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Full text of "Israelitische und jüdische Geschichte"

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ISRAELITISCHE 


UND 


JÜDISCHE  GESCHICHTE 


VON 


J.  WELLHAUSEN 


FÜNFTE  AUSGABE 


BERLIN 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  GEORG  REIMER 
1904. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Ulrich  von  Wilamowitz-loellendorff 


zugeeignet. 


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Inhalt. 


Seite 

1.  Geographie  und  p]thuologie.     Chronologie 1 

2.  Die  Anfänge  des  Volkes 11 

3.  Die  Ansiedlung  in  Palästina 36 

4.  Die   Gründung  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Könige 52 

5.  Von  Jerobeam  I.  bis  zu  Jerobeam  II 72 

6.  Gott,  Welt  und  Leben  im  alten  Israel ,  84 

7.  Der  Untergang  Saraariens 111 

8.  Die  Rettung  Judas 124 

9.  Die  prophetische  Reformation 130 

10.  Jeremias  und  die  Zerstörung  Jerusalems 140 

11.  Die  Juden  im  Exil 150 

12.  Die  Restauration 163 

18.     Das  Gesetz 179 

14.  Die  zweite  Hälfte  der  persischen  Periode 192 

15.  Die  jüdische  Frömmigkeit 208 

16.  Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger 228 

17.  Judas  Makkahäus  und  seine  Brüder 258 

18.  Die  Herrschaft  der  Hasmonäer 277 

19.  Die  Ausbildung  des  Judaismus 295 

20.  Die  Zeit  Hyrkans  II 315 

21.  König  Herodes 325 

22.  Die  Vierfürsten  und  die  Landpfleger 347 

28.     Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens 360 

24.     Das  Evangelium 381 


Erstes  Kapitel. 

Geographie  und  Ethnologie.     Chronologie. 

1.  Der  großen  Wüste,  die  vom  Tigris  und  Euphrat  her  bis 
zum  Indischen  Ozean  hinunter  sich  ausdehnt,  ist  im  Westen  auf 
ihrer  ganzen  Länge  ein  Gebirgsstreifen  vorgelagert,  welcher  sie  vom 
Meere  scheidet.  Das  Meer  läuft  beständig  neben  dem  Gebirge  her, 
nur  an  einer  Stelle  wird  es  überbrückt  von  der  Halbinsel  des  Sinai, 
welche  sich  zwischen  die  vorgeschobenen  Buchten  der  Ozeane  legt 
und  den  Wüstengürtel  der  Kontinente  verbindet.  Diese  Halbinsel 
bildet  die  Grenze  zwischen  dem  arabischen  und  dem  syrischen 
Küstenlande.  Die  Lage  am  Mittelländischen  Meere  ist  der  Vorzug 
des  letzteren,  die  Ursachei  seiner  größeren  Fruchtbarkeit  und  seiner 
wichtigeren  Stellung  in  der  Weltgeschichte. 

Wo  der  Euphrat,  nach  dem  Durchbruch  der  Taurusketten, 
Miene  macht  sich  in  das  westliche  Meer  zu  ergießen,  beginnt  das 
syrische  Bergland  und  von  Nord  nach  Süd  streichend  bildet  es 
zwischen  Meer  und  Wüste  einen  fortlaufenden  Damm,  die  Völker- 
straße von  Vorderasien  nach  Ägypten.  Ein  langer  Riesenwall, 
nur  durch  den  Einschnitt  des  Orontes  und  des  Eleutherus  unter- 
brochen, erstreckt  sicli  an  der  Küste  her  bis  gegen  Tyrus.  Seine 
größte  Erhebung  erreicht  er  im  Libanon.  Diesem  gegenüber  formirt 
sich  ein  paralleles  östliches  Gebirge,  der  Antilibanus;  dazwischen 
liegt  ein  Tal,  von  dessen  Scheitelpunkt  die  Flüsse  teils  nach 
Norden,  teils  nach  Süden  fließen.  Die  zwei  Gebirgszüge,  mit  der 
Furche  in  der  Mitte,  setzen  sich  nach  Süden  zu  beiden  Seiten  des 
Jordans  fort,  wenn  auch  in  sehr  vermindertem  Maße. 

Soweit  der  Jordan  geht,  reicht  Palästina.  Am  südlichen  Fuße 
des  Hermon  liegt  eine  kleine  Niederung,  von  hohen  Bergen  ein- 
geschlossen; mehrere  Bäche  strömen  hindurch  und  vereinigen  sich 
zuletzt  in  einer  sumpfigen  Marsch,  mit  einem  dreieckigen  Teich,  aus 

Wellhausen,  Isr.  Geschichte,    ö.  Aufl.  1 


2  Erstes  Kapitel. 

dem  der  Jordan  hervorkommt.  Mühsam  durch  Basaltklüfte  seinen 
Weg  sich  bahnend  stürzt  er  zuerst  ziemlich  rasch  an  sechshundert 
Fuß  herab,  staut  sich  aber  dann  vor  einer  Felsmauer  und  bildet 
das  Galiläische  Meer.  Von  da  austretend  hat  er  sich  in  einem 
durchschnittlich  mehrere  Stunden  breiten  Tal  ein  doppeltes  Bett 
gegraben,  ein  äußeres  mit  fast  senkrechten  Wänden  und  einem 
ziemlich  graden  Laufe,  und  ein  inneres  mit  beständigen  Windungen, 
die  heutige  Flußrinne.  So  setzt  er  seinen  Weg  nach  Süden  fort, 
bis  er  endlich  im  Toten  Meere  sein  Grab  findet.  Die  Gegend,  die 
er  in  seinem  unteren  Hauptlaufe  von  See  zu  See  durchschneidet, 
ist  eine  hie  und  da  von  üppigen  Oasen  unterbrochene  Einöde.  Man 
kann  den  Fluß  nicht  die  Lebensader  des  Landes  nennen;  er  ist 
beinah  nur  ein  tiefer  Abzugsgraben.  Das  Tal,  durch  welches  er 
sich  ergießt,  ist  eine  der  sonderbarsten  Einsenkungen,  die  es  auf 
der  Erde  gibt,  einzig  in  ihrer  Art  durch  die  absolute  Depression 
des  Bodens.  Während  die  Furchenbildung  zwischen  parallelen  Ge- 
birgsrücken von  der  Bik'a  bis  zum  älanitischen  Busen  des  Roten 
Meeres  durchgeht,  ist  der  unterscheidende  Zug  für  die  Physiognomie 
Palästinas  die  untermeerische  Tiefe  „des  Einsturzes",  Die  er- 
wähnten beiden  Seen  liegen  mit  ihrem  Spiegel,  der  obere  sechs- 
hundert, der  untere  dreizehnhundert  Fuß  niedriger  als  der  Meeres- 
spiegel. Im  Süden  hingegen,  unterhalb'  des  Toten  Meeres,  erhebt 
sich  die  Mulde  bald  wieder  zu  einer  normalen  Höhe;  im  Norden 
überragt  die  Bik'a  sogar  das  Gebirgsniveau  Palästinas. 

Von  den  beiden  Höhenzügen,  welche  über  diese  Kluft  hinüber 
sich  ansehen,  ist  der  westliche  ein  ziemlich  höhleureiches  Kalk- 
gebirge von  durchschnittlich  zahmer  Natur.  Mit  dem  Libanon 
hängt  am  nächsten  das  obere  Galiläa  zusammen,  es  ist  der  höchste 
und  rauheste  Teil  des  diesseitigen  Landes.  Li  weiten  Absätzen 
fällt  von  da  das  Gebirge  nach  Süden  ab,  bis  zu  einer  Tiefebene, 
die  im  Alten  Testament  den  Namen  JezreeP)  führt.  Diese  Ebene, 
vom  Thabor  überragt,  macht  einen  großen  Einschnitt  durch  das 
westliche  Land.     Zwar   erstreckt  sie  sich  nicht    in    ganzer  Breite 


^)  So  heißt  ursprünglich  ein  Landstrich,  erst  später  eine  Stadt;  s. 
l.Sam.29, 1.  11.  2.  Sam.  2,  9.  4,4,  Genau  genommen  ist  das  Tal  Jezreel  von 
der  Ebene  Megiddo  zu  unterscheiden.  Es  ist  ein  wichtiger  Teil  der  Straße 
die  von  Ägypten  und  dem  Philisterlande  her  über  den  Paß  von  Dothan  hin- 
durch geht,  dann  den  Jordan  überschreitet  und  an  den  Flußtälern  des  Jarmuk 
und  der  Zarkä  weiter  nach  Osten  hinaufsteigt. 


Geographie  und  Ethnologie.     Chronologie.  3 

vom  Meere  bis  zum  Jordan,  sondern  wird  hüben  und  drüben  durch 
weit  vorgestreckte  Ausläufer  der  Gebirge  eingeengt.  Aber  Fluß- 
täler gehn  von  ihrem  Scheitel  nach  beiden  Seiten  durch,  und  im 
Südwesten  verbindet  sie  der  Paß  von  Dothan,  zwischen  dem  Karmel 
und  dem  samarischen  Gebirge,  mit  der  Ebene  Saron  und  der  Küste 
der  Philister. 

Weiter  gegen  Süden  geht  die  Ebene  in  ein  freundliches  Hügel- 
land über,  und  aus  diesem  steigt  stufenweise  der  Hauptrücken 
Westpalästinas  auf,  welcher  in  ziemlich  gleicher  Höhe  von  Silo  bis 
nach  Hebron  sich  erstreckt  und  die  wahre  Burg  des  Landes  bildet, 
das  Gebirge  Ephraim  und  Juda.  Der  breite  Rücken  zieht  sich  in 
mannigfachen  Krümmungen  von  Nord  nach  Süd.  Die  Täler  gehn 
von  da  nach  West  und  Ost,  doch  spalten  sie  sich  sehr  ungleich- 
mäßig und  unsymmetrisch.  Selten  fließen  perennirende  Bäche 
hindurch,  die  meisten  Quellen  kommen  nicht  weit.  Gegen  Osten 
ist  der  Abfall  kürzer  und  steiler,  da  der  Rücken  dem  Jordan  weit 
näher  läuft  als  dem  Meere.  Die  Hauptabdachung  erfolgt  gegen 
Westen.  Hier  stuft  sich  das  Gebirge  allmählich  zu  einer  Niederuns; 
ab,  die  sich  am  Meere  herzieht.  Südlich  von  Hebron  beginnt  ein 
kahles  Tafelland,  der  Negeb  des  Alten  Testaments.  In  bogen- 
förmigen Terrassen  abfallend  ragt  es  hinein  in  die  Wüste  des  Sinai. 

In  Obergaliläa  reichen  die  Felsen  noch  bis  an  das  Meer; 
weiter  südwärts  lagert  sich  eine  Ebene  dem  Gebirge  vor,  vielleicht 
das  Produkt  einer  von  Ägypten  kommenden  Windes-  und  Meeres- 
strömung. Unterhalb  des  Karmel  gewinnt  die  Ebene  beständig  an 
Ausdehnung  und  geht  zuletzt  in  die  Wüste  über.  Häfen  fehlen 
der  Küste  fast  gänzlich,  aber  als  Verkehrsweg  ist  sie  wichtig  ge- 
wesen, wichtiger  als  die  schlecht  zu  passirende  Bergstraße,  die 
über  den  Rücken  des  Landes  führt. 

Bei  dem  Höhenzuge  jenseits  des  Jordans  tritt  die  westliche 
Abdachung  noch  entschiedener  hervor  als  gegenüber.  Alle  Wasser 
laufen  nach  Westen,  und  zwar  zerstreuen  sie  sich  nicht,  sondern 
sammeln  sich  in  tiefen  Schluchten  zu  beträchtlichen  Bächen.  Von 
dieser  Seite  empfängt  der  Jordan  seine  bedeutendsten  Zuflüsse. 
Die  Wasserscheide,  zugleich  die  natürliche  Straße  von  Syrien  nach 
Arabien,  geht  hart 'am  Saume  der  großen  östlichen  Wüste  her, 
wenngleich  die  höchsten  Berge  weiter  westlich  liegen.  Die  Wüste 
dringt  nach  Süden  zu  weiter  vor,  im  Norden  hingegen  wird  sie 
zurückgedämmt   durch   das  Gebirge  des  Hauran,    das  wie  ein  ge- 

1  •• 


4  Erstes  Kapitel. 

waltiger  Außenposten    sich  auf  eine  kurze  Strecke   den  parallelen 
westlicheren  Ketten  vorschiebt. 

Das  transjordanische  Gebirge,  das  sich  steil  aus  dem  Flußtal 
erhebt,  ist  mehr  zu  Plateaubildung  geneigt  und  hält  sich  durch- 
schnittlich auf  größerer  Höhe  als  das  cisjordanische.  Die  breite 
und  tiefe  Senkung,  welche  im  Westlande  den  nördlichen  und  den 
südlichen  Rücken  trennt,  setzt  sich  im  Ostlande  nicht  fort;  um  so 
bedeutender  aber  treten  innere  Unterschiede  in  der  Terrainbildung 
hervor.  Im  Norden  ist  der  Sitz  des  Basalt,  die  ausgebrannten 
Vulkane  des  Haurans  bilden  sein  Zentrum,  Der  Jarmuk,  der 
gegenüber  der  Ebene  Jezreel  und  ihrem  östlichen  Ausläufer  in 
den  Jordan  fällt,  bildet  die  Grenze  seines  Gebietes,  wenngleich 
er  vereinzelt  auch  weiter  südlich  durchbricht.  Dann  kommt  der 
Kalk  zum  Vorschein,  er  erstreckt  sich  bis  zu  dem  Wüstenbach,  der 
in  den  untersten  Teil  des  Toten  Meeres  mündet.  Seine  Region 
zerfällt  in  das  Gebirge  Gilead  (und  Gad),  welches  von  der  Zarkä  ^) 
durchschnitten  wird,  und  in  die  Hochebene  Moab,  durch  welche 
der  Arnon  strömt.  Südlich  vom  Bach  der  Araba,  in  Edom,  macht 
der  Kalk  mehr  und  mehr  dem  Sandstein  und  dem  Urgebirge  Platz; 
der  gleiche  Wechsel  der  Formation  vollzieht  sich  auch  drüben,  auf 
der  Halbinsel  des  Sinai.  Basan  im  Norden  und  Edom  im  Süden 
sind  übrigens  nur  Grenzländer  Palästinas,  während  Gilead  und 
Moab  als  dazu  gehörig  betrachtet  werden  können. 

Vom  Fuße  des  Hermon  bis  zum  Ende  des  Toten  Meeres  hat 
das  Land  eine  Länge  von  etwa  dreißig  deutschen  Meilen.  Die 
Breite,  zwischen  Wüste  und  Meer,  ist  erheblich  geringer,  bleibt 
sich  jedoch  nicht  gleich  und  läßt  sich  schlecht  veranschlagen. 
Den  Flächeninhalt  nimmt  man  auf  etwa  vierhundert  Quadratmeilen 
an,  von  denen  zweihundertundvierzig  auf  die  westliche  Hälfte 
fallen.  Palästina  ist  also  zwar  klein  nach  unseren  Begriffen,  aber 
groß  im  Vergleich  zu  Attika  und  Latium.  Nicht  allenthalben  ist 
es  anbaufähig,  gar  manche  und  große  Strecken  sind  AVüste  und 
Wildnis,  oder  nur  als  Weide  für  Schafe  und  Ziegen  zu  gebrauchen. 
Für  die  Bewässerung  sind  die  Flüsse,  wegen  ihres  tiefen  Bettes, 
von  keinem  Nutzen,    sondern  nur  die  Quellen   und  Teiche.     Vor- 


^)  Die  Zarkä  (nicht  der  Jarmuk,  wie  ich  früher  geglaubt  habe)  ist  der 
Alttestameutliche  Jabbok.  Das  eigentliche  Gilead,  mit  den  Städten  Ramath 
Mispha  und  Mahanaim,  liegt  nördlich  davon.    Vgl.  Smend,  ZATW  1902  p.  129  ss. 


Geographie  und  Ethnologie.     Chronologie.  5 

zugsweise  wird  die  zum  Anbau  nötige  Feuchtigkeit  vom  Himmel 
gespendet.  Regelmäßige  Regenschauer  eröffnen  und  schließen  die 
winterliche  Jahreshälfte,  stärkere  Güsse  erfolgen  im  Dezember. 
Im  Sommer  muß  der  Tau  das  Beste  tun.  Die  Quelle  des  Taues 
ist  das  Meer.  Zu  Handel  und  AVandel  fordert  es  an  dieser  Küste 
wenig  auf,  aber  auf  andere  Weise  belebt  es  das  Land.  Ihm  ent- 
stammt der  starke  AVassergehalt  der  Luft,  den  die  Berge  auffangen 
und  festhalten  —  sie  allein  würden  sonst  im  Kampfe  gegen  die 
Wüste  hier  nicht  mehr  ausrichten  als  tiefer  südlich  in  Arabien. 
Wie  viel  dem  Meere  verdankt  wird,  zeigt  sich  in  Palästina  ebenso 
wie  beim  Libanon  in  der  Bevorzugung  der  westlichen  vor  der  öst- 
lichen Abdachung  der  Gebirge.  Besonders  bei  dem  Karmel  ist  der 
Unterschied  der  Fruchtbarkeit  zwischen  der  sanft  geneigten  west- 
lichen und  der  jäh  abfallenden  östlichen  Schulter  sehr  auffallend. 
Überall  wiederholt  sich  die  gleiche  Erscheinung;  die  zum  Meere 
geöffnete  Lage  bringt  Feuchtigkeit  und  Wachstum,  die  der  Wüste 
zugekehrte  Trocknis  und  Unfruchtbarkeit  mit  sich. 

Landschaftliche  Reize  bietet  Palästina  wenig.  Die  Berge  zeigen 
keine  malerischen  Linien;  Wald  und  Wiese  gibt  es  nicht,  außer 
am  Karmel,  in  Galiläa,  und  namentlich  auf  den  rauhen  und 
wasserreichen  Höhen  Gileads;  große  wildwachsende  Bäume  kommen 
in  der  Regel  nur  einzeln  vor,  so  daß  sie  als  Landmarken  dienen. 
Aber  der  Rebe,  Olive  und  Feige  sagt  der  Boden  zu,  die  Palme 
kommt  nur  stellenweise  vor ').  Jene  edelen  Gewächse  verstehn  es, 
sich  in  dem  Felsen  einzuwurzeln  und  aus  ihm  ihre  Süßigkeit  zu 
saugen.  Wo  die  Ackerkrume  tief  genug  ist,  da  wächst  Weizen 
und  Gerste  in  Fülle,  am  besten  in  der  Hügelregion  und  in  der 
Ebene. 

2.  So  weit  die  geschichtliche  Erinnerung  reicht,  gehört  Syrien 
und  Palästina  vorwiegend  zum  Gebiete  der  Semiten.  Sie  haben 
sich  dort  wie  überall  von  der  Wüste  her  abgelagert.  Die  arabische 
Wüste  scheint  für  alle  Semiten  der  Durchgang  zur  Weltgeschichte 
gewesen  zu  sein.  Autochthon  waren  sie  dort  schwerlich;  die  Zeichen 
mehren  sich,  daß  sie  vor  uralters  mit  den  ostafrikanischen  Völkern 


')  Sie  gedeiht  nur  in  den  Oasen  des  Jordans,  wo  sie  jedoch  erst  in  der 
griechisch-römischen  Zeit  in  größerem  Maße  angebaut  wurde,  wie  auch  die 
Balsamstaude  und  der  Papyrus.  Die  Palraenstadt  ist  nicht  Jericho,  sondern  liegt 
nach  Jud.  1,  16  im  Negeb  von  Arad;  die  Worte  ,mit  den  Kindern  Juda  in 
die  Wüste  Juda"  sprengen  den  Zusammenhang, 


ß  Erstes  Kapitel, 

in  Verbindung  gestanden  haben.  Aber  Arabien  hat  ihnen  das 
letzte  Siegel  aufgedrückt,  in  diesem  Sinne  kann  es  als  ihr  Ur- 
sprungsland gelten.  Sie  haben  dort  auch  ihren  primitiven  Typus 
am  treuesten  bewahrt.  Das  kann  man  zugeben;  unrichtig  ist  es 
nur,  diesen  stehn  gebliebenen  Typus  für  ein  unveränderliches 
Grundwesen  der  Semiten  auszugeben  und  zu  behaupten,  sie  seien 
eigentlich  nie  recht  darüber  hinaus  gekommen.  Soweit  diese  Be- 
hauptung für  Arabien  zuzutreffen  scheint,  ist  daran  nicht  der 
Semitismus,  sondern  die  Wüste  schuld.  Man  muß  im  Gegenteil 
staunen,  wie  leicht  die  Semiten  als  erobernde  Einwanderer  sich  in 
neuen  Verhältnissen  heimisch  machten  und  von  der  Barbarei  zur 
Kultur  übergingen.  Die  Kultur  hat  auch  sie  verwandelt  und  ein- 
ander ganz  unähnlich  gemacht,  und  es  ist  bei  ihnen  genau  so 
schwer  oder  unmöglich  wie  bei  andern  Völkern,  den  erworbenen 
und  variirenden  Charakter  von  dem  angeborenen  und  konstanten 
zu  unterscheiden. 

Die  älteste  semitische  Bevölkerung  von  ganz  Syrien  war 
kanaanitisch ').  Kanaan  ist  ursprünglich  kein  geographischer,  sondern 
ein  ethnischer  Name  für  ein  echt  antikes  Gewirr  kleiner  Völker- 
schaften, die  nur  durch  Sprache  und  Kultur,  aber  nicht  politisch 
mit  einander  verbunden  waren.  Zwei  größere  Gruppen  darunter, 
die  jedoch  auch  keine  politischen  Einheiten  bildeten,  waren  die 
Phönizier  und  die  Amoriten.  Die  Phönizier  wohnten  in  den  Städten 
am  Meer,  namentlich  am  Fuße  des  Libanon;  sie  dehnten  sich  ur- 
sprünglich bis  zur  ägyptischen  Grenze  aus  und  wurden  erst  durch 
die  Philister  von  der  palästinischen  Küste  verdrängt.  Amoriten 
heißen  im  Alten  Testamente  die  Kanaaniten  des  Berglandes  zu 
beiden  Seiten  des  Jordans,  jedoch  nur  sofern  sie  den  Hebräern 
unterlegen  und  vor  ihnen  verschwunden  sind,  nicht  sofern  sie  sich 
stellenweise  noch  unter  ihnen  behauptet  haben').  Ägyptische 
Quellen  belehren  uns,  daß  die  Amoriten  im  Hinterlande  der  Phö- 
nizier wohnten,  im  Norden  Palästinas,  bis  über  den  Libanon  hin- 
aus^).    Sie    hatten   eine  Zeitlang   die  Vormacht  in  jener  Gegend, 


^)  Im  modernen  ethnologischen  Verstände  sind  die  Kanaaniten  grade  so 
echte  Semiten  wie  die  Hebräer.  Im  Alten  Testamente  dagegen  hat  Sem  einen 
anderen  Sinn  und  Umfang,  und  Kanaan  steht  im  Gegensatz  dazu. 

2)  Komposition  des  Hexateuchs  (Berlin  1899)  p.  343.  —  Das  Lied  der 
Debora  redet  nicht  von  den  Amoriten,  sondern  von  den  Königen  Kanaans. 

3)  Vgl.  Deut.  3,  9. 


Geographie  und  Ethnologie.     Chronologie.  7 

verloren  sie  aber  später  au  die  Hethiten.  Die  Pharaonen  der  acht- 
zehnten Dynastie  hatten  es  mit  den  Amoriten  zu  tun,  die  der 
neunzehnten  in  der  selben  Gegend  mit  den  Hethiten. 

Die  Hethiten  drangen  von  Norden  oder  von  Nordwesten  her 
in  Syrien  ein  und  begründeten  dort  eine  umfassende  Herrschaft,  die 
sich  bis  nach  Palästina  hinein  erstreckte  und  in  die  ägyptische 
Machtsphäre  eingriff.  Sie  werden  in  der  Völkertafel  der  Genesis 
unter  den  Söhnen  Kanaans  aufgeführt  und  nehmen  unter  ihnen 
nach  den  Phöniziern  die  wichtigste  Stelle  ein,  Avährend  die  Amoriten 
fehlen.  Sie  waren  freilich  nicht  von  semitischer  Herkunft,  hatten 
sich  aber  den  Kanaaniten,  über  die  sie  herrschten,  so  assimilirt, 
daß  sie  mit  ihnen  identihzirt  wurden  und  einfach  in  die  Stelle 
der  Amoriten  traten.  Das  war  jedoch  nur  in  ihren  syrischen  Sitzen 
der  Fall;  weiter  im  Norden,  wo  ihre  wahre  Heimat  war,  be- 
wahrten sie  ihre  Eigenart.  Sie  haben  dadurch  für  uns  etwas  Zwie- 
schlächtiges  bekommen. 

Abgesehen  von  den  Phöniziern,  die  ihre  Freiheit  behaupteten, 
gerieten  die  Kanaaniten  überall  in  Untertänigkeit,  wenngleich  sie 
ihre  Sprache,  Religion  und  Kultur  nicht  aufgaben  und  dadurch  ihre 
Herren  in  starkem  Maße  beeiuHußten.  Der  Fluch  Noahs  ging  in 
Erfüllung,  Kanaan  wurde  Knecht.  Und  zwar  der  Knecht  nicht 
bloß  Japheths,  sondern  auch  Sems ').  Nach  den  Hethiten  drangen 
nämlich  noch  wieder  richtige  Semiten  erobernd  ein,  die  Aramäer 
und  die  Hebräer.  Daß  die  Aramäer  nicht  seit  unvordenklichen 
Zeiten  in  Syrien  einheimisch  waren,  hat  sich  in  der  Erinnerung 
des  Alten  Testaments  erhalten.  Dire  Einwanderung  geschah  von 
Mesopotamien  aus.  Von  da  schoben  sie  sich  gegen  die  Küste  des 
Mittelmeeres  vor,  und  zwar  in  der  Richtung  von  Nord  nach  Süd. 
Denn  im  Süden,  unterhalb  von  Damaskus,  verläuft  sich  ihr  Zug 
allmählich,  während  er  gegen  Norden  nicht  abreißt,  sondern  je 
näher  dem  Tigris  um  so  breiter  und  massiger  wird.  Die  Hethiten, 
auf  die  sie  trafen,    scheinen    schon  vorher  erschüttert  gewesen  zu 


')  Gen.  9, 20—27.  Dieses  Stück  hat  einen  ganz  anderen  nnd  engeren 
Horizont  als  die  weit  ausschauende  Yölkertafel  in  Gen.  10.  Die  drei  Söhne 
Noahs  sind  hier  Sem,  Japheth  und  Kanaan;  sie  wohnen  nicht  auf  der  ganzen 
Erde,  sondern  in  Syrien  und  Palästina.  Kanaan  ist  von  Sem  und  Japheth,  der 
zwischen  Sem  wohnt,  unterworfen.  Sem  sind  die  Aramäer  und  die  Hebräer. 
Unter  Japheth  können  sehr  wol  die  Hethiten  und  die  Philister  verstanden  werden; 
denn  nach  Gen.  10  braucht  mau  sich  nicht  zu  richten. 


3  Erstes  Kapitel. 

sein  durch  eine  von  Kleinasien  nach  Ägypten  sich  wälzende  Völker- 
wanderung, infolge  deren  vielleicht  die  Philister  an  ihre  späteren 
Wohnsitze  verschlagen  worden  sind.  Jetzt  zersplitterte  sich  ihre 
Macht  vollends.  Sie  behaupteten  zwar  ihre  Herrschaft  nicht  bloß 
in  Karchemis,  sondern  auch  an  vielen  Stellen  in  Syrien  unter  der 
kauaanitischen  Bevölkerung.  Aber  die  Araniäer,  vielgeteilt  und  doch 
zusammenhaltend,  lagen  wie  von  Natur  in  Fehde  mit  ihnen  und 
drängten  immer  weiter  gegen  das  Meer  zu.  Ihrem  unausgesetzten 
und  von  einem  starken  Rückhalt  im  Nordosten  unterstützten  Drucke 
sind  die  älteren  Bevölkerungsschichten  endlich  erlegen;  im  fünften 
Jahrhundert  war  gang  Syrien  und  Palästina,  mit  Ausnahme  der 
phönizischen  Städte,  aramaisirt,  und  die  Anfänge  dieses  Prozesses 
gehn  in  weit  frühere  Zeiten  zurück. 

Zu  den  Hebräern  kann  man  auch  die  Ammoniten,  Moabiten 
und  Edomiten  rechnen,  obgleich  der  Name  vornehmlich  an  den 
Israeliten  haftete,  die  ursprünglich  mit  den  Edomiten  vereint  waren 
und  sich  auch  räumlich  eng  an  jene  anschlössen.  Wie  aus  der 
Genesis  hervorgeht,  haben  diese  kleinen  Völker  einst  eine  Art  Ein- 
heit gebildet  und  eine  gemeinsame  Geschichte  durchlebt,  deren  Er- 
gebnis war,  daß  sie  sich  im  südlichen  Teile  des  ostjordanischen 
Palästina  niederließen,  von  wo  sie  ihre  Ausläufer  (oder  ihre  Wurzeln) 
bis  zum  Roten  Meere  erstreckten.  Auch  im  Osten  des  Jordans 
waren  die  alten  Einwohner  Kanaaniten,  sie  wuchsen  durch  die  obere 
Schicht  wieder  empor  und  beeinflußten  die  Hebräer ').  Vielleicht 
haben  diese  damals  die  Sprache  Kanaans  angenommen,  als  sie  noch 
vereint  in  jener  Gegend  wohnten,  vor  der  Abtrennung  der  Israeliten. 
Jedenfalls  redeten  nicht  bloß  die  Israeliten,  sondern  auch  die 
Moabiten  und  zweifellos  ebenso  die  Edomiten  und  Ammoniten 
kanaanitische  Dialekte.     Freilich    hat    man  nur    dann  nötig  darin 


')  Sie  verschwanden  auch  hier  keineswegs  vor  den  Eroberern,  sondern 
blieben  nnter  ihnen  wohnen.  Auf  einer  großen  Strecke  in  Gilead  hielten  sich 
die  Amoriten  ganz  ununterworfen  und  verursachten  auf  diese  Weise  eine  breite, 
von  den  Ammoniten  nur  notdürftig  gesäumte  und  erst  später  von  den  Isra- 
eliten ausgefüllte  Lücke  in  der  aramäisch-hebräischen  Einwanderuugslinie;  von 
hier  suchten  sie  sogar  nicht  ohne  Erfolg  das  ihnen  entrissene  Gebiet  im 
Süden  wieder  zu  gewinnen.  Wo  sie  aber  den  Hebräern  unterlegen  waren, 
bildeten  sie  den  Untergrund  der  Bevölkerung.  Der  Dienst  des  Baalpheor  ist 
eine  Spur  davon,  er  ist  sicher  nicht  moabitischen,  sondern  kauaanitischen 
Ursprungs. 


Geographie  und  Ethnologie.     Chronologie.  9 

einen  Sprachwechsel  zu  sehen,  wenn  es  richtig  ist,  daß  die  Hebräer 
ursprünglich  einem  semitischen  Zweige  angehörten,  der  von  dem 
kanaanitischen  ganz  verschieden  war.  Sie  selber  behaupteten  das 
mit  Nachdruck,  aber  aus  Gründen,  die  für  die  Ethnologie  nicht 
entscheidend  sind.  Sie  fühlten  sich  als  Eroberer  den  Unterworfenen 
gegenüber  sehr  stolz,  sie  wollten  als  Herren  mit  den  Knechten,  als 
freie  Hirten  mit  den  Bauern  nichts  zu  tun  haben.  Sie  betonten 
dagegen  ihre  Verwandtschaft  mit  den  Aramäern,  von  denen  sie 
sich  durch  die  Sprache  unterschieden;  sie  gaben  sich  sogar  für  ver- 
sprengte Aramäer  aus.  Auch  dazu  konnten  sie  leicht  kommen. 
Die  Aramäer  hatten  das  gleiche  Verhältnis  wie  sie  zu  den  Xanaaniten. 
Erstens  in  der  allgemeinen  Hinsicht,  daß  sie  die  herrschende,  jene 
die  untertänige  Klasse  der  Bevölkerung  bildeten.  Zweitens  in  der 
besonderen  Art,  wie  sich  die  obere  über  der  unteren  Schicht  ab- 
gelagert hatte.  Vom  Rande  der  Wüste  aus  hatten  sich  sowol  die 
Aramäer  als  die  Hebräer  angesetzt;  wo  jene  aufhörten,  in  der 
Gegend  des  Galiläischen  Meeres,  da  fingen  diese  au;  zusammen 
bildeten  sie  an  der  Ostmark  Syriens  und  Palästinas  eine  fast  un- 
unterbrochene Anschwemmungslinie.  Es  lag  darum  nahe,  daß  die 
Hebräer  sich  als  einen  Vorlauf  der  mächtigeren  Welle  betrachteten, 
welche  von  Norden  uachllutete,  als  einen  vorgeschobenen  Außen- 
posten der  aramäischen  Wanderung.  Sie  taten  es  um  so  lieber, 
da  es  eine  Ehre  war,  zu  den  mächtigen  Aramäern  zu  gehören. 

Sicher  ist  nur  die  nahe  Verwandtschaft  der  Hebräer  mit  den 
nomadischen  und  halbuomadischen  Stämmen,  welche  auf  der  Halb- 
insel des  Sinai  und  überhaupt  zwischen  Palästina  und  Arabien 
ihr  Wiesen  trieben  und  den  Übergang  von  den  Arabern  zu  den 
Kanaaniten  bildeten.  Ismael  und  Midian  auf  der  einen  Seite,  Kain 
Amalek  Keuaz  auf  der  andern,  sind  die  bekanntesten  darunter.  Sie 
lieferten  das  Material  zu  den  hebräischen  Volksgebilden,  welche 
durch  die  Ansiedlnng  entstanden  und  sich  schieden.  Zuerst  trennten 
sich  Lot  und  Isaak;  der  eine  faßte  im  Norden,  der  andere  im 
Süden  des  Wüstenbaches  Wurzel,  der  von  Osten  her  in  das  untere 
Ende  des  Toten  Meeres  einfällt.  Innerhalb  Lots  gelangte  dann  ein 
Teil  früher  zu  seßhafter  Geschlossenheit  als  der  andere;  Moab  sonderte 
sich  auf  diese  Weise  von  Ammou,  dem  weniger  begünstigten  Reste, 
Avelcher  in  näherer  Verbindung  mit  der  Wüste  und  dem  Wüsten- 
leben blieb.  Ahnlich  war  in  Isaak. das  Verhältnis  von  Edom  und 
Israel.     Nachdem  Edom  sich  konsolidirt  hatte,  blieb  noch   ein  un- 


10         Erstes  Kapitel.     Geographie  und  Ethnologie.     Chronologie. 

verbrauchter  Rest  zurück,  wie  ein  loser  Schweif  an  einem  festen 
Körper;  gewisse  Familien  fanden  im  Lande  Seir  keinen  Platz  oder 
waren  aus  anderen  Gründen  in  der  edomitischen  Volksbildung  nicht 
aufgegangen.  Das  war  Israel  im  embryonischen  Zustande.  Die 
wahre  Heimat  der  Erzväter  liegt  zwischen  Edom  und  Ägypten,  wo 
der  Süden  Palästinas  in  die  Wüste  übergeht;  das  älteste  Heiligtum 
der  Israeliten  ist  der  Sinai,  der  Berg  Pharans. 

3.  Eine  zuverlässige  Chronologie  ergibt  sich  für  die  israelitische 
Geschichte  erst,  seit  die  assyrischen  Synchronismen  angehn.  Der 
erste  ist  die  Schlacht  von  Karkar  854,  an  der  sich  Ahab  be- 
teiligte. ]>is  unter  851  kann  der  Tod  Ahabs  nicht  herabgerückt 
werden;  denn  bald  nachher  erscheint  schon  der  Nachfolger  seines 
Sohnes  Joram,  Jehu,  auf  den  assyrischen  Inschriften.  Weiter  hinauf 
gelangen  wir  durch  die  Inschrift  Mesas,  wo  es  Zeile  7  —  9  heißt: 
Omri  nahm  das  ganze  Land  Medaba  ein  und  Israel  wohnte  darin 
seine  Tage  und  die  Hälfte  der  Tage  seines  Sohnes,  vierzig  Jahre, 
und  zurück  brachte  es  Kamos  in  meinen  Tagen.  Die  vierzig  Jahre 
beginnen  innerhalb  der  Regierung  Omris  und  laufen  zu  Ende  nicht 
mit  dem  Tode  Ahabs,  sondern  in  der  Mitte  seiner  Regierung.  Je 
mehr  man  Ahab  davon  gibt,  desto  mehr  verlängert  man  die  Chro- 
nologie über  die  Zahlen  des  Königsbuches  hinaus,  weil  Ahab 
doppelt  so  lange  regierte,  als  er  die  Landschaft  Medaba  besaß. 
Gibt  man  ihm  die  Hälfte,  so  hat  er  40  Jahre  regiert  und  sein 
Vorgänger  20  +  x;  gibt  man  ihm  ein  Viertel,  so  hat  er  20  Jahre 
regiert,  und  Omri  30  -f  x.  Auf  60  Jahre  wird  man  die  beiden 
Regierungen  zusammen  wol  veranschlagen  müssen.  Damit  gelangt 
man  auf  910  als  Anfang  Omris,  dieser  Ansatz  entfernt  sich  auf 
keinen  Fall  weit  vom  Richtigen.  Zwischen  Omri  und  Salomo  liegen 
vier  Regierungen;  das  Ende  Salomos  kann  also  nicht  viel  tiefer 
als  950  und  der  Anfang  der  Königsherrschaft  kaum  tiefer  als  1020 
angenommen  werden.  Die  Dauer  der  Periode  zwischen  Saul  und 
Moses  läßt  sich  noch  schlechter  veranschlagen,  da  die  sogenannten 
Richter  in  eine  ganz  künstliche  Succession  mit  ebenso  künstlicher 
Chronologie  gebracht  sind.  Die  ältere  Tradition  betrachtet  den 
ganzen  Zeitraum  nur  als  ein  vorübergehendes  anarchisches  Inter- 
regnum. Die  zuverlässigste  israelitische  Genealogie,  die  wir  aus 
dieser  Zeit  besitzen,  ist  die  des  Priesters  Abiathar,  eines  Zeit- 
genossen Davids.  Zwischen  David  und  Eli  liegen  danach  drei 
Generationen;    es  ist  jedoch  unbekannt,    wie  weit  Eli  von  Moses 


Zweites  Kapitel.     Die  Anfänge  des  Volkes.  11 

absteht.  Das  Verzeichnis  Gen.  36,  32 — 39  ergibt  acht  edomitische 
Könige  bis  auf  Saul  oder  David.  Der  vierte,  Hadad  ben  Bedad, 
könnte  ein  Zeitgenosse  Gideons  gewesen  sein;  denn  seine  Tat  war, 
daß  er  die  Midianiten  schlug  im  Felde  Moab.  Der  erste,  Bela 
ben  Beor,  ist  identisch  mit  Bileam  ben  Beor,  der  nur  durch  Ver- 
wechslung zu  einem  Aramäer  geworden  zu  sein  scheint.  Dann 
wäre  er  also  ein  Zeitgenosse  Moses  und  man  hätte  den  terminus 
a  quo.  Indessen  erbte  die  Herrschaft  nicht  von  Vater  auf  Sohn, 
und  es  ist  fraglich,  ob  die  Reihe  den  ganzen  Raum  ausfüllt;  sie 
braucht  nicht  vollständig  zu  sein  und  nicht  einmal  überhaupt  eine 
zeitliche  Folge  darzustellen. 


Zweites  Kapitel. 

Die  Anfänge  des  Volkes. 

1.  Die  Geschichte  eines  Volkes  läßt  sich  nicht  über  das  Volk 
selber  hinausführen,  in  eine  Zeit,  wo  dasselbe  noch  gar  nicht  vor- 
handen war.  Die  Erzählungen  über  die  Erzväter  in  der  Genesis 
gehn  von  ethnologischen  Verhältnissen  und  von  Kultuseinrichtungen 
der  Königszeit  aus  und  leiten  deren  Ursprünge  aus  einer  idealen 
Vorzeit  her,  auf  die  sie  in  Wahrheit  nur  abgespiegelt  werden^). 
Durch  ein  vielsagendes  Vacuum,  durch  einen  jahrhundertelangen 
Zwischenraum,  in  dessen  ereignisloser  Stille  der  Vater  Jakob  sich 
zum  Volke  Israel  ausbreitet,  scheiden  sich  diese  Erzählungen  von 
denen  der  sogenannten  mosaischen  Zeit,  die  von  den  Vorgängen 
handeln,  die  auf  den  Einbruch  der  Israeliten  in  Palästina  und 
ihre  Niederlassung  daselbst  auslaufen.  Auch  sie  sind  nicht  eigent- 
lich historisch,  aber  sie  schweben  doch  nicht  frei  über  dem  Boden, 
sondern  sie  stehn  an  der  Schwelle  und  berühren  sich  mit  dem 
Anfang  der  wirklichen  Geschichte.  Das  Deboralied,  ein  unbestritten 
authentisches  Dokument,  reicht  nahe  an  die  mosaische  Zeit  heran. 
Ähnlich  llößen  andere  sehr  alte  Stücke  des  Richterbuches,  auch 
das  schon  erwähnte,  sicher  nicht  künstlich  fabrizirte  Verzeichnis 
der  edomitischen  Könige  in  der  Genesis,  Zutrauen  ein  zu  der 
Möglichkeit    einer    allgemeinen    Erinnerung    an    die    Zeit,    die  der 


0  Prolegomena  (1899)  p.  30— 32.     322—331.     344  s.  366  s. 


\2  Zweites  Kapitel. 

Einwanderung  in  das  gelobte  Land  unmittelbar  vorhergegangen  ist. 
Die  bestimmten  und  farbenreichen  Einzelheiten,  welche  die  Sage 
über  die  wunderbare  Morgendämmerung  der  Geschichte  Israels 
berichtet,  können  allerdings  nicht  als  glaubwürdig  gelten.  Nur 
die  großen  Grundzüge  der  Vorgeschichte,  die  allgemeinsten  Voraus- 
setzungen aller  einzelnen  Erzählungen  über  dieselbe,  lassen  sich 
nicht  als  erdichtet  begreifen. 

Aus  der  Steppe  im  Süden  Palästinas  waren  die  hebräischen 
Geschlechter,  aus  denen  später  Israel  wurde,  übergetreten  in  die 
angrenzende  Ostmark  des  Pharaonenreiches.  Sie  wohnten  nicht 
im  Tsilland,  sondern  in  Gosen,  einem  eigentlich  noch  zu  Arabien 
gehörenden  Weiderevier,  das  zu  allen  Zeiten  im  Besitz  von  No- 
maden gewesen  ist.  Sie  standen  dort  wol  unter  der  Herrschaft 
der  Ägypter,  kamen  aber  nicht  in  nähere  Berührung  mit  ihnen 
und  wurden  von  ihrer  Kultur  kaum  beeinflußt.  Sie  erhielten  sich 
ihre  Sprache  und  ihr  altes  Wesen;  sie  blieben,  was  sie  gewesen 
waren,  Hirten  von  Schafen  und  Ziegen.  Wie  lange  sie  sich  in 
Gosen  aufgehalten  haben,  läßt  sich  nicht  sagen.  Etwa  um  1250 
vor  Chr.  mag  der  Auszug  erfolgt  sein,  in  einer  Zeit,  wo  Palästina 
sich  selbst  überlassen  war  und  weder  die  Ägypter  noch  die  He- 
thiten  ihre  Hand  darauf  gelegt  hielten.  Die  ziemlich  boshaften 
alexandrinischen  Legenden  über  den  Auszug  haben  das  spätere 
Judentum  vor  Augen,  welches  ein  nur  durch  den  monotheistischen 
Kultus  zusammengehaltenes  Gemisch  aus  allen  möglichen  Völkern 
zu  sein  schien. 

Der  Durchgang  durch  das  Schilfmeer  ist  so,  wie  er  in  der 
ältesten  Version  dargestellt  wnrd,  nicht  grade  unmöglich').  Aber 
die  Erzählung  gehört  doch  zu  denen,  auf  die  der  Natur  der  Sache 
nach  kein  Verlaß  ist.  Die  ältesten  Propheten  schweigen  gänzlich 
über  das  höchst  bedeutungsvolle  Ereignis,  und  das  befremdet,  da 
sie  von  der  Führung  aus  Ägypten  und  durch  die  Wüste  gern  reden. 
Im  innersten  Wesen  unwirklich  aber  ist  das  Wunder  von  der 
Bundschließung    am    Sinai.     Wer    mag    im    Ernste    glauben,    daß 


0  Die  Vorstellung,  daß  das  Meer  sich  teilte  und  zu  beiden  Seiten  des 
Durchgangs  stand  ^\•ie  eine  Mauer,  findet  sich  erst  in  der  jüngeren  Version, 
nach  welcher  der  späte  Psalm  Exod.  15  sich  richtet.  Dagegen  heißt  es 
IV  :  i  Exod.  14, 4l  einfach,  das  Meer  sei  trocken  gelegt  durch  einen  starken  Ost- 
wind, der  die  ganze  Nacht  wehte.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  war  es  sehr 
seicht  an  der  vorgestellten  Stelle  und  ist  jetzt  dort  längst  gänzlich  versandet. 


Die  Aufünge  des  Volkes.  13 

Jahve  mit  eigener  Hand  die  zehn  Gebote  auf  Stein  geschrieben, 
ja  sie  sogar  mit  eigener  Stimme  von  der  Bergspitze  herab  dem 
unten  versammelten  Volke  aus  der  Gewitterwolke  zugedonnert  und 
darnach  noch  hoch  droben  vierzig  Tage  lang  mit  jMoses  vertraute 
Zwiesprache  gehalten  habe!  Und  welches  sind  die  wahren  zehn 
Gebote,  die  von  Exod.  20  oder  die  von  Exod.  34?  Denn  ihr  Inhalt, 
der  doch  auf  Tafeln  gestanden  haben  soll,  wird  in  den  zwei  ver- 
schiedenen Berichten,  die  über  die  Sache  handeln,  gänzlich  ver- 
schieden angegeben.  In  Wirklichkeit  ist  die  Heiligkeit  des  Sinai 
ganz  unabhängig  von  der  Bundschließung  Jahves  mit  Israel,  sie 
weist  nicht  auf  die  Besonderheit  der  israelitischen  Religion  hin, 
sondern  umgekehrt  auf  ihren  Zusammenhang  mit  einer  älteren 
Stufe.  Der  Sinai  war  der  Sitz  der  Gottheit,  der  heilige  Berg, 
nicht  bloß  für  die  Israeliten,  sondern  für  alle  Stämme  der  Um- 
gegend. Ton  dem  dortigen  Priestertum  wurde  das  Priestertum 
Moses  abgeleitet,  dort  war  ihm  Jahve  im  brennenden  Dornbusch 
erschienen,  von  dort  hatte  er  ihn  nach  Ägypten  entsandt.  Dort 
blieb  Jahve  auch  für  die  Israeliten  noch  wohnen,  lange  nachdem 
sie  selber  sich  in  Palästina  niedergelassen  hatten.  Wenn  sie  also 
den  Zug  dahin  überhaupt  unternommen  haben,  so  haben  sie  es 
getan,  um  dort  vor  Jahves  Angesicht  zu  erscheinen  und  ihm  zu 
opfern.  „Wenn  ich  das  Volk  aus  Ägypten  befreit  haben  werde, 
hatte  Jahve  zu  Moses  gesagt,  als  er  ihn  am  Sinai  berief,  so  sollt 
ihr  Gott  dienen  an  diesem  Berge."  Auch  in  Exod.  33  herrscht 
noch  diese  Vorstellung').  Erst  ein  weiterer  Schritt  führte  dazu, 
den  Sinai  zum  Schauplatz  der  feierlichen  Eröffnung  des  besonderen 
Verhältnisses  zwischen  Jahve  und  Israel  zu  machen.  Es  waltete 
das  poetische  Bedürfnis,  die  Konstituirung  des  Volkes  Jahves  zu 
einem  dramatischen  Akte  auf  erhabener  Bühne  zuzuspitzen.  Übri- 
gens scheint  es,  als  ob  die  Wallfahrt  zum  Sinai  in  der  ältesten 
Sage  überhaupt  keine  Stelle  gehabt  habe.  Es  schimmert  eine  Form 
derselben  durch,   wonach  die  Israeliten  sofort  nach  dem  Ausbruch 


1)  Der  Aufenthalt  des  Volkes  am  Sinai  wii'd  hier  nicht  von  vornherein 
als  ein  zeitweiliger  von  kurzer  Dauer  vorgestellt,  sondern  als  ein  bleibender. 
Es  ist  eine  Strafe,  daß  sie  fortgeschickt  werden,  und  als  schwere  Strafe  wird 
es  auch  reuig  von  ihnen  empfunden.  Aber  ihre  Trauer  vermag  keine  Ände- 
rung des  Beschlusses  zu  bewirken,  nur  einen  Ersatz  seiner  wahren  Gegenwart 
gibt  Jahve  ihnen  mit,  das  ist  die  Lade  in  der  Stiftshütte.  Vgl.  die  Kompos. 
des  Hexat.  (1899)  p.92s. 


14  Zweites  Kapitel. 

aus  Ägypten  auf  Kades  zogen  und  dort  die  vierzig  Jahre  ihres 
Aufenthalts  in  der  Wüste  verblieben.  Unnatürlich  genug  ist  die 
Digression  nach  einem  Punkte,  der  so  gänzlich  von  dem  Ziel  der 
Ausgewanderten  ablag  und  so  weit  entfernt  war'). 

Als  Tatsache  kann  nur  das  Allgemeine  festgehalten  werden, 
daß  die  Ausgewanderten  lange  Jahre  in  der  Wüste  südlich  von 
Palästina  weilten,  ehe  sie  in  dies  Land  einzogen.  Dies  wird  grade 
dadurch  bestätigt,  daß  die  Sage  daran  Anstoß  nimmt.  Wie  war 
es  möglich,  daß  ein  großes  Volk  in  solcher  Einöde  seine  Existenz 
fristete?  Nur  durch  die  stete  wunderbare  Hilfe  Jahves,  der  die 
Seinen  in  der  Unvvegsamkeit  bei  Tag  und  bei  Nacht  führte,  für 
ihren  Unterhalt  sorgte  und  sie  in  jeder  Weise  auf  Händen  trug. 
Warum  aber  hielten  sie  sich  so  unnötig  lange  in  der  Wüste  auf 
und  zogen  nicht  einfach  möglichst  rasch  hindurch  in  das  gelobte 
Land?  Das  kam  von  ihrem  Ungehorsam.  Eigentlich  sollten  sie 
sofort  von  Süden  her  in  Palästina  eindringen,  aber  sie  weigerten 
sich  anzugreifen.  Zur  Strafe  dafür  mußten  sie  nun  vierzig  Jahre 
in  der  Wüste  gefangen  sitzen,  bis  die  ganze  Generation  der  LTnge- 
horsamen  ausgestorben  war^). 

Die  Schwierigkeiten,  die  auf  diese  Weise  natürlich  nicht  ge- 
hoben werden  können,  entstehn  durch  irrige  Voraussetzungen. 
Die  Sage  kann  sich  das  Volk  nicht  im  Werden,  sondern  nur  fertig 
vorstellen;  als  sei  es  schon  aus  Ägypten  so  herausgekommen,  wie 
es  nachher  etwa  in  der  Königszeit  war.  Aber  Gosen  hatte  nur  für 
wenige  Tausende  und  nur  für  Hirten  Raum.  Für  ein  ausge- 
wachsenes Volk,  das  an  die  Fleischtöpfe  Äyptens  gewöhnt  war, 
wäre  der  Aufenthalt  in  der  Wüste  allerdings  eine  Unmöglichkeit 
gewesen;   den  Ansprüchen   der  Hirten  von  Gosen  genügte  er.     Die 


^)  Prolegomena  p.  347  s.  Nach  Deut.  33  haben  sich  nicht  die  Israeliten 
zu  Jahve  nach  dem  Sinai  begeben,  sondern  umgekehrt  ist  dieser  vom  Sinai 
zu  ihnen  nach  Kades  gekommen:  „Jahve  kam  vom  Sinai  und  erglänzte  von 
Seir,  blitzte  auf  vom  Berge  Pharans  und  kam  nach  Meribath  Kades."  Kades 
ist  nach  Exod.  15,  35  auch  der  Ort  der  Gesetzgebung  und  der  Rechtsprache, 
es  heißt  Meribath  Kades  d.  i.  die  Gerichtsstätte  Kades. 

^)  Wie  man  sieht,  steht  diese  Betrachtungsweise  der  vierzig  Jahre  der 
Wüstenwanderung  als  Strafzeit  nicht  ganz  im  Einklang  mit  der  anderen, 
wonach  sie  vielmehr  eine  besondere  Gnadenzeit  waren,  die  Periode  der  Jugend- 
liebe, des  besten  Einvernehmens  zwischen  Jahve  und  Israel.  Die  Propheten 
lassen  die  W^iderspenstigkeit  des  Volkes  erst  mit  dem  Austritt  aus  der  Wüste, 
mit  der  Ausiedlung  im  Ackerlaude  beginnen. 


Die  Anfänge  des  Volkes.  15 

Veränderung  war  für  sie  nicht  groß,  sie  setzten  ihr  altes  Leben 
auf  benachbartem  Boden  fort,  unter  nicht  sehr  verschiedenen  Be- 
dingungen. Die  Sage  hält  es  ferner  für  selbstverständlich,  daß 
die  Hebräer  schon  bei  dem  Auszuge  aus  Ägypten  die  Absicht  ge- 
habt hätten,  das  Land  Kanaan  zu  erobern,  worin  sie  sich  schließ- 
lich für  die  Dauer  niederließen;  darum  ist  ihr  das  Haltmachen 
vor  dem  Tore  nur  begreiflich  als  Folge  einer  göttlichen  Hemmung. 
Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hat  aber  die  Wüste  südlich  von 
Palästina  die  Hebräer  nicht  gegen  ihren  Willen  festgehalten,  sie 
ist  vielmehr  einfach  das  Ziel  gewesen,  das  sie  zunächst  ins  Auge 
gefaßt  hatten. 

Der  endliche  Aufbruch  von  dort  war  die  Folge  einer  zufälligen 
Veranlassung.  Im  Ostjordanlande  hatten  die  Amoriten  die  Bne 
Ammon  vom  Jordan  verdrängt  und  den  Bne  Moab  die  Nordhälfte 
ihres  Landes  bis  zum  Arnon  abgenommen;  auf  der  Hochebene 
gegenüber  Jericho  war  Hesbon  die  Hauptstadt  ihres  Königs  Sihon 
geworden.  Von  da  aus  drohten  sie  noch  weiter  um  sich  zu  greifen; 
die  kleinen  hebräischen  Reiche,  die  dort  auf  der  Grenze  von  Palästina 
und  Arabien  gegründet  waren,  mußten  sich  sämtlich  gefährdet 
fühlen.  In  dieser  Lage  kamen  ihnen  die  Israeliten  wie  gerufen, 
denen  es  in  der  Wüste  von  Kades  allmählich  zu  enge  wurde.  Ohne 
Zweifel  im  Einverständnis  mit  den  Bne  Edom  und  Moab,  durch 
deren  Gebiet  sie  mitten  hindurch  mußten,  zogen  sie  nun  gegen  die 
Amoriten  zu  Felde  und  zerstörten  das  Reich  Sihons,  Infolge  dessen 
blieb  das  Land  südlich  vom  Arnon  in  ungefährdetem  Besitze  Moabs, 
aber  nördlich  vom  Arnon  siedelten  sich  die  Sieger  selber  an.  So 
wohnten  sie  nun  in  einem  fruchtbaren  Wein-  und  Weidelande  und 
schlössen  die  Lücke  in  der  Reihe  ihrer  Brudervölker'). 

Die  drei  Stationen,  die  sie  hinter  sich  hatten,  behielten  die 
Israeliten  im  Gedächtnis,  nachdem  sie  endlich  im  Westjordanland 
dauernd  zur  Ruhe  gekommen  waren:  Gosen,  die  südliche  Wüste, 
das  Land  zwischen  Arnon  und  Jordan.  Davon,  was  sie  auf  diesen 
Stationen  erlebt  hatten,  bewahrten  sie  keine  zuverlässige  Erinnerung. 
Der  Hauptinhalt  ihrer  damaligen  Geschichte  wird  die  Volksbildung 
selber  gewesen  sein.  Sie  begann  in  Ägypten,  unter  dem  Einfluß 
aufregender  Ereignisse.  Sie  setzte  sich  fort  auf  dem  Boden  der 
Sinaihalbinsel.    Dort  fanden  die  Auswanderer  verwandte  Geschlechter 


1)  Komposition  des  Hexat.  p.  342s. 


-[Q  Zweites  Kapitel. 

vor,  die  ebenso  wie  sie  den  Gott  vom  Sinai  verehrten;  sie  werden 
sich  gegen  dieselben  nicht  so  negativ  und  feindlich  verhalten  haben, 
Avie  die  Sage  annimmt,  die  immer  eine  abgeschlossene  Nation  vor 
Augen  hat.  Sie  standen  vielmehr  ihrem  Zufluß  off"en  und  ver- 
banden sich  mit  ihnen.  Ein  Zug  der  Sage  weist  darauf  hin,  daß 
die  Söhne  Jakobs,  d.  i.  die  Stämme  Israels,  hinsichtlich  ihrer  Be- 
ziehung zu  Ägypten  sich  nicht  ganz  gleich  stehn.  Joseph  hat  ein 
näheres  und  ui'sprüngliches  Verhältnis  zu  jenem  Lande  als  seine 
Brüder.  Daß  diese  ihm  später  nachfolgen,  ist  eine  notwendige 
Konsequenz  der  Vorstellung,  daß  Jakob  älter  sei  als  seine  Söhne, 
daß  die  Volkseinheit  früher  bestanden  habe  als  die  Stämme.  In 
Wirklichkeit  sind  vielleicht  die  Leastämme  niemals  in  Ägypten  ge- 
wesen, sondern  haben  vielmehr  nur,  von  ihren  östlich  angrenzenden 
Sitzen  aus,  den  Söhnen  Raheis  in  Gosen  zur  Zeit  des  Auszuges  die 
Hand  geboten  und  sich  erst  infolge  davon  zu  einem  Volke  mit 
ihnen  vereinigt.  Dann  würde  sich  auf  eine  einfache  Weise  erklären, 
warum  Moses  von  drüben  her  nach  Gosen  kommt,  um  die  Er- 
hebung gegen  die  Ägypter  anzustiften.  Auch  die  überlegene  Sonder- 
stellung, welche  Joseph  als  der  eigentliche  Träger  der  Geschichte 
Israels  von  Anfang  an  einnimmt,  wäre  dann  kein  Rätsel  mehr, 
während  man  zugleich  den  Anspruch  der  Bne  Lea  auf  höheres  Alter, 
und  ihres  Erstgeborenen  Rüben  auf  die  Hegemonie  wol  begreifen 
könnte. 

Also  erst  in  der  bewegten  Zeit,  die  dem  Auszuge  aus  Ägypten 
voraufging,  und  während  des  Aufenthaltes  in  der  Wüste,  der  darauf 
folgte,  entstand  der  Bund  der  Stämme,  die  später  das  Volk  Israel 
ausmachten.  W^enn  vorher  irgend  welche  Gemeinschaft  sie  verband, 
so  kann  sie  doch  nur  sehr  locker  gewesen  sein.  Andererseits  muß 
der  Bund  jedenfalls  vor  der  Eroberung  des  eigentlichen  Palästinas 
gegründet  sein;  denn  mit  dieser  zerfiel  er  wieder,  während  doch 
die  Erinnerung  daran  sich  erhielt.  Damit  soll  indessen  nicht  be- 
hauptet sein,  daß  alle  zwölf  Stämme  schon  in  Kades  bei  einander 
waren.  Die  Söhne  der  Kebsweiber  Jakobs,  Dan  und  Naphthali, 
Gad  und  Äser,  gehören  ihm  oft'enbar  nicht  in  dem  selben  Sinne 
an  wie  die  Bne  Lea  und  die  Bne  Rahel;  sie  mögen  erst  später 
hinzugekommen  und  sehr  gemischter  Herkunft  sein.  Ebenso  gut 
wie  Gad  hätte  auch  Gilead  mit  aufgeführt  werden  können.  Außer- 
dem hören  wir,  daß  Benjamin  erst  in  Palästina  nachgeboren  wurde. 
Darnach  hätte   das   älteste  Israel   aus  sieben  Stämmen  bestanden. 


Die  Anfänge  des  Volkes.  17 

von  denen  nur  einer  auf  Rahel  kam,  Joseph,  der  aber  den  übrigen 
zusammen  an  Zahl  und  Macht  gleichstand,  an  geistiger  Bedeutung 
sie  überwog.  Die  übrigen  sechs  waren  die  Söhne  Leas:  Rüben, 
Simeon,  Levi,  Juda,  Tssachar,  Zebuion.  Sie  werden  immer  in  dieser 
Ordnung  aufgeführt;  daß  dabei  die  beiden  letzten  von  den  vier 
ersten  getrennt  und  mit  Dan-Naphthali  zusammengestellt  werden, 
erklärt  sich  aus  geschichtlichen  und  geographischen  Gründen. 

2.  Der  Überlieferung  gilt  die  mosaische  Zeit  zwar  ebenfalls 
als  die  Schöpfungsperiode  Israels,  aber  ausschließlich  oder  doch 
vorzugsweise  als  die  geistige.  jMoses  hat  den  idealen  Charakter 
des  Volkes  begründet  und  normirt  dadurch,  daß  er  ihm  das  Gesetz 
gab.  Es  sind  jedoch  verschiedene  legislative  Schichten  im  Penta- 
teuch  zusammengestellt,  die  sinaitische,  die  deuteronomische  und 
die  priesterliche.')  Sie  ergänzen  sich  nicht,  sontlern  folgen  auf 
einander;  die  priesterliche  fußt  auf  der  deuteronomischen ,  diese 
auf  der  sinaitischen.  Sie  sind  aus  einem  geschichtlichen  Prozeß 
erwachsen  und  bezeichnen  dessen  Stadien.  Das  Gesetz  ist  das 
l'rodukt  der  geistigen  Entwicklung  Israels,  nicht  der  Ausgangspunkt 
derselben.  Als  Ganzes  paßt  es  erst  zum  nachexilischen  Judentum 
und  zeigt  sich  da  auch  erst  wirksam;  vorher  paßt  es  nicht  und 
ist  vollkommen  latent.  Daß  es  in  der  früheren  Zeit  nicht  gehalten 
sei,  gesteht  auch  die  systematische  Bearbeitung  zu,  der  die  histo- 
rischen Bücher  des  Alten  Testaments  in  oder  nach  dem  babylo- 
nischen Exil  unterworfen  worden  sind;  sie  meint  aber,  es  habe 
darum  doch  bestanden  und  gegolten.  Sie  verurteilt  darum  Israel 
und  Juda,  namentlich  aber  das  eigentliche  alte  Israel,  welches  wir 
das  Keich  der  zehn  Stämme  zu  nennen  pflegen,  als  abtrünnig  und 
ungehorsam.  Sic  legt  ein  jüdisches  Maß  an,  sie  verleiht  dem  Ge- 
setz rückwirkende  Kraft.  Als  willkürlicher  Abfall  kann  der  Ab- 
stand nicht  betrachtet  werden,  der  das  alte  Israel,  das  fromme 
ganz  ebenso  wie  das  gottlose,  nicht  bloß  von  den  Forderungen, 
sondern  auch  von  den  Voraussetzungen  des  Gesetzes  trennt.  Es 
ist    ein    allgemeiner  Abstand    zweier  verschiedener  Welten.     Wol 


')  Die  sinaitisclie  ist  in  den  beiden  Dekalogen  und  in  Exod.  20,  22^23,  33 
enthalten,  die  deuteronomische  im  fünften  Buch  des  Pentatenchs.  Alles  übrige, 
die  ganze  Kultusgesetzgebung  von  der  Stiftshütte  aus,  gehört  zum  Priester- 
kodex. Die  drei  Schichten  sind  nicht  Einheiten  im  strengen  literarischen 
Sinn;  wol  aber  können  sie,  cum  grano  salis,  historisch  als  solche  behandelt 
werden. 

Wl- lUia US e u,  Isr.  Geschichte,    ö.  Aufl.  2 


Jg  Zweites  K.a])itel. 

gibt  es  einzelne  Vergleichspuni<te  zwischen  der  älteren  Praxis  und 
dem  Gesetze;  aber  wo  sich  solche  darbieten,  da  zeigen  sich  unab- 
sichtliche Abweichungen  von  der  gesetzlichen  Norm,  die  eine  gänz- 
liche Unbekanntschaft  mit  derselben  verraten.  Die  gelegentlichen 
Angaben  der  historischen  Bücher  über  Zustände  und  Einrichtungen 
des  Altertums  stoßen  die  Betrachtungsweise  der  systematischen 
Bearbeitung  um.  Das  Gesetz  reicht  nicht  von  ferne  an  die  mo- 
saische Zeit  heran.  Wenn  dem  so  ist,  so  gibt  es  keine  direkten 
literarischen  (^)uellen,  aus  denen  der  Mosaismus  auch  nur  so  zu 
erkennen  wäre  wie  etwa  die  Lehre  Jesu  aus  den  Evangelien '). 
Will  man  nicht  ganz  darauf  verzichten,  den  Anfang  der  israeliti- 
schen Geschichte  darzustellen,  so  bleibt  nur  übrig,  ihn  aus  der 
Fortsetzung  zu  erschließen,  wodurch  sich  freilich  nur  ungefähre 
Ergebnisse  gewinnen  lassen.  Ein  Vorgreifen  in  die  Folgezeit  hinein 
läßt  sich  dabei  nicht  vermeiden. 

Die  Hauptmasse  des  Pentateuchs  ist  Kultusgesetzgebung.  Das 
Werk  Moses  besteht  darnach  in  der  Einrichtung  des  Gottesdienstes, 
wozu  ihm  Jahve  selber  in  der  Stiftshütte  die  Anweisung  gegeben 
haben  soll.  Die  Propheten  dagegen  behaupten,  Jahve  habe  den 
Vätern,  als  er  sie  aus  Ägypten  geführt,  nichts  befohlen  in  betreff 
von  Opfern,  und  dieselben  seien  auch  tatsächlich  in  der  mosaischen 
Zeit  nicht  dargebracht.  Sie  gehn  darin  allerdings  entschieden  zu 
weit;  es  kann  keine  Frage  sein,  daß  die  alten  Israeliten  unter 
Religion  wesentlich  den  Opferdienst  verstanden.  Aber  dadurch 
unterschieden  sie  sich  nicht  von  anderen  Völkern,  der  Kultus  be- 
ruht nicht  auf  besonderer  Offenbarung  und  datirt  nicht  erst  aus 
der  mosaischen  Zeit.  Am  richtigsten  verhältnismäßig  ist  die  Vor- 
stellung der  in  der  Genesis  enthaltenen  Kultussage,  die  dem  Kultus- 
gesetz in  den  späteren  Büchern  des  Pentateuchs  gegenüber  steht. 
Darnach  ist  die  israelitische  Praxis  des  Altardienstes  an  den 
Hauptorten,  wo  er  betrieben  w'urde,  von  den  Erzvätern  eingeführt, 
nicht  durch  die  Gesetzgebung  Moses.  Die  heiligen  Sitten  und 
Bräuche  sind  nicht  durch  Statut  entstanden,  sondern  unwillkürlich, 
bei  irgend  einem  Anlaß,  der  in  die  Vorzeit  verlegt  wird.  Jahve 
ringt  mit  Israel  und  verletzt  ihm  dabei  die  Hüftsehne,  aus  diesem 


')  Der  Versuch,  diese  Behauptungen  vollständig  zu  erweisen,  ist  in  der 
Komposition  des  Pentateuchs  und  in  den  Prolegomena  zur  Geschichte  Israels 
gemacht  worden. 


Die  Anfänge  des  Volkes.  19 

Grunde  pflegen  die  Kinder  Israels  die  Hüftsehne  nicht  zu  essen. 
Die  Beschneidung  der  Knäblein  wird  geschichtlich  erklärt  als  ein 
gemildertes  Äquivalent  für  die  ursprüngliche  Beschneidung  der 
jungen  Männer  vor  der  Hochzeit.  Als  Moses  auf  seiner  Rückkehr 
von  Midian  nach  Gosen  unterwegs  übernachtete,  überdel  ihn  Jahve, 
in  der  Al)sicht  ihn  zu  töten;  sein  Weib  Sipphora  aber  nahm  einen 
Feuerstein  und  schnitt  die  Vorhaut  ihres  Sohnes  ab  und  berührte 
damit  die  Scham  Moses  und  sprach:  du  bist  mir  ein  Biutbräutigam 
—  da  ließ  Jahve  von  ihm  ab.  Im  ganzen  und  großen  ist  der 
Kultus  der  Brauch  aller  Welt,  seit  Noah,  ja  seit  Kain  und  Abel; 
der  Unterschied  ist  nur,  daß  die  Israeliten  ihn  dem  Jahve,  die 
anderen  Völker  anderen  Göttern  weihen.  Das  ist  die  alte,  gesunde, 
volkstümliche  Betrachtungsweise.  Der  Kultus  ist  in  Wahrheit  das 
vorzugsweise  ethnische  Element  in  der  israelitischen  Religion.  Die 
Kirchenväter  fassen  ihn  auf  als  ein  nachträgliches  Zugeständnis  an 
die  Schwachheit,  an  das  tiefgewurzelte  Heidentum,  des  Volkes;  die 
Veranlassung  ihn  einzuführen  habe  erst  der  Sündenfall  Israels  ge- 
geben, nämlich  die  Verfertigung  und  die  Anbetung  des  goldenen 
Kalbes  am  Sinai. 

Zugegeben  aber,  daß  der  Stoff  des  Kultus,  als  gänzlich 
irrationell,  nicht  erfunden  ist,  sondern  auf  unvordenklichem  Her- 
kommen beruht,  so  könnte  doch  Moses  den  vorhandenen  Stoff  als 
Mittel  zu  höheren  Zwecken  benutzt  haben.  Man  kann  sagen,  er 
habe  nicht  den  Kultus  überhaupt,  sondern  den  legitimen  Kultus  be- 
gründet. Er  habe  die  alten  Bräuche  von  Auswüchsen  gereinigt  und 
sie  in  eine  feste  Form  gebracht,  wodurch  der  ursprünglich  heid- 
nische Stoff  unschädlich  und  sogar  spezi lisch  israelitisch  gemacht 
worden  sei.  Wirklich  wird  im  (Jesetz  das  größte  Gewicht  auf  die 
korrekte,  feste  und  gleichmäßige  Form  des  Kultus  gelegt,  er  dient 
zur  l  niformirung  der  Gemeinde  und  dadurch  zu  ihrer  Absonderung 
von  dem  Heidentum.  Nun  aber  hängt  die  feste  und  gleichmäßige 
Form  des  Kultus  ab  von  seiner  Zentralisirung;  er  darf  nur  an  einer 
einzigen  Stelle,  bei  der  Stiftshütte  oder  im  jerusalemischen  Tempel, 
und  nur  von  den  dazu  berufenen  Priestern  verrichtet  werden.  Und 
diese  Zentralisirung  geht  nicht  in  frühe  Zeit  zurück.  Die 
frommsten  Männer  des  alten  Israel  scheuen  sich  nicht,  auch  anderswo 
als  an  dem  Ort  der  Bundeslade  zu  opfern;  es  gab  viele  heilige 
Stätten.  Die  hervorragendsten  sind  .von  den  Patriarchen  gegründet, 
infolge    von    Theophanien,    welche    darauf   aufmerksam    machten, 


20  Zweites  Kapitel. 

duß  dort  die  Gottheit  wohne.  Die  Legenden  der  Genesis  glori- 
fiziren  den  Ursprung  der  Altäre  von  Hebron  und  Beerseba,  Bethel 
und  Sichern,  Mispha  Mahanaim  und  Phanuel,  und  betrachten  die- 
selben keineswegs  als  gesetzwidrig  und  ketzerisch.  Im  Gesetze 
selber,  in  einem  alten  Spruch,  der  trotz  seiner  Ileterodoxie  erhalten 
ist,  sagt  Jahve:  an  jedem  Orte,  wo  ich  meinen  Namen  ehren  lasse, 
will  ich  zu  dir  kommen  und  dich  segnen.  Hier  wird  Erlaubnis 
gegeben,  überall  zu  opfern;  sie  wird  allerdings  etwas  beschränkt 
durch  den  Zusatz:  überall  wo  ich  meinen  Namen  ehren  lasse  — 
aber  darin  spricht  sich  nur  der  Glaube  aus,  daß  die  Stätte,  wo 
der  Verkehr  zwischen  Himmel  und  Erde  vor  sich  ging,  nicht  will- 
kürlich gewählt,  sondern  von  der  Gottheit  selbst  ausersehen  sei. 
Die  Reformation  des  Königs  Josias  im  Jahre  621  vor  Ghr.  war  der 
erste  Versuch,  den  Opferdienst  auf  einen  einzigen  Punkt  zu  be- 
schränken. Er  gelang  aber  nicht  gleich;  vor  dem  Exil  blieben  die 
lokalen  Altäre  noch  immer  bestehn,  an  die  sich  die  heiligsten 
Erinnerungen  von  den  Vätern  her  knüpften.  Sie  fielen  erst,  als 
durch  die  Losreißung  der  Nation  aus  ihrem  Mutterboden  die  Tra- 
dition des  Lebens,  der  Zusammenhang  mit  den  ererbten  Zuständen, 
gänzlich  durchschnitten  wurde.  Und  wie  die  Zentralisirung,  so  ist 
auch  die  Uniformirung  des  Kultus  erst  nachexilisch.  In  alter  Zeit 
leidet  der  Begriff  der  Legitimität  keine  Anwendung  auf  ihn. 
Jahvedienst  und  Götzendienst  stehn  einander  gegenüber,  aber  nicht 
gesetzlicher  und  ungesetzlicher  Jahvedienst.  Es  gibt  natürlich 
bestimmte  Bräuche  und  Riten,  aber  sie  sind  verschieden  an  ver- 
schiedenen Orten  und  zu  verschiedenen  Zeiten,  und  sie  passen  nicht 
in  das  Schema  des  Gesetzes;  zum  Beispiel  schlägt  das  Verfahren 
Gideons  beim  Opfern  allen  Vorschriften  des  Gesetzes  ahnungslos 
in  das  Gesicht.  Am  allerwenigsten  ist  der  Kultus  bloß  ein  Mittel, 
die  Gemeinde  zu  separiren  und  dadurch  zu  heiligen.  Er  ist  viel- 
mehr durchaus  Selbstzweck,  er  ist  die  Höhe  des  Lebens,  Götter 
und  Menschen  haben  ihre  Freude  daran. 

Dann  ist  aber  auch  die  Theokratie  nicht  der  Ausgangspunkt 
der  israelitischen  Geschichte;  wenigstens  nicht  in  dem  Sinne,  wie 
sie  im  Pentateuch  gefaßt  wird,  als  eine  Verfassung,  die  auf  dem 
Kultus  beruht  und  deutlicher  Hierokratie  zu  benennen  wäre.  Ein 
ganzer  geistlicher  Stamm  wird  aus  dem  übrigen  Volke  abgesondert, 
das  sind  die  Leviten.  Über  ihnen  erheben  sich  die  Priester  und 
über  diesen  wiederum  der  Hohepriester.     Er  ist  das  Oberhaupt  der 


Die  Aufänge  des  Volkes.  21 

Gemeinde,  neben  dem  ein  anderes  nicht  Platz  hat.  Mit  dem  Be- 
ginn der  wirklichen  Geschichte  verschwindet  alles  dies  spurlos.  Im 
Buch  der  Richter  ist  einmal  von  einem  Leviten  die  Rede,  aber 
er  gilt  als  Rarität.  ]\Ian  hat  andere  Dinge  zu  tun,  als  ein  nach 
Tausenden  zählendes  Kultuspersonal  mit  AVeib  und  Kind  zu  er- 
halten. Der  Hohepriester  hat  keine  Stelle;  die  wirklich  eingreifenden 
Volkshäupter,  die  sogenannten  Richter,  sind  ganz  anderer,  durchaus 
nicht  geistlicher  Art.  Eine  hierokratische  Organisation  hndet  sich 
nicht,  es  findet  sich  überhaupt  keine  Organisation,  die  das  ganze 
Volk  umfaßt.  „Jeder  tat,  was  er  wollte",  nicht  weil  die  alte 
Priesterherrschaft  verfallen  gewesen  wäre,  sondern  „weil  es  keinen 
König  in  Israel  gab".  Erst  das  Königtum  erlöste  aus  dieser 
Anarchie,  Avelche  das  Volk  zur  Beute  seiner  Feinde,  namentlich  der 
Philister,  zu  machen  drohte.  Es  gibt  zwar  im  Buch  Samuelis 
eine  Version  über  die  Errichtung  des  Königtums,  worin  dieselbe 
als  ein  Widerspruch  gegen  die  Theokratie,  als  ein  unraotivirter 
Abfall  von  Jahve  erscheint.  Vorher  regierte  Jahve  selber  durch 
Samuel,  und  alles  war  in  bester  Ordnung.  Die  Philister  waren 
durch  ein  göttliches  Wunder  zum  Lande  hinausgetrieben,  sobald 
die  Israeliten  vom  Götzendienste  abgelassen  hatten.  Welche  irdische 
Form  die  Theokratie  hatte,  wird  nicht  gesagt.  Deutlich  ist  nur, 
daß  sie  auf  ganz  anderem  Fuße  eingerichtet  ist  als  die  Reiche 
dieser  Welt.  Sie  ist  ein  geistliches  Gemeinwesen,  wie  denn  auch 
der  geistliche  Charakter  des  Regenten  außer  Frage  steht.  Ein 
Priester  und  Prophet  ist  Reichsverweser,  er  hat  keine  äußeren 
Machtmittel  zur  Verfügung  und  dennoch  unbedingte  Autorität, 
wegen  seines  Einflusses  auf  Jahve.  Jahve  sorgt  für  alles;  seine 
Untertanen  haben  weiter  nichts  zu  tun,  als  sich  seiner  Verehrung 
zu  widmen  und  den  Mahnungen  seines  Stellvertreters  zu  folgen. 
Auf  Mittel,  sich  wehrfähig  zu  machen,  brauchen  sie  nicht  zu 
denken;  wenn  sie  fasten  und  beten  und  von  ihren  Sünden  lassen, 
so  verschwinden  die  Feinde  von  selber.  All  der  Aufwand,  wodurch 
ein  Volk  sonst  seine  E.xistenz  sichert,  ist  dann  überflüssig;  und 
man  begreift  nicht,  wie  die  Israeliten  darauf  brennen  können, 
dies  bequeme  Regiment  mit  dem  menschlichen  Königtum,  welches 
große  Ansprüche  an  sie  stellt,  zu  vertauschen,  bloß  um  es  den 
Heiden  gleichzutun.  In  Wahrheit  ist  aber  diese  ganze  Vorstellung 
utopisch.  Die  Israeliten  waren  eine  Nation  wie  andere  Nationen. 
Jahve  dispensirte  sie  nicht  davon,  sich  gegen  die  Feinde  zu  wehren, 


22  Zweites  Kapitel. 

es  war  nicht  Mutwille,  daß  sie  ihre  Kräfte  durch  das  Königtum 
zusammen fai3ten,  sondern  die  bittere  Not  zwang  sie  dazu.  Die 
Herrschaft  der  Philister  war  keineswegs  schon  vor  Saul  und  David 
gebrochen;  der  Kampf  gegen  sie  war  vielmehr  recht  eigentlich  der 
Entstehungsgrund  und  die  Aufgabe  des  Königtums;  kein  Gedanke 
daran,  daß  Samuel  diesem  Arbeit  und  Verdienst  vorweg  genommen 
habe.  Nach  der  echten  Tradition  hat  er  sich  auch  nicht  gegen 
das  Königtum  gesträubt,  sondern  es  selber  als  Mittel  der  Rettung 
herbeigewünscht;  nicht  gedrängt  von  dem  Volk,  sondern  freiwillig 
auf  Zuraunen  Jahves,  hat  er  in  Saul  den  jMann  der  Zeit  erkannt 
und  ihn  zum  voraus  gesalbt.  Dem  hebräischeu  Altertum  galt 
überhaupt  das  Königtum  als  der  Höhepunkt  der  Geschichte  und 
die  größte  Segnung  Jahves;  wie  fern  die  Vorstellung  eines  feind- 
lichen Gegensatzes  zwischen  dem  himmlischen  und  dem  irdischen 
Herrscher  lag,  sieht  man  aus  dem  Namen  des  Gesalbten  Jahves 
und  aus  der  prophetischen  Hoffnung,  die  sogar  für  die  ideale  Zu- 
kunft den  Messias  nicht  entbehren  mochte.  Der  König  war  auch 
der  berufene  Repräsentant  des  Volkes  vor  Jahve.  Er  verfügte  über 
die  großen  Tempel,  traf  dort  Einrichtungen,  welche  er  wollte, 
stellte  Priester  an  und  setzte  sie  ab.  Das  geschah  nicht  bloß  im 
Reiche  Israel  so,  nach  dem  bösen  Beispiel,  das  König  Jerobeam 
gegeben  hatte,  sondern  auch  im  Reiche  Juda.  Nirgends  tritt  neben 
der  Regierung  oder  gar  in  Konflikt  mit  der  Regierung  eine  Hiero- 
kratie  hervor.  Erst  seit  ihrer  Vernichtung  durch  die  Assyrer  und 
der  (Jhaldäer  wurde  die  Nation  eine  wesentlich  durch  den  Kultus 
zusammengehaltene  „Gemeinde".  Die  Voraussetzung  dieses  Ge- 
meinde war  die  Fremdherrschaft,  welche  die  Juden  aus  dem  poli- 
tischen Gebiete  auf  das  geistliche  drängte'). 

3.  Dennoch  kann  die  Theokratie  in  einem  gewissen  Sinne  als 
der  charakteristische  Ausgangspunkt  der  israelitischen  Geschichte 
festgehalten  werden.  Nur  nicht  als  ein  Gemächt,  als  eine  fertige  An- 
stalt, die  plötzlich  den  Israeliten  in  der  Wüste  aufgezwungen  wird. 
Nicht  als  ein  geistliches  Wesen,  das  dem  natürlichen  Volkstum  fern 
steht  und  den  Gegensatz  von  Heilig  und  Profan  in  schärfster  Aus- 


^)  Vgl.  Prolegomena  p.  416  ss.  Sehr  bezeichnend  ist  die  völlige  Gleich- 
giltigkeit  des  Priesterkodex  gegen  alles  Staatliche  und  Nationale.  Die  Funktion 
der  Theokratie  ist  der  Kultus,  mit  der  Regierung  hat  sie  nichts  zu  tun,  weil 
dieselbe  wesentlich  der  Fremdherrschaft  überlassen  ist. 


Die  Antauge  des  Volkes.  23 

bildung  voraussetzt.  Vielmehr  gerade  umgekehrt  als  die  engste 
Durchdringung  der  Keligion  und  des  Volkslebens,  des  Heiligen  und 
des  Nationalen,  erwachsen  aus  vorhandener  Wurzel  und  auf  ge- 
gebener Grundlage  fortbauend.  Es  wurde  keine  neue  Verfassung 
durch  Moses  eingeführt,  sondern  die  alte  blieb;  noch  im  Lande 
Kanaan  wurde  sie  beibehalten  und  sogar  durch  das  Königtum  nicht 
beseitigt.  8ie  gründet  sich  auf  das  Blut,  es  ist  ein  System  von 
Familien,  Sippen,  Geschlechtern  und  Stämmen.  Alle  diese  Ver- 
bände tragen  substantivische  und  singularische  Individualnamen '), 
gelten  als  natürliche  Einheiten  und  stehn  in  einer  gegebenen  Be- 
ziehung zu  einander.  Ihre  Statistik  bat  die  Form  der  Genealogie: 
Isaak  ist  der  Vater  der  Völker  Edom  und  Israel,  Israel  der  Vater 
von  zwölf  Stämmen,  Juda  der  Vater  von  fünf  großen  Geschlechtern, 
jedes  Geschlecht  wiederum  der  Vater  und  Großvater  von  Sippen 
und  Familien.  Mit  den  Einheiten  selber  ist  auch  ihre  Gliederung 
gesetzt,  sie  ist  den  Elementen  angewachsen.  Es  gibt  keine  chaotischen 
Haufen,  keine  unterschiedslosen  Gruppen,  sondern  überall  natür- 
liche Organisation,  abgestufte  Beziehungen,  die  als  Verwandtschafts- 
grade aufgefaßt  werden^).  Niemand  gehört  zum  Stamm,  außer 
durch  die  Familie,  durch  die  Sippe,  durch  das  Geschlecht;  die  Zu- 
gehörigkeit zum  Ganzen  ist  stets  durch  die  Zugehörigkeit  zu  den 
Unterabteilungen  bedingt.  In  Wirklichkeit  kann  freilich  nicht  das 
ganze  System  rein  durch  Verzweigung  aus  einer  einzigen  Familie 
entstanden  sein;  es  dürfte  sonst  während  eines  sehr  langen  Zeit- 
raumes gar  keine  Geschichte  gegeben   haben.')     Vielleicht   ist  die 


')  Dergleichcu  gibt  es  mir  bei  den  Semiten.  Ion  Dorus  Äoliis  lassen 
sich  als  künstliche  Heroes  Eponynii  gar  nicht  mit  Moab  Ammou  und  Edom 
vergleichen.  Merkwürdig  ist  auch  die  weitgetriebene  Personifikation  der  Collec- 
tiva  bei  den  Hebräern  und  Arabern.  Die  Völker  und  Stämme  reden  von  sich 
in  der  ersten  Person  Singularis. 

-)  Vielleicht  ist  dies  der  Ilauptunterschied  der  aristokratischen  Volker  von 
den  niederen.  Die  Theorie  von  der  gradloseu  Verwaudtschaft  und  der  unter- 
schiedslosen Gruppe  läßt  sich  auf  die  Hebräer  und  Araber,  wie  sie  historisch 
erscheinen,  absolut  nicht  übertragen;  das  gerade  Gegenteil  macht  den  Charakter 
ihrer  Gesellschaft  aus.     A'gl.  Hunzingers  ostafr.  Studien  p.  475 ss. 

^)  Lehrreich  in  vieler  Hinsicht  ist  eine  hingeworfene  Äußerung  von  B. 
G.  Niebuhr  (bei  Dora  Hensler  144).  „Man  wird  finden,  daß  die  großen  Volks- 
stämme nie  durch  DifTerenziruug,  sondern  durch  Integrirung  entstanden  sind. 
Daher  erkläre  ich  die  ungeheure  Verschiedenheit  der  Sprachen  der  nordameri- 


24  Zweites  Kapitel. 

aus  irgend  einem  Grunde  zu  stände  gekommene  A''izinität,  die  nicht 
blof.)  bei  den  seßhaften,  sondern  auch  bei  wandernden  Völkern  statt- 
findet, der  Ursprung  der  meisten  Verbände;  sie  ist  auch  die  Grenze, 
bis  zu  der  das  Blut  wirkt,  darüber  hinaus  verliert  es  seine  zu- 
sammenhaltende Kraft.  Aber  der  Ursprung  wird  vergessen,  es 
bleibt  nicht  bei  der  bloßen  Vizinität.  Wenn  die  Mitglieder  seit 
Urvätern  in  den  Stamm  hineingeboren  sind,  so  sind  sie  durch  ihre 
Geburt  Söhne  des  Stammes.  Wenn  ein  Verband,  wie  auch  immer 
entstanden,  eine  lange  gemeinsame  Geschichte  durchlebt  hat,  so 
Avird  er  Blutsverband.  Damit  schließt  er  sich  ab;  die  dann  noch 
neu  hinzutretenden  Elemente  werden  nicht  für  voll  aufgenommen 
und  erst  allmählich  nostriflzirt;  es  entsteht  ein  Unterschied  zwischen 
Vaterssöhnen  und  Vizinen  oder  Beisassen.  AVenn  also  auch  nicht 
der  Ursprung  der  Einheit  in  dem  Blut  liegt,  so  geschieht  doch  die 
Legitimirung  der  Einheit  durch  das  Blut.  Alle  legitime  Gemein- 
schaft ist  Blutsgemeinschaft. 

Unter  diesen  Verhältnissen  existirt  keine  von  der  Gesellschaft 
losgetrennte,  hypostasirte  Ordnung,  keine  Obrigkeit,  keine  Amts- 
gewalt. Die  einzelnen  sind  Brüder  und  V^ettern  oder  Nachbarn, 
keine  Untertanen.  Die  Blutsgemeiuschaft  wirkt  nicht,  wie  der  Staat, 
durch  Zwang.  Sie  wirkt  vielmehr  durch  Pietät,  durch  die  An- 
erkennung ihrer  Heiligkeit.  Es  gibt  keine  besondere  heilige  Ge- 
meinschaft: die  natürliche  Gemeinschaft,  die  des  Blutes,  ist  die 
heilige.  Die  Geschlechtsverbände  sind  in  der  Regel  auch  die  Kultus- 
verbände. Die  Götter  treten  durch  das  Opfer  in  enge  Verbindung 
mit  den  Kreisen  ihrer  Verehrer.  Einige  Stämme  identifiziren  sich 
geradezu  mit  ihrem  Gott  und  legen  sich  dessen  Eigennamen  bei, 
wie  z.  B.  Gad  und  Äser.  Andere  eignen  sich  den  allgemeinen 
Namen  El  dadurch  an,  daß  sie  ihn  durch  besondere  Zusätze  differen- 
ziren:  Ismael,  Jerachmeel,  Bethuel ').  blanche  hebräische  Personen- 
namen  bezeichnen  ihren  Träo;er  als  Verwandten  und   Geschlechts- 


kanischen  Wilden,  die  sich  schlechterdings  nicht  auf  eine  Hauptsprache  zu- 
rückbringen lassen,  aber  z.  B.  in  Mexiko  und  Peru  sich  schon  in  eine  Haupt- 
sprache aufgelöst  hatten;  daher  die  vielen  Synonyma  in  der  ältesten  Zeit  der 
Sprache.  Daher  behaupte  ich,  daß  man  die  Sprache  in  Rücksicht  auf  die 
Theorie  der  Völkerstämme  äußerst  vorsichtig  anwenden  müsse." 

')  Alle   ältesten  theophoren  Namen  scheinen  nicht  Individual-,    sondern 
Geraeiuschaftsnamen  zu  sein. 


Die  Aufänge  des  Volkes.  25 

genossen  des  Gottheit').  Die  Heiligkeit  des  IMuts  geht  nicht  neutral 
neben  der  Heiligkeit  der  Götter  her,  sondern  beides  verbindet  sich 
und  verschmilzt  durch  den  Kultus,  der  von  den  Genossen  eines  be- 
stimmten Verbandes  der  Gottheit  dargebracht  wird. 

Wie  wir  gesehen  haben,  bauen  sich  die  Verbände  genealogisch 
über  einander  auf;  über  den  Familien  erhebt  sich  die  Sippe,  über 
den  Sippen  das  Geschlecht  usw.  Natürlich  deckt  sich  das  Inter- 
esse der  kleinen  Verbände  nicht  immer  mit  dem  der  großen.  Das 
Blut  verbindet  am  innigsten  die  kleinsten  Kreise;  seine  Kraft 
schwächt  sich  ab,  je  entfernter  der  Grad,  je  größer  der  Kreis  der 
Verwandtschaft  wird.  Mit  einer  Art  Naturgewalt  wirkt  es  nur  in 
der  Familie;  der  Familiensinn  fällt  beinahe  noch  mit  dem  Egoismus 
zusammen.  Der  Stamm  dagegen  wird  im  Kampf  gegen  feige  oder 
trotzige  Selbstsucht  nur  zusammengehalten  durch  aufopfernden  Ge- 
meinsinn. Derselbe  fühlt  sich  zwar  noch  immer  als  Verwandt- 
schaftssinn; aber  der  Verwandtschaftssinn  verändert  mit  der  Quantität 
seine  Qualität;  je  mehr  er  umfaßt,  desto  moralischer  wird  er.  Je  größer 
die  Gemeinschaft  ist,  um  so  mehr  wird  sie  nicht  durch  das  Blut, 
sondern  durch  die  religiöse  Idee  ihrer  Heiligkeit  zusammengehalten. 
Diese  ursprünglich  mit  dem  Glauben  an  das  gemeinsame  Blut  eng  ver- 
knüpfte Idee  muß  sich  dann  über  das  Blut  erheben  und  es  so  weit 
überwinden,  daß  die  niederen  Stufen  der  Verwandtschaft  sich  den 
höheren  unterordnen.  Sie  muß  am  reinsten  und  kräftigsten  auf- 
treten auf  der  höchsten  Stufe,  wo  das  Blut  am  schwächsten  wirkt. 

Aus  verwandten  Geschlechtern  und  Stämmen  wuchs  zur  Zeit 
Moses  das  Volk  Israel  zusammen  und  erhob  sich  über  sie,  die  neue 
Einheit  wurde  geheiligt  durch  Jahve,  der  zwar  schon  früher 
existirte ''),  aber  erst  jetzt  an  die  Spitze  dieses  Volkes  trat.     Jahve 


')  Ich  meine  die  Namen  „mein  Verwandter  (ammi),  mein  Bruder  (ahi), 
mein  Vater  (abi),  mein  Oheim  (dodi),  meine  Mutter  (immi),  ist  die  und  die 
Gottheit".  So  mit  ammi:  Ammiel,  Ammihud,  Ammischai  (vgl.  in  der  selben 
Familie  Abischai,  Ischai).  Mit  ahi:  Ahija,  Ahimelech,  Ahiram,  Ahitophel  (ent- 
stellt). Mit  abi:  Abiel,  Abija,  Abimelech,  Abischai,  Abiram,  Abihud,  Abiner, 
Abijathar.  Mit  immi  vielleicht  Imminuu  (meine  Mutter  ist  die  Schlange) 
2  Sam.  i;j,  20.  Verkürzt  Iliram,  Hiel,  Ischai  (=  Abischai),  Ikabod  (=Abikabod), 
Ehud  (=  Abihud  1  Chr.  8, 3  neben  Gera),  Jehu  (in  der  Sept.  lou  =  Abihu). 
Andersartig  ist  Ah-ab.  Wie  das  Volk  Schal'  Alhlh,  so  heißt  reziprok  der  Gott 
Schai'  alQaum. 

2)  Der  Name  Jahve  scheint  nicht  so  alt  zu  sein  wie  etwa  Astarte,  Kamos, 
Kuzah.     Die  Etymologie  ist  durchsichtig:    er  fährt   durch   die  Lüfte,  er  weht. 


26  Zweites  Kapitel. 

der  Gott  Israels,  Israel  das  Volk  Jalives:  das  ist  der  Anfang  und 
das  bleibende  Prinzip  der  folgenden  politisch-religiösen  Geschichte. 
Ehe  Israel  war,  war  Jahve  nicht;  auf  der  anderen  Seite  haben  die 
Propheten  Recht  zu  sagen,  daß  Jahve  es  gewesen  sei,  der  Israel 
gezeugt  und  geboren  habe.  Unzertrennlich  wie  Seele  und  Leib 
waren  beide  mit  einander  verbunden.  Israels  Leben  war  Jahves 
Leben.  Die  vornehmste  Äußerung  des  Lebens  der  Nation  war  da- 
mals und  auf  Jahrhunderte  hinaus  der  Krieg.  Der  Krieg  ist  es, 
was  die  Völker  macht;  er  war  die  Funktion,  in  der  die  Zusammen- 
gehörigkeit der  israelitischen  Stämme  sich  am  ersten  betätigte,  und 
als  das  nationale  war  er  zugleich  auch  das  heilige  Geschäft.  Jahve 
war  das  Feldgeschrei  dieser  kriegerischen  Eidgenossenschaft,  der 
kürzeste  Ausdruck  dessen,  was  sie  unter  sich  einigte  und  gegen 
außen  schied.  Israel  bedeutet  El  streitet,  und  Jahve  war  der 
streitende  El,  nach  dem  die  Nation  sich  benannte^).  In  dem  selben 
Verhältnis  wie  Israel  stand  auch  Jahve  zu  den  Nachbarvölkern  und 
zu  ihren  Göttern. 

„Jahve  ist  ein  Kriegsmann,  Jahve  heißt  er,  Roß  und  Reiter 
hat  er  gestürzt  ins  Meer."  Zuerst  hatte  er  sich  an  der  Spitze  der 
Seinen  gegen  die  Ägypter  erhoben;  dann  scheuchte  er  vor  ihnen 
die  Amoriten,  wie  eine  Hornis  die  Herde  scheucht.  Er  eroberte 
das  Land  Kanaan  und  gab  es  seinen  Kriegern  zu  Lehen;  das  war 
die  Großtat,  die  ihm  den  meisten  Dank  und  Ruhm  eintrug.  Er 
verlieh  „Hilfe"  d.  i.  Sieg  gegen  die  Nationen,  die  Israel  in  der 
Richterzeit  bedrängten;  als  seinen  Kampf  führten  Saul  und  David 
den  Philisterkampf.  Die  Männer,  die  Jahve  erweckte  und  mit  seinem 
Geiste  erfüllte,  waren  demgemäß  im  Altertum  vorzugsweise  Kriegs- 
helden, wie  die  Richter.  Später  galt  der  König,  dessen  Amt  eben- 
falls vorzugsweise  das  des  Heerführers  war,  als  sein  Verweser. 
Etwas  von  dieser  kriegerischen  Natur  hat  der  Gott  Israels  bis  in 
die  spätesten  Zeiten   behalten,    bis  herab   zu   den  Aufständen   der 


0  Jahve  Sabaoth  heißt  zwar  nicht  Gott  der  Sterne  (welche  das  lleer 
des  Himmels  genannt  werden,  nicht  die  Heere),  aber  auch  schwerlich  der 
Gott  des  israelitischen  Heeres.  Denn  wo  der  Name  zuerst,  und  in  der  vollen 
Form,  vorkommt,  bei  Arnos,  wird  er  gebraucht,  um  die  Bezeichnung  Jahves  als 
des  Gottes  Israels  zu  vermeiden.  Es  wäre  auch  wunderlich,  das  Heer  Israels 
einfach  die  Heere  zu  nennen,  im  Plural  und  noch  dazu  mit  Auslassung  des 
Artikels.     Vgl.  lob  25,  3. 


Die  Anfänge  des  Volkes.  27 

Makkabäer  und  der  Zeloten.  jSocli  in  den  Psalmen  wird  Jalive 
als  eine  Art  Kriegsgott  beschrieben,  der  mit  Schwert  und  Schild 
sich  Avappnet,  den  Kampfruf  erhebt  wie  ein  Held,  seine  Pfeile 
schießt,  sein  Schwert  zückt,  sein  Gewand  über  und  über  mit  Blut 
besudelt,  sich  labt  am  Fett  der  Erschlagenen,  ihr  Mark  schlürft. 
Zu  solchen  Ausmalungen  versteigen  sich  freilich  die  Alten  nicht, 
weil  sie  Jahves  Gegenwart  im  Heer  viel  wahrhaftiger  empfinden, 
wie  das  Deboralied  zeigt. 

Das  Kriegslager,  die  Wiege  der  Nation,  war  auch  das  älteste 
Heiligtum.  Da  war  Israel  und  da  war  Jahve.  Im  Deuteronomium 
noch  werden  zum  behuf  der  Heilighaltung  des  Lagers  Verordnungen 
gegeben,  wie  sie  schärfer  und  strenger  kaum  für  den  Tempel  ge- 
geben werden  könnten:  keine  Unreinheit  wird  darin  geduldet, 
kein  Entweihter  darf  sich  darin  aufhalten.^)  Zu  sichtbarer  Dar- 
stellung gelangt  die  Gegen w^art  Jahves  im  Heere  durch  die  Lade; 
sie  war  das  Feldzeichen  Israels,  ein  kriegerisches  Wanderheiligtum. 
Kades,  Sittim,  Gilgal,  Silo,  die  Stätten,  wo  nach  einander  das  Lager 
sich  für  längere  Zeit  befunden  hatte,  blieben  immerdar  geweiht. 
Lidem  die  Lade  nach  Jerusalem  übergeführt  wurde,  trat  das  dortige 
Heiligtum  an  die  Stelle  des  alten  Lagerheiligtums;  und  es  ist  in- 
sofern folgerichtig ,  daß  im  Priesterkodex  die  Gesetze  über  die 
heilige  Stadt  in  die  Form  von  Gesetzen  über  das  Lager  eingekleidet 
werden,  welches  nun  freilich  ein  völlig  geistlicher  Begriff  geworden 
ist.  Auch  eine  besondere  Art  des  Opfers,  von  dem  sich  Beispiele 
gerade  in  der  ältesten  Zeit  finden,')  die  Devotio,  weist  auf  die 
enge  Verknüpfung  des  Krieges  mit  der  Religion.  Man  gelobte,  die 
Stadt  oder  den  König  der  Feinde,  die  Beute  oder  einen  Teil  der- 
selben dem  Jahve  zu  weihen,  wenn  er  den  Sieg  gäbe;  die  Weihujig 
geschah  durch  vollständige  Vernichtung  der  geweihten  Menschen, 
Tiere  und  Sachen. 

So  äußerte  sich  Jahve  vorzugsweise  in  den  großen  Krisen 
der  Geschichte;  seine  „Tage"  waren,  wie  die  Tage  der  Araber, 
Schlachttage.  In  Zeiten  der  Ruhe,  wie  das  Richterbuch  schildert, 
schliefen  Israel  und  Jahve  mit  einander  ein,    durch  Feindesgefahr 


^)  Bei  den  Arabern  tritt  durch  den  Krieg  ohne  weiteres  der  Zustand  des 
Geweihtseins  ein.  Man  sieht  also,  dal^  die  betreffenden  Bestiunnuugeu  des 
Deuteronoraiums  in  alter  Anschauung  wurzeln. 

-)  Ai,  Jericho,  Sichern,  Agag. 


28  Zweites  Kapitel. 

wurden  sie  wieder  aufgerüttelt.  Immer  begann  dann  das  Erwachen 
Israels  mit  dem  Erwachen  Jahves.  Seine  Lebensäußerungen  waren 
durch  lange  Pausen  unterbrochen,  seine  Wirksamkeit  hatte  etwas 
Gewitterhaftes.  Indessen  wenn  auch  das  Verhältnis  zwischen  dem 
Volke  und  seinem  Gotte  vornehmlich  in  Zeiten  höchster  Aufregung 
sich  betätigte,  so  erstarb  es  doch  auch  in  der  Zwischenzeit  nicht. 
Wie  die  menschlichen  Führer  den  Einlluß,  den  sie  im  Kampfe 
gewonnen  hatten,  im  Frieden  nicht  verloren,  wie  sie  aus  Kriegs- 
fürsten Richter  wurden,  so  ähnlich  auch  Jahve.  Nicht  bloß  gegen 
die  Feinde  half  er,  sondern  auch  im  Innern;  er  schalfte  Hecht 
unter  den  Volksgenossen.  So  kam  das  Gemeingefühl,  das  aller- 
dings besonders  gegen  außen  sich  geltend  machte,  doch  auch  im 
Innern  zu  einer  gewissen  W^irkung.  Schon  ehe  die  Israeliten  durch 
das  Königtum  zu  eigentlich  politischer  Einheit  gelangten,  hatten 
sie  eine  Art  Rechtseinheit,  freilich  nicht  eine  formelle,  im  Sinne 
einer  obersten  Instanz,  sondern  eine  materielle,  im  Sinne  einer 
gleichartigen  Rechtsanschauung.  Die  geheimnisvolle  Gewalt,  welche 
die  Gleichheit  der  Überzeugungen  in  den  verschiedenen  Köpfen 
hervorbrachte  und  sowol  das  Urteil  als  dessen  Anerkennung  be- 
dang, stellten  sie  sich  nicht  als  ein  Abstractum  vor.  Sie  glaubten 
nicht  an  Abstracta,  sie  kannten  keine  unpersönliche  Macht,  keine 
Wirkung  ohne  wirkendes  Subjekt.  Es  war  Jahve,  der  das  allge- 
meine Gefühl  des  Rechtes  und  des  Rechten  band  und  den  be- 
stimmten Inhalt  desselben  einzelnen  olfenbarte. 

Sein  war  das  Gericht;  in  seinem  Namen  wurde  es  ausgeübt, 
durch  wen  auch  immer  es  geschehen  mochte.  Naturgemäß  lag 
die  Rechtspilege  in  den  Händen  derer,  die  überhaupt  die  Autorität 
hatten,  zunächst  der  Familien-,  Geschlechts-  und  Stammhäupter, 
der  sogenannten  Ältesten,  sodann  der  Häupter  von  Städten  und 
Dörfern,  auch  der  Könige  und  der  Beamten.  In  deren  Händen  blieb 
sie  auch,  durch  Jahve  wurde  daran  nichts  geändert.  Daneben  gab 
es  aber  noch  eine  andere  Instanz,  durch  welche  die  Gottheit  noch 
direkter  wirkte.  Wenn  die  Weisheit  oder  die  Kompetenz  der  ge- 
wöhnlichen Richter  nicht  ausreichte,  wenn  man  in  schwierigen 
Lagen  Rat  haben  wollte,  so  wandte  mau  sich  an  die  Männer 
Gottes,  an  die  Priester  oder  die  Seher.  Ihr  Einfluß  beruhte  nicht 
auf  irgend  welcher  äußeren  Machtstellung,  sondern  darauf,  daß  die 
Gottheit,  auf  Befragen,  durch  sie  antwortete.  Die  hebräischen 
Namen  für  Priester  und  Seher  finden  sich  auch  sonst  bei  den  Se- 


Die  Anfänge  des  Volkes.  29 

miten').  Aber  neu  war,  daß  diese  Männer  in  Israel  sich  je  länger 
desto  ausschließlicher  in  den  Dienst  des  Volksgottes,  Jalives,  stellten. 

Unter  den  Männern  Gottes  waren  die  vornehmsten  die  Priester. 
Von  Haus  aus  bestand  kein  Unterschied  zwischen  ihnen  und  den 
Sehern.  Die  Gottheit  offenbarte  sich  am  sichersten  an  der  Stätte, 
wo  sie  wohnte;  Bileam  stieg  auf  einen  heiligen  Berg  und  opferte 
dort,  ehe  er  ausging  zu  schauen,  ob  Jahve,  durch  Vögel  oder 
andere  „Botschaften",  ihm  begegnen  werde.  Durch  ihre  Ver- 
bindung mit  den  Heiligtümern  wurden  die  Seher  zu  Priestern;  sie 
bekamen  auf  diese  Weise  einen  mehr  amtlichen  und  öffentlichen 
Charakter.  Die  Priester  waren  keine  bloßen  Opferer,  sondern  die 
Männer  der  Gotteskunde.  ])as  bedeutet  ursprünglich  nicht,  daß 
sie  wußten,  was  die  Gottheit  von  den  Menschen  verlangt,  sondern 
daß  sie  die  Gottheit  zu  behandeln,  auf  sie  einzuwirken  verstanden. 
Sie  bedienten  sich  dazu  in  ältester  Zeit  der  jMedien,  namentlich 
warfen  sie  die  heiligen  Lose,  die  Urim  und  Thummim,  um  gestellte 
Alternativen  zu  entscheiden.^)  Daran  schloß  sich  aber  früh  eine 
allgemeinere  Unterweisung  und  Bescheidung  an,  die  zum  Beruf  der 
Priester  gehörte,  die  Thora.  Sie  bezog  sich  auf  göttliche  und  auf 
menschliche  Dinge,  nie  aber  war  sie  theoretisch  und  systematisch, 
sondern  immer  praktisch,  für  einen  bestimmten  Fall  berechnet, 
über  den  gefragt  wurde.  Auch  die  Rechtsprechung  gehörte  dazu, 
wenn  die  Parteien  keine  (v>uorulanten  waren,  sondern  wissen  wollten, 
was  eigentlich  das  Rechte  sei:  ein  Fall,  der  im  Altertum,  wo  es 
kein  geschriebenes  Recht  gab  und  wo  das  Recht  als  heilig  galt, 
häufiger  vorkam  als  bei  uns.  Die  Priester  wurden  nach  allem  be- 
fragt und  gaben  für  alles  Verhaltungsmaßregeln;  sie  statuirten, 
was  erlaubt  und  was  verboten,  rein  und  unrein,  recht  und  unrecht 
sei;  sie  sagten,  was  Gott  gefalle  und  was  nicht,  ob  er  eine  Unter- 
nehmung gelingen  oder  mislingen  lassen  werde. 

Als  Begründer  des  Jahvepriestertums  in  Israel  wurde  Moses 
angesehen.  Er  galt  als  der  Ahn  der  Leviten,  d.  i.  nach  dem  alten 
Sinn  der  Berufspriester.     Jonathan  zu  Dan   war  sein  Enkel,   auch 


^)  So  namentlich  der  t.  t.  more  bei  den  Kanaaniten  (Elon  More,  Gibeatli 
More),  bei  den  Abessiniern  (Muri),  und  den  Raltyloniern  (tertu).  Die  Ableitung 
des  babylonischen  tertu  von  der  \Ynrzel  nilir  (lehren)  koiniut  mir  gar  nicht 
wahrscheinlich  vor. 

-)  Das  Veifaliron  wird  Ijcsoliriclten  l.Sam.  14,  3() — 42:  in  der  Seplnaginta 
sind  hier  die  rriiu  und  Thummim  erhalten.     Vgl.  I.Sam.  23,  2.  30,7. 


30  Zweites  Kapitel. 

Eli  zu  Silo  leitete  sich  veriiuitlich  von  ihm  ab,  ein  levitisches 
Geschlecht  nannte  sich  nach  ihm  Miischi  ^).  I'reilich  betrachteten 
ihn  auch  die  Propheten  als  ihren  Vorgänger;  indessen  diese  zweigten 
sich  erst  später  ab.  Die  Verbindung  des  ersten  israelitischen 
Heiligtums,  der  Lade,  mit  Moses  hat  die  Präsumption  für  sich, 
das  am  meisten  Geschichtliche  zu  sein,  was  wir  von  ihm  wissen. 
Auf  diese  Stellung  Moses  gründete  sich  der  Einfluß,  den  er  gehabt 
haben  muß;  ohne  einen  leitenden  Geist  kann  die  Volksbildung 
unter  der  Ägide  Jahves  nicht  vor  sich  gegangen  sein.  Er  war  der 
Anfänger  der  Thora,  die  nach  ihm  von  den  Priestern  fortgesetzt 
wurde.  Er  hat  nichts  ,,Positives",  ein  für  allemal  Fertiges  hinter- 
lassen, kein  Gesetz,  keine  Verfassung  für  alle  Zukunft  gegeben. 
Aber  er  hat  die  Anforderungen  der  Gegenwart  in  einer  Weise  be- 
friedigt, daß  die  Gegenwart  eine  Zukunft  haben  konnte. 

Der  wirkliche  Sinn  der  Theokratie  ist  demnach,  daß  Krieg 
und  Hecht  Peligion  waren,  ehe  sie  Zwang  und  bürgerliche  Ordnung 
wurden.  Einen  förmlichen  Staat  von  spezifischer  Heiligkeit  hat 
Moses  auf  dem  Satze  Jalive  der  Gott  Israels  keineswegs  auf- 
gebaut; oder  wenn  er  es  getan  hat,  so  hat  das  nicht  die  geringste 
praktische  Folge  und  nicht  die  geringste  geschichtliche  Bedeutung 
gehabt.  Aus  dem  religiösen  Gemeingefühl  erwuchs  erst  der  Staat, 
und  zwar  nicht  ein  besonders  heiliger  Staat,  sondern  der  Staat 
an  sich.  Die  alte  patriarchalische  Verfassung  der  Geschlechter  und 
Stämme  wurde  zunächst  nicht  angetastet;  die  faktische  und  recht- 
liche Autorität  blieb  in  den  Händen  der  Ältesten  und  Geschlechts- 
häupter. Zu  einer  politischen  Einheit  wurde  Israel  erst  allmählich, 
durch  die  Vorarbeit  der  Religion,  als  Volk  Jahves. 

4.  Die  Zeit  Moses  wird  überall  als  die  eigentliche  Schöpfungs- 
periode Israels  angesehen,  darum  auch  als  vorbildlich  und  maß- 
gebend für  die  Folgezeit.  Damals  muß  in  der  Tat  durch  eine 
epochemachende  Grundlegung  der  Anfang  der  Geschichte  Israels 
gemacht  sein.  Die  Propheten  haben  die  Eigentümlichkeit  des 
Volkes  wol  verschärft,  aber  nicht  geschaffen,  denn  sie  fußen  darauf. 


^)  Aharou  ist  sein  bloßer  Dop]ielg:mger  (Prol.  p.  139).  Dagegen  macht 
ihm  Miriam  ernstlichere  Konkurrenz  (Nnm.  12).  Gerade  auf  Kades,  den  angeb- 
lichen Ort  der  Lade,  hat  sie  berechtigtere  Ansprüche;  denn  sie  liegt  dort  be- 
graben. Erst  später  scheint  sie  durch  „ihren  Bruder"  in  den  Schatten  gedrängt 
zu  sein.  Mau  sieht  daraus,  daß  es  eine  alte  Tradition  gegeben  hat,  in  der 
Moses  Stellung  doch  nicht  so  einzigartig  war. 


Die  Anfänge  des  Volkes.  31 

Die  Bewegung  ferner,  woraus  das  Königtum  liervorging,  hat  zwar 
die  bis  dahin  sehr  lose  verbundenen  Teile  /.um  erstenmal  zu  einer 
wirklichen  politischen  Einheit  zusammengefaßt,  aber  das  geistige 
Gemeinbewußtsein  Israels  ist  nicht  erst  dadurch  entstanden.  Viel- 
mehr verband  dasselbe  schon  in  der  Periode  der  Richter  die  Stämme 
und  Geschlechter;  wenn  es  damals  in  zwingenden  äußeren  Formen 
keinen  Halt  fand,  so  muß  es  um  so  gewisser  innerlich  vorhanden 
gewesen  sein.  Als  die  Israeliten  sich  in  Palästina  niederließen, 
fanden  sie  dort  eine  ihnen  an  Zahl  und  Kultur  überlegene  Be- 
völkerung vor,  welche  sie  nicht  ausrotteten,  sondern  sich  unter- 
warfen und  allmählich  aufsogen.  Der  Vermischungsprozeß  ward 
durch  die  Verwandtschaft  der  Rasse,  durch  die  Gleichheit  der 
Sprache  i)egünstigt;  wie  vieles  aber  auch  die  Sieger  von  den  Be- 
siegten annahmen,  Kanaaniten  wurden  sie  nicht,  sondern  sie 
machten  umgekehrt  diese  zu  Israeliten.  Trotz  ihrer  minderen  Zahl 
und  geringeren  Bildung  l)ehaupteten  sie  dennoch  ihre  Eigenart,  und 
zwar  ohne  dal)ei  durch  eine  äußere  Organisation  unterstützt  zu 
sein.  Eine  gewisse  innerliche  Eiidieit  bestand  also,  lange  ehe  sie 
in  einem  politischen  Gemeinwesen  zum  Ausdruck  kam.  Sie  geht 
bis  in  die  Zeit  Moses  zurück  und  Moses  wird  als  ihr  Begründer 
anzusehen  sein.  Der  Grund,  auf  dem  zu  allen  Zeiten  das  Gemein- 
bewußtsein Israels  beruhte,  war  der  Glaube:  Jahve  der  Gott  Israels 
und  Israel  das  Volk  Jahves.  Moses  hat  diesen  Glauben  nicht  er- 
funden, aber  er  hat  es  doch  bewirkt,  daß  er  das  Fundament  der 
Nation  und  ihrer  Geschichte  geworden  ist. 

Aber  man  verlangt,  daß  Moses  doch  auch  einen  neuen  Be- 
griff von  der  Gottheit  eingeführt  haben  müsse,  und  feiert  ihn 
als  den  „Stifter"  des  Monotheismus.  Dem  widerspricht  indessen 
schon  auf  das  allerentschiedenste  die  einfache  Tatsache,  daß  Jahve 
ein  Eigenname  ist,  der  aus  dem  Genus  ein  Individuum  heraushelft. 
Der  Monotheismus  war  dem  alten  Israel  unbekannt.  Sie  sahen 
die  Natur  durchaus  als  gegeben  an  und  fragten  nicht  nach  ihrem 
Ursprünge.  Jahve  kam  ihnen  nur  als  der  Gründer  Israels  in  Be- 
tracht, und  erst  seit  dem  babylonischen  Exil  ward  der  Gedanke 
lebendig  —  beinahe  plötzlich  taucht  er  auf  — ,  daß  er  die  Länder 
und  Meere  mit  ihrer  Fülle,  den  Himmel  und  sein  Heer  nicht  nur 
beherrsche,  sondern  auch  gebildet  habe.  Der  Begriff  der  Welt 
selber  existirte  nicht  für  sie,  bis  an  seiner  harten  Realität  ihre 
Nation    zerschellte.     Allerdings    haben  sie  wol   geglaubt,    daß  die 


32  Zweites  Kapitel. 

Macht  Jahves   weit  über  Israel  hinaiisreichc;    dazu  war  er  ja  Gott, 
daß    er    den    Seinen    aushelfe,    wenn    ihre  Kräfte    nicht    reichten. 
Aber  dieser  Glaube  wurde  nicht  systematisch  verallgemeinert.     Es 
genügte  im   gegebenen   Fall,  daß  Jahve  jeder  wirklichen  Not  und 
Gefahr,   welche  Israel  bedrohte,  gewachsen  war.     Die  Eventualität, 
daß   der  Himmel   einstürzen   könnte,    wurde  nicht  in  Betracht  ge- 
zogen;   und  auch  zu   dem  Gedanken  schritt  man  nicht  fort,    daß 
die  Feinde    selber    so    in  Jahves  Hand   seien,    daß  sie  sogar  den 
Kampf  gegen  ihn  nicht  ohne  ihn  unternehmen  könnten.     Der  Gott 
Israels  war  nicht  der  Allmächtige,  sondern  nur  der  Mächtigste  unter 
den    Göttern.      Er    stand    neben    ihnen    nnd    hatte    mit   ihnen   zu 
kämpfen;  Kamos  und  Dagon  nnd  Hadad  waren  ihm  durchaus  ver- 
gleichbar,  minder  mächtig,    aber  nicht  minder  real  wie  er  selber. 
„Was    euer   Gott   Kamos    euch    zu    erobern    gegeben    hat  —   laut 
Jephtah    den    die    Grenze    verletzenden    Nachbarn    sagen    — ,    das" 
gehört  euch,   und  was  unser  Gott  Jahve  für  uns  erobert  hat,   das 
besitzen   wir."     Die  Gebiete   der  Götter  scheiden   sich   ebenso   wie 
die  der  Völker,  und  der  eine  hat  in  des  andern  Lande  kein  Recht. 
Niemand  dachte  daran,   daß  Jahve  auch  außerhalb  Israels  verehrt 
werden  müsse  oder  auch  nur  könne.    Mußte  ein  Israelit  aus  seinem 
Vaterlande  fliehen,  so  begab  er  sich  damit  in  alter  Zeit  nicht  bloß 
in    die  Gemeinschaft    eines    anderen   Volkes,    sondern    auch    eines 
anderen    Gottes.     Daher  David   dem  Saul,    der  ihn  in  die  Fremde 
treibt,  vorwirft,  er  reiße  ihn  aus  dem  Erbe  Jahves  los  und  zwinge 
ihn,    fremden    Göttern    zu    dienen.     Wenn   der  Syrer  Naeman   bei 
sich  zu  Hause   dem  Gotte  Israels,    dem  er  Heilung  vom  Aussatz 
verdankt,    Opfer  darbringen  will,    so  kann   er  es  nicht  anders  als 
indem  er  eine  Wagenladung  Erde  aus  Palästina  kommen  läßt  und 
darauf  einen  Altar  baut,  der  auch  in  Damaskus  auf  Jahves  Grund 
und  Boden  steht.     Bis  in  sehr  späte  Zeiten  hinein  hat  der  Grund- 
satz seine  Geltung  nicht   verloren,   daß  der  Kultus  Jahves  nur  im 
Lande  Jahves    möglich    sei;    ursprünglich    erklärt  er  sich  aus  der 
örtlichen  Beschränktheit  der  Gegenwart  Jahves. 

Ebensowenig  wie  der  universale  Gott  war  Jahve  der  über- 
sinnliche und  geistige  in  unserem  Sinne.  Es  lag  in  seinem  Begriff 
ursprünglich  nichts,  was  die  bildliche  Darstellung  verboten  hätte. 
Allerdings  scheinen  die  ältesten  Israeliten  die  Gottheit  nur  an 
heiligen  Orten,  bei  Stein,  Baum  und  Wasser,  lokalisirt,  nicht  aber 
künstliche  Gottesbilder  besessen  zu  haben.     Der  goldene  Stier  und 


Die  Anfänge  des  Volkes.  g3 

die  eherne  Schlange,  die  schon  aus  der  Zeit  Moses  stammen  sollen, 
sind  gewiß  nicht  so  alt').  Jedoch  erklärt  sich  das  Fehlen  von 
Tempeln  und  Bildern  sowie  von  künstlichen  Altären  lediglich  als 
primitive  Einfachheit  und  hat  nicht  von  Anfang  prinzipielle  Be- 
deutung gehabt.  Der  Fortschritt  zu  höherer  Kultur  brachte  die 
Aufnahme  der  Bilder  mit  sich.  Niemand  nahm  anfänglich  Anstoß 
daran;  Elias  und  Elisa  ließen  sie  in  Frieden,  noch  Amos  hat  kein 
Wort  des  Tadels  gegen  sie.  Erst  Hosea  und  Jesaias  fingen  an 
sich  gegen  die  Werke  der  Menschenhand  zu  ereifern,  durch  die 
Jahve  vorgestellt  werden  sollte.  Man  kann  übrigens  nicht  sagen, 
daß  die  jedenfalls  echt  israelitische  Lade  besser  .sei  als  die  Bilder, 
wenngleich  sie  kein  Bild  war.  Sie  enthielt  sicher  nicht  die  Gie- 
setzestafeln,  die  ja  nicht  hätten  im  Dunkel  verborgen,  sondern 
öffentlich  ausgestellt  werden  müssen,  vielleicht  aber  einen  heiligen 
Stein.  Sicher  war  sie  eine  sinnenfällige  Repräsentation  Jahves. 
Derselbe  wurde  geradezu  damit  verselbigt,  so  daß  man  z.  B.  in 
l.Sam.  4— 6  nie  sagen  kann,  ob  er  das  Subjekt  der  Aussage  i.^t 
oder  die  Lade;  es  wird  kein  unterschied  gemacht. 

Wenn  endlich  der  moralische  Grundcharakter  des  Wesens  der 
Gottheit  als   mosaisches  Erbe   des  alten  Israel  betrachtet  wird,    so 

')  Das  Stierbild  ist  dem  Baal  eigen  imd  auf  Jahve  nicht  eher  iil)ertragen, 
als  ]>is  die  Israeliten  sich  in  Palästina  niedergelassen  hatten.  Der  Urheber 
des  in  Exod.  32  geraeinten  goldenen  Stieres  ist  König  .Jerobeara  I  gewesen- 
Mit  der  Schlange  steht  es  insofern  anders,  als  die  Möglichkeit  ihrer  aUen  und 
echten  Beziehung  zu  .Jahve  nicht  in  Abrede  gestellt  werden  kann.  Indessen 
da  die  eherne  Schlange  in  geschichtlicher  Zeit  —  gleichzeitig  mit  oder  nach 
der  Lade?  —  im  jerusalemischen  Tempel  stand  und  verehrt  wurde,  gradeso 
wie  der  goldene  Stier  im  Tempel  von  Bethel,  so  ist  doch  ihre  Zuriickfmiruug 
auf  Moses,  weil  sie  sich  so  leicht  ergab  (denn  den  Patriarchen  wird  die  Er- 
richtung von  künstlichen  Bildern  nicht  zugeschrieben),  großem  Zweifel  unter- 
worfen, der  dadurch  noch  verstärkt  wird,  daß,  während  die  Lade  in  der  frühesten 
Geschichte  eine  große  Rolle  spielt,  von  der  Schlange,  die  Moses  gemacht 
haben  soll,  seitdem  nie  wieder  die  Rede  ist,  bis  wir  erfahren,  daß  König 
Hizkia  sie  abgetan  habe.  Der  Unterschied,  der  im  Pentateuch  zwischen  Stier 
und  Schlange  gemacht  wird,  daß  jener  abgöttisch,  diese  göttlich  gewesen  sein 
soll,  liegt  liandgreiflich  nicht  in  der  Sache,  sondern  in  verschiedenem  Maß 
der  Beurteilung.  Man  hat  zu  bedenken,  daß  der  Stier  in  Bethel,  die  Schlange 
aber  in  .Jerusalem  sich  befand.  Hizkia  betrachtete  auch  die  letztere  als  Idol. 
Den  Stier  nennt  der  Prophet  Ilosea  spottendcrweise  das  Kalb,  und  diese  Be- 
zeichnung hat  sich  eingebürgert.  Aus  seiaer  Äußerung  „in  Splitter  geht  das 
Kalb  von  Samaria"  geht  hervor,  daß  das  goldene  Bild  einen  Holzkern  hatte. 
Wellhausen,  Lsr.  Ge^^chichte.    .'».Aufl.  o 


34  Zweites  Kapitel. 

geschieht  auch  das  nur  mit  sehr  beschränktein  IJechte.  unsere 
Begriffe  von  Moral  wenigstens  müssen  wir  fernhalten.  Jahve 
billigte  Perfulie  und  Grausamkeit  gegen  die  Feinde  Israels;  gut 
war  in  seineu  Augen  das,  was  Israel  frommte.  Das  lehren  die 
Erzählungen  über  die  Eroberung  Kanaans,  über  die  Taten  der 
Richter  und  der  Könige,  und  selbst  über  die  der  älteren  Pro- 
pheten. Wie  kann  man  die  von  Elisa  angestiftete  Ausrottung  des 
Hauses  Omri  mit  den  Zehn  Geboten  vereinbaren!  Das  Deboralied 
lehrt  den  ursprünglichen  Geist  der  israelitischen  Religion  kennen, 
nicht  der  Dekalog.  Mit  einem  Grundgesetz,  dessen  Sinn  ist,  die 
individuelle  Moral  sei  die  religiöse  Forderung,  hat  Jahve  sicherlich 
nicht  angefangen. 

Es  führt  zu  wunderlichen  Konsequenzen,  wenn  man  Moses  als 
den  Stifter  des  Monotheismus  ansieht.  Er  hat  dann  plötzlich  eine 
ganz  neue  Religion  eingeführt,  die  wahrscheinlich  den  Spekulationen 
gebildeter  ägyptischer  oder  babylonischer  Priester  entlehnt  war. 
Für  die  „gemeinen"  Israeliten  war  dieselbe  viel  zu  hoch,  sie  hatten 
einen  natürlichen  Widerwillen  dagegen  und  eine  entschiedene 
Neigung  zum  Heidentum.  Um  sie  wenigstens  äußerlich  bei  Jahve 
festzuhalten,  dazu  diente  die  auf  den  Kultus  gegründete  Theokratie, 
eine  Art  geistlicher  Zvvangsanstalt  ^).  A^'oher  stammte  denn  die 
Gewalt,  um  sie  in  diese  Zwangsanstalt  zu  stecken,  um  ihnen  diese 
eigentlich  völlig   esoterische  Religion   aufzupfropfen!     Wie  war  es 


')  In  dieser  Auffassung  stimmen  sachlich  —  trotz  verschiedener  Ausdnicks- 
weise  —  Orthodoxie  und  Rationalismus  im  ganzen  zusammen;  es  macht  keinen 
grollen  rnterschied,  ob  der  Monotheismus  aus  Ägypten,  wo  er  nicht  zu  finden 
ist,  oder,  immerhin  etwas  vernünftiger,  aus  dem  Bimmel  imjiortirt  wird. 
Kuenen  führt  einen  bezeichnenden  Satz  aus  Comte  (cours  de  philosophie  positive 

3  ed.  5,  206)  an: la  petite  theocratie  juive,  derivation  accessoire  de 

la  theocratie  egyptienne  et  peut-etre  anssi  chaldeenne,  d'oü  eile  emanait  tres- 
probablement  par  une  sorte  de  colonisatiou  exccptionnelle  de  la  caste  sacer- 
dotale,  dont  les  classes  superieures,  des  longtemps  parvenues  au  monotheisme 
]iar  leur  propre  developpement  mental,  ont  pu  etre  conduites  ä  instituer,  ä 
titre  d'asile  ou  d'essai,  une  colonie  pleinement  monotheique,  oü,  malgre  l'anti- 
pathie  permanente  de  la  population  inferieure  contre  un  etablissement  aussi 
premature,  le  monotheisme  a  du  cependant  couserver  une  existence  penible, 
mais  pure  et  avouee,  du  moins  apres  avoir  consenti  ä  perdrc  la  majeure  parlie 
de  ses  ölus  ])ar  la  celebre  Separation  des  dix  tribus.  —  Natürlich  darf  man 
nicht  jeden  ägyptischen  Einfluß  bestreiten.  Moses  und  Phinehas  führen  un- 
zweifelhaft ägytisclie  Namen,  beide  gehören  zu  dem  Priestei-geschlecht,  unter 
dessen  Obhut  die  heilige  Lade  stand. 


Die  Aufäuge  des  Volkes.  35 

möglich,  den  etwa  aus  Ägypten  entlehnten  Weltgott  auf  eine  ganz 
äußerliche  und  künstliche  Weise  zum  israelitischen  Yolksgott  zu 
machen!  Wir  haben  gesehen,  daß  es  eine  Theokratie  als  geist- 
liche Anstalt  im  alten  Israel  nicht  gegeben  hat  und  daß  Jahve 
auf  (his  allerinnigste  mit  der  Nation  verwachsen  war.  Er  war  ihr 
Stolz,  sie  hatten  nicht  die  stete  Neigung,  ihm  zu  widerstreben. 
Sobald  die  Idee  Israels  ins  Spiel  kam,  war  er  der  einzige  Gott; 
aber  es  vertrug  sich  mit  seiner  Souveränetät,  zu  glauben,  daß  es 
auch  andere,  auf  ihrem  Gebiet  anbetungswürdige  Götter  neben  ihm 
gäbe.  Als  Weltgott  hätte  Jahve  niemals  ein  „partikularistischer" 
Gott  werden  können.  Er  war  vielmehr  von  Haus  aus  der  Gott 
Israels  und  wurde  dann  sehr  viel  später  der  universale  Gott;  auf 
geschichtlichem  Wege,  infolge  des  Untergangs  der  Nation.  Mit 
einem  „geläuterten"  Gottesbegriflf  hätte  Moses  den  Israeliten  einen 
Stein  statt  des  Brotes  gegeben;  höchst  wahrscheinlich  ließ  er  sie 
über  das  Wesen  Jahves  an  sich,  abgesehen  von  seiner  Beziehung 
zu  den  Menschen,  denken,  was  ihre  Väter  darüber  gedacht  hatten. 
Mit  theoretischen  Wahrheiten,  nach  denen  nicht  die  mindeste 
Nachfrage  war,  befaßte  er  sich  nicht,  sondern  mit  praktischen 
Fragen,  die  bestimmt  und  notwendig  durch  die  Zeit  gestellt  wur- 
den. Jahve  der  Gott  Israels  bedeutete  also  nicht,  daß  der 
allmächtige  Schöpfer  Himmels  und  der  Erden  vorerst  nur  mit 
diesem  einen  Volke  einen  Bund  geschlossen  hätte  zu  seiner  Er- 
kenntnis und  Verehrung.  Er  bedeutete,  wie  wir  gesehen  haben, 
nur,  daß  die  nationalen  Aufgaben,  innere  und  äußere,  als  heilige 
erfaßt  wurden. 

Die  israelitische  Beligion  hat  sich  aus  dem  Heidentum  erst 
allmählich  emporgearbeitet;  das  eben  ist  der  Inhalt  ihrer  Ge- 
schichte. Sie  hat  nicht  mit  einem  absolut  neuen  Anfange  be- 
gonnen. Doch  hat  sie  bei  einem  Punkte  angesetzt,  an  den  eine 
fruchtbare  Entwicklung  sich  anknüpfen  konnte.  Durch  die  Be- 
ziehungen auf  die  Angelegenheiten  der  Nation  wurde  der  Gottes- 
begriff nach  und  nach  moralisirt.  Jahve  ging  zwar  nicht  sofort  auf 
in  zielbewußtem  Wollen;  ein  dunkles,  unheimliches  Grundelement 
seiner  Natürlichkeit  blieb  zurück.  Aber  es  trat  doch  in  der  Vor- 
stellung sehr  zurück  hinter  seinem  Walten  in  einem  bestimmten 
Menschenkreise;  sein  Wesen  füllte  sich  mit  einem  neuen  Inhalte, 
welcher  der  moralischen  Welt  entnommen  war,  deren  Ziele  er  zu 
den  seinigen  machte. 


36  Drittes  Kapitel. 

Die  Religion  beteiligte  nicht  das  Volk  am  Leben  der  Gottheit, 
sondern   die  Gottheit  am  Leben   des  Volkes.     Sie  war  nicht  fest- 
gebannt  und   verknöcherte  nicht   in   einem   unfruchtbaren  Zauber- 
kreise, sie  hatte  praktische  Aufgaben,   sie  war  die  treibende  Kraft 
der  Geschichte.     Jahve  wuchs    heran    im   Kampfe.      Er    hatte    zu 
kämpfen,  um  im  Innern  die  Stämme  und  Geschlechter  der  Einheit 
eines  Gemeinwesens  zu  unterwerfen  und  zugleich  ihre  alte  religiöse 
Bedeutung  zu  beseitigen:  es  hat  Mühe  gekostet,  ehe  der  Dienst  des 
Volksgottes    alle    privaten    Dienste    verdrängte    und    ersetzte.      Er 
hatte   zu  kämpfen,   um    die   von   außen   neu  zutretenden  Einflüsse 
fremder  Ivultur  zu  bewältigen.     Im  Gegensatze  gegen  die  kanaani- 
tischen  Naturgötter  ist  er  erst  wahrhaft  zum  Gott  des  Rechts  und 
der  Gerechtigkeit,    und    von    da  aus,    als  die  Assyrer  Israel  ver- 
nichteten,   zum   Weltgott  geworden.      So    war  er  in   der  Tat  ein 
lebendiger  Gott,   und  seine  Religion  eine  fortschreitende  Religion. 
Es  gab  zwar  Einrichtungen,   welche  für  Stabilität  sorgten  und  den 
Zusammenhang  mit  der  Vergangenheit  wahrten.     Aber  sie  ließen 
Raum  für  den  schöpferischen  Geist,  der  in  der  freien  Tat  und  dem 
gesprochenen  Worte  ungewöhnlicher  Individuen  sich  offenbarte.     Das 
göttliche   Recht  der  Männer  des  Geistes  wurde  anerkannt  —  und 
Jahve  ließ  es  nicht  an  solchen  Männern  fehlen. 

Warum  die  israelitische  Geschichte  von  einem  annähernd 
gleichen  Anfange  aus  zu  einem  ganz  andern  Endergebnis  geführt 
hat  als  etwa  die  moabitische,  läßt  sich  schließlich  nicht  erklären. 
Wol  aber  läßt  sich  eine  Reihe  von  Übergängen  beschreiben,  in 
denen  der  Weg  vom  Heidentum  bis  zum  vernünftigen  Gottesdienst 
im  Geist  und  in  der  Wahrheit,  zurückgelegt  wurde.  Das  soll 
in  der  folgenden  Darstellung  etwas  ausführlicher  geschehen,  als  es 
in  den  vorhin  gemachten  andeutenden  Bemerkungen  möglich  war '). 


Drittes  Kapitel. 

Die  Ansiedlung  in  Palästina. 

1.    Das  nördliche  Moab   genügte    den  Israeliten   nicht   auf  die 
Dauer,  und  die  Zersplitterung  der  Kanaaniten  westlich  des  Jordans 

')  Es   sei   hier   bemerkt,   daß   ich    für   die    folgende   Darstellung-   die   P^r- 
gebnisse  meiner  kritischen  Uutei'suchnngen   über  die   historischen  Bücher   des 


Die  Ansiedhiug  iu  Palästina.  37 

in  uneudlich  viele  8tädte  und  Reiche  lockte  sie  zum  Einbruch. 
Den  ersten  Versuch  machte  Juda,  im  Verein  mit  Simeon  und  Levi, 
aber  er  gelang  nicht  gut.  Simeon  und  Levi  wurden  gänzlich  auf- 
gerieben; Juda  behauptete  sich  zwar  in  dem  Berglande  westlich 
vom  Toten  Meere,  erlitt  aber  gleichfalls  sehr  schwere  Verluste,  die 
erst  durch  den  Zutritt  gewisser  kainitischer  Geschlechter  des  Negeb 
wieder  ersetzt  wurden '). 

Infolge  dieser  Ereignisse  trat  nun  anstatt  der  alten  Teilung 
des  Volkes  in  Lea  und  Rahel  eine  andere  ein,  die  in  Israel  und 
Juda.  Israel  umfalöte  sämtliche  Stämme  außer  Simeon,  Levi  und 
Juda;  die  letzteren  kommen  schon  im  Liede  der  Debora  nicht 
mehr  als  dazu  gehörig  in  Betracht,  wo  die  anderen  mit  absicht- 
licher Vollständigkeit  gemustert  werden. 

Der  halb  fehlgeschlagenen  ersten  Einwanderung  in  den  Westen 
folgte  eine  mächtigere  zweite,  die  weit  besseren  Erfolg  hatte. 
An  ihrer  Spitze  stand  der  Stamm  Joseph,  dem  sich  die  übrigen 
Stämme  anschlössen;  nur  Kuben  und  Gad  blieben  in  den  alten 
Sitzen  zurück.  Zunächst  ward  die  Gegend  nördlich  von  Juda  in 
Angriff  genommen,  wo  später  Benjamin  Avohnte.  Erst  nachdem 
mehrere  Städte  dieses  Gebietes  einzeln  in  die  Hände  der  Eroberer 
gefallen  waren,  setzten  ihnen  die  Kauaauiten  gemeinsamen  AVider- 
stand  entgegen.  Aber  in  der  Nähe  von  Gibeon  wurden  sie  von 
Josua  auf  das  Haupt  geschlagen.  Der  Sieg  machte  die  Israeliten 
zu  Herren  des  mittelpalästinischeu  Gebirges.  Das  bis  dahin  bei- 
behaltene erste  Lager  bei  Gilgal,  an  der  Jordanfurt,  wurde  nun 
aufgehoben,  die  Lade  Jahves  wanderte  weiter  landeinwärts  und 
machte  endlich  in  Silo  Halt.  Hier  war  fortab  das  Standquartier, 
VI  einer  Position  wie  gescluilfen  zu  Ausfällen  iu  die  nördlich 
darunter  liegende  fruchtbare  Landschaft.  In  dem  bis  dahin  ge- 
wonnenen Gebiete  ließen  sich  die  Bne  Rahel  nieder,  zunächst  der 
judäischen  Grenze  Benjamin"),  dann  Ephraim  bis  über  Silo  hinaus, 
und  am  weitesten  nördlich,  bis  zur  Ebene  Jezreel,  Manasse.  Der 
Schwerpunkt  der  Bne  Rahel  und  damit  des  gesamten  eigentlichen 
Israels    lag    schon    damals    in    Ephraim;    in    dem    Gebiet    dieses 

Alteu  Testaments  (in  der  Komposition  des  Iloxateuchs  nud  iu  den  Prolegomena) 
im  allgemeinen  voraussetze. 

^)  Kompos.  d.  Ilex.  p.  208s.  321.     Prol.  p.  UOss.     Gen.  38.     1  Chr.  2. 

^)  d.  i.  der  Südstamm,  vom  Standpunkte  Josephs  aus.  Das  Gentile  lautet 
Je  mini  ^  der  Südliche. 


38  Drittes  Kapitel. 

Stammes  hg  Silo,  der  Ort,  wo  die  J^iide  stand,  und  nicht  weit 
davon  Gibeath  Phiuelias,  wo  das  älteste  und  vornehmste  israelitische 
Priestergeschlocht  seinen  Landbesitz  hatte,  ebendort  Thimnat  Ileres, 
wo  sich  Josua  ansiedelte,  der  ja  auch  von  Geburt  ein  Ephraimit 
war.  Der  Name  Ephraim  für  den  Stamm  ist  indessen  erst  späteren 
Ursprungs,  eigentlich  hieß  so  die  Landschaft  und  zwar  weit  über 
die  Grenze  des  Stammes  hinaus. 

Als  letzte  Tat  Josuas  wird  berichtet,  daß  er  den  König  Jabin 
von  Hasor  und  die  mit  ihm  verbundenen  Fürsten  Galiläas  an  der 
Quelle  von  Maren  geschlagen  und  dadurch  den  Norden  für  die 
Ansiedlung  geöft'net  habe.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  erst 
ein  großer  Schlag  mit  vereinter  Kraft  gegen  die  Kanaaniten  des 
Nordens  geführt  werden  mußte,  ehe  die  Ansiedlung  erfolgen  konnte. 
Der  König  Jabin  von  Hasor  lebt  allerdings  später  noch  einmal 
wieder  auf,  aber  au  einer  Stelle,  wohin  er  nicht  gehört. 

Die  Israeliten  unterwarfen  die  ältere  Bevölkerung  nicht  syste- 
matisch, sondern  schoben  sich  zwischen  sie  ein.  Hernach  gehörte 
noch  immer  eine  zähe  Arbeit  der  einzelnen  Kreise  dazu,  um  an 
dem  bestimmten  Fleck,  wo  sie  sich  eingenistet  hatten,  Wurzel  zu 
fassen.  Die  Ansiedlung  war  weiter  nichts  als  eine  Fortsetzung  des 
Kampfes  im  kleinen,  nachdem  nur  die  erste  grobe  Vorarbeit  durch 
gemeinsame  Anstrengung  getan  war.  Von  einer  vollständigen  Er- 
oberung des  Landes  war  keine  Eede.  Die  Ebene  an  der  Küste 
wurde  kaum  in  Angriff  genommen,  auch  das  Tal  Jezreel,  mit  dem 
Gürtel  fester  Städte  von  Akko  bis  Bethsean,  blieb  größtenteils 
unangetastet.  Gewonnen  wurde  besonders  das  Bergland,  nament- 
lich das  südlichere,  das  Gebirge  Ephraim;  doch  blieben  auch  hier 
nicht  wenige  Städte  im  Besitz  der  Kanaaniten,  wie  Jerusalem,  Sichenij 
Thebes.  Es  dauerte  Jahrhunderte,  bis  die  Lücken  ausgefüllt  oder 
die  kanaanitischen  Enklaven  zinsbar  gemacht  wurden. 

Der  großen  Zersplitterung  ihrer  Feinde  hatten  es  die  Israeliten 
zu  danken,  daß  sie  ohne  viel  Kunst  zu  einem  vorläufigen  Ziele 
gelangten.  Verhältnismäßig  rasch  legte  sich  der  erste  Sturm;  Er- 
oberer und  Unterworfene  lel)ten  sich  in  die  neuen  Verhältnisse  ein. 
Da  sammelten  sich  die  Kanaaniten  noch  einmal  zu  einem  Rück- 
schläge. Unter  der  Hegemonie  Siseras^)  kam  ein  großes  Bündnis 
ihrer  Könige    zu  stände,    die  Ebene  Jezreel    war    der  Mittelpunkt 


')  Der  Name  klingt  uusemitisch,  er  könnte  helhitisch  sein. 


Die  Ausietlluiig  iu  PiiUistiua.  39 

ihrer  neu  sich  bildenden  Macht,  von  hier  aus  machten  sie  Streif- 
züge nach  Norden  und  nach  Süden.  Merkwürdig,  wie  wenig  die 
Israeliten  sich  dagegen  zu  helfen  wußten;  kein  Schild  und  Speer 
schien  sich  zu  linden  unter  vierzigtauseiid  streitbaren  Männern. 
Endlich  brachte  ein  Impuls  von  oben  Seele  und  Bewegung  in  die 
träge  Masse,  Diesmal  ging  er  von  einem  Weibe  aus,  von  der 
Seherin  Debora.  Sie  gehörte  dem  Stamme  Issachar  an,  der  in 
der  Ebene  Jezreel  wohnte  und  wol  am  meisten  von  den  Kanaaniten 
zu  leiden  hatte.  Es  gelang  ihr,  die  Häuptlinge  von  Issachar,  vor 
allem  den  Barak  ben  Abinoam,  zu  einer  Erhebung  zu  ermutigen. 
Dann  wurden  auch  die  übrigen  Stämme  beschickt;  aber  nur  die- 
jenigen, die  zu  beiden  Seiten  der  Ebene  im  Gebirge  wohnten, 
leisteten  Hilfe.  Von  Süden'  sandten  Ephraim  und  ^lanasso  und 
Benjamin,  von  Norden  Zebuion  und  Naphthali  ihre  Scharen  zu 
Tal.  Sisera  und  seine  Bundesgenossen  hatten  ihre  Macht  bei 
Thaanach  und  Megiddo,  östlich  von  Karmel,  zusammengezogen; 
dort  griffen  die  israelitischen  Bauern  sie  an.  Barak  führte  sie  an, 
Debora  sang  ihnen  das  Lied.  Dem  Ungestüm  des  Fußvolks  Jahves 
vermochten  die  Feinde  mit  ihren  Rossen  und  Wagen  nicht  zu 
widerstehn,  sie  jagten  in  wildem  Schrecken  davon.  Aber  der 
liegen  und  der  angeschwollene  Bach  Kison  hinderten  ihre  Flucht. 
Sisera  verließ  seinen  Wagen,  um  zu  Fuß  zu  entlaufen;  an  einem 
Ilirtenzelt  vorüberkoramend  bat  er  die  Frau  darin  um  einen  Trunk 
Wasser.  Sie  reichte  ihm  Milch  in  einer  schönen  Schale  und 
machte  ihn  so  der  Gastfreundschaft  sicher.  .  Während  er  aber 
sorglos  vor  ihr  stand  und  gierig  trank,  führte  sie  mit  einem 
schweren  Hammer  einen  Schlag  auf  seine  Schläfe,  so  daß  er  zu- 
sammenbrach und  tot  zu  ihren  Füßen  niederfiel.  Diese  Frau  hieß 
Jael  und  war  keine  Hebräerin,  sondern  gehörte  einem  kainitischen 
Geschlechte  an,  das  in  dieser  Gegend  weidete.  Im  übrigen  scheint 
doch  ein  großer  Teil  der  Flüchtigen  glücklich  entkommen  zu  sein; 
es  ward  ein  Fluch  ausgesprochen  über  die  Bewohner  von  Meroz, 
weil  sie  auf  der  Verfolgung  nicht  "herbeikamen,  um  Jahve  zu 
helfen.  Der  Residenz  Siseras  drohte  offenbar  keine  Gefahr,  die 
festen  Städte  in  der  Ebene  Jezreel  verblieben  auch  fürderhin  im 
Besitze  der  Kanaaniten,  und  der  Stamm  Issachar  selber  geriet 
nachmals  unter  ihre  Botmäßigkeit:  er  gab  seine  starken  Knochen 
zum  Lasttragen  her  wie  ein  Esel  und  ward  zum  zinsl)aren  Knecht. 
Aber  eine  Gefahr  für  Israel  wurden  die  Kanaaniten  nicht  w'ieder; 


40  Drittes  Ka|>itel. 

oder  wenn  sie  es  wurden,  so  wurden  sie  es  als  Freuude,  nicht  als 
Feinde. 

Die  Aufregung  der  Sieger  über  ihren  Sieg  ist  verewigt  in  dem 
Deboraliede,  dem  frühesten  Denkmal  der  hebräischen  Literatur. 
Es  wirft  einen  hellen  Schein  auch  über  die  allgemeine  politische 
und  geistige  Beschaffenheit  des  damaligen  Israels.  Von  Issachar 
ergeht  ein  Aufruf  an  die  Stämme  hüben  und  drüben;  sie  siud 
mehr  oder  weniger  bereit  zur  Hilfe.  Es  ist  etwas  Außerordent- 
liches, daß  sie  sich  zusammentun,  und  sie  tun  es  nur  zu  einem 
vorübergehenden  Zweck.  Wenn  die  Not  gewandt  ist,  gehn  sie 
wieder  aus  einander,  sie  sind  nur  moralisch  verpflichtet,  im  Be- 
dürfnisfall einander  zu  helfen.  Israel  ist  kein  Organismus,  zu 
dessen  regelmäßigen  Funktionen  etwa  die  Kriegführung  gehörte; 
Israel  ist  nur  eine  Idee.  Und  Israel  als  Idee  ist  gleichbedeutend 
mit  Jahve;  nur  daß  Jahve  mehr  ist  als  eine  Idee  und  dem  Wunsche 
die  Macht  zur  Verfügung  stellen  kann:  die  regengebenden  Gestirne 
und  der  angeschwollene  Bach  Kison  kämpfen  auf  sein  Geheiß 
gegen  Sisera.  In  dem  Enthusiasmus  des  Heeres  wird  Jahves  Gegen- 
wart verspürt,  der  Geist,  der  die  Menge  fortreißt,  ist  der  Geist 
ihres  göttlichen  Führers.  Wer  nicht  zur  Hilfe  Jahves  kommt,  wer 
sich  dem  Strome  entgegensetzt,  verfällt  der  Acht.  Aus  der  Bot- 
schaft Jahves,  welche  den  Fluch  über  Meroz  ausspricht,  schallt 
vernehmlich  die  Stimme  des  Volkes;  zur  Hilfe  Jahves  bedeutet 
zur  Hilfe  Israels.  Der  Krieg  ist  heilig  und  heiligt  seine  Mittel, 
Grausamkeit  und  Tücke;  der  Haß  Israels,  der  sich  nicht  sowol 
gegen  die  Kanaaniter  selber,  als  gegen  ihre  Könige,  ihre  liosse 
und  Wagen  richtet,  ist  der  Haß  Jahves;  die  leidenschaftliche 
Wonne  befriedigter  Ivache,  das  Schwelgen  im  Spott  über  den  un- 
verhoirten  Ausgang  Siseras  sind  legitime,  sind  religiöse  Emplin- 
dungen,  die  Jahve  billigt  und  teilt.  So  formlos,  so  vielfach  unver- 
ständlich das  Lied  ist  —  der  Augenblick,  die  Stimmung  des  Augen- 
blicks, welche  mit  übermenschlicher  Gewalt  alle  Gemüter  gefangen 
nimmt,  ist  darin  auf  unnachahmliche  W^eise  festgehalten.  Trium- 
phirend  spricht  sich  darin  das  glückliche  Zutrauen  aus,  womit  ein 
jugendliches  Volk  in  den  großen  absichtslosen  Momenten  seiner  Ge- 
schichte, in  denen  sein  Gesamtgeist  aus  der  Tiefe  aufschauert,  die 
Gottheit  vor  sich  her  schreiten  sieht,  durch  sich  hin  rauschen  hört. 

Noch  nach  diesen  Tagen  gingen  einige  fundamentale  Ver- 
änderungen in  den  Wohnsitzen  und  dem  gegenseitigen  A^erhältnis 


Die  Ansiedlimg  iu  Pulästiua.  41 

der  Stämme  vor.  Die  Daniten  vermochten  ihr  Gebiet  an  der 
Küste,  westlich  von  Benjamin  und  Ephraim,  gegen  die  nordwärts 
vordringenden  Philister  nicht  zu  halten  ^).  Um  ihre  Freiheit  und 
Selbständigkeit  zu  behaupten,  faßten  sie  den  Entschluß,  sich  eine 
neue  Heimat  zu  suchen.  Oben  im  Norden  des  Landes,  am  Fuß 
des  Hermon,  hatten  ihre  Kundschafter  ein  schönes  Tal  entdeckt, 
mitten  unter  den  Gebirgen  versteckt,  wo  an  der  Jordanquello  die 
Stadt  Lais  lag.  Die  Einsassen  waren  friedliche  Leute,  die  für  sich 
lebten  und  mit  keinem  größeren  Gemeinwesen  in  Verbindung 
standen.  Dorthin  begab  sich  der  Stamm,  aus  dem  Kriegslager,  in 
das  er  zusammengedrängt  war,  auf  die  Wanderung.  Weiber, 
Kinder  und  Troß  zogen  voran,  es  folgten  die  Krieger,  nur  sechs- 
hundert Mann,  aber  trotzige,  verzweifelte  Gesellen.  Im  tiefsten 
Frieden  überfielen  sie  die  nichtsahnenden  Bewohner  von  Lais  und 
machten  sie  nieder;  kein  Hund  und  kein  Hahn  krähte  darnach. 
J)arauf  richteten  sie-  sich  häuslich  in  der  eroberten  Stadt  ein  und 
nannten  sie  nach  ihrem  Vater  Dan.  Auch  einen  Tempel  Jahves 
gründeten  sie  darin,  wol  an  der  Stelle  eines  alten  Baaltempels  an 
der  Jordansquelle.  Priester  und  Gottesliild  dazu  hatten  sie  schon 
mitgebracht.  Als  sie  nämlich  unterwegs  auf  dem  Gebirge  Ephraim 
an  dem  neu  errichteten  Gotteshause  eines  gewissen  Micha  vorbei- 
kamen, raubten  sie  das  Ephod  nebst  Zubehör  daraus  untl  nahmen 
auch  den  Hüter  mit,  Jonathan  bcn  Gersom,  den  Enkel  Moses: 
dessen  Nachkommen  behielten  das  Priestertum  an  dem  nachmals 
weitberühmten  Heiligtume  Jahves  zu  Dan")  bis  zur  Auflösung  des 
israelitischen  Reichs  durch  die  Assyrer. 

Auf  diese  Weise  saßen  nun  die  westjordanischen  Kebsstämme, 
Äser  Naphthali  Dan,  alle  bei  einander  in  der  Nordmark  des  Landes. 
Im  Ostjordanlandc  sank  Kuben  rasch  von  seiner  alten  Höhe,  er 
teilte  das  Schicksal  seiner  nächstältesten  Brüder  Simeon  und  Levi. 
Wenn  Eglon  von  Moab  Benjamin  zinsbar  machte,  so  mußte  vorher 
schon  das  Gebiet  Rubens  in  seiner  Hand  sein.  Dies  Gebiet  blieb 
seitdem  ein  beständiger  Zankapfel  zwischen  Moab  und  Israel;  aber 


')  Über  Simsou,  den  Richter  von  Dan  und  Feind  der  Piiilister  s.  die 
Komposition  des  Ilexateuchs  (1899)  p.  225.  Der  Spruch  Geu.  49,  1(!  kann  sich 
nicht  auf  ihn  beziehen. 

-)  Smeud  vermutet  mit  Recht,  daß  für  h'schilo  Jud.  18,  ol  zu  lesen 
sei  b'Iaischa  (in  Lais  =  Dan). 


42  Drittes  Kapitel. 

nicht  von  Rüben  gingen  die  Versuche  es  wiederzugewinnen  aus, 
sondern  von  Gad.  Xach  Gen.  49  sah  sich  Gad  rings  von  Feinden 
umgeben,  wußte  sich  ihrer  aber  zu  erwehren.  Nicht  bloß  mit  den 
Moabiten  hatte  er  zu  kämpfen,  sondern  auch  mit  den  Ammoniten. 
Vorzugsweise  aber  bedrängten  die  Ammoniten  den  Stamm  Gilead, 
der  nördlich  vom  Jabbok  wohnte^).  Noch  weiter  nördlich,  in 
Bnsan,  saßen  manassitische  Geschlechter,  denen  die  Heimat  zu  eng 
geworden  war;  an  ihnen  blieb  nachmals  der  alte  Name  Makir 
haften,  der  im  Deboraliede  für  Gesamtmanasse  westlich  des  Jordans 
gebraucht  w'ird.  Daß  die  Kolonisirung  Basans  durch  Manasse  erst 
geraume  Zeit  nach  dem  Einbruch  Israels  in  Kanaan  geschah,  wissen 
wir  genau;  aber  auch  Gad  und  Gilead  scheinen  erst  später  im 
Ostjordanland  emporgekommen  und  von  Bedeutung  geworden  zu 
sein.  Was  also  die  Hebräer  dort  im  Süden  etwa  an  Terrain  ver- 
loren hatten,  brachten  sie  im  Norden  reichlich  wieder  ein.  Sie 
hatten  dort  freilich  außer  mit  der  Feindschaft  der  Ammoniten  auch 
mit  der  Konkurrenz  der  Aramäer  zu  tun,  die  gleichfalls  erobernd 
vordrangen. 

2.  Die  alte  Ordnung  der  Dinge  über  den  Haufen  zu  werfen, 
war  den  Israeliten  leicht  geworden;  eine  neue  zu  gründen,  wurde 
ihnen  schwer.  Den  Zwischenzustand  wußten  die  Kinder  der  "Wüste 
auszunützen;  die  unsicheren  bewegten  Zeiten  waren  dazu  angetan, 
ihnen  das  Kulturland  zur  Beute  zu  machen.  Midianiten  werden 
sie  genannt,  es  war  aber  ein  bunter  Haufe,  verschieden  von  den 
weidenden  Stämmen  der  Sinaihalbinsel,  zu  denen  die  Israeliten 
selbst  gehört  hatten;  sie  machen  gleichzeitig,  wie  es  scheint,  auch 
den  Edomiten  und  Moabiten  zu  schaffen  (Gen.  36,  35).  Es  waren 
keine  Schafhirten,  sondern  richtige  ruhelose  Kamelnomaden;  sie 
fielen  nicht  ein,  um  zu  erobern  und  sich  niederzulassen,  sondern 
um  Beute  zu  machen  und  damit  das  ^Veite  zu  suchen.  Alljährlich 
um  die  Erntezeit  kamen  sie  mit  ihren  Zelten  und  Kamelen  und 
fraßen  das  Land  kahl  wie  ein  Heuschreckenschwarm.  Von  der 
Wüste  zogen  sie  am  Jabbok  herunter  und  ergossen  sich  dann  durch 
das  Tal  von  Bethsean  in  die  Ebene  Jezreel  und  weiter  nach  Süd- 
westen über  Dothan  in  das  Küstenland,  vorzugsweise  die  offenere 
Gegend  heimsuchend,  die  auch  die  ergiebigste  Beute  lieferte.     Am 


^)  Über  Jephtah,  den  Richter  Gileads,  s.  d.  Komiiositiou  des  Hexat.  181)9 
p.  224. 


Die  Aiisiedhmg  in  Palästina.  43 

meisten  hatte  die  Ebene  Jezreel  mit  dem  im  Süden  und  Norden 
daran  grenzenden  niedrigen  Ilügellande  von  ihnen  zu  leiden. 

Es  mußte  sich  jetzt  zeigen,  ob  die  Israeliten  mit  Recht  Herren 
des  Landes  waren,  welches  sie  den  Kanaaniten  abgenommen  hatten, 
ob  sie  die  Kraft  hatten,  es  gegen  diese  Räuber  zu  schützen.  Zu- 
nächst hatte  es  nicht  den  Anschein.  Sie  waren  den  schnellen 
Kamelreitern  gegenüber  hilflos;  jeder  Bauer  sorgte  für  sich  selber, 
um  seine  Ernte  so  gut  es  ging  in  irgend  einem  Schlupfwinkel  zu 
bergen.  Aber  endlich  ward  dem  Faß  der  Boden  ausgeschlagen. 
Auf  einem  ihrer  Raubzüge  hatten  zwei  Häuptlinge  der  Midianiten 
einige  vornehme  Gefangene  auf  dem  Thabor  geopfert,  dem  heiligen 
Berge,  der  von  Norden  auf  die  Ebene  Jezreel  herabschaut.  Die 
Getöteten  gehörten  zu  dem  Geschlechte  Abiezer  von  Manasse,  wel- 
ches in  Ophra,  im  Süden  der  Ebene,  seinen  Mittelpunkt  hatte. 
Wie  nun  ihr  Bruder  Jerubbaal  ben  Joas  erfuhr,  was  ihnen  geschehen 
war,  bot  er  das  Geschlecht  zur  Rache  auf  und  eilte  mit  dreihundert 
Mann  von  Abiezer  über  den  Jordan,  den  Jabbok  hinauf,  hinter 
den  Midianiten  her,  die  inzwischen  mit  ihrem  Raube  auf-  und 
davongegangen  waren.  Er  überfiel  sie  am  Rande  der  Wüste,  wo 
sie  sich  sorglos  gelagert  hatten,  um  die  Beuteteilung  zu  feiern. 
Nach  Nomadenart  wehrten  sie  sich  nicht  lange,  sondern  suchten 
nur  mit  dem  Raube  zu  entkommen.  Auch  die  beiden  Häuptlinge 
(lohen,  aber  Jerubbaal,  der  es  eben  auf  sie  abgesehen  hatte,  ruhte 
nicht  in  der  rastlosen  Verfolgung,  bis  er  sie  gefaßt  hatte.  Dann 
kehrte  er  um  und  züchtigte  unterwegs  zwei  Städte  im  Jabboktal, 
die  ihm  auf  dem  Hinwege  kein  Brot  für  seine  erschöpften  Leute 
hatten  geben  wollen.  Zu  Hause  angelangt,  hielt  er  Gericht  über 
seine  beiden  Gefangenen.  Weil  er  mit  eigener  Hand  an  den  A\'ehr- 
losen  die  Rache  zu  nehmen  sich  scheute,  so  übergab  er  die  Pflicht 
ihrem  Erben,  seinem  Erstgeborenen  Jether.  Der  fürchtete  sich 
al)er,  das  Schwert  zu  ziehen,  denn  er  war  noch  ein  Knabe.  Da 
forderten  die  Gefangenen  ihn  auf,  selber  den  Streich  zu  führen, 
und  er  tat  es. 

Es  scheint,  daß  die  Midianiten  noch  einmal  wiederkamen. 
An  der  Stelle,  wo  die  Ebene  Jezreel  östlich  zu  dem  nach  Bethsean 
herabführenden  Tale  sich  verengt,  hatten  sie  ihr  Lager  aufgeschlagen; 
dort  überfiel  sie  Jerubbaal  mit  seinen  Abiezriten  und  zersprengte 
sie.  Sie  flohen  dem  Jordan  zu,  aber,  inzwischen  war  der  Land- 
sturm aufgeboten  und  die  Männer  von  Ephraim  hatten  die  Furten 


44  Drittes  Kapitel. 

des  Jordans  besetzt.  Dadurch  erst  wurde  den  Nomaden  der  ver- 
nichtende Schhig  beigebracht;  am  stärksten  war  das  Würgen  in 
der  Nähe  eines  Felsen  am  Jordan,  welcher  der  Rabenstein  genannt 
ward.  Der  Erfolg  machte  die  Ephraimiten  ül)ermütig.  Sie  machten 
dem  Jerubbaal  zornige  Vorwürfe,  warum  er  sie  nicht  gleich  anfaugs 
gerufen  habe,  als  er  in  den  Kampf  gezogen  sei.  Aber  er  ant- 
wortete ihnen:  was  habe  ich  denn  jetzt  getan  im  Vergleich  zu  euch? 
ist  nicht  die  Nachlese  Ephraims  besser  als  die  Ernte  Abiezers? 
Da  legte  sich  ihre  Hitze,  als  er  so  redete. 

Ursprünglich  hatte  Jerubbaal  aus  einem  rein  persönlichen  Be- 
weggrunde gehandelt-,  die  Pflicht  der  Blutrache,  die  ernsteste  und 
heiligste  die  es  gab,  hatte  ihn  in  den  Kampf  getrieben.  Aber  der 
Erfolg  seiner  Tat  ging  weit  über  die  Absicht  hinaus,  in  der  sie 
unternommen  war;  und  er  selber  wuchs  mit  dem  Erfolge.  Er 
wurde  der  Retter  der  Bauern  vor  den  Räubern,  des  Ackerlandes 
vor  der  Wüste.  In  seiner  Stadt  Ophra,  wo  er  inmitten  seines  Ge- 
schlechtes wohnen  blieb,  hielt  er  ein  großes  Haus;  er  nahm  sich 
viele  AVeiber  und  hatte  von  ihnen  eine  Menge  Kinder.  Auf  einem 
seiner  Familie  gehörigen  Grundstücke,  wo  ein  heiliger  Stein  und 
eine  Terebinthe  stand,  stiftete  er  ein  Gotteshaus  und  ein  Jahvc- 
bild  darin,  das  er  mit  dem  Golde,  welches  ihm  als  Führeranteil 
von  der  midianitischen  Beute  zugefjdlen  war,  überzogen  hatte.  Er 
hinterließ  seinen  Söhnen  eine  Herrschaft,  welche  sich  nicht  auf 
Abiezer  und  Manasse  beschränkte,  sondern  auch  über  Ephraim  sich 
erstreckte,  wie  lose  und  mittelbar  sie  immer  sein  mochte. 

Auf  der  Grundlage,  welche  Jerubbaal  gelegt  hatte^  versuchte 
sein  Sohn  Abimelech  ein  Königtum  über  Israel,  d.  h.  über  Ephraim 
und  Manasse,  zu  gründen.  Indem  er  aber  die  Herrschaft,  die  sei- 
nem Vater  als  Frucht  seiner  Verdienste  in  den  Schoß  gefallen 
war,  seinerseits  für  einen  Raub  ansah  und  sie  auf  Gewalt  und 
Frevel  stützte,  zerstörte  er  die  gedeihlichen  Anfänge,  aus  denen 
schon  damals  ein  Reich  im  Stamme  Joseph  hätte  entstehn  können. 
In  den  Grenzen  der  Herrschaft  Jerubbaals  lagen  mehrere  noch 
kanaanitische  Städte;  Sichem  war  die  wichtigste.  Die  Städte 
erfreuten  sich  einer  ziemlichen  Unabhängigkeit^  scheinen  aber  doch 
die  israelitische  Oberhoheit  anerkannt  zu  haben.  Dem  Jerubbaal 
waren  auch  diese  Kanaaniten  Dank  schuldig  dafür,  daß  er  die 
midianitische  Landplage  beseitigt  hatte.  Er  stellte  sich  freundlich 
zu  ihnen  und  verschwägerte  sich  mit  einer  vornehmen  Familie  von 


Die  Ansiedluiifj  in  Palästina.  45 

.Sichern.  Als  er  nun  starb,  war  für  die  Nachfolge  in  der  Herrschaft 
nicht  gesorgt,  alle  seine  Söhne  traten  in  das  Erbe  ein.  Diese  Un- 
ordnung kam  dem  Abimelech  zu  statten,  dem  tatkräftigsten  und 
rücksichtslosesten  unter  ihnen.  Seine  Mutter  war  die  Sichemitin, 
welche  Jerubbaal  geheiratet  hatte;  durch  sie  hatte  er  zu  Sichern 
Beziehungen,  die  er  sich  zu  nutze  machte.  Er  gewann  zunächst 
die  Verwandten  seiner  Mutter  und  dann  auch  die  übrigen  Siche- 
miten  für  sich,  und  sie  gaben  ihm  siebzig  Silberlinge  aus  dem 
Tempel  des  El  Berith.  Damit  warb  er  eine  Schar  loser  Leute, 
überfiel  mit  ihnen  die  nichtsahnende  Stadt  Ophra  und  machte  alle 
seine  Brüder,  die  Söhne  Jerubbaals,  nieder.  Darauf  wurde  er  bei 
der  Eiche  der  Masseba  in  Sichern  zum  Könige  gesalbt. 

So  brachte  er  die  Herrschaft  in  seine  Gewalt,  mit  siebzig 
Silberlingen  und  einer  Hand  voll  Abenteurer.  Er  ward  ihrer  aber 
nicht  froh.  Das  Einvernehmen  zwischen  ihm  und  den  Sichemiten 
hielt  nicht  lange  vor.  Obwol  sie  ihm  nichts,  er  ihnen  viel  ver- 
dankte, hatten  sie  an  ihm  doch  einen  härteren  Herrn  als  an  sei- 
nem Vater,  und  es  konnte  sie  nicht  trösten,  daß  er  von  ihrem 
Fleisch  und  Blut  war,  denn  er  fühlte  sich  trotzdem  als  Israelit 
und  die  iMänner  von  Israel  waren  seine  Krieger.  Olfenen  Abfall 
wagten  sie  indessen  vorerst  nicht,  sie  begannen  nur  eine  versteckte 
Fehde,  indem  sie  durch  Wegelagern  die  Straßen  unsicher  machten. 
Dadurch  angelockt  kam  nun  ein  Parteigänger,  Goal  ben  Ebed,  mit 
seiner  Schar  in  die  Stadt  und  ward  mit  offenen  Armen  von  den 
Bürgern  aufgenommen;  sie  konnten  ihn  gebrauchen  und  verließen 
sich  auf  ihn.  Der  Mut  schwoll  ihnen ,  und  als  beim  Feste  der 
Weinlese  im  Heiligtum  ihre  Köpfe  erhitzt  waren,  fielen  große 
Worte;  sie  aßen  und  tranken  und  fluchten  dem  Abimelech.  Goal 
bestärkte  sie  darin,  er  aber  schalt  auch  auf  den  Obersten  der 
Stadt,  den  mit  anwesenden  Zebul,  der  ja  doch  nur  ein  Statthalter 
Abimelechs  sei  und  kein  Herz  für  die  gemeine  Sache  habe.  „AVäre 
ich  an  seiner  Stelle,  so  würde  ich  dem  Abimelech  aufkündigen 
und  ihm  sagen:  mehre  dein  Heer  und  rück  an!"  So  sagte  Goal, 
um  Zcbul  zu  verdrängen  und  selbst  an  die  Spitze  der  Bürgerschaft 
zu  gelangen;  er  schimpfte  ihn  einen  Diener  Abimelechs,  um  seine 
Gesinnung  zu  verdächtigen.  Bisher  hatte  Zebul  mit  der  Bewegung 
sympathisirt,  obgleich  er  es  nicht  zu  offenem  Abfall  hatte  kommen 
lassen.  Da  er  nun  aber  sah,  daß  ein  anderer  durch  den  Aufstand 
emporgetragen  wurde  und  ihn  in  seiner  Stellung  bedrohte,  änderte 


4(i  Drittes  Kapitel. 

er  seinen  Kurs  und  traf  Maßnahmen  um  Goal  los  zu  werden. 
Er  machte  Abimelech,  der  nicht  weit  von  Sichern  in  Beth-Ruma ') 
wohnte,  heimlich  auf  sein  Treiben  aufmerksam  und  riet  ihm,  un- 
vermutet vor  der  Stadt  zu  erscheinen.  Abimelech  kam;  Goal, 
durch  Zebul  bei  seinen  großen  Worten  und  bei  der  Ehre  gegriffen, 
rückte  ihm  Schanden  halber  entgegen,  ließ  sich  aber  alsbald  in 
die  Stadt  zurückschlagen.  Da  hatte  er  ausgespielt,  noch  selbiges 
Tages  vertrieben  ihn  die  Sichemiten,  nachdem  unter  diesen  Um- 
ständen Zebul,  seiner  Rechnung  gemäß,  wieder  Oberwasser  erlangt 
hatte.  Damit  glaubten  sie  zugleich  den  Zorn  Abimelechs  gesühnt 
und  das  alte  Verhältnis  zu  ihm  hergestellt  zu  haben,  und  da  er 
sich  wieder  nach  Beth-Ruma  zurückzog,  so  gingen  sie  am  folgenden 
Tage  sorglos  hinaus  auf  das  Feld  an  ihre  Arbeit.  Abimelech  aber  war 
von  Anfang  an  über  die  Vorgänge  in  Sichem  wol  unterrichtet  ge- 
wiesen, er  wußte  wie  er  mit  Zebul  und  den  Übrigen  daran  war, 
und  ließ  sich  nicht  dadurch  täuschen,  daß  sie  alle  Schuld  auf  Goal 
zu  wälzen  suchten.  Als  ihm  von  ihrem  sorglosen  Gebaren  Meldung 
gemacht  wurde,  überfiel  er  unversehens  die  Stadt  und  eroberte  sie 
nach  hartem  Kampfe.  Dann  zerstörte  er  sie  bis  auf  den  Grund 
und  säte  Salz  auf  ihre  Stätte.  Nicht  besser  erging  es  der  Akropolis, 
die  am  Berge  Salmon  lag.  Die  Einwohner  hatten  sich  in  eine 
Krypta-),  die  zum  Heiligtum  des  El  Berith  gehörte,  geflüchtet; 
Abimelech  aber  ließ  Feuer  davor  anzünden,  und  alle  Flüchtlinge, 
gegen  tausend,  kamen  um.  Darauf  wandte  er  sich  gegen  die  süd- 
östlich von  Sichem  belegene  Stadt  Thebes,  die  sich  dem  Abfall 
angeschlossen  haben  muß.  Er  nahm  sie  ohne  Mühe  ein,  aber  die 
Einwohner  retteten  sich  in  die  Burg,  die  hier  mitten  in  der  Stadt 
lag.  Als  nun  Abimelech  Anstalt  machte  auch  diese  Burg  in  Brand 
zu  setzen,  warf  ein  Weib  einen  Stein  von  oben  herab,  der  ihn  auf 
den  Kopf  traf.  Da  befahl  er  seinem  WalYenträger  ihm  den  Todes- 
streich zu   versetzen,    damit  es  nicht   heiße,    ein   Weib  habe  ihn 


')  In  Jud.  9,  31  ist  die  Ansspraclie  b'thonna  iinriclitig;  das  Betli  kann 
nicht  Piäpositiou  sein,  sondern  mnß  zum  Stamm  gehuren.  Es  liegt  der  Eigen- 
name eines  Ortes  vor,  des  gleichen,  der  in  v.  41  erwähnt  wird,  also  wol 
Beth-Ruma.  Das  erste  Wort  von  v.  41  ist  vajaschob  (er  kehrte  zurück) 
zu  sprechen. 

-)  Zeitschrift  für  Assyriologie  189G  p.  322.  Richtig  schon  Renan  in  der 
Histoire  du  peuple  Isr.  1,333:  hypogee. 


Die  Ansiedlung  in  Palästina.  47 

umgebracht.  Als  aber  die  IMänner  von  Israel  sahen,  daß  Abimelech 
tot  war,  gingen  sie  ihrer  Wege. 

Er  starb  wie  Pyrrhus,  sonst  erinnert  er  an  Jehu.  Ebenso  wie 
dieser  hat  er  großen  Eindruck  gemacht  und  einen  Erzähler  ge- 
funden, der  Sinn  für  die  Energie  des  Bösen  besaß.  Es  war  eine 
Figur  aus  dem  Holz,  aus  dem  Könige  geschnitzt  werden  können. 
Er  hatte  aber  die  Züge  des  Bastards:  ganz  auf  eigene  Kraft  gestellt, 
ohne  Pietät,  feindlich  gegen  sein  Geschlecht.  Der  einzige  dauernde 
und  wichtige  Erfolg  seiner  Tätigkeit  war  die  Demütigung  der 
Kanaaniten  in  der  Mitte  des  israelitischen  Landes.  Sichern  wurde 
als  kanaanitische  Stadt  zerstört  und  als  israelitische  wieder  auf- 
gebaut. Das  Salz  hatte  keine  AVirkung,  sehr  I)ald  gewann  der 
äußerst  günstig  gelegene  Ort  seine  frühere  Bedeutung  wieder,  und 
nach  dem  Falle  Silos  wurde  er  der  Alittelpunkt  von  Ephraim. 
Im  Üln'igen  fiel  mit  dem  Könige  auch  das  Königtum.  Ein  sehr 
minderwertiger  Ersatz  dafür  war  die  politische  Hegemonie,  welche 
die  Priester  bei  der  Lade  Jahves  in  Silo  eine  AVeile  über  den 
Stamm  Joseph  ausgeübt  zu  haben  scheinen.  Die  Erinnerung 
daran  knüpft  sich  an  Eli,  einen  Nachkommen  des  alten  Priesters 
Phinehas'). 

3.  Der  wichtigste  Vorgang  der  Richterperiode  ging  im  all- 
gemeinen ziemlich  geräuschlos  vor  sich,  nämlich  die  Verschmelzung 
der  neuen  Bevölkerung  des  Landes  mit  der  alten.  Die  Israeliten 
der  Königszeit  hatten  eine  sehr  starke  Beimischung  kanaanitischen 
Blutes,  sie  waren  keineswegs  reine  Abkömmlinge  derer,  die  einst 
aus  Ägypten  gezogen  und  in  der  Wüste  gewandert  waren.  An 
eine  Ausrottung  der  sämtlichen  Ureinwohner  zu  denken,  verbietet 
schon  die  Art  und  Weise  der  Eroljerung.  Von  größeren  Städten, 
welche  unbezwungen  blie1)en,  ist  uns  ein  ziemliches  Verzeichnis 
erhalten,    welches    gleichwol    ganz    lückenhaft   ist    und    sogar    aus 


-)  Er  ist  der  Erlie  von  dessen  Priestertum  und  hat  auch  seinen  Sohn 
nach  ihm  genannt,  der  merkwürdige  Familiennnarae  würde  allein  genügen,  um 
die  Yerwandlschaft  zu  beweisen;  vgl.  Prolegomena  p.  138.  Verwunderung  muß 
es  erregen,  daß  Elis  ücrkuuft  nicht  angegeben  wird,  nicht  einmal  sein  Vater. 
Es  erklärt  sich  indessen  daraus,  daß  der  Anfang  seiner  Geschichte  aligeschnittten 
ist;  s.  meine  Bemerkung  zu  1  Sam.  1,3.  —  Die  Gründe,  warum  Jephtah  und 
Simson  nicht  in  eine  historische  Darstellung  gehören,  sind  in  der  Komposition 
des  Hexateuchs  1899  p.  22oss.  entwickelt.  Über  Jud.  19— 21  vgl.  Komposition 
]).  ■229  SS.  und  Prolegom.  p.  23Gs. 


48  Drittes  Kapitel. 

unserer  doch  so  ärmlichen  Kunde  sich  vervollständigen  läßt.  Erst 
im  Laufe  von  zwei  drei  Jahrhunderten  wurden  diese  Städte  eine 
nach  der  anderen  unterworfen;  unter  den  ersten  Königen  waren 
immer  noch  etliche  übrig.  In  einigen  Fällen  wurde  dann  wol  der 
Bann,  die  Devotio,  vollstreckt  und  alles  zur  Ehre  Jahves  getötet 
und  verbrannt;  oder  wenigstens  die  Bürgerschaft  niedergemacht 
und  die  Stadt  neu  besiedelt,  wie  wir  es  bei  Sichem  gesehen 
haben  ').  Al)er  in  anderen  vollzog  sich  der  Übergang  in  israeli- 
tische Herrschaft  nicht  so  gewaltsam;  manche  Städte  werden  kapi- 
tulirt  haben,  dem  Beispiel  folgend,  das  zuerst  Gibeon  gegeben 
haben  soll.  Dann  wurde  die  Bürgerschaft  nicht  ausgetrieben,  sie 
mußte  nur  die  Tore  offnen  und  vor  allen  Dingen  Tribut  entrichten. 
So  geschah  es  bei  den  Städten  der  Ebene  Jezreel.  „Manasse  ließ 
uneingenommen  Bethsean  nebst  Töchtern,  und  Thaanach  nebst 
Töchtern,  und  Jibleam  nebst  Töchtern;  als  aber  Israel  stark  wurde, 
machte  es  den  Kanaaniten  zinsbar,  trieb  ihn  jedoch  nicht  aus  dem 
Besitze."  Übrigens  wurden  diese  Städte  vielfach  nicht  von  den- 
jenigen Stämmen  unterworfen,  in  deren  Gebiet  sie  lagen,  sondern 
von  anderen  mächtigeren,  so  daß  die  Staramgrenzen  stellenweise 
kraus  durcheinander  gingen. 

Aber  auch  in  den  Landesteilen,  in  deren  vollen  Besitz  sie 
früh  gelangten,  ließen  die  Eroberer  die  alten  Insassen  großenteils 
ruhig  unter  sich  wohnen.  „Nicht  in  einem  Jahre  will  ich  sie  ver- 
treiben, sagt  Jahve  Exod.  23,  damit  nicht  das  Land  eine  Wüste 
werde  und  das  Wild  des  Feldes  dir  über  den  Kopf  wachse,  ganz 
bei  kleinem  will  ich  sie  dir  fortschaffen,  bis  du  dich  mehrest  und 
das  Land  in  Besitz  nehmen  kannst."  Was  hiernach  Jahve  selbst 
gewollt  und  geordnet  hat,  wird  freilich  von  der  späteren  Über- 
lieferung als  ein  schlimmer  ITngehorsam  gegen  seine  Befehle  be- 
trachtet; aber  auch  damit  wird  doch  eben  anerkannt,  daß  das 
angebliche  Ausrottungsdokret  nie  vollzogen  worden  ist.  Durch  die 
Bevölkerung  des  platten  Landes  empfingen  die  Einwanderer  den 
beträchtlichsten  Zuwachs,  und  zwar  gleich  in  der  ersten  Zeit  ihrer 
Niederlassung.  Die  Fellahen  waren  leicht  zu  gehorsamen  LTnter- 
tanen  zu  machen,  sie  waren  wol  schon  vorher  hörig  gewesen  und 
standen   ihren   neuen  Herren  in  den  Lcbenscowohnheiten   vielleicht 


')  Die  Erobening  Sii'liems  mit  Scliwert   und  Rogen  erscheint  Gen.  48,  22 
als  Ausualiine. 


Die  Ansiedliuig  in  Palästina.  49 

näher,  als  ihren  eigenen  Landsleuten  in  den  Städten.  Natürlich 
ging  der  Assimilirungsprozeß  in  den  kleinsten  Kreisen  vor  sich, 
die  beiden  verschiedenartigen  Hälften  standen  sich  dabei  nicht 
kompakt  gegenüber.  Für  die  Hebräer  war  es  ein  Glück,  daß  sie 
zuerst  grade  dies  Element  in  sich  aufzunehmen  hatten,  dessen  sie 
auch  geistig  Herr  werden  konnten,  und  daß  dann  die  Städte,  die 
ihnen  in  mancher  Hinsicht  überlegen  und  jedenfalls  weit  schwerer 
verdaulich  waren,  erst  nach  und  nach  hinzutraten,  „als  Israel  stark 
geworden."  Späterhin  ward  nur  auf  die  Städter,  die  sich  noch 
so  lange  ihre  Nationalität  erhalten  hatten,  der  Name  Kanaaniten 
angewandt,  mit  dem  Nebenbegriff  des  Händlers,  während  die 
l)auern  von  ihnen  unterschieden  und  garnicht  nach  ihrer  Nationa- 
lität, sondern  nach  ihrem  Stande  bezeichnet  wurden,  als  Phereziten 
d.  h.  Dörfler.  Freilich  verschwand  das  Bewußtsein  nicht,  daß 
auch  die  Dörfler  eigentlich  zu  Kanaan  gehört  hatten.  Bhjß  in 
den  nördlichen  Marken,  wo  die  Ureinwohner  in  starken  Massen 
sitzen  geblieben  waren,  polarisirten  sich  die  Gegensätze,  und  es 
kam  zu  keiner  rechten  Überwindung  des  einen  Elements  durch  das 
andere. 

Als  die  Israeliten  im  Lande  Gosen  und  in  der  Wüste  von 
Kades  Platz  fanden  und  auch  noch  als  sie  im  Lande  Moab  nörd- 
lich vom  Arnon  wohnten,  können  sie  kein  zahlreiches  Volk  gewesen 
sein.  Im  Deboraliede  werden  die  waffenfähigen  Männer  auf  vierzig- 
tausend veranschlagt,  wobei  die  Absicht  ist  eine  möglichst  hohe 
Zahl  zu  nennen:  unter  einer  solchen  Menge  habe  sich  kein  Wider- 
stand gegen  die  Bedrücker  erhoben.  Der  Stamm  Dan  zählte  bei 
seiner  Wanderung  nach  dem  Norden  sechshundert  Krieger;  er  mag 
allerdings  durch  die  vorhergehenden  Kämpfe  mit  den  Philistern 
etwas  zusammengeschwunden  sein.  Große  Verwunderung  hat  bei 
den  Späteren  die  Handvoll  Leute  erregt,  womit  Jerubbaal  zur  Ver- 
folgung der  iMidianiter  auszog;  sie  versuchen  die  dreihundert  Mann 
als  letzten  Rest  zu  begreifen,  auf  den  sein  ursprünglich  weit  größeres 
Heer  herabgeschmolzen  sei.  In  auffallendem  Kontrast  zu  diesen 
Angaben  aus  der  Richterperiode  stehn  diejenigen  aus  der  Zeit  der 
Könige,  die  im  Pentateuch  einen  verfrühten  Widerhall  gefunden 
haben.  Hier  begegnen  wir  immer  sehr  großen  Zahlen,  der  übliche 
Anschlag  der  Gesamtsumme  scheint  sechshunderttausend  Streiter 
zu  sein,  die  etwa  zwei  bis  drei  Millionen  Seelen  entsprechen  würden. 
Ist    nun    gleich   auf  die  Genauigkeit    der  Zählung    durchaus    kein 

We  1 1  h  a  u  s e  n ,  Isr.  Gcscbiclito.    '>.  Aufl.  ^ 


50  Drittes  Kapitel. 

Verlaß,  so  steht  doch  die  ungewöhnlich  starke  Vermehrung  des 
Volks  seit  der  Ansiedlung  in  Palästina  außer  Zweifel.  Sie  w-ar  die 
Hauptursache,  als  solche  von  Bileam  im  Geiste  erschaut,  w^eshalb 
Jakob  seine  älteren  Brüder,  Moab,  Ammon  und  Edom,  so  sehr 
überflügelte,  denen  er  ursprüglich  an  Zahl  gleich  kam  oder  nach- 
stand. Die  Erklärung  des  Faktums  liegt  nicht  fern ;  die  einverleibten 
Kanaaniten  liefern  den  Schlüssel. 

Im  Lande  Gosen  und  in  der  Wüste  können  die  Hebräer  nur 
als  wandernde  Hirten  gelebt  haben;  es  wird  auch  ausdrücklich 
bezeugt,  daß  sie  dort  Schafe  und  Ziegen  geweidet  hätten.  Durch 
die  Eroberung  Palästinas  wurden  sie  ansässig,  binnen  kurzem  finden 
wir  sie  völlig  zu  Bauern  geworden.  Hätten  sie  die  alteingesessenen 
Landeskinder  vertilgt,  so  würden  sie  das  Land  zur  AVüste  gemacht 
und  sich  selbst  um  den  Gewinn  der  Eroberung  gebracht  haben. 
Indem  sie  sie  schonten  und  sich  selber  ihnen  gleichsam  aufpfropften, 
wuchsen  sie  zugleich  in  ihre  Kultur  hinein.  In  Häuser,  die  sie 
nicht  gebaut,  in  Felder  und  Gärten,  die  sie  nicht  urbar  gemacht 
und  angelegt  hatten,  nisteten  sie  sich  ein.  Überall  traten  sie  als 
glückliche  Erben  in  den  Genuß  der  Arbeit  ihrer  Vorgänger.  So 
vollzog  sich  bei  ihnen  eine  folgenreiche  innere  Umwandlung;  sie 
wurden  rasch  ein  sogenanntes  Kulturvolk.  Auch  in  dieser  Hinsicht 
kamen  sie  mit  einem  Schlage  ihren  Brudervölkern  voraus,  die  zwar 
viel  früher  ansässig  geworden,  aber  am  Rande  der  Wüste  haften 
geblieben  waren  und  noch   immer  mit  einem  Fuß   darin  standen. 

Diese  Veränderung  des  Lebens  zog  natürlich  auch  ihre  re- 
ligiösen Folgen  nach  sich.  Der  Kultus,  wie  ihn  die  Israeliten  in 
der  Königszeit  hatten,  bestand  sehr  wesentlich  in  der  Feier  von 
Festen,  an  denen  die  Erstlinge  oder  der  Zehnte  von  der  Ernte 
dargebracht  wurden.  Diesen  Kultus  können  sie  nicht  aus  der 
Wüste  mitgebracht  haben,  da  er  auf  den  palästinischen  Garten- 
und  Feldbau  sich  gründete.  Sie  haben  ihn  von  den  Kanaaniten 
übernommen.  Dies  ist  um  so  sicherer,  da  sie  mit  den  Wohnorten, 
den  Keltern  und  Tennen  auch  die  Heiligtümer,  die  sogenannten 
Höhen'),  von  jenen  übernahmen.  Es  war  schwer,  von  den  Stätten 
des  Gottesdienstes  die  bisher  dort  üblich  gewesenen  Einrichtungen 
und  Bräuche  abzutrennen.  Nahe  lag  es  dann  ferner,  daß  die 
Hebräer  sich  auch  den  Gott  aneigneten,  der  von  den  kanaanitischen 


0  Baum.     Es  bedeutet  ursprünglich  Höhe,  dann  Altar, 


Die  Ansiedluno-  in  Palästina.  51 

Bauern  als  der  Spender  von  Korn,  Wein  und  Ol  verehrt  wurde, 
den  Baal,  den  die  Griechen  mit  Dionysus  gleichsetzen.  Der  Abfall 
zum  Baaldienst  in  der  ersten  Generation,  welche  die  Wüste  ver- 
lassen hatte  und  zur  Landsässigkeit  übergegangen  war,  ist  durch 
die  prophetische  und  historische  Tradition  gleichmäßig  bezeugt^). 
Zuerst  gingen  ohne  Zweifel  der  Baal  als  Gott  des  Landes  Kanaan 
und  Jahve  als  Gott  des  Volkes  Israel  neben  einander  her;  im 
Deboraliede  wohnt  Jahve  noch  nicht  in  Palästina  sondern  auf  dem 
l^erge  Sinai  in  der  Wüste  und  kommt  von  dort,  wenn  es  nötig 
ist,  den  Seineu  zu  Hilfe.  Es  war  aber  auf  die  Dauer  unmöglich, 
daß  der  Landesgott  ein  anderer  sein  sollte,  als  der  Gott  des  herr- 
schenden Volkes.  In  dem  Maße,  wie  Israel  mit  dem  eroberten 
Lande  verwuchs,  verwuchsen  auch  die  Gottheiten.  Es  entstand 
dadurch  eine  gewisse  Theokrasie,  eine  Mischung  zwischen  dem 
Baal  und  Jahve,  die  noch  in  der  Zeit  des  Propheten  Hosea  nicht 
überwunden  war.  Indessen  wurden  doch  mehr  die  Funktionen  des 
Baal  auf  Jahve  übertragen  als  umgekehrt.  Kanaan  und  der  Baal 
waren  der  weibliche,  Israel  und  Jahve  der  männliche  Teil  in 
dieser  Ehe.  Auch  drang  die  Fusion  nie  so  allgemein  und  voll- 
ständig durch,  daß  nicht  das  Bewußtsein  des  Unterschiedes  sich 
erhielt  und  ab  und  zu  in  weiteren  Kreisen  lebendig  wurde.  So 
entstand  gleich  anfangs  jene  merkwürdige  Spannung  zwischen  zwei 


')  Hierein.  2,  1 — 8.  Osee  2,16s.  9,10.  Num.  25,  3:  mit  dem  Übergänge 
von  der  Wüste  iu  das  Fruchtland  beginnt  sofort  der  Abfall,  die  Gaben  des 
Dionysus  ziehen  den  Kult  des  Dionysus  nach  sich;  darum  ist  Baalpheor  für 
die  prophetische  Geschichtsbetrachtung  von  entscheidender  Bedeutung.  Baal 
ist  zunächst  Appellativ.  (Daß  häufig  ein  Ortsname  im  Genitiv  dahinter  steht, 
ist  freilich  kein  Beweis  dafür,  da  das  sich  auch  bei  göttlichen  Eigennamen 
findet;  im  Arabischen  entspricht  dem  Baal  nicht  dhu,  sondern  rabb).  Dann 
aber  wird  es,  wie  El,  auch  als  Eigenname  (z.  B.  in  .Jerubbaal)  gebraucht  für 
einen  Gott,  der  dem  griechischen  Dionysus  nah  verwandt  ist.  Von  Haus  ist 
allerdings  der  Baal  gewiß  wie  der  Pan  ein  Gott  der  fruchtbaren  Wildnis,  des 
Hains,  der  Wiese  und  des  Quells,  gewesen;  ein  Gott  der  Kultur  ist  er  erst 
hernach  geworden,  genau  so  wie  der  arabische  Dusares.  Die  dem  Baal  ziu- 
Seite  stehende  Astarte  führt  einen  richtigen,  gänzlich  undurchsichtigen  Eigen- 
namen. Es  ist  der  einzige  Eigenname  einer  großen  Gottheit,  der  allen 
Semiten  gemeinsam  ist;  er  findet  sich  bei  Babyloniern  und  Assyrern,  Kanaaniten 
und  Moabiten,  Süd-  und  Nordarabern,  und  auch  bei  den  Abessiniern  (Zeitschr. 
d.  D.  Morgcnl.  Ges.  1894  p.  377).  Den  Israeliten  wurde  die  Astarte  keine  so 
große  Gefahr  wie  der  Baal,  vielleicht,  weil  sie  als  W^eib  mit  .Jahve  nicht  kon- 
fiuidirt  werden  konnte. 

4* 


o2  Viertes  Kapitel. 

Polen,  die  den  ganzen  weiteren  Verlauf  der  israelitischen  Religions- 
geschichte beherrscht.  Siö  veränderte  freilich  mit  der  Zeit  ihren 
ursprünglichen  Charakter  sehr  stark.  Der  natürliche  Gegensatz  der 
Volksindividualitäten  vergeistigte  sich,  der  Kampf  zwischen  Jahve 
und  dem  Baal  bedeutete  schließlich  sehr  viel  mehr  als  den  Kampf 
zwischen  Israel  und  Kanaan. 

Wären  die  Israeliten  in  der  Wüste  und  in  der  Barbarei  ver- 
blieben, so  wäre  schwerlich  ihre  folgende  geschichtliche  Entwick- 
lung möglich  gewesen;  sie  wären  geworden  wie  Amalek,  oder 
höchstens  wie  Edom  Moab  und  Ammon.  Die  Aufnahme  der 
Kultur  war  ein*  unzweifelhafter  Fortschritt;  aber  ebenso  auch  eine 
unzweifelhafte  Gefahr.  Sie  brachte  eine  gewisse  Überladung  an 
Stolf  mit  sich,  der  nicht  sogleich  assimilirt  werden  konnte.  Das 
religiöse  Gemeinbewußtsein  der  Nation  drohte  durch  die  sich  auf- 
drängenden Aufgaben  des  gemeinen  Lebens  erstickt  zu  werden. 
Der  kriegerische  Bund  der  Stämme  zerfiel  unter  den  friedlichen 
Verhältnissen,  die  Ansiedlung  zerstreute  die  durch  das  Lager-  und 
Wanderleben  Geeinigten.  Der  enthusiastische  Aufschwung,  wodurch 
die  Eroberung  geglückt  war,  wich  der  trivialen  Arbeit,  wodurch 
die  einzelnen  Familien,  jede  in  ihrem  Kreise,  sich  in  die  neuen 
Verhältnisse  einbürgern  mußten.  Doch  unter  der  Asche  blieben 
die  Kohlen  glühen;  sie  zu  entfachen  war  die  Geschichte  das  Mittel. 
Sie  machte  fühlbar,  daß  der  IMensch  nicht  allein  von  Brot  und 
Wein  lebt  und  daß  es  noch  andere  Güter  gibt  als  die  Baalsgaben; 
sie  brachte  den  heroischen  Gott  der  Aufopferung  der  Person  für 
das  Ganze  wieder  zu  Ehren. 


Viertes  Kapitel. 

Die  Gründung  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Könige. 

1.  Die  Philister  weckten  Israel  und  Jahve  aus  dem  Schlummer. 
Sie  wohnten  in  der  Niederung  am  Meere,  welche  dem  Gebirge  Juda 
westlich  vorgelagert  ist.  Wie  die  Aramäer  und  Israeliten,  mit 
denen  sie  der  Prophet  Amos  zusammengestellt,  waren  sie  erst  in 
historischer  Zeit  in  das  Land  Kanaan  eingewandert.  Von  den 
unterworfenen  L^rbewohncrn  hatten  sie  Sprache  und  Religion  (Dagon, 


Die  Gründung  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Könige.  53 

Astarte)  angenommen,  jedoch  nicht  die  Beschneidung.  tTrsprünglich 
gehörten  sie  nicht  zu  der  semitischen,  sondern  wol  zu  der  Idein- 
asiatischen  Völkergruppe,  ähnlich  wie  die  herrschende  Schicht  bei 
den  Ilethiten.  Sie  scheinen  sich  selber  Kreth  genannt  zu  haben; 
so  heißen  sie  bei  dem  Propheten  Sephania  und  daher  trägt  noch 
in  späten  Zeiten  der  Ilauptgott  ihrer  wichtigsten  Stadt  den  Bei- 
namen Kretagenes  ^).  Ihr  Land  war  eine  großenteils  fruchtbare 
Niederung  und  zum  Getreidebau  wol  geeignet.  Indessen  scheinen 
sie  doch  wesentlich  ein  Stadt-  und  Handelsvolk  gewesen  zu  sein. 
Von  dem  hafenlosen  Meere  hatten  sie  zwar  keinen  Vorteil,  al)er 
desto  schwunghafter  war  der  binnenländische  Karavvanenhandcl ; 
denn  die  Völkerstraße  nach  Ägypten  lief  über  diesen  breiten 
Küstensaum.  Land  und  Volk  waren  in  fünf  Städte  eingeteilt,  Gaza 
Gath  Asdod  Askalon  Akkaron,  von  denen  nur  Gath  landeinwärts 
und  abseit  der  Straße  lag.  Diese  Städte  waren  der  Sitz  der  Herr- 
schaft und  der  herrschenden  Bevölkerung,  an  der  Spitze  einer  jeden 
stand  ein  Fürst,  und  die  fünf  Fürsten  waren  zu  einem  Bunde  ver- 
einigt. Durch  ihr  städtisches  Wesen,  ihre  politische  Organisation 
und  militärische  Disziplin  zeichneten  sich  die  Philister  vor  den 
Israeliten  aus. 

Man  meint  gewöhnlich,  die  Philister  hätten  zunächst  ihr  Hinter- 
land Juda  angegriffen  und  bezwungen;  aber  die  Trennung  Judas 
von  Israel,  die  man  auf  diese  Weise  zu  erklären  sucht,  bestand 
schon  früher  und  hatte  tiefer  liegende  Ursachen.  Sie  drängten 
vielmehr  nach  Norden  in  die  Ebene  Saron  und  erst  von  da  nach 
Osten.  Das  war  die  natürliche  Fortsetzung  ihres  Landes  und  da 
ging  die  große  Straße,  auf  deren  Besitz  es  ihnen  vielleicht  am 
meisten  ankam:  durch  die  El)ene  Jezreel  und  das  Jarmuktal  nach 
Damaskus  und  an  den  Euphrat.  Nachdem  sie  die  Daniten,  die 
ihnen  mannhaften  Widerstand  entgegensetzten  aber  gegen  ihre 
Überzahl  nichts  ausrichten  konnten,  aus  dieser  Gegend  vertrieben 
hatten,  trafen  sie  auf  den  Stamm  Joseph,  die  Vormacht  von  Israel. 


1)  Schwerlich  reicht  der  Mythus  von  Zeus'  Geburt  in  Kreta  zur  Erklärung 
dafür  aus,  daß  grade  der  Ilauptgott  der  Philister  in  Gaza  so  genannt  wurde, 
der  ursprünglich  Dagon  (Jud.  Iß,  21 — 30),  später  Marna  (aramäisch  =  unser 
Herrj  hieß.  Vgl.  Soph.  2,  5.  1.  Sani.  30,  14.  Ezech.  25,  16.  Gewill  mit  Recht 
werden  auch  die  Krethi  und  Phlethi  mit  den  Philistern  zusammengebracht. 
Weil  die  Philister  Kreth  heißen,  hat  man  die  Insel  Kaphthor,  woher  sie  nach 
dem  A.  T.  gekommen  sind,  für  Kreta  erklärt. 


54r  Viertes  Kapitel. 

Es  kam  zu  einer  Schlacht  bei  Aphek,  einem  strategisch  wichtigen 
Orte  der  Ebene  Saron  am  Eingang  des  Passes  von  Dothan,  durch 
welchen  der  Weg  zur  Ebene  Jezreel  führt").  Eine  erste  Schlappe, 
welche  die  Israeliten  erlitten,  schrieben  sie  dem  Umstände  zu,  daß 
Jahve  nicht  in  ihrem  Lager  sei.  Also  ward  die  heilige  Lade  von 
Silo  herbeigeholt,  die  beiden  Söhne  des  Priesters  Eli,  Hophni  und 
Phinehas,  begleiteten  sie.  Dann  ward  der  Kampf  erneuert,  aber 
nicht  mit  besserem  Erfolge.  Die  Israeliten  wurden  auf  das  Haupt 
geschlagen,  die  Lade  geriet  in  die  Hände  der  Philister,  ihre  beiden 
Träger  fielen.  Als  der  alte  Eli  nach  bangem  Warten  den  Ausgang 
der  Schlacht  erfuhr,  daß  Jahve  eine  Beute  der  Feinde  geworden 
sei,  fiel  er  rücklings  von  seinem  Stuhl  und  brach  den  Hals.  Er 
erlebte  den  Trost  nicht  mehr,  daß  auch  Dagon  den  Hals  brach, 
als  er  niederfiel,  um  dem  gefangenen  Jahve  zu  huldigen. 

Die  Folgen  dieser  Niederlage  waren  verhängnisvoll,  die  Macht 
Josephs  wurde  gebrochen.  Die  Philister  wußten  ihren  Sieg  aus- 
zunutzen, sie  unterwarfen  sich  nicht  bloß  die  Ebene  Jezreel  und 
die  südlich  daraustoßende  Hügelregion,  sondern  auch  die  eigentliche 
Burg  des  Landes,  das  Gebirge  Ephraim.  Das  alte  Heiligtum  zu 
Silo  zerstörten  sie,  die  dortige  Priesterfamilie  flüchtete  südwärts 
und  ließ  sich  in  Nob,  im  Stamme  Benjamin,  nieder^).  Bis  über 
Benjamin  dehnten  sie  ihre  Oberherrschaft  aus,  in  Gibea  befand  sich 
ein  Vogt  der  Philister.  Aber  die  Behauptung,  sie  hätten  alle  AVaffen 
konfiszirt  und  alle  Schmiede  ausgeführt,  ist  eine  starke  Übertreibung 
—  ließen  sie  es  doch  sogar  geschehen,  daß  die  Boten  einer  be- 
lagerten ostjordanischen  Stadt  ihre  westjordanischen  Landsleute  zum 
Entsätze  aufbieten  konnten. 

Die  Scham  über  solche  Schmach  äußerte  sich  bei  den  Israeliten 
zunächst  in  einer  religiösen  Erregung,  welche  sich  der  Gemüter  be- 
mächtigte. Banden  von  ekstatischen  Schwärmern  tauchten  hie 
und  da  auf,  veranstalteten  unter  Musik  Aufzüge,  die  oft  zu  wilden 
Tänzen  wurden,  und  zogen  auch  ganz  nüchterne  Menschen  mit 
ansteckender  Gewalt  in  ihre  tollen  Kreise.  An  sich  war  die  Er- 
scheinung im  Oriente  nichts  Ungewöhnliches,   bei  den  Kanaaniten 


^)  Über  die  Lage  von  Aphek  s.  Komposition  p.  251  u.  2,  Delitzsch  Paradis 
p.  287.     Die  Philister  lagerten  in  Aphek,  die  Hebräer  in  Ebenhaezer. 
")  Komposition  p.  240;  Prolegomena  p.  250s. 


Die  Gründung  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Könige.  55 

hatte  es  diese  Nabiim  —  so  hielBen  sie  —  laugst  gegebeo,  und  sie 
erhielten  sich  dort  iu  alter  Weise,  nachdem  sie  in  Israel  ihr  ur- 
sprüngliches Wesen  schon  gänzlich  verändert  hatten.  Das  Neue 
war,  daß  dieser  Geist  jetzt  auf  Israel  übersprang  und  die  Besten 
mit  sich  fortriß.  Auf  diese  wortlose  Weise  machte  die  dumpfe 
Aufregung  sich  Luft. 

Nicht  die  Abschaffung  des  Baalsdienstes  war  das  Ziel  des  er- 
wachenden Eifers,  sondern  der  Kampf  gegen  die  Feinde  Jahves. 
Die  Religion  war  damals  Patriotismus.  Den  Sinn  des  Geistes  ver- 
stand ein  Greis,  der  zu  Rama  im  südwestlichen  Ephraim  wohnte, 
Samuel  beu  Elkana,  der  patriotische  Prophet  in  Sonderheit.  Er 
gehörte  nicht  selber  zu  den  Nabiim,  sondern  war  ein  Seher  vom 
alten  Schlage,  wie  es  sie  seit  jeher  bei  den  Hebräern  ähnlich  wie 
bei  den  Griechen  oder  den  Arabern  gegeben  hatte ').  Durch  seine 
Sehergabe  zu  großem  Ansehen  gelangt,  beschäftigte  er  sich  auch 
noch  mit  anderen  Fragen  als  solchen,  deren  Beantwortung  ihm  die 
l^eute  mit  Gelde  lohnten.  Die  Not  seines  Volkes  ging  ihm  zu  Herzen, 
die  Nachbarvölker  lehrten  ihn  das  Heil  in  der  Zusammenfassung 
der  Stämme  und  Geschlechter  zu  einem  Reiche  erkennen.  Aber 
sein  eigentliches  Verdienst  war  nicht  die  Entdeckung  dessen  was 
Not  war,  sondern  des  Mannes,  der  der  Not  abhelfen  konnte.  Er 
hatte  einen  Benjaminiteu  kennen  gelernt  aus  der  Stadt  Gibea,  Saul 
ben  Kis,  einen  Mann  von  riesiger  Gestalt  und  von  raschem  en- 
thusiastischem Wesen.  Dem  sagte  er,  er  sei  zum  König  von  Israel 
bestimmt. 

2.  Gar  bald  hatte  Saul  Gelegenheit  zu  zeigen,  ob  Samuel 
recht  gesehen  hatte.  Die  Stadt  Jabes  in  Gilead  wurde  von  den 
Ammoniten  belagert,  und  ihre  Bürger  erklärten  zieh  zur  Übergabe 
bereit,  falls  sie  binnen  einer  kurzen  Frist  keine  Hilfe  bei  ihren 
Volksgenossen  finden  würden.  Ihre  Boten  gingen  durch  ganz  Israel, 
ohne  mehr  als  Mitleid  zu  linden;  bis  Saul  von  der  Sache  hörte, 
als  er  eben  mit  einem  Joch  Rinder  vom  Felde  kam.  Er  zerstückte 
seine  Rinder,  ließ  die  Stücke  überall  hinsenden  und  dazu  sagen: 
also  solle  den  Rindern  eines  jeden  geschehen,  der  nicht  mit  aus- 


')  Der  Verfasser  von  1  Sam.  9.  10  unterscheidet  den  singularischen  Seher 
Samuel  sehr  deutlich  von  den  pluralischen  Nabiim,  die  er  ebenfalls  kennt  und 
erwähnt.  Die  Glosse  1  Sam.  9,  9  ist  nur  halb  richtig,  und  1  Sam.  19,  10 — 24 
kann  gegen  10,  11  nicht  aufkommen. 


56  Yiertes  Kapitel. 

ziehe  zum  Entsätze  von  Jabes.  Das  Volk  gehorchte,  ehies  Morgens 
überfielen  sie  die  Ammoniten  und  befreiten  die  belagerte  Stadt'). 
Darauf  aber  ließen  sie  den  Saul  nicht  wieder  los,  nachdem  sie 
in  ihm  ihren  Mann  gefunden  hatten.  In  Gilgal,  der  alten  Lager- 
stätte Josuas,  salbten  sie  ihn  zum  Könige.  Samuel  war  nicht  da- 
bei, aljer  das  Wort,  das  er  dem  Saul  ins  Ohr  gesagt  hatte,  hatte 
gewirkt;  die  Stimme  Jahves  hatte  sich  bewahrheitet  und  wurde 
durch  die  Stimme  des  Volkes  bestätigt.  Aus  freier  Notwendigkeit 
war  das  Königtum  erwachsen.  Seine  Ausstattung  bestand  in  der 
niicht,  den  Kampf  gegen  die  Philister  aufzunehmen  und  zu  führen. 
Saul  machte  sich  an  die  Aufgabe,  indem  er  nach  Hause  ging  und 
in  seiner  Stadt  Gibea  die  Seinen  um  sich  scharte.  Das  Zeichen 
zum  Losbruch  gab  sein  Sohn  Jonathan,  indem  er  den  Vogt  der 
Philister  zu  Gibea  erschlug.  Infolge  dessen  rückten  diese  nun  gegen 
den  Herd  des  Aufstandes  vor  und  machten  nördlich  gegenüber 
von  Gibea  Halt,  nur  durch  die  Schlucht  von  Michmas  von  dem 
Orte  getrennt.  Saul  hatte  nur  einige  hundert  Benjaminiten  zur 
Verfügung.  Eine  verwegene  Heldentat  eröffnete  den  Kampf.  Wäh- 
rend die  Philister  sich  raubend  über  das  Land  verbreiteten,  über- 
fiel Jonathan,  allein  mit  seinem  Waffenträger  und  ohne  Wissen 
seines  Vaters,  den  schwachen  Posten,  den  sie  am  Paß  von  Michmas 
zurückgelassen  hatten.  Nachdem  er  die  ersten  überrascht  und 
niedergemacht  hatte,  flohen  die  anderen,  wol  in  dem  Glauben,  es 
kämen  noch  mehrere  Angreifer  hinter  den  zweien  her.  Sie  trugen 
den  Schrecken  in  das  verlassene  Lager,  von  da  verbreitete  er  sich 
über  die  Streifscharen.  Gegenüber  in  Gibea  bemerkte  man  die 
Unruhe,  und  ohne  den  Bescheid  des  priesterlichen  Orakels  abzu- 
warten, beschloß  König  Saul  den  Angriff  auf  das  feindliche  Lager. 
Er  gelang  vollkommen,  die  Philister  hielten  nicht  stand.  Damit 
nun  die  Seinen  sich  nicht  an  die  Vorräte  im  Lager  machten  und 
derweil  die  Feinde  laufen  ließen,  setzte  Saul  einen  Fluch  darauf, 
wenn  jemand   vor  Abend   einen   Bissen  in  den  Mund  stecke.     Er 


')  1  Sam.  11  ist  der  Kern  der  älteren  Version;  vgl.  Prolegomcna  p.  254ss. 
Ganz  so  poetisch  kann  sich  die  Sache  iu  Wirklichkeit  nicht  zugetragen  haben, 
aber  die  Erzählung  verträgt  keine  Pragmatisirung  und  muß  belassen  werden, 
wie  sie  ist.  Saul  war  vielleicht  der  Führer  von  Benjamin,  als  er  Jabes  ent- 
setzte, und  zog  durch  diese  Tat  dann  die  Aufmerksamkeit  von  ganz  Israel 
auf  sich. 


Die  Grüuduug  des  Kelches  und  die  drei  ersten  Könige.  57 

erreichte  aber  seine  Alisiclit  nicht,  der  Hunger  entkräftete  die  Leute 
und  machte  ihnen  die  Verfolgung  unmöglich.  Nach  Sonnenunter- 
gang ßelen  sie  gierig  über  das  erbeutete  Vieh  her  und  verschlangen 
das  Fleisch,  ohne  auch  nur  das  Blut  dem  Jahve  ausgegossen  zu 
haben.  Solchem  Frevel  zu  steuern,  errichtete  Saul  einen  großen 
Stein  als  Altar  und  befahl,  sie  sollten  alle  dort  schlachten  und 
essen.  Als  sie  sich  nun  erholt  hatten,  gedachte  er,  mitten  in  der 
Nacht  die  Verfolgung  wieder  aufzunehmen.  Aber  der  Priester  von 
Nob,  den  er  bei  sich  hatte,  wollte  erst  das  Ephod  befragt  wissen. 
Jahve  gab  keine  Antwort  —  ein  Zeichen,  daß  eine  Schuld  begangen 
war.  Das  heilige  Los  brachte  den  Schuldigen  heraus;  Jonathan 
hatte  sich  unbewußt  gegen  den  Fluch  seines  Vaters  vergangen  und 
noch  vor  der  erlaubten  Frist  etwas  Honig  gegessen.  Er  war  dem 
Tode  verfallen,  aber  das  Volk  löste  ihn  durch  einen  stellvertretenden 
Ersatz ').  In  dieser  seltsamen,  für  die  antike  Art  höchst  bezeich- 
nenden Weise  endete  der  glänzend  begonnene  Tag. 

Saul  war  kein  schüchterner  Jüngling,  als  er  auf  den  Thron 
kam;  schon  damals  stand  ihm  ein  erwachsener  Sohn  zur  Seite.  Er 
war  auch  nicht  von  geringem  Herkommen,  sein  Geschlecht  war 
ausgebreitet  und  sein  Erbgut  beträchtlich  ■).  Seine  Wirtschaft  in 
Gibea  blieb  die  Grundlage  seiner  Herrschaft;  unter  einer  hoch- 
gelegenen Tamariske  daselbst,  auf  seine  Lanze  gestützt,  erteilte  er 
Audienz  und  hielt  Rat  mit  den  Seinen.  Die  Männer,  auf  die  er 
zählen  konnte,  waren  seine  benjaminitischen  Verwandten.  Andere 
öifentliche  Aufgaben  als  den  Krieg  kannte  er  nicht,  die  inneren 
Verhältnisse  ließ  er  wie  er  sie  gefunden  hatte,  er  regierte  auch 
wol  nicht  lange  genug,  um  wirksam  in  sie  eingreifen  zu  können. 
Der  Krieg  war  die  Aufgabe  und  zugleich  die  Hilfsquelle  des  jungen 
Königtums.  Gegen  die  Philister  wurde  er  beständig  fortgesetzt, 
wenn  auch  für  gewöhnlich  nicht  im  großen  Stil,  sondern  nur  als 
Grenzfehde.  Aber  noch  andere  Feinde  mußten  bekämpft  werden; 
so  die  Amalekiten  auf  der  Sinaihalbinsel,  die  wie  einst  die  Midia- 
niten  die  Schwäche  Israels  zu  räuberischen  Einfällen  benutzten. 
Saul  brachte  ihnen  eine  schwere  Niederlage  bei  und  fing  ihren 
König  Agag  lebendig,  der  dann  bei  dem  Siegesfest  in  Gilgal  dem 
Jahve  als  Opfer  geschlachtet  wurde. 


»)  Miiidani  Arab.  Prov.  14,  10. 
-)  2  Sam.  9,  9  SS. 


58  Viertes  Kapitel. 

Es  ist  nicht  olme  Bedeutung,  daß  die  kriegerische  Erhebung 
der  Nation  von  Benjamin  ausging.  Durch  die  Schlacht  von  Aphek 
hatte  Ephraim  die  Hegemonie  zugleich  mit  ihren  Symbolen  ver- 
loren. Der  Schwerpunkt  Israels  verlegte  sich  für  eine  Weile  weiter 
nach  dem  Süden  zu,  und  Benjamin  wurde  das  Mittelglied  zwischen 
Ephraim  und  Juda.  Es  scheint,  daß  dort  die  Herrschaft  der  Philister 
nicht  so  drückend  war.  Ihre  Angriffe  erfolgten  nie  über  Juda, 
sondern  immer  von  Norden  aus;  dagegen  llüchtete  man  vor  ihnen 
nach  Süden,  wie  das  Beispiel  der  silonitischen  Priester  zeigt.  Durch 
Saul  trat  Juda  positiv  in  die  Geschichte  Israels  ein,  es  gehörte  zu 
seinem  Reich  und  gerade  dort  hatte  er  tatkräftige  und  treue 
Anhänger.  Seinen  Zug  gegen  Amalek  hat  er  zu  gunsten  Judas 
unternommen,  denn  nur  Juda  konnte  von  diesen  Räubern  zu 
leiden  haben. 

Unter  den  Judäern,  welche  der  Krieg  nach  Gibea  führte,  tat 
sich  David  ben  Isai  aus  Bethlehem  hervor;  durch  sein  Saitenspiel 
kam  er  in  nähere  Verbindung  mit  dem  Könige.  Er  wurde  sein 
Waffenträger,  weiterhin  der  vertrauteste  Freund  seines  Sohnes, 
endlich  der  Gemahl  seiner  Tochter,  Wie  aber  dieser  Mann  den 
Hof  bezauberte,  so  wurde  er  auch  der  erklärte  Liebling  des  Volkes, 
zumal  ihn  beispielloses  Glück  in  allem  was  er  unternahm  beglei- 
tete. Das  erregte  die  Eifersucht  Sauls,  wie  es  sich  kaum  anders 
erwarten  läßt,  in  einer  Zeit,  wo  der  König  notwendig  auch  der 
beste  Mann  sein  mußte.  Ein  erster  Ausbruch  ließ  sich  als  Anfall 
einer  Krankheit  erklären,  aber  bald  blieb  kein  Zweifel,  daß  sich 
die  Liebe  des  König  zu  seinem  Eidam  in  tiefen  Haß  verwandelt 
hatte.  Jonathan  warnte  den  Freund  und  ermöglichte  ihm  die 
Flucht,  die  Priester  von  Nob  versorgten  ihn  mit  Waffen  und  Zeh- 
rung. Er  ging  in  die  Wüste  von  Juda  und  wurde  der  Führer 
von  allerhand  landrtüchtigen  Leuten,  die  sein  Name  verlockte,  ein 
freies  Leben  unter  ihm  zu  führen.  Es  waren  darunter  seine  Ver- 
wandten aus  Bethlehem,  aber  auch  Philister  und  Hethiten.  Aus 
dieser  Schar,  unter  der  sich  besonders  die  Söhne  der  Seruja ')  und 
von  ihnen  wieder  der  gewaltige  Joab  ben  Seruja  auszeichneten, 
Avurde  später  die  Leibwache  Davids.     Auch  ein  Priester  war  dabei, 


0  Seruja  war  die  Tochter  des  Nahas  (von  Bethlehem?),  nicht  des  Isai, 
und  also  nicht  die  Schwester  Davids.  Man  niul.')  auf  2  Sam.  17,25  mehr  Ge- 
wiclit  legen,  als  auf  1  Chr.  2,  16. 


Die  Gründung  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Könige.  59 

Abiathar  ben  Aliimelech  ben  Ahitub  ben  Pliinehas  beii  Eli,  der 
einzige  aus  dem  Blutbade  entronnene,  welches  Saul  unter  den 
Söhnen  Elis  zu  Nob  angerichtet  hatte,  weil  sie  nach  seiner  Meinung  ' 
mit  David  unter  einer  Decke  spielten.  Er  brachte  das  Gottesbild 
von  Nob  mit,  dadurch  hatte  David  die  Möglichkeit,  das  heilige 
Orakel  zu  befragen.  Auf  die  Dauer  indessen  konnte  er  sich  in 
Juda  vor  Sauls  Verfolgung  nicht  halten,  zumal  seine  Landsleute 
im  allgemeinen  nicht  auf  seiner  Seite  standen.  Er  tat  einen  ver- 
zweifelten Schritt  und  stellte  sich  dem  Philisterkönig  Achis  von 
Gath  zur  Verfügung.  Der  empfing  ihn  mit  offenen  Armen  und 
wies  ihm  die  Stadt  Siklag  zum  Wohnsitz  an.  Hier  trieb  er  mit 
seiner  Schar  das  alte  Wesen  weiter,  machte  Raubzüge  gegen  Amalek 
und  andere  Nomadenstämme  der  Sinaihalbinsel,  und  erhielt  gelegent- 
lich auch  Gegenbesuch  von  ihnen. 

Inzwischen  sammelten  die  Philister  wieder  einmal  ihre  Heere 
und  zogen  auf  der  gewöhnlichen  Straße  gegen  Israel.  Saul  ließ  sie 
nicht  bis  Gibea  kommen,  sondern  erwarteten  sie  in  der  El)ene 
Jezreel.  Hier  kam  es  zur  Schlacht  am  Berge  Gilboa,  die  für  ihn 
den  unglücklichsten  Ausgang  nahm.  Als  er  seine  drei  älteren 
Söhne  um  sich  her  hatte  fallen  sehen,  stürzte  er  sich  in  sein 
Schwert.  Die  Philister  schnitten  ihm  den  Kopf  ab  und  hängten 
den  Rumpf  auf  an  der  Mauer  von  Bethsean;  aber  die  Bürger  von 
Jabes  nahmen  denselben  nachts  ab,  verbrannten  ihn  und  begruben 
die  Gebeine  unter  der  Tamariske  von  Jabes.  So  erstatteten  sie 
den  Dank  für  ihre  einstige  Rettung,  die  seine  erste  Tat  gewesen  war. 

Eine  Klage  über  den  Fall  Sauls  und  Jonathans  ist  uns  erhalten 
und  damit  eine  gleichzeitige  und  authentische  Kunde  von  den  beiden. 
„  .  .  .  (Jonathan)  liegt  erschlagen  auf  deinen  Hohen,  wie  sind  die 
Helden  gefallen!  Sagt  es  nicht  an  zu  Gath,  verkündet  es  nicht  in 
den  Straßen  Askalons,  sonst  freuen  sich  die  Töchter  der  Philister, 
sonst  frohlocken  die  Töchter  der  rnbeschnittenen.  Kein  Tau  noch 
Regen  falle  auf  euch,  ihr  Berge  von  Gilboa,  wo  der  Schild  der 
Helden  im  Staube  liegt,  der  Schild  Sauls  ungesalbt  mit  Öle.  Vom 
Blut  der  Gefallenen,  vom  Fett  der  Helden,  ließ  Jonathans  Bogen 
nicht  ab,  und  Sauls  Schwert  kam  nicht  leer  zurück;  wie  die  Adler 
flogen,  wie  die  Löwen  kämpften  sie.  Ihr  Töchter  Israels,  über  Saul 
weint,  der  eure  Glieder  mit  Purpur  kleidete,  der  goldenen  Zierat 
auf  euren  Anzug  brachte.  W^ie  sind  die  Helden  im  Streit  gefallen, 
Jonathan  erschlagen  auf  deinen  Höhen!     Es  ist  mir  weh  um  dich. 


60  Viertes  Kapitel. 

mein  Bruder  Jonathan;  ich  habe  Freude  und  AVonne  an  dir  gehabt, 
deine  Liebe  war  mir  mehr  als  Frauenliebe.  Wie  sind  die  Helden 
gefallen  und  untergegangen  die  Wallen  des  Streits!" 

An  dem  hohen  Alter  des  rein  profanen  und  sehr  persönlichen 
Liedes  läßt  sich  nicht  zweifeln.  Es  ist  von  einem  nahen  Freunde 
Jonathans  und  von  einem  Poeten  verfaßt.  Beide  Eigenschaften 
vereinigten  sich  in  David.  Dessen  Autorschaft  ist  aber  angefochten 
worden,  weil  er  über  Sauls  Fall  nicht  so  hätte  fühlen  können.  Es  hat 
sich  eine  sehr  ungünstige  Vorstellung  über  ihn  im  Verhältnis  zu 
Saul  gebildet,  auf  grund  gewisser  Traditionsschichten  im  Buch 
Samuelis,  die  ihn  auf  Kosten  Sauls  herausstreichen  wollen  und  in 
Wahrheit  das  Gegenteil  erreichen. 

Das  Buch  Samuelis  heißt  nach  Samuel,  und  dieser  ist  in  der 
Tat  zwar  nicht  für  die  Geschichte  selber,  wol  aber  für  Art  und 
Stand  der  Tradition  von  solcher  Bedeutung,  daß  seine  Gestalt  als 
Gradmesser  dafür  benutzt  werden  kann.  Vier  Stufen  lassen  sich  in 
seinerAuffassuug  unterscheiden.  L^rsprü  nglich  (lSam.9,1— 10, 16) 
ist  er  ein  einfacher  Seher,  jedoch  zugleich  ein  patriotischer  Israelit, 
dem  die  Not  seines  Volkes  zu  Herzen  geht  und  der  seine  Autorität 
als  Seher  benutzt,  um  einem  Manne,  den  er  als  geeignet  erkennt, 
in  das  Ohr  und  in  den  Sinn  zu  setzen,  Jahve  habe  ihn  zum  Helfer 
und  Führer  Israels  ausersehen.  Seine  Größe  besteht  darin,  daß  er 
den  erweckt  hat,  der  nach  ihm  kommt  und  größer  ist  als  er;  er 
verlischt,  nachdem  er  das  Licht  entzündet  hat,  welches  nuü  in 
hellem  Glänze  brennt.  Sein  meteorisches  Auftauchen  und  Ver- 
schwinden hat  aber  Verwunderung  erregt  und  früh  zu  einer  Jugend- 
geschichte geführt,  wo  er  schon  als  Knabe  den  Zusammenbruch  des 
vorköniglichen  Israels  vorausschaut  (1.  Sam.  1—3).  Nachdem  er 
das  getan,  schlägt  jedoch  das  Dunkel  wieder  über  ihm  zusammen; 
schon  in  1  Sam.  4 — 6  verlieren  wir  ihn  völlig  aus  den  Augen  und 
erst  als  Greis  treffen  wir  ihn  wieder.  Auf  der  anderen  Seite  hat 
der  Umstand,  daß  er  auch  nach  der  Begegnung  mit  Saul  alsbald 
wieder  in  den  Hintergrund  zurücktritt,  der  Meinung  Vorschub 
geleistet,  daß  es  sehr  bald  zu  einem  Bruch  zwischen  den  beiden 
gekommen  sei.  Dieser  Meinung  begegnen  wir  auf  der  zweiten 
Stufe,  welche  durch  die  prophetischen  Erzählungen  1.  Sam.  15.  28 
repräsentirt  wird.  Erzeugt  ist  sie  aus  dem  Widerspruch,  daß  Jahve 
den,  den  er  zum  Könige  ersehen  hat,  dennoch  hinterher  in  seinem 
Königtum   nicht   bestätigt   und   seine  Dynastie  stürzt.     Also  muß 


Die  Gründung  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Könige.  61 

Samuel,  der  8aul  gesalbt  hat,  zu  seinem  Kummer  ihn  hinterher 
verwerfen.  Er  erscheint  dabei  schon  nicht  mehr  als  ein  einfacher 
Seher;  er  betrachtet  den  Gesalbten  Jahves  als  seine  Kreatur  und 
gibt  ihm  15,1  herrische  Befehle,  während  er  ihn  dagegen  nach 
10,7  ausdrücklich  seinen  eigenen  Inspirationen  überläßt.  Von  da 
ist  der  Schritt  zur  dritten  Stufe  nicht  groß.  Hier  überträgt 
Samuel  die  Salbung,  gleich  nachdem  er  sie  Saul  entzogen  hat,  auf 
])avid  und  setzt  ihn  als  den  nunmehrigen  König  von  Gottes  Gnaden 
dem  verworfenen  Vorgänger  entgegen.  Sein  Ansehen  hat  sich  in- 
zwischen noch  gesteigert;  wie  er  nach  Bethlehem  kommt,  zittern 
ihm  die  Ältesten  der  Stadt  entgegen.  Noch  immer  aber  gilt  er 
bisher  als  der  intellektuelle  Urheber  des  Königtums.  Erst  der 
letzten  Stufe  in  der  Entwickelung  der  Tradition  ist  es  vorbe- 
halten, ihn  umgekehrt  als  denjenigen  darzustellen,  der  dem  Ver- 
langen des  Volkes  einen  König  zu  haben,  seinerseits  aus  allen 
Kräften  widerstrebt.  Hier  ist  das  vorkonigliche  Israel  zu  einer 
Theokratie  nach  den  Begriffen  des  späteren  Judentums,  in  der  für 
einen  König  kein  Raum  ist,  geworden  und  Samuel  zu  ihrem  Haupt: 
daher  erklären  sich  seine  Empfindungen. 

Die  spätere  Phase  der  Tradition  hat  nun  modernen  Forschern 
Anlaß  gegeben,  die  dem  Königtum  feindselige  Hierokratie  in  Samuel 
verkörpert  zu  sehen.  Woher  sollte  jedoch  Samuel  seine  Macht- 
stellung gegenüber  dem  Königtum  haben?  Soll  er  sich  etwa  auf 
die  Nabiim  gestützt  haben?  Aber  diese  entstanden  damals  eben 
erst  aus  einer  formlosen  Begeisterung,  die  sich  noch  nicht  auf 
ordensmäßig  abgeschlossene  Kreise  beschränkte;  außerdem  hatte 
nach  der  alten  Überlieferung  wol  der  König,  aber  nicht  der  Seher 
Beziehungen  zu  ihnen.  Oder  konspirirte  Samuel  mit  den  Priestern 
zusammen  gegen  Saul?  Dafür  beruft  man  sich  auf  1.  Sam.  21.  22, 
wo  der  Priester  Ahimelech  von  Nob  den  flüchtigen  David  mit  Brod 
versieht  und  zur  Strafe  dafür  samt  seinem  ganzen  Geschlecht  den 
Tod  erleidet.  Aber  erstens  stehn  diese  Priester  mit  Samuel  in  keiner 
Verbindung;  zweitens  läßt  es  sich  mit  nichts  wahrscheinlich  machen, 
daß  sie  mit  David  im  Einverständnis  waren  und  von  dessen  ehr- 
geizigen Plänen  —  angenommen  er  habe  sie  schon  damals  gehabt 
—  etwas  wußten;  drittens  steht  umgekehrt  das  fest,  daß  sie  dem 
Könige  gegenüber  gar  keine  Macht  besaßen,  vielmehr  auf  Gnade  und 
Ungnade  von  ihm  abhingen  und  auf  einen  leisen  Verdacht  hin 
sämtlich  hingerichtet  wurden,  ohne  daß  Hund   oder  Hahn    darnach 


132  Viertes  Kapitel. 

krähten.  Wer  die  Hierokratie  iu  diese  Zeiten  zuiückträgt  und  sie 
dem  Samuel  als  Basis  für  sein  angebliches  Auftreten  gegen  das 
Königtum  unterlegt,  der  hat  zu  einem  historischen  Verständnis  des 
hebräischen  Altertums  noch  nicht  den  Anfang  gemacht.  Dann  ist 
also  auch  das  Licht  falsch,  welches  von  da  aus  auf  das  Verhältnis 
von  Saul  und  David  fällt.  Saul  als  Bekämpfer  der  geistlichen 
Herrschsucht  zu  verehren  und  David  als  einen  ihm  von  dersell)en 
in  feindlicher  Absicht  entgegengestellten  Prästendenten  zu  verab- 
scheuen, ist  weiter  nichts  als  ein  Anachronismus.  Man  übersieht 
dabei  die  unterschiedlichen  Schichten  der  Tradition  und  folgt  in 
bezug  auf  die  Tatsachen  der  jüngsten,  freilich  nicht  in  bezug  auf 
das  Urteil.  Das  moderne  Urteil  wird  durch  Samuels  Fluch  zu 
gunsten  Sauls,  und  durch  Samuels  Segen  zu  Ungunsten  Davids  ein- 
genommen. 

o.  Die  Niederlage  Sauls  schien  das  Werk  seines  Lebens  zu 
vernichten.  Zunächst  wenigstens  gewannen  die  Philister  die  ver- 
lorene Herrschaft  über  das  westjordanische  Land  wieder.  Aber 
jenseit  des  Jordans  machte  Abner,  Sauls  Vetter  und  Feldhaupt- 
mann, dessen  noch  unmündigen  Sohn  Isbaal  zum  Könige  in  Maha- 
naim,  und  es  gelang  ihm  von  hier  aus  die  Herrschaft  des  ILnuses 
Saul  über  Jezreel  Ephraim  und  Benjamin  wieder  auszudehnen, 
natürlich  in  fortgehendem  Kampfe  mit  den  Philistern.  Nur  Juda 
gewann  er  nicht.  David  benutzte  die  Gelegenheit,  sich  hier,  mit 
Bewilligung  der  Philister  und  wol  als  ihr  Vasall,  eine  Sonder- 
herrschaft zu  begründen,  deren  Schwerpunkt  im  Süden  lag,  wo 
nicht  die  eigentlichen  Judäer,  sondern  die  Bne  Kaleb  und  Jerach- 
meel  wohnten.  Er  hatte  durch  Heiraten  mit  ihren  Edlen  Be- 
ziehungen angeknüpft,  durch  Gefälligkeiten  und  Geschenke  sie  zu 
gewinnen  gesucht.  Jetzt  zog  er  mit  seinen  sechshundert  Mann 
nach  Hebron,  um  sich  den  Altesten  anzutragen;  sie  waren  klug 
genug  ihm  zu  Willen  zu  sein,  und  salbten  ihn  zum  Könige 
über  Juda.  A^ergebens  versuchte  Abner  ihm  dies  Gebiet  streitig 
zu  machen.  Li  der  langwierigen  Fehde  zwischen  dem  Hause  Sauls 
und  David  neigte  sich  das  Glück  je  länger  je  mehr  auf  die  Seite 
des  letzteren.  Persönliche  Anlässe  brachten  endlich  die  Entscheidung. 
Da  nämlich  Abner  ein  Kebsweib  Sauls,  mit  Namen  Rispha,  zu 
sich  genommen  hatte,  so  argwöhnte  sein  Neffe,  er  wolle  in  sein 
Erbe  eingreifen,  und  stellte  ihn  über  den  Punkt  zur  Rede.  Das' 
war   dem  Abner  zu  viel,    von  stund  an  gab  er  die  Sache  seines 


Die  Gründung  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Konige.  63 

^lündels  auf,  die  ihm  so  wie  so  unhaltbar  scheinen  mochte,  und 
trat  in  Unterhandlungen  mit  David  zu  Hebron.  Als  er  aber  heim- 
kehren wollte,  fiel  er  von  der  Hand  Joabs  im  Tore  von  Hebron, 
ein  Opfer  der  Blutrache  und  der  Eifersucht.  Doch  was  er  gewollt 
hatte,  kam  auch  ohne  ihn  zu  stände.  Nach  seinem  Tode  war 
Israel  führerlos  und  in  großer  Verwirrung.  Isbaal  hatte  nichts 
zu  bedeuten,  nur  aus  dankbarer  Treue  gegen  seinen  Vater  hielt 
man  an  ihm  fest.  Da  fiel  auch  er  von  Mörderhand,  zwei  ben- 
jaminitische  Häuptlinge  schlichen  sich  in  sein  Haus  zu  Mahanaim 
ein,  als  er  Mittags  der  Ruhe  pflegte  und  auch  die  Türhüterin 
beim  Weizen  verlesen  eingeschlafen  war,  und  brachten  ihn  um,  in 
der  vergeblichen  Hoff'nung  auf  Davids  Dank.  Nun  zögerten  die 
Ältesten  Israels  nicht  länger,  zu  David  nach  Hebron  zu  gehn  und 
ihn  zu  salben,  nachdem  er  ihnen  vor  Jahve  ihre  Bedingungen  be- 
schworen hatte. 

Sofort  verlegte  er  seine  Residenz  von  Hebron  nach  Jerusalem, 
einer  bis  dahin  noch  kanaanitischen  Stadt,  die  er  erst  eroberte, 
die  alle  ihre  Traditionen  von  ihm  empfing.  Sie  lag  auf  der  Grenze 
zwischen  Israel  und  Juda,  noch  im  Gebiete  von  Benjamin,  aber 
nicht  weit  von  Bethlehem;  nahe  auch  bei  Nob,  der  alten  Priester- 
stadt. David  machte  sie,  wie  zur  politischen,  so  auch  zur  heiligen 
Metropole,  indem  er  die  Lade  Jahves  dorthin  überführte.  Diese 
hatte  an  Ansehen  nichts  eingebüßt  dadurch,  daß  sie  in  Feindes 
Gewalt  geraten  war.  Die  Philister  wurden  ihres  Besitzes  nicht 
froh,  da  sie  überall  wohin  sie  kam  Verderben  brachte,  sie  setzten 
sie  nach  kurzer  Zeit  auf  einen  Wagen  und  ließen  die  Kühe  damit 
ziehen  wohin  sie  wollten.  So  kam  sie  nach  Bethsemes  und,  da  sie 
auch  dort  Unheil  anrichtete,  endlich  nach  Baal  Juda,  wo  sie  in 
einem  frei  auf  einem  Hügel  gelegenen  Hause  aufgestellt  und  von 
einem  Sohn  des  Hauses  als  Priester  bedient  wurde.  Jetzt  holte 
sie  David  in  fröhlichem  Zuge  nach  Jerusalem;  da  aber  unterwegs 
ein  Unglück  geschah,  brachte  er  sie  dort  vorläufig  bei  einem  seiner 
Hauptleute  unter,  und  erst,  als  sie  in  dessen  Hause  sich  segen- 
bringend erwies,  wagte  er  es  sie  in  das  Zelt  zu  bringen,  welches  er 
auf  seiner  Burg,  östlich  gegenüber  der  alten  Stadt,  für  sie  hatte 
errichten  lassen.  Sie  verdrängte  mit  der  Zeit  das  Orakelbild,  welches 
Abiathar  von  Nob  mitgebracht  hatte. 

Noch  jetzt  war  das  Königtum  nicht  bloß  ein  Vorrecht,  sondern 
eine  schwere  Aufgabe;   und  das  hat  ohne  Zweifel   am  meisten   zur 


ß4  Viertes  Kapitel. 

Erbebung  Davids  beigetragen,  daß  er  als  der  rechte  Mann  für  die 
Lösung  der  Aufgabe  überall  bekannt  war.  Die  Aufgabe  war  noch 
immer  der  Krieg  gegen  die  Philister;  das  war  das  Feuer,  worin 
das  israelitische  Reich  geschmiedet  wurde.  Die  Kämpfe  begannen 
mit  der  Verlegung  der  Residenz  nach  Jerusalem;  leider  erfahren 
wir  wenig  über  ihren  Verlauf,  fast  nur  Anekdoten  über  die  Groß- 
taten einzelner  Helden.  Das  Endergebnis  war,  daß  David  voll- 
endete, was  Saul  angefangen  hatte,  und  das  Joch  der  Philister  für 
alle  Zeit  zerbrach.  Es  war  jedenfalls  die  wichtigste  Tat  seiner 
Herrschaft. 

Von  der  Verteidigung  gegen  die  Philister  aber  ging  David 
weiter  zu  Angriffskriegen  über,  in  denen  er  die  drei  Brüder  Israels, 
Moab  Ammon  und  PJdom,  seiner  Herrschaft  unterwarf.  Zuerst 
scheint  er  mit  den  Moabiten  in  Kampf  geraten  zu  sein;  er  be- 
siegte und  unterjochte  sie  vollständig.  Aicht  lange  darauf  starb 
Xahas,  der  König  von  Ammon;  seinem  Nachfolger  Hanun  ließ 
David  durch  seine  Gesandtschaft  sein  Beleid  bezeugen.  Hanun 
argwöhnte  darin  eine  Form  der  Kundschaftung  —  ein  Argwohn,  der 
sich  leicht  erklärt,  wenn  David  damals  Moab  schon  unterworfen 
hatte.  Mit  halb  abgeschorenen  Barten  und  halb  abgeschnittenen 
Kleidern  schickte  er  die  Gesandten  ihrem  Herrn  zurück,  und  rüstete 
sich  zugleich  auf  den  Krieg,  indem  er  sich  mit  verschiedenen  ara- 
mäischen Königen,  namentlich  mit  dem  mächtigen  König  von 
Soba,  verbündete.  David  eröffnete  den  Feldzug  und  sandte  unter 
Joabs  Führung  das  israelitische  Heer  gegen  die  Stadt  Rabbath 
Ammon.  Die  Aramäer  rückten  zu  ihrem  Entsätze  heran;  al)er 
Joab  teilte  seine  Mannschaft,  und  während  er  durch  seinen  Bruder 
Abisai  die  Belagerten  in  Schach  hielt,  zog  er  selber  gegen  die 
Aramäer  und  trieb  sie  ab.  Als  sie  dann  stärker  wie  zuvor  wieder 
zu  kommen  drohten,  zog  ihnen  David  in  Person  mit  großer  Macht 
entgegen  und  schlug  sie  bei  Helam  jenseits  des  Jordans.  Es  scheint, 
daß  infolge  davon  das  Reich  von  Soba  zerstört  und  Damaskus 
zinsbar  gemacht  wurde ').  Nun  konnte  auch  Rabbath  Ammon 
nicht  länger  widerstehn,   und  die  Ammoniten  teilten  das  Schicksal 


')  Wo  Soba  lag,  ist  unbekanut;  sicher  nicht  in  Mesopotamien,  sondern 
in  Syrien  und  zwar  wahrscheinlich  nördlich  von  Damaskus  etwa  in  der  Breite 
von  Hamath,  an  das  es  gegrenzt  zu  haben  scheint  (2  Sam.  8,  10).  Vgl.  Delitzsch 
Paradis   p.  279s.     Bis   zum    Eiiphrat    ist  David    schwerlich   vorgedrungen.     Es 


Die  Gründung  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Könige.  65 

ihrer  moabitischen  Brüder.  Gleichzeitig  wurde  endlich  Edom  be- 
zwungen und  seiner  Männer  beraubt.  So  traf  ein,  was  Bileam 
geschaut  hatte;  das  jüngste  der  vier  hebräischen  Yölker  trat  die 
drei  älteren  unter  seine  Füße. 

Hinfort  hatte  David  vor  äußeren  Feinden  Ruhe,  zu  Hause 
aber  erwuchsen  ihm  aus  seiner  eigenen  bunten  Familie  Gefahren, 
die  nicht  dazu  dienten,  seinen  Ruhm  zu  vermehren.  Sein  ältester 
Sohn  Amnou  ben  Ahinoam  lockte  heimtückisch,  indem  er  sich 
krank  stellte,  seine  Halbschwester  Thamar  bath  Maacha  als  Pflegerin 
an  sein  Bette,  stillte  seine  Lust  an  ihr  und  trieb  sie  dann  mit  Schimpf 
und  Schande  aus  dem  Hause,  anstatt  sie  zu  heiraten  wie  er  ge- 
konnt und  gesollt  hätte.  David  sah  böse  dazu  und  tat  weiter 
nichts.  Statt  seiner  nahm  Absalom  ben  Maacha,  der  rechte  Bruder 
der  Thamar,  in  dessen  Haus  sie  sich  zurückgezogen  hatte,  Rache 
für  seine  Schwester  und  ließ  bei  günstiger  Gelegenheit  den  Amnon 
durch  seine  Knechte  erschlagen.  Darüber  geriet  der  Vater  in 
hellen  Zorn,  und  Absalom  mußte  außer  Landes  gehn.  Nach  drei 
Jahren  ließ  sich  der  König  zwar  durch  eine  von  Joab  angestiftete 
weise  Frau  bewegen,  dem  Sohne  die  Rückkehr  zu  gestatten,  jedoch 
verbannte  er  ihn  in  sein  Haus  und  verbot  ihm  den  Hof.  Mit 
Mühe  brachte  es  Absalom  endlich  dahin,  wiederum  durch  Joabs 
Vermittlung,  daß  er  zu  vollen  Gnaden  angenommen  und  als  Erbe 
des  Reiches  rehabilitirt  wurde.  Aber  er  war  nun  seinem  Vater, 
durch  dessen  verkehrte  Milde  und  verkehrte  Strenge,  gänzlich  ent- 
fremdet. Er  bereitete  einen  Aufstand  gegen  ihn  vor,  zu  dem  er 
eine  Verstimmung  benutzte,  welche  sich  der  Judäer  bemächtigt 
hatte;  wahrscheinlich  glaubten  diese  von  David  nicht  genug  bevor- 
zugt zu  werden^).  In  Hebron  war  der  Herd  des  Aufstandes,  der 
Judäer  Ahitophel  war  seine  Seele,  der  Judäer  Amasa,  ein  Vetter 
Joabs,  war  sein  Arm.  Doch  wurde  auch  das  übrige  Israel  hinein- 
gezogen, die  Erinnerung  an  Saul  war  noch  lebendig  und  besonders 
die  Benjaminiten  haßten  den  Mann,  der  an  Stelle  ihres  Königs 
getreten  war  und  dessen  Erben  allmählich  und  unauffällig  aus  dem 


heißt  2  Sam.  10,  16  nur,  daß  der  König  von  Soba  auch  die  mesopotamischen 
Aramäer  aufgeboten  habe;  in  8,3  ist  der  letzte  Satz  unverständlich  und  das 
Subjekt  von  b'Iekto  zweifelhaft. 

')  Über  die  eigentlichen  Gründe  des  Abfalls  werden  wir  nicht  unterrichtet. 
Der  Verf.  von  2Sam.9ss.  schreibt  die  Geschichte  des  jerusalemischen  Hofes 
darauf  ist  sein  Interesse  beschränkt. 

We  11  ha  US  e  n,  Isr.  Geschichte.    5.  Aufl.  .    5 


QQ  Viertes  Kapitel. 

Wege  geräumt  hatte.  David  wurde  von  dem  Abfall  völlig  über- 
rascht; er  dachte  nicht  daran  sich  in  Jerusalem  zu  behaupten. 
Seine  Herrschaft  hatte  noch  keine  tiefen  Wurzeln  geschlagen;  er 
stützte  sie  nicht,  wie  Saul,  auf  seinen  Stamm,  sondern  auf  „seine 
Knechte",  eine  aus  seinem  persönlichen  Gefolge  erwachsene  Truppe. 
Mit  dem  Kern  derselben  flüchtete  er  sich  unter  Zurücklassung  seiner 
Weiber  über  den  Jordan  nach  Gilead,  wo  er  freundliche  Aufnahme 
fand.  Diese  exponirte  Ostmark,  die  den  AV'ert  der  Zugehörigkeit 
zu  einem  mächtigen  Reich  zu  schätzen  wußte,  erwies  sich  wieder 
einmal  als  feste  Burg  des  Königtums.  In  Mahanaim,  von  wo  auch 
Abner  einst  das  Reich  wiederhergestellt  hatte,  sammelte  David  seine 
Getreuen;  Absalom  ließ  ihm  dazu  Zeit,  gegen  Ahitophels  1-iat,  und 
rückte  ihm  erst  nach,  als  er  eine  erdrückende  Übermacht  hinter 
sich  zu  haben  glaubte.  In  der  Nähe  von  Mahanaim,  in  der  Wildnis 
von  Ephron,  kam  es  zur  Schlacht.  Das  Volksheer  hielt  den  gut 
geordneten,  kriegsgewohnten  Knechten  Davids  nicht  stand ;  Absalom 
floh  und  wurde  auf  der  Flucht  von  Joab  erstochen.  Sein  Tod 
betrübte  den  alten  König  weit  mehr,  als  ihn  der  Erfolg  freute;  mit 
Mühe  ward  er  endlich  bewogen,  sich  seinen  siegreichen  Truppen  zu 
zeigen. 

Der  Aufstand  war  niedergeschlagen.  Zuerst  begannen  die 
Israeliten  sich  ihres  Verhaltens  gegen  David  zu  schämen;  sie  be- 
schlossen ihn  heimzuholen.  Als  er  davon  erfuhr,  mahnte  er  die 
Ältesten  Judas,  doch  nicht  anderen  den  Vortritt  zu  lassen;  zugleich 
bot  er  dem  Judäer  Amasa,  dem  Feldobersten  Absaloms,  die  Stelle 
Joabs  an,  den  er  als  den  Mörder  seines  Sohnes  haßte.  Das  wirkte; 
die  Judäer  waren  zuerst  zur  Stelle,  um  den  König  bei  der  Jordan- 
furt von  Gilgal  zu  empfangen.  Mit  ihnen  kamen  auch  tausend 
Benjaminiten,  die  besondere  Ursache  hatten,  um  gut  Wetter  zu 
bitten.  Die  Israeliten  waren  die  letzten;  sie  äußerten  laut  ihren 
Unwillen,  daß  man  ihnen  hinterlistig  zuvorgekommen  sei  und  ihnen 
den  König  gestohlen  habe.  Die  Judäer  verteidigten  sich  so  gut 
sie  konnten:  sie  wären  doch  nun  einmal  Davids  nächste  Verwandten, 
hätten  übrigens  bisher  von  ihm  keinen  Profit  gehabt  und  wären 
von  ihm  nicht  vorgezogen  worden.  Die  anderen  gaben  sich  aber 
nicht  zufrieden:  Israel  sei  der  Erstgeborene  und  habe  zehnmal 
mehr  Recht  auf  den  König  als  Juda!  In  diesem  Augenblick  stieß 
ein  Benjaminit,  Seba  ben  Bikri,  in  die  Posaune  und  ließ  den  Ruf 
erschallen:  wir  haben  nichts  gemein  mit  David  und  nichts  zu  teilen 


Die  Grüudimg  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Könige.  67 

mit  dein  Sohn  Isais,  geh  deiner  AVege,  Israel!  Die  Israeliten  folgten 
dem  Rufe,  nur  die  Jiidäer  blieben  bei  David  und  geleiteten  ihn 
von  Gilgal  hinauf  nach  Jerusalem.  Dort  angelangt,  gab  der  König 
dem  Amasa  Auftrag,  binnen  drei  Tagen  den  Heerbann  Judas  auf- 
zubieten und  damit  dem  Seba  nachzusetzen.  Da  aber  jener  die 
Frist  nicht  einhielt,  mußte  er  doch  auf  „seine  Knechte"  zurück- 
greifen. Joab  trat  wieder  an  ihre  Spitze,  benutzte  zunächst  eine 
sich  darbietende  Gelegenheit  seinen  Vetter  Amasa  aus  dem  Wege 
zu  räumen,  jagte  dann  den  benjaminitischen  Rebellen  durch  ganz 
Israel  und  schloß  ihn  endlich  in  der  Stadt  Abel,  oben  im  Norden, 
ein.  Eine  weise  Frau  bewirkte,  daß  er  in  Frieden  abzog,  nachdem 
ihm  der  Kopf  Sebas  über  die  Mauer  zugeworfen  war.  Damit  war 
die  Sache  vorläufig  zu  Ende.  Sie  wirkte  aber  nach  für  die  Zukunft. 
Man  sieht,  wie  David  den  schwachen  Boden,  auf  dem  seine  Herr- 
schaft stand,  selber  noch  dadurch  unterhöhlte,  daß  er  im  unge- 
eignetsten Augenblick  die  Israeliten  vor  den  Kopf  stieß.  Aller- 
dings war  es  vielleicht  für  ihn  die  klügste  Politik,  die  Judäer  zu 
gewinnen,  über  deren  Unsicherheit  er  durch  Absaloms  Aufstand 
belehrt  war. 

Bald  darauf  scheint  David  gestorben  zu  sein.  Seine  geschicht- 
liche Bedeutung  kann  man  nicht  leicht  zu  hoch  anschlagen.  Juda 
und  Jerusalem  waren  lediglich  seine  Schöpfungen,  und  wenn  auch 
das  gesamt-israelitische  Reich,  das  er  zusammen  mit  Saul  gegründet 
hatte,  bald  zerfiel,  so  blieb  doch  die  Erinnerung  daran  allezeit  der 
Stolz  des  ganzen  Volkes.  Sein  persönlicher  Charakter  ist  vielfach 
sehr  abschätzig  beurteilt  worden.  Daran  ist  vor  allem  seine  Ka- 
nonisirung  durch  die  spätjüdische  Tradition  schuld,  die  einen  levi- 
tischen  Heiligen  und  frommen  Hymnendichter  aus  ihm  gemacht 
hat.  Dazu  stimmt  es  dann  nicht,  daß  er  besiegte  Feinde  mit 
Grausamkeit  behandelte,  daß  er  sich  nicht  scheute  die  männlichen 
Glieder  der  Familie  seines  Vorgängers  unschädlich  zu  macheu  und 
dabei  doch  den  Schein  der  Pietät  zu  wahren  suchte,  wie  er  denn 
auch  die  Boten,  die  ihm  den  Fall  Sauls  und  Isbaals  meldeten, 
hinrichtete,  obwol  ihm  die  Nachrichten  willkommen  waren ').  Nimmt 
man  ihn  indessen  wie  er  ist,  als  einen  antiken  König  in  barbarischer 
Zeit,  so  wird  man  milder  urteilen.  Ein  waghalsiger  Mut  mischte 
sich  in  ihm  mit  einer  weichen  Empfänglichkeit;  auch  als  er  die  Krone 


1)  2Sam.  9.  1.  16,7.   19,28.  21,7.8.  4,  lOss. 


()8  Yiertes  Kapitel. 

trug,  blieb  ihm  der  Zauber  einer  überlegenen  und  doch  ge\Yinnenden 
Persönlichkeit.  Ein  wahres  Pantheon  von  Helden  sammelte  sich 
um  ihn;  nirgends  im  Alten  Testament  figuriren  so  viele  namhafte 
Personen  als  in  der  Geschichte  Davids.  Von  der  Einfachheit  Sauls 
war  er  allerdings  abgekommen,  er  blieb  nicht  in  Bethlehem  auf 
seiner  Hufe  und  stützte  sich  nicht  auf  seine  Geschlechtsvettern, 
sondern  hielt  in  Jerusalem  glänzenden  Hof,  umgeben  von  einer 
Leibwache  fremder  Söldner.  Er  zog  nur  selten  noch  selber  in  den 
Krieg,  seine  Getreuen  ließen  das  nicht  zu;  dagegen  kamen  von 
allen  Stämmen  Israels  die  Leute  zu  ihm  nach  Jerusalem  um  Pecht 
zu  suchen.  Sein  abgefeimt  scheußliches  Benehmen  in  dem  Handel 
mit  Uria  wird,  wenn  auf  die  Erzählung  Verlaß  ist,  durch  seine 
tiefe  und  offene  Reue  einigermaßen  wieder  gut  gemacht:  nicht  viele 
Könige  würden,  auf  die  Vorhaltung  ihrer  Schuld,  sich  so  l^enommen 
haben.  Am  wenigsten  zur  Ehre  gereicht  ihm  die  Schwäche,  die  er 
gegen  seine  Söhne  zeigte.  Sein  letzter  Wille,  dessen  Ausführung 
er  auf  dem  Todbette  seinem  Nachfolger  zur  Pflicht  gemacht  haben 
soll,  kann  ihm  nicht  zur  Last  gelegt  werden;  da  hat  ihn  ein 
Späterer,  der  ihn  verherrlichen  wollte,  aufs  schwerste  verunglimpft. 
Ebenso  ist  es  unberechtigt,  ihm  die  Ermordung  Abners  und  Amasas 
in  die  Schuhe  zu  schieben,  oder  ihn  für  den  Untergang  Sauls,  zu 
dem  er  sich  mit  der  Hierokratie  verbündet  habe,  verantwortlich  zu 
machen '). 

4.  Hl  seinen  alten  Tagen  war  David  krank  und  schwach  an 
Leib  und  Seele.  Sein  Erbe  war,  nach  Amnons  und  Absaloms 
Tode,  sein  Sohn  Adonia  ben  Haggith.  Er  sah  sich  selber  dafür 
an  und  benahm  sich  als  solcher  mit  tatsächlicher  Billigung  Davids, 
er  ward  auch  von  ganz  Israel  dafür  gehalten,  insbesondere  von 
den  Hauptwürdenträgern  des  Reichs,  dem  Feldhauptmann  Joab  und 
dem  vornehmsten  Priester  Abiathar,  und  von  den  Prinzen  des 
königlichen  Hauses.  Aber  es  bildete  sich  unter  der  Führung  des 
Propheten  Nathan  eine  Gegenpartei,  die  den  jugendlichen  Sohn 
Davids  aus  seiner  verbrecherischen  Ehe  mit.  der  Bathseba  auf  den 
Thron  bringen  wollte.  Zu  dieser  Partei  gehörten  der  Priester  Sadok 
und  der  Oberst  der  Leibwache  Benaja,  die  mit  Abiathar  und  Joab 
rivalisirten  und  an  deren  Stelle  zu  kommen  hofften.  Durch  Nathan 
und  Bathseba  verfügten  die  Verschworenen  über  den  altersschwachen 


')  Vgl.  oben  p.  60—62. 


Die  Gründung  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Könige.  69 

David,  und  durch  Benaja  über  die  sechshundert  Leibwächter,  mit 
denen  sich  unter  den  damaligen  Umständen  in  Jerusalem  alles 
durchsetzen  ließ.  So  ward  Salomo  König,  nicht  zufolge  seines 
Rechts,  sondern  durch  eine  Palastintrigue,  noch  bei  Lebzeiten  Da- 
vids, aber  kurz  vor  dessen  Tode.  Er  fand  bald  Gelegenheit  nicht 
nur  den  Adonia,  sondern  auch  den  alten  Joab,  den  verdientesten 
Mann  im  Reich,  über  die  Seite  zu  schaffen;  den  Abiathar  ver- 
bannte er  nach  Anathoth  und  setzte  den  Sadok  an  seine  Stelle, 
den  Ahnherrn  des  späteren  Tempeladels  von  Jerusalem.  Weniger 
schneidig  erwies  er  sich  den  äußeren  Feinden  gegenüber,  die  als- 
bald nach  Davids  Tode  ihr  Haupt  erhoben.  Er  ließ  es  geschehen, 
daß  an  Stelle  des  zerstörten  Aramäerreichs  von  Soba  ein  neues 
in  Damaskus  erstand,  welches  eine  viel  größere  Gefahr  für  Israel 
in  sich  barg.  Er  konnte  nicht  verhindern,  daß  Edom  sich  wieder 
einen  König  gab;  doch  blieb  der  Hafen  von  Äla  in  seinem  Besitz. 
Über  Moab  und  Ammon  erfahren  wir  nichts;  es  ist  möglich,  daß 
auch  sie  damals  abgefallen  sind.  Wenn  aber  die  Kriegführung 
nicht  Salomos  Sache  war,  so  kümmerte  er  sich  dagegen  mehr  als 
seine  beiden  Vorgänger  um  die  inneren  Angelegenheiten;  in  seiner 
Tätigkeit  als  Richter  und  Regent  bestand  nach  der  Tradition  seine 
Stärke. 

Mit  der  Gründung  des  Königtums  geriet  die  Einverleibung  der 
Kanaaniten  in  rascheren  Fluß.  Saul  in  seinem  Eifer  für  Jahve 
und  Israel  brauchte  Gewalt,  um  die  Stadt  Gibeon  israelitisch  zu 
macheu.  David,  überhaupt  sehr  weitherzig  gegen  Ausländer,  be- 
nahm sich  klüger.  Er  nahm  Jerusalem  mit  stürmender  Hand, 
machte  aber  die  Bürger  nicht  rechtlos,  sondern  beließ  sie  sogar 
im  Besitz  ihres  Grundeigentums;  die  Stelle,  auf  welcher  sich  nach- 
mals der  Tempel  Jahves  erhob,  erstand  er  für  Geld  von  dem  Je- 
busiten  Arauna.  Den  Gibeoniten,  an  denen  Saul  sich  vergriffen 
hatte,  ^ab  er  sieben  Söhne  Sauls  heraus,  daß  sie  sie  aufhängten 
vor  Jahve  zu  Gibeon.  Mit  Hirom  von  Tyrus  hielt  er  gute  Freund- 
schaft; der  Hethitenfürst  Thoi  von  Hamath  sandte  ihm  durch  seinen 
Sohn  Joram  (?)  Geschenke  und  Glückwünsche  zur  Bezwingung  des 
Königs  von  Aram-Soba,  der  auch  Thois  Feind  gewesen  war.  Dies 
Motiv  ist  wichtig;  wie  einst  die  durch  Jerubbaal  gehobene  midia- 
nitische  Gefahr  Israeliten  und  Kanaaniten  einander  nahe  gebracht 
hatte,  so  vereinigte  sie  jetzt  das  gleiche  Interesse  gegen  die  zur 
Küste  vordrängenden  Aramäer,  mit  denen  umgekehrt  Moab,  Ammon 


70  Viertes  Kapitel. 

und  Edom  gemeine  Sache  machten;  das  kriegerische  Königtum 
Davids  erschien  als  der  Hort  des  ganzen  westlichen  Syriens  und 
Palästinas  gegen  die  östlichen  Feinde  (p.  8).  Salomo  bekam  die 
Stadt  Gezer  als  Mitgift  seiner  ägyptischen  Frau,  deren  Vater  sie 
erobert  und  zerstört  hatte.  Unter  ihm  scheinen  die  Kanaaniten 
in  Israel  vollends  aufgesogen  zu  sein.  Sie  waren  ein  stamm- 
auflösendes und  staatverkittendes  Element,  ihre  Assimilirung  war 
ein  großer  Schritt  zur  Befestigung  des  Staates.  Salomo  konnte 
es  zum  ersten  male  wagen ,  unbekümmert  um  Stämme  und  Ge- 
schlechter, das  Reich  in  zwölf  Bezirke  einzuteilen,  deren  jedem 
er  einen  königlichen  Vogt  vorsetzte');  nur  Juda  scheint  er  von 
dieser  Einteilung  ausgenommen  zu  haben  —  ein  bezeichnendes 
Zugeständnis.  Er  legte  auf  diese  Weise  den  Grund  zu  einer 
strengen  und  geordneten  Verwaltung,  wie  sie  nach  ihm  in  Israel 
vielleicht  nicht  wieder  erreicht  worden  ist.  Er  hatte  dabei  natürlich 
nicht  das  Beste  seiner  Untertanen,  sondern  seinen  eigenen  Vorteil 
im  Auge;  er  verfolgte  damit  gleiche  Zwecke  wie  mit  seinem  Pferde- 
handel und  mit  seiner  Ophirfahrt,  die  in  Gemeinschaft  mit  Tyrus 
ins  Werk  gesetzt  wurde  und  den  Zweck  hatte,  den  arabischen 
Karawanenhandel  überflüssig  zu  machen.  Seine  Leidenschaft  waren 
Bauten,  Prunk  und  Weiber,  er  wollte  es  darin  den  übrigen  orien- 
talischen Königen,  zum  Beispiel  seinem  ägyptischen  Schwiegervater, 
gleichtun.  Dazu  gebrauchte  er  Mittel:  Menschenkräfte,  Natural- 
lieferungen,  Geld.  Er  schämte  sich  nicht  einen  Landstrich  in  Ga- 
liläa für  einhundertundzwanzig  Talente  Gold  an  Hirom  von  Tyrus 
zu  verkaufen;  dadurch  wird  sein  Reichtum  und  die  angebliche 
Silberentwertuug  zu  seiner  Zeit,  die  man  aus  der  naiven  Angabe 
1  Reg.  10,  21.  27  hat  erschließen  wollen,  sehr  zweifelhaft.  Besonders 
der  Ausbau  Jerusalems  zu  einer  festen  und  glänzenden  Königsstadt 
lag  ihm  am  Herzen.  Der  Tempel,  den  er  baute,  war  nur  ein  Teil 
seiner  gewaltigen  Burg;  Herrschersitz  und  Heiligtum  waren  nach 
antiker  Sitte  vereinigt  in  der  Akropolis.  Dieselbe  umfaßte  eine 
Menge  privater  und  öffentlicher  Gebäude,  die  verschiedenen  Zwecken 
dienten. 

Durch  die  Reichsgründung  kamen  neue  Zuflüsse  in  den  Strom 
der    bisherigen    Entwicklung.      Man    fühlte    sich    auf   eine    höhere 

^)  Auch  später  unter  Ahab,  finden  wir  das  Reich  Israel  in  Medinoth, 
Regierungsbezirke,  eingeteilt,  an  deren  Spitze  ein  Beamter  steht,  der  aber  nicht 
mehr  den  alten  Titel  Na^ib  führt,  sondern  Sar  haMedina  heißt. 


Die  Gründung  des  Reiches  und  die  drei  ersten  Könige.  71 

Stufe  emporgehoben.  Die  vorhergehende  königslose  Periode  er- 
schien als  eine  Zeit  der  Verwirrung  und  der  Bedrängnis,  wo  jeder 
tat  was  er  wollte  und  die  Feinde  leichtes  Spiel  hatten,  als  ein 
uocli  nicht  zum  Ziel  gekommener  Anfang.  Jetzt  war  man  zu 
Ordnung,  Macht  und  Ruhe  durchgedrungen ;  geachtet  und  gefürchtet 
von  den  Nachbaren  konnte  man  endlich  des  eroberten  Landes  und 
seiner  Güter  sich  erfreuen:  kein  Wunder,  daß  das  Königtum  als 
göttliches  Geschenk  betrachtet  w^urde.  Dem  politischen  Fortschritt 
folgte  der  geistige.  Handel  und  Wandel  hoben  sich,  die  Städte, 
von  den  Königen  bevorzugt,  traten  in  den  Vordergrund  und  drängten 
das  Land  in  den  Schatten.  Wie  einst,  nach  der  Ansiedlung,  die 
Kultur  der  kanaanitischen  Bauern  eingedrungen  war,  so  wairden 
jetzt  der  orientalischen  Kultur  im  höheren  und  weiteren  Sinne  die 
Schleusen  geöffnet.  Der  nähere  Verkehr  mit  dem  Auslande  er- 
weiterten den  geistigen  Horizont  des  Volkes.  Israel  trat  in  die 
W^elt  ein,  Beziehungen  nach  allen  Seiten  wurden  angeknüpft  oder 
ergaben  sich  von  selber.  Die  Erinnerung  hat  sich  erhalten,  daß 
diese  Entwicklung  besonders  durch  Salomo  befördert  sei.  Sie  wurde 
nicht  allgemein  freudig  begrüßt,  aber  sie  war  notwendig.  Wenn 
Salomo  in  seinem  Iloftempel  phönizische  und  ägyptische  Ein- 
richtungen auf  den  Jahvcdienst  übertrug,  so  mochten  zu  seiner 
Zeit  die  richtigen  alten  Israeliten  daran  Anstoß  nehmen  (Exod.  20, 
24  s.);  dennoch  ist  dieser  Tempel  hernachmals  von  großer  und 
segensreicher  Bedeutung  für  die  Religion  geworden.  Allerlei  heid- 
nische Vorstellungen  und  Mythen  fanden  Eingang,  aber  die  Jahve- 
religion  erwies  sich  mächtig  genug,  ihnen  ihr  Gepräge  aufzudrücken 
und  sie  sich  zu  eigen  zu  machen;  es  wäre  schade,  wenn  die  ersten 
elf  Kapitel  der  Genesis  ungeschrieben  geblieben  wären.  Überhaupt 
aber  ist  der  Schwung,  der  mit  dem  Königtum  in  die  Geschichte 
des  Volkes  kam,  auch  dem  Gotte  des  Volkes  und  dem  Leiter  seiner 
Geschichte  zugute  gekommen^). 


')  Daß  aucli  allerlei  schädliche  Folgen  mit  unterliefen,  braucht  nicht  ge- 
leugnet -werden.  Darin  üluigens  verdient  der  König  schwerlich  Tadel,  daß 
er  bei  Jerusalem  Altäre  für  ammonitische  und  ägyptische  Gottheiten  erbaute. 
Denn  diese  Altäre  blieben  unangefochten  stehn  bis  auf  Josias,  während  es 
doch  mehr  als  einen  frommen  König  zwischen  Salomo  und  Josias  gegeben 
hat,  der  sie  hätte  zerstören  können,  wären  sie  ihm  so  wie  dem  Deuteronomium 
ein  Greuel  und  Ärgernis  gewesen. 


72  Fünftes  Kapitel. 


Fünftes    Kapitel. 

Von   Jerobeam  I.   bis  zu  Jerobeam  TL 

1.  Nach  Salomos  Tode  besannen  sich  die  Altesten  Israels  auf 
ihr  Kecht,  den  König  zu  salben  oder  auch  nicht  zu  salben,  und 
versammelten  sich  zu  diesem  Behuf  in  Sichern.  Salomos  Sohn  und 
Nachfolger,  Rehabeam,  bequemte  sich  ebenfalls  dort  zu  erscheinen. 
Sie  erklärten  sich  bereit  ihm  zu  huldigen,  wenn  er  das  Joch  seines 
Vaters  leichter  mache.  Die  Abgaben,  die  Frohnarbeiten,  die  Be- 
amtenverwaltung, welche  die  hergebrachte  Geschlechterverfassung 
zu  verdrängen  drohte,  waren  nicht  nach  ihrem  Geschmacke.  Der 
König  nahm  ihre  Forderungen  entgegen  und  erwog  sie  einige  Tage, 
um  sie  schließlich  schnöde  abzulehnen.  Da  kündigten  sie  ihm  den 
Gehorsam,  und  als  er  dann  noch  unterhandeln  wollte,  steinigten 
sie  seinen  Abgesandten,  den  Frohnvogt  Adoram,  aufgebracht  durch 
die  Wahl  grade  dieses  Mannes.  Sie  riefen  nun  den  Ephraimiten 
Jerobeam  ben  Nebat  zum  Könige  aus,  der  schon  gegen  Salomo 
einen  Aufstandsversuch  gemacht  und  sich  darauf  nach  Ägypten 
geflüchtet  hatte,  jetzt  aber  in  Sichem  zur  Stelle  war.  Juda  und 
Jerusalem  blieben  dem  Hause  Davids  treu.  Nur  die  Israeliten 
hatten  sich  in  Sichem  versammelt,  von  ihnen  allein  gingen  die 
Klagen  über  das  schwere  Joch  des  Königtums  aus,  sie  empfanden 
es  oftenbar  als  Fremdherrschaft.  Ihre  Eifersucht  gegen  Juda,  die 
sich  schon  unter  David,  und  nicht  ohne  Grund,  geregt  hatte,  spielte 
bei  dem  Abfall  sehr  wesentlich  mit  ein.  Der  Stolz  Josephs,  des 
Erstgeborenen  und  des  Gekrönten  unter  seinen  Brüdern,  bäumte 
sich  gegen  das  judäische  Königtum  auf. 

Durch  die  Philister  war  die  Macht  Josephs  gelähmt,  durch 
das  Königtum  der  natürliche  Schwerpunkt  Israels  nach  Süden  ver- 
schoben. Jetzt  stellte  er  sich  wieder  her,  denn  er  lag  in  Joseph 
und  nicht  in  Juda.  Man  kann  es  kaum  einen  Abfall  nennen, 
wenn  die  Israeliten  sich  die  judäische  Herrschaft  nicht  länger  ge- 
fallen lassen  Avollten.  Und  ganz  unberechtigt  ist  es,  den  politischen 
Abfall  zugleich  als  einen  religiösen  zu  betrachten.  Die  Religion 
stand  damals  der  Spaltung  durchaus  nicht  im  Wege;  der  Prophet 
Ahia  von  Silo  war  der  erste,  der  in  Jerobeams  Gedanken  den 
Samen  seiner  zukünftigen  Bestimmung  gesät   und   ihn  aufgefordert 


Von  Jerobeain  I.  bis  zu  Jerobeam  II.  73 

hatte,  sich  gegen  das  Haus  Davids  zu  erheben.  Der  Kultus  von 
Jerusalem  war  noch  nicht  der  einzig  legitime,  sondern  derjenige 
zu  Bethel  und  Dan  mindestens  ebenso  sehr  berechtigt ').  Gottes- 
bilder gab  es  dort  sowol  wie  hier  und  überall  wo  es  ein  Haus 
Gottes  gab;  niemand  nahm  damals  Anstoß  daran.  An  dem  Rechte 
der  angeblich  schismatischen  Priester  des  Nordreichs  zweifelt  der 
Prophet  Hosea  nicht  im  mindesten;  sie  gelten  ihm  sämtlich  als 
richtige  und  berufene  Diener  Jahves,  denn  sonst  könnte  er  ihnen 
nicht  drohen,  Jahve  werde  sie  verwerfen,  sodaß  sie  ihr  Recht 
verlören.  Wenn  Jerobeam  und  seine  Nachfolger  Tempel  bauten, 
Bilder  stifteten,  Priester  anstellten,  so  taten  sie,  was  David  und 
seine  Nachfolger  auch  taten;  diese  Befugnis  hatten  die  Könige. 
In  dem  religiösen  und  geistigen  Leben  der  beiden  Reiche  bestand 
überhaupt  kein  inhaltlicher  Unterschied.  Nur  pulsirte  es  in  Israel 
stärker.  Da  wirkten  die  großen  Propheten,  bis  auf  Amos  und 
Hosea,  da  spielte  die  eigentliche  Geschichte  der  Theokratie,  von 
da  gingen  alle  Impulse  aus.  Das  war  freilich  nicht  bloß  ein 
Vorzug,  sondern  auch  ein  Nachteil.  Dem  raschen  aufgeregten 
Treiben  im  Nordreich  steht  das  geschützte  Stillleben  des  Klein- 
staats im  Süden  gegenüber.  Dort  warf  der  geschichtliche  Strudel 
außerordentliche  Persönlichkeiten  aus  der  Tiefe  hervor,  hier  be- 
festigten sich  die  bestehenden  Institutionen.  Der  unterschied  zeigt 
sich  in  seiner  Wurzel  beim  Königtum  selber.  Die  Israeliten 
schafften  es  nicht  etwa  ab;  es  hatte  seine  Notwendigkeit  doch  zu 
sehr  erwiesen.  Aber  im  Gegensätze  zu  den  Judäern  wechselten  sie 
fortwährend  mit  den  Dynastien.  Dadurch  haben  sie  sich  selber  zu 
gründe  gerichtet. 

Rehabeam  fügte  sich  dem  Aufstande  nicht  gutwillig.  Er  suchte 
ihn  mit  Waffengewalt  zu  unterdrücken,  anfänglich  mit  gutem  Er- 
folge, wie  es  scheint.  AVenigstens  fand  sich  sein  Gegner  bewogen, 
sich  nach  Phanuel  (bei  Mahanaim)  jenseit  des  Jordans  zu  verziehen, 
wie  einst  Abner  nach  der  Schlacht  am  Gilboa  und  David  bei  der 
Erhebung  Absaloms.  Freilich  könnte  er  dazu  auch  durch  den 
Pharao  Sisak  veranlaßt  worden  sein,  der  in  dieser  Zeit  in  Palästina 
einfiel  und  nicht  bloß  Jerusalem  brandschatzte,  sondern  wie  es 
scheint    unterschiedslos   jüdische    sowol    als    israelitische    Städte"). 

')  Prolegomena  p.  187  s. 

^)  Es  ist  jedoch  kein  Verlaß  anf  die  Liste  der  eroberten  Städte  in  der 
Siegesinschrift  des  Sisak,    er  kann  einfach  eine  ältere  Liste  eines   seiner  Vor- 


74  Fünftes  Kapitel. 

Wenn  aber  Reliabeam  wirklich  anfangs  Erfolge  gehabt  hat,  so  sind 
sie  doch  nicht  von  Dauer  gewesen.  Die  Unterdrückung  des  Auf- 
standes gelang  ihm  nicht,  die  Israeliten  behaupteten  sich  gegen- 
über der  Kriegsmacht  des  judäischen  Königtums.  Bald  wendete 
sich  das  Blatt  zu  ihren  gunsten. 

Als  Jerobeams  Sohn  und  Nachfolger  Nadab  die  Stadt  Gibbe- 
thon  der  Philister  belagerte,  verschwur  sich  Baesa  ben  Ahia  von 
Issachar  gegen  ihn,  erschlug  ihn  und  setzte  sich  an  seine  Stelle. 
Er  wählte  die  Stadt  Thirsa  zu  seiner  Residenz.  Dieser  Baesa 
drehte  den  Spieß  um  und  ging  seinerseits  zum  Angriff  gegen  Juda 
über,  um  es  wieder  zum  Reiche  zu  bringen.  Er  befestigte  die 
nahe  bei  Jerusalem  gelegene  Grenzstadt  Rama  und  versperrte  den 
Judäern  die  Straße  nach  Norden.  Die  Sperre  muß  unerträglich 
gewesen  sein;  Asa,  der  Sohn  oder  der  Enkel  Rehabeams,  wußte 
sich  endlich  nicht  anders  zu  helfen  als  dadurch,  daß  er  Benhadad 
von  Damaskus  seinem  Gegner  auf  den  Hals  zog.  Er  erreichte  seinen 
Zweck,  aber  durch  ein  gefährliches  Mittel '). 

Baesas  Sohn  Ela  wurde  bei  einem  Gelage  im  Hause  seines 
Hausmeisters  zu  Thirsa  ermordet,  durch  Zimri,  den  Obersten  über 
die  Hälfte  der  Wagen.  Dieser  konnte  sich  jedoch  seinerseits  gegen 
den  Feldhauptmann  Omri  nicht  halten,  der  von  Gibbethon,  wo  er 
mit  dem  Heere  lag,  gegen  ihn  heranrückte;  er  zog  sich  in  den 
Palast  zurück,  setzte  ihn  in  Brand  und  kam  in  den  Flammen  um. 
Dem  Omri  wiederum  erstand  in  einem  anderen  Teile  des  Landes 
ein  Gegenkönig,  Thibni  ben  Ginath;  erst  nach  dessen  Tode  wurde 
Omri  allgemein  anerkannt  (vor  900  a.  Gh.).  Er  ist  der  Gründer 
der  ersten  eigentlichen  Dynastie  in  Israel  und  der  Neubegründer 
des  Reiches,  dem  er  in  der  Stadt  Samarien  seinen  bleibenden 
Mittelpunkt  gab.  Die  Bibel  erzählt  fast  nichts  von  ihm,  seine  Be- 
deutung erhellt  aber  daraus,  daß  der  Name  „Reich  Omris"  bei  den 
Assyrern    die    gewöhnliche    Bezeichnung    Israels    blieb.     Nach    der 


ganger  reproduzirt  haben   (Pietschmann).     In    1  Reg.  14  ist  nur  von  der  Er- 
oberung Jerusalems  die  Rede. 

')  Nach  I  Reg.  15,  20  „schlug*  Benhadad  damals  verschiedene  Städte  im 
isr.  Norden  und  Osten,  darunter  Dan.  Daß  er  sie  in  Besitz  genommen  habe 
(wie  2  Reg.  15,  29),  wird  nicht  gesagt.  Zur  Zeit  des  Yf.  von  Jud.  17.  18  scheint 
Dan  zum  Gebiet  von  Aram  Beth  Rehob  gehört  zu  haben.  Damaskus  war  nicht 
das  einzige  aramäische  Reich,  das  sich  auf  Kosten  der  Nachbarn  ausbreitete, 
sondern  nur  das  mächtigste  neben  vielen  andern. 


Von  Jerobeam  I.  bis  zu  Jerobeam  II.  75 

Inschrift  Mesas  war  er  es,  der  Moab,  das  beim  Tode  Davids  oder 
Salomos  abgefallen  war,  zinsbar  machte  und  die  Landschaft  Medaba 
zu  Israel  schlug.  Nicht  so  glücklich  war  er  gegen  die  Damaszener, 
denen  er  in  seiner  Hauptstadt  Samarien  gewisse  Vorrechte  ein- 
räumen mußte. 

Auf  Omri  folgte  sein  Sohn  Ahab.  Während  der  längsten  Zeit 
seiner  Tvegierung  scheint  dieser  König  eine  Art  Oberherrschaft  der 
Aramäer  von  Damaskus  anerkannt  zu  haben.  Nur  dadurch  läßt 
es  sich  erklären,  daß  er  ihnen  in  der  Schlacht  von  Karkar  (854) 
Heeresfolge  leistete  gegen  die  Assyrer.  Aber  eben  infolge  dieser 
Schlacht,  unter  Benutzung  der  politischen  Konstellation,  die  ihm 
dadurch  klar  ward,  löste  er  das  Verhältnis  zu  ihnen.  Nun  be- 
gannen ihre  wütenden  Angriffe  auf  Israel.  Ahab  begegnete  ihnen 
mit  Mut  und  Glück;  er  schlug  sie  in  einem  siegreichen  Ausfall 
zurück,  als  sie  ihn  in  seiner  Hauptstadt  belagerten;  und  als  sie 
im  nächsten  Jahre  wiederkamen,  besiegte  er  sie  in  offener  Feld- 
schlacht bei  Aphek  und  nahm  den  König  Benhadad  gefangen.  Zum 
Arger  manches  eifrigen  Israeliten  behandelte  er  ihn  indessen  milde 
und  gab  ihn  unter  gewissen  Bedingungen  frei;  namentlich  sollten 
die  den  Israeliten  entrissenen  Städte  in  Gilead,  darunter  die  wichtige 
Festung  Rama,  wieder  herausgegeben  werden.  Aber  das  geschah 
nicht,  und  so  entschloß  sich  Ahab  im  dritten  Jahr  seinerseits  zum 
Angriff  auf  die  Aramäer  überzugehn  und  ihnen  Ramath  Gilead') 
mit  Gewalt  zu  entreißen.  Vor  seinem  Auszuge  befragte  er  die 
Propheten  Jahves  in  Samarien,  vierhundert  Mann;  sie  antworteten 
einhellig,  Jahve  werde  Rama  in  seine  Hand  geben.  Sedekia  ben 
Kanaani  machte  sich  eiserne  Hörner  und  sagte:  damit  wirst  du 
Aram  stoßen  bis  zur  Vernichtung.  Nur  Micha  ben  Jimla,  der 
immer  Unheil  verkündete,  brachte  auch  diesmal  einen  Miston  in 
die  Harmonie  der  patriotischen  Musik').  „Ich  sah  Israel  zerstreut 
auf  den  Bergen  wie  Schafe  ohne  Hirten,  und  Jahve  sprach:  sie 
haben  keinen  Herrn,  sie  kehren  zurück,  ein  jeder  ungefährdet  nach 
Hause."  Er  empfing  den  verdienten  Lohn,  Sedekia  gab  ihm  einen 
Backenstreich,   der  König  ließ  ihn   einsperren,  um  ihn  zu  richten. 


0  So  und  nicht  Ramoth  G.  muß  gesprochen  werden,  wenn  der  Absolutus 
Rama  (2  Reg.  8,  29)  richtig  ist.  Die  Stadt  ist  \ielleicht  nicht  unterschieden 
von  Mispha;  sie  lag  nach  Gen.  31  nördlich  voni  Jarmuk,  hart  an  der  ara- 
mäischen Grenze  bei  Karnaim  und  Lodebar. 

-)  Ein  merkwürdiges  Pendant  dazu  findet  sich  Hier.  28,  29. 


76  Fünftes  Kapitel. 

wenn  er  glücklich  Aviederkomme.  Aber  er  kam  nicht  Avieder.  In 
der  Schlacht  gegen  die  Aramäer,  die  sich  bei  Rama  entspann,  wurde 
er  von  einem  Pfeil  zu  Tode  getroffen;  da  das  Gefecht  vorwärts 
ging,  so  konnte  er  nicht  aus  der  Front  heraus,  sondern  mußte  in 
seinem  Streitwagen  und  in  seiner  Rüstung  bleiben,  bis  er  abends 
starb.  Auf  die  Kunde  davon  zerstreute  sich  das  Heer,  die  Leiche 
des  Königs  wurde  mitgenommen  nach  Samarien  und  dort  ehren- 
voir)  bestattet  (±851). 

Noch  unter  Ahab,  in  der  Mitte  von  dessen  Regierung,  hatte 
König  Mesa  von  Moab  sich  unabhängig  gemacht,  die  Landschaft' 
Medaba  zuzückgewonnen,  die  Omri  vierzig  Jahre  vorher  seinem 
Vater  abgenommen  hatte,  und  altisraelitisches  Gebiet  dazu  erobert. 
Ahab  scheint  keine  Zeit  gehabt  zu  haben  ihn  in  seine  Grenzen 
zurückzuweisen,  auch  sein  Sohn  Ahazia,  der  auf  ihn  folgte,  mußte 
ihn  gewähren  lassen.  Aber  nach  dessen  vorzeitigem  Tode  zog  sein 
Bruder  und  Nachfolger  Joram  gegen  ihn  zu  Felde,  in  Gemeinschaft 
mit  den  Königen  von  Juda  und  Edom^).  Man  drang  nach  einer 
siegreichen  Schlacht  von  Süden  her  in  Moab  ein,  zerstörte  die  Ort- 
schaften, warf  Steine  auf  die  Äcker,  verschüttete  die  Quellen  und 
hieb  die  Bäume  um.  Mesa  hatte  sich  mit  dem  geschlagenen  Heer 
in  seine  Festung  zurückgezogen,  dort  wurde  er  belagert.  Nach- 
dem er  vergeblich  versucht  hatte  den  Ring  zu  durchbrechen,  nahm 
er  seinen  erstgeborenen  Sohn  und  opferte  ihn  auf  den  Mauern  der 
Stadt:  da  kam  ein  großer  Zorn  über  Israel  und  sie  zogen  ab  von 
ihm  und  gingen  heim. 

Joram  konnte  diesen  Zug  gegen  Moab  nur  dann  unternehmen, 
wenn  die  Aramäer  ihn  zufrieden  ließen.  Es  scheint  in  der  Tat, 
daß  sie  nicht  in  der  Lage  waren  den  Sieg  über  Ahab  auszubeuten: 
ohne  Zweifel  wurden  sie  daran  gehindert  durch  die  assyrischen 
Angriffe  in  den  Jahren  850.  849.  Als  diese  eine  Weile  nachließen, 
wandten  sie  sich  sofort  gegen  Joram,  trieben  ihn  hinter  die  Mauern 
seiner  Hauptstadt  zurück  und  belagerten  ihn  dort.  Schon  war  in 
Samarien  die  Not  aufs  äußerste  gestiegen,  da  zogen  eines  Tages  die 
Feinde  unversehens  ab,  weil  sie  von  einem  Angriffe  der  „Ägypter 


>)  Prolegomena  p.  29.3  s. 

■^)  Die  luschvift  Mesas  ist  vor  dem  Zuge  Jorams,  aber  erst  nach  dem  Tode 
Ahabs  abgefaßt.  Denn  wenn  darin  von  der  Hälfte  der  Regierungsjahre 
Ahabs  die  Rede  ist,  so  muß  schon  die  Dauer  der  ganzen  Regierung  bekannt 
gewesen  sein. 


Von  Jerobeam  I.  bis  zu  Jerobeam  IL  77 

und  Hethiten"  auf  ihr  Land  gehört  hatten.  ^löglich,  wenngleich 
nicht  gerade  notwendig,  daß  diese  Ägypter  und  Hethiten  vielmehr 
wiederum  die  Assyrer  waren,  die  im  Jahre  846  aufs  neue  in  Aram 
einfielen.  Dem  gemeinen  Mann  in  Israel  waren  die  Assyrer  noch 
unbekannt,  und  so  konnten  in  der  volkstümlichen  Erzählung  be- 
kanntere Mächte  an  ihrer  Stelle  gesetzt  werden^).  Infolge  dieser 
"Wendung  atmete  Joram  wieder  auf;  begünstigt  durch  einen  Dy- 
nastiewechsel in  Damaskus  scheint  er  den  Aramäern  sogar  die 
Festung  Ramath  Gilead  abgenommen  zu  haben,  in  deren  Besitz 
Ahab  vergeblich  zu  kommen  trachtete.  Da  aber  brach  plötzlich 
über  das  Haus  Omris  eine  Katastrophe  ein,  welche  seit  längerer 
Zeit  von  den  Propheten  vorbereitet  war. 

2.  Als  die  Nabiim  zuerst  auftauchten,  vor  dem  Ausbruch  der 
Philisterkriege,  waren  sie  in  Israel  eine  fremdartige  Erscheinung. 
Mittlerweile  hatten  sie  sich  so  eingebürgert,  daß  sie  ganz  wesent- 
lich zu  dem  Bestände  der  Jahvereligion  gehörten.  Manches  von 
ihrem  alten  Wesen  hatte  sie  abgeschlift'en,  beibehalten  aber  hatten 
sie  das  scharenweise  Auftreten  und  das  Leben  in  Vereinen  mit 
gemeinsamer  auffallender  Tracht.  Diese  Vereine  hatten  keine  außer 
ihnen  selber  liegenden  Zwecke;  die  rabbinische  Ansicht,  es  seien 
Schulen  und  Lehrhäuser  gewesen,  wo  das  Gesetz  und  die  heilige 
Geschichte  getrieben  wurde,  überträgt  spätere  Verhältnisse  auf  die 
alte  Zeit.  Große  Bedeutung  hatten  die  Nabiim  im  Durchschnitt 
nicht.  Aber  ab  und  zu  erwuchs  unter  ihnen  ein  Mann,  in  welchem 
der  Geist,  der  in  ihren  Kreisen  gepflegt  wurde,  gewissermaßen 
explodirte.  Geschichtliche  AVirkung  übten  vor  allem  diese  Heroen 
aus,  die  über  den  Stand  hervorragten,  sogar  in  Opposition  dazu 
traten,  doch  aber  auch  wieder  ihren  Rückhalt  darin  fanden.  Das 
Prototyp  dieser  Ausnahmepropheten,  die  wir  indessen  nicht  mit 
Unrecht  als  die  wahren  Propheten  zu  betrachten  gewohnt  sind,  ist 
Elias  von  Thisbe  in  Gilead,  der  Zeitgenosse  des  Königs  Ahab. 

Seiner  tyrischen  Gemahlin  Izebel  zu  lieb  hatte  Ahab  dem  ty- 
rischen  Baal  einen  Tempel  und  einen  reichen  Kultus  zu  Samarien 
gestiftet.  Dem  Jahve  dadurch  Abbruch  zu  tun,  war  nicht  seine 
Meinung;  Jahve  blieb  der  Reichsgott,  nach  welchem  er  auch  seine 


')  Merkwürdig  ist  dann  die  Voraussetzung,  daß  die  Könige  der  Hethiten 
Feinde  der  Damaszener  waren.  Sie  wird  verständlich  aus  dem,  was  früher 
(p.  8.  70)  über  das  Geschiebe  und  das  Verhältnis  der  Völker  in  Syrien  ge- 
sagt ist. 


78  Fünftes  Kapitel. 

.Söhne  Aliazio  und  Jorani  benannte.  Von  Zerstörung  der  Altäre 
Jahves  und  Verfolgung  seiner  Propheten  war  keine  Rede,  nicht 
einmal  von  Einführung  des  fremden  Gottesdienstes  außerhalb  der 
Hauptstadt.  Da  also  der  Herrschaft  Jahves  über  Israel  nicht  zu 
nahe  getreten  wurde,  so  fand  der  Glaube  des  Volkes  nichts  An- 
stößiges an  einer  Handlungsweise,  die  hundert  Jahre  früher  auch 
Salomo  befolgt  hatte.  Nur  Elias  protestirte  dagegen.  Für  ihn  war 
es  ein  Hinken  auf  beiden  Seiten,  ein  unvereinbarer  AViderspruch, 
daß  man  Jahve  als  den  Gott  Israels  verehrte  und  daneben  doch 
dem  Baal  in  Israel  eine  Kapelle  erbaute.  Die  Menge  hatte  er 
dabei  nicht  auf  seiner  Seite;  sie  staunte  ihn  wol  an,  aber  sie  be- 
griff ihn  nicht. 

Elias  hat  keinen  Vatersnamen.  Einsam  ragte  dieser  Prophet, 
die  grandioseste  Heldengestalt  in  der  Bibel,  über  seine  Zeit  hervor: 
die  Sage  konnte  sein  Bild  festhalten,  aber  nicht  die  Geschichte. 
Man  hat  mehr  den  unbestimmten  Eindruck,  mit  ihm  in  ein  neues 
Stadium  der  Religionsgeschichte  zu  treten,  als  daß  mau  ausmachen 
könnte,  worin  der  Unterschied  gegen  früher  bestand.  Nachdem 
Jahve  zunächst  im  Kampfe  gegen  äußere  Feinde  die  Nation  und 
das  Reich  gegründet  hatte,  reagirte  er  jetzt  innerhalb  der  Nation, 
auf  geistigem  Gebiete,  gegen  die  fremden  Elemente,  die  bis  dahin 
ziemlich  ungehindert  hatten  zutreten  dürfen.  Die  Rechabiten,  die 
damals  aufkamen,  protestirten  in  ihrem  Eifer  für  Jahve  gegen  die 
ganze  auf  den  Ackerbau  begründete  Kultur  und  griffen  grundsätz- 
lich zurück  auf  das  urisraelitische  Nomadenleben  in  der  A\'üste; 
die  Naziräer  enthielten  sich  wenigstens  des  Weines,  des  Haupt- 
symbols der  dionysischen  Zivilisation.  Hierin  tat  allerdings  Elias 
nicht  mit;  sonst  wäre  er  wol  auch  der  Menge  verständlicher  gewesen. 
Aber  den  Geist  begreifend,  aus  dem  diese  Wunderlichkeiten  her- 
vorgingen, erfaßte  er  Jahve  als  einen  Herrn,  mit  dessen  Dienst 
sich  kein  anderer  Dienst  vertrage.  Dis  Errichtung  jenes  königlichen 
Tempels  für  den  tyrischen  Baal  in  Samarien  gab  ihm  den  Anlaß 
zum  Kampf  gegen  den  Baalskultus  überhaupt,  gegen  die  zwischen 
Baal  und  Jahve  schillernde  Unentschiedenheit,  von  der  sich  nur 
wenige  in  Israel  ganz  frei  gehalten  hatten.  Ihm  bedeuteten  Baal 
und  Jahve,  wie  man  annehmen  möchte,  einen  Gegensatz  der  Prin- 
zipien, der  letzten  und  tiefsten  praktischen  Überzeugungen;  sie  konn- 
ten nicht  beide  Recht  haben  und  neben  einander  bestehn.  Für  ihn 
gab  es  nicht  auf  verschiedenen  Gebieten  deichberechtig;te  anbetuno-s- 


Vou  Jerobeam  I.  bis  zu  Jerobeam  IL  79 

würdige  Kräfte,  sondern  überall  nur  ein  Heiliges  und  ein  Mäch- 
tiges, das  nicht  in  dem  Leben  der  ]S'atur,  sondern  in  den  Gesetzen 
der  menschlichen  Gemeinschaft,  durch  die  allein  sie  bestehn  kann, 
in  den  sittlichen  Forderungen  des  Geistes  sich  offenbarte.  Er  sah 
auch  den  Kampf  der  Götter  nicht,  wie  es  hergebracht  war,  für 
einen  Kampf  der  Nationalitäten  an.  Der  Gott  Israels  hatte  ganz 
unabhängig  von  Israel  seinen  eigenen  ewigen  Inhalt,  er  identifizirte 
sich  nicht  mit  seinem  Volke  und  dessen  je\^■eiligen  Wünschen  und 
Zielen.  Besonders  wichtig  in  dieser  Hinsicht  ist  der  Standpunkt, 
welchen  Elias  zu  den  schweren  Unglücksfällen  und  Drangsalen 
einnimmt,  die  damals  über  sein  Volk  hereinzubrechen  begannen 
und  es  an  den  Rand  des  Unterganges  brachten.  Sie  werden  ihm 
zum  voraus  angekündigt,  um  seine  Klage  zu  beschwichtigen,  daß 
seine  Arbeit  vergeblich  gewesen  sei;  es  ist  ihm  ein  Trost  zu  hören, 
daß  nur  diejenigen,  die  ihre  Knie  nicht  dem  Abgott  gebeugt  haben, 
siebentausend  Manu,  von  Israel  übrig  bleiben,  alle  anderen  dem 
Schwert  zum  Opfer  fallen  sollen').  Wenn  Jahve  über  den  Baal 
triumphirt,  so  hat  Elias  seinen  Zweck  erreicht,  mag  Israel  darüber 
bis  auf  einen  kleinen  Rest  zusammenschwiuden.  Das  ist  der  Ein- 
druck, den  der  Erzähler  der  Theophanie  auf  dem  Horeb  von  dem 
Wirken  dieses  Propheten  hat,  und  schwerlich  ist  sein  Eindruck 
unrichtig  gewesen.  Die  Gottesidee  begann  damals  in  Einzelnen, 
wie  es  scheint,  sich  über  die  nationale  Schranke  zu  erheben. 
Ähnliches  Geistes  Kind  wie  Elias,  und  ebenso  einsam  stehend  wie 
er,  war  sein  Zeitgenosse  Micha  ben  Jimla,   der  im  Namen  Jahves 


')  Nach  der  vulgären  Erklärung  von  1  Reg.  19  soll  Elias,  der  Schlächter 
der  Baalspfaffeu,  durch  die  Theophanie  bedeutet  werden,  er  solle  nicht  so 
heftig,  sondern  fein  sanft  sich  benehmen;  das  sei  Jahve  gemäß.  Aber  Elias 
ist  in  Verzweiflung,  weil  er  vergeblich  gearbeitet  hat,  und  er  wird  von  Jahve 
damit  getröstet,  daß  nicht  bloß  die  Baalspriester,  sondern  alle  Baalsdiener 
in  Israel,  hunderttausende,  ausgerottet  werden  sollen.  Das  sanfte  Säuseln 
Jahves  kann  also  unmöglich  seiner  eigenen  Sturmnatur  als  mahnendes  Vorbild 
entgegen  gehalten  werden.  Jene  sentimentale  Ausdeutung  der  Theophanie  ist 
ein  abscheuliches  Misverständnis,  an  dem  allerdings  eine  Verunstaltung  des 
Textes  zum  Teil  die  Schuld  trägt;  vgl.  die  Kompos.  des  Hex.  p.  280  n.  1. 
Die  Theophanie  ist  rein  sinnlich  und  malerisch;  ihre  Phasen  folgen  sich  der 
Natur  gemäß  und  enthalten  keinerlei  moralischen  Gegensatz.  Sturm  und  Beben 
und  Blitze  sind  Jahves  Vorreiter,  darnach  kommt  er  selbst  in  dem  leisen 
Säuseln,  womit  das  Gewitter  schließt,  und  macht  sich  dem  Propheten  ver- 
nehmlich. 


80  Fünftes  Kapitel. 

Unlieil  schaute  über  Israel  —  ganz  gemäß  dem  Wesen  des  wahren 
Propheten,  wie  es  Jahrhunderte  später  Jereraias  (28,  8)  bestimmte, 
an  den  man  überhaupt  durch  Micha  ben  Jimla  sich  erinnert  fühlt. 
3.  Diese  Männer  waren  ein  Vorspiel  der  Zukunft,  für  die 
Gegenwart  war  ihr  Wollen  verloren.  Was  die  unmittelbaren  Nach- 
folger Elias  von  ihm  verstanden  hatten,  beschränkte  sich  darauf, 
daß  man  den  Baalsdienst  in  Samarien  und  das  Haus  Ahabs  dazu 
mit  Stumpf  und  Stiel  ausrotten  müsse.  Zu  diesem  praktischen 
Ziel  benutzte  Elisa  ben  Saphat  von  Abel  Mechola  am  Jordan,  der 
Jünger  Elias,  praktische  Mittel.  Als  einst  Elias  wie  ein  Blitz  auf 
König  Ahab  getroffen  war,  wie  er  am  Tage  nach  der  Hinrichtung 
Naboths  dessen  Acker  in  Besitz  nahm,  und  ihm  den  blutigen 
Untergang  gedroht  hatte,  war  ein  Kriegsoberster  zugegen  gewesen, 
Jehu  ben  Nimsi;  der  Auftritt  war  ihm  unvergeßlich  geblieben. 
Dieser  Mann  nun  stand  an  der  Spitze  der  Truppen  in  Ramath 
Gilead,  nachdem  Joram  ben  Ahab  sich  vom  Kriegsschauplatze  hatte 
zurückziehen  müssen,  um  sich  in  Jezreel,  dem  Lieblingsaufenthalt 
der  Könige  aus  dem  Hause  Omri,  von  einer  Verwundung  heilen  zu 
lassen.  Dem  Elisa  schien  der  Augenblick  geeignet  zur  Vollstreckung 
der  Drohung  Elias  gegen  das  Haus  Ahabs.  Er  sandte  einen  Pro- 
pheten nach  Rama  mit  dem  Befehl  Jehu  zum  Könige  zu  salben. 
Der  Bote  fand  ihn  in  einer  Gesellschaft  von  Hauptleuten.  Er  rief 
ihn  heraus  in  ein  heimliches  Gemach,  goß  Ol  auf  sein  Haupt  und 
verkündete  ihm,  Jahve  habe  ihn  zum  Könige  über  sein  Volk 
gesalbt.  Dann  öffnete  er  die  Tür  und  verschwand.  Als  Jehu 
wieder  zum  Vorschein  kam,  fragten  ihn  seine  Kameraden,  was  der 
Verrückte  gewollt  habe;  nach  einigen  Ausflüchten  sagte  er  ihnen 
die  Wahrheit.  Da  breiteten  sie  ihre  Kleider  auf  dem  Altan  aus 
als  Teppiche  unter  seinem  Stuhl,  ließen  ins  Hörn  blasen  und  aus- 
rufen: Jehu  ist  König  geworden ').  Es  wurde  beschlossen,  sofort  mit 
einem  reisigen  Haufen  den  Joram  in  Jezreel  zu  überfallen,  ehe  ihn 
die  Kunde  von    dem   Vors-ange    erreiche.     Der  Wächter  auf   dem 


')  Ganz  so  drastisch,  wie  es  hier  und  bei  der  ganzen  Revolution  scheint, 
ist  es  doch  nicht  zugegangen.  Das  erhellt  aus  den  in  den  Hauptbericht  nach- 
getragenen trockenen  Angaben  2  Reg.  9,  14.  15.  Nach  1  Reg.  19,  16  ist  Jehu 
auch  gar  nicht  erst  von  einem  Jünger  Elisas  gesalbt  worden,  sondern  lange 
vorher  durch  den  Propheten  Elias.  Dieser  wird  nun  dabei  allerdings  nicht  die 
Hand  im  Spiel  gehabt  haben,  aber  historisch  wertvoll  ist  doch  die  Voraus- 
setzung, daß  die  Salbung  nicht  erst  im  letzten  Moment  geschah. 


Von  Jerobeam  I.  bis  zu  Jerobeam  II.  31 

Turm  von  Jezreel  sali  die  Anstürmenden  von  ferne,  Joram  sandte 
ihnen  einen  Reiter  entgegen  und  noch  einen  zweiten,  um  Nachricht 
einzuziehen;  beide  kehrten  nicht  wieder.  Inzwischen  kamen  die 
Wagen  und  Reiter  näher;  der  Wächter  erkannte  an  dem  tollen 
Jagen  den  Jehu.  Darauf  ließ  Joram  anspannen  und  fuhr  selber 
dem  Jehu  entgegen.  Bei  dem  Acker  Naboths  traf  er  ihn  und 
fragte,  was  geschehen  sei;  die  Antwort,  die  er  erhielt,  veranlaßte 
ihn  schleunig  umzuwenden.  Aber  Jehu  schoß  ihm  einen  Pfeil 
durch  den  Rücken  ins  Herz;  die  Leiche  ließ  er  durch  den  Schild- 
knappen, der  neben  ihm  im  Wagen  stand,  auf  den  Acker  Naboths 
werfen.  „Denn  ich  gedenke,  als  wir  paarweise  hinter  Ahab  her 
ritten,  wie  Jahve  über  ihn  den  Spruch  tat:  fürwahr  das  Blut  Na- 
boths und  seiner  Söhne  habe  ich  gestern  fließen  sehen,  und  ich 
zahle  es  dir  heim  auf  diesem  Acker."  Bei  seiner  Einfahrt  in 
Jezreel  guckte  die  Königin-Mutter  Izebel  festlich  geschmückt  aus 
dem  Fenster  und  rief  ihm  einen  höhnischen  Gruß  zu.  Er  ließ 
sie  von  zwei  ihrer  eigenen  Kämmerer  auf  die  Straße  stürzen,  ging 
darauf  in  den  Palast,  setzte  sich  zu  Tisch  und  ließ  es  sich  gut 
schmecken.  Alle  übrigen  vom  Hofgesinde  zu  Jezreel,  Verwandte, 
Beamte  und  Priester  Ahabs,  verfielen  gleichfalls  dem  Tode.  Aber 
die  Hauptstadt  des  Reiches,  der  eigentliche  Sitz  der  Dynastie  und 
der  Wohnort  der  Hauptmenge  ihrer  Angehörigen,  war  nicht  Jezreel, 
sondern  Samarien.  Dahin  schrieb  nun  Jehu  einen  Brief  an  die 
Obersten  und  Altesten  der  Stadt  mit  der  Aufforderung,  den  besten 
und  tüchtigsten  unter  den  Königssöhnen  auf  den  Thron  zu  setzen 
und  für  ihn  zu  kämpfen.  Sie  antworteten:  wir  sind  deine  Knechte, 
wir  wollen  alles  tun,  was  du  uns  sagst,  wir  wollen  niemand  zum 
König  machen,  tu,  was  dir  gefällt.  Nun  befahl  er  ihnen  in  einem 
zweiten  Briefe,  alle  Königssöhne  umzubringen,  die  sie  bei  sich 
hätten.  Da  schlachteten  sie  sie  alle,  ihrer  siebzig  Mann,  legten 
ihre  Häupter  in  Körbe  und  schickten  sie  ihm  nach  Jezreel,  wo  sie 
am  Tore  aufgeschichtet  wurden.  Als  er  am  anderen  Morgen  die 
beiden  Haufen  sich  betrachtete,  sprach  er  seine  Verwunderung  aus 
über  den  Eifer  seiner  freiwilligen  Mitarbeiter,  deren  Mut  er  so 
richtig  geschätzt  hatte.  Mit  leichter  Mühe  hatte  er  sein  Spiel  ge- 
wonnen^ er  fuhr  nun  selber  sofort  nach  Samarien  und  vollendete 
dort  sein  Blutwerk  an  dem  Rest  des  Hauses  und  des  Hofes  Ahabs. 
Dann  ging  er  an  den  anderen  Teil  seiner  Aufgabe.  Unter  dem 
Verwände,  dem  Baal  ein  Fest  feiern  zu  wollen,  versammelte  er  die 

Wellhausen,  Isr.  Geschichte.    5.  Aufl.  Q 


82  Fünftes  Kapitel. 

in  der  Hauptstadt  befindlichen  Priester  und  Propheten  des  Gottes 
in  dessen  Tempel.  Er  selber  brachte  das  Opfer;  nachdem  er  damit 
fertig  war,  gab  er  seinen  Trabanten  einen  Wink,  die  draußen 
zurückgeblieben  waren.  Sie  drangen  in  das  Heiligtum  ein  und 
ließen  niemand  lebendig  hinaus.  Hernach  zerschlugen  sie  die  Säule 
des  Baal'  und  zerstörten  sein  Haus;  die  Trümmer  dienten  später 
zu  einem  Abort. 

Aus  der  Weise,  wie  Jehu  die  Priester  und  Propheten  des  Baal 
in  die  Falle  lockte,  geht  hervor,  daß  niemand  bisher  daran  dachte, 
in  ihm  den  Vorkämpfer  Jahves  zu  erblicken.  Seine  Verbindung 
mit  den  Propheten  war  geheim,  Elisa  hielt  sich  im  Hintergründe; 
wenn  es  richtig  ist,  daß  Jonadab  ben  Rekab,  der  Stifter  der  Recha- 
biten,  mit  ihm  auf  seinem  Wagen  in  Samarieil  einfuhr,  so  kann 
dieser  noch  nicht  allgemein  als  Baalshasser  bekannt  gewesen  zu 
sein.  Der  Baal  ist  es  nicht  gewesen,  der  das  Haus  Ahabs  zu  Eall 
gebracht  hat,  sondern  gemeiner  Verrat.  Die  Eiferer  haben  ein  recht 
unheiliges  Werkzeug  zu  ihren  Zwecken  aufgeboten,  von  dem  sie 
dann  selbst  als  heiliges  Mittel  zu  seinen  Zwecken  benutzt  wurden. 
Es  ist  ihnen  keineswegs  gelungen,  das  Volk  zum  Sturm  gegen  den 
Baal  mit  fortzureißen.  Von  einer  allgemeinen  Bewegung  gegen  die 
Dynastie  wurde  Jehu  nicht  getragen,  die  Menge  stand  wie  gelähmt 
vor  den  Schlag  auf  Schlag  sich  folgenden  Greueln,  noch  hundert 
Jahre  später  war  der  Schauder  über  die  Bluttat  von  Jezreel  lebendig. 
Die  ganze  große  Umwälzung  wurde  durch  eine  Offiziersverschwö- 
rung zu  Stande  gebracht.  Jehu  hatte  nur  die  Berufssoldaten  hinter 
sich,  mit  denen  konnte  er  noch  damals  ähnliches  ausrichten  wie 
dreihundert  Jahre  früher  Abimelech  mit  einer  handvoll  loser  Leute. 
Man  sieht  die  Schwäche  des  Königtums  in  Israel,  es  ruhte  nur  auf 
dem  Heere  und  den  Kriegsobersten.  Das  Volk  zeigte  sich  merk- 
würdig apathisch  und  feige,  es  ließ  sich  von  dem  verwegenen  Manne, 
der  so  entschieden  und  so  sorglos  auftrat,  alles  bieten  und  kam 
erst  zur  Besinnung,  als  er  das  Spiel  gewonnen  hatte. 

Jehu  begründete  die  zweite  und  letzte  Dynastie  des  Reiches 
Samarien.  ]\Iit  der  Erbschaft  des  Hauses  Omri  fiel  ihm  auch  die 
Aufgabe  zu,  sich  der  Ai»amäer  von  Damaskus  zu  erwehren.  Da 
er  ihnen  nicht  gewachsen  war,  suchte  er  an  ihren  alten  Feinden, 
den  Assyrern,  eine  Stütze  zu  gewinnen.  Seine  Gesandten  brachten 
dem  assyrischen  Könige  Geschenke  dar,  wol  keine  regelmäßigen, 
sondern   einmalige,    die  nur  von   der  Eitelkeit  des  Großkönigs  als 


Vou  Jerobeaiu  I.  bis  zu  Jerobeam  II.  83 

Tribiitleistungen  eines  Vasallen  aufgefaßt  wurden.  Gleichzeitig  be- 
warb sich  freilich  auch  Hazael  von  Damaskus  mit  Geschenken  bei 
dem  Assyrer;  er  scheint  indessen  damit  nichts  erreicht  zu  haben. 
Denn  in  den  Jahren  842  und  839  erfolgten  wiederum  assyrische 
Feldzüge  gegen  die  syrischen  Aramäer.  Dann  aber  hörten  die- 
selben für  lange  Zeit  auf,  und  die  samarischen  Könige,  Jehu  und 
seine  beiden  Nachfolger,  waren  auf  sich  selber  angewiesen.  Das 
waren  schlimme  Zeiten  für  Israel.  Mit  hartnäckiger  Grausamkeit 
wütete  die  Grenzfehde  im  Lande  Gilead;  dazwischen  kamen  auch 
große  Expeditionen  vor,  deren  eine  den  König  Hazael  bis  in  das 
Philisterland  und  bis  unter  die  Mauern  von  Jerusalem  führte. 
Amnion  und  Moab  sekundirten  den  Syrern;  auch  die  Philister 
machten  sich  die  Situation  zu  nutz^).  Nur  durch  die  größte  An- 
strengung ward  die  Selbständigkeit  Israels  gerettet.  Noch  einmal 
ging  die  Religion  Hand  in  Hand  mit  der  Nation;  in  merkwürdigem 
Gegensatz  zu  seinem  Vorgänger  Elias  war  der  Prophet  Elisa  die 
Hauptstütze  der  Könige,  Wagen  und  Reiter  Israels  im  Kampf  gegen 
die  Aramäer.  Es  gelang  endlich  dem  Enkel  Jehus,  Joas  ben  Joahaz, 
ihnen  mehrere  und  entscheidende  Schläge  beizubringen.  Unter  Joas' 
Sohne,  Jerobeam  IL,  erstieg  das  Reich  sogar  einen  Gipfel  äußerer 
Macht,  der  an  die  Zeiten  Davids  erinnern  konnte.  Moab  wurde 
wieder  unterworfen,  die  südöstliche  Grenze  reichte  bis  an  den  Bach 
der  Heide,  im  Nordosten  wurden  Karnaim  und  Lodebar  erobert'). 
Die  aramäische  Gefahr  war  durch  den  Königsstamm  Joseph  und 
seinen  erstgeborenen  Stier,  den  Gesalbten  Jahves,  abgewiesen.  „Sein 
erstgeborener  Stier  hat  Hörner,  mit  denen  er  die  Völker  stößt,  das. 
sind  die  Myriaden  Ephraims  und  die  Tausende  Manasses,"  „Die 
Pfeilschötzen  reizten  und  schössen  ihn,  aber  sein  Bogen  blieb  zu- 
verlässig und  seine  Arme  spannkräftig."  Gilead  blieb  Israel  er-, 
halten,  Laban  und  Jakob  schlössen  einen  Friedensvertrag,  wodurch 
die  Grenze  zwischen  ihren  Völkern  bestimmt  und  gesichert  wurde. 


1)  Arnos  1.    Isa.  9,  11. 

^)  Arnos  6,  13.     Isa.  15.  16.     Moab  scheint  sich  von   dem  Schlage   nicht 
■wieder  erholt  zu  haben;  Ammon  tritt  hinfort  an  die  Stelle. 


34  Sechstes  Kapitel. 

Sechstes  Kapitel. 

Gott  Welt  und  Leben  im  alten  Israel. 

1.  Hier  ist  der  Ort,  vor  dem  Auftreten  derjenigen  Propheten, 
welche  das  neue  Israel  schufen,  einen  kurzen  Blick  auf  das  alte 
zu  werfen,  welches  mit  dem  Reiche  Samarien  unterging.  Von  einer 
früheren  Periode  als  dem  Jahrhundert  von  850 — 750  läßt  sich 
kaum  eine  Statistik  geben.  Denn  während  die  großen  Begeben- 
heiten der  Geschichte  ziemlich  zuverlässig  durch  lange  Zeit  be- 
wahrt werden  können,  ist  für  die  Schilderung  von  Zuständen, 
wenn  sie  nicht,  wie  in  Arabien,  stagniren,  eine  gleichzeitige  Lite- 
ratur unentbehrlich.  Die  hebräische  Literatur  aber  erblühte  erst 
ia  dieser  Periode,  namentlich  wie  es  scheint  nach  der  glücklichen 
Abwehr  der  Syrer.  Geschrieben  wurde  zwar  schon  früh'),  aber  nur 
Urkunden,  Rechnungen  und  Verträge,  außerdem  Briefe,  w'enn  der 
Inhalt  der  Botschaft  das  Tageslicht  scheute  oder  aus  anderen 
Gründen  geheimgehalten  werden  sollte;  die  ältesten  Aufzeichnungen 
sind  kurz  und  undeutlich,  als  ob  sie  nur  Hilfen  und  Anhaltspunkte 
der  Erinnerung  sein  sollten,  man  sparte  an  der  Schrift.  Früh  ent- 
wickelte sich  auch  im  Zusammenhange  mit  der  Religion  der  histo- 
rische Sinn  des  Volkes,  die  großen  Taten  Jahves  d.  i.  Israels  wurden 
in  Liedern  besungen,  aber  diese  Lieder  wurden  ursprünglich  nur 
mündlich  überliefert.  Die  Literatur  begann  mit  der  Sammlung  und 
Aufzeichnung  derselben,  das  Buch  der  Kriege  Jahves  und  das  Buch 
des  Redlichen  waren  die   ältesten  Geschichtsbücher").     Dann  ging 


^)  Die  Briefe  von  Tel  Amarua  sind  noch  nicht  in  phönlcischen  Buch- 
staben, sondern  in  babylonischen  Keilzeichen  geschrieben,  nicht  lange  vor  der 
Einwanderung  der  Israeliten.  Die  älteste,  bis  jetzt  gefundene  Inschrift  in  Buch- 
staben scheint  die  auf  der  Schale  von  Limassol  zu  sein.  Die  Angabe  Jud.  8,  14 
ist  verdächtig. 

2)  Num.  21,  14.  Jos.  10,  13.  2  Sam.  1,  18.  1  Reg.  8,53  Sept.  Die 
als  Beläge  in  die  Erzählung  der  historischen  Bücher  aufgenommenen  Lieder, 
zu  denen  2  Sam.  22.  23,  1 — 7  nicht  gehören,  sind  inhaltlich  von  den  Psalmen 
sehr  verschieden,  gleichen  ihnen  aber  in  der  poetischen  Form.  Die  Form  ist 
das  Sag',  das  sich  bei  den  Arabern  von  alter  Zeit  her  im  Munde  der  Seher  bis 
auf  Muhammed  erhalten  hat.  Eine  Anzahl  ganz  kurzer,  vielfach  paralleler  Sätze 
wird  durch  den  Sinn  zu  einem  Verse  zusammengefaßt.  Der  Reim,  der  im  Ara- 
bischen die  Kola  auch  äußerlich  zu  einem  größeren  Ganzen  verbindet,  fehlt  im 
Hebräischen  noch:  dafür  ist  vielleicht  die  Zahl  der  Kola  etwas   fester  begrenzt. 


Gott  Welt  und  Leben  im  alten  Israel.  85 

man  dazu  über,  auch  in  Prosa  Geschichte  zu  schreiben,  unter  Be- 
nutzung von  Urkunden  oder  Familienerinnerung;  in  den  Büchern 
der  Richter,  Samuelis  und  der  Könige  ist  uns  ein  ziemlicher  Teil 
dieser  alten  Historiographie  erhalten,  verbunden  mit  Annalen  der 
Könige').  Gleichzeitig  wurden  auch  schon  Sammlungen  von  Rechts- 
grundsätzen undWeistümern  aufgeschrieben,  wovon  wirinExod.  21.22 
ein  Beispiel  besitzen.  Erst  später  folgte  die  Aufzeichnung  der  Sagen 
über  die  Patriarchen  und  über  die  Urzeit,  welche  nicht  sehr  früh 
entstanden  sein  können.  Merkwürdig  insonderheit  ist  das  Auf- 
kommen einer  schriftlichen  Prophetie.  Den  Propheten  lag  doch  das 
Schreiben  nicht  nahe;  sie  wirkten  persönlich  und  unmittelbar  durch 
das  Wort.  Noch  Elias  und  Elisa  haben  nicht  geschrieben.  Warum 
aber  griff  hundert  Jahre  später  Arnos  zur  Feder?  Es  läßt  sich  kaum 
anders  erklären  als  durch  den  literarischen  Zug  seines  Zeitalters"). 
Wir  beginnen  mit  unserer  Statistik  bei  den  Familienverhält- 
nissen. Polygamie  war  selten,  Monogamie  die  Regel,  doch  galt  es 
für  unanstößig,  Kebsweiber  zu  haben  oder  in  einer  fremden  Stadt 
bei  Huren  Herberge  zu  halten.  Sitte  und  Liebe  wies  den  Ehefrauen 
eine  angesehene  Stellung  an^),  aber  Spuren  von  einem  Recht,  wo- 
nach sie    gekauft  wurden  und  dann  zum  vererbungsfähigen  Besitz 


^)  Letztere  ganz  in  der  Form  der  tyrischeu  Annalen:  Hirom  ward  König 
im  Alter  von  5o  Jahren  und  regierte  34  Jahre;  ißaatXs'jaEv  hat  gerade  wie  va- 
jimlok  den  doppelten  Sinn:  er  ward  König  und  regierte  (Josephus  c.  Ap.  1,  117). 
Den  unter  dem  Personal  der  Hofbeamten  aufgeführten  Mazkir  darf  man  aber 
mit  den  ganz  kurzen  und  immer  erst  nach  dem  Tode  des  betreffenden  Königs 
verfaßten  Annalen  nicht  in  Verbindung  bringen. 

-)  Die  historische  Literatur  des  alten  Testaments  ist  anonym,  die  poeti- 
sche nicht  durchaus,  die  prophetische  durchaus  nicht.  Jeremias  ("23,  30)  schilt 
auf  Diebe,  die  das  Wort  Jahves  anderen  abstehlen. 

^)  Nach  Gen.  2.  3  ist  die  Frau  die  ebenbürtige  Gehilfin  des  Mannes. 
Daß  sie  seiner  Herrschaft  unterworfen  ist  und  daß  sie  mit  Schmerzen  Kinder 
gebiert,  gilt  als  ein  Fluch,  als  eine  Verkehrung  des  Ursprünglichen.  Der 
Mann  verläßt  Vater  und  Mutter,  um  mit  seinem  Weibe  eine  neue  und  unab- 
hängige Familiengemeinschaft  zu  gründen.  Jedoch  der  Umstand,  daß  der  Priester 
nur  um  seine  nächsten  Blutsverwandten,  nicht  aber  um  seine  Frau  trauern  darf, 
zeigt,  daß  die  Frau  doch  nicht  völlig  zur  Familie  gehörte,  nicht  völlig  mit  dem 
Manne  zu  einem  Fleisch  (Gen.  4,  24  =  Verwandtschaft)  verwachsen  war.  Als 
Mutter,  Söhnen  gegenüber,  hatte  sie  eine  ganz  andere  Stellung  wie  als  Gattin. 
Auf  Ehebruch  der  Frau  stand  die  Steinigung  oder  nach  Gen.  38  (bei  einer 
Witwe)  die  Verbrennung. 


86  Sechstes  Kapitel, 

gehörten,  erhielten  sich  noch  bis  in  dieses  Zeitalter ').  Verwandten- 
heirat, sogar  mit  der  Halbschwester,  war  nicht  verpönt,  der  Vater 
gab  seine  Tochter  lieber  einem  Vetter  als  einem  anderen  Manne '). 
Über  die  Kinder  hatten  die  Eltern  volle  Gewalt,  sie  durften  sie 
opfern  und  auch  in  Sklaverei  verkaufen,  doch  wurde  ein  großer 
Unterschied  zwischen  Söhnen  und  Töchtern  gemacht ').  Die  Sklaverei 
scheint  nicht  das  schlimmste  Los  gewesen  zu  sein.  Die  Knechte 
und  Mägde  standen  gesellschaftlich  ihren  Herren  und  Frauen  ziem- 
lich gleich  und  waren  sogar  rechtlich  einigermaßen  geschützt.  Die 
Sklaverei  hatte  nicht  die  politische  Bedeutung  wie  bei  den  Griechen 
und  Römern;  sie  hätte  aufgehoben  werden  können,  ohne  daß  da- 
durch dem  Gemeinwesen  seine  Grundlage  entzogen  wäre. 

Die  Ansässigkeit  war  jetzt  vollkommen  durchgedrungen,  der 
unterschied  zwischen  Hebräern  und  Kanaaniten  entweder  ver- 
schwunden oder  zu  einem  bloßen  Standesunterschiede  geworden. 
Erscheinungen  wie  Goal,  Jephtah,  Simson,  David  in  der  Wüste 
Juda,  w^ären  in  dieser  Zeit  kaum  möglich  gewesen;  an  die  Stelle 
des  freien  schweifenden  Lebens  war  ein  ganz  anderes  Ideal  getreten, 
wie  die  Patriarchen  zeigen.  Die  Hirten  nomadisirten  nicht  mehr, 
Jakob  blieb  daheim  bei  den  Hürden,  während  Esau  schweifte.  Die 
Viehzucht  überwog  nur  noch  strichweise,  zum  Beispiel  in  Teilen 
von  Juda  und  vom  Ostjordanlande,  im  ganzen  trat  sie  zurück 
gegen   die  Ackerwirtschaft').     Der  Feld-  und  Gartenbau  galt   als 

1)  Gen.  35,22.  49,4.  2  Sam.  3,  7.  12,8.  11.  16,21s.  1  Reg.  2,  22. 

■)  Gen.  20,  12.  29,  19.  2  Sam.  13,  13.  Die  weitgehenden  Beschränkungen 
Lev.  18  lind  20,  Dt.  27, 20-23  stammen  größtenteils  aus  sehr  später  Zeit; 
vgl.  Dt.  23,  1.  25,  6  (dagegen  Lev.  18,  16.  20,  21.  Dt.  27,  25).  Heiraten  mit  Aus- 
länderinnen waren  nicht  verboten;  für  die  Erhebung  einer  Kriegsgefangenen 
zur  Ehefrau  werden  besondere  Vorschriften  gegeben  Dt.  21,  10  ss. 

3)  Auf  störrischer  Vernachlässigung  und  Lästerung  der  Eltern,  auch  der 
Mutter,  stand  der  Tod;  die  Strafe  konnte  allerdings  nur  von  dem  Gemeiude- 
gericht  verhängt  und  vollzogen  werden,  aber  in  ältester  Zeit  war  der  patria 
potestas  diese  Schranke  schwerlich  gezogen.  Der  freiwillige  Verkauf  wird  nur 
bei  der  Tochter  erwähnt  Exod.  21,7.  Er  unterschied  sich  nicht  viel  von  der 
Dahingabe  der  Tochter  zur  Ehe,  die  ebenfalls  für  Geld  geschah.  In  dem  Falle 
2  Reg.  4,  1  verlangt  der  Gläubiger  von  der  Witwe  den  Verkauf  ihrer  Kinder; 
vgl.  Mich.  2,  9,  lob.  24,  9. 

')  Das  Rind  diente  zum  Pflügen,  der  Esel  zum  Reiten;  Kamele  gab  es 
in  ^  dem  gebirgigen  Lande  nicht.  Ein  und  das  andere  nomadische  Wort  ist 
beibehalten,  z.  B.  nave  (das  Reiseziel,  daher  sowol  die  Weide  als  die 
Wohnung). 


Gott  Welt  imd  Leben  im  alten  Israel.  37 

der  eigentliche  Beruf  des  Menschen');  geruhig  unter  seiner  Rebe 
und  unter  seinem  Feigenbaum  zu  sitzen,  war  das  Ziel  der  Wünsche 
eines  richtigen  Israeliten.  Von  freiwilliger  Fruchtbarkeit  war  das 
Land  freilich  nicht,  die  Wüste  fraß  um  sich,  wo  ihr  nicht  ent- 
gegengearbeitet wurde.  Aber  der  Schweiß  des  Angesichts  tat  hier 
Wunder.  Die  terrassirten  Berge  waren  mit  Wein  und  Oliven 
bedeckt,  die  Täler  und  Ebenen  trugen  Weizen  und  Gerste  die  Fülle. 
Offenbar  stand  der  Anbau  auf  einer  sehr  hohen  Stufe').  Handwerke 
und  Künste  dagegen  arbeiteten  nur  für  den  einfachen  Hausbedarf; 
Weben,  Töpfern,  Zimmern  und  Schmieden  waren  die  wichtigsten. 
Bei  goldenen  Geräten  wird  das  Gewicht,  nicht  die  Kunst  geschätzt 
(Gen.  24, 22),  wie  sie  auch  sonst  im  Orient  einfach  in  Zahlung 
gegeben  werden,  selbst  nachdem  es  schon  Münzgeld  gab. 

Die  hergebrachte  Lebensweise  war  einfach.  Die  Ortschaften 
waren  meistens  'offen,  gemeiniglich  auf  halber  Höhe  eines  Hügels 
gelegen,  unterhalb  des  Altars  und  der  Tenne  und  oberhalb  des 
W^assers.  Ringmauern  waren  in  alter  Zeit  kaum  vorhanden;  die 
Befestigung  bestand  iu  einer  Burg,  wohin  sich  die  Bevölkerung  in 
Zeiten  der  Not  zurückzog').  Die  Häuser  wurden  aus  Lehm  gebaut 
und  hatten  in  der  Regel  nur  ein  Zimmer,  das  Licht  kam  durch 
vergitterte  Luken;  aus  denen,  die  am  Dach  angebracht  waren,  zog 
der  Rauch*).  Der  Herd  hatte  keine  feste  Stellung  im  Hause  und 
keine    religiöse  Bedeutung');    in    dem  Punkte    berührten  sich   die 


')  Gen.  2, 15.  3,  17  ss.  Die  Verordnungen  Exod.  21.  22  beschäftigen  sich 
nur  mit  bäuerlichem  Privatrecht.  In  Gen.  4,  20—22  dagegen  werden  die  Acker- 
bauer gar  nicht  genannt,  sondern  nur  die  Hirten,  Musikanten  und  Schmiede. 
Eine  Aufzählung  von  Getreidearten  und  Sämereien  findet  sich  Isa.  28, 23  ss. 
Die  Gartenvegetation  hat  sich  in  der  persischen  und  griechischen  Zeit  sehr 
verändert,  wie  man  namentlich  aus  dem  Hohenliede  ersieht. 

■)  Künstliche  Bewässerung  in  größerem  Maße  fand  nicht  statt  (Deut. 
11,  10  s.).  Darum  wird  in  Exod.  21  s.  vom  Wasserrecht  nicht  gehandelt,  welches 
sonst  in  einer  Bauerngesetzgebimg  nicht  hätte  fehlen  dürfen. 

3)  Jud.8,9.  17.  9,6.  20.  51.  Die  Burg  von  Sichern  und  auch  die  von 
Jerusalem  heißt  Beth  Millo.     Migdol  ist  eigentlich  nur  ein  Turm. 

*)  Os.  13,  3.  Nach  Marc.  2,4  war  die  Stiege  außen  am  Hause  angebracht; 
ebenso  bei  den  Arabern  (Vaqidi  170.  Baladh.  46,  15.  Tabari  1  1379,  7).  Die 
Araber  haben  für  Haus  und  Zimmer  nur  ein  Wort. 

')  Es  gibt  im  Hebräischen  kaum  ein  Wort  für  den  Herd,  der  Name 
aschphot  (J.D.Michaelis  Suppl.  No.  187)  hat  bezeichnenderweise  die  Be- 
deutung  „Dreckhaufen"    angenommen.     Das   zeigt   den   Unterschied  von   dem 


88  Sechstes  Kapitel. 

Israeliten  mit  den  Arabern  und  unterschieden  sich  von  den  Griechen, 
denen  sie  sonst  in  den  Dingen  des  täglichen  Lebens  viel  näher 
standen.  Die  Möblirung  eines  Obergemachs  wird  einmal  be- 
schrieben, sie  bestand  aus  Lagerstatt,  Tisch,  Stuhl  und  Leuchter. 
Die  allgemeine  Tracht  war  Rock  und  Mantel,  d.  h.  Unterkleid  und 
Überwurf;  der  Überwurf  diente  auch  als  Schlafdecke').  Stab  und 
Siegelring  kamen  hinzu.  Die  Füße  wurden  geschützt,  Kopfbedeckung 
dagegen  war  nicht  üblich.  Fleisch  gab  es  für  den  gemeinen  Mann 
nur  an  den  Opfertagen,  dreimal  im  Jahr,  zu  essen;  das  war  auch 
vorzugsweise  die  Gelegenheit,  Wein  zu  trinken.  Gewöhnlich 
mußten  Mehl  und  Ol  für  die  Küche  genügen,  beides  wurde  in 
irdenen  Krügen  aufbewahrt.  Das  Brot,  von  Gerste  und  späterhin 
gewöhnlich  von  Weizen,  wurde  in  der  Regel  gesäuert").  Die  alte 
Hauptmahlzeit  fand,  wie  es  scheint,  nicht  abends  sondern  mittags 
statt  ^).  Verglichen  mit  den  Ägyptern  kamen  sich  die  Israeliten 
robust  und  unverzärtelt  vor,  weniger  von  Krankheiten  geplagt. 
Jahve  Avar  ihr  Arzt;  sie  brauchten  keine  Heilküustler,  kaum  Heb- 
ammen. 


indoeuropäischen  Herde,  dem  Hausaltar;  für  das  nicht  verlöschende  Herdfeuer 
tritt  bei  den  Hebräern  die  ewige  Lampe  ein.  Das  älteste  Mittel,  dessen  man 
sich  zum  Garmachen  bediente,  waren  glühende  Steine  (ri(,^pha,  ebenso 
arabisch  und  auch  syrisch).  Man  tat  sie  in  einen  Eimer  oder  Schlauch,  um 
das  Wasser  oder  die  Milch  heiß  zu  machen;  man  legte  sie  in  Reihen  auf  die 
Asche,  um  zu  backen  und  zu  braten,  der  Ofen  ist  ursprünglich  nur  ein  Schlot 
darüber. 

1)  Exod.  22,26.     Am.  2,  8. 

^)  Das  Wort,  das  die  Hebräer  für  Olivenöl  gebrauchen,  bedeutet  im 
Arabischen  Butterschmalz.  Auch  das  irdene  Gerät  —  bei  nebel  findet  sich 
der  Bedeutungsübergang  von  Schlauch  zu  Krug  —  unterscheidet  sie  höchst 
charakteristisch  von  den  Arabern;  sie  nehmen  es  sogar  auf  den  Feldzug  mit 
(Jud.  7,  16.  20).  Ebenso  das  gesäuerte  Brot;  in  Jud.  7,  13  ist  ein  kugelndes 
(also  nicht  fladenartiges  und  ungesäuertes)  Gerstenbrot  das  Symbol  der  israe- 
litischen Bauern,  das  Zelt  das  Symbol  der  midianitischen  Nomaden.  Als  Zu- 
kost kommen  vor  Feigen,  Zwiebeln,  Knoblauch,  Gurken,  Kürbisse,  Linsen, 
bittere  Kräuter;  als  Leckerbissen  Kuchen  von  gepreßtem  Obst.  Der  Gebrauch 
des  Salzes  ist  alt,  nicht  aber  der  des  Essigs,  der  den  späteren  so  unentbehr- 
lich war.  Honig  scheint  immer  wilder  Honig  „aus  dem  Felsen"  zu  sein  wie 
bei  den  Beduinen;  zur  Zeit  der  arabischen  Eroberung  gab  es  jedoch  in  Syrien 
Bienenzucht  und  Bienenkörbe  (Baladh.  57).  Kerzen  aus  Wachs  kommen  nicht 
vor,  nur  Öl  und  Docht.     Die  Fackeln  sind  Späne. 

3)  Gen.  43,  16.  25. 


Gott  Welt  und  Leben  im  alten  Israel.  89 

Jedoch  die  Zeiten  fingen  an  sich  zu  ändern.  Der  Handel  war 
lange  nur  von  den  kanaanitischen  Städten  betrieben,  so  daß  der 
Name  Kanaanit  sogar  geradezu  zur  Bezeichnung  eines  Händlers 
diente ').  Jetzt  aber  trat  Israel  in  Kanaans  Fußstapfen,  zum  Leid- 
Avesen  der  Propheten^).  Die  Könige  selber,  seit  Salomo,  waren  mit 
gutem  oder  schlechtem  Beispiel  vorangegangen,  indem  sie  in  Ge- 
meinschaft oder  in  Konkurrenz  mit  den  Tyriern  überseeischen 
Handel  und  andere  Geschäfte  in  großem  Maße  betrieben.  Die 
Städte  gewannen  an  Bedeutung,  das  Geld  entwickelte  seine  Macht  ^), 
es  bahnte  sich  eine  Umwälzung  an,  die  kein  frommer  Eifer  zu 
hemmen  vermochte.  Kornwucher,  Latifundien,  Häufigkeit  der  Ver- 
pfändungen und  der  Schuldknechtschaft  sind  Anzeichen,  daß  der 
gleichmäßig  verteilte  Besitz  gegenüber  den  großen  Vermögen  sich 
nicht  zu  halten  vermochte*).  Der  Riß  zwischen  Reich  und  Arm, 
A^ornehm  und  Gering  wurde   breiter,    die  oberen   Tausende  unter- 


^)  In  der  Gesetzgebung  wird  wahrscheinlich  absichtlich  auf  Handel  und 
Gewerbe  keine  Rücksicht  genommen,  sondern  nur  auf  Landwirtschaft;  nur  der 
Grundbesitz  verlieh  die  vollen  bürgerlichen  und  religiösen  Rechte.  Aber  schon 
in  Exod.  21  s.  wird  nicht  mit  Vieh,  sondern  mit  Geld  bezahlt,  und  das  Geld 
spielt  im  Recht  eine  große  Rolle,  freilich  nur  bei  Schadeusersatz,  Buße  und 
Komposition. 

-)  Os.  12,  8.  9:  Was  tut  Jakob?  macht  es  wie  Kanaan,  in  dessen  Hand 
trügerische  (Geld-)  Wage  ist,  das  da  liebt  zu  übervorteilen.  Ei,  spricht 
Ephraim,  ich  bin  doch  reich  geworden,  habe  mir  Vermögen  erworben  —  all 
sein  Vermögen  reicht  nicht  aus  für  die  Schuld,  die  es  sich  zugezogen. 

")  Abimelech  dang  sich  mit  70  Sekel  eine  Leibwache,  David  kaufte  um 
50  Sekel  die  Tempel-Area  und  ein  Joch  Rinder  dazu.  Dagegen  kostet  Ex.  21, 
32  (vgl.  Gen.  37,  28)  ein  Knecht  30  Sekel,  Dt.  22,  29  eine  Jungfrau  50  Sekel, 
Gen.  23,  16  eine  Grabhöhle  400  Sekel,  und  1  Chr.  21,  25  wird  der  Preis  der 
Tempel-Area,  die  David  kaufte,  von  50  Sekel  Silber  auf  600  Sekel  Gold  erhöht. 
VgLJud.  17,3  mit  v.  4;  8,21  mit  v.  24—26.  Das  Geld  (Silber)  wurde  natür- 
lich nicht  gezahlt,  sondern  gewogen.  Doch  soll  keschita  Gen.  33,  19  der 
Name  einer  kleinen  Münze  sein  und  sich  als  solcher  in  Karthago  bis  zu  den 
Zeiten  des  R.  Akiba  im  Gebrauch  erhalten  haben. 

*)  Am.  8,  5.  Isa.  5,  8.  Os.  5,  10.  Dt.  19,  14.  Daraus  daß  der  Über- 
gang von  Freien  in  Knechtschaft  oft  vorkam,  erklärt  sich  die  Verordnung 
Exod.  21,  I  SS.,  die  aber  nicht  durchdrang  (Hier.  34)  und  später  ermäßigt 
wurde  (Lev.  25,28);  vgl.  2  Reg.  4,1.  Über  Verpfändung  s.  Dt.  24,10—13. 
Exod.  22,26.  Am.  2,8.  Zins  wird  Exod.  22,24  untersagt;  um  so  mehr  hielt 
man  sich  am  Pfände  schadlos.  Von  Kreditwirtschaft  findet  sich  keine  Spur: 
die  Schulden  sind  immer  Notschulden.  Immerhin  gab  es  noch  ums  Jahr  740 
sechzigtausend  vermögliche  Männer  in  Israel  (2  Reg.  15,  19.  20). 


90  Sechstes  Kapitel. 

schieden  sich  in  ihrer  Lebensweise  immer  mehr  von  dem  gemeinen 
Volke.  Sie  bauten  sich  Häuser  aus  Quadersteinen;  sie  aloen  den 
Festbraten  täglich,  tranken  den  Wein  wie  Wasser  und  versalbten 
das  beste  Öl.  Mit  welchem  Raffinement  die  Weiber  sich  putzten,  hat 
der  Prophet  Jesaias  so  genau  beschrieben,  daß  man  auf  den  Ver- 
dacht gerät,  die  Mode  sei  in  sein  eigenes  Haus  eingeschlichen. 
Daß  der  materielle  Fortschritt  auch  gemeinnützigen  Unternehmun- 
gen, wie  dem  Bau  von  Brücken,  Straßen,  Wasserleitungen,  zu  gut 
gekommen  sei,  davon  hören  wir  wenig;  es  läßt  sich  trotzdem  wol 
annehmen.  Die  religiöse  Kunst  war,  wenngleich  nicht  original, 
doch  gewiß  nicht  so  unbedeutend,  wie  man  gewöhnlich  annimmt. 
Erst  von  den  späteren  Juden  wurde  sie  verabscheut,  nur  zu  gunsten 
der  Musik  machten  sie  eine  Ausnahme. 

2.  Das  Königtum  bewahrte  im  Zehnstämmereich  notgedrungen 
seinen  kriegerischen  Charakter ').  Unter  den  damaligen  Verhält- 
nissen, bei  den  ewigen  Kriegen,  war  der  Herrscher  zuvörderst  Sol- 
dat; neben  ihm  war  der  Feldhauptmann  die  wichtigste  Person  im 
Reich.  Noch  war  allerdings  das  Volk  das  Heer,  und  die  Gemeinden 
die  Regimenter');  und  zwar  lag  die  Pflicht  des  Kriegsdienstes  auf 
den  vollberechtigten  Grundbesitzern,  weshalb  der  Ausdruck  Kriegs- 
mann die  Bedeutung  des  vermöglichen  Mannes  annahm.  Aber 
daneben  bildeten  sich  doch  schon,  um  den  Kern  der  Leibwächter 
des  Königs  und  der  Statthalter^),  die  Anfänge  eines  soldatischen 
Standes  aus,  da  der  alte  Heerbann  den  veränderten  Ansprüchen 
der  Kriegführung  nicht  mehr  genügte.  Denn  man  focht  nicht  mehr 
ausschließlich  zu  Fuße,  wie  es  noch  zur  Zeit  Davids  geschehen 
war,  sondern  Rosse  und  Wagen,  die  es  bei  den  Kanaaniten  und 
Aramäern  längst  gab,  galten  für  unentbehrlich;  Salomo  scheint  sie 
eingeführt  zu  haben.  An  die  Stelle  des  Schildknappen,  der  dem 
Schwertkämpfer  die  Waffen  trug,  trat  der  Adjutant,  der  neben  dem 
Pfeilschützen  auf  dem  Streitwagen  stand  und  ihn  mit  dem  Schilde 


^)  Bezeichnend  ist  es,  daß  Elias  auf  einem  Kriegswagen  gen  Himmel 
fährt,  und  daß  Elisa  „Wagen  und  Keiter"  Israels  genannt  wird. 

-)  Am.  5, 3.  Freilich  soll  nach  Exod.  18  schon  Moses  Obersten  über 
Tausend  und  Hundert  und  Fünfzig  und  Zehn  eingesetzt  haben,  nicht  bloß  für 
den  Krieg,  sondern  auch  für  den  Frieden.  Das  würde  eine  völlige  Auflösung 
der  Geschlechter  bedeuten,  die  für  die  ältere  Zeit  nicht  angenommen 
werden  darf. 

3)  1  Reg.  20,  Us. 


Gott  Welt  und  Leben  im  alten  Israel.  91 

deckte.  Auch  die  Art  der  Ausrüstung  änderte  sich,  Schwert  und 
Lanze  traten  zurück,  der  Bogen  wurde  die  Hauptwafte.  Ein 
weiterer  Fortschritt  bestand  in  der  Ummaueruug  der  Städte,  beson- 
ders der  Metropolen.  Früher  iloh  die  Bevölkerung  in  Kriegsläuften 
in  die  Höhlen  und  Wälder,  jetzt  rettete  sie  sich  hinter  die  Mauern 
der  Festungen.  Die  gute  alte  Zeit,  wo  es  weder  Rosse  und  Wagen 
noch  Festungen,  d.  h.  überhaupt  kein  ausgebildetes  Kriegswesen, 
gegeben  hatte,  war  dahin  und  wurde  vergeblich  von  den  Propheten 
zurückgewünscht. 

Im  Innern  griff  das  Königtum  nicht  tief  ein.  Es  war  nicht 
viel  mehr  als  das  größte  Haus  in  Israel,  wie  denn  der  oberste 
Regierungsbeamte  den  Namen  Hausmeister  führte.  Der  Hof  er- 
weiterte sich  zur  Hauptstadt,  der  Burgemeister  von  Samarien  war 
ein  königlicher  Beamter^).  Obgleich  es  königliche  Landpfleger 
in  den  Provinzen  gab,  war  dieW^irkung  der  Zentralgewalt  in  die  Ferne, 
über  die  Hauptstadt  hinaus,  doch  schwach,  wie  in  allen  primitiven 
Staatsbildungen.  Mit  dem  Schutz  der  Grenzen  machte  der  König 
gewöhnlich  keinen  rechten  Ernst,  er  zog  sich  in  seine  Stadt  zurück 
und  die  Landpfleger  mit  ihrem  Gefolge  folgten  ihm  dahin.  Worin 
die  Einkünfte  des  Reiches  bestanden,  wissen  wir  nicht  recht.  Regal 
war  die  „Mahd  des  Königs",  d.  h.  der  erste  Futterschnitt,  in  Rück- 
sicht auf  die  zu  unterhaltenden  Kriegsrosse').  Vielleicht  gab  es 
außerdem  auch  in  Israel,  wie  in  Juda,  Krongüter,  von  denen  der 
König  an  seine  Diener  Lehen  geben  konnte^).  Von  einer  regel- 
mäßigen und  allgemeinen  Steuer  hören  wir  nichts,  sondern  nur 
von  außerordentlichen  Umlagen  auf  die  Wolhabenden;  der  Zehnte 
gebührte  der  Gottheit,  nicht  dem  Könige*).  Auf  alle  Fälle  scheint 
die  Grundsteuer  in  Palästina  unbekannt  gewesen  zu  sein,  wie  man 
aus  dem  Berichte  über  ihre  Einführung  in  Ägypten  durch  Joseph 
schließen  darf.  Einigermaßen  wurde  der  fehlende  Staatsschatz 
ersetzt  durch  den  Tempelschatz,  der  wenigstens  in  Jerusalem  den 
Königen  zur  Verfügung  stand  und  den  sie  oft  genug  angriffen. 


1)  1  Reg.  22,  26. 

^)  Arnos  7,  1.  1  Reg.  18,  5.  Syrisch-römisclies  Rechtsbuch  ed.  Bruns  und 
Sachau  §  121. 

3)  Ez.  46,16—18.     1  Sam.  7,  14. 

■»)  Gegen  W.  R.  Smith,  Religion  of  the  Semites  (1894)  p.  246  ss.  Daß 
Salomo  den  Israeliten  Frqhndienste  auflegte,  erregte  die  größte  Erbitterung 
und  kam  gewiß  später  im  Nordreiche  nicht  wieder  vor. 


92  Sechstes  Kapitel. 

Von  Verwaltung  und  Polizei,  als  Aufgaben  der  Obrigkeit,  war 
nicht  die  Rede;  in  einem  modernen  Staate  würden  sich  die  alten 
Hebräer  wie  in  einer  Zwangsjacke  gefühlt  haben.  Die  hergebrachten 
Begriffe  von  orientalischem  Despotismus  leiden  auf  das  israelitische 
Königtum  nur  beschränkte  Anwendung.  Wollte  Naboth  seinen 
Acker  nicht  gutwillig  verkaufen,  so  sah  Ahab  keine  Möglichkeit,  in 
den  Besitz  desselben  zu  gelangen;  man  begreift  die  verwunderte 
Äußerung  seiner  tyrischen  Gemahlin:  du  willst  den  König  spielen 
in  Israel!  Um  die  Mittel  anzuwenden,  durch  die  es  dann  doch  ge- 
lang, ihm  den  Weinberg  zu  verschaffen,  dazu  brauchte  man  nicht 
König  zu  sein;  daß  sie  aber  der  König  anwendete,  kostete  seinem 
Hause  den  Thron.  Auch  persönlich  machen  die  Könige,  wenn 
wir  sie  näher  kennen  lernen,  im  allgemeinen  nicht  den  Eindruck 
von  Despoten;  ihre  sprichwörtliche  Menschlichkeit  scheint  mehr  als 
Redensart  gewesen  zu  sein ').  Daß  sie  einzelnen  Propheten  ein 
Auftreten  gestatteten,  welches  denselben  heutzutage  leicht  den  Hals 
kosten  könnte,  beruhte  wol  freilich  nicht  so  sehr  auf  Milde,  als 
auf  Furcht  oder  Geringschätzung. 

AUgemeingiltige  Verpflichtungen  scheinen  zuweilen  so  zu 
stände  gekommen  zu  sein,  daß  der  König  und  die  Vertreter  des 
Volkes  einen  sie  gegenseitig  bindenden  Vertrag  vor  Jahve  schlössen, 
etwas  zu  tun  oder  zu  lassen^).  Eigentliche  Gesetze  gab  es  nicht; 
wol  aber  ein  altes  Gewohnheitsrecht,  von  dem  sich  einige  Auf- 
zeichnungen erhalten  haben.  Es  zeichnet  sich  aus  durch  seinen 
Mangel  an  Formalismus;  feste  Vorschriften  für  die  Anbringung 
und  Einleitung  der  Klage,  symbolische  Handlungen  und  poetische 
Bräuche  finden  sich  fast  gar  nicht.  Die  Parteien  heißen  der  Zeuge 
und  der  Redestehende,  Zeuge  bedeutet  in  der  Regel  den  Kläger. 
Ohne  Klage  gab  es  kein  Recht,  doch  war  die  Anklage  manchmal 
nichts  weiter  als  ein  zur  Anzeige  bringen^).  Das  Strafrecht,  der 
Maßstab  für  das  Verhältnis  der  öffentlichen  Rechtspflege  zur  Selbst- 
hilfe des    einzelnen,    war    bei  den  Israeliten  ziemlich  ausgebildet. 


1)  1  Reg.  20,31. 

2)  Exod.  24.  2  Reg.  23.  Hier.  34,  18.  Daher  der  Name  Bund  für 
Gesetz. 

^)  1  Reg.  21,10.  Im  Deuteronomium  hat  die  Behörde  die  Pflicht  der  lu- 
quisition,  und  in  einigen  Fällen  auch  der  nächste  Verwandte  die  Pflicht  der 
Anzeige  und  Anklage.  Der  Satan,  der  etwas  vom.  Staatsanwalt  an  sich  hat, 
findet  sich  erst  in  späterer  Zeit. 


Gott  Welt  lind  Lebeu  im  calten  Israel.  93 

Bei  den  alten  Arabern  konnte  sich  das  Geschlecht  gegen  einen 
Störenfried  eigentlich  nur  dadurch  helfen,  daß  es  sich  von  ihm  los 
sagte  und  ihm  den  Schutz  entzog;  die  israelitische  Gemeinde  be- 
genügte sich  nicht  mit  der  Verbannung,  Sündern  verhängte  die  Todes- 
strafe. Die  alte  Form  der  Hinrichtung  war  die  Steinigung,  wobei 
sich  jeder  einzelne  an  der  Tötung  des  Verbrechers  beteiligte  und 
sein  Blut  auf  sich  nahm.  Es  gab  „Ruchlosigkeiten,  die  nicht  ge- 
schehen dürfen  in  Israel",  die  als  Schuld  auf  dem  Lande  und  auf 
dem  Volke  lasteten  und  durch  Austiigung  des  Schuldigen  „ausge- 
fegt" werden  mußten;  insbesondere  Lästerungen  gegen  Gott  und  den 
König,  Impietät  gegen  die  Eltern,  auch  Inceste  und  ähnliche  Ver- 
letzungen des  Volksgewissens.  Zu  dieser  Art  Verbrechen  gehörte 
auch  der  Mord.  Die  eigentliche  Blutfehde,  wobei  die  Familie  des 
Totschlägers  für  ihn  Partei  nimmt,  die  Familie  des  Erschlagenen  mit 
ihr  kämpft  und  die  Rache  sich  unaufhörlich  fortzeugt,  scheint  bei 
den  Israeliten  der  Königszeit  ein  überwundener  Standpunkt  gewesen 
zu  sein').  Nur  das  war  noch  übrig  geblieben,  daß  der  Bluträcher 
ohne  Prozeß  den  Totschläger  verfolgen  und  töten  durfte.  Wenn  der 
letztere  nicht  absichtlich  gehandelt  hatte,  so  fand  er  Schutz  beim 
Heiligtum,  besonders  bei  gewissen  asylberechtigten  Heiligtümern,  und 
konnte  eventuell  mit  einer  Geldbuße  abkommen.  Lag  dagegen  Mord 
vor,  so  wurde  er  auch  vom  Altare  fortgerissen""*).  Dabei  legte  sich 
also  die  öffentliche  Gewalt  ins  Mittel;  sie  hatte,  wie  im  Islam,  die 
Pflicht,  den  Mörder  zu  sistiren^).  Dem  Rächer  verblieb  dann  nur 
die  Exekution.  Diese  mußte  er  aber  vollziehen,  er  hatte  nicht  die 
Freiheit,  von  seinem  Rechte  abzustehn.  Wergeid  anzunehmen  war 
ihm  nicht  gestattet,  das  war  nur  zulässig  bei  unbeabsichtigter  Tötung. 
Blut  um  Blut  wurde  gefordert,  wie  Auge  um  Auge,  Zahn  um  Zahn*). 
Das  ungerächte  Blut  schrie  zum  Himmel  und  rief  den  göttlichen 
Zorn  auf  das  Land  herab.  Wenn  ein  von  unbekannter  Hand  Er- 
schlagener auf  dem  Felde  gefunden  wurde,  so  mußte  die  Stadt,  die 
der  Stelle  am  nächsten  lag,  eine  Kuh  statt  des  Mörders  hinrichten, 


')  So  weit  war  man  aber  noch  nicht,  wie  in  Gen.  9,  6,  wo  der  Mensch 
an  Stelle  des  Israeliten  gesetzt  wird. 

2)  Exod.  21,  13.  m  vgl.  1  Reg.  2,  28  ss." 

3)  Exod.  21,  14.     Dt.  19,  12. 

*)  In  Exod.  21  gibt  es  nur  Talio  und  Geldbuße;  im  Deuterouomium  kommt, 
wie  im  Islam,  die  Prügelstrafe  hinzu,  etwas  ganz  Neues  und  Andersartiges.  Eine 
alte  Form  der  Strafe  scheint  die  Zerstörung  des  Zeltes  oder  des  Hauses  zu  sein. 


94  Sechstes  Kapitel. 

um  die  Schuld  von  sich  abzuwaschen').  Also  war  die  Blutrache 
ihres  persönlichen  und  leidenschaftlichen  Charakters  schon  ziemlich 
entkleidet  und  zur  Talio  geworden,  gerade  in  dem  ältesten  Rechts- 
buch (Exod.  21)  tritt  sie  in  ihrer  angeborenen  Farbe  am  wenigsten 
hervor.  Das  Gemeinwesen  regelte  und  gewährleistete  die  Rache  des 
Einzelnen,  wie  im  Islam.  Eine  Art  religiöser  Selbsthilfe  blieb  der 
Fluch,  der  über  den  unbekannten  Verbrecher,  namentlich  den  Dieb, 
ausgesprochen  wurde  und  ihn  ereilte,  wenn  er  sich  nicht  bewogen 
fand,  sich  anzugeben  und  Ersatz  zu  leisten.  Die  Selbst  Verfluchung 
hatte  als  Schwurform  im  Recht  große  Bedeutung'*). 

Noch  immer  hatte  das  volle  Bürgerrecht  nur  der  Mann,  der 
im  Stande  war,  die  Pflicht  der  Blutrache  zu  leisten  und  das  Schwert 
zu  führen.  Der  Name  für  Bluträcher  bedeutet  auch  den  Erben'). 
Nur  die  Schwertmagen  erbten,  besaßen  Grundeigentum,  und  losten 
über  das  wie  es  scheint  von  Zeit  zu  Zeit  neu  zu  verteilende  Ge- 
meindeland*). Mit  den  bürgerlichen  Pflichten  und  Rechten  gingen 
die  sakralen  Hand  in  Hand,  sie  hafteten  ebenfalls  an  den  vollbürti- 
gen  erbgesessenen  Männern.  Die  Religion  war  männlich,  kriegerisch, 
aristokratisch.  Der  Kultus  gründete  sich  auf  die  Abgaben  vom  Er- 
trage des  Ackers  und  der  Herde,  also  auf  Landeigentum.  Der  Ka- 
hal,  die  Versammlung  der  Ortsgemeinde,  hatte  ebensowol  politischen 
als  religiösen  Charakter;  wer  politisch  nicht  vollberechtigt  war,  war 
es  auch  religiös  nicht.  Ausländer  konnten  erst  nach  mehreren  Ge- 
nerationen in  den  Kahal  hineinwachsen,  ortsfremde  Israeliten  fanden 
vielleicht  weniger  Schwierigkeit.  Der  Unterschied  der  Stände  war 
erheblich,  wenngleich  es  keine  Kasten  gab  und  der  Begriff  der  Mis- 
heirat  fehlte.  Die  zahlreichen  Beisassen  wurden  nur  aus  gutem  Willen 
zum  Opfermahl  mitgenommen,  vor  Gericht  bedurften  sie  des  Schutzes 

1)  Die  Hiurichtung  am  Bach,  die  Dt.  21,  9  gefordert  wird,  kommt  auch 
1  Reg.  18,  40  vor;  ferner  BAthir  3  287,4.  5.  24,  22.  146,  12.  Tab.  2  1580,  3. 
Kamil  560,  11.  Agh.  2  171,25.  Das  Wasser  sollte  vermutlich  das  Blut  weg- 
schwemmen und  dadurch  verhindern,  daß  es  zum  Himmel  schrie.  Vgl.  2  Reg. 
23,  12. 

-)  Vgl.  Reste  arab.  Heidentums  1897  p.  192.  Dem  fortgeschrittenen  mo- 
ralischen Gefühl  galt  der  Fluch  als  unzulässig,  lob.  31,  30. 

^)  Goel,  eigentlich  vindex  (lob.  3,  5).  Die  Pflichten  der  Reklamation, 
der  Lösung,  und  der  Rache  gehn  zusammen  und  liegen  allesamt  dem  Erben  ob. 

*)  Das  Erbe  ist  auch  bei  den  Hebräern  arvum,  das  Grundeigentum.  Über 
die  Verlosung  des  Landes  s.  Mich.  2,  5.  Hier.  37,  12;  über  den  Ausnahmefall 
der  Erbtochter  Num.  36. 


Gott  Welt  und  Leben  im  alten  Israel.  95 

und  der  Vertretung.  In  ähnlicher  Lage  befanden  sich  auch  die  Waisen, 
so  lange  sie  niclit  das  Alter  hatten,  um  im  Kahal  zu  erscheinen, 
imd  die  Witwen,  denen  der  männliche  Rechtsbeistand  fehlte"). 

Der  Kahal  war  auch  die  Gerichtsversammlung.  Die  ordent- 
liche Rechtspflege  lag  noch  immer  in  den  Händen  der  Geschlechter 
oder  der  Gemeinden;  sie  wurde  von  den  Ältesten,  aristokratischen 
Kollegien,  ausgeübt.  Auch  den  Blutbann  hatte  noch  die  Orts- 
gemeinde"''). Die  Richter  saßen,  um  sie  herum  stand  der  Kahal. 
Das  Tor  war  das  Forum;  nur  gewisse  Formalitäten  wurden  beim 
Heiligtum  vollzogen,  die  Hegung  einer  feierlichen  Sitzung  war  mit 
einem  Fasten  verbunden.  Da  nun  das  Richten  der  hauptsächlichste 
Teil  des  Regiereus  war  —  beides  wird  im  Hebräischen  durch  das 
selbe  Wort  ausgedrückt  — ,  so  hatte  sich  also  der  alte  vorstaat- 
liche Zustand  aggregirter  Kommunen,  die  nur  durch  das  religiöse 
NationalgefühP)  zusammengehalten  wurden,  in  einem  sehr  wesent- 
lichen Punkte  auch  unter  der  Königsherrschaft  erhalten.  Er  genügte 
aber  nicht  mehr,  die  alten  einfachen  Zeiten  waren  verschwunden, 
die  Verhältnisse  der  Gesellschaft  hatten  sich  geändert.  Die  Un- 
gleichheit des  Vermögens  und  des  Standes  wurde  drückend  em- 
pfunden, auch  die  Religion  war  demokratischer  geworden.  Da  hätte 
nun  der  König  eintreten  können.  Er  galt  als  der  oberste  Richter; 
der-Zuruf  „Hosianna"  ist  eigentlich  der  Hilferuf  des  Unterdrückten, 
der  bei  dem  Könige  Recht  sucht  ^).     Wer  bei  der  Gemeinde  nicht 


')  Alles  dies  erhellt  noch  aus  dem  Deuterouomium,  dessen  Text  in  Kap.  23 
allerdings  Zusätze  aus  späterer  Zeit  (Mamzer)  aufweist.  Merkwürdig  ist  der 
Ausschluß  der  Zeugungsunfähigen  (Dt.  23,  2).  Ursprünglich  deckten  sich  Kriegs- 
lager, Gerichtsversamralung  und  Kultusgemeinde;  alles  drei  war  heilig.  Daß 
die  Religion  vorzugsweise  die  Männer  anging,  erhellt  auch  daraus,  daß  den 
Frauen  keine  religiösen  (d.  h.  mit  Jahve  komponirteu)  Namen  gegeben  wurden 
und  daß  keine  Bedenken  gegen  die  Heiraten  mit  Ausländerinnen  bestanden. 

2)  2Sam.  14,  7  (Geschlecht),  IReg.  21,  9ss.  (Gemeinde). 

^)  Der  K^hal  (und  zwar  jeder  einzelne  Kahal,  Micha  2,5)  war  ein  Kahal 
Jahves;  es  herrschte  eine  gewisse  Übereinstimmung  über  Recht  und  Unrecht, 
Sitte  und  Unsitte,  in  ganz  Israel:  und  die  Gemeinden  unterstützten  sich  gegen- 
seitig in  der  Sistirung  des  Verbrechers.  Wirklich  einigermaßen  konzentrirt 
und  von  Einer  Stelle  geleitet  war  aber  doch  nur  das  Kriegswesen;  Kriegsherr 
war  allein  der  König. 

4)  2  Sam.  15,2.  1  Reg.  3,  9.  2  Reg.  15,5.  Daher  Schophet  (Richter)  = 
Regent.  Einzelne  Fälle  2  Sam.  12  und  14.  1  Reg.  3,  15ss.  2  Reg.  6,  16ss.  Bei 
den  Persern  ist  fariädras  (der,  zu  dem  der  Hilferuf  kommt)  Beiwort  des 
Königs,  Schahn.  ed.  Yullers  1  291,  162. 


96  Sechstes  Kapitel. 

zum  Ziel  kam  oder  eine  Ausnahme  von  der  geltenden  Regel  er- 
wirken wollte,  wandte  sich  an  ihn ').  Der  Schwache  erwartete  bei 
ihm  Schutz  gegen  den  Starken,  er  sollte  den  Niederen  Recht  schaffen 
und  die  Gewalttäter  in  die  Bahn  zurückweisen^).  Aber  er  war  zu 
schwach,  um  den  Begriff  der  Obrigkeit  und  der  staatlichen  Gerichts- 
hoheit zur  Geltung  zu  bringen.  Seine  gelegentlichen  Entscheidungen 
nahmen  sich  nicht  viel  anders  aus  als  die  Gewaltsprüche,  mit 
denen  auch  die  kleineren  Herren  in  die  ordentliche  Rechtspflege 
eingriffen  ^).  Er  erhob  sich  nicht  hoch  genug  über  die  Kreise,  aus 
denen  er  stammte,  die  ihn  erhoben  hatten  und  auch  wieder  stürzen 
konnten.  Das  Königtum  in  Israel  hatte  keine  Macht,  weil  es  nicht 
zu  einer  wahren  Legitimität  gelangen  konnte.  Die  steten  gewalt- 
samen Dynastiewechsel  stellten  die  bestehende  Ordnung  immer 
wieder  in  Frage. 

Bei  so  bewandten  Umständen  versteht  es  sich,  daß  die  kleinen 
Kreise  auch  unter  dem  Königtum  ihren  Schwerpunkt  in  sich  be- 
hielten. Mochte  das  Reich  aus  den  Fugen  gehn,  sie  wurden  von 
den  politischen  Umwälzungen  in  der  Hauptstadt  nicht  erschüttert. 
Insofern  war  allerdings  die  alte  Form  des  Gemeinwesens  alterirt, 
als  an  die  Stelle  der  Geschlechter  in  der  Regel  Städte  getreten 
waren,  welche  die  Gerichtsstätte*)  auch  für  die  Dörfer  bildeten  und 
„Mütter"  derselben  genannt  wurden.  Jedoch  war  durch  diese 
Änderung  der  Zusammenhana;  der  Elemente  nicht  lockerer  geworden. 


^)  2  Sam.  14,  1  SS.;  ein  typisches  Beispiel,  das  ähnlich,  wenngleich  mit 
charakteristischen  Unterschieden,  auch  bei  den  Arabern  öfters  vorkommt 
(Agh.  2,  139.  13,63).  Dagegen  2  Reg.  4,  13:  ich  habe  beim  Könige  nichts  zu 
suchen,  ich  wohne  unter  meinem  Volke,  d.  i.  unter  meinen  Verwandten. 

-)  Jesaias  hat  genau  den  selben  Begriff  vom  Amte  des  Herrschers  wie 
Abubekr  oder  Omar:  „euer  Schwächster  wird  mir  als  der  Stärkste  erscheinen, 
bis  ich  ihm  zu  seinem  Rechte  verholten  habe;  und  euren  Stärksten  werde  ich 
als  den  Schwächsten  behandeln,  bis  er  sich  dem  Rechte  fügt".  Eine  sehr 
unfreundliche  Ansicht  über  das  Königtum  kommt  in  der  Parabel  Jothams 
(Jud.  9)  zum  Ausdruck.  Es  ist  das  Ziel  des  Ehrgeizes  nur  für  den,  der  zu 
sonst  nichts  taugt.  „Habe  ich  mein  Fett  oder  meine  Süßigkeit  eingebüßt,  daß 
ich  über  den  Bäumen  schweben  soll",  sagen  Olive  und  Rebe;  aber  der  Dorn- 
busch gibt  sich  her,  der  nur  zum  Unheilstiften  gut  ist. 

^)  2Reg.  4, 13:  man  wendet  sich  an  den  König  oder  an  den  Feld- 
ha^iptmann. 

*)  Die  Städte  heißen  im  Deuteronomium  Tore  d.  i.  Gerichtsstätten  und 
Märkte. 


Gott  ^Yelt  und  Leben  im  alten  Israel.  97 

Die  festeste  Einheit  war  die  Familie,  im  engereu  und  weiteren  Sinne. 
Auf  ihr  Fortbestehn  wurde  der  größte  AVert  gelegt;  es  war  die 
einzige  Art  von  Unsterblichkeit,  die  man  kannte').  Wenn  der 
Vater  eine  Todesschuld  auf  sich  geladen  hatte,  w'urden  die  Kinder 
mit  hingerichtet').  Bei  Flüchen  war  es  darum  Sitte,  sich  und 
seines  Vaters  Haus  zu  verwünschen.  Auch  im  Grabe  blieben  die 
Verwandten  geeint.  Die  Familie  aber  und  die  Gemeinde  waren 
der  Herd  der  Sitte,  sie  hielten  ihre  Angehörigen  mit  festen  Banden 
zusammen.  Durch  die  Schwäche  der  Regierung,  durch  die  Revo- 
lutionen in  der  Hauptstadt  wurde  der  geistige  Fortschritt  nicht 
gehemmt,  das  Gefühl  für  das  Rechte  und  Gute  nicht  beeinträchtigt ; 
ja  gerade  in  dieser  Periode,  in  der  die  Literatur  ihre  Blütezeit 
erlebte,  stand  die  geistige  und  sittliche  Bildung  in  Israel  auf  einer 
Höhe,  die  selten  wieder  von  einem  orientalischen  Volke  erreicht  ist. 

2.  Neben  Königen  und  Ältesten  erscheinen  als  Pfeiler  des 
gemeinen  Wesens  die  Priester  und  die  Propheten.  „Den  Ältesten 
wird  der  Rat  nicht  ausgehn,  noch  die  Weisung  dem  Priester,  noch 
das  Wort  den  Propheten"  —  so  lautete  ein  tröstliches  Sprichwort. 
Im  Deuteronomium  werden  diese  drei  leitenden  Stände  als  die  be- 
rufenen Organe  der  Theokratie  neben  einander  aufgeführt.  AVir 
pflegen  die  Propheten  als  die  wahren  Repräsentanten  von  der  Art 
und  Macht  der  Religion  Jahves  zu  betrachten,  und  nicht  ohne 
Grund.  Indessen  darf  man  nicht  übersehen,  daß  die  großen  Pro- 
pheten Ausnahmen  waren  und  daß  die  größten  für  die  Zukunft 
weit  mehr  bedeuteten  als  für  ihre  Gegenwart.  Die  gewöhnlichen 
Propheten,  die  sich  in  Orden  zusammenscharten,  waren  keine 
Aufreger  Israels,  vielmehr  nur  zu  geneigt,  den  Machthabern  nach 
dem  Munde  zu  sprechen.  Im  allgemeinen  war  die  Religion  eine 
friedliche  Macht,  welche  das  Bestehende  nicht  angriff,  sondern 
stützte.  In  höherem  Ansehen  als  die  Propheten  zu  ihrer  Zeit  standen 
durchschnittlich  die  Priester,  welche  die  feste  Stellung  am  Heiligtum 
voraus  hatten.  Sie  waren  noch  immer  die  Berater  der  Laien  in 
allen  Lebensfragen;   von   der  eigentlichen  Rechtspflege  und  ebenso 


1)  Daher  der  Levirat  und  die  Zulassung  der  einzigen  Tochter  zum  Erbe, 
damit  „das  glimmende  Feuer  nicht  gar  erlesche"   (2  Sam.  14, 7). 

^  Jos.  7,  2-4.  2.  Reg.  9,  26.     Diesem  Grundsatz   entspricht  die  Ausrottung 
gestürzter  Dynastien,  die  als  selbstverständlich  gilt. 

Wellliausen,  Isr.  Geschichte,    ö.  Aiill.  7 


98  Sechstes  Kapitel. 

vom  Orakel-erteilen,  mit  oder  ohne  Medien,  scheinen  sie  sich  aller- 
dings in  der  Königszeit  zurückgezogen  zu  haben.  Sie  hatten  sich 
sehr  vermehrt  und  befestigt,  ihr  Amt  war  meist  erblich  geworden. 
Sie  fühlten  sich  durch  ihren  Stand  verbunden  und  gaben  dem 
dadurch  Ausdruck,  daß  sie  sich  von  einem  gemeinsamen  Ahn  ab- 
leiteten und  sich  Leviten  nannten').  Ihre  Einnahmen  waren  prekär, 
sie  lebten  vom  Opfer,  ohne  indessen  ein  Privileg  gerade  auf  das 
Opfern  zu  haben;  ihr  eigentliches  Amt  war  vielmehr  die  Thora, 
die  Weisung  und  Lehre.  Äusere  Macht  besaßen  sie  nicht,  in  den 
Residenzen  und  auch  sonst  bei  den  Heiligtümern  waren  sie  könig- 
liche Diener.  Der  König  selber,  der  Führer  des  Volkes  und  des 
Heeres,  hatte  das  oberste  Priesterrecht;  Bethel  und  Dan  waren 
königliche  Tempel.  „Gott  und  der  König"  war  eine  beliebte  Zu- 
sammenstellung und  keine  so  leere  Redensart  wie  bei  uns  Thron 
und  Altar.  Der  Gesalbte  Jahves  galt  als  die  Spitze  der  Theokratie, 
mochte  er  auch  auf  sehr  unheiligem  Wege  emporgekommen  sein. 
Die  Salbung  durch  einen  Propheten  (d.  h.  durch  Jahve)  war  nur 
eine  weissagende  Vorausnahme  der  Salbung  durch  das  Heer  oder 
das  Volk,  d.  h.  durch  dessen  Repräsentanten:  das  wahre  Subjekt  ist 
ein  Plural.  Salben  bedeutet  ursprünglich  nichts  anders  als  Streichen 
oder  Streicheln;  es  steht  auf  gleicher  Linie  mit  dem  Küssen  und 
auch  mit  dem  Handschlage,  der  arabischen  Form  der  Huldigung, 
Durch  das  körperliche  Kontagium  entsteht  überall  geistige  Gemein- 
schaft und  die  Verpflichtung  dazu.  Auch  Idole  wurden  gestreichelt, 
gesalbt  und  geküßt. 

Die  volkstümliche  Praxis  der  Religion  war  noch  immer  der 
Kultus'').  Es  gab  eine  Menge  von  Stätten,  wo  „der  Name  der 
Gottheit  gerufen  wurde",  weil  sie  dort  gegenwärtig  war.  Die 
Heiligkeit  solcher  Stätten  war  nicht  die  Wirkung,  sondern  die 
Ursache  des  Kultus  daselbst;  sie  haftete  als  natürliche  Eigenschaft 
am  Boden  und  strahlte  von  ihm  in  Theophanien  aus,  lange  bevor 


^)  Eigentümlich  ist  es,  daß  die  Priester  durchschnittlich  Gerim,  d.  i, 
Schutz  verwandte  waren  und  nicht  zum  Geschlechts  verband  des  Ortes  gehörten, 
wo  sie  amteten.  Es  könnte  sich  teilweise  daraus  erklären,  daß  sie  mit  den 
Altären  von  den  Kanaaniten  übernommen  waren.  Vgl.  Reste  arab.  Heiden- 
tums 1897  p.  131,  Prolegomena  p.  142. 

-)  Zum  Folgenden  überhaupt  sei  auf  die  Reste  arabischen  Heidentums 
(Berlin  1897)  verwiesen. 


Gott  Welt  und  Leben  im  alten  Israel.  99 

dort  ein  Kultus  bestand^).  Diese  heiligen  Hage  lagen  frei  und  gern 
auf  Höhen;  sie  hießen  geradezu  Höhen.  Ihr  Mittelpunkt  war  in 
alter  Zeit  ein  Felsblock  oder  Stein,  der  zugleich  als  Altar  und  als 
Idol  diente  und  mit  der  Gottheit  verselbigt  wurde;  es  wurden  auch 
mehrere  Steine  kreisförmig  zusammengestellt  (Gilgal)  oder  auf  einen 
Haufen  geschüttet  (Gal).  Hinzu  kam  sehr  häufig  ein  Baum,  eine 
Eiche,  Tamariske,  Therebinthe,  Palme,  oder  auch  eine  Baumgruppe. 
Auch  ein  Wasser  fand  sich  wol ,  so  in  Kades,  Beerseba  und 
anderswo.  Von  heiligen  Höhlen  hören  wir  nichts;  daraus  folgt  aber 
schwerlich,  daß  es  keine  gegeben  hat^). 

Später  trat  die  Kunst  an  Stelle  der  Natur.  Es  wurden  große 
Altäre  gebaut  oder  gegossen;  auch  die  alten  Steinmale,  die  mit 
verminderter  Bedeutung  neben  den  Altaren  stehn  blieben,  wurden 
von  Menschenhand  bearbeitet,  hie  und  da  sogar  durch  eherne  Säulen 
ersetzt.  Die  natürlichen  Bäume  verschwanden  zwar  nicht,  wo  sie 
waren;  aber  notwendiger  als  sie  gehörte  der  künstliche  Baum, 
die  Aschera,  zur  ordentlichen  Einrichtung  eines  Heiligtums.  Wo 
man  kein  Wasser  hatte,  machte  man  ein  ehernes  Meer  ^).  Der  Haupt- 
fortschritt bestand  in  den  geschnitzten  und  gegossenen  Bildern,  die 
ersten  wurden  von  Gideon  und  von  dem  Ephraimiten  Micha  ge- 
macht*). In  Jerusalem  befand  sich  eine  eherne  Schlange;  am  ge- 
wöhnlichsten scheint  Jahve  als  Stier  dargestellt  zu  sein,   er  wird 


^)  Bezeichnend  ist  der  Name  Phanuel  (Gegenwart  Gottes)  für  eine  Kultus- 
stätte, ebenso  die  Erzählung  von  der  Himmelsleiter  in  Bethel  und  von  den 
Engeln  in  Mahanaim. 

2)  Heilige  Steine  bei  Bethel  (Gen.  28),  bei  Ophra  (Jud.  6),  bei  Bethsemes 
(ISam.  6);  öfters  mit  Eigennamen:  Eben  haEzer,  E.  haEsel,  E.  Zochelet. 
Heilige  Bäume  (bei  dem  Stein  oder  Altar,  vgl.  Jud.  9,  6  Elon  Masseba) 
werden  in  der  Genesis  erwähnt,  als  von  den  Patriarchen  gepflanzt,  dann  be- 
sonders bei  den  Propheten.  Die  Höhlen  haben  bei  den  Aramäern  und  den 
Arabern,  darum  ohne  Zweifel  auch  bei  den  Kanaaniten,  große  Bedeutung 
gehabt;  es  ist  wol  Zufall,  daß  sie  im  Alten  Testament  nicht  vorkommen.  Vgl. 
Gen.  23, 17. 

^)  Analoga  des  ehernen  Meeres  zu  Jerusalem  finden  sich  bei  den  Phöni- 
ciem  und  besonders  bei  den  Ägyptern.  Die  mythologisirenden  Ausdeutungen 
sind  überflüssig. 

*)  Das  gegossene  Bild  (masseka)  wird  von  dem  geschnitzten  (phesel)  ur- 
sprünglich unterschieden.  Der  Unterschied  ist  aber  später  nicht  mehr  streng; 
denn  oft  hatte  die  Masseka  einen  hölzernen'  Kern  und  der  Phesel  einen  me- 
tallenen Überzug  (Isa.  30,  32.     Hierem.  10,  3.  4). 

7* 


100  Sechstes  Kapitel. 

auch  der  Stier  Jakobs  genannt^).  Für  die  Bilder  wurden  dann 
die  Häuser  auf  den  Höhen  gebaut;  ein  Gotteshaus  setzt  immer  ein 
Idol  voraus^).  Übrigens  deckte  sich  der  Tempel  niemals  mit  dem 
Heiligtum;  er  stand  innerhalb  des  abgegrenzten  Raums,  der  vor 
ihm  heilig  gewesen  war  und  auch  nach  seiner  Zerstörung  heilig 
blieb  ^). 

Für  den  Gottesdienst  blieb  der  Altar,  ehedem  der  Stein,  der 
Mittelpunkt.  Die  wichtigsten  Opfer  wurden  auf  ihm  verbrannt 
und  dadurch  transsubstantiirt,  himmlisch  gemacht.  Sie  heißen 
darum  Räucherungen  oder  Feuerungen,  und  der  Altar  ein  Herd 
Gottes.  Aber  ursprünglich  hatte  die  Gottheit  so  wenig  einen  Herd 
wie  die  Menschen,  das  Feuer  hatte  für  den  Kultus  keine  Bedeutung, 
das  Verbrennen  der  Opfer  war  keine  alte  Sitte.  Der  alte  Brauch 
war  vielmehr  bei  den  Tieropfern  einfach  das  Streichen  oder  Aus- 
schütten des  Blutes  auf  den  Stein  oder  den  Altar,  wie  bei  den 
Arabern;  die  Fleischstücke  wurden  dann  entweder  von  den  Dar- 
bringern gegessen  oder  den  Vögeln  und  wilden  Tieren  preisgegeben*). 
Die  Blutausschüttuug  hat  sich  auch  später  immer  uud  überall  er- 
halten, sie  galt  aber  nicht  mehr  als  genügend  für  ein  richtiges 
Opfer  ^),  sondern  wurde,  für  sich  allein  geübt,  zum  Ritus  der  pro- 
fanen Schlachtung.  Wie  das  Blut,  so  wird  auch  Öl  und  Wein 
—  Milch  findet  sich  nicht  —  auf  den  Stein  ausgeschüttet.  Dem 
Ausschütten  entspricht  das  Aufstellen  (struere)  der  nichtflüssigen 
eßbaren  Sachen,  z.  B.  der  gesäuerten  Brote  oder  etwa  der  Kuchen 
von  gepreßtem  Obst;  dieses  Aufstellen  blieb  selbst  beim  Verbrennen 
noch  immer  Sitte.  Ein  merkwürdiger  Übergang  zeigt  sich  beim 
Opfer  Gideons;  er  setzt  Kesselfleisch  und  Brühe  einfach  auf  einen 
Stein,  aber  aus  dem  Stein  schlägt  die  Lohe  und  verzehrt  die  zu- 
bereiteten Speisen. 


1)  Neben  den  Keruben  wurden  die  Stiere  auch  als  Symbole  oder  Orna- 
mente von  der  heiligen  Kunst  vorzugsweise  verwendet.  Das  eherne  Meer 
wurde  von  Stieren  getragen.  Stierköpfe  und  -hörner  befanden  sich  an  den 
Ecken  der  Altäre ;  daher  der  Ausdruck :  dem  Altar  das  Genick  brechen 
(Ose.  10,  2). 

2)  Isa.  44,  13. 

3)  Hierem.  41,5.    Joseph.  Aut.  13,70. 

*)  1  Sam.  14, 32  SS.;  es  wird  dort  nicht  protestirt  gegen  das  Essen  des 
rohen  Fleisches,  sondern  gegen  das  Essen  des  Fleisches,  ohne  das  Blut  auf 
den  Stein  geschüttet  zu  haben.     Gen.  15,  11.     Hier.  34,  18. 

^)  Das  Sündopfer  ist  nur  eine  BuHe  oder  Entschädigung. 


Gott  Welt  imd  Leben  iüi  alten  Israel.  101 

Die  Opfer  sind  zum  Teil  weiter  nichts  als  Gaben  an  die  Gott- 
heit. Sie  werden  dann  entweder  an  heiliger  Stelle  aufbewahrt, 
oder  vernichtet,  oder  auch  liegen  gelassen;  der  letztere  Fall  gibt 
manchmal  Anlaß  zur  Entstehung  gebotener  Almosen,  so  daß  die 
Armen  das  bekommen,  was  eigentlich  der  Gottheit  gegeben  wurde. 
Aber  bei  den  Altaropfern,  namentlich  bei  den  blutigen,  überwiegt 
die  Idee  der  Bundschließuug.  Durch  den  Ritus  des  Blutstreichens 
wird  eine  Verbrüderung  mit  der  Gottheit  bewirkt,  ebenso  auch 
durch  das  heilige  Mahl,  das  Bündnis  zwischen  Lebensfreude  und 
Andacht,  welches  für  den  altisraelitischen  Kultus  genau  so  wichtig 
war  wie  für  den  griechischen.  Ursprünglich  sühnt  das  Opferblut 
nicht,  sondern  es  kittet;  die  Versöhnung  ist  aus  der  Commuuio 
erst  abgeleitet.  Zur  Teilnahme  an  dem  Essen  und  Trinken,  an  der 
Freude  vor  Jahve,  gehört  die  Heiligung,  die  darin  besteht,  daß 
man  sich  tags  zuvor  gewisser  Dinge  enthält  und  die  Kleider  wäscht 
oder  wechselt. 

Der  Kultus  bevorzugt  gewisse  Tage.  Der  Neumond  wurde 
feierlich  begangen;  mit  ihm  wird  der  Sabbath  zusammengestellt, 
der,  wie  es  scheint,  ursprünglich  nach  den  Phasen  des  Mondes  sich 
richtete ').  Der  Sabbath  ist  der  Feiertag  der  Woche,  an  dem  die 
Schaubrote  aufgelegt  werden;  die  Ruhe,  ursprünglich  nur  die  Folge 
der  Feier,  ist  erst  allmählich  bei  ihm  gesteigert  und  zu  seinem 
besonderen  Merkmal  geworden.  Stärker  als  diese  Mondfeste  treten 
in  der  Königszeit  die  Jahresfeste  hervor.  Auch  sie  haben  keine 
geschichtlichen,  sondern  natürliche  Anlässe.  Sie  fallen  auf  die 
Semesteranfänge  im  Herbst  und  Frühling;  die  Feier  besteht  darin, 
daß  die  Erstlinge  und  Zehnten,  als  Dank  für  den  Segen  des 
Landes  und  der  Herde,  an  heiliger  Stelle  dargebracht,  geopfert 
und  verzehrt  werden  ^).     Das  Hauptfest  ist  das  Herbstfest  der  Lese 


')  Über  den  Zusammenhang  des  Sabbaths  mit  den  Planeten  vgl.  Idelers 
Handbuch  der  Chronologie  1,  178ss.     2,177  s. 

^)  Als  Erntefeste  sind  sie  von  den  Kanaaniten  übernommen  (p.  50), 
obgleich  die  Termine,  an  den  Äquinoktien,  älteren  Ursprungs  sind.  Nur  das 
Pascha  kann  althebräisch  gewesen  sein,  es  tritt  beim  Auszug  aus  Ägypten 
stark  hervor,  ward  aber  später  von  den  Erntefesten  überschattet.  Diesem 
Feste  ist  am  frühesten  eine  historische  Unterlage  gegeben  worden:  in'  der 
alten  Form  der  Sage  gilt  indessen  der  Auszug  nicht  als  Veranlassung  des 
Festes,  sondern  umgekehrt  das  Fest  als  Veranlassung,  oder  doch  als  Vorwand, 
des  Auszuges  (Prolegomena  1899  p.  86.  100).     Neben  den  Semesterfesten  gab 


102  Sechstes  Kapitel. 

beim  Wechsel  des  Jahres '),  zugleich  das  abschließende  Dankfest 
für  den  Ertrag  von  Tenne  und  Kelter  überhaupt;  es  wird  schlecht- 
hin „das  Fest"  genannt.  Dem  entspricht  sechs  Monate  früher  das 
Osterfest  der  ungesäuerten  Gerstenfladen;  es  bezeichnet  den  Anfang 
der  sieben  Wochen  des  Getreideschnitts,  an  deren  Schluß  Pfingsten 
steht,  das  Fest  der  gesäuerten  W^eizenbrote.  Auf  Ostern  fällt  auch 
das  Pascha,  das  Fest  der  Darbringung  der  männlichen  Erstgeburten 
von  Rindern  und  Schafen,  ursprünglich  auch  von  Menschen 
(Exod.  22,  28,  korrigirt  in  34,  20).  Das  waren  die  drei  großen  Opfer- 
gelegenheiten, regelmäßige  tägliche  blutige  Opfer  wurden  nicht  dar- 
gebracht. „Dreimal  im  Jahr  soll  jeder  Mann  vor  Jahve  erscheinen, 
und  nicht  mit  leeren  Händen."  Der  ältere  Dekalog  gibt  als  am 
Sinai  geoffenbartes  Grundgesetz  für  Israel  beinah  nur  Vorschriften 
für  die  Feier  dieser  Feste*).  Darin  bestand  der  volkstümliche 
Gottesdienst,  diesen  Eindruck  gewinnt  man  auch  aus  den  Propheten 
und  sogar  noch  aus  dem  Deuteronomium.  Von  den  Erstlingen 
und  Abgaben,  auf  welche  die  Feste  begründet  waren,  oder  auch 
vom  Erlös  derselben  wurden  fröhliche  Opfermahle  veranstaltet; 
man  aß  und  trank,  man  freute  sich  vor  Jahve.  Laute  Freude,  rau- 
schender Jubel  war  der  allgemeine  Charakter  der  Feier.  Auch  die 
Weiber    nahmen,    geputzt    und    mit  Silber  und  Gold  geschmückt. 


es  noch  andere,  von  denen  wir  nur  zufällig  erfahren.  In  Gilead  feierten  die 
Töchter  Israels  alljährlich  vier  Tage  lang  auf  den  Bergen  das  Andenken  der 
gemordeten  jungfräulichen  Tochter  Jephtahs;  die  ganze  Geschichte  Jephtahs 
ist  weiter  nichts  als  die  Ätiologie  dieser  Feier,  die  einigermaßen  an  das 
Weinen  der  Weiber  über  den  Thammuz  (Ezech.  8,  14)  erinnert. 

^)  Der  Wechsel  des  Jahres  erfolgte  nicht  im  Frühling,  sondern  im  Herbst; 
Tgl.  Prolegoraena  p.  106  ss.  Über  die  Berechnung  des  Jahres  und  die  Schal- 
tung haben  wir  keine  alten  Nachrichten;  nach  dem  Priesterkodex  hatte  es 
365  Tage,  wie  aus  den  Angaben  über  die  Lebenszeit  des  Henoch  und  über 
die  Dauer  der  Sündflut  erhellt.    Ygl.  dagegen  Odyssee  12,  129  s. 

2)  „1.  Du  sollst  keinen  fremden  Gott  anbeten.  2.  Gußgötter  sollst  du 
dir  nicht  machen.  3.  Das  Massothfest  sollst  du  feiern.  4.  Alle  Erstgeburt  ist 
mein.  5.  Das  Fest  der  Wochen  sollst  du  halten.  6.  Und  das  Fest  der  Lese 
bei  der  Wende  des  Jahres.  7.  Du  sollst  nicht  mit  Saurem  das  Blut  meines 
Opfers  vermischen.  8.  Das  Fett  meines  Festes  soll  nicht  bis  zum  anderen 
Morgen  übrig  bleiben.  9.  Das  Beste  der  Erstlinge  deiner  Flur  sollst  du  zum 
Hause  Jahves  deines  Gottes  bringen.  10.  Du  sollst  das  Böcklein  nicht  in  der 
Milch  seiner  Mutter  kochen."     Vgl.  Compos.  p.  85.  333. 


Gott  Welt  und  Lebeu  im  alten  Israel.  103 

daran  teiP).  Es  fehlte  nicht  an  Excessen;  männliche  und  weib- 
lich Hierodulen  waren  auch  bei  den  israelitischen  Heiligtümern 
zu  finden.  Trauer  und  gewisse  körperliche  Zustände,  Leiden  und 
Gebrechen,  machten  unrein  und  schlössen  vom  Kultus  aus;  er  war 
nur  für  die  Fröhlichen  und  die  Gesunden  da^).  Auf  die  Sünde 
und  die  Sühnung  hatte  er  keine  Beziehung;  der  Versöhnungstag 
der  späteren  Juden  fehlt  in  dem  älteren  Festcyklus  und  paßt  durch- 
aus nicht  hinein.  In  Zeiten  der  Not  rief  man  ein  Fasten  aus, 
man  machte  auch  wol  tastende  Versuche,  Jahves  Angesicht  zu 
glätten.  Wenn  er  aber  sichtlich  zürnte,  in  Zeiten  allgemeiner 
Verzweiflung,  wagte  man  überhaupt  nicht  sich  ihm  zu  nahen ^). 

Neben  dem  öffentlichen  Gottesdienst  gab  es  auch  eine  Religion 
für  den  Hausgebrauch.  Flüche,  Schwüre  d.  i.  bedingte  Selbstver- 
fluchungen, und  Gelübde  waren  gewöhnlich.  Wer  unter  dem  Ge- 
lübde stand,  durfte  in  gewissen  Fällen  keinen  Wein  trinken  und 
sich  das  Haar  nicht  scheren*).  Eine  Menge  privater  Observanzen 
säumte  das  tägliche  Leben  und  faßte  es  ein.  Sie  waren  zwar  nicht 
gesetzlich  und  dienten  nicht  zur  strengen  Absonderung  der  Israe- 
liten von  den  Heiden^),  aber  sie  existirten,  als  allgemeine  und  selbst- 
verständliche Praxis.  Das  Kind  wurde  nach  der  Geburt  mit  Salz 
abgerieben.  Von  der  Sitte,  ihm  Honig  an  den  Gaumen  zu  streichen, 
zeugt  nur  noch  die  Etymologie  eines  Wortes,  welches  dann  die  all- 
gemeine Bedeutung   einweihen  bekommen  hat.    Die  Beschneidung 


')  Exod.  3.  20:  die  hebräischen  Weiber  leihen  sich  von  den  Ägypterinnen 
Kleider  und  Schmuck  für  die  Festfeier  in  der  Wüste.     Ose.  1,13.  4,14. 

''')  Der  Unterschied  von  solchen,  denen  die  Teilnahme  am  Kultus  erlaubt, 
und  von  solchen,  denen  sie  verboten  war,  schnitt  tief  ein  und  griff  weit.  Smend 
vermutet,  daß  nach  dieser  Rücksicht  die  Zwieteilung  'a^ür  und  'azüb  zu 
verstehn  sei;  arab.  mu'^ir  bedeutet  menstrua.  Vgl.  Deutsche  Literatur- 
zeitung 1900  p.  292. 

^)  Amos  6,  10.  Diese  antike  Scheu  findet  sich  sehr  ausgesprochen  noch 
bei  dem  christlichen  Syrer  Ephraem  (Opp.  3,  635  unten). 

*)  Nazir  kommt  von  einer  Wurzel,  welche  geloben  bedeutet.  In  ältester 
Zeit  gab  es  kriegerische  Nazire  wie  Simson.  der  den  lebenslangen  Kampf  gegen 
die  Philister  sich  auferlegt  hatte;  vielleicht  darf  man  auch  mit  W.  R.  Smith 
Jud.  5,2  so  verstehn:  als  die  Haare  lang  wuchsen  =  als  viele  zu  kämpfen 
gelobten.  Später  wurden  die  Nazire  friedlicher,  und  die  Gelübde  ermäßig- 
ten sich. 

^)  Man  wunderte  sich  über  die  Exklusivität  der  Ägypter,  daß  es  ihnen 
ein  Greuel  war,  mit  anderen  Leuten  zu  essen  (Gen.  43,32,  dagegen  Galat.  2,  12). 


104  Sechstes  Kapitel. 

war  vielleicht  ursprünglich  eine  Zeremonie  der  Aufnahme  in  den 
Kahal,  eine  barbarische  Probe  der  Mannhaftigkeit,  die  zugleich  das 
Recht  zur  Heirat  verlieh').  Über  Zeremonien  der  Eheschließung 
ist  nichts  bekannt,  abgesehen  von  der  Eheschließung  mit  einer  kriegs- 
gefangenen  Frau.  Um  so  mehr  erfahren  wir  über  die  Leichenfeier. 
Die  bei  anderen  Völkern  üblichen  Trauergebräuche  waren  auch 
bei  den  Israeliten  in  älterer  Zeit  nicht  verboten.  Man  verhüllte 
Haupt  und  Bart,  legte  den  Sack  an  und  einen  Strick  als  Gürtel, 
streute  Asche  auf  das  Haupt  oder  setzte  sich  in  die  Asche.  Man 
zerriß  die  Kleider,  schür  die  Haare  und  den  Bart,  zerkratzte  und  ver- 
wundete sich.  Klageweiber  heulten  laut  und  zerschlugen  sich  die  Brust. 
Die  Leiche  wurde  manchmal  einbalsamirt,  gewöhnlich  nur  einge- 
hüllt. Verbrennen  galt  als  große  Grausamkeit,  als  totale  Ver- 
nichtung des  Toten  (was  es  auch  ursprünglich  sein  sollte);  doch 
scheint  ein  Beispiel  pietätvoller  Feuerbestattung  vorzukommen,  auf 
die  dann  aber  noch  das  Begräbnis  der  Gebeine  folgt.  Denn  das 
Begraben  war  die  unerläßliche  alte  und  allgemeine  Sitte  ^),  es  gibt 
dafür  ein  nur  in  diesem  technischen  Sinne  gebräuchliches  gemein- 
semitisches Wort.  Nach  der  Angabe  vom  Tode  eines  Königs  folgt 
in  den  Annalen  regelmäßig  die  Angabe,  daß  und  wo  er  begraben 
wurde.  Es  gab  Gräber  in  der  Erde,  gekennzeichnet  durch  einen 
Baum  oder  Stein  oder  Steinhaufen.  Lieber  aber  begrub  man  in 
Höhlen,  oder  in  Grabkammern,  die  in  den  Fels  gehauen  waren.  Es 
wurde  dafür  gesorgt,  daß  die  Häuser  der  Toten  fester  und  ewiger 
waren  als  die  der  Lebendigen.  Die  Familienmitglieder  ruhten  da- 
rin bei  einander,  das  Familiengrab  war  das  Zeichen  des  Heimats- 
rechtes. Auf  einer  allgemeinen  Begräbnisstätte  beigesetzt  zu  werden 
galt  für  eine  Schande^).    Man  hoffte  nicht  in  den  Himmel  zu  kommen, 


')  Über  Exod.  4,25  s.  oben  p.  19.  Ausländer,  auch  wenn  sie  israeliti- 
sche Sklaven  waren,  wurden  in  der  älteren  Zeit  nicht  beschnitten;  vgl.  Ezech. 
44,7.  9  gegen  Gen.  17,12. 

-)  Auch  die  Hingerichteten  sollten  nach  dem  Gesetz  begraben  werden. 
Das  geschah  auch  in  den  Fällen  1  Reg.  2,  34.  2  Reg.  9,  54.  Aber  allgemeine 
Sitte  war  es  nicht.  Als  David  die  sieben  Söhne  Sauls  in  Gibeon  henkte,  blieben 
die  Leichen  liegen.  Erst  durch  das  rührende  Benehmen  der  Mutter,  die  un- 
unterbrochen bei  den  Gehenkten  wachte,  des  Tages  die  Vögel  und  des  Nachts 
die  wilden  Tiere  verscheuchte,  wurde  der  König  veranlaßt,  die  Gebeine  zusammen 
mit  denen  Sauls  und  Jonathans  im  Erbbegräbnis  der  Familie  zu  bestatten. 

3)  Isa.  22,  16.     Hier.  26,  23. 


Gott  Welt  und  Leben  im  alten  Israel.  105 

sondern  zu  Vater  und  Mutter,  zu  den  Ahnen,  zu  den  Geschlechts- 
genossen versammelt  zu  werden.  Die  Vorstellung  von  der  Hölle, 
d.  h.  der  Unterwelt,  wo  alle  Toten  der  ganzen  AVeit  bei  einander 
waren,  zu  der  hinabzufahren  man  sich  fürchtete,  steht  dazu  freilich 
in  einem  seltsamen  Widerspruch,  der  nicht  dadurch  gelöst  werden 
kann,  daß  in  den  Grabkammern  bloß  die  Leiber,  in  der  Hölle  aber 
die  Seelen  sich  befinden.-  Zu  einer  Ausgleichung  der  Widersprüche 
auf  diesem  Gebiet  ist  aber  auch  durchaus  kein  Anlaß. 

Auch  richtiger  Totenkultus  wurde  getrieben.  Die  Speisung  der 
Toten,  die  im  Deuteronomium  erwähnt  und  nicht  einmal  verboten 
wird,  weist  auf  ein  Totenmahl  und  ein  Totenopfer;  vielleicht  ist 
auch  die  Haarschur  ähnlich  zu  beurteilen.  Nicht  bloß  bei  der  Trauer, 
sondern  auch  beim  Gebet  brachte  man  sich  Einschnitte  und  Ver- 
wundungen bei.  Bäume,  Steine  und  Steinhaufen  kommen  eben  so 
wol  bei  Gräbern  als  bei  Altären  vor.  Es  wird  eine  Anzahl  heiliger 
Gräber  im  Alten  Testament  genannt,  namentlich  von  Frauen,  wie 
Rahel,  Debora,  Miriam;  sehr  bezeichnend  ist  es,  daß  Moses  von  Jahves 
eigener  Hand  an  einem  unbekannten  Orte  bestattet  wird,  damit  sein 
Grab  nicht  zu  einer  Kultusstätte  werde.  Wenn  man  so  großen 
Wert  darauf  legte,  mit  seinen  Vätern  im  Erbbegräbnis  vereinigt  zu 
werden,  so  mußte  man  glauben,  davon  irgend  welchen  Genuß  zu 
haben.  Die  Vorstellung,  daß  die  Toten  in  die  Hölle  gebannt  wären 
und  keine  Empfindung  mehr  hätten,  beherrschte  die  alten  Israeliten 
nicht  ausschließlich.  Die  Rephaim,  d.  h.  die  Schatten,  hausten  auch 
auf  der  Oberwelt;  sie  hatten  Ähnlichkeit  mit  Dämonen').  Sie 
konnten  aus  der  Hölle  heraufbeschworen  werden,  zum  Zweck  von 
Zauber  und  Weissagung;  sie  werden  geradezu  Götter  genannt"). 

Es  ist  dies  nicht  die  einzige  Spur  vom  Glauben  an  Dämonen 
und  von  den  damit  verbundenen  Praktiken.  Das  Verbot  von  Zau- 
berei und  Wahrsagung  beweist,  daß  die  Neigung  dazu  bestand.  Ver- 
schiedene Methoden  werden  erwähnt,  darunter  auch  das  Hindurch- 
gehnlassen  durch  das  Feuer').    Die  Gegenzauber  und  Amulette  haben 


1)  Mit  dem  CXD")  püy  vergleicht  Renan  (Hist.  du  Peuple  Isr.  I.  p.  11  (j 
n.  4)  C''~i^*^  p?2>  in  Gen.  14,  das  er  ohne  Zweifel  richtig  als  Dämonental 
deutet.  Die  Rephaim,  ebenso  wie  die  vermutlich  gleichwertigen  Xephilira,  sind 
auch  Riesen. 

2)  1  Sam.  28.     Ygi.  Schwally,  Das  Leben  nach   dem  Tode,  Gießen  1892. 

3)  Deut.  18.     A'gl.  Reste  arab.  Heidentums  1897  p.  189. 


IQß  Sechstes  Kapitel. 

sogar  im  Gesetz  Aufnahme  gefunden,  freilich  nachdem  sie  ihrer  Be- 
deutung mehr  oder  weniger  entkleidet  waren.  So  die  Quasten  am 
Kleidersaum,  die  Gehänge  (Totaphoth)  auf  der  Stirn,  die  Phylak- 
terien  am  Arm,  die  unseren  Hufeisen  auf  der  Schwelle  vergleich- 
baren Mezuzoth  an  den  Pfosten.  Man  fühlte  sich  überall  von  Geistern 
umgeben,  die  Erde  war  bevölkert  von  ihren  Heeren.  Man  hatte 
darum  eine  gewisse  Scheu  vor  der  Natur,  sie  wurde  nicht  als  Sache 
betrachtet.  Jahve  selbst  hatte  göttliche  Wesen  niederer  Ordnung 
um  sich;  die  Göttersöhne  gehörten  zu  seinem  Geschlecht.  Ein  Unter- 
schied zwischen  guten  und  bösen  Geistern  wurde  nicht  gemacht,  sie 
waren  elementare  Mächte,  die  nützen  und  auch  schaden  konnten. 

Die  moralische  Unterscheidung  von  Gut  und  Böse  beherrschte 
überhaupt  die  populäre  Religion  weniger  als  der  sakramentale  Gegen- 
satz von  Rein  und  Unrein.  Der  Zustand  der  Trauer  wegen  eines 
Todesfalls,  die  Berührung  der  Leiche  und  des  Aases  machten  un- 
rein. Ebenso  gewisse  Krankheiten  und  alle  geschlechtlichen  Vor- 
gänge, in  besonderem  Maße  die  monatliche  Reinigung  und  die  Ge- 
burt. Es  war  verboten,  gewisse  Tiere,  z.  B.  Schweine,  zu  essen, 
Blut  zu  essen,  die  Hüftsehne  zu  essen.  Verschiedene  Ursachen  haben 
die  gleiche  Wirkung;  nicht  bloß  die  Berührung  des  Ekelhaften  ver- 
unreinigt, sondern  auch  die  des  Heiligen.  Das  Blut  und  die  Hüft- 
sehne  sind  heilig;  vielleicht  ist  auch  die  Unreinheit  einiger  Tiere 
daraus  zu  erklären,  daß  sie  ursprünglich  irgend  einem  Gott  oder 
Dämon  geweiht  waren.  Den  Glauben,  daß  die  Dämonen  in  Tier- 
gestalt umgehn,  haben  nicht  bloß  die  späteren  Juden,  sondern  sicher 
auch  die  alten  Israeliten  gehabt.  Im  übrigen  unterscheiden  sie  sich  von 
den  Syrern  dadurch,  daß  sie  Fische  essen,  von  den  Arabern  da- 
durch, daß  sie  das  Kamel  nicht  essen.  Die  Unreinheit  hat  einen 
zeitweiligen  Ausschluß  von  der  Teilnahme  an  der  Gemeindever- 
sammlung und  am  Gottesdienst  zur  Folge.  Die  Wiederaufnahme 
geschieht  durch  eine  Reinigungszeremonie.  Gewöhnliche  Verfahren 
sind  die  Waschung  des  Leibes  und  namentlich  der  Kleider,  das 
Scheren  des  Haares  und  das  Beschneiden  der  Nägel;  auch  Reinigung 
mit  einem  Ezobbüschel  und  mit  lebendigen  kleinen  Vögeln  kommt  vor. 

Was  rein  war  und  was  unrein,  erlaubt  oder  verboten,  war 
keineswegs  immer  klar  und  allbekannt.  In  Zweifelfällen  wurden 
die  Priester  darum  gefragt  und  entschieden  darüber,  darin  bestand 
wesentlich  ihre  Thora.  Sie  waren  zugleich  Gewissensräte  und  Ärzte, 
sie  hatten    dadurch    einen    tief   in    das  Leben    greifenden  Einfluß. 


Gott  Welt  lind  Leben  im  alten  Israel.  107 

Das  Heiligtum  überhaupt  war  keineswegs  bloß  für  den  großen 
öffentlichen  Gottesdienst  da,  der  nur  selten  gefeiert  wurde,  sondern 
auch  für  die  privaten  Bedürfnisse  der  Einzelnen.  Wie  sie  sich 
dort  Bescheid  holten,  so  trugen  sie  dort  auch  ihre  Bitten  und 
Wünsche  vor.  Der  Altar  war  die  Wunschstätte,  und  das  Opfer 
häufig  die  Einleitung  für  die  Anbringung  irgend  eines  Anliegens 
an  die  Gottheit,  ein  Versuch,  zu  einem  bestimmten  Zweck  auf  sie 
einzuwirken ').  In  der  selben  Absicht  wurde  auch  allerlei  Zauber 
beim  Altar  getrieben^). 

Der  große  Gottesdienst  war,  wie  wir  gesehen  haben,  kanaa- 
nitischen  Ursprungs,  die  Observanzen  des  kleinen  Kultus  wurzelten 
in  verschiedenen  Schichten  älteren  Heidentums.  Dieser  Stoff  wurde 
im  ganzen  als  mit  der  Jahvereligion  verträglich  angesehen,  auf 
sie  übertragen  oder  wenigstens  in  Beziehung  zu  ihr  gesetzt.  Das 
Verhältnis  war  verschieden.  Manche  Bräuche  waren  abgestorben, 
man  hatte  ihren  Ursprung  und  ihre  Bedeutung  vergessen,  sie  ließen 
sich  überall  leicht  einpassen.  Daß  die  Feste  übernommen  wurden, 
daß  der  Dank  für  die  Ernte,  wie  früher  dem  Baal,  so  jetzt  dem 
Jahve  abgestattet  wurde,  war  durchaus  angemessen,  obgleich  aller- 
dings durch  die  Veränderung  der  dativischeu  Beziehung  nicht  auch 
sofort  die  innere  Art  der  Feier  sich  änderte.  Befremdlicher  mutet 
es  uns  an,  daß  die  Theraphim  in  den  Gotteshäusern  Platz  fanden, 
daß  die  heilige  Unzucht  in  den  Dienst  Jahves  eindrang.  Vielleicht 
geschah  dergleichen  nicht  überall  mit  gutem  Gewissen  oder  jeden- 
falls nicht,  ohne  daß  eine  Opposition  sich  regte.  Wie  dem  aber 
auch  sei,  ein  bewußter  und  gewollter  Abfall  von  Jahve  erfolgte 
niemals;  die  Beweise,  die  dafür  angeführt  werden,  zeigen  nur,  daß 
die  späteren  Juden  ihrem  Gesetz  rückwirkende  Geltung  beimaßen. 
Und  Jahve  wuchs  doch  über  das  Heidentum,  das  ihm  anhaftete 
oder  sich  ihm  ansetzte,  mehr  und  mehr  hinaus.  Daß  seine  Religion 
fortschreitend  an  Bedeutung  zunahm,  läßt  sich   aus  der  geschicht- 


')  Daher  "iinj/'H  opfern  für  flehen. 

^)  Dahin  gehört  die  schon  erwähnte  Sitte,  sich  selber  zn  verwunden,  um 
eindrücklicher  zu  flehen  (Os.  7,  14.  1  Reg.  18,  28).  Vielleicht  hat  von  dieser 
Sitte  das  hebräische  Wort  für  beten  den  Namen,  ebenso  wie  nach  W.  R. 
Smith  das  aramäische:  die  Wurzel  'ppi  bedeutet  im  Arabischen  Risse,  Ein- 
schnitte haben.  Merkwürdig  ist  auch,  daß  "iHiJ'  (suchen,  aber  vorzugs- 
weise Gott  suchen)  zugleich  zaubern  bedeutet.  Vgl.  tanahhus  =  suchen 
Ham.  104,2. 


108  Sechstes  Kapitel. 

liehen  Literatur  deutlich  erkennen.  Ein  unverdächtiges  Zeugnis 
dafür  liefern  auch  die  Eigennamen;  die  mit  Jahve  zusammen- 
gesetzten sind  anfangs  sehr  selten  und  gewinnen  dann  nach  und 
nach  die  Oberhand  ^). 

„Jahve  der  Gott  Israels"  war  und  blieb  der  Fundamentalsatz 
des  Glaubens.  Die  Zusammengehörigkeit  beider  war  eine  gegebene 
Tatsache;  der  Gedanke,  Jahve  habe  sich  Israel  angeboten  und 
Israel  sich  dann  für  ihn  erklärt,  wurde  in  älterer  Zeit  nicht  ge- 
streift. Das  Verhältnis  war  ein  angestammtes,  natürliches;  es  war 
nicht  lösbar  und  beruhte  nicht  auf  einem  Vertrage.  Betätigt  wurde 
es  von  dem  Volke  durch  den  Kultus,  welchen  es  Jahve  weihte; 
von  Jahve  durch  den  Beistand,  welchen  er  Israel  gewährte.  Gott 
bedeutete  Helfer,  das  war  der  Begriff  des  AVortes.  Hilfe,  Unter- 
stützung in  irdischen  Angelegenheiten  wurde  von  Jahve  erwartet, 
kein  Heil  im  christlichen  Sinne.  Die  Vergebung  der  Schuld  war 
etwas  Untergeordnetes,  sie  lag  in  der  Erlösung  von  dem  Übel  ein- 
geschlossen und  wurde  nicht  geglaubt,  sondern  erlebt.  Die  Haupt- 
sache war,  daß  Jahve  Regen  und  Sieg  verlieh.  Er  schenkte  dem 
Lande  Fruchtbarkeit  und  beschützte  es  gegen  die  Feinde;  dem- 
entsprechend bestand  auch  der  Gottesdienst  wesentlich  in  der  Dar- 
bringung der  Erstlinge  des  Landes  an  den  Festen.  Die  Ernte  war 
der  Gradmesser  für  den  Stand  des  religiösen  Verhältnisses.  In 
dem  Segen  des  Feldes  schmeckte  und  sah  man  die  Freundlichkeit 


1)  Anfangs  überwiegen  profane  Namen,  wie  Moses,  Sipphora,  Debora,  Jael, 
Samgar,  Gideon,  Saiil,  David,  Salomo.  Yon  Tieren  sind  hergenommen  Lea, 
Rahel,  Simeon  (arabisch  Sim'än),  Sipphora,  Debora,  Jael,  Goal  (Käfer,  Jud.  9), 
Aija,  Saphan,  Akbor,  Hui  da,  Phar^osch:  von  Bäumen  Salomo  (arab.  Salämäu), 
Ela,  Elon,  Thamar.  Kis  (arab.  Qais),  Ner,  Barak,  auch  Nun  und  Nahas  muten 
heidnisch  an;  Jerubbaal,  Meribaal,  Isbaal  zeigen  ebenfalls,  daß  der  Gegensatz 
zum  Heidentum  nicht  scharf  empfunden  wurde.  Über  Abischai  etc.  s.  p.  25 
n.  2,  über  Jerobeam  Reste  arab.  Heidentums  1897  p.  4.  n.  2.  Zu  Nebat  vgl.  Corp. 
Inscr.  Sem.  IV.  90,  10;  es  ist  verkürzt,  wie  Saphat.  Thibni  (Sept.  Thabenni) 
ist  der  selbe  Name  wie  der  sidonische  Thabnit;  Baesa  findet  sich  nach  De- 
litzsch Paradies  p.  295  bei  den  Ammoniten  wieder.  Mit  Jahve  komponirte 
Namen  finden  sich  in  alter  Zeit  wenige,  einige  Beispiele  sind  zweifelhaft 
(Kompos.  des  Hexat.  p.  371).  Seit  Elia  und  Jonadab  mehren  sie  sich;  als 
Königsnamen  sind  sie  vor  Josaphat  von  Juda  und  Ahazia  von  Israel  nicht  im 
Gebrauch,  seitdem  aber  fast  ausschließlich.  Sie  nationalisiren  die  Religion: 
an  Johanan  kann  man  den  Israeliten,  an  Hanuilml  den  Phönizier,  an  Henadad 
den  Damascener  erkennen.  Frauennamen  mit  Jahve  kommen  kaum  vor  (Renan, 
Histoire  1,  198). 


Gott  Welt  und  Leben  im  alten  Israel.  109 

Jalives,  Miswachs  und  Verwüstung  wurden  als  religiöse  Schmach 
empfunden.  Es  war  nicht  ausgeschlossen,  daß  Jahve  mit  den 
Seinen  unzufrieden  war,  sie  züchtigte  und  strafte.  Am  Ende  aber 
half  er  ihnen  doch  immer  aus  aller  Not  und  erlöste  sie  von  den 
Feinden,  in  deren  Hand  er  sie  zeitweilig  überliefert  hatte. 

Jahve  überschattete  das  Gestrüpp  des  Bodens,  auf  dem  er 
stand;  die  Schlingpflanzen,  die  ihn  umrankten,  erstickten  ihn  nicht. 
Daß  er  aber  ein  Prinzip  bedeutete  und  nicht  tolerant,  sondern 
eifersüchtig  war,  kam  erst  allmählich  zu  deutlicherem  und  allge- 
meinerem Bewußtsein.  Seine  prinzipielle  Bedeutung  erwuchs  aus 
der  nationalen.  Der  Yolksgott  verdrängte  die  Stammgötter  und 
setzte  sich  an  ihre  Stelle^);  die  Bilder  der  namenlosen  Familien- 
götter, die  Theraphim,  verschwanden  aus  den  Häusern  und  nur  in 
den  Tempeln  erhielt  sich  eine  Spur  von  ihnen.  Langwieriger  und 
ernsthafter  war  der  Kampf  gegen  den  Kanaanitismus.  Es  war  kein 
äußerer,  sondern  ein  innerer  Kampf;  er  wurde  nicht  gegen  die 
Kanaaniten  selber  geführt,  welche  sich  völlig  mit  den  Israeliten 
vermischt  hatten  und  nicht  mehr  ausgeschieden  werden  konnten, 
sondern  gegen  das  mit  ihnen  eingedrungene  fremde  Wesen,  welches 
die  nationale  Eigenart  zu  zerstören  drohte,  gegen  den  Luxus  und 
die  Üppigkeit  und  den  Sinnenrausch,  gegen  die  Beteiligung  der 
Gottheit  am  Leben  der  Natur  statt  am  Leben  der  Menschen  und 
des  Gemeinwesens.  Durch  ihre  ausschließliche  Beziehung  auf  die 
Nation  trat  die  Religion  Jahves  endlich  auch  in  Gegensatz  zu  dem 
vielgestaltigen  Chaos  des  unausrottbaren  niederen  Heidentums, 
welches  in  den  verschiedensten,  zufälligsten  Erscheinungen  spiri- 
tistische Kräfte  wirken  sieht  und  dieselben  durch  allerhand  wunder- 
liche Mittel  den  Wünschen  der  Selbstsucht  untertänig  zu  machen 
strebt.  Das  Fehlen  der  geheimen  Künste  machte  nach  einem  alten 
Spruch  den  eigentümlich  unheiduischen  Charakter  Israels  aus'), 
Zauber  und  Hokuspokus  galten  als  Götzendienst.  Geister-  und 
Gespensterwesen,  Totenbeschwörung  und  Totenkultus  w\aren  ein 
Greuel  für  Jahve.  Damit  hängt  zusammen  die  für  das  Alte  Testa- 
ment so  bezeichnende  Gleichgiltigkeit  gegen  die  religiöse  Psychologie, 


^)  Der  Staat  sanktionirte  bei  den  Hebräern  die  Geschlechtsgötter  nicht. 
Aber  indem  dieselben  dem  Jahve  Platz  machten,  entstand  die  Gefahr,  daß 
dieser  auf  ihre  Stufe  herabsank,  da  der  Geschlechts kul tu s  blieb,  wenngleich 
er  auf  Jahve  übertragen  wurde. 

2)  Num.  23,  23  vgl.  Deut.  18,  9ss. 


110         Sechstes  Kapitel.      Gott  Welt  und  Leben  im  alten  Israel. 

gegen  die  Frage  des  Lebens  nach  dem  Tode.  Es  genügte,  daß 
das  Volk  ewig  lebte;  über  den  Einzelnen  ging  das  Rad  der  Ge- 
schichte hinweg,  ihm  blieb  nur  Ergebung,  keine  Hoffnung.  Er 
mußte  seinen  Lohn  in  dem  Wolergehn  des  Volkes  finden.  Man 
hat  das  als  einen  Mangel  der  israelitischen  Religion  betrachtet; 
aber  dieser  Mangel  hat  sie  wenigstens  von  Spuk  und  Aberglauben 
befreit.  Es  war  gut,  daß  sie  dem  einzelnen  als  autonome  Macht 
gegenübertrat,  die  ihn  für  Jahve  und  Israel  bedingungslos  ver- 
pflichtete, und  daß  sie  nicht  ein  bloßes  Mittel  war,  seine  privaten 
Wünsche  zu  befriedigen.     Vgl.  Herod.  1,132. 

Mit  dem  Zauber  steht  die  Wahrsagung  auf  einer  Linie.  Auch 
sie  widerstrebte  dem  Wesen  Jahves.  Die  Medien  entlockten  ihm 
keine  Antwort,  er  teilte  sich  freiwillig  mit,  wenn  er  es  für  nötig 
hielt.  Nicht  durch  Eingeweide  und  Vogelflug,  sondern  durch 
Menschen  sprach  er  zu  den  Menschen.  Nicht  durch  den  Buchstaben, 
sondern  durch  den  Geist  offenbarte  er  sich  je  nach  Bedürfnis  und 
Anlaß  der  Geschichte;  er  hatte  noch  nicht  sein  Testament  gemacht, 
er  lebte  und  sein  Wort  war  lebendig.  Aus  den  Propheten  wählte 
er  die  Interpreten  der  Absichten,  die  er  mit  Israel  hatte.  Es  ist 
ihr  Verdienst,  daß  die  Geschichte,  nicht  die  vergangene,  sondern 
die  gegenwärtige,  als  bedeutungsvolles  Produkt  göttlichen  Handelns 
verstanden  wurde.  Die  Ereignisse  waren  Wunder  und  Zeichen, 
der  Zufall  Fingerzeig  einer  höheren  Hand.  Der  Glaube  erhielt 
auf  diese  Weise  eine  stimmungsvolle  Lebendigkeit,  der  Gottes- 
begriff eine  großartige  Präsenz.  Großartig  auch  darum,  weil  das 
Wirken  der  Gottheit  über  alle  Spekulation,  über  alle  Einengung 
durch  berechenbare  Heilszwecke,  durch  einen  untergeschobenen 
Heilsplan,  hinausgehoben  wurde.  Männer  des  Geistes  schauten 
mit  dem  zweiten  Gesicht,  was  Jahve  tun  wollte;  es  gab  aber 
keine  Gottesgelehrsamkeit,  die  ihn  nüchtern  konstruirte.  Er  war 
zu  real,  zu  jugendlich  und  gewaltig;  auch  wollte  man  nicht  seine 
Grundsätze  kennen,  sondern  sein  nächstes  Vorhaben,  um  sich  dar- 
nach für  das  eigene  Handeln  einzurichten.  Nie  wurde  das  W^ort 
zur  Mutter  des  Gedankens  gemacht,  die  lebendige  Evidenz  des 
Gefühlten  vertrug  sich  vielmehr  mit  großer  Sorglosigkeit  des  Aus- 
drucks. Die  Wahrhaftigkeit  der  Empfindung  hatte  auch  vor  Wider- 
sprüchen keine  Scheu.  Jahve  hatte  unberechenbare  Launen,  er 
ließ  sein  Antlitz  leuchten  und  verbarg  es,  man  wußte  nicht  warum; 
er  schuf  Gutes  und  schuf  Böses,   strafte  die  Sünde  und  verleitete 


Siebentes  Kapitel.     Der  Untergang  Samariens.  111 

zur  Sünde  —  der  Satan  hatte  ihm  damals  noch  keinen  Teil  seines 
Wesens  abgenommen.  Sein  Zorn  wirkte  wie  eine  losgelassene 
elementare  Ge\Yalt,  man  hatte  ein  Grauen  davor,  man  konnte  sich 
nicht  dagegen  schützen.  Bei  alledem  wurde  Israel  doch  nicht  an 
ihm  irre.  Es  waren  eben  im  ganzen  bisher  gute  Zeiten  gewesen; 
die  Inkongruenz  der  äußeren  Erfahrung  und  des  Glaubens  war 
noch  nicht  so  stark  zur  Empllndung  gekommen,  daß  das  Bedürfnis 
entstand,  sie  auszugleichen.  Jetzt  aber  kamen  böse  Zeiten,  und 
damit  trat  die  Nation  und  die  Religion  in  eine  neue  Periode. 


Siebentes  Kapitel. 

Der  Untergang  Samariens. 

1.  Unter  König  Jerobeamll. ,  zwei  Jahre  vor  einem  großen 
Erdbeben,  das  den  Zeitgenossen  zur  Datirung  diente,  trug  sich  in 
Bethel,  dem  vornehmsten  und  größten  Heiligtume  Jahves  in  Israel, 
ein  bedeutungsvoller  Auftritt  zu.  Die  Menge  war  dort  mit  Opfern 
und  Gaben  zum  Feste  versammelt,  als  ein  Mann  herzukam,  der  die 
Freude  der  Feier  mit  jähem  Ernste  unterbrach.  Es  war  ein  Judäer, 
Amos  von  Thekoa,  ein  Schafzüchter  aus  der  Wüste  am  Toten 
Meer.  In  den  Jubel  der  Lieder,  die  beim  heiligen  Gelage  zu  Pauke 
und  Harfe  erschollen,  warf  er  einen  gellenden  Miston,  den  Weheruf 
der  Leichenklage.  Denn  durch  all  den  Lärm  des  rauschenden 
Lebens  hindurch  vernahm  er  ein  Todesröcheln:  gefallen  ist,  steht 
nicht  mehr  auf  die  Jungfrau  Israel;  liegt  hingestreckt  im  eigenen 
Land  und  niemand  richtet  sie  auf!  Er  verkündete  den  nahen  Sturz 
des  gerade  damals  in  seiner  Macht  sich  fühlenden  Reiches  und  die 
Fortschleppung  des  Volkes  in  ein  fernes  nördliches  Land. 

Schon  einmal  hatte  das  Schicksal  an  die  Tore  gepocht,  als 
die  Aramäer  von  Damaskus  mit  aller  Gewalt  nach  Westen  drängten 
und  Schlag  auf  Schlag  gegen  die  Barriere  führten,  durch  die  sie 
vom  Meere  getrennt  wurden.  Diese  Gefahr  ging  vorüber,  Israel 
schien  neu  aufzuleben.  Aber  es  war  nur  eine  Atempause.  Die 
Zeiten  waren  glänzend,  aber  sie  waren  nicht  glücklich,  es  herrschte 
ein  banges  unheimliches  Gefühl  unter  den  Leuten.    Der  ewige  Krieg 


112  Siebentes  Kapitel. 

hatte  die  Bevölkerung  heruntergebracht;  auch  unter  der  Veränderung 
der  Wirtschaft  und  des  Besitzes,  und  unter  der  mangelhaften 
Rechtspflege,  hatten  die  niederen  Stände  schwer  zu  leiden.  Um  so 
gefährlicher  wurde  der  Schade  Josephs,  je  weniger  die  berufenen 
Ärzte  sich  darum  kümmerten.  Indessen  das  war  nicht  der  Grund, 
warum  Amos  das  Ende  Israels  voraussah.  Es  war  keine  allgemeine 
Schwarzseherei,  die  ihn  hinter  der  Herde  weg  trieb;  bestimmt 
genug  drohte  die  Wolke,  die  er  am  Horizonte  wahrnahm.  Es 
waren  die  Assyrer.  Schon  früher  hatten  sie  einmal  die  Richtung 
gegen  Südwesten  eingeschlagen,  ohne  damals  den  Israeliten  eine 
Gefahr  zu  werden.  Nachdem  aber  die  Vormauer  gegen  sie,  das 
Reich  von  Damaskus,  in  Verfall  geraten  war,  eröffnete  jetzt  eine 
Bewegung,  die  sie  in  der  Zeit  Jerobeams  II.  gegen  den  Libanon 
zu  unternahmen,  den  Israeliten  die  erschreckende  Aussicht,  über 
kurz  oder  lang  den  Anprall  der  unaufhaltsamen  Lawine  gewärtigen 
zu  müssen. 

Was  dann?  Der  gemeine  Mann,  nicht  im  stände,  die  Gefahr 
ganz  zu  würdigen,  lebte  des  Glaubens,  daß  Jahve  die  Seinen  nicht 
im  Stiche  lassen  werde.  In  den  höheren  Kreisen  trotzte  man  auf 
die  kriegerische  Macht  Israels,  wenn  man  sich  nicht  durch  Be- 
rauschung der  Sinne  gegen  das  Nahen  des  Verhängnisses  zu  betäuben 
versuchte.  Amos  aber  hörte  die  Frage  laut  und  er  wagte  sie  zu 
beantworten:  das  Ende  ist  gekommen,  das  Ende  über  mein  Volk 
Israel.  Es  war  eine  Lästerung,  das  zu  äußern,  denn  mit  dem  Volke 
stand  und  fiel  auch  Jahve.  Aber  das  Unerhörteste  folgt  noch. 
Nicht  Assur,  sondern  Jahve  selber  bewirkt  den  L^ntergang  Israels; 
Jahve  triumphirt  durch  Assur  über  Israel.  Ein  widerspruchsvoller 
Gedanke  —  als  ob  Jahve  sich  den  Boden  unter  den  eigenen  Füßen 
abgraben  wollte!  Bedeutete  doch  der  Glaube  au  Jahve  den  Gott 
Israels,  daß  er  seinem  Volke  beistehe  gegen  alle  Feinde,  gegen 
die  ganze  Welt;  gerade  in  Zeiten  der  Gefahr  war  es  Religion,  sich 
auf  diesen  Glauben  zu  steifen.  Wol  konnte  Jahve  sein  Angesicht 
zeitweise  verbergen,  er  machte  nicht  jeden  Wochenschluß  die 
Zeche;  zuletzt  aber  erhob  er  sich  doch  immer  gegen  die  widrigen 
Mächte.  „Der  Tag  Jahves"  war  ein  Gegenstand  der  Hoffnung  in 
schwerer  schwüler  Zeit;  es  war  selbstverständlich,  daß  das  Gericht, 
oder  wie  wir  sagen  die  Krisis ,  zu  gunsten  Israels  ausfallen  werde. 
Amos  nahm  die  volkstümliche  Vorstellung  vom  Tage  Jahves  auf, 
aber  wie  sehr   veränderte  er  ihren  Inhalt!    „Wehe  denen,  die  den 


Der  Untergang  Samariens.  113 

Tag  Jahves  herbeiwünschen!  was  soll  euch  der  Tag  Jahves?  er  ist 
Finsternis  und  kein  Licht!"  Seinen  Gegensatz  zum  Volk  hat  der 
Prophet  zugespitzt  in  einem  Paradoxon,  welches  er  als  Thema  dem 
Hauptteil  seiner  Schrift  voranstellt.  „Uns  kennt  Jahve  allein", 
sagen  die  Israeliten,  daraus  folgernd,  daß  er  auf  ihrer  Seite  stehe 
und  für  sie  eintreten  müsse.  „Euch  kenne  ich  allein",  läßt  Arnos 
den  Jahve  sagen,  „darum  —  suche  ich  an  euch  heim  alle  eure 
Sünden." 

Worauf  beruhte  die  Beziehung  Jahves  zu  Israel?  Nach  dem 
populären  Glauben  wesentlich  darauf,  daß  Jahve  nicht  bei  den 
fremden  Völkern,  sondern  in  Israel  angebetet  wurde,  daß  er  hier 
seine  Altäre  und  seine  Wohnung  hatte.  Der  Kultus  war  das  Band 
zwischen  ihm  und  seinem  Volke;  wenn  man  das  Band  fester  an- 
ziehen wollte,  so  verdoppelte  und  verdreifachte  man  die  heiligen 
Leistungen.  Aber  für  Amos  ist  Jahve  kein  Richter,  der  sich  be- 
stechen läßt;  auf  das  zornigste  eifert  er  gegen  die  Vorstellung,  als 
sei  es  möglich  durch  Opfer  und  Gaben  auf  ihn  einzuwirken.  Darum 
weil  Israel  allein  ihm  gedient  hat,  legt  er  doch  keine  andere  Richt- 
schnur an  dies  Volk,  als  an  alle  anderen.  Kennt  er  es  am  besten, 
so  ist  die  Folge  nicht,  daß  er  um  der  guten  Bekanntschaft  willen 
das  Auge  zudrückt  und  blindlings  seine  Partei  ergreift.  Jahve  und 
Amos  kennen  nicht  zweierlei  Maß,  Recht  ist  überall  Recht,  Frevel 
immer  Frevel,  möge  er  auch  an  Israels  grimmigsten  Feinden  be- 
gangen sein.  Was  Jahve  fordert,  ist  Gerechtigkeit,  nichts  anderes; 
was  er  haßt,  ist  das  Unrecht.  Die  Beleidigung  der  Gottheit,  die 
Sünde,  ist  durchaus  moralischer  Natur.  jMit  so  ungeheurem  Nach- 
druck war  das  nie  zuvor  betont  worden.  Die  Moral  ist  es,  wodurch 
allein  alle  Dinge  Bestand  haben,  das  allein  Wesenhafte  in  der 
Welt.  Sie  ist  kein  Postulat,  keine  Idee,  sondern  Notwendigkeit 
und  Tatsache  zugleich,  die  lebendigste  persönliche  Macht  —  Jahve 
der  Gott  der  Mächte.  Zornig,  zerstörend  macht  sich  die  heilige 
Realität  geltend;  sie  vernichtet  allen  Schein  und  alles  Eitle. 

2.  Amos  war  der  Anfänger  und  der  reinste  Ausdruck  einer 
neuen  Phase  der  Prophetie.  Der  drohende  Zusammenstoß  Assurs 
mit  Jahve  und  Israel,  der  Untergang  Israels  ist  ihr  Thema.  Bis 
dahin  bestanden  in  Palästina  und  Syrien  eine  Anzahl  kleiner  Völker 
und  Reiche,  die  sich  unter  einander  befehdeten  und  vertrugen,  über 
ihre  nächsten  Nachbaren,  nicht  hinausblickten  und  um  das  Draußen 
unbekümmert  ein  jedes  sich  um  seine  eigene  Axe  drehten  —  bis 

Wellliausen,  Isr.  Geschichte.    .5.  Aufl.  S 


114  Siebentes  Kapitel. 

plötzlich  die  Assyrer  diese  Kreise  störten.  Wie  Vogelnester  nahmen 
sie  die  Völker  aus,  und  wie  man  Eier  sammelt,  sammelten  sie  die 
Schätze  der  Welt,  da  half  kein  Flügelschlägen  und  Schnabelauf- 
sperren und  Gezirp.  Sie  zerrieben  zuerst  die  Volksindividualitäten 
des  Altertums,  sie  rissen  die  Zäune  nieder,  in  denen  dieselben  ihre 
Sitte  und  ihren  Glauben  hegten,  und  leiteten  so  das  Werk  ein, 
welches  nach  ihnen  Chaldäer  Perser  und  Griechen  fortsetzten  und 
welches  die  Römer  vollendeten.  Sie  führten  einen  neuen  Faktor, 
den  des  Weltreiches  oder  allgemeiner  den  der  Welt,  in  die  Ge- 
schichte der  Völker  ein.  Dem  gegenüber  verloren  dieselben  ihren 
geistigen  Schwerpunkt,  die  rauhe  Tatsache,  vor  die  sie  sich  unver- 
sehens gestellt  sahen,  vernichtete  ihre  Illusionen,  sie  warfen  ihre 
Götter  in  die  Rumpelkammer,  zu  Ratten  und  zu  Fledermäusen. 
Nur  die  israelitischen  Propheten  ließen  sich  nicht  von  den  Ereig- 
nissen überraschen  und  dann  von  der  Verzweiflung  aus  allen  Sinnen 
ängstigen,  sie  lösten  zum  voraus  das  furchtbare  Problem,  das  die 
Geschichte  stellte.  Sie  nahmen  den  Begriff  der  Welt,  der  die 
Religionen  der  Völker  zerstörte,  in  die  Religion,  in  das  Wesen  Jahves 
auf,  ehe  er  noch  recht  in  das  profane  Bewußtsein  eingetreten  war. 
Wo  die  anderen  den  Zusammensturz  des  Heiligsten  erblickten,  da 
sahen  sie  den  Triumph  Jahves  über  den  Schein  und  über  den 
Wahnglauben.  Was  auch  fallen  mochte,  das  Wertvolle  blieb  be- 
stehn.  Die  Gegenwart,  die  sie  erlebten,  wurde  ihnen  zum  Mythus 
eines  göttlichen  Dramas,  dem  sie  mit  vorausempfindendem  Ver- 
ständnis zuschauten.  Überall  die  selben  Gesetze,  überall  das  gleiche 
Ziel  der  Entwicklung.  Die  Völker  sind  die  agireuden  Personen, 
Israel  der  Held,  und  Jahve  der  Poet  der  Tragödie. 

Die  Propheten,  deren  Reihen  Amos  eröffnet,  wollen  nichts  neues 
verkündigen,  sie  kennen  keine  andere  Wahrheit  als  die  ihnen 
innerhalb  ihres  Volkes  überlieferte,  das  Produkt  göttlicher  Leitung 
und  Weisung  desselben.  Das  religiöse  Subjekt  ist  auch  noch  ihnen 
nicht  der  Einzelne,  sondern  Israel,  und  wenngleich  Jahve  der 
Nation  über  den  Kopf  zu  wachsen  beginnt,  so  ist  doch  die  gewaltig 
realistische  Persönlichkeit  von  dem  alten  Volksgotte  beibehalten. 
Sie  gleichen  den  bisherigen  Propheten  nicht  bloß  in  der  allgemeinen 
Form  ihres  Auftretens  und  im  Stil  ihrer  Rede,  sondern  auch  darin, 
daß  sie  keine  Prediger  sind,  sondern  Seher  wie  jer^e.  Nicht  die 
Sünde  des  Volkes,  an  der  es  ja  nie  fehlt  und  deretwegen  man  in 
jedem  Augenblick  den  Stab  über  dasselbe  brechen  kann,  veranlaßt 


Der  Untergang  Samarieus.  115 

sie  zu  reden,  sondern  der  Umstand,  daß  Jahve  etwas  tun  will,  daß 
große  Ereignisse  bevorstehn.  In  ruhigen  Zeiten,  seien  sie  auch 
noch  so  sündig,  verstummen  sie,  wie  in  der  langen  Periode  des 
Königs  Manasse,  um  sofort  ihre  Stimme  zu  erheben,  wenn  eine 
Bewegung  eintritt.  Sie  erscheinen  als  Sturmboten,  wenn  ein  ge- 
schichtliches Gewitter  aufzieht;  sie  heißen  Wächter,  weil  sie  von 
hoher  Zinne  schauen  und  melden,  wenn  etwas  Verdächtiges  am 
Horizont  sich  sehen  läßt. 

Bei  alle  dem  unterscheiden  sie  sich  doch  beträchtlich  von  den 
alten  Sehern.  Von  diesen  verlangte  man  bestimmte  praktische 
Weisungen,  und  darum  Kenntnis  des  Terrains,  auf  dem  die  Praxis 
sich  bewegt,  d.  h.  des  Details  der  nächsten  Zukunft.  Die  Propheten 
dagegen  sehen  in  dem  Weltlauf  das  Wirken  der  allgemeinen  mora- 
lischen Gesetze,  die  allem  Handeln  die  Schranken  vorschreiben,  in 
denen  es  sich  halten  muß,  möge  das  Ziel  sein  wie  es  wolle.  Sie 
gehn  zwar  durchaus  von  der  Zeit  aus,  erheben  sich  aber  zu  ewig 
giltigen  Gedanken,  die  sie  darum  auch  durch  die  Schrift  befestigen: 
sie  wissen,  daß  sie  nicht  für  die  Gegenwart  arbeiten.  Die  Ereig- 
nisse sind  nur  der  Anlaß,  der  den  Fortschritt  der  Moral  und  der 
Gotteskenntnis  bei  ihnen  entbindet.  Sie  exponiren  „die  Dialektik 
der  Begebenheiten",  sie  vollziehen  die  durch  den  Zusammenstoß 
mit  der  Geschichte  angeregte  und  erforderte  Läuterung  des  Glaubens. 
Sie  können  es  fassen,  daß  Jahve  das  von  ihm  gegründete  Volk  und 
Reich  jetzt  vernichte.  Zu  oberst  ist  er  ihnen  der  Gott  der  Gerech- 
tigkeit, Gott  Israels  nur  insofern  als  Israel  seinen  Ansprüchen  ge- 
nügt; sie  kehren  die  hergebrachte  Anordnung  dieser  beiden  Fun- 
damentalartikel des  Glaubens  um.  Dadurch  wird  Jahve  der  Gefahr 
entzogen  mit  der  Welt  zu  kollidiren  und  an  ihr  zu  scheitern,  die 
Herrschaft  des  Rechts  erstreckt  sich  gleichmäßig  über  Israel  und 
Assur.  Dies  ist  der  sogenannte  ethische  Monotheismus  der  Pro- 
pheten; sie  glauben  an  die  sittliche  Weltordnung,  an  die  ausnahms- 
lose Geltung  der  Gerechtigkeit  als  obersten  Gesetzes  für  die  ganze 
Welt.  Von  da  aus  scheint  nun  die  Prärogative  Israels  hinfällig  zu 
werden,  und  Amos,  der  das  Neue  am  schroffsten  und  rücksichts- 
losesten ausspricht,  streift  bisweilen  hart  daran  sie  zu  bestreiten. 
Er  nennt  Jahve,  vielleicht  mit  einem  neu  geschaffenen  Ausdrucke, 
den  Gott  der  Mächte  d.  h.  der  Welt;  höchst  auffälliger  Weise  nennt 
er  ihn  nie  den  Gott  Israels.  Er  macht  aus  dem  Bestehn  des  Volkes 
keinen  Glaubenssatz,  ja  er  wagt  es  zu  sagen:   seid  ihr  Kinder  Is- 

8* 


116  Siebentes  Kapitel. 

raels  mir  nicht  wie  die  Mohren,  spricht  Jahve;  habe  ich  nicht  Is- 
rael aus  Agj^ptenlaud  geführt  und  die  Philister  aus  Kaphthor  und 
die  Syrer  aus  Kir?  Indessen  das  besondere  Verhältnis  Jahves  zu 
Israel  war  doch  wirklich  da;  die  praktische  Wahrheit,  die  sich  jetzt 
hoch  über  Israel  erhob,  war  doch  innerhalb  Israels  entstanden  und 
noch  immer  nur  dort  zu  finden,  und  die  Propheten  waren  die  letzten 
es  zu  leugnen.  Sie  machten  das  Verhältnis  nur  aus  einem  natür- 
lichen und  notwendigen  zu  einem  bedingten.  Der  Vorzug  Israels 
besteht  darin,  daß  Jahve  sich  diesem  Volke  und  keinem  anderen 
durch  Tat  und  Wort  offenbart  hat  —  das  ist  aber  ein  Vorzug,  der 
eine  große  Verantwortung  einschließt  und  eine  schwere  Pflicht  auf- 
legt. Denn  Jahve  stellt  nun  auch  die  vollen  Anforderungen  seiner 
Gerechtigkeit  eben  an  Israel,  weil  es  sein  Volk  ist  und  seinen  Willen 
weiß.  So  praktisch  wird  sofort  der  Monotheismus  der  Moral  ge- 
wandt, er  wird  durchaus  nicht  zu  einer  theoretischen  Korrektur  des 
hergebrachten  Gottesbegriflfs  benutzt:  die  mußte  sich  stillschweigend 
von  selber  vollziehen. 

„Hört  Jahves  Wort,  ihr  Sodomsrichter,  vernimm  die  Weisung 
unseres  Gottes,  du  Gomorrhavolk !  Wozu  mir  eure  vielen  Opfer, 
spricht  Jahve;  ich  bin  der  verbrannten  Widder  und  des  Fettes  der 
Mastkälber  satt,  und  das  Blut  von  Rindern  und  Schafen  mag  ich 
nicht.  Meine  Seele  haßt  eure  Neumonde  und  Feste,  sie  sind  mir 
eine  Last,  ich  bin  es  müde  sie  zu  tragen.  Und  wenn  ihr  eure 
offenen  Hände  ausstreckt,  so  verhülle  ich  mein  Gesicht  vor  euch; 
ich  höre  nicht,  wenn  ihr  gleich  des  Betens  viel  macht:  eure  Hände 
sind  voll  Blut!  Waschet,  reinigt  euch,  schafft  euren  bösen  Wandel 
mir  aus  den  Augen,  laßt  ab  vom  Bösen,  lernet  Gutes  tun !  trachtet 
dem  Rechte  nach,  weiset  den  Gewalttätigen  in  die  Bahn,  schafft 
der  Waise  Recht,  führt  die  Sache  der  Witwe!  Glaubt  ihr  euch 
ungerecht  von  mir  behandelt?  Wenn  eure  Sünden  wie  Scharlach 
sind,  sollen  sie  dann  für  weiß  gelten  wie  Schnee?  wenn  sie  sich 
röten  wie  Purpur,  sollen  sie  dann  wie  Wolle  sein?  W^enn  ihr  folgt 
und  gehorsam  seid,  so  werdet  ihr  das  Gute  des  Landes  genießen; 
wenn  ihr  euch  aber  weigert  und  widerstrebt,  so  kriegt  ihr  das 
Schwert  zu  fressen,  denn  der  Mund  Jahves  sagt  es".  Dies  Pro- 
gramm kündet  nicht  Vergebung  der  Sünden,  sondern  einzig  und 
allein  gerechte  Vergeltung  an.  Mit  dem  größten  Nachdruck  betonen 
die  Propheten  die  Bedingtheit  des  Verhältnisses  zwischen  Jahve  und 
Israel,  mit  anderen  Worten    die  Forderungen,    die  Israel    erfüllen 


Der  Untergang  Samariens.  117 

mui3,  um  das  Volk  Jahves  zu  sein  und  zu  bleiben.  Sie  rücken 
den  Begriff  —  noch  nicht  den  Namen  —  des  Gesetzes  in  die  Mitte 
und  machen  ihn  zum  Fundament  der  Religion.  Was  den  Inhalt 
ihrer  Gerechtigkeit  betrifft,  so  ist  nicht  die  individuelle,  sondern  die 
soziale  gemeint.  Sie  fordern  nicht  sowol  ein  reines  Herz  als  ge- 
rechte Institutionen;  sie  haben  weniger  den  Einzelnen,  als  das  Ge- 
meinwesen und  die  Gesellschaft  im  Auge,  sie  zeigen  dabei  eine  be- 
merkenswerte Sympathie  für  die  niederen  und  rechtlosen  Stände, 
welche  sogar  dauernd  auf  den  religiösen  Sprachgebrauch  eingewirkt 
hat.  Besonders  beflissen  sind  sie  zu  sagen,  worin  die  Gerechtig- 
keit nicht  bestehe.  Die  negative  Konsequenz  ihres  ethischen  Mono- 
theismus ist  ihre  Polemik  gegen  den  Kultus,  sofern  nämlich  der 
Kultus  ein  Versuch  ist,  den  allgemeinen  Bedingungen  der  Gerech- 
tigkeit zu  entgehn  und  eine  Ausnahmestellung  zur  Gottheit  zu  er- 
langen, damit  sie  von  ihrer  Strenge  zu  gunsten  der  Opfernden  ab- 
sehe. Indessen  nicht  bloß  so  prinzipiell  widersprach  der  damalige 
Kultus  der  Alleinherrschaft  der  Moral,  er  schlug  ihr  auch  recht  grob 
und  äußerlich  ins  Gesicht.  Es  ging  in  Saus  und  Braus  her  bei  den 
Opferstätten,  durch  Schlemmen  und  Saufen  und  schlimmere  Greuel 
wurde  der  heilige  Name  Jahves  entweiht.  Die  Propheten  ließen 
das  gar  nicht  als  Jahvedienst,  was  es  sein  sollte,  gelten,  sondern 
sahen  es  als  Baaldienst  an,  was  es  auch  ohne  Zweifel  ursprünglich 
gewesen  war.  Sie  eröffneten  mit  aller  Macht  den  Kampf  gegen 
das  Heidentum  in  Israel,  gegen  alles  was  in  der  Religion  der  Mo- 
ral, der  Idee  des  heiligen  und  gerechten  Gottes,  widersprach,  und 
sie  schritten  in  diesem  Kampfe  von  einer  Stufe  zur  anderen  fort. 
Den  Propheten  ist  an  der  Hand  der  Weltgeschichte  der  furcht- 
bare Ernst  der  Gerechtigkeit  Jahves  aufgegangen,  sie  sind  die  Be- 
gründer der  Religion  des  Gesetzes,  nicht  die  Vorläufer  des  Evan- 
geliums. In  den  messianischen  Weissagungen  besteht  ihre  Bedeutung 
nicht;  eher  darin  daß  sie  die  Heilsverkündigung  der  patriotischen 
Seher,  die  auch  zu  ihrer  Zeit  noch  die  Mehrheit  bildeten,  als  Lüge 
und  Verblendung  bekämpfen.  Optimisten  sind  allerdings  auch  sie 
und  zwar  von  der  kühnsten  Art;  nämlich  in  dem  Sinn,  daß  sie 
auf  das  festeste  von  dem  endlichen  Triumph  des  Rechts  und  der 
Gerechtigkeit  auf  Erden  überzeugt  sind.  Es  kommt  ihnen  nie  der 
geringste  Zweifel  an  Jahve,  sie  sind  seiner  so  gewiß  wie  ihrer 
eigenen  Seele.  Ihre  Gottesgewißheit  ist  hinreißend  und  höher  als 
alle  Vernunft.     Aber  der  Glaube,    daß   die   Geschichte  das  AVeit- 


118  Siebentes  Kapitel. 

gericht  und  daß  die  historische  Notwendigkeit  göttliche  Gerechtig- 
keit sei,  war  unter  den  damaligen  Umständen  kein  Trost,  am 
wenigsten  für  den  Einzelnen.  Die  Geschichte  rechnet  nicht  mit 
gutem  Willen,  überhaupt  nicht  mit  Personen,  sondern  mit  Taten, 
sie  beschränkt  die  Wirkungen  der  Tat  nicht  auf  den  Täter,  sie 
straft  Torheiten  und  Schwäche  härter  als  Sünde,  sie  macht  keine 
Handlung  ungeschehen  und  nimmt  nicht  Rücksicht  auf  die  veränderte 
Gesinnung  des  Herzens  —  kurz  die  Geschichte,  in  ihrer  Wirkung 
auf  den  Einzelnen,  ist  Tragödie,  und  keine  Tragödie  hat  einen  be- 
friedigenden Schluß.  Die  Position  der  Propheten  mußte  dazu 
führen,  über  das  Volk  und  über  die  Welt  hinauszugehn. 

3.  Amos  nächster  Nachfolger,  an  seine  Wirksamkeit  anknüpfend, 
war  Hosea  ben  Beeri,  ein  Israelit.  In  seinen  frühesten  W^eissagungen 
verkündete  er  ebenso  wie  Amos  den  Untergang  des  Reiches  und 
Volkes  Israels  als  gleichzeitig  mit  dem  Sturz  des  Hauses  Jehu. 
Als  Schuld  und  Ursach  gab  er  die  Bluttat  von  Jezreel  an,  die 
Ausmordung  des  Hauses  Ahab  durch  Jehu.  Jehu  hatte  nun  aber 
nach  dem  Worte  Jahves  gehandelt;  wenn  Hosea  seine  Tat  ver- 
urteilte, so  verurteilte  er  zugleich  ihre  Anstifter,  die  Propheten.  In 
Jezreel  soll  das  Blut  Naboths  an  Ahab  heimgesucht  werden,  hatte 
Elias  gesagt;  Elisa  und  Jehu  hatten  das  Urteil  vollstreckt  so  wie 
sie  es  verstanden.  Hundert  Jahre  später  setzte  Hosea,  mit  be- 
wußter Anknüpfung,  die  Kette  in  seiner  Weise  fort:  in  Jezreel  ist 
die  Bluttat  Jehus  begangen,  in  Jezreel  soll  sie  an  Jehus  Hause 
und  an  Israel  gerochen  werden.  Die  Prophetie  war  fortgeschritten, 
sie  war  menschlicher  und  unparteiischer  geworden. 

Indessen  fiel  die  Dynastie  des  Jehu  nicht,  wie  Amos  und 
Hosea  erwarteten,  durch  die  Assyrer,  und  Israel  überlebte  ihren 
Sturz  noch  um  zwei  Jahrzehnte.  Es  war  eine  unglückselige  Henkers- 
frist. Nach  Jerobeams  II.  Tode  brachen  wilde  Parteikämpfe  aus; 
es  war  als  hätte  die  äußere  Gefahr  für  den  Bestand  des  Reiches, 
die  jetzt  mit  Händen  zu  greifen  war,  zum  voraus  alle  inneren  Bande 
aufgelöst.  Keiner  der  auf-  und  untertauchenden  Könige  hatte 
Macht,  keiner  schaffte  Ordnung.  Sie  suchten  Halt  bei  den  Assyrern, 
die  an  der  nördlichen  Grenze  des  Landes  standen,  dann  auch  wieder 
bei  den  Ägyptern,  den  Antagonisten  der  Assyrer,  und  vermehrten  da- 
durch nur  die  Schwierigkeit  der  Lage.  In  diese  Zeit  fielen  die  späte- 
ren Weissagungen  Hoseas:  die  Assyrer  hatten  damals  schon  ihre 
Tatze  auf  das  Land  gelegt,  aber  noch  nicht  ihre  Krallen  gezeigt. 


Der  Untergang  Samariens.  119 

Hosea  ist,  mit  Jeremias,  der  individuellste  aller  Propheten, 
und  in  dieser  Beziehung  der  größte  Gegensatz  zu  seinem  Yorgcänger. 
Er  wird  nicht  wie  jener  hinter  der  Herde  weggerufen,  um  eine 
Botschaft  Jahves  auszurichten  und  wieder  zur  Herde  zurückzu- 
kehren, nachdem  er  seine  Pflicht  getan;  sein  persönliches  Leben 
verwächst  mit  der  Prophetie.  Sein  Weib  hat  ihm  die  Ehe  ge- 
brochen, und  er  liebt  sie  doch.  Schwermütig  über  sein  häusliches 
Unglück  ist  er  zugleich  erfüllt  von  Schmerz  über  die  allgemeine 
Not  und  Yerderbtheit  seines  Volkes.  Da  schießen  die  beiden  Ge- 
danken zusammen,  er  sieht  die  Ähnlichkeit  zwischen  dem  Kleinen 
und  dem  Großen,  im  einen  das  Bild  des  anderen:  als  Vertreter 
Jahves,  als  Prophet,  als  den  er  sich  nunmehr  erkennt,  hat  er  tun 
müssen  was  er  getan,  erleben  müssen,  was  er  erlebt  hat.  Sowie 
sein  AVeib  ihm  untreu  ist,  so  hurt  auch  Israel  ab  von  seinem  Gotte; 
so  wie  er  die  Ehe  löst,  indem  er  die  Frau  aus  seinem  Hause  schickt, 
so  löst  Jahve  sein  Verhältnis  zur  Nation,  indem  er  sie  aus  seinem 
Lande  treibt;  aber  so  wie  er  sein  Weib  dennoch  liebt,  so  kann  auch 
Jahve  von  Israel  nicht  lassen.  Dieser  Ausgangspunkt  der  Prophetie 
Hoseas  ist  für  die  ganze  Art  derselben  bezeichnend.  Wenn  aus 
Arnos  die  göttliche  Notwendigkeit  wie  mit  ihrer  eigenen  Stimme 
redet,  so  durchdringt  Hosea  das  Wort  Jahves  vollständig  mit  seiner 
menschlichen  Empfindung.  Seine  Weissagungen  fallen  auch  äußerlich 
aus  dem  prophetischen  Stile  heraus,  es  sind  beinahe  Monologe  einer 
durch  eigenes  Leid  und  starkes  Gemeingefühl  tief  aufgeregten  Seele. 

Hosea  eifert  besonders  gegen  zwei  Grundübel,  an  denen  Israel 
kranke.  Einmal  gegen  den  Kultus,  nicht  bloß  gegen  seine  falsche 
Wertschätzung,  als  sei  der  Gottheit  an  Opfern  gelegen,  sondern  mehr 
noch  gegen  seine  verkehrte  kanaanitische  Art,  gegen  die  Bilder, 
gegen  das  Fressen  und  Saufen  und  vor  allem  gegen  die  Unzucht 
dabei.  Er  ist  ihm  schlechtweg  Hurerei,  eine  Hurerei,  die,  wenn 
sie  auch  zu  Jahves  Ehre  geschieht,  doch  in  sich  selbst  ein  Abfall 
von  ihm  ist.  Das  ist  kein  Jahvedienst,  es  ist  weiter  nichts  als 
Dienst  der  Baale,  der  vorisraelitischen  Ortsgottheiten.  Den  Baalen 
werden  die  Neumonde  und  Sabbathe  gefeiert,  ihnen  wird  an  den 
Jahresfesten  der  Dank  für  die  Gaben  des  Landes  dargebracht,  ihnen 
mag  die  lärmende  Ausgelassenheit,  die  tolle  rauschende  Lust  an- 
stehn.  Und  den  so  gearteten  Gottesdienst  leiten  die  israelitschen 
Priester,  die  Diener- Jahves!  Statt  ihrem  Berufe  gemäß  das  Volk 
von  seiner  Unkenntnis  des  wahren  Wesens  Jahves  zu  heilen,   be- 


120  Siebentes  Kapitel. 

lassen  sie  es  vielmehr  bei  dem  Wahn,  er  habe  Wolgefalleu  an 
dieser  Art  der  Verehrung;  denn  sie  haben  Vorteil  davon,  sie  nähren 
sich  von  der  Sünde  des  Volkes.  Der  zweite  offene  Schade,  in  den 
Hosea  die  Sonde  legt,  ist  politischer  Art.  Arnos  redet  nicht  von 
Politik,  unter  Jerobeam  IL  war  kein  dringender  Anlaß  dazu.  Ho- 
sea aber  hatte  die  völlige  Zersetzung  des  Reiches  vor  Augen,  das 
beständige  Salben  und  Stürzen  von  Königen  und  Regenten,  die 
innere  Haltlosigkeit  aller  Regierungen  und  ihr  unsicheres  Schwanken 
zwischen  der  Anlehnung  bald  an  diese  bald  jene  Großmacht.  Er 
wollte  überhaupt  nichts  mehr  wissen  „von  König  und  Obersten". 
Das  auf  Offiziere  und  Beamte  gestützte  Königtum  hatte  in  der  Tat 
die  alte  Ordnung,  nach  Stämmen  Geschlechtern  und  Sippen,  an 
deren  Spitze  ihre  geborenen  Vertreter  standen,  weder  überwunden 
noch  ersetzt;  es  hatte  zu  einem  unheilvollen  Zwischenzustand  ge- 
führt, nicht  zu  einer  Organisation  des  Ganzen,  sondern  zu  einer 
losen  und  willkürlichen  Herrschaft  des  Heeres,  des  Hofes  und  der 
Hauptstadt  über  das  Land.  Die  Krone  ward  als  ein  Raub  ange- 
sehen; wer  sich  Manns  genug  fühlte  und  Helfershelfer  hatte,  griff 
darnach.  Diese  Schwäche  des  revolutionären  Königtums  betrachtet 
Hosea  als  einen  der  Listitution  an  sich  selber  anhaftenden  Mangel, 
es  schien  ihm  durch  das  traurige  Ergebnis  verurteilt  auf  das  es 
ausgelaufen  war,  es  hatte  sich  nicht  als  Schirm  und  Hort  von  Ord- 
nung und  Recht  erwiesen,  sondern  als  Quell  einer  beinah  perma- 
nenten Anarchie.  Man  sieht,  aus  der  Menge  seiner  Anspielungen 
auf  uns  unbekannte  Einzelheiten,  wie  viel  tiefer  er  in  dem  Hexen- 
kessel steckt  als  sein  judäischer  Vorgänger.  Er  zeigt  sich  auch  weit 
mehr  affizirt  als  jener,  Arnos  zürnt  und  Hosea  schaudert.  Trotz- 
dem, oder  auch  gerade  deswegen,  bringt  er  es  nicht  über  das  Herz, 
Israel  einfach  das  Todesurteil  zu  sprechen.  Der  gänzliche  Unter- 
gang Israels  ist  ihm  ein  undenkbarer  Gedanke,  Jahve  kann  von 
der  Liebe  zu  seinem  Volke  nicht  lassen,  und  wenn  er  es  jetzt  aus 
seinem  Lande  verbannt,  so  geschieht  das  nur,  damit  es  sich  bekehre 
und  er  es  dann  wieder  heimführe  und  das  zeitweilig  unterbrochene 
Verhältnis  neu  für  ewig  anknüpfe.  Es  ist  anders  gekommen,  Is- 
rael verschwand  spurlos  vom  Erdboden.  Die  Hoffnung  hat  den 
Hosea  betrogen.  Dennoch  war  es  nicht  umsonst,  daß  er  den  Glau- 
ben an  die  Liebe  Jahves  festhielt. 

4.  In  den  Propheten  Amos  und  Hosea,  die  uns  einen  Einblick 
in  die  Stimmung  des  untergehenden  Volkes  gewähren,  wie  wir  ihn 


Der  Untergang  Samariens.  121 

aus  den  genauesten  Urkunden  nicht  zu  gewinnen  vermöchten, 
müssen  wir  einen  Ersatz  dafür  suchen,  daß  wir  über  die  äußeren 
Ereignisse  dieser  letzten  betrübten  Zeiten  noch  ungenügender  als 
gewöhnlich  unterrichtet  sind.  Jerobeam  IL  muß  bald  nach  der 
Mitte  des  achten  Jahrhunderts  gestorben  sein.  Sein  Sohn  Zacharia 
Avurde  nach  kurzer  Regierung  durch  Sallum  ben  Jabes ')  gestürzt. 
Dieser  aber  konnte  sich  auch  nicht  halten,  ein  grausamer  Bürger- 
krieg brach  aus,  aus  dem  Menahem  ben  Gadi  als  Sieger  und  König 
hervorging.  Er  muß  den  Thron  etwa  um  das  Jahr  745  bestiegen 
haben.  Damals  kam  Phul,  der  König  von  Assyrien,  ins  Land,  und 
Menahem  gab  dem  Phul  tausend  Talente  Silbers,  daß  er  es  mit 
ihm  hielte  und  ihm  das  Königreich  bekräftigte,  und  legte  das  Geld 
den  Vermögenden  in  Israel  auf,  ein  sechzigstel  Talent  auf  einen 
jeglichen  Mann.  Darnach  erkaufte  sich  also  Menahem,  zum  Schutz 
gegen  innere  und  vielleicht  auch  gegen  äußere  Angriffe  auf  seine 
Regierung,  die  Hilfe  des  Königs  Thiglathpileser,  welcher  damals 
der  assyrischen  Erolierung  in  diesen  Gegenden  einen  neuen  Schwung 
gab.  Später  scheint  er  aber  auch,  nach  Hoseas  Andeutungen  zu 
schließen,  mit  den  Ägyptern  geliebäugelt  zu  haben,  denen  man 
sich  immer  in  die  Arme  warf,  wenn  man  die  Assyrer  satt  hatte 
und  von  ihnen  los  zu  kommen  wünschte.  Denn  den  Ägyptern 
lag  natürlich  sehr  daran,  Palästina,  den  Schlüssel  ihres  Landes, 
nicht  in  die  Hand  der  Assyrer  fallen  zu  lassen.  Menahem  war 
der  letzte  König,  der  die  Regierung  auf  seinen  Sohn  vererbte. 
Sein  Sohn  Pekahia  trug  indessen  die  Krone  nicht  lange,  da  erschlug 
ihn  der  Gileadit  Pekah  ben  Remalia,  sein  Adjutant,  und  wurde 
König  an  seiner  statt  (dz  735).  Von  ihm  erfahren  wir  mehr  wie 
sonst,  weil  er  in  Berührung  mit  Juda  kam.  Er  verbündete  sich 
mit  Reson  von  Damaskus  zu  einem  Feldzuge  gegen  Jerusalem,  um 
den  dort  eben  auf  den  Thron  gelangten  König  Ahaz  ben  Jotham 
zu  stürzen  und  einen  syrischen  Vasallen  au  seine  Stelle  zu  setzen. 
Ahaz  parirte  aber  den  Streich,  indem  er  sich  dem  Assyrer  in  die 
Arme  warf,  den  vielleicht  die  Allianz  zwischen  Aram  und  Israel 
so  wie  so  zum  Einschreiten  veranlaßt  haben  würde.    Thiglathpileser 


^)  Die  richtige  Aussprache  leX^r^fA  ist  in  der  Sept.  2  Reg.  22,  14  erhalten; 
es  ist  Perf.  Piel  mit  ausgelassenem  Gottesuamen.  Phönizisch  'LzXr^ii.,  Corp. 
Insc.  Sem.  I  119.  Jal^es  ist  sonst  Ortsname;  wenn  ein  solcher  hinter  ben 
stehn  darf,  so  könnte  auch  (Thibni)  ben  Ginath  so  aufgefaßt  werden. 


122  Siebentes  Kapitel. 

erschien  734  zuerst  an  der  Seeküste  Palästinas  und  hausete  dann 
in  diesem  oder  dem  folgenden  Jahre  im  Reich  der  zehn  Stämme. 
Nachdem  er  Galiläa  und  Gilead  heimgesucht  und  die  Bevölkerung 
dieser  Grenzlande  fortgeschleppt  hatte,  schloß  man  in  der  Haupt- 
stadt Samarien  dadurch  Frieden,  daß  man  ihm  den  Kopf  des 
Königs  Pekah  und  einen  ansehnlichen  Tribut  zu  Füßen  legte.  Statt 
Pekahs  wurde  dessen  Mörder  Hosea  ben  Ela  auf  den  Thron  erhoben 
und  von  dem  Assyi^er  als  Herrscher  über  das  freilich  sehr  ge- 
schwächte und  beschnittene  Reich  Samarien  anerkannt.  Etwa  ein 
Jahrzehnd  hielt  sich  dieser  still  und  entrichtete  pflichtschuldig  seine 
Schätzung.  Als  aber  nach  Thiglathpilesers  Tode  die  syrisch- 
palästinischen Reiche  sich  überall  gegen  das  Joch  erhoben,  wurde 
auch  Samarien  von  dem  Taumel  des  patriotischen  Fanatismus  er- 
griffen. Im  Vertrauen  auf  die  Hilfe  Seves,  des  äthiopischen  Ober- 
königs von  Ägypten,  wagte  Hosea  den  Abfall  von  Assur.  Aber 
die  Ägypter  ließen  ihn  im  Stich,  als  Salmanassar  ^),  der  Nachfolger 
Thiglathpilesers,  mit  Heeresmacht  in  sein  Land  einbrach.  Noch 
vor  dem  Fall  Samariens  kam  Hosea  in  die  Gewalt  des  Assyrers. 
Die  Hauptstadt  leistete  drei  Jahre  lang  verzweifelten  Widerstand, 
erst  der  Nachfolgers  Salmanassars,  Sargon'),  vermochte  es  sie  zu 
bezwingen  (721).  Darnach  ergriff  er  die  beliebte  assyrische  Maß- 
regel, um  ein  Land  zu  pacifiziren,  er  deportirte  die  Blüte  der 
Bevölkerung.  Nur  im  Zentrum,  wo  Samarien  Sichern  und  Bethel 
lagen,  scheint  sich  ein  etwas  konsistenterer  Rest  von  Israeliten 
erhalten  zu  haben,  er  wurde  aber  mit  fremden  Kolonen,  aus  rebel- 
lischen babylonischen  Städten,  versetzt.  Die  weiter  entlegenen 
Teile  im  Norden  und  Osten  verfielen  wol  größtenteils  den  Aramäern. 
Diese  hatten  dort  längst  sich  einzunisten  angefangen,  doch  scheint 
das  Volk  L^s  (Aus)  neu  eingewandert  zu  sein  und  früher  andere 
Sitze  gehabt  zu  haben.  Es  ist  merkwürdig:  die  Aramäer  sollen 
politisch  durch  die  Assyrer  und  Babylonier  gebrochen  sein,  und 
das  Resultat  ist,  daß  ihre  Sprache  in  dem  von  jenen  begründeten 
Reiche  die  herrschende  wird  und  die  assyrisch-babylonische,  die 
doch  die  Trägerin  der  Kultur  war,  verdrängt,  und  daß  ihr  Volkstum 


')  Menauder  bei  Joseph.  Ant.  9,  284  ed.  Kiese  2£Ac([j.iJ;as,  Lat.  Sala- 
manassis. 

2)  Die  Aussprache  wird  bestätigt  durch  den  Namen  von  Chorsabad  bei 
Jaqut  III  382,  1. 


Der  Untergang  Samariens.  123 

sich  überall  ausbreitet.  Aber  auch  z.  B.  die  Ammouiten,  hinter 
denen  die  Moabiten  völlig  zurückgetreten  sind,  griffen  auf  alt- 
israelitisches Gebiet  über.  „Wo  sind  die  Kinder  und  Erben  Israels 
geblieben?  warum  hat  Milkom  die  Gaditen  verdrängt?  und  warum 
hat  sein  Volk  (Ammon)  in  ihren  Städten  Platz  genommen?"  fragt 
ein  Prophet,  der  wol  älter  ist  als  Jeremias. 

Die  von  den  Assyrern  fortgeführten  Israeliten  wurden  fern  von 
der  alten  Heimat  angesiedelt^).  In  ihren  neuen  Wohnsitzen  verloren 
sich  die  exilirten  Israeliten  spurlos  unter  den  Heiden.  Für  den 
damaligen  Stand  und  die  spätere  Fortentwicklung  der  Religion  ist 
diese  Tatsache  sehr  bezeichnend,  wenn  man  dagegen  hält,  daß  die 
Judäer,  die  noch  eine  hundertjährige  Frist  hatten,  ihren  Glauben 
im  babylonischen  Exil  festhielten  und  sich  selber  dadurch  unter 
allen  Umständen  behaupteten.  Es  lag  an  den  Propheten,  wenn  der 
Untergang  Samariens  die  Religion  Jahves  nicht  schädigte,  sondern 
befestigte.  Sie  empfanden  ihn  auf  grund  der  Religion  als  notwendig 
voraus,  sie  retteten  den  Glauben,  indem  sie  die  Illusion  zerstörten, 
sie  verewigten  auch  Israel  dadurch,  daß  sie  Jahve  nicht  mit  in 
den  Sturz  des  Volkes  verwickelten.  Es  war  aber  ein  Glück,  daß 
dieser  Sturz  nicht  zu  früh  und  daß  er  nicht  auf  einmal  eintrat, 
daß  der  Abbruch  des  Volkes,  des  Reiches  und  des  Kultus  langsam 
und  allmählich  vor  sich  ging. 


^)  In  Assyrien,  genauer  in  Chalach,  am  Chabor  dem  Flusse  Gozans,  und 
in  den  Städten  Mediens  (2  Reg.  18,  11.  17,6).  Die  Städte  Mediens  OlD  i")I/*) 
möchten  eher  die  Berge  von  Miuni  OJC  ^"IH)  sein,  die  vermutlich  auch  in 
njionn  (Amos  4,  3)  und  in  Mtvüa;  (.Jos.  Ant.  1,  95)  stecken.  Aber  der  Chabor, 
der  Fluß  Gozans,  führt  in  eine  ganz  andere  Gegend.  GoEan  ist  eine  meso- 
potamische  Stadt  (2  Reg.  19,  12),  von  der  die  Landschaft  Gauzauitis  (Ptol.  V 
18, 4)  den  Namen  hat.  Thenius  will,  zufolge  der  Lesart  der  Septuagiuta 
(Chalach  und  Chabor,  die  Flüsse  Gozans),  aus  Chalach  den  Beiich  machen, 
unter  Annahme  eines  alten  Schreibfehlers.  Indessen  ist  Gozan  eine  Stadt,  die 
doch  nicht  gut  am  Chaboras  und  Belichus  zugleich  gelegen  haben  kann.  Auch 
wird  damit  die  Ilauptschwierigkeit  nicht  beseitigt,  daß  die  aufgezählten  Land- 
schaften weit  von  einander  entlegen  sind. 


124  Achtes  Kapitel. 


Achtes  Kapitel. 

Die  Rettung  Judas. 

1.  Bis  dahin  hatte  Juda  im  Hintergründe  gestanden.  Die 
politische  Geschichte  des  kleinen  Reiches  war  fast  ausschließlich 
durch  sein  Verhältnis  zu  Israel  bestimmt.  Rehabeam  Abiam  und 
Asa  führten  Krieg  mit  Jerobeam  und  Baesa  ihr  Leben  lang.  Die 
ursprüngliche  Feindschaft  ging  unter  der  Dynastie  Omri  in  enge, 
vielleicht  nicht  ganz  freiwillige  Freundschaft  über.  Juda  befand 
sich  vollständig  im  Schlepptau  des  mächtigeren  Nachbarstaates  und 
scheint  sogar  Heeresfolge  geleistet  zu  haben.  Josaphat  zog  mit 
Ahab  gegen  Aram  zu  Feld  und  mit  dessen  Sohne  gegen  Moab,  an 
dem  von  ihm  beabsichtigten  Ophirhandel  sich  zu  beteiligen  ge- 
stattete er  allerdings  dem  Bundesgenossen  nicht.  Der  Sturz  des  Hauses 
Omri  wurde  auch  für  Juda  verhängnisvoll;  Jehu  mordete  den  König 
Ahazia  ben  Jehoram  ben  Josaphat,  der  in  Jezreel  bei  dem  ver- 
wundeten Joram  einen  Krankenbesuch  abstattete,  und  im  Vorüber- 
gehn  noch  zweiundvierzig  andere  Davididen,  die  ihm  in  die  Hände 
Helen.  Was  er  aber  vom  Hause  Davids  übrig  gelassen  hatte,  wol 
zumeist  unmündige  Kinder,  mordete  die  Königin-Mutter  Athalia, 
die  Tochter  Ahabs  und  Witwe  Jehorams,  man  weiß  nicht  aus 
welchen  Gründen.  Nur  ein  kleiner  Knabe,  Joas,  wurde  vor  ihrer 
Wut  geborgen  und  nach  sechs  Jahren,  durch  eine  glückliche  Ver- 
schwörung des  obersten  Priesters  mit  den  Führern  der  Trabanten, 
wieder  auf  den  Thron  seiner  Väter  gesetzt.  Damals  dehnten  die 
Aramäer  ihre  Einfälle  über  Philisthäa  und  Juda  aus,  Joas  erkaufte 
ihren  Abzug  von  Jerusalem  mit  den  Schätzen  des  Tempels.  Viel- 
leicht war  es  diese  Schmach,  welche  er  mit  dem  Tode  bezahlte; 
ebenso  wie  sein  Nachfolger  Amasia  vielleicht  deshalb  unter  Mörder- 
händen fiel,  weil  er,  durch  einen  Erfolg  gegen  die  Edomiter  über- 
mütig geworden,  einen  leichtsinnigen  Krieg  gegen  Israel  unternahm 
und  darin  schimpflich  unterlag.  Als  sich  Israel  nach  glücklicher 
Beendigung  der  Aramäerkriege  neu  zu  erholen  begann,  erlebte 
auch  Juda  seine  Blütezeit;  was  Jerobeam  IL  für  das  nördliche 
Reich  war,  war  Uzzia  für  das  südliche.  Er  scheint  Edom,  die 
einzige  von  David  eroberte  Provinz,  die  in  den  Machtbereich  Judas 
fiel,    für    längere  Zeit    festgehalten   und   vom  Hafen  Äla  aus   den 


Die  Rettung  Judas.  125 

Handel  Salomos  wieder  aufgenommen  zu  haben.  Seine  lauge 
Regierung  wurde  nur  dadurch  getrübt,  daß  er  in  seinen  alten  Tagen 
am  Aussatz  erkrankte  und  die  Geschäfte  seinem  Sohne  Jotham 
übergeben  mußte.  Jotham  aber  sclieint  gleichzeitig  mit  seinem 
Vater  gestorben  und  dann  Ahaz  ben  Jotham  gefolgt  zu  sein,  in 
einem  noch  sehr  jugendlichen  Alter. 

Konnte  Juda  sich  an  politischer  und  überhaupt  an  geschicht- 
licher Bedeutung  mit  Israel  nicht  messen,  so  hatte  es  doch  auch 
manchen  Vorteil  vor  dem  größeren  Reiche  voraus.  Vor  äußeren 
Feinden  war  es  weit  mehr  gesichert,  denn  die  Ägypter  waren  in 
der  Regel  ungefährliche  Nachbaren.  Der  Hauptsegen  war  die  feste 
Dynastie,  wobei  man  es  freilich  in  den  Kauf  nehmen  mußte,  daß 
unbedeutende  Persönlichkeiten  und  selbst  Kinder  auf  den  Thron 
kamen.  David  hatte  Juda  und  Jerusalem  zu  historischer  Bedeutung 
erhoben,  sein  Haus  verwuchs  aufs  innigste  mit  Stadt  und  Land, 
ja  mit  der  Religion.  Zweimal  kam  es  vor,  daß  ein  judäischer 
König  von  Untergebenen  ermordet  wurde,  in  beiden  Fällen  aber 
ereignete  sich  das  Unerhörte,  daß  „das  Volk  des  Landes"  gegen 
die  Mörder  sich  erhol)  und  wieder  einen  Davididen  auf  den  Thron 
setzte.  Die  einzige  wirkliche  Revolution,  von  der  berichtet  wird, 
war  gegen  die  Athalia  gerichtet  und  hatte  die  Einsetzung  des 
rechtmäßigen  Thronerben  zum  Zweck.  Die  judäische  Aristokratie 
scheint  das  Königtum  weniger  beengt  zu  haben  als  die  israelitische. 
Die  Davididen  stützten  sich  auf  eine  Leibwache,  die  aus  fremden 
Söldnern  bestand,  und  setzten  öfters  Ausländer,  sogar  Mamluken, 
in  hohe  Ämter,  sowie  auch  David,  im  Unterschied  von  Saul,  es 
gemacht  hatte.  Unter  dem  Schutz  des  Königtums  gewannen  auch 
die  übrigen  Institutionen  eine  ganz  andere  Legitimität  als  in  Israel, 
wo  alles  auf  die  Individuen  ankam  und  die  Institutionen  immer 
wieder  in  Frage  gestellt  wurden.  Nicht  so  dramatisch  und  auf- 
regend, aber  solider  gestaltete  sich  das  Leben  in  Juda.  Dazu 
mochte  auch  die  größere  Abgeschlossenheit  des  kleinen  Landes,  der 
nähere  Zusammenhang  mit  der  Wüste,  und  die  dadurch  bedingten 
primitiveren  Verhältnisse  beitragen. 

Freilich  in  der  Hauptstadt  waren  die  Verhältnisse  nicht  pri- 
mitiv, und  die  Hauptstadt  überwog  an  Bedeutung  das  Land.  Die 
Könige  sorgten  für  ihren  Ausbau,  besonders  Hizkia  ben  Ahaz 
machten  sich  in  dieser  Hinsicht  verdient.  Vor  allen  lag  ihnen 
der  Tempel  am  Herzen,  der  nicht  bloß  Hof-,  sondern  auch  Reichs- 


126  Achtes  Kapitel. 

tempel  war  und  früh  sehr  große  Anziehungskraft  auf  das  ganze 
Volk  ausübte.  Sie  gestalteten  den  Kultus  daselbst,  dessen  regel- 
mäßigen täglichen  Betrieb  sie  bezahlten,  nach  ihrem  Geschmack, 
führten  ein  und  schafften  ab  was  sie  wollten,  und  verfügten  auch 
über  den  heiligen  Schatz  nach  Belieben.  Wenngleich  die  Priester 
verhältnismäßig  große  Macht  hatten  —  die  Verschwörung  gegen 
Athalia  ging  nicht  von  einem  Propheten,  sondern  von  einem 
Priester  aus  —  ,  so  waren  sie  trotzdem  Untergebene  des  Königs 
und  handelten  nach  dessen  Befehlen ').  Daß  der  Jahvedienst  zu 
Jerusalem  sich  stets  reiner  gehalten  habe  als  der  zu  Bethel  oder 
zu  Samarien,  ist  eine  Behauptung,  die  mit  mehr  als  einer  sicher 
bezeugten  Tatsache  in  Widerspruch  steht.  Ein  wesentlicher  Unter- 
schied bestand  in  dieser  Hinsicht  nicht  zwischen  Israel  und  Juda. 
Erst  von  Israel  aus  übertrug  sich  die  Reaktion  gegen  den  Baals- 
dienst auch  auf  Juda,  Israel  hatte  überhaupt  die  Initiative.  Dort 
machte  man  die  Experimente,  und  in  Jerusalem  zog  man  die  Lehre 
daraus.  Welch  inniger  Anteil  sogar  in  einer  kleinen  judäischen 
Landstadt  an  der  Geschichte  des  Hauptreiches  genommen  wurde, 
lehrt  das  Beispiel  des  Arnos  von  Thekoa. 

2.  In  dem  Grade,  wie  Israel  nach  dem  Tode  Jerobeams  IL 
verfiel,  wuchs  die  Bedeutung  Judas;  es  bereitete  sich  vor  auf  die 
Erbschaft.  Der  Mann,  der  den  Übergang  der  Geschichte  von  Israel 
auf  Juda  vermittelte  und  dem  letzteren  Reich  noch  eine  Frist  be- 
wirkte, welche  für  die  Befestigung  der  Religion  von  segensreichster 
Folge  war,  war  der  Prophet  Jesaias.  Er  unterscheidet  sich  von 
Amos  und  auch  von  Hosea  dadurch,  daß  er  nicht  wie  jene  der 
Regierung  ferne  stand,  sondern  dicht  am  Steuerruder  saß  und  den 
Kurs  des  Schiffes  wesentlich  mit  bestimmte.  Er  hatte  großen  Ein- 
fluß und  er  gebrauchte  ihn.  Die  Geschichte  seiner  Wirksamkeit  ist 
zugleich  die  Geschichte  Judas  in  jener  Periode. 

Seines  Berufes  wurde  Jesaias  inne  durch  eine  Vision  im  Todes- 
jahr des  Königs  Uzzia,  seine  ältesten  Reden  stammen  aus  dem 
Anfang  der  Regierung  des  Ahaz.  Er  schaut  in  ihnen  den  nahen 
Untergang  Samariens    und    droht  auch  Juda    seinen  Teil   von   der 


')  Sie  hatten  wol  die  Polizei  im  Tempel  uud  durften  einen,  der  sich 
gegen  die  Ordnung  verging,  in  den  Stock  setzen,  konnten  ihn  al>er  nicht 
richten,  sondern  mußten  ihn  vor  dem  ordentlichen  Gerichte  verklagen.  Das 
lernt  man  aus  der  Lebensgeschichte  Jeremias. 


Die  Rettung  Judas.  127 

Strafe.  Er  bewegt  sich  dabei  ganz  in  den  Bahnen  des  Arnos  und 
hält  sieh  noch  ziemlich  im  allgemeinen.  Bestimmt  und  praktisch 
aber  griff  er  ein  bei  Gelegenheit  des  Feldzuges  der  Aramäer  und 
Israeliten  gegen  Jerusalem.  Noch  in  der  letzten  Stunde  versuchte 
er  den  König  Ahaz  davon  abzuhalten,  daß  er  die  Assyrer  zu  Hilfe 
rufe;  er  versicherte  ihn  des  Beistandes  Jahves  und  bot  ihm  zur 
Bürgschaft  dafür  ein  Zeichen  an.  Da  Ahaz  es  ablehnte,  hatte  er 
den  Beweis  in  Händen,  daß  es  zu  spät  und  das  Kommen  der 
Assyrer  unabwendlich  sei.  Die  augenblickliche  Gefahr,  sagte  er 
nun,  werde  allerdings  dadurch  beseitigt,  aber  eine  viel  größere 
heraufbeschworen.  Denn  dem  Vordringen  der  Assyrer  würden  sich 
die  Ägypter  entgegenstellen  und  Juda  als  der  Kriegsschauplatz 
vollkommen  verwüstet  werden;  nur  ein  kleiner  Rest  solle  bleiben 
als  Grundlage  einer  besseren  Zukunft. 

Die  Folgen  der  Politik  des  Königs  erwiesen  sich  jedoch  nicht 
so  schlimm.  Die  Ägypter  ließen  die  Assyrer  ruhig  gewähren  und 
rührten  sich  nicht,  um  Samarien  und  Damaskus  beizustehn.  Juda 
wurde  zwar  ein  assyrischer  Tributärstaat,  erlebte  aber  dabei,  wäh- 
rend der  Regierung  des  Königs  Ahaz  und  in  den  ersten  zehn  Jahren 
seines  Nachfolgers  Hizkia,  ganz  leidliche  Zeiten.  Das  war  vorzugs- 
weise Jesaias  Verdienst.  Von  der  Beteiligung  an  der  hohen  Politik 
suchte  er  das  kleine  Land  auf  alle  AVeise  abzudrängen,  damit  es 
sich  um  so  ernsthafter  den  notwendigen  internen  Aufgaben  zuwende. 
Der  schlimme  Erfolg  aller  Erhebungsversuche  bestätigte  ihm  den 
Glauben,  daß  Assur  die  von  Jahve  geschwungene  Zuchtrute  der 
Völker  sei,  unter  deren  eisernes  Regiment  sie  sich  zu  beugen  hätten. 
Es  gelang  ihm  wirklich  in  Jerusalem  den  Frieden  zu  erhalten, 
wenn  ringsum  in  den  kleinen  Nachbarreichen  der  Sturm  gegen  die 
Unterdrücker  tobte. 

Dreißig  Jahre  dauerte  für  Juda  diese  merkwürdige  Friedens- 
periode inmitten  des  allgemeinen  Krieges.  Da  fiel,  im  Jahre  705, 
der  gewaltige  König  Sargon  von  Assur  durch  Mörderhand;  es  regte 
sich  unter  den  Völkern.  Der  Babylonier  Mardochbaladan  benutzte 
den  Regierungswechsel  zu  einem  Aufstande,  durch  eine  Gesandt- 
schaft redete  er  auch  dem  Hizkia  zu,  das  Joch  jetzt  abzuwerfen. 
Diesem  schien  in  der  Tat  die  Gelegenheit  günstig,  sich  unabhängig 
zu  machen,  er  trat  an  die  Spitze  einer  kleinen  Koalition,  zu  der 
besonders  einige  philisthäische  Städte  gehörten,  und  wagte  den 
Abfall.     Dadurch,   daß  Sargons  Nachfolger  Senaherib    zunächst  in 


128  Achtes  Kapitel. 

Babylonieu  beschäftigt  war,  gewann  man  in  Palästina  Zeit;  durch 
die  Bewältigung  des  babylonischen  Aufstandes  aber  ließ  man  sich 
nicht  irre  machen.  Für  alle  Fälle  wurden  Verhandlungen  mit 
den  Ägyptern  angeknüpft,  um  sich  ihres  Beistandes  in  der  Not  zu 
versichern. 

3.  Diese  Zeit  ist  die  Glanzzeit  Jesaias,  obwol  er  damals  schon 
ein  bejahrter  Mann  war.  Die  Yorbereitnngen  zum  Aufstande,  die 
Unterhandlungen  mit  Ägypten  waren  ihm  verheimlicht,  ein  Zeichen, 
wie  man  am  Hofe  ihn  fürchtete.  Als  er  davon  erfuhr,  mußte  er 
den  Dingen  ihren  Lauf  lassen.  Aber  seinem  Zorne  konnte  er  Luft 
machen,  und  er  tat  es  in  einer  drastischen  Rede,  die  er  im  Vorhof 
des  Tempels  hielt,  nach  einem  großen  Opfergelage,  bei  dem  man 
sich,  wie  es  scheint,  zu  der  bevorstehenden  Aktion  Mut  getrunken 
hatte.  Das  Land  bedürfe  der  Ruhe  und  des  Friedens,  statt  dessen 
werde  es  nun  von  dem  trunkenen  Leichtsinn  seiner  weltlichen  und 
geistlichen  Führer  in  das  Verderben  gehetzt.  Ein  auf  Lüge  und 
Verblendung  gegründeter  Trotz  verstecke  sich  gegen  das  Wort 
Jahves,  doch  werde  er  der  Wahrheit  durch  den  Zwang  der  Not 
schon  Geltung  verschaffen.  Wer  auf  seine  vernünftige  Sprache 
nicht  höre,  zu  dem  werde  er  auf  assyrisch  reden,  daß  ihm  Hören 
und  Sehen  vergehe.  Nicht  minder  empört,  wie  über  die  Torheit 
des  Königs  und  seiner  weisen  Räte  und  über  den  Fanatismus  der 
Priester  und  Propheten,  zeigt  sich  Jesaias  über  den  Gleichmut  und 
den  Stumpfsinn  der  ihn  ob  seiner  aufgeregten  Rede  verwundert 
anstarrenden  Menge.  Der  Ernst  der  Zeit  reiße  sie  aus  der  Alltäg- 
lichkeit nicht  heraus,  das  lebendige  Tun  Jahves  sei  ihnen  ein  ver- 
siegeltes Buch,  ihre  Frömmigkeit  bestehe  lediglich  in  der  angewöhnten 
Menschensatzung. 

Inzwischen  rückte  Senaherib  an  der  Spitze  eines  großen  Heeres 
von  der  phönizischen  Küste  her  gegen  Philisthäa  und  Juda  vor 
(701).  Nachdem  er  Askalon  bezwungen,  wandte  er  sich  gegen 
Akkaron  und  belagerte  die  Stadt.  Das  zu  ihrem  Entsätze  abge- 
sandte ägyptisch -äthiopische  Heer  wurde  bei  Eltheke  geschlagen, 
Akkaron  fiel  und  ward  grausam  bestraft.  Gleichzeitig  wurden  in 
Juda  mehrere  Festungen  bezwungen  und  das  platte  Land  gründlich 
verwüstet.  Hizkia  geriet  in  Angst  und  bot  erschrocken  dem 
Assyrer  seine  L^nterwerfung  an.  Sie  wurde  angenommen,  er  mußte 
eine  hohe  Strafe  bezahlen,  durfte  aber  Jerusalem  behalten.  Er 
schien  mit  einem  blauen  Auge  davongekommen  zu  sein. 


Die  Rettung  Judas.  129 

Nachdem  er  die  Bahn  frei  hatte,  drang  Senaherib  weiter  nach 
Süden  vor;  denn  die  Ägypter  sammelten  ihre  Macht  gegen  ihn. 
Je  näher  er  an  den  Feind  kam,  um  so  bedenklicher  mußte  es  ihm 
vorkommen,  eine  Festung  wie  Jerusalem  in  der  Hand  eines  Va- 
sallen hinter  sich  zurückzulassen,  der  wie  es  scheint  sich  trotz  dem 
kaum  abgeschlossenen  Vertrage  sofort  wieder  untreu  oder  min- 
destens zweifelhaft  erwies.  Er  forderte  nun  doch  die  Auslieferung 
der  Stadt  und  glaubte  sie  aus  der  Ferne,  durch  bloße  Drohungen, 
erreichen  zu  können.  Er  wäre  damit  vielleicht  zum  Ziele  gekommen, 
den  König  und  seine  Umgebung  taxirte  er  richtig  genug,  es  herrschte 
die  größte  Mutlosigkeit  in  Jerusalem.  Aber  es  gab  einen  Mann, 
der  sich  nicht  einschüchtern  ließ.  Das  war  der  unbequeme  Schul- 
meister, von  dem  man  sich  nicht  wie  ein  Kind  hatte  behandeln  lassen 
wollen  und  zu  dem  man  nun  doch  demütig  zurückkehren  mußte. 
So  wenig  wie  früher  von  dem  Trotze,  ließ  Jesaias  sich  jetzt  von 
dem  Verzagen  anstecken.  Er  sprach  dem  Könige  Hizkia  im  Namen 
Jahves  Mut  ein  und  bewog  ihn  die  Stadt  nicht  zu  übergeben.  Die 
Assyrer  würden  sie  nicht  einnehmen,  keinen  Pfeil  hineinschießen, 
nicht  mit  dem  Schilddache  gegen  ihre  Mauer  vorrücken.  „Dein 
Stehn  und  dein  Sitzen,  dein  Kommen  und  dein  Gehn  kenne  ich  — 
so  redet  Jahve  den  Assyrer  an  —  und  auch  dein  Toben  gegen 
mich.  Und  ich  lege  meinen  Ring  in  deine  Nase  und  mein  Gebiß 
in  deine  Lippen  und  führe  dich  zurück  auf  dem  Wege,  den  du 
gekommen  bist."  Es  kam  wirklich  so.  Durch  eine  noch  unauf- 
geklärte Katastrophe  wurde  das  assyrische  Hauptheer  an  der  ägyp- 
tisch-palästinischen Grenze  vernichtet,  der  König  mußte  sich  eilig 
nach  Nineve  zurückziehen,  Jerusalem  war  gerettet.  Große  äußere 
Bedeutung  hatte  dies  Ereignis  freilich  nicht,  'es  war  kein  Wende- 
punkt in  der  Weltgeschichte.  Die  Macht  der  Assyrer  brach  sich 
nicht  an  den  Mauern  Jerusalems,  sie  blieb  unversehrt  und  erreichte 
erst  nachher  ihren  Gipfel.  Senaherib  selber  konnte  zwar  die  Scharte 
nicht  auswetzen,  weil  er  im  Osten  beschäftigt  war.  Aber  sein 
Sohn  Esarhaddon,  der  ihm  im  Jahre  681  folgte,  nahm  den  Krieg 
gegen  Ägypten  wieder  auf  und  hatte  besseren  Erfolg;  er  eroberte 
das  Nilland  und  trieb  die  Äthiopen  zu  paaren.  Es  versteht  sich, 
daß  dann  auch  die  kleinen  palästinischen  Reiche  in  das  alte  Ab- 
hängigkeitsverhältnis zurückkehrten.  Bei  alle  dem  machte  es  doch 
einen  außerordentlichen  Eindruck  auf  die  Zeitgenossen,  daß  Jerusalem 
aus  der  Gefahr,  der  Samarien  erlegen  war,  gerechtfertigt  hervorging, 

Wü  11  hausen,  Isr.  Geschichte.    5.  Aufl.  9 


130  Neuntes  Kapitel. 

iiiid  dieser  Eindruck,  der  durch  die  prophetische  Voraussaguug  des 
Ereignisses  noch  erhöht  und  bedeutsamer  gestimmt  wurde,  ging 
nicht  mit  dem  Augenblicke  vorüber,  sondern  hatte  sehr  nachhaltige 
Folgen.  Der  Tempel  von  Jerusalem  gewann  ein  so  einziges  Ansehen, 
daß  bereits  unter  Hizkia  der  Prophet  Micha  von  Moreseth  gegen 
den  Aberglauben  protestirte,  daß  derselbe  besser  sei  als  andere 
Heiligtümer,  und  sich  veranlaßt  sah,  seine  Zerstörung  zu  weissagen. 


Neuntes  Kapitel. 

Die  prophetische  Reformation. 

1.  Von  einem  unbedeutenden  Winkel  der  Erde  verfolgte  Je- 
saias  den  Lauf  der  Begebenheiten,  tief  ergriffen  und  doch  uner- 
schüttert von  dem,  was  er  sah  und  hörte.  Indem  er  Jahve  sprechen 
ließ,  bewährte  er  eine  durchdringende  Kenntnis  der  Menschen  und 
der  Verhältnisse.  Er  verspottete  die  Politik  und  verstand  trotzdem 
mehr  davon,  als  die  kurzsichtigen  Praktiker  seiner  Tage.  Von  dem 
unbewegten  Zentrum  in  der  Mitte  des  Wirbels,  der  die  Welt  be- 
wegte, übersah  er  die  Situation.  Wenn  die  außerordentlichen  Er- 
eignisse den  Weisen  einen  Strich  durch  die  Rechnung  machten,  so 
bestätigten  sie  seine  Erwartung;  wenn  die  Lebenden  verzweifelt 
Rat  bei  den  Toten  suchten  und  an  jeden  Strohhalm  sich  klammer- 
ten, so  war  er  getrost.  In  dem  Unwetter,  das  Eichen  knickte  und 
Türme  stürzte  und  alles  hohe  und  erhabene  Menschenwerk  zu  Bo- 
den warf,  vernahm  er  das  Rauschen  Jahves,  der  sich  aufmachte, 
sein  befremdliches,  unerhörtes  Geschäft  zu  verrichten.  Ihm  war 
dasselbe  nicht  befremdlich;  er  zürnte,  daß  es  nicht  jedermann  längst 
von  ferne  kommen  sah.  Eine  Art  tragischer  Freudigkeit,  ein  Herois- 
mus des  Glaubens,  zeichnete  ihn  aus. 

Arnos  und  Hosea  waren  noch  in  der  alten  Zeit  aufgewachsen, 
Jesaias  in  der  neuen,  die  unter  dem  Zeichen  des  Weltreiches  stand. 
Die  Assyrer  drohten  nicht  mehr  aus  der  Ferne;  der  Strudel,  der 
von  Nineve  ausging,  hatte  die  kleinen  Völker  Syriens  und  Pa- 
lästinas bereits  in  sich  hinein  gezogen.  Der  Untergang  Israels  hatte 
den  Amos  hinter  der  Herde  weggerissen  und  dem  Hosea  das  Herz 


Die  prophetische  Reformation.  131 

gebrochen;  Jesaias  sah  ihn  von  vornherein  als  notwendig  an,  und 
als  er  eintrat,  blieb  er  gelassen.  Für  jene  beiden  fiel  mit  Israel 
auch  Juda,  das  Lied  war  aus.  Aber  die  Geschichte  machte  einen 
Unterschied  zwischen  Israel  und  Juda.  Jesaias  ließ  Israel  fahren, 
er  glaubte  nicht,  wie  Hosea,  an  die  Auferstehung  dieses  Volkes  von 
den  Toten;  aber  der  Faden  war  damit  nicht  abgeschnitten,  er  spann 
sich  fort  in  Juda.  Was  für  seine  Vorgänger  der  Schluß  des  Dra- 
mas war,  war  für  ihn  nur  der  erste  Akt,  das  Gericht  über  Sama- 
rien  nur  der  Anfang  einer  Reihe  von  Gerichten,  und  das  Endziel 
der  langen  Krisis  war  positiv.  Aus  Juda  sollte  ein  Rest  heraus- 
gesichtet werden,  der  die  Gemeinde  Jahves  auf  Erden  fortsetzte; 
dieser  Same  der  Zukunft  sollte  den  Assyrern  trotzen,  und  bei  dem 
Versuch  ihn  zu  vernichten  sollten  sie  zu  gründe  gehn. 

Die  Herstellung  des  Restes  überließ  nun  aber  Jesaias  nicht 
allein  den  Gerichten  Jahves,  sondern  er  arbeitete  auch  selber  daran 
ein  neues  Juda  zu  schaffen.  In  dem  schwachen  Regiment  und  der 
mangelhaften  Rechtspflege ')  AVandel  zu  schaffen,  mußte  er  aller- 
dings Jahve  überlassen;  er  konnte  nur  sein  Ideal  aussprechen.  In 
seinen  sogenannten  messianischen  Weissagungen  malt  er  nicht  träu- 
merische Zukunftsbilder  von  der  dereinstigen  Größe  und  Herrlich- 
keit seines  Volkes,  zu  deren  Verwirklichung  nicht  die  geringste 
Aussicht  sich  bot,  sondern  er  stellt  Ziele  auf,  die  schon  in  der  Gegen- 
wart Geltung  haben  oder  haben  sollten,  zu  denen  das  Gemeinwesen 
seiner  wahren  Natur  nach  hinstrebt.  Der  starke  und  gerechte 
König,  den  er  in  Bälde  aus  Davids  Stamme  erhofft^),  hat  nichts 
Nebelhaftes  an  sich,  und  es  wird  ihm  nichts  zugemutet,  was  über 
das  Maß  des  unter  den  damaligen  Umständen  in  Juda  Möglichen 
hinausgeht.  Er  schafft  dem  Geringen  und  Niederen  Recht  und  tötet 
durch  seinen  Richterspruch  den  Frevler  und  den  Gewalttätigen, 
so  daß  das  Lamm  sich  nicht  fürchtet  vor  dem  Wolfe,  allgemeine 
Sicherheit  herrscht  und  allgemeines  Vertrauen  —  nicht  etwa  auf 

^)  Wie  es  zur  Zeit  Hizkias  in  Juda  damit  stand,  sieht  man  aus  Mich.  3. 
Die  Meinung,  als  habe  der  allgemeine  Zustand  des  Landes  gewechselt  und 
sich  in  Extremen  bewegt,  je  nachdem  der  jeweilige  Regent  im  Buch  der  Könige 
die  Note  gut  oder  schlecht  bekommt,  ist  absurd.  Sie  spukt  aber  noch  immer 
in  den  Köpfen. 

^)  Er  erwartet  in  der  Zeit  des  syrisch-ephraimitischen  Krieges,  daß  der 
Messias  etwa  innerhalb  einer  Generation  auftritt;  er  muß  ihn  darum  schon 
im  Jahre  734  geboren  werden  lassen,  damit  er  als  Mann  den  Thron   besteige. 

9*= 


132  Neuntes  Kapitel. 

der  ganzen  Erde,  sondern  auf  dem  heiligen  Berge  Jahves,  in  Jeru- 
salem als  Mittelpunkte  Judas').  Das  messianische  Keich  bedeutet 
die  Beseitigung  der  inneren  Rechtlosigkeit  und  Anarchie,  die  Her- 
stellung von  Gerechtigkeit  Ordnung  und  Frieden.  Es  bleibt  auf 
Jerusalem  und  Juda  beschränkt,  nicht  einmal  von  einer  Herstellung 
der  Grenzen,  wie  sie  zur  Zeit  Davids  waren,  ist  die  Rede.  Die 
Assyrer  sollen  zwar  über  die  Marken  getrieben  werden,  aber  keines- 
wegs soll  dann  nach  ihrem  Sturz  Israel  als  herrschende  Weltmacht 
an  ihre  Stelle  treten.  Nicht  in  der  selben  Sphäre  konkurriren  die 
stillen  erquickenden  Wasser  Siloahs  mit  den  brausenden  Wogen 
des  allüberschwemmenden  Euphrat.  Die  Theokratie,  wenn  man 
den  Ausdruck  gebrauchen  darf,  hat  rein  innere  Aufgaben,  die  im 
kleinsten  Kreise  realisirt  werden  können;  sie  ist  kein  Weltreich, 
freilich  auch  keine  Kultusgemeinde^  sondern  um  den  modernen 
Ausdruck  zu  gebrauchen,  ein  Rechtsstaat.  Die  politischen  Aspira- 
tionen, welche  ehedem  von  der  Religion  getragen  wurden,  werden 
von  Jesaias  im  Namen  der  Religion  abgelehnt. 

An  einen  anderen  Schaden  dagegen  konnte  Jesaias  selber  Hand 
anlegen,  das  w\ar  der  Gottesdienst  des  Volkes  in  seiner  damaligen 
Gestalt.  So  schlimme  Greuel  wie  in  Israel,  waren,  wie  es  scheint, 
auch  auf  diesem  Gebiete  in  Juda  nicht  mehr  zu  bekämpfen.  Aber 
der  Monotheismus  zog  seine  Konsequenzen;  wenn  die  Gottheit  von 
jeder  Einzelerscheinung,  von  allem  Sinnlichen,  unterschieden  werden 
sollte,  so  war  es  gefährlich  ihre  Anbetung  im  Bilde  zu  dulden. 
Schon  Hosea  hatte  über  den  Bilderdienst  gespottet;  Jesaias  machte 
ihn  zu  einem  Hauptgegenstande  seiner  Polemik.  Er  sah  darin  eine 
Anbetung  des  Menschenwerks,  die  ihm  gerade  so  schlimm  schien, 
wie  das  Vertrauen  auf  den  Trug  von  Macht  und  Klugheit  und  Reich- 
tümern. Die' Kultusstätten  selber  zu  beseitigen  fiel  ihm  nicht  ein, 
er  beanstandete  noch  nicht  einmal  die  heiligen  Bäume  und  Steine, 
sondern  wollte  nur  die  Ephode,  die   mit  Silber  oder  Gold  überzo- 


')  „Er  richtet  die  Geringen  mit  Gerechtigkeit  und  die  Niederen  mit  Billig- 
keit, den  Frevler  trifft  er  mit  der  Rute  seines  Mundes  und  mit  dem  Hauche 
seiner  Lippen  tötet  er  den  Gewalttätigen.  Dann  kehrt  der  Wolf  beim  Lamme 
ein  und  der  Löwe  frißt  Heu  wie  das  Rind,  der  Säugling  streichelt  der  Natter 
Fühlhorn  und  nach  des  Basilisken  Leuchte  streckt  ein  Entwöhnter  die  Hand. 
Kein  Frevel  geschieht  und  kein  Unrecht  auf  meinem  ganzen  hei- 
igen Berge."  Poesie,  aber  keine  Utopie,  kein  weltumfassendes  goldenes 
Zeitalter. 


Die  prophetische  Reformation.  133 

geuen  hölzernen  Idole  Jahves,  aus  den  Heiligtümern  entfernen. 
Ohne  Zweifel  unter  seinem  Einfluß  kam  in  der  Tat  eine  entsprechende 
Reinigung  des  Kultus  zu  Stande.  Der  König  Hizkia  hieb  die 
Aschera  im  Tempel  von  Jerusalem  um  und  zertrümmerte  die  eherne 
Schlange  Moses,  der  man  bis  dahin  dort  geopfert  hatte').  Schwer- 
lich aber  ist  er  weiter  gegangen,  als  Jesaias  sich  träumen  liei3,  und 
hat  auch  die  sämtlichen  Altäre  außerhalb  Jerusalems  zerstört.  Alles 
spricht  dagegen,  daß  jemand  diesen  Schritt  dem  Könige  Josias  zu- 
vorgetan habe;  insbesondere  wissen  wir  genau,  daß  die  Altäre  Sa- 
lomos  bei  Jerusalem  bis  auf  Josias  unzerstört  geblieben  sind. 

Einen  Rückhalt  für  seine  Bestrebungen  schuf  sich  Jesaias  in 
einer  Partei,  die  er  aus  seinen  Hausgenossen,  seinen  Schülern  und 
Anhängern  um  sich  sammelte.  Diese  prophetische  Partei  erhielt 
sich  nach  seinem  Tode  und  führte  durch,  was  er  unvollendet  ge- 
lassen hatte  ^).  Man  darf  sogar  behaupten,  daß  sie  der  Keim  der 
späteren  Gemeinde  der  Frommen  geworden  ist.  Jedenfalls  war  sie 
das  Vorspiel  zu  dem  Unterschiede  des  wahren  und  des  nominellen 
Israel,  zu  der  Trennung  zwischen  Gemeinde  und  Volk,  die  in  der 
Folge  so  bedeutsam  wurde. 

2.  Mit  Jesaias  betrat  die  Prophetie  den  Weg  der  Reform;  es 
kostete  lange  Kämpfe,  ehe  sie  auf  diesem  Wege  auch  nur  äußerlich 
zum  Ziele  kam.  Wie  groß  die  Neuerung  war  und  wie  tief  sie 
empfunden  wurde,  davon  ist  die  Periode  Manasses  der  deutlichste 
Beweis.  Denn  der  Rückschlag,  der  damals  erfolgte,  ging  sicherlich 
nicht  von  der  Willkür  des  Königs  aus;  vielmehr  wehrte  sich  die 
Volksreligion  auf  Leben  und  Tod  gegen  ihre  Angreifer,  in  dem 
Bewußtsein,  daß  ihre  Existenz  gefährdet  und  daß  kein  Friede 
möglich  sei.  Manasse  ben  Hizkia  folgte  seinem  Vater  in  sehr  ju- 
gendlichem Alter  und  regierte  ein  halbes  Jahrhundert  in  Jerusalem. 
Daß  er  wieder  unter  assyrische  Oberherrschaft  geriet,  scheint  wenig 
Eindruck  gemacht  zu  haben ;  seit  Ahaz  war  Juda  an  dies  Verhältnis 
gewöhnt.  Nur  wie  es  im  Innern  unter  seiner  Regierung  aussah, 
wird  uns  berichtet.    Er  war  ein  schlechter  Regent,  der  es  geschehen 


')  2  Reg.  18,4.  Num.  21,8.9.  Von  der  heiligen  Lade  ist  nicht  die  Rede, 
man  weiß  nichts  über  ihren  Verbleib.  Sie  ist  ohne  Sang  und  Klang  ver- 
schwunden; sie  konnte  auch  nicht  ewig  halten. 

^)  Smend  sagt  mit  Recht,  daß  die  prophetische  Partei  auch  unter  den 
Häuptern  des  Volkes  ihre  Anhänger  hatte  und  vielleicht  zumeist  unter  ihnen. 
Das  ergibt  sich  besonders  aus  der  Geschichte  Jeremias. 


134  Neuntes  Kapitel. 

ließ  und  an  seinem  Teile  dazu  beitrug,  daß  unschuldiges  Blut 
„von  Leuten,  die  nicht  auf  Einbi'uch  betroffen  waren"  in  Strömen 
vergossen  wurde.  Es  ist  merkwürdig,  daß  diese  Eigenschaft  bei 
ihm,  wie  bei  seinem  späteren  Gegenbilde  Jojakim,  mit  Bigoterie 
verbunden  war  —  ein  vielleicht  mehr  als  zufälliges  Zusammentreffen, 
das  dem  wahren  Geiste  der  israelitischen  Religion  im  innersten 
zuwider  war.  Der  hauptsächliche  Charakterzug  der  Regierung 
dieses  Königs  war,  wie  bereits  erwähnt,  daß  er  der  Reformpartei 
feindlich  gegenüber  trat  und  sich  auf  Seite  der  Reaktion  stellte. 
Dürfen  wir  dem  Zeugnis  Jeremias  trauen,  so  fraß  das  Schwert  in 
jener  Zeit  die  Propheten  wie  ein  wütiger  Löwe.  Der  populäre, 
halbheidnische  Jahve  sollte  auf  alle  Weise  gegen  den  strengen  und 
heiligen  Gott  der  Propheten  wieder  zu  Ehren  gebracht  werden. 
Die  abgeschafften  Herrlichkeiten  wurden  wieder  hervorgeholt,  und 
neuer  Firlefanz  aus  allen  Weltgegenden,  vorzugsweise  aus  Assur 
und  Babylon,  importirt,  um  den  alten  Gottesdienst  aufzufrischen; 
der  Gott  des  Himmels  wurde  mit  dem  Heer  des  Himmels  umgeben 
und  bekam  auch  eine  Königin  des  Himmels  beigesellt,  die  passender 
Weise  namentlich  von  den  Weibern  verehrt  wurde ').  Doch  wie 
es  zu  gehn  pflegt,  stellte  die  Restauration  des  Alten  nicht  einfach 
das  Alte  wieder  her.  Was  früher  naiv  gewesen  war,  war  jetzt 
Aberglaube  geworden  und  konnte  nur  dadurch  gehalten  werden, 
daß  ihm  künstlich  eine  tiefere  Bedeutung  untergelegt  wurde.  Ein 
blutiger  Ernst  verdrängte  die  alte  Fröhlichkeit  des  Kultus,  es  wurde 
ihm  eine  vorwiegende  Beziehung  auf  die  Sünde  und  ihre  Sühne  ge- 
geben. Je  unnatürlicher  und  schwerer  die  Leistungen  für  die  Gottheit 
waren,  um  so  wertvoller  erschienen  sie;  dies  ist  die  Zeit,  wo  die 
längst  abgekommene  Sitte,  nicht  bloß  die  tierischen,  sondern  auch  die 
menschlichen  Erstgeburten  männlichen  Geschlechts  zu  opfern,  wieder 
aufgenommen  wurde.  Im  Tal  Geenna  befand  sich  ein  Altar  von  ganz 
besonderer  Heiligkeit,  auf  dem  man  die  geschlachteten  Kinder  für 
Jahve  verbrannte  "'*).    Die  Gegenreformation  war  von  der  Reformation 


1)  Reste  arabischen  Heidentums  1897  p.  41.  Es  scheint  doch  die  Göttin 
des  Morgensternes  zu  sein.  Der  Morgenstern  (Helel,  arab.  Hiläl  Neumond) 
ist  zwar  bei  den  Hebräern  Masculinum,  aber  das  beweist  nur,  daß  sie  die 
Göttin  des  Morgensterns  nicht  selbst  geschöpft,  sondern  von  den  Assyreru 
oder  Babylonieru  entlehnt  haben. 

2)  Nicht  tophet,  sondern  tephät  =  reuerstelle;  s.  J.  D.  Michaelis,  Suppl. 
nr.  187,  und  W.  R.  Smith,  Lectures  on  the  Religion  of  the  Semites  1894  p.  377. 


Die  prophetische  Reformation.  135 

selber  nicht  unberührt,  wenngleich  sie  den  religiösen  Ernst  in 
anderem  Sinne  verstand  und  das  Heidentum  im  Kultus  nicht  zu 
entfernen,  sondern  neu  zu  beseelen  suchte.  Auf  der  anderen  Seite 
hat  dann  auch  wieder  die  Reaktion  einen  spürbaren  Einfluß  auf 
das  Endergebnis  der  Reformation  ausgeübt. 

Ein  Dokument  aus  der  Zeit  jManasses  besitzen  wir  vielleicht 
im  sechsten  Kapitel  des  Buches  Micha.  Darin  gelangt  der  pro- 
phetische Standpunkt  gegenüber  dem  Raffinement  des  Kultus  zum 
reinsten  und  ergreifendsten  Ausdrucke.  „Womit  soll  ich  Jahve 
entgegen  kommen,  mich  beugen  vor  dem  Gott  der  Höhe?  soll  ich 
mit  Brandopfern  vor  ihm  erscheinen,  mit  jährigen  Kälbern?  hat 
Jahve  Gefallen  an  Tausenden  von  Widdern,  an  Myriaden  von  01- 
bächen?  soll  ich  meinen  Erstgeborenen  als  meine  Buße  geben, 
meines  Leibes  Frucht  zur  Sühne  meiner  Seele?  ....  Es  ist  dir 
gesagt,  Mensch,  was  frommt  und  was  Jahve  dein  Gott  von  dir 
fordert:  vielmehr  Recht  üben  uud  Güte,  und  demütig  wandeln 
vor  deinem  Gotte."  Vielleicht  stammt  aus  dieser  Zeit  auch  der 
Dekalog,  der  das  Bilderverbot  an  die  Spitze  setzt,  über  den  Opfer- 
uud  Festkultus  schweigt,  und  fast  nur  solche  Gebote  zum  Grund- 
gesetz für  Israel  macht,  die  für  alle  Menschen  insgemein  Giltigkeit 
haben '). 

Manasse  lebte  sehr  lauge,  sein  Sohn  Amon  wandelte  in  seinen 
Wegen.  Aber  er  starb  nach  kurzer  Regierung,  und  mit  Josias,  dem 
Sohne  Amons,  welcher  im  Alter  von  acht  Jahren  auf  den  Thron 
gelangte,  brach  eine  neue  Zeit  für  Juda  an.  Sie  wurde  eingeleitet 
durch  die  große  weltgeschichtliche  Katastrophe,  in  der  das  Assyrer- 
reich  zusammenbrach.  Die  Scythen  bereiteten  den  Übergang  der 
Weltherrschaft  von  den  Semiten  auf  die  Arier  vor.  Ihr  Einfall  in 
Vorderasien  versetzte  der  assyrischen  Monarchie  den  ersten  ge- 
wichtigen Schlagt)  und  löste  den  ohnehin  lockeren  Zusammenhang 


')  Der  Dekalog  von  Exod.  20  ist  ein  Gegenstück  zu  dem  alten  von  Ex.  34. 
Der  Anfang  ist  analog,  an  Stelle  der  Festgesetzgebung  tritt  das  Sabbatsgebot 
und  moralische  Vorschriften.  Angeredet  wird  der  Einzelne,  nicht  wie  in  Ex.  34 
die  Gemeinde;  denn  die  Moral  ist  Sache  des  Einzelnen,  der  Kultus  Sache 
des  Volks. 

2)  Herodot  erzählt,  Niueve  sei  durch  die  Scythen  aiis  der  ersten  modischen 
Belagerung  gerettet  worden.  Aber  Sephania  erwartet  nicht  die  Befreiung, 
sondern  die  Zerstörung  Isineves  von  den  Scythen,  und  Nahum,  der  zur  Zeit 
der  letzten  Belagerung  schrieb,  sagt  ausdrücklich,   sie  sei  die   erste  und  die 


136  Neuntes  Kapitel. 

ihrer  Bestandteile.  Die  Provinzen  bröckelten  ab,  das  Reich  schrumpfte 
allmählig  auf  die  Landschaft  Assur  zusammen. 

Der  Scythensturm  rief  in  Juda  die  Stimme  der  Propheten 
wieder  wach,  im  dreizehnten  Jahre  Josias  (626).  Sephania  und 
Jeremias  drohten  mit  dem  unlieimlichen  nördlichen  Feinde,  wie 
einst  Amos  und  Hosea  mit  den  Assyrern.  Wirklich  brachen  die 
Scythen  in  Palästina  ein  und  drangen  bis  Ägypten  vor;  aber  sie 
zogen  am  Meere  hin  und  berührten  Juda  nicht.  Die  so  nahe 
gerückte  und  doch  vorübergegangene  Gefahr,  die  eingetroffene  und 
doch  gnädig  abgewandte  prophetische  Drohung  scheint  einen  großen 
Eindruck  auf  die  Judäer  gemacht  zu  haben.  Jedenfalls  trat  ein 
Umschwung  zu  gunsten  der  reformatorischen  Partei  ein,  und  diese 
wußte  auch  den  jungen  König  für  sich  zu  gewinnen.  Die  Um- 
stände ließen  sich  günstig  an,  um  mit  dem  umfassenden  Programm 
einer  Neugestaltung  der  Theokratie  hervorzutreten.  Im  Jahre  621, 
vor  Ostern,  wurde  das  Deuteronomium  als  zufällig  wieder  auf- 
gefundenes Buch  des  Gesetzes  dem  Könige  in  die  Hand  gespielt'). 
Unter  dem  Eindruck  der  Flüche,  die  Moses  darin  gegen  die  Un- 
gehorsamen und  Übertreter  ausspricht,  beschloß  er  den  so  lange 
ignorirten  Forderungen  Jahves  noch  in  letzter  Stunde  Geltung  zu 
verschaffen.  Er  berief  die  Bewohner  von  Stadt  und  Land  zu  einer 
Versammlung  in  den  Tempel,  las  ihnen  das  Gesetz  vor  und  ver- 
pflichtete sie  feierlich  darauf.  Er  reinigte  sodann  zunächst  den 
Tempel  und  die  Hauptstadt  von  dem  Unrat,  der  sich  dort  ange- 
sammelt hatte.  Er  zerstörte  die  heidnischen  Altäre  und  die  Häuser 
der  heiligen  Unzucht  im  Tempel,  verbraunte  die  Aschera  und  tat 
die  der  Sonne  geweihten  Rosse  und  Wagen  ab.     Er  entweihte  die 


letzte,  er  keuut  keine  frühere.  Auf  den  Scythensturm  bezieht  sich  die  Angabe 
des  Abydenus:  Saracus  certior  factus  quod  exercitus  locustarum  instar  mari 
exiens  impetum  faceret,  Busalossorum  ducem  confestim  Babelonem  misit.  Denn 
das  Antrittsjahr  —  nicht  das  erste  Jahr  —  des  Nabopolassar  (Busalossor)  in 
Babylon  ist  626,  und  dieses  Jahr,  das  lo.  des  Josias,  ist  dasjenige,  in  welchem 
der  Sturm  von  Norden  den  Jeremias  bewog,  als  Prophet  aufzutreten.  Durch 
die  sehr  auffällige  Beglaubigung  des  Datums  —  des  eiuzigen  zuverlässigen 
über  den  Scytheneinbruch,  das  wir  besitzen  —  gewinnt  die  Angabe  des 
Abydenus  selber  an  Wert;  wenigstens  ist  sie  bloßem  Kannegießern  einstweilen 
vorzuziehen.     Das  Jahr  1  der  Ära  (der  Unabhängigkeit)  von  Babel  ist  625. 

')  Tempelrestauration  war  auch  in  Assur  und  Babel   eine    beliebte  Ge- 
legenheit zum  Fund  uralter  Dokumente. 


Die  prophetische  Reformation.  J37 

Brandstätte  im  Tal  Geeiiua  und  die  Höhen,  die  sich  außerhalb  des 
Tempels  noch  in  Jerusalem  befanden,  unter  anderen  die,  welche 
Salomo  für  Astarte,  Kamos  und  Milkom  errichtet  hatte.  Alle  Wahr- 
sager und  Totenbeschwörer,  die  Bilder  und  Medien  und  alle  Greuel 
fegte  er  aus.  Weiter  aber  entweihte  er  alle  Anbetungsstätten  Jahves 
außerhalb  Jerusalems  und  setzte  sie  außer  Gebrauch.  Er  griff 
dabei  sogar  über  die  Grenzen  seines  Landes  hinaus  und  zerstörte 
das  Heiligtum  zu  Bethel,  wo  ein  altisraelitisches  Priestergeschlecht, 
das  ausdrücklich  zu  diesem  Zweck  aus  der  Verbannung  zurück- 
gesendet war,  den  Dienst  Jahves  in  alter  landesüblicher  Weise 
betrieb. 

Zu  allen  Zeiten  wird  die  Beihilfe  des  weltlichen  Arms  in  An- 
spruch   genommen,    um  Änderungen  .des   Gottesdienstes    herbeizu- 
führen, die  bis  in  die   breiten  Schichten   des  Volkes  durchdringen 
sollen.    Die  israelitischen  und  jüdischen  Könige  hatten  unbestritten 
das  Recht  zu  solchen  Änderungen  und  übten  es  nach  ihrem  Ge- 
schmack aus.     Indessen   einen    so    gewaltsamen  Eingriff,    wie    ihn 
Josias    mit    der  Beseitigung    sämtlicher   provinzialen  Kultusstätten 
unternahm,  hat  vor  ihm  doch  niemand  gewagt.     Was   bisher  das 
Heiligste  gewesen  war,  das  wurde  nun  wie  eine   böse  Wurzel  aus- 
gerodet.   Die  Altäre  Jahves,  an  denen  schon  die  Erzväter  und  nach 
ihnen    so    viele  Geschlechter    ihre  Opfer    gebracht    hatten,   wurden 
geschändet;  es  war  ein  Sakrileg,  ein  Schlag  ins  Gesicht  der  Pietät 
des  Volkes.    Die  Provinzialstädte  und  Landgemeinden  büßten  ihren 
heiligen  Mittelpunkt  ein  und  sollten  aufhören  selbständige  religiöse 
Gemeinden  zu  sein;  an  den  lieben  alten  Stätten  sollten  die  Bewohner 
nicht    mehr  dem  Jahve  dienen,  in   ihrer  Heimat  nicht  mehr   die 
Ernte  und  die  Lese  ihm  dankend  feiern,  sondern  nur  in  der  fremden 
Hauptstadt.      Es    ging    viel    verloren    mit    dieser    Abstreifung    des 
lokalen  Charakters  der  alten  Volksreligion.     Die   ganze  Tradition, 
der    Zusammenhang    mit    dem    heiligen    Erbe    der    Vergangenheit,' 
wurde  von  Josias  kurzer  Hand  durchschnitten.    Und  noch  in  einer 
anderen  Hinsicht   machte   seine  Reformation  Epoche.     Er  gründete 
sie  auf  ein  Buch.     Er  begann  damit,  daß  er  ein  Buch,  enüialtend 
die  Ordnung  des  Gottesdienstes,    des  Rechts  und  der  Sitte,    ver- 
öffentlichte und  zum  Reichsgesetz  erhob.     Er  hat  auf  diese  Weise 
den  ersten  Schritt  getan,  um  der  Theokratie  eine  kodifizirte  Grund- 
lage zu  geben  und  das  Volk  des  heiligen  Wortes  in  ein  Volk  der 
heiligen  Schrift    zu    verwandeln.     Es    war    ein    sehr    folgenreicher 


138  Neuntes  Kapitel. 

« 

Schritt,  indessen  traten  seine  AVirkungen  nicht  sofort  hervor.  Zu- 
nächst hatten  die  radikalen  praktischen  Maßregeln  größere  Bedeu- 
tung, wodurch  der  König  das  Gesetz,  so  viel  an  ihm  lag,  alsbald 
in  die  Wirklichkeit  übertrug. 

3.  Das  Deuteronomium  krönt  die  Arbeit  der  Propheten.  Sie 
schärften  beständig  ein,  daß  die  Gnade  Jahves  bedingt  sei  durch 
die  Erfüllung  seiner  Forderungen,  sie  hoben  die  Notwendigkeit 
einer  Bekehrung  des  Volkes  hervor,  aber  was  nun  eigentlich  ge- 
schehen sollte,  das  sagten  sie  nicht  bestimmt  genug.  Um  zur 
Richtschnur  dienen  zu  können,  mußte  der  Inhalt  der  Forderungen 
Jahves  zunächst  dargelegt  und  einigermaßen  greifbar  formulirt 
werden.  Der  erste  Schritt  dazu  geschah  im  Dekalog;  aber  hier 
blieben  die  Gebote  zu  individuell  und,  was  das  selbe  sagt,  zu  all- 
gemein, um  die  Grundlage  der  Reformation  eines  Volkes  abzu- 
geben. Der  zweite  und  erfolgreichere  Schritt  geschah  mit  dem 
Deuteronomium.  Das  Deuteronomium  gibt  sich  als  Supplement 
des  Dekaloges  und  ergänzt  denselben  in  der  Tat  durch  eine  wirk- 
liche Volksgesetzgebung,  welche  größtenteils  auf  einer  Modifizirung 
alter  Weistüm er  beruht^).  Es  war  das  erste  Gesetzes-  und  Bundes- 
buch, oder  vielmehr,  es  war  zu  seiner  Zeit  und  auf  lange  hinaus 
einfach  das  Buch  des  Bundes.  Deutlicher  als  irgendwo  zeigt  sich 
hier,  daß  Propheten  und  Gesetz  kein  Gegensatz,  sondern  identisch 
sind  und  im  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung  stehn. 

Die  Gesetzgebung  wird  im  Deuteronomium  eröffnet  durch  das 
Gebot,  die  sämtlichen  Kultusstätten  Jahves,  bis  auf  die  von  Jeru- 
salem, abzuschaffen.  Man  verzweifelte,  die  Bamoth  reinigen  zu 
können,  an  denen  der  kanaanitische  Ursprung  unausrottbar  haftete; 
es  war  genug,  wenn  das  beim  Tempel  Salomos  gelang,  einer  rein 
israelitischen  Stiftung,  wo  die  Bedingungen  weit  günstiger  lagen. 
Daneben  wirkten  wol  noch  andere  Rücksichten,  um  die  radikale 
Maßregel  zu  veranlassen.     Die  Beschränkung  des  Opferdienstes,  die 


0  Die  Söhne  sollen  nicht  mehr  in  die  Schuld  und  in  die  Strafe  des 
Vaters  verwickelt  werden.  Das  Weib  soll  nicht  mehr  vom  Vater  auf  den 
Sohn  übergehn.  Zins  wird  verboten,  das  Pfandrecht  gemildert.  Die  Besitz- 
losen, die  Aufenthalter  und  die  Sklaven  werden  billiger  Rücksicht  empfohlen. 
Aber  es  ist  nur  ein  juristischer  Grundsatz,  nichts  weiter,  daß  der  Sohn  nicht 
für  den  Vater  zu  büßen  hat.  Die  Eheverbote  beschränken  sich  auf  einen  Fall 
(über  Deut.  27  vgl.  die  Kompos.  des  Hexat.  1899  p.  362  s).  Es  ist  auffällig,  wie 
weit  schon  Ezechiel  in  diesen  Punkten  über  das  Deuteronomium  hinaus   geht. 


Die  prophetische  Reformation.  lo9 

Verminderung  der  religiösen  Bedeutung  des  Sclilachtens,  mußte 
auf  prophetischem  Standpunkte  an  sich  als  ein  Vorteil  gelten,  und 
aus  dem  Monotheismus  schien  die  Folge  zu  Hießen,  daß  der  eine  Gott 
auch  nur  an  einer  Stelle  auf  Erden  wohnen  und  angebetet  werden 
könne.  Daß  diese  eine  Stelle  dann  Jerusalem  sein  mußte,  verstand 
sich  von  selbst.  Der  Tempel  besaß  tatsächlich  das  Übergewicht 
über  die  Höhen;  er  verdiente  es  aber  auch,  weil  der  dortige 
Kultus  mehr  Bezug  auf  die  Nation  und  ihre  Geschichte  hatte,  echter 
israelitisch  und  nicht  so  naturalistisch  war,  wie  der  auf  den  Höhen, 
Im  Mittelpunkte  des  Reiches  trat  das  Verhältnis  Jahves  zu  Israel, 
das  historisch-politische  oder  das  theokratische  Moment,  mehr  in  den 
Vordergrund,  als  Ackerbau  und  Viehzucht.  Die  Zentralisation  des 
Kultus  leistete  seiner  Denaturirung  Vorschub,  insbesondere  bei  den 
Festen,  bei  denen  der  Naturdienst  noch  ziemlich  unverschleiert  war. 
Überall  scheint  der  Monotheismus  als  das  Motiv  der  Konzen- 
tration des  Kultus  im  Deutoronomium  durch,  der  Kultus  an  sich 
ist  durchaus  nicht  der  Zweck  der  Gesetzgebung.  Sie  beschäftigt 
sich  mit  demselben  auch  nur  exoterisch,  soweit  er  das  ganze  Volk 
angeht,  und  kümmert  sich  ebenso  sehr  um  die  übrigen  Gebiete 
des  Volkslebens.  Die  Sympathie  für  die  niederen  Stände  tritt  stark 
hervor  und  führt  zu  Bestimmungen,  welche  hart  an  Utopien  grenzen. 
Das  soziale  Interesse  wird  dem  Kultus  übergeordnet,  indem  den 
Opfern  und  Bräuchen,  so  weit  nur  immer  möglich,  humane  Zwecke 
beigelegt  werden,  die  ihnen  freilich  schon  von  Haus  aus  nicht  fern 
lagen.  Das  alles  sind  Zeichen  prophetischer  Gesinnung.  Nirgend 
klarer  als  in  den  Motiven  des  Deuteronomiums  findet  sich  der 
Grundgedanke  der  Prophetie  ausgesprochen,  daß  Jahve  nichts  für 
sich  haben  wolle,  sondern  als  Frömmigkeit  ansehe  und  verlange, 
daß  der  Mensch  dem  Menschen  leiste  was  recht  ist,  daß  sein  Wille 
nicht  in  unbekannter  Höhe  und  Ferne  liege,  sondern  in  der  Allen 
bekannten  und  verständlichen  sittlichen  Sphäre.  „Die  Forderungen, 
welche  ich  an  dich  stelle,  sind  nicht  unerreichbar  für  dich  und 
nicht  fernliegend;  nicht  im  Himmel,  so  daß  man  sagen  könnte: 
wer  kann  hinauf  in  den  Himmel  und  sie  herabholen  und  uns  mit- 
teilen, daß  wir  sie  erfüllen!  nicht  jenseit  des  Meeres,  so  daß  man 
sagen  könnte:  wer  kann  herüber  über  das  Meer  und  sie  holen  und 
uns  mitteilen,  daß  wir  sie  erfüllen!  —  sondern  sehr  nahe  liegt  dir 
die  Sache,  in  deinem  Munde  und  in  deinem  Herzen,  so  daß  du 
sie  tun  kannst." 


140  Zehntes  Kapitel. 

Aber  Erfolg  hatte  die  prophetische  Reformation  doch  wieder 
bloß  auf  dem  Gebiete  des  Kultus.  Dies  Gebiet  galt  doch  noch 
immer  als  das  eigentlich  religiöse,  und  nur  hier  stellte  das  Deute- 
ronomium  Forderungen,  die  neu  waren  und  Eindruck  machten. 
Die  sozialen  und  moralischen  Forderungen,  welche  dasselbe  mit 
nicht  minderem  Nachdruck  erhob,  waren  seit  lange  gepredigt  und 
eben  so  lange  überhört.  Sie  richteten  sich  zudem  besonders  an 
die  oberen  Stände,  und  diese  zur  Selbstverleugung  zu  zwingen 
war  nicht  so  leicht,  wie  das  Volk  zum  Verlassen  seiner  Altäre. 
Die  Zerstörung  der  Höhen  und  die  Vereinigung  der  Opfer  zu  Jeru- 
salem war  die  einschneidendste  und  doch  die  ausführbarste  Maß- 
regel in  dem  Programm  des  Deuteronomiums.  Das  Resultat,  worauf 
die  prophetische  Bewegung  hinauslief,  entsprach  somit  ihren  ur- 
sprünglichen Intentionen  nicht  vollständig.  Der  Dienst  Jahves 
wurde  auf  Jerusalem  beschränkt  und  überall  sonst  abgestellt  — 
das  war  die  populäre  und  praktische  Form  des  prophetischen  Mo- 
notheismus. Die  Bedeutung  des  Tempels  und  des  Tempelkultus 
wurde  dadurch  aufs  höchste  gesteigert,  und  den  Vorteil  davon 
hatten  die  jerusalemischen  Priester,  die  Bne  Sadok.  Der  deutero- 
nomische  Gesetzgeber  hatte  zwar  durchaus  nicht  ihr  Interesse  im 
Auge,  er  verordnete  ausdrücklich,  daß  die  provinzialen  Priester 
nicht  mit  den  provinzialen  Altären  fallen,  sondern  künftig  das 
Recht  haben  sollten,  in  Jerusalem  zu  opfern  so  gut  wie  ihre  dort 
erbgesessenen  Brüder.  Aber  das  wurde  nicht  durchgesetzt;  die 
Zentralisirung  des  Kultus  erwies  sich  als  kräftigster  Hebel  der 
Hierokratie. 


Zehntes  Kapitel. 

Jeremias  und  die  Zerstörung  Jerusalems. 

L.Noch  dreizehn  Jahre  überlebte  Josias  sein  großes  Werk. 
Es  war  eine  glückliche  Zeit  äußeren  und  inneren  Wolbehagens. 
Man  hatte  den  Bund  und  man  glaubte  ihn  zu  halten.  Erreicht 
schienen  die  Bedingungen,  von  denen  die  Propheten  das  Fort- 
bestehn  der  Theokratie  abhängig  gemacht  hatten;  waren  ihre 
Drohungen  an  Israel  in  Erfüllung  gegangen,  so  war  nun  Juda  Erbe 


Jeremias  und  die  Zerstörung  Jerusalems.  141 

ihrer  Verlieißiingen.  Schon  im  Deuteronomium  wird  die  „Erweite- 
rung der  Grenzen"  in  Aussicht  genommen,  und  Josias  legte  Hand 
an,  um  zu  diesem  Ziele  zu  gelangen.  Religion  und  Patriotismus 
schienen  nun  endlich  mit  Recht  Hand  in  Hand  gehn  zu  dürfen. 
Nur  Jeremias  ließ  sich  von  der  allgemeinen  Stimmung  nicht  an- 
stecken. An  der  Einführung  des  Deuteronomiums  hatte  er  mit- 
gewirkt, zeitlebens  eiferte  er  gegen  die  illegitimen  Altäre  in  den 
Städten  Judas  und  gegen  die  Anbetung  der  heiligen  Bäume  und 
Steine.  Aber  mit  den  Wirkungen  der  Reformation  war  er  keines- 
wegs zufrieden,  nichts  schien  ihm  gefährlicher,  als  das  Vertrauen, 
Avelches  sie  erzeugt  hatte,  auf  den  Besitz  des  Gesetzes  Jahves  und 
seines  einzig  wahren  Tempels.  Dies  Vertrauen,  sagte  er,  sei  ein 
Wahn,  die  innere  Sachlage  habe  sich  nicht  verändert.  Im  Gegen- 
satz zu  Jesaias  hob  er  geflissentlich  hervor,  Juda  sei  um  kein  Haar 
besser  als  Israel.  Die  erfolgte  Bekehrung  sei  nur  äußerliches 
Scheinwerk  geblieben,  ein  Säen  unter  die  Dornen,  kein  tiefes  Um- 
pflügen des  verrotteten  Ackers. 

König  Josias  fiel  in  der  Schlacht  von  Megiddo  (G08)  gegen 
Pharao  Necho  ^).  Der  Pharao  scheint  ausgezogen  zu  sein,  um  sich 
seinen  Teil  an  der  Erbschaft  Nineves  vorwegzunehmen,  während 
die  Meder  und  Chaldäer  die  Stadt  belagerten.  Josias  aber  ge- 
dachte nicht,  die  lang  entbehrte  Unabhängigkeit,  die  ihm  durch 
den  Niedergang  der  assyrischen  Macht  in  den  Schoß  gefallen  Avar, 
dem  Ägypter  zu  opfern.  Er  ergriff"  sogar  die  Offensive  und  stellte 
sich  ihm  auf  offenem  Felde  entgegen,  weit  außerhalb  der  alten 
Grenzen  seines  Landes.  Der  unglückliche  Ausgang  der  Schlacht 
bereitete  den  Hoffnungen  und  dem  Glücke  Judas  ein  unvermutetes 
Ende.  In  der  Angst  vor  dem  Anrücken  der  Feinde  strömte  das 
Volk  zu  einem  Fasttage  in  den  Tempel,  um  sich  an  Jahve  und  an 
seine  heilige  Wohnuna;  anzuklammern.     Diese  Gelegenheit  benutzte 


')  Die  Ägypter  kamen  zu  Land,  nur  dann  erklärt  sich  die  Eroberung  von 
Kadytis  d.  i.,  wie  zuerst  Hitzig  erkannt  liat,  Gaza  (llerod.  2,  1,59.  Hier.  47,  1). 
Die  Schlacht  von  Magdolos  (Pelusium)  gegen  die  Syrer,  die  Herodot  erwähnt 
und  vor  die  Einnahme  von  Gaza  setzt,  ist  wol  eine  von  ihm  selber  oder  seinen 
Gewährsmännern  begangene  Verwechslung  mit  der  Schlacht  von  Megiddo  — 
welche  Syrer  sollten  damals  einen  Angriff  auf  Ägy])ten  gemacht  haben?  Auch 
Mende  für  Megiddo,  bei  Josephus  Ant.  10, 75,  muß  ein  Versehen  sein.  Daß 
Kineve  noch  stand,  als  der  Pharao  auszog,  ergiebt  sich  u.  a.  aus  2  Reg.  23,29; 
„wider  den  König  vou  Assur". 


142  Zehntes  Kapitel. 

Jeremias,  um  wirksam  seine  Meinung  zu  äußern.  „Verlaßt  euch 
nicht  auf  Aberghauben,  zu  sagen:  dies  ist  der  Tempel  Jahves,  der 
Tempel  Jahves,  der  Tempel  Jahves.  Ihr  stehlt,  mordet,  hurt,  schwürt 
Meineide,  und  räuchert  fremden  Göttern,  und  dann  kommt  ihr  her 
und  tretet  vor  mich  in  diesem  Hause,  das  nach  meinem  Namen 
genannt  ist,  und  sagt:  hier  sind  wir  sicher!  etwa  um  all  diese 
Greuel  auszuüben?  Ist  dies  Haus,  das  nach  mir  benannt  ist,  eine 
Räuberhöhle  geworden?  ich  habe  auch  Augen,  spricht  Jahve.  Geht 
nur  hin  zu  meiner  Stätte  in  Silo,  wo  ich  anfangs  meinem  Namen 
Wohnung  gab,  und  seht,  was  ich  der  getan  habe,  wegen  der  Bos- 
heit meines  Volkes  Israel.  Nun  also,  weil  ihr  diese  Dinge  übt  und 
trotz  meinem  eifrigen,  rechtzeitigen  Reden  nicht  hört  und  trotz 
meinem  Rufen  nicht  antwortet,  so  tue  ich  dem  nach  mir  genannten 
Hause,  worauf  ihr  euch  trügt,  und  der  Stätte,  die  ich  euch  und 
euren  Vätern  gegeben  habe,  wie  ich  Silo  getan  habe,  und  werfe 
euch  hinaus  von  mir,  wie  ich  eure  Brüder,  die  Ephraimiten,  hin- 
ausgeworfen habe."  Für  solche  Lästerungen  gegen  den  Glauben 
der  Menge  hätte  er,  auf  die  Anklage  der  Priester  und  Propheten, 
fast  mit  dem  Tode  büßen  müssen;  aber  er  ließ  sich  nicht  irre 
machen.  Auch  als  die  Zeiten  wieder  ruhig  wurden,  hielt  er  fest 
an  seiner  Unheilsverkündigung,  unter  Lebensgefahr,  unter  allge- 
meinem Spott  und  Gelächter.  Momente  der  Verzweiflung  kamen 
über  ihn;  daß  er  aber  den  Wert  der  großen  Bekehrung  des  Volkes 
richtig  geschätzt  hatte,  bestätigten  schon  jetzt  die  Tatsachen.  Ob- 
wol  unter  Jojakim,  der  als  ägyptischer  Vasall  die  Nachfolge  seines 
Vaters  Josias  erhielt,  das  Deuteronomium  nicht  formell  abgeschafft 
wurde,  so  fand  es  doch  tatsächlich  keine  Nachachtung  mehr,  zu- 
mal da  ja  die  Schlacht  von  Megiddo  gelehrt  hatte,  daß  man,  trotz 
dem  Bunde,  mit  Jahve  nicht  besser  daran  war  als  vordem.  Joja- 
kim lenkte  wieder  ein  in  die  Bahnen  Manasses,  nicht  bloß  hinsicht- 
lich seiner  Vorliebe  für  die  Superstition,  sondern  auch  hinsichtlich 
der  Nichtachtung  von  Leben  und  Eigentum  seiner  Untertanen. 
(Hier.  22,15—17). 

Endlich  führten  die  Ereignisse  auch  den  äußeren  Sturz  der 
Theokratie  herbei,  auf  den  Jeremias  lange  vergebens  gewartet  hatte. 
Nachdem  die  Ägypter  in  mehrjährigen  Kämpfen  sich  Syrien  unter- 
worfen hatten,  trat  ihnen,  wie  es  scheint  nach  dem  Falle  Nineves, 
Nabukodrossor  von  Babylon  entgegen  und  schlug  sie  am  oberen 
Euphrat  bei  Karchemis   (604).     Die  Judäer  frohlockten  über  den 


Jeremias  und  die  Zerstörung  Jerusalems.  143 

Fall  Nineves,  sie  frohlockten  auch  über  die  Niederlage  der  Ägypter; 
aber  das  bittere  Ende  kam  nach,  als  die  Sache  für  sie  auf  die  Aus- 
sicht hinauslief,  für  das  ägyptische  Joch  das  chaldäische  einzu- 
tauschen'). Von  der  Macht  der  Chaldäer  hatte  man  nichts  geahnt^), 
und  nun  waren  plötzlich  die  Assyrer  in  ihnen  neu  aufgelebt.  Nur 
Jeremias  hatte  Anlaß,  den  Kopf  höher  zu  heben.  Sein  alter  viel 
bespöttelter  Feind  aus  Norden,  mit  dem  er  seit  Anfang  seines  Auf- 
tretens gedroht  hatte,  kam  jetzt  endlich  zu  Ehren,  wenn  er  auch 
nicht  den  Namen  der  Scythen,  sondern  der  Babylonier  führte.  Es 
war  eine  Epoche,  ein  Abschluß  der  Rechnung:  für  ihn  stimmte  sie. 
Darum  erhielt  er  gerade  jetzt  den  göttlichen  Auftrag,  aufzuschreiben 
was  er  seit  dreiundzwanzig  Jahren  verkündet  hatte,  was  immer 
für  unmöglich  gehalten  und  nun  so  nahe  gerückt  war. 

In  Folge  des  Sieges  bei  Karchemis  verdrängten  die  Chaldäer 
den  Pharao  aus  Syrien,  und  auch  Jojakim  mußte  sich  ihnen  unter- 
werfen (=t  602).  Drei  Jahre  bezahlte  er  seinen  Tribut,  dann  hielt 
er  ihn  zurück:  ein  durch  religiösen  Fanatismus  entflammtes  Frei- 
heitsfieber durchglühte  mit  unheimlicher  Gewalt  die  leitenden  Kreise, 
die  Großen,  die  Priester  und  Propheten,  und  erfaßte  auch  den 
König.  Nabukodrossor  begnügte  sich  zunächst,  das  abtrünnige 
Land  durch  Einfälle  chaldäischer  Streifscharen  zu  strafen,  denen 
sich  die  feindlichen  Nachbaren  mit  Vergnügen  anschlössen.  Erst 
im  Jahre  597  erschien  ein  größeres  Heer  der  Chaldäer  vor  Jerusalem, 
bei  welchem  bald  auch  Nabukodrossor  in  Person  eintraf.  Die  Stadt 
mußte  sich  ergeben,  der  jugendliche  König  Jechonia,  der  Sohn  des 
inzwischen  verstorbeneu  Jojakim,  wurde  gefangen  und  mußte  die 
Schuld  seines  Täters  im  Kerker  zu  Babel  büßen,  in  dem  er  bis 
zum  Tode  Nabukodrossors  verblieb.  Mit  ihm  wurden  zehntausend 
Jerusalemer  fortgeschleppt  und  in  Babylonien  angesiedelt,  lauter 
vornehme  und  wolhabende  oder  kunstfertige  Männer,  die  Blüte  und 


')  Nabnm  1  —  3.  Hier.  46.  Dagegen  gehört  Ilabaliuk  in  eine  spätere  Zeit. 
Daß  Hier.  46  nicht  von  Jeremias  stammt,  ist  klar.  Sein  Buch  schließt  mit 
Kap.  45;  das  Folgende  ist  ein  Anhang  und  besteht  aus  Stücken  verschiedenen 
Alters  und  verschiedener  Herkunft.  Ygl.  Josephus  Ant.  10,  219ss.  und  contra 
Ap.  1,  135ss. 

^)  Nach  Gen.  22,  22  scheinen  die  Chaldäer  Aramäer  zu  sein,  die  in  Baby- 
lonien eingedrungen  sind;  die  Stellen  Hierem.  35,  11.  2  Reg.  24,  2  sprechen 
schwerlich  dagegen.  Die  babylonischen  Chaldäer  werden  im  A.  T.  nicht  friili 
erwähnt,  sondern  zuerst  bei  Jeremias,  Ezechiel  und  Habakuk. 


144  Zehntes  Kapitel. 

der  Kern  der  Bevölkerung.  Zum  Könige  über  den  Rest  wurde 
Sedekia  ben  Josia  gemacht. 

2.  Es  war  ein  gehöriger  Aderhiß.  Aber  das  Fieber  wurde  da- 
durch nicht  unterdrückt.  Das  Haus  Jahves  stand  ja  noch  und  er 
wohnte  darin.  Die  Verbannten  zweifelten  nicht,  daß  er  in  kurzer 
Zeit  die  Herrschaft  der  Heiden  stürzen  und  sie  heimführen  w^erde, 
sie  schürten  das  Feuer  in  Jerusalem.  Ezechiel,  der  sich  unter  ihnen 
befand,  konnte  kein  vernünftiges  Wort  mit  ihnen  reden,  bis  sie 
durch  die  Zerstörung  Jerusalems  betäubt  und  ernüchtert  wurden. 
Und  die  Zurückgebliebenen  waren  ähnlich  gestimmt.  Sie  legten 
sich  alles  zum  besten  zurecht,  betrachteten  die  Verbannten  als  die 
verwehte  Spreu  und  hielten  sich  für  den  gesichteten  Weizen '). 
Schon  in  den  ersten  Jahren  Sedekias  war  ein  Aufstand  gegen  die 
Chaldäer  im  Werke,  Gesandte  von  Edom  Moab  und  Tyrus  kamen 
nach  Jerusalem  um  ihn  zu  betreiben.  Als  Bescheid  von  seiner 
Seite  gab  ihnen  Jeremias  Stricke  und  Joche  an  ihre  Auftraggeber 
mit,  er  selber  erschien  im  Tempel  mit  einem  hölzernen  Joch  um 
den  Hals.  Die  öffentliche  Meinung  war  zwar  wol  auf  der  Seite 
des  Propheten  Hanau ia,  welcher  weissagte,  daß  die  chaldäische 
Herrschaft  binnen  zwei  Jahren  zu  Fall  kommen  werde,  und  des 
zum  Zeichen  das  Joch  am  Nacken  Jeremias  zerbrach.  Aber  an 
leitender  Stelle  drang  diesmal  doch  die  Vernunft  durch,  der  Auf- 
stand kam  nicht  zum  Ausbruch.  Sedekia  reiste  selber  nach  Babel, 
vielleicht  um  sich  zu  entschuldigen  und  um  gut  ^\'etter  zu  bitten. 

Als  sich  jedoch  im  Jahre  588  eine  bestimmte  Aussicht  auf  die 
Hilfe  des  Pharao  Hophra  (Apries)  zeigte,  war  der  Freiheitsdrang 
nicht  mehr  zu  bändigen.  Der  Abfall  wurde  erklärt  —  binnen 
kurzem  (Januar  587)  lag  ein  chaldäisches  Heer  vor  Jerusalem.  Einen 
Augenblick  schien  sich  alles  zum  besten  zu  wenden;  die  Ägypter 
kamen  zum  Entsatz  heran,  und  die  Chaldäer  mußten  die  Belagerung 
aufgeben,  um  ihnen  entgegen  zu  ziehen.  Darüber  herrschte  in  Jeru- 
salem große  Freude;  sie  fand  darin  einen  bezeichnenden  Ausdruck, 
daß  man  die  hebräischen  Slaven  wieder  einfing  und  knechtete,  die 
man  kurz   vorher  in   der  Angst   freigegeben  hatte,   um  durch  Er- 


^)  Jeremias  (Kap.  24)  und  Ezechiel  (14,  21  —  23)  protestiren  dagegen  und 
behaupten  umgekehrt,  die  Deportirten  seien  die  Guten,  die  Zurückgebliebenen 
die  Schlechten;  insofern  ohne  Zweifel  mit  Recht,  als  jene  die  Elite  der  Be- 
völkerung waren.  Übiigens  gab  es  in  Jerusalem  nach  597  auch  manche,  die  an 
Jahve  verzweifelten  und  nichts  mehr  von  ihm  wissen  wollten  (Ezech.  8,  12.  9,  9). 


Jeremias  und  die  Zerstörimg  Jerusalems.  145 

füllung  des  deuteronomischeii  Gebotes  Jahve  gnädig  zu  stimmen. 
Nur  Jeremias  beharrte  bei  seiner  Schwarzseherei;  selbst  wenn  das 
ganze  Heer  der  Chaldäer  aufgerieben  würde  und  nur  einige  Ver- 
wundete übrig  blieben,  so  würden  diese  genügen,  Jerusalem  einzu- 
nehmen und  in  Brand  zu  stecken.  Er  behielt  Recht,  die  Ägypter 
zogen  sich  zurück,  die  Belagerung  begann  von  vorne.  Jerusalem 
war  zum  wahnsinnigen  Widerstände  entschlossen;  vergebens  suchte 
Jeremias,  unter  steter  Gefahr  seines  Lebens,  noch  jetzt  zur  Kapi- 
tulation zu  ermahnen.  Der  König,  der  ihm  Recht  gab  und  ihn 
schützte,  so  viel  er  konnte,  wagte  doch  nicht  seine  Meinung  gegen 
den  patriotischen  Terrorismus  geltend  zu  machen.  Endlich  im 
Juli  586  drangen  die  Chaldäer  ein,  nachdem  der  Hunger  ihnen  vor- 
gearbeitet hatte.  Der  König  floh  durch  einen  Ausgang  der  Süd- 
mauer'), wurde  aber  eingeholt  und  mit  anderen  vornehmen  Ge- 
fangenen nach  Ribla  im  Lande  Hamath  geführt,  wo  Nabukodrossor, 
der  sich  dort  aufhielt,  streng  mit  ihnen  zu  Gerichte  ging.  Die  meu- 
terische Stadt  wurde  zerstört,  die  Mauer  niedergerissen,  der  Tempel 
eingeäschert;  dabei  leisteten  die  Edomiten  den  Chaldäern  beflissene 
Hilfe.  Von  der  Bevölkerung,  diesmal  nicht  bloß  der  Stadt,  sondern 
auch  des  Landes,  wurde  zum  zweiten  mal  ein  erheblicher  Teil  nach 
Babylonien  verpflanzt"). 

Nicht  lange  vor  der  Eroberung  der  Stadt  hatte  Jeremias  von 
einem  Verwandten  einen  Acker  zum  Kauf  angeboten  erhalten; 
einigermaßen  überrascht  ging  er  am  Ende  doch  auf  den  unzeit- 
gemäßen Handel  ein,  denn  er  merkte,  daß  es  das  Wort  Jahves 
sei,  welcher  dadurch  eine  Zukunft  vorbilde,  wo  der  gegenwärtig 
wertlose  Besitz  wieder  Wert  haben  solle.  Auf  den  Trümmern  des 
Tempels  weinte  er  nicht,  sondern  blickte  freudiger  Hoftnung  voll 
in  die  Zukunft.  Schon  früher  hatte  er  der  Verbannung  Israels  und 
Judas  eine  Frist  von  einigen  Jahrzehnden  gesetzt,  dann  solle  die 
chaldäische  Tyrannei  ein  Ende  nehmen  und  die  in  Knechtschaft  ge- 
führten Völker  wieder  Herren  in  ihrem  Hause  werden.  Jetzt  sah 
er  im  Geist  die  Zeit,  wo  seine  verwüstete  Heimat  von  fröhlichem 
Volke,   von    weidenden  Herden,    von  grünen  Bäumen   und  Saaten 


1)  So  nach  2  Reg.  25,4.  Aber  nach  Ezech.  12,4.12,  wie  es  scheint, 
durch  eine  Bresche. 

-)  Nach  Hier.  52,  28.  29  wurden  während  der  Belagerung  3023  Judäer  und 
nach  dem  Fall  823  Jerusalemer  weggeführt;  die  Zahlen  sind  unglaublich  niedrig. 
We  1 1  li  a  u  s  e  n ,  Isr.  Gescliichtc'.    ö.  Aufl.  10 


X46  Zehntes  Kapitel. 

wieder  bedeckt  war,  wo  Jalive  die  Schuld  vergeben  uud  das  ab- 
gebrochene Verhältnis  erneut  hatte. 

Noch  immer  blieben  nicht  wenige  Juden  in  Palästina  zurück, 
sie  gehörten  allerdings  meist  dem  niederen  Stande  oder  der  Land- 
bevölkerung an.  An  ihre  Spitze  setzte  der  König  von  Babel  einen 
einheimischen  Statthalter  in  der  Person  des  Gedalia  ben  Ahikam, 
eines  Gönners  Jeremias,  der  vielleicht  eben  deshalb  für  chaldäisch 
gesinnt  galt.  Er  nahm  seinen  Wohnsitz  zu  Mispha,  nicht  weit  von 
Jerusalem;  dorthin  sammelten  sich  zu  ihm  von  allen  Seiten  die 
Versprengten.  Auch  Jeremias  begab  sich  dorthin,  die  Chaldäer  er- 
wiesen ihm  große  Rücksicht  und  gestatteten  ihm  die  freie  Wahl 
seines  Aufenthalts.  Man  hoffte,  daß  Mispha  einen  Mittelpunkt  ab- 
geben würde  für  eine  Fortsetzung  und  Neubildung  der  Theokratie 
auf  dem  alten  heiligen  Boden  ^).  Aber  diese  Hoffnung,  die  wol 
auch  Jeremias  teilte,  erfüllte  sich  nicht.  Ein  Hauptmann  davidi- 
schen Geschlechts,  der  den  ungewöhnlichen  Namen  Ismael  trug, 
ermordete  meuchlings  den  Gedalia,  weil  derselbe  das  Haus  Davids 
von  der  Herrschaft  zu  verdrängen  drohte;  er  war  dazu  angestiftet 
von  dem  Ammoniterköuige  Baalis,  der  ein  mögliches  Wiederer- 
starken Judas  gefürchtet  zu  haben  scheint^).  Das  war  ein  schlimmer 
Schlag,  er  wurde  noch  verschlimmert  durch  die  iVrt  und  Weise, 
wie  sich  die  Juden  dabei  benahmen.  Ihr  Verhalten  brachte  dem 
alten  Jeremias  die  schwerste  Enttäuschung  seines  Lebens,  die  defi- 
nitive Bestätigung  seiner  früheren  reichen  Erfahrung  von  der  Ver- 
geblichkeit seines  Wirkens,  nachdem  er  eine  Zeit  lang  Mut  und 
Hoffnung  gehegt  hatte. 

In  der  Furcht,  daß  die  Chaldäer  die  Ermordung  ihres  Statt- 
halters auch  an  den  Unschuldigen  rächen  würden,  beschloß  die 
Kolonie  von  Mispha  nach  Ägypten  auszuwandern,  wohin  schon  seit 
der  ersten  Eroberung  Jerusalems  manche  Juden  geflüchtet  waren  ^). 
Vorher  wurde  Jeremias  befragt,  nach  zehntägigem  Warten  erhielt 
er  Bescheid  von  Jahve  und  widerriet  den  Zug,  da  man  in  Ägypten 
erst  recht  den  Chaldäern  in  die  Hände  fallen  werde.  Es  half  aber 
nicht,  man  sagte  ihm,  er  hole  sich  die  Parole  von  seinem  Schreiber 


')  Ezech.  33,23—29. 

2)  Kuenen  (Gottesdienst  IL  p.  85)  hält  es  für  möglich,  daß  mit  diesem 
Ereignis  die  Deportation  vom  Jahre  581  in  Verbindung  steht,  von  der  Hier.  52,  30 
die  Rede  ist. 

3)  Hier.  24,  8. 


Jeremicas  und  die  Zerstörung  Jerusalems.  147 

Baruch,  der  einzigen  treuen  Seele,  die  er  hatte.  Er  mußte  mit 
auswandern.  Das  Letzte,  was  wir  von  ihm  hören,  ist,  daß  ihm 
in  Ägypten  von  den  jüdischen  Weibern  der  Mund  gestopft  wurde. 
Als  er  sie  schalt,  daß  sie  noch  immer  nicht  vom  Dienst  der  Königin 
des  Himmels  abließen  und  aus  solcher  Halsstarrigkeit  alles  Un- 
glück herleitete,  wurde  ihm  entgegengehalten,  daß  das  Unglück 
umgekehrt  erst  eingetreten  sei,  seit  man  versäumt  habe,  der  Königin 
des  Himmels  zu  räuchern  und  zu  spenden.  Er  konnte  gegen  diese 
Betrachtungsweise  nicht  aufkommen.  Die  Propheten  betrachten  die 
Wahrheit  immer  als  das,  was  da  war  im  Anfang,  und  den  Irrtum 
als  Abfall  von  der  Wahrheit;  sie  tun  so  als  seien  sie  das  böse 
Gewissen  des  Volkes  und  als  argumentiren  sie  von  Zugestandenem 
aus.  Zur  Korrektur  dafür  dient  die  Unbefangenheit,  mit  der  hier 
einmal  eine  andere  Ansicht  vertreten  wird.  Praktisch  hatte  natür- 
lich Jeremias  auch  in  diesem  Falle  Recht.  Die  also  heidnisch  ge- 
sonnenen Juden  verloren  sich  im  ägyptischen  Heidentum,  und  es 
kam  wahrscheinlich  bald  dahin,  wie  er  wenngleich  in  etwas  anderem 
Sinne  gedroht  hatte,  daß  Jahves  Name  in  ganz  Ägyptenland  nicht 
mehr  genannt  wurde  von  eines  einzigen  Menschen  Mund,  der  da 
sagte:  so  wahr  der  Herr  Jahve  lebt! 

3.  Wie  sich  die  Situation  des  untergehenden  Samariens  für 
das  untergehende  Juda  wiederholte,  so  wiederholte  sich  auch  die 
der  Situation  entsprechende  Prophetie.  In  Jeremias  lebten  Amos 
und  Hosea  wieder  auf,  nur  vereinigte  er  die  Eigenschaften,  durch 
die  sich  jene  unterschieden.  Rücksichtslos  zerschlug  er  die  Hlu- 
sionen  des  populären  Glaubens,  mit  zornigem  Hohne  entlarvte  er 
die  auf  Bestellung  gelieferten,  fremden  Mustern  abgestohlenen  Heil- 
weissagungen seiner  prophetischen  Standesgenossen.  Den  Gegensatz 
gegen  sie  trieb  er  so  weit,  daß  er  die  Regel  aufstellte,  die  wahren 
Propheten  seien  von  jeher  immer  nur  Unglückspropheten  gewesen; 
im  Kampfe  gegen  den  patriotischen  Fanatismus  scheute  er  sich 
nicht,  den  Schein  des  Landesverrats  auf  sich  zu  nehmen.  So  eisen- 
hart er  aber  den  Königen  und  Großen,  den  Priestern  und  Pro- 
pheten und  der  Menge  im  Namen  Jahves  Trotz  bot,  so  tief  und 
warm  empfand  er  doch  mit  seinem  Volke.  Das  Herz  blutete  ihm, 
wenn  er  der  beweglich  um  Regen  flehenden  Gemeinde  im  Namen 
Jahves  die  Tür  weisen  und  weit  Schlimmeres  als  Dürre  androhen 
mußte;  es  brach  ihm  fast  bei  dem  Anblick  der  ihm  immer  vor 
den  Augen  stehenden  Einöde,  in  die  das  blühende  Land  bald  ver- 

10* 


148  Zehntes  Kapitel. 

wandelt  werden  sollte:  über  die  kein  Vogel  flog,  die  kein  Geräusch 
der  Mühle  bei  Tage  und  kein  Schimmer  eines  Lichtes  in  der  Nacht 
belebte.  Er  litt  bis  zur  Verzweiflung  unter  der  nicht  bloß  geistigen 
Vereinsamung,  welche  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  für  ihn  zum 
Gefolge  hatte;  er  fluchte  seiner  Geburt,  weil  ihn  die  Gemeinschaft 
mit  Jahve  von  jeder  anderen  Gemeinschaft  ausschloß.  Sein  inneres 
Leben  war  ein  steter  Seelenkampf,  eine  stetige  Überwindung  seines 
Selbst,  seiner  menschlichen  Wünsche  und  Sympathien,  durch  Jahve. 
Gern  hätte  er  ihm  zu  Zeiten  seinen  Beruf  vor  die  Füße  geworfen, 
aber  immer  ließ  er  sich  wieder  von  unwiderstehlichem  Drange 
verlocken:  wenn  Jahves  Worte  sich  fanden,  so  verschlang  er  sie 
und  sie  schienen  ihm  Freude  und  Wonne  des  Herzens. 

Ehedem  war  die  Nation  das  realisirte  Ideal  gewesen,  jetzt 
zerfiel  Jahve  mit  Israel.  Die  Propheten  setzten  der  Nation  das 
Ideal  entgegen.  Überzeugt  davon,  daß  sie  nicht  als  Menschen,  sondern 
als  Organe  der  Gottheit  redeten,  stabilirten  sie  ihre  individuelle 
Autorität  gegenüber  der  überlieferten  und  hergebrachten,  und  ver- 
langten gebieterisch,  daß  mau  sich  ihren  Forderungen  fügen  solle. 
Sie  wendeten  sich  dabei  an  das  ganze  Volk  und  erstrebten  durch 
ihre  Wirksamkeit  eine  allgemeine  Bekehrung  desselben;  Israel  blieb 
auch  ihnen  das  Korrelat  zu  Jahve,  freilich  nicht  Israel  wie  es  war, 
sondern  Israel  wie  es  sein  sollte.  Aber  diese  allgemeine  Umge- 
staltung eines  Volkes  auf  grund  einer  Idee  oder  eines  Gesetzes 
gelang  nicht,  wenigstens  nicht  den  Propheten;  erst  als  ihre  Stimme 
längst  verstummt  war,  kam  sie  halbwegs  zu  stände,  unter  der 
Beihilfe  erschütternder  Ereignisse  und  unter  dem  Druck  der  per- 
sischen Oberherrschaft ').  Die  Propheten  predigten  zu  ihrer  Zeit 
tauben  Ohren  und  sahen  keinen  Erfolg  ihres  Wirkens.  Es  war 
ihnen  auch  schwierig,  namentlich  nach  der  Reformation  Josias, 
dem  fragenden,  hadernden  Volk  den  Grund  anzugeben,  warum  trotz 
allem  der  Untergang  unabwendlich  sei.  Die  Katastrophe  war  ihnen 
an  sich  gewiß,  die  nötige  Sünde  mußten  sie  suchen  und  griften 
dabei  gewöhnlich  in  die  Vergangenheit  zurück,  sie  borgten  sie  bei 
den  Vätern. 

Am  meisten  litt  darunter  der  letzte  und  in  mancher  Hinsicht 
größte  Prophet,  Jeremias.     Je  mehr  er  rief,  desto  weiter  liefen  sie 


')  Quae  gens  observavit  mandata  tua?    ITomiues  quidem  per  uomiua  in- 
venies  servasse  mandata  tua,  gentes  autem  non  invenies-     4  Esdr.  3,  36. 


Jeremias  und  die  Zerstörung  Jerusalems.  149 

weg;  sie  wollten,  sie  konnten  sich  nicht  bekehren.  Sein  Bemühen, 
die  Kluft  zwischen  Jahve  und  dem  Volke  auszufüllen,  brachte  nur 
einen  tiefen  Riß  zwischen  ihm  selber  und  dem  Volke  hervor. 
Seine  Arbeit  an  dem  Volke  war  vergeblich.  Aber  nicht  vergeblich 
war  sie  für  ihn  selber.  Durch  den  Miserfolg  seiner  Prophetie 
wurde  er  über  die  Prophetie  hinausgeführt.  Mochte  der  Inhalt  der 
Worte  Jahves,  die  er  zu  verkündigen  hatte,  ihm  Hohn  und  Ver- 
folgung zuziehen  —  die  Tatsache,  daß  Jahve  zu  ihm  sprach,  hielt 
ihn  aufrecht  und  erquickte  ihn.  Daß  er  um  seinetwegen  litt,  war 
ihm  Trost;  von  den  Menschen  abgewiesen,  flüchtete  er  sich  zurück 
zu  ihm,  der  ihn  zu  seinem  Boten  erwählt  und  dadurch  den  Zugang 
zu  sich  eröffnet  hatte.  Seine  verschmähte  Prophetie  ward  ihm  die 
Brücke  zu  einem  inneren  Verkehr  mit  der  Gottheit;  aus  seinem 
Mittlertum  zwischen  Jahve  und  Israel  entstand,  da  Israel  davon 
nichts  wissen  wollte,  ein  religiöses  Privatverhältnis  zwischen  seiner 
Person  und  Jahve,  das  nicht  auf  enthusiastische  Augenblicke  be- 
schränkt blieb,  in  dem  nicht  bloß  Jahve  sich  durch  ihn  dem  Volke 
offenbarte,  in  dem  er  vielmehr  selber,  in  all  seiner  Menschlichkeit, 
sich  vor  Jahve  ausschüttete.  Diese  Zwiesprache,  in  der  sich  seine 
Seele  löste,  ward  sein  menschliches  Bedürfnis,  das  Brot,  von  dem 
er  zehrte.  Unter  Schmerzen  imd  Wehen  entstand  in  ihm  die  Ge- 
wißheit seiner  persönlichen  Gemeinschaft  mit  der  Gottheit,  das 
tiefste  Wesen  der  Frömmigkeit  wurde  bei  ihm  entbunden.  Das 
bewegte  Leben  mit  Gott,  welches  er  lebte,  machte  er  nun  freilich 
nicht  zum  Gegenstande  seiner  Lehre;  er  verkündete  nur  schroff"  und 
drohend,  wie  die  übrigen  Propheten,  das  göttliche  Gesetz.  Aber 
als  ob  er  doch  die  Bedeutung  der  Vorgänge  in  seinem  Innern 
geahnt  hätte,  zeichnete  er  einzelnes  davon  auf.  Sein  Buch  enthält 
nicht  bloß  seine  Reden  und  "Weissagungen,  sondern  mitunter  auch 
Konfessionen  über  seine  Leiden  und  Anfechtungen  und  über  seine 
verzweifelten  Kämpfe,  in  denen  er  sich  zwar  keineswegs  zur  Ruhe 
und  Seligkeit  durchrang,  wol  aber  zum  Bewußtsein  des  Sieges  in 
der  Niederlage.  Daran  hat  die  Folgezeit  sich  erbaut.  Seine  Er- 
fahrung zeugte  fort  und  wiederholte  sich  in  den  Erfahrungen  der 
Frommen  nach  ihm.  Was  ihn  bewegte  und  was  ihn  hielt,  hat 
auch  die  edelsten  Geister  des  Judentums  bewegt  und  gehalten:  das 
Leiden  des  Gerechten,  das  Wirken  der  Kraft  Gottes  in  den  Ge- 
beugten und  Verachteten.  Er  ist  der  Vater  des  wahren  Gebets, 
in  dem  die  arme  Seele  zugleich  ihr  untermenschliches  Elend  und 


150  Elftes  Kapitel. 

ihre  übermenschliche  Zuversicht  ausdrückt,  ihr  Zagen  und  Zweifeln 
und  ihr  unerschütterliches  Vertrauen.  Die  Psalmen  wären  ohne 
Jeremias  nicht  gedichtet.  An  seine  Sprache  lehnte  sich  die  Sprache 
der  Frömmigkeit  an,  und  einige  Gleichnisse  der  geistigen  Poesie 
wurden  aus  den  Schicksalen  seines  Lebens  gewählt.  So  löste  sich 
aus  der  Prophetie  nicht  bloß  das  Gesetz  aus,  sondern  zum  Schluß 
auch  noch  die  individuelle  Religiosität. 


Elftes  Kapitel. 

Die  Juden  im  Exil. 

1.  Die  von  den  Assyrern  fortgeschleppten  Samarier  hatten  sich 
unter  den  Völkern  aufgelöst,  in  deren  Gebiet  sie  angesiedelt  waren. 
Es  |kam  darauf  an,  ob  die  verbannten  Juden  in  Babylonien  — 
diese  allein  kamen  in  Betracht,  nicht  die  nach  Ägypten  versprengten 
und  auch  nicht  die  in  der  Heimat  verbliebenen  —  sich  gegen- 
über dem  sie  umgebenden  Heidentum  behaupten  würden.  Sie 
konnten  das  nur,  wenn  sie  an  der  von  den  Propheten  eingeleiteten 
Reformation  festhielten,  welche  darauf  abzielte,  sie  völlig  aus  dem 
Heidentum  herauszureißen  und  in  scharfen  Gegensatz  dazu  zu 
bringen.  Freilich  hatte  ihnen  diese  Reformation  bisher  wenig  ge- 
holfen, und  dadurch,  daß  sie  den  Untergang  nicht  hatte  verhindern 
können,  schien  sie  vollends  gerichtet. 

Die  Geschichte  lehrt,  daß  die  Juden  die  schwere  Probe  be- 
standen haben,  die  ihnen  auferlegt  wurde.  Die  Sündflut,  die  sie 
zu  ersäufen  drohte,  ist  ihnen  ein  Bad  der  Wiedergeburt  geworden. 
Sie  sind  nicht  unter  den  Babyloniern  aufgegangen,  haben  vielmehr 
damals  in  der  Fremde  die  Fähigkeit  erworben,  die  sie  später  aus- 
zeichnete, ihre  nationale  und  religiöse  Art,  auch  außerhalb  des 
einheimischen  Grund  und  Bodens  auf  dem  sie  sonst  allein  gedeiht, 
unter  allen  Umständen  zu  bewahren.  Sie  haben  trotz  allen 
Zweifeln  festgehalten  an  ihrer  Vergangenheit  und  an  ihrer  Zukunft, 
an  der  Leitung  ihrer  Geschichte  durch  Jahve.  Die  Reformation  ist 
schließlich  gerade  durch  das  Exil  zum  Ziel  gekommen,  durch  das 
sie  allerdings  zunächst  sehr  gefährdet  war. 


Die  Juden  im  Exil.  151 

Die  Juden  müssen  doch  damals  in  ihrer  Eigenart  schon  viel 
gefestigter  und  sich  derselben  bewußter  gewesen  sein  als  ihre  israe- 
litischen Brüder  vor  vier  Menschenaltern.  Wir  hören,  daß  sie 
schon  vor  dem  Exil  eben  deshalb  von  ihren  Nachbarn  und  Vettern 
gehaßt  und  verfolgt  wurden,  wie  der  weiße  Rabe  von  den  schwarzen, 
weil  sie  etwas  anderes  und  besseres  sein  wollten ').  In  der 
Verbannung  kam  es  ihnen  zu  statten,  daß  sie  nicht  über  das  Land 
zerstreut  wurden,  sondern  gruppenweise  beisammen  wohnen  blieben, 
Häuser  und  Gärten  besaßen  und  in  leidlichem  Wolstand  lebten. 
Eine  Art  Volksgemeinschaft  blieb  bestehn,  und  sie  hielt  auch  die- 
jenigen fest,  welche  an  Jahve  zweifelten  und  von  ihm  abfielen. 
Der  Staat  war  zerstört,  aber  die  natürliche  Gliederung  durch  das 
Blut  ersetzte  ihn  halbwegs.  Die  ethnische  Genealogie,  auf  deren 
Grundlage  sich  das  Volk  einst  erbaut  hatte  ehe  es  landsässig  ge- 
worden war,  wurde  durch  die  Umstände  der  Zeit  neu  belebt.  An 
Stelle  der  Monarchie  mit  ihren  Beamten  trat  wieder  die  Aristo- 
kratie der  Geschlechtshäupter  oder  Ältesten. 

Der  große  Gemeindekultus  ruhte  notgedrungen  in  der  Fremde^). 
Erstlinge,  die  nicht  in  Jahves  Lande  gewachsen  waren,  konnten 
ihm  nicht  dargebracht,  also  auch  keine  Feste  gefeiert  werden. 
Dagegen  wurde  der  Sabbat  beibehalten,  wenngleich  nicht  als 
Opfertag  so  doch  als  Versammlungstag^).  Es  entstand  auf  diese 
Weise  im  Exil  die  heilige  Versammlung  ohne  Opfer,  und  damit 
wurde  der  Grund  gelegt  zu  einer  fundamentalen  Veränderung  des 
Gottesdienstes  überhaupt.  Es  ist  kaum  anders  denkbar,  als  daß 
schon  damals,  wie  später  in  der  Synagoge,  der  Mittelpunkt  der 
Versammlung  das  Wort  war.  Zwar  nicht  nur  das  geschriebene, 
sondern  auch  noch  das  lebendige  Wort.  Aber  da  in  der  bleiernen 
Zeit  nach  586  schwerlich  überall  an  jedem  Sabbat  ein  Prophet 
zu  finden  war,   der  reden  konnte,   so  wird  man  wol  oder   übel  zur 


1)  Hier.  12,9.  Ez.  25,  8:  weil  die  Moabiten  und  Amraoniten  sagen:  die 
Juden  sind  wie  alle  anderen  Völker,  darum  werden  sie  von  Jahve 
gerichtet. 

2)  Vgl.  Ezech.  14,3ss.  20,30ss. 

^)  Hosea  stellt  den  Sabbat  mit  den  Festen  noch  ganz  auf  gleiche  Linie 
und  denkt  nicht  anders,  als  daß  auch  der  Sabbat  wie  die  anderen  Feiertage 
im  Exil  nicht  begangen  werden  könne  (2,13).  Aber  tatsächlich  ging  er  seine 
eigenen  Wege  und  trennte  sich  von  den  Festen.  Es  dauerte  freilich  lange, 
ehe  die  Forderung  der  absoluten  Ruhe  am  Sabbat  durchdrang. 


152  Elftes  Kapitel. 

Verlesung  und  erbaulichen  Erklärung  alter  Schriften  gegriffen 
haben,  des  Deuteronomiums,  der  prophetischen  und  der  sie  ergän- 
zenden historischen  Bücher.  Diese  Sabbatsversammlungen  waren 
ein  Mittel,  die  Gemeinschaft  zu  stärken,  den  Zusammenhang  mit 
der  Vergangenheit  in  einer  eigentümlichen  Weise  zu  beleben,  und 
den  Gebrauch  der  hebräischen  Sprache  zu  erhalten.  Zugleich  aber 
wurde  der  Sabbat  an  sich,  als  Ruhetag,  ein  nach  innen  ver- 
bindendes und  nach  außen  unterscheidendes  Erkennungszeichen  aller 
derer,  die  zur  Judenschaft  gehörten.  Der  Name  und  Begriff  des 
religiösen  Zeichens,  d.  h.  des  Abzeichens,  kam  damals  auf  und 
gewann  große  Bedeutung').  Die  Beschneidung  war  seit  jeher  Brauch 
gewesen,  ohne  daß  grade  ein  besonders  religiöses  Gewicht  darauf 
gelegt  worden  wäre;  sie  wird  in  keinem  alten  Gesetze  gefordert. 
Jetzt  wurde  sie  neben  dem  Sabbat,  als  Symbolon  des  Judentums, 
von  allergrößter  Wichtigkeit.  Ebenso  wurden  noch  manche 
andere  alten  Bräuche  jetzt  geflissentlicher  geübt,  als  ehemals,  weil  sie 
zur  Versteifung  der  jüdischen  Besonderheit,  zur  Abschließung  gegen 
das  Heidentum  dienen  konnten.  Dabei  fanden  die  durch  die  Zer- 
störung des  Tempels  außer  Dienst  gesetzten  Priester  Gelegenheit 
einzugreifen  und  auf  Befragen  aus  ihrer  Thora  Bescheid  zu  erteilen, 
was  rein  sei  und  was  unrein,  was  erlaubt  und  was  verboten,  im 
täglichen  Leben  jedes  Einzelnen. 

Die  zähe  Selbstbehauptung  wurde  nun  aber  den  Verbannten 
nur  ermöglicht  durch  die  Hoffnung,  daß  sie  bald  heimkehren 
würden.  Diese  Hoffnung  hegten  sie  in  der  Tat  anfangs,  so  lange 
Jerusalem  noch  stand,  im  höchsten  Grade.  Die  Deportirten  von  597 
betrachteten  ihr  Exil  als  ganz  vorübergehend,  dachten  nicht  daran 
sich  auf  längeren  Aufenthalt  in  der  Fremde  einzurichten,  sondern 
lebten  im  Geist  in  ihrer  alten  heiligen  Stadt  fort,  zu  der  sie  die 
lebhaftesten  Beziehungen  unterhielten.  Bei  dem  letzten  Aufstande 
Sedekias  waren  sie  überzeugt,  daß  Jerusalem  nicht  erliegen,  sondern 
über  die  Chaldäer  triumphiren  werde.  Das  war  praktisch  nicht 
ohne  Nutzen.  Sie  hatten  auf  diese  Weise  keine  Veranlassung, 
sich  zu  akklimatisiren,  sie  hielten  sich  genau  so,  wie  sie  es  in  der 
alten  Heimat  getan  hatten,  wohin  zurückzukehren  sie  immer  auf 
dem  Sprunge  standen.     Durch  mehr  als  zehnjährige  Übung  kamen 


')  Ezech.  20,  12.  20. 


Die  Juden  im  Exil.  153 

sie  allmählich  in  eine  Gewohnheit,  die  auch  dann  noch  anhielt,  als 
die  Ereignisse  ihre  Illusion  zu  schänden  machten. 

Der  Fall  Jerusalems  im  Jahre  586  wurde  als  ein  betäubender 
Schlag  empfunden.  In  der  Stadt  und  im  Tempel,  nicht  im  Volke, 
wohnte  Jahve;  Sion  war,  statt  Israel,  der  Name  der  Theokratie 
geworden.  Jetzt  war  es  entschieden,  daß  Jahve  das  Land  ver- 
lassen hatte,  daß  er  auf  und  davon  gegangen  war').  Manche  mögen 
an  ihm  irre  geworden  sein.  Die  meisten  jedoch  waren  bereit,  ihm 
Recht  zu  geben  und  sich  für  schuldig  zu  erklären.  Aber  wenn  sie 
sein  Yerdammungsurteil  auch  annahmen,  so  verstanden  sie  es  doch 
nicht.  Sie  versanken  unter  seinem  Zorne  in  dumpfe  Verzweiflung, 
sie  wußten  nicht,  wie  sie  herauskommen  sollten.  Ihre  Stimmung 
wird  gekennzeichnet  durch  den  damals  umlaufenden  Ausspruch: 
unsere  Sünden  lasten  auf  uns  und  wir  vermodern  darin. 

In  diesem  großen  Schiffbruch  wurde  jetzt  die  Prophetie  —  nicht 
die  landläufige,  sondern  die  oppositionelle,  wie  sie  zuletzt  durch 
Jeremias  vertreten  war  —  der  Rettungsbalken  für  die,  die  sich  daran 
hielten.  Sie  hatte  bis  dahin  den  Untergang  des  Gemeinwesens  ge- 
weissagt; schon  das  war  tröstlich,  daß  sie  denselben  als  notwen- 
dig im  Namen  Jahves  vorausgesehen  und  verstanden  hatte.  Jetzt 
aber,  als  die  Notwendigkeit  Tatsache  geworden  war,  schlug  die 
Weissagung  um,  aus  der  Drohung  in  die  Verheißung.  Das  Exil 
bildete  einen  Wendepunkt.  Waren  die  Propheten  früher  den  Illu- 
sionen der  Zeit  entgegen  getreten,  so  traten  sie  nun  ihrer  Hoff- 
nungslosigkeit entgegen  und  richteten  den  Glauben  an  die  Zukunft 
auf.  Strom  und  Wind,  womit  sie  so  lange  hatten  kämpfen  müssen, 
hatten  sich  zu  ihren  gunsten  gedreht.  Ihre  Gegner,  die  patrio- 
tischen Fanatiker,  waren  durch  die  Ereignisse  Lügen  gestraft  und 
zum  Schweigen  gebracht;  sie  aber  hatten  Recht  behalten.  Das 
Haupthindernis,  das  ihrer  Wirksamkeit  früher  im  Wege  stand,  war 
beseitigt;  die  alte  Tradition,  wie  sie  auf  dem  Boden  des  kanaani- 
tischen  Landes  mit  dem  Volke  aufgewachsen  war,  wurde  durch 
die  gewaltsame  Losreißung  des  Volkes  aus  seinem  Lande  ge- 
brochen. 

2.  Der  Anfänger  der  exilischen  und  nachexilischen  Prophetie 
war  Ezechiel,  ein  vornehmer  jerusalemischer  Priester,  der  sich  unter 
den  Verbannten  von  597  befand.     So  lange  Jerusalem  noch  stand. 


1)  Ezech.  1-11.     Vgl.  Joseph.  Bellum  6,299:  |j.£rc(,37.(vu)iJ,£v  lv-£-j8ev 


154  Elftes  Kapitel. 

ging  seine  Tätigkeit  darin  auf,  der  Gegenwart  den  Sündenspiegel 
der  Vergangenheit  vorzuhalten  und  den  baldigen  Untergang  auch 
des  Restes  der  Theokratie  zu  verkündigen.  An  dessen  Fortbestand 
knüpften  seine  Mitverbannten  alle  ihre  Hoffnungen,  sie  glaubten 
ihm  nicht  und  hörten  nicht  auf  ihn,  bis  er  es  endlich  aufgab  ihnen 
zu  predigen.  Da  fiel  Jerusalem,  und  mit  einem  Schlage  vertauschten 
sich  die  Rollen.  Dem  Propheten  wurde  der  Mund  weit  aufgetan, 
aber  jetzt  nicht  mehr  zu  Drohungen,  sondern  von  stund  an  zu 
Verheißungen.  Drohung  und  Verheißung  sind  bei  Ezechiel  haar- 
scharf geschieden.  Die  Verheißung  aber  ist  weit  bezeichnender 
für  ihn  als  die  Drohung.  Trotz  dem  ingrimmigen  Schelten  und 
dem  bissigen  Gezänk  mit  seinen  Landsleuten,  dem  er  Jahre  lang 
ausschließlich  oblag,  ist  er  in  Wahrheit  doch  der  Prophet,  mit  dem 
die  Weissagung  den  sogenannten  messianischen  Charakter  annimmt. 
Er  verheißt  die  Auferweckung  des  von  den  Chaldäern  getöteten 
Volkes  durch  den  Hauch  Jahves,  die  Zurückführung  nicht  bloß 
Judas  sondern  auch  Ephraims  nach  Palästina,  und  ihre  Vereinigung 
unter  dem  Szepter  eines  Davididen:  dann  soll  die  Herde  nicht 
mehr  von  ihren  eigenen  Hirten  mishandelt  und  von  fremden  Räubern 
aus  einander  gescheucht  werden,  sondern  ruhig  weiden,  in  einem 
Lande,  auf  dem  aller  Welt  sichtlich  der  Segen  Jahves  ruht.  Er 
bedroht  die  bis  dahin  verschont  gebliebenen  Nachbarreiche  Judas; 
Ägypten -und  Tyrus  werden  ebenfalls  den  Chaldäern,  Edom  Moab 
und  Ammon  den  Arabern  erliegen;  die  Edomiten  müssen  das  heilige 
Land,  in  das  sie  sich  eingedrängt  haben,  räumen  und  werden  durch 
Verwüstung  ihres  eigenen  Gebietes  heimgesucht.  Aus  Rücksicht 
auf  sich  selber,  um  seines  Namens  willen,  muß  Jahve  Rache  nehmen 
an  den  Heiden,  die  ihn  in  den  Sturz  seines  Volkes  verwickelt 
glauben;  seine  eigene  Ehre  steht  auf  dem  Spiel,  wenn  auf  seinem 
Lande  die  Schmach  der  Verödung  ruht.  Von  der  Vernichtung  der 
Chaldäer  redet  Ezechiel  nicht,  obgleich  er  sie  voraussetzt.  Statt 
dessen  führt  er  in  dem  König  Gog  von  Magog  einen  phantastischen 
Vertreter  der  heidnischen  Weltmacht  ein,  dessen  Erscheinung  er 
allerdings  in  eine  unbestimmte  Zukunft  verschiebt.  Wenn  die 
Gefangenschaft  der  Juden  bereits  gewendet  und  die  Theokratie 
hergestellt  ist,  werden  noch  einmal  alle  Heere  der  Völker  gegen 
Jerusalem  anstürmen,  aber  bei  dieser  Gelegenheit  vernichtet  werden. 
Dadurch  soll  einmal  eine  bis  dahin  unerfüllt  gebliebene  Drohung 
älterer  Propheten  über  den  Einbruch  wilder  nördlicher  Reiterscharen 


Die  Juden  im  Exil.  155 

in  Juda  nachträglich  verwirklicht  werden  ').  Außerdem  aber  genügt 
es  nicht,  daß  Jahve  seine  Macht  bloß  den  Ägyptern  Tyriern  Edo- 
miten  und  den  übrigen  Nachbaren  der  Juden  erweist  und  ihnen 
gegenüber  seine  Ehre  herstellt;  die  ganze  feindliche  Welt  muß  vor 
ihm  gedemütigt  und  gebrochen  werden,  in  der  Weise,  daß  sie  an 
der  heiligen  Stadt,  die  ihr  ehedem  erlegen  war,  sich  zuletzt  den 
Kopf  einrennt.  Mit  dieser  Weissagung  über  Gog  und  Magog  beginnt 
die  jüdische  Eschatologie,  welche  die  Ereignisse  auf  grund  theolo- 
gischer Ideen  postulirt,  nicht  auf  grund  der  schon  in  der  Gegen- 
wart sie  ankündenden  Zeichen  voraussieht. 

Mitten  unter  diesen  Orakeln  findet  sich  ein  Stück,  aus  dem 
man  sieht,  daß  Ezechiel  seine  Aufgabe,  die  Verbannten  aufzurichten, 
auch  noch  auf  eine  ganz  andere  Weise  angefaßt  hat.  Das  Volk 
war  tot  und  konnte  nur  durch  ein  Wunder  Jahves  auferweckt 
werden.  Allein  die  Einzelnen  lebten  noch.  Der  Beruf  des  Wächters, 
der  eigentlich  darin  besteht,  über  die  Stadt  zu  wachen  und  die 
der  Stadt  drohenden  Gefahren  zu  melden,  verwandelt  sich  dem 
Propheten  durch  die  Zerstörung  Jerusalems  in  den  Beruf  des  Seel- 
sorgers; die  Rechtbeschaft'enheit  der  Einzelnen  war  die  Vorbedingung 
für  die  Auferstehung  des  Ganzen.  Sehr  eigentümlich  verwendet  er 
nun  den  Individualismus  als  Trostgrund.  „Ihr  sprecht:  unsere 
Sünden  lasten  auf  uns  und  wir  vermodern  darin,  wie  könnten  wir 
genesen!  Aber  Jahve  sagt:  fürwahr,  ich  will  nicht  den  Tod  des 
Sünders,  sondern  daß  er  sich  bekehre  und  lebe;  bekehrt  euch, 
bekehrt  euch,  warum  wollt  ihr  sterben!"  Gegenüber  einer  Ver- 
zweiflung, die  in  dem  sündigen  Zusammenhang  des  Ganzen  zu 
versinken  glaubte,  hebt  er  die  Möglichkeit  der  Bekehrung  hervor. 
Die  sittliche  Freiheit  legt  zwar  dem  Einzelnen  eine  schw^ere  Ver- 
antwortung auf,  aber  sie  gewährt  ihm  auch  den  Trost,  daß  er  aus 
der  Kausalität  heraus  kann,  daß  er  sich  bekehren  kann  und  leben. 
In  der  Bekehrung  liegt  die  Sündenvergebung  eingeschlossen.  Freilich 
verdirbt  Ezechiel  wieder  alles  und  verwickelt  sich  in  die  größten 
Widersprüche  dadurch,  daß  er  dennoch  die  Sündenvergebung  in 
der  Aufhebung  der  Strafe  sieht  und  nun  eine  genaue  Korrespondenz 
zwischen  dem  inneren  Wert  jedes  Einzelnen  und  seinem  äußeren 
Ergehn  statuirt,  als  notwendigen  Ausfluß  der  göttlichen  Gerechtig- 


1)  Gog  von  Magog  vollstreckt  bei  Ezechiel  (38, 17.  39,  8)  die  Weissagungen 
Sephanias  und  Jeremias  über  die  Verwüstung  Judas  durch  die  Scythen. 


156  Elftes  Kapitel. 

keit,  die  nicht  dulden  könne,  daß  die  Gegenwart  unter  der  Schuld 
der  Vergangenheit  und  das  Individuum  unter  der  Schuld  der 
Gemeinschaft  leide. 

Am  Schluß  seiner  Schrift  gibt  dieser  Prophet  ein  ausgeführtes 
Bild  davon,  wie  er  sich  die  wieder  in  Gang  gebrachte  Theokratie 
vorstellt.  Seine  Schilderung  des  Neuen  Jerusalem  hat  den  Apo- 
kalypsen als  Vorbild  gedient.  Es  ist  die  kühnste  Hoffnung,  wenn 
er,  in  einer  Zeit  die  sich  durchaus  nicht  so  anließ  als  ob  die  Juden 
je  aus  Babylonien  wieder  herauskommen  würden,  genau  die  Zahlen 
und  Maße  für  den  Wiederaufbau  des  Tempels  angibt  und  die 
Details  des  Tempeldienstes  ordnet.  Aber  er  knüpft  zugleich  so  eng 
an  den  früheren  Bestand  an  und  hält  sich  so  in  den  Schranken 
des  Durchführbaren  und  Zeitgemäßen,  daß  sein  Zukunftsbild  auch 
faktisch  das  Programm  für  die  Organisation  der  nachexilischen  Ge- 
meinde geworden  ist:  in  den  Gleisen,  die  er  vorgezeichnet  hat,  hat 
dieselbe  sich  verwirklicht. 

An  ein  jüdisches  Weltreich  denkt  er  nicht,  überhaupt  nicht 
an  ein  Reich,  sondern  nur  an  eine  Kuitusgemeinde.  Die  Theokratie 
ist  Sion.  Aber  Sion  ist  nicht  mehr  wie  in  Isa.  11  die  Stadt 
Davids,  wo  gutes  Regiment,  Recht  und  Friede  herrscht,  sondern 
die  Stadt  des  Tempels,  wo  Jahve  so  verehrt  wird  wie  es  seiner 
Heiligkeit  entspricht.  Der  König  kommt  nur  insofern  in  betracht, 
als  er  die  öffentlichen  Opfer  zu  bezahlen  hat,  wofür  an  ihn  die 
Abgaben  entrichtet  werden.  Im  übrigen  haben  ihn  die  Priester 
in  den  Schatten  gedrängt,  denen  auch  das  Gericht  übertragen  wird. 
Das  eigentlich  Politische  wird  völlig  ignorirt,  die  Hauptsache  ist, 
daß  der  Kultus  an  der  richtigen  Stätte  in  der  richtigen  Weise  von 
den  richtigen  Leuten  betrieben  wird.  Das  Ideal  ist  nicht  die  Ge- 
richtigkeit,  sondern  die  Heiligkeit.  Schon  in  den  Sündenregistern, 
die  im  ersten  Teil  seines  Buchs  einen  so  breiten  Raum  einnehmen, 
tritt  hervor,  welchen  übermäßigen  Wert  Ezechiel  auf  den  Kultus 
legt.  Obwol  er  da  gelegentlich  (Kap.  18)  ein  sehr  feines  und  fort- 
geschrittenes moralisches  Gefühl  zeigt,  so  verweilt  er  doch  weit 
weniger  bei  den  Sünden  der  Menschen  gegen  die  Menschen,  als  bei 
ihren  Sünden  gegen  Jahve,  gegen  den  Ort  und  das  Land  seiner 
Wohnung.  Das  Land  Jahves  ist  von  einer  ganz  gefährlichen  Hei- 
ligkeit, es  speit  seine  unwürdigen  Bewohner  aus.  Die  Entweihung 
des  heiligen  Landes  durch  Götzendienst  ist  die  Hauptschuld.  Sie 
ist  vorzugsweise  begangen  durch  das  Essen  im  Blut,  auf  den  Höhen 


Die  Juden  im  Exil.  X57 

außerhcalb  des  Tempels.  Ezechiel  sieht  die  Opfer  auf  den  Höhen 
einfach  als  Götzenopfer  an,  das  Fleisch  derselben  weder  als  richtig 
geopfert  noch  als  richtig  geschlachtet,  daher  die  Opfermahle  als  ein 
Essen  im  Blut.  Er  fußt  dabei  auf  dem  Deuteronomium,  behandelt 
indessen  das,  was  dort  frisch  verboten  wird,  seinerseits  als  einen 
niemals  irgend  zulässig  gewesenen,  ganz  entsetzlichen  Greuel.  Ebenso 
geht  er  zwar  von  der  deuteronomischen  Gesetzgebung  aus,  über- 
bietet sie  aber  und  sanktionirt  eine  von  ihr  nicht  gewollte  Folge 
der  Abschaffung  der  Höhen,  indem  er  auch  die  Priester  der  Höhen 
ihres  Priesterrechts  verlustig  erklärt,  zur  Strafe  dafür,  daß  sie  es 
an  der  falschen  Stelle  ausgeübt  haben,  und  sie  degradirt  zu  Hand- 
langern der  Söhne  Sadoks  von  Jerusalem,  die  künftig  allein  Priester 
bleiben  sollen,  zum  Lohne  dafür,  daß  sie  immer  an  der  richtigen 
Stelle  amtirt  haben.  Er  korrigirt  das  Deuteronomium  von  seinen 
Tendenzen  aus.  Er  zieht  aber  auch  den  Kultus  in  weit  größerem, 
womöglich  im  ganzen  Umfang  in  das  Gebiet  der  Gesetzgebung 
hinein,  in  der  Absicht,  ihn  von  allem  Götzendienst  zu  säubern. 
Er  hat  den  wichtigsten  Schritt  getan  zur  Systematisirung  des  Kul- 
tus im  Geiste  des  Monotheismus. 

Man  merkt,  daß  dieser  Prophet  ein  Priester  und  ein  Sohn 
Sadoks  war.  Indessen  stimmten  seine  persönlichen  Wünsche  und 
Neigungen  überein  mit  dem,  was  die  Verhältnisse  verlangten.  Der 
Tempel  hatte  von  jeher  eine  unverhältnismäßige  Bedeutung  in  dem 
kleinen  Juda.  Durch  die  Zerstörung  Samariens  und  weiter  durch 
die  Reformation  Josias  wurde  er  die  einzige  Anbetungstätte  Jahves 
auf  Erden.  Gleichzeitig  wuchs  der  Verlust  an  politischer  Macht 
dem  Kultus  als  Gewinn  zu.  So  war  es  schon  vor  dem  Exil;  seit- 
dem beförderte  die  Fremdherrschaft  diese  Richtung  der  Entwicklung. 
Sie  ließ  den  Juden  nur  auf  dem  Gebiete  des  Kultus  freien  Spiel- 
raum, nur  als  Kultusgemeiude  erlaubte  sie  ihnen  sich  zu  organisiren. 
Auch  ohne  Ezechiel  wäre  dieser  Gang  der  Dinge  vorgezeichnet 
gewesen.  Er  war  der  Zeit  nur  um  einen  Schritt  voraus.  Eben 
deshalb  ist  er  der  Ivonstitutor  der  nachexilischen  Gemeinde  geworden, 
eben  deshalb  hat  sie  sich  auf  den  Grundzügen  seines  Planes  auf- 
gebaut. Auf  das  geistige  Leben  der  Juden  hat  er  freilich  keinen 
bestimmenden  Einfluß  ausgeübt,  nur  auf  ihre  Organisation.  Aber 
die  Organisation  war  dainals  die  wichtigste  Aufgabe,  wenngleich 
sie  noch  nicht  unmittelbar  drängte. 

3.  Die  Zeit  nach  der  Zerstörung  Jerusalems  war  keine  bewegte. 


158  Elftes  Kapitel. 

Daher  erklärt  sich  die  ungeschichtliche  Art  der  Weissagungen  Eze- 
chiels,  er  lebte  in  Reminiszenzen  und  Phantasien,  nicht  in  einer 
Krisis  der  Gegenwart.  Die  Ruhe  dauerte  so  lange  Nabukodrossor 
lebte.  Unter  seiner  langen  starken  und  weisen  Regierung  stand 
das  chaldäische  Reich  fest.  Aber  bald  nach  seinem  Tode  (562) 
begann  der  Verfall.  Sein  Sohn  und  Nachfolger  Evilmardoch*), 
der  den  Jechonia  aus  dem  Gefängnis  frei  ließ,  wurde  nach  zwei- 
jähriger Herrschaft  von  seinem  Schwager  Neriglissar  gestürzt  (560). 
Neriglissar  regierte  vier  Jahre,  ihm  folgte  sein  Sohn  Labosomardoch, 
noch  ein  Knabe.  Gegen  den  verschwuren  sich  nach  kurzer  Zeit 
„die  Freunde",  schlugen  ihn  tot  und  setzten  den  Nabuned,  einen 
Mitverschworenen,  auf  den  Thron  (556).  Unter  ihm  brach  das 
Gleichgewicht  der  Mächte  in  Vorderasien  zusammen,  welches  sich 
nach  dem  Ablauf  der  scythischen  Überschwemmung,  nach  dem 
Sturze  Assurs  und  nach  der  Schlacht  der  Sonnenfinsternis  heraus- 
gebildet hatte.  Cyrus,  der  Sohn  des  Cambyses,  König  von  Persien 
und  Elam,  griff  den  Meder  Astyages  an,  besiegte  ihn  und  nahm 
ihn  gefangen  (550).  Ohne  viel  Mühe  scheint  er  sich  dann  der 
Hauptstadt  und  der  Provinzen  des  medischen  Reiches  bemächtigt 
zu  haben,  bis  zur  lydischen  Grenze  am  Halys.  Crösus  fühlte  sich 
durch  den  Eroberer  bedroht  und  schloß  gegen  ihn  mit  Amasis  und 
mit  Sparta  ein  Bündnis,  dem  auch  Nabuned  beitrat  (547).  Er 
wartete  aber  nicht  auf  die  Hilfe  der  Bundesgenossen,  sondern  be- 
gann ohne  sie  den  Angriff  und  überschritt  den  Halys.  Das  kostete 
ihm  sein  Reich.  Cyrus  fügte  Lydien  und  ganz  Kleinasien  bis  zum 
ägäischen  Meere  seiner  Herrschaft  hinzu  (546). 

Die  Reihe  mußte  nun  an  Babel  kommen,  man  konnte  auf  den 
Zusammenstoß  gespannt  sein.  Frohlockend  antezipirten  prophetische 
Stimmen  die  Rache  Jahves  an  den  Chaldäern.  Allein  in  der 
Mehrzahl  waren  die  verbannten  Juden  nicht  so  hoffnungsfreudig 
gestimmt.  Sie  mochten  daran  denken,  was  bei  dem  Falle  Nineves 
schließlich  für  Juda  herausgekommen  war.  Ein  fünfzigjähriger 
Aufenthalt  in  der  Fremde  hatte  sie  eingewöhnt  und  die  Sehnsucht 
nach    der  Heimat    abgestumpft.     Wenn    "wirklich    der   Perser    das 


1)  Die  Form  der  babylonischen  Königsnamen  ist  die  bei  Berosus  in  Jo- 
sephus  contra  Apionem  1,  146ss.  (Ant.  10, '229ss.).  Nur  habe  ich  aus  Laboro- 
soardoch  auf  grund  der  Inschriften  Labosomardoch  gemacht.  Die  hebräische 
Schreibung  und  Aussprache  "J"1X"1D  Mapuihay  ist  höchst  auffallend.  Nur  in 
MapSo/aios  findet  sich  das  Übliche. 


Die  Juden  im  Exil.  159 

unüberwindliche  Babel  bezwingen  sollte,  so  vermochten  sie  doch 
daraus  keinen  Trost  zu  schöpfen.  Sie  wollten  nicht  glauben,  daß 
er  das  Werkzeug  Jahves  sei,  uro  die  Verheißungen  zu  verwirklichen. 
Aus  Israel  mußte  doch  der  Held  hervorgehn,  der  das  Joch  der 
Heiden  zerbrach  und  das  Reich  Davids  herstellte;  die  Wieder- 
herstellung Sions  durch  einen  Perser,  wenn  sie  gelänge,  würde  ja 
nur  als  beiläufige  Folge  einer  geschichtlichen  Bewegung  erscheinen, 
die  eigentlich  auf  ein  ganz  anderes  Ziel  sich  richtete. 

Dieser  Stimmung  trat  der  prophetische  Schriftsteller  entgegen, 
den  wir  Isa.  40 ss.  verdanken.  Laßt  die  Trauer  fahren,  die  Er- 
lösung steht  vor  der  Thür.  Leidet  nicht  immer  unter  euch  selber, 
Jahve  nimmt  die  Last  der  Vergangenheit  von  euch  ab  und  vergibt 
euch,  wendet  euch  dem  Neuen  zu,  das  er  schafft.  Cyrus  ist  sein 
Messias,  dessen  Siegeslauf  er  geleitet,  den  er  berufen  hat  zum 
Vollstrecker  seines  Werkes.  Ist  es  denn  etwas  Erniedrigendes, 
daß  Israel  von  einem  Perser  befreit  wird?  ist  es  nicht  vielmehr 
ein  Beweis  der  weltbeherrschenden  Macht  des  Gottes  Jakobs,  daß 
er  von  den  Enden  der  Erde  her  seine  Werkzeuge  zu  seinen  Zwecken 
aufbietet?  Wer  anders  als  Jahve  sollte  Cyrus  gesandt  haben?  doch 
nicht  die  Götzen,  die  derselbe  zerstört?  Jahve  allein  hat  die  jetzt 
sich  erfüllenden  Ereignisse  vorausgesagt  und  vorausgewußt:  er  hat 
sie  also  vorbereitet  und  beschlossen  und  nach  seinem  Rate  werdien 
sie  ausgeführt.  Er  reicht  euch  die  Hand,  greift  zu,  jubelt  dem 
nahenden  Heile  entgegen,  rüstet  euch  auf  die  Heimreise. 

Das  ist  eine  andere  Sprache  als  die  Ezechiels.  Es  werden 
keine  phantastischen  und  kleinlichen  Zukunftsbilder  entworfen,  es 
wird  verwiesen  auf  das  Tun  Jahves  in  der  bewegten  Gegenwart. 
Das  Heil  verwirklicht  sich  schon,  es  keimt  und  sprießt  und  wächst, 
es  ist  mit  Händen  zu  greifen ').  Wie  anders  aber  auch  wird  hier 
zu  der  weltgeschichtlichen  Epoche  Stellung  genommen,  als  ehedem 
in  ähnlichen  Fällen  von  den  alten  Propheten!  wie  anders  wird  hier 


')  Die  herrlichen  Stellen  über  die  wunderbare  Siegeslaufbahn  des  Cyrus 
müssen  geschrieben  sein,  bevor  er  Babel  erobert  hatte.  Sonst  hat  man  bis- 
weilen den  Eindruck,  als  werde  in  Isa.  40ss.  die  Eroberung  schon  voraus- 
gesetzt. So  namentlich  am  Schlüsse  von  Kap.  48,  aber  auch  schon  früher,  au 
den  Stellen,  wo  der  Verf.  sich  bemüht,  die  Hindernisse  aus  dem  Wege  zu 
räumen,  welche  die  Wüste  der  Heimkehr  zu  bereiten  schien.  Das  war  doch 
eine  cura  posterior,  die  erst  nach  dem  Falle  Babels  eintreten  konnte.  Daß 
Isa.  56ss.  nicht  ursprünglich  zu  Kap.  40ss.  gehören,    halte  ich   für   erwiesen. 


160  Elftes  Kapitel. 

der  Perser  begrüßt  als  einst  der  Assyrer  von  Arnos  oder  der  Clial- 
däer  von  Jeremias!  Sein  zerstörendes  Werk  hatte  der  Weltgott 
an  Israel  vollbracht,  jetzt  baute  er  es  wieder  auf.  Unser  Prophet 
ist  wie  trunken  von  der  Idee  des  Allmächtigen,  der  Hymnus  von 
ihm  rauscht  in  gleichmäßigem  Gewoge  durch  alles  was  er  sagt. 
Er  zuerst  feiert  ihn  nicht  bloß  als  den  Lenker  der  Weltgeschichte, 
sondern  auch  als  den  Schöpfer  der  Natur,  des  Himmels  und  der 
Erde,  als  den  Ersten  und  Letzten,  den  Einzigen  und  Alleinigen. 
Was  ihn  dabei  erhebt  und  begeistert,  ist  die  Zuversicht:  dieser 
Weltgott  ist  und  bleibt  unser  Gott.  Er  hat  zwar  Israel  verbannt 
und  dahin  gegeben,  so  daß  es  kein  Reich  und  kein  Volk  mehr 
ist.  Aber  dem  in  den  Staub  getretenen,  verachteten,  verzweifelten 
Rest  wendet  er  seine  Gnade  zu,  der  elende  Wurm  ist  ihm  wert, 
mit  Rücksicht  auf  ihn  lenkt  er  den  Weltlauf.  Er  hat  nun  einmal 
Sion  erwählt,  und  er  empfindet  trotz  allem  das  Leid  Sions  wie 
sein  eigenes.  Sein  Name  und  seine  Ehre  ist  mit  seinem  Tempel, 
seiner  Stadt;  seinem  Volke,  mit  jedem  Einzelnen  der  ihn  anruft, 
verwachsen;  die  Schande  der  Seinen  fällt  auf  ihn  selber  zurück, 
und  sich  selber  bringt  er  zu  Ehren,  indem  er  Israel  zu  Ehren 
bringt. 

Der  wahre  innere  Grund  für  die  Hoffnung  der  Juden  liegt 
aber  darin,  daß  sie  Recht  haben.  Im  Namen  der  Gerechtigkeit 
muß  Jahve  sie  erlösen  und  zum  Siege  führen.  Zwar  ist  es  keine 
Ungerechtigkeit,  daß  er  sie  schwer  'geprüft  hat;  sie  haben  es  um 
ihn  wol  verdient.  Ihm  gegenüber  ist  ihre  Schuld  ohne  weiteres 
zuzugeben.  Jedoch  nicht  bloß  mit  Jahve,  sondern  auch  mit  den 
Heiden  haben  sie  es  zu  tun.  Die  Weltgeschichte  wird  als  ein 
Prozeß  zwischen  ihnen  und  den  Heiden  aufgefaßt.  In  diesem 
Prozeß  sind  sie  zwar  augenblicklich  unterlegen,  haben  aber  Recht; 
dem  Heidentum  gegenüber  vertreten  sie  die  gute  Sache,  die  Sache 
Jahves.  Sie  allein  kennen  und  verehren  ihn,  unter  ihnen  allein 
gilt  sein  Recht  und  seine  Wahrheit.  L^m  deswillen  können  sie 
nicht  auf  die  Dauer  erliegen,  sonst  erläge  die  Wahrheit  der  Lüge. 
Das  Recht  ihrer  Sache,  das  zur  Zeit  durch  die  Strafe  ihrer  Sünden 
und  durch  den  Sieg  des  Heidentums  verdunkelt  ist,  muß  ans  Licht 
kommen  und  auch  äußerlich  durch  ein  aller  Welt  sichtbares  Gottes- 
gericht zur  Anerkennung  gebracht  werden. 

Veranlaßt  durch  die  Zertrümmerung  seines  Volkes  denkt  der 
Verfasser  von  Isa.  40  ss.  nach  über  das  unzerstörbare,  ewige  Wesen 


Die  Juden  im  Exil.  Ißl 

desselben.  Er  liodet  es  in  der  Lehre,  dem  Rechte,  der  Wahr- 
heit, d.  h.  in  der  Jahvereligion,  wie  die  Propheten  sie  verstanden 
und  gepredigt  hatten  und  wie  sie  jetzt  bei  den  verbannten  Juden 
fertiges  Gemeingut  geworden  war.  In  der  Tatsache,  daß  sie  und 
nur  sie  die  Wahrheit  besitzen,  erblickt  er  den  Hort  ihres  Trostes 
und  ihrer  Hoffnung,  die  Bürgschaft  und  das  Unterpfand  ihrer  Auf- 
erstehung aus  dem  Grabe  des  Exils.  Es  gibt  keinen  Gott  als  Jahve 
und  Israel  ist  sein  (Knecht  d.  h.)  Prophet  —  so  lautet  das  trium- 
phirende  Credo.  Das  nationale  Selbstgefühl  ist  außerordentlich, 
aber  engherzig  ist  es  nicht,  deshalb,  weil  das  Sonderverhältnis  Israels 
zu  Jahve  nur  eine  Vorstufe  ist,  weil  die  Geschichte  Israels  in  die 
Weltgeschichte  mündet.  Der  Besitz  der  Wahrheit  schließt  für 
Israel  den  Beruf  in  sich,  sie  den  Völkern  zu  verkünden;  die  Wahr- 
heit siegt  über  das  Heidentum,  um  auch  die  Heiden  zu  erlösen. 
Eben  das  Exil  macht  den  Übergang  von  der  Volksreligion  zur  Welt- 
religion, es  bewirkt  die  Metamorphose  Israels  zum  Missionar  der 
Weltreligion.  Allerdings  soll  Israel  auch  als  Volk  und  Reich 
wiederhergestellt  werden;  ein  solches  rechtfertigendes  und  rehabili- 
tirendes  Gottesurteil  ist  notwendig.  Aber  die  Messiasidee  tritt  doch 
vollkommen  zurück  gegen  die  Idee  des  Knechtes  Jahves,  wie  ja 
auch  die  Aufgabe  Babel  zu  zerstören  dem  Perser  überlassen  bleibt. 
Israel  überwindet  die  Welt  nicht  mit  dem  Schwert,  sondern  mit 
dem  Wort. 

Geflissentlich  wird  in  Isa.  40 ss.  der  Blick  von  der  Vergangen- 
heit abgelenkt  und  der  Zukunft  zugewendet.  Nur  an  einigen 
wenigen  Stellen  ist  es  anders ').     Da  wird  das  zum  Problem,   was 


')  Isa.  42, 1—4.  49,  1—6.  50,  4—9.  52, 13—53, 12.  Die  Stücke  sind  gegen 
Ende  des  Exils  geschrieben  und  bald  nachher  von  dem  Verfasser  der  Haiipt- 
schrift  aufgenommen.  Derselbe  benutzt  sie  als  Themata  zu  seineu  Predigten, 
in  ziemlieh  einseitiger,  den  Gehalt  nicht  erschöpfender  Weise,  zur  Glorifizirung 
seines  Volks.  Darin  aber  hat  er  Recht,  daß  er  unter  dem  Knechte  Israel 
versteht,  als  Träger  der  Wahrheit  und  ihren  Vermittler  an  die  Heiden.  Es 
wäre  vermessen,  von  dieser  Deutung  abzuweichen  und  au  ein  Individuum  zu 
denken.  Die  Annahme  ist  abenteuerlich,  daß  im  Exil  ein  unvergleichlicher 
Prophet,  womöglich  von  seinen  eigenen  Landsleuten,  zum  Märtyrer  gemacht, 
dann  aber  verschollen  wäre.  Die  Aussagen  passen  auch  nicht  auf  einen 
wirklichen  Propheten.  Der  hat  nicht  die  Aufgabe  und  noch  weniger  den 
Erfolg,  sein  eigenes  Volk  herzustellen  und  alle  anderen  Völker  zu  bekehren. 
Auf  einen  solchen  sind  nicht  die  Augen  der  ganzen  Welt  gerichtet,  die  Heiden 
können  nicht  in  der  Weise  Notiz  von  ihm  nehmen,  daß  sie  seine  Vergangenheit 
Wellli aus en,  Isr.  Geschichte.    5.  Aufl.  U 


162  Elftes  Kapitel.     Die  Juden  im  Exil. 

sonst  als  ohne  Zweifel  gerechte  Züchtigung  hingenommen  wird, 
das  tragische  Geschick  des  Volkes  in  Vergangenheit  und  Gegenwart. 
Der  Besitz  der  Wahrheit  und  der  Beruf  sie  auszubreiten  hat  den 
Knecht  Jahves  vor  schmählichem  Untergang  nicht  gerettet  und  ihm 
die  Verachtung  der  Heiden  eingetragen.  Er  erscheint  durch  sein 
Schicksal  in  den  Augen  der  Welt  als  von  Gott  gerichtet,  wie  ein 
Aussätziger  oder  ein  todeswürdiger  Verbrecher.  Aber  er  ist  kein 
Verbrecher,  er  ist  unschuldig  und  büßt  eine  Strafe,  die  die  Heiden 
verdient  hätten.  Eine  befriedigende  Lösung  wird  damit  nicht 
gegeben.  Man  fühlt  jedoch,  daß  der  Knecht  aus  innerer  Notwen- 
digkeit zum  Mann  der  Schmerzen  werden  muß,  daß  Prophet  und 
Märtyrer  zusammengehört,  daß  die  Wahrheit  siegt  durch  das  Blut 
ihres  Zeugen;  und  auch  das  blickt  durch,  daß  Jahve  sein  Angesicht 
vor  dem  Elenden  in  Wahrheit  nicht  verhüllt,  daß  die  Gemeinschaft 
mit  ihm  durch  Kreuz  und  Tod  nicht  zerstört  sondern  besiegelt 
wird.  Zum  Schluß  folgt  auch  hier,  als  Nachspiel  der  Tragödie, 
der  Ausblick  in  die  Zukunft:  da  wird  der  Knecht  verherrlicht  und 
erhält  die  Welt  zur  Beute,  die  Heiden  werden  sich  wundern. 

Mit  größerem  Rechte  als  Ezechiel  können  Jeremias  und  der 
ungenannte  Verfasser  von  Isa.  40  ss.  als  die  geistigen  Väter  des 
Neuen  Jerusalems  betrachtet  werden.  Wie  von  dem  Leben  Jere- 
mias, so  hat  die  Folgezeit  gezehrt  von  den  Gedanken  des  großen 
Anonymus.  Das  Evangelium,  daß  der  in  der  Höhe  Wohnende  den 
Verachteten  und  Zertretenen  nahe  sei,  die  Lehre  von  dem  inneren 
Recht,  dem  der  Sieg,  die  äußere  Rechtfertigung  nicht  fehlen  könne, 
hat  die  Gemüter  auf  lange  Zeit  hinaus  gehoben  und  bewegt.  Auch 
die  Frage  nach  der  Bedeutung  des  Schmerzes  und  der  Leiden  für 
die  Religion  ist  durch  die  Betrachtung  des  Exils  als  eines  Todes, 
der  zum  Leben,  einer  Sündflut,  die  zur  Wiedergeburt  führe,  ins- 
geheim angeregt  worden. 

verachten  und  über  seine  Zukunft  erstaunen.  Er  kann  nicht  zugleich  als 
Aussätziger  sterben  und  als  Verbrecher  hingerichtet  werden.  Seine  künftige 
Größe  läßt  sich  nicht  so  denken,  wie  sie  53,  12  und  52, 13—15  beschrieben 
wird.  Seine  Auferstehung  aus  dem  Grabe  wäre  nicht  so  einfach,  daß  sie  gar 
nicht  besonders  erwähnt  zu  werden  brauchte,  und  ließe  sich  nicht  so  ohne 
weiteres  mit  seiner  Verherrlichung  gleichsetzen,  wie  es  in  Kap.  53  geschieht: 
nur  bei  einem  Volke  decken  sich  beide  Begriffe.  Endlich  ist  das  Zusammen- 
treffen doch  sehr  sonderbar,  daß  für  diesen  Propheten  gerade  wie  für  Israel 
das  Exil  der  Durchgang  vom  Tode  zum  Leben  sein  soll.  Vgl,  Giesebrecht 
Beiträge  p.  146  ss.  Ps.  22, 


Zwölftes  Kapitel.     Die  Restauration.  163 

Zwölftes  Kapitel. 

Die  Restauration. 

1.  Lange  Zeit  wurde  die  Geduld  der  Juden  auf  die  Probe  ge- 
stellt. Sardes  war  schon  im  Jahre  546  gefallen,  der  Kampf  gegen 
Babel,  dessen  Beginn  bis  jetzt  unbekannt  ist,  entschied  sich  erst 
im  Jahre  539/38.  Da  Nabuned  das  Feld  gegen  die  Perser,  unter 
Gobryas,  nicht  halten  konnte,  fielen  seine  Untertanen  von  ihm 
ab.  Ohne  Kampf  zog  Gobryas  in  Babel  ein.  Einige  Zeit  später 
kam  Cyrus  selber  und  ordnete  die  Verhältnisse;  die  Statthalter 
und  Vasallen  des  chaldäischen  Reiches  kamen  herbei,  um  sich  zu 
unterwerfen  und  zu  empfehlen.  Bei  diesem  Aufenthalte  in  Babel, 
der  längere  Zeit  dauerte,  gab  er  den  Juden  Erlaubnis  heimzu- 
kehren^). 


1)  Auf  dem  Cyruszyliuder  und  in  den  Annalen  Nabuneds  steht  nichts 
davon.  Nach  dem  Vorgänge  von  M.  Vernes  bestreitet  Kosters,  daß  schon  unter 
Cyrus  eine  Rückwanderung  babylonischer  .luden  nach  Palästina  stattgefunden 
habe;  eine  solche  sei  erst  mit  Ezra  erfolgt.  Er  beruft  sich  auf  das  Schweigen 
von  Haggai  und  Zacharia,  und  auf  das  Zeugnis  Nehemias,  der  im  Anfange 
seiner  Memoiren  die  palästinischen  Juden  als  verschont  von  der  Deportation 
bezeichne,  nicht  als  zurückgekehrt  aus  dem  Exil.  Den  Bericht  Esd.  1  verwirft 
er,  als  eine  Erdichtung  des  Chronisten.  Der  Chronist  teilt  indessen  nur  die 
allgemeine  Überzeugung,  die  auch  in  manchen  anderen  Stellen  der  Bücher 
Esd.  und  Neh.  gelegentlich  zu  Tage  tritt,  daß  der  Kern  der  nachexilischen 
Gemeinde  schon  vor  Ezra  aus  zurückgewanderten  Babyloniern  bestanden  habe 
(Esd.  4,  12.  Neh.  7,  5.  6.  61.  12,1.  Esd.  9,  4.  10,6).  Diese  Überzeugung  wird 
bestätigt  durch  die  prophetische  Schrift  Isa.  40 — 48,  deren  großes  baldiges  und 
bleibendes  Ansehen  sich  kaum  verstehn  ließe,  wenn  eine  so  bestimmte  Weis- 
sagung über  Cyrus  als  Messias  der  Juden  gänzlich  unerfüllt  geblieben  wäre. 
Auch  das  fällt  ins  Gewicht,  daß  der  Verfasser  von  Isa.  40ss.  die  Restauration 
Sions  sich  gar  nicht  anders  denken  kann  als  durch  Rückströmung  von  Baby- 
lonien  aus.  In  der  Tat  ist  sonst  das  palästinische  Judentum  in  seiner  Ent- 
stehung nicht  zu  begreifen.  Von  dem  im  Lande  verbliebenen  Rest  würde  der 
alte  volkstümliche  Höhendienst  wieder  hergestellt  sein;  statt  dessen  finden 
wir  den  legitimen  Kultus  in  Jerusalem  und  eine  zahlreiche  Hierokratie 
schon  vor  Ezra;  an  dem  eigentlichen  Tempeldienste  hat  dieser  nichts  mehr  zu 
reformiren.  Wie  konnte  sich,  ohne  Rückwanderung,  das  in  Babylonien  geborene 
Judentum  seit  dem  Sturz  der  chaldäischen  Herrschaft  nach  Palästina  übertragen 
und  dort,  anerkannt  auch  von  den  in  Babylonien  Zurückgebliebenen,  seine 
weitere  Entwicklung  finden?  Ohne  jene  Voraussetzung  erklärt  sich  ferner  nicht 

11* 


154  Zwölftes  Kapitel. 

Vor  dem  Jahre  537  konnten  die  Juden  die  Reise  nach  Pa- 
lästina schwerlich  antreten.  Auch  machten  durchaus  nicht  alle 
Gebrauch  von  der  Erlaubnis.  Es  war  keine  Kleinigkeit,  sich  aus 
dem  gesegneten  Babylonien  loszureißen,  mit  Weib  und  Kind  und 
fahrender  Habe  eine  beschwerliche  Reise  zu  machen,  um  aufs  un- 
gewisse hin  in  den  Ruinen  des  verwüsteten  Judäa  sich  anzusiedeln 
—  nach  sechzig-  und  fünfzigjähriger  Abwesenheit.  Viele,  nament- 
lich wolhabende  Leute  blieben  zurück,  gaben  aber  ihr  Judentum 
darum  nicht  auf,  sondern  behaupteten  es  mit  Eifer.  Sie  unterhielten 
Verkehr  mit  ihren  zurückgewanderten  Brüdern,  nahmen  Anteil  an 
ihrem  Geschicke,  unterstützten  sie  und  sandten  ihnen  von  Zeit  zu 
Zeit  neuen  Zuzug.  Babylonien  ist  seitdem  die  zweite  Heimat  des 
Judentums  geblieben. 

Wie  groß  die  Zahl  der  Heimkehrenden  gewesen  ist,  wissen 
wir  nicht.  Als  der  von  Cyrus  eingesetzte  erste  Landpfleger  wird 
Scheschbassar  genannt,  ein  vornehmer  Jude  mit  babylonischem 
Namen.  Einige  Zeit  später  finden  wir  den  Davididen  Zerubabel 
als  Landpfleger,  dessen  Verhältnis  zu  Scheschbassar  nicht  recht 
klar  ist^).  Neben  ihm  genoß  der  Priester  Josua,  aus  dem  Ge- 
schlechte der  Söhne  Sadok,  das  größte  Ansehen.  Der  Klerus  bil- 
dete einen  unverhältnismäßio;  starken  Bestandteil  der  Kolonie. 


die  schon  zur  Zeit  Haggais  und  Zacharias  in  Jerusalem  herrschende  Depression 
darüber,  daß  die  Wirklichkeit  den  Erwartungen  doch  keineswegs  entsprach; 
wozu  die  aus  eigener  Kraft  aus  der  Tiefe  allmählich  sich  heraufarbeitenden 
Palästiner  keinen  Grund  gehabt  hätten.  Außerdem  weisen  auf  den  Durchgang 
durch  das  babylonische  Exil  hin  1)  die  genaue  Datirungsweise  und  die  Früh- 
lingsära, die  wir  plötzlich  bei  Haggai  und  Zacharia  finden  (Prolegomena 
p.  106  SS.),  2)  die  babylonischen  Eigennamen  Scheschbassar,  Sareser,  Regem- 
melek,  Meschezabel,  deren  Gewicht  man  durch  Sanballat,  den  Kuthäer,  nicht 
entkräften  kann. 

0  Die  Laudpfleger  in  Jerusalem  pflegten  Juden  zu  sein,  und  auch  Schesch- 
bassar war  kein  Perser,  wie  de  Saulcy  und  Stade  meinen,  denn  er  trägt  einen 
babylonischen  Namen.  Die  Etymologie  hat  Hoonacker  gefunden:  Schamasch- 
balossor  (Academy  30.  Januar  1892).  Kosters  hat  in  "lifNJti'  1  Chr.  3,  18  (vgl. 
Savaßaaaapos  in  1  Esd.,  "iy~Jö  und  iy~)DJti^  bei  Lidzbarski)  den  Schesch- 
bassar erkannt;  darnach  wäre  er  der  Oheim  und  Vorgänger  Zerubabels  ge- 
wesen. Nach  dem  griechischen  Esdras  hat  Scheschbassar  die  Juden  geführt, 
die  unter  Cyrus,  Zerubabel  die,  die  unter  Darius,  dem  Willensvollstrecker  des 
Cyrus,  heimkehrten.  Indessen  hat  das  apokryphe  Zwischenstück  1  Esd.  3,  1 — 5,  6 
nicht  den  geringsten  geschichtlichen  Wert;  es  widerspricht  auch  den  Vor- 
aussetzixngen  des  Zusammenhangs,  in  den  es  eingelegt  ist. 


Die  Restauration.  165 

Man  wüßte  gern,  wie  es  in  Palästina  damals  ausgesehen  hat. 
Im  Norden  von  Judäa  wohnten  die  Samarier,  ein  Mischvolk,  ent- 
standen aus  der  Verbindung  der  altisraelitischen  Bevölkerung  mit 
fremden  Kolonen,  welche  durch  die  Assyrer  dort  angesiedelt  waren  ^). 
Ihr  Mischlingscharakter  zeigte  sich  auch  in  der  Religion;  doch  über- 
wog wol  der  alte  halbheidnische  Jahvedienst,  wenngleich  derselbe 
seit  der  Zerstörung  des  Heiligtums  von  Bethel  durch  Josias  kein 
rechtes  Zentrum  mehr  hatte.  Im  Westen  waren  die  Asdodier  die 
Nachbarn,  im  Osten  die  Ammoniten,  die  vereinzelt  über  den  Jordan 
vorgedrungen  zu  sein  scheinen "').  Im  Süden  hatten  die  verhaßten 
Edomiten  bereits  angefangen,  den  Negeb  Juda  zu  okkupiren,  da- 
mals noch  nicht  gedrängt  von  den  Arabern  (Ez.  35,  10).  Inmitten 
dieser  Völkerschaften  hatte  sich  in  Juda  auf  dem  Lande  ein  Rest 
der  alten  Bewohner  erhalten  ^),  der  aber,  ob  wol  an  Zahl  nicht  ge- 
ring, doch  keinen  festen  Mittelpunkt  hatte  und  aus  eigener  Kraft 
kaum  im  stände  war,  sich  gegen  die  heidnische  Umgebung  auf  die 
Dauer  zu  behaupten.  Die  herrschende  Sprache  in  Palästina  scheint 
schon  damals  die  aramäische  gewesen  zu  sein,  deren  Eindringen  in 
die  Gebiete  kanaanitischer  Zunge  schon  früh  begonnen  hat  und  durch 
die  gewaltsame  Volksmischerei  der  Assyrer  und  Chaldäer  sehr  be- 
fördert worden  ist. 

Die  Verbannten  verbreiteten  sich  bei  ihrer  Rückkehr  nicht 
über  das  ganze  alte  Gebiet  des  Stammes  und  Reiches  Juda;  das 
wäre  Selbstmord  gewesen,  sie  mußten  sich  bei  einander  halten.  Sie 
siedelten  sich  in  und  hei  Jerusalem  an.  Man  denkt,  sie  hätten 
nichts  eiligeres  zu  tun  gehabt,  als  den  Tempel  wieder  aufzubauen*). 


^)  Der  assyische  König,  der  2  Reg.  17,25  ss.  gemeint  ist,  scheint  der 
Zerstörer  Samariens  zu  sein;  Esd.  4,2.  10  werden  Asarhaddon  und  Osnappar 
genannt. 

-)  Schon  gleich  nach  der  Zerstörung  Jeruralems  griif  der  Ammouiterkönig 
Baalis  in  jüdische  Angelegenheiten  über  (Hier.  40,  14).  Gleichzeitig  oder 
etwas  früher  mag  das  Ammoniterdorf  in  Benjamin  (Jos.  18, 24)  entstanden 
sein.  Ton  Moab  ist  nicht  mehr  die  Rede,  wenngleich  der  Name  an  der  Land- 
schaft haften  blieb.     Vgl.  oben  p.  83.  123. 

^)  Dies  geht  besonders  aus  den  Klageliedern  hervor,  da  dieselben  oder 
wenigstens  einige  von  ihnen  während  des  Exils  in  Judäa  verfaßt  sind. 

*)  Dies  ist  die  Vorstellung  von  Esd.  5  und  die  damit  in  diesem  Punkte 
ganz  übereinstimmende  von  Esd.  1  und  3,  die  indessen  dem  authentischen 
Zeugnis  von  Ilaggai  und  Zacharia  widerspricht.  Mit  dem  Bericht  in  Esd.  5 
fällt    auch   das   Edict  des  Cyrus  in  Kap.  6.     Überhaupt    sind    alle    persischen 


166  Zwölftes  Kapitel. 

Aber  sie  ernchteteii  zunächst  nur  einen  Altar  auf  der  heiligen 
Stätte.  Sie  hatten  alle  Hände  voll  zu  tun,  um  sich  selber  einzu- 
richten und  über  Wasser  zu  halten.  Die  Ernten  waren  schlecht 
und  andere  Misstände  machten  sich  fühlbar,  die  einer  jungen 
Kolonie  selten  erspart  bleiben.  Jerusalem  erhob  sich  nur  langsam 
aus  den  Trümmern,  die  Straßen  waren  öde,  man  sah  weder  Greise 
noch  Kinder.  Es  gab  nichts  zu  verdienen,  der  Verkehr  war  ge- 
hindert durch  die  Unsicherheit  der  Straßen,  man  wagte  sich  nicht 
heraus.  Von  Fürsorge  der  Perser  war  nichts  zu  merken,  die  Ab- 
gaben dagegen  waren  nicht  niedrig  und  bedrückten  die  ärmere 
Bevölkerung  (Neh.  5,  4).  Unter  diesen  Umständen  war  die  Stimmung 
trübe,  Mut  und  Freude  konnten  nicht  aufkommen.  Die  Fasttage 
wurden  weiter  gefeiert,  als  wäre  man  noch  in  der  Trauer.  War 
das  die  Zeit  des  Heils,  die  ja  nach  dem  Fegefeuer  des  Exils  an- 
brechen sollte?  Sie  entsprach  nicht  den  Erwartungen.  Man  wohnte 
zwar  wieder  im  Lande  der  Väter,  aber  das  persische  Joch,  weil  es 
den  Verheißungen  so  gänzlich  widersprach,  wurde  drückender 
empfunden,  als  vordem  das  chaldäische.  Die  Krisis  war  eingetreten 
und  doch  war  alles  beim  alten  geblieben,  das  Gefängnis  war  ge- 
wandt, und  doch  mußte  die  eigentliche  Wendung  erst  kommen. 
Der  Frohndienst  war  noch  nicht  beendet,  die  Sünde  nicht  vergeben. 
Jahve  war  noch  immer  nicht  in  sein  Land  zurückgekehrt,  sein  Zorn 
lastete  noch  auf  seinem  Volke.  Selbst  wenn  man  im  stände  ge- 
wesen wäre,  ihm  den  Tempel  zu  bauen,  wie  hätte  man  es  nur 
wagen  können! 

Im  zweiten  Jahre  des  Darius  Hystaspis  (521/20)  scheinen  sich 
günstigere  Aussichten  aufgetan  zu  haben.  Gleichzeitig  traten  da- 
mals die  Propheten  Haggai  und  Zacharia  auf  ^),  mit  der  Forderung 


Königsurkunden  im  Buche  Esd.  ebenso  unecht  wie  die  bei  Jos.  Ant.  11,118  s. 
Die  Form  (z.  B.  das  beständige  Fehlen  des  Patronyms  bei  den  Königsnamen) 
ist  verdächtig  und  der  Inhalt  unmöglich.  Vgl.  Gott.  Gel.  Anz.  1897  p.  89  ss. 
')  Der  Anlaß  ihres  Auftretens  ist  nicht  die  Hoffnung  auf  den  Zusammen- 
bruch des  persischen  Reiches  in  folge  der  Aufstände,  die  nach  der  Ermor- 
dung des  Magiers  gegen  Darius  ausbrachen;  diese  Deutung  von  Agg.  2,6  ist 
unzulässig.  Nach  Esd.  9,  9  war  es  AÜelmehr  der  Huld  persischer  Könige  zu 
verdanken,  daß  der  Tempel  hergestellt  werden  durfte;  das  wird  man  fest- 
halten müssen,  obgleich  der  den  Baubefehl  des  Cyrus  erneuernde  Erlaß  des 
Darius,  nach  welchem  die  ganzen  Kosten  des  öffentlichen  Kultus  in  Jerusalem 
dauernd   auf  die  Reichskasse    übernommen   werden    sollen,    den  Stempel    der 


Die  Restauration.  X67 

uican  solle  endlich  Hand  anlegen  an  den  Tempelbau.  „Warum  zögert 
ihr?  eure  trübselige  Lage  rechtfertigt  es  nicht,  sie  kommt  vielmehr 
eben  daher,  daß  ihr  euch  nur  um  euch  selbst  und  eure  profanen 
Geschäfte  kümmert,  nicht  um  Jahve  und  um  das  Heilige!  Wenn 
nur  der  Tempel  erst  da  ist,  wird  euch  auch  alles  andere  zufallen; 
dann  kommt  Jahve  zu  seinem  Tempel  und  die  Heiden  bringen 
ihm  ihre  Schätze.  Noch  zwar  trotzen  die  Heiden,  es  hat  sich 
nichts  in  der  Welt  geändert  dadurch,  daß  einige  tausend  Juden 
von  Babel  nach  Jerusalem  verzogen  sind.  Aber  bald  tritt  die 
große  Bewegung  des  Himmels  und  der  Erde  ein,  aus  welcher  die 
messianische  Zeit  hervorgehn  wird.  Der  Messias  ist  schon  da,  es 
ist  der  Davidide  Zerubabel.  Nicht  lange,  so  wird  er  die  Krone 
aufsetzen,  die  durch  babylonische  Juden  bereits  gestiftet  und  de- 
ponirt  ist." 

Der  Tempelbau  kam  zu  stände  und  ward  im  sechsten  Jahr 
des  Darius  vollendet,  aber  die  daran  geknüpften  Hoffnungen  er- 
wiesen sich  als  eitel.  Jahve  zog  nicht  in  seinen  Tempel  ein.  Das 
Joch  der  Heiden  wurde  nicht  zerbrochen,  man  lebte  nach  wie  vor 
von  der  Gnade  der  Fremdherrschaft.  Zerubabel  wurde  nicht  König, 
er  vererbte  nicht  einmal  die  Statthalterschaft  auf  sein  Geschlecht. 
Die  Verhältnisse  blieben  in  ihrem  engen  Rahmen.  Das  wichtigste 
Ereignis  der  ersten  Jahre  oder  Jahrzehnte  war,  daß  die  babyloni- 
schen Kolonen  (Gola,  Bne  haGola)  sich  mit  ihren  im  Lande  ver- 
bliebenen Brüdern  verbanden.  Sie  waren  nicht  spröde  gegen  sie, 
sondern  nahmen  sie  mit  offenen  Armen  auf  und  zogen  sie  an  sich 
heran.  Sie  selber  scheinen  sich  vorzugsweise  in  Jerusalem  nieder- 
gelassen zu  haben,  während  jene  sich  in  der  Nähe  konzentrirten, 


Fälschimg  an  der  Stirne  trägt.  Marquart  meint,  daß  die  Niederwerfung  des 
babylonischen  Äufstandes  durch  Darius  A.  521  in  Jerusalem  als  Angeld  auf 
das  messianische  Heil  begrüßt  sei.  Das  ist  nicht  unwahrscheinlich.  Darius 
verdunkelte  bei  den  späteren  Juden  den  Cyrus,  weil  er  ihnen  als  der  eigent- 
liche Strafvollstrecker  an  Babel  galt;  denn  Cyrus  war  friedlich  in  die  gottlose 
Stadt  eingezogen  und  hatte  ihr  nichts  zu  leide  getan.  Es  kam  dazu,  daß  die 
siebzig  Jahre  des  Interdikts  damals  voll  wurden,  auf  welche  die  ursiirünglichen 
vierzig  Jahre  (bei  Ezechiel)  später  erweitert  waren.  —  In  Isa.  66,  1 — 4  wird 
ein  Protest  gegen  die  Erneuerung  des  Tempels  und  des  Opferdienstes  laut. 
Man  preßt  gewöhnlich  aus  diesen  Versen  einen  Sinn  heraus,  der  dem  Wort- 
laut schnurstracks  zuwiderläuft,  indem  man  das  Attribut  illegitim  hinein 
fälscht.     Richtig  verstanden  sind  sie  von  Stephanus  Act.  7,  49  s. 


168  Zwölftes  Kapitel. 

im  nördlichen  Juda  und  in  Benjamin ').  Die  Landschaft,  welche 
Jerusalem  und  Jericho  zu  Hauptstädten  hat,  heißt  fortan  Judäa; 
der  Negeb  und  die  Schephela  gehören  nicht  mehr  dazu").  Die 
Palästiner  standen  allerdings  auf  einer  andern  religiösen  Stufe  als 
die  heimgekehrten  Babylonier;  die  alte  volkstümliche  Tradition, 
aus  der  die  Verbannten  gewaltsam  herausgerissen  waren,  war  bei 
ihnen  nicht  gebrochen.  Sie  brachten  allerhand  halbheidnische 
Sitten  und  Neigungen  mit  und  legten  sie  nicht  sofort  gänzlich  ab'^). 
Aber  es  gelang  doch  den  Babyloniern,  sie  zu  sich  heraufzuziehen 
und  ihnen  ihren  Stempel  aufzudrücken;  das  aufgepfropfte  Reis  ver- 
edelte die  wilde  Wurzel.  Der  Tempel  behauptete  seine  Allein- 
herrschaft gegenüber  den  Höhen,  dank  der  zahlreichen  Priester- 
schaft, die  sich  in  Jerusalem  angesiedelt  hatte.  Der  legitime  Kultus 
verdrängte  die  alten  landesüblichen  Bräuche;  er  wurde  in  der  vom 
Deuteronomium  und  von  Ezechiel  vorgeschriebenen  Richtung  immer 
fester  und  feiner  ausgebildet.  Es  war  keine  geringe  Leistung  für 
die  Gemeinde,  den  täglichen  Opferdienst  und  das  zahlreiche  Tempel- 
personal zu  unterhalten.  Auch  der  kleine  Kultus  der  frommen 
Übungen  und  Reinigungen  drang  durch;  sogar  eine  so  beschwer- 
liche Forderung,  wie  die  der  allgemeinen  Brache  im  siebten  Jahr, 
die  vor  dem  Exil  niemals  ausgeführt  war,  fand  jetzt  Nachachtung. 
Das  alles  erklärt  sich  nur  daraus,  daß  die  Babylonier  in  Jerusalem 
einen  herrschenden  Einfluß  auf  die  Landbewohner  ausübten.  Sie 
waren  das  Rückgrat  der  Gemeinde^). 

Auch  nichtjüdische  Elemente  wurden  aufgenommen,  wenn  sie 
Jahve  und  seine  Gebote  anerkannten;  w^er  sich  vom  Heidentum 
los   sagte,    wurde  willkommen    geheißen.     Die   Beisassen   und  die 


')  Nehemia  (1,  2)  scheint  die  Stadt  Jerusalem  zu  unterscheiden  von  der 
Menge  der  von  der  Deportation  verschont  gebliebenen  Juden,    Vgl.  Neh.  11,1. 

-)  Zach.  7,7. 

3)  Isa.  56  s.  65  s. 

*)  Neh.  7  ist  ein  Verzeichnis  der  Bewohner  des  persischen  Regierungs- 
bezirks Jerusalem,  aus  einer  Zeit,  wo  die  Exulanten  bereits  lange  in  Judäa 
wohnten  und  die  Provinzialen  durchsäuert  hatten;  daher  die  verhältnismäßig  große 
Zahl  7,66,  daher  auch  die  persischen  Namen  Babai,  Bagoi  und  Aspadat 
(Sept.  7,7),  daher  endlich  die  Sänger  und  Türhüter,  die  doch  nicht  schon  in  Babel 
vorhanden  waren,  und  von  denen  noch  der  Priesterkodex  nichts  weiß.  Die 
Verschmelzung  hat  sich  sehr  bald  und  sehr  vollständig  vollzogen;  dte  Pro- 
vinzialen werden  in  Esd.  und  Neh,  gewöhnlich  nicht  mehr  von  der  Gola  unter- 
schieden, die  Amme  haAra^oth   sind  immer  reine  Heiden,  im  Gegensatz  zu 


Die  Restauration.  169 

Sklaven  wurden  religiös  den  Juden  gleichgestellt;  der  Ausdruck  Ger 
(Aufenthalter)  bekam  die  Bedeutung  Proselyt.  Aber  auch  solche, 
die  gar  nicht  in  die  Gemeinde  eintraten,  durften  sich  ihr  nähern 
und  näherten  sich  ihr.  So  vor  allen  Dingen  die  Samarier.  Aber 
auch  die  Philister  (Asdodier)  und  Ammoniten  hatten  nicht  bloß  seit 
alters  nahe  Beziehungen  zu  den  in  Palästina  verbliebenen  Juden, 
sondern  standen  auch  in  gutem  Verhältnis  zu  den  Exulantenkindern 
in  Jerusalem.  Besonders  die  regierenden  Aristokraten  machten 
Freundschaft  mit  den  vornehmen  Familien  der  Nachbarschaft,  mit 
denen  sie  sich  durch  Rang  und  Stellung  verbunden  fühlten. 
Heiraten  der  Juden  mit  fremden  Frauen  fanden  häufig  statt.  Sie 
waren  auch  früher  üblich  gewesen  und  im  Gesetz  nicht  eigentlich 
verboten.  Aber  die  Verhältnisse  lagen  jetzt  anders.  Das  Juden- 
tum lebte  auch  in  Palästina,  nicht  bloß  in  Babylonien,  vom 
Gegensatz  gegen  das  Heidentum.  Durch  weitherzige  Expansion 
kam  es  bei  der  herrschenden  Theokrasie  jener  Zeit  in  Gefahr,  sich 
in  einen  allgemeinen  unbestimmten  Monotheismus  aufzulösen.  Die 
Mischehen  stifteten  eine  natürliche  Verbindung  mit  heidnischen 
Geschlechtern,  durch  welche  der  religiöse  Charakter  der  Gemeinde 
gefährdet  wurde. 

2.  Gegen  diese  Gefahr  erhub  sich  nun  eine  Opposition,  die 
zw^ar  gegen  den  Übertritt  zum  Judentum  nichts  einzuwenden  hatte, 
aber  für  die  Heiligkeit  der  Gemeinde,  für  ihre  Absonderung  von 
den  Heiden,  mit  allem  Eifer  eintrat.  Es  ging  eine  Spaltung  durch 
das  jüdische  Volk.  Der  Gegensatz  war  nicht  ganz  reinlich;  die 
Eiferer  waren  nicht  die  einzigen  Frommen;  Idealisten  vom  Schlage 
des  Verfassers  von  Isa,  40ss.  konnten  in  der  Praxis  mit  den 
Profanen  und  Gleichgiltigen  übereinstimmen.  Aber  in  der  Haupt- 
sache standen  doch  die  Frommen  auf  der  einen,  die  Weltlichgesinnten 
auf  der  andern   Seite.     Die    Priester    neigten   wol  im   allgemeinen 


dem  späteren  jüdischen  Sprachgebrauch.  Jedoch  die  allgemeine  Anwendung  des 
Namens  Bne  haGola  für  die  palästinischen  Juden  überhaupt  findet  sich  noch 
nicht  in  den  Memoiren  Nehemias.  Dieselbe  erklärt  sich  daraus,  daß  die 
babylonischen  Juden  die  Normaljuden  waren,  nach  denen  die  anderen  sich 
richten  mußten.  Sie  schieden  sich  streng  von  den  Heiden  und  hielten  zäh 
an  der  väterlichen  Sprache;  nicht  bloß  der  Schriftgelehrte  Ezra,  sondern  auch 
der  Laie  Nehemia  beherrscht  das  Hebräische  vollkommen,  und  das  zu  einer 
Zeit,  als  bereits  anderthalb  Jahrhunderte  seit  der  Deportation  vergangen 
waren. 


170  Zwölftes  Kapitel. 

zu  der  Partei  der  Eiferer;  doch  nicht  alle  und  grade  die  vor- 
nehmsten nicht.  Wie  tief  der  Riß  war,  wie  er  auch  durch  die 
Familien  ging  und  die  Söhne  den  Vätern  verfeindete,  sieht  man 
aus  dem  Buch  Malachi.  Die  Frommen  hatten  geringe  Hoffnung 
durchzudringen  und  befanden  sich  in  verzweifelter  Stimmung. 
Der  Prophet  stellt  ihnen  zum  Trost  das  Gericht  in  nahe  Aussicht, 
das  Spreu  und  Weizen  in  der  Gemeinde  scheiden  solle.  Damit 
aber  Jahve,  wenn  er  erscheine,  nicht  allzuviel  auszurotten  und 
zu  strafen  finde,  verheißt  er  einen  Boten,  einen  Vorläufer,  der  ihm 
die  Bahn  bereite  und  die  gröbsten  Anstöße  aus  dem  Wege  räume. 
Der  Bote  kam  aus  Babylonien,  es  war  ein  Gelehrter  von 
priesterlichem  Blut  und  er  hieß  Ezra.  Durch  ihn  brachte  die 
babylonische  Frömmigkeit  der  palästinischen  Zuzug  und  Hilfe'). 
Im  Jahre  458  erbat  und  bekam  er  von  Artaxerxes  Longimanus 
(464 — 424)  die  Erlaubnis  in  die  alte  Heimat  überzusiedeln,  mit 
denjenigen,   die   sich  ihm  anschließen  wollten.     Der  König  unter- 

1)  Nach  Kosters  ist  mit  Ezra  überhaupt  zuerst  eine  Gola  aus  Babylonien 
zurückgekehrt  und  durch  ihre  Vereinigung  mit  den  palästinischen  Juden,  die 
Nah.  8—10  erzählt  sein  soll,  die  Gemeinde  gestiftet.  Umgekehrt  schlägt 
Renan  die  geschichtliche  Bedeutung  Ezras  sehr  gering  an,  unter  Berufung 
darauf,  daß  Nehemia  und  Jesus  Sirach  (auch  2  Macc.  1.  2)  ihn  nicht  er- 
wähnen, und  daß  die  Berichte  über  ihn  legendarisch  seien.  Es  befremdet 
allerdings,  daß  die  späteren  Juden  ihn  ignorirt  haben.  Seine  Memoiren  sind 
so  zugerichtet,  daß  man  jetzt  nicht  mehr  erkennen  kann,  weshalb  sie  Anstoß 
au  ihm  nahmen. 

Im  griechischen  Esdras  folgt  Neh.  8—10  sofort  auf  Esd.  7—10.  Diese 
Ordnung  ist  jedenfalls  jünger  als  die  des  hebräischen  Textes,  wird  aber  neuer- 
dings vielfach  gebilligt,  um  Ezra  aus  der  Verbindung  mit  Nehemia,  der  nichts 
von  ihm  sagt,  zu  lösen,  so  daß  er  entweder  dessen  A'orgänger  oder  sein  Nach- 
folger wird.  Nach  Josephus  ist  er  als  alter  Mann  gestorben,  ehe  Nehemia  nach 
Jerusalem  kam.  Die  Neueren  setzen  ihn  lieber  nach  Nehemia,  oder  in  die  Zeit  von 
dessen  zweitem  Aufenthalt  in  Jerusalem;  denn  Ezra  baue  auf  der  von  Nehemia 
gelegten  Grundlage,  nicht  umgekehrt.  Dieser  innere  Grund  soll  dazu  berech- 
tigen, die  Erzählungsstücke  in  Esd.  und  Neh.  total  zu  derangiren  und  dann  nach 
eigenem  Ermessen  neu  zu  arrangiren?  Die  überlieferte  Reihenfolge  mag  keine 
genügende  Gewähr  ihrer  Richtigkeit  bieten;  wenn  sie  aber  überhaupt  nur 
möglich  ist,  so  ist  es  immer  noch  besser,  dieser  Möglichkeit  zu  folgen,  als 
zwischen  beliebigen  selbsterdachten  zu  wählen.  Neh.  8—10  schließt  nicht  an  Esd. 
10;  man  kann  auch  nicht  etwa  Neh.  8  auf  Esd.  8,  und  dann  Neh.  9.  10  auf  Esd.  10 
folgen  lassen.  In  der  Situation  von  Esd.  7—10  hat  der  Thirschatha  von  Neh. 
8 — 10  keinen  Platz,  und  für  die  Verstellung  des  letzteren  Stücks  sucht  man 
vergebens  nach  Gründen.     Der  Chronist  hat  es   an  seinem   gegenwärtigen  Ort 


Die  Restauration.  171 

stützte  ihn  für  die  Reise  und  gab  ilim  Empfehlungen  mit  an  die 
Beamten  der  Provinz  Transeuphratene.  Es  meldeten  sich  1496 
Männer,  die  mit  ihm  ziehen  wollten,  uneingerechnet  zwei  priester- 
liche und  eine  davidische  Familie.  Leviten  waren  nicht  dabei, 
erst  auf  das  Drängen  Iddos,  des  Hauptes  der  Gola,  ließen  sich 
38  Leviten  und  220  Hierodulen  bereit  finden.  Zum  Sammelplatz 
der  großen  Karawane  wurde  eine  Stelle  am  Kanal  von  Ahava  be- 
stimmt.  Dort  hielt  Ezra  ein  Fasten,  um  Jahves  Hilfe  für  das  be- 
schwerliche und  gefährliche  Unternehmen  zu  erflehen;  denn  er 
schämte  sich  vom  Könige  ein  Geleit  anzunehmen.  Im  April  wurde 
die  Reise  angetreten;  zwölf  Priester  und  zwölf  Leviten  trugen  die 
kostbaren  Gaben,  die  wahrscheinlich  von  reichen  babylonischen 
Glaubensgenossen  für  den  Tempel  gestiftet  waren.  Im  August  kam 
man  in  Jerusalem  an,  die  Geschenke  wurden  an  den  Tempel  ab- 
geliefert, die  Empfehlungen  den  Beamten  übergeben.  Ein  Dankopfer 
feierte  die  Vollenduns;  der  fünfmonatlichen  Reise. 


•0  und  in  der  gegenwärtigen  Verbindung  schon  vorgefunden  (Esd.  3,  1  =  Neh. 
7,  72,  8,  1).  Der  auflfallende  Umstand  läßt  sich  auf  keine  Weise  beseitigen, 
daß  Ezra  die  Aufgabe,  zu  der  er  vorn  Könige  gesandt  sein  soll  (das  Gesetz 
einzuführen),  bei  seiner  Ankunft  in  Jerusalem  liegen  läßt  und  sich  an  eine 
ganz  andere  macht. 

Für  die  Gleichzeitigkeit  Ezras  und  Nehemias  spricht  1)  daD  Ezra  im 
Jahre  7  des  Artaxerxes  einen  Sohn  des  Hohenpriesters  Eljaschib  zum  Freunde 
hatte  und  daD  Nehemia  im  Jahre  32  des  A.  einen  verheirateten  Enkel  des 
Eljaschib  aus  Jerusalem  verbannte,  2)  daß  in  Neh.  3  (einem  allerdings  wol 
nicht  zu  den  Memoiren  gehörigen  Verzeichnis)  zwei  oder  drei  Personen  ge- 
nannt werden,  die  auch  in  Esd.  7 — 10  vorkommen.  Daß  mit  dem  Thirschatha 
Neh.  7 — 10  wirklich  Nehemia  gemeint  sei,  halte  ich  darum  für  wahrscheinlich, 
weil  es  in  jener  Zeit  (der  des  Ezra)  schwerlich  noch  regelmäßige  Landpfleger 
in  Judäa  gegeben  hat. 

Eine  weitere  Frage  ist,  unter  welchem  Artaxerxes  Ezra  und  Nehemia  ge- 
wirkt haben.  Ich  halte  die  Annahme,  daß  Esd.  4  hinter  Esd.  5.  6  stehn 
muß,  für  berechtigt,  besonders  wegen  des  kuriosen  Überganges  4,  24.  Dann 
folgen  sich  ordnungsmäßig:  Darius  Hystaspis,  Xerxes,  Artaxerxes  Longimanus. 
Unter  dem  letzteren  Könige  wird  nach  Esd.  4  die  Mauer  von  Jerusalem  zer- 
stört. Dies  ist  mm  der  Anlaß,  weshalb  Nehemia  sich  Urlaub  erbittet;  der 
Artaxerxes  der  Memoiren  Ezras  und  Nehemias  wäre  also  Longimanus  (466 — 424). 
Die  Ansicht,  es  sei  Mnemon  (405 — 361),  stützt  sich  auf  die  ganz  unerweis- 
liche Gleichzeitigkeit  des  Hohenpriesters  Jaddua  mit  Alexander  und  Darius 
Codomannus.  Für  den  historischen  Pragmatismus  macht  es  allerdings  gar 
keinen  Unterschied,  ob  Longimanus  gemeint  ist  oder  Mnemon  —  so  glänzend 
sind  wir  über  die  Anfänge  des  Judentums  unterrichtet. 


172  Zwölftes  Kapitel. 

Einen  Landpfleger  fand  Ezra  in  Jerusalem  nicht  mehr  vor,  der 
Sitz  der  persischen  Regierung  war  wol  in  Samarien.  Die  Ver- 
waltung von  Jerusalem  lag  in  den  Händen  der  dortigen  Aristokratie, 
die  in  der  Regel  selbständig  schaltete  und  nur  gelegentlich  darin 
von  den  persischen  Beamten  gestört  wurde.  Zu  Anfang  hatte 
Ezras  Auftreten  große  Wirkung.  Die  Frommen  betrachteten  ihn 
als  ihren  Bundesgenossen,  der  ihnen  in  der  Gemeinde  zum  Siege 
zu  verhelfen  bereit  und  auch  autorisirt  sei;  sie  hatten  ohne  Zweifel 
Grund  und  Ursach  zu  dieser  Annahme.  Gleich  nach  seiner 
Ankunft  klagten  sie  ihm,  daß  Vornehme  und  Geringe  sich  nicht 
scheuten  auswärtige  Frauen  zu  heiraten  und  den  heiligen  Samen 
mit  der  Unreinheit  der  Heiden  zu  vermischen.  Ezra  war  außer 
sich;  er  tat  so,  als  wäre  ihm  die  Sache  ganz  neu,  obwol  er  gewiß 
schon  in  Babylonien  davon  unterrichtet  und  grade  auch  dadurch 
veranlaßt  war  nach  Jerusalem  zu  gehn.  Zur  Zeit  des  Abend- 
opfers verlieh  er  öffentlich  vor  zahlreichen  Zuhörern  der  Zer- 
knirschung Ausdruck,  w^elche  sie  empfinden  sollten.  Dem  Eindruck, 
den  er  zu  machen  wünschte,  gab  im  Einverständnis  mit  ihm  der 
fromme  Sekania  ben  Jehiel  Widerhall,  indem  er  zugleich  das 
Vertrauen,  daß  nicht  alles  verloren  sei,  aussprach  und  den 
ernsten  Willen,  das  Übel  zu  beseitigen.  „Laßt  uns  alle  uns  vor 
Gott  verpflichten,  alle  ausländischen  Weiber  und  ihre  Kinder 
hinaus  zu  tun,  nach  dem  Rate  des  Herrn  und  derer  die  zitternd 
seinem  Gebote  folgen,  daß  nach  dem  Gesetze  gehandelt  werde." 
Da  stand  Ezra  auf  und  nahm  einen  Eid  von  den  Obersten  der 
levitischen  Priester  und  des  ganzen  Israel,  daß  man  nach  diesem 
Worte  tun  wolle.  So  geschwinde  indessen  wie  sie  wünschten  kamen 
die  Frommen  nicht  zum  Ziel.  Erst  mußte  die  Angelegenheit  vor 
die  Gemeinde  gebracht  werden.  Zum  Dezember,  vier  Monat 
nach  der  Ankunft  Ezras,  wurden  alle  jüdischen  Männer  nach 
Jerusalem  geladen.  Sie  erschienen  dort  vollzählig  zu  der  bestimmten 
Frist,  au  einem  unangenehmen  regnerischen  Tage.  Zitternd  vor 
Aufregung  und  vor  Kälte,  gelobten  sie  zwar  dem  Ezra  im  all- 
gemeinen was  er  von  ihnen  verlangte,  erklärten  es  jedoch  zugleich 
für  untunlich,  die  weitläuüge  und  schwierige  Sache  in  einer  all- 
gemeinen Versammlung  binnen  zwei  drei  Tagen  zu  erledigen,  zumal 
bei  solchem  Wetter.  Es  sollten  vielmehr  die  in  Mischehe  lebenden 
Männer  aus  jedem  Orte  besonders  zu  einem  bestimmten  Termin 
nach    Jerusalem    vorgeladen    werden,    zugleich    mit    den    Ältesten 


Die  Restauration.  173 

und  Richtern  ihres  Ortes.  Trotz  dem  Einspruch  einiger  Eiferer 
wurde  dieser  Vorschlag  angenommen  und  alsbald  ein  Ausschuß 
für  Ehesachen  in  Jerusalem  gebildet,  der  zu  Anfang  des  folgenden 
Monats  seine  Tätigkeit  begann.  Eine  Anzahl  von  Männern,  welche 
Ausländerinnen  geheiratet  hatten,  wurden  ermittelt,  darunter  auch 
einige  Priester  und  Leviten.  Bei  diesem  Punkte  aber  ist  der 
Bericht  plötzlich  abgeschnitten.  Vielleicht  war  das  Ende  ein  Fehl- 
schlag. Wenn  es  aber  ein  Erfolg  war,  so  hatte  derselbe  keine 
Dauer.  Ezra  konnte  seinen  Willen  nicht  mit  Gewalt  durchsetzen'). 
Er  hatte  nicht  die  Macht,  die  ihm  in  dem  Ferman  des  Artaxerxes 
(Esd.  7)  gegeben  wird,  Beamte  einzusetzen,  Hinrichtungen  und 
andere  schwere  Strafen  vollstrecken  zu  lassen.  Jener  Ferman 
ist  also  erdichtet.  Das  folgt  auch  daraus,  daß  darin  als  die 
eigentliche  Mission  Ezras  die  Einführung  des  Gesetzes  erscheint. 
Wenn  er  diesen  Auftrag  und  die  nötige  Vollmacht  dazu  wirklich 
vom  Könige  erhalten  hätte,  so  hätte  er  ihn  auch  ohne  Verzug 
ausführen  müssen.  Er  hatte  aber  nicht  die  geringste  Eile  damit. 
Das  Gesetz  war  ihm  überhaupt  nur  Mittel  zum  Zweck.  Sein 
eigentliches  Ziel  war  die  Beseitigung  der  Gefahr,  daß  die  palästi- 
nischen Juden  allmählich  mit  ihren  heidnischen  Nachbarn  verwuchsen. 
Auf  dieses  Ziel  ging  er  grade  los,  indem  er  die  Mischehen  bekämpfte, 
wobei  er  sich  nicht  auf  das  Gesetz  stützte  und  auch  gar  nicht 
direkt  stützen  konnte.  Das  Gesetz  hat  er  erst  viel  später  ver- 
öffentlicht, erst  nachdem  die  eigentliche  praktische  Arbeit  durch 
ihn  und  Nehemia  geschehen  war. 

Es  kamen  unruhige  Zeiten  über  Syrien,  es  war  der  Sitz  des 
Aufstandes  des  Megabyzus,  des  Bezwingers  der  Ägypter  und  Athener, 
der  sich  dort  unabhängig  machte  und  mehrere  Jahre  gegen  den 
Oberkönig  Krieg  führte.  Die  Juden  scheinen  diese  Unordnung  be- 
nutzt zu  haben,  um  Jerusalem  zu  befestigen.  Der  Bau  der  Mauer 
der  bis  dahin  nicht  ummauerten  Stadt  lag  besonders  den  Frommen, 
den  Exklusiven,  am  Herzen  (Ps.  51,  20),  wol  weil  sie  glaubten,  die 
äußere  Absperrung  erleichtere  die  innere.     Es  gelang  den  Mauer- 


^)  Hätte  er  eine  äußerlich  hervorragende  Stellung  in  Jerusalem  einge- 
nommen, so  hätte  Nehemia  kaum  umhin  gekonnt,  ihn  zu  erwähnen.  —  Auf 
den  Ausschluß  der  Samarier  vom  Konnubium  bezieht  sich  die  spätere  Rezen- 
sion von  Gen.  34.  Das  Interesse  au  der  Umarbeitung  der  alten  Geschichte 
weist  in  diese  Zeit, 


174  Zwölftes  Kapitel. 

ball  ins  Werk  zu  setzen ').  Aber  dann  sollen  die  persischen  Pro- 
vinzialbeamten  dazwischen  getreten  sein,  weil  sie  in  der  Befestigung 
der  Stadt  eine  Gefahr  für  das  Reich  erblickten.  Jedenfalls  wurden 
Breschen  in  die  Mauer  gelegt  und  die  Tore  verbrannt^). 

3.  Es  dauerte  indessen  nicht  lange,  so  gelang  es  den  Frommen 
wieder  die  Gunst  des  Artaxerxes  zu  gewinnen.  Sie  hatten  einen 
Freund  und  Landsmann,  der  Mundschenk,  wahrscheinlich  Eunuch, 
am  Hofe  zu  Susa  war,  den  Nehemia  ben  Hakalia^).  Dem  gaben 
sie  Nachricht  von  dem  betrübenden  Stand  der  Dinge  in  Jerusalem. 
Nehemia  erwirkte  sich  Urlaub  von  dem  ihm  überaus  geneigten 
Könige,  um  eine  Zeit  lang  nach  Jerusalem  zu  gehn  und  die  Stadt 
des  Grabes  seiner  Väter  zu  bauen.  Er  bekam  Briefe  mit  an  die 
Beamten  der  Provinz  jenseit  des  Euphrat,  und  eine  Anweisung 
an  einen  königlichen  Forstmeister  daselbst  auf  Lieferung  von  Bau- 
holz. Er  war  mit  weit  größerer  Macht  ausgestattet  als  Ezra;  er 
durfte  in  Jerusalem  schalten  und  walten  wie  er  wollte.  Den  Rat 
der  Ältesten  brauchte  er  nicht  zu  fragen  und  die  persischen  Beamten 
hatten  ihm  nicht  darein  zu  reden.  Er  stellt  sich  selber  mit  den 
früheren  Landpflegern  auf  eine  Stufe;  indessen  war  es  kein  regel- 
mäßiges Amt,  das  er  bekleidete.  Er  trat  nicht  als  Glied  in  eine 
Reihe  ein,  er  verdrängte  keinen  Vorgänger  und  ließ  keinen  Nach- 
folger zurück.  Als  er  abging,  blieb  sein  Platz  leer,  und  als  er 
dann  noch  einmal  zurückkam,  konnte  er  ihn  ohne  weiteres  wieder 
einnehmen.  Er  war  ein  außerordentlicher  Bevollmächtigter  des 
Königs  zu  einem  bestimmten  Zweck,  ein  richtiger  Diktator,  der 
sich  vor  Reibungen  mit  der  Landesaristokratie  und  mit  den  Pro- 
vinzialbehörden  nicht  zu  fürchten  brauchte,  sondern  unbehindert 
seinem  Ziele  nachgehn  konnte.  Es  ist  eigentümlich,  daß  Arta- 
xerxes Longimanus  in  dieser  A¥eise  seine  Macht  für  die  Zwecke 
des  exklusiven  Judentums  zur  Verfügung  gestellt  hat. 


')  Die  Meinung-  indessen,  daß  in  Esd.  4,  12  nur  von  Ezra  und  seiner 
Gola  die  Rede  sei,  ist  schwerlich  richtig.  Denn  die  Gola  Ezras  konnte  doch 
nicht  für  sich  allein  die  Ummauerung  unternehmen  und  mußte  auch  nach 
zwölf  Jahren  mit  den  übrigen  Jerusaleraern  verschmolzen  sein.  Vgl.  G.  G.  A. 
1897  p.  92  s. 

■^)  Diese  Tatsache  steht  durch  Neh.  1  fest  und  läßt  sich  darnach  datiren. 
Daß  die  Mauer  auf  Befehl  des  Artaterxes  selber  zerstört  sei,  läßt  sich  schwer 
glaiiben,  da  Nahemia  von  einem  solchen  Befehl  nichts  weiß. 

^)  Die  richtige  Aussprache  von  Hakalia  ist  nach  Böhme  HakkePja  (warte 
auf  den  Herrn!). 


Die  Restauration.  175 

Zu  Anfang  des  Sommers  445^)  machte  sich  Nehemia  auf  den 
Weg.  Drei  Tage  nach  seiner  Ankunft  machte  er  des  Nachts  einen 
einsamen  Ritt  um  die  Stadt  und  überzeugte  sich  von  der  traurigen 
Beschaffenheit  der  Mauer.  Darauf  kündigte  er  den  Priestern  und 
den  Obersten  des  Volkes  an,  zu  welchem  Behuf  ihn  der  König 
gesandt  hätte;  sie  gingen  gehorsam  auf  die  Anregung  ein  und  be- 
schlossen die  Mauer  herzustellen.  Priester  und  Leviten,  Geschlechter 
und  Gilden,  einzelne  reiche  Privatleute  übernahmen  Strecken  des 
Baus;  auch  manche  auswärtige  jüdische  Städte  beteiligten  sich. 
Noch  ehe  aber  die  Arbeit  begann,  mischten  sich  Sanballat  der 
Horonit,  Tobia  der  Ammonit  und  Goscham')  der  Araber  darein 
und  versuchten  sie  zu  hintertreiben.  Sie  waren  bisher  in  Jerusalem 
aus-  und  eingegangen  und  fast  als  heimatberechtigt  betrachtet, 
nicht  bloß  in  der  Stadt,  sondern  auch  im  Tempel.  Tobia  und 
sein  Sohn  Johanan  führten  jüdische  Namen  und  waren  mit  vor- 
nehmen jerusalemischen  Familien,  sogar  mit  der  hohepriesterlichen, 
verschwägert.  Die  Absicht  des  Mauerbaus  war  ohne  Zweifel,  die 
heilige  Stadt  gegen  aui3en,  gegen  den  ungehinderten  Verkehr  mit 
Fremden,  abzuschließen.  Sanballat  und  Genossen  fühlten  sich 
vorzugsweise  durch  diese  Maßregel  getroffen,  sie  empfanden,  daß 
sie  nun  keinen  Anteil  und  kein  Recht  mehr  an  Jerusalem  haben 
sollten.  Seitdem  verwandelte  sich  ihre  frühere  Freundschaft  in 
Haß  gegen  die  Juden,  oder  richtiger  gegen  die  damals  aufstrebende 
exklusive  Partei.  Wie  Ezra  die  Mischehen  auflöste,  so  zeigte  Nehe- 
mia  den  fremden  Hospitanten  die  Zähne  und  wehrte  ihnen  den 
Zutritt  in  die  heilige  Stadt.  Das  war  der  Zweck  des  Mauerbaus; 
er  erklärte  ihnen  bei  dieser  Gelegenheit  mit  dürren  Worten,  sie 
hätten  in  Jerusalem  nichts  zu  suchen. 


')  In  Esdr.  7,  8.  9.  8,  31  werden  die  Monate  vom  Frühling  an  gezählt,  so 
daß  der  Ostermonat  der  erste  und  der  Herbstmonat  der  siebente  heißt.  Aber 
im  Jahre  geht  nach  Neh.  1,  1.  2,  1  dennoch  der  Kislev  (d.  i.  der  neunte  Mo- 
nat) dem  Msan  (d.  i.  dem  ersten)  voran;  im  Kislev  des  20.  Jahres  des  Artaxerxes 
erhält  Nehemia  die  Botschaft  aus  Jerusalem  und  im  Nisau  des  selben  Jahres 
bittet  er  um  Urlaub.  Das  bürgerliche  und  königliche  Jahr  wird  nach  der 
syrischen  Weise  vom  Herbste  gerechnet  und  nur  die  Benennung  der  Monate 
nach  der  babylonischen  Zählung  beibehalten.  Ähnlich  liegt  die  Sache  im 
ersten  Makkabäerbuch  und  vielleicht  schon  in  Hierem  36,  denn  nach  36,  1.  9 
scheint  im  7.  Monat  das  Jahr  zu  wechseln.  Anders  allerdings  Agg.  1,  1.  2,  10. 
Zach.  1,  7. 

2)  Sprenger,  die  alte  Geographie  Arabiens  p.  232. 


176  Zwölftes  Kapitel. 

Die  Abgewieseneil  machten  ihrem  Arger  zunächst  durch  höh- 
nische Redensarten  Luft.  „Was  wollen  diese  elenden  Juden?  laßt 
sie  nur  bauen;  wenn  ein  Fuchs  kommt,  so  bricht  er  dadurch!" 
Als  aber  die  Mauer  in  die  Höhe  stieg  und  die  Lücken  überall  er- 
gänzt wurden,  sollen  sie  beschlossen  haben,  das  Werk  mit  Gewalt 
zu  stören.  Von  vielen  Seiten  drangen  Nachrichten  nach  Jerusalem, 
sie  hätten  einen  Anschlag  vor.  Es  scheint,  daß  Nehemia  durch 
blinden  Lärm  geschreckt  werden  sollte.  Er  war  zwar  auf  der  Hut 
vor  einem  plötzlichen  Überfall,  und  auch  als  er  keine  Gefahr  mehr 
besorgte,  behielt  er  einen  Teil  der  Maurer  unter  den  Waffen.  Aber 
der  Bau  wurde  bei  alledem  unentwegt  fortgesetzt,  verdoppelte  An- 
strengung glich  die  Verminderung  der  Mannschaft  aus. 

Jedoch  ein  neues  Hindernis  trat  ein.  Es  herrschte  viel  Armut 
in  Jerusalem  und  in  folge  davon  ein  starker  Gegensatz  der  Stände. 
Die  Besitzlosen  waren  den  Vermögenden  verschuldet,  sie  hatten 
ihnen  ihre  Äcker  und  Weinberge  oder  auch  ihre  Kinder  verpfänden 
müssen,  um  ihren  Lebensunterhalt  zu  bestreiten  oder  die  Steuern 
bezahlen  zu  können.  Es  scheint,  daß  ihre  Not  durch  den  Mauer- 
bau, während  dessen  sie  nichts  verdienen  konnten,  noch  verschärft 
war.  Jedenfalls  hielten  sie  die  Gelegenheit  für  günstig,  um  einen 
Tumult  zu  machen  und  laut  ihre  Klage  zu  äußern.  Der  Land- 
pfleger nahm  Partei  für  sie,  vielleicht  nicht  bloß  aus  Menschen- 
freundlichkeit, sondern  auch  deshalb,  weil  die  Feinde  der  Armen 
auch  seine  Feinde  waren.  Er  ließ  die  Vornehmen  in  einer  großen 
Versammlung,  die  er  gegen  sie  berief,  hart  an,  verwies  sie  auf  sein 
eigenes  Beispiel,  daß  er  sein  Einkommen  lediglich  zum  besten  der 
Gemeinde  aufwende,  und  schüchterte  sie  so  ein,  daß  sie  die  Zinsen 
erließen  und  die  Pfänder  zurückgaben. 

Nach  diesem  Zwischenfall  wurde  die  Mauer  glücklich  fertig 
gestellt;  es  blieb  nur  übrig,  die  Türen  in  die  Tore  einzuhängen. 
Noch  zu  guter  letzt  machten  die  Feinde,  im  Bunde  mit  der  durch 
die  Seisachthie  dem  Nehemia  noch  übler  gesinnten  Aristokratie, 
Versuche,  das  Werk  zum  Stillstand  zu  bringen.  Sie  richteten  ihre 
Anschläge  jetzt  gegen  die  Person  Nehemias,  der  die  Seele  des 
Ganzen  war.  Sie  suchten  ihn  aus  der  Stadt  hinaus  zu  locken, 
angeblich  zu  einer  Besprechung.  Aber  vergebens.  Er  kam  auch 
dann  nicht,  als  sie  ihm  schrieben,  worüber  sie  mit  ihm  sprechen 
wollten:  es  gehe  nämlich  das  Gerücht,  er  baue  die  Mauern,  um 
sich  gegen  die  Perser  zu  erheben  und  selber  König  der  Juden  zu 


Die  Restauration.  j^yr 

werden,  er  habe  schon  Propheten  bestellt,  die  ihn  als  den  Messias 
ankündigen  sollten.  Da  die  plumpe  List  fehlschlug,  so  legten  sie 
ihm  zuletzt  unterirdische  Fallen  in  Jerusalem  selber.  Aber  es  half 
alles  nichts;  er  ließ  sich  nicht  fangen,  von  der  in  der  Stadt  herr- 
schenden Aufregung  nicht  anstecken,  und  an  seinem  Unternehmen 
nicht  irre  machen.  Im  Herbst  des  selben  Jahres,  in  Avelchem  er 
angekommen  war,  konnten  die  Türflügel  eingehoben  werden.  Da- 
mit war  die  Arbeit  glücklich  vollendet,  unter  großen  Schwierig- 
keiten in  sehr  kurzer  Zeit,  denn  sie  hatte  nur  zweiundfünfzig  Tage 
in  Anspruch  genommen').  Man  muß  freilich  bedenken,  daß  es 
sich  nur  um  eine  Restauration  handelte;  bloß  die  Türen  mußten 
offenbar  neu  gemacht  werden. 

Darauf  wurde  ein  regelmäßiger  Wachdienst  eingerichtet.  Bür- 
ger von  Jerusalem  besorgten  ihn,  jeder  in  der  Gegend  seines  Hauses ; 
den  Befehl  führten  Hanani,  ein  Bruder  Nehemias,  und  Hanania, 
der  Burgvogt').  Die  Tore  durften  nicht  früher  geöffnet  werden, 
als  bis  die  Sonne  heiß  ward.  Da  der  Mauergürtel  zeigte,  wie 
schwach  Jerusalem  noch  bewohnt  war,  so  wurde  auf  Anregung 
Nehemias  in  einer  Versammlung  der  Obersten  und  des  Volks  eine 
Maßregel  beschlossen,  um  die  Bevölkerung  zu  mehren.  Jeder 
zehnte  Mann  mußte  vom  Lande  in  die  Stadt  ziehen;  manche,  die 
nicht  vom  Lose  getroffen  waren,  taten  es  freiwillig.  Auch  die 
Leviten  und  Sänger,  die  außerhalb  wohnten,  suchte  Nehemia  in 
Jerusalem  zu  vereinigen. 

Er  hatte  von  Artaxerxes  nur  beschränkten  LMaub  zu  einem 
bestimmten  Zweck  erhalten,  und  als  er  diesen  Zweck  erreicht 
hatte,   kehrte  er  zum  Könige  zurück').     Er  kam  aber  zwölf  Jahre 

1)  Nach  Josephiis  (Ant.  1],  179)  nahm  der  Manerbau  2  Jahr  und  4  Monat 
in  Anspruch,  er  begann  im  25.  Jahr  des  Xerxes  und  ward  im  28.  vollendet. 
Josephus,  welcher  der  Ordnung  des  griechischen  Esdras  folgt  und  Esd.  4,7  ss. 
unmittelbar  hinter  Esd.  1  stellt,  verwandelt  den  Artaxerxes  von  Esd.  4  in 
C'ambyses  und  den  von  Esd.  7  ss  in  Xerxes.  So  bringt  er  alles  richtig  in 
Reihe:  Cyrus,  Gambyses,  Darius,  Xerxes. 

-)  Hanani  und  Hanania  neben  einander  (Neh.  7,  2}  fallen  auf,  ebenso  die 
Erwähnung  der  Bira.  Sie  findet  sich  freilich  auch  2,  8,  aber  dort  fehlt;[sie 
in  der  Septuaginta. 

2)  Nach  Neh.  2,  6  ist  es  wenig  glaublich,  daß  Nehemia  seinen  ersten  Ur- 
laub vom  persischen  Könige  auf  zwölf  Jahre  sollte  ausgedehnt  haben,  zumal 
alles  was  von  seinem  Tun  erzählt  wird  sich  auf  etwa  ebensoviel  Wochen 
zusammendrängt  und  nur  den  Mauerbau  nebst  Konsequenzen  betrifft.    Die  An- 

We  1 1  h  a  u  s  e  n ,  Isr.  Geschichte,    ö.  Aufl.  j 2 


178  Zwölftes  Kapitel.     Die  Restauration. 

später  (432)  noch  einmal  wieder,  weil  die  jerusalemischen  Ver- 
hältnisse abermals  sein  persönliches  Eingreifen  zu  erfordern  schienen. 
Die  jüdische  Aristokratie,  an  welche  die  oberste  Gewalt  zurück- 
gefallen war,  zeigte  noch  immer  keinen  Eifer  für  das  Heilige.  Der 
Sabbat  war  nicht  streng  eingehalten;  er  wurde  als  Markttag  be- 
handelt, an  dem  die  Landleute  und  die  tyrischen  Krämer  ihre 
Waren  zur  Stadt  brachten.  Nehemia  ließ  vom  Freitag-  bis  Sabbat- 
abend die  Tore  schließen  und  verleidete  den  Händlern  den  Besuch 
des  unheiligen  Marktes.  Er  entdeckte  auch,  daß  die  Mischehen 
noch  immer  nicht  ganz  aufgehört  hatten.  Er  fand  Juden,  deren 
Weiber  aus  Asdod  und  von  Moab  und  Ammon  waren,  deren  Kinder 
großenteils  nicht  jüdisch,  sondern  asdodisch  redeten.  Er  schalt 
und  mishandelte  die  offenbar  den  niederen  Ständen  angehörenden 
Männer  und  nahm  ihnen  dann  einen  Eid  ab,  daß  sie  ihre  Söhne 
und  Töchter  nicht  mit  Heiden  verheiraten  wollten^).  Er  scheute 
sich  aber  auch  nicht,  gegen  die  Vornehmen  j'ücksichtslos  aufzu- 
treten, die  ihre  alten  Verbindungen  mit  den  benachbarten  Adels- 
familien wieder  angeknüpft  hatten.  Der  Ammonit  Tobia  war  nach 
Jerusalem  gekommen  und  hatte  eine  Sakristei  im  Heiligtum  ein- 
geräumt bekommen,  die  bis  dahin  zur  Aufbewahrung  von  Tempel- 
Geräten  und  -Vorräten  gedient  hatte.  Nehemia  warf  die  Sachen 
Tobias  hinaus  und  gab  den  Raum  seiner  alten  Bestimmung  zurück. 
Ein  Enkel  des  Hohenpriesters  Eljaschib,  ein  Sohn  des  Jojada,  hatte 
eine  Tochter  des  samarischen  Fürsten  Sanballat  geheiratet;  Nehemia 
jagte  ihn  fort  aus  der  Stadt. 

Der  Zehnte  war  nicht  nach  Vorschrift  verteilt,    die  Leviten, 
für  die  er  vorzugsweise  bestimmt  war,   hatten  nichts  abbekommen 


gäbe  13,  6  ist  nun  auch  sehr  unklar;  man  weiß  nicht,  ob  Nehemia  im  32.  Jahre 
des  Artaterxes  nach  Susa  oder  nach  Jerusalem  zurückgekehrt  ist;  die  Aus- 
leger umgehn  die  Schwierigkeit,  indem  sie  das  Datum  sowol  auf  die  eine 
als  auch  auf  die  andere  Reise  beziehen.  In  5,  14  stimmen  die  zwölf  Jahre 
schlecht  zu  dem  Folgenden,  wo  wie  sonst  nur  von  der  kurzen  Zeit  des  Mauer- 
baus die  Rede  ist.  Vielleicht  beruht  5,  14  auf  13,  6.  Vgl.  Hitzig,  Geschichte 
des  Volkes  Israel  p.  297, 

1)  Nehemia  hat  hier  nur  einen  Rest  zu  beseitigen,  über  dessen  Vor- 
handensein er  sich  wundert.  In  der  Hauptsache  muß  also  das  Verbot  der 
Mischehen  schon  früher,  während  seiner  ersten  Anwesenheit,  durchgedrungen 
sein.  Aber  es  ist  bemerkenswert,  daß  Nehemia  nicht,  wie  einst  Ezra,  fordert, 
daß  die  bestehenden  Mischehen  gelöst,  sondern  nur,  daß  keine  neuen  ge- 
schlossen werden  sollen.     Der  Fall  mit  dem  Sohne  Jojadas  lag  anders. 


Dreizehutes  Kapitel.     Das  Gesetz.  179 

oder  waren  doch  verkürzt  worden.  Nehemia  bildete  nun  eine  ge- 
mischte Kommission  aus  vier  zuverlässigen  Männern,  die  den  Zehnten 
in  Empfang  nehmen  und  gerecht  verteilen  sollten.  Es  kam  ihm 
darauf  an,  es  den  Leviten  und  Sängern  durch  ein  festes  Einkom- 
men zu  ermöglichen,  daß  sie  in  Jerusalem  blieben  und  sich  ihrem 
geistlichen  Amte  widmeten;  denn  sie  hatten  sich  schon  gezwungen 
gesehen,  die  Stadt  zu  verlassen  und  den  Acker  zu  bauen.  Er 
sorgte  aber  nicht  bloi3  für  die  Leviten,  sondern  ordnete  überhaupt 
die  Verhältnisse  des  Klerus,  die  sich  noch  immer  nicht  ganz  ge- 
festigt hatten.  Er  säuberte  die  Priester  und  Leviten  von  unreinen 
und  fremden  Elementen,  er  wies  ihnen  ihre  festen  Geschäfte  und 
Ämter  an.  Die  Hierokratie  scheint  damals  durch  ihn  ihre  defini- 
tive Gestalt  erhalten  zu  haben;  leider  müssen  wir  uns  an  kurzen 
Andeutungen  darüber  genügen  lassen. 

Es  ist  ISehemia  gelungen,  das  Werk,  dessen  Anreger  Ezra 
war,  für  die  Zukunft  sicher  zu  stellen,  die  Juden  vor  der  Unrein- 
heit der  Heiden  und  vor  dem  Eückfall  ins  Heidentum  zu  schützen. 
Ezra  und  Nehemia  sind,  durch  die  Gnade  des  Königs  Artaxerxes, 
die  definitiven  Konstitutoren  des  Judentums  geworden.  Hir  Eifer 
erscheint  uns  beschränkt  und  engherzig,  aber  sie  waren  von  hin- 
gebendem Gemeinsinn  beseelt,  und  ergriffen  zu  ihrem  Zweck  die 
richtigen  Mittel.  Als  Kinder  einer  neuen  Zeit  zeigen  sie  sich  da- 
durch, daß  sie  beide  sich  gedrungen  gefühlt  haben,  ihre  Memoiren 
zu  schreiben.  Leider  sind  uns  nur  die  des  Nehemia  authentisch 
wenngleich  fragmentarisch  erhalten.  Er  hat  sie  geschrieben,  damit 
ihm  Gott  all  des  Guten  gedenke,  das  er  für  sein  Volk  getan  habe, 
er  reicht  damit  gewissermaßen  sein  Guthaben  ein,  damit  es  in 
das  himmlische  Konto  eingetragen  werde. 


Dreizehntes  Kapitel. 

Das  Gesetz. 

1.  Die  Einführung  des  Gesetzes  diente  dem  selben  Zwecke, 
dem  Ezras  und  Nehemias  Wirksamkeit  überhaupt  diente,  der  Be- 
festigung des  Judaismus,   der  Absonderung  von   dem  Heidentum'). 

^)  Dieser  Zweck  tritt  bei  jeder  Gelegenheit  hervor,  nicht  bloß  Esd.  9.  10, 
sondern  auch  Neh.  9,  2.  13, 1—3,    Schon  J.  D.  Michaelis  hat  das  richtig  erkannt. 

12* 


180  Dreizehntes  Kapitel. 

Sie  war  aber  nicht  der  Anfang,  sondern  das  Ende  der  Reformation; 
sie  machte  bei  weitem  nicht  solche  Schwierigkeiten,  wie  etwa  die 
Auflösung  der  Mischehen.  Sie  krönte  das  Werk,  nachdem  es 
vollendet  war,  sie  verewigte  den  Sieg  der  exklusiven  Partei.  Die 
Zeit  der  wichtigen  Maßregel  läßt  sich  nur  ungefähr  bestimmen, 
dadurch,  daß  Nehemia  sich  damals  bereits  in  Jerusalem  befand; 
sie  fällt  also  mindestens  dreizehn  Jahr  nach  der  Ankunft  Ezras  in 
der  heiligen  Stadt ').  Auch  über  die  Vorbereitungen  ist  uns  nichts 
überliefert.  Unterrichtet  sind  wir  nur  über  den  Schlußakt,  der 
wirkungsvoll  in  Szene  gesetzt  wurde,  wie  Ezra  es  liebte  und  wie 
es  bei  dieser  Gelegenheit  sich  auch  schickte. 

Am  ersten  Tage  des  siebenten  Monats,  zu  Neujahr  im  Herbst, 
man  weiß  nicht  welches  Jahres,  versammelte  sich  das  Volk  auf 
dem  Markte  vor  dem  Wassertor,  zu  dem  Zweck  um  Ezra  aufzu- 
fordern, daß  er  das  Bach  der  Thora  Moses  vorbringe,  das  Jahve 
Israel  geboten.  Der  Schriftgelehrte  war  präparirt,  dieser  Auf- 
forderung zu  entsprechen.  Vom  frühen  Morgen  bis  zum  Mittag 
las  er  vor.  Die  Wirkung  war,  daß  ein  allgemeines  Weinen  sich 
erhub,  weil  man  sich  bewußt  war  bis  dahin  die  Gebote  Gottes 
nicht  befolgt  zu  haben.  Nehemia  und  Ezra  und  die  Leviten  mußten 
die  Aufregung  dämpfen,  sie  sprachen:  dieser  Tag  ist  Jahve  eurem 
Gotte  geweiht,  trauert  nicht  und  weint  nicht,  geht  hin,  eßt  was 
fett  ist  und  trinkt  was  süß  ist  und  gebt  denen  ab  die  nichts  mit- 
gebracht haben!  Da  zerstreuten  sich  die  Versammelten  und  ver- 
anstalteten eine  große  Freude.  Am  andern  Tage  wurde  die  Ver- 
lesung fortgesetzt,  aber  bloß  vor  den  Familienhäuptern;  und  zwar 
kam  ein  zeitgemäßes  Stück  an  die  Reihe,  nämlich  die  Verordnungen 
über  die  Feste,  insbesondere  über  das  unter  grünen  Zweigbuden 
zu    feiernde  Hüttenfest  am    15.  Tage   des    siebenten  Monats,    des- 


^)  Das  Jahr  ist  in  Neh.  8 — 10  nicht  angegeben.  Die  Erzählung  gehört 
nicht  zu  den  Memoiren  Nehemias,  die  schon  7,5  abschneiden;  aus  der  Stelle 
wo  sie  steht  läßt]  sich  kein  sicherer  Schluß  auf  die  Chronologie  machen. 
Kosters  vermutet,  sie  gehöre  eigentlich  hinter  Kap.  13,  das  Gesetz  Ezras  sei 
nicht  schon  bei  der  ersten  Anwesenheit  Nehemias  in  Jerusalem  veröifentlicht, 
sondern  erst  bei  der  zweiten.  Dadurch  würde  dann  aber  der  Zwischenraum 
zwischen  diesem  Ereignis  und  der  Ankunft  Ezras  noch  vergrößert;  oder  man 
müßte  sich  entschließen,  das  Datum  seiner  Ankunft,  das  doppelt  bezeugt 
ist,  nach  Gutdünken  zu  verändern.  Es  scheint  allerdings,  daß  Nehemia,  bei 
seiner  ersten  Anwesenheit,  sich  nur  um  den  Mauerbau  gekümmert  hat. 


Das  Gesetz.  181 

jenigen,  in  dessen  Anfang  man  grade  stand.  Mit  großem  Eifer 
ging  man  daran,  die  seit  den  Tagen  Josuas  nicht  gehörig  begangene 
Feier  nun  zu  rüsten,  und  mit  allgemeiner  freudiger  Beteiligung 
beging  man  sie  vom  15. — 22.  des  Monats,  nach  der  Vorschrift  des 
Gesetzes  Lev.  23.  Am  24.  aber  ward  in  Sack  und  Asche  ein 
großer  Bußtag  gehalten.  Mit  der  Gesetzeslektion  wurde  auch 
jetzt  begonnen,  darauf  folgte  ein  Sündenbekenntnis,  das  im  Namen 
des  Volks  von  den  Leviten  gesprochen  wurde  und  mit  der  Bitte 
um  Gnade  und  Erbarmen  schloß.  Das  war  die  Vorbereitung  zu 
dem  Haupt-' und  Schlußakte,  worin  die  w^eltlichen  und  geistlichen 
Beamten  und  Ältesten  der  Gemeinde,  fünfundachtzig  an  der  Zahl, 
sich  schriftlich  auf  das  durch  Ezra  veröffentlichte  Gesetzbuch  ver- 
pflichteten, alle  übrigen  aber  sich  mit  Eid  und  Fluch  verbindlich 
machten  zu  wandeln  in  der  Thora  Gottes,  gegeben  durch  seinen 
Diener  Moses,  und  zu  halten  alle  Gebote  Jahves  und  seine  Satzungen 
und  Rechte. 

Es  war  eine  Erneuerung  des  Bundes,  durch  den  einst  der 
König  Josias  das  Volk  verpflichtet  hatte,  aber  auf  w^eiterer  Grund- 
lage. Im  Exil  war  die  heilige  Praxis  von  ehemals,  als  sie  nach 
der  Zerstörung  des  Tempels  nicht  mehr  ausgeübt  werden  konnte, 
zum  Gegenstande  der  Theorie  und  des  Studiums  gemacht  worden, 
damit  sie  nicht  unterginge.  Ein  verbannter  Priester,  Ezechiel,  hatte 
den  Anfang  gemacht,  ein  Bild  von  ihr,  wie  sie  gewesen  war  und 
wie  sie  sein  sollte,  aufzuzeichnen,  als  Programm  für  die  zukünftige 
Herstellung  der  Theokratie.  Andre  Leviten  schlössen  sich  ihm  an, 
und  so  entstand  im  Exil  aus  dem  Priesterstande  eine  Schule  von 
Leuten,  die  das,  was  sie  früher  praktisch  getrieben  hatten,  jetzt 
auf  Schrift  und  in  ein  System  brachten.  Das  war  der  Ursprung 
einer  neuen  Art  von  Thora,  die  sich  mit  der  Agende  der  Priester 
befaßte.  Ihr  Endergebnis  liegt  im  Priesterkodex  des  Pentateuchs 
vor.  Den  Priesterkodex  hat  Ezra  zum  Gesetz  gemacht,  allerdings 
nicht  für    sich,    sondern   als  Bestandteil   des  Pentateuchs').     Aber 


')  Der  Pentateuch  besteht  aus  dem  Jehovisten,  dem  Deuteronomium  uud 
dem  Priesterkodex.  Das  deuterouomische  Gesetz  ist  schon  im  Exil  oder  bald 
nachher  mit  dem  jehovistischen  Geschichtsbuche  verbunden.  Die  auf  diese 
Weise  entstandene  Verbindung  von  Erzählung  und  Gesetz  hat  dem  Priester- 
kodex als  Muster  vorgelegen:  er  stellt  die  Thora  im  Rahmen  der  Geschichte 
dar,  als  wenn  das  in  der  Natur  der  Sache  läge,  und  stimmt  dabei  in  der 
Anordnung  des  historischen  Stoifs  mit  dem  Jehovisten  überein.     Der  Priester- 


182  Dreizehntes  Kapitel. 

er  war   doch  das  Neue   im  Pentateuch    und   gab   dem  Ganzen  das 
letzte  Gepräge. 

2.  Der  Priesterkodex  bringt  das  Kecht,   die  Stellung  und  die 
Gliederung  der  Priester  zu  Buch,  ferner  ihre  Thora,  enthaltend  die 


todex  ist  dann  mit  dem  älteren  historisch -legislativen  Werke  zum  Hexateiich 
verarbeitet.  Gesetz  ist  aber  nicht  ■  der  Hexateuch  geworden,  sondern  nur  der 
Pentateuch.  Wäre  das  Buch  Josua  jemals  mit  Gesetz  geworden,  so  wäre  es 
auch  Gesetz  geblieben  (besonders  bei  den  Samaritern)  und  nicht  mit  unter 
die  Propheten  gekommen.  Aber  es  paßte  nicht  zum  Gesetze  Moses,  und  so 
mußte  es  abgeschnitten  werden.  Die  jehovistische  Erzählung  spitzt  sich 
durchaus  zu  auf  die  Eroberung  Kanaans.  Aber  durch  die  Aufnahme  des  Ge- 
setzes wurde  auch  der  Schwerpunkt  ins  Gesetz  verlegt  und  die  Eroberung 
Kanaans  nach  dem  Tode  Moses  erschien  als  hors  d'oeuvre.  Vielleicht  hat  in- 
dessen schon  der  ursprüngliche  Priesterkodex  nicht  mehr  in  das  Buch  Josua 
hineingereicht,  dann  wäre  die  Abtrennung  des  letzteren  möglicherweise  schon 
bei  der  Verbindung  des  Deuteronomiums  mit  dem  Jehovisten  erfolgt.  Vgl. 
Prolegomena  p.  363  s. 

Da  schon  die  Samariter  nicht  den  Priesterkodex,  sondern  den  Pentateuch 
von  den  Juden  überkamen,  so  ist  die  nächstliegende  Annahme,  von  der  man 
nicht  ohne  zwingende  Nötigung  abgehn  darf,  daß  auch  Ezra  nicht  den  Priester- 
kodex für  sich,  sondern  den  Pentateuch  zum  Gesetz  erhoben  hat.  Dafür 
sprechen  noch  andere  Gründe.  Die  Bestimmungen  der  geschriebenen  Thora 
Moses,  auf  die  sich  die  Gemeinde  in  Neh.  10  verpflichtet,  sind  keineswegs 
ausschließlich  im  Priesterkodex  enthalten;  namentlich  finden  sich  die  Proteste 
gegen  die  Ehen  mit  den  Völkern  Kanaans  nur  im  (erweiterten)  Deuteronomium. 
Das  Deuteronomium  war  das  alte  heilige  Buch  und  genoß  das  größte  Ansehen; 
es  ließ  sich  nicht  durch  den  neuen  Kodex  verdrängen,  sondern  mußte  damit 
vereinigt  werden. 

Intrikat  ist  die  Frage  nach  dem  literarischen  Anteil  Ezras  an  dem  „Gesetz 
seines  Gottes".  Er  soll  es  aus  seinem  Geburtslande  mit  nach  Palästina  ge- 
bracht haben.  Aber  der  Jehovist  und  das  Deuteronomium  sind  nicht  durch 
ihn  importirt.  Und  auch  der  Priesterkodex  kann  nicht  fertig  aus  Babylonien 
gekommen  sein.  Seine  Ursprünge  liegen  allerdings  dort.  Indessen  die  von 
Ezechiel  ausgehenden  Anregungen  hatten  lange  vor  Ezra  in  Jerusalem  gewirkt, 
lange  vorher  hatte  sich  der  dortige  Kultus  in  der  Richtung  des  Priesterkodex 
entwickelt,  wie  man  aus  Haggai  und  namentlich  aus  Malachi  erkennt.  Der 
eigentliche  Tempeldienst  bedurfte  keiner  Reinigung  durch  Ezra  mehr,  er  war 
schon  vorher  dem  Priesterkodex  wesentlich  konform.  Hätte  Ezra  denselben 
von  Hause  mitgebracht,  so  hätte  er  sich  die  Aufgabe  gestellt,  ihn  sofort  ein- 
zuführen; es  lagen  ihm  jedoch  andere  Dinge  am  Herzen.  Der  Priesterkodex 
kann  auch  nicht  von  einem  Babylonier  verfaßt  sein,  der  in  Juda  nicht 
Bescheid  wußte.  Ezra  könnte  ihn  also  nur  in  den  dreizehn  Jahren,  die 
zwischen  seiner  und  Nehemias  Ankunft  lagen,  geschrieben  haben.  Dann 
müßte  er  aber  hinterher  auch  noch  den  Pentateuch   bearbeitet  haben.     Wahr- 


Das  Gesetz.  183 

Regelung  der  religiösen  Formen  des  Privatlebens  und  der  An- 
forderungen des  Kultus  an  die  Laien,  und  endlich  vor  allem  ihre 
Praxis,  nämlich  das  Ritual  des  Tempeldienstes.  Das  Deuteronomium 
hatte,  abgesehen  von  Aufzeichnungen  aus  der  priesterlichen  Thora, 
nur  erst  wenige  und  negative  Vorschriften  über  den  Kultus  gegeben; 
es  hatte  die  Höhen,  die  heiligen  Steine,  Bäume  und  Pfähle  verboten 
und  den  Opferdienst  auf  den  Tempel  von  Jerusalem  beschränkt. 
Der  Priesterkodex  stellt  den  ganzen  Ivultus  positiv  dar;  er  nimmt 
alle  Riten  und  Bräuche,  öffentliche  und  private,  in  die  Gesetz- 
gebung auf  und  stempelt  sie  zu  Bausteinen  eines  Systems  der 
Theokratie.  Das  Deuteronomium  enthält  noch  eine  Menge  juristi- 
schen Stoffes  aus  älteren  Volksrechten.  Der  Priesterkodex  befaßt 
sich  ausschließlich  mit  dem  Kultus.  Er  kennt  kein  Volk  Israel 
mehr,  sondern  nur  die  Gemeinde  der  Stiftshütte,  d.  i.  des 
Tempels ').  Die  Gemeinde  ist  ein  vorwiegend  geistlicher  Begriff, 
die  Zugehörigkeit  zu  ihr  ist  weniger  an  das  Blut  als  an  die  Religion 


scheinlich  ist  er  nur  der  Redaktor  des  Gauzeu.  Wenn  der  Pentateuch,  oder 
speziell  der  Priesterkodex,  seinem  Stoff  nach  ein  Werk  der  jerusalemischeu 
Priester-Schriftgelehrten  vor  Ezra  ist,-  so  läßt  sich  -verstehn,  daß  die  Samariter 
ihn  übernommen  haben,  die  erst  seit  Ezra  und  Nehemia  in  ein  feindliches 
Verhältnis  zu  den  Juden  gerieten  und  bis  dahin  vielleicht  in  Jerusalem  an- 
beteten. Dagegen  läßt  sich  schwer  glauben,  daß  Ezra  als  A'erfasser  des 
Priesterkodex  nichts  von  seiner  Polemik  gegen  die  Jlischehen  und  die  Sama- 
riter hineingebracht  hätte. 

Dem  hat  man  neuerdings  entgegengehalten,  daß  Ezra  in  dem  Edikt  des 
Artaxerxes  mit  säphar  data  geradezu  als  Autor  des  Gesetzes  bezeichnet 
werde.  Diese  dem  gesunden  Menschenverstände  außerordentlich  naheliegende 
Beobachtung  hat  den  Beifall  gefunden,  den  sie  verdient.  Sie  ist  aber  nicht 
richtig.  Denn  sopher  kommt  nicht  vom  Verbum  sphr  (zählen),  sondern 
vom  Substantiv  sepher  (Buch).  Es  ist  ein  Berufsname  und  bedeutet  den 
Schrift-  und  dann  auch  den  Schreibkundigen  von  Fach,  den  Literaten  und 
den  Sekretär.  Es  ist  intransitiv,  nicht  transitiv,  hat  nicht  das  akkus.  Objekt 
im  Genitiv  hinter  sich,  und  heißt  niemals  „der  Verfasser"  oder  „der  da 
geschrieben  hat".  Mit  säphar  data  wird  also  Ezra  nicht  als  Schreiber  des 
Gesetzes  bezeichnet,  sondern  als  Gesetzesgelehrter.  Gewöhnlich  wird  er  ein- 
fach hasopher  genannt,  ohne  genitivische  Ergänzung.  Als  Genitiv  des  tran- 
sitiven Objekts  könnte  aber  data  nicht  weggelassen  werden.  Ezra  kann 
wol  schlechthin  „der  Schriftgelehrte"  heißen,  aber  nicht  schlechthin  „der 
Verfasser". 

0  Die  Juden  sind  nur  noch  die  Beisassen  Jahves,  ihm  allein  gehört  das 
Land,  er  duldet  sie  nur  bedingungsweise  darin.     Lev.  25,  23. 


184  Dreizehntes  Kapitel. 

geknüpft.  Sie  hat  ihren  alten  aristokratischen  Charakter  (p,  94) 
verloren;  auch  die  Beisassen  und  Knechte  werden  durch  die  Be- 
schneidung darin  aufgenommen.  Die  Theokratie  ist  Hierokratie 
geworden  und  bedeutet  die  Herrschaft  des  Heiligen  in  der  Ge- 
meinde. Um  den  Ort,  wo  der  Heilige  wohnt,  bildet  die  Gemeinde 
ein  Lager  in  konzentrischen  Kreisen  von  abgestufter  Heiligkeit; 
zuerst  kommen  die  Priester,  dann  die  Leviten,  dann  die  Laien. 
Die  Aufgabe  der  Priester  ist,  durch  den  großen  Kultus  des  Opfer- 
dienstes die  Funktion  der  Theokratie  in  Gang  zu  halten;  die  der 
Laien  besteht  darin,  durch  den  kleinen  Kultus  der  täglichen  Reini- 
gungen und  übrigen  Observanzen  das  Heilige  vor  Entweihung  und 
Befleckung  zu  schützen.  Die  ganze  Gemeinde  ist  ein  heiliges  Volk 
und  ein  Reich  von  Priestern.  Heilig  ist  das  Adjektiv  von  Gott, 
die  Bedeutung  wechselt  je  nach  den  Vorstellungen  über  das  Sub- 
stantiv. Von  den  Propheten  war  der  Begriff  in  das  Moralische 
erhoben  worden.  Jetzt  wird  er  wieder  materialisirt;  das  Moralische 
wird  zwar  nicht  abgestreift,  aber  völlig  mit  dem  Liturgischen  ver- 
mischt. Heilig  ist  geistlich,  priesterlich ;  das  Göttliche  haftet  an 
den  rituellen  Observanzen.  Das  Ideal  der  Heiligkeit  der  Gemeinde 
ist  das  Ideal  ihrer  Vergeistlichung.  Merkwürdig  zeigt  sich  diese 
Vergeistlichung  auch  im  Sprachgebrauche.  Der  Schofar  war  früher 
die  Kriegsdrommete  oder  das  Hörn  der  Wächter,  um  Lärm  zu 
machen,  das  Analogen  unserer  Sturmglocke;  ertönte  der  Schofar 
in  einer  Stadt,  so  erschraken  die  Leute  —  jetzt  ist  er  ein  fried- 
liches lustriiment  in  den.  Händen  der  Priester,  niemand  erschrickt 
ihn  zu  hören.  Die  Teru'a  war  in  älterer  Zeit  das  Kampfgeschrei, 
jetzt  ist  es  die  Tempelmusik.  Das  Wort  für  Heer  und  Kriegsdienst 
selber  ist  vergeistlicht ,  Saba  ist  auf  die  Liturgie  des  niederen 
Klerus  übertragen. 

Der  Priesterkodex  fordert  nun  aber  nicht,  wie  die  Theokratie 
sein  soll,  sondern  er  beschreibt,  wie  sie  ist.  Es  ist  nicht  bloß 
Manier,  wenn  er  seine  Gesetze  in  historischer  Form  gibt  und  so 
tut  als  seien  sie  von  allem  Anfange  an  erfüllt  gewesen.  Er  setzt 
in  der  Tat  das  geistliche  Gemeinwesen^)  als  bereits  fungirend  und 
im  ganzen  und  großen  richtig  fungirend  voraus;   er  gibt  ihm  nur 


J)  uad  damit  die  Fremdherrschaft.  Die  jüdische  Kirche  ist  entstanden, 
als  der  jüdische  Staat  unterging,  dadurch  trat  die  Scheidung  von  Geistlichem 
und  Weltlichem   ein.     Alles  Politische    im   Gesetz  ist    phantastisch;    nur    die 


Das  Gesetz.  X85 

die  abschließende  gesetzliche  Unterlage.  Er  ist  nicht  das  Pro- 
gramm einer  Reformation;  er  steht  nicht  in,  sondern  über  dem 
Kampfe.  Selbst  in  Dingen,  die  etwa  noch  streitig  sind,  in  Fragen, 
die  die  Gegenwart  noch  erregen,  hütet  er  sich  meist,  deutlich  ein- 
zugreifen und  irgendwie  aktuell  und  parteiisch  zu  erscheinen;  er 
bewahrt  überall  seine  olympische  Gravität,  hüllt  die  Gegenwart  in 
die  Vergangenheit  und  verschleiert  die  praktische  Tendenz  durch 
rein  theoretisches  Beiwerk.  So  enthält  er  zwar  ein  ganzes  Bündel 
von  Verboten  der  Ehe  zwischen  zu  nahen  Verwandten,  aber  ein 
Verbot  der  Ehe  zwischen  Juden  und  Heiden  gibt  er  überhaupt 
nicht  ausdrücklich,  sondern  läßt  es  höchstens  zwischen  den  Zeilen 
lesen,  in  den  Erzählungen  über  die  Sorge  der  Erzväter  für  die 
Beinhaltung  ihres  Blutes.  Er  berührt  hier  einen  Punkt,  über  den 
damals  in  der  palästinischen  Gemeinde  ein  lebhafter  Streit  ent- 
brannt war,  streicht  ihn  aber  gar  nicht  besonders  heraus,  sondern 
redet  darüber  historisch  in  Ermahnungen  der  Patriarchen ').  Er 
hat  immer  Jerusalem  und  den  Tempel  vor  Augen  und  nennt 
beides  doch  niemals,  sondern  statt  dessen  das  Lager  der  Wüste 
und  die  mosaische  Stiftshütte.  Aus  dieser  merkwürdigen  Objektivi- 
tät und  scheinbaren  Zeitlosigkeit  des  Priesterkodex,  weil  er  sich 
möglichst  in  der  Vogelperspektive  und  fern  von  dem  Schmutz  der 
Wirklichkeit  hält,  begreift  es  sich,  daß  er,  eingehüllt  in  die  älteren 
Teile  des  Pentateuchs,  nicht  bloß  bei  den  Juden  leichten  Eingang 
gefunden  hat,  sondern  schließlich  sogar  auch  das  Gesetzbuch  der 
Samariter  geworden  ist. 

.3.  Der  Priesterkodex  zieht  die  Summe  aus  der  Entwicklung, 
welche  die  Volksreligion  unter  dem  Einfluß  der  Verhältnisse  und 
der  Propheten  seit  der  Zerstörung  Samariens  und  seit  Jesaias  durch- 
gemacht hatte.     Er  ist  das  Resultat  der  prophetischen  Reguliruug 


Rechtspflege  ist  allerdings  in  gewissem  Umfange  noch  im  Besitz  der  Gemeinde. 
Diese  wird  übrigens  wenig  berücksichtigt,  da  das  Deuteronomium  auf  diesem 
Gebiete  meist  als  genügend  erachtet  wird. 

1)  Die  Erzählung  von  Phinehas  (einer  Figur,  die  dem  Ezra  oder  Nehemia 
ähnelt)  und  von  seinem  Eifer  gegen  das  Huren  mit  den  midianitischen  Frauen 
ist  schwerlich  gegen  die  Mischehen  gerichtet;  es  handelt  sich  in  Nuni.  25  nicht 
um  Ehen  mit  den  Töchtern  des  Landes  und  überhaupt  nicht  um  Ehen,  sondern 
um  Unzucht  beim  Heiligtum.  Vgl.  dagegen  Num.  31,  18.  —  Daß  der  Priester- 
kodex von  der  Tempelmusik,  von  Sängern  und  Türhütern  nichts  sagt,  wird 
allerdings  wol  daran  liegen,  daß  er  davon  noch  nichts  weiß. 


186  Dreizehntes  Kapitel. 

des  Kultus,  die  unter  Hizkia  und  Josias  begann,  durch  das  Exil 
mächtig  gefördert  wurde,  und  nach  dem  Exil  zum  Siege  gelangte. 
Er  geht  über  Ezechiel  auf  das  Deuteronomium  zurück,  er  tut  den 
letzten  Schritt,  jenes  den  ersten.  Das  Hauptgebot  des  Deutero- 
nomiums  ist  das  der  Zentralisirung  des  Opferdienstes  im  Tempel 
zu  Jerusalem.  Die  Forderung  war  neu  und  schnitt  scharf  ein. 
Sie  war  durchaus  polemisch,  und  das  Motiv  der  Polemik  tritt  klar 
hervor.  Den  vielen  Anbetungsstätten  wird  die  richtige  entgegen- 
gesetzt, den  lokalen  und  trotz  dem  gleichen  Namen  doch  verschie- 
den verehrten  Gottheiten  die  einzig  wahre,  dem  volkstümlichen 
halbheidnischen  Kultus  auf  den  Höhen  der  auf  grund  des  prophe- 
tischen Monotheismus  gereinigte  bildlose  und  moralische  zu  Jeru- 
salem. Im  Priesterkodex  merkt  man  kaum  mehr  etwas  von  dem 
Kampf  gegen  den  Bilderdienst  und  die  Unzucht  auf  den  Höhen, 
davon,  daß  der  gesetzliche  Kultus  in  feindlichem  Gegensatz  zu  dem 
alten  populären  seinen  Ursprung  hat.  Die  Polemik  ist  überflüssig 
geworden.  Der  Kampf  hat  längst  zum  Siege  geführt,  sein  Ergebnis 
ist  vollendete  Tatsache  und  darum  keiner  Motivirung  bedürftig. 
Das  Korrekte  scheint  aus  der  Natur  des  Kultus  zu  fließen,  nichts 
erinnert  mehr  daran,  daß  es  auf  Korrektur  beruht,  nach  Ideen  die 
von  anderswo  stammen  und  eigentlich  jedem  Kultus  feind  sind. 
An  Stelle  der  Verbote  tritt  eine  umfassende  positive  Darstellung. 
Alles  wird  geregelt  und  genau  geordnet,  so  daß  kein  Abweichen 
nach  rechts  oder  links,  kein  Zuviel  und  kein  Zuwenig  mehr  mög- 
lich ist.  Der  gesetzliche  Gottesdienst  hat  den  populären  einfach 
verschlungen,  mit  Haut  und  Haar,  so  daß  auch  nicht  wenige 
abergläubische  und  ausgesprochen  heidnische  Bräuche  mit  hinein- 
gekommen sind,  ohne  im  System  irgend  welchen  Schaden  anrichten 
zu  können  ^).     Gefordert  wird  die  Zentralisation,   scharf  und  deut- 


1)  So  die  Phylakterien,  die  Glöckchem  am  Mantel  des  Hohenpriesters  (um 
die  Dämonen  zn  verscheuchen),  das  Fluchwasser  (Num.  b),  der  Reinigungsvogel 
(Lev.  14),  der  Sündenbock  für  Azazel,  die  rote  Kuh  (wie  starken  Anstoß  sie 
erregt  hat,  sieht  man  aus  der  zweiten  Sure  des  Korans),  und  anderer  Sühn- 
nnd  Reinigungszauber  echt  heidnischer  Art.  Manches  davon  steht  allerdings 
erst  in  den  späteren  Teilen  des  Priesterkodex;  denn  er  ist,  wenn  auch  in 
Tendenz  und  Materie  durchaus  einheitlich  und  darum  historisch  als  Einheit 
zu  verwerten,  doch  literarisch  keine  Einheit,  sondern  im  Laufe  der  Zeit  (auch 
noch  nach  Ezra)  beträchtlich  erweitert.  Im  vollen  Umfange  die  sämtlichen 
Riten  und   Bräuche    auf  Schrift  zu    bringen,    war    überhaupt    nicht    möglich; 


Das  Gesetz.  187 

lieh,  mit  der  polemischen  Spitze,  aus  der  sie  allein  verständlich 
ist,  nm*  im  Deuteronomium.  Im  Priesterkodex  wird  sie  nicht  ge- 
fordert, aber  sie  wird  vorausgesetzt,  seit  Moses  und  sogar  seit  den 
Erzvätern,  und  ihre  Folgen  zeigen  sich  viel  weiter  und  viel  tiefer 
greifend.  Sie  hat  sich  nach  jeder  Richtung  ausgewirkt  und  ist 
Ursach  geworden,  daß  schließlich  der  ganze  Kultus  ins  Gesetz  ein- 
gezwängt worden  ist. 

Das  Deuteronomium  will  darum,  weil  es  den  Kultus  auf  den 
Höhen  verbietet,  doch  nicht  auch  die  Priester  der  Höhen  ihres 
Dienstes  entsetzen,  sondern  verstattet  ihnen,  denselben  künftig  im 
Tempel  von  Jerusalem  auszuüben.  Aber  sie  wurden  von  den  dor- 
tigen Priestern  nicht  als  gleichberechtigt  zugelassen  und  gerieten 
in  eine  untergeordnete  Stellung.  Ezechiel  sucht  diese  im  Wider- 
spruch zum  Gesetz  erfolgte  Degradirung  der  Landpriester  zu  recht- 
fertigen; er  erkennt  zwar  ihr  bisheriges  Priesterrecht  voll  an,  legt 
aber  dar,  daß  sie  sich  dessen  unwürdig  gemacht  haben.  Im 
Priesterkodex  gilt  der  auf  diese  Weise  entstandene  Unterschied 
zwischen  Priestern  und  Leviten  für  so  alt  wie  die  Theokratie 
selber;  so  völlig  legitim  ist  hier  schon  eine  illegitime  Konsequenz 
des  deuteronomischen  Gesetzes  geworden.  L^nd  wie  in  diesem  be- 
kannten und  augenfälligen  Beispiele,  so  zeigt  sich  überall  im 
Priesterkodex,  wie  die  Zentralisation,  weit  über  die  ursprüngliche 
Absicht  hinaus,  unwillkürlich  mit  einer  in  ihr  selbst  liegenden 
Kraft  gewirkt  hat.  Sie  hat  nicht  bloß  die  lokalen  Priesterschaften 
beseitigt,  sondern  auch  die  lokalen  Gemeinden.  Es  gibt  nur  die 
Una  Sancta  im  Priesterkodex,  die  eine  große  Gemeinde  der  Stifts- 
hütte; sie  hat  alle  kleinen  Sakralgenossenschaften  aufgezehrt.  Zu- 
gleich hat  die  Zentralisation  den  Kultus  selber  äußerlich  und  inner- 
lich umgestaltet.  Durch  die  Verpflanzung  aus  dem  Lokal  hat  er 
seine  Beziehung  zu  den  bunten  Kreisen  und  den  bunten  Anlässen 
des  Lebens  verloren  und  einen  monotonen  statutarischen  Charakter 
angenommen.  Er  ist  ein  Ding  für  sich  geworden,  in  einer  eigenen 
abgeschlossenen  Sphäre;  zum  Ersatz  für  den  verlorenen  Sinn  dient 
die  immer  weiter  gehende  Regelung  der  legitimen  Form.  Es  ist 
eine   Scheidung  zwischen  Natur  und   Gottesdienst,  zwischen  Welt- 


gerade  einige  sehr  alte  finden  sich  nicht  verzeichnet,  z.  B.  das  Barfußgehn 
der  Priester,  die  Heiligung  der  Laien  vor  dem  Opfer,  das  Nichtessen  der 
Ilüftsehne. 


188  Dreizehntes  Kapitel. 

lichem  und  Geistlichem  eingetreten,  die  das  Altertum  nicht  kannte, 
wo  vielmehr  der  Kultus  aus  dem  Leben  emporblühte  und  es  ver- 
goldete. Freilich  aber  soll  das  Geistliche  vorherrschen  und  wo- 
möglich das  ganze  Leben  in  die  Uniform  des  Kultus  eingezwängt 
werden. 

Die  Feste  waren  in  alter  Zeit  und  noch  im  Deuteronomium 
Erntefeste.  Ln  Priesterkodex  ist  ihr  natürlicher  Anlaß  verschwun- 
den, nur  noch  aus  einigen  versteinerten  Rudimeuten  läßt  er  sich 
erkennen.  Jahve  hat  befohlen,  sie  so  und  so  an  dem  und  dem 
Tage  zu  feiern  —  das  genügt.  Die  alten  Festopfer  waren  die 
Erstlinge  der  Jahreszeit,  die  von  den  einzelnen  Familien  darge- 
bracht und  größtenteils  in  Freudenmahlen  vor  Jahve  verzehrt 
wurden.  Ln  Priesterkodex  hat  sich  davon  nur  beim  Paschalamm  eine 
Spur  erhalten,  im  allgemeinen  sind  sie  zu  bloßen  Abgaben  ge- 
worden, als  Festopfer  sind  an  ihrer  Stelle  eintönige  Opfer  der 
Gesamtgemeinde  eingeführt.  Zugleich  haben  die  Feste  sehr  an 
Bedeutung  verloren.  Ehedem  und  noch  im  Deuteronomium  waren 
sie  der  Libegriff  des  großen,  d.  h.  unter  allgemeiner  Beteiligung 
gefeierten  Kultus.  Ln  Priesterkodex  ragen  sie  nur  noch  als  Reste 
des  Alten  in  den  neuen  Gottesdienst  der  Gemeinde  hinein,  in  den 
sie  nicht  mehr  passen,  weil  derselbe  aus  etwas  Außerordentlichem 
etwas  Regelmäßiges  geworden  ist  und  nicht  bloß  mehr  drei  mal 
im  Jahre,  sondern  alle  Tage  fortgehend  gefeiert  wird.  Der  wahre 
heilige  Tag  ist  der  allwöchentliche,  der  Sabbat,  und  das  wahre 
Opfer  ist  das  tägliche,  das  Thamid.  Nicht  mehr  in  den  Festen, 
sondern  im  Thamid  besteht  der  öffentliche  Kultus;  dadurch  wird  die 
Verbindung  der  Gemeinde  mit  dem  Himmel  beständig  unterhalten. 
Früher  war  das  Aufhören  der  Feste,  jetzt  ist  das  Aufhören  des 
täglichen  Opfers  gleichbedeutend  mit  dem  Untergange  der  Theo- 
kratie.  Eine  polemische  Absicht  ist  bei  dieser  Denaturirung  und 
Herabdrückung  der  Feste  im  Priesterkodex  nicht  mehr  zu  bemerken; 
sie  hat  aber  doch  vielleicht  unbewußt  mitgewirkt,  denn  der  Ur- 
sprung gerade  der  Feste  aus  dem  kanaanitischen  Naturdienst  liegt 
auf  der  Hand. 

Das  alte  Hauptopfer  war  das  Mahlopfer,  welches  in  kleinen 
Kreisen  an  heiliger  Stelle  verzehrt  wurde  und  eine  Tischgemein- 
schaft zwischen  den  Gästen  und  Jahve  stiftete.  Die  Feste  waren 
zusammengelegte  Mahlopfer;  da  mußte,  bei  einem  alle  gleichmäßig 
angehenden  Anlaß,  jedermann  im  Heiligtum  erscheinen,    um  sich 


Das  Gesetz.  189 

zu  freuen,  zu  essen  und  zu  trinken  vor  Jahve.  Neben  diesem 
regelmäßigen  und  allgemeinen  Anlaß  zu  opfern  brachte  das  Leben 
eine  Fülle  außerordentlicher  und  besonderer.  Wenn  man  schlach- 
tete, so  opferte  man  auch;  jede  Schlachtung  war  ein  heiliger  Akt. 
Aber  seit  der  Zentralisation  des  Kultus  in  Jerusalem  mußte  die 
profane  Schlachtung  gestattet  werden.  Im  Priesterkodex  besteht 
dieselbe  schon  seit  Noah  und  den  Patriarchen,  sie  hat  hier  das 
Mahlopfer  stark  zurückgedrängt.  Eine  solche  Mischung  von  Gottes- 
dienst und  Leben,  von  Heiligem  und  Profanem,  ein  so  fröhliches 
und  unbefangenes  Hineinziehen  der  Gottheit  in  alles  Menschliche 
paßt  nicht  in  diesen  tristen  Ernst.  Will  man  sich  freuen  und 
Fleisch  essen,  so  kann  man  schlachten;  vor  Gott  soll  der  Gottes- 
dienst rein  und  ausschließlich  das  Geschäft  sein.  Was  das  Mahl- 
opfer verloren  hat,  ist  einerseits  dem  Brandopfer  zugewachsen;  es 
wird  ganz  und  ausschließlich  der  Gottheit  geweiht,  und  zwar  nicht 
von  einer  kleinen  Gesellschaft,  die  sich  dabei  an  heiliger  Stätte 
beteiligt,  sondern  von  der  abstrakten  Gemeinde,  die  gar  nicht  dabei 
anwesend  ist.  Als  Privatopfer  andrerseits  ist  das  Sündopfer  ein- 
getreten; es  ist  privat  im  strengsten  Sinn  mit  Ausschluß  jeder 
Idee  von  Gemeinschaft,  und  es  ist  kaum  noch  ein  Opfer  überhaupt, 
sondern  eine  Buße,  die  in  fest  vorgeschriebener  Weise  zu  leisten 
ist.  Diese  letztere  Opferart,  die  vor  dem  Exil  unbekannt  war,  wird 
jetzt  besonders  zeitgemäß.  In  dem  Maße  wie  die  speziellen  Anlässe 
und  Zwecke  der  Opfer  wegfallen,  tritt  ein  gleicher  allgemeiner 
Anlaß  hervor,  die  Sünde,  und  ein  gleicher  allgemeiner  Zweck,  die 
Sühne.  Im  Priesterkodex  ist  bei  allen  Tieropfern  das  eigentliche 
Mysterium  die  Sühne  durch  das  Blut;  am  reinsten  ausgebildet  er- 
scheint dieselbe  bei  den  Sündopfern.  Deshalb  werden  diese  bevor- 
zugt, zumal  bei  ihnen  auch  am  meisten  für  die  Priester  abfällt. 
Den  Gipfel  der  Sühnzeremonien  bildet  der  große  Yersöhnungstag, 
er  ist  der  Schlußstein  des  ganzen  Systems  und  bezeichnet  dessen 
Geist  am  besten:  Heiligkeit  und  Sühne  gehören  zusammen. 

Die  Siindopfer  und  der  große  Versöhnungstag  verbinden  den 
Tempelkultus  mit  dem  kleineu  Kultus  der  Leistungen  und  Obser- 
vanzen, die  den  Laien  vorgeschrieben  sind;  denn  die  eben  dabei 
begangenen  Versäumnisse  und  Versehen  sind  der  Gegenstand  der 
Sühne.  Wir  haben  gesehen,  daß  diese  Heiligung  des  Konven- 
tionellen vermutlich  durch  das  Exil  begünstigt  ist,  in  einer  Zeit, 
wo    der    ganze    Kultus    pausirte.     Damals    erhielten    die    ererbten 


190  Dreizehntes  Kapitel. 

Bräuche  eine  besondere  religiöse  Würde,  und  es  zeigte  sich,  daß 
sie  ein  ausgezeichnetes  Mittel  waren,  um  das  Judentum  zu  erhalten. 
Durch  die  Wiederherstellung  des  Tempels  büßten  sie  von  der 
einmal  gewonnenen  Bedeutung  nichts  ein.  Im  Priesterkodex  werden 
einzelne  hervorgehoben  als  Zeichen  des  Bundes  der  Juden  mit 
Jahve  und  ihrer  Gemeinschaft  unter  einander.  Andere  sollen  dem 
Herzen  eine  beständige  Mahnung  sein,  nicht  abzuschweifen  in 
sündige  Neigungen.  Im  allgemeinen  dienen  sie  als  Zaun  und 
Schutz,  damit  das  Heilige  nicht  verunreinigt  werde.  Es  zeigt  sich 
eine  gewisse  Neigung,  Vorschriften,  die  ursprünglich  nur  für  die 
Priester  galten,  auf  die  Laien  auszudehnen.  Als  Anwohner  und 
Beisassen  des  Tempels  sollten  auch  die  Laien  ihr  Leben  geistlich 
und  priesterlich  führen,  in  einer  bestimmt  vorgeschriebenen  reli- 
giösen Form.  Sie  sollten  das  heilige  Geschäft  nicht  den  Priestern 
allein  überlassen,  sondern  sich  selber  daran  beteiligen.  Der  Ein- 
zelne mußte  sich  durch  fortgesetzte  Anstrengung  zum  Juden  machen. 
Der  große  öffentliche  Kultus  gab  der  neuen  Theokratie  einen  festen 
einheitlichen  Mittelpunkt.  Aber  das  Judentum  konnte  auch  ohne 
ihn  bestehn,  wie  das  Exil  gezeigt  hatte;  es  ruhte  viel  sicherer  auf 
dem  character  indelebilis  der  Beschueidung  und  auf  der  Arbeit  des 
Individuums,  sein  Leben  nach  Vorschrift  zu  regeln.  Es  ist  be- 
zeichnend, daß  im  Gesetz  der  Sabbat  fast  nur  Ruhegebot  für  jeden 
Einzelnen  und  als  solches  Abzeichen  des  Juden  ist,  dagegen  seine 
Bedeutung  für  den  Kultus  zurücktritt. 

4.  Der  Kultus  war  das  heidnische  Element  in  der  Religion 
Jahves,  größtenteils  erst  bei  der  Einwanderung  in  Palästina  von  den 
Kanaaniten  entlehnt;  und  er  blieb  vor  dem  Exil  immer  das  Band, 
welches  Israel  mit  dem  Heidentum  verknüpfte,  eine  stete  Gefahr 
für  die  Moral  und  den  Monotheismus.  Er  wurde  daher  von  den 
Propheten  bekämpft,  aber  er  ließ  sich  nicht  einfach  abschaifen. 
Er  war  zu  tief  mit  dem  Volke  verwachsen,  eine  Volksreligion  ohne 
Kultus  ließ  sich  nicht  denken.  Es  entstand  vielmehr  die  Aufgabe, 
ihn  zu  korrigiren.  Die  Reformation  begann  mit  dem  Deutero- 
nomium;  im  Priesterkodex  ist  sie  so  vollständig  durchgedrungen, 
daß  über  der  Wirkung  die  Ursache  vergessen  scheint.  Der 
ganze  Kultus  ist  hier  gesetzlich  geregelt.  Es  wird  ihm  dadurch 
eine  große  Wichtigkeit  gegeben,  und  das  ist  unleugbar  ein  Zu- 
geständnis an  die  herrschende  Richtung  der  Menge,  ein  Kompromiß 
von  den  Kompromissen,  wie  sie  so  häufig  in  der  Religionsgeschichte 


Das  Gesetz.  191 

vorkommeu.  Er  wird  jedoch  zugleich  dadurch  auch  ungefährlich 
gemacht;  die  alten  Bräuche  werden  entgiftet  und  entseelt;  was 
übrig  bleibt,  sind  leere  Formen,  tote  Werke,  die  nicht  an  sich? 
sondern  nur  dadurch  Sinn  und  Wert  haben,  daß  sie  von  Gott  be- 
fohlen sind,  und  genau  nach  Vorschrift  verrichtet  werden.  Die 
Notwendigkeit  aber,  die  alten  Formen  neu  zu  verwenden,  lag  in 
dem  Bedürfnis,  die  durch  schwerste  Schicksalsschläge  zerschmetterte 
und  zersprengte  Nation  wieder  in  Rand  und  Band  zu  bringen  und 
weiteren  Zerfall  zu  verhüten.  Die  Organisation,  die  Fassung  und 
Abschließung  des  Judentums  war  die  nächste  und  dringendste  Auf- 
gabe der  Zeit.  Ihr  diente  der  Tempel  und  das  Priestertum,  ihr 
diente  die  Disziplin,  durch  welche  die  Laien  zusammengehalten 
und  abgesondert  wurden,  ihr  diente  überhaupt  die  Heiligung  des 
Äußerlichen.  Die  prophetischen  Ideen  ergaben  nicht  die  Mittel 
zur  Gründung  einer  Gemeinde;  im  Gegenteil  bedurften  sie  selber 
einer  Verschalung,  um  nicht  der  Welt  verloren  zu  gehen.  Der 
gesetzliche  Kultus  lieferte  diese  Verschalung;  aus  ursprünglich 
heidnischem  Material  wurde  ein  Panzer  des  Monotheismus  ge- 
schmiedet. Der  Widerspruch,  daß  der  Gott  der  Propheten  sich 
jetzt  in  einer  kleinlichen  Heils-  und  Zuchtanstalt  verpuppte  und 
statt  einer  für  alle  ^Velt  gültigen  Norm  der  Gerechtigkeit  ein  streng 
jüdisches  Ritualgesetz  aufstellte,  der  Bund,  wodurch  der  all- 
mächtige Schöpfer  Himmels  und  der  Erden  ein  Sonderverhältnis 
mit  den  Juden  einging,  war  für  diese  Zeit  praktisch  gerechtfertigt. 
Verleugnen  tut  sich  auch  im  Priesterkodex  der  moralische  Mono- 
theismus keineswegs.  Er  ist  zwar  gewöhnlich  unter  der  aus  altem 
vertragenen  Stoff  neu  gewebten  Decke  Mosis  verhüllt,  aber  bis- 
weilen leuchtet  er  klar  und  deutlich  hindurch.  So  in  der 
Patriarchengeschichte,  in  der  Offenbarung  an  Abraham:  ich  bin  der 
Allmächtige,  wandle  vor  mir  schlicht  und  recht!  Namentlich 
aber  in  der  Schöpfungsgeschichte,  wo  die  Welt  durch  Gott  aus 
dem  Nichts  hervorgerufen  und  die  Natur  zur  Sache  erniedrigt 
wird,  der  Mensch  aber  ihr  gegenüber  und  auf  Seite  Gottes  zu  stehn 
kommt,  wenngleich  auch  er  Kreatur  ist.  Die  hier  zum  Ausdruck  ge- 
langende Weltanschauung  hat  der  Praxis  für  lange  Zeit  eine  gesunde 
Grundlage  gegeben;  wie  befangen  zeigt  sich  dagegen  die  Geschichte 
vom  Garten  Eden!  Die  Poesie  hat  gelitten,  die  Moral  aber  sich 
befreit  und  gehoben.  Der  Fortschritt  ist  auch  in  den  Ehe-  und 
Keuschheitsgesetzen  deutlich  verspürbar. 


]^92  Vierzehntes  Kapitel. 


Vierzehntes  Kapitel. 

Die  zweite  Hälfte  der  persischen  Periode, 

1.  Über  die  äui3ere  Geschichte  dieser  Zeit  erfahren  wir  beinah 
nichts.  Die  biblische  Geschichte  hört  eigentlich  schon  mit  der 
Zerstörung  Jerusalems  durch  die  Chaldäer  auf,  jedenfalls  aber  mit 
Ezra  und  Nehemia.  Eine  schwache  Kunde  hat  sich  erhalten  von 
einer  Beteiligung  der  Juden  an  dem  syrischen  Aufstande  gegen 
Artaxerxes  Ochus,  der  durch  den  Vezir  Bagoas  niedergeworfen 
wurde;  zur  Strafe  soll  eine  Anzahl  von  ihnen  an  das  südliche 
Ufer  des  Kaspischen  Meeres  nach  Hyrkanien  verpflanzt  worden 
sein ').  Damals  müßte  die  von  Josephus  berichtete  Mordgeschichte 
im  Tempel  sich  zugetragen  haben:  Bagoses  (Bagoas?)  hatte  die 
Absicht,  an  Stelle  des  regierenden  Hohenpriesters  Johannes  dessen 
Bruder  Jesus  zu  setzen;  der  darüber  entstandene  Wortwechsel  der 
Brüder  im  Tempel  endete  damit,  daß  Johanan  den  Josua  tötete; 
infolge  dessen  drang  Bagoses  in  den  Tempel  ein  und  verfolgte  die 
Juden  sieben  Jahre  lang;  er  legte  ihnen  auf,  für  jedes  beim  täg- 
lichen Opfer  geschlachtete  Lamm  fünfzig  Drachmen  an  den  Fiskus 
zu  entrichten  ''*). 

Über  das  auch  für  Palästina  so  bedeutungsvolle  Vordringen 
der  Araber  in  die  Länder  aramäischer  Kultur  läßt  sich  einiges 
aus  den  darauf  bezüglichen  Weissagungen  der  späteren  Propheten 
entnehmen.     Der  Prophet  Ezechiel  überläßt  ihnen  in  seinem  Bilde 


')  Eusebius  Ctiron.  ed.  Schöne  2, 112.  113. 

-)  Dies  ist  eine  von  den  losen  Anekdoten  zweifelhafter  Herkunft,  mit 
denen  Josephus  die  Lücke  zwischen  Nehemia  und  den  Makkabäern  zu  füllen 
sucht.  Nach  Hugo  Willrich  (Juden  und  Griechen  1895  p.  21.  89s.)  spiegelt 
sie  den  Streit  der  vormabkabäischen  Hohenpriester  wieder.  Den  regierenden 
Hohenpriester  will  sein  Bruder  mit  Hilfe  des  heidnischen  Gewalthabers  ver- 
drängen, es  entsteht  blutiger  Streit  zwischen  ihnen,  der  Heide  mischt  sich 
ein,  dringt  in  den  Tempel  und  verfolgt  die  Juden  sieben  Jahre:  das  ist  die 
Geschichte  der  Juden  unter  Antiochus  IV.  Bei  dem  streitenden  Brüderpaar 
decken  sich  auch  die  Namen  mit  den  im  2.  Makkabäerbuch  genannten;  Johannes 
ist  Ouias  (vgl.  den  hebr.  Sirach  50,  1  und  den  arab.  Josippus  §  56)  und  Jesus  ist 
Jason.  Die  sieben  Jahre  der  Verfolgung  entsprechen  der  letzten  Heptade  im 
Daniel.  Vor  A.  IV.,  namentlich  unter  persischer  Herrschaft,  ist  eine  solche 
jüdische  Religionsverfolgung  in  der  Tat  höchst  unwahrscheinlich. 


Die  zweite  Hälfte  der  persischen  Periode.  19d 

von  der  Zukunft  Palästinas  das  ganze  Ostjordanland.  Aus  Malachi 
und  Obadia  scheint  zu  erhellen,  daß  sie  in  der  ersten  Hälfte  des 
fünften  Jahrhunderts  die  Edomiten  aus  ihrer  alten  Heimat  ver- 
drängt haben,  so  daß  diese  nun  auf  das  südliche  Juda  beschränkt 
wurden,  welches  sie  teilweise  schon  früher  okkupirt  hatten.  Ziem- 
lich gleichzeitig  müssen  die  Araber  auch  in  Moab  und  Ammon 
und  in  den  Süden  des  Philisterlandes  eingedrungen  sein;  Goscham, 
der  dritte  im  Bunde  mit  Sanballat  und  Tobia,  wird  nicht  eben 
weit  von  Jerusalem  gewohnt  haben  ^).  Die  Juden  gönnten  den 
Nachbarn  ihr  Schicksal  von  Herzen,  vor  allen  den  Edomiten  oder 
Idumäeru,  wie  sie  griechisch  heißen.  Auf  diese  hatten  sie  seit 
dem  Exil  eine  unaussprechliche  Wut,  weil  sie  bei  der  Zerstörung 
ihrer  Stadt  geholfen  und  einen  großen  Teil  ihres  Landes  an  sich 
gerissen  hatten;  auf  der  andern  Seite  bewunderten  sie  freilich 
auch  ihre  Weisheit.  Auch  auf  die  Philister  waren  sie  nicht  gut 
zu  sprechen;  sie  nannten  sie  die  Bastarde,  die  Mischlinge.  Diese 
westlichen  Nachbarn  vermittelten  ihnen  den  Verkehr  mit  der  See 
und  mit  der  Kultur;  sie  waren  ein  wichtiges  Handelsvolk,  nach 
ihnen  wurde  Palästina  benannt.  Unter  ihren  Städten  trat  damals 
neben  Gaza  besonders  Asdod  bedeutend  hervor;  mit  den  Asdodiern 
hatten  die  Juden  die  nächsten  Beziehungen. 

Das   Verhältnis    der  Juden    zu  den  Samariern  gestaltete  sich 
dadurch  um,  daß  sie  jetzt  von  diesen  Bastarden  reinlich  geschieden 


')  Die  Weissagimg  Se]ihanias  über  das  Vordringen  „der  Hirten"  gegen 
die  Pliilister  (2,  7)  sclieint  sich  auf  die  Araber  zu  beziehen:  in  der  palästiniscli- 
ägyptischen  Wüste,  die  sich  bis  über  Gaza  hinaus  erstreckt,  erscheinen  sie  in 
der  Tat  am  frühsten.  Ihr  Vordringen  gegen  Moab  und  Aminon  kündet 
Ezechiel  (25,4.  10)  an.  Die  Edomiten  sind  vor  der  Jlitte  des  5.  Jahrhunderts 
durch  die  nabatäischen  Araber  in  den  Negeb  Juda  gedrängt,  der  seitdem 
Idumäa  heißt;  Strabo  (p.  760)  sagt  mit  einem  leicht  erklärlichen  Irrtum,  sie 
seien  Nabatäer,  aber  durch  einen  Aufstand  aus  dem  Nabatäerland  vertrieben. 
Vgl  Isa.  21  und  meine  Bemerkungen  zu  Malachi  und  Obadia;  in  Ps.  83,  8 
trägt  das  alte  Land  Edom  den  arabischen  Namen  Gebäl.  Es  braucht  jedoch 
nicht  angenommen  zu  werden,  daß  die  Edomiten  allesamt  aus  ihrem  alten 
Lande  auswanderten;  ein  großer  Teil  mag  unter  arabischer  Herrschaft  ver- 
blieben und  der  eigentliche  Träger  der  nabatäischen  Kultur  gewesen  sein; 
daher  die  Weisheit  von  Theman  und  die  hebräischen  Eigennamen  bei  den 
Nabatäern.  Im  Libanon  werden  die  Araber  zuerst  erwähnt  bei  der  Belage- 
rung von  Tyrus  durch  Alexander  (Arrian  2  20,  4);  sie  heißen  dort  Ituräer 
(Gen.  25,  15.  1  Chron.  5,  19). 

We  1 1  li  a  u  s  e  n ,  Isr.  Geschichte.    5.  Aiifl.  13 


194  Vierzehntes  Kapitel. 

wurden,  und  zwar  infolge  der  Gründung  der  Gemeinde  von  Sichern  ^). 
Jener  vornehme  Priester,  den  Nehemia  wegen  seiner  anstößigen 
Heirat  aus  Jerusalem  vertrieben  hatte,  soll  zu  seinem  Schwieger- 
vater Sanballat  geflohen  sein  und,  nachdem  ihm  von  diesem  ein 
Tempel  auf  dem  Berge  Garizzim  bei  Sichem  erbaut  war,  dort  die 
samaritische  Gemeinde  und  den  samaritischen  Kultus  organisirt 
haben,  nach  dem  Vorbilde  der  jerusalemischen  Hierokratie  und 
auf  grund  des  nur  wenig  geänderten  jerusalemischen  Pentateuchs"). 
Hatten  die  Samarier  sich  eine  Zeitlang  an  die  Gemeinschaft  der 
Juden  herangedrängt,  so  wollten  sie  später  ebensowenig  mit 
jenen  zu  tun  haben  als  jene  mit  ihnen.  Der  Tempel  auf  dem 
Garizzim  war  das  Symbol  ihrer  Selbständigkeit  als  eigener  reli- 
giöser Sekte,  wenngleich  sie  in  Wahrheit  nur  die  Nachtreter  der 
Juden  waren. 

2.  Für  die  innere  Geschichte  sind  wir  zwar  auch  nur  auf  Rück- 
schlüsse angewiesen.  Wir  können  daraus  aber  mit  Sicherheit  er- 
kennen, daß  es  sehr  falsch  ist,  sich  diese  Periode  als  eine  Art 
Winterschlaf  der  Gemeinde  vorzustellen.  Sie  ist  im  Gegenteil  wenn 
nicht  für  die  Entstehung,  so  doch  für  die  Entwicklung  der  Institute 
sehr  bedeutend  gewesen. 

Der  Hierokratie  wurde  erst  jetzt  die  Krone  aufgesetzt,  da- 
durch daß  der  Hohepriester  Ethnarch  wurde.     Es  lag  in  der  Natur 


')  Der  alte  Kultusort  war  Bethel  gewesen,  bis  auf  Josias.  Die  Stadt 
Samarien  blieb  heidnisch,  und  gehörte  nicht  zu  der  Gemeinde  der  Samariter; 
der  Unterschied  wird  durch  die  Homonymie  von  Stadt  und  Land  leicht  ver- 
wischt, man  muH  ihn  aber  wol  beachten.  Im  griechischen  Sirach  50,  26  werden 
die  Samarier  als  Ethnos  mit  den  Philistern  zusammengestellt  und  von  der 
Gemeinde  der  Sichemiten,  die  ich  im  Gegensatz  zu  den  Samariern  als  Sama- 
riter bezeichne,  unterschieden;  im  hebräischen  und  syrischen  steht  freilich 
dafür  Seir.  Antiochus  IV.  soll  einen  Vogt  zur  Unterdrückung  des  mosaischen 
Kultus  in  Sichem  angestellt  haben  (2  Macc.  5,  23).  Hyrkan  I.  verleibte  zu- 
nächst die  Gemeinde  von  Sichem  ein,  erst  viel  später  die  Stadt  Samarien. 
Josephus  nennt  Ant.  11,344.  12,262  die  Samariter  die  Sidonier  in  Sichem, 
und  Sanballat  ihren  Satrapen;  in  der  Stadt  Samarien  residirten  die  persischen 
und  später  die  griechischen  Beamten.  Seit  Herodes  werden  die  Sebastener 
von  den  Samaritern  auch  durch  den  Namen  unterschieden. 

-)  Joseph.  Ant.  11,302— 312  vgl.  Neh.  13,  28.  Es  steht  fest,  daß  die 
Samariter  das  jüdische  Gesetz  und  den  jüdischen  Kultus  übernommen  haben, 
und  zwar  schon  vor  Alexander.  Daß  dies  durch  Vermittlung  eines  jerusale- 
mischeu  Priesters  geschehen  ist,  daß  die  Samariter  auch  die  Eierokratie  von 
Jerusalem  bezogen  haben,  ist  nichts  weniger  als  unglaublich. 


Die  zweite  Hälfte  der  persischeu  Periode.  195 

der  Dinge,  daß  in  dem  geistlichen  Gemeinwesen  das  Haupt  der 
Geistlichkeit  das  Haupt  der  Nation  wurde,  ihr  Vertreter  gegenüber 
der  heidnischen  Oberherrschaft  und  der  Verwalter  auch  der  welt- 
lichen Angelegenheiten,  die  ihr  noch  überlassen  blieben.  Im  Priester- 
kodex  ist  das  auch  bereits  vorgesehen.  Hier  nimmt  der  Hohepriester 
die  Stelle  des  Königs  ein,  soweit  für  einen  solchen  unter  den  da- 
maligen Umständen  noch  Platz  wMr,  er  empfängt  bei  der  Investitur 
die  Salbung,  er  trägt  den  Purpur  und  das  Diadem.  Ansprüche 
auf  eine  solche  Stellung  mochte  er  in  der  Tat  früh  genug  erheben, 
schon  Zerubabel  scheint  Grund  zur  Eifersucht  auf  ihn  gehabt  zu 
haben  (Zach.  6,  13).  Aber  die  Meinung  ist  irrig,  daß  er  schon 
etwa  am  Ausgang  des  sechsten  Jahrhunderts  der  Nachfolger  des 
Davididen  geworden  sei.  Ethnarch  blieb  vielmehr  der  Landpfleger, 
zu  dem  die  Perser  auch  nach  Zerubabels  Abgange  einen  vornehmen 
Juden  ernannten  ').  Der  Posten  war  freilich  unbedeutend,  er  wurde 
schließlich  eingezogen  und  Jerusalem  dem  Verwaltungsbezirk  Sa- 
marien  unterstellt.  Den  Vorteil  davon  hatte  aber  zunächst  die 
jerusalemische  Aristokratie.  In  der  zweiten  Hälfte  des  fünften 
Jahrhunderts  waren  die  Ältesten,  die  Vornehmen  und  Notablen  die 
einheimische  Obrigkeit^),  für  die  Stadt  und  für  die  Landgemeinden; 
der  Stadtrat  und  der  städtische  Gerichtshof  war  den  entsprechenden 
Landbehörden  übergeordnet.  Die  Priester  hatten  an  der  Rechts- 
sprechung teil,  vielleicht  ursprünglich  als  Konsuiten,  wegen  ihrer 
Kenntnis  der  Theorie^).  Sie  gehörten  aber  noch  nicht  mit  zu  der 
Gerusie;  Eljaschib  war  der  Tempelfürst,  aber  nicht  der  Fürst  der 
Gemeinde.  Indessen  verlor  doch,  durch  das  Eingehen  des  Land- 
pflegeramtes, der  Hohepriester  den  einzigen  Nebenbuhler,  der  ihm 
das  Gegengewicht    halten    konnte;    er    bekam    eine  Stellung    ohne 


^)  Aus  der  Art,  wie  Neheraia  sich  mit  den  alten  Landpflegeru  vor  seiner 
Zeit  vergleicht  (5,  15),  erhellt,  daß  sie  Juden  gewesen  sind;  wenigstens  wäre 
der  Ruhm  nicht  fein,  daß  er  sein  Volk  weniger  bedrückt  habe  als  fremde 
und  heidnische  Vögte.     Der  Tirschata  Neh.  7—10  ist  jedenfalls  ein  Jude. 

-)  Esd.  5:  die  Altesten.  In  den  Memoiren  Nehemias  stehn  die  Notabein 
und  die  Adligen  nebeneinander  (2,  16.  4,  8.  13.  5,  7.  7,  5)  und  für  einander 
(2,  16.  12,  40  vgl.  mit  6,  17;  13,  11  vgl.  mit  13,  17).  , Vgl.  Jos.  Ant.  11,  111 
(4,  223):  TzoXiTticf.  y_p(up.£voi  ciptaroxpaTixT^  (jistä  ö^tyctp/iot;  —  die  Oligarchen 
sind  die  Hohenpriester. 

2)  Vgl.  Ezech.  44,  24.  Deut.  17  und  dazu  die  Kompos.  des  Hexat.  1899 
p.  358. 

18* 


196  Vierzehntes  Kapitel. 

gleichen.  Sein  Einfluß  übertrug  sich  allmählich  auch  auf  das 
politische  Gebiet.  Er  kam  nun  an  die  Spitze  der  Gerusle;  mit 
ihm  zugleich  drangen  seine  vornehmen  Amtsgenossen  in  dieselbe 
ein,  wenngleich  sie  noch  nicht  einen  förmlichen  Stand  darin 
bildeten.  Man  darf  jedoch  nicht  glauben,  daß  damit  die  Priester 
überhaupt  in  das  Regiment  gekommen  wären.  Die  gemeinen 
Priester  hatten  doch  nur  mit  dem  Kultus  zu  tun,  in  gesellschaft- 
licher und  politischer  Hinsicht  waren  sie  von  dem  Priesteradel, 
aus  dem  der  Hohepriester  hervorging,  durch  eine  breite  Kluft  ge- 
trennt. Die  adligen  Priester  fühlten  sich  ihren  weltlichen  Staudes- 
genossen näher  verbunden  als  ihren  geistlichen  Brüdern  niederer 
Herkunft  und  machten  sich  aus  ihrem  Rang  und  ihrer  Macht  mehr 
als  aus  ihrem  Dienste.  Sie  hatten  große  Einkünfte  und  erwarben 
sich  Reichtum. 

Zu  der  Befestigung  der  Hierokratie,  die  sich  in  dieser  Zeit 
vollzog,  haben  die  Maßregeln  Nehemias  und  Ezras  sehr  wesentlich 
beigetragen.  Sie  sorgten  dafür,  daß  die  Abgaben,  auf  welche  die 
Macht  und  die  Unabhängigkeit  des  Klerus  sich  gründete,  regel- 
mäßig bezahlt  und  ordentlich  verteilt  wurden.  Sie  scheinen  auch 
die  innere  Gliederung  des  Tempelpersonals  erst  durchgeführt  zu 
haben.  Bis  dahin  herrschte  ein  ziemlicher  Wirrwarr.  Die  Verord- 
nung Ezechiels,  betreffend  die  Scheidung  von  Priestern  und  Leviten, 
hatte  sich  keineswegs  glatt  vollzogen;  noch  Malachi  ignorirt  den 
Unterschied.  Nicht  wenige  Leviten  hatten  ihr  Erbamt  behauptet, 
auch  zweifelhaftere  Elemente  waren  in  den  Priesterstand  einge- 
drungen. Durch  Nehemia  und  Ezra  ward  nun  eine  Sichtung  und 
Neuordnung  vorgenommen.  Im  ganzen  und  großen  wurden  die 
Leviten,  denen  es  gelungen  war  sich  tatsächlich  als  Priester  zu 
halten,  nicht  etwa  entsetzt,  sondern  vielmehr  legitimirt.  Der  Name 
Aharon  (im  Priesterkodex)  gewährte  das  Mittel,  sie  mit  den  Söhnen 
Sadoks  zusammenzufassen;  er  erweiterte  den  Kreis  der  Priester 
beträchtlich  über  die  Grenze,  die  Ezechiel  gesetzt  hatte.  Ein  Rang- 
unterschied zwischen  den  Söhnen  Sadoks  und  den  gemeinen  Söhnen 
Aharons  blieb  natürlich  bestehn,  aber  manche  Nachkommen  der 
früheren  Landpriester  wurden  doch  in  die  Tempelpriesterschaft  auf- 
genommen. 

Andere  mußten  sich  freilich  die  Degradation  gefallen  lassen; 
sie  allein  hießen  fortan  Leviten,  während  die  Priester  sich  Söhne 
Aharons    nannten.     Ihre  Familiennamen    bezeugen  zum  Teil    ihre 


Die  zweite  Hälfte  der  persischen  Periode.  197 

Abkunft  von  dem  alten  Klerus  der  jüdischen  Landschaft').  In- 
dessen so  wenig  die  späteren  Priester  alle  aus  Söhnen  Sadoks  be- 
standen, so  wenig  bestanden  die  späteren  Leviten  alle  aus  Erben 
der  alten  Hohenpriester.  Es  schlüpften  manche  Nichtleviten  in 
den  niederen  Klerus  ein,  nicht  allein  in  der  Zeit  vor  der  Refor- 
mation Nehemias  und  Ezras,  sondern  auch  noch  später.  Die 
Tempelsklaven  fremdländischen  Ursprungs,  die  Ezechiel  aus  dem 
Heiligtum  verbannen  wollte,  blieben  dennoch  darin,  Sie  wurden 
anfangs  noch  als  Nathinäer  von  den  Leviten  unterschieden,  gingen 
aber  allmählich  unter  ihnen  auf.  Almlich  die  Säuger.  Diese  wurden 
mit  der  Zeit  sogar  den  Leviten  übergeordnet  und  erlangten  zu 
allerletzt,  unter  Agrippa  H.,  eine  wenigstens  äußerliche  Gleich- 
stellung mit  den  Priestern. 

Die  Musik  gewann  eine  sehr  große  Bedeutung  für  den  Kultus. 
Sie  hatte  freilich  auch  in  alten  Zeiten  nicht  gefehlt,  war  aber  nach 
der  Beschreibung  des  Amos  von  ziemlich  roher  Art  gewesen.  Hire 
Blüte  entwickelte  sie  erst  im  nachexilischen  Tempel,  sie  wurde 
zugleich  würdiger  und  kunstmäßiger.  Nicht  bloß  die  Begleitung, 
sondern  auch  der  Gesang  lag  in  der  Hand  geschulter  Techniker; 
die  Gemeinde  fiel  nur  gelegentlich  mit  Halleluja  und  Amen  oder 
mit  einem  Refrain  ein.  Aber  wenngleich  von  Chören  ausgeführt 
war  es  der  Idee  nach  doch  Gemeindegesang;  der  Kultus  fand  da- 
mit in  der  Gemeinde  ein  Echo,  wurde  über  das  Opus  operatum 
des  Priesters  emporgehoben,  popularisirt  und  geistig  beseelt.  Der 
Inhalt  der  gesungenen  Lieder  war  keineswegs  bloß  liturgisch.  Nur 
die  jüngeren  Psalmen  sind  zum  Teil  ausdrücklich  für  den  Gottes- 
dienst gedichtet,  die  älteren  durchaus  nicht.  Sie  nehmen  vielmehr 
gar  keine  Rücksicht  darauf,  sondern  sind  völlig  unbefangene  Herzens- 
ergießungen,  in  denen  sich  die  ganze,  allerdings  enge  Welt  des 
Empfindens  der  jüdischen  Frommen  abspiegelt.  Und  doch  sind 
sie  frühzeitig  im  Gottendienste  verwandt;  das  zeigen  die  musika- 
lischen Beischriften,  die  nur  bei  ihnen,  nicht  bei  den  eigentlich 
liturgischen  Psalmen  vorkommen  und  verhältnismäßig  alt  sein 
müssen,   weil  sie  später  nicht  mehr  verstanden  wurden;   das  zeigt 


^)  Libni,  Hebroui,  Kor a In  sind  von  judäischen  Städten  und  Ge- 
schlechtern abgeleitet,  deren  Priester  diese  Leviten  einst  gewesen  waren. 
Gerschom,  Muschi  führen  auf  Abstammung  oder  vielmehr  Herleitung  von 
Moses. 


198  Vierzehntes  Kapitel. 

auch  ihre  Zurückführung  auf  die  Sängergeschlechter  und  auf  deren 
Meister  David,  welche  auch  nur  in  den  drei  ersten  Büchern  durch- 
geht. Merkwürdigerweise  ist  im  Gesetz  von  den  Sängern  neben 
den  Leviten  noch  gar  keine  Rede.  Diese  Lücke  in  der  Beschrei- 
bung des  nachexilischen  Gottesdienstes  macht  sich  sehr  fühlbar. 
Sie  wird  von  der  Chronik  ausgefüllt.  Da  muß  David  ausführlichst 
nachholen,  was  Moses  versäumt  hat.  Er  richtet  die  Sängerchöre 
ein  und  die  ganze  musikalische  Liturgie;  dadurch  erhält  dieselbe 
die  ihrer  gegenwärtigen  Bedeutung  entsprechende  historische  "Weihe. 
Die  Chronik  bewegt  sich  natürlich  bei  dieser  Umformung  des  alten 
Recken  in  einen  geistlichen  Sängerfürsten  ganz  in  dem  Gleise  der 
Anschauungen  ihrer  Zeit;  sie  liefert  uns  ein  vollgiltiges  Zeugnis 
für  die  Popularität  des  Gesanges  und  der  Musik  und  für  den  außer- 
ordentlich breiten  Raum,  den  sie  damals  im  Kultus  eingenommen 
haben  müssen. 

3.  Zu  dem  Kultus  als  geistigem  Mittelpunkt  der  Gemeinde 
kam  das  Gesetz  als  ein  zweiter  hinzu.  Durch  seinen  Lihalt  stützte 
es  allerdings  den  Kultus  und  erhöhte  die  Würde  und  Macht  der 
Priester.  Aber  durch  seine  Form  hatte  es  eine  andere  "Wirkung; 
es  war  kein  Manuale  für  den  Klerus,  sondern  ein  öffentliches  Buch 
zum  Unterricht  und  zur  Nachachtung  für  die  Gemeinde.  Das  Ende 
war  sogar,  daß  die  Hierokratie  durch  die  Nomokratie  verdrängt 
wurde,  freilich  erst  im  Lauf  einer  langen  Zeit. 

Neben  den  Tempel  traten  die  Synagogen.  In  ihnen  lebten 
gewissermaßen  die  alten  Bamoth  wieder  auf,  an  deren  Stätte  sie 
oft  genug  gestanden  haben  mögen.  Nur  waren  sie  nicht  Gottes- 
häuser im  antiken  Sinne,  bestimmt  zur  "Wohnung  der  Gottheit  und 
zu  ihrer  Bedienung,  sondern  Gotteshäuser  im  modernen  Sinne,  be- 
stimmt zur  Versammlung  und  Erbauung  der  Menschen.  Ihre  Ur- 
sprünge liegen  im  Dunkel,  wie  die  Ursprünge  alles  Lebendigen  und 
spontan  Erwachsenen.  Sie  hängen  nicht  mit  den  alten  politisch- 
sakralen "V^ollbürgerversammlungen  zusammen,  eher  mit  den  im 
Psalter  öfters  erwähnten  Konventikeln  der  Frommen.  Schon  im 
babylonischen  Exil  haben  fromme  Versammlungen  ohne  Opfer 
stattgefunden.  Regelmäßiger  und  von  allgemeinerer  Bedeutung  sind 
dieselben  aber  erst  seit  der  Einführung  des  Gesetzes  geworden. 
Die  Vorlesung  des  Gesetzes  stand  im  Mittelpunkte  des  synagogalen 
Gottesdienstes,  daran  schloß  sich  die  Vorlesung  der  Propheten. 
Ebenso   wichtig  und  vielleicht  noch   älter  war  aber  auch   das  ge- 


Die  zweite  Hälfte  der  persischen  Periode.  199 

meinsame  Gebet.  Es  war  der  Rest  des  Opfers  (Isa.  1,15.  56,  7) 
und  trat  an  die  Stelle  des  Opfers,  wie  die  Synagogen  (die  Bet- 
häiiser)  an  Stelle  der  alten  Opferstätten.  Es  bezeichnet  vielleicht 
am  meisten  den  Unterschied  des  jüdischen  Gottesdienstes  von  dem 
ethnischen,  der  sich  freilich  auch  bei  den  Juden  im  Tempel  noch 
fortsetzte,  aber  eigentlich  veraltet  war.  Die  Juden  haben  dadurch 
ein  für  die  Zukunft  äußerst  folgenreiches  Vorbild  gegeben,  nicht 
bloß  durch  die  Einrichtung  selber,  sondern  auch  durch  den  von 
ihnen  dafür  ausgebildeten  Stil ').  Die  feste  Liturgie  freilich  gehört 
einer  späteren  Zeit  an,  ebenso  wie  die  Ordnung  der  Amter.  Syna- 
gogenhäuser werden  in  einem  makkabäischen  Psalm  erwähnt,  als 
für  den  Bestand  des  Judentums  wichtig. 

An  die  Seite  der  Priester  traten  die  Schriftgelehrten.  Zuerst 
erscheinen  sie  einzeln,  Ezra  wird  als  der  erste  genannt,  dann  noch 
ein  zweiter,  Sadok,  aus  der  selben  Zeit.  In  der  Chronik  bilden 
sie  schon  einen  Stand,  sogar  mit  fester  und  natürlich  genealogisch 
begründeter  Gliederung  (1  Chr.  2,  55).  Die  Schriftgelehrsamkeit 
war  von  Priestern  im  Exil,  von  Ezechiel  und  seinen  Nachfolgern, 
begründet  worden,  das  priesterliche  Gesetz  war  ihr  Produkt.  Auch 
Ezra  stammte  aus  priesterlichem  Geschlechte;  Leviten  standen  ihm 
bei  der  feierlichen  Einführung  des  Gesetzes  zur  Seite  und  legten 
die  daraus  verlesenen  Stücke  den  Hörern  aus.  Indessen  wenn 
auch  die  Schriftgelehrten  ursprünglich  aus  den  Kreisen  der  Priester 
hervorgegangen  sind,  so  unterschieden  sie  sich  doch  später  von 
ihnen  als  Theoretiker  von  den  Praktikern.  Sie  rekrutirten  sich 
mehr  und  mehr  aus  Laien,  und  verschiedenartige  Elemente  der 
Bildung  vereinigten  sich  in  ihren  Kreisen.  Sie  berührten  sich  mit 
den  Weisen,  die  ebenfalls  in  dieser  Periode  blühten.  Man  darf 
sie  nicht  verwechseln  mit  den  pharisäischen  Rabbinen;  die  älteren 
Schriftgelehrten  waren  keine  Juristen  und  hatten  keinerlei  amtliche 
Stellung.  Sie  waren  die  Pfleger  der  Bildung  und  der  Literatur. 
Aber  freilich  hatte  die  Bildung  der  Zeit  durchaus  religiöse  Farbe, 
und  das  literarische  Interesse  war  durch  die  heilige  Überlieferung 
bestimmt.     Das  Studium  derselben,   der  Midrasch,  war  die  eigent- 


^)  Die  Verbindung  von  Gebet  und  Vorlesung  hat  der  Kirche  i:nd  dem 
Islam  als  Vorbild  gedient.  Das  Gebet  ist  der  Vorlesung  übergeordnet;  Calät 
bedeutet  schlechthin  Gottesdienst  und  schließt  Koran  ein.  Der  Stil  des  jüdischen 
Gebetes  tritt  z.  B.  im  Vaterunser  hervor. 


200  Vierzehntes  Kapitel. 

liehe  Arbeit  der  Scliriftgelehrten,  während  die  Weisen  ihre  Weisheit 
aus  Erfahrung  und  Beobachtung,  auf  der  Gasse  und  in  der  Natur, 
schöpften.  Auf  grund  ihres  Studiums  waren  sie  auch  die  Lehrer 
des  Volkes,  indessen  auf  eine  ganz  freie,  von  selbst  sich  ergebende 
Weise.  Die  »Synagoge  war  nicht  direkt  die  Stätte  ihres  Wirkens; 
noch  in  späterer  Zeit  durfte  dort  jeder  lesen  und  lehren,  ein  ge- 
wisses Vorrecht  hatten  nur  die  Priester  und  Leviten. 

Das  Gesetz  trat  durch  seine  öffentliche  Anerkennung  nicht  in 
ausschließenden  Gegensatz  gegen  die  sonst  erhaltene  Literatur.  Es 
war  nicht  bloß  Gesetz,  sondern  auch  Lehr-  und  Erbauungsbuch. 
Dadurch  trat  es  den  älteren  Lehr-  und  Erbauungsbüchern  an  die 
Seite;  es  verdrängte  sie  nicht,  sondern  hob  sie  zu  sich  empor  und 
ergänzte  sich  durch  sie.  Wie  im  Pentateuch  selber  das  Deutero- 
nomium  und  der  Jehovist  neben  dem  Priesterkodex,  so  blieben 
neben  dem  Pentateuch  die  prophetischen  Bücher  bestehn,  zu  denen 
auch  die  historischen  zählten,  weil  die  Geschichte  das  Arbeitsfeld 
Jahves  und  seiner  Vertreter  war.  Ein  Widerspruch  zwischen  den 
Propheten  und  dem  Gesetz  ward  nicht  empfunden;  im  Gegenteil 
lebte  noch  das  Bewußtsein,  daß  sie  die  Urheber  des  Gesetzes 
seien  (Esd.  9, 10s.).  So  dehnte  sich  die  öffentliche  und  rechtliche 
Geltung,  welche  der  Pentateuch  durch  einen  formellen  Akt  bekommen 
hatte,  auch  auf  die  prophetischen  und  historischen  Bücher  aus,  deren 
Autorität  auf  langjähriger  stillschweigender  Anerkennung  beruhte. 
Das  Gesetz  erweiterte  sich  unter  der  Hand  zur  Sammlung  der  hei- 
ligen Schriften.  Die  Große  Synagoge,  welche  den  Kanon  fest- 
gestellt haben  soll,  ist  ein  Erzeugnis  gelehrter  Phantasie. 

Man  klammerte  sich  an  das  Alte  an,  machte  es  sich  aber 
mundgerecht  und  suchte  manchmal  nur  Deckung  hinter  seinem 
Namen.  Die  überlieferte  Literatur  wurde  damals  durch  und  durch 
judaisirt.  Die  Sanktion  war  zugleich  eine  Überarbeitung.  Schon 
im  Exil  begann  dieser  Prozeß,  damals  im  großen  Stil;  er  setzte 
sich  durch  Jahrhunderte  fort,  selbst  nach  der  Kanonisirung  der 
Schriften,  schließlich  allerdings  nur  in  allerlei  Retouchen  und  La- 
suren. Bekannt  ist  die  Redaktion  der  historischen  Bücher  auf 
grund  des  Deuteronomiums:  die  Handlungen  der  Regenten  werden 
nach  diesem  Gesetz  beurteilt  und  ihre  Geschicke  daraus  erklärt, 
die  Propheten  begleiten  mit  ihren  Mahnungen  und  Drohungen 
regelmäßig  alle  Epochen.  Erst  dadurch  entsteht  eigentlich  die 
heilio;e  Geschichte.     Auf  die  deuteronomistische   Bearbeitung;  folgt 


Die  zweite  Hälfte  der  persischen  Periode.  201 

eine  spätere,  die  ein  etwas  anderes  Ideal  hat  und  die  Vergangen- 
heit nach  diesem  Ideal  nicht  bloß  beurteilt,  sondern  umdichtet. 
Die  heilige  Gesamtgemeinde  tritt  da  handelnd  auf  um  einen  Greuel 
aus  Israel  auszurotten,  die  geistliche  Republik  unter  der  Leitung 
eines  priesterlichen  Propheten  wird  als  die  gottgewollte  Form  der 
Eegierung  der  weltlichen  Monarchie  entgegengesetzt,  die  Erhebung 
eines  Menschen  zum  Könige  gilt  als  Abfall  von  Jahve.  Weniger 
einförmig,  aber  in  noch  größerem  Maße  sind  die  Propheten  dem 
Bedürfnis  und  dem  Geschmack  des  Judentums  angepaßt.  Kur 
Ezechiel  ist  uns  in  der  ursprünglichen  Form  und  im  ursprünglichen 
Umfange  erhalten;  in  Jesaias,  Jeremias  und  den  Zwölfen  sind  über- 
all die  Drohungen  durch  Heilsw^eissagungen  gemildert  und  abge- 
stumpft. Die  Epigonen  trugen  teils  durch  kleinere  Interpolationen 
und  Korrekturen  in  diese  Bücher  ein,  was  sie  dabei  empfanden  und 
darin  vermißten,  ihre  Gefühle  und  Hoffnungen;  teilweise  aber 
ließen  sie  durch  große  Einschübe  und  Anhänge  von  neueren  Er- 
zeugnissen das  gewünschte  Licht  auf  die  alten  Weissagungen  fallen. 
Diese  Einschübe  und  Anhänge  mögen  zum  Teil  durch  Zufall  an 
ihre  jetzige  Stelle  geraten  sein;  gewiß  ist,  daß  sie  überall  sich 
zeigen,  daß  sie  für  die  neue  Zeit  das  Alte  erst  genießbar  machen 
und  die  Richtschnur  seines  Verständnisses  abgeben. 

Der  Pentateuch  war  von  vorherein  modern,  sofern  der 
Priesterkodex  den  Ton  angab  und  das  Ganze  stimmte.  Aber  auch 
hier  arbeiteten  unsichtbare  Hände  weiter,  säuberten  und  glätteten, 
verbesserten  und  vermehrten  die  Ausgaben.  Neben  umfangreichen 
formellen  Zusätzen,  die  namentlich  in  der  Beschreibung  der  Stifts- 
hütte erscheinen,  zeigen  sich  auch  materielle  Änderungen.  Die 
Einführung  des  goldenen  Räucheraltars  stammt  erst  aus  der  Zeit 
nach  Ezra,  ebenso  die  Erhöhung  der  heiligen  Kopfsteuer  von  einem 
dritten  Sekel  auf  einen  halben,  und  die  Herabsetzung  des  Ein- 
stellungsalters der  Leviten  von  dreißig  Jahren  auf  fünfundzwanzig. 

Das  Alte  wurde  mit  dem  Neuen  verquickt  und  durchwoben. 
Aber  nicht  allein  durchwoben,  sondern  auch  umwoben.  Um  das 
Gesetz  bildete  sich  eine  Sphäre  der  Gewohnheit  und  der  authen- 
tischen Interpretation,  die  sich  immer  w^eiter  ausdehnte  und  größere 
Wichtigkeit  erlangte  als  der  geschriebene  Buchstabe.  Diese  soge- 
nannte Überlieferung  der  Ältesten,  welche  teilweise  aufhob,  meist 
aber  ergänzte  und  zusetzte,  wurde  nicht  aufgezeichnet  und  konnte 
um  so  besser  mit  der  Zeit  fortschreiten  und  sich  ihr  anschmieden. 


202  Vierzehntes  Kapitel. 

Das  war  eine  verhältnismäßig  gesunde,  konsequente  und  praktische 
Fortentwicklung.  Von  ganz  anderer  Art  war  der  Nebel,  der  sich 
um  den  Stoff  der  alten  Erzählung  herumlegte  und  ihr  Bild  ver- 
wischte und  verzerrte.  Davon  haben  wir  einen  schriftlichen 
Niederschlag  in  der  Chronik,  einem  Midrasch  zum  alten  Buch 
der  Könige.  Es  ist  eine  wahre  Travestie  der  Geschichte,  die  geist- 
liche morjilisirende  Tendenz  vernichtet  den  ästhetischen  Wahrheits- 
sinD,  stellt  die  Dinge  nicht  dar  wie  sie  sind,  sondern  verwendet 
sie  nur  als  Beispiele  für  ein  paar  dürftige  Ideen  und  dichtet 
sie  nötigenfalls  mit  großer  Dreistigkeit  darnach  nm.  An  die 
prophetische  Literatur  schloß  sich  die  eschatologische  an.  Ihr 
Begründer  war  Ezechiel,  der  erste  rein  schriftstellernde  Prophet, 
der  die  göttliche  Offenbarung  als  ein  Buch  verschlang,  und  als  ein 
Buch  wieder  von  sich  gab.  Die  eschatologische  Weissagung  ist 
immer  Schriftstellerei,  immer  anonym  und  mit  Vorliebe  pseudonym: 
man  verbarg  sich  im  Schatten  des  Altertums. 

Doch  schrieb  man  daneben  auch  freier  und  selbständiger.  Der 
Kanon  schloß  nicht  ab,  sondern  wies  nur  die  Richtung  an.  Er 
beförderte  geradezu  das  Erblühen  einer  neuen  Literatur,  die  dann 
zum  Teil  allmählich  selbst  wieder  kanonisch  wurde.  Wenn  im 
dritten  Jahrhundert  des  Büchermachens  kein  Ende  w^ar,  so  wird 
es  im  vierten  und  fünften  nicht  viel  anders  gewesen  sein.  Aus 
jenem  besitzen  wir  das  überraschende  Zeugnis,  aus  den  beiden 
anderen  aber  weit  mehr  Reste.  Die  Hagiographen  stammen  aus 
dieser  Zeit,  sie  sind  ein  Erzeugnis  des  Judentums.  Sie  zeigen  uns 
größtenteils  ganz  neue  Arten  des  Schrifttums.  Wer  hätte  früher 
daran  gedacht,  seine  Memoiren  zu  schreiben,  wie  Ezra  und  Nehemia 
es  taten !  Auch  die  Psalmen  haben  keine  Analogie  in  vorexilischer 
Zeit.  Es  sind  Gebete  in  ganz  anderem  Sinn  wie  das  Altertum  sie 
kannte,  einzig  in  ihrer  Art;  sie  beruhen  auf  der  Verzweiflung 
Jeremias  und  auf  der  Zuversicht  des  großen  Anonymus').  Im 
Buch  lob  besitzen  wir  gar  eine  Art  philosophischen  Dialogs;  die 
Frömmigkeit  selber  wird  hier  zum  Problem  gemacht.  Die  Sprich- 
wörter   sind    allerdings    in    ihrer  Form   alt    oder  vielmehr  zeitlos, 


^)  Sie  sind  allerdings  nur  zum  kleinsten  Teil  originell,  zum  größten 
Imitationen,  die  den  Satz  Yom  -vielen  Schreiben  illustriren,  vielfach  auch  gar 
keine  wirklichen  Gebete,  sondern  Predigten  und  gar  Erzählungen  in  Form  des 
Gebetes.   Man  sieht,  -nie  das  Gebet  eine  Kunst  und  eine  Literaturgattuug  wird. 


Die  zweite  Hälfte  der  persischen  Periode.  203 

aber  als  Literatlirgattung  dennoch  neu  und  in  ihrem  vorherrschenden 
Geiste  jüdisch.  Am  alleroriginellsten  ist  das  Hohelied;  Namen  und 
Sachen,  die  darin  vorkommen,  weisen  seine  jetzige  literarische 
Gestalt  mit  Entschiedenheit  in  unsere  Periode.  Man  sieht  daraus, 
daß  das  Gesetz  den  Juden  die  Liebespoesie  noch  nicht  verbot  und 
den  Genuß  des  Lebens  nicht  unmöglich  machte.  Ein  Rätsel  ist  es 
nur,  wie  das  Buch  in  diese  Gesellschaft  geraten  ist;  wahrscheinlich 
weil  man  es  geistlich  umdeutete. 

Das  Wichtigste  bei  alledem  ist  die  Verbindung  von  Religion 
und  Literatur.  Das  Alte  Testament  war  den  Israeliten  unbekannt, 
es  ist  eine  Einrichtung  —  zur  größeren  Hälfte  auch  ein  Produkt  — 
des  Judentums,  erst  die  Juden  sind  aus  einem  Volk  des  Wortes 
das  Volk  des  Buches  geworden  (1  Mach.  12,  9).  Die  Propheten 
fanden  innerhalb  des  geistlichen  Gemeinwesens  keinen  Spielraum 
mehr,  das  Gesetz  verdrängte  sie,  die  freie  Rede  erlag  der  festen 
Autorität  der  Schrift ').  Man  darf  aber  den  Vorteil  dabei  nicht 
übersehen,  daß  die  Offenbarung  durch  das  Buch  zum  Gemeingut 
gemacht  wurde.  Die  Propheten  hatten  über  den  Mangel  der 
Gotte;?kenntnis  bei  der  Menge  gescholten  oder  ihn  auch  wol  ent- 
schuldigt mit  ihrer  gedrückten  Lage;    aber  den  Versuch  sie  müh- 


')  Zur  Zeit  Nehemias  finden  wir  noch  Propheten  als  politische  Agitatoren 
(6,  7).  Wenn  sie  nach  Zach.  13  unterdrückt  werden  sollen,  so  werden  sie 
eben  damit  doch  noch  als  bestehend  vorausgesetzt.  „Ich  schaffe  die  Pro- 
]iheten  und  den  unreinen  Geist  aus  dem  Lande,  und  wenn  noch  einer  als 
Prophet  auftritt,  werden  sein  Vater  und  seine  Mutter  ihn  totschlagen,  weil  er 
Lüge  geredet  hat  im  Namen  Jahves.  Jenes  Tages  wird  jeder  Prophet  sieh 
seines  Schauens,  wenn  es  ihm  ankommt,  schämen  und  den  härenen  Mantel 
nicht  mehr  anlegen  um  zu  betrügen,  sondern  sagen:  ich  bin  kein  Prophet, 
ich  bin  ein  Ackersmann,  der  Acker  ist  mein  Besitz  und  Gewerbe  von  meiner 
Jugend  auf."  Der  Protest  nimmt  sich  etwas  sonderbar  aus  im  Munde  dieses 
Verfassers  der  doch  selber  weissagt.  Aber  er  tut  es  schriftlich  und  anonym, 
er  protestirt  nur  gegen  das  öffentliche  demagogische  Auftreten  im  härenen 
Mantel.  Die  anonyme  oder  Pseudonyme  prophetische  Schriftstellerei  wucherte 
sogar  von  nun  an.  Indessen  starb  auch  der  demagogische  Enthusiasmus 
nicht  ganz  aus  und  brach  in  aufgeregten  Zeiten  öffentlich  hervor.  Nur  mit 
der  anerkannten  Autorität  der  Propheten  war  es  vorbei,  sie  wurden  von  den 
leitenden  geistlichen  Kreisen  mit  Mistrauen  angesehen  und  es  haftete  ein 
Makel  au  ihnen.  Die  Polemik  gegen  die  Demagogen,  „die  mein  Volk  irre 
führen",  findet  sich  übrigens  schon  bei  Micha  und  Jeremias;  die  Unter- 
scheidung zwischen  wahren  und  falschen  Propheten  Jahves  ist  der  erste  Schritt 
zur  Unterdrückung  der  Prophetie. 


204  Vierzehntes  Kapitel. 

sam  zu  sich  emporzuheben  hatten  sie  nicht  gemacht,  sie  standen 
ihr  ziemlich  schroff  gegenüber.  Jetzt  fiel  dieser  Gegensatz  fort; 
die  Schrift  war  das  Mittel,  dai3  alle  von  Gott  gelehrt  wurden. 
Sowol  der  Kultus  als  die  Prophetie  standen  nun  im  Buche,  und 
jedermann  konnte  und  sollte  darüber  Bescheid  wissen.  Die  heilige 
Literatur  war  durchaus  nicht  esoterisch,  sondern  für  alle  Kreise 
bestimmt.  Was  davon  nicht  verstanden  wurde,  wirkte  als  Mis- 
verständuis  um  so  erbaulicher,  und  für  das  Misverständnis  war 
gesorgt.  Die  Bibel  wurde  die  Fibel,  die  Gemeinde  eine  Schule, 
die  Religion  Sache  des  Lehrens  und  des  Lernens.  Frömmigkeit 
und  Bildung  gehörten  zusammen;  wer  nicht  lesen  konnte,  war  kein 
rechter  Jude.  Man  kann  sagen,  daß  auf  diese  Weise  die  Anfänge 
des  Yolksunterrichts  geschaffen  wurden.  In  Avelcher  Weise  das 
geschah,  liegt  freilich  im  Dunkel;  in  der  Synagoge,  „der  Juden- 
schule", lernte  man  doch  nicht  lesen  und  schreiben  und  die 
Schriftgelehrten  waren  keine  Elementarlehrer.  Aber  das  Ziel  der 
Bildung  um  der  Religion  w^illen  war  aufgesteckt  und  erw^eckte  den 
Wetteifer,  wenn  es  auch  nicht  mit  einem  Schlage  erreicht  wurde. 
4.  Der  großen  geistigen  Regsamkeit  dieser  Zeit  entsprach  ein 
äußerer  Aufschwung.  Unter  dem  beginnenden  Verfall  des  persi- 
schen Reichs  hatte  freilich  grade  Syrien  und  Palästina  viel  zu 
leiden.  Um  die  öffentliche  Ruhe  und  Sicherheit  scheint  es  schlecht 
bestellt  gewesen  zu  sein,  die  Oberherrschaft  hatte  weder  die  Macht 
noch  den  Willen,  den  Fehden  zu  wehren  und  den  Landfrieden 
aufrecht  zu  halten.  Auch  innerhalb  der  jüdischen  Gemeinde  und 
zu  Jerusalem  fehlte  es  nicht  an  schlimmen  Zwisten  und  Wirren. 
Wir  hören  in  den  Psalmen  von  Mord  und  Totschlag,  falschen  An- 
klagen, Verläumdungen  und  Ränken  aller  Art.  Aber  doch  begannen 
damals  die  Juden  sich  aus  der  Dürftigkeit  emporzuarbeiten.  Ihr 
Hauptgewerbe  war  nicht  etwa  der  Handel '),  sondern  die  Land- 
wirtschaft. Darauf  ruhte  der  Segen  Gottes  und  dadurch  kamen  sie 
zu  Wolstand.  Es  war  eine  Freude  zu  sehen,  wie  in  einem  fetten 
Jahr    die  Triften  sich  mit  Vieh    füllten,    die  Täler  mit  Korn   be- 


1)  Der  Handel  wurde  scheel  angesehen  (Sir.  26,  20 — 27,3)  und  noch  in 
dieser  Zeit  vielfach  den  „Tyriern"  und  „Kanaaniten"  überlassen,  d.  h.  wahr- 
scheinlich vorzugsweise  den  Asdodiern.  Doch  mehren  sich  die  Spuren  der 
Belianntschaft  mit  der  Schiffahrt  (Prov.  23,  34.  31,  14.  Ps.  107,  23ss.  Jona). 
Das  Sabbatjahr  konnten  die  Juden  nur  feiern,  wenn  sie  nicht  rein  auf  den 
Ertrag  des  Ackers  und  des  Gartens  angewiesen  waren. 


Die  zweite  Hälfte  der  persischen  Periode.  205 

deckt  waren,  und  auf  den  Bergen  die  Obstpflanzungen  rauschten 
wie  ein  Wald,  wie  in  einem  ordentlichen  Haushalt  die  Wirtschaft 
unter  der  Hand  einer  tüchtigen  Frau  vor  sich  kam. 

Mit  dem  Wolstand  stieg  auch  die  Bevölkerung.  Noch  zur 
Zeit  Nehemias  waren  die  Juden  eine  unbedeutende  Sekte,  die  in 
Jerusalem  und  der  Umgegend  Platz  fand.  Herodot  nahm  keine 
Notiz  von  ihnen.  Wäre  er  nach  hundert  Jahren  des  Weges  ge- 
kommen, so  würde  er  vielleicht  nicht  so  achtlos  an  ihnen  vorbei 
gegangen  sein.  Damals  hatten  sie  sich  vermehrt  und  ausgebreitet 
zu  einem  nicht  mehr  zu  übersehenden  Volke.  Hekatäus  von  Abdera 
sagt,  bei  der  Austreibung  der  Fremden  aus  Ägypten  seien  die 
Tüchtigsten  nach  Hellas  gegangen,  die  große  Menge  aber  nach 
Judäa  —  ein  Landesname,  der  Esd.  5,  8  zuerst  erscheint.  Manetho 
betrachtet  die  Juden  als  die  Summe  von  Hyksos  und  Unreinen, 
also  als  einen  sehr  zahlreichen  Haufen.  Beide  Schriftsteller  folgen 
einer  ägyptischen  Legende,   welche  älter  sein  muß  als  Alexander. 

Die  Ursache  des  Menschenreichtums  der  Juden  erkennt  Hekatäus 
in  der  ihnen  vom  Gesetz  auferlegten  Verpflichtung,  Kinder  aufzu- 
ziehen. Sie  waren  wol  in  der  Tat,  wie  sie  sich  rühmten,  eine 
sehr  fruchtbare  Nation.  Aber  es  kommt  vielleicht  noch  eine 
andere  Ursache  hinzu,  aus  der  sich  ihre  starke  Vermehrung  erklärt. 
Sie  werden  Zuwachs  von  außen  bekommen  haben,  besonders  aus 
ihrer  Nachbarschaft  in  Palästina.  Hatten  sie  sich  eine  Zeit  lange 
in  sich  selbst  zurückgezogen,  so  streckten  sie  nun  wieder  ihre 
Fühlhörner  und  Fänge  weit  aus;  auf  die  Dauer  ließ  sich  der  in  ihrer 
Religion  liegende  expansive  Trieb  nicht  unterdrücken.  Ezra  und 
Nehemia  hatten  diesem  Triebe  Zügel  angelegt;  die  Juden  mußten 
zunächst  ihr  jüdisches  Wesen  gegenüber  ihrer  Umgebung  behaupten, 
um  sich  nicht  in  ihr  zu  verlieren.  Nachdem  sie  sich  aber  durch- 
gekämpft und  als  Herren  in  ihrem  Hause  gezeigt  hatten,  konnten 
sie  die  Paganen  wieder  heranziehen  und  aufnehmen,  in  der  Gewiß- 
heit zu  assimiliren  und  nicht  assimilirt  zu  werden').  Ganz  aus- 
geschlossen war  freilich  die  Gefahr  der  Ansteckung  noch  immer 
nicht,  wie  sich  in  der  griechischen  Periode  zeigte.  Schon  Hekatäus 
sagt,  die  Juden  hätten  infolge  ihres  Verkehrs  mit  Fremden,  unter 
der  persischen  und  macedonischen  Herrschaft,  ihre  alten  Bräuche 
vielfach  geändert. 


*)  Die  drei  samarischen  Bezirke  Aphärema  Lydda  uud  Ramatha  müssen 
in  dieser  Zeit  judaisirt  sein,  d.  h.  religiös,  nicht  politisch. 


206  Vierzehntes  Kapitel. 

Eine  auffallende  Probe,  wie  sie  sicherer  und  weitherziger  im 
Verkehr  wurden  und  von  ihrer  ängstlichen  Exklusivität  zurück- 
kamen, liegt  darin,  daß  sie  ihre  angestammte  alte  Sprache  all- 
mählich verlernten.  Welch  wirksames  Mittel  sich  zu  isoliren  gaben 
sie  damit  preis!  wie  hätte  Kehemia  sich  darüber  ereifert!  Sie  be- 
gannen im  täglichen  Leben  aramäisch  zu  reden,  wie  ihre  Nach- 
barn ').  Das  Hebräische  wurde  nur  als  Literatursprache  beibehalten, 
als  solche  freilich  noch  lange  Zeit.  Eine  wichtige  Folge  davon  war 
die  Notwendigkeit,  die  heiligen  Schriften  nach  der  Verlesung  in  die 
Landessprache  zu  übertragen.  Das  Targum  ward  ein  Teil  des 
synagogalen  Gottesdienstes,  daran  schloß  sich  jetzt  die  erbauliche 
Erläuterung  und  die  Predigt  an,  die  noch  bei  den  Syrern  Turgam 
heißt. 

Mit  der  Erstarkung  des  Judentums  in  der  Heimat  hängt  ohne 
Zweifel  auch  die  Diaspora  zusammen,  die  freilich  erst  in  der 
griechischen  Zeit  ihre  geschichtliche  Bedeutung  gewann,  aber  doch 
wol  schon  vorher  begann.  Li  einigen  Psalmen  finden  sich  An- 
spielungen darauf.  Der  Ivnecht  Jahves  ist  sich  seiner  Aufgabe, 
die  Welt  zu  bekehren,  bewußt.  Freiwillige  aus  den  Heiden  haben 
sich  dem  Volke  des  Gottes  Abrahams  angeschlossen;  Jahves  Name 
und  seine  Lobpreisung  ist  über  die  Enden  der  Erde  verbreitet. 
Sion  ist  der  Mittelpunkt  einer  sehr  ausgedehnten  Gemeinde,  ihre 
Kinder  sind  weit  und  breit  zerstreut,  sie  bleibt  ihrer  aller  Mutter 
und  ihre  eigentliche  Heimat.  Alle  mit  einander,  wo  sie  auch  sich 
aufhalten,  betrachten  sich  als  Beisassen  und  Schutzbefohlene  des 
Tempels  und  der  Gottheit;  beim  Gebet  richten  sie  sich  dorthin. 
Es  wäre  fein  und  lieblich,  wenn  die  Zusammengehörigen  auch  zu- 
sammen wohnten;  da  das  nicht  sein  kann, ,  so  treffen  sie  sich 
wenigstens  bei   den  Festen  *'').     Die  Bedeutung  der  Feste  verändert 


^)  Nehemia  entsetzte  sich,  Familien  zu  finden,  deren  Kinder  nicht  jüdisch, 
sondern  asdodisch  redeten.  Asdodisch  ist  schwerlich  ebenfalls  hebräisch  und 
vom  Jüdischen  nur  durch  geringe  Nuancen  -verschieden,  sondern  es  ist  der 
aramäische  Dialekt,  der  bei  den  westlichen  Nachbarn  der  Juden  geredet  wurde. 
Die  angebliche  Münze  von  Asdod  mit  angeblich  hebräischer  Legende,  aus  der 
man  geschlossen  hat,  daß  im  vierten  vorchristlichen  Jahrhundert  zu  Asdod 
noch  nicht  aramäisch  gesprochen  worden  sei,  ist  in  Wahrheit  eiue  persische 
Satrapenmünze,  wie  sich  jetzt  herausge'stellt  hat. 

^)  Ps.  47.  48.  51.  84.  122.  132.  Am  merkwürdigsten  ist  Ps.  87,  dessen 
Text  allerdings  so  beschaffen  ist,   daß  man  ihn  nicht  übersetzen,   sondern  nur 


Die  zweite  Hälfte  der  persischen  Periode.  207 

sich  und  wächst  ungemein  durch  die  Wallfahrten;  sie  geben  die 
Gelegenheit  zur  Pflege  der  Gemeinschaft  zwischen  den  entferntesten 
Brüdern ').  Ein  anderes  wichtiges  Bindemittel  ist  die  Tempelsteuer, 
die  allen  Juden  obliegt. 

Die  zehn  Stämme  sind  spurlos  unter  den  Heiden  aufgegangen, 
sie  haben  mit  der  Diaspora  in  Wirklichkeit  nichts  zu  tun,  obgleich 
sie  in  der  messianischen  Weissagung  zuweilen  den  Namen  dafür 
hergeben.  Die  Diaspora  ist  durchaus  jüdisch.  Sie  befolgt  überall 
das  mosaische  d.  i.  das  jüdische  Gesetz;  nirgends  gibt  es  darunter 
Israeliten  vormosaischer  Observanz.  Für  die  älteste  Diaspora- 
gemeinde kann  die  babylonische  gelten;  sie  ist  aber  in  der  Tat 
mehr  als  das,  sie  ist  neben  der  jerusalemischen  Gemeinde  der  zweite 
Mittelpunkt  des  Judentums.  Die  eigentliche  Diaspora  ist  nicht 
durch  das  Exil  bewirkt,  sondern  erst  nach  dem  Exil  ausgegangen, 
und  zwar  hauptsächlich  von  Jerusalem  ^).  Sie  beruht  zunächst  auf 
der  Auswanderung  palästinischer  Juden,  dann  aber  auch,  und  wahr- 
scheinlich in  viel  größerem  Umfange,  auf  der  Propaganda,  welche 
die  Auswanderer  in  der  Fremde  machten.  Jeder  Jude  trug  das 
ganze  Judentum  unter  den  Sohlen,  ein  Samenkorn  genügte  unter 
Umständen  um  einen  Baum  zu  erzeugen.  Im  Ps.  87  werden  als 
AVohnsitze  auswärtiger  Verehrer  Jahves,  abgesehen  von  Babylonien, 


den  Sinn  erraten  kann.  „Wie  herrlich  ist  Gottes  Stadt,  die  er  gegründet  hat 
auf  heiligen  Bergen  I  Jahve  liebt  die  Tore  Sions,  vor  allen  anderen  Woh- 
nungen Jakobs.  Herrliches  sagt  man  von  dir,  du  Stadt  Gottes.  Aus  Rahab 
und  Babel,  aus  Philisterland  Tyrus  und  Kusch,  ist  dieser  und  jener  meiner 
Bekenner  gebürtig.  Aber  Sion  nennt  ein  jeder  seine  Mutter,  und  er  selbst, 
der  Höchste,  hält  sie  fest.  Jahve  schreibt  an  in  dem  Yölkerbuche:  dieser  ist 
da  und  jener  dort  gebürtig;  aber  Vornehme  und  Geringe,  ihrer  Aller  Heimat 
ist  in  dir,  Jerusalem."  Das  Völkerbuch  ist  eine  von  Jahve  geführte  Bürger- 
liste seiner  unter  den  Völkern  versprengten  Untertanen. 

')  Joseph.  Ant.  4,  203  s. 

-)  Die  Propheten  sprechen  manchmal  die  Hoffnung  aus,  daß  die  durch 
Assyrer  und  Chaldäer  in  alle  Welt  zerstreuten  Israeliten  und  Juden  aus  der 
Zerstreuung  in  ihre  Heimat  wieder  zusammengebracht  werden  sollten;  man 
darf  daraus  aber  auf  den  wirklichen  Bestand  der  Diaspora  im  persischen 
Reiche  keine  Schlüsse  ziehen.  Von  Babylonien  aus  verbreitete  sich  das  Juden- 
tum in  Medien  und  am  Euphrat  und  Tigris  (Buch  Tobit,  Jos.  Ant.  11,  133 
12,  149.  15, 14),  aber  vielleicht  erst  in  der  griechischen  Zeit.  Nisibis  Ant. 
18,  312  kann  nicht  das  bekannte  in  Mesopotamien  sein,  wenn  es  wirklich  Ijei 
Kahardea  in  Babylonien  liegt. 


208  Fünfzehntes  Kapitel. 

angegeben:  das  Philisterland  und  Tyrus,  Ägypten  und  Meroe^).  Man 
meint  gewöhnlich,  in  Ägypten  hätten  sich  die  Kolonen  fortgepflanzt, 
die  mit  Jeremias  dorthin  auswanderten;  das  ist  jedoch  sehr  un- 
wahrscheinlich dem  gegenüber,  daß  der  Prophet  ihnen  auf  das  be- 
stimmteste den  völligen  Untergang  voraussagt.  Hekatäus  und 
Manetho  sagen  nicht,  daß  sich  zu  ihrer  Zeit  Juden  in  Ägypten 
befanden;  indessen  wenn  das  nicht  der  Fall  war,  so  ist  das  feind- 
liche Interesse  der  aus  vorgriechischer  Zeit  stammenden  ägyptischen 
Legende  an  ihnen  kaum  zu  begreifen.  Sie  scheinen  also  schon 
während  der  persischen  Herrschaft  hingekommen  zu  sein. 


Fünfzehntes  Kapitel. 

Die  jüdische  Frömmigkeit. 

1.  Das  Gesetz  hat  keinen  plötzlichen  Einschnitt  in  die  bis- 
herige Entwicklung  gemacht.  Seine  erstickende  Wirkung  hat  es 
erst  allmählich  ausgeübt;  es  dauerte  lange,  bis  der  Kern  hinter 
der  Schale  verholzte.  Bis  auf  den  Pharisaismus  blieben  die  freien 
Triebe  in  lebendiger  Kraft,  die  von  den  Propheten  ausgegangen 
waren;  das  ältere  Judentum  ist  die  Vorstufe  des  Christentums. 
Was  im  Alten  Testament  noch  heute  wirkt  und  ohne  historische 
Vorbildung  genossen  werden  kann,  ist  zimi  größeren  Teil  Erzeugnis 
der  nachexilischen  Zeit. 

Die  Juden  fühlten  sich  als  Epigonen  und  sie  waren  es  auch 
in  gewissem  Sinn,  obgleich  sie  den  Abstand  zwischen  Sonst  und 
Jetzt  anders  empfanden  als  er  wirklich  war.  Sie  zehrten  von  der 
Vergangenheit,  von  der  alten  Geschichte,  von  der  alten  Literatur. 
Jahve  erweckte  keine  Helden  mehr,  der  Mund  der  Propheten 
schwieg,  die  Oft'enbarung  war  ein  Buch  geworden.     Aus  der  freien 


')  Isa.  27,  13  werden  nur  Assur  (d.  i.  Syrien)  und  Ägypten  aufgeführt. 
Dagegen  Isa.  11,11  im  masor. Texte:  Assur,  Unterägypten,  Oberägypteu,  Äthiopien, 
Elam,  Babylonien,  Hamäth  (Egbatana?)  und  die  Inseln  des  Meers.  In  der 
Septuaginta:  Assur,  Ägypten,  Babylonien,  Äthiopien,  Elam,  das  Ostland 
und  Arabien.  Bei  Aphraates  p.  368:  Assur,  Ägypten,  Tyrus  und  Sidon  und 
die  fernen  Inseln. 


Die  jüdische  Frömmigkeit.  209 

Luft  fühlen  wir  uns  in  ein  Treibhaus  versetzt.  Die  Frömmigkeit 
wurde  methodisch  betrieben,  als  das  Geschäft  des  Lebens.  Das 
hatte  üble  Nebenwirkungen;  die  aufdringliche  Pedanterie  des  geist- 
lichen Wesens  und  der  geistlichen  Phrase  machen  sich  unangenehm 
bemerkbar.  Aber  darüber  darf  man  den  großartigen  Erfolg  der 
Disziplin,  der  die  Juden  sich  unterwarfen,  nicht  übersehen.  Aus 
den  zerschmetterten  Resten  ihres  untergegangenen  Gemeinwesens 
stellten  sie  ein  neues  her,  das  der  natürlichen  Bedingungen  eines 
Yolkstumes  entraten  konnte.  In  dem  Chaos  des  Weltreiches,  in 
dem  die  Nationen  und  damit  zugleich  Religion  und  Sitte  sich  auf- 
lösten, standen  sie  fest  wie  ein  Fels  im  Meer. 

Sie  hingen  mit  allen  Fasern  an  ihrer  Gemeinde.  Sion  war 
ihnen  die  rechtmäßige  Erbin  des  alten  Israel  und  seiner  Ansprüche, 
die  heilige  Stadt  Gottes  auf  Erden.  Wie  Jahve  das  Volk,  als  es 
jung  war,  geleitet  hatte,  so  verließ  er  es  auch  im  Alter  nicht. 
Das  ungebrochene  religiöse  Selbstgefühl,  wodurch  das  Volk  ehedem 
sich  mit  seinem  Gotte  unmittelbar  eins  gewußt  hatte,  lebte  zwar 
nicht  wieder  auf;  man  bedachte,  daß  Jahves  Wege  und  Gedanken 
höher  seien  als  die  der  Menschen.  Aber  man  scheute  sich  doch 
noch  immer  nicht  sein  lebendiges  W'irken  auf  Erden  leibhaftig  zu 
schauen,  wenn  auch  weniger  in  den  Ereignissen  der  ereignislosen 
jüdischen  Geschichte,  als  in  denen  der  W^eltgeschichte.  Man  staunte 
über  seine  große  Taten,  man  sah,  wie  er  sich  als  Richter  zeigte 
unter  den  Völkern.  Das  genügte;  es  war  nicht  nötig,  daß  sein 
Gericht  gerade  den  Seinen  besonders  zu  gute  kam.  Schien  das 
aber  einmal  wirklich  der  Fall  zu  sein,  um  so  besser.  Dann  schwang 
sich  das  fromme  Gemeinbewußtsein  zu  stolzer  Höhe  auf,  wie  der 
Triumphgesang  zeigt,  der  das  unerreichte  Vorbild  von  Luthers  Ein 
feste  Burg  ist ').  „Gott  ist  unsere  Zuflucht  und  Wehr,  ein  Beistand 
wol  erprobt  in  der  Not.  Darum  fürchten  wir  uns  nicht,  wenn  die 
Erde  gährt    und  die  Berge  wanken   im   Herzen   des  Meeres.     Laß 


^)  Die  Situation  von  Ps.  46  ist  niclit  die  Zeit  der  Belagerung  Jerusalems 
unter  Senaherib.  Die  Heiden  sind  niciit  vor  der  heiligen  Stadt  versammelt, 
sondern  selber  in  ihren  eigenen  Ländern  betroifen.  Eine  Umwälzung  der 
sämtlichen  Verhältnisse  eines  großen  politischen  Systems,  wie  sie  durch 
Alexander  geschah,  würde  den  Psalm  erklären,  eine  Erschütterung  der  ge- 
samten alten  Welt,  die  aber  Jerusalem  unerschüttert  ließ  und  den  Juden  als 
Tat  Jahves  zur  Vorbereitung  eines  Reiches  erscheinen  konnte,  in  dessen  weiten 
Grenzen  der  Gottesfriede  angebahnt  wurde  und  die  Fehden  der  Nationen  ver- 
weil hause  n,  Isr.  Geschichte.    ü.Aufl.  14 


210  Fünfzehntes  Kapitel. 

brausen,  schäumen  seine  Wogen,  laß  Berge  beben  bei  seinem  Un- 
gestüm: Jahve  Sabaoth  ist  mit  uns,  der  Gott  Jakobs  ist  unsere 
Burg.  Ein  Bach,  dessen  Wasser  Gottes  Stadt  erfreuen,  ist  der 
Höchste  in  seiner  heiligen  Wohnung.  Gott  ist  in  ihrer  Mitte, 
darum  wankt  sie  nicht;  Gott  hilft  ihr  wenn  der  Morgen  tagt. 
Völker  toben,  Reiche  wanken,  Donner  hallt,  die  Erde  verzagt: 
Jahve  Sabaoth  ist  mit  uns,  der  Gott  Jakobs  ist  unsere  Burg. 
Kommt  her  und  schaut  die  Taten  Jahves,  was  für  Wunder  er  tut 
auf  Erden!  Der  den  Kriegen  steuert  in  aller  Welt,  Bogen  knickt, 
Speere  zerbricht,  Wagen  mit  Feuer  verbrennt.  Laßt  ab  und  er- 
kennt, daß  ich  Gott  bin,  ich  triumphire  über  die  Völker,  triumphire 
über  die  Welt.  Jahve  Sabaoth  ist  mit  uns,  der  Gott  Jakobs  ist 
unsere  Burg." 

Die  Stimmung  hing  indessen  von  Wind  und  Wetter  ab,  auf 
solcher  Höhe  behauptete  sie  sich  nicht  lange.  Die  Juden  wurden 
durch  ihr  Geschick  nicht  verwöhnt.  Die  bitter  empfundene  Fremd- 
herrschaft blieb  auch  nach  der  Befreiung  aus  dem  Exil  bestehn. 
Sion  war  zwar  wieder  gebaut,  doch  im  Druck  der  Zeiten.  Der 
Widerspruch  hörte  nicht  auf,  daß  das  messianische  Heil  längst 
fällig  war  und  doch  nicht  eintrat,  und  so  blieb  die  Grundstimmung 
auch  der  späteren  Juden  gespannt.  Die  Restauration  des  Kultus 
war  nur  ein  Angeld  auf  etwas  Größeres.  Die  Gesetzesarbeit  war 
eine  beständige  Vorbereitung  auf  den  Advent  des  Herrn  zu  seinem 
Volke  und  eine  beständige  Bitte,  daß  er  komme.  Man  hoffte  auf 
die  Zukunft,  in  der  Zukunft  sollte  die  Vergangenheit  wieder  auf- 
leben. Die  bedrückend  unzureichende  Gegenwart  lag  wie  ein  Interim 
dazwischen;  es  konnte  zur  Verzweiflung  bringen.  Man  suchte  sich 
selbst  notdürftig  über  Wasser  und  die  Gottheit  an  einem  schwachen 
Bande  mit  allen  Kräften  festzuhalten. 

Die  jüdische  Eschatologie,  die  nicht  erst  mit  Daniel,  sondern 
schon  im  Exil  mit  Ezechiel  einsetzt,  ist  immer  messianisch  und 
immer  utopisch;  ihr  Gott  ist  der  Gott  der  Wünsche  und  der  Illusion. 
Sie  malt  sich  auf  dem  Papier  ein  Ideal,  zu  dem  von  der  Wirklich- 
keit keine  Brücke  hinüberführt,  welches  plötzlich  durch  das  Ein- 
greifen  eines   deus   ex   machina  in   die  Welt  gesetzt  werden  soll. 


stummten.  An  Alexander  konnten  in  der  Tat  eben  so  große  Hoffnungen 
geknüpft  werden  wie  an  Cyrus  (der  hier  natürlich  nicht  in  Frage  kommen 
kann),  und  die  Begrüßung  wäre  seiner  wert. 


Die  jüdische  Frömmigkeit.  211 

Sie  empfindet  nicht,  wie  die  alte  echte  Prophetie,  das  schon  im 
Werden  Begriffene  voraus  und  stellt  auch  keine  Ziele  für  das 
menschliche  Handeln  auf,  die  schon  in  der  Gegenwart  Geltung  haben 
oder  haben  sollten.  Sie  schaut  nicht  das  lebendige  Tun  der  Gott- 
heit, sondern  hält  sich  an  den  heiligen  Buchstaben,  in  dem  sie 
die  Verbriefung  ihrer  Wünsche  sieht,  und  behandelt  ihn  als  Quelle 
für  ihre  dogmatische  Spekulation.  Die  alten  Weissagungen  waren 
mit  der  Erlösung  aus  dem  Exil  nur  scheinbar  erfüllt  und  bedurften 
erst  noch  der  wahren  Erfüllung.  Von  diesen  unerfüllten  Weis- 
sagungen geht  die  Eschatologie  seit  Ezechiel  aus,  sie  prolougirt  den 
nicht  eingelösten  Wechsel  auf  einen  späteren  und  immer  wieder 
auf  einen  späteren  Termin^).  Sie  benutzt  aber  auch  markante 
Züge  der  alten  heiligen  Geschichte;  das  Reich  Davids  war  ja  das 
Ideal,  das  wieder  in  Erscheinung  treten  sollte.  Die  Zukunft  war 
der  Revenant  der  Vergangenheit,  das  Alte  wurde  zu  einem  neuen 
gespenstischen  Leben  auferweckt,  das  Erste  wurde  das  Letzte'). 
Das  war  der  Aufzug  des  phantastischen  Gewebes.  Dazu  lieferte  die 
Gegenwart  einen  wechselnden  Einschlag;  denn  so  starr  wie  die  heutige 
christliche  Eschatologie  war  die  jüdische  doch  noch  nicht.  Sie  war 
noch  immer  einigermaßen  an  die  Zeitverhältnisse  gebunden,  sie  be- 
darf der  historischen  Erklärung,  vor  allem  der  Datirung.  Verhältnis- 
mäßig untergeordnet  sind  allerhand  mythologische  Vorstellungen,  die 
ebenfalls  vorkommen  und  vorzugsweise  dem  großen  babylonischen 
Magazin  entnommen  zu  sein  scheinen;  sie  verhüllen  und  veranschau- 
lichen zugleich,  oder  haben  auch  wol  nur  ornamentalen  Wert. 

Die  große  Krisis  verläuft  nach  einem  einfachen  und  festen 
Schema.  Sie  wird  angekündigt  durch  Zeichen  verschiedener  Art: 
Heuschrecken,  Verfinsterung  von  Sonne  und  Mond,  Krieg  und  Mord, 
Auflösung  der  inneren  Bande  in  Gemeinde  und  Familie.  Die  Er- 
eignisse der  Zeit  führten  den  Tag  Jahves  nicht  mehr  herbei,  sondern 
waren  nur  Symptome,  daß  er  nahe.  Darauf  tritt  zunächst  eine 
Reinigung  und  Sichtung  innerhalb  der  Gemeinde  ein.  Die 
Sünden  und  die  Sünder  in  der  Gemeinde  hindern  die  Ankunft  des 
Heils.  „Wir  brummen  alle  wie  die  Bären  und  girren  wie  die 
Tauben,    in    ungeduldiger,    sehnsüchtiger    Erwartung,    aber    unsere 


^)  Vgl.  meine  Skizzen  und  Vorarbeiten  6  (1899)  p.  226ss.   Sirac.  33. 
-)  Elias,  Gog  und  Magog,  und  der  Sephoni  sind  auffällige  Beispiele:  vgl 
meine  Bemerkungen  zu  Soph.  2,  15.    Joel  2,  20.  3,  1.  Mal.  3,  L 

14* 


212  Fünfzehntes  Kapitel. 

Missetaten  erklären  die  Verzögerung."  Das  Exil  hat  also  noch 
nicht  genügt,  es  muß  noch  einmal  ein  Rest  ausgesiebt  werden, 
noch  einmal  eine  Läuterung  der  Juden  selber  erfolgen,  ehe  Jahve 
bei  ihnen  Wohnung  nehmen  kann.  Das  ist  die  große  Worfelung 
in  Ps.  1  und  in  vielen  anderen  Psalmen,  das  innere  Gericht  und 
die  Apokatastasis  bei  Malachi. 

Es  ist  nicht  in  Vergessenheit  geraten,  daß  jener  Tag  ein  Tag 
des  Zornes  auch  für  die  Juden  sei,  aber  seine  eigentliche  Spitze 
richtet  er  doch  nicht  gegen  sie,  sondern  gegen  die  Heiden.  Seit 
dem  Verfasser  von  Isa.  40ss.  betrachten  die  Juden  das  Heil  als  ihr 
Recht  und  die  Weltgeschichte  als  einen  Prozeß  darum,  der  sich 
zwischen  ihnen  und  den  Heiden  abspielt.  Der  Prozeß  hätte  längst 
zu  ihren  gunsten  entschieden  sein  sollen;  sie  sind  enttäuscht  und 
beinah  erbittert,  daß  sie  das  Recht,  das  sie  haben,  noch  immer 
nicht  bekommen.  Das  Gericht  soll  es  ihnen  verschaffen,  es  soll  die 
Herrschaft  der  Heiden  brechen.  Zu  einem  letzten  Ansturm  gegen 
die  Theokratie  versammelt,  sollen  sie  vor  den  Toren  Jerusalems 
zertreten  werden:  das  ist  die  Vorstellung,  die  seit  Ezechiel  für  die 
Eschatologie  charakteristisch  ist').  Man  träumte  indessen  noch 
nicht  von  einem  jüdischen  Weltreiche.  Die  Heiden  werden  nicht 
den  Juden,  sondern  nur  Jahve  Untertan  sein,  d.  h.  ihn  als  den 
wahren  Gott  und  Jerusalem  als  die  Stätte  seiner  Verehrung  aner- 
kennen und  dorthin  ihre  Opfer  und  Gaben  bringen^).  Das  Gericht 
ist  also  identisch  mit  dem  Heil  oder  wenigstens  mit  der  Verwirk- 
lichung des  Heils.  Die  Herabführung  des  himmlischen  Jerusalems 
wird  erst  in  späterer  Zeit  davon  unterschieden.  Diese  Erwartung 
lehnt  sich  an  Ezech.  40ss.  Ezechiel  beschreibt  dort  zwar  nicht 
das  himmlische,  sondern  das  irdische  Jerusalem,  wäe  es  nach  dem 
Exil  wieder  aufgebaut  werden  soll.  Aber  sein  Jerusalem  blieb  doch 
in  mancher  Hinsicht  künftig  und  so  wurde  es  himmlisch,  wie  alle 
Güter  der  Hoffnung  bei  Gott  im  Himmel  thesaurirt  sind.  Die  ersten 
Ansätze  zu  der  Vorstellung  finden  sich  Isa.  60,  Joel  4  und  Zach.  14. 

In  der  Vergangenheit  waren  die  Juden  eine  politische  Nation 
gewesen,   und  in  der  Zukunft  hofften  sie  wieder  eine  zu   werden. 


1)  Ezech.  38.  39.  Joel  4.   Zach.  12.  14.  Mich.  4.  5.7.   Sophon.  3    Ambak.  3. 

-)  Agg.  2.  Isa.  60.  Die  Bekehrung  der  Heiden  ist  der  Punkt,  wo  die 
menschliche  Arbeit  dazu  helfen  kann,  daß  das  Reich  Gottes  komme.  Vgl. 
Ps.  51,15. 


Die  jüdische  Frömmigkeit.  213 

Das  Reich  Davids  sollte  wieder  hergestellt  werden,  das  war  ihr 
Ideal.  Darauf  indessen  legten  sie  kein  Gewicht,  daß  wieder  ein 
König  an  ihre  Spitze  trete.  Sie  liebten  im  allgemeinen  die  Könige 
nicht,  die  sie  nur  noch  als  Tyrannen  kannten;  sie  fanden,  daß 
Menschenherrschaft  sich  nicht  vertrage  mit  der  Gottesherrschaft '). 
Die  Souveränetät  wurde  darum  gern  auf  das  Volk  übertragen.  Wie 
Israel  der  Knecht,  d.  h.  der  Prophet  Jahves  ist,  so  ist  Israel  auch 
der  Messias  und  der  Erbe  Davids,  vorläufig  in  Schwachheit,  künftig 
in  Kraft  ^).  Doch  erhielt  sich  daneben  auch  die  Idee  des  monar- 
chischen Messias. 

Wie  aus  alledem  erhellt,  war  die  Hoffnung  doch  nicht  etwa 
transzendent,  die  Erde  blieb  der  Schauplatz.  Nicht  das  Irdische 
sollte  himmlisch  werden,  sondern  das  Himmlische  irdisch.  Der 
Himmel  w\ar  weiter  nichts  als  der  vorläufige  Aufbewahrungsort  der 
von  Gott  beschlossenen  Dinge.  Verwirklicht  wurden  sie  nur  da- 
durch, daß  sie  auf  die  Erde  herabkamen.  Der  Trost,  auf  den  man 
wartete,  war  die  Auferstehung  des  Volkes.  Das  Volk  stirbt  nicht 
und  bedarf  keines  Jenseits,  die  Auferstehung  eines  Volkes  fällt 
nicht  in  das  Gebiet  des  Übernatürlichen.  Es  ist  höchst  auffallend 
und  in  gewisser  Hinsicht  großartig,  wie  lange  auf  diese  Weise  eine 
so  aufrichtige  und  ernsthafte  Frömmigkeit  den  Glauben  an  persön- 
liche Fortdauer  und  jede  religiöse  Metaphysik  hat  entbehren  können. 
Die  Psychologie  hat  mit  der  Religion  noch  immer  nichts  zu  tun. 
Der  Einzelne  stirbt  und  damit  ist  es  aus,  Leib  und  Seele  gehn  zu- 
sammen. Das  Leben  ist  der  Hauch  Gottes,  der  durch  die  Kreaturen 
geht;  zieht  er  ihn  zurück,  so  verscheiden  sie.  Die  Schatten  in  der 
Hölle  haben  kein  Leben,  keine  Beziehung  zu  Gott  und  Welt^);  in 


^)  1  Sam.  12.  Au  die  Stelle  des  Königs  ist  nach  dem  Exil  die  Gemeinde 
getreten.  Der  Königstempel  ist  ein  Gemeindetempel  geworden  und  das  Königs- 
opfer ein  Gemeindeopfer  (das  Thamid).  Die  Kosten  des  öffeutlichen  Gottes- 
dienstes, die  bei  Ezechiel  noch  der  König  trägt,  werden  durch  eine  Kopfsteuer 
der  Gemeinde  aufgebracht  —  es  äußert  sich  freilich  mehrfach  der  Wunsch, 
sie  aiif  den  fremden  Oberherrscher  abzuwälzen. 

-)  Ps.  28,  8  (lies  leammo  für  lamo)  80,  18.  84,  10.  89,  39.  52.  105,  15 
132,10.  Ambak.  3,  13.  Dan.  7,  27.  Wie  sonst  Abraham,  so  wird  in  Ps.  89 
und  132  David  als  Vertreter  des  ganzen  Volkes  betrachtet;  ganz  Israel  gilt 
als  Erbe  des  von  ihm  erworbenen  Verdienstes  iind  der  ihm  gegebenen  Ver- 
heißungen. 

^)  Ganz  ist  diese  Neutralisirung  der  Toten  freilich  doch  nicht  durch- 
gedrungen.    Sie  haben  eine  Empfindung  davon,  wenn  der  Wurm  sie  nagt  und 


214  Fünfzehntes  Kapitel. 

den  Psalmen  wird  die  Bitte  um  Rettung  aus  Gefahr  und  Todesnot 
fast  regelmäßig  damit  motivirt,  daß  nach  dem  Tode  auch  das 
Verhältnis  des  Frommen  zu  Gott  ein  Ende  habe:  wer  kann  dich 
in  der  Hölle  preisen!  Daraus  erklärt  sich  der  ungeheuere  Wert, 
den  die  Juden,  sehr  im  Gegensatz  gegen  die  ältesten  Christen,  auf 
das  irdische  Leben  legen;  es  ist  auch  in  religiöser  Hinsicht  der 
Güter  höchstes. 

2.  Die  Juden  arbeiteten  für  das  Ganze  und  hoft"ten  für  das 
Ganze.  Ihre  Gemeinschaft  ging  ihnen  über  alles.  Durch  den  Kultus 
wurde  sie  genossen  und  gepflegt.  Die  Opfer  gaben  nur  den  äußeren 
Anlaß  den  Tempel  zu  besuchen,  der  wahre  Grund  lag  in  dem  Be- 
dürfnis, sich  durch  die  Gemeinschaft  des  Geistes  zu  erquicken  und 
zu  stärken;  daher  die  Sehnsucht,  teilzunehmen  an  den  schönen 
Gottesdiensten  des  Herrn  und  mitzuwallen  im  Haufen  der  Feiernden. 
Ahnlich  steht  es  mit  der  Beschneidung,  dem  Sabbat  und  den 
anderen  Bräuchen:  der  Geist  der  Gesamtheit  drückt  sich  aus  durch 
an  sich  leere  Zeichen,  die  jedoch  allenthalben  Widerhall  erwecken 
und  an  alles  erinnern.  Die  Gemeinschaft  beruht  nun  zwar  auf 
natürlicher  Grundlage,  aber  sie  ist  doch  keine  einfache  Volksgemein- 
schaft, sie  ist  mehr  und  sie  ist  auch  w-eniger.  Mehr  insofern,  als 
sie  etwas  Inniges  hat,  etwas  von  freiwilligem  Zusammenschluß 
gleichgestimmter  Seelen.  Weniger  insofern,  als  ihr  die  selbstver- 
ständliche Solidarität  eines  Volkes  fehlt.  Sie  hat  einen  pietistischen, 
separatistischen  Grundzug;  die  Frommen  waren  ihre  Schöpfer  und 
ihre  eigentlichen  Träger.  Sie  machten  mit  einigem  Recht  den  An- 
spruch, das  Ganze  zu  beherrschen,  und  mit  Hilfe  der  persischen 
Könige  gelang  es  ihnen  auch,  dem  Ganzen  durch  das  Gesetz  ihren 
Stempel  aufzudrücken.  Aber  den  Widerspruch  der  Natur  gegen 
den  geistlichen  Zwang  konnten  sie  nicht  beseitigen.  Es  blieb  immer 
die  tiefe  Kluft  zwischen  dem  Israel  nach  dem  Geist  und  dem  Israel 
nach  dem  Fleisch;  die  Psalmen  zeigen  die  Gemeinde  von  bitterer 
Feindschaft  zerrissen.  Über  dem  durch  besondere  Anlässe  be- 
stimmten Wechsel    der  Parteigruppirung    schwebt   im   Ganzen    der 


das  Feuer  sie  brennt.  Sie  leiden  darunter,  wenn  ihre  Gebeine  aus  dem  Grabe 
gerissen  und  verstreut  werden,  vor  Sonne,  Mond  und  Sternen.  Jereniias  kann 
für  die  verstorbenen  Väter,  welche  die  Hauptschuld  an  dem  Frevel  haben,  für 
den  die  Söhne  büßen  müssen,  keine  andere  Strafe  finden,  als  daß  ihre  Gebeine 
bei  der  Einnahme  Jerusalems  durch  die  Chaldäer  aus  ihren  Kuhestätten  auf- 
gewühlt werden  (Kap.  8). 


Die  jüdische  Frömmigkeit.  215 

allgemeine  und  gleichbleibende  Gegensatz  der  Weltkinder  und  der 
Frommen.  In  der  Regel  haben  jene  die  Macht  und  diese  befinden 
sich  in  der  Opposition.  Freilich  decken  sich  die  beiden  Lager  nicht 
ganz  mit  den  Ständen  und  die  Rollen  können  sich  vertauschen;  es 
kommt  vor,  daß  ein  frommer  Mann  an  der  Spitze  steht,  den  dann 
die  Gottlosen  zu  stürzen  suchen.  Die  Frommen  betrachten  ihre 
Gegner  als  gar  nicht  zur  Gemeinde  gehörig,  sie  werfen  sie  mit  den 
Heiden  zusammen.  Sie  hassen  sie  mit  rechtem  Ernst  und  fluchen 
ihnen,  daß  es  eine  Art  hat;  sie  machen  aus  ihrem  rachsüchtigen 
Herzen  keinen  Hehl  und  sind  höchst  aufrichtig  in  der  Äußerung 
ihrer  Gefühle  vor  Gott.  Dieses  Richten,  nach  der  Idee  oder  auch 
nach  dem  Parteistandpunkte,  ist  bezeichnend  für  die  Art  der  jüdischen 
Gemeinde.  Daß  das  iunere  Recht  auf  Seiten  der  Frommen  war, 
muß  man  zugestehn. 

Daraus  erhellt  nun  schon,  daß  trotz  allem  der  Schwerpunkt 
des  Judentums  nicht  mehr  in  der  Gesamtheit  liegt,  sondern  in  dem 
Individuum  ^).  Der  geborene  Jude  muß  sich  doch  noch  selbst  zum 
Juden  machen.  Die  gleichgesinnten  Individuen  halten  zusammen. 
Die  Gemeinde  ist  das  fromme  Ich;  es  ist  bezeichnend,  daß  man 
darüber  streiten  kann,  ob  in  den  Psalmen  ein  Einzelner  oder  die 
Gemeinde  redet.  Früher  war  die  Religion  gemeinsamer  Besitz  des 
Volkes,  etwas  Selbstverständliches  und  Natürliches,  wodurch  sich 
keiner  vom  anderen  unterschied.  Jetzt  beruht  sie  auf  der  Arbeit, 
dem  Streben  und  der  Gesinnung  des  Einzelnen.  Sie  ist  auf  dem 
Wege,  Religiosität  zu  werden.  Sie  stellt  ein  Lebensideal  auf,  die 
Gerechtigkeit.  Das  ist  nicht  mehr  die  soziale  und  foreuse  Gerechtig- 
keit, welche  die  alten  Propheten  forderten,  obgleich  dieselbe  nicht 
etwa  vernachlässigt  wird.  Sie  besteht  auch  keineswegs  bloß  in 
der  genauen  Beobachtung  äußerlicher  Vorschriften.  Der  Tempel- 
kultus, der  für  die  Organisation  der  Gemeinde  und  für  ihren  Zu- 
sammenschluß große  Bedeutung  hatte,  wird  doch  nicht  als  Er- 
füllung des  Gesetzes  angesehen.  Die  Gottheit  thront  nicht  über  den 
Rauchsäulen  des  Altars,  sondern  über  den  Gebeten  Israels  —  das 
Gebet,   diese   originelle  jüdische  Schöpfung,    ist  der   wahre  Kultus. 


^)  Ich  brauche  wol  nicht  zu  bemerken,  daß  der  Gegensatz  von  Gesamt- 
heit und  Individuum  nie  streng  gefaßt  werden  kann,  sondern  immer  nur  a 
potiori  und  cum  grano  salis;  ebenso  wie  der  von  Überlieferung  und  Origi- 
nalität. 


216  Fünfzehntes  Kapitel.  . 

Sie  fragt  nichts  iicacli  dein  Blute  von  Stieren  und  Böcken,  sie  ver- 
langt bessere  Opfer,  Hat  jemand  in  der  Not  ein  Gelübde  getan, 
so  muß  er  es  bezahlen;  aber  die  wahre  Schuld,  die  dem  Retter 
gebührt,  ist  der  Herzeusdank  des  Geretten,  den  er  ausspricht  in 
Lobgesängen ').  Wichtiger  als  der  große  Kultus  ist  der  kleine  der 
frommen  Übungen,  die  nicht  von  den  Priestern,  sondern  von  den 
Einzelnen  verrichtet  werden.  Sie  sind  eine  beständige  Erinnerung 
an  Gott,  eine  Mahnung,  ihn  stets  vor  Augen  und  im  Herzen  zu 
haben.  Sie  stehn,  als  Mittel  der  Disziplin,  in  naher  Verbindung 
mit  der  Moral.  Die  Moral  ist  die  eigentliche  Gerechtigkeit.  Die 
Moral  und  nicht  der  Kultus  ist  die  Quintessenz  des  Gesetzes^); 
es  findet  sich  sogar,  daß  der  Kultus  dem  Gesetz  geradezu  ent- 
gegengesetzt wird,  als  sei  er  gar  nicht  darin  geboten^).  Daraus, 
daß  Jahve  im  Tempel  wohnt  und  die  Juden  seine  Beisassen  sind, 
wird  nicht  gefolgert,  daß  sie  ihm  Opfer  bringen,  sondern  daß  sie 
ihre  Pflichten  gegen  den  Nächsten  erfüllen,  reine  Hände  und  reine 
Herzen  haben  müssen.  Auf  nichts  wird  größeres  Gewicht  gelegt, 
als  auf  Simplizität,  Treue  und  Redlichkeit.  Die  Verschmitzten 
und  Verzwickten  sind  dem  Herrn  ein  Greuel;  die  Graden  und 
Einfältigen  gefallen  ihm.  Schlicht  und  recht,  das  ist  das  Ideal*); 
Schwung  und  Heroismus  fehlen.  Die  sittlichen  Anforderungen 
werden  nicht  übertrieben,  in  den  Proverbien  sind  sie  sogar  ziemlich 
mäßig.     Sie  gelten  nicht  für  unerfüllbar;    das   Streben  nach  dem 


^)  In  den  Psalmen  geschieht  das  Bezahlen  der  Gelübde  überall  durch 
Preis  und  Dank  in  den  frommen  Versammlungen. 

-)  lob  31  ist  besonders  interessant  durch  das  was  nicht  darin  vorkommt. 

^)  Sirac.  31.  32.  Die  £vvo[ao;  ßtcuat?  bedeutet  bei  Jesus  Sirach  etwas  ganz 
anderes,  als  was  sie  ein  oder  zwei  Jahrhunderte  später  bedeutete. 

^)  Das  beweist  natürlich  nur,  daß  die  Juden  schlicht  und  recht  zu  sein 
wünschten.  Ob  sie  es  wirklich  waren,  ist  eine  andere  Frage.  Nach  den 
Psalmen  sind  falsche  Anklagen,  Verleumdungen,  Ränke  aller  Art  in  Jerusalem 
au  der  Tagesordnung.  Es  ist  schwierig,  zwischen  all  den  lauernden  Fallen 
glücklich  hindurch  zu  finden;  die  gewöhnlichste  Bitte  ist  die  um  Leitung  auf 
den  richtigen  Weg,  d.  h.  um  praktische  Weisheit  in  vorliegenden  Schwierig- 
keiten und  Gefahren  auf  schlüpfrigem  Terrain,  nicht  bloß  um  theoretische 
Kenntnis  der  Gebote.  Noch  schlimmer  scheint  es  in  der  Zeit  des  Siraciden 
ausgesehen  zu  haben.  Aus  dem  Siraciden  ergibt  sich  auch,  daß  es  mit  der 
Keuschheit  in  der  Tat  recht  schlecht  bestellt  war,  obwol  die  Anforderungen 
daran  in  lob  31  fast  ebenso  hoch  gestellt  werden  wie  in  der  Bergpredigt.  In 
den  Proverbien  wird  nur  vor  Ehebruch  gewarnt  und  zwar  aus  höchst  äußer- 
lichen Gründen. 


Die  jüdische  Frömmigkeit.  217 

Guten  erzeugt  Befriedigung  und  nicht  Verzweiflung  über  das  Mis- 
verhältnis  von  Wollen  und  Können;  das  Sündengefühl  entsteht 
nicht  aus  dem  Gesetz,  sondern  aus  der  Strafe  d.  h.  aus  dem  Un- 
glück. Vernünftiger  Lebensgenuß  gilt  für  durchaus  erlaubt,  die 
konventionellen  Observanzen  sind  nicht  in  dem  Sinne  Ascese,  wie 
wir  das  Wort  gewöhnlich  gebrauchen.  Nur  das  Fasten,  das  mit 
Wachen  und  Beten  verbunden  ist,  kann  dafür  gelten.  Damit  wird 
das  Almosen  zusammengestellt,  es  steht  in  sehr  hoher  Schätzung^). 

Das  Motiv  der  Moral,  wodurch  sie  religiös  wird,  ist  die  Furcht 
Gottes.  Gott  ist  ein  strenger  Herr,  er  gebietet  Knechten,  die  er 
aus  dem  Staube  ruft  und  wieder  in  Staub  verwandelt.  Der  Ab- 
stand des  Ewigen,  der  da  war  ehe  denn  die  Berge  worden,  von 
den  Eintagsfliegen,  die  ihre  Tage  hinbringen  wie  ein  Geschwätz, 
wird  tief  empfunden  und  ergreifend  geschildert;  kein  Gedanke  an 
Pantheismus,  an  Schwärmerei  und  Uberhebung.  Aber  von  dem 
Gott  des  neunzigsten  Psalms  sogar  zermalmt  zu  werden  ist  ein 
Trost.  Die  Furcht  Gottes,  so  schwer  sie  lastet,  hat  doch  nichts 
Niederdrückendes;  sie  befreit  von  jeder  anderen  Furcht  und  be- 
rechtigt zum  Vertrauen.  Wer  unter  dem  Schatten  des  Höchsten 
sitzt,  erschrickt  vor  keinem  Gespenst,  vor  keiner  schleichenden 
Seuche,  vor  keiner  plötzlichen  Gefahr.  Der  jüdische  Monotheismus 
ist  keine  religiöse  Arithmetik,  wie  ein  Spötter  sich  hat  vernehmen 
lassen,  sondern  der  Glaube  an  die  Allmacht  des  Guten.  Das  ist 
abstrakt  ausgedrückt,  Abstrakta  aber  existiren  nicht.  Es  handelt 
sich  nicht  um  Ideen,  sondern  um  Gott  und  Menschen.  Gott  hilft 
dem  Frommen  und  vernichtet  den  Bösen,  das  ist  der  Hauptartikel 
des  jüdischen  Glaubens. 

Die  Frommen  und  die  Gottlosen  sind  sich  feind,  aber  sie  stehn 
auf  dem  Boden  der  selben  Religion.  Indessen  greift  doch  der  Gegen- 
satz auch  in  das  Gebiet  der  Überzeugung  ein  und  geht  über  in 
Prinzipienstreit '0-  Die  Gottlosen  sind  der  Meinung,  daß  Gott  sich 
nicht  um  die  Menschen   kümmere:    wenn  sie  dieselbe  auch   nicht 


')  Es  heißt  bereits  bei  Sirach  und  Dau.4, 24  oixaioS'jvTj.  Freilich  ist  9 ad aq  a 
xirsprÜD glich  vielleicht  bloß  die  Gebühr  d.  h.  die  Abgabe.  Aber  die  Juden 
scheinen  es  doch  als  Gerechtigkeit  verstanden  zu  haben,  denn  sie  haben  dafür 
auch  z  akut  d.  i.  Reinheit  gesagt.  Dies  Substantiv  ist  zwar  bis  jetzt  nur  in  der 
Sprache  des  Islams  nachzuweisen,  doch  hat  sich  das  denominative  Verb  auch 
im  Jüdischen  erhalten. 

-)  Das  Wort  für  praktische  Überzeugung,  Lebenspriuzip  ist  Rat.     So  der 


218  Fünfzehntes  Kapitel. 

aussprechen,  so  handeln  sie  doch  darnach.  Von  den  Anderen  wird 
das  als  tatsächliche  Leugnung  Gottes  angesehen.  Ein  neutraler 
Gott  ist  kein  Gott.  Für  die  Menschen  existirt  er  nicht,  wenn  er 
zwischen  dem  der  ihn  sucht  und  dem  der  nicht  nach  ihm  fragt 
keinen  Unterschied  macht,  sondern  zu  dem  einen  das  gleiche  Ver- 
hältnis hat  wie  zu  dem  andern.  Dann  ist  die  Frömmigkeit  Illusion, 
sie  streckt  ihre  Hand  in  die  leere  Luft,  nicht  einem  Arm  vom 
Himmel  entgegen.  Sie  bedarf  des  Lohns,  nicht  um  des  Lohns 
willen,  sondern  um  ihrer  eigenen  Realität  sicher  zu  sein,  um  zu 
wissen,  daß  es  eine  Gemeinschaft  mit  Gott  gibt  und  einen  Zugang 
zu  seiner  Gnade.  In  der  Behauptung  ihrer  Position  haben  nun 
aber  die  Verteidiger  einen  schweren  Stand,  weil  das  Terrain,  auf 
dem  der  Kampf  geführt  wird,  den  Angreifern  viel  günstiger  ist. 
Nämlich  ob  die  Frömmigkeit  zu  etwas  nütze  sei  oder  nicht,  soll 
sich  auf  Erden  zeigen.  Hienieden  auf  Erden  muQ  Gott  dem 
Frommen  seine  Gnade,  dem  Gottlosen  seinen  Zorn  deutlich  bezeugen, 
jenem  die  Sünde  vergeben,  diesem  sie  behalten ').  Wenn  es  ein 
Jenseits  gäbe,  so  könnte  das  Zeugnis  Gottes  bis  dahin  aufgeschoben 
und  der  Glaube  von  der  äußeren  Erfahrung  unabhängig  gemacht 
werden.  Da  aber  nur  das  Volk,  nicht  der  Einzelne  ewige  Hoffnung 
hat,  so  muß  sich  die  göttliche  Gerechtigkeit  gegen  den  Einzelnen 
innerhalb  der  Grenzen  seines  irdischen  Lebens  bewähren.  Auch 
die  Frommen  sehen  sich  also  genötigt,  ihre  religiöse  Überzeugung 
auf  die  Erfahrung  zu  stützen  und  daran  zu  erproben.  Der  Wider- 
spruch zwischen  innerem  Wert  und  äußerem  Ergehn  des  Menschen 
erschüttert  die  Grundlage  der  Religion.  Es  ist  das  schwerste 
Ärgernis,  wenn  der  Frevler  florirt,  wenn  der  Gerechte  leidet.  Denn 
es  steht  dabei  immer  das  Prinzip  auf  dem  Spiel,  die  Frage,  ob  die 
Frömmigkeit  oder  ob  die  Gottlosigkeit  mit  ihrer  Grundüberzeugung 
Recht  hat.  Jeder  Einzelfall  verallgemeinert  sich  sofort,  das  Leiden 
eines  Frommen  berührt  alle  Frommen.  Sie  triumphiren,  wenn  er 
genest  und  gerettet  wird;    sie  sind  niedergeschlagen,  wenn  er  dem 


Rat    der    Gottlosen    lob.  10,  3.    21,16.     22,18.    Ps.  1,1;     der    Rat    des 
Frommen  Ps.  14,  6. 

^)  Denn  Sünder  sind  sie  beide,  und  wenn  Gott  Sünde  zurechnet,  so  ist 
der  eine  nicht  besser  daran  als  der  andere,  also  die  Frömmigkeit  vergeblich. 
„Denn  bei  dir  ist  die  Vergebung,  damit  man  dich  fürchte",  d.  h.  damit  Gottes- 
furcht möglich  und  motivirt  sei.  Die  Sündenvergebung  ist  das  Motiv  der 
Gottesfurcht:  sie  wird  applizirt  durch  Straferlaß. 


Die  jüdische  Frömmigkeit.  219 

Tode  verfällt  oder  zu  verfallen  scheint.  Ebenso  ereifern  sie  sich 
ingesamt  über  das  Glück  eines  Gottlosen  und  jubeln  gemein- 
schaftlich über  seinen  Sturz,  nicht  aus  Neid  oder  Schadenfreude, 
sondern  weil  ihr  Glaube  je  nachdem  in  Frage  gestellt  oder  bestätigt 
wird.  Die  Entrüstung  ist  gefährlich,  weil  sie  sich  leicht  gegen  Gott 
selber  kehrt,  und  es  wird  häufig  davon  abgemahnt.  Aber  trotzdem 
bleibt  es  das  jüdische  Ceterum  censeo:  die  Gottlosen  müssen  zur 
Hölle  fahren'). 

Ganz  streng  wird  freilich  die  Theorie  nicht  durchgeführt;  einige 
Konzessionen  macht  die  Dogmatik  den  Tatsachen.  Nicht  in  jedem 
Momente  ist  das  Ergehn  des  Menschen  ein  genauer  Gradmesser 
dafür,  wie  er  bei  Gott  stehe.  Die  Leiden  des  Frommen  sind  zwar 
immer  Anklagen  oder  Zeugen  seiner  Sünde;  Zeichen,  daß  Gott  ihm 
mistraut,  ihn  sondirt  oder  ihn  warnt.  Aber  wenn  er  die  Prüfung 
besteht  oder  die  Warnung  sich  zu  Herzen  nimmt,  so  wird  ihm  die 
Sünde  vergeben  d.  h.  die  Strafe  abgenommen;  Gott  zeigt  ihm  sein 
Angesicht,  nachdem  er  es  verborgen  hatte.  Ein  endgiltiges  Yer- 
dammungsurteil  ist  erst  der  Tod,  d.  h.  nicht  der  Tod  an  sich, 
sondern  der  böse  Tod,  gewissermaßen  die  göttliche  Hinrichtung, 
durch  plötzliche  Katastrophe,  durch  Schwert  und  Elend,  durch  Pest 
und  Aussatz.  Daher  in  den  Psalmen  die  namenlose  Angst  der 
Frommen,  wenn  sie  in  böser  Krankheit  oder  schlimmer  Gefahr 
stecken,  hingerafft  zu  werden  mit  den  Sündern,  den  Tod  der  Gott- 
losen zu  sterben,  lebendigen  Leibes  in  die  Grube  zu  fahren;  daher 
in  solcher  Lage  ihr  krampfhaftes  Festhalten  am  Leben.  Es  kommt 
alles  auf  das  Ende  an;  nach  dem  glücklichsten  Leben  kann  das 
Ende  schlecht  sein,  und  nach  allem  Unglück  kann  Gott  dem  Dulder 
zuletzt  noch  den  Anblick  seiner  Huld  gönnen,  ihn  aus  dem  Schreken 
retten  und  friedlich  sterben  lassen.  Dadurch  wird  die  Bedeutung 
der  äußeren  Erfahrung  für  die  religiöse  Überzeugung  und  die  Mög- 
lichkeit des  Konflikts  zwischen  beiden  allerdings  eingeschränkt, 
wenngleich  nicht  so  gänzlich  beseitigt,  wie  es  durch  die  Verlegung 
des  göttlichen  Urteils  in  das  Jenseits  geschieht.  Man  verlangt  nicht 
viel,  man  verlangt  keinen  materiellen  Genuß,  keinen  Ersatz  für 
erlittenen  Schaden.  Man  will  nur  einmal  Gott  schauen,  einen 
Strahl  seiner  Gnade  erleben,  der  als  Absolution  gilt,  das  Gewissen 


^)  Höchst  unpassend  kommt  uns  der  Ausdruck  dieses  frommen  Wunsches 
z.  B.  in  Ps.  104,35  oder  139,  19  vor.     Vgl.  meine  Note  zu  Sophon.  1,3. 


220  Fünfzehntes  Kapitel. 

des  Angefochtenen  beruhigt  und  seine  Unschuld  der  Welt  objektiv 
dartut').  Was  in  Wahrheit  auf  dem  Spiel  steht,  ist  nicht  der 
jS'utzen  der  Frömmigkeit,  sondern  die  Gerechtigkeit  Gottes.  Um 
diese  festhalten  zu  können,  greift  man  zu  allen  Mitteln  der  Apo- 
logetik. Man  sucht  die  Erfahrung  möglichst  zu  modeln  und  in  die 
Dogmatik  einzuzwängen.  Man  gibt  den  frommen  Bruder  preis,  der 
im  Unglück  verendet  ist,  und  hält  ihn  nachträglich  für  einen  Gott- 
losen; man  nimmt  selber  in  Not  und  Trübsal  alle  Schuld  auf  sich 
um  Gott  keine  Torheit  beizumessen  und  seine  Gerechtigkeit  an- 
zuerkennen; man  übertreibt  die  allgemeine  Sündhaftigkeit  des 
Menschen,  um  das  Prinzip  zu  retten^). 

3.  Auf  diese  Weise  war  das  Prinzip  nicht  zu  retten.  Die  Er- 
fahrung gab  den  Gottlosen  Recht.  Das  Martyrium  des  Gerechten 
konnte  nicht  geleugnet  werden  und  wurde  nun  Problem  der  Religion. 
Nachdem  man  glücklich  so  weit  war,  anzuerkennen,  daß  die  Moral 
die  religiöse  Forderung  sei,  ergab  sich  weiter  die  schreckliche  Auf- 
gabe, Stellung  dazu  zu  nehmen,  daß  die  Moral  nichts  nützt.  Ein 
Anfang  dazu  wird  im  Buch  lob  gemacht. 

lobs  Gottesfurcht  steht  außer  Zweifel  und  doch  verfällt  er 
einer  verrufenen  unheilbaren  Krankheit.  Ein  Ende  mit  Schrecken 
steht  ihm  bevor.  Zu  Anfang  sucht  er  noch  die  Lebenshoft'nung 
festzuhalten,  um  an  der  Frömmigkeit  festhalten  zu  können.  Sein 
Weib  rät  ihm:  sag  Gott  Valet  und  stirb;  er  weist  sie  zurück.  Aber 
auf  die  Dauer  kann  er  sich  der  Evidenz  nicht  verschließen:  er 
muß  den  Tod  der  Verdammnis  leiden  und  ist  doch  kein  Gottloser. 
Die  Freunde  suchen  den  Widerspruch  dieser  beiden  Sätze  aufzu- 
heben, indem  sie  anfangs  den  ersten,  schließlich  den  zweiten  leugnen. 
Zunächst  suchen  sie  es  ihm  auszureden,  daß  es  so  gefährlich  mit 
ihm  stehe;    er  solle  doch  nur  nicht  am  Leben   verzweifeln,    nicht 


1)  Das  wird  Rechtfertigung  genannt.  Auch  hier  findet  sich  der 
Sprachgebrauch  vom  doppelten  Recht,  dem  inneren  und  dem  äußeren:  das 
innere  muß,  wenn  es  verdunkelt  ist,  durch  einen  sichtbaren  Spruch  Gottes 
(Rettung  aus  Gefahr  etc.)  zum  äußeren  gemacht  werden.  Das  äußere  ist  gleich- 
bedeutend mit  Sieg,  Heil,  Glück.  Der  selbe  Sprachgebrauch  findet  sich  im 
Aramäischen. 

2)  Renan,  Histoire  du  Peuple  d'Israel  5,  169:  „Tel  Saint  de  Mayence,  en 
allant  au  supplice,  invente  ä  sa  charge  tous  les  crimes  imaginables  et  s'eu 
accuse  pour  justifier  la  Providence,  pour  maiutenir  ce  principe  fondamental 
que  Dieu  ne  saurait  finalement  abandonuer  son  serviteur."  Das  ist  ganz  im 
Geist  des  älteren  Judentums  (Ps.  51,6). 


Die  jüdische  Frömmigkeit.  221 

SO  ungeduldig  und  ungeberdig  sein,  sondern  die  wolgemeinte  Züch- 
tigung annehmen;  dann  werde  sich  bakl  alles  zum  besten  wenden. 
Sie  demonstriren  ihm,  daß  der  Mensch  immer  im  Unrecht  sei,  daß 
Gott  stets  Ursach  habe  ihn  heimzusuchen.  Dann  aber  ändern  sie 
den  Ton  und  erklären  ihm,  daß  seine  Frömmigkeit,  wie  sich  jetzt 
oft'enbar  zeige,  Heuchelschein  gewesen  sei:  sie  haben  ein  ganzes 
Register  seiner  vermutlichen  Sünden  bereit,  das  sie  ihm  vorhalten. 
Dadurch  bewirken  sie  nun,  daß  er  die  Rücksichten  abwirft,  die  ihn 
verhindern  den  Tatsachen  seiner  eigenen  Erfahrung  ins  Auge  zu 
sehen.  Er  bäumt  sich  gegen  die  Freunde  auf.  Welch  ein  Spott, 
ihm  Genesung  in  Aussicht  zu  stellen!  Was  ist  das  für  eine  Ge- 
rechtigkeit, daß  der  Schöpfer  die  Kreaturen  wiegen  ihrer  Kreatürlich- 
keit  straft  und  sie  nicht  vielmehr  darum  mild  behandelt,  weil  sie 
von  Natur  allesamt  schwach  und  unrein  sind!  Er  mishandelt  seine 
Geschöpfe  und  treibt  mit  ihnen  ein  grausames  Spiel;  sie  haben 
allerdings  kein  Recht  gegen  ihn,  aber  nur  deshalb,  weil  er  die 
Macht  hat.  „Wie  könnte  ich  mich  mit  ihm  in  Streit  einlassen! 
Obwol  im  Recht  müßte  ich  meinen  Widerpart  anflehen,  denn  es 
gibt  keinen  Richter,  der  über  uns  beiden  die  Hand  hielte.  Er  würde 
mich  im  Sturm  anschnauben  und  mich  keinen  Augenblick  zu  mir 
selber  kommen  lassen.  Ich  soll  Unrecht  haben,  vergeblich  sträube 
ich  mich  dagegen.     Wäre  ich  weiß  wie  Schnee,  so  würde  er  mich 

in  eine  Grube  tauchen,  daß  mir  vor  mir  selber  ekelte Ich 

bin  unschuldig  —  mir  liegt  nichts  am  Leben.  Es  ist  eins,  darum 
sage  ich:  Fromm  und  Gottlos  vernichtet  er  gleichmäßig.  Wenn  die 
Pest  plötzlich  tötet,  so  spottet  er  der  Qual  der  Schuldlosen.  Die 
Erde  hat  er  dahingegeben  in  die  Hand  des  Frevlers,  er  verhüllt 
die  Augen  ihrer  Richter  —  wenn  nicht  er,  wer  sonst?"  lob  leidet 
nicht  unter  Krankheit  und  Tod,  sondern  unter  der  Verkennung 
seiner  Unschuld.  Und  sein  Fall  widerspricht  nicht  der  Regel,  ist 
keine  unerhörte  Ausnahme,  sondern  ein  allgemeines  Problem.  Wie 
ihm,  so  geht  es  dem  Weibgeborenen  überhaupt;  Trübsal  und  Leid 
ist  sein  Los,  mag  er  es  verdienen  oder  nicht.  Nirgend  zeigt  der 
Weltlauf  die  Harmonie  mit  der  Gerechtigkeit,  welche  die  Dogmatik 
fordert.  Kriege  und  Seuchen  wüten  unterschiedlos;  was  lebt  in 
Wasser  Luft  und  Gras,  unterliegt  dem  Leiden.  Es  fällt  ihm  nicht 
ein,  sich  mit  der  Allgemeinheit  des  Leidens  zu  trösten;  es  wird 
ihm  dadurch  der  Widerspruch,  den  er  in  sich  selbst  erlebt,  nur 
unleugbarer    und  substantieller.     Gleichwol    kommt    es    ihm    noch 


222  Fünfzehntes  Kapitel. 

immer  wie  eine  Lästerung  vor,  seine  Unschuld  zu  behaupten;  er 
tut  es  auf  die  Gefahr  seines  Lebens  hin,  das  er  freilich  kaum  mehr 
zu  verlieren  hat. 

Die  allerschlimmste  Anfechtung  bleibt  ihm  jedoch  erspart, 
nämlich  der  Gedanke,  daß  der  Gott,  unter  dessen  Tritten  er  sich 
windet,  gar  kein  Gott  sei.  Er  zweifelt  keinen  Augenblick  an  ihm; 
er  schwört:  sowahr  Gott  lebt,  der  mir  mein  Recht  entzogen!  Er 
leugnet  nur  den  Gott  der  Freunde,  dessen  Gerechtigkeit  sich  überall 
in  der  Welt  manifestiren  soll.  Sie  verdrehen  die  Tatsachen  durch 
ihre  theologische  Apologetik,  sie  nehmen  für  Gott  Partei,  sie  lügen 
für  ihn  —  bedarf  er  solcher  Advokaten?  Es  schimmert  der  Gedanke 
durch,  daß  Gott  die  Wahrheit  schon  ertragen  wird,  so  vernichtend 
sie  scheint.  Wenngleich  lob  den  Widerspruch  der  Wirklichkeit 
gegen  die  angebliche  moralische  Weltordnung  rückhaltslos  darlegt, 
kann  er  doch  den  Glauben  an  den  Sieg  der  Moral  durch  Gott  nicht 
aus  sich  losreißen;  er  tut  den  ersten  Schritt,  ihn  über  alle  äußere 
Erprobung  hinauszuheben.  An  dem  Wendepunkt  der  höchsten  Auf- 
regung (Kap.  16.  17)  fordert  er  Rache  für  sein  ungerecht  vergossenes 
Blut.  Die  Rache  ist  aber  an  Gott  zu  vollstrecken,  wer  kann  da 
der  Rächer  sein?  Es  bleibt  keiner  übrig  als  Gott  selber,  und  so 
taucht  der  frappante  Gedanke  in  ihm  auf,  daß  Gott  gegen  Gott  für 
seine  Unschuld  eintreten  werde,  nachdem  er  sie  erst  gemordet.  Von 
dem  Gott  der  Gegenwart  appellirt  er  an  den  Gott  der  Zukunft; 
doch  wird  die  Identität  zwischen  beiden  festgehalten,  und  schon 
gegenwärtig  ist  der  Gott,  der  ihn  mordet,  der  einzige  Zeuge  seiner 
von  der  Welt  und  von  seinen  Freunden  preisgegebenen  Unschuld, 
wie  er  es  sein  muß,  wenn  er  ihn  künftig  rächen  soll.  Gestützt 
auf  die  unüberwindliche  Macht  seines  guten  Gewissens  ringt  er  sich 
heraus  aus  seinem  Seelenkampf;  er  traut  seinem  unmittelbaren 
Selbstgefühle  mehr  als  dem  Urteil  des  Geschicks,  das  ihn  trifft, 
und  dem  LTrteil  der  Welt,  das  sich  darnach  richtet;  und  neben 
dem  schrecklichen  Gott  der  Wirklichkeit  gewinnt  der  Zeuge  im 
Himmel,  der  gnädige  und  gerechte  Gott  des  Glaubens  siegreich 
Raum.  Allerdings  hat  der  Glaube  vorzugsweise  die  Form  der  Sehn- 
sucht '),  und  zwar  der  Sehnsucht,  „Gott  zu  schauen",  d.  h.  ein  sicht- 


')  „0  daß  ich  wüßte,  wie  ich  ihn  finden  und  zu  seinem  (Richter-)Stuhle 
kommen  möchte!"  Kein  Gottloser  hat  solche  Sehnsucht,  darum  ist  sie  dem 
lob  ein  Trost.     Er  wirft  die   Frage   auf,    ob  nicht  aiich   Gott  sich   nach  ihm 


Die  jüdische  Frömiuigkeit.  223 

bares  Zeichen  seiner  wahren  Gesinnung  gegen  den  Dulder,  ein  frei- 
sprechendes Urteil,  von  ihm  zu  erlangen.  Da  der  Tod  im  Aussatz 
unvermeidlich  ist,  so  wird  die  entfernte  Möglichkeit  in  Aussicht 
genommen,  daß  Gott  vielleicht  noch  nach  dem  Tode  des  Märtyrers 
Gelegenheit  habe  zu  seiner  Rechtfertigung.  Es  wird  dabei  aber  nur  an 
ein  momentanes  Aufleben  aus  dem  Grabe,  eben  zu  diesem  Zwecke, 
gedacht,  nicht  an  eine  künftige  Entschädigung  für  die  zeitliche 
Trübsal. 

lob  bescheidet  sich  am  Ende,  die  Wege  Gottes  nicht  zu  ver- 
stehn').  Das  ist  der  negative  Ausdruck  dafür,  daß  er  trotz  allem 
an  sich  und  an  Gott  festhält,  daß  er  sich  sein  Gewissen  von  außen 
her  nicht  mehr  verwirren  läßt,  daß  das  innere  Gefühl  entscheidet. 
Das  innere  Gefühl  der  Gemeinschaft  Gottes  mit  dem  Frommen 
tritt  uns  auch  in  einigen  Psalmen  als  eine  unerschütterliche  Ge- 
wißheit entgegen.  Es  war  ein  gewaltiger  Schritt,  daß  die  Seele 
wagte  auf  sich  selber  zu  stehn  und  ihrem  eigenen  Zeugnis,  dem 
von  Gott  gegebenen  gewissen  Geiste,  zu  trauen.  Ursprünglich 
standen  nur  einzelne  Bevorzugte,  die  Propheten,  in  unmittelbarem 
Verhältnis  zu  Gott,  aber  nicht  zu  ihrem  eigenen  besten,  sondern 
zum  besten  der  Gesamtheit.  Für  Jeremias  wurde  sein  Mittlertum 
die  Brücke  zur  persönlichen  Frömmigkeit;  durch  ihn  vollzog  sich 
der  Übergang  der  Prophetie  zu  der  Religion,  in  dem  Sinne,  daß 
sie  das  Mysterium  der  Verbindung  zwischen  Gott  und  Mensch  im 
Individuum  bedeutet.  Sein  Leben  mit  Gott,  wne  er  es  in  seinen 
Bekenntnissen  aufgezeichnet  hatte,  wurde  das  Vorbild  für  verwandte 
Seelen  der  Folgezeit.  Die  innere  Erfahrung  der  Gemeinschaft  Gottes 
wurde  ihnen  zu  einer  Macht,  durch  welche  sie  allen  Schrecken 
der  äußeren  Erfahrung  trotzten.  Dadurch  triumphirte  der  ver- 
achtete und  getötete  Knecht  über  die  Welt,  das  verzagte  und 
zerschlagene   Herz   wurde  mit  dem  Leben    und  der  Kraft  des  all- 


sehne: so  wenig  kann  er  von  dem  Gedanken  lassen,  daß  die  Frömmigkeit  kein 
einseitiges  und  eingebildetes,  sondern  ein  wechselseitiges  nnd  wirkliches  Ver- 
hältnis ist.  Zuweilen  erhebt  sich  die  Sehnsucht  zum  Gebet  —  der  einzig  adä- 
quaten Form  des  Glaubensbekenntnisses. 

')  Der  ohne  Zweifel  echte  Schluß  (Kap.  42)  trägt  so  wenig  zur  Lösung 
des  Problems  bei,  wie  der  zweifellos  echte  Prolog  (Kap.  1.2);  man  sieht  daraus 
nur,  daß  der  Stoff  der  Fabel  dem  Dichter  gegeben  war  und  daß  er  sich  daran 
hielt.  Eine  erkenntnismäßige  Lösung  ist  unmöglich:  das  Kreuz  Christi  ist  nur 
eine  Potenzirung  des  Rätsels. 


224  Fünfzehntes  Kapitel. 

mächtigen  Gottes  iu  der  Höhe  ausgestattet.  Zum  kühnsten 
Schwünge  erhebt  sich  dieser  göttliche  Geist  der  Gewißheit  am 
Schluß  des  dreiundsiebzigsten  Psalms.  „Dennoch  bleibe  ich  stets 
an  dir,  du  hältst  mich  bei  meiner  Rechten,  du  leitest  mich  nach 
deinem  Rat,  du  ziehst  mich  dir  nach  mit  deiner  Hand.  Wenn 
ich  dich  habe,  so  frage  ich  nicht  nach  Himmel  und  Erde;  wenn 
mir  Leib  und  Seele  verschmachten,  so  bist  du  Gott  allezeit  meines 
Herzens  Trost  und  mein  Teil."  Das  hingegebene  Leben  wird  hier 
in  einem  höheren  Leben  wiedergefunden,  ohne  daß  die  geringste 
Hoffnung  auf  ein  Jenseits  sich  äußert;  gegen  Tod  und  Teufel 
wird  die  innere  Gewißheit  der  Gemeinschaft  Gottes  in  die  Wag- 
schale geworfen.  Das  ist  freilich  eine  Stufe  der  Religion,  die  nur 
für  Wenige  AVahrheit  hat;  jedenfalls  ist  damit  die  Grenze  des 
Judentums  weit  überschritten.  Die  Juden  sind  im  ganzen  auf 
dem  Standpunkte  der  Freunde  lobs  stehn  geblieben.  Sie  sind 
grundsätzlich  mit  ihnen  einverstanden  und  tadeln  sie  nur  deshalb, 
daß  sie  ihre  richtigen  Grundsätze  bei  lob  auf  die  falsche  Person 
anwenden.  Das  sieht  man  aus  den  großen  und  kleinen  Inter- 
polationen des  Buches. 

4.  Mit  der  persönlichen  Frömmigkeit  ist  das  Meditiren  ver- 
bunden, sie  hat  Probleme.  Eben  dadurch  unterscheidet  sie  sich 
von  der  ethnischen  Stufe,  auf  der  die  Religion  naturgemäßes  Her- 
kommen von  den  Vätern  ist,  welches  der  Einzelne  als  etwas  Selbst- 
verständliches mitmacht.  Es  ist  gründlich  verkehrt,  die  Bank  der 
Spötter,  von  der  im  ersten  Psalm  die  Rede  ist,  mit  dem  Lehrstuhl 
zu  vergleichen,  auf  dem  jetzt  die  Philosophie  gelehrt  wird.  Die 
Spötter  sind  Gottlose,  die  Gottlosen  aber  sind  im  Alten  Testamente 
reine  Praktiker  und  verhöhnen  die  Leute,  welche  sich  Gedanken 
machen.  Sie  verleugnen  Gott  nur  dadurch,  daß  sie  handeln  als 
ob  er  sich  um  die  Menschen  nicht  kümmere.  Sie  beruhigen  sich 
bei  der  Religion  des  Herkommens,  die  freilich  in  keiner  Weise 
moralisch  auf  sie  wirkt;  sie  sind  eher  Orthodoxe  als  Zweifler. 
Zweifeln  und  Bangen  sind  Kennzeichen  der  Religiosität.  Das 
lehren  die  Psalmen,  eben  darum  sind  sie  mancher  frommen  Seele 
so  anziehend  gewesen. 

Allerdings  wird  nicht  für  jedermann  der  Glaube  aus  Zweifeln 
geboren.  Für  die  Menge  ist  nach  wie  vor  die  Religion  Über- 
lieferung. Indessen  wird  sie  nicht  durch  das  bloße  Herkommen 
überliefert,   sondern  durch  die  Lehre.     Darin  zeigt  sich  doch  auch 


Die  jüdische  Frömmigkeit.  225 

wieder  das  theoretische  Element.  Die  Lehre  findet  sich  nicht  in 
einem  systematischen  Handbuch  verzeichnet,  sondern  in  einer 
historischen  Sammlung  von  Schriften  verschiedener  Art  aus  ver- 
schiedenen Zeiten.  Sie  läßt  sich  daraus  nicht  fix  und  fertig  ent- 
nehmen; dem  selbsttätigen  Nachdenken,  der  freien  Interpretation 
wird  großer  Spielraum  gelassen.  Ganz  fest  stehn  nur  ihre  einfachen 
Grundlagen:  der  ^Monotheismus  und  die  Moral. 

Auf  diesen  Grundlagen  fußt  auch  die  sogenannte  Weisheit, 
unter  deren  Zeichen  die  Zeit  stand.  Die  Erkenntnis,  die  meist  in 
kurzen  Sprüchen  niedergelegte  Erfahrung  der  Alten,  gilt  als  der 
Weg,  der  zur  Gottesfurcht  führt.  Alle  Wissenschaft  gehört  zur 
Religion;  zwischen  praktischer  und  theoretischer  Einsicht  wird 
nicht  unterschieden.  Die  Weisheit  lehrt  Zucht  und  Sitte  und 
kluges  Benehmen,  doch  befaßt  sie  sich  auch  mit  der  Kosmologie, 
zum  Lobe  des  Schöpfers.  Es  wird  einerseits  die  Gesetzlichkeit  in 
der  Natur  hervorgehoben,  die  durchgehende  Ordnung  nach  Maß 
und  Zahl;  wer  die  Erscheinungen  messen  und  wägen  könnte,  hätte 
den  Schlüssel  zu  ihrer  Erklärung.  Andererseits  wird  die  unabseh- 
bar bunte  Fülle  der  Arten  der  Geschöpfe  bewundert,  die  gestalten- 
zeugende Bilduerkraft  Gottes,  die  krause  üppige  Phantasie,  die  ihm 
all  diese  Formen  vorspielte,  als  er  die  Welt  schuf).  In  alter  Zeit 
führte  die  Natur  ein  geheimnisvolles  Leben  für  sich,  sie  war  noch 
unerobert  vom  Monotheismus  und  erweckte  Grauen,  als  Gebiet  der 
Dämonen.  Jetzt  ist  der  Bann  dahin,  sie  ist  Gott  untertau,  der 
Mensch  steht  ihr  furchtlos  gegenüber.  Der  Glaube  an  die  Allein- 
herrschaft Gottes  und  an  die  Autonomie  der  Moral  hat  ihn  von 
ihr  befreit  und  die  Bahn  gebrochen  zu  ihrer  Erkenntnis  und  Be- 
herrschung. So  klein  er  ist,  er  ist  das  Ebenbild  Gottes.  „Wenn 
ich  deinen  Himmel,  das  Werk  deiner  Finger,  sehe,  den  Mond  und 
die  Sterne,  die  du  geschaffen,  —  was  ist  der  Mensch,  daß  du  an 
ihn  denkest,  und  ein  Menschenkind,  daß  du  es  beachtest !    Du  hast 


^)  Prov.  8.  Ps.  104.  Die  wundersame  Fauna  des  Meeres  hat  Gott  ge- 
schaffen, um  damit  zu  spielen  (104,  26).  Eigentümlich  tritt  später  die  religiöse 
Kosmologie  in  Zusammenhang  mit  der  Eschatologie.  Die  Eschatologie  wird 
zur  Erkundung  der  Geheimnisse  Gottes  in  Geschichte  und  Natur.  —  Das  poly- 
theistische und  ästhetische  Element,  die  bunte  Fülle  der  Natur,  wird  dem 
monotheistischen  und  moralischen,  der  Gesetzmäßigkeit,  untergeordnet.  Himmel 
und  Erde  müßten  durch  Anarchie  zu  gründe  gehn,  wenn  darin  Götter  neben 
Gott  wären  —  sagt  Muhammed  Sur.  21,  22. 

Wellhausen,  Isr.  Geschichte.    5.  Aufl.  15 


226  Fünfzehntes  Kapitel. 

ihn  nur  wenig  hinter  göttlichem  Wesen  zurückstehn  lassen,  ihn 
gekrönt  mit  Ehre  und  Hoheit,  ihm  die  Herrschaft  gegeben  über  die 
Geschöpfe  deiner  Hand,  ihm  alles  unterworfen!"  Diese  Stimmung, 
der  Gegensatz  von  Genesis  1  zu  Genesis  2.  3,  ist  charakteristisch 
für  die  Zeit,  wenngleich  gelegentlich  daran  erinnert  wird,  daß  die 
Erkenntnis  doch  ihre  engen  Grenzen  hat '). 

Die  Erkenntnis  will  allgemeingiltig  sein.  Die  jüdische  Weis- 
heit, obwol  durchaus  religiös,  hat  doch  den  universalistischen 
Grundzug  an  sich,  welcher  der  Reflexion  natürlich  ist.  Es  ist  sehr 
merkwürdig,  daß  sie  sich  mit  derjenigen  Weisheit,  die  gleichzeitig 
bei  benachbarten  Völkern,  namentlich  bei  den  Edomiten  und 
Nabatäern  blühte,  ganz  auf  gleiche  Linie  stellt,  daß  im  Buch  lob 
die  schwierigste  religiöse  Frage,  an  der  die  Juden  sich  quälten, 
von  Syrern  und  Arabern  diskutirt  wird,  gleich  als  wäre  diese 
Frage,  und  die  Religion  selbst,  keine  jüdische,  sondern  eine  all- 
gemein menschliche  Angelegenheit.  Auch  der  Siracide  preist  den 
Schriftgelehrten,  der  durch  die  Länder  zieht  um  Weisheit  zu 
lernen.  Der  Monotheismus  hat  einen  Zug  zum  Internationalen 
und  ebenso  die  Moral.  Schon  Arnos  hatte  Mühe,  die  Prärogative 
Israels  vor  anderen  Völkern  festzuhalten.  Erleuchtete  Geister  der 
späteren  Zeit  erkannten  sie  nur  darin,  daß  Israel  zum  Propheten 
für  die  Welt  berufen  sei.  Zum  behuf  der  Selbsterhaltung,  um 
sich  nicht  im  Heidentum  zu  verlieren,  schaalten  sich  die  Juden 
nach  dem  Exil  freilich  doch  wieder  in  den  Formen  ihrer  alten 
ethnischen  Religion  ein.  Sie  betrachteten  das  als  eine  Notwendig- 
keit, aber  sie  ließen  sich  trotzdem  die  Weitherzigkeit  und  die 
Rationalität  nicht  rauben,  welche  in  dem  moralischen  Monotheis- 
mus liegt:  es  ist  die  wundersamste,  nur  geschichtlich  einiger- 
maßen zu  begreifende  Antinomie.  Selbst  der  Priesterkodex  stellt 
als  das  eigentliche  Muster  der  Frömmigkeit  den  vormosaischen 
Erzvater  Abraham  auf,  kennt  also  eine  vom  Kultusgesetz  unab- 
hängige Frömmigkeit.  Der  Apostel  Paulus  hat  Recht,  sich  darauf 
zu  berufen.  Wie  Abraham,  so  können  seit  dem  Exil  auch  seine 
Söhne    in    der  Fremde    ein   Gott    wolgefälliges  Leben    führen;    sie 


^)  Prolegomena  p.  SlOss.  Nach  lob  28  ist  die  Weisheit  im  eigentlichen 
Sinn  nur  Gott  vorbehalten,  dem  Menschen  aber  versagt;  ihm  ist  es  Weisheit 
dies  einzusehen  und  an  stelle  der  ihm  unerreichbaren  Erkenntnis  die  Frömmig- 
keit zu  setzen.  Ebenso  sind  nach  Kap.  38  ss.  die  Werke  Gottes  den  Vor- 
stellungen des  Menschen  incommensurabel. 


Die  jüdische  Frömmigkeit.  227 

können  in  Babylonieu  ebenso  gute  Juden  sein,  wie  in  Palästina; 
die  Religion  hat  sich  von  dem  heiligen  Lande  gelöst,  an  das  sie 
früher  völlig  gebunden  war.  Auch  über  das  Volk  greift  sie 
hinaus  und  zieht  die  Heiden  heran.  Die  Heiden  stammen  wie  die 
Juden  von  Noah  ab,  dieser  ist  der  Vertreter  einer  gewissen 
natürlichen  Religion,  welche  auch  noch  bei  den  Heiden  durch- 
schimmert und  an  der  sie  sich  genügen  lassen  können.  Wie  wenig 
Schwierigkeiten  es  den  Juden  machte,  sich  einen  heidnischen 
Monotheismus  vorzustellen,  der  dem  jüdischen  sehr  nahe  kam,  zeigt 
die  Gestalt  Melchisedeks  und  aus  späterer  Zeit  die  des  Jonithos 
und  der  Magier  aus  dem  Morgenlande.  Sie  sträubten  sich  nicht 
dagegen,  das  was  sie  mit  den  Heiden  gemeinsam  hatten  anzuer- 
kennen; sie  freuten  sich  darüber,  daß  die  Verehrung  des  einen 
und  wahren  Gottes  überall  in  der  Welt  durchzudringen  schien.  „Vom 
Aufgange  der  Sonne  bis  zu  ihrem  Niedergange  ist  mein  Name 
unter  den  Völkern  groio;  überall  wird  meinem  Namen  reine  Gabe 
geopfert,  weil  mein  Name  groß  ist  unter  den  Völkern."  Der  Ver- 
fasser des  Buches  Malachi,  der  diese  Worte  schreibt,  redet  von 
einer  Tatsache  der  Gegenwart.  Er  hofft  nicht  etwa,  daß  in  Zu- 
kunft die  Heiden  sich  bekehren  würden;  er  hat  auch  nicht  solche 
im  Auge,  die  das  Judentum  angenommen  hatten,  denn  diese  durften 
nicht  „überall"  opfern,  und  er  redet  nicht  von  Einzelnen,  sondern 
von  den  Völkern.  Er  erkennt  also  den  Monotheismus  in  den 
Religionen  der  Völker  an.  Schwerlich  denkt  er  bloß  an  die  Perser, 
die  zu  seiner  Zeit  allerdings  die  herrschende  Nation  waren.  Er 
begrüßt  vielmehr  das  Endresultat  der  alten  Weltgeschichte:  die 
durch  die  Zerstörung  und  Mischung  der  Nationen  bewirkte  Theo- 
krasie,  die  aus  den  Göttern  den  allgemeinen  Gott  abstrahirte  und 
diesen  zur  Hauptsache  machte. 

In  diesen  Zusammenhang  gehört  als  wichtigstes  Faktum,  daß 
die  Juden  damals  begannen,  sich  ihres  alten  Jahve  zu  entledigen. 
Es  heißt  zwar,  daß  fromme  Scheu  sie  bewogen  habe,  den  Namen 
nicht  mehr  auszusprechen;  sie  hätten  ihn  aber  doch  nicht  aufgeben 
können,  wenn  ihr  geschichtlicher,  nationaler,  ihnen  allein  eigener 
Gott  noch  wahrhaft  lebendig  gewesen  wäre.  Statt  Jahves  kamen 
allgemeine  Gottesnamen  in  Gebrauch,  gleiche  oder  ähnliche  wie 
bei  den  Aramäern,  Syrophöniziern  und  Arabern:  Elohim  und  El, 
Adonai  und  Elion;  letzterer  (der  höchste  Gott)  ist  der  bezeich- 
nendste für  die  Zeit,   wenngleich  er  nicht  grade  häufig  angewandt 

15* 


228  Sechzehntes  Kapitel. 

wird.  Es  hieß  nicht  mehr:  der  Gott  Israels,  sondern:  der  Gott 
des  Himmels;  später  wurde  auch  geadezu  der  Himmel  gesagt  für 
Gott').  Man  sieht  aus  diesen  sprachlichen  Erscheinungen  am 
allerdeutlichsten,  wie  sehr  der  Universalismus  die  Juden  beherrschte, 
wie  international  sie  im  Prinzip  gerichtet  waren,  trotzdem  daß  sie 
noch  in  den  Fesseln  ihrer  alten  Bräuche  lagen. 

Die  jüdische  Frömmigkeit  geht  über  den  Begriff,  den  das  Alter- 
tum mit  Religion  verband,  hinaus.  Die  Richtung  des  jüdischen 
Geistes  konvergirt  mit  der  Richtung,  die  der  griechische  Geist  etwa 
seit  dem  sechsten  Jahrhundert  genommen  hat.  Hier  wie  dort  stellt 
sich  der  Gegensatz  zum  Ethnicismus  dar;  wer  Empedokles  und 
Äschylus  oder  gar  Sokrates  und  Plato  Heiden  nennt,  verbindet 
mit  dem  Wort  keinen  Begriff  mehr.  Man  verwirft  das  Leben 
in  den  Tag  hinein,  man  fragt  nach  seinem  Sinn  und  richtet  es 
ein  auf  grund  einer  persönlichen  Überzeugung.  Der  Monotheis- 
mus selber  ist  in  gewissem  Sinne  Philosophie,  das  Ergebnis  einer 
gewaltigen  Abstraktion  des  Geistes  von  allem  Sinnenfälligen.  Ein 
Wunder  ist  es  nur,  daß  den  Juden  ihr  Gott  kein  Abstraktum 
geworden,  sondern  die  lebendigste  Persönlichkeit  geblieben  ist.  So 
erhielten  sie  sich  doch  ihre  Religion,  sie  waren  davon  ganz  anders 
durchdrungen  und  überzeugt  als  die  Griechen  von  ihrer  Philosophie, 
die  gegen  den  Götterglauben  des  Volkes  gewöhnlich  eine  merk- 
würdige Toleranz  bewies. 


Sechzehntes  Kapitel. 

Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger. 

1.  Alexander  der  Große  machte  der  persischen  Herrschaft 
ein  Ende  und  brachte  das  Reich  an  die  Griechen.  Nach  dem  Siege 
von  Issus  bog  er  südwärts  ab  und  setzte  beinah  zwei  Jahre  daran. 


^)  Daher  die  coelum  metuentes  Judaei  bei  Horaz  und  die  coelicolae 
im  Kodex  Theodos.  und  Justinian.  Bei  den  heidnischen  Aramäern  und  Phö- 
niziern taucht  im  zweiten  vorchristlichen  Jahrhundert  der  Name  Beel  Sche- 
min (schon  bei  Plautus)  auf;  er  ist  für  die  universalistische  Zeitströmung 
charakteristisch.  „Der  höchste  Gott"  ist  ursprünglich  heidnisch,  wie  schon  der 
Superlativ  erkennen  läßt.  Daß  die  Juden  den  Namen  (Gen.  14.  18 — 20)  auf- 
genommen haben,   zeugt  gleichfalls   für  die  Universalität  ihres  Monotheismus. 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  229 

um  sich  den  Besitz  von  Syrien  und  Ägypten  zu  sichern.  Dann 
lieferte  er  dem  Achämeniden  die  letzte  Schlacht  und  drang  vor  bis 
zu  den  Enden  der  Erde,  und  die  Erde  war  ruhig  zu  seinen  Füßen. 

Da  starb  er,  und  sie  wurde  sehr  unruhig.  Die  großen  Satra- 
pen machten  sich  unabhängig  und  gründeten  selbständige  Throne. 
Nicht  durchweg  in  schroffem  Gegensatze  zu  der  Idee  der  Universal- 
monarchie. Der  Gedanke  des  geschlossenen  Staates  innerhalb 
natürlicher  Landesgrenzen  wurde  am  entschiedensten  in  Ägypten 
gefaßt  und  ausgeführt,  das  Land  bot  die  günstigste  Position  dafür 
und  Ptolemäus  verstand  sie  auszunützen.  Anders  lagen  die  Ver- 
hältnisse in  Asien.  Die  Länder  am  Euphrat  und  Tigris,  vom  per- 
sischen bis  zum  mittelländischen  Meer,  in  denen  jetzt  allgemein 
aramäisch  gesprochen  wurde,  waren  der  Sitz  des  „Reiches"  d.  h. 
der  L'niversalmonarchie  seit  lange  gewesen,  und  sie  blieben  es  auch 
fürderhin. 

Zwischen  Asien  und  Ägypten  in  der  Mitte,  vom  Taurus  und 
Amanus  bis  zur  Wüste  des  Sinai  sich  erstreckend,  lag  Syrien.  In 
vergangenen  Tagen  war  es  von  beiden  Seiten  umworben  und  um- 
stritten gewesen,  dies  alte  Spiel  wiederholte  sich  jetzt.  Zuerst 
wurde  das  Land,  mitsamt  der  davor  liegenden  Insel  Cypern,  die 
Beute  des  Ptolemäus,  der  es  im  Jahre  320  dem  Laomedon  abnahm. 
Als  dann  aber  Antigonus,  durch  die  Überwältigung  des  Eumenes 
Herr  von  Asien  geworden,  die  Hand  nach  der  Weltherrschaft  aus- 
streckte, begann  er  den  Kampf  gegen  die  Koalition,  die  sich  nach 
der  Vertreibung  des  Seleucus  aus  Babylon  gegen  ihn  gebildet  hatte, 
mit  dem  Angriff  auf  Ptolemäus.  Er  entriß  ihm  Syrien  mit  leichter 
Mühe  (315),  mußte  sich  dann  aber  nach  Westen  gegen  Lysimachus 
und  Kassander  wenden.  Getrieben  von  Seleucus,  der  aus  seiner 
Provinz  Babylonien  zu  ihm  geflüchtet  war,  brach  nun  Ptolemäus 
wieder  in  Syrien  ein,  schlug  den  jungen  Demetrius,  den  Antigonus 
ihm  entgegensandte,  bei  Gaza  (312)  und  bemächtigte  sich  wenigstens 
der  südlichen  Hälfte  des  Landes.  Er  räumte  sie  indessen  schon 
im  nächsten  Jahre,  als  Antigonus  selber  herankam.  Einen  dau- 
ernden Gewinn  trug  der  Sieg  von  Gaza  nur  dem  Seleucus  ein^). 
Mit  geringer  Macht  gelang  es  ihm,  sich  wieder  in  den  Besitz  seiner 


^)  Daniel  11,5:  unter  den  Nachfolgern  Alexanders  erlangt  der  König  von 
Ägypten  besondere  Macht,  aber  einer  seiner  Hauptleute  (Seleucus)  wird  noch 
mächtiger  und  gründet  eine  gewaltige  Herrschaft. 


230  Sech  zehntes  Kapitel. 

eben  herrenlos  gewordenen  alten  Satrapie  zu  setzen,  wo  er  von 
früher  her  gute  Verbindungen  hatte.  Babylon  und  der  Osten  blieb 
seitdem  für  Antigonus  verloren. 

Der  Friede  von  311  löste  die  Spannung  der  Verhältnisse  nicht. 
Die  Fehde  entbrannte  von  selbst  wieder,  wenngleich  zunächst  nicht 
im  Zentrum  der  Verwicklung,  sondern  in  der  Peripherie.  Der  alte 
Antigonus  blieb  in  Syrien,  gründete  dort  seine  Stadt  Antigonia 
am  Orontes  und  sorgte  für  die  Mittel  des  Krieges.  Die  Führung 
desselben  überließ  er  seinem  Sohne  Demetrius.  Dessen  Hauptmacht 
war  die  Flotte,  durch  einen  großen  Seesieg  entriß  er  Cypern  den 
Ägyptern  (306).  Die  Miserfolge  der  nächsten  Zeit  beugten  ihn 
nicht  nieder,  und  in  den  Jahren  804.  303  zeigte  er  sich  in  Griechen- 
land so  gefährlich,  daß  sich  eine  neue  Koalition  gegen  ihn  und 
seinen  A^ater  bildete.  Bei  Ipsus  in  Phrygien  kam  es  zum  Ent- 
scheiduugskampfe,  Antigonus  fiel  und  mit  ihm  sein  Reich  in  Asien 
(301).  Aber  Demetrius  entkam  mit  einem  Reste  des  Heeres.  Er 
besaß  noch  Cypern  Tyrus  und  Sidon,  und  er  behauptete  die  See. 
Nach  langen  Kämpfen  gelang  es  ihm,  in  Europa  festen  Fuß  zu 
fassen.  Als  er  aber  Anstalt  machte,  auch  Asien  wieder  zu  erobern, 
erlag  er  einer  allgemeinen  Treibjagd  (287/6)  und  endete  in  der 
Gefangenschaft  des  Seleucus  (283).  Es  ist  merkwürdig,  daß  er 
trotzdem  der  Begründer  der  macedonischen  Dynastie  geworden  ist. 

Bei  Ipsus  hatten  Lysimachus  und  Seleucus  zusammen  gestanden 
gegen  Antigonus.  Den  Sieg  indessen  hatte  vorzugsweise  Seleucus 
erfochten,  mit  den  vielen  Elefanten,  die  er  dem  Inder  Sandrakottus 
verdankte.  Demgemäß  fiel  ihm  der  größte  Teil  der  Erbschaft  zu; 
am  Ende  seines  Lebens,  zwanzig  Jahre  später,  eroberte  er  auch 
noch  die  Herrschaft  des  Lysimachus  und  gewann  fast  ganz  Klein- 
asien. Er  erschien  den  Orientalen  als  der  wahre  Nachfolger 
Alexanders,  und  nach  ihm  rechneten  sie  die  Ära  der  Griechen '). 


^)  Es  ist  die  älteste  fortlaufende  Ära,  die  es  gibt;  sie  findet  sich  in  der 
Geschichtschreibimg  zuerst  bei  den  Juden  (l  Macc.)  angewandt  und  hat  sich 
auch  bei  ihnen  am  längsten  im  Gebrauch  erhalten,  innerhalb  gewisser  Grenzen 
bis  auf  die  Neuzeit.  Sie  beginnt  im  Herbst  312.  Da  also  das  Seleucidenjahr 
nur  mit  einem  Viertel  vor  den  1.  Januar  fällt,  dagegen  mit  drei  Vierteln  da- 
rüber hinaus,  so  kürze  ich  öfters  ab  und  schreibe  nicht  312/311,  sondern  ein- 
fach 311  für  A.  Seleuc.  1  u.  s.  w.,  wenn  besondere  Genauigkeit  unnötig  oder 
unmöglich  ist.  Der  Herbstanfang  des  Jahres  war  allgemein  im  westsemitischen 
Kulturgebiet  und  wurde  nicht  etwa  erst  durch  die  Macedonier  eingeführt. 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  231 

El'  blieb  aber,  nach  der  Schlacht  von  Ipsus,  nicht  im  Osten  wohnen, 
sondern  setzte  dort  seinen  Sohn  Antiochus  zum  Eegenten  ein, 
während  er  seine  eigene  Residenz  nach  Syrien  verlegte,  wo  auch 
Antigonus  gewohnt  hatte,  in  die  „Seleucis".  Nicht  w^eit  von  An- 
tigonia  baute  er  Antiochia,  mit  dem  Hafen  Seleucia.  Wie  in 
Ägypten  ebenso  lag  nun  in  Asien  der  Sitz  der  Regierung  am 
äußersten  Ende  des  Reichs,  an  der  Küste  des  mittelländischen 
Meeres.  Das  schien  notwendig,  um  die  Beziehung  zur  griechischen 
Welt  wahren  und  in  die  große  Politik  eingreifen  zu  können. 

Seleucus  gelangte  jedoch  nicht  in  den  Besitz  von  ganz  Syrien. 
Seine  unbestrittene  Herrschaft  reichte  nur  bis  zum  Flusse  Eleu- 
therus.  In  Judäa  und  Samarien  dagegen,  in  Tyrus  und  Sidon  hatte 
Ptolemäus  sich  festgesetzt').  Dies  Gebiet  war  ihm  als  Bollwerk 
für  Ägypten  sehr  nützlich,  von  Natur  gehörte  es  aber  zu  Asien, 
zum  Reiche  des  Seleucus.  So  entstand  aus  der  alten  Ursache  wie- 
derum die  alte  Spannung  zwischen  Asien  und  Ägypten,  die  seit 
dem  Tode  der  beiden  ersten  Herrscher  in  einen  andauernden, 
wenngleich  häufig  latenten  Kriegszustand  überging.  Syrien  war 
das  wichtigste  Objekt  des  Kampfes,  doch  nicht  der  gewöhnliche 
Schauplatz.  Isoliren  ließ  sich  damals  nichts,  die  Politik  brachte 
das  Entfernteste  in  Wechselbeziehung.  Die  Seemacht  Ägypten 
stand  gleichmäßig  den  beiden  Landmächten,  Asien  und  Macedouieu, 
gegenüber  und  suchte  zu  verhindern,  daß  sie  sich  befestigten.  Sie 
setzte  sich  ihnen  allenthalben  auf  die  Nase  durch  Besetzung  ge- 
eigneter Küstenpunkte,  sie  trieb  ihnen  Pfähle  ins  Fleisch  durch 
Unterstützung  der  hellenischen  Freiheit  und  der  in  Kleinasien  sich 
erhebenden  Zwischenreiche. 

Über  die  Geschichte  der  syrisch-ägyptischen  Kriege  haben  Avir 
größtenteils  nur  sehr  dürftige  und  unklare  Nachrichten.  Die  erste 
Phase  wird  geschlossen  und  die  zweite  eröffnet  durch  den  be- 
rühmten Frieden,  zu  dessen  Besiegelung  Antiochus  II.  die  Tochter 
des  Ptolemäus  IL,  Berenice,  heiratete  (249/8).  Sie  brachte  ihm, 
wenn  auch  nicht  Land  und  Leute,  so  doch  eine  ungeheure  Mitgift 
zu.  Aber  ihretwegen  mußte  er  seine  ältere  Gemahlin  Laodice,  mit 
zwei  heranwachsenden  Söhnen,  entfernen,  und  das  war  sein  und 
seines  Hauses  Verderben  ^).    Laodice  hatte  eine  einflußreiche  Partei 


0  Niese,  Geschichte  der  griechischen  und  makedonischen  Staaten  2,  124  s. 
2)  Dan.  11,  6  und  Hieronymus  z.  d.  St.:  Antiochus  Theos  adversus  Ptole- 


232  Sechzehntes  Kapitel. 

auf  ihrer  Seite;  der  König  knüpfte  wieder  mit  ihr  an,  als  er  im 
Jahre  247/6  sich  in  der  Gegend  von  Sardes  befand.  Sie  vergiftete 
ihn  und  ließ  ihren  Sohn,  Seleucus  IL,  zum  König  ausrufen. 
Berenice  fand  mit  ihrem  Söhnchen  in  Antiochia  einen  grausamen 
Tod.  Die  Rache  übernahm  ihr  Bruder  Ptolemäus  III.  Er  brach 
mit  ganzer  Macht  in  Asien  ein  und  durchzog  es  siegreich  wie  einst 
Sesostris '),  bis  ihn  eine  Empörung  in  Ägypten  zurückrief.  In 
einem  Teile  Kleinasiens  hatte  sich  indessen  Seleucus  II.  behauptet. 
Von  da  aus  dehnte  er,  bald  nach  dem  Abzüge  des  Ptolemäus, 
seine  Herrschaft  wieder  über  die  Seleucis  und  die  Gegend  am 
Euphrat  aus;  ein  Augriff  auf  Cölesyrien  misglückte  freilich"'). 
Da  warf  sich  in  Kleinasien  sein  jüngerer  Bruder,  Antiochus  Hierax, 
gegen  ihn  auf.  Es  folgte  ein  langwieriger,  hin  und  her  schwankender 
Krieg  zwischen  den  beiden  Brüdern,  den  Freunde  und  Feinde  auf 
kosten  des  Reiches  sich  zu  nutze  machten.  Parther  und  Galater, 
Ägypter  und  Pergamener  griffen  darin  ein.  Die  kriegerischen 
Galater  standen  auf  Seite  des  Hierax,  freilich  als  sehr  eigenmächtige 
und  gefährliche  Helfer.  Sie  brachten  dem  Seleucus  bei  Ancyra 
eine  schwere  Niederlage  bei.  In  folge  davon  brachen  die  Parther 
unter  Arsaces  Tiridates  in  das  östliche  Medien  ein.  Seleucus  sah 
sich  veranlaßt,  gegen  sie  zu  Feld  zu  ziehen,  besiegte  sie  auch, 
wurde  dann  aber  durch  einen  Aufstand  in  seiner  Hauptstadt  nach 
Syrien  zurückgerufen.  In  Kleiuasien  fochten  indessen  die  Per- 
gamener wenn  nicht  für  ihn,  so  doch  gegen  seine  Feinde.  Attalus 
erwehrte  sich  der  gefürchteten  Galater  mit  Glück  und  gewann 
mehrere  Siege  über  sie,  die  in  den  berühmten  Denkmälern  von 
Pergamum  verewigt  sind.  Hierax  geriet  mehr  und  mehr  ins  Gedränge, 
hatte   auch  in  Mesopotamien,    wohin   er  sich  wandte,    kein  Glück, 


maeum  Philadelphum  gessit  bella  quam  pluriina  et  totis  Babylonis  atque  Orientis 
viribus  dimicavit.    Yolens  itaque  Ptolemaeus  post  multos  annos  molestum  fiuire 

certameu  filiam  suam  uomine  Berenicen  Antiocho  uxorem    dedit de- 

duxitque  eam  usque  Pelusiuin  et  infinita  auri  et  argenti  milia  dotis  nomine 
dedit:  unde  phernophoros  appellata  est. 

^)  Dan.  11,7.8:  an  Stelle  des  Ptolemäus  II.  tritt  sein  Sohn,  rüstet  ein 
Heer,  dringt  in  das  Bollwerk  der  Syrer  ein,  besiegt  sie  gänzlich,  und  schleppt 
ihre  Götter  und  Bilder  nebst  anderer  reicher  Beute  nach  Ägypten. 

^)  Dan.  11,9:  Ptolemäus  IL  steht  einige  Jahre  von  Seleucus  II.  ab,  der 
dringt  seinerseits  in  ägyptischen  Besitz  vor,  muß  aber  umkehren  in  sein  Land. 
Über  Seleucia  vgl.  Niese  2,  168. 


I»ie  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  233 

konnte  sich  dann  in  Kleinasien  gegen  Attalus  nicht  halten  und 
wurde  schließlich  in  Thracien  ermordet,  wohin  er  übergetreten 
war.  Seleucus  aber  überlebte  den  Tod  seines  Bruders  nur  um 
ein  Jahr,  er  starb  im  Jahre  226  in  folge  eines  Sturzes  vom 
Pferde  ')• 

Er  hatte  doch  nicht  umsonst  sein  Leben  verkämpft.  Sein 
Reich  brach  nach  seinem  Tode  nicht  zusammen,  sondern  erhob 
sich  neu.  Er  hinterließ  zwei  jugendliche  Söhne.  Der  ältere, 
Seleucus  III.,  wurde  im  Jahre  223  ermordet,  als  er  den  Kampf  mit 
Attalus  aufnahm,  der  nach  dem  Tode  seines  Vaters  fast  alle 
seleucidischen  Besitzungen  diesseit  des  Taurus  erobert  hatte.  Ihm 
folgte  der  jüngere,  Antiochus  III.,  der  bis  dahin  in  Babylon  residirt 
hatte.  Dieser  überließ  die  Fortsetzung  des  Krieges  in  Kleinasien 
seinem  Vetter  Achäus,  der  sich  dem  Feinde  durchaus  überlegen 
zeigte.  Er  selber  benutzte  den  Thronwechsel  in  Ägypten,  wo  ein 
sehr  minderwertiger  vierter  Ptolemäus  auf  den  dritten  gefolgt  war, 
und  griff  Cölesyrien  an,  im  Sommer  221.  Allerdings  ohne  Nach- 
druck und  Erfolg;  denn  in  seinem  Rücken  waren  die  Statthalter 
von  Medien  und  Persien  abgefallen.  Nachdem  er  mit  diesen 
fertig  geworden  war,  nahm  er  den  Kampf  gegen  Ptolemäus  IV. 
wieder  auf,  bezwang  Seleucia,  das  bis  dahin  immer  noch  in  Feindes 
Hand  geblieben  war,  und  dehnte  sich  in  Cölesyrien  aus  (219.  218). 
Aber  im  Frühling  217  wurde  er  von  dem  Ägypter,  der  inzwischen 
Zeit  zu  umfassenden  Rüstungen  gefunden  hatte,  bei  Raphia  in  der 
Nähe  von  Gaza  geschlagen  und  räumte  seine  Eroberungen.  Er 
hatte  in  Kleinasien  zu  tun,  um  sich  Achäus  aus  dem  Wege  zu 
schaffen,  der  sich  dort  zum  Könige  gemacht  hatte.  Dann  war  er 
wieder  Jahre  lang  im  fernen  Osten  beschäftigt.  Er  unterwarf  sich 
den  Partherkönig,  schloß  nach  hartnäckigem  Kampf  Freundschaft 
mit  den  Griechen  von  Baktra,  erneuerte  die  alten  Beziehungen 
seines  Hauses  zu  dem  indischen  Nachbar  und  kehrte  endlich  durch 
das  mittlere  und  südliche  Iran  zurück  an  den  persischen  Golf,  an 
dessen  arabischer  Seite  er  den  Handelsstaat  der  Gerrhäer  sich  und 
seinen  Zwecken  dienstbar  machte.  Bald  darauf  starb  Ptolemäus  IV. 
(205),  ein  vierjähriges  Kind  war  der  Erbe  des  von  inneren  Ge- 
fahren schlimm  bedrohten  Reiches.  In  diesem  Augenblick  ver- 
bündeten   sich    die  Könige   von  Asien    und  Macedonien    zu    einer 


1)  Niese  2,  151  —  171. 


234  Sechzehutes  Kapitel. 

Teilung  Ägyptens.  Antiochus  bemächtigte  sich  Cölesyriens  bis  auf 
einzelne  Punkte,  ohne  Widerstand  zu  finden.  Dann  drang  zwar, 
unter  dem  Atoler  Skopas,  ein  ägyptisches  Heer  vor,  aber  er 
rückte  dem  Skopas  entgegen,  besiegte  ihn  bei  dem  Panium  an 
der  Jordanquelle  im  Sommer  200')  und  nahm  auch  das  feste 
Sidon  ein,  wohin  sich  jener  geworfen  hatte.  Damit  war  der 
Besitz  von  ganz  Syrien  für  die  Seleuciden  endlich  entschieden. 
Von  einem  Angriff  auf  Ägyten  selbst  mußte  Antiochus  vorläufig 
abstehn,  er  schloß  einen  Frieden  und  bekräftigte  ihn  durch  die 
Verlobung  seiner  Tochter  Kleopatra  mit  dem  jungen  Ptolemäus  V. 
Aber  eben  dadurch  sicherte  er  sich  eine  Handhabe  für  zukünftige 
Einmischung;  er  dachte  nicht  daran,  sein  Versprechen  zu  halten, 
daß  die  Braut  Cölesyrien  als  Mitgift  bekommen  sollte^). 

2.  Die  Juden  sahen  zu,  wie  Alexander  die  Welt  eroberte 
und  wie  nach  seinem  Tode  die  macedonischen  Heerfürsten  um 
seinen  Nachlaß  Würfel  spielten.  Sie  waren  die  fremde  Herrschaft 
gewohnt  und  behielten  ihr  Gleichgewicht,  wenn  sie  den  Namen 
wechselte;  sie  freuten  sich  sogar  über  den  allgemeinen  Zusammen- 
bruch der  Erdenmächte  (Ps.  46).  Sie  fügten  sich  den  Umständen 
und  versuchten  nicht  irgendwie  in  den  Lauf  der  Dinge  einzu- 
greifen; so  blieben  sie  in  ihrem  geistlichen  Gemeinwesen  unter 
der  Vorsteherschaft  ihrer  Hohenpriester  ziemlich  unangefochten. 
Daß  sie  mit  Alexander  beinah  hart  aneinander  geraten  wären, 
wegen  ihrer  Treue  gegen  die  persische  Dynastie,  ist  eine  plumpe 
Erfindung.  Die  Angabe,  daß  Ptolemäus  I.  sich  an  einem  Sabbat 
Jerusalems  bemächtigt  habe,  ist  zwar  besser  bezeugt,  läßt  sich 
aber  nicht  datiren^).    Mehr  hören  wir  von  Samarien.    Diese  Stadt 


0  Niese  2,  578.  Der  gewöhnliche  Ansatz  ist  198;  er  \Yird  von  Strack 
in  den  Gott.  G.  A.  1900  p.  G48  verteidigt,  wie  mir  scheint  mit  unzureichenden 
Gründen. 

-)  Dan.  11,10 — 19.  Der  hebräische  Text  ist  vielfach  unverständlich,  aber 
die  Erklärung  des  Hieronymus  oder  in  Wahrheit  des  Porphyrius  ist  die  Haupt- 
quelle für  die  Geschichte  des  letzten  Kampfes  xim  den  Besitz  Cölesyriens,  da 
die  Erzählung  des  Polybius  nur  restweise  erhalten  ist  (Jos.  Ant.  12,  129  ss.). 
—  Die  Behauptung  des  Josephus,  daß  die  Steuern  Cölesyriens,  nach  197, 
zwischen  Seleuciden  und  Ptolemäern  geteilt  seien  (Ant.  12,  155),  ist  wol  nur 
eine  Verlegenheitsannahme  zur  Beseitigung  eines  Widerspruchs  in  der  Geschichte 
des  Tobiaden  Josephs. 

3)  Agatharchides  bei  Jos.  contra  Ap.  1,  209  s.  Ant.  12,  6;  vgl.  Niese  1,  230 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  235 

wurde  nach  einem  Aufstaude  durch  Alexander  selber  oder  durch 
Perdiccas  bezwungen  uud  mit  macedonischen  Soldaten  besiedelt; 
sie  war  vollkommen  heidnisch  und  stand  mit  der  Gemeinde  der 
Samariter  nicht  in  Verbindung.  Als  Ptolemäus  im  Jahre  311 
Cölesyrien  vor  Antigouus  räumte,  zerstörte  er  vorher  außer  Akko 
Jope  und  Gaza  auch  Samarien.  Im  Jahre  296  wurde  es  von 
Demetrius  dem  Ptolemäus  entrissen.  Es  war  schon  ehedem  der 
Sitz  der  persischen  Behörden  gewesen  und  es  blieb  auch  unter 
dem  griechischen  Regiment  der  politische  und  militärische  Mittel- 
punkt jener  Gegend.  Vergleichsweise  scheinen  die  Juden  wenig 
unter  den  Stürmen  der  Zeit  gelitten  zu  haben.  Seit  dem  Jahre 
301  standen  sie  unter  der  Herrschaft  der  Ptolemäer. 

Aber  auch  für  sie  war  doch  eine  neue  Zeit  angebrochen. 
Die  Welt  drehte  sich  nicht  mehr  um  Babel  und  Susa,  sondern  um 
Alexandria  und  Antiochia.  Ihr  eigenes  Land  lag  in  der  Mitte 
zwischen  den  Sitzen  der  beiden  Hauptmächte,  und  sie  beobachteten 
das  Ringen  derselben  aus  nächster  Nähe.  Das  vierte  Reich,  eben 
das  griechische,  galt  ihnen  zwar  als  die  Fortsetzung  der  drei 
früheren;  aber  sie  fanden,  daß  es  sich  merklich  von  jenen  unter- 
schiede (Dan.  7, 7).  Die  Perser,  obwol  Arier,  waren  doch  auch 
Orientalen  gewesen.  Sie  hatten  die  ihnen  unterworfenen  semiti- 
schen Völker  nur  beherrscht,  innerlich  aber  nicht  eben  stark  be- 
einflußt; sie  hatten  mehr  empfangen  als  gegeben.  Die  Griechen 
dagegen  besaßen  eine  von  der  orientalischen  sehr  verschiedene 
Kultur,  und  sie  drangen  damit  tief  in  das  Morgenland  ein '). 

Alexander  wollte  Orient  und  Occident   vermählen.     Bei   den 


n.  4,  Den  Dius  bei  Jos.  c.  Ap.  2,  82,  der  Jerusalem  bezwungen  haben  soll, 
korrigirt  Niese  in  Pius  und  versteht  darunter  den  Sidetes,  nach  Ant.  13,  244. 
^)  Die  Bedeutung  des  Gegensatzes  zwischen  Ariern  und  Semiten  ist  von 
den  Sprachvergleichern  und  noch  mehr  von  ihren  Nachtretern  über  alle  Grenzen 
ausgedehnt.  Die  Griechen  sind  Griechen  und  keine  bloßen  Indoeuropäer:  es 
ist  sehr  ungerecht,  das  was  wir  von  den  Griechen  bekommen  haben,  die  Kunst, 
die  Wissenschaft,  die  Humanität,  dem  indoeuropäischen  Insgemein  gut  zu 
schreiben  und  es  gegen  die  Semiten  in  die  Schale  zu  werfen.  In  der  Kultur, 
z.  B.  im  städtischen  Leben,  standen  die  Griechen  den  Aramäern  viel  näher 
als  den  Iraniern.  Von  dem  macedonischen  Adel  kann  man  das  allerdings 
nicht  sagen.  Der  glich  in  seiner  Yorliebe  für  Reiten,  Jagen,  Fechten  und 
Zechen  dem  iranischen  Adel,  nur  daß  dieser  keinen  Philipp  und  Alexander, 
keinen  Demetrius  imd  Pyrrhus  hervorbrachte  —  Männer,  deren  aristokratische 
Leibes-  und  Geisteskraft  griechisch  geschult  war. 


236  Sechzehntes  Kapitel. 

Iraniern,  auf  die  er  es  vorzugsweise  abgesehen  liatte,  gelang  es  am 
wenigsten.  In  Ägypten  gewann  zwar  das  Griechentum  nicht  bloß 
in  der  neuen  glänzenden  Hauptstadt,  sondern  auch  im  Delta  und 
im  Faijum  sehr  feste  Positionen,  aber  das  einheimische  Wesen 
wurde  wenig  davon  berührt  und  blieb  in  Wahrheit  ziemlich  ebenso 
starr  und  abgeschlossen,  wie  es  früher  gewesen  war.  Viel  zugäng- 
licher waren  dem  griechischen  Wiesen  die  Völker  aramäischer  Zunge 
im  seleucidischen  Reiche.  Hier  lag  der  Ursprung  und  das  eigent- 
liche Gebiet  des  Weltreichs.  Hier  hatten  die  Assyrer  und  die 
Chaldäer  wirksam  vorgearbeitet,  eine  Mischung  der  Stämme  und 
Götter  erzeugt  und  ein  großes  Verkehrsgebiet  mit  gemeinsamer 
Sprache  geschaffen.  Die  Nationalitäten  waren  hier  längst  gebrochen ; 
jedoch  entstand  daraus  nicht  etwa  ein  einheitliches  starkes  und 
selbstbewußtes  Volk,  sondern  innerhalb  des  losen  Verbandes  ein 
Chaos  von  Einzelbildungen,  ähnlich  wie  im  heiligen  Römischen 
Reich  nach  der  Niederwerfung  der  Stammherzogtümer.  Hier  konnten 
die  Griechen  überall  in  die  Fugen  dringen;  sie  fanden  einen  durch 
das  Eisen  mürbe  gemachten,  durch  alte  Kultur  und  freien  Verkehr 
aufgeschlossenen  Boden.  Die  griechischen  Städte  schössen  hier  wie 
die  Pilze  aus  dem  Boden,  namentlich  in  Syrien.  Sie  wurden  von 
dem  Städtegründer  Seleucus  und  von  seinen  Nachfolgern  zunächst 
als  Residenzen  und  als  Militärkolonien  angelegt.  Die  kriegerische 
Invasion  brach  aber  dann  einer  friedlichen  die  Bahn,  mit  den 
Macedoniern  kamen  die  längst  wanderlustigen  Griechen,  der 
Orient  wurde  ihr  Amerika.  Man  muß  freilich  nicht  glauben,  daß 
erst  dadurch  das  städtische  Wiesen  bei  den  Aramäern  eingeführt 
worden  sei;  es  bestand  bei  ihnen  seit  weit  älteren  Zeiten.  Nur 
sehr  wenige  Städte  entstanden  damals  wirklich  neu,  meist  wurden 
schon  vorhandene  umgegründet  und  umgenannt,  zuweilen  rebellische 
zerstört  und  wieder  besiedelt.  Griechische  Stadt  bedeutet  nur  Stadt 
mit  griechischer  Kolonie  und  griechischer  Verfassung.  Die  ange- 
siedelten Macedonier,  die  von  Kopfsteuer  befreit  waren,  bildeten 
die  bevorrechtete  Bürgerschaft;  in  zweiter  Linie  standen  die  eigent- 
lichen Griechen.  Daneben  blieb  aber  die  einheimische  Bevölkerung, 
und  sie  wuchs  durch  die  Steigerung  des  Verkehrs,  die  damals 
eintrat.  Handel  und  Gewerbe  blühten  auf,  der  Orient  erlebte  trotz 
aller  Unruhe  eine  Zeit  glänzender  Prosperität.  Die  kosmopolitische 
Sprache  und  Zivilisation  war  die  griechische;  ihrem  Einfluß  konnten 
sich,  wenigstens  in  Syrien,  auch  diejenigen  Städte  nicht  entziehen. 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  237 

die  gar  nicht  irgendwie  kolonisirt  waren.  Allerdings  ging  der 
Hellenismus  nur  bis  auf  die  Haut,  nicht  bis  auf  die  Knochen. 
Er  beherrschte  nur  die  größeren  Städte,  nicht  das  platte  Land. 
Das  Dorf  blieb  aramäisch  und  die  Wüste  arabisch.  Und  selbst  in 
den  Städten  wurde  die  aramäische  Kultur,  die  nicht  von  gestern 
war,  und  die  aramäische  Sprache  nicht  verdrängt,  w'enn  auch  stark 
beeinflußt '). 

In  den  Bereich  der  aramäischen  Kultur  fielen  auch  die  Juden, 
politisch  aber  gehörten  sie  während  des  ersten  Jahrhunderts  der 
griechischen  Periode  zu  Ägypten.  Daher  kam  es,  daß  sie  zuerst 
von  dort  her  die  Einwirkung  des  Hellenismus  erfuhren.  Indessen 
nicht  so  sehr  im  Zentrum  als  in  der  Peripherie,  nämlich  in  der 
Diaspora.  Ägypten  war  das  früheste  Gebiet  der  Diaspora  und  blieb 
lange  Zeit  das  wichtigste^).  Alexander  soll  die  Juden  in  Alexandria 
augesiedelt,  Ptolemäus  I.  sie  zu  vielen  Tausenden  nach  Ägypten 
übergeführt  haben  ^).  In  Wahrheit  werden  sie  auf  die  selbe  AVeise 
dorthin  gekommen  sein,  wie  die  Samarier  und  die  Syrer  überhaupt, 
teils  gezwungen  als  Sklaven,  teils  um  des  Verdienstes  willen  als 
Arbeiter  und  Händler.     Sie  wurden  aus   der  Provinz  in  die  Welt 

1)  Nöldeke  Zeitschrift  der  DMG  1885  p.  336.  Mit  dem  Aufhören  der 
griechisch-römischen  Herrschaft  hörte  auch  der  Hellenismus  auf,  weil  das 
Land,  aus  dem  die  Stadt  sich  rekrutirt,  nicht  griechisch  geworden  war.  Leider 
können  wir  uns  von  der  aramäischen  Kultur  nur  aus  den  Inschriften  einen 
schwachen  Begriff  machen;  die  Literatur  ist  verloren  und  die  Altertumswissen- 
schaft hat  grade  diesen  Verlust  tief  zu  beklagen,  wie  jetzt  mehr  und  mehr 
klar  wird. 

-)  Vgl.  zum  Folgenden  überhaupt  Willrich,  Juden  und  Griechen  1895. 
Dies  Buch  ist  weiterhin  immer  gemeint,  wenn  nur  der  Name  des  Verfassers 
genannt  ist. 

^)  Diese  Nachricht  fließt  aus  trüben  Quellen.  Im  Aristeasbrief  steht,  der 
König,  milde  zugleich  und  energisch,  habe  eine  Menge  Leute  aus  Syrien  teils 
als  Ansiedler,  teils  als  Kriegsgefangene  nach  Ägypten  gebracht,  darunter 
100000  Juden,  von  denen  er  30000  Männer  bewaffnete  und  als  Besatzungen 
in  den  festen  Plätzen  verwendete.  Pseudohekatäus  (contra  Ap.  1,  186  vgl.  194) 
sagt,  nach  der  Schlacht  von  Gaza  hätten  sich  viele  Leute  aus  Syrien  dem 
Ptolemäus  wegen  seiner  Leutseligkeit  angeschlossen  und  seien  nach  Ägypten 
gezogen,  darunter  auch  der  66jährige  Hohepriester  Ezechias.  Bei  Diodor  heißt 
es  19,  85,  Ptolemäus  habe  nach  der  Schlacht  von  Gaza  8000  kriegsgefangene 
Soldaten  des  Demetrius  nach  Ägypten  geführt,  und  w'eiter  19,  86,  er  sei  ein 
wolwollender  milder  Herr  gewesen:  hierin  vermutet  Willrich  den  Ausgangspunkt 
für  die  Fälschungen  der  jüdischen  Literaten. 


238  Sechzehntes  Kapitel. 

hinausgelockt,  namentlich  in  die  Weltstadt  Alexandria;  ihr  Talent 
zum  Handel  entdeckten  sie  in  dieser  Zeit.  Fest  steht,  daß  sie 
bereits  unter  dem  zweiten  und  dritten  Ptolemäer  nicht  bloß  in 
Alexandria,  sondern  auch  in  andern  ägyptischen  Städten  und 
Dörfern  gewohnt  haben ').  Sie  schmiegten  sich  nicht  den  Kopten 
an,  sondern  den  Griechen;  sie  trugen  vereinzelt  neben  ihren  he- 
bräischen auch  schon  griechische  Namen  -).  Verhältnismäßig  schnell 
vertauschten  sie  die  aramäische  mit  der  griechischen  Sprache  und 
gebrauchten  sie  sogar  im  Gottesdienste.  In  Alexandria  wurden 
ihre  heiligen  Bücher  in  ein  Griechisch  übertragen,  welches  im  Bau 
der  Sätze  und  im  Gebrauch  der  Partikeln  und  Metaphern  freilich 
durchaus  hebräisch  Avar.  Wann  dies  geschah,  läßt  sich  leider  nicht 
mit  Sicherheit  bestimmen.  Der  Anfang  wurde  jedenfalls  mit  dem 
Gesetze  gemacht,  der  Name  Septuaginta  bezieht  sich  eigentlich  nur 
auf  den  griechischen  Pentateuch.  Die  vier  großen  und  die  zwölf 
kleinen  Propheten  können  erst  nach  den  makkabäischen  Kriegen 
übersetzt  worden  sein,  ebenso  auch  die  Psalmen^).  Das  älteste 
Zeugnis  dafür,  daß  das  Gesetz  und  die  Propheten  und  noch  andere 
väterliche  Schriften  griechisch  vorhanden  waren,  stammt  von  dem 
Enkel  des  Jesus  Sirach,  der  im  Jahre  132  nach  Ägypten  kam^j. 
Die  Diaspora  vermehrte  sich  durch  fremde  Elemente,  die  sich 
ihr   anschlössen,  meist  aus   den   niederen  Klassen;    zu   den  Juden 


^)  Papyri  aus  dem  dritten  Jahrhundert  nennen  ein  Dorf  Samareia  im 
Faijum,  unterscheiden  Juden  und  Hellenen  als  Bewohner  eines  Dorfes  Psenyris 
ebendaselbst,  führen  Namen  jüdischer  und  syrischer  Arbeiter  auf.  Ein  Ptole- 
mäer verleiht  in  der  Inschrift  C.  I.  G.  III  suppl.  6583  einer  jüdischen  Proseuche 
die  Asylie;  welcher  gemeint  ist,  ist  nicht  ganz  sicher. 

')  ['"'^PXl'^^M'OS  ^s  "'^"'^  auptaxt  'IiuvocOöc;  Flinders  Petrie  pap.  ed.  Mahaify  2,23. 

3)  Das  Buch  Daniel,  die  Kapitel  Zach.  9—14  und  das  Stück  Isa.  19,26—25, 
ferner  die  Psalmen  44.  74.  79.  83  149  u.  a.  sind  nicht  viel  früher  verfaßt,  also 
auch  nicht  früher  übersetzt. 

*)  Der  Aristeasbrief  kann  nicht  vor  dem  ersten  Jahrhundert  (ante  Chr. 
nat.)  angesetzt  werden,  wie  Willrich  nachweist.  Jüdische  Häfen  im  Plural  — 
darauf  kommt  es  an,  nicht  auf  die  einzelnen  Namen,  die  genannt  werden  — 
hat  es  erst  seit  Jannäus  gegeben,  und  die  griechischen  Eigennamen  bei  den 
palästinischen  Juden  sind  erst  spät  gewöhnlich  geworden.  Die  übliche  frühe 
Datirung  von  Eupolemus  und  Demetrius  steht  auf  schwachen  Füßen.  Der 
jüdische  Philosoph  Aristobulus  (2  Macc.  1,  10)  ist  dem  Josephus  unbekannt, 
sonst  hätte  er  ihn  gegen  Apion  zu  Felde  geführt:  dies  Stillschweigen  kann 
•nicht  als  unerheblich  angesehen  werden. 


Die  Zeit  Alexanders  imd  seiner  Nachfolger.  239 

kamen  die  Judengenossen  hinzu.  Der  Schweif"  verwuchs  nach 
einiger  Zeit  mit  dem  Kern,  ergänzte  sich  aber  immer  aufs  neue. 
Die  werbende  Kraft  der  Juden  war  andersartig  und  auf  die  Länge 
viel  wirksamer  und  nachhaltiger  als  etwa  die  der  Phönizier  und 
Ägypter,  die  ebenfalls  in  ihren  Siedelungen  Propaganda  für  ihre 
Kulte  machten;  nur  die  Samariter  konnten  halbwegs  mit  ihnen 
wetteifern.  Was  die  Heiden  anzog,  war  erstens  der  Monotheismus, 
auf  den  sie  bereits  einigermaßen  vorbereitet  waren,  und  sodann 
das  feste  geschlossene  Wesen  der  Juden,  das  ihnen  den  Halt  bot, 
dessen  sie  bedurften.  Die  Zeit  war  wüst  und  unheilig,  friedlos 
und  müde.  In  der  Geschichte  wirkten  weder  Götter  noch  Völker 
mehr,  sie  wurde  von  Strategen  und  Politikern  gemacht,  mit  be- 
rechneten und  durchaus  materiellen  Mitteln,  mit  Soldaten  und 
Schiften,  mit  Heiraten  und  Meuchelmorden,  und  nicht  zum  wenigsten 
mit  Geld.  Die  alten  beschränkten  Kreise  und  mit  ihnen  die  ge- 
weihten Bande  des  Lebens  waren  zersprengt.  Über  den  gestürzten 
Fundamenten  und  den  verrückten  Grenzen,  befördert  durch  das 
allgemeine  Durcheinanderwandern,  entstand  ein  geistiges  Chaos. 
Die  Welt  bot  keine  Heimat,  man  mußte  sie  in  der  Seele  suchen. 
Das  Bedürfnis  nach  innerem  Glück  und  Frieden  wurde  in  weiten 
Kreisen  gefühlt.  Dem  kam  die  Philosophie  entgegen.  Sie  war 
damals  nicht  mehr  aristokratische  Wissenschaft,  sondern  eine  An- 
weisung zum  glückseligen  Leben  für  Hoch  und  Kieder.  Die  Phi- 
losophen bauten  dem  Heiligen  in  der  Menschenbrust  Altar  und 
Thron,  als  es  draußen  mit  Füßen  getreten  oder  zu  Spiel  und 
Aberglauben  erniedrigt  wurde.  In  ihre  Schulen  und  Vereine  flüch- 
teten sich  Tausende,  die  um  der  Welt  willen  ihre  Seele  nicht 
verlieren  wollten.  Dem  Bedürfnis  der  Zeit  kam  aber  auch  die 
jüdische  Religion  entgegen.  Sie  hatte  mit  der  Popularphilosophie 
das  gemein,  daß  sie  ebenfalls  nach  dem  höchsten  Gut  und  der 
gottgewollten  Führung  des  Lebens  fragte;  nach  damaligen  Begriffen 
war  sie  selber  Philosophie^),  sie  paßte  besser  für  diejenigen,  die 
nach  Massivem  Verlangen  hatten  und  das  Absurde  gern  mit  in 
Kauf  nahmen.  Dazu  kamen  aber  wesentlichere  Vorzüge.  Die 
Juden  empfanden  unbeirrter  als  die  griechischen  Philosophen,  daß 
das  Reale  nicht  Abstraktum  ist,  sondern  Individuum.  Sie  setzten 
nicht    die   Idee  an  Stelle    des  Geistes.     Sie    faßten    das  Göttliche 


')  Vgl.  die  Anekdote  bei  loseph.  contra  Ap.  1,  177  —  181. 


240  Sechzehntes  Kapitel. 

nicht  bloß  als  Kraft  oder  Eigenschaft  anf,  sie  glaubten  an  einen 
wirklichen  und  lebendigen  Gott,  der  richtete  und  half.  Und  auch 
die  Heimat,  welche  sie  hatten,  befriedigte  mehr  als  die,  welche 
die  Philosophie  gewährte.  Sie  hielten  viel  enger  zusammen  als 
die  philosophischen  A^ereine,  nicht  bloß  an  ihren  einzelnen  Wohn- 
orten, sondern  in  der  ganzen  Welt.  W^o  sie  sich  auch  aufhalten 
mochten,  behielten  sie  Fuß  in  Sion.  Sion  repräsentirte  die  ideale 
Einheit  der  Theokratie,  die  sich  über  der  Diaspora  erhob  und  sie 
fest  umschloß.  Die  jüdische  Kirche  erwies  sich  stärker  als  die 
griechischen  Schulen. 

Die  beiden  geistigen  Mächte,  die  im  Stillen  an  der  Arbeit 
waren  aus  der  gegenwärtigen  Verwitterung  und  Verwesung  eine 
neue  Zukunft  vorzubereiten,  gingen  nun  nicht  neutral  neben  ein- 
ander her,  sondern  sie  trafen  zusammen.  Die  Berührung  fand 
aber  nicht  auf  den  Höhen  statt,  sondern  in  den  niederen  Regionen, 
zwischen  dem  Allerweltsgriechentum  und  dem  Allerweltsjudentiim; 
der  Geist  hat  auch  abseits  der  Straße  des  Lehrens  und  Lernens 
seine  Kommunikationswege.  Vor  allem  ist  der  Einfluß  der  grie- 
chischen Sprache  hoch  anzuschlagen,  sie  führte  die  Juden  in  eine 
neue  Begriffswelt  ein^).  Denn  die  Juden  waren  in  diesem  Ver- 
hältnis vorzugsweise  die  Empfangenden.  Jedoch  verloren  sie  sich 
dabei  nicht  selber,  sie  nahmen  die  dargebotenen  Bildungsmittel 
einer  höheren  Kultur  mehr  in  ihren  Dienst,  als  daß  sie  sich  davon 
innerlich  beherrschen  ließen.  Es  entstand  eine  eigentümliche 
Mischung,  deren  lächerliche  und  häßliche  Züge  über  ihre  welt- 
geschichtliche Wichtigkeit  nicht  täuschen  dürfen.  Dies  war  der 
Boden,  auf  dem  das  Evangelium  (nicht  entstanden,  aber)  eingepflanzt 
und  die  Kirche  erwachsen  ist. 

Die  Diaspora  hat  sich  anfangs  auf  Ägypten  beschränkt;  über 
Syrien  und  Kleinasien  hat  sie  sich  erst  ausgedehnt,  seit  die  Juden 
unter  die  Herrschaft  der  Seleuciden  kamen.  Wenn  Josephus  ihre 
Ansiedlung  in  Antiochia  dem  Seleucus  I.  zuschreibt,  ebenso  wie 
die  in  Alexandria  dem  Alexander,  so  schiebt  er  das,  was  im  Ver- 
lauf der  Periode  geschehen  ist,  in  ihren  Anfang  zurück,  nach  be- 
währtem Muster.     An  einer  Stelle^)  sagt  er  selber,  sie  hätten  vor- 


^)  Die  Bekanntschaft  einzelner  hervorragender  Juden  mit  den  edlen  Er- 
zeugnissen der  klassischen  Literatur  ist  späteren  Datums  und  bleibt  für  uns 
hier  außer  Betracht. 

2)  Bellum  7,  44. 


t)ie  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  241 

zugsweise  nach  dem  Tode  des  Antiochus  IV.  in  der  syrischen 
Hauptstadt  unbehelligt  wohnen  dürfen  —  freilich  auch  nicht  auf 
grund  von  Überlieferung,  sondern  von  Vermutung.  Aus  dem 
ersten  Makkabäerbuche  ergibt  sich,  daß  es  noch  im  Jahre  145  in 
Antiochia  keine  anderen  Juden  gab  als  die  3000  Mann,  welche 
Jonathan  auf  Bitten  des  Königs  Demetrius  dorthin  gesandt  hatte, 
und  daß  auch  in  dem  ursprünglich  ägyptischen  Cölesyrien  die  Zahl 
der  Juden  außerhalb  Judäas,  z.  B.  in  Galiläa,  geringfügig  war; 
Antiochus  IV.  hat  einfach  deshalb  die  Diaspora  nicht  mit  verfolgt, 
weil  er  in  seinem  Bereiche  keine  vorfand^).  Josephus  behauptet 
ferner,  Alexander  habe  die  jüdischen  Ansiedler  in  Alexandria ^), 
Seleucus  I.  die  in  Antiochia  und  in  seinen  anderen  Gründungen 
von  vornherein  der  herrschenden  Klasse,  den  Makedoniern,  gleich- 
gestellt^). Das  kann  ebensowenig  richtig  sein;  es  Aviderspricht 
allem,  was  wir  sonst  über  die  politische  Stellung  der  Diaspora- 
gemeinde wissen,  namentlich  aus  den  römischen  Edikten  seit  Julius 
Cäsar,  welche  die  hergebrachten  Rechte  dieser  Gemeinden  schützen 
und  sie  nicht  etwa  beschneiden,  sondern  eher  vermehren*).  Dar- 
nach waren  die  Juden  fest  organisirt  und  wohnten  häufig  in  be- 
sonderen Quartieren  zusammen;  ihre  Vereine  waren  vom  Staate 
anerkannt  und  ebenso  ihr  Kultus,  auf  den  sich  jene  gründeten. 
Sie  genossen  allerlei  Privilegien  und  Freiheiten,  um  ihre  religiösen 
Obliegenheiten  erfüllen  zu  können;  sie  hatten  in  gewissen  Grenzen 
auch  eigene  Jurisdiktion,  weil  ihre  Religion  mit  dem  Recht  unzer- 
trennlich verbunden  war;  sie  durften  die  im  Gesetze  Moses  ge- 
botene Kopfsteuer  für  den  Tempeldienst  (das  Didrachmon)  erheben 
und  nach  Jerusalem  abführen.  Sie  waren  also  in  der  Tat  bevor- 
zugt, aber  das  eigentliche  Bürgerrecht,  das  Recht  am  Stadtregiment, 


ij  1  Macc.  11,47.  Kap.  5.  Dagegen  gehört  1  Macc.  15,22 — 24  zu  einer 
Interpolation.  Der  Befehl  des  Antiochus  III.  an  seinen  Strategen  Zeuxis,  2000 
jüdische  Familien  im  inneren  Kleiuasien  anzusiedeln  (Ant.  12,  148ss.),  betrifft 
nicht  palästinische,  sondern  babylonische  Juden;  die  Urkunde  ist  übrigens  ver- 
dächtig, weil  die  Namen  der  Kolonien  nicht  angegeben  werden. 

2)  Contra  Ap.  2,  35.  Bell.  2,  487. 

3)  Ant.  12,  119  s.  Ap.  2,39. 

*)  Willrich  hat  mit  seinem  Urteil  (zuletzt  in  den  Beiträgen  zur  alten 
Geschichte  3,  403ss.)  über  die  angebliche  Isopolitie  der  Juden  in  Alexandria 
u.  s.  w.  Recht.  Andere  (Mommsen,  Niese,  Duchesne)  sind  freilich  in  diesem 
Punkt  schon  vor  ihm  der  selben  Meinung  gewesen,  haben  sie  aber  nicht  so 
entschieden  polemisch  geäußert. 

Wellhauseu,  Isr.  GescW eilte.    5.  Aufl.  16 


242  Sechzehntes  Kapitel. 

hatten  sie  nicht  nnd  konnten  es  nicht  liaben,  da  sie  ja  selber  von 
dem  gemeinen  Wesen  und  dem  öffentlichen  Kultus  sich  aus- 
schlössen ').  in  den  Grundzügen  war  ihre  Stellung  überall  die 
gleiche,  als  flösse  sie  aus  der  Natur  der  Sache;  daß  sie  nun  grade 
in  den  hellenistischen  Hauptstädten  ganz  anders  gewesen  sein  soll, 
läßt  sich  schwer  annehmen.  AVie  sollten  die  Juden  in  Alexandria 
Antiochia  Ephesus  das  Vollbürgerrecht  besessen  haben,  wenn  sie 
es  sogar  in  der  von  ihrem  eigenen  Könige  in  ihrem  eigenen  Lande 
angelegten  Hafenstadt  Cäsarea  vergebens  beanspruchten?  Man  wird 
dem  Josephus  nicht  Unrecht  tun^),  wenn  man  ihm  zutraut,  daß 
er  unbescheidene  Ansprüche  zu  verbrieften  Rechten  erhoben  hat. 
Es  ist  verdächtig,  daß  diese  Rechte  nicht  allgemein  anerkannt  sind, 
sondern  demonstrirt  werden  müssen.  Daß  die  Juden  in  Alexandria 
Antiochia  Ephesus  und  in  allen  jonischen  Städten  die  Jsopolitie 
mit  den  Macedoniern  teilen,  soll  daraus  folgen,  daß  sie  sich  Alexan- 
driner, Antiochener,  Ephesier  usw.  nennen,  und  daraus,  daß  sie 
eine  Entschädigung  erhalten,  wenn  sie  in  den  öffentlichen  Bädern 
sich  nicht  mit  heidnischem  Öle  salben^).  Es  soll  freilich  auch  aus 
Erlassen  Alexanders  und  der  Diadochen  hervorgehn,  aber  diese 
werden  nicht  irgendwie  näher  bezeichnet,   und  sie  sind  nicht  bloß 


')  Ell  dehors  de  l'assimilation  religieuse,  il  etait  impossible  de  faire  d'un 
Jiiif  im  veritable  Grec,  im  citoyen  d'iiiie  ville  helleüiqiie.  II  y  avait  douc 
lä  im  obstacle.  On  le  tourna  eu  s'abstenant  d'introduire  les  colons  juifs  dans 
le  Corps  des  citoyens,  et  en  se  bornant  ä  leur  donner,  parmi  les  non-citoyens, 
ime  Situation  privilegiee.  Ils  eurent,  ce  que  n'avaient  point,  par  exemple,  las 
Syriens  ä  Antioche  et  les  Egyptiens  ä  Alexandrie,  une  Organisation  administra- 
tive et  judiciaire  tont  ä  fait  ä  part.  La  communaute  juive  obeissait  ä  des 
chefs  speciaux,  choisis  parmi  ses  membres;  c'etait  comme  une  cite  de  second 
ordre,  intermediaire  eutre  la  cite  hellenique  et  la  ])opiilation  sujette.  De  plus, 
il  fut  prescrit  de  respecter  leurs  scrupules  religieux:  onnepeutles  coutraindre 
ä  violer  le  sabbat,  p.  e.  poiir  comparaitre  en  justice;  on  les  exempta  de  cer- 
taines  charges  qui  leur  repugnaient,  comme  le  service  militaire.  (Diichesne, 
Origines  1889  p.  2). 

^)  Während  Apio  es  den  Juden  in  Alexandria  zur  Schande  anrechnet, 
daß  sie  in  einem  entlegenen  Quartier  am  hafenlosen  Strande  für  sich  wohnten, 
sieht  Josephus  das  als  eine  ihnen  von  Alexander  oder  den  Diadochen  erwiesene 
Ehre  an:  sie  seien  in  der  Nähe  der  Königsburg  angesiedelt.  Ap.  2,  33.  35, 
Bell.  2,  488. 

2;  Ap.  2,  38.  39  (abweichend  davon  und  auch  von  Ant.  19,  281  wird  §  36 
behauptet,  sie  trügen  den  Namen  Macedonier).  Ant.  12,  120.  Zu  2  Macc.  4, 
9.  19  (die  Jerusalemer  durften  sich  Antiochener  nennen)  vergleicht  mau   „die 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  243 

dem  Apio,  sondern  auch  dem  Philo  unbekannt^).  Nikolaus  von 
Damaskus  beruft  sich  vor  Agrippa  nur  auf  die  römischen  Edikte, 
welche  den  Juden  keineswegs  die  volle  Politie  gewähren.  Josephus 
selber  muß  zugestehn,  daß  nur  diese  unanfechtbar  seien  ^).  In 
mehr  als  einem  Falle  sieht  man,  wie  er  unbestimmte  Ausdrücke 
vom  Positiv  zum  Superlativ  steigert  und  von  Recht  und  Woh- 
nungsbefugnis in  raschem  Übergange  zu  Voll  recht  und  Bürger- 
tum gelangt*). 

3.  Über  den  Hellenismus  in  Jerusalem  während  der  ägypti- 
schen Periode  sind  wir  nicht  unterrichtet.  A^on  allgemeinem  und 
tiefgehendem  Einfluß  scheint  er  in  jener  Zeit  dort  nicht  gewesen 
zu  sein*).     Eine  (iefahr  für  das  palästinische  Judentum  wurde  er 

Antiochener  in  Ptolemuis"  auf  den  Münzen  \on  Akko.  Niese  a.  0.  3,  228  will 
die  Angabe  so  erklären,  daß  die  Stadt  .lerusalem  fn  Ehren  des  regierenden 
Königs  Antiochus  IV.  den  Namen  Antiochia  angenommen  habe.  Akko  hat  aber 
den  Namen  Ptolemais  beibehalten. 

^)  Der  Kaiser  Claudins  hat  sich  nach  Ant.  19,  281  überzeugt,  walirschein- 
licli  durcii  den  König  Agrippa,  daß  die  Juden  in  Alexandria  von  den  Dia- 
dochen  mit  der  Isopolitie  begabt  seien;  er  selber  bestätigt  ihnen  aber  nur  ihre 
gewöhnlichen  religiösen  Privilegien,  und  weiter  verlangen  sie  auch  nichts.  In 
den  Worten  Ant.  12,  125  „das  Bürgerrecht,  welches  Antiochus  der  Enkel  des 
Seleucus  ihnen  gab"  bezieht  sich  ihnen  nicht  auf  die  Juden,  sondern  auf  die 
Jonier  in  Ephesus. 

2)  Ant.  14,  187. 

"')  Den  Schritt  von  der  -/aTOi'xrjat;  oder  der  [).tTOVAia  zur  tooroXtreia  hält 
er  für  unbedeutend  (Bell.  2,  487.  7,  44).  Zu  Alexaudria  nnd  Antiochia  standen 
auf  ehernen  Tafeln  geschrieben  die  oixat«)[j.aTa  der  Juden  (Ap.  2,  37.  Bell.  7, 
100 SS.);  diese  spezifisch  jüdischen  cixatio|j.aTa  verwandelt  er  Ant.  14,  188. 
12,  221  in  das  alexandrinische  und  antiochenische  Bürgerrecht  schlechthin. 

*)  Der  Prediger  zeigt  keine  nähere  Bekanntschaft  mit  dem  epikuräischen 
oder  einem  andern  System.  Doch  ist  damit  nicht  ausgeschlossen,  daß  er  An- 
regungen unbestimmter  und  allgemeiner  Natur  von  der  griechischen  Philosophie 
bekommen  hat.  Dieselben  haben  dann  eine  ganz  interessante  Verwirrung  in 
seinem  Geiste  angerichtet,  die  für  uns  durch  die  Verwirrung  des  Textes  noch 
vergrößert  wird.  Des  vergeblichen  Kopfzerbrechens  endlich  müde,  beschließt 
er  sich  beim  Hergebrachten  und  Gewöhnlichen  zu  beruhigen.  Alles  ist  eitel, 
sowol  die  praktischen  als  die  theoretischen  Versxiche,  die  auf  das  Lebensglück 
gerichtet  sind:  am  meisten  doch  die  Theorie,  das  Nachdenken  und  Forschen, 
und  das  viele  Bücherschreiben.  In  Ps.  119,  99  scheint  das  Gesetz  der  griechi- 
schen Modeweisheit,  die  sich  auch  den  Juden  (^Ich)  aufdrängte,  entgegen- 
gesetzt zu  werden.  Es  ist  freilieh  nicht  ausgemacht,  daß  der  Prediger  und 
Ps.  119  aus  vorseleucidischer  Zeit  stammen.  Aber  auch  Jesus  Sirach  hat  schon 
einen  großen  Zorn  gegen  die  Griechen. 

16* 


244  Sechzehntjes  Kapitel. 

erst  während  der  syrischen  Periode.  Damals  fand  er,  von  Antiochia 
aus,  Eingang  bei  den  oberen  Ständen,  und  zwar  in  einer  äußer- 
lichen, faulen  und  frivolen  Form.  Die  leitenden  Männer  traten  in 
Beziehung  zum  Hof  und  zu  der  Hofgesellschaft;  sie  lernten,  wie 
das  Regieren  gemacht  werde  und  was  das  Leben  sei.  Der  glän- 
zende Firnis  der  fremden  Kultur  blendete  sie,  der  Luxus  und  das 
Vergnügen  zog  sie  an.  Die  Welt  ladete  sie  ein,  und  sie  setzten 
sich  mit  an  den  Tisch. 

Gegen  Ende  des  dritten  Jahrhunderts  drohte  der  Zusammen- 
bruch des  ägyptischen  Reiches,  während  die  seleucidische  Macht 
sich  glänzend  erhob.  Die  Juden  scheinen  die  Zeichen  der  Zeit 
erkannt  und  sich  dem  kommenden  Manne  zugeneigt  zu  haben '). 
Durch  den  Sieg  über  Skopas  bei  Panium  gewann  Antiochus  IIL 
die  Herrschaft  über  Palästina.  Es  heißt,  daß  die  Jerusalemer  ihn 
freundlich  empfingen,  als  er  sich  ihrer  Stadt  nahte,  für  den  Unter- 
halt seines  Heeres  sorgten  und  ihm  bei  der  Belagerung  der  noch 
in  ägyptischen  Händen  befindlichen  Burg  halfen,  und  daß  er  sich 
dafür  erkenntlich  erwies  durch  allerlei  Gnaden  und  Hulden,  die  er 
gewährte  oder  bestätigte '').  Sie  konnten  glauben  einen  guten  Tausch 
gemacht  zu  haben.  Aber  die  Herrlichkeit  dauerte  nicht  lange. 
Die  Niederlage  von  Magnesia  knickte  die  Macht  der  Seleuciden  für 
immer.  Antiochus  mußte  Kleinasien  bis  zum  Taurus  abtreten  und 
sich  zur  Zahlung  einer  ungeheuren  Buße  verstehn.  Bei  dem  Ver- 
suche, sich  an  dem  Schatze  eines  reichen  elymäischen  Tempels  zu 
erholen,  kam  er  um  und  hinterließ  die  Abtragung  der  Kriegsschuld 
seinen  Erben.  Es  folgte  ihm  zuerst  Seleucus  IV.  (187 — 175),  dann 
dessen  Bruder  Antiochus  IV.  Epiphaues  (175  — 164^).  Die  Geld- 
not der  Könige  fiel  den  Untertanen  zur  Last,  und  auch  die  Juden 
mußten  ihr  Teil  tragen.  Die  Abgaben  waren  mannigfalt  und 
hoch*);  es  wurde  dafür  aber  gewöhnlich  eine  Aversionalsumme  ge- 


1)  Dan.  II,  14. 

2)  Ant.  12,  138ss.  Die  Urkunde  erklärt  auch  Niese  (2,  579)  für  äußerst 
verdächtig  nach  Form  und  Inhalt. 

^)  Vgl.  über  die  Chronologie  der  seleuc.  Könige  Niese  im  Hermes  1900. 
p.  491  SS.  und  Straßmaier  in  der  Ztschr.  für  Assyriologie  1893  p.  106  ss. 

*)  Angaben  darüber,  aber  schwerlich  authentische,  finden  sich  Ant.  12, 142. 
1  Macc.  10,  29-31.  11,34.35.  'Die  Kranzsteuer,  welche  Ant.  12,  142  neben 
der  Kopfsteuer  erwähnt  wird,  bestand  in  Ägypten  schon  unter  Ptolemäus  If.; 
vgl.  Wilcken,  griech.  Ostraka  1,  295  ss. 


j  Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  245 

zahlt,  d.  h.  die  Steuer  verpachtet.  Der  Kegel  nach  pachtete  sie 
der  Hohepriester,  doch  konnten  es  auch  andere  tun.  Es  war  ein 
Geschäft  dabei  zu  machen,  man  steigerte  sich  in  Angeboten  au 
die  Oberherrschaft  um  den  Zuschlag  zu  erhalten.  Daraus  ent- 
stand im  Schöße  der  jerusalemischen  Aristokratie  ein  Zwist,  der 
die  gefährlichsten  Folgen  hatte.  Simon  IL,  der  Sohn  des  Onias  IL  '), 
war  der  letzte  Hohepriester,  der  seine  Autorität  noch  vollkommen 
behauptete  (+  200).  Nach  seinem  Tode  wui'de  die  Stellung  der 
legitimen  hohenpriesterlichen  Familie  erschüttert,  namentlich  durch 
das  Emporstreben  eines  Seitenzweiges,  der  Tobiaden. 

Über  das  Aufkommen  dieser  Familie  teilt  Josephus  (Ant.  12, 
154  ss.)  folgenden  Bericht  mit.  Zur  Zeit  des  Ptolemäus  und  der 
Kleopatra  säumte  der  alte  Hohepriester  Onias  aus  Geiz  den  Tribut 
zu  zahlen.  Gegen  die  Drohung  von  Ptolemäus'  Abgesandten 
Athenion  war  er  taub  und  brachte  dadurch  die  Gemeinde  in  große 
Aufregung.  Er  hatte  aber  einen  Schwestersohn,  Joseph  den  Sohn 
des  Tobias.  Dieser  junge  Mann  legte  sich  ins  Mittel,  beruhigte 
den  Athenion  durch  ein  ansehnliches  Geschenk  und  sagte  ihm  bei 
seiner  Abreise,  er  werde  ihm  bald  selber  nachreisen  zum  Könige. 
Das  tat  er  denn  auch,  nachdem  er  zuvor  in  Samarien  etwa 
20000  Drachmen  sich  geliehen  hatte.  Zufällig  traf  er  unterwegs 
zusammen  mit  den  Vornehmen  der  syrischen  Städte,  die  auch 
nach  Alexandria  wollten;  denn  da  wurden  alle  Jahr  die  Steuern 
an  die  Vornehmen  einer  jeden  Stadt  verpachtet.  Sie  schätzten 
den  Juden  gering  und  waren  deshalb  nicht  wenig  erstaunt,  da  sie 
ihn  als  Gast  des  Hofes  sahen.  Er  war  durch  Athenion  empfohlen, 
und  hatte  den  Könic;   durch  sein  Wesen  und  seine  Reden  alsbald 


^)  Eine  Hohepriesterreihe  für  die  persische  Periode  steht  Neh.  12,  22;  sie 
endigt  mit  Jaddua,  dem  angeblichen  Zeitgenossen  Alexanders.  Auf  diesen 
läßt  Josephus  in  der  griechischen  Periode  folgen:  Onias  I.  Sohn  Jadduas  (11, 
347.  12,  226),  Simon  I.  Sohn  Onias'  (12,  43),  Eleazar  Bruder  Simons  (12,  44), 
Manasse  Oheim  Simons  (12,  157),  Onias  II.  Sohn  Simons  (12,  157)  usw.  Er 
schöpft  aber  seine  Kunde  aus  sehr  zweifelhaften  Quellen  (Willrich  p.  107 ss.), 
nur  den  Ezechias  des  Pseudohekatäus  (contra  Ap.  1,  186)  ordnet  er  nicht  mit  ein. 
Gut  bezeugt  ist  erst  Onias  IL  als  Vater  Simons  II.  Von  diesem  letzteren  ent- 
wirft der  Siracide  (Kap.  50)  eine  glänzende  Schildemng,  sein  Bild  steht  ihm 
lebendig  vor  Augen,  namentlich  wie  feierlich  er  die  Liturgie  am  großen  Ver- 
Sühnuugstage  vollzog,  und  er  schwelgt  in  der  Erinnerung  an  ihn,  da  gegen- 
wärtig die  Verhältnisse  in  der  Hierokratie  nicht  mehr  so  erfreulich  sind  (50, 
23.  24  Hebr.). 


246  Sechzehntes  Kapitel.  , 

für  sich  eiugenommen.  Bei  der  Versteigerung  der  Steuern  betrug 
die  Summe  der  Einzelgebote  der  syrischen  Vornehmen  8000  Talente. 
Joseph  bot  16000  für  das  Ganze  und  erhielt  den  Zuschlag,  nach- 
dem er  unverlegen  Ptolemäus  und  Kleopatra  selber  als  seine  Bürgen 
genannt  hatte.  Mit  500  in  Alexandria  aufgenommenen  Talenten 
und  mit  2000  Soldaten  ging  er  nun  an  die  Einziehung.  Die  Aska- 
lonier  wollten  nicht  zahlen,  da  tötete  er  zwanzig  vornehme  Steuer- 
verweigerer und  sandte  ihr  eingezogenes  Vermögen  an  den  Fiskus 
ein.  Ebenso  verfuhr  er  in  Scythopolis.  Das  gefiel  dem  Könige 
und  machte  Eindruck  auf  die  übrigen  Städte,  sie  gaben  was  Joseph 
forderte.  Er  erwarb  sich  ein  großes  Vermögen  und  deckte  sich 
den  Rücken  durch  fortwährende  Geschenke  an  Ptolemäus  und 
Kleopatra  und  an  das  Hofgesinde.  Er  behielt  seine  Stellung  22  Jahre 
lang,  bis  zu  seinem  Tode.  —  Neben  sieben  älteren  Söhnen  hatte 
Joseph  noch  einen  jungen,  von  der  Tochter  seines  Bruders  Solymius 
in  Alexandria,  die  dieser  ihm,  damit  er  nicht  sündige,  statt  einer 
Tänzerin  unterschob,  und  die  er  dann  ehelichte.  Er  hieß  Hyrcanus. 
Es  war  sein  Lieblingssohn,  den  Brüdern  überlegen  und  von  ihnen 
gehaßt.  Als  zur  Prinzengeburt  in  Alexandria  gratulirt  werden 
mußte,  war  der  Vater  zu  alt,  die  Brüder  aber  mochten  nicht, 
sondern  rieten  Hyrcanus  zu  schicken,  den  sie  bei  dieser  Gelegen- 
heit los  zu  werden  hofften.  Er  ging  hin,  versehen  mit  einer  An- 
weisung an  den  Verwalter  Arion,  bei  dem  der  Alte  3000  Talente 
liegen  hatte.  Er  verlangte  sofort  nach  seiner  Ankunft  in  Alexandria 
1000  Talente  von  ihm,  und  da  Arion  sie  nicht  zahlen  wollte,  legte 
er  ihn  in  Banden.  Vor  Ptolemäus  gefordert  verantwortete  er  sich 
so,  daß  er  dessen  Gunst  gewann.  Er  erhielt  nun  die  1000  Talente, 
stach  durch  seine  Geschenke  die  übrigen  syrischen  Gratulanten 
gänzlich  aus  und  brachte  auch  die  Höflinge  auf  seine  Seite,  welche 
die  Brüder  gegen  ihn  angestiftet  hatten.  Mit  Empfehlungsschreiben 
des  Königs  an  Vater  und  Brüder  und  an  die  Beamten  Cölesyriens 
versehen  kehrte  er  heim.  Die  Brüder,  die  ihn  mit  den  Waffen 
den  Weg  vertraten,  besiegte  er  und  tötete  ihrer  zwei.  Da  er  jedoch 
in  Jerusalem  sich  nicht  behaupten  konnte,  so  wandte  er  sich  über 
den  Jordan,  baute  nicht  weit  von  Hesbon  die  Burg  Tyrus,  und 
kämpfte  mit  den  Arabern.  Er  herrschte  über  diese  Gegend  sieben 
Jahre  lang,  die  ganze  Zeit  der  Regierung  des  Seleucus  JV.  Er 
hatte  zwar  in  Jerusalem  Anhänger,  die  auch  nach  dem  Tode  seines 
Vaters  Joseph    und  des   Hohenpriesters   Onias    für  ihn  Partei  er- 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  247 

griffeo,  aber  er  kehrte  doch  nicht  dahin  zurück,  da  die  herrschende 
Majorität  und  der  neue  Hohepriester  Simon  gegen  ihn  waren.  Aus 
Furcht,  daß  Antiochus  IV.  ihn  wegen  seiner  Taten  gegen  die  Araber 
strafen  würde,  legte  er  endlich  Hand  an  sich  selber.  Antiochus 
konfiszirte  sein  Vermögen. 

Es  sind  hier  zwei  Berichte  mit  einander  verbunden,  über 
Joseph  ben  Tobia  und  über  Hyrcanus,  seinen  Jüngsten.  Beide 
enthalten  manche  anekdotische  Züge,  die  in  dem  obigen  Referat 
übergangen  oder  nur  kurz  angedeutet  sind.  Die  Jugendgeschichte 
tritt  übermäßig  hervor  und  ähnelt  sich  sehr  bei  Vater  und  Sohn: 
beidemal  steht  der  unternehmende  Junge  dem  geizigen  Alten  gegen- 
über, beidemal  sticht  er  durch  sein  flottes  Auftreten  seine  Kon- 
kurrenten bei  Hof  aus.  Der  Anlaß,  weshalb  Joseph  an  den  Hof 
geht,  ist  doppelt  angegeben:  er  kommt  um  den  Zorn  des  Königs 
über  den  alten  Onias  zu  besänftigen,  und  er  kommt  zugleich  mit 
den  syrischen  Steuerpächtern.  Ganz  unmotivirt  ist  es,  daß  Hyr- 
canus als  Deputirter  nach  Alexandria  geht  und  als  Feind  seines 
Vaters  und  seiner  Brüder  wiederkommt,  daß  in  der  Zwischenzeit 
sich  in  Jerusalem  alles  verändert  hat.  Das  hängt  mit  der  unmög- 
lichen Chronologie  zusammen.  Alles  spielt  unter  Ptolemäus  V.; 
ein  alter  Interpolator  sucht  ihn  zwar  in  Ptolemäus  HI.  zu  ver- 
wandeln, aber  dieser  war  nicht  der  Gemahl  der  Kleopatra  und 
reichte  auch  nicht  bis  an  Seleucus  IV.  Unter  Ptolemäus  V.  und 
Kleopatra  (seit  193)  konnte  nun  Joseph  kein  ägyptischer  Steuer- 
pächter in  Cölesyrien  sein;  denn  damals  hatten  die  Seleuciden  und 
nicht  die  Ptolemäer  Cölesyrien  zu  besteuern;  die  Behauptung,  daß 
sich  die  beiden  Mächte  in  die  Einkünfte  des  Landes  geteilt  hätten, 
ist  eine  Verlegeuheitsauskunft  des  Josephus,  die  den  Voraussetzungen 
der  Erzählung  selber  nicht  gerecht  wird.  Da  Ptolemäus  V.  181 
starb,  so  ist  auch  zwischen  193  und  181  kein  Raum  für  die 
22  Jahre  Josephs,  noch  weniger  für  das  Aufwachsen  Hyrkans,  der, 
obwol  erst  einige  Jahre  nach  193  geboren,  doch  schon  182  bei 
dem  Geburtsfest  des  ägyptischen  Prinzen  als  Gratulant  bei  Hofe 
erscheint  und  sogar  zu  Anfang  der  Regierung  des  Seleucus  IV. ') 
d.  h.  187  in  die  Moabitis  entweicht,  an  stelle  seines  plötzlich  in 
kürzester  Frist  zum  Greise  gewordenen  Vaters.  Endlich  kann 
Unias  IL,    dessen    anfänglich    großer  Altersunterschied    zu    seinem 

')  die  nur  zu  7  Jahren  gerechnet  wird. 


248  Sechzehntes  Kapitel. 

Neffen  Joseph  sich  zum  Schlüsse  völlig  ausgeglichen  hat,  nach  193 
nicht  mehr  im  Amte  gewesen  sein;  schon  etwa  200  war  sein  Sohn 
Simon  Hoherpriester  und  ward  es  nicht  erst  unter  Seleucus  IV. 
Die  Erzählung  ist  also  im  ganzen  unhistorisch,  wenngleich  darum 
nicht  wertlos.  Nur  gegen  den  Schluß  wird  sie  historischer,  seit 
Seleucus  IV.  und  Antiochus  IV.  auftreten  und  über  das  Ende  des 
aus  der  Art  geschlagenen,  hochfliegenden  und  seiner  Sippe  ver- 
feindeten Hyrcanus  berichtet  wird.  Er  mußte  aus  Jerusalem  weichen, 
weil  er  gegen  die  dortige,  von  den  Seleuciden  bestätigte  Eegierung 
eine  Erhebung  versucht  hatte,  und  gründete  sich  eine  Tyrannis  im 
Ostjordanlande,  konnte  sich  dort  aber  gegen  Antiochus  IV.  nicht 
halten  und  endete  im  Selbstmord.  Im  2.  Makk.  3  ist  von  Geldern 
die  Rede,  welche  er  im  Tempel  von  Jerusalem  deponirt  hatte.  Er 
wird  dort  der  Sohn  des  Tobias,  nicht  des  Joseph  genannt.  Das 
kann  indessen  Abkürzung  sein.  Man  braucht  daran  nicht  zu  zweifeln, 
daß  Joseph  der  Sohn  des  Tobias  der  eigentliche  Begründer  der 
Familie  war.  Aber  dem  Wesen  nach  ist  der  Vater  Joseph  weiter 
nichts  als  der  Inbegriffseiner  Söhne,  die  ihm  zugeschriebenen  Taten 
sind  nur  der  Reflex  von  dem  Treiben  der  Tobiaden,  die  unter 
Seleucus  IV.  und  Antiochus  IV.  mittelst  des  Hebels  der  Steuerpacht 
die  alte  hohepriesterliche  Familie  aus  dem  Sattel  hoben,  speziell 
den  Hohenpriester  Onias,  und  zwar  nicht  den  zweiten,  sondern  den 
dritten. 

Über  diese  wichtigen  Vorgänge,  die  Vorgeschichte  des  makka- 
bäischen  Aufstandes,  schweigt  sich  das  erste  Makkabäerbuch  voll- 
kommen aus,  weil  sie  höchst  unerfreulich  waren.  Wir  erfahren 
darüber  näheres  nur  aus  dem  zweiten  Makkabäerbuch,  das  sich 
vielfach  als  unzuverlässig  zeigt  wo  man  es  kontrolliren  kann,  und 
also  auch  da  Mistrauen  verdient  wo  man  es  nicht  kontrolliren 
kann^).     Der  Bericht  lautet  wie  folgt. 

^)  Nieses  eingehende  Kritik  der  beiden  Makkabäerbücher  im  Hermes  1900 
p.  268  SS.  453  SS  hat  mich  zwar  vielfach  belehrt,  aber  nicht  überzeugt,  daß 
das  zweite  Buch  älter  sei  als  das  erste  und  den  Vorzug  verdiene.  Nur  das  räume 
ich  bereitwillig  ein,  daß  auch  das  erste  Buch  nicht  frei  von  Tendenz  ist  und 
namentlich  die  Kunst  des  Yerschweigens  übt,  daß  es  in  den  Zahlen  übertreibt 
und  nicht  bloß  den  Ausdruck,  sondern  auch  die  Sachen  nach  biblischen  Re- 
rainiscenzeu  stilisirt.  Man  darf  also  in  der  Tat  nicht  alles  durch  die  Brille 
des  ersten  Buches  ansehen.  Aber  es  bleibt  trotzdem  nichts  übrig,  als  es  zu 
gründe  zu  legen.  Auch  Procksch  (Theol.  Lit.blatt  1903  p.  457ss.)  bringt  mich 
nicht  von  dieser  Meinung  ab. 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  249 

Unter  Seleucus  IV.  geriet  ein  gewisser  Simon,  Inhaber  eines 
vornehmen  Tempelamtes,  mit  dem  Hohenpriester  Onias  über  die 
Agoranomie  in  Streit.  Er  mußte  nachgeben,  rächte  sich  aber  für 
seine  Niederlage  dadurch,  daß  er  den  geldbedürftigen  König  durch 
ApoUonius  Thrasäi,  den  Statthalter  von  (  olesyrieu,  auf  die  großen 
Summen  aufmerksam  machen  ließ,  die  ungenutzt  im  Tempel 
lägen.  Im  königlichen  Auftrage  erschien  nun  der  Reichskanzler 
Heliodor  in  Jerusalem,  um  einmal  nachzusehen.  Durch  die  Er- 
klärung des  Hohenpriesters,  das  Geld  bestehe  aus  Depositen,  be- 
sonders von  Witwen  und  AVaisen,  ließ  er  sich  nicht  irre  machen. 
Er  drang  in  das  Heiligtum  ein,  aber  ein  Wunder  bewirkte,  daß 
er  unverrichteter  Sache  abziehen  mußte.  Simon  war  erbost  und 
gab  den  Hohenpriester  für  den  Urheber  des  Wunders  aus,  er 
intriguirte  gegen  ihn  und  stiftete  einen  Zwist  in  der  heiligen  Stadt 
an,  der  sogar  zu  Blutvergießen  führte.  Da  nun  Onias  den  Schaden 
sah,  machte  er  sich  auf  zum  Könige,  nicht  um  sein  Volk  zu  ver- 
, klagen,  sondern  um  Frieden  und  Ordnung  herzustellen.  Als  aber 
Seleucus  starb  und  Antiochus  Epiphanes  zur  Regierung  kam, 
trachtete  Jason,  Onias  Bruder,  nach  dem  Hohenpriestertum.  Er 
bot  dem  neuen  Könige  B60  Talente,  wenn  er  ihn  in  das  Amt 
setze.  Er  bat  außerdem  um  das  Recht,  in  Jerusalem  ein  Gym- 
nasium und  Ephebeum  zu  errichten  und  den  Einwohnern  den  Titel 
Antiochener  zu  verleihen,  wofür  er  weitere  150  Talente  zu  zahlen 
sich  verpflichtete.  Er  erreichte  seinen  Wunsch  und  hielt  sein 
Versprechen.  Er  baute  ein  Gymnasium  unterhalb  der  Akra,  die 
Priester  verließen  den  Altar  um  den  Spielen  zuzuschauen.  Er 
sandte  sogar  300  Drachmen  zur  Bestreitung  eines  Festopfers  für 
den  tyrischen  Herkules,  die  jüdischen  Überbringer  schämten  sich 
freilich  und  bestimmten  das  Geld  zu  anderen  Zwecken.  Der  König 
befand  sich  damals  selber  zur  Feier  der  vierjährigen  Spiele  in 
Tyrus  und  kam  von  da  später  auch  nach  Jerusalem,  wo  ihm  ein 
glänzender  Empfang  bereitet  wurde;  es  war  die  Zeit  der  Thron- 
besteigung des  Ptolemäus  VI.  Philometor  (nach  dem  Tode  seiner 
Mutter  Kleopatra,  A.  17o).  Aber  nach  drei  Jahren  benutzte 
Menelaus,  der  Bruder  Simons,  das  Vertrauen,  das  Jason  ihm 
schenkte,  um  ihn  zu  stürzen.  In  seinem  Auftrage  nach  Antiochia 
gesandt  nahm  er  den  König  gegen  ihn  ein,  bot  300  Talente  mehr 
für  das  Hohepriestertum  und  w^urde  demgemäß  ernannt.  Nachdem 
er  bestallt  und  Jason    geflohen  war,    konnte  er   freilich  das  ver- 


250  Sechzehntes  Kapitel. 

sprochene  Geld  dem  Befehlshaber  der  syrischen  Besatzung  in  der 
Akra  nicht  zahlen,  der  den  Auftrag  hatte  es  in  Empfang  zu 
nehmen.  Darüber  nach  Antiochia  vorgefordert,  fand  er  den  König 
bei  seiner  Ankunft  abwesend  auf  einem  Feldzuge  gegen  die  Tarsier 
und  Malloten,  und  den  Andronikus  an  seiner  Stelle.  Diesen  wußte 
er  sich  durch  kostbare  Geschenke  günstig  zu  stimmen,  die  aus  dem 
Tempel  Jahves  stammten.  Die  Sache  kam  aber  dem  abgesetzten 
Hohenpriester  Onias  zu  Ohren,  er  begab  sich  nach  Daphne  und 
machte  von  da  aus  Lärm.  Aber  Andronikus  lockte  ihn  aus  dem 
Asyl  heraus  und  tötete  ihn  dann  treulos.  Dieser  Mord  erregte 
jedoch  allgemeinen  und  lauten  Unwillen,  nicht  bloß  bei  den  Juden. 
Antiochus  selber  war  in  der  Seele  betrübt,  als  er  aus  Cilicien 
zurückgekehrt  von  dem  Frevel  erfuhr;  er  jammerte  und  weinte 
und  ließ  sofort  den  Andronikus  am  Orte  der  Tat  hinrichten.  In- 
zwischen brach  in  Jerusalem  ein  Aufstand  aus  gegen  den  Stell- 
vertreter des  Menelaus,  seinen  Bruder  Lysimachus,  der  ihm  zu 
gefallen  fortgesetzt  den  Tempel  beraubte;  Lysimachus  wurde  er- 
schlagen. Drei  Abgeordnete  der  Gerusia  erschienen  infolgedessen 
vor  Antiochus  in  Tyrus,  um  die  Jerusalemer  zu  rechtfertigen  und 
die  Schuld  auf  Menelaus  zu  werfen,  der  durch  den  von  ihm  an- 
gestifteten Tempelraub  der  wahre  LMieber  des  Aufruhrs  war.  Die 
Sache  stand  schlimm  für  ihn;  da  half  ihm  das  Geld,  daß  er  frei- 
gesprochen und  seine  Ankläger  hingerichtet  wurden.  Antiochus 
zog  nun  von  Tyrus  -weiter  nach  Ägypten  (A.  170).  Es  verbreitete 
sich  das  Gerücht,  er  solle  tot  sein.  Daraufhin  brach  Jason  mit 
1000  Mann  aus  der  Ammanitis  hervor,  wohin  er  sich  geflüchtet 
hatte,  bemächtigte  sich  Jerusalems  und  trieb  Menelaus  in  die  Akra. 
Er  konnte  sich  aber  nicht  halten,  da  er  die  Jerusalemer  als  Feinde 
bebandelte,  floh  wieder  zurück  und  mußte  endlich  im  Elend  sterben. 
Als  Antiochus  den  Vorfall  hörte,  zog  er  voll  Zorn  aus  Ägypten 
heran,  nahm  Jerusaleai  mit  Gewalt  ein,  wütete  fürchterlich  in  der 
Stadt,  und  drang  auch  in  den  Tempel  ein,  wobei  er  Menelaus  zum 
Wegweiser  hatte. 

Was  in  diesem  Bericht  über  Onias  IIL  erzählt  wird,  ist  un- 
haltbar'). Onias  geht  nach  Antiochia,  um  seine  jerusalemischen 
Gegner  zu  verklagen :  eine  Handlungsweise,  wiegen  deren  der  Erzähler 
ihn  zu  entschuldigen  sucht  und  die  in  der  Tat  befremdlich  ist  bei 

1)  Vgl.  Gott.  Gel.  Anzeigen  1895  p.  9.51s. 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  251 

dem  rechtmäßigeu  Hohenpriester  im  Besitz  der  Macht.  Dann  ver- 
lieren wir  ihn  völlig  aus  den  Augen.  Es  wird  nicht  gesagt,  daß 
er  in  Antiochia  geblieben  oder  zurückgehalten  sei,  wir  hören  nur, 
daß  er  ebendaselbst  drei  Jahre  später  ein  blutiges  Ende  gefunden 
habe,  und  es  bleibt  uns  überlassen  zu  schließen,  daß  er  sich  also 
wol  bis  dahin  dort  aufgehalten  habe.  Seine  Ermordung  ist  ange- 
stiftet durch  Menelaus,  damit  sein  Tempelraub  nicht  ans  Licht 
komme:  es  ist  sehr  unwahrscheinlich,  daß  dieser  Tempelraub  ihm 
zu  einer  großen  Schuld  angerechnet  wäre,  zumal  die  Absicht  war, 
das  vom  Könige  geforderte  Geld  zu  beschaffen.  Der  Vollstrecker 
des  JMordes  ist  kein  geringerer  als  der  Reichsverweser  Andronikus, 
der  dann  selber  zur  Strafe  hingerichtet  wird,  weil  ganz  Antiochia 
über  die  Schandtat  entrüstet  ist  und  der  König  selber  demon- 
strativ darüber  jammert.  Alles  ganz  unbegreiflich.  Daniel  sagt 
nichts  von  der  Sache  ^),  auch  Josephus  weiß  nichts  davon.  Andro- 
nikus nun  gibt  uns  die  Handhabe  zur  Lösung  des  Knoten.  Diodor 
(30  7,2)  sagt  über  ihn:  Andronikus  ermordete  den  Sohn  des  Se- 
leucus  und  wurde  dann  selber  hingerichtet;  er  gab  sich  zu  einer 
gottlosen  Handlung  her  und  verfiel  dann  dem  gleichen  Schicksal 
wie  der,  gegen  den  er  gefrevelt  hatte;  denn  die  Großen  pflegen 
sich  durch  das  Unglück  der  Freunde  aus  eigener  Gefahr  zu  retten. 
Dazu  Johannes  Antiochenus  (frgm.  58):  Antiochus  mistraute  dem 
Sohne  seines  Bruders  Seleucus  und  brachte  ihn  um  durch  die  Hand 
Anderer,  die  er  dann  auch  der  Sicherheit  wegen  hinrichtete.  Dar- 
nach ist  es  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  Ermordung  des  Prinzen 
mit  ihren  Umständen  im  zweiten  Makkabäerbuch  auf  den  Hohen- 
priester übertragen  ist. ')  Für  den  Sohn  des  Seleucus  paßt  es,  daß 
der  Reichsverweser  persönlich  Hand  an  ihn  legt,  daß  der  König 
in  das  große  Lamento  um  ihn  von  ganzem  Gemüte  und  aus  allen 


1)  Das  jikkaret  ma.scliih  Dan.  9,26  bedeutet  iiacli  dem  üblichen  he- 
bräischen Sprachgebrauch:  das  Hohepriestertum  hört  auf,  nicht:  ein 
Hoherpriester  wird  ausgerottet.  Es  entspricht  als  Ende  dem  ad  maschih 
V.  25  als  Anfang  der  Periode,  wo  Jerusalem  unter  der  Herrschaft  der  legitimen 
Hohenpriester  steht,  wenngleich  im  Druck  der  Zeit.  Mit  dem  uegid  beritli 
Dan.  11,  22  ist  nicht  der  Hohepriester  gemeint.  Vgl.  Renan  4,  358,  Baethgen 
ZATW  1886  p.  280. 

2)  Den  Andronikus  2  Macc.  4,  34  fallen  zu  lassen  und  das  Übrige,  dem 
von  Andronikus  Getanen  merkwürdig  Analoge,  beizubehalten,  scheint  mir  eine 
vollkommen  unerlaubte  und  unnötige  Auskunft  zu  sein. 


252  S  echzehntes  Kapitel. 

Kräften  einstimmt,  und  daß  er  das  vornehme  Werkzeug  des  Mordes 
sofort  aus  dem  Wege  räumt.  Davon,  daß  er  Zuflucht  in  Daphue 
gesucht  habe,  sagt  das  Fragment  bei  Diodor  zwar  nichts  —  dafür 
ist  es  Fragment.  Onias,  der  Sohn  des  Simon,  ist  nicht  ermordet, 
sondern  im  Jahre  170  vor  Antiochus  nach  Ägypten  geflohen.  So 
berichtet  Josephus  im  Bellum,  das  mit  Recht  für  zuverlässiger  gilt 
als  die  Antiquitäten,  an  zwei  Stellen  (1,33.  7,423).  Auch  Theo- 
dorus  von  Mopsuestia  sagt  zu  Ps.  55,  daß  Onias  III.,  da  er  das  Übel 
in  Jerusalem  um  sich  greifen  sah,  von  dort  nach  Ägypten  geflohen  sei 
und  den  Tempel  von  Leontopolis  gebaut  habe;  er  korrigirt  in  diesem 
Punkte  die  Erzählung  von  2.  Macc.  3.  4,  der  er  sonst  getreulich  folgt  ^). 

Völlig  unbrauchbar  ist  darum  der  Bericht  von  2.  Macc.  3 — 5 
doch  nicht.  Die  Chronologie  ist  in  Ordnung,  die  Grundzüge  der 
Situation  und  auch  einzelne  Angaben  erscheinen  glaublich  und 
werden  durch  anderweitige  Daten,  die  allerdings  sehr  sparsam 
fließen,  bestätigt.  Unter  Vergleichung  dieser  anderweitigen  Daten 
kann  man  sich  etwa  folgende  Vorstellung  von  dem  Verlaufe  der 
Dinge  machen. 

In  Jerusalem  befeindeten  die  Tobiaden^)  den  Hohenpriester 
Onias  III.  und  suchten  ihn  zu  verdrängen.  Sie  schoben  seineu 
Bruder  Jason  gegen  ihn  vor,  da  ihnen  selber  die  oberste  Würde 
zunächst  noch  unzugänglich  erschien,  weil  sie  nicht  von  der  erb- 
berechtigten Familie  waren.  Jason  erbot  sich  zur  Steigerung  des 
jährlichen  Tributs  oder,  was  auf  eins  hinausläuft,  der  Steuerpacht, 
und  erhielt  die  Stelle.  Dies  geschah  im  Jahre  173,  als  nach  dem 
Tode  der  Kleopatra  das  Verhältnis  zwischen  Syrien  und  Ägypten 
sich  feindlich  zuspitzte.  Es  ist  darum  möglich,  daß  bei  Anti- 
ochus IV.  auch  die  Verdächtigung  gegen  Onias  ausgespielt  wurde, 
er  neige  zu  Ägypten,  wenngleich  Onias  in  Wirklichkeit  wol  erst 


1)  Baethgen  ZATW  1886  p.  274  ss.  Ebenso  heißt  au  zwei  Stellen  des 
Talmud  der  Gründer  des  Tempels  von  Leontopolis  Onias  Simonis  nnd  nicht 
Onias  Oniae;  s.  J.  Derenbourg,  Palestine  (1867)  p.  49.  52. 

2)  Daß  Simon  und  Menelaus  Tobiaden  sind,  geht  aus  Jos.  Bell.  1,  31  ss. 
hervor  und  aus  der  Legende  von  Joseph  ben  Tobia.  Mit  der  Erblichkeit  des 
Hohenpriestertums  scheint  es  in  der  Praxis  nicht  so  streng  gehalten  worden 
zu  sein  wie  in  der  Theorie;  Streitigkeiten  waren  dadurch  zu  keiner  Zeit  aus- 
geschlossen. Übrigens  wird  möglicherweise  den  Tobiaden  die  priesterliche  Ab- 
kunft mit  Unrecht  bestritten  (2  Macc.  3,4:  von  Benjamin  d.  h.  aus  Jerusalem, 
aber  nicht  von  Levi  und  Aharon). 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  253 

durch  das  Vorgehen  des  Antiochus  gegen  ihn  auf  die  Seite  seiner 
Feinde,  d.  h.  der  Ptolemäer,  gedrängt  wurde.  Jason  regierte  bis 
zum  Jahre  171').  Nachdem  er  den  Tobiaden  drei  Jahre  vor- 
gearbeitet hatte,  glaubten  sie  den  letzten  Schritt  wagen  zu  dürfen, 
um  an  das  Ziel  ihres  Ehrgeizes  zu  gelangen.  Menelaus,  ihr  da- 
maliges Haupt,  wußte  den  König  durch  das  alte  erprobte  Mittel 
zu  bewegen,  daß  er  ihn  in  das  höchste  Amt  einsetzte.  Als  aber 
Antiochus  auf  seinem  ersten  Zuge  in  Ägypten  war^)  und  das  Ge- 
rücht von  seinem  Tode  in  Jerusalem  Glauben  fand,  sah  sich  Mene- 
laus seiner  einzigen  Stütze  beraubt.  Unter  diesen  Umständen 
muß  Onias  noch  einmal  wieder  zurückgekommen  sein  und  sich 
der  obersten  Gewalt  bemächtigt  haben  ^).  Menelaus  floh  mit  den 
Tobiaden  zu  Antiochus,  und  dieser  zog  auf  dem  Rückwege  von 
Ägypten  über  Jerusalem,  um  ihn  wieder  einzusetzen*).  Gegen  ihn 
konnte  sich  Onias   natürlich  nicht  halten.     Er  ging  nach  Ägypten 


1)  2  Macc.  4,  23.  Nach  Dan.  9,  26.  27  hat  nicht  vor  171  die  Linie  der 
rechtmäßigen  Hohenpriester  aufgehört  und  die  Regierung  des  Menelaus  an- 
gefangen. In  2  Macc.  1,  7  ist  von  der  Absetzung  des  Jason  durch  Antiochus 
im  Jahre  171  die  Rede:  ßctatXei'a  kann  nichts  anderes  sein  als  die  Herrschaft 
(die  Ethnarchie),  und  iniaxt]  bedeutet  dann  so  viel  wie  i^ir.tatv.  Vgl.  zur 
Chronologie  noch  p.  26G  n.  3. 

^)  Der  Verfasser  des  Buches  Daniel,  ein  Zeitgenosse,  der  es  genau  wissen 
mußte,  kennt  nur  zwei  ägyptische  Feldzüge  des  Antiochus  (der  dritte  Dan. 
11,  40  ist  unerfüllte  Weissagung),  ebenso  der  des  ersten  Makkabäerbuchs. 
Damit  sollte  die  Frage,  ob  zwei  oder  drei  ägyptische  Feldzüge  anzunehmen 
sind,  billiger  Weise  für  entschieden  gelten. 

^)  In  diesem  Punkte  muß  man  die  Darstellung  von  2  Macc.  5  korrigireu, 
wenn  man  von  da  Anschluß  an  Bellum  1,  31  ss.  erreichen  will.  Vielleicht 
jedoch  ist  es  richtig,  daß  auch  Jason  damals  noch  einmal  in  Jerusalem  aufge- 
taucht ist.  So  gewinnt  man  Raum,  den  markantesten  und  schwerlich  hinter- 
gruudslosen  Zug  der  Bagosesgeschichte  (p.  192)  einzusetzen,  daß  nämlich  Jo- 
hannes seinen  Bruder  Jesus  im  Streit  an  heiliger  Stätte  erschlägt;  man  müßte 
dann  annehmen,  daß  Onias  den  Jason  aus  dem  Wege  geräumt  hat  um  selbst 
sein  Recht  geltend  zu  machen.  In  2  Macc.  5  fällt  es  auf,  daß  Jason  nicht 
vor  Antiochus  flieht,  sondern  einer  Volksbewegung  weicht:  diese  mag  den 
Onias  emporgetragen  haben.  Die  Irrfahrten  Jasons  2  M.  5,7—10  nehmen  sich 
romanhaft  aus. 

*)  Die  Situation  von  Bellum  1,31  ss.  entspricht  nicht  der  von  2  Macc.  3.4, 
sondern  der  von  2  Macc.  5  und  Ant.  12,  239  s.  Es  handelt  sich  nicht  um  die 
erste  Einsetzung,  sondern  iim  die  Restitution  des  Menelaus  und  der  Tobiaden. 
Menelaus,  von  einem  legitimistischen  Rivalen  vertrieben,  ist  zu  Antiochus  ge- 
flüchtet und  wird  von  diesem  retablirt. 


254  Sechzehntes  Kapitel. 

zum  Könige  Ptolemäus  VI.  Philometor,  begleitet  von  zahlreichen 
Emigranten,  die  zu  seiner  Partei  gehörten.  Er  ward  der  Gründer 
des  Tempels  von  Leontopolis  im  heliopolitanischen  Gau,  wo  sich 
an  illegitimer  Stätte  das  legitime  Hohepriestertum  fortpflanzte, 
während  an  der  legitimen  Stätte  von  Jerusalem  die  späteren 
Hohenpriester  samt  und  sonders  illegitim  waren ').  Die  Flucht 
des  Onias  und  das  Einrücken  des  Antiochus  in  Jerusalem  geschah 
im  Jahre  170'). 

Diese  Wirren  brachten  nun  zugleich  eine  schwere  innere 
Krisis  zum  Ausbruch.  Jason  bat  den  König  um  Erlaubnis,  grie- 
chische Einrichtungen  und  Sitten  in  Jerusalem  einführen  zu  dürfen; 
er  hätte  ihm  kein  willkommneres  Zugeständnis  machen  können. 
Der  Boden  war  vorbereitet,  viele  Juden  hielten  die  Zeit  für  ge- 
kommen, die  lästigen  und  barbarischen  Bräuche  der  Väter  auf- 
zugeben und  gebildet  zu  werden  wie  die  Griechen.  Jason  ist  nicht 
plötzlich  und  nicht  im  vollen  Widerspruch  zu  der  öflentlichen 
Meinung  von  den  Traditionen  seiner  Familie  abgefallen.  Das  Juden- 
tum war  vor  der  makkabäischen  Periode  durchaus  nicht  so  streng 
und  ausschließlich  wie  seitdem;  erst  in  Folge  der  schlimmen  Er- 
fahrungen jener  Zeit  trat  eine  starke  Reaktion  an.  Man  darf  sich 
also  nicht  vorstellen,  die  legitime  Hohepriesterfamilie  und  ebenso 
die  Menge  der  Jerusalemer  sei  im  allgemeinen  „altgläubig"  und  dem 


1)  Auf  die  Kolonie  des  Onias  bezieht  sich  Isa.  19, 18—25.  In  v.  23.  24 
ist  von  Ptolemäern  und  Seleuciden  und  von  der  Ausgleichung  des  Gegen- 
satzes zwischen  Juden  und  Heiden  in  der  Zeit  des  Hellenisnnis  die  Rede,  in 
V.  19  vom  Tempel  in  Leontopolis.  Dort  befindet  sich  sowol  die  Masseba  als 
der  Altar;  beides  ist  nur  wegen  des  Parallelismus  der  Glieder  aus  einander 
gezogen.  Die  fünf  jüdischen  Gemeinden  unterscheiden  sich  dadurch  von  den 
übrigen,  daß  sie  nicht  griechisch,  sondern  kanaanäisch  d.  h.  aramäisch  i-eden 
und  also  erst  vor  kurzer  Zeit  die  Heimat  verlassen  haben.  Eine  wird  genannt, 
es  ist  Heliupolis,  nicht  Leontopolis,  wo  nur  der  Tempel  stand.  Bemerkenswert 
ist,  daß  die  Stelle  nicht  erst  in  die  Septuaginta,  sondern  in  den  palästinischen 
hebräischen  Text  eingeschoben  ist.  Es  ergibt  sich  daraus,  daß  es  Literaten 
in  Jerusalem  gegeben  hat,  die  sich  sehr  freundschaftlich  zu  Leontopolis  stell- 
ten; was  nicht  Wunder  nehmen  kann,  da  der  Vorzug  des  Kultus  von  Jerusa- 
lem damals  keineswegs  so  ausgemacht  war.  Der  Oniastempel  wird  beschrieben 
Bell.  7,  426  SS. 

^)  Ins  Jahr  170  fiel  der  erste  ägyptische  Zug  des  Antiochus  und  in  dem 
selben  Jahre  erfolgte  nach  Bellum  7,  438  (lies  243  statt  343)  die  Gründung  des 
Oniastempels,  die  mit  der  Flucht  des  Onias  gleichgesetzt  wird. 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  255 

Griechentum  feindlicli  gewesen.  Die  Jerusalemer  waren  anfangs 
gleichgiltig  und  wurden  erst  später  die  Größe  der  Gefahr  gewahr;  die 
Frommen  waren  durchaus  in  der  Minderheit,  eine  unbedeutende  Sekte. 
Die  Hohenpriester  betrachteten  ihr  heiliges  Amt  nur  als  ein  Piedestal 
der  weltlichen  Herrschaft;  nur  so  erklärt  sich  das  Aufkommen 
der  Tobiaden.  Alcimus  stammte  aus  der  legitimen  Familie;  seine 
Antecedentien  verbanden  ihn  aber  mit  den  Abtrünnigen.  Onias 
selber  war  gewiß  nicht  ursprünglich  dem  Hellenismus  abge- 
neigt; er  kämpfte  nicht  um  Prinzipien,  sondern  um  die  Macht,  und 
nach  dieser  Rücksicht  nahm  und  wechselte  er  seine  Stellung. 
Wenn  er  den  Tempel  von  Leontopolis  gebaut  hat,  so  ist  er  doch 
nicht  gerade  als  altgläubig  zu  bezeichnen.  Der  Siracide  scheint 
seinen  frommen  Vater  Simon  als  den  letzten  würdigen  Vertreter 
des  Amts  zu  betrachten.  In  der  Frömmigkeit  unterschieden  sich 
die  Söhne  Sadoks'),  die  nicht  umsonst  den  Sadducäern  den  Namen 
gegeben  haben  werden,  von  den  Tobiaden  zu  anfang  schwerlich; 
nur  ihres  Blutes  wegen  waren  sie  —  auch  Jason  und  Alcimus  — 
legitime,  und  jene  illegitime  Nachfolger  Aharons. 

Man  muß  hinzunehmen,  daß  der  Hellenismus,  so  wie  er  auf 
friedlichem  Wege  durch  Jason  Eingang  fand,  kein  Abfall  von  der 
Religion  sein  sollte,  sondern  nur  eine  Abstreifung  ihrer  sonderbaren 
und  stachlichen  Außenseite.  Der  gesetzliche  Kultus  im  Tempel 
zu  Jerusalem  wurde  in  hergebrachter  Weise  fortgesetzt.  Bezeich- 
nend sind  die  Namensänderungen:  Jason  für  Jesus,  Alcimus  für 
Eljakim,  Menelaus  für  Menahem  oder  Manasse.  In  diesem  Stil 
war  anfangs  das  Ganze  gedacht  und  gehalten,  so  konnte  auch  Zeus 
für  Jahve  gesagt  werden.  Man  kann  sich  das  emanzipirte  Jung- 
jerusalem vorstellen:  Turco  fino,  mangia  porco  e  beve  vino.  Der 
Gipfel  der  alamodischen  Bildung  war  das  nackte  Turnen,  bei  dem 
sich  die  Beteiligten  nur  ihrer  Beschneidung  schämten. 

Den  Juden  wurden  erst  die  Augen  geöffnet,  als  Antiochus  IV. 
auf  dem  von  der  jüdischen  Aristokratie  selbst  angebahnten  Wege 
gewaltsam  vorging.  Er  kam  170  mit  einer  starken  Schaar  nach 
Jerusalem,  um  Menelaus  wieder  einzusetzen  und  statt  des  ent- 
ronnenen Schuldigen  die  Stadt  zu  bestrafen,  die  allerdings  schwer- 
lich unschuldig  war.  Er  betrat  den  Tempel,  raubte  die  deponirten 
Gelder  und  die  kostbaren  Geräte,  den  goldenen  Altar,  Leuchter  und 


0  Der  Name  findet  sich  noch  im  hebr.  Sirach  51,  12  add. 


256  Sechzehntes  Kapitel. 

Tisch,  und  zog  mit  der  Beute  ab.  Blut  vergoß  er  nicht,  er  ent- 
weihte nur  das  Heiligtum  und  führte  lästerliche  Reden '). 

Schlimmer  erging  es  der  Stadt  nach  zwei  Jahren,  nachdem 
Antiochus  durch  Popilius  Länas  von  seinem  zweiten  ägyptischen 
Feldzuge  heimgeschickt  war  (168).  Wodurch  ihn  die  Juden  da- 
mals gereizt  hatten,  wird  nirgends  gesagt;  ihre  Entrüstung  über 
seinen  Einbruch  in  den  Tempel,  ihr  Zorn  gegen  ihn  und  die 
Tobiaden  muß  sich  wol  unzweideutig  kund  gegeben  haben.  Er 
kam  indessen  nicht  selber,  sondern  schickte  einen  Offizier  mit 
einer  beträchtlichen  Ileeresmacht.  Dieser  zog  zuerst  friedlich  in 
Jerusalem  ein,  fiel  dann  aber  unversehens  über  die  Stadt  her  und 
mordete,  plünderte  und  sengte  darin.  Die  Mauern  und  zum  Teil 
auch  die  Häuser  der  Stadt  wurden  niedergerissen,  ihre  Kinder 
flohen  teils  in  die  Wüste,  teils  nach  Ägypten,  nur  die  Abtrünnigen 
blieben  und  heidnische  Fremde  siedelten  sich  an.  Die  Stadt  Davids 
dagegen  wurde  zu  einer  starken  Festung,  der  Akra,  umgebaut^)  und 
mit  einer  zahlreichen  Besatzung  belegt,  um  als  eine  Art  Zwing- 
burg zu  dienen.  Wir  haben  hier  ein  Beispiel  des  nicht  ungewöhn- 
lichen Verfahrens  der  Kolonisirung  eines  störrischen  Gemeinwesens. 

Nach  solchen  Vorbereitungen  folgte  der  Hauptschlag.  Ein 
schriftlicher  Befehl    von  Antiochia  wurde  in  Judäa  verbreitet,  daß 


1)  *I)ovoxTovfa  1  Macc.  1,  24  ist  nicht  Mord,  sondern  Schändung;  vgl.  Sep- 
tuaginta  Num.  35,  33  Ps.  105,  37  und  Schleußners  Lexikon.  Es  wird  damit 
das  Vorhergehende  zum  Schluß  zusammengefaßt  und  beurteilt,  nicht  nach- 
träglich das  Allerschlimmste  noch  neu  hinzufügt.  Die  Angabe  2  Macc.  5,  12  ss. 
ist  falsch;  auch  in  Dan.  11,  28  steht  nichts  von  Blutvergießen.  Vgl.  noch 
contra  Ap.  2,  79-97.     Diodor  84,  1. 

2)  Die  Akra  lag  auf  dem  östlichen  Bergrücken  von  Jerusalem,  südlich 
vom  Tempel,  von  dem  sie  durch  eine  Schlucht  getrennt  war,  die  später  aus- 
gefüllt wurde  (Bell.  5,  139.  A  13,  215).  Die  Perser  hatten  keine  Besatzung  in 
Jerusalem,  wenigstens  nicht  zur  Zeit  von  Ezra  und  Nehemia.  Nach  Sir.  50  hat 
der  Hohepriester  Simon  II,  wahrscheinlich  gegen  Ende  der  ptolem.  Herrschaft 
in  Palästina,  den  Tempel  befestigt,  zum  Schutz  gegen  Feinde;  das  konnte  er 
nicht,  wenn  damals  in  der  Zitadelle  südlich  vom  Tempel  fremdes  Militär  lag. 
Dadurch  wird  die  Angabe  Ant.  12,  138  zweifelhaft,  daß  Antiochus  III.  die 
Ägypter  aus  der  Akra  vertrieben  habe.  Demnächst  wird  die  Akra  und  eine 
syrische  Besatzung  darin  erwähnt  2  Macc.  4,  12.  27,  5,  5,  noch  vor  dem  Aus- 
bruch der  Religionsverfolgung.  Dagegen  lautet  1  Macc.  1,  33  so,  als  gehöre 
der  Umbau  der  alten  Davidsburg  ziir  Akra  zu  den  Feindschaftsmaflregeln  des 
Antiochus  IV.  gegen  die  Juden:  xal  ifivtxo  aütot;  ei?  axpav.  Ebenso  1  Macc. 
14,  36,  wo     ot  inoir^aay  Übersetzungsfehler  für  tjv  iTroc'rjaav  ist. 


Die  Zeit  Alexanders  und  seiner  Nachfolger.  257 

der  bisherige  Kultus  aufzuhören  habe.  Sabbat  und  Feste  sollten 
nicht  mehr  gefeiert,  die  Beschneidung  nicht  mehr  vollzogen,  die 
heiligen  Bücher  ausgeliefert  werden.  Altäre  und  Bilder  wurden 
in  den  Landstädten  errichtet  und  die  Juden  dort  unreine  Opfer  zu 
bringen  gezwungen:  besondere  Aufseher  waren  bestellt,  um  über 
den  Vollzug  der  Befehle  zu  wachen.  Der  gesetzliche  Dienst  in 
Jerusalem  hörte  auf,  der  Tempel  wurde  teilweise  zerstört  und  der 
Altar  Jahves  zum  Piedestal  eines  Altars  für  Zeus  Olympius  ge- 
macht. ")  Dieser  heidnische  Altar  soll  am  25  Kislev  (Dezember)  ein- 
geweiht sein;  es  war  der  Greuel  des  Entsetzens  an  heiliger  Stätte. 
Ob  Menelaus  jetzt  Zeuspriester  wurde,  erfahren  wir  nicht;  als 
Ethnarch  scheint  er  eTst  durch  Judas  Makkabäus  beseitigt  zu  sein, 
aber  auch  dann  seine  Ansprüche  auf  die  Stelle  nicht  aufgegeben 
zu  haben. 

Das  Verhalten  des  Königs  Antiochus  Epiphanes  war  nicht  so 
unmotivirt,  wie  es  namentlich  im  ersten  Makkabäerbuch  erscheint. 
Der  Streit  der  jüdischen  Aristokratie  gab  ihm  Anlaß  und  Hand- 
habe, um  in  die  inneren  Angelegenheiten  der  Gemeinde  einzu- 
greifen. Dabei  machte  es  sich  von  selbst,  daß  die  von  ihm  des 
Hohepriestertums  beraubte  Familie  ihre  Sympathie  den  Ägyptern 
zuwandte,  während  die  Tobiaden  sich  mit  ihm  identifizirten  und 
er  sich  mit  ihnen.  Es  machte  sich  ebenfalls  von  selbst,  daß  dann 
der  Gegensatz  zwischen  der  ägyptischen  und  der  syrischen  Partei 
in  Jerusalem  sich  verquickte  mit  dem  Gegensatz  zwischen  der  alt- 
väterischen  und  der  hellenistischen.  Früher  hatten  sich  die  Juden 
aus  freien  Stücken  dem  Hellenismus  zugewandt,  so  lange  sie  noch 
der  syrischen  Herrschaft  ergeben  waren;  daß  sie  hernach  nun  doch 
zäh  an  ihrem  Gesetz  festhielten,  erschien  als  eine  Form  ihrer 
politischen  Widersetzlichkeit.  Allerdings  wäre  der  weltgeschicht- 
liche Zusammenstoß  vielleicht  auch  ohnehin  erfolgt,  er  hatte  in 
der  Tat  noch  tiefere  Gründe.  Der  König  wollte,  daß  alle  Völker 
seines  Reiches  ihre  besonderen  Religionen  und  Götter  aufgäben^); 
d.  h.  er  wünschte  sein  buntscheckiges  Reich  nach  Kräften  zu  helleni- 
siren.  Die  Aramäer  waren  ihm  gefügig,  das  Heidentum  vertrug 
sich  mit  dem  Hellenismus,  es  konnte  sich  in  dessen  Formen  hüllen 


0  Zu  2  Macc.  6,  2  vgl.  Willrich  Judaica  (1900)  p.  139  s. 
2)  Dan.  11,  36.  1  Macc.  1,  41  ss.  2,  19.  3,  29. 
We  11  haus en,  Isr.  Geschichte.    5.  Aufl.  17 


258  Siebzehntes  Kapitel. 

und  doch  bleiben  was  es  war ').  Anders  verhielten  sich  die  Juden.' 
Es  kennzeichnet  den  Wert  und  das  Wesen  ihrer  Religion,  daß  sie 
allein  dem  König  widerstanden,  daß  er  nur  gegen  sie  Gewalt 
brauchte  und  doch  nichts  ausrichtete.  Ihm  ist  es  aber  nicht  als 
Schuld  anzurechnen,  daß  er  den  Unterschied  zwischen  Juden  und 
Heiden,  zwischen  Jahve  und  Zeus  nicht  erkannte  und  anerkannte. 
Vor  allem  konnte  er  nicht  wissen,  daß  er  für  eine  verlorene  Sache 
kämpfte. 


Siebzehntes  Kapitel. 

Judas  Makkabäus  und  seine  Brüder. 

1.  Die  Juden  waren  doch  noch  nicht  reif  für  den  Hellenis- 
mus. Er  fand  nur  in  den  oberen  Schichten  der  Gesellschaft 
Boden,  nicht  bei  dem  Kern  der  Nation  und  nicht  außerhalb 
Jerusalems.  Viele  fügten  sich  allerdings  der  Gewalt,  aus  Furcht 
und  gegen  ihr  Gewissen.  Andere  aber  boten  der  Verfolgung  Trotz, 
wenn  sie  sich  ihr  nicht  durch  die  Flucht  entziehen  konnten,  und 
starben  lieber,  als  daß  sie  den  Gott  ihrer  Väter  verleugneten  und 
seinen  Dienst  verließen.  Voran  in  der  Treue  gingen  die  Frommen, 
die  jetzt  unter  dem  Namen  der  Asidäer  als  ein  fester  Verein  er- 
scheinen, und  mit  ihnen  die  Lehrer  des  Gesetzes,  die  sich  auch 
als  Täter  bewährten^).  Aus  diesem  Kreise  ist  das  Buch  Daniel 
hervorgegangen,  eine  ]\Iahn-  und  Trostschrift  für  die  Verfolgten, 
bestimmt  sie  zu  stärken  und  aufzurichten  durch  die  Gewißheit, 
daß  binnen  kurzem  der  überspannte  Bogen  brechen  werde.  Nur 
eine  kleine  Frist  wird  es  noch  dauern;  dann  ist  die  letzte  und 
schlimmste  Heptade  von  den  siebzig  Heptaden  um,  auf  die  Jeremias 
das  Gefängnis  Sions   bestimmt  hat^).     Dann   wendet  sich  die  Zeit 


^)  Hellenismus  und  Aramaismus  schien  gleichbedeutend;  was  Paulus 
Hellenen  nennt,  nennen  die  Juden  und  die  christlichen  Syrer  Aramäer 
(=  Heiden).     In  Isa.  9,  12.  Sept.  heißen  die  Philister  "EXXtjvei;,  statt  dXXocpuXot. 

2)  1  Macc.  2,  42.     Dan.  11,  32  ss.  12,  3. 

^)  Die  erste  Hälfte  der  letzten  Jahrwoche  ist  bereits  verflossen,  sie  läuft 
bis  zur  Errichtung  des  heidnischen  Altars  in  Jerusalem  Dezemb.  168.  »Zwischen 
1G7  und  1G4  schreibt  also  der  Verfasser.  In  Kap.  11  ist  v.  40  der  Punkt, 
wo    die    Vergangeuheit    in    die    Zukunft,   die  Zeit  des  Endes,    übergeht.     An- 


Judas  Makkabäus  und  seine  Brüder.  259 

und  die  Dulder  erben  das  Reich;  cauch  die  Märtyrer  stehn  aus  dem 
Grabe  auf  und  nehmen  teil  an  der  Herrlichkeit.  Antiochus  ist 
der  Antichrist,  er  bezeichnet  den  Höhepunkt  der  widergöttlichen 
Entwicklung  der  Weltgeschichte.  Darauf  erfolgt  der  Umschlag, 
der  Übergang  der  Herrschaft  an  den  Messias  d.  i.  an  Israel.  Die 
Tiefe  ihres  Elends  bürgt  diesen  Juden  dafür,  daß  nun  ihre  Zeit 
gekommen  sei;  die  AVut  ihrer  Feinde  kündigt  ihnen  die  bevor- 
stehende Peripetie  an, 

Sie  hielten  es  indessen  nicht  alle  für  ihre  Pflicht,  sich  willig 
abschlachten  zu  lassen,  bis  das  Reich  des  Himmels  aus  den  Wolken 
auf  die  Erde  herabkäme.  Es  bildeten  sich  Haufen  von  Flücht- 
lingen, die  sich  nötigenfalls  gegen  die  Verfolger  zur  Wehre  setzten. 
Es  fehlte  ihnen  aber  die  Rücksichtslosigkeit,  die  zum  Kriege  ge- 
hört; wenn  sie  am  Sabbat  angegriffen  wurden,  so  rührten  sie 
keinen  Finger  um  sich  zu  verteidigen.  Es  fehlte  ihnen  die  ent- 
schlossene Führung.  Die  Aristokratie  versagte  gänzlich;  auch  das 
alte  hohepriesterliche  Haus  entzog  sich  seiner  Pflicht;  die  letzten 
drei  Vertreter,  die  uns  bekannt  sind,  Onias  HL,  Jason  und  Alcimus, 
hatten  nur  ihr  dynastisches  Interesse  im  Auge.  Da  erweckte 
ihnen  der  Herr  noch  einmal  einen  Richter  und  Retter,  wie  in  der 
Vorzeit.  Die  Tage  der  Vergangenheit  kehrten  wieder,  die  Religion 
erzeugte  den  Patriotismus.  Anfangs  griff"en  die  Juden  lediglich  für 
das  Gesetz  zum  Schwert.  Aber  der  einmal  aufgenommene  Kampf 
führte  dazu,  daß  sie  sich  von  der  Fremdherrschaft  befreiten  und 
wieder  zu  einem  Volke  und  zu  einem  Reiche  erhoben.  Die 
messianische  Weissagung  schien  sich  durch  ihre  Hand  zu  ver- 
wirklichen. 

In  Modein,  einem  Orte  auf  dem  Gebirge  zwischen  Jerusalem 
und  dem  Meere,  wohnte  ein  Priester  Mattathias,  der  Sohn  des 
Johannes,  ein  schon  betagter  Mann.  Er  war  das  Haupt  einer 
Familie,  die  den  Namen  der  Hasmonäer  führte,  und  der  angesehenste 
Mann    des  Ortes ').      Da    nun    die    syrischen   Soldaten    auch    nach 


tiochus  wird  ganz  Ägypten  nebst  Dependenzieu  erobern,  aber  auf  ein  plötz- 
liches Gerücht  hin  voller  Zorn  nach  Palästina  zurückgehn  und  zwischen  Jeru- 
salem und  dem  Meere  seinen  Untergang  finden.  Von  dem  östlichen  Feldzuge 
und  dem  wirklichen  Ende  des  Antiochus  hat  der  Verfasser  nichts  gewußt, 
also  noch  vor  165  geschrieben. 

^)  Niese  (Hermes  1900  p.  456  ss.)  wird  darin  Recht  haben,  daß  der  Alte 
im  1  Makk.  über  Gebühr  vorgeschoben  wird,   um  dem  Judas  die  Priorität  der 

17* 


260  Sieb'zehntes  Kapitel. 

TModein  kamen  und  dort  einen  Altar  errichteten,  um  von  den 
Einwohnern  eine  Probe  ihres  Abfalls  vom  Gesetz  zu  verlangen, 
forderten  sie  zuerst  ihn  auf,  mit  gutem  Beispiel  voranzugehn, 
vielleicht  gar  als  Priester  bei  dem  illegitimen  Opfer  zu  fungiren. 
Aber  er  weigerte  sich,  und  als  vor  seinen  Augen  ein  anderer 
das  Opfer  zu  bringen  sich  anschickte,  erschlug  er  ihn  samt  dem 
Hauptmann  der  Schar  und  zerstörte  den  Altar,  Darauf  war 
seines  Bleibens  in  Modein  nicht  länger.  Er  sammelte  seine  Ver- 
wandten und  Freunde  und  floh  mit  ihnen  ins  Gebirge.  Grade 
damals  war  es  vorgekommen,  daß  gegen  tausend  jüdische  Flücht- 
linge sich  an  einem  Sabbat  ohne  Gegenwehr  hatten  niedermetzeln 
lassen.  Die  Leute  von  Modein  beschlossen,  es  anders  zu  machen, 
sich  auch  am  Sabbat  zu  verteidigen  und  überhaupt  Gewalt  gegen 
Gewalt  zu  setzen.  Sie  zogen  durch  das  Land,  zerstörten  die  Altäre, 
beschnitten  die  Kinder,  verfolgten  die  Heiden  und  die  heidnisch 
Gesinnten.  Von  den  Juden  des  flachen  Landes  ging  der  Kampf 
aus.  Daß  der  Verein  der  Asidäer  sich  ihnen  anschloß  und  unter 
ihren  Schutz  begab,  war  ein  nur  moralisch  wertvoller  Zuwachs. 

Mattathias    starb    schon   166')    und    wurde    im  Grabe    seiner 
Väter  zu  Modein    bestattet.     Der  wahre  Führer  war  schon  bisher 


Führerschaft  zu  rauben  und  dadurch  das  Recht  Simons  auf  das  Erbe  seines 
Vaters  zu  verstärken,  (Vgl.  meine  Skizzen  und  Vorarbeiten  VI  p.  177  n.  1.) 
Aber  darüber  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  Mattathias  der  Vater  Simons  und 
seiner  Brüder  gewesen  ist.  Auch  das  braucht  nicht  bestritten  zu  werden,  daß 
er  von  priesterlicher  Herkunft  war,  nur  nicht  von  dem  jerus.  Geschlecht,  welches 
die  Hohenpriester  stellte.  Woher  die  Familie  den  Namen  der  Hasmonäer  hat,  der 
in  den  Makkabäerbüchern  freilich  gar  nicht  vorkommt  (14,  29),  ist  unklar.  Er 
ist  abgeleitet  von  Hasmon.  So  heißt  eine  Stadt  im  alten  Juda,  die  aber  da- 
mals längst  nicht  mehr  zu  Judäa  gehörte. 

1)  Eigentlich  167/66  =  146  Seleuc.  Das.  Seleucidenjahr  beginnt  auch  im 
ersten  Makkabäerbuch  im  Herbst.  Petavius  will  es  dort  im  Frühling  anfangen 
lassen,  um  auf  diese  Weise  eine  Differenz  mit  dem  zweiten  Makkabäerbuch 
auszugleichen,  und  seine  Meinung  ist  die  herrschende  geworden.  Aber  der 
Hauptgrund  dafür,  die  Zählung  der  Monate  nach  Ostern,  ist  schon  von  J.  D. 
Michaelis  zu  1  Macc.  10,  21  bündig  widerlegt.  Michaelis  selber  hat  dann  frei- 
lich auf  die  Schwierigkeit  aufmerksam  gemacht,  daß  Balas  im  Jahr  160  Sei. 
König  wird  imd  Jonathan  zum  Hohenpriester  macht,  dieser  aber  schon  im 
Herbst  160  antritt,  das  wäre  im  Anfang  des  selben  Jahres,  wenn  es  im  Herbst 
begönne.  Indessen  zur  Beseitigung  dieser  kleinen  Schwierigkeit  darf  man  nicht 
die  viel  größere  schaffen,  daß  es  den  Juden,  die  sonst  das  bürgerliche  Jahr 
immer  vom  Herbst  an  rechneten,  plötzlich  eingefallen  sei,   das  Seleucidenjahr, 


Judas  Makkabäus  und  seine  Brüder.  261' 

sein  dritter  Sohn  gewesen,  Judas  Makkabäus,  ein  begeisterter  und 
begeisternder  Mann,  der  eigentliche  Held  der  Zeit,  von  dem  der 
Aufstand  und  die  Aufständischen  mit  Recht  den  Namen  bekommen 
haben.')  Er  setzte  den  Kampf  zunächst  auf  die  alte  Weise  fort, 
in  überraschenden  Streifzügen  gegen  den  Götzendienst  und  die 
Götzendiener;  seine  Erfolge  wuchsen,  seine  Anhänger  mehrten  sich, 
von  allen  Seiten  strömten  sie  ihm  zu.  Die  Streifzüge  waren  zu- 
gleich Plünderungszüge,  sie  mußten  die  Mittel  für  den  Unterhalt 
der  Aufständischen  liefern,  und  dadurch  wHirden  auch  solche  angelockt, 
die  mehr  die  Raublust  als  der  Eifer  trieb.  Wer  die  AVaffen  zu 
führen  verstand,  war  naturgemäß  im  Heer  willkommener  als  wer 
nur  das  Gesetz  auswendig  konnte;  aber  doch  w^ar  die  Religion  die 
Fahne  und  wurde  als  solche  geflissentlich  hochgehalten.  Die 
syrischen  Behörden,  die  dem  Spiel  lang  genug  zugeschaut  hatten, 
fanden  endlich  für  gut  einzuschreiten.  Zuerst  rückte  ApoUonius,  • 
der  Landvogt  von  Judäa  und  Samarien,  gegen  die  Empörer  ins 
Feld.  Er  erlitt  eine  Niederlage  und  fiel,  Judas  selber  erlegte  ihn 
und  führte  seitdem  sein  Schwert.  Nach  ihm  kam  Seron,  der 
Strateg  von  Cölesyrien;  er  wurde  ebenfalls  geschlagen,  am  Paß 
von  Bethhoron.  Darauf  sandte  Lysias,  dem  Autiochus  vor  seiner 
Partherfahrt  die  Verwaltung  von  ganz  Syrien  und  die  Pflege  seines 
unmündigen  Sohnes  anvertraut  hatte,  eine  beträchtliche  Truppen- 
macht zur  Unterstützung  des  Gorgias,  der  in  Philisthäa  kommandirte. 
Die  makkabäischen  Streiter  sammelten  sich  in  Mispha.  Diese 
Stätte  vertrat  ihnen  Jerusalem,  das  in  der  Heiden  Gewalt  war; 
dort  hielten  sie  einen  Bettag  in  Sack  und  Asche,  dort  brachten  sie 
auch  die  fälligen  Erstlinge  und  Zehuten  dar  und  schüren  die  Naziräer, 


das  sonst  ebenfalls  überall  im  Herbst  anging,  ausnahmsweise  einmal  mit  Ostern 
anzufangen.  Der  Umstand,  daß  nicht  schon  IM.  7, 43.  49,  sondern  erst 
l.M.  9,  3  und  zwar  beim,  ersten  Monat  der  Jahreswechsel  (152  Sei.)  bemerkt 
wird,  ist  kein  Beweis  dafür,  daß  derselbe  mit  dem  ersten  Monat,  d.  h.  mit 
Ostern  angenommen  werde  —  ich  halte  es  für  möglich,  daß  schon  1  M. 
7,43  in  das  Jahr  152  fällt,  für  wahrscheinlicher  aber,  daß  zwischen  den  beiden 
Terminen  (7,43  und  9,3)  dreizehn  Monate  liegen.  In  1  Macc.  1,  10  wird 
der  Antritt  des  Epiphanes  auf  das  Jahr  137  Sei.  gesetzt,  was  nur  dann 
richtig  ist,  wenn  das  Jahr  bis  zum  Herbst  175  sich  erstreckt.  Vgl.  Mese 
a.  0.  p.  507. 

')  „Er  erzürnte  große  Könige  und  erfreute  Jakob  und  sein  Andenken 
bleibt  gesegnet  in  Ewigkeit."  Aber  Jakob  hätte  ihn  vergessen,  wären  nicht 
die  Bücher  der  Makkabäer  von  der  Kirche  aufbewahrt. 


262  Siebzehntes  Kapitel.  ,    . 

die  ihre  Gelübdezeit  vollbracht  hatten.  Nach  diesen  Vorbereitungen 
ordnete  sie  Judas  unter  Obersten,  Hauptleuten  und  Feldweljeln ') 
und  führte  sie  den  Syrern  entgegen,  die  bei  Emmaus  Lager  ge- 
schlagen hatten  um  von  dort  ins  Gebirge  vorzudringen.  Er  über- 
fiel das  Lager  und  zwang  den  Gorgias  das  Feld  zu  räumen 
(165).  Da  fand  der  Regent  sich  bewogen  selber  zu  kommen  (Herbst 
165).  Er  marschirte  nicht  von  Westen  ein,  wie  Seron  und 
Gorgias,  sondern  von  Süden  über  Idumäa  und  lagerte  sich  bei 
Bethsura,  wenige  Meilen  südlich  von  Jerusalem.  Dort  wurde  er 
von  Judas  angegriffen,  erlitt  große  Verluste  und  fand  es  geraten, 
umzukehren. 

Die  Glaubenskämpfer  zogen  nun  siegreich  in  Jerusalem  ein; 
nur  die  Akra  bezwangen  sie  nicht,  sie  begnügten  sich  die  Be- 
satzung so  zu  beschäftigen,  daß  sie  keinen  Schaden  anrichten 
konnte.  Sie  fanden  den  Tempel  verwüstet,  den  Altar  entweiht, 
die  Tore  verbrannt,  die  Anbauten  niedergerissen,  in  den  Vorhöfen 
Dorn  und  Distel.  Sogleich  machten  sie  sich  ans  Werk,  das  Heilig- 
tum zu  reinigen  und  herzustellen.  Ein  neuer  Altar  wurde  er- 
richtet, das  abgetragene  Material  des  alten  an  einer  geeigneten 
Stelle  deponirt,  bis  ein  Prophet  aufstünde  und  entschiede,  was  damit 
zu  machen  sei.  Auch  die  goldenen  Geräte,  die  geraubt  waren, 
wurden  neu  beschafft,  Leuchter,  Tisch  und  Räucheraltar,  und  andere 
dazu*).  Im  Dezember  165  konnte  der  regelmäßige  Gottesdienst 
wieder  in  Gang  gesetzt  werden,  nachdem  er  drei  Jahre  lang  unter- 
brochen  gewesen  war;    acht  Tage   lang  feierte  man  Fest^).     Den 


')  1  Macc.  3,  55:  Vorgesetzte  über  Tausend  und  Hundert  und  Fünfzig  und 
Zehn.  Anderswo  heißen  sie  die  Ypo((j.[AaT£T;  toü  Xaoü  d.  i.  schotere  haain 
(5,  42).  Die  höheren  Offiziere  scheinen  vorzugsweise  Priester  gewesen  zu  sein, 
wie  Mattathias  und  seine  Söhne  auch  (5,  67).  Reiterei  gab  es  nicht,  anfangs 
fehlte  es  auch  an  Helmen  und  Schwertern  (4,  6  vgl.  6,  6).  Der  Kampf  wurde 
womöglich  nicht  in  der  Ebene  geführt. 

2)  Von  der  Diaspora  wurden  die  Makkabäer  dabei  nicht  unterstützt;  denn 
die  syrische  war  noch  ganz  unbeträchtlich  und  die  ägyptische  wollte  damals 
noch  schwerlich  von  dem  neuen  Kultus  in  Jerusalem  etwas  Avissen,  dessen 
Stätte  entweiht  war,  dem  die  rechten  Priester  nicht  vorstanden  und  dem  das 
heilige  Feuer  fehlte. 

^)  Es  wird  angegeben,  man  habe  den  großen  Altar  an  dem  gleichen 
Tage,  an  dem  er  drei  Jahre  früher  entweiht  sei,  wieder  eingeweiht  und  sofort 
beschlossen,  diesen  Tag,  den  25.  Kislev,  für  immer  als  ein  Fest  zu  feiern  — 
was  freilich  vor  152  nicht  regelmäßig  geschehen  konnte.     Der  25.  Kislev  (De- 


Judas  Makkabäus  und  seine  Brüder.  263 

Gottlosen  in  Jerusalem,  den  abtrünnigen  Syrerfreunden,  erging  es 
schlecht;  sie  wurden  verfolgt  und  mußten  sich  flüchten,  nur  in 
der  Burg  fanden  sie  Schutz. 

2.  Das  war  der  glückliche  Abschluß  der  ersten  Periode  des 
Krieges.  In  den  beiden  folgenden  Jahren  blieben  die  Juden  von 
der  syrischen  Oberherrschaft  unbehelligt.  Sie  verwandelten  den 
Tempelberg,  den  Sion,  wieder  in  ein  großes  Kastell  und  legten 
eine  stehende  Besatzung  hinein  —  was  um  so  nötiger  war,  da  die 
südlich  gegenüberliegende  Akra  in  den  Händen  der  Feinde  blieb. 
Sie  befestigten  auch  Bethsura,  die  Grenzstadt  gegen  Idumäa,  um 
die  Straße  zu  versperren,  auf  der  jüngst  Lysias  versucht  hatte 
einzudringen.  Und  noch  zu  kühneren  Unternehmungen  benutzten 
sie  die  Zeit,  wodurch  sie  weit  über  die  Grenzen  Judäas  hinaus- 
geführt wurden.  Sie  hatten  sich  durch  ihre  Streifzüge,  bei  denen 
sie  auch  friedliche  Untertanen  nicht  verschonten,  sondern  nach 
Krieges  Brauch  unterschiedslos  raubten  und  mordeten,  den  Haß 
der  Heiden  ringsum  zugezogen,  den  diese  am  bequemsten  an  der 
Diaspora  auslassen  konnten,  die  unter  ihnen  wohnte.  Leute  aus 
Ptolemais,  Tyrus,  Sidon  und  anderen  Städten  hatten  sich  zu  einer 
großen  Jagd  auf  die  Juden  in  Galiläa  vereinigt.  Gegen  sie  wurde 
Simon,  der  zweite  Sohn  des  Mattathias,  gesandt;  er  zersprengte  sie 
und  führte  die  galiläischen  Glaubensgenossen  mit  Weib  und  Kind 
nach  Jerusalem.     Ein  noch  größerer  Haufe  hatte  sich  im  nördlichen 

zerüber)  war  aber  ursprünglich  das  Fest  der  Wintersonnenwende,  das  mit 
Liciitern  und  grünen  Zweigen  begangen  wurde  (2  Macc.  10,  5—7.  Jos.  Ant.  12 
325),  später  auch  der  Geburtstag  des  unbesiegbaren  Sonnengottes,  des  Mithras. 
Auf  diesen  Tag  hat  man  also,  um  ihm  die  nötige  jüdisch-historische  Berechti- 
gung zu  geben,  das  Fest  der  Tempel  weihe  gelegt,  welche  ungefähr  in  der 
gleichen  Jahreszeit  stattgefunden  hatte.  Die  verbindende  Idee  zwischen  dem 
heidnischen  und  dem  jüdischen  Feste  war  die  Wiederkunft  des  heiligen  Feuers 
(einerseits  des  Sonnen-,  andrerseits  des  Altarfeuers);  daher  erklärt  es  sich 
auch,  daß  in  2  Macc.  1,  18  die  Entzündung  des  Altarfeuers  zur  Zeit  des  Nehemia 
neben  der  Entzündung  desselben  zur  Zeit  der  Makkabäer  (2  M.  10,3)  als  Anlaß 
der  Feier  genannt  wird.  Dann  hat  man  weiter  rückwärts  gehend  die  Coinci- 
denz  der  Wiedereinweihung  und  der  Entweihung  des  Altars  geschaffen;  merk- 
würdigerweise wird  aber  die  letztere  1  Macc.  1,54  nicht  auf  den  25.,  sondern 
auf  den  15.  Kislev  gesetzt.  Vgl.  A.  G.  Wähuer,  de  festo  Encaeniorum  judaico, 
origine  nativitatis  Christi  (Ilelrastädt  28.  Sept.  1715).  Die  ägyptischen  Juden 
feierten  das  Hanukkafest  nicht  mit,  so  lange  sie  den  neuen  Tempel  und  das 
neue  Hohepriestertum  nicht  anerkannten  (2  Macc.  1,  10  ss.). 


264  Siebzehntes  Kapitel. 

Ostjordanlande  zusammengerottet,  die  Juden  in  Tubiene  umgebracht 
und  die  in  Galaaditis  in  die  Feste  Dathema  zusammengedrängt,  wo 
sie  belagert  wurden  ').  Dahin  wandte  sich  Judas,  trieb  durch  einen 
mörderischen  Angriff  die  Heiden  ab,  als  sie  eben  einen  Sturm 
unternehmen  wollten,  und  befreite  die  Belagerten.  Dann  nahm  er 
im  Vorübergehen  blutige  Rache  an  mehreren  von  den  Städten,  die 
das  Hauptkontingent  zu  der  Rotte  gestellt  hatten.  Indessen  sam- 
melten sich  die  Feinde  wieder  und  verstärkten  sich  durch  gedun- 
gene Araber;  der  Führer  war  ein  gewisser  Timotheus,  der  schon 
früher  einmal  in  Ammanitis  mit  Judas  zusammengeraten  war. 
Hinter  dem  tiefen  Flußbett  des  Jarmuk  nahmen  sie  eine  feste 
Stellung  ein,  aber  Judas  passirte  die  Schlucht,  griff  an  und  trieb 
sie  nach  Karnain  hinein.  Auch  da  waren  sie  nicht  sicher,  er  er- 
oberte die  Stadt  und  verbrannte  das  Heiligtum  daselbst,  in  das 
sich  viele  Flüchtlinge  gerettet  hatten.  Nachdern  er  genugsam  unter 
den  Heiden  gewütet  hatte,  machte  er  sich  auf  den  Heimweg,  indem 
er  die  Juden  von  Galaaditis  ebenso  mitnahm  wie  Simon  die  von 
Galiläa.  Er  zog  den  Jarmuk  hinunter,  öffnete  sich  gewaltsam  den 
Weg  durch  die  Stadt  Ephron,  die  ihm  den  Durchlaß  verweigerte, 
ging  bei  Scythopolis  über  den  Jordan  und  kam  mit  seiner  Beute 
von  erlösten  Menschen  glücklich  in  Jerusalem  an^). 

Man  gewinnt  aus  dieser  und  ähnlichen  Erzählungen  einen 
lehrreichen  Einblick  in  die  Verhältnisse.  Die  Juden  in  Palästina, 
außerhalb  Judäas,  erscheinen  als  eine  kleine  Minderheit.  Die  in 
Galaaditis  gehn  all  zusammen  in  ein  Kastell  hinein,  das  ihnen  als 
Zuflucht  in  Gefahr  dient;  die  in  Tubiene  Ermordeten,  die  Gesamt- 
heit der  Männer,   werden  auf  etwa  Tausend  geschätzt,   und  die  in 


1)  Tubiene  ist  das  alte  Land  Tub  (Jud.  11,3.  2  Sam.  10,6);  irrig  Niese 
3,  226  n.  1.  Die  alte  Hauptfeste  von  Gilead  war  Rametba,  sie  heißt  noch 
jetzt  so.  ü  und  11  sind  in  der  späteren  semitischen  Schrift  zwar  fast  iden- 
tisch, aber  die  Transposition  von  M  und  Th  erklärt  sich  nicht  leicht,  so  daß 
die  nahe  liegende  Vermutung  der  Identität  beider  Namen  Bedenken  unterliegt. 

2)  1  Macc.  5,  9 — 54.  An  dem  üblichen  Misverständnis  dieser  Erzählung 
sind  V.  26.  27  schuld,  nämlich  die  Präpositionen  et;  und  h  vor  den  Stadt- 
namen und  der  Plural  xi  öyupcuiJLCtTa.  Der  Zusammenhang  fordert  den  Sinn; 
„viele  Heiden  aus  Bossora  etc.  haben  sich  zusammengerottet  vor  der  Feste 
(Dathema)";  Judas  entsetzt  die  Feste  und  stattet  vorher  und  nachher  den 
nichtsahnenden  Heimatstädten  der  Belagerer  unwillkommene  nächtliche  Be- 
suche ab.  Die  Verse  55  —  62  schließen  sich  unmittelbar  an  9 — 54  an;  in 
loserer,  vielleicht  nicht  streng  chronologischer  Beziehung   dazu  stehn  v.  1 — 8 


Judas  Makkabäus  und  seine  Brüder.  265 

Galiläa  sind  auch  nicht  viel  zahlreicher.  Denn  sie  können  insge- 
samt  mit  Weib  und  Kind  nach  Jerusalem  überführt  werden  und 
dort  Unterkommen  finden.  Die  Heiden  sind  ihnen  überall  feind 
und  aufsässig,  nicht  bloß  die  im  Norden  diesseit  und  jenseit  des 
Jordans,  sondern  ebenso  die  Idumäer,  die  Philister,  und  die  Araber 
in  Ammauitis  und  Maabitis:  nur  die  Nabatäer  sind  ihnen  wolge- 
sinnt,  Aveil  im  antiseleucidischen  Interesse  mit  ihnen  verbunden, 
und  in  Samarien  haben  sie  nichts  zu  leiden.  Der  Haß  wird 
natürlich  von  den  Juden  vollauf  erwidert,  mit  der  Grausamkeit 
gerechter  Rache  vergießen  sie  das  Blut  der  Götzendiener  und  zer- 
stören ihre  Heiligtümer,  sie  fühlen  und  erweisen  sich  ihnen  ge- 
waltig überlegen.  Von  Regierung  und  Behörden  merkt  man  nichts; 
es  ist  als  ob  dergleichen  Friedensbrüche  damals  in  Syrien  ebenso 
in  der  Ordnung  gewesen  wären  wie  bei  uns  im  Mittelalter.  Auch 
dadurch  wird  man  an  das  Mittelalter  erinnert,  daß  überall  Burgen 
und  Türme  auftauchen,  im  Besitz  teils  von  einzelnen  großen  Herren, 
teils  von  Gemeinschaften. 

Autiochus  IV.  starb  164')  im  fernen  Osten.  Durch  den 
Thronwechsel  erklärt  sich  zum  Teil,  daß  die  Syrer  die  Juden 
so  lange  ruhig  gewähren  ließen.  Sie  regten  sich  erst  Avieder,  als 
jene  begannen  die  Akra  ernstlich  zu  belagern,  die  der  wichtigste 
und  festeste  Sitz  der  macedonischen  Oberherrschaft  war  (Ende  163). 
Damals  kamen  einige  Leute  von  der  belagerten  Besatzung  und 
viele  abtrünnige  Juden  nach  Antiochia  und  beklagten  sich  bitter 
darüber,  daß  sie  in  stich  gelassen  würden  und  ihre  Treue  gegen 
den  König  schwer  büßen  müßten.  So  raffte  sich  denn  Lysias  auf 
und  brach  mit  einem  großen  Heere  gegen  Jerusalem  auf,  in  Be- 
gleitung des  neunjährigen  Königs  Antiochus  V.  Er  rückte  wieder 
von  Süden  her  ein,  schlug  den  Judas  bei  Bethzacharia  und  zwang 
Bethsura  zur  Kapitulation.  Darauf  belagerte  er  lange  Zeit  den 
Tempelberg.     Die  Juden  litten    unter    der  Wirkung  eines  Sabbat- 


und  V.  63 — 68.  Wahrscheinlich  ist  v.  67  identisch  mit  v.  55—62,  vielleicht 
auch  V.  65  mit  v.  3.  —  Für  die  1  Macc.  5, 54  erwähnte  Siegesfeier  scheint 
Ps.  68  gedichtet:  Juden,  die  vereinsamt  unter  den  Heiden  in  Basan  wohnten 
und  von  diesen  bedrängt  wurden,  sind  von  einem  jüdischen  Heeie  gerettet 
und  nach  Jerusalem  übergeführt:  das  ist  die  Menschenbeute,  die  Gott  von  seinem 
Zuge  heimbringt. 

^)  Seleuc.  148,  nicht  erst  149,  wie  es    1  Macc.  6,  16   heißt:  s.  Niese  a.  0. 
p.  495  s. 


2f)6  Siebzehntes  Kapitel. 

Jahrs,  in  dem  die  Ernte  ausfiel');  um  so  mehr,  da  durch  die 
Überführung  so  vieler  Familien  aus  Galiläa  und  Galaaditis  die  Zahl 
der  hungrigen  Mäuler  sehr  gewachsen  war.  Viele  liefen  über^). 
Die  Belagerten  sahen  sich  endlich  zu  Unterhandlungen  genötigt, 
auf  die  Lysias  bereitwillig  einging.  Sie  erhielten  die  Erlaubnis, 
ihre  Religion  und  ihre  väterlichen  Sitten  beizubehalten,  mußten 
aber  die  syrische  Herrschaft  anerkennen  und  sich  gefallen  lassen, 
nicht  nur  daß  die  fremde  Besatzung  in  der  Burg  blieb,  sondern 
auch  daß  die  Befestigungen  des  Tempelberges  geschleift  wurden. 
Es  heißt,  Lysias  sei  darum  so  bereit  zu  einem  billigen  Frieden  ge- 
wesen, weil  er  gegen  Philippus  freie  Hand  haben  wollte,  einen 
Rivalen,  der  gestützt  auf  den  letzten  Willen  des  verstorbenen 
Königs  sich  in  seinem  Rücken  erhob.  Indessen  hat  er  gewiß  über- 
haupt nicht  die  Absicht  gehabt,  den  Religionszwang  fortzusetzen; 
das  wäre  Aberwitz  gewesen.  Er  hat  nur  zugestanden,  was  unter 
allen  Umständen  zugestanden  werden  mußte.  Und  er  hat  erreicht, 
was  er  erreichen  wollte  —  vielleicht  mit  Ausnahme  eines  Punktes. 
Denn  zur  politischen  Unterwerfung  der  Juden  hätte  es  gehört, 
daß  sie  den  früheren  Hohenpriester  wieder  hätten  einnehmen 
müssen.  Menelaus  befand  sich  in  der  Tat  im  syrischen  Lager  und 
suchte  sich  in  Jerusalem  möglich  zu  machen.  Aber  er  war  und 
blieb  unmöglich.  Lysias  ließ  ihn  fallen,  ja  bald  nach  seinem  Ab- 
züge richtete  er  ihn  hin,  wol  aus  Arger  über  den  verdrießlichen 
Handel,  in  den  er  die  Regierung  verwickelt  hatte  ^). 

Mit  Philippus  wurde  Lysias    leicht    fertig,    aber    bald    darauf 
(nach  1G2)  erlag  er  samt  seinem  königlichen  Mündel  einem  anderen 


1)  Das  Jahr  150  der  sei.  Ära,  in  dem  die  Belagerung  stattfand  (1  Macc. 
6,  20),  beginnt  erst  im  Herbst  163.  Wenn  das  Sabbatjahr  wirklich  vom  Herbst 
164  an  lief,  so  liegt  1  M.  6,  49.  63  ein  kleines  Versehen  vor,  das  aber  gar 
keine  pragmatische  Bedeutung  hat;  denn  die  Wirkung  des  siebenten  Jahres 
macht  sich  erst  im  folgenden  recht  empfindlich. 

-')  1  Macc.  6,54.  Über  2.  Macc.  11,27—32  bin  ich  im  Unklaren.  Daran, 
daß  Menelaus  noch  als  offizieller  Hohepriester  erscheint,  nehme  ich  keinen 
Anstoß;  das  Stillschweigen  des  1  Macc.  in  diesem  Punkte  ist  konsequent  und 
hat  nichts  zu  sagen.     Vgl.  Niese  p.  476  ss.  und  Willrich,  Judaica  (1900)  p.  136. 

3)  2  Macc.  11,  29.  32.  13,  3  ss.  Ant.  20,  235.  Die  Regierung  des  Menelaus 
(allerdings  großenteils  in  partibus  infidelium)  dauerte  zehn  Jahr,  von  171  bis 
162  (Ant.  12,385).  Niese  meint,  Menelaus  sei  noch  immer  in  Jerusalem  selbst 
gewesen.  Er  müßte  sich  dann  bei  den  „Gottlosen"  in  der  Burg  aufgehalten 
haben.     Das  ist  nicht  unmöglich,  aber  nicht  notwendig. 


Judas  Makkabäns  und  seine  Brüder.  267 

Gegner,  Demetrius  I.,  dem  Sohne  des  Seleucus  IV.,  dem  es  ge- 
lungen war,  aus  der  römischen  Geiselhaft  in  die  Heimat  zu  ent- 
fliehen und  dort  das  Heer  für  sich  zu  gewinnen.  Demetrius  er- 
achtete sich  schw'erlich  an  die  Akte  seines  Vorgängers  rechtlich 
gebunden,  aber  das  Zugeständnis  freier  Religiousübung  für  die 
Juden  tastete  er  so  wenig  an  wie  irgend  einer  seiner  Nachfolger^). 
Jedoch  die  Herrschaft  der  Makkabäer  erkannte  er  begreiflicherweise 
nicht  an,  sondern  setzte  den  Juden,  nach  dem  Tode  des  Menelaus, 
einen  Ethnarchen  aus  dem  alten  hohenpriesterlichen  Hause  in  der 
Person  des  Alcimus.  Um  ihn  einzuführen,  sandte  er  den  Statt- 
halter von  Syrien"),  Bacchides,  mit  einem  Heere  nach  Jerusalem. 
Alcimus  wurde  in  Jerusalem  ohne  Widerstand  aufgenommen,  auch 
von  den  Schrift  gelehrten  und  Frommen.  Denn  mochte  er  be- 
schaffen sein,  wie  er  wollte,  so  hatte  er  doch  durch  sein  Blut  den 
legitimen  Anspruch  auf  die  Vorsteherschaft  der  Gemeinde.  Nur 
die  Makkabäer  wollten  nicht  abtreten,  nachdem  sie  ihre  Pflicht 
getan;  sie  setzten  ihr  sauer  erworbenes  Recht  auf  die  Herrschaft 
über  das  unverdient  ererbte.  Doch  mußten  sie  aus  Jerusalem 
weichen.  Der  Boden,  in  dem  sie  wurzelten,  war  nicht  die  heilige 
Stadt,  sondern  die  Landschaft.  Auch  späterhin  ist  es  immer  die 
Landschaft,  welche  für  die  Sache  Gottes  zum  Schwerte  greift  und 
in  den  Aufständen  die  Streiter  stellt. 

Aber  törichter  Weise  benutzte  nun  Alcimus  seine  Macht  um 
an  den  Frommen  Rache  zu  nehmen  dafür,  daß  sie  es  eine  Zeit 
lang  mit  den  Makkabäern  gehalten  hatten.  So  untergrub  er  seine 
Stellung,  und  als  Bacchides  den  Rücken  gewandt  hatte,  konnte  er 
sich  nicht  mehr  halten.  Er  floh  hilfesuchend  nach  Antiochia. 
Damit  brach  der  Krieg  von  neuem  aus;  es  handelte  sich  um  die 
Zurückführung  des  Alcimus  und  um  die  Vernichtung  der  Auf- 
ständischen. Ein  erster  Versuch  mislang.  Die  Syrer  unter  Nikanor 
rückten  zwar  nach  einer  kleinen  Schlappe  in  das  unbefestigte  Jeru- 
salem ein,  wo  sie  als  Freunde  aufgenommen  wurden;  aber  draußen 
behaupteten  die  Makkabäer  das  Feld  und  vernichteten  den  Nikanor 


^)  Nikanors  Drohungen  (1  M.  7,  26  ss.)  haben  mit  dem  Zweck  des  Krieges 
nichts  zu  tun;  es  sind  Extravaganzen,  vielleicht  des  Schriftstellers. 

■-')  n^pav  lo'j  7:oTa[j.oü  1  Macc.  7,  8  ist  nicht  der  Osten  des  Jordans,  wie 
Niese  3,  253  irrig  versteht,  sondern  das  alte  persische  Transeuphratene,  gleich- 
bedeutend mit  Cölesyrien;  s.  p.  272  n.  4. 


268  Siebzehntes  Kapitel. 

in  der  Schlacht  von  Adasa  zwischen  Bethhoron  und  Gazera  (März 
161).  Der  Sieg  schwellte  mehr  als  je  die  Herzen;  er  wurde  seit- 
dem alljährlich,  am  13.  Adar,  gefeiert.  Eine  Weile  stand  Judas 
wieder  an  der  Spitze  der  Nation.  Indessen  im  April  160  erschien 
Bacchides  selber  mit  einem  so  großen  Heere  in  Jerusalem'),  daß 
der  Menge  das  Herz  entfiel  und  nur  800  Mann  bei  Judas  aus- 
harrten. Er  wagte  dennoch  den  Kampf,  unterlag  aber  und  fiel  bei 
Elasa,  einem  Orte  unbekannter  Lage.  Seine  Leiche  konnte  von 
seinen  Brüdern  in  der  Familiengruft  zu  Modein  bestattet  werden^). 
3.  Es  zeigte  sich  abermals,  wie  bei  dem  zweiten  Zuge  des 
Lysias,   daß  wenn  die  Syrer  ihre  Kraft  aufboten,   die  Juden  nicht 


^)  Unterwegs  nahm  er  das  Raubnest  von  Arbela  in  Galiläa  aus  (l  Macc. 
9,2).  räXyaXa  ist  Übersetzung  von  Galil  (Josu  12, 23  Sept.),  für  MataaX(u& 
ist  mit  Tuch  MeaaStu!}  zu  lesen.  Für  Arbela  hatte  ich  nach  dem  arabischen 
Arbid  (Jaqut  1  184,4)  Arbeda  vermutet;  diese  Vermutung  ist  unhaltbar, 
wenn  das  rabbinische  Arbel  in  der  Tat  das  Felsennest  ist.  Vgl.  Encycl.  Bibl. 
London,  Black)  unter  Arbela. 

-)  Nach  1  Macc.  8  hat  Judas  in  der  Zwischenzeit  zwischen  der  Besiegung 
Nikanors  und  dem  Einmarsch  des  Bacchides  ein  freilich  ganz  wirkungsloses 
Bündnis  mit  den  Römern  geschlossen.  Sollten  aber  die  Römer  mit  einem 
kleineu  Rebellen,  der  sich  noch  keineswegs  durchgefochten  hatte  und  mit 
einem  Satrapen  von  Babylouien  wie  Timarchus  nicht  von  fern  zu  vergleichen 
ist,  ein  solches  eingegangen  sein?  Nach  der  gewöhnlichen  Annahme  beträgt 
besagte  Zwischenzeit  nur  einen  Monat;  binnen  eines  Monats  konnte  keine  Ge- 
sandtschaft von  Jerusalem  nach  Rom  abgehn,  dort  verhandeln  und  wieder  zu- 
rückkehren. Das  wäre  entscheidend,  indessen  glaube  ich  nicht,  daß  die  ge- 
wöhnliche Annahme  im  Recht  ist;  denn  die  Feier  des  Nikauortages  begreift 
sich  nicht  recht,  wenn  der  Eindruck  des  Sieges  alsbald  durch  eine  Niederlage 
schlimmster  Art  verwischt  worden  wäre.  Aber  jedenfalls  ist  Kap.  8  ganz  lose 
eingesetzt,  denn  9,1  schließt  eng  an  7,50:  Demetrius  hört  von  der  Nieder- 
lage Nikanors,  aber  durchaus  nichts  von  der  römischen  Drohung  gegen  ihn 
(8, 31.  32).  Der  Pragmatismus,  den  Niese  a.  0.  p.  502  vorschlägt,  ist  jeden- 
falls nicht  der  der  Erzählung.  Es  kann  auch  nicht  zugegeben  werden,  daß 
trotz  der  Unechtheit  der  Urkunde  das  Bündnis  oder  wenigstens  die  Freund- 
schaft zwischen  Judas  und  den  Römern  so  gut  bezeugt  sei  wie  nur  möglich. 
Daß  Josephus,  als  er  Bellum  1,38  schrieb,  das  1  Macc.  noch  nicht  gelesen 
hatte,  wird  schwerlich  behauptet  werden  können.  Was  Justin  3G  3,9  betrifft: 
a  Demetrio  cum  descivissent,  amicitia  Romanorum  petita  primi  omnium  ex 
orientalibus  libertatem  acceperunt,  facile  tunc  Romanis  de  alieno  largientibus 
— ,  so  redet  Justin  zwar  vom  ersten  Demetrius,  tatsächlich  aber  muß  der 
zweite  'gemeint  sein.  Denn  unter  Demetrius  I.  haben  die  Juden  noch  nicht 
die  Autonomie  gewonnen  und  von  dem  angeblichen  Römerbündnis  nicht  den 
geringsten  Nutzen   gehabt  —  nach  Niese  sogar  nur  den  schwei'sten  Schaden. 


Judas  Makkabäus  und  seine  Brüder.  269 

gegen  sie  aufkommen  konnten.  Die  Legitimität  hielt  wieder  ihren 
Einzug  in  Jerusalem,  Alcimus  und  die  durch  den  Aufstand  ver- 
drängten Aristokraten  kamen  wieder  in  die  Ämter.  Sie  werden 
von  ihren  Gegnern  die  Gottlosen  und  Abtrünnigen  genannt,  weil 
sie  der  nationalen  Bewegung  fremd  und  feindlich  waren  und  bei 
den  syrischen  Königen  Schutz  suchten  für  ihre  durch  Empor- 
kömmlinge schwer  bedrohte  Herrschaft.  Man  darf  aber  nicht  denken, 
daß  sie  noch  damals  dem  Heidentume  Vorschub  zu  leisten  gesonnen 
waren;  die  Zeiten  waren  ein  für  alle  mal  vorbei.  Wenn  Alcimus 
die  innere  Vorhofsmauer,  ein  Werk  der  heiligen  Propheten'), 
niederlegte,  so  tat  er  das  ohne  Zweifel  aus  Frömmigkeit  und  wurde 
nur  durch  den  Tod  gehindert,  sie  glänzender  wieder  aufzubauen. 
Die  Religion  wurde  in  keiner  Weise  angefochten;  die  Maßregeln 
des  Bacchides  waren  politisch.  Er  blieb  mit  seinen  Soldaten  im 
Lande,  um  in  Jerusalem  die  restaurirte  alte  Ordnung  zu  schützen 
und  um  in  der  Landschaft  das  Feuer  auszutreten,  das  dort  noch 
brannte.  Er  verfolgte  und  strafte  die  Freunde  des  Judas,  er  nahm 
Geiseln  von  den  Ältesten  und  hielt  sie  in  der  Akra  gefangen,  er 
legte  eine  Menge  Festungen  als  Zwingburgen  im  Lande  an.  Es 
gelang  ihm  jedoch  nicht,  die  Freunde  des  Judas,  wie  die  Makkabäer 
damals  hießen,  gänzlich  zu  unterdrücken.  Sie  wählten  Jonathan, 
den  jüngeren  Bruder  des  gefallenen  Führers,  zu  seinem  Nachfolger 
und  fristeten  sich  als  Räuberschar  in  der  Wüste  Thekoa,  wie  einst 
David  in  ähnlicher  Lage.  Bacchides  versuchte  vergebens  sie  zu 
bewältigen  ^). 

Im  Sommer  159  starb  Alcimus,  über  seinen  Nachfolger  hören  wir 
nichts  ^).  Bacchides  zog  bald  nach  seinem  Tode  ab  nach  Antiochia. 
Sofort  kamen  die  Makkabäer  wieder  in  die  Höhe,  so  daß  die 
Jerusalemer  besorgt  wurden.  Sie  veranlaßten  den  Bacchides  noch 
einmal  zurückzukommen,  da  es  leicht  sei,  die  Feinde  in  ihrer  Burg 


')  d.  h.  aus  den  beiden  ersten  Jahrhunderten  nach  dem  Exil. 

^)  In  1  Macc.  9  schließt  v.  36  nicht  an  das  Vorhergehende  an.  Die  Verse 
32 — 34  sind  zwar  stofflich  unentbehrlich,  aber  formell  nicht  recht  verarbeitet; 
V.  34  deckt  sich  mit  v.  43. 

^)  Daraus  zu  schließen,  daß  er  keinen  bekommen  habe  —  wie  auch  ich 
getan  habe  — ,  ist  voreilig  (Niese).  Denn  die  den  Hasmonäern  im  Wege 
stehenden  Hohenpriester  werden  in  1  Macc,  wenn  irgend  möglich,  ignorirt. 
Über  die  Zeit  zwischen  dem  Tode  des  Hohenpriesters  Alcimus  und  der  Er- 
hebung Jonathans  wird  überhaupt  fast  nichts  berichtet. 


270  Siebzehntes  Kapitel. 

zu  überrumpeln  (157).  Aber  der  Versuch  schlug  fehl,  und  nun 
wandte  Bacchides  sich  gänzlich  von  seinen  beschwerlichen  Freunden 
ab  und  schloß  mit  Jonathan  Frieden.  Die  Syrer  hatten  es  all- 
mählich satt,  für  Prätendenten  einzutreten,  die  im  Volk  keinen 
Boden  mehr  hatten;  es  schien  ihnen  gleichgiltig,  welche  Partei  in 
Juda  regierte,  wenn  sie  ihnen  nur  Untertan  war  und  Steuern 
zahlte.  Jonathan  wurde  zwar  nicht  als  Hoherpriester  anerkannt. 
Doch  es  genügte,  daß  man  ihn  gewähren  ließ.  Seine  Macht 
wuchs  Zusehens,  die  Sympathien  der  Menge  waren  auf  seiner  Seite. 
Er  nahm  jetzt  seinen  Wohnsitz  in  Michmas  nördlich  von  Jerusalem 
und  wußte  die  Ruhe  mehrerer  Jahre  zu  benutzen,  um  seine 
Regierung  zu  befestigen  und  seine  Gegner  aus  dem  Wege  zu  räumen. 
Nur  die  Hauptstadt  war  ihm  unzugänglich,  dort  wurde  die  legitime 
Gerusia  von  der  Akra  aus  geschützt.  Und  nicht  bloß  in  der  Akra, 
sondern  auch  an  vielen  anderen  Orten  lagen  noch  die  syrischen 
Besatzungen. 

Schon  seit  der  Konvention  des  Lysias  wurde  nicht  mehr  für 
den  Glauben  gestritten,  sondern  für  die  Herrschaft  der  Hasmonäer, 
gegen  die  von  den  Syrern  unterstützten  Ansprüche  des  alten  Hohen- 
priestertums  und  der  alten  Aristokratie.  Ganz  nackt  aber  trat  das 
weltliche  Interesse  des  Kampfes  erst  unter  Jonathan  hervor,  der 
im  Gegensatz  zu  seinem  enthusiastischen  Bruder  einem  Gottesmann 
wenig  glich.  Wenn  er  auch  das  Volk  hinter  sich  hatte,  so  focht 
er  doch  für  sein  Haus  mit  durchaus  profanen  Mitteln.  Das  Hohe- 
priestertum,  d.  h.  die  Ethnarchie,  war  das  Ziel  seines  Ehrgeizes. 
Die  Vakanz  des  Amtes  oder  die  Bedeutungslosigkeit  seiner  Inhaber 
kam  ihm  dabei  zu  statten,  und  hinterher  noch  weit  mehr  die 
Zerrüttung  des  Seleucidenreiches  durch  fortdauernde  Thronstreitig- 
keiten. Er  erschien  den  Rivalen  als  ein  wertvoller  Bundesgenosse 
und  verstand  sich  teuer  zu  verkaufen.  Von  irgend  welchen  Skru- 
peln bei  den  Geschäften,  die  er  machte,  wurde  er  nicht  geplagt. 
Mit  der  Religion  hatte  alles  was  er  tat  nichts  zu  schaffen.  Er 
arbeitete  für  sich  selbst  wie  er  am  besten  konnte.  Zumeist  war 
er  in  der  glücklichen  Lage,  andere  für  sich  arbeiten  zu  lassen, 
welche  glaubten  ihn  zu  benutzen. 

Von  den  alten  Feinden  der  Seleuciden,  den  ägyptischen  und 
kleinasiatischen  Königen,  ward  ein  Ephesier  niedriger  Herkunft, 
der  dem  Antiochus  IV.  ähnlich  sah  und  sich  für  dessen  Sohn  aus- 
geben   mußte,    als  Prätendent    für    den  syrischen  Thron    zurecht- 


Judas  Makkabäus  und  seine  Brüder.  271 

gestutzt  und  gegen  Demetrius  I.  ausgespielt.  Er  hieß  Balas  und 
nannte  sich  Alexander.  Mit  Hilfe  seiner  Bundesgenossen  gelang 
es  diesem,  in  Syrien  Fuß  zu  fassen  (152),  ebenso  leicht  wie  einst 
seinem  angeblichen  Vater  und  wie  dem  regierenden  Könige  selber. 
Ihm  gegenüber  zog  Demetrius  die  Besatzungen  aus  den  jüdischen 
Festungen  zurück,  nur  nicht  aus  Jerusalem  und  aus  Bethsura.  An 
Jonathan  schrieb  er  einen  Brief,  worin  er  ihm  Vollmacht  gab 
Ki'iegsvolk  anzunehmen,  und  erteilte  zugleich  der  Besatzung  der 
Akra  Befehl,  die  jüdischen  Geiseln  herauszugeben.  Auf  grund  da- 
von ließ  sich  Jonathan  in  Jerusalem  nieder,  erhielt  die  Geiseln 
zurück  und  restaurirte  die  geschleiften  Befestigungen.  Als  aber 
bald  darauf  Balas  ihn  förmlich  zum  Hohenpriester  ernannte,  trat 
er  auf  dessen  Seite  und  traute  den  Überbietungen  nicht '),  durch 
die  Demetrius  ihn  zu  fesseln  und  seinen  Beistand  zu  erkaufen 
suchte.  Am  Laubhüttenfeste  von  152  trug  der  neue  Hohepriester  von 
Balas'  Gnaden  zum  ersten  mal  das  Pallium.  Seine  Politik  erwies 
sich  als  richtig,  denn  der  echte  Seleucide  unterlag  und  fiel  im 
Kampfe  gegen  den  falschen  (150).  Als  dieser  darauf  in  Ptolemais 
seinen  Sieg  durch  die  Hochzeit  mit  seines  ägyptischen  Bundes- 
genossen Töchterlein  feierte,  wurde  auch  Jonathan  eingeladen,  mit 
Ehren  überhäuft,  mit  dem  Purpur  bekleidet  und  zum  Strategen 
und  Meridarchen  ernannt.  Eine  Gesandschaft  der  „Abtrünnigen", 
die  ihn  zu  verdächtigen  wagte,  fand  kein  Gehör:  der  mächtige 
Parteigänger,  der  von  der  Vollmacht  Soldaten  zu  halten  ausgiebigen 
Gebrauch  gemacht  hatte,  war  unentbehrlich  und  seine  Treue  durfte 
nicht  angezweifelt  werden.  Er  bewährte  sich  auch  wirklich,  als 
nach  einigen  Jahren  Demetrius  H.  als  Rächer  seines  Vaters  sich 
erhob  (147).  Da  kämpfte  er  für  Balas  gegen  Apollonius,  den 
Statthalter  Cölesyriens,  der  sofort  dem  rechtmäßigen  Erben  des 
Reiches  zugefallen  war,  schlug  ihn  in  der  Ebene  der  Philister, 
nahm  Jope  und  Askalon  ein,  eroberte  Asdod  und  zerstörte  den 
Tempel  Dagons.  Zum  Dank  dafür  erhielt  er  die  Stadt  Akkaron  und 
verdiente  sich  die  goldene  Spange,  das  Abzeichen  der  Vettern  des 
Königs.  Doch  konnte  er  es  nicht  hindern,  daß  Balas  unterlag, 
nachdem    er    von    seinem   Schwiegervater  Ptotemäus  VI.    in   stich 


')  Auch  wir  haben  Grund,  dem  Dokument  1  Macc.  10,  25 — 45  (ebenso 
auch  11,30—37  und  13,36-40)  nicht  zu  trauen.  Vgl.  Willrieh,  Judaica 
p.  51  SS. 


272  ■  Siebzehntes  Kapitel. 

gelassen  war  (145).  Er  setzte  nun  auf  eigene  Faust  den  Krieg 
fort  und  begann  die  Belagerung  der  Akra,  um  die  syrische  Be- 
satzung zu  vertreiben.  Das  war  der  letzte  Hort,  den  die  Legi- 
timisten  im  Lande  besaßen.  Noch  einmal  wandten  sie  sich  hilfe- 
suchend und  beschwerdeführend  an  den  Hof.  Da  lenkte  Jonathan 
ein,  trat  persönlich  in  Unterhandlungen  mit  Demetrius  und  er- 
reichte, daß  er  gegen  eine  Steuerpacht  von  jährlich  300  Talenten 
im  Hohenpriestertum  bestätigt  Avurde  und  drei  samarische  Bezirke, 
die  er  annektirt  hatte,  behalten  durfte ').  Die  Belagerung  der 
Burg  mußte  er  natürlich  einstellen^)  und  sich  zudem  wie  es  scheint 
verpflichten,  auf  Verlangen  Soldaten  zu  stellen.  Er  soll  3000  Mann 
nach  Antiochia  gesandt  haben,  um  einen  Aufstand  niederzuschlagen, 
der  dort  gegen  Demetrius  ausgebrochen  war.  Der  Herrscher  von 
Asien  in  seiner  eigenen  Hauptstadt  durch  den  jüdischen  Hohen- 
priester geschützt  —  das  klingt  doch  zu  unglaublich! 

Demnächst  aber  ließ  er  den  König  in  einer  schwereren  Gefahr 
stecken  und  schlug  sich  auf  die  Seite  seiner  Feinde.  Ein  ehe- 
maliger Offizier  des  Balas,  Trypho^  gewann  einen  großen  Teil  der 
Truppen  für  sich  und  stellte  Antiochus  VI.,  den  unmündigen  Sohn 
des  Balas  der  bei  einem  Araber  untergebracht  war^),  als  Gegen- 
könig auf;  es  gelang  ihm  sogar,  sich  der  Hauptstadt  zu  bemächti- 
gen. Es  konnte  nicht  fehlen,  daß  er  um  die  Gunst  des  jüdischen 
Hohenpriesters  warb,  und  dieser  fand  einen  Grund,  den  Umständen 
gemäß  die  Treue  zu  wechseln.  Er  bekam  nun  den  obersten  Be- 
fehl im  mittleren  und  südlichen  Syrien,  mit  der  Aufgabe,  das  Land 
für  Antiochus  VL  Eupator  in  Besitz  zu  nehmen  und  von  den  Resten 
der  Herrschaft  und  der  Macht  des  Demetrius    zu  säubern*).     Der 


')  11,34  vgl.  10,30.  88.  Es  scheint,  daß  diese  drei  (11,57:  vier)  Be- 
zirke erst  unter  Jonathan  von  der  Samaritis  losgerissen  sind. 

-)  Dies  zu  erzählen,  hat  der  Vf.  von  1  Macc.  vergessen;  wol  nicht  bloß 
weil  es  ganz  selbstverständlich  war.  Denn  vorher  hält  er  es  für  der  Mühe 
wert  zu  berichten,  daß  Jonathan  den  Befehl  gegeben  habe,  die  Belagerung  der 
Burg  fortzusetzen,  als  er  sich  selber  auf  den  Weg  nach  Ptolemais  machte. 

3)  I|AaXxou£  1  M.  11,39,  falsche  Aussprache  von  DvO""  (Jamlik),  wol  der 
deutlichste  Beweis,  daß  das  Griechische  Übersetzung  ist.  Dieser  Jamlik  mag 
ein  Verwandter  des  Arabers  Zabdiel  gewesen  sein,  der  den  Kopf  des  flüchtigen 
Balas  an  Ptolemäus  VI.  sandte  (11,7). 

^)  riepav  Toü  7:oTC([A0u  11,60,  das  den  Erklärern  so  viel  Kopfzerbrechen 
verursacht,  ist  weiter  nichts  als  Eberhanahar  d.  i.  Transeuphrateue  oder 
Syrien  (7,  6). 


Judas  Makkabäus  und  seine  i3rüder.  273 

Schauplatz  seiner  Tätigkeit  war  zuerst  Philisthäa,  dann  Galiläa; 
dort  brachte  er  Askalon  und  Gaza  zur  Unterwerfung,  hier  besiegte 
er  Truppen  des  Denietrius  in  der  Nähe  des  Sees  von  Gennesar'). 
Als  die  Geschlagenen  sich  bei  Hamath  wieder  sammelten,  drang 
er  bis  dorthin  vor,  über  den  Libanon  hinaus,  und  zerstreute  sie^). 
Auf  dem  Rückwege  strafte  er  die  Zabadäer,  einen  Stamm  der  itu- 
räischen  Araber  am  Libanon  ^),  und  zog  durch  die  Gegend  von 
LJamaskus  wieder  heim.  Zu  Jerusalem  angelangt  hielt  er  Rat  mit 
den  Ältesten  und  traf  ALißregeln  zur  Sicherung  des  Landes.  Er 
begann  etliche  Städte  zu  befestigen,  die  alten  Mauern  von  Jerusa- 
lem zu  erhöhen  und  eine  neue  zwischen  der  Akra  und  der  Burg 
aufzuführen,  um  die  syrische  Besatzung  die  noch  zu  Denietrius  hielt 
gänzlich  abzuschneiden.  Auch  sein  Bruder  Simon  war  inzwischen 
nicht  untätig  gewesen,  der  von  Trypho  zum  Strategen  des  palästi- 
nischen Küstenstrichs  ernannt  war.  Er  hatte  Bethsura,  die  wich- 
tige jüdische  Grenzfestung  gegen  Idumäa,  zur  Übergabe  gezwungen 
und  die  Syrer  daraus  vertrieben,  natürlich  als  Truppen  des  De- 
nietrius. Er  hatte  dann  auch  Jope  besetzt,  wo  sich  Sympathien 
für  Denietrius  regten,  und  die  Stadt  Adida,  an  der  Grenze  der 
Philister,  in  eine  Festung  verwandelt^). 

Nachdem  die  Hasmonäer   die   alte  Aristokratie   glücklich   ver- 
drängt und  sich  an  ihre   Stelle    gesetzt   hatten,    steckten    sie    sich 


')  Die  Form  Geimesar  11,67  ist  die  originale,  sie  findet  sich  aucli  bei 
Josepiius,  in  säoitliclien  jüdiscli-  und  clnistlioh-aramiiisclien  Bibelübersetzungen, 
und  im  Codex  D  des  Neuen  Testaments.  Gen  ist  der  Garten,  Nesar  ein 
Landscliaftsnarae,  woher  vielleicht  Nasarener  (Matth.  "26,71.  69). 

-)  Zwisclieii  der  Besiegung  der  Syrer  beim  See  von  Gennesar  und  ilu'er 
weiteren  Verfolgung  bis  nach  Ilamath  soll  Jonathan  einen  Abstecher  nacli 
Jerusalem  gemacht  hal)en  —  bloß  um  das  Bündnis  mit  den  Römern  zu  er- 
neuern (l  M.  11,74—12,25).  Die  Sache  ist  an  der  allerungeschicktesten  Stelle 
eingeschoben.  Außerdem  war  er  ja  Strateg  von  Cölesyrien,  den  Schein  für 
Trypho  zu  kämpfen  hielt  er  wolweislich  aufrecht,  darauf  berulite  seine  da- 
malige kriegerische  Tätigkeit  im  Norden.  Wie  soll  er  dann  grade  in  diesem 
Augenblick  dazu  gekommen  sein,  einen  Schritt  zu  tun,  wodurch  er  sich  niciit 
als  syrischer  Beamter  sondern  aufs  deutlichste  als  Souverän  benahm?  Natür- 
lich hat  auch  dieses  Römerbündnis  nicht  die  geringste  geschichtliche  Wirkung 
gehabt. 

^)  Bei  Eusebius  Praep.  ev.  9,  30  werden  die  Zabdäer  (so  zu  lesen  statt 
Nabdäer)  von  den  Ituräern  unterschieden, 

*)  Die  Vorgänge  fallen  ungefähr  ins  Jahr  144. 
We  11  hau  s  e  n,  Isr.  Geschiebte.    5.Aufl.  [g 


274  Siebzehntes  Kapitel. 

höhere  Ziele.  Sie  vergaßen  sich  selber  nicht,  indem  sie  für  den 
einen  König  gegen  den  andern  fochten  und  im  Namen  der  Syrer 
die  Syrer  aus  Judäa  und  den  angrenzenden  Gebieten  vertrieben. 
Es  ist  erklärlich,  daß  Trypho  dem  schlauen  und  verwegenen  Hohen- 
priester zu  mistrauen  begann  und  sich  seiner  zu  entledigen  suchte. 
Er  rückte  plötzlich  in  Palästina  ein  und  lagerte  sich  bei  Scytho- 
polis.  Jonathan  war  auf  der  Hut,  an  der  Spitze  eines  wol- 
gerüsteten  Heeres  zog  er  ihm  entgegen.  Aber  von  maßlosen 
Schmeicheleien  geködert  gab  er  die  Vorsicht  auf,  entließ  sein  Heer 
und  folgte  dem  Syrer  in  die  Festung  Ptolemais.  Da  wurde  er  in 
Haft  genommen  und  seine  Begleitung  niedergemacht. 

4.  Es  fand  sich  jedoch  Ersatz  für  ihn.  Simon  kam  aus  seiner 
Provinz  nach  Jerusalem,  bot  sich  an  und  wurde  von  der  Volks- 
versammlung zum  Führer  gewählt.  Trypho  fand  ihn  gerüstet  an 
der  Grenze  bei  Adida,  als  er  in  Judäa  einzufallen  gedachte.  Er 
versprach  nun  Jonathan  freizugeben,  wenn  dessen  beide  Söhne  als 
Geiseln  gestellt  und  hundert  Talente  gezahlt  würden.  Simon  traute 
dem  Handel  nicht,  gab  aber  doch  das  Geld  und  die  Geiseln;  an- 
geblich um  den  Vorwurf  abzuschneiden,  daß  er  nicht  alles  an  die 
Befreiung  des  Bruders  gesetzt  habe,  beging  er  den  Frevel,  auch 
dessen  Erben,  die  Erben  der  Herrschaft,  in  Feindes  Hand  zu  über- 
liefern. Wie  er  vorausgesehen,  ließ  Trypho  weder  den  Gefangenen 
los  noch  gab  er  die  Feind schai't  auf.  Er  ging  von  West  nach  Süd 
um  das  Gebirge  herum,  um  irgendwo  durchzubrechen,  Simon  wich 
nicht  von  seiner  Seite.  Er  suchte  dann  wenigstens  der  schwer  be- 
drängten Besatzung  der  Akra  zu  helfen,  aber  eine  nächtliche  Keiter- 
expedition,  die  er  zu  diesem  Zweck  absandte,  wurde  durch  einen 
starken  Schneefall  (Winter  143)  verhindert.  So  zog  er  schließlich 
über  Osten  wieder  ab.  An  der  Person  Jonathans  ließ  er  seinen 
Arger  darüber  aus,  daß  die  Sache,  für  die  jener  gekämpft  hatte, 
auch  ohne  ihn  siegreich  war.  Er  ließ  ihn  in  Baskama  im  Ost- 
jordanlande  hinrichten;  seine  Gebeine  wurden  von  Simon  eingeholt 
und  in  Modein  bestattet.  Über  den  Verbleib  der  Geiseln  ver- 
lautet nichts. 

Die  von  Jonathan  begonnenen  Maßregeln  zur  Sicherung  Ju- 
däas  wurden  durch  den  Krieg  nicht  unterbrochen,  sondern  nur  be- 
schleunigt,  und  nach  dem  Kriege  mit  Nachdruck  weitergeführt^). 

1)  1  Macc.  13,33. 


Judas  Makkabäus  und  seine  Brüder.  275 

Simon  vollendete  den  Ausbau  der  Mauern  von  Jerusalem,  machte 
Jope  zu  einem  jüdischen  Hafen  und  legte  in  Gazera,  neben  Adida, 
eine  zweite  Festung  an  zur  Sicherung  der  westlichen  Grenze;  aus 
beiden  Städten  vertrieb  er  die  heidnischen  Einwohner.  Er  brachte 
auch  endlich  die  Akra  zu  Fall;  den  Tag  seines  Einzuges  in  dies 
letzte  Bollwerk  der  Syrer,  23  Ijar  (Mai)  141,  machte  er  zu  einem 
dauernden  Festtag.  Zu  Trypho  hatte  er  natürlich  kein  Verhältnis 
mehr,  namentlich  seitdem  derselbe  die  Puppe,  für  die  er  angeblich 
kämpfte,  beiseit  geworfen  und  sich  selbst  die  Krone  Asiens  aufge- 
setzt hatte.  Aber  das  Verhältnis  zu  der  seleucidischen  Oberherr- 
schaft brach  er  noch  nicht  ab.  Er  übersandte  dem  Demetrius  IL, 
der  sich  in  Seleucia  behauptete,  einen  Kranz  und  einen  Palmzweig 
von  Gold  und  erwirkte  von  ihm  Amnestie  und  Anerkennung  des 
Status  quo.  Er  fühlte  das  Bedürfnis,  sich  legitimiren  zu  lassen. 
Daß  er  das  Hohepriestertum  sich  noch  auf  andere  Weise  habe  be- 
stätigen lassen,  durch  einen  Volksbeschluß,  der  es  ihm  erblich 
übertrug,  ist  nicht  zweifellos  bezeugt '). 

Simon  wurde  der  Begründer  der  hasmonäischen  Dynastie;  er 
war  der  erste,  nach  dessen  Jahren  man  rechnete  und  der  eigene 
Münzen  schlug''),    vielleicht  auch   der   erste,    der  ein  Bündnis  mit 

')  In  1  Macc.  14  wird  eine  Urkunde  mitgeteilt,  vom  18.  Elul  172  Sei. 
(September  141),  welche  die  Taten  Simons  verzeichnet  und  darauf  mündet, 
daß  König  Demetrius  ihn  als  Hohenpriester  bestätigte,  weil  es  verlautete,  daß 
die  Römer  einen  Bund  mit  ihm  gemacht  und  daß  die  Juden  eingewilligt 
hätten,  er  solle  ihr  Fürst  und  Hoherpriester  sein,  bis  ein  zuverlässiger  Pro- 
phet erstünde.  Bei  diesem  letzteren  Beschluß  wird  dann  zwar  lange  verweilt, 
aber  er  erscheint  doch  nur  als  ein  Teil  der  Kunde,  die  Demetrius  vernahm. 
Nach  V.  27.  28  erwartet  man  einen  Beschluß,  es  folgt  aber  v.  29s.  ein  Be- 
richt, und  aus  diesem  taucht  v.  41  ss.  plötzlich  ein  Beschluß  hervor,  jedoch 
nicht  als  Beschluß,  sondern  als  Erzählung:  die  Form  des  Schriftstückes  ist 
also  sehr  sonderbar,  auch  für  ein  Ehrendecret,  das  Niese  darin  erkennt.  Es  steht 
in  einer  Fortsetzung  des  1  Macc,  welche  mit  14,  16  anhebt,  nach  dem  for- 
mellen Schluß  14,  4 — 15.  Es  mag  sein,  daß  Josephus  diese  Fortsetzung  schon 
gekannt  hat,  obgleich  die  Spuren  sehr  schwach  sind.  Aber  jedenfalls  gehört 
sie  nicht  zum  Kern  des  Buches.  Sie  teilt  diese  Eigenschaft  mit  anderen 
Stücken  innerhalb  desselben,  welche  darauf  führen,  daß  es  uns  jetzt  in 
einer  zweiten  vermehrten  Ausgabe  vorliegt.  Ich  habe  dies  lange  vor  Willrich 
angenommen,  und  zuerst  rein  aus  formellen  Gründen.  Das  spricht  jedenfalls 
nicht  dagegen,  daß  der  Kontinuator  in  der  Form  und  im  Geist  des  ursprüng- 
lichen Verfassers  geschrieben  haben  müßte, 

2)  Das  erste  Jahr  Simons  ist  170  Sei.  =  143/2  (1  M.  13,  41.42).    Daß  er 

18* 


276       Siebzehntes  Kapitel.     Judas  Makkabäiis  und  seine  Brüder. 

den  Römern  schloßt).  Die  Juden  atmeten  auf  und  fühlten  sich 
wol  unter  seiner  Regierung.  Auch  er  aber  endete  unglücklich. 
.Sein  Eidam  Ptolemäus,  der  Sohn  des  Habub,  dem  er  die  Verwal- 
tung von  Jericho  übertragen  hatte,  ermordete  ihn  und  zwei  seiner 
Söhne  bei  einem  Besuche,  den  sie  ihm  abstatteten  (Februar  135). 
Er  wollte  die  Herrschaft  an  sich  reißen,  wobei  er  auf  die  Unter- 
stützung des  seleucidischen  Königs  und  auch  einiger  Offiziere  des 
jüdischen  Heeres  rechnete.  Es  misglückte  ihm  aber  der  Versuch, 
seinen  Schwager  Johannes  Hyrcanus  aus  dem  Wege  zu  schaffen, 
der  in  Gazera  residirte.  Dieser  war  gewarnt,  fing  die  ausgesandten 
Meuchelmörder  ab  und  eilte  nach  Jerusalem.  Ptolemäus  fand  die 
Hauptstadt  von  ihm  besetzt  als  er  dorthin  kam,  und  zog  sich  nun 
in  seine  Burg  bei  Jericho  zurück.  Von  dort  gelang  es  ihm,  über 
den  Jordan  zu  entkommen  und  bei  dem  Tyrannen  Zeno  Kotylas 
in  Philadelphia  eine  Zuflucht  zu  finden.  Ähnliche  Vorgänge  wieder- 
holen sich  seitdem  bei  jedem  Thronwechsel  in  der  hasmonäischen 
Familie.  Simons  Leiche  scheint  in  Modein  beigesetzt  zu  sein,  in 
dem  hasmonäischen  Erbbegräbnisse,  welches  er  selber  glänzend 
hatte  ausbauen  lassen,  so  daß  es  den  Schiflern  auf  dem  Meer  zur 
Orientirung  dienen  konnte. 


Münzen  schlug,  geht  aus  1  Macc.  15,6  hervor;  im  Übrigen  vgl.  Schürer  1,  lD'2s. 
G36ss.  der  Ausgabe  von  1890. 

1)  Das  Römerbündnis  Simons  wird  bestätigt  durch  Ant.  13,  261.  264 
(oivavEcoaaailat),  und  durch  Justin  36  3,  9,  der  irrtümlich  den  ersten  Demetrius 
statt  des  zweiten  nennt.  Aber  die  Urkunde  1  M.  15,  15—24  ist  interpolirt  wie 
Hitzig  (Geschichte  p.  455)   mit   Recht   behauptet,    obgleich  sie   dem  Verf.  von 

14,  18.  24  bekannt  zu  sein  scheint.  Denn  15,  14  schließt  an  15,26  unmittel- 
bar an.  Durch  15,  25  sucht  der  Interpolator  die  durch  den  Einschub  be- 
wirkte Zerreif5ung  des  Zusammenhanges  zu  vernähen,  indem  er  v.  14  wieder- 
holt und  das  dort  bereits  Erzählte  als  noch  einmal  geschehen  darstellt;  Iv  ty] 
OE'jTc'fja  ist  hier  ebenso  Zeichen  der  Naht  wie  n"'Jt2'  Gen.  22,  15.  Josua  5,  2. 
Zach.  4,  12.  Die  Datirung  der  Urkunde  auf  A.  139  (während  Antiochus  Side- 
tes  Dora  belagerte)    widerspricht   den  Angaben  14,  16  —  18.  24.  40    und   aucli 

15,  22  selber,  wonach  das  Bündnis  schon  A.  142  unter  Demetrius  abgeschlossen 
ist.  Vermutlich  aber  ist  die  Urkunde  nicht  bloß  interpolirt,  sondern  auch 
unecht.  Willrich  hat  es  sehr  wahrscheinlich  gemacht,  daß  sie  nach  dem  Muster 
des  Römerbündnisses  mit  Hyrkan  11.  (Ant.  14,  45ss.)  gearbeitet  ist;  das  daraus 
übernommene  ävav£OÜ[j.£\o(,  meint  er,  habe  dann  die  Fiktion  der  Römerbünd- 
uisse  mit  Judas  und  Jonathan  nach  sich  gezogen.. 


Achtzehntes  Kapitel,     Die  Herrschaft  der  Ilasmonäer.  277 

Achtzehntes  Kapitel. 

Die  Herrschaft  der  Hasmonäer. 

1.  Demetrius  II.  hatte  im  Jahre  140  seinem  Gegner  das  Fehl 
geräumt  und  war,  gerufen  von  der  Bevölkerung,  in  die  östlichen 
Provinzen  gezogen,  über  die  der  Arsacide  Mithradates  damals  seine 
Herrschaft  ausdehnte.  Nach  anfänglichen  Erfolgen  fiel  er  schließ- 
lich in  die  Hände  der  Parther  (139/8)  und  Avurde  lange  Zeit  von 
ihnen  in  Haft  gehalten.  An  seiner  Stelle  trat  nun  in  Syrien  sein 
aus  ganz  anderem  Holz  geschnitzter  Bruder  auf  den  Schauplatz, 
Antiochus  YIl.  von  Side.  Er  trieb  Trypho  nach  längeren  Kämpfen 
in  die  Enge  und  in  den  Tod.  Den  Juden  zeigte  er  sich  anfangs 
nachgiebig;  sobald  er  aber  zu  Macht  gelangte,  machte  er  die  preis- 
gegebenen Hoheitsrechte  wieder  gegen  sie  geltend.  Noch  während 
er  Trypho  in  Dora  belagerte,  forderte  er  Simon  auf,  die  eroberten 
Städte  herauszugeben  oder  dafür  tausend  Talente  zu  zahlen.  Da 
Simon  nur  hundert  geben  wollte,  so  gab  er  dem  Strategen  des 
Küstenstrichs,  Kendebäus,  Befehl,  gegen  die  Juden  vorzugehn. 
Kendebäus  wurde  freilich  abgeschlagen,  und  der  König  ließ  nun 
die  Sache  anstehn  bis  über  Simons  Tod  hinaus.  Erst  nach  meh- 
reren Jahren  erneuerte  er  den  Angriff  und  zwar  in  eigener  Person^). 
Hyrcanus  wurde  nach  Jerusalem  zurückgedrängt  und  dort  belagert'^). 
Die  Belagerung  dauerte  lange  und  endete  mit  einer  Kapitulation. 
Die  Juden  mußten  die  Waffen  ausliefern,,  fünfhundert  Talente  be- 
zahlen und  Geiseln  stellen.  Von  der  Einlegung  syrischer  Truppen 
in  die  Stadt  stand  der  König  ab,  aber  ihre  Mauern  wurden  ge- 
schleift. Ihre  Eroberungen,  besonders  Jope  und  Gazara,  mußten 
die  Juden  herausgeben  und  sich  zu  Tributzahlung  und  Heeresfolge 
verpflichten^). 


1)  Nach  Porphyrius  geschah  dies  A.  130/29,  nach  Josephus  A.  135/4, 
Aber  daneben  gibt  Josephus  einen  Synchronimus  an,  der  mit  dem  Datum  des 
Porphyrius  übereinstimmt.     Vgl.  Niese  3,  295  n.  4. 

-)  Am  Schluß  des  ersten  Makkabäerbuchs  wird  eine  Geschichte  ITyrkaus 
erwähnt,  die  wol  im  Stil  dieses  Buches  und  also  annalistisch  geschrieben  war. 
Josephus  kennt  diese  Geschichte  so  wenig  wie  den  Anhang  des  Makkabäer- 
buchs: er  erzählt  ganz  vage  und  unchronologisch. 

^)  Niese  3,  296,  Man  meint,  sie  wären  doch  noch  glimpflich  davon  ge- 
kommen und  hätten  das  der  Fürsprache  der  Römer  zu  verdanken  gehabt,  und 


278  Achtzehntes  Kapitel. 

Bald  darauf  ging  der  König  daran,  den  Parthern  ihre  Erobe- 
rungen zu  entreißen  (130/29).  Binnen  kurzem  hatte  er  ihnen  so 
zugesetzt,  daß  sie  um  Frieden  baten.  Aber  an  der  Härte  seiner 
Bedingungen  scheiterten  die  Verhandlungen,  und  nun  wendete  sich 
das  Blatt.  Durch  einen  plötzlichen  Überfall  von  allen  Seiten  wurde 
sein  Heer  zerstreut;  er  selbst  stürzte  sich  von  einem  Felsen  zu 
Tode  um  nicht  in  Gefangenschaft  zu  geraten.  Mit  ihm  endete  die 
Herrschaft  der  Seleuciden  über  die  Länder  jenseit  des  Euphrat. 
Seinen  Bruder  Demetrius  hatten  die  Parther  freigelassen,  damit  er 
sich  in  seinem  Rücken  gegen  ihn  erhebe.  Sie  erreichten  dadurch, 
daß  die  Thronstreitigkeiten  in  Syrien  wieder  begannen.  Demetrius 
fing  alsbald  nach  seiner  Rückkehr  Krieg  an  mit  Ptolemäus  VII. 
Physkon,  und  nach  bewährtem  Muster  richtete  dieser  einen  Aben- 
teurer ab,  damit  er  den  Königssohn  spiele  und  sich  gegen  Deme- 
trius aufwerfe.  Er  hieß  eigentlich  Zabina  ^),  nannte  sich  aber 
Alexander  (129/8).  Demetrius  wurde  besiegt  und  auf  der  Flucht 
ermordet  (126/5),  aber  sein  Sohn  Antiochus  VIII.  Grypus  setzte 
den  Kampf  gegen  den  von  Physkon  fallengelassenen  Mietling  fort 
und  wurde  glücklich  mit  ihm  fertig  (123/2).  Eine  Reihe  von  Jahren 
regierte  er  nun  unangefochten,  als  der  letzte  des  Namens  werte 
seleucidische  König.  Da  trat  gegen  ihn  Antiochus  IX.  von  Cyzicus 
auf,  der  Sohn  des  Sidetes  (114/3),  verdrängte  ihn  anfangs  völlig 
und  behauptete  sich  dann  wenigstens  in  Cölesyrien,  bis  er  von 
einem  Sohne  des  Grypus  besiegt  sich  das  Leben  nahm  (96).  Das 
Reich  war  in  voller  Auflösung,  zwischen  den  Fugen  erwuchsen  über- 
all Neubildungen,  freie  Städte,  Fürstentümer  und  Burgherrschaften'''). 


man  bezieht  hierauf  die  Urkunde  Aut.  13,  259ss.  Aber  diese  scheint  mit 
14,  247  s.  zusammenzugehören,  wo  der  gemeinte  Antiochus  näher  bestimmt 
wird  als  der  Cyzicener.  Der  Hyrkan,  dem  der  Bescheid  Ant.  14,  145  ss.  er- 
teilt wird,  ist  nicht  der  erste,  sondern  der  zweite.  —  Über  die  Herkunft  der 
römischen  Urkunden  bei  Josephus  (der  einzigen  echten  die  er  mitteilt)  aus 
Nicolaus  Damascenus  s.  Niese  im  Hermes  1876  p.  477  ss.  Daß  Josephus  sie 
einer  Sammlung  entnahm,  folgt  aus  der  Massenausschüttung  an  einer  ganz 
zufälligen  Stelle. 

^)  Der  Name  Zabina  kommt  bei  den  Aramäern  nicht  selten  vor  (Esdr. 
10,  43),  auch  noch  in  christlicher  Zeit,  und  scheint  erklärt  zu  werden  durch 
den  synonymen  Aläh-zaban  (Gott  hat  gekauft).  Die  Jahreszahlen  habe  ich 
nach  Niese  3,  305  ss.  angegeben. 

2)  Über  die  „Tyrannen  und  Monarchen",  die  in  der  groben  Sprache  der 
Römer  manchmal  auch  einfach  Räuber  genannt  werden,  s.  Ant.  13,  409.  414. 427^ 


Die  Herrschaft  der  Hasmonäer.  279 

Die  letzten  Seleuciden  rumorten  besonders  in  der  Gegend  von  Da- 
maskus herum,  ein  wahres  Gewimmel  von  Königen  mit  rätsel- 
haften Subsistenzmitteln.  Sie  hatten  kaum  noch  Land  und  Leute 
hinter  sich  und  nirgendwo  festen  Boden  unter  den  Füßen.  J)och 
die  Ader  des  verwegenen  und  unverzagten  macedonischen  Adels- 
bluts schlug  noch  in  ihnen,  und  der  Schimmer  ihres  alten  Namens 
machte  immer  noch  Eindruck.  Wenn  sie  Geld  hatten,  hatten  sie 
auch  Soldaten,  und  da  es  ihnen  an  militärischer  Begabung  nicht 
gebrach,  so  konnten  sie  dann  eine  momentane  Überlegenheit  ent- 
wickeln, die  zu  ihrer  wirklichen  Macht  außer  allem  Verständnis 
stand. 

Die  Zeit  des  immer  rapideren  Verfalls  des  Reiches  kam  den 
Juden  zu  statten.  Sofort  nach  dem  Falle  des  Sidetes  machte  sich 
llyrkan  vollkommen  unabhängig  von  den  Seleuciden.  Er  durfte 
sie  ignorireu;  bezeichnend  ist  es,  daß  er  nur  mit  dem  Betrüger 
Zabina  in  ein  Verhältnis  trat,  und  zwar  in  ein  freundliches,  wie 
ehedem  seine  Vorgänger  mit  Balas  und  Trypho.  Er  setzte  sich 
wieder  in  Besitz  der  abgetretenen  Eroberungen,  erneuerte  die  Be- 
festigung Jerusalems,  baute  in  der  Nordwestecke  des  Tempelbezirks 
eine  Burg,  die  sogenannte  Baris,  und  füllte  die  Schlucht  aus,  die 
den  Sion  von  der  südlicher  gelegenen  Akra  trennte ').  Er  zuerst 
hielt  ein  stehendes  Heer,  das  aus  geworbenen  Söldnern  bestand. 

Von  Stufe  zu  Stufe  schritten  die  Hasmonäer  fort.  Zuerst  war 
die  Freiheit  des  Kultus  ihr  Ziel  gew^esen,  dann  die  Verdrängung 
der  alten  Aristokratie  und  das  Hohepriestertum,  dann  die  Unab- 
hängigkeit von  der  syrischen  Oberherrschaft.  Jetzt  begann  der 
Eroberungskrieg.  Schon  früher  war  zwar  das  Gebiet  von  Jerusalem 
ein  wenig  über  die  alten  Grenzen  hinaus  erweitert.  Drei  Bezirke 
der    Samaritis,    die   jedoch    wie    es    scheint    von    Juden    bewohnt 


Neben  Arabern  finden  sich  auch  Juden  darunter,  z.  B.  der  oben  erwähnte 
Hyrkan,  der  Sohn  Josephs,  ferner  Silas  von  Lysias  und  Dionysius  von  Tripolis, 
letzterer  vielleicht  identisch  mit  Bacchius  Judäus  auf  einer  römischen  Münze; 
endlich  in  späterer  Zeit  und  auf  anderem  Boden  Asinäus  und  Aniläus.  Auch 
die  Landesfürsten  schützten  ihren  Besitz  durch  Burgen,  z.  B.  die  Hasmonäer 
schon  seit  Simon  (1  Macc.  14,  42,  15,  7). 

^)  Über  die  Baris  s.  Ant.  18,  91.  Die  Ausfüllung  der  Schlucht  schreibt 
Josephus  Bellum  b,  139  den  Hasmonäern  im  allgemeinen  zu,  dagegen  Ant.  13, 
215 SS.  dem  Simon,  der  zugleich  die  Akra  zerstört  haben  soll.  Letzteres  ist 
ein  grober  Irrtum,  nicht  bloß  wegen  1  Macc,  14,  36  s.  15,  28. 


280  Achtzehntes  Kapitel. 

wurden,  waren  hinzugekommen;  Jonathan  und  Simon  hatten  Gazera 
und  Jope  erworben  und  nach  Austreibung  der  alten  Bevölkerung 
mit  Juden  besiedelt.  Aber  im  größeren  Stil  griff  erst  Hyrkan  die 
Aufgabe  an,  das  Reich  Davids  im  alten  Umfang  herzustellen  und 
auf  diese  Weise  die  messianische  Weissagung  zu  erfüllen.  Er  er- 
oberte Medaba  und  Samaga  jenseits  des  Jordans  und  unterwarf 
Sichern  und  die  Gemeinde  der  Samariter').  Vor  allem  verleibte 
er  Idumäa  seiner  Herrschaft  ein  und  zwang  die  Bewohner  zur  An- 
nahme der  Beschneidung  und  des  Gesetzes.  Man  sieht,  daß  der 
Kampf  gegen  Antiochus  Epiphanes  nicht  für  die  Religionsfreiheit 
im  Prinzip  geführt  worden  ist. 

Gefährlichem  Widerstände  begegnete  er  erst,  als  er  sich  in  den 
späteren  Jahren  seiner  Regierung  an  die  feste  und  mächtige  Griechen- 
stadt Samarien  wagte  und  diese  in  ihrer  Not  sich  den  Beistand 
des  Antiochus  Cyzicenus  erbat  oder  erkaufte.  Der  Sohn  des  Sidetes 
wies  die  Juden  noch  einmal  in  ihre  Grenzen  zurück.  Er  nahm 
ihnen  Jope  und  andere  Eroberungen  ab  und  brachte  sie  so  weit, 
daß  sie  genötigt  wurden,  sich  an  die  Römer  zu  wenden.  Die 
Römer  schritten  denn  auch  ein  und  geboten  dem  Seleuciden,  er 
solle  ihren  Bundesgenossen  nichts  zu  leide  tun,  sondern  die  Festun- 
gen, Häfen  und  Gebiete  herausgeben,  die  er  ihnen  entrissen  habe  ^). 
Infolgedessen  zog  er  ab,  von  den  zwei  Obersten  die  er  zurückließ 
schlugen  die  Juden  den  einen  und  bestachen  den  andern,  so  daß 
er  ihnen  auch  noch  Scythopolis  überlieferte.  Nach  langer  Belage- 
rung wurde  Samarien  nun  erobert  und  gemäß  dem  Worte  des 
Propheten  Micha  dem  Erdboden  gleich  gemacht.  Dank  den  Römern 
hatte  sich  die  Niederlage  in  Triumph  verwandelt;  vierzig  Jahre 
später  reichten  sie  die  Rechnung  ein. 

Sonst  wissen  wir  von  Hyrcanus  nur,  daß  er  das  Münzrecht 
ausübte  und  daß  er  nicht  mehr  in  Modeln,   sondern  in  Jerusalem 


^)  Daß  er  den  Tempel  auf  dem  Garizziin  zerstört  habe,  sagt  Josephus  im 
Bellum  1,  63  nicht,  wol  aber  in  den  Aut.  13,  256;  vgl.  die  Fastenrolle  unter 
dem  21.Kislev. 

2)  Zu  der  Urkunde  Ant.  14,  247  s.  (vgl.  13,  259  ss.),  nach  der  ich  mich 
gerichtet  habe,  steht  der  Bericht  des  Josephus  13,  247  s.  in  Widerspruch.  Nach 
Bellum  1,65  ist  es  indessen  gar  nicht  Cyzicenus,  sondern  sein  Gegner  Grypus 
(Aspendius),  welcher  von  Samarien  zu  Hilfe  gerufen  wird.  Niese  hält  das 
(nach  einer  brieflichen  Mitteilung)  für  richtig  und  meint,  der  unglückliche 
Zusammenstoß  üyrkans    mit    dem   Cyzicener  sei   dann  spfiter  erfolgt.     Damit 


Die  Herrschaft  der  Hasmonäer.  281 

begraben  wurde.  Seine  31  jährige  Regierung  erschien  den  Späteren 
in  außerordentlichem  Glänze,  gehoben  von  der  trüben  Zeit  die 
bald  folgte.  Das  Joch  der  Heiden  war  abgeworfen,  und  sie  selber 
kamen  nun  an  die  Reihe.  Die  Schafe  der  Heerde  hatten  sich  in 
Kriegsrosse  verwandelt').  Die  Frommen  führten  nicht  nur  Lob- 
gesänge im  ^Munde,  sondern  auch  scharfe  Schwerter  in  den  Händen, 
Rache  zu  nehmen  an  den  Völkern,  ihre  Könige  und  Edelen  zu 
binden  mit  eisernen  Ketten,  geschriebenes  Recht  an  ihnen  zu  voll- 
strecken ^).  Von  patriotischem  Schwung  hingerissen,  befand  sich 
die  Nation  in  voller  Übereinstimmung  mit  ihrem  Führer.  Noch 
schien  das  Gleichgewicht  zwischen  Staat  und  Kirche  ungestört,  der 
kriegerische  Fürst  war  stolz  darauf  Hoherpriester  zu  sein  und  nahm 
es  mit  den  Pflichten  seines  heiligen  Amtes  genau.  Josephus  feiert 
ihn,  im  Talmud  ist  er  mit  Glorie  umgeben,  ein  altes  Targum 
schiebt  seinen  Namen  in  Deut.  33, 11  ein  und  bezieht  den  Segens- 
wunsch für  Levi  speziell  auf  ihn:  mögen  die  Feinde  des  Hohen- 
priesters J  oh  an  an  nicht  bestehn! 

2.  Es  folgte  ihm  sein  ältester  Sohn  Aristobulus  ^).  Der 
Wechsel  ging  auch  diesmal  nicht  glatt  von  statten.  Der  junge 
Herrscher  soll  seine  Regierung  damit  begonnen  haben,  daß  er  seine 


würde  der  grobe  Widerspruch  zwischen  der  Urkunde  und  dem  Bericht  der 
Antiquitäten  wegfallen.  Unzulässig  ist  jedenfalls,  denselben  dadurch  zu  be- 
seitigen, daß  man  den  Antiochus  Autiochi  der  Urkunde  in  Sidetes  verwandelt; 
vgl.  Gutschmidt  Kl.  Schriften  2,  303  ss. 

^)  Zach.  10,  3.  Auch  was  folgt,  ist  bezeichnend:  „aus  ihnen  (den  Juden) 
selbst  gehn  die  Ecksteine  hervor,  aus  ihnen  die  Pfeiler,  aus  ihnen  die  Kriegs- 
bogen,  aus  ihnen  alle  Gewalthaber  zumal".  Daß  die  Fürsten  und  Beamten 
und  sogar  die  Offiziere  „aus  ihnen  selber"  stammten,  daß  sie  eine  autonome 
und  sogar  militärische  Macht  waren,  war  den  Juden  höchst  ungewohnt.  Vgl. 
1  M.  10,37  und  allgemeiner  Ps.   118,22. 

-)  Ps.  149.  Das  geschriebene  Recht  steht  im  Buch  Josua  und  iu  den 
messianischen  Weissagungen.     Vgl.  Ps.  60,  8 — 14. 

3)  A.  103.  Über  die  Chronologie  vgl.  Niese,  Hermes  1893  p.  216ss.  Hyrkau  I. 
regiert  134—104,  Aristobul  I.  103,  Jannäus  102—76,  Alexandra  75—67,  Hyr- 
kan  und  Aristobul  66 — 63.  Diese  Ansätze  ergeben  sich  aus  der  einfachen 
Addlrung  der  überlieferten  Regierungsjahre:  die  Gesamtsumme  paßt  hinein 
in  die  überlieferten  Data  von  Simons  Tode  und  Pompejus  syrischem  Kriege, 
wenn  man  annimmt,  daß  das  letzte  Jahr  Simons  noch  bis  Ilerbst  135  gerech- 
net wurde.  Die  Chronologie  wird  verwirrt  durch  den  künstlichen  Synchronis- 
mus Aut.  14,4.  Schon  P.  von  Rohden  hatte  1885  die  These  aufgestellt:  Jo- 
sephus Aut.  14, 4  uou  annum  69,  sed.  65  a.  Gh.  indicare  debuit- 


282  Achtzehntes  Kapitel. 

Mutter  verhungern  lieB  und  seine  Brüder  gefangen  setzte'),  mit 
Ausnahme  des  Antigonus,  den  er  zärtlich  liebte,  später  aber  doch, 
infolge  einer  von  seiner  Gemahlin  angestifteten  Teufelei,  nieder- 
stoßen ließ.  Von  anderer  Seite  aber  wird  ihm  das  Zeugnis  ge- 
geben, er  sei  ein  verständiger  Mann  gewesen  und  habe  den  Juden 
viel  genützt,  indem  er  einen  Teil  der  Ituräer  unterjocht  und  durch 
erzwungene  Beschneidung  judaisirt  hal)e.  An  dieser  letzteren  Tat- 
sache ist  gewiß  nicht  zu  zweifeln,  nur  läßt  sich  schwer  sagen, 
was  mit  den  Ituräern  gemeint  sein  soll.  Die  Ituräer  waren  die 
Araber  des  Libanon,  diese  konnten  aber  nicht  angegrift'en  werden, 
ehe  nicht  Galiläa  ganz  oder  zum  Teil  erobert  war.  Unter  Hyrkan 
scheint  das  aber  noch  nicht  geschehen  zu  sein,  wenigstens  ver- 
lautet davon"  nichts.  Möglicherweise  ist  also  in  Wahrheit  Galiläa 
und  zwar  Nordgaliläa  unter  dem  Teil  des  Landes  der  Ituräer  zu 
verstehn,  den  Aristobulus  seiner  Herrschaft  einverleibte^).  Die  An- 
gabe von  der  zwangsweisen  Einführung  der  Beschneidung  kann  nicht 
als  Einwand  dagegen  geltend  gemacht  werden. 

Aristobulus  führte  einen  doppelten  Namen,  wie  schon  sein 
Vater  getan  hatte  und  wie  es  in  jener  Zeit  überhaupt  Gebrauch 
war;  hebräisch  hieß  er  Juda.  So  führte  er  auch  einen  doppelten 
Titel;  auf  den  Münzen  nannte  er  sich  Iloherpriester,  sonst  aber 
König,  wie  wenigstens  Josephus  behauptet.  Er  starb  schon  nach 
einem  Jahre,  angeblich  zusammengebrochen  unter  der  Last  seiner 
Blutschuld.  Seine  Gemahlin  befreite  nun  seine  Brüder  aus  dem 
Gefängnis,  und  heiratete  den  ältesten,  der  das  Hohepriestertum 
erbte,  Jannäus  Alexander  ').  Er  zählte  vierundzwanzig,  sie  sieben- 
unddreißig Jahre,  woraus  man  die  Art  dieser  Ehe  erkennt. 

Jannäus  sicherte  sich  den  Thron  durch  die  Beseitigung  seines 
einen  Bruders,  der  ihm  gefährlich  schien,  und  setzte  dann  alle 
Kraft  daran,  die  Eroberung  Palästinas  zu  vollenden,  die  sein  Vater 


')  Es  waren  ohne  Zweifel  seine  Stiefmutter  und  seine  Stiefbrüder.  Denu 
wenn  seine  Gemahlin  viel  älter  war  als  Jannäus,  so  wol  auch  er  selber.  So 
erklärt  sich  die  Zuneigung  gegen  Antigonus,  seinen  richtigen  und  gleich- 
altrigen Bruder. 

-)  So  vermutet  Schürer.  In  1  Macc.  5  erscheint  Galiläa  noch  durchaus 
als  heidnisches  Land:  auch  im  Buche  Judith  gehört  es  noch  nicht  mit  Judäa 
zusammen. 

')  Jannäus  für  Jonathan,  wie  Matthäus  für  Matthathia,  Zacchäus  für 
Zacharia. 


Die  Herrschaft  der  Hasmonäer.  283 

begonnen  hatte.  Das  Binnenland  westlich  des  Jordans,  vom  Fuße 
des  Libanon  bis  zur  Wüste,  war  bereits  jüdischer  Besitz.  Aber 
vom  Ostjordanlande  fehlte  noch  der  größte  Teil,  und  auch  an  der 
Meeresküste,  von  der  tyrischen  Leiter  an  bis  zur  ägyptischen 
Grenze,  waren  die  wenigsten  Städte  unterworfen.  Jannäus  be- 
lagerte zuerst  Ptolemais,  wurde  aber  von  dem  aus  Cypern  herbei- 
gerufenen Ptolemäus  Lathyrus  dabei  gestört  und  im  weiteren  Ver- 
lauf der  Dinge  auf  das  Haupt  geschlagen  (100).  Vor  größerem 
Schaden  behütete  ihn  nur  das  Eingreifen  der  judenfreundlicheu 
Königin  Kleopatra,  der  Mutter  des  Lathyrus:  eine  Anwandlung, 
Palästina  für  sich  zu  behalten,  soll  ihr  durch  ihren  jüdischen  Heer- 
führer, einen  Nachkommen  des  Hohenpriesters  Onias  von  Leonto- 
polis,  ausgetrieben  worden  sein.  Mehr  Glück  hatte  er  später  im 
Süden  der  Paralia.  Nachdem  er  Raphia  und  Anthedon  einge- 
nommen hatte,  gewann  er  auch  Gaza  durch  Verrat,  nach  einjähri- 
ger vergeblicher  Belagerung  (96);  bei  der  Zerstörung  der  Stadt 
fanden  fünfhundert  Ratsherrn  ihren  Tod  im  Apollotempel,  wohin 
sie  sich  geflüchtet  hatten  ').  Die  längste  Zeit  und  die  meiste  Arbeit 
verwandte  er  aber  auf  das  Ostjordanland.  Hier  belagerte  er  das 
wichtige  Gadara  unweit  der  Mündung  des  Jarmuk  in  den  Jordan 
und  bezwang  es  nach  zehn  Monaten.  Die  weiter  südlich  im  Jordan- 
tal gelegene  Stadt  Amathus  wurde  ihm  wieder  entrissen,  nachdem 
er  sich  ihrer  bemächtigt  hatte.  Li  einem  späteren  Feldzuge  gewann 
er  sie  zwar  zurück,  stieß  nun  aber  mit  gefährlichen  Nachbaren 
zusammen,  mit  den  nabatäischen  Arabern,  die  damals  während 
des  Verfalls  des  seleucidischen  Reichs  ebenso  um  sich  griffen  wie 
die  Juden,  und  sich  mit  ihnen  im  Süden  und  Osten  Palästinas 
begegneten. 

Schon  seit  Jahrhunderten  hatten  sich  die  Araber  überall  am 
Rande  der  Wüste  zwischen  die  alte  ansässige  Bevölkerung  geschoben 
und  teilweise  die  Herrschaft  über  sie  geAvonnen.  Konsolidirt  hatten 
sich  die  Ituräer  im  Libanon  mit  den  Städten  Chalcis  und  Abila, 
und  besonders  die  Nabatäer  im  alten  Edom,  mit  der  Hauptstadt 
Petra.  Jn  der  Mitte  zwischen  beiden  lag  das  Ostjordanland.  Auch 
dort    drangen    arabische  Stämme  ein    und  gründeten    hie  und  da 


^)  Die  Erzählung  des  .Josephus  gibt  auch  hier  keine  chronologischen  An- 
haltspunkte für  die  einzelnen  Ereignisse.  Die  angegebenen  Data  beruhen  auf 
ungefährer  Berechnung  Schürers. 


.284  Achtzehntes  Kapitel. 

kleine  Fürstentümer"),  aber  zu  der  Bildung  eines  einheitlichen 
Reiches  gelangten  sie  nicht,  sondern  ebneten  nur  den  Ituräern  im 
Norden  und  den  Nabatäern  im  Süden  die  Bahn.  In  der  Mitte 
des  zweiten  Jahrhunderts  standen  die  Nabatäer  ihren  Stammver- 
wandten in  der  Maabitis,  Ammanitis,  Galaaditis  noch  feindlich 
gegenüber  und  begünstigten  gegen  sie  die  Makkabäer.  Seitdem 
aber  hatten  sie  eine  Art  Oberherrschaft  über  sie  gewonnen  ,  be- 
trachteten jedenfalls  die  Gegend  als  ihre  Machtsphäre  und  wollten 
das  Eingreifen  der  Juden  in  dieselbe  nicht  dulden.  Schon  früher 
hatte  ihr  König  Aretas  dem  belagerten  Gaza  gegen  Jannäus  bei- 
springen wollen,  es  aber  beim  guten  AVillen  bewenden  lassen.  Jetzt 
überfiel  sein  Nachfolger  Obadas  das  jüdische  Heer  in  der  Gaulanitis, 
drängte  es  in  eine  tiefe  Schlucht  und  rieb  es  völlig  auf^). 

Jannäus  kam  ohne  Heer  nach  Jerusalem  zurück.  In  diesem 
Augenblicke  brach  der  längst  gehegte  und  auch  schon  einmal 
unverholen  zu  Tage  getretene  Unmut  des  Volkes  gegen  diesen 
sonderbaren  Hohenpriester  in  offener  Empörung  aus.  Nachdem 
eine  erbitterte  Fehde  jahrelang  gewütet  und  zu  keiner  Entscheidung 
geführt  hatte,  nahmen  die  Aufständischen  Demetrius  Akärus,  den 
Sohn  des  Grypus,  in  Sold  und  lieferten  mit  seiner  Hilfe  ihrem 
Könige  eine  Schlacht,  die  ihn  völlig  niederwarf  (88).  Aber  der 
Sieg  war  eine  moralische  Niederlage.  Während  Jannäus  flüchtig 
auf  dem  Gebirge  umherirrte,  erwachte  der  Patriotismus  des  Volkes 
und  die  Teilnahme  für  den  Erben  der  Makkabäer.  Aus  dem 
Lager  der  Sieger  gingen  sechstausend  Mann  zu  ihm  über,  und  es 
wurde  ihm  nicht  schwer  den  Rest  zu  bewältigen,  nachdem  Deme- 
trius sich  zurückgezogen  hatte.     Er  nahm  blutige  Rache  an  seinen 


^)  Z.  B.  iu  Philadelphia  (Rabbat  Aiiiinau).  Zeno  Kotylas  und  sein  Sohn 
Theodorus  scheinen  arabische  Phylarchen  zu  sein,  die  sich  in  aramäische 
Städte  einlogirt  haben;  vielleicht  auch  jener  Timotheus,  dem  wir  1  Macc.  5 
begegnen.  Mehrere  Namen  von  arabischen  Stämmen  jener  Gegend  finden  sich 
im  ersten  Makkabüerbuch,  z.  B.  die  Banu  Baian  (Ham  .505  v.  5.  Bochari  1  208, 
14.  259,  27  ed  Bul.  1289). 

-)  Arethas  ist  die  genauere,  Aretas  die  ältere  Schreibung  (2  Macc.  5,  8. 
2  Cor.  11,  .32.  Strabo,  Josephus;  vgl.  Mitras  bei  Herodot,  später  Mithras), 
Neben  der  Form  Obfidas  (=ObodasV)  ist  auch  Obaidas  (OßeSa?)  möglich 
wenngleich  die  Schreibung  fiT^i?  gegen  den  Diphthongen  spricht.  Die  Lesung 
Gadara  (als  Name  des  Ortes  wo  das  jüdische  Heer  überfallen  wurde)  Ant* 
13,  375  ist  unmöglich;  vgl.  Bell.  1,  90. 


Pie  Herrschaft  der  ITasmonäer.  285 

Feinden;  achthundert  sollen  gekreuzigt,  viele  in  das  Elend  ge- 
wandert sein. 

Nach  langer  Unterbrechung  begannen  nun  wieder  die  aus- 
wärtigen Kriege.  Antiochus  Dionysus  suchte  damals  den  Nach- 
folger des  Obadas,  Aretas  (Rabilos),  der  schon  die  Hand  nach 
Damaskus  'streckte,  in  dessen  eigenem  Lande  auf;  er  marschirte 
an  der  Küste  hin  durch  jüdisches  Gebiet  (8G).  Jannäus  vermied 
es  bezeichnender  AVeise  ihm  im  Felde  entgegenzutreten,  er  zog  von 
Jope  landeinwärts  auf  160  Stadien  einen  Wall  und  Graben,  in  der 
vergeblichen  Absicht  ihm  dadurch  den  Weg  zu  verlegen.  Er  hätte 
ihm  lieber  gegen  den  gemeinsamen  Feind  helfen  sollen.  J)enn  als 
der  Nabatäer  den  Antiochus  zu  Fall  gebracht  hatte  und  nun  sogar 
selber  zum  Könige  von  Cülesyrien  berufen  ward  —  denn  in  Damas- 
kus fürchtete  man  sich  noch  mehr  als  vor  ihm  vor  dem  näheren 
arabischen  Nachbar,  dem  Iturärer  Ptolemäus  Mennäi  —  rückte  er 
in  Judäa  ein,  schlug  Jannäus  bei  Adida,  halbwegs  zwischen  Jope 
und  Jerusalem,  und  legte  ihm  tlen  Frieden  auf).  Die  Bedingungen 
werden  uns  nicht  mitgeteilt;  jedenfalls  lies  Jannäus  sich  dadurch 
nicht  lange  hindern,  seine  Arbeit  im  Ostjordanlande  wieder  aufzu- 
nehmen. Er  eroberte  dort  eine  Reihe  von  Städten  und  kehrte 
nach  dreijähriger  Abwesenheit  im  Triumph  nach  Jerusalem  heim. 
Die  letzte  Zeit  seines  Lebens  quälte  ihn  ein  Fieber,  das  angeblich 
von  Trunksucht  herrührte.  Er  hoffte  im  Felde  die  Krankheit 
abschütteln  zu  können  und  zog  wieder  über  den  Jordan;  da  brach 
er  zusammen  und  starb   vor  ILagaba  (75),  einundfünfzig  Jahr  alt. 

Er  kannte  nur  ein  Ziel,  das  Reich  zu  mehren  und  es  bis  zu 
seinen  natürlichen  Grenzen,  zwischen  Meer  und  Wüste,  auszudehnen. 
Dies  Ziel  verfolgte  er  mit  größter  Zähigkeit  und  erreichte  es  an- 
nähernd, trotz  allen  Wechselfällcn.  Obwol  er  im  offenen  Felde 
regelmässig  unterlag,  gewann  und  behauptete  er  doch  die  Städte 
und  Burgen;  den  größten  Teil  seiner  Regierung  hat  er  auf  Be- 
lagerungen zugebracht,  dafür  war  er  geschaffen.  Dem  Nabatäer 
zu  trotz  brachte  er  schließlich  die  westlichere  Strecke  des  Landes 
jenseit  des  Jordans  so  ziemlich  in  seine  Gewalt;   diesseit  des  Jor- 


^)  Ob  Aretas  damals  wirklich  Damaskus  in  Besitz  genommen  hat,  läßt 
sich  bezweifeln,  jedenfalls  hat  er  es  nicht  behauptet.  Das  folgt  daraus,  daß 
Jannäus'  Witwe  den  Plan  faßte,  es  zu  occupiren,  damit  es  nicht  dem  Ituräer 
Ptolemäus  Mennäi  in  die  Hand  fiele. 


280  Achtzehntes  Kapitel. 

dans  sollen  nur  Ptolemais  und  Askalon  unbezwungen  geblieben 
sein^).  Es  wird  doch  wol  noch  mehr  Ausnahmen  gegeben  haben. 
Das  Land  Avar  in  kleine  Gebiete  zerstückelt,  diese  mußten  einzeln 
zusammen  erobert  werden,  und  gewiß  blieben  manche  Enclaven 
übrig.  Nur  im  Ganzen  besaß  Jannäus  die  Herrschaft  über  Palästina, 
völlig  abgerundet  war  sie  nicht.  Daß  er  durch  seine  kriegerische 
Tätigkeit  die  Ausbreitung  des  Judentums  beförderte,  versteht  sich 
von  selbst.  Daß  er  aber  die  bezwungenen  Griechenstädte  gewalt- 
sam judaisirt  habe,  ist  nicht  bezeugt;  als  Pompeius  sie  befreite, 
war  die  Majoritöt  der  Bevölkerung  noch  heidnisch.  Noch  weniger 
hat  er  sie  sämtlich  zu  Trümmerhaufen  gemacht,  sie  waren  ja  eben 
das  Mittel  das  Land  zu  beherrschen  und  mußten  die  Steuern  auf- 
bringen —  denn  die  Juden  scheinen  von  den  Hasmonäern  nicht 
besteuert  worden  zu  sein").  Gaza  wurde  zerstört  und  auch  die 
anderen  Städte  litten  ohne  Zweifel  sehr  durch  die  Belagerung  und 
die  Einnahme;  jedoch  der  Ausdruck,  sie  seien  durch  die  Römer 
wieder  aufgebaut,  berechtigt  nicht  zu  dem  Schluß,  daß  sie  vorher 
einfach  wüst  gelegen  haben^).  Ein  fanatischer  Wüterich  war 
Jannäus  nicht.  Er  befehdete  nicht  aus  Grundsatz  das  griechische 
Wesen.  Seine  Soldaten  waren  Pisidier  und  Cilicier,  die  nicht 
aramäisch  verstanden.  Der  Revers  seiner  Münzen  zeigt  die  grie- 
chische Aufschrift:  Basileos  Alexandru.  Er  ließ  auch  auf  der 
hebräischen  Legende  den  Hohenpriester  weg  und  nannte  sich  ein- 
fach König. 

3.  Sterbend  übertrug  Jannäus  die  Herrschaft  seiner  in  das 
Lager  geeilten  Gemahlin,  Salma    Alexandra*).      Sie   verheimlichte 

^)  Vgl.  das  Verzeichnis  Ant.  13,  395 ss.;  es  ist  leider  am  Schluß  heillos 
verderbt. 

-')  Von  ihren  Volksgenossen  nehmen  die  Könige  keine  Steuer,  sondern 
mir  von  den  Fremden;  Matth.  17,  2.5.  Die  Steuer  ward  noch  immer  als  Tribut 
aufgefaßt,  der  nur  von  Unterworfenen  erhoben  wird.  Zölle  aber  mögen  er- 
hoben sein. 

3)  Vgl.  Bell.  1,  156.  166.  Pella  wird  Bell.  1,  156  unter  den  nichtzer- 
störten  Städten  aufgeführt;  nach  Ant.  13,  397  scheint  es  ausnahmsweise  ju- 
daisirt worden  zu  sein,  jedoch  der  Text  ist  hier  ganz  unsicher  überliefert, 
und  auf  Korruptel  beruht  es  jedenfalls,  daß  die  Stadt  Bell.  3,  55  als  zu  Judäa 
gehörig  genannt  wird. 

*)  Salome  ist  nicht  überliefert,  sondern  Saliua.  Nach  der  Schreibung 
des  Namens  im  Talmud  ist  Salina  verderbt  aus  Salma;  IN  =  M.  Münzen 
von  Salma  gibt  es  nicht,  so  wenig  wie  von  Aristobul  II.  und  ITyrkau  II. 


Die  Ilerrscluift  der  ITasraouäer.  287 

seinen  Tod  dem  Heere,  bis  Ragaba  gefallen  war.  Dann  führte  sie 
die  Leiche  nach  Jerusalem  und  sorgte  für  ein  glänzendes  Begräbnis. 
])ie  würdige  Matrone,  Witwe  zweier  Könige,  deren  einen  sie  selber 
nach  heimtückischer  Beseitigung  des  nächsten  Erben  auf  den  Thron 
erhoben  hatte,  zeigte  sich  der  Lage  vollkommen  gewachsen').  Ihr 
ältester  Sohn,  Hyrkan  IL,  der  das  Hohepriestertum  erbte,  war  un- 
begabt und  ohne  allen  Ehrgeiz;  den  zweiten,  Aristobul  IL,  hielt  sie 
bis  zuletzt  im  Zaume.  Gegen  außen,  besonders  gegen  die  zahl- 
reichen kleinen  Tyrannen  und  Monarchen  in  Städten  und  Burgen, 
wußte  sie  sich  in  Respekt  zu  setzen.  Zwanzig  und  mehr  feste 
Plätze,  darunter  die  oft  genannten,  von  Jannäus  angelegten  Kastelle 
Alexandrium,  Hyrkania  und  Machärus,  sicherten  ihr  Gebiet,  sie 
waren  gut  im  stände  und  mit  Besatzungen  wol  versehen.  Sie 
vergrößerte  das  Heer  und  die  Zahl  der  Söldner.  Einen  Versuch 
die  Grenze  vorzuschieben  scheint  sie  gemacht  zu  haben,  als  sie 
Aristobul  nach  Damaskus  abgehn  ließ,  um  angeblich  die  Stadt 
gegen  ihren  aufdringlichen  Nachbar  Ptolemäus  Mennäi  zu  schützen; 
er  misglückte  aber.  Mit  Tigranes  von  Armenien,  der  ihr  im  Jahre 
70/69  liedrohlich  nalie  rückte,  ließ  sie  sich  weislich  in  keinen 
Kampf  ein;  sie  warb  durch  Geschenke  um  seine  Gnade,  als  er 
Ptolemais  belagerte.  Er  wurde  freilich  ohnehin  durch  Lucullus  zu 
schleuniger  Umkehr  genötigt.  Nicht  lange  nachher  starb  sie,  73  Jahr 
als  (67).  Mit  ihr  ging  die  kurze  Herrlichkeit  des  hasmonäischen 
Reichs  zu  Ende. 

Als  das  Hauptverdienst  dieser  Königin  pflegt  es  angesehen  zu 
werden,  daß  sie  es  verstand,  die  Partei  zu  versöhnen,  von  welcher 
der  gefährliche  Aufstand  gegen  ihren  Gemahl  ausgegangen  war. 
Sie  räumte  derselben  sogar  großen  Einfluß  und  Anteil  an  der 
Regierung  ein.  Damit  hing  wahrscheinlich  die  Organisation  des 
Synedriums  zusammen,  welches  von  jetzt  ab  als  oberste  Behörde 
der  Juden  hervortritt.  Die  alte  Gerusie  bestand  aus  den  Ältesten, 
d.  h.  aus  den  Vornehmen  oder  Notablen,  die  in  der  damaligen  Zeit 
schwerlich  mehr  Geschlechtshäupter  waren.  Etwa  seit  dem  dritten 
Jahrhundert  stand  ihr  aber  der  Hohepriester  vor,  und  mit  ihm 
traten  auch  die  ihm  verwandten  vornehmen  Priester  in  das  Re- 
giment, die  freilich  schon  vorher  mindestens  am  Gericht  Anteil 
gehabt  hatten.     Wie  Jerusalem  über  das   Land  herrschte,  so  war 


•)  Aut.  13,  SOG.  320. 


288  Achtzehntes  Kapitel. 

auch  die  Altestenschaft  von  Jerusalem  den  analogen  Körperschaften 
in  der  Provinz  übergeordnet.  Die  Grundzüge  dieser  Einrichtung 
lagen  in  der  Natur  der  Dinge  und  wurden  auch  später  nicht  ver- 
ändert^). Aber  durch  den  makkabäischen  Aufstand  trat  ein  starker 
Personalwechsel  ein.  Die  ^Mitglieder  der  alten  Gerusie  und  des 
alten  Priesteradels  wurden  meistenteils  verdrängt.  Kriegerische 
Emporkömmlinge,  allerdings  priesterlicher  Abkunft,  kamen  an  das 
Ruder.  Ihnen  zur  Seite  finden  wir  anfangs  ganz  naturgemäß  nur 
das  Heer  oder  das  Volk.  Es  dauerte  indes  nicht  lange,  so  traten 
wieder  die  Ältesten  und  die  J^riester  neben  den  Fürsten").  Aus 
neuem  Stoffe  bildeten  sich  wieder  die  alten  Formen;  der  lias- 
monäische  Dienst-  und  Verdienstadel  wird  sehr  bald  wieder  Erb- 
adel geworden  sein  und  sich  mit  den  etwa  noch  vorhandenen 
Resten  der  früheren  Aristokratie  verschmolzen  haben.  Die  Ältesten 
und  die  Priester  erscheinen  bis  auf  Simon  immer  gesondert  neben 
einander,  als  ob  sie  damals  noch  nicht  zusammen  eine  eigentliche 
Behörde  gebildet  hätten.  Jedoch  der  Fürst  gehörte  beiden  Ständen 
an  uiwl  einigte  sie,  und  auf  den  Münzen  des  Johannes  Hyrcanus 
linden  wir  sie  neben  ihm  zusammengefaßt  in  dem  „Collegium"  der 
Juden^).      Dies    Collegium   hat   wol    von    Anfang    an    den    Namen 

')  Vgl.  p.  195 s..  Die  Gerusia  erscheint  in  dem  Erlaß  des  Autioclius  III. 
(Ant.  11,  138.  142)  vor  und  neben  den  Priestern.  Über  die  Stellung  der 
Priester  vgl.  außer  2  Chron.  19,  8  auch  noch  ITekatäus  bei  Diodor  40  (Exe. 
Photii  543).  Die  Altesten  bildeten  den  Ursprung  und  blieben  der  Kern  des 
Syuedrinms,  welches  auch  noch  später  ot  npeapötepot  genannt  wird,  z.  B.  Ant. 
13,428.  Die  Juden  hatten  von  Rechts  wegen  keine  Monarchie,  sondern  eine 
Oligarchie  unter  Vorsitz  des  Hohenpriesters  (Ant.  4,223.  11,111).  Sir.  4  wird 
unterschieden  zwischen  schilton'ir  und  qahal;  letzteres  ist  das  öfl'entliche 
Gericht,  an  dem  wenigstens  als  Corona  die  Bürger  teilnehmen.  In  etwas 
anderem  Sinne  scheinen  Mc.  13,9  die  auva^wyott  neben  den  auvei^pia  zu  steha; 
beides  aber  sind  Gerichte.  Im  Syrischen  hat  sich  das  Adjektiv  qahlanriia 
(prozeßsüchtig)  erhalten,  während  das  Substantiv  qahla  (Geriehtsversauunliing) 
verloren  gegangen  ist. 

^)  In  1  Macc.  erscheint  neben  den  Führern  zuerst  immer  nur  die  Volks- 
versammlung oder  das  Volk:  4,59.  5,  16.  8,20.  10,25.46.  11,30.33.  42.  Nur 
7,  83  begegnen  wir  den  Ältesten  und  Priestern,  nämlich  in  der  Zeit  des  Alcimus, 
wo  das  alte  Regiment  wieder  in  Jerusalem  hergestellt  ist  und  die  Makkabäer 
verdrängt  sind.  Erst  seitdem  Jonathan  Hoherpriester  geworden  und  seine 
Herrschaft  befestigt  ist,  treten  neben  ihm  Priester  uud  Älteste  wieder  auf,  von 
11,23  an.     Vgl.   14,28  mit  v.  41. 

")  Die    Regierung    blieb    aristokratisch    und    wurde    nicht    demokratisch, 


Die  Herrschaft  der  Hasmonäer^'  289 

Synedrium  getragen,  wie  iu  Antiochia  und  Alexandria  der  Staats- 
rat hieß,  in  dem  der  König  den  Vorsitz  fiiiirte.  Zur  Zeit  des  ersten 
Hyrkans  und  des  Jannäus  hatte  es  aber  offenbar  wenig  zu  sagen. 
Erst  unter  Salma  bekam  es  größere  Bedeutung  und  eine  feste  Or- 
ganisation. Sie  überließ  das  Gericht  und  die  inneren  Angelegen- 
heiten, namentlich  die  geistlichen,  gänzlich  dem  Synedrium,  dem 
ihr  Sohn  Hyrkan  präsidirte,  denn  sie  selbst  als  Weib  konnte  nicht 
Hoherpriester  sein.  Zugleich  aber  gab  sie,  und  sie  zuerst,  den 
Häuptern  der  Schriftgelehrten  Sitz  und  Stimme  in  der  obersten 
Behörde,  so  daß  nun  auch  diese,  neben  den  Erzpriestern,  zu  den 
Ältesten  hinzukamen ').  Unter  Hyrkan  II.  finden  wir  die  Schrift- 
gelehrten im  Synedrium  bereits  vertreten,  niemand  anders  als  seine 
Mutter  kann  sie  aufgenommen  haben  ^).     Denn  sie  waren  eben  die 


selbst  nachdem  zu  den  Ältesten  einige  Schriftgelehrte  hinzugekommen  waren. 
Es  steht  auch  an  sich  fest,  daß  cheber  ein  Kollegium  bedeutet  und  daß 
Kollegium  nicht  Volk  ist.  Für  Volk  und  Gemeinde  gab  es  Ausdrücke  in 
Menge  (z.  B.  Am  El  1  Macc.  14,  28) ;  aber  für  Synedrium  gab  es  keinen,  und 
so  mußte  cheber  dafür  herhalten.  Es  ist  gewiß  nur  Übersetzung  des  im  ge- 
wöhnlichen Leben  allein  gebrauchten  griechischen  Ausdrucks.  Josephus  handelt 
über  die  oberste  Behörde  und  über  die  provinzialen  Behörden  Ant.  4,  214. 
220.  224. 

1)  Man  wird  erinnert  an  die  drei  alten  leitenden  Stände:  Adel,  Priester, 
Propheten  —  nur  daß  diese  keine  Behörde  bildeten.  Nach  dem  Talmud  hat 
das  Synedrium  von  Rechts  wegen  immer  nur  aus  Rabbinen  bestanden,  und 
nicht  der  Hohepriester,  sondern  eia  Rabbi  hat  den  Vorsitz  geführt.  Das  ist 
eine  Übertragung  späterer  Verhältnisse  auf  die  Vergangenheit.  Nämlich  nach 
der  Vernichtung  des  jüdischen  Gemeinwesens  und  des  Synedriums  durch  die 
Römer  konstituirten  sich  die  Rabbinen  zu  einem  Konsistorium,  welches  sie  mit 
der  Zeit  nach  dem  Namen  der  alten  Regierungsbehörde  benannten.  Vergleiche 
Kuenen,  over  de  samenstelling  van  het  Sanhedrin,  Amsterdam  1866. 

'0  Im  Eastenkalender  §  24  heißt  es:  am  28.  Tebeth  tagte  die  Versamm- 
lung gemäß  dem  Gesetz.  Nach  der  Glosse  geschah  das  unter  der  Königin 
Salma,  welche  die  Sadducäer  aus  dem  Synedrium  vertrieb.  Eine  Spur  rich- 
tiger Überlieferung  findet  sich  hier,  obwol  entstellt  durch  die  spätere  Vor- 
stellung über  die  Alleinberechtigung  der  Rabbinen.  Natürlich  wurden  diese 
auch  durch  Alexandra  nicht  die  Alleinherrscher  im  Synedrium;  da  würden  sie 
schöne  Dinge  angerichtet  haben.  Die  Mischna  behauptet,  Simon  ben  Sche- 
tach  (etwa  zur  Zeit  der  Alexandra)  habe  einst  in  Askalon  achtzig  Weiber 
wegen  Zauberei  aufhängen  lassen.  Askalon  hat  nie  zum  jüdischen  Gebiet  ge- 
hört; man  lernt  aber  aus  der  Angabe,  daß  es  unmöglich  war,  den  Rabbinen 
die  Herrschaft  zu  übergeben;  sie  würden  sie  dann  nicht  bloß  in  Gedanken 
und  Wünschen  misbraucht  haben. 

Wellhauseu,  Isr.  Gescliiclite.    j.  Au!l.  19 


290  Achtzehntes  Kapitel. 

Führer  der  Opposition  gegen  Jannäus,  denen  Salma  Einfluß  auf 
die  inneren  Angelegenheiten  verstattete.  Wenn  sie  diesen  EinlluLJ 
so  gebrauchten,  daß  sie  ihre  früheren  Verfolge)-  zur  Verantwortung 
zogen  und  zum  Teil  hinrichten  ließen,  so  hatten  sie  richterliclie 
Befugnisse  und  diese  konnten  sie  nur  haben  als  Mitglieder  des 
Synedriums.  Das  Synedrium  erfuhr  in  seiner  Komposition  eine 
bedeutsame  Veränderung  durch  das  Hinzutreten  dieses  dritten 
Elements,  obgleich  die  beiden  andern,  aristokratischen,  das  Über- 
gewicht behielten,  so  lange  der  Hohepriester  an  der  Spitze  des 
Gemeinwesens  und  der  Regierung  stand.  Das  moralische  Ansehen 
der  Schriftgelehrten  war  schon  seit  der  Zeit  des  Abfalls  sehr  ge- 
wachsen durch  das  Beispiel  todesverachtender  Treue  gegen  (Las 
Gesetz,  das  sie  den  Jerusalemern  gaben.  Nun  gewannen  sie  auch 
eine  Art  offizieller  Stellung.  Sie  ließen  sich  namentlich  die 
Rechtsprechung  augelegen  sein  und  gelangten  bald  dahin,  durch 
ihre  Theorie  die  Praxis  zu  beherrschen,  obgleich  natürlich  die 
Praxis  der  Theorie  die  Grundlage  geliefert  hatte  und  das  Gewohn- 
heitsrecht, das  sich  neben  der  Thora  ausgebildet  hatte,  aus  den 
Urteilssprüchen  der  Richter  d.  i.  der  Priester  entstanden  war. 
Vorher  hatten  sie  den  allgemeinen  Charakter  von  Literaten  und 
Gelehrten;  jetzt  wurden  sie  das,  was  sie  zur  Zeit  Jesu  und  später 
vorzugsweise  waren,  nämlich  Juristen,  Rechtskundige.  Das  Recht 
war  freilich  von  der  Religion  ungetrennt;  es  bestand  großenteils 
in  der  minutiösen  Regelung  des  Kultus  und  der  heiligen  Lebens- 
führung. Doch  auch  das,  was  wir  Recht  nennen,  gehörte  dazu; 
auch  dies  eigentliche  Recht  war  geheiligt  uud  Sache  der  Religion, 
nach  dem  Exil  so  gut  wie  vorher.  Die  Tätigkeit  der  Schriftge- 
lehrten auf  diesem  Gebiete  bestand  zunächst  darin,  das  tatsächlich 
bestehende  Recht  auf  die  heilige  Schrift  zu  begründen  und  aus 
ihr  abzuleiten;  durch  eine  sehr  künstliche  Exegese,  die  weit  über 
den  Wortlaut  des  Corpus  Juris  hinauszugehn  und  ihn  auch  zu 
umgehn  verstand.  Durch  das  selbe  Mittel  bildeten  sie  aber  auch 
schöpferisch  das  Recht  weiter  aus.  Sie  neüerten  unendlich  viel,  aber 
sie  wollten  nicht  neuern.  Sie  wollten  immer  nur  das  Alte  sagen, 
d.  h.  sie  neuerten  folgerichtig  und  im  Geiste  der  Sache,  der  freilich 
vielfach  der  Geist  der  Absurdität  war. 

4.  Noch  bei  Salmas  Lebzeiten  brach  zwischen  ihren  Söhnen 
der  Streit  um  die  Erbschaft  aus,  der  nun  einmal  herkömmlich  und 
in  diesem   Fall    auch    sehr    erklärlich  war.     Hyrkan  IL  hatte    das 


Die  Herrschaft  der  Kasraonäer.  ^91 

Recht  der  Erstgeburt  und  bereits  seit  Jahren  den  Titel  des  Hohen- 
priesters; aber  er  war  eine  Puppe  in  der  Hand  seiner  Ratgeber, 
und  wenn  er  auf  den  Thron  kam,  so  führte  nicht  mehr  der  König 
die  Regierung.  Angesichts  dessen  fühlte  sich  Aristobul  zum  Herrscher 
berufen.  Er  wurde  angetrieben  und  unterstützt  von  den  Freunden 
und  Kriegskameraden  seines  Vaters,  die  durch  den  neuen  Kurs 
verstimmt  waren  und  sich  zurückgesetzt  glaubten.  Sie  besaßen 
noch  große  Macht,  namentlich  außerhalb  Jerusalems;  sie  hatten 
ihre  militärische  Stellung  behalten  und  befehligten  die  Besatzungen 
der  festen  Plätze.  Im  Einverständnis  mit  ihnen  entwarf  Aristobul 
seinen  Plan,  und  als  seine  Mutter  auf  den  Tod  erkrankte,  nahm 
er  Gelegenheit  ihn  auszuführen.  Er  entwich  aus  Jerusalem  und 
begab  sich  nach  Agaba  zu  Galästes,  dem  Haupt  der  Verschwörung. 
Die  Festungen  fielen  ihm  auf  Kommando  überall  von  selber  zu, 
mit  Ausnahme  allerdings  der  drei  wichtigsten  Kastelle  Alexandrium, 
Hyrcania  und  Machärus.  Er  sammelte  nun  ein  Heer;  wie  es 
scheint  im  Norden  und  Nordosten  des  Landes,  denn  es  bestand 
aus  trachonitischen  und  ituräischen  Arabern.  Damit  rückte  er, 
i\m  Jordan  hinunter,  gegen  die  Hauptstadt  vor.  Bei  Jericho  trat 
ihm  Hyrkan  entgegen,  aber  seine  Truppen  verließen  ihn  großen- 
teils, als  es  zur  Schlacht  kam.  Er  räumte  das  Feld  und  warf  sich 
in  die  Akra  von  Jerusalem.  Obgleich  er  von  dort  aus  den  Tempel, 
der  in  die  Hand  der  Gegenpartei  gefallen  war,  wiedergewann  und 
auch  die  Familie  Aristobuls  in  seiner  Gewalt  hatte,  sträubte  er  sich 
doch  nicht  lange,  sondern  trat  seinem  Bruder  die  Herrschaft  und 
das  Hohepriestertum  ab,  drei  Monate  nach  dem  Tode  der  Mutter'). 
Nicht  allen  war  der  Wechsel  genehm,  und  besondere  Gründe, 
damit  unzufrieden  zu  sein,  hatte  ein  Manu,  dessen  Name  jetzt  zu- 
erst auftaucht,  der  Idumäer  Antipater.  Sein  Vater  war  unter  Jan- 
näus  Statthalter  von  Idumäa  gewesen,  er  hatte  einflußreiche  Ver- 
bindungen nicht  bloß  mit  Jerusalem,  sondern  auch  mit  Askalon 
und  Gaza  und  namentlich  mit  den  Nabatäern,  von  denen  er  sich 
seine  Frau,  Kyprus,  geholt  hatte  ^).  Er  steckte  sich  hinter  die 
Häupter  der  alten  Regierung,  machte  dem  Hyrkan  die  Gefahr  klar, 
in  der  nach  bekannten  Erfahrungen  das  Leben  eines  verdrängten 
Herrschers  schwebte,  und  brachte  ihn  endlich  so  weit,  daß  er  mit 

')  15,  180.  14,97.  20,243s. 

-)  Aat.  14,  121  Niese.     Bell.  1,  181. 

19* 


292  Achtzehntes  Kapitel. 

ihm  nach  Petra  floh.  Aretas  war  auf  den  Gast  vorbereitet  und 
nahm  ihn  freundlich  auf.  Er  versprach  ihn  in  seine  Herrschaft 
zurückzuführen,  aber  natürlich  nicht  umsonst,  sondern  gegen  Her- 
ausgabe von  zwölf  Ortschaften  an  der  nördlichen  Grenze  des  naba- 
täischen  Reiches,  die  Jannäus  zu  Unrecht  sich  "angeeignet  hätte, 
darunter  Medaba  und  das  heilige  Elusa.  Er  fiel  denn  auch  wirk- 
lich mit  einem  großen  Heere  in  Judäa  ein,  gewann  einen  leichten 
Sieg  über  Aristobul,  dessen  Krieger  nun  wieder  zu  Hyrkan  über- 
liefen, und  nötigte  ihn  nach  Jerusalem  zu  fliehen.  Auch  die  Jeru- 
salemer aber  erklärten  sich  für  Hyrkan,  zusammen  mit  den  Arabern 
belagerten  sie  den  Aristobul  im  Tempel,  wohin  er  sich  zurück- 
gezogen hatte.  Sie  zeigten  sich  äußerst  erbittert  gegen  ihn  und 
legten  erbauliche  Proben  von  der  Giftigkeit  des  jüdischen  Partei- 
hasses ab  ').     Den  Gewinn  davon  hatten  die  Römer. 

Es  war  Ostern  des  Jahres  65.  Pompeius,  mit  der  Regulirung 
des  Orients  beschäftigt,  sandte  damals  seinen  Legaten  Scaurus  nach 
Syrien.  Begierig  ergrift'  derselbe  die  Gelegenheit,  sich  in  den  jüdi- 
schen Bürgerkrieg  einzumischen,  und  machte  sich  von  Damaskus 
her  auf  den  Weg  nach  Jerusalem,  als  Abgesandte  beider  Parteien 
vor  ihm  erschienen  und  um  seine  Gunst  M^arben.  Aristobul  kam 
mit  dem  Angebot  von  drei-  oder  vierhundert  Talenten  dem  Hyrkan 
zuvor  und  erhielt  den  Zuschlag'').  Dem  Befehl  des  römischen 
Legaten  gehorsam  zogen  nun  die  Araber  mit  ihrem  Schützling 
von  Jerusalem  ab;  Aristobul  rückte  ganz  heldenmäßig  hinterdrein 
und  brachte  ihnen  bei  Papyron  am  Jordan  nicht  unbedeutende 
Verluste  bei.  Doch  behauptete  sich  Hyrkan  in  einem  Teil  des 
Landes^)  und  auf  alle  Fälle  war  der  Streit  durch  Scaurus  nicht 
tlefinitiv  entschieden. 

Im  Herbst  64  kam  Pompeius  selber  nach  dem  nördlichen 
Syrien  und  überwinterte  dort.  Im  Frühling  63  marschirte  er  über 
Apamea  Heliupolis  und  Chalcis   nach  Damaskus,   indem  er  unter- 


')  Ant.  14,  22  —  24.  Der  Beter  Onias  wurde  von  den  Belagerern  aus 
.seinem  Versteck  gezogen,  um  Aristobul  zu  verfluchen.  Er  sagte  aber:  o  Gott, 
da  die  hier  um  mich  Stehenden  dein  Volk  sind  und  die  Belagerten  deine 
Priester,  so  erhöre  keine  Partei  gegen  die  andere!  Darauf  wurde  er  ge- 
steinigt. 

-)  Vorher  liatte  schon  Gabinius  300  Talente  von  Aristobul  empfangen 
Ant.  14,37. 

")  Ant.  14,  42. 


Die  Herrschaft  der  Hasmonäer.  293 

wegs  überall  Burgen  brach  und  Tyrannen  beseitigte  oder  zähmte. 
In  Damascus  verhörte  er  die  beiden  feindlichen  Brüder,  die  sich 
durch  Gesandtschaften  schon  früher  an  ihn  gewandt  hatten.  Hyrkan 
Avar  der  Kläger,  er  legte  nicht  bloß  sein  Recht  dar.  sondern  be- 
lastete auch  seinen  Bruder  damit,  daß  er  Einfälle  in  benachbarte 
Gebiete  und  Piraterie  zur  See  begangen  habe;  mehr  als  tausend 
angesehene  Männer,  von  Antipater  beschafft,  legten  für  ihn  Zeugnis 
ab.  Aristobul,  der  mit  dem  Gefolge  eines  Königs  erschienen  war, 
benahm  sich  ziemlich  trotzig,  vielleicht  im  Vertrauen  auf  den 
goldenen  Weinstock,  den  er  dem  Römer  mitgebracht  hatte;  er  ver- 
teidigte sich  damit,  daß,  wenn  er  die  Zügel  nicht  ergriffen  hätte, 
sie  den  Händen  seines  schwachen  Bruders  längst  entsunken  wären. 
Neben  den  Prätendenten  waren  aber  auch  Abgesandte  einer  neu- 
tralen Partei  erschienen,  die  von  beiden  nichts  wissen  wollte, 
sondern  um  Abschaffung  der  Königsherrschaft  und  Wieder- 
einführung der  alten  Verfassung  bat.  Pompeius  scheint  sich  nicht 
um  sie  gekümmert  zu  haben.  Im  übrigen  verschob  er  sein  Urteil: 
er  werde  erst  bei  den  Nabatäern  nach  dem  Rechten  sehen  und 
dann  die  jüdischen  Angelegenheiten  an  Ort  und  Stelle  ordnen. 
Der  große  Mann  wollte  die  beiden  Brüder  noch  ferner  hinhalten. 
Aristobul  wurde  mistrauisch;  er  trennte  sich  von  ihm  ohne  Ab- 
schied und  warf  sich  nach  Alexandrium.  Darauf  ging  Pompeius 
bei  Scythopolis  über  den  Jordan  und  marschirte  am  rechten  Ufer 
hinunter  bis  Koreae'),  in  der  Nähe  von  Alexandrium.  Er  forderte 
den  jungen  König  vor  und  verlangte  von  ihm  die  Übergabe  sämt- 
licher festen  Plätze.  Aristobul  fügte  sich  wol  oder  übel,  begab  sich 
dann  jedoch  sogleich  nach  Jerusalem  und  rüstete  zum  Widerstände. 
Als  aber  Pompeius  ihm  folgte,  sank  ihm  wieder  der  Mut.  Er  kam 
ins  römische  Lager,  bat  um  Frieden  und  erbot  sich  Geld  zu  zahlen 
und  die  Tore  Jerusalems  zu  öffnen.  Indessen  Gabinius,  der  das 
Geld  holen  sollte,  fand  die  Tore  verschlossen  und  kam  unver- 
richteter  Dinge  zurück.  Da  verhaftete  Pompeius  den  Aristobul 
und  setzte  den  ]\Iarsch  gegen  Jerusalem  fort.  Die  Partei  Ilyrkans, 
durch  die  Furcht  vor  den  Römern  vergrößert,  gewährte  ihm  Ein- 
laß in  die  Stadt.  Aber  die  Anhänger  Aristobuls  behaupteten  sich 
auch  jetzt  wieder  im  Tempel,    und  Pompeius  mußte  diesen  nun 


')  Da  begann  Judäa  (Aut.  14,49).     Es  ist   auf   der  Karte    von  Medalia 
verzeichnet. 


294  Achtzehntes  Kapitel.     Die  Herrschaft  der  Hasmonäer. 

belagern.  Nach  drei  Monaten  erfolgte  der  Sturm  und  gelang.^) 
Pompeius  betrat  mit  Gefolge  das  Adytum,  besah  sich  alles,  tastete 
aber  nichts  an.  Am  anderen  Tage  befahl  er  das  Heiligtum  zu 
reinigen  und  den  Opferdienst  wieder  aufzunehmen,  der  übrigens 
während  der  ganzen  Belagerung  und  sogar  während  des  Sturmes 
nicht  unterbrochen  war.  Die  Häupter  der  Partei,  die  ihm  Wider- 
stand zu  leisten  sich  unterwunden  hatte,  ließ  er  hinrichten;  den 
Aristobul  und  seine  Kinder  nahm  er  mit  sich;  eine  Menge  Kriegs- 
gefangene schickte  er  nach  Rom. 

Das  Landvolk  hatte  die  Absicht,  den  im  Tempel  Belagerten 
Hilfe  zu  bringen,  ließ  sich  aber  durch  Hyrkan  davon  abhalten. 
Die  Jerusalemer  halfen  den  Römern  und  betrachteten  deren  Sieg 
als  den  ihrigen;  an  dem  wütenden  Blutvergießen  in  der  erstürmten 
Feste  nahmen  sie  tapferen  Anteil;  nur  der  entsetzliche  Greuel, 
daß  der  Heide  ungescheut  in  das  Allerheiligste  hineinging,  verdarb 
ihnen  die  Freude.  Hyrkan  wurde  wieder  in  sein  Erbe  gesetzt, 
jedoch  nicht  als  König,  sondern  nur  als  Hoherpriester^).  Jerusalem 
wurde  entfestigt,  das  judäische  Gebiet  auf  Judäa,  Galiläa  und  Peräa^) 
beschränkt  und  steuerpflichtig^).  Die  eroberten  Griechenstädte  an 
der  Küste,  jenseit  des  Jordans,  und  im  diesseitigen  Binnenlande 
Samarien    und  Scythopolis,   wurden    sämtlich    davon   abgenommen 


1)  Aut.  14,66:  „im  dritten  Monat  (der  Belagerung,  Belhim  1,  149.  5,397) 
am  Tage  des  Fastens".  Ganz  das  selbe  Datum  „im  dritten  Monat  am  Feste 
des  Fastens"  wird  auch  für  die  Eroberung  Jerusalems  durch  Sosius  angegeben 
(Ant.  14,  487).  Der  Tag  des  Fastens  kann  nach  jüdischem  Sprachgebrauch 
kaum  ein  anderer  als  der  große  Versöhnungstag  sein,  der  Ende  Oktober  fällt. 
Aber  Sosius  hat  Jerusalem  schon  im  Sommer  und  auch  Pompeius  hat  es  schon 
vor  dem  Herbst  erobert.  Vermutlich  hat  Josephus  „den  Tag  des  Fastens"  aus 
den  nichtjüdischen  Schriftstellern  übernommen,  auf  die  er  sich  beruft,  und 
diese  (z.  B.  Strabo  p.  763)  haben  damit  einfach  den  Sabbat  gemeint,  einen 
Tag,  den  sich  die  Feinde  der  Juden  öfters  zir  nutze  machten. 

-)  Aut.  14,  83  ist  von  den  Römern  in  Jerusalem  die  Rede,  welche  den 
Hohenpriester  hinderten,  die  Mauer  wieder  aufzubauen. 

•■')  Peräa  heißt  genauer:  das  j  üdische  Land  jenseit  des  .Jordans;  Matth. 
19,  1  Marc.  10,  1  (-/.ai  del.).  Aut.  12,  233.  Die  Grenzen  werden  angegeben 
Bell.  3,  463.     Amathus  und  Gadara  (Bell.  4,413)  waren  die  wichtigsten  Städte. 

*)  Pompeius  führte  die  Kopfsteuer  bei  den  Juden  ein  (Wilcken  Ostraka 
p.  247),  die  damals  weniger  Anstoß  erregt  zu  haben  scheint  als  zur  Zeit  Jesu. 
Sie  wird  freilich  schon  Ant.  12,  142.  13,  50  erwähnt,  aber  in  unechten  Urkun- 
den.    Vgl.  Willrich,  Judaica  p.  55s. 


Neunzehntes  Kapitel.     Die  Ausbildung  des  .Tudaismus.  295 

und  als  Gemeinwesen  mit  selbständiger  Verwaltung  der  neu  yai 
gründenden  Provinz  Syrien  einverleibt.  Daher  die  pompeianische 
Ära  auf  den  Münzen  zum  Beispiel  der  Dekapolis;  die  Römer  er- 
schienen den  Heiden  als  Befreier. 

])ie  Gründung  der  Provinz  Syrien  war  ein  Ereignis  von  ein- 
schneidender Bedeutung.  Den  größten  Teil  des  alten  seleucidischen 
Reichs  überließen  die  Römer  den  Iraniern,  durch  die  Beseitigung 
des  Tigranes  machten  sie  sich  dieselben  zu  unmittelbaren  Nach- 
barn und  Feinden  —  ein  Verhältnis,  durch  das  die  Geschichte 
Asiens  viele  Jahrhunderte  bestimmt  wurde.  Dagegen  in  Syrien 
traten  sie  die  griechische  Erbschaft  an  und  führten  mit  weit  größerer 
Stetigkeit  und  Kraft  aus,  was  die  Seleuciden  angefangen  hatten. 
Sie  stifteten  Ordnung  in  dem  Chaos,  befestigten  die  Kultur  und 
schoben  sie  bis  tief  in  die  Wüste  vor.  Sie  waren  als  Polizei  der 
Vorsehung  unentbehrlich,  so  unleidlich  sie  auftraten  und  so  scham- 
los sie  sich  bezahlt  machten.  Syrien  wäre  von  den  kleinen  Räubern 
verzehrt  worden,  wenn  nicht  die  großen  eingeschritten  wären. 


Neunzehntes  Kapitel. 

Die  Ausbildung  des  Judaismus. 

1.  Es  ist  von  dem  Aufstande  die  Rede  gewesen,  der  gegen 
Jannäus  ausbrach,  als  er,  von  den  Arabern  besiegt,  flüchtig  nach 
Jerusalem  zurückkehrte.  ])ie  Pharisäer  standen  an  der  Spitze  der 
Erhebung  und  leiteten  sie.  Man  sollte  es  nach  dem  Neuen  Testa- 
mente nicht  denken,  aber  es  ist  so.  Mit  Gewaltsamkeit,  beinah 
plötzlich,  traten  sie  damals  in  die  Geschichte  ein.  Ihre  Ursprünge 
lassen  sich  jedoch  weiter  hinauf  verfolgen.  Die  Asidäer,  denen 
wir  in  der  Zeit  des  Judas  Makkabäus  begegnen,  waren  ihre  Vor- 
gänger. Die  Namen  haben  ähnliche  Bedeutung,  Asid  heißt  der 
Pietist  und  Pharis  der  Separatist.  Beide  zeichneten  sich  durch  be- 
sondere Frömmigkeit  vor  anderen  Leuten  aus,  beide  standen  in 
engster  Verbindung   mit   den    Schriftgelehrten ').     Einen    weiteren 


')  Nicht    bloß   die  Pharisäer,    wie  aus  dem  Neuen  Testamente    und    aus 
Josephus  bekannt  ist,  sondern  auch   die  Asidäer,   wie   aus  1  Macc.  7,  12.  13. 


296  Neunzehntes  Kapitel. 

und  den  wichtigsten  Beweis  ihrer  Zusammengehörigkeit  liefert  die 
Geschiclite. 

Die  Asidäer  blieben  dem  Judentum  treu  und  litten  dafür,  als 
es  in  Gefahr  geriet  dem  Hellenismus  zu  unterliegen.  Sie  standen 
den  priesterlichen  Aristokraten  gegenüber,  die  durch  ihr  Liebäugeln 
mit  der  Welt  und  ihren  Herrschern  die  Gefahr  heraufbeschworen 
hatten.  Diese  leiteten  ihr  Geschlecht  ab  von  dem  ältesten  jerusa- 
lemischen Tempelfürsten  Sadok  oder,  nach  einer  anderen  Aussprache, 
Sadduk.     Daher  der  Name  Sadducäer^). 

In  dem  Widerstände  gegen  die  Unterdrückung  der  väterlichen 
Religion  begegneten  sich  die  Asidäer  mit  den  Makkabäern.  Sie 
schlössen  sich  ihnen  anfangs  an;  sie  dürfen  jedoch  nicht  mit  ihnen 
verselbigt  oder  gar  als  der  eigentliche  Kern  der  Glaubenskämpfer 
betrachtet  werden.  Diese  halfen  Gott  mit  dem  Schwert,  sie  da- 
gegen warteten  auf  seine  Hilfe,  sahen  nach  den  Zeichen  und 
zählten  die  Tage,  bis  sie  erscheine.  Sie  begaben  sich  erst  dann 
unter  den  Schutz  der  Makkabäer,  als  dieselben  ihre  ersten  Erfolge 
schon  erfochten  hatten.  Sie  lösten  sich  auch  nicht  unter  ihnen 
auf,  sondern  blieben  eine  Genossenschaft  für  sich.  Und  nur  so 
lange  hielten  sie  die  Verbindung  aufrecht,  als  für  das  Gesetz  ge- 
stritten wurde.  Als  die  Makkabäer  nach  der  Herrschaft  strebten 
und  sich  der  AViedereinsetzung  der  alten  Hohenpriesterdynastie 
widersetzten,  da  trennten  sich  die  Asidäer  von  ihnen.  Sic  er- 
kannten Alcimus  an,  obwol  seine  Person  ihnen  schwerlich  genehm 
war.  Von  ihrem  gesetzlichen  Standpunkt  aus  war  das  völlig 
korrekt  gehandelt.  Alcimus  war  der  rechtmäßige  Hohepriester 
aus  dem  Samen  Aharons,  mochte  er  beschaffen  sein  wie  er  wollte. 

deutlicli  erhellt.  lu  bezug  auf  die  Bedeutung  von  l'huris  ist  noch  zu  l^e- 
inerken,  daß  es  ein  Ehrenname  ist  und  daß  die  beabsichtigte  Absonderung 
dabei  weniger  hervortritt  als  die  wirkliche  Auszeichnung  durch  Früraniigkeit 
—  wodurch  sich  der  Begriff  dem  des  Asid  noch  mehr  nähert. 

')  Im  Ezechiel,  auf  den  es  vorzugsweise  ankommt,  weil  nur  er  von  der 
jerusalemischen  Priesterfamilie  redet  und  ihre  Abkunft  von  dem  durch  Salomo 
angestellten  Ahn  bezeugt,  haben  alle  Handschriften  der  Septuaginta  die  Perm 
Sadduk.  In  den  Büchern  Samuelis  und  der  Könige  findet  sich  diese  Form 
durchgehend  nicht  im  Vatikanus,  wie  ich  versehentlich  angegeben  habe  (Pha- 
risäer und  Sadducäer  p.  47),  sondern  in  den  Codd.  19.  82.  93.  108  (s.  g.  Lu- 
cianus),  die  grade  in  diesen  Büchern  oft  das  Richtige  geben.  Noch  im  hebr. 
Sirach  (51,  12  addit.)  erscheinen  die  Bne  Sadok  oder  Sadduk  als  die  recht- 
mäßigen Priester,  die  von  Gott  zu  dem  Amte  ausersehen  sind. 


Die,  Ausbildung  des  Judaismus.  297 

Daß  er  übrigens  nach  den  gemachten  Erfahrungen  nicht  daran 
denken   konnte  an  dem  gesetzlichen  Kultus  zu  rütteln,   stand  fest. 

Hatten  die  Asidäer  früher  zu  dem  legitimen  Priesteradel  in 
Opposition  gestanden  wegen  seiner  heidnischen  Gesinnung  und 
seiner  persönlichen  Unwürdigkeit,  so  traten  sie  jetzt  in  Opposition 
zu  den  Hasmonäern,  weil  dieselben  nach  dem  Hohenpriestertum 
strebten  und  es  auch  erlangten,  ohne  durch  ihr  Blut  die  gesetzliche 
Berechtigung  dazu  zu  haben ^).  Diese  Frontveränderung  war  indessen 
nicht  bloß  völlig  erklärlich,  sondern  sie  beließ  es  auch  trotz  allem 
im  wesentlichen  bei  dem  früheren  Gegensatz.  Denn  als  nun- 
mehrige Inhaber  der  Regierung  waren  die  Hasmonäer  die  Nach- 
folger der  alten  Aristokratie,  und  die  Frommen  standen  also 
wiederum  den  Machthabern  gegenüber.  Sie  übertrugen  auf  sie  den 
Namen  der  Sadducäer,  der  nun  in  keiner  Weise  mehr  ein  Ge- 
schlecht, sondern  nur  noch  einen  Stand  und  eine  Partei  bezeichnet. 
Die  Übertragung  geschah  mit  einigem  Recht,  denn  der  neue  Kurs 
näherte  sich  bald  dem  alten,  wenngleich  das  Decorum  besser  ge- 
wahrt wurde. 

Die  Opposition  wagte  sich  freilich  unter  den  ersten  Hasmo- 
näern noch  nicht  heraus,  sie  konnte  nicht  gegen  den  Strom 
schwimmen  und  wurde  vielleicht  auch  selber  zeitweise  davon  mit 
fortgerissen.  Allein  sie  blieb  vorhanden.  Unter  Hyrkan  I.  zeigt 
sie  sich  uns  wieder.  Der  Pharisäer  Eleazar  soll  ihm  auf  seine 
Anfrage  den  Rat  gegeben  haben,  er  möge  das  Hohepriestertum 
niederlegen  und  sich  mit  der  Herrschaft  begnügen;  infolge  dessen 
soll  Hyrkan  der  Sekte  feind  geworden  und  zu  den  Sadducäern 
übergetreten  sein.  Die  Erzählung,  die  Josephus  über  diesen  Vor- 
gang   gibt,    ist   zwar    sagenhaft^),    wird    aber    in    der  Hauptsache 


')  Diq  rcchlinälMgcu  Hohenpriester  aintirten  am  Tempel  zu  Leontopolis, 
der  wahrscheinlich  dem  zu  Jerusalem  anfänglich  größere  Konkurrenz  gemacht 
hat,  als  die  uns  erhaltenen  Nachrichten  ahnen  lassen  —  wie  Willrich  mit 
Hecht  vermutet.  Das  schlechte  Gewissen  der  hasmonäischeu  Priester  verrät 
sich  besonders  deutlich  in  1  Macc.  14.  Der  Vf.  des  ersten  Makkabäerbuchs 
schreibt  als  Anwalt  für  Simon  und  seine  Erben,  während  der  Vf.  des  zweiten 
Buchs  auf  anderem  Standpunkte  steht. 

-)  Aut.  13,  288  SS.  Josephus  geht  von  der  Anschauung  seiner  Gegenwart 
über  den  Sekteugegeusatz  aus.  Hyrkan  soll  ursprünglich  selbst  Pharisäer  ge- 
wesen sein.  Wie  kommt  er  denn  dazu,  ihnen  zu  mistrauen?  Warum  versucht 
er  sie  zu  kaptiviren  und,  „da  er  sie  bei  guter  Laune  sah",  ihnen  zu  entlocken, 


298  Neunzehntes  Kapitel. 

dadurch  bestätigt,  daß  die  Pharisäer,  die  hier  zum  ersten  IMale  so 
genannt  werden,  das  selbe  an  den  Hasmonäern  auszusetzen  haben 
wie  die  Asidäer,  nämlich  die  Usurpation  des  Hohenpriestertums. 
Zum  Hohenpriestertum,  sagt  Eleazar,  sei  Hyrkan  nicht  berechtigt, 
weil  er  nicht  von  echtem  Blut  sei. 

Unter  Jannäus  verwandelte  sich  das  gespannte  A^erhältnis  der 
Pharisäer  zu  der  Regierung  in  offene  Feindschaft.  Zugleich  aber 
verwandelte  sich  auch  der  innere  Charakter  des  Kampfes;  es  wurde 
allgemeiner  und  prinzipieller.  Das  Pecht  auf  das  heilige  Amt 
wurde  den  Hasmonäern  nicht  mehr  darum  bestritten,  weil  sie 
nicht  zur  legitimen  Familie  gehörten,  sondern  weil  sie  in  Wahrheit 
weltliche  Herrscher  waren.  Es  schien  nur  so,  als  ob  die  über- 
kommene verfassungsmäßige  Regierungsform  fortgesetzt  würde;  in 
der  Tat  trat  eine  völlige  Veränderung  ein.  Ehedem  war  die  poli- 
tische Macht  der  Juden  sehr  gering  gewesen,  das  Szepter  und  das 
Schwert  führten  die  fremden  Oberherren.  Wenn  ihr  geistliches  Haupt 
zugleich  das  weltliche  war,  so  drückte  sich  darin  nur  aus,  daß  ein 
weltliches  Leben  von  Bedeutung  neben  dem  geistlichen  überhaupt 
nicht  existirte  und  sich  also  auch  keine  selbständige  Spitze  geben 
konnte.  Jetzt  aber  hatte  sich  ein  jüdisches  Reich  gebildet,  das 
seine  Angelegenheiten  unabhängig  verwaltete,  Bündnisse  schloß, 
Soldaten  hielt,  Kriege  führte,  kurz  ganz  auf  dem  Fuße  anderer 
Reiche  eingerichtet  war.  Der  nationale  Staat  ließ  sich  nicht  qua- 
driren  mit  dem  alten  heiligen  Gemeinwesen,  in  dessen  Formen  er 
sich  hüllte.  Das  Schwergewicht  war  gänzlich  Terlegt.  Das  poli- 
tische Interesse  überwog  das  religiöse,  der  Patriotismus  den  Eifer 
für  das  Gesetz.  Der  König  war  nur  nebenbei  Hoherpriester.  Durch 
die  makkabäische  Erhebung  wurde  das  Judentum  gerettet  und  doch 

was  sie  etwa  gegen  iim  haben  könnten?  Wegen  der  persönlichen  Bosheit  eines 
einzelnen  Zänkers  soll  er  dann  mit  der  ganzen  Partei  gebrochen  haben;  es 
schimmert  indessen  doch  durch,  daß  diese  im  Grunde  mit  der  Äußerung 
ihres  enfaut  terrible  übereinstimmte.  Es  ist  nichts  mit  dem  ursprünglichen 
Pharisäertum  Hyrkans  und  also  auch  nichts  mit  seinem  plötzlichen  Übertritt 
zu  den  Sadducäern.  Der  Differenzpunkt  selbst  beweist  und  der  weitere  Ver- 
lauf des  Streites  zeigt  es  deutlich,  daß  die  Hasmonäer  nicht  nach  ihrem  Da- 
fürhalten auf  die  eine  oder  die  andere  Seite  treten  können,  sondern  die 
Standarte  der  sadducäischen  Partei  sind.  Die  Erzählung  bei  Josephus  selber 
konstatirt  einerseits  das  geflissentliche  Werben  Hyrkans  uin  die  Zufriedenheit 
de?  Pharisäer,  andrerseits  seine  vertraute  Freundschaft  mit  dem  Sadducäer 
Jonathan. 


Die  Aiisbildunji  des  Judaismus.  299 

zugleich  in  seinem  innersten  Wesen  noch  mehr  bedroht  als  durch 
die  Gewaltsamkeit  des  Antiochus  Epiphanes.  Die  Nationalisirung 
erwies  sich  als  gleichbedeutend  mit  der  Verweltlichung.  Die 
Nation  drohte  von  der  Bahn  der  Gerechtigkeit  in  die  Bahn  der 
Macht  und  Ehre  abzuirren^). 

Am  grellsten  trat  das  Misverhältnis  in  der  Person  des  Jan- 
näus  hervor.  Der  Regel  nach  lag  er  mit  dem  Heere  zu  Felde  und 
fröhnte  der  angeborenen  Wildheit  seiner  Natur;  nur  gelegentlich 
kam  er  einmal  nach  Hause,  um  an  einem  hohem  Feste  das  Pallium 
umzuhängen  und  für  das  Volk  zu  opfern.  Kein  Wunder,  daß  ihm 
gegenüber  der  verhaltene  Groll  bei  günstiger  Gelegenheit  sich  Luft 
machte.  Er  gab  indessen  nur  den  Anlaß  zur  Explosion,  die  wahre 
Ursache  des  Grolls  lag  in  der  Unzuträglichkeit,  daß  das  Hohe- 
priestertum  mit  der  vollen  Souveränetät  verbunden  war.  Diese 
Unzuträglichkeit  konnte  er  nicht  beseitigen,  auch  nicht,  wenn  er 
auf  das  geistliche  Amt  hätte  verzichten  wollen.  Denn  auf  diese- 
Weise  hätte  er  nicht  bloß  einen  gefährlichen  Nebenbuhler  be- 
kommen, sondern  gradezu  aufgehört  das  Haupt  der  Nation  zu  sein. 
Nach  der  Verfassung  der  Gemeinde  des  zweiten  Tempels,  wie  sie 
im  Priesterkodex  gebucht  war  und  wie  sie  zu  Recht  bestand,  hatte 
der  Hohepriester  die  Ethnarchie.  Für  einen  nationalen  König  war 
neben  ihm  nicht  Platz;  ein  König  neben  dem  Hohenpriester  konnte 
nur  ein  Tyrann,  ein  Fremdherrscher  sein.  Die  Schwierigkeit  der 
Situation  bestand  eben  darin,  daß  die  Souveränetät,  die  nach  den 
ursprünglichen  Voraussetzungen  der  Hierokratie  in  der  Hand 
fremder  Potentaten  lag,  jetzt  in  die  Hand  einheimischer  Fürsten 
übergegangen  war,  die,  um  volkstümliche  Fürsten  zu  sein,  zugleich 
Hohepriester  sein  mußten.  Der  Kampf  gegen  Jannäus  richtete 
sich  nicht  bloß  gegen  seine  Person,  es  war  vielmehr  der  Kampf  der 
Pharisäer  gegen  die  Sadducäer,  für  die  Idee  der  Theokratie  gegen 
ihre  Verfälschung,  für  das  Gesetz  gegen  das  Reich  Davids"). 

Die  Juden  nahmen  anfangs  Partei  für  die  Pharisäer.  Sie 
wechselten  indessen  ihre  Stellung  und  traten  zum  Könige  über, 
als    dieser,    mit  Hilfe  fremder  Söldlinge  geschlagen,  zu  gänzlicher 

0  Antiq.  16, 158. 

*)  Nicht  allen  frommen  Juden  war  das  priesterliche  Königtum  nach  der 
Weise  Melchisedeks  (Ps.  110)  ein  Anstoß.  Jedoch  die  Pharisäer  hatten  recht; 
der  Idee  der  Hierokratie  widersprach  die  Königsherrschaft.  Ihnen  selber 
scheinen  aber  auch  erst  unter  Jannäus  die  Augen  darüber  aufgegangen  zu  sein. 


300  Neunzehuteti  Kapitel. 

Ohnmacht  herabgesunken  war.  Das  Ende  war,  daß  die  Pharisäer 
das  Feld  räumen  mußten.  Doch  fühlte  sich  Jannäus  nicht  als 
Sieger.  Er  soll  grade  zu  dem  Zweck  bei  seinem  Tode  die  Re- 
gierung seiner  Witwe  übertragen  haben,  damit  sie  die  Pharisäer 
zufrieden  stelle.  Dadurch,  daß  sie  Königin  wurde,  trat  von  selber 
eine  Scheidung  zwischen  der  Herrschaft  und  dem  Hohenpriestertum 
ein,  da  ein  Weib  das  heilige  Amt  nicht  übernehmen  konnte.  Nach 
außen  schaltete  sie  unumschränkt;  in  den  inneren  Angelegenheiten 
verstattete  sie  den  Pharisäern  großen  Einfluß  —  ihr  Sohn 
Hyrkan,  der  Hohepriester,  hatte  nichts  zu  bedeuten.  Die  Auf- 
nahme der  Schriftgelehrten  in  das  Synedrium  geschah  zu  gunsteu 
der  Pharisäer.  Von  nun  an  beherrschten  sie  die  geistliche  und 
bürgerliche  Kechtsprechung;  wenn  auch  die  Richter  im  Synedrium 
größtenteils  Sadducäer  waren,  so  mußten  sie  doch  nach  den  Grund- 
sätzen der  pharisäischen  Juriskonsuiten  entscheiden,  wenn  sie  das 
Volk  nicht  gegen  sich  aufbringen  wollten. 

Der  Friede  der  Regierung  mit  den  Pharisäern  ging  bald  vor- 
über, nicht  immer  konnte  ein  Weib  auf  dem  Throne  sitzen.  Mit 
dem  .Tode  der  Salma  kehrte  der  alte  Zustand  zurück.  Aristobul  H. 
war  wieder  König  und  Hoherpriester,  und  er  stützte  sich  auf  die 
Partei  seines  Vaters,  die  Sadducäer.  Da  brachte  das  Eingreifen 
der  Römer  plötzlich  eine  radikale  Änderung  der  Sachlage  hervor; 
die  Juden  gerieten  wieder  unter  die  Herrschaft  einer  fremden 
Großmacht.  Es  gab  Leute,  welche  die  Königin  Salma,  d.  h.  die 
Pharisäer,  für  den  Sturz  des  hasmonäischen  Reiches  verantwortlich 
machten').  Das  Ziel,  worauf  die  Politik  der  Pharisäer  hinaus- 
laufen mußte,  war  in  der  Tat  die  Fremdherrschaft;  nur  unter  der 
Fremdherrschaft  war  die  Theokratie,  wie  sie  sie  verstanden,  mög- 
lich. Aber  sie  machten  sich  das  nicht  klar,  sie  fragten  nicht  dar- 
nach, was  denn  eigentlich  an  Stelle  des  priesterlichen  Königtums 
der  Hasmonäer  treten  sollte,  sie  wollten  die  Fremdherrschaft 
nicht.  Selber  die  Regierung  zu  übernehmen  konnten  sie  nicht 
denken,  sie  strebten  immer  nur  nach  moralischem  Einfluß.  Sie 
waren  nicht  nur  schlechte  Politiker,  sondern  auch  grundsätzlich 
jiicht  konsequent^).     In  der  Hoffnung    war  auch  ihnen  das  Reich 

1)  Ant.  13,  432:  „Sahna  hatte  Schuld,  daß  den  Hasraouäeru  die  sauer 
erworbene  Herrschaft  verloren  ging,  indem  sie  nach  dem  "Willen  der  Feinde 
ihres  Hauses  regierte  und  die  Dynastie  ihrer  wahren  Fürsorger  beraubte." 

'■^)  Sie  konnten    es  nicht  sein,   weil   der  innere  "Widerspruch  im  Wesen 


Die  Ausbildung  des  Judaismus.  301 

Davids  das  Ideal.  Aber  es  mußte  Hoffnung  bleiben  und  durfte 
nur  durch  ein  göttliches  Wunder  auf  die  Erde  kommen.  Das 
realisirte  Ideal  geriet  in  Konflikt  mit  dem  geistlichen  Wesen  der 
Gemeinde  des  zweiten  Tempels.  Die  p]rfüllung  der  messianischen 
Weissagung,  die  Herstellung  der  alten  Reichsherrlichkeit,  war  in 
Wahrheit  ein  Rückfall  in  eine  überwundene  Stufe;  die  Religion 
war  über  die  Nation  und  über  den  Patriotismus  hinausgewachsen. 
Nur  durften  es  die  Pharisäer  sich  nicht  gestehn,  sie  mußten  die 
Hoffnung  festhalten  und  die  Fremdherrschaft  verabscheuen.  Der 
Haß  gegen  alles  Heidnische,  der  bei  ihnen  sehr  ausgeprägt  war, 
erleichterte  ihnen  das.  Hinzu  kam  die  gebotene  Rücksichtnahme 
auf  das  Volk.  Denn  das  Volk  war  durch  und  durch  patriotisch 
gesonnen. 

Indessen  wie  auch  immer  die  Pharisäer  über  die  Fremdherr- 
schaft denken  mochten,  jedenfalls  hatten  sie  den  Vorteil  davon, 
denn  ihre  Gegner  hatten  den  Schaden.  Als  Regierungspartei  er- 
litten die  Sadducäer  durch  die  Schwächung  der  Regierung  eine 
große  Einbuße  an  ihrer  früheren  Macht.  W^ol  oder  übel  mußten 
sie  sich,  soweit  sie  bei  dem  Aufstande  gegen  Pompeius  mit  dem 
Leben  davon  gekommen  w^aren,  den  Kömern  fügen,  um  ihre 
Stellung  beizubehalten.  Hyrkan  H.  war  fortab  der  Mann,  an  den 
sie  sich  zu  halten  hatten;  ein  möglichst  schlechter  Vertreter  ihrer 
Traditionen.  Ihr  Streben  richtete  sich  vor  allem  darauf,  ihn  von 
dem  beherrschenden  Einfluß  Antipaters  und  seiner  Söhne  loszu- 
reißen, der  ihren  eigenen  bedrohte  und  lahmlegte.  Allein  es  gelang 
ihnen  nicht;  sie  unterlagen  im  Kampfe  gegen  die  verhaßten  Idu- 
mäer  und  sanken  dann  für  längere  Zeit  zur  Bedeutungslosigkeit 
herab.  Ihr  Streit  mit  den  Pharisäern  erbte  sich  zwar  fort,  aber 
er  verlor  seinen  akuten  politischen  Charakter.  Er  drehte  sich  zum 
Teil  um  untergeordnete  juristische  Fragen;  in  der  Hauptsache  blieb 
nur  ein  allgemeiner  Gegensatz  übrig,  der  Schule  gegen  die  Hiero- 
kratie,  der  Bildung  gegen  den  Adel,  der  Tugend  gegen  die  Autorität 
des  Amts.  Die  Sadducäer  hatten  ihren  Sitz  in  der  jerusalemischen 
Aristokratie,  die  Pharisäer  in  der  jerusalemischen  Bürgerschaft; 
jene  waren  exklusiv/,    diese  machten   Propaganda  und  stellten  sich 


der  Theokratie  begründet  war.  Das  Dilemma,  au  dem  die  Hasmonäer  schei- 
terten, war  auch  ein  Dilemma  für  die  Pharisäer;  sie  wurden  durch  die  Kömer 
davon  befreit. 


302  Neunzehntes  Xapitel. 

zum  Vorbild  auf  für  das  ganze  Volk.  Es  war  indessen  nicht  bloß 
und  nicht  eigentlich  ein  Gegensatz  der  gesellschaftlichen  Kreise, 
sondern  ein  Gegensatz  der  Prinzipien,  der  Sinnesweise  und  der 
Lebensanschauung.  Die  Pharisäer  trachteten  nach  der  Gerechtigkeit 
Gottes  und  überließen  ihm  die  Sorge  für  das,  was  dabei  heraus- 
kam; ihr  Handeln  hatte  nur  Sinn,  weil  es  von  Gott  geboten  war. 
Die  Sadducäer  verfolgten  praktische  Ziele  und  gebrauchten  dazu 
praktische  Mittel.  Sie  waren  Realisten,  die  nur  das  Absehbare  in 
Betracht  zogen  und  von  der  Vorsehung  nichts  erwarteten.  Jhre 
Keligion  war  das  Herkommen;  sie  machten  an  Gott  keine  Ansprüche 
und  er  nicht  an  sie '). 

2.  Man  kann  sagen,  daß  mit  der  politischen  Depression,  die 
durch  die  Römer  bewirkt  wurde,  die  Entwicklung  des  Parteien- 
streits auf  ihren  Ausgangspunkt  zurücklenkte.  Der  alte  Gegensatz 
zwischen  den  Frommen  und  den  Weltmenschen,  der  die  Psalmen 
beherrscht,  kam  wieder  zum  Vorschein.  In  der  Tat  setzten  die 
Asidäer,  die  Vorgänger  der  Pharisäer,  die  Asidim  der  Psalmen 
fort;  ihr  Kampf  gegen  die  abtrünnige  Aristokratie  hielt  sich  ur- 
sprünglich in  rein  religiösen  Grenzen.  Aber  während  der  Regierung 
des  Antiochus  Epiphanes  schrumpften  sie  zusammen  und  befestigten 
sich  zu  einem  abgeschlossenen  Vereine,  was  die  Asidim  der  Psalmen 
nicht  gewesen  waren.  Das  bedeutet  zugleich  einen  inhaltlichen 
Unterschied.  Gegenüber  der  Apostasie  trat  die  jüdische  Frömmig- 
keit in  eine  neue  Phase,  sie  versteifte  und  verschärfte  sich.  Die 
Zeit  der  Religionsbedrängnis  und  des  Glaubenskampfes  machte  auch 
auf  geistigem  Gebiete  Epoche.  Ehedem  waren  die  Frommen  ziem- 
lich weitherzig  gewesen  und  nicht  sehr  ängstlich  in  der  Beobachtung 
der  gesetzlichen  Bräuche.  Sie  hatten  das  Heidentum  und  den 
Götzendienst  kaum  mehr  als  eine  Gefahr  betrachtet,  das  Wesen 
schien  gesichert,  die  Form  halbwegs  überflüssig.  Jetzt  zeigte  sich, 
daß  das  ein  Irrtum  war;  die  Verachtung  des  Kleinen  rächte  sich. 
Der  Hellenismus  drohte  das  Judentum  zu  verschlingen.  Infolge- 
dessen trat  eine  Reaktion  ein,  die  auf  die  Formen  und  die  Äußer- 
lichkeiten das  größte  Gewicht  legte  und  zwischen  Kleinem  und 
Großem  im  Gesetz  keinen  Unterschied  machte,  um  sich  gegen  das 


J)  Bell.  2,  162ss.  Ant.  13,  171ss,  18,  Uss.  Josephus  setzt  das  Fatum 
ein  für  die  Gottheit  und  sagt,  die  Pharisäer  machen  alles,  die  Sadducäer  nichts 
vom  Fatum  abhängig.  Eine  authentische  Quelle  für  den  Charakter  des  Gegen- 
satzes ist  der  Psalter  Salomos.  ^ 


Die  Ausbildung  des  Judaismus.  303 

Heidentum  zu  scliützeii  und  abzuschließen.  Dadurch  wurde  die 
Frömmigkeit  Pharisaismus.  Der  Pharisaismus  bildete  den  Über- 
gang zum  'ralmudjudentum. 

Schon  früher  war  die  „Gerechtigkeit"  die  Losung  der  Religion 
gewesen,  aber  gerecht  hatte  so  viel  bedeutet  wie  einfach,  schlicht, 
aufrichtig.  Jetzt  bedeutete  es  korrekt  und  legal.  Schon  früher 
waren  die  Formen  des  Rechtes  auf  religiöse  Verhältnisse  übertragen, 
aber  in  einer  ganz  naiven  Weise.  Jetzt  bekam  die  Frömmigkeit, 
unter  dem  Einfluß  der  zu  Juristen  gewordenen  Schriftgelehrten, 
ein  vollkommen  juristisches  und  zwar  privatrechtliches  Gepräge. 
Die  Religion  wurde  zum  bürgerlichen  und  geistlichen  Recht.  Man 
suchte  das  Leben  bis  in  das  geringste  Detail  hinein  positiv  zu  ordnen, 
damit  möglichst  wenig  der  Freiheit  des  Einzelnen  überlassen  bleibe. 
Man  vergrößerte  beständig  das  Netz  der  Satzungen  und  verdichtete 
die  Maschen,  man  beschränkte  Schritt  vor  Schritt  den  Kreis  des 
Erlaubten  durch  das  Gebotene.  Die  Herrschaft  des  Gesetzes  wurde 
immer  mehr  ausgedehnt  und  es  selber  fort  und  fort  erweitert. 
Grade  auf  die  Erweiterungen,  die  freilich  stets  aus  dem  Buchstaben 
abgeleitet  oder  als  alte  Überlieferung  bezeichnet  wurden,  legte  man 
den  größten  Wert  —  weil  sie  auf  Widerstand  stießen.  Besonders 
herrschte  ein  reger  Eifer,  die  Verordnungen  über  die  Sabbatruhe 
und  über  die  Waschungen  und  Reinigungen  bis  zu  den  äußersten 
Konsequenzen  auszubilden.  Das  Ziel  war,  sich  zu  weihen  und  zu 
heiligen,  sich  zu  hüten  vor  Übertretung.  Die  Werke  der  Moral 
wurden  hintangesetzt,  die  Werke  der  Heiligkeit,  Fasten  Beten 
Almosengeben,  bevorzugt.  Nichts  aber  hatte  Wert,  wenn  es  nicht 
fest  regulirt  w^ar;  auf  die  formelle  Genauigkeit  kam  es  an. 

Um  all  die  Satzungen  und  Gebote  des  geschriebenen  und  un- 
geschriebenen Rechtes  genau  zu  beobachten,  dazu  gehörte  mehr, 
als  Durchschnittsmenschen  leisten  konnten.  Um  sie  auch  nur  zu 
kennen,  dazu  bedurfte  es  einer  eigenen  Gelehrsamkeit.  „Der  Un- 
gelehrte kann  sich  nicht  in  acht  nehmen  vor  der  Sünde,  und  der 
Laie  kann  nicht  wahrhaft  fromm  sein."  Die  Religion  wurde  schul- 
mäßig gelernt  und  mühsam  betrieben,  sie  war  ein  Studium  und 
eine  Kunst.  Eine  gewisse  juristische  Verschmitztheit  paßte  besser 
dazu  als  Einfalt.  Die  Pharisäer  standen  einerseits  den  Weltmenschen 
feindlich  gegenüber,  andererseits  aber  schieden  sie  sich  auch  sehr 
von  der  Menge,  die  vom  Gesetz  nichts  wußte,  und  vergalten  ihr 
die  Verehrung,  die  sie  ihnen  zollte,   mit  unverholener  Verachtung. 


304  Neunzehntes  Kapitel. 

Sie  waren  die  Virtuosen  der  Frömmigkeit,  zugleich  die  sachver- 
ständigen Kenner,  die  stets  ihr  Urteil  bei  der  Hand  hatten.  Ein 
breiter  Abstand  herrschte  zwischen  Gebikleten  und  Ungebildeten 
auf  einem  Gebiete,  auf  welchem  der  Hochmut  der  Schule  besonders 
widerwärtig  und  der  Stolz  auf  das  Wissen  und  Können  besonders 
unberechtigt  ist. 

Gesetze  sind  nach  Ezechiel  dazu  da,  daß  man  dadurch  mag 
leben.  Damit  wird  über  das  System  der  pharisäischen  Satzungen 
der  Stab  gebrochen.  Das  Leben  wurde  dadurch  nicht  gefördert, 
sondern  behindert  und  eingeengt.  Die  Gesellschaft  wurde  eine  Kari- 
katur durch  die  angeblich  göttlichen  und  in  Wahrheit  absurden 
Ziele,  die  ihr  gesteckt  wurden.  Das  Gesetz  verdarb  nicht  bloß  die 
Moral,  indem  der  Dienst  des  Nächsten  hinter  den  Übungen  der 
Gottseligkeit  zurücktreten  mußte;  er  entseelte  auch,  so  viel  an  ihm 
lag,  die  Religion.  Der  Zugang  zu  Gott  wurde  durch  die  Etikette 
verschlossen,  durch  welche  er  ermöglicht  werden  sollte.  „Ihr  selbst 
lindet  ihn  nicht  und  verwehrt  ihn  den  andern",  sagt  Jesus  zu 
den  Pharisäern.  Es  herrschte  ein  wahrer  Götzendienst  des  Gesetzes. 
Gott  selbst  studirte  in  seinen  Mußestunden  die  Thora  und  las  am 
Sabbat  in  der  Bibel  —  so  meinten  die  Rabbinen.  Für  sein  Wirken 
in  der  Geschichte  hatten  sie  kein  Verständnis;  selbst  die  makka- 
bäische  Erhebung  vergaßen  sie  und  ließen  die  Literatur  darüber 
verkommen. 

3.  Man  darf  indessen  nicht  glauben,  daß  die  Schriftgelehrten 
und  Pharisäer  möglichst  die  überlieferten  Schranken  festgehalten 
und  jeder  Bewegung  sich  entgegengesetzt  hätten.  Sie  traten  gegen- 
über den  Sadducäern  für  die  Erweiterung  des  Kanons  ein  und  für 
die  Fortentwickelung  der  Thora.  Sie  setzten  sich  durch  ihre 
Exegese  mit  ganz  bewußter  Willkür  über  den  Buchstaben  der 
Schrift  hinweg.  Sie  legten  Wert  auf  gewisse  Neuerungen,  die 
damals  aufkamen.  Die  weit  über  das  Gesetz  hinausgehende  An- 
wendung des  Tauchbades,  der  Taufe,  z.  B.  bei  dem  Übertritt  von 
Proselyten,  gehört  dahin.  Besonders  im  Geschmack  der  Pharisäer 
war  die  Heiligung  von  Mahlzeiten  ohne  Opfer  —  eine  interessante 
Wiederbelebung  der  alten  Sitte  der  heiligen  Communio  durch  das 
Mahl ').     Sie  hatten   nichts  dagegen,   daß  auch  der  Tempelkultus 

')  Tu  alter  Zeit  (Deuteronomiuui)  hatten  die  Darbriuger  das  Kodesch  ge- 
gessen;  nach  dem  späteren  Gesetz   aßen  es  die  Priester,  mit  Ausnahme  aller- 


Die  Ausbildimg  des  Judaismus.  305 

sehr  bereichert  wurde,  wenngleich  der  Anstoß  dazu  nicht  immer 
von  ihnen  ausging.  Grade  in  dieser  Zeit  traten  nicht  wenige  neue 
Feste  zu  den  im  Gesetz  gebotenen  hinzu,  wie  Hanukka  und  Purim 
und  eine  Menge  anderer;  auch  neue  Riten  zu  den  alten  Festen, 
wie  das  Wasserschöpfen  zu  Lauberhütten.  Zum  Teil  war  das  Neue 
eigentlich  heidnischen  Ursprungs.  Aber  die  fremden  Elemente 
wurden  gründlich  assimilirt '). 

Ebensowenig  darf  man  glauben,  daß  unter  dem  Joch  des  Ge- 
setzes alle  anderen  Triebe  des  geistigen  Leben  verkümmert  wären. 
Sie  wucherten  im  Gegenteil  fort,  das  Judentum  war  in  dieser  Pe- 
riode so  fruchtbar  wie  nie.  Es  war  wie  der  Islam  eine  komplexe 
Erscheinung,  voller  Antinomien,  aufnahmefähig  wie  alles  Lebendige, 
nicht  systematisch,  sondern  nur  historisch  zu  begreifen.    Die  Pedan- 


dings  des  Pascha,  das  aber  seines  Opfercharakters  einigermaßen  entkleidet 
wurde.  Die  Pharisäer  wollten  sich  gern  ebenso  heilig  machen  wie  die  Priester, 
ohne  indessen  deren  gesetzliche  Privilegien  zvi  verletzen. 

1)  Die  „Fastenrolle"  zählt  die  Tage  auf,  an  denen  das  Fasten  verboten 
war,  d.  h.  die  gefeiert  werden  sollten.  Viele  Feste  haben  nur  zeitweilig  und 
lokal  bestanden  und  sind  dann  wieder  eingegangen.  Das  Fest  des  Ilolztragens 
(Joseph.  Bell.  2,425)  wird  schon  Neh.  10,35  erwähnt  und  zwar  merkwürdiger 
Weise  als  im  Gesetz  vorgeschrieben.  Über  die  Hanukka  s.  p.  262  s.  Über  das 
Purimfest  haben  wir  die  Angabe,  daß  die  Legende  desselben,  das  Buch  Esther, 
im  vierten  Jahre  von  Ptolemäus  und  Kleopatra  griechisch  übersetzt  in  Ägypten 
eingeführt  wurde,  d.  i.  nach  Willrich  A.  48/7  vor  Chr.:  sonst  wird  es  zu- 
erst erwähnt  2  Macc.  15,  37  und  Jos.  Ant.  II,  184ss.  Es  hat  genau  ebenso 
wie  die  Hanukka  ein  doppeltes  Gesicht.  Als  historisch  jüdisches  Fest  ist  es 
identisch  mit  und  entstanden  aus  dem  Nikanorstage  (IMacc.  7, 49.  2  Macc. 
15,  36).  Die  große  Niederlage  der  Heiden  fällt  auch  im  Buch  Esther  auf  den 
13.  Adar,  wie  die  des  Nikanor.  Aber  bezeichnender  Weise  wird  die  Festfeier 
beim  Purim  ebensowenig  auf  den  Tag  des  historischen  Anlasses  begangen, 
wie  bei  der  Hanukka.  Das  Purim  wird  nämlich  nicht  zur  Erinnerung  an 
den  Sieg  selber  gefeiert,  sondern  höchst  wunderlich  zur  Erinnerung  an 
den  Ruhetag  nach  dem  Siege;  demgemäß  nicht  am  13.,  sondern  erst  am  14. 
(bezw.  15.)  Adar.  Daraus  geht  hervor,  daß  Purim  sich  ursprünglich  gar  nicht 
auf  das  angegebene  geschichtliche  Ereignis  bezog:  auch  der  Name  und  der 
damit  zusammenhängende  Ritus  der  Manoth,  sowie  der  Hauptstock  der  Legende 
wird  dadurch  nicht  erklärt.  Sondern  es  liegt  ein  älteres  nicht  historisches 
und  nicht  jüdisches  Fest  zugrunde,  welches  auf  den  Vollmond  (14.  oder  15.) 
des  Adar  fiel.  Die  Kombination  dieses  Naturfestes  und  des  Nikanortages 
diente  dazu,  das  erstere  zu  judaisiren  und  das  letztere  zu  entgiften,  d.  h 
seines  hasmonäischen  Charakters  zu  entkleiden,  der  den  Pharisäern  ein  Anstoß 
sein  mußte.     Vgl.  GGA.  1902  p.  143  ss. 

Wellhausen,  Isr.  Geschichte.    5.  Aufl.  20 


306  Neunzehntes  Kapitel. 

terie  und  die  strenge  Disziplin  beherrschte  nur  die  Praxis,  ließ 
aber  auf  dem  Gebiete  des  Glaubens  und  der  religiösen  Vorstellungen 
eine  merkwürdige  Freiheit  bestehn,  wenngleich  gewisse  Grundsätze 
nicht  angetastet  werden  durften.  Es  muß  eine  große,  bunte  und 
anarchische  Literatur  dieser  Art  gegeben  haben,  die  uns  aber 
gewöhnlich  nur  aus  christlichen  Überarbeitungen  und  aus  Resten 
im  Midrasch  und  im  Talmud  bekannt  ist:  die  sogenannte  Haggäda 
verrät  sehr  vielfach  schriftlichen  Ursprung  und  beruht  nicht  einfach 
auf  mündlicher  Überlieferung.  Wenngleich  die  Pharisäer  sich 
später  von  diesem  Gebiet  mistrauisch  abwaudten  und  vorzugsweise 
die  Halacha,  die  rechtliche  Tradition,  pflegten,  so  waren  doch  auch 
hier  ursprünglich  die  Frommen  die  Führer  und  Leiter.  Die  Saddu- 
cäer  hatten  überhaupt  kein  theoretisches  Literesse  an  der  Religion; 
sie  verhielten  sich  ablehnend  gegen  alles,  was  über  das  Herkommen 
und  die  Praxis  hinausging.  Was  man  jüdische  Theologie  nennen 
kann,  ist  auf  grund  der  älteren  Eschatologie  von  den  Asidäern 
ausgebildet.     Das  Buch  Daniel  hat  da  Epoche  gemacht  ^). 

Wir  finden  hier  zuerst  die  religiöse  Betrachtung  der  Welt- 
geschichte als  eines  Ganzen,  die  zu  der  christlichen  Üniversalhistorie 
den  Grund  gelegt  hat:  das  Buch  Daniel  hat  die  selbe  Bedeutung 
für  die  Geschichtswissenschaft  wie  das  erste  Kapitel  der  Genesis 
für  die  Naturwissenschaft.  Der  Ausgangspunkt  ist  die  Zerstörung 
Jerusalems  durch  die  Chaldäer  und  die  ganze  Entwicklung  voll- 
zieht sich  im  Rahmen  der  siebzig  Jahre,  die  Jeremias  als  Frist  bis 
zur  Wiederherstellung  der  Theokratie  gesetzt  hatte.  Die  siebzig 
Jahre  werden  auf  siebzig  Jahrwochen,  also  auf  vierhundertund- 
neunzig Jahre,  erweitert,  und  auf  grund  davon  wird  der  Eintritt 
des  messianischen  Heils  genau  datirt:  die  Zeitrechnung  hält  ihren 
Einzug  in  die  Eschatologie  und  bleibt  fortan  ein  wesentliches  Ele- 
ment derselben.  Die  Entwicklung  schreitet  gradlinig  fort,  in  Stufen, 
welche  durch  die  vier  Monarchien  der  Chaldäer,  Meder,  Perser, 
Griechen  bezeichnet  werden.  Der  Fortschritt  aber  ist  eine  bestän- 
dige Verschlechterung,  eine  Steigerung  der  Feindschaft  gegen  das 
Reich  Gottes  und  die  Juden.  Wenn  das  Reich  der  Welt  auf  dem 
Gipfel  des  Bösen  angekommen  ist,   dann  bricht  es  zusammen  und 


1)  Aber  nur  aus  Unbekanntschaft  mit  dem  Alten  Testament  hat  man  die 
jüdische  Eschatologie  von  Daniel  überhaupt  ausgehn  lassen.  Die  allgemeinen 
Gefühle  von  Sirac.  33  blieben  und  wirkten  weiter. 


Die  Ausbildung  des  Judaismus.  307 

das  Reich  Gottes  tritt  an  seine  Stelle.  Das  Reich  Gottes  ist  die 
Antithese  und  das  Gegenbild  des  Weltreichs,  ebenso  universalistisch 
gedacht  wie  dieses.  Beide  zusammen  haben  nebeneinander  nicht 
Platz,  beide  beanspruchen  sie  die  Weltherrschaft  und  liegen  im 
Kampf  darum.  Das  Recht  und  der  endliche  Sieg  ist  natürlich  auf 
Seiten  Gottes.  Der  Messias  fehlt,  an  seine  Stelle  sind  die  Juden 
in  corpore  getreten. 

Der  weltumfassende  Dualismus  des  Guten  und  des  Bösen  er- 
scheint hier  beinah  ebenso  ausgeprägt,  wie  bei  den  Iraniern.  Nur 
ist  er  engherziger  —  die  Iranier  waren  ein  großer  Völkerkomplex 
und  selber  eine  Welt,  die  Juden  vergleichsweise  nur  eine  Sekte, 
voll  ohnmächtigen  mit  Neid  versetzten  Hasses  gegen  die  feindliche 
Welt,  die  sie  umgab.  Und  vor  allen  Dingen  ist  er  nicht  so  prak- 
tisch gewandt.  Die  Iranier  beteiligen  sich  an  dem  Kampfe  und 
verhelfen  durch  ihre  Arbeit  dem  guten  Prinzip  zum  Siege,  welches 
nicht  bloß  die  Religion  und  die  Nation,  sondern  doch  auch  die 
Kultur  zum  Inhalt  hat.  Im  Buche  Daniel  rückt  die  Weltgeschichte 
wider  Willen  dem  Ziel  um  so  näher,  je  weiter  sie  sich  mit  Willen 
davon  entfernt.  Die  alte  Ära  schneidet  plötzlich  ab  und  die  neue 
beginnt  durch  ein  göttliches  Wunder.  Das  Reich  der  Heiligen  des 
Höchsten,  repräsentirt  durch  den  Menschen  wie  die  Weltmonarchien 
durch  Tiere,  kommt  aus  den  Wolken  des  Himmels.  Im  Himmel 
ist  es  schon  vorhanden,  es  braucht  nur  herabzufahren  auf  die  Erde, 
Dem  gehn  allerdings  Kämpfe  voraus,  aber  auch  diese  werden,  vor 
ihrer  Ausfechtung  auf  Erden,  in  den  Lüften  durch  die  Engel  vor- 
weg entschieden.  Alles  Irdische  wird  in  das  Jenseits  projizirt,  mit 
Ausnahme  jedoch  des  Bösen.  Der  Dualismus  wird  nicht  auf  die 
Gottheit  übertragen  und  nicht  zu  einem  Gegensatz  zwischen  Gott 
und  dem  Teufel  gesteigert.  Der  Satan  spielt  gar  keine  Rolle,  An- 
tiochus  genügt  als  Antichrist. 

An  der  künftigen  Herrschaft  der  Heiligen  des  Höchsten  sollen 
auch  die  Märtyrer  teilnehmen,  die  ihre  Treue  für  das  Gesetz  in 
der  syrischen  Religionsverfolgung  mit  dem  Tode  gebüßt  haben  ^). 
Sie  werden  aus  ihren  Gräbern  aufgeweckt,  zu  dem  Zweck  das  vor- 
zeitig unterbrochene  irdische  Leben  fortzusetzen.  Ebenso  werden 
auch  die  bereits  verstorbenen  Erzbösewichter    der  damaligen  Zeit 


^)  Animos  proelio  aut  suppliciis  peremtorum  aeternos  putant  —  sagt  noch 
Tacitus  (Bist.  5,  75)  von  den  Juden. 

20* 


308  Neunzehntes  Kapitel. 

ins  Leben  zurückgerufen,  um  ihre  Stnafe  nachzuholen.  Denn  an 
den  Toten  kann  keine  Vergeltung  geübt  werden;  es  gibt  nur  das 
irdische,  kein  jenseitiges  und  kein  ewiges  Leben.  Das  Reich  Gottes 
ist  den  natürlichen  Bedingungen  nicht  entrückt,  es  ist  nur  eine 
neue  Phase  der  Weltgeschichte,  es  bleibt  noch  immer  durchaus 
irdisch.  Von  Paradis  und  Geenna  und  allgemeiner  Verantwortlich- 
keit im  Jenseits  hören  Avir  im  Buche  Daniel  noch  nichts  '). 

Die  Auferstehungshoffnung  ergänzt  also  hier  nur  in  einem 
untergeordneten  Punkte  die  messianische  Hoffnung  auf  die  Resti- 
tution des  Volkes.  Später  aber  geht  sie  weit  darüber  hinaus,  wird 
verallgemeinert  und  trägt  dann  am  meisten  dazu  bei,  die  Religion 
über  die  alttestamentliche  Stufe  emporzuheben  und  sie  völlig  zu 
individualisiren.  In  den  Apokalypsen  Baruchs  und  Ezras,  die  je- 
doch erst  an  das  Ende  des  ersten  christlichen  Jahrhunderts  ge- 
hören und  über  die  hier  zu  beschreibende  Phase  des  Judaismus 
hinausliegen,  sind  die  eschatologischen  Vorstellungen  in  eine  ganz 
andere,  höhere  Lage  tranponirt.  Da  haben  wir  die  allgemeine 
Auferstehung  der  Toten,  das  Gericht  über  alle  Seelen,  die  je  auf 
der  Welt  gewesen  sind,   das  Paradis    und  die   Geenna'').     An  die 


1)  Ein  gewisser  Ansatz  zur  Verallgemeinerung  der  Verantwortlichkeit 
liegt  in  der  Vorstellung  vom  himmlischen  Buche.  Das  himmlische  Buch  ist 
im  Alten  Testament  zunächst  ein  Buch  der  Lebenden  (nicht  des  Lebens),  ein 
Verzeichnis  der  Angehörigen  der  Theokratie,  besonders  der  frommen  (Ps.  87,  6. 
Mal.  3,  16).  Schon  bei  Malachi  werden  zu  den  Namen  Vermerke  gemacht  über 
die  Taten  und  Leiden  der  betreifenden  Personen;  in  Ps.  56,  9  faßt  Gott  die 
Tränen  des  Frommen  in  einen  Schlauch  und  zählt  sie.  Dann  wird  die  Biirger- 
liste  zu  einer  Konduitenliste  und  zu  einem  Kontobuch,  nicht  bloß  für  die 
Frommen,  sondern  auch  für  die  Heiden.  In  Dan.  7, 10  werden  bei  der  himm- 
lischen Gerichtssitzung  Bücher  aufgeschlagen,  in  denen  über  die  Verschuldung 
der  Heiden  Rechnung  geführt  ist. 

-)  Das  Paradis  ist  der  alte  Gottesgarten  von  Gen.  2.  3.,  der  plötzlich 
wieder  auflebt  und  transfigurirt  wird.  Die  Geenna  ist  eigentlich  das  Tal  Ge- 
hinnom  bei  Jerusalem.  Dort  stand  in  der  Zeit  Manasses  der  Altar,  worauf  die 
Kinder  dem  Jahve  verbrannt  wurden.  Diese  hochheilige  Stätte  des  Frevels  soll 
nach  Hierem.  7  bei  der  Einnahme  der  Stadt  durch  die  Chaldäer  zu  einer  Stätte 
des  Gemetzels  und  zu  einer  allgemeinen  Leichengrube  entweiht  werden.  Daher 
in  der  Septuagina  die  Übersetzung  TroXuctvoptov,  daher  dann  weiter  die  Bedeu- 
tung der  Geenna.  Der  Strafort  der  Bösewichter  bleibt  aber  daneben  immer 
noch  das  Grab.  Die  Geenna  selber  ist  ja  ursprünglich  auch  nur  ein  Massen- 
grab; das  Feuer  erklärt  sich  vermutlich  aus  der  Leichenverbrennung  und  ent- 
spricht dann  dem  Wurm  (Isa.  66.  14). 


Die  Ausbildung  des  Judaismus.  309 

Stelle  des  Volkes  sind  die  Individuen,  die  Seelen,  getreten  und  die 
zukünftige  Welt  ist  jenseitig  geworden.  Die  alte  messianische  Weis- 
sagung wird  zurückgedrängt.  Die  Restitution  des  Volkes  ist  nicht 
mehr  das  Ziel  und  der  Schluß  des  Weltdramas,  sondern  ein  vor- 
übergehender Zwischenakt  (Chiliasmus).  Der  Messias  kommt  aller- 
dings, rettet  die  Juden,  die  er  in  jeuer  Zeit  in  der  heiligen  Stadt 
und  im  heiligen  Lande  antrifft,  richtet  sein  Reich  in  Palästina 
unter  ihnen  auf  und  beglückt  sie  während  einer  längeren  Periode. 
Aber  die  Periode  läuft  ab,  der  Messias  stirbt  und  seine  ganze 
Generation  mit  ihm.  Und  dann  erst  tritt  die  Endzeit  ein,  die 
zweite  überirdische  Ära,  mit  der  allgemeinen  Auferstehung  der 
Toten,  dem  jüngsten  Gericht,  der  Scheidung  der  Welt  in  Himmel 
und  Hölle.  Es  hat  sich  also  auf  diesem  Gebiet  ein  gewaltiger  Um- 
schwung vollzogen.  Vielleicht  allerdings  in  Anknüpfung  an  alte 
populäre  Vorstellungen,  über  die  Toten,  die  Seelen,  die  Heere  der 
Geister,  auf  Erden  in  der  Hölle  und  im  Himmel.  Der  alte  Volks- 
glaube war  vor  dem  prophetischen  Monotheismus  zurückgewichen 
und  kommt  im  Alten  Testament  nur  spurenweis  zum  Vorschein. 
Er  mochte  sich  aber  in  der  Tiefe  erhalten  haben  und  wieder  auf- 
tauchen, als  die  Fragen,  die  er  zu  beantworten  schien,  auch  der 
monotheistischen  Religion  auf  einer  späteren  Stufe  sich  aufdrängten. 
Da  dieser  alte  Volksglaube  den  Israeliten  mit  den  Heiden  gemein- 
sam war,  so  läßt  es  sich  freilich  den  ihm  etwa  zuzuweisenden 
Vorstellungen  an  inneren  Merkmalen  nicht  ansehen,  ob  sie  wirklich 
von  Anfang  an  dazu  gehört  haben  oder  erst  in  späterer  Zeit  von 
den  Heiden  entlehnt  sind. 

Mit  der  Eschatologie  ist  die  Gnosis  nah  verwandt,  die  durch- 
aus keine  ausschließlich  christliche,  sondern  eine  allgemeine  Er- 
scheinung der  Zeit  ist  und  auch  bei  den  Juden  ihre  Rolle  spielt. 
Die  jüdische  Gnosis  geht  wol  auf  die  ältere  Weisheit  zurück, 
greift  aber  viel  weiter  aus  und  spekulirt  ganz  anders,  großartiger, 
tiefsinniger  und  unsinniger.  Bezeichnend  ist  das  Streben,  Gott  im 
Hintergrund  zu  lassen  und  als  Exponenten  seiner  Beziehungen  zur 
Welt  und  zum  Menschen  allerhand  Mittelwesen  einzuschieben, 
über  die  dann  ungescheut  fabulirt  werden  darf.  Die  göttlichen 
Eigenschaften  und  Wirkungsweisen  werden  hypostasirt;  so  die  Weis- 
heit (Achamoth),  das  Wort  und  der  Geist.  Eine  systematische 
Angelologie  wird  ausgebildet,  mit  Zahlen  und  Namen  und  bestimm- 
ter Charakteristik.     Der   kindliche  Eno;elelaube    der    früheren  Zeit 


310  Neimzehntes  Kapitel. 

war  freies  Spiel  der  Phantasie  gewesen.  Die  Anfänge  einer  Augelo- 
logie  finden  sich  bei  Ezechiel  und  Zacharia,  dann  im  Buche  lob, 
in  den  Proverbien  und  in  den  Psalmen.  Die  Engel  erscheinen  hier 
als  Beamte  und  Interpreten  Gottes,  an  dessen  Hofe  es  ungefähr  so 
zugeht,  wie  an  dem  des  persischen  Großkönigs.  Sie  richten  seine 
Befehle  aus  und  überbringen  sein  Wort  den  Propheten.  Sie  er- 
statten im  Himmel  Bericht  über  die  Vorgänge  auf  Erden,  sie 
tragen  die  Gebete  der  Menschen  hinauf  und  verwenden  sich  für 
sie,  klagen  sie  aber  auch  an.  Sie  sind  zum  Teil  neutrale  Boten, 
die  beliebige  Aufträge  ausführen.  Zum  Teil  aber  verwachsen  sie 
mit  ihrem  Amt,  es  gibt  Engel  des  Unheils  und  des  Todes.  Jedoch 
rebellische  Engel  gibt  es  nicht,  sie  heißen  allesamt  Heilige  oder 
Wächter.  Auch  der  Satan  ist  ein  Diener  Gottes,  sein  „Ankläger" 
und  Kriminalkommissar. 

Eigentlich  gehört  die  Anonymität  zum  Wesen  der  Engel,  sie 
sind  keine  rechten  Personen.  Aber  im  Buch  Daniel  tauchen  zuerst 
ein  paar  Eigennamen  auf,  Gabriel  und  Michael.  Später  vermehren 
sie  sich  rasch;  es  ist  die  Hauptaufgabe  der  Gnosis,  die  übersinn- 
lichen Wesen  zu  benennen,  zu  gruppiren  und  ihnen  ihren  Rang 
anzuweisen.  Der  Begriif  der  Engel  erweitert  sich,  sie  sind  nicht 
bloß  mehr  Boten.  Die  Dämonen,  die  in  der  Wüste  und  in  Ruinen, 
namentlich  in  zerstörten  Heiligtümern,  hausen,  werden  ihnen  zu- 
gesellt; damit  entsteht  auch  in  dieser  Region  ein  Unterschied  guter 
und  böser  Wesen.  Die  Götter  der  Nationen  werden  zu  ihren  Ver- 
tretern und  Patronen  in  der  überirdischen  Welt,  sie  leiten  ihre 
Geschichte.  Aus  den  Naturgottheiten  werden  ebenfalls  Engel,  alle 
Naturerscheinungen  werden  von  ihnen  regiert.  Es  gibt  nicht  bloß 
Engel  der  Gestirne,  sondern  auch  des  Feuers  und  des  Windes,  des 
Donners  und  Blitzes,  des  Regens  und  des  Hagels.  Jeder  Mensch 
hat  seinen  Genius,  sogar  einen  doppelten.  Das  alte  Ineinander 
von  Körper  und  Geist  wird  aufgegeben,  der  Geist  wird  verselb- 
ständigt und  bevorzugt,  mit  der  Materie  verbindet  sich  der  Begriff 
der  Sündhaftigkeit,  des  Todes  und  der  Finsternis.  Die  ganze  sinn- 
liche Welt  wird  in  einer  übersinnlichen  abgespiegelt  und  wieder- 
holt, und  nachdem  dies  geschehen  ist,  wird  sie  daraus  abgeleitet. 
Die  Erklärung  ist  stets  genetisch,  sie  hat  immer  die  Form  der 
Erzählung.  Die  Spekulation  ist  historische  Fabelei,  die  Historie 
spielt  natürlich  ebensowol  im  Himmel  als  auf  Erden. 

Der  Stoff"  wird  zunächst  der  Bibel   entnommen.     Durch  eine 


Die  Ausbildung  des  Judaismus.  311 

wilde,  phantastische  Interpretation  gelingt  es,  aus  ihr  die  nötige 
Erkenntnis  für  alle  Gebiete  des  Wissens  zu  schöpfen.  Gewisse 
Stücke  werden  bevorzugt,  so  die  Theophanie  Ezechiels  und  nament- 
lich die  Erzählungen  der  Genesis  über  die  Weltschöpfung,  über  den 
Sündenfall  der  Menschen  und  der  Engel,  über  Adam  und  Eva, 
Kain  und  Seth  und  Henoch,  Nimrod  und  Melchisedek.  Es  sind 
Stücke  nicht  spezifisch  israelitischen,  sondern  allgemein  mensch- 
lichen Inhalts,  voll  dunkler  Probleme,  welche  die  mythologisirende 
Philosophie  reizen.  Sie  berühren  sich  mit  heidnischen  Sagen  über 
Welt  und  Menschen,  und  die  jüdische  Gnosis  scheut  sich  nicht, 
auch  diese  in  ihr  Gewebe  mit  zu  verarbeiten,  sie  verschlingt  gie- 
rig allen  Stoff"  der  sich  ihr  bietet.  Die  geschichtliche  Bestimmtheit 
der  Off'enbarung  löste  sich  auf;  alle  Grenzen  zerflossen. 

Das  Judentum  steht  in  der  allgemeinen  Kultur-  und  Religions- 
mischung jener  Tage  mitten  inne.  Es  hat  manche  Einrichtung 
und  Vorstellung  von  außen  entlehnt,  manche  Anregung  von  außen 
empfangen.  Wie  tief  der  Hellenismus  eingedrungen  war,  zeigt  die 
gewaltige  Reaktion  dagegen,  die  sich  unter  Antiochus  Epiphanes 
erhob.  Er  wurde  dadurch  an  einem  Punkte  zurückgedrängt,  aber 
keineswegs  ganz  abgewiesen.  Er  drang  bald  siegreich  wieder  vor. 
Die  Hasmonäer  ließen  sich  ohne  Scheu  in  Allianzen  mit  Griechen 
und  Römern  ein,  nahmen  griechische  Namen  an,  gebrauchten  grie- 
chische Legenden  auf  ihren  Münzen.  Die  griechische  Sprache 
wirkte  stark  auf  die  aramäische  ein  und  wurde  in  weiten  Kreisen 
verstanden,  in  Galiläa  und  im  Ostjordanlande  vielleicht  noch  besser 
als  in  Jerusalem:  mit  dem  Verkehr  und  mit  der  Sprache  pflegen 
auch  die  Ideen  zu  wandern.  Nicht  minder  mag  babylonischer  und 
iranischer  Einfluß  in  beträchtlichem  Maße  stattgefunden  haben. 
Bei  den  allgemeinen  Ideen,  wo  nicht  bestimmte  greifbare  Kenn- 
zeichen vorliegen,  ist  es  indessen  schwer  den  Ursprungsort  nach- 
zuweisen. Es  ist  aber  auch  nicht  von  besonderer  Wichtigkeit;  das 
Bezeichnende  ist,  daß  diese  Ideen  in  der  Luft  liegen  und  überall 
auftauchen,  daß  die  Vorstellungskreise  nicht  mehr  durch  nationale 
Grenzen  geschieden  sind.  Übrigens  muß  man  immer  wol  im  Auge 
behalten,  daß  die  Juden  aus  allem  Nahrung  ziehen  und  ihr  Wesen 
darum  doch  nicht  verändern. 

4.  Neben  Sadducäern  und  Pharisäern  werden  als  dritte  jüdi- 
sche Partei  dieser  Zeit  die  Essäer  aufgeführt.  Sie  waren  indessen 
keine  Partei,   sondern   eine  esoterische  Brüderschaft.     Sie  sahen  es 


312  Neunzehntes  Kapitel. 

nicht  auf  Macht  und  Einfluß  ab,  sondern  kümmerten  sich  nur  um 
ihr  Seelenheil.  Sie  zählten  etwa  viertausend  Mitglieder  und  hatten 
Niederlassungen  in  verschiedenen  jüdischen  Städten  und  Dörfern. 
Sie  pflanzten  sich  nicht  auf  natürlichem  Wege  fort,  sondern  durch 
Beitritt  von  Novizen,  die  vor  der  endgiltigen  Aufnahme  einer  län- 
geren Prüfung  unterworfen  wurden.  Sie  waren  fest  organisirt  und 
schwuren  schwere  Eide,  um  sich  zum  Gehorsam  gegen  die  Vor- 
steher, zur  Offenheit  gegen  einander  und  zur  Verschwiegenheit 
gegen  die  Außenwelt  zu  verpflichten,  im  übrigen  vermieden  sie 
die  Eide  —  d.  h.  wol  das  fortAvährende  Schwören  in  der  gewöhn- 
lichen Rede.  Sie  führten  in  ihren  Ordenshäusern  ein  streng  geord- 
netes Leben  mit  vollkommener  Gütergemeinschaft.  Ihren  Unter- 
halt mußten  sie  sich  durch  die  Arbeit  ihrer  Hände  verdienen;  sie 
durften  keine  Sklaven  halten.  Gärtnerei,  Palmenzucht,  war  ihre 
Hauptbeschäftigung;  den  Handel  verabscheuten  sie.  Auf  Almosen- 
geben legten  sie  großen  Wert.  Opfer  brachten  sie  nicht,  die  ge- 
meinsamen Mahlzeiten  wurden  geheiligt  und  waren  ihr  täglicher 
Kultus.  Das  ist  merkwürdig  und  zu  betonen.  Sie  legten  dazu 
weißes  Gewand  an;  die  Speisen  wurden  von  Priestern  zubereitet, 
andere  durften  nicht  gegessen  werden.  Außer  den  Gebeten  vor 
dem  Essen  hatten  sie  ein  Morgengebet  und  wendeten  sich  dabei 
gegen  die  Sonne.  Vor  jeder  Mahlzeit,  wol  auch  vor  jedem  Gebet 
badeten  sie  sich;  das  Salben  mit  Öl  verwarfen  sie  als  schmierig. 
Sie  badeten  sich  auch  bei  jeder  leiblichen  oder  geistigen  Ver- 
unreinigung z.  B.  wenn  ein  Ordensmitglied  höheren  Ranges  einen 
Bruder  niederen  Ranges  berührt  hatte.  Die  Schamhaftigkeit  trieben 
sie  sehr  weit  und  nahmen  dabei  besondere  Rücksicht  auf  die 
Sonne;  sie  spieen  nicht  grade  aus  und  nicht  nach  rechts,  am 
Sabbat  sollen  sie  ihre  Notdurft  überhaupt  nicht  verrichtet  haben. 
Ebenso  eifrig  wie  die  Arbeit  und  die  Heiligung  betrieben  sie  aber 
auch  die  Gnosis.  Sie  hatten  eigene  Bücher,  die  sie  sorgfältig 
geheim  hielten;  sie  pflegten  mittels  der  höheren  Schriftauslegung 
die  Wissenschaft  von  den  Engeln  und  den  himmlischen  Dingen. 
Mit  der  Eschatologie  waren  sie  vertraut;  fast  alle  Essäer,  die  uns 
überhaupt  genannt  werden,  werden  als  Seher  genannt^).  Sie 
glaubten,     die    Seele    sei    unsterblich    und    nur    durch    eine    Art 


1)  Bell.  2,159.    Ant.  13,  311.  15,373.  17,346.    Der  Essäer  Johannes  war 
Truppenführer  im  jüdischen  Kriege  Bell.  2,567.  3,  11.  19. 


Die  Ausbildimg  des  Judaismus.  313 

Sündenfall  mit  dem  Leibe  verbunden,  von  dem  befreit  sie  sich 
freudig  in  die  Höbe  schwinge;  der  guten  Seelen  warte  ein  Para- 
dis  jenseits  des  Ozeans,  der  bösen  eine  finstere  und  kalte  Hölle. 
Auch  mit  Naturkenntnis  gaben  sie  sich  in  ihrer  Weise  ab,  sie  er- 
forschten die  Heilkraft  der  Wurzeln  und  die  Eigenschaften  der 
zauberkräftigen  Steine. 

Die  Essäer  verleugnen  ihren  jüdischen  Ursprung  nicht').  Sie 
erkennen  das  Gesetz  als  verbindlich  an,  halten  den  Sabbat  aufs 
strengste,  befolgen  die  Gottesdienstordnung  der  Synagoge  und  be- 
zeugen auch  dem  Tempel  ihre  Verehrung;  sie  rekrutiren  sich  aus- 
schließlich aus  Juden.  Hire  Haupteigentümlichkeit,  das  Bestreben 
sich  zu  heiligen  und  zu  reinigen,  teilen  sie  mit  den  Pharisäern. 
Das  Opfer  verwerfen  nicht  sie  allein,  sondern  alle  Sekten,  die  von 
dem  Judentum  ausgegangen  sind;  auch  die  Pharisäer  schätzen  es 
nicht  hoch.  Es  wird  schon  in  den  Psalmen  und  in  der  W^eisheits- 
literatur  als  eine  Art  Anachronismus  empfunden,  wenigstens  das 
Privat-  oder  Gelübdeopfer;  Gewicht  gelegt  wird  nur  auf  das  Thamid, 
das  tägliche  Gemeindeopfer,  welches  ganz  unabhängig  von  dem 
Willen  der  Einzelnen  wie  von  selbst  im  Gange  bleibt ").  Als  Sühn- 
mittel tritt  bei  den  Essäern  das  Wasser  an  Stelle  des  Opferbluts; 
die  Opferraahlzeit  aber  wird  durch  die  Heiligung  der  profanen 
Mahlzeit   ersetzt  und  dadurch  die  dem  gesetzlichen  Kultus   beinah 


^)  Den  Namen  erklärt  man  meistens  aus  dem  syrischen  {s^^öH-  Dies  Wort 
ist  freilich  bei  den  Rabbinen,  die  stets  das  hebräische  Äquivalent  gebrauchen, 
nicht  nachweisbar,  aber  darum  vielleicht  doch  auch  in  Palästina  üblich  ge- 
wesen. Hitzig  (Geschichte  d.  V.  J.  p.  428)  meint,  die  Essäer  wären  zur  Zeit 
der  syrisch_en  Verfolgung  gezwungen  gewesen,  auf  den  Tempelkultus  zu  ver- 
zichten, und  später  bei  diesem  Verzicht  stehn  geblieben.  Aber  diese  Meinung 
geht  von  dem  auch  sonst  verbreiteten  Irrtum  aus,  dal5  fromme  Juden  unmög- 
lich darauf  hätten  verfallen  können,  prinzipiell  die  blutigen  Opfer  zu  ver- 
Averfen.  In  Wahrheit  lag  ihnen  dieser  Gedanke  sehr  nahe,  trotz  dem  Gesetze. 
Selbst  die  Rabbinen  behaupten,  das  Opfer  sei  im  Gesetz  nicht  geboten,  son- 
dern nur  zugelassen,  weil  der  Anfang  des  Leviticus  lautet:  wenn  jemand 
Opfer  bringen  will,  so  verfahre  er  dabei  so  und  so.  Die  Kunst,  das  Gesetz 
durch  das  Gesetz  aufzulösen,  ex  lege  discere  quod  nesciebat  lex  (Recogn. 
Clem.  2,  54),  hat  Paulus  von  seinen  pharisäischen  Meistern  gelernt;  und  die 
Geschichte  hat  gezeigt,  daß  der  Tempelkultus  für  den  Bestand  des  Judentums 
von  gar  keiner  Bedeutung  war.     Vgl.  Credner  in  Winers  Zeitschrift  1,  305  ss. 

-)  Korb  an,  im  Priesterkodex  das  Opfer,  wird  später  der  freiwillige  Geld- 
beitrag für  die  Unterhaltung  des  öffentlichen  Gottesdienstes. 


314  Neunzehntes  Kapitel.     Die  Ausbildung  des  Judaismus. 

verloren  gegangene  Idee  der  Commimio  zwischen  der  Gottheit  und 
ihren  Gästen  neu  belebt;  beides  findet  sich  weniger  stark  aus- 
geprägt auch  bei  den  Pharisäern.  In  dem  Betriebe  der  heiligen 
Wissenschaft  halten  sie  sich  völlig  in  den  Gleisen  der  jüdischen 
Gnosis,  wenngleich  sie  vielleicht  einige  besondere  Liebhabereien 
gehabt  haben  mögen.  Das  wodurch  sie  über  das  Judentum  hin- 
ausgehn,  besteht  hauptsächlich  in  Konsequenzen,  die  sie  daraus 
ziehen.  Dadurch  sondern  sie  sich,  wie  es  zu  gehn  pflegt,  von 
demselben  ab  und  bilden  eine  eigene  Gemeinschaft,  die  rein  reli- 
giösen Zwecken  dient,  in  der  die  Natur  als  Schande  empfunden 
wird.  Beispiellos  ist  indessen  eine  solche  Gemeinschaft  auf  diesem 
Boden  nicht.  Religiöse  Gilden  und  Vereine  hat  es  auch  im  israe- 
litischen Altertum  gegeben,  sie  forderten  allerdings  schwerlich  die 
Ehelosigkeit  von  ihren  Mitgliedern.  Fremder  Einfluß  zeigt  sich 
bei  ihnen  aber  in  der  Art  und  in  der  Motivirung  eines  oder  des 
andern  Eitus:  da  scheint  der  Parsismus  im  Spiel  zu  sein ').  Ferner 
in  ihrer  theologischen  Psychologie,  die  gewiß  nicht  erst  durch  Jo- 
sephus  ihre  griechische  Färbung  bekommen  hat. 

Die  Essäer  können  als  Warnung  dienen,  die  Grenzen  des 
Judentums  nicht  zu  eng  zu  stecken,  als  Zeichen,  was  innerhalb 
desselben  doch  alles  möglich  war,  trotz  den  Pharisäern.  Sie  sind 
die  Vorgänger,  nicht  des  Christentums,  dem  diese  Art  der  Esoterie 
und  der  Abscheidung  von  den  Sündern  ursprünglich  völlig  fremd 
war,  wol  aber  des  christlichen  Mönchtums,  wenngleich  dieses 
nicht  zuerst  auf  palästinischem,  sondern  auf  ägyptischem  Boden 
erwachsen  zu  sein  scheint.  Sie  haben  nicht  lange  bestanden, 
aber  lauge  fortgewirkt,  namentlich  in  den  ostjordauischen  Sekten, 
die  wir  leider  nur  sehr  unvollkommen  kennen,  die  jedoch  für 
die  Geschichte  der  Religion  von  großer  Bedeutung  gewesen  sind. 
Ihre  Geheimliteratur  ist  vielleicht  in  nicht  geringem  Maße  in 
den  Pseudepigraphen  ausgebeutet  und  uns  dadurch  mittelbar  über- 
liefert worden. 


^)  Nämlich   bei  der  Scheu  offen  auszuspeien  und  dem  Streben  die  Aus- 
scheidungen vor  der  Sonne  zu  verbergen. 


Zwanzigstes  Kapitel.     Die  Zeit  Hyrkans  IL  315 


Zwanzigstes  Kapitel. 

Die  Zeit  Hyrkans  IL 

1.  Seit  der  Eroberung  Jerusalems  durch  die  Römer  verblaßte 
der  innere  Parteistreit  der  Juden;  politisch  waren  sie  einig  gegen 
die  Römer.  Die  leitenden  Stände  freilich  taten  aus  niederen  oder 
höheren  Rücksichten  ihren  Gefühlen  Zwang  an.  Aber  die  breiten 
Schichten  der  Bevölkerung  hatten  dazu  keinen  Grund,  sie  folgten 
der  Stimme  der  Natur.  Sie  waren  durchdrungen  von  Erbitterung 
gegen  die  Römer.  So  sehr  sie  auch  die  Rabbinen  und  das  Gesetz 
verehrten,  die  Freiheit  und  das  Vaterland  galten  ihnen  doch  höher. 
Der  Patriotismus  war  durch  den  Niedergang  der  hasmonäischen 
Macht  nicht  unterdrückt,  sondern  wurde  nun  erst  recht  die  popu- 
läre Religion  und  die  treibende  Kraft  der  Masse.  Schon  als  die 
Anhänger  Aristobuls  im  Tempel  belagert  wurden,  hatten  sich  frei- 
willige Scharen  aus  der  Provinz  aufgemacht  um  sie  zu  entsetzen; 
und  sobald  hernach  ein  Prätendent  von  der  abgesetzten  Familie 
erschien  und  dem  Hyrkan  die  Herrschaft  streitig  machte,  stand  ihm 
immer  gleich  ein  Heer  zu  Gebote.  Die  Kämpfe  Aristobuls  und 
seiner  Söhne  wurden  nicht  in  dynastischem  Interesse  für  die  jüngere 
hasmonäische  Linie  gegen  die  ältere  geführt,  sondern  für  die  Frei- 
heit gegen  die  Römer:  so  sahen  es  die  Juden  der  Provinz  und  der 
niederen  Klasse  an  und  demgemäß  ergriffen  sie  Partei.  Sie  schlu- 
gen bei  jeder  Gelegenheit  blindlings  los,  ohne  Kenntnis  der  Macht- 
verhältnisse, unter  der  schlechtesten  Führung.  Die  Miserfolge,  die 
sie  erlitten,  entmutigten  sie  wol  für  eine  Weile;  aber  immer  fingen 
sie  das  ungleiche  Spiel  wieder  von  neuem  an.  Man  kann  fragen, 
ob  sie  es  schließlich  verloren  haben. 

Alexander,  Aristobuls  ältester  Sohn  und  Hyrkans  Eidam,  war 
dem  Pompeius  unterwegs  entkommen.  Im  Jahre  57  erregte  er 
einen  Aufstand  in  der  Gegend  von  Jericho  und  gelangte  in  den 
Besitz  der  drei  oft  genannten  Kastelle,  hüben  und  drüben  des  Jor- 
dans. Da  Hyrkan  wehrlos  war,  so  eilte  der  Prokonsul  Gabini us 
herbei,  schlug  ihn   als  er  auf  Jerusalem  marschirte  '),  und  zwang 


')  Bell.  1,  160,  wonach  es  scheint,  als  habe  sich  Alexander  in  Besitz  von 
Jerusalem  gesetzt,  steht  in  Widerspruch  zu  §  163,  wo  er  erst  im  Anrücken 
auf  J.  begriffen  ist.     Der  Versuch,  die  durch  Pompeius  zerstörten  Mauern  von 


316  Zwanzigstes  Kapitel. 

ihn  sich  nach  Alexandrium  zurückzuziehen.  Doch  gegen  Übergabe 
dieser  und  der  anderen  Festungen,  die  nun  geschleift  wurden,  be- 
willigte er  nicht  bloß  ihm  die  Freiheit,  sondern  versprach  auch, 
daß  seine  Geschwister  aus  der  Haft  entlassen  werden  sollten  — 
für  wie  viel  Geld,  wird  nicht  gesagt ').  Der  Vater  allein  wurde  in 
Rom  zurückgehalten;  aber  dieser  fand  Gelegenheit  zu  fliehen  und 
erschien  das  nächste  Jahr  in  der  Heimat.  Ein  großer  Anhang  lief 
ihm  zu,  darunter  auch  alte  gediente  hasmonäische  Truppen,  geführt 
von  dem  Hauptmann  Pitholaus.  Er  suchte  sich  zuerst  in  Alexan- 
drium, dann  jenseits  des  Jordans  in  Machärus  zu  befestigen;  aber 
die  Römer  ließen  ihm  nicht  Zeit.  Nach  hartnäckigem  Kampfe  in 
den  Ruinen  von  Machärus  wurde  er,  samt  seinem  zweiten  Sohne 
Antigonus,  gefangen  und  wieder  nach  Rom  gebracht.  Indessen 
Alexander,  der  sich  nicht  beteiligt  hatte,  blieb  auf  freiem  Fuß;  er 
benutzte  im  Jahre  55  eine  günstige  Gelegenheit,  aufs  neue  einen 
Tumult  zu  erregen,  diesmal  wie  es  scheint  nicht  in  der  Gegend 
von  Jericho,  sondern  im  mittleren  und  nördlichen  Palästina.  Der 
zahlreiche  Haufe,  der  sich  um  ihn  gesammelt  hatte,  verlief  sich 
indessen  zum  Teil  schon,  als  Gabinius  aus  Ägypten  zurückkehrte, 
wo  er  sich  in  dynastische  Händel  eingemischt  hatte;  der  Rest  wurde 
am  Tabor  zersprengt. 

Gleich  nach  der  ersten  Erhebung  Alexanders  verschärfte  Ga- 
binius die  Maßregeln  des  Pompeius,  um  die  Macht  der  Juden  her- 
abzudrücken. Die  Griechenstädte  in  Palästina  suchte  er  zu  heben, 
dagegen  das  hasmonäische  Reich,  soweit  Pompeius  es  noch  hatte 
bestehn  lassen,  gänzlich  zu  beseitigen.  Er  zerschlug  es  in  fünf  von 
einander  unabhängige  Stadtgebiete  mit  aristokratischer  Verfassung, 
Jerusalem  Jericho  und  Gazera  in  Judäa,  Sepphoris  in  Galiläa,  und 
Amathus  in  Peräa.  Hyrkan  sollte  überhaupt  nicht  mehr  Fürst, 
sondern  nur  noch  Hoherpriester  sein;  der  Vorsitz  im  jerusalemischen 
Synedrium  und  der  geistliche  Einfluß  über  die  gesamte  Judenschaft 
konnte  ihm  freilich  nicht  genommen  werden.  Dieser  Zerstücke- 
lungsversuch hatte  aber  nicht  den  Erfolg,  den  inneren  Zusammeu- 


Jerusalem  wieder  aufzubauen,  geht  nach  Ant.  14,82  von  Hyrkan  aus;  denn 
nur  dieser,  nicht  Alexander,  konnte  sich  von  den  dort  anwesenden  Römern 
bewegen  lassen,  von  seinem  Vorhaben  abzustehn. 

^)  Die  Mutter  Alexanders  vermittelte  den  Frieden.     Die  Angaben  Bell.  1, 
168  und  174  gehören  zusammen  und  beziehen  sich  auf  die  selbe  Gelegenheit. 


Die  Zeit  Hyrkans  11.  317 

hang,  den  Patriotismus  und  die  Römerfeindschaft  des  jüdischen 
Volkes  zu  schwächen.  Am  schlimmsten  wurden  vielmehr  diejeni- 
gen davon  betroffen,  die  es  am  wenigsten  verdient  hatten,  nämlich 
die  bisherigen  Machthaber,  die  nun  zur  Freude  der  Aristokratie 
sogar  in  Jerusalem  nichts  mehr  zu  sagen  hatten,  Hyrkan  und  vor 
allem  sein  Hintermann,  Antipater ').  Nach  seiner  Rückkehr  aus 
Ägypten  (55)  hob  daher  Gabinius  die  unnütze  Einrichtung  wieder 
auf  und  stellte  dem  Antipater  zu  gefallen,  der  ihm  gute  Dienste 
geleistet  hatte,  die  alte  Verfassung  wieder  her'"*).  Hyrkan  ward 
wieder  Ethnarch  über  die  drei  Lande  und  Antipater  sein  all- 
mächtiger Vezir. 

Gabinius  wurde  im  Jahre  54  abberufen.  Sein  Nachfolger 
Crassus  stärkte  sich  für  den  parthischen  Krieg  durch  Plünderung 
des  jerusalemischen  Tempels  und  seines  reichen  Schatzes,  den 
Pompeius  nicht  angegriffen  hatte.  Dafür  brach,  nach  seiner  Nieder- 
lage bei  Carrhae  (53),  eine  abermalige  Empörung  der  Juden  in 
Galiläa  aus.  Sie  wurde  von  Pitholaus  geleitet,  dem  hasmonäischen 
Truppenführer,  der  sich  schon  an  dem  Aufstande  Aristobuls  be- 
teiligt hatte  ^).  Er  scheint  sich  in  Taricheae  am  See  Gennesar  fest- 
gesetzt zu  haben.  Aber  der  Quästor  des  gefallenen  Prokonsuls, 
Cassius,  eroberte  die  Stadt,  ließ  eine  Menge  gefangene  Juden  als 
Sklaven  versteigern,  und  tötete  auf  Antipaters  Betreiben  den  Pitho- 
laus. Die  Hoffnung  auf  die  Parther  hatte  getrogen.  Erst  51  er- 
schienen sie  in  größerer  Menge  im  nördlichen  Syrien,  gingen  aber 
im  folgenden  Jahre  wieder  über  den  Euphrat  zurück. 

Demnächst  schaukelte  das  jüdische  Gemeinwesen  in  den  Wogen 
des  römischen  Bürgerkriegs.  Da  Hyrkan  wie  der  ganze  Orient  auf 
der  Seite,  weil  in  der  Hand,  des  Pompeius  war,  so  ließ  Cäsar  den 
gefangenen  Aristobul  gegen  ihn  los.  Derselbe  wurde  aber  noch 
vor  der  Abreise  vergiftet  und  gleichzeitig  sein  Sohn  Alexander  in 
Antiochia  enthauptet^),  sodaß  als  Prätendent  nur  noch  Antigonus 
übrig  blieb  (49).  Nach  der  Schlacht  von  Pharsalus  mußten  die 
Regenten  in  Jerusalem  den  Kurs  ändern,  sie  konnten  nicht  anders 


1)  Bell.  1,  170. 

2)  Ant.  14,  103,  Bell.  1,  178.  Auf  die  Wiederherstellung  der  Ethnarchie 
Hyrkans  II.  durch  Gabinius  bezieht  Mommsen  (Hermes  1874  p.  281  ss.)  die 
Urkunde  Ant.  14,  145  ss.,  für  die  in  der  Tat  kein  anderer  Platz  ist. 

3)  Ant.  14,84.  93. 

*)  Seine  Leiche  wurde  in  Alexandrium  bestattet,  Bell.  1,  551. 


318  Zwanzigstes  Kapitel. 

als  mit  dem  Winde  fahren.  Sie  taten  es  zu  rechter  Zeit  und  mit 
einer  Beflissenheit,  die  dem  Zwange  zuvorkam  und  wie  Freiwillig- 
keit aussah.  Als  Cäsar  in  der  Königsburg  von  Alexandria  bedrängt 
wurde,  schloß  sich  Hyrkan  mit  seinem  Alterego  dem  Mithradates 
von  Pergamum  an,  um  ihn  zu  entsetzen  (Frühling  47).  Der  Lohn 
wurde  ihm  nicht  vorenthalten.  Auf  dem  Durchmarsch  nach  Klein- 
asien hielt  sich  Cäsar  vorübergehend  in  Syrien  auf  (Sommer  47) 
und  traf  dort  vorläufige  Anordnungen.  Ohne  auf  die  Ansprüche 
des  Antigonus  Rücksicht  zu  nehmen,  beließ  er  die  bisherige  Re- 
gierung und  befestigte  ihre  Stellung.  Hyrkan  wurde  als  Ethnarch 
und  Hoherpriester  bestätigt  und  zum  erblichen  Bundesgenossen  der 
Römer  ernannt');  der  Titel  König,  den  ihm  Josephus  seitdem  gibt, 
scheint  ihm  in  Wahrheit  nicht  verliehen  zu  sein.  Antipater  blieb 
sein  Majordomus  und  bekam  das  römische  Bürgerrecht"'').  Die 
Mauern  von  Jerusalem  durften  wieder  aufgebaut  werden;  völlige 
Freiheit  von  Abgaben  an  die  Römer  und  von  militärischer  Besatzung 
wurde  zugestanden^).  Das  hasmonäische  Reich  wurde  zwar  nicht 
restaurirt,  die  Griechenstädte  blieben  frei.  Aber  die  Ebene  Es- 
draelon  im  Süden  von  Galiläa  wurde  zurückgegeben  und  ebenso 
die  unentbehrliche  Hafenstadt  Jope;  wenn  die  Gebietserweiterung 
auch  nicht  gerade  sehr  ausgedehnt  war,  so  war  sie  doch  sehr  wert- 
voll. Von  Rom  aus  bestätigte  und  vermehrte  Cäsar  seine  Gnaden. 
Auch  die  Glaubensgenossen  in  der  Diaspora  hatten  sich  seiner 
Gunst  zu  erfreuen;  er  schützte  sie  bei  der  eximirten  Stellung,  die 
sie  ihrer  Religion  wegen  beanspruchen  mußten.  So  machte  er 
sich  die  Juden  in  Palästina  und  in  der  ganzen  Welt  zu  Freunden, 
wie  es  andere  Imperatoren  vor  und  nach  ihm  getan  haben. 

2.  Ohne  Antipater  wäre  das  alles  nicht  geschehen.  Er  erntete 
jedoch  keinen  Dank  für  ein  Verdienst,  aus  dem  er  selber  den 
meisten  Nutzen  zog.     Obgleich  er  stets  den  Hohenpriester  vorschob 


')  Die  dpyiepa-zvAa  cpiXav8piu7ra,  die  Hyrkan  nach  Ant.  14,  195  behalten 
soll,  sind  die  verbrieften  Gerechtsame  des  Hohenpriesters;  vgl.  1  Esdr.  8,  10 
(Ant.  11,  123).     2.  Macc.4,  11.     Wilcken,  Ostraka  1,  401. 

^)  Ant.  14,  137.  Bell.  1,  194.  ""ETiiTpoTro;,  l7ii[xeXTjTr)c  twv  'louoafojv  (Ant. 
14,  127.  139.  143),  heißt  Antipater  etwa  in  dem  selben  Sinn  wie  Sylläus 
hioiiLTiTTiz  der  Araber  (Nicol.  Dam.  bei  Müller  3,  351).  Strabo  sagt  p.  779: 
iy^ii  S'  ö  ßaaiXebc  (der  Nabatäer)  iTr^xpoTTOv  t(üv  Ixai'ptov  tivä  xaXo'j[/.evov  dtoeXcpov. 
Vgl.  2  Macc.  14,  2.     Römischer  Prokurator  war  A.  nicht. 

2)  Mommsen,  Römische  Geschichte  5,  501. 


Die  Zeit  Hyrkans  II.  319 

und  alle  Ehren  auf  dessen  Haupt  sammelte,  so  daß  sein  eigener 
Name  in  den  römischen  Erlassen  gar  nicht  erscheint  *),  so  war 
doch  Hyrkan  nur  die  Firma,  mit  der  er  arbeitete.  Er  hatte  die 
Macht  in  Händen  und  gebrauchte  sie,  wie  er  wollte:  er  dachte  sie 
auf  seine  Söhne  Phasael  und  Herodes  zu  vererben,  die  er  zu  Statt- 
haltern in  Jerusalem  und  in  Galiläa  machte.  Das  Gericht  und 
die  geistlichen  Angelegenheiten  mochte  er  wol  dem  Synedrium 
überlassen.  Aber  damit  waren  die  Aristokraten  nicht  zufrieden, 
die  in  alter  Zeit  als  Gerusia  die  eigentliche  Regierung  geführt 
hatten  und  sie  verfassungsmäßig  auch  jetzt  noch  mit  dem  Ethnarchen 
teilten;  sie  fühlten  sich  durch  den  Majordomus  beiseite  geschoben. 
An  Hyrkan  waren  sie  gebunden;  sie  suchten  ihn  von  Antipater 
zu  trennen  und  ihm  die  Augen  über  den  idumäischen  Knecht  zu 
öffnen  der  den  Meister  spielte,  sie  drängten  ihn  sich  als  Herrn  im 
Hause  zu  zeigen.  In  Galiläa  zuckte  der  Aufstand  noch  nach;  der 
junge  Herodes  stellte  mit  Nachdruck  die  Ruhe  wieder  her.  Dabei 
fiel  ihm  der  Hauptmann  Ezechias  mit  seiner  Schar  in  die  Hände; 
er  behandelte  ihn  einfach  als  Räuber  und  richtete  ihn  mit  vielen 
anderen  hin.  Nun  war  aber  Ezechias  in  der  Tat  ein  hasmonäi- 
sclier  Freiheitskämpfer,  der  die  Waffen  nicht  gestreckt,  sondern  sich 
als  Bandenführer  gehalten  hatte;  sein  Sohn  Judas  ward  der  Stifter 
der  Patriotenliga  der  Zeloten.  Die  hohen  Herren  in  Jerusalem 
hegten  im  Stillen  Sympathien  für  ihn.  Die  durften  sie  freilich 
nicht  äußern,  aber  sie  schrien  über  die  Gesetzesverletzung  des 
Herodes  und  über  seinen  Eingriff'  in  die  Rechte  des  Synedriums, 
daß  er  auf  eigene  Faust  jüdische  Bürger  habe  hinrichten  lassen. 
Unterstützt  durch  die  klagenden  Mütter  der  Getöteten  brachten  sia 
den  Hohenpriester  wirklich  dahin,  den  eigenmächtigen  jungen  Mann 
nach  Jerusalem  vorzufordern.  Als  er  jedoch  trotzig  vor  dem  Hohen 
Rat  erschien,  in  Purpur  und  von  einem  bewaffneten  Gefolge  um- 
geben, wagten  sie  den  Mund  nicht  aufzutun  und  erhielten  erst 
durch  den  Spott  eines  Ihnen  fernstehenden  Schriftgelehrten '^),   der 


')  Änt.  14,  193  sagt  Cäsar,  Hyrkan  sei  ihm  in  Alexandria  mit  1500 
Mann  zu  Hilfe  gekommen.  Auch  Augustus  redet  16,  162  s.  nur  von  Hyrkan. 
Die  Angabe,  daß  Antipater  Gelder  Hyrkans  in  seinem  eigenen  Namen  nach 
Rom  gesandt  habe  (14,164),  erscheint  also  wenig  glaubwürdig.  Natürlich  aber 
wußten  die  Römer  genau  Bescheid,  was  Hyrkan  und  was  Antipater  bedeutete. 

2)  Ant.  14,172  Samäas,  dagegen  15,4  Pollio.  Abtalion  soll  nicht  Pollio 
sein,  sondern  Autoleon  (DMZ  1901  p.  355), 


320  Zwanzigstes  Kapitel. 

vereinzelt  an  der  Versammlung  teilnahm,  ihre  Fassung  wieder.  Sie 
würden  nun  ein  Todesurteil  ausgesprochen  haben,  wenn  nicht  Hyr- 
kan,  geängstigt  durch  ein  drohendes  Schreiben  des  syrischen  Statt- 
halters Sextus  Cäsar,  die  Sitzung  vertagt  und  dem  Herodes  dazu 
verhelfen  hätte,  sich  heimlich  zu  entfernen.  Bald  darauf  aber  er- 
schien er  wieder  vor  Jerusalem,  diesmal  an  der  Spitze  eines 
Heeres,  und  die  regierenden  Herren  mußten  seinem  Vater  und 
seinem  Bruder  noch  sehr  dankbar  sein,  daß  sie  ihn,  nach  einer 
kleinen  Komödie,  zum  Abzug  bewogen. 

Der  Versuch,  der  Schlange  den  Kopf  zu  zertreten,  kam  zu 
spät.  Der  Erfolg  war,  daß  Antipater  und  seine  Söhne  nun  den 
Vorteil  hatten,  zwischen  Hyrkan  und  seinen  bösen  Räten  unter- 
scheiden zu  können').  Die  Optimaten  hatten  sich  decouvrirt;  seit- 
dem war  ihnen  der  Untergang  gewiß.  Die  Idumäer  hatten  die 
Römer  hinter  sich.  Ohne  jeden  Boden  im  jüdischen  Volk  waren 
sie  auf  die  fremde  Oberherrschaft  angewiesen,  und  aus  dem  selben 
Grunde  diese  auf  sie. 

Sextus  Cäsar  fiel  durch  Meuchlerhand  (46),  und  es  gelang  den 
Pompeianern  in  Apamea  am  Orontes  festen  Fuß  zu  fassen  und 
sich  mit  Hilfe  der  benachbarten  arabischen  Phylarchen^)  und  der 
Parther  zu  behaupten.  Die  Legionen,  die  der  Imperator  kurz  vor 
seiner  Ermordung  nach  Syrien  gesandt  hatte,  gingen  zu  Cassius 
über,  der  im  Jahre  43  dort  die  Statthalterschaft  antrat  und  Dola- 
bella  aus  dem  Felde  schlug.  Auch  Antipater  fügte  sich  dem  neuen 
Machthaber,  und  tat  so  viel  an  ihm  lag,  um  die  Kriegssteuer  von 
700  Talenten,  die  jener  den  Juden  auferlegt  hatte,  schnell  beizu- 
treiben und  ihm  zu  Füßen  zu  legen  ^).  Cassius,  obwol  sonst  un- 
gnädig und  sogar  grausam  gegen  die  Juden,  erkannte  doch  seinen 
Eifer  gebührend  an  und  zeichnete  besonders  Herodes  aus,  indem 
er  ihn  zum  Strategen  in  Cölesyrien  ernannte*).  Aber  noch  in 
dem  selben  Jahre  wurde  Antipater  vergiftet,  und  zwar  auf  Veran- 
lassung eines  alten  hasmonäischen  Offiziers,  Namens  Malichus. 
Der  Mord  hing  zusammen  mit  einer  Palast-  und  Militärverschwö- 


1)  Ant.  14,  183. 

2)  Strabo  p.  753. 

3)  Bell.  l,220ss.  Ant.  14,  275s.  Es  ist  merkwürdig,  daß  Antipater  doch 
nicht  als  für  das  Ganze  verantwortlich  erscheint;  wenigstens  hält  sich  Cassius. 
nicht  an  ihn,  wenn  die  Steuern  langsam  oder  gar  nicht  eingehn. 

*)  Ant.  14,  280  vgl.  180. 


Die  Zeit  Hyrkans  11.  321 

rung,  der  auch  Hyrkan  nicht  fern  stand;  außer  Malichus  und 
seinem  Bruder,  der  in  der  Feste  Masäda  kommandirte,  war  ein 
gewisser  Helix,  ebenfalls  ein  Offizier,  der  Hauptbeteiligte  ^).  Es 
gelang  freilich  den  Söhnen  Autipaters,  durch  List  und  Gewalt  dieser 
und  anderer  Gefahren,  die  nach  dem  Tode  ihres  Vaters  sich  er- 
hoben, Herr  zu  werden.  Als  aber  die  Schlacht  von  Philippi  gegen 
Cassius  entschieden  hatte  (Herbst  42),  erschien  ihre  Stellung  doch 
sehr  erschüttert.  Hu'e  vornehmen  Gegner  von  der  legitimen  Re- 
gierung in  Jerusalem  erhoben  ihr  Haupt  und  gedachten  die  Lage 
auszubeuten.  Während  Antonius  langsam  über  Kleinasien  und 
Syrien  nach  Ägypten  ging  (41),  ordneten  sie  dreimal  eine  Gesandt- 
schaft an  ihn  ab,  um  die  Brüder  zu  verklagen  und  sich  selbst  in 
vorteilhaftem  Lichte  darzustellen.  Indessen  Antonius  wußte  wol, 
was  er  von  ihrer  Zudriuglichkeit  und  von  der  Parteinahme  der 
Antipatriden  für  Cassius  zu  halten  hatte,  er  kannte  von  früher 
her  die  Verhältnisse  in  Judäa.  Je  öfter  und  stärker  die  Depu- 
tationen auf  ihn  eindrangen,  um  so  entschiedener  wies  er  sie  ab, 
und  da  sogar  der  feige  Hyrkan  pflichtschuldig  sich  zu  gunsten  der 
beiden  Brüder  erklärte,  so  bestätigte  er  sie  in  ihrer  Stellung  und 
ernannte  sie  zu  Tetrarchen.  Im  allgemeinen  zeigte  er  sich  den 
Juden  freundlich,  nach  dem  Vorbilde  Cäsars  und  im  Gegensatz  zu 
Cassius. 

3.  Als  der  eigentliche  Nachfolger  Antipaters  trat  schon  damals 
Herodes  hervor;  durch  seine  Verlobung  mit  Mariamme,  der  Tochter 
Alexanders  und  Enkelin  Hyrkans,  trat  er  in  verwandschaftliche 
Beziehungen  zu  beiden  hasmonäischen  Linien.  Cassius  soll  ihm 
bereits  das  Versprechen  gegeben  haben,  ihn  zum  Könige  zumachen'*); 
ehe  er  aber  dies  Ziel  erreichte,  hatte  er  noch  eine  schwere  Probe- 
zeit zu  bestehn.  Schon  in  den  Wirren,  die  nach  dem  Abzüge  des 
Cassius  in  Syrien  ausbrachen,  hatte  Antigonus  Aristobuli  mit  Hilfe 


^)  Malichus  war  sclion  mit  Pitholaiis  au  der  ersten  Erhebung  Alexanders 
gegen  Gabinius  beteiligt  gewesen  (Ant.  14,  84).  Er  war  ein  Araber,  wie  aus 
dem  Namen  erhellt  und  durch  Ant.  14,  277  bestätigt  wird.  Über  seinen  Bruder, 
dessen  Name  nicht  angegeben  wird,  und  über  Helix  s.  Bell.  1,  236  s.  Ant.  14, 
294.  296.  Daß  Hyrkan  mit  ihnen  unter  einer  Decke  spielte,  ergibt  sich  aus 
Bell.  1,229.  233ss.  Ant.  14,277.  281.  292s.;  die  Vorwürfe  Phasaels  gegen 
ihn  (Bell.  1,  237.  Ant.   14,295)  waren  berechtigt. 

2)  Ant.  14,  280.  Der  Essäer  Manaem  soll  dem  Herodes  schon  als  Knaben 
geweissagt  haben,  daß  er  König  werden  würde  (15,  373ss.). 

Wellhauseu,  Isr.  Geschichtü.    5.  Aull.  21 


322  Zwanzigstes  Kapitel. 

des  alten  Ptolemäus  Mennäi,  seines  Schwagers,  und  des  tyrischen 
Tyrannen  Marion  einen  Aufstand  in  Galiläa  erregt,  der  indessen 
nur  den  Erfolg  hatte,  daß  Marion  einige  jüdische  Ortschaften  an 
sich  riß,  die  er  erst  auf  Befehl  des  Antonius  wieder  herausgab. 
])a  brachen  im  Jahre  40  die  Parther  unter  Pacorus,  dem  Sohne 
und  Mitregenten  des  Arsaciden  Orodes,  in  Syrien  ein  und  eroberten 
es  im  Fluge,  da  die  Legionen  größtenteils  zu  ihnen  übergingen. 
Die  Juden  begrüßten  sie  als  Befreier  und  warteten  ihre  Ankunft 
nicht  ab,  um  sich  überall  gegen  die  Römer  und  ihre  Kreaturen  zu 
erheben.  Antigonus  brauchte  sich  nur  zu  zeigen,  so  wuchsen  ihm 
die  Anhänger  aus  dem  Boden.  Es  gelang  ihm  in  Jerusalem  -ein- 
zudringen und  die  Tempelfeste  zu  besetzen.  Hyrkan  und  die  Anti- 
patriden  behaupteten  zwar  die  Königsburg  in  der  Oberstadt,  aber 
das  Erscheinen  einer  Schar  von  500  parthischen  Reitern  genügte 
iliren  Mut  zu  brechen;  sie  verleugneten  auch  in  diesem  Falle  nicht 
den  Respekt  vor  der  Macht,  die  im  Augenblick  die  Gewalt  hatte. 
Hyrkan  und  Phasael  begaben  sich  zu  Barzaphranes,  dem  parthi- 
schen Befelilshaber  in  Palästina,  um  zu  unterhandeln,  bekamen 
aber  bald  zu  merken,  daß  Antigonus  mit  den  Parthern  im  Ein- 
vernehmen stand  und  sie  auf  seiner  Seite  hatte.  Sie  wurden  in 
Ekdippon  festgenommen,  Phasael  zerschmetterte  sich  den  Kopf  an 
einer  Steinmauer,  Hyrkan  wurde  nach  Babylonien  geführt.  Auf 
die  Nachricht  von  ihrer  Gefangennahme  floh  Herodes  aus  Jerusalem, 
es  gelang  ihm  die  Verfolger  abzuschlagen  und  seine  Familie  in  die 
Burg  Masada  zu  schatten,  deren  Hut  er  seinem  Bruder  Joseph 
übertrug.  Nachdem  er  so  die  Seinen  in  Sicherheit  gebracht  hatte, 
ging  er  selber  nach  Alexandria  zu  Antonius,  und  da  er  ihn  dort 
nicht  mehr  fand,  folgte  er  ihm  nach  Rom. 

So  war  nun  Antigonus  Matthathia  König  und  Hoherpriester 
der  Juden.  Er  hatte  nicht  nur  das  Volk  des  Landes,  sondern  auch 
den  jerusalemischen  Adel,  die  Majorität  des  Synedriums,  auf  seiner 
Seite.  Freilich  hätte  sich  die  Nation  keinen  schlechteren  Vertreter 
ihrer  Sache  aussuchen  können.  Er  biß  seinem  gefangenen  Oheim 
Hyrkan  mit  eigenen  Zähnen  die  Ohren  ab,  um  ihn  für  sein  heiliges 
Amt  untauglich  zu  machen ').  Man  traute  ihm  zu,  er  habe  den 
l^arthern  für  ihre  Unterstützung  nicht  bloß  tausend  Talente  zuge- 
sagt, sondern  auch  fünfhundert  Frauen,  lieferbar  aus  den  Familien 


')  Bell.  1,270;  gemildert  Aut.  14,36G. 


Die  Zeit  Hyrkans  II.  323 

seiner  Feinde,  und  sei  darum  schwer  betroffen  gewesen,  als  Hero- 
des  das  große  Ingesind  von  seines  Vaters  Haus  glücklich  vor  ihm 
barg;  auf  diese  Weise  erklärte  man  sich,  daß  er  die  Belagerung 
von  Masada  so  andauernd  und  hartnäckig  betrieb.  Seine  Person 
konnte  keine  Begeisterung  erw'ecken.  Wenn  er  sich  dennoch  drei 
Jahre  lang  unter  schwierigen  Umständen  hielt,  so  beweist  das  nur, 
wie  grimmig  die  Feindschaft  gegen  die  Römer  und  gegen  ihren 
Schützling  bei  den  Juden  w^ar. 

In  Rom  erreichte  Herodes  durch  Antonius,  daß  der  Senat  ihm 
die  Königswürde  verlieh:  schon  nach  sieben  Tagen  konnte  er  wieder 
abfahren  (Ende  40).  Der  syrische  Statthalter  Ventidius  hatte  in- 
zwischen die  Parther  vertrieben,  den  Antigonus  aber  gegen  eine 
Geldzahlung  in  Ruhe  gelassen.  Jetzt  mußte  er  auf  höhere  An- 
weisung dem  neuernannten  Könige  sein  Reich  erobern  helfen. 
Derselbe  landete  in  Ptolemais  und  sammelte  seine  Kräfte  in  Gali- 
läa, wo  er  am  besten  gehaßt,  aber  auch  am  besten  bekannt  war. 
An  Geld  fehlte  es  ihm  nicht,  er  war  immer  bei  Kasse^  und  so 
brachte  er  binnen  kurzem  ein  Heer  auf  die  Beine.  Damit  brach 
er  in  Judäa  ein,  wo  die  dort  statiouirten  römischen  Truppen  unter 
Silo  zu  ihm  stießen,  eroberte  Jope  und  entsetzte  Masada;  die  be- 
freiten Weiber  und  Kinder  brachte  er  nach  der  ihm  befreundeten 
und  treu  ergebenen  Stadt  Samarien ').  Ende  39  konnte  er  zur  Be- 
lagerung Jerusalems  schreiten;  durch  Besetzung  von  Jericho  und 
den  benachbarten  Kastellen  sicherte  er  sich  die  Zufuhr  von  Sama- 
rien her.  Aber  Silo  ließ  ihn  im  Stich  und  führte  aller  Vorstel- 
lungen ungeachtet  seine  Soldaten  in  die  Winterquartiere.  Er  war 
von  Antigonus  bestochen;  er  gestattete  sogar,  daß  dieser,  um  sich 
bei  Antonius  zu  empfehlen,  zur  Verpflegung  der  Legionen  beitrug. 
Herodes  mußte  nach  Galiläa  zurückgehn.  Er  besetzte  bei  dichtem 
Schneegestöber  die  Hauptstadt  Sepphoris  und  lieferte  den  Patrioten 
ein  Trelfen  in  der  Nähe  ihrer  Höhlenfestung  Arbela. 

Im  Frühsommer  38  hatte  Ventidius  noch  einmal  mit  den  Par- 
tliern  zu  tun.  Nachdem  er  sie  gründlich  abgewiesen  hatte,  bela- 
gerte er  ihren  Bundesgenossen  Antiochus  von  Commagene,  den  er 
das  Jahr  zuvor  mit  einer  Geldstrafe  hatte  abkommen  lassen,  in 
Samosäta.     Da  löste  ihn  Antonius  ab,    der  selber  die  Ehre  haben 


')  Pompeius  hatte  Samarieu  den  Judeu  genommen,  Cäsar  es  uiclit  wieder 
zurückgegeben.  Die  Henscliaft  über  Samarieu  bekam  Herodes  erst  durch 
Augustus  (Aut.  15,  217). 

21* 


324  Zwanzigstes  Kapitel.     Die  Zeit  Hyrkans  II. 

wollte,  die  Stadt  einzunehmen.  Herodes  hatte  indessen  zwar  das 
unbezwingliche  Arbela  bezwungen,  konnte  aber  gegen  Antigonus 
nichts  ausrichten.  Bei  Machäras,  dem  Nachfolger  Silos  im  Kom- 
mando über  die  römischen  Truppen  in  Judäa,  fand  er  nur  sehr 
ungenügende  Unterstützung.  Er  wußte  sich  keinen  anderen  Hat, 
er  begab  sich  nach  Samosata  und  ging  noch  einmal  Antonius  an. 
Mit  festen  Zusagen  kehrte  er  zurück,  in  Antiochia  stieß  eine 
Legion  zu  ihm,  bald  darauf  noch  eine  zweite.  Während  seiner 
Abwesenheit  hatten  in  Galiläa  die  Patrioten  sich  wieder  gerührt 
und  viele  seiner  Anhänger  in  den  See  geworfen;  in  Judäa  war 
sein  Bruder  Joseph  bei  Jericho  überfallen  und  getötet.  Es  gelang 
ihm  dort  Ruhe  zu  schaffen  und  hier  die  Truppen  des  Antigonus 
zurückzudrängen,  freilich  erst  nach  schweren  erbitterten  Kämpfen. 
Darüber  ward  es  Winter. 

Sobald  die  Jahreszeit  aufging  (37),  machte  er  sich  an  die  Be- 
lagerung Jerusalems.  Als  er  die  Vorarbeiten  in  Gang  gebracht 
hatte,  verließ  er  das  Lager,  um  in  Samarien  die  Hochzeit  mit 
Mariamme  zu  feiern:  sollte  die  Heirat  mit  der  hasmonäischen 
Königstochter  in  diesem  Augenblick  ein  Vorgeschmack  des  Triumphes 
sein,  ein  Vorspiel  zur  Besitzergreifung  des  hasmonäischen  Erbes? 
Nach  kurzem  Aufenthalt  kam  er  wieder,  und  nun  traf  auch  Sosius, 
der  neue  Statthalter  von  Syrien,  mit  allen  seinen  Legionen  ein. 
Die  Jerusalemer  hatten  früher  sowol  dem  Aretas  als  dem  Pompeius 
die  Tore  geöffnet,  so  daß  die  Belagerung  sich  nur  gegen  den  Tempel 
zu  richten  brauchte.  Jetzt  waren  sie  durch  starken  Zulauf  aus 
der  Landschaft  verstärkt  und  zeigten  sich  fanatisirt.  Sie  führten 
die  Heiligkeit  des  Tempels  und  des  Volkes  im  Munde,  als  sei  ihnen 
dadurch  die  Rettung  aus  der  Gefahr  verbürgt ').  Nur  die  Pharisäer 
ließen  sich  von  der  herrschenden  Stimmung  nicht  fortreißen.  Ihre 
Häupter  rieten  zur  Übergabe  der  Stadt,  fanden  damit  freilich  kein 
Gehör,  so  wenig  wie  einst  Jeremias  in  ähnlicher  Lage.  Li  Wahr- 
heit war  es  weniger  der  Glaube,  als  der  Haß,  der  die  Juden  in- 
spirirte  und  sie  verblendete  über  den  augenscheinlichen  Wahnsinn 
des  Widerstandes  gegen  die  Übermacht.  Etwa  zwei  Monate  nach 
dem  Beginn    der  Beschießung    erfolgte    und    gelang    der  Sturm'). 

1)  Ant.  14,  480. 

2)  Aut.  14,  476.     Die  Belagerung  dauerte  nach  Ant.  14,  487  drei,  nach 
Bellum  1,  351  fünf  Monate.     Vgl.  oben  p.  294  n.  1. 


Einiindzwauzigstes  Kapitel.     König  Herodes.  325 

Herodes  machte  verzweifelte  Austreuguiigen,  dem  Rauhen  und 
Würgen  seiner  Bundesgenossen  in  der  eroberten  Stadt,  die  nunmehr 
seine  Hauptstadt  war,  Einhalt  zu  tun;  er  hielt  sie  aus  eigenen 
Mitteln  schadlos  für  das,  was  ihnen  an  Beute  entging.  Seine  größte 
Sorge  war,  daß  die  Heiden  nicht  das  eigentliche  Heiligtum  betraten. 
Durch  das  Beispiel  des  Pompeius  darüber  belehrt,  daß  der  Frevel 
gegen  Menschen  verzeihlich,  der  gegen  Gott  unverzeihlich  war,  hielt 
er  den  Sieg  für  schlimmer  als  eine  Niederlage,  wenn  etwas  von 
dem,  was  zu  schauen  verboten  war,  von  ihnen  besichtigt  würde. 

Antigonus  kam  zitternd  aus  seinem  Verließ  hervor  und  warf 
sich  dem  lachenden  Legaten  zu  Füßen.  Er  wurde  in  Gewahrsam 
genommen,  Antonius  wollte  ihn  beim  Triumph  in  Rom  verwenden. 
Aber  Herodes  ließ  seinem  Gönner  keine  Ruhe,  bis  das  Haupt  des 
letzten  hasmonäischen  Königs  zu  Antiochia  unter  dem  Beil  des 
römischen  Henkers  gefallen  war.  Nur  in  Hyrkania  hielt  sich  eine 
Schwester  des  Antigonus  bis  über  die  Schlacht  von  Actium  hinaus '). 


Einunclz wanzigstes  Kapitel. 

König  Herodes. 

1.  Ehedem  hatte  Herodes,  wie  sein  Vater,  im  Namen  Hyrkans 
regiert.  Jetzt  war  er  nicht  bloß  König,  sondern  hieß  auch  so^). 
Aber  mit  dem  Schein  der  hasmonäischen  Herrschaft  hatte  er  auch 
den  Schein  des  Rechtes  abgestreift.  Hoherpriester  konnte  er  nicht 
werden,  die  Stellung  an  der  Spitze  der  einheimischen  Theokratie 
mußte  er  anderen  überlassen.  Er  herrschte  als  Tyrann.  Auf  gut 
römisch  begann  er  mit  Proskriptionen.  Wie  Pompeius  nach  der 
Einnahme  Jerusalems  die  Häupter  der  Rebelleu  hingerichtet  hatte, 
so  richtete  er  nun  auch  fünfundvierzig  der  vornehmsten  Einwohner 
hin.  Es  waren  seine  alten  Feinde,  Mitglieder  dei-  Aristokratie 
und  der  früheren  Regierung.  Auf  diese  AVeise  reinigte  er  das 
Synedrium  ^). 


0  Bell.  1,  364  vgl.  Äut.  17,  92. 

*)  Er  regierte  vierunddreißig  Jahre,  von  '61  bis  4  vor  Chr.  (Ant.  17,  Uli. 
Bell.  1,  665).  Josephus  erzählt  selbst  über  Herodes,  über  den  er  doch  so  aus- 
führlich ist,  nicht  chronologisch. 

2)  Bell.  1,358.   Ant.  15,  6.     Josephus    sagt  nicht  ausdrücklich,    daß  das 


326  Einundzwanzigstes  Kapitel. 

Die  größte  Gefahr  drohte  ihm  aber  von  Seiten  der  Hasmonäer, 
an  denen  das  Volk  noch  immer,  und  jetzt  erst  recht,  mit  Liebe 
und  Verehrung  hing.  Er  war  mit  ihnen  verschwägert  und  tat  als 
ob  er  zur  Familie  gehöre;  den  alten  Hyrkan  ließ  er  aus  Baby- 
lonien  kommen  und  ehrte  ihn  wie  seinen  Vater.  Die  Tatsache 
ließ  sich  indessen  nicht  aus  der  Welt  schaffen,  daß  er  die  Dynastie 
gestürzt  hatte.  Von  ihren  männlichen  Vertretern  waren  nur  noch 
zwei  übrig,  Hyrkan  und  sein  Enkel  Aristobulus  Alexandri').  Aber 
ein  Weib  nahm  die  Rache  in  die  Hand,  des  Königs  eigene  Schwie- 
germutter Alexandra.  Hire  Waffe  war  ihr  Sohn,  der  eben  genannte 
Aristobul.  Da  Hyrkan  seiner  Verstümmelung  wegen  nicht  mehr 
Hoherpriester  sein  konnte,  so  mußte  Aristobul  von  Gottes  und 
Rechts  wegen  es  werden;  aber  sein  Schwager  enthielt  ihm  das 
heilige  Amt  vor,  vielleicht  unter  dem  Vorwand,  daß  er  zu  jung 
sei.  Darüber  führte  die  Mutter  Klage  bei  der  ägyptischen  Zauberin '), 
von  der  Antonius  bestrickt  war  (Ende  36).  Kleopatra  hoffte  die 
alten  Ansprüche  ihres  Hauses  auf  Cölesyrien  durchzusetzen,  Hero- 
des  stand  ihr  dabei  im  Wege  und  sie  nahm  Partei  gegen  ihn.  Er 
erkannte  die  Gefahr,  und  um  der  Intrigue  den  Grund  abzuschnei- 
den, entschloß  er  sich  jetzt,  Aristobul  zum  Hohenpriester  zu  machen. 
Dadurch  behielt  er  ihn  zugleich  in  seiner  Hand  und  verhinderte 
die  Absicht,  ihn  nach  Alexandria  zu  bringen.  Denn  ein  Hoher- 
priester durfte  wie  es  scheint  nicht  außer  Landes  gehn^). 

Alexandra  gab  sich  damit  nicht  zufrieden.  Obwol  sie  im 
königlichen  Palast  wohnen  mußte  und  dort  scharf  beobachtet  wurde, 
blieb  sie  doch  in  Verbindung  mit  Kleopatra.  Auf  deren  Rat  faßte 
sie  den  Plan,  mit  ihrem  Sohne  heimlich  nach  Alexandria  zu  ent- 
fliehen; sie  wollten  sich  nachts  in  Särgen  aus  Jerusalem  hinaus- 
tragen lassen.     Jedoch  der  Anschlag  wurde  verraten.    Die  Besorgnis 


Syiiedrium  durch  die  Hinrichtungeu  gesäubert  wurde,  aber  es  versteht  sich 
von  selbst.  Darin  haben  die  jüdischen  Gelehrten  recht,  aber  mit  Unrecht 
meinen  sie,  daß  das  Synedrium  aus  Schriftgelehrten  bestanden  habe,  und  daß 
diese  vorzugsweise  von  den  Proskriptionen  betroffen  seien.  Die  Häupter  der 
Schriftgelehrten  hatten  zur  Übergabe  der  Stadt  geraten,  und  Herodes  ver- 
galt ihnen  das  nicht  mit  Undank  (Ant.  15,3). 

^)  Sein  hebräischer  Name  war  Jonathan  (Bell.  1,  437  Niese). 

-)  Die  Angabe  Ant.  15,  27  wird  durch  Bell.  1,  439  sehr  zweifelhaft.  Man 
sieht  nur,  welche  Scheußlichkeiten  man  der  Alexandra  zutraute. 

3)  Ant.  15,31. 


König  Herodes.  327 

und  die  Eifersucht  des  Königs  nahm  noch  zu,  als  der  junge  schöne 
Hohepriester,  der  Erbe  der  Hasmonäer,  bei  seinem  ersten  feierlichen 
Auftreten  am  Laubhüttenfest  35  von  der  Menge  mit  lautem  Jubel 
begrüßt  wurde.  Bald  darauf  gab  Alexandra  ein  Fest  in  Jericho. 
Nach  dem  Mahle  wurde  im  Garten  allerhand  Kurzweil  getrieben 
und  zum  Schluß  gebadet.  Bei  dieser  Gelegenheit  spielten  die  Kame- 
raden so  lange  untertauchen  mit  Aristobul,  bis  er  erstickt  war. 
Der  Schwager  zeigte  sich  sehr  betrübt  und  veranstaltete  eine  große 
Trauer.  Aber  die  Mutter  ließ  sich  nicht  täuschen.  Sie  teilte  Kleo- 
patra  den  Sachverhalt  mit,  und  diese  setzte  es  durch,  daß  Antonius 
im  Frühling  34,  als  er  auf  dem  Marsch  nach  Armenien  im  dem 
syrischen  Laodicea  sich  aufhielt,  den  Mörder  vor  sich  forderte..  Die 
Lage  war  ernst,  Herodes  bestellte  sein  Haus,  ehe  er  ging.  Er  über- 
gab die  Regierung  und  die  Aufsicht  über  den  Palast  dem  Statt- 
halter von  Idumäa,  seinem  Oheim  Joseph,  der  zugleich  der  Mann 
seiner  Schwester  Salome  war.  Während  seiner  Abwesenheit  ver- 
breitete sich  in  Jerusalem  das  Gerücht,  er  sei  hingerichtet.  Dar- 
auf hin  traf  Alexandra  Vorbereitungen,  mit  Mariamme  zu  den 
Feldzeichen  einer  römischen  Legion  zu  fliehen,  welche  damals  in 
der  Nähe  von  Jerusalem  lagerte.  Aber  das  Gerücht  erwies  sich 
als  falsch.  Der  Regent  Joseph  mußte  es  mit  dem  Tode  büßen, 
daß  er,  wahrscheinlich  ganz  arglos,  ihr  Vorschub  geleistet  hatte 
bei  dem  Plane,  sich  und  die  Ihrigen  der  Gewalt  des  Königs  zu 
entziehen ').     Sie  selbst  war  durch  Kleopatra  geschützt. 

Wider  Erwarten  wurde  Herodes  in  Laodicea  freigesprochen, 
Antonius  mochte  ihn  nicht  opfern.  Ohne  Schaden  kam  er  freilich 
nicht    davon.     Kleopatra    bekam    nicht    nur    die  Paralia    und  die 


')  Salome  soll  sich  zweimal  ihres  Gatten  (Josephs  und  Kostobars)  durch 
Verrat  entledigt  haben;  und  zweimal  soll  sich  der  von  Herodes  bestellte  Vize- 
regent (Joseph  und  Sohaem)  in  Mariamme  verliebt  haben.  Mit  Kecht  nimmt 
Destinon  (Die  Quellen  des  Josephus  1882  p,  113)  Anstoß  an  dem  gleichmäßigen 
Verlauf  der  Vorgänge,  welche  sich  nach  den  Antiquitäten  (15,  65 ss.  80ss.  und 
15,185s.  202ss.)  an  die  Reisen  des  Königs  zu  Antonius  und  zu  Augustus 
knüpfen.  Im  Bellum  fehlt  der  zweite  Bericht  gänzlich.  Daß  indessen  Mariam- 
me (die  dem  Herodes  fünf  Kinder  gebar)  nicht  schon  im  Jahre  34  getötet 
ist,  steht  fest;  darin  haben  die  Antiquitäten  gegen  Bell.  1,  441  ss.  recht.  Be- 
achtenswert scheint,  daß  Aut.  15,  185  die  Namen  Josepos  und  Soaimos  neben- 
einander stehn;  vielleicht  ist  irgend  eine  Verwechslung  zwischen  dem  Ta[j.ta; 
und  dem  8e!os  vorgefallen. 


328  Eiuuudz wanzigstes  Kapitel. 

Herrschaft  des  Lysanias  nebst  angrenzenden  nabatäischen  Gebieten 
geschenkt,  sondern  auch  die  reiche  Landschaft  von  Jericho,  mit 
den  Palm-  mid  BalsampÜanzungen,  mit  dem  Salz-  und  Asphalt- 
regal. Herodes  mußte  ihr  dieselbe  für  teures  Geld  abpachten. 
Daneben  hatte  er  auch  noch  einzustehn  für  den  Tribut,  welcher 
dem  Nabatäer  Malichus  für  die  ihm  genommenen  und  dann  doch 
wieder  belassenen  Gebiete  auferlegt  war.  Dadurch  wurde  er  in 
ein  sehr  misliches  Verhältnis  zu  dem  nichts  weniger  als  zahlungs- 
bereiten Nachbarn  gebracht.  Er  war  im  Begriff,  Gewalt  gegen  ihn 
zu  gebrauchen,  als  der  große  Krieg  zwischen  Antonius  und  Octavian 
ausbrach  (32).  Da  wollte  er  nicht  zurückbleiben,  sondern  an  dem 
Entscheidungskampf  teilnehmen.  Indessen  Kleopatra  hatte  ein  In- 
teresse, ihn  fern  zu  halten;  auf  ihr  Betreiben  wurde  er  angewiesen, 
ruhig  seinen  Zug  gegen  Malichus  auszuführen.  Sie  dachte,  die 
beiden  Löwen,  die  in  Cölesyrien  noch  übrig  waren,  sollten  sich 
gegenseitig  aufzehren.  Sie  unterstützte  daher  die  Araber,  als 
Herodes  zu  rasch  mit  ihnen  fertig  zu  werden  schien.  Das  hinderte 
freilich  nicht,  daß  er  sie  am  Ende  doch  vollständig  besiegte.  Sie 
erkannten  sogar  seine  Oberherrschaft  an.  Das  heißt,  sie  verstanden 
sich  zur  Zahlung  des  strittigen  Tributs,  und  zwar  für  die  Gegend, 
für  die  überhaupt  Tribut  zu  zahlen  war,  nämlich  für  den  Norden 
ihres  Gebiets,  wo  sie  an  Peräa,  an  Damaskus  und  an  die  iturä- 
ische  Herrschaft  grenzten.  In  dieser  Gegend  wurde  auch  der  Krieg 
geführt  (31). 

Kleopatra  zweifelte  nicht  daran,  daß  Antonius  Sieger  bleiben 
würde.  Es  kam  aber  anders,  und  sie  hatte  durch  ihre  Politik 
gegen  Herodes  nur  erreicht,  daß  derselbe  nicht  unmittelbar  in  die 
große  Niederlage  seines  Herrn  und  Meisters  verwickelt  wurde  und 
um  so  leichter  nun  den  durch  die  Umstände  gebotenen  Partei- 
wechsel vornehmen  konnte.  Wie  einst  Antipater  fand  auch  er 
alsbald  Gelegenheit,  dem  neuen  Machthaber  sich  gefällig  zu  er- 
weisen, indem  er  eine  Gladiatorenschar  des  Antonius  abfangen  half, 
welche  von  Cyzicus  nach  Ägypten  sich  durchzuschlagen  suchte.  Im 
Frühling  30  machte  er  sich  auf  den  Weg  zu  Octavian  nach  Rhodus. 
Vorher  aber  traf  er  auch  jetzt  wieder  Maßregeln  für  den  schlimm- 
sten Fall.  Die  Regentschaft  übertrug  er  seinem  Bruder  Pheroras. 
Seine  Frau  und  seine  Schwiegermutter  schaffte  er  nach  Alexan- 
driiim  und  gab  dem  Befehlshaber  der  Burg,  dem  Ituräer  Sohae- 
mus,  geheimen  Auftrag,  beide  zu  töten,  wenn  er  nicht  lebend  zu- 


König  Herodes.  329 

rüekkäme.  Hyrkan  ließ  er  hinrichten,  wie  es  scheint  nach  ein- 
geholtem Spruch  des  Syneciriums  ').  Der  alte  Mann  war  zwar  selber 
nicht  gefährlich"),  doch  konnte  er  noch  immer  seiner  unruhigen 
Tochter  zur  Fahne  dienen.  Übrigens  war  er  niclit  unschuldig  an 
dem  Morde  Antipaters,  und  vielleicht  auch  deshalb  wollte  He- 
rodes sein  graues  Haar  nicht  in  Frieden  zur  Grube  fahren 
lassen^). 

Octavian  war  so  billig,  die  Gegnerschaft  des  Vasallen  gegen 
seine  Person  nach  der  Lage  der  Dinge  zu  verzeihen  und  seine  Treue 
gegen  Rom  anzuerkennen.  Herodes  bekam  das  Diadem  zurück, 
das  er  als  verwirkt  abgelegt  hatte.  Durch  die  umsichtige  Energie, 
mit  der  er  das  römische  Heer  auf  dem  Marsch  nach  Pelusium  ver- 
sorgte, befestigte  er  sich  in  der  Gunst  des  neuen  Herrschers.  Als 
er  nach  dem  Tode  des  Antonius  und  der  Kleopatra  sich  zu  ihm 
begab,  um  ihm  Glück  zu  wünschen,  erhielt  er  nicht  nur  Jericho 
zurück,  sondern  dazu  auch  noch  die  meisten  Städte  der  Paralia, 
nebst  Samarien  Gadara  und  Hippus.  Die  gefürchtete  Katastrophe 
brachte  ihm  den  größten  Gewinn.  Von  Kleopatra  wurde  er  be- 
freit, mit  Octavian  für  Antonius  machte  er  einen  guten  Tausch. 
Die  Ruhe,  die  nach  zwanzigjährigem  Bürgerkriege  endlich  im  römi- 
schen Reiche  eintrat,  behütete  seine  Herrschaft  vor  ferneren  Krisen. 

In  sein  Haus  drang  der  Sonnenstrahl  nicht.  Als  er  vergnügt 
von  Rhodus  heimkam,  ließ  Mariamme  ihn  deutlich  merken,  daß 
sie  sich  nicht  darüber  freute.  Er  liebte  sie  leidenschaftlich;  er 
hatte  ihretwegen  seine  erste  Frau  nebst  ihrem  Sohne  verstoßen, 
und  so  lange  sie  lebte,  gab  er  ihr  keine  Nebenbuhlerin.  Ihre 
Kinder  nannte  er  nicht  Antipater  und  Phasael,  sondern  Alexander 
und  Aristobul.     Er  hatte  zwar  ihren  Bruder  und  ihren  Großvater 


')  Ant.  15,  173:  oet^a;  toj  auvsoptw.  Wenig  angebracht  ist  hier  die  Pole- 
mik J.  Derenbourgs  gegen  Graetz  (Essai  sur  l'histoire  de  la  Palestine  1867 
p.  150  n.  2).  Derenbourg  will  nichts  auf  die  Schriftgelehrten  kommen  lassen, 
die  er  mit  dem  Synedrium  identifizirt. 

^)  Nach  Ant.  15, 178  war  er  über  achtzig  Jahre  alt.  Da  indessen  Jannäus 
und  Salma  erst  103  geheiratet  haben,  so  kann  Hyrkan  nicht  vor  102  geboren 
sein.     Er  stand  also  im  Jahr  31  höchstens  im  zweiundsiebzigsten  Jahre. 

^)  Vgl.  p.  321  u.  1.  Merkwürdig  trifft  es  sich,  daß  als  Anlaß,  weshalb 
Herodes  ihn  hinrichten  ließ,  seine  Konspiration  mit  Malchus  angegeben  wird, 
freilich  nicht  mit  dem,  der  den  Antipater  ermordet  hatte,  sondern  mit  dem 
gleichnamigen  Nabatäerkönige. 


330  EinundzwanzijTS  tes  Kapitel. 

umgebracht,  aber  das  war  doch  mit  in  ihrem  Interesse,  wenigstens 
im  Interesse  iiirer  Erben  geschehen,  und  die  Staatsräson  des  Ver- 
wandtenmordes hatte  auch  bei  den  Hasmonäern  gegolten.  Vor 
allem,  wenn  darauf  ihre  Abneigung  gegen  ihn  beruhte,  warum 
hatte  sie  sie  nicht  früher  gezeigt  und  warum  jetzt  so  ofl'en?  Der 
Umschlag  ihres  Benehmens  befremdete  und  beunruhigte  ihn.  Diese 
Stimmung  benutzte  seine  Schwester  Salome,  um  sich  an  der  Ilas- 
monäerin  zu  rächen,  durch  deren  Stolz  sie  sich  tief  gekränkt  fühlte. 
Sie  stiftete  den  Mundschenken  des  Königs  an,  auszusagen,  er  habe 
von  Mariamme  einen  Liebestrank  für  ihn  erhalten,  dessen  Zusam- 
mensetzung ihm  zweifelhaft  sei.  Ein  Eunuch,  peinlich  befragt, 
wußte  nichts  von  der  Sache,  gestand  aber,  sie  hasse  ihren  Gemahl 
wegen  des  Befehls,  den  er  Sohaemus  gegeben  habe.  Jetzt  wußte 
Ilerodes  Bescheid.  Aber  von  rasender  Eifersucht  geleitet,  nahmen 
seine  Gedanken  eine  sonderbare  Wendung.  Er  sah  in  der  Indis- 
kretion des  Sohaemus  einen  sicheren  Beweis  dafür,  daß  er  allzu 
vertraulichen  Umgang  mit  der  Königin  gepflegt  haben  müsse.  Ihn 
ließ  er  auf  der  Stelle  töten,  sie  stellte  er  vor  ein  Gericht  seiner 
Freunde,  die  sie  verurteilten.  Als  sie  zum  Tode  geführt  wurde, 
lief  ihre  Mutter  schimpfend  hinter  ihr  her,  in  der  Hoffnung,  auf 
diese  Weise  Verdacht  und  Gefahr  von  sich  abzuwenden  und  lin- 
der Rache  geweihtes  Leben  zu  sparen.  Sie  schwieg  mitleidig; 
ohne  die  Farbe  zu  verändern,  ging  sie  ruhig  ihren  letzten  Gang 
(Ende  29). 

Der  König  war  ohne  Zweifel  von  der  Schuld  seiner  Gemahlin 
überzeugt ').  Gewissensbisse  über  ihre  Hinrichtung  scheint  er  nie- 
mals empfunden  zu  haben,  er  glaubte  getan  zu  haben,  was  er  tun 
mußte.  Aber  die  Leidenschaft  brach  wieder  bei  ihm  aus  in  Ge- 
stalt der  schmerzlichsten  Sehnsucht  nach  der  Gemordeten.  Es 
hat  lange  gedauert,  bis  er  sich  durch  andere  Frauen  tröstete.  Ver- 
geblich suchte  er  sich  fern  von  Jerusalem  durch  Jagen  und  Trinken 
zu  zerstreuen.  Die  Erschütterung  warf  ihn  schließlich  zu  Boden, 
er  erkrankte  in  Samarien  und  man  gab  ihn  auf.  Da  machte  die 
Schwiegermutter  ihn  wieder  lebendig.  Sie  suchte  sich  in  Besitz 
der  beiden  Zitadellen  von  Jerusalem  zu  setzen,  angeblich  um  für 
den   Fall    seines  Todes  seinen  Söhnen  die  Herrschaft  zu  wahren. 

^)  Auch  Nikolaus  Dam.  glaubte  au  den  Ehebruch  der  Mariamme  (Ant. 
16,  185). 


König  Herodes.  331 

Indessen  die  Kommandanten,  an  die  sie  sich  wendete,  erstatteten 
dem  Könige  Bericht,  und  nun  erteilte  er  Befehl,  sie  hinzurichten. 
Es  ist  ein  Rätsel,  warum  er  auf  diesen  Anlaß  gewartet  hat.  Um 
ihn  hatte  sie  den  Tod  längst  viele  Male  verdient.  Im  übrigen  war 
ihr  Haß  gegen  ihn  so  berechtigt,  wie  ein  Haß  überhaupt  nur  sein 
kann,  und  die  Wahl  der  Mittel  um  ihn  zu  befriedigen  findet  in 
der  Ohnmacht  des  Weibes  ihre  Entschuldigung. 

Von  dem  hasmonäischen  Hause  waren  nun  bloß  noch  Seiten- 
verwandte  übrig,  die  Sabbasöhne  ^).  Sie  hatten  zu  den  Anhängern 
des  Antigonus  gehört,  waren  aber  bei  der  Eroberung  Jerusalems 
entkommen  und  seitdem  nicht  aufzuspüren.  Jetzt  wurde  ihr  Auf- 
enthalt durch  Salome  verraten.  Diese  hatte  nach  der  Hinrichtung 
Josephs  den  Nachfolger  desselben  in  der  Statthalterschaft  von  Idu- 
mäa  zum  Manne  bekommen,  Kostobarus  aus  dem  Geschlecht  der 
Priester  des  Koze.  Mittlerweile  war  sie  seiner  überdrüssig  ge- 
worden, sie  verließ  ihn  und  klagte  ihn  bei  ihrem  Bruder  an,  daß 
er  den  Plan  noch  immer  nicht  aufgegeben  habe,  den  er  schon 
früher  einmal  mit  Hilfe  Kleopatras  auszuführen  getrachtet  hatte, 
nämlich  Idumäa  unabhängig  zu  machen.  Als  Beweis  seiner  hoch- 
verräterischen Gesinnung  gab  sie  an,  daß  er  die  Sabbasöhne  bei 
sich  versteckt  halte.  Darauf  wurden  sowol  Kostobarus  mit  eini- 
gen Complicen  als  auch  die  Sabbasöhne  ergriffen  und  hinge- 
richtet ■). 

2.  Mit  der  Überwindung  solcher  Schwierigkeiten  verbrachte 
Herodes  die  ersten  zwölf  Jahre  seiner  Herrschaft.  Dann  hatte  er 
das  Feld  frei,  um  anderweit  seine  Leistungsfähigkeit  zu  zeigen. 
Einer  seiner  wichtigsten  Erfolge  war  die  Bändigung  der  wilden 
Araber,  die  zwische  Nabatäern  und  Ituräern  in  der  Mitte  wohnten, 
und  ihre  feste  Burg  in  dem  Felsenlabyrinth  der  Trachonitis  hatten'). 

1)  Sabba  hat  Mese  hergestellt.     GeAvöhnlich  sagt  man  Babasöhne. 

-)  Ant.  15,  256ss.  Der  Name  Kostobar  (20,214)  scheint  aus  Kos-ta- 
bar  entstanden  zu  sein.  Nach  Ant.  15,  2ßO  fiel  die  Hinrichtung  der  Sabba- 
söhne ins  Jahr  25. 

^)  Der  arabische  Name  der  Trachonitis  ist  Lägaat  =  Lägä,  die  Zu- 
fluchtsstätte. Nach  Agh.  4  76,  15  waren  die  unter  den  Taiji  wohnenden 
Banu  Laga  ein  Rest  von  Thamud,  d.  h.  vielleicht  von  den  alten  Arabern 
der  Trachonitis.  Von  der  örjptiuSrj;  xaxofaTaot;  derselben  redet  das  Edikt 
Agrippas  II.  bei  Le  Bas  und  Waddington,  Voyage  Archeol,,  Syrie  no.  2329; 
vgl.  lob.  30. 


332  Einundzwanzigstes  Kapitel. 

Sie  scheinen  durch  die  Erschütterung  des  ituräischen  Reiches  aus 
Rand  und  Rand  geraten  zu  sein.  Antonius  hatte  Lysanias  von 
Chalcis  hingerichtet  und  seine  Herrschaft  der  Kleopatra  verliehen; 
sie  hatte  dieselbe  an  einen  Verwandten  des  Lysanias  verpachtet, 
Zenodorus,  der  später  von  Augustus  als  Vierfiirst  und  Hoherpriester^) 
bestätigt  wurde.  Zenodorus  nun  spielte  mit  den  Räubern  in  der 
Trachonitis  unter  einer  Decke,  vielleicht  weil  ihm  die  Macht  fehlte, 
sie  zu  beaufsichtigen.  Sie  wurden  eine  Landplage  für  die  Nach- 
barschaft und  störten  den  Verkehr  mit  Damaskus  und  dem  Osten  ^), 
Um  hier  Wandel  zu  schaffen,  übertrug  Augustus  nicht  bloß  die 
Trachonitis,  sondern  auch  Batanäa  und  Auranitis  dem  Herodes  (23). 
Seine  Wahl  hätte  auf  keinen  Besseren  fallen  können.  Herodes 
hatte  das  nächste  Interesse  daran,  Ordnung  an  seinen  Grenzen  zu 
stiften,  er  hatte  auch  das  größte  Geschick  zu  solchen  Aufgaben 
mehrfach  bewiesen.  Er  war  selber  halb  arabischen  Blutes  und 
verstand  sich  auf  die  Araber.  Es  war  freilich  nicht  leicht,  die 
räuberischen  Nomaden  zu  einer  anderen  Lebensweise  überzuführen, 
und  die  Schwierigkeit  wurde  noch  dadurch  erhöht,  daß  auf  der 
einen  Seite  die  Ituräer,  auf  der  andern  die  Nabatäer  dem  jüdischen 
Könige  den  Machtzuwachs  in  dieser  Sphäre  nicht  gönnten,  die  sie 
mit  einigem  Recht  als  die  ihrige  ansehen  konnten.  Zenodorus 
klagte  gegen  ihn  in  Rom;  Obädas  wollte  den  Hauran  nicht  auf- 
geben, der  ihm  erst  jüngst  für  fünfzig  Talente  von  Zenodorus  ab- 
getreten war.  Auch  die  Stadt  Gadara  benutzte  die  Gelegenheit, 
um  gegen  ihren  Herrn  zu  protestiren.  Es  half  jedoch  alles  nichts. 
Augustus,  der  im  Jahr  20  nach  Syrien  kam,  stellte  sich  mit  Ent- 
schiedenheit auf  Seite  des  Herodes,  und  da  Zenodorus  eben  damals 
starb,  verlieh  er  ihm  auch  noch  dessen  Tetrarchie,  die  sich  südlich 
bis  zum  galiläischen  Meer  erstreckte'). 

Acht  Jahre  später  veranlaßte  die  Reise  des  Königs  nach  Rom 
einen   Aufstand    in   der    Trachonitis  (12).     Derselbe    wurde    zwar 

')  Die  Verbindung  von  Priestertuin  und  Fürstentum  ist  häutig  bei  den 
Arabern.  Sie  ündet  sich  auch  bei  Kostobarus,  bei  Odaenathus  von  Palmyra, 
und  bei  den  Dynasten  von  Emesa. 

2)  Ant.  17,  26. 

3)  Ein  Teil  der  Herrschaft  des  Zenodorus  scheint  allerdings  abgezweigt 
und  auf  eine  Seitenlinie  gekommen  zu  sein,  welcher  Lysanias  von  Abilene 
und  dessen  Nachfolger,  Sohaemus  nnd  Noarus,  angehörten.  Wie  weit  sich 
das  ostjordanische  Gebiet  des  Herodes  erstreckte,  wie  es  gegen  das  Reich  der 


König  TIerodes.  333 

niedergeschlagen,  erhielt  aber  ein  gefährliches  Nachspiel  dadurch, 
daß  einige  Eädelsführer  sich  in  das  nabatäische  Reich  retteten. 
Dort  war  damals  der  Statthalter  Sylläus  allmächtig,  dem  Herodes 
die  Hand  seiner  heiratslustigen  Schwester  versagt  hatte,  da  er  nicht 
zum  Judentum  übertreten  wollte^).  Er  räumte  den  Flüchtigen  den 
festen  Platz  Raepta  ein.  Von  da  machten  sie  Einfälle  in  das  jüdi- 
sche Gebiet;  ihre  Zahl,  anfangs  klein,  stieg  allmählich  auf  etwa 
tausend.  Herodes  verlangte  nun  von  dem  Nabatäer,  er  solle  sie 
ausliefern  und  sechzig  Talente  zahlen,  die  er  ihm,  wie  es  scheint 
als  Pacht  für  Weideland,  schuldig  war").  Durch  Vermittlung  der 
römischen  Provinzialbehörde  kam  zu  Berytus  ein  Vertrag  zu  stände, 
wonach  Sylläus  tatsächlich  diese  Forderung  zu  erfüllen  versprach. 
Er  ließ  indessen  die  bestimmte  Frist  verstreichen  ohne  etwas  zu 
leisten  und  begab  sich  statt  dessen  nach  Rom.  Da  verschaffte 
Herodes,  nach  Rücksprache  mit  dem  syrischen  Legaten,  sich  selber 
Recht.  Er  zerstörte  das  Raubnest  und  trieb  einen  Haufen  Nabatäer, 
der  sich  ihm  entgegenstellte,  zu  paaren.  Dieser  angebliche  Land- 
friedensbruch war  dem  Sylläus,  der  in  Rom  davon  erfuhr,  ein 
willkommener  Vorwaud,  um  Lärm  zu  schlagen.  Augustus  ließ  sich 
von  ihm  täuschen  und  gab  dem  Herodes  seinen  Unwillen  in  schroffer 
Weise  zu  erkennen.  Die  kaiserliche  Ungnade  erschütterte  die  Au- 
torität des  Judenkönigs  derart,  daß  sofort  allgemeine  Anarchie  im 
Ostjordanlande  entstand.  Von  den  Nabatäern  begünstigt,  erhoben 
sich  die  Araber  daselbst  und  vertrieben  die  Besatzungen.  Herodes 
wagte  nicht  einzugreifen.  Mit  Mühe  gelang  es  ihm  endlich,  sich 
bei  Augustus  Gehör  zu  schaffen.  Nikolaus  von  Damaskus  deckte 
in  Rom  (A.  8)  den  wahren  Sachverhalt  auf,  unterstützt  von  einer 
Gesandtschaft  des  neuen  nabatäischen  Königs  Aretas,  der  sich  der 
Herrschaft  des  Sylläus  zu  entziehen  strebte.  Herodes  wurde  reha- 
bilitirt  und  konnte  die  gestörte  Arbeit  in  der  Nordostmark  seines 
Reiches  wieder  aufnehmen.  Er  hatte  schon  früher  an  verschiedenen 
Stellen  derselben  dreitausend  Idumäer  in  Garnison  gelegt.  Jetzt 
siedelte  er  dort  babylonische  Juden  an,   die  von  den  Parthern  das 


Nabatäer  abgegrenzt  war,  ob  die  Griechenstädte  (nicht  bloß  Gadara)  darin  ein- 
begriffen waren,  läßt  sich  kaum  bestimmen.  Die  Greuzfragen  sind  auf  diesem 
Boden  die  allerschwierigsten,  weil  es  keine  geschlossenen  Länder  gibt,  sondern 
immer  nur  kraus  durch  einander  gehende  Parzellen. 

0  Ant.  IG,  255.  322.  17,  10. 

••*)  Auf.  IG,  279.  291.  343. 


334  Einundzwanzigstes  Kapitel. 

Pfeilschießen  zu  Pferde  gelernt  hatten.  Es  waren  ursprünglich  nur 
einige  hundert  Mann,  sie  vermehrten  sich  jedoch  bald  durch  wei- 
teren Zuzug.  Zum  Entgelt  für  den  Kriegsdienst,  zu  dem  sie  sämt- 
lich verpflichtet  waren,  hatten  sie  Steuerfreiheit  und  selbständige 
Verwaltung;  letztere  blieb  ihnen  auch  nach  dem  Tode  des  Herodes 
lange  Zeit  unangetastet.  Ihr  Oberhaupt  in  Krieg  und  Frieden  war 
Zamaris '). 

Herodes'  Nachfolger  setzten  sein  Werk  in  dieser  Gegend  fort;  eben 
hier  faßte  seine  Dynastie  am  festesten  Fuß  und  hier  hielt  sie  sich 
am  längsten.  Er  hat  einen  wesentlichen  Beitrag  geliefert  zu  der 
Gründung  und  der  Blüte  der  nachmaligen  römischen  Provinz 
Arabien,  die  eine  welthistorisch  so  bedeutungsvolle  Doppelstellung 
einnehmen  und  die  eigentliche  Pforte  werden  sollte,  wodurch  der 
Westen  in  Arabien  und  Arabien  in  den  Westen  eindrangt).  Vor 
dem  Tempel  des  Himmelsgottes  Beelschemin  zu  Sia  ließ  er  sich 
eine  Statue  errichten. 

Den  größten  Namen  erwarb  sich  der  König  durch  seine 
Gründungen  und  Bauten.  Darin  wetteiferte  er  mit  den  mächtigsten 
Herrschern,  obwol  sein  Land  nur  klein  war.  Er  begann  mit  dem 
umbau  der  Stadt  Samarien,  für  die  er  immer,  noch  ehe  sie  seinem 
Gebiete  einverleibt  war,  eine  besondere  Vorliebe  hatte.  Er  nannte 
sie  Sebaste  und  baute  dem  Augustus  einen  Tempel  darin;  denn 
die  Bewohner  waren  heidnisch.  Seine  wichtigste  Schöpfung  war 
die  Stadt  Cäsarea  mit  dem  Hafen  Sebastus  an  der  Stelle  des  alten 
Stratonsturmes,  sie  wurde  das  Hauptemporium  und  das  Zentrum 
der  römischen  Macht  in  Palästina.  Die  Vollendung  der  gewaltigen 
Anlagen,  die  zehn  Jahre  in  Anspruch  genommen  hatten,  gab  An- 
laß (A.  10)  zur  Einrichtung  von  Festspielen  zu  Ehren  des  Kaisers, 
die  alle  vier  Jahre  wiederholt  wurden.  Andere  Ortschaften  grün- 
dete und  nannte  er  zu  Ehren  seiner  Verwandten  oder  seiner  Freunde, 
Antipatris,  Phasaelis,  Agrippium.  Die  Hauptstadt  schmückte  er 
mit  Palästen  und  Gärten,  mit  Theater  Zirkus  und  Hippodrom;  vor 

')  d.  i.  Zimri.  Er  vererbte  sein  Amt  auf  seine  Nachkommen,  wir  finden 
seinen  Enkel  Philippus  als  Tetrarch  des  Königs  Agrippa  II.  (Bell.  4,  81  Niese). 

'■')  Auranitis,    Batanäa    und   Trachonitis    sind  zwar  erst  unter  Septimius 
Severus,    wenn  nicht   erst  unter  Diokletian,    zur  Arabia  Provincia  geschlagen. 
Aber  auf  die  politische  Einteilung  kommt   es  nicht  an;    dies  war  doch  schon 
früher  der  Boden,  worauf  die  Durchdringung  des  arabischen  mit  dem  griechisch 
römischen  Wesen  sich  vorzugsweise  vollzot^. 


König  lierodes.  335 

allem  schuf  er  den  Tempel  zu  einem  Prachtbau  um.  Auch  in 
manchen  syrischen  Städten,  die  ihm  nicht  Untertan  waren,  stiftete 
er  Tempel,  Bäder,  Brunnen,  Colonnaden;  so  in  Askalon  und  Ptole- 
mais,  in  Tyrus  und  Sidon,  in  Byblus  Berytus  und  Tripolis,  in 
Damaskus  und  Antlochia.  Bis  über  die  Inseln  des  Meeres,  bis  nach 
Athen  Sparta  und  Olympia  reichte  seine  Freigebigkeit.  In  der 
als  Denkmal  des  Sieges  von  Actium  gegründeten  Stadt  Nikopolis 
wurden  die  öffentlichen  Gebäude  großenteils  auf  seine  Kosten  auf- 
geführt. Auf  der  Reise,  die  er  im  Jahre  14  zu  Agrippa  nach 
Sinope  unternahm,  streute  er  überall,  wo  er  angegangen  wurde, 
seine  Woltaten  aus. 

Durch  solche  Aufwendungen  genügte  er  den  Ansprüchen  der 
Zeit  auf  Philanthropie  im  allgemeinen  und  auf  Hellenenfreund- 
schaft im  besonderen.  Er  umgab  sich  auch  mit  hellenisch  gebil- 
deten Männern,  benutzte  sie  in  Geschäften  und  ließ  seine  Söhne 
von  ihnen  erziehen.  Der  Polyhistor  Nikolaus  von  Damaskus  lebte 
lange  Jahre  an  seinem  Hofe  und  leistete  ihm  als  Gesandter  und  als 
Wortführer  mehrfach  Avichtige  Dienste.  In  diesem  Kreise  kokettirte 
er  wol  mit  seiner  Vorliebe  für  griechische  Gesellschaft  und  grie- 
chisches Wesen,  er  nahm  sogar  Unterricht  in  Philosophie  und 
Rhetorik.  Die  Amter  und  die  Kommandostellen  vertraute  er  aber 
erprobten  einheimischen  Dienern  Verwandten  und  Freunden  an '); 
und  Reiten  Jagen  und  Schießen  waren  in  Wahrheit  die  Künste, 
die  seinem  Geschmack  entsprachen.  Die  eigentliche  Adresse  seines 
zivilisatorischen  Strebens  war  der  Kaiser;  die  Absicht  sich  ihm  zu 
empfehlen  spielte  überall  ein  und  trat  meist  ganz  offen  hervor, 
zum  Beispiel  bei  den  zahlreichen  Augustustempeln,  mit  denen  er 
Syrien  beglückte.  Er  pflegte  das  Verhältnis  zu  dem  Patron  mit 
größter  Beflissenheit  und  tat  sich  etwas  zu  gute  auf  seine  Freund- 
schaft mit  ihm  und  mit  Agrippa.  Seine  Söhne  von  Mariamme 
schickte  er  in  jugendlichem  Alter  nach  Rom,  wo  sie  bei  Asinius 
Pollio  gastliche  Aufnahme  fanden.     Den  Höhepunkt  seines  Lebens, 


')  Der  Kanzler  Ptoleinäus  ist  nicht  der  Rlietor,  der  Bruder  des  Nikolaus. 
Neben  ihm  wird  Sapinnius  genannt  (Ant.  IG,  257).  Die  Verwandten  spielen 
seit  Antipater  (dessen  iduuiäisches  Gefolge  erwähnt  wird)  eine  große  Rolle; 
unter  Herodes  tritt  besonders  Ahiab  hervor.  Die  iduinäischen  Vettern  und 
Schwäger  nähren  sich  von  der  Regierung,  bewähren  sich  aber  nicht  immer; 
Kostobarus  hat  am  Hofe  zu  Jerusalem  seine  Helfershelfer.  Vgl.  auch  Ant. 
17,  298. 


336  Einuudzwauzigstes  Kapitel. 

den  Gipfel  seines  Glücks  bildete  der  Besuch,  den  Agrippa  ihm  im 
Jahre  15  abstattete;  als  derselbe  im  Tempel  zu  Jerusalem  gar  eine 
Hekatombe  opferte,  waren  auch  die  Juden  von  der  in  der  Tat 
außerordentlichen  Ehre,  die  ihrem  Könige  und  ihrem  Gotte  angetan 
Avurde,  ganz  berauscht ').  Indessen  war  die  Stellung  des  Herodes 
als  rex  socius  nicht  gerade  ausnahmsweise  bevorzugt.  Er  durfte 
nach  außen  hin  keine  selbständige  Politik  treiben,  weder  Bünd- 
nisse schließen  noch  Kriege  führen;  als  er  bei  der  Verfolgung  der 
trachonischen  Räuber  diese  Grenze  zu  überschreiten  schien,  wurde 
ihm  gleich  sehr  unsanft  auf  die  Finger  geklopft.  In  seinem  eigenen 
Bereich  konnte  er  zwar  schalten  und  walten  wie  er  wollte,  war 
aber  auch  hier  hinsichtlich  des  Münzrechts  beschränkt,  beschränkter 
sogar  als  andere  Könige  gleiches  Schlages^). 

Die  Untertanen  mußten  die  Kosten  tragen;  die  Steuern  waren 
hocli^).  Die  Juden  fühlten  sich  indessen  weniger  durch  die  Höhe 
der  Steuern  beschwert  als  durch  die  Art  ihrer  Verwendung.  Das 
Geld,  welches  sie  aufbrachten,  wurde  zum  besten  der  Heiden  und 
des  Heidentums  vergeudet.  Die  Bauten  in  Jerusalem  steigerten 
nur  ihre  Entrüstung,  was  sollten  auf  diesem  heiligen  Boden  Theater 
und  Zirkus,  Komödien  und  Tierkämpfe!  Sogar  der  Umbau  des 
Tempels  ärgerte  sie  anfangs.  Der  König  trug  ihrer  religiösen 
Empfmdlichkeit  Rechnung,  so  weit  er  konnte.  Er  verleugnete  seine 
idumäische  Abstammung,  er  aß  gewiß  kein  Schweinefleisch.  Er 
vermied  bei  seinen  Bauten  in  Jerusalem,  auch  bei  den  profanen, 
jede  bildliche  Darstellung;  auch  seine  Münzen  zeigten  keinen  Kopf. 
Wie  er  den  Heiden  Heide  war,    meinte  er  den  Juden  Jude  sein 


1)  Philo  leg.  ad  Gaium  §  37. 

^)  Von  Herodes  und  allen  Fürsten  seines  Hauses  sind  nur  Kupfermünzen 
erhalten,  sämtlich  mit  griechischer  Legende. 

^)  Ant.  17,  308.  Die  Einkünfte  der  drei  Söhne  und  Nachfolger  des  Hero- 
des werden  Ant.  17,  318 ss.  auf  900,  dagegen  Bell.  2,  93 ss.  auf  700  Talente 
bestimmt;  es  waren  ihnen  allerdings  einige  Städte,  die  der  Vater  besessen 
hatte,  abgenommen  und  außerdem  die  Steuern  der  Samaritis  um  ein  Viertel 
herabgesetzt.  Trotzdem  würden  darnach  die  Einkünfte  des  Herodes  kaum  auf 
mehr  als  1000  Talente  zu  schätzen  sein  (vgl.  19,  352).  Das  ist  nicht  eben 
viel,  und  damit  konnte  er  seine  Ausgaben  nicht  bestreiten.  Er  hatte  freilich 
noch  allerlei  Nebeneinnahmen,  z.  B.  aus  den  Regalien  und  Domänen  von 
Jericho  und  aus  Vermögenskonfiskationen.  Augustus  gab  ihm  die  Hälfte^des 
Ertrages  der  Kupferminen  von  Cypern.  Zuweilen  scheint  es  ihm  aber  an 
Gelde  gefehlt  zu  haben;  er  suchte  nach  Schätzen  im  Grabe  Davids. 


König  Herodes.  337 

zu  können.  Aber  eben  das  konnten  diese  nicht  gelten  lassen.  Ein- 
zelne Eiferer  protestirten  gelegentlich  durch  offene  Gewalttat  für 
Gott  gegen  den  König.  Er  mußte  öfters  mit  blutiger  Strenge  gegen 
Ausbrüche  des  Fanatismus  einschreiten. 

Doch  war  das  nicht  die  einzige  und  nicht  die  eigentliche  Be- 
schwerde, w'elche  die  Juden  gegen  ihn  hatten.  Sie  waren  von 
ihren  früheren  Fürsten  schon  etwas  gewohnt,  und  Herodes  brauchte 
nicht  so  heilig  zu  sein  wie  ein  Hoherpriester.  Sie  haßten  ihn 
wesentlich  aus  politischen,  oder  wenn  man  lieber  will,  aus  theokra- 
tischen  Gründen.  Früher  hatte  die  auswärtige  Großmacht  die  an- 
gestammte Regierung  beibehalten  und  ihr  die  inneren  Angelegen- 
heiten überlassen;  jetzt  hatte  sie  einen  Unberechtigten  zu  ihrem 
Vasallen  gemacht.  Das  w'ar  eine  neue  Erfahrung.  Es  war  doppelte 
Fremdherrschaft,  Tyrannis  gegründet  auf  Fremdherrschaft,  Edom 
gepfropft  auf  R,om.  Herodes  nahm  dem  Rest  der  einheimischen 
Verfassung,  den  er  nicht  beseitigen  konnte,  alle  politische  Bedeutung. 
Er  drückte  die  Gemeindeämter  herab  und  machte  ihre  Inhaber  von 
sich  abhängig.  Zu  Hohenpriestern  machte  er  wen  er  wollte;  er 
setzte  sie  nach  Belieben  ein  und  ab ').  Den  heiligen  Ornat  nahm 
er  zu  mehrerer  Sicherheit  selber  in  Verwahrung  und  gab  ihn  nur 
von  Zeit  zu  Zeit  heraus,  wenn  er  gebraucht  werden  sollte  ^).  Das 
Synedrium,  dessen  alten  Bestand  er  gleich  zu  Anfang  seiner  Re- 
gierung gehörig  gelichtet  hatte,  versetzte  er  w^eiterhin  mit  seineu 
Kreaturen  und  korrumpirte  auf  diese  Weise  die  Aristokratie.  Seine 
Verwandten  und  Freunde  ersetzten  ihm  den  Rat  der  Altesten. 
Seine  Herrschaft  stützte  sich,  außer  auf  Rom,  auf  Zwingburgen 
und  Soldaten,  die  er  namentlich  aus  dem  Gebiet  von  Samarien 
und  von  Cäsarea  aushob.  Er  ging  allerdings  nicht  von  dem  Grund- 
satze aus,  daß  es  genüge,  wenn  seine  Untertanen  ihn  nur  fürch- 
teten; er  strebte  sie  sich  zu  verpflichten.  In  Notfällen  bot  er  alle 
Mittel  auf;  mit  weitschauender  und  aufopfernder  Fürsorge  begegnete 
er  den  Misernten  der  Jahre  24  und  23  und  beseitigte  ihre  drohen- 
den Folgen.  Er  sicherte  den  Landfrieden  und  ließ  Räuber  und 
Diebe  nicht  aufkommen.  Durch  den  Hafen  von  Cäsarea  und  andere 
nützliche  Anlagen  förderte  er  Handel  und  Wandel.  Er  nahm  sich 
auch  der  auswärtigen  Glaubensgenossen,  in  Kleinasien  und  in  der 


')  Ev.  Jo.  18,  13.  2  Macc.  11,3.  4  M.  4,  1. 
2)  Vgl.  die  merkwürdige  Stelle  Ant.  18,  91. 
Wellhausen,  Isr.  Geschichte.    5.  Aufl.  22 


338  Einundz wauzigstes  Kapitel. 

Cyreuaica,  au;  nur  ihm  hatten  sie  es  zu  verdanken,  daß  sie  die 
Freiheiten  behielten,  die  Cäsar  ihnen  verliehen  hatte,  daß  sie  am 
Sabbat,  von  drei  Uhr  Freitags  an,  nicht  vor  Gericht  zu  kommen 
brauchten  und  ihre  Kirchensteuer  unbehindert  nach  Jerusalem 
schicken  durften.  Mit  alle  dem  gewann  er  aber  seine  jüdischen 
Untertanen  in  Palästina  nicht.  Er  bemühte  sich,  ihnen  seine  Ver- 
dienste darzulegen,  sich  gegen  ihre  Vorwürfe  zu  rechtfertigen,  ihnen 
ihr  Mistrauen  zu  benehmen.  Öfters  wird  von  Reden  berichtet,  die 
er  zu  diesem  Zwecke  gehalten  habe.  Er  ließ  sich  sogar  herbei,  die 
Steuern  zweimal  beträchtlich  herabzusetzen.  Auf  die  Dauer  war 
alles  vergebens.  Sein  Werben  prallte  wirkungslos  ab,  seine  Wol- 
taten  fanden  Undank,  seine  guten  Absichten  wurden  verkannt. 
Es  blieben  ihm  nur  die  Mittel  der  Tyrannis  übrig.  Je  länger  er 
regierte,  desto  schärfer  wandte  er  sie  an.  Ein  Pluldigungseid,  den 
er  für  sich  und  den  Kaiser  verlangte,  sollte  die  Gewissen  binden: 
die  Forderung  war  unerhört  und  wurde  von  den  Frommen,  als 
gotteslästerlich,  standhaft  abgelehnt ').  Geheime  Polizei  und  aus- 
gedehnte Spionage,  bei  der  er  sich  bisweilen  persönlich  beteiligte, 
taten  ein  Übriges.  Kein  Müßiggang  wurde  in  Jerusalem  geduldet, 
die  Leute  sollten  bei  der  Arbeit  bleiben  und  durften  weder  auf  der 
Straße  zusammenstehn,  noch  im  Hause  ihre  damals  sehr  beliebten 
Syssitien  feiern.  Wer  ein  Wort  sagte,  wurde  angezeigt;  Verdäch- 
tige verschwanden  hinter  den  Mauern  von  Hyrkania,  Schuldig- 
befundene wurden  hingerichtet.  Die  Folge  war,  daß  unverabredet 
eine  stille  Verschwörung  gegen  den  König  sich  bildete;  alle  waren 
im  Einvernehmen  gegen  ihn  und  vor  ihm  auf  der  Hut.  Es  herrschte 
ein  latenter  Krieg  zwischen  Obrigkeit  und  Untertanen. 

Die  Essäer  begünstigte  der  König  als  eine  rein  religiöse  Sekte, 
die  sich  um  Politik  nicht  kümmerte.  Anfangs  scheint  er  es  auch 
für  möglich  gehalten  zu  haben  die  Pharisäer  zu  gewinnen;  er  zeich- 
nete die  Häupter  der  Partei  aus,  weil  sie  die  fanatischen  Ver- 
teidiger Jerusalems  hatten  bewegen  wollen,  ihm  die  Stadt  auszu- 
liefern. Aber  sie  konnten  ihm  die  angetragene  Freundschaft  nicht 
erwidern.  Seine  Liebedienerei  gegen  das  Heidentum  mußte  gerade 
ihnen  besonders  anstößig  sein.  Außerdem  wären  sie  keine  Juden 
mehr    geblieben,    hätten    sie   sich    mit  der  Art  Entmischung    von 


')  Die  Angaben  Aut.  15,  369  s.  und  17,  42    bezielien    sicli   uatürlicb    auf 
den  selben  Fall. 


König  Herodes.  339 

Staat  und  Kirche  einverstanden  erklärt,  die  Herodes  ins  Werk 
setzte.  Das  Volk  ließ  sich  nicht  wieder  zu  einer  Sekte  herab- 
drücken, es  bewahrte  die  Erinnerung  an  die  vergangene  Herrlich- 
keit. Die  Hasmonäer  waren  durch  ihr  Blut  von  Sünden  rein  ge- 
waschen und  zu  Märtyrern  der  gemeinen  Sache  gemacht.  Haß 
gegen  den  Knecht,  der  das  Haus  seines  Herrn  gestürzt  und  aus- 
gemordet hatte,  beseelte  jedes  ehrliche  Herz.  Herodes  wußte  es 
und  war  darauf  eingerichtet.  Es  ist,  wenn  man  will,  ein  glänzen- 
des Zeugnis  für  seine  Regierungskunst,  daß  kein  einziger  Aufstand 
gegen  ihn  ausbrach,  so  lange  er  König  Avar.  Aber  die  Rache  er- 
eilte ihn  doch,  er  mußte  sie  selber  an  sich  vollstrecken.  Als 
Henker  der  Hasmonäer  mußte  er  der  Henker  seiner  eigenen  Söhne 
werden,  in  denen  jene  wieder  auflebten. 

3.  Der  letzte  Teil  seiner.  Geschichte  war  Hofgeschichte  im 
richtigen  orientalischen  Stil.  Der  Palast  in  Jerusalem,  den  er  im 
Norden  der  Oberstadt  errichtet  hatte,  ein  Bau  größer  und  stolzer 
als  der  Tempel,  enthielt  eine  Menge  Insassen.  Es  wohnten  darin 
seine  Frauen,  deren  er  mehr  als  eine  besaß,  jede  mit  ihren  Kin- 
dern in  einem  besonderen  Quartier;  ferner  seine  verheirateten 
Kinder,  Söhne  und  mit  Vettern  vermählte  Töchter;  und  auch  seine 
Verwandten  von  Vatersseite.  Seinem  Bruder  Pheroras  hatte  er 
zwar  die  Provinz  Peräa,  d.  h.  ihre  Einkünfte,  verliehen  und  ihm 
den  Titel  Tetrarch  erwirkt;  derselbe  hielt  sich  aber  doch  gewöhn- 
lich im  königlichen  Palast  auf,  bis  er  gegen  Ende  seines  Lebens 
daraus  verbannt  wurde.  Ebenso  seine  Schwester  Salome,  die  nach 
dem  Liebeshandel  mit  Sylläus  einen  gewissen  Alexas  hatte  heiraten 
müssen.  Dazu  kam  dann  noch  ein  zahlreiches  Gesinde,  Eunuchen, 
Diener  und  Mägde.  Die  Frauen  waren  nicht  abgesperrt,  sondern 
bewegten  sich,  wenigstens  innerhalb  des  Palastes,  mit  großer  Frei- 
heit. Bei  solchem  Zusammenwohnen  der  ganzen  königlichen  Sippe 
kann  man  sich  vorstellen,  daß  es  an  Familienzwisten  und  an  Ver- 
rückung der  Familiengrenzen  nicht  fehlte.  Es  geschah  viel,  noch 
mehr  wurde  geglaubt  und  geredet.  Das  war  die  Höhle  des  alten 
Löwen,  da  hauste  er  als  Patriarch.  Er  hatte  einen  starken  Ver- 
wandtschaftssinn, hing  an  den  Seinen  und  suchte  sie  zu  beglücken. 
Nur  wahrte  er  auch  ihnen  gegenüber  eifersüchtig  die  Autorität  und 
hielt  sie  unter  scharfer  Aufsicht.  Er  mußte  immer  alles  wissen,  und 
alles  wurde  ihm  zugetragen.  Er  hörte  aber  nur,  er  sah  nicht.  Innerhalb 
seines  Hauses  versagte  der  klare  Blick,  den  er  für  die  Politik  hatte. 

22* 


340  Eiuuudzwanzigstes  Kapitel. 

Im  Jahre  18  oder  17  holte  er  die  Söhne  Mariammes  aus  Rom 
zurück,  nachdem  sie  den  Kursus  der  höheren  Erziehung  durch- 
gemacht hatten.  Alexander  wurde  mit  Glaphyra,  Tochter  des  Königs 
Archelaus  von  Kappadocien,  verheiratet;  Aristobul  mit  Salomes 
Tochter  Bereuice.  Sie  zogen  alsbald  die  allgemeine  Aufmerksam- 
keit auf  sich;  die  Sympathie  der  Menge  kam  ihnen  entgegen.  Am 
Hof  erweckten  sie  aber  auch  Befürchtungen.  Besonderen  Grund 
zur  Besorgnis  hatte  Salome;  sie  übertrug  ihren  Haß  gegen  Mari- 
amme auf  die  Jünglinge.  Diese  reizten  sie  durch  stolzes  Auftreten 
und  unvorsichtige  Äußerungen;  die  hasmonäische  Ader  schlug  in 
ihnen  und  sie  behandelten  die  idumäische  Brut  nicht  mit  Hoch- 
achtung. Berenice  klagte  der  Mutter,  daß  sie  ihrer  Schwägerin 
und  auch  ihrem  Manne  nicht  vornehm  und  fein  genug  sei;  sie  habe 
Alexander  und  Aristobul  sagen  hören:  wenn  sie  nur  erst  Könige 
wären,  so  wollten  sie  die  Weiber  der  väterlichen  Familie  au  den 
Webstuhl  setzen  und  die  Männer  zu  Dorfschulzen  machen,  wozu 
sie  sich  vortrefllich  eigneten.  Das  gab  der  Feindschaft  Salomes 
Nahrung;  sie  zog  auch  Pheroras  zu  sich  herüber.  Als  Herodes  im 
Jahre  14  von  seinem  Besuche  bei  Agrippa  heimkam,  empfingen  ihn 
die  Geschwister  mit  Anklagen  gegen  seine  Söhne:  sie  könnten 
seinen  Tod  nicht  abwarten,  um  das  Erbe  anzutreten,  das  ihnen 
von  ihrer  Mutter  her  gebühre. 

Er  sträubte  sich  es  zu  glauben,  aber  die  Sache  schien  recht 
glaublich.  Um  den  beiden  für  alle  Fälle  einen  Dämpfer  aufzusetzen, 
berief  er  jetzt  seinen  Erstgeborenen,  Antipater,  an  den  Hof,  der 
bisher  mit  seiner  Mutter  in  der  Verbannung  gelebt  hatte.  Damit 
erhielt  die  Gegenpartei  einen  Führer,  der  sofort  die  Fäden  der  In- 
trigue  in  die  Hand  nahm,  ein  festes  Ziel  dabei  verfolgte  und  die 
Anderen  für  sich  arbeiten  ließ.  Er  nahm  den  Alten  vollständig 
gefangen,  veranlaßte,  daß  auch  seine  Mutter,  Doris,  zurückkommen 
durfte,  und  erlangte  ein  Testament,  worin  er  in  erster  Stelle  zum 
Thronerben  ernannt  wurde.  In  Begleitung  Agrippas  wurde  er  im 
Jahre  13  nach  Rom  gesandt,  damit  der  Kaiser  ihn  kennen  lerne 
und  das  Testament  bestätige.  Die  Söhne  Mariammes  haßten  natür- 
lich den  nebeneingedrungenen  Bruder,  der  ihnen  vorgezogen  wurde. 
Er  aber  gönnte  ihnen  auch  die  Aussicht  nach  ihm  zu  erben  nicht, 
sondern  strebte  sie  sich  gänzlich  aus  der  Bahn  zu  räumen.  Sogar 
von  Rom  aus  fand  er  Mittel  und  Wege,  den  Vater  mehr  und  mehr 
gegen  sie  einzunehmen.     Dem  wuchs  dadurch  der  Argwohn  so  über 


König  Herodes.  34J 

den  Kopf,  daß  er  sich  mit  den  beiden  zu  Augnstus  nach  Aquileia 
begab,  um  sie  vor  ihm  auzukhigen.  Der  Kaiser  sah  der  Sache  auf 
den  Grund  und  verstand  es,  ihn  zu  beruhigen.  Aufatmend  reisten 
Vater  und  Söhne  nach  Hause  zurücic  (12). 

Aber  auch  Antipater  kehrte  mit  heim  und  nahm  sogleich  den 
Kampf  wieder  auf.  Als  vertrautester  Sohn  des  Königs  und  nächster 
Erbe  des  Reiches  hatte  er  die  Streber  für  sich.  Er  wurde  gut  be- 
dient. Er  erfuhr  sofort  jedes  Wort  Alexanders  und  wußte  es  weiter 
zu  befördern.  Dabei  schob  er  immer  Andere  als  Angeber  vor  und 
spielte  selbst  den  Verteidiger,  mit  dem  Erfolg,  daß  er  die  Ver- 
läumdungen  nur  noch  eindrücklicher  machte.  Herodes  war  bald 
wieder  auf  dem  alten  Fleck.  In  dem  Gebaren  des  Hofes  gegen 
Alexander  und  Aristobul  drückte  sich  seine  Stimmung  gegen  sie 
aus;  seinem  Kanzler  Ptolemäus  befahl  er  ausdrücklich  sich  von 
ihnen  fern  zu  halten.  Ihnen  selber  sagte  er  indessen  kein  offenes 
Wort;  sie  merkten  nur  an  seiner  Kälte,  daß  er  etwas  wider  sie 
habe.  Er  versah  sich  zu  ihnen  keines  Guten,  aber  er  traute  auch 
den  Anderen  nicht  ganz,  mit  Ausnahme  des  edelmütigen  Antipater, 
gegen  den  er  blind  war.  Pheroras  hatte  ihn  beleidigt,  dadurch 
daß  er  zweimal  sich  weigerte  sein  Eidam  zu  werden,  weil  er  das 
Weib  seiner  Liebe  nicht  verstoßen  wollte^).  Xoch  dazu  stellte 
sich  jetzt  heraus,  daß  er  dem  Alexander  ins  Ohr  gesetzt  hatte, 
Herodes  habe  ein  Verhältnis  zu  Glaphyra.  Es  kam  zu  einer  heftigen 
Szene ;  Pheroras  leugnete  nicht,  schob  aber  die  Schuld  auf  Salome, 
der  er  die  Mitteilung  verdanke.  Sie  beteuerte  ihre  Unschuld  und 
geberdete  sich  wie  toll  über  solche  Verläumdung,  indessen  der 
A^erdacht  blieb  auf  ihr  sitzen.  Merkwürdiger  Weise  aber  verrauchte 
der  Zorn  des  Königs  leicht.  Er  war  ihm  eine  Last  vom  Herzen 
gefallen.  Wenngleich  er  auf  ganz  falscher  Fährte  war  und  den 
eigentlichen  Missetäter  nicht  ahnte,  so  wußte  er  doch  nun,  daß 
seine  Söhne  verhetzt  wurden.  Er  kam  endlich  dazu  sich  offen  mit 
ihnen  auszusprechen,  und  das  Verhältnis  besserte  sich  eine  Weile''). 

1)  Aüt.  16,  194.  196.  lu  Aut.  17,  34  ist  der  Text  uicht  zu  konstmiren: 
Subjekt  zu  (j-tguiv  ist  Herodes  und  er  haßt  Frau  imd  Schwiegermutter  seines 
Bruders  darum,  weil  sie  die  Schiild  haben,  daß  jener  die  Hand  erst  seiner 
einen,  dann  seiner  anderen  Tochter  ausschlägt.    Vgl.  §  46  Bell.  1,  568. 

^)  Nach  Bell.  1,481  scheint  es,  als  sei  dies  vor  einer  dritten  Reise  des 
Königs  nach  Rom  geschehen.  In  den  Antiquitäten  ist  indessen  von  einer 
solchen  nicht  die  Rede;  denn  16,271  ist  eine  Wiederholung  von  16,132. 


342  Einundzwanzigstes  Kapitel. 

Leider  wußte  Alexander,  der  ältere  und  hervorragendere  der 
Brüder,  die  Pause  nicht  besser  zu  benutzen,  als  dazu  daß  er  drei 
junge  und  schöne  Eunuchen  seines  Vaters  seinen  Lüsten  dienstbar 
machte.  Herodes  erfuhr  es  und  witterte  ein  Attentat;  denn  die 
Eunuchen  waren  seine  vertrautesten  Kammerdiener  und  hatten 
bequeme  Gelegenheit  ihm  Gift  beizubringen.  Das  peinliche  Verhör, 
das  er  mit  ihnen  anstellte,  brachte  freilich  nur  allerhand  respekt- 
widrige Äußerungen  Alexanders  an  den  Tag,  keine  Beweise  für 
hochverräterische  Absichten.  Jedoch  sein  Verdacht  war  wieder 
rege  geworden  und  er  suchte  nach  weiteren  Stützen  desselben. 
Dabei  ging  er  vorsichtshalber  in  weitem  Bogen  um  das  Wild 
herum.  Er  dehnte  die  Spionage  nach  allen  Seiten  aus,  niemand 
wußte,  wohinaus  er  wollte,  einer  verläumdete  den  andern  um  sich 
zu  retten.  Es  herrschte  ein  fürchterlicher  Zustand  im  Palast  und 
in  den  Kreisen  der  Stadt,  die  zum  Hof  in  Beziehung  standen,  viel 
Blut  wurde  zwecklos  vergossen.  Antipater  aber  sorgte  dafür,  daß 
die  Hetze  ihr  Ziel  nicht  verfehle.  Es  kam  ein  Brief  Alexanders 
zum  Vorschein  mit  Klagen  über  seinen  Vater.  Freunde  von  ihm 
machten  auf  der  Folter  Aussagen,  die  dem  König  belastend  genug 
schienen,  um  ihn  zu  binden  und  gefangen  zu  setzen. 

Da  tat  der  Gefangene  einen  verzweifelten  Schritt,  um  seinen 
Vater  im  eigenen  Garn  zu  verstricken.  Er  bestätigte  ihm  brieflich 
die  wildesten  Gerüchte  die  am  Hofe  schwirrten  und  machte  sein 
Zeugnis  dadurch  glaubhaft,  daß  er  sich  selbst  nicht  schonte.  Er 
bezeichnete  Ptolemäus  und  Sapinnius,  die  zuverlässigsten  Diener 
des  Königs,  als  seine  Mitverschworenen,  ferner  auch  Pheroras  und 
Salome;  von  letzterer  behauptete  er,  sie  habe  ihn  zum  Ehebruch 
geradezu  gezwungen.  Damit  waren  alle  Teufel  aus  der  Hölle  gegen 
den  Alten  losgelassen,  er  geriet  in  heillose  Aufregung  und  Ver- 
wirrung. In  diesem  Moment  aber  erschien  wie  gerufen  Archelaus 
von  Kappadocien,  Alexanders  Schwiegervater.  Er  befreite  Schritt 
für  Schritt  .den  Herodes  aus  dem  Labyrinth,  in  dem  er  sich  befand, 
und  lenkte  schließlich  seinen  ganzen  Zorn  gegen  Pheroras,  der  an 
allem  schuld  sei.  Pheroras  hatte  ein  schlechtes  Gewissen,  ver- 
traute sich  dem  Archelaus  an  und  ließ  sich  von  diesem  zum 
Sündenbock  machen.  Um  diesen  Preis  erreichte  er  es,  daß 
der  Kappadocier  ein  gutes  Wort  für  ihn  einlegte  und  ihm 
Verzeihung  erwirkte.  Alexander  war  noch  einmal  gerettet.  Eine 
Weile    zogen    andere    Sorgen    den    König    ab;    der    Aufstand     der 


Köuig  ITerodes,  343 

Araber    und  die  Trübung  des  Verhältnisses  zu  Augustus  Helen  in 
diese  Zeit. 

Die  Tragödie  der  Irrungen  zog  sich  in  die  Länge,  endlich 
kam  sie  doch  zum  Schluß.  Der  Spartaner  Eurykles,  der  darauf 
reiste,  daß  er  einmal  der  Held  von  Actium  gewesen  war,  kam  als 
ungebetener  doch  höchst  willkommener  Besuch  nach  Jerusalem, 
trewann  das  Vertrauen  Alexanders  und  verriet  dann  seine  Äuße- 
rungen  den  Mächtigeren  um  sich  ein  Gastgeschenk  zu  verdienen 
und  sich  darauf  zu  empfehlen.  Am  kappadocischen  Hofe  tauchte 
er  wieder  auf  und  zog  dem  Archelaus  das  Geld  aus  der  Tasche, 
dem  er  erzählte,  wie  sehr  er  die  Stellung  seines  Schwiegersohnes 
in  Jerusalem  befestigt  habe.  Durch  diesen  fahrenden  Ritter  wurde 
der  schlafende  Verdacht  des  Herodes  wieder  geweckt,  Antipater 
lieferte  ihm  neue  Nahrung.  Daß  Evaratus  von  Kos,  ein  anderer 
gleichzeitiger  Besuch,  den  Prinzen  das  günstigste  Zeugnis  ausstellte, 
ward  so  gedeutet,  als  ob  er  mit  ihnen  in  heimlichem  Einvernehmen 
stehe.  Nur  Anschuldigungen  fanden  Glauben.  Zwei  Leibwächtern 
Alexanders  wurde  durch  die  Folter  das  Geständnis  abgepreßt,  sie 
hätten  den  König  auf  der  Jagd  erstechen  sollen.  Der  Sohn  des 
Befehlshabers  von  Alexandrium  bezichtigte  aus  freien  Stücken  seinen 
Vater,  er  habe  die  Feste  den  beiden  Brüdern  zur  Verfügung  gestellt, 
und  übergab  als  Beweisstück  einen  Brief  an  denselben,  worin  es 
hieß:  wenn  war  mit  Gottes  Hilfe  unsere  Absicht  ausgeführt  haben, 
werden  wir  zu  dir  kommen.  Herodes  untersuchte  die  Sache  in 
Jericho,  wo  die  sehr  aufgeregte  öffentliche  Meinung  ihm  günstig 
gewesen  zu  sein  scheint.  Seine  Söhne  gaben  nur  zu,  einen  Flucht- 
versuch geplant  zu  haben.  Er  aber  überzeugte  sich  jetzt  vollständig 
von  ihrer  Schuld,  setzte  sie  gefangen  und  war  zum  Äußersten  ent- 
schlossen. Der  Kaiser,  der  ihm  ungerecht  seine  Gnade  entzogen 
hatte  und  ihm  nun  nicht  zuwider  sein  mochte,  gab  sie  in  seine 
Hand  und  riet  ihm  nur,  in  Berytus  ein  Gericht  zu  halten,  dessen 
Zusammensetzung  er  indessen  ihm  selber  überließ.  Das  Gericht 
trat  zusammen,  die  Angeklagten  wurden  uugehört  verurteilt,  nur 
der  Legat  Saturuinus  wollte  sie  vom  Tode  retten.  Noch  einmal 
jedoch  wäre  Herodes  beinah  umgestimmt  worden,  als  er  auf  der 
Rückreise  in  Tyrus  mit  Nikolaus  zusammentraf  und  in  dessen 
Gesellschaft  nach  Cäsarea  fuhr.  Aber  in  Cäsarea  gaben  sich  unter 
den  Offizieren  und  Soldaten  gefährliche  Sympathien  für  die  un- 
glücklichen   Prinzen    kund,    und    durch    Antipaters    Bemühungen 


344  Einundzwanzigstes  Kapitel. 

wurde  vollends  der  Eindruck  verwischt,  den  die  Worte  des  Damas- 
ceners  gemacht  hatten.  Alexander  und  Aristobul  erlitten  (riz  7  a.  Ch.) 
in  Samarien  den  Tod  durch  den  Strang '). 

Dumpfe  Trauer  herrschte  in  Israel.  Antipater  schien  am  Ziel, 
doch  war  er  nicht  ohne  Sorge.  Er  war  sich  bewußt  von  allen 
gehaßt  zu  werden.  Der  König  konnte  doch  noch  vielleicht  über 
ihn  aufgeklärt  werden,  er  zeigte  sich  beunruhigend  zärtlich  gegen 
die  Kinder  der  Hingerichteten.  So  lange  er  lebte,  fühlte  sich  Anti- 
pater nicht  sicher;  er  richtete  nunmehr  seine  Künste  gegen  ihn  und 
gedachte  dabei  Pheroras  als  Werkzeug  zu  gebrauchen. 

Herodes  konnte  nicht  darüber  hinweg  kommen,  daß  Pheroras 
seine  beiden  Töchter  durch  Zurückweisung  ihrer  Hand  beschimpft 
habe.  Die  Schuld  an  dem  Affront  trugen  nach  seiner  Meinung 
Frau  Und  Schwiegermutter  des  Pheroras.  Es  war  ihm  unleidlich, 
daß  die  Weiber  einen  größeren  Einfluß  auf  seinen  Bruder  aus- 
übten als  er  selber;  das  Verhältnis  blieb  infolge  dessen  gespannt. 
Dies  war  der  Punkt,  bei  dem  Antipater  einsetzte.  Er  drängte  sich 
an  Pheroras  heran,  schmeichelte  sich  bei  ihm  und  seinen  Frauen 
ein  und  brachte  auch  seine  Mutter  mit  in  diesen  Kreis.  Sie  waren 
ein  Herz  und  eine  Seele,  versteckten  aber  ihre  Intimität  vor  An- 
deren, namentlich  vor  der  gefährlichen  Salome,  die  nicht  Farbe 
hielt,  sondern  ihre  unberechenbare  Zunge  zwecklos  gegen  Freund 
und  Feind  kehrte.  Salome,  geärgert  über  die  Heimlichkeit,  suchte 
dahinter  zu  kommen  und  es  gelang  ihr.  AVas  sie  erkundet  hatte, 
trug  sie  dem  Könige  zu.  Sie  meldete  ihm,  daß  Pheroras  und 
Antipater  mit  ihren  Weibern  wüste  Orgien  feierten,  daß  sie  dabei 
nichts  Gutes  von  ihm  redeten,  und  daß  die  Pharisäer  mit  im  Spiel 
wären,  die  im  Hause  des  Pheroras  aus-  und  eingingen  und  den 
Insassen  eigentümliche  Aussichten  für  die  Zukunft  machten'). 
Herodes  gab  wol  nicht  allzuviel  auf  die  Eröffnungen  und  entdeckte 
darin  schwerlich  hochverräterische  Umtriebe.  Er  stellte  indessen 
den  Bruder  ernstlich  zur  Rede,  bemühte  sich  ihn  von  dem  sitten- 


1)  Müller,  Fragm.  IT.  G.  3,  351  ss. 

^)  Die  Pharisäer  sollen  dem  Herodes  samt  seinem  Hause  den  Untergang 
und  dem  Pheroras  die  Herrschaft  über  Israel  geweissagt  haben.  Aber  die 
Natur  ihier  Weissagung  verrät  sich  dadurch,  daß  sie  dem  Eunuchen  Bagoas 
verhießen,  der  künftige  König  werde  ihm  das  Vermögen  Kinder  zu  zeugen 
gewähren.  Sollte  Bagoas  glauben,  das  sei  Pheroras?  Es  ist  offenbar  vom 
Messias  die  Rede,   in  dessen  Zeit  nach  Isa.  56   der  Verschnittene  nicht  mehr 


König  Herodes.  345 

verderbenden  Einfluß  der  Weiber  zu  befreien,  und  da  jener  hals- 
starrig blieb,  entschloß  er  sich  schweren  Herzens,  ihn  vom  Hof  zu 
verbannen  und  in  seine  Tetrarchie  zu  verweisen.  Dem  Sohne 
untersagte  er  den  Verkehr  mit  ihm  und  gab  ihm  hundert  Talente, 
damit  er  Stillschweigen  über  dies  A'erbot  bewahre.  Sein  Vertrauen 
entzog  er  ihm  nicht,  er  machte  eben  damals  ein  Testament,  worin 
er  ihn  zum  Thronerben  einsetzte  und  nur  für  den  schlimmsten 
Fall  einen  anderen  Sohn  zum  Nachfolger  ernannte.  Antipater  aber 
fand  den  Boden  in  Jerusalem  etwas  heiß  und  ließ  sich  nach  Rom 
schicken,  um  die  Bestätigung  des  Testaments  zu  erwirken  und 
andere  Aufträge  auszurichten. 

Indes  erkrankte  Pheroras  zum  Tode.  Auf  die  Kunde  davon 
vergaß  Herodes  allen  Zorn,  eilte  an  sein  Lager  und  drückte  ihm 
die  Augen  zu.  Die  aufrichtige  Trauer,  die  er  zeigte,  war  vielleicht 
der  Anlaß,  daß  einige  Diener  ihm  den  Verdacht  mitteilten,  der 
Verstorbene  habe  Gift  bekommen,  denn  die  Weiber  seien  mit  Gift 
umgegangen.  Dieser  Verdacht  bestätigte  sich  nicht,  aber  es  kam 
heraus,  daß  Salome  auf  richtiger  Fährte  gewesen  und  daß  das 
Gift  für  Herodes  selber  bestimmt  war.  Der  Haushofmeister  Anti- 
paters  sagte  aus,  daß  dieser  es  aus  Ägypten  bekommen  und  durch 
seiner  Mutter  Bruder  dem  Pheroras  gesandt  habe.  Pheroras'  Witwe 
bestätigte  die  Aussage  und  legte  ein  ausführliches  Geständnis  ab, 
woraus  hervorging,  daß  Antipater  den  Pheroras  hatte  benutzen 
wollen  um  Herodes  über  die  Seite  zu  schaffen.  Zum  Überfluß 
sandte  Antipater  aus  Rom  eben  jetzt  noch  weiteres  Gift  an  seine 
Helfershelfer  und  zugleich  Briefe  an  seinen  Vater,  worin  er  seine 
Brüder  Archelaus  und  Philippus  in  der  selben  Weise  verläumdete 
oder  verläumden  ließ  wie  früher  den  Alexander  und  Aristobul. 
Nun  gingen  dem  alten  Könige  die  Augen  auf;  seine  ganze  Sorge 
war  fortan,  den  L^uhold  in  die  Hand  zu  bekommen.  Durch  den 
allgemeinen  Haß  gegen  ihn  wurde  er  unterstützt;  Antipater  erfuhr 
nicht,  daß  er  in  Ungnade  gefallen  war,  und  kehrte  auf  die  Auf- 
forderung des  Vaters  arglos  heim.  Als  er  in  Cäsarea  landete,  fiel 
ihm  der  eisige  Empfang  auf;    er  ließ  sich   jedoch  nichts    merken, 


sagen  wird:  ich  bin  ein  dürrer  Baum.  Die  Pharisäer  erwarteten  also  in  naher 
Zeit  das  Auftreten  des  Messias,  und  sie  fanden  für  diese  Erwartung  Glauben 
auch  im  Palast  des  Herodes,  namentlich  bei  den  Weibern.  Josephus  folgt 
Ant.  17,  41  SS.  einer  Quelle,  die  seiner  eigenen  Anschauung  total  widerspricht; 
es  sind  ihm  auf  diese  Weise  öfter  Kukkukseier  in  sein  Nest  geraten. 


346  Einundzwanzigstes  Kapitel.     König  Herodes. 

setzte  die  Reise  nach  Jerusalem  fort  und  begab  sich  scheinbar  un- 
befangen in  den  Pahist.  Hier  wurde  er  sofort  begrüßt  wie  er  es 
verdiente,  erhielt  aber  doch  einen  Richter  in  der  Person  des  Statt- 
halters Varus,  der  sich  gerade  in  Jerusalem  befand.  Seit  die  Furcht 
vor  ihm  geschwunden  war,  mehrten  sich  die  Anklagen  und  die 
Zeugnisse.  Er  wurde  klärlich  überwiesen,  Mitverschworene  von 
Bedeutung  waren  nicht  zu  entdecken.  Herodes  ließ  ihn  fesseln  und 
erstattete  dem  Kaiser  Bericht.  Bald  darauf  erkrankte  er  schwer. 
Es  verbreitete  sich  das  Gerücht,  er  liege  im  Sterben. 

Diesen  Zeitpunkt  hielten  zwei  jerusalemische  Gesetzeslehrer  für 
gelegen,  um  ein  Ärgernis,  einen  entsetzlichen  Greuel  an  heiliger 
Stätte,  zu  beseitigen.  Der  König  hatte  nämlich  über  dem  Haupttor 
des  Tempels  einen  goldenen  Adler  anbringen  lassen,  als  ob  er  den 
Juden  wenigstens  in  einem  Falle  zeigen  wollte,  daß  er  die  Macht 
habe  ihren  religiösen  Vorurteilen  zu  trotzen.  Von  jenen  Rabbinen 
aufgehetzt  zerhieben  einige  Jünglinge  am  hellen  Tage  den  Adler 
mit  Äxten.  Anstifter  und  Täter  wurden  alsbald  festgenommen, 
verhört  und  dann  nach  Jericho  gesandt;  dort  wurden  sie  teils  mit 
dem  Schwert  gerichtet,  teils  lebendig  verbrannt,  am  13.  März  des 
Jahres  4^).  Der  Hohepriester  Matthias  mußte  es  mit  seiner  Ali- 
setzung  büßen,  daß  er  die  Tempelpolizei  nicht  besser  gehandhabt 
hatte;  die  Obersten  der  Juden  erhielten  eine  ernstliche  Verwarnung, 
sie  waren  froh  damit  abzukommen. 

Kurze  Zeit  vor  seinem  Tode,  als  er  von  den  Bädern  in  Kalirrhoe 
am  Jordan  nach  Jericho  zurückgekehrt  war,  erhielt  Herodes  die 
Erlaubnis  des  Kaisers,  über  Autipater  nach  Gutdünken  zu  ver- 
fügen. Nun  besserte  sich  sein  Leiden  scheinbar,  aber  bald  trat 
wieder  ein  Rückfall  ein.  Schon  hieß  es,  er  habe  sich  im  Fieber- 
wahnsinn umgebracht.  Antipater  schöpfte  Hoffnung  und  war  so 
unvorsichtig,  sie  zu  äußern.  Darauf  hin  erging  der  Befehl,  seine 
Hinrichtung  unverweilt  zu  vollstrecken.  Fünf  Tage  später  starb 
der  König  ^).     Seine  Leiche    wurde   mit  großem  militärischen  Ge- 

1)  ante  Clir.  nach  Ideler  2,391s.     Ginzel,  Kanon  (1899)  p.  195s. 

-)  Die  Angabe,  er  habe  die  angesehensten  jüdischen  Männer,  aus  jedem 
Dorf,  zusammengeholt,  sie  im  Hippodrom  zu  Jericho  eingesperrt,  und  Befehl 
gegeben,  sie  im  Augenblick  seines  Todes  niederzuschießen,  verdient  keinen 
Glauben.  Sie  erklärt  sich  vielleicht  daraus,  daß  er  die  vornehmsten  Männer 
von  Jerusalem  im  dortigen  Theater  versammelte  und  sie  für  den  am  goldenen 
Adler  begangenen  Frevel  zur  Verantwortung  zu  ziehen  drohte. 


Z  w  e  i  u n  d  z  w  a n  z  i  g s  t e  s  K  a p  i  t  e  1.     Die  Vierfürsten  ii.  die  Landpfleger.     347 

prange  nach  Herodium,  südlich  von  Jerusalem,  übergeführt  und 
dort  bestattet. 

Herodes  war  einer  von  den  Orientalen,  die  den  Instinkt  des 
Ilerrschens  haben.  Seine  Moral  war  die  Politik.  Jeden  von  politischem 
Interesse  gebotenen  Frevel  beging  er  gelassen.  Er  begriff  nicht, 
daß  ihm  die  Selbsterhaltung  verdacht  werden  konnte;  er  wunderte 
sich  über  den  Haß,  den  er  sich  zuzog,  und  wurde  verbittert  durch 
den  Undank,  der  ihm  begegnete.  Er  hatte  bei  seinen  Untaten  ein 
ganz  gutes  Gewissen,  wenn  sie  ihm  notwendig  schienen;  er  kam 
sich  immer  ganz  korrekt  vor.  Boshafte  Grausamkeit  kann  man  ihm 
in  der  Tat  nicht  nachsagen.  Er  war  kein  Wüterich  von  Natur, 
sondern  ein  brutaler  Gemütsmensch,  leidenschaftlich  und  liebe- 
bedürftig. Die  Verwandtenliebe  bildete  einen  hervorstechenden  Zug 
seines  Naturells;  antik  zeigte  er  sich  darin,  daß  Bruder  und 
Schwester  ihm  heiliger  waren  als  Weib  und  Kind. 

Man  hat  ihn  mit  David  verglichen.  Aber  David  lebte  in  der 
ihm  gemäßen  Zeit  und  in  der  ihm  gemäßen  Umgebung.  Herodes 
war  zu  etwas  anderem  geboren,  als  im  Zeitalter  des  Augustus  die 
Juden  zu  regieren,  ein  Aft'e  der  Zivilisation  zu  sein  und  zugleich 
den  Pharisäern  Rechnung  zu  tragen.  Er  war  ein  Eber  im  Wein- 
berge des  Herrn  und  mußte  doch  den  Hüter  spielen.  Seine  un- 
gemein schwierige  Stellung  machte  er  selber  noch  schwieriger  durch 
seine  Verschwägerung  mit  dem  hasmonäischen  Hause.  Das  war  die 
große  Torheit  seines  Lebens,  daran  ging  er  zu  gründe. 

Sein  Reich  hatte  keinen  Bestand,  aber  das  Bild  seiner  Person, 
das  sich  so  schneidend  von  dem  Hintergrunde  abhob,  setzte  sich 
mit  schreienden  Farben  in  der  Erinnerung  fest.  Er  ist  zum  Typus 
des  Tyrannen,  zum  Antitypus  des  Kindes  von  Bethlehem  geworden. 


Zweiundzwanzigstes  Kapitel. 

Die  Vierfürsten  und  die  Landpfleger. 

1.  Herodes   hatte   in  seinem  letzten  Willen    sein   Reich  unter 
seine  drei  Söhne  Archelaus  Antipas    und  Philippus  geteilt').     Er 

')  Ein  vierter  Sohn,    Herodes,    ging  bei  der  Teilung  leer  aus,    obwol  er 
in  dem  Testament  vom  Jahre  7  zum  Ilaupterben  nach  Antipater  ernannt  war. 


348  Zweiundzwanzigstes  Kapitel. 

hatte  Erlaubnis  über  seine  Nachfolge  zu  verfügen,  machte  indessen 
doch  die  Giltigkeit  seiner  Anordnungen  von  der  Bestätigung  des 
Kaisers  abhängig.  Um  diese  einzuholen,  begab  sich  Archelaus  um 
Ostern  4  nach  Rom;  er  war  zum  llaupterben  ernannt  und  sollte 
den  Königstitel  führen.  Ihm  folgte  Autipas,  um  ihm  den  Rang 
abzulaufen;  denn  in  dem  eigentlichen  Testament  stand  er,  obwol 
der  jüngere,  an  erster  Stelle  und  erst  in  einem  Kodizill  war  er 
zurückgesetzt.  Auch  Salome  und  andere  Mitglieder  des  königlichen 
Hauses  erschienen  in  Rom.  Sie  waren  alle  einig  im  Neide  gegen 
Archelaus,  ihre  Eigensucht  entblößte  sich  schamlos  an  höchster 
Stelle.  Nur  einer  benahm  sich  mit  Anstand,  Philippus,  der  etwas 
später  den  Anderen  nachreiste.  Während  diese  Gesellschaft  an  dem 
Raube  zerrte  und  sich  giftig  dabei  anfauchte,  kamen  Abgeordnete 
von  Jerusalem  hinzu,  zählten  ein  langes  Register  der  Schandtaten 
des  verstorbenen  Königs  vor  dem  Kaiser  auf  und  verbaten  sich 
einen  Nachfolger  aus  seinem  Geschlecht;  sie  wünschten  sich  selbst 
zu  regieren  und  der  römischen  Herrschaft  unmittelbar  zu  unter- 
stelm.  Nach  reiflicher  Erwägung  entschied  Augustus  im  Sinne  des 
Erblassers.  Antipas  erhielt  Galiläa  und  Peräa,  Philippus  die  Nord- 
ostmark, beiden  wurde  der  Titel  Tetrarch  verliehen.  Gaza  Hippus 
und  Gadara  wurden  frei. 

Archelaus  bekam  Judäa  nebst  Idumäa  und  Samarien.  Vor- 
läufig mußte  er  sich  begnügen,  Ethnarch  zu  heißen;  König  sollte 
er  erst  werden,  wenn  er  sich  bewährte.  Seine  Untertanen  machten 
ihm  aber  das  Regieren  sauer.  Der  Tod  des  Herodes  hatte  sie  in 
eine  ungeheure  Aufregung  versetzt.  Schon  vor  Archelaus'  Abreise 
nach  Rom,  zu  Beginn  des  Osterfestes,  war  ein  gefährlicher  Tumult 
im  Tempel  entstanden;  er  hatte  ihn  mit  Waffengewalt  niederschlagen 
und  der  Menge  der  Wallfahrer  Befehl  geben  müssen,  die  Feier 
abzubrechen  und  heimzukehren.  Während  seiner  Abwesenheit 
erneuerten  und  verschlimmerten  sich  die  Unruhen  und  führten  zu- 
letzt zu  einer  über  das  ganze  Land  verbreiteten  großen  Erhebung, 
an  der  sich  nur  die  Samaritis  nicht  beteiligte. 

Der  Prokurator  Sabinus,  der  während  des  Interims  nach  Jeru- 
salem entsandt  war  und  eine  von  Varus  dort  zeitweilio:  stationirte 


Er  machte  keine  Ansprüche  geltend  und  besaß,  wie  es  scheint,  keinen  Ehr- 
geiz. Über  einen  falschen  Alexander,  der  sich  für  den  hingerichteten  Sohn 
der  Mariamme  ausgab,  berichtet  Josephus  Ant.  17,  324ss. 


Die  Vierfürsten  uud  die  Laiidpfleger.  349 

Legion  zur  Verfügung  hatte,  misbrauclite  seine  Stellung,  um  sich 
in  die  königlichen  Schlösser  einzudrängen  und  die  königliche  Hinter- 
lassenschaft zu  durchsuchen.  Als  nun  Pfingsten  ins  Land  kam, 
strömten  die  Provinzialen  aus  Galiläa  und  Idumäa,  aus  Jericho  und 
Peräa,  und  aus  dem  eigentlichen  Judäa  scharenweis  in  der  Haupt- 
stadt zusammen  —  nicht  so  sehr  um  das  Fest  zu  feiern  als  viel- 
mehr um  mit  den  Römern  anzubinden.  Sie  teilten  sich  in  drei 
Haufen  und  griffen  Sabinus  an,  der  im  Palast  des  Herodes  sein 
Hauptquartier  hatte.  Sabinius  warf  sie  zwar  durch  einen  Ausfall 
auf  den  Tempel  zurück.  Aber  bei  dieser  Gelegenheit  stekten  seine 
Soldaten  die  Bedachung  der  heiligen  Säulenhallen  in  Brand  und 
plünderten  den  Tempelschatz.  Dadurch  erbittert  setzten  die  Juden 
den  Kampf  nur  um  so  eifriger  fort;  die  Soldaten  des  Herodes 
schlössen  sich  ihnen  größtenteils  an,  mit  Ausnahme  der  Sebastener. 
Die  Römer  mußten  sich  in  den  königlichen  Palast  zurückziehen 
und  wurden  dort  belagert. 

Gleichzeitig  loderte  auch  in  der  Provinz  an  mehreren  Stellen 
die  Flamme  auf.  In  Idumäa  meuterten  zweitausend  alte  königliche 
Krieger.  Bei  Jericho  und  bei  Emmaus,  in  Galiläa  und  in  Peräa 
stellten  sich  Abenteurer  meist  niederer  Herkunft  an  die  Spitze 
der  Menge,  zerstörten  Paläste  und  Zeughäuser,  durchstreiften  das 
Land  und  töteten  Römer  und  römisch  Gesinnte.  Sie  kämpften 
nicht  mehr  für  die  Hasmonäer,  sondern  geberdeten  sich  selber  als 
Könige.  Wir  hören,  daß  die  Pharisäer  mit  dem  Ende  des  Herodes 
den  Beginn  der  messianischen  Zeit  erwarteten;  es  scheint  daß  sie 
mit  dieser  Erwartung  nicht  allein  gestanden  haben  ^). 

Die  Bedrängung  der  Legion  in  Jerusalem,  der  helle  Aufruhr 
im  ganzen  Lande  erforderten  gebieterisch  das  Einschreiten  des 
syrischen  Legaten.  Varus  eilte  von  Antiochia  herbei,  mit  den 
beiden  Legionen  die  er  zur  Hand  hatte,  und  mit  Hilfstruppen  der 
Bundesgenossen,  namentlich  der  Nabatäer,  welche  den  Anlaß  wahr- 
nahmen um  im  Gebiete  ihres  alten  Gegners  zu  rauben  und  zu 
morden.  Er  rückte  zuerst  in  Galiläa  ein,  eroberte  die  Hauptstadt 
Sepphoris  und  verkaufte  die  gefangenen  Einwohner  in  Sklaverei. 
Dann  marschirte  er  durch  die  Samaritis,  wo  die  Ruhe  nicht  gestört 
war,    gegen  Jerusalem.     Die  Provinzialen,    welche    die  Legion  im 


')  Aut.  17,  41  SS.     Nach  Tacitus  Bist.  5,  9  trat  ein  gewisser  Simon  damals 
als  Köui"'  auf. 


350  Zweiundzwanzigstes  Kapitel. 

Palast  des  Herodes  belagerten,  hielten  ihm  nicht  Stand,  sondern 
zerstreuten  sich  über  die  Landschaft;  er  ließ  die  Banden  verfolgen 
und  zweitausend  Gefangene  ans  Kreuz  schlagen.  Sabinus  entzog 
sich  der  Begegnung  mit  ihm  durch  die  Flucht;  den  Bürgern  von 
Jerusalem  tat  er  kein  Leid.  Gegen  die  Idumäer  ließ  er  die  Araber 
los;  da  sie  aber  den  Krieg  nach  eigenem  Belieben  führten,  schickte 
er  sie  nach  Hause  und  zog  selber  mit  seinen  Legionen  den  Auf- 
ständischen entgegen.  Sie  ergaben  sich  ihm  und  erhielten  Ver- 
zeihung, mit  Ausnahme  der  Rädelsführer  und  der  Mitglieder  des 
königlichen  Hauses,  die  sich  kompromittirt  hatten.  Damit  war  die 
Empörung  zu  Ende,  Varus  konnte  nach  Antiochia  zurückkehren. 

Nach  diesem  blutigen  Zwischenakt  trat  Archelaus  seine  Re- 
gierung an.  Der  Aufstand  war  im  Blut  erstickt,  aber  die  Gemüter 
siedeten  noch.  Daß  der  junge  Herrscher  unter  solchen  Umständen 
kein  leichtes  Spiel  hatte,  ist  begreiflich.  Es  konnte  keine  Rede 
davon  sein,  daß  er  sich  die  Zuneigung  seiner  Untertanen  erwarb, 
aber  es  gelaug  ihm  auch  nicht  sich  bei  ihnen  in  Respekt  zu  setzen. 
Nicht  bloß  die  Juden  wollten  nichts  von  ihm  wissen,  sondern  er 
machte  sich  auch  bei  den  Samariern  verhaßt,  die  doch  seinem 
Vater  treu  ergeben  gewesen  waren.  Nachdem  er  neun  Jahre  regiert 
hatte,  erschienen  Gesandte  aus  Jerusalem  und  Sebaste  in  Rom,  um 
ihn  zu  verklagen.  Auf  ihre  Beschwerde  hin,  die  er  begründet  fand, 
setzte  Augustus  ihn  ab  und  verbannte  ihn  nach  Vienna  AUobrogum 
an  der  Rhone.  Sein  Gebiet  wurde  römische  Provinz,  unter  einem 
Prokurator  aus  dem  Ritterstande,  der  dem  syrischen  Legaten  zwar 
im  Range  untergeordnet,  aber  für  gewöhnlich  nicht  untergeben 
war').  Er  hatte  nicht  bloß  die  Steuerverwaltung,  sondern  auch 
den  Blutbann  und  den  Heerbefehl.  Die  Truppen  des  Herodes 
gingen  als  Auxiliaren  in  römischen  Dienst  über;  wie  bisher  wurden 
sie  auch  jetzt  nicht  in  Judäa,  sondern  vorzugsweise  in  den  Bezirken 
von  Sebaste  und  Cäsarea  ausgehoben.  Das  Hauptlager  war  Cäsarea, 
wo  auch  der  Prokurator  residirte;  daneben  gab  es  kleinere  Garni- 
sonen in  den  Zitadellen  und  Burgen. 

Die  inneren  Angelegenheiten  überließen  die  Römer  den  Geru- 
sien  in  den  Metropolen;  wie  in  Cäsarea  und  Sebaste,  so  auch  in 
Jerusalem.  In  der  jüdischen  Hauptstadt  trat  infolge  dessen  die 
Aristokratie  wieder  in  ihre  Rechte,   wenngleich  die  alten  Familien 

')  Moiumsen  5,509  u.  1. 


Die  Vierfürsteu  und  die  Laudpfleger.  351 

vielfach  durch  neue,  wie  die  mit  Herodes  verschwägerten  Boethusier, 
ersetzt  waren.  Das  Synedrium  erlangte  eine  Bedeutung,  wie  es 
sie  auch  in  der  hasmonäischen  Zeit  nicht  besessen  hatte.  Denn 
damals  war  der  Vorsitzende  im  Übergewicht  gewesen,  der  Hohe- 
priester hatte  die  Obmacht  gehabt.  Die  verlor  er  unter  Herodes 
und  gewann  sie  auch  unter  den  Römern  nicht  zurück.  Das  Amt 
war  nicht  mehr  lebenslänglich  und  erblich,  sondern  wechselte'); 
neben  dem  grade  fungirenden  Hohenpriester  behielten  die  abge- 
tretenen ihren  Einfluß,  die  oberste  Körperschaft  wurde  nicht  mehr 
von  ihrem  Präsidenten  beherrscht.  Das  Synedrium  hatte  das  Ge- 
richt; nur  Todesurteile  unterlagen  der  Bestätigung  des  Prokurators 
und  wurden  von  ihm  vollstreckt.  Es  hatte  auch  die  Verwaltung; 
die  Steuern  wurden  von  der  einheimischen  Behörde  eingezogen 
und  dann  an  den  Prokurator  abgeliefert.  Die  Erhebung  der  Zölle 
dagegen  gaben  die  Römer  Privatunternehmern  in  Pacht  und  diese 
wiederum  Afterpächtern,  welche  in  der  Regel  Juden  waren").  In 
der  Tempelburg,  der  Antonia,  lag  eine  römische  Wache.  Zu  den 
Festen,  die  wegen  der  Menge  der  fremden  Pilger  immer  leicht 
Anlaß  zu  Unruhen  gaben,  pflegte  der  Prokurator  selber  nach  Jeru- 
salem zu  kommen,  um  die  Ordnung  aufrecht  zu  erhalten;  sein 
Prätorium  war  dann  der  Palast  des  Herodes  im  Nordwesten  der 
Stadt.  Für  den  Kaiser  wurde,  auf  seine  Kosten,  ein  tägliches 
Opfer  im  Tempel  dargebracht.  Es  scheint,  daß  ihm  auch  ein 
Huldigungseid  geschworen  werden  mußte,  der  bei  jedem  Regierungs- 
wechsel erneuert  wurde. 

Die  Römer  handelten  weise,  wenn  sie  ihre  Berührung  mit 
den  Juden  auf  das  notwendigste  Maß  einschränkten  ^).  Sie  standen 
immer  in  Gefahr,  eine  Explosion  hervorzurufen.  Sie  nahmen  zwar 
weitgehende  Rücksichten.  Das  im  Lande  gemünzte  Kupfergeld  trug 
nicht  den  Kopf,  sondern  nur  den  Namen  des  Kaisers.  Kein  Heide 
durfte  den  inneren  Vorhof  des  Tempels  betreten ;  tat  er  es  dennoch, 
so  wurde  ihm  der  Tod  gedroht,    selbst  wenn  er  römischer  Bürger 

')  Aber  nicht  etwa  jährlich.  Kaiaphas  war  schon  vor  Pilatus  im  Amt 
nnd  wurde  erst  durch  Vitellius  abgesetzt  (Aut.  18,  35.  59),  regierte  also  min- 
destens zwölf  Jahre. 

2)  Auch  in  Ägypten  gab  es  schon  im  zweiten  vorchristlichen  Jahrhundert 
unter  den  Steuerpächtern  viele  Juden  (Wilcken  Ostraka  1,  523). 

2)  Die  Sibylle  wendet  auf  die  Juden  den  Rat  an:  [>.))  -/tvet  Kc([j.c<ptvav, 
äxmjTOs  Y'^P  ä(j.etv(uv  (3,  73G). 


352  Zweiundzwanzigstes  Kapitel. 

war').  Wenn  die  Soldaten  von  Cäsarea  nach  Jerusalem  zogen, 
ließen  sie  die  Feldzeichen  mit  den  Kaiserbildern  daheim.  Aber 
in  die  grundsätzliche  Nachsicht  mischte  sich  gelegentlich  doch 
persönliche  Willkür  übelwollender  Machthaber.  Selbst  die  wol- 
wollenden  konnten  es  nicht  immer  vermeiden  Anstoß  zu  geben, 
und  auch  ihnen  riß  zuweilen  die  Geduld. 

Gleich  Anfangs  drohte  eine  Kollision.  Der  Statthalter  von 
Syrien,  P.  Sulpicius  Quiriuius,  hatte  den  Auftrag  die  neue  Provinz 
einzurichten  und  veranstaltete  zu  dem  Ende  einen  Zensus  der  Ein- 
Avohner,  der  als  Grundlage  für  die  Steuererhebung  dienen  sollte 
(7  A.  D.).  Dagegen  sträubten  sich  die  Juden.  Man  meint,  aus 
religiösen  Gründen.  Aber  die  Hierokratie  war  ja  unter  der  Fremd- 
herrschaft gegründet  worden  und  hatte  sie  zur  Voraussetzung, 
früher  hatte  man  es  nicht  für  unverträglich  mit  den  Pflichten  gegen 
Gott  gehalten,  den  ausländischen  Potentaten  Steuern  zu  zahlen '''). 
Jedenfalls  weniger  aus  Gesetzlichkeit,  als  aus  Patriotismus  sträubten 
sich  die  Juden  gegen  den  Zensus.  Der  Übergang  in  die  römische 
Herrschaft  erregte  sie.  Das  Gesuch  um  Einverleibung  in  dieselbe 
war  von  Jerusalem  ausgegangen,  von  den  vornehmen  und  leitenden 
Kreisen  daselbst,  die  von  der  Beseitigung  der  Zwischenstufe  den 
Gewinn  hatten,  da  sie  dadurch  an  die  oberste  Stelle  im  Lande 
rückten.  Die  Provinzialen  hatten  sich  nicht  daran  beteiligt,  sie 
wollten  nichts  von  den  Römern  wissen,  sie  wurden  von  ihrer 
Einmischung  überrascht.  Mit  Mühe  gelang  es  der  jerusalemischen 
Regierung,  sie  zu  beschwichtigen.  Es  gelang  ihr  auch  nur  zum 
Teil  und  für  den  Augenblick. 

Auf  Galiläa  erstreckte  sich  die  Schätzung  des  Quirinius  nicht 
und  doch  war  dort  die  Aufregung  am  größten ;  man  sieht,  daß 
das  Gemeingefühl  der  Juden  durch  die  Zerstücklung  von  Herodes' 


^)  Bell.  6,  124ss.  Mommsen  (5,  öllJ  n.  1)  findet  es  wahrscheinlich,  daß  die 
an  dem  Gitter  des  Vorhofs  augebrachten  Warnungstafeln  in  griechischer  und 
lateinischer  Sprache,  von  denen  Clermont-Ganneau  eine  wieder  aufgefunden 
hat,  von  der  römischen  Regierung  errichtet  seien.  Der  Text  der  Warnungs- 
tafeln redet  freilich  nicht  so  bestimmt  von  Hinrichtung,  wie  Josephus,  und 
sagt  nicht,  daß  sie  sogar  an  römischen  Bürgern  vollzogen  werden  solle. 

-')  Gegen  die  Kopfsteuer  haben  allerdings  die  Juden  zur  Zeit  Jesu  eine 
große  Abneigung  gehabt,  weil  sie  sie  nur  dem  Heiligtum  entrichten  wollten. 
(Marc.  12,  14.)  Selbst  die  Kopfsteuer  an  das  Heiligtum  hält  Jesus  für  des 
Freien  unwürdig  (Matth.  17,  25). 


Die  Tierfürsten  und  die  Landpfleger.  353 

Reiche  in  keiner  Weise  geschwächt  war.  In  Galiläa  erhob  sich 
damals  Judas,  der  Sohn  des  von  Herodes  hingerichteten  Banden- 
führers Ezechias.  Wenn  er  auch  unterlag  und  umkam  ^),  so  blieb 
doch  sein  Anhang  bestehn  und  übte  in  der  Folge  die  größte 
Wirkung  aus.  Er  begründete,  zusammen  mit  dem  gewesenen 
Pharisäer  Sadduk,  die  theokratische  Aktionspartei  der  Zeloten*)- 
Die  Zeloten  waren  nicht  profan  Avie  die  Sadducäer,  sondern  fromm 
wie  die  Pharisäer.  Aber  ihre  Frömmigkeit  war  durchaus  politisch 
gefärbt,  wie  die  der  Makkabäer  vor  ihnen  und  die  der  Chavärig 
und  der  Puritaner  nach  ihnen.  Sie  verstanden  die  Theokratie  nicht 
bloß  als  die  Herrschaft  des  Gesetzes,  sondern  als  die  Herrschaft 
Gottes  und  die  Freiheit  seines  Volkes;  der  Patriotismus  ging  ihnen 
über  das  Gesetz.  Und  sie  wollten  nicht  warten,  bis  das  Reich 
Gottes  vom  Himmel  auf  die  Erde  käme,  sondern  selber  Hand 
anlegen,  daß  es  sich  verwirkliche.  Sie  wollten  nicht  bloß  heften, 
sondern  handeln,  sie  erklärten  es  für  Pflicht  Gott  zu  helfen,  sie 
waren  von  rücksichtslosestem  Fanatismus  beseelt.  Dadurch  unter- 
schieden sie  sich  von  den  Pharisäern,  die  sich  begnügten  das  Ge- 
setz zu  erfüllen  und  im  übrigen  geduldig  auf  den  Trost  Israels 
warteten.  Sie  brachten  die  Stimmung,  von  der  das  Land,  im 
Gegensatz  zu  der  Hauptstadt,  längst  beherrscht  war,  zum  entschie- 
denen Ausdruck.  Die  Bekämpfung  der  Fremdherrschaft  mit  dem 
Schwerte  und  mit  allen  Mitteln  war  von  Anfang  an  ihr  Programm. 
Mit  diesem  Programm  gaben  sie  auf  die  Einverleibung  Judäas  in 
das  Kaiserreich  eine  aulfallend  prompte  Antwort. 

Über  die  ersten  Prokuratoren  von  Judäa  und  über  die  Ge- 
schichte ihrer  Zeit  erfahren  wir  gar  nichts  ^).  Augustus  wechselte 
sie  rasch,  Tiberius  ließ  sie  möglichst  lange  im  Amt.     Unter  C'opo- 


')  Act.  5,  37.  Judas  heißt  Ant.  18,4  ein  Gaulaniter  aus  Gamala,  sonst 
immer  „der  Galiläer".  Er  trat  jedenfalls  in  Galiläa  auf,  ebenso  wie  sein, 
Vater.  Aber  Gamala  konnte  vielleicht  noch  mit  zu  Galiläa  gerechnet  werden 
vgl.  Bell.  4,  2. 

-)  Der  Name  ist  abgeleitet  von  Phiuehas,  der  ohne  andere  Befugnis,  als 
weil  ihn  der  Eifer  trieb,  in  Sachen  Gottes  zu  den  Waffen  griff. 

3)  Coponius  ±7  —  9,  M.  Ambibulus  (Niese  zu  Ant.  18,  31)  ±  9  —  12, 
Annius  Rufus  +  12—15,  Valerius  Gratus  15—26,  Pontius  Pilatus  26—36,  Mar- 
cellus  36.  37,  Marullus  37—41.  —  Josephus  füllt  die  Lücke  durch  die  in  die 
Zeit  Artabans  IIL  fallende  Erzäiilung  über  Asinäus  und  Aniläus,  welche  zeigt, 
wie  zahlreich  die  Juden  im  Irak  damals  waren  und  wie  dreist  sie  luiter  der 
parlhischen  Herrschaft  auftraten  (Ant.  18,  31Uss.). 

Wellhausen,  Isr.  Gescbiclite.    5.  Aufl.  23 


354  Zweiundzwanzigstes  Kapitel. 

nius  geschah  es,  daß  einige  Samariter  ^vährell(l  des  Osterfestes  sich 
nachts  in  den  Tempel  schlichen  und  Menschengebeine  in  den 
Säulengängen  umherstreuten;  das  war  eins  der  historischen  Ereig- 
nisse dieser  Periode.  Pontius  Pilatus  unterschied  sich  durch  eine 
gewisse  herausfordernde  Haltung  von  seinen  Vorgängern  und  Nach- 
folgern. Er  schmuggelte  einst  bei  Nacht  und  Nebel  Feldzeichen 
mit  Kaiserbildern  in  Jerusalem  ein.  Als  die  Juden  es  gewahr 
wurden,  machten  sie  sich  entsetzt  auf  den  Weg  zu  ihm  nach 
Cäsarea,  baten  ihn  um  Zurücknahme  der  Neuerung,  und  belagerten 
fünf  Tage  seinen  Palast.  Am  sechsten  Tage  bestellte  er  sie  vor 
sich  in  die  Rennbahn,  als  ob  er  sie  bescheiden  wollte.  Als  sie 
aber  wieder  anfingen,  ihn  zu  bestürmen,  sahen  sie  sich  plötzlich 
von  Soldaten  umstellt  und  mit  augenblicklichem  Tode  bedroht, 
wenn  sie  sich  nicht  fügen  wollten.  Da  fielen  sie  wie  auf  Verab- 
redung nieder,  entblößten  den  Nacken  und  erklärten  laut,  sie 
würden  lieber  sterben  als  den  Protest  gegen  die  Gesetzesübertretung 
aufgeben.  Erstaunt  über  die  Entschlossenheit  der  Juden  gab  Pilatus 
nach.  Später  stellte  er  sie  jedoch  noch  einmal  auf  die  Probe, 
indem  er  an  seiner  jerusalemischen  Residenz,  dem  Palaste  des 
Herodes,  goldne  Schilde  mit  dem  Namen  des  Kaisers  anbringen 
ließ;  indessen  auch  das  duldeten  sie  nicht  und  setzten  es  durch, 
dalj  er  die  Schilde  entfernte.  Nur  ihren  Widerstand  gegen  ein 
nützliches  Unternehmen,  gegen  eine  Wasserleitung  nach  Jerusalem, 
die  er  anlegte,  brach  er  mit  Gewalt.  Sie  nahmen  Anstoß  daran, 
daß  die  Kosten  aus  dem  Tempelschatz  bestritten  wurden,  und  als 
er  während  des  Baus  nach  Jerusalem  kam,  .veranstalteten  sie  eine 
lärmende  Kundgebung  gegen  ihn.  Er  hatte  aber  von  der  Absicht 
Kunde  erhalten  und  dämpfte  den  Auflauf  durch  Soldaten  ohne 
Uniform,  denen  er  befohlen  hatte,  sich  mit  Knitteln  bewaffnet  unter 
die  Menge  zu  begeben  und  auf  ein  verabredetes  Zeichen  drein  zu 
schlagen.  Schließlich  brach  ihm  sein  schneidiges  Auftreten  gegen 
die  Samariter  den  Hals.  Sie  hatten  sich  in  hellen  Haufen  in  einem 
Dorfe  bei  Sichem  versammelt,  weil  ein  Prophet  sich  erboten  hatte, 
ihnen  die  heiligen  Geräte  der  Stiftshütte  zu  weisen,  die  auf  dem 
Berge  Garizzim  verborgen  seien.  ])a  überfiel  und  zersprengte  sie 
Pilatus;  manche  kamen  um  und  einige  Gefangene  wurden  hin- 
gerichtet. Darüber  bei  dem  syrischen  Legaten  Vitellius,  dem  Vater 
des  späteren  Kaisers,  verklagt,  wurde  er  zur  Verantwortung  nach 
Rom    geschickt    und    ein   anderer  Prokurator  an  seiner  Stelle  er- 


Die  Yierfürsten  und  die  Laudpfleger.  355 

nannt  (36).  Vitelliiis  er\Yies  sich  auch  gegen  die  Juden  sehr 
rücksichtsvoll,  erließ  den  Jerusalemern  die  Abgaben  für  die  Markt- 
früchte und  gab  den  von  Herodes  in  Verwahr  genommenen  Ornat 
des  Hohenpriesters  heraus.  Bei  der  Expedition  gegen  die  Nabatäer, 
zu  der  er  sich  im  Jahre  37  auf  den  AVeg  machte,  ließ  er  die 
Legionen  einen  Umweg  machen,  um  nicht  mit  den  kaiserlichen 
Standarten  den  jüdischen  Boden  zu  betreten. 

2.  Während  das  Land  des  Archelaus  römischen  Landpflegern 
unterstellt  wurde,  behielten  seine  beiden  Brüder  ihre  Tetrarchien. 
Philippus  regierte  bis  zu  seinem  Lebensende  in  der  Gegend  des 
oberen  Jordan,  geliebt  von  seineu  Untertanen,  gerecht  und  milde. 
An  der  Stelle  des  alten  Panheiligtums,  an  der  Jordanquelle,  baute 
er  seine  Hauptstadt  Cäsarea  Paneas;  an  der  Stelle  von  Bethsaida, 
wo  der  Jordan  in  den  See  Gennesar  tritt,  die  Stadt  Julias.  Als 
er  im  Jahre  33/34  kinderlos  starb,  wurde  sein  Gebiet  eingezogen, 
blieb  jedoch  nur  wenige  Jahre  der  Provinz  Syrien  angeschlossen. 

Antipas  baute  in  Peräa  das  alte  Betharamphta  um  und  nannte 
es  der  Kaiserin  zu  Ehren  Livias,  später  Julias.  In  Galiläa  stellte 
er  die  von  Varus  zerstörte  Kapitale  Sepphoris  wieder  her,  verlegte 
aber  hernach  seine  Residenz  in  die  von  ihm  neu  gegründete  Stadt 
Tiberias,  die  am  See  Gennesar  bei  den  warmen  Quellen  von  Ama- 
thus  lag').  Er  ist  uns  bekannt  als  der  Landesherr  Jesu  und  als 
der  Mörder  des  Täufers  Johannes.  Als  Johannes  seine  Wirksam- 
keit über  Peräa  ausdehnte,  wurde  er  von  ihm  festgenommen  und 
nach  nicht  sehr  langer  Gefangenschaft  in  der  Burg  Machärus  hin- 
gerichtet^). Nach  Josephus  geschah  (bis  aus  politischen  Gründen, 
weil  Johannes  die  Menge  aufregte,  ohne  Zweifel  durch  die  Ver- 
kündigung, der  Eintritt  des  Reiches  Gottes  und  also  auch  das  Ende 
der  herodäischen  Herrschaft  stehe  nahe  bevor.  Nach  dem  Evan- 
gelium geschah  es  auf  Betreiben  der  Herodias,  der  Gemahlin  des 
Antipas,  die  dieser  aber  erst  einige  Jahre  nach  dem  Tode  des 
Täufers  seinem  Bruder  Herodes  abspenstig  gemacht  und  geheiratet 
haben  kann.  Die  Heirat  mit  dem  gar  nicht  mehr  jugendlichen 
Weibe  seines  Bruders  brachte  zu  der  Schuld  auch  das  Unglück  über 
das  Haupt  des  Antipas.  Er  verfeindete  sich  dadurch  mit  dem 
Nabatäerkönige  Aretas,   dem  Vater  seiner  ersten  Frau,   mit  der  er 

1)  Ant.  18,  36  Niese. 

^)  Der  Zeitpunkt  liegt  uach  Luc.  3,  1  nicht  fern  von  A.  D.  30.  Über 
Marc.  G,  17  ss.  vgl.  meinen  Kommentar. 

23* 


356  Zweiundzwanzigstes  Kapitel. 

viele  Jahre  gelebt  hatte  ^).  Es  entstand  eine  Grenzfehde  z^Yischen 
den  Nachbarn,  die  längere  Zeit  dauerte  und  mit  einem  förmlichen 
Kriege  endete  (36).  Antipas  unterlag.  Er  wandte  sich  hilfesuchend 
an  den  Kaiser  und  erwirkte,  daß  dieser  dem  syrischen  Legaten 
Befehl  erteilte  gegen  den  Araber  einzuschreiten.  Als  aber  Yitellius 
auf  dem  Marsche  gegen  Petra  war,  traf  ihn  in  Jerusalem  die  Nach- 
richt von  Tiberius'  Tode  und  bewog  ihn  umzukehren  (37).  Der 
neue  Herrscher,  Gaius  Caligula  nahm  nicht  für  Antipas  Partei 
gegen  Aretas.  Alsbald  nach  seinem  Regierungsantritt  erhol)  er 
einen  herabgekommenen  Sprossen  des  herodäischen  Hauses,  seinen 
damals  bereits  siebenundvierzigjährigen  Freund  und  Freudegenossen 
Agrippa,  aus  dem  Kerker,  in  den  ihn  Tiberius  geworfen  hatte,  auf 
den  Thron,  verlieh  ihm  die  ehemalige  Tetrarchie  des  Philippus 
samt  der  Herrschaft  des  Lysanias  von  Abilene  und  ernannte  ihn 
zum  Könige.  Her  verlotterte  Abenteurer  stand  nun  plötzlich  im 
Range  hoch  über  seiner  Schwester  Herodias'"'),  während  er  ehedem, 
außer  Stande  sich  vor  seinen  Gläubigern  zu  bergen,  bei  ihr  ge- 
l)ettelt  hatte  und  froh  gewesen  war,  auf  ihre  Verwendung  das  Amt 
eines  Polizeimeisters  in  Tiberias  zu  bekommen.  Das  wurmte  die 
stolze  Frau  und  sie  lag  ihrem  Tetrarchen  so  lange  an,  bis  er  mit 
ihr  zusammen  nach  Rom  reiste,  um  auch  für  sich  den  Königstitel 
zu  erbitten.  Aber  gleichzeitig  erschien  in  Baiae  vor  dem  Kaiser 
ein  Gesandter  Agrippas  mit  einem  Schreiben  desselben,  worin  er 
Antipas  des  geheimen  Einverständnisses  mit  Seianus  und  mit  dem 
Arsaciden  Artabanus  bezichtigte  und  zum  Beweise  für  seine  hoch- 
fliegenden Pläne  auf  die  gewaltigen  Waffenvorräte  hinwies,  die  er 
bereit  halte.  Da  Antipas  die  letztere  Tatsache  nicht  leugnen 
konnte,  so  wurde  er  abgesetzt  und  nach  Lugdunum  verbannt. 
Herodias  folgte  ihm  dahin  und  verschmähte  die  Gnade  des  Kaisers. 
Die  erledigte  Tetrarchie  bekam  Agrippa.  Das  geschah  im  Jahre  39. 
Als  der  neugebackene  König  Agrippa  auf  seiner  Heimreise  von 


')  Der  Text  von  Ant.  18,  112  ist  verderbt;  den  erforderlichen  Sinn  gibt 
der  Lateiner:  [lila  autem]  —  praemiserat  enim  ad  patrem,  xrt  ei  apud  Machae- 
runta  omnia  praepararentur  qiiae  itineris  usus  exposceret  —  a  ductoribus 
Aretae  suscipitur.     Auch  der  Anfang  von  §  113  ist  unverständlich. 

-)  Agrippa  und  Ilerodias  stammten  aus  der  Ehe  Aristobnls,  des  liin- 
gerichteteu  Sohnes  der  Mariamme,  mit  Berenice,  der  Tochter  Salomes  von 
Kostobarus.  Aus  der  selben  Ehe  stammten  auch  Ilerodes  von  Chalcis  und 
Aristobul. 


Die  Yierfünsten  uud  die  Landpfleger.  357 

Rom,  die  er  im  Sommer  38  antrat,  Alexandria  berührte,  erregte 
er  durch  sein  lächerlich  protzenhaftes  Auftreten  den  Spott  der  Be- 
wohner und  gab  dadurch  den  Anlaß  zu  einer  großen  Hetze  gegen 
die  dortigen  Juden  überhaupt.  Um  denselben  besser  beikommen 
zu  können,  kamen  die  Führer  der  Bewegung  auf  den  teuflisch  ge- 
scheiten Gedanken,  zu  fordern,  daß  wie  überall  sonst  so  auch  in 
den  Synagogen  das  Bild  des  Kaisers  aufgestellt  werden  sollte.  Auf 
diese  Weise  zogen  sie  Caligula  auf  ihre  Seite;  sie  konnten  über- 
zeugt sein,  daß  er  ihre  Forderung  sich  aneignen  werde,  wenngleich 
dieselbe  gegen  die  den  Juden  verbürgten  religiösen  Privilegien  ver- 
stieß. Der  Statthalter  Avillius  Flaccus  wagte  nicht  sich  ihnen  zu 
widersetzen,  da  er  die  Ungnade  des  Kaisers  fürchtete.  Er  gab  die 
Quartiere  der  Juden,  mit  Ausnahme  eines  einzigen,  dem  Pöbel  preis 
und  ließ  achtunddreißig  ihrer  Ältesten  öffentlich  auspeitschen.  Es 
brach  eine  furchtbare  Verfolgung  aus.  Im  Winter  38/39 ')  ordneten 
die  Juden  eine  Gesandtschaft  ab,  um  beim  Kaiser  selber  vorstellig 
zu  werden;,  der  Sprecher  w^ar  Philo  Alexandrinus.  Gleichzeitig 
ging  auch  eine  Gesandtschaft  der  Gegenpartei  nach  Rom,  an  deren 
Spitze  Apio  stand,  ein  großer  Held  vom  Maul  und  von  der  Feder. 
Caligula  beschied  die  Parteien  nach  einigem  Warten  vor  sich  in 
die  Gärten  des  Mäcenäs  und  des  Lamia,  suchte  die  Juden  durch 
allerhand  Vexirfragen,  die  ihren  Widersachern  ein  wieherndes  Ge- 
lächter entlockten,  in  Verlegenheit  zu  setzen,  wartete  aber  ihre 
Entgegnung  nicht  ab,  sondern  ging  von  dannen  um  irgend  etwas 
zu  besehen,  zog  sie  hinter  sich  her  und  fragte  dann  wol  nach  langer 
Pause,  was  sie  zu  sagen  hätten,  ohne  indessen  nun  etwa  auf  sie 
zu  hören.  Endlich  entließ  er  sie  mit  der  mitleidigen  Bemerkung, 
er  sähe,  daß  sie  weniger  aus  bösem  Willen,  als  aus  angeborenem 
Unverstand,  wegen  unglücklicher  Veranlagung,  seine  göttliche  Natur 
verkennten.     Sie  erreichten  nichts;  es  blieb  beim  Alten. 

Den  Judenhaß,  in  den  Gaius  durch  die  Bosheit  der  Alexandriner 
getrieben  war,  ließ  er  nun  auch  an  den  Palästinern  aus.  In  der 
Stadt  Jamnia,  die  kaiserlicher  Privatbesitz  war,  errichteten  ihm 
die  Heiden  einen  Altar;  die  Juden  aber  zerstörten  denselben.  Der 
Stadtvogt  Herennius  Capito  berichtete  darüber  nach  Rom,  und 
nun  bekam  der  Statthalter  von  Syrien,  P.  Petronius,  die  Weisung, 
die  Bildsäule  des  Kaisers  im  Tempel  von  Jerusalem   aufzustellen 

')  So  Willricli  iu  den  Beitrügen  zur  alten  Geschichte  3,  410. 


358  Zweiundzwanzigstes  Kapitel. 

und  mit  zwei  Legionen  in  I*;ilästin;i  einziirücl<en,  um  den  voraus- 
zusehenden Widerstand  der  Juden  zu  brechen.  Petronius  bestellte 
die  Statue  in  Sidon  und  machte  sich  im  Frühling  des  Jahres  40 
auf  den  Marsch.  Aber  an  der  Nordgrenze  Palästinas  bliel)  er  stehn; 
wir  finden  ihn  im  Frühsommer  zu  Ptolemais  und  noch  im  Herbst 
zu  Tiberias.  Die  Juden  gerieten  in  Angst  und  Aufregung;  sie 
ließen  alles  stehn  und  liegen  im  Gedanken  an  den  entsetzlichen 
Greuel,  durch  den  ihr  Heiligtum  bedroht  war.  Eine  Massendepu- 
tation, Männer,  Frauen  und  Kinder,  begab  sich  zu  dem  Statthalter 
nach  Ptolemais,  um  ihn  durch  verzweifeltes  Jammern  und  Flehen 
zu  erweichen ;  eine  andere  erschien  ein  halbes  Jahr  später  vor  ihm 
in  Tiberias  und  belagerte  vierzig  Tage  seinen  Palast.  Auch  Aristobul, 
der  Bruder  des  selber  in  Rom  abwesenden  Königs  Agrippa,  und 
andere  vornehme  Männer  machten  dem  Statthalter  Vorstellungen. 
Petronius  hatte  durch  sein  Zögern  zur  Genüge  bewiesen,  wie  sehr., 
ihm  die  Ausführung  des  unsinnigen  Befehls  widerstrebte,  und  war 
deswegen  bereits  vom  Kaiser  zur  Rede  gestellt  worden.  Jetzt  wagte 
er  den  offenen  Ungehorsam.  Er  führte  sein  Heer  nach  Antiochia 
zurück  und  schrieb  an  Caligula,  es  drohe  ein  Aufruhr,  wenn  er 
auf  seinem  Willen  bestehe.  Unverhoffter  Weise  sprang  in  Rom 
der  Wind  um.  Der  Kaiser  gab  sein  Vorhaben  auf,  seinem  Freunde 
Agrippa  zu  gefallen,  der  bei  ihm  zu  Besuch  war.  Er  verfügte,  daß 
im  Tempel  zu  Jerusalem  nichts  geändert  werden  sollte,  daß  jedoch 
anderswo  niemand  gehindert  werden  dürfe,  ihm  Altäre  oder  Tempel 
zu  errichten.  Das  tat  er,  bevor  er  Petronius'  Schreiben  erhielt. 
Als  es  einlief,  sandte  er  dem  widerspenstigen  Beamten  sein  Todes- 
urteil, das  er  selber  an  sich  vollstrecken  sollte.  Aber  die  Boten 
wurden  durch  ungünstige  Fahrt  aufgehalten  und  kamen  in  Antiochia 
erst  an,  nachdem  daselbst  die  Nachricht  vom  Tode  des  Kaisers 
längst  bekannt  war.  Caligula  wurde  am  24.  Januar  41  von  Chärea 
erdolcht,  als  er  im  Begriff  war  nach  dem  Orient  zu  reisen. 

Kaiser  Claudius  ließ  die  Juden  im  Orient  zufrieden  und  be- 
stätigte ihre  alten  Privilegien.  Dem  Agrippa  verlieh  er  zum  Danke 
für  die  guten  Dienste,  die  er  ihm  bei  seiner  Erhebung  geleistet 
hatte,  zu  seinen  übrigen  Besitzungen  noch  Judäa  und  Samarien, 
so  daß  nun  die  Prokuratorenregierung  eine  Weile  aufhörte.  Der 
Enkel  besaß  nun  wieder  das  Reich  seines  Großvaters,  nur  nicht 
seine  Fähigkeit  und  auch  nicht  sein  Geld.  Doch  erreichte  er  was 
dem  Alten  nicht  gelungen  war:  er  gewann  die  Pharisäer  und  söhnte 


Die  Yierfürsten  uud  die  Landpfleger.  359 

sie  vollständig  mit  der  Herrschaft  des  idumäischeii  Hauses  aus. 
Er  beobachtete  getreu  die  alten  Satzungen  und  brachte  täglich 
Opfer  dar.  Er  verfolgte  die  junge  Christeugemeinde,  er  tötete 
Jakobus,  den  Bruder  Johannis,  mit  dem  Schwert,  und  da  er  sah, 
daß  es  den  Juden  gefiel,  fuhr  er  fort  uud  setzte  auch  Petrus  ge- 
fangen. Der  Talmud  ist  seines  Lobes  voll.  Josephus  erklärt  den 
gottseligen  Lump  für  einen  Ausbund  von  Reinheit  und  Tugend:  er 
wird  darin  seinen  Töchtern  Berenice  und  ürusilla  vorgeleuchtet 
haben.  Es  waren  schöne  Tage  für  die  Habbinen;  gleichzeitig  be- 
fand sich  auch  die  fromme  Helena,  die  Königin  von  Adiabene,  in 
Jerusalem  und  erfreute  ihr  Herz.  Agrippas  Frömmigkeit  reichte 
aber  nur  bis  an  die  Grenze  des  heiligen  Landes,  jenseit  derselben  war 
er  Heide  wie  sein  Großvater '). 

Um  sich  populär  zu  machen,  liebäugelte  er  auch  ein  wenig 
mit  dem  jüdischen  Patriotismus.  Er  legte  im  Norden  der  Haupt- 
stadt eine  neue  gewaltige  Mauer  au,  durfte  sie  indessen  nicht  voll- 
enden, da  von  oben  her  Einspruch  dagegen  erhoben  wurde.  Er 
berief  eine  Versammlung  seiner  Kollegen  nach  Tiberias;  die  Fürsten 
von  Chalcis  und  Emesa,  von  Meliteue,  Kommagene  und  Pontus 
folgten  seiner  Einladung.  Aber  es  erschien  auch  Marsus,  der  rö- 
mische Statthalter  von  Syrien,  uud  der  ungebetene  Gast  schickte 
die  geladeten  nach  Hause.  Durch  solches  politisches  Kinderspiel 
verscherzte  Agrippa  das  Vertrauen  der  Römer,  und  als  er  nach 
kurzer  Regierung  starb  (44  A.  D.),  gaben  sie  seinem  Sohne,  der 
ebenfalls  Agrippa  hieß,  nicht  die  Nachfolge,  sondern  setzten  wieder 
Prokuratoren  über  Judäa  diesseit  und  jenseit  des  Jordans,  Sama- 
rien  und  Galiläa. 

Nur  die  Oberaufsicht  über  den  Tempel  und  den  Tempelschatz 
sowie  das  Recht  den  Hohenpriester  zu  ernennen  nahmen  die  Römer 
nicht  für  sich  in  Anspruch,  sondern  betrauten  damit  einen  Bruder 
des  verstorbenen  Königs,  Herodes,  dem  das  ituräische  Fürstentum 
von  Chalcis  am  Libanon  übertragen  war.  Dessen  Nachfolger  wurde 
dann  Agrippa  H.,  der  ganz  des  selben  Geistes  Kind  war  wie  sein 
Vater.  Er  machte  von  seinen  geistlichen  Befugnissen  ausgiebig 
Gebrauch  und  behielt  dadurch  Einfluß  in  Jerusalem.  Es  war  ihm 
ein  Hauptvergnügen,  von  dem  alten  hasmonäischen  Palast  aus  die 
Priester  im  Tempel  zu  beobachten,  bis  diese  ihm  durch  Errichtung 


')  Le  Bas  und  Wadd.  u.  0.  no.  23Gö.     Aut.  19,  345.     Act.  12,  22. 


360  Dreiundzwauzigstes  Kapitel. 

einer  hohen  Mauer  die  Aussicht  sperrten.  Im  Jahre  53  tauschte 
er  das  kleine  Reich  von  Chalcis  gegen  ein  anderes  und  größeres 
Gebiet  aus;  er  erhielt  die  Tetrarchie  des  Philippus  nebst  der  des 
Lysianias  von  Abilene  und  das  Fürstentum  des  Arabers  Noarus 
am  Libanon.  Von  Nero  bekam  er  auch  noch  einen  Teil  von  Gali- 
läa, mit  Tiberias  und  Taricheae,  dazu  die  Stadt  Julias  in  Peräa 
und  vierzehn  dazu  gehörige  Dörfer.  Für  die  treuen  Dienste,  die 
er  im  jüdischen  Krieg  den  Kömern  leistete,  wurde  er  durch  aber- 
malige bedeutende  Gebietserweiterung  belohnt.  Nach  seinem  Tode 
aber  zog  Traian  sein  Königreich  ein,  und  damit  war  die  Herrschaft 
der  Herodäer  in  Palästina  zu  Ende. 


Dreiiindzwanzigstes  Kapitel. 

Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens. 

1.  Die  halcyonischen  Tage  unter  Agrippa  I.  hatten  nicht  lange 
gedauert.  Es  folgten  die  Anzeichen  des  Sturmes.  Der  abermalige 
Übergang  in  die  unmittelbare  römische  Herrschaft  erregte  die  Juden 
weit  stärker  als  der  erste  zur  Zeit  des  Quirinius.  Sie  konnten  sich 
nicht  wieder  in  das  Regiment  der  Prokuratoren  schicken,  einerlei 
ob  dieselben  etwas  taugten  oder  nicht;  ein  modus  vivendi  wollte 
sich  nicht  finden  lassen.  Die  Reibungen  und  Konflikte  hörten  nicht 
auf;  und  so  geringfügig  sie  manchmal  schienen,  so  waren  sie  doch 
bedeutsam. 

Auf  den  Befehl  des  Kaisers  Claudius  kündigte  Cuspius  Fadus, 
der  erste  Prokurator  der  neuen  Reihe,  den  Obersten  der  Juden  an, 
daß  der  von  Vitellius  freigegebene  hohepriesterliche  Ornat  wieder 
auf  der  Burg  Antonia  in  Gewahrsam  genommen  werden  solle. 
Aber  sie  baten  ihn  und  den  Statthalter  von  Syrien,  Cassius  Lon- 
ginus,  der  sich  in  jener  Zeit  des  Überganges  mit  einer  ansehn- 
lichen Macht  in  Jerusalem  eingefunden  hatte,  eine  Gesandtschaft 
nach  Rom  schicken  zu  dürfen,  um  Claudius  zur  Rücknahme  des 
Befehls  zu  bewegen.  Es  wurde  ihnen  gestattet,  und  sie  erwirkten 
durch  die  Fürsprache  Agrippas  IL  einen  gnädigen  Bescheid  des 
Kaisers.     Er  ließ  ihnen  das  heilige  Gewand, 

Weiter  wird  von  Cuspius  Fadus  berichtet,  daß  er  Grenzfehden 
und  Räubereien  der  Juden  gegen  ihre  Nachbaren  mit  gutem  Erfolg 


Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens.  361 

unterdrückte,  und  daß  er  dem  Wundermann  Theudas  das  Hand- 
werk legte,  der  sich  als  Prophet  aufgetan  und  viele  Anhänger  ge- 
wonnen hatte.  Er  blieb  nur  kurze  Zeit  im  Amte.  Sein  Nach- 
folger Tiberius  Julius  Alexander,  ein  jüdischer  Apostat,  der  Neffe 
Philos  von  Alexandrien ,  ließ  zwei  Söhne  des  Zeloten  Judas  von 
Galiläa  ans  Kreuz  schlagen.  Auch  er  machte  bald  einem  Anderen 
Platz.  Im  Jahre  48  trat  Ventidius  Cumanus  an').  Unter  ihm 
begab  es  sich  an  einem  Osterfeste,  daß  ein  Soldat  sich  gegen  die 
feiernde  Menge  eine  unanständige  Geberde  erlaubte.  Darüber  auf- 
gebracht drangen  die  Juden  auf  den  im  Tempel  anwesenden  Land- 
plleger  ein  und  verlangten  von  ihm  die  Bestrafung  des  Missetäters. 
Einige  Hitzköpfe  wurden  tätlich  und  warfen  Steine  gegen  die  Sol- 
daten. Da  holte  Cumanus  Verstärkung  herbei  und  säuberte  den 
Tempel.  Voll  Schrecken  drängten  sich  die  Juden  nun  durch  die 
Ausgänge,  manche  kamen  bei  dem  Gedränge  um,  und  das  Fest 
endete  in  Trauer.  Einige  Zeit  später  ließ  der  Landptleger  wegen 
eines  an  einem  kaiserlichen  Beamten  begangenen  Raubes  einige 
dem  Orte  der  Tat  benachbarte  Dörfer  plündern.  Dabei  zerriß  ein 
Soldat  eine  Gesetzesrolle,  die  ihm  in  die  Hände  gefallen  war,  und 
warf  sie  ins  Feuer.  Flugs  stand  das  ganze  Land  in  Flammen,  eine 
Massendeputatiou  begab  sich  nach  Cäsarea,  um  beim  Landpfleger 
Klage  zu  führen.  Er  ließ  den  Unheilsstifter  hinrichten  und 
löschte  dadurch  den  Brand.  Bald  aber  brachen  neue  und  gefähr- 
lichere Unruhen  aus.  Ein  Galiläer  war  auf  der  Heise  zum  Fest 
nach  Jerusalem  von  Samariern  erschlagen^).  Seine  Landsleute 
rotteten  sich  zusammen  um  den  Mord  zu  rächen;  viele  von  den 
Wallfahrern  schlössen  sich  ihnen  an  und  ließen  das  Fest  Fest  sein. 


0  Nach  Tacitus  Ann.  12,  54  war  Cumanus  nur  Prokurator  von  Galiläa. 
Aber  die  Erzählungen  des  Josephus  über  sein  Auftreten  in  Jerusalem  und 
Judäa  können  nicht  aus  der  Luft  gegriffen  sein.  Josei>hus  (geboren  37/38) 
steht  den  Sachen  viel  näher  und  berichtet  weit  eingehender;  man  wird  sich 
für  ihn  entscheiden  müssen.  Hitzig  tut  das  wenigstens  insoweit  als  er  zu- 
gibt, daß  Cumauus  erst  im  Jahre  52  auf  Galiläa  beschränkt  sei,  nachdem 
er  in  Judäa  und  Samarieu  dem  Felix  habe  weichen  müssen.  Damit  ist  jedoch 
in  den  taciteischen  Bericht  schon  Bresche  gelegt;  dann  kann  man  ihn  auch 
ganz  umstoßen.  Wenn  wirklich  Galiläa  damals  von  Judäa  abgetrennt  worden 
wäre,  so  müßte  Josephus  es  gewußt  und  gesagt  haben;  er  setzt  aber  immer 
das  Gegenteil  voraus  (z.  B.  Bell.  2,  247.  252).  In  einer  solchen  Sache  kann 
er  kaum  irren. 

■)  Vgl.  Luc.  9,  53. 


362  Dreiundzwanzigstes  Kapitel. 

Geführt  von  dem  patriotischen  Bandenführer  Eleazar  Dinaei ')  er- 
gossen sie  sich  über  die  samarische  Landschaft  und  hausten  dort 
schonungslos.  Cumanus  kümmerte  sich  anfangs  weder  um  die 
Mörder  noch  um  die  Rächer.  Er  ließ  die  Dinge  gehn;  erst  als 
sie  recht  schlimm  geworden  waren,  fand  er  sich  veranlaßt  einzu- 
schreiten. Nachdem  er  die  Schar  Eleazars  teils  niedergemacht 
teils  gefangen  genommen  hatte,  zerstreuten  sich  die  Übrigen.  Viele 
gingen  auf  die  dringenden  Vorstellungen  der  jerusalemischen  Obersten 
heim,  andere  aber  blieben  bei  dem  freien  Leben  und  durchzogen 
als  Räuberbanden  das  Land. 

Den  Samaiiern  hatte  Cumanus  nicht  genug  getan,  sie  wandten 
sich  beschwerdeführend  an  den  syrischen  Statthalter  Quadratus, 
der  eben  in  Tyrus  weilte.  Gleichzeitig  erschien  vor  ihm  aber  auch 
eine  Deputation  aus  Jerusalem,  geführt  von  dem  Hohenpriester 
Jonathan,  sowol  um  darzulegen,  daß  die  Samarier  angefangen 
hätten,  als  auch  um  ihrerseits  Cumanus  zu  verklagen,  daß  er  durch 
seine  Saumseligkeit  den  Aufstand  groß  gezogen  und  ihn  dann  im 
Blute  erstickt  hätte.  Der  Statthalter  begab  sich  an  Ort  und  Stelle, 
richtete  eine  Anzahl  Juden  hin,  die  mit  den  Waffen  in  der  Hand 
ergriffen  waren,  und  sandte  im  übrigen  die  Vorsteher  der  Juden 
und  der  Samarier,  ebenso  wie  den  Landpfleger  und  seinen  Tribun 
Celer,  zur  Verantwortung  nach  Rom.  Dem  Einfluß  Agrippas  IL 
hatten  die  Juden  es  zu  verdanken,  daß  der  Kaiser  sich  gegen  die 
Samarier  erklärte  und  drei  ihrer  Obersten  hinrichten  ließ.  Den 
Tribun  Celer,  der  wahrscheinlich  die  römischen  Truppen  im  Kampf 
gegen  die  Schar  Eleazars  befehligt  hatte,  schickte  er  gefesselt  nach 
Jerusalem:  die  Juden  sollten  ihn  martern,  durch  die  Stadt  schleifen 
und  ihn  dann  enthaupten.  Der  Hauptschuldige,  Cumanus,  wurde  abge- 
setzt und  verbannt.  An  seiner  Stelle  wurde  ein  Freigelassener  der 
kaiserlichen  Familie,  Antonius  Felix,  der  Bruder  des  Pallas,  zum  Land- 
pfleger ernannt  (52);  angeblich  auf  Betreiben  des  Hohenpriesters  Jona- 
than, der  sicli  dann  auf  diese  Weise  beim  Kaiser  hätte  einschmeicheln 
wollen.  Über  Mangel  an  Rücksicht  und  Nachgiebigkeit  der  römischen 
Regierung  konnten  sich  die  Juden  nicht  beklagen '). 

^)  Er  liatte  zwanzig  Jahre  lang  sein  Wesen  getrieben,  als  er  im  Jahre  52 
durch  Verrat  in  die  Hände  der  Römer  fiel  (Bell.  2,  253). 

-)  Ich  bin  dem  Bericht  des  Bellum  gefolgt,  der  klarer  und  unparteiischer 
ist  als  der  der  Antiquitäten.  Unter  den  Samariern  ist  wol  nicht  die  Sekte  der 
Samariter,  sondern  allgemein  die  Bewohnerschaft  des  Landes  zu  verstehu. 


Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens  363 

Felix  ging  den  Freischärlern  kräftig  zu  l>eibe,  die  namentlich 
seit  dem  galiläischeu  Volkskriege  gegen  die  Samarier  das  Land  be- 
unruhigten. Aber  wenn  sie  auf  dem  Lande  unterdrückt  wurden, 
so  tauchten  sie  dafür  einzeln  in  Jerusalem  wieder  auL  Sie  setzten 
die  dortige  Bevölkerung  in  Schrecken,  indem  sie,  unter  die  Menge 
sich  mischend,  am  hellen  Tage  angesehene  Leute  niederstießen, 
die  ihnen  zuwider  waren.  Diese  Meuchler  wurden  mit  dem  latei- 
nischen Namen  Sicarier  (d.  h.  Banditen)  bezeichnet,  der  Hohepriester 
Jonathan  war  eins  ihrer  ersten  Opfer.  Gleichzeitig  traten  statt  der 
kriegerischen  Bandenführer  religiöse  Demagogen  von  der  Art  des 
Theudas  auf  und  fanden  großen  Anhang.  Unter  ihnen  ragte  ein 
Ägypter  hervor,  der  in  der  Wüste  viele  Tausendc  um  sich  sam- 
melte und  sie  auf  den  Ölberg  führte,  um  von  da  triumphirend  in 
Jerusalem  einzuziehen.  Diese  religiösen  Demagogen  sind  die  fal- 
schen Christi,  von  denen  im  Evangelium  die  Rede  ist.  Sie  wollten 
die  messianische  Weissagung  erfüllen.  Deshalb  führten  sie  das 
A'olk  in  die  Wüste,  denn  der  Aufenthalt  in  der  Wüste  sollte  dem 
Kommen  des  Heils  vorhergehn;  deshalb  zogen  sie  auf  den  Ölberg, 
denn  auf  dem  Ölberg  sollte  Jahve  erscheinen  um  sein  Reich  auf 
Erden  zu  verwirklichen^).  Felix  zerschlug  die  messianischen  Hoff- 
nungen mit  dem  Schwerte;  auch  die  Jerusalemer  wollten  nichts 
von  den  Schwärmern  wissen. 

Aber  das  Übel  war  nicht  auszurotten.  Alle  diese  Erscheinungen 
hingen  unter  sich  zusammen,  sie  waren  Zeichen  eines  fiebernden 
Organismus.  Es  wühlte  in  den  Tiefen  des  Volkes.  Die  niederen 
Klassen,  die  Landbewohner  waren  aus  Rand  und  Band.  Sie  lehnten 
sich  nicht  bloß  gegen  die  Römer  auf,  sondern  auch  gegen  die  Ord- 
nungspartei, die  in  Jerusalem  ihren  Sitz  hatte  und  der  sowol  die 
Sadducäer  als  die  Pharisäer  angehörten.  Sie  ließen  sich  nicht  mehr 
von  den  Jerusalemern  leiten.  Die  regierenden  Aristokraten,  die 
mit  Realitäten  zu  rechnen  verstanden,  behaupteten  ihre  Stellung 
noch  besser  als  die  Rabbinen.  Diese  letzteren  wurden  gänzlich  zur 
Seite  gedrängt  von  der  gewaltigen  Bewegung,  die  sie  nicht  mit- 
machen wollten  und  konnten.  Die  Leute  liefen  ihnen  aus  der 
Schule,  sie  hielten  sich  nicht  mehr  in  den  Schranken  des  Gesetzes 
und  trachteten  nach  einem  andern  Ziele  als  nach  der  Heiligkeit 
und  Reinheit.     Die  Männer  der  Zeit  waren   die  Zeloten.     Es  war 

0  Osee  2,  16.     Ezech.  20,  35.     Zacli.  14,  4. 


364  Dreiuiidzwanzigstes  Kapitel. 

eine  sehr  gemischte  Gesellschaft.  Ehrliche  Schwärmer  und  be- 
geisterte }*atrioten  gehörten  dazu,  Leute  von  geringer  Bildung  und 
starkem  Glauben,  die  keine  Angst  hatten  und  keine  Rücksicht 
kannten,  weil  sie  von  den  politischen  Verhältnissen  weiter  nichts 
wußten  als  daß  Gott  mächtiger  sei  als  Rom.  Zu  ihnen  gesellten 
sich  aber  auch  zweifelhafte  Elemente;  der  Fanatismus  war  nicht 
wählerisch  hinsichtlich  seiner  Helfershelfer.  Wie  gewöhnlich  kamen 
die  rücksichtslosesten  Männer  der  Tat  oben  auf  und  erhielten  die 
Führung.  Richtige  Helden  wurden  durch  den  Strudel  nicht  in  die 
Höhe  gebracht;  der  Mangel  an  hervorragenden  Geistern  im  jüdischen 
Aufstand  fällt  auf,  nur  die  elementaren  Kräfte  wirkten.  Der  Terro- 
rismus, den  die  Zeloten  ausübten,  war  fürchterlich.  Sie  meinten, 
wer  sich  nicht  gegen  die  Knechtschaft  aufbäume,  müsse  zur  Frei- 
heit gezwungen  werden,  und  sie  handelten  dementsprechend.  Hir 
letztes  Überzeugungsmittel  war  der  Meuchelmord. 

Freilich  gab  es  auch  Nüchterne  unter  den  Trunkenen.  Als 
noch  tiefer  Friede  und  groi3er  Wolstand  in  Jerusalem  herrschte, 
erschien  dort  ein  schlichter  Landmann,  Jesus  Ananiae,  zu  einem 
Laubhüttenfest  und  fing  plötzlich  an  zu  rufen:  „eine  Stimme  vom 
Aufgang,  eine  Stimme  vom  Niedergang,  eine  Stimme  von  den  vier 
Winden;  eine  Stimme  über  Jerusalem  und  den  Tempel,  eine  Stimme 
über  Bräutigam  und  Braut,  eine  Stimme  über  das  ganze  Volk!" 
Er  wurde  mishandelt,  gegeißelt,  schließlich  als  Wahnsinniger  laufen 
gelassen.  Er  blieb  unentwegt  bei  seinem  Weheruf,  Jahre  lang 
wiederholte  er  ihn  unablässig  mit  heller  Stimme  in  den  Straßen  der 
Stadt,  bei  Tage  und  bei  Nacht.  Er  fluchte  keinem,  der  ihn  schlug, 
er  dankte  nicht,  wenn  er  zu  essen  bekam.  Er  verkehrte  und  redete 
mit  niemand ;  jeden  Gruß  erwiderte  er  mit  seiner  Unglücksweis- 
sagung, bis  ihm  schließlich  bei  der  Belagerung  Jerusalems  durch 
Titus  ein  aus  einer  Wurfmaschine  geschleuderter  Stein  den  Mund 
schloß. 

2.  Auf  Anlaß  eines  Tumults,  der  in  Cäsarea  zwischen  Juden 
und  Hellenen  ausgebrochen  war,  wurde  Felix  abberufen,  etwa  im 
Jahre  60^).  Ihm  folgte  Porcius  Festus,  ein  tüchtiger  Beamter,  der 
während  seiner  Amtsführung  starb.  Darauf  kam  (Lucceius?)  Al- 
binus  und  nach  ihm  Gessius  Florus  (64).  Diese  beiden  letzten 
Prokuratoren    hatten    nicht    einmal    den    guten  Willen,    die  Ruhe 

')  Vgl.  Scliürer  in  der  Ztschr.  für  wiss.  Theol.  1898  p.  21  ss. 


Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens.  365 

wieder  herzustellen;  sie  beförderten  die  Anarcliie  und  zogen  Vor- 
teile daraus.  In  der  Zwischenzeit  zwischen  dem  Tode  des  Festus 
und  dem  Antritt  seines  Nachfolgers  hatte  der  Hohepriester  Ananus, 
Sohn  des  aus  dem  Neuen  Testamente  l^ekannten  Annas,  sich  selbst 
geholfen  und  mit  kräftiger  Hand  versucht  seine  Autorität  wenigstens 
in  Jerusalem  zu  behaupten.  Es  ging  dabei  nicht  ohne  Gewalts- 
maßregeln und  Übergriffe  ab,  er  wurde  bei  Agrippa  und  Albinus 
verklagt  und  nach  kurzer  Zeit  abgesetzt.  Jedoch  Ananias  Nede- 
bäi  trat  in  seine  Fußstapfen,  der  angesehenste  Mann  der  Hierokratie, 
obwol  damals  nicht  fungirender  Hoherpriester.  Er  hatte  ein  großes 
Vermögen,  bewaffnete  seine  Knechte  und  führte  mit  seinem  Anhang 
einen  förmlichen  Krieg  gegen  die  Patrioten.  Albinus  unterstützte 
ihn  dabei  nicht;  das  ist  ihm  nicht  zu  verdenken.  Er  ließ  ihn  ge- 
währen und  nahm  dafür  Geschenke  an.  Aber  gleichzeitig  ließ  er 
sich  auch  von  der  Gegenpartei  bestechen.  Für  Geld  gab  er  die 
gefangenen  Zeloten  frei;  nur  wer  keins  aufbringen  konnte,  l)lieb 
als  Verbrecher  im  Kerker.  Ebenso,  nur  noch  ärger  und  offener, 
trieb  es  Gessius  Morus. 

Ein  Vorgjuig  in  Cäsarea  entfachte  schließlich  die  allgemeine 
Empörung.  Die  Juden  standen  dort  auf  sehr  gespanntem  Fuße 
mit  den  Griechen,  weil  diese  ihnen  das  Bürgerrecht  bestritten  und 
damit  bei  Nero  durchgedrungen  waren.  Zu  dem  Schaden  trugen 
sie  auch  noch  den  Spott  und  die  Neckerei.  Sie  hatten  eine  Syna- 
goge hinter  einem  Platze,  der  einem  Griechen  gehörte.  Sie  wollten 
den  Platz  gern  kaufen,  aber  der  Besitzer  gab  ihn  um  keinen  Preis 
her,  baute  vielmehr  AVerkstätten  darauf  und  ließ  ihnen  nur  einen 
engen  Zugang.  Sie  wollten  den  Bau  mit  Gewalt  hindern,  Florus 
wehrte  es  ihnen.  Als  er  aber  acht  Talente  bekommen  hatte,  reiste 
er  fort  nach  Sebaste,  um  sie  gleichsam  ungestört  zu  lassen.  Tags 
darauf,  als  sie  in  der  Synagoge  versammelt  waren,  opferte  ein  da- 
zu angestifteter  Grieche  dicht  vor  dem  Eingang  Vögel,  das  im  Ge- 
setz vorgeschriebene  Opfer  für  Aussätzige.  Infolge  dessen  kam  es 
zu  einer  großen  Schlägerei,  die  durch  das  Militär  nicht  unterdiückt 
werden  konnte.  Die  Juden  unterlagen,  sie  retteten  sich  und  ihre 
Gesetzbücher  nach  dem  Städtchen  Narbata.  Vergebens  beklagten 
sie  sich  bei  Florus,  er  schritt  nicht  zu  ihren  gunsten  ein,  sondern 
blieb  noch  in  Sebaste  und  überließ  sie  ihrem  Schicksal.  Sie 
mußten  nach  Cäsarea  zurückkehren  und  weiterer  (»»uälereien  ge- 
wärtitf  sein. 


366  Dreiundzwanzigstes  Kapitel. 

Von  Cäsarea  verpflanzte  sich  die  Erregung  nach  Jerusalem  und 
Florus  tat  das  seinige,  sie  zu  schüren.  Er  schickte  von  Sebaste 
aus  nach  dem  Tempelschatze  und  ließ  siebzehn  Talente  daraus 
entnehmen.  Darfiber  entstand  ein  Auflauf;  es  fielen  laute  Schmäh- 
worte, Körbe  gingen  herum  zur  Einsammlung  milder  Gaben  für 
den  bedürftigen  Florus.  Diesen  Anlaß  benutzte  er,  um  seine  Ehre 
zu  rächen  und  seine  Macht  zu  zeigen.  Er  brach  mit  Reiterei  und 
Fußvolk  nach  Jerusalem  auf  und  verlangte  von  den  Hohenpriestern 
und  Ältesten ')  die  Auslieferung  der  Schuldigen.  Da  dieselben 
nicht  ausfindig  gemacht  werden  konnten,  so  gab  er  einen  Teil  der 
Stadt  seinen  Soldaten  preis,  ohne  sich  an  die  Bitten  der  eben  an- 
wesenden Berenice,  der  Schwester  Agrippas  IL,  zu  kehren.  Viele 
Einwohner  wurden  in  den  Häusern  erschlagen,  andere  gefangen 
und  gekreuzigt  (16.  Artemisius  66)").  Kaum  hatte  sich  der  erste 
Schrecken  gelegt,  so  forderte  er  auch  noch,  daß  die  Mishandelten 
die  Rute  küssen  und  den  beiden  Kohorten,  die  er  zu  seiner  Ver- 
stärkung aus  Cäsarea  heran  beordert  hatte,  einen  festlichen  Emp- 
fang bereiten  sollten.  Mit  Mühe  ließen  sie  sich  von  ihren  Oberen 
dazu  bereden.  Aber  neue  Kränkungen  und  Mishandlungen  waren 
die  Folge,  und  nun  riß  ihnen  die  Geduld.  Sie  setzten  sich  gegen 
die  römischen  Truppen  zur  Wehr  und  brachten  sie  in  Bedrängnis. 
Wiederum  machte  sich  der  Landpfleger  im  kritischen  Moment  aus 
dem  Staube;  er  übertrug  die  Sorge  für  die  öffentliche  Ordnung  der 
einheimischen  Behörde,  nur  eine  Kohorte  ließ  er  in  Jerusalem 
zurück. 

Nicht  lange  darauf  erschien  ein  Abgeordneter  des  syrischen 
Legaten  Cestius  Gallus  in  Jerusalem,  der  Tribun  Neapolitanus. 
Er  fand  die  Stadt  ruhig,  wenngleich  erbittert  gegen  Florus.  Zu- 
gleich mit   ihm  kam  auch  der  König  Agrippa  H.  an.     Er  versam- 


')  So  heißen  sie  iin  Neuen  Testament.  Josephus  nennt  neben  den  IToheu- 
priestern  die  Suvaxoi  oder  die  yviöpiii-ot.  Es  sind  die  Mitglieder  des  Synedriums. 
In  Yollständiger  Aufzählung  Bell.  2,411:  cuvsXiJdvTei;  ol  Suvaxoi  xol;  äpjfiepEÜaiv 
tU  xaÜTo  '/.aX  ToI?  xüiv  ^I'apiaadov  yvcupifj-ois  —  wie  im  N.  T.  die  Hohenpriester, 
die  Ältesten  und  die  Schriftgelehrten. 

2)  Über  die  Monate  bei  Josephus  s.  Niese  im  Hermes  1893  p.  197  s.  und 
in  der  Vorrede  zum  Bellum  p.  LX.  Der  Xanthicus  (Nisan)  beginnt  nach  dem 
tyrischen  Kalender  am  18.  April,  der  Artemisius  (Ijär)  am  19.  Mai,  der  Däsius 
(Chaziran)  am  19.  Juni,  der  Panemus  (Tammuz)  am  20.  Juli,  der  Lous  (Ab) 
am  20.  August,  der  Gorpiäus  (Elul)  am  19.  September,  der  Hyperberetäus 
(Tisri)  am  19.  Oktober,  der  Dius  (Marchesvau)  am  18.  November. 


Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens.  367 

Hielte  die  Einwohner  vor  seinem  Palaste,  predigte  Vernunft  und 
machte  Eindruck.  Sie  erklärten,  nicht  dem  Kaiser  sondern  nur 
dem  Florus  feind  zu  sein,  und  verstanden  sich  dazu,  die  rückstän- 
digen Steuern  einzusammeln  und  die  während  des  Kampfs  mit  den 
römischen  Truppen  abgerissenen  Säulengänge  zwischen  dem  Tem- 
pel und  der  Antonia  wieder  aufzubauen.  Als  aber  Agrippa  weiter 
ging  und  nun  auch  Gehorsam  gegen  Florus  forderte,  verdarb  er  es 
mit  ihnen  und  mußte  machen,  daß  er  weiter  kam.  Er  hatte  eine 
Wirkung  erzielt,  die  seiner  Absicht  entgegengesetzt  war;  er  hatte 
den  Juden  klar  gemacht,  daß  der  Kaiser  nicht  von  dem  Landpfleger 
zu  trennen  sei.  Wenn  das  der  Fall  war,  so  wollten  sie  auch  vom 
Kaiser  nichts  wissen.  Die  Stimmung  in  Jerusalem  wurde  entschie- 
den kriegerisch.  Die  Rücksichten  begannen  zurückzutreten,  die 
natürlichen  Gefühle  drangen  durch,  die  Aufstandspartei  bekam  die 
Oberhand.  Ein  Aristokrat  von  edelstem  Blut,  Eleazar  der  Sohn 
des  Hohenpriesters  Ananias  Nedebäi,  trat  zu  ihr  über.  Er  ließ 
sich  von  der  Bewegung  fortreißen,  hoffte  aber  auch  vielleicht  sie 
leiten  zu  können,  wenigstens  trat  er  sofort  an  ihre  Spitze.  Auf 
seinen  Antrag  sollten  Opfer  von  NichtJuden  im  Tempel  nicht  mehr 
angenommen  werden.  Das  war  in  der  Tat  eine  Zurückweisung  des 
Opfers  für  den  Kaiser,  eine  theokratische  Form  der  Kriegserklärung 
gegen  die  Römer 'J.  Der  Antrag  fand  allgemeine  Zustimmung;  die 
Hohenpriester  und  die  Ältesten  nebst  den  Häuptern  der  Pharisäer 
protestirten  vergebens  dagegen. 

Die  Obersten  der  Juden  stellten  sich  mit  aller  Macht  dem 
Strom  entgegen.  Da  ihre  eigene  Kraft  nicht  ausreichte,  so  schick- 
ten sie  Botschaft  sowol  an  Florus  als  an  den  König  Agrippa  und 
baten  um  Hilfe.  Florus  tat  als  gehe  ihn  die  Sache  nicht  an, 
Agrippa  aber  sandte  dreitausend  Reiter.  Nun  entspann  sich  in 
Jerusalem  ein  Kampf  der  Aufständischen  gegen  die  Aristokraten. 
Diese  hielten  mit  den  königlichen  Truppen  die  obere  d.  i.  die 
westliche  Stadt  besetzt,  konnten  sie  aber  nicht  lange  halten,  son- 

')  Mommsen  nennt  das  einen  Fortschritt  der  Theologie.  Eleazar,  der 
Sohn  des  mächtigsten  und  vornehmsten  Mannes  in  Jerusalem,  der  aus  eigenen 
Mitteln  ein  kleines  Heer  gegen  die  Zeloten  auf  die  Beine  lirachte,  ein  Theo- 
loge! das  ist  seltsam.  Die  regierenden  Priester  von  Jerusalem  waren  nichts 
weniger  als  Theologen.  Die  richtigen  Theologen,  die  pharisäischen  Gesetzes- 
lehrer, hielten  sich  von  der  Aktion  fern,  wenngleich  sie  an  Römerhaß  keinem 
nachstanden. 


368  Dreiundzwanzigstes  Kapitel, 

dern  mußten  sich  in  den  Palast  des  Ilerodes,  im  Norden  der  Ober- 
stadt, zurückziehen.  Die  Aufständischen  benutzten  den  Sieg,  um 
das  Archiv  zu  verbrennen  und  auf  diese  Weise  die  Schuldbriefe 
zu  vernichten  —  das  ist  bezeichnend.  Hernach  wandten  sie  sich 
gegen  die  Antonia  (15.  Lous  60),  steckten  sie  in  Brand  und  mach- 
ten die  Besatzung  nieder.  Dann  zogen  sie  vor  den  Fahrst  des  Herodes 
und  begannen  ihn  zu  behigern.  Sie  waren  damit  noch  beschäftigt, 
als  sie  Zuzug  von  außen  erhielten. 

AVährend  nämlich  diese  Dinge  in  der  Hauptstadt  sich  zutrugen, 
waren  auch  die  Zeloten  auf  dem  Lande  nicht  müßig  gewesen. 
Unter  der  Führung  eines  noch  übrigen  Sohnes  ihres  ersten  Partei- 
hauptes Judas  Galiläus,  des  Manaem,  hatten  sie  das  Kastell  Ma- 
säda  in  der  Nähe  des  Toten  Meeres  überrumpelt  und  die  römische 
Garnison  getötet.  Aus  dem  dortigen  Zeughause  mit  Waffen  wol 
versehen  kamen  sie  nun  nach  Jerusalem  und  brachten  Zug  in  die 
Belagerung.  Die  königlichen  Truppen  räumten  den  Palast,  nach- 
dem ihnen  freier  Abzug  bewilligt  war;  die  Römer,  welche  die 
eigentliche  Besatzung  bihleten,  warfen  sich  in  die  drei  dazu  gehö- 
rigen festen  Türme.  Sie  wurden  aber  bald  gezwungen  zu  kapitu- 
liren.  Sobald  sie  die  Waffen  abgelegt  hatten,  wurden  sie  treulos 
niedergestoßen;  nur  der  Anführer,  Metilius,  bettelte  um  sein  Leben 
und  erhielt  es  geschenkt,  weil  er  versprach  sich  beschneiden  zu 
lassen.     Das  geschah  am  17.  Gorpiäus,  an  einem  Sabbatstag. 

Die  Aristokratie  war  unterlegen.  Die  Aufständischen  hatten 
in  der  Stadt  die  Herrschaft  gewonnen.  Unter  ihnen  selber  aber 
kam  CS  zu  einer  Spaltung  zwischen  den  Jerusalemern,  an  deren 
Spitze  Eleazar  stand,  und  den  auswärtigen  Zeloten,  die  Manaem 
befehligte.  Die  letzteren  hatten  einige  Häupter  der  Aristokratie, 
die  ihnen  in  die  Hände  gefallen  waren,  ums  Leben  gebracht,  da- 
runter auch  den  Hohenpriester  Ananias  Nedebäi,  den  Vater  Ele- 
azars.  Darüber  erzürnt  griff  Eleazar  sie  im  Tempel  an.  Manaem 
wurde  gefangen  und  unter  Martern  hingerichtet;  w-er  sich  von  seiner 
Schar  retten  konnte,  floh  nach  Masada  zurück.  Für  eine  Zeit  lang 
blieben  die  Jerusalemer  Herren  in  ihrem  Hause. 

Auch  in  Machärus  und  Jericho  wurden  die  römischen  Be- 
satzungen verjagt  und  umgebracht.  Überall  im  ganzen  Lande 
entbrannte  die  LIeidenhetze ,  wo  die  Juden  die  Mehrheit  hatten, 
und  die  Judenhetze,  wo  das  Verhältnis  umgekehrt  war.  Li  Gä- 
sarea  wurden  die  sämtlichen  jüdischen  Einwohner  abgeschlachtet. 


Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens.  369 

Ebenso  oder  ähnlich  er«;ing  es  ihnen  in  Askalon  und  Scythopolis, 
in  Hippus,  Gadara  und  Damaskus '),  in  Ptolemais  und  Tyrus;  nur 
im  Gebiet  des  Königs  Agrippa,  sowie  in  Sidon  Apamea  und  An- 
tiochia  waren  sie  sicher.  Auch  die  Alexandriner  machten  ihrem 
Hasse  gegen  die  Juden  wieder  einmal  Luft;  sie  reizten  sie  zu 
einem  Aufstand,  der  sich  über  das  Delta  verbreitete  und  von  dem 
römischen  Statthalter  Tiberius  Alexander  nur  mit  Mühe  unterdrückt 
wurde. 

Um  die  Zeit  des  Herbstfestes,  im  Monat  Hyperberetäus,  erschien 
Cestius  Gallus,  der  Legat  von  Syrien,  mit  der  zwölften  Legion  und 
den  Kontingenten  verschiedener  Vasallen,  darunter  auch  des  Königs 
Agrippa,  in  der  Nähe  von  Jerusalem,  nachdem  er  längere  Zeit  mit 
der  Niederwerfung  und  Züchtigung  der  Insurgenten  in  Galiläa  und 
in  der  Küstengegend  verbracht  hatte.  ^)  In  dem  alten  Gibeon 
schlug  er  ]jager.  Die  Juden,  die  von  allen  Orten  zum  Feste  in 
die  Hauptstadt  zusammen  geströmt  waren,  überraschten  ihn  durch 
einen  plötzlichen  Überfall,  er  wies  sie  aber  doch  schließlich  ab 
und  verfolgte  sie  bis  an  die  Stadt.  Ohne  Schwertstreich  drang  er 
am  30.  Hyperberetäus  in  die  nördlichen  Vorstädte  ein  und  legte 
sie  in  Asche.  Nun  schritt  er  zum  Angriff  gegen  die  Königsburg 
des  Herodes,  die  weit  gegen  Norden  vorsprang.  Unter  diesen  LTm- 
ständen  erhob  drinnen  die  Friedenspartei  noch  einmal  ihr  Haupt, 
einige  vornehme  Bürger  versprachen  ihm  die  Tore  der  Stadt  zu 
öffnen.  Er  aber  traute  ihnen  nicht,  sondern  nachdem  mehrere 
Stürme  auf  die  Burg  abgeschlagen  waren,  entschloß  er  sich  plötzlich 
zum  Rückzuge.  Von  den  Juden  verfolgt,  erreichte  er  mit  Mühe 
das  Lager  in  Gibeon.  Als  er  von  da  die  Straße  nach  Westen 
einschlug,  wurde  er  im  Paß  von  Bethhoron  umzingelt;  nur  mit 
schweren  Verlusten  konnte  er  sich  durchschlagen.  Das  geschah  am 
8.  Dius  66. 

3.  Die  Juden  hatten  wahrhaftig  die  Römer  zum  Lande  hinaus- 
getrieben. Der  Aufstand  hatte  gesiegt.  Auch  die  bisherigen  Gegner 
desselben   schlössen  sich  jetzt  an;  wer  es  nicht  tat,  mußte   aus- 

')  Die  Damascener  fürchteten  sich  vor  ihren  Frauen,  welche  beinah  alle 
die  jüdische  Religion  angenommen  hatten.  Sie  hielten  daher  ilncn  Mordplan 
vor  jenen  sehr  geheim  (Bell.  2,  560). 

■'')  Er  hat  demnach   alsbald  nach  dem  Ausbruch  der  Empörung  den  Zug 
gerüstet  und  angetreten.     Denn  der  Hyperberetäus  folgt  auf  den  Gorpiäus. 
Wellhausen,  Isr.  Geschiclite.    5.  Aufl.  24 


370  Dreiund zwanzigstes  Kapitel. 

wandern.  Aber  merkwürdiger  weise  kamen  nun  nicht  etwa  die 
eigentlichen  Führer  der  Bewegung  an  das  Ruder,  sondern  die  Aristo- 
kraten, die  so  wenig  Herz  für  die  große  Sache  hatten.  Daß  sie 
ihr  in  letzter  Stunde  notgedrungen  beigetreten  waren,  genügte,  um 
sie  wieder  obenauf  zu  bringen.  Allerdings  waren  die  Pilger  des 
Laubhüttenfestes,  die  den  Sieg  erfochten  hatten,  kaum  in  der  Lage, 
das  Steuer  in  die  Hand  zu  nehmen.  Die  neue  Regierung  setzte 
sich  aus  den  Kreisen  des  alten  Synedriums  zusammen;  an  die 
Spitze  trat,  da  Ananias  Nebedäi  ermordet  war,  der  alte  tatkräftige 
Hohepriester  Ananus  Annas'  Sohn.  Auch  zu  Befehlshabern  in  den 
Toparchien  von  Judäa  und  Idumäa,  von  Galiläa  und  Peräa  wurden 
vornehme  Männer  ernannt,  die  sich  durch  patriotischen  Eifer  bisher 
nicht  ausgezeichnet  hatten.  Zwar  befand  sich  auch  Eleazar  Ana- 
nias Sohn  darunter;  aber  daß  er  selbander  nach  Idumäa  gesandt 
wurde,  war  im  Grunde  doch  eine  starke  Zurücksetzung.^)  Viel- 
leicht hatte  er  es  mit  beiden  Parteien  verdorben,  er  verschwindet 
vom  Schauplatze. 

Als  Nero  die  Nachricht  von  der  Niederlage  des  Cestius  erhielt, 
beauftragte  er  Vespasian  mit  der  Fortsetzung  des  Krieges.  Dieser 
zog  im  Frühling  67  sein  Heer  bei  Ptolemais  zusammen.  Es  be- 
stand aus  drei  Legionen  nebst  den  Auxilien,  und  aus  den  Truppen 
der  Könige  Agrippa,  Malchus,  Antiochus  von  Commagene  und 
Sohaemus  von  Emesa.  Die  Juden  rückten  ihm  nicht  mit  ver- 
einter Macht  entgegen,  sondern  erwarteten  nach  alter  Gewohnheit 
seinen  Angriff  auf  ihre  feste  Hauptstadt  und  überließen  die  Pro- 
vinzen sich  selber.  Er  begann  mit  der  Unterwerfung  Galiläas. 
Dort  führte  als  Statthalter  der  jerusalemischen  Regierung  Josephus 
den  Befehl,  der  spätere  Geschichtsschreiber.  Er  war  ein  eitler, 
unerfahrener  Mann  und  seiner  Aufgabe  nicht  entfernt  gewachsen; 
seine  Untergebenen  hatten  kein  Zutrauen  zu  ihm  und  er  nicht  zu 
ihnen.  Noch  vor  dem  eigentlichen  Beginn  des  Krieges  ergab  sich 
die  alte  Hauptstadt  Sepphoris  den  Römern;  sie  war  seit  ihrem 
Wiederaufbau  nach  der  Zerstörung  durch  Varus  halb  hellenistisch 
geworden.     Als  Vespasian  sich  näherte,  stob  das  galiläische  Heer 


^)  Es  fällt  auf,  daß  Josephus  (Bell.  2,  564)  nicht  motivirt,  warum  Eleazar 
Ananiae,  sondern  warum  Eleazar  Simonis  zurückgesetzt  sei,  von  dem  er  bis 
dahin  noch  niciits  erzählt  hat.  Eleazar  Simonis  war  der  Führer  der  Zekiten 
in  Jerusalem. 


Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens.  371 

aus  einander;  in  kürzester  Frist  war  er  Herr  des  flachen  Landes. 
Aber  viele  Mühe  kostete  es  ihn,  die  kleinen  Festungen  zu  be- 
zwingen; denn  hinter  ihren  Mauern  wehrten  sich  die  Patrioten 
tapfer.  Vor  dem  Felsenneste  Jotapata,  wohin  Josephus  sich  mit 
dem  Rest  seines  Heeres  geworfen  hatte,  lag  er  mit  seiner  gesamten 
Macht  achtundvierzig  Tage  lang.  ^)  Nachdem  er  es  am  1.  Panemus 
erstürmt  und  dabei  auch  den  Oberbefehlshaber  in  seine  Gewalt 
bekommen  hatte,  gönnte  er  seinen  Truppen  Ruhe  von  der  heißen 
Arbeit  und  erholte  sich  selber  in  Paneas,  der  schön  gelegenen 
Residenz  Agrippas  H.  Er  glaubte  mit  Galiläa  fertig  zu  sein.  Er 
irrte  sich  jedoch,  der  P>rand  war  noch  nicht  erstickt,  die  Flamme 
schlug  an  mehreren  Stellen  wieder  hervor.  Das  feste  Gamala,  im 
Osten  des  Sees  Gennesar,  mußte  er  wieder  einen  ganzen  Monat 
lang  belagern;  es  fiel  am  2.S.  Hyperberetäus.  Die  letzte  Stadt,  die 
eingenommen  wurde,  war  Gischala.  Sie  kapitulirte;  aber  der 
Hauptmann  Johannes,  der  sie  verteidigte,  entkam  mit  seiner  Ze- 
lotenbande. 

Auf  diese  Weise  ging  das  erste  Kriegsjahr  hin.  Nach  der 
Eroberung  Galiläas  führte  Vespasian  die  Legionen  in  die  Winter- 
quartiere, nach  Cäsarea  und  nach  Scythopolis.  Anfang  März  des 
nächsten  Jahres  (68)  ging  er  über  den  Jordan,  besetzte  Gadara 
und  detachirte  von  dort  den  Placidus,  der  Peräa  bis  auf  die  Burg 
Machärus  unterwarf.  Nach  Cäsarea  zurückgekehrt,  brachte  er  zu- 
nächst das  westliche  Judäa  und  Idumäa  in  seine  Hand;  dann 
wandte  er  sich  nordwärts  und  zog  durch  die  Samaritis  am  Jordan 
hinunter  nach  Jericho,  wo  sich  Placidus  wieder  mit  ihm  vereinigte. 
Als  er  die  Umgebung  auf  allen  Seiten  in  seiner  Gewalt  hatte, 
rüstete  er  sich  zur  Belagerung  der  Hauptstadt  selber.  Li  diesem 
Augenblick  traf  ihn  die  Nachricht  vom  Tode  Neros.  Nun  stellte 
er  den  Angrift'  ein  und  wartete  auf  die  Befehle  Galbas.  Darüber 
verging  die  gute  Jahreszeit,  im  Anfang  des  folgenden  Jahres  (69) 
trat    abermals    ein    Kaiserwechsel    ein,    und    erst    im    Juni    nahm 


')  Er  schickte  allerdings  während  dieser  Zeit  den  Cerialis  mit  einem  Teile 
der  fünften  Legion  nach  Sichern.  Denn  die  Samariter  hatten  sich  auf  dem 
heiligen  Berge  Garizzim  versammelt  und  eine  drohende  Haltung  gegen  die 
Römer  angenommen.  Cerialis  umstellte  sie,  und  da  sie  sich  nicht  ergeben 
wollten,  machte  er  sie  nieder,  am  27.  Däsius  67.  Die  samaritische  Gemeinde 
wurde  also  in  das  Schicksal  der  jüdischen  verwickelt;  und  an  die  Stelle  der 
heiligen  Stadt  Sichern  trat  die  heidnische  Kolonie  Neapolis. 

24* 


372  Drelund  zwanzigstes  Kapitel. 

Yespasian  die  Operationen  wieder  auf,  nachdem  sie  fast  ein  Jahr 
geruht  hatten.  Er  brachte  einige  unbotmäßige  Bezirke  nördlich 
und  südlich  von  Jerusalem  zum  Gehorsam  und  säuberte  sie  von 
Freibeuterbanden,  so  daß  nur  noch  die  Castelle  Herodium  und 
Masada,  und  jenseit  des  Jordan  Machärus  den  Juden  verblieben. 
Als  aber  die  Kunde  von  der  Schlacht  bei  Cremona  und  dem  Falle 
Othos  in  den  Osten  gelangte,  zeigten  die  dortigen  Legionen  keine 
Lust,  sich  von  der  Rheinarmee  den  Herrscher  setzen  zu  lassen. 
Sie  hoben  Yespasian  auf  den  Schild  und  er  ließ  es  sich  gefallen. 
Über  den  Kampf  um  Rom  ließ  er  nun  den  Kampf  um  Jerusalem 
anstehn,  und  erst  Ende  69,  als  er  auf  die  Nachricht  von  der 
Ermordung  des  Vitellius  von  Alexandria  nach  Italien  reiste,  beauf- 
tragte er  seinen  Sohn  Titus,  der  ihm  schon  immer  zur  Seite  ge- 
standen hatte,  mit  der  Beendigung  des  jüdischen  Krieges. 

Mittlerweile  hatte  sich  in  Jerusalem  eine  gro9te  innere  Revo- 
lution vollzogen.  Der  Anlaß  war  die  Niederwerfung  Galiläas.  Viele 
der  dortigen  Patrioten  verließen  das  Land  und  gingen  nach  Jeru- 
salem, um  den  Kampf  gegen  die  Römer  fortzusetzen,  unter  ihnen 
jener  Johannes  von  Gischala.  Auch  andere  fremde  Elemente  wur- 
den durch  die  Kriegsereignisse  in  die  Hauptstadt  getrieben  und  ver- 
stärkten die  radikale  Partei,  deren  Führer  jetzt  Eleazar  Simons 
Sohn  war.  Sie  schoben  die  Schuld  des  Miserfolges  auf  den  Ver- 
räter Josephus  und  seine  Auftraggeber  und  Gesinnungsgenossen  in 
Jerusalem.  Sie  waren  entrüstet  gegen  die  Aristokraten,  die  aller- 
dings weniger  an  die  Kriegführung  als  an  das  Friedenschließen 
dachten.  Ein  Sturm  brach  aus;  mehre  misliebige  Römerfreunde 
wurden  ergriffen  und  umgebracht.  Die  Zeloten  besetzten  den  Tem- 
pel, sie  dachten  die  Regierung  an  sich  zu  reißen.  Den  bisherigen 
Hohenpriester  von  Agrippas  Gnaden  erklärten  sie  für  abgesetzt;  da 
das  Erbrecht  längst  durchbrochen  war,  so  schufen  sie  einen  neuen 
von  Gottes  Gnaden  durch  das  Los,  der  sich  freilich  als  ganz  un- 
brauchbar erwies.  Auch  ein  neues  Synedrium  von  siebzig  Mit- 
gliedern scheinen  sie  eingerichtet  zu  haben.  Indessen  die  Aristo- 
kraten streckten  nicht  sogleich  die  Waffen.  Der  Hohepriester 
Ananus  forderte  die  jerusalemischen  Bürger  auf,  sich  doch  nicht 
von  den  hergelaufenen  Fremden  einschüchtern  zu  lassen.  Sie  er- 
mannten sich  in  der  Tat  zum  Widerstand,  warfen  nach  blutigem 
Kampf  die  Zeloten  in  den  inneren  Tempel  zurück  und  hielten  sie 
dort    eingeschlossen,    da    sie    die    heiligen   Tore   nicht  zu  stürmen 


Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens.  373 

wagten.  Es  gelang  aber  den  Zeloten,  Botschaft  auf  das  Land  zu 
senden  und  dort  Succurs  gegen  die  Römerfreunde  zu  erbitten,  von 
denen  sie  bedrängt  wurden.  Aus  Idumäa  kamen  ihnen  einige 
tausend  Bauern  zu  Hilfe.  In  einer  finsteren  Nacht,  bei  furchtbarem 
Unwetter,^)  fanden  sie  Gelegenheit  in  die  Stadt  einzudringen  und 
ihre  Freunde  zu  entsetzen.  Damit  war  der  Sieg  der  Fanatiker  und 
Radikalen  über  die  Gemäßigten,  der  Fremden  über  die  Einheimischen 
entschieden.  Die  Folge  war  die  Vernichtung  der  Aristokratie,  die 
bis  zuletzt  das  lieft  nicht  aus  der  Hand  gegeben  hatte.  Ihre 
Häupter  iielen  zum  Teil  in  dem  allgemeinen  Blutbade,  welches 
die  Sieger  unter  den  Bewohnern  von  Jerusalem  anrichteten;  zum 
gröi3eren  Teil  wurden  sie  vor  Gericht  gestellt  und  als  Verräter 
hingerichtet.  Als  das  Gericht  den  Zacharias  Barachias  Sohn  frei- 
sprach, stießen  ihn  einige  der  Umstehenden  mitten  im  Heiligtum 
nieder  mit  den  höhnischen  Worten:  hier  hast  du  auch  unsere 
Stimmen. ')  Es  war  der  Untergang  der  alten  jüdischen  Verfassung 
und  Regierung,  man  kann  sagen  des  alten  jüdischen  Gemeinwesens. 
Josephus  betrachtet  namentlich  den  Tod  des  greisen  Ananus,  der 
sich  jahrelang,  schon  seit  dem  Tode  des  Porcius  Festus,  auf  das 
mannhafteste  gegen  die  Umstürzler  gewehrt  hatte  und  zusammen 
mit  Ananias  Nedebäi  die  Seele  des  Widerstandes  gegen  sie  gewesen 
war,  als  den  Anfang  des  Endes. 

Die  Idumäer,  ehrliche  Leute,  schämten  sich,  als  sie  sahen,  von 
wem  und  zu  welchen  Zwecken  sie  benutzt  waren,  ließen  die  zahl- 
reichen Gefangenen  der  Zeloten  frei  und  kehrten  größtenteils  heim.  ^) 
Ihre  Arbeit  hatten  sie  jedoch  getan.  Die  Zeloten  waren  jetzt  die 
unbeschränkten  Herren  von  Jerusalem,  an  ihrer  Spitze  Johannes  von 
Gischala.  Dieser  hatte  der  Partei  durch  perfide  Diplomatie,  in  der 
er  Meister  war,  wesentliche  Dienste  geleistet  und  gestützt  auf  seine 
Galiläer    es    verstanden,    Eleazar  Simons   Sohn   von   der  leitenden 


1)  Also  jedenfalls  im  Winter,  aber  in  welchem?  Von  67  auf  68,  oder  von 
68  auf  69?  Wahrscheinlich  von  67  auf  68.  Denn  Simon  Bargiora  trat  erst 
nach  dem  Sturz  der  rechtmäßigen  jeriisalemischen  Regierung  als  Banden- 
führer auf  dem  jüdischen  Gebirge  auf,  aber  schon  vor  68  auf  69.  —  Mau 
merkt  sehr,  daß  Josephus  damals  in  Jerusalem  nicht  dabei  gewesen  ist.  Seine 
genauen  Daten  fangen  erst  seit  der  Belagerung  der  Stadt  durch  Titus  wieder  au. 

2)  Matth.  23,  35.     Luc.  11,  51.     Skizzen  6,  208. 

^)  Es  blieben  aber  noch  immer  ziemlich  viele  in  Jerusalem;  wir  hören, 
daß  sie  sich  von  Johannes  trennten  und  zu  Simon  Bargiora  hielten. 


374  Dreiundzwaiizigstes  Kapitel. 

Stelle  zu  verdrängen.  Sein  Joch  lastete  schwer  auf  den  Bürgern, 
und  sie  hatten  nicht  die  Kraft  es  abzuschütteln,  nachdem  ihnen 
der  Rückgrat  gebrochen  war.  Da  bot  sich  ihnen  Gelegenheit,  den 
Teufel  durch  Beelzebub  zu  vertreiben,  und  sie  ergriffen  sie.  Simon 
Bargiora  von  Gerasa,  ein  junger  Mann  von  großer  Leibeskraft  und 
Kühnheit,  hatte  sich  zuerst  bei  dem  Überfall  des  Cestius  ausge- 
zeichnet. Dann  setzte  er  sich  in  Akrabatene  fest,  von  dort  durch 
Ananus  vertrieben  flüchtete  er  zu  den  Zeloten  von  Masada.  Aber 
nach  dem  Sturz  der  jerusalemischen  Regierung  durch  die  Zeloten 
wagte  er  sich  wieder  auf  das  freie  Feld  und  sammelte  auf  dem 
Gebirge  einen  großen  Anhang,  mit  dem  er  die  Gegend  brandschatzte. 
Auch  aus  Jerusalem  bekam  er  Zuzug,  die  von  den  Idumäern  frei- 
gelassenen Gefangenen  suchten  bei  ihm  Schutz  vor  ihren  Drängern, 
den  Zeloten.  Diese  waren  dem  simplen  Räuberhauptmann,  der 
ihnen  das  Spiel  zu  verderben  drohte,  feind  und  suchten  ihm  das 
Handwerk  zu  legen.  Jedoch  er  schickte  sie  mit  blutigen  Köpfen 
heim.  In  der  Zeit  vom  Jahre  68  auf  69,  während  die  Römer  un- 
tätig waren,  machte  er  sich  zum  Herrn  von  Idumäa  und  von  der 
Landschaft  in  Jerusalem.  Daß  die  Zeloten  ihm  seine  Frau  auf- 
griften  und  fortschleppten,  gab  ihm  Anlaß  vor  der  Hauptstadt  selber 
zu  erscheinen;  nachdem  er  indessen  durch  Repressalien  und  Dro- 
hungen ihre  Herausgabe  erzwungen  hatte,  zog  er  noch  einmal  ab. 
Aber  bald  kam  er  wieder,  gelockt  von  einer  Erhebung  gegen 
Johannes,  die  von  den  Idumäern  in  dessen  Heere  ausgegangen  war. 
Seine  Rechnung  trog  ihn  nicht;  die  Bürger  von  Jerusalem,  die  sich 
der  Erhebung  angeschlossen  hatten,  öffneten  ihm  die  Tore,  damit 
er  ihnen  gegen  die  Zeloten  beistehe.  Im  Frühling  69  zog  er  ein, 
noch  bevor  Vespasian  die  jüdisch-idumäische  Landschaft  wieder 
unterwarf.  Das  Ergebnis  war,  daß  die  Stadt  nun  zwei  Tyrannen 
hatte,  die  sich  zwar  gegenseitig  befehdeten,  aber  gemeinsam  die 
friedlichen  Einwohner  mishandelten.  Simon  occupirte  die  Ober- 
stadt; Johannes  blieb  im  Besitz  des  Tempels,  des  alten  Haupt- 
quartiers der  Zeloten.  Eine  Weile  spalteten  sich  die  Zeloten  auch 
noch  selber;  Eleazar  Simons  Sohn,  der  alte  Führer  des  Kernes  der 
Partei,  rivalisirte  mit  Johannes  und  setzte  sich  im  inneren  Tempel 
fest.  Aber  Ostern  70  wurde  er  durch  eine  List  überwältigt,  und 
damit  hörte  die  Spaltung  wieder  auf. 

4.    In   dieser  Weise  verwandten  die  Juden   die  beiden  Jahre, 
in   denen  ihnen  die  Römer  Ruhe  ließen,    um  sich  selber  zu  zer- 


Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens.  375 

fleischen.  Einige  Tage  vor  Ostern  70  erschien  Titus  vor  Jerusalem, 
als  sich  die  Stadt  bereits  mit  Pilgern  gefüllt  hatte.  ^)  Er  hatte 
vier  Legionen  und  die  Hilfstruppen  der  Könige  bei  sich;  sein  Bei- 
rat war  Tiberius  Alexander,  derselbe,  der  bis  zum  Jahre  48  Pro- 
kurator von  Judäa  und  hernach  Statthalter  von  Ägypten  gewesen 
war.  Wie  üblich,  griff  er  von  Norden  an.  Nachdem  er  ohne  viel 
Arbeit  die  Vorstädte  eingenommen  hatte,  ließ  er  auf  Pfahlwerk 
gestützte  Sturmwälle  gegen  die  Antonia  und  gegen  die  Oberstadt 
errichten.  Als  sie  aber  mit  großer  Mühe  vollendet  waren  (29.  Arte- 
misius),  wurden  sie  durch  Johannes  und  Simon  wieder  zerstört; 
gegen  außen  waren  die  beiden  einig,  obwol  sie  ihren  häuslichen 
Streit  fortsetzten.  Darauf  baute  Titus  zunächst  einen  umfassenden 
Steinwall  um  die  ganze  Stadt,  um  die  Zufuhr  abzuschneiden  und 
die  Flucht  der  Insassen  zu  verhindern.  Die  Verteidiger  hätten 
Zeit  genug  gehabt  für  Proviant  zu  sorgen,  allein  sie  hatten  es  nicht 
getan,  vielmehr  die  vorhandenen  Vorräte  in  ihren  Straßen- 
kämpfen noch  zum  Teil  vernichtet.  Der  Mangel  Avard  um  so  ärger, 
da  eine  Menge  Osterpilger  mit  eingeschlossen  waren.  Bald  herrsehte 
Hunger  in  der  belagerten  Stadt;  was  die  Einwohner  noch  von  Lebens- 
mitteln besaßen,  mußten  sie  den  Kriegsleuten  herausgeben.  Ln 
Däsius  ließ  Titus  abermals  vier  Sturm  wälle  aufführen,  diesmal 
ausschließlich  gegen  die  Antonia,  die  Nordbastei  des  Tempels. 
Johannes  von  Gischala,  der  hier  den  Befehl  führte,  unternahm  am 
1.  Panemus  vergeblich  einen  Ausfall  um  sie  zu  stürzen;  es  zeigte 
sich,  daß  seine  Leute  erschöpft  waren.  In  der  Nacht  des  5.  Pane- 
mus bemächtigten  sich  die  Körner  der  Burg;  von  dem  Tempel 
wurden  sie  durch  die  gemeinsamen  Anstrengungen  des  Johannes 
und  Simon  zurückgeschlagen.  Während  des  Ausholens  zu  weiterem 
Kampfe  trat  noch  einmal  auf  kurze  Zeit  einige  Ruhe  ein.  Die 
zelotischen  Propheten  weissagten  noch  immer  Sieg  und  Kettung, 
aber  im  allgemeinen  herrschte  tiefe  Niedergeschlagenheit  bei  den 
Juden,  namentlich  seit  sie  am  17.  Panemus  „aus  Mangel  an  Män- 
nern" das  tägliche  Opfer  einstellen  mußten.  Diesen  Moment  be- 
nutzte Titus,  um  sie  durch  seinen  Freigelassenen  Flavius  Josephus, 
allerdings  den  ungeeignetsten  Mann,  aufzufordern  sich  zu  ergeben. 
Da  indes  die  Aufforderung  keine  Wirkung  hatte,  so  wurden  die 
Arbeiten  zum  Angriff  auf  den  Tempelbezirk  mit  Eifer  aufgenommen 

')  Tacitus  Hist.  5,  Iss. 


376  Dreiiindzwanzigstes  Kapitel. 

und  trotz  manchen  Schwierigkeiten  und  Störungen  glücklich  zu 
Ende  geführt.  Die  Sturmböcke  richteten  zwar  gegen  die  gewaltigen 
Mauern  wenig  aus,  aber  es  gelaug  an  die  Tore  Feuer  zu  legen. 
Am  9.  Lous  brannten  sie  völlig  nieder,  am  10.  drangen  die  Römer 
ein  und  steckten  den  Tempel  in  Flammen.  ^)  Ein  greuliches  Morden 
räumte  unter  der  in  dem  heiligen  Raum  zusammengedrängten 
Menge  auf,  manche  kamen  in  den  Flammen  um  oder  stürzten  sich 
in  den  Abgrund  hinunter.  Johannes  mit  seinen  Zeloten  schlug 
sich  durch  und  entkam  in  die  Oberstadt. 

Diese  war  bis  dahin  vom  Angriff  verschont  geblieben,  aber 
die  Hungersnot  raste  unter  der  Bevölkerung.  Kapituliren  wollten 
indessen  die  Befehlshaber  nur,  wenn  freier  Abzug  mit  Weib  und 
Kind  bewilligt  würde.  Da  das  nicht  geschah,  so  kam  es  nach  den 
üblichen  Vorbereitungen  zum  Sturm  (7.  Gorpiäus).  Der  Widerstand 
war  schwach;  die  uneinnehmbaren  Türme  der  Königsburg  des 
Herodes  wurden  kaum  verteidigt.  Simon  und  Johannes  verkrochen 
sich  mit  vielen  andern.  In  der  wehrlosen  Stadt  wütete  das 
Schwert  und  das  Feuer.  Am  8.  Gorpiäus  ging  die  Sonne  über  den 
rauchenden  Trümmern  Jerusalems  auf;  dieser  Anblick  hat  auf 
Josephus  Eindruck  gemacht.  Fünf  Monate  hatte  die  Belagerung 
gedauert. 

Von  den  zahllosen  Gefangenen  wurden  die  „Empörer  und 
Räuber",  die  sich  alle  gegenseitig  angaben,  auf  der  Stelle  hin- 
gerichtet, die  anderen  in  die  ägyptischen  Bergwerke  geschickt  oder 
zu  Gladiatorenspielen  und  Tierkämpfen  bestimmt,  oder  in  die 
Sklaverei  verkauft.  Simon  und  Johannes  und  siebenhundert  aus- 
erlesene Männer  mit  ihnen  ließ  Titus  nach  Rom  bringen  und  sie 
hernach  in  seinem  Triumph  aufführen,  in  welchem  auch  die  heiligen 
Geräte  des  Tempels  und  eine  Thorarolle  paradirten. '^)  Seine  Helden- 
tat war  nicht  groß;  er  hatte  eine  überfüllte  Stadt  ausgehungert. 
Er  triumphirte  außerdem  ein  wenig  zu  früh,  denn  es  dauerte  noch 


1)  Nach  Josephus  ist  das  gegen  den  Willen  des  Titus  geschehen,  nach 
Sulpicius  Severus,  der  wol  auf  Tacitus  fußt,  auf  seinen  Befehl.  Das  letztere 
ist  A'iel  wahrscheinlicher,  nach  der  Art,  wie  die  römische  Regierung  gegen 
Jerusalem  verfuhr. 

2)  Die  jüdischen  Tempelgeräte  kamen  später  durch  Geiserich  nach  Kar- 
thago, durch  Belisar  nach  Konstautinopel,  durch  Justinian  nach  Jerusalem 
(Procop.  Yandal.  2,  9  vgl.  Goth.  1,  12). 


Der  Untergang  des  jüdischen  Gemeinwesens.  377 

einige  Zeit  und  kostete  noch  blutige  Arbeit,  bis  der  Aufstand  gänz- 
lich erstickt  und  die  Castelle  Herodium  Masada  und  Machärus  er- 
obert waren.  Am  längsten  hielt  sich  Masada.  Die  dortigen 
Zeloten,  die  sich  schon  seit  dem  Jahre  66  im  Besitz  der  Burg 
befanden,  standen  den  jerusalemischen  völlig  selbständig  und  zum 
Teil  feindlich  gegenüber;  nach  dem  Falle  Manaems  wurden  sie  von 
dessen  Sohne  Eleazar  befehligt,  dem  letzten  Gliede  der  Dynastie 
des  Ezechias  und  des  Judas  Galiläus.  Als  sie  sahen,  daß  alles 
verloren  war,  steckten  sie  die  Burg  in  Brand  und  töteten  Weib 
und  Kind  und  zuletzt  sich  selber  (15.  Xanthikus  73).  Das  blutige 
Feuerzeichen  bezeichnete  Avirkungsvoll  den  Abschluß  einer  zwar 
nicht  erhebenden,  aber  so  erschütternden  Tragödie,  wie  die  Ge- 
schichte kaum  eine  zweite  kennt, 

„Dem  Werke  des  Schwertes  folgte  die  politische  Wendung. 
Die  von  den  früheren  hellenistischen  Staaten  eingehaltene  und  von 
den  Römern  übernommene,  in  der  Tat  über  die  bloße  Toleranz 
gegen  fremde  Art  und  fremden  Glauben  weit  hinausgehende  Politik, 
die  Judenschaft  insgemein  als  nationale  und  religiöse  Samtgemein- 
schaft anzuerkennen,  war  unmöglich  geworden.  Zu  deutlich  waren 
in  der  jüdischen  Insurrektion  die  Gefahren  zu  Tage  getreten,  welche 
diese  national-religiöse,  einerseits  streng  konzentrirte,  andrerseits 
über  den  ganzen  Osten  sich  verbreitende  und  selbst  in  den  Westen 
verzweigte  Vergellschaftung  in  sich  trug.  Der  centrale  Kultus 
wurde  demzufolge  ein  für  allemal  beseitigt.  Das  Hohepriestertum 
und  das  Synedrium  von  Jerusalem  verschwanden.  Die  bisher 
wenigstens  tolerirte  Jahressteuer  eines  jeden  Juden  ohne  Unter- 
schied des  Wohnorts  an  den  Tempel  fiel  allerdings  nicht  weg, 
wurde  aber  mit  bitterer  Parodie  auf  den  kapitolischen  Jupiter  und 
dessen  Vertreter  auf  Erden,  den  römischen  Kaiser,  übertragen.  Die 
Stadt  Jerusalem  wurde  nicht  bloß  zerstört  und  niedergebrannt, 
sondern  blieb  auch  in  Trümmern  liegen,  wie  einst  Karthago  und 
Korinth.  In  den  Trümmern  schlug  die  Legion  ihr  Lager  auf, 
w^elche  mit  ihren  spanischen  und  thracischen  Auxilien  fortan  im 
Lande  garnisouiren  sollte;  die  durchaus  anomale  dauernde  militärische 
Belegung  zeigt,  wessen  die  Regierung  sich  zu  dem  Lande  versah. 
Die  bisherigen  in  Palästina  selbst  rekrutirten  Provinzialtruppen 
wurden  anderswohin  verlegt.  In  Emmaus  wurde  eine  Anzahl 
römischer  Veteranen  angesiedelt,  Stadtrecht  aber  auch  dieser 
Ortschaft  nicht  verliehen.    Die  Landeshauptstadt  Cäsarea,  bis  dahin 


378  Dreiundzwanzigstes  Kapitel. 

griechische  Stadtgemeinde,  erhielt  als  „erste  flavische  Kolonie" 
römische  Ordnung  und  lateinische  Geschäftssprache/)" 

5.  Die  religiösen  Freiheiten  der  Juden  in  der  Diaspora  wurden 
indessen  nicht  angetastet.  ^)  Und  auch  in  Palästina  durften  sie 
ihr  Wesen  weiter  treiben,  wenngleich  unter  den  veränderten  Um- 
ständen in  anderer  Form.  Die  Schule  und  das  Gesetz  überdauerten 
den  Tempel  und  den  Staat.  Freilich  konnte  das  Volk  den  Verlust 
des  Kultus  und  der  einheimischen  Regierung  nur  schwer  ver- 
winden. Der  Patriotismus  glühte  unter  der  Asche  weiter  und 
ilammte  noch  einmal  hell  empor.  Die  Erhebung  Barkochbas  war 
das  Nachspiel  zu  der  der  Zeloten;  sie  unterschied  sich  davon  zu 
ihrem  Vorteil,  weil  sie  von  einem  enthusiastischen  Messias  geleitet 
wurde,  an  den  selbst  Rabbi  Akiba  glauben  konnte.  In  dieser 
gewaltigen  Explosion  brannte  aber  auch  das  Feuer  aus. 

Die  Schriftgelehrten  hatten  in  dem  alten  Gemeinwesen  keine 
eigentlich  politische  Stellung  eingenommen.  Gerade  deshalb  wurde 
ihr  Einfluß  durch  den  Untergang  desselben  nicht  geschädigt.  Sie 
versanken  nicht  in  dem  Abgrunde,  der  die  Aristokratie,  das  Priester- 
tum  und  die  Nation  verschlang.  Nachdem  die  Sadducäer  von  den 
Zeloten  und  die  Zeloten  von  den  Römern  abgetan  waren,  blieben 
die  Pharisäer  übrig  und  wurden  an  die  Spitze  gehoben,  an  der  sie 
bis  dahin  höchstens  moralisch  gestanden  hatten,  Sie  waren  vor- 
bereitet, die  Erbschaft  zu  übernehmen.  Ihre  vornehmsten  Rabbinen 
konstituirten  ein  Kollegium,  welches  als  Fortsetzung  des  alten 
Synedriums  sich  betrachtete  und  galt.  Der  Sitz  desselben  war 
anfangs  in  Jamnia,  wurde  aber  später  nach  Galiläa  verlegt  und 
blieb  die  längste  Zeit  in  Tiberias.  Die  Vorsteherschaft  ver- 
erbte sich  in  der  Familie  Hilleis,  mit  deren  Aussterben  die  Behörde 
aufhörte.  Die  Autorität  des  Synedrialpräsidenten  stieg  rasch.  Er 
wurde  mit  der  Zeit  auch  von  der  kaiserlichen  Regierung  als  Haupt 
der  palästinischen  Juden  anerkannt  und  führte  den  Titel  der  alten 
Hohenpriester:  Ethnarch  (Nasi),  später  Patriarch.     Von  den  aus- 


1)  Mommsen  5,538  s. 

^)  Die  Alexandriner  und  Antiochener  drangen  bei  Vespasian  und  Titus 
nicht  durch  mit  dem  Verlangen,  die  hergebrachten  Vorrechte  der  Juden  auf- 
zuheben oder  sie  aiis  der  Stadt  zu  verweisen  (Ant.  12,  121.  Bell.  7,  lOOss.). 
Der  Oniastempel  wurde  im  Jahre  73  geschlossen  (Bell.  7,  433  ss.).  Vgl. 
Mommsen  in  Sybels  Histor.  Ztschr.  1890  p.  424  s. 


Der  ünterffang  des  jüdischen  Gemeinwesens.  379 

wärtigen  Juden  empfing  er  Geldopfer,  die  alljährlich  durch  seine 
Abgesandten  eingesammelt  wurden '). 

Was  das  Judentum  durch  den  Untergang  des  alten  Gemein- 
wesens an  äußerem  Halt  verloren  hatte,  ersetzten  die  Rabbinen 
auf  andere  Weise.  Die  Absonderung  von  den  Heiden  wurde  weit 
schroffer  als  zuvor.  Auch  die  abweichenden  Richtungen  im  eigenen 
Lager  verketzerte  der  konsequente  Judaismus  und  stieß  sie  von  sich 
ab;  infolge  dessen  wimmelte  jetzt  Palästina  und  die  Provinz  Arabien 
von  halbjüdischen  Sekten.  Von  der  Kirche  schied  sich  die  Syna- 
goge definitiv.  Die  Septuaginta  wurde  verdrängt,  weil  sie  zur 
christlichen  Bibel  geworden  war,  und  eine  andere  streng  wörtliche 
Übersetzung  an  die  Stelle  gesetzt  —  denn  den  Gebrauch  der 
griechischen  Sprache  konnte  man  freilich  noch  nicht  verbieten.  Der 
verschärften  Abschließung  gegen  außen  ging  eine  Steigerung  der 
inneren  Bindung  zur  Seite.  Zwar  wurde  manche  unter  den  ver- 
änderten Umständen  veraltete  Bestimmung  aufgehoben  oder  modi- 
fizirt;  man  war  nicht  ängstlich  auch  vor  durchgreifenden  Neuerungen, 
wenn  sie  im  Geiste  des  Systems  lagen.  Aber  das  war  nur  scheinbar 
eine  Regung  der  Freiheit.  Im  Grunde  ging  die  Absicht  dahin, 
die  Freiheit  des  Einzelnen  aufzuheben  durch  das  Gesetz  des  Ganzen. 
Die  alte  Tendenz  der  Schriftgelehrten,  das  ganze  Leben  in  die 
heilige  Regel  einzuspinnen,  machte  immer  größere  Fortschritte.  Die 
F'olge  war  eine  geistige  Knechtschaft,  wie  sie  nie  wirksamer  be- 
standen hat.  Die  Gemeinden  unterwarfen  sich  willig  der  neuen 
Hierarchie,  der  Nomokratie  der  Schriftgelehrten;  sie  wollten  den 
Zweck,  nämlich  die  Erhaltung  des  Judaismus,  und  so  fügten  sie 
sich  den  Mitteln.  Daß  diese  Mittel  zum  Ziele  geführt,  daß  sie  das 
Judentum  auch  nach  dem  Untergang  des  Restes  der  Theokratie  als 
internationale  Gemeinschaft  erhalten  haben,  darüber  ist  kein  Zweifel. 

Was  früher  noch  frei  und  fließend  gewesen  war,  wurde  all- 
mählich  fest  und  starr.  Die  Grenze  zwischen  Kanon  und  Apokry- 
phen wurde  scharf  gezogen  und  ein  authentischer  Text  der  heiligen 

0  Vgl.  Gothofredus  zum  Cod.  Theod.  2,1  und  16,8  imd  Jo.  Morinus, 
Exerc.  Bibl.  2,  3.4  (p.  256  ss.).  Merkwürdig  sind  die  von  Morinus  angeführten 
Stellen  aus  Origenes  und  Theodoret,  aus  denen  hervorgeht,  daß  die  Ethnarchen 
von  David  abstammen  und  die  davidische  Dynastie  fortsetzen  wollten.  Die 
Genealogie  des  ersten  Ethnarchen  ist:  Gamaliel  ben  Simon  (Jos.  Vita  190) 
ben  Gamaliel  (Act.  5, 34.  22,  3)  ben  Simon  ben  Hillel.  Der  Name  Gamaliel 
kommt  am  häufigsten  vor. 


380  Vierundzwanzigstes  Kapitel. 

Bücher  festgestellt,  von  dem  nun  in  keinem  Punkte  mehr  abge- 
wichen werden  durfte.  Es  folgte  eine  Kodifizirung  der  Halacha,  der 
gesetzlichen  Tradition.  In  der  Ausbildung,  welche  ihr  die  Koryphäen 
der  pharisäischen  Schriftgelehrten  gegeben  hatten,  wurde  sie  zu 
Anfang  des  dritten  christlichen  Jahrhunderts  von  dem  Ethnarchen 
Juda  dem  Heiligen  auf  Schrift  gebracht  und  erhielt  in  dieser  Form 
allgemeine  Giltigkeit.  Freilich  war  damit  der  Prozeß  nicht  zum 
Abschluß  gebracht.  Die  Mischna  wurde  zum  Ausgangspunkt  wei- 
teren Studiums  für  die  Rabbinen,  auf  die  Thannaim  folgten  die 
Amoraim,  Deren  Diskussionen  kamen  wiederum  zur  Aufzeichnung 
in  der  palästinischen  Gemara,  die  uns  nur  bruchstückweise  bekannt 
ist,  obgleich  sie  noch  im  Mittelalter  vollständig  erhalten  war.  Auch 
damit  aber  war  die  Arbeit  noch  nicht  am  Ziel,  die  babylonischen 
Amoraim  setzten  sie  noch  eine  Weile  fort.  Palästina  hörte  nämlich 
seit  dem  fünften  Jahrhundert  auf,  der  Schwerpunkt  des  Judentums 
zu  sein;  er  verlegte  sich  nach  Babylonien.  Schon  im  Anfang  des 
dritten  Jahrhunderts  waren  gewisse  palästinische  Rabbinen,  an 
ihrer  Spitze  Rab  Areka,  dahin  ausgewandert  und  hatten  dort  der 
Gesetzesgelehrsamkeit  eine  neue  Heimat  gegründet.  Die  babylo- 
nischen Schulen  blühten  rasch  auf,  wetteiferten  mit  den  palästi- 
nischen und  überlebten  die  letzteren,  so  daß  sie  schließlich  das  letzte 
Wort  sprachen.  Zu  Anfang  der  islamischen  Ära  wurde  endlich 
auch  die  babylonische  Gemara  niedergeschrieben.  Daneben  her  ging 
die  Niederschrift  des  Targums,  der  ursprünglich  ebenfalls  münd- 
lichen Übersetzung  der  hebräischen  Vorlesebücher  in  die  aramäische 
Landessprache;  ferner  die  Feststellung  der  durch  die  Konsonanten- 
schrift nicht  genau  bestimmten  Aussprache  des  heiligen  Textes  und 
die  Bezeichnung  derselben. 

Mit  dieser  Arbeit,  sich  selbst  im  Buchstaben  aufzuheben  und 
dann  nach  dem  Buchstaben  zu  konserviren,  schließt  das  Judentum 
ab.  Die  ausgedehnte  jüdische  Literatur  des  späteren  Mittelalters 
kann  man  nicht  eigentlich  als  ein  Gewächs  aus  echter  Wurzel  be- 
trachten. 


Das  Evangelium.  381 

Vierundzwanzigstes  Kapitel. 

Das  Evangelium. 

1.  Es  war  gegen  Ende  der  Kegierung  des  Kaisers  Tiberius, 
als  noch  Pilatus  Landpfleger  in  Judäa  und  Antipas  Vierfürst  von 
Galiläa  war.  Da  ging  ein  Sämann  aus,  zu  säen  seinen  Samen; 
sein  Same  war  das  Wort,  sein  Acker  die  Zeit. 

Jesus  begann  seine  Wirksamkeit  mit  der  Verkündigung,  daß 
die  Ankunft  des  Keiches  Gottes  nahe  bevorstehe;  das  war  die  Bot- 
schaft, die  er  auszurichten  hatte.  Er  hätte  auch  sagen  können:  der 
Tag  des  Herrn,  das  Gericht  stehe  nahe  bevor;  aber  der  andere 
Ausdruck  war  den  Zeitgenossen  geläuhger.  Er  verkündete  nicht, 
daß  das  Reich  mit  ihm  gekommen  sei,  sondern  daß  es  bald  kommen 
werde.  Er  trat  damit  nicht  als  Messias  auf,  als  Erfüller  der  Weis- 
sagung, sondern  als  Prophet;  seine  Botschaft  war  selber  Weissagung, 

Daran  schloß  sich  die  Aufforderung:  also  kehrt  um  von  eurem 
bisherigen  Wege!  Den  Juden  lag  eine  andere  Folgerung  näher: 
also  freut  euch,  daß  ihr  nun  endlich  am  Ziel  seid.  Sie  zweifelten 
nicht,  daß  sie  auf  dem  richtigen  Wege  wären  und  daß  das  Reich 
Gottes  ihnen  zum  Triumph  verhelfen  würde.  Dem  trat  Jesus  ent- 
gegen. Er  benutzte  die  Botschaft  vom  Reich  um  Buße  zu  predigen; 
er  wendete  die  drohende  Kehrseite  der  messianischen  Hoffnung 
heraus.  Das  selbe  hatte  vor  ihm  Johannes  der  Täufer  getan.  „Glaubt 
nur  nicht,  als  Kinder  Abrahams  vor  dem  nahenden  Zorne  sicher 
zu  sein.  Gott  kann  aus  diesen  Steinen  Kinder  Abrahams  hervor- 
bringen, er  sieht  nicht  auf  den  Stamm,  sondern  auf  die  Früchte." 
Die  Juden  erwarteten,  der  Messias  werde  ihnen,  als  Juden,  Recht 
schaffen  gegen  die  Heiden;  Johannes  sagte,  er  werde  sie  selber, 
sofern  sie  weiter  nichts  seien  als  Juden,  mit  dem  Feuer  des  Gericlits 
vernichten. 

Wie  kam  es ,  daß  diese  beiden  Männer  gleichzeitig  mit  der 
selben  Ankündigung  auftraten?  Es  geschah  in  einer  gespannten, 
schwülen  Zeit,  in  einer  Zeit  großer  politischer  und  religiöser  Er- 
regung. Seit  zwei  Jahrhunderten  hatten  sich  die  Ereignisse  ge- 
drängt: die  Religionsverfolgung  unter  Antiochus  Epiphanes,  die 
makkabäische  Erhebung,  die  Gründung  des  hasmonäischen  Reiches, 
seine  Erschütterung   durch  erbitterte   Parteifehden  und  sein  Sturz 


382  Yierundzwanzigstes  Kapitel. 

durch  die  Römer,  die  Wiederkehr  der  Fremdherrschaft,  die  ver- 
geblichen und  doch  nie  aufgegebenen  Versuche  sie  abzuschütteln, 
und  zuletzt  die  atemschnürende  Tyrannis  des  großen  Herodes. 
Das  Stillleben,  worauf  die  gesetzliche  Theokratie  eigentlich  angelegt 
war,  hatte  aufgehört;  die  Juden  waren  durch  die  Makkabäerkriege 
aus  ihrer  Bahn  geraten  und  ließen  sich  nicht  wieder  hineindrängen. 
Sie  trieben  dem  Zusammenstoß  mit  den  Römern  entgegen;  die 
Frage  war,  was  das  Ergebnis  sein  würde.  Es  war  die  selbe  Frage, 
die  dem  Amos  und  dem  Jeremias  vorgelegen  hatte,  als  der  Konflikt 
mit  den  Assyrern  und  mit  den  Chaldäern  drohte;  Johannes  und 
Jesus  beantworteten  sie  ebenso  wie  jene  beiden  alten  Propheten. 
Sie  empfanden  die  Notwendigkeit  des  Untergangs  der  Theokratie 
voraus;  das  war  auch  bei  ihnen  der  nächste  Anlaß,  der  sie  aus 
ihrem  Kreise  herausriß  und  in  die  Öffentlichkeit  trieb.  Die  Weis- 
sagung von  der  bevorstehenden  Ankunft  des  Reiches  Gottes  fällt 
zusammen  mit  der  Weissagung  von  der  bevorstehenden  Zerstörung 
des  Tempels  und  der  heiligen  Stadt.  Das  Reich  Gottes  hat  andere 
Grundlagen  als  den  Tempel,  die  heilige  Stadt  und  das  jüdische 
Volk;  die  Zugehörigkeit  dazu  ist  an  inviduelle  Bedingungen  ge- 
knüpft. 

2.  Durch  die  vorzugsweise  Betonung  dieser  individuellen  Be- 
dingungen schritt  Jesus  über  den  Täufer  fort;  sie  wurden  ihm  so 
sehr  zur  Hauptsache,  daß  seine  Verkündigung  darüber  den  Cha- 
rakter der  Prophetie  verlor,  da  die  Erfüllung  der  Bedingungen  schon 
in  der  Gegenwart  möglich  war.  Er  zog  nicht  mit  dem  Ruf:  be- 
kehrt euch,  das  Gericht  steht  vor  der  Tür!  durch  das  Land;  er 
ließ  diese  Parole  nicht  immer  wieder  in  die  Ohren  der  Hörer 
gellen.  Sondern  er  sprach  in  ungezwungenem  Wechsel  über  dies 
und  über  das,  je  nach  Gelegenheit  und  Bedürfnis  aus  seinem  Schatze 
hervorholend,  was  ihm  der  Geist  eingab  und  was  die  Leute  brau- 
chen konnten.  Seine  Tätigkeit  bestand  wesentlich  im  Lehren.  Er 
machte  den  größten  Eindruck,  nicht  bloß  durch  seine  Lehre  selber, 
sondern  auch  durch  die  Heilungen,  die  er  verrichtete,  namentlich 
an  solchen  Kranken,  die  in  jener  Zeit  für  besessen  angesehen  wur- 
den. Sie  flössen  lediglich  aus  seiner  Barmherzigkeit  „mit  dem 
Volke",  galten  jedoch  als  Bestätigungen  seiner  göttlichen  Lehrbefugnis. 
Er  wird  als  Lehrer  mit  den  Schriftgelehrten  verglichen,  aber  er 
konnte  es  besser  als  sie,  und  er  machte  es  auch  anders. 

Er  setzte   sich  von  Anfang  an  in  Gegensatz  gegen  die  Schrift- 


Das  Evangelium.  383 

gelehrten  und  gegen  ihre  Partei,  die  Pharisäer.  Er  steht  zwar  wie  sie 
auf  dem  Boden  des  Alten  Testament  and  verleugnet  das  Judentum 
nicht.  Auch  darin  ist  er  mit  ihnen  einverstanden,  daß  das  Be- 
kenntnis zu  Gott  abgelegt  wird  nicht  durch  das  Sagen,  sondern 
durch  das  Tun,  das  Tun  seines  Willens.  Aber  ihren  toten  Werken 
stellt  er  die  Gesinnung  entgegen,  ihrer  viel  geschäftigen  Gesetzlich- 
keit die  höchste  sittliche  Idealität.  Er  weist  den  Anspruch  des 
Lohnes  zurück :  Sklaven  haben  kein  Recht  auf  Lohn  für  die  Arbeit, 
die  sie  zu  tun  schuldig  sind.  Er  atmet  in  der  Furcht  des  Richters, 
der  Treue  im  Geringsten  verlangt  und  Rechenschaft  fordert  von 
einem  jeglichen  nichtsnutzigen  AV^orte.  „ISiemand  kann  Knecht 
zweier  Herren  sein;  ihr  könnt  nicht  Gott  dienen  und  dem  Mam- 
mon; wo  euer  Schatz  ist,  da  ist  euer  Herz."  Das  ist  der  wahre 
Monotheismus,  der  das  Herz  und  den  ganzen  Menschen  fordert, 
der  Zwiespältigkeit  und  Heuchelei  unmöglich  macht.  Die  Gerech- 
tigkeit vor  Gott,  das  Ziel,  nach  dem  die  Schriftgelehrten  und  die  Juden 
überhaupt  strebten  —  Jesus  selber  gebraucht  den  Ausdruck  nicht  — 
ist  zu  hoch  für  die  Methode  der  Schule.  Wir  straucheln  alle  auf 
dem  Wege,  der  Pharisäer  hat  vor  dem  frommen  Zöllner  nichts  voraus, 
und  auch  dem  Besten  bleibt  nichts  übrig  als  die  Bitte:  Gott  sei  mir 
Sünder  gnädig!  Jesus  hat  einen  heiligen  Zorn  auf  die  Anmaßung  der 
Separatisten,  auf  ihre  Neigung  zu  richten,  auf  ihre  Scheu  vor  Be- 
rührung mit  den  Sündern.  Kein  Gebot  schärft  er  so  nachdrücklich 
ein  wie  das,  andern  die  Schuld  zu  vergeben,  so  wie  man  für  sich 
selber  Vergebung  im  Himmel  hofl't.  Er  fordert  Sympathie  mit 
Leiden  und  Sünde  und  er  bewährt  sie  selber.  Er  fühlt  sich  als 
Arzt,  er  will  gesund  und  lebendig  machen.  Er  spottet  der  Tugend, 
die  sich  selber  genügt  und  der  Gnade  Gottes  entraten  kann.  Er 
schämt  sich  der  Sünder  nicht,  weil  er  die  Sünde  nicht  bloß  in 
ihnen  entdeckt.  Aber  von  schwächlicher  Nachsicht  gegen  sie  läßt  er 
nichts  spüren.  Von  Philanthropie  gegen  Verbrecher  ist  er  entfernt, 
er  setzt  die  bürgerliche  Gerechtigkeit  voraus,  die  menschliche  Ord- 
nung und  Obrigkeit  erkennt  er  in  ihrem  Bereich  an. 

Die  Schriftgelehrten  und  Pharisäer  Avollen  nichts  Gutes  tun, 
sondern  sich  vor  Sünde  hüten;  ihre  Beobachtung  konventioneller 
Satzungen  kommt  niemand  zu  gut  und  erfreut  weder  Götter  noch 
Menschen.  Jesus  spottet  über  ihre  vorgeschriebenen  und  mit  Osten- 
tation verrichteten  Werke  der  Heiligkeit,  über  ihre  Art,  Almosen 
zu  geben,  zu  fasten  und  zu  beten,  ihr  ewiges  Waschen  von  Händen 


384  Vieruudzwanzigstes  Kapitel. 

und  Geräten,  ihr  Verzehnten  von  Dill  und  Kümmel,  ihre  Ängst- 
lichkeit im  Halten  des  Sabbats,  ihr  Mückenseihen  und  Kamel  ver- 
schlucken. Er  weiß  einen  besseren  Gottesdienst  als  die  unfrucht- 
bare Selbstheiligung:  den  Dienst  des  Nächsten.  Er  verwirft  die 
sublime  Güte,  welche  der  AVitwen  Häuser  frißt  und  lange  Gebete 
vorwendet,  welche  zu  Vater  uud  Mutter  spricht:  Opfer  sei,  was 
ich  euch  etwa  geben  könnte.  Er  fastet  zwar  gelegentlich  und  pflegt 
nachts  oder  morgens  früh  auf  Bergen  und  an  einsamen  Stätten 
unter  freiem  Himmel  zu  beten.  Aber  für  sich  und  im  stillen;  er 
macht  aus  der  Ascese  kein  Kultiisgebot  und  schreibt  ihr  kein  Ver- 
dienst zu;  im  Unterschiede  von  Johannes  dem  Täufer  ißt  und 
trinkt  er  und  ist  fröhlich  mit  den  Fröhlichen.  Er  bezeichnet  als 
das  Schwerste  im  Gesetz  die  gemeine  Moral,  Billigkeit  und  Treue 
und  Güte.  Eben  diese  natürliche  Moral  nennt  er  das  Gebot  Gottes; 
jene  übernatürliche,  welche  sie  überbieten  will,  ist  ihm  willkür- 
liche Satzung.  Um  des  Menschen  willen  sind  die  Gebote  gegeben; 
was  dem  Nächsten  angetan  wnrd,  sieht  Gott  an,  als  sei  es  ihm 
getan.  Wer  der  Nächste  ist,  welches  die  nächstliegende  Pflicht, 
das  weiß  im  gegebenen  Falle  auch  der  Schriftgelehrte,  welcher  sich 
stellt,  als  wüßte  er  es  nicht.  Damit  hört  nun  die  Frömmigkeit 
auf,  eine  Domäne  der  Virtuosen  zu  sein.  Es  gehört  keine  Kunst, 
keine  verschmitzte  Gelehrsamkeit  der  Rabbinen  dazu,  sondern  ein 
einfacher,  offener  Sinn.  Die  Armen  im  Geist,  die  Kinder  im  Ge- 
müt verstehn  mehr  davon  als  die  Klugen  und  Weisen,  die  daraus 
ein  Gewerbe  machen.  Von  dieser  Seite  wird  der  Protest  Jesu 
gegen  den  Hochmut  der  Pharisäer  und  Schriftgelehrten  zu  einem 
Protest  gegen  ihren  Bildungsdünkel,  durch  den  sie  sich  über  das 
gemeine  Volk  überheben  und  von  demselben  abscheiden.  Es  jam- 
mert ihn  der  Ileerde,  die  der  Leitung  so  sehr  bedürfte,  aber  von 
den  berufenen  Hirten  in  stich  gelassen  wird. 

3.  Die  Moral  besteht  in  Barmherzigkeit  und  Dienstwilligkeit 
gegen  den  Nächsten,  in  entsagender  Geduld,  in  treuer  Arbeit.  Die 
Selbstverleugnung  ist  die  Sinnesart,  welche  notwendig  ist,  um  in 
das  Keich  Gottes  zu  kommen.  Sowol  die  Anerkennung  der  For- 
derung als  ihre  Erfüllung  ist  eine  Wirkung  Gottes,  ein  religiöser 
Vorgang,  der  wie  die  Religion  überhaupt  nicht  begriffen  und  nicht 
zergliedert  werden  kann.  Auf  diese  Weise,  indem  er  die  Welt 
daran  gibt,  gewinnt  der  Mensch  seine  Seele.  Wer  sein  Leben 
sucht,  verliert  es;  nur  wer  es  einsetzt,  gewinnt  es.     Er  ist  geborgen 


Das  Evangelium.  385 

bei  Gott,  emporgehoben  über  Fuix-lit  und  über  Sorge.  Er  hat 
Glauben  d.  h.  Mut  und  Vertrauen:  von  diesem  überirdischen 
Standpunkte  aus  kann  er  Berge  versetzen  und  die  Welt  aus  den 
Angeln  heben,  gewinnt  er  Kraft  auch  zu  erfolgloser  Aufopferung 
und  zu  resignirtem  Gehorsam  auf  Erden.  Er  vertraut  der  Vor- 
sehung Gottes  und  ergibt  sich  in  seinen  Willen.  Er  fühlt  sich 
als  Kind  des  himmlischen  Vaters.  In  keinem  anderen  Sinn  als  in 
diesem  fühlt  Jesus  sich  auch  selber  so,  obwol  er  sich  nicht  so 
nennt.  Selbst  die  Vollmacht,  den  Sabbat  zu  brechen  und  Sünde 
zu  vergeben,  für  die  die  Gegner  einen  Ausweis  verlangen,  nimmt 
er  in  Anspruch,  obwol  er  Mensch  ist,  wie  er  ausdrücklich  bei 
dieser  Gelegenheit  hervorhebt.  Was  ihn  auszeichnet  ist  nur,  daß 
er  sich  des  Kindesverhältnisses  zu  Gott,  wenn  wir  den  Ausdruck  ge- 
brauchen dürfen,  bewußt  gewesen  ist  und  die  Frömmigkeit  genossen 
hat,  wie  vor  ihm  niemand.  Der  Übergang  von  der  Ekstase  zur  Reli- 
giosität, den  die  Propheten,  vor  allen  Jeremias,  eingeleitet  und  die 
Frommen  nach  ihnen  weitergeführt  haben,  ward  durch  Jesus  vollendet. 
Doch  finden  sich  auch  bei  ihm  Höhen  und  Tiefen  der  Stimmung. 
Er  kennt  auf  Erden  ein  seliges  Leben,  aber  er  kennt  auch  An- 
fechtungen und  Versuchungen,  er  weiß,  daß  der  Geist  willig  und 
das  Fleisch  schwach  ist.  Er  lehrt  die  Geplagten  ihr  Joch  auf  sich 
nehmen,  aber  er  lehrt  nicht,  daß  das  Kreuz  süß  und  die  Krank- 
heit gesund  sei.  Im  Hintergrunde  seiner  Weltanschauung  steht 
überall  die  künftige  Vollendung  des  Guten  und  die  künftige  Ver- 
nichtung des  Bösen,  die  Verwandlung  der  Schwachheit  in  Kraft 
und  Herrlichkeit.  Darin  scheint  er  mit  den  Juden  vollkommen  ein- 
verstanden. Er  erwartet  wie  sie  die  Herabkunft  des  Himmelreichs 
auf  die  Erde,  die  Ankündigung  davon  ist  ja  der  ursprüngliche  In- 
halt seiner  Predigt.  Aber  wie  wir  gesehen  haben,  bedeutet 
ihm  das  Himmelreich  nicht  die  triumphirende  Theokratie;  die 
„Kinder  des  Reiches",  d.  h.  die  Juden,  sind  nicht  dessen  geborene 
Erben.  Das  Gericht  ist  nicht  das  Mittel,  durch  die  Vernichtung 
der  Heidenmacht  die  Herrschaft  der  Heiligen  des  Höchsten  herzu- 
stellen; es  ergeht  über  die  Juden  selber  und  vollzieht  sich  durch 
die  Zerstörung  ihrer  Stadt  und  ihres  Gemeinwesens.  Und  daneben 
ist  von  einem  jenseitigen  Gericht  über  jeden  Einzelnen  die  Rede. 
Am  jüngsten  Tage  erscheinen  nicht  bloß  die  Lebenden  vor  Gott, 
sondern  die  Menschen  aller  Generationen  werden  aus  den  Gräbern 
erweckt,    um    den    für   die  Ewigkeit    entscheidenden  Urteilsspruch 

Weilhausen,  Isr.  Gescliichte.    5.  Aufl.  25 


386  Vierundzwanzigstes  Kapitel. 

Über  sich  zu  empfangen.  Die  Erde  verschwindet,  sie  scheidet  sich 
in  Himmel  und  Hölle.  Himmel  und  Hölle  sind  jedoch  auch  schon 
gegenwärtig  vorhanden;  und  anderswo  findet  sich  die  Vorstellung, 
daß  das  Gericht  über  den  Einzelnen  nicht  erst  am  jüngsten  Tage 
eintritt,  sondern  mit  seinem  Tode  zusammenfällt.  Bei  Lukas  wenig- 
stens kommen  der  arme  Lazarus  und  der  Schacher  am  Kreuz  so- 
fort nach  ihrem  Tode  in  Abrahams  Schoß  oder  in  das  Paradis, 
der  reiche  Mann  sofort  an  den  Ort  der  Qual;  die  Auferstehung  des 
Leibes  erscheint  nicht  als  unerläßliche  Vorbedingung  des  neuen 
Lebens.  Die  Vorstellungen  können  freilich  nicht  alle  Jesu  selber 
zugeschrieben  werden,  man  kann  jedoch  keine  sichere  Scheidung 
machen  und  das  schadet  auch  nicht.  Sie  schwanken  und  sind 
mitten  in  lebendigster  Entwicklung  begriffen.  Obwol  sie  überall 
als  selbstverständlich  und  gegeben  auftreten,  so  weht  doch  ein 
neuer  Geist  darin;  sie  stellen  die  Religion  auf  eine  ganz  andere, 
völlig  individualistische  Grundlage;  sie  stehn  im  stärksten  Wider- 
spruch mit  der  Anschauung,  die  das  Alte  Testament  von  Anfang 
bis  zu  Ende  durchzieht.  Sie  lassen  sich  vor  dem  Neuen  Testamente 
nicht  nachweisen,  sie  müssen  also  erst  spät,  etwa  im  ersten  vor- 
christlichen Jahrhundert,  bei  den  Juden  ein-  und  durchgedrungen 
sein.  Sie  haben  bei  ihnen  auch  niemals  eine  so  zentrale  Bedeu- 
tung erlangt  wie  im  Christentum.  Das  Christentum  steht  von  vorn- 
herein auf  diesem  Boden,  schon  seit  Jesus  selber:  das  hat  es  vor 
dem  Judentum  voraus,  welches  in  einem  ganz  anderen  Boden 
wurzelt.  Der  nationale  Gegensatz  zwischen  Jüdisch  und  Heidnisch 
verbleicht  und  der  moralische  tritt  an  die  Stelle.  Dieser  wird 
außerordentlich  verschärft.  Gut  und  Böse  sind  zwei  verschiedene 
Welten,  der  Satan  ist  der  Fürst  der  Welt  und  der  Hölle.  Auf  die 
moralische  Verantwortlichkeit  fällt  der  höchste  Nachdruck;  das  Ge- 
richt gewinnt  dadurch  einen  ganz  anderen  Sinn  und  eine  ganz  andere 
Wirkung,  daß  es  die  persönliche  Rechenschaftsablage  vor  Gott  be- 
deutet. Die  Auferstehung  wird  verallgemeinert,  und  dadurch  eigent- 
lich überflüssig  gemacht,  daß  es  nicht  bloß  ein  diesseitiges,  sondern 
auch  ein  ewiges  Leben  gibt,  an  dem  man  teilnehmen  kann  ohne 
auferweckt  zu  sein:  doch  dringt  diese  Vorstellung  nicht  durch. 
Die  Eschatologie  bekommt  statt  des  historisch-nationalen  ein  all- 
gemein menschliches  und  ein  überirdisches  Gepräge.  Von  Gnosis 
und  Phantastik  findet  sich  nichts;  es  wird  nur  eine  moralische 
Metaphysik  ausgestaltet,  voll  ernster  Einfachheit.     Von  einer  natür- 


Das  Evangelium.  387 

liehen  Un Vergänglichkeit  des  Geistes,  im  Sinne  der  griechischen 
Philosophie,  ist  aber  auch  keine  Rede. 

Bei  den  Juden  kommt  das  Reich  Gottes  wie  ein  glücklicher 
Zufall,  die  Gesetzescrfüllung  bereitet  es  nicht  vor,  steht  überhaupt 
in  keiner  ursächlichen  Beziehung  (hizu,  sondern  ist  nur  eine  statu- 
tarische condicio  sine  qua  non.  Es  besteht  keine  innere  Verbindung 
zwischen  dem  Guten  und  dem  Gute,  das  Tun  der  Hände  und  das 
Trachten  des  Herzens  lallt  aus  einander.  Das  fromme  Handeln 
hat  gar  keinen  irdischen  Zweck,  aber  die  Hoffnung  ist  desto  welt- 
licher; die  unersprießliche  Pedanterei  der  gottseligen  Übungen  und 
die  schlecht  verholene  Gier  der  frommen  Wünsche  stehn  neben- 
einander. Jesus  dagegen  stellt  das  Reich  Gottes  als  Ziel  des 
Strebens  auf;  vollendet  wird  es  allerdings  erst  in  der  Zukunft  durch 
Gott,  aber  angefangen  wird  es  schon  in  der  Gegenwart.  Er  selbst 
weissagt  es  nicht  bloß,  sondern  pflanzt  seinen  Keim  auf  Erden. 
Die  neue  Zeit  bricht  mit  ihm  bereits  an:  die  Blinden  sehen  und 
die  Tauben  hören,  es  rauscht  m  den  morschen  Gebeinen,  die  Toten 
stehn  auf.  Diese  Anschauung  liegt  einigen  Gleichnissen  zu  gründe; 
sie  wird  am  offensten  ausgesprochen  in  dem  Worte:  das  Reich 
Gottes  kommt  nicht  dadurch,  daß  man  darauf  wartet,  es  ist  in- 
wendig in  euch.  Es  stimmt  dazu,  wenn  es  im  Evangelium  Johannis 
heißt,  auch  das  Gericht  sei  schon  hienieden  in  der  Menschenseele 
innerlich  vollzogen.  Mit  Sicherheit  läßt  sich  auch  hier  nicht  aus- 
machen, was  von  Jesu  selber  stammt  und  was  nicht  —  aber  die 
Anregung  hat  er  gegeben  und  das  muß  genügen.  Was  ist  denn 
aber  nun  das  bereits  vorhandene  und  in  der  Zukunft  nur  zu  voll- 
endende Reich  Gottes?  Es  kann  nichts  anders  sein  als  die  Gemein- 
schaft der  nach  Gott  trachtenden  Seelen.  Die  Selbstverleugnung  ist 
das  Mittel  und  die  Gemeinschaft  der  Seelen  in  Gott  ist  der  Erfolg. 

Mit  dem  Reiche  Gottes  hängt  der  Messias  aufs  engste  zusammen. 
Beides  sind  ursprünglich  national-jüdische  Begriffe.  Jesus  hat  sie 
sich  angeeignet,  aber  über  das  jüdische  Niveau  hinausgehoben.  Er 
ist  nicht  gleich  anfangs  als  Messias  aufgetreten. ')  Er  ist  erst  zu- 
letzt, seit  der  Reise  nach  Jerusalem,  vom  Volk  und  von  den 
Jüngern  dafür  gehalten,  und  von  den  Römern  deswegen  iiingerichtet. 
Er  muß  sich  in  Jerusalem   auch  selber   dazu   bekannt  haben.     Er 


^)  Daß   des  Menschen   Sohn  kein   authentischer  Name  ist,   habe  ich 
Skizzen  6,  187  ss.  und  zu  Mo.  8,27  zu  zeigen  gesucht. 

25* 


388  Vierundzwanzigstes  Kapitel. 

kann  aber  nicht  die  Absicht  gehegt  haben,  sich  zum  Könige  der 
Juden  aufzuwerfen  und  die  Fremdherrschaft  zu  stürzen;  es  steht 
vielmehr  umgekehrt  ganz  fest,  daß  er  dem  Tempel  und  der  heiligen 
Stadt  den  baldigen  Untergang  angesagt,  hat.  Das  Reich,  das  er 
im  Auge  hatte,  war  nicht  das,  worauf  die  Juden  warteten.  Er  er- 
füllte ihre  Hoffnung  und  Sehnsucht  über  ihr  Bitten  und  Verstehen, 
Wenn  man  dem  Worte  die  Bedeutung  läßt  in  der  es  allgemein 
verstanden  wurde,  so  ist  Jesus  also  allerdings  nicht  der  Messias 
gewesen  und  hat  es  auch  nicht  sein  wollen.  Er  würde  für  uns  nicht 
verlieren,  wenn  er  sich  auch  nicht  dafür  hätte  halten  lassen,  sondern 
sich  einfach  als  den  Erfüller  des  Alten  Testaments  im  Sinne  von 
Mt.  5  gegeben  hätte.  Aber  unbegreiflich  ist  es  nicht,  wenn  er  den 
Namen  des  jüdischen  Ideals  sich  gefallen  ließ  und  doch  den  Inhalt 
völlig  veränderte:  nicht  bloß  beim  Messias,  sondern  analog  auch 
beim  Reiche  Gottes.  In  dieser  Weise  pflegt  sich  der  religiöse  Fort- 
schritt zu  vollziehen,  trotz  dem  Spruch,  daß  neuer  Wein  nicht  in 
alte  Schläuche  gehöre. 

4.  Jesus  wollte  nicht  auflösen,  sondern  erfüllen,^d.  h.  den  Inten- 
tionen zum  vollen  Ausdruck  verhelfen.  In  Wahrheit  hat  er  damit 
sowol  das  Gesetz  als  au(;h  die  Hoffnung  der  Juden  aufgehoben 
und  die  Theokratie  selber  innerlich  überwunden.  Nach  einigen 
Spuren  ist  er  wol  auch  äußerlich  schroffer  und  rücksichtsloser 
gegen  den  jüdischen  Kultus,  gegen  den  Tempel  und  gegen  das 
Gesetz  selber  aufgetreten,  als  es  nach  den  Evangelien  im  ganzen 
scheint.  Aber  er  war  doch  kein  Woller,  kein  Umstürzer  und 
Gründer.  Er  vergleicht  sich  einem  Menschen,  der  Samen  aufs 
Land  wirft,  und  schläft  und  steht  auf  Nacht  und  Tag,  und  der 
Same  geht  auf  und  wächst,  ohne  daß  er  es  weiß  —  denn  die 
Erde  bringt  von  selbst  erst  die  Halme,  dann  die  Ähren,  zuletzt 
den  vollen  Weizen  in  den  Ähren.  Er  ließ  dem  Sauerteige  Zeit 
zu  wirken.  Er  fand  überall  für  seine  Seele  Raum  und  fühlte  sich 
durch  das  Kleine  nicht  beengt,  so  sehr  er  den  Wert  des  Großen 
hervorhob:  dies  sollte  man  tun  und  jenes  nicht  lassen.  Und  wie 
er  nicht  das  Bedürfnis  hatte  Bilder  zu  zerbrechen,  so  wollte  er 
auch  das  Unkraut  neben  dem  Weizen  stehn  lassen,  indem  er  die 
Ernte  und  die  Worfelung  Gott  überließ.  Er  hat  nicht  daran  ge- 
dacht, die  jüdische  Kirche  zu  zerstören  und  die  christliche  an  die 
Stelle  zu  setzen.  Auch  sein  Ideal  war  zwar  die  Gemeinschaft, 
wie  sie  immer  und  überall  das  menschliche  Ideal  ist;  aber  es  war 


Das  Evangelium.  389 

eine  Gemeinschaft  der  Geister  in  der  göttlichen  Gesinnung.  Jesus 
organisirte  nicht,  sondern  nachdem  er  seine  eigene  Seele  gewonnen 
hatte,  gewann  er  andere;  auf  diese  Weise  ward  er  das  erste  Glied 
einer  neuen  Geisterreihe. 

Er  sammelte  einen  kleinen  Kreis  von  Jüngern  um  sich,  mit 
denen  er  aß  und  trank,  die  während  seiner  kurzen  Wirksamkeit 
seine  ständige  Begleitung  bildeten,  sahen  wie  er  mit  den  Menschen 
verkehrte,  und  hörten  was  er  zu  ihnen  sagte.  Er  schulte  sie  nicht; 
er  wirkte  und  empfand  vor  ihren  Augen  und  regte  sie  dadurch 
an,  ebenso  zu  wirken  und  zu  empfinden.  Er  stellte  seine  Person 
zwar  nicht  bewußt  in  den  Mittelpunkt,  er  redete  nicht  über  die 
Bedeutung  seines  Lebens  und  Leidens.  Aber  tatsächlich  ging  der 
Eindruck  seiner  Person  über  den  Eindruck  seiner  Lehre  hinaus. 
Er  war  mehr  als  ein  Prophet,  in  ihm  war  das  Wort  Fleisch  ge- 
worden. Die  Evangelien  haben  wenig  Interesse,  außer  seinen  Taten 
und  seiner  Lehre  auch  sein  Wesen  in  der  Erinnerung  festzuhalten. 
Er  lebt  sorglos  in  den  einfachen  und  offenen  Verhältnissen,  in  der 
Poesie  des  .Südens,  nicht  in  Not  und  niedriger  Armut.  Seine  Milde 
ist  mit  Ernst  gepaart,  er  kann  auch  zürnen;  die  Gegner  läßt  er 
ironisch  seine  Überlegenheit  fühlen  und  gegen  die  Jünger  zeigt  er 
sich  zuweilen  ungeduldig.  Er  freut  sich  an  den  Kindern,  an  den 
Vögeln,  an  den  Blumen.  Alles  lehrt  ihn,  er  sieht  in  der  Natur 
die  Geheimnisse  des  Himmelreichs,  er  liest  in  seinem  eigenen  Herzen 
und  in  den  Herzen  Anderer.  Studirt  hat  er  nicht;  er  kann  die 
Schrift  ohne  sie  gelernt  zu  haben ,  er  predigt  wie  ein  Berufener 
und  nicht  wie  die  Schriftgelehrten.  Er  braucht  nicht  lange  nach- 
zudenken und  nicht  auf  höhere  Eingebung  zu  lauschen.  Der  Geist 
steht  ihm  zu  Gebote,  die  Empfindungen  und  die  Worte  stellen  sich 
ungesucht  ein,  und  in  jeder  Äußerung  steckt  der  ganze  Mensch. 
Seine  Rede  ist  nicht  die  aufgeregte  der  Propheten,  sondern  die 
ruhige  der  jüdischen  Weisen.  Er  gibt  nur  dem  Ausdruck,  was  jede 
aufrichtige  Seele  fühlen  muß.  Was  er  sagt,  ist  nicht  absonderlich, 
sondern  evident,  nach  seiner  Überzeugung  nichts  anderes  als  was 
bei  Moses  und  den  Propheten  steht  ^).  Aber  die  hinreißende  Ein- 
fachheit   unterscheidet    ihn    von  Moses    und    den    Propheten,    und 


')  Alles  was  zur  Seligkeit  nütz  und  nötig  ist,  haben  Moses  und  die  Pro- 
pheten gesagt,  „Glauben  sie  denen  nicht,  so  werden  sie  auch  nicht  glauben, 
ob  einer  von  den  Toten  auferstünde." 


390  Vierundzwanzigstes  Kapitel. 

himmelweit  von  den  Rabltinen.  Die  historische  Belastung,  unter 
der  die  Juden  erliegen,  hat  ihm  nichts  an;  er  trauert  nicht  in 
ihrem  Gefängnis  und  erstickt  nicht  in  dem  Geruch  ihrer  alten 
Kleider.  Er  findet  tief  unter  dem  Schutt  die  Quelle,  die  sich  aus 
dem  Niederschlag  der  geistigen  Erfahrung  von  Jahrhunderten  ge- 
bildet hat.  Es  stöi3t  das  Zufällige,  Karikirte,  Abgestorbene  ab  und 
sammelt  das  Ewiggiltige,  das  Menschlich-Göttliche,  in  dem  Brenn- 
spiegel seiner  Seele.  „Ecce  homo"  —  ein  göttliches  Wunder  in 
dieser  Zeit  und  in  dieser  Umgebung^). 

Das  sind  gewiß  Züge,  die  ein  richtiges  Bild  geben.  Sie  sind 
jedoch  überwuchert  von  andern,  die  das  Bild  zu  verzerren  geeignet 
sind.  Wenn  Jesus  auch  Zeichen  und  Wunder  verrichtete,  so  er- 
hellt doch  aus  seinen  eigenen  Äußerungen,  daß  er  darauf  kein 
Gewicht  legte.  In  den  drei  ersten  Evangelien  erscheint  er  beinah 
als  Thaumaturg:  das  hat  er  sicherlich  nicht  sein  wollen.  Die  Er- 
innerungen an  ihn  sind  einseitig  und  dürftig,  nur  die  letzten  Tage 
seines  Lebens  sind  unvergeßlich  geblieben.  Aber  der  Geist  lebt 
nicht  im  Gedächtnis  fort,  sondern  in  seinen  Wirkungen;  der  Funke 
brennt  in  dem  Feuer,  das  er  entzündet.  Jesus  wirkte  so  tief  und 
so  nachhaltig  auf  die  Jünger,  daß  sein  Wesen  sich  mit  ihnen  ver- 
wob  und  ihr  neues,  besseres  Ich  wurde.  Sie  schrieben  ihm  alles 
zu,  was  er  in  ihnen  veranlaßte,  in  der  Überzeugung,  daß  nichts 
Gutes  in  ihnen  sei,  was  nicht  von  ihm  stamme.  Sie  brauchten 
sich  gar  nicht  ängstlich  nach  seinem  Beispiel  zu  richten;  er  lebte 
ja  in  ihnen  und  sein  Geist  führte  sie  in  alle  Wahrheit.  Das  Leben, 
das  sie  von  ihm  empfangen  hatten,  pflanzten  sie  auf  andere  fort, 
und  so  ward  der  Geist  Jesu  die  Einheit  vieler  Geister.  Es  ist  das 
größte  Beispiel  von  der  zeugenden  Kraft  der  Seele.  Vorschreiben, 
Mahnen,  Schelten  tut  es  nicht  auf  diesem  Gebiete;  Vorleben  ist 
die  Sache.  Was  das  Gesetz  nicht  bewirkt,  bewirkt  der  individuelle 
Typus.     Das  Wesen  Gottes  läßt  sich  nicht  in  Begriffe  fassen,  die 


')  .Jüdische  Gelehrte  wünschen  den  Unterschied,  richtiger  ausgedrückt  den 
zornigen  Gegensatz,  in  dem  Jesus  zu  den  Pharisäern  stand,  aus  der  "Welt  zu 
schaffen;  sie  meinen,  alles  was  er  gesagt  habe,  stehe  auch  im  Talmud.  Ja, 
alles  und  noch  viel  mehr.  IIXeov  7][jhou  iiavTo's.  Jesu  Originalität  besteht 
darin,  daß  er  aus  chaotischem  Wüste  das  Wahre  und  Ewige  heraus  empfunden 
und  mit  größtem  Nachdruck  hervorgehoben  hat.  Wie  nahe  und  wie  fern  das 
Judentum  ihm  stand,  zeigt  einerseits  Marc.  12,  28 — 34,  andrerseits  das  Buch 
Esther. 


Das  Evangelium.  391 

Männer  Gottes  sind  seine  Offenbarung,  dadurch  was  sie  sagen  und 
tun,  dadurch  wie  sie  genießen  und  leiden. 

5.  Auf  den  Tod  Jesu  waren  die  Jünger  in  keiner  Weise  vor- 
bereitet, sie  zerstreuten  sich  voller  Angst  und  flohen  von  Jerusalem 
nach  Galiläa.  Es  schien  mit  ihm  imd  seinem  Werke  aus  zu  sein. 
Aber  die  Liebenden  bestanden  die  schmerzliche  Prüfung.  In  kürzester 
Frist  überzeugten  sie  sich,  daß  der  Meister  lebe;  so  außerordentlich 
war  der  Eindruck,  den  er  auf  sie  gemacht  hatte,  so  innig  die 
Gemeinschaft,  in  der  sie  mit  ihm  standen.  Er  erschien  dem  Petrus 
und  den  Zwölfen,  dann  fünfhundert  Brüdern  auf  einmal,  dann  dem 
Jacobus  und  allen  Aposteln,  zuletzt  nach  allen  dem  Paulus.  Er  ließ 
die  Seinen  nicht  los,  er  war  bei  ihnen  alle  Tage,  sein  Geist  wirkte 
in  ihnen  fort.  Sein  Tod,  anfänglich  ein  Anstoß,  worüber  sie 
strauchelten,  gestaltete  sich  zum  Beweise,  daß  kein  Tod  ihn  tüten 
konnte.  Mit  einem  solchen  Ende  war  ein  solches  Leben  unmög- 
lich aus.  Die  Niederlage  wurde  in  den  Sieg  verschlungen;  in  Ver- 
bindung mit  der  Auferstehung  bekam  das  Kreuz  Sinn.  Der  Glaube 
behielt  Recht  gegen  alle  Zweifel,  die  Gemeinschaft  mit  Gott  war  un- 
auflöslich und  verbürgte,  ein  unvergängliches  Leben. 

Die  neue  freudige  Erfahrung  hatte  weitreichende  Folgen.  Sie 
stellte  das  Wesen  Jesu  in  ein  anderes  Licht  und  ergänzte  seine 
Lehre  in  den  wichtigsten  Punkten,  sie  begründete  eigentlich  erst 
das  Evangelium.  Die  Hoffnung  bekam  eine  Intensität,  wodurch 
sie  mehr  wurde  als  bloße  Hoffnung.  Die  allgemeine  Auferstehung 
am  jüngsten  Tage  wurde  zwar  so  wie  so  in  Bälde  erwartet;  aber 
mit  der  Auferstehung  Jesu  aus  dem  Grabe,  mit  seinem  Ausbruch 
aus  der  Hölle,  hatte  sie  im  Prinzip  bereits  begonnen.  Die  Seinen 
faßten  durch  ihn  schon  Fuß  im  himmlischen  Leben  und  strebten, 
es  moralisch  schon  auf  Erden  zu  leben;  der  zukünftige  Aon  ragte 
mit  ihm  als  seiner  Spitze  schon  in  die  Gegenwart  hinein.  Er  er- 
schien durch  seine  Auferstehung  als  der  Anfänger  und  Erstling, 
als  der  Adam  der  neuen  Welt.  Durch  seine  Auferstehung  erwies 
er  sich  andrerseits  auch  erst  wahrhaft  als  den  Sohn  Gottes,  d.  i. 
den  Christus  oder  den  Messias,  als  den  er  sich  bei  Lebzeiten  nur  in 
Schwachheit  gezeigt  hatte.  Einstweilen  noch  im  Himmel  aufgehoben, 
sollte  er  von  dannen  wiederkommen  auf  die  Erde,  um  das  Reich 
Gottes  in  Kraft  und  Herrlichkeit  zu  verwirklichen.  Seine  Person 
wurde  nach  Dan.  7  mit  der  Eschatologie  in  Verbindung  gebracht, 
so  daß  seine  eigentliche  Wirksamkeit  auf  Erden  nicht  in  der  Ver- 


392  Vierundzwanzigstes  Kapitel. 

gangenheit,  sondern  in  der  Zukunft  lag.  Jesus  war  tot;  Christus, 
der  Auferstandene,  lebte. 

Den  von  Jesus  berufenen  Aposteln  trat  Paulus  zur  Seite,  der 
Apostel  des  himmlischen  Herrn,  der  der  Geist  ist  und  als  solcher 
in  den  Seinen  wirkt.  Er  verkündet  nur  den  Verklärten,  den  Ge- 
kreuzigten und  Auferstandenen.  Erst  durch  den  Tod  hatte  ihm 
Christus  das  rechte  Leben  gewonnen.  Der  jüdische  Messias  war 
in  der  Tat  durch  die  Kreuzigung  vollkommen  vernichtet,  und  ein 
anderer  Messias  an  die  Stelle  getreten.  Paulus  kannte  Jesum  nicht, 
aber  er  merkte,  daß  in  seiner  Gemeinde  ein  Geist  herrschte,  der 
das  Judentum  sprengen  mußte.  Als  eifriger  Jude  verfolgte  er  darum 
zuerst  die  Gemeinde;  aber  auf  die  Dauer  vermochte  er  nicht  gegen 
den  Stachel  zu  löken.  Seine  Bekehrung  fiel  mit  seiner  Berufung 
zum  Apostel  der  Heiden  zusammen.  Er  zerschnitt  das  Band  zwischen 
Evangelium  und  Gesetz  und  verfocht  sein  Leben  lang  das  Recht 
dieses  Schnittes.  Er  stellte  das  Christentum  auf  den  Boden,  auf 
dem  es  seine  weltgeschichtliche  Bedeutung  gewonnen  hat. 

Von  der  schriftgelehrten  Kunst  der  Rabbinen  hat  sich  Paulus 
nicht  losmachen  können.  Er  wendet  sie  in  der  Beweisführung 
an,  namentlich  bei  der  Rechtfertigungslehre.  Aber  das  innere 
Wesen  seiner  religiösen  Überzeugung  ist  davon  doch  unberührt 
geblieben.  Trotz  allen  Resten,  die  ihm  anhaften,  ist  der  Mann, 
der  die  Korinther -Briefe  geschrieben  hat,  in  Wahrheit  derjenige 
gewesen,  der  den  Meister  verstanden  und  sein  Werk  fortgesetzt 
hat.  Durch  ihn  besonders  hat  sich  die  Weissagung  des  Reichs  in 
das  Evangelium  von  Jesu  Christo  verwandelt,  der  die  Weissagung 
innerlich  schon  erfüllt  hat.  Entsprechend  ist  ihm  auch  die  Erlösung 
aus  etwas  Zukünftigem  etwas  bereits  Geschehenes  und  Gegenwärtiges 
geworden.  Er  betont  unwillkürlich  den  Glauben  und  die  Liebe 
stärker  als  die  Hoffnung'),  er  empfindet  die  zukünftige  Seligkeit 
voraus  in  der  Freude  der  gegenwärtigen  Kindschaft,  er  überwindet 
den  Tod  und  führt  das  neue  Leben  schon  hienieden.  Er  preist  die 
Kraft,  die  in  den  Schwachen  mächtig  ist;  die  Gnade  Gottes  genügt 
ihm  und  er  weiß,  daß  keine  gegenwärtige  noch  zukünftige  Gewalt 
ihn  seinen  Armen  entreißen  kann,  daß  denen  die  Gott  lieben  alle 
Dinge  zum  besten  dienen.    Die  Ascese,  die  Abtötung  des  Fleisches, 


^)  Paulus  ist  der  eigentliche    Apostel  nicht   nur  des  Glaubens,    sondern 
auch  der  Liebe;  Johannes  ist  ihm  nur  gefolgt. 


Das  Evangelium.  393 

Überhaupt  der  Gegensatz  von  Fleisch  und  Geist,  tritt  allerdings  bei 
ihm  stärker  hervor  als  bei  Jesus.  Das  hängt  indessen  zusammen 
mit  seiner  strengen  Aufrichtigkeit  gegen  sich  selber.  Er  bleibt  stets 
eingedenk,  daß  das  göttliche  Leben  auf  Erden  ein  schwerer  Kampf 
ist  und  der  Sieg  nur  im  Glauben  vorweg  genommen  wird.  Er 
bildet  sich  nicht  ein  schon  am  Ziel  zu  sein;  er  streckt  sich  nur 
darnach  und  wird  nicht  müde  in  den  Schranken  zu  laufen. 

Christus  verkörperte  sich  in  der  Gemeinde,  die  sich  seinen 
Leib  nannte.  Sein  Geist  wurde  der  heilige  Geist,  der  heilige  Geist 
wurde  zum  Geist  der  Kirche  und  schwebte  über  den  Konzilien, 
mitunter  in  Gestalt  einer  Eule  oder  einer  Fledermaus.  Die  Kirche, 
durch  die  alle  Einzelgemeinden,  wenigstens  in  der  Idee,  von  An- 
fang an  zusammengehalten  wurden,  ist  die  Fortsetzung  der  jüdi- 
schen Theokratie,  von  der  sie  den  Namen  entlehnte  und  als  deren 
Nachfolgerin  sie  sich  betrachtete,  eine  weltumfassende  religiöse  Ge- 
meinschaft, die  im  Gegensatz  _zu  dem  politischen  Weltreich  steht. 
Der  Gegensatz  ist  ursprünglich  stark  ausgeprägt.  Begrifflich  aber 
ist  er  nicht  scharf;  denn  jede  Organisation  hat  Macht  und  die 
mächtigste  hat  die  Macht,  d.  h.  die  politische  Herrschaft,  auch  wenn 
sie,  wie  z.  B.  der  Islam,  von  der  Religion  ausgegangen  ist.  Nach 
einigen  Jahrhunderten  eroberte  die  Kirche  die  Welt,  durchdrang 
sie  und  wurde  von  ihr  durchdrungen.  Aus  einer  geistigen  Gemein- 
schaft wurde  sie  einie  natürliche,  man  gelangte  nicht  durch  die 
Wiedergeburt  hinein,  sondern  durch  die  Geburt,  welcher  darum  die 
Taufe  auf  dem  Flecke  folgte.  Die  christliche  Religion  kam  nun 
also  im  großen  und  ganzen  wieder  auf  dem  alten  ethnischen 
Standpunkte  an,  auf  dem  die  israelitische  gestanden  und  den  auch 
die  jüdische  nicht  überwunden  hatte.  Sie  verschmolz  mit  der 
Kultur,  mit  der  Gesellschaft,  mit  den  Völkern. 

Der  Jahvismus  und  der  Islam  lehren,  welchen  gewaltigen  Ein- 
fluß die  Religion  auf  die  Kultur  ausüben  kann;  das  selbe  lehrt  die 
katholische  Kirche  des  Mittelalters,  die  den  Rest  vom  Erbe  des 
Altertums  auf  die  germanischen  Völker  übertrug.  Man  ist  gegen- 
wärtig geneigt,  nach  diesem  Einfluß,  sei  er  heilsam,  sei  er  schäd- 
lich, die  Religion  zu  beurteilen.  Der  Blick  ist  auf  die  Gattung 
gerichtet  und  auf  die  Wirksamkeit  unpersönlicher,  epidemischer 
Mächte.  Die  Geschichte  ist  Geschichte  des  Staats  und  der  Gesell- 
schaft, der  Verfassung  und  des  Rechtes,  der  Wirtschaft,  der  herr- 
schenden Ideen,  der  Moralität,  der  Kunst  und  Wissenschaft.     Ganz 

We  1 1  h  a  u  s  e  u ,  Isr.  G  eschichtc.    5.  Aufl.  2  G 


394  Vierundzwanzigstes  Kapitel.     Das  Evangelium. 

erklärlich;  denn  nur  dies  Gebiet  unterliegt  der  Entwicklung,  nur 
da  läßt  sich  ein  Fortschritt  und  eine  gewisse  Gesetzmäßigkeit  er- 
kennen, nur  da  kann  man  einigermaßen  berechnen  und  sogar  die 
Statistik  anwenden.  Es  ist  ja  auch  nicht  zu  verkennen,  daß  nur 
auf  dem  Boden  der  Kultur  das  Individuum  gedeiht.  In  Schmutz 
und  Not  und  Barbarei  versunken  kann  der  Mensch  nicht  an  seine 
Seele  denken,  und  ehe  die  Gerechtigkeit  vor  Gott  an  die  Reihe 
kommt,  muß  die  iustitia  civilis  fest  stehn.  Das  Höhere  wird  zum 
Stein,  wenn  man  es  statt  des  Brotes  bietet.  Aber  der  Mensch 
lebt  nicht  vom  Brot  allein,  die  Mittel  sind  nicht  der  Zweck.  Alle 
Kultur  ist  unausstehlich,  wenn  sie  das  Individuum  und  sein  Ge- 
heimnis nicht  anerkennt.  Der  Fortschritt  der  Gattung  ist,  über 
eine  gewisse  Grenze  hinaus,  kein  Fortschritt  des  Individuums, 
glücklicherweise  nicht.  Ich  bin  nicht  bloß  ein  Teil  der  Masse, 
ein  Erzeugnis  meiner  Zeit  und  meiner  Umgebung,  wie  die  Wissen- 
schaft in  einem  Tone  verkündet,  als  ob  Grund  wäre  darüber  zu 
triumphiren.  In  meinem  Kern  berühre  ich  mich  mit  der  Ewigkeit. 
Freilich  muß  ich  diesen  Kern  mir  selber  gewinnen  und  aus- 
gestalten. Vor  allem  muß  ich  daran  glauben;  glauben  daß  ich 
nicht  aufgehe  in  der  Mühle  in  der  ich  umgetrieben  und  zermalmt 
werde;  glauben  daß  Gott  hinter  und  über  dem  Mechanismus  der 
AVeit  steht,  daß  er  auf  meine  Seele  wirken,  sie  zu  sich  hinauf- 
ziehen und  ihr  zu  ihrem  eigenen  Selbst  verhelfen  kann,  daß  er 
das  Band  einer  unsichtbaren  und  ewigen  Gemeinschaft  der  Geister 
ist.  Man  does  not  live  by  demonstration,  but  by  faith.  Der 
Glaube  an  die  Freiheit  und  der  Glaube  an  Gott  ist  das  selbe,  eins 
nicht  ohne  das  andere.  Beide  sind  nur  dem  Glauben  vorhanden, 
aber  der  Glaube  braucht  nicht  erquält  zu  werden,  sondern  ist  Ge- 
wißheit. 

Die  Stufen  der  Religion,  wie  die  Stufen  der  Geschichte  über- 
haupt, bleiben  neben  einander  bestehn.  Die  öffentliche  Religion 
braucht  nicht  aufzuhören.  Aber  Jesus  hat  die  Kirche  nicht  ge- 
stiftet, der  jüdischen  Theokratie  hat  er  das  Urteil  gesprochen.  Das 
Evangelium  ist  nur  das  Salz  der  Erde;  wo  es  mehr  sein  Avill,  ist 
es  weniger.  Es  predigt  den  edelsten  Individualismus,  die  Freiheit 
der  Kinder  Gottes. 


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