 1 Macc. in diesem Punkte ist konsequent und
hat nichts zu sagen. Vgl. Niese p. 476 ss. und Willrich, Judaica (1900) p. 136.
3) 2 Macc. 11, 29. 32. 13, 3 ss. Ant. 20, 235. Die Regierung des Menelaus
(allerdings großenteils in partibus infidelium) dauerte zehn Jahr, von 171 bis
162 (Ant. 12,385). Niese meint, Menelaus sei noch immer in Jerusalem selbst
gewesen. Er müßte sich dann bei den „Gottlosen" in der Burg aufgehalten
haben. Das ist nicht unmöglich, aber nicht notwendig.
Judas Makkabäns und seine Brüder. 267
Gegner, Demetrius I., dem Sohne des Seleucus IV., dem es ge-
lungen war, aus der römischen Geiselhaft in die Heimat zu ent-
fliehen und dort das Heer für sich zu gewinnen. Demetrius er-
achtete sich schw'erlich an die Akte seines Vorgängers rechtlich
gebunden, aber das Zugeständnis freier Religiousübung für die
Juden tastete er so wenig an wie irgend einer seiner Nachfolger^).
Jedoch die Herrschaft der Makkabäer erkannte er begreiflicherweise
nicht an, sondern setzte den Juden, nach dem Tode des Menelaus,
einen Ethnarchen aus dem alten hohenpriesterlichen Hause in der
Person des Alcimus. Um ihn einzuführen, sandte er den Statt-
halter von Syrien"), Bacchides, mit einem Heere nach Jerusalem.
Alcimus wurde in Jerusalem ohne Widerstand aufgenommen, auch
von den Schrift gelehrten und Frommen. Denn mochte er be-
schaffen sein, wie er wollte, so hatte er doch durch sein Blut den
legitimen Anspruch auf die Vorsteherschaft der Gemeinde. Nur
die Makkabäer wollten nicht abtreten, nachdem sie ihre Pflicht
getan; sie setzten ihr sauer erworbenes Recht auf die Herrschaft
über das unverdient ererbte. Doch mußten sie aus Jerusalem
weichen. Der Boden, in dem sie wurzelten, war nicht die heilige
Stadt, sondern die Landschaft. Auch späterhin ist es immer die
Landschaft, welche für die Sache Gottes zum Schwerte greift und
in den Aufständen die Streiter stellt.
Aber törichter Weise benutzte nun Alcimus seine Macht um
an den Frommen Rache zu nehmen dafür, daß sie es eine Zeit
lang mit den Makkabäern gehalten hatten. So untergrub er seine
Stellung, und als Bacchides den Rücken gewandt hatte, konnte er
sich nicht mehr halten. Er floh hilfesuchend nach Antiochia.
Damit brach der Krieg von neuem aus; es handelte sich um die
Zurückführung des Alcimus und um die Vernichtung der Auf-
ständischen. Ein erster Versuch mislang. Die Syrer unter Nikanor
rückten zwar nach einer kleinen Schlappe in das unbefestigte Jeru-
salem ein, wo sie als Freunde aufgenommen wurden; aber draußen
behaupteten die Makkabäer das Feld und vernichteten den Nikanor
^) Nikanors Drohungen (1 M. 7, 26 ss.) haben mit dem Zweck des Krieges
nichts zu tun; es sind Extravaganzen, vielleicht des Schriftstellers.
■-') n^pav lo'j 7:oTa[j.oü 1 Macc. 7, 8 ist nicht der Osten des Jordans, wie
Niese 3, 253 irrig versteht, sondern das alte persische Transeuphratene, gleich-
bedeutend mit Cölesyrien; s. p. 272 n. 4.
268 Siebzehntes Kapitel.
in der Schlacht von Adasa zwischen Bethhoron und Gazera (März
161). Der Sieg schwellte mehr als je die Herzen; er wurde seit-
dem alljährlich, am 13. Adar, gefeiert. Eine Weile stand Judas
wieder an der Spitze der Nation. Indessen im April 160 erschien
Bacchides selber mit einem so großen Heere in Jerusalem'), daß
der Menge das Herz entfiel und nur 800 Mann bei Judas aus-
harrten. Er wagte dennoch den Kampf, unterlag aber und fiel bei
Elasa, einem Orte unbekannter Lage. Seine Leiche konnte von
seinen Brüdern in der Familiengruft zu Modein bestattet werden^).
3. Es zeigte sich abermals, wie bei dem zweiten Zuge des
Lysias, daß wenn die Syrer ihre Kraft aufboten, die Juden nicht
^) Unterwegs nahm er das Raubnest von Arbela in Galiläa aus (l Macc.
9,2). räXyaXa ist Übersetzung von Galil (Josu 12, 23 Sept.), für MataaX(u&
ist mit Tuch MeaaStu!} zu lesen. Für Arbela hatte ich nach dem arabischen
Arbid (Jaqut 1 184,4) Arbeda vermutet; diese Vermutung ist unhaltbar,
wenn das rabbinische Arbel in der Tat das Felsennest ist. Vgl. Encycl. Bibl.
London, Black) unter Arbela.
-) Nach 1 Macc. 8 hat Judas in der Zwischenzeit zwischen der Besiegung
Nikanors und dem Einmarsch des Bacchides ein freilich ganz wirkungsloses
Bündnis mit den Römern geschlossen. Sollten aber die Römer mit einem
kleineu Rebellen, der sich noch keineswegs durchgefochten hatte und mit
einem Satrapen von Babylouien wie Timarchus nicht von fern zu vergleichen
ist, ein solches eingegangen sein? Nach der gewöhnlichen Annahme beträgt
besagte Zwischenzeit nur einen Monat; binnen eines Monats konnte keine Ge-
sandtschaft von Jerusalem nach Rom abgehn, dort verhandeln und wieder zu-
rückkehren. Das wäre entscheidend, indessen glaube ich nicht, daß die ge-
wöhnliche Annahme im Recht ist; denn die Feier des Nikauortages begreift
sich nicht recht, wenn der Eindruck des Sieges alsbald durch eine Niederlage
schlimmster Art verwischt worden wäre. Aber jedenfalls ist Kap. 8 ganz lose
eingesetzt, denn 9,1 schließt eng an 7,50: Demetrius hört von der Nieder-
lage Nikanors, aber durchaus nichts von der römischen Drohung gegen ihn
(8, 31. 32). Der Pragmatismus, den Niese a. 0. p. 502 vorschlägt, ist jeden-
falls nicht der der Erzählung. Es kann auch nicht zugegeben werden, daß
trotz der Unechtheit der Urkunde das Bündnis oder wenigstens die Freund-
schaft zwischen Judas und den Römern so gut bezeugt sei wie nur möglich.
Daß Josephus, als er Bellum 1,38 schrieb, das 1 Macc. noch nicht gelesen
hatte, wird schwerlich behauptet werden können. Was Justin 3G 3,9 betrifft:
a Demetrio cum descivissent, amicitia Romanorum petita primi omnium ex
orientalibus libertatem acceperunt, facile tunc Romanis de alieno largientibus
— , so redet Justin zwar vom ersten Demetrius, tatsächlich aber muß der
zweite 'gemeint sein. Denn unter Demetrius I. haben die Juden noch nicht
die Autonomie gewonnen und von dem angeblichen Römerbündnis nicht den
geringsten Nutzen gehabt — nach Niese sogar nur den schwei'sten Schaden.
Judas Makkabäus und seine Brüder. 269
gegen sie aufkommen konnten. Die Legitimität hielt wieder ihren
Einzug in Jerusalem, Alcimus und die durch den Aufstand ver-
drängten Aristokraten kamen wieder in die Ämter. Sie werden
von ihren Gegnern die Gottlosen und Abtrünnigen genannt, weil
sie der nationalen Bewegung fremd und feindlich waren und bei
den syrischen Königen Schutz suchten für ihre durch Empor-
kömmlinge schwer bedrohte Herrschaft. Man darf aber nicht denken,
daß sie noch damals dem Heidentume Vorschub zu leisten gesonnen
waren; die Zeiten waren ein für alle mal vorbei. Wenn Alcimus
die innere Vorhofsmauer, ein Werk der heiligen Propheten'),
niederlegte, so tat er das ohne Zweifel aus Frömmigkeit und wurde
nur durch den Tod gehindert, sie glänzender wieder aufzubauen.
Die Religion wurde in keiner Weise angefochten; die Maßregeln
des Bacchides waren politisch. Er blieb mit seinen Soldaten im
Lande, um in Jerusalem die restaurirte alte Ordnung zu schützen
und um in der Landschaft das Feuer auszutreten, das dort noch
brannte. Er verfolgte und strafte die Freunde des Judas, er nahm
Geiseln von den Ältesten und hielt sie in der Akra gefangen, er
legte eine Menge Festungen als Zwingburgen im Lande an. Es
gelang ihm jedoch nicht, die Freunde des Judas, wie die Makkabäer
damals hießen, gänzlich zu unterdrücken. Sie wählten Jonathan,
den jüngeren Bruder des gefallenen Führers, zu seinem Nachfolger
und fristeten sich als Räuberschar in der Wüste Thekoa, wie einst
David in ähnlicher Lage. Bacchides versuchte vergebens sie zu
bewältigen ^).
Im Sommer 159 starb Alcimus, über seinen Nachfolger hören wir
nichts ^). Bacchides zog bald nach seinem Tode ab nach Antiochia.
Sofort kamen die Makkabäer wieder in die Höhe, so daß die
Jerusalemer besorgt wurden. Sie veranlaßten den Bacchides noch
einmal zurückzukommen, da es leicht sei, die Feinde in ihrer Burg
') d. h. aus den beiden ersten Jahrhunderten nach dem Exil.
^) In 1 Macc. 9 schließt v. 36 nicht an das Vorhergehende an. Die Verse
32 — 34 sind zwar stofflich unentbehrlich, aber formell nicht recht verarbeitet;
V. 34 deckt sich mit v. 43.
^) Daraus zu schließen, daß er keinen bekommen habe — wie auch ich
getan habe — , ist voreilig (Niese). Denn die den Hasmonäern im Wege
stehenden Hohenpriester werden in 1 Macc, wenn irgend möglich, ignorirt.
Über die Zeit zwischen dem Tode des Hohenpriesters Alcimus und der Er-
hebung Jonathans wird überhaupt fast nichts berichtet.
270 Siebzehntes Kapitel.
zu überrumpeln (157). Aber der Versuch schlug fehl, und nun
wandte Bacchides sich gänzlich von seinen beschwerlichen Freunden
ab und schloß mit Jonathan Frieden. Die Syrer hatten es all-
mählich satt, für Prätendenten einzutreten, die im Volk keinen
Boden mehr hatten; es schien ihnen gleichgiltig, welche Partei in
Juda regierte, wenn sie ihnen nur Untertan war und Steuern
zahlte. Jonathan wurde zwar nicht als Hoherpriester anerkannt.
Doch es genügte, daß man ihn gewähren ließ. Seine Macht
wuchs Zusehens, die Sympathien der Menge waren auf seiner Seite.
Er nahm jetzt seinen Wohnsitz in Michmas nördlich von Jerusalem
und wußte die Ruhe mehrerer Jahre zu benutzen, um seine
Regierung zu befestigen und seine Gegner aus dem Wege zu räumen.
Nur die Hauptstadt war ihm unzugänglich, dort wurde die legitime
Gerusia von der Akra aus geschützt. Und nicht bloß in der Akra,
sondern auch an vielen anderen Orten lagen noch die syrischen
Besatzungen.
Schon seit der Konvention des Lysias wurde nicht mehr für
den Glauben gestritten, sondern für die Herrschaft der Hasmonäer,
gegen die von den Syrern unterstützten Ansprüche des alten Hohen-
priestertums und der alten Aristokratie. Ganz nackt aber trat das
weltliche Interesse des Kampfes erst unter Jonathan hervor, der
im Gegensatz zu seinem enthusiastischen Bruder einem Gottesmann
wenig glich. Wenn er auch das Volk hinter sich hatte, so focht
er doch für sein Haus mit durchaus profanen Mitteln. Das Hohe-
priestertum, d. h. die Ethnarchie, war das Ziel seines Ehrgeizes.
Die Vakanz des Amtes oder die Bedeutungslosigkeit seiner Inhaber
kam ihm dabei zu statten, und hinterher noch weit mehr die
Zerrüttung des Seleucidenreiches durch fortdauernde Thronstreitig-
keiten. Er erschien den Rivalen als ein wertvoller Bundesgenosse
und verstand sich teuer zu verkaufen. Von irgend welchen Skru-
peln bei den Geschäften, die er machte, wurde er nicht geplagt.
Mit der Religion hatte alles was er tat nichts zu schaffen. Er
arbeitete für sich selbst wie er am besten konnte. Zumeist war
er in der glücklichen Lage, andere für sich arbeiten zu lassen,
welche glaubten ihn zu benutzen.
Von den alten Feinden der Seleuciden, den ägyptischen und
kleinasiatischen Königen, ward ein Ephesier niedriger Herkunft,
der dem Antiochus IV. ähnlich sah und sich für dessen Sohn aus-
geben mußte, als Prätendent für den syrischen Thron zurecht-
Judas Makkabäus und seine Brüder. 271
gestutzt und gegen Demetrius I. ausgespielt. Er hieß Balas und
nannte sich Alexander. Mit Hilfe seiner Bundesgenossen gelang
es diesem, in Syrien Fuß zu fassen (152), ebenso leicht wie einst
seinem angeblichen Vater und wie dem regierenden Könige selber.
Ihm gegenüber zog Demetrius die Besatzungen aus den jüdischen
Festungen zurück, nur nicht aus Jerusalem und aus Bethsura. An
Jonathan schrieb er einen Brief, worin er ihm Vollmacht gab
Ki'iegsvolk anzunehmen, und erteilte zugleich der Besatzung der
Akra Befehl, die jüdischen Geiseln herauszugeben. Auf grund da-
von ließ sich Jonathan in Jerusalem nieder, erhielt die Geiseln
zurück und restaurirte die geschleiften Befestigungen. Als aber
bald darauf Balas ihn förmlich zum Hohenpriester ernannte, trat
er auf dessen Seite und traute den Überbietungen nicht '), durch
die Demetrius ihn zu fesseln und seinen Beistand zu erkaufen
suchte. Am Laubhüttenfeste von 152 trug der neue Hohepriester von
Balas' Gnaden zum ersten mal das Pallium. Seine Politik erwies
sich als richtig, denn der echte Seleucide unterlag und fiel im
Kampfe gegen den falschen (150). Als dieser darauf in Ptolemais
seinen Sieg durch die Hochzeit mit seines ägyptischen Bundes-
genossen Töchterlein feierte, wurde auch Jonathan eingeladen, mit
Ehren überhäuft, mit dem Purpur bekleidet und zum Strategen
und Meridarchen ernannt. Eine Gesandschaft der „Abtrünnigen",
die ihn zu verdächtigen wagte, fand kein Gehör: der mächtige
Parteigänger, der von der Vollmacht Soldaten zu halten ausgiebigen
Gebrauch gemacht hatte, war unentbehrlich und seine Treue durfte
nicht angezweifelt werden. Er bewährte sich auch wirklich, als
nach einigen Jahren Demetrius H. als Rächer seines Vaters sich
erhob (147). Da kämpfte er für Balas gegen Apollonius, den
Statthalter Cölesyriens, der sofort dem rechtmäßigen Erben des
Reiches zugefallen war, schlug ihn in der Ebene der Philister,
nahm Jope und Askalon ein, eroberte Asdod und zerstörte den
Tempel Dagons. Zum Dank dafür erhielt er die Stadt Akkaron und
verdiente sich die goldene Spange, das Abzeichen der Vettern des
Königs. Doch konnte er es nicht hindern, daß Balas unterlag,
nachdem er von seinem Schwiegervater Ptotemäus VI. in stich
') Auch wir haben Grund, dem Dokument 1 Macc. 10, 25 — 45 (ebenso
auch 11,30—37 und 13,36-40) nicht zu trauen. Vgl. Willrieh, Judaica
p. 51 SS.
272 ■ Siebzehntes Kapitel.
gelassen war (145). Er setzte nun auf eigene Faust den Krieg
fort und begann die Belagerung der Akra, um die syrische Be-
satzung zu vertreiben. Das war der letzte Hort, den die Legi-
timisten im Lande besaßen. Noch einmal wandten sie sich hilfe-
suchend und beschwerdeführend an den Hof. Da lenkte Jonathan
ein, trat persönlich in Unterhandlungen mit Demetrius und er-
reichte, daß er gegen eine Steuerpacht von jährlich 300 Talenten
im Hohenpriestertum bestätigt Avurde und drei samarische Bezirke,
die er annektirt hatte, behalten durfte '). Die Belagerung der
Burg mußte er natürlich einstellen^) und sich zudem wie es scheint
verpflichten, auf Verlangen Soldaten zu stellen. Er soll 3000 Mann
nach Antiochia gesandt haben, um einen Aufstand niederzuschlagen,
der dort gegen Demetrius ausgebrochen war. Der Herrscher von
Asien in seiner eigenen Hauptstadt durch den jüdischen Hohen-
priester geschützt — das klingt doch zu unglaublich!
Demnächst aber ließ er den König in einer schwereren Gefahr
stecken und schlug sich auf die Seite seiner Feinde. Ein ehe-
maliger Offizier des Balas, Trypho^ gewann einen großen Teil der
Truppen für sich und stellte Antiochus VI., den unmündigen Sohn
des Balas der bei einem Araber untergebracht war^), als Gegen-
könig auf; es gelang ihm sogar, sich der Hauptstadt zu bemächti-
gen. Es konnte nicht fehlen, daß er um die Gunst des jüdischen
Hohenpriesters warb, und dieser fand einen Grund, den Umständen
gemäß die Treue zu wechseln. Er bekam nun den obersten Be-
fehl im mittleren und südlichen Syrien, mit der Aufgabe, das Land
für Antiochus VL Eupator in Besitz zu nehmen und von den Resten
der Herrschaft und der Macht des Demetrius zu säubern*). Der
') 11,34 vgl. 10,30. 88. Es scheint, daß diese drei (11,57: vier) Be-
zirke erst unter Jonathan von der Samaritis losgerissen sind.
-) Dies zu erzählen, hat der Vf. von 1 Macc. vergessen; wol nicht bloß
weil es ganz selbstverständlich war. Denn vorher hält er es für der Mühe
wert zu berichten, daß Jonathan den Befehl gegeben habe, die Belagerung der
Burg fortzusetzen, als er sich selber auf den Weg nach Ptolemais machte.
3) I|AaXxou£ 1 M. 11,39, falsche Aussprache von DvO"" (Jamlik), wol der
deutlichste Beweis, daß das Griechische Übersetzung ist. Dieser Jamlik mag
ein Verwandter des Arabers Zabdiel gewesen sein, der den Kopf des flüchtigen
Balas an Ptolemäus VI. sandte (11,7).
^) riepav Toü 7:oTC([A0u 11,60, das den Erklärern so viel Kopfzerbrechen
verursacht, ist weiter nichts als Eberhanahar d. i. Transeuphrateue oder
Syrien (7, 6).
Judas Makkabäus und seine i3rüder. 273
Schauplatz seiner Tätigkeit war zuerst Philisthäa, dann Galiläa;
dort brachte er Askalon und Gaza zur Unterwerfung, hier besiegte
er Truppen des Denietrius in der Nähe des Sees von Gennesar').
Als die Geschlagenen sich bei Hamath wieder sammelten, drang
er bis dorthin vor, über den Libanon hinaus, und zerstreute sie^).
Auf dem Rückwege strafte er die Zabadäer, einen Stamm der itu-
räischen Araber am Libanon ^), und zog durch die Gegend von
LJamaskus wieder heim. Zu Jerusalem angelangt hielt er Rat mit
den Ältesten und traf ALißregeln zur Sicherung des Landes. Er
begann etliche Städte zu befestigen, die alten Mauern von Jerusa-
lem zu erhöhen und eine neue zwischen der Akra und der Burg
aufzuführen, um die syrische Besatzung die noch zu Denietrius hielt
gänzlich abzuschneiden. Auch sein Bruder Simon war inzwischen
nicht untätig gewesen, der von Trypho zum Strategen des palästi-
nischen Küstenstrichs ernannt war. Er hatte Bethsura, die wich-
tige jüdische Grenzfestung gegen Idumäa, zur Übergabe gezwungen
und die Syrer daraus vertrieben, natürlich als Truppen des De-
nietrius. Er hatte dann auch Jope besetzt, wo sich Sympathien
für Denietrius regten, und die Stadt Adida, an der Grenze der
Philister, in eine Festung verwandelt^).
Nachdem die Hasmonäer die alte Aristokratie glücklich ver-
drängt und sich an ihre Stelle gesetzt hatten, steckten sie sich
') Die Form Geimesar 11,67 ist die originale, sie findet sich aucli bei
Josepiius, in säoitliclien jüdiscli- und clnistlioh-aramiiisclien Bibelübersetzungen,
und im Codex D des Neuen Testaments. Gen ist der Garten, Nesar ein
Landscliaftsnarae, woher vielleicht Nasarener (Matth. "26,71. 69).
-) Zwisclieii der Besiegung der Syrer beim See von Gennesar und ilu'er
weiteren Verfolgung bis nach Ilamath soll Jonathan einen Abstecher nacli
Jerusalem gemacht hal)en — bloß um das Bündnis mit den Römern zu er-
neuern (l M. 11,74—12,25). Die Sache ist an der allerungeschicktesten Stelle
eingeschoben. Außerdem war er ja Strateg von Cölesyrien, den Schein für
Trypho zu kämpfen hielt er wolweislich aufrecht, darauf berulite seine da-
malige kriegerische Tätigkeit im Norden. Wie soll er dann grade in diesem
Augenblick dazu gekommen sein, einen Schritt zu tun, wodurch er sich niciit
als syrischer Beamter sondern aufs deutlichste als Souverän benahm? Natür-
lich hat auch dieses Römerbündnis nicht die geringste geschichtliche Wirkung
gehabt.
^) Bei Eusebius Praep. ev. 9, 30 werden die Zabdäer (so zu lesen statt
Nabdäer) von den Ituräern unterschieden,
*) Die Vorgänge fallen ungefähr ins Jahr 144.
We 11 hau s e n, Isr. Geschiebte. 5.Aufl. [g
274 Siebzehntes Kapitel.
höhere Ziele. Sie vergaßen sich selber nicht, indem sie für den
einen König gegen den andern fochten und im Namen der Syrer
die Syrer aus Judäa und den angrenzenden Gebieten vertrieben.
Es ist erklärlich, daß Trypho dem schlauen und verwegenen Hohen-
priester zu mistrauen begann und sich seiner zu entledigen suchte.
Er rückte plötzlich in Palästina ein und lagerte sich bei Scytho-
polis. Jonathan war auf der Hut, an der Spitze eines wol-
gerüsteten Heeres zog er ihm entgegen. Aber von maßlosen
Schmeicheleien geködert gab er die Vorsicht auf, entließ sein Heer
und folgte dem Syrer in die Festung Ptolemais. Da wurde er in
Haft genommen und seine Begleitung niedergemacht.
4. Es fand sich jedoch Ersatz für ihn. Simon kam aus seiner
Provinz nach Jerusalem, bot sich an und wurde von der Volks-
versammlung zum Führer gewählt. Trypho fand ihn gerüstet an
der Grenze bei Adida, als er in Judäa einzufallen gedachte. Er
versprach nun Jonathan freizugeben, wenn dessen beide Söhne als
Geiseln gestellt und hundert Talente gezahlt würden. Simon traute
dem Handel nicht, gab aber doch das Geld und die Geiseln; an-
geblich um den Vorwurf abzuschneiden, daß er nicht alles an die
Befreiung des Bruders gesetzt habe, beging er den Frevel, auch
dessen Erben, die Erben der Herrschaft, in Feindes Hand zu über-
liefern. Wie er vorausgesehen, ließ Trypho weder den Gefangenen
los noch gab er die Feind schai't auf. Er ging von West nach Süd
um das Gebirge herum, um irgendwo durchzubrechen, Simon wich
nicht von seiner Seite. Er suchte dann wenigstens der schwer be-
drängten Besatzung der Akra zu helfen, aber eine nächtliche Keiter-
expedition, die er zu diesem Zweck absandte, wurde durch einen
starken Schneefall (Winter 143) verhindert. So zog er schließlich
über Osten wieder ab. An der Person Jonathans ließ er seinen
Arger darüber aus, daß die Sache, für die jener gekämpft hatte,
auch ohne ihn siegreich war. Er ließ ihn in Baskama im Ost-
jordanlande hinrichten; seine Gebeine wurden von Simon eingeholt
und in Modein bestattet. Über den Verbleib der Geiseln ver-
lautet nichts.
Die von Jonathan begonnenen Maßregeln zur Sicherung Ju-
däas wurden durch den Krieg nicht unterbrochen, sondern nur be-
schleunigt, und nach dem Kriege mit Nachdruck weitergeführt^).
1) 1 Macc. 13,33.
Judas Makkabäus und seine Brüder. 275
Simon vollendete den Ausbau der Mauern von Jerusalem, machte
Jope zu einem jüdischen Hafen und legte in Gazera, neben Adida,
eine zweite Festung an zur Sicherung der westlichen Grenze; aus
beiden Städten vertrieb er die heidnischen Einwohner. Er brachte
auch endlich die Akra zu Fall; den Tag seines Einzuges in dies
letzte Bollwerk der Syrer, 23 Ijar (Mai) 141, machte er zu einem
dauernden Festtag. Zu Trypho hatte er natürlich kein Verhältnis
mehr, namentlich seitdem derselbe die Puppe, für die er angeblich
kämpfte, beiseit geworfen und sich selbst die Krone Asiens aufge-
setzt hatte. Aber das Verhältnis zu der seleucidischen Oberherr-
schaft brach er noch nicht ab. Er übersandte dem Demetrius IL,
der sich in Seleucia behauptete, einen Kranz und einen Palmzweig
von Gold und erwirkte von ihm Amnestie und Anerkennung des
Status quo. Er fühlte das Bedürfnis, sich legitimiren zu lassen.
Daß er das Hohepriestertum sich noch auf andere Weise habe be-
stätigen lassen, durch einen Volksbeschluß, der es ihm erblich
übertrug, ist nicht zweifellos bezeugt ').
Simon wurde der Begründer der hasmonäischen Dynastie; er
war der erste, nach dessen Jahren man rechnete und der eigene
Münzen schlug''), vielleicht auch der erste, der ein Bündnis mit
') In 1 Macc. 14 wird eine Urkunde mitgeteilt, vom 18. Elul 172 Sei.
(September 141), welche die Taten Simons verzeichnet und darauf mündet,
daß König Demetrius ihn als Hohenpriester bestätigte, weil es verlautete, daß
die Römer einen Bund mit ihm gemacht und daß die Juden eingewilligt
hätten, er solle ihr Fürst und Hoherpriester sein, bis ein zuverlässiger Pro-
phet erstünde. Bei diesem letzteren Beschluß wird dann zwar lange verweilt,
aber er erscheint doch nur als ein Teil der Kunde, die Demetrius vernahm.
Nach V. 27. 28 erwartet man einen Beschluß, es folgt aber v. 29s. ein Be-
richt, und aus diesem taucht v. 41 ss. plötzlich ein Beschluß hervor, jedoch
nicht als Beschluß, sondern als Erzählung: die Form des Schriftstückes ist
also sehr sonderbar, auch für ein Ehrendecret, das Niese darin erkennt. Es steht
in einer Fortsetzung des 1 Macc, welche mit 14, 16 anhebt, nach dem for-
mellen Schluß 14, 4 — 15. Es mag sein, daß Josephus diese Fortsetzung schon
gekannt hat, obgleich die Spuren sehr schwach sind. Aber jedenfalls gehört
sie nicht zum Kern des Buches. Sie teilt diese Eigenschaft mit anderen
Stücken innerhalb desselben, welche darauf führen, daß es uns jetzt in
einer zweiten vermehrten Ausgabe vorliegt. Ich habe dies lange vor Willrich
angenommen, und zuerst rein aus formellen Gründen. Das spricht jedenfalls
nicht dagegen, daß der Kontinuator in der Form und im Geist des ursprüng-
lichen Verfassers geschrieben haben müßte,
2) Das erste Jahr Simons ist 170 Sei. = 143/2 (1 M. 13, 41.42). Daß er
18*
276 Siebzehntes Kapitel. Judas Makkabäiis und seine Brüder.
den Römern schloßt). Die Juden atmeten auf und fühlten sich
wol unter seiner Regierung. Auch er aber endete unglücklich.
.Sein Eidam Ptolemäus, der Sohn des Habub, dem er die Verwal-
tung von Jericho übertragen hatte, ermordete ihn und zwei seiner
Söhne bei einem Besuche, den sie ihm abstatteten (Februar 135).
Er wollte die Herrschaft an sich reißen, wobei er auf die Unter-
stützung des seleucidischen Königs und auch einiger Offiziere des
jüdischen Heeres rechnete. Es misglückte ihm aber der Versuch,
seinen Schwager Johannes Hyrcanus aus dem Wege zu schaffen,
der in Gazera residirte. Dieser war gewarnt, fing die ausgesandten
Meuchelmörder ab und eilte nach Jerusalem. Ptolemäus fand die
Hauptstadt von ihm besetzt als er dorthin kam, und zog sich nun
in seine Burg bei Jericho zurück. Von dort gelang es ihm, über
den Jordan zu entkommen und bei dem Tyrannen Zeno Kotylas
in Philadelphia eine Zuflucht zu finden. Ähnliche Vorgänge wieder-
holen sich seitdem bei jedem Thronwechsel in der hasmonäischen
Familie. Simons Leiche scheint in Modein beigesetzt zu sein, in
dem hasmonäischen Erbbegräbnisse, welches er selber glänzend
hatte ausbauen lassen, so daß es den Schiflern auf dem Meer zur
Orientirung dienen konnte.
Münzen schlug, geht aus 1 Macc. 15,6 hervor; im Übrigen vgl. Schürer 1, lD'2s.
G36ss. der Ausgabe von 1890.
1) Das Römerbündnis Simons wird bestätigt durch Ant. 13, 261. 264
(oivavEcoaaailat), und durch Justin 36 3, 9, der irrtümlich den ersten Demetrius
statt des zweiten nennt. Aber die Urkunde 1 M. 15, 15—24 ist interpolirt wie
Hitzig (Geschichte p. 455) mit Recht behauptet, obgleich sie dem Verf. von
14, 18. 24 bekannt zu sein scheint. Denn 15, 14 schließt an 15,26 unmittel-
bar an. Durch 15, 25 sucht der Interpolator die durch den Einschub be-
wirkte Zerreif5ung des Zusammenhanges zu vernähen, indem er v. 14 wieder-
holt und das dort bereits Erzählte als noch einmal geschehen darstellt; Iv ty]
OE'jTc'fja ist hier ebenso Zeichen der Naht wie n"'Jt2' Gen. 22, 15. Josua 5, 2.
Zach. 4, 12. Die Datirung der Urkunde auf A. 139 (während Antiochus Side-
tes Dora belagerte) widerspricht den Angaben 14, 16 — 18. 24. 40 und aucli
15, 22 selber, wonach das Bündnis schon A. 142 unter Demetrius abgeschlossen
ist. Vermutlich aber ist die Urkunde nicht bloß interpolirt, sondern auch
unecht. Willrich hat es sehr wahrscheinlich gemacht, daß sie nach dem Muster
des Römerbündnisses mit Hyrkan 11. (Ant. 14, 45ss.) gearbeitet ist; das daraus
übernommene ävav£OÜ[j.£\o(, meint er, habe dann die Fiktion der Römerbünd-
uisse mit Judas und Jonathan nach sich gezogen..
Achtzehntes Kapitel, Die Herrschaft der Ilasmonäer. 277
Achtzehntes Kapitel.
Die Herrschaft der Hasmonäer.
1. Demetrius II. hatte im Jahre 140 seinem Gegner das Fehl
geräumt und war, gerufen von der Bevölkerung, in die östlichen
Provinzen gezogen, über die der Arsacide Mithradates damals seine
Herrschaft ausdehnte. Nach anfänglichen Erfolgen fiel er schließ-
lich in die Hände der Parther (139/8) und Avurde lange Zeit von
ihnen in Haft gehalten. An seiner Stelle trat nun in Syrien sein
aus ganz anderem Holz geschnitzter Bruder auf den Schauplatz,
Antiochus YIl. von Side. Er trieb Trypho nach längeren Kämpfen
in die Enge und in den Tod. Den Juden zeigte er sich anfangs
nachgiebig; sobald er aber zu Macht gelangte, machte er die preis-
gegebenen Hoheitsrechte wieder gegen sie geltend. Noch während
er Trypho in Dora belagerte, forderte er Simon auf, die eroberten
Städte herauszugeben oder dafür tausend Talente zu zahlen. Da
Simon nur hundert geben wollte, so gab er dem Strategen des
Küstenstrichs, Kendebäus, Befehl, gegen die Juden vorzugehn.
Kendebäus wurde freilich abgeschlagen, und der König ließ nun
die Sache anstehn bis über Simons Tod hinaus. Erst nach meh-
reren Jahren erneuerte er den Angriff und zwar in eigener Person^).
Hyrcanus wurde nach Jerusalem zurückgedrängt und dort belagert'^).
Die Belagerung dauerte lange und endete mit einer Kapitulation.
Die Juden mußten die Waffen ausliefern,, fünfhundert Talente be-
zahlen und Geiseln stellen. Von der Einlegung syrischer Truppen
in die Stadt stand der König ab, aber ihre Mauern wurden ge-
schleift. Ihre Eroberungen, besonders Jope und Gazara, mußten
die Juden herausgeben und sich zu Tributzahlung und Heeresfolge
verpflichten^).
1) Nach Porphyrius geschah dies A. 130/29, nach Josephus A. 135/4,
Aber daneben gibt Josephus einen Synchronimus an, der mit dem Datum des
Porphyrius übereinstimmt. Vgl. Niese 3, 295 n. 4.
-) Am Schluß des ersten Makkabäerbuchs wird eine Geschichte ITyrkaus
erwähnt, die wol im Stil dieses Buches und also annalistisch geschrieben war.
Josephus kennt diese Geschichte so wenig wie den Anhang des Makkabäer-
buchs: er erzählt ganz vage und unchronologisch.
^) Niese 3, 296, Man meint, sie wären doch noch glimpflich davon ge-
kommen und hätten das der Fürsprache der Römer zu verdanken gehabt, und
278 Achtzehntes Kapitel.
Bald darauf ging der König daran, den Parthern ihre Erobe-
rungen zu entreißen (130/29). Binnen kurzem hatte er ihnen so
zugesetzt, daß sie um Frieden baten. Aber an der Härte seiner
Bedingungen scheiterten die Verhandlungen, und nun wendete sich
das Blatt. Durch einen plötzlichen Überfall von allen Seiten wurde
sein Heer zerstreut; er selbst stürzte sich von einem Felsen zu
Tode um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Mit ihm endete die
Herrschaft der Seleuciden über die Länder jenseit des Euphrat.
Seinen Bruder Demetrius hatten die Parther freigelassen, damit er
sich in seinem Rücken gegen ihn erhebe. Sie erreichten dadurch,
daß die Thronstreitigkeiten in Syrien wieder begannen. Demetrius
fing alsbald nach seiner Rückkehr Krieg an mit Ptolemäus VII.
Physkon, und nach bewährtem Muster richtete dieser einen Aben-
teurer ab, damit er den Königssohn spiele und sich gegen Deme-
trius aufwerfe. Er hieß eigentlich Zabina ^), nannte sich aber
Alexander (129/8). Demetrius wurde besiegt und auf der Flucht
ermordet (126/5), aber sein Sohn Antiochus VIII. Grypus setzte
den Kampf gegen den von Physkon fallengelassenen Mietling fort
und wurde glücklich mit ihm fertig (123/2). Eine Reihe von Jahren
regierte er nun unangefochten, als der letzte des Namens werte
seleucidische König. Da trat gegen ihn Antiochus IX. von Cyzicus
auf, der Sohn des Sidetes (114/3), verdrängte ihn anfangs völlig
und behauptete sich dann wenigstens in Cölesyrien, bis er von
einem Sohne des Grypus besiegt sich das Leben nahm (96). Das
Reich war in voller Auflösung, zwischen den Fugen erwuchsen über-
all Neubildungen, freie Städte, Fürstentümer und Burgherrschaften''').
man bezieht hierauf die Urkunde Aut. 13, 259ss. Aber diese scheint mit
14, 247 s. zusammenzugehören, wo der gemeinte Antiochus näher bestimmt
wird als der Cyzicener. Der Hyrkan, dem der Bescheid Ant. 14, 145 ss. er-
teilt wird, ist nicht der erste, sondern der zweite. — Über die Herkunft der
römischen Urkunden bei Josephus (der einzigen echten die er mitteilt) aus
Nicolaus Damascenus s. Niese im Hermes 1876 p. 477 ss. Daß Josephus sie
einer Sammlung entnahm, folgt aus der Massenausschüttung an einer ganz
zufälligen Stelle.
^) Der Name Zabina kommt bei den Aramäern nicht selten vor (Esdr.
10, 43), auch noch in christlicher Zeit, und scheint erklärt zu werden durch
den synonymen Aläh-zaban (Gott hat gekauft). Die Jahreszahlen habe ich
nach Niese 3, 305 ss. angegeben.
2) Über die „Tyrannen und Monarchen", die in der groben Sprache der
Römer manchmal auch einfach Räuber genannt werden, s. Ant. 13, 409. 414. 427^
Die Herrschaft der Hasmonäer. 279
Die letzten Seleuciden rumorten besonders in der Gegend von Da-
maskus herum, ein wahres Gewimmel von Königen mit rätsel-
haften Subsistenzmitteln. Sie hatten kaum noch Land und Leute
hinter sich und nirgendwo festen Boden unter den Füßen. J)och
die Ader des verwegenen und unverzagten macedonischen Adels-
bluts schlug noch in ihnen, und der Schimmer ihres alten Namens
machte immer noch Eindruck. Wenn sie Geld hatten, hatten sie
auch Soldaten, und da es ihnen an militärischer Begabung nicht
gebrach, so konnten sie dann eine momentane Überlegenheit ent-
wickeln, die zu ihrer wirklichen Macht außer allem Verständnis
stand.
Die Zeit des immer rapideren Verfalls des Reiches kam den
Juden zu statten. Sofort nach dem Falle des Sidetes machte sich
llyrkan vollkommen unabhängig von den Seleuciden. Er durfte
sie ignorireu; bezeichnend ist es, daß er nur mit dem Betrüger
Zabina in ein Verhältnis trat, und zwar in ein freundliches, wie
ehedem seine Vorgänger mit Balas und Trypho. Er setzte sich
wieder in Besitz der abgetretenen Eroberungen, erneuerte die Be-
festigung Jerusalems, baute in der Nordwestecke des Tempelbezirks
eine Burg, die sogenannte Baris, und füllte die Schlucht aus, die
den Sion von der südlicher gelegenen Akra trennte '). Er zuerst
hielt ein stehendes Heer, das aus geworbenen Söldnern bestand.
Von Stufe zu Stufe schritten die Hasmonäer fort. Zuerst war
die Freiheit des Kultus ihr Ziel gew^esen, dann die Verdrängung
der alten Aristokratie und das Hohepriestertum, dann die Unab-
hängigkeit von der syrischen Oberherrschaft. Jetzt begann der
Eroberungskrieg. Schon früher war zwar das Gebiet von Jerusalem
ein wenig über die alten Grenzen hinaus erweitert. Drei Bezirke
der Samaritis, die jedoch wie es scheint von Juden bewohnt
Neben Arabern finden sich auch Juden darunter, z. B. der oben erwähnte
Hyrkan, der Sohn Josephs, ferner Silas von Lysias und Dionysius von Tripolis,
letzterer vielleicht identisch mit Bacchius Judäus auf einer römischen Münze;
endlich in späterer Zeit und auf anderem Boden Asinäus und Aniläus. Auch
die Landesfürsten schützten ihren Besitz durch Burgen, z. B. die Hasmonäer
schon seit Simon (1 Macc. 14, 42, 15, 7).
^) Über die Baris s. Ant. 18, 91. Die Ausfüllung der Schlucht schreibt
Josephus Bellum b, 139 den Hasmonäern im allgemeinen zu, dagegen Ant. 13,
215 SS. dem Simon, der zugleich die Akra zerstört haben soll. Letzteres ist
ein grober Irrtum, nicht bloß wegen 1 Macc, 14, 36 s. 15, 28.
280 Achtzehntes Kapitel.
wurden, waren hinzugekommen; Jonathan und Simon hatten Gazera
und Jope erworben und nach Austreibung der alten Bevölkerung
mit Juden besiedelt. Aber im größeren Stil griff erst Hyrkan die
Aufgabe an, das Reich Davids im alten Umfang herzustellen und
auf diese Weise die messianische Weissagung zu erfüllen. Er er-
oberte Medaba und Samaga jenseits des Jordans und unterwarf
Sichern und die Gemeinde der Samariter'). Vor allem verleibte
er Idumäa seiner Herrschaft ein und zwang die Bewohner zur An-
nahme der Beschneidung und des Gesetzes. Man sieht, daß der
Kampf gegen Antiochus Epiphanes nicht für die Religionsfreiheit
im Prinzip geführt worden ist.
Gefährlichem Widerstände begegnete er erst, als er sich in den
späteren Jahren seiner Regierung an die feste und mächtige Griechen-
stadt Samarien wagte und diese in ihrer Not sich den Beistand
des Antiochus Cyzicenus erbat oder erkaufte. Der Sohn des Sidetes
wies die Juden noch einmal in ihre Grenzen zurück. Er nahm
ihnen Jope und andere Eroberungen ab und brachte sie so weit,
daß sie genötigt wurden, sich an die Römer zu wenden. Die
Römer schritten denn auch ein und geboten dem Seleuciden, er
solle ihren Bundesgenossen nichts zu leide tun, sondern die Festun-
gen, Häfen und Gebiete herausgeben, die er ihnen entrissen habe ^).
Infolgedessen zog er ab, von den zwei Obersten die er zurückließ
schlugen die Juden den einen und bestachen den andern, so daß
er ihnen auch noch Scythopolis überlieferte. Nach langer Belage-
rung wurde Samarien nun erobert und gemäß dem Worte des
Propheten Micha dem Erdboden gleich gemacht. Dank den Römern
hatte sich die Niederlage in Triumph verwandelt; vierzig Jahre
später reichten sie die Rechnung ein.
Sonst wissen wir von Hyrcanus nur, daß er das Münzrecht
ausübte und daß er nicht mehr in Modeln, sondern in Jerusalem
^) Daß er den Tempel auf dem Garizziin zerstört habe, sagt Josephus im
Bellum 1, 63 nicht, wol aber in den Aut. 13, 256; vgl. die Fastenrolle unter
dem 21.Kislev.
2) Zu der Urkunde Ant. 14, 247 s. (vgl. 13, 259 ss.), nach der ich mich
gerichtet habe, steht der Bericht des Josephus 13, 247 s. in Widerspruch. Nach
Bellum 1,65 ist es indessen gar nicht Cyzicenus, sondern sein Gegner Grypus
(Aspendius), welcher von Samarien zu Hilfe gerufen wird. Niese hält das
(nach einer brieflichen Mitteilung) für richtig und meint, der unglückliche
Zusammenstoß üyrkans mit dem Cyzicener sei dann spfiter erfolgt. Damit
Die Herrschaft der Hasmonäer. 281
begraben wurde. Seine 31 jährige Regierung erschien den Späteren
in außerordentlichem Glänze, gehoben von der trüben Zeit die
bald folgte. Das Joch der Heiden war abgeworfen, und sie selber
kamen nun an die Reihe. Die Schafe der Heerde hatten sich in
Kriegsrosse verwandelt'). Die Frommen führten nicht nur Lob-
gesänge im ^Munde, sondern auch scharfe Schwerter in den Händen,
Rache zu nehmen an den Völkern, ihre Könige und Edelen zu
binden mit eisernen Ketten, geschriebenes Recht an ihnen zu voll-
strecken ^). Von patriotischem Schwung hingerissen, befand sich
die Nation in voller Übereinstimmung mit ihrem Führer. Noch
schien das Gleichgewicht zwischen Staat und Kirche ungestört, der
kriegerische Fürst war stolz darauf Hoherpriester zu sein und nahm
es mit den Pflichten seines heiligen Amtes genau. Josephus feiert
ihn, im Talmud ist er mit Glorie umgeben, ein altes Targum
schiebt seinen Namen in Deut. 33, 11 ein und bezieht den Segens-
wunsch für Levi speziell auf ihn: mögen die Feinde des Hohen-
priesters J oh an an nicht bestehn!
2. Es folgte ihm sein ältester Sohn Aristobulus ^). Der
Wechsel ging auch diesmal nicht glatt von statten. Der junge
Herrscher soll seine Regierung damit begonnen haben, daß er seine
würde der grobe Widerspruch zwischen der Urkunde und dem Bericht der
Antiquitäten wegfallen. Unzulässig ist jedenfalls, denselben dadurch zu be-
seitigen, daß man den Antiochus Autiochi der Urkunde in Sidetes verwandelt;
vgl. Gutschmidt Kl. Schriften 2, 303 ss.
^) Zach. 10, 3. Auch was folgt, ist bezeichnend: „aus ihnen (den Juden)
selbst gehn die Ecksteine hervor, aus ihnen die Pfeiler, aus ihnen die Kriegs-
bogen, aus ihnen alle Gewalthaber zumal". Daß die Fürsten und Beamten
und sogar die Offiziere „aus ihnen selber" stammten, daß sie eine autonome
und sogar militärische Macht waren, war den Juden höchst ungewohnt. Vgl.
1 M. 10,37 und allgemeiner Ps. 118,22.
-) Ps. 149. Das geschriebene Recht steht im Buch Josua und iu den
messianischen Weissagungen. Vgl. Ps. 60, 8 — 14.
3) A. 103. Über die Chronologie vgl. Niese, Hermes 1893 p. 216ss. Hyrkau I.
regiert 134—104, Aristobul I. 103, Jannäus 102—76, Alexandra 75—67, Hyr-
kan und Aristobul 66 — 63. Diese Ansätze ergeben sich aus der einfachen
Addlrung der überlieferten Regierungsjahre: die Gesamtsumme paßt hinein
in die überlieferten Data von Simons Tode und Pompejus syrischem Kriege,
wenn man annimmt, daß das letzte Jahr Simons noch bis Ilerbst 135 gerech-
net wurde. Die Chronologie wird verwirrt durch den künstlichen Synchronis-
mus Aut. 14,4. Schon P. von Rohden hatte 1885 die These aufgestellt: Jo-
sephus Aut. 14, 4 uou annum 69, sed. 65 a. Gh. indicare debuit-
282 Achtzehntes Kapitel.
Mutter verhungern lieB und seine Brüder gefangen setzte'), mit
Ausnahme des Antigonus, den er zärtlich liebte, später aber doch,
infolge einer von seiner Gemahlin angestifteten Teufelei, nieder-
stoßen ließ. Von anderer Seite aber wird ihm das Zeugnis ge-
geben, er sei ein verständiger Mann gewesen und habe den Juden
viel genützt, indem er einen Teil der Ituräer unterjocht und durch
erzwungene Beschneidung judaisirt hal)e. An dieser letzteren Tat-
sache ist gewiß nicht zu zweifeln, nur läßt sich schwer sagen,
was mit den Ituräern gemeint sein soll. Die Ituräer waren die
Araber des Libanon, diese konnten aber nicht angegrift'en werden,
ehe nicht Galiläa ganz oder zum Teil erobert war. Unter Hyrkan
scheint das aber noch nicht geschehen zu sein, wenigstens ver-
lautet davon" nichts. Möglicherweise ist also in Wahrheit Galiläa
und zwar Nordgaliläa unter dem Teil des Landes der Ituräer zu
verstehn, den Aristobulus seiner Herrschaft einverleibte^). Die An-
gabe von der zwangsweisen Einführung der Beschneidung kann nicht
als Einwand dagegen geltend gemacht werden.
Aristobulus führte einen doppelten Namen, wie schon sein
Vater getan hatte und wie es in jener Zeit überhaupt Gebrauch
war; hebräisch hieß er Juda. So führte er auch einen doppelten
Titel; auf den Münzen nannte er sich Iloherpriester, sonst aber
König, wie wenigstens Josephus behauptet. Er starb schon nach
einem Jahre, angeblich zusammengebrochen unter der Last seiner
Blutschuld. Seine Gemahlin befreite nun seine Brüder aus dem
Gefängnis, und heiratete den ältesten, der das Hohepriestertum
erbte, Jannäus Alexander '). Er zählte vierundzwanzig, sie sieben-
unddreißig Jahre, woraus man die Art dieser Ehe erkennt.
Jannäus sicherte sich den Thron durch die Beseitigung seines
einen Bruders, der ihm gefährlich schien, und setzte dann alle
Kraft daran, die Eroberung Palästinas zu vollenden, die sein Vater
') Es waren ohne Zweifel seine Stiefmutter und seine Stiefbrüder. Denu
wenn seine Gemahlin viel älter war als Jannäus, so wol auch er selber. So
erklärt sich die Zuneigung gegen Antigonus, seinen richtigen und gleich-
altrigen Bruder.
-) So vermutet Schürer. In 1 Macc. 5 erscheint Galiläa noch durchaus
als heidnisches Land: auch im Buche Judith gehört es noch nicht mit Judäa
zusammen.
') Jannäus für Jonathan, wie Matthäus für Matthathia, Zacchäus für
Zacharia.
Die Herrschaft der Hasmonäer. 283
begonnen hatte. Das Binnenland westlich des Jordans, vom Fuße
des Libanon bis zur Wüste, war bereits jüdischer Besitz. Aber
vom Ostjordanlande fehlte noch der größte Teil, und auch an der
Meeresküste, von der tyrischen Leiter an bis zur ägyptischen
Grenze, waren die wenigsten Städte unterworfen. Jannäus be-
lagerte zuerst Ptolemais, wurde aber von dem aus Cypern herbei-
gerufenen Ptolemäus Lathyrus dabei gestört und im weiteren Ver-
lauf der Dinge auf das Haupt geschlagen (100). Vor größerem
Schaden behütete ihn nur das Eingreifen der judenfreundlicheu
Königin Kleopatra, der Mutter des Lathyrus: eine Anwandlung,
Palästina für sich zu behalten, soll ihr durch ihren jüdischen Heer-
führer, einen Nachkommen des Hohenpriesters Onias von Leonto-
polis, ausgetrieben worden sein. Mehr Glück hatte er später im
Süden der Paralia. Nachdem er Raphia und Anthedon einge-
nommen hatte, gewann er auch Gaza durch Verrat, nach einjähri-
ger vergeblicher Belagerung (96); bei der Zerstörung der Stadt
fanden fünfhundert Ratsherrn ihren Tod im Apollotempel, wohin
sie sich geflüchtet hatten '). Die längste Zeit und die meiste Arbeit
verwandte er aber auf das Ostjordanland. Hier belagerte er das
wichtige Gadara unweit der Mündung des Jarmuk in den Jordan
und bezwang es nach zehn Monaten. Die weiter südlich im Jordan-
tal gelegene Stadt Amathus wurde ihm wieder entrissen, nachdem
er sich ihrer bemächtigt hatte. Li einem späteren Feldzuge gewann
er sie zwar zurück, stieß nun aber mit gefährlichen Nachbaren
zusammen, mit den nabatäischen Arabern, die damals während
des Verfalls des seleucidischen Reichs ebenso um sich griffen wie
die Juden, und sich mit ihnen im Süden und Osten Palästinas
begegneten.
Schon seit Jahrhunderten hatten sich die Araber überall am
Rande der Wüste zwischen die alte ansässige Bevölkerung geschoben
und teilweise die Herrschaft über sie geAvonnen. Konsolidirt hatten
sich die Ituräer im Libanon mit den Städten Chalcis und Abila,
und besonders die Nabatäer im alten Edom, mit der Hauptstadt
Petra. Jn der Mitte zwischen beiden lag das Ostjordanland. Auch
dort drangen arabische Stämme ein und gründeten hie und da
^) Die Erzählung des .Josephus gibt auch hier keine chronologischen An-
haltspunkte für die einzelnen Ereignisse. Die angegebenen Data beruhen auf
ungefährer Berechnung Schürers.
.284 Achtzehntes Kapitel.
kleine Fürstentümer"), aber zu der Bildung eines einheitlichen
Reiches gelangten sie nicht, sondern ebneten nur den Ituräern im
Norden und den Nabatäern im Süden die Bahn. In der Mitte
des zweiten Jahrhunderts standen die Nabatäer ihren Stammver-
wandten in der Maabitis, Ammanitis, Galaaditis noch feindlich
gegenüber und begünstigten gegen sie die Makkabäer. Seitdem
aber hatten sie eine Art Oberherrschaft über sie gewonnen , be-
trachteten jedenfalls die Gegend als ihre Machtsphäre und wollten
das Eingreifen der Juden in dieselbe nicht dulden. Schon früher
hatte ihr König Aretas dem belagerten Gaza gegen Jannäus bei-
springen wollen, es aber beim guten AVillen bewenden lassen. Jetzt
überfiel sein Nachfolger Obadas das jüdische Heer in der Gaulanitis,
drängte es in eine tiefe Schlucht und rieb es völlig auf^).
Jannäus kam ohne Heer nach Jerusalem zurück. In diesem
Augenblicke brach der längst gehegte und auch schon einmal
unverholen zu Tage getretene Unmut des Volkes gegen diesen
sonderbaren Hohenpriester in offener Empörung aus. Nachdem
eine erbitterte Fehde jahrelang gewütet und zu keiner Entscheidung
geführt hatte, nahmen die Aufständischen Demetrius Akärus, den
Sohn des Grypus, in Sold und lieferten mit seiner Hilfe ihrem
Könige eine Schlacht, die ihn völlig niederwarf (88). Aber der
Sieg war eine moralische Niederlage. Während Jannäus flüchtig
auf dem Gebirge umherirrte, erwachte der Patriotismus des Volkes
und die Teilnahme für den Erben der Makkabäer. Aus dem
Lager der Sieger gingen sechstausend Mann zu ihm über, und es
wurde ihm nicht schwer den Rest zu bewältigen, nachdem Deme-
trius sich zurückgezogen hatte. Er nahm blutige Rache an seinen
^) Z. B. iu Philadelphia (Rabbat Aiiiinau). Zeno Kotylas und sein Sohn
Theodorus scheinen arabische Phylarchen zu sein, die sich in aramäische
Städte einlogirt haben; vielleicht auch jener Timotheus, dem wir 1 Macc. 5
begegnen. Mehrere Namen von arabischen Stämmen jener Gegend finden sich
im ersten Makkabüerbuch, z. B. die Banu Baian (Ham .505 v. 5. Bochari 1 208,
14. 259, 27 ed Bul. 1289).
-) Arethas ist die genauere, Aretas die ältere Schreibung (2 Macc. 5, 8.
2 Cor. 11, .32. Strabo, Josephus; vgl. Mitras bei Herodot, später Mithras),
Neben der Form Obfidas (=ObodasV) ist auch Obaidas (OßeSa?) möglich
wenngleich die Schreibung fiT^i? gegen den Diphthongen spricht. Die Lesung
Gadara (als Name des Ortes wo das jüdische Heer überfallen wurde) Ant*
13, 375 ist unmöglich; vgl. Bell. 1, 90.
Pie Herrschaft der ITasmonäer. 285
Feinden; achthundert sollen gekreuzigt, viele in das Elend ge-
wandert sein.
Nach langer Unterbrechung begannen nun wieder die aus-
wärtigen Kriege. Antiochus Dionysus suchte damals den Nach-
folger des Obadas, Aretas (Rabilos), der schon die Hand nach
Damaskus 'streckte, in dessen eigenem Lande auf; er marschirte
an der Küste hin durch jüdisches Gebiet (8G). Jannäus vermied
es bezeichnender AVeise ihm im Felde entgegenzutreten, er zog von
Jope landeinwärts auf 160 Stadien einen Wall und Graben, in der
vergeblichen Absicht ihm dadurch den Weg zu verlegen. Er hätte
ihm lieber gegen den gemeinsamen Feind helfen sollen. J)enn als
der Nabatäer den Antiochus zu Fall gebracht hatte und nun sogar
selber zum Könige von Cülesyrien berufen ward — denn in Damas-
kus fürchtete man sich noch mehr als vor ihm vor dem näheren
arabischen Nachbar, dem Iturärer Ptolemäus Mennäi — rückte er
in Judäa ein, schlug Jannäus bei Adida, halbwegs zwischen Jope
und Jerusalem, und legte ihm tlen Frieden auf). Die Bedingungen
werden uns nicht mitgeteilt; jedenfalls lies Jannäus sich dadurch
nicht lange hindern, seine Arbeit im Ostjordanlande wieder aufzu-
nehmen. Er eroberte dort eine Reihe von Städten und kehrte
nach dreijähriger Abwesenheit im Triumph nach Jerusalem heim.
Die letzte Zeit seines Lebens quälte ihn ein Fieber, das angeblich
von Trunksucht herrührte. Er hoffte im Felde die Krankheit
abschütteln zu können und zog wieder über den Jordan; da brach
er zusammen und starb vor ILagaba (75), einundfünfzig Jahr alt.
Er kannte nur ein Ziel, das Reich zu mehren und es bis zu
seinen natürlichen Grenzen, zwischen Meer und Wüste, auszudehnen.
Dies Ziel verfolgte er mit größter Zähigkeit und erreichte es an-
nähernd, trotz allen Wechselfällcn. Obwol er im offenen Felde
regelmässig unterlag, gewann und behauptete er doch die Städte
und Burgen; den größten Teil seiner Regierung hat er auf Be-
lagerungen zugebracht, dafür war er geschaffen. Dem Nabatäer
zu trotz brachte er schließlich die westlichere Strecke des Landes
jenseit des Jordans so ziemlich in seine Gewalt; diesseit des Jor-
^) Ob Aretas damals wirklich Damaskus in Besitz genommen hat, läßt
sich bezweifeln, jedenfalls hat er es nicht behauptet. Das folgt daraus, daß
Jannäus' Witwe den Plan faßte, es zu occupiren, damit es nicht dem Ituräer
Ptolemäus Mennäi in die Hand fiele.
280 Achtzehntes Kapitel.
dans sollen nur Ptolemais und Askalon unbezwungen geblieben
sein^). Es wird doch wol noch mehr Ausnahmen gegeben haben.
Das Land Avar in kleine Gebiete zerstückelt, diese mußten einzeln
zusammen erobert werden, und gewiß blieben manche Enclaven
übrig. Nur im Ganzen besaß Jannäus die Herrschaft über Palästina,
völlig abgerundet war sie nicht. Daß er durch seine kriegerische
Tätigkeit die Ausbreitung des Judentums beförderte, versteht sich
von selbst. Daß er aber die bezwungenen Griechenstädte gewalt-
sam judaisirt habe, ist nicht bezeugt; als Pompeius sie befreite,
war die Majoritöt der Bevölkerung noch heidnisch. Noch weniger
hat er sie sämtlich zu Trümmerhaufen gemacht, sie waren ja eben
das Mittel das Land zu beherrschen und mußten die Steuern auf-
bringen — denn die Juden scheinen von den Hasmonäern nicht
besteuert worden zu sein"). Gaza wurde zerstört und auch die
anderen Städte litten ohne Zweifel sehr durch die Belagerung und
die Einnahme; jedoch der Ausdruck, sie seien durch die Römer
wieder aufgebaut, berechtigt nicht zu dem Schluß, daß sie vorher
einfach wüst gelegen haben^). Ein fanatischer Wüterich war
Jannäus nicht. Er befehdete nicht aus Grundsatz das griechische
Wesen. Seine Soldaten waren Pisidier und Cilicier, die nicht
aramäisch verstanden. Der Revers seiner Münzen zeigt die grie-
chische Aufschrift: Basileos Alexandru. Er ließ auch auf der
hebräischen Legende den Hohenpriester weg und nannte sich ein-
fach König.
3. Sterbend übertrug Jannäus die Herrschaft seiner in das
Lager geeilten Gemahlin, Salma Alexandra*). Sie verheimlichte
^) Vgl. das Verzeichnis Ant. 13, 395 ss.; es ist leider am Schluß heillos
verderbt.
-') Von ihren Volksgenossen nehmen die Könige keine Steuer, sondern
mir von den Fremden; Matth. 17, 2.5. Die Steuer ward noch immer als Tribut
aufgefaßt, der nur von Unterworfenen erhoben wird. Zölle aber mögen er-
hoben sein.
3) Vgl. Bell. 1, 156. 166. Pella wird Bell. 1, 156 unter den nichtzer-
störten Städten aufgeführt; nach Ant. 13, 397 scheint es ausnahmsweise ju-
daisirt worden zu sein, jedoch der Text ist hier ganz unsicher überliefert,
und auf Korruptel beruht es jedenfalls, daß die Stadt Bell. 3, 55 als zu Judäa
gehörig genannt wird.
*) Salome ist nicht überliefert, sondern Saliua. Nach der Schreibung
des Namens im Talmud ist Salina verderbt aus Salma; IN = M. Münzen
von Salma gibt es nicht, so wenig wie von Aristobul II. und ITyrkau II.
Die Ilerrscluift der ITasraouäer. 287
seinen Tod dem Heere, bis Ragaba gefallen war. Dann führte sie
die Leiche nach Jerusalem und sorgte für ein glänzendes Begräbnis.
])ie würdige Matrone, Witwe zweier Könige, deren einen sie selber
nach heimtückischer Beseitigung des nächsten Erben auf den Thron
erhoben hatte, zeigte sich der Lage vollkommen gewachsen'). Ihr
ältester Sohn, Hyrkan IL, der das Hohepriestertum erbte, war un-
begabt und ohne allen Ehrgeiz; den zweiten, Aristobul IL, hielt sie
bis zuletzt im Zaume. Gegen außen, besonders gegen die zahl-
reichen kleinen Tyrannen und Monarchen in Städten und Burgen,
wußte sie sich in Respekt zu setzen. Zwanzig und mehr feste
Plätze, darunter die oft genannten, von Jannäus angelegten Kastelle
Alexandrium, Hyrkania und Machärus, sicherten ihr Gebiet, sie
waren gut im stände und mit Besatzungen wol versehen. Sie
vergrößerte das Heer und die Zahl der Söldner. Einen Versuch
die Grenze vorzuschieben scheint sie gemacht zu haben, als sie
Aristobul nach Damaskus abgehn ließ, um angeblich die Stadt
gegen ihren aufdringlichen Nachbar Ptolemäus Mennäi zu schützen;
er misglückte aber. Mit Tigranes von Armenien, der ihr im Jahre
70/69 liedrohlich nalie rückte, ließ sie sich weislich in keinen
Kampf ein; sie warb durch Geschenke um seine Gnade, als er
Ptolemais belagerte. Er wurde freilich ohnehin durch Lucullus zu
schleuniger Umkehr genötigt. Nicht lange nachher starb sie, 73 Jahr
als (67). Mit ihr ging die kurze Herrlichkeit des hasmonäischen
Reichs zu Ende.
Als das Hauptverdienst dieser Königin pflegt es angesehen zu
werden, daß sie es verstand, die Partei zu versöhnen, von welcher
der gefährliche Aufstand gegen ihren Gemahl ausgegangen war.
Sie räumte derselben sogar großen Einfluß und Anteil an der
Regierung ein. Damit hing wahrscheinlich die Organisation des
Synedriums zusammen, welches von jetzt ab als oberste Behörde
der Juden hervortritt. Die alte Gerusie bestand aus den Ältesten,
d. h. aus den Vornehmen oder Notablen, die in der damaligen Zeit
schwerlich mehr Geschlechtshäupter waren. Etwa seit dem dritten
Jahrhundert stand ihr aber der Hohepriester vor, und mit ihm
traten auch die ihm verwandten vornehmen Priester in das Re-
giment, die freilich schon vorher mindestens am Gericht Anteil
gehabt hatten. Wie Jerusalem über das Land herrschte, so war
•) Aut. 13, SOG. 320.
288 Achtzehntes Kapitel.
auch die Altestenschaft von Jerusalem den analogen Körperschaften
in der Provinz übergeordnet. Die Grundzüge dieser Einrichtung
lagen in der Natur der Dinge und wurden auch später nicht ver-
ändert^). Aber durch den makkabäischen Aufstand trat ein starker
Personalwechsel ein. Die ^Mitglieder der alten Gerusie und des
alten Priesteradels wurden meistenteils verdrängt. Kriegerische
Emporkömmlinge, allerdings priesterlicher Abkunft, kamen an das
Ruder. Ihnen zur Seite finden wir anfangs ganz naturgemäß nur
das Heer oder das Volk. Es dauerte indes nicht lange, so traten
wieder die Ältesten und die J^riester neben den Fürsten"). Aus
neuem Stoffe bildeten sich wieder die alten Formen; der lias-
monäische Dienst- und Verdienstadel wird sehr bald wieder Erb-
adel geworden sein und sich mit den etwa noch vorhandenen
Resten der früheren Aristokratie verschmolzen haben. Die Ältesten
und die Priester erscheinen bis auf Simon immer gesondert neben
einander, als ob sie damals noch nicht zusammen eine eigentliche
Behörde gebildet hätten. Jedoch der Fürst gehörte beiden Ständen
an uiwl einigte sie, und auf den Münzen des Johannes Hyrcanus
linden wir sie neben ihm zusammengefaßt in dem „Collegium" der
Juden^). Dies Collegium hat wol von Anfang an den Namen
') Vgl. p. 195 s.. Die Gerusia erscheint in dem Erlaß des Autioclius III.
(Ant. 11, 138. 142) vor und neben den Priestern. Über die Stellung der
Priester vgl. außer 2 Chron. 19, 8 auch noch ITekatäus bei Diodor 40 (Exe.
Photii 543). Die Altesten bildeten den Ursprung und blieben der Kern des
Syuedrinms, welches auch noch später ot npeapötepot genannt wird, z. B. Ant.
13,428. Die Juden hatten von Rechts wegen keine Monarchie, sondern eine
Oligarchie unter Vorsitz des Hohenpriesters (Ant. 4,223. 11,111). Sir. 4 wird
unterschieden zwischen schilton'ir und qahal; letzteres ist das öfl'entliche
Gericht, an dem wenigstens als Corona die Bürger teilnehmen. In etwas
anderem Sinne scheinen Mc. 13,9 die auva^wyott neben den auvei^pia zu steha;
beides aber sind Gerichte. Im Syrischen hat sich das Adjektiv qahlanriia
(prozeßsüchtig) erhalten, während das Substantiv qahla (Geriehtsversauunliing)
verloren gegangen ist.
^) In 1 Macc. erscheint neben den Führern zuerst immer nur die Volks-
versammlung oder das Volk: 4,59. 5, 16. 8,20. 10,25.46. 11,30.33. 42. Nur
7, 83 begegnen wir den Ältesten und Priestern, nämlich in der Zeit des Alcimus,
wo das alte Regiment wieder in Jerusalem hergestellt ist und die Makkabäer
verdrängt sind. Erst seitdem Jonathan Hoherpriester geworden und seine
Herrschaft befestigt ist, treten neben ihm Priester uud Älteste wieder auf, von
11,23 an. Vgl. 14,28 mit v. 41.
") Die Regierung blieb aristokratisch und wurde nicht demokratisch,
Die Herrschaft der Hasmonäer^' 289
Synedrium getragen, wie iu Antiochia und Alexandria der Staats-
rat hieß, in dem der König den Vorsitz fiiiirte. Zur Zeit des ersten
Hyrkans und des Jannäus hatte es aber offenbar wenig zu sagen.
Erst unter Salma bekam es größere Bedeutung und eine feste Or-
ganisation. Sie überließ das Gericht und die inneren Angelegen-
heiten, namentlich die geistlichen, gänzlich dem Synedrium, dem
ihr Sohn Hyrkan präsidirte, denn sie selbst als Weib konnte nicht
Hoherpriester sein. Zugleich aber gab sie, und sie zuerst, den
Häuptern der Schriftgelehrten Sitz und Stimme in der obersten
Behörde, so daß nun auch diese, neben den Erzpriestern, zu den
Ältesten hinzukamen '). Unter Hyrkan II. finden wir die Schrift-
gelehrten im Synedrium bereits vertreten, niemand anders als seine
Mutter kann sie aufgenommen haben ^). Denn sie waren eben die
selbst nachdem zu den Ältesten einige Schriftgelehrte hinzugekommen waren.
Es steht auch an sich fest, daß cheber ein Kollegium bedeutet und daß
Kollegium nicht Volk ist. Für Volk und Gemeinde gab es Ausdrücke in
Menge (z. B. Am El 1 Macc. 14, 28) ; aber für Synedrium gab es keinen, und
so mußte cheber dafür herhalten. Es ist gewiß nur Übersetzung des im ge-
wöhnlichen Leben allein gebrauchten griechischen Ausdrucks. Josephus handelt
über die oberste Behörde und über die provinzialen Behörden Ant. 4, 214.
220. 224.
1) Man wird erinnert an die drei alten leitenden Stände: Adel, Priester,
Propheten — nur daß diese keine Behörde bildeten. Nach dem Talmud hat
das Synedrium von Rechts wegen immer nur aus Rabbinen bestanden, und
nicht der Hohepriester, sondern eia Rabbi hat den Vorsitz geführt. Das ist
eine Übertragung späterer Verhältnisse auf die Vergangenheit. Nämlich nach
der Vernichtung des jüdischen Gemeinwesens und des Synedriums durch die
Römer konstituirten sich die Rabbinen zu einem Konsistorium, welches sie mit
der Zeit nach dem Namen der alten Regierungsbehörde benannten. Vergleiche
Kuenen, over de samenstelling van het Sanhedrin, Amsterdam 1866.
'0 Im Eastenkalender § 24 heißt es: am 28. Tebeth tagte die Versamm-
lung gemäß dem Gesetz. Nach der Glosse geschah das unter der Königin
Salma, welche die Sadducäer aus dem Synedrium vertrieb. Eine Spur rich-
tiger Überlieferung findet sich hier, obwol entstellt durch die spätere Vor-
stellung über die Alleinberechtigung der Rabbinen. Natürlich wurden diese
auch durch Alexandra nicht die Alleinherrscher im Synedrium; da würden sie
schöne Dinge angerichtet haben. Die Mischna behauptet, Simon ben Sche-
tach (etwa zur Zeit der Alexandra) habe einst in Askalon achtzig Weiber
wegen Zauberei aufhängen lassen. Askalon hat nie zum jüdischen Gebiet ge-
hört; man lernt aber aus der Angabe, daß es unmöglich war, den Rabbinen
die Herrschaft zu übergeben; sie würden sie dann nicht bloß in Gedanken
und Wünschen misbraucht haben.
Wellhauseu, Isr. Gescliiclite. j. Au!l. 19
290 Achtzehntes Kapitel.
Führer der Opposition gegen Jannäus, denen Salma Einfluß auf
die inneren Angelegenheiten verstattete. Wenn sie diesen EinlluLJ
so gebrauchten, daß sie ihre früheren Verfolge)- zur Verantwortung
zogen und zum Teil hinrichten ließen, so hatten sie richterliclie
Befugnisse und diese konnten sie nur haben als Mitglieder des
Synedriums. Das Synedrium erfuhr in seiner Komposition eine
bedeutsame Veränderung durch das Hinzutreten dieses dritten
Elements, obgleich die beiden andern, aristokratischen, das Über-
gewicht behielten, so lange der Hohepriester an der Spitze des
Gemeinwesens und der Regierung stand. Das moralische Ansehen
der Schriftgelehrten war schon seit der Zeit des Abfalls sehr ge-
wachsen durch das Beispiel todesverachtender Treue gegen (Las
Gesetz, das sie den Jerusalemern gaben. Nun gewannen sie auch
eine Art offizieller Stellung. Sie ließen sich namentlich die
Rechtsprechung augelegen sein und gelangten bald dahin, durch
ihre Theorie die Praxis zu beherrschen, obgleich natürlich die
Praxis der Theorie die Grundlage geliefert hatte und das Gewohn-
heitsrecht, das sich neben der Thora ausgebildet hatte, aus den
Urteilssprüchen der Richter d. i. der Priester entstanden war.
Vorher hatten sie den allgemeinen Charakter von Literaten und
Gelehrten; jetzt wurden sie das, was sie zur Zeit Jesu und später
vorzugsweise waren, nämlich Juristen, Rechtskundige. Das Recht
war freilich von der Religion ungetrennt; es bestand großenteils
in der minutiösen Regelung des Kultus und der heiligen Lebens-
führung. Doch auch das, was wir Recht nennen, gehörte dazu;
auch dies eigentliche Recht war geheiligt uud Sache der Religion,
nach dem Exil so gut wie vorher. Die Tätigkeit der Schriftge-
lehrten auf diesem Gebiete bestand zunächst darin, das tatsächlich
bestehende Recht auf die heilige Schrift zu begründen und aus
ihr abzuleiten; durch eine sehr künstliche Exegese, die weit über
den Wortlaut des Corpus Juris hinauszugehn und ihn auch zu
umgehn verstand. Durch das selbe Mittel bildeten sie aber auch
schöpferisch das Recht weiter aus. Sie neüerten unendlich viel, aber
sie wollten nicht neuern. Sie wollten immer nur das Alte sagen,
d. h. sie neuerten folgerichtig und im Geiste der Sache, der freilich
vielfach der Geist der Absurdität war.
4. Noch bei Salmas Lebzeiten brach zwischen ihren Söhnen
der Streit um die Erbschaft aus, der nun einmal herkömmlich und
in diesem Fall auch sehr erklärlich war. Hyrkan IL hatte das
Die Herrschaft der Kasraonäer. ^91
Recht der Erstgeburt und bereits seit Jahren den Titel des Hohen-
priesters; aber er war eine Puppe in der Hand seiner Ratgeber,
und wenn er auf den Thron kam, so führte nicht mehr der König
die Regierung. Angesichts dessen fühlte sich Aristobul zum Herrscher
berufen. Er wurde angetrieben und unterstützt von den Freunden
und Kriegskameraden seines Vaters, die durch den neuen Kurs
verstimmt waren und sich zurückgesetzt glaubten. Sie besaßen
noch große Macht, namentlich außerhalb Jerusalems; sie hatten
ihre militärische Stellung behalten und befehligten die Besatzungen
der festen Plätze. Im Einverständnis mit ihnen entwarf Aristobul
seinen Plan, und als seine Mutter auf den Tod erkrankte, nahm
er Gelegenheit ihn auszuführen. Er entwich aus Jerusalem und
begab sich nach Agaba zu Galästes, dem Haupt der Verschwörung.
Die Festungen fielen ihm auf Kommando überall von selber zu,
mit Ausnahme allerdings der drei wichtigsten Kastelle Alexandrium,
Hyrcania und Machärus. Er sammelte nun ein Heer; wie es
scheint im Norden und Nordosten des Landes, denn es bestand
aus trachonitischen und ituräischen Arabern. Damit rückte er,
i\m Jordan hinunter, gegen die Hauptstadt vor. Bei Jericho trat
ihm Hyrkan entgegen, aber seine Truppen verließen ihn großen-
teils, als es zur Schlacht kam. Er räumte das Feld und warf sich
in die Akra von Jerusalem. Obgleich er von dort aus den Tempel,
der in die Hand der Gegenpartei gefallen war, wiedergewann und
auch die Familie Aristobuls in seiner Gewalt hatte, sträubte er sich
doch nicht lange, sondern trat seinem Bruder die Herrschaft und
das Hohepriestertum ab, drei Monate nach dem Tode der Mutter').
Nicht allen war der Wechsel genehm, und besondere Gründe,
damit unzufrieden zu sein, hatte ein Manu, dessen Name jetzt zu-
erst auftaucht, der Idumäer Antipater. Sein Vater war unter Jan-
näus Statthalter von Idumäa gewesen, er hatte einflußreiche Ver-
bindungen nicht bloß mit Jerusalem, sondern auch mit Askalon
und Gaza und namentlich mit den Nabatäern, von denen er sich
seine Frau, Kyprus, geholt hatte ^). Er steckte sich hinter die
Häupter der alten Regierung, machte dem Hyrkan die Gefahr klar,
in der nach bekannten Erfahrungen das Leben eines verdrängten
Herrschers schwebte, und brachte ihn endlich so weit, daß er mit
') 15, 180. 14,97. 20,243s.
-) Aat. 14, 121 Niese. Bell. 1, 181.
19*
292 Achtzehntes Kapitel.
ihm nach Petra floh. Aretas war auf den Gast vorbereitet und
nahm ihn freundlich auf. Er versprach ihn in seine Herrschaft
zurückzuführen, aber natürlich nicht umsonst, sondern gegen Her-
ausgabe von zwölf Ortschaften an der nördlichen Grenze des naba-
täischen Reiches, die Jannäus zu Unrecht sich "angeeignet hätte,
darunter Medaba und das heilige Elusa. Er fiel denn auch wirk-
lich mit einem großen Heere in Judäa ein, gewann einen leichten
Sieg über Aristobul, dessen Krieger nun wieder zu Hyrkan über-
liefen, und nötigte ihn nach Jerusalem zu fliehen. Auch die Jeru-
salemer aber erklärten sich für Hyrkan, zusammen mit den Arabern
belagerten sie den Aristobul im Tempel, wohin er sich zurück-
gezogen hatte. Sie zeigten sich äußerst erbittert gegen ihn und
legten erbauliche Proben von der Giftigkeit des jüdischen Partei-
hasses ab '). Den Gewinn davon hatten die Römer.
Es war Ostern des Jahres 65. Pompeius, mit der Regulirung
des Orients beschäftigt, sandte damals seinen Legaten Scaurus nach
Syrien. Begierig ergrift' derselbe die Gelegenheit, sich in den jüdi-
schen Bürgerkrieg einzumischen, und machte sich von Damaskus
her auf den Weg nach Jerusalem, als Abgesandte beider Parteien
vor ihm erschienen und um seine Gunst M^arben. Aristobul kam
mit dem Angebot von drei- oder vierhundert Talenten dem Hyrkan
zuvor und erhielt den Zuschlag''). Dem Befehl des römischen
Legaten gehorsam zogen nun die Araber mit ihrem Schützling
von Jerusalem ab; Aristobul rückte ganz heldenmäßig hinterdrein
und brachte ihnen bei Papyron am Jordan nicht unbedeutende
Verluste bei. Doch behauptete sich Hyrkan in einem Teil des
Landes^) und auf alle Fälle war der Streit durch Scaurus nicht
tlefinitiv entschieden.
Im Herbst 64 kam Pompeius selber nach dem nördlichen
Syrien und überwinterte dort. Im Frühling 63 marschirte er über
Apamea Heliupolis und Chalcis nach Damaskus, indem er unter-
') Ant. 14, 22 — 24. Der Beter Onias wurde von den Belagerern aus
.seinem Versteck gezogen, um Aristobul zu verfluchen. Er sagte aber: o Gott,
da die hier um mich Stehenden dein Volk sind und die Belagerten deine
Priester, so erhöre keine Partei gegen die andere! Darauf wurde er ge-
steinigt.
-) Vorher liatte schon Gabinius 300 Talente von Aristobul empfangen
Ant. 14,37.
") Ant. 14, 42.
Die Herrschaft der Hasmonäer. 293
wegs überall Burgen brach und Tyrannen beseitigte oder zähmte.
In Damascus verhörte er die beiden feindlichen Brüder, die sich
durch Gesandtschaften schon früher an ihn gewandt hatten. Hyrkan
Avar der Kläger, er legte nicht bloß sein Recht dar. sondern be-
lastete auch seinen Bruder damit, daß er Einfälle in benachbarte
Gebiete und Piraterie zur See begangen habe; mehr als tausend
angesehene Männer, von Antipater beschafft, legten für ihn Zeugnis
ab. Aristobul, der mit dem Gefolge eines Königs erschienen war,
benahm sich ziemlich trotzig, vielleicht im Vertrauen auf den
goldenen Weinstock, den er dem Römer mitgebracht hatte; er ver-
teidigte sich damit, daß, wenn er die Zügel nicht ergriffen hätte,
sie den Händen seines schwachen Bruders längst entsunken wären.
Neben den Prätendenten waren aber auch Abgesandte einer neu-
tralen Partei erschienen, die von beiden nichts wissen wollte,
sondern um Abschaffung der Königsherrschaft und Wieder-
einführung der alten Verfassung bat. Pompeius scheint sich nicht
um sie gekümmert zu haben. Im übrigen verschob er sein Urteil:
er werde erst bei den Nabatäern nach dem Rechten sehen und
dann die jüdischen Angelegenheiten an Ort und Stelle ordnen.
Der große Mann wollte die beiden Brüder noch ferner hinhalten.
Aristobul wurde mistrauisch; er trennte sich von ihm ohne Ab-
schied und warf sich nach Alexandrium. Darauf ging Pompeius
bei Scythopolis über den Jordan und marschirte am rechten Ufer
hinunter bis Koreae'), in der Nähe von Alexandrium. Er forderte
den jungen König vor und verlangte von ihm die Übergabe sämt-
licher festen Plätze. Aristobul fügte sich wol oder übel, begab sich
dann jedoch sogleich nach Jerusalem und rüstete zum Widerstände.
Als aber Pompeius ihm folgte, sank ihm wieder der Mut. Er kam
ins römische Lager, bat um Frieden und erbot sich Geld zu zahlen
und die Tore Jerusalems zu öffnen. Indessen Gabinius, der das
Geld holen sollte, fand die Tore verschlossen und kam unver-
richteter Dinge zurück. Da verhaftete Pompeius den Aristobul
und setzte den ]\Iarsch gegen Jerusalem fort. Die Partei Ilyrkans,
durch die Furcht vor den Römern vergrößert, gewährte ihm Ein-
laß in die Stadt. Aber die Anhänger Aristobuls behaupteten sich
auch jetzt wieder im Tempel, und Pompeius mußte diesen nun
') Da begann Judäa (Aut. 14,49). Es ist auf der Karte von Medalia
verzeichnet.
294 Achtzehntes Kapitel. Die Herrschaft der Hasmonäer.
belagern. Nach drei Monaten erfolgte der Sturm und gelang.^)
Pompeius betrat mit Gefolge das Adytum, besah sich alles, tastete
aber nichts an. Am anderen Tage befahl er das Heiligtum zu
reinigen und den Opferdienst wieder aufzunehmen, der übrigens
während der ganzen Belagerung und sogar während des Sturmes
nicht unterbrochen war. Die Häupter der Partei, die ihm Wider-
stand zu leisten sich unterwunden hatte, ließ er hinrichten; den
Aristobul und seine Kinder nahm er mit sich; eine Menge Kriegs-
gefangene schickte er nach Rom.
Das Landvolk hatte die Absicht, den im Tempel Belagerten
Hilfe zu bringen, ließ sich aber durch Hyrkan davon abhalten.
Die Jerusalemer halfen den Römern und betrachteten deren Sieg
als den ihrigen; an dem wütenden Blutvergießen in der erstürmten
Feste nahmen sie tapferen Anteil; nur der entsetzliche Greuel,
daß der Heide ungescheut in das Allerheiligste hineinging, verdarb
ihnen die Freude. Hyrkan wurde wieder in sein Erbe gesetzt,
jedoch nicht als König, sondern nur als Hoherpriester^). Jerusalem
wurde entfestigt, das judäische Gebiet auf Judäa, Galiläa und Peräa^)
beschränkt und steuerpflichtig^). Die eroberten Griechenstädte an
der Küste, jenseit des Jordans, und im diesseitigen Binnenlande
Samarien und Scythopolis, wurden sämtlich davon abgenommen
1) Aut. 14,66: „im dritten Monat (der Belagerung, Belhim 1, 149. 5,397)
am Tage des Fastens". Ganz das selbe Datum „im dritten Monat am Feste
des Fastens" wird auch für die Eroberung Jerusalems durch Sosius angegeben
(Ant. 14, 487). Der Tag des Fastens kann nach jüdischem Sprachgebrauch
kaum ein anderer als der große Versöhnungstag sein, der Ende Oktober fällt.
Aber Sosius hat Jerusalem schon im Sommer und auch Pompeius hat es schon
vor dem Herbst erobert. Vermutlich hat Josephus „den Tag des Fastens" aus
den nichtjüdischen Schriftstellern übernommen, auf die er sich beruft, und
diese (z. B. Strabo p. 763) haben damit einfach den Sabbat gemeint, einen
Tag, den sich die Feinde der Juden öfters zir nutze machten.
-) Aut. 14, 83 ist von den Römern in Jerusalem die Rede, welche den
Hohenpriester hinderten, die Mauer wieder aufzubauen.
•■') Peräa heißt genauer: das j üdische Land jenseit des .Jordans; Matth.
19, 1 Marc. 10, 1 (-/.ai del.). Aut. 12, 233. Die Grenzen werden angegeben
Bell. 3, 463. Amathus und Gadara (Bell. 4,413) waren die wichtigsten Städte.
*) Pompeius führte die Kopfsteuer bei den Juden ein (Wilcken Ostraka
p. 247), die damals weniger Anstoß erregt zu haben scheint als zur Zeit Jesu.
Sie wird freilich schon Ant. 12, 142. 13, 50 erwähnt, aber in unechten Urkun-
den. Vgl. Willrich, Judaica p. 55s.
Neunzehntes Kapitel. Die Ausbildung des .Tudaismus. 295
und als Gemeinwesen mit selbständiger Verwaltung der neu yai
gründenden Provinz Syrien einverleibt. Daher die pompeianische
Ära auf den Münzen zum Beispiel der Dekapolis; die Römer er-
schienen den Heiden als Befreier.
])ie Gründung der Provinz Syrien war ein Ereignis von ein-
schneidender Bedeutung. Den größten Teil des alten seleucidischen
Reichs überließen die Römer den Iraniern, durch die Beseitigung
des Tigranes machten sie sich dieselben zu unmittelbaren Nach-
barn und Feinden — ein Verhältnis, durch das die Geschichte
Asiens viele Jahrhunderte bestimmt wurde. Dagegen in Syrien
traten sie die griechische Erbschaft an und führten mit weit größerer
Stetigkeit und Kraft aus, was die Seleuciden angefangen hatten.
Sie stifteten Ordnung in dem Chaos, befestigten die Kultur und
schoben sie bis tief in die Wüste vor. Sie waren als Polizei der
Vorsehung unentbehrlich, so unleidlich sie auftraten und so scham-
los sie sich bezahlt machten. Syrien wäre von den kleinen Räubern
verzehrt worden, wenn nicht die großen eingeschritten wären.
Neunzehntes Kapitel.
Die Ausbildung des Judaismus.
1. Es ist von dem Aufstande die Rede gewesen, der gegen
Jannäus ausbrach, als er, von den Arabern besiegt, flüchtig nach
Jerusalem zurückkehrte. ])ie Pharisäer standen an der Spitze der
Erhebung und leiteten sie. Man sollte es nach dem Neuen Testa-
mente nicht denken, aber es ist so. Mit Gewaltsamkeit, beinah
plötzlich, traten sie damals in die Geschichte ein. Ihre Ursprünge
lassen sich jedoch weiter hinauf verfolgen. Die Asidäer, denen
wir in der Zeit des Judas Makkabäus begegnen, waren ihre Vor-
gänger. Die Namen haben ähnliche Bedeutung, Asid heißt der
Pietist und Pharis der Separatist. Beide zeichneten sich durch be-
sondere Frömmigkeit vor anderen Leuten aus, beide standen in
engster Verbindung mit den Schriftgelehrten '). Einen weiteren
') Nicht bloß die Pharisäer, wie aus dem Neuen Testamente und aus
Josephus bekannt ist, sondern auch die Asidäer, wie aus 1 Macc. 7, 12. 13.
296 Neunzehntes Kapitel.
und den wichtigsten Beweis ihrer Zusammengehörigkeit liefert die
Geschiclite.
Die Asidäer blieben dem Judentum treu und litten dafür, als
es in Gefahr geriet dem Hellenismus zu unterliegen. Sie standen
den priesterlichen Aristokraten gegenüber, die durch ihr Liebäugeln
mit der Welt und ihren Herrschern die Gefahr heraufbeschworen
hatten. Diese leiteten ihr Geschlecht ab von dem ältesten jerusa-
lemischen Tempelfürsten Sadok oder, nach einer anderen Aussprache,
Sadduk. Daher der Name Sadducäer^).
In dem Widerstände gegen die Unterdrückung der väterlichen
Religion begegneten sich die Asidäer mit den Makkabäern. Sie
schlössen sich ihnen anfangs an; sie dürfen jedoch nicht mit ihnen
verselbigt oder gar als der eigentliche Kern der Glaubenskämpfer
betrachtet werden. Diese halfen Gott mit dem Schwert, sie da-
gegen warteten auf seine Hilfe, sahen nach den Zeichen und
zählten die Tage, bis sie erscheine. Sie begaben sich erst dann
unter den Schutz der Makkabäer, als dieselben ihre ersten Erfolge
schon erfochten hatten. Sie lösten sich auch nicht unter ihnen
auf, sondern blieben eine Genossenschaft für sich. Und nur so
lange hielten sie die Verbindung aufrecht, als für das Gesetz ge-
stritten wurde. Als die Makkabäer nach der Herrschaft strebten
und sich der AViedereinsetzung der alten Hohenpriesterdynastie
widersetzten, da trennten sich die Asidäer von ihnen. Sic er-
kannten Alcimus an, obwol seine Person ihnen schwerlich genehm
war. Von ihrem gesetzlichen Standpunkt aus war das völlig
korrekt gehandelt. Alcimus war der rechtmäßige Hohepriester
aus dem Samen Aharons, mochte er beschaffen sein wie er wollte.
deutlicli erhellt. lu bezug auf die Bedeutung von l'huris ist noch zu l^e-
inerken, daß es ein Ehrenname ist und daß die beabsichtigte Absonderung
dabei weniger hervortritt als die wirkliche Auszeichnung durch Früraniigkeit
— wodurch sich der Begriff dem des Asid noch mehr nähert.
') Im Ezechiel, auf den es vorzugsweise ankommt, weil nur er von der
jerusalemischen Priesterfamilie redet und ihre Abkunft von dem durch Salomo
angestellten Ahn bezeugt, haben alle Handschriften der Septuaginta die Perm
Sadduk. In den Büchern Samuelis und der Könige findet sich diese Form
durchgehend nicht im Vatikanus, wie ich versehentlich angegeben habe (Pha-
risäer und Sadducäer p. 47), sondern in den Codd. 19. 82. 93. 108 (s. g. Lu-
cianus), die grade in diesen Büchern oft das Richtige geben. Noch im hebr.
Sirach (51, 12 addit.) erscheinen die Bne Sadok oder Sadduk als die recht-
mäßigen Priester, die von Gott zu dem Amte ausersehen sind.
Die, Ausbildung des Judaismus. 297
Daß er übrigens nach den gemachten Erfahrungen nicht daran
denken konnte an dem gesetzlichen Kultus zu rütteln, stand fest.
Hatten die Asidäer früher zu dem legitimen Priesteradel in
Opposition gestanden wegen seiner heidnischen Gesinnung und
seiner persönlichen Unwürdigkeit, so traten sie jetzt in Opposition
zu den Hasmonäern, weil dieselben nach dem Hohenpriestertum
strebten und es auch erlangten, ohne durch ihr Blut die gesetzliche
Berechtigung dazu zu haben ^). Diese Frontveränderung war indessen
nicht bloß völlig erklärlich, sondern sie beließ es auch trotz allem
im wesentlichen bei dem früheren Gegensatz. Denn als nun-
mehrige Inhaber der Regierung waren die Hasmonäer die Nach-
folger der alten Aristokratie, und die Frommen standen also
wiederum den Machthabern gegenüber. Sie übertrugen auf sie den
Namen der Sadducäer, der nun in keiner Weise mehr ein Ge-
schlecht, sondern nur noch einen Stand und eine Partei bezeichnet.
Die Übertragung geschah mit einigem Recht, denn der neue Kurs
näherte sich bald dem alten, wenngleich das Decorum besser ge-
wahrt wurde.
Die Opposition wagte sich freilich unter den ersten Hasmo-
näern noch nicht heraus, sie konnte nicht gegen den Strom
schwimmen und wurde vielleicht auch selber zeitweise davon mit
fortgerissen. Allein sie blieb vorhanden. Unter Hyrkan I. zeigt
sie sich uns wieder. Der Pharisäer Eleazar soll ihm auf seine
Anfrage den Rat gegeben haben, er möge das Hohepriestertum
niederlegen und sich mit der Herrschaft begnügen; infolge dessen
soll Hyrkan der Sekte feind geworden und zu den Sadducäern
übergetreten sein. Die Erzählung, die Josephus über diesen Vor-
gang gibt, ist zwar sagenhaft^), wird aber in der Hauptsache
') Diq rcchlinälMgcu Hohenpriester aintirten am Tempel zu Leontopolis,
der wahrscheinlich dem zu Jerusalem anfänglich größere Konkurrenz gemacht
hat, als die uns erhaltenen Nachrichten ahnen lassen — wie Willrich mit
Hecht vermutet. Das schlechte Gewissen der hasmonäischeu Priester verrät
sich besonders deutlich in 1 Macc. 14. Der Vf. des ersten Makkabäerbuchs
schreibt als Anwalt für Simon und seine Erben, während der Vf. des zweiten
Buchs auf anderem Standpunkte steht.
-) Aut. 13, 288 SS. Josephus geht von der Anschauung seiner Gegenwart
über den Sekteugegeusatz aus. Hyrkan soll ursprünglich selbst Pharisäer ge-
wesen sein. Wie kommt er denn dazu, ihnen zu mistrauen? Warum versucht
er sie zu kaptiviren und, „da er sie bei guter Laune sah", ihnen zu entlocken,
298 Neunzehntes Kapitel.
dadurch bestätigt, daß die Pharisäer, die hier zum ersten IMale so
genannt werden, das selbe an den Hasmonäern auszusetzen haben
wie die Asidäer, nämlich die Usurpation des Hohenpriestertums.
Zum Hohenpriestertum, sagt Eleazar, sei Hyrkan nicht berechtigt,
weil er nicht von echtem Blut sei.
Unter Jannäus verwandelte sich das gespannte A^erhältnis der
Pharisäer zu der Regierung in offene Feindschaft. Zugleich aber
verwandelte sich auch der innere Charakter des Kampfes; es wurde
allgemeiner und prinzipieller. Das Pecht auf das heilige Amt
wurde den Hasmonäern nicht mehr darum bestritten, weil sie
nicht zur legitimen Familie gehörten, sondern weil sie in Wahrheit
weltliche Herrscher waren. Es schien nur so, als ob die über-
kommene verfassungsmäßige Regierungsform fortgesetzt würde; in
der Tat trat eine völlige Veränderung ein. Ehedem war die poli-
tische Macht der Juden sehr gering gewesen, das Szepter und das
Schwert führten die fremden Oberherren. Wenn ihr geistliches Haupt
zugleich das weltliche war, so drückte sich darin nur aus, daß ein
weltliches Leben von Bedeutung neben dem geistlichen überhaupt
nicht existirte und sich also auch keine selbständige Spitze geben
konnte. Jetzt aber hatte sich ein jüdisches Reich gebildet, das
seine Angelegenheiten unabhängig verwaltete, Bündnisse schloß,
Soldaten hielt, Kriege führte, kurz ganz auf dem Fuße anderer
Reiche eingerichtet war. Der nationale Staat ließ sich nicht qua-
driren mit dem alten heiligen Gemeinwesen, in dessen Formen er
sich hüllte. Das Schwergewicht war gänzlich Terlegt. Das poli-
tische Interesse überwog das religiöse, der Patriotismus den Eifer
für das Gesetz. Der König war nur nebenbei Hoherpriester. Durch
die makkabäische Erhebung wurde das Judentum gerettet und doch
was sie etwa gegen iim haben könnten? Wegen der persönlichen Bosheit eines
einzelnen Zänkers soll er dann mit der ganzen Partei gebrochen haben; es
schimmert indessen doch durch, daß diese im Grunde mit der Äußerung
ihres enfaut terrible übereinstimmte. Es ist nichts mit dem ursprünglichen
Pharisäertum Hyrkans und also auch nichts mit seinem plötzlichen Übertritt
zu den Sadducäern. Der Differenzpunkt selbst beweist und der weitere Ver-
lauf des Streites zeigt es deutlich, daß die Hasmonäer nicht nach ihrem Da-
fürhalten auf die eine oder die andere Seite treten können, sondern die
Standarte der sadducäischen Partei sind. Die Erzählung bei Josephus selber
konstatirt einerseits das geflissentliche Werben Hyrkans uin die Zufriedenheit
de? Pharisäer, andrerseits seine vertraute Freundschaft mit dem Sadducäer
Jonathan.
Die Aiisbildunji des Judaismus. 299
zugleich in seinem innersten Wesen noch mehr bedroht als durch
die Gewaltsamkeit des Antiochus Epiphanes. Die Nationalisirung
erwies sich als gleichbedeutend mit der Verweltlichung. Die
Nation drohte von der Bahn der Gerechtigkeit in die Bahn der
Macht und Ehre abzuirren^).
Am grellsten trat das Misverhältnis in der Person des Jan-
näus hervor. Der Regel nach lag er mit dem Heere zu Felde und
fröhnte der angeborenen Wildheit seiner Natur; nur gelegentlich
kam er einmal nach Hause, um an einem hohem Feste das Pallium
umzuhängen und für das Volk zu opfern. Kein Wunder, daß ihm
gegenüber der verhaltene Groll bei günstiger Gelegenheit sich Luft
machte. Er gab indessen nur den Anlaß zur Explosion, die wahre
Ursache des Grolls lag in der Unzuträglichkeit, daß das Hohe-
priestertum mit der vollen Souveränetät verbunden war. Diese
Unzuträglichkeit konnte er nicht beseitigen, auch nicht, wenn er
auf das geistliche Amt hätte verzichten wollen. Denn auf diese-
Weise hätte er nicht bloß einen gefährlichen Nebenbuhler be-
kommen, sondern gradezu aufgehört das Haupt der Nation zu sein.
Nach der Verfassung der Gemeinde des zweiten Tempels, wie sie
im Priesterkodex gebucht war und wie sie zu Recht bestand, hatte
der Hohepriester die Ethnarchie. Für einen nationalen König war
neben ihm nicht Platz; ein König neben dem Hohenpriester konnte
nur ein Tyrann, ein Fremdherrscher sein. Die Schwierigkeit der
Situation bestand eben darin, daß die Souveränetät, die nach den
ursprünglichen Voraussetzungen der Hierokratie in der Hand
fremder Potentaten lag, jetzt in die Hand einheimischer Fürsten
übergegangen war, die, um volkstümliche Fürsten zu sein, zugleich
Hohepriester sein mußten. Der Kampf gegen Jannäus richtete
sich nicht bloß gegen seine Person, es war vielmehr der Kampf der
Pharisäer gegen die Sadducäer, für die Idee der Theokratie gegen
ihre Verfälschung, für das Gesetz gegen das Reich Davids").
Die Juden nahmen anfangs Partei für die Pharisäer. Sie
wechselten indessen ihre Stellung und traten zum Könige über,
als dieser, mit Hilfe fremder Söldlinge geschlagen, zu gänzlicher
0 Antiq. 16, 158.
*) Nicht allen frommen Juden war das priesterliche Königtum nach der
Weise Melchisedeks (Ps. 110) ein Anstoß. Jedoch die Pharisäer hatten recht;
der Idee der Hierokratie widersprach die Königsherrschaft. Ihnen selber
scheinen aber auch erst unter Jannäus die Augen darüber aufgegangen zu sein.
300 Neunzehuteti Kapitel.
Ohnmacht herabgesunken war. Das Ende war, daß die Pharisäer
das Feld räumen mußten. Doch fühlte sich Jannäus nicht als
Sieger. Er soll grade zu dem Zweck bei seinem Tode die Re-
gierung seiner Witwe übertragen haben, damit sie die Pharisäer
zufrieden stelle. Dadurch, daß sie Königin wurde, trat von selber
eine Scheidung zwischen der Herrschaft und dem Hohenpriestertum
ein, da ein Weib das heilige Amt nicht übernehmen konnte. Nach
außen schaltete sie unumschränkt; in den inneren Angelegenheiten
verstattete sie den Pharisäern großen Einfluß — ihr Sohn
Hyrkan, der Hohepriester, hatte nichts zu bedeuten. Die Auf-
nahme der Schriftgelehrten in das Synedrium geschah zu gunsteu
der Pharisäer. Von nun an beherrschten sie die geistliche und
bürgerliche Kechtsprechung; wenn auch die Richter im Synedrium
größtenteils Sadducäer waren, so mußten sie doch nach den Grund-
sätzen der pharisäischen Juriskonsuiten entscheiden, wenn sie das
Volk nicht gegen sich aufbringen wollten.
Der Friede der Regierung mit den Pharisäern ging bald vor-
über, nicht immer konnte ein Weib auf dem Throne sitzen. Mit
dem .Tode der Salma kehrte der alte Zustand zurück. Aristobul H.
war wieder König und Hoherpriester, und er stützte sich auf die
Partei seines Vaters, die Sadducäer. Da brachte das Eingreifen
der Römer plötzlich eine radikale Änderung der Sachlage hervor;
die Juden gerieten wieder unter die Herrschaft einer fremden
Großmacht. Es gab Leute, welche die Königin Salma, d. h. die
Pharisäer, für den Sturz des hasmonäischen Reiches verantwortlich
machten'). Das Ziel, worauf die Politik der Pharisäer hinaus-
laufen mußte, war in der Tat die Fremdherrschaft; nur unter der
Fremdherrschaft war die Theokratie, wie sie sie verstanden, mög-
lich. Aber sie machten sich das nicht klar, sie fragten nicht dar-
nach, was denn eigentlich an Stelle des priesterlichen Königtums
der Hasmonäer treten sollte, sie wollten die Fremdherrschaft
nicht. Selber die Regierung zu übernehmen konnten sie nicht
denken, sie strebten immer nur nach moralischem Einfluß. Sie
waren nicht nur schlechte Politiker, sondern auch grundsätzlich
jiicht konsequent^). In der Hoffnung war auch ihnen das Reich
1) Ant. 13, 432: „Sahna hatte Schuld, daß den Hasraouäeru die sauer
erworbene Herrschaft verloren ging, indem sie nach dem "Willen der Feinde
ihres Hauses regierte und die Dynastie ihrer wahren Fürsorger beraubte."
'■^) Sie konnten es nicht sein, weil der innere "Widerspruch im Wesen
Die Ausbildung des Judaismus. 301
Davids das Ideal. Aber es mußte Hoffnung bleiben und durfte
nur durch ein göttliches Wunder auf die Erde kommen. Das
realisirte Ideal geriet in Konflikt mit dem geistlichen Wesen der
Gemeinde des zweiten Tempels. Die p]rfüllung der messianischen
Weissagung, die Herstellung der alten Reichsherrlichkeit, war in
Wahrheit ein Rückfall in eine überwundene Stufe; die Religion
war über die Nation und über den Patriotismus hinausgewachsen.
Nur durften es die Pharisäer sich nicht gestehn, sie mußten die
Hoffnung festhalten und die Fremdherrschaft verabscheuen. Der
Haß gegen alles Heidnische, der bei ihnen sehr ausgeprägt war,
erleichterte ihnen das. Hinzu kam die gebotene Rücksichtnahme
auf das Volk. Denn das Volk war durch und durch patriotisch
gesonnen.
Indessen wie auch immer die Pharisäer über die Fremdherr-
schaft denken mochten, jedenfalls hatten sie den Vorteil davon,
denn ihre Gegner hatten den Schaden. Als Regierungspartei er-
litten die Sadducäer durch die Schwächung der Regierung eine
große Einbuße an ihrer früheren Macht. W^ol oder übel mußten
sie sich, soweit sie bei dem Aufstande gegen Pompeius mit dem
Leben davon gekommen w^aren, den Kömern fügen, um ihre
Stellung beizubehalten. Hyrkan H. war fortab der Mann, an den
sie sich zu halten hatten; ein möglichst schlechter Vertreter ihrer
Traditionen. Ihr Streben richtete sich vor allem darauf, ihn von
dem beherrschenden Einfluß Antipaters und seiner Söhne loszu-
reißen, der ihren eigenen bedrohte und lahmlegte. Allein es gelang
ihnen nicht; sie unterlagen im Kampfe gegen die verhaßten Idu-
mäer und sanken dann für längere Zeit zur Bedeutungslosigkeit
herab. Ihr Streit mit den Pharisäern erbte sich zwar fort, aber
er verlor seinen akuten politischen Charakter. Er drehte sich zum
Teil um untergeordnete juristische Fragen; in der Hauptsache blieb
nur ein allgemeiner Gegensatz übrig, der Schule gegen die Hiero-
kratie, der Bildung gegen den Adel, der Tugend gegen die Autorität
des Amts. Die Sadducäer hatten ihren Sitz in der jerusalemischen
Aristokratie, die Pharisäer in der jerusalemischen Bürgerschaft;
jene waren exklusiv/, diese machten Propaganda und stellten sich
der Theokratie begründet war. Das Dilemma, au dem die Hasmonäer schei-
terten, war auch ein Dilemma für die Pharisäer; sie wurden durch die Kömer
davon befreit.
302 Neunzehntes Xapitel.
zum Vorbild auf für das ganze Volk. Es war indessen nicht bloß
und nicht eigentlich ein Gegensatz der gesellschaftlichen Kreise,
sondern ein Gegensatz der Prinzipien, der Sinnesweise und der
Lebensanschauung. Die Pharisäer trachteten nach der Gerechtigkeit
Gottes und überließen ihm die Sorge für das, was dabei heraus-
kam; ihr Handeln hatte nur Sinn, weil es von Gott geboten war.
Die Sadducäer verfolgten praktische Ziele und gebrauchten dazu
praktische Mittel. Sie waren Realisten, die nur das Absehbare in
Betracht zogen und von der Vorsehung nichts erwarteten. Jhre
Keligion war das Herkommen; sie machten an Gott keine Ansprüche
und er nicht an sie ').
2. Man kann sagen, daß mit der politischen Depression, die
durch die Römer bewirkt wurde, die Entwicklung des Parteien-
streits auf ihren Ausgangspunkt zurücklenkte. Der alte Gegensatz
zwischen den Frommen und den Weltmenschen, der die Psalmen
beherrscht, kam wieder zum Vorschein. In der Tat setzten die
Asidäer, die Vorgänger der Pharisäer, die Asidim der Psalmen
fort; ihr Kampf gegen die abtrünnige Aristokratie hielt sich ur-
sprünglich in rein religiösen Grenzen. Aber während der Regierung
des Antiochus Epiphanes schrumpften sie zusammen und befestigten
sich zu einem abgeschlossenen Vereine, was die Asidim der Psalmen
nicht gewesen waren. Das bedeutet zugleich einen inhaltlichen
Unterschied. Gegenüber der Apostasie trat die jüdische Frömmig-
keit in eine neue Phase, sie versteifte und verschärfte sich. Die
Zeit der Religionsbedrängnis und des Glaubenskampfes machte auch
auf geistigem Gebiete Epoche. Ehedem waren die Frommen ziem-
lich weitherzig gewesen und nicht sehr ängstlich in der Beobachtung
der gesetzlichen Bräuche. Sie hatten das Heidentum und den
Götzendienst kaum mehr als eine Gefahr betrachtet, das Wesen
schien gesichert, die Form halbwegs überflüssig. Jetzt zeigte sich,
daß das ein Irrtum war; die Verachtung des Kleinen rächte sich.
Der Hellenismus drohte das Judentum zu verschlingen. Infolge-
dessen trat eine Reaktion ein, die auf die Formen und die Äußer-
lichkeiten das größte Gewicht legte und zwischen Kleinem und
Großem im Gesetz keinen Unterschied machte, um sich gegen das
J) Bell. 2, 162ss. Ant. 13, 171ss, 18, Uss. Josephus setzt das Fatum
ein für die Gottheit und sagt, die Pharisäer machen alles, die Sadducäer nichts
vom Fatum abhängig. Eine authentische Quelle für den Charakter des Gegen-
satzes ist der Psalter Salomos. ^
Die Ausbildung des Judaismus. 303
Heidentum zu scliützeii und abzuschließen. Dadurch wurde die
Frömmigkeit Pharisaismus. Der Pharisaismus bildete den Über-
gang zum 'ralmudjudentum.
Schon früher war die „Gerechtigkeit" die Losung der Religion
gewesen, aber gerecht hatte so viel bedeutet wie einfach, schlicht,
aufrichtig. Jetzt bedeutete es korrekt und legal. Schon früher
waren die Formen des Rechtes auf religiöse Verhältnisse übertragen,
aber in einer ganz naiven Weise. Jetzt bekam die Frömmigkeit,
unter dem Einfluß der zu Juristen gewordenen Schriftgelehrten,
ein vollkommen juristisches und zwar privatrechtliches Gepräge.
Die Religion wurde zum bürgerlichen und geistlichen Recht. Man
suchte das Leben bis in das geringste Detail hinein positiv zu ordnen,
damit möglichst wenig der Freiheit des Einzelnen überlassen bleibe.
Man vergrößerte beständig das Netz der Satzungen und verdichtete
die Maschen, man beschränkte Schritt vor Schritt den Kreis des
Erlaubten durch das Gebotene. Die Herrschaft des Gesetzes wurde
immer mehr ausgedehnt und es selber fort und fort erweitert.
Grade auf die Erweiterungen, die freilich stets aus dem Buchstaben
abgeleitet oder als alte Überlieferung bezeichnet wurden, legte man
den größten Wert — weil sie auf Widerstand stießen. Besonders
herrschte ein reger Eifer, die Verordnungen über die Sabbatruhe
und über die Waschungen und Reinigungen bis zu den äußersten
Konsequenzen auszubilden. Das Ziel war, sich zu weihen und zu
heiligen, sich zu hüten vor Übertretung. Die Werke der Moral
wurden hintangesetzt, die Werke der Heiligkeit, Fasten Beten
Almosengeben, bevorzugt. Nichts aber hatte Wert, wenn es nicht
fest regulirt w^ar; auf die formelle Genauigkeit kam es an.
Um all die Satzungen und Gebote des geschriebenen und un-
geschriebenen Rechtes genau zu beobachten, dazu gehörte mehr,
als Durchschnittsmenschen leisten konnten. Um sie auch nur zu
kennen, dazu bedurfte es einer eigenen Gelehrsamkeit. „Der Un-
gelehrte kann sich nicht in acht nehmen vor der Sünde, und der
Laie kann nicht wahrhaft fromm sein." Die Religion wurde schul-
mäßig gelernt und mühsam betrieben, sie war ein Studium und
eine Kunst. Eine gewisse juristische Verschmitztheit paßte besser
dazu als Einfalt. Die Pharisäer standen einerseits den Weltmenschen
feindlich gegenüber, andererseits aber schieden sie sich auch sehr
von der Menge, die vom Gesetz nichts wußte, und vergalten ihr
die Verehrung, die sie ihnen zollte, mit unverholener Verachtung.
304 Neunzehntes Kapitel.
Sie waren die Virtuosen der Frömmigkeit, zugleich die sachver-
ständigen Kenner, die stets ihr Urteil bei der Hand hatten. Ein
breiter Abstand herrschte zwischen Gebikleten und Ungebildeten
auf einem Gebiete, auf welchem der Hochmut der Schule besonders
widerwärtig und der Stolz auf das Wissen und Können besonders
unberechtigt ist.
Gesetze sind nach Ezechiel dazu da, daß man dadurch mag
leben. Damit wird über das System der pharisäischen Satzungen
der Stab gebrochen. Das Leben wurde dadurch nicht gefördert,
sondern behindert und eingeengt. Die Gesellschaft wurde eine Kari-
katur durch die angeblich göttlichen und in Wahrheit absurden
Ziele, die ihr gesteckt wurden. Das Gesetz verdarb nicht bloß die
Moral, indem der Dienst des Nächsten hinter den Übungen der
Gottseligkeit zurücktreten mußte; er entseelte auch, so viel an ihm
lag, die Religion. Der Zugang zu Gott wurde durch die Etikette
verschlossen, durch welche er ermöglicht werden sollte. „Ihr selbst
lindet ihn nicht und verwehrt ihn den andern", sagt Jesus zu
den Pharisäern. Es herrschte ein wahrer Götzendienst des Gesetzes.
Gott selbst studirte in seinen Mußestunden die Thora und las am
Sabbat in der Bibel — so meinten die Rabbinen. Für sein Wirken
in der Geschichte hatten sie kein Verständnis; selbst die makka-
bäische Erhebung vergaßen sie und ließen die Literatur darüber
verkommen.
3. Man darf indessen nicht glauben, daß die Schriftgelehrten
und Pharisäer möglichst die überlieferten Schranken festgehalten
und jeder Bewegung sich entgegengesetzt hätten. Sie traten gegen-
über den Sadducäern für die Erweiterung des Kanons ein und für
die Fortentwickelung der Thora. Sie setzten sich durch ihre
Exegese mit ganz bewußter Willkür über den Buchstaben der
Schrift hinweg. Sie legten Wert auf gewisse Neuerungen, die
damals aufkamen. Die weit über das Gesetz hinausgehende An-
wendung des Tauchbades, der Taufe, z. B. bei dem Übertritt von
Proselyten, gehört dahin. Besonders im Geschmack der Pharisäer
war die Heiligung von Mahlzeiten ohne Opfer — eine interessante
Wiederbelebung der alten Sitte der heiligen Communio durch das
Mahl '). Sie hatten nichts dagegen, daß auch der Tempelkultus
') Tu alter Zeit (Deuteronomiuui) hatten die Darbriuger das Kodesch ge-
gessen; nach dem späteren Gesetz aßen es die Priester, mit Ausnahme aller-
Die Ausbildimg des Judaismus. 305
sehr bereichert wurde, wenngleich der Anstoß dazu nicht immer
von ihnen ausging. Grade in dieser Zeit traten nicht wenige neue
Feste zu den im Gesetz gebotenen hinzu, wie Hanukka und Purim
und eine Menge anderer; auch neue Riten zu den alten Festen,
wie das Wasserschöpfen zu Lauberhütten. Zum Teil war das Neue
eigentlich heidnischen Ursprungs. Aber die fremden Elemente
wurden gründlich assimilirt ').
Ebensowenig darf man glauben, daß unter dem Joch des Ge-
setzes alle anderen Triebe des geistigen Leben verkümmert wären.
Sie wucherten im Gegenteil fort, das Judentum war in dieser Pe-
riode so fruchtbar wie nie. Es war wie der Islam eine komplexe
Erscheinung, voller Antinomien, aufnahmefähig wie alles Lebendige,
nicht systematisch, sondern nur historisch zu begreifen. Die Pedan-
dings des Pascha, das aber seines Opfercharakters einigermaßen entkleidet
wurde. Die Pharisäer wollten sich gern ebenso heilig machen wie die Priester,
ohne indessen deren gesetzliche Privilegien zvi verletzen.
1) Die „Fastenrolle" zählt die Tage auf, an denen das Fasten verboten
war, d. h. die gefeiert werden sollten. Viele Feste haben nur zeitweilig und
lokal bestanden und sind dann wieder eingegangen. Das Fest des Ilolztragens
(Joseph. Bell. 2,425) wird schon Neh. 10,35 erwähnt und zwar merkwürdiger
Weise als im Gesetz vorgeschrieben. Über die Hanukka s. p. 262 s. Über das
Purimfest haben wir die Angabe, daß die Legende desselben, das Buch Esther,
im vierten Jahre von Ptolemäus und Kleopatra griechisch übersetzt in Ägypten
eingeführt wurde, d. i. nach Willrich A. 48/7 vor Chr.: sonst wird es zu-
erst erwähnt 2 Macc. 15, 37 und Jos. Ant. II, 184ss. Es hat genau ebenso
wie die Hanukka ein doppeltes Gesicht. Als historisch jüdisches Fest ist es
identisch mit und entstanden aus dem Nikanorstage (IMacc. 7, 49. 2 Macc.
15, 36). Die große Niederlage der Heiden fällt auch im Buch Esther auf den
13. Adar, wie die des Nikanor. Aber bezeichnender Weise wird die Festfeier
beim Purim ebensowenig auf den Tag des historischen Anlasses begangen,
wie bei der Hanukka. Das Purim wird nämlich nicht zur Erinnerung an
den Sieg selber gefeiert, sondern höchst wunderlich zur Erinnerung an
den Ruhetag nach dem Siege; demgemäß nicht am 13., sondern erst am 14.
(bezw. 15.) Adar. Daraus geht hervor, daß Purim sich ursprünglich gar nicht
auf das angegebene geschichtliche Ereignis bezog: auch der Name und der
damit zusammenhängende Ritus der Manoth, sowie der Hauptstock der Legende
wird dadurch nicht erklärt. Sondern es liegt ein älteres nicht historisches
und nicht jüdisches Fest zugrunde, welches auf den Vollmond (14. oder 15.)
des Adar fiel. Die Kombination dieses Naturfestes und des Nikanortages
diente dazu, das erstere zu judaisiren und das letztere zu entgiften, d. h
seines hasmonäischen Charakters zu entkleiden, der den Pharisäern ein Anstoß
sein mußte. Vgl. GGA. 1902 p. 143 ss.
Wellhausen, Isr. Geschichte. 5. Aufl. 20
306 Neunzehntes Kapitel.
terie und die strenge Disziplin beherrschte nur die Praxis, ließ
aber auf dem Gebiete des Glaubens und der religiösen Vorstellungen
eine merkwürdige Freiheit bestehn, wenngleich gewisse Grundsätze
nicht angetastet werden durften. Es muß eine große, bunte und
anarchische Literatur dieser Art gegeben haben, die uns aber
gewöhnlich nur aus christlichen Überarbeitungen und aus Resten
im Midrasch und im Talmud bekannt ist: die sogenannte Haggäda
verrät sehr vielfach schriftlichen Ursprung und beruht nicht einfach
auf mündlicher Überlieferung. Wenngleich die Pharisäer sich
später von diesem Gebiet mistrauisch abwaudten und vorzugsweise
die Halacha, die rechtliche Tradition, pflegten, so waren doch auch
hier ursprünglich die Frommen die Führer und Leiter. Die Saddu-
cäer hatten überhaupt kein theoretisches Literesse an der Religion;
sie verhielten sich ablehnend gegen alles, was über das Herkommen
und die Praxis hinausging. Was man jüdische Theologie nennen
kann, ist auf grund der älteren Eschatologie von den Asidäern
ausgebildet. Das Buch Daniel hat da Epoche gemacht ^).
Wir finden hier zuerst die religiöse Betrachtung der Welt-
geschichte als eines Ganzen, die zu der christlichen Üniversalhistorie
den Grund gelegt hat: das Buch Daniel hat die selbe Bedeutung
für die Geschichtswissenschaft wie das erste Kapitel der Genesis
für die Naturwissenschaft. Der Ausgangspunkt ist die Zerstörung
Jerusalems durch die Chaldäer und die ganze Entwicklung voll-
zieht sich im Rahmen der siebzig Jahre, die Jeremias als Frist bis
zur Wiederherstellung der Theokratie gesetzt hatte. Die siebzig
Jahre werden auf siebzig Jahrwochen, also auf vierhundertund-
neunzig Jahre, erweitert, und auf grund davon wird der Eintritt
des messianischen Heils genau datirt: die Zeitrechnung hält ihren
Einzug in die Eschatologie und bleibt fortan ein wesentliches Ele-
ment derselben. Die Entwicklung schreitet gradlinig fort, in Stufen,
welche durch die vier Monarchien der Chaldäer, Meder, Perser,
Griechen bezeichnet werden. Der Fortschritt aber ist eine bestän-
dige Verschlechterung, eine Steigerung der Feindschaft gegen das
Reich Gottes und die Juden. Wenn das Reich der Welt auf dem
Gipfel des Bösen angekommen ist, dann bricht es zusammen und
1) Aber nur aus Unbekanntschaft mit dem Alten Testament hat man die
jüdische Eschatologie von Daniel überhaupt ausgehn lassen. Die allgemeinen
Gefühle von Sirac. 33 blieben und wirkten weiter.
Die Ausbildung des Judaismus. 307
das Reich Gottes tritt an seine Stelle. Das Reich Gottes ist die
Antithese und das Gegenbild des Weltreichs, ebenso universalistisch
gedacht wie dieses. Beide zusammen haben nebeneinander nicht
Platz, beide beanspruchen sie die Weltherrschaft und liegen im
Kampf darum. Das Recht und der endliche Sieg ist natürlich auf
Seiten Gottes. Der Messias fehlt, an seine Stelle sind die Juden
in corpore getreten.
Der weltumfassende Dualismus des Guten und des Bösen er-
scheint hier beinah ebenso ausgeprägt, wie bei den Iraniern. Nur
ist er engherziger — die Iranier waren ein großer Völkerkomplex
und selber eine Welt, die Juden vergleichsweise nur eine Sekte,
voll ohnmächtigen mit Neid versetzten Hasses gegen die feindliche
Welt, die sie umgab. Und vor allen Dingen ist er nicht so prak-
tisch gewandt. Die Iranier beteiligen sich an dem Kampfe und
verhelfen durch ihre Arbeit dem guten Prinzip zum Siege, welches
nicht bloß die Religion und die Nation, sondern doch auch die
Kultur zum Inhalt hat. Im Buche Daniel rückt die Weltgeschichte
wider Willen dem Ziel um so näher, je weiter sie sich mit Willen
davon entfernt. Die alte Ära schneidet plötzlich ab und die neue
beginnt durch ein göttliches Wunder. Das Reich der Heiligen des
Höchsten, repräsentirt durch den Menschen wie die Weltmonarchien
durch Tiere, kommt aus den Wolken des Himmels. Im Himmel
ist es schon vorhanden, es braucht nur herabzufahren auf die Erde,
Dem gehn allerdings Kämpfe voraus, aber auch diese werden, vor
ihrer Ausfechtung auf Erden, in den Lüften durch die Engel vor-
weg entschieden. Alles Irdische wird in das Jenseits projizirt, mit
Ausnahme jedoch des Bösen. Der Dualismus wird nicht auf die
Gottheit übertragen und nicht zu einem Gegensatz zwischen Gott
und dem Teufel gesteigert. Der Satan spielt gar keine Rolle, An-
tiochus genügt als Antichrist.
An der künftigen Herrschaft der Heiligen des Höchsten sollen
auch die Märtyrer teilnehmen, die ihre Treue für das Gesetz in
der syrischen Religionsverfolgung mit dem Tode gebüßt haben ^).
Sie werden aus ihren Gräbern aufgeweckt, zu dem Zweck das vor-
zeitig unterbrochene irdische Leben fortzusetzen. Ebenso werden
auch die bereits verstorbenen Erzbösewichter der damaligen Zeit
^) Animos proelio aut suppliciis peremtorum aeternos putant — sagt noch
Tacitus (Bist. 5, 75) von den Juden.
20*
308 Neunzehntes Kapitel.
ins Leben zurückgerufen, um ihre Stnafe nachzuholen. Denn an
den Toten kann keine Vergeltung geübt werden; es gibt nur das
irdische, kein jenseitiges und kein ewiges Leben. Das Reich Gottes
ist den natürlichen Bedingungen nicht entrückt, es ist nur eine
neue Phase der Weltgeschichte, es bleibt noch immer durchaus
irdisch. Von Paradis und Geenna und allgemeiner Verantwortlich-
keit im Jenseits hören Avir im Buche Daniel noch nichts ').
Die Auferstehungshoffnung ergänzt also hier nur in einem
untergeordneten Punkte die messianische Hoffnung auf die Resti-
tution des Volkes. Später aber geht sie weit darüber hinaus, wird
verallgemeinert und trägt dann am meisten dazu bei, die Religion
über die alttestamentliche Stufe emporzuheben und sie völlig zu
individualisiren. In den Apokalypsen Baruchs und Ezras, die je-
doch erst an das Ende des ersten christlichen Jahrhunderts ge-
hören und über die hier zu beschreibende Phase des Judaismus
hinausliegen, sind die eschatologischen Vorstellungen in eine ganz
andere, höhere Lage tranponirt. Da haben wir die allgemeine
Auferstehung der Toten, das Gericht über alle Seelen, die je auf
der Welt gewesen sind, das Paradis und die Geenna''). An die
1) Ein gewisser Ansatz zur Verallgemeinerung der Verantwortlichkeit
liegt in der Vorstellung vom himmlischen Buche. Das himmlische Buch ist
im Alten Testament zunächst ein Buch der Lebenden (nicht des Lebens), ein
Verzeichnis der Angehörigen der Theokratie, besonders der frommen (Ps. 87, 6.
Mal. 3, 16). Schon bei Malachi werden zu den Namen Vermerke gemacht über
die Taten und Leiden der betreifenden Personen; in Ps. 56, 9 faßt Gott die
Tränen des Frommen in einen Schlauch und zählt sie. Dann wird die Biirger-
liste zu einer Konduitenliste und zu einem Kontobuch, nicht bloß für die
Frommen, sondern auch für die Heiden. In Dan. 7, 10 werden bei der himm-
lischen Gerichtssitzung Bücher aufgeschlagen, in denen über die Verschuldung
der Heiden Rechnung geführt ist.
-) Das Paradis ist der alte Gottesgarten von Gen. 2. 3., der plötzlich
wieder auflebt und transfigurirt wird. Die Geenna ist eigentlich das Tal Ge-
hinnom bei Jerusalem. Dort stand in der Zeit Manasses der Altar, worauf die
Kinder dem Jahve verbrannt wurden. Diese hochheilige Stätte des Frevels soll
nach Hierem. 7 bei der Einnahme der Stadt durch die Chaldäer zu einer Stätte
des Gemetzels und zu einer allgemeinen Leichengrube entweiht werden. Daher
in der Septuagina die Übersetzung TroXuctvoptov, daher dann weiter die Bedeu-
tung der Geenna. Der Strafort der Bösewichter bleibt aber daneben immer
noch das Grab. Die Geenna selber ist ja ursprünglich auch nur ein Massen-
grab; das Feuer erklärt sich vermutlich aus der Leichenverbrennung und ent-
spricht dann dem Wurm (Isa. 66. 14).
Die Ausbildung des Judaismus. 309
Stelle des Volkes sind die Individuen, die Seelen, getreten und die
zukünftige Welt ist jenseitig geworden. Die alte messianische Weis-
sagung wird zurückgedrängt. Die Restitution des Volkes ist nicht
mehr das Ziel und der Schluß des Weltdramas, sondern ein vor-
übergehender Zwischenakt (Chiliasmus). Der Messias kommt aller-
dings, rettet die Juden, die er in jeuer Zeit in der heiligen Stadt
und im heiligen Lande antrifft, richtet sein Reich in Palästina
unter ihnen auf und beglückt sie während einer längeren Periode.
Aber die Periode läuft ab, der Messias stirbt und seine ganze
Generation mit ihm. Und dann erst tritt die Endzeit ein, die
zweite überirdische Ära, mit der allgemeinen Auferstehung der
Toten, dem jüngsten Gericht, der Scheidung der Welt in Himmel
und Hölle. Es hat sich also auf diesem Gebiet ein gewaltiger Um-
schwung vollzogen. Vielleicht allerdings in Anknüpfung an alte
populäre Vorstellungen, über die Toten, die Seelen, die Heere der
Geister, auf Erden in der Hölle und im Himmel. Der alte Volks-
glaube war vor dem prophetischen Monotheismus zurückgewichen
und kommt im Alten Testament nur spurenweis zum Vorschein.
Er mochte sich aber in der Tiefe erhalten haben und wieder auf-
tauchen, als die Fragen, die er zu beantworten schien, auch der
monotheistischen Religion auf einer späteren Stufe sich aufdrängten.
Da dieser alte Volksglaube den Israeliten mit den Heiden gemein-
sam war, so läßt es sich freilich den ihm etwa zuzuweisenden
Vorstellungen an inneren Merkmalen nicht ansehen, ob sie wirklich
von Anfang an dazu gehört haben oder erst in späterer Zeit von
den Heiden entlehnt sind.
Mit der Eschatologie ist die Gnosis nah verwandt, die durch-
aus keine ausschließlich christliche, sondern eine allgemeine Er-
scheinung der Zeit ist und auch bei den Juden ihre Rolle spielt.
Die jüdische Gnosis geht wol auf die ältere Weisheit zurück,
greift aber viel weiter aus und spekulirt ganz anders, großartiger,
tiefsinniger und unsinniger. Bezeichnend ist das Streben, Gott im
Hintergrund zu lassen und als Exponenten seiner Beziehungen zur
Welt und zum Menschen allerhand Mittelwesen einzuschieben,
über die dann ungescheut fabulirt werden darf. Die göttlichen
Eigenschaften und Wirkungsweisen werden hypostasirt; so die Weis-
heit (Achamoth), das Wort und der Geist. Eine systematische
Angelologie wird ausgebildet, mit Zahlen und Namen und bestimm-
ter Charakteristik. Der kindliche Eno;elelaube der früheren Zeit
310 Neimzehntes Kapitel.
war freies Spiel der Phantasie gewesen. Die Anfänge einer Augelo-
logie finden sich bei Ezechiel und Zacharia, dann im Buche lob,
in den Proverbien und in den Psalmen. Die Engel erscheinen hier
als Beamte und Interpreten Gottes, an dessen Hofe es ungefähr so
zugeht, wie an dem des persischen Großkönigs. Sie richten seine
Befehle aus und überbringen sein Wort den Propheten. Sie er-
statten im Himmel Bericht über die Vorgänge auf Erden, sie
tragen die Gebete der Menschen hinauf und verwenden sich für
sie, klagen sie aber auch an. Sie sind zum Teil neutrale Boten,
die beliebige Aufträge ausführen. Zum Teil aber verwachsen sie
mit ihrem Amt, es gibt Engel des Unheils und des Todes. Jedoch
rebellische Engel gibt es nicht, sie heißen allesamt Heilige oder
Wächter. Auch der Satan ist ein Diener Gottes, sein „Ankläger"
und Kriminalkommissar.
Eigentlich gehört die Anonymität zum Wesen der Engel, sie
sind keine rechten Personen. Aber im Buch Daniel tauchen zuerst
ein paar Eigennamen auf, Gabriel und Michael. Später vermehren
sie sich rasch; es ist die Hauptaufgabe der Gnosis, die übersinn-
lichen Wesen zu benennen, zu gruppiren und ihnen ihren Rang
anzuweisen. Der Begriif der Engel erweitert sich, sie sind nicht
bloß mehr Boten. Die Dämonen, die in der Wüste und in Ruinen,
namentlich in zerstörten Heiligtümern, hausen, werden ihnen zu-
gesellt; damit entsteht auch in dieser Region ein Unterschied guter
und böser Wesen. Die Götter der Nationen werden zu ihren Ver-
tretern und Patronen in der überirdischen Welt, sie leiten ihre
Geschichte. Aus den Naturgottheiten werden ebenfalls Engel, alle
Naturerscheinungen werden von ihnen regiert. Es gibt nicht bloß
Engel der Gestirne, sondern auch des Feuers und des Windes, des
Donners und Blitzes, des Regens und des Hagels. Jeder Mensch
hat seinen Genius, sogar einen doppelten. Das alte Ineinander
von Körper und Geist wird aufgegeben, der Geist wird verselb-
ständigt und bevorzugt, mit der Materie verbindet sich der Begriff
der Sündhaftigkeit, des Todes und der Finsternis. Die ganze sinn-
liche Welt wird in einer übersinnlichen abgespiegelt und wieder-
holt, und nachdem dies geschehen ist, wird sie daraus abgeleitet.
Die Erklärung ist stets genetisch, sie hat immer die Form der
Erzählung. Die Spekulation ist historische Fabelei, die Historie
spielt natürlich ebensowol im Himmel als auf Erden.
Der Stoff" wird zunächst der Bibel entnommen. Durch eine
Die Ausbildung des Judaismus. 311
wilde, phantastische Interpretation gelingt es, aus ihr die nötige
Erkenntnis für alle Gebiete des Wissens zu schöpfen. Gewisse
Stücke werden bevorzugt, so die Theophanie Ezechiels und nament-
lich die Erzählungen der Genesis über die Weltschöpfung, über den
Sündenfall der Menschen und der Engel, über Adam und Eva,
Kain und Seth und Henoch, Nimrod und Melchisedek. Es sind
Stücke nicht spezifisch israelitischen, sondern allgemein mensch-
lichen Inhalts, voll dunkler Probleme, welche die mythologisirende
Philosophie reizen. Sie berühren sich mit heidnischen Sagen über
Welt und Menschen, und die jüdische Gnosis scheut sich nicht,
auch diese in ihr Gewebe mit zu verarbeiten, sie verschlingt gie-
rig allen Stoff" der sich ihr bietet. Die geschichtliche Bestimmtheit
der Off'enbarung löste sich auf; alle Grenzen zerflossen.
Das Judentum steht in der allgemeinen Kultur- und Religions-
mischung jener Tage mitten inne. Es hat manche Einrichtung
und Vorstellung von außen entlehnt, manche Anregung von außen
empfangen. Wie tief der Hellenismus eingedrungen war, zeigt die
gewaltige Reaktion dagegen, die sich unter Antiochus Epiphanes
erhob. Er wurde dadurch an einem Punkte zurückgedrängt, aber
keineswegs ganz abgewiesen. Er drang bald siegreich wieder vor.
Die Hasmonäer ließen sich ohne Scheu in Allianzen mit Griechen
und Römern ein, nahmen griechische Namen an, gebrauchten grie-
chische Legenden auf ihren Münzen. Die griechische Sprache
wirkte stark auf die aramäische ein und wurde in weiten Kreisen
verstanden, in Galiläa und im Ostjordanlande vielleicht noch besser
als in Jerusalem: mit dem Verkehr und mit der Sprache pflegen
auch die Ideen zu wandern. Nicht minder mag babylonischer und
iranischer Einfluß in beträchtlichem Maße stattgefunden haben.
Bei den allgemeinen Ideen, wo nicht bestimmte greifbare Kenn-
zeichen vorliegen, ist es indessen schwer den Ursprungsort nach-
zuweisen. Es ist aber auch nicht von besonderer Wichtigkeit; das
Bezeichnende ist, daß diese Ideen in der Luft liegen und überall
auftauchen, daß die Vorstellungskreise nicht mehr durch nationale
Grenzen geschieden sind. Übrigens muß man immer wol im Auge
behalten, daß die Juden aus allem Nahrung ziehen und ihr Wesen
darum doch nicht verändern.
4. Neben Sadducäern und Pharisäern werden als dritte jüdi-
sche Partei dieser Zeit die Essäer aufgeführt. Sie waren indessen
keine Partei, sondern eine esoterische Brüderschaft. Sie sahen es
312 Neunzehntes Kapitel.
nicht auf Macht und Einfluß ab, sondern kümmerten sich nur um
ihr Seelenheil. Sie zählten etwa viertausend Mitglieder und hatten
Niederlassungen in verschiedenen jüdischen Städten und Dörfern.
Sie pflanzten sich nicht auf natürlichem Wege fort, sondern durch
Beitritt von Novizen, die vor der endgiltigen Aufnahme einer län-
geren Prüfung unterworfen wurden. Sie waren fest organisirt und
schwuren schwere Eide, um sich zum Gehorsam gegen die Vor-
steher, zur Offenheit gegen einander und zur Verschwiegenheit
gegen die Außenwelt zu verpflichten, im übrigen vermieden sie
die Eide — d. h. wol das fortAvährende Schwören in der gewöhn-
lichen Rede. Sie führten in ihren Ordenshäusern ein streng geord-
netes Leben mit vollkommener Gütergemeinschaft. Ihren Unter-
halt mußten sie sich durch die Arbeit ihrer Hände verdienen; sie
durften keine Sklaven halten. Gärtnerei, Palmenzucht, war ihre
Hauptbeschäftigung; den Handel verabscheuten sie. Auf Almosen-
geben legten sie großen Wert. Opfer brachten sie nicht, die ge-
meinsamen Mahlzeiten wurden geheiligt und waren ihr täglicher
Kultus. Das ist merkwürdig und zu betonen. Sie legten dazu
weißes Gewand an; die Speisen wurden von Priestern zubereitet,
andere durften nicht gegessen werden. Außer den Gebeten vor
dem Essen hatten sie ein Morgengebet und wendeten sich dabei
gegen die Sonne. Vor jeder Mahlzeit, wol auch vor jedem Gebet
badeten sie sich; das Salben mit Öl verwarfen sie als schmierig.
Sie badeten sich auch bei jeder leiblichen oder geistigen Ver-
unreinigung z. B. wenn ein Ordensmitglied höheren Ranges einen
Bruder niederen Ranges berührt hatte. Die Schamhaftigkeit trieben
sie sehr weit und nahmen dabei besondere Rücksicht auf die
Sonne; sie spieen nicht grade aus und nicht nach rechts, am
Sabbat sollen sie ihre Notdurft überhaupt nicht verrichtet haben.
Ebenso eifrig wie die Arbeit und die Heiligung betrieben sie aber
auch die Gnosis. Sie hatten eigene Bücher, die sie sorgfältig
geheim hielten; sie pflegten mittels der höheren Schriftauslegung
die Wissenschaft von den Engeln und den himmlischen Dingen.
Mit der Eschatologie waren sie vertraut; fast alle Essäer, die uns
überhaupt genannt werden, werden als Seher genannt^). Sie
glaubten, die Seele sei unsterblich und nur durch eine Art
1) Bell. 2,159. Ant. 13, 311. 15,373. 17,346. Der Essäer Johannes war
Truppenführer im jüdischen Kriege Bell. 2,567. 3, 11. 19.
Die Ausbildimg des Judaismus. 313
Sündenfall mit dem Leibe verbunden, von dem befreit sie sich
freudig in die Höbe schwinge; der guten Seelen warte ein Para-
dis jenseits des Ozeans, der bösen eine finstere und kalte Hölle.
Auch mit Naturkenntnis gaben sie sich in ihrer Weise ab, sie er-
forschten die Heilkraft der Wurzeln und die Eigenschaften der
zauberkräftigen Steine.
Die Essäer verleugnen ihren jüdischen Ursprung nicht'). Sie
erkennen das Gesetz als verbindlich an, halten den Sabbat aufs
strengste, befolgen die Gottesdienstordnung der Synagoge und be-
zeugen auch dem Tempel ihre Verehrung; sie rekrutiren sich aus-
schließlich aus Juden. Hire Haupteigentümlichkeit, das Bestreben
sich zu heiligen und zu reinigen, teilen sie mit den Pharisäern.
Das Opfer verwerfen nicht sie allein, sondern alle Sekten, die von
dem Judentum ausgegangen sind; auch die Pharisäer schätzen es
nicht hoch. Es wird schon in den Psalmen und in der W^eisheits-
literatur als eine Art Anachronismus empfunden, wenigstens das
Privat- oder Gelübdeopfer; Gewicht gelegt wird nur auf das Thamid,
das tägliche Gemeindeopfer, welches ganz unabhängig von dem
Willen der Einzelnen wie von selbst im Gange bleibt "). Als Sühn-
mittel tritt bei den Essäern das Wasser an Stelle des Opferbluts;
die Opferraahlzeit aber wird durch die Heiligung der profanen
Mahlzeit ersetzt und dadurch die dem gesetzlichen Kultus beinah
^) Den Namen erklärt man meistens aus dem syrischen {s^^öH- Dies Wort
ist freilich bei den Rabbinen, die stets das hebräische Äquivalent gebrauchen,
nicht nachweisbar, aber darum vielleicht doch auch in Palästina üblich ge-
wesen. Hitzig (Geschichte d. V. J. p. 428) meint, die Essäer wären zur Zeit
der syrisch_en Verfolgung gezwungen gewesen, auf den Tempelkultus zu ver-
zichten, und später bei diesem Verzicht stehn geblieben. Aber diese Meinung
geht von dem auch sonst verbreiteten Irrtum aus, dal5 fromme Juden unmög-
lich darauf hätten verfallen können, prinzipiell die blutigen Opfer zu ver-
Averfen. In Wahrheit lag ihnen dieser Gedanke sehr nahe, trotz dem Gesetze.
Selbst die Rabbinen behaupten, das Opfer sei im Gesetz nicht geboten, son-
dern nur zugelassen, weil der Anfang des Leviticus lautet: wenn jemand
Opfer bringen will, so verfahre er dabei so und so. Die Kunst, das Gesetz
durch das Gesetz aufzulösen, ex lege discere quod nesciebat lex (Recogn.
Clem. 2, 54), hat Paulus von seinen pharisäischen Meistern gelernt; und die
Geschichte hat gezeigt, daß der Tempelkultus für den Bestand des Judentums
von gar keiner Bedeutung war. Vgl. Credner in Winers Zeitschrift 1, 305 ss.
-) Korb an, im Priesterkodex das Opfer, wird später der freiwillige Geld-
beitrag für die Unterhaltung des öffentlichen Gottesdienstes.
314 Neunzehntes Kapitel. Die Ausbildung des Judaismus.
verloren gegangene Idee der Commimio zwischen der Gottheit und
ihren Gästen neu belebt; beides findet sich weniger stark aus-
geprägt auch bei den Pharisäern. In dem Betriebe der heiligen
Wissenschaft halten sie sich völlig in den Gleisen der jüdischen
Gnosis, wenngleich sie vielleicht einige besondere Liebhabereien
gehabt haben mögen. Das wodurch sie über das Judentum hin-
ausgehn, besteht hauptsächlich in Konsequenzen, die sie daraus
ziehen. Dadurch sondern sie sich, wie es zu gehn pflegt, von
demselben ab und bilden eine eigene Gemeinschaft, die rein reli-
giösen Zwecken dient, in der die Natur als Schande empfunden
wird. Beispiellos ist indessen eine solche Gemeinschaft auf diesem
Boden nicht. Religiöse Gilden und Vereine hat es auch im israe-
litischen Altertum gegeben, sie forderten allerdings schwerlich die
Ehelosigkeit von ihren Mitgliedern. Fremder Einfluß zeigt sich
bei ihnen aber in der Art und in der Motivirung eines oder des
andern Eitus: da scheint der Parsismus im Spiel zu sein '). Ferner
in ihrer theologischen Psychologie, die gewiß nicht erst durch Jo-
sephus ihre griechische Färbung bekommen hat.
Die Essäer können als Warnung dienen, die Grenzen des
Judentums nicht zu eng zu stecken, als Zeichen, was innerhalb
desselben doch alles möglich war, trotz den Pharisäern. Sie sind
die Vorgänger, nicht des Christentums, dem diese Art der Esoterie
und der Abscheidung von den Sündern ursprünglich völlig fremd
war, wol aber des christlichen Mönchtums, wenngleich dieses
nicht zuerst auf palästinischem, sondern auf ägyptischem Boden
erwachsen zu sein scheint. Sie haben nicht lange bestanden,
aber lauge fortgewirkt, namentlich in den ostjordauischen Sekten,
die wir leider nur sehr unvollkommen kennen, die jedoch für
die Geschichte der Religion von großer Bedeutung gewesen sind.
Ihre Geheimliteratur ist vielleicht in nicht geringem Maße in
den Pseudepigraphen ausgebeutet und uns dadurch mittelbar über-
liefert worden.
^) Nämlich bei der Scheu offen auszuspeien und dem Streben die Aus-
scheidungen vor der Sonne zu verbergen.
Zwanzigstes Kapitel. Die Zeit Hyrkans IL 315
Zwanzigstes Kapitel.
Die Zeit Hyrkans IL
1. Seit der Eroberung Jerusalems durch die Römer verblaßte
der innere Parteistreit der Juden; politisch waren sie einig gegen
die Römer. Die leitenden Stände freilich taten aus niederen oder
höheren Rücksichten ihren Gefühlen Zwang an. Aber die breiten
Schichten der Bevölkerung hatten dazu keinen Grund, sie folgten
der Stimme der Natur. Sie waren durchdrungen von Erbitterung
gegen die Römer. So sehr sie auch die Rabbinen und das Gesetz
verehrten, die Freiheit und das Vaterland galten ihnen doch höher.
Der Patriotismus war durch den Niedergang der hasmonäischen
Macht nicht unterdrückt, sondern wurde nun erst recht die popu-
läre Religion und die treibende Kraft der Masse. Schon als die
Anhänger Aristobuls im Tempel belagert wurden, hatten sich frei-
willige Scharen aus der Provinz aufgemacht um sie zu entsetzen;
und sobald hernach ein Prätendent von der abgesetzten Familie
erschien und dem Hyrkan die Herrschaft streitig machte, stand ihm
immer gleich ein Heer zu Gebote. Die Kämpfe Aristobuls und
seiner Söhne wurden nicht in dynastischem Interesse für die jüngere
hasmonäische Linie gegen die ältere geführt, sondern für die Frei-
heit gegen die Römer: so sahen es die Juden der Provinz und der
niederen Klasse an und demgemäß ergriffen sie Partei. Sie schlu-
gen bei jeder Gelegenheit blindlings los, ohne Kenntnis der Macht-
verhältnisse, unter der schlechtesten Führung. Die Miserfolge, die
sie erlitten, entmutigten sie wol für eine Weile; aber immer fingen
sie das ungleiche Spiel wieder von neuem an. Man kann fragen,
ob sie es schließlich verloren haben.
Alexander, Aristobuls ältester Sohn und Hyrkans Eidam, war
dem Pompeius unterwegs entkommen. Im Jahre 57 erregte er
einen Aufstand in der Gegend von Jericho und gelangte in den
Besitz der drei oft genannten Kastelle, hüben und drüben des Jor-
dans. Da Hyrkan wehrlos war, so eilte der Prokonsul Gabini us
herbei, schlug ihn als er auf Jerusalem marschirte '), und zwang
') Bell. 1, 160, wonach es scheint, als habe sich Alexander in Besitz von
Jerusalem gesetzt, steht in Widerspruch zu § 163, wo er erst im Anrücken
auf J. begriffen ist. Der Versuch, die durch Pompeius zerstörten Mauern von
316 Zwanzigstes Kapitel.
ihn sich nach Alexandrium zurückzuziehen. Doch gegen Übergabe
dieser und der anderen Festungen, die nun geschleift wurden, be-
willigte er nicht bloß ihm die Freiheit, sondern versprach auch,
daß seine Geschwister aus der Haft entlassen werden sollten —
für wie viel Geld, wird nicht gesagt '). Der Vater allein wurde in
Rom zurückgehalten; aber dieser fand Gelegenheit zu fliehen und
erschien das nächste Jahr in der Heimat. Ein großer Anhang lief
ihm zu, darunter auch alte gediente hasmonäische Truppen, geführt
von dem Hauptmann Pitholaus. Er suchte sich zuerst in Alexan-
drium, dann jenseits des Jordans in Machärus zu befestigen; aber
die Römer ließen ihm nicht Zeit. Nach hartnäckigem Kampfe in
den Ruinen von Machärus wurde er, samt seinem zweiten Sohne
Antigonus, gefangen und wieder nach Rom gebracht. Indessen
Alexander, der sich nicht beteiligt hatte, blieb auf freiem Fuß; er
benutzte im Jahre 55 eine günstige Gelegenheit, aufs neue einen
Tumult zu erregen, diesmal wie es scheint nicht in der Gegend
von Jericho, sondern im mittleren und nördlichen Palästina. Der
zahlreiche Haufe, der sich um ihn gesammelt hatte, verlief sich
indessen zum Teil schon, als Gabinius aus Ägypten zurückkehrte,
wo er sich in dynastische Händel eingemischt hatte; der Rest wurde
am Tabor zersprengt.
Gleich nach der ersten Erhebung Alexanders verschärfte Ga-
binius die Maßregeln des Pompeius, um die Macht der Juden her-
abzudrücken. Die Griechenstädte in Palästina suchte er zu heben,
dagegen das hasmonäische Reich, soweit Pompeius es noch hatte
bestehn lassen, gänzlich zu beseitigen. Er zerschlug es in fünf von
einander unabhängige Stadtgebiete mit aristokratischer Verfassung,
Jerusalem Jericho und Gazera in Judäa, Sepphoris in Galiläa, und
Amathus in Peräa. Hyrkan sollte überhaupt nicht mehr Fürst,
sondern nur noch Hoherpriester sein; der Vorsitz im jerusalemischen
Synedrium und der geistliche Einfluß über die gesamte Judenschaft
konnte ihm freilich nicht genommen werden. Dieser Zerstücke-
lungsversuch hatte aber nicht den Erfolg, den inneren Zusammeu-
Jerusalem wieder aufzubauen, geht nach Ant. 14,82 von Hyrkan aus; denn
nur dieser, nicht Alexander, konnte sich von den dort anwesenden Römern
bewegen lassen, von seinem Vorhaben abzustehn.
^) Die Mutter Alexanders vermittelte den Frieden. Die Angaben Bell. 1,
168 und 174 gehören zusammen und beziehen sich auf die selbe Gelegenheit.
Die Zeit Hyrkans 11. 317
hang, den Patriotismus und die Römerfeindschaft des jüdischen
Volkes zu schwächen. Am schlimmsten wurden vielmehr diejeni-
gen davon betroffen, die es am wenigsten verdient hatten, nämlich
die bisherigen Machthaber, die nun zur Freude der Aristokratie
sogar in Jerusalem nichts mehr zu sagen hatten, Hyrkan und vor
allem sein Hintermann, Antipater '). Nach seiner Rückkehr aus
Ägypten (55) hob daher Gabinius die unnütze Einrichtung wieder
auf und stellte dem Antipater zu gefallen, der ihm gute Dienste
geleistet hatte, die alte Verfassung wieder her'"*). Hyrkan ward
wieder Ethnarch über die drei Lande und Antipater sein all-
mächtiger Vezir.
Gabinius wurde im Jahre 54 abberufen. Sein Nachfolger
Crassus stärkte sich für den parthischen Krieg durch Plünderung
des jerusalemischen Tempels und seines reichen Schatzes, den
Pompeius nicht angegriffen hatte. Dafür brach, nach seiner Nieder-
lage bei Carrhae (53), eine abermalige Empörung der Juden in
Galiläa aus. Sie wurde von Pitholaus geleitet, dem hasmonäischen
Truppenführer, der sich schon an dem Aufstande Aristobuls be-
teiligt hatte ^). Er scheint sich in Taricheae am See Gennesar fest-
gesetzt zu haben. Aber der Quästor des gefallenen Prokonsuls,
Cassius, eroberte die Stadt, ließ eine Menge gefangene Juden als
Sklaven versteigern, und tötete auf Antipaters Betreiben den Pitho-
laus. Die Hoffnung auf die Parther hatte getrogen. Erst 51 er-
schienen sie in größerer Menge im nördlichen Syrien, gingen aber
im folgenden Jahre wieder über den Euphrat zurück.
Demnächst schaukelte das jüdische Gemeinwesen in den Wogen
des römischen Bürgerkriegs. Da Hyrkan wie der ganze Orient auf
der Seite, weil in der Hand, des Pompeius war, so ließ Cäsar den
gefangenen Aristobul gegen ihn los. Derselbe wurde aber noch
vor der Abreise vergiftet und gleichzeitig sein Sohn Alexander in
Antiochia enthauptet^), sodaß als Prätendent nur noch Antigonus
übrig blieb (49). Nach der Schlacht von Pharsalus mußten die
Regenten in Jerusalem den Kurs ändern, sie konnten nicht anders
1) Bell. 1, 170.
2) Ant. 14, 103, Bell. 1, 178. Auf die Wiederherstellung der Ethnarchie
Hyrkans II. durch Gabinius bezieht Mommsen (Hermes 1874 p. 281 ss.) die
Urkunde Ant. 14, 145 ss., für die in der Tat kein anderer Platz ist.
3) Ant. 14,84. 93.
*) Seine Leiche wurde in Alexandrium bestattet, Bell. 1, 551.
318 Zwanzigstes Kapitel.
als mit dem Winde fahren. Sie taten es zu rechter Zeit und mit
einer Beflissenheit, die dem Zwange zuvorkam und wie Freiwillig-
keit aussah. Als Cäsar in der Königsburg von Alexandria bedrängt
wurde, schloß sich Hyrkan mit seinem Alterego dem Mithradates
von Pergamum an, um ihn zu entsetzen (Frühling 47). Der Lohn
wurde ihm nicht vorenthalten. Auf dem Durchmarsch nach Klein-
asien hielt sich Cäsar vorübergehend in Syrien auf (Sommer 47)
und traf dort vorläufige Anordnungen. Ohne auf die Ansprüche
des Antigonus Rücksicht zu nehmen, beließ er die bisherige Re-
gierung und befestigte ihre Stellung. Hyrkan wurde als Ethnarch
und Hoherpriester bestätigt und zum erblichen Bundesgenossen der
Römer ernannt'); der Titel König, den ihm Josephus seitdem gibt,
scheint ihm in Wahrheit nicht verliehen zu sein. Antipater blieb
sein Majordomus und bekam das römische Bürgerrecht"''). Die
Mauern von Jerusalem durften wieder aufgebaut werden; völlige
Freiheit von Abgaben an die Römer und von militärischer Besatzung
wurde zugestanden^). Das hasmonäische Reich wurde zwar nicht
restaurirt, die Griechenstädte blieben frei. Aber die Ebene Es-
draelon im Süden von Galiläa wurde zurückgegeben und ebenso
die unentbehrliche Hafenstadt Jope; wenn die Gebietserweiterung
auch nicht gerade sehr ausgedehnt war, so war sie doch sehr wert-
voll. Von Rom aus bestätigte und vermehrte Cäsar seine Gnaden.
Auch die Glaubensgenossen in der Diaspora hatten sich seiner
Gunst zu erfreuen; er schützte sie bei der eximirten Stellung, die
sie ihrer Religion wegen beanspruchen mußten. So machte er
sich die Juden in Palästina und in der ganzen Welt zu Freunden,
wie es andere Imperatoren vor und nach ihm getan haben.
2. Ohne Antipater wäre das alles nicht geschehen. Er erntete
jedoch keinen Dank für ein Verdienst, aus dem er selber den
meisten Nutzen zog. Obgleich er stets den Hohenpriester vorschob
') Die dpyiepa-zvAa cpiXav8piu7ra, die Hyrkan nach Ant. 14, 195 behalten
soll, sind die verbrieften Gerechtsame des Hohenpriesters; vgl. 1 Esdr. 8, 10
(Ant. 11, 123). 2. Macc.4, 11. Wilcken, Ostraka 1, 401.
^) Ant. 14, 137. Bell. 1, 194. ""ETiiTpoTro;, l7ii[xeXTjTr)c twv 'louoafojv (Ant.
14, 127. 139. 143), heißt Antipater etwa in dem selben Sinn wie Sylläus
hioiiLTiTTiz der Araber (Nicol. Dam. bei Müller 3, 351). Strabo sagt p. 779:
iy^ii S' ö ßaaiXebc (der Nabatäer) iTr^xpoTTOv t(üv Ixai'ptov tivä xaXo'j[/.evov dtoeXcpov.
Vgl. 2 Macc. 14, 2. Römischer Prokurator war A. nicht.
2) Mommsen, Römische Geschichte 5, 501.
Die Zeit Hyrkans II. 319
und alle Ehren auf dessen Haupt sammelte, so daß sein eigener
Name in den römischen Erlassen gar nicht erscheint *), so war
doch Hyrkan nur die Firma, mit der er arbeitete. Er hatte die
Macht in Händen und gebrauchte sie, wie er wollte: er dachte sie
auf seine Söhne Phasael und Herodes zu vererben, die er zu Statt-
haltern in Jerusalem und in Galiläa machte. Das Gericht und
die geistlichen Angelegenheiten mochte er wol dem Synedrium
überlassen. Aber damit waren die Aristokraten nicht zufrieden,
die in alter Zeit als Gerusia die eigentliche Regierung geführt
hatten und sie verfassungsmäßig auch jetzt noch mit dem Ethnarchen
teilten; sie fühlten sich durch den Majordomus beiseite geschoben.
An Hyrkan waren sie gebunden; sie suchten ihn von Antipater
zu trennen und ihm die Augen über den idumäischen Knecht zu
öffnen der den Meister spielte, sie drängten ihn sich als Herrn im
Hause zu zeigen. In Galiläa zuckte der Aufstand noch nach; der
junge Herodes stellte mit Nachdruck die Ruhe wieder her. Dabei
fiel ihm der Hauptmann Ezechias mit seiner Schar in die Hände;
er behandelte ihn einfach als Räuber und richtete ihn mit vielen
anderen hin. Nun war aber Ezechias in der Tat ein hasmonäi-
sclier Freiheitskämpfer, der die Waffen nicht gestreckt, sondern sich
als Bandenführer gehalten hatte; sein Sohn Judas ward der Stifter
der Patriotenliga der Zeloten. Die hohen Herren in Jerusalem
hegten im Stillen Sympathien für ihn. Die durften sie freilich
nicht äußern, aber sie schrien über die Gesetzesverletzung des
Herodes und über seinen Eingriff' in die Rechte des Synedriums,
daß er auf eigene Faust jüdische Bürger habe hinrichten lassen.
Unterstützt durch die klagenden Mütter der Getöteten brachten sia
den Hohenpriester wirklich dahin, den eigenmächtigen jungen Mann
nach Jerusalem vorzufordern. Als er jedoch trotzig vor dem Hohen
Rat erschien, in Purpur und von einem bewaffneten Gefolge um-
geben, wagten sie den Mund nicht aufzutun und erhielten erst
durch den Spott eines Ihnen fernstehenden Schriftgelehrten '^), der
') Änt. 14, 193 sagt Cäsar, Hyrkan sei ihm in Alexandria mit 1500
Mann zu Hilfe gekommen. Auch Augustus redet 16, 162 s. nur von Hyrkan.
Die Angabe, daß Antipater Gelder Hyrkans in seinem eigenen Namen nach
Rom gesandt habe (14,164), erscheint also wenig glaubwürdig. Natürlich aber
wußten die Römer genau Bescheid, was Hyrkan und was Antipater bedeutete.
2) Ant. 14,172 Samäas, dagegen 15,4 Pollio. Abtalion soll nicht Pollio
sein, sondern Autoleon (DMZ 1901 p. 355),
320 Zwanzigstes Kapitel.
vereinzelt an der Versammlung teilnahm, ihre Fassung wieder. Sie
würden nun ein Todesurteil ausgesprochen haben, wenn nicht Hyr-
kan, geängstigt durch ein drohendes Schreiben des syrischen Statt-
halters Sextus Cäsar, die Sitzung vertagt und dem Herodes dazu
verhelfen hätte, sich heimlich zu entfernen. Bald darauf aber er-
schien er wieder vor Jerusalem, diesmal an der Spitze eines
Heeres, und die regierenden Herren mußten seinem Vater und
seinem Bruder noch sehr dankbar sein, daß sie ihn, nach einer
kleinen Komödie, zum Abzug bewogen.
Der Versuch, der Schlange den Kopf zu zertreten, kam zu
spät. Der Erfolg war, daß Antipater und seine Söhne nun den
Vorteil hatten, zwischen Hyrkan und seinen bösen Räten unter-
scheiden zu können'). Die Optimaten hatten sich decouvrirt; seit-
dem war ihnen der Untergang gewiß. Die Idumäer hatten die
Römer hinter sich. Ohne jeden Boden im jüdischen Volk waren
sie auf die fremde Oberherrschaft angewiesen, und aus dem selben
Grunde diese auf sie.
Sextus Cäsar fiel durch Meuchlerhand (46), und es gelang den
Pompeianern in Apamea am Orontes festen Fuß zu fassen und
sich mit Hilfe der benachbarten arabischen Phylarchen^) und der
Parther zu behaupten. Die Legionen, die der Imperator kurz vor
seiner Ermordung nach Syrien gesandt hatte, gingen zu Cassius
über, der im Jahre 43 dort die Statthalterschaft antrat und Dola-
bella aus dem Felde schlug. Auch Antipater fügte sich dem neuen
Machthaber, und tat so viel an ihm lag, um die Kriegssteuer von
700 Talenten, die jener den Juden auferlegt hatte, schnell beizu-
treiben und ihm zu Füßen zu legen ^). Cassius, obwol sonst un-
gnädig und sogar grausam gegen die Juden, erkannte doch seinen
Eifer gebührend an und zeichnete besonders Herodes aus, indem
er ihn zum Strategen in Cölesyrien ernannte*). Aber noch in
dem selben Jahre wurde Antipater vergiftet, und zwar auf Veran-
lassung eines alten hasmonäischen Offiziers, Namens Malichus.
Der Mord hing zusammen mit einer Palast- und Militärverschwö-
1) Ant. 14, 183.
2) Strabo p. 753.
3) Bell. l,220ss. Ant. 14, 275s. Es ist merkwürdig, daß Antipater doch
nicht als für das Ganze verantwortlich erscheint; wenigstens hält sich Cassius.
nicht an ihn, wenn die Steuern langsam oder gar nicht eingehn.
*) Ant. 14, 280 vgl. 180.
Die Zeit Hyrkans 11. 321
rung, der auch Hyrkan nicht fern stand; außer Malichus und
seinem Bruder, der in der Feste Masäda kommandirte, war ein
gewisser Helix, ebenfalls ein Offizier, der Hauptbeteiligte ^). Es
gelang freilich den Söhnen Autipaters, durch List und Gewalt dieser
und anderer Gefahren, die nach dem Tode ihres Vaters sich er-
hoben, Herr zu werden. Als aber die Schlacht von Philippi gegen
Cassius entschieden hatte (Herbst 42), erschien ihre Stellung doch
sehr erschüttert. Hu'e vornehmen Gegner von der legitimen Re-
gierung in Jerusalem erhoben ihr Haupt und gedachten die Lage
auszubeuten. Während Antonius langsam über Kleinasien und
Syrien nach Ägypten ging (41), ordneten sie dreimal eine Gesandt-
schaft an ihn ab, um die Brüder zu verklagen und sich selbst in
vorteilhaftem Lichte darzustellen. Indessen Antonius wußte wol,
was er von ihrer Zudriuglichkeit und von der Parteinahme der
Antipatriden für Cassius zu halten hatte, er kannte von früher
her die Verhältnisse in Judäa. Je öfter und stärker die Depu-
tationen auf ihn eindrangen, um so entschiedener wies er sie ab,
und da sogar der feige Hyrkan pflichtschuldig sich zu gunsten der
beiden Brüder erklärte, so bestätigte er sie in ihrer Stellung und
ernannte sie zu Tetrarchen. Im allgemeinen zeigte er sich den
Juden freundlich, nach dem Vorbilde Cäsars und im Gegensatz zu
Cassius.
3. Als der eigentliche Nachfolger Antipaters trat schon damals
Herodes hervor; durch seine Verlobung mit Mariamme, der Tochter
Alexanders und Enkelin Hyrkans, trat er in verwandschaftliche
Beziehungen zu beiden hasmonäischen Linien. Cassius soll ihm
bereits das Versprechen gegeben haben, ihn zum Könige zumachen'*);
ehe er aber dies Ziel erreichte, hatte er noch eine schwere Probe-
zeit zu bestehn. Schon in den Wirren, die nach dem Abzüge des
Cassius in Syrien ausbrachen, hatte Antigonus Aristobuli mit Hilfe
^) Malichus war sclion mit Pitholaiis au der ersten Erhebung Alexanders
gegen Gabinius beteiligt gewesen (Ant. 14, 84). Er war ein Araber, wie aus
dem Namen erhellt und durch Ant. 14, 277 bestätigt wird. Über seinen Bruder,
dessen Name nicht angegeben wird, und über Helix s. Bell. 1, 236 s. Ant. 14,
294. 296. Daß Hyrkan mit ihnen unter einer Decke spielte, ergibt sich aus
Bell. 1,229. 233ss. Ant. 14,277. 281. 292s.; die Vorwürfe Phasaels gegen
ihn (Bell. 1, 237. Ant. 14,295) waren berechtigt.
2) Ant. 14, 280. Der Essäer Manaem soll dem Herodes schon als Knaben
geweissagt haben, daß er König werden würde (15, 373ss.).
Wellhauseu, Isr. Geschichtü. 5. Aull. 21
322 Zwanzigstes Kapitel.
des alten Ptolemäus Mennäi, seines Schwagers, und des tyrischen
Tyrannen Marion einen Aufstand in Galiläa erregt, der indessen
nur den Erfolg hatte, daß Marion einige jüdische Ortschaften an
sich riß, die er erst auf Befehl des Antonius wieder herausgab.
])a brachen im Jahre 40 die Parther unter Pacorus, dem Sohne
und Mitregenten des Arsaciden Orodes, in Syrien ein und eroberten
es im Fluge, da die Legionen größtenteils zu ihnen übergingen.
Die Juden begrüßten sie als Befreier und warteten ihre Ankunft
nicht ab, um sich überall gegen die Römer und ihre Kreaturen zu
erheben. Antigonus brauchte sich nur zu zeigen, so wuchsen ihm
die Anhänger aus dem Boden. Es gelang ihm in Jerusalem -ein-
zudringen und die Tempelfeste zu besetzen. Hyrkan und die Anti-
patriden behaupteten zwar die Königsburg in der Oberstadt, aber
das Erscheinen einer Schar von 500 parthischen Reitern genügte
iliren Mut zu brechen; sie verleugneten auch in diesem Falle nicht
den Respekt vor der Macht, die im Augenblick die Gewalt hatte.
Hyrkan und Phasael begaben sich zu Barzaphranes, dem parthi-
schen Befelilshaber in Palästina, um zu unterhandeln, bekamen
aber bald zu merken, daß Antigonus mit den Parthern im Ein-
vernehmen stand und sie auf seiner Seite hatte. Sie wurden in
Ekdippon festgenommen, Phasael zerschmetterte sich den Kopf an
einer Steinmauer, Hyrkan wurde nach Babylonien geführt. Auf
die Nachricht von ihrer Gefangennahme floh Herodes aus Jerusalem,
es gelang ihm die Verfolger abzuschlagen und seine Familie in die
Burg Masada zu schatten, deren Hut er seinem Bruder Joseph
übertrug. Nachdem er so die Seinen in Sicherheit gebracht hatte,
ging er selber nach Alexandria zu Antonius, und da er ihn dort
nicht mehr fand, folgte er ihm nach Rom.
So war nun Antigonus Matthathia König und Hoherpriester
der Juden. Er hatte nicht nur das Volk des Landes, sondern auch
den jerusalemischen Adel, die Majorität des Synedriums, auf seiner
Seite. Freilich hätte sich die Nation keinen schlechteren Vertreter
ihrer Sache aussuchen können. Er biß seinem gefangenen Oheim
Hyrkan mit eigenen Zähnen die Ohren ab, um ihn für sein heiliges
Amt untauglich zu machen '). Man traute ihm zu, er habe den
l^arthern für ihre Unterstützung nicht bloß tausend Talente zuge-
sagt, sondern auch fünfhundert Frauen, lieferbar aus den Familien
') Bell. 1,270; gemildert Aut. 14,36G.
Die Zeit Hyrkans II. 323
seiner Feinde, und sei darum schwer betroffen gewesen, als Hero-
des das große Ingesind von seines Vaters Haus glücklich vor ihm
barg; auf diese Weise erklärte man sich, daß er die Belagerung
von Masada so andauernd und hartnäckig betrieb. Seine Person
konnte keine Begeisterung erw'ecken. Wenn er sich dennoch drei
Jahre lang unter schwierigen Umständen hielt, so beweist das nur,
wie grimmig die Feindschaft gegen die Römer und gegen ihren
Schützling bei den Juden w^ar.
In Rom erreichte Herodes durch Antonius, daß der Senat ihm
die Königswürde verlieh: schon nach sieben Tagen konnte er wieder
abfahren (Ende 40). Der syrische Statthalter Ventidius hatte in-
zwischen die Parther vertrieben, den Antigonus aber gegen eine
Geldzahlung in Ruhe gelassen. Jetzt mußte er auf höhere An-
weisung dem neuernannten Könige sein Reich erobern helfen.
Derselbe landete in Ptolemais und sammelte seine Kräfte in Gali-
läa, wo er am besten gehaßt, aber auch am besten bekannt war.
An Geld fehlte es ihm nicht, er war immer bei Kasse^ und so
brachte er binnen kurzem ein Heer auf die Beine. Damit brach
er in Judäa ein, wo die dort statiouirten römischen Truppen unter
Silo zu ihm stießen, eroberte Jope und entsetzte Masada; die be-
freiten Weiber und Kinder brachte er nach der ihm befreundeten
und treu ergebenen Stadt Samarien '). Ende 39 konnte er zur Be-
lagerung Jerusalems schreiten; durch Besetzung von Jericho und
den benachbarten Kastellen sicherte er sich die Zufuhr von Sama-
rien her. Aber Silo ließ ihn im Stich und führte aller Vorstel-
lungen ungeachtet seine Soldaten in die Winterquartiere. Er war
von Antigonus bestochen; er gestattete sogar, daß dieser, um sich
bei Antonius zu empfehlen, zur Verpflegung der Legionen beitrug.
Herodes mußte nach Galiläa zurückgehn. Er besetzte bei dichtem
Schneegestöber die Hauptstadt Sepphoris und lieferte den Patrioten
ein Trelfen in der Nähe ihrer Höhlenfestung Arbela.
Im Frühsommer 38 hatte Ventidius noch einmal mit den Par-
tliern zu tun. Nachdem er sie gründlich abgewiesen hatte, bela-
gerte er ihren Bundesgenossen Antiochus von Commagene, den er
das Jahr zuvor mit einer Geldstrafe hatte abkommen lassen, in
Samosäta. Da löste ihn Antonius ab, der selber die Ehre haben
') Pompeius hatte Samarieu den Judeu genommen, Cäsar es uiclit wieder
zurückgegeben. Die Henscliaft über Samarieu bekam Herodes erst durch
Augustus (Aut. 15, 217).
21*
324 Zwanzigstes Kapitel. Die Zeit Hyrkans II.
wollte, die Stadt einzunehmen. Herodes hatte indessen zwar das
unbezwingliche Arbela bezwungen, konnte aber gegen Antigonus
nichts ausrichten. Bei Machäras, dem Nachfolger Silos im Kom-
mando über die römischen Truppen in Judäa, fand er nur sehr
ungenügende Unterstützung. Er wußte sich keinen anderen Hat,
er begab sich nach Samosata und ging noch einmal Antonius an.
Mit festen Zusagen kehrte er zurück, in Antiochia stieß eine
Legion zu ihm, bald darauf noch eine zweite. Während seiner
Abwesenheit hatten in Galiläa die Patrioten sich wieder gerührt
und viele seiner Anhänger in den See geworfen; in Judäa war
sein Bruder Joseph bei Jericho überfallen und getötet. Es gelang
ihm dort Ruhe zu schaffen und hier die Truppen des Antigonus
zurückzudrängen, freilich erst nach schweren erbitterten Kämpfen.
Darüber ward es Winter.
Sobald die Jahreszeit aufging (37), machte er sich an die Be-
lagerung Jerusalems. Als er die Vorarbeiten in Gang gebracht
hatte, verließ er das Lager, um in Samarien die Hochzeit mit
Mariamme zu feiern: sollte die Heirat mit der hasmonäischen
Königstochter in diesem Augenblick ein Vorgeschmack des Triumphes
sein, ein Vorspiel zur Besitzergreifung des hasmonäischen Erbes?
Nach kurzem Aufenthalt kam er wieder, und nun traf auch Sosius,
der neue Statthalter von Syrien, mit allen seinen Legionen ein.
Die Jerusalemer hatten früher sowol dem Aretas als dem Pompeius
die Tore geöffnet, so daß die Belagerung sich nur gegen den Tempel
zu richten brauchte. Jetzt waren sie durch starken Zulauf aus
der Landschaft verstärkt und zeigten sich fanatisirt. Sie führten
die Heiligkeit des Tempels und des Volkes im Munde, als sei ihnen
dadurch die Rettung aus der Gefahr verbürgt '). Nur die Pharisäer
ließen sich von der herrschenden Stimmung nicht fortreißen. Ihre
Häupter rieten zur Übergabe der Stadt, fanden damit freilich kein
Gehör, so wenig wie einst Jeremias in ähnlicher Lage. Li Wahr-
heit war es weniger der Glaube, als der Haß, der die Juden in-
spirirte und sie verblendete über den augenscheinlichen Wahnsinn
des Widerstandes gegen die Übermacht. Etwa zwei Monate nach
dem Beginn der Beschießung erfolgte und gelang der Sturm').
1) Ant. 14, 480.
2) Aut. 14, 476. Die Belagerung dauerte nach Ant. 14, 487 drei, nach
Bellum 1, 351 fünf Monate. Vgl. oben p. 294 n. 1.
Einiindzwauzigstes Kapitel. König Herodes. 325
Herodes machte verzweifelte Austreuguiigen, dem Rauhen und
Würgen seiner Bundesgenossen in der eroberten Stadt, die nunmehr
seine Hauptstadt war, Einhalt zu tun; er hielt sie aus eigenen
Mitteln schadlos für das, was ihnen an Beute entging. Seine größte
Sorge war, daß die Heiden nicht das eigentliche Heiligtum betraten.
Durch das Beispiel des Pompeius darüber belehrt, daß der Frevel
gegen Menschen verzeihlich, der gegen Gott unverzeihlich war, hielt
er den Sieg für schlimmer als eine Niederlage, wenn etwas von
dem, was zu schauen verboten war, von ihnen besichtigt würde.
Antigonus kam zitternd aus seinem Verließ hervor und warf
sich dem lachenden Legaten zu Füßen. Er wurde in Gewahrsam
genommen, Antonius wollte ihn beim Triumph in Rom verwenden.
Aber Herodes ließ seinem Gönner keine Ruhe, bis das Haupt des
letzten hasmonäischen Königs zu Antiochia unter dem Beil des
römischen Henkers gefallen war. Nur in Hyrkania hielt sich eine
Schwester des Antigonus bis über die Schlacht von Actium hinaus ').
Einunclz wanzigstes Kapitel.
König Herodes.
1. Ehedem hatte Herodes, wie sein Vater, im Namen Hyrkans
regiert. Jetzt war er nicht bloß König, sondern hieß auch so^).
Aber mit dem Schein der hasmonäischen Herrschaft hatte er auch
den Schein des Rechtes abgestreift. Hoherpriester konnte er nicht
werden, die Stellung an der Spitze der einheimischen Theokratie
mußte er anderen überlassen. Er herrschte als Tyrann. Auf gut
römisch begann er mit Proskriptionen. Wie Pompeius nach der
Einnahme Jerusalems die Häupter der Rebelleu hingerichtet hatte,
so richtete er nun auch fünfundvierzig der vornehmsten Einwohner
hin. Es waren seine alten Feinde, Mitglieder dei- Aristokratie
und der früheren Regierung. Auf diese AVeise reinigte er das
Synedrium ^).
0 Bell. 1, 364 vgl. Äut. 17, 92.
*) Er regierte vierunddreißig Jahre, von '61 bis 4 vor Chr. (Ant. 17, Uli.
Bell. 1, 665). Josephus erzählt selbst über Herodes, über den er doch so aus-
führlich ist, nicht chronologisch.
2) Bell. 1,358. Ant. 15, 6. Josephus sagt nicht ausdrücklich, daß das
326 Einundzwanzigstes Kapitel.
Die größte Gefahr drohte ihm aber von Seiten der Hasmonäer,
an denen das Volk noch immer, und jetzt erst recht, mit Liebe
und Verehrung hing. Er war mit ihnen verschwägert und tat als
ob er zur Familie gehöre; den alten Hyrkan ließ er aus Baby-
lonien kommen und ehrte ihn wie seinen Vater. Die Tatsache
ließ sich indessen nicht aus der Welt schaffen, daß er die Dynastie
gestürzt hatte. Von ihren männlichen Vertretern waren nur noch
zwei übrig, Hyrkan und sein Enkel Aristobulus Alexandri'). Aber
ein Weib nahm die Rache in die Hand, des Königs eigene Schwie-
germutter Alexandra. Hire Waffe war ihr Sohn, der eben genannte
Aristobul. Da Hyrkan seiner Verstümmelung wegen nicht mehr
Hoherpriester sein konnte, so mußte Aristobul von Gottes und
Rechts wegen es werden; aber sein Schwager enthielt ihm das
heilige Amt vor, vielleicht unter dem Vorwand, daß er zu jung
sei. Darüber führte die Mutter Klage bei der ägyptischen Zauberin '),
von der Antonius bestrickt war (Ende 36). Kleopatra hoffte die
alten Ansprüche ihres Hauses auf Cölesyrien durchzusetzen, Hero-
des stand ihr dabei im Wege und sie nahm Partei gegen ihn. Er
erkannte die Gefahr, und um der Intrigue den Grund abzuschnei-
den, entschloß er sich jetzt, Aristobul zum Hohenpriester zu machen.
Dadurch behielt er ihn zugleich in seiner Hand und verhinderte
die Absicht, ihn nach Alexandria zu bringen. Denn ein Hoher-
priester durfte wie es scheint nicht außer Landes gehn^).
Alexandra gab sich damit nicht zufrieden. Obwol sie im
königlichen Palast wohnen mußte und dort scharf beobachtet wurde,
blieb sie doch in Verbindung mit Kleopatra. Auf deren Rat faßte
sie den Plan, mit ihrem Sohne heimlich nach Alexandria zu ent-
fliehen; sie wollten sich nachts in Särgen aus Jerusalem hinaus-
tragen lassen. Jedoch der Anschlag wurde verraten. Die Besorgnis
Syiiedrium durch die Hinrichtungeu gesäubert wurde, aber es versteht sich
von selbst. Darin haben die jüdischen Gelehrten recht, aber mit Unrecht
meinen sie, daß das Synedrium aus Schriftgelehrten bestanden habe, und daß
diese vorzugsweise von den Proskriptionen betroffen seien. Die Häupter der
Schriftgelehrten hatten zur Übergabe der Stadt geraten, und Herodes ver-
galt ihnen das nicht mit Undank (Ant. 15,3).
^) Sein hebräischer Name war Jonathan (Bell. 1, 437 Niese).
-) Die Angabe Ant. 15, 27 wird durch Bell. 1, 439 sehr zweifelhaft. Man
sieht nur, welche Scheußlichkeiten man der Alexandra zutraute.
3) Ant. 15,31.
König Herodes. 327
und die Eifersucht des Königs nahm noch zu, als der junge schöne
Hohepriester, der Erbe der Hasmonäer, bei seinem ersten feierlichen
Auftreten am Laubhüttenfest 35 von der Menge mit lautem Jubel
begrüßt wurde. Bald darauf gab Alexandra ein Fest in Jericho.
Nach dem Mahle wurde im Garten allerhand Kurzweil getrieben
und zum Schluß gebadet. Bei dieser Gelegenheit spielten die Kame-
raden so lange untertauchen mit Aristobul, bis er erstickt war.
Der Schwager zeigte sich sehr betrübt und veranstaltete eine große
Trauer. Aber die Mutter ließ sich nicht täuschen. Sie teilte Kleo-
patra den Sachverhalt mit, und diese setzte es durch, daß Antonius
im Frühling 34, als er auf dem Marsch nach Armenien im dem
syrischen Laodicea sich aufhielt, den Mörder vor sich forderte.. Die
Lage war ernst, Herodes bestellte sein Haus, ehe er ging. Er über-
gab die Regierung und die Aufsicht über den Palast dem Statt-
halter von Idumäa, seinem Oheim Joseph, der zugleich der Mann
seiner Schwester Salome war. Während seiner Abwesenheit ver-
breitete sich in Jerusalem das Gerücht, er sei hingerichtet. Dar-
auf hin traf Alexandra Vorbereitungen, mit Mariamme zu den
Feldzeichen einer römischen Legion zu fliehen, welche damals in
der Nähe von Jerusalem lagerte. Aber das Gerücht erwies sich
als falsch. Der Regent Joseph mußte es mit dem Tode büßen,
daß er, wahrscheinlich ganz arglos, ihr Vorschub geleistet hatte
bei dem Plane, sich und die Ihrigen der Gewalt des Königs zu
entziehen '). Sie selbst war durch Kleopatra geschützt.
Wider Erwarten wurde Herodes in Laodicea freigesprochen,
Antonius mochte ihn nicht opfern. Ohne Schaden kam er freilich
nicht davon. Kleopatra bekam nicht nur die Paralia und die
') Salome soll sich zweimal ihres Gatten (Josephs und Kostobars) durch
Verrat entledigt haben; und zweimal soll sich der von Herodes bestellte Vize-
regent (Joseph und Sohaem) in Mariamme verliebt haben. Mit Kecht nimmt
Destinon (Die Quellen des Josephus 1882 p, 113) Anstoß an dem gleichmäßigen
Verlauf der Vorgänge, welche sich nach den Antiquitäten (15, 65 ss. 80ss. und
15,185s. 202ss.) an die Reisen des Königs zu Antonius und zu Augustus
knüpfen. Im Bellum fehlt der zweite Bericht gänzlich. Daß indessen Mariam-
me (die dem Herodes fünf Kinder gebar) nicht schon im Jahre 34 getötet
ist, steht fest; darin haben die Antiquitäten gegen Bell. 1, 441 ss. recht. Be-
achtenswert scheint, daß Aut. 15, 185 die Namen Josepos und Soaimos neben-
einander stehn; vielleicht ist irgend eine Verwechslung zwischen dem Ta[j.ta;
und dem 8e!os vorgefallen.
328 Eiuuudz wanzigstes Kapitel.
Herrschaft des Lysanias nebst angrenzenden nabatäischen Gebieten
geschenkt, sondern auch die reiche Landschaft von Jericho, mit
den Palm- mid BalsampÜanzungen, mit dem Salz- und Asphalt-
regal. Herodes mußte ihr dieselbe für teures Geld abpachten.
Daneben hatte er auch noch einzustehn für den Tribut, welcher
dem Nabatäer Malichus für die ihm genommenen und dann doch
wieder belassenen Gebiete auferlegt war. Dadurch wurde er in
ein sehr misliches Verhältnis zu dem nichts weniger als zahlungs-
bereiten Nachbarn gebracht. Er war im Begriff, Gewalt gegen ihn
zu gebrauchen, als der große Krieg zwischen Antonius und Octavian
ausbrach (32). Da wollte er nicht zurückbleiben, sondern an dem
Entscheidungskampf teilnehmen. Indessen Kleopatra hatte ein In-
teresse, ihn fern zu halten; auf ihr Betreiben wurde er angewiesen,
ruhig seinen Zug gegen Malichus auszuführen. Sie dachte, die
beiden Löwen, die in Cölesyrien noch übrig waren, sollten sich
gegenseitig aufzehren. Sie unterstützte daher die Araber, als
Herodes zu rasch mit ihnen fertig zu werden schien. Das hinderte
freilich nicht, daß er sie am Ende doch vollständig besiegte. Sie
erkannten sogar seine Oberherrschaft an. Das heißt, sie verstanden
sich zur Zahlung des strittigen Tributs, und zwar für die Gegend,
für die überhaupt Tribut zu zahlen war, nämlich für den Norden
ihres Gebiets, wo sie an Peräa, an Damaskus und an die iturä-
ische Herrschaft grenzten. In dieser Gegend wurde auch der Krieg
geführt (31).
Kleopatra zweifelte nicht daran, daß Antonius Sieger bleiben
würde. Es kam aber anders, und sie hatte durch ihre Politik
gegen Herodes nur erreicht, daß derselbe nicht unmittelbar in die
große Niederlage seines Herrn und Meisters verwickelt wurde und
um so leichter nun den durch die Umstände gebotenen Partei-
wechsel vornehmen konnte. Wie einst Antipater fand auch er
alsbald Gelegenheit, dem neuen Machthaber sich gefällig zu er-
weisen, indem er eine Gladiatorenschar des Antonius abfangen half,
welche von Cyzicus nach Ägypten sich durchzuschlagen suchte. Im
Frühling 30 machte er sich auf den Weg zu Octavian nach Rhodus.
Vorher aber traf er auch jetzt wieder Maßregeln für den schlimm-
sten Fall. Die Regentschaft übertrug er seinem Bruder Pheroras.
Seine Frau und seine Schwiegermutter schaffte er nach Alexan-
driiim und gab dem Befehlshaber der Burg, dem Ituräer Sohae-
mus, geheimen Auftrag, beide zu töten, wenn er nicht lebend zu-
König Herodes. 329
rüekkäme. Hyrkan ließ er hinrichten, wie es scheint nach ein-
geholtem Spruch des Syneciriums '). Der alte Mann war zwar selber
nicht gefährlich"), doch konnte er noch immer seiner unruhigen
Tochter zur Fahne dienen. Übrigens war er niclit unschuldig an
dem Morde Antipaters, und vielleicht auch deshalb wollte He-
rodes sein graues Haar nicht in Frieden zur Grube fahren
lassen^).
Octavian war so billig, die Gegnerschaft des Vasallen gegen
seine Person nach der Lage der Dinge zu verzeihen und seine Treue
gegen Rom anzuerkennen. Herodes bekam das Diadem zurück,
das er als verwirkt abgelegt hatte. Durch die umsichtige Energie,
mit der er das römische Heer auf dem Marsch nach Pelusium ver-
sorgte, befestigte er sich in der Gunst des neuen Herrschers. Als
er nach dem Tode des Antonius und der Kleopatra sich zu ihm
begab, um ihm Glück zu wünschen, erhielt er nicht nur Jericho
zurück, sondern dazu auch noch die meisten Städte der Paralia,
nebst Samarien Gadara und Hippus. Die gefürchtete Katastrophe
brachte ihm den größten Gewinn. Von Kleopatra wurde er be-
freit, mit Octavian für Antonius machte er einen guten Tausch.
Die Ruhe, die nach zwanzigjährigem Bürgerkriege endlich im römi-
schen Reiche eintrat, behütete seine Herrschaft vor ferneren Krisen.
In sein Haus drang der Sonnenstrahl nicht. Als er vergnügt
von Rhodus heimkam, ließ Mariamme ihn deutlich merken, daß
sie sich nicht darüber freute. Er liebte sie leidenschaftlich; er
hatte ihretwegen seine erste Frau nebst ihrem Sohne verstoßen,
und so lange sie lebte, gab er ihr keine Nebenbuhlerin. Ihre
Kinder nannte er nicht Antipater und Phasael, sondern Alexander
und Aristobul. Er hatte zwar ihren Bruder und ihren Großvater
') Ant. 15, 173: oet^a; toj auvsoptw. Wenig angebracht ist hier die Pole-
mik J. Derenbourgs gegen Graetz (Essai sur l'histoire de la Palestine 1867
p. 150 n. 2). Derenbourg will nichts auf die Schriftgelehrten kommen lassen,
die er mit dem Synedrium identifizirt.
^) Nach Ant. 15, 178 war er über achtzig Jahre alt. Da indessen Jannäus
und Salma erst 103 geheiratet haben, so kann Hyrkan nicht vor 102 geboren
sein. Er stand also im Jahr 31 höchstens im zweiundsiebzigsten Jahre.
^) Vgl. p. 321 u. 1. Merkwürdig trifft es sich, daß als Anlaß, weshalb
Herodes ihn hinrichten ließ, seine Konspiration mit Malchus angegeben wird,
freilich nicht mit dem, der den Antipater ermordet hatte, sondern mit dem
gleichnamigen Nabatäerkönige.
330 EinundzwanzijTS tes Kapitel.
umgebracht, aber das war doch mit in ihrem Interesse, wenigstens
im Interesse iiirer Erben geschehen, und die Staatsräson des Ver-
wandtenmordes hatte auch bei den Hasmonäern gegolten. Vor
allem, wenn darauf ihre Abneigung gegen ihn beruhte, warum
hatte sie sie nicht früher gezeigt und warum jetzt so ofl'en? Der
Umschlag ihres Benehmens befremdete und beunruhigte ihn. Diese
Stimmung benutzte seine Schwester Salome, um sich an der Ilas-
monäerin zu rächen, durch deren Stolz sie sich tief gekränkt fühlte.
Sie stiftete den Mundschenken des Königs an, auszusagen, er habe
von Mariamme einen Liebestrank für ihn erhalten, dessen Zusam-
mensetzung ihm zweifelhaft sei. Ein Eunuch, peinlich befragt,
wußte nichts von der Sache, gestand aber, sie hasse ihren Gemahl
wegen des Befehls, den er Sohaemus gegeben habe. Jetzt wußte
Ilerodes Bescheid. Aber von rasender Eifersucht geleitet, nahmen
seine Gedanken eine sonderbare Wendung. Er sah in der Indis-
kretion des Sohaemus einen sicheren Beweis dafür, daß er allzu
vertraulichen Umgang mit der Königin gepflegt haben müsse. Ihn
ließ er auf der Stelle töten, sie stellte er vor ein Gericht seiner
Freunde, die sie verurteilten. Als sie zum Tode geführt wurde,
lief ihre Mutter schimpfend hinter ihr her, in der Hoffnung, auf
diese Weise Verdacht und Gefahr von sich abzuwenden und lin-
der Rache geweihtes Leben zu sparen. Sie schwieg mitleidig;
ohne die Farbe zu verändern, ging sie ruhig ihren letzten Gang
(Ende 29).
Der König war ohne Zweifel von der Schuld seiner Gemahlin
überzeugt '). Gewissensbisse über ihre Hinrichtung scheint er nie-
mals empfunden zu haben, er glaubte getan zu haben, was er tun
mußte. Aber die Leidenschaft brach wieder bei ihm aus in Ge-
stalt der schmerzlichsten Sehnsucht nach der Gemordeten. Es
hat lange gedauert, bis er sich durch andere Frauen tröstete. Ver-
geblich suchte er sich fern von Jerusalem durch Jagen und Trinken
zu zerstreuen. Die Erschütterung warf ihn schließlich zu Boden,
er erkrankte in Samarien und man gab ihn auf. Da machte die
Schwiegermutter ihn wieder lebendig. Sie suchte sich in Besitz
der beiden Zitadellen von Jerusalem zu setzen, angeblich um für
den Fall seines Todes seinen Söhnen die Herrschaft zu wahren.
^) Auch Nikolaus Dam. glaubte au den Ehebruch der Mariamme (Ant.
16, 185).
König Herodes. 331
Indessen die Kommandanten, an die sie sich wendete, erstatteten
dem Könige Bericht, und nun erteilte er Befehl, sie hinzurichten.
Es ist ein Rätsel, warum er auf diesen Anlaß gewartet hat. Um
ihn hatte sie den Tod längst viele Male verdient. Im übrigen war
ihr Haß gegen ihn so berechtigt, wie ein Haß überhaupt nur sein
kann, und die Wahl der Mittel um ihn zu befriedigen findet in
der Ohnmacht des Weibes ihre Entschuldigung.
Von dem hasmonäischen Hause waren nun bloß noch Seiten-
verwandte übrig, die Sabbasöhne ^). Sie hatten zu den Anhängern
des Antigonus gehört, waren aber bei der Eroberung Jerusalems
entkommen und seitdem nicht aufzuspüren. Jetzt wurde ihr Auf-
enthalt durch Salome verraten. Diese hatte nach der Hinrichtung
Josephs den Nachfolger desselben in der Statthalterschaft von Idu-
mäa zum Manne bekommen, Kostobarus aus dem Geschlecht der
Priester des Koze. Mittlerweile war sie seiner überdrüssig ge-
worden, sie verließ ihn und klagte ihn bei ihrem Bruder an, daß
er den Plan noch immer nicht aufgegeben habe, den er schon
früher einmal mit Hilfe Kleopatras auszuführen getrachtet hatte,
nämlich Idumäa unabhängig zu machen. Als Beweis seiner hoch-
verräterischen Gesinnung gab sie an, daß er die Sabbasöhne bei
sich versteckt halte. Darauf wurden sowol Kostobarus mit eini-
gen Complicen als auch die Sabbasöhne ergriffen und hinge-
richtet ■).
2. Mit der Überwindung solcher Schwierigkeiten verbrachte
Herodes die ersten zwölf Jahre seiner Herrschaft. Dann hatte er
das Feld frei, um anderweit seine Leistungsfähigkeit zu zeigen.
Einer seiner wichtigsten Erfolge war die Bändigung der wilden
Araber, die zwische Nabatäern und Ituräern in der Mitte wohnten,
und ihre feste Burg in dem Felsenlabyrinth der Trachonitis hatten').
1) Sabba hat Mese hergestellt. GeAvöhnlich sagt man Babasöhne.
-) Ant. 15, 256ss. Der Name Kostobar (20,214) scheint aus Kos-ta-
bar entstanden zu sein. Nach Ant. 15, 2ßO fiel die Hinrichtung der Sabba-
söhne ins Jahr 25.
^) Der arabische Name der Trachonitis ist Lägaat = Lägä, die Zu-
fluchtsstätte. Nach Agh. 4 76, 15 waren die unter den Taiji wohnenden
Banu Laga ein Rest von Thamud, d. h. vielleicht von den alten Arabern
der Trachonitis. Von der örjptiuSrj; xaxofaTaot; derselben redet das Edikt
Agrippas II. bei Le Bas und Waddington, Voyage Archeol,, Syrie no. 2329;
vgl. lob. 30.
332 Einundzwanzigstes Kapitel.
Sie scheinen durch die Erschütterung des ituräischen Reiches aus
Rand und Rand geraten zu sein. Antonius hatte Lysanias von
Chalcis hingerichtet und seine Herrschaft der Kleopatra verliehen;
sie hatte dieselbe an einen Verwandten des Lysanias verpachtet,
Zenodorus, der später von Augustus als Vierfiirst und Hoherpriester^)
bestätigt wurde. Zenodorus nun spielte mit den Räubern in der
Trachonitis unter einer Decke, vielleicht weil ihm die Macht fehlte,
sie zu beaufsichtigen. Sie wurden eine Landplage für die Nach-
barschaft und störten den Verkehr mit Damaskus und dem Osten ^),
Um hier Wandel zu schaffen, übertrug Augustus nicht bloß die
Trachonitis, sondern auch Batanäa und Auranitis dem Herodes (23).
Seine Wahl hätte auf keinen Besseren fallen können. Herodes
hatte das nächste Interesse daran, Ordnung an seinen Grenzen zu
stiften, er hatte auch das größte Geschick zu solchen Aufgaben
mehrfach bewiesen. Er war selber halb arabischen Blutes und
verstand sich auf die Araber. Es war freilich nicht leicht, die
räuberischen Nomaden zu einer anderen Lebensweise überzuführen,
und die Schwierigkeit wurde noch dadurch erhöht, daß auf der
einen Seite die Ituräer, auf der andern die Nabatäer dem jüdischen
Könige den Machtzuwachs in dieser Sphäre nicht gönnten, die sie
mit einigem Recht als die ihrige ansehen konnten. Zenodorus
klagte gegen ihn in Rom; Obädas wollte den Hauran nicht auf-
geben, der ihm erst jüngst für fünfzig Talente von Zenodorus ab-
getreten war. Auch die Stadt Gadara benutzte die Gelegenheit,
um gegen ihren Herrn zu protestiren. Es half jedoch alles nichts.
Augustus, der im Jahr 20 nach Syrien kam, stellte sich mit Ent-
schiedenheit auf Seite des Herodes, und da Zenodorus eben damals
starb, verlieh er ihm auch noch dessen Tetrarchie, die sich südlich
bis zum galiläischen Meer erstreckte').
Acht Jahre später veranlaßte die Reise des Königs nach Rom
einen Aufstand in der Trachonitis (12). Derselbe wurde zwar
') Die Verbindung von Priestertuin und Fürstentum ist häutig bei den
Arabern. Sie ündet sich auch bei Kostobarus, bei Odaenathus von Palmyra,
und bei den Dynasten von Emesa.
2) Ant. 17, 26.
3) Ein Teil der Herrschaft des Zenodorus scheint allerdings abgezweigt
und auf eine Seitenlinie gekommen zu sein, welcher Lysanias von Abilene
und dessen Nachfolger, Sohaemus nnd Noarus, angehörten. Wie weit sich
das ostjordanische Gebiet des Herodes erstreckte, wie es gegen das Reich der
König TIerodes. 333
niedergeschlagen, erhielt aber ein gefährliches Nachspiel dadurch,
daß einige Eädelsführer sich in das nabatäische Reich retteten.
Dort war damals der Statthalter Sylläus allmächtig, dem Herodes
die Hand seiner heiratslustigen Schwester versagt hatte, da er nicht
zum Judentum übertreten wollte^). Er räumte den Flüchtigen den
festen Platz Raepta ein. Von da machten sie Einfälle in das jüdi-
sche Gebiet; ihre Zahl, anfangs klein, stieg allmählich auf etwa
tausend. Herodes verlangte nun von dem Nabatäer, er solle sie
ausliefern und sechzig Talente zahlen, die er ihm, wie es scheint
als Pacht für Weideland, schuldig war"). Durch Vermittlung der
römischen Provinzialbehörde kam zu Berytus ein Vertrag zu stände,
wonach Sylläus tatsächlich diese Forderung zu erfüllen versprach.
Er ließ indessen die bestimmte Frist verstreichen ohne etwas zu
leisten und begab sich statt dessen nach Rom. Da verschaffte
Herodes, nach Rücksprache mit dem syrischen Legaten, sich selber
Recht. Er zerstörte das Raubnest und trieb einen Haufen Nabatäer,
der sich ihm entgegenstellte, zu paaren. Dieser angebliche Land-
friedensbruch war dem Sylläus, der in Rom davon erfuhr, ein
willkommener Vorwaud, um Lärm zu schlagen. Augustus ließ sich
von ihm täuschen und gab dem Herodes seinen Unwillen in schroffer
Weise zu erkennen. Die kaiserliche Ungnade erschütterte die Au-
torität des Judenkönigs derart, daß sofort allgemeine Anarchie im
Ostjordanlande entstand. Von den Nabatäern begünstigt, erhoben
sich die Araber daselbst und vertrieben die Besatzungen. Herodes
wagte nicht einzugreifen. Mit Mühe gelang es ihm endlich, sich
bei Augustus Gehör zu schaffen. Nikolaus von Damaskus deckte
in Rom (A. 8) den wahren Sachverhalt auf, unterstützt von einer
Gesandtschaft des neuen nabatäischen Königs Aretas, der sich der
Herrschaft des Sylläus zu entziehen strebte. Herodes wurde reha-
bilitirt und konnte die gestörte Arbeit in der Nordostmark seines
Reiches wieder aufnehmen. Er hatte schon früher an verschiedenen
Stellen derselben dreitausend Idumäer in Garnison gelegt. Jetzt
siedelte er dort babylonische Juden an, die von den Parthern das
Nabatäer abgegrenzt war, ob die Griechenstädte (nicht bloß Gadara) darin ein-
begriffen waren, läßt sich kaum bestimmen. Die Greuzfragen sind auf diesem
Boden die allerschwierigsten, weil es keine geschlossenen Länder gibt, sondern
immer nur kraus durch einander gehende Parzellen.
0 Ant. IG, 255. 322. 17, 10.
••*) Auf. IG, 279. 291. 343.
334 Einundzwanzigstes Kapitel.
Pfeilschießen zu Pferde gelernt hatten. Es waren ursprünglich nur
einige hundert Mann, sie vermehrten sich jedoch bald durch wei-
teren Zuzug. Zum Entgelt für den Kriegsdienst, zu dem sie sämt-
lich verpflichtet waren, hatten sie Steuerfreiheit und selbständige
Verwaltung; letztere blieb ihnen auch nach dem Tode des Herodes
lange Zeit unangetastet. Ihr Oberhaupt in Krieg und Frieden war
Zamaris ').
Herodes' Nachfolger setzten sein Werk in dieser Gegend fort; eben
hier faßte seine Dynastie am festesten Fuß und hier hielt sie sich
am längsten. Er hat einen wesentlichen Beitrag geliefert zu der
Gründung und der Blüte der nachmaligen römischen Provinz
Arabien, die eine welthistorisch so bedeutungsvolle Doppelstellung
einnehmen und die eigentliche Pforte werden sollte, wodurch der
Westen in Arabien und Arabien in den Westen eindrangt). Vor
dem Tempel des Himmelsgottes Beelschemin zu Sia ließ er sich
eine Statue errichten.
Den größten Namen erwarb sich der König durch seine
Gründungen und Bauten. Darin wetteiferte er mit den mächtigsten
Herrschern, obwol sein Land nur klein war. Er begann mit dem
umbau der Stadt Samarien, für die er immer, noch ehe sie seinem
Gebiete einverleibt war, eine besondere Vorliebe hatte. Er nannte
sie Sebaste und baute dem Augustus einen Tempel darin; denn
die Bewohner waren heidnisch. Seine wichtigste Schöpfung war
die Stadt Cäsarea mit dem Hafen Sebastus an der Stelle des alten
Stratonsturmes, sie wurde das Hauptemporium und das Zentrum
der römischen Macht in Palästina. Die Vollendung der gewaltigen
Anlagen, die zehn Jahre in Anspruch genommen hatten, gab An-
laß (A. 10) zur Einrichtung von Festspielen zu Ehren des Kaisers,
die alle vier Jahre wiederholt wurden. Andere Ortschaften grün-
dete und nannte er zu Ehren seiner Verwandten oder seiner Freunde,
Antipatris, Phasaelis, Agrippium. Die Hauptstadt schmückte er
mit Palästen und Gärten, mit Theater Zirkus und Hippodrom; vor
') d. i. Zimri. Er vererbte sein Amt auf seine Nachkommen, wir finden
seinen Enkel Philippus als Tetrarch des Königs Agrippa II. (Bell. 4, 81 Niese).
'■') Auranitis, Batanäa und Trachonitis sind zwar erst unter Septimius
Severus, wenn nicht erst unter Diokletian, zur Arabia Provincia geschlagen.
Aber auf die politische Einteilung kommt es nicht an; dies war doch schon
früher der Boden, worauf die Durchdringung des arabischen mit dem griechisch
römischen Wesen sich vorzugsweise vollzot^.
König lierodes. 335
allem schuf er den Tempel zu einem Prachtbau um. Auch in
manchen syrischen Städten, die ihm nicht Untertan waren, stiftete
er Tempel, Bäder, Brunnen, Colonnaden; so in Askalon und Ptole-
mais, in Tyrus und Sidon, in Byblus Berytus und Tripolis, in
Damaskus und Antlochia. Bis über die Inseln des Meeres, bis nach
Athen Sparta und Olympia reichte seine Freigebigkeit. In der
als Denkmal des Sieges von Actium gegründeten Stadt Nikopolis
wurden die öffentlichen Gebäude großenteils auf seine Kosten auf-
geführt. Auf der Reise, die er im Jahre 14 zu Agrippa nach
Sinope unternahm, streute er überall, wo er angegangen wurde,
seine Woltaten aus.
Durch solche Aufwendungen genügte er den Ansprüchen der
Zeit auf Philanthropie im allgemeinen und auf Hellenenfreund-
schaft im besonderen. Er umgab sich auch mit hellenisch gebil-
deten Männern, benutzte sie in Geschäften und ließ seine Söhne
von ihnen erziehen. Der Polyhistor Nikolaus von Damaskus lebte
lange Jahre an seinem Hofe und leistete ihm als Gesandter und als
Wortführer mehrfach Avichtige Dienste. In diesem Kreise kokettirte
er wol mit seiner Vorliebe für griechische Gesellschaft und grie-
chisches Wesen, er nahm sogar Unterricht in Philosophie und
Rhetorik. Die Amter und die Kommandostellen vertraute er aber
erprobten einheimischen Dienern Verwandten und Freunden an ');
und Reiten Jagen und Schießen waren in Wahrheit die Künste,
die seinem Geschmack entsprachen. Die eigentliche Adresse seines
zivilisatorischen Strebens war der Kaiser; die Absicht sich ihm zu
empfehlen spielte überall ein und trat meist ganz offen hervor,
zum Beispiel bei den zahlreichen Augustustempeln, mit denen er
Syrien beglückte. Er pflegte das Verhältnis zu dem Patron mit
größter Beflissenheit und tat sich etwas zu gute auf seine Freund-
schaft mit ihm und mit Agrippa. Seine Söhne von Mariamme
schickte er in jugendlichem Alter nach Rom, wo sie bei Asinius
Pollio gastliche Aufnahme fanden. Den Höhepunkt seines Lebens,
') Der Kanzler Ptoleinäus ist nicht der Rlietor, der Bruder des Nikolaus.
Neben ihm wird Sapinnius genannt (Ant. IG, 257). Die Verwandten spielen
seit Antipater (dessen iduuiäisches Gefolge erwähnt wird) eine große Rolle;
unter Herodes tritt besonders Ahiab hervor. Die iduinäischen Vettern und
Schwäger nähren sich von der Regierung, bewähren sich aber nicht immer;
Kostobarus hat am Hofe zu Jerusalem seine Helfershelfer. Vgl. auch Ant.
17, 298.
336 Einuudzwauzigstes Kapitel.
den Gipfel seines Glücks bildete der Besuch, den Agrippa ihm im
Jahre 15 abstattete; als derselbe im Tempel zu Jerusalem gar eine
Hekatombe opferte, waren auch die Juden von der in der Tat
außerordentlichen Ehre, die ihrem Könige und ihrem Gotte angetan
Avurde, ganz berauscht '). Indessen war die Stellung des Herodes
als rex socius nicht gerade ausnahmsweise bevorzugt. Er durfte
nach außen hin keine selbständige Politik treiben, weder Bünd-
nisse schließen noch Kriege führen; als er bei der Verfolgung der
trachonischen Räuber diese Grenze zu überschreiten schien, wurde
ihm gleich sehr unsanft auf die Finger geklopft. In seinem eigenen
Bereich konnte er zwar schalten und walten wie er wollte, war
aber auch hier hinsichtlich des Münzrechts beschränkt, beschränkter
sogar als andere Könige gleiches Schlages^).
Die Untertanen mußten die Kosten tragen; die Steuern waren
hocli^). Die Juden fühlten sich indessen weniger durch die Höhe
der Steuern beschwert als durch die Art ihrer Verwendung. Das
Geld, welches sie aufbrachten, wurde zum besten der Heiden und
des Heidentums vergeudet. Die Bauten in Jerusalem steigerten
nur ihre Entrüstung, was sollten auf diesem heiligen Boden Theater
und Zirkus, Komödien und Tierkämpfe! Sogar der Umbau des
Tempels ärgerte sie anfangs. Der König trug ihrer religiösen
Empfmdlichkeit Rechnung, so weit er konnte. Er verleugnete seine
idumäische Abstammung, er aß gewiß kein Schweinefleisch. Er
vermied bei seinen Bauten in Jerusalem, auch bei den profanen,
jede bildliche Darstellung; auch seine Münzen zeigten keinen Kopf.
Wie er den Heiden Heide war, meinte er den Juden Jude sein
1) Philo leg. ad Gaium § 37.
^) Von Herodes und allen Fürsten seines Hauses sind nur Kupfermünzen
erhalten, sämtlich mit griechischer Legende.
^) Ant. 17, 308. Die Einkünfte der drei Söhne und Nachfolger des Hero-
des werden Ant. 17, 318 ss. auf 900, dagegen Bell. 2, 93 ss. auf 700 Talente
bestimmt; es waren ihnen allerdings einige Städte, die der Vater besessen
hatte, abgenommen und außerdem die Steuern der Samaritis um ein Viertel
herabgesetzt. Trotzdem würden darnach die Einkünfte des Herodes kaum auf
mehr als 1000 Talente zu schätzen sein (vgl. 19, 352). Das ist nicht eben
viel, und damit konnte er seine Ausgaben nicht bestreiten. Er hatte freilich
noch allerlei Nebeneinnahmen, z. B. aus den Regalien und Domänen von
Jericho und aus Vermögenskonfiskationen. Augustus gab ihm die Hälfte^des
Ertrages der Kupferminen von Cypern. Zuweilen scheint es ihm aber an
Gelde gefehlt zu haben; er suchte nach Schätzen im Grabe Davids.
König Herodes. 337
zu können. Aber eben das konnten diese nicht gelten lassen. Ein-
zelne Eiferer protestirten gelegentlich durch offene Gewalttat für
Gott gegen den König. Er mußte öfters mit blutiger Strenge gegen
Ausbrüche des Fanatismus einschreiten.
Doch war das nicht die einzige und nicht die eigentliche Be-
schwerde, w'elche die Juden gegen ihn hatten. Sie waren von
ihren früheren Fürsten schon etwas gewohnt, und Herodes brauchte
nicht so heilig zu sein wie ein Hoherpriester. Sie haßten ihn
wesentlich aus politischen, oder wenn man lieber will, aus theokra-
tischen Gründen. Früher hatte die auswärtige Großmacht die an-
gestammte Regierung beibehalten und ihr die inneren Angelegen-
heiten überlassen; jetzt hatte sie einen Unberechtigten zu ihrem
Vasallen gemacht. Das w'ar eine neue Erfahrung. Es war doppelte
Fremdherrschaft, Tyrannis gegründet auf Fremdherrschaft, Edom
gepfropft auf R,om. Herodes nahm dem Rest der einheimischen
Verfassung, den er nicht beseitigen konnte, alle politische Bedeutung.
Er drückte die Gemeindeämter herab und machte ihre Inhaber von
sich abhängig. Zu Hohenpriestern machte er wen er wollte; er
setzte sie nach Belieben ein und ab '). Den heiligen Ornat nahm
er zu mehrerer Sicherheit selber in Verwahrung und gab ihn nur
von Zeit zu Zeit heraus, wenn er gebraucht werden sollte ^). Das
Synedrium, dessen alten Bestand er gleich zu Anfang seiner Re-
gierung gehörig gelichtet hatte, versetzte er w^eiterhin mit seineu
Kreaturen und korrumpirte auf diese Weise die Aristokratie. Seine
Verwandten und Freunde ersetzten ihm den Rat der Altesten.
Seine Herrschaft stützte sich, außer auf Rom, auf Zwingburgen
und Soldaten, die er namentlich aus dem Gebiet von Samarien
und von Cäsarea aushob. Er ging allerdings nicht von dem Grund-
satze aus, daß es genüge, wenn seine Untertanen ihn nur fürch-
teten; er strebte sie sich zu verpflichten. In Notfällen bot er alle
Mittel auf; mit weitschauender und aufopfernder Fürsorge begegnete
er den Misernten der Jahre 24 und 23 und beseitigte ihre drohen-
den Folgen. Er sicherte den Landfrieden und ließ Räuber und
Diebe nicht aufkommen. Durch den Hafen von Cäsarea und andere
nützliche Anlagen förderte er Handel und Wandel. Er nahm sich
auch der auswärtigen Glaubensgenossen, in Kleinasien und in der
') Ev. Jo. 18, 13. 2 Macc. 11,3. 4 M. 4, 1.
2) Vgl. die merkwürdige Stelle Ant. 18, 91.
Wellhausen, Isr. Geschichte. 5. Aufl. 22
338 Einundz wauzigstes Kapitel.
Cyreuaica, au; nur ihm hatten sie es zu verdanken, daß sie die
Freiheiten behielten, die Cäsar ihnen verliehen hatte, daß sie am
Sabbat, von drei Uhr Freitags an, nicht vor Gericht zu kommen
brauchten und ihre Kirchensteuer unbehindert nach Jerusalem
schicken durften. Mit alle dem gewann er aber seine jüdischen
Untertanen in Palästina nicht. Er bemühte sich, ihnen seine Ver-
dienste darzulegen, sich gegen ihre Vorwürfe zu rechtfertigen, ihnen
ihr Mistrauen zu benehmen. Öfters wird von Reden berichtet, die
er zu diesem Zwecke gehalten habe. Er ließ sich sogar herbei, die
Steuern zweimal beträchtlich herabzusetzen. Auf die Dauer war
alles vergebens. Sein Werben prallte wirkungslos ab, seine Wol-
taten fanden Undank, seine guten Absichten wurden verkannt.
Es blieben ihm nur die Mittel der Tyrannis übrig. Je länger er
regierte, desto schärfer wandte er sie an. Ein Pluldigungseid, den
er für sich und den Kaiser verlangte, sollte die Gewissen binden:
die Forderung war unerhört und wurde von den Frommen, als
gotteslästerlich, standhaft abgelehnt '). Geheime Polizei und aus-
gedehnte Spionage, bei der er sich bisweilen persönlich beteiligte,
taten ein Übriges. Kein Müßiggang wurde in Jerusalem geduldet,
die Leute sollten bei der Arbeit bleiben und durften weder auf der
Straße zusammenstehn, noch im Hause ihre damals sehr beliebten
Syssitien feiern. Wer ein Wort sagte, wurde angezeigt; Verdäch-
tige verschwanden hinter den Mauern von Hyrkania, Schuldig-
befundene wurden hingerichtet. Die Folge war, daß unverabredet
eine stille Verschwörung gegen den König sich bildete; alle waren
im Einvernehmen gegen ihn und vor ihm auf der Hut. Es herrschte
ein latenter Krieg zwischen Obrigkeit und Untertanen.
Die Essäer begünstigte der König als eine rein religiöse Sekte,
die sich um Politik nicht kümmerte. Anfangs scheint er es auch
für möglich gehalten zu haben die Pharisäer zu gewinnen; er zeich-
nete die Häupter der Partei aus, weil sie die fanatischen Ver-
teidiger Jerusalems hatten bewegen wollen, ihm die Stadt auszu-
liefern. Aber sie konnten ihm die angetragene Freundschaft nicht
erwidern. Seine Liebedienerei gegen das Heidentum mußte gerade
ihnen besonders anstößig sein. Außerdem wären sie keine Juden
mehr geblieben, hätten sie sich mit der Art Entmischung von
') Die Angaben Aut. 15, 369 s. und 17, 42 bezielien sicli uatürlicb auf
den selben Fall.
König Herodes. 339
Staat und Kirche einverstanden erklärt, die Herodes ins Werk
setzte. Das Volk ließ sich nicht wieder zu einer Sekte herab-
drücken, es bewahrte die Erinnerung an die vergangene Herrlich-
keit. Die Hasmonäer waren durch ihr Blut von Sünden rein ge-
waschen und zu Märtyrern der gemeinen Sache gemacht. Haß
gegen den Knecht, der das Haus seines Herrn gestürzt und aus-
gemordet hatte, beseelte jedes ehrliche Herz. Herodes wußte es
und war darauf eingerichtet. Es ist, wenn man will, ein glänzen-
des Zeugnis für seine Regierungskunst, daß kein einziger Aufstand
gegen ihn ausbrach, so lange er König Avar. Aber die Rache er-
eilte ihn doch, er mußte sie selber an sich vollstrecken. Als
Henker der Hasmonäer mußte er der Henker seiner eigenen Söhne
werden, in denen jene wieder auflebten.
3. Der letzte Teil seiner. Geschichte war Hofgeschichte im
richtigen orientalischen Stil. Der Palast in Jerusalem, den er im
Norden der Oberstadt errichtet hatte, ein Bau größer und stolzer
als der Tempel, enthielt eine Menge Insassen. Es wohnten darin
seine Frauen, deren er mehr als eine besaß, jede mit ihren Kin-
dern in einem besonderen Quartier; ferner seine verheirateten
Kinder, Söhne und mit Vettern vermählte Töchter; und auch seine
Verwandten von Vatersseite. Seinem Bruder Pheroras hatte er
zwar die Provinz Peräa, d. h. ihre Einkünfte, verliehen und ihm
den Titel Tetrarch erwirkt; derselbe hielt sich aber doch gewöhn-
lich im königlichen Palast auf, bis er gegen Ende seines Lebens
daraus verbannt wurde. Ebenso seine Schwester Salome, die nach
dem Liebeshandel mit Sylläus einen gewissen Alexas hatte heiraten
müssen. Dazu kam dann noch ein zahlreiches Gesinde, Eunuchen,
Diener und Mägde. Die Frauen waren nicht abgesperrt, sondern
bewegten sich, wenigstens innerhalb des Palastes, mit großer Frei-
heit. Bei solchem Zusammenwohnen der ganzen königlichen Sippe
kann man sich vorstellen, daß es an Familienzwisten und an Ver-
rückung der Familiengrenzen nicht fehlte. Es geschah viel, noch
mehr wurde geglaubt und geredet. Das war die Höhle des alten
Löwen, da hauste er als Patriarch. Er hatte einen starken Ver-
wandtschaftssinn, hing an den Seinen und suchte sie zu beglücken.
Nur wahrte er auch ihnen gegenüber eifersüchtig die Autorität und
hielt sie unter scharfer Aufsicht. Er mußte immer alles wissen, und
alles wurde ihm zugetragen. Er hörte aber nur, er sah nicht. Innerhalb
seines Hauses versagte der klare Blick, den er für die Politik hatte.
22*
340 Eiuuudzwanzigstes Kapitel.
Im Jahre 18 oder 17 holte er die Söhne Mariammes aus Rom
zurück, nachdem sie den Kursus der höheren Erziehung durch-
gemacht hatten. Alexander wurde mit Glaphyra, Tochter des Königs
Archelaus von Kappadocien, verheiratet; Aristobul mit Salomes
Tochter Bereuice. Sie zogen alsbald die allgemeine Aufmerksam-
keit auf sich; die Sympathie der Menge kam ihnen entgegen. Am
Hof erweckten sie aber auch Befürchtungen. Besonderen Grund
zur Besorgnis hatte Salome; sie übertrug ihren Haß gegen Mari-
amme auf die Jünglinge. Diese reizten sie durch stolzes Auftreten
und unvorsichtige Äußerungen; die hasmonäische Ader schlug in
ihnen und sie behandelten die idumäische Brut nicht mit Hoch-
achtung. Berenice klagte der Mutter, daß sie ihrer Schwägerin
und auch ihrem Manne nicht vornehm und fein genug sei; sie habe
Alexander und Aristobul sagen hören: wenn sie nur erst Könige
wären, so wollten sie die Weiber der väterlichen Familie au den
Webstuhl setzen und die Männer zu Dorfschulzen machen, wozu
sie sich vortrefllich eigneten. Das gab der Feindschaft Salomes
Nahrung; sie zog auch Pheroras zu sich herüber. Als Herodes im
Jahre 14 von seinem Besuche bei Agrippa heimkam, empfingen ihn
die Geschwister mit Anklagen gegen seine Söhne: sie könnten
seinen Tod nicht abwarten, um das Erbe anzutreten, das ihnen
von ihrer Mutter her gebühre.
Er sträubte sich es zu glauben, aber die Sache schien recht
glaublich. Um den beiden für alle Fälle einen Dämpfer aufzusetzen,
berief er jetzt seinen Erstgeborenen, Antipater, an den Hof, der
bisher mit seiner Mutter in der Verbannung gelebt hatte. Damit
erhielt die Gegenpartei einen Führer, der sofort die Fäden der In-
trigue in die Hand nahm, ein festes Ziel dabei verfolgte und die
Anderen für sich arbeiten ließ. Er nahm den Alten vollständig
gefangen, veranlaßte, daß auch seine Mutter, Doris, zurückkommen
durfte, und erlangte ein Testament, worin er in erster Stelle zum
Thronerben ernannt wurde. In Begleitung Agrippas wurde er im
Jahre 13 nach Rom gesandt, damit der Kaiser ihn kennen lerne
und das Testament bestätige. Die Söhne Mariammes haßten natür-
lich den nebeneingedrungenen Bruder, der ihnen vorgezogen wurde.
Er aber gönnte ihnen auch die Aussicht nach ihm zu erben nicht,
sondern strebte sie sich gänzlich aus der Bahn zu räumen. Sogar
von Rom aus fand er Mittel und Wege, den Vater mehr und mehr
gegen sie einzunehmen. Dem wuchs dadurch der Argwohn so über
König Herodes. 34J
den Kopf, daß er sich mit den beiden zu Augnstus nach Aquileia
begab, um sie vor ihm auzukhigen. Der Kaiser sah der Sache auf
den Grund und verstand es, ihn zu beruhigen. Aufatmend reisten
Vater und Söhne nach Hause zurücic (12).
Aber auch Antipater kehrte mit heim und nahm sogleich den
Kampf wieder auf. Als vertrautester Sohn des Königs und nächster
Erbe des Reiches hatte er die Streber für sich. Er wurde gut be-
dient. Er erfuhr sofort jedes Wort Alexanders und wußte es weiter
zu befördern. Dabei schob er immer Andere als Angeber vor und
spielte selbst den Verteidiger, mit dem Erfolg, daß er die Ver-
läumdungen nur noch eindrücklicher machte. Herodes war bald
wieder auf dem alten Fleck. In dem Gebaren des Hofes gegen
Alexander und Aristobul drückte sich seine Stimmung gegen sie
aus; seinem Kanzler Ptolemäus befahl er ausdrücklich sich von
ihnen fern zu halten. Ihnen selber sagte er indessen kein offenes
Wort; sie merkten nur an seiner Kälte, daß er etwas wider sie
habe. Er versah sich zu ihnen keines Guten, aber er traute auch
den Anderen nicht ganz, mit Ausnahme des edelmütigen Antipater,
gegen den er blind war. Pheroras hatte ihn beleidigt, dadurch
daß er zweimal sich weigerte sein Eidam zu werden, weil er das
Weib seiner Liebe nicht verstoßen wollte^). Xoch dazu stellte
sich jetzt heraus, daß er dem Alexander ins Ohr gesetzt hatte,
Herodes habe ein Verhältnis zu Glaphyra. Es kam zu einer heftigen
Szene ; Pheroras leugnete nicht, schob aber die Schuld auf Salome,
der er die Mitteilung verdanke. Sie beteuerte ihre Unschuld und
geberdete sich wie toll über solche Verläumdung, indessen der
A^erdacht blieb auf ihr sitzen. Merkwürdiger Weise aber verrauchte
der Zorn des Königs leicht. Er war ihm eine Last vom Herzen
gefallen. Wenngleich er auf ganz falscher Fährte war und den
eigentlichen Missetäter nicht ahnte, so wußte er doch nun, daß
seine Söhne verhetzt wurden. Er kam endlich dazu sich offen mit
ihnen auszusprechen, und das Verhältnis besserte sich eine Weile'').
1) Aüt. 16, 194. 196. lu Aut. 17, 34 ist der Text uicht zu konstmiren:
Subjekt zu (j-tguiv ist Herodes und er haßt Frau imd Schwiegermutter seines
Bruders darum, weil sie die Schiild haben, daß jener die Hand erst seiner
einen, dann seiner anderen Tochter ausschlägt. Vgl. § 46 Bell. 1, 568.
^) Nach Bell. 1,481 scheint es, als sei dies vor einer dritten Reise des
Königs nach Rom geschehen. In den Antiquitäten ist indessen von einer
solchen nicht die Rede; denn 16,271 ist eine Wiederholung von 16,132.
342 Einundzwanzigstes Kapitel.
Leider wußte Alexander, der ältere und hervorragendere der
Brüder, die Pause nicht besser zu benutzen, als dazu daß er drei
junge und schöne Eunuchen seines Vaters seinen Lüsten dienstbar
machte. Herodes erfuhr es und witterte ein Attentat; denn die
Eunuchen waren seine vertrautesten Kammerdiener und hatten
bequeme Gelegenheit ihm Gift beizubringen. Das peinliche Verhör,
das er mit ihnen anstellte, brachte freilich nur allerhand respekt-
widrige Äußerungen Alexanders an den Tag, keine Beweise für
hochverräterische Absichten. Jedoch sein Verdacht war wieder
rege geworden und er suchte nach weiteren Stützen desselben.
Dabei ging er vorsichtshalber in weitem Bogen um das Wild
herum. Er dehnte die Spionage nach allen Seiten aus, niemand
wußte, wohinaus er wollte, einer verläumdete den andern um sich
zu retten. Es herrschte ein fürchterlicher Zustand im Palast und
in den Kreisen der Stadt, die zum Hof in Beziehung standen, viel
Blut wurde zwecklos vergossen. Antipater aber sorgte dafür, daß
die Hetze ihr Ziel nicht verfehle. Es kam ein Brief Alexanders
zum Vorschein mit Klagen über seinen Vater. Freunde von ihm
machten auf der Folter Aussagen, die dem König belastend genug
schienen, um ihn zu binden und gefangen zu setzen.
Da tat der Gefangene einen verzweifelten Schritt, um seinen
Vater im eigenen Garn zu verstricken. Er bestätigte ihm brieflich
die wildesten Gerüchte die am Hofe schwirrten und machte sein
Zeugnis dadurch glaubhaft, daß er sich selbst nicht schonte. Er
bezeichnete Ptolemäus und Sapinnius, die zuverlässigsten Diener
des Königs, als seine Mitverschworenen, ferner auch Pheroras und
Salome; von letzterer behauptete er, sie habe ihn zum Ehebruch
geradezu gezwungen. Damit waren alle Teufel aus der Hölle gegen
den Alten losgelassen, er geriet in heillose Aufregung und Ver-
wirrung. In diesem Moment aber erschien wie gerufen Archelaus
von Kappadocien, Alexanders Schwiegervater. Er befreite Schritt
für Schritt .den Herodes aus dem Labyrinth, in dem er sich befand,
und lenkte schließlich seinen ganzen Zorn gegen Pheroras, der an
allem schuld sei. Pheroras hatte ein schlechtes Gewissen, ver-
traute sich dem Archelaus an und ließ sich von diesem zum
Sündenbock machen. Um diesen Preis erreichte er es, daß
der Kappadocier ein gutes Wort für ihn einlegte und ihm
Verzeihung erwirkte. Alexander war noch einmal gerettet. Eine
Weile zogen andere Sorgen den König ab; der Aufstand der
Köuig ITerodes, 343
Araber und die Trübung des Verhältnisses zu Augustus Helen in
diese Zeit.
Die Tragödie der Irrungen zog sich in die Länge, endlich
kam sie doch zum Schluß. Der Spartaner Eurykles, der darauf
reiste, daß er einmal der Held von Actium gewesen war, kam als
ungebetener doch höchst willkommener Besuch nach Jerusalem,
trewann das Vertrauen Alexanders und verriet dann seine Äuße-
rungen den Mächtigeren um sich ein Gastgeschenk zu verdienen
und sich darauf zu empfehlen. Am kappadocischen Hofe tauchte
er wieder auf und zog dem Archelaus das Geld aus der Tasche,
dem er erzählte, wie sehr er die Stellung seines Schwiegersohnes
in Jerusalem befestigt habe. Durch diesen fahrenden Ritter wurde
der schlafende Verdacht des Herodes wieder geweckt, Antipater
lieferte ihm neue Nahrung. Daß Evaratus von Kos, ein anderer
gleichzeitiger Besuch, den Prinzen das günstigste Zeugnis ausstellte,
ward so gedeutet, als ob er mit ihnen in heimlichem Einvernehmen
stehe. Nur Anschuldigungen fanden Glauben. Zwei Leibwächtern
Alexanders wurde durch die Folter das Geständnis abgepreßt, sie
hätten den König auf der Jagd erstechen sollen. Der Sohn des
Befehlshabers von Alexandrium bezichtigte aus freien Stücken seinen
Vater, er habe die Feste den beiden Brüdern zur Verfügung gestellt,
und übergab als Beweisstück einen Brief an denselben, worin es
hieß: wenn war mit Gottes Hilfe unsere Absicht ausgeführt haben,
werden wir zu dir kommen. Herodes untersuchte die Sache in
Jericho, wo die sehr aufgeregte öffentliche Meinung ihm günstig
gewesen zu sein scheint. Seine Söhne gaben nur zu, einen Flucht-
versuch geplant zu haben. Er aber überzeugte sich jetzt vollständig
von ihrer Schuld, setzte sie gefangen und war zum Äußersten ent-
schlossen. Der Kaiser, der ihm ungerecht seine Gnade entzogen
hatte und ihm nun nicht zuwider sein mochte, gab sie in seine
Hand und riet ihm nur, in Berytus ein Gericht zu halten, dessen
Zusammensetzung er indessen ihm selber überließ. Das Gericht
trat zusammen, die Angeklagten wurden uugehört verurteilt, nur
der Legat Saturuinus wollte sie vom Tode retten. Noch einmal
jedoch wäre Herodes beinah umgestimmt worden, als er auf der
Rückreise in Tyrus mit Nikolaus zusammentraf und in dessen
Gesellschaft nach Cäsarea fuhr. Aber in Cäsarea gaben sich unter
den Offizieren und Soldaten gefährliche Sympathien für die un-
glücklichen Prinzen kund, und durch Antipaters Bemühungen
344 Einundzwanzigstes Kapitel.
wurde vollends der Eindruck verwischt, den die Worte des Damas-
ceners gemacht hatten. Alexander und Aristobul erlitten (riz 7 a. Ch.)
in Samarien den Tod durch den Strang ').
Dumpfe Trauer herrschte in Israel. Antipater schien am Ziel,
doch war er nicht ohne Sorge. Er war sich bewußt von allen
gehaßt zu werden. Der König konnte doch noch vielleicht über
ihn aufgeklärt werden, er zeigte sich beunruhigend zärtlich gegen
die Kinder der Hingerichteten. So lange er lebte, fühlte sich Anti-
pater nicht sicher; er richtete nunmehr seine Künste gegen ihn und
gedachte dabei Pheroras als Werkzeug zu gebrauchen.
Herodes konnte nicht darüber hinweg kommen, daß Pheroras
seine beiden Töchter durch Zurückweisung ihrer Hand beschimpft
habe. Die Schuld an dem Affront trugen nach seiner Meinung
Frau Und Schwiegermutter des Pheroras. Es war ihm unleidlich,
daß die Weiber einen größeren Einfluß auf seinen Bruder aus-
übten als er selber; das Verhältnis blieb infolge dessen gespannt.
Dies war der Punkt, bei dem Antipater einsetzte. Er drängte sich
an Pheroras heran, schmeichelte sich bei ihm und seinen Frauen
ein und brachte auch seine Mutter mit in diesen Kreis. Sie waren
ein Herz und eine Seele, versteckten aber ihre Intimität vor An-
deren, namentlich vor der gefährlichen Salome, die nicht Farbe
hielt, sondern ihre unberechenbare Zunge zwecklos gegen Freund
und Feind kehrte. Salome, geärgert über die Heimlichkeit, suchte
dahinter zu kommen und es gelang ihr. AVas sie erkundet hatte,
trug sie dem Könige zu. Sie meldete ihm, daß Pheroras und
Antipater mit ihren Weibern wüste Orgien feierten, daß sie dabei
nichts Gutes von ihm redeten, und daß die Pharisäer mit im Spiel
wären, die im Hause des Pheroras aus- und eingingen und den
Insassen eigentümliche Aussichten für die Zukunft machten').
Herodes gab wol nicht allzuviel auf die Eröffnungen und entdeckte
darin schwerlich hochverräterische Umtriebe. Er stellte indessen
den Bruder ernstlich zur Rede, bemühte sich ihn von dem sitten-
1) Müller, Fragm. IT. G. 3, 351 ss.
^) Die Pharisäer sollen dem Herodes samt seinem Hause den Untergang
und dem Pheroras die Herrschaft über Israel geweissagt haben. Aber die
Natur ihier Weissagung verrät sich dadurch, daß sie dem Eunuchen Bagoas
verhießen, der künftige König werde ihm das Vermögen Kinder zu zeugen
gewähren. Sollte Bagoas glauben, das sei Pheroras? Es ist offenbar vom
Messias die Rede, in dessen Zeit nach Isa. 56 der Verschnittene nicht mehr
König Herodes. 345
verderbenden Einfluß der Weiber zu befreien, und da jener hals-
starrig blieb, entschloß er sich schweren Herzens, ihn vom Hof zu
verbannen und in seine Tetrarchie zu verweisen. Dem Sohne
untersagte er den Verkehr mit ihm und gab ihm hundert Talente,
damit er Stillschweigen über dies A'erbot bewahre. Sein Vertrauen
entzog er ihm nicht, er machte eben damals ein Testament, worin
er ihn zum Thronerben einsetzte und nur für den schlimmsten
Fall einen anderen Sohn zum Nachfolger ernannte. Antipater aber
fand den Boden in Jerusalem etwas heiß und ließ sich nach Rom
schicken, um die Bestätigung des Testaments zu erwirken und
andere Aufträge auszurichten.
Indes erkrankte Pheroras zum Tode. Auf die Kunde davon
vergaß Herodes allen Zorn, eilte an sein Lager und drückte ihm
die Augen zu. Die aufrichtige Trauer, die er zeigte, war vielleicht
der Anlaß, daß einige Diener ihm den Verdacht mitteilten, der
Verstorbene habe Gift bekommen, denn die Weiber seien mit Gift
umgegangen. Dieser Verdacht bestätigte sich nicht, aber es kam
heraus, daß Salome auf richtiger Fährte gewesen und daß das
Gift für Herodes selber bestimmt war. Der Haushofmeister Anti-
paters sagte aus, daß dieser es aus Ägypten bekommen und durch
seiner Mutter Bruder dem Pheroras gesandt habe. Pheroras' Witwe
bestätigte die Aussage und legte ein ausführliches Geständnis ab,
woraus hervorging, daß Antipater den Pheroras hatte benutzen
wollen um Herodes über die Seite zu schaffen. Zum Überfluß
sandte Antipater aus Rom eben jetzt noch weiteres Gift an seine
Helfershelfer und zugleich Briefe an seinen Vater, worin er seine
Brüder Archelaus und Philippus in der selben Weise verläumdete
oder verläumden ließ wie früher den Alexander und Aristobul.
Nun gingen dem alten Könige die Augen auf; seine ganze Sorge
war fortan, den L^uhold in die Hand zu bekommen. Durch den
allgemeinen Haß gegen ihn wurde er unterstützt; Antipater erfuhr
nicht, daß er in Ungnade gefallen war, und kehrte auf die Auf-
forderung des Vaters arglos heim. Als er in Cäsarea landete, fiel
ihm der eisige Empfang auf; er ließ sich jedoch nichts merken,
sagen wird: ich bin ein dürrer Baum. Die Pharisäer erwarteten also in naher
Zeit das Auftreten des Messias, und sie fanden für diese Erwartung Glauben
auch im Palast des Herodes, namentlich bei den Weibern. Josephus folgt
Ant. 17, 41 SS. einer Quelle, die seiner eigenen Anschauung total widerspricht;
es sind ihm auf diese Weise öfter Kukkukseier in sein Nest geraten.
346 Einundzwanzigstes Kapitel. König Herodes.
setzte die Reise nach Jerusalem fort und begab sich scheinbar un-
befangen in den Pahist. Hier wurde er sofort begrüßt wie er es
verdiente, erhielt aber doch einen Richter in der Person des Statt-
halters Varus, der sich gerade in Jerusalem befand. Seit die Furcht
vor ihm geschwunden war, mehrten sich die Anklagen und die
Zeugnisse. Er wurde klärlich überwiesen, Mitverschworene von
Bedeutung waren nicht zu entdecken. Herodes ließ ihn fesseln und
erstattete dem Kaiser Bericht. Bald darauf erkrankte er schwer.
Es verbreitete sich das Gerücht, er liege im Sterben.
Diesen Zeitpunkt hielten zwei jerusalemische Gesetzeslehrer für
gelegen, um ein Ärgernis, einen entsetzlichen Greuel an heiliger
Stätte, zu beseitigen. Der König hatte nämlich über dem Haupttor
des Tempels einen goldenen Adler anbringen lassen, als ob er den
Juden wenigstens in einem Falle zeigen wollte, daß er die Macht
habe ihren religiösen Vorurteilen zu trotzen. Von jenen Rabbinen
aufgehetzt zerhieben einige Jünglinge am hellen Tage den Adler
mit Äxten. Anstifter und Täter wurden alsbald festgenommen,
verhört und dann nach Jericho gesandt; dort wurden sie teils mit
dem Schwert gerichtet, teils lebendig verbrannt, am 13. März des
Jahres 4^). Der Hohepriester Matthias mußte es mit seiner Ali-
setzung büßen, daß er die Tempelpolizei nicht besser gehandhabt
hatte; die Obersten der Juden erhielten eine ernstliche Verwarnung,
sie waren froh damit abzukommen.
Kurze Zeit vor seinem Tode, als er von den Bädern in Kalirrhoe
am Jordan nach Jericho zurückgekehrt war, erhielt Herodes die
Erlaubnis des Kaisers, über Autipater nach Gutdünken zu ver-
fügen. Nun besserte sich sein Leiden scheinbar, aber bald trat
wieder ein Rückfall ein. Schon hieß es, er habe sich im Fieber-
wahnsinn umgebracht. Antipater schöpfte Hoffnung und war so
unvorsichtig, sie zu äußern. Darauf hin erging der Befehl, seine
Hinrichtung unverweilt zu vollstrecken. Fünf Tage später starb
der König ^). Seine Leiche wurde mit großem militärischen Ge-
1) ante Clir. nach Ideler 2,391s. Ginzel, Kanon (1899) p. 195s.
-) Die Angabe, er habe die angesehensten jüdischen Männer, aus jedem
Dorf, zusammengeholt, sie im Hippodrom zu Jericho eingesperrt, und Befehl
gegeben, sie im Augenblick seines Todes niederzuschießen, verdient keinen
Glauben. Sie erklärt sich vielleicht daraus, daß er die vornehmsten Männer
von Jerusalem im dortigen Theater versammelte und sie für den am goldenen
Adler begangenen Frevel zur Verantwortung zu ziehen drohte.
Z w e i u n d z w a n z i g s t e s K a p i t e 1. Die Vierfürsten ii. die Landpfleger. 347
prange nach Herodium, südlich von Jerusalem, übergeführt und
dort bestattet.
Herodes war einer von den Orientalen, die den Instinkt des
Ilerrschens haben. Seine Moral war die Politik. Jeden von politischem
Interesse gebotenen Frevel beging er gelassen. Er begriff nicht,
daß ihm die Selbsterhaltung verdacht werden konnte; er wunderte
sich über den Haß, den er sich zuzog, und wurde verbittert durch
den Undank, der ihm begegnete. Er hatte bei seinen Untaten ein
ganz gutes Gewissen, wenn sie ihm notwendig schienen; er kam
sich immer ganz korrekt vor. Boshafte Grausamkeit kann man ihm
in der Tat nicht nachsagen. Er war kein Wüterich von Natur,
sondern ein brutaler Gemütsmensch, leidenschaftlich und liebe-
bedürftig. Die Verwandtenliebe bildete einen hervorstechenden Zug
seines Naturells; antik zeigte er sich darin, daß Bruder und
Schwester ihm heiliger waren als Weib und Kind.
Man hat ihn mit David verglichen. Aber David lebte in der
ihm gemäßen Zeit und in der ihm gemäßen Umgebung. Herodes
war zu etwas anderem geboren, als im Zeitalter des Augustus die
Juden zu regieren, ein Aft'e der Zivilisation zu sein und zugleich
den Pharisäern Rechnung zu tragen. Er war ein Eber im Wein-
berge des Herrn und mußte doch den Hüter spielen. Seine un-
gemein schwierige Stellung machte er selber noch schwieriger durch
seine Verschwägerung mit dem hasmonäischen Hause. Das war die
große Torheit seines Lebens, daran ging er zu gründe.
Sein Reich hatte keinen Bestand, aber das Bild seiner Person,
das sich so schneidend von dem Hintergrunde abhob, setzte sich
mit schreienden Farben in der Erinnerung fest. Er ist zum Typus
des Tyrannen, zum Antitypus des Kindes von Bethlehem geworden.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Die Vierfürsten und die Landpfleger.
1. Herodes hatte in seinem letzten Willen sein Reich unter
seine drei Söhne Archelaus Antipas und Philippus geteilt'). Er
') Ein vierter Sohn, Herodes, ging bei der Teilung leer aus, obwol er
in dem Testament vom Jahre 7 zum Ilaupterben nach Antipater ernannt war.
348 Zweiundzwanzigstes Kapitel.
hatte Erlaubnis über seine Nachfolge zu verfügen, machte indessen
doch die Giltigkeit seiner Anordnungen von der Bestätigung des
Kaisers abhängig. Um diese einzuholen, begab sich Archelaus um
Ostern 4 nach Rom; er war zum llaupterben ernannt und sollte
den Königstitel führen. Ihm folgte Autipas, um ihm den Rang
abzulaufen; denn in dem eigentlichen Testament stand er, obwol
der jüngere, an erster Stelle und erst in einem Kodizill war er
zurückgesetzt. Auch Salome und andere Mitglieder des königlichen
Hauses erschienen in Rom. Sie waren alle einig im Neide gegen
Archelaus, ihre Eigensucht entblößte sich schamlos an höchster
Stelle. Nur einer benahm sich mit Anstand, Philippus, der etwas
später den Anderen nachreiste. Während diese Gesellschaft an dem
Raube zerrte und sich giftig dabei anfauchte, kamen Abgeordnete
von Jerusalem hinzu, zählten ein langes Register der Schandtaten
des verstorbenen Königs vor dem Kaiser auf und verbaten sich
einen Nachfolger aus seinem Geschlecht; sie wünschten sich selbst
zu regieren und der römischen Herrschaft unmittelbar zu unter-
stelm. Nach reiflicher Erwägung entschied Augustus im Sinne des
Erblassers. Antipas erhielt Galiläa und Peräa, Philippus die Nord-
ostmark, beiden wurde der Titel Tetrarch verliehen. Gaza Hippus
und Gadara wurden frei.
Archelaus bekam Judäa nebst Idumäa und Samarien. Vor-
läufig mußte er sich begnügen, Ethnarch zu heißen; König sollte
er erst werden, wenn er sich bewährte. Seine Untertanen machten
ihm aber das Regieren sauer. Der Tod des Herodes hatte sie in
eine ungeheure Aufregung versetzt. Schon vor Archelaus' Abreise
nach Rom, zu Beginn des Osterfestes, war ein gefährlicher Tumult
im Tempel entstanden; er hatte ihn mit Waffengewalt niederschlagen
und der Menge der Wallfahrer Befehl geben müssen, die Feier
abzubrechen und heimzukehren. Während seiner Abwesenheit
erneuerten und verschlimmerten sich die Unruhen und führten zu-
letzt zu einer über das ganze Land verbreiteten großen Erhebung,
an der sich nur die Samaritis nicht beteiligte.
Der Prokurator Sabinus, der während des Interims nach Jeru-
salem entsandt war und eine von Varus dort zeitweilio: stationirte
Er machte keine Ansprüche geltend und besaß, wie es scheint, keinen Ehr-
geiz. Über einen falschen Alexander, der sich für den hingerichteten Sohn
der Mariamme ausgab, berichtet Josephus Ant. 17, 324ss.
Die Vierfürsten uud die Laiidpfleger. 349
Legion zur Verfügung hatte, misbrauclite seine Stellung, um sich
in die königlichen Schlösser einzudrängen und die königliche Hinter-
lassenschaft zu durchsuchen. Als nun Pfingsten ins Land kam,
strömten die Provinzialen aus Galiläa und Idumäa, aus Jericho und
Peräa, und aus dem eigentlichen Judäa scharenweis in der Haupt-
stadt zusammen — nicht so sehr um das Fest zu feiern als viel-
mehr um mit den Römern anzubinden. Sie teilten sich in drei
Haufen und griffen Sabinus an, der im Palast des Herodes sein
Hauptquartier hatte. Sabinius warf sie zwar durch einen Ausfall
auf den Tempel zurück. Aber bei dieser Gelegenheit stekten seine
Soldaten die Bedachung der heiligen Säulenhallen in Brand und
plünderten den Tempelschatz. Dadurch erbittert setzten die Juden
den Kampf nur um so eifriger fort; die Soldaten des Herodes
schlössen sich ihnen größtenteils an, mit Ausnahme der Sebastener.
Die Römer mußten sich in den königlichen Palast zurückziehen
und wurden dort belagert.
Gleichzeitig loderte auch in der Provinz an mehreren Stellen
die Flamme auf. In Idumäa meuterten zweitausend alte königliche
Krieger. Bei Jericho und bei Emmaus, in Galiläa und in Peräa
stellten sich Abenteurer meist niederer Herkunft an die Spitze
der Menge, zerstörten Paläste und Zeughäuser, durchstreiften das
Land und töteten Römer und römisch Gesinnte. Sie kämpften
nicht mehr für die Hasmonäer, sondern geberdeten sich selber als
Könige. Wir hören, daß die Pharisäer mit dem Ende des Herodes
den Beginn der messianischen Zeit erwarteten; es scheint daß sie
mit dieser Erwartung nicht allein gestanden haben ^).
Die Bedrängung der Legion in Jerusalem, der helle Aufruhr
im ganzen Lande erforderten gebieterisch das Einschreiten des
syrischen Legaten. Varus eilte von Antiochia herbei, mit den
beiden Legionen die er zur Hand hatte, und mit Hilfstruppen der
Bundesgenossen, namentlich der Nabatäer, welche den Anlaß wahr-
nahmen um im Gebiete ihres alten Gegners zu rauben und zu
morden. Er rückte zuerst in Galiläa ein, eroberte die Hauptstadt
Sepphoris und verkaufte die gefangenen Einwohner in Sklaverei.
Dann marschirte er durch die Samaritis, wo die Ruhe nicht gestört
war, gegen Jerusalem. Die Provinzialen, welche die Legion im
') Aut. 17, 41 SS. Nach Tacitus Bist. 5, 9 trat ein gewisser Simon damals
als Köui"' auf.
350 Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Palast des Herodes belagerten, hielten ihm nicht Stand, sondern
zerstreuten sich über die Landschaft; er ließ die Banden verfolgen
und zweitausend Gefangene ans Kreuz schlagen. Sabinus entzog
sich der Begegnung mit ihm durch die Flucht; den Bürgern von
Jerusalem tat er kein Leid. Gegen die Idumäer ließ er die Araber
los; da sie aber den Krieg nach eigenem Belieben führten, schickte
er sie nach Hause und zog selber mit seinen Legionen den Auf-
ständischen entgegen. Sie ergaben sich ihm und erhielten Ver-
zeihung, mit Ausnahme der Rädelsführer und der Mitglieder des
königlichen Hauses, die sich kompromittirt hatten. Damit war die
Empörung zu Ende, Varus konnte nach Antiochia zurückkehren.
Nach diesem blutigen Zwischenakt trat Archelaus seine Re-
gierung an. Der Aufstand war im Blut erstickt, aber die Gemüter
siedeten noch. Daß der junge Herrscher unter solchen Umständen
kein leichtes Spiel hatte, ist begreiflich. Es konnte keine Rede
davon sein, daß er sich die Zuneigung seiner Untertanen erwarb,
aber es gelaug ihm auch nicht sich bei ihnen in Respekt zu setzen.
Nicht bloß die Juden wollten nichts von ihm wissen, sondern er
machte sich auch bei den Samariern verhaßt, die doch seinem
Vater treu ergeben gewesen waren. Nachdem er neun Jahre regiert
hatte, erschienen Gesandte aus Jerusalem und Sebaste in Rom, um
ihn zu verklagen. Auf ihre Beschwerde hin, die er begründet fand,
setzte Augustus ihn ab und verbannte ihn nach Vienna AUobrogum
an der Rhone. Sein Gebiet wurde römische Provinz, unter einem
Prokurator aus dem Ritterstande, der dem syrischen Legaten zwar
im Range untergeordnet, aber für gewöhnlich nicht untergeben
war'). Er hatte nicht bloß die Steuerverwaltung, sondern auch
den Blutbann und den Heerbefehl. Die Truppen des Herodes
gingen als Auxiliaren in römischen Dienst über; wie bisher wurden
sie auch jetzt nicht in Judäa, sondern vorzugsweise in den Bezirken
von Sebaste und Cäsarea ausgehoben. Das Hauptlager war Cäsarea,
wo auch der Prokurator residirte; daneben gab es kleinere Garni-
sonen in den Zitadellen und Burgen.
Die inneren Angelegenheiten überließen die Römer den Geru-
sien in den Metropolen; wie in Cäsarea und Sebaste, so auch in
Jerusalem. In der jüdischen Hauptstadt trat infolge dessen die
Aristokratie wieder in ihre Rechte, wenngleich die alten Familien
') Moiumsen 5,509 u. 1.
Die Vierfürsteu und die Laudpfleger. 351
vielfach durch neue, wie die mit Herodes verschwägerten Boethusier,
ersetzt waren. Das Synedrium erlangte eine Bedeutung, wie es
sie auch in der hasmonäischen Zeit nicht besessen hatte. Denn
damals war der Vorsitzende im Übergewicht gewesen, der Hohe-
priester hatte die Obmacht gehabt. Die verlor er unter Herodes
und gewann sie auch unter den Römern nicht zurück. Das Amt
war nicht mehr lebenslänglich und erblich, sondern wechselte');
neben dem grade fungirenden Hohenpriester behielten die abge-
tretenen ihren Einfluß, die oberste Körperschaft wurde nicht mehr
von ihrem Präsidenten beherrscht. Das Synedrium hatte das Ge-
richt; nur Todesurteile unterlagen der Bestätigung des Prokurators
und wurden von ihm vollstreckt. Es hatte auch die Verwaltung;
die Steuern wurden von der einheimischen Behörde eingezogen
und dann an den Prokurator abgeliefert. Die Erhebung der Zölle
dagegen gaben die Römer Privatunternehmern in Pacht und diese
wiederum Afterpächtern, welche in der Regel Juden waren"). In
der Tempelburg, der Antonia, lag eine römische Wache. Zu den
Festen, die wegen der Menge der fremden Pilger immer leicht
Anlaß zu Unruhen gaben, pflegte der Prokurator selber nach Jeru-
salem zu kommen, um die Ordnung aufrecht zu erhalten; sein
Prätorium war dann der Palast des Herodes im Nordwesten der
Stadt. Für den Kaiser wurde, auf seine Kosten, ein tägliches
Opfer im Tempel dargebracht. Es scheint, daß ihm auch ein
Huldigungseid geschworen werden mußte, der bei jedem Regierungs-
wechsel erneuert wurde.
Die Römer handelten weise, wenn sie ihre Berührung mit
den Juden auf das notwendigste Maß einschränkten ^). Sie standen
immer in Gefahr, eine Explosion hervorzurufen. Sie nahmen zwar
weitgehende Rücksichten. Das im Lande gemünzte Kupfergeld trug
nicht den Kopf, sondern nur den Namen des Kaisers. Kein Heide
durfte den inneren Vorhof des Tempels betreten ; tat er es dennoch,
so wurde ihm der Tod gedroht, selbst wenn er römischer Bürger
') Aber nicht etwa jährlich. Kaiaphas war schon vor Pilatus im Amt
nnd wurde erst durch Vitellius abgesetzt (Aut. 18, 35. 59), regierte also min-
destens zwölf Jahre.
2) Auch in Ägypten gab es schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert
unter den Steuerpächtern viele Juden (Wilcken Ostraka 1, 523).
2) Die Sibylle wendet auf die Juden den Rat an: [>.)) -/tvet Kc([j.c<ptvav,
äxmjTOs Y'^P ä(j.etv(uv (3, 73G).
352 Zweiundzwanzigstes Kapitel.
war'). Wenn die Soldaten von Cäsarea nach Jerusalem zogen,
ließen sie die Feldzeichen mit den Kaiserbildern daheim. Aber
in die grundsätzliche Nachsicht mischte sich gelegentlich doch
persönliche Willkür übelwollender Machthaber. Selbst die wol-
wollenden konnten es nicht immer vermeiden Anstoß zu geben,
und auch ihnen riß zuweilen die Geduld.
Gleich Anfangs drohte eine Kollision. Der Statthalter von
Syrien, P. Sulpicius Quiriuius, hatte den Auftrag die neue Provinz
einzurichten und veranstaltete zu dem Ende einen Zensus der Ein-
Avohner, der als Grundlage für die Steuererhebung dienen sollte
(7 A. D.). Dagegen sträubten sich die Juden. Man meint, aus
religiösen Gründen. Aber die Hierokratie war ja unter der Fremd-
herrschaft gegründet worden und hatte sie zur Voraussetzung,
früher hatte man es nicht für unverträglich mit den Pflichten gegen
Gott gehalten, den ausländischen Potentaten Steuern zu zahlen ''').
Jedenfalls weniger aus Gesetzlichkeit, als aus Patriotismus sträubten
sich die Juden gegen den Zensus. Der Übergang in die römische
Herrschaft erregte sie. Das Gesuch um Einverleibung in dieselbe
war von Jerusalem ausgegangen, von den vornehmen und leitenden
Kreisen daselbst, die von der Beseitigung der Zwischenstufe den
Gewinn hatten, da sie dadurch an die oberste Stelle im Lande
rückten. Die Provinzialen hatten sich nicht daran beteiligt, sie
wollten nichts von den Römern wissen, sie wurden von ihrer
Einmischung überrascht. Mit Mühe gelang es der jerusalemischen
Regierung, sie zu beschwichtigen. Es gelang ihr auch nur zum
Teil und für den Augenblick.
Auf Galiläa erstreckte sich die Schätzung des Quirinius nicht
und doch war dort die Aufregung am größten ; man sieht, daß
das Gemeingefühl der Juden durch die Zerstücklung von Herodes'
^) Bell. 6, 124ss. Mommsen (5, öllJ n. 1) findet es wahrscheinlich, daß die
an dem Gitter des Vorhofs augebrachten Warnungstafeln in griechischer und
lateinischer Sprache, von denen Clermont-Ganneau eine wieder aufgefunden
hat, von der römischen Regierung errichtet seien. Der Text der Warnungs-
tafeln redet freilich nicht so bestimmt von Hinrichtung, wie Josephus, und
sagt nicht, daß sie sogar an römischen Bürgern vollzogen werden solle.
-') Gegen die Kopfsteuer haben allerdings die Juden zur Zeit Jesu eine
große Abneigung gehabt, weil sie sie nur dem Heiligtum entrichten wollten.
(Marc. 12, 14.) Selbst die Kopfsteuer an das Heiligtum hält Jesus für des
Freien unwürdig (Matth. 17, 25).
Die Tierfürsten und die Landpfleger. 353
Reiche in keiner Weise geschwächt war. In Galiläa erhob sich
damals Judas, der Sohn des von Herodes hingerichteten Banden-
führers Ezechias. Wenn er auch unterlag und umkam ^), so blieb
doch sein Anhang bestehn und übte in der Folge die größte
Wirkung aus. Er begründete, zusammen mit dem gewesenen
Pharisäer Sadduk, die theokratische Aktionspartei der Zeloten*)-
Die Zeloten waren nicht profan Avie die Sadducäer, sondern fromm
wie die Pharisäer. Aber ihre Frömmigkeit war durchaus politisch
gefärbt, wie die der Makkabäer vor ihnen und die der Chavärig
und der Puritaner nach ihnen. Sie verstanden die Theokratie nicht
bloß als die Herrschaft des Gesetzes, sondern als die Herrschaft
Gottes und die Freiheit seines Volkes; der Patriotismus ging ihnen
über das Gesetz. Und sie wollten nicht warten, bis das Reich
Gottes vom Himmel auf die Erde käme, sondern selber Hand
anlegen, daß es sich verwirkliche. Sie wollten nicht bloß heften,
sondern handeln, sie erklärten es für Pflicht Gott zu helfen, sie
waren von rücksichtslosestem Fanatismus beseelt. Dadurch unter-
schieden sie sich von den Pharisäern, die sich begnügten das Ge-
setz zu erfüllen und im übrigen geduldig auf den Trost Israels
warteten. Sie brachten die Stimmung, von der das Land, im
Gegensatz zu der Hauptstadt, längst beherrscht war, zum entschie-
denen Ausdruck. Die Bekämpfung der Fremdherrschaft mit dem
Schwerte und mit allen Mitteln war von Anfang an ihr Programm.
Mit diesem Programm gaben sie auf die Einverleibung Judäas in
das Kaiserreich eine aulfallend prompte Antwort.
Über die ersten Prokuratoren von Judäa und über die Ge-
schichte ihrer Zeit erfahren wir gar nichts ^). Augustus wechselte
sie rasch, Tiberius ließ sie möglichst lange im Amt. Unter C'opo-
') Act. 5, 37. Judas heißt Ant. 18,4 ein Gaulaniter aus Gamala, sonst
immer „der Galiläer". Er trat jedenfalls in Galiläa auf, ebenso wie sein,
Vater. Aber Gamala konnte vielleicht noch mit zu Galiläa gerechnet werden
vgl. Bell. 4, 2.
-) Der Name ist abgeleitet von Phiuehas, der ohne andere Befugnis, als
weil ihn der Eifer trieb, in Sachen Gottes zu den Waffen griff.
3) Coponius ±7 — 9, M. Ambibulus (Niese zu Ant. 18, 31) ± 9 — 12,
Annius Rufus + 12—15, Valerius Gratus 15—26, Pontius Pilatus 26—36, Mar-
cellus 36. 37, Marullus 37—41. — Josephus füllt die Lücke durch die in die
Zeit Artabans IIL fallende Erzäiilung über Asinäus und Aniläus, welche zeigt,
wie zahlreich die Juden im Irak damals waren und wie dreist sie luiter der
parlhischen Herrschaft auftraten (Ant. 18, 31Uss.).
Wellhausen, Isr. Gescbiclite. 5. Aufl. 23
354 Zweiundzwanzigstes Kapitel.
nius geschah es, daß einige Samariter ^vährell(l des Osterfestes sich
nachts in den Tempel schlichen und Menschengebeine in den
Säulengängen umherstreuten; das war eins der historischen Ereig-
nisse dieser Periode. Pontius Pilatus unterschied sich durch eine
gewisse herausfordernde Haltung von seinen Vorgängern und Nach-
folgern. Er schmuggelte einst bei Nacht und Nebel Feldzeichen
mit Kaiserbildern in Jerusalem ein. Als die Juden es gewahr
wurden, machten sie sich entsetzt auf den Weg zu ihm nach
Cäsarea, baten ihn um Zurücknahme der Neuerung, und belagerten
fünf Tage seinen Palast. Am sechsten Tage bestellte er sie vor
sich in die Rennbahn, als ob er sie bescheiden wollte. Als sie
aber wieder anfingen, ihn zu bestürmen, sahen sie sich plötzlich
von Soldaten umstellt und mit augenblicklichem Tode bedroht,
wenn sie sich nicht fügen wollten. Da fielen sie wie auf Verab-
redung nieder, entblößten den Nacken und erklärten laut, sie
würden lieber sterben als den Protest gegen die Gesetzesübertretung
aufgeben. Erstaunt über die Entschlossenheit der Juden gab Pilatus
nach. Später stellte er sie jedoch noch einmal auf die Probe,
indem er an seiner jerusalemischen Residenz, dem Palaste des
Herodes, goldne Schilde mit dem Namen des Kaisers anbringen
ließ; indessen auch das duldeten sie nicht und setzten es durch,
dalj er die Schilde entfernte. Nur ihren Widerstand gegen ein
nützliches Unternehmen, gegen eine Wasserleitung nach Jerusalem,
die er anlegte, brach er mit Gewalt. Sie nahmen Anstoß daran,
daß die Kosten aus dem Tempelschatz bestritten wurden, und als
er während des Baus nach Jerusalem kam, .veranstalteten sie eine
lärmende Kundgebung gegen ihn. Er hatte aber von der Absicht
Kunde erhalten und dämpfte den Auflauf durch Soldaten ohne
Uniform, denen er befohlen hatte, sich mit Knitteln bewaffnet unter
die Menge zu begeben und auf ein verabredetes Zeichen drein zu
schlagen. Schließlich brach ihm sein schneidiges Auftreten gegen
die Samariter den Hals. Sie hatten sich in hellen Haufen in einem
Dorfe bei Sichem versammelt, weil ein Prophet sich erboten hatte,
ihnen die heiligen Geräte der Stiftshütte zu weisen, die auf dem
Berge Garizzim verborgen seien. ])a überfiel und zersprengte sie
Pilatus; manche kamen um und einige Gefangene wurden hin-
gerichtet. Darüber bei dem syrischen Legaten Vitellius, dem Vater
des späteren Kaisers, verklagt, wurde er zur Verantwortung nach
Rom geschickt und ein anderer Prokurator an seiner Stelle er-
Die Yierfürsten und die Laudpfleger. 355
nannt (36). Vitelliiis er\Yies sich auch gegen die Juden sehr
rücksichtsvoll, erließ den Jerusalemern die Abgaben für die Markt-
früchte und gab den von Herodes in Verwahr genommenen Ornat
des Hohenpriesters heraus. Bei der Expedition gegen die Nabatäer,
zu der er sich im Jahre 37 auf den AVeg machte, ließ er die
Legionen einen Umweg machen, um nicht mit den kaiserlichen
Standarten den jüdischen Boden zu betreten.
2. Während das Land des Archelaus römischen Landpflegern
unterstellt wurde, behielten seine beiden Brüder ihre Tetrarchien.
Philippus regierte bis zu seinem Lebensende in der Gegend des
oberen Jordan, geliebt von seineu Untertanen, gerecht und milde.
An der Stelle des alten Panheiligtums, an der Jordanquelle, baute
er seine Hauptstadt Cäsarea Paneas; an der Stelle von Bethsaida,
wo der Jordan in den See Gennesar tritt, die Stadt Julias. Als
er im Jahre 33/34 kinderlos starb, wurde sein Gebiet eingezogen,
blieb jedoch nur wenige Jahre der Provinz Syrien angeschlossen.
Antipas baute in Peräa das alte Betharamphta um und nannte
es der Kaiserin zu Ehren Livias, später Julias. In Galiläa stellte
er die von Varus zerstörte Kapitale Sepphoris wieder her, verlegte
aber hernach seine Residenz in die von ihm neu gegründete Stadt
Tiberias, die am See Gennesar bei den warmen Quellen von Ama-
thus lag'). Er ist uns bekannt als der Landesherr Jesu und als
der Mörder des Täufers Johannes. Als Johannes seine Wirksam-
keit über Peräa ausdehnte, wurde er von ihm festgenommen und
nach nicht sehr langer Gefangenschaft in der Burg Machärus hin-
gerichtet^). Nach Josephus geschah (bis aus politischen Gründen,
weil Johannes die Menge aufregte, ohne Zweifel durch die Ver-
kündigung, der Eintritt des Reiches Gottes und also auch das Ende
der herodäischen Herrschaft stehe nahe bevor. Nach dem Evan-
gelium geschah es auf Betreiben der Herodias, der Gemahlin des
Antipas, die dieser aber erst einige Jahre nach dem Tode des
Täufers seinem Bruder Herodes abspenstig gemacht und geheiratet
haben kann. Die Heirat mit dem gar nicht mehr jugendlichen
Weibe seines Bruders brachte zu der Schuld auch das Unglück über
das Haupt des Antipas. Er verfeindete sich dadurch mit dem
Nabatäerkönige Aretas, dem Vater seiner ersten Frau, mit der er
1) Ant. 18, 36 Niese.
^) Der Zeitpunkt liegt uach Luc. 3, 1 nicht fern von A. D. 30. Über
Marc. G, 17 ss. vgl. meinen Kommentar.
23*
356 Zweiundzwanzigstes Kapitel.
viele Jahre gelebt hatte ^). Es entstand eine Grenzfehde z^Yischen
den Nachbarn, die längere Zeit dauerte und mit einem förmlichen
Kriege endete (36). Antipas unterlag. Er wandte sich hilfesuchend
an den Kaiser und erwirkte, daß dieser dem syrischen Legaten
Befehl erteilte gegen den Araber einzuschreiten. Als aber Yitellius
auf dem Marsche gegen Petra war, traf ihn in Jerusalem die Nach-
richt von Tiberius' Tode und bewog ihn umzukehren (37). Der
neue Herrscher, Gaius Caligula nahm nicht für Antipas Partei
gegen Aretas. Alsbald nach seinem Regierungsantritt erhol) er
einen herabgekommenen Sprossen des herodäischen Hauses, seinen
damals bereits siebenundvierzigjährigen Freund und Freudegenossen
Agrippa, aus dem Kerker, in den ihn Tiberius geworfen hatte, auf
den Thron, verlieh ihm die ehemalige Tetrarchie des Philippus
samt der Herrschaft des Lysanias von Abilene und ernannte ihn
zum Könige. Her verlotterte Abenteurer stand nun plötzlich im
Range hoch über seiner Schwester Herodias'"'), während er ehedem,
außer Stande sich vor seinen Gläubigern zu bergen, bei ihr ge-
l)ettelt hatte und froh gewesen war, auf ihre Verwendung das Amt
eines Polizeimeisters in Tiberias zu bekommen. Das wurmte die
stolze Frau und sie lag ihrem Tetrarchen so lange an, bis er mit
ihr zusammen nach Rom reiste, um auch für sich den Königstitel
zu erbitten. Aber gleichzeitig erschien in Baiae vor dem Kaiser
ein Gesandter Agrippas mit einem Schreiben desselben, worin er
Antipas des geheimen Einverständnisses mit Seianus und mit dem
Arsaciden Artabanus bezichtigte und zum Beweise für seine hoch-
fliegenden Pläne auf die gewaltigen Waffenvorräte hinwies, die er
bereit halte. Da Antipas die letztere Tatsache nicht leugnen
konnte, so wurde er abgesetzt und nach Lugdunum verbannt.
Herodias folgte ihm dahin und verschmähte die Gnade des Kaisers.
Die erledigte Tetrarchie bekam Agrippa. Das geschah im Jahre 39.
Als der neugebackene König Agrippa auf seiner Heimreise von
') Der Text von Ant. 18, 112 ist verderbt; den erforderlichen Sinn gibt
der Lateiner: [lila autem] — praemiserat enim ad patrem, xrt ei apud Machae-
runta omnia praepararentur qiiae itineris usus exposceret — a ductoribus
Aretae suscipitur. Auch der Anfang von § 113 ist unverständlich.
-) Agrippa und Ilerodias stammten aus der Ehe Aristobnls, des liin-
gerichteteu Sohnes der Mariamme, mit Berenice, der Tochter Salomes von
Kostobarus. Aus der selben Ehe stammten auch Ilerodes von Chalcis und
Aristobul.
Die Yierfünsten uud die Landpfleger. 357
Rom, die er im Sommer 38 antrat, Alexandria berührte, erregte
er durch sein lächerlich protzenhaftes Auftreten den Spott der Be-
wohner und gab dadurch den Anlaß zu einer großen Hetze gegen
die dortigen Juden überhaupt. Um denselben besser beikommen
zu können, kamen die Führer der Bewegung auf den teuflisch ge-
scheiten Gedanken, zu fordern, daß wie überall sonst so auch in
den Synagogen das Bild des Kaisers aufgestellt werden sollte. Auf
diese Weise zogen sie Caligula auf ihre Seite; sie konnten über-
zeugt sein, daß er ihre Forderung sich aneignen werde, wenngleich
dieselbe gegen die den Juden verbürgten religiösen Privilegien ver-
stieß. Der Statthalter Avillius Flaccus wagte nicht sich ihnen zu
widersetzen, da er die Ungnade des Kaisers fürchtete. Er gab die
Quartiere der Juden, mit Ausnahme eines einzigen, dem Pöbel preis
und ließ achtunddreißig ihrer Ältesten öffentlich auspeitschen. Es
brach eine furchtbare Verfolgung aus. Im Winter 38/39 ') ordneten
die Juden eine Gesandtschaft ab, um beim Kaiser selber vorstellig
zu werden;, der Sprecher w^ar Philo Alexandrinus. Gleichzeitig
ging auch eine Gesandtschaft der Gegenpartei nach Rom, an deren
Spitze Apio stand, ein großer Held vom Maul und von der Feder.
Caligula beschied die Parteien nach einigem Warten vor sich in
die Gärten des Mäcenäs und des Lamia, suchte die Juden durch
allerhand Vexirfragen, die ihren Widersachern ein wieherndes Ge-
lächter entlockten, in Verlegenheit zu setzen, wartete aber ihre
Entgegnung nicht ab, sondern ging von dannen um irgend etwas
zu besehen, zog sie hinter sich her und fragte dann wol nach langer
Pause, was sie zu sagen hätten, ohne indessen nun etwa auf sie
zu hören. Endlich entließ er sie mit der mitleidigen Bemerkung,
er sähe, daß sie weniger aus bösem Willen, als aus angeborenem
Unverstand, wegen unglücklicher Veranlagung, seine göttliche Natur
verkennten. Sie erreichten nichts; es blieb beim Alten.
Den Judenhaß, in den Gaius durch die Bosheit der Alexandriner
getrieben war, ließ er nun auch an den Palästinern aus. In der
Stadt Jamnia, die kaiserlicher Privatbesitz war, errichteten ihm
die Heiden einen Altar; die Juden aber zerstörten denselben. Der
Stadtvogt Herennius Capito berichtete darüber nach Rom, und
nun bekam der Statthalter von Syrien, P. Petronius, die Weisung,
die Bildsäule des Kaisers im Tempel von Jerusalem aufzustellen
') So Willricli iu den Beitrügen zur alten Geschichte 3, 410.
358 Zweiundzwanzigstes Kapitel.
und mit zwei Legionen in I*;ilästin;i einziirücl<en, um den voraus-
zusehenden Widerstand der Juden zu brechen. Petronius bestellte
die Statue in Sidon und machte sich im Frühling des Jahres 40
auf den Marsch. Aber an der Nordgrenze Palästinas bliel) er stehn;
wir finden ihn im Frühsommer zu Ptolemais und noch im Herbst
zu Tiberias. Die Juden gerieten in Angst und Aufregung; sie
ließen alles stehn und liegen im Gedanken an den entsetzlichen
Greuel, durch den ihr Heiligtum bedroht war. Eine Massendepu-
tation, Männer, Frauen und Kinder, begab sich zu dem Statthalter
nach Ptolemais, um ihn durch verzweifeltes Jammern und Flehen
zu erweichen ; eine andere erschien ein halbes Jahr später vor ihm
in Tiberias und belagerte vierzig Tage seinen Palast. Auch Aristobul,
der Bruder des selber in Rom abwesenden Königs Agrippa, und
andere vornehme Männer machten dem Statthalter Vorstellungen.
Petronius hatte durch sein Zögern zur Genüge bewiesen, wie sehr.,
ihm die Ausführung des unsinnigen Befehls widerstrebte, und war
deswegen bereits vom Kaiser zur Rede gestellt worden. Jetzt wagte
er den offenen Ungehorsam. Er führte sein Heer nach Antiochia
zurück und schrieb an Caligula, es drohe ein Aufruhr, wenn er
auf seinem Willen bestehe. Unverhoffter Weise sprang in Rom
der Wind um. Der Kaiser gab sein Vorhaben auf, seinem Freunde
Agrippa zu gefallen, der bei ihm zu Besuch war. Er verfügte, daß
im Tempel zu Jerusalem nichts geändert werden sollte, daß jedoch
anderswo niemand gehindert werden dürfe, ihm Altäre oder Tempel
zu errichten. Das tat er, bevor er Petronius' Schreiben erhielt.
Als es einlief, sandte er dem widerspenstigen Beamten sein Todes-
urteil, das er selber an sich vollstrecken sollte. Aber die Boten
wurden durch ungünstige Fahrt aufgehalten und kamen in Antiochia
erst an, nachdem daselbst die Nachricht vom Tode des Kaisers
längst bekannt war. Caligula wurde am 24. Januar 41 von Chärea
erdolcht, als er im Begriff war nach dem Orient zu reisen.
Kaiser Claudius ließ die Juden im Orient zufrieden und be-
stätigte ihre alten Privilegien. Dem Agrippa verlieh er zum Danke
für die guten Dienste, die er ihm bei seiner Erhebung geleistet
hatte, zu seinen übrigen Besitzungen noch Judäa und Samarien,
so daß nun die Prokuratorenregierung eine Weile aufhörte. Der
Enkel besaß nun wieder das Reich seines Großvaters, nur nicht
seine Fähigkeit und auch nicht sein Geld. Doch erreichte er was
dem Alten nicht gelungen war: er gewann die Pharisäer und söhnte
Die Yierfürsten uud die Landpfleger. 359
sie vollständig mit der Herrschaft des idumäischeii Hauses aus.
Er beobachtete getreu die alten Satzungen und brachte täglich
Opfer dar. Er verfolgte die junge Christeugemeinde, er tötete
Jakobus, den Bruder Johannis, mit dem Schwert, und da er sah,
daß es den Juden gefiel, fuhr er fort uud setzte auch Petrus ge-
fangen. Der Talmud ist seines Lobes voll. Josephus erklärt den
gottseligen Lump für einen Ausbund von Reinheit und Tugend: er
wird darin seinen Töchtern Berenice und ürusilla vorgeleuchtet
haben. Es waren schöne Tage für die Habbinen; gleichzeitig be-
fand sich auch die fromme Helena, die Königin von Adiabene, in
Jerusalem und erfreute ihr Herz. Agrippas Frömmigkeit reichte
aber nur bis an die Grenze des heiligen Landes, jenseit derselben war
er Heide wie sein Großvater ').
Um sich populär zu machen, liebäugelte er auch ein wenig
mit dem jüdischen Patriotismus. Er legte im Norden der Haupt-
stadt eine neue gewaltige Mauer au, durfte sie indessen nicht voll-
enden, da von oben her Einspruch dagegen erhoben wurde. Er
berief eine Versammlung seiner Kollegen nach Tiberias; die Fürsten
von Chalcis und Emesa, von Meliteue, Kommagene und Pontus
folgten seiner Einladung. Aber es erschien auch Marsus, der rö-
mische Statthalter von Syrien, uud der ungebetene Gast schickte
die geladeten nach Hause. Durch solches politisches Kinderspiel
verscherzte Agrippa das Vertrauen der Römer, und als er nach
kurzer Regierung starb (44 A. D.), gaben sie seinem Sohne, der
ebenfalls Agrippa hieß, nicht die Nachfolge, sondern setzten wieder
Prokuratoren über Judäa diesseit und jenseit des Jordans, Sama-
rien und Galiläa.
Nur die Oberaufsicht über den Tempel und den Tempelschatz
sowie das Recht den Hohenpriester zu ernennen nahmen die Römer
nicht für sich in Anspruch, sondern betrauten damit einen Bruder
des verstorbenen Königs, Herodes, dem das ituräische Fürstentum
von Chalcis am Libanon übertragen war. Dessen Nachfolger wurde
dann Agrippa H., der ganz des selben Geistes Kind war wie sein
Vater. Er machte von seinen geistlichen Befugnissen ausgiebig
Gebrauch und behielt dadurch Einfluß in Jerusalem. Es war ihm
ein Hauptvergnügen, von dem alten hasmonäischen Palast aus die
Priester im Tempel zu beobachten, bis diese ihm durch Errichtung
') Le Bas und Wadd. u. 0. no. 23Gö. Aut. 19, 345. Act. 12, 22.
360 Dreiundzwauzigstes Kapitel.
einer hohen Mauer die Aussicht sperrten. Im Jahre 53 tauschte
er das kleine Reich von Chalcis gegen ein anderes und größeres
Gebiet aus; er erhielt die Tetrarchie des Philippus nebst der des
Lysianias von Abilene und das Fürstentum des Arabers Noarus
am Libanon. Von Nero bekam er auch noch einen Teil von Gali-
läa, mit Tiberias und Taricheae, dazu die Stadt Julias in Peräa
und vierzehn dazu gehörige Dörfer. Für die treuen Dienste, die
er im jüdischen Krieg den Kömern leistete, wurde er durch aber-
malige bedeutende Gebietserweiterung belohnt. Nach seinem Tode
aber zog Traian sein Königreich ein, und damit war die Herrschaft
der Herodäer in Palästina zu Ende.
Dreiiindzwanzigstes Kapitel.
Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens.
1. Die halcyonischen Tage unter Agrippa I. hatten nicht lange
gedauert. Es folgten die Anzeichen des Sturmes. Der abermalige
Übergang in die unmittelbare römische Herrschaft erregte die Juden
weit stärker als der erste zur Zeit des Quirinius. Sie konnten sich
nicht wieder in das Regiment der Prokuratoren schicken, einerlei
ob dieselben etwas taugten oder nicht; ein modus vivendi wollte
sich nicht finden lassen. Die Reibungen und Konflikte hörten nicht
auf; und so geringfügig sie manchmal schienen, so waren sie doch
bedeutsam.
Auf den Befehl des Kaisers Claudius kündigte Cuspius Fadus,
der erste Prokurator der neuen Reihe, den Obersten der Juden an,
daß der von Vitellius freigegebene hohepriesterliche Ornat wieder
auf der Burg Antonia in Gewahrsam genommen werden solle.
Aber sie baten ihn und den Statthalter von Syrien, Cassius Lon-
ginus, der sich in jener Zeit des Überganges mit einer ansehn-
lichen Macht in Jerusalem eingefunden hatte, eine Gesandtschaft
nach Rom schicken zu dürfen, um Claudius zur Rücknahme des
Befehls zu bewegen. Es wurde ihnen gestattet, und sie erwirkten
durch die Fürsprache Agrippas IL einen gnädigen Bescheid des
Kaisers. Er ließ ihnen das heilige Gewand,
Weiter wird von Cuspius Fadus berichtet, daß er Grenzfehden
und Räubereien der Juden gegen ihre Nachbaren mit gutem Erfolg
Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens. 361
unterdrückte, und daß er dem Wundermann Theudas das Hand-
werk legte, der sich als Prophet aufgetan und viele Anhänger ge-
wonnen hatte. Er blieb nur kurze Zeit im Amte. Sein Nach-
folger Tiberius Julius Alexander, ein jüdischer Apostat, der Neffe
Philos von Alexandrien , ließ zwei Söhne des Zeloten Judas von
Galiläa ans Kreuz schlagen. Auch er machte bald einem Anderen
Platz. Im Jahre 48 trat Ventidius Cumanus an'). Unter ihm
begab es sich an einem Osterfeste, daß ein Soldat sich gegen die
feiernde Menge eine unanständige Geberde erlaubte. Darüber auf-
gebracht drangen die Juden auf den im Tempel anwesenden Land-
plleger ein und verlangten von ihm die Bestrafung des Missetäters.
Einige Hitzköpfe wurden tätlich und warfen Steine gegen die Sol-
daten. Da holte Cumanus Verstärkung herbei und säuberte den
Tempel. Voll Schrecken drängten sich die Juden nun durch die
Ausgänge, manche kamen bei dem Gedränge um, und das Fest
endete in Trauer. Einige Zeit später ließ der Landptleger wegen
eines an einem kaiserlichen Beamten begangenen Raubes einige
dem Orte der Tat benachbarte Dörfer plündern. Dabei zerriß ein
Soldat eine Gesetzesrolle, die ihm in die Hände gefallen war, und
warf sie ins Feuer. Flugs stand das ganze Land in Flammen, eine
Massendeputatiou begab sich nach Cäsarea, um beim Landpfleger
Klage zu führen. Er ließ den Unheilsstifter hinrichten und
löschte dadurch den Brand. Bald aber brachen neue und gefähr-
lichere Unruhen aus. Ein Galiläer war auf der Heise zum Fest
nach Jerusalem von Samariern erschlagen^). Seine Landsleute
rotteten sich zusammen um den Mord zu rächen; viele von den
Wallfahrern schlössen sich ihnen an und ließen das Fest Fest sein.
0 Nach Tacitus Ann. 12, 54 war Cumanus nur Prokurator von Galiläa.
Aber die Erzählungen des Josephus über sein Auftreten in Jerusalem und
Judäa können nicht aus der Luft gegriffen sein. Josei>hus (geboren 37/38)
steht den Sachen viel näher und berichtet weit eingehender; man wird sich
für ihn entscheiden müssen. Hitzig tut das wenigstens insoweit als er zu-
gibt, daß Cumauus erst im Jahre 52 auf Galiläa beschränkt sei, nachdem
er in Judäa und Samarieu dem Felix habe weichen müssen. Damit ist jedoch
in den taciteischen Bericht schon Bresche gelegt; dann kann man ihn auch
ganz umstoßen. Wenn wirklich Galiläa damals von Judäa abgetrennt worden
wäre, so müßte Josephus es gewußt und gesagt haben; er setzt aber immer
das Gegenteil voraus (z. B. Bell. 2, 247. 252). In einer solchen Sache kann
er kaum irren.
■) Vgl. Luc. 9, 53.
362 Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Geführt von dem patriotischen Bandenführer Eleazar Dinaei ') er-
gossen sie sich über die samarische Landschaft und hausten dort
schonungslos. Cumanus kümmerte sich anfangs weder um die
Mörder noch um die Rächer. Er ließ die Dinge gehn; erst als
sie recht schlimm geworden waren, fand er sich veranlaßt einzu-
schreiten. Nachdem er die Schar Eleazars teils niedergemacht
teils gefangen genommen hatte, zerstreuten sich die Übrigen. Viele
gingen auf die dringenden Vorstellungen der jerusalemischen Obersten
heim, andere aber blieben bei dem freien Leben und durchzogen
als Räuberbanden das Land.
Den Samaiiern hatte Cumanus nicht genug getan, sie wandten
sich beschwerdeführend an den syrischen Statthalter Quadratus,
der eben in Tyrus weilte. Gleichzeitig erschien vor ihm aber auch
eine Deputation aus Jerusalem, geführt von dem Hohenpriester
Jonathan, sowol um darzulegen, daß die Samarier angefangen
hätten, als auch um ihrerseits Cumanus zu verklagen, daß er durch
seine Saumseligkeit den Aufstand groß gezogen und ihn dann im
Blute erstickt hätte. Der Statthalter begab sich an Ort und Stelle,
richtete eine Anzahl Juden hin, die mit den Waffen in der Hand
ergriffen waren, und sandte im übrigen die Vorsteher der Juden
und der Samarier, ebenso wie den Landpfleger und seinen Tribun
Celer, zur Verantwortung nach Rom. Dem Einfluß Agrippas IL
hatten die Juden es zu verdanken, daß der Kaiser sich gegen die
Samarier erklärte und drei ihrer Obersten hinrichten ließ. Den
Tribun Celer, der wahrscheinlich die römischen Truppen im Kampf
gegen die Schar Eleazars befehligt hatte, schickte er gefesselt nach
Jerusalem: die Juden sollten ihn martern, durch die Stadt schleifen
und ihn dann enthaupten. Der Hauptschuldige, Cumanus, wurde abge-
setzt und verbannt. An seiner Stelle wurde ein Freigelassener der
kaiserlichen Familie, Antonius Felix, der Bruder des Pallas, zum Land-
pfleger ernannt (52); angeblich auf Betreiben des Hohenpriesters Jona-
than, der sicli dann auf diese Weise beim Kaiser hätte einschmeicheln
wollen. Über Mangel an Rücksicht und Nachgiebigkeit der römischen
Regierung konnten sich die Juden nicht beklagen ').
^) Er liatte zwanzig Jahre lang sein Wesen getrieben, als er im Jahre 52
durch Verrat in die Hände der Römer fiel (Bell. 2, 253).
-) Ich bin dem Bericht des Bellum gefolgt, der klarer und unparteiischer
ist als der der Antiquitäten. Unter den Samariern ist wol nicht die Sekte der
Samariter, sondern allgemein die Bewohnerschaft des Landes zu verstehu.
Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens 363
Felix ging den Freischärlern kräftig zu l>eibe, die namentlich
seit dem galiläischeu Volkskriege gegen die Samarier das Land be-
unruhigten. Aber wenn sie auf dem Lande unterdrückt wurden,
so tauchten sie dafür einzeln in Jerusalem wieder auL Sie setzten
die dortige Bevölkerung in Schrecken, indem sie, unter die Menge
sich mischend, am hellen Tage angesehene Leute niederstießen,
die ihnen zuwider waren. Diese Meuchler wurden mit dem latei-
nischen Namen Sicarier (d. h. Banditen) bezeichnet, der Hohepriester
Jonathan war eins ihrer ersten Opfer. Gleichzeitig traten statt der
kriegerischen Bandenführer religiöse Demagogen von der Art des
Theudas auf und fanden großen Anhang. Unter ihnen ragte ein
Ägypter hervor, der in der Wüste viele Tausendc um sich sam-
melte und sie auf den Ölberg führte, um von da triumphirend in
Jerusalem einzuziehen. Diese religiösen Demagogen sind die fal-
schen Christi, von denen im Evangelium die Rede ist. Sie wollten
die messianische Weissagung erfüllen. Deshalb führten sie das
A'olk in die Wüste, denn der Aufenthalt in der Wüste sollte dem
Kommen des Heils vorhergehn; deshalb zogen sie auf den Ölberg,
denn auf dem Ölberg sollte Jahve erscheinen um sein Reich auf
Erden zu verwirklichen^). Felix zerschlug die messianischen Hoff-
nungen mit dem Schwerte; auch die Jerusalemer wollten nichts
von den Schwärmern wissen.
Aber das Übel war nicht auszurotten. Alle diese Erscheinungen
hingen unter sich zusammen, sie waren Zeichen eines fiebernden
Organismus. Es wühlte in den Tiefen des Volkes. Die niederen
Klassen, die Landbewohner waren aus Rand und Band. Sie lehnten
sich nicht bloß gegen die Römer auf, sondern auch gegen die Ord-
nungspartei, die in Jerusalem ihren Sitz hatte und der sowol die
Sadducäer als die Pharisäer angehörten. Sie ließen sich nicht mehr
von den Jerusalemern leiten. Die regierenden Aristokraten, die
mit Realitäten zu rechnen verstanden, behaupteten ihre Stellung
noch besser als die Rabbinen. Diese letzteren wurden gänzlich zur
Seite gedrängt von der gewaltigen Bewegung, die sie nicht mit-
machen wollten und konnten. Die Leute liefen ihnen aus der
Schule, sie hielten sich nicht mehr in den Schranken des Gesetzes
und trachteten nach einem andern Ziele als nach der Heiligkeit
und Reinheit. Die Männer der Zeit waren die Zeloten. Es war
0 Osee 2, 16. Ezech. 20, 35. Zacli. 14, 4.
364 Dreiuiidzwanzigstes Kapitel.
eine sehr gemischte Gesellschaft. Ehrliche Schwärmer und be-
geisterte }*atrioten gehörten dazu, Leute von geringer Bildung und
starkem Glauben, die keine Angst hatten und keine Rücksicht
kannten, weil sie von den politischen Verhältnissen weiter nichts
wußten als daß Gott mächtiger sei als Rom. Zu ihnen gesellten
sich aber auch zweifelhafte Elemente; der Fanatismus war nicht
wählerisch hinsichtlich seiner Helfershelfer. Wie gewöhnlich kamen
die rücksichtslosesten Männer der Tat oben auf und erhielten die
Führung. Richtige Helden wurden durch den Strudel nicht in die
Höhe gebracht; der Mangel an hervorragenden Geistern im jüdischen
Aufstand fällt auf, nur die elementaren Kräfte wirkten. Der Terro-
rismus, den die Zeloten ausübten, war fürchterlich. Sie meinten,
wer sich nicht gegen die Knechtschaft aufbäume, müsse zur Frei-
heit gezwungen werden, und sie handelten dementsprechend. Hir
letztes Überzeugungsmittel war der Meuchelmord.
Freilich gab es auch Nüchterne unter den Trunkenen. Als
noch tiefer Friede und groi3er Wolstand in Jerusalem herrschte,
erschien dort ein schlichter Landmann, Jesus Ananiae, zu einem
Laubhüttenfest und fing plötzlich an zu rufen: „eine Stimme vom
Aufgang, eine Stimme vom Niedergang, eine Stimme von den vier
Winden; eine Stimme über Jerusalem und den Tempel, eine Stimme
über Bräutigam und Braut, eine Stimme über das ganze Volk!"
Er wurde mishandelt, gegeißelt, schließlich als Wahnsinniger laufen
gelassen. Er blieb unentwegt bei seinem Weheruf, Jahre lang
wiederholte er ihn unablässig mit heller Stimme in den Straßen der
Stadt, bei Tage und bei Nacht. Er fluchte keinem, der ihn schlug,
er dankte nicht, wenn er zu essen bekam. Er verkehrte und redete
mit niemand ; jeden Gruß erwiderte er mit seiner Unglücksweis-
sagung, bis ihm schließlich bei der Belagerung Jerusalems durch
Titus ein aus einer Wurfmaschine geschleuderter Stein den Mund
schloß.
2. Auf Anlaß eines Tumults, der in Cäsarea zwischen Juden
und Hellenen ausgebrochen war, wurde Felix abberufen, etwa im
Jahre 60^). Ihm folgte Porcius Festus, ein tüchtiger Beamter, der
während seiner Amtsführung starb. Darauf kam (Lucceius?) Al-
binus und nach ihm Gessius Florus (64). Diese beiden letzten
Prokuratoren hatten nicht einmal den guten Willen, die Ruhe
') Vgl. Scliürer in der Ztschr. für wiss. Theol. 1898 p. 21 ss.
Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens. 365
wieder herzustellen; sie beförderten die Anarcliie und zogen Vor-
teile daraus. In der Zwischenzeit zwischen dem Tode des Festus
und dem Antritt seines Nachfolgers hatte der Hohepriester Ananus,
Sohn des aus dem Neuen Testamente l^ekannten Annas, sich selbst
geholfen und mit kräftiger Hand versucht seine Autorität wenigstens
in Jerusalem zu behaupten. Es ging dabei nicht ohne Gewalts-
maßregeln und Übergriffe ab, er wurde bei Agrippa und Albinus
verklagt und nach kurzer Zeit abgesetzt. Jedoch Ananias Nede-
bäi trat in seine Fußstapfen, der angesehenste Mann der Hierokratie,
obwol damals nicht fungirender Hoherpriester. Er hatte ein großes
Vermögen, bewaffnete seine Knechte und führte mit seinem Anhang
einen förmlichen Krieg gegen die Patrioten. Albinus unterstützte
ihn dabei nicht; das ist ihm nicht zu verdenken. Er ließ ihn ge-
währen und nahm dafür Geschenke an. Aber gleichzeitig ließ er
sich auch von der Gegenpartei bestechen. Für Geld gab er die
gefangenen Zeloten frei; nur wer keins aufbringen konnte, l)lieb
als Verbrecher im Kerker. Ebenso, nur noch ärger und offener,
trieb es Gessius Morus.
Ein Vorgjuig in Cäsarea entfachte schließlich die allgemeine
Empörung. Die Juden standen dort auf sehr gespanntem Fuße
mit den Griechen, weil diese ihnen das Bürgerrecht bestritten und
damit bei Nero durchgedrungen waren. Zu dem Schaden trugen
sie auch noch den Spott und die Neckerei. Sie hatten eine Syna-
goge hinter einem Platze, der einem Griechen gehörte. Sie wollten
den Platz gern kaufen, aber der Besitzer gab ihn um keinen Preis
her, baute vielmehr AVerkstätten darauf und ließ ihnen nur einen
engen Zugang. Sie wollten den Bau mit Gewalt hindern, Florus
wehrte es ihnen. Als er aber acht Talente bekommen hatte, reiste
er fort nach Sebaste, um sie gleichsam ungestört zu lassen. Tags
darauf, als sie in der Synagoge versammelt waren, opferte ein da-
zu angestifteter Grieche dicht vor dem Eingang Vögel, das im Ge-
setz vorgeschriebene Opfer für Aussätzige. Infolge dessen kam es
zu einer großen Schlägerei, die durch das Militär nicht unterdiückt
werden konnte. Die Juden unterlagen, sie retteten sich und ihre
Gesetzbücher nach dem Städtchen Narbata. Vergebens beklagten
sie sich bei Florus, er schritt nicht zu ihren gunsten ein, sondern
blieb noch in Sebaste und überließ sie ihrem Schicksal. Sie
mußten nach Cäsarea zurückkehren und weiterer (»»uälereien ge-
wärtitf sein.
366 Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Von Cäsarea verpflanzte sich die Erregung nach Jerusalem und
Florus tat das seinige, sie zu schüren. Er schickte von Sebaste
aus nach dem Tempelschatze und ließ siebzehn Talente daraus
entnehmen. Darfiber entstand ein Auflauf; es fielen laute Schmäh-
worte, Körbe gingen herum zur Einsammlung milder Gaben für
den bedürftigen Florus. Diesen Anlaß benutzte er, um seine Ehre
zu rächen und seine Macht zu zeigen. Er brach mit Reiterei und
Fußvolk nach Jerusalem auf und verlangte von den Hohenpriestern
und Ältesten ') die Auslieferung der Schuldigen. Da dieselben
nicht ausfindig gemacht werden konnten, so gab er einen Teil der
Stadt seinen Soldaten preis, ohne sich an die Bitten der eben an-
wesenden Berenice, der Schwester Agrippas IL, zu kehren. Viele
Einwohner wurden in den Häusern erschlagen, andere gefangen
und gekreuzigt (16. Artemisius 66)"). Kaum hatte sich der erste
Schrecken gelegt, so forderte er auch noch, daß die Mishandelten
die Rute küssen und den beiden Kohorten, die er zu seiner Ver-
stärkung aus Cäsarea heran beordert hatte, einen festlichen Emp-
fang bereiten sollten. Mit Mühe ließen sie sich von ihren Oberen
dazu bereden. Aber neue Kränkungen und Mishandlungen waren
die Folge, und nun riß ihnen die Geduld. Sie setzten sich gegen
die römischen Truppen zur Wehr und brachten sie in Bedrängnis.
Wiederum machte sich der Landpfleger im kritischen Moment aus
dem Staube; er übertrug die Sorge für die öffentliche Ordnung der
einheimischen Behörde, nur eine Kohorte ließ er in Jerusalem
zurück.
Nicht lange darauf erschien ein Abgeordneter des syrischen
Legaten Cestius Gallus in Jerusalem, der Tribun Neapolitanus.
Er fand die Stadt ruhig, wenngleich erbittert gegen Florus. Zu-
gleich mit ihm kam auch der König Agrippa H. an. Er versam-
') So heißen sie iin Neuen Testament. Josephus nennt neben den IToheu-
priestern die Suvaxoi oder die yviöpiii-ot. Es sind die Mitglieder des Synedriums.
In Yollständiger Aufzählung Bell. 2,411: cuvsXiJdvTei; ol Suvaxoi xol; äpjfiepEÜaiv
tU xaÜTo '/.aX ToI? xüiv ^I'apiaadov yvcupifj-ois — wie im N. T. die Hohenpriester,
die Ältesten und die Schriftgelehrten.
2) Über die Monate bei Josephus s. Niese im Hermes 1893 p. 197 s. und
in der Vorrede zum Bellum p. LX. Der Xanthicus (Nisan) beginnt nach dem
tyrischen Kalender am 18. April, der Artemisius (Ijär) am 19. Mai, der Däsius
(Chaziran) am 19. Juni, der Panemus (Tammuz) am 20. Juli, der Lous (Ab)
am 20. August, der Gorpiäus (Elul) am 19. September, der Hyperberetäus
(Tisri) am 19. Oktober, der Dius (Marchesvau) am 18. November.
Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens. 367
Hielte die Einwohner vor seinem Palaste, predigte Vernunft und
machte Eindruck. Sie erklärten, nicht dem Kaiser sondern nur
dem Florus feind zu sein, und verstanden sich dazu, die rückstän-
digen Steuern einzusammeln und die während des Kampfs mit den
römischen Truppen abgerissenen Säulengänge zwischen dem Tem-
pel und der Antonia wieder aufzubauen. Als aber Agrippa weiter
ging und nun auch Gehorsam gegen Florus forderte, verdarb er es
mit ihnen und mußte machen, daß er weiter kam. Er hatte eine
Wirkung erzielt, die seiner Absicht entgegengesetzt war; er hatte
den Juden klar gemacht, daß der Kaiser nicht von dem Landpfleger
zu trennen sei. Wenn das der Fall war, so wollten sie auch vom
Kaiser nichts wissen. Die Stimmung in Jerusalem wurde entschie-
den kriegerisch. Die Rücksichten begannen zurückzutreten, die
natürlichen Gefühle drangen durch, die Aufstandspartei bekam die
Oberhand. Ein Aristokrat von edelstem Blut, Eleazar der Sohn
des Hohenpriesters Ananias Nedebäi, trat zu ihr über. Er ließ
sich von der Bewegung fortreißen, hoffte aber auch vielleicht sie
leiten zu können, wenigstens trat er sofort an ihre Spitze. Auf
seinen Antrag sollten Opfer von NichtJuden im Tempel nicht mehr
angenommen werden. Das war in der Tat eine Zurückweisung des
Opfers für den Kaiser, eine theokratische Form der Kriegserklärung
gegen die Römer 'J. Der Antrag fand allgemeine Zustimmung; die
Hohenpriester und die Ältesten nebst den Häuptern der Pharisäer
protestirten vergebens dagegen.
Die Obersten der Juden stellten sich mit aller Macht dem
Strom entgegen. Da ihre eigene Kraft nicht ausreichte, so schick-
ten sie Botschaft sowol an Florus als an den König Agrippa und
baten um Hilfe. Florus tat als gehe ihn die Sache nicht an,
Agrippa aber sandte dreitausend Reiter. Nun entspann sich in
Jerusalem ein Kampf der Aufständischen gegen die Aristokraten.
Diese hielten mit den königlichen Truppen die obere d. i. die
westliche Stadt besetzt, konnten sie aber nicht lange halten, son-
') Mommsen nennt das einen Fortschritt der Theologie. Eleazar, der
Sohn des mächtigsten und vornehmsten Mannes in Jerusalem, der aus eigenen
Mitteln ein kleines Heer gegen die Zeloten auf die Beine lirachte, ein Theo-
loge! das ist seltsam. Die regierenden Priester von Jerusalem waren nichts
weniger als Theologen. Die richtigen Theologen, die pharisäischen Gesetzes-
lehrer, hielten sich von der Aktion fern, wenngleich sie an Römerhaß keinem
nachstanden.
368 Dreiundzwanzigstes Kapitel,
dern mußten sich in den Palast des Ilerodes, im Norden der Ober-
stadt, zurückziehen. Die Aufständischen benutzten den Sieg, um
das Archiv zu verbrennen und auf diese Weise die Schuldbriefe
zu vernichten — das ist bezeichnend. Hernach wandten sie sich
gegen die Antonia (15. Lous 60), steckten sie in Brand und mach-
ten die Besatzung nieder. Dann zogen sie vor den Fahrst des Herodes
und begannen ihn zu behigern. Sie waren damit noch beschäftigt,
als sie Zuzug von außen erhielten.
AVährend nämlich diese Dinge in der Hauptstadt sich zutrugen,
waren auch die Zeloten auf dem Lande nicht müßig gewesen.
Unter der Führung eines noch übrigen Sohnes ihres ersten Partei-
hauptes Judas Galiläus, des Manaem, hatten sie das Kastell Ma-
säda in der Nähe des Toten Meeres überrumpelt und die römische
Garnison getötet. Aus dem dortigen Zeughause mit Waffen wol
versehen kamen sie nun nach Jerusalem und brachten Zug in die
Belagerung. Die königlichen Truppen räumten den Palast, nach-
dem ihnen freier Abzug bewilligt war; die Römer, welche die
eigentliche Besatzung bihleten, warfen sich in die drei dazu gehö-
rigen festen Türme. Sie wurden aber bald gezwungen zu kapitu-
liren. Sobald sie die Waffen abgelegt hatten, wurden sie treulos
niedergestoßen; nur der Anführer, Metilius, bettelte um sein Leben
und erhielt es geschenkt, weil er versprach sich beschneiden zu
lassen. Das geschah am 17. Gorpiäus, an einem Sabbatstag.
Die Aristokratie war unterlegen. Die Aufständischen hatten
in der Stadt die Herrschaft gewonnen. Unter ihnen selber aber
kam CS zu einer Spaltung zwischen den Jerusalemern, an deren
Spitze Eleazar stand, und den auswärtigen Zeloten, die Manaem
befehligte. Die letzteren hatten einige Häupter der Aristokratie,
die ihnen in die Hände gefallen waren, ums Leben gebracht, da-
runter auch den Hohenpriester Ananias Nedebäi, den Vater Ele-
azars. Darüber erzürnt griff Eleazar sie im Tempel an. Manaem
wurde gefangen und unter Martern hingerichtet; w-er sich von seiner
Schar retten konnte, floh nach Masada zurück. Für eine Zeit lang
blieben die Jerusalemer Herren in ihrem Hause.
Auch in Machärus und Jericho wurden die römischen Be-
satzungen verjagt und umgebracht. Überall im ganzen Lande
entbrannte die LIeidenhetze , wo die Juden die Mehrheit hatten,
und die Judenhetze, wo das Verhältnis umgekehrt war. Li Gä-
sarea wurden die sämtlichen jüdischen Einwohner abgeschlachtet.
Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens. 369
Ebenso oder ähnlich er«;ing es ihnen in Askalon und Scythopolis,
in Hippus, Gadara und Damaskus '), in Ptolemais und Tyrus; nur
im Gebiet des Königs Agrippa, sowie in Sidon Apamea und An-
tiochia waren sie sicher. Auch die Alexandriner machten ihrem
Hasse gegen die Juden wieder einmal Luft; sie reizten sie zu
einem Aufstand, der sich über das Delta verbreitete und von dem
römischen Statthalter Tiberius Alexander nur mit Mühe unterdrückt
wurde.
Um die Zeit des Herbstfestes, im Monat Hyperberetäus, erschien
Cestius Gallus, der Legat von Syrien, mit der zwölften Legion und
den Kontingenten verschiedener Vasallen, darunter auch des Königs
Agrippa, in der Nähe von Jerusalem, nachdem er längere Zeit mit
der Niederwerfung und Züchtigung der Insurgenten in Galiläa und
in der Küstengegend verbracht hatte. ^) In dem alten Gibeon
schlug er ]jager. Die Juden, die von allen Orten zum Feste in
die Hauptstadt zusammen geströmt waren, überraschten ihn durch
einen plötzlichen Überfall, er wies sie aber doch schließlich ab
und verfolgte sie bis an die Stadt. Ohne Schwertstreich drang er
am 30. Hyperberetäus in die nördlichen Vorstädte ein und legte
sie in Asche. Nun schritt er zum Angriff gegen die Königsburg
des Herodes, die weit gegen Norden vorsprang. Unter diesen LTm-
ständen erhob drinnen die Friedenspartei noch einmal ihr Haupt,
einige vornehme Bürger versprachen ihm die Tore der Stadt zu
öffnen. Er aber traute ihnen nicht, sondern nachdem mehrere
Stürme auf die Burg abgeschlagen waren, entschloß er sich plötzlich
zum Rückzuge. Von den Juden verfolgt, erreichte er mit Mühe
das Lager in Gibeon. Als er von da die Straße nach Westen
einschlug, wurde er im Paß von Bethhoron umzingelt; nur mit
schweren Verlusten konnte er sich durchschlagen. Das geschah am
8. Dius 66.
3. Die Juden hatten wahrhaftig die Römer zum Lande hinaus-
getrieben. Der Aufstand hatte gesiegt. Auch die bisherigen Gegner
desselben schlössen sich jetzt an; wer es nicht tat, mußte aus-
') Die Damascener fürchteten sich vor ihren Frauen, welche beinah alle
die jüdische Religion angenommen hatten. Sie hielten daher ilncn Mordplan
vor jenen sehr geheim (Bell. 2, 560).
■'') Er hat demnach alsbald nach dem Ausbruch der Empörung den Zug
gerüstet und angetreten. Denn der Hyperberetäus folgt auf den Gorpiäus.
Wellhausen, Isr. Geschiclite. 5. Aufl. 24
370 Dreiund zwanzigstes Kapitel.
wandern. Aber merkwürdiger weise kamen nun nicht etwa die
eigentlichen Führer der Bewegung an das Ruder, sondern die Aristo-
kraten, die so wenig Herz für die große Sache hatten. Daß sie
ihr in letzter Stunde notgedrungen beigetreten waren, genügte, um
sie wieder obenauf zu bringen. Allerdings waren die Pilger des
Laubhüttenfestes, die den Sieg erfochten hatten, kaum in der Lage,
das Steuer in die Hand zu nehmen. Die neue Regierung setzte
sich aus den Kreisen des alten Synedriums zusammen; an die
Spitze trat, da Ananias Nebedäi ermordet war, der alte tatkräftige
Hohepriester Ananus Annas' Sohn. Auch zu Befehlshabern in den
Toparchien von Judäa und Idumäa, von Galiläa und Peräa wurden
vornehme Männer ernannt, die sich durch patriotischen Eifer bisher
nicht ausgezeichnet hatten. Zwar befand sich auch Eleazar Ana-
nias Sohn darunter; aber daß er selbander nach Idumäa gesandt
wurde, war im Grunde doch eine starke Zurücksetzung.^) Viel-
leicht hatte er es mit beiden Parteien verdorben, er verschwindet
vom Schauplatze.
Als Nero die Nachricht von der Niederlage des Cestius erhielt,
beauftragte er Vespasian mit der Fortsetzung des Krieges. Dieser
zog im Frühling 67 sein Heer bei Ptolemais zusammen. Es be-
stand aus drei Legionen nebst den Auxilien, und aus den Truppen
der Könige Agrippa, Malchus, Antiochus von Commagene und
Sohaemus von Emesa. Die Juden rückten ihm nicht mit ver-
einter Macht entgegen, sondern erwarteten nach alter Gewohnheit
seinen Angriff auf ihre feste Hauptstadt und überließen die Pro-
vinzen sich selber. Er begann mit der Unterwerfung Galiläas.
Dort führte als Statthalter der jerusalemischen Regierung Josephus
den Befehl, der spätere Geschichtsschreiber. Er war ein eitler,
unerfahrener Mann und seiner Aufgabe nicht entfernt gewachsen;
seine Untergebenen hatten kein Zutrauen zu ihm und er nicht zu
ihnen. Noch vor dem eigentlichen Beginn des Krieges ergab sich
die alte Hauptstadt Sepphoris den Römern; sie war seit ihrem
Wiederaufbau nach der Zerstörung durch Varus halb hellenistisch
geworden. Als Vespasian sich näherte, stob das galiläische Heer
^) Es fällt auf, daß Josephus (Bell. 2, 564) nicht motivirt, warum Eleazar
Ananiae, sondern warum Eleazar Simonis zurückgesetzt sei, von dem er bis
dahin noch niciits erzählt hat. Eleazar Simonis war der Führer der Zekiten
in Jerusalem.
Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens. 371
aus einander; in kürzester Frist war er Herr des flachen Landes.
Aber viele Mühe kostete es ihn, die kleinen Festungen zu be-
zwingen; denn hinter ihren Mauern wehrten sich die Patrioten
tapfer. Vor dem Felsenneste Jotapata, wohin Josephus sich mit
dem Rest seines Heeres geworfen hatte, lag er mit seiner gesamten
Macht achtundvierzig Tage lang. ^) Nachdem er es am 1. Panemus
erstürmt und dabei auch den Oberbefehlshaber in seine Gewalt
bekommen hatte, gönnte er seinen Truppen Ruhe von der heißen
Arbeit und erholte sich selber in Paneas, der schön gelegenen
Residenz Agrippas H. Er glaubte mit Galiläa fertig zu sein. Er
irrte sich jedoch, der P>rand war noch nicht erstickt, die Flamme
schlug an mehreren Stellen wieder hervor. Das feste Gamala, im
Osten des Sees Gennesar, mußte er wieder einen ganzen Monat
lang belagern; es fiel am 2.S. Hyperberetäus. Die letzte Stadt, die
eingenommen wurde, war Gischala. Sie kapitulirte; aber der
Hauptmann Johannes, der sie verteidigte, entkam mit seiner Ze-
lotenbande.
Auf diese Weise ging das erste Kriegsjahr hin. Nach der
Eroberung Galiläas führte Vespasian die Legionen in die Winter-
quartiere, nach Cäsarea und nach Scythopolis. Anfang März des
nächsten Jahres (68) ging er über den Jordan, besetzte Gadara
und detachirte von dort den Placidus, der Peräa bis auf die Burg
Machärus unterwarf. Nach Cäsarea zurückgekehrt, brachte er zu-
nächst das westliche Judäa und Idumäa in seine Hand; dann
wandte er sich nordwärts und zog durch die Samaritis am Jordan
hinunter nach Jericho, wo sich Placidus wieder mit ihm vereinigte.
Als er die Umgebung auf allen Seiten in seiner Gewalt hatte,
rüstete er sich zur Belagerung der Hauptstadt selber. Li diesem
Augenblick traf ihn die Nachricht vom Tode Neros. Nun stellte
er den Angrift' ein und wartete auf die Befehle Galbas. Darüber
verging die gute Jahreszeit, im Anfang des folgenden Jahres (69)
trat abermals ein Kaiserwechsel ein, und erst im Juni nahm
') Er schickte allerdings während dieser Zeit den Cerialis mit einem Teile
der fünften Legion nach Sichern. Denn die Samariter hatten sich auf dem
heiligen Berge Garizzim versammelt und eine drohende Haltung gegen die
Römer angenommen. Cerialis umstellte sie, und da sie sich nicht ergeben
wollten, machte er sie nieder, am 27. Däsius 67. Die samaritische Gemeinde
wurde also in das Schicksal der jüdischen verwickelt; und an die Stelle der
heiligen Stadt Sichern trat die heidnische Kolonie Neapolis.
24*
372 Drelund zwanzigstes Kapitel.
Yespasian die Operationen wieder auf, nachdem sie fast ein Jahr
geruht hatten. Er brachte einige unbotmäßige Bezirke nördlich
und südlich von Jerusalem zum Gehorsam und säuberte sie von
Freibeuterbanden, so daß nur noch die Castelle Herodium und
Masada, und jenseit des Jordan Machärus den Juden verblieben.
Als aber die Kunde von der Schlacht bei Cremona und dem Falle
Othos in den Osten gelangte, zeigten die dortigen Legionen keine
Lust, sich von der Rheinarmee den Herrscher setzen zu lassen.
Sie hoben Yespasian auf den Schild und er ließ es sich gefallen.
Über den Kampf um Rom ließ er nun den Kampf um Jerusalem
anstehn, und erst Ende 69, als er auf die Nachricht von der
Ermordung des Vitellius von Alexandria nach Italien reiste, beauf-
tragte er seinen Sohn Titus, der ihm schon immer zur Seite ge-
standen hatte, mit der Beendigung des jüdischen Krieges.
Mittlerweile hatte sich in Jerusalem eine gro9te innere Revo-
lution vollzogen. Der Anlaß war die Niederwerfung Galiläas. Viele
der dortigen Patrioten verließen das Land und gingen nach Jeru-
salem, um den Kampf gegen die Römer fortzusetzen, unter ihnen
jener Johannes von Gischala. Auch andere fremde Elemente wur-
den durch die Kriegsereignisse in die Hauptstadt getrieben und ver-
stärkten die radikale Partei, deren Führer jetzt Eleazar Simons
Sohn war. Sie schoben die Schuld des Miserfolges auf den Ver-
räter Josephus und seine Auftraggeber und Gesinnungsgenossen in
Jerusalem. Sie waren entrüstet gegen die Aristokraten, die aller-
dings weniger an die Kriegführung als an das Friedenschließen
dachten. Ein Sturm brach aus; mehre misliebige Römerfreunde
wurden ergriffen und umgebracht. Die Zeloten besetzten den Tem-
pel, sie dachten die Regierung an sich zu reißen. Den bisherigen
Hohenpriester von Agrippas Gnaden erklärten sie für abgesetzt; da
das Erbrecht längst durchbrochen war, so schufen sie einen neuen
von Gottes Gnaden durch das Los, der sich freilich als ganz un-
brauchbar erwies. Auch ein neues Synedrium von siebzig Mit-
gliedern scheinen sie eingerichtet zu haben. Indessen die Aristo-
kraten streckten nicht sogleich die Waffen. Der Hohepriester
Ananus forderte die jerusalemischen Bürger auf, sich doch nicht
von den hergelaufenen Fremden einschüchtern zu lassen. Sie er-
mannten sich in der Tat zum Widerstand, warfen nach blutigem
Kampf die Zeloten in den inneren Tempel zurück und hielten sie
dort eingeschlossen, da sie die heiligen Tore nicht zu stürmen
Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens. 373
wagten. Es gelang aber den Zeloten, Botschaft auf das Land zu
senden und dort Succurs gegen die Römerfreunde zu erbitten, von
denen sie bedrängt wurden. Aus Idumäa kamen ihnen einige
tausend Bauern zu Hilfe. In einer finsteren Nacht, bei furchtbarem
Unwetter,^) fanden sie Gelegenheit in die Stadt einzudringen und
ihre Freunde zu entsetzen. Damit war der Sieg der Fanatiker und
Radikalen über die Gemäßigten, der Fremden über die Einheimischen
entschieden. Die Folge war die Vernichtung der Aristokratie, die
bis zuletzt das lieft nicht aus der Hand gegeben hatte. Ihre
Häupter iielen zum Teil in dem allgemeinen Blutbade, welches
die Sieger unter den Bewohnern von Jerusalem anrichteten; zum
gröi3eren Teil wurden sie vor Gericht gestellt und als Verräter
hingerichtet. Als das Gericht den Zacharias Barachias Sohn frei-
sprach, stießen ihn einige der Umstehenden mitten im Heiligtum
nieder mit den höhnischen Worten: hier hast du auch unsere
Stimmen. ') Es war der Untergang der alten jüdischen Verfassung
und Regierung, man kann sagen des alten jüdischen Gemeinwesens.
Josephus betrachtet namentlich den Tod des greisen Ananus, der
sich jahrelang, schon seit dem Tode des Porcius Festus, auf das
mannhafteste gegen die Umstürzler gewehrt hatte und zusammen
mit Ananias Nedebäi die Seele des Widerstandes gegen sie gewesen
war, als den Anfang des Endes.
Die Idumäer, ehrliche Leute, schämten sich, als sie sahen, von
wem und zu welchen Zwecken sie benutzt waren, ließen die zahl-
reichen Gefangenen der Zeloten frei und kehrten größtenteils heim. ^)
Ihre Arbeit hatten sie jedoch getan. Die Zeloten waren jetzt die
unbeschränkten Herren von Jerusalem, an ihrer Spitze Johannes von
Gischala. Dieser hatte der Partei durch perfide Diplomatie, in der
er Meister war, wesentliche Dienste geleistet und gestützt auf seine
Galiläer es verstanden, Eleazar Simons Sohn von der leitenden
1) Also jedenfalls im Winter, aber in welchem? Von 67 auf 68, oder von
68 auf 69? Wahrscheinlich von 67 auf 68. Denn Simon Bargiora trat erst
nach dem Sturz der rechtmäßigen jeriisalemischen Regierung als Banden-
führer auf dem jüdischen Gebirge auf, aber schon vor 68 auf 69. — Mau
merkt sehr, daß Josephus damals in Jerusalem nicht dabei gewesen ist. Seine
genauen Daten fangen erst seit der Belagerung der Stadt durch Titus wieder au.
2) Matth. 23, 35. Luc. 11, 51. Skizzen 6, 208.
^) Es blieben aber noch immer ziemlich viele in Jerusalem; wir hören,
daß sie sich von Johannes trennten und zu Simon Bargiora hielten.
374 Dreiundzwaiizigstes Kapitel.
Stelle zu verdrängen. Sein Joch lastete schwer auf den Bürgern,
und sie hatten nicht die Kraft es abzuschütteln, nachdem ihnen
der Rückgrat gebrochen war. Da bot sich ihnen Gelegenheit, den
Teufel durch Beelzebub zu vertreiben, und sie ergriffen sie. Simon
Bargiora von Gerasa, ein junger Mann von großer Leibeskraft und
Kühnheit, hatte sich zuerst bei dem Überfall des Cestius ausge-
zeichnet. Dann setzte er sich in Akrabatene fest, von dort durch
Ananus vertrieben flüchtete er zu den Zeloten von Masada. Aber
nach dem Sturz der jerusalemischen Regierung durch die Zeloten
wagte er sich wieder auf das freie Feld und sammelte auf dem
Gebirge einen großen Anhang, mit dem er die Gegend brandschatzte.
Auch aus Jerusalem bekam er Zuzug, die von den Idumäern frei-
gelassenen Gefangenen suchten bei ihm Schutz vor ihren Drängern,
den Zeloten. Diese waren dem simplen Räuberhauptmann, der
ihnen das Spiel zu verderben drohte, feind und suchten ihm das
Handwerk zu legen. Jedoch er schickte sie mit blutigen Köpfen
heim. In der Zeit vom Jahre 68 auf 69, während die Römer un-
tätig waren, machte er sich zum Herrn von Idumäa und von der
Landschaft in Jerusalem. Daß die Zeloten ihm seine Frau auf-
griften und fortschleppten, gab ihm Anlaß vor der Hauptstadt selber
zu erscheinen; nachdem er indessen durch Repressalien und Dro-
hungen ihre Herausgabe erzwungen hatte, zog er noch einmal ab.
Aber bald kam er wieder, gelockt von einer Erhebung gegen
Johannes, die von den Idumäern in dessen Heere ausgegangen war.
Seine Rechnung trog ihn nicht; die Bürger von Jerusalem, die sich
der Erhebung angeschlossen hatten, öffneten ihm die Tore, damit
er ihnen gegen die Zeloten beistehe. Im Frühling 69 zog er ein,
noch bevor Vespasian die jüdisch-idumäische Landschaft wieder
unterwarf. Das Ergebnis war, daß die Stadt nun zwei Tyrannen
hatte, die sich zwar gegenseitig befehdeten, aber gemeinsam die
friedlichen Einwohner mishandelten. Simon occupirte die Ober-
stadt; Johannes blieb im Besitz des Tempels, des alten Haupt-
quartiers der Zeloten. Eine Weile spalteten sich die Zeloten auch
noch selber; Eleazar Simons Sohn, der alte Führer des Kernes der
Partei, rivalisirte mit Johannes und setzte sich im inneren Tempel
fest. Aber Ostern 70 wurde er durch eine List überwältigt, und
damit hörte die Spaltung wieder auf.
4. In dieser Weise verwandten die Juden die beiden Jahre,
in denen ihnen die Römer Ruhe ließen, um sich selber zu zer-
Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens. 375
fleischen. Einige Tage vor Ostern 70 erschien Titus vor Jerusalem,
als sich die Stadt bereits mit Pilgern gefüllt hatte. ^) Er hatte
vier Legionen und die Hilfstruppen der Könige bei sich; sein Bei-
rat war Tiberius Alexander, derselbe, der bis zum Jahre 48 Pro-
kurator von Judäa und hernach Statthalter von Ägypten gewesen
war. Wie üblich, griff er von Norden an. Nachdem er ohne viel
Arbeit die Vorstädte eingenommen hatte, ließ er auf Pfahlwerk
gestützte Sturmwälle gegen die Antonia und gegen die Oberstadt
errichten. Als sie aber mit großer Mühe vollendet waren (29. Arte-
misius), wurden sie durch Johannes und Simon wieder zerstört;
gegen außen waren die beiden einig, obwol sie ihren häuslichen
Streit fortsetzten. Darauf baute Titus zunächst einen umfassenden
Steinwall um die ganze Stadt, um die Zufuhr abzuschneiden und
die Flucht der Insassen zu verhindern. Die Verteidiger hätten
Zeit genug gehabt für Proviant zu sorgen, allein sie hatten es nicht
getan, vielmehr die vorhandenen Vorräte in ihren Straßen-
kämpfen noch zum Teil vernichtet. Der Mangel Avard um so ärger,
da eine Menge Osterpilger mit eingeschlossen waren. Bald herrsehte
Hunger in der belagerten Stadt; was die Einwohner noch von Lebens-
mitteln besaßen, mußten sie den Kriegsleuten herausgeben. Ln
Däsius ließ Titus abermals vier Sturm wälle aufführen, diesmal
ausschließlich gegen die Antonia, die Nordbastei des Tempels.
Johannes von Gischala, der hier den Befehl führte, unternahm am
1. Panemus vergeblich einen Ausfall um sie zu stürzen; es zeigte
sich, daß seine Leute erschöpft waren. In der Nacht des 5. Pane-
mus bemächtigten sich die Körner der Burg; von dem Tempel
wurden sie durch die gemeinsamen Anstrengungen des Johannes
und Simon zurückgeschlagen. Während des Ausholens zu weiterem
Kampfe trat noch einmal auf kurze Zeit einige Ruhe ein. Die
zelotischen Propheten weissagten noch immer Sieg und Kettung,
aber im allgemeinen herrschte tiefe Niedergeschlagenheit bei den
Juden, namentlich seit sie am 17. Panemus „aus Mangel an Män-
nern" das tägliche Opfer einstellen mußten. Diesen Moment be-
nutzte Titus, um sie durch seinen Freigelassenen Flavius Josephus,
allerdings den ungeeignetsten Mann, aufzufordern sich zu ergeben.
Da indes die Aufforderung keine Wirkung hatte, so wurden die
Arbeiten zum Angriff auf den Tempelbezirk mit Eifer aufgenommen
') Tacitus Hist. 5, Iss.
376 Dreiiindzwanzigstes Kapitel.
und trotz manchen Schwierigkeiten und Störungen glücklich zu
Ende geführt. Die Sturmböcke richteten zwar gegen die gewaltigen
Mauern wenig aus, aber es gelaug an die Tore Feuer zu legen.
Am 9. Lous brannten sie völlig nieder, am 10. drangen die Römer
ein und steckten den Tempel in Flammen. ^) Ein greuliches Morden
räumte unter der in dem heiligen Raum zusammengedrängten
Menge auf, manche kamen in den Flammen um oder stürzten sich
in den Abgrund hinunter. Johannes mit seinen Zeloten schlug
sich durch und entkam in die Oberstadt.
Diese war bis dahin vom Angriff verschont geblieben, aber
die Hungersnot raste unter der Bevölkerung. Kapituliren wollten
indessen die Befehlshaber nur, wenn freier Abzug mit Weib und
Kind bewilligt würde. Da das nicht geschah, so kam es nach den
üblichen Vorbereitungen zum Sturm (7. Gorpiäus). Der Widerstand
war schwach; die uneinnehmbaren Türme der Königsburg des
Herodes wurden kaum verteidigt. Simon und Johannes verkrochen
sich mit vielen andern. In der wehrlosen Stadt wütete das
Schwert und das Feuer. Am 8. Gorpiäus ging die Sonne über den
rauchenden Trümmern Jerusalems auf; dieser Anblick hat auf
Josephus Eindruck gemacht. Fünf Monate hatte die Belagerung
gedauert.
Von den zahllosen Gefangenen wurden die „Empörer und
Räuber", die sich alle gegenseitig angaben, auf der Stelle hin-
gerichtet, die anderen in die ägyptischen Bergwerke geschickt oder
zu Gladiatorenspielen und Tierkämpfen bestimmt, oder in die
Sklaverei verkauft. Simon und Johannes und siebenhundert aus-
erlesene Männer mit ihnen ließ Titus nach Rom bringen und sie
hernach in seinem Triumph aufführen, in welchem auch die heiligen
Geräte des Tempels und eine Thorarolle paradirten. '^) Seine Helden-
tat war nicht groß; er hatte eine überfüllte Stadt ausgehungert.
Er triumphirte außerdem ein wenig zu früh, denn es dauerte noch
1) Nach Josephus ist das gegen den Willen des Titus geschehen, nach
Sulpicius Severus, der wol auf Tacitus fußt, auf seinen Befehl. Das letztere
ist A'iel wahrscheinlicher, nach der Art, wie die römische Regierung gegen
Jerusalem verfuhr.
2) Die jüdischen Tempelgeräte kamen später durch Geiserich nach Kar-
thago, durch Belisar nach Konstautinopel, durch Justinian nach Jerusalem
(Procop. Yandal. 2, 9 vgl. Goth. 1, 12).
Der Untergang des jüdischen Gemeinwesens. 377
einige Zeit und kostete noch blutige Arbeit, bis der Aufstand gänz-
lich erstickt und die Castelle Herodium Masada und Machärus er-
obert waren. Am längsten hielt sich Masada. Die dortigen
Zeloten, die sich schon seit dem Jahre 66 im Besitz der Burg
befanden, standen den jerusalemischen völlig selbständig und zum
Teil feindlich gegenüber; nach dem Falle Manaems wurden sie von
dessen Sohne Eleazar befehligt, dem letzten Gliede der Dynastie
des Ezechias und des Judas Galiläus. Als sie sahen, daß alles
verloren war, steckten sie die Burg in Brand und töteten Weib
und Kind und zuletzt sich selber (15. Xanthikus 73). Das blutige
Feuerzeichen bezeichnete Avirkungsvoll den Abschluß einer zwar
nicht erhebenden, aber so erschütternden Tragödie, wie die Ge-
schichte kaum eine zweite kennt,
„Dem Werke des Schwertes folgte die politische Wendung.
Die von den früheren hellenistischen Staaten eingehaltene und von
den Römern übernommene, in der Tat über die bloße Toleranz
gegen fremde Art und fremden Glauben weit hinausgehende Politik,
die Judenschaft insgemein als nationale und religiöse Samtgemein-
schaft anzuerkennen, war unmöglich geworden. Zu deutlich waren
in der jüdischen Insurrektion die Gefahren zu Tage getreten, welche
diese national-religiöse, einerseits streng konzentrirte, andrerseits
über den ganzen Osten sich verbreitende und selbst in den Westen
verzweigte Vergellschaftung in sich trug. Der centrale Kultus
wurde demzufolge ein für allemal beseitigt. Das Hohepriestertum
und das Synedrium von Jerusalem verschwanden. Die bisher
wenigstens tolerirte Jahressteuer eines jeden Juden ohne Unter-
schied des Wohnorts an den Tempel fiel allerdings nicht weg,
wurde aber mit bitterer Parodie auf den kapitolischen Jupiter und
dessen Vertreter auf Erden, den römischen Kaiser, übertragen. Die
Stadt Jerusalem wurde nicht bloß zerstört und niedergebrannt,
sondern blieb auch in Trümmern liegen, wie einst Karthago und
Korinth. In den Trümmern schlug die Legion ihr Lager auf,
w^elche mit ihren spanischen und thracischen Auxilien fortan im
Lande garnisouiren sollte; die durchaus anomale dauernde militärische
Belegung zeigt, wessen die Regierung sich zu dem Lande versah.
Die bisherigen in Palästina selbst rekrutirten Provinzialtruppen
wurden anderswohin verlegt. In Emmaus wurde eine Anzahl
römischer Veteranen angesiedelt, Stadtrecht aber auch dieser
Ortschaft nicht verliehen. Die Landeshauptstadt Cäsarea, bis dahin
378 Dreiundzwanzigstes Kapitel.
griechische Stadtgemeinde, erhielt als „erste flavische Kolonie"
römische Ordnung und lateinische Geschäftssprache/)"
5. Die religiösen Freiheiten der Juden in der Diaspora wurden
indessen nicht angetastet. ^) Und auch in Palästina durften sie
ihr Wesen weiter treiben, wenngleich unter den veränderten Um-
ständen in anderer Form. Die Schule und das Gesetz überdauerten
den Tempel und den Staat. Freilich konnte das Volk den Verlust
des Kultus und der einheimischen Regierung nur schwer ver-
winden. Der Patriotismus glühte unter der Asche weiter und
ilammte noch einmal hell empor. Die Erhebung Barkochbas war
das Nachspiel zu der der Zeloten; sie unterschied sich davon zu
ihrem Vorteil, weil sie von einem enthusiastischen Messias geleitet
wurde, an den selbst Rabbi Akiba glauben konnte. In dieser
gewaltigen Explosion brannte aber auch das Feuer aus.
Die Schriftgelehrten hatten in dem alten Gemeinwesen keine
eigentlich politische Stellung eingenommen. Gerade deshalb wurde
ihr Einfluß durch den Untergang desselben nicht geschädigt. Sie
versanken nicht in dem Abgrunde, der die Aristokratie, das Priester-
tum und die Nation verschlang. Nachdem die Sadducäer von den
Zeloten und die Zeloten von den Römern abgetan waren, blieben
die Pharisäer übrig und wurden an die Spitze gehoben, an der sie
bis dahin höchstens moralisch gestanden hatten, Sie waren vor-
bereitet, die Erbschaft zu übernehmen. Ihre vornehmsten Rabbinen
konstituirten ein Kollegium, welches als Fortsetzung des alten
Synedriums sich betrachtete und galt. Der Sitz desselben war
anfangs in Jamnia, wurde aber später nach Galiläa verlegt und
blieb die längste Zeit in Tiberias. Die Vorsteherschaft ver-
erbte sich in der Familie Hilleis, mit deren Aussterben die Behörde
aufhörte. Die Autorität des Synedrialpräsidenten stieg rasch. Er
wurde mit der Zeit auch von der kaiserlichen Regierung als Haupt
der palästinischen Juden anerkannt und führte den Titel der alten
Hohenpriester: Ethnarch (Nasi), später Patriarch. Von den aus-
1) Mommsen 5,538 s.
^) Die Alexandriner und Antiochener drangen bei Vespasian und Titus
nicht durch mit dem Verlangen, die hergebrachten Vorrechte der Juden auf-
zuheben oder sie aiis der Stadt zu verweisen (Ant. 12, 121. Bell. 7, lOOss.).
Der Oniastempel wurde im Jahre 73 geschlossen (Bell. 7, 433 ss.). Vgl.
Mommsen in Sybels Histor. Ztschr. 1890 p. 424 s.
Der ünterffang des jüdischen Gemeinwesens. 379
wärtigen Juden empfing er Geldopfer, die alljährlich durch seine
Abgesandten eingesammelt wurden ').
Was das Judentum durch den Untergang des alten Gemein-
wesens an äußerem Halt verloren hatte, ersetzten die Rabbinen
auf andere Weise. Die Absonderung von den Heiden wurde weit
schroffer als zuvor. Auch die abweichenden Richtungen im eigenen
Lager verketzerte der konsequente Judaismus und stieß sie von sich
ab; infolge dessen wimmelte jetzt Palästina und die Provinz Arabien
von halbjüdischen Sekten. Von der Kirche schied sich die Syna-
goge definitiv. Die Septuaginta wurde verdrängt, weil sie zur
christlichen Bibel geworden war, und eine andere streng wörtliche
Übersetzung an die Stelle gesetzt — denn den Gebrauch der
griechischen Sprache konnte man freilich noch nicht verbieten. Der
verschärften Abschließung gegen außen ging eine Steigerung der
inneren Bindung zur Seite. Zwar wurde manche unter den ver-
änderten Umständen veraltete Bestimmung aufgehoben oder modi-
fizirt; man war nicht ängstlich auch vor durchgreifenden Neuerungen,
wenn sie im Geiste des Systems lagen. Aber das war nur scheinbar
eine Regung der Freiheit. Im Grunde ging die Absicht dahin,
die Freiheit des Einzelnen aufzuheben durch das Gesetz des Ganzen.
Die alte Tendenz der Schriftgelehrten, das ganze Leben in die
heilige Regel einzuspinnen, machte immer größere Fortschritte. Die
F'olge war eine geistige Knechtschaft, wie sie nie wirksamer be-
standen hat. Die Gemeinden unterwarfen sich willig der neuen
Hierarchie, der Nomokratie der Schriftgelehrten; sie wollten den
Zweck, nämlich die Erhaltung des Judaismus, und so fügten sie
sich den Mitteln. Daß diese Mittel zum Ziele geführt, daß sie das
Judentum auch nach dem Untergang des Restes der Theokratie als
internationale Gemeinschaft erhalten haben, darüber ist kein Zweifel.
Was früher noch frei und fließend gewesen war, wurde all-
mählich fest und starr. Die Grenze zwischen Kanon und Apokry-
phen wurde scharf gezogen und ein authentischer Text der heiligen
0 Vgl. Gothofredus zum Cod. Theod. 2,1 und 16,8 imd Jo. Morinus,
Exerc. Bibl. 2, 3.4 (p. 256 ss.). Merkwürdig sind die von Morinus angeführten
Stellen aus Origenes und Theodoret, aus denen hervorgeht, daß die Ethnarchen
von David abstammen und die davidische Dynastie fortsetzen wollten. Die
Genealogie des ersten Ethnarchen ist: Gamaliel ben Simon (Jos. Vita 190)
ben Gamaliel (Act. 5, 34. 22, 3) ben Simon ben Hillel. Der Name Gamaliel
kommt am häufigsten vor.
380 Vierundzwanzigstes Kapitel.
Bücher festgestellt, von dem nun in keinem Punkte mehr abge-
wichen werden durfte. Es folgte eine Kodifizirung der Halacha, der
gesetzlichen Tradition. In der Ausbildung, welche ihr die Koryphäen
der pharisäischen Schriftgelehrten gegeben hatten, wurde sie zu
Anfang des dritten christlichen Jahrhunderts von dem Ethnarchen
Juda dem Heiligen auf Schrift gebracht und erhielt in dieser Form
allgemeine Giltigkeit. Freilich war damit der Prozeß nicht zum
Abschluß gebracht. Die Mischna wurde zum Ausgangspunkt wei-
teren Studiums für die Rabbinen, auf die Thannaim folgten die
Amoraim, Deren Diskussionen kamen wiederum zur Aufzeichnung
in der palästinischen Gemara, die uns nur bruchstückweise bekannt
ist, obgleich sie noch im Mittelalter vollständig erhalten war. Auch
damit aber war die Arbeit noch nicht am Ziel, die babylonischen
Amoraim setzten sie noch eine Weile fort. Palästina hörte nämlich
seit dem fünften Jahrhundert auf, der Schwerpunkt des Judentums
zu sein; er verlegte sich nach Babylonien. Schon im Anfang des
dritten Jahrhunderts waren gewisse palästinische Rabbinen, an
ihrer Spitze Rab Areka, dahin ausgewandert und hatten dort der
Gesetzesgelehrsamkeit eine neue Heimat gegründet. Die babylo-
nischen Schulen blühten rasch auf, wetteiferten mit den palästi-
nischen und überlebten die letzteren, so daß sie schließlich das letzte
Wort sprachen. Zu Anfang der islamischen Ära wurde endlich
auch die babylonische Gemara niedergeschrieben. Daneben her ging
die Niederschrift des Targums, der ursprünglich ebenfalls münd-
lichen Übersetzung der hebräischen Vorlesebücher in die aramäische
Landessprache; ferner die Feststellung der durch die Konsonanten-
schrift nicht genau bestimmten Aussprache des heiligen Textes und
die Bezeichnung derselben.
Mit dieser Arbeit, sich selbst im Buchstaben aufzuheben und
dann nach dem Buchstaben zu konserviren, schließt das Judentum
ab. Die ausgedehnte jüdische Literatur des späteren Mittelalters
kann man nicht eigentlich als ein Gewächs aus echter Wurzel be-
trachten.
Das Evangelium. 381
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Das Evangelium.
1. Es war gegen Ende der Kegierung des Kaisers Tiberius,
als noch Pilatus Landpfleger in Judäa und Antipas Vierfürst von
Galiläa war. Da ging ein Sämann aus, zu säen seinen Samen;
sein Same war das Wort, sein Acker die Zeit.
Jesus begann seine Wirksamkeit mit der Verkündigung, daß
die Ankunft des Keiches Gottes nahe bevorstehe; das war die Bot-
schaft, die er auszurichten hatte. Er hätte auch sagen können: der
Tag des Herrn, das Gericht stehe nahe bevor; aber der andere
Ausdruck war den Zeitgenossen geläuhger. Er verkündete nicht,
daß das Reich mit ihm gekommen sei, sondern daß es bald kommen
werde. Er trat damit nicht als Messias auf, als Erfüller der Weis-
sagung, sondern als Prophet; seine Botschaft war selber Weissagung,
Daran schloß sich die Aufforderung: also kehrt um von eurem
bisherigen Wege! Den Juden lag eine andere Folgerung näher:
also freut euch, daß ihr nun endlich am Ziel seid. Sie zweifelten
nicht, daß sie auf dem richtigen Wege wären und daß das Reich
Gottes ihnen zum Triumph verhelfen würde. Dem trat Jesus ent-
gegen. Er benutzte die Botschaft vom Reich um Buße zu predigen;
er wendete die drohende Kehrseite der messianischen Hoffnung
heraus. Das selbe hatte vor ihm Johannes der Täufer getan. „Glaubt
nur nicht, als Kinder Abrahams vor dem nahenden Zorne sicher
zu sein. Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams hervor-
bringen, er sieht nicht auf den Stamm, sondern auf die Früchte."
Die Juden erwarteten, der Messias werde ihnen, als Juden, Recht
schaffen gegen die Heiden; Johannes sagte, er werde sie selber,
sofern sie weiter nichts seien als Juden, mit dem Feuer des Gericlits
vernichten.
Wie kam es , daß diese beiden Männer gleichzeitig mit der
selben Ankündigung auftraten? Es geschah in einer gespannten,
schwülen Zeit, in einer Zeit großer politischer und religiöser Er-
regung. Seit zwei Jahrhunderten hatten sich die Ereignisse ge-
drängt: die Religionsverfolgung unter Antiochus Epiphanes, die
makkabäische Erhebung, die Gründung des hasmonäischen Reiches,
seine Erschütterung durch erbitterte Parteifehden und sein Sturz
382 Yierundzwanzigstes Kapitel.
durch die Römer, die Wiederkehr der Fremdherrschaft, die ver-
geblichen und doch nie aufgegebenen Versuche sie abzuschütteln,
und zuletzt die atemschnürende Tyrannis des großen Herodes.
Das Stillleben, worauf die gesetzliche Theokratie eigentlich angelegt
war, hatte aufgehört; die Juden waren durch die Makkabäerkriege
aus ihrer Bahn geraten und ließen sich nicht wieder hineindrängen.
Sie trieben dem Zusammenstoß mit den Römern entgegen; die
Frage war, was das Ergebnis sein würde. Es war die selbe Frage,
die dem Amos und dem Jeremias vorgelegen hatte, als der Konflikt
mit den Assyrern und mit den Chaldäern drohte; Johannes und
Jesus beantworteten sie ebenso wie jene beiden alten Propheten.
Sie empfanden die Notwendigkeit des Untergangs der Theokratie
voraus; das war auch bei ihnen der nächste Anlaß, der sie aus
ihrem Kreise herausriß und in die Öffentlichkeit trieb. Die Weis-
sagung von der bevorstehenden Ankunft des Reiches Gottes fällt
zusammen mit der Weissagung von der bevorstehenden Zerstörung
des Tempels und der heiligen Stadt. Das Reich Gottes hat andere
Grundlagen als den Tempel, die heilige Stadt und das jüdische
Volk; die Zugehörigkeit dazu ist an inviduelle Bedingungen ge-
knüpft.
2. Durch die vorzugsweise Betonung dieser individuellen Be-
dingungen schritt Jesus über den Täufer fort; sie wurden ihm so
sehr zur Hauptsache, daß seine Verkündigung darüber den Cha-
rakter der Prophetie verlor, da die Erfüllung der Bedingungen schon
in der Gegenwart möglich war. Er zog nicht mit dem Ruf: be-
kehrt euch, das Gericht steht vor der Tür! durch das Land; er
ließ diese Parole nicht immer wieder in die Ohren der Hörer
gellen. Sondern er sprach in ungezwungenem Wechsel über dies
und über das, je nach Gelegenheit und Bedürfnis aus seinem Schatze
hervorholend, was ihm der Geist eingab und was die Leute brau-
chen konnten. Seine Tätigkeit bestand wesentlich im Lehren. Er
machte den größten Eindruck, nicht bloß durch seine Lehre selber,
sondern auch durch die Heilungen, die er verrichtete, namentlich
an solchen Kranken, die in jener Zeit für besessen angesehen wur-
den. Sie flössen lediglich aus seiner Barmherzigkeit „mit dem
Volke", galten jedoch als Bestätigungen seiner göttlichen Lehrbefugnis.
Er wird als Lehrer mit den Schriftgelehrten verglichen, aber er
konnte es besser als sie, und er machte es auch anders.
Er setzte sich von Anfang an in Gegensatz gegen die Schrift-
Das Evangelium. 383
gelehrten und gegen ihre Partei, die Pharisäer. Er steht zwar wie sie
auf dem Boden des Alten Testament and verleugnet das Judentum
nicht. Auch darin ist er mit ihnen einverstanden, daß das Be-
kenntnis zu Gott abgelegt wird nicht durch das Sagen, sondern
durch das Tun, das Tun seines Willens. Aber ihren toten Werken
stellt er die Gesinnung entgegen, ihrer viel geschäftigen Gesetzlich-
keit die höchste sittliche Idealität. Er weist den Anspruch des
Lohnes zurück : Sklaven haben kein Recht auf Lohn für die Arbeit,
die sie zu tun schuldig sind. Er atmet in der Furcht des Richters,
der Treue im Geringsten verlangt und Rechenschaft fordert von
einem jeglichen nichtsnutzigen AV^orte. „ISiemand kann Knecht
zweier Herren sein; ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mam-
mon; wo euer Schatz ist, da ist euer Herz." Das ist der wahre
Monotheismus, der das Herz und den ganzen Menschen fordert,
der Zwiespältigkeit und Heuchelei unmöglich macht. Die Gerech-
tigkeit vor Gott, das Ziel, nach dem die Schriftgelehrten und die Juden
überhaupt strebten — Jesus selber gebraucht den Ausdruck nicht —
ist zu hoch für die Methode der Schule. Wir straucheln alle auf
dem Wege, der Pharisäer hat vor dem frommen Zöllner nichts voraus,
und auch dem Besten bleibt nichts übrig als die Bitte: Gott sei mir
Sünder gnädig! Jesus hat einen heiligen Zorn auf die Anmaßung der
Separatisten, auf ihre Neigung zu richten, auf ihre Scheu vor Be-
rührung mit den Sündern. Kein Gebot schärft er so nachdrücklich
ein wie das, andern die Schuld zu vergeben, so wie man für sich
selber Vergebung im Himmel hofl't. Er fordert Sympathie mit
Leiden und Sünde und er bewährt sie selber. Er fühlt sich als
Arzt, er will gesund und lebendig machen. Er spottet der Tugend,
die sich selber genügt und der Gnade Gottes entraten kann. Er
schämt sich der Sünder nicht, weil er die Sünde nicht bloß in
ihnen entdeckt. Aber von schwächlicher Nachsicht gegen sie läßt er
nichts spüren. Von Philanthropie gegen Verbrecher ist er entfernt,
er setzt die bürgerliche Gerechtigkeit voraus, die menschliche Ord-
nung und Obrigkeit erkennt er in ihrem Bereich an.
Die Schriftgelehrten und Pharisäer Avollen nichts Gutes tun,
sondern sich vor Sünde hüten; ihre Beobachtung konventioneller
Satzungen kommt niemand zu gut und erfreut weder Götter noch
Menschen. Jesus spottet über ihre vorgeschriebenen und mit Osten-
tation verrichteten Werke der Heiligkeit, über ihre Art, Almosen
zu geben, zu fasten und zu beten, ihr ewiges Waschen von Händen
384 Vieruudzwanzigstes Kapitel.
und Geräten, ihr Verzehnten von Dill und Kümmel, ihre Ängst-
lichkeit im Halten des Sabbats, ihr Mückenseihen und Kamel ver-
schlucken. Er weiß einen besseren Gottesdienst als die unfrucht-
bare Selbstheiligung: den Dienst des Nächsten. Er verwirft die
sublime Güte, welche der AVitwen Häuser frißt und lange Gebete
vorwendet, welche zu Vater uud Mutter spricht: Opfer sei, was
ich euch etwa geben könnte. Er fastet zwar gelegentlich und pflegt
nachts oder morgens früh auf Bergen und an einsamen Stätten
unter freiem Himmel zu beten. Aber für sich und im stillen; er
macht aus der Ascese kein Kultiisgebot und schreibt ihr kein Ver-
dienst zu; im Unterschiede von Johannes dem Täufer ißt und
trinkt er und ist fröhlich mit den Fröhlichen. Er bezeichnet als
das Schwerste im Gesetz die gemeine Moral, Billigkeit und Treue
und Güte. Eben diese natürliche Moral nennt er das Gebot Gottes;
jene übernatürliche, welche sie überbieten will, ist ihm willkür-
liche Satzung. Um des Menschen willen sind die Gebote gegeben;
was dem Nächsten angetan wnrd, sieht Gott an, als sei es ihm
getan. Wer der Nächste ist, welches die nächstliegende Pflicht,
das weiß im gegebenen Falle auch der Schriftgelehrte, welcher sich
stellt, als wüßte er es nicht. Damit hört nun die Frömmigkeit
auf, eine Domäne der Virtuosen zu sein. Es gehört keine Kunst,
keine verschmitzte Gelehrsamkeit der Rabbinen dazu, sondern ein
einfacher, offener Sinn. Die Armen im Geist, die Kinder im Ge-
müt verstehn mehr davon als die Klugen und Weisen, die daraus
ein Gewerbe machen. Von dieser Seite wird der Protest Jesu
gegen den Hochmut der Pharisäer und Schriftgelehrten zu einem
Protest gegen ihren Bildungsdünkel, durch den sie sich über das
gemeine Volk überheben und von demselben abscheiden. Es jam-
mert ihn der Ileerde, die der Leitung so sehr bedürfte, aber von
den berufenen Hirten in stich gelassen wird.
3. Die Moral besteht in Barmherzigkeit und Dienstwilligkeit
gegen den Nächsten, in entsagender Geduld, in treuer Arbeit. Die
Selbstverleugnung ist die Sinnesart, welche notwendig ist, um in
das Keich Gottes zu kommen. Sowol die Anerkennung der For-
derung als ihre Erfüllung ist eine Wirkung Gottes, ein religiöser
Vorgang, der wie die Religion überhaupt nicht begriffen und nicht
zergliedert werden kann. Auf diese Weise, indem er die Welt
daran gibt, gewinnt der Mensch seine Seele. Wer sein Leben
sucht, verliert es; nur wer es einsetzt, gewinnt es. Er ist geborgen
Das Evangelium. 385
bei Gott, emporgehoben über Fuix-lit und über Sorge. Er hat
Glauben d. h. Mut und Vertrauen: von diesem überirdischen
Standpunkte aus kann er Berge versetzen und die Welt aus den
Angeln heben, gewinnt er Kraft auch zu erfolgloser Aufopferung
und zu resignirtem Gehorsam auf Erden. Er vertraut der Vor-
sehung Gottes und ergibt sich in seinen Willen. Er fühlt sich
als Kind des himmlischen Vaters. In keinem anderen Sinn als in
diesem fühlt Jesus sich auch selber so, obwol er sich nicht so
nennt. Selbst die Vollmacht, den Sabbat zu brechen und Sünde
zu vergeben, für die die Gegner einen Ausweis verlangen, nimmt
er in Anspruch, obwol er Mensch ist, wie er ausdrücklich bei
dieser Gelegenheit hervorhebt. Was ihn auszeichnet ist nur, daß
er sich des Kindesverhältnisses zu Gott, wenn wir den Ausdruck ge-
brauchen dürfen, bewußt gewesen ist und die Frömmigkeit genossen
hat, wie vor ihm niemand. Der Übergang von der Ekstase zur Reli-
giosität, den die Propheten, vor allen Jeremias, eingeleitet und die
Frommen nach ihnen weitergeführt haben, ward durch Jesus vollendet.
Doch finden sich auch bei ihm Höhen und Tiefen der Stimmung.
Er kennt auf Erden ein seliges Leben, aber er kennt auch An-
fechtungen und Versuchungen, er weiß, daß der Geist willig und
das Fleisch schwach ist. Er lehrt die Geplagten ihr Joch auf sich
nehmen, aber er lehrt nicht, daß das Kreuz süß und die Krank-
heit gesund sei. Im Hintergrunde seiner Weltanschauung steht
überall die künftige Vollendung des Guten und die künftige Ver-
nichtung des Bösen, die Verwandlung der Schwachheit in Kraft
und Herrlichkeit. Darin scheint er mit den Juden vollkommen ein-
verstanden. Er erwartet wie sie die Herabkunft des Himmelreichs
auf die Erde, die Ankündigung davon ist ja der ursprüngliche In-
halt seiner Predigt. Aber wie wir gesehen haben, bedeutet
ihm das Himmelreich nicht die triumphirende Theokratie; die
„Kinder des Reiches", d. h. die Juden, sind nicht dessen geborene
Erben. Das Gericht ist nicht das Mittel, durch die Vernichtung
der Heidenmacht die Herrschaft der Heiligen des Höchsten herzu-
stellen; es ergeht über die Juden selber und vollzieht sich durch
die Zerstörung ihrer Stadt und ihres Gemeinwesens. Und daneben
ist von einem jenseitigen Gericht über jeden Einzelnen die Rede.
Am jüngsten Tage erscheinen nicht bloß die Lebenden vor Gott,
sondern die Menschen aller Generationen werden aus den Gräbern
erweckt, um den für die Ewigkeit entscheidenden Urteilsspruch
Weilhausen, Isr. Gescliichte. 5. Aufl. 25
386 Vierundzwanzigstes Kapitel.
Über sich zu empfangen. Die Erde verschwindet, sie scheidet sich
in Himmel und Hölle. Himmel und Hölle sind jedoch auch schon
gegenwärtig vorhanden; und anderswo findet sich die Vorstellung,
daß das Gericht über den Einzelnen nicht erst am jüngsten Tage
eintritt, sondern mit seinem Tode zusammenfällt. Bei Lukas wenig-
stens kommen der arme Lazarus und der Schacher am Kreuz so-
fort nach ihrem Tode in Abrahams Schoß oder in das Paradis,
der reiche Mann sofort an den Ort der Qual; die Auferstehung des
Leibes erscheint nicht als unerläßliche Vorbedingung des neuen
Lebens. Die Vorstellungen können freilich nicht alle Jesu selber
zugeschrieben werden, man kann jedoch keine sichere Scheidung
machen und das schadet auch nicht. Sie schwanken und sind
mitten in lebendigster Entwicklung begriffen. Obwol sie überall
als selbstverständlich und gegeben auftreten, so weht doch ein
neuer Geist darin; sie stellen die Religion auf eine ganz andere,
völlig individualistische Grundlage; sie stehn im stärksten Wider-
spruch mit der Anschauung, die das Alte Testament von Anfang
bis zu Ende durchzieht. Sie lassen sich vor dem Neuen Testamente
nicht nachweisen, sie müssen also erst spät, etwa im ersten vor-
christlichen Jahrhundert, bei den Juden ein- und durchgedrungen
sein. Sie haben bei ihnen auch niemals eine so zentrale Bedeu-
tung erlangt wie im Christentum. Das Christentum steht von vorn-
herein auf diesem Boden, schon seit Jesus selber: das hat es vor
dem Judentum voraus, welches in einem ganz anderen Boden
wurzelt. Der nationale Gegensatz zwischen Jüdisch und Heidnisch
verbleicht und der moralische tritt an die Stelle. Dieser wird
außerordentlich verschärft. Gut und Böse sind zwei verschiedene
Welten, der Satan ist der Fürst der Welt und der Hölle. Auf die
moralische Verantwortlichkeit fällt der höchste Nachdruck; das Ge-
richt gewinnt dadurch einen ganz anderen Sinn und eine ganz andere
Wirkung, daß es die persönliche Rechenschaftsablage vor Gott be-
deutet. Die Auferstehung wird verallgemeinert, und dadurch eigent-
lich überflüssig gemacht, daß es nicht bloß ein diesseitiges, sondern
auch ein ewiges Leben gibt, an dem man teilnehmen kann ohne
auferweckt zu sein: doch dringt diese Vorstellung nicht durch.
Die Eschatologie bekommt statt des historisch-nationalen ein all-
gemein menschliches und ein überirdisches Gepräge. Von Gnosis
und Phantastik findet sich nichts; es wird nur eine moralische
Metaphysik ausgestaltet, voll ernster Einfachheit. Von einer natür-
Das Evangelium. 387
liehen Un Vergänglichkeit des Geistes, im Sinne der griechischen
Philosophie, ist aber auch keine Rede.
Bei den Juden kommt das Reich Gottes wie ein glücklicher
Zufall, die Gesetzescrfüllung bereitet es nicht vor, steht überhaupt
in keiner ursächlichen Beziehung (hizu, sondern ist nur eine statu-
tarische condicio sine qua non. Es besteht keine innere Verbindung
zwischen dem Guten und dem Gute, das Tun der Hände und das
Trachten des Herzens lallt aus einander. Das fromme Handeln
hat gar keinen irdischen Zweck, aber die Hoffnung ist desto welt-
licher; die unersprießliche Pedanterei der gottseligen Übungen und
die schlecht verholene Gier der frommen Wünsche stehn neben-
einander. Jesus dagegen stellt das Reich Gottes als Ziel des
Strebens auf; vollendet wird es allerdings erst in der Zukunft durch
Gott, aber angefangen wird es schon in der Gegenwart. Er selbst
weissagt es nicht bloß, sondern pflanzt seinen Keim auf Erden.
Die neue Zeit bricht mit ihm bereits an: die Blinden sehen und
die Tauben hören, es rauscht m den morschen Gebeinen, die Toten
stehn auf. Diese Anschauung liegt einigen Gleichnissen zu gründe;
sie wird am offensten ausgesprochen in dem Worte: das Reich
Gottes kommt nicht dadurch, daß man darauf wartet, es ist in-
wendig in euch. Es stimmt dazu, wenn es im Evangelium Johannis
heißt, auch das Gericht sei schon hienieden in der Menschenseele
innerlich vollzogen. Mit Sicherheit läßt sich auch hier nicht aus-
machen, was von Jesu selber stammt und was nicht — aber die
Anregung hat er gegeben und das muß genügen. Was ist denn
aber nun das bereits vorhandene und in der Zukunft nur zu voll-
endende Reich Gottes? Es kann nichts anders sein als die Gemein-
schaft der nach Gott trachtenden Seelen. Die Selbstverleugnung ist
das Mittel und die Gemeinschaft der Seelen in Gott ist der Erfolg.
Mit dem Reiche Gottes hängt der Messias aufs engste zusammen.
Beides sind ursprünglich national-jüdische Begriffe. Jesus hat sie
sich angeeignet, aber über das jüdische Niveau hinausgehoben. Er
ist nicht gleich anfangs als Messias aufgetreten. ') Er ist erst zu-
letzt, seit der Reise nach Jerusalem, vom Volk und von den
Jüngern dafür gehalten, und von den Römern deswegen iiingerichtet.
Er muß sich in Jerusalem auch selber dazu bekannt haben. Er
^) Daß des Menschen Sohn kein authentischer Name ist, habe ich
Skizzen 6, 187 ss. und zu Mo. 8,27 zu zeigen gesucht.
25*
388 Vierundzwanzigstes Kapitel.
kann aber nicht die Absicht gehegt haben, sich zum Könige der
Juden aufzuwerfen und die Fremdherrschaft zu stürzen; es steht
vielmehr umgekehrt ganz fest, daß er dem Tempel und der heiligen
Stadt den baldigen Untergang angesagt, hat. Das Reich, das er
im Auge hatte, war nicht das, worauf die Juden warteten. Er er-
füllte ihre Hoffnung und Sehnsucht über ihr Bitten und Verstehen,
Wenn man dem Worte die Bedeutung läßt in der es allgemein
verstanden wurde, so ist Jesus also allerdings nicht der Messias
gewesen und hat es auch nicht sein wollen. Er würde für uns nicht
verlieren, wenn er sich auch nicht dafür hätte halten lassen, sondern
sich einfach als den Erfüller des Alten Testaments im Sinne von
Mt. 5 gegeben hätte. Aber unbegreiflich ist es nicht, wenn er den
Namen des jüdischen Ideals sich gefallen ließ und doch den Inhalt
völlig veränderte: nicht bloß beim Messias, sondern analog auch
beim Reiche Gottes. In dieser Weise pflegt sich der religiöse Fort-
schritt zu vollziehen, trotz dem Spruch, daß neuer Wein nicht in
alte Schläuche gehöre.
4. Jesus wollte nicht auflösen, sondern erfüllen,^d. h. den Inten-
tionen zum vollen Ausdruck verhelfen. In Wahrheit hat er damit
sowol das Gesetz als au(;h die Hoffnung der Juden aufgehoben
und die Theokratie selber innerlich überwunden. Nach einigen
Spuren ist er wol auch äußerlich schroffer und rücksichtsloser
gegen den jüdischen Kultus, gegen den Tempel und gegen das
Gesetz selber aufgetreten, als es nach den Evangelien im ganzen
scheint. Aber er war doch kein Woller, kein Umstürzer und
Gründer. Er vergleicht sich einem Menschen, der Samen aufs
Land wirft, und schläft und steht auf Nacht und Tag, und der
Same geht auf und wächst, ohne daß er es weiß — denn die
Erde bringt von selbst erst die Halme, dann die Ähren, zuletzt
den vollen Weizen in den Ähren. Er ließ dem Sauerteige Zeit
zu wirken. Er fand überall für seine Seele Raum und fühlte sich
durch das Kleine nicht beengt, so sehr er den Wert des Großen
hervorhob: dies sollte man tun und jenes nicht lassen. Und wie
er nicht das Bedürfnis hatte Bilder zu zerbrechen, so wollte er
auch das Unkraut neben dem Weizen stehn lassen, indem er die
Ernte und die Worfelung Gott überließ. Er hat nicht daran ge-
dacht, die jüdische Kirche zu zerstören und die christliche an die
Stelle zu setzen. Auch sein Ideal war zwar die Gemeinschaft,
wie sie immer und überall das menschliche Ideal ist; aber es war
Das Evangelium. 389
eine Gemeinschaft der Geister in der göttlichen Gesinnung. Jesus
organisirte nicht, sondern nachdem er seine eigene Seele gewonnen
hatte, gewann er andere; auf diese Weise ward er das erste Glied
einer neuen Geisterreihe.
Er sammelte einen kleinen Kreis von Jüngern um sich, mit
denen er aß und trank, die während seiner kurzen Wirksamkeit
seine ständige Begleitung bildeten, sahen wie er mit den Menschen
verkehrte, und hörten was er zu ihnen sagte. Er schulte sie nicht;
er wirkte und empfand vor ihren Augen und regte sie dadurch
an, ebenso zu wirken und zu empfinden. Er stellte seine Person
zwar nicht bewußt in den Mittelpunkt, er redete nicht über die
Bedeutung seines Lebens und Leidens. Aber tatsächlich ging der
Eindruck seiner Person über den Eindruck seiner Lehre hinaus.
Er war mehr als ein Prophet, in ihm war das Wort Fleisch ge-
worden. Die Evangelien haben wenig Interesse, außer seinen Taten
und seiner Lehre auch sein Wesen in der Erinnerung festzuhalten.
Er lebt sorglos in den einfachen und offenen Verhältnissen, in der
Poesie des .Südens, nicht in Not und niedriger Armut. Seine Milde
ist mit Ernst gepaart, er kann auch zürnen; die Gegner läßt er
ironisch seine Überlegenheit fühlen und gegen die Jünger zeigt er
sich zuweilen ungeduldig. Er freut sich an den Kindern, an den
Vögeln, an den Blumen. Alles lehrt ihn, er sieht in der Natur
die Geheimnisse des Himmelreichs, er liest in seinem eigenen Herzen
und in den Herzen Anderer. Studirt hat er nicht; er kann die
Schrift ohne sie gelernt zu haben , er predigt wie ein Berufener
und nicht wie die Schriftgelehrten. Er braucht nicht lange nach-
zudenken und nicht auf höhere Eingebung zu lauschen. Der Geist
steht ihm zu Gebote, die Empfindungen und die Worte stellen sich
ungesucht ein, und in jeder Äußerung steckt der ganze Mensch.
Seine Rede ist nicht die aufgeregte der Propheten, sondern die
ruhige der jüdischen Weisen. Er gibt nur dem Ausdruck, was jede
aufrichtige Seele fühlen muß. Was er sagt, ist nicht absonderlich,
sondern evident, nach seiner Überzeugung nichts anderes als was
bei Moses und den Propheten steht ^). Aber die hinreißende Ein-
fachheit unterscheidet ihn von Moses und den Propheten, und
') Alles was zur Seligkeit nütz und nötig ist, haben Moses und die Pro-
pheten gesagt, „Glauben sie denen nicht, so werden sie auch nicht glauben,
ob einer von den Toten auferstünde."
390 Vierundzwanzigstes Kapitel.
himmelweit von den Rabltinen. Die historische Belastung, unter
der die Juden erliegen, hat ihm nichts an; er trauert nicht in
ihrem Gefängnis und erstickt nicht in dem Geruch ihrer alten
Kleider. Er findet tief unter dem Schutt die Quelle, die sich aus
dem Niederschlag der geistigen Erfahrung von Jahrhunderten ge-
bildet hat. Es stöi3t das Zufällige, Karikirte, Abgestorbene ab und
sammelt das Ewiggiltige, das Menschlich-Göttliche, in dem Brenn-
spiegel seiner Seele. „Ecce homo" — ein göttliches Wunder in
dieser Zeit und in dieser Umgebung^).
Das sind gewiß Züge, die ein richtiges Bild geben. Sie sind
jedoch überwuchert von andern, die das Bild zu verzerren geeignet
sind. Wenn Jesus auch Zeichen und Wunder verrichtete, so er-
hellt doch aus seinen eigenen Äußerungen, daß er darauf kein
Gewicht legte. In den drei ersten Evangelien erscheint er beinah
als Thaumaturg: das hat er sicherlich nicht sein wollen. Die Er-
innerungen an ihn sind einseitig und dürftig, nur die letzten Tage
seines Lebens sind unvergeßlich geblieben. Aber der Geist lebt
nicht im Gedächtnis fort, sondern in seinen Wirkungen; der Funke
brennt in dem Feuer, das er entzündet. Jesus wirkte so tief und
so nachhaltig auf die Jünger, daß sein Wesen sich mit ihnen ver-
wob und ihr neues, besseres Ich wurde. Sie schrieben ihm alles
zu, was er in ihnen veranlaßte, in der Überzeugung, daß nichts
Gutes in ihnen sei, was nicht von ihm stamme. Sie brauchten
sich gar nicht ängstlich nach seinem Beispiel zu richten; er lebte
ja in ihnen und sein Geist führte sie in alle Wahrheit. Das Leben,
das sie von ihm empfangen hatten, pflanzten sie auf andere fort,
und so ward der Geist Jesu die Einheit vieler Geister. Es ist das
größte Beispiel von der zeugenden Kraft der Seele. Vorschreiben,
Mahnen, Schelten tut es nicht auf diesem Gebiete; Vorleben ist
die Sache. Was das Gesetz nicht bewirkt, bewirkt der individuelle
Typus. Das Wesen Gottes läßt sich nicht in Begriffe fassen, die
') .Jüdische Gelehrte wünschen den Unterschied, richtiger ausgedrückt den
zornigen Gegensatz, in dem Jesus zu den Pharisäern stand, aus der "Welt zu
schaffen; sie meinen, alles was er gesagt habe, stehe auch im Talmud. Ja,
alles und noch viel mehr. IIXeov 7][jhou iiavTo's. Jesu Originalität besteht
darin, daß er aus chaotischem Wüste das Wahre und Ewige heraus empfunden
und mit größtem Nachdruck hervorgehoben hat. Wie nahe und wie fern das
Judentum ihm stand, zeigt einerseits Marc. 12, 28 — 34, andrerseits das Buch
Esther.
Das Evangelium. 391
Männer Gottes sind seine Offenbarung, dadurch was sie sagen und
tun, dadurch wie sie genießen und leiden.
5. Auf den Tod Jesu waren die Jünger in keiner Weise vor-
bereitet, sie zerstreuten sich voller Angst und flohen von Jerusalem
nach Galiläa. Es schien mit ihm imd seinem Werke aus zu sein.
Aber die Liebenden bestanden die schmerzliche Prüfung. In kürzester
Frist überzeugten sie sich, daß der Meister lebe; so außerordentlich
war der Eindruck, den er auf sie gemacht hatte, so innig die
Gemeinschaft, in der sie mit ihm standen. Er erschien dem Petrus
und den Zwölfen, dann fünfhundert Brüdern auf einmal, dann dem
Jacobus und allen Aposteln, zuletzt nach allen dem Paulus. Er ließ
die Seinen nicht los, er war bei ihnen alle Tage, sein Geist wirkte
in ihnen fort. Sein Tod, anfänglich ein Anstoß, worüber sie
strauchelten, gestaltete sich zum Beweise, daß kein Tod ihn tüten
konnte. Mit einem solchen Ende war ein solches Leben unmög-
lich aus. Die Niederlage wurde in den Sieg verschlungen; in Ver-
bindung mit der Auferstehung bekam das Kreuz Sinn. Der Glaube
behielt Recht gegen alle Zweifel, die Gemeinschaft mit Gott war un-
auflöslich und verbürgte, ein unvergängliches Leben.
Die neue freudige Erfahrung hatte weitreichende Folgen. Sie
stellte das Wesen Jesu in ein anderes Licht und ergänzte seine
Lehre in den wichtigsten Punkten, sie begründete eigentlich erst
das Evangelium. Die Hoffnung bekam eine Intensität, wodurch
sie mehr wurde als bloße Hoffnung. Die allgemeine Auferstehung
am jüngsten Tage wurde zwar so wie so in Bälde erwartet; aber
mit der Auferstehung Jesu aus dem Grabe, mit seinem Ausbruch
aus der Hölle, hatte sie im Prinzip bereits begonnen. Die Seinen
faßten durch ihn schon Fuß im himmlischen Leben und strebten,
es moralisch schon auf Erden zu leben; der zukünftige Aon ragte
mit ihm als seiner Spitze schon in die Gegenwart hinein. Er er-
schien durch seine Auferstehung als der Anfänger und Erstling,
als der Adam der neuen Welt. Durch seine Auferstehung erwies
er sich andrerseits auch erst wahrhaft als den Sohn Gottes, d. i.
den Christus oder den Messias, als den er sich bei Lebzeiten nur in
Schwachheit gezeigt hatte. Einstweilen noch im Himmel aufgehoben,
sollte er von dannen wiederkommen auf die Erde, um das Reich
Gottes in Kraft und Herrlichkeit zu verwirklichen. Seine Person
wurde nach Dan. 7 mit der Eschatologie in Verbindung gebracht,
so daß seine eigentliche Wirksamkeit auf Erden nicht in der Ver-
392 Vierundzwanzigstes Kapitel.
gangenheit, sondern in der Zukunft lag. Jesus war tot; Christus,
der Auferstandene, lebte.
Den von Jesus berufenen Aposteln trat Paulus zur Seite, der
Apostel des himmlischen Herrn, der der Geist ist und als solcher
in den Seinen wirkt. Er verkündet nur den Verklärten, den Ge-
kreuzigten und Auferstandenen. Erst durch den Tod hatte ihm
Christus das rechte Leben gewonnen. Der jüdische Messias war
in der Tat durch die Kreuzigung vollkommen vernichtet, und ein
anderer Messias an die Stelle getreten. Paulus kannte Jesum nicht,
aber er merkte, daß in seiner Gemeinde ein Geist herrschte, der
das Judentum sprengen mußte. Als eifriger Jude verfolgte er darum
zuerst die Gemeinde; aber auf die Dauer vermochte er nicht gegen
den Stachel zu löken. Seine Bekehrung fiel mit seiner Berufung
zum Apostel der Heiden zusammen. Er zerschnitt das Band zwischen
Evangelium und Gesetz und verfocht sein Leben lang das Recht
dieses Schnittes. Er stellte das Christentum auf den Boden, auf
dem es seine weltgeschichtliche Bedeutung gewonnen hat.
Von der schriftgelehrten Kunst der Rabbinen hat sich Paulus
nicht losmachen können. Er wendet sie in der Beweisführung
an, namentlich bei der Rechtfertigungslehre. Aber das innere
Wesen seiner religiösen Überzeugung ist davon doch unberührt
geblieben. Trotz allen Resten, die ihm anhaften, ist der Mann,
der die Korinther -Briefe geschrieben hat, in Wahrheit derjenige
gewesen, der den Meister verstanden und sein Werk fortgesetzt
hat. Durch ihn besonders hat sich die Weissagung des Reichs in
das Evangelium von Jesu Christo verwandelt, der die Weissagung
innerlich schon erfüllt hat. Entsprechend ist ihm auch die Erlösung
aus etwas Zukünftigem etwas bereits Geschehenes und Gegenwärtiges
geworden. Er betont unwillkürlich den Glauben und die Liebe
stärker als die Hoffnung'), er empfindet die zukünftige Seligkeit
voraus in der Freude der gegenwärtigen Kindschaft, er überwindet
den Tod und führt das neue Leben schon hienieden. Er preist die
Kraft, die in den Schwachen mächtig ist; die Gnade Gottes genügt
ihm und er weiß, daß keine gegenwärtige noch zukünftige Gewalt
ihn seinen Armen entreißen kann, daß denen die Gott lieben alle
Dinge zum besten dienen. Die Ascese, die Abtötung des Fleisches,
^) Paulus ist der eigentliche Apostel nicht nur des Glaubens, sondern
auch der Liebe; Johannes ist ihm nur gefolgt.
Das Evangelium. 393
Überhaupt der Gegensatz von Fleisch und Geist, tritt allerdings bei
ihm stärker hervor als bei Jesus. Das hängt indessen zusammen
mit seiner strengen Aufrichtigkeit gegen sich selber. Er bleibt stets
eingedenk, daß das göttliche Leben auf Erden ein schwerer Kampf
ist und der Sieg nur im Glauben vorweg genommen wird. Er
bildet sich nicht ein schon am Ziel zu sein; er streckt sich nur
darnach und wird nicht müde in den Schranken zu laufen.
Christus verkörperte sich in der Gemeinde, die sich seinen
Leib nannte. Sein Geist wurde der heilige Geist, der heilige Geist
wurde zum Geist der Kirche und schwebte über den Konzilien,
mitunter in Gestalt einer Eule oder einer Fledermaus. Die Kirche,
durch die alle Einzelgemeinden, wenigstens in der Idee, von An-
fang an zusammengehalten wurden, ist die Fortsetzung der jüdi-
schen Theokratie, von der sie den Namen entlehnte und als deren
Nachfolgerin sie sich betrachtete, eine weltumfassende religiöse Ge-
meinschaft, die im Gegensatz _zu dem politischen Weltreich steht.
Der Gegensatz ist ursprünglich stark ausgeprägt. Begrifflich aber
ist er nicht scharf; denn jede Organisation hat Macht und die
mächtigste hat die Macht, d. h. die politische Herrschaft, auch wenn
sie, wie z. B. der Islam, von der Religion ausgegangen ist. Nach
einigen Jahrhunderten eroberte die Kirche die Welt, durchdrang
sie und wurde von ihr durchdrungen. Aus einer geistigen Gemein-
schaft wurde sie einie natürliche, man gelangte nicht durch die
Wiedergeburt hinein, sondern durch die Geburt, welcher darum die
Taufe auf dem Flecke folgte. Die christliche Religion kam nun
also im großen und ganzen wieder auf dem alten ethnischen
Standpunkte an, auf dem die israelitische gestanden und den auch
die jüdische nicht überwunden hatte. Sie verschmolz mit der
Kultur, mit der Gesellschaft, mit den Völkern.
Der Jahvismus und der Islam lehren, welchen gewaltigen Ein-
fluß die Religion auf die Kultur ausüben kann; das selbe lehrt die
katholische Kirche des Mittelalters, die den Rest vom Erbe des
Altertums auf die germanischen Völker übertrug. Man ist gegen-
wärtig geneigt, nach diesem Einfluß, sei er heilsam, sei er schäd-
lich, die Religion zu beurteilen. Der Blick ist auf die Gattung
gerichtet und auf die Wirksamkeit unpersönlicher, epidemischer
Mächte. Die Geschichte ist Geschichte des Staats und der Gesell-
schaft, der Verfassung und des Rechtes, der Wirtschaft, der herr-
schenden Ideen, der Moralität, der Kunst und Wissenschaft. Ganz
We 1 1 h a u s e u , Isr. G eschichtc. 5. Aufl. 2 G
394 Vierundzwanzigstes Kapitel. Das Evangelium.
erklärlich; denn nur dies Gebiet unterliegt der Entwicklung, nur
da läßt sich ein Fortschritt und eine gewisse Gesetzmäßigkeit er-
kennen, nur da kann man einigermaßen berechnen und sogar die
Statistik anwenden. Es ist ja auch nicht zu verkennen, daß nur
auf dem Boden der Kultur das Individuum gedeiht. In Schmutz
und Not und Barbarei versunken kann der Mensch nicht an seine
Seele denken, und ehe die Gerechtigkeit vor Gott an die Reihe
kommt, muß die iustitia civilis fest stehn. Das Höhere wird zum
Stein, wenn man es statt des Brotes bietet. Aber der Mensch
lebt nicht vom Brot allein, die Mittel sind nicht der Zweck. Alle
Kultur ist unausstehlich, wenn sie das Individuum und sein Ge-
heimnis nicht anerkennt. Der Fortschritt der Gattung ist, über
eine gewisse Grenze hinaus, kein Fortschritt des Individuums,
glücklicherweise nicht. Ich bin nicht bloß ein Teil der Masse,
ein Erzeugnis meiner Zeit und meiner Umgebung, wie die Wissen-
schaft in einem Tone verkündet, als ob Grund wäre darüber zu
triumphiren. In meinem Kern berühre ich mich mit der Ewigkeit.
Freilich muß ich diesen Kern mir selber gewinnen und aus-
gestalten. Vor allem muß ich daran glauben; glauben daß ich
nicht aufgehe in der Mühle in der ich umgetrieben und zermalmt
werde; glauben daß Gott hinter und über dem Mechanismus der
AVeit steht, daß er auf meine Seele wirken, sie zu sich hinauf-
ziehen und ihr zu ihrem eigenen Selbst verhelfen kann, daß er
das Band einer unsichtbaren und ewigen Gemeinschaft der Geister
ist. Man does not live by demonstration, but by faith. Der
Glaube an die Freiheit und der Glaube an Gott ist das selbe, eins
nicht ohne das andere. Beide sind nur dem Glauben vorhanden,
aber der Glaube braucht nicht erquält zu werden, sondern ist Ge-
wißheit.
Die Stufen der Religion, wie die Stufen der Geschichte über-
haupt, bleiben neben einander bestehn. Die öffentliche Religion
braucht nicht aufzuhören. Aber Jesus hat die Kirche nicht ge-
stiftet, der jüdischen Theokratie hat er das Urteil gesprochen. Das
Evangelium ist nur das Salz der Erde; wo es mehr sein Avill, ist
es weniger. Es predigt den edelsten Individualismus, die Freiheit
der Kinder Gottes.
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