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Jahrbuch für Philosophie und
spekulative Theologie
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Jalirtuch
für
PMlosopMe und speeulative Theologie.
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LOGIE
IRTEN
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STER.
AND SCHÖNINCH.
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Jahrbuch
FÜR
PHILOSOPHIE
UND
SPEKULATIVE THEOLOGIE
Herausgegeben
UNTKH
MITWIRKUNG VON FACHGELEHRTEN
VON
Prof. Dr. ERNST COMMEB.
1. JAHRGANG.
PADERBORN und MÜNSTER.
Druck und Verlag von Ferdinand Schöninch.
1887.
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Inhalt des ersten Jahrganges.
Seite
1. Dr. H. Schell, Professor in Würzburg: Die my-
Btisohe Philosophie des Buddhismus und die bezüg-
lichen Publikationen auB esoterischen Kreisen .... 1—39
2. Dr. H. Glossner, Kanonikus in Regensburg: Die
Iiehre des heil. Thomas und seiner Schule vom
Frinsdp der Individuation. Ein Beitrag zum philo-
sophischen Verständnisse der Materie 40—112. 176—195. 307—840.
466—524
3. Dr. A. Otten, Präses in Paderborn : Die Leiden-
schaften 113-136. 196—223. 391—402
4. Dr. C. M. Schneider: Die Praemotio physica nach
Thomas 137—176
5. Dr. J. Brockhoff: Die Lehre des hl. Thomas von
der Erkennbarkeit Qottes 224-251
6. Dr. E. Commer, Professor in Münster: Der Er-
kenntniserrund 262—267
7. Dr. M. Schneid, Lyceums-Rektor u. Seminar-Regens
in Eichstätt: Die Litteratur über die thomistische
Philosophie seit der Encyklika Aeterni Patris . 269—308
8. Dr. C. M. Schneider: Die Grundlage für den Unter-
schied des Natürlichen und Übernatürlichen nach
Thomas 341—365
9. Dr. E. Kader&vek, Docent der Philosophie in Olmütz :
Von dem Seienden 366—390
10. Dr. H. Schell, Professor in Würzburg: Die Tao-
Lehre des Lao-tse 403—466
11. Dr. N. Kanfmann, Kanonikus u. Professor in Luzern:
Der Akt ist früher als die Potenz. Ein wichtiges
Prinzip der aristotelisch-thomistischen Philosophie. Ab-
handlung über die Bedeutung desselben 627—564
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DIE MYSTISCHE PHILOSOPHIE
DES BUDDHISMUS
UND DIE BEZÜGLICHEN PUBLIKATIONEN AUS
ESOTERISCHEN KREISEN.
Von Dr. HERMAN SCHELL.
JJas wichtige Mittel der methodischen Vergleichung zur
Unterscheidung des Gemeinsamen und Eigentümlichen, des Ur-
sprünglichen und Spätem, des Fortschritts und der Entartung,
des geistigen Gedankens und seiner sinnlichen Umhüllung wird
in neuester Zeit mit unvergleichlichem Eifer auf dem Gebiet der
vergleichenden Religionsforschung zur Anwendung gebracht. Es
bedarf allerdings unermüdlicher philologischer Thätigkeit, um die
autoritativen Quellen der grofsen Religionen nach ihrem relativen
und absoluten Wert zu bestimmen und dem Studium zugänglich
zu machen: eine kanonische Litteratur, die alle Schwierigkeiten
vereinigt, welche Fremdartigkeit des Gedankens und seines Aus-
drucks, ^Naivität und Reflexion, Inhalt und Umfang erzeugen;
welche hinwiederum der treueste, ich möchte sagen, der himm-
lische Wicderhall jenes Denkens und Strebens ist, in welchem
sich die Geisteskraft der Kulturvölker in ihrer ganzen Eigenart
und Fülle ausgestaltet hat. Man nehme hinzu das Studium der
Veränderungen, welche der religiöse Volksgeist wie die wissen-
schaftliche Theologie in den positiven Überlieferungen hervor-
gerufen haben, und es begreift sich leicht, dafs Teilung der
Arbeit, wenn irgendwo, auf dem Gebiete der vergleichenden
Jahrbuch fUr Philosophie etc. i
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Die mystische Philosophie des Buddhismus.
Religionsforschung vonnöten ist Die Arbeitsteilung mufs sich
naturgemäfs auf die Scheidung des empirischen und spekulativen,
oder des philologischen und philosophischen Anteils beziehen;
denn es dürfte kaum einem Forscher möglich sein, eine solche
linguistische Gelehrsamkeit mit philosophisch-theologischer Schu-
lung zu vereinigen, dafs er sowohl als vergleichender Philologe
wie als vergleichender Theologe den notwendigen Ansprüchen
der Religionen gerecht zu werden vermöchte.
Auch wenn die Yergleichung der Religionen blofs in archäo-
logischer Tendenz arbeitete, nicht vor allem, um ihren reichen
Beitrag zur Aufhellung der religiösen Wahrheit zu liefern, be-
darf der Religionsforscher einer exakten und objektiven Kenntnis
der fremden, nicht minder aber der eigenen Religion, der christ-
lichen Offenbarung, und in ihrem Umfang insbesondere des Ka-
tholizismus. Man hielt engherzige Befangenheit so gern für eine
Mitgift der orthodoxen Theologie, dafs man unvermerkt die un-
gerechtesten Vorurteile gegen Christentum und Kirche als selbst-
verständliche Wahrheiten in die vergleichende Religionsbetrach-
tung einführte, ohne ein ernstes Studium des Katholizismus
insbesondere für notwendig zu erachten. Dem Mangel theolo-
gischer Studien mag es zuzuschreiben sein, wenn sich sogar
bahnbrechende Forscher von oberflächlichen Vorurteilen gegen
das Christentum ihrer eigenen Konfession, noch mehr aber gegen
die katholische Kirche, in ihrem Urteil beherrschen und irreleiten
liefsen.
Es wäre ein grofses Hindernis für den Erfolg der besten
neuern Autoren auf dem Felde der vergleichenden Religions-
forschung, wenn insbesondere katholische Theologen denselben in
ihrer Berichterstattung über die religiösen Ideen und Riten Indiens
nur so viel Vertrauen schenken könnten, als sie durch ihr Ver-
ständnis der katholischen Kirchen- und Volksreligion verdienen.
Der Wille, objektiv zu urteilen, befreit den Geist des Forschers
nicht ohne weiteres von Vorurteilen, zumal auf dem religiösen
Gebiete, auf welchem die persönliche Lebensentwicklung und das
höchste Interesse mit den abstrakten Problemen verschlungen
sind. Derartige Erwägungen wurden auch wachgerufen bei der
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Die mystische Philosophie des Buddhismus. 3
Lektüre des Werkes von Sinnett: Die esoterische Lehre oder
Geheimbuddhismus, (Übersetzung aus dem Englischen. Leipzig
1884.) — welches Anlafs und Gegenstand zu dieser vorzüglich
in spekulativem Interesse unternommenen Studie geboten hat.
Es soll hingegen auch nicht verschwiegen werden, dafs vor-
liegendes System der mystischen Philosophie des Buddhismus
durch die strenge Konsequenz, mit welcher es den monistischen
Entwicklungsgedanken insbesondere auf dem geistigen Lebens-
gebiet durchfuhrt, und durch den ruhigen Ernst, mit welchem
es an die ewigen Probleme der Wissenschaft und Religion her-
antritt, hohe Bewunderung unä sorgfältige Würdigung verdient.
Die YeröfifeDtlichung der buddhistischen Geheimwissenschaft
ging von der theosophischen Gesellschaft aus, welche 1875 von
jGeheimlehrern* gegründet wurde, um in Fühlung mit der euro-
päischen Welt zu treten. Ihr Organ: ,The Theosophist' erschien
zuerst monatlich in Bombay, dann in Madras, dessen wichtigste
Publikationen aus der Feder Sinnetts stammten und von ihm in
der oben erwähnten Schrift systematisch verbunden wurden.
Es entstanden Zweiggesellschaften in England, Frankreich, Rufs-
land, auch in Deutschland; als Organ dieser Richtung ist die
,Sphinx' zu betrachten, welche seit Beginn dieses Jahres in Leipzig
(Th. Griebens Verlag) erscheint, eine „Monatsschrift für die ge-
schichtliche und experimentale Begründung der übersinnlichen
Weltanschauung auf monistischer Grundlage", herausgegeben von
Hübbe-Schleiden. Als wissenschaftlicher Vertreter dieser religiös-
philosophischen Fortentwicklung des buddhistischen Monismus
dürfte Carl du Prel zu betrachten sein, von dessen Werken wir
die Philosophie der Mystik, Leipzig 1885, erwähnen.
Das System von Ideen, welches unter dem Namen des esote-
rischen Buddhismus von Sinnett in das Abendland eingeführt wor-
den ist, mufste notwendigerweise mehrfaches Befremden erregen.
Man hielt dafür, es sei der Anspruch auf die geheime Fort-
pflanzung einer uralten Weisheitslehre als eine unbegreifliche
Anmafsung a limine zurückzuweisen, zumal dem Buddhismus aus
innem und geschichtlichen Gründen eine Geheim Wissenschaft
fremd sei. Der Anteil, welchen das theosophische System Sinnetts
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Die mystische Philosophie des Baddhismus.
der Descendenztheorie eingeräumt habe, laese keinen Zweifel
über den modernen Ursprung desselben, da man doch nicht im
Ernst den Glauben verlangen könne, die buddhistischen Weisen
seien schon Jahrtausende im stillen Besitz der Errungenschaft
Spencers und Darwins gewesen, ohne sich etwas davon merken
zu lassen. Nehme man den Spiritismus hinzu, so habe man die
neuen Elemente, welche in Verbindung mit der Sankhyaphilo-
Sophie den esoterischen Buddhismus ergeben. Vgl. aufser andern
publizistischen Stimmen Allg. Zeit. 26. 1886.
Zunächst stellen wir nun die Frage, ob die Annahme einer
Geheimlehre im Buddhismus durch innere Gründe erlaubt und
durch äufsere Anzeichen empfohlen werde? — Vielleicht ist es
gut, sofort beizufügen, dafs auch bei Annahme einer Geheim-
überlieferung eine sachliche Weiterentwicklung nicht auszu-
schliefsen ist, auch nicht bei voller Würdigung der Eigenart des
orientalischen Denkens. Dieses ist vorzugsweise gläubige Ver-
senkung in überlieferte Ideen, um von ihrem Inhalt möglichst
stark ergriffen und so überzeugt zu werden; kritische Prüfung
der Wahrheit und alles, was zur Bereicherung des Urteils dient,
liegt ihm ferner; betrachtende Vertiefung in den Vorstellungs-
inhalt ist ihm die Hauptsache. Trotz dieser Vorliebe für my-
stische Kontemplation und traditionelle Weisheit kann auch der
orientalische Geist das Bedürfnis sachlicher Kritik nnd objektiver
Vergleichung nicht ganz vernachlässigen; daher müfste von vorn-
herein angenommen werden, dafs in dem etwaigen Geheimbund
nicht eine uranfängliche Weisheit unverändert fortvererbt, son-
dern dafs gewisse Prinzipien, Methoden und Ziele des religiösen
Philosophierens festgehalten und zu verschiedenen Zeiten mit
besserem oder geringerem Erfolg angewandt worden seien. Man
müfste ja den menschlichen Geist fär einen leblosen Mechanis-
mus halten, wenn man ihm ein rein passives Empfangen und
Weitergeben tiefgreifender Weltanschauungen auf Jahrtausende
zumuten wollte; selbst in einem so streng disziplinierten Orden,
wie Sinnett ihn schildert, wäre dies ein psychologisches Rätsel.
Die katholische Kirche, welche als Bewahrerin der Offenbarung
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Die mystische Philosophie des Buddhismus.
einen ähnlichen Anspruch erhebt, thut dies nur unter ausdrück-
licher Berufung auf den Beistand des göttlichen Geistes.
Die Frage nach der Möglichkeit und dem Vorhandensein
einer Geheimlehre hängt mit der Pflege theologischer Metaphysik
oder der Religionsphilosophie im Gegensatz zur Religion zu-
sammen. Je mehr im Kreise der Priester, Aszeten oder Theo-
logen die überlieferte Religion mit ihren Lehrsätzen und Riten
wissenschaftlich erforscht wird, ob in der positivem Tendenz
allegorischer Vergeistigung oder skeptischer Kritik, desto mehr
Anlafs ist zur Verengerung und Abschliefsung des Kreises ge-
geben, insbesondere, wenn auf der Wertschätzung der Religion
seitens des Volkes grofse Privilegien des priesterlichen Standes
beruhen. Die Schwierigkeit abstrakter Spekulation, die Gefähr-
lichkeit negativer und aufgeklärter Resultate für die Massen,
der Nimbus geheimen Wissens: alle diese Momente würden im
freieren Abendlande eine gewisse Zurückhaltung bewirken; im
schematisch angelegten Orient müssen sie zu einer organisierten
Geheimschule führen, — wie im brahmanischen Indien, in Chal-
däa, in Ägypten, den vielen Mysterien und Geheimsekten
Vorderasiens.
Die Frage nach der Zulässigkeit einer esoterischen Schule
im Buddhismus würde sich demnach dahin zuspitzen, ob der
Buddhismus von Anfang an eine spekulative Dogmatik oder Meta-
physik ererbt oder erzeugt habe, oder ob er als eine nüchtern-
praktische Religion ohne Mysterium zu erkennen sei?
Man ist allerdings gewohnt, den Buddhismus als eine fast
ausschliefslich praktische Erlösungsreligion zu betrachten, in
welcher das Ziel mit absoluter Alleinherrschaft den wenigen
Mitteln ihr ganz bestimmtes Mafs von Wert verleiht Insbe-
sondere scheint das buddhistische Endziel dem Wissen keinen
jenseitigen, absoluten und ewigen Wert zu gewähren; denn so-
gar das höchste Wissen wird nur deshalb erstrebt, weil es zum
Nirwana, zum Verwehen alles Wesens und Wissens verhilft.
Geheimwissenschaft setzt hingegen den Glauben an eine ewige
und unergründliche Wahrheit voraus, deren Anschauung irgend-
wie den Mysten beseligt.
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6 Die myaÜBche Philosophie des Buddhismus.
Das einfachste Symbolam des Buddhismus sind die vier
grofsen Wahrheiten von der Tbatsache, dem Entstehen, der
Aufhebung und dem Wege zur Aufhebung des Leidens. Die beiden
ersten Lehrsätze enthalten zweifellos das Ergebnis der Speku-
lation Siddartha's und den Inbegriff der buddhistischen Dogmatik,
zu welcher noch der dritte als die Verkündigung des zu er-
strebenden Lebensziels, des Moralprinzips, hinzukommt Allein
man legt bei der Würdigung dieser Religion das Schwergewicht
auf den vierten Artikel, den Inbegriff der Moral, zumal gerade
in der Tugend- und Pflichtenlehre, den drei Kategorien der
Bechtschaffenheit, Aszese und Mystik, die Kraft und die Erfolge
des Buddhismus liegen sollen. Die erste Stufe der Sittlichkeit
ist gemeinverbindlich und wird durch den Pentalog (das Verbot
des Tötens und Stehlens, der Unwahrheit, ünkeuschheit und
Unmäfsigkeit) geregelt; der zweiten entspricht das Mönchswesen;
der dritten der Stand des vollendeten Weisen. Ist nun nicht
die Fortdauer der beiden letztem Kategorien buddhistischer
Moral bedingt durch die Pflege der Kontemplation und Speku-
lation? Führt nicht der praktische Teil ebenso wieder in die
spekulative Metaphysik zurück, wie er aus ihr hervorgeht?
Schöpft nicht das Leben des Mönches wie des Vollendeten seinen
geistigen Inhalt aus der beständigen Betrachtung und Erfor-
schung der drei ersten Artikel?
Allerdings gibt das Ziel dem System seinen prinzipiellen
Charakter, und dieses Ziel ist das Nirwana. Was aber ist unter
dem Nirwana zu verstehen? Was verstand Buddha unter dem-
selben? War es ihm ein absolutes Verwehen des Daseins oder
nur des vergänglichen Daseins? ein vollständiges Erlöschen alles
Wissens oder nur des beschränkten und individualisierten Be-
wufstseins? Ist seine Auffassung des Nirwana innerlich verschie-
den von dem Eingehen in das Parabrahma oder den ewigen
Atman der Vedäntalehre, verbunden mit Abstreifung aller Be-
stimmungen oder üpadhrs? Letztere waren es nach der Vedanta-
theologie, was dem Wechsel und dem Leiden unterworfen ist;
die buddhistische Terminologie bezeichnet sie als die Sankhära's
oder das Dhamma. Erkannte nun Buddha im Menschen nur einen
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Die mystische Philosophie des Buddhismus.
Uaafea Sankhära's, oder noch ein Absolutes, wie der Yedanta,
welcher dasselbe in dem innersten Ätman findet? Dafs die Person
(satta) anfser dem Konglomerat von Sankhara's nichts sei, werden
wir YOB Buddha belehrt; allein hat er damit alles wahre Sein
negiert? Es scheint dies um so weniger, da gerade die Persön-
lichkeit eine Beschränkung, Besonderüng und Bestimmung des
absoluten Seins besagt, mit ihrer Auflösung in ein System von
Sankhära's demnach keineswegs das Sein selber aufgehoben, viel-
mehr Yon seiner widernatürlichsten Beschränkung befreit wird.
Wir halten dafür, dafs eine Zurückhaltung Buddhas hin-
sichtlich des tiefsten Geheimnisses von Gott und Welt, Seele
und Vollendung angenommen werden müsse; eine Zurückhaltung,
welche nicht aus Indifferenz gegen das spekulative Problem,
sondern aus bewufster Erwägung hervorging und daher geeignet
war, einer Geheimschule im Sinne des ,Theosophi8t^ Baum und
Anlafs zu gewähren.
Das Problem des Endzustandes erschien nicht erst dem
Buddhismus als ein Mysterium; schon die Brahmanen erklärten,
seine Lösung sei das höchste Wissensziel, allein auch die
schwierigste Aufgabe-, sogar den Göttern sei es nicht gestattet,
den Schleier dieses Geheimnisses zu heben.
Den Beleg hierfür bietet zunächst die tiefsiAuige Erzählung
von dem Brahmanenknaben Naciketas in Käthaka-Upanishad. Die
Heilsbegierde führt den jungen Kaciketas zum Todesgott hinab,
von welchem er als einen der drei zugestandenen Wünsche be-
gehrt, er solle ihm die unter den Priesterschulen strittige Frage
beantworten, ob die Toten sind oder nicht sind. Yama, der Tod,
bittet ihn, die Frage zurückzunehmen und einen andern Wunsch
zu stellen, weil dies auch für die Götter ein zu schwieriges
Geheimnis sei; er bietet ihm alle Schätze und Freuden der Welt-
herrschaft auf lange Lebenszeit; indes Kaciketas bleibt bei seinem
Begehren: ,Der Wunsch, der in verborgene Tiefen eindringt,
der ist's aliein, den Naciketas wählet'.
Yama erhört ihn endlich und antwortet: ,Die den Pfad des
Nichtwissens wandeln, irren ziellos durch das Jenseits, wie Blinde
von Blinden geführt; der Weise dagegen, welcher das Eine,
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^ Die mystische Philosophie des Buddhismus.
das Ewige, den alten Gott, der in der Tiefe weilt, erkennt und
sich über Leid und Freud erhebt, wird erlöst von Recht und
Unrecht, frei von Gegenwart und Zukunft.* Vgl. bei Oldenberg,
Buddha, das Nähere dieser Erzählung, welche durch die gehor-
same Hingabe des Naciketas zur Opferung seitens seines Vaters,
sowie die Bedeutung dieses Opfers für die Erlösung vom Tode
an das Opfer Isaaks anklingt, natürlich in durchaus brahmani-
scher Fassung.
Der ältere Glaube, dafs das rechte Wissen vom rechten
Opfer von der Herrschaft des Todes befreie, ist in einer fort-
schreitenden Umsetzung zu verfolgen, bis dieses Wissen von
Buddha als ein rein spekulatives mit ausdrücklicher Verachtung
ritueller Geheimnisse erklärt wird. Uns ist hier nur die That-
sache wichtig, dafs es überhaupt als ein privilegiertes Geheimnis,
sei es liturgischer oder philosophischer Art, betrachtet wurde.
Eine interessante Phase dieser spekulativen Umarbeitung der
früheren einfachen Begriffe von jenseitiger Vergeltung wird mit
der Lehre von den Ursachen und Gesetzen der Wiedergeburt
eingeleitet, der Lehre vom Karman, einem der wichtigsten Kapitel
des Geheimbuddhismus. Diese Theorie ist offenbar das Produkt
der Bemühung, der Lösung des grofsen Problems näher zu
kommen, als es mit der einfachen Vergeltungslehre möglich
schien : sie trug von Anfang an den Charakter esoterischer Weis-
heit. ,Unsere Quellen lassen uns erkennen*, schreibt Oldenberg
a. a. 0. p. 50, ,wie im Anfang diese neue Lehre in den Kreisen
der philosophierenden Brahmanen einheimisch geworden ist; wer
sie besitzt, hat das Gefühl, ein Mysterium zu besitzen, von dem
man heimlich unter vier Augen redet. So in dem grofsen Rede-
tournier, von welchem das Brähmana der 100 Pfade erzählt.
Unter den Gegnern, welche den weisen Yajiiavalkya mit ihren
Fragen zu Falle zu bringen suchen, tritt Järatkarava Ärtabhäga
auf. ,Yäjnavalkya*, fragt er, ,wenn der Mensch stirbt, geht seine
Stimme in das Feuer ein, sein Atem in den Wind u. s. w. Wo
aber bleibt der Mensch selbst?* — ,Gieb deine Hand her, Freund!*
lautet die Antwort, ,Ärtabhaga! wir beide allein wollen davon
wissen. Kein Wort davon in der Versammlung!* Und sie gingen
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Die mystische Philosophie des Baddhismus.
beide hinaus und sprachen miteinander. Was sie da redeten,
von der That (karman) redeten sie; und was sie da kündeten,
die That kündeten sie; rein (glücklich) wird er durch reine That;
böse (unglücklich) durch böse That.* — In der Welt der Er-
lösung und Seligkeit aber, zur Vereinigung mit dem Brahman zu
fuhren vermag keine That. Auch die gute That ist etwas, was
in der Sphäre des Endlichen befangen bleibt; sie findet ihren
Lohn; allein des Endlichen Lohn kann auch nur ein endlicher
sein. Der ewige Ätman ist über Lohn und Strafe, über Heilig-
keit und Unheiligkeit gleich hoch erhaben.' Cf. Brih. Up. 3, 2, 13.
Deussen, Das System des Vedanta p. 405.
}?ach einer andern Darstellung derselben Autorität stellt
sich die Theorie also dar: ,Auf dem Begehren (käma) beruht
des Menschen Natur. Wie sein Begehren ist, so ist sein Streben;
wie sein Streben ist, solche That thut er; welche That er thut,
zu einem solchen Dasein gelangt er. Rein wird er durch reine
That, bös durch böse That. Darüber ist dieser Vers: Dem hängt
er nach, dem strebt er zu mit Thaten, wonach sein innrer
Mensch und sein Begehr steht.
Nachdem den Lohn er hat empfangen,
Für alles, was er hier begangen.
So kehrt aus jener Welt er wieder
In diese Welt des Wirkens nieder.
So steht es mit dem Verlangenden (kamayamäna) ; nunmehr von
dem Nichtverlangenden.'
, Wahrlich, dieses grofse ungeborene Selbst, das ist unter
den Lebensorganen jener selbstleuchtende Geist! Hier inwendig
im Herzen ist ein Raum, darin liegt er, der Herr des Weltalls,
der Gebieter des Weltalls, der Fürst des Weltalls; er wird nicht
höher durch gute Werke, er wird nicht geringer durch böse
Werke; er ist der Herr des Weltalls, er ist der Gebieter der
Wesen, er ist der Hüter der Wesen; er ist die Brücke, welche
diese Welt auseinanderhält (sc. durch den Gegensatz von Ge-
niefsenden = individuellen Seelen = bhoktar, und von Zu-
Geniefsendem *= boghyam, nämlich der Frucht der Werke eines
frühern Daseins), dafs sie nicht verfliefse. Ihn suchen durch
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10 Die mystische Philosophie des Buddhismus.
Yedastudium die Brahmanen za erkennen, durch Opfer, durch
Almosen, durch Büfeen, durch Fasten. Wer ihn erkannt hat,
^ird ein Einsiedler; zu ihm pilgern auch hin die Pilger, als die,
welche nach der Heimat sich sehnen ....
Das ist des Brahmanfreundes ew^ge Majestät,
Dafs er nicht wächst durch Werke und nicht minder wird;
Man folge ihrer Spur, wer sie gefunden hat.
Der wird durch böse Werke weiter nicht befleckt.
Darum, wer solches weifs, der ist beruhigt, bezähmt, entsagend,
geduldig und gesammelt; nur in dem Selbst sieht er das Selbst;
alles sieht er an als das Selbst; nicht überwindet ihn das Böse;
er Terbrennet alles Böse ; frei von Bösem, frei von Leidenschaft
und frei von Zweifel wird er ein Brahmana, er, dessen Welt
das Brahman ist* — ,Wer ohne Verlangen, frei von Verlangen,
gestillten Verlangens, selbst sein Verlangen ist, dessen Lebens*
geister ziehen nicht aus, sondern Brahman ist er und in Brahman
löst er sich auf. Darüber ist dieser Vers:
Wenn alle Leidenschaft verschwunden.
Die in des Menschen Herzen nistend schleicht,
Dann hat das Sterbliche Unsterblichkeit gefunden.
Dann hat das Brahman er erreicht.* —
jAlso sprach Yäjüavalkya. Da sprach der König: ,0 Heiliger,
ich gebe dir mein Volk in Knechtschaft und mich selbst dazu.*
So Brihadäranyaka Upanishad 4, 4 und Deussen, Das System
des Vedänta p. 208 sq.
Die Gründe, welche dieses Wissen in brahmanischer Zeit zum
Geheimbesitz weniger Vollkommenen machten, behaupteten ihr
B;echt auch den universalen Tendenzen der Predigt Buddha's
gegenüber. Er selbst ist Zeuge dessen, wenn er sich nur mit
Mühe entschlofs, als Prophet aufzutreten. Es war insbesondere
der Satz von der Verkettung der Ursachen und vom Aufhören
der Gestaltungen, also vom Wesen der Entwicklung und des
Nirwana, der ihm zu erhaben und schwierig für das allgemeine
Verständnis schien. Es bedurfte der Fürsprache des höchsten
Brahman, um ihn von dem Entschlufs abzubringen, nach erlangter
Erlösung sich ins Nirwana zu versenken.
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Die mystischo Philosophie des Buddhismus. 11
yWoza der Welt offenbaren, was ich in schwerem Kampf
errang? Die Wahrheit bleibt dem verborgen, den Begierde und
Hafs erfüllt Mühsam ist es, geheimnisvoll, tief, verborgen dem
groben Sinn; nicht mag's schauen, wem irdisches Trachten den
Sinn mit Nacht umhüllt' cf. Mahävagga 1, 5, 2 sq. — So der
Gedanke, der ihn zuerst gefangen nahm. Nachdem er der Bitte
des Brahman Sahampati aus Mitleid mit jenen Seelen willfahren,
welche zwar Empfänglichkeit für das Wahre, nicht aber die
£raft besitzen, sich selbst zur erlösenden Wahrheit emporzu-
ringen, erwähnt er nochmals seines frühern Bedenkens:
,Geöffnet sei allen das Thor der Ewigkeit!
Wer Ohren hat, höre das Wort und glaube.
Der eignen Fein dacht ich; drum hab' ich, Brahman,
Das edle Wort noch nicht der Welt verkündet*
Sollte Buddha nach solchen Erwägungen zum Entschlufs
gekommen sein, der Gesamtheit alle Errungenschaften seiner
Spekulation zu offenbaren? Mufste er sich nicht, von der Logik
seiner eigenen Gedanken genötigt, auf dasjenige beschränkeik,
was einerseits dem Erlösungsbedürfnis, andererseits der Fassungs-
kraft der Menge, nicht blofs des Volkes, sondern auch der
Mönche genügte? Zweifelte er ja sogar an der Möglichkeit, seine
vier Lehrsätze, vor allem den zweiten, den Überzeugungen an-
nehmbar zu machen. Nur die Energie, mit welcher er diese
Lehren vorstellte und den Geist in dieselben zu vertiefen befahl,
gab einige Gewähr für ihre erfolgreiche Verbreitung; ich rechne
hiezu auch die Energie, mit welcher er alle weitern theoretischen
Fragen abwies, damit die gewöhnlichen Aszeten möglichst stark
von den vier Grundwahrheiten ergriffen würden. Dem entspricht
auch ein anderer Gedanke des Buddhismus: es sei ein Ent-
wicklungsgesetz der Natur, dafs sie zuerst eine Kraft zur Reife
bringe, ehe sie entscheidungsvolle Anforderungen an dieselbe stelle.
So begründeten auch Buddha und seine Jünger ihr Nichteingehen
auf metaphysische Erörterungen mit Uneingeweihten; sie fürch-
teten dieselben zu verwirren, und mit der Last einer Wahrheit,
welche sie noch nicht ertragen könnten, zu erdrücken.
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12 Die mystische Philosophie des Buddhismus.
Es mangelte durchaus nicht an scharfer und genauer Frage-
stellung an Buddha und seine Kirche, ob der Vollendete im
Nirwana noch sei oder nicht mehr sei — die Frage des Naciketas.
Allein immer wird eine Entscheidung vermieden.
Seit sich Max Müllec gegen das nihilistische Verständnis des
buddhistischen Nirwana ausgesprochen, wurde im Gebiet des
ceylonischen Buddhismus der Klärung dieser Frage besondere Auf-
merksamkeit geschenkt und die diesbezüglichen Untersuchungen
von James d' Alwis, Childers, Rhys Davids und Treuckner von
Oldenberg (cf. 1. c. p. 273 — 292) zusammengestellt. Von grofsem
Belang ist das Gespräch mit dem Wandermönch Vacchagotta,
(cf. Samyuttaka Nikaya vol. 2. fol. tau.) der an Buddha die Frage
richtete: Ist das Ich? Ist das Ich nicht? — ohne eine Antwort
zu erhalten. Nachdem der Mönch sich entfernt hatte, bat der
Lieblingsjünger Änanda um Aufschlufs über diese Verweigerung
jeder Antwort. Der Meister belehrte ihn, die erste Frage habe
er nicht bejaht, um nicht die brahmanische Realitätslehre zu
bestätigen und die erlösende Erkenntnis zu verhindern, welche
mit der Erkenntnis beginnt: ,Alle Gestaltungen (dhamma) sind
Nicht-ich.* Offenbar wollte er dem Ich nicht in jedem Sinn die
wahre Realität absprechen; allein er fürchtete, Vacchagotta ver-
möge das empirische Ich nicht von dem absoluten Ich zu unter-
scheiden, und halte jenes Ich, welches nichts als ein Haufen
Sankharas ist, für das wahre Ich. Die zweite Frage habe er
nicht bejaht, um ihn nicht zu entmutigen und zu verwirren; also
wieder aus praktischen Gründen. Oldenberg ist in Würdigung
dessen der Ansicht nicht abgeneigt, Buddha habe eine nihilistische
Auffassung des Nirwana für der Wahrheit näher kommend er-
achtet. Indes fällt er keine Entscheidung; und mit Recht; denn
konnte nicht ebenso die Bejahung der zweiten Frage ebendes-
halb gefahrlich und entmutigend sein, weil sie nihilistisch ver-
standen werden konnte? W"ohl verlangte Buddha nicht undeut-
lich, dafs der Vollendete auch durch die Aussicht, erst in der
vollen Vernichtung die Erlösung zu finden, nicht in seiner un-
entwegten Seelenruhe erschüttert werde. Die Idee der Ver-
nichtung wird demnach derjenigen der Erlösung untergeordnet;
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Die mystische Philosophie des Buddhismus. 13
sie wird nur insofern unter dem ^Nirwana mitangedeutet, falls
es nicht möglich sein sollte, anderswie Huhe und Beständigkeit,
Erlösung und Freiheit zu gewinnen. Da bonum et ens conver-
tnntur, kann ein absolutes Nichtsein auch dem Pessimisten nicht
als begehrenswertes Heilszicl erscheinen, sondern nur das Nir-
wana als relatives Nichtmehrsein, als Zustand ewiger, stiller,
ungestörter Euhe, als das Erlöschen alles dessen, was eben diese
Ruhe stört; als das Erlöschen der Flammen, der Begierden, der
Unbeständigkeit, der Wahngebilde und Tauschungen; ob auch
mit letzterm alles Wissens? Zunächst mufs von dem Wollen
abstrahiert werden, um den Begriff der ewigen Ruhe und Voll-
endung zu gewinnen; nach strengerer Auffassung desgleichen
von der Thätigkeit des empirischen Erkennens und des indivi-
duellen Bewufstseins; was bleibt nun übrig? Ein Sein, welches
über alle Kategorien des empirischen Seins erhaben ist, demnach
auch nur durch Negation aller empirischen Kategorien bestimmt
werden kann. Gerade der buddhistische Grundgedanke verlangt,
dafs, wenn nicht eine absolute Ur Weisheit ohne den Gegensatz
von Erkenntnissubjekt und Objekt, doch wenigstens ein absolutes
Ursein oder Nirwana, negativ das Nichtmehrsein aller Sankhara's
festgehalten werde.
Wenn Buddha das Prinzip aufstellte : ,Wie das grofse Meer,
ihr Mönche, nur von einem Geschmack durchdrungen ist, von
dem Geschmack des Salzes, also ist auch, ihr Mönche, diese
Lehre und diese Ordnung nur von einem Geschmack durch-
drungen, von dem Geschmack der Erlösung'; wenn er ferner
hervorhebt, er habe nicht die Lösung der Welträtsel, sondern
die Erlösung vom Übel seinen Jüngern versprochen, so schliefst
er hiermit die tiefere Durchforschung des Urwesens nicht aus.
Wäre dies indes auch seine Absicht gewesen, hätte er wohl damit
Erfolg haben können? Konnte er an die Möglichkeit glauben,
der spekulative Geist des arischen Volkes, der durch ihn noch
mehr Antriebe zur Yerinnerlichung empfangen hatte, werde gegen
die höchsten Probleme der religiösen und philosophischen Er-
kenntnis gleichgiltig bleiben?
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14 Die mystische Philosophie des Buddhismus.
Thatsächlich ruhte auch das Problem in den ereten Jahr-
hunderten des Buddhismus nicht. Wir finden im Samyuttaka
Nikaya toI. 1. fol. de fg. berichtet, dafs die Lehre des Mönches
Tamaka als ketzerisch geächtet wurde: Der Vollendete vergeht
— Zur höchsten Schärfe philosophischer Bestimmung erhebt sich
die Erklärung der berühmten Jüngerin Buddha's, der Nonne
Ehema, wonach der Vollendete zu erhaben und zu tief sei, als dafs
man die Prädikate des Seins und Nichtseins auf ihn anwenden
könne. 1. c. vol. 2. fol. no fgg. Hierin hätten wir demnach die
abstrakte Definition des Znstandes, den die Brahmanen durch die
Vergleichung mit dem traumlosen Tiefschlaf veranschaulichten.
Die Neigung extremer Richtungen zu einer nihilistischen
Deutung des Nirwana fand eine innere Schranke an dem drohen-
den Widerspruch, wie einem Konglomerat von Sankhära^s oder
Scheinbestimmungen die Fähigkeit zugemutet werden könne,
sich durch Erlangung der ßuddhaschafl aus der ewigen Ver-
kettung der Ursachen und Wirkungen herauszureifsen, und zwar
lur immer. Die Kirche wies jeden Versuch, das von Buddha —
wenigstens für die Gemeinde — nicht aufgeklärte Problem auto-
ritativ zu beantworten, als Irrlehre zurück; es wurde zum Dogma:
Über das Fortleben des Vollendeten (Tathägata, vedantisch Para-
brahmavid oder Pratibuddha) habe der Erhabene nichts geoffen-
bart. Indessen war diese Haltung der Kirche kein Hindernis für
die Pflege einer esoterischen Wissenschaft, eher eine weitere
Veranlassung zu derselben, zu der ohnedies eine psychologische
Notwendigkeit drängte.
Der Gegenstand der Geheimlehre war überall, wie leicht
nachzuweisen und einzusehen ist, die Identitätslehre von einem
absoluten göttlichen Weltgrund, welcher auch in der Tiefe des
eigenen Geistes, ja dort am klarsten gefunden wird: der alte,
unveränderliche, bestimmungslose, unpersönliche Gott, der allein
ist, während alles andere phänomenaler Schein und subjektive
Einbildung ist. So in Indien, so in Ägypten; hier unter dem
Namen der verschleierten Göttin Neith, dort als das von der
Maja verschleierte Brahman, oder als Ätman; analog der grofse
Pan und andere Bezeichnungen des phantheistischen ürwesens»
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Die mystische Philosophie des Buddhismus. 15
Doch woher die Nötigung, das Prinzip des Monismus durch
den Schleier des Geheimnisses vor profanen Blicken zu schützen?
Die Veranlassung liegt zunächst in der psychologischen Be-
rücksichtigung der Erkenntnisfahigkeit des Menschen. Nur den
Wenigsten konnte man zutrauen» dafs sie im Ernste und mit Hin-
gabe an die praktischen Konsequenzen die empirische Wahr-
nehmung und die umgebende Aufsenwelt als ein traumähnliches
Produkt ihres eigenen Dichtens und Denkens durchschauten und
sich über die trügerische und wertlose Einbildung zur Gnosis
des einen, unwandelbaren, über allen Gegensatz von Sein und
Nichtsein, wahr und falsch, gut und bös, Vergangenheit und
Zukunft, Körper und Geist erhabenen, überpersönlichen und
eigenschaftslosen Wesens erhoben. Die Lehre von einer zwei-
fachen Erkenntnis, einer empirischen Illusion und spekulativer
Identitätsgnosis, welche wir füglich eine Theorie von einer dop-
pelten Wahrheit nennen könnten, mufste die Scheidung exoteri-
scher oder niederer, und esoterischer oder höherer Wissenschaft
begründen. Mithin birgt der zweite Lehrsatz des Buddhismus
von der Entstehung des Leidens — aus dem Nichtwissen —
den Keim der Geheimschule.
Hiezu kommt ein ethischer, praktischer, sozialer Grund iiir
vorsichtige Zurückhaltung der monistischen Anschauung. Durch
die Gnosis des absoluten All-einen erhebt sich der Geist über
den Gegensatz von gut und bös: ,Über beides geht er hinaus,
der Unsterbliche, über Gutes und Böses.' Der Vollendete ist
nicht mehr verantwortlich ; er gewinnt nichts durch gute Werke
und wird andererseits von der Sünde so wenig befleckt, als von
Schmerz und Elend betroffen; denn er hat sich als identisch mit
dem absoluten und transcendentalen Urwesen erkannt.
Hier lag bei den meisten Formen monistischer Weltanschauung
trotz allen ernsten Idealismus die Gefahr, es möchte die höchste
Weisheit zu einer Gewalt werden, welche Ordnung und Sitte,
Bildung und Fortschritt auf Erden von Grund aus zerstörten,
wenn sie der grofsen Menge und damit solchen zugänglich würde,
welche nicht durch die harte Schule des Brahmanenjüngers, oder
des buddhistischen Aszeten und Mysten, oder des ägyptischen
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16 Die mystische Philosophie des Baddhismus.
Priesters tlir eine so erhabene Vorstellung vorbereitet und ge-
stählt und durch heilige Organisationen geschützt waren.
Mufstc nicht auch die buddhistische Moral von vornherein
gefährdet werden, wenn das empirische Denken nach seinen un-
willkürlichen Normen die Xonsequenzen aus dem monistischen
Grundsatz zog, dazu noch mehr entflammt durch die Begierde,
welche sich ihrer Fessein entledigt fühlt, sobald Sünde, Wieder-
geburt und Strafe als phänomenale Kichtigkeiten erwiesen werden,
von denen nicht einmal das eigentliche Selbst des aufgeklärten
Sünders befleckt werden kann?
Es fehlte demnach nicht an Gründen theoretischer wie prak-
tischer Art, welche den Buddhismus dazu drängten, seine Meta-
physik in einem engern Kreise zuverlässiger Mysten zu pflegen,
und es läfst sich auch das Hervortreten einer buddhistischen
Geheimschule in einer Zeit, welche bereits so viele Schranken
der Vorsicht weggeräumt hat, wohl verstehen. Ohnedies werden
uns did Motive angedeutet, welche zur Veröffentlichung der
geheimbnddh istischen Errungenschaften ermutigten. Man sagt
uns, die Fortschritte der abendländischen Wissenschaft hätten
den Occident für die Würdigung der Geheimlehre vorbereitet,
insbesondere durch die Entdeckungen der Astronomie, Geologie
und Biologie, sowie durch die Verbreitung der darwinistischen
Descendenztheorie. Ferner habe man sich in den wissenschaiV
lichen Kreisen Europas von der Unvereinbarkeit des Christentums
mit den Thatsachen und Gesetzen der empirischen Weltentwick-
lung überzeugt, so dafs man lur die Philosophie einer nicht-
christlichen Religion zugänglicher sei.
Es tritt uns mit der Erwähnung der Entwicklungslehre die
weitere Frage entgegen, ob nicht der philosophische Buddhismus
in derselben ein abendländisches Geistesprodukt in den Orga-
nismus seiner Ideen aufgenommen habe und dadurch den Anspruch
seiner Ursprünglichkeit als hinfallig erweise. Kann der esote-
rische Buddhismus unserm Darwinismus gegenüber seine Selb-
ständigkeit behaupten?
Nach Du Prel (Philosophie der Mystik p. 515) besagt das
Prinzip der Entwicklung nichts weiter, als dafs in der Natur
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Die mystische Philosophie des Baddhismus. 17
immer höhere Formen anf einander folgen; nicht aber, wie der
DarwinismuB will, dafs sie ohne Einwirkung einer höhern Kraft
oder ohne den Andrang neuer Lebenswellen auseinander hervor-
gehen. Das Prinzip der Entwicklungstheorie verlangt nicht, dafs
man keine andere Ursächlichkeit als die materielle zulasse; diese
Tendenz ist ihm an und für sich fremd. In welchem Ver-
hältnis befindet sich nun die indische und insbesondere die
esoterisch-buddhistische Philosophie zu dem Prinzip der Ent-
^ Wicklungslehre und zum Darwinismus ?
Der Versuch materialistischer Welterklärung hat sich dem
indischen Denken ebenso wie demjenigen anderer Nationen auf-
gedrängt; allein nicht in der materialistischen Verwertung des
Entwicklungsgesetzes, sondern in letzterm selbst wird eine ver-
dächtige Verwandtschaft zwischen England und Indien vermutet,
natürlich zu Ungunsten der wissenschaftlichen Originalität und
Ehrlichkeit der buddhistischen Theosophen. Doch mit Unrecht.
Denn schon in der vorbuddhistischen Brahmanenphilosophie
finden wir das Prinzip der Entwicklungstheorie methodisch zur
Erklärung des Weltprozesses angewandt; wenn ein Unterschied
obwaltet, so ist e^ß nur der, dafs der moderne Materialismus die
Produkte des geistigen Lebens im Menschen fiir allzu nichtig
erachtet, als dafs er das Gesetz der Erhaltung der Kraft auch
auf sie anzuwenden sich veranlafst fühlte. Auch die Brahmanen
lehren eine fortwährende Umformung und Uöhergestaltung des
ursprünglichen Kraftvorrates; — jedoch infolge einer entsprechen-
den Bereicherung desselben, insbesondere auf dem geistigen
Lebensgebiet. Aus diesem Erklärungsprinzip ging die Lehre
vom Karman, von der Notwendigkeit der Wiedergeburt, von der
treibenden Kraft der sittlichen Vergeltung in einem spätem Leben,
der Erucht früherer Lebensaussaat hervor: denn so wenig als
eine materielle Kraft kann eine geistige verloren gehen. In
Würdigung dessen, dafs die innere Bedeutung und der äufsere
Einflufs der menschlichen Handlungen zwei selbständige Eigen-
schaften derselben seien, schritten sie mit logischer Konsequenz
zur Annahme einer zweifachen Vergeltung fort; sie postulierten
einen Zustand seliger Verinnerlichung und Ruhe, in welchem
JahrbDch für Philosophie etc. 2
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18 Die mystische Philosophie des Baddhismus.
die idealen ErruDgenschaften eines sittlich-angestrengten Lebens
zur Quelle stillen Genusses vrürden, und eine weitere Vergeltung
in einem neuen Thäterleben, für welches die leiblichen und
geistigen Anlagen und Schicksalsumstände durch Verdienst und
Mifsverdienst des früheren Lebens bestimmt würden.
VSTährend der Bigveda noch keine Wiedergeburt, sondern
nur eine selige Vergeltung im Lichthimmel des Yama, und eine
Bestrafung der Bösen in der untern Finsternis kennt, lehren die
Upanishads, abgesehen von dem erlösenden Wissen des ewigen
Ätman, drei Wege ins Jenseits. Der erste dieser Wege ist der
Götterweg oder Devayana, denjenigen beschieden, welche zwar
nach Weisheit und Erlösung strebten, dieselbe jedoch nicht yoll-
kommen erreichten. Sie werden in das Reich des l9vara, d. i.
des persönlich gedachten Brahma aufgenommen, wie es ihrem
noch immer phänomenalen Wissen entspricht, und geniefsen dort
in einem Zustand der Yerinnerlichung eine phänomenale Selig-
keit, jedoch so, dafs ihnen jeder gewünschte — phänomenale —
Verkehr mit geliebten Personen, Erfüllung aller Wünsche, Herr-
schaft über die Natur, Freiheit von der Körperlichkeit, ihrer
Schwere und ihren Gesetzen verliehen ist. Dieser Zustand dauert
bis zum Ablauf der jeweiligen Weltperiode, indem sie dann die
erlösende Wissenschaft gewinnen und mit l9Yara in das Nir-
wanam eingehen, d. h. alles Phänomenale abstreifen. Die Unter-
schiede dieses Zustandes von dem geheimbuddhistischen Devachan
sollen mitnichten verwischt werden; allein sind nicht beide sehr
ähnliche Spröfslinge desselben Prinzips, dafs keine Kraft erlösche,
dafs jede sich auslebe und gewissermafsen wiedererzeuge?
Dasselbe gilt von dem zweiten Wege ins Jenseits, welcher
Väterweg (Pitriyana) genannt wird und für die Werkthätigen
bestimmt ist. Er geleitet auf den Mond, wo diese Seelen eine
angemessene innerliche Seligkeit geniefsen. Von dem Überrest
ihrer Verdienste wird ihre Wiedergeburt auf Erden innerlich
und äufserlich bestimmt. Die esoterische Philosophie hat auch
für diese Stufe sittlichen Verdienstes die innerliche Vergeltung
im Devachan angenommen und demnach die alte Anschauung
vereinfacht.
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Die mjstisdie Philosophie des Buddhismas. 19
Der dritte Weg führt aa den BOgenannten dritten Ort^ —
die achte Welt des Geheimbaddhismns, — sei es in eine der
sieben Höllen Yamas oder zu sofortiger Wiedergeburt als Un-
geziefer und Unkraut.
Zur Erlösung hingegen führt jenes Wissen, dessen Inhalt
^afikara's Worte definieren : ,Das Brahma, welches der von mir
früher für wahr gehaltenen Naturbeschaffenheit des Thäterseins
und Geniefserseins entgegengesetzt ist und seiner Natur nach
in aller Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Nicht-Tbäter und
Nicht-Geniefser ist, dieses Brahma bin ich, und darum war ich
weder vorher Thäter noch Geniefser, noch bin ich es jetzt, noch
werde ich es je sein/ (Gf. dessen Kommentar zu den Brahma-
sütras, Bibl. Ind. p. 1078, 4) Dieses Wissen verbrennt den Samen
der begangenen Werke, welcher ohnedies die Wiedergeburt be-
wirken würde, und die noch geschehenden haften dem Selbst
nicht mehr an. Nur das Leben, welches schon aus der Saat
früherer Werke aufgegangen ist, mufs sich noch ausleben; allein
es ist nur Schein, den der Weise zwar nicht heben, der ihn
jedoch auch nicht täuschen kann; wie der Augenkranke weifs,
dafs es nur einen Mond gibt, obwohl er mit seinen kranken
Augen zwei sieht.
Hiernach haben bereits die Theologen der Upanishad's den
Kosmos in seinen Naturstufen und Ordnungen als eine streng
gesetzmäfsige Fortentwicklung ursprünglicher Lebenseinheiten in
aufsteigender, wenn auch zuweilen durch Rückfalle auf niedrigere
Formen ablenkender Linie aufgefafst Der esoterische Buddhismus
hat das Bild dieser Entwicklung innerhalb derselben Grundzüge
reicher und sittlich-strenger ausgeführt, insbesondere die Rück-
kehr in den Allgeist (Addibnddha) als ein Ideal erklärt, welches
für die Geistesarbeit eines Erdenlebens viel zu erhaben und
nur als da» Endresultat einer vielmaligen, immer hohem Wieder-
geburt zu erreichen sei.
Wohl bezeichnen die Geheimbuddhisten den Charakter dieser
aufsteigenden Weltentwicklung als Umwandlung von Stoff in Geist,
von materialistischem Verstand in spiritualistische Yemunfb; allein
dies bewirkt nicht im geringsten eine Verwandtschaft mit dem
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20 Die mystische Philosophie des Baddhismus.
Darwinismus, welcher den Geist als die zarteste Blüte des Stoffes
und seiner Organisation betrachtet; denn es darf nicht übersehen
werden, dafs die Yergeistigung der Natur im Menschen nur unter
dem ursprünglichen und steten Einflufs des Allgeistes gedacht
wird. Demnach ist der Geist das letzte Prinzip der Natur, nicht
aber der Stoff der Ursprung des Geistes: gewifs ein grofser
Unterschied und Vorzug der brahmanischen und buddhistischen
Anschauung vor dem Darwinismus.
Ein weiterer Vorzug der indischen Denker ist der, dafs sie
über der Beobachtung des Kreislaufs des Stoffes, bezw. der Kraft
in den Gestaltungen des Naturlebens die logische Notwendigkeit
nicht übersahen, dasselbe Gesetz fordere auch die Erhaltung und
das Wiederaufleben der im sittlichen Menschenleben angesam-
melten Energie. Denn der Umstand, dafs der Erwerb von Wissen
und Tugend nicht mechanisch beobachtet, gemessen und umge-
setzt werden kann, schien ihnen nicht genügend, um die Realität
dieser Gattung von Kräften für geringer zu halten, als diejenige
der materiellen. — Nun aber niufste die Frage entstehen:
Welches ist das Schicksal jener geistig -sittlichen Errungen-
schaften, welche ein Mensch durch Streben und Handeln ge-
wonnen und in sich aufgespeichert hat? Ihre Antwort war die
Lehre von der doppelten Vergeltung und der fortschreitenden'
Vergöttlichung des Menschenwesens.
Es bedurfte also meines Erachtens keiner Befruchtung der
alt-buddhistischen Philosophie durch den europäischen Darwinis-
mus, um die Kosmogonie, Biologie und sonstige Entwicklungslehre
des theosophischen Neu-Buddhismus zu erklären. Anregungen
zu einer Fortentwicklung der alten Grundgedanken in positiv-
monistischer Richtung, mit Zurückdrängen der nihilistischen Ten-
denz gingen hinreichend genug und stark von dem Vedänta aus,
so dafs wir uns nicht sträuben, den esoterischen Buddhismus
als das Produkt der bald beginnenden Einwirkungen des brah-
manischen Vedänta auf die buddhistische Spekulation anzusehen,
wie immer das persönliche Verhältnis des ^ankara hierzu be-
stimmt werden möge.
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Die mystische Philosophie des Baddhismus. 21
Der Gedanke eines schlechthin transzendentalen Urwesens,
welches so vollkommen ist, dafs es nar als die Negation alles
positiyen Seins and aller positiven Vollkommenheit gedacht
werden soll, hat gewifs etwas Erhabenes; allein diese Erhaben-
heit ist zn leer, hohl und nichtig, als dafs sie für längere Zeit
den philosophierenden Geist befriedigen und beherrschen könnte.
Man denkt sich schliefslich die absolute Leere, aus welcher die
Welt oder besser der Welt-Traum einem Nebelgebilde gleich
sich erhebt, um wieder in derselben zu verwehen, schliefslich
als den Inbegriff aller Kraft und Ursächlichkeit, als Brahma und
Gott, mag auch der Name vermieden werden.
Hingegen werden grofse Bedenken durch den Versuch
Sinnetts erregt, den gröisten Vertreter des Vedanta, 9^^^^&~
a^arya um 12 Jahrhunderte früher, als die gewöhnliche Annahme
es erlaubt, auftreten zu lassen; dafs er als Buddha's Inkarnation
eingeführt wird, ist hierbei gleichgiltig. Nach üblicher Zeit-
bestimmung fallt das Leben dieses grofsen Wiederherstellers „der
Wissenschaft vom höchsten Geiste'^ in das achte Jahrhundert
nach Christus; er gründete eine berühmte Schule zu Qnngagiri
und wirkte aufserdem durch sein Wanderleben als Aszet bis
nach Kaschmir hinein, (cf. Deussen, System des Vedanta p. 36 sq.)
Nach Sinnetts Gewährsmännern ' erschien Sankaracharya un-
gefähr 60 Jahre nach Buddhas Tod, bewirkte eine Ausgleichung
zwischen Brahmanismus und Buddhismus, gründete vier bedeu-
tende Mathams zu Sringari im südlichen Indien, die einflufs-
reichste Schule, zuJuggernath, Dwaraka und Gungotri. (cf.p. 178.)
Die chronologischen Bedenken wurden jedoch von Sinnett selbst
stark empfunden, wie sein Versuch, über dieselben hinwegzu-
kommen, zeigt. ,Diese Ansicht wird den uneingeweihten Hindu-
gelehrten nicht annehmbar erscheinen, welche Sankaracharya's
Auftreten in eine spätere Zeit verlegen und ihn als einen voll-
ständig unabhängigen und sogar dem Buddhismus feindlichen
Lehrer auffassen; nichts destoweniger ist die eben aufgestellte
Behauptung thatsächlich die Ansicht der im Geheimwissen Ein-
geweihten, ob letztere sich nun Buddhisten oder Hindu nennen.'
(p. 171 sq. und 175.)
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22 Die mystiflche Philoaophie des Buddhismos.
Als eine dritte Eigentümlichkeit des esoterischen Systems
erscheint die methaphysische Begründungp, welche es dem Spiri-
tismus gewährt Allein schon der Name ^Schamanismus^ sowie
die Erinnerung an den Tantrismus des buddhistischen Mittel-
alters gentigen, um zu beweisen, wie stark im Buddhismus die
Versuchung zu spiritistischen Entartungen ist, — trotz der Vor-
sorge des Keligionsstifters selbst, sowie des grofsen Reformators
Tsong-ka-pa, der zur Unterdrückung abergläubischer Verirrun^
den Geheimbund strenger organisierte.
Nach diesen einleitenden Erörterungen gehen wir zur ge-
drängten Darstellung der geheimbuddhistischen Metaphysik und
Mystik über.
Kosmogimie.
Das Urwesen (Brahma) läfst sich als dasjenige bezeichnen,
was Baum und Stoff, Dauer und Bewegung zugleich ist. Alles
andere ist Maya = Übergangszustand, Schwanken zwischen Sein
und Nichtsein, Veränderlichkeit: Sansära und Sankhära im ge-
meinen Buddhismus.
In diesem Urwesen findet sich, wie in der kleinsten Par-
zelle der Welt, der regelmäfsige Wechsel von Thätigkeit und
Ruhe in den Zeiträumen des Manvantara und des Pralaya. Das
sind die Tage und die Nächte Brahma^s, das Aus- und Einatmen
der schöpferischen Grundursache, — versinnbildet durch die grofse
Nag, die Schlange, welche den Schwanz zum Munde krümmt
und so den Kreislauf der Ewigkeit vollzieht.
Während der Nächte Brahmas ruht das Urwesen; nach
dieser Weltnacht, dem Mahapralaya, bereitet sich allmählich die
neue Thätigkeitsperiode vor, und zwar nimmt die Entwicklung
ihren Anfang in der durch Bewegung — welche ja zum Wesen
der Ur- Sache gehört, — erzeugten Polarität der kleinsten Teile;
die thätige Grundursache, das Geistige in dem Urwesen, wird
von der unthätigen angezogen, und strömt in sie über. ,Die eine
und Haupteigenschaft der allgemeinen geistigen Grundursache,
des unbewufsten aber stets thätigen Lebensspenders (Brahma von
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Die mystische Philosophie des Baddhismus. 23
brih ausbreiten, befruchten) ist Ausbreiten und Ausströmen; die
der allgemeinen stofflichen Grundursache ist Einsammeln (Auf-
nehmen) und Befruchten. Ohne Bewufstsein und ohne Dasein
in der Trennung, werden sie Bewufstsein und Leben in der Ver-
einigung' (p. 202), zumal da das Bewufstsein ein Objekt voraus-
setzt^ an welchem der Geist erwacht und zu sich kommt
Es entspricht dem Geistigen in dem Urstoff, dafs die Ent-
wicklung durchaus gesetzmäfsig ist, — eine hl. Errungenschafc
auch der abendländischen Forschung, wenn auch mit Mühe er-
worben im Kampf mit dem Religionssystem eines persönlichen
Gottes.
Mathematisch drückt sich das Gesetz der Weltentwicklung
in der Zahl 7 aus, welche Succession und Konstellation durchaus
beherrscht. Das Ziel eines Welt- oder Schöpfungstages ist das
Freiwerden des Geistes im Menschen, die Vergeistignng der
Natur durch die höchste Entfaltung des Menschentums.
Um sich zu diesem Hochstadium zu erheben, bedarf die
Natur der aufsteigenden Entwicklung durch die 7 Naturreiche,
von welchen das unterste die Bildung der ür- und Weltnebel,
das vierte das Mineral-, sodann das Pflanzen- und Tierreich, das
höchste das Menschenreich ist.
Es ist jedoch nicht das unbestimmte Urwesen, welches in
die Entwicklung eintritt, sondern eine Fülle geistiger Einheiten,
welche gewissermafsen die einzelnen Daseinswellen in der Hoch-
flut des Lebensandranges darstellen. Diese — nicht metaphysisch
und starr verschiedenen — geistigen Einheiten treten in die
Entwicklung ein und arbeiten sich durch die 7 Stadien des
Daseins, indem sie sich zuerst aus Nebelmassen zu Weltkörpem
verdichten, sodann die höheren Formen physischer, organischer,
sensitiver Existenz gewinnen.
Die Entwicklung schreitet nicht geradlinig fort, sondern ist
spiralförmig, — niedersteigend durch die Differenzierung in den
auf der jeweiligen Daseinsstufe verharrenden oder zurückbleiben-
den Ordnungen, emporgehoben durch den Anlauf eines weitem
höheren Elementes in den geistigen Entwicklungseinheiten.
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24 Die mystische Philosophie des Baddhismus.
Diese Entwicklungslehre erkennt zwar in dem Darwinismns
einen verwandten Grandgedanken; allein sie hebt auch einen
wesentlichen Unterschied hervor, vermöge dessen der Darwinis-
mus nur als unvollkommener Versuch einer adäquaten Descen-
denztheorie betrachtet werden könne. Derselbe übersehe nämlich
den unleugbaren Unterschied zwischen Tier und Mensch und
versuche letztem aus der fortschreitenden Verfeinerung der
materiellen Struktur abzuleiten.
Allein ,der Antrieb zur Neuentwicklung höherer Formen'
kann nicht aus demjenigen entspringen, was einer niedrigeren
Daseinsstufe angehört; er ,wird durch den Andrang geistiger
Wesen gegeben, die in einem zur Besitzergreifung neuer Bil-
dungen geeigneten Zustand anlangen. Diese Triebe vorgeschrittenen
Lebens sprengen bei ihrem Einströmen die Hüllen der alten
Bildungen auf dem Planeten und treiben Knospen höherer Art.
Die Bildungen, welche seit Jahrtausenden gewohnheitsmäfsig nur
sich selbst wiederholten, treten in ein neues Wachstum; mit ver-
hältnismäfsiger Greschwindigkeit steigen sie durch Zwischenbil-
duDgen zu höheren Gestaltungen, und wenn diese wiederum mit
der Kraft und Schnelligkeit alles jungen Wachstums sich ver-
vielfältigt haben, bieten sie den andrängenden und die ent-
sprechende Daseinsstufe einnehmenden geistigen Wesen die körper-
lichen Behausungen; für die Zwischenbildungen ist alsdann kein
Bedarf mehr und unaufhaltsam erlöschen sie.' (Sinnett p. 43.)
Daher erkläre sich der Mangel an Zwischengliedern zwischen
der höchsten Tierstufe und dem Menschen, nach welchen der
Darwinismus vergebens spähe, — wenigstens auf der Erde und
in beharrenden Arten.
KansteUaUan zu Weitenketten*
Wie die Siebenzahl die mathematische Formel für die Gesetz-
mäfsigkeit der Naturentwicklung ist, so auch für den Schauplatz
derselben. Das ganze — im Unendlichen sich ausbreitende —
Allwesen gliedert sich in kleinere Universa oder Sonnenwelten
und innerhalb dieser wieder in Weltenketten von je 7 Planeten.
Im ganzen gehören 7 Weltenketten zu unserm Sonnensystem.
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Die mystische Philosophie des Baddhismus. 25
Innerhalb einer solchen Weltenkette ist unsere Erde als
viertes Glied zu denken. Die Lebens welle mnfd die ganze Kette
siebenmal durchlaufen, bis sie das Ziel ihrer Entwicklung, die
Hervorbringung göttlich vollkommener Menschen erreicht hat.
Ein Planet bietet fiir eine so immense Aufgabe nicht den
genügenden Raum, noch eine allseitige Grundlage.
Jede Weltenrunde bringt eines der 7 Elemente der Lebens-
keime oder geistigen Einheiten zur ungefähren Entfaltung oder
besser zum Übergewicht, ohne dafs hierdurch einem Vorgreifen
oder Zurückbleiben die Möglichkeit abgesprochen werden sollte.
,Die Weltenkette bildet einen Kreis, den alle geistigen Wesen
in gleicher Weise durchlaufen müssen*. ,Die höhere Entwicklung
wird mittelst unseres Fortschritts durch die aneinander geglie-
derten Welten erreicht werden; und in höheren Entwicklungs-
stufen werden wir wieder und wieder zu dieser Erde zurück-
kehren' (l. c. p. 37). Diese Welten, welche an und für sich in
ihrer Beschaffenheit verschieden sind, nehmen in ihrer Weise an
dem stetigen Fortschritt des Weltprozesses teil, indem sie mehr
und mehr ein von groben körperlichen Bedürfnissen freies Leben
ermöglichen. Merkur ist der nächstfolgende, Mars der unserer
Erde vorangehende, gegenwärtig in seiner Pralaya, d. i. in Ruhe
befindliche Planet.
,Die Spirale Fortbewegung der die verschiedenen Natur-
reiche entwickelnden Lebenstriebe (sc. von Planet zu Planet) ist
die Erklärung für die Lücken, welche in den die Erde bevöl-
kernden Lebensformen zu beobachten sind . . . Die geistigen
Wesen, welche auf der Tierstufe die Bahn umkreisen, gehen
zu andern Welten über, wenn sie hier die Reihe ihrer Tier-
verkörperungen vollbracht haben. Zu der Zeit, da sie wieder
eintreffen, sind sie vorbereitet, als Menschen verkörpert zu wer-
den, und keine Notwendigkeit liegt mehr vor für eine auf-
steigende Entfaltung von Tier- zu Menschengestaltungen; die
letztem warten schon der geistigen Besitzergreifung' . . . d. i.
,der Veredlung der höchsten unter ihnen bis zu der erforder-
lichen Gestaltung, dem vielerwähnten fehlenden Glied', — ein
weiterer Grund, warum der Darwinismus vergeblich nach ihm
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26 Die mystische Philosophie des Baddhismus.
sucht, — weil es auf anderen Planeten, bezw. soweit Menschen-
formen in Betracht kommen, auf den untergegangenen Erdteilen
früherer Rassen zu suchen wäre. (cf. p. 42.)
AfUhropdogie.
Die menschliche Natur besteht aus 7 Elementen, von wel-
chen die 3 ersten seine niedere Leiblichkeit, die 4 höheren die
geistige Individualität herstellen. Diese Wesenselemente sind:
a) Kupa = der materielle Stoff.
b) Prana oder Jiva, die dem groben Stoff anhaftende
Lebenskraft.
c) Linga Scharira, mit Astralkörper übersetzt; ein Element,
welches als Erklärung für Erscheinungen Verstorbener
benutzt wird.
d) Kama Rupa, die Begierdeseele, als Tierseele das höchste Ele-
ment der Tierstufe ; im Menschen für höhere Entwicklung
geeignet, jedoch auch hier das Prinzip der auf das äufser-
liehe und individuelle Leben gerichteten Bestrebungen.
e) Manas, das, was wir unter dem eigentlichen Individuum
verstehen; doch nicht blofs dies, sondern Prinzip des
Gedächtnisses, des empirischen Verstandes und Sitz der
Verantwortlichkeit Es ist erst in der Entwicklung, — um
mehr und mehr von dem treibenden Endprinzip des Einen
Lebens, dem 7. Grundteil, Atma '= Geist, durchdrungen
zu werden.
f ) Biiddhi, Geistseele, das Prinzip idealer Bestrebungen und
Thätigkeit, insbesondere auch das Vermögen intuitiver
Anschauung der Wahrheit
g) Atnia := Geist, dasjenige Element, von welchem die
stufen weis höheren Lebensantriebe ausgehen, welches die
niederen Wesensbestandteile zur Entwicklung und Voll-
kommenheit erhebt, je mehr es sie durchdringt Jetzt
arbeitet es daran, den 5. Grundteil, Manas, den empi-
rischen Verstand zu durchdringen und dem idealen Welt-
zweck zuzulenken.
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Die mystische Philosophie des Buddhismus. 27
Von der baddhistischen Philosophie wird nichts so stark
hervorgehoben als die Willensfreiheit des Menschen; jedoch sei
der Mensch nnr in den verfassungsmäfsigen Grenzen der grofsen
Weltgesetze als Herr seiner Zukanftsentwicklang zu betrachten.
Indes fordere der Weltprozefs erst dann verhängnisvolle Ent-
scheidungen von ihm, wenn er hinlänglich zu geistiger Kraft
erstarkt, denselben gewachsen sei. In den niederen Entwick-
lungsstufen bleibe zwar keine Regung der menschlichen Freiheit
ohne gerechte Vergeltung, allein letztere sei zugleich die Kor-
rektur früherer Abweichungen»
Ka/rma*
Die grofsen Mittel, durch welche das Entwicklungsgesetz
den Menschen sittlich erziehe, belohne, bestrafe, hebe und ver-
edle, seien das Karma und der Devachan.
Die. Lehre vom Karma wurde zwar nie geheim gehalten,
allein wegen der Unkenntnis anderer Geheimlehreo mifsverstanden.
Karma ist eine Gesamtbezeichnung für die Vereinigung
der mannigfaltigen guten und bösen Neigungen, welche während
der Lebenszeit im menschlichen Wesen entwickelt worden sind,
und deren wesentliche Eigenschaften den Stoffteilchen seines
5. Grundteils (Manas) innewohnen durch die Zeiträume hindurch,
welche zwischen dem Schlufs des einen irdischen Lebens und
dem Beginn des nächsten liegen (p. 78). Es bestimmt mit Natur-
notwendigkeit die Lebensbedingungen der nächsten Verkörperung
in der Welt der Ursachen und der sittlichen Verantwortlichkeit.
Die buddhistische Philosophie wendet nämlich das Gesetz
von der Erhaltung der Kraft mit Konsequenz auch auf diejenigen
Sphären des menschlichen Lebensprozesses an, welche nicht physio-
logischer Art sind: sowohl die Summe der niedrig-sinnlichen als
der menschlich-freien Lebensenergie behauptet sich nach dem
Tode in eigentümlicher Weise, — in kürzerer oder längerer
Dauer, bis sie sich ausgelebt hat.
Um den Tod in seiner metaphysischen Bedeutung zu ver-
stehen, weist die buddhistische P^iilosophie darauf hin, dafs
Buddha zwar den Bestand einer einfachen, unauflösbaren, eigen-
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28 Die mystische Philosophie des Buddhismas.
artigen, persönlichen Seelenanbstanz geleugnet habe, nicht jedoch
ein Selbst, welches wir als den einen Faden betrachten sollen,
an welchem die besondere Daseinsschwingang in zahllosen Ver-
körpernngen wie in aneinandergereihten Perlen verläuft, — bis
schliefslich in der Vollendung das Bewufstsein und die Erinne-
rung aller durchlebten Lebensläufe erwacht.
Demnach ist Manas, das Selbst, als ein mehrfach zusammen-
gesetztes Teilwesen zu betrachten, in dem höhere und niedere
Bestandteile zu unterscheiden sind. ,In dem Kampfe, welcher
sich sc. bei dem Tod zwischen den früher mit ihm verbundenen
Grundteilen erhebt, hangen seine besten, reinsten, erhabensten
und geistigsten Teile am 6. (Buddhi, Geistseele), seine niedem
^Neigungen, Triebe, Erinnerungen am 4. (der Begierdeseele), und
wird es selbst gewissermafsen auseinandergerissen. Das niedrige
Überbleibsel, welches sich mit dem 4. Grundteil verbindet, schwebt
dem irdischen Dunstkreis zu (bis es sich da ausgelebt und er-
schöpft hat), während die edleren Triebe, und zwar diejenigen,
welche thatsächlich das Ich der frühern irdischen Persönlichkeit
ausmachten, die Wesenheit und das jene früher belebende Be-
wufstsein, dem 6. und 7. Grundteil in den geistigen Zustand
folgen* (p. 79).
Der Zustand oder die Örtlichkeit, in welcher die ßesidua
des sinnlichen, dem irdischen Wohlbefinden einseitig zugewandten
psychischen Lebens in Verbindung mit der Begierdeseele sich
ausleben und absterben, — schneller oder langsamer, je nach ihrer
Energie und Zähigkeit, — und sich in die allgemeinen Grund-
stoffe auflösen, heifst Kama Loka, Ort der Wünsche und Leiden-
schaften, des unbefriedigten irdischen Verlangens.
In diesem Zustand sind auch diejenigen, welche eines ge-
waltsamen Todes sterben, — die sog. Erdgebundenen. Denn
wie der Kern einer unreifen Frucht sich nicht so leicht von der
Schale löst, so gelingt es auch nicht, dem Naturlauf zuwider
die menschlichen Wesensbestandteile durch gewaltsamen Eingriff
vollständig und plötzlich zu trennen. Die 4 höhern Grundteile
bleiben vereinigt und erwarten ihre Wiederverkörperung. Doch
sind sie, da die Leidenschaften des leiblichen Lebens in ihnen
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Die mystische Philosophie des Buddhismus. 29
noch in voller Erische sind, je nach dem Mafs ihrer sinnlichen
Begierden dem spiritistischen Verkehr zugänglich, indem sie sogar
durch die Medien Befriedigung ihrer niedem Lüste suchen
(dies seien die incubi und succubi, die Dämonen, welche zu
Unmäfsigkeit, Hafs und Wollust reizen).
Die Wenigen, welche ohne irgend eine geistliche Verwandt-
schaft mit dem höhern und idealen Wesen im Menschen befunden
werden, bei denen also der 5. Grundteil ganz der Begierde folgt,
werden als unbrauchbar für die Weiterentwicklung auf die sog.
8. grobstoffliche Welt ausgeschieden, welche gewissermafsen den
Gegensatz zu der vollendeten Geisterwelt (Addhibuddha) ihrer
Welten kette bildet. — Die unmündigen Kinder dagegen werden
baldigst wiedergeboren.
DevacFuin und AvUchU
Der geistige Zustand, in welchen der höhere Teil des
Menschen bald nach dem Tode übergeht, wird Devachan genannt
— oder die Welt der Wirkungen. In diesem rein innerlichen
Zustand verarbeitet die Seele alle edeln Ideen und Bestrebungen,
welche sie während ihres Lebens in der verantwortlichen Welt
der Ursachen in sich aufgenommen, entwickelt und angesammelt
hat Wie jede Entwicklung verläuft auch diese in allmählichem
Fortschritt bis zu ihrem Höhepunkt, um sich dann ebenso all-
mählich zu erschöpfen. Sobald die letzte Welle geistiger Kraft
sich verloren hat, folgt die Wiedergeburt zu neuem Leben in
der Welt der Ursachen.
Indes dauert dieser Zustand der Verinnerlichung unver-
gleichlich lang, mindestens 1500 Jahre; in ihm wird die Seele
für das Gute, welches sie gedacht, gewollt und gethan, belohnt,
indem sie es idealiter selbst geniefst; zugleich wird sie für die
zukünftige Fortentwicklung geläutert unÄ erfrischt. Je mehr
Gutes und Ideales sie in sich angesammelt hat, desto seliger
ist ihr Innenleben ; die Devachanzustände sind also aufserordent-
lich mannigfaltig an geistiger Vollkommenheit und Wonne; die
hauptsächlichen Unterschiede sind Rupa Loka, die Welt der
Gestalten, der geistigen Schatten ohne Stofflichkeit, und Arupa
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30 Die mystische Philosophie des Buddhismus.
Loka, die Welt der Gestaltlosigkeit. Diese Bezeichnungen
charakterisieren die mehr oder minder geistige Vollkommenheit^
mit der sich die Seelen in der von ihnen selbst erzeagten Ideen-
weit bewegen; sie selbst sind unsichtbar und unzugänglich, in
einsiedlerischer Buhe des Geistes.
Avitchi ist der entsprechende Zustand für satanische Men-
schen; die gewöhnlichen Sünden und Schwächen finden dagegen
ihre Vergeltung ausschliefslich durch den Einflufs des auch Ton
ihnen mitbestimmten Karma auf die Gestaltung des künftigen
Erdenlebens; ein besonderer Zustand des Devachan entspricht
ihnen nicht
Entwicklung und F&rtsehriM der Menschheit»
Das Menschengeschlecht, d. h. die Menge geistiger Lebens-
einheiten, welche den Keim der menschlichen Natur in sich
bergen, entfaltet sich auf der Erde in 7 aufeinanderfolgenden
Wurzelrassen, von welchen jede wiederum 7 Stammrassen, diese
je 7 Zweigrassen hervorbringt. Da jede Lebenseinheit sich in jeder
dieser Zweigrassen mindestens zweimal zu verkörpern hat, und
infolge von Krafbübersshufs auch mehr als 7 Zweigrassen ge-
bildet werden, so ergibt sich eine etwa SOOmalige Wiederver-
körperung auf Erden.
Zwischen den Zeiträumen der Wurzelrassen ereignen sich
tellurische Umwälzungen, durch welche im grofsen und ganzen
der neuen Rasse der Schauplatz geebnet wird. Von frühern
Rassen bleiben teils zerstreute Bruchteile, teils gröfsere Massen
übrig; wie die fiachköpfigen Folynesier von der dritten Rasse
stammen, deren Kontinent Lemuria ca. 700000 J. vor der
Atlantis untergegangen ist; die meisten Völker gehören der
vierten Rasse an, welche als hauptsächlichen Schauplatz ihrer
Kultur den versunkenen Kontinent Atlantis hatte, dessen letzte
Insel Poseidonis vor 11446 J. versank. Die neueste und fünfte
Kulturrasse konstituieren die kaukasisch-arischen Völker; auch
die Ägypter und Chaldäer werden zu ihr gerechnet.
Innerhalb jeder Rasse entwickelt sich der Kulturprozefs
wie in einem selbständigen Kreislauf, ohne dafs fremdartige
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Die mystiache Philosophie des Buddhismus. 31
Völker wesentlich von demselben berührt werden. Einen em-
pirischen Beweis hietur erblickt die buddhistische Philosophie
in dem yergeblichen Bemühen Europas, seine Kultur den übrigen
Völkern Asiens und Afrikas mitzuteilen; daher die Erfolglosigkeit
der Missionsbestrebungen; auch aus Japan mache man nur ein
Zerrbild.
Die beiden Pole der menschlichen Entwicklung sind Stoff-
lichkeit und tieistigkeit, weltlicher Verstand und innerliche Ver-
nunft, Materialismus und Idealismus.
,Die menschliche Entwicklung zeigt auf jeder ihrer Höhen-
stufen, wie auf deren Gesamtheit, eine absteigende und eine auf-
steigende Bewegung: der Geist hüllt sich gewiss^rmafsen in
Stoff ein, sc. wird weltlich, und der Stoff entwickelt sich zu
Geist Der tiefste und stofflichste Punkt der Kreisbahn wird
90 der nach unten gekehrte Gipfel des weltlichen Verstandes,
welcher die verhüllte (materialistische) Äufserung der geistigen
Vernunft ist. Bei jeder Runde mufs daher die auf der ab-
steigenden Bogenlinie sich entwickelnde Menschheit weltlich
klüger als ihre Vorgängerin, und jede auf der aufsteigenden
Bogenlinie sich entwickelnde mit einer verfeinerten Art von Vei^
nunft und geistigerem Anschauungsvermögen begabt sein.' p. 133.
Diese Gegensätze offenbaren ihre Kraft in den kleinem wie
gröfsern Kreisläufen der Entwicklung: es wird ein Bild des
gesamten Menschenprozesses gewonnen, wenn wir uns die cha-
rakteristischen Züge der 7 Runden bzw. der von ihnen erzielten
Menschheit vorführen:
1. Der Mensch der ersten Runde ist von loser Gliederung,
ätherisch, wenig strebenden Verstandes, übergeistig.
2. In der zweiten Runde: die Gestalt wird dichter und
fester, aber bleibt noch ätherisch, und riesig an Dimensionen.
Die Verstandesthätigkeit ist noch gering, da ihre Vollkommenheit
von der Feinheit der Gehimorganisation abhängt; desto vor-
wiegender der Geist
3. Der Mensch der dritten Runde gewinnt an Festigkeit
und Dichtigkeit der Struktur; doch gleicht er noch mehr einem
Kiesenaffen; sein Verstand entwickelt sich.
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32 Die mystische Philosophie des Buddhismus.
4. Die vierte Runde, in welcher wir uns befinden, erreicht
die Reife der leiblichen Organisation und steht unter der Herr-
schaft des Verstandes. Mit ihr kommt der Anfang der Sprache.
yDie Erde ist voll der Wirkungen der Yerstandesthätigkeit und
verringerten Geistigkeit.*
Es gilt dies nicht blofs von unserer fünften Rasse, sondern
nicht minder von der in Wissenschaft und Technik hochent-
wickelten vierten der Atlantier und auch der dritten der Le-
murier. Die Atlantier hatten das Geheimnis der Auflösung und
Wiederbildung des Steifes auf dem Wege wissenschaftlicher For-
schung entdeckt, auch die Herrschaft über die Elementarwesen
gewonnen, ~ eine Kenntnis, welche jetzt nur annähernd von den
Spiritualisten errungen sei. Mit dem Höhepunkt des Wissens
sei die Gefahr des Mifsbrauchs der Macht über die Natur und
grofse Gefahr ftir die menschliche Gesellschaft verbunden, zumal
wenn nicht hohe Sittlichkeit, wie bei den Eingeweihten, vor
Mifsbrauch dieses Wissens schütze-, ohnedies sei damit die Un-
möglichkeit weiteren Fortschritts im eigenen Kreislauf der Rasse
erreicht und die Natur breche dieselbe durch eine Umwälzung ab.
Jetzt werde der Gegensatz von innerlichem Geist und welt-
lichem Verstand durch die beiden Extreme der fünften Rasse
ausgeprägt: die Indier und die Europäer, deren empirische
Wissenschaft zwar Geist sei, aber ein solcher, welcher sich in der
Materie verliere und über ihr nichts kenne und suche.
Nach der Mitte dieser Runde beginnt der Kampf des gei-
stigen Ich mit dem weltlichen Verstand, um so übersinnliche
Kräfte zur Entfaltung und Geltung zu bringsn.
5. In der fünften Runde steht der Entscheidungskampf der
stark entwickelten übersinnlichen Fähigkeiten und idealistischen
Tendenzen mit dem gleichfalls höchstentwickelten weltlichen
Verstand und seinen materialistischen Strebungen zu erwarten.
6. Die sechste Runde bringt den Menschen zur leiblichen
und geistigen Vollendung hinsichtlich der Geistigkeit wie Ver-
ständigkeit, Weisheit und Güte.
Was Buddha, — sind dann alle.
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Die mystische Philosophie des Baddhismas. 33
7. Die Biebente Bande fuhrt zur Vergöttliohung des Mensohen,
Dm als Dhyan Chohan (hoher Geist) fördernd und lenkend in die
Entwicklung weiterer Weltläufe einzugreifen.
Die Gefahr und Aufgabe der Entscheidung.
,Die Erlangung von Vorrechten, welche der Geistigkeit ge-
bühren, durch den Verstand, d. i. durch Naturwissenschaft im er-
habensten Sinn, — ist eine der Gefahren des Kampfes, welcher
das Geschick des menschlichen Ich entscheidet. Denn etwas
gibt es, wozu die Verstandesentwicklung nicht verhilft: und das
ist das Verständnis der Erhabenheit und der Natur geistigen
Daseins. Im Gegenteil, der Verstand erwächst aus äufserlichen
ürBachen, der Vervollkommnung des Gehirns, — und strebt nur
nach äufserlichen Wirkungen, — der Vervollkommnung des körper-
lichen Wohlbefindens. Obgleich der heutige Verstand Geistigkeit
nicht verdanmit, — ein den schwachen Brüdern und der Religion,
auf die er mit gutmütiger Geringschätzung blickt, gemachtes
Zugeständnis, — behandelt er doch sicherlich das äufserliche
menschliche Leben als die alleinige wichtige Aufgabe, mit welcher
sich ernste Männer oder selbst aufrichtige Menschenfreunde be-
schäftigen können. Erstreckt sich aber wirklich das geistige
Leben, die lebendige bewufste Innerlichkeit über viel gröfsere
Zeiträume als die des körperlichen, vom Verstand beherrschten
Daseins, dann ist sicher des Menschen innerliches Dasein wich-
tiger als sein äufserliches, und der Verstand irrt, indem er alle
seine Anstrengungen auf die Verbesserung dieses äufserlichen
Daseins richtet/ p. 146.
Die Entscheidung dreht sich also nicht um gut und bös im
populären Sinn, sondern um die Hingabe an die Geistigkeit oder
Körperlichkeit, Innerlichkeit oder Äufserlichkeit. Die Vorbereitung
dazu besteht weder in religiöser Gefiihlsschwärmerei, noch in
äufserer Kirchlichkeit, noch in gewöhnlicher bürgerlicher Sitt-
lichkeit, — sondern in der Entwicklung der übersinnlichen
Fähigkeit zu unmittelbarer Intuition im Gegensatz zum diskur-
siven und demonstrativen Forschen des weltlichen Verstandes.
Jahrbach fflr PhUoflopble etc. 8
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34 Die mystische Philosophie des Buddhismus.
yDieses in Thätigkeitsetzen geistigen Schauens ist Greheimwissen-
sohafb in der höchsten Aufiassnng; die Entfaltung der Geistig-
keit, die Gewinnung blofser Gewalt über die Naturkräfte, die
Erforschung einiger ihrer verborgenen Geheimnisse, ist Geheim-
Wissenschaft in der niedrigsten Auffassung, und in dieses niedere
Gebiet möge die Naturwissenschaft eindringen/ p. 145.
,Aber zur achten Welt unvermischter Stofflichkeit mufs das
Ich hinabsteigen, welches sich schliefslich ungeeignet erweist,
die aufsteigende Kreisbahn der Weltenkette weiter zu verfolgen.*
p. 148.
Die Liebe zum Guten ist notwendig, aber von untergeord-
neter Bedeutung; die Sehnsucht nach Wissen der Wahrheit ist
es, was die letzte Förderung bringt. Wie Apoc. 3, 15. 16 be-
sage, erfolgt nach der ersten Entscheidung zwischen geistig und
ungeistig die zweite untergeordnete — zwischen gut und bös,
warm und kalt. Zuerst wird das Laue ausgestofsen.
,Die letzte Anstrengung der Natur, indem sie den Menschen
entwickelt, ist, aus ihm ein unendlich höheres Wesen zu machen,
das dereinst eine bewufst wirkende und wie es gemeinhin be-
nannt wird, schöpferische £raft in der Natur selbst sei. Das
erste Vollbringen ist die Entwicklung des freien Willens, und
das zweite die Verewigung dieses freien Willens, indem er
sich mit der Natur in ihrem Endstreben, welches gut ist, ver-
einigt (d. h. einen guten Gebrauch von der erlangten Geistig-
keit macht). Im Verlauf solcher Thätigkeit ist es unvermeidlich,
dafs ein grofser Teil des entstandenen freien Willens dem Bösen
sich zuwendet, und nachdem er zeitweiliges Leiden hervor-
gerufen hat, zerstäubt und vernichtet wird.* p. 154.
Nachdem die Vorbereitung und Befähigung zum Kampf
zwischen Verstand und Geist begonnen hat, können einzelne
durch Selbstzucht und energische Verinnerlichung ihre Periode
und den Gang der allgemeinen Entwicklung überholen. So die
Erleuchteten, welche jetzt schon die Entscheidung gewinnen,
welche die Mehrzahl erst in der ftinften Runde erzielt Sie
erwarten im seligen Devachan ihre weitere Teilnahme an dem
Prozefs der weiteren Vollendung. Die Befreiung von der Wieder-
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Die mystische Philosophie des Buddhismus. 35
gebnrt bis zu jenem Zeitpunkt ergibt sieh aus der Beschaffen-
heit ihres Earma, welches keine Verwandtschaft, Anziehung und
Begierde nach äufserlichem, irdischem Leben enthält.
Solche, die sich zwar vom Irdischen losgelöst, aber in den
letzten Prüfangen nicht stark genug bewährt haben, bleiben
zurück, bis die Flutwelle der nächsten Entwicklung sie in ihrer
Daseinsstufe wieder erreicht.
Das Übel und Leiden finde seine Erklärung in der Absicht
der Natur, Kraft und selbstlose Liebe zum Gesamtsein des All
zu erzeugen: die Kraft erwachse nur durch Kampf und Leiden;
die Liebe entspringe aus dem Mitleid und bilde sich allmählich
ZOT Verzichtleistung auf die Besonderheit der Einzelexistenz.
Die Errungenschaft eines jeden Weltprozesses wird für den
nächsten benutzt und geht so noch weiterer Vervollkommnung
entgegen — bis zum Nirvana, dem Zustand erhabener Ruhe in
der Allwissenheit des Urwesens.
Die Vorzüge, welche das dargelegte System für sich in
Anspruch nimmt, und die Mängel, welche es dem Christentum
zum Vorwurf macht, sind etwa folgende:
1. Die buddhistische Metaphysik mache den Begriff eines
persönlichen Gottes samt den in ihm zusammengeschmiedeten
Widersprüchen entbehrlich; erkläre jedoch — durch die Lehr-
Thätigkeit eines Himmelsgeistes (Dhyan Ghohan) am Anfang der
irdischen Menschengeschichte — das Entstehen einer persön-
lichen Gottes- und Offenbarungsidee samt deren grobem Anthro-
pomorphien.
Das Christentum komme hingegen trotz aller dialektischen
Anstrengungen über die unversöhnlichen Gegensätze in seiner
Gottesidee nicht hinaus. Widersprechend sei die Verbindung
der Unendlichkeit mit dem Bewufstsein und der Persönlichkeit;
widersprechend die Annahme eines über- und aufserweltlichen
Gottes, da die Welt unendlich sei; widersprechend die Annahme
einer Weltechöpfung durch einen unendlich vollkommenen Geist;
denn Vollkommenheit bedeutet den Ausschlufs jedes Mangels,
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36 Die mystiBche Phflosophie des Bnddhismns.
und demnach jedes Beweggrundes zur WelterschafPung und Welt-
entwicklungy also Stillstand oder Tod. ünTereinbar seien All>
macht und Güte in einem Wesen; unvereinbar die göttliche
Herrschaft über die Natur mit der in letzterer waltenden Gesetz-
mäfsigkeit; unvereinbar die göttliche Vorherbestimmung und die
menschliche Freiheit; die göttb'che Allwirksamkeit und der Ur-
sprung des Bösen. yDas Wort Gott bezeichnet die unbekannte
Ursache jener Wirkungen, durch welche der Mensch entweder
in BewuYiderung oder in Schrecken versetzt wurde, ohne sich
dieselben erklären zu können.' p. 254. Dies die Definition eines
geheimkundigen Gewährsmannes von Sinnett, welche es erklärlich
macht, wie man so viele Widersprüche in dem christlichen Gottes-
gedanken finden konnte. Es wird Gott in einer Weise gedacht,
wie er im System des Pantheismus oder Polytheismus gedacht
werden mufs, als eine Macht neben, oder über, oder in der Welt,
neben vielen andern, sei es persönlichen, oder elementaren, oder
abstrakten Mächten, nicht aber als der Eine, neben den andere
oder anderes zu stellen, von vornherein unmöglich ist. Sonst
hätten diese Geheimlehrer wohl erkannt, dafs Gottes Macht und
Wirken die strengste Gesetzmäfsigkeit in Natur und Mensch-
heitsentwicklung mit nichten stört und unterbricht, sondern einzig
und allein ermöglicht und begründet Dieser Gott ist nicht der
Notbehelf der Unwissenheit, nicht die Hypostasierung der selbst-
süchtigen Wünsche, sondern die Urquelle der gesetzmäfsigen
Notwendigkeit wie der sittlichen Selbstbestimmung, und darf
weder in seinem freien, weil keinem Bedürfnis entstammenden
Schöpfongsratschlufs, noch in seiner Weltregierung und Gnaden-
wahl, noch in seiner Allmacht und Güte gedacht werden wie
ein Mensch, d. h. wie die Götter des pantheistischen Polytheis-
mus, und ist deshalb über die angeblichen Widersprüche ebenso
erhaben, wie die christliche Offenbarungsidee über die Auffassung
der indisch-europäischen Weisen. Er ist die absolute Freiheit
der höchsten Vernunft, von welcher die thatsächliche Ordnung
allein stammen kann; denn die Notwendigkeit der Naturgesetze
ist nicht derart, dafs sie selbst als absolute gedacht werden
könnte.
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Die mystische Philosophie des Baddhismas. 37
2. Die buddhistische Kosmologie sei wahrhaft objektiv und
aniversal, frei yon jener Engherzigkeit^ welche den christlichen
Erdenbewohner der Versuchung unterliegen lasse, seinen Planeten
als das physische und moralische Centrum des Weltalls zu be-
trachten, eine Engherzigkeit, welche den menschlichen Ursprung
des Christentums um so unerbittlicher erweist, als die christ-
liche Theologie yergeblich alle Mittel der Dialektik aufwende,
um derselben zu entrinnen; denn sie hafte an dem Hauptdogma
der Menschwerdung und Erlösung auf Erden. Die frühe christ-
liche Kirche habe mit Recht den astronomischen Thatbestand
gefürchtet und mit der Grausamkeit des Schreckens dagegen ein-
gegriffen. ,Die Wahrheit wurde geleugnet, während des Ver-
laufs Ton Jahrhunderten wurden ihre Vertreter gemartert Als
sie schliefslich trotz der Macht päpstlicher Aussprüche feststand,
ergriff die Kirche, wie Ehys Davids sich ausdrückt, das ver-
zweifelte Hilfsmittel, zu behaupten, dafs es gleichgültig sei.
Diese Behauptung hat sich bis jetzt erfolgreicher bewiesen, als
ihre Urheber es hoffen konnten. Als sie astronomische Ent-
deckungen fürchteten, trauten sie der Welt im allgemeinen ein
unerbittlicheres 8chlufsvermögen zu, als dieselbe geneigt war
anzuwenden.' p. 213 sq. ,Mit der schwindenden Wichtigkeit der
Erde vermindert sich die Glaubwürdigkeit von Lehren, welche
von uns beanspruchen, die Einzelheiten unseres Lebens als Teil
vom Bewufstsein eines allwissenden Schöpfers zu betrachten.'
p. 214. Die winzige Erde könne keine Ausnahmsstellung gegen-
über der allgemeinen Naturgesetzlichkeit als Schauplatz gött-
licher Freiheit und Gnadenwahl beanspruchen.
Allein es ist weder ein Grund einzusehen, weshalb der
moralische Mittelpunkt des Universums mit dem astronomischen
Centrum zusammenfallen müsse, noch auch, warum die Bedeu-
tung der Inkarnation und Erlösung notwendig in jeder Form
der meritorischen Ursächlichkeit auf den Weltkörper beschränkt
werden müsse, auf welchem sie stattfand.
3. Die christliche Eschatologie wird besonders mit Hinweis
auf die vielen Abstufungen menschlicher Wiedergeburt und die
Lehre vom Devachan folgendermafsen bemängelt:
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38 Die mystische Philosophie des Baddhiunus.
Es bestehe ein Mifsyerhältnis zwischen dem kurzen Erden-
leben und der endlosen Fortdauer des jenseitigen Schicksals.
Es liege ein Widerspruch in der Annahme, dafs das ewige
Leben im Jenseits unabänderlich durch die fehlgreifende Hand-
lungsweise eines hilflosen und unwissenden Menschenlebens be-
stimmt werde, und das infolge einer unendlich gerechten und
allweisen Anordnung, cf. p. 35. 77.
Besser als dieser Gott sei die richtig verstandene Natur;
,sie eilt nicht und stellt ihren Geschöpfen keine Fallend p. 143.
,Die I^atur begnügt sich nicht, ihren Geschöpfen leicht und sorglos
zu yergeben, noch die Sünder yöllig zu yerdaramen, wie ein
träger Herr, den eher Sorglosigkeit als Gutmütigkeit von ge-
rechtem Walten im Haushalt abhält.' p. 98.
Es sei ungereimt zu lehren, jenes endlose Leben- bleibe Ton
dem Gesetz des Wechsels, der Vervollkommnung und des Port-
schritts unberührt, welches sonst die ganze Welt beherrscht, p. 35.
Endlich werde notwendig der Zustand der Seligen in einem
Himmel ,von der Beschaffenheit eines Wachtturmes' durch die
Kenntnis des Erdenelends, seiner Gefahren und Irrungen, in einen
Ort des heftigsten geistigen Leidens umgewandelt, da doch die
Heiligen die mitleidigste und selbstloseste Nächstenliebe hegen,
p. 85.
Allein Zeit und Ewigkeit stehen immer in Milsyerhältnis,
wenn erstere als eine endlich, letztere als eine unendlich aus-
gedehnte Aufeinanderfolge von Veränderungen oder Momenten
betrachtet wird; nicht aber, wenn man die Ewigkeit als das
Aufhören jeder Aufeinanderfolge erkennt Als nie entschwinden-
des Jetzt findet sie in dem kürzesten Zeitabschnitt ihr endliches
Gegenbild; denn nicht Vergangenheit und Zukunft, sondern die
Gegenwart macht Zeit und Ewigkeit innerlich verwandt.
Was von diesen rein formalen Begriffen gilt, ist auch auf das
Verhältnis der endlichen Befähigung und der unendlichen Trag-
weite der Entscheidung anzuwenden. Welches endliche Mafs
stände in einem kongruenten Verhältnis zur Unendlichkeit des
höchsten Gutes oder seines Verlustes? Übrigens darf bei einer
Gegenüberstellung der kleinlichen Lebensverhältnisse in der
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Bio mystifiche Philosophie des Buddhismus. 39
Pröfiin^zeit und ihrer unabeehbaren Folgen für die Ewigkeit
die Lehre vom Fegfeuer nicht anfser acht gelassen werden, wie
8innett es thut; oder würde die Kritik yielleicht mit ihrem Tadel
zorückhalten, wenn die Prüfungszeit mit der Entscheidung des
Entweder — Oder m unabsehbare Ferne hinaus verlängert und
damit die Anstrengung von Jahrhunderten oder Jahrtausenden
durch die immer drohende Möglichkeit eigenen Rückfalles in
ihrem Erfolg gefährdet bliebe? Die Lehre vom Fegfeuer wird
nicht — wie Sphiux I. 4. 281 meint, — erschöpft, wenn man
es als zeitweilige Läuterung ohne tiefere Bedeutung betrachtet;
nichts hindert in ihm die glückliche Möglichkeit zu sehen^ um
die Dissonanz zwischen der Kleinlichkeit des hier geübten Guten
und der Grofsartigkeit seines Endzieles auszugleichen. Ferner
mnfs bei der Würdigung der christlichen Eschatologie auch die
Gnadenlehre Beachtung finden ; denn durch die Gnade wird auch
das kleinlich-armseligste Erdendasein in seinen Beweggründen
und Zielen innerlich vertieft und vergöttlicht, mögen auch die
äufsern Gelegenheiten der sittlichen Übung, sowie die Formen
der Glaubensvorstellung sehr arm im Geiste sein. Andererseits
schützt die erhabenste Berufsstellnng nicht vor einer trivialen
und pedantischen Lebensgestaltung.
Mit dem Hinweis auf den Begriff der Ewigkeit und der
Gottschauung ist auch die Antwort auf die letzten Bemängelungen
angedeutet; denn mehr als Andeutungen wollten wir in dieser
apologetischen Kritik überhaupt nicht geben, obgleich wir auch
bei denselben an der Überzeugung festhielten, dafs in diesen
Fragen der Keligionsvergleichung nur genaue Untersuchung,
tiefes Eindringen nnd möglichst günstige Deutung einer fremden
B^ligion zum Ziele alles Forschens, zur Wahrheit führen.
^
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DIE LEHRE DES HL. THOMAS
UND SEINER SCHULE
VOM PRINZIP DER INDIVIDÜATION.
EIN BEITRAG ZUM PHILOSOPHISCHEN VERSTÄNDNIS DER MATERIE.
Von Dr. M. GLOSSNER,
MITGLIED DEB PHILOSOPHISCHEN AKADEMIE DES HL. THOMAS IN ROM.
EINLEITUNG.
Im Hinblick auf die durch den Einfinfs des Nominalismus
eingetretene und von der eben erst im Wiederaufleben begrif-
fenen peripatetischen Philosophie (Werner, Der hl. Thomas von
Aquin, Bd. III, S. 137), noch nicht gehobene Verwirrung in den,
tieferen Fragen der Spekulation, rechnet der berühmte Verfasser
der loci theologici zu den nach seiner Meinung unerträglichen
und unausträglichen Streitfragen unter andern auch die von uns
zum Gegenstände der folgenden Abhandlung gewählte Frage nach
dem Prinzip der Individuation oder dem Grunde der die Indivi-
dualität konstituierenden Abgeschlossenheit und Unteilbarkeit des
Seins. (Melchior Canus, Loci theologici 1. IX c. 7: Quis enim
ferro possit disputationes illas de universalibus, de nominum ana-
logia, de primo cognito, de principio individuationis. Was die
Tragweite der Universalienfrage betrifft, mit welcher unser Thema
aufs innigste zusammenhängt, so ist dieses Urteil durch die spätere
Entwicklung der Philosophie nicht ratifiziert worden. S. Zigliara,
Summa philosophica, Lugduni 1882, t I. p. 308.)
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Methode der Untersuchung. 41
Wenn dagegen ein anderer herrorragender Theologe, Joh.
a S. Thema [Cursus TheologicuB, tom. IV. (ed. L. Vives, Paris 1884.)
p. 589.] die Lehre des Aristoteles, der Gmnd der Vervielfälti-
gung eines spezifisohen Seins liege in der Materie, als die Quelle
preist, aus welcher der heidnische Philosoph die Erkenntnis der
Einzigkeit Gottes geschöpft habe^), so entsteht für uns die Frage,
wo in diesem Widerstreite der Meinungen die Wahrheit sich
finde. Denn einerseits dürfte sich die Untersuchung durch die
wirkliche Schwierigkeit und Subtilität, sowie die vorgebliche
Unfruchtbarkeit des Problems zurückgestofsen, andererseits aber
doch wiederum durch den anscheinend höchst wertvollen Ertrag
für die höchsten Interessen der Wissenschaft und des Lebens
angezogen fühlen.
In verstärktem Mafse erhebt sich der Zweifel an der Frucht-
barkeit der von uns beabsichtigten Untersuchung, wenn es über-
dies die Verteidigung einer bestimmten Lösung des gedachten
Problems gelten soll, die schon in älterer Zeit auf mehrfachen
Widerspruch stiefs, in neuerer Zeit aber fast allgemein auf-
gegeben worden ist. Denn, wem wäre es unbekannt, dafs die
Lehre des hl. Thomas, die Materie sei das Individuationsprinzip
der körperlichen Dinge, heutzutage nur wenige Verteidiger zählt,
indem es fast allgemein als ausgemacht gilt, dafs der Grund der
Individuation für Geist- und Körperwesen derselbe, nämlich in
der ganzen und ungeteilten konkreten Wesenheit gelegen sei?
Bedenkt ipan ferner, dafs unter den Gegnern der thomisti-
schen Lehre die Namen eines Suarez, Maurus hervorglänzen,
und dafs dieselbe unter den Neueren in P. Eleutgen nur einen
schwankenden und unentschiedenen Verteidiger gefunden, so
möchte es scheinen, dafs unser Vertrauen, durch die Wiederauf-
nahme der thomistischen Doktrin in diesem Punkte der Wissen-
schaft einen Dienst zu leisten, der soliden Grundlage entbehre.
>) Metaph. A. (12.), 8. 1074. a 33: oaa dpiB^/jKp noXka, vlriv bzsi:
dg yip Xoyog xal 6 avrbg no^wv, olov dv^gwnov, SofxpaTtjg 6h slg,
tb dh xl ^v slvat ovx sx^i SXtjv t6 ngfSrov ivteXix^ta ydp. ^v äpa xal
Xoyof xai dpid-fiß rö n^dStov xivovv dxlvrjxov ov. xal x6 xivovßBVOv
aQa dsl xal avvexcSg Ih fiovov. slg ä^a ovQavog fiovog.
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42 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip der Individuation.
Sollten aber alle diese Erwägungen nicht imstande sein,
unser Vertrauen zu erschüttern, so dürfte der letzte Stützpunkt
sinken, sobald wir vernehmen, dafs selbst Albert der Grofse,
der auch in diesem Punkte den aristotelischen Spuren folgend,
was der Stagirite mehr nur angedeutet, zur Theorie fortbildete,
seine anfängliche Lehre von der individualisierenden Materie später
aufgegeben und in der mit unserem Problem zusammenhängenden
Frage, ob es reine Geister gebe, die sich nur der Zahl, nicht
aber der Art nach unterscheiden, die von seinem grofsen Schüler,
dem Aquinaten, geteilte Ansicht verlassen habe. [v. Hertling,
Albertus Magnus, Beiträge zu seiner Würdigung, 1880. S. 102 ff]
Wenn es angesichts dieser Thatsachen als ein aussichtsloses
Unternehmen erscheinen möchte, über die Frage nach dem In-
dividuationsprinzip zu voller Klarheit und Gewifsheit zu gelangen,
und über den wissenji^chaftUchen Wert der verschiedenen An-
sichten ein end giltiges Urteil zu gewinnen : so läfst sich anderer-
seits schwer begreifen, wie ein Problem, das mit den erkennt-
nistheoretischen und ontologischen Grundfragen im innigsten
Zusammenhange steht, nicht allein aus dieser Verbindung, sondern
auch ganz besonders aus der nachfolgenden, so änfserst reichen
und mannigfaltigen Entwicklung eine helle Beleuchtung nicht
empfangen sollte.
Eine Behandlung des vorwürfigen Problems in einer solchen
doppelten, sachlichen und geschichtlichen Beleuchtung, dürfte
wohl geeignet sein, das schwindende Vertrauen neu zu beleben
und die Frage selbst einer befriedigenden Lösung zuzuföhren.
Die isolierte Behandlung eines Problems führt in der Regel
nicht zum Ziele und gewährt keine Bürgschaft dafür, dais ein
Ende der zahllosen Kontroversen gefunden werde. Knüpft man
dagegen die Frage an die höchsten Prinzipien des Seins und
Denkens an, so mufs es sich zeigen, ob dieselbe eine sichere
Lösung, also auch nur in einem bestimmten Sinne zulasse, und
80 die Möglichkeit gegeben sei, die Geister, die sich auf dem
gemeinsamen Boden der Grundprinzipien begegnen, in dem Sinne
jener allein zulässigen Lösung zu vereinigen. Ferner ist nichts
60 geeignet, die Falschheit einer philosophischen Lehre in ein
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Methode der Untersuch ang. 43
helles Licht zu setzen, als die Kritik, die sie im Laufe der philo-
sophischen Entwicklung gefunden. Nicht die Kritik der Philosophen
meine ich, sondern die Kritik, welche die Geschichte der Philo-
sophie selbst übt, entweder durch Entfaltung der Keime, die eine
Lehre in sich birgt, oder derjenigen, aus welchen sie selbst ent-
sprossen ist.
Wenden wir diese beiden Gesichtspunkte auf die thomistische
Lehre Tom Prinzip der Individuation an, so steht dieselbe, wie
sich uns zeigen wird, mit den erkenntnistheoretischen und onto-
logischen Anschauungen ihres Urhebers, also mit den Fundamenten
seiner Philosophie im engsten Zusammenhange. Andererseits aber
hat, wie wir überzeugt sind, das Urteil der Geschichte über die
abweichenden Auffassungen eines Scotus, Suarez, der Nomina-
listen den Stab gebrochen. Schon der Umstand, dafs Suarez
in der Lehre vom wirkenden Intellekt mit den erkenntnistheo-
retischen, Scotus durch seine Bestimmungen über die Materie
und die Uniyersalien mit den ontologischen Voraussetzungen der
thomistischen Lehre sich in Widerspruch gesetzt, gibt uns einen
bedeutsamen Fingerzeig.
Wenn wir im letzteren, in Scotus, den Vorläufer des onto-
logischen Idealismus, der das Allgemeine hypostasiert, erblicken,
dürfen wir wohl auf fast allgemeine Zustimmung rechnen. Wir
hoffen aber auch, wenigstens nicht auf unbedingten Widerspruch
zu stofsen, wenn wir im ersteren, in Suarez, den Vorläufer des
erkenntnistheoretischen Idealismus, oder genauer, des Intellek-
tualismus, d. i. der Loslösung der Idee oder intellektuellen Vor-
stellung von den Eindrücken der Sinne, erblicken.
Leibnitz, der seine philosophische Laufbahn mit unserer
Frage eröffnete, [Leibnitii Opp. philosoph. ed. Erdmann. Dispu-
tatio metaphysica de principio individui p. 1] bekennt sich aus-
drücklich zur Lehre des Suarez, dafs der Grund der Individuation
nicht in der Materie, sondern in der Totalität des Seins gelegen
sei. Die thomistische Lehre wird von ihm nicht ausdrücklich
bekämpft, sondern mit der Bemerkung von der Untersuchung
ausgeschlossen, dafs nur die allgemeinen, geistiges und materielles
Sein umfassenden Meinungen berücksichtigt werden sollen, von
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44 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip der Individuation.
den speziellen aber abgesehen werde. [Nos quoniam hie abstra-
heraus a substantia materiali et immateriali, speciales opiniones alio
tempore consideraturi^ nunc generales tantnm excatiemus. L. c]
Gerade diese Verallgemeinerung der Frage aber ist be-
zeichnend und birgt einen tieferen Hintergrund. Während näm-
lich Thomas unsere Frage in solchem Sinne entscheidet, dafs
der wesentliche Unterschied der beiden grofsen Sphären des Da-
seins, der geistigen und materiellen, zu klarem und scharfem
Ausdrucke gelangt, tritt uns in der Leibnitzschen Ansicht von
der Gleichheit des Individuationsprinzips in beiden Sphären jene
durch die neuere Philosophie sich hindurchziehende monistische
Tendenz entgegen, die entweder, wie bei Leibnitz selbst, zur
Reduktion des Materiellen auf das Geistige, oder umgekehrt des
Geistigen auf das Materielle fuhrt.
Als überflüssig möchte es erscheinen, wenn wir, an diese
Bemerkung über Leibnitz anknüpfend, den englischen Lehrer
gegen den auch in neuester Zeit wiederum gegen ihn erhobenen
Vorwurf verteidigen, dafs seine Lehre vom Individuationsprinzip
ihn konsequent zur Preisgebung der göttlicheu Persönlichkeit
hätte fuhren müssen. Die Einschränkung seiner Lehre, die Materie
sei Individuationsprinzip, auf die materiellen Wesen läfst jenen
Vorwurf sofort als unbegründet erscheinen. Die genauere Dar-
stellung aber wird die Nichtigkeit desselben zur Evidenz er-
heben.
Weit entfernt nämlich davon, dafs im Sinne des hl. Thomas
Freiheit von der Materie die üngeteiltheit und Unmitteil-
barkeit des Seins, wodurch wir den allgemeinen Begriff der in-
dividuellen Existenz bestimmen, beeinträchtige, liegt vielmehr
gerade in ihr der Grund jener vollkommeneren und vollkommensten
Weise individueller Existenz, die zur Einheit noch die Einzigkeit,
d. h. die Ausschliefsung von Wesen derselben Art hinzufögt.
Es handelt sich nämlich bei den materiellen Dingen nicht allein
um die üngeteiltheit und ünmitteübarkeit des Seins, sondern zu-
gleich und vorzugsweise um die Erklärung der Thatsache, dafs
in den materiellen Dingen formelle und individuelle Einheit nicht
schlechterdings zusammenfallen, indem sie durch diese in sich
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Methode der üntersachung. 45
abgeschlossenes Sein sind, während ihnen jene, das spezifische
Wesen mit anderen gemeinsam ist.
£s gibt in der Sinnenwelt Individuen derselben Art, d. b.
solche, die sich nur fiir die Sinne von einander unterscheiden,
die aber vom Verstände durch denselben Begriff gedacht werden.
Die Frage nach dem Individuationsprinzip der sinnenfölligen Dinge
erhält hiedurch den bestimmten Sinn nach dem Grunde, wes-
halb sie in der Weise individualisiert sind, daFs Individuen von
derselben wesentlichen Beschaffenheit nebeneinander bestehen
oder bestehen können.
Dieser bestimmte Sinn der Frage ist in der Regel ver-
kannt oder übersehen worden, wenn es sich um die Beurteilung
der thomistischen Theorie oder ihr verwandter Lehren handelte,
nämlich solcher, in denen die, sei es realistisch oder idealistisch
gefafste, Materie gegenüber einem bestimmenden Formprinzip als
individualisierendes Prinzip bezeichnet wird.
Indem man nämlich in der Individuation nur das Moment
des Bestimmens ins Auge fafste, übersah man, daFs die Weise
der Individuation der materiellen Dinge eine UnvoUkommenheit
in sich schliefse, die sich nicht aus einem bestimmenden und
gleichsam sammelnden, zusammenfassenden, sondern vielmehr nur
aus einem zerstreuenden, der Materie, wie sie von Piaton, Ari-
stoteles u. s. w. oder selbst auch von den intellektualistischen
Vertretern des Idealismus gedacht wird, verwandten Prinzip
erklären und ableiten lasse. [„Trotz aller Gleichartigkeit ist der
Stoff kein einheitlich zusammenfassendes, sondern wegen seiner
Zusammengesetztheit, Ausdehnung, Teilbarkeit, viel eher ein aus-
einander treibendes vervielfachendes Prinzip.'' Posch, Die grofsen
Welträtsel, Bd. II, S. 93.]
Aus diesem Grunde können wir z. B. die Kritik, die Tren-
delenburg an der Schopenhauerschen Theorie vom Prinzip der
Individualität übt, nicht als vollkommen zutreffend anerkennen.
„Wenn Baum und Zeit, bemerkt der genannte Philosoph, allein
als das individuierende Prinzip gefafst werden, so findet man
das Wesen desselben nur darin, dafs für unsere Betrachtung
eine geschiedene Vielheit erzeugt werde, und kümmert sich darum
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46 Die Lehre d. hl. Thomas u. b. Schale vom Prinzip der Individaation.
nicht, ob und wodnrch das Geschiedene sich als Ganzes zu-
sammenfasse/' [Logische Untersuchungen, Bd. II, 8. 79. An
einer anderen Stelle (S. 77) : „Der innere Zweck ist das eigent-
lich individuierende Prinzip in der Welt." Hiezu bemerkt Pesch
a. a. 0. S. 106: „Diesen Satz möchten wir nur unterschreiben,
sofern sich im Individuum der spezifische Typus geltend macht.
Der innere Zweck gibt dem Dinge zuerst typische Vollendung
und Abgrenzung, und infolge davon allerdings auch die indivi-
duelle. Hingegen hat die Individualisation als solche ihren vor-
wiegenden Grund in der Materie. Die blofse Beobachtung der
organischen Zelle reicht hin, um uns davon zu überzeugen, dafs
Abschnürung, Teilung und Vielheit durch eine Überwucherung
des Materiellen eingeleitet wird."]
Die Schopenhauersche Theorie ist allerdings falsch, jedoch
nicht aus dem von Trendelenburg angeführten Grunde. Raum und
Zeit sind die Bedingungen, nicht das Prinzip der Individuation.
Dieses liegt dort, woher Räumlichkeit und Zeitlichkeit der mate-
riellen Dinge selbst entspringen. Es ist die gemeinsame Wurzel
der ßaumzeitlichkeit und der Individualität — die Materie. Ferner
sind in der Ansicht Schopenhauers Baum und Zeit nur subjek-
tive Anschauungsformen, und ihr Produkt, die Individualität nur
ein im Hohlspiegel der Gehirnthätigkeit erzeugtes Blendwerk.
Für diese widersinnige Theorie sind wir nicht gewillt, ein-
zutreten. Gleichwohl ist Schopenhauer im Recht und nehmen
wir seine Theorie gegenüber der Kritik Trendelenburgs insoweit
in Schutz, als der Frankfurter Pessimist für die Individualität
der körperlichen Dinge ein die Idee, den gemeinsamen Typus
gleichgiltig zerstreuendes, der Begreiflichkeit oder Intelligibilität
widerstrebendes Prinzip sucht, und dieses für die nächste oder
unmittelbare Betrachtung in Raum und Zeit erblickt.
Die Form — bei Trendelenburg: der Zweck — besitzt keines-
wegs begründetere Ansprüche, als Prinzip der Individuation zu
gelten, als der Stoff der Dinge. Denn, fragt es sich um den
Grund der Individualität der materiellen Wesen, so ist es in
der That die „geschiedene Vielheit," die in Betracht zu ziehen ist,
und es ist nicht ein Grund der Einheit und Zusammenfassung,
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Der Fragepunkt. 47
sondern der Zerecrenung, der gesucht wird; denn das Besteben
von einander getrennter Individuen innerhalb der Einheit der
Art und trotz derselben ist es, was der Erklärung bedarf.
Unter den Anhängern des englischen Lehrers ist dieser
entscheidende Gesichtspunkt mit besonderem Nachdruck von
Johannes vom hl. Thomas hervorgehoben worden. Seiner
Erklärung zufolge müssen zur Vervielfältigung der Individuen
zwei Bedingungen konkurrieren. Die erste Bedingung ist, dafs
das individualisierende Prinzip in der Substanz gelegen sei und
eine substanzielle Einheit begründe; denn die individuelle Sub-
stanz mufs als die letzte Bestimmtheit der Kategorie der Sub-
stanz in der Linie dieser selbst liegen. Die zweite Bedingung
aber verlangt, dafs jenes Prinzip eine substanzielle, nicht aber
eme essentielle oder formale Vervielfältigung nach sich ziehe;
denn der individuelle Unterschied wird nicht der formalen Ein-
heit entgegengesetzt, insofern diese eiuß spezifische ist, sondern
läfst die ganze Spezies in dem einen und anderen Individuum
bestehen und zieht keine spezifische oder wesenhafte Verschieden-
heit nach sich.
Der Frage nach dem Individuationsprinzip der materiellen
Dinge kann demnach nur ein solcher Grund genügen, der ge-
eignet ist, die spezifische Einheit mehrerer Individuen zu erklären.
fJoh. a S. Thoma, Cursus philosophicus, ed. Vives, tom III. p. 49 a.]
Wäre die Gesamtheit der Dinge eine ursprüngliche Vielheit
absolut getrennter Prinzipien, etwa im Sinne der Herbartschen
Metaphysik, so wäre die Frage nach dem Grunde der Indivi-
duation überhaupt nicht aufzuwerfen. Denn, wo der. Unterschied
ein prinzipieller und absoluter ist, verliert die Frage nach dem
Grunde der Vervielfältigung des Einen oder des Bestehens rein
individueller Unterschiede im Rahmen spezifischer Einheit ihren
Sinn.
Die Frage entsteht nur in der Voraussetzung einer for-
malen Einheit der Dinge, die in ihrer Realität selbst begründet
nnd nicht allein vom betrachtenden Geiste in sie hineingetragen ist
Aus dem angeführten Grunde genügt es nicht, in das Für-
sichsein, die gesonderte Existenz selbst, den Grund der Indivi-
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48 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip der Individuation.
, s
duation zu setzen. Denn sobald einmal irgend eine Znsammen-
setzung der metaphysischen Form (des begrifflichen Wesens) mit
dem Träger derselben angenommen, und nicht von vorneherein
die absolute Einfachheit des ungeteilten konkreten Wesens be-
hauptet wird, kann die Frage nach dem Grunde der Eontrak-
tion der allgemeinen Wesenheit in einem bestimmten Individuum
nicht umgangen werden. [Vgl. v. Hertling a. a. 0. 8. 104, wo
mit Bezug auf gewisse Schwankungen in der Lehre des sei. Al-
bertus gesagt wird: „Offenbar ist es ungenau, das Suppositum
als das Individuiereude zu bezeichnen, da es doch bereits das
Individuierte ist, die reale Einzelnsubstanz, das Ganze, dessen
Form .... und zwar als Form des Ganzen die allgemeine Natur,
oder das quo est sein soll." Auf den Doppelsinn der Form, die
sowohl im physischen als auch im metaphysischen Sinne genommen
wird, und in jenem die Teilform, die mit dem Stoffe zusammen
das reale Wesen konstituiert» in diesem aber die Form des Ganzen,
d. i. die begriffliche durch Verbindung von Form und Materie
verwirklichte Wesenheit bezeichnet, werden wir alsbald zu sprechen
kommen.]
Es dürfte hier der Ort sein, den verschiedenen Sinn zu be-
stimmen, in welchem die Individuation genommen werden kann.
Die Individuation kann nämlich unter dem metaphysischen,
logischen und physischen Gesichtspunkte betrachtet werden.
Metaphysisch betrachtet, bezeichnet sie die letzte Stufe
in der Eeihe irgend eines Frädikamentes, wie die oberste Gat-
tung die erste Stufe bezeichnet. In diesem Sinne ist die
Individuation die letzte individuelle Differenz durch die eine Art
(species infima) zum Individuum kontrahiert wird.
Im logischen Sinne drückt Individuation die Fähigkeit
aus, Subjekt jeglicher Frädikation zu sein; denn alles was prä-
diziert wird, wird schliefslich vom Individuum, dieses aber nur
von sich selbst prädiziert.
Im physischen Sinne endlich ist Individuation die Einheit
der Zahl nach selbst, kraft deren etwas in sich selbst ungeteilt
und jedem anderen unmitteilbar als einheitliches Sein besteht
[Job. a. S. Thoma 1. c. p. 48 b— 49 a.]
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Metaphysisehe und physische Wesenheit. 49
Wie man sieht, hat die logische Betrachtung die metaphy-
sische zur Voraussetzung. Denn das Individuum ist aus dem
Grunde letztes Subjekt der Frädikation, weil es als erste Sub-
stanz Träger aller wesentlichen und accidentellen Bestimmungen
ist Metaphysische und physische Individuation aber verhalten
sich so, dafs jene durch diese verwirklicht ist, wie überhaupt
die metaphysische Wesenheit im physischen Wesen, z. B. die
Menschheit in der Verbindung von Leib und Seele sich ver-
wirklicht.
Diese Unterscheidung der metaphysischen Wesenheit vom
physischen Wesen, die sich bei der Betrachtung der materiellen
Dinge^ in welchen Verstandesbegriff und Wahmehmungsgehalt
sich nicht decken^), dem Verstände aufnötigt, ist für sich
selbst schon geeignet, auf die vorwürfige Frage Licht zu werfen
und einen bedeutsamen Fingerzeig für die Richtung zu geben,
in welcher ihre Lösung zu finden sein wird. Wird nämlich die
metaphysische Wesenheit eines materiellen Dinges, die nicht nnr
als schlechthin eins, sondern auch als einfach zu begreifen ist,
gleichwohl durch eine Dualität realer Wesenskonstitntive (Form
und Materie) verwirklicht, so leuchtet ein, dafs der Grund der
Individualität nicht notwendig auch sofort in der Totalität des
Wesens zu suchen sei, obwohl die Individualität selbst dem ganzen
Wesen eignet
Treffend spricht sich hierüber Johannes vom hl. Thomas aus:
„Die Einheit ist eine Zuständb'chkeit (passio) des Seins und folgt
dem ganzen Sein, jedoch folgt die verschiedene Betrachtung der
Einheit den verschiedenen Betrachtungen des Seins. Als formale
und spezifische Einheit nämlich folgt sie der Form und Aktualität;
>) Arist nspl rpvx^ UI, 4, 429b 10 ff.: inet S'äXko iarl t6 fiiyed-oq
xal xh fisyed-ei slvai, xal vöatQ xal vdccti slvai' ovna 6b xal i<p kzi-
Q<ov 7toV,Qßv, d)X ovx inl ndvnav in ivlatv yag xavxov iaxi xo aagxl
eivttt xal ad^xa, d. h. in den materiellen Wesen fallen Wesensbegriff und
Wesen nicht zusammen, wohl aber in den immateriellen Wesen. Wir werden
uns überzeugen, dafs eben hierin der Grand Uegt, warum die Frage nach
dem Indinduationsprinzip für Geistwesen und Körper verschieden beant-
wortet werden moTs.
Jahrbuch für Philosophie etc I. 4
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50 Die Lehre d. hl. Thomas u. b. Schule vom Prinzip der Individuation.
inwiefern aber jene Einheit eine unmitteilbare und individuelle
ist, folgt sie dem Sein, sofern es in sich ein Prinzip der Unmit-
teilbarkeit enthält, was bei materiellen Wesen die Materie ist,
denn durch sie bestehen spezifisch gleiche Wesenheiten in in-
dividueller Besonderung. [Joh. a S. Thoma 1. c. p. 54 b.]
Bevor wir auf die nähere Darstellung und Begründung der
thomistischen Lehre von der Materie als Prinzip der Individuation
in den körperlichen Dingen selbst eingehen, erscheint es ange-
zeigt, uns über den Doppelsinn der „Form'^ in der aristotelischr
scholastischen Theorie von der Konstitution der Körper auszu-
sprechen«
Unbestreitbare Thatsache ist, dafs von Aristoteles der Aus-
druck „Form" — elöog — bald im Sinne von der das ganze
Wesen nach seinem bestimmenden und bestimmbaren Teil aus-
drückenden Wesenheit, bald im Sinne des einen Bestandteils,
nämlich der bestimmenden Form im Unterschiede ,von dem be-
stimmbaren Stoffe genommen wird. Im Zusammenhange mit diesem
Doppelsinne des Ausdrucks „Form'' soll es stehen, dafs die Ma-
terie von zwei heterogenen Gesichtspunkten aus abgeleitet werde
und infolgedessen bald zur blofsen Möglichkeit zusammenschrumpfe,
bald aber zu einem konkreten Dasein sich verdichte, von welchem
der Begriff prädiziert werde. Analog gestalte sich auch der
Formbegriff einerseits zur wirksamen Eealität der blofs leidenden
Materie gegenüber, andererseits aber verflüchtige er sich als
Wesensbegriff zum blofsen Gedankenbilde, [von Hertling, Materie
und Form und die Definition der Seele bei Aristoteles. 1871.
S. 48 ff]
Stünden wir also in der That dem für die aristotelische
Ontölogie so fundamentalen Formbegriffe gegenüber vor einer
Homonymie jener Art, wie sie Aristoteles selbst als fruchtbarste
Quelle von Irrtümern bezeichnete? [Top. 5, 2. 139 b 28. S.
Ind. Aristot. s. v. Oficovvfila.]
Man gibt zu, dafs Aristoteles an gewissen Punkten seines
Lehrgebäudes eines Unterschiedes zwischen Form und Wesen
sich deutlich bewufst war. [v. Hertling a. a. 0. S. 55.] Dafs
aber die Scholastiker der Vorwurf unbewufster Zweideutigkeit
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Der Doppelsinn der Form. 51
in diesem Funkte nicht treffe, beweist ihre Unterscheidung der
physischen und metaphysischen Form, der Teilform und der
Form des Ganzen. Der Grund der gleichen Bezeichnung scheint
uns nahe genug zu liegen. Wenn nämlich sowohl Aristoteles
als auch die Scholastiker desselben Ausdruckes für das bestim-
mende Konstitutiv einer physisch zusammengesetzten Wesenheit
und für die aus der Verbindung der beiden physischen Wesens-
bestandteile resultierende, durch diese Verbindung sich reali-
sierende Wesenheit sich bedienen, so erklärt sich dies zunächst
daraus, dafs die bestimmende Form den Grund der Wesens-
beschaffenheit bildet; denn durch seine Form gehört jedes Wesen
einer bestimmten Gattung und Art des Seienden an.
Ferner: Die Dinge sind intelligibel durch ihre Form, denn
auch die Materie, das andere Wesenskonstitutiv der Körper kann
nur nach Analogie der Form, mit Beziehung auf sie erkannt
werden. Somit fallen in diesem Betracht Form und — intelli-
gibles — Wesen zusammen.
Endlich macht in den immateriellen Wesen die Form die
ganze Wesenheit aus, physische und metaphysische Form fallen
in ihnen zusammen. Der Wesensbegriff ist durch die Form allein
verwirklicht.
Geben wir unserem Gedanken einen ganz präzisen Ausdruck!
Die Bezeichnung des Wesens als Form ist nicht allein berechtigt,
weil es die Form — die konkrete, individuelle — ist, die das
Ganze nach seiner intelligiblen Seite bestimmt, zu einem Wesen
dieser oder jener Art gestaltet, sondern vor allem auch aus dem
Grunde wird die Wesenheit mit Recht „Form" genannt, weil
sie in der That nichts anderes als (lie Form in abstrakter Fas-
sung ist Denn, da eine materielle Form zwar von dieser oder
jener, nicht aber von der Materie überhaupt getrennt gedacht
werden kann, so lallt die abstrakte Form mit der metaphysischen
Wesenheit, dem Wesensbegriff, zusammen, während die konkrete
Form sich als physischer Bestandteil des Ganzen verhält.
Ähnliches gilt von dem Doppelsinn der Materie. Es wird
nämlich nicht blofs das nach aristotelischer Auffassung jeder
substanziellen Veränderung zu Grunde liegende, in sich form-
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52 Die Lehre d. hl. Thomas a. s. Schale vom Prinzip der Individuation.
lose Subetrat, sondern vielfach auch ein bestimmter, geformter
Stoff, also ein wirklieber Körper so genannt. Die Scholastiker
haben zar Bezeichnung dieser Unterschiede die Ausdrücke materia
prima und secunda eingeföhrt.^) Nun ist aber überall voraus-
gesetzt, dafs die materia secunda, der konkrete Stoff, oder Körper,
der sich als Stoff, Materie verhält, soweit er als Substrat weiterer
Formierung dient, selbst aus der ersten Materie und einer sub-
Btanziellen Form zusammengesetzt gedacht werden müsse. Im
Werdeprozefs wird ja überhaupt nie die materia prima als solche
bearbeitet und umgeformt, sondern immer ein bestimmter, ge-
formter Stoff, ein Körper. Dieser aber erfahrt auf Grund der
Materie eine solche Umformung, die da, wo sie aufs Wesen ein-
dringt, zum Resultat einen neuen Körper hat, der seinerseits
wieder durch die erste Materie, und eine Wesensform, die an
die Stelle der vorangegangenen getreten ist, konstituiert wird.
Wie man auch sonst von dieser Theorie des Werdens denken
mag, der Vorwurf der Inkonsequenz in der Bestimmung der
Materie, deren Begriff angeblich zwischen der „abstrakten Vor-
stellung einer blofsen Möglichkeit'' und dem Gedanken an einen
konkreten, anschaulichen Stoff im gewöhnlichen Sinne des Wortes
schwankt, kann mit Fug dagegen nicht erhoben werden.
Sollte es sich also treffen, dafs irgendwo der konkrete Stoff
der Form gegenüber gestellt wird, so ist Form nicht im physi-
schen, sondern im metaphysischen Sinne zu nehmen, vorausgesetzt,
dafs überhaupt an eine wesenhafte, nicht an eine accidentelle
Form gedacht werden mufs. Die Form im metaphysischen Sinne
aber, oder der Wesensbegriff wird mit Recht dem konkreten
Stoffe, dem Körper, nicht aber der materia prima gegenüber-
gestellt, denn die konkrete Substanz resultiert nicht aus der
Verbindung des Stoffes (der materia prima) mit dem Wesens-
begriff, — eine Vorstellung, die sich der platonischen Denkweise
nähern mag, die aber sicher nicht aristotelisch ist — sondern
'} Aristoteles selbst unterscheidet die absolut erste von der beziehungs-
weise ersten Materie: rj ngbg avxb tiqcjti] § rj oXwg npcizT^ (vA>y) Metaph.
J. 4. 1015 a 9.
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Doppelsinn der Materie. Materia prima und materia secunda. 53
dieser realisiert sich durch Verbindung der materia prima mit
der physischen Form.
Was dann die doppelte Ableitung der Begriffe von Form
und Materie betrifft, so sind es zwar verschiedene, aber keines-
wegs schlechterdings heterogene und zusammenhangslose Gesichts-
punkte, von welchen diese Ableitung geschieht. Mögen aber
auch die Wege verschieden sein, Ziel und Resultat sind die
gleichen. Denn wenn das einemal der Ausgangspunkt von dem
realen Vorgänge der wesentlichen Veränderung oder der That-
sacbe des Entstehens und Vergehens von Wesen genommen wird,
das anderemal aber die Differenz zwischen dem sinnlich wahr-
nehmbaren Individuum und dem vom Verstände aufgefafsten,
aligemeinen Wesen als das der Erklärung bedürftige erscheint:
so ist der Stoff, der im ersten Falle die substanzielle Verände-
rung und im zweiten die Nichtintelligibiiität des sinnlich Indivi-
duellen erklären soll, ein und derselbe. Denn hier wie dort ge-
langt die denkende Betrachtung zur Annahme eines substanziellen,
des Andersseins empfanglichen, zerstreuenden und vervielfälti-
genden Elementes. Die Behauptung, die Materie sei Prinzip
der Individuation, will nämlich nicht besagen, dafs sie selbst
als komplete, individuelle Substanz Dasein habe, und als solche
die in ihr aufgenommene allgemeine Wesenheit kontrahiere und
individualisiere. In diesem Sinne ist wohl der Körper Indivi-
duationsgrund fiir die in ihm aufgenommenen oder aus ihm resul-
tierenden Accidenzien« Die Eontraktion des allgemeinen Wesens
zum Individuum dagegen geschieht, wie wir deutlicher sehen
werden, durch ein substanzielles Element, das Grund der Indivi-
dualität des Ganzen, des aus Form und Materie zusammengesetzten
Körpers genau in dem seiner Ifatur entsprechenden Sinne ist,
daÜB dieses Ganze in raumzeitlicher Trennung von anderen seiner
Art existiert und jene unvollkommene Einheit und ünmitteilbar-
keit besitzt, welche die Existenz gleichartiger Wesen in anderen
Teilen von Baum und Zeit nicht ausschliefst.
Das Kesultat der Vergleichung des Allgemeinen, das der
Verstand, mit dem Individuellen, das der Sinn erfafst, ist dem-
nach nicht verschieden von demjenigen, zu welchem die Betracb-
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54 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule Tom Prinzip der Individnatioii.
tiing der sabstanziellen Veränderung fuhrt : nämlich jenes unvoll-
kommene, an sich potenzielle Sein, das wir Materie {vlrj sc
xgcizT], materia prima) nennen, mit dem Unterschiede jedoch,
dafs die eine Betrachtung — des Werdens nämlich, die Materie
unmittelbar als Wesensbestandteil des Teränderlichen, substan-
tiellen Ganzen, die andere — Begriff und Anschauung Ter-
gleichende — Betrachtung aber ebendieselbe als Grund ihrer
Differenz oder Inkommensurabilität erschliefst. Denn auch der
Umstand kann nicht scharf genug betont werden, dafs die Yer-
gleichung des allgemeinen Wesens mit der konkreten Einzelexi-
stenz zur Materie nicht wie zu einem Bestandteil, der nach Art
etwa der scotistischen Häcceitäten zum Allgemeinen hinzuträte,
führt, sondern vielmehr zu ihr wie zu einer Ursache, durch welche
die konkrete Substanz als ein Individuum dieser Art neben
anderen, wirklichen oder möglichen Individuen derselben Art
kontrahiert oder beschränkt ist.
Indem wir auf die ausfiihrlichere Erörterung unseres Gegen-
standes eingehen, disponieren wir denselben in der Art, dafs wir
zuerst die erkenntnistheoretische (psychologische), und weiterhin
die ontologische oder metaphysische Begründung der thomistischen
Lehre zur Darstellung bringen.
In letzterer Beziehung werden wir einerseits die Frage nach
der Realität des Allgemeinen, andererseits den Unterschied der rein
geistigen von der körperlichen Substanz in Betracht zu ziehen haben.
An diese Hauptbestandteile unserer Abhandlung werden wir,
um auch die Schule des hl. Thomas zu Worte kommen zu lassen,
die Exposition resp. Verteidigung, welche die Theorie von der
individualisierenden Materie in ihr, d. i. in einigen ihrer hervor-
ragendsten Vertreter gefunden, anreihen. Zu schliefsen aber
gedenken wir mit einigen apologetischen Bemerkungen über den
Begriff, resp. die Fotenziali tat der Materie, die den Stein
des AnstoCses, das Hindernis der Verständigung für so viele bildet,
obgleich gerade in ihr das punctum saliens der ganzen Lehre
gelegen ist.^)
1) Wird iiämlißh die Materie als Akt bestimmt, so eignet sie sich
ebensowenig mehr zum Prinzip der Individuation der körperlichen Dinge
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Das Allgemeine Objekt der Verstandeserkenntnis. 55
Erkenntnisthearetische (logisch -psycholoffische)
Beffründung.
Logische und psychologische Probleme sind es, die man heut-
zutage unter dem gemeinsamen Namen der Erkenntnistheorie
zusammenzufassen pflegt Aufser den später zu erörternden meta-
physischen sind es aber logische und psychologische Gründe, die
zur Theorie von der individualisierenden Materie fuhren. Für
den Begrifi*, die Beweisfiihrang u. s. w. bildet das Individuelle
eine unerreichbare Grenze. Die Erklärung hiefür gibt die Psycho-
logie, indem sie die Beschränkung des menschlichen Gedankens
anf das Allgemeine aus dem Ursprung der Begriffe durch Ab-
straktion erklärt. Hiermit ist die „erkenntnistheoretisohe" Seite
der thomistischen Doktrin und der Inhalt dieses ersten Abschnittes
angedeutet.
Die Frage nach dem Individuationsprinzip entspringt aus
der Thatsache des Allgemeinen, dessen Bestehen wenigstens in
der Ordnung des Erkennens unleugbar ist. [Intellectns est cog-
noscitivus universalium, ut per experientiam patet. Differt igitur
intellectus a sensu. Contr. gent. 1. 2. cap. 56.] Es ist eine
Thatsache, dafs es allgemeine Vorstellungen gibt. In den Eleaten
richtete sich zuerst die Aufmerksamkeit des philosophischen Geistes
auf diese Thatsache und vor dem neuen Lichte^ das ihm aufging,
trat eine Zeit lang die bunte Welt der Sinne in tiefen Schatten
zurück. Für Sokrates diente dieselbe Thatsache als Mittel, um
den Sensualismus der Sophisten aus den Angeln zu heben, und
zunächst für Sitte und Recht die soliden Grundlagen fester Be-
griffe und ewig giltiger Normen zu vindizieren.
Aristoteles stellt den Grundsatz auf, das Allgemeine sei
Gegenstand der Vernunft, das Einzelne der Sinne.^) Boethius
und zur Erkiärnng der Nichtintelligibilität des sinnlich ludividuellen als
zam Substrat einer substanziellen Veränderung.
0 Phys. auscult. 1. I. c. 5: 189 a 5 ro xaO-okov xatä tov Xoyov
yvwptfiov, z6 xad^ k'xaaxov xara zt^v aiad^aiv. De anima 1. II. c. 5. 417 b.
23. rc5v xad^ k'xaaxov jj xad-' ivi^yeiav atoB^aig, j} ^imazruitj zwv
xaS^Xov,
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56 Die Lehre d. hl. Thomas a. s. Schule vom Prinzip der Individuation.
formuliert deuselben Grundsatz in den vom hl. Thomas an un-
zähligen Stellen wiederholten Worten : „Universale est, dum in-
telligitnr, singulare, dum sentitur. [Boeth. super Frolegom. Por-
phyr, in praedicabil. Vgl. Kleutgen, Philosophie der Vorzeit
I. S. 53 ff. l^ach Kleutgen sind die intellektuellen Vorstellungen
von den sinnlichen dadurch verschieden, dafs die Sinne immer
nur Einzelnes und dieses nur nach seinen äufseren Erscheinungen
wahrnehmen, die Vernunft aber auch das Wesen, und dieses
sowohl als jenes durch allgemeine Vorstellungen denke. S. S.
Th. 2. 2. qu. 8. art. 1.]
Es ist dieselbe Thatsache, von der die Kantsche £ritik
ihren Ausgangspunkt genommen, dieselbe, auf welche Hegel
den luftigen Bau seines absoluten Rationalismus aufgeführt hat.
Die Thatsache selbst leugnen, wie vom Empirismus und Sen-
sualismus geschieht, heifst vor der Helle des Tages das Auge
verschliefsen, und dem Menschen mit ihrem Objekte, dem All-
gemeinen, die Vernunft selbst, d. h. die Quelle alles desjenigen,
was ihn über ein blofs tierisches Dasein erhebt, rauben.
Je mehr nun aber das Allgemeine betont wird, desto mehr
erscheint die Individualisierung, mit der es den Sinnen sich
kundgibt, rätselhaft, desto nachdrücklicher erhebt sich die Frage
nach ihrem Grunde. Wodurch geschieht es, dafs die allgemeine
Natur der Rose, die der Lilie u. s. w., die sich, wie es scheint,
doch allein vor dem Forum der Vernunft legitimieren, für die
Sinne, die der Wirklichkeit näher zu stehen scheinen, nicht
anders als in individueller Konkretion und Beschränktheit sich
darstellen? [In cognitione humaua fundamentum et origo est
sensus, unde propinquior est rei extraneae, supra quam tota actio
virium sensitivarum fundatur. De princip. individui cap. I. Die
Echtheit dieser Schrift ist ohne genügenden Grund angezweifelt
worden. Vergl. hierüber die vierzehnte Abhandlung Bemards
de Rubeis (Abgedruckt im ersten Bande der neuen römischen Aus-
gabe der Gesamtwerke des hl. Thomas p. CCLXIV.) Nach einer
Bemerkung Cajetans in seinem Kommentar zur Schrift de Ente
et Essentia in cap. IL quaest. IV. (Venetiis 1588 p. 8) bildet
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Inwiefern der Verstand das Einzelne erkennt. 57
die genannte Schrift vom Individuationsprinzip einen Teil von
einer gröfseren, de potentiis cognoscitivis betitelten Schrift.]
Der das Allgemeine hypostasierende, sogenannte extreme
Realismus, der (wenn konseqnent durchgeführt) echte und eigent-
liche Monismus, steht vor dieser Frage, wie vor einem völlig
unlösbaren Problem. Er weifs den gordischen Knoten nur nach
der Weise Alexanders zu lösen. Er zerhaut ihn, indem er die
Individualität und die Sinneserkenntnis überhaupt für Täuschung
und Schein erklärt
Indes, wenn gesagt wird, der Verstand erkenne nur das
Allgemeine, der Sinn das Einzelne, so soll damit der Verstand
nicht ganz und gar von der Erkenntnis des Einzelnen ausge-
schlossen werden. Wie könnten wir sonst Urteile fällen, in denen
ein an sich allgemeines Prädikat von einem einzelnen Subjekte
ausgesagt wird, wie könnten wir z. B. sagen : Petrus ist Mensch,
dieser Baum ist grün? Denn darüber kann kein Zweifel ob-
walten, dafs derartige Urteile dem Verstände angehören. Wie
kann aber der Verstand ein Prädikat von einem Subjekte aus-
sagen, das er in keiner Weise erkennt?
Die Wahrheit ist, dafs auch der Verstand irgendwie das
Einzelne erkennt, nämlich indirekt und durch Reflexion auf den
eigenen Akt und dessen Objekt oder Materie. Dies ist Lehre
des hl. Thomas, der sich seinerseits auf Aristoteles berufl. Bevor
wir die berühmte Stelle selbst ins Auge fassen, worin Thomas
seine Ansicht von der indirekten Erkenntnis des Einzelnen durch
den Verstand ausgesprochen findet, wollen wir zu zeigen ver-
suchen, dafs, und wie der Verstand das Einzelne, Individuelle
indirekt und durch Reflexion erkenne.
Wie ist es also gemeint, wenn man sagt, der Verstand er-
kenne das Einzelne indirekt? Es bedeutet zunächst negativ,
dafs der Verstand kein Bild, keine eigentliche Species, keinen
Begriff der individuellen Wesenheit, oder der letzten das Indi-
viduum in der Linie seiner Kategorie bestimmenden — indivi-
duellen — Differenz besitze, dafs diese für ihn eine unüberwind-
liche Schranke bilde. Aus diesem Grunde gibt es keine Definition,
sondern nur eine Beschreibung des Individuums, d. i. ein Xon-
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58 Die Lebie d. hl. Thomas a. s. Schule vom Prinzip der Individuation.
glomerat zufalliger BestimmuDgen, das sich selbst wieder ans
lauter Allgemeinheiten zusammensetzt.
Die Sprache ist Ausdruck der Vernunft. Wäre also das
Individuum nach seinem eigentümlichen Wesen (scholastisch ge-
sprochen: Die Individualität in actu exercito) der Vernunft zu-
gänglich, so müfste die Sprache es auszudrücken imstande sein.
Aber die Sprache vermag dies nicht. Der Eigenname, der es
versucht, ist entweder geradezu sinnlos, oder er erfafst das Wesen,
das er benennen will, doch nur wiederum in einem allgemeinen
Merkmal, d. h. er erfafst es nicht. Das Individuum flieht ewig
vor der Sprache, d. h. vor der Vernunft.
Man wirft uns ein : Ist denn nicht das Wort etwas durchaus
Individuelles? Bestätigt also nicht gerade die Sprache vielmehr
das Gregenteil von unserer Behauptung, d. h. die Ansicht A&f
Sensualisten, dafs alle Vorstellungen individuell seien, dafs es
eine allgemeine Vorstellung überall nicht gebe? Es ist wahr,
dafs jede Vorstellung individuell ist als Akt, als Thätigkeit des
Vorstellenden, psychologisch betrachtet Dies gilt auch von der
intellektuellen Vorstellung. Sieht man aber die Vorstellung nach
ihrer logischen Seite an, betrachtet man sie nach ihrem Er-
kenntnisgehalt, so ist jede intellektuelle Vorstellung allgemein.
Analoges gilt von der Sprache. Der Laut ist individuell, aber
der Laut ist nicht das Wort. Das Wesen des Wortes macht
der Sinn, der Erkenntnisgehalt — und dieser ist immer allge-
mein. Man versuche es, das Individuelle auszusprechen! Man
wird das Unmögliche versuchen.
In einer höchst drastischen Weise tuhrt Hegel den Beweis
der Nichtintelligibilität des sinnlich Individuellen, und basiert
darauf sein System des absoluten Bationalismus. In der Phäno-
menologie des Geistes, welche die Grundlage seines logischen
Pantheismus enthält, sucht er an den allgemeinen Bestimmungen
der individualisierenden Bedingungen, dem Hier und Jetzt, die
ausschliefsliche Erkennbarkeit des Allgemeinen für den Verstand
und damit in seinem Sinne die ausschliefsliche Realität des All-
gemeinen zu erweisen. Nicht dieser Beweis, wohl aber un-
zweifelhaft jener ist ihm gelungen. Er fragt: „Was ist das
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Hegel Über die Nichtintelligibilität des Einzelnen. 59
Dieses?^' Nehmen wir es in der gedoppelten Gestalt seines Seins,
als des Jetzt nnd als des Hier, so wird die Dialektik, die es
an ihm hat, eine so verständliche Form erhalten, als es selbst
ist Auf die Frage: Was ist das Jetzt? antworten wir also zum
Beispiel: Das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser
sinnlichen Gewifsheit zn prüfen, ist ein einfacher Versuch hin-
reichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf, eine Wahrheit kann
durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, dafs
wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die auf-
geschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen,
dafs sie schaal geworden ist." [Hegel, System der Wissenschaft.
Erster Teil, Phänomenologie des Geistes. 1807. S. 25. Vgl.
Staudenmeier, Darstellung und Kritik des Hegel'schen Systems.
Mainz 1844. S. 255.]
Was ist das Resultat dieser Dialektik, die durch das
Dieses, das Jetzt, das Hier durchgeführt wird? Dafs in
den wechselnden Dieses nur das Dieses, in den wechselnden
Jetzt nur das Jetzt, in den wechselnden Hier nur das Hier
überhaupt, in Allem nur das Allgemeine das wahrhaft: Seiende
und der innerste Kern des Sinnlichen sei. Dies bestätigt, ver-
sichert uns Hegel, und wie wir sahen, in einem gewissen Sinne
mit Recht, die Sprache. „Als ein Allgemeines sprechen wir
auch das Sinnliche aus: was wir sagen, ist: Dieses, das heifst
das allgemeine Dieses; oder es ist: das Sein überhaupt.
Wir stellen uns dabei freilich nicht das allgemeine Dieses oder
das Sein überhaupt vor, aber wir sprechen das Allgemeine
aus: oder wir sprechen schlechthin nicht, wie wir es in dieser
sinnlichen Gewifsheit meinen. Die Sprache aber ist, wie wir
sahen, das Wahrhaftere; in ihr widerlegen wir selbst unmittelbar
unsere Meinung, und da das Allgemeine das Wahre der sinn-
lichen Gewifsheit ist, und die Sprache nur dieses Wahre aus-
drückt, so ist es gar nicht möglich, dafs wir ein sinnliches Sein,
das wir meinen, je sagen können." [Hegel, a. a. 0. S. 26 f.]
Bis hieher können wir in dem oben bezeichneten Sinne nnd
mit Ausschlufs des über die Wahrheit der sinnlichen Gewifsheit
Gesagten mit Hegel gehen, nicht weiter. Intelligibel ist uur
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60 Die Lehre d. hl. Thomas a. s. Schule vom Prinzip der Individuation.
das Aligemeine, nicht das Einzelne. Das Einzelne ist wahr-
nehmbar, nicht begrifflich fafsbar. Die Sprache, die Aufserung
der Vernunft, drückt daher das Allgemeine, nicht das Einzelne,
Individuelle aas. Ist nun deshalb, wie Hegel uns glauben
machen will, das Allgemeine das wahrhaft Seiende? Mit nichten!
Oder auch nur fiir den Verstand das allein Erkennbare? Ebenso
wenig. Doch hie von später! Zunächst möge nur hervorgehoben
werden, dafs wir das Einzelne in der sinnlichen Erkenntnis
ebenso sicher, fest, unentreifsbar besitzen, wie das Allgemeine
in der intellektuellen.
Vergebens nämlich ergiefst sich die ätzende Lauge Hegel-
scher Dialektik über das in der sinnlichen Erkenntnis aufzu-
zeigende, in ihr unmittelbar gegebene Individuelle. Indem diese
Dialektik das in sinnlicher Anschauung und Erfahrung unmittelbar
Gegenwärtige in das Allgemeine auflösen UQd verflüchtigen will,
macht sie sich einer petitio principii schuldig. Sie sucht das
Unaussprechliche auszusprechen, und da ihr das nicht gelingt,
erklärt sie es als ein Nichtseiendes, als ein trügerisches Blend-
werk, womit der aufser sich geratene Begriff sich selber neckt
Es ist der Rationalismus, der von vorneherein die Erfahrung
negiert und mit dem Vorurteil der ausschliefslichen Berechtigung
des Vernunfbbegriffs an die sinnlich wahrnehmbare Existenz
herantritt Demgemäfs lautet das Schlnfswort der dialektischen
Erörterung [a. a. 0. S. 37.]: „Will ich aber dem Sprechen,
welches die göttliche Natur hat, die Meinung unmittelbar zu
verkehren, zu etwas anderem zu machen, und so sie gar nicht
zum Worte kommen zu lassen, dadurch nachhelfen, dafs ich
das Stück Papier aufzeige, so mache ich die Erfahrung, was
die Wahrheit der sinnlichen Gewifsheit m der That ist; ich
zeige es auf als ein Hier, das ein Hier anderer Hier, oder an
ihm selbst ein einfaches Zusammen vieler Hier, das heifst, ein
allgemeines ist, ich nehme so es auf, wie es in Wahrheit iet,
und statt ein unmittelbares zu wissen, nehme ich wahr.''
So entschieden wir die sophistische Dialektik, die einseitig
rationalistische Tendenz und den Pantheismus der Hegerschen
Philosophie nicht allein vom Standpunkt der geoifenbarten Keli-
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Verschiedenheit des ration. Standpunkts Hegels vom aristotel. 61
gion, sondern aus Yernunftgründen verurteilen, so wenig stimmen
wir andererseits in die darch den herrschenden Fositivismus zur
Mode gewordene Geringschätzung Hegels ein. Dem Positivismus
gegenüber ist Hegel unzweifelhaft im Rechte, wenn ihm das
Allgemeine als Gegenstand des menschlichen Wissens gilt. Nur
übersah er ein Zweifaches, dafs diese Art zu wiesen, wie wir
sogleich uns überzeugen werden, eine endliche, unvollkommene,
nicht das absolute Wissen ist, und dafs das Allgemeine, das
wir wissen, das Allgemeine des Einzelnen, dieses aber das wahr-
haft Beiende, die prima substantia ist.
Immerhin vertritt, wie gesagt wurde, die Hegeische Philo-
sophie ein bedeutsames Moment der Wahrheit. Der Hegel'sche
Trödelladen, wie ein positivistischer Geschichtsfälscher der Philo-
sophie sich ausdrückt [Lowes, Geschichte der Philosophie von
Thaies bis Comte. Zweiter Band. Deutsche Übersetzung. Berlin
1876. S. 683.], und wobei die Begriffe von Materie und Form,
Allgemeinheiten, das Mögliche und Wirkliche, der Logos, das
Eine und Viele, das Sein als Trödelmarkt gebrandmarkt werden,
enthält wohl mitunter auch kostbaren Hausrat der Philosophie,
der nicht veräufsert oder gering geachtet werden darf, ohne die
Philosophie selbst in ihren vitalsten Interessen zu schädigen.
Freilich enthält die Hegel'sche Philosophie diesen unentbehrlichen
Hausrat in ganz falscher Anwendung! Denn der Jünger Comtes
täuscht sich, wenn er meint, die „abgestandenen Trugschlüsse
des Altertums und des Mittelalters" seien es, was im Hegel'-
sehen System ausverkauft werde, und es sei die Absicht dieses
Systems, uns für immer an die Gesellschaft von Plato und
Aristoteles und Plotinus zu fesseln. [Derselbe a. a. 0.]
Zwischen Aristoteles und Hegel gähnt vielmehr ein Abgrund,
der nicht zu überbrücken ist. Obgleich nämlich beiden der
Gedanke, dafs menschliche Vernunft und Wissenschaft das All-
gemeine zum Objekte haben, gemeinsam ist, so gehen sie doch
in der Beurteilung des Allgemeinen gänzlich verschiedene Wege.
Das wahrhaft Wirkliche ist nach Aristoteles das Einzelne, nicht
das Allgemeine, die erste, nicht die zweite Substanz. Gerade
in dieser Unterscheidung zwar glaubte man, seitens der Hegel-
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62 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip der Individuation.
sehen Schule einen fundamentalen Widerspruch des aristotelischen
Systems erblicken zu sollen. Mit unrecht! Man wufste nämlich
nicht zwischen dem Inhalt des allgemeinen Begriffs, der in
jedem Einzelnen verwirklicht ist, und der Form der Allgemein-
heit, die eine Zuthat des abstrahierenden Verstandes ist, zu
unterscheiden. In dem die menschliche Vernunft vergötternden
absoluten Nationalismus galt gerade diese Zuthat, das schatten-
hafte ens rationis, als das wahrhafte Sein, und die Seine weise,
welche die Dinge in der unvollkommensten aller Intelligenzen,
dem abstrahierenden und ratiocinierenden Menschengeiste, an-
nehmen, zugleich als die vollkommenste und allein wahre, ihrer
Natur allein entsprechende.
Anders urteilt ein besonnenes Benken. Bas Allgemeine ist
weder die vollkommenste Seinsweise, noch auch die der Natur
des Seienden entsprechende. Daher entbehrt denn auch das
Einzelne nicht, wie Hegel meint, schlechthin der Intelligibilität,
und zwar ist es für die menschliche Vernunft in zweifacher
Weise erkennbar. Erstens nämlich sehen wir ein, dafs das All-
gemeine als solches unbestimmt und deshalb der Existenz un-
fähig ist. Es gibt kein allgemeines Sein, sondern nur so oder
anders Seiendes, keine allgemeine Substanz, sondern nur diese
oder jene bestimmte, körperliche oder geistige, lebendige oder
leblose Substanz u. s. w. Wie weit diese Bestimmung gehe, ob
nur bis zu letzten Arten, d. h. zu Einzelheiten, die sich specifisch
unterscheiden, oder zu solchen, denen der specifische Wesens-
begriff gemein ist: das ist eine Frage, die vorläufig dahin gestellt
bleibt, da sie zu den Problemen unserer Untersuchung gehört.
In jedem Falle aber ist nur das Einzelne wirklich, und singulär
ist selbst der Gedanke (conceptus formalis), in welchem der G-eist
das Allgemeine denkt.
Nicht allein jedoch in dieser aprioristischen Weise ist das
Einzelne der menschlichen Vernunft erkennbar, sondern auch in
einer anderen, die der englische Lehrer als eine Erkenntnis
durch Reflexion bezeichnet und die nach ihm die Grundlage
aller singulären Urteile bildet. Er spricht sich hierüber in seinem
Kommentar zu den Büchern von der Seele und an anderen Orten
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Thomas über die indirekte Erkenntnis des Einzelnen durch Beflezion. 63
ans. „Gleichwie wir den unterschied des Süfsen und Weifsen
nicht empfinden könnten, wenn es nicht ein gemeinsames sinn-
liches Vermögen gäbe, das beides erkennt, so würden wir auch
nicht das Verhältnis des Allgemeinen und Einzelnen vergleichend
erkennen können, wenn nicht ein Vermögen wäre, welches beides
erkennt Der Intellekt also erkennt beides, aber auf ver-
schiedene Weise. Die specifische Natur oder die Wesenheit
(qaod quid est) erkennt er direkt, indem er sich ausdehnt (ex-
tendendo se ipsum, d. h. indem er sich zum Erkenntnisobjekt
formt, dadurch sich gewissermafsen erweitert oder ausdehnt),
das Einzelne selbst aber durch eine gewisse Reflexion, insofern
er zu den Phantasmen sich zurückwendet, von denen die in-
telligiblen 8pecies (Erkenntnisformen) abgezogen werden. [In
1. III de Anima lect. Vni. Yivhs p. 162.)
Der Intellekt bedient sich nämlich nach Thomas der sinn-
lichen Vorstellung (phantasma) zu einem zweifachen Zwecke,
erstens um aus ihr die allgemeine Natur des Gegenstandes zu
abstrahieren, wie z. B. der Geometer im einzelnen vorgestellten
Dreieck die allgemeine Natur des Dreiecks ins Auge fafst,
zweitens dazu, um durch Reflexion auf seine abstrahierende Thä-
tigkeit das Individuum selbst indirekt und ohne ein ent-
sprechendes intelligibles Erkenntnisbild [Vgl. P. Salis-
Seewis, Della conoscenza sensitiva. Prato 1881. part. I. cap. 9.
art. 2.] aufzufassen als letztes Subjekt der Prädikation. [S. Th.
I. qu. 86. art. 1: „Indirecte et quasi per quandam reflexionem
potest (sc. intellectus noster) cognoscere singulare. Quia . . .
etiam postquam species intelligibiles abstraxerit, non potest secun-
dum eas actu intelligere, nisi convertendo se ad phantasmata, in
quibus species intelligibiles intelligit, ut dicitur in III. de Anima,
text. 32. Sic igitur ipsum universale per speciem intelligibilem
directe intelligit, indirecte autem singularia, quorum sunt phan-
tasmata. Et hoc modo format hanc propositionem: Socrates est
homo." De Veritate qu. 8. art. 11: „nos universalem cogni-
tlonem singularibus applicamus, quae in cognitione nostra sensi-
tiva praeexistunt.'^ Ferner Quaest. disp. de Anima art. 20.
Quodlibet 12. art. IL]
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64 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip der Individuation.
Von dieser reflexen Erkenntnis des Einzelnen handelt naofa
Thomas Aristoteles an jener schwierigen Stelle, wo es heifst,
dafs die Seele, ,,darch ein anderes entweder Getrenntes oder ein
solches, das sich verhält wie die gebogene Linie zu sich selbst,
wenn sie gestreckt ist, das Sein (die Wesenheit) der Sache er-
kenne.'*^) „Und dieses ist es, — so fahrt kommentierend Thomas
an der angerafenen Stelle fort — was er sagt, dafs die Seele
durch die Sinnlichkeit das Fleisch erkennt, und durch ein „an-
deres'* — alio, d. h. durch ein anderes Vermögen, das Sein des
Fleisches unterscheidet, entweder ein getrenntes, wenn nämlich
das Fleisch durch den Sinn und das Sein des Fleisches durch
den Verstand erkannt wird; oder durch dasselbe, das sich nur
anders verhält, nämlich wie die gebogene Linie sich zu sich
selbst verhält, erkennt die intellektive Seele das Fleisch, welche
gestreckt das Sein des Fleisches unterscheidet, d. h. direkt er-
fafst sie die Wesenheit des Fleisches, durch Aeflexion aber das
Fleisch (in seiner sinnlichen individuellen Xonkretheit) selbst/'
[Et hoc est quod dielt, quia sensitive cognoscit carnem, „alio'',
id est alia potentia, „discemit esse carni^' id est quod quid est
carnis, „aut separata'^, puta cum caro cognoscitur sensu et esse
carnis intellectu, aut eodem aliter se habente, scilicet „sicut cir-
cumflexa se habet ad seipsam'^ anima intellectiva cognoscit car-
nem, quae cum extensa sit, cognoscit esse carni, id est directe
apprehendit quidditatem carnis, per reflexionem autem ipsam
carnem. Johannes a. S. Thoma 1. c. t. III p. 471 gibt den aristo-
telischen Text in folgender Fassung: Q,uod anima sensitiva parte
discemit calidum et frigidum, quorum quaedam est ratio caro,
alia vero esse carnis discemit aut separabili, aut sese habente
^) Die Stelle uebst dem unmittelbar Vorangehenden lautet: rc/J fjihv
ovv alad-rjTixw xo d-egfibv xal x6 tpvxpov xqIvbl, xal ibv koyog zig ^
adgS' dX},(p 6e rjroi x^Q^^'^^ V ^^ V xexkaafiBvri BXft- ngog avr^v otav
ixraSj, to aagxl elvai xqIvbi. De Anima HI, 4, 429 b 14. Der vor-
liegende Text gibt in der Erklärung des hl. Thomas einen vollkommen
zulässigen Sinn, ohne dafs man zu einer Textänderung (aiad-tjzixfj) in
aia&TfZ(p) nach dem Vorgange Brentanos (Die Psychologie des Aristoteles,
insbesondere seine Lehre vom vovg noir^zixog. Mainz 1867. S. 134 Anm. 59.)
zu greifen genötigt wäre.
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Der Grand der mangelnden Intelligibilität des Individuellen. 65
ad seipsam, perinde ac eese habet, cum extensa fnerit linea flexa,
wozu derselbe Autor bemerkt: Ita ae habent Aristo teils verba,
ex quibus D. Thomas aliique interpretes sumseruut hanc locu-
tionem, quod intellectus, qui Yocatur a philosopho pars animae
separabilis, cognoscit esse carnis, cum se habet quasi linea ex-
tensa, rationes vero individuales in carne, ut frigidom et calidum
attingit parte sensitiva seu per sensum et quasi per lineam
flexam ab intellectu. Vgl. über den aristotelischen Text auch
Neuhäuser, AristoteW Lehre von dem sinnlichen Erkenntnis-
vermögen und seinen Organen. 1878. S. 14 ff.]
Der Verstand also erkennt das Individuelle, jedoch nur
indirekt, nach seinem Bas ein und sofern es Subjekt, Träger
des Allgemeinen ist, nicht aber nach seinem eigentümlichen
Wesen, nicht durch eine Erkenntnisform, welche die individuelle
Differenz ebenso zum unmittelbaren Ausdruck brächte, wie der
Wesensbegriff das den Individuen einer Art Gremeinsame.
Es erhebt sich demnach die Frage: Worin liegt der Grund
des Mangels der Intelligibilität des Individuellen? Liegt er in
der Individualität als solcher? Dem Gesagten zufolge müssen
wir dies verneinen; denn da alles Seiende notwendig etwas Be-
stimmtes, also Singuläres ist, so kann offenbar die Individualität
als solche der Erkennbarkeit durch den Verstand kein unüber-
windliches Hindernis entgegensetzen.
Oder aber haben wir den Grund der Nichtintelligibilität
körperlicher Individuen eben in dieser Körperlichkeit, in ihrer
Materialität zu suchen? Die Bejahung dieser Frage scheint
durch die Theorie von der Materie als Grund der Individualität
der Körper gefordert zu werden. Und doch ist dem nicht so,
und würde selbst diese Annahme uns unfehlbar in die Strömung
des absoluten Rationalismus hineinziehen. Der englische Lehrer
selbst belehrt uns eines andern^ indem er annimmt, dafs Gott
und die reinen Geister die körperlichen Individuen erkennen,
was unmöglich wäre, wenn Körperlichkeit und Materialität ein
absolutes Hindernis der Intelligibilität bilden würden. Von einer
Vorsehung im christlichen Sinne könnte unter jener Voraus-
setzung nicht mehr die Bede sein.
Jahrbuch fQr Philosophie etc. I. 5
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66 Die Lehre d. hl. Thomas n. s. Schale vom Prinzip der Individaatioii.
Wie ist al&o, wenn die angedeuteten Klippen vermieden
werden sollen, die aufgeworfene Frage endgültig zu beantworten?
Der Grund der mangelnden Intelligibilität des sinnlich In-
dividuellen — denn um dieses allein kann es sich, wie leicht
einzusehen, nur mehr handeln — darf allein in dem besonderen
Verhältnis gesucht werden, in welchem der menschliche Intellekt
zur Eörperwelt steht, nämlich, um es mit wenigen Worten zu
sagen, in der Abhängigkeit von der sinnlichen Wahrnehmung,
infolge deren er seine Begriffe durch Abstraktion aus den in Sinn
und Phantasie gebildeten Vorstellungen (Phantasmen) schöpft
Nicht die Immaterialität des Intellektes und nicht die Ma-
terialität der körperlichen Individuen an sich enthalten den Grund
der mangelnden Intelligibilität der letzteren, sondern dieser liegt
vielmehr darin, dafs der Mensch die Dinge nur auf dem Wege
der Abstraktion, d. i. einer successiven Läuterung, wenn
ich 80 sagen soll, Dematerialisierung, erkennen kann. [I. S. Th.
qu. 56. art. 1. ad 2. Singularium, quae sunt in rebus corpora-
libus non est intellectus apud nos non ratione singularitatis, sed
ratione materiae, quae est in eis individuationis principium.
Opuscul. XXV (al. XXIX) de Principio Individuationis
c. 1. Cum in ipso suo objecto figitur acies (intellectus), rationem
universalis apprehendit qnod solum in istis inferioribus ab intel-
lectu determinatur ut proprium objectum, cum omnia singularia
apud nos materialia sunt; materia enim impedit intellectum
(d. h. die Materie vermag den Intellekt nicht zu bestimmen, in
ihm kein Erkenntnisbild von sich zu erzeugen), singulare
vero non: materia namque non est scibilis nisi per analogiam ad
formam. Si autem esset apud nos singulare et insensibile et
immateriale, ipsum per se sine aliqna abstractione cognosceretur,
quia singularitas non impedit intellectum, sed mate-
rialitas. (Vives 1. c. p. 465.) Mit prägnanter Kürze spricht
sich der hl. Bonaventura aus: Ad illud, quod objicitur de
immaterialitate intellectus, dicendum, quod hoc, quod non cog-
noscat singularia, non tan tum venit ex immaterialitate,
immo ex materialitate conjuncti et immaterialitate sui.
Quoniam enim conjungitur corpori, ideo habet potentias, secundum
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Die Nichtintelligibilität der körperlichen Individaen dne relative. 67
quas dependet a corpore qaantum ad operationem^ et per quas
intellectas, quamdin est in corpore, exit ad exteriora, quia illae
sunt mediae, scilicet sensas particularis et imaginatio. Quoniam
ei^ singulare non pervenit ad intellectnm nisi per istas poten-
tias, et ascensus per has est secnndnm abstractionem et
depnrationem, et abstractio facit de singulari aniyersale: ideo
non potest singulare cognoscere ut intellectuSy nisi sit intellectus
separatus vel divinus. In I. Sent. dist. 39. art 1. qu. 2. ad arg.
(des ersten Bandes der neuen Ausgabe 8. 689). Vgl. Sanse-
verino, Dynamilog. II p. 584, wo sich auch hieher gehörige
Texte aus Albert d. Grofsen finden.]
Hier eröfinet sich zugleich der erkenntnistheoretische Weg,
der uns zum Grrunde der Individuation der körperlichen Dinge
führt
Wir werden' nämlich schliefsen müssen, dafs dasjenige, was
mit der fortschreitenden Ercinigung des Körperlichen als der Be-
dingung, unter welcher allein dieses in den denkenden Geist
aufgenommen werden kann, sich sozusagen verflüchtigt, was im
Prozefs der Abstraktion abgestreift wird, seinen Grund nur in
der Materie haben könne.
Die Nichtintelligibilität der körperlichen Individuen ist dem-
nach eine relative, die nur für den menschlichen Geist besteht:
eine Lehre von eminenter Tragweite, weil sie den philosophischen
Rationalismus in der Wurzel zu zerstören geeignet ist
Sachen wir nun die verschiedenen Momente der thomisti-
sehen Doktrin festzustellen, in deren Zusammenhang die Theorie
vom Grunde der Individuation ihre scharfe Beleuchtung empfangt
In Betracht zu ziehen ist das Verhältnis, in welchem der mensch-
liche Intellekt zu den Körpern steht im Vergleiche und Gegen-
satze zum göttlichen und rein geistigen Erkennen.
Gott erkennt die Dinge nach Form und Materie durch sein
virtuell und eminent alles Sein enthaltendes unendliches Wesen;
denn auch die Materie, obgleich nur potentielles Sein, ist nicht
wesenlos, nicht reine Privation, besitzt also eine Idee in Gott,
und ist als eine Abschattung des göttlichen Wesens, wenn auch
die unvollkommenste, erkennbar für Gott.
6*
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68 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip der IndividuatioD.
Ferner: Grott ist wirkende, gleichsam künstlerische Ursache
der Dinge nicht nur nach ihrer Form, sondern nach ihrem ganzen
Sein, und nnterscheidet sich dadurch vom menschlichen Künstler,
der nar einen vorhandenen Stoff umzubilden vermag. Aus diesem
Grunde erkennt Gott nicht nur die Gattungen und Arten, gleich-
sam die künstlerischen Typen, sondern auch die Individuen, in
denen diese Typen realisiert sind.
Wie Gott, so erkennen auch die reinen Geister die in-
dividuellen körperlichen Dinge. Denn wie die Dinge real, durch
Schöpfung aus nichts, aus Gott gewissermafsen ausgeflossen sind,
80 sind sie ideal oder nach ihrem in Gottes Wesen gründenden
idealen Sein den Intelligenzen eingeflöfst worden. Infolgedessen
erkennen diese die materiellen Wesen durch Ideen oder Er-
kenntnisformen (species), welche ihnen die Dinge nicht blofs
nach ihrer formalen Einheit, nach ihren Wesensbegriffen, sondern
auch nach ihrer individuellen Einheit repräsentieren, mit anderen
Worten, sie erkennen nicht, wie der menschliche Geist, durch
allgemeine Begriffe, sondern durch Ideen, die den vorbildlichen
göttlichen Gedanken in Bezug auf konkrete Fülle und lebendige
Aktualität ähnlich sind, also nicht blofs die allgemeinen, sondern
auch die individuellen Wesenheiten.
Anders ist es bestellt um den menschlichen Intellekt. Ur-
sprünglich entblöfst von allen Erkenntnisformen, ist er von Natur
durch die wesenhafte Verbindung mit einem organischen Leibe
darauf angelegt, das ihm Fehlende aus den materiellen Dingen
zu schöpfen. Diese wirken auf ihn, nicht allein „eingeschläferte'^
ideale Keime weckend und die Richtung seiner Thätigkeit
bestimmend, sondern die Ideen oder Begriffe in ihm erzeu-
gend, und zwar dadurch, dafs sie zunächst den Sinnen und
durch diese der Einbildungskraft ihre immateriellen, aber
doch nur die äufsere Erscheinung repräsentierenden und daher
mit dem „Hier** und dem „Jetzt" behafteten Bilder einprägen,
weiterhin aber durch diese ihre Repräsentanten auf das höhere
— geistige — Erkenntnisvermögen, den möglichen Verstand
einwirken, um in ihm unter dem reinigenden und vergeistigenden
Einflufs des thätigen Verstandes den von jeder Zufälligkeit
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Die Nichtintelligibilität der köiperlichon Individaen. 69
des Hier and Jetzt befreiten reinen Wesensbegriff herrorza-
bringen.
In diesem Prozesse wirken die Dinge anf die menschlichen
Erkenntniskräfte dnrch das diesen Verwandte, nämlich durch ihre
f orm, während die Materie wegen der Schwäche ihres
Seins zwar dem niederen Erkenntnisvermögen in seiner orga-
nischen Beschränktheit nach ihrer zeiträumlichen Daseinsweise,
dem höheren anorganischen Erkenntnisvermögen aber überhaupt
nicht direkt sich zu offenbaren vermag.
Sonach erkennt der Intellekt in diesem Kontakte mit den
Dingen nur ihre Form und was aus der Form stammt, das
metaphysische Wesen und die formale Einheit, nicht aber die
Materie, und was aus ihr entspringt, die individuelle Einheit
and das individuelle Wesen.
Denn da die individuelle Einheit der körperlichen Dinge
durch die getrennte Existenz in Saum und Zeit bedingt ist, das
dem Saume und der Zeit unterworfene Dasein aber in der Materie
seinen Grund hat^ so ist dieselbe auch Grund der Individuation,
jenes unvollkommenen Insichseins nämlich, welches das gleich-
gütige Nebeneinandersein mehrerer Individuen derselben Art
nicht ausschliefst Die Folge — die Individuation — partizipiert
demnach an der Unerkennbarkeit des Grundes — der Materie.
[Dafs und wie der Verstand auch die Materie erkenne, darüber
belehrt uns de veritate qu. X. art. 4.: In mente enim acci-
piente scientiam a rebus formae existunt per quandam actionem
renim in animam: omnis autem actio est per formam; unde formae,
quae sunt in mente nostra, primo et principaliter respiciunt res
extra animam existentes quantum ad formas earum. Hierauf
werden zwei verschiedene Arten von Formen unterschieden, solche,
die eine bestimmte Materie nicht fordern. — von der Art sind
die mathematischen Formen — und solche, die eine bestimmte
Materie erheischen. Von den letzteren wird gesagt, dafs aus
ihnen die Materie aliquo modo erkannt werde, scilicet secundum
habitudinem, quam habet ad formam, wie auch Aristoteles lehre:
quod materia prima est scibilis secundum analogiam ad
formam.]
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70 Die Lehre d. hl. Thomas u. b. Schale vom Prinzip der Individaation.
Umgekehrt aber mafs geschlossen werden : da die voltstän-
dige Reinigung von der Materie, die völlige Yergeistigung, der
die Dinge in einem gewissen Sinn unterworfen werden müssen,
um Gegenstand der intellektuellen Erkenntnis zu werden, die Ent-
kleidung Yon den individualisierenden Bedingungen, dem Hier
und Jetzt, in sich schliefst» so kann diese Weise der Individuation
selbst nur aus der Materie stammen, imd nur sie kann es sein,
was die Porm, genauer das aus Form und Materie resultierende
Ganze, zu einem Individualwesen neben anderen wirklichen oder
möglichen von der spezifisch gleichen Form beschränkt Wir
sagten „in einem gewissen Sinne,^' weil die Yergeistigung, von
der wir reden, nicht den Körper selbst, noch auch das phantasma,
sondern das im Intellekte erzeugte Erkenntnisbild betrifflb. Wir
gedenken hierauf zurückzukommen.
Wenn uns der englische Lehrer sagt, dafs die Dinge auf
den Intellekt nur durch ihre Form als das dem geistigen Wesen
des Intellekts Verwandte, nicht aber durch ihre Materie einwirken,
so bedeutet dies weder, dafs nur die Form erkannt werde
[S. S. 69] noch auch, dafs alles an der Form erkannt werde,
also auch die aus der Verbindung mit der Materie kontrahierte
individuelle Beschränkung, d. h. die konkrete Individualität der
Form selbst, sondern dafs nur dasjenige erkannt werde, was aus
der Form stammt Durch seine Form nämlich ist jedes materielle
Wesen ein aktual Seiendes, eine Substanz, diese bestimmte Sub-
stanz, Mineral, Pflanze u. s. w.
Unser gesamtes intellektuelles Erkennen bewegt sich dem-
nach in allgemeinen Begriffen, und was sich demselben entzieht, das
individuelle Wesen und die individuelle Einheit stammt nicht
aus der Form, folglich, da in den Körpern nur diese beiden Wesens-
konstitutive. Form und Materie, anzunehmen sind, aus der
Materie.
Dies ist die tiefsinnige Lehre des Aquinaten vom Grunde der
Individuation der körperlichen Dinge in ihren Grundlinien und
nach ihrem erkenntnistheoretischen Fundamente. Die kurzen An-
deutungen, die sich bei Aristoteles [vgl. oben S. 2. Anm. 1]
und seiner griechischen Kommentatoren finden, [Themistius, dem
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Die Nichtintelligibilität der körperlichen Individuen. 71
die Gresohichte den Namen des Wohlberedten (svq>Qa6ijq) beilegt,
da er es so gut verstand, philosophische Gedanken in eine ele-
gante Sprache zu kleiden, spricht sich in den Paraphrasen der
Bücher von der Seele über das Prinzip der Individnation ans:
To <f Ofioeiök:; axav rtp xrjq vXriq fieQiOfi<p rag öiaq>OQäg
xQoaXiXfißdvsi. Paraphrases jt. y>. Ed. Spengel 1866 p. 49]
sind hier zur Theorie ausgebildet, deren Fäden sich in die
wichtigsten Teile der Psychologie und Metaphysik verzweigen.
Die Grundsätze aber, auf welchen sie beruht, sind keine andern
als jene, worauf der gesamte logisch-metaphysische Bau der ari-
stoteliach-thomistischen Philosophie sich erhebt. Alles Erkennen,
als solches genommen, ist immateriell. Es geschieht entweder
durch das Wesen des Erkennenden selbst oder durch die Ver-
bindong mit dem Erkenntnisgegenstande, wenn dieser immateriell,
d. i. an sich selbst intelligibel und sonst zu einer solchen Ver-
bindung geeignet ist Treffen diese Bedingungen nicht zu, so
findet die Erkenntnis statt durch ein den Erkenntnisgegenstand
repräsentierendes immaterielles Bild. Dieses kann wiederum dem
Erkennenden von Haus aus eigen oder aus den Dingen geschöpft
sein. Im letzteren Falle kommen die Begriffe und Prinzipien
von Potenz und Akt sowie die das Verhältnis des Geistigen
zum Materiellen regelnden Grundsätze zur Anwendung. [Durch
die Anwendung jener Begriffe erhob sich Aristoteles über die
unzureichenden, wenn nicht geradezu grobmateriellen Vorstel-
lungen seiner Vorgänger und Nachfolger vom Erkennen über-
haupt und speziell vom sinnlichen Erkennen. Wie sehr dies
z. B. von der Theorie des Sehens gilt, darüber vergleiche man
A. Gellius, Noctes Atticae, 1. V. c. 16: Stoici causas esse videndi,
dicunty radiorum ex oculis in ea, quae videri queunt, emissionem.
. . . Epicurus autem, effluere semper ex omnibus corporibus simu-
lacra quaedam corporum ipsorum, eaque sese in oculos inferre,
atque ita fieri sensum videndi putat Plato existimat, genus
quoddam ignis lucisque de oculis exire: idque conjunctum con-
tinuatumque vel cum luce solis vel cum alterius ignis lumine,
sua vi et externa nixum, efißcere, ut, quaecunque offenderit illustra-
veritque, cemamus].
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72 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schale vo m Prinzip der Individaation.
Was in Potenz ist, wird durch einen vorausgehenden Akt,
der die Potenz sich verähnlicht, in die Wirklichkeit übergeführt.
Femer: das Materielle kann entweder überhaupt nicht auf das
G-eistige einwirken oder nur als Instrument des Letzteren durch
einen von ihm empfangenen Impuls auf dasselbe zurückwirken.
Demnach wirken in der Aktuierung der Potentialität des Intel-
lektes zwei Aktualitäten zusammen, der wirkende Verstand und
das Sinnenbild. Aus jenem stammt die Inteliigibiiität, aus diesem
die konkrete repräsentative Kraft des intellektuellen Vorstellungs-
elementes oder der species intelligibilis; daher dient im Erkenntnis-
prozofs das Sinnenbild nur als sekundäre, instrumentale, wenn
auch immerhin als erzeugende Ursache der intellektuellen Vor-
stellung. Endlich kommt als weiterer Grundsatz in Betracht,
dafs das Aufgenommene im Aufnehmenden nach der Weise des
Aufnehmenden sei, woraus sich ergibt, dafs schon die Sinne ihr
Objekt ohne Materie, wenn auch — ihrer eigenen individuellen
Beschränkung gemäfs — nicht ohne die Bedingungen oder appen-
diciae der Materie, aufnehmen, der Verstand aber, seiner voll-
kommenen Freiheit von der Materie entsprechend, auch von
diesen abstrahiert. [Über die Bedingungen oder Appendizien der
Materie s. Albert. Magn. De Anima 1. II. tr. 3. c. 4. Dico
appendicias materiae condiciones et proprietates, quas habet sub-
jectum formae, quod est in tali vel tali materia. Verbi gratia,
talis membrorum Situs, vel talis color faciei, vel talis aetas, vel
talis figura capitis, vel talis locus generationis. Haec enim sunt
quaedam individuantia formam, quae sie sunt in uno individuo
unius speciei, quod non sunt in alio.]
Durch diese Grundsätze wahrt sich die peripatetische Er-
kenntnistheorie, die das Fundament der Lehre von der Materie
als Prinzip der Individuation bildet, nach zwei Seiten hin, sowohl
gegen die intellektualistisch-idealistische Ansicht, die den Dingen
keinerlei erzeugenden Einflufs auf die intellektuelle Erkenntnis
einräumt, als auch gegen jene grobsinnliche Vorstellung, die
Unwissenheit und Voreingenommenheit, wenn nicht geradezu
absichtliche Täuschung eine geraume Zeit hindurch mit der peri-
patetischen zusammenwarf, nach welcher die Erkenntnis du^ch
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Wie Gott die körperlichen Individuen erkennt. 73
AuBtrömen von Bildern ans den Dingen in die Seele erfolgen
soll [Die y ergeis tignng des Erkenntnisobjektes bedeutet
sieht eine Verwandlung desselben, sondern die Erzeugung
einer stufenweise sublimierteren Species oder Mittels der Er-
kenntnis in den Erkenntnisvermögen. In diesem Sinne lehrt
auoh der hl. Augustin: ,,A specie corporis, quod cernimus, exo-
ritur ea, quae fit in sensu cementis, et ab hac ea, quae fit in
memoria, et ab hac ea, quae fit in acie cogitantis. Vgl. Sanse-
verino, L c. p. 591.J
Wenden wir uns nun zu den Quellen selbst und sehen
wir zu, wie der hl. Thomas in diesem erkenntnistheoretischen
Zusammenhange seine Lehre von der individualisierenden Ma-
terie entwickelt Die Darstellung der thomistischen Lehre nach
ihren Quellen wird uns zugleich Gelegenheit bieten, den springen-
den Punkt der gesamten Deduktion, nämlich den erzeugen-
den Einflufs der Dinge (mittels der Phantasmen) auf die Ent-
stehung der intellektuellen Vorstellungen einer genaueren Er-
örterung zu unterziehen.
In prägnanter Kürze, aber unzweideutiger Weise trägt
Thomas die dargelegte Doktrin in den Untersuchungen de Veri-
tate qu. II. art 5. vor. Er wirft die Frage auf, ob Grott das
Einzelne erkenne, und gibt darauf, nachdem er einige verfehlte
Lösungsversuche zurückgewiesen, folgende Antwort: Gott erkennt
das Einzelne nicht allein in seinen allgemeinen Ursachen (wie
z. B. der Astronom eine zukünftige Sonnenfinsternis durch Be-
rechnung erkennt), sondern auch ein Jegliches nach seiner eige-
nen und besonderen Natur. Das göttliche Wissen nämlich ist
dem Wissen eines Eünstlei-s zu vergleichen; denn Gott ist Ur-
sache aller Dinge, wie die Kunst Ursache ihrer Produkte. Es
obwaltet aber ein Unterschied. Der Künstler erkennt sein Kunst-
werk durch die Form der Kunst, die in ihm ist, und nach wel-
cher er dasselbe hervorbringt. Er bringt es aber nur nach
seiner Form hervor, da den Stoff die Natur ihm bereitete.
Deshalb erkennt der Künstler durch seine Kunst die Erzeug-
nisse derselben nur nach ihrer Form. Jede Form aber ist, für
sich genommen (de se, von sich aus) allgemein. Daher der Bau-
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74 Die Lehre d. hl. Thomas u. a. Schule vom Prinzip der IndividuatioD.
meister durch seine Kunst das Haus zwar im allgemeinen, nicht
aber dieses oder jenes erkennt, es sei denn insofern als er durch
den Sinn eine solche Erkenntnis erworben hat.
Gesetzt nun, die Form der Kunst wäre hervorbringende
Ursache des Stoffes, wie sie Ursache der Form des Kunstwerks
ist, so würde durch sie der Künstler das Kunstwerk auch nach
seinem Stoffe erkennen. Er würde folglich, da der Stoff
Grund der Individuation ist, dasselbe nicht nur nach
seiner allgemeinen Natur, sondern auch insofern es
irgend ein Einzelnes ist, erkennen. Hieraus erhellt, dals,
da die göttliche Kunst hervorbringender Grund nicht allein der
Form, sondern auch des Stoffes ist, in seiner Kunst nicht allein
der Begriff (ratio) der Form, sondern auch des (bestimmten)
Stoffes enthalten ist, weshalb Gott die Dinge sowohl nach dem
Stoffe als nach der Form erkennt, folglich auch nicht allein das
Allgemeine, sondern auch das Besondere (Einzelne).
Noch bleibt aber ein ungelöster Zweifel. Wenn alles in
einem Subjekte Aufgenommene nach der Weise des Subjektes
ist, und daher die Ähnlichkeit einer Sache in Gott nur auf im-
materielle Weise sein kann, woher kommt es, dafs unser Intellekt
gerade deshalb, weil er die Formen der Dinge auf immaterielle
Weise aufnimmt, das Einzelne nicht erkennt, Gott aber, dessen
Erkenntnisweise offenbar die geistigste ist, es erkennt?
Der Grund dieses Unterschiedes, kraft dessen das mensch-
liche Erkennen wegen seiner Geistigkeit die Materie nicht er-
kennt, das göttliche aber trotz seiner viel vollkommeneren
Geistigkeit sie erkennt, leuchtet ein, wenn das verschiedene
Verhältnis in Betracht gezogen wird, in welchem die in unserem
Intellekte befindliche Ähnlichkeit der Sache (die species intelli-
gibilis) und die Ähnlichkeit derselben im göttlichen Intellekte
zur Sache selbst stehen. Jene nämlich (die species intelligibiUs
oder das Element der intellektuellen Vorstellung) ist von der
Sache aufgenommen, insofern diese auf den Intellekt wirkt,
nachdem sie zuerst auf die Sinne gewirkt (d. h. in den Sinnen
zuerst das Element der sinnlichen Vorstellung, die spec. sensi-
bilis, und durch sie, sofern sie Eigentum der Phantasie geworden
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Wie Gott die körperlichen Indiridaen erkennt. 75
im Phantasma, in Einheit mit dem thätigen Intellekte, im mög-
lichen Intellekt das Element der intellektuellen Vorstellung, die
species intelligibilis, erzeugend). Die Materie aber kann
wegen der Schwäche ihres Seins, da sie nur potentielles
Sein ist, nicht als wirkendes Prinzip sich bethätigen.
Deshalb wirkt die Sache auf unsere Seele nur durch die Form,
und die Ähnlichkeit der Sache, die den Sinnen ein-
geprägt wird, und graduell gereinigt (per quosdam
graduB depurata) in den Intellekt gelangt, ist nur Ähnlichkeit
der Form.
Anders verhält sich die Ähnlichkeit der Sache, ihre Idee,
in Gott Sie ist hervo bringender Grund der Sache,
und diese hat das Sein, so stark oder schwach es daran teil-
nehmen mag, nur von Gott Die Ähnlichkeit einer Sache aber
ist in Gott, soweit sie durch Gott am Sein teil hat. Abo ist
die immaterielle Ähnlichkeit in Gott nicht allein Ähnlichkeit der
Form, sondern auch der Materie. Und da zur Erkenntnis einer
Sache deren Ähnlichkeit im Erkennen erfordert wird, nicht aber,
dafs sie dieselbe Seinsweise in ihm habe, wie in sich selbst, so
kommt daher, dafs unser Intellekt die Erkenntnis der einzelnen
Dinge, die von der Materie abhängt, nicht besitzt, weil nämlich
die Ähnlichkeit der Materie, die sich dem Intellekte nicht zu
offenbaren vermag, nicht in ihm ist Keineswegs aber mangelt
ihm die Erkenntnis der Materie und des materiell Singulären
deshalb, weil er durch immaterielle Ähnlichkeiten oder Erkenntnis-
bilder erkennt Der göttliche Intellekt aber, der auch die, wenn-
gleich immaterielle Ähnlichkeit der Materie besitzt, vermag auch
das Einzelne zu erkennen.
[L. c Die Überschrift des Artikels lautet: Utrum Deus singu-
laria cognoscat Den wichtigsten Teil der Erörterung geben wir
im Urtexte wieder: lUa (similitudo), quae est in intellectu nostro,
est acoepta a r^ secundum quod res agit in intellectum nostrum,
agendo per prius in sensu ; materia autem propter debilita-
tem sui esse, quia est in potenti aens tantum, non potest
esse principium agendi; et ideo res, quae agit in animam
nostram, agit solnm per formam; unde similitudo rei, quae impri-
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76 Die Lehre d. hl. Thomas a. s. Schale Tom Prinzip der Indivi duation.
mitur in BenBnm, et per quosdam gradns depurata usque ad in-
tellectum pertingit, est tantam similitudo formae: eed similitado
rei,quae est in intellectu divino, est factiva rei; res antem, sive
forte sive debile esse partieipet, hoc non habet nisi a Deo; et
secundam hoc similitndo omnis rei existit, qnod res illa esse a
Deo participat: nnde similitndo immaterialis, quae est in Deo, non
solnm est similitndo formae, sed materiae. Et quia ad hoc qnod
aliqnid cognoscatnr, reqniritur qnod similitndo ejns sit in cognos-
cente, non antem qnod sit per modum qno est in re: inde est
qnod intellectns noster non cognoscit singnlaria, qnomm cognitio
ex materia dependet, qnia non est in eo similitndo materiae; non
antem ex hoc qnod similitndo sif in eo iromaterialiter: sed
intellectns divinus, qni habet similitndinem materiae, qnamvis
immaterialiter, potest singnlaria cognoscere.]
Fassen wir die tiefsinnigen Gedanken des Aqninaten in
wenige Worte! Gott erkennt unabhängig von der Wirklichkeit
der Dinge dnrch das schlechthin immaterielle Erkenntnismittel
seines unendlichen Wesens, nicht blofs das Allgemeine, sondern
auch das Einzelne, weil er schöpferischer Grnnd von allem, Grund
des ganzen Seins, der Form und Materie ist; denn auch diese
partizipiert, wenn auch in der unyollkommensten Weise, am Sein.
Dagegen erkennt der menschliche Geist nur in Abhängigkeit von
den Dingen und dnrch sie bestimmt, also nur insoweit diese sich
ihm zu offenbaren vermögen, d. h. nach ihrer Form und ihrer
ans der Form resultierenden specifischen Bestimmtheit, nicht aber
nach der Materie und dem, wovon sie Prinzip ist, der individu-
ellen Einheit und Ungeteiltheit.
Wer sieht nicht, dafs in dieser Ideenverkettung alles un-
zertrennlich zusammenhängt? Man breche einen Stein aus diesem
wohlgefiigten Bau, und das Ganze wird aus den Fugen gehen.
Man löse die Lehre vom Individuationsprinzip heraus, und in
der Theorie des göttlichen und menschlichen Erkennens wird
nichts mehr unversehrt bleiben. Man wird auf die Frage, warum
das geistige Erkennen des Menschen nur das Allgemeine, das
geistigere Gottes aber auch das sinnlich Individuelle erkenne,
keine die Wissenschaft befriedigende Antwort finden.
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Die Erkenntnis des Individuellen durch die reinen Intelligenzen. 77
Femer: Man leugne den erzeugenden Einflafs der Dinge^
resp. Phantasmen, auf den menBchlichen Verstand, und die Ver-
schiedenheit der Objekte des intellektuellen und sinnlichen Er-
kennens, die Verschiedenheit dieser selbst gerät ins Schwanken.
Denn das vom Sinnlichen unabhängige intellektuelle Erkennen
umfafst entweder, wie das göttliche, auch das Individuelle, oder,
da dieser Fall thatsächlich nicht zutrifft, so eröffnet sich als Per-
spektive der unversöhnliche Gegensatz des absoluten, jede In-
telligibilität und Realität des Individuellen leugnenden Rationa-
lismus einerseits und andererseits des gegen das Allgemeine mit
gleicher Feindseligkeit sich kehrenden individualistischen Em-
pirismus. Denn zwei beziehungslos neben einander liegende Er-
kenntnisvermögen sind schlechterdings unhaltbar, und fallt not-
wendig das eine von ihnen dem andern zum Opfer. Doch hieven
später. An diesem Orte wollen wir uns nur eine apologetische
Bemerkung, die einer möglichen Einwendung vorbeugen soll,
gestatten. Der vom hl. Thomas vorgebrachte Grund nämlich,
dafs die Materie wegen der Unvollkommenheit resp. Potentialität
ihres Seins, nicht auf den Geist wirken könne, gilt nicht allein
in der Ordnung des Seins, sondern auch in der des Erkennens.
Durch sich selbst erkennbar nämlich ist etwas nur, insofern es
actu ist
Erinnert man weiterhin, jene Schwäche des Seins lasse sich
vielleicht von der Materie, nicht aber von der Individualität,
auch nicht der der materiellen Dinge behaupten, so erwidern wir^
da(s die zeiträumliche Vervielfältigung gleichartiger
Dinge auf dieselbe Unvollkommenheit zerstreuten und zerstreu-
enden Seins hinweist, die der Materie eignet.
In demselben Sinne behandelt der englische Lehrer die
Frage, ob reine Intelligenzen das Einzelne erkennen. Dabei
werden wir überdies über den Grund belehrt, warum die Sinne
das Einzelne erkennen.
Thomas schreibt den reinen Geistern eingeschaffene Er-
kenntnisformen zu, welche die Dinge nach ihrem specifischen
und individuellen Wesen zugleich repräsentieren. [De veritate
qu. 8. art. 11. c] Wenn sich dies im menschlichen Erkennen,
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78 Die Lehre d. hl. Thomas n. b. Schale rom Frinäp der IndiTidaatioD.
sowohl der praktifichen als der theorettschen Vemanft, anders
yerhält, so liegt der Grand darin, dafs jene nur nach allgemeinen
Ideen im vorausgesetzten Stoffe zn produzieren yermag, diese
aber durch die Dinge selbst bestimmt ist „Die Formen der
theoretischen Vernunft entstehen in uns in gewisser Weise aus
der Einwirkung der Dinge. Jede Thätigkeit aber stammt aus
der Form, daher entsteht, soweit es an der Kraft des wirkenden
Prinzips liegt, keine Form (species) aus den Dingen in uns, die
nicht Ähnlichkeit der Form (forma als Wesenskonstitutiv) ist.
Es trifft sich aber, dafs eine Erkenntnisform auch Ähnlichkeit
der materiellen Dispositionen ist, sofern sie im materiellen Organe
aufgenommen wird, und so einige Bedingungen der Materie bei-
behalten werden. Daher kommt es, dafs Sinn und Einbildungs-
kraft das Einzelne erkennen. Weil aber der Intellekt völlig
immateriell aufnimmt, deshalb sind die (Erkenntnis-)Formen im
theoretischen Verstände Ähnlichkeiten der Dinge nur nach ihrer
Form. [Omnis actio est a forma, et ideo, quantum est ex vir*
tute agentis, non fit aliqua forma a rebus in nobis nisi quae sit
similitudo formae; sed per accidens contingit, nt sit similitndo
etiam materialium dispositionum, in quantum recipit in organo
materiali, quia materialiter recipit, et sie retinentur aliquae con-
ditiones materiae. Ex quo contingit, quod sensus et imaginatio
singularia cognoscunt. Sed quia intellectus omnino immaterialiter
recipit, ideo formae, quae sunt in intellectu speculativo, sunt
similitudines rerum secundum formas tantum. L. c]
Anders in Gott und den reinen Geistern. Das göttliche
Erkennen ist nicht bestimmt durch, sondern bestimmend für
die Dinge — nach Form und Stoff. Die Engel aber erkennen
durch eingebome Formen (per formas innatas) die Dinge in ihrer
Singularität und Universalität, oder durch Ideen, die den die
Dinge hervorbringenden Formen (formis factivis), d. h. den
(schöpferischen) Ideen im göttlichen Verstände ähnlich sind, ob-
gleich sie in den Engeln selbst nicht hervorbringend sind. [Sicut
ab intellectu divino effluunt res naturales secundum formam et
materiam ad essendum ex utroque, ita effluunt formae in-
tellectus angelici ad oognoscendum ntrumque, et ideo
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Abhängigkeit des menschlicüen Intellekts von der Sinnlichkeit 79
per formas innatas cognoBcnnt res in sua singularitate et univer-
salitate, in qnaiitum sunt similes formis factivis, scilicet ideis in
mente divina existentibus, quamvis ipsae non sint rerum factivae.
L. c]
In der Abhängigkeit des menschlichen IntellektB von den
Dingen und in der individualisierenden Materie zusammengenom-
men, sieht der englische Lehrer auch nach der Darstellung, die
er in der theologischen Summe vom göttlichen Erkennen
gibt, den Grund, warum der menschliche Geist das Einzelne
nicht (intellektuell) zu erkennen vermag, indes der göttliche
Verstand, vreil das Sein der Dinge und zwar nach seiner Tota-
lität bestimmend, alles nach seinem konkreten singulären Dasein,
nicht in der abstrakten Weise des Menschen erkennt. [S. Th.
p. I. qu. 14. art. 11. a Dens cognoscit singularia. Omnes enim
perfectiones in creaturis inventae in Deo praeexistunt secandum
altiorem modum. Cognoscere autem singularia pertinet ad per-
feetionem nostram. Unde necesse est, quod Dens singularia
cognoscat. Nam et Philosophus pro inconvenionti habet, quod
aliquid cognoscatar a nobis, quod non cognoscatur a Deo. Unde
contra Empedoclem arguit in I. de anima text 80 et in III.
Metaph. text 15, quod accideret Deum esse insipientissimum, si
discordiam ignoraret. Die letzten Worte zeigen, was gelegentlich
bemerkt werde, wie sehr jene im Unrechte sind, die dem Aristo-
teles eine Lehre zuschreiben (nämlich dafs Gott nur um sich,
nicht aber um die Welt wisse), die einen viel schärferen Tadel
verdienen würde, als jenen, den er selbst wiederholt gegen
Empedocles ausspricht. Die weitere Ausftihrnng geht dahin,
da& das göttliche Wissen, wie die göttliche Kausalität, auf Form
tmd Materie, also auch auf das Einzelne sich erstrecke: singu-
laria, quae per materiam individuantur.]
An demselben Orte wird von dem Grundsatze ausgegangen,
dafs die höhere Natur oder Kraft eine universellere Sphäre des
Wirkens umfasse, der Engel also durch ein einziges Vermögen
das erkenne, zu dessen vollständiger Erkenntnis der Mensch
zweier Vermögen bedarf. [Sicut homo cognoscit diversis viribus
cognitivis, omnia rerum genera, intellectu quidem universalia et
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80 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip der Indiyidaatioa.
immaterialia, sensu autem singalaria et corporalia: ita angelus per
unam intellectivam virtutcm utraque cognoscit. Hoc enim
rerum ordo habet, quod quanto aliquid est superius, tanto habet vir-
tutem magis unitam et ad plura se extendentem. I.e. qu. 57 art. 2.]
Der letzte > Grund der Dualität der Erkenntnisvermögen
aber liegt nach der konstanten Lehre des Heiligen darin, dafs
die menschliche Seele die unterste Stufe der Geistwesen ein-
nimmt, und der menschliche Intellekt in genere intelligibilium
in Potenz, nicht im Akt ist, weshalb es ihm naturgemäfs
ist, die Ideen durch eine Einwirkung von aufsen, in Abhän-
gigkeit von den zu erkennenden Dingen selbst zu erwerben.
Dies geschieht durch einen Abstraktionsprozefs, in welchem die
Materialität mit ihren Bedingungen, dem Hier und Jetzt, ab-
gestreift wird. Daher die relative Nichtintelligibilität des Sin-
gulären, die nicht für Gott und die reinen Intelligenzen, sondern
ausschliefslich für den menschlichen Geist gilt. [Intellectus noster
speciem intelligibilem abstrahit a principiis individuantibus. Unde
species intelligibilis nostri intellectus non potest esse
similitudo principiorum individualium. Et propter hoc
intellectus noster singularia non cognoscit. Sed species intelli-
gibilis divini intellectus, quae est Dei essentia, non est imma-
terialis per abstractionem, sed per seipsam, principium
existens . omnium principiorum, quae in tränt rei compositionem,
sive sint principia speciei, sive principia individui. Unde per ea
Dens cognoscit non solum universalia, sed etiam singularia. L. c.
qu. 14. art. 11. ad. 1. Vgl. ebendas. qu. 86. art. 1.]
Obgleich es nach den angeführten Zeugnissen als überflüssig
erscheinen mag, so wollen wir dennoch, damit über die wahre
Meinung des Aquinaten jeder Zweifel schwinde, auch noch die
Darstellung berjicksichtigen, die von demselben Gegenstande in
der philosophischen Summe gegeben wird.
Die Erkenntnis Gottes dringt bis zum Sto£fe, zu den indi-
viduierenden Accldentien und den Formen. Da nämlich das
göttliche Erkennen eins mit dem göttlichen Wesen ist, so erkennt
es notwendig alles, was irgendwie im göttlichen Wesen enthalten
ist. In diesem aber ist virtuell alles, was in irgend einer
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Darstellung der philosophischen Summe. 81
Weise am Sein teilnimmt^ da es erster, allumfassender Seins-
grund ist, dem auch der Stoff und die Accidentien nicht fremd
sind; denn jener ist Sein in Möglichkeit, diese sind Sein in
einem andern. [Dei cognitio usque materiam et accidentia in-
dividuantia et formas pertingit. Quum enim suum intelligere
sit sua essentia, oportet quod intelligat omnia, quae sunt quo-
cnnque modo in sua essentia; in qua quidem virtute sunt, sicut
in prima origine, omnia, quae esse quocunque modo habent, quum
sit primum et universale principium essendi, a quibus materia
et accidens non sunt aliena, quum materia sit ens in potentia,
et accidens sit ens in alio. Deo igitur cognitio singnlarium non
deest. Summa c. gent. 1. I c. 65 n. 2.]
Auf den Einwand, alles Erkennen geschehe durch Yerähn-
lichung, in Gott aber könne so wenig als im menschlichen Geiste
die Materie ein ihr ähnliches Bild haben, lautet die Antwort:
Cognitio omnis fit per assimilationem cognoscentis et cogniti; in
hoc tamen differunt, quod assimilatio in cognitione humana fit per
actionem rerum sensibilium in vires cognoscitivas humanas, in
cognitione autem Dei est e converso per actionem formae intelleo-
tus divini in res cognitas. Forma igitur rei sensibilis,
quam sit per suam materialitatem individuata, suae
singularitatis similitudinem producere non potest in
hoc quod sit omnino immaterialis, sed solum usque ad
vires, quae organis materialibus utuntur. Ad intellectum autem
perducitur per virtutem intellectus agentis, in quantum omnino
a conditionibus materiae exuitur; et sie similitudo singularitatis
formae sensibilis non potest pervenire usque ad intellectum huma-
num. Similitudo autem formae intellectus divini, quum pertingat
usque ad rerum minima, ad quae pertingit sua causalitas, pervenit
usque ad singularitatem formae sensibilis et materialis. In-
tellectus igitur divinus potest cognoscere singularia, non autem
humanus. L. c. n. 8. Vgl. den Kommentar des Franc. Ferra-
riensis zu dieser Stelle (Yenet. 1595 p. 70 sequ.).
D. i. Alles Erkennen geschieht durch Yerähnlichung des Er-
kennenden und Erkannten; darin aber besteht ein Unterschied
(zwischen göttlichem und menschlichem Erkennen), dafs die Yer-
Jahrbnch fUr Philosophie etc. I. ß
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82 Die Lehre d. hl. Thomas a. s. Schule vom Prinzip der Indinduation.
ähnliohuDg im menschlichen Erkennen durch eine Einwirkung der
Sinnendinge anf die menschlichen Erkenn tniskrälte geschieht, wäh*
rend umgekehrt im göttlichen Erkennen die Verähnlichung durch
Einwirkung der Form des göttlichen Intellektes auf die erkannten
Dinge hergestellt wird. (Mit anderen Worten: das göttliche
Erkennen ist für die Dinge bestimmend, das menschliche aber
durch die Dinge bestimmt, die in ihm ihre Ähnlichkeit hervor-
bringen.) Da nun aber die Form des sinnlichen Dinges durch
die Materialität individualisiert ist, so kann sie die Ähnlichkeit
ihrer Singularität (die und weil sie durch den Stoff bewirkte
Vereinzelung neben anderen gleichartigen Individuen ist) nicht
bis dahin bringen, dafs sie völlig immateriell würde, sondern
nur bis zu den Vermögen, die sich materieller Organe bedienen.
Zum Intellekte aber wird sie (die similitudo rei sensibilis) durch
die Kraft des wirkenden Verstandes geführt, sofern sie von allen
Bedingungen materieller Existenz befreit wird, und so kann die
Ähnlichkeit der Individualität der sinnlichen Form nicht bis zum
menschlichen Intellekt gelangen. Die Ähnlichkeit aber der Form
des göttlichen Intellektes dringt, da sie ebensoweit als seine
Kausalität, also auch aufs Kleinste sich erstreckt, bis zur Einzel-
heit der sinnlichen und materiellen Form. Folglich erkennt zwar
der göttliche, nicht aber der menschliche Intellekt das Einzelne.
Es sei uns gestattet, einige Bemerkungen hier anzubringen.
Was zunächst die unmittelbar vorliegende Darstellung betrifft,
so ist die Singularität, von der die Rede ist, auf das Granze der
materiellen Dinge, nach Form und Stoff zu beziehen. Unerkenn-
bar nämlich ist nicht nur der individuelle Stoff, sondern auch
die individuelle Form; denn sie bilden ein einheitliches Wesen.
Durch die Aufnahme im Stoff ist die Form materialisiert und
kann aus diesem Grunde durch ihre Individualität als solche
nicht auf den Geist wirken. In diesem Sinne haben wir die
Worte zu verstehen, die sinnlich individuelle Form könne keine
Ähnlichkeit erzeugen in hoc quod sit omnino immaterialis, oder
sie könne es in den Erkenntnisvermögen des Menschen nicht
zur völligen Immaterialität bringen; denn nur der organisch be-
schränkte, selbst materiell individualisierte Sinn ist ein proper-
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Der eneagende Einflufs der Dinge auf den Verstand. 83
tionales Subjekt für die durch die Materie individualisierte Form,
iahig, durch eine solche Form bestimmty von ihr informiert zu
werden.
Eine weitere Bemerkung bezieht sich auf die gesamte Theorie
in der Fülle ihrer ideellen Beziehungen. Man sieht, dafs der
Heilige seine Lehre vom Individuationsprinzip der materiellen
Dinge mit metaphysischen und religiösen Wahrheiten von
eminenter Tragweite in eine keineswegs zufällige Verbindung
bringt Wenn der Grund der Individualität der körperlichen
Wesen nicht im Btoffe liegt, woher dann diese Differenz des
göttlichen und menschlichen Verstandes in Bezug auf die Er-
kenntnis des Einzelnen? Eine Reihe der bedeutsamsten Fragen
knüpft sich hieran, die wir wenigstens zum Teil im folgenden zu
erörtern haben werden.
Zunächst ist es jedoch ein anderer Punkt, der unsere Auf-
merksamkeit auf sich zieht
Die Dinge, sagt uns der englische Lehrer, können nur durch
ihre Form auf den Verstand wirken und deshalb auch nur die
Ähnlichkeit ihrer Form, die ratio universalis, in ihm hervor-
bringen. Es üben also die Dinge auf den menschlichen Ver-
stand einen erzeugenden Einflufs aus. Über diesen Punkt
ist vor allem Klarheit zu gewinnen; denn die Lehre von einer
notwendigen Läuterung des Erkenntnisgegenstandes und damit
die Ericlärung der Differenz göttlicher und menschlicher Erkennt-
nis des Einzelnen werden hinfallig, wenn den Dingen ein solcher
wirksamer Einflufs nicht zugestanden wird. Durch die Annahme
eines solchen wirksamen Einflusses unterscheidet sich die aristo-
telische Theorie vom Ursprung des intellektuellen Erkennens
wesentlich von der platonischen. [S. Tb. p. I qu. 84 art 6 c]
Dafs der hl. Thomas einen solchen lehre, vermöchte nur derjenige
zu leugnen, der sein Auge vor der Holle des Tages verschlösse.
[Vgl. Eleutgen, Beilagen zu den Werken über die Theologie
und Philosophie der Vorzeit 3. Heft S. 35.]
Gleichwohl bewegt sich um diesen Punkt eine Kontroverse
zwischen Suarez und der Schule der Thomisten, und es möge
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84 Die Lehre d. hl. Thomas u. b. Schule rom Prinzip der Indiyidaation.
schon hier bemerkt werden, dafs es nicht zufällig ist, wenn
Suarez in der Bestimmung des Individuationsprinzips sowie in
der Behauptung einer direkten Erkennbarkeit der konkreten
Individualität durch den Verstand von den hieher bezüglichen
Lehren des Engels der Schule abweicht. Der Annahme des
Suarez zufolge vollzieht sich die Erzeugung der intelligiblen Er-
kenntnisform durch den thätigen Verstand im möglichen in rein
immanenter Weise, d. h. so, dafs das Sinnenbild nur anregend
und bestimmend, nicht aber erzeugend und hervorbringend mit
dem thätigen Verstände zusammenwirke; denn es könne nichts
Materielles auf Geistiges einwirken. [S. die Darstellung der
Lehre des Suarez bei Eleutgon, Die Philosophie der Vorzeit,
I. Band S. 125 (der 1. Auflage). Auf einem offenkundigen Mifs-
verständnis der von der thomistischen Schule angenommenen
Vergeistigung der sinnlichen Vorstellung beruht es, wenn gegen
eine vermeintliche Veränderung im Sinnenbilde und Über-
tragung desselben in den Verstand polemisiert wird. Das Sinnen-
bild wandert überhaupt nicht — weder verändert noch unver-
ändert — in den Verstand über, sondern wirkt als causa instru-
mentalis und materia causae zur Hervorbringung einer neuen
und höheren Spezies im Verstände mit. Selbst die Annahme
einer objektiven Beleuchtung des Sinnenbildes (Gajetan) hat in
der Thomistenschule keine allgemeine Billigung gefunden.]
Hiegegen wurde mit Recht geltend gemacht, dafs eine An-
regung wohl dem Piaton, der aus vorzeitlicher Anschauung
stanmiende eingeborene Ideen in der Seele annimmt, nicht aber
dem Aristoteles, dem der Verstand als eine ursprünglich un-
beschriebene Tafel gilt, genügen könne. [Brentano, Die Psy-
chologie des Aristoteles u. s. w. S. 27. Schäzler, Neue Unter-
suchungen über das Dogma von der Gnade. Mainz 1867. S. 481.]
Nach Aristoteles ist der menschliche Verstand das Intelligible
zunächst nur in Möglichkeit, er ist reale Potenz desselben.
Daher bedarf es eines von ihm verschiedenen Prinzips, durch
dessen Thätigkeit der im Zustande der Potenzialität befindliche
oder mögliche Verstand — intellectus possibilis — in den Akt oder
die Wirklichkeit übergeführt wird. Dieses Prinzip kann nun
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Der intellectas agens des Aristoteles. 85
allerdings nicht allein, ja auch nicht vorwiegend in der Sinn-
lichkeit gesucht werden. Daher schreibt der Stagirite dem
menschlichen Geiste ein weiteres, aktives Vermögen, den thätigen
Verstand — intellectus agens — zu, um in einer der Forderung
des EausaUtätsprinzips entsprechenden Weise aus dem Znsammen-
wirken des thätigen Verstandes mit dem Sinnenbilde die Ent-
stehung der intellektuellen Vorstellung im möglichen Verstände oder
dem eigentlichen intellektuellen Erkenntnisvermögen zu erklären.
Die Erzeugung der species intelligibilis ist dem entsprechend nicht
eine rein immanente, wie Suarez will, sondern geschieht durch
die vereinte Thätigkeit eines rein geistigen — des int. agens —
and eines oi^anischen Vermögens — der durch die sinnliche
Vorstellung informierten und aktuierten Phantasie, jedoch so,
daTs die geistige Kraft sich der sinnlichen wie eines Instrumentes
und Materials zugleich bedient. Das gemeinsame Produkt aber
trägt sozusagen den Charakter und die Form des geistigen
Vaters, nämlich die Intelligibilität, und die specifische Ähnlich-
keit der sinnlichen Mutter, d. i. des Phantasmas. Ohne Bild
gesprochen: aus jenem Zusammenwirken resultiert der der sinn-
lichen Vorstellung, die in der Phantasie gegenwärtig ist, ent-
sprechende Begriff dieses oder jenes bestimmten Wesens.
In diesem Sinne ist die aristotelische Lehre vom intellectus
agens von Theophrast [Brentano, a. a. 0. S. 216 ff.], dann weiter-
hin von Albert dem Grofsen [S. uns. Schrift: Das objektive
Prinzip der aristotelisch-scholastischen Philosophie
u. s. w. Regensburg 1880. S. 76 ff.. Im Einklang mit un-
serer geschichtlichen Darstellung steht es, wenn v. Hertling
sich dahin äufsert, „dafs Albert die Lehre vom möglichen und
wirkenden Verstände in derjenigen Gestalt festgestellt hat, wie
sie von da an fiir die Schule der Thomisten die mafsgebende
blieb.'' Albertus Magnus. Beiträge zu seiner Würdigung. Köln
1880. S. 123.] und dem hl. Thomas verstanden und ausgelegt
worden.
Zwei Punkte treten in dieser Theorie hervor: der erzeugende
Einflufs der Sinnlichkeit und die Notwendigkeit eines Erkennt-
nismittels, das den Verstand befähigt, fremdes Sein in sich in
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86 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip der Individaation.
idealer Weise aufizaprägen, im eigenen 8ein und in der eigenen
Form beharrend sich dem fremden Sein und der fremden Form
gleichförmig zn machen, worin das auszeichnende Merkmal alles
Erkennens besteht.
Was den erzeugenden Einflufs auf den Verstand betrifft,
den die aristotelische Theorie der Sinnlichkeit einräumt, so deutet
der Aquinate, um denselben begreiflich zu machen, auf zwei
Momente hin. Das erste liegt in der Stellung, welche das Sinnen-
bild zwischen materiellen und rein geistigen Formen einnimmt.
„Der Urheber der Natur hat in ^ uns für sinnliche Vermögen
gesorgt, in welchen die Formen auf eine zwischen der intelli-
giblen und materiellen Seinsweise in der Mitte liegende Weise
sind. Die Formen der sinnlichen Vermögen nämlich kommen
mit den intelligiblen Formen überein, sofern sie Formen ohne
Materie sind, mit den materiellen Formen aber, sofern sie noch
nicht der Bedingungen der Materie entkleidet sind: daher kann
auch ein Thun und Leiden eigentümlicher Art — suo modo —
zwischen den materiellen Dingen und sensitiven Potenzen, und
ähnlich zwischen diesen und dem Intellekte stattfinden. [In
nobis providit naturae conditor sensitivas potentias, in quibus
formae sunt medio modo inter modum intelligibilem et moduni
materialem. Conveniunt siquidem cum formis intelligibilibus, in
quantum sunt formae sine materia: cum materialihus vero formis,
in quantum nondum sunt a conditionibus materiae denudatae : et
ideo potest esse actio et passio suo modo inter res materiales
et potentias sensitivas ; et similiter inter has et intellectum. De
veritate, qu. 8 art. 9 c] Ein Thun und Leiden eigentümlicher
Art! Denn da der Erkenntnisvorgang als solcher ein immaterieller,
geistiger ist, so kann ein Leiden nur in dem Sinne der Ver-
vollkommnung, der reinen Bestimmung der Potenz zur Aktua-
lität angenommen werden, also ein Leiden ohne Alteration, wie
dieselbe zwar noch beim sinnlichen Erkennen, sofern das Organ
auch physisch afBziert wird, vorkommen kann, vom Intellekte
aber vollständig ausgeschlossen ist.
Die Verwandtschaft der sensiblen Form mit der intelligiblen
kann jedoch nur die Bedeutung einer Disposition für die auf
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Keine Yerwandlimg dee Sinnenbildes. Potenz und Akt. 87
den möglichen Verstand anszaübende Wirkung beanspmchen,
nicht aber den hinreichenden Grund für diese selbst enthalten.
Denn unbedingt ist einzuräumen, dafs nichts Materielles in eigener
Sjraft auf Geistiges wirken könne; das Phantasiebild aber ist
materiell, sowohl seinem Subjekte nach — der Phantasie näm-
lich, — die zu den organischen Vermögen gehört, als auch sofern
es die Dinge nur nach ihren äufseren Erscheinungen, mit den
Bedingungen des materiellen Daseins, repräsentiert
Es kommt daher als ein zweites wichtigeres Moment der
Einflnfs des wirkenden Verstandes hinzu; denn nur als Instrument
eines höheren Agens vermag das Sinnenbild auf den möglichen
Verstand einzuwirken. Die betreffende Lehre des hl Thomas
ist unter zahlreichen andern Stellen in der unzweideutigsten
Weise in den Quodlibetica VIII. qu. II. art. 3. ausgesprochen.
„Die menschliche Seele, so beginnt der englische Lehrer
seine Erörterung, empfangt die Ähnlichkeit der Dinge, durch die
sie erkennt, nach jener Art des Empfangens, nach welcher das
Leidende Tom Thätigen empfangt: was nicht so zu verstehen
ist, als ob das Thätige dem Leidenden die der Zahl nach gleiche
Form (species) einflöfse, die es in sich selbst hat, sondern es
erzeugt eine ihm ähnliche (repräsentative) Form durch
Überführung aus der Potenz in den Akt, und in diesem
Sinne wird gesagt, dafs die Form oder Species der Farbe vom
farbigen Körper dem Gesichtssinn zugeführt werde." [Anima
humana similitudines rerum, quibus cognoscit, accipit a rebus
illo modo accipiendi, quo patiens accipit ab agente: quod non est
intelligendum quasi agens influat in patiens eandem numero
speciem, quam habet in seipso, sed generat sui similem edu-
cendo de potentia in actum: et per hunc modnm dicitur
species coloris deferri a corpore colorato ad visum. L. c. Edit.
Paris, tom. XV. p. 528.]
Es ist hier von jener Überfuhrung der Potenz in den Akt
die Rede, die auf einem andern, jedoch verwandten [In tribus
eadem opinionum diversitas invenitur: scilicet in eductione
formarum in esse, in acquisitione virtutum, et in acquisitione
scientiarum. De veritate, qu. 11. art. 1. c] Gebiete, nämlich
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88 Die Lehre d. hl. Thomas u. b. Schale vom Piinzip der Individaation.
in der Erklärung der in der ITatur vorgehenden substantiellen
Veränderungen von vielen so sehr perhorresziert wird, entweder
weil sie es unterlassen, auf die letzten logisch-ontologischen
Grundbegri£fe und Prinzipien zurückzugehen, oder, weil sie unter
nominalistischen und Xantschen Einflüssen die Überzeugung ge-
wonnen zu haben glauben, es sei uDmöglich, auf metaphysischem
Wege den Dingen auf den Grund zu kommen. Scbliefslich aber
geraten wir überall, auch im Eealen, wo es sich um das tiefere
Verständnis der Erscheinungen und Thatsachen in Natur und
Geist handelt, auf ontologische Begri£fe, wie die von Potenz und
Akt es sind, und auf metaphysiche Probleme: und es bleibt uns
nur die Wahl, entweder das Gebiet der metaphysischen Er-
örterung zu betreten, oder da, wo die Aufgabe der Wissenschaft
eigentlich erst beginnt, lauter unlösbare Räthsel anzuerkennen.
„Die Dinge verhalten sich, so fahrt Thomas a. a. O. fort,
auf dreifache Weise zu den verschiedenen Vermögen der Seele.
Zu den äufseren Sinnen verhalten sie sich wie zureichende
Agentien, mit denen die von ihnen leidenden Vermögen nicht
(aktiv) mitwirken, die sie vielmehr nur aufnehmen (womit eine
passive Kooperation nicht ausgeschlossen werden soll, vielmehr
ist eine solche anzunehmen, da die Aufnahme eine eigenartige,
durch die Natur des Vermögens, als eines Erkenntnisvermögens
bestimmte — immaterielle — ist) Die äufseren Sinne
aber nehmen von den Dingen nur nach Art des Leidens auf,
ohne zu ihrer eigenen Formierung in Thätigkeit zu treten [Es
kann daher nur verwirrend wirken, wenn von einem sensus agens
geredet wird, über den Unterschied der passiven und aktiven
Seelenvermögen s. Sanseverino, Dynamilogia, pars generalis,
art. 6. (t. 1. p. 348.) : „FacuUates activae, secundum D. Thomam,
illae sunt, quae efficiunt, ut suum objectum fiat actu; passivae,
quae a suo objecto jam actu existente ad agendum moventur."],
obgleich sie, wenn geformt (durch die Species informiert), eine
eigene Thätigkeit haben, die im Urteil über ihre eigentümlichen
Objekte besteht Aber auch zur Einbildungskraft verhalten sich
die aufserhalb der Seele existierenden Dinge als zureichende
Agentien. Die Einwirkung eines sinnenfalligen Gegenstandes
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Potenz und Akt 89
bleibt nämlich nicht im Sinne stehen, sondern gelangt weiter,
zar Einbildungskraft oder Phantasie. Diese aber ist ein Leiden-
des, das mit dem Agens mitwirkt Die Einbildungskraft selbst
nämlich formt sich Bilder von Dingen, die der Sinn nie wahr-
genommen hat, jedoch aus demjenigen, was vom Sinne von aufsen
aufgenommen worden ist, indem sie es trennt oder verbindet,
wie wir uns goldene Berge, die wir nie gesehen, mittels der
Berge und des Goldes, die wir wahrgenommen, vorstellen. Zu
dem möglichen Verstände aber verhalten sich die Dinge als un-
zureichende Agentien. Die Thätigkeit der sinnlichen Dinge
bleibt nämlich auch nicht bei der Einbildungskraft stehen, son-
dern die Phantasmen bewegen weiterbin den möglichen Verstand;
nicht aber so, dafs sie aus sich selbst (zur Erzeugung der in-
tellektuellen Vorstellung) zureichen würden, da sie nur der Mög-
lichkeit nach intelligibel sind; der Verstand aber wird nur von
dem in Wirklichkeit Intelligiblen bewegt. Aus diesem Grunde
mufs die Wirksamkeit des thätigen Intellektes dazwischen treten,
durch dessen Beleuchtung die Phantasmen in Wirklichkeit in-
telligibel werden, wie die Farben, durch das körperliche Licht
beleuchtet, sichtbar werden. [Res, quae sunt extra animam
triplidter se habent ad diversas animae potentias: ad sensus
enim exteriores se habent sicut agentia sufßcientia, quibus pa-
tientia non cooperantnr, sed recipiunt tantnm .... Sensus
autem exteriores suscipiunt tantum per modum patiendi, sine hoc,
quod aliquid cooperentur ad sui formationem: quamvis jam for-
mati habeant propriam operationem, quae est Judicium de propriis
objectis. Sed ad imaginationem res, quae sunt extra animam, com-
parantur ut agentia sufficientia. Actio enim rei sensibilis non sistit
in sensu, sed ulterius pertingit usque ad pbantasiam, sive imagina-
tionem; tamen imaginatio est patiens qaod cooperatur agenti:
ipea enim imaginatio format sibi aliquarum rerum similitudines,
quas nunquam sensus percepit, ex his tamen quae sensu reci-
piuntur, componendo ea et dividendo: sicut imaginamur montes
aureos, quos nunquam vidimus, ex hoc, quod vidimus aurum et
montee. Sed ad intellectum possibilem comparantur res sicut
agentia insufficientia: actio enim ipsarum rerum sensibilium nee
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^0 Die Lehre d. hl. Thomas a. s. Schule vom Prinzip der Individaation.
etiam in imaginatione sistit; sed phantasmata ulteriaB mo-
vent intellectum possibilem; non autem ad hoc, quod ex
se ipdis sufBciant, cum sint in potentia iotelligibilia; intelleotns
autem non movetur um ab intelligibili in acta; unde oportet»
quod superveniat actio intellectns agentis, cnjus iilustratione
phantasmata fiunt intelligibilia in actu, sicnt illustratione lucis
corporalis fiant colores sensibiles actu.]
„Und 80 erhellt, dafs der thätige Verstand das primäre
Agens ist, das die Ähnlichkeiten der Dinge im möglichen Ver-
stände hervorbringt. Die Phantasiebilder aber, die von
äufseren Dingen aufgenommen werden, verhalten sich
wie werkzeugliche Ursachen; der mögliche Verstand näm-
lich steht zu den Dingen, deren Erkenntnis er erlangt, im Ver-
hältnis eines Leidenden, das mit dem Thätigen mitwirkt: denn
noch viel mehr müssen wir dem Verstände die Macht einräumen,
den WesensbegriiF von einer Sache, die nicht unter die Sinne
tällt, zu bilden, als der Einbildungskraft (die Fähigkeit, eine
Vorstellung der oben erwähnten Art).** [Et sie patet, quod in-
tellectus agens est principale agens, quod agit rerum similita-
dines in intellectu possibili. Phantasmata autem, quae a
rebus exterioribus accipiuntur, sunt quasi agentia in-
strumentalia: intellectus enim possibilis comparatur ad res,
quarum notitiam accipit, sicut patiens, quod cooperatur agenti:
muUo enim magis potest intellectus formare quidditatem rei, quae
non cecidit sub sensu, quam imaginatio.]
Der voranstehende Text ist entscheidend. Thomas räumt
der Phantasie einen erzeugenden, nicht blofs bestimmenden Ein-
fiufs auf die Entstehung der intellektuellen Vorstellungen ein.
Dafs die Phantasmen den Verstand bewegen, kann nichts an-
deres bedeuten, als dafs sie diesen aus der Potenz in den Akt
überführen und in ihm die der sinnlichen entsprechende intelli-
gible Species hervorbringen. Aber sie bewegen den Ver-
stand nicht in eigener Kraft, sondern als Werkzeuge des
thätigen Verstandes. Denn wäre das Sinnenbild nicht nur secun-
däre und instrumentale, sondern prinzipale Ursache der intellek-
tuellen Vorstellung, so könnte seine Wirkung nicht einer höhereu
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Notwendigkeit einer besonderen Erkenntnisform oder Species. 91
&attang angehören. Der Begriff wäre ebenso sinnlich, wie die
ihn eneagende Vorstellung; er könnte nicht das Wesen reprä-
sentieren, sondern nur Erscheinungen zusammenfassen: die
Theorie würde an der Klippe des Sensualismus scheitern. [S.
Albert Magn. De hom. tr. L qu. 53. art. 1. n. 7. Contra. Ed. Jammy
t. 19. c. 246 b.J Indem sie aber die Rollen zwischen Geist und
Sinnlichkeit derart verteilt, dafs jenem die übergeordnete, dieser
die untergeordnete zufallt, gelingt es ihr, die Gharybdis des Sen-
sualismus zu vermeiden, ohne in die Scylla des Intellektualismus
zu verfallen.
So frei also auch der menschliche Verstand mit dem durch
die Sinne gelieferten Material — wie Thomas in den zuletzt
angeführten Worten hervorhebt — in der Bildung von Begriffen,
Urteilen und Schlüssen zu schalten vermag, und so sehr diese
ihm eigentümlichen Thätigkeiten von den Bewegungen der Phan-
tasie, ihren Vorstellungsassociationen u. s. w. verschieden sind,
so verhält sich doch der Verstand zur Phantasie leidend, in-
sofern diese in der Erzeugung der Stammbegriffe sowohl als
auch der Begriffe der körperlichen Dinge, überhaupt aller in-
tellektuellen Vorstellungen, welche die notwendigen Elemente
der freien Verstandesoperationen bilden, unter dem Einflüsse des
thätigen Verstandes mitthätig ist.
Der Wirksamkeit des Phantasiebildes verdanke ich diese
bestimmte intellektuelle Vorstellung, eines Dreiecks, einer
Pflanze u. s. w., der Wirksamkeit des thätigen Verstandes da-
gegen verdanke ich es, dafs diese Vorstellung eine intellek-
tuelle ist, dafs sie den Gegenstand nicht nach seiner materiellen
Erscheinung, sondern nach seinem intelligiblen Wesen re-
präsentiert.
Soviel über den ersten Punkt, den erzeugenden Einflufs,
den nach thomistischer Lehre die Phantasie auf den Verstand
ausübt
Wir wenden uns zur Erörterung des zweiten Punktes, der
sich auf die Notwendigkeit einer besonderen, den Verstand in-
formierenden Species bezieht. Beide Fragen verhalten sich zu
einander so, dafs die Annahme eines erzeugenden Einflusses der
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92 Die Lehre d. hl. Thoma su. s. Schule vom Prinzip der Individuation.
Sinnlichkeit hinfallig wird, wenn man dem Verstände die Macht
zuerkennt, ohne eine solche Species den Akt des Erkennens in
Bezug auf einen beliebigen Erkenntnisgegenstand zu vollziehen.
Obgleich nämlich mit der Anerkennung der Notwendigkeit be-
sonderer, vom Wesen des Verstandes verschiedener Formen nicht
auch schon der erzeugende Einflufs der Sinnlichkeit zugestanden
ist, so wird doch umgekehrt durch die Verwerfung solcher Formen
der Annahme jenes werkzeuglichen Einflusses der Boden ent-
zogen.
Beide Annahmen aber machen in ihrer Verbindung die er-
kenntnis-theoretische Grundlage der Lehre des hl. Thomas vom
Prinzipe der Individuation der körperlichen Dinge aus. Ist jene
Grrundlage schwankend, so zerföUt damit auch diese Lehre. Denn
daraus, dafs im Vergeistigungsprozefs der Species die Indivi-
dualität abgestreift wird, wird geschlofsen, dafs sie in der Materie
ihren Grund haben müsse. Wir werden deshalb an der Frage,
ob der menschliche Intellekt durch Species erkenne, nicht vor-
über gehen dürfen.
Wie sich der englische Lehrer zu der später von den No-
minalisten adoptierten Ansicht verhält, der menschliche Verstand
vermöge, ohne Aufnahme einer repräsentativen Erkenntnisform
die dem gegenwärtigen Gegenstand entsprechende Vorstellung
zu bilden, läfst sich aus folgenden Stellen entnehmen:
„Andere behaupteten, dafs die Seele sich selbst Ursache
der Wissenschaft sei; sie empfange nämlich die Wissenschaft
nicht vom Sinnlichen, als ob durch eine Aktion des Sinnlichen
die Ähnlichkeiten der Dinge irgendwie zur Seele gelangten, son-
dern die Seele selbst bilde bei der Gegenwart der Sinnendinge
in sich deren Ähnlichkeiten. Diese Aufstellung erscheint jedoch
nicht als völlig vernunftgemäfs. Denn kein Agens wirkt, aufser
inwiefern es in Wirklichkeit ist; bildet also die Seele in sich
die Ähnlichkeiten aller Dinge, so mufs sie diese Ähnlichkeiten in
sich der Wirklichkeit nach besitzen, und so kommt diese Ansicht
auf jene früher erwähnte zurück, welche behauptet, dafs die
Wissenschaft aller Dinge von Natur der Seele eingepflanzt sei.''
[De veritate, qu. X. art. 6 c. Vgl. ebendas. art. 4.]
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DuranduB leugnet mit dem intell. agens auch die Species. 93
„Wenn es einen Verstand gibt, der durch seine Wesenheit
alles erkennt, so mufs seine Wesenheit alles in sich befassen in
immaterieller Weise . . . Dies ist aber Gott eigen, daCs seine
Wesenheit in geistiger Weise alles umfasst, wie die Wirkungen
in den Ursachen der Kraft nach Torausbestehen. Gott allein
also erkennt alles durch sein Wesen, nicht aber die menschliche
Seele und ebensowenig ein Engel.'' [8. Th. I. qu. 84. art 2 c]
,,Der Verstand der menschlichen Seele ist in Möglichkeit
zu allem, was ist (ad omnia entia). Es ist aber unmöglich, daCs
es ein geschaffenes Sein gebe, das vollkommen Akt und die
Ähnlichkeit alles Seienden wäre, weil es so die !Natur des Seins
(natnraro entitatis) in unendlicher Weise besitzen würde. Daher
kann Gott allein durch sich selbst ohne irgend eine hinzukom-
mende Form (sine aliquo addito) alles erkennen; jeder geschaffene
Verstand aber erkennt durch weitere hinzukommende Species/'
[De Tcritate, qu. XX. art. 2 c]
Wenn durch die an erster Stelle angeführte Bemerkung
zunächst nur die Annahme getroffen zu werden scheint, welche
den Verstand selbst in immanenter Weise die Species anläfslich
der blofsen Gegenwart des Phantasiebildes in sich erzeugen
labt, so richten sich die folgenden Texte auf die unzweideutigste
Weise gegen diejenigen, welche aufser dem instrumentalen Ein-
flass des Sinnenbildes auch die Species selbst eliminieren.
An der Existenz des thätigen Intellektes und der Unter-
scheidung desselben Tom möglichen hält Suarez fest, ohne
Zweifel in der Absicht, den eingeborenen Ideen Platons und
den psychologischen Konsequenzen der platonischen Theorie des
Erkennens zu entgehen. Indem er aber der Sinnlichkeit einen
anderen als anregenden Einflufs nicht einräumen will, hält sich
seine Auffassung der Abstraktion in einer unhaltbaren Schwebe.
[S. oben 8. 84.]
Radikaler verfuhr Durandus. Die Erkenntnis, intellektuelle
sowohl als sinnliche, entsteht ihm nicht dadurch, dafs die Dinge
auf die Seele wirken und ihre Ähnlichkeit derselben einprägen,
sondern die Gegenwart der Sache genügt, um die Seele zur
Bildung der Vorstellung — in einem der modernen Auffassung
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94 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schale rom Piinzip der Individaation.
sich aBnähernden Sinne, nicht in dem der Species, die nicht
selbst als YorsteUung, sondern als Element und subjektiye Be-
dingung derselben anzusehen ist — zu bestimmen. [Brentano,
a. a. 0. S. 26. Dr. A. Stöckl, Geschichte der Philosophie des
Mittelalters. Mainz 1865. IL Bd. S. 978.] Das geegnwärtige
Ding aber ist singulär, indiyiduell, und in Folge hievon ist nicht
das Allgemeine, sondern das Einzelne das erste, was der Ver-
stand erkennt, und was Ton ihm nicht nur reflexiv, sondern
direkt erkannt wird. [Stöckl a. a. 0.]
Angesichts dieser Auffassung erheben sich zahlreiche Fragen,
auf welche Durandus und die Kominalisten, in deren Gedanken-
kreise dar doetor resolutissimus sich bereits bewegt, keine be-
friedigende Antwort su geben yermögen.
Gehört die durch die (jttgenwart des Objektes angeregte
Vorstellung des Einzelnen ausschliersKeh dem Verstände oder
auch der Sinnlichkeit an und wenn beiden, wie haben wir die
Vorstellung der Sinnlichkeit von der des Verstandes sa unter-
scheiden? Ist der Unterschied der sinnlichen und der intellek*
tuellen Vorstellung ein accidenteller oder wesentlicher? Wie
Yerhält sich die allgemeine zur singulären Vorstellung? Kann
jene noch als Wesensbegriff gelten und die Grundlage wahren
Wissens, allgemeiner und notwendiger Erkenntnis abgeben?
Der Nominalismus ist eine inkonsequente Denkweise, die
sich nur in der Zurückfuhrung des Verstandes auf die Sinnlich-
keit, also im Empirismus und Sensualismus Yollendet.
Dieser Erkenntnistheorie gegenüber werden wir uns nicht
darüber wundern, dafs derselbe Durandus die thomistische
Theorie der Individuation bestreitet Seine Einwendungen be-
ruhen teils auf positiven Mifsverständnissen derselben, teils
stammen sie aus nominalistischen Vorurteilen gegenüber dem
gemäfsigt realistischen Standpunkte des englischen Lehrers.
[Stöckl, a. a. 0. S. 977.]
Die Einwürfe der ersten Art treffen die Häcceitäten des
Skotus, nicht die quantitativ bestimmte, „signierte'' Materie
des Aquinaten. Wir werden hierauf im metaphysischen Teile
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Durandos bestreitet die thomistische Lehre Tom Individuationsprinzip. 95
üBserer Darstellung zarüokzukommen haben. Vorläufig mögen
folgende Bemerkungen genügen.
Nach Thomas besteht in den Dingen keine Zusanunensetzung
ans Allgemeinem und Besonderem, wie sie Skotus annimmt,
indem er das konkrete Einzelding aus der allgemeinen Natur
(dem realen Korrelat des Artbegriffs) und der Diesheit oder in-
diTiduellen Differenz (haeoceitas) sich zusammensetzen läfst.
Vielmehr betrachtet Thomas das ganze Wesen als durchaus —
nach Stoff irad Form — individuell. Dagegen sind ihm der
Grund der Individualität und der Grund der specifischen Be-
stimmtheit nicht ein und derselbe, sondern real verschieden,
indem zwar beide im Wesen, aber in verschiedenen Bestand-
teilen desselben liegen. Durch diese Bestimmung gelingt es der
thomistisohen Lehre, sich nach der Einen Seite ebenso weit von
dem wissenschaftsfeindlichen Nominalismus zu entfernen, als sie
durch Verwerfung real oder formal vom allgemeinen Wesen
verschiedener Koustitutivprinzipien der Individualität (Häcceitäten)
den excessiven Realismus von sich weist. Das ganze reale
Wesen ist individuell durch das Eine Konstitutiv, die Materie,
und specifisch bestimmt durch das andere, die Form. Die be-
sinnmte Quantität aber, unter welcher die Materie vorhanden
sein mufs, um die Individuation zu bewirken, gehört dem er-
scheinenden Individuum an und stammt daher ebenso aus der
bestimmenden Form, wie aus dem bestimmbaren Stoffe. Denn
Individuationsprinzip ist ja die Materie in dem be-
stimmten Sinne, dafs sie Grund des Daseins von Dingen
derselben Art in zeiträumlichem Auseinander, in räum-
licher und zeitlicher Geschiedenheit, Grund des Hier
und Jetzt ist Wie wir uns auch weiterhin überzeugen werden,
ist die materia signata nur der treffende Ausdruck und die allein
befriedigende Erklärung jenes Hegel'schen „Hier und Jetzt'S das
dem rationellen Erkennen als unauflösbarer Rest gegenüber steht.
Als die äufserste Konsequenz des von Durandus inaugu-
rierten erkenntnistheoretischen Standpunktes in der naturphiloso-
phischen Richtung erscheint die Verwerfung des realen Unter-
schiedes vou Form und Materie; denu fallt der Grund der
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96 Die Lehre d. hl. Thomas u. b. Schule yom Prinzip der Indiyiduation.
Intelligibilität oder specifiechen Beetimmtheit mit dem der indi-
viduellen Pluralität zusammen, so wird im realen Wesen kein
unterschied mehr anzunehmen, und Stoff und Form werden
identisch sein.
Einige dieser Konsequenzen sind auch von Snarez ge-
zogen worden. Da nun einmal dieser scharfsinnige und viel-
seitige Philosoph dem Gedanken einer Reinigung des Phantasie-
bildes durch den thätigen Verstand seinen Beifall versagen zu
sollen glaubte, so konnte er einerseits in der Annahme, dafs das
Einzelne das Ersterkannte des Intellektes sei, keine Schwierig-
keit mehr finden, andererseits aber fiel inr ihn der erkenntnis-
theoretische Grund hinweg, die Materie als Grund der Indiyi-
duation zu betrachten. Als solchen nämlich erkennen wir sie
gerade daran, dafs die zur Aufnahme des Gegenstandes in den
Intellekt erforderliche Reinigung von der Materie die Unmöglich-
keit einer direkten Erkenntnis des Individuellen nach seiner eigen-
tümlichen Katur nach sich zieht. [Tr. de anima 1. IV. c. III. dub. II.]
Dagegen zu allen angeführten Xonsequenzen jener Erkenntnis-
theorie, welche die Seele angesichts des gegenwärtigen Objekts
aus eigener Kraft die intellektuelle Vorstellung bilden läfst, be-
kennt sich in der neuesten Zeit P. Dominikus Palmieri. [In-
stitutiones philosophicae, quas tradebat in coUegio Romano Socie-
tatis Jesu Dominions Palmieri, e S. Volumen 2™. Romae 1875.
Dieselbe Lehre findet sich bei Heinrich von Gent Duns Skotas,
der sie eifrig bekämpft, zeigt die darin latenten pantheistischen
Keime auf. S. Sanseverino, 1. c. p. 756 — 764.]
Der vormalige Professor am römischen Kollegium der Ge-
sellschaft Jesu stellt folgende These über den Ursprung der
intellektuellen Vorstellung auf. Damit der Intellekt aus der
Möglichkeit in die Wirklichkeit übergehe, bedarf er einer Be-
stimmung von aufsen her. Das Bestimmende ist aber nicht der
materielle Gegenstand oder das Phantasiebild, das etwa den
Intellekt unmittelbar wie eine Form afficiert, oder irgend eine
im Intellekt verborgene, ihm von Natur eingeprägte Species.
Gleichwohl folgt hieraus nicht, dafs aufser dem intellektuellen
Erkenntnisvermögen irgend eine Kraft anzunehmen sei, welche
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Palmieris Theorie des intellektaellen and sinnlichen Erkennens. 97
die intelligiblen Spezies Yon den Phantasmen abstrahiere, und
durch welche der Intellekt informiert werde, sondern die Be-
stimmnog des Intellektes wird besser erklärt, wenn als das
Bestimmende die Sensation selbst betrachtet wird, in-
sofern sie Akt desselben Subjekts ist, das sensitiv nnd
intellektiy zugleich ist. [L. c. p. 469.]
Mit Recht weist Palmieri in dieser These sowohl die sen-
sualistische Ansicht (phantasma quod intellectum afficiat veluti
forma), als aach die platonische Theorie der eingebomen Ideen
zurück. Es -ist jedoch nicht abzusehen, wie er der letzteren zu
entgehen yermöge. Die Entstehung der intellektuellen Vorstel-
lung wird von Palmieri durch den blofsen Hinweis auf die Sen-
sation, die denSselben Subjekte, wie die intellektuelle Vorstellung
angehöre, nicht nur nicht erklärt, sondern es erhebt sich eine
neue Schwierigkeit, wie die Sensation selbst zu erklären sei,
wenn sie demselben Subjekte, wie jene angehören soll. [Sinn
und Verstand wurzeln beide in der Seele, jedoch hat nur der
letztere die Seele allein zum Subjekte, während die Sinne, scho-
lastisch gesprochen, potentiae conjuncti sind. Dafs aber aus der
Gemeinsamkeit der Wurzel von Sinn und Verstand nicht die
Redundanz der sinnlichen Bewegungen in den Verstand folge,
zeigt der hl. Thomas Quaest. disput qn. unica de anima art. 4.
ad 1. Wenn aber P. schreibt: Intellectus non debet spectari
ut aliquod agens separatum a sensu, sed est reapse ipsa anima
sentiens (1. c. 477), so fragen wir, wie läfst sich da noch der
reale Unterschied von Sinn und Verstand aufrecht erhalten, wenn
der Intellekt nichts anderes als die empfindende Seele ist?]
Zuerst also wird die intellektuelle Vorstellung nicht erklärt
aus der Einheit des Subjektes mit dem der Sensation; denn die
blofse Gegenwart der sinnlichen Vorstellung genügt nicht, um
den Intellekt zur Vollziehung des vitalen Aktes idealer Ver-
ähnlichung mit einem bestimmten Gegenstande zu befähigen.
Nur unter der Voraussetzung, dafs der Verstand zum Intelligiblen
nicht als Potenz, sondern als Akt sich verhalte, liefse sich an-
nehmen, dals, durch den Akt der Sensation bestimmt, der In-
tellekt demselben Objekte sich zuwende. Diese Voraussetzung
Jahrbach fUr Philosophie etc. I. 7
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98 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schale Tom Prinzip der Individuation.
aber wird von Palmieri zurückgewiesen. Folglich bleibt die
Bildung der intellektuellen Vorstellung in seiner Hypothese un-
erklärt
Vergeblich beruft sich Palmieri auf das Verhältnis zwischen
Verstand und Willen. [L. c. p. 477. Über dieses Verhältnis vgl.
Sanseverino, Dynamilogia p. 926 sequ.] Denn erstens ist der
Sinn nicht, wie der Wille, reines Seelen vermögen oder ein
solches, das der Seele allein inhärierte, zweitens ist die Natur
des Willens darin von der des Verstandes verschieden, dafs
jener seinem Objekte, dem Torgestellten Gute zustrebt, dieser
aber sein Objekt (dem stellvertretenden Bilde nach) aufnimmt,
von ihm informiert wird.
Was aber das Zweite, die Erklärung der Sensation betrifii,
so erscheint diese in Palmieris Theorie ebenso unbegreiflich, wie
die intellektuelle Vorstellung. Denn woher kommt dem Sinne
die Kraft auf Grund der äufseren Anregung und Bestimmung,
die Vorstellung in sich zu erzeugen?
Wenn die Sensation, wie Palmieri anzunehmen scheint, in
der Seele allein vorgeht und durch die leiblichen Organe nur
modifiziert wird, so ist nicht abzusehen, wie auch nur ein sinn-
liches Vorstellungsbild in das für sich bestehende Sensations-
subjekt, die einfache Seelenmonade gelangen soll. Die Palmierische
Psychologie drängt vielmehr zu den eingebornen Ideen eines
Descartes und Leibnitz, dessen Denkweise überdies die psycho-
logischen und kosmologischen Doktrinen Palmieris weit näher
als der scholastischen stehen. [L. c. Quamvis actus sensationis
a corpore non eliciatur, fit tamen cum ipso et in ipso, quia
fit a principio quidem simplici, corporate, et ipsum corpus con-
currit ratione sui, ut sit ille actus. Sicut ergo principium Sim-
plex est in corpore, eique conjunctum est, et ab eo modificatur,
ita et operatio ejusdem in corpore est, a quo modum sibi debi-
tnm mutuatur. Mit Secht wird diese Theorie der Sensation ent-
schieden bestritten, wenn auch ohne ausdrückliche Bezugnahme
auf Palmieri, von P. Posch in den Institutiones Philosophiae
naturalis, Friburg. 1880 p. 141 und besonders p. 153: „Sed ad
haec phaenomena (seil, sensationis) explicanda non sufficit dicere.
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Palmierig Theorie vom Individuationsprinzip. 99
corpus esse conditdonem intrinsecam actus, sed corpus debet esse
comprincipium actus, ita ut simul cum anima vitalem sensationis
actum eliciat/' Nicht mit Unrecht sieht P. Pesch die Quelle dieser
Ansicht in einem falschen Begriff Tom Leben, zu dem selbst
(fügen wir bei) ein falscher Begriff von der Materie gefuhrt hat.]
In Übereinstinunung mit jener Theorie vom Ursprung der
Ideen steht Palmieris Annahme, dafs der Intellekt das Einzelne
nach seiner Eigentümlichkeit erkenne, und die weitere, dafs das
Prinzip der Individuation nicht in der Materie gelegen sei.
y,Der Intellekt, behauptet P. im Anschluls an Suarez, besitzt
einen eigentümlichen Begriff des materiellen Einzel-
wesens, das ihm durch den Sinn gegenwärtig wird, ob-
gleich deshalb nicht notwendig das Einzelne früher
als das Allgemeine erkannt wird. Die intellektuelle
Erkenntnis des gegenwärtigen Körpers aber ist nicht
eine unmittelbare, sondern eine mittelbare/' [L. c. p. 490
Thesis XXVIII. Eine eingehende Widerlegung der von Palmieri
vorgebrachten Gegengründe liegt weder in unserer Aufgabe noch
in unserer Absicht. Seine Einwendungen speziell gegen die
Spezies beruhen zumeist auf vorgefafsten Begriffen, die auf die
Thatsachen angewendet werden, anstatt dafs die Begriffe den
Thatsachen gemäfs gebildet würden. Ihm steht die mechanisch-
monadologische Naturauffassi^ng prinzipiell fest. Dieser, die nur
aktuelles Sein (Monaden), deren Modi und wechselseitige Ver-
bindungen kennt, müssen sich die Begriffe und Thatsachen fiigen.
Daher verwirft P. den Begriff einer inkompleten Substanz, der
zwischen aktueller und potentieller in der Mitte liegenden habi-
tuellen Bestimmtheit u. s. w.]
Ob und wie diese Bestimmungen harmonieren, darüber haben
wir an diesem Orte nichts auszumachen. Dagegen wollen wir
feststellen, dafs Palmieri die Berufung auf die Notwendigkeit
der Abstraktion von den individualisierenden Bedingungen der
Materie zum Behufe der Aufnahme der Dinge in den Intellekt
nicht gelten läfst — aus dem Grunde, weil falsch sei, was vor-
ausgesetzt werde, nämlich dafs die bestimmte Materie das Prinzip
der Einzelheit bilde. [L. c. p. 491.]
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100 Die Lehre d. hl. Thomas a. s. Schale vom Prinzip der Individaation.
Falmieri verweist auf die sechste These seiner Ontologie
[Institutiones Phil. voIumen l"" p. 297], auf die wir im zweiten,
metaphysischen, Teile unserer Schrifk zurückkommen werden. An
diesem Orte möge noch die letzte Konsequenz des Ton P. ein-
genommenen Standpunkts der Erkenntnistheorie berührt werden^
die Preisgebnng der realen Zusammensetzung von Materie und
Form in den körperlichen Dingen. Noch mehr. Für P. gibt es
weder in der Natur noch im Geiste eine reale Potenz. Denn
der Verstand, dem die Fähigkeit zukommt, infolge der blofsen
Gegenwart des Objekts durch sich selbst sich jeglichem Seienden
ideal zu konformieren, kann nicht mehr als ein passives Ver-
mögen, das sich zum Intelligiblen in Potenz verhält, im Sinne
des intellectus possibilis des Aristoteles und der Scholastiker,
sondern nur als Aktivität und Aktualität begriffen werden. [Siehe
oben S. 97.]
Wir haben keinen Grund, uns über diesen Sachverhalt zu
wundern; denn der Zusammenhang zwischen dem erkenntnis<
theoretischen und naturphilosophischen Problem ist unleugbar.
Gerade in unserer Frage tritt derselbe in scharfen Umrissen
hervor. Der Potentialität des Intellektes entspricht die Poten-
tialität der Materie. Wie diese Möglichkeit der realen Formen^
so ist der einzelne Verstand Möglichkeit der idealen Formen.
Die Aktuierung der Potentialität des Verstandes ist nach den-
selben Prinzipien zu begreifen wie die Hervorbringung der sub-
stantiellen Formen im Stoffe. Den scholastischen Philosophen ist
diese Analogie oder, wenn man will, dieser Parallelismus ge-
läufig. Albert der Grofse und Thomas von Aquin ermüden nichts
denselben bei jedem Anlasse, insbesondere wo es die Bekämpfung
der platonisierenden Anschauungen der arabischen Philosophen
gilt, hervorzuheben. [S. Albert Magn., De anima l. IIL
tract. II. c. 9. S. Thomas, De veritate qu. X. art. IL]
Wer in der Aktuierung einer accidentellen Potentialität,
wie es die des Verstandes ist, durch accidentelle (intelligible)
Formen eine Absurdität erblickt, wird in der „Eduktion'' der
Wesensformen aus der substantiellen Potentialität der Materie,
die Folgerichtigkeit seines Denkens vorausgesetzt, keinen seines
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ZuBammenfaBSong der ReBultate. 101
Beifalls würdigen Gedanken ersehen. Und umgekehrt wird die
Verbannung der passiven Potenz aus der Natur nicht geneigt
machen, ihre Ansprüche auf die Sphäre des Geistes als legitime
gelten zu lassen.
Fassen wir die gewonnenen Resultate zusammen, so erklärt
sich die aus der Yergleichung der intellektuellen mit der sinn-
lichen Vorstellung sich ergebende Inkommensurabilität daraus,
dafs jene durch Abstraktion aus dieser gewonnen wird — ein
Abstraktionsprozefs, der als ein notwendiger und unbewufster,
Yon jedem direkten Einflufs des freien Willens unabhängiger zu
betrachten ist, und Ton jener willkürlichen Abstraktion, die von
der einen Seite ihres Gegenstandes absieht, um eine andere zu
betrachten, sorgfaltig unterschieden werden mufs. In dieser aus
der natürlichen Verbindung des thätigen Verstandes mit der
Einbildungskrsft resultierenden Abstraktion geht mit der Materie
und ihren Bedingungen auch die Indiyidualität verloren. Es
mufs also geschlossen werden, dafs in körperlichen Dingen die
Materie Grund der Individuation ist.
Zerreifst man diese Schlufskette in irgend einem Punkte,
so ergeben sich Konsequenzen der bedenklichsten Art Ist die
Materie nicht Prinzip der Individuation, so stehen zwei Wege
offen, entweder anzunehmen, dafs die Individualität als solche
ein Nichtintelligibles, Nichtseiendes sei: eine Ansicht, die in der
Richtung des Hegeischen Panlogismus liegt, oder das Zuge-
ständnis zu machen, dafs auch der Intellekt das Einzelne nach
seinem eigentümlichen Begriffe erkenne. In diesem zweiten Falle
wird der reale Unterschied zwischen Sinn und Verstand nicht
mehr aufrecht erhalten werden können, und man wird genötigt
sein, entweder den Sinn auf den Verstand, oder den Verstand
auf den Sinn zurückzufuhren.
Sehen wir indessen von der letzteren Konsequenz, die durch
eine Reihe von Mittelbegriffen zu verfolgen wäre, ab, so ist in
dieser Richtung wenigstens der Zusammenhang mit dem Nomina-
lismus unmittelbar einleuchtend. Der Verstand soll nichts Weiteren
als der Gegenwart der sinnlichen Vorstellung bedürfen, um seine
Operationen zu beginnen, und an dieser, sei es das Eigentümliche
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102 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip der Individnation.
oder das mit anderen Gemeinsame zu erfassen. Mag er non seinen
Blick zuerst auf dieses oder jenes, mag er anf den gegenwär-
tigen Körper mittelbar oder unmittelbar ihn richten: in allen
Fallen wird dieser Blick nichts entdecken, was in der sinnlichen
Yorstellnng selbst nicht acta oder der Wirklichkeit nach Tor-
handen ist. Der aktuelle Inhalt der sinnlichen Vorstellung aber
bietet nur Einzelnes und Materielles und stellt dieses nicht nach
seinem Wesen, sondern unmittelbar nur nach seiner Erscheinung
dar. Die Bildung eines Wesens begriffes, die Vorstellung des
die Erscheinung transcendierenden Wesensgrundes, ja selbst die
Bildung eines wahrhaft allgemeinen Begriffes wird unter jener
Voraussetzung zu etwas Unmöglichem. Der allgemeine Begriff
sinkt zum Terminus, zum Begister für ähnliche Erscheinungen,
zum blofsen eine Vielheit von Einzelobjekten zusammenfassenden
Namen herab. In dieses Schicksal werden folgerichtig auch
jene Begriffe hineingezogen, durch die wir materielles und gei-
stiges Sein gleichmäfsig denken, die eigentlich metaphysischen
Begriffe der Substanz, des Seins u. s. w, Auch ihnen wird
jeder selbständige intelligible Gehalt, durch den sie über die
Erfahrung hinausfuhren würden, abgesprochen werden müssen.
Mit einem Worte: der Eantsche Bankbruch der Vernunft wird
^ur unvermeidlichen Katastrophe, vorausgesetzt, dafs mit der
Annahme Ernst gemacht wird, dafs die nackte Vernunft sich
der Gegenwart der sinnlichen Vorstellung gegenübergestellt finde
und folgerichtig nichts anderes vermöge, als analytisch und syn-
thetisch ihren aktuellen Gehalt zu verarbeiten.
Mit Unrecht würde sich Palmieri für seine Auffassung der
Abstraktion auf den Ausspruch des hl. Thomas berufen, es be-
deute das Abstrahieren des Allgemeinen vom Einzelnen oder der
intelligiblen Spezies von den Sinnenbildern soviel als die Be-
trachtung der spezifischen Natur ohne die Betrachtung der in-
dividuellen Prinzipien. [Hoc est abstrahere universale a parti*
culari, vel speciem intelligibilem a phantasmatibus : considerare
scilicet naturam speciei absque consideratione individualium prin-
cipiorum, quae per phantasmata repraesentantur. S. Th. I. qu. 85.
art. 1. ad 1.] Denn der englische Lehrer läfst uns darüber nicht
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Unwillkürliche und willkürliche Abstraktion. 103
im Zweifel, wie wir das zu verstehen haben. Der thätige Ver-
stand nämlich abstrahiert die intelligiblen Spezies von der sinn-
lichen Yorstellungy inwiefern wir dnrch die Kraft des thäti-
gen Verstandes die spezifischen Naturen ohne die individuellen
Bedingungen aufnehmen können. [L. c. ad 4. Da die Stelle för
das Verständnis der thomistischen Erkenntnistheorie von hervor-
ragender Bedeutung ist, so möge sie nach ihrem vollständigen
Wortlaute folgen. Phantasmata et illuminantur ab intellectu
agente, et iterum ab eis per virtutem agentis species
intelligibiles abstrahuntur. Illuminantur quidem, quia sicut
pars sensitiva ex conjunctione ad intellectivam efßcitur virtuosior,
ita phantasmata ex virtute intellectus agentis redduntar habilia,
ut ab eis intentiones intelligibiles abstrahantur. Abstrahlt autem
intellectus agens species intelligibiles a phantasmatibus, in quan-
tum per virtutem intellectus agentis accipere possumus in
nostra consideratione naturas specierum sine individualibus con-
ditionibus, secundum quarum similitudines intellectus possibilis
informatur.] Nach dem englischen Lehrer nämlich ist die spe-
zifische Natur nur der Potenz nach im Sinnenbild. Es bedarf
daher, um es der Betrachtung zugänglich zu machen, einer
Aktuierung des Potentialen, einer Ofienbarung des Latenten.
Eine blo&e Analyse im Sinne der Occamisten, Palmieris u. s. w.
reicht dazu nicht hin, und fuhrt, wie wir zeigten, zur nomina-
listiBchen Auffassung des allgemeinen und Wesens-Begriffs. Der
B^priff aber ist, was alle tieferen Denker erkannten, etwas vom
Gemeinbilde wesentlich Verschiedenes und kann durch eine Ana-
lyse des aktuellen Inhaltes des letzteren unmöglich gewonnen
werden.
Man wendet uns vielleicht ein, daTs Thomas selbst die ab-
strahierende Thätigkeit des Verstandes vom Willen abhängig
mache; von diesem also hänge es ab, ob sich der Blick des
Geistes dem Einzelnen oder dem Gemeinsamen zuwende. Es ist
unmöglich, den Gedanken des hl. Thomas ärger mifszuverstehen.
Der Gebrauch der geistigen Vermögen hängt allerdings vom
Willen ab, wie wir denn auch unsere Sinne dem Befehle d^s
Willens gemäfs gebrauchen. Aber wie es vom Willen ganz
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104 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip der Indiyidaation.
unabhängig ist, daCs das Auge dort, wohin es gerichtet ist, eben
sieht, nicht aber hört oder riecht, so hängt es auch durchaus
nicht vom Willen ab, was der Verstand betrachtet oder zu be-
trachten Termag in dem gegenwärtigen Sinnenbild. Genau ge-
sprochen betrachtet er überhaupt nicht dieses, sondern die
Natur der Sache, das spezifische Wesen, und zwar aufgrund
der Befruchtung, die ihm durch das Zusammenwirken von
thätigem Verstand und Sinnenbild geworden ist
Betrachten wir aber die Palmierische Theorie des Erkennens
nach einer anderen Richtung bin, nach welcher der Verstand als
Fähigkeit erscheint, infolge der blofsen Anregung der Sinnlich-
keit sowohl den Begriff des Einzelnen als der allgemeinen Natur
zu bilden, so rückt sie von dieser Seite den platonisierenden
Theorien nahe [vgl. oben S. 97. Insofern trifft zu, was Skotus
gegen Heinrich von Gent betont: quod si est (am'ma sc.) causa
perfecta suae intellectionis, consequitur opus ei non esse prae-
sentia objecti, ut ipsum intelligat Sanseverino, 1. c. p. 757.], und
halten wir uns zu der Frage berechtigt: wozu die Verbindung
der Seele mit dem Körper, wenn sie in sich selbst die komplete
Fähigkeit besitzt, in der Weise reiner Geister, die Dinge nach
ihrem formalen und indiyiduellen Wesen zu erkennen? Die Ver-
bindung könnte nur mehr als eine accidentelle oder selbst un-
natürliche betrachtet werden. Aufserdem aber widerspricht die
Behauptung, der Verstand besitze eine Erkenntnis des Indivi-
duellen nach seinem eigentümlichen Begriffe der offenkundigen
Bewufstseins- und Erfahrungsthatsache, dafs sich das Einzelne
als solches der intellektuellen Erfassung entzieht — eine That-
Sache, die nicht nur von Aristoteles und dem hl. Thomas, son-
dern auch, wie wir sahen, von Hegel anerkannt und nach-
gewiesen, wenn auch von letzterem zur Begründung seines
absoluten Rationalismus mifsbraucht und entstellt wird.
Noch ein Ausweg scheint sich darzubieten, die Palmierische
Theorie der Abstraktion in einem Sinne zu verstehen, der sie
gegen die von uns aufgezeigten Konsequenzen nach beiden Seiten
sicher zu stellen geeignet sein möchte. Auf den Grundsatz ge-
stützt, dafs die Form dem Subjekte gemäfs sein müsse, in
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Ein scheinbarer Ausweg. 105
welchem sie aafgenommen ist (receptum est in recipiente per
modum recipientis), könnte man sagen, der dnrch die sinnliche
Vorstellung im Verstand hervorgerufene Begriflf sei notwendig
immateriell 9 geistig und stelle das reine, allgemeine Wesen
der Sache dar, da er in einem immateriellen Subjekte aufge-
nommen sei.
Diesen Ausweg hat sich indes förs erste P. Palmieri selbst ver-
schlossen, indem er sich gegen jeden Übergang der sinnlichen in die
intelligible Spezies, ja gegen den Gedanken der Hervorbringung
und Existenz einer Spezies im Verstände überhaupt ausdrücklich
verwahrt. Fürs zweite aber würde die angedeutete Wendung
nicht zum Ziele ßihren. Denn, so belehrt uns der hl Thomas,
„der Zustand des Aufnehmenden kann die Spezies nicht aus einer
Gattung in die andere übertragen, obgleich er, indem die Gattung
unverändert bleibt, die aufgenommene Spezies der Seinsweise
nach verändern kann. Daher kommt es, dafs, da die allgemeine
von der partikulären Spezies sich der Gattung nach unterscheidet,
jene Erkenntnis des möglichen Verstandes nicht genügt, dafs die
Spezies, die in der Einbildungskraft partikulär sind, in ihm all-
gemein werden/' [Quaest. disp. qu. unica de anima art 4 ad 3.]
Das will sagen: zwar nehmen die Sinne ihrer Natur entsprechend
Farben, Töne, Gestalten ohne Materie auf; gleichwohl aber ge-
hören diese, sofern sie in den Sinnen sind — durch ihre Spezies
nämlich — derselben Gattung wie die wirklichen Farben und Töne
und Gestalten an, weil sie die materielle Beschränktheit nicht
vollständig ablegen, mit den materiellen Bedingungen behaftet
bleiben und daher die Dinge auch nur nach ihrer äufseren Er-
scheinung den Sinnen repräsentieren. Anders der Begriff oder
die intellektuelle Vorstellung, in der die Gattung des Materiellen
selbst verändert, alle Materialität verschwunden ist. Diese
kann ihre Entstehung nur einer aktiven, nicht einer passiven
Operation, einer blofsen Aufnahme im leidenden Subjekte ver-
danken.
Uusere Bedenken gegen die Palmierische Theorie der Ab-
straktion bleiben demnach unerschüttert bestehen, nämlich dafs sie
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106 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule Tom Prinzip der Individuatioii.
entweder zur nöminalistiBchen Leagpausg jeder selbständigen in-
tellektuellen VorBtellung führe, oder zur Annahme einer aktu-
ellen im menschlichen Geiste schlummernden IdeenftUley die
durch die Gregenwart der Objekte angeregt, ins Licht des Be-
wufstseins tritt.
Der Mensch erkennt durch zwei Vermögen, was Gott und
die reinen Geister durch eine einfache Kraft erkennen. Dieser
Dualismus der Erkenntnisvermögen im Menschen ist eine psycho-
logische Wahrheit, die nicht ohne Gefahr geleugnet werden kann.
Es ist möglich, dafs diese Wahrheit anerkannt, und dennoch ein
falscher erkenntnistheoretischer Standpunkt eingenommen werde.
Kants Beispiel lehrt dies. Es ist aber unmöglich, Verstand und
Sinnlichkeit zu identifizieren, ohne in die folgenschwersten Irr-
tümer zu geraten.
Die Wahrheit dieser Behauptung ist in den Annalen der
Geschichte der Philosophie mit ehernem Grifiel eingeschrieben.
Die Lehren des Suarez, der der Sinnlichkeit einen er-
zeugenden Einflufs auf die Heryorbringung der intellektuellen
Vorstellung nicht einräumt, das Individuelle nach seiner Eigen-
tümlichkeit und zwar als erstes Objekt vom Verstände erkannt
werden läfst und den Grund der Individualität des Körperlichen
nicht mehr in der Materie sucht, sind mit Recht in der Schule
der späteren Thomisten auf entschiedenen Widerspruch ge-
stofsen.
Einer der hervorragendsten und spekulativsten unter diesen,
Johannes vom hl. Thomas, referiert folgende gegen die
thomistische Lehre, dafs der Intellekt das Einzelne nur indirekt
erkenne, erhobene Einwendungen. Erstens, das Einzelne könne
auf geistige Weise oder durch eine immaterielle Spezies, also
anders als im Sinne repräsentiert werden. Zweitens, die Wesen-
heit könne nicht das eigentümliche und formale Objekt des Ver-
standes ausmachen, weil dieser das Wesen nur in seltenen Fällen
und mit Schwierigkeit erkenne, überdies aber, wo er wirklich
ins Innere der Dinge eindringe, mit diesem auch das Aufsere,
mit dem Wesen auch die Zustände und Accidentien ergreife.
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Snaiez und die ThomisteuBchuIe. 107
worauB zn Bchlielsen sei^ dafs der Verstand die Dinge nicht nur
nach dem allgemeinen Wesen, sondern auch nach ihrer Singn-
laritat erkenne. Endlich könne ja anch der Verstand eines
Engels das innere Wesen der Dinge und doch zugleich anch
direkt die Individuen denkend erfassen, wie der hl. Thomas
ansdrüeklich lehre. Folglich könne in dem Formalobjekt des
Verstandes, dem allgemeinen Wesen, kein Hindernis gelegen
sein, dais der menschliche Verstand, wiewohl er sich auf das
Wesen richtet, doch auch direkt das Einzelne erreiche.
Auf die erste dieser Einwendungen wird erwidert: Der
Unterschied von Verstand und Sinnlichkeit wäre ein sehr mate-
rieller und accidenteller, wenn ihre Differenz nur in der Beschaffen-
heit der Spezies, nicht aber in dem repräsentierten Objekt und
in der Weise der Repräsentation gesucht werde. Mit anderen
Worten: der wesentliche Unterschied zwischen Verstand und
Sinn wird aufgehoben, wenn jener nicht die abstrakte, sondern
die konkrete Wesenheit zu seinem eigentümlichen Objekte hat.
Die abstrakte Auffassung der Dinge aber impliziert die Abstraktion
Ton den individualisierenden Bedingungen, erstreckt sich also
nicht auf den eigentümlichen Begriff des Individuums als solchen.
In der Antwort auf den zweiten Einwand wird zwischen
dem Erkennen der Wesenheit und dem Erkennen nach der
Art der Wesenheit unterschieden. Der menschliche Geist
nämlich dringt zwar nicht immer in das Wesen der Dinge ein,
sondern ist vielfach gezwungen, bei der Erkenntnis der ihnen
zufallenden und zufalligen Eigenschaften stehen zu bleiben. Gleich-
wohl erkennt er alles, auch diese Eigenschaften, nach der Art
der Wesenheit; denn auch in der zufalh'gen Eigenschaft ergreift
er das Innerliche und Wesentliche. Daher bezeichnet Aristoteles
das Wesentliche als das eigentümliche Objekt des Verstandes, und
der hl. Thomas sagt: „Die Thätigkeit des Intellekts ist gleich-
sam ein Lesen im Innern der Sache (intus legere), und dies
ergibt sich deutlich aus der Betrachtung des Unterschiedes
zwischen Intellekt und Sinn; denn die sinnliche Erkenntnis be-
schäftigt sich mit den äufseren sinnlichen Beschaffenheiten, die
intellektive Erkenntnis aber dringt bis zur Wesenheit der Sache,
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108 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip der IndinduatioxL
Objekt des Intellektes also ist das Wesen/' Obgleich also der
Intellekt nicht immer in das Wesen der Sache eindringt, so
mufs doch die Erkenntnis weise immer auf die Wesenheit ge-
richtet sein und sich folglich über die materiellen Existenzbe-
dingungen (das Hier und Jetzt des Dieses) erheben. Argumentiert
man also, der Verstand erfasse mit dem Innern auch das Äufsere,
so ist zu entgegnen, er erfasse zwar auch dieses, aber nach der
Weise des Innern, d. h. mit Abstraktion von der materiellen
Individualität.
Die Erkenntnis der Engel aber, auf die man sich schliefslich
beruft, ist von ganz anderer Art als unsere menschliche; sie
geschieht nicht durch Abstraktion vom Einzelnen und in dis-
kursiver Weise, sondern beginnt vom innersten substantiellen
Wesen, wie es in Gott selbst seinen Ursprung hat, und von ihm
real den Dingen, ideal den (reinen) Geistern eingeflöfst wird.
Daher das Erkennen des Engels vom Wesen zur individuellen
Erscheinung gelangt Das menschliche, von der Sinnlichkeit ab-
hängige Erkennen dagegen gelangt zur Erkenntnis des Wesens
nur aufsteigend von der sinnlich beschränkten, an Zeit und Raum
gebundenen Erscheinung. In dieser seiner konkreten, nämlich
materiellen Existenz ist das Wesen der Dinge nur der Möglich-
keit nach intelligibel und bedarf der Reinigung von der Materie
und ihren Bedingungen, um in Wirklichkeit intelligibel zu werden.
So erklärt es sich, dafs wir das singulare Sein der Dinge nur
durch Reflexion auf den Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung,
nicht aber durch eine eigentümliche intellektuelle Vorstellung
erkennen. [Joh. a. S. Thoma Gurs. philos. t. III. qu. X. de In-
tellectu, art. IV. (p. 472 sequ.)]
Diese Theorie also ist es, von der wir behaupten, sie sei
allein geeignet, den philosophischen Rationalismus in seiner tief-
sten W^urzel zu zerstören, ohne ihrerseits Gefahr zu laufen, in
das andere Extrem des Empirismus und Sensualismus zu ver-
fallen. Sie fuhrt ihren Ursprung auf Aristoteles zurück. Wenn
der grofse Denker, wie wir sahen, erklärt, etwas anderes sei
die Sache und etwas anderes ihr Sein, die konkrete individuelle
Existenz des Körpers und seine dem Geiste direkt allein er-
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Der logische Standpankt Alberte des Grorsen. 109
kennbare spezifieche Bestimmtheit; jedoch nicht in allem sei es
60, Tielmebr gebe es Wesen, in denen beides zusammenfalle
[De anima, 1. IIL, 4.; 429 b 12.]: so ist hierin der Keim für
die entwickeltere Lehre des Aquinaten gegeben, nämlich fiir die
Lehre von der Verschiedenheit des individualisierenden Prinzips
iiir körperliche und geistige Wesen im Znsammenhange mit der
wesentlichen Verschiedenheit der zwei menschlichen Erkenntnis-
vermögen, des Verstandes nnd der Sinnlichkeit, von deqen jener
DQr das Allgemeine erreicht, weil seine Erkenntnisse durch Ab-
straktion aus dem Sinnlichen geschöpft werden.
Dafs die Natur der körperlichen Dinge durch die Materie
individnalieiert werde, und dafs wir aus diesem Grunde die
körperlichen Individuen nicht durch den Intellekt und logisch,
d. h. durch fortgesetzte Bestimmung bis zur letzten individuellen
Differenz erkennen, ist die oft wiederholte Lehre Albert des
Grofsen. Für unseren Zweck genügt es, folgende Stelle aus
dem Buche von den Frädikabilien anzuführen, die so bestimmt
lautet, dafs über ihren Sinn kein Zweifel obwalten kann. „Die
speziellste Art ist jene, die nur das Individuum unter sich befafst,
welches allein durch die Materie zählbar ist und
nicht durch die Form., insofern die Form ihr ganzes Sein
und Können in die Materie ausgiefst. Da nun dieses Speziellste
Art ist, so wird es nie in Arten eingeteilt und kann nie in
solche eingeteilt werden; denn eine Einteilung in Arten gibt es
nur von der Gattung durch formell entgegengesetzte Differenzen,
folglich wird sie (die unterste, speziellste, durch die letzte in-
telligible Differenz kontrahierte Art) nur durch die Materie ge-
teilt.'^ [Albert. Magn. Lib. de praedicabilibus tract. IV. art. V.
Opp. t. L p. 43 a.]
In der letzten Spezies hat die Intelligibilität ihre Grenze.
Die Einteilung durch Differenzen erstreckt sich nicht bis zu den
Individuen, die sich nur durch das räumliche ^Nebeneinander und
zeitliche Nacheinander, das Hier und Jetzt, unterscheiden. Der
Grund hiefur aber liegt im Stoffe, der das bestimmte und
bestimmende Sein der Form in das — soviel an ihm liegt —
gleichgültige, begrifflose Aufsereinander zeiträumlicher Existenz
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110 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip der IndividaatioQ.
zerstreut: in welcher Zeratreutheit es daher auch nnr den Sinnen
zugänglich ist, dem Intellekte aber sich entzieht.
Bevor wir das Gebiet der Erkenntnistheorie verlassen, wollen
wir einen Blick auf die Stellung werfen, welche die neuere Logik,
die sich mehr und mehr von der Naturwissenschaft bestimmen
läfst, zu unserer Frage zu nehmen geneigt ist. „Die antike und
moderne Wissenschaft, so bemerkt einer der neuesten Bearbeiter
der genannten Wissenschaft, Sigwart, [Logik, IL Band 8. 285.]
scheiden sich vielleicht in keinem Funkte deutlicher als darin,
dafs die Logik der Alten sich befriedigt bei der Subsumtion
jedes Gegebenen unter einen allgemeinen Begriff, in welchem
eine Beihe kleiner Unterschiede verschwinden: die thatsächlioh
geübte Logik der Neueren aber, der freilich die Theorie noch
unvollständig gefolgt ist, die ganz bestimmte Besonderun^
des allgemeinen Begriffs verlangt, welche den individuellen Unter-
schied voll ausdrückt. Nach den Untersuchungen unseres ersten
Abschnitts ist diese vollkommene Genauigkeit der Aussage da
möglich, wo die begriffliche Fassung der Frädikate sie auf ein
mathematisch darstellbares Kontinuum reduziert und ihren
Ausdruck durch das Mafs gestattet und insoweit möglich, als
die Fähigkeit reicht, kleine Unterschiede wahrzunehmen und dem
Mafse zu unterwerfen."
Wäre diese Logik, die „thatsächlioh geübt wird, der aber
die Theorie nicht vollständig gefolgt ist", begründet, so wären
damit die Voraussetzungen unserer Untersuchungen aufgehoben;
denn hiezu gehört die Unerfafsbarkeit der individuellen Unter-
schiede für menschliches Denken und Wissen. So sehr sie aber
auch dem herrschenden Empirismus zusagen mag, so ist sie doch
ohne jedes Fundament, und sind ihre Anforderungen unerfüllbar.
Geübt wird sie nur insoweit, als die Absicht auf die genaue
Beobachtung und Beschreibung des Einzelnen gerichtet ist. In-
soweit aber eine Wissenschaft des Einzelnen, z. B. eine Indi-
vidualpsychologie intendiert wird, scheitert sie an der unüber-
steiglichen Grenze, die dem menschlichen Wissen gesteckt ist.
Die individuellen Unterschiede sind einfach unerfafsbar, und
keine Sprache vermag sie auszudrücken. Auch kein Mafs er-
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Die moderne Logik. Sigwart.. 111
leicbt sie. Denn wenn ich die Höhe dieses Baumes noch so
genan gemessen zu haben glaube, so habe ich, präzis gesprochen,
nicht das Mafs dieses Baumes, dieses Mafs, sondern ein
mit anderen wirklichen oder möglichen Bäumen derselben Gröfse
ihm gemeinsames Mafs gefunden und in der Beschreibung aus-
gedrückt, also das Gegebene unter den allgemeinen Begriff des
fünf-, sechs- u. s. w. Fufs hohen subsumiert. Diese Gröfse
ist die Gröfse dieses Baumes; dieser Baum aber ist durch
keine Beschreibung, die immer nur eine Kollektion allgemeiner
Merkmale sein kann, auszudrücken und dem Gedanken sprach-
lich zu vermitteln. Den einzelnen Gegenstand, den einzelnen
Fall erfafst der Sinn allein, was die Vernunft dar^n ergreift,
ist allgemein. Es gibt daher keine Wissenschaft des Einzelnen
als solchen. Eine Wissenschaft, die darauf — man gestatte
das Wort — versessen wäre, würde, abgesehen davon, dafs ihr
dies im wahren Sinn des Wortes nie gelingen würde, zum
rohesten Empirismus und zu einem geradezu unerträglichen
Autoritätsglauben fuhren; denn da die Beobachtung des Einzel-
falles sich nicht wiederholen läfst, so müfste der vorausgegan-
genen Beobachtung eines hervorragenden Forschers unbedingter
Glaube geschenkt werden, und die Wissenschaften würden zu
Sammlungen und Beschreibungen individueller Beobachtungen
und Experimente herabsinken: ein Verfall der wahren Wissen-
schaft, dessen bedenkliche Anzeichen selbst bei hochberühmten
empirischen Forschern der Neuzeit sich wahrnehmen lassen.
In Wahrheit haben Beobachtungen, Experimente nur in-
soweit wissenschaftUchen Wert, als sie sich in derselben Weise
wiederholen lassen, das heifst, nicht durch das, was an Urnen
indiTiduell und zufallig ist, sondern durch das, was allgemein
gültig ist.
Der Sinn also erkennt das Einzelne, der Verstand das
Allgemeine, der Grund dieser Differenz aber ist in der Materie
zu suchen, die Prinzip der Individuation der Körper ist, zwar
nicht in ihr als solcher, sondern in ihrem speziellen Verhältnis
zum menschlichen Geiste, der in Abhängigkeit von den
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112 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Fiinzip der Individaation.
Dingen, durch Abstraktion erkennt. Im Frozefs dieser Ab-
straktion läutert sich der materielle Gegenstand und gelangt in
den Verstand erst, nachdem er in den Sinnen die Materialität,
und weiter durch die Wirksamkeit des thätigen Intellekts auch
die materiellen Bedingungen des Daseins in Zeit und Raum,
das Hier und Jetzt^ mit anderen Worten die materielle Indivi-
dualität abgelegt hat. Dieser Vorgang affiziert indes nicht das
Ding, den G-egenstand, sondern die durch seine Mitwirkung in
der Seele erzeugte, successiv immer geistiger sich gestaltende
Ähnlichkeit desselben, die Spezies.
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DIE LEIDENSCHAFTEN.
ABHANDLUNG
Dr. OTTEN,
PRÄSES DES 8EMINARIUM LIBORIANUM Zu PADERBORN.
JL/ie Lehre von den Leidenechaften, wie bie fortlaufend in
der Snmm. theol. I. II. q. 22. und den folgenden. Quästionen von
Thomas Ton Aquin behandelt ist, zählt ein Anhänger der thomi-
stischen Lehre in neuerer Zeit zu dem Herrlichsten, was Thoms
je geschrieben. Die hohe Wichtigkeit, welche die Lehre von
den Leidenschaften in gleicher Weise für die Psychologie, wie
für die Moral und selbst die Pädagogik hat, rechtfertigt eine
Auseinandersetzung dieses Gegenstandes. Derselbe führt uns
bis zu den höchsten Prinzipien des thomistischen Systems, auf
welche Thomas selbst seine Lehre aufbaut. Deshalb wird es
angemessen sein, zuerst die Vorfragen zu besprechen, die in
betreff jener Prinzipien gestellt werden müssen. Auf die Weise
wird uns die ganze Lehre wie ein trefflicher Bau erscheinen,
aufgeführt auf tiefer Grundlage, deren Festigkeit durch Behand-
lung der entgegengesetzten Meinungen geprüft werden könnte.
In neuerer Zeit ist die Frage betreffend das Gefühlsvermögen
mehrfach erörtert, die obigen Gegenstand innig berührt. Auch
die Gründe für die neuere Auffassung zu hören, liegt in unserer
Absicht, so dafs von selbst eine Vergleichung der älteren und
jüngeren Anschauung nahe gelegt wird.
Jahrbuch flr Philosophie etc. I. a
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114 Die Leidenschafton.
§ 1.
Erkennen und Begehren.
Die Leidenschaften (pasBiones) gehören zu den Lebensäufse-
rungen des Menschen, zu seinen Thätigkeiten , die ihn mit der
AuTsenwelt in Yerbindang bringen. Der Mensch ist ja nicht
ruhend in stiller Abgeschlossenheit oder bewegungslos. Es besteht
ein inniger Wechselverkehr zwischen ihm und den Aufsendingen.
Doch schliefsen wir hier von der Besprechung die Thätigkeiten
aus, welche in der Scholastik übergehende (actiones transeuntes)
genannt werden, die gleichsam zu einem aufserhalb des thätigen
Subjekts befindlichen Gegenstande, als ihrem Objekte hinüber-
gehen, um dasselbe zu verändern, zu Yervollkommnen. Vgl. Summ,
theol. I. q. 14. a. 2. Diese Thätigkeit vollendet sich aufserhalb
des Subjekts und ist deshalb nicht so sehr eine Vollendung des
Handelnden, sondern des äufseren Gegenstandes (perfectio moti
oder patientis. A. a. 0. q. 18. a. 3. ad 1.).^) Solche übergehende
Thätigkeit setzt der Mensch mit Hülfe von körperlichen Gliedern,
der Hände und Füfse u. a., wie „schneiden, pflanzen''. Der
actio transiens steht die dem Subjekte innerliche Thäti^eit
gegenüber (immanens). Sie bleibt im thätigen Wesen, bewirkt
eine Vervollkommnung desselben und wird aus diesem Grunde
perfectio agentis genannt. Da aber auch äufsere Dinge Objekte
einer immanenten Thätigkeit sind und diese Thätigkeit aus dem
Subjekte nicht herausgeht, so mufs die Beziehung zwischen Sub-
jekt und Objekt durch Eintritt, bezüglich Vorhandensein dieses
in jenem hergestellt werden. Während demnach bei der über-
gehenden Thätigkeit der Gegenstand vom Subjekte getrennt ist,
sehen wir bei der immanenten eine innige Vereinigung des
ersteren mit dem letzteren. (Summ, theol. I. q. 56. a. 1.). Hierin
tritt der Unterschied beider Thätigkeiten am klarsten hervor.
„Während bei den Thätigkeiten, die auf eine äufsere Wirkung
^) Weü der Gegenstand der Thätigkeit eine Veränderung erleidet, ist
die Bezeichnung desselben als eines patiens und der Thätigkeit als einer
actio inferens passionem gerechtfertigt.
Digiti
zedby Google
Erkennen und Begehren. 115
übergehen, das Objekt der Thätigkeit, gleichsam als Ziel (ter-
minus) derselben bezeichnet, etwas aufser dem Handelnden Be-
findliches ist, so ist doch bei den Thätigkeiten, die in dem
thätigen Subjekte bleiben, das als Ziel bezeichnete Objekt ii!n
Wirkenden selbst, und insofern es in ihm vorhandeo, ist die
Thätigkeit wirklich (in actu)/' (Summ. th. q. 14. a. 2.)
Die immanente Thätigkeit fordert nach dem Gesagten das
Vorhandensein des Objekts im Subjekte« Somit tritt das Objekt
in doppelter Erscheinungsform auf, in der Seins weise, wie es in
sich, in der Natur ist, und in der Weise, wie es im Sub-
jekte ist Hier richtet es sich nach der Art und Weise des
Subjektes selbst; denn wie die Scholastiker sagen: Alles, was
in einem Wesen ist, richtet sich in seiner Seinsweise nach diesem.
Der Stein, den ich mit meinem Auge erkenne, ist in sich, in der
Natur, und aufserdem in meinem Auge durch das Sinnesbild,
dessen Seinsweise dem körperlichen Organe entspricht. Diese
doppelte Seinsweise des Objekts begründet eine doppelte Art
der Beziehung oder des Verhältnisses zum Subjekte; die eine
Beziehung, insofern das Objekt im Subjekte ist, nach seiner
Seinsweise im thätigen Wesen, die andere Beziehung, in-
sofern das Subjekt auf das Objekt seinem (des Objekts) natür-
lichen Sein nach bezogen wird. Mit anderen Worten: I. Die
immanente Thätigkeit der Seele — setzen wir gleich diese als
das handelnde Subjekt — ist auf einen Gegenstand gerichtet,
findet aber ihre Vollendung erst dann, wenn sie denselben nach
ihrer Seinsweise in sich aufgenommen; der Prozefs ist erst
in dem Augenblicke abgeschlossen, wo das Objekt in geistiger
Weise (als Bild) in der Seele ist, er geht gleichsam vom Gegen-
stande aus und gipfelt in der geistigen Seinsweise. Die Thätig-
keit der Seele, als Ergebnis dieses Prozesses, ist das Wahr-
nehmen, das Erkennen. U. Die immanente Thätigkeit der Seele
bezieht sich auf den Gegenstand seinem wirklichen, natürlichen
Sein nach; hier strebt die Seele nach Vereinigung mit demselben,
wie er in sich ist, so dafs das Ziel oder der Terminus der
Thätigkeit in dem Objekte liegt. Sie besteht in einer Hinnei-
gung zum Gegenstande. Dadurch erscheint der Prozefs als ein
8'
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116 Die Leidenschafien.
umgekehrter in Bezug auf den Torhergehenden, und fassen wir
beide Prozesse zusammen, so sind sie wie ein Kreislauf, der vom
Gegenstande, wie er in sich ist, ausgeht und zu ihm zurück-
iiihrt Diese zweite immanente Thätigkeit ist das Begehren
(appetere). „Wem irgend eine Form innewohnt, hat durch diese
Form eine Beziehung zu solchen Dingen, welche sich in der
Natur befinden, wie weifses Holz einigen Dingen durch seine
Weifse ähnlich ist, anderen unähnlich. Im geistig oder sinnUch
Erkennenden ist aber die Form der erkannten Sache, da jede
Erkenntnis durch eine Ähnlichkeit Yollzogen wird. Deshalb mufs
eine Beziehung des Erkennenden vorhanden sein zu dem, was
geistig oder sinnlich erkannt ist; und zwar insofern dieses ein
natürliches Sein hat. Das tritt aber nicht durch den Akt des
Erkennens ein; denn hierin möchte wohl eher eine Beziehung
der Dinge zum Erkennenden gefunden werden, weil das
sinnliche und geistige Erkennen dadurch vollendet wird, dafs die
Dinge im Intellekte oder im Sinne nach der Seinsweise beider
Vermögen sich befinden. Der Erkennende hat vielmehr eine
Beziehung zu dem aui'serhalb der Seele liegenden Gegenstande
durch den Willen und das sinnliche Begehren. Aus diesem Grunde
begehren und wollen alle Wesen, welche ein niederes oder höheres
Erkennen haben.'' (Summ. phil. I. 72.)
Der berühmte Kommentator des Aquinaten, Gajetan, sucht
genannten unterschied beider Thätigkeiten durch folgende Er-
wägung klar zu stellen. Er sagt nämlich zu Summ, theol. I. q. 82.
a. 3.: „Zur besseren Erfassung des Gesagten beachte man, dafs
in jedem Dinge ein Zwiefaches zu unterscheiden ist, die Wesen-
heit und das wirkliche Dasein (Existenz). Zwischen beiden stellt
die Erfahrung den Unterschied fest, dafs die Wesenheit der
Grund ist fiir die Erkennbarkeit, die Existenz für die Begehr-
barkeit. Denn wir sehen, dafs die Gesundheit eben so gut Gegen-
stand des Erkennens sein kann, wenn sie in der That vorhanden
ist, als wenn sie es auch nicht wäre. Niemand aber erstrebt
die Gesundheit, als damit sie wirklich existiere, oder weil sie
existiert." Einem Phantom, was er als solches erkennt, jagt der
Mensch niemals nach, er will etwas W^irkliches erlangen oder
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Erkennen and Begehren. 117
besitzen. „Der Begehrende sucht nicht ein Gut dem intentionalen
Sein nach zu besitzen, wie es Tom Erkennenden gewonnen ist,
sondern dem wesentlichen (wirklichen) Sein nach. Deshalb schliefst
der Besitz eines Gutes, insofern es erkannt ist, nicht aus, dafs
ein lebendes Wesen nach dem Gute noch strebt/' (Yerit. q. 22.
a. 3. ad 4.) Das Ding, wie es in sich ist, existiert, hat die wirk-
liche natürliche Seins weise; sieht man von der Existenz ab,
nimmt nur das Wesen des Dinges für sich, so erscheint eine
solche Seinsweise der natürlichen entgegengesetzt und ist nur
möglich in einem erkennenden Subjekte.
Der auseinandergesetzte Unterschied zwischen der erkennen-
den und begehrenden, Thätigkeit des Menschen bildet die Grund-
lage für viele Sätze im thomistischen System. In der Anwendung,
welche der Unterschied in manchen Sätzen findet, tritt er noch
klarer und schärfer herror. Wir nennen das Objekt des Er-
kennens das Wahre, das des Begehrens das Gute. Wem kommt
nun der Begriff: „wahr'' oder „gut'' in seiner vollen Bedeutung
zuerst zu? dem Erkenntnisakte oder dem erkannten Gegen-
stande? und wiederum dem Akte des Begehrens oder seinem
Objekte? Die Beantwortung dieser Fragen richtet sich nach dem
Unterschiede zwischen Erkennen und Begehren. Da unter dem
Wahren das verstanden wird, wonach das Erkennen strebt, und
demnach das Wahre in seiner ersten Bedeutung mit dem Ab-
schlujs des Erkennungsprozesses gewonnen ist, so findet man
dasselbe zuerst im Erkennungsakte, welcher wahr genannt wird,
insofern er mit dem wirklichen Gegenstande übereinstimmt; dann
wird der Begriff „wahr" auch auf die Gegenstände übertragen,
die zum Erkennen in Beziehung stehen. „Die Wahrheit ist zu-
nächst im Intellekte." Das Begehren hat seinen Zielpunkt im
begehrten Gegenstande selbst, in ihm ruht dasselbe; deshalb
kommt der Begriff „gut" in erster Linie dem Gegenstande des
Begehrens zu, dann in abgeleiteter Bedeutung den Begehrungs-
akten. Der Gegenstand ist gat, insofern er erstrebbar ist, das
Gute findet sich zunächst in den Dingen; doch kann auch der
Strebeakt gut genannt werden, weil er auf ein gutes Ding ge-
richtet ist, unser Wille wird als gut bezeichnet, weil er das Gute will.
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118 Die Leidenschaften.
In der 22. q. ^^diBpnt de Teritate'' Art. 11 behandelt Thomas
von Aquin die Frage^ ob dem Willen eine gröfsere Vollkommen-
heit zukomme als dem Erkennen. Bezüglich dieser Frage wird
darauf hingewiesen, dafs der Akt des Erkennens — die Würde
des Vermögens richtet sich nach der Würde des Aktes — voll-
zogen wird durch das Vorhandensein der erkannten Sache im
Erkennenden, der Akt des Willens aber in der Neigung^ in der
Richtung auf die gewollte Sache ihrem natürlichen Sein nach.
„Vollkommener ist es'', fährt Thomas fort, „schlechthin gesprochen,
die Vollkommenheit eines anderen Dinges in sich zu besitzen,
als nur zu einem aufserhalb befindlichen Gegenstande hingeneigt
zu sein.'' Also mufs das Erkennen schlechthin vollkommener sein,
als das Begehren. Der folgende Artikel bietet eine noch in-
teressantere Anwendung des berührten Unterschiedes. Geht die
Bewegung des Willens vom Erkennen aus oder bewegt der
Wille den Intellekt und andere Seelenkräfbe ? So die Frage.
Thomas antwortet: „Man schreibt sowohl der Zweckursache als
der bewirkenden Ursache ein Bewegen zu, aber in verschiedener
Weise; denn bei jeder Thätigkeit kommen zwei Punkte in
Betracht: der Thätige selbst und die Art und Weise der Thätig-
keit So ist bei der Wärmethätigkeit das Feuer das thätige
Wesen und Wärme die Art der Thätigkeit. (Beim Verbrennungs-
akte kann man in gleicher Weise das Feuer als handelnd und
das Verbrennen als die Art des Aktes ansehen.) Dem Zweck
nun entspricht ein Bewegen bezüglich der Art der Bewegung;
aber die Wirkursache bewegt das wie zur Bewegung Treibende,
d. h. sie iiihrt den bewegten Gegenstand aus der Möglichkeit
der Veränderung zur Wirklichkeit derselben. Der Intellekt be-
wegt den Willen nach Art einer Zweckursache, insofern er
nämlich die Art des Zweckes in sich vorgefafst hat und dem
Willen vorstellt. Aber bewegen nach Weise einer Wirkursache
gehört zum Willen, und nicht zum Intellekte, weil der Wille
Beziehung zu den Dingen hat, wie sie in sich selbst sind, der
Intellekt nur, wie sie in geistiger Weise in der Seele sind.
Wirken und bewegt werden kommt den Dingen zu nach dem
Sein, wodurch sie in sich selbst bestehen. So ist die Beziehung
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Erkennen und Begehren. 119
des Willens zu den Dingen, sofern ihnen Bewegung zu-
steht, nicht aber die Beziehung des Intellektes."
Endlich sei es noch gestattet, die Anwendung zu erwähnen,
welche in der 6umm. theol. I. II. q. 22. a. 2. enthalten ist, weil
diese dem Gegenstande meiner Abhandlung näher tritt. Auf die
Frage, ob die passio mehr dem Begehrungs- als dem Erkenntnis-
Yermögen zuzuteilen ist, gibt Thomas die Antwort: „Der Name
passio besagt, dafs ein Leidendes zu dem hingezogen wird, was
des Wirkenden isf Das Leidende wird dem Zustande, der
Eigentümlichkeit des thätigen Wesens zugeführt „Die Seele
wird aber mehr zu einem Gegenstande durch die Begehrungs-
kraft gezogen, als durch das Erfassungsvermögen. Denn durch
dies Begehren hat die Seele eine Beziehung zu den Dingen, wie
sie in sich sind . . . Die Erkenntniskraft wird nicht zu dem
Gegenstande gezogen, wie er in sich ist, sondern erkennt den-
selben nach dem Bilde, das sie gemäfs ihrer eigentümlichen
Seinsweise in sich hat oder aufnimmt'' Im Erkenntnisyermögen
▼erliert das Objekt gleichsam etwas ihm Eigentümliches, seine
Proprietät, nimmt die Seinsweise, die Eigentümlichkeit des Ver-
mögens an. Das Erkennen zieht den Gegenstand an sich heran,
beim Begehren zieht der Gegenstand die Seele zu seiner Eigen-
tümlichkeit
Als Konsequenz der nun gegebenen Erörterung könnte noch
hervorgehoben werden, wie im System der Scholastiker nur unter
zwei Kräfte, die des Erfassens und des Begehrens, die all-
gemeinen Beziehungen der Seele zu den Dingen subsumiert
werden und demnach ein drittes Vermögen, das diesen beiden
gleichgestellt wäre, nicht in das System pafst
Wenn so eben gesagt wurde, der Begriff passio gebühre
mehr der Strebekraft, so könnte leicht die Meinung erweckt
werden, als sei das Begehren keine Thätigkeit, sondern nur ein
Leiden, das vom Objekte ausgehe. Diese Meinung würde sich
auch wohl auf den Satz des Aquinaten berufen, das Begehrungs-
vermögen sei eine potentia passiva, ein leidendes Vermögen, wie
im zweiten Artikel der 80. Frage, Teil I der Summa theoL, aus-
gesprochen ist Dem gegenüber hebe ich hervor, dafs begehren
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120 Die Leidenschaften.
eine Thätigkeit ist, eine Lebensäufserang der lebenden Wesen.
Das ergibt sich aus der Gegenäberstellnng des Begehrens und
der erfassenden Thätigkeit, welch letzterer wohl niemand den
Begriff eines actus secundus, einer Thätigkeit streitig machen
wird. Ausdrücklich bemerkt Thomas im Kommentar zu III de
Anima des Aristoteles: „Das Begehren selbst ist ein Akt oder
eine Bewegung, aber in demselben Sinne eine Bewegung, wie
die Thätigkeit des sinnlichen und geistigen Erkenntnisvermögens.^
Hier ist motus gleich dem actus perfecti, was sich wohl unter-
scheidet von der Bewegung im eigentlichen Sinne oder actus
imperfecti.^) Die Berufung auf den Ausdruck potentia oder vis
passiva ist nicht stichhaltig. Auch die geistige Erkenntnis-
kraft wird zu den potentiae passivae gerechnet und doch ist
das Erkennen eine Thätigkeit. Unter potentia passiva versteht
Thomas ein Vermögen, „zu dem das Objekt sich verhält, wie die
Ursache der Bewegung oder des Aktes.'' (Summ, theol. L IL q.
27. a. 1.) Passiva heifst eine Potenz, nicht weil sie keinen Akt
setzen könne, sondern weil sie durch ihr Objekt als Formal-
ursache erst näher bestimmt, befruchtet werden mufs, um den
Akt zu setzen. Die Potenz ist aus sich nicht imstande, eine
bestimmte Thätigkeit hervorzubringen; erst durch Befruch-
tung von Seiten des Objekts, welches ihr als Form eingedrückt
wird, ist sie dazu befähigt, und setzt dann als vollendetes Ver-
mögen und als Totalursache den Akt Wer den Begriff : potentia
passiva recht gründlich kennen lernen will, dem empfehle ich
die Erklärung Cajetans zu Summ. theo!. I. 80. a. 2. Dafs be-
gehren eine Thätigkeit ist, daran zweifelt auch Gajetan nicht
im geringsten. Denn a. a. 0. sagt er: „Da im allgemeinen das
Begehrungsvermögen als Wirkursache die örtliche Bewegung bei
den lebenden Wesen hervorbringt, se wäre, falls begehren nicht
in irgend einer Weise thätig sein hiefse, nicht von einem aktiven
Bewegen des Wesens, sondern nur von einer Art passiver Be-
wegung die Bede. Und darin stimmen fast alle überein." „Die
Strebekraft wird mehr eine vis activa genannt^ weil sie mehr
0 Vgl. Summ, theol. L IL q. 3L a. 2. ad 1.
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Erklärung des Begriffs: Begehren. 121
Priozip eines änfseren Aktes ist; diese Eigenschaft hat sie eben
ans dem Grande, weil sie mehr passiv ist infolge ihrer Beziehung
za dem Gegenstande, wie er in sich ist/' (Summ, theol. I. II.
q. 22. a. 2 ad 2.) Der Grund, weshalb nur das Begehren, nicht
aber das Erkennen, als Sitz der Leidenschaft angesehen wird,
liegt eben darin, dafs nach oben gegebener Erörterung beim
Begehren mehr von einer passio die Rede sein kann, als beim
Erkennen.
§ 2.
Erklärung des Begriffls: Begehren. Appetitus naturaU»,
seneiHvus, inteUeeUvus.
„Auf die Weise wird etwas benannt, nach welcher es uns
zur Kenntnis kommt. Denn nach dem Philosophen (Aristoteles)
sind die Namen Zeichen der erkannten Gegenstände. Wir
erkennen aber zumeist die Ursache aus der Wirkung/' (Summ,
theol. I. II. q. 25. a. 2. ad 1.) Man nimmt beim Menschen sehr
oft eine Bewegung wahr, durch welche er ein äufseres Ding zu
erfassen sucht. Diese Bewegung wird von ihm veranlafst, sie
geschieht absichtlich und wendet sich dem betreffenden Gegen-
stande zu, weil dieser dem Menschen behagt. Demnach geht
der örtlichen Bewegung z. B. ein anderer Akt des lebenden
Wesens voraus, wodurch die Bewegung der Glieder hervorge-
rufen ist. Der vorausgehende Akt wird von uns bezeichnet als
Strebeakt, der die Richtung auf einen Gegenstand anweist und
befiehlt, oder als Begehrungsakt. Wir sind uns bewufst, dafs
wir gerade dieses oder jenes erreichen wollen, dieses oder jenes
wählen, weil es uns gefällt, weil es gut, weil es derartig ist,
dafs es von uns erstrebt werden kann. „Das Gute ist dasjenige,
was erstrebbar ist." Und warum ist es erstrebbar? Weil wir
eine Neigung (inclinatio) zu dem Gegenstande haben, weil eine
Beziehung (ordo) zwischen uns und dem Gegenstande besteht
Indem wir so von der Wirkung auf die Ursache schliefsen, er-
kennen wir in uns eine Neigung zu dem Dinge, das wir als
erstrebbar (gut) erfafst, ein Begehren oder Verlangen nach dem-
selben und, falls wir es erreicht, Freude über den Besitz. Fassen
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122 Die Leidenschaften.
wir nnn den Begriff: Begehren ganz allgemein, abgesehen von
der besonderen Art im Menschen, so kann begehren erklärt
werden als „eine gewisse Hinneigung des Begehrenden zn irgend
etwas" (Summ. th. I. IL q. 8. a. 1.), das immer dem Begehren-
den ähnlich oder zuträglich ist.
Auf Grund der allgemeinen Auffassung von dem Begehren
als einer Neigung zu etwas reden die Scholastiker überall von
einem appetitus (im weitesten Sinne), wo die Hinneigung, die
Beziehung von Dingen zu einander sichtbar ist. So reden sie
vom appetitus eines schweren Körpers, etwa eines Steines, zum
Centrum, vom appetitus des Feuers nach oben, weil im Steine,
im Feuer eine natürliche Beziehung, eine natürliche Anlage (ap-
titudo, ordo) zu dem entsprechenden Ruheorte vorhanden. Beide
gehören ihrer Natur nach zusammen, so dafs die Neigung mit
Recht natürliche Zusammengehörigkeit (connaturalitas) genannt
werden kann. Weil diese Neigung von Natur aus in einem
Wesen wohnte heifst sie appetitus naturalis. Die Berechtigung,
so zu sprechen, kann nicht bestritten werden, zumal der appe-
titus naturalis auch Bewegungen zur Folge hat, gleichwie vom
Begehren des Menschen Bewegungen und Thätigkeiten ausgehen.
Befindet sich ein Stein aufserhalb seines Ruhepunktes, so „strebt*'
er nach demselben, es tritt infolge seiner „Neigung" bei Ab-
wesenheit von Hindernissen die örtliche Bewegung ein, die ihn
dem Centrum zuführt. Das „natürliche Begehren" wird vom
Aquinaten definiert: „Die Neigung eines Dinges zu seinem natür-
lichen Ziele, welches ihm vom Lenker der Natur zugeordnet ist",
(3. dist. 27. q. 1. a. 2.) oder auch: „Neigung eines Dinges be-
züglich seines eigentümlichen Gutes, um dasselbe zu erlangen,
falls es nicht im Besitze ist, um in ihm zu ruhen, sofern es im
Besitze." (Summ, theol. L q. 19. a. 2.) Diese natürliche Neigung
ist dem Dinge wesentlich zugehörig, untrennbar mit ihm ver-
bunden. Sie ist zugleich mit dem Wesen vom Schöpfer gegeben,
sie wird mit dem Dinge von den natürlichen Ursachen hervor-
gebracht. Deshalb sagt Thomas (Summ, theol. I. II. q. 26. a. 2) :
„Das natürliche Agens bringt im Gegenstande seiner Thätigkeit
eine doppelte Wirkung hervor; denn zuerst gibt es die Form
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Erklärung des Begriffs: Begehren. 123
(Wesensfonn), an zweiter Stelle die der Form folgende Bewegung,
gleichwie der Hervorbringer dem Xörper die Schwere gibt und
^ie der Schwere folgende Bewegung.'^ Hieraus ergibt sich, dafs
die Scholastiker einem I)inge nicht schon deshalb einen appe-
tituB naturalis zulegen, weil es nach einem anderen in Bewegung
ist — denn das könnte auch durch gewaltsamen Antrieb ge-
schehen — sondern weil auch das Prinzip dieser Bewegung
in ihm vorhanden, welches wesentlich auf ein anderes hinge-
ordnet ist „Zuweilen wird dasjenige, was einem Ziele zugelenkt
ist, nur vom lenkenden Wesen getrieben, ohne dafs es vom Lenker
eine Form erlangt, worin eine solche Richtung oder Hinordnung
begründet ist, und eine solche Hinneigung ist eine gewalt-
same: wie der Pfeil vom Schützen zu einem bestimmten Ziele
gelenkt wird. Zuweilen aber erlangt das auf ein Ziel Hingelenkte
vom Lenker oder Beweger eine Form, durch die ihm eine solche
Hinneigung gebührt; und eine derartige Neigung ist natürlich,
da sie ein natürliches Prinzip hat: wie jener, der dem Steine
die Schwere gab, demselben die Neigung einprägte, nach unten
sich zu bewegen.*' (De verit. q. 22. a. 1.) Gleich der Wesens-
form, der sie folgt, ist der appetitus naturalis immer wirklich (in
actu) und setzt, falls kein Hindernis eintritt, stets die entsprechende
Bewegung. Dazu bedarf es auch keines besonderen Vermögens,
das von der Form wirklich verschieden wäre.
In welchen Dingen findet sich ein natürliches Begehren?
„Da alles von Gott zum Guten (was der Natur des Dinges ent-
spricht) hingeordnet und gelenkt ist, und zwar auf die Weise,
dafe einem jeden ^as Prinzip innewohnt, wodurch es nach dem
Guten zielt, gleichsam dasselbe erstrebend, so darf man sagen^
dafe alle Dinge nach dem Guten begehren.'' (A. a. 0.) Die Wir-
kungen in der Natur sind nicht dem Zufall zuzuschreiben, wie
Thomas im Anfange genannten Artikels nach Aristoteles hervor-
hebt, sondern in den natürlichen Ursachen begründet, die zu ihren
bestimmten Wirkungen veranlagt sind. Alle natürlichen Dinge
sind ihren entsprechenden Wirkungen zugeordnet. Die Welt ist
ein wunderbares Ganze, dessen einzelne Glieder im innigsten
Verbände stehen, nicht lose aneinander gefugt. Sie werden ihrem
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124 Die Leidenschaften.
Ziele zugeführt, nicht gewaltthätiger WeiBe^ souderQ entsprechend
der Veranlagung der Naturen. Es gibt kein Wesen, dem nicht
eine besondere Rolle in der Natur zuerteilt sei. Deshalb findet
sich der appetitus naturalis in allen Wesen, ja in allen Teilen
eines Wesens, in allen Kräften, welche einem besonderen Ziele
zugeordnet sind. „Die natürliche Liebe (= appetitus) ist nicht
allein in den Kräften der vegetativen Seele, sondern in allen
Vermögen des lebenden Wesens und auch in allen Teilen des
Körpers und allgemein in allen Dingen, weil, wie Dionysius sagt,
allen das Schöne und Gute begehrenswert ist, da ein jedes Ding
eine natürliche Zusammengehörigkeit zu dem hat, was seiner
Natur gemäfs ist." (Summ, theol. L IL q. 26. a. 1. ad 3.) „Eine
jede Potenz der Seele ist eine Form oder Natur und hat eine
natürliche Neigung zu etwas. Deshalb erstrebt eine jede das ihr
zustehende Objekt durch ein natürliches Begehren." (L q. 80.
a. 1. ad 3.)
Wichtig ist noch die Frage nach dem Objekte des appetitus
naturalis. Die natürliche Wesensform ist auf ein bestimmtes eigen-
tümliches Sein beschränkt Somit ist auch das natürliche Be-
gehren, welches der Form folgt, auf ein ganz bestimmtes Ziel
beschränkt. Es geht nicht über den Bpahmen seiner Form hin-
aus und ist blindlings auf das Bestimmte gerichtet, was zur
Erhaltung und Vollendung der Form gehört Darum sagt Thomas
in der Summa phil. L 72.: „Einem jeden Wesen gebührt es,
seine Vollkommenheit und die Erhaltung seines Seins zu er-
streben."
Wenn nach dem Gesagten in allen Wesen ein appetitus
naturalis sich findet, warum stellt die Lehre der Scholastiker
noch eine Begehrungskrafb auf, die von jenem verschieden ist?
Warum weist sie in den mit Erkenntnis begabten Wesen ein
eigenes von den übrigen Vermögen und deren Wesen verschie-
denes Vermögen dem Begehren zu? Zur Beantwortung dieser
im thomistischen System wichtigen Frage erinnern wir an ein
dort geltendes Prinzip: Jeder Form folgt irgend eine Hinneigung
oder irgend ein appetitus. (Summ, theol. L q. 80. a. 1.) Da durch
die Form ein jedes Wesen seine eigentümliche Bestimmung in
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Erklärung dos Begriffs: Begehren. 125
der Natur erhält, Bein eigentümlicheB Sein, die Anlage zu einer
eigentümlichen Thätigkeit, so ist genannter Satz wohl zuzugeben.
Sprechen ja auch die Chemiker bei ihren Elementen von einer
denselben eigentümlichen Neigung, sich mit anderen zu Yerbinden
und zwar in ganz bestimmten Verhältnissen. Demnach richtet
sich die Art und Vollkommenheit der Neigung nach der Art und
Vollkommenheit der Form. Einen ganz besonderen Vorzug ent-
deckt man bei der Form der erkenntnisfahigen Wesen, die gleich-
sam einen gröfseren Spielraum gewährt und selbst ein Wesen
in unendliche Weiten hineinführt. So dürfte man auch bei ihnen
auf eine voUkommnere Art von Neigung, ein voUkommneres Be-
gehren Bchliefsen. „Wie Formen höheren Grades den erkenntnis-
fähigen Dingen eigen sind, als die Formen der (erkenntnislosen)
natürlichen Dinge, so mufs in ihnen eine Neigung existieren,
über die Art der natürlichen Neigung oder den appetitus natu-
ralis hinausgehend. Und diese höhere Neigung kommt der Be-
gehrungskraft der Seele zu.^^ (A. a. 0.) Dieser Grund für ein
besonderes Strebevermögen in erkennenden Wesen ist im ge-
nannten Artikel weiter ausgeführt. Mit gewohnter Meisterschaft
bat Cajetan eine tiefe Erklärung dazu gegeben, die hier folgen
soll. „Der im Artikel gegebene Grund ist äufserst scharfsinnig
and zeigt die wesentliche Notwendigkeit, warum Thomas das
Begehren in Wesen, die mit Erkenntnis begabt sind, als ein
besonderes Vermögen, eine besondere Kraft den anderen Ver-
mögen gegenüber stellt, dagegen in erkenntnislosen Dingen nicht.
Da nämlich begehren nichts anderes ist, als zu etwas geneigt
sein und die Strebekraft die Hinneigung selbst, und andererseits
einer jeden Natur, ja einem jeden Dinge die Neigung zu einem
ihm Zugeordneten folgt, so ist richtig geschlossen, dafs wie die
Naturen der Dinge offenbar nicht die Vollkommenheit desselben
Grades besitzen, sondern nach Verhältnis, so auch entsprechende
Neigungen dieselben begleiten. Ja gleichwie die eine Form die
andere überragt, nicht nur nach dem Grade der Vollkommenheit,
sondern auch nach der Ordnung der Dinge, wonach nämlich
die eine einer höheren Ordnung angehört, als die andere, so steht
die eine Neigung über der anderen. Wir nehmen aber im
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126 Die Leidenschaften.
ganzen Weltall zwei Ordnungen der Dinge wahr: die eine be-
trieb diejenigen, deren Naturen sich auf ihr eigenes Sein, auf
),8ich selbst sein'' beschränken (qnod sunt tantum ipsaemet), wie
in allen leblosen Wesen und den nur mit Fortpflanzungskraft
begabten, die andere für diejenigen, deren Naturen ohne jene
Einschränkung die Ausdehnung gewinnen, dal's sie auch „andere
Dinge sind*' (ut sint etiam alia), wie bei sinnlich und geistig
erkennenden Wesen. Wenn nun einer jeden Natur die dem
Verhältnis entsprechende Neigung folgt, so werden die Dinge
erster Ordnung nur die Neigung zu dem ihnen Natürlichen und
Eigentümlichen haben. Den Naturen zweiter Ordnung gebührt
die Neigung nicht nur zu dem der Natur Entsprechenden, son-
dern auch zu dem Erkannten, sie sind eben „ihr eigenes Sein
und das Erkannte" (ipsae sunt et apprehensa), jene aber nur
ihr eigenes Sein. Daraus ergibt sich weiter, dafs die Neigung
der Dinge erster Ordnung in demselben Wesen nach der Zahl
der Dinge sich vervielfältigt, wie mit dem Dinge selbst das
eigentümliche und natürliche Sein eines jeden vervielfältigt wird.
Deshalb ist etwas anderes das natürliche Begehren des „leichten
Wesens*', „oben zu sein" und das Begehren desselben Wesens
„ein sich Ähnliches zu zeugen"; denn jenes ist die „Leichtheit",
dieses aber die „Wärme" oder was auch immer seine Hervor-
bringUDgskraft sei. (Der Verfasser spricht vom Feuer als „dem
Leichten".) Die Neigung jedoch, welche den Naturen zweiter
Ordnung entspricht, wird in demselben Wesen nicht vervielfältigt
nach der Zahl der Dinge (Potenzen und sonstigen „Teilen"), son-
dern es ist nur eine besondere Kraft, sonst entspräche sie
nicht der Natur, aus der sie hervorgeht Denn die eine Natur
(ipsa una existens) ist „sie selbst und anderes". Darum mufs
die entsprechende Neigung sich auf beides beziehen, das dem
natürlichen Sein Zugeordnete und das Erkannte. Die „Weite"
der Natur, wodurch sie nicht nur „sie selbst, sondern auch an-
deres ist", verlangt, dafs ihr appetitus bezüglich -beider Objekte
ein einer und dadurch eine besondere Kraft und ein besonderes
Vermögen der Natur ist."
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Erklärung des Begriffs: Begehron. 127
Noch durch eine andere Erwägung der bcBonderen Voll-
kommenheit erkenntnisfahiger Wesen kommt man zu dem SchlasBe,
dafe in diesen die Begeh rungskraft ein eigenes Vermögen erfor-
dert. Der hervorstechende Charakter, welcher sich bei lebenden
Wesen findet, — und an deren Spitze stehen die erkennenden —
ist der, dafs sie sich selbst bewegen. In den übrigen Wesen
ist wohl ein Prinzip der Bewegung, wodurch etwas bewegt wird,
aber es findet sich in ihnen kein Bewegendes (non est movens);
das Prinzip, wodurch der Stein bewegt wird, ist in ihm selbst, nämlich
die Schwere, aber er bewegt sich nicht selbst, die Bewegung wird
ihm von aufsen angethan. Das erkennende Wesen aber hat nicht
nur das Prinzip der Bewegung in sich, sondern auch ein den
appetitus Bewegendes. „In ähnlicher Weise erhält das Begehren,
welches in gewisser Hinsicht allen Dingen gemeinsam ist, einen
besonderen Charakter bei den lebenden Wesen, insofern in ihnen
eine Begehrungskraft und ein diese Kraft Bewegendes sich findet.
Denn das erkannte Gute selbst bewegt das Strebevermögen.''
(De verit. q. 22. a. 3.) Aus diesem Grunde heifst der appetitus
bei erkennenden Wesen appetitus animalis, seelisches Begehren.
Der Unterschied zwischen dem appetitus animalis und naturalis
zeigt sich sowohl rücksichtlich des Objekts, als bezüglich der
Art und Weise. Das Objekt des letzteren ist etwas ganz Be-
stimmtes, was der Form natürlich zugeordnet ist, das Objekt
des ersteren dehnt sich auf verschiedene Dinge aus. „Da
der appetitus naturalis auf ein Objekt beschränkt ist und nicht
vielgestaltig sein kann, so dafs er sich auf so viele verschiedene
Dinge erstrecke, deren die lebenden Wesen bedürfen, so war es
notwendig, dafs den lebenden Wesen noch darüber ein appetitus
animalis zugeteilt wurde, welcher der Erkenntnis folgt; dadurch
vermag das lebende Wesen infolge der Menge der erkannten
Dinge sich auf verschiedenes zu richten." (A. a. 0. ad 2.)
Weil das Objekt des appetitus naturalis etwas ganz Be-
stimmtes ist, so ist das Streben ein durchaus notwendiges,
ohne jede Freiheit und ohne einen Schatten von Bestimmbarkeit.
Deshalb ist es auch nicht erforderlich, dafs der Begehrende bei
solchem Begehren irgend eine Auffassung von der Begehrbarkeit
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128 Die Leidenschaften.
Beines Objekts habe. „Weil das natürliche Ding in seinem natür-
lichen Sein bestimmt ist und nur eine Neigung zu einer be-
stimmten Sache hat, so wird keine Erkenntnis verlangt, um
auf Grund der Begehrbarkeit eine begehrenswerte Sache von
einer nicht begehrenswerten zu unterscheiden/' (De verit. q. 25,
a, 1.) „Das Objekt des natürlichen appetitus ist diese Sache
als solche (haec res in quantum talis res)." (A. a. 0.) Beim
appetitus animalis tritt eine gewisse Art der Selbstbestimmung
auf, die jedoch, wie sich bald zeigen wird, einen höheren oder
geringeren Grad besitzen kann. Es macht sich eben der Charakter
eines lebenden Wesens geltend, welches sich mehr oder minder
selbst bewegt. So sagt Thomas: „Durch den appetitus naturalis
begehrt ein Wesen das Gute nicht aus sich selbst, wie durch
den animalis." (De verit. q. 22. a. 3. ad 3.)
Da, wie oben gesagt, ein jedes Ding, ein jedes Vermögen,
ein jeder besondere Teil eines Wesens seinen appetitus naturalis
hat, so mag noch ein Unterschied hervorgehoben werden, der
bei den einzelnen Vermögen eines Wesens sich zeigt. Das Auge
verlangt nach einem Gegenstande seines Sehens, das Ohr nach dem
des Hörens, der Intellekt nach dem des Erkennens. Alles Ge-
nannte ist aber auch wohl Gegenstand des besonderen Strebe-
vermögens. Worin liegt nun der Unterschied? .,Das Gesicht
begehrt natürlich nach dem Sichtbaren nur zum Zweck seiner
Thätigkeit, nämlich zum Sehen. Das lebende Wesen begehrt
aber durch die besondere Begehrungskrafl nach dem sichtbaren
Gegenstande nicht nur zum Sehen, sondern auch zu anderen
Zwecken. Wenn die Seele der durch einen Sinn erfafsten Dinge
nur zur Bethätigung der Sinnesvermögen bedürfte, um dieselben
nämlich sinnlich wahrzunehmen, so brauchte man unter den Ver-
mögen der Seele die Begehrungskraft nicht als ein besonderes
aufzustellen, dann würde ein natürlicher appetitus der Ver-
mögen genügen." (S. th. I. q. 78. a. 1. ad 3.)
Eine schöne Auseinandersetzung der Unterschiede zwischen
appetitus naturalis und animalis, worin das Gesagte zusammen-
gefafst, aber auch neue Gesichtspunkte gewonnen werden, finden
wir bei Cajetan im Kommentar zu Summ, theol. I. q. 19. a. 1.:
Digiti
zedby Google _
Erklärung des Begriffs: Begehren. 129
„Der appetitns naturaliB und animalis unterscheiden ßich 1. weil
der erstere allen Dingen gemeinsam ist, der andere eine be-
sondere Art von Seelenvermögen bezeichnet. 2. Der naturalis
folgt dem Wesen eines Dinges an und für sich, der animalis aber
einer Natur, insofern sie erkennend ist. 3. Ersterer ist in Thätig-
keit aus der ^'atur allein, der zweite kann nur infolge einer
Erkenntnis zum Akt tibergehen. 4. Das naturliche Begehren ist
keine wirkliche selbsthervorgerufene Thätigkeit (non est actus
elicitns), sondern die Hinneigung dieses Dinges zu jenem selbst,
das animale Begehren ist wirkliche Thätigkeit, die actus secun-
dus benannt wird. 5. Der appetitns naturalis ist auf eins ge-
richtet, der animalis auf vieles, je nach der Anzahl der er-
kannten guten Dinge. 6. Natürlich heifst das Begehren eines
Gegenstandes, wenn derselbe dieser partikulären begehrenden
Potenz konvenient ist, seelisch hingegen das Begehren eines
Dinges, wenn es für das Ganze oder das Suppositum (Person)
zuträglich ist. 7. Jenes Begehren ist einem Wesen in Wirklich-
keit inne von einem anderen her, dieses aber aus sich, weil das
Gute bewegt, insofern es von dem Begehrenden selbst und nicht
von einem anderen erfafst wird. Hieraus ergibt sich, dafs alles,
was nicht als Erkanntes erstrebt ist, durch den appetitns natu-
ralis begehrt wird. Was auch immer Gegenstand des Begehrens
ist, sofern es erkannt wird, fallt unter die wirklich hervorgerufene
Thätigkeit des sinnlichen oder geistigen Strebevermögens. Des-
halb kann die Erkenntnis selbst in doppelter Weise begehrt
werden. Zunächst durch natürliches Begehren, und so wird sie
vom Intellekte erstrebt, der eine natürlich nothwendige Neigung
zu der Vollkommenheit des Erkennens hat. Dann auch ver-
mittels des geistigen Begehrens, und so wird sie vom Willen
als erkannte erstrebt . . . Aus dieser Wahrheit ist einleuchtend,
wie das Begehren als actus elicitus der Erkenntnis folgt, und
das natürliche jeder Natur, auch der unvollkommensten, nämlich
der materia prima." Sehr belehrend sind noch diese Worte:
federn Sein folgt ein appetitns, und in verhältnisgleicher Weise
nach der Beschaftnheit des Seins em so beschaffenes Begehren:
mit Recht; denn es gibt nur zwei Arten des Seins, die erste,
Jahrbach für Philosophie etc. 1. 9
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130 Die Leidenschaften.
iDSofem ein Wesen etwas Bestimmtes seinem natürlichen Sein
nach ist, die zweite, insofern das Wesen etwas in geistiger
(erkennender) Weise ist. Aus diesem Gründe mufs man ein
doppeltes Begehren aufstellen, und weil die erste Art des Seins
in dem Sein nach Weise des actus primus besteht, die zweite
aber in einem Sein durch actus secundus (die Thätigkeit des
Erkennens), dem entsprechend ist der appetitus, welcher als
Voraussetzung das natürliche Sein hat, kein actus secundus, son-
dern nur eine Hinneigung. Das Begehren, welches dem in der
Erkenntnis bestehenden Sein folgt, ist jedoch ein actus secundus,
hervorgerufen von der Begehrungskraft, die der erkennenden
l^atur als solcher zustehf
Der appetitus animalis offenbart in Bezug auf das Objekt
und die Art und Weise ein freieres, weniger beschränktes Sein,
als der naturalis. Er scheidet sich in ein doppeltes Vermögen»
welches selbstverständlich nur in der sinnlich-geistigen Natur
des Menschen auftritt, das höhere Begehrungsvermögen und das
niedere, den appetitus intellectivus und sensitivus, auch voluntas
und sensualitas geuannt. Nur dann, wenn die Art der Thätig-
keit oder die Art des Objekts bei den beiden Vermögen wesent-
lich verschieden ist, hat die Scholastik die Berechtigung, die
seelische Begehrungskraft in zwei verschiedene Vermögen zu
teilen.
Gehen wir von der charakteristischen Eigentümlichkeit des
appetitus animalis im Gegensatze zum naturalis aus, dafs ersterer
nämlich sich selbst bewegt, oder dafs er weniger an Bestimmtes
gebunden, weniger determiniert ist. Bei jedem Begehren können
wir ein Dreifaches unterscheiden: das Prinzip, den Grund der
Hinneigung (principium inclinationis) , ein den appetitus Bewe-
gendes (movens appetitum) und die Thätigkeit selbst, die aktuelle
Hinneigung (actualis inclinatio). Während der appetitus naturalis
gänzlich gebunden ist, in sich demnach kein die Begehrungs-
kraft Bewegendes besitzt, auch die Bewegung selbst als eine
notwendige auftritt, finden wir beim appetitus animalis zu-
i^eilen ein von innen Bewegendes, welches gleichsam die Richtung
des Begehrens angibt, so dafs jedoch die Thätigkeit notwendig
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Erklärung des Begriffs: Begehren. 131
folgt Hier kann nur insofern von einer Selbstbestimmung ge-
sprochen werden, als die fiichtung vom begehrenden Wesen
selbst angegeben wird. Die aktuelle Hinneigung liegt nicht in
seiner Gewalt. Diese Begehrungskraft heifst appetitus sensitivus.
,,Die sinnliche Natur hat in sich ein Hinneigendes (aliquod in-
clinans), nämlich das erkannte Begehrbare; aber die Hinneigung
selbst ist nicht in der Gewalt des Wesens, welches sich hinneigt,
sondern ist ihm von anderer Seite fest bestimmt. Denn das Tier
kann nicht beim Anblick eines begehrenswerten Gegenstandes
denselben nicht begehren, weil solche sinnliche Wesen nicht
die Herrschaft über ihre Hinneigung besitzen; sie treiben nicht,
sondern werden getrieben (non agunt, sed aguntur). Und das
aus dem Grunde, weil die sinnliche Begehrungskraft ein körper«
liebes Organ hat und deshalb den Zuständen der Materie und
der körperlich eti Dinge sich näherf (De verit. q. 22. a. 4.)
Wenn zu der Vollkommenheit, wie sie im appetitus sensitivus
sich findet, die Yöllige Selbstbestimmung rücksichtlich des Aktes
hinzukommt, so erhält man den höheren Grad: appetitus intel-
lectivus (rationalis) oder voluntas. „Die vernünftige Natur hat
nicht allein eine Hinneigung zu etwas, wie die leblosen Wesen,
auch nicht blofs ein diese Neigung der Richtung nach Bestim-
mendes, während die aktuelle Neigung gleichsam von anderer
Seite aufgenötigt ist, wie die sinnliche Natur, sondern darüber
hinaus hat sie die Neigung selbst in der Gewalt, so dafs sie zur
aktuellen Hinneigung nach dem erkannten Begehrenswerten nicht
genötigt wird, sondern dieselbe setzen oder nicht setzen kann.
So wird ihr die Hinneigung nicht von einem andern, sondern
von ihr selbst determiniert (A. a. 0.) Beim appetitus intel-
lectivuB tritt die volle Selbstbestimmung, das vollendete
sich bewegen ein, das volle Leben in höchster Entwicklung.
„Wie demnach das sensitive Begehrungsvermögen vom natür-
lichen appetitus durch einen vollkommneren Grad des Begehrens
sich unterscheidet, so die vernünftige Strebekraft von jenem.''
(A. a. 0.) Die mittlere Stellung, welche das sinnliche Begehren
zwischen dem appetitus naturalis und rationalis einnimmt, ist
Ursache, warum demselben oft im Gegensatze zum ersteren eine
9*
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132 Die Leidenschaften.
SelbstbeBtimmung beigelegt wird, im Gegensatze aber zum
letzteren eine äufsere Determination oder Nötigung. Es nimmt
teil am Charakter beider, wie das Mittelglied am Zustande beider
Extreme. Stellen der ersten Art sind bereits gegeben. Zur
letzteren gehört: ,,Im niederen (sinnlichen) Strebevermögen ist
eine gewisse natürliche (notwendige) Hinneigung, kraft der das
Vermögen gewissermafsen natürlich gezwungen (genötigt) wird,
nach dem Begehrenswerten zu streben. Aber die höhere Strebe-
kraft wird nicht zu einem von beiden determiniert, weil sie als
höhere frei ist, nicht aber die niedere." (De verit q. 15. a. 3.)
Aus der gröfseren oder geringeren Bethätigungsvollkommenheit,
die bei den beiden Begehrungsvermögen zu Tage tritt, läfst sich
auf die Art des Objekts schliefsen. Eine Selbstbestimmung, so-
gar die niedersten Grades, kann nur auf Grund einer anderen
Thätigkeit der Wesen geschehen, nämlich des Erkennens. Dieses
gibt die Eichtschnur an, stellt das Objekt als etwas Begehrens-
wertes dar, dem man zustreben soll oder auch nicht. Ohne Er-
kennen wäre das „Begehren aus sich selbst'' unmöglich, deshalb
wird als Objekt der niederen und höheren Strebekrafl von den
Scholastikern das erfafsteGute (bonum apprehensum) bezeichnet.
Die Erfassung des Objekts steht somit in wesentlicher Beziehung
zu dem Begehren, welches an Vollkommenheit den appetitus
naturalis überragt. „Dem Erstrebenswerten ist es nicht zufällig,
durch den Sinn oder Verstand erfafst zu sein, sondern es kommt
ihm an sich zu. Denn das Erstrebenswerte bewegt den appe-
titus nicht, aufser insofern es erfafst ist.'' (Summ, theol. I. q. 80.
a. 2.) Die Eigenschaft, welche aber vom Erkennen erfafst werden
mufs, ist die Eigenschaft: gut; der Gegenstand, welcher der
Strebekratt; als Objekt dienen soll, mufs gut, d. h. erstrebbar
erscheinen. Durch welche sinnliche oder geistige Kraft dieses
erfafst wird, davon später. Der Gegenstand, dem das Streben
sich zuwendet, ist nach bereits gegebener Erörterung das Ding
in seiner Existenz, wie es in Wirklichkeit vorhanden ist, indi-
viduell. Wenn nun das sinnliche Begehrungsvermögen nur die
Richtung determiniert, nicht aber den Akt des Begehrens, so
wird die Erkenntnis, welche diesem vorhergeht, zum Gegenstande
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Erklärung des Begriffs: Begehren. 133
das individuelle Ding haben, insofern es begehrenswert ist oder
nicht. Das individuelle Ding bezüglich seiner Konvenienz oder
l^ichtkonvenienz ist das eigentümliche Objekt des sinnlichen
appetitns. Das Urteil des Erkenntnisvermögens, — Urteil in
weitester Bedeutung genommen — ob der Gegenstand konvenieot
oder nicht konvenient sei, ist nicht frei, sondern determiniert;
aus diesem Grunde liegt die Setzung des Aktes nicht mehr im
Belieben des Vermögens. Treffend sagt Thomas de verit. q. 25.
a. 1.: ,4)a8 niedere sinnliche Begehren strebt nach der begehrens-
werten Bache, insofern in ihr das ist, was die Begehrens-
würdigkeit begründet: nicht strebt es nach dem Grunde der
Erstrebbarkeit selbst, weil der niedere appetitus nicht die Güte
oder die Nützlichkeit oder die Ergötzlichkeit begehrt, sondern
dieses Nützliche oder dieses Ergötzliche, und darin steht
die sinnliche Strebekraft unter der vernünftigen. Weil sie abei
nicht nach dieser Sache nur oder jener strebt, sondern nach
allem, was ihr nützlich oder ergötzlich ist, steht sie über dem
appetitus naturalis; und deshalb bedarf sie der Erkenntnis, um
das Ergötzliche vom Nichtergötzlichen zu unterscheiden. Ein
offenbares Zeichen dieser Unterscheidung liegt darin, dafs der
appetitns naturalis eine Nötigung zeigt rücksichtlich der Sache
selbst, wonach er begehrt, wie das Schwere notwendig nach
dem niederen Orte strebt. Der appetitus sensitivus jedoch zeigt
keine Nötigung zu irgend einer Sache, bevor sie unter dem
Gesichtspunkte des Ergötzlichen oder Nützlichen erfafst wird.
Aber hat man sie als ergötzlich erfafst, so strebt er derselben
mit Notwendigkeit zu; denn nicht kann das Tier beim Anblick
eines Ergötzlichen dasselbe nicht begehren." Das direkte Er-
fassen eines individuellen Dinges in seiner Partikularität gebührt
dem sinnlichen Erkennen, und stützt sich somit das niedere Be-
gehren auf das niedere Erkennen des lebenden Wesens. Des-
halb pflegte man auch den appetitus sensitivus zu erklären „als
appetitus, welcher der sinnlichen Erkenntnis folgt''. Auch die
Gröfse des Kreises von Dingen, welche dem sinnlichen Begehren
unterliegen, richtet sich nach der Weite des sinnlichen Erkennens.
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134 Die Ijeidenschaften.
„Das sinnliche Strebevermögen ist das Vermögen iiir die körper-
lichen Dinge."
Am vollkommensten ist der appetitus intellectivns. Zur bes-
seren Klarstellung des Folgenden erinnere ich an einen Satz
der Scholastiker, dessen Begründung später folgen soll. „Ein
jedes Vermögen hat eine gewisse notwendige Beziehung zu seinem
eigentümlichen Objekte." (De verit. q. 25. a. 1.) Auf dasjenige,
worin der volle Begriff seines eigentümlichen Objekts sich findet
und erkannt wird, ist das Streben des vernünftigen Begehrens
demnach mit Notwendigkeit gerichtet. Wenn nun nach dem oben
Gesagten der appetitus inteilectivus nicht nur in Bezug auf die
Richtung des Strebens, sondern auch in Bezug auf die Setzung
des Aktes rücksichtlich dieses oder jenes Gegenstandes unge-
bunden und frei ist, so kann dieses oder jenes Ding, das indi-
viduelle, partikuläre Wesen, das eigentümliche Objekt desselben
nicht sein. Den Charakter des Gutseins mufs das objectum pro-
prium an sich tragen, — denn alles Begehren ist auf ein Gutes
gerichtet — aber es mufs höher stehen, es mufs voUkommner
sein, als dieses oder jenes partikuläre Gut Jeder Beschränkung,
die durch das individuelle Dasein verursacht ist, wird es ledig
sein, oder das eigentümliche Objekt des vernünftigen Begehrens
ist das Gute an sich, abstrahiert von individuellen Beschrän-
kungen. Dem strebt es mit Notwendigkeit zu, den anderen
Gegenständen aber, die wegen ihrer unvollkommenen Natur oder
wegen Schwäche des Erkennens nur als beschränkt gut, nur an
dem Gutsein als solchem teilnehmend erkannt werden, steht es
frei gegenüber, es kann sich aktuell hinneigen oder nicht. „Das
höhere Begehrungsvermögen, der Wille, strebt direkt nach dem
Wesen (Grund) der Begehrbarkeit im allgemeinen, wie der Wille
das Gute selbst oder die Nützlichkeit selbst zuerst und vorzüglich
erstrebt; nach diesem oder jenem Dinge aber strebt er nur, insofern
es vorgenannten Wesens teilhaftig ist. Das geschieht aus dem
Grunde, weil die vernünftige Natur eine so weit gehende Fähig-
keit besitzt, dafs ihr die Neigung zu einem bestimmten Gegen-
stande nicht genügt, sondern sie bedarf mehrerer und verschie*
dener Dinge. Deshalb ist ihre Neigung auf etwas Gemeinschaftliches
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Erklärung des Begriffs: Begehren. 135
gerichtet y das sich in mehreren Dingen findet. So strebt sie
durch Erfassung jenes Gemeinschaftlichen (Allgemeinen) nach dem
begehrenswerten Gegenstande, in welchem sie das Vorhandensein
jenes Begriffs der Begehrbarkeit entdeckt." (A. a. 0.) „Das eigen-
tümliche Objekt des Willens ist das Gutsein selbst in unbe-
schränkter Weise (ipsum bonum absolute)." Das Gutsein in sich,
das allgemeine Gute zu erfassen ist Sache des höheren Erkenntnis-
YermögeoB, des Intellektes, an dessen Thätigkeit demnach das
höhere^ Strebevermögen sich anschliefst. Es läfst sich, da der
Wille dem Intellekte, das sinnliche Begehren der Sinneserkenntnis
folgt, der Unterschied zwischen beiden Strebekräften auf den
Unterschied des höheren und niederen Erkennens gründen. „Weil
von anderer Art das durch den Intellekt Erfafste und das durch
den Sinn Erfafste ist, mufs folglich das intellektive Begehren ein
anderes sein, als das sinnliche." (Summ, theol. I. q. 80. a. 2.)
Doch diese Begründung des Unterschiedes beider Strebekräfte
ist eine Begründung ex consequenti, oder gestützt auf eine not-
wendige Folge. „Der Wille wird vom sinnlichen Begehren
nicht direkt unterschieden bezüglich der Folge auf diese oder
jene Erkenntnis, sondern mit Rücksicht darauf, ob etwas sich
selbst die l^eigung determiniert oder eine von andern deter-
minierte Neigung besitzt, welche zwei Zustände Potenzen ange-
hören müssen, die nicht einer und derselben Art sind. Aber
eine derartige Verschiedenheit verlangt eine Verschiedenheit der
Erkenntnis. Daher wird gleichsam ex consequenti und nicht
principaliter (in erster Linie) die Unterscheidung der Begehrungs-
vermögen nach der Unterscheidung der erkennenden Vermögen
vorgenommen," (De verit. q. 22. a. 4. ad 1.) Selbst die Be-
gründung, beide Strebe vermögen seien verschieden, da das eine
auf das Partikuläre, das andere auf das Universelle (Allgemeine)
gerichtet sei, ist eine Begründung ex consequenti. „Obgleich
das Begehren stets auf etwas in der Natur Existierendes sich
richtet, was eine partikuläre und nicht universelle (allgemeine)
Seins weise hat, so wird es dennoch zuweilen zum Streben
bewegt durch die Erfassung einer allgemeinen Bedingung —
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136 ^ Die Leidenschaften.
wie wir diesen guten Gegenstand erstreben infolge einer Er-
wägung, dafs Gutsein schlechthin zu begehren sei -< zuweilen
aber durch die Erfassung eines partikulären Dinges nach
seiner partikulären Daseinsweise. Deshalb scheidet sich das Be-
gehren ex consequenti nach Universellem und Partikulärem, wie
nach der Unterscheidung der Erkenntnis, auf welche es folgt ""
(A. a. 0. ad 2.)
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DIE PRAEMOTIO PHYSICA NACH THOMAS.
Von Dr. Ceslaus M. Schneider
IH MALMEDT.
Y or kurzer Zeit erschien bei den Herausgebern der ,,annee
Dominicaine'' in Paris (Parisiis apnd Editores Ephemeridis „rannte
Dominicaine" via dicta du Chercbe-Midi 19) das über 760 S. in
gr. S starke Werk : S. Thomas et doctrina praemotionis physicae
seu Responsio ad R. P. Schneemann S. J. aliosque doctrinae
scholae thomisticae impugnatores auctore P. F. A. M. Dummer-
mnth, ord. Praed. sac. tbeol. mag. et in coUegio Lovaniensi
ejnsd. ord. stud. reg.
Wir sind durchaus nicht der Ansicht, dafs sich bei der heu-
tigen aufgeregten Zeit die berufenen Vertreter der katholisch-
theologischen Wissenschaft hüten sollen, Lehrpunkte zu behandeln,
welche innerhalb des Dogma selber kontrovers sind; und dafs
vielmehr alle Mühe darauf verwandt werden müsse, die positiv
feststehende Lehre der Kirche zu erläutern und zu verteidigen.
Denn abgesehen davon, dafs eben zur Feststellung des richtigen
Verständnisses dieser Lehre bereits die Kenntnis der kontrover-
tierten Punkte und deren beiderseitige Begründung sehr oft er-
fordert ist, kann es im Reiche der Wahrheit, wie dies die
Kirche ist, „das Haus des lebendigen Gottes, die Säule und Grund-
veste der Wahrheit'' (I Tim. 3), niemals eines grofsen, einschnei-
denden Vorteils entbehren, sowohl was die Kinder der Kirche
als yras die Aufseustehenden anbelangt, wenn grade die Wahr-
heit tiefer untersucht, eingehender dargestellt und dem mensch-
lichen Geiste gegenwärtiger gemacht wird.
Jahrbncb fUr Philosophie etc. 1. 10
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138 Die praemotio physica nach Thomas.
Wenn jedoch auch derjenige recht hätte, der da meint, ein
jeder wissenschaftliche Streit innerhalb der Kirche Gottes sei
vom Übel, so könnte er doch das Erscheinen des eben angezeigten
Werkes nicht mirsbilligeo, Denn letzteres ist nur zur Abwehr
geschrieben gegen zahlreiche Angriffe, welche von den verschie-
densten Seiten her, zuletzt von dem durch sonstige Werke, zu-
mal aus der Zeit des vatikanischen Konzils, dem deutschen
Publikum vorteilhaft bekannten, jetzt verstorbenen F. Gerhard
Schneemann gegen den Thomismus gemacht wurden. Das Werk
des F. Dummermuth richtet sich somit nicht nur gegen Schnee-
mann, sondern auch gegen Cornoldi, Levesseur, Dupont, Le Tal-
lec etc. ; und nur der Umstand, dafs Schneemann alle diese Angriffe
in seiner deutsch und lateinisch herausgekommenen Abhandlung
zusammengefafst und durch weitere Zeugnisse zu begründen ge-
sucht hat, ist der Grund davon, dafs er allein auf dem Titelblatte
genannt wird.
Die Angriffe behaupten zuvörderst, dafs die heute noch all-
gemein so bezeichnete Thomistenschule diesen Namen nicht
mehr verdiene, sondern vielmehr die Schale des Bannez sei und
somit ihre Anhänger „Bannes ian er'' genannt werden müssen.
Denn nicht der hl. Thomas sei ihr Führer, sondern Bannez.
Es wird diese Behauptung in erster Linie dadurch begründet,
dafs man zu beweisen sucht, die heutigen sog. Thomisten,. also
die seit Bannez, lehrten die physica praedeterminatio, welche
Thomas nicht lehre. Dasselbe gilt folgerichtig von der scienda
media.
Endlich will man von der angreifenden Seite her darthun,
dafs auch die hauptsächlichen Thomisten vor Bannez nicht die
praedeterminatio physica lehren, sondern. in diesem Punkte mit
den Molinisten übereinstimmen. Dementsprechend weist P. Dum-
mermuth zuerst und zwar auf Qrund von Aussprüchen der höch-
sten Autorität in der Kirche den Vorwurf zurück, als werde der
heutige Thomismus mit Unrecht so bezeichnet. Dann stellt er
mit Hilfe zahlreicher Citate aus Thomas fest, dafs Thomas in der
That die praedeterminatio physica ausdrücklich lehrt und die
gegenteilige Ansicht positiv verwirft. Und endlich fuhrt er eine
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Die praemotio phjsica nach Thomas. 139
Menge Stellen aus thomistischen Antoren vor Bannez an, welche
zureifelloe darthun, dafs die thomistische Schule, wie sie vor and
nach Bannez an erster , leitender Stelle der Dominikanerorden
vertritt, ganz and gar der Lehre nach ein nnd dieselbe ist. Bei
jedem der einzelnen Teile löst er umständlich die von Schnee-
mann and den Molinisten entgegengestellten Schwiengkeiten and
beleuchtet in oft höchst frappanter Weise deren Gewohnheit,
Texte aus Thomas zu zitieren.
Wir erkennen es als Tollkommen berechtigt an, dafs der
Verfasser, ein Eind des Ordens des h. Dominicas, den Versuch
eingehend und entschieden zurückweist, den Dominikanerorden
in seiner Lehre von der glänzendsten Leuchte, die er erzeugt, vom
engelhaften Lehrer, zu trennen. Wir wissen die Gefühle voll-
ständig zu würdigen, welche einen Ordensbruder des h. Thomas
erfüllen müssen, wenn dem ganzen Orden, der zu allen Zeiten
seiner Existenz nichts mit angelegentlicherer Sorgfalt gepflegt hat
als die Reinheit der Lehre des h. Thomas, der Vorwurf gemacht
wird, seine Lehre verdiene nicht den Beinamen der „thomi-
stischen'^- — wo doch 1. Papst Leo XIII. in der Encyklika
„Aet Patriß'' ausdrücklich sagt: „Damit wir die Dominikaner-
familie hier beiseite lassen, welche sich mit vollemBechte
rühmt, diesen grofsen Lehrmeister als den ihr ange-
börigen zu besitzen, so sind zur Nachfolge des h. Thomas in
ihren Lehren verpflichtet worden die Benediktiner'' etc.; — wo
doch 2. Benedikt XIII. am 6. Nov. 1724 den Professoren des
Dominikanerordens schreibt: „Verachtet aus ganzer Seele die
Verleumdungen, die man gegen eure Lehre richtet, zumal
rücksichtlich der Gnade, die an und für sich, von ihrem
Innern aus wirksam ist, (de gratia praesertim per se et ab
intrinseco efflcaci) und rücksichtlich der voc allem Vorher-
wissen der Verdienste bestehenden, ganz frei und rein
aus der liebevollen Barmherzigkeit Gottes fliefsenden
Vorherbestimmung zur Herrlichkeit, was ihr lobenswerter
Weise bis jetzt gelehrt und was ihr geschöpft habt aus den
heil. Kirchenlehrern Augustinus und Thomas (ac de gra-
loita praedestinatione ad Gloriam sine uUa praevisione meritorum
10*
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140 Die praemotio phjsica nach Thomas.
et quas (doctrinas) ab ipsis Ss. Doctoribns Augostino et Thoma
se hausisse); auf Grund dessen eure Schule sich mit vollem
Rechte rühmt, in diesen Lehren gleichförmig zu sein dem Worte
Gottes, den Dekreten der Päpste und der Konzilien und den Aus-
sprüchen der Väter"; — wo doch 3. der nämliche Papst am
26. Mai 1727 von neuem sagt: „Wir können nicht schweigen,
was die Lehre des h. Thomas von Aquin anbetrilTt, welcher der
Predigerorden in heilbringender Weise eifrig folgt"; und wo er in
dieser selben Bulle „Pretiosus" unter kanonischen Strafen allen
und jeden Gläubigen Christi befiehlt, dafs sie ja nicht die Lehre
des gelobten engelhaften Lehrers und seine ausgezeich-
nete Schule in der Kirche, zumal wo in dieser Schule
es sich um die gratia per se et ab intrinseco efficact
ac de gratuita praedestinatione ad Gloriam sine ulla
meritorum praevisione handelt, weder in Schriften noch in
Reden schmähen"; denn „weit entfernt von Thomas und von der
wahren thomistischen Schule seien die vom h. Stuhle verur-
teilten Lehren des Quesnelius, Jansenius etc." ; — wo doch 4. auch
Clemens XII. am 2. Oktober 1733 schreibt, nachdem er die eben
zitierten Aussprüche der Bullen Benedikts XIII. vollauf bestätigt
und erneuert hat: „Wir wollen jedoch — und wir wissen, damit
in Übereinstimmung zu sein mit der Meinung unserer Vorgänger
— wir wollen jedoch nicht, dafs aus den Lobeserhebungen, welche
wir selber oder unsre Vorgänger der thomistischen Schule ge-
spendet haben, und die wir hiemit von neuem wieder-
holen, gefolgert werde, als ob damit etwas entschieden sei gegen
die übrigen Schulen in der katholischen Kirche, welche in der
Erklärung der Art und Weise, wie die göttliche Gnade wirksam
ist, eine andere Ansicht haben als die thomistische und deren
Verdienste um den Apostolischen Stuhl grofs sind".
Wir begreifen und anerkennen demgemäfs sehr wohl, wie
ein Kind des h. Dominicus nach solch ausdrücklichen Zeugnissen
des Apostolischen Stuhles es sonderbar findet, dafs man den Orden,
welcher Thomas hervorgebracht und ihn zuerst mit der Milch
der reinen Lehre genährt hat; der da stets die Lehre des Hei-
ligen an die Spitze seiner eigenen gestellt hat, von Seiten der
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Die praemotio physica nach Thomas. 141
Molimsten beschuldigen kann, er habe den Pfad, den Thomas
gewandelt oder vielmehr auf den er, der Orden, selber den heil.
Thomas hingeleitet hat, verlassen um der vermeintlichen Erfin-
dungen eines seiner Professoren willen.
Aber wir können uns nicht des weiteren mit diesem fiir die
betr. Frage aufsenliegenden Streite befassen; schon weil in un-
srer gegenwärtigen Kritik uns die dogmenhistorische Seite
der Gnadenfrage nicht beschäftigt. Wir drücken vielmehr von
ueuem hier unsre Überzeugung aus, dafs es für die Erzielung eines
endgiltigen Ergebnisses in diesen Untersuchungen dienlich ist,
alles Persönliche, alles was im allgemeinen die Orden betrifft,
fernzuhalten und nur G-rnnd gegen Grund aufzustellen, nur der
objektiven Wahrheit nachzugehen.
Die Stellung der Orden ist zudem heutzutage nicht mehr
eine solche in der litterarischen Welt, dafs ihre historischen Be-
ziehungen zu irgend einer Kontroverse in deren Behandlung durch-
aus eine Stelle einnehmen müfsten, damit überhaupt ein Ver-
ständnis erzielt werde. Ob es zum Besten der Wissenschaft ist
oder zu ihrem Nachteile, dafs die Orden als solche einen mafs-
gebenden Platz auf den Lehrkanzeln nicht mehr behaupten, ist
nicht unsre Sache, hier zu besprechen. Die Thatsache besteht
Um der Objektivität der Darstellung willen lassen wir also
die Prüfung dieser Seite des Dummermuthschen Werkes fort und
werden am Schlüsse nur den Inhalt des historischen Teiles
berichten. Der weit überwiegende Hauptinhalt des genannten
Werkes ist der rein dogmatische. Und von diesem sagen
wir kurz nach unsrer gewissenhaften Überzeugung: die Bear-
beitung, dieP. Dummermuth der Frage nach der praemotio phy-
sica hat angedeihen lassen, besitzt alle jene Vorzüge, welche einem
Werke dauernden Wert verleihen. Philosophischer Scharfblick,
Klarheit in der Darstellung, Gründlichkeit der AuftjEissnng, Tiefe
in der Entwicklung, aufserordentliche Belesenheit in der scholasti-
schen Litteratur, allseitige Schlagfertigkeit, welche jede Schwierig-
keit zerlegt und mit evidenter Sicherheit beantwortet, bilden die
Grundlage, auf welcher dem Leser Sicherheit geboten wird für
reichen Nutzen.
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142 Die praemotio phjaica nach Thomas.
Damit wir dieses Urteil begründen, wollen wir zuerst die
hier behandelte Frage nach beiden Seiten hin vorlegen; — dann
wollen wir unsre Ansicht begründen; — und endlich zeigen,
wie Thomas diese Ansicht positiv und ganz ausdrücklich vertritt
Die Stellen, welche Dummermuth anführt, sind unabweisbar.
I.
IHe praemotio physica und ihre Gegner.
Die Hauptsätze der praemotio physica lassen sich kurz so for-
mulieren. Wir geben sie mit den eigenen Worten des h. Thomas,
wie sie aus den verschiedenen Stellen seiner Werke gezogen sind:
I. Die Thomisten erkennen eine doppelte praedeterminatio
oder praemotio an. Die eine ist „eine gewisse Richtschnur und
ein gewisser Grund für den Ruf zum ewigen Heile und findet
sich danach innerhalb der göttlichen Yernunit. Die andre
ist die Ausführung dessen, was in der göttlichen Vernunft sich
findet; und diese ist wieder allein in Gott, insoweit dieser
thät ig einwirkt; sie ist in der Kreatur, insoweit diese als be-
stimmbar die Einwirkung von selten Gottes in sich aufnimmt".
(S. th. I qu. 23 art. 2.) Die letztere Thätigkeit, von welcher aus
die vernünftige Kreatur in ihrer freien Äufserung bestimmt wird,
heifst praemotio oder praedeterminatio physica. Sie ist „die Kraft
oder das Werkzeug" (III de pot. art. 7), vermittelst dessen die
freie Kreatur jene Akte setzt, welche in der Ewigkeit von Gott
vorherbestimmt sind.
II. Das „prae" bezeichnet nicht ein „Vorher" der Zeit oder
Dauer nach, sondern auf Grund der Abhängigkeit, welche ihrer
Natur nach die Wirkung zu der Ursache hat. Thomas drückt
dies des öftem mit den Worten aus (III C. 9. cap. 110): ,J)ie
bewegende Kraft, vermittelst deren das Bewegliche in Thätigkeit
gesetzt wird, geht der Natur nach als verursachend der Bewe-
gung vorher"; (motio moventis praecedit).
m. Ein solches „Bewegen" oder „Vorherbestimmen", prae-
motio, praedeterminare heifst nichts andres als (S. th. I qu. 2
ad in): „Bewirken, dafs etwas, was vorher nur im Zustande
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Die praemotio phjsica nach Thomas. 143
des Vermögens oder des Könnens war, nun thätig ist"; oder
(I. II q. 16 a. 1): „Bewegen die Vermögen der Seele zu ihren
Thätigkeiten hin will besagen: sie zur Thätigkeit hinwenden,
applicare ad suos actus" (III de pot. 7; S. th. I q. 105).
IV. Es gibt eine praemotio oder praedeterminatio physica
und eine praemotio moralis. Letztere, sagt Thomas (lU de
malo 3) „besteht darin, dafs die Ursache von aufsen her vor-
bereitend wirkt z. B. durch Rat oder durch Gebot". Die er-
stere bezieht sich auf jene „Ursache, welche in Thätigkeit setzt";
und dies ist im wahren und eigentlichen Sinne eine Ursache,
denn „Ursache wird jene Einwirkung genannt, welcher die Wir-
kung folgt. Nun folgt aber auf das Einwirken des Bethätigenden
unmittelbar die Wirkung; nicht aber auf das Einwirken dessen,
der nur vorbereitet, rät oder befiehlt. Überreden nämlich zwingt,
wie Attgustin (83 Qq. 4) sagt, keineswegs den, der nicht will".
V. Zwei Arten von untergeordneten Ursachen, von causae
secundae, gibt es: 1. solche, welche mit Naturnotwendigkeit
thätig sind; und 2) frei wirkende. Danach besteht eine doppelte
praemotio physica. Thomas kennzeichnet sie mit den Worten
(S. th. I q. 83 a. 1 ad III): „Gott ist die erstbewegende
Ursache sowohl rücksichtlich der natürlichen, also mit Natur
notwendigkeit wirkenden, als auch rücksichtlich der freien Ursachen.
Und wie Gott dadurch, dafs Er die ersteren, die rein natürlichen
Ursachen in Thätigkeit setzt, denselben es nicht nimmt, dafs ihr
Thätigsein ein natürliches, der inneren Natur des betreffendeu
Dinges entsprechendes ist, so nimmt Er dadurch, dafs Er die
frei wirksamen Ursachen in Thätigkeit setzt, es denselben nicht,
dafe ihr Thätigsein ein freies ist; vielmehr bewirkt Er durch sein
Einwirken gerade dies, da Er in jedem Sein nach dessen Eigen-
tümlichkeiten wirkt".
VI. Das ist, wie bereits gesagt, der Unterschied zwischen
der praemotio physica und der praemotio moralis, dafs auf jene
der Akt unmittelbar folgt; nicht aber auf die praemotio moralis.
Deshalb verträgt sich dieses Beide nicht mit einander im nämlichen
Akte: die gratia per se et ab intrinseco efßcax — diese aus sich
allein wirksame Gnade im Willen ist nämlich nichts andres wie
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144 Die praemotio pfaysica nach Thomas.
die praemotio physica selber im Bereiche des Übernatürlichen —
und der Mangel der thatsäch liehen Zustimmung. Wohlaber ver-
trägt sich dieses Beide: die gratia efßcax und das Vermögen,
nicht zuzustimmen. Denn weit entfernt dal's die Bewegung, welche
vom Erstbewegenden, vom Urheber der l^atur, ausgeht, die betref-
fenden Vermögen zerstört, vollendet sie dieselben, bewirkt also im
vorliegenden Falle, dafs gerade die der Natur des freien Willens
zukommende unbeschränkte Indifferenz sich im Akte thatsächlich
äufsert.
VII. Die von Gott ausgehende Bewegung wird in keiner
Weise modifiziert oder näher bestimmt für das einzelne Sein
durch die untergeordneten Ursachen. „Regieren'' so schreibt
Thomas I q. 103 a. 5 „heifst ebensoviel als in Bewegung sein auf
Seiten der Regierten kraft dessen, dafs der Regierende in Be-
wegung oder in Thätigkeit gesetzt hat. Denn jegliche Thätig-
keit ist im Thätigseienden kraft dessen , der es in Thätigkeit
setzt Jede Thätigkeit aber richtet sich nach der Beschaffenheit
des Seins, dem sie zugehört. Also sind verschiedene Thätig-
seiende verschiedenartig in Bewegung gemäfs ihrer eigenen Ver-
schiedenheit, trotzdem die regelnde Weisheit Gottes nur eine ist
Denn jene Wesen, die für sich wirken und Herr sind ihres Wir-
kens, werden von Gott so in Thätigkeit gesetzt» dafs Er nicht
nur in ihrem Innern thätig ist, sondern auch in der Weise,
dafs Er ihnen, um sie zum Guten hinzuleiten und vom Bösen ab-
zuziehen, Gebote und Verbote gibt, Lohn und Strafe vorstellt".
Nicht also hängt die Wirksamkeit der praemotio physica
von dem freien Bestimmen des freien Willens in der Kreatur
irgendwie, weder negativ noch positiv, ab; sondern vielmehr
richtet sich die Thätigkeit des Menschen nach dem freien Willen
in ihm, insoweit dieser selbe freie Wille von Gott wirksam in
Thätigkeit gesetzt worden; und alle positive Modifikation und
Disposition ist von Gott gewirkt, sei es allein von innen, vom
Willen heraus, in der Weise der causa efficiens, sei es zugleich
mit moralischer Einwirkung in Form von Gebot und Verbot.
Ähnlich bewegt auch der freie Wille die Füfse nicht so, dafs
diese sich die Richtung bestimmen und demgemäfs die einfiiefsende
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Die praemotio pfaysica nach Thomas. 145
Kraft „modifizieren''; wohl aber so, dafs die Füfse ihrer Natur
nach gehen und nicht so, dafs sie etwa sehen oder höreo.
VIII. „Die natürliche Kraft" sagt Thomas (III de pot. art. 7
ad VII), „welche den Dingen in deren Beginne eingeprägt worden,
ist wie eine Form, die da festes, bleibendes Sein hat in der
Natur. Was aber von Gott in den Dingen mit ihren natürlichen
Vermögen verursacht wird, so dafs kraft dessen das betreffende
Ding thatsächlich wirksam ist, (quod a Deo fit in re naturali,
quo actualiter agat), das ist wie eine Torübergehend ein-
geprägte, die Thätigkeit regelnde Form, die im Dinge selbst
kein yollständiges Sein hat; sondern da sich vorfindet, wie die
Farben in der Luft sind, wie künstlerische Kraft des Künstlers
im bewegten Werkzeuge ist. Gleichwie also das Beil durch die
Kunst geschärft werden konnte, so dafs diese Form der Schärfe
in ihm bleibend, und es vermöge derselben „hinreichend^* ist —
snfficiens — um zu schneiden ; wie aber nicht es ihm gegeben wer-
den konnte, dafs die Form, gemäfs der es kunstreich in Bewegung
gesetzt wird, in ihm bleibend sei; — so verhält es sich mit jedem
Dinge rücksichtlich seiner natürlichen Kräfte. Es konnte wohl eine
solche Kraft des Vermögens als eine bleibende Form ihm ge-
geben werden; nicht aber jene Kraft, vermittelst deren es wirk-
lich thätig ist und mit seiner Thätigkeit dem Sein dient als
Werkzeug der ersten Ursache. Wie nämlich das Beil, um die
Kunstform, nach der es in Bewegping gesetzt wird, in sich als
bleibende zu haben, Vernunft besitzen müfste, so müfste jedes
Ding, sollte die Kraft, seine natürlichen Fähigkeiten, die dem
thatsächlichen Sein dienen, von sich aus allein in Bewegung zu
setzen, innerhalb seiner selbst als bleibende sich finden, das all-
gemeine Prinzip für das Sein bilden. Denn wer von sich aus
selbständig einmal Sein hervorbringen kann, der kann es immer
und in jedem Falle; wie das Auge, welches einmal eine Farbe
sieht, sich indifferent auf alle Farben erstreckt. Es konnte also
keiner natürlichen Kraft es verliehen werden, dafs sie sich selbst
in Thätigkeit setze, ebensowenig wie dafs sie sich selbst im Sein
erhielte. Wie also dem Werkzeuge der Kunst es nicht gegeben
werden kann, dafs es thätig sei ohne die von kundiger Hand
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146 Die praemotio physica nach Thomas.
kommende Bewegung ; so kann es keiner natürlichen Exaft ge-
geben werden, dafs sie thätig sei, ohne vorher durch die gött-
liche Thätigkeit in Bewegung gesetzt worden zu sein'^.
Selbst Suarez (de concil. Bei cum yoluntate, Üb. I. c. 11
n. 16) erkennt an, dafs Thomas an dieser Stelle die thomistische
praemotio physica lehre; wenn er auch, freilich fölschlicher Weise,
meint, Thomas hätte in der summa (I q. 105 ; I, II q. 108 art 1)
stillschweigend die eben ausgedrückte Ansicht zurückgenommen;
fälschlicher Weise, denn Thomas hat in allen ähnlichen Stellen
ganz dieselben Ausdrücke, wie dies auch Suarez selbst später
(3 de auxiliis c. 38 n. 20) eingesteht.
Dieses Ergebnis der praemotio physica, das da im Geschöpfe
nur ein esse incompletum hat, d. h. ein nur bestimmbares
Sein, zu bestimmen oder vollständig zu machen durch die be-
stimmende Kraft der ersten Ursache; — dieses Ergebnis ist
somit verschieden 1. von Gott, denn es wird verursacht; es ist
verschieden 2. von dem Thätigsein der untergeordneten Ur-
sache, denn es ist eben die dieses Thätigsein bewirkende Ursache.
Der Molinismus läfst sich in folgenden Sätzen zusammen-
fassen:
I. „Gott setzt nicht die untergeordnete Ursache in Bewe-
gung und wendet sie nicht hin zum Thätigsein in der Weise,
dafs dies eine eigene Thätigkeit sei und der Thätigkeit der
untergeordneten Ursache vorausgehe, wie die Ursache der Wir-
kung". (Concursus Dei non consistit in eo, quod Dens moveat
et app licet causam secundam ad agendum, idque per actionem
quandam distinctam et praeviam) Becanus, de Deo c. 18 n. 17.
(Thomas sagte oben und er sagt überall, wo davon die Rede
ist, das gerade Gegenteil und zwar in den Ausdrücken selber;
Dens movet, applicat, motio Dei est praevia.)
II. „Die Thomisten nehmen einen wirkenden Einflufs Gottes
in die untergeordnete Ursache- an; wir aber wollen keinen solchen
Einflufs in die erwähnte Ursache, sondern mit derselben in die
Wirkung" (nr. 20 1. c.)
III. „Nicht 80 ist der concursus Gottes mit den freien Ur-
sachen, dafs er in dieselben hinein stattfände, als ob sie zuerst
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Die praemotio phymca nach ThomaB. 1^7
von ihm in Thätigkeit gesetzt werden müfsten, ehe sie selber
thätig sind uod ihre Wirkung hervorbringen. Vielmehr richtet
sich der Einflufs Gottes uDmittelbar nnd zugleich mit der ge-
schöpflichen Ursache auf das, was diese wirkt'^ (Molina q. 14
art 13 disp. 26.)
IV. ,^icht Gott ist die ganze Ursache der Wirkung und
nicht die geschöpfliche untergeordnete Ursache ist es, sondern
beide sind Teilursachen; nicht zwar als ob ein Teil der Wir-
kung von Gott sei und ein andrer Teil von der Kreatur, viel-
mehr ist die ganze Wirkung von Gott und von der geschöpf-
lichen Ursache, insoweit die eine der beiden Ursachen den
wirkenden Einflufe der andern in die Wirkung notwendig hat;
— wie etwa, wenn zwei ein Schiff ziehen, die ganze Bewegung
des Schiffes von jedem der beiden ausgeht; denn der eine be-
wirkt zugleich mit dem andern alle einzelnen Teile der Be-
wegung'^ (Molina 1. c.)
Y. Der Einflufs Gottes ist ein allgemeiner, indifferenter und
wird erst modifiziert und näher bestimmt durch die untergeord-
neten, geschöpf liehen Ursachen. „Dem freien geschöpf liehen
Willen ist es überlassen'', so Molina 1. c, „vielmehr diese als
jene Handlung hervorzubringen oder überhaupt nicht zu wollen.
Der concursus Gottes, wie derselbe allen Kreaturen angeboten
wird, ist gleich dem Einflüsse der Sonne, der sich wohl auf die
Gesamtheit der sichtbaren Welt erstreckt; jedoch hier vom Ein-
flüsse des Menschen modifiziert oder näher bestimmt wird, so
dafs ein Mensch entsteht; dort vom Einflüsse des Pferdes, dafs
ein Pferd entstehe''.
VI. Der Einflufs Gottes ist nicht die wirksam thätige Ur-
sache der Thätigkeit des freien Willens. Vielmehr „kann dieser
Einflufs ganz gut vorhanden sein; trotzdem aber bleibt der freie
Wille indifferent dafür, dafs er wolle oder nicht wolle; und dafs er
dies wolle oder jenes. Darin also, dafs der freie Wille will oder
nicht will, dies oder jenes will, ist keinerlei Abhängigkeit vom
Einflasse Gottes; dazu wirkt auch der letztere nicht mit, son-
dern zugleich mit dem freien Willen und auf derselben Stufe
wirkt Gott mit zur Wirkung". (Quippe cum , quod producatur
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148 Die praemotio physica nach Thomas.
volitio potiuB quam nolitio et hujus potias objecti quam alterluB
a coDcursu liberi arbitrii dependet, et non a concursu Dei
generali cooperante una cum libero arbitrio; 1. c. art. 13 disp. 29).
Es gibt jedoch auch Gegner der Thomisten, welche einen
Binflufs Yon Seiten Gottes in den Willen selber annehmen und
meinen, dafs durch einen solchen Einflufs der Wille von Gott in
Thätigkeit gesetzt und bestimmt werde, soweit dieser auf das
Gute im allgemeinen oder auf den letzten Zweck ge-
richtet ist Nach diesen Autoren wäre ein so gestalteter Einflufs
Gottes an und für sich indifferent und unwirksam, um die-
ses oder jenes besondre Gut zu wollen oder nicht zu wollen;
vielmehr würde derselbe vom geschöpflichen Willen aus be-
stimmt oder ^^modifiziert" zum besondren Wollen, und zu letzte-
rem bestimme der Wille sich ganz und gar aus sich selbst.
Demgemäfs müfste man in jeder freien Thätigkeit zwei Ele-
mente unterscheiden. Das eine, welches in sich notwendig ist
und wozu der Wille von Gott bestimmt wird, ist auf das Gute
im allgemeinen, das bonum commune, gerichtet; es ist die
Hinneigung zum Guten überhaupt; — das andre, das da
frei ist, kommt durchaus von der Bestimmung des freien Willens
her. „Stelle dir", schreibt P. Cornoldi, „ein Schiflf vor, welches
der Wind nach Osten treibt, ohne dafs in dieser Thätigkeit des
Windes die Bestimmung läge, in welchen besondern Hafen das
Schiff einlaufen soll. Diese Bestimmung hängt von dem ab, der
das Steuer iuhrt ; er lenkt das Schiff nach rechts oder nach links,
wie es die bestimmte, besondre Richtung verlangt Die Be-
wegung des Schiffes käme dann vom Winde; die besondre
Richtung der Bewegung vom Steuermanne. Der Wind
stellt da den Einflufs Gottes in den freien Akt vor; das Steuer-
ruder oder der Steuermann den freien Willen des Menschen".
Diese Annahme ist die seichteste von allen. Sie vereinigt
in sich alle Schwierigkeiten der Ansicht Molinas, ohne noch dabei
so viel zu erklären wie Molina erklärt, und alle Vorwürfe, die man
dem Thomismus macht Ihr Ergebnis ist nach eigenem Geständ-
nisse der offenbarste Widerspruch; wenn man auch diesem
inneren Widerspruche den Namen „Mysterium" geben möchte.
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Die praemotio physica nach Thomas. 149
Wir wollen jetzt, nm dies feBtzustellen und zugleich zu zeigen,
wie die praedeterminatio physica sowohl der Natur der Dinge,
die uns umgeben, als auch zumal der Natur des freien Willens
durchaus und mit Auschlufs jeder andern Hypothese entspricht,
zuvörderst einen Irrtum als solchen kennzeichnen, der gerade in
der neuesten Zeit ganz offen auftritt, der aber, wenn auch weni-
ger offen und ausdrücklich, von allen Vertretern des Molinismus
vorausgesetzt wird. Der erwähnte Irrtum betrifft den Gebrauch
eines terminus technicus.
IL
IHe Begründung der praemotio physica.
Diese Begründung gliedert sich in zwei Teile: a) in die
Darlegung der richtigen Bedeutung der termini technici „prae-
motio" oder „praedeterminatio'' und „physica''; — b) in die Aus-
einandersetzung der Beziehung, welche die praemotio physica
zu Gott, zu den Dingen und deren Natur, und endlich zum freien
Willen hat.
a) Was bedeutet „praemotio" oder „praedeterminatio"; —
und was besagt der Ausdruck „physica"?
Die Antwort wird gegeben sein, wenn wir den bereits an-
gedeuteten Irrtum zurückweisen. Wie allerdings hochangesehene
Autoren, zumal in der Neuzeit, einen solchen Irrtum offen aus-
sprechen und dabei noch voraussetzen lassen können, sie hätten
Thomas eingehend studiert, ist völlig unbegreiflich. Denn jede
Seite von Thomas, kann man sagen, dürfte es ihnen zum Be-
wufstsein föhren, wie schwer ihr Irrtum ist. Diese Autoren
nämlich halten den Ausdruck „determinare ad actum" üir
durchaus gleichbedeutend mit diesem andern „determinare ad
unum".
Ohne weiteres steht in Bd. IX Quartalh. 1 8. 171 der Inns-
bmcker Ztschril für kath. Theologie : „Bannez sagt : Dens cogno-
seit futura contingentia in suis causis, sed determinatis et
completis .... quatenus ipsae causae particulares subjiciuntur
determinationi et dispositioni divinae scientiae et voluntatis,
qoae est prima causa".
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150 Dio praemotio physica nach Thomas.
Und bald darauf: „Also Bannez sagt, Gott erkenne die
libera fntara in causis secandis nt sunt determinatae ad
nnum a causa prima'^ Man sohiebt wie selbstverständlich das
,,ad unum'' in den Text des Bannez ein; und hält also offenbar
das „determinare ad actum'' für gleichbedeutend mit ^^detenninare
ad unum'' in der Sprache der Scholastik.
Die civilis cattolica von Florenz schreibt ebenso (vol. XI,
Serie XII 1885 p. 413), wie wenn sich das von selbst verstände,
nachdem sie einen Text von G-onet zitiert hatte (tom. I clypens
Thom. Disp. 6 de sei. med.): „Daraus folgt, dafs, wer in den
Kampf gegen unsre (die molinistische) Schule wirklich eintreten
will, unbedingt zuerst die praedeterminatio ad unum (predeter-
minazione ad unum) verteidigen und die Definition der seien tia
media, wie Gonet sie giebt, annehmen mufs; denn wenn er die
predeterminazione ad unum bekämpt% so läfst er damit zugleich
die zuverlässige Kenntnis der bedingungsweise zukünftigen freien
Handlungen zu als unabhängig von den göttlichen Willens-
dekreten".
Eine solche Art und Weise zu disputieren bedeutet ebenso viel
wie den terminus technicus, von dem alles abhängt, unter der Hand
genau in sein Gegenteil verkehren und dann eine Menge Folge-
rungen daran knüpfen, die insgesamt das bekämpfte System zur Un-
möglichkeit machen. „Determinare ad unum" heifst bei Thomas
wie bei allen Scholastikern feststehend: So bestimmen, dafs die
Thätigkeit vom Wirkenden aus mit Notwendigkeit folgt.
„Determinare" oder „praemovere physioe" den Willen heifst: den
Willen so bestimmen, dafs vom Willen aus die Thätigkeit frei
ausgeht (vgl. I q. 14 a. 13). Es mufs das klargestellt werden.
Von welqher Ursache aus kann der geschöpf liehe Wille
seiner Natur nach in der Weise bestimmt werden, dafs er unter
der thatsäch liehen Bestimmung sein Vermögen behält, auch
das Gegenteil oder gar nicht thatsächlich zu wollen ; — also von
welcher Ursache aus kann er so bestimmt werden, dafs er von
sich aus, als einem Vermögen, nicht ad unum bestimmt ist?
Das ist präcis die Frage, um die es sich hier handelt Genügt dazu
er, der Wille selber, als Ursache — natürlich als beschränkte,
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Die praemotio physica nach Thomas. 151
da er geBchaffen ist — um im Akte das unbeschränkte Ver-
mögen aufrecht zu halten? Oder mufs diese bestimmende Ursache
in Gott, der unbeschränkten Thatsächlichkeit, gesucht werden?
Doch machen wir uns den Ausdruck „ad unum'*, was er
eigentlich bedeutet, noch gegenwärtiger; wie er so recht das
gerade Gegenteil ist von dem, was die Thomisten unter der prae-
motio physica gemäfs ihren eigenen Erklärungen verstehen. Wir
werden dann die ganze Tragweite des angedeuteten Irrtums er-
kennen und zugleich den Weg zur Überzeugung gewinnen, wie
allein die praemotio physica der Thomisten dem Charakter
des „Freien'' im Willen gerecht wird.
„Bestimmt sein nach einer Seite hin mit Ausschlufs jeder
andern", also esse determiuatum ad unum, bezieht sich zuvörderst
lediglich auf die Schranken, an welche das innere Vermögen
eines Dinges gebunden ist Das thatsächliche wirkliche Sein
kann diesen Schranken sogar entgegenstehen.
Das Feuer hat von Natur nur und einzig das Vermögen,
Wärme zu verbreiten mit Ausschlufs der Kälte und alles andren.
Der Stein kann, seiner Natur tiberlassen, nur fallen, nie in die
Höhe steigen. Der Mensch kann kraft seiner Natur nur dieses
eine, nämlich Menschliches, nicht Engelhaftes thun; gleichwie
die Pflanze nur Pflanzliches und das Tier nur Tierisches. Vom
inneren Vermögen aus ist hier die Schranke vorhanden.
Und da alles Vermögen innerhalb eines Dinges in dessen Natur
wurzelt, da das Tier nur eben Tier, der Mensch nur Mensch, der
Stein nur Stein ist mit Ausschlufs alles andren, so ist es mit
Notwendigkeit gegeben, dafs das betreffende Ding von sich aus
an solche bestimmte Aufserung in der Thätigkeit von vornherein
gebunden ist; es ist determiuatum ad unum und hat im Bereiche
des Geschöpflichen seinen natürlichen Gegensatz.
Das gerade Gegenteil ist beim freien Akte der Fall. Dieser
ist zuvörderst mit der menschlichen Natur in seinem thatsäch-
liehen Bestände nicht gegeben wie etwa das thatsächliche Sein
der Existenz des Menschen von dessen innerer Natur allein, von
keinem andern Vermögen nämlich, getragen wird. Der freie Akt
geht vielmehr von einem Vermögen aus und hat als ihn tragendes
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IS 2 Die praemotio physica nach Thomas.
Subjekt ein Vermögen, welches von sich aus auf keine be-
stimmte Richtung in seiner Thätigkeit angewiesen ist in der
Weise, dafs es nur dieses einzelne wollen könnte und jenes andre
einzelne nicht; wie das Feuer nur danach strebt zu brennen, nicht
z. B. danach, den Brand zu löschen. Das Willensvermögen ist als
Vermögen unbeschränkt. Es mufs zwar, soweit es dem be-
stimmten Menschen von Natur aus zugehört, das Gute wollen
tiir diesen Menschen, mag dieses Gute ein wirkliches oder ein
blofs scheinbares sein. Aber von allen Seiten her kann es
fiir den Menschen im einzelnen das Gute wollen , wie die Ve]^
nunft in allem es finden kann. Jetzt kann es den Hunger als
solches Gute im einzelnen Falle wollen, jetzt die Sättigung; nun
die Arbeit, nun die Ruhe; bald die Kälte, bald die Wärme.
Ebenso mufs das Willensvermögen wohl das Wahre, wenig-
stens dem äufseren Scheine nach, wollen als das Gute für das
Vernunftvermögen; denn von Natur ist es mit der Vernunft ver-
bunden. Aber wieder herrscht hier Unbeschränktheit für das
einzelne. Der Tod ist gleichermafsen Wahrheit wie das Leben,
der Schmerz ebenso wie die Freude, selbst die Sünde ist an und
für sich wahr, insoweit sie einmal besteht. Das Gleiche gilt
von den andern Vermögen. Der Wille will mit Notwendigkeit
die Farbe und nicht den Ton als das Gute für das Auge; den
Ton und nicht das Süfse als Gut für das Ohr. (Vgl. I, II q. 10
a. 1.) Aber gerade diese Notwendigkeit der Natur, welche sonst
das innere Vermögen einschränkt, wo sie für sich allein vorhan-
den ist, bildet, verbunden mit dem freien Willens vermögen im
Menschen, die Grundlage dafür, dafs ein bestimmter freier Akt
thatsächlich existiert, der in sich ein unbeschränktes
Vermögen einschliefst. Sie öfi'net das Thor zum wirklichen freien
Thätigsein, in welchem Bestimmtheit dem thatsächlichen Sein
nach notwendig und natürlich verbunden ist mit der unbeschränk-
ten Indifierenz dem Vermögen gemäfs. Nach einem ein-
zelnen bestimmten Gute strebt der Wille im freien Akte, aber
nicht so, dafs er nach einer bestimmten Seite hin von vornherein
im Vermögen gerichtet wäre, dafs er „determiniert sei ad
unum^'; er will z. B. die einzelne Farbe für das Auge so, dafs
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Die praemotio phydca nach Thomas. 153
auch alle andern Farben von ihm gewollt werden können; er
will das eine Wahre so, dafs damit durchaus nicht ausgeschlossen
ist, er könne auch alles andre Wahre von sich aus wollen.
Das determinare ad unum also bezieht sich niemals auf
das thatsächliche Sein oder auf das einzelne Gut, welches
im Augenblicke erstrebt wird; in diesem Sinne wäre ja auch
Gott determinatus „ad unum'', denn er ist dem Wesen nach
Thatsächlichkeity Er ist einzeln. Nein; es ist dies der terminus
technicus für ein beschränktes Vermögen innerhalb der Natur
eines Dinges, wonach dieses von vornherein eine Richtung auf
einzelnes hin hat, welche andre Richtungen ganz und gar aus-
schliefst, zumal die gegensätzliche. Und damit bezeichnet dieser
terminus technicus das gerade Gegenteil von einem in sich
freien, nach allen Seiten unbeschränkten Vermögen.
Dies wird noch deutlicher, wenn wir die Äufserung der
von vornherein, von der Natur selber nämlich gegebenen Be-
schränktheit eines Vermögens, einer potentia ad unum, nach zwei
Seiten hin erwägen. Ein solches Vermögen nämlich äufsert sich
zuvörderst kraft dessen, dafs es von einem andern beschränkten
Vermögen her bethätigt wird. Das Feuer hat das Vermögen
zu verbrennen; nicht auf alle Thätigkeit ohne Unterschied ist
sein Vermögen gerichtet; und dieses Vermögen hat das Feuer
von der Natur oder vom auctor naturae. Aber damit ist nicht
gesagt, dafs es dieses Vermögen immer äufsem müsse. Das ist
nicht mit seiner allgemeinen Natur gegeben. Insofern also in
dieser Thätigkeit des Verbrennens keinerlei Allgemeinheit und
ünbeschränktheit nach irgend welcher Seite hin gegeben ist,
genügt als bethätigender Grund dafür eine beschränkte Kraft
und ist keine allumfassende nötig; während dem Feuer das Ver-
mögen zu verbrennen unmittelbar von Natur zukommt, also von
Gott ihm gegeben ist. Das Feuer kann thatsächlich entzündet
werden vermöge verschiedener beschränkter Ursachen, und folge-
richtig kann es auch von beschränkten Ursachen wieder in seiner
Thätigkeit gehindert werden.
Die zweite Äufserung des „ad unum determinatum^' be-
zieht sich direkt auf das Gute. Ist das Feuer immer gut? Ist
Jahrbneh fDr Philosophie etc. I. Il
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154 Die praomotio physica nach Thomas.
es immer vom Übel? Es ist an sich weder das eine noch
das andere. Jegliches Wesen, dessen Natur ein ausschlielslich
nach einem beschränkten Seinskreise gerichtetes Können oder
Vermögen, dessen Natur also an und für sich von Yomherein
,,ad unum'^ ist, ist gut oder es ist vom Übel je nach dem es
gebraucht wird. Es schliefst den letzten allumfassenden End-
zweck nicht in sich ein. Es kann ihn vielmehr seiner Natnr
nach gar nicht in sich einschliefsen; denn sein Vermögen ist ein
durchaus beschränktes und nicht ein von sich ans indifferent auf
alles Grute oder alles Sein gerichtetes.
Nehmen wir, um dem eigentlichen entscheidenden Punkte,
der den Grunduntersohied bildet zwischen der Natur des freien
Aktes und der Natur aller andern Thätigkeit, näher zu treten,
ein Beispiel vom menschlichen Handeln selber. Du giebst ein Al-
mosen. Das klagende Wort des Bettlers dient dazu, deine Auf-
merksamkeit zu erregen. Du richtest die Augen auf ihn. Die
Augen dienen dann wieder, um die Münzstücke in deinem
Portemonnaie zu unterscheiden. Dies dient seinerseits der Hand-
bewegung, mit der das betreffende Stück ergriffen wird. Das
Geldstück dient der Abhilfe des Elends oder dem Geize oder
der Trunksucht etc. des Bettlers. Liegt in allem diesem das freie
Moment im Akte? Nein. Was frei ist, dient nicht Was frei
ist, das ist selbst Zweck. Was frei ist, wird nicht gebraucht,
sondern es braucht Andres. Was frei ist, schliefst in sich selbst
das endgiltig bestimmende Moment ein und wird nicht mehr
von aufsen her bestimmt zum Guten oder zum Übel. Warum?
Weil eben das freie Vermögen unbeschränkt ist, weil es schlechthin
auf alles Gute geht, also von einem „Andern" gar nicht gebraucht
oder benützt werden kann. Jene Thätigkeit des Ohrs, der Augen,
der Hände, jenes Darreichen des Geldstückes ist insoweit frei,
als es, wie Thomas in den ersten 20 Quaest der I II oft, z. B.
qu. 18 art. 6 sagt, „unter der Richtschnur der Vernunft auf den
Willen bezogen wird und somit auf das Gute im allgemeinen";
also , soweit gerade nichts Bestimmtes, nichts Be-
schränktes als Zweck gilt, insoweit einfach darin der Charakter
des Guten gefunden wird.
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Die praemotio physica nach Thomas. 155
Woher aber allein kann dann der den Willen in Thätigkeit
setzende Gmnd kommen , da der Wille von Natnr doch nur
Vermögen, Können ist, nicht aber rein thatsächliches Wollen?
Einzig nnd allein von demjenigen, von dem es heifst: ,,Einer
allein ist gut/' Von seiner einwirkenden Kraft allein kann der
Charakter des einfach Guten im Akte kommen, wie die Wärme
vom Feuer, das Leuchten vom Licht herrührt Von Ihm allein,
der wesentlich reine Thatsächlichkeit, reine Schrankenlosigkeit,
der seinem Wesen nach die Freiheit ist, rührt der Charakter
des „Freien'' in einer Thätigkeit; und soweit etwas frei ist,
soweit steht es unter der Einwirkung der reinsten Freiheit. Nur
was Licht ist, kann leuchten. Eine Kraft, die von 100 Pfund
gehoben wird, kann kein Gewicht haben von 1000 Pfund. Eine
irgendwie beschränkte Kraft kann nicht ein Vermögen in Be-
wegung setzen, was seiner Natur nach schrankenlos ist.
Es ist dies ein grober Irrtum, den Molinismus als der Frei-
heit günstig hinzustellen. Gerade der Molinismus macht aus dem
Willensvermögen ein von vornherein „ad unum" Determiniertes.
Er ist, sowohl von seiner positiven als auch von seiner negativen
Seite aufgefafst, der Tod aller Freiheit
„Nehmen wir als Beispiel," so noch neulich der bereits citierte
Art. der civ. catt., „einen Vater, der zwei Söhne hat, die nicht
zur Schule gehen wollen. Er kann nun beide beim Arme nehmen
und sie so zur Schule fuhren. Oder er kann dem einen, von
dem er weifs, dafs er die Vögel liebt nnd nicht den Honig,
einen Vogel versprechen; und dem andern, von dem er weifs,
dafs er den Honig liebt und nicht die Vögel, kann er Honig
verheifsen; und so werden beide freudig zur Schule gehen. Gott
also, der da mit zweifelloser Gewifsheit weifs, unter welchen
Umständen und kraft welcher Lockispeise jeder Mensch der Gnade
zustimmt, gibt jene Gnade, welche den besonderen Neigungen
entspricht'' Aber was ist denn die Gaumenlust oder jede andre
solcher Leidenschaften, welcher sich nach dieser Auffassung die
bestimmende Gnade anpassen soll, anders als eine von vorn-
herein gegebene Hinneigung zu einem beschränkten Seins-
kreise mit Ausschlufs andrer und zumal des gegenteiligen, eine
11*
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156 Die praemotio phjsica nach Thomas.
Yollatändige determinatio ,,ad unum^' im Vermögen des Wollenden
selber! Was ist diese Leidenschaft anders als ,,der Arm des
Yaters'^ der den an sich durchaus von Natur indifferenten Willen
zur Thätigkeit mit Gewalt fuhrt und dabei noch von der Gnade
unterstützt werden soll! Solchen Leidenschaften soll der Mensch
kraft seiner Freiheit eben gerade widerstehen.
Sann denn auch nur überhaupt von der Natur des Willens
als eines Vermögens die erstbewegende Kraft zum bestimmten
einzelnen Akte ausgehen? Nein; denn die Natur dieses Ver-
mögens ist es eben, für alles Gut im einzelnen indifferent
zu sein. In demselben Augenblicke, wo der Wille einzig kraft
seiner Natur auf ein einzelnes Gut von Yornherein gerichtet ist,
mufs er dies sein und ist er nicht mehr frei; er ist ,,ad unum'^
Oder kann von der menschlichen Natur etwa die Be-
thätigung des freien Willens, d. h. die thatsächliche Richtung
desselben auf ein einzelnes beschränktes Gut mit dem Vermögen
zugleich, alle andern Güter zu begehren, ausgehen? Nein; denn
abgesehen davon, dafs auch in diesem Falle Notwendigkeit ein-
träte, insofern, wo die Natur als solche einfliefst, Notwendigkeit,
das „ad unum^' eben, die Folge ist, kann unmöglich von einer
beschränkten Kraft als der Ursache ein unbeschränktes
Vermögen angemessen in Bewegung gesetzt werden. Die mensch-
liche Natur aber ist offenbar als wirkende Ursache eine be-
schränkte Kraft; und hat vielmehr von der Vernunft und dem
freien Willen die Vollendung zu erwarten, als dafs sie diese
beiden Vermögen durch deren Bethätigung vollenden könnte.
Kann im allgemeinen von einer geschöpf liehen Kraft
die Bethätigung des freien Willens ausgehen? Offenbar nicht
Denn entweder wirkt diese Kraft mit Freiheit oder nicht. Im
ersten Falle kehrt die Frage für diese einwirkende Kraft wieder;
im zweiten, kann aus einer Ursache, die mit Notwendigkeit
wirkte nicht das freie Moment im Akte kommen.
Der Molinismus möchte allen diesen Schwierigkeiten aus dem
Wege gehen dadurch, dafs er sich ganz auf die Negation
zurückzieht. Er verwickelt sich aber da noch mehr in Schwierig-
keiten und macht damit um so mehr den freien Willen zu einem
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Die praemotio physica nach Thomas. 157
Yon Yomherein determinierten „ad nnnm''. Die BeBtimmung zum
Guten im allgemeinen, dem bonnm commune oder dem letzten
Endzwecke, soll von Gott kommen; der Wille aber soll sich dann
durchans selber zum einzelnen besondren Gate bestimmen. Die
Wirkung Gottes soll demgemäfs der Wind sein, der das Schiff
des freien Willens treibt. Dafs aber dieses Schiff in Brindisi
ankommt und nicht in Ancona, zum wahren Tugendakte der
Barmherzigkeit im Almosengeben gelangt oder zum Laster der
Eitelkeit; das sei durchaus dem freien Willen geschuldet.
Also die Anwendung der von Gott verliehenen Kraft,
die Leitung und der Gebrauch derselben im bestimmten ein-
zelnen Falle zur Tagendübung oder zum Laster, kommt eigens
Yom freien Willen des Geschöpfes; wie der Same der Pflanze
an einer gewissen Stelle des Bodens die leitende Ursache bildet,
dafs an der gewollten Stelle die Kraft der Sonne im besondren
eine Pflanze zeitigt, während diese nämliche Kraft an einer
andern Stelle aus ähnlichem Grunde ein Tier hervorbringt.
Wir fragen: Ist der Wille mit natürlicher Notwendig-
keit auf das Gute im allgemeinen, das bonum commune, ge-
richtet? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Also kommt
nach dieser Ansicht das notwendige Moment im Willensakte,
sagen wir vielmehr die Erhaltung der Natar des Willens von
Gott, was ja niemand leugnet. Woher kommt aber dann das
freie Moment, nämlich dafs der Wille nun lieber auf dieses
einzelne Gut als auf jenes sich richtet? Etwa von dieser Be-
ziehung auf das Allgemeine? Unmöglich. Denn gemäfs dieser
Beziehung hat der Wille gerade soviele Neigung zu diesem wie
zu jenem einzelnen Gute; eine solche Beziehung ist eben nichts
andres als das Willensvermögen selber mit seiner natürlichen
positiven Indifferenz für alles einzelne Gut. Hier beginnt die
Negation jeglichen Grundes für den ireien Akt. Der freie Akt
soll ein Geschöpf Gottes sein; und grade dafs er „frei'' ist, dies
käme nicht von Gott Der freie Akt* soll vom unbeschränkten
Willensvermögen herrühren; und dieses „unbeschränkte'', also
von Natur in sich notwendig bestimmte Vermögen soll ohne
weiteres in sich ftir den einzelnen Fall die Selbstbestimmung
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158 Die praemotio physica nach Thomas.
finden. Gottes, des Allmächtigen, Kraft soll der treibende
Wind sein; nnd das Steuerräder ftir diese allgewaltige Kraft
hält der geschöpfliche Wille!
Wir fürchten, dafs gerade bei der letztgenannten Aosicht
weitgehende Aeqaiyoka eine grofse oder die entscheidende Rolle
spielen. Comoldi fiigt dem Bilde des Schifies nnd des Windes
(Facademia Komana di S. Tomaso, periodico 1884) die Worte
hinzu: „Freilich ist das Bild unvollkommen, denn das Positive im
Akte des Steuermannes kommt nicht vom Winde; während die Aus-
wahl des einzelnen Gutes selber vor einem andern, soweit darin
etwas Positives sich findet, von dem Antriebe herrührt, den
der Wille kraft seiner Natur zum Guten im allgemeinen hin besitzt''
Soll das heifsen: Die Natur des Willens selber schliefst in
sich ein, dafs von jener Kraft her, welche ihr die natürliche Hin-
neigung zum bonum commune, also die Indifferenz ftir alle ein-
zelnen Güter, eingeprägt, ihr auch die positive Bestimmung werde
zu einem einzelnen Gute, so dafs dieses einzelne Gute erstrebt
werde auf Grund des bonum commune? Dann sind wir einig!
Diese Kraft, welche die positive Bestimmung für den einzelnen Akt
gibt, ist dann eben die praedeterminatio physica, kraft deren
die erste Ursache als unumschränkte es dem Willen im einzelnen^
Falle ermöglicht, nach einem gewissen besonderen Gute thatsäoh-
lich zu streben, und doch die Indifierenz ganz unumschränkt
für alle einzelnen Güter dem Vermögen nach zu behalten.
Sollen aber die Worte Cornoldis nur der Mantel sein, der die
Blöfse der Grundlosigkeit seiner Meinung verdeckt, als ob der Wille
rein aus sich heraus ganz unabhängig für das einzelne besondere
Gute sich bestimmte, so ist es verdienstlich, diesen Mantel hinweg-
zuziehen und zu zeigen, wie es nicht genügt, blofs Worte zu
gebrauchen, damit man dem Satze gerecht werde, dafs alles was ist,
geschaffen ist von Gott, sondern wie auch der Inhalt der Worte
und die daraus gezogenen Folgerungen diesem Satze thatsächlich
entsprechen müssen. Entweder kann Gott nur Notwendigkeit
wirken ; — dann ist der freie Akt als solcher nicht von Gott, ist
überhaupt ohne Ursache. Oder Gott wirkt das „Freie" im Akt;
— dann geht von Ihm die praemotio physica aus.
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Die praemotio physica nach Thomas. 159
Freilich sagt Thomas sehr oft, dafs ionerhalb des freien
WUlenBaktee die Wirkung Gottes recht eigentlich in der Kichtung
des Aktes auf das bonum commune bestehe; darin nämlich, dais
der Akt im allgemeinen und ohne weiteres als ein „guter'' be-
zeichnet werde. Wir geben dies gern den Gegnern zu. Aber
folgt daraus das, was sie folgern möchten? Keineswegs. Es
bestehen nicht 2 gesonderte Elemente im Willensakte, das bonum
commune und das Erstreben eines einzelnen Gutes, als ob mau diese
beiden Elemente trennen könnte wie Leib und Seele. Vielmehr
ist der einzelne besondre Willensaki ein guter, insofern, und
nur insoweit, als er in seinem ganzen Einzelbestande positive
Beziehung hat zum Guten im allgemeinen, insoweit also das einzelne
Gut erstrebt wird auf Grund des Guten an sich und nicht auf Grund
von etwas andrem, Beschränktem. Kann ich etwa sagen, mein
Auge sieht das Weifse im allgemeinen an der Wand und meine
Hand fühlt die Dicke im allgemeinen? Nein. Mein Auge sieht
die weifse Wand als einzelne; und soweit diese einzelne Wand
weifs ist, soweit sieht sie mein Auge; und ähnlich verhält es
sich mit dem Gefühle.
Was im einzelnen freien Akte bedingungslos gut ist,
das ist in erster Linie der einwirkenden Kraft Gottes ge-
dankt. Im Auswählen des besondren einzelnen Gutes macht sich
die Beziehung zum Guten an sich geltend als die an erster Stelle lei-
tende Norm; das nun eben rührt vom Einflüsse Gottes her. Nehmen
wir das obige Beispiel. Das Almosengeben ist etwas Gutes; —
das ist unmittelbar von Gott Ich will das Gute d. i. meine eigene
Vollendung; — das ist unmittelbar von Gott. Ich wähle auf
Grund dessen das Almosengeben; — was in diesem meinem
besondren Wählen gut ist, d. h. wirklich das Gute als Be-
weggrund hat; das ist unmittelbar und insoweit von der Kraft
Gottes. Ich nehme die Münze, ich gebe sie dem Bettler, ich
bin zufrieden wegen meines guten Werkes, — was darin gut
ist bis ins einzelste hinein, ist unmittelbar von Gott und erst
auf Grund von dessen Einwirken wirke ich bis ins einzelste
hinein. In diesem Sinne ist das bonum per se, das, was bedin-
gungslos „gut'' genannt wird, das bonum commune im Akte, die
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160 Die praemotio phjsica nach Thomas.
eigenste Wirkung Gottes. Das bonum commune, der finis
ultimus ist kein Phantom, was beiseite steht; und nebenbei etwa
läuft der besondre freie Akt. Der freie einzelne Akt selber ist
eben etwas Gutes; und er ist dies, soweit er dem Einwirken
Gottes gemäfs sich vollzieht. Er fallt ab vom Charakter des
Freien und vom Charakter des Guten, sobald er Ton diesem
Einwirken des Guten und des Freien an sich abfallt
Dafs ich aber das Gute wollen kann und dafs ich im
einzelnen Falle auch das, was in der Wirklichkeit ein Übel und
nur dem Scheine nach ein Gut für mich ist, wollen kann; —
das ist von mir. Dafs ich ein einzelnes Gut thatsächlich erwähle
und dadurch zugleich ein andres Gut für diesen freien Akt Yon
meinem thatsächlichen Streben ausschliefse; — das, diesea
Negative, ist von mir; ich will damit nicht das einzig volle
Gut. Dafs ich mehr Gutes erstreben kann und weniger, eifriger
thätig sein kann und minder eifrig, mit einem Worte, was an
meinem Akte an Entwicklungsfähigkeit, an UnvoUkommenheit^ sich
findet, und zumal was darin vom Guten sich entfernt; — das ist
von mir bis ins einzelnste hinein, das ist von meinem Ursprünge
aus dem Nichts, von dem Charakter meines Willens als eines
einfachen Vermögens.
Setzt der Schreiner das Thor in ein Gebäude ein gemäfe
dem Plane des Baumeisters, so ist an diesem Thore alles, was
dem Plane entspricht, bis ins einzelnste, bis in die Auswahl des
Holzes hinein an erster Stelle der einwirkenden Erafl des all-
gemeinen Planes geschuldet; und erst auf Grund dieser Kraft
ist der Schreiner thätig gewesen. Was aber vom Plane sich,
entfernt, das rührt von der mangelnden Kunst des Schreiners
her und nicht vom Architekten.
Ähnlich ist die praemotio physica der erste einwirkende
Grund, dafs der Mensch im freien Akte etwas thatsächlich Freies
und thatsächlich Gutes wirkt; erst durch sie wird das Willene-
vermögen lebendig. Denn diese praemotio geht aus vom wesent-
lich Freien und Guten. Was an thatsächlich Gutem in einem
solchen Akte sich vorfindet, das alles rührt von der praemotio
physica her. Und ebenso rührt es von ihr her, dafs der ^ie Akt
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Die praemotio physica nach Thomas. 161
dem Menschen thatsächlich als freier zogehört. Denn sie hat das
freie, unumschränkt indifferente Vermögen bethätigt, so dafs nun
der Mensch wirklich thät ig ist, der da vermochte oder in dessen
Vermögen es war, frei thätig zu sein. Es kann aber die ein-
wirkende Kraft des Schöpfers für den freien Willen ebensowenig
etwas „andres'^ etwas „Äufserliches^^ „Fremdes" sein, wie das
künstlerische Schaffen des Raphaelschen Pinsels fnr die Sixtinische
Madonna ein „alind", ein „extranenm", „alienum'' ist; oder wie
die leuchtende Kraft der Sonne für das erleuchtete Zimmer
„fremd'' ist. Eben weil der freie Wille kein Vermögen ist, das
„ad unum" determiniert wäre, kann nur die praemotio physica
Ton Seiten Gottes, der seiner Natur nach an nichts andres wie an
sich selbst gebunden ist, den Willen dessen Natur und geschöpf-
liche Vollendung angemessen bethätigen. Gott, der in der Natur
eines Dinges als solcher wirkt, ohne dafs diese Natur aufhört, dem
betreffenden Dinge als eigenstes Eigen zuzugehören; Er wirkt
in der Natur des freien Willens die freie Thätigkeit, die
Richtung auf ein einzelnes Gut, und Er steht somit innerhalb des
freien Willens als erster Grund und letzter abschliefsender Zweck
da, wegen dessen alles andre Gut erstrebt wird, ohne dafs der
freie Wille aufhört, die entsprechende Thätigkeit als seine freie,
eigene betrachten zu dürfen. Vielmehr gerade wegen dieser
Einwirkung gehört der freie Akt als freier dem Willen. Denn
nur wer hat und wer will, kann zu eigen geben. Nur wer die
ewige Liebe und die ewige Freiheit ist, kann Freiheit geben; und
insoweit ist die Thätigkeit frei, als sie dieser Quelle entstammt.
b) Die Notwendigkeit der praemotio physica und ihre
Fruchtbarkeit für das freiheitliche Wirken wird sich noch mehr
herausstellen bei Betrachtung ihrer Beziehungen zu Gott, zur
Aufsenwelt, zum Willen selber.
l. Die Molinisten finden in Thomas eingestandenermafsen
ihre Ansichten nicht offen ausgesprochen und meinen deshalb,
wie dies Schneemann, die civ. catt. und ähnliche Publikationen
ohne weiteres thnn, Thomas sei rücksichtlich dieses Punktes der
praedeterminatio physica und der damit zusanjuenhängenden
acienda media nicht znr Klarheit gelangt. Wir erwidern darauf.
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162 Die praemotio physica nach Thomas.
dafs es sich hier um den Knotenpunkt in der Lehre des heil.
Thomas handelt. Wer hierin dem h. Thomas nicht folgt, für
den mufs der Kest seiner Lehre durchaus unverständlich sein.
Wenige Bemerkungen werden darthun, wie die praemotio
physica hineinreicht und hineinreichen mufs in die Lehre von
Gott, von den Geschöpfen und speziell vom Willen.
Wir haben oben gesehen, wie von Molina der allgemeine Ein-
üufs Gottes auf das Geschöpf liehe dem der Sonne gleichgestellt
ward, so dafs die von Gott ausströmende Allgemeinheit des Ein-
wirkens durchaus in sich gleichartig sei für alle Geschöpfe und
die Verschiedenheit derselben von diesen letzteren selber ausgehe,
die da gemäfs der verschiedenen Verfassung ihres Seins den Ein-
flufs Gottes „modifizierten'^
Nichts kann in solch' einschneidender Weise gegen die Lehre
des h Thomas sein. Man lese nur, um dieses Urteil bestätigt
zu finden, alle Artikel in seinen Werken, wo er über den Ur-
sprung des Unterschiedes in den Dingen, über die Ursache des
Einzelseins der Dinge, über die Art und Weise, wie die Engel
das Einzelne erkennen, handelt (z. B. I qu. 47, 45, 57)! Folgendes
enthält kurz die leicht verständlichen und den bestehenden That-
Sachen der Natur entsprechenden Grundprinzipien der genannten
Lehre nach dieser Seite hin.
Was ist in jedem Geschöpfe zu unterscheiden? Das all-
gemeine Moment und das einzelne Wirklichsein. Jenes ist
durch die Gattung, resp. die innere Wesenheit des Dinges
vertreten; dieses durch die Einzelexistenz. Das Gattungs-
wesen oder das Formalprinzip im Dinge enthält den Grund
dafür in sich, dafs das betr. Ding z. B. auf der Seinsstufe des
Steines, der Pflanze, des Menschen steht; es ist also das Prinzip
dessen im Dinge, was dieses mit vielen andern gemeinschafllioh
hat und mit endlos vielen gemeinschaftlich haben kann. Dafs
der einzelne Mensch Vernunft hat, freien Willen, Ohren, Augen
u. s. w., dafür ist im Menschen selber der ausreichende Grund
seine innere Gattungswesenheit.
Besteht nun im Wesen oder in der Natur des Menschen
ein ausreichender Grund auch dafür, dafs er grofs oder klein.
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Die praemotio physica nach Thomas. 163
dumm oder gescheit, tugendhaft oder lasterhaft ist? Gewifs
nicht. Denn die Natur oder das Wesen ist in jedem Menschen
ganz das gleiche. Und auch in der Gesamtheit der auf den
einzelnen Menschen einwirkenden äufseren Ursachen innerhalb der
sichtbaren Natur besteht kein ausreichender Grund für die er-
wähnte Verschiedenheit im einzelnen. Im selben Lande, mit der
gleichen Nahrung, in der nämlichen Familie bestehen die genannten
Unterschiede. Für das einzelne Wirklichsein also besteht
im Bereiche des Geschöpf liehen kein ausreichender, alle uud jede
Einzelheiten, ans denen die entsprechende Wirklichkeit sich zu-
sammensetzt, Tollständig rechtfertigender Grund.
Gerade dieses Wirklichsein scheidet nun aber die Ge-
schöpfe einerseits; und ist andrerseits der Träger oder das Subjekt
alles allgemeinen Vermögens im Geschöpfe. Somit ist, da im
Bereiche des Geschöpflichen kein ausreichender Grund für das
einzelne Wirklichsein der Diuge sich findet, von seiten des Ge-
schöpflichen alles Wirklichsein „grundlos^' und somit ist dies auch
die thatsächliche Grundlage alles bestehenden Möglichseins. Was
aber „grundlos'^ ist, das ist überhaupt nicht. Denn nichts be-
steht ohne ausreichenden Grund. Leugnen also, der Unterschied
im einzelnen Bestände der Geschöpfe käme, gerade soweit das
Einzelnste an sich in Betracht kommt, unmittelbar von der ein-
wirkenden Ursächlichkeit Gottes, heifst ebenso viel als das ab-
solute Nichts behaupten oder den Geschöpfen den Charakter des
Geschöpf liehen nehmen; jegliches Ding zu absolutem Sein stempeln.
Dem heil. Thomas nun ist es eigen, dafs er bei jeder Ge-
legenheit behauptet und zwar mit entscheidendster Schärfe, das
einzelne Wirklichsein in den Dingen, also das sie an letzter
Stelle endgiltig von einander unterscheidende Moment, sei das
Ergebnis des unmittelbaren Einwirkens Gottes; Gott wirke nicht
em nebelhaftes allgemeines Sein, sondern eben die Einzel-
existenz uud zwar sei dies vor allen andern Ursachen sein
eigenstes Prärogativ und auf Grund dessen erst beständen oder
verleihe er die allgemeinen, die gemeinschaftlichen Vermögen.
Nun ist es wiederum bei Thomas feststehender Grundsatz,
das Gute sei gerade das Einzelsein, das Wirklichseiu ; nur
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164 Die praemotio physica nach Thomas.
als einzeln in der Wirklichkeit bestehend sei etwas erstrebbar
und nur danach sei etwas mehr YoUendet als es mehr Wirklich-
sein hat (desideriam boni trahit ad extra). Also eben die freie
Thätigkeit als die yollendetste unter allen beruht am meisten
auf dem Einwirken Gottes in den Willen hinein und wird erst
ermöglicht durch diese. Sie wendet sich ja als freie, als gute
gerade auf das, was vom Geschöpflichen aus keinerlei ausreichen-
den Grund hat Soll sie demgemäfs nicht eine YÖllig grundlose
d. h. nichtige sein, so mufs ihr erster Grund Gottes Ein-
wirken, es mufs der in Gottes Willen enthaltene Grund sein.
2. „Das Wirklich e, Einzelne im Dinge", so von neuem Thomas,
„ist der unmittelbare Gegenstand des vernünftigen Erkennens;
aber unter der Richtschnur des allgemeinen Formalgrundes im
Dinge/' Dieser Grundsatz ist die nämliche, eben festgestellte Wahr-
heit vondenDingenaus. Wonach leitet die menschliche Vernunft
die Dinge und erkennt dieselben? Was tritt von den Dingen aus
in die Vernunft als mafsgebendes Erkenntnisprinzip V Das allge-
meine Wesen. Ich erkenne den Menschen vernünftiger Weise,
insofern ich weifs, was er als Mensch, was er seiner Hatur nach ist
und kann. Warum der eine Mensch grofs, der andere klein ist;
— der Grund überhaupt für das Einzelne entflieht meiner Ver-
nunft. Da aber Vernunft ebensoviel heifst wie infolge des Grundes
erkennen, so gibt es für unsere Vernunft rücksichtlich der
Einzelheiten als solcher keine vernünftige Erkenntnis. Der Sinn
vielmehr erkennt das Einzelne an sich; ohne den Sinn könnte
die Vernunft das Einzeln- Wirkliche, auch nicht unter der Richt-
schnur und auf Grund des allgemeinen Formalprinzips, der
Wesenheit nämlich im Dinge, erkennen. Nur vermittelst der Er-
fahrung kann auch das Einzelne als solches ein Mittel für
die reine Wissenschaft werden. Das ist die Ursache, weshalb
Thomas erklärt, die Engel, die keine Sinne haben, erkannten das
Einzelne nur wegen des besondren Einwirkens von selten Gottes
in ihre Vernunft, der ja den ausreichenden Grund alles einzelnen
Wirklichseins in seinem Willen enthält; und demgemäfs sei ihre
Erkenntnis des Einzelnen als solchen mit Rücksicht auf den in
Gott enthaltenen Grund eine rein vernünftige, d. h. durch den
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Die praemotio phydca nach Thomas. 165
\
Grand yennittelte; nicht ein blofses äarserliches Anschauen wie
bei uns.
Da nun also die Dinge einerseits als den Grund der Er-
kenntnis und resp. der Leitung derselben unsrer Vernunft nur
ihr allgemeines Wesen yermitteln, nicht aber warum sie so gerade
im einzelnen sind und nicht anders, wofür sie ja das marsgebende
Prinzip keineswegs in sich haben; — da andrerseits unser freier
Wille nur nach Richtschnur der menschlichen Vernunft wollen
kann, soll er nicht gegen seine eigene Natur wollen und somit
Ton dieser abfallen ; — da zudem sein Wollen auf das Einzelne,
Wirkliche geht als Einzelnes, Wirkliches, nämlich als Gutes;
— so ist es klar, dafs er in sich selber kein vollendetes Prinzip
für das Wollen hat, sondern nur, wie Thomas oben sagte, ein
„principinm incorapletum^' und dafs dieses principium incom-
pletnm, das blofse Können, erst ein completum wird, und zwar
Yon den Dingen selber aus betrachtet kraft der Einwirkung
Gottes, d. h. kraft der praemotio physica.
3. Ganz dasselbe Ergebnis erhalten wir, wenn wir die Be-
ziehung der praemotio physica zum geschöpflichen Willen er-
wägen. Oder was bildet denn die Natur des Willensvermögens ?
Dielndifferenz botrefifs jeglicheneinzelnenGutes, soweit dieses
beschränkt ist Der Grund davon ist eben gesagt. Die Dinge
vermitteln der Vernunft nur ihr allgemeines inneres Wesens-
prinzip, dessen Allgemeinheit in dem Vermögen besteht, endlos
vielen Dingen seine nämliche Gattungs- Seinsstufe zu geben mit
voller Indifferenz für das Grofse oder Kleine, für Zeit und Ort etc.
in der einzelnen Wirklichkeit. Denn, sagt Thomas, „radix oder
principium liberi arbitrii est in ratione/'
Entspricht es deshalb dem freien Akte, dafs der Mensch
bei irgend etwas Beschränktem stehen bleibt ? Nein ; soweit der
freie Akt von der menschlichen bewufsten Thätigkeit abhängt,
mats er dahin enden, dafs der Mensch immer mehr, immer
weiteres Gute will. Der thatsächliche Akt mufs die Indifferenz
im Willensvermögen offenbaren, bethätigen, stärken, vermehren
und dadurch den Willen in seiner Natur vollenden. Aber nicht
nur um das freie Willensv ermögen, allein für sich betrachtet.
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166 Die praemotio physica nach Thomas.
handelt es sich. Dieses Vermögen ist vielmehr nnr ein Mittel
für die Vollendung der im einzelnen Menschen befindlichen
menschlichen Natur. Und diese nun als in aller einzelnen Be-
stimmtheit bestehende kann nur durch eine Thätigkeit vollendet
werden, welche solche einzelne Bestimmtheit in sich einschliefst
Da jedoch letztere für den einzelnen Willensakt weder vom Willen
kommen kann, der seiner Natur nach reines Vermögen ist; noch von
der menschlichen, einzeln bestehenden Natur, die ja eben vollendet
werden soll; — so kann sie einzig und allein der einwirkenden
allumschliefsenden Kraft der ersten Ursache gedankt werden.
Es finden sich sonach im freien Akte folgende drei Beziehungen:
1. zu Grott als der ersteinwirkenden, alles andere Thätigsein
nach jeder Seite hin ermöglichenden Ursache; — und danach ist
gemäfs der Natur Gottes als der wesentlich einzelnen, wirk-
lichen, allseitig von sich aus bestimmten Ursache der einzelne
freie Akt ein in Ewigkeit bestimmter, Lohn oder Strafe
verdienender, je nach dem der Wille gemäfs der Vernunft
als dem ihm zugänglichen Grunde gehandelt und so in seinem
Bereiche der einwirkenden Kraft Gottes eutsprochen hat oder
nicht; 2. zum Willen selbst; — und insoweit ist im freien Akte
die Möglichkeit weiterer Entwicklung oder weiteren
Fallens; 3. zur Aufsenwelt; — und danach dient, wie beim
obigen Beispiele des Almosengebens gezeigt worden, das Mate-
riale im freien Akte andern Zwecken.
Nun können wir ermessen, wie mit Recht oben gesagt worden,
der Molinismus benenne nur Widersprüche und Unmöglichkeiten,
die seinen Abschlufs bilden, mit dem erhabenen Worte „my-
sterium".
„Gott erkenne zwar die freien Akte mit Gewifsheit durch
die scientia media'', so wird gesagt, „aber wie er sie dadurch
erkenne, das sei ein mysterium.'' Die Sache verhält sich viel-
mehr so. Die Molinisten sagen, im Willen resp. in den Um-
ständen, in *den geschöpf liehen Dingen oder in ähnlichen „media''
erkenne Gott die freien Akte; nicht vermittelst seines eigenen
Willensbeschlusses und demnach nicht in Sich selber. Zugleich
aber sagen die Molinisten wie wir, der geschöpf liche Wille sei
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Die praemotio physica nach Thomas. 167
seiner Natur nach indifferent, könne von Natur aus so und
auch anders, biete also seiner Natur gemäfs keine Gewifsheit für
eine zuverlässige Kenntnis. Ebenso seien die Dinge allein ihren
Formalprinzipien gemäfs den Geschöpfen erkennbar; diesen
Formalprinzipien aber gemäfs seien sie indifferent für das
Einzeln- Wirkliche, könnten so sein oder anders in der Wirklich-
keit, böten also vom Bereiche des Geschöpflichen aus keine für
etwelche zuverlässige Erkenntnis erforderliche Bestimmtheit. Gott
sehe demgemäfs im Geschöpfe die freien Akte; — und das Ge-
schöpf könne seiner eigensten Natur nach für eine solche
Kenntnis die Grundlage keineswegs in sich enthalten. Das ist
Widerspruch und nicht mysterium.
Gott sieht z. B., so im bereits erwähnten Falle, mit abso-
luter Gewifsheit vorher und zwar vom Willen des Knaben aus,
dafs er der Anziehungskraft des Honigs folgen und in die Schule
gehen werde. Der Wille des Knaben aber ist von Natur frei,
widerstreitet also positiv, eben seiner von Gott gegründeten Natur
nach, einer solchen Zuverlässigkeit und Bestimmtheit für die Kennt-
nis. Da liegt kein mysterium vor, sondern Widerspruch.
Der Thomismus mündet im wirklichen, lichtspendenden my-
sterium; in jenem mysterium, welches über alles Sein ausge-
breitet ist, alles erhält und regiert und als mysterium von
niemandem mifsverkannt werden kann, — im mysterium nämlich
des innerlichen Willens Gottes. Alles Einzelne als solches,
wie wir gesehen haben, altes Wirkliche hat in diesem mysterium
seinen allein ausreichenden Grund. Warum hat Gott nur eine
Welt geschaffen und nicht tausend? Warum nicht, anstatt vor
6000 Jahren, vor Millionen von Jahren? Warum hat er diesen
Stoff zur Sonne geformt und. jenen zum Sandkorn? Darauf gibt
die Vernunft selber die Antwort, dafs dies ihrer Forschung
nicht unterliegt. Denn nur insoweit in den Dingen allgemeine
Formalprinzipien, Wesenheiten sich finden, sind sie ihr zugäng-
lich ; nicht aber ist Wissensgegenstand , warum sie gerade zu
dieser Zeit begonnen haben und nicht zu jener, gerade hier sind
und nicht dort Dieses mysterium drücken Augustin, Gregor d. Gr.,
Anselm, Thomas, Bonaventura etc. mit den Worten aus: „Warum
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168 Die praemotio physica nach Thomas.
Gott diesen zur Seligkeit beruft ans Barmherzigkeit und jenen
nicht aus Gerechtigkeit; das wolle nicht erforschen, wenn du
nicht irren willst/' Und Paulus sagt im selben Sinne: „S^^i^^n^
Willen wer kann ihm widerstehen;'' und der Psalmist: „Schreck-
voll sind die Batschlüsse Gottes betreffs der Menschenkinder.''
III.
AnscMufa an Thomas*
Wir können uns nun im Nachweise, dafs die thomistiscfae
praemotio physica dem h. Thomas geroäfs sei, nach dem bereits
Gesagten kurz fassen. Gleichwie das Wirklichsein der Existenz als
Ergebnis des unmittelbaren Einwirkens Gottes nicht die geschöpf-
liche Substanz beengt, sondern sie erst zur Geltung und zur
Entfaltung ihrer Vermögen bringt; so gibt das Einwirken Gottes
auf den Willen dessen Thätigkeit erst die rechte Weite, den
Charakter des Guten und Freien.
Wir verweisen auf die ausfuhrlichen zahlreichen Citationen
aus Thomas, mit denen P. Dummermuth die thomistische prae-
motio als die des Engels der Schule mit Ausschlufs jeden
Zweifels darlegt. Nur wollen wir einen Hinweis geben, nach
welchem der Leser in der Lektüre des h. Thomas selbständig
verfahren und die einzelnen Stellen des h. Kirchenlehrers leicht
beurteilen kann; wir werden daran zwei Stellen schliefsen, welche
in aller Kürze und Schärfe die vorgetragene Meinung enthalten.
In III de pot 7 unterscheidet der h. Kirchenlehrer einen
vierfachen Einflufs Gottes in die Thätigkeit des Willens und
überhaupt der Natur.
I. „Gott ist die Ursache aller. Wirksamkeit der geschöpf-
lichen Ursachen, weil Er ihnen jene Kräfte gibt, vermöge deren
sie wirken;" quia dat illis virtutes, per quas agere possunt
II. „Gott ist die Ursache der Thätigkeit eines jeden ge-
schaffenen Thätigseienden (cujuslibet agentis creati), weil Er die
verliehene Kraft erhält;" quia collatam eis virtutem conservat
III. „Gott ist die Ursache aller geschöpf liehen Thätigkeit,
insofern Er die geschöpfliche Kraft in Bewegung setzt und
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Die praemotio physica nach Thomas. 169
zam Thätigeein hinwendeV' ut movens et applicans virtutem
earum ad agendum.
IV. y,6ott ist die Ursache aller Thätigkeit im Bereiche des
Geschaffenen^ insofern jedes geschaffene Thätigseiende ein Werk-
zeug ist in der Hand der göttlichen wirkenden £raft/' prent
qnodlibet agens est instmmentnm divinae virtutis operantis.
Danach bestimmt Thomas das Einwirken Gottes nach 2
Seiten hin: 1. insofern das Geschöpf die Kraft hat, vermittelst
deren es thätig ist; diese gibt Er und erhält Er nach I und
ü; — 2. insofern das Geschöpf wirklich thätig ist; hier setzt
Gott in Bewegung und verbindet mit der Wirkung die
verliehene Kraft, wie der Künstler das Werkzeug mit der Wirkung
verbindet nach UI und IV. Somit genügt es an andern Stellen,
wenn der h. Lehrer von den beiden erstgenannten Einflüssen,
von I und II, nur einen erwähnt; und von den letzten beiden,
von m und IV, auch nur einen. Denn der eine setzt den andern
voraus. So sagt er I, II q. 109 art. 1: ,4)a6 Wirken jedes
Geschöpfes hängt von Gott ab in 2 Punkten: einmal, insofern
es von Gott die Kraft und das Vermögen hat, vermittelst dessen
es wirkt; dann insofern es von Gott in Bewegung gesetzt wird.''
Und I q. 105 ari 5 heifst es wie III de pot. 7: „Gott setzt
die Dinge nicht nur in Thätigkeit, damit sie selber thätig sind,
indem Er ihre Kräfte und Vermögen zum Thätigsein hinwendet
(wie der Handwerker das Beil anwendet zum Spalten, trotzdem
er nicht immer selbst dem Beile die geeignete Form gibt),
sondern Er gibt ihnen diese Kräfte und Vermögen und erhält
sie im Sein,'' Dens movet non solum res ad operandum, quasi
applicando formas et virtutes rerum ad operationem (sicut artifex
applicat securim ad scindendum, qui tamen interdum formam
securi non tribuit), sed etiam dat formas creaturis agentibus
et eas tenet in esse. Hier läfst Thomas wohl die wörtliche Wieder-
holung des in III pot. 7 sub IV Gesagten aus; aber er führt
das nämliche Beispiel an wie dort, vom Handwerker und seinem
Beile. Denn III setzt IV voraus und IV setzt III voraus. In-
sofern die praemotio von Gott ausgeht, also insofern Gott be-
wegt^ movet, ist nr. lU gesetzt; insoweit ihre einwirkende Kraft
Jührbnch for Philosophie etc. I. 18
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170 ^ Die praemotio physica nach Thomas.
die Wirkung oder das Gewirkte erreicht, wie das Werkzeug
die gewollte Form, ist IV gesetzt. Dafs aber diese motio eine
praemotio ist d. h. im Verhältnisse steht zum In-Bewegung-
Gesetzten wie Ursache zur Wirkung, sagt Thomas oft genug
ausdrücklich. So III G. 9. 149: >,Die Bewegung, soweit sie
vom Bewegenden ausgeht, geht vorher der Bewegung des
In-Bewegung- Befindlichen sowohl der Auffassung wie der that-
sächlichen Ursächlichkeit nach;*' motio moventis prae cedit motum
mobilis ratione et causa.
Speziell auf den Willen beziehen sich folgende 2 Stellen,
die genau und kurz die oben gegebene Lehre ausdrücken: ,,Gott
setzt den Willen des Menschen in Bewegung wie die allum-
fassende bewegende Kraft (sicut universalis motor) und kraft
dieser Bewegung hat der Wille zum Gegenstande das Gute.
Ohne diese Bewegung von Seiten der allumfassenden Kraft zum
Guten an sich hin kann der Mensch nicht etwas Besondres
wollen. Kraft seiner Vernunft aber bestimmt sich der Mensch
selber, um dies oder jenes zu wollen, mag dies ein wahres Gut
sein oder nur dem Scheine nach eines. ^' Was auch immer also
in der Bewegung zum besondren Gute hin in bestimmt that-
sächlicher Weise innerhalb des Willensaktes „guf* ist, das ist
dies kraft der von Gott ausgehenden Bewegung; non potest homo
sine hac universali motione aliquid volle. Dafs in dieser Be-
stimmung zum besondern Gute hin der Mensch ein wirkliches
Gut wollen kann, aber auch ein Scheingut; das, diese In-
differenz nämlich, kommt vom Menschen; homo per rationem
determinat se ad volendum hoc vel illud, quod est vere bonum
vel apparens bonum. Die menschliche Vernunft ist ja, weil sie
das indifferente Wesen des äufseren Dinges auffafst, die Wurzel
der Indifferenz im Willen, und kraft deren kann der Wille „das
oder jenes" hoc vel illud dem thatsächlichen Sein nach wollen.
Dafs der Wille bestimmt nun dies Gut will und nicht jenes, das
kommt von der Einwirkung Gottes, soweit es sich um „Gutes"
handelt. Das Übel entsteht, wenn der Wille im Wollen eines
besondren Gutes abfallt von seiner eigenen natürlichen Richtung
auf das Gute an sich und somit auch von der Einwirkung seitens
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Die praemotio physica nach Thomas. 171>
der ersten Ursache, die allein kls unamschränkte so den Willen
aaf das Besondre Höhten kann, dafs derselbe dem Vermögen
nach nnbesohränkt offen bleibt für alles Gute.
Dies sagt dann noch Thomas mit eigenen Worten I. II
qn. 19 Art 10: ,,Soweit der menschliche Wille das Gute im
allgemeinen, das Gute an sich, als Gegenstand will, ist er dem
göttlichen Willen gleichförmig im letzten Endzwecke. Ist aber der
einzelne besondre gewollte Gegenstand nicht ebenso von Gott
gewollt und somit materialiter in volito keine Gleichförmigkeit
vorhanden, so besteht doch die Gleichförmigkeit mit Bücksicht
auf die einwirkende Ursache secundum rationem causae
efficientis. Denn diese eigenste Hinneigung, welche fölgt
der Natur oder der besondren Auffassung dieses bestimmten Dinges,
hat das Ding von Gott als von der wirkenden Ursache. Defshalb
sagt man, der menschliche Wille sei dem göttlichen gleichförmig,
insoweit er das will was Gott will, dafs er wolle.'^ Hanc propriam
inclinationem consequentem naturam vel apprehensionem particu-
larem hujus rei habet res a Deo sicut a causa effectiva. Unde
consnevit dici quod conformatur quantum ad hoc Toluntas hominis
▼oinntati diyinae, quia Yult hoc quod Dens yult eum velle.
Die Hinneigung im Willen des Menschen also zu einem
besondren einzelnen Gute, die da jener Hinneigung entspricht,
welche in diesem Gute selber sich findet, kommt von Gott als
der wirkenden Ursache, insoweit das Gute an sich, der End-
zweck, Gott selber, dadurch erreicht wird. Die erste wirkende
Ursache anfsen in den Dingen, welche der Natur eines jeden
Dinges die derselben eigene Neigung als auctor naturae ein-
geprägt hat und erhält, begegnet sich mit der wirkenden Ur-
sache innen im Willen, welche als ultimus finis alle Dinge
geeignet macht, begehrbar zu sein.
Wer mehr wünscht, der möge es nachlesen in der bald
erscheinenden Verdeutschung der summa theol., wo durch Über-
leitungen Yon einer Quästion zur andern, zumal in den ersten
21 Quästionen der I. II, die fundamentale Bedeutung der prae-
motio physica für die Moral, und ebenso wie unverkennbar
scharf Thomas sie betont, eingehend nachgewiesen wird.
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172 Die praemotio physica naeh Thomas.
Das beste Zeugnis endlich dafür, dafs der Thomisnins dem
hL Thomas gemäfe sei, bilden die Textoitationen der Molinisten.
Es kann bei ihnen als B^egel angesehen werden, dafs niemals
ein Artikel oder überhanpt ein längerer Text, welcher die Be-
handlung eines Lehrpunktes YoUständig und ex professo enthält,
ganz nach dem Wortlaute angeführt wird. Wer sich von der Art
und Weise solchen Gitierens überzeugen will, der lese Dummer-
muth, zumal von S. 238—400, wo jegliches Gitat Schnee-
manns aus Thomas geprüft wird. Wir geben blofs ein Beispiel.
Den Artikel III de malo art 2 c. oitiert Bchneemann. Es ist da
Yon der Sünde die Bede. Er läfst aus: Omne quod, quocunque
modo est, derivatur a Deo. — Bonae actiones totaliter redu-
cuntur in Deum ut in causam. — Id quod est actionis in peccato,
reducitur ad primum movens sicut in causam. — Dens est primum
movens respectu omnium motuum. — Omnes motus secundarom
causarum causantur a primo movente. — Gum aliquid seipsum
movet, non excluditur quin ab alio moveatur, a quo habet hoc ipsum
quod seipsum movet: et sie non repugnat libertati quod Dens est
causa actus liberi arbitrii. An Stelle dieser Worte sind Punkte.
Vgl. zudem: „Einleitung zu dem Werke: Die katholische
Wahrheit oder die theologische Summa deutsch wieder-
gegeben: Die dogmatische und allgemein wissenschaftliche Be-
deutung der Summa'^ bei G. J.. Manz, E^gensburg. S. Kap. 4;
— ebenso: „Eine Antwort auf zwei Kritiken-, Moiinistisches'^;
Gr. J. Manz, Begensburg.
Die Behandlung, welche Bannez und die älteren Thomisten
von Seiten der Molinisten erfahren, fuhrt Dummermuth ebenfalls
auf ihren wahren Wert zurück auf Grund der Vergleichung der
angeführten Texte. Wir gehen nach dem im Beginne Gesagten
nicht darauf ein.
Wohl aber möchten wir den Wunsch aussprechen, dafs sich
die Molinisten nach dem Beispiele Suarez' richten möchten, der
(lib. 3 de auxil. c. 38 n. 11) offen anerkennt; — 1. dafs in III de
pot 7 der hl. Thomas die praemotio physica lehre — in eo loco
S. Thomam sensisse dari in causa secunda aliquid praevium aotu
inditum a causa prima ad agendum — ; 2. dafs sich Thomas in
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Die praemotio phyäca nach Thomas. 173
der Summa nicht stillschweigend retraktiert habe, wie er, Saarez,
früher gemeint (In der That lehrt Thomas in I. qu. 103 art. 8
wo möglich noch schärfer die praemotio physica wie III. pot. 7:
Omnis inclinatio alicnjns rei vel naturalis vel yolnntaria nihil
oBt aliud quam quaedam impressio a primo movente;
sicut inclinatio sagittae ad Signum determinatum nihil aliud est
quam quaedam impressio a sagittante. Unde omnia quae aguntur
vel naturaliter Tel voluntarie, quasi propria sponte perve-
ninnt in id ad quod divinitus ordinantur. Also eben auf Grund des
Eindruckes Yon Seiten Gottes wirken einige unter den Geschöpfen
je nach den ihnen yerliehenen Vermögen mit Naturnotwendig-
keit und andre frei.); — 3. dafs er, Suarez, dies retraktiere,
nicht sowohl weil die neueren Thomisten eine solche Inter-
pretation der Art. in der summa zurückweisen als weil er sehe, dafs
auch die älteren in der nämlichen Weise wie die neueren
in diesem Punkte den Text des hl. Thomas erklären. Denn Gapreo-
Ins, Gajetan und Ferrariensis sprechen sich genau so aus wie
Bannez. (Ulam vero, so der Text des Suarez, sententiam postea
retractasse; quae responsio rejicitur a novioribus Thomistis
et Video antiquiores etiam non ita (wie Suarez) de eo loco
sensisse: nam Gapreolus und Gajetanus (Ferrar. war schon
früher genannt) doctrinam illius articuli allegant et sequuntur,
tanquam consentaneam et conformem doctrinae ejusdem S. Doctoris.)
Da konstatiert also Suarez selber im wichtigsten entschei-
dendsten Punkte die yolle Übereinstimmung der sog. Neu-Thomisten
und der vor Bannez. Von „Bannesianern'' weifs er nichts ; und
ebenso nicht von einer „Spaltung der Schule''. Das sind Fabeln,
die man erfindet, um die Schwäche der inneren Gründe zu ver-
decken. Möchten sie verschwinden, um so den Geist ganz frei
zu machen von allen diesen Äuiserlichkeiten und die nüchternste
Erforschung der Wahrheit zu ermöglichen!
Zu diesen Aufserlich keiten, die viel hindern, gehört es auch,
wenn die Molinisten bei jedem Angriffe auf ihre Lehre oder viel-
mehr bei aller Abwehr, zu welcher der Thomismus gezwungen
ist, sogleich über „Verleumdung" klagen, wie noch neulich die
civ. catt 1. c. oder über die „Verfolgung des Jesuitenordens", wie
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174 Die praemotio physica nach Thomas.
ein andrer es that, der als übernatürlichen Grund für die Angriffe
gegen den ilolinismns bezeichnete, „damit um der gröfseren
Ehre Gottes willen die Gesellschaft durch alle Art Verfol-
gung beweise, wie viel Lebenskraft sie hätte und wie viel hohes
Talent und kraftvolle Tagend sie in sich enthielte/^ Damit leisten
die Molinisten weder ihrer Sache noch dem grofsen Jesuiten-
orden einen Dienst. Oder soll denn das ,,Verleumdung'' sein
oder gar „Verfolgung des Ordens", wenn nach reifer Prüfung
alle Professoren von Löwen zugleich mit Caspar Ram, Villegas,
Goqueus, Isambertus, Estius und Silvius d. h. die Vertreter der
damaligen Hauptlehrkörper, nämlich der Universitäten oder Akar
demieen von Osca (Huesca), Paris, Douai und Löwen erklärten,
wie folgt:
Sententia haec (der Molinismus) Dei bonitatem obscarat,
justitiam enervat, Scripturis illudit, Patrum testimonia in alienos
sensus detorquet, humanae rationis corruptioni applaudit, humili-
tatis fundamentum evertit, peccandi necessitatem relinquit, pro-
priarum virium fiduciam ingenerat; in salutis negotio, quod prae-
cipuum est, homini dat, quod minus, Deo: gratiam Dei libero
Bubdit arbitrio et ejus pedissequam facit. In summa a Pelagio
non satis procul abscedit: Lutheri vero et üalvini et aliorum
nostri temporis hereticorum sententiam, dum ab ea videri vult
quam longissime recedere, potentiusque debellare, magis impru-
dens stabiiit atque confirmat!
Der Jesuitenorden ist nicht identisch mit dem Molinismus,
so dafs wer den einen angreift schon dadurch selbst gegen den
andern vorgeht. Die grofsen Asceten des Ordens waren, wie ihre
Werke beweisen, der thomistischen Lehre entschieden zugethan.
Der Unterzeichnete selber hat, ohne die mindeste Schwierig-
keit zu erfahren, in einem berühmten Jesuitenkolleg den
Thomismus Jahre lang eingehend studiert und dabei durch einen
Jesuitenpater, oft in den entscheidensten Augenblicken, die leb-
hafteste und nachhaltigste Aufmunterung erhalten.
Die Entscheidung in dieser ganzen Frage wird nahe ge-
bracht werden, wenn man aufhört, Äufserlichkeiten damii zu
vermischen. Wer Thomas im Zusammenhange gelesen hat, der
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Die praemotio physica nach Thomas. 175
wird einfach zu der Zumutung lächeln, Thomas aei nicht Thomist
oder gar, er sei Molinist gewesen. Das kann von jenen allein
ernst genommen werden, die Thomas nur aus einigen Gitaten
kennen und hie und da vielleicht einige Stellen in ihm selber
vergleichsweise nachgeschlagen haben. E i n Unterschied besteht
allerdings zwischen den Thomisten und Thomas. Thomas drückt
die tbomistische Lehre weit schärfer und energischer aus,
wie es die Thomisten thun. Diesen Eindruck erhält man wieder,
wenn man die betreffejiden Artikel bei Dummermuth zusammen-
gestellt findet Da zeigt sich so recht — und dies positiv ver-
anschaulicht zu haben, ist das Verdienst Dummermuths — , wie
kein Thomist seinen Meister erreicht in der entschiedenen Fassung
der Lehre über die
praemotio physica.
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DIE LEHRE DES HL. THOMAS
UND SEINER SCHULE
VOM PRINZIP DER INDIVIDUATION.
EIN BEITRAG ZUM PHILOSOPHISCHEN VERSTÄNDNIS DER MATERIE.
Von Dr. M. GLOSSNER,
MITGLIED DER PHILOSOPHISCHEN AKADEMIE DES HL. THOMAS IH ROM.
II.
Metaphysische Begründung.
Der Wesensbegriff, oder genauer die allgemeine Katar,
welche der menschliche Verstand von den Dingen abstrahiert,
mnfs in diesen irgendwie vorhanden sein, wenn der Abstraktions-
prozefs selbst und unsere darauf begründeten Schlufsfolgerungen
ein reales Fundament haben sollen. Dieses Fundament hebt
Albert der Grofse hervor, wenn er auf die Frage, wodurch
(secundum quid) die Phantasie den möglichen Intellekt bewege,
antwortet: „Durch die Katur des Allgemeinen, die im Phantasie-
bild ist, wenn auch nicht als allgemeine, sondern als partikuläre;
und deshalb ist die Phantasie der Möglichkeit nach bewegend
rücksichtlich des thätigen Veratandes; und diese Natur, die eine
partikuläre ist, wird durch den Aktus des thätigen Verstandes
zu einer der Wirklichkeit nach allgemeinen im möglichen Ver-
stände/' [De hom. tract. I. qu. 53. art. 6 ad 7.]
Diese Realität des Allgemeinen und die damit zusammen-
hängende Frage nach dem Verhältnis der formalen (spezifischen)
und individuellen Einheit in einem konkreten körperlichen Wesen
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Die ontologischen Emwendungen PalmieriB. 177
ist 68, wafi für uds unter den metaphysischen Gresichtspunkten
unseres Gegenstandes zuerst in Betracht kommt Ein weiteres,
mit demselben Gegenstände zusammenhängendes, metaphysisches
Problem bildet die Verschiedenheit des geistigen und körperlichen
Seins, die nicht nur eine graduelle oder auch spezifische, sondern
eine generische ist, und als solche sich in der Weise der In-
dividuierung rein geistiger und materieller Wesen wiederspiegelt.
In dritter Linie wird die Untersuchung die Frage nach der gött-
lichen Individualität zum Zwecke der Zurückweisung des alle
kreatiirliche Individualität absorbierenden Monismus wenigstens
berühren müssen.
Die in solcher Art von der breiten Grundlage des materiellen
Daseins bis zur Spitze des ungeschaffenen Seins gleichsam pyra-
midal fortschreitende Untersuchung wird uns die Weise der In-
dividuation als eine zu immer gröfeerer Vollkommenheit auf-
steigende zeigen, indem die Einzigkeit des individuellen Körpers
das Bestehen von Wesen gleicher Art mit und neben ihm, die
Einzigkeit des Geistes die Existenz von Wesen der gleichen
Gattung nicht ausschliefst, während die Einzigkeit des gött-
lichen Seins eine absolute, weder durch eine Materie, noch durch
eine logische Gattung beschränkte ist.
Wenn wir in den vorangehenden, erkenntnistheoretischen
Erörterungen eine mehr thetische Behandlungsweise gewählt
haben, so wollen wir in der metaphysischen Begründung der
thomistischen Jjehre vom Individuationsprinzip, um in den trockenen
und abstrakten Gegenstand eine gewisse Abwechselung zu bringen,
in antithetischer Weise verfahren und unseren Beweis von der
Richtigkeit jener Doktrin zunächst in ihrem Zusammenhange mit
dem sogenannten gemäfsigten Realismus an die Widerlegung
einer in der neuesten Zeit aufgestellten abweichenden Theorie
anknüpfen.
Unter den von P. Palmieri aufgestellten ontologischen
Thesen begegnen wir der folgenden:
„Mit Rücksicht auf die Ungeteiltheit des Seins ist eine drei-
fache Einheit zu unterscheiden: die Einheit des Gedankens, des
Wesens, des Individuums. FeiBer ist alles, was existiert,
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178 Die Lehre des hl. Thomas u. 8. Schale vom Prinzip der Indindaation.
individaell und besitzt zugleich eine Einheit des Wesens, die sich
Yon der individuellen Einheit nicht sachlich, sondern nur ge-
danklich (ratione) unterscheidet. Das Prinzip der individuellen
Einheit aber ist nicht etwas reell von der individuellen Natur
Unterschiedenes, sondern jede existierende Natur ist durch ihre
Realität selbst individuell.^' [l. c. Ontologia, cap. I. Th. VI.
(p. 297). I Ratione rei indivisae distingui debet unitas rationis,
unitas formalis, unitas individualis. II. Porro omne ens, quod
existit, est individuum III. suaque gaudet unitate formali IV. quae
ab individuali non re, sed ratione distinguitur. V. Unitatis vero
individualis principium non est aliquid realiter distinctum ab ipsa
natura individua: sed omnis natura existens per ipsam suam reali-
tatem est individua.]
In dieser These ist Wahres und Falsches nebeneinander
aufgestellt Wenn wir die Einheit des Gedankens (unitas rationis)
auf sich beruhen lassen, so läfst sich allerdings in den Dingen
eine zweifache Einheit, die der Form oder des Wesens und die
des Individuums unterscheiden. Diese Unterscheidung ist in allen
Wesen eine gedankliche. Auch dies gestehen wir zu. Denn
die skotistische Annahme, dafs die individualisierenden Prinzipien
zur formalen Wesenheit als davon verschiedene Entitäten hinzu-
kommen, glauben wir als falsch verwerfen zu müssen. Wenn
aber jene gedankliche Unterscheidung in der Sache selbst einen
Grand haben soll, so fragt es sich, wo wir diesen Grund zu
suchen haben. In diesem Punkte scheiden sich unsere und
Palmieris Wege. Wir behaupten: die formale Einheit eines körper-
lichen Wesens gründet in seiner Form (forma physica), die in-
dividuelle in der Materie. Form und Materie aber sind real
von einander verschieden. Folglich werden auch formale und
individuelle Einheit zwar nicht entitativ oder dem Sein nach,
wohl aber radicaliter, der Wurzel und Quelle nach von einander
verschieden sein.
Dafs die körperlichen Dinge aus Form und Materie bestehen,
ist eine Behauptung, die direkt und vor allem durch naturphilo-
sophische Argumente zu begründen ist. Aus Form und Materie
aber, von denen jene als substantiell bestimmendes, diese als
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Die ontologischen Einwendangen P&lmieris. 179
substantiell bestimmbares Konstitativ definiert wird, resultiert ein
einheitliches Sein, ein Wesen, das nach Gattung, Art und
Individualität bestimmt ist, das letzte jedoch in der eigentüm-
lichen Weise, wie sie dem Körperlichen eignet; nämlich so, dafs
es Individuen der gleichen Art neben sich zuläfst. Hieraus aber
ergibt sich, dafs, wenn die Artbestimmtheit auf die Form zurück-
zufuhren ist, die individuelle Bestimmtheit als eine aus der unter
gewissen Baumverhältnissen existierenden, räumlich geschiedenen
Materie resultierende Modifikation der gesamten Substanz be-
trachtet werden müsse.
Erklären wir uns näher ! Wir sagen, als eine Modifikation
der Substanz; denn die ganze intelligible Entität ist in der Form
beschlossen; die Individuation kann also nur als Modus, wenn
auch als substantieller^ zu begreifen sein. Substantieller Modus
aber ist sie schon dadurch, dafs sie aus der Materie, die einen
Wesensbestandteil bildet, entspringt. Sie entspringt aber aus
der Materie, sofern diese unter einer bestimmten, räumlich be-
grenzten Quantität existiert; denn die räumliche Trennung zieht
auch die zeitliche, also überhaupt das Hier und Jetzt nach sich,
womit die individualisierenden Bedingungen bezeichnet sind, die
Abstraktion von welchen das rein intelligible Wesen im denkenden
Geiste zu Tage treten läfst.
In diesem Sinne erklärt der englische Lehrer die materia
signata als Prinzip der Individuation.
Die nähere Bestimmung der individualisierenden Materie als
materia signata enthält den tiefsten und erschöpfenden Grund
der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Abstraktion des reinen,
allgemeinen Wesens von den individualisierenden Bedingungen
des Hier und Jetzt; denn kann der Verstand nicht wie der Sinn
den materiellen Gegenstand mit seiner räumlich- zeitlichen Be-
schränktheit in sich aufnehmen, und bildet eben diese Beschränkt-
heit die notwendige Bedingung für die individualisierende Funktion
der Materie, so leuchtet ein, dafs die Abstraktion von jenen
Schranken des Raumes und der Zeit auch die von dem substantiell
individualisierenden Modus in sich einschliefse. Die Folge ist,
dafs der Verstand nicht das individuelle Wesen als solches,
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180 Die Lehre des hl. Thomas a. s. Schale y<mi Prinzip derlndividaatioii.
sondern die allgemeine Wesenheit, das mehreren nur durch die
getrennte Materie Verschiedenen oder besser Geschiedenen ge-
meinsame Wesen erkennt
Diese Exposition, in der wir, wie das Folgende beweisen
dürfte, den thomistischen Gedanken getreu wiedergegeben haben,
scheint uns geeignet, die von Palmieri und anderen gegen die
materia quantitate signata erhobenen Einwendungen in der Wurzel
abzuschneiden. Es wird nämlich überall verkannt, dafs es sich
um die Erklärung dieser bestimmten Weise der Individualisie-
rung handle, infolge deren es Individuen derselben Art gibt,
also um ein die Art — die species infima, die Grenze mensch-
licher intellektueller Erkenntnis, den mehreren gemeinsamen
schöpferischen Gedanken — vervielfältigendes Prinzip. Mag also
immerhin auch die Form zur Individuation mitwirken, insofern
sie bestimmender Grund der Materie und als Teil des Ganzen
auch Träger der Accidentien, also selbst der Quantität ist, so
kann sie doch nicht als Prinzip der rein numerischen, für
die menschlich-gedankliche Bestimmung unzugänglichen Verviel-
föltigung des Artwesens bezeichnet werden, also auch nicht als
Prinzip der Individuation körperlicher Dinge. Dies ist und bleibt
vielmehr die Materie.
Indem wir uns den Palmierischen Einwürfen gegen die vor-
getragene Lehre zuwenden, erwidern wir auf den ersten, dafs
derselbe zum Piatonismus, nämlich zu den von Piaton angenom-
menen getrennten Formen der Dinge führe; die Form, die als
indifferent zur Mehrheit der Individuen sich verhalte, sei ein
abstrakter Verstandesbegriff; es sei aber nicht diese abstrakt
begriffene Form, die der Materie geeinigt sei und existiere; die-
jenige, die existiert, war nie und konnte nie indifferent zu
mehreren sein [L. c. p. 303.]: auf diesen Einwurf also erwidern
wir, dafs in der thomistischen Theorie von der Individuation
der Unterschied der metaphysischen, begrifflichen Form und der
physischen, konkreten, individuellen Form entschieden festgehalten
werde. Wenn demnach gesagt wird, dafs die Form durch die
Ursachen in der Materie individualisiert werde, so bedeutet dies
nicht, dafs sich ein Allgemeines mit einem Besonderen verbinde,
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Vorgeblicher Platonismas. 181
soDdern dafs an» der Verbindang der konkreten, physischen Form
und der Materie ein Ganzes resultiere, das durch seine Form
einer bestimmten Art angehöre, durch seine Materie aber ein
raumlich und zeitlich beschränktes Individuum neben anderen
gleichartigen Individuen sei.
Die Form aber, durch die der Wesensbegriff verwirklicht
wird, wird in die Materie durch ein konkretes, wirkendes Wesen
eingeführt, das seinerseits durch seine Form wirkt: denn, wie
Aristoteles nicht einzuschärfen ermüdet, dieser Mensch wird nicht
erzeugt durch Verbindung oder Teilnahme des Stoffes am Ideal-
menschen, sondern dieser erzeugt diesen, ein individuelles
Wesen ein anderes individuelles Wesen.
Falmieris £inwand beweist, wie wenig er in das Verständnis
platonischer und aristotelischer Denkweise eingedrungen. Was
Aristoteles und mit ihm der hl. Thomas verwerfen, ist eben jene
Zusammensetzung eines Allgemeinen mit einem Besonderen, die
P. in ihrer Theorie von der Individuation finden will. Anderer-
seits aber halten jene grofsen Denker die ideelle Bestimmtheit
der Dinge mit Piaton fest, leiten sie aber aus den wirkenden
Ursachen ab, die nach ihren realen oder idealen (gedanklichen)
Formen Wirkungen hervorbringen, welche ihnen spezifisch, gene-
risch oder in einem weiteren transcendentalen Sinne ähnlich sind.
Ein weiterer Einwand Falmieris, das Erste, was der Mit-
teilung widerstrebe, also die Individuation bewirke, sei die
Bealität selbst, bezieht sich auf den vorgeblich bereits geführten
Beweis, dafs in der Bealität als solcher (per se) der Grrund der
ünmitieilbarkeit, die zum W^esen der Individualität gehört, liege,
es also eine mitteilbare Bealität nicht geben könne. Daher könne
nicht gesagt werden, die Form sei mehreren mitteilbar. [L. c.
sub 2.] Auf dieses Argument ist wiederum mit der Unterschei-
dung der metaphysischen von der physischen Form zu antworten.
Mitteilbar ist allerdings nicht die physische Form, denn diese,
weil bestehend in Verbindung mit dem individualisierenden Stoffe,
ist individuell. Dagegen die Form, für sich betrachtet, oder die
metaphysische Form — denn die abstrakte Form materieller
Dinge schliefst den allgomeinen Begriff der Materie ein, ist also
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182 Die Lehre des hl. Thomas a. s. Schule yom Prinzip der IndiWdafttion.
mit dem Inhalt des Wesensbegriffea oder der metaphTsischen
Form identisch — ist mitteilbar, und wird nur darch ^ wir
sagen nicht: die Verbindung, sondern die Verwirklichung im
Stoffe unmitteilbar oder indiyidnelL Femer verwechselt Palmieri
das aktuelle Sein mit dem potentiellen, wenn er behauptet, jede
Realität sei unmitteilbar; denn die Form für sich, und in der
Potentialität der wirkenden Ursache genonmien, ist * offenbar
an mehrere mitteilbar, obwohl sie auch in diesem Zustande
der Möglichkeit nicht ein schlechthin nicht Seiendes, also eine
Realität (ein real Mögliches) ist. Unmitteilbar wird sie erst,
wenn actu aufserhalb ihrer Ursache gesetzt, also infolge ihrer
Verwirklichung in der Materie.
Über den dritten Einwand, die Materie, die sich yerschiedenen
Formen gegenüber indifferent verhält, eigne sich am wenigsten
zum Prinzip der Individuation, glauben wir mit der Bemerkung
hinweggehen zu können, dafs gerade in dieser Indifferenz, in
dieser Form- und gewissermafsen Ideenlosigkeit der Materie das
Motiv gelegen sei, um aus ihr jenes gleichgiltige Nebeneinander
körperlich individueller Wesen zu erklären, denen die Form, die
Idee, das spezifische, den denkenden Geist bewegende Wesen
gemeinsam ist. [L. c. sub 3.]
Eine ausführlichere Würdigung scheint dagegen der vierte
Einwand Palmieris zu erfordern. Derselbe bezieht sich auf die,
aus der Lehre vom Individuationsprinzip sich ergebende, und
Yom hl. Thomas selbst nicht blofs nebenbei gezogene Folgerung,
dafs reine Formen ebenso viele Arten als Individuen bilden,
weshalb es unter den Engeln Individuen ein und derselben Art
nicht gebe, vielmehr jeder Engel ein eigenartiges Wesen sei.
Gegen diese, wie uns scheint, vollkommen legitime Konse-
quenz glaubt der vormalige Professor am römischen Kolleg, dessen
„philosophische Anweisungen'' dem Aquinaten mit den Worten
gewidmet sind, „dafs eine solche Widmung eigentlich überflüssig
sei, weil ohnehin alles, was dieses Werk enthalte, ihm (dem
englischen Lehrer) angehöre, und mit viel gröfserem Rechte
als dem Verfasser zugesprochen werden müsse — [„Verum nescio,
cur videri velim aliquid tibi, Angelice Doctor, referre, cum
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Der Vorwarf der turpis aequivocAtiö. 183
qnidqnid hoo opere coDtinetur, jam tnum sit tibique potiore jare
quam mihi sit asseFendnm/' L. c. III. IV.] in der folgenden
Weise sich aussprechen zu sollen:
9, Was besteht doch für eine Forderung oder Ziemlichkeit
der Natur, die yerbieten könnte, dafs es z. B. einen anderen
Engel von spezifischer Gleichheit mit dem Engel Gabriel gebe?
Weil er eine von der Materie getrennt bestehende Form ist,
eine solche Form aber nicht yervielfaltigt wird, wie z. B.
die abstrakte Form der Weifse, die eine ist. Dieses aber
ist eine schimpfliche Zweideutigkeit in dem Terminus ab-
strakt. Etwas anderes nämlich ist es, abstrakt zu sein
durch den Begriff des denkenden Geistes, was allen allge-
meinen Ideen zukommt, und etwas anderes, abstrakt zu be-
stehen von der Materie, d. i. von der Materie frei, oder Geist
sein. Jenes (abstrakte Sein) ist eines, weil der allgemeine
Begriff für alle Individuen derselben Art einer ist Die im-
materielle Form aber ist nicht ein allgemeiner Begriff, sondern
ein konkretes Wesen, von welchem es mehrere ähnliche geben
kann, ebenso, wie auch von anderen, materiellen Formen oder
Naturen. Es ist also diese alte Meinung zu verlassen.^' [L. c.
p. 304: „Verum, quaenam est exigentia aut convenientia naturae,
quae prohibeat esse ex. gr. alium angelum parem secundum
speciem Gabrieli? quia, ajunt, forma est abstracta a materia, et
forma abstracta non multiplicatur, sicut forma abstracta albedinis,
quae est una. At haec est turpis aequivocatio in termino ab-
stracta. Aliud est enim abstractum. esse per conceptionem
mentis, qnod omnibus ideis universalibus competit; aliud abstractum
esse a materia, h. e. esse expers materiae, sive spiritum esse.
Dlud quidem est unum; quia conceptus universalis pro omnibus
individuis unius speciei est unus; verum forma expers materiae
non est conceptus universalis, sed res concreta, cui plures similes
esse possunt, non secus ac aliis ibrmis, sive naturis materialibus.
Ideo haec opinio vetus est deserenda."]
Anf einer schimpflichen Zweideutigkeit also soll es
beruhen, wenn angesehene Theologen und Philosophen, darunter
der doctor angelicus, dem jener schwungvollen Widmung zufolge
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184 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individuatioir.
alles angehört, was die philosophischen Institutionen, welche im
römischen Kollegium der Gesellschaft Jesu Dominicas Palmieri
aus der Gesellschat^ vortrug, enthalten: auf einer schimpflichen
Zweideutigkeit also soll es beruhen, wenn jene Denker aus der
Abstraktheit unserer allgemeinen Begriffe die Folgerung ableiten,
dafs rein geistige Wesen nicht wie materielle in numerischer
Vervielfältigung innerhalb spezifischer Wesenseinheit existieren!
Der oberflächliche Schein spricht tlir Palmieri. Die infolge
des Vorherrschens der empiristischen Richtung nominalistisch
geschulte moderne Denkweise dürfte geneigt sein, dem kühnen
Kritiker der „alten Meinung'' zuzustimmen. Indessen lassen
wir uns nicht einschüchtern, und stellen wir zuerst die Frage:
Was ist abstrakt? In wie vielfachem Sinne kann das Wort ge-
braucht werden? In welcher seiner verschiedenen Bedeutungen
wird das Wort gebraucht, wenn Thomas und seine Schule aus
der Abstraktheit unserer Begriffe auf die Materie als Grund der
Individuation schliefsen und die weitere Konsequenz ziehen, dafs
auf immaterielle Wesen der Gedanke einer numerischen Ver-
vielfältigung von Wesen derselben Art keine Anwendung finde?
Palmieri stellt Begriff (conceptus universalis) und Sache
(res concreta) einander gegenüber, gebraucht also das Wort „ab-
strakt'' im Gegensatze zu konkret. Nun bedeutet aber in
jenem Argument das Wort soviel als „immateriell", und steht
gegenüber dem „materiell". Das Argument besagt also: unsere
Begriffe werden dadurch allgemein, dafs sie durch eine Art von
Vergeistigung der sinnlichen, individuellen Vorstellung entstehen.
Da nun in dieser Vergeistig^ng die Individuation abgestreift
wird, so folgt) dafs die Individualität der körperlichen Dinge in
der Materie wurzelt, und weiterhin, dafs immaterielle Wesen,
nicht in jener Weise individualisiert seien, wie körperliche,
nämlich so, dafs sie Wesen derselben Art neben sich haben.
Mit anderen Worten: reine Geister sind mit speziellsten Arten
materieller Dinge, nicht aber mit materiellen Individuen in Ver-
gleich zu bringen.
In diesem Argument mögen sich Lücken finden. Man
mag der Meinung sein, die nicht die unsrige ist, dafs es uns
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Abstrakt and immateriell. 185
unbekannte Ursachen auTser der Materie geben könne, dnrch
die unter Engeln rein individuelle Unterschiede begründet werden.
Man mag die Auffassung der Abstraktion als einer Art von Yer-
geistigung der sinnlichen Vorstellung bestreiten, wie ja P. wirklich
thut. Aber wir fragen: ist man berechtigt, gegen den eng-
lischen Lehrer und die in dieser Frage mit ihm gehen, den Vor-
wurf einer schimpflichen' Zweideutigkeit zu schleudern?
[Darüber, dafs dieser Vorwurf thatsächlich den hl. Thomas treffe,
kann nicht der leiseste Zweifel obwalten. Nicht nur trägt Thomas
an verschiedeDen Orten und aufs Nachdrücklichste die Lehre vor,
dafs es mehrere Engel derselben Art nicht gebe, sondern er be-
gründet sie in unzweideutiger Weise durch seine Theorie von
der Individuation der körperlichen Dinge. Im ersten Artikel der
quaest disput de spiritual. creaturis bedient sich Thomas genau
derselben Argnmentationsweise und der Ausdrücke, gegen welche
der Vorwurf der Zweideutigkeit erhoben wird: äi Angelus est
forma simplex abstracta a materia, impossibile est etiam fingere,
quod sint plures Angeli ejusdem speciei: quia quaecunque
forma quantumcunque materialis et infima, si ponatur
abstracta, vel secundum esse vel secundum intellectum,
non remanet nisi una in specie una. Si enim intelligatur
albedo, absque omni subjecto subsistens, non erit pos-
sibile, ponere plures albedines, cum videamus, quod haec
albedo non differt ab alia nisi per hoc, quod est in hoc vel in
illo subjecto; et similiter si esset humanitas abstracta, non esset,
nisi una tantum. Dafs der hl. Thomas diese Lehre nicht zurück-
genommen, zeigt S. theol. L qu. 50 art. 4; 75 art. 7; qu. 76.
art 2. Die aus opusc. 15 al. 16. v. P. angeführten Worte stehen
hiemit nicht im Widerspruche; denn es ist hier von Intelligenzen
im allgemeinen die Rede. Man vgl. Job. a S. Thoma, curs.
theolog. t IV. p. 585 (ed. Vives.)]
Betrachten wir uns noch näher das Wort abstrakt. Es
gibt, wie früher bemerkt wurde, eine zweifache Abstraktion, eine
willkürliche und eine unwillkürliche. [Von einem anderen Ge-
sichtspunkte ist eine dreifache Abstraktion, die physische, mathe-
matische und metaphysische, zu unterscheiden. Da es nicht in
Jahrbach fOr Philosophie etc. I, IS
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186 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individuatioii.
unserer Aufgabe liegt, eine erschöpfende Theorie der Abstraktion
zu geben, so können wir Yon dieser und anderen Unterscheidungen
Umgang nehmen. Doch möge bemerkt werden, dafs die willkür-
liche „Abstraktion'', yon der wir im Texte reden, im Grunde be-
schränkte Aufmerksamkeit, und yon der wahren Abstraktion
wesentlich verschieden ist. 8. Sanseverino, Dynamilog. p. 941.]
Willkürlich ist die Abstraktion, wenn ich in der Definition des
Menschen ein Merkmal für sich betrachte und von den anderen
absehe — abstrahiere. Eine Art willkürlicher Abstraktion liegt
darin, wenn ich an der Landschaft, die sich vor mir ausbreitet,
den Blick bald auf den Wald, bald auf den Flufs, im Walde
bald auf diesen, bald auf jenen Baum, am einzelnen Baum bald
auf diesen, bald auf jenen Zweig richte. Willkürlich ist die
Abstraktion, wenn ich an einem Grcgenstande diese oder jene
Bigenschaft, die Farbe, die Gröfse u. dgl. für sich betrachte.
Von diesen verschiedenen willkürlichen Abstraktionen kommt in
unserem Falle offenbar keine in Frage.
Eine Art von unwillkürlicher Abstraktion ist in der Be-
thätigung der äufseren Sinne gegeben. Im Gegenstande sind
Farbe, Ton, Gröfse u. s. w. vereinigt, in den Sinnen sind sie
geschieden. Das Gesicht fafst Licht und Farbe für sich, getrennt
vom Tone u. s. w. also abstrakt auf. Da in dieser, von den
Sinnen ausgeübten Abstraktion der Gegenstand Farbe, Ton u. s. w.
individuell bleibt, so kann auch sie für unseren Fall nicht weiter
in Betracht kommen.
Nun beachte man, dafs die bis jetzt angeführten Abstraktions-
weisen den Umstand gemein haben, dafs die Abstraktion sich
auf aktuelle Teile, das Wort im weitesten Sinne genommen,
des Gegenstandes bezieht. Mag dieser etwas Ideales, ein Begriff,
oder etwas Reales, ein Gegenstand der Sinne, sein: immer sind
es wirklich vorhandene Teile, Merkmale des Begriffes, Teil-
substanzen, Accidentien u. dgl., von denen der eine mit willkü^
iichem oder unwillkürlichem Absehen von den übrigen aus der
Verbindung mit diesen herausgehoben, absb*ahiert wird.
Dieser Umstand ist auch dann noch vorhanden, wenn der
Mathematiker die Quantität für sich, ohne sensibles Substrat
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Die Immaterialität des allgemeinen Begriffs. 187
betrachtet^ vorausgesetzt, dafs es sich um eine bestimmte, individaelle
Figur handelt, dieses Dreieck, diesen Ereis, der als solcher aller-
dings nar in einem bestimmten Stoff yerwirklicht sein kann. Sieht
man aber yon dem Stoffe ab, nnd stellt das Dreieck, den Ereis
tnr sich vor, so liegt hierin ohne Zweifel eine Abstraktion, aber
eine solche, deren Gegenstand in den Dingen actu, wenn anch
nicht in dieser Getrenntheit vom Substrat yorhanden ist
Anders yerhält sich die Sache, wenn wir den allgemeinen
Begriff selbst ins Aage fassen, mag es sich nun um Begriffe von
physischen oder mathematischen Gegenständen handeln. [In
mathematischen Dingen findet folglich eine zweifache Abstraktion
statt Vgl. hierüber den Eommentar des hl. Thomas zum dritten
Buche yon der Seele lect VIII. Viyes t III. p. 161, femer
S. Th. 1 qu. 85. art. 1. ad 1.]
Erstens ist ein solcher Begriff nicht Produkt der Willkür;
denn mag dies auch immerhin yon der Begriffsbestimmung eines
Gegenstandes gelten können: der Begriff selbst, oder jede wahre
intellektuelle Vorstellung entspringt im Geiste, und aus der
sinnlichen Vorstellung wie die gewappnete Pallas aus dem Haupte
Jupiters.
Zweitens enthält der allgemeine Begriff nicht irgend etwas
actu in der sinnlichen Vorstellung Gegebenes. Denn, wäre dies
der Fall, so müfste eine Analyse dieser den Begriff ergeben.
Dies ist aber unmöglich. Denn die Analyse der sinnlichen Vor-
stellung ergibt immer nur Individuelles, nie Allgemeines, das
Wesen, den Inhalt des Begriffs.
Und nun, was werden wir yon dieser Art yon Abstraktion
sagen? Dafs sie mehr ist als Abstraktion, dafs in ihr die Ab-
straktion durch die Auffassung des Teiles eines Ganzen mit
Absehen von anderen Teilen verbunden ist mit einer Art von
Vergeistigung und vollkommener Entkleidung von der Materie,
dafs in diesem Falle die Vergeistigung das Wesentliche und
Hauptsächliche, die Abstraktion in jenem anderen Sinne aber
nur das Zufallige ist.
Wir halten es für überflüssig, was wir bereits ausfuhrlich
erörtert haben, zu wiederholen, nämlich, dafs die materiellen
IS*
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1 88 Die Lehre d. hl. Thomas ü. s. Schale Tom Pzinzip d. Individufttion.
Dinge in den Intellekt nicht gelangen können, ohne sozusagen
die Existenzweise des reinen Geistes anzunehmen, dafs sie von
der Materie und den Bedingungen der Materie befreit, und so
vollkommen immateriell werden müssen, um in einem immateri-
ellen Subjekt aufgenommen zu werden. Und jetzt fragen wir,
ob es auf einer schimpflichen Zweideutigkeit beruhe, wenn aus
der abstrakten, d. h. nach dem Grosagten immateriellen Seine-
weise, welche das Körperliche durch seine Aufnahme im Geiste
annimmt, auf die Seins weise des reinen, von der Materie und
jeder Beziehung auf sie freien Geistes geschlossen wird?
Dafs die Dinge in der Seele, im Intellekt in geistiger oder
vergeistigter, also in einer höheren Weise, als sie in sich selbst
bestehen, seien, lehrt der hl. Augustin [Nulla est pulchritudo
corporalis, sive in statu corporis, sicut est in figura, sive in motu,
sicut est cantilena, de qua non animus judicet. Quod profecto
non esset, nisi melier in illo esset haec species, sine tumore
molis, sine strepitu vocis, sine spatio vel loci, vel temporis. De
civitate Dei 1. 8. c. 6.], und der hl. Thomas leitet aus der All-
gemeinheit oder Abstraktheit, d. h. aus der Freiheit von der
Materialität und materiellen Individualität der intellektuellen Vor-
stellungen die Immaterialität der menschlichen Seele ab. [Ex
hoc enim, quod anima humana universales rerum naturas co*
gnoscit, percipit, quod species, qua intelligimus, est immaterialis.
Quaest. disput. X. de veritate, art. 8. Aus der Geistigkeit der
Spezies folgt zunächst die des Intellektes, aus der Geistigkeit
des Intellekts die der Seele.] Wir müssen also wohl annehmen,
dafs im Sinne dieser beiden grofsen Denker die Gleichsetzung
des Abstrakten einerseits mit dem Allgemeinen, andererseits
mit dem Immateriellen nicht eine schimpfliche Äquivokation
impliziere.
Die Geistigkeit des allgemeinen Begriffs gegenüber der
Materialität der individuellen, sinnlichen Vorstellung gilt in der
peripatetischen Schule als etwas Zweifelloses. Die arabischen
Philosophen betonten dieselbe, freilich unter neuplatonischen Ein-
flüssen in einem Mafse, dafs sie glaubten, durch fortgesetzte
Verallgemeinerung mit den getrennten Naturen, den reinen
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Der SchluXs auf das Sein dea reinen Grelates. 189
Geistern und Gott selbst sich in unmittelbare Verbindung setzen
zu können. Dies ist nun allerdings nicht die Lehre des Aquinaten:
wenn nicht das Dogma der christlich katholischen Kirche, die
Autorität des ^Philosophen'' selbst würde ihn vor einer solchen
Annahme bewahrt haben. Aus den abstrakten Begriffen läfst
sich eine Erkenntnis des rein Geistigen, jedoch nur eine unvolU
kommene schöpfen. Der arabische Philosoph (Ayempace, Ibn
Badscheh) wäre im Rechte, wenn die immateriellen Substanzen
nichts anderes wären, als die Formen und Spezies der materiellen
Dinge, wie die Platoniker angenommen haben. Wenn aber, wie
wir festhalten müssen, die geistigen Substanzen ganz anderer
Art sind als die Wesenheiten der materiellen Dinge, so wird
keinerlei Abstraktion der Wesenheit materieller Dinge von der
Materie zu etwas, der geistigen Substanz Ähnlichem führen.
Daher können wir durch die materiellen Substanzen die imma-
teriellen Wesen nicht yoUkommen erkennen. [S. Theoh I. qu.
88. art. 2. c]
Sind wir nicht vielleicht aus dem, von Thomas hier ange-
führten Grunde ohne Berechtigung, den Schlufs von der Imma-
terialität der reinen Geister auf die Eigenartigkeit ihrer indi-
viduellen Natur zu ziehen?
Dieser Zweifel nötigt uns, noch tiefer in Sinn und Bedeutung
des AllgeQieinen und Abstrakten einzudringen. IJm nämlich in
unserer Frage klar zu sehen, sind die transzendentalen,' die Gat-
tungsbegriffe und die Begriffe der speziellsten Arten einerseits,
andererseits aber die Begriffe von Substanzen und Accidenzen
zu unterscheiden. Da es sich an diesem Orte um den Schlufs
von der Seinsweise, welche materielle Substanzen im denkenden
Geiste annehmen, auf die Seinsweise immaterieller Substanzen
handelt, so werden wir von den accidentellen Wesenheiten abzu-
sehen und nur die substanziellen in Betracht zu ziehen haben.
Die letzteren aber werden nicht allein durch letzte Differenzen,
sondern auch durch Gattungsbegriffe und transzendentale Begriffe,
wie Sein, Eins u. dgl. bestimmt. Begriffe der beiden letzten
Arten nun sind abstrakt nicht nur im Sinne der Immaterialität,
also im Gegensatz zum materiellen Sein, sondern auch in jenem
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190 Die Lehre d. hl, Thomas q. s. Schule Tom Prinzip d. Indinduation.
Sinne, in welchem das Abstrakte dem Konkreten entgegengesetzt
wird. Wenn dasjenige, was in solchen transzendentalen nnd
Gattungsbegriffen vom Verstände anfgefafst wird, der Existenz
unfähig ist, so liegt der Grand davon nicht in der Immaterialität
dieser Begriffe, sondern in ihrem Mangel an Eonkretheit, nämlich
darin, dafs Sein nur als dieses oder jenes bestimmte Sein, z. B.
als endliches oder unendliches, mögliches oder wirkliches, und
auf analoge Weise Substanz nur als geistige oder körperliche
gegeben sein kann. Denn als existenzfähig kann nur dasjenige
bezeichnet werden, was eine um und um bestimmte Wesenheit
besitzt. Eine solche aber ist vom Standpunkte der Logik in den
untersten Arten, den species specialissimae gegeben.
Wir sagen: Vom Standpunkt der Logik; denn es bleibt
gleichwohl noch fraglich, ob solche speziellste Arten konkrete,
existenzfähige Wesenheiten seien?
Im Sinne des Aristoteles, Albert des Grofsen, und des
hl. Thomas ist zu sagen, dafs solche unterste Arten konkrete,
existenzfähige Wesenheiten seien, sobald in ihren Begriffen keine
Beziehung auf den Stoff liegt. Denn, drückt ihr Begriff eine
Wesenheit aus, die nur im Stoff realisierbar ist, so wird eben
damit diese Wesenheit zu einer allgemeinen, und tritt insofeme
in die Linie anderer allgemeiner und in solchem Sinne — nämlich
im Gegensatz zum „konkreten'' — abstrakter Wesenheiten. Denn,
was im Stoffe realisierbar ist, das ist in ihm auch multiplizierbar,
d. h. kann in einer Mehrheit gleichartiger Individuen existieren.
Sobald nämlich in einer logisch vollkommen bestimmten
Spezies eine notwendige Beziehung auf den Stoff enthalten ist,
liegt das eigentliche Hindernis der Unfähigkeit zu existieren nicht
in dem Mangel an Bestimmtheit und Eonkretion, in der Abstrakt-
heit in diesem Sinne, sondern in der Materialität einer solchen
Spezies, die in der formalen Immaterialität, die sie im denkenden
Geiste besitzt, nicht existenzfähig ist, sondern des Stoffes bedarf,
um aufserhalb des Geistes bestehen, d. h. existieren zu können.
[In diesem Sinne wird die Differenz zwischen Flaton und Aristo-
teles an verschiedenen Stellen vom hL Thomas dargestellt. Statt
vieler eine! „Quidam ut Flatonici posuerunt formas rernm sensi-
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Platonische und aristotelische Denkweise. 191
bilinm esse a materia separata», et sie esse intelligibiles acta, et
per eamm participationem a materia aensibili effici individna in
natura 9 earum vero partioipatione humanas mentes ecientiam
habere . . . Sed haec positio a Philosopho safficienter reprobata
est; qui ostendit, quod non est ponere formas sensibiliam remm
nisi in materia senBibiU; cam etiam nee sine materia sensibili in
nniversali forroae universales intelligi possent, sicut nee simns sine
naso.'^ De veritate qa. X. art. 6. c]
Erläutern wir unseren Gedanken an Beispielen! Nehmen
wir an, die Begriffe von Rose, Lilie, Eiche, Buche u. s. w.
repräsentieren derartige speziellste Arten, so liegt es im Begriffe
dieser Wesenheiten Wurzel, Blätter, Blüten zu haben, mit anderen
Worten, sollen sie verwirklicht werden, so kann dies nur im
Stoffe geschehen. Es gilt dies von allen Pflanzen, Tieren, Men-
schen [Auf die spezielle Schwierigkeit, welche die Fortdauer
der menschlichen Seele nach dem Tode der thomistischen Theorie
zu bereiten scheint, werden wir im weiteren Verlaufe unserer
Darstellung zu reden kommen.], um von unorganischen Wesen
zu schweigen: der ideale, im Begriffe gedachte Typus, obgleich
einer weiteren, logischen Determination nicht fähig und in diesem
Betracht konkret, kann doch nicht als solcher in seiner idealen,
immateriellen Reinheit anfserhalb des Geistes, der ihn denkt, da
sein, weil er zu seiner Verwirklichung des Stoffes bedarf, und
es nun einmal eine Rose, Eiche u. s. w. ohne realstoffliche Gi'uud-
läge nicht geben kann.
Hier scheint der Ort zu sein, die Differenz platonischer und
aristotelischer Denkweise etwas genauer ins Auge zu fassen.
Der Stagirite tritt der Ideenlehre Piatons aus zwei Gründen,
oder in zwei Punkten entgegen. Der erste Punkt betrifft die
Übertragung der logischen Ordnung auf das reale Gebiet, die
bei Piaton in der Weise geschieht, dafs er die intelligible Welt
der Ideen in derselben Weise sich gliedern und entfalten läfst,
wie dies der menschliche, vom Allgemeinen zum Besondern fort-
schreitende, logische Gedankengang mit sich bringt Dieser
Vermischung des Logischen und Realen setzt Aristoteles seine
strenge Scheidung von Logik und Metaphysik, logischer und realer
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192 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale Tom Prinzip d. Individaatlon.
Ordnung entgegen, ohne Beinerseits in das Extrem einer isolierten
,,formalen" Logik zu verfallen.
Der zweite Funkt bezieht sich auf die Hjrpostasierung der
Ideen körperlicher Wesen, die doch, um eine vom Gedanken eines
denkenden Subjekts verschiedene, objektive Sioalität zu besitzen,
der Verwirklichung im Stoffe bedürfen. Dagegen stellt Aristoteles
durchaus nicht in Abrede, dafs es Begriffe geben könne, denen
unmittelbar eine Realität entspricht, in denen, wie er sich aus-
drückt. Fleisch und Fleisch-sein, Subjekt und Wesenheit eins
und dasselbe sind. Solche Naturen aber sind eben die Intelli-
genzen. Daher kann es auch keinem Zweifel unterliegen, dafs
der englische Lehrer durchaus im Geleise des aristotelischen
Denkens sich bewegt, wenn er, abgesehen von der menschlichen
Seele, der die Beziehung auf den materiellen Leib natürlich ist,
jede Intelligenz als ein Wesen eigener Art betrachtet.
Wenden wir uns noch einmal zu dem gegen diese Annahme
erhobenen Vorwurf der schimpflichen Zweideutigkeit zurück, so
dürfen wir, um bei unseren Beispielen zu bleiben, fragen, ob
die Begriffe Rose, Lilie, Eiche, in denen wir letzte Arten denken,
abstrakt seien, nur im Sinne der Unbestimmtheit, der Trennung
dessen, was nur die Seele auseinander hält, in Wirklichkeit aber
vereinigt ist, mit einem Worte im Sinne jener Abstraktion, die
Falmieri im Auge hat, und von der er sagt, sie geschehe per
conceptionem mentis, quod omnibus ideis universalibus competit;
oder ob zugleich und vor allem im Sinne des Freiseins von
der Materie — esse expers materiae. Falmieri erklärt dies
durch „Geist sein'' während es ganz allgemein von der Form
geistigen Seins überhaupt gilt, unabhängig davon, ob es sich um
Substanzen oder Accidenzen handelt. Denn allerdings werden
die körperlichen Dinge dadurch, dafs sie von uns gedacht werden,
nicht zu Geistern. Dessenungeachtet aber nehmen sie in der
idealen Sphäre des Denkens gewissermafsen eine geistige, weil
immaterielle Seinsweise an.
Ergibt sich doch schon aus dem allgemeinen und unbestreit-
baren Grundsatze, dafs die Erkenntnisweise der Seinsweise des
Erkennenden entsprechen müsse, die Eonsequenz, dafs das Materielle
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Die nominalistisohe Auffassung der Abstaraktion. 193
nur durch ein geistiges Bild erkannt werden könne; dafs es also,
am in den Intellekt aufgenommen werden zu können» seiner stoff-
lichen Existenzweise YoUkommen entkleidet, vergeistigt, in diesem
Sinne abstrakt werden müsse.
Falmieri unterscheidet die Abstraktheit des allgemeinen Be-
griffes von der Freiheit von Materie. In einem gewissen Sinne,
wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, mit Recht. Anderer^
seits aber beachte man, dafs gerade die Allgemeinheit des Be-
griffes, oder die Fähigkeit desselben, von mehreren prädiziert zu
werden, seinen Grund in der immateriellen Auffassung des durch
ihn Gedachten hat. Jeder Begriff ist dadurch allgemein, dafs
er von dem hie et nunc oder von den Bedingungen der Materie
abstrahiert, und diese Art von Abstraktheit ist es zunächst, die
den allgemeinen Begriff als solchen charakterisiert, nicht jene,
welche durch gesonderte Betrachtung seiner Merkmale entsteht.
Der gegen die thomistische Lehre geschleuderte Vorwurf
erklärt sich aus der völlig verschiedenen Auffassung des Bildungs-
Prozesses unserer Allgemeinbegriffe. Der Palmierische Begriff der
Abstraktion ist ein ganz anderer als derjenige, den wir bei Thomas
gefunden haben. Jene unwillkürliche Abstraktion, die aus der
unter der Thätigkeit des intellectus agens erfolgenden immateri-
ellen Aufnahme eines materiellen Erkenntnisobjektes stattfindet, ist
dem vormaligen römischen Professor eine unverständliche, veraltete
Sache. Ihm findet alles Erkennen durch Bildung einer Vorstellung
bei Gegenwart des Objektes statt Diese Vorstellung kann keine
andere als eine individuelle sein. An ihr nimmt der Verstand
seine trennenden und verbindenden Operationen vor, indem er das
Gemeinsame iiir jsich betrachtet und vom Eigentümlichen absieht
Kurz, es ist im wesentlichen die nominalistisohe Ansicht von der
Abstraktion und den Allgemeinbegriffen. Die wahren Vorgänger
Palmieris sind nicht Albert und Thomas, sondern Durandus und
Occam. In dieser nominalistischen Richtung liegt denn auch das
wahre Motiv fiir die Bestreitung der thomistischen Lehre vom
Individnationsprinzip mit ihren notwendigen Konsequenzen: für
uns ein neuer Beweis von dem Zusammenhang dieses Lehrpunktes
mit den wichtigsten Teilen des thomistischen Systems. Denn
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1 94 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip <L Individuation.
darüber dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben, dafs die
nominalistische Auffassung der Allgemeinbegriffe wie eine korro-
sive Säure wirkt, die alles zerstört, womit sie in Berührung tritt
Wäre der Nominalismus begründet, so müfste der stolze Bau
der thomistischen Metaphysik in Trümmer sinken. Bevor wir
aber diese Fäden der „Gedanken-Fabrik'^ weiter verfolgen, sei
noch einmal auf das Verhältnis aufmerksam gemacht, in welchem
platonische und aristotelische Denkweise mit Bezug auf den
Gegenstand unserer Untersuchung zu einander stehen. Dafs die
Körperwelt mittels der substanziellen Formen gleichsam ideal
durchleuchtet und eben deshalb auch dem Verstände erkennbar
sei: diesen Gedanken hält der gröfsere Schüler mit dem grofsen
Meister fest Freilich in einer Weise, durch die er erst wahr-
haft zu seinem Rechte kommt; denn nach platonischer Ansicht
würden wir durch die Begriffe nicht erkennen, was wir erkennen
und erforschen wollen, die Welt, die wir erfahren, und in der
wir leben, sondern eine andere, von ihr völlig verschiedene über
ihr. Die substantiellen Formen des Aristoteles sind nicht etwas
Jenseitiges, sondern das immanente Wesen des Stofflichen, in
diesem aufgenommen und wahrhaft individuiert Das Wesen des
Einzelnen beruht daher nicht auf einer nebelhaften und ins Un-
bestimmte verschwimmenden Anteilnahme des Einzelnen an einem
von ihm verschiedenen und allein wahrhaft seienden Allgemeinen,
und darf daher auch nicht als eine blofse Erscheinungsform eines
solchen aufgefafst werden. Der allgemeinen Idee als solcher
kommt daher auch ein wirksamer Einflufs auf das Werden der
Dinge nicht zu. Die Idee wirkt nur als vorbildlicher Gedanke
eines wirkenden Prinzips, einer causa efßciens. Diese aber ist
individuell; ein Individualwesen bringt ein anderes Individual-
wesen hervor.
Aufser den bereits hervorgehobenen Differenzpunkten ist
dies der dritte, der die Theorie des Aristoteles von der plato-
nischen Lehre unterscheidet Es ist seine Auffassung des Werde-
prozesses, durch welche Aristoteles die in der platonischen Ideen-
lehre enthaltenen Elemente eines falschen, idealistischen Satio-
nalismus ausscheidet, ohne deshalb das ideale, zur Begründung
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Platonische Idee und aristotelisches Bewegungsprinzip. 195
wahren Wissens — allgemeiner und notwendiger Erkenntnis —
eingeführte Homent jener Lehre preiszugeben. Die wirkende
Ursache nämlich wirkt als Form, oder wenn sie nicht reine Form
ist, nach ihrer Form. Diesem Grundsätze gemäfs bringen Natur-
Ursachen Wirkungen hervor, die ihnen spezifisch oder generisch
ähnlich sind, der Mensch einen Menschen, die Sonne zwar nicht
wieder Sonnen, sondern Sonnenhaftes, wie die Farbenglut tro-
pischer Pflanzen. Geistige Ursachen aber wirken nach den
intellektuellen Formen des Verstandes, den Ideen. So erklärt
sich die potentielle, weil durch die Materie gebundene, und
gleichsam verunreinigte, in die zeiträumliche Daseinsweise des
Hier und Jetzt herabgezogene, und deshalb durch die abstra-
hierende Thätigkeit des Verstandes erst zu entbindende
Intelligibilität der materiellen Dinge, ohne dafs es nötig wäre,
mit Piaton die Realität des Einzelnen durch ein unklares Ver-
hältnis zu den hypostasierten Begriffen von Dingen, die zwar
eines geistig oder vergeistigt idealen, nämlich im Verstände,
nicht aber eines geistig realen Seins, wie es Piaton ihnen ange-
dichtet, fähig sind, in Gefahr zu bringen.
Als eine Nachwirkung des platonischen Gedankens haben
wir es anzusehen, wenn arabische Peripatetiker einerseits im
Werdeprozefs den wirkenden Ursachen nur die Vorbereitung
des Stoffes, die Einfuhrung der Form aber dem Einflufs einer
getrennten Intelligenz zuschreiben, und wenn dieselben Philo-
sophen im Erkenntnisprozefs andererseits die Einwirkung
der Dinge auf Sinn und Verstand auf eine blofse, einer höheren
Intelligenz gebotene Veranlassung, die Ideen der Seele einzu-
flöfsen, reduzieren.
^
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DIE LEIDENSCHAFTEN.
ABHANDLUNG
VOH
Dr. OTTEN,
pbIses des seminabium liboriamum zu padeebobh.
§3.
Appetitus senHHvus und inteUecHvus näher beieuchtet. .
Im Yorigen § wurde als Lehre der Scholastiker der Satz
aufgestellt, dafs ein appetitus naturalis bei jedem Vermögen sich
vorfinde oder, mit anderen Worten, eine vom Schöpfer dem
Vermögen gegebene Bestimmung und Neigung zu einer bestimm-
ten Thätigkeit Demnach kommt auch dem höheren Begehrungs-
vermögen, dem Willen, ein derartiger appetitus zu. Der Wille
ist eben auch eine Natur, die nach des Schöpfers Anordnung
einen bestimmten Zweck verfolgt. Dieser natürlichen Bestimmung
kommen alle Eigenschaften zu, welche dem appetitus naturalis
zugeschrieben werden. Eine treiSTliche Auseinandersetzung in
Bezug hierauf findet man bei Thomas q. 22. de verit. a. 5. „In
geordneten Dingen mufs die erste Weise in der zweiten einge-
schlossen sein, und in dem Nachfolgenden mufs sich nicht nur
das vorfinden, was ihm seinem eigentümlichen Begrifie nach
zukommt, sondern auch was ihm nach dem Begriffe des Ersten
zusteht, wie dem Menschen geziemt, nicht nur der Vernunft sich
zu bedienen — das ist seiner eigentümlichen Differenz gemäfs,
der Vernünftigkeit — sondern auch der Gebrauch des Sinnes
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Appetitiu sendtivuB and inteUectivas näher beleuchtet 197
oder der Nahrung — dae verlangt sein Genus: lebendes Wesen . . .
Die Natur aber und der Wille sind so geordnet, dafs der Wille
selbst eine Natur ist, weil alles in den Dingen Befindliche eine
Natur genannt werden kann. Deshalb mufs im Willen nicht nur
das sein, was dem Willen zukommt^ sondern auch, was der Natur
gebührt Einer jeden geschaffenen Natur ist es eigen, dafs sie
Ton Gott die Bichtung auf Gutes erhalten, wonach sie natürlich
notwendig strebt Aus dem Grunde ist im Willen selbst ein
natürlicher appetitus nach dem ihm geziemenden Guten, und
aofserdem besitzt er die Kraft, etwas seiner eigenen Bestimmung
nach, nicht aus Notwendigkeit zu erstreben, was ihm gebührt,
insofern er Wille ist. Wie aber die Ordnung der Natur zum
Willen, so ist die Ordnung dessen, was der Wille natürlich not-
wendig will, zu dem, wozu er sich selbst bestimmt Daher ist
das natürlich erstrebte Objekt der Grund und das Prinzip der
übrigen erstrebbaren Objekte, wie die Natur der Grund des
Willens isf Mit Recht bemerkt Gajetan, dafs hier nicht zwischen
Natur und Wille unterschieden ist, wie zwischen zwei verschie-
denen Dingen, sondern der Wille kann betrachtet werden als
irgend ein bestimmtes Sein und als Ursache, die, wie früher
auseinandergesetzt, sich selbst bestimmt Als Bein ist er eine
res apta nata volle, ein Etwas, dessen natürliche Bestimmung es
ist zu wollen. In der Beziehung kommt dem Willen eine not-
wendige, determinierte Thätigkeit zu, zu wollen, mit Ausschlufs
jeder anderen Thätigkeit, es kommt ihm ein bestimmtes Objekt
so, das Gutsein, mit Ausschlufs jedes anderen, nicht das Wahre,
nicht das Sein als solches. Wäre der Wille keine bestimmte
Natur, kein Sein, so wäre er nichts, wäre auch keine freie Ur-
sache. Deshalb nennt Thomas den Willen als Natur die Grund-
lage, das Prinzip des Willens als freier Ursache. Und wiederum,
wäre der Wille nicht zu einem Objekte determiniert, zum Gut-
sein, dann würde er auch nicht dieses oder jenes Gute wählen
können, d. h. er wäre keine freie Ursache. Eine gute Analogie
bietet uns das körperliche Auge; wäre dasselbe nicht eingerichtet
for das Farbige, das Lichte überhaupt, so würde es gar keinen
bestimmten lichten Körper sehen können. Darum sagt Thomas
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198 Die Leidenschaften.
richtig: Das Objekt, was der Wille notwendig begehrt, ist daa
Prinzip aller der Gegenstände, welche von ihm erstrebt werden.
Dieses Objekt, welches einer Potenz notwendig zukommt, wird
genannt objectam proprium, das Objekt, welches ihm allein mit
Ausschlufs aller übrigen Potenzen eigentümlich ist. Im Gesagten
liegt die Erklärung für den im vorigen § angewandten Satz:
„Eine jede Potenz hat eine gewisse notwendige Beziehung zu
ihrem eigentümlichen Objekte.'^
Wenn oben dem Willen eine notwendige Neigung zuge-
schrieben wird, so könnte noch die Frage auftauchen : Soll damit
gesagt sein, dafs der Wille notwendig die aktuelle Neigung habe,
dafs der Akt ein notwendiger, oder dafs nur eine bestimmte
Richtung notwendig sei? Die Scholastiker stellten die Frage
so: Ist die Neigung eine natürlich notwendige quoad exercitium
actus oder quoad specificationem actus? Offenbar das letztere.
Doch könnte der Fall eintreten, dafs auch der actus notwendig
ist, wenn nämlich dem Willen ein Objekt gegenüberstände, welches
die ganze Fülle des Gutseins enthielte und als solches erkannt
würde, dann wäre dorn Willen unmöglich, es nicht zu wallen.
Siehe hierüber den Kommentar Cajetans zu Summ, theol. L q.
82. a. 1. Da der Mensch sein Streben auf existierende, also
Einzeldinge richtet, so versteht man gewöhnlich unter Willen
denselben als freie Ursache, nicht den Willen als Natur betrachtet
Obwohl bereits der Unterschied zwischen appetitus sensitivus
und intellectivus in den Grundzügen auseinandergesetzt ist, so
dürfte eine Gegenüberstellung der einzelnen Punkte, in denen
sie differieren, zum klareren Verständnisse dienen.
I. Unterschied in Bezug auf die Weise der Thätigkeit
Das sensitive Begehrungsvermögen determiniert sich nur die
Richtung, ist aber gebunden in Beziehung auf den Akt, das in-
tellektive ist frei in Wahl der Richtung und des Aktes. In
vollendeter Kürze fafst Thomas das früher hierüber Gesagte zu-
sammen. „Das Prinzip einer jeden Thätigkeit ist die Form, durch
welche ein Wesen actu ist. Nach der Art der Form mufs also
die Art der Thätigkeit sich richten, welche auf die Form folgt
Die Form nun, die nicht von dem durch eine Form thätigen
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AppetituB sensitiTus nnd intellecÜTaB näher beleuchtet. 199
Wesen selbst stammt, yerursacht eine Thätigkeit, über die der
Thätige nicht Herr ist. Gibt es aber eine Form, die von dem
durch sie Wirkenden gegeben ist, so wird er auch die Herr-
sobaft über die nachfolgende Thätigkeit haben. Die natürlichen
Formen, ans denen die natürlichen (notwendigen) Bewegungen
und Thätigkeiten hervorgehen, kommen nicht von denen, deren
Formen sie sind, sondern ganz nnd gar von aufsen, da ein jedes
Ding durch die natürliche Form sein wesentliches Sein erhält.
Nichts aber kann sein eigenes Sein verursachen, und deshalb be-
wegen diejenigen sich nicht selbst, die in natürlicher Weise bewegt
werden. Denn nicht bewegt das Schwere sich selbst nach ab-
wärts, sondern der Schöpfer, der ihm die Form gegeben. Auch in
den vemunftlosen lebenden Wesen sind die sinnlich wahrgenom-
menen oder vorgestellten bewegenden Formen von den Tieren
selbst nicht erfunden, sondern von den auf die Sinne wirkenden
Anfsendingen her in sie aufgenommen und durch natürliche
Schätzung beurteilt Obgleich von ihnen deshalb gewissermafsen
gesagt wird, dafs sie sich selbst bewegen, insofern ein Teil derselben
bewegend ist, ein anderer bewegt, so ist dennoch das Bewegen
selbst ihnen nicht aus sich zugekommen, sondern zum Teil von
den erkannten Anfsendingen, zum Teil von der Natur. Insofern
nämlich der appetitus die Glieder bewegt, sagt man: sie be-
wegen sich selbst — ein Vorzug vor den leblosen Wesen und
Pflanzen. Insofern aber das Begehren selbst mit Notwendigkeit
in ihnen erfolgt aus den durch die Sinne aufgenommenen Formen
und dem urteil der natürlichen Schätzungskraft, sind sie sich
nicht Ursache ihrer Bewegung; deshalb haben sie nicht das
Herrscherrecht über ihren Akt. Die geistig erkannte Form,
durch welche die intellektuelle Substanz wirkt, ist vom Intellekt
selbst, sie ist nämlich durch ihn erfafst und in gewisser Weise
erdacht. Darum bewegen die geistigen Substanzen sich selbst
zu Thätigkeiten, indem sie über ihre Akte herrschen.'' (Summ,
phil. IL 47.)
IL Unterschied in Bezug auf den Sitz des Begehrens.
Der appetitus sensitivus ist an ein körperliches Organ gebunden,
der Wille ist in einer immateriellen, körperlosen Substanz. Weil
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200 Die Leidenschaften.
,,alle Bensitiven Kräfte Akte (actus, Vollkommenheiten) körper-
licher Organe'^ (Summ, theol. I. II. q. 9. a. 5.) Bind, gilt dieses
auch vom sensitiven Begehrungeyermögen. Actus organi cor-
poralis nennt Thomas den appetitns sensitivus. (A. a. 0.) Auf
das Gebundensein an ein körperliches Organ stützt derselbe Phi-
losoph die Lehre, dafs genanntes Begehrungsvermögen nur in
beschränkter Weise sich selbst bewegt. „Die sensitive Strebe-
kraft hat ein körperliches Organ und deshalb nähert sie sich
den Zuständen der Materie und der körperlichen Dinge, dafs sie
mehr bewegt wird, als ^ sich bewegt" (De verit q. 22. a. 4.)
Aus demselben Grunde verbindet sich mit der Thätigkeit dieses
Vermögens eine körperliche Zustandsänderung (transmutatio cor-
poralis), im Gegensätze zum geistigen Strebevermögen. „Die
körperliche Zustandsänderung findet sich in den Akten des sen-
sitiven Begehrens, und nicht beim Akte des intellektiven, weil
dieses Begehrungsvermögen nicht die Vollkommenheit eines körper-
lichen Organs ist'' (Summ. th. I. II. q. 22, a. 3.) Eine freiere
Stellung in Bezug auf die Selbstbestimmung gebührt dem Willen,
„insofern er sich keines körperlichen Organs bedient; denn in-
dem er von der Natur des Beweglichen, des Bewegten sich
entfernt, nähert er sich der Natur des Bewegenden und Treiben-
den.'' (De verit q. 22. a. 4.) Beim appetitus sensitivus ist nicht
das körperliche Organ allein, nicht die Seelenkraft allein, son-
dern das „conjunctum^, das beseelte Organ Prinzip der Thätig-
keit (principium quod). Das Organ wird nicht zur reinen Be-
dingung, ohne welche ein sensitives Begehren nicht möglich wäre,
sondern belebt durch die Seele der eigentliche Sitz der Thätigkeit,
das eigentliche Subjekt Das Organ verhält sich zur Seelenkraft
wie die Materie zum Akt, so dafs, obwohl nur das Kompositum
thätig ist, doch die Seele das bestimmende Prinzip ist (princi-
pium quo). „Es ist offenbar, dafs die Potenzen des sensitiven
Teils der Seele im Kompositum sind, als dem Subjekte, aber sie
sind von der Seele, gleichwie vom Prinzipe." (De anima. a. 19.)
Endlich ist noch zu bemerken, dafs ,Jeder Akt eines Vermögens,
welches eines körperlichen Organs bedarf, nicht allein von der
Kraft der Seele abhängt, sondern auch von der Disposition de«
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Appetitas sensitivus ood intellectiYus näher beleuchtet. 201
körperlichen Organs, wie das Sehen von der Sehkraft und der
Beschaffenheit des Auges, durch die es unterstützt oder behindert
wird. Deshalb hängt der Akt des sinnlichen Begehrens nicht
allein von der Strebekraft ab, sondern auch von dem körper-
lichen Zustande." (Summ, theol. I. IL q. 17. a. 7.)
III. Unterschied bezüglich der vorhergehenden Er-
kenntnis. Der Akt des sinnlichen Vermögens ruht auf sinn-
lichem Erkonntnisakte. Doch mufs der Gegenstand des Erkennens
ein Ding nach seiner Eonvenienz und Güte sein, nur das Kon-
▼eniente yermag das Begehren zu reizen. Deshalb kann der
Gesichtssinn, sofern er nur Farben, nicht aber deren Konvenienz
wahrnimmt, das Begehren unmittelbar nicht hervorrufen. Sobald
aber dem Tiere ein Gegenstand bezüglich des äufseren Sinnes
als betrübend oder ergötzlich entgegentritt, regt sich die Be-
gehrungskrafb. Von besonderer Wichtigkeit ist hier die sog.
vis aestimativa, jener innere Sinn, wodurch an den Dingen etwas
den äufseren Sinnen Unzugängliches (intentiones insensatae) wahr-
genommen wird, wie Nützlichkeit, Schädlichkeit, Freundschaft
und Feindschaft. Dafs derartiges vom Tiere erkannt wird und
von diesem Erkennen vor allem die Bewegung der Strebekraft
ausgeht, spricht Thomas im 4. Art. q. 78. im ersten Teile seiner
Summ, theol. aus. „Wenn das Tier nur wegen solcher Gegen-
stände bewegt würde, die dem äufseren Sinne nach ergötzlich
oder betrübend sind, so bedurfte es im Tiere auch nur der Er-
fassung jener Formen, die der Sinn wahrnimmt, in denen es
sich ergötzt oder vor denen es zurückschreckt. Aber das Tier
mofs einige Dinge suchen oder fliehen, nicht allein weil sie zum
sinnlichen Wahrnehmen konvenient oder nichtkonvenient sind,
sondern auch wegen anderer Eigenschaften der Angemessenheit
and des Nutzens oder Schadens; wie das Schaf den Wolf kommen
sieht und vor ihm flieht, nicht ob unziemlicher Farbe oder ob der
Mifsgestaltung, sondern gleichsam vor einem natürlichen Feinde.
In ähnlicher Weise sammelt der Vogel Stroh, nicht weil es für
den Sinn ergötzlich, sondern weil es zum Nestbau dienlich ist
Derartige Eigenschaften, die der äufsere Sinn nicht wahrnimmt,
mufs demnach das Tier erkennen." Der appetitus sensitivus,
Jahrbach für PbUosophie etc. I. 14
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202 Die Leidenschaften.
sagt Thomas an verschiedenen Stellen, ist seiner Natur nach
dazu veranlagt, von der Schätznngskrafb (vis, virtus aestimativa)
bewegt zu werden. „Das sinnliche Begehren wird nicht nur
von der Schätznngskrafl, sondern auch von der Vorstellangskraft
und dem Sinne bewegt'' (Summ. theoL I. q. 81. a. 3.) Wie
oben bemerkt, ist die Erfassung einer Form ohne Erkenntnis
ihrer Eonvenienz oder Niohtkonvenienz nicht imstande, das Be--
gehren zu wecken. Eonvenienz und Nichtkonvenienz sind aber
Beziehungen (relationes), welche folglich notwendig vom Begehren«
den erfafst werden müssen. Eine treffliche Erläuterung diese«
Punktes bietet uns Cajetan. ,,Da8 Erfafste, als der Grund der
Thätigkeit, reizt das Begehren, aber die Eonvenienz oder Nicht-
konvenienz, insofern sie erfafst ist, macht ihren Einflufs geltend.
Denn in welch geziemender Weise auch immer ein Frierender
sich wärmte, wenn er es nicht als konvenient in seiner Thätig-
keit (in actu exercito, ut exercet convenientiam) erfafste, würde
er sich nicht daran ergötzen. Noch offenbarer tritt dieses hervor
in dem Lustgefühl oder Unlustgetühl, welches der Yorstellunge-
kraft oder dem vernünftigen Erkennen folgt Das Schaf würde
wohl niemals den Wolf fliehen, wenn es denselben nicht als
„unangemessen'' erkannte, den Charakter eines Feindes ihm zu-
legen müfste. und fortdauernd lehrt die Erfahrung, dafs wir ob
wechselnder Beziehungen, Eonvenienz oder Nichtkonvenienz be-
treffend, die an einem Gegenstande erfafst werden, von Lust zur
Unlust und umgekehrt übergehen. Manche lassen sich täuschen,
weil sie nicht beachten, dafs die Beziehungen als erkannte
wohl zu den verursachenden, thätigen Formen gehören, obgleich
sie durch ihre Seinsweise denselben fern stehen. Wer das leugnet»
mufs auch auf die Schätzungskraft verzichten, deren Objekt die
aus den sinnlich erkannten Dingen wahrgenommenen, durch
äufseren Sinn unerfafsbaren Eigenschaften (Beziehungen) sind,
wie nützlich, freundlich, feindlich u. s. w., durch welche in den
lebenden Wesen die Leidenschaften hervorgerufen werden.**
(Cajetan zu Summ, theol. I. II. q. 32. a. 1.) Weil nach der
Lehre der Scholastiker dem Tiere und dem Menschen eine sinn-
liche Natur beizulegen ist, wenn auch in letzterem durch die
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J
Appetitns aensitivas und intellectivus näher beleuchtet. 203
Verbindung mit der Yernünfbigen Natar zu höherer Vollkommen-
heit erhoben, so dürfen -wir in beiden Wesen eine vis aestimativa
annehmen. Doch ist die vis aestimativa im Yollkommneren Men-
schen eine vollkommnere und trägt deshalb den Namen vis cogi-
tativa. Worin die gröfsere Vollkommenheit besteht und welchen
Einflufs dieselbe auf das sinnliche Begehren des Menschen aus-
übt, darüber spater. Vorläufig ist schlechthin von der vis aesti-
mativa die Bede, wie sie sich im Tiere findet. Das über Eonvenienz
und Nichtkonvenienz bezüglich des sinnlichen Begehrens Gesagte
gilt auch vom höheren, geistigen Erkennen, worauf sich der
Wille gründet „Wie die Vorstellung einer Form ohne Ab-
schätBung, ob konvenient oder schädlich, das sensitive Begehren
nicht reizt, so veranlafst auch nicht die Erfassung des Wahren
ohne den Begriff: gut und begehrenswert, ein Begehren.'' (8umm.
theol. I. II. q. 9. a. I. ad 2.) „Die erkannte Form ist das be-
wegende Prinzip, insofern sie unter dem Begriffe: gut oder kon-
venient erfa&t wird." (Summ.- phil. II. 48.) Ein Urteil, und zwar
hier beim geistigen Vermögen in eigentlicher Bedeutung, über
Eonvenienz oder Nichtkonvenienz mufs dem Begehren voraus-
gehen. Aus der Freiheit dieses Urteils, welches nicht von der
Natur determiniert ist, wie bei den vemunftlosen Wesen, schlielfit
Thomas auf die Freiheit des geistigen Begehrens oder Freiheit
des Willens. Vgl. Summ. phil. IL 48.
IV. Die Verschiedenheit des sinnlichen und geistigen Er-
kennens und beider Objekte ergibt einen neuen Unterschied zwi-
schen appetitus sensitivus und intellectivus rücksichtlich ihrer
Objekte. Das sinnliche Erkennen beschäftigt sich nur mit sinn-
lichen Dingen, welche stets individuell oder partikulär sind.
Deshalb geht das sinnliche Begehren nicht über die partikulären,
sinnlichen Einzeldinge hinaus. Manches wird jedoch vom In-
tellekte erfafst, was den Sinnen unerforschbar ist, und kann
folglich „durch den appetitus intellectivus begehrt werden, die
immateriellen, geistigen Güter, wie Wissenschaft, Tugenden und
derartiges." (Summ, theol. I. q. 80. a. 2. ad 2.) Als höhere
Potenz, die zugleich alle Objekte der niederen umfafst, strebt
das geistige Begehren auch nach den aufserhalb der Seele be^
14*
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204 Die Leidenschaften.
findlichen Einzeldingen. Darin kommen beide BegehrungByer-
mögen überein, aber das geistige Vermögen strebt nach den
Einzeldingen ^ygemäfs eines allgemeinen Grrondes^ wie wenn es
etwas begehrt, weil es gut isf (A. a. 0.) Der unterschied
läfst sich so ausdrücken : Das intellektive Begehren erstrebt ein
einzelnes, partikuläres Gut, welches unter einem allgemeinen
Gesichtspunkte (Grund, secundum rationem uniyersalem) erfafet
ist, das sensitive aber nicht. Gegen diesen Satz lassen sich zwei
Einwendungen machen, die zugleich mit den Widerlegungen dem
Kommentar des Gajetan entnommen sind. Die Auseinandersetzung
derselben wird auf das vorher Gesagte helleres Licht werfen.
Wie kann der Wille als geistiges Vermögen auf ein Einzelding
gerichtet sein, da der Intellekt, worauf er sich stützt, das All-
gemeine in den Dingen erkennt, während das Partikuläre (unter
bestimmten Verhältnissen des Ortes und der Zeit, sub condi-
tionibus hie et nunc) dem sinnlichen Erkennen unterliegt? Der
Intellekt hat allerdings als erstes Objekt das Allgemeine (uni-
versale), aber er erkennt auch die Einzeldinge, wie, ob direkt
oder reflex, darauf kommt es hier nicht an; denn alles, was
der Intellekt direkt oder reflex erkennt, ist Gegenstand direkten
WoUens.
Wenn ferner gesagt wird, der Wille strebe nach den Einzel-
dingen auf einen allgemeinen Grund hin, so scheint das jedem
Vermögen zuzukommen. Das Gesichtsvermögen erstreckt sich auf
alles unter dem Gesichtspunkte: farbig. In der lateinischen
Sprache läfst sich der Einwand noch genauer fassen. Wir können
sagen: Color in communi ist das Objekt des Gesichtes, ebenso
wie wir sagen: Bonum in communi ist das Objekt des Willens.
Doch in der ersten Ausdrucksweise ist das in communi anders
zu fassen als in der zweiten. In der ersten, wie Gajetan treffend
bemerkt, ist es adverbial zu nehmen, so dafs color in conmiuni
bedeutet: „Das Objekt des Gesichtsvermögens ist color commu-
niter et universal iter, d. h. Farbe, in welchem Dinge, wann und
wo auch immer sie sich finden mag.'' Nicht nur dieses oder
jenes farbige Objekt, sondern jedes beliebige Ding, welches
koloriert ist, wird vom Auge wahrgenommen. In der zweiten
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Appetitus sensitivas and intellectlTUS n&her beleuchtet. 205
Ansdmcksweise ist in communi nominaliter oder, wie wir sagen,
attribnÜT zu nehmen, gleich bonum commune, bonum universale.
Objekt des Sehens kann color uniyersalis oder Farbe, abstrahiert
von allen individuellen Bestimmungen, nicht sein. Wohl kann
ich wissen, erklären, definieren, was Farbe (color universalis) ist^
aber ich sehe stets diese oder jene ganz bestimmte Farbe. Das
bonum commune ist das eigentliche Objekt des Willens, wie es
allein vom Intellekte eriafst wird; es ist das erste Objekt, dem
an zweiter Stelle als objecta secundaria alle Dinge folgen, in
denen das geistige Erkenntnisvermögen den Begriff: gut entdeckt
Eine zweite Bemerkung Cajetans wird durch die Unter-
scheidung eingeleitet zwischen terminus und ratio terminandi,
zwischen Objekt und der Bedingung (Eigenschaft), wodurch
etwas zum Objekte einer Thätigkeit erhoben wird. „Das Objekt
ist daa Ding selbst, auf welches das Erkennen oder Begehren
zielt, was nämlich erkannt oder begehrt wird. Die ratio termi-
nandi ist ihrem Namen nach jenes, wodurch das Objekt selbst
geeignet ist, jene Thätigkeit auf sich zu lenken. Wenn ich z. B.
dieses Weifse sehe, so ist Objekt oder terminus die gesehene
Sache, dieses Weifse, ratio terminandi ist die Weifse (albedo)
der Sache; denn durch sie ist diese weifse Sache formell ge-
eignet, als Zielpunkt des Sehens zu dienen.'' Wenden wir nun
diese Unterscheidung auf die vorhin gegebene an, „so kann das
Objekt unseres Begehrens vierfach sich ändern, je nachdem man
den terminus und die ratio terminandi des Begehrens mit ein-
ander paart. 1. Entweder sind beide universell (allgemein, ab-
strahiert von individuellen Bedingungen), wie wenn wir etwas
Universelles begehren, z. B. dafs alle Menschen selig werden.
2. Oder beide sind singulär, wie beim Erstreben dieser Rache,
weil sie jetzt, hier, an diesem Wesen u. s. w. konvenient er-
scheint 3. Oder der terminus ist singulär und die ratio ter-
minandi universell, wie wenn man einen ungehörigen Gegenstand
zu ergründen strebt, weil jedes Wissen etwas Vollkommenes ist
4. Oder der terminus ist singulär und die ratio terminandi etwas,
was in gleicher Weise gemeinschaftlich ist (communis commu-
niter). Und auf derartiges scheint unser Begehren sehr häufig
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206 Die Leidenschaften.
gerichtet za sein; denn fortwährend erstreben wir ein nützliches,
ergötzliches oder gutes Einzelding wegen einer Eigenschaft (Be-
dingung), die in gleicher Weise in mehreren Dingen sich findet»
die uns nicht weniger zum Begehren reizte, wenn sie in einem
anderen Einzeldinge uns entgegenträte. Es yerschlägt ja nichts,
wenn einem Menschen, der diesen Trunk begehrt, ein anderer
Trunk gespendet würde, der nur der Zahl nach von jenem ver-
schieden wäre. Der Unterschied ist nun zwischen genannten vier
Strebeobjekten, dafs nur zwei Zielpunkte für den appetitus sensi-
tivus sein können, nämlich das zweite und vierte, denen nichts
Universelles beigemischt ist. Auf den appetitus intellectivus können
aber alle bezogen werden, wie die Erfahrung lehrt. An der be-
sprochenen Stelle (Summ, theol. I. q. 80. a. 2. ad 2.) werden
nur zwei genannt, das erste, in dem beides universell ist, und
das dritte, in dem das Strebeobjekt singulär ist und die ratio
terminandi universell, worin die Differenz zwischen dem geistigen
und sinnlichen Streben beginnt. Denn das sinnliche Begehren
richtet sich auf ein Einzelding auf Grund einer Bedingung, die
entweder singulär oder allgemein in mehreren befindlich (com-
munis universaliter, adverbial genommen), nicht aber universell
ist, weil weder der Sinn noch ein anderes Vermögen, es sei
denn ein rein geistiges, als terminus etwas Universelles haben
kann. Das geistige Begehren erstreckt sich auf das Einzel*
ding auf Grund einer erkannten allgemeinen, universellen Be-
dingung, und aufserdem auf das Universelle selbst und endlich
auf ein rein immaterielles Gut.^^ Vgl. Kommentar Cajetana zu
Summ, theol. I. q. 80. a. 2.
§4.
Verhäitnia der beiden Begehrungsvertnögen im Menschen»
Da der Mensch das Bindeglied zwischen der rein geistigen
Welt und der rein sinnlichen ist, oder wie Thomas sagt: „auf
der Grenzscheide der geistigen und körperlichen Dinge steht''
(Summ. th. I. q. 77. a. 2.), so findet man in ihm das eigenttimliche
Begehrungsvermögen beider Welten vereinigt. Doch besteht der
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VerhältDis der beiden BegehnrngsTermögen im Menschen. 207
MenBoh nicht aus zwei Substanzen, er ist eine einheitliche Sub-
stanz, wenn auch aus Materie und Form zusammengesetzt In
dem Prinzip, aus dem das Leben quillt, der menschlichen Seele,
der forma substantialis des Menschen, wurzeln demnach beide
appetitus, beide Vermögen einer und derselben Substanz. „Es
ist offenbar, dafs alle Vermögen der Seele, mag die Seele allein
ihr Subjekt sein, oder das Kompositum, aus der Wesenheit der
Seele strömen, wie aus einem Prinzipe/' (Summ, theol. I. q. 77. a. 6.)
Die Einheit der Substanz verlangt auch Einheit in dem, was
aus der Substanz hervorgeht, welche Einheit bei mehreren Dingen
eine Einheit der Ordnung oder Beziehung ist „Von einem
'einfachen Wesen können auf natürlichem Wege viele Dinge
in einer gewissen Ordnung hervorgehen.'' (A. a. 0. ad 1.) Somit
besteht auch eine bestimmte Ordnung und Beziehung zwischen
dem appetitus sensitivus und intellectivus im Menschen. Es ist
zwar, wie bei allen verschiedenen Dingen ein Gregensatz vor-
handen, aber „die Potenzen der Seele stehen einander gegen-
über durch den Gegensatz von vollkommen und unvollkommen.^'
(A. a. O. a. 7. ad 3.) Durch diesen Gegensatz ergibt sich, dafs
die eine Potenz in der anderen ihr Ziel und selbst ihre leitende
Ursache findet „Die Potenzen der Seele, welche der Vollkommen-
heit und der natürlichen Ordnung nach voranstehen, werden
Prinzipe der anderen nach Weise der Zweckursache und des
thätigen Prinzips (per modum finis et activi principii). Wir
sehen ja, dafs das sinnliche Erkennen des Intellekts wegen ist
und nicht umgekehrt.'' (A. a. 0.) Ferner folgt aus genanntem
Gegensatze zwischen vollkommen nnd unvollkommen, dafs die
niederen Eräfte durch die innige Verbindung mit vollkommenen
an deren Vollkommenheit teilnehmen. „Einige sensitive Kräfte
haben in uns, obwohl sie uns und den Tieren gemeinsam sind,
einen höheren Rang (höhere Vollkommenheit) aus dem Grunde,
weil sie mit der Vernunft verbunden sind. Und auf diese Weise
ist auch der appetitus sensitivus in uns hervorragender, als der
in den übrigen lebenden Wesen." (Summ, theol. I. II. q. 74.
a. 3. ad 1.) Worin besteht dieser Vorzug in kurzem Ausdruck?
„Der appetitus sensitivus ist von Natur aus dazu bestimmt, ddr
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208 Die Leidenschaften.
Yernunft (dem Willen) zu gehorchen." (A. a. 0.) Die dienende
Stellung erhebt ihn aber zur Teilnahme an der Eigentümlichkeit
dcB Willens, deshalb fiigt Thomas genannten Worten hinzu:
yyBezüglich dieses ümstandes kann der appetitns sensitiTus das
Prinzip einer freiwilligen Thätigkeit werden."
Da das Begehren sich gleichsam 7om Erkennen dnrch das
Streben zur äufseren Thätigkeit bewegt, kann die besondere
Stellnng des sinnlichen Begehrens im Menschen in drei Momenten
betrachtet werden.
I. Bücksichtlich des Erkennens. Hier mufs vor allem
die Vollkommenheit hervorgehoben werden, welche die sog. vis
aestimativa im Menschen erfährt. „Denn rücksichtlich der sinn-
lichen Formen ist kein Unterschied zwischen dem Menschen und
den anderen lebenden Wesen; in gleicher Weise werden sie
von den äufseren sinnlichen Gegenständen gestaltet. Aber was
die vorgenannten Eindrücke (die intentiones insensatae, von denen
früher die Bede) betrifft, so liegt eine Verschiedenheit vor.
Während die übrigen lebenden Wesen derartige Intentionen nur
durch einen gewissen natürlichen Instinkt erfassen, nimmt sie
der Mensch auf durch einen gewissen Vergleich, durch eine Art
Zusammenstellung (collatio). Deshalb heifst die Potenz, welche
bei den anderen Wesen den Namen: aestimativa naturalis trägt,
beim Menschen cogitativa, die derartige Intentionen durch eine
vergleichende Zusammenstellung (gleichsam durch Erwägen und
gegenseitiges Abschätzen, was durch das Verbum cogitare aus-
gedrückt wird) gewinnt. Aus diesem Grunde heifst sie auch
ratio particularis, welche individuelle Auffassungen mit einander
yergleicht, wie die ratio intellectiva oder universalis mit allge-
meinen Intentionen zu thun hat." (Summ, theol. I. q. 78. a. 4.)
Mit Ausnahme des Menschen erfassen die lebenden Wesen die
intentiones insensatae „durch natürlichen Instinkt, wie das Schaf
infolge eines natürlich notwendigen Vorganges den Wolf flieht,
als etwas Feindliches", (de anima 13.)
Das Urteil, als Resultat der vis aestimativa, wenn wir es
so nennen wollen, ist ein notwendiges, durch die Natur be-
stimmtes. Die Tiere bewegen sich nicht selbst zu diesem Urteil,
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Verhältnis der beiden BegehrongSYermdgen im Menschen. 209
sie sind gebunden. Ein ganz freies Urteil über einen bestimmten
Gegenstand können nnr die .Wesen besitzen, welche ein rein
geistiges Erkennen haben, welche das Gute nnd Wahre als
solches oder mit andern Worten die intentiones universales er-
fassen. Wenn jemand freien Urteils sein, ,,wenn er über die
Güte oder Eonvenienz eines Gegenstandes urteilen, sich selbst
zum Urteil bewegen soll, dann mufs er durch eine höhere er-
kannte Form sich zum Urteil bestimmen. Diese Form kann nur
der Begriff des Guten oder Konvenienten (im allgemeinen) selbst
sein, durch welchen über einen jeden bestimmten guten oder
kouTenienten Gegenstand geurteilt wird, lene bestimmen sich
also allein zum Urteil, welche den allgemeinen Begriff des Guten
oder Konvenienten erkennen, und das sind die geistigen Wesen.
Die geistigen bewegen sich demnach nicht allein zur Thätigkeit^
sondern auch zum Urteil, sie allein sind frei im Urteilen, oder was
dasselbe heifst, sie haben einen freien Willen.^' (Summ. phil. II. 48.)
Hierzu bemerkt Franz von Ferrara, welcher die philosophische
Summa erklärt hat: „Die erkannte Form bestimmt zur Thäligkeit,
insofern durch sie geurteilt wird, dafs etwas gut oder konvenient
ist. Wenn nun jemand über sein Urteil zu reflektieren vermag,
um zu untersuchen, ob das Urteil über das Gutsein oder die
Konvenienz eines Gegenstandes wahr oder falsch ist, so mufs
dieses geschehen auf Grund des allgemeinen Begriffes von gut
oder konvenient. In ähnlicher Weise mufs sich die Erwägung,
ob ein Urteil, wodurch ein Wesen als lebendes erklärt ist, auf
Wahrheit beruht, sich auf den allgemeinen Begriff: aoimal stützen,
durch den wir zu erkennen vermögen, ob dieses oder jenes
partikuläre Wesen ein animal sei. Da nun alles, was sich zum
Urteil bestimmt, über sein Urteil reflektieren kann (denn, wie
Thomas in der vorausgehenden Begründung desselben Artikels
sagt, mufs, wer sich selbst zum Urteil bewegt, sein Urteil er-
kennen), so mufs der sich selbst zum Urteil Bestimmende eine
höhere und allgemeinere Form erkennen, als die Form eines
partikulären Guten ist, wodurch er das Urteil über die Konvenienz
dieses partikulären Dinges untersucht Diese allgemeinere Form
kann aber nnr der allgemeine Begriff des Guten oder Konvenienten
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210 Die Leidenschaften.
Belbst sein, welcher durch den Intellekt erfafst wird/' An der Frei-
heit im Urteil, welche dem geistigen Erkenntnisvermögen wegen
Erfassung der allgemeinen Begriffe (intentiones universales) zu-
kommt, partizipiert die vis cogitativa des Menschen, so dafs sie
in der Mitte steht zwischen der Vernunft und der vis aestimativa.
Wie beim Vernunftschlusse findet auch bei ihr eine Art Unter-
suchung und Vergleichung statt, aber nicht vermittelst einer allge-
meinen Wahrheit, sondern vermittels der intentiones particulares.
„Zur Erfassung dieser (der intentiones insensatae) gelangt der
Mensch durch Untersuchung und Vergleichung*' (de anima a. 13.).
„Die potentia cogitativa ist das Höchste im sensitiven Teile, wo dieser
gleichsam an den intellektiven Teil heranreicht; so nimmt er teil
an dem, was im intellektiven Bereiche das Niedrigste ist, nämlich
an dem Schlufsverfahren der Vernunft" (de verit q. 14. a. 1. ad 9.)
Die intentio particularis unterliegt aber dem Einflüsse der intentio
universalis, welche, „weil universell, viele Einzeldinge der Potenz
nach enthält'* (Summ. phil. U. 48.) In ähnlicher Weise äufsert sich
der Einflufs eines allgemeinen Urteils bei einem praktischen Ver-
nunftschlusse. Somit kann ein partikuläres Urteil dei: vis cogitativa
durch das geistige Erkenntnisvermögen gelenkt werden. „Da
nämlich dieselbe Sache unter verschiedenen Gesichtspunkten be-
trachtet, demnach sowohl ergötzlich als erschrecklich gemacht
werden kann, so stellt die Vemunilt der Sinnlichkeit vermittels der
sinnlichen Vorstellung einen Gegenstand vor unter dem ß^esichts-
punkte des Ergötzlichen oder Betrübenden, sowie es ihr gut
scheint, und auf diese Weise wird die Sinnlichkeit zur Lust oder
Unlust bewegt" (de verit q. 25. a. 4.). Ähnlich spricht sich
Thomas aus in Summ, theol. I. q. 81. a. 3, indem er sich zugleich
auf die Erfahrung beruft. „Die ratio particularis selbst läfst sich
ihrer Katur nach im Menschen gemäfs der ratio universalis leiten,
deshalb werden auch beim Schlufsverfahren aus allgemeinen
Sätzen singulare Schlüsse gemacht. Daraus ist offenbar, dafs die
ratio universalis dem sinnlichen Begehren gebietet, und dieses ihr
unterthänig ist Weil jedoch allgemeine Prinzipien in singulare
Schlufssätze einzuführen, Sache der ratio und nicht schlechthin
des Intellekts ist, so sagt man eher, das Begehren gehorche der
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Yerhältnis der beiden Begehmngsveimögen im Menschen. 211
ratio y als dem Intellekte. Das kann jeder an sich selbst er-
&hren ; durch Anwendung einiger allgemeiner Erwägungen wird
der Zorn besänftigt, legt sich die Furcht, oder wird auch dadurch
angestachelt'^ „Da es in der Macht der Vernunft (ratio) steht,
eine und dieselbe Sache unter yerschiedenen Anschauungsweisen
vorzustellen, wie z. B. eine Speise als lusterregend und tödlich,
kann sie die Sinnlichkeit nach entgegengesetzten Seiten bewegen^'
(de yerit. q. 25. a. 4 ad 4.).
IL Bücksichtlich des Strebeaktes. Nach der Lehre
der Scholastiker „wird eine partikuläre thätige Kraft (Ursache)
Ton der allgemeinen gelenkt und geleitet.'^ (Summ, theol. I. II.
q. 17. a. 7.^ Das sinnliche Begehrungsvermögen ist eine der-
artige partikuläre Kraft, die dem geistigen Begehren, als einer
allgemeinen, untersteht. Das partikuläre Gut, als Objekt des
appetitus sensitivus ist als Teil im allgemeinen Guten, dem
Objekte des Willens enthalten. Deshalb kann sich der Wille
auch darauf erstrecken, also einen Akt des sinnlichen Begehrens
veranlassen. ,Jn allen geordneten aktiven Potenzen bewegt die
Potenz, welche auf ein universelles Ziel gerichtet ist, jene, die
partikuläre Ziele verfolgen. Der König, das allgemeine Staats-
wohl ins Auge fassend, bewegt durch seinen Befehl die Stadt-
vorsteher, die ihre Sorge einzelnen Städten angedeihen lassen.
Das Objekt des Willens ist aber das Gute im allgemeinen.
Jegliche andere Potenz bezieht sich auf ein eigentümliches ihr
zuträgliches Gute, wie das Gesicht auf die Erfassung der Farbe
und der Intellekt auf die Erkenntnis des Wahren. Deshalb bewegt
der Wille in thätiger Weise alle Potenzen der Seele zu ihren
Akten.^' (Summ, theol. I. q. 82. a. 4.) Femer „verhält es sich mit
Kräften, die gegenseitig geordnet und mit einander verbunden sind,
derartig, dafs eine heftige Bewegung in einer derselben, und b e-
Bonders in der höheren, auf die andere gleichsam hinüberfliefst,
übertragen wird. Wenn demnach die Bewegung des Willens
durch freie Wahl rücksichtlich eines Gegenstandes gesteigert
ist, folgt das sinnliche Begehren der Bewegung des Willens.
Deshalb wird in III. de anima gesagt, der appetitus bewege den
appetitus, der höhere nämlich den niederen^' (de verit q. 25. a. 4.).
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212 Die Leideaschaften.
„Wenn der höhere Teil der Seele/' sagt Thomas I. IL q. 24.
a. 3. ad 1, „in intensiver Weise zu etwas bewegt wird^ dann
folgt dieser Bewegung auch der niedere Teil, und so ist ein
Begehrungsakt, wie er im appetitus sensitivus sich findet, wohl
das Zeichen eines besonders intensiven Willensaktes/' Diese
Art nennt er auch hier modus redundantiae.
III. Rücksichtlich der vollführenden Bewegungs-
kraft ,,Wie bei einem Heere der Abmarsch zum Kampfe vom
Befehle des Oberanführers abhängt, so bewegt in uns die Be-
wegungskrafb die Glieder nur auf Befehl dessen, was in uns
den höchsten Rang einnimmt, nämlich der Vernunft, welche Be-
wegung auch immer in den niederen Kräften stattfinden mag.
Deshalb drückt die Vernunft den sinnlichen Begehrungsakt
nieder, auf dafs er nicht zum äufseren Werk fortschreite'^ (de
verit. q. 25. a. 4.). Ausführlicher spricht sich Thomas hierüber
aus Summ, theol. I. p. 81. a. 3. „Dem Willen unterliegt auch
der appetitus sensitivus in Bezug auf die Ausführung, die durch
die Bewegungskraft zustande kommt Bei den übrigen lebenden
Wesen folgt sofort auf den Begehrungsakt die Bewegung, wie
das Schaf, von Furcht vor einem Wolfe erfafst, sofort flieht,
weil in diesem Wesen kein höheres Begehrungsvermögen ist,
welches Einspruch erhöbe. Aber der Mensch wird nicht sogleich
auf einen Akt des niederen Begehrens bewegt; sondern es wird
erst der Befehl des Willens, des höheren Begehrens erwartet
Denn in allen geordneten Bewegungspotenzen bewegt die zweite
nur in Kraft der ersten. Deshalb reicht das niedere Begehren
nicht zur Bewegung hin, wenn nicht das höhere beipflichtet
Um Mifsverständnisse zu vermeiden, bedarf die letzte Äufse-
rung des Aquinaten einer näheren Erläuterung. „Es scheint
nämlich die Unterwürfigkeit des sinnlichen Begehrens unter den
Willen nicht so streng zu sein, dafs es nur in Kraft dieses be-
wegen kann, wie im Vorliegenden ausdrücklich geschlossen wird.
Ferner hat es wohl den Anschein, als ob der appetitus sensitivus
im Menschen gegen seinen Willen eine Bewegung veranlafst, wie
bei einem Unenthaltsamen. Darauf erwidere ich, 4afs die Aus-
einandersetzung ganz richtig ist, aber man mufs sie cum grano
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Verhältnis der beiden Begehningdyermögen im Menschen. 213
Balis verstehen, d. h. sie hat ihre Giltigkeit, wenn keine Hindernisse
Torliegen nnd der Ausdruck: Wille nszustimmung nicht zu eng ge-
fafety sondern unter Zustimmung sowohl die ausdrückliche als auch
die einschliefsliche (explicite, implioitej oder die nur interpretative
u. 8. w. verstanden wird. Dafs im Menschen das sensitive
Begehren allein bewegt, kommt infolge einer Hinderung des
höheren Begehrens, wie es bei Kindern und Geistesschwachen
hervortritt Bafs aber nach Ausschlufs des Hindernisses das nie-
dere Begehren nur bewegt unter irgend einer Mitwirkung des
höheren, erkennen wir erfahrungsgemäfs daraus, dafs wir unsere
ganze äufsere Ortsbewegung (translatio) eine freiwillige nennen.^^
(Cajetan zu Summ, theol. I. q. 81. a. 3,) Die Frage, ob nicht
jedem Begehrnngsvermögen eine besondere vis motiva entspricht»
wird dahin beantwortet, dafs eine einzige vis motiva genüge.
Zur Begründung weist Thomas darauf hin, dafs „die höhere
Strebekraft vermittels der niederen bewegf (Summ, theol. L q.
80. a. 2. ad 3.) Das ist nach Erklärung Cajetans der gewöhn-
liche Verlauf; der Wille als primum movens veranlafst ver-
mittels des appetitus sensitivus als secundum movens die äufsere
Bewegung. Vgl. hierzu den Kommentar Cajetans zu genannter Stelle.
Fassen wir das Gesagte zusammen, so besteht der Vorzug
des sinnlichen Begehrens im Menschen darin, dafs es von Natur
aus dem höheren unterworfen ist Durch eine derartige Stellung
behauptet es vor dem appetitus sensitivus der Tiere den Vorrang.
Sehr beherzigenswert sind die Worte Cajetans auf den möglichen
Einwand: Der appetitus sensitivus bei den übrigen lebenden
Wesen kann ohne Mitwirkung eines Willens bewegen, und er
ist doch im Menschen nicht von schlechterer Beschaffenheit.
„Dafs die Unterwürfigkeit,^' sagt Cajetan zu Summ, theol. I. q.
81. a. 3., „der Würde der sensitiven Natur im Menschen keinen
Eintrag thut, ist klar, weil es vortrefflicher und edler ist, so
hohe Werke, wie menschliche Bewegungen (motus humani) sind,
in der Eigenschaft eines Untergebenen zu verrichten, als niedrige
Werke in der Stellung eines Vorgesetzten. Gleichwie wir nicht
daran zweifeln, dafs es zur Würde der sensitiven Natur beiträgt,
mit der vernünftigen verbunden zu sein, obwohl jene dadurch
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214 Die Leidenschalten.
den Vorzag verliert, die erste Stellang zu behaupten , die sie
im Tierwesen einnimmt, so darf auoh kein Zweifel aufkommen
an der sich hieraus ergebenden Wirkung, dafs es eine gröfsere
Vollkommenheit bedeutet, in der Unterwerfung unter den appetitus
intellectiyus zu bewegen. Im allgemeinen wird ja das Niedere
durch Verbindung mit dem Höheren geadelt und erhoben, ob-
gleich es die Stellung eines Untergebenen einnimmt.'^
Es erübrigt noch die Herrschaft des Willens über das sinn-
liche Begehren näher zu beleuchten. Man kann im lebenden
Wesen eine doppelte Art von Herrschaft wahrnehmen, eine des-
potische und eine politische. „Die Seele herrscht über den
Körper mit despotischer Macht, der Intellekt aber über den
appetitus sensitiviis mit politischer und königlicher Macht Des-
potisch nennt man die Herrschaft, welche jemand über seine
Sklaven ausübt, die gar nicht die Fähigkeit haben, in irgend
etwas dem Gebote des Befehlenden sich zu widersetzen, weil sie
nichts als ihr Eigentum beanspruchen können. Politisch und
königlich heifst die Herrschaft:, welche jemand über Freie besitzt»
die trotz ihrer Unterwürfigkeit unter die Leitung des Vorgesetzten,
dennoch etwas Eigenes besitzen, kraft dessen sie dem Befehle
widerstreben können. So herrscht die Seele mit despotischer
Macht über den Körper, weil die Glieder des Körpers dem Be-
fehle der Seele in nichts zu widerstehen vermögen, sondern
sofort anf das Begehren der Seele hin Hand und Fufs sich be-
wegt und jegliches Glied, welches durch Willensbewegung der
natürlichen Anlage nach sich leiten läfst. Dem Intellekt aber
oder der Vernunft wird eine politische Herrschaft über das sinn-
liche Begehrungsvermögen zugeschrieben, weil es etwas ihm
Eigenes besitzt. Deshalb kann es dem Geheifse der Vernunft
widerstreben ... So bezeugt die Erfahrung, dafs der appetitus
sensitivus der Vernunft widerstreitet, weil wir etwas Ergötzliches
sinnlich wahrnehmen, was die Vernunft verbietet, oder etwas
Betrübendes, was die Vernunft erheischt. Wenn genanntes
Begehren auch in einem oder anderen Dinge der Vernunft
widerstrebt, wird dadurch nicht ausgeschlossen, dafs es ihr im
allgemeinen unterwürfig ist" (Summ, theol. I. q. 81. a. 3. ad 2.)
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Der Begriff passio. 215
§5.
Der Begriff pa99io.
Nach Erledigang der wichtigen Vorfragen, die ein klares
Licht auf das Folgende werfen werden, gehen wir zu dem eigent-
lichen Gegenstande über. Was versteht man unter passio? Der
Name passio, Leiden, griech. xäd-og, wird im weitesten und
engeren Sinne gebraucht. Im ersteren Sinne kann man unter
Leiden jedes Empfangen (recipere) verstehen , wo der ein-
wirkenden Thätigkeit (actio) eines Wesens die Aufnahme
(passio) von Seiten des anderen Wesens entspricht. „Jedes Em-
pfangen ist eine Art Leiden^'. (Summ, theol. L II. q. 22. a. 1.)
Hier wird beim patiens nur die Fähigkeit verlangt, etwas zu
empfangen, was noch nicht vorhanden, wozu es noch in potentia
ist „Leiden in der allgemeinen Bedeutung „aufnehmen*' kann
jedes Bing treffen, insofern es sich in potentia befindet.'' (A. a.
0. ad 1.) So sprechen die Scholastiker von einem ,Jieiden''
des Intellektes, der das Bild der erkannten Sache in sich auf*
nimmt, von einem „Leiden'^ der Luft, die vom Lichte erhellt
wird. Im engeren Sinn versteht man unter passio die Auf-
nahme irgend einer Form, womit zugleich der Ausschlufs einer
anderen verbunden ist „Im eigentlichen Sinne ist von „Leiden'*
die Kode, wenn etwas aufgenommen wird mit Abwerfung eines
anderen.*' (A. a. 0.) Ba kommt erst der volle Begriff: Leiden
zur Geltung, wo die jedem Leiden entsprechende actio mit Be-
wegung verbunden ist. „Den eigentlichen Begriff passio gewinnt
man, wo die Thätigkeit und das Leiden auf Bewegung beruhen,
insofern nämlich etwas auf dem Wege der Bewegung in das
leidende Wesen aufgenommen wird.** (de verit q. 26. a. 1.) Es
gibt jedoch verschiedene Bewegungen: örtliche (motus localis),
Wachstum und Abnahme in demselben (motus augmenti et de-
orementi), eigentliche Veränderung (motus alterationis). Bei dem
Entstehen und Vergehen (generatio und corruptioj findet sich
keine eigentliche Bewegung. Die örtliche Bewegung bezieht sich
nicht auf die Aufnahme irgend einer Form von Seiten des patiens^
sondern hier wird vielmehr das patiens selbst in etwas Äufserliches,
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216 Die Leidenschaften.
den Kaum, aufgenommen, bei dem Wachstum handelt es sich um
Aufnahme oder Verlust von etwas Substanziellem. Somit bleibt
der motus alterationis übrig, der ein wahres Leiden hervorruft,
„indem eine Form aufgenommen und die andere abgeworfen wird.''
(A. a. 0.) Jede Bewegung erfordert den Übergang zwischen
entgegengesetzten Funkten (inter contraria), weshalb bei der passio
dasjenige, was vom patiens empfangen wird, dem, was yon ihm
entfernt wird, entgegengesetzt ist. Eine Erweiterung des Begriffes
passio zeigt sich in dem Sprachgebrauche, wonach alles, sofern
es auf irgend eine Weise von etwas ihm Zustehenden zurück-
gehalten wird, „leidet*'. Hiemach leidet der Mensch, weil er
verhindert wird, seinen Willen zu thun, der schwere Gegenstand,
dem ein Hemnmis das Herabfallen unmöglich macht Thomas
stellt für die passio im eigentlichen Sinne folgende Bedingungen
auf: L Auf Seiten des Veränderten: dafs es ein für sich be-
stehendes Ding oder Wesen ist, sonst könnte es nicht das Subjekt
der Bewegung sein, welches gleichsam von einem terminus zum
anderen hinüberwandert; ferner dafs es eine körperliche Substanz
sei, weil nur ein Körper der eigentlichen Bewegung unterworfen ist
Zur Bekräftigung dieses zweiten Punktes beruft sich der Aquinate
auf die Physik des Aristoteles. Die körperliche Natur muls der-
artig sein, dafs sie einem Wechsel von konträren Formen unter-
worfen ist IL Auf Seiten der termini, zwischen denen die
Änderung verläuft: dafs mit dem Ausscheiden der einen Form
die andere eintritt, so dafs ein wirklicher Übergang stattfindet
Das Leiden im eigentlichen Sinne stellt auch die Forderung,
„dafs die Form oder Qualität, welche eintritt, eine dem patiens
unter gewöhnlichen Umständen fremde (ut sit extranea), während
die ausscheidende Qualität dem leidenden Wesen eine zuträg-
liche, passende ist (connaturalis). Denn das Leiden besagt einen
gewissen Sieg des agens über das patiens." (III. dist 15. q.
2. a. 1.) An anderer Stelle wird das Leiden dargestellt als das
Gezogen wer den zu dem, was des agens ist Das Leidende wird
zu dem agens hingezogen, um gleichsam die Eigentümlichkeit
desselben anzunehmen. Vgl. Summ, theol. I. IL q. 22. a. 1. u. 2.
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Der Begriff passio. 217
Da unsere Frage nach der passio sich auf Wesen bezieht
in ihrer Eigenschaft als lebende Wesen, oder da von einer passio
animae die Rede ist, so wäre noch eine Vorfrage za erledigen:
Kann überhaupt bei einer Seele von einer eigentlichen passio
gesprochen werden? Nach den oben aufgestellten Bedingungen
yyist es unmöglich, dafs etwas Unkörperliches im eigentlichen Sinne
leide. Dasjenige also, was an sich (per se) durch eigentliche
passio getroffen wird, ist körperliche Substanz. Wenn demnach
das eigentliche Leiden in irgend einer Weise die Seele berühren
soll, so trifft es sie nur, insofern sie mit einem Körper verbunden
ist, oder auf Grund eines anderen mit ihr Verbundenen (per
accidens).'' (Verit. q. 26. a. 2.) Ebenso wenig, wie der Seele,
als unkörperlicher Snbstanz, an sich eine körperliche Bewegung
zukommt, sie vielmehr nur, per accidens bewegt wird, d. h. auf
Grund der Bewegung des Körpers, darf ihr an sich eine Alte-
ration zugeschrieben werden. Die Verbindang ^der Seele mit dem
Körper ist als eine doppelte aufzufassen, sowohl bezüglich des
Seins als der Thätigkeit. „Sie ist in doppelter Weise dem
Körper verbunden: zunächst als Form, insofern sie dem Körper
das Sein gibt, ihn belebend, dann als Bewegerin, sofern sie durch
den Körper ihre Thätigkeit ausübt. In dieser zweifachen Hin-
sicht leidet die Seele per accidens, doch mit unterschied. Denn
was aus Materie und Form zusammengesetzt ist, leidet auf Grund
der Materie, wie es krafl der Form thätig ist Deshalb beginnt
die passio mit der Materie, und trifft gewissermafsen nur per
accidens die Form. Doch leitet sich das Leiden des patiens vom
thätigen Wesen her, weil es die Wirkung einer Thätigkeit ist
Aus dem Grunde wird die passio des Körpers der Seele in
zweifacher Weise per accidens zugeschrieben. Erstens in der
Art, dafs die passio im Körper beginnt und in der Seele endet,
sofern sie dem Körper als Form geeint ist Das ist das körper-
liche Leiden (passio corporalis), wie wenn der Körper verletzt
wird, die Verbindung des Körpers mit der Seele geschwächt
wird, wodurch die Seele selbst, die ihrem Sein nach dem Körper
verbunden ist, per accidens leidet Zweitens in der Weise,
dafs die passio in der Seele beginnt, als Bewegerin des Körpers,
Jahrbuch für Philosophie etc. I. ift
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218 Die Leidenschaften.
und in diesem endet Diese heifst seeiischesLeiden (passio
animalis), wie beim Zorne, dem Schrecken und ähnlichen Er-
scheinungen hervortritt (A. a. 0.) Hier beginnt der Prozefe
in der Seele und schliefst mit einer durch die Seele hervor-
gerufenen Veränderung des körperlichen Zustandes ab. Obgleich
also die Alteration eigentlich im Körper vollzogen wird, geht
sie doch aus von der Bewegerin des Körpers, der mit ihm ver-
bundenen Seele, und somit wird auch der Seele selbst die passio
zugeschrieben, wenn auch nur per accidens. Man beachte vor
allem den Unterschied zwischen dem körperlichen Schmerz bei
Verwundung des Körpers und dem Seelenschmerz (Traurigkeit),
als passio animalis. Gehen wir noch näher auf das Gesagte ein.
Die Seele ist Form ihres Körpers ihrer ganzen Wesenheit, ihrem
ganzen Sein nach (secundum essentiam suam est forma corporis),
sie ist Bewegerin des Körpers durch ihre Potenzen, ihre Ver-
mögen; denn die Bewegung des Körpers ist nur möglich auf
Grund einer Thätigkeit (eines movere), deren Prinzip eben das
Vermögen ist. Hieraus ergibt sich, dafs die sogenannte passio
corporalis an erster Stelle die Seele ihrer Wesenheit, ihrem
ganzen Sein nach berührt. „Dies körperliche Leiden bezieht
sich auf die Wesenheit der Seele." (de verit. q. 26. a. 3.) Nur
mittelbar „kann dieses Leiden einer Potenz der Seele zugeteilt
werden, und zwar in dreifacher Art Zunächst, insofern die
Potenz in der Wesenheit der Seele wurzelt, auf welche Weise
besagte passio eine Beziehung zu allen Potenzen gewinnt, weil alle
in der Wesenheit der Seele ihre Wurzel haben. In zweiter Art,
sofern durch Verletzung des Körpers die Akte der Vermögen
verhindert werden, und so berührt genanntes Leiden alle Po-
tenzen, welche sich körperlicher Organe bedienen, deren Akte
durch Verletzung der Organe (indirekt) gehindert werden. In
dieser Art trifft die passio corporalis auch die Potenzen, die
nicht an körperlichen Organen haften, nämlich die geistigen
(intellektiven), weil sie von den mit körperlichen Organen be-
hafteten Vermögen empfangen. Daher kommt es, dafs durch
Verletzung des Organs der Vorstellungskraft der Thätigkeit des
Intellektes ein Hindernis gesetzt wird, weil der Intellekt bei
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Der Begriff passio. 219
seiner Thätigkeit der sinnlichen Vorstellungen bedarf. In dritter
Art bezieht sich das körperliche Leiden auf eine Potenz, inso-
fern sie dasselbe 'erkennend erfafst. Das ist die Eigentümlichkeit
des Gefuhlssinnes (tactus); denn er hat zum Objekt dasjenige^
woraus das lebende Wesen zasammengesetzt und in gleicher
Weise, wodurch dasselbe vernichtet wird." (A. a. 0.)
Die passio animalis wird der Seele zugeschrieben in ihrer
Eigenschaft einer Bewegerin des Körpers, bezieht sich demnach
unmittelbar auf die Potenzen der Seele. Dort in d e r Potenz
mufs sie ihren Sitz haben, infolge deren Thätigkeit eine Ver-
änderung des körperlichen Zustandes eintritt „Die passio ani-
malis mufs, da durch sie auf Grund einer Seelenthätigkeit der
Körper verändert wird, in jener Potenz sein, welche sich eines
körperlichen Organs bedient und deren Aufgabe die Veränderung
des Körpers ist." (A. a. 0.) Deshalb können hier die Seelen-
vermögen nicht in Betracht kommen, welche rein geistig sind,
frei von körperlichem Organe, mit anderen Worten die intel-
lektiven Vermögen. „Ein derartiges Leiden ist nicht im in-
tellektiven Teile, der kein Akt eines körperlichen Organes ist."
(A. a. 0.) Somit verbleiben nur die Potenzen des sensitiven
Teiles, das sinnliche Erkenntnisvermögen und das sinnliche
Begehrungs vermögen. Welchem von beiden ist nun die passio
animalis zuzuschreiben? Beide sind materielle Kräfte, beide sind
nach der früheren Erklärung potentiae passivae, die vom Objekte
empfangen. Aber doch findet sich bei der Begehrungskraft mehr
von einem Leiden, als bei dem Erkenntnisvermögen. Das Leidende
wird, wie oben gesagt, zum agens hingezogen, soll gleichsam
die Eigentümlichkeit des agens empfangen. Nun ist aber bei
den grundlegenden Fragen auseinandergesetzt worden, dafs im
Gegensatze zum Erkennen, welches den Gegenstand zu sich
heranzieht, ihm sein eigentümliches Sein mitteilt, das Begehren
in der Hinneigung des Begehrenden znm Dinge , dessen
^natürlichem Sein nach, besteht. Der Begehrende wird
eigentlich vom Objekte gezogen oder bewegt, und die Richtung
dieser Bewegung wird vom Objekte bestimmt, je nachdem es
konvenient oder nichtkonvenient ist, darum ist hier mehr von
15»
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220 Die Leidenschaften.
einem Leiden die Rede, als beim Erkennen. „Mehr wird die
Seele zum Gegenstände dnrch die Begehrangskraft hingezogen,
als durch die Erkenntniskrafl Denn durch erstere hat die Seele
Beziehung zu den Dingen selbst, wie sie in sich sind . . . Die
Erkenntniskraft wird aber nicht zum Gegenstande hingezogen,
wie er in sich ist, sondern erkennt denselben nach seiner Form
(Intention), die sie in sich besitzt oder aufnimmt nach ihrer
eigentümlichen Seinsweise . . . Daraus ergibt sich, dafe der Be-
gri£f: Leiden mehr im Begehren als im Erkennen liegf (Somm.
theol. I. IL q. 22. a. 2.) Aus demselben Unterschiede zwischen
beiden Vermögen ist ein weiterer Grund zu entnehmen, warum
die passio der vis appetitiva zugeschrieben wird. Es war näm-
lich oben gesagt, zum Begriffe des eigentlichen Leidens gehöre
eine gewisse Kontrarietät zum Leidenden. Nichts leidet von
etwas Gleichem. Diese Kontrarietät zeigt sich aber nur beim
Begehren. „Der Sinn wird vom sinnlichen Objekte nicht gemäfs
dem Zustande des Bewegenden bewegt, da die sinnliche Form
in den Sinn nicht eintritt dem natürlichen Sein nach, welche
Seinsweise sie im sinnlichen Objekte hat, sondern in geistiger
Seins weise (mehr oder weniger immateriell), die dem Sinne eigen
ist. So zeigt sie keine Kontrarietät zum Sinne , es sei
denn, dafs der Gegenstand über das richtige Verhältnis hinaus-
geht. Aus diesem Grunde wird dem Sinne kein eigentliches
Leiden zugeschrieben, abgesehen von dem Falle, wo der überreiz
(excellentia) der sinnlichen Gegenstände den Sinn zerstört oder
schwächt (IIL d. 15. q. 2. a. 1.) Mit der letzten Bemerkung
wird die Thatsaohe berührt, dafs ein gewisses Verhältnis zwischen
Sinn und Objekt bestehen mufs, dafs z. B. nur ein gewisses
intensives Licht dem Auge noch proportioniert und zuträgb'ch
ist, dagegen ein Licht, welches noch stärker an Intensität wäre,
schädigend für das Auge wirkt. Doch ist eine solche Schädigung,
ein solches Leiden beim sinnlichen Erkennen nicht an sich vor-
handen, sondern tritt nur peraccidens ein, wie die Scholastiker^
sagen, es liegt nicht in der Natur des sinnlichen Wahmehmens
als solchen, sondern in dem Überreiz eines zu intensiven Ob-
jektes. „Es bleibt also übrig,^' fahrt Thomas a. a. 0. fort, „dafs
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J
Der Begriff passio. 221
von der passio in eigentlicher Bedeutung nur bezüglich der
sinnlichen Begehrungskräfte gesprochen wird, weil diese Kräfte
einerseits materiell sind, andererseits von den Dingen gemäfs
der Eigentümlichkeit des Objektes bewegt werden , weil nicht
die Intention (die Form in geistiger Seinsweise) des Gegen-
standes, sondern der Gegenstand selbst erstrebt wird, und dar-
nach hat der Gegenstand Konvenienz zur Seele oder Kon-
trär ie tat." Ein dritter Grund wird in der q. 26. de verit. a. 3.
angegeben. Als notwendiges Erfordernis zur eigentlichen passio,
um die es sich jetzt handelt, gehört die Änderung des körperlichen
Zostandes, die ihren Ausgang von der Seelen thätigkeit nimmt
Diese Änderung ist eine Folge derselben. Aber „aus dem Er-
kenntnisakte des Sinnes folgt keine Bewegung im Körper, aufser
durch Vermittelnng des Begehrungsvermögens, welches das un-
mittelbar Bewegende ist. Nach der Art seiner Thätigkeit wird
sofort ein körperliches Organ disponiert, nämlich das Herz, von
wo die Bewegung ihren Anfang nimmt, zu einer solchen Zuständ-
lichkeit, die der Erreichung des von der Sinnlichkeit erstrebten
Gegenstandes entspricht. Deshalb glüht es auf im Zorne, in
der Furcht aber wird es gleichsam kalt und zieht sich zusammen."
(A. a. 0.) Die Äufserung in Betreff des Herzens sei hier an-
gefahrt, ohne damit die Zustimmung zu diesem nebensächlichen
Punkte aussprechen zu wollen. „Die nächste Bewegungsursache
des Körpers in uns ist der appetitus sensitivus. Deshalb be-
gleitet den Akt desselben immer eine Veränderung des Körpers."
(Summ, theol. I. q. 20. a. 1. ad 1.) Während eine Änderung des
körperlichen Zustandes dem Akte des sinnlichen Erkennens nur
per accidens folgen kann, ist sie eine Folge des sinnlichen Be-
gehrens per se. „Es gibt eine natürliche Änderung des Organs,
nämlich dafs es warm oder kalt oder in anderer ähnlicher Weise
geändert wird; eine derartige Änderung verhält sich zum Akte
des sinnlichen Erkennungsvermögens per accidens — z. B. eine
Ermüdung des Auges infolge heftiger Anstrengung oder Erblin-
dung durch übermäfsige Intensität des sinnlichen Objektes. Aber
dem Akte des sensitiven Begehrens ist eine derartige Änderung
an sich (per se) zugeordnet, deshalb wird bei Definition der
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222 Die LeidenBchafteiL
Thätigkeiten des Begehrens ihrer materiellen Seite nach eine
natürliche Änderung des Organs angegeben, wie wenn man sagt:
Der Zorn ist die Entzündung des Blutes ums Herz. Daraas
erklärt sich, dafs der Begriff: passio mehr im Akte der sinn-
lichen Strebekraft^ als in dem der sensitiven Erkenntniskraft sich
findet, obwohl beide Kräfte die Vollendung eines körperlichen
Organes sind/' (Summ, theol. I. IL q. 22. a. 2. ad 3.) Als Er-
gebnis der Yoraufgeheuden Untersuchung steht nun folgendes fest
Da das Begehren seiner Natur nach am meisten von allen Seelen-
thätigkeiten den Begriff des Leidens in sich schliefst und mit
dem sinnlichen Begehren eine dem erstrebten Gegenstande ent-
sprechende körperliche Änderung verbunden ist, so ist die passio
animalis zu erklären, als „der Akt des sinnlichen Begehrens,
insofern eine körperliche Änderung damit verknüpft isV* (Summ,
theol. I. q. 20. a. 1. ad 1.) Die passio ist ein Akt, eine Thätig-
keit, wie es schon früher vom Begehren nachgewiesen war. „Die
passiones sind,'' sagt Cajetan zu Summ, theol. L IL q. 22.
a. 3, wirklich Thätigkeiten, die hervorgerufen vom begehrens-
werten Gegenstände denselben zum Objekte haben.'' Somit bieten
die passiones einen doppelten Gesichtspunkt, die Thätigkeit oder
Bewegung der Strebekraft als solcher und die daraus folgende
Bewegung des Körpers. In dieser vollendet sich der Begriff:
Leiden in seiner eigentlichen Bedeutung, und nur auf Grund
derselben wird der Akt des sinnlichen Begehrens passio genannt
Die Seele beginnt den Prozefa, aber das eigentliche Leiden wird
ihr nur auf Grund der folgenden körperlichen Änderung bei-
gelegt, also per accidens. Das Kompositum leidet an sich. „Die
passio im eigentlichen Sinne kann der Seele nur per accidens
zukommen, insofern das Kompositum leidet" (Summ, theol. L
IL q. 22. a. 1.) Das Nähere hierüber im folgenden §.
Weil genannte Passionen dem Begehren angehören, werden
sie als affectus, affectiones bezeichnet Vgl. a. a. 0. a. 2. ad cont
Franz von Ferrara rechtfertigt diese Bezeichnung: „Es werden
aber die passiones genannt affectiones zur Unterscheidung vom
Leiden des Intellektes und Sinnes, was nur in einem Empfangen
besteht, nicht aber in einer Bewegung oder Hinneigung zum
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Der Begriff passio.
223
Gegenstande, wie es der Name a£fectio besagt'' (Kommentar zur
Smnm« phil. L 39.) Zur weiteren Unterscheidung von den Akten
des geistigen Begehrens werden sie wohl mit einem Zusätze
bezeichnet als pässiones affectuum oder affectivae passiones. (Summ.
phil. L 39.) In der deutschen Sprache ist wohl der Ausdruck:
Leidenschaften zu wählen, obwohl mit diesem Begriffe mehr etwas
Unzuvräglichesy Gewaltsames yerbunden wird, ähnlich wie beim
lateinischen perturbatio. In der That verdienen diejenigen Pas-
Bienen y welche die gröfste Eontrarietät, eine wirkliche Yer-
Bchlechterung und gewaltsame Steigerung des körperlichen Zu-
Standes aufweisen , am ehesten den Namen: Leidenschaften
nach dem Grundsatze: Denominatio fit a potiori. Wir finden beim
Aquinaten zwei andere Definitionen^ die der oben angegebenen
entsprechen. ^^Die Leidenschaft ist die Bewegung des siunlichen
Begehrungsvermögens bei der Vorstellung von gut oder schlecht
„Die Leidenschaft ist eine Bewegung der Ternunftlosen (sensitiven)
Seele auf Grund der Auffassung: gut oder schlecht (Summ, theol.
L II. q. 22. a. 3. ad contr.)
m^
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DIE LEHRE DES HL. THOMAS VON DER
ERKENNBARKEIT GOTTES.
Von
Dr. J. BROCKHOFF.
Vikar in Störmede.
i^ein goldenes Buch, betitelt „Summa Theologica'S beginnt
der heil. Thomas von Aquin mit einer Abhandlung über die
Theologie als Wissenschaft und schreibt ihr vor allen andern
Wissenschaften den ersten Bang zu, gerade aus dem Grunde,
weil sie von und über Grott handelt Treffend bemerkt zu den
Worten des hl. Thomas der berühmte und gelehrte Thomist Gonet
(Clypeus Theol. Thom. traot I. prolog.): „Convenienter D. Thomas
Theologiam inchoat a Deo. Primo, quia illa ut ipsum nomen in-
dicat est sermo vel cognitio de Deo. 8ecundo quia est sapientia
suprema medians inter divinam et humanam : quare debet inci-
pere ubi humana desinit, nempe a cognitione Dei. Tertio quia
est participatio divinae scientiae, quae primo essentiam divinam
tamquam ejus objectum formale, secundario vero creaturas tam-
quam objecta secundaria et materialia contemplatur. Denique,
quum sit subjectum vel objectum Theologiae Dens, ejus essentia
et ratio est primum principium, a quo caetera omnia, quae in ea
pertractantur dependent et per quod tamquam per rationem a priori
demonstrare debenf Der hl. Lehrer fragt sich also — S. Th.
I. q. 1. a. 7 — „Ist Gott das Subjekt dieser Wissenschaft?" und
beantwortet die Frage: „Ja, Gott ist das Subjekt derselben.''
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Die Lehie des hl. Thomas von der Erkennbarkeit Gottes. 225
Unter Subjekt aber versteht der hl. Thomas das, was die
neaeren Philosophen Objekt nennen, und will derselbe also sagen*
Ja, Gott ist das Objekt, der Inhalt dieser Wissenschaft. Da nun
noch die Frage entsteht, ob aber objectum materiale oder for-
male, so antwortet Cajetan (Com. ad 8. Th. I. q. 1. a. 7): ob-
jectum formale. Zur Erklärung dieses Ausdruckes bemerkt
Billuart Summa S. Thomae. I. p. dissert prooem. a. 5: Das
Objekt, oder wie der hl. Thomas sagt, Subjekt der Betrachtung,
wird zweifach unterschieden, nämlich objectum materiale und
formale. Das objectum materiale ist das, was erkannt oder auf-
gefafst wird, jedoch nicht durch sich, sondern durch etwas
anderes. Das objectum formale aber ist das, was zuerst und
durch sich an dem objectum materiale erkannt wird. In dem
objectum formale sodann wird wiederum ein doppelter Begriff
— ratio — unterschieden, eine ratio quae d. i. der Gegenstand,
welcher erfafst wird, das nennt man objectum formale quod und
ratio qua seu sub qua, d. i. das, durch dessen Vermittlung die
ratio quae erfafst wird, dieses nennt man objectum formale quo
vel sub quo. Zur klaren Darstellung erläutert er dann das
Ganze an dem Beispiele vom Sehvermögen. Das objectum
materiale ist der Körper. Das objectum formale quod die Farbe.
Das objectum formale quo das Licht. Das Formalobjekt (ob-
jectum formale quod) der Theologie ist also Gott. Alles nämlich
behandelt die hl. Theologie in Bücksicht auf Gott, sei es, dafs
sie über Gott selber spricht, sei es, dafs sie über Aufser-
göttliches redet, insofern es in Ordnung und Beziehung zu
Gott steht als zu seinem Ursprünge oder zu seinem Endziele.
Mit der Lehre von Gott beginnt denn auch der heil. Lehrer
nach solcher einleitenden Quästion seine Abhandlungen in der
Summa.
Bevor der hl. Thomas aber seine Erörterungen über Gottes
Natur und Eigenschaften beginnt, schickt er das vor allem Not-
wendige voraus, nämlich die Frage, ob Gottes Dasein erkennbar
sei. Er bietet daher in der zweiten Quästion eine Darstellung
der Lehre von der Erkennbarkeit des Daseins Gottes, indem er
sich die Fragen stellt und beantwortet: Ob Gottes Dasein aus
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226 Die Lehre des hl. Thomas von der Erkennbarlceit Gottes.
sich erkennbar sei? Ob Gottes Dasein beweisbar sei? Ob Gott
sei? S. Th. I. q. 2. a. 1: ütrum Deam esse sit per se
notam? a. 2: ütrum Deum esse sit demonstrabile? a. 3: Utrom
Deum sit?
Folgend den Sparen des heil. Lehrers wollen wir gerade
diese Lehre zum Vorwurf nachstehender Abhandlung machen.
Bei der Abhandlung der Lehre von der Erkennbarkeit des
Daseins Gottes mufs aber noch vorausgeschickt werden, dafs
man auf fünffachem Wege versucht hat, zu jener Erkennbarkeit
Gottes zu gelangen. Fünf verschiedene Ansichten machten sich
hier geltend und zur Orientierung haben wir uns kurz mit ihnen
zu befassen und dieselben darzustellen.
An die Spitze stellen wir die Ansicht Jener, welche be-
haupten, die Existenz Gottes könne überhaupt gar nicht bewiesen
werden, sondern sei nur durch Glauben allein fiir wahr zu halten.
So der sog. Traditionalismus.
Gerade entgegengesetzt ist die Ansicht Jener, welche be-
haupten, dafs Gottes Dasein apodiktisch bewiesen werden könne
unter der Voraussetzung nämlich, dafs unserm Geiste eine un-
mittelbare und wenigstens habituelle Anschauung Gottes einge-
scha£fen sei. Die Ansicht der Ontologisten.
Andere leugnen die Möglichkeit des Beweises für das Dasein
Gottes nicht, weil es selbst unbekannt, sondern weil es durch
sich bekannt und an sich einleuchtend sei, gerade so wie die
unmittelbar einleuchtenden durch sich selbst bekannten Wahr-
heiten, veritates per se notae, und die sog. Grundprinzipien der
Erkenntnis, prima principia per se nota Diesen Ansichten gegen-
über steht die Meinung Derjenigen, welche lehren, dafs die
Existenz Gottes beweisbar sei. Doch scheiden sich auch sie
wieder in zwei Parteien und zwar in Verteidiger der aprio-
ristischen Beweisbarkeit des Daseins Gottes und in solche, die
nur den Beweis a posteriori gelten lassen wollen.
Gerade letztere richtig^ Ansicht teilt, lehrt und verteidigt
der hl. Thomas.
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Der TraditionalismuB. 227
Kapitel I.
Die Irrtümer über den Oottesbeweis.
§ 1.
Z>er Tr€i>diUan€Uimnu8*^
Es gibt, sagt der hl. Thomas^ eine Meinung, nach welcher
sogar der Versuch, das Dasein Gottes beweisen zu wollen, unnütz
ist, denn, sagen ihre Anhänger, der Satz „Gott ist'' kann auf
dem Wege der Yernunftschlüsse nicht gefunden werden, da er
blofs Glaubenssatz, Offenbarungswahrheit ist S. Ph. c. gentes
L. I. c. 12: „Est antem quaedam opinio aliorum, per quam etiam
inutilis redderetur conatus intendentium probare Deum esse.
Dicunt enim quod Deum esse non potest per rationem inveniri
sed per sölam viam fidei et revelationis est acceptum.'' cfr. „Q. D.
qu. 12. de mente a. 12. corp.'' Die dieser Ansicht Huldigenden
nennt man Traditionalisten.
Der Kernpunkt der ganzen Frage beruhet darin, zu wissen,
ob der menschliche Geist unter Anwendung seiner natürlichen
Mittel, d. h. vom Lichte der gesunden Vernunft allein geführt,
auf dem Wege der Schlufsfolgerung aus den sinnlich wahrnehm-
baren Dingen übersinnliche Wahrheiten der natürlichen Ordnung
sowohl spekulative wie moralische schliefsen und erkennen könne.
Diese Frage nun verneint der Traditionalismus, selbst in seiner
mildem Form (traditionalismus mitigatus), wie ihn neuerdings
P. Ventura verteidigte.
Zu dieser rigoristischen Anschauung, glaubt der hl. Thomas,
seien die Traditionalisten getrieben einesteils durch die konfuse
Darstellungsweise mancher Philosophen, welche unter Wesenheit
(ratio-essentia) und Existenz keinen gehörigen Unterschied machten
und sie in Gott mit einander verwechselten. Da man aber auf dem
Wege der blofsen Vernunfbschliefsung nicht zur Erkenntnis der
Wesenheit Gottes (quid sit Dens) gelangen kann, so sprachen sie
dem menschlichen Geiste auch die Fähigkeit, den Beweis fürs
Dasein Gottes (an sit Dens) führen zu können, ab. S. Ph. c. gentes
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228 Die Lehre des hl. Thomas yon der Erkennbarkeit Gottes.
1. 0.: ,,Ad hoc autem dicendum moti sunt quidam propter debili-
tatem rationam, quas aliqui inducebant ad probandum Deum esse.
Po88et tarnen hio error fuleimentum aliquod falso aibi assumere
ex quornndam philosophonim dictis, qui ostendunt per rationem
in Deo idem e8»e essen tiam et esse, scilicet id quo respondetur
ad: quid sit Dens et ad quaesüonem : an est. Via autem rationis
perveniri non potest ut soiatur de Deo quid sit ünde nee
ratione videtur posse demonstrari an Dens sif
Der endliche Verstand, sagen dann die neuem Anhänger
dieser Ansicht, wie es der Menschenverstand ist, kann ebenso-
wenig in der Erkenntnisordnung schaffen, wie er dieses ja auch
in der physischen Ordnung nicht kann. Daher setzt der mensch-
liche Intellekt in allen seinen Erkenntnissen etwas Toraus, gleich-
sam als Materie, ein mit den Sinnesorganen erfafsbares Individuum,
dessen universale Natur er einsieht, sowie es ja in uns unmöglich
eine intellektive Erkenntnis irgend eines Dinges ohne ein darauf
bezügliches sinnliches Bild des Dinges geben kann. Ein solches
Individuum in geistigen Dingen mufs, da es durch die Sinne
nicht erfafst werden kann, dem menschlichen Intellekt durch eine
Belehrung, die ihm gegenüber thätig ist und von aufsen auf ihn ein-
wirkt, vorgestellt werden. Ebenso können Wahrheiten der geistigen
und moralischen Ordnung aus sinnlich wahrnehmbaren Dingen
nicht gefolgert werden, denn geistige und moralische Wahrheiten
verhalten sich in Bezug auf unser intellektuelles Erkennen wie
sich bei unserm sinnlichen Erkennen Gegenstände verhalten, die
den Sinnen entrückt sind. Diese letzteren können natürlich von uns
nicht erkannt werden, wenn sie uns nicht früher von jemanden be-
schrieben werden, also auch die ersteren nicht; ja ein gröfseres
Mifsverhältnis waltet ob zwischen sinnlichen und geistigen Dingen
als zwischen gegenwärtigen und abwesenden Dingen.
Dafs diese Ansicht der Traditionalisten unhaltbar ist^ zeigt
ein flüchtiger Einblick in die Ontologie. Aus jeder Wirkung
können wir nämlich das Dasein und irgendwie auch die Natur
ihrer Ursache erkennen. Zunächst also können wir die Existenz
der Ursache erkennen, denn das Kausalitätsprinzip ist nicht zu
leugnen, da dasselbe der sensus communis lehrt, da es analytisch
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Der Traditionaiiamus. 229
und nicht blofs ein judicinm syntheticnm a priori ist, und weil
es endUch aufs engste mit dem Gesetze der Kontradiktion Ter-
banden ist 80 lehrt der hl. Thomas ausdrücklich: ,,Weil die
Wirkung von der Ursache abhängt, so muls, wenn eine Wirkung
da ist, notwendig ihre Ursache vorher sein." S. Th. I. q. 2. a.
2. corp.: Respondeo dicendum quod duplex est demonstratio:
üna quae est per causam et dicitur propter quid; et haeo est
per priora simpliciter; alia est per effectum et dicitur demon-
stratio quia et haec est per ea, quae sunt priora quoad nos.
Quum enim effectus aliquis nobis est manifestier, quam sua causa,
per effectum procedimus ad cognitionem causae. £x quolibet
offectu autem potest demonstrari propriam causam esse ejus, si
tarnen ejus effectus sint magis noti quoad nos; quia quum effectus
dependeant a causa, posito effectu, necesse est causam prae-
existere.
Nicht allein die Existenz, sondern auch einigermafsen die
Natur der Ursache können wir aus der Wirkung erkennen. Die
Wirkung ist nämlich nicht eine blofs abstrakte Existenz, sondern
etwas Konkretes, also ein mit seinen Eigentümlichkeiten und
Beigaben versehenes Etwas. Alle jene Eigentümlichkeiten und
Eigenschaften hat aber die Wirkung von ihrer Ursache. Offenbar
kann aber die Ursache sie ihrer Wirkung nicht mitteilen, wenn
sie nicht dieselben irgendwie in sich selbst hat, denn niemand
gibt, was er nicht hat. Daher lautet ja eines der Hauptprinzipien,
welche aus dem Verhältnisse zwischen wirkender Ursache und
Wirkung sich ergeben: „Was immer in der Wirkung ist, das
mufs vorher schon in irgend einer Weise in der Ursache sein,
sei es nun in formeller oder in virtueller oder in eminenter
Weise." Wenn also unser Geist die Existenz, Natur und Eigen-
schaften der Wirkung erkennt, so schliefst er notwendig und
regelrecht, dafs die Ursache nicht blofs voraus da ist, sondern
dafs diese auch, was ihre Wirkung an Vollkommenheiten besitzt,
in sich hat und zwar letzteres wenigstens einigermafsen bei
äquivoken Ursachen, d. h. Ursachen, deren Wirkungen mit ihnen
nicht der gleichen Art sind, sondern nur eine gewisse Ähnlich-
keit haben. Daher sagt der hl. Lehrer, nachdem er bewiesen.
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230 Die Lehre des hL Thomas ron der Erkennbarkeit Gottes.
dafs unser Verstand sich zur vollen Erkenntnis der Wesenheit
Gottes nicht erheben kann, sehr schön: ,,Weil die Geschöpfe
von ihm, Gott, als ihrer Ursache abhängige Wirkungen sind, so
können wir von diesen ausgehend dazu geführt werden, dals
wir soviel von Gott erkennen, dafs er ist; und dafs wir das-
jenige, was ihm zukommt, erkennen, insofern er aller Wesen
erste Ursache und zwar alle sichtbaren Wesen weit überragende
Ursache ist S. Th. L q. 12. a. 12. corp.: Respondeo dicendum,
quod naturalis nostra cognitio a sensu principium sumit Unde
tantum se nostra cognitio extendere potest, in quantum manuduci
potest per sensibilia. Ex sensibiiibus autem non potest usque ad
hoc intellectus noster pertingere, quod divinam essentiam videat,
quia creaturae sensibiles sunt effectus Dei, virtutem causae non
adaequantes. Unde ex sensibilium cognitione non potest tota
Dei virtus cognosci et per consequens nee ejus essentia videri.
Sed quia sunt effectus a causa dependentes ex eis in hoc per-
duci possumus ut cognoscamus de Deo, an est et ut cognoseamus
de ipso ea, quae necesse est ei convenire secundum quod est
prima omnium causa excedens omnia sua causata — ejus habitudo
et differentia a creaturis. cfr. 1. c. q. 32. a. 1, wo er denselben
Gedanken bei der Frage über Erkennbarkeit der hl. Dreifaltig-
keit entwickelt. Ganz allgemein dann fuhrt er diesen Gedanken
S. Th. L q. 88. a. 2. ad 1. aus: ergo dicendum, quod ex rebus
materialibus ascendere possumus in aliqualem cognitionem im-
materialium reruro, non tamen in perfectam; quia non est suffi-
ciens comparatio rerum naturalium ad immateriales; sed simili-
tudines, si quae a materialibus accipiuntur ad immaterialia
intelligenda sunt multum dissimiles, ut Dionysius dicit
Was dann die Traditionalisten über das Bild sagen, wider-
legt der Aquinate ganz treffend, wenn er sagt: „Die unkörper-
lichen Dinge, von denen .es keine Sinnesbilder gibt, werden
erkannt von uns durch Vergleichung mit den sinnlich wahrnehm-
baren Dingen, von denen es Sinneseindrücke gibt/^ S. Th. I.
q. 84. a. 7. ad 3.: dicendum quod incorporea, quorum non sunt
phantasmata cognoscuntur a nobis per comparationem ad corpora
sensibilia, quorum sunt phantasmata^ . . . Deum autem cognoscimus
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Der Ontologismas. 231
nt causam per exceesum et per remotionem ; oder wenn er
ebenso schön, wie kurz antwortet: ,,6ott wird erkannt Tom
natürlichen Erkenntnisvermögen ans den Bildern dessen, was er
wirkt/' 8. Th. 1. q. 12. a. 12. ad 2: „dicendnm qnod deus
natural! cognitione cognoscitur per phantasmata effectus sui/'
Eingehend widerlegt er dann diese Ansicht in seiner 8. Ph.
c. gentes L. I. cap. 12 mit vier Gründen, wenn er schreibt:
,yHujusmodi autem sententiae falsitas nobis ostenditur: tum ex
demonstrationis arte quae ex effectibus causas concludere docet*,
tum, ex ipso scientiarum ordine, nam si non sit aliqua scibilis
substantia supra substantiam sensibilem non erit aliqua scientia
supra naturalem ut dicitur in IV. Metaphysicorum; tum ex philo-
sophorum studio qui deum esse demonstrare conati sunt (eine Art
moralischen Beweises); tum etiam apostolica veritate asserente:
Invisibilia Dei per ea, quae facta sunt, intellecta conspiciuntur
(der hl. Lehrer ist eben katholischer Philosoph). Natürlich ver-
schlägt es hier nichts, dafs in Gott das Wesen und Sein, essentia
und esse, ein und dasselbe ist, denn man mufs hier wohl unter-
scheiden jenes „esse quo Deus in se ipso subsistit'^, welches uns
freilich, wenn wir fragen, was es sei, unbekannt ist, und jenes
esse, quod significat, compositionem propositionis, zu dessen Er-
klärung Cajetan Com. ad 8. Th. I. q. 3. a. 4. ad 2 bemerkt:
est propositionis constructio per connexionem attributi cum sub-
jecto. In diesem Sinne fallt das esse Deum in den Bereich des
Beweises.
Ein kurzes und entschiedenes Verdikt fallt der hl. Thomas
über diese Ansicht der Traditionalisten, wenn er sagt: „Die
erste Meinung ist offenbar falsch, denn das Dasein Gottes wird
mit unwiderleglichen Beweisgründen von Philosophen bewiesen.*'
Q. Disp. q. 12. de mente a. 12. corp.: Prima opinio manifeste
falsa apparet, opinio eorum, qui dixernnt, qnod Deum esse non
est per se notum nee etiam per demonstrationes scitum, sed est
tantum a fide susceptum. Invenitur enim hoc, quod est Deum
esse rationibus irrefragabilibus et a Philosophis probatum, quam-
vis etiam a nonnullis ad hoc ostendendum rationes frivolae in-
ducantur; cfr. 8. Ph. c. gentes L. I. cap. 12. sub fine: Patet, quod
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232 Die Lehre des hl. Thomas yon der Erkennbarkeit Gottes.
etfii Deus seDsibilia omnia et sensum excedat, ejus tarnen effectas ex
qaibus demonstratio sumitur ad probandnm Deam esse, sensibiles
sant; et sie nostrae cognitionis origo in sensu est, etiam de hia
quae sensum excedunt.
§2-
Der Ontoiogiamus*
Die Antipoden der Traditionalisten sind die Verteidiger des
Ontologismus. Obgleich allen Ontologisten die Behauptung einer
unmittelbaren Erkenntnis Gottes eigen ist, so erklären sie die-
selbe doch in verschiedener Weise. Wenn wir vom Pantheismus
psychologicus oder Idealismus absehen, der unserm Geiste, als der
Wirkursache alles Erkennbare zuteilend jenes unmittelbare Er-
kennen als ein Erkennen des eigenen Geistes erklärt, den der
heil. Thomas S. Tb. I. q. 79. a. 2. schon zurückgewiesen hat
in der Beantwortung der Frage: utrum intellectus sit potentia
passiva? mit den Worten: Nullus intellectus creatus potest se
habere ut actus respectu totius entis universalis, quia sie oportet
quod esset ens infinitum. linde omnis intellectus creatus per hoc
ipsum quod est, non est actus omnium intelligibilium sed com-
paratur ad ipsa intelligibilia sicut potentia ad actum. Eine ähn-
liche Argumentation findet sich schon beim hl. Augustinus, de
Vera religione cap. 39: Die Wahrheit, sagt er, sucht nicht sich
selbst, sondern unsere Seele sucht die Wahrheit Also ist unsere
Seele nicht die Wahrheit, die sie sucht
Wenn wir ebenso absehen vom Rationalismus, der alle Wahr-
heit mit eigener Geisteskraft zu messen unternimmt, welchen
Irrtum der hl. Lehrer ebenfalls widerlegt (S. Th. I. q. 12. a. 4.)
mit den Worten: Non igitur potest intellectus creatus Deum per
essentiam videre, nisi in quantum Dens per suam gratiam se in-
tellectui creato conjungit, ut intelligibilem ab ipso (und a. 5):
Quum autem aliquis intellectus creatus videt Deum per essentiam,
ipsa essentia Dei fit forma intelligibilis intellectus. Unde oportet,
quod aliqua dispositio supernatural is ei superaddatur ad hoc, quod
elevetur in tantam sublimitatem. Quum igitur virtus naturalis
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J
Der OntologismiiB. 233
intellectaB creati non Bufficiat ad Dei esaentiam yidendam oportet
quod ex divina gratia Boper acerescat ei TirtoB intelligendi; ja^
wenn wir Ton diesen offenbaren Irrtümern absehen, können wir
sofort mit der Untersnchnng der ontologischen Ansicht im engem
Sinne beginnen.
Diese nimmt blofs eine unmittelbare Erkenntnis an, nämlich
die Erkenntnis des „eigenen Ich'' im Selbstbewnrstsein. Alles
Übrige, was von uns yerschieden ist, erkennen wir durch die
»Jdeen''. Die Idee ist in uns eine geistige Realität, und was
wir zunächst und unmittelbar erkennen, das ist nicht der Gegen-
stand, welcher der Idee entspricht, sondern vielmehr die Idee
selber; erst durch die Idee erkennen wir den Gegenstand. So
Malebranche, Eecherches de la verit^ 1. 3. p. 2. c. 1 u. 3. Woher
nun die Ideen? Welches ist ihr Ursprung? Nach Verneinung
Terschiedener möglichen Erklärungsversuche kommt Malebranche
dann zu dem Schlüsse: Gott ist zeitlich der erste und zwar
unmittelbar Erkenntnisgegenstand unseres Intellektes (1. c. cap. 6).
Der Ursprung der Ideen in uns kann nur dahin erklärt werden,
dafs wir dieselben unmittelbar in Gott anschauen, welcher An-
schauung Kardinal Gerdil Defense du sentiment du Per6 Male-
branche sur la nature et l'origine des id^s Sect I. Chap. I. n. 14
beipflichtend huldigt Gott schliefst aber als das unendliche und
allgemeine Sein alle Ideen der Dinge in sich, weil alles endliche
und besondere Sein nur ist durch Teilnahme an dem unendlichen,
allgemeinen Sein, das Gott ist. Malebranche 1. c. c. 8 und
Entretiens sur la metaphysique et sur la religion 2, 3. Gott
aber ist unserm Verstände stets innerlich unmittelbar gegenwärtig.
Gott ist die allgemeine Sonne der Geister, die allgemeine Ver-
nunft, die alle Menschen vemünilig macht, das Licht, das alle
Sterblichen erleuchtet. Er ist der allgemeine Ort der Geister,
in welchem alle leben und sich bewegen (Malebranche Rech,
de la verit6 1. 3. p. 2. c. 6.), wozu Gerdil die Worte des Apostels
Paulus (Act 17, 28.) zur Bestätigung anführt: „In ihm leben
wir, bewegen wir uns und sind wir*', mit der Erklärung des
hU Thomas (S. Th. I. q. 18. a. 4. ad 1.): „Auch unser Leben,
unser Sein und unser Bewegtwerden wird von Gott verursacht,"
Jahrbuch fttr Philosophie etc. 1. 16
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234 Die Lehre des hl. Thomas ron der Erkennbarkeit Gottes.
dann daraus die Folgerang zieht: Es genügt also, dafs Grott
unserm Verstände jene erkennbaren Ideen offenbaren wolle, in
einer unserm jetzigen Standpunkte entsprechenden Weise, damit
unser Verstand diese Ideen aufTasse und durch deren Vermitt-
lung die äufsem Gegenstände erkenne. (Defense du sentiment etc.
8ect. I. Chap. 1. n. 4.) Wenn aber Gott unserm Verstände stets
unmittelbar gegenwärtig ist, so sind wir dadurch in den Stand
gesetzt, auch dasjenige in ihm zu schauen, was in ihm enthalten
ist, nämlich die Ideen der Dinge. Und das ist dann auch die Art
und Weise, wie wir zu der Erkenntnis der Ideen kommen : wir
schauen dieselben in Gott. Damit ist aber auch nur allein unserm
Geiste die Möglichkeit gegeben, allgemeine Ideen durch Ableitung
von der allgemeinsten Idee, der Idee Gottes, als des unendlichen
allgemeinen Seins zu bilden (Recherches 1. 3. p. 2. c. 6.) und
die Erkenntnis der Wahrheit zu besitzen; denn Gott ist die ewige
Wahrheit und schlierst alle Wahrheiten in sich, wir aber schöpfen
sie aus ihm durch Dazwischenkunft der Ideen, die wir in ihm
anschauen. Dabei aber bleibt bestehen, dafs, obgleich wir alle
Dinge in Gott erblicken, wir doch nicht das Wesen Gottes, wie
es an sich ist, schauen, denn wir erblicken dieses Wesen Gottes
stets nur in der bestimmten Beziehung, die es zu einem Dinge
hat, insofern es dessen Idee ist (Entretiens sur la metaphysi-
que 2, 2.)
Dieser Ontologismus kann durchaus nicht zugelassen werden,
da die Beweisgründe für seine Wirklichkeit eben gar keine Be-
weiskraft haben. Der erste Beweis stützt sich auf die Allgegen-
wart Gottes. Gott ist allgegenwärtig in allen Dingen. Aber
aus diesem Satze folgt gar nichts für den Ontologismus. Gewifs
ist Gott gegenwärtig in uns, wie der hl. Thomas sagt, per essen-
tiam, per praesentiam et per potentiam. „Sic ergo," so erläutert
er S. Th. I. q. 8. a. 3, „est in omnibus per potentiam, in quantum
omnia ejus potestati subduntur; est per praesentiam in omnibus,
in quantum omnia nuda sunt et aperta oculis ejus; est in omni-
bus per essentiam, in quantum adest omnibus ut causa essendi.''
und I. Distinct IIL q. 1. a. 1. ad 3: Ad tertium dicendum
quod quamvis Dens sit in anima per essentiam, praesentiam et
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Der Ontologismus. 235
potentiam^ non tarnen est in ea sioat objectum intellectas et hoc
requiritar ad cognitionem. Da ist also gewifs nicht die Kede
Ton einem unmittelbar Gegenwärtigsein in Bezog anf unser Er-
kennen als dessen Erkenntnisgegenstand. Der Ausdruck ^^Sein
Oottes in den Dingen^' zeigt uns Gott als den Schöpfer der ge-
schaffenen Dinge, insofern und weil er yermöge seiner Allmacht
und Vorsehung, das Sein gibt und erhält; ihm sind alle Dinge
unterworfen, keines kann sich seiner Macht entziehen, denn alle
«ind blofs und offen Tor seinem Auge; vermöge seiner Wesenheit
ist Gott aber nicht als deren Form, sondern als die sie bewirkende
Ursache in allen Dingen, „denn,'* sagt der hl. Lehrer, „Gott ist
in allen Dingen nicht wie ein Teil ihrer Wesenheit oder als
Accidenz, sondern wie das Handelnde in dem, in welchem es
wirkf 8. Th. I. q. 8. a. 1: „Respondeo dicendum quod Dens
«st in Omnibus rebus non quidem sicut pars essentiae vel sicut
accidens, sed sicut agens adest ei in quo agif Weil aber
alles Geschaffene offen vor Gottes Auge steht, darum ist noch
lange nicht zu schliefsen, dafs das Göttliche nun auch unmittelbar
vor dem geistigen ,Auge unserer Erkenntnis stehe, da ja die
Beziehung Gottes zu den Geschöpfen und die Beziehung der
Geschöpfe zu Gott qualitativ, d. h. wesenhafb verschieden sind
auch in Beziehung auf die Erkenntnis.
Ebensowenig wird mit dem zweiten Beweismoment erzielt,
in welchem da behauptet wird, dafs unser Geist zu Gott hin-
geordnet sei und darum unsere Erkenntnis auf Gott als das
Bndziel, das „zuerst Erkannte'S „Ursprünglichste im Erkannten'',
gerichtet sein müsse. Freilich sind wir zu Gott als dem letzten
Ziele und Ende hingeordnet, aber das schliefst nicht ein, dafs
wir darum Gott in diesem Leben schon unmittelbar schauen und
erkennen müssen. „Omnia appetunt Deum ut finem", sagt der
hl. Thomas 8. Th. L q. 44. a. 4. ad 3, appetendo quodcunque bonum
eive appetitu intelligibili sive sensibili sive naturali, qui est sine
cog^itione; qnia nihil habet rationem boni et appetibilis nisi se-
cundum quod participat Dei similttudinem. Diesen Worten fiigt
er Quaest. Disp. de Veritate q. 10. de mente a. 12. ad 5. in
demselben Sinne bei: Summum bonnm desideratur dupliciter.
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236 Die Lehre des hl. Thomas tob der Erkennbarkeit Gottes.
Uno modo in sni eaaentia et sie aon omnia deaiderant anmmnm
bonnm. Alio modo in sui aimilitudine et aic (Mnnia deaiderant
anmmam bonam, qnia nihil eat desiderabile niai in quantum in
eo similitndo summi boni invenitur. Unde ex hoo non poteat
haberiy quod Deum eaae, qai eat anmmom bonum per eaaentiam ait
per ae notum. Ebenao aagt er 8. Pk c. gentea L. q. 1. 1. c. 11. ad 4:
Sic enim h^no natnraliter Deum cognoacit^ sicat natnraliter ipanm
deaiderat. Deeiderat antem ipanm homo natoraliter in quantum
deaiderat natnraliter beatitndinem^ quae eat qnaedam aimilitndo
divinae bonitatis. Sic igitnr non oportet^ qnod Dena ipae in ae
conaideratna ait natnraliter notua homini aed aimilitndo ipsina»
Unde oportet qnod per ejaa aimilitndinea, in effectibua repertaa»
in co^itionem ipaina homo ratiocinando perveniat
Unsere Seele^ so will man dann weiter den Beweis fuhren^
mnfs am meisten Gott unterworfen sein; &m meisten aber ist
aie Gott unterworfen, wenn man behauptet, dafs von Gott, dem
unmittelbar und zuerst Erkannten und zugleich der Uridee alles
Erkennbaren, unser ganzea übrige Erkennen abhängt Kann dieaea
wohl ein stichhaltigea Beweismoment für die unmittelbare intuitive
Erkennbarkeit Gottes abgeben? Wahrlich nicht. Absolut mufs die
objektive Richtigkeit des Beweises geleugnet werden, solange
festgehalten wird, dafs die Wahrheit unserer Erkenntnis von den
Dingen selbst abhänge. Gewifs haben die Dinge keine Wahrheit,
wenn nicht von der ersten Wahrheit, der Wahrheit schlechthin,
welche Gott ist Daher hängt unser Verstand sowohl in An-
betracht aeines Seins als seines Erkennens am meisten von Gott
ab, ohne aber dafs wir ihm ein unmittelbares Erkennen Gottes
zuschreiben brauchen; dieses unmittelbare Erkennen gehört an-
atatt zur Abhängigkeit vielmehr zur Vollkommenheit unseres
Verstandes, der hier auf Erden (in via) nur mittelbar aus den
Greschöpfen durch Schlufsfolgerung Gott erkennt, nach diesem
Leben aber (in patria) vollendet Gott „schauet von Angesicht
zu Angesicht, wie er ist'^
Wenn die Verteidiger des unmittelbaren Erkennens Gottes
dieses fordern zu müssen glauben, weil der Mensch von den sinn-
fälligen Dingen durch die Erkenntnisfahigkeit (vis intellectiva) die
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Der OntologuBius. 237
Ideen, dnroh die er erkenn^t, niobt erlaDgen köniie, so widerstreitet
das g^nz der Ansieht des hl. Thomas, der ausdräcklich bemerkt,
,,dars unser Intellekt im Stande des gegenwärtigen Lebens nichts
tbatsächlich erkenne ohne Bild (phantasma), und er sich daher
immer zu den Erkenntnisbildem wende, nm zu erkennen. 8. Th.
I. q. 84. a. 7: Kespondeo dicendnm qnod impoesibile est intel-
lectum nostmm secandnm praesentis yitae statom qno passibili
corpori conjungitnr aliqnid inteUigere in actn nisi conyertendo se
ad phantasmata . . . secnndo qnia hoc qnilibet in se ipso experiri
potest, qnod qnando aliqnis conatnr aliqnid intelligere format sibi
«liqna phantasmata per modnm exemplorum, in quibns quasi inspi-
ciat, qnod intelligere studet. Et inde est etiam quod quando ali-
•quem yolumus facere aliquid intelligere, proponimus ei exempla
«X quibns sibi phantasmata formare possit ad intelligendum.
Der menschliche Intellekt im gegenwärtigen Znstande voll-
l>ringt keine Thätigkeit ohne gleichzeitige Mitwirkung der Phan-
tasie und folglich ohne vorausgehende äufsere Sinnesthätigkeit
„Frincipium phantasiae, sagt der hl. Lehrer 8. Th. I. q. 111. a.
S. ad 1, est a sensu secnndum actum. Non enim possumus
imaginari, quae nuUo modo senttmus Tel secundum totum Tel
«ecundum partem sicut caeeus natus non potest imaginari colorem.
Vergleicht man die interessante Stelle 8. Ph. gentes L. II. cap. 73,
wo er ähnliche Ansicht ausfuhrt und zu demselben Resultat gelangt
und dann die Schlafsfolgerung zieht: „Ad nihil autem sensus et
phantasia sunt necessaria ad intelligendum, nisi ut ab eis acci-
piantur species intelligibiles,'' so haben wir wieder dieselbe An-
eicht, dafs unser Erkenn tnisTermögen in seiner Thätigkeit tou
den Sinnesorganen abhängig sei. Diese Abhängigkeit ist dann
eine durchaus objektiye, so dafs wir sagen müssen: die primitiven,
ursprünglichen, universalen Ideen werden in uns gebildet aus
den sinnlich wahrnehmbaren Dingen vermittelst des Abstraktions-
vermögens unsers Geistes; wir schauen vermöge des thätigen
Verstandes (intellectns agens) das Allgemeine in dem Besondem,
Einzelnen, Partikulären existierend. Von den durch Abstraktion
von den sinnlichen Einzeldingen gebildeten ursprünglichen Ideen,
steigt dann der Intellekt vermöge der ihm eingebomen Kraft zu
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238 Die Lehre des hl. Thomas von der Erkennbarkeit Gottes.
anderm iDtelligibilen auf. So heilst es 8. Th. I. q. 84. a. 7:
Intellectns aatem homani^ qni est conjanctns corporis proprium
objectum est quidditas sive natura in materia oorporali existens;
et per hujusmodi naturas yisibilium rerum aliqualem cognitioneni
asdendit .... Farticulare autem apprehendimus per sensum et
imaginatiouem et ideo necesse est ad hoo^ quod intellectus actu
intelligat suum objectum proprium quod convertat se ad phautas-
mata ut speouletur naturam universalem in particulari existen-
tem. 8. Ph. c. gentes L. II. cap. 76 führt der Aquinate dieselbe
Ansicht ausführlicher noch durch.
Gegen jene Ansicht aber, dafs unsere 8eele die göttlichen
Ideen in sich und uumittelbar erkenne, nicht aber das göttliche
Wesen, wie es an sich ist, wendet sich der hl. Thomas bei der
Erörterung der Frage, ob die Propheten die göttliche Wesenheit
schauen, mit den Worten 8. Th. II»- II»«- q. 173. a. 1 : Non est
autem possibile quod aliquis videat rationes creaturarum in ipsa
divina essentia, ita quod eam non videat, tum quia ipsa divina
essentia est ratio omnium eorum, quae Sunt; ratio autem idealis
non addit supra divinam essentiam nisi respectum ad creaturam
tum etiam quia prius est cognoscere aliquid in se quod est
cognoscere Deum ut est objectum beatitudinis quam cognoscere
illud per comparationem ad alterum quod est cognoscere Deum
secundum rationes rerum in ipso existentes, cfr. Quaest Disp. de
Veritate q. 12 de prophetia a. 6. corp.
Nichts Neues, als die Form bringt eine neuerdings versuchte
Verteidigung des Ontologismus von Vincenzo Gioberti. Polemi-
sierend gegen Kosminfs „Ente ideale indeterminato", ein Sein,,
dessen Idee uns eingeboren, das nur ein mögliches Sein und
doch wieder ein wahres, wirkliches Sein verschieden von unserm
Geiste und numerisch in allen Menschen eins, stellt Gioberti ein
erstes Prinzip auf, von welchem die gesamte philosophische Er-
kenntnis ausgeht, und das nennt er „Primum philosophicum".
Dies „Primum philosophicum^' mufs ein reales Sein sein, da ja
der Begriff des Möglichen nur aus dem Begriffe des Wirklichen
erkannt wird, mufs ein absolutes, ja das absolute Sein selbst sein.
Unsere Erkenntnis ist nur wahr und vollkommen, wenn die
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Der Ontologismus. 239
Ordnung nnserB Erkennens^ die psychologische Ordnung sich deckt
ndt der Ordnung des Seins, mit der ontologischen Ordnung, nur
dann ist Harmonie zwischen Denken und Sein. In der ontolo-
gischen Ordnung ist Gott das erste Sein und alles andere Sein
geht aus ihm hervor; defshalh ist auch in der psychologischen
Ordnung Gott das Ersterkannte, und alles andere Erkennen folgt
auf die Erkenntnis Gottes und ist durch sie bedingt. Kurz: das
„Primum ontologicum'' ist dasselbe mit dem „Primum psycholo-
gicom'', und beide zusammen bilden das „Primum philosophicum'^
(Introduzione alle studio della filosofia tom 2. p. 149. sqq.) Gott
als erstes Sein ist Ersterkanntes. Diese erste Erkenntnis ist aber
keine yermittelte, sonst wäre sie ja nicht mehr erste und ursprüng-
liche, sie ist vielmehr eine unmittelbare intuitive. Das Prinzip
der Erkenntnis ist Intuition, und deren unmittelbares Objekt ist
die Idee, jedoch nicht als Form, welche blofs das Angeschauete
darstellt, sondern das Angeschauete zugleich selbst ist. Diese
G^ttesidee ist dann femer nicht „eingeboren", sondern Gott selbst
ist dem Menschengeiste gegenwärtig in jener unmittelbaren An-
schauung, in welcher dieser Gottes Sein schaut (1. c. p. 170.). Gott
aber wird von uns nicht als abstrakte Realität geschaut, sondern
als konkretes Wesen, sowie er in der Wirklichkeit ist. In der
Wirklichkeit aber ist Gott so, dafs er andere von ihm verschiedene
„Existenzen'' schafft Daher schauen wir Gott als solches schaffen-
des Sein, als ens creans existentias. Ein Dreifaches schliefst die
Intuition ein : das absolute Sein den freien Schöpfungsakt^ wodurch
es andern von ihm verschiedenen Existenzen das Dasein gibt, und
die geschaffenen Dinge, welche durch den freiwilligen Schöpfnngs-
akt wirklich sind. (1. o. p. 190.)
Alles dieses wird mit von allen Ontologisten obiger Art ge-
brachten Gründen verteidigt und ist daher auch in oben ange-
führter Widerlegung nach dem hl. Lehrer schon widerlegt.
Gegenüber dieser schroffen Ansicht der unmittelbaren An-
schauung des Unendlichen, nämlich der göttlichen Eigenschaften
und der ewigen im göttlichen Geiste existierenden Ideen, nach
deren Ebenbild die geschöpflichen Dinge werden, unterscheidet
der gemäfsigte Ontologismus in unserer objektiven Auifassung
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240 Die Lehre des hl. Thomas von der Erkennbarkeit Gottes.
das Singalöre und das Universale. Das Singulärey welches dss
unmittelbare Objekt der Sinnesthätigkeit ist, wird geschaaet i&
sich selbst, wogegen das UmTersale, welches notwendig und
ewig und unveränderlich ist, nicht sein kann, wenn nicht in Gott
oder vielmehr Gott selbst, idea archetypa; es kann letzteres
daher auch nur in Gott unmittelbar geschauet werden und zwar
durch intellektive Intuition mit der Einschränkung, dab die gott-
lichen Ideen, nicht die Wesenheit Gottes an sich, Objekt dieses
Erkennens seien. Auch dieser gemäfsigte Ontologismus ist nicht
haltbar, denn sowie er aus falschen Grundsätzen zu bewdsen
sucht, ebenso unlogisch ist er in seinen Schlufsfolgerungen. Die
Verteidiger desselben behaupten nämlich, dafs in uns die Idee
des Unendlichen an sich existiere, und nicht erst durch Schluis-
folgerung aus den endlichen Dingen vermittelst Abstraktion er-
langt werden könne. Was will nun der Begriff „Unendlich''
sagen? Natürlich drehet sich die Frage nicht um den Wortlaut,
noch auch darum: was „unendlich'' objektiv in sich sagen will
Diese Fragen bleiben hier unberührt. Es ist die Frage nur nach
dem Begriff „Unendlich", sofern er in das Gebiet unserer Er-
kenntnis fallt. Darauf mufs aber geantwortet werden, dafs die*
Erkenntnis, welche wir in diesem Leben vom „Unendlichen"
haben, eine positiv- negative Erkenntnis ist. „Insoweit etwas
von uns erkannt werden kann," sagt der hl. Thomas, ,4Qsoweit
kann es auch von uns benannt werden, denn die Worte sind
der Ausdruck des Erkannten." S. Th. I. q. 13. a. 1. Wir be-
nennen nun aber das Unendliche mit einem negativen Worte.
Also ist auch der Begriff, welchen wir im Intellekt vom Unend-
lichen haben, negativ; jedoch, weil der Begriff eigentlich auf ein
positives Ding hinzielt, zugleich positiv. Oder anders ausgedrückt:
der Begriff „Unendlich" ist positiv, weil sein Inhalt etwas Wirk-
liches, Positives ist, negativ, weil er blofs die Unvollkommen-
heiten von jenem Positiven verneint; es kann nämlich das „Nicht-
begrenztsein" eines unendlichen Wesens von unserm Intellekte
positiv nicht erfafst, nicht begriffen werden. Sehr treffend sagt
hierüber der Aqninate Q.. Disp. de Veritate qu. 8 de cognitione
Angelorum a. 2: Unde etiam intellectus noster impeditur a
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Der OntologismixB. 24^
comprehensione infiniti Becundum quantitatem dimensivam, ita
qaod aliquid ejus est in inteUectu et aliqnid est extra inteUeotam.
PoaitiT ist somit unser Begriff Tom Unendlichen in Bezug auf
das, was erkannt wird; negativ in Bezng anf jenes Positive,
welches im Unendlichen enthalten ist, aber von unserm Ver-
stände hier nicht begriffen und ausgedrückt werden kann, als
positiv in sich. Der Begriff des Unendlichen wird daher durch
die vollständige Entfernung der Grenzen des Endlichen gewonnen.
Gonsiderandum est igitur quod infinitum dicitur aliquid ex eo,
quod non est finitum. 8. Th. I. q. 7. a. 1. Das Endliche erkenne
ich sofort, indem ich einsehe, dafs in einem Dinge nicht blofs
Vollkommenheiten, sondern auch Unvollkommenheiten sind, und
zwar durch Vergleichung mehrerer Dinge. Demnach bedarf man
keineswegs des Unendlichen als eines notwendig Vorauszusetzen-
den, um aus seiner Idee die Dinge als endlich, contingent und
relativ zu erkennen.
Vergleiche hierzu die schöne Darstellung Zigliaras: Della
luce intellettuale e dell' ontologismo. V. I. 1. 1. c. 14.
Ebenso unhaltbar ist der folgende Grrund: ^,Die Universalien,
da sie notwendig, ewig und unveränderlich sind, können in den
zufälligen, zeitlichen und veränderlichen Dingen nicht existieren,
sodafs man sie aus diesen mittelst Abstraktion erlangen könnte;
sie sind vielmehr die göttlichen Urideen, die wir also notwendig
intuitive schauen müssen im Geiste Gottes, so oft wir die Be-
griffe der Universalien auffassen.'' Das ist eben grundfalsch,
denn nach solcher Ansicht gibt es keine konstitutive Prinzipien
der Dinge, sondern aufser den Dingen liegende vorbildliche
Prinzipien, principia extrinseca et exemplaria. Danach wird
zunächst aber gar nicht gefragt. Die Frage drehet sich vielmehr
darum, was die Natur, das Wesen des Allgemeinen ausmache.
Das Aligemeine oder Universale ist das Eine, Gemeinschaftliche
in vielen Dingen. Dieses Universale kann aber in dreifacher
Bedeutung gebraucht werden, wie Commer, System der Philo-
sophie. I. Abt. Seite 25 sehr klar darstellt. Das Allgemeine
nämlich in der Ordnung der Ursachen ist eine Ursache, die sich
auf viele und verschiedene Wirkungen bezieht (universale in
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242 Die Lehre des hl. Thomas von der Erkennbarkeit Gottes.
causando, z. B. Gott, die Gestirne, die Elemente). Das Allgemeine
in der Ordnung der Yorstellnngen ist eine Vorstellung, welche
viele Dinge ausdrückt oder bezeichnet (universale in repraesen-
tando, z. B. die Idee des Baumeisters, die viele und verschiedene
Häuser projektiert). Das Allgemeine in der Ordnung des Seins
ist ein Ding, welches in vielen Dingen sein und von ihnen aus-
gesagt werden kann (universale in essendo, z. B. die menschliche
Natur ist in vielen Wesen und wird von vielen ausgesagt) So
sagt der hl. Thomas I. Dist 19. q. 5. a. 1 : Bespondeo dicendum,
quod eorum quae significantur nominibus, invenitur triplex diversitas.
Quaedam enim sunt, quae secundum esse totum completum sunt
extra animam et hujusmodi sunt entia completa, sicut homo et
lapis. Quaedam autem sunt, quae nihil habent extra animam,
sicut somnia et imaginatio chimerae. Quaedam autem sunt, quae
habent fundamentum in re extra animam, sed complementum
rationis eorum, quantum ad id, quod est formale, est per opera-
tionem animae ut patet in universali. Diese Einteilung voraus-
gesetzt, wird jeder zugeben, dafs die göttlichen Ideen die üni-
versalien in repraesentando sind; wären sie es aber in essendo,
80 machten sie ja die spezifische Natur der Dinge. Solches aber
zu behaupten ist nur dem Pantheismus möglich. Wie dann
obige Anschauung die Begriffe vom Allgemeinen verwirrt, so drückt
sie auch allen unsern affirmativen Urteilen den Stempel der Un-
möglichkeit oder des Falschseins auf. Unsere affirmativen Urteile
sind ja gerade deshalb wahr, weil die Identität, welche in allen
denselben zwischen Satzaussage und Satzgegenstand behauptet
wird, wahr ist So würde nun, da das Universale von dem
Einzeldinge ausgesagt wird, z. B. Petrus ist Mensch, die
Identität zwischen Individuum und göttlicher Idee ausgesagt,
falls das Universale die göttliche Idee selbst wäre. Das aber
ist unmöglich. Und wenn dies unmöglich ist, dann müfsten ja
alle Urteile, in welchen das Universale von dem Singulären aus-
gesagt wird, falsch sein. Dafs aber ein solches affirmatives Urteil
doch seine Giltigkeit hat, wird jeder zugeben müssen; mithin
mufs obige Ansicht falsch sein.
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Der Ontologismus. 243
Denselben Schlufs liefert auch des hl. Thomas verneinende
Ansicht in Bezug auf die eingebornen Ideen, sowie seine Lehre
Yom Ursprung unserer Ideen und unserer Erkenntnis der über-
sinnlichen Dinge. Plato lehrte, dafs die Ideen eingeboren seien.
Die Ideen der ünirersalien und geistigen Dinge sind uns ein-
geboren, und diese Ideen/ da sie allein unveränderlich, notwendig
und ewig sind, bilden die notwendige Grundlage für die Gewifs-
heit unseres Wissens, welche die zufalligen Dinge uns nicht
geben können. Was aber aufser uns im Bereich der sinnlichen
Wahrnehmung besteht, ist materiell, zufallig, singulär und ver-
änderlich. Daher können wir jene ersten Ideen auf dem Wege
sinnlicher Wahrnehmung nicht erlangen. Die Ideen sind viel-
mehr Vorbilder, Prototype, xaQaöüyfiara, die in die Erscheinung
tretenden Einzeldinge sind Abbilder, Ektype, elöcoXa, Ofioicifiora,
jener Vorbilder, und das Verhältnis der Einzeldinge zu den Ideen
ist das der Nachahmung ofioicooiq, fil/ifiöig. Ob nun aber nach
.Plato die Ideen der Dinge von den Dingen getrennt in dieser
Trennung für sich selbständig und als transcendent über den
Dingen stehend zugleich Gott gegenüber selbständig sind, oder
ob Plato die Ideenwelt in den göttlichen Verstand setzt, steht
dahin. Zum Beweise dieser Behauptung stützt sich der Philosoph
auf drei Beweisgründe, resp. bringt er eine Hypothese und sucht
sie durch zwei Argumente zu stützen. Es ist das seine Hypothese
von der sogenannten „Präexistenz der 8eelen'^ Die Beele, lehrt
Plato, hat vor ihrer Verbindung mit dem Körper in einem aufser-
körperlichen, rein geistigen Zustande gelebt und zwar in dem
Reiche der idealen Welt. Dort hat sie die Ideen unmittelbar
angeschaut. Mit dem Eintritt in den Körper ist ihr das im über-
körperlichen Znstande Geschauete in Vergessenheit gekommen.
Sie kann sich jedoch wieder daran erinnern. Die Erinnerung wird
nun in ihr erregt, wenn in den erscheinenden Dingen ein sei es noch
so unklares und trübes Bild der Ideen ihr gegenübertritt Dieses
trübe Bild weckt die Erinnerung an das Urbild, und so erwacht
wiederum die Erkenntnis der Ideen. Daher ist Erlernen, Wissen
des Menschen nichts als eine Wiedererinnerung. Phaedon p. 72 ff.
Den Beweis für diese seine Hypothese sucht Plato darin zu finden.
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244 Die Lehre des hl. Thomas Ton der Erkennbarkeit Gottes. '
dafe wir bei Betrachtung von Gegenständen sogleich ihre Überein-
stimmung oder Nichtübereinsiimmang mit der Yollkomm^ien Idee
derselben erkannten, was darauf hinweise, daTs wir vor aller Sinnes-
Wahrnehmung die Ideale aus einem Mhem Leben schon in uns
trügen. Doch ist diese Thatsache einfach zu leugnen und das Ver-
halten eines Kindes bei solcher Thätigkeit belehrt uns geradezu
vom Gegenteil. Als fernem Beweis will derselbe dann ange-
sehen wissen die Thatsache, dafe der Uuerfahrenste, richtig be-
fragt, die richtige Antwort gebe, ohne den fraglichen Gegenstand
früher gekannt zu haben. Es verkennt aber Plato eben die Natur
der geschickten Frage, und so antwortet ihm der heil. Thomas
S. Th. I. q. 84. a. 3. ad 3 mit Recht: Dicendum, quod ordinata
interrogatio procedit ex principiis communibus per se notis ad
propria. Per talem autem processum seien tia causatur in anima
addiscentis. ünde quum verum respondet de his, de quibus
secundo interrogatur, hoc non est, quia ea noverit, sed quia tunc
ea de novo addiscit Nihil enim refert, utrum ille, qui docet pro- ,
ponendo vel interrogando procedat de principiis communibus ad
conclusiones. TJtrobique enim animus audientis certificatur de
posterioribus per priora. Ob dann die Ideen in der Seele be-
wirkt werden von einzelnen für sich bestehenden Formen, ver-
neint der heil. Lehrer l. c. a. 4, indem er beweist, dafs Piatons
und Avicennas Ansicht keinen genügenden Grund angeben für
die Verbindung der Seele mit dem Körper.
Plato ähnlich nimmt auch Cartesius an, dafs alle jene Ideen,
welche etwas Übersinnliches und Notwendiges in sich schliefsen,
der Seele ursprünglich innewohnen, ihr von Gott eingepflanzt sind
(Med. de prim. philo». 3. 15 etc). Es kann nach seiner Meinung
aus der Erfahrung keine intellektuelle Erkenntnis geschöpft
werden; dieselbe verhält sich nur als veranlassende Ursache
dazu, dafs wir uns der Ideen bewufst werden (Nat in progr. de
anno 1647 p. 159). Der Ursprung der intellektuellen Erkenntnis
ist nur durch Annahme der eingebomen Ideen zu erklären. Zu
diesen eingebornen Ideen (ideae innatae gegenüber den ideae
factitiae und ideae adventitiae) rechnet er fürs erste die Idee
von „Gott^^ die Idee des „eigenen Selbst'^ sowie die Ideen des
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Der Ontologiamaa. 245
Seina der Substanz u. 8. w., welche anf das AuBichsein der
Dinge zielen und ihr Inhalt mithin etwas Notwendiges, Unver-
änderliches nnd Ewiges ist Zum Beweise dieser Annahme
stützen sich Gartesius und seine Anhänger zunächst auf ein
falsches Prinzip, dafs nämlich das Denken das Wesen der mensch-
lichen Seele ausmache, dals dieses folglich von der Seele wesent-
lich unzertrennlich und daher ihr eingeschaffen sei. Zum voraus
solche Behauptung zu widerlegen, lehrt aber der hl. Thomas an
verschiedenen Stellen einen wirklichen Unterschied zwischen der
Wesenheit der Seele und ihren Vermögen, so S. Th. I. q. 77.
a. 1; Q. Disp. de Anima a. 12; de spiritualibus creaturis a. 11;
Qnodl. X. a. 5. Ebenso werden sämtliche zur Stütze der Carte-
sianischen Theorie vorgebrachten Gründe im voraus vom heil.
Lehrer widerlegt. Dafs nämlich aus den Worten der hl. Schrift,
der Mensch sei nach dem Ebenbilde Gottes erschaffen, nicht ge-
folgert werden könne, dafs die Ideen eingeboren, weil eine Seele
im Augenblicke ihrer Schöpfung jeder Idee bar kein Ebenbild
Gottes sei, beweist Thomas Q. Disp. de Veritate q. 10. de mente
a. 1. ad 3: Ab Augustino et aliis sanctis imago Trinitatis in
homine multipliciter assignatur; nee oportet quod una illarum
assignationum alteri correspondeat, sicut patet quod Augustinus
assignat imaginem Trinitatis secundum mentem notitiam et amorem
et ulterius secundum memoriam, intelligentiam et voluntatem.
Denn fügt er noch 8. Th. I. q. 93. a. 7. bei: . . Primo et prin-
cipaliter attenditur imago Trinitatis secundum actus prout scilicet
ex notitia, quam habemus cogitando, interius verbum formamus
et ex hoc in amorem prorumpimus. Sed quia principia actuum
sunt habitus et potentiae, unumquodque autem virtualiter est in
suo principio secundario et quasi ex consequenti imago Trinitatis
potest attendi in anima secundum potentias et praecipue secundum
habitus prout in eis scilicet actus virtualiter existunt.
Ebenso unstichhaltig ist die Beweisführung fiir die ein-
gebornen Ideen daraus, dafs zur menschlichen Natur gehöre der
„sensus intimus" der eigenen Existenz, verbunden mit der unver-
wüstlichen Hinneigung zur Glückseligkeit; da aber ignoti nuUa
cupido, also die Idee der Glückseligkeit der Seele eingeboren
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246 Die Lehre des hl. Thomas von der Erkennbarkeit Gottes.
sein müsse. Diesem entgegnet der heil. Thomas durch Beant-
wortung eines ähnlichen Einwurfs Q. Disp. de Yeritate q. 10. de
mente 12. ad 1: Gognitio existendi Deum dicitur naturaliter
inserta, quia omnibus naturaliter insertum est aliquid (facultas
intellectiva) unde potest pervenire ad cognoscendum Deum esse.
Gegenüber der Ansicht Bosminis, der nur ,,eine Idee^' als
eingeboren annehmen will, nämlich die Idee des ^^ganz unbe-
stimmten Seins" — Tente ideale iudeterminato — welches nicht
durch Abstraktion des Denkens entstanden, sondern an und für
sich abstrakt und als solches in sich abstraktes unbestimmtes
Sein uns angeboren sei, sagt der Aquinate Lectio 12. in III. de
Anima: Ea, quae sunt in sensibilibus abstrahit intellectus, non
quidem intelligens ea esse separata sed separatim vel seorsum
ea intelligens. Die gleiche Widerlegung gibt er mit den Worten:
ipsa anima in se similitudines rerum format Und wie geschieht
dies? Der Heilige gibt es in genauer und logischer Abfolge
S. Th. q. 84. a. 7. an, wie oben Seite 237 angeführt. Die
Seele erhält nach aristotelisch -scholastischer Ansicht die Ideen
aus der Sinnlichkeit und abstrahiert dieselben vermöge ihrer
Fähigkeit (intellectus agens) von der Sinnlichkeit, also gelten
in Bezug auf Erkenntnis der übersinnlichen Dinge die sinnlich
wahrnehmbaren Dinge als natürliche Mittel zur Erkenntnis der
geistigen. S. Th. III. q. 10. a. 4. ad 1: Perfectio cognitionis,
quantum est ex parte cogniti attenditur secundum medium; sed
quantum ex parte cognoscentis attenditur secundum potentiam
vel habitum. Ergo ex parte medii tantum se nostra naturalis
<;ognitio extendere potest, in quantum roanuduci potest per sen-
sibilia. (S. Th. I. q. 12. a. 12.)
Berücksichtigen wir dann femer noch die zwei folgenden Be-
weismittel der Verteidiger des gemäfsigten Ontologismus. Das Ob-
jekt unseres Intellektes, behaupten dieselben, ist das Intelligibile,
was nicht das Wahre (verum), sondern die Wahrheit (veritas) ist.
Die Wahrheit aber ist Gott, von dem alle Geschöpfe empfangen,
dafs sie wahr sind. So ofb also die Intelligibilität oder Wahrheit
der Dinge erkannt wird, wird Gott selbst von unserm Intellekte
und zwar unmittelbar erkannt. Mit andern Worten: die geschaffenen
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Der OntologismoB. 247
Dinge sind nicht wahr anfeer durch die göttliche Wahrheit Es kann
mithin nnser Verstand die geschaffenen Dinge als wahr erkennen,
wenn er mit der Intuition (Anschauung) der ersten eigentlichen
Wahrheit, d. i. Gott beginnt. An vorstehendes Beweismoment
fugen die Ontologisten dann noch das andere, mit der Behauptung,
dafs die Geschöpfe, ob betrachtet in Hinsicht des Seins oder der
Wahrheit, oder dem Ifachbildlichsein oder auch in jeder andern
Hinsicht, immer nur als relative (beziehentliche) erkannt werden.
Das. Relative kann aber nur erkannt werden in Vergleich und
Verbindung zu seinem Prototyp, zu dem, wozu es in Verbindung,
Abhängigkeit steht. Das Absolute, das Prototyp von allem Ge-
schaffenen ist Gott. Sonach müssen wir zunächst eine unmittel-
bare Intuition von Gott haben und dann durch ihn und in ihm
die Kreaturen erkennen.
Diese doppelte Beweisführung ist jedoch nur Schein und
hinfallig. Durchaus vor allem mufs die Behauptung verneint
werden, dafs das Geschöpf nicht erkannt werden könne, ohne
die gleichzeitige Erkenntnis des Relativen in demselben. Es ist
nämlich ein Doppeltes in ihm zu unterscheiden : das Absolute d. i.
seine Natur, sein Sein, und das Relative d. i. seine Beziehung,
sein Verhältnis zu etwas anderem. Dieses Relative wird Wahr-
heit oder Intelligibilität, wenn die Beziehung zum Intellekt in
Betracht kommt; wird Zufälligkeit, wenn vom Verhältnis zur
ersten Wirkursache geredet wird. Zuerst nun fassen wir das
Absolute in den geschafienen Dingen auf, welches Absolute eben
das Sein ist und die Wahrheit unseres Erkennens verursacht,
abgesehen von dem Relativen, gesetzt auch den Fall, dafs jenes
Sein ein solches Sein von einem anderen esse ab alio ist So
antwortet der heil. Thomas dem gedachten Beweisgründe durch
Beantwortung eines gleichartigen Einwurfes, dafs nämlich das
Sein nicht erkannt werden könne aufser unter dem Begriffe des
Wahren, non intelligitur ens nisi sub ratione veri, wenn er 8.
Th. I. q. 16. a 3. ad 3. sagt: Ad tertium dicendum, quod quum
dicitur, quod ens non potest apprehendi sine ratione veri, hoc
potest duplioiter intelligi. Uno modo ita quod non apprehendatur
ens nisi ratio veri assequatur apprehensionem entis; et sie locutio
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248 Die Lehre des hl. Hiomas Ton der Erkennbarkeit Gottes.
habet yeritatem. Alio modo posset sie intelligi, quod ena non
posset apprehendi, nisi apprehenderetur ratio yeri ; et hoc falsum
est. Sed yerum non potest apprehendi nisi apprehendatnr ratio
entis, qnia ens oadit in ratione verL Et est simile sicut compa*
remu8 intelligibile ad ens; non enim potest intelligi ens^ quin ens
sit intelligibile y sed potest tarnen intelligi ens ita, quod non
intelligatur ejus intelligibilitas. Et similiter ens intelleotom est
vemm; non tarnen intelligendo ens intelligitar verum.
GewÜBy Gott ist die Wahrheit Wer wollte das leugnen?
Wohl aber mufs man leugnen, dafs die Wahrheit, welche wir
erkenuen und welche wir Gott zuerkennen, die wesenhafte Wahr-
heit Gottes an sich sei, wie die Ontologisten unterschieben mit der
Behauptung : ,,Gott ist nicht schlechtweg die Wahrheit^ sondern
seine Wahrheit, die mit dem Wesen Gottes eins und dasselbe
ist, und welche wir unmittelbar anschauen.^' Solche Wahrheit, die
mit dem Wesen Gottes dasselbe ist, können wir nicht nur nicht
unmittelbar schauen, sondern wir wissen vielmehr nicht einmal,
was sie ist, vrir begreifen sie nicht und können sie uns nur
einigermafsen darstellen durch Vermittlung eines analogen Be-
griffes von der Wahrheit im allgemeinen, gleichwie wir das Sein
Gottes durch analogen Begriff des Seins im allgemeinen zu er-
fassen suchen. Und solchen Begriff von der Wahrheit bilden
wir nicht infolge der unmittelbaren Anschauung der göttlichen
Wahrheit und wenden ihn dann auf die geschaffenen Dinge an,
sondern umgekehrt; wir erlangen den Begriff aus der Betrachtung
der Geschöpfe und wenden ihn auf Gott an und gelangen so
zum Begriffe von Gott als der erstem Wahrheit, gleichwie wir
zum Begriffe von Gott al» der Wirkursache alles geschaffenen
Seins gelangen auf dem Wege der Abstraktion. Denn, sagt der
heil. Thomas S. Th. I. q. 13. a. 3: In nominibus, quae Deo
attribuimus, est duo considerare scilicet perfectiones ipsas signi-
ficatas, ut bonitatem, vitam et hujusmodi et modum significandi.
Quantum igitur ad id, quod significat hujusmodi nomina, proprio
competunt Deo et magis proprie, quam ipsis creaturis, et per
prius dicuntur de eo. Quantum vero ad modum significandi, non
proprie dicuntur de Deo; habent enim modum significandi, qui
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Der OntologiBmuB. 249
creaturiß competit Ausführlich bei Kardinal Zigliara, Della Ince
intellettuale Y. 2. 1. 4. c. 14. Man hat den hl. Thomas selbst
als Verfechter der Theorie der eingebornen Ideen und damit als
Begünstiger des Ontologismus in seiner mildern Form aufzufuhren
unternommen. Doch ganz offenbar mit unrecht. So führt Casiitair
UbaghSy Professor zu Löwen, in seiner Psychologie c. 1. § l ssq.
aus den Werken des hl. Thomas fünf Stellen an, welche für die
eingebornen Ideen sprechen sollen.
1. Q. Dispp. de Veritate qu. 11. de magistro a. 3: Quantum
igitur ad utrumque (lumen intellectuale et primae conceptiones
per se notae) Dens hominis scientiae causa est excellentissimo
modo: quia et ipsam animam intellectuali lumine insignivit et
notitiam primorum principiorum ei impressit, quae sunt quasi
quaedam seminaria scientiarum, sicut et aliis naturalibus rebus
impressit seminales rationes omnium effectuum producendorum.
2. S. Th. I»- II»«- q. 73. a. 1: In ratione hominis insunt
naturaliter quaedam princfpia naturaliter cognita tam scibilium,
quam agendorum, quae sunt quaedam seminaria intellectualium
virtutum et moralium.
3. S. Th. I. q. 79. a. 12: Oportet igitur naturaliter nobis
esse indita sicut principia speculabilium ita et principia opera-
bilium.
4. Q. Dispp. de Veritate q. 10. de mente a. 6. ad 6: Prima
principia, quorum cognitio nobis est innata, sunt quaedam simili-
tudines increatae veritatis: unde secundum quod per eas de aliis
judicamus, dioimur judicare de rebus per rationes immutabiles
Yel veritatem increatam.
5. S. Ph. c. gentes 1. 1. c. 7. n. 2: Principiorum autem natu-
raliter notorum cognitio nobis divinitus est indita, quum ipse
Dens sit auctor nostrae naturae. ^
Wenn nun auch solche abgerissene Sätze scheinbar obigen
Versuch stützen, so steht es doch aufser jedem Zweifel, dafs der
heil. Thomas weder dem Eingeborensein der Ideen noch dem
Ontologismus huldigt So sagt er an mehreren Stellen, dafs der
menschliche Geist bei seiner Erschaffung in der Fähigkeit, Potenz,
zu dem Erkennbaren sei, wie die Materie (der Stoff; zu den
Jahrbach für Philosophie etc. 1. 17
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250 Dio Lehre des hl. Thomas von der Erkennbarkeit Gottes.
sinnlich wahrnehmbaren Formen. Q. Diepp. de Anima a. 7 : unde
in 8ua natura non habet perfectiones intelligibilee, sed est in
potentia ad intelligibilia sicut materia prima ad formas sensibiles.
In seiner Bumma Theologica ersten Ttüles, 84ste Qaästion, an
welchem Orte er hierhingehörendc Fragen besonders und im
einzeln behandelt, stellt der hl. Thomas folgende Fragen auf:
Artikel 3: Utrum anima intelligat omnia per species sibi natura-
liter inditas? Artikel 4: Utrum species intelligibiles eiÜuant in
animam ab aliquibus formis separatis? Artikel 5: Utrum anima
cognoscat res immateriales in rationibus aeternis ? und q. 88. a. 3 :
Utrum Dens sit primum, quod a mente humana cognoscitur?
womit noch zu vergleichen Quodl. 8. a. 3; Q. Bispp. de Yeritate
q. 10, a. 6; q. 8. a. 7. ad ü; q. 10. a. 1; Ouodl. q. 1. a. 1;
b. Ph. c. gentes 1. IL c. 82. Auf alle diese Fragen hat er nur
ein beständiges und entschiedenes „Nein*^ Auf die Fragen aber
(S. Th. I. q. 84. a. 6.): Utrum intellectiva cognitio accipiatur a
rebus sensibilibus? und 1. c. q. 85. a. 1.: Utrum intellectus noster
intelligat res corporeas et materiales per abstractionem a phantas-
matibus? antwortet er ebenso entschieden mit >,Ja''. In dem
ersten Artikel derselben von Ubaghs citierten Quästion (Q. Dispp.
de Yeritate q. 11. de magistro a. 1) sagt der Heilige ausdrück-
lich: Similiter etiam dicendum est de scientiae acquisitione, quod
praeexistunt in nobis quaedam scientiarum semina, scilicet primae
conceptiones intellectus, quae statim lumine intellectus agentis
cognoscuntur per species a sensibilibus abstractas, sive sint
complexa ut dignitaies, sive incomplexa sicut ratio entis et unius
et hujusmodi, quae statim intellectus apprehendit. Was könnte
noch deutlicher verlangt werden? Was dann das bemerkte ^^prin-
cipia naturaliter cognita et innata'' betrifft, so braucht der Aqninate
den Ausdruck durchaus nicht im Sinne der Ontologisten , wie
das deutlich erhellt aus Q. Dispp. de Yeritate q. 16. de syn-
doresi a. 1: Unde anima humana, quantum ad id, quod in
ipsa supremum est, aliquid attingit de eo, quod proprium est
naturae angelicae, ut scilicet aliquorum cognitionem subito et sine
inquisitione habeat quamvis quantum ad hoc inveniatur Angelo
inferior, quod in bis veritatem cognoscere non potest, nisi a sensu
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Der OntologiBmus. 251
accipiendo. Er setzt also das „nataraliter^^ und ,,iiiData'' in aus-
Rchliefsendem Sinne; im Gegensatze nämlich zum Aneignen durch
müheYolles Suchen und Forschen. Ganz ausdrücklich sagt er
Q. Dispp. de virtutibus in communi q. 1. a. 8: Quaedam statim
a principio naturaliter cognoscuntur absque studio et inquisitione . . .
et hujusmodi sunt principia prima non solum in speculativis, ut
omne totum est majus sua parte et similia; sed etiam in opera-
tivis, ut malnm esse fugiendum et hujusmodi; haec autem natura-
liter cognita sunt principia totius cognitionis sequentis, qnae per
Studium acquititur sive sit practica sive speculativa. Ebenso
finden wir denselben Gedanken Q. Dispp. de Yeritate q. 10. de
mente a. 12. ad 1: Ad primum ergo dicendum, quod cognitio
existendi Deum dicitur omnibus naturaliter inserta, quia omnibus
naturaliter insertum est aliquid unde potcst pervenire ad cognos-
cendum Deum esse. Welch entschiedenere Äufserung könnte
man noch wünschen, als die, welche der Heilige S. Th. I. q. 88.
a. 3. ad 2. macht: Propter Deum alia cognoscuntur non sicut
propter primum cognitum sed sicut propter primam cognoscitivae
Tirtntis causam; odei* 1. c. ad 1: In luce primae veritatis omnia
intelligimus et judicamus, in quantum ipsum lumen intellectus nostri
sive naturale siye gratuitum nihil aliud est, quam quaedam im-
pressio veritatis primae. Unde quum ipsum lumen intellectus
nostri non sc habeat ad intellectum nostrum sicut quod intelligi-
tnr, sed sicut quo intelligitur, multo minus Dens est id quod primo
a nostro intellectu intelligitur? In der Tbat, das Licht unseres
Verstandes ist die Grundursache der Erkenntnis. Weil Gott aber
der Urheber dieses Lichtes, d. i. unserer geistigen Natur, welche
nach S. Th. I. q. 84. a. 1. „participata similitudo luminis in-
creati, in quo continentur rationes aeternae" ist, so setzen und
erkennen wir alles durch resp. wegen Gott.
^
IV
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DER ERKENNTNISGRÜND.
Von
Dr. ernst COMMER.
Aniplins quaerere non licet, quam qiiod
Invenire Hcet.
Tertiilllan. de anima c. 2.
Uer Erkenntnisvorgang erscheint immer geheimnisvoll, sobald
wir ihn zum Gegenstände wissenschaftlichen Nachdenkens machen.
Darum bleibt er stets ein dankbarer Vorwarf fiir die philosophische
Forschung, die eine Erklärung desselben von verschiedenen Seiten
versucht hat. Wegen seiner Schwierigkeit und wegen der schon
darin angedeuteten Wichtigkeit ist er zu allen Zeiten der Schwer-
punkt der philosophischen Meinungen gewesen. Diese Ansichten
sind geteilt. In ihrer Verschiedenheit lassen sich aber zwei Rich-
tungen deutlich unterscheiden. Von diesen fuhrt nur eine zur
Lösung der schwierigen Frage und befähigt uns, eine durch-
greifende Erklärung der philosophischen Thatsachen zu geben.
Ihr gegenüber kämpft eine andere Meinung, welche vom Ent-
wickelungsgrundsatze ausgeht und zur pantheistischen Auffassung
fortschreitet Sie teilt sich wieder in drei Strömungen, die man
kurz als Materialismus, Idealismus und Transzendentalismus
bezeichnen kann. In diesen drei Gedankenrichtungen bewegen
sich alle Versuche, welche die Lösung nicht herbeiführen. Ent-
weder sucht man den Grund für eine Erklärung in der Welt^
welche niedriger ist als der denkende Mensch, oder im Wesen
des Menschen oder endlich in irgend etwas, was ganz und gar
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Der Erkenntnisgrand. 253
über den Menschen erhaben ist. Die stärkste Strömnng des
pantheistischen Gedankens fliefst im Bette des Materialismus.
Dieser Lehre tritt die Untersuchung über den letzten und tiefsten
Grund der Erkenntnis geradezu entgegen und widerlegt sie,
wenn es gelingt, jenen Grund in der Stoiflosigkeit selbst nach-
zuweisen, wie Aristoteles schon gethan hat Damit wird zugleich
auch die subjektive und transzendentale Lehre in der Wurzel
zerstört
Zur Lösung dieser Aufgabe mufs zuerst der Erkenntnisgrund
an sich betrachtet werden. Zweitens ist auch die Möglichkeit
des Erkennens aus jenem Grunde zu entwickeln. Sie ist zwei-
fach: die passive Erkennbarkeit des Gegenstandes und die aktive
Erkenntnisföhigkeit des erkennenden Wesens. Drittens mufs die
ganze Ordnung des geistigen Lebens, die sich im Wissen und
Wollen entfaltet, aus dem angegebenen Erkenntnisgrunde folge-
recht abgeleitet werden. Daher teilt sich die üntersnchung in
vier Abschnitte: 1. das Wesen des Erkenntnisgrundes, 2. die
Erkennbarkeit, 2. die Erkenntnisföhigkeit, 4. das geistige Leben.
Der Zweck, der uns leitet, ist eine Verständigung mit den
Gegnern. Die Verschiedenheit der Ansichten ist einmal vor-
handen. Sie schliefsen sich gegenseitig aus. Also kann die
Wahrheit nicht gleichmäfsig in allen enthalten sein, obwohl es
sicher ist, dafs jeder Irrtum von einer bestimmten Wahrheit aus-
geht, und dafs die Falschheit sich erst im Verlaufe einschleicht.
Wir halten diejenige Ansicht für die richtige, welche in der aristo-
telischen Philosophie vertreten ist Seit sechshundert Jahren ist sie
von den Erklärem des Philosophenfürsten, deren gröfster Thomas
von Aquin war, frei fortentwickelt worden. Weil es hier nur auf
den Nachweis der sachlichen Richtigkeit jener Ansicht ankommt,
so darf von der geschichtlichen Ausbildung Abstand genommen
werden. Kur auf einen Schriftsteller, den Italiener Tornatore,
wollen wir uns berufen, der in neuester Zeit diese Frage mit
tiefem Verständnisse behandelt hat, und aus dessen Werken
reiche Anregung zu schöpfen ist (Expositio principii traditi a
D. Thema Aquinate ad naturam investigandam rei materialis et
immaterialis, Placentiae 1882. De humanae cognitionis modo.
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254 Der Erkenntnisgrand,
origine ac profectu, ib. 1885.) Das Ergebnis unserer Unter-
suchung muls aber eine einheitliche Weltanschauung sein: darin
liegt der sicherste Beweis für die Richtigkeit der vertretenen
Ansicht. Je mehr unser Wissen an Einheit gewinnt, um so mehr
wird das Stückwerk zum Ganzen: und das ist erst die Wahrheit
Schon Tertullian hat gesagt: Varietas opinionum venit ex igno-
rantia veritatis.
Erster Abschnitt.
Das Wesen des Erkenntnisgrundes.
Will man untersuchen, worin eigentlich der letzte Grund
einer geistigen Erkenntnis besteht, so mufs man von der That-
sache des Erkennens ausgehen und aus den darüber gesammelten
Erfahrungen gewisse Wahrheiten ableiten: sie werden den Wert
von allgemeinen Naturgesetzen über den Erkenntnis Vorgang haben.
Aus diesen Gesetzen ist dann der Unterschied zu bestimmen,
der sich zwischen den erkenntnisfähigen und den nichterkenntnis-
fähigen Wesen thatsächlich vorfindet. Derselbe läfst sich aber
nur aus der Bedingung, die für das Erkennen immer gültig
ist, genügend erklären: sie besteht in einer gewissen Befreiung
von der stofflichen Beschränktheit. Daraus ergibt sich endlich
gerade der wesentliche Grund für die Erkenntnis^ nämlich die
Stofflosigkeit selbst. Den ersten Abschnitt bilden daher vier
Vorwürfe: 1. die Natur der Erkenntnis, 2. der Unterschied
zwischen den erkenntnisfähigen und den nichterkenntnisfähigen
Wesen, 3. die Bedingung für die Erkenntnis, 4. der eigentliche
Grund der Erkenntnis.
§ 1.
I>le Natur der Erkenntnis,
1. Der Mensch ist von Natur wifsbegierig. Der Trieb nach
Wissen offenbart sich schon in der Neugierde. Die einfache
Thatsache einer Erkenntnis überhaupt braucht nicht erst bewiesen
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Die Natar der Erkenntnis. 255
zu werden; denn sie liegt bereits in unserem SelbstbewuCstsein
vor, sie gehört der eigenen inneren Erfahmng an. Jeder Zweifel
über die Wirklichkeit der Thatsaohe, dafs wir überhaupt er-
kennen, würde schon einen Erkenntnisvorgang einschliefsen und
dadurch die Thatsache selbst nur bestätigen und deshalb aufser
Zweifel setzen. Aber noch mehr: unser eigenes Leben zeigt,
soweit wir uns dessen erinnern, einen unzweifelhaften Fortschritt
in der geistigen Entwickelung. Wir haben vieles gelernt, was
wir früher nicht wufsten; und wir haben gelernt, indem wir Er-
kenntnisse sammelten. Dadurch unterscheiden wir uns nicht nur
Ton anderen Menschen, die nicht dieselben Kenntnisse erworben
haben, sondern auch von Wesen anderer Art, wie z. B. von den
Tieren, an denen wir eine bewufste Erkenntnis wissenschaftlicher
G-egenstände und eine gleichmäfsige und sichere Anwendung
allgemeiner Lehren niemals beobachtet haben. Erfahrungsmäfsig
sind wir daher gewifs, dafs es einen Unterschied zwischen den
erkenntnisfahigen und den nichterkenntnisfahigen Wesen geben
mufs. Um diesen Unterschied klar zu bestimmen, brauchen wir
nur über unsere eigenen Erfahrungen bei dem Erkenntnisvor-
gange nachzudenken.
2. Jedes Erkennen ist ein Gewahrwerden oder ein Wahr-
nehmen. Wir reden immer nur in der Weise davon, dafs wir
dabei irgend einen Gegenstand stillschweigend voraussetzen,
welcher wahrgenommen wird. Er beendet oder begrenzt den
Vorgang, der in uns statttindet, äufserlich für uns. Ein Erkennen,
wobei überhaupt gar nichts erkannt wäre, würde nur das Zustande-
kommen eines solchen Vorganges verneinen. 1) Bei jeder Er-
kenntnis, gleichviel ob sie durch die Sinneswerkzeuge oder ohne
Anwendung derselben vor sich geht, gibt es erfahrungsmäfsig
immer etwas, worauf die Erkenntnis sich erstreckt. 2) Bei jeder
Erkenntnis ist daher das erkennende Wesen, soweit es wirklich
zu erkennen sucht, von dem erst zu erkennenden Gegenstande
selbst wohl zu unterscheiden. Auch wenn wir uns selbst oder
unsere inneren Vorgänge zu erkennen suchen, stellen wir diese
Dinge dem Erkennenden in uns als etwas noch Unerkanntes und
somit als etwas, das von dem Erkennenden in uns unterschieden
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256 Der Erkenntnisgrund.
ist, gegenüber. 3) Ist also das Erkennende als solches Ton dem
Erkenntnisgegenstande zu unterscheiden, so darf tliese Ver-
schiedenheit nicht ohne Vermittelung bleiben, voransgesezt, dafs
überhaupt eine wirkliche Erkenntnis zustande kommen soll Der
Gegenstand, den wir erkennen wollen, kann sicherlich bestehen
bleiben, ohne dafs wir unsere Erkenntnis an ihm ausüben. Pflanzen
und Tiere gedeihen durch Jahrtausende, die chemischen Elemente
wirken fort und fort, ehe der Botaniker, der Zoologe, der Chemiat
ihre Merkmale bestimmt haben. Wenn wir aber einen Gegen-
stand wirklich erkennen, so werden wir dabei auf irgend eine
Weise mit ihm verbunden oder vereinigt Am deutlichsten er-
hellt dies bei Gegenständen, die in der Aufsenwelt vorkommen.
Bei der wirklichen Erkenntnis dient nämlich der Gegenstand,
durch seine eigene Wirklichkeit aufserhalb unserer Gedanken,
diesem Vorgange in uns als Ende und Grenze. Deshalb findet
offenbar eine eigentümliche, aber wahre Vereinigung zwischen
dem Erkennenden und dem Erkannten statt: und in dieser aus
beiden gebildeten Einheit, die eben nur für das Erkennen gilt
und nur im Erkennen selbst vorhanden ist, besteht erst die wirk-
liche Erkenntnis. 4) Dadurch, dafs wir einen Gegenstand wahr-
nehmen oder erkennen und uns so mit ihm auf eine bestimmte
Weifte vereinigen, wird aber der Gegenstand selbst in seinem
eigenen Dasein, das ihm aufserhalb unserer Gedanken zukommt,
erfahrungsmäfsig noch gar nicht verändert. Wir schaffen einen
Gegenstand nicht durch unsere Erkenntnis desselben, sondern
er mufs schon dasein, damit wir ihn überhaupt erkennen können.
Ebensowenig wird er in seinem wirklichen Dasein blofs dadurch
verändert, dafs wir ihn zufällig wahrnehmen oder erkennen.
5) Die Thatsache der Erkenntnis setzt nur das Dasein eines
Gegenstandes, eine von ihm verschiedene Erkenntniskraft und
eine Vereinigung oder Vermittelung beider voraus. Bis hierher
sind wir nur einfachen Thatsachen begegnet. Ihre Schwierigkeit
fallt erst auf, wenn wir den Vorgang der Vermittelung selbst
betrachten.
3. Das anscheinend W^underbare des Erkenntnisvorganges
wird zunächst bemerkbar, wenn man sich fragt, wie der Erkennende
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Die Natur der Erkenntnis. 257
und der Erkenntnisgegenstand überhaupt zu einer solchen Ver-
einigung mit einander gelangen, zumal beide durch jene eigen-
tümliche Vereinigung, die thatsächlioh nicht geleugnet werden
kann, sich nicht wesentlich ändern, sondern in ihrem natürlichen
Sein das bleiben, was sie vorher waren. Ferner mufs eine
solche Vereinigung jedenfalls verursacht sein. Der Gegenstand
allein kann sie nicht hervorbringen. Ebensowenig kann es der
Träger der Erkenntniskrafl liir sich allein. Beide scheinen viel-
mehr auf einander angewiesen, von einander abhängig zu sein.
Wäre aber die Ursache, welche jene Vereinigung zustande bringt,
etwas Drittes, dann wäre das Erkennen selbst kein Erkennen mehr;
denn es würde ein Vorgang sein, der nicht mehr dem Erkenntnis-
träger angehörte und nicht mehr in seiner Gewalt stände. Es
würde vielmehr ein Denken oder eine That derjenigen fremden
Kraft sein, die in uns das Denken erzeugte: und die Einheit des
selbstbewufsten Ich ginge verloren. Endlich mufs man fragen: was
ist denn jene Vereinigung? Ist es ein Leiden der beiden Faktoren?
Ist es eine Wirkung beider. Ist es ein Werden oder Schaffen
von etwas Neuem, das vorher gar nicht da war? Ist es sub-
jektiv oder objektiv oder beides zugleich, oder gar etwas ganz
Übermenschliches, was doch wieder nicht aufser uns und aufser-
halb des Erkenntnisgegenstandes und der Erfahrungswelt liegen
kann ? Ist es ein physischer Vorgang, der unter die allgemeinen
Naturgesetze der Körper fällt? Wenn es aber nichts derartiges
wäre und doch nicht gegen die allgemeinsten Gesetze der Natur
verstofsen kann, so müfste man eine neue Welt voraussetzen, in
der die physischen Gesetze nicht mehr ausschliefslich gelten.
Dann bliebe noch immer unbegreiflich, wie die Gegenstände der
körperlichen Welt auf eine nicht mehr körperliche Weise bei
dem ganzen Erkenntnisvorgange mitwirken sollen. Eine blofs
äufscr liehe Veranlassung zum Erkennen wäre keine genügende
Mitwirkung. Bei der nur zufällig dargebotenen Gelegenheit für
die Erkenntnisthätigkeit fehlt immer noch die Erklärung, warum
das Erkennen gerade bei dieser Gelegenheit und nicht bei einer
anderen zustande kommt. Wollen wir dagegen die Mitwirkung
des Gegenstandes streng ursächlich fassen, so entsteht eine neue
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258 Der Erkenntnisgrand.
Schwierigkeit. Es scheint unverständlich, wie ein Körper un-
mittelbar eine Wirkung hervorbringen kann, die wir nicht mehr
als körperliche Wirkung ansehen dürfen, weil sie selbst nicht
mehr sinnlich wahrnehmbar ist Ebenso ist nicht gut abzusehen,
wie ein Körper unmittelbar auf ein unkörperliches Ding, was
doch die Erkenntniskraft sein soll, ursächlich einwirken könnte.
Bei jedem Erklärungsversuche vermehren sich, so scheint es, die
Bedenken. So wird das Gebot der Selbsterkenntnis nach allen
Seiten hin zum Eätsel, dessen Schwierigkeiten sich bei genauerer
Untersuchung nur vermehren, dessen Dunkelheit auch nicht ein-
mal durch die bei dieser Forschung selbst gewonnene Teiler-
kenntnis verscheucht wird: jeder neue Lichtstrahl der Erkenntnis
scheint es vielmehr in tiefere Schatten zu hüllen. Vor allem
bleibt aber das Geheimnis noch unerklärlich, dafs ein Ding,
welches wir das Erkennende oder den Träger der Erkenntnis-
kraft nennen, — ebenso wie wir Träger der elektrischen Kräfte
annehmen, ohne etwas Sicheres über ihre Natur zu wissen — ,
mit etwas anderem, was von ihm verschieden ist, sich vereinigt,
ohne physische Spuren dieser Vereinigung zu hinterlassen, die
wir genügend nachweisen könnten. Dennoch müssen wir, so
schwer auch das Rätsel ist, die Thatsachen festhalten; ebenso
wie wir physikalische Thatsachen für wahr halten, auch wenn wir
ihre Deutung noch nicht zu geben vermögen. Die Wärme ist
da; wir reden von Wärraebewegung : allein wir haben ihr innerstes
Wesen damit noch lange nicht ergründet. Wir müssen uns
daher zunächst zwingen, das ganze Gebiet der sogenannten Er-
kenntnisvorgänge als thatsächliche Erscheinungen, an deren
Wirklichkeit kein Zweifel mehr vorhanden ist, einfach anzu-
nehmen und aus der Regelmäfsigkeit dieser Vorgänge allgemeine
Gesetze als Naturgesetze der Erkenntnis abzuleiten, die iiir diese
Fälle gelten, eben weil sie nur die Verallgemeinerung von That-
sachen aussprechen. Wir müssen sie uns deshalb als Natur-
gesetze einer eigenen, aber immer noch rein natürlichen Ordnung
gefallen lassen, selbst wenn sie gar keine Ähnlichkeit mit den
Gesetzen der sogenannten exakten Wissenschafton darbieten
sollten. Ebensowenig dürfen wir jene Thatsachen blofs wegen
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Die Natur der Erkenntnis. 259
ihrer Eigentümlichkeit für subjektive Täuschungen und damit
doch nur für Irrtümer halten. Die Bestimmung einiger Natur-
gesetze des Denkens wird daher die nächste Aufgabe sein. Es
ist dabei nur zu beachten, dafs die Welt einmal so und nicht
anders beschaffen ist, wenn sie uns auch wunderbar erscheinen
sollte; und dafs die Erkenntnis selbst ein Wunder der Natur
ist, nämlich ein Vorgang, dessen Ursache wir vorläufig noch nicht
gefunden haben, aber zu suchen veranlafst sind.
4. Jede wirklich vollzogene Erkenntnis ist objektiv. Dieser
Satz ergibt sich aus der Erfahrung und mufs nur richtig ver-
standen werden. Bei jeder wirklichen Denkthätigkeit müssen wir
irgend etwas Bestimmtes erkennen oder denken. Das Denken ist
Wahrnehmung von etwas; also ist das, was wahrgenommen wird,
selbst der Erkenntnisgegenstand. Dieser Gegenstand kann in
uns vorhanden sein oder sich aufserhalb befinden. Immer bleibt
die Thatsache bestehen, dafs das Erkennen sich auf einen Gegen-
stand richtet. Selbst wenn das Denken ein rein subjektiver Vor-
gang wäre, der nur in uns verläull, so würde er doch in uns
selbst einen bestimmten Gegenstand haben. Der Erkenntnis-
gegenstand ist etwas Bestimmtes, also etwas, was in der Welt
auf irgend eine Weise vorhanden ist Man kann es vorläufig
eine Seinseigentümlichkeit nennen. Bei der rein sinnlichen Wahr-
nehmung gibt es immer einen Gegenstand, worauf der Wahr-
nehmungsvorgang sich erstreckt. Ich sehe z. B. mit Hilfe meines
Auges und unter der nötigen Beleuchtung etwas Farbiges, näm-
lich das eigentümlich Farbige an Dingen, die ich zuweilen auch
durch den Tastsinn wahrnehmen kann. Wenn ich ein rotes Band
betrachte, so nehme ich seine Röte vermittelst des Auges wahr;
sie ist eine eigentümliche Seinsbestimmtheit des Gegenstandes,
woran ich sie wahrgenommen habe. Mit dieser Farbenwahr-
nehmung verbindet sich zugleich die weitere Wahrnehmung einer
Ausdehnung des farbigen Gegenstandes und ihre bestimmte Be-
grenzung. Die bestimmte Begrenzung einer Ausdehnung heifst
die mathematische Gestalt oder Form eines Körpers: also erstreckt
sich auch die Gesichtswahrnehmung auf eine Form, und diese
Form ist eine Seinsbestimmtheit, welche selbst wieder Gegenstand
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260 Der Erkenntnisgrund.
eines bestimmten WahrnebmungsvorgaDges, nämlich des Tastens,
sein kann. Die Wahrnehmung durch das Gehör erstreckt sich
auf einen bestimmten Ton. Das, was durch das Ohr wahrge-
nommen ist» wird ebenfalls eine bestimmte Seinseigentümlichkeit
sein. Man kann es auch eine Form nennen, welche hier den
eigentlichen Gegenstand iur das Gehör bildet. Allerdings ist
der Ausdruck Form nur in übertragener Bedeutung auf das
Gehör anwendbar, aber er dient uns als allgemeiner Ausdruck
für den Gegenstand der Sinneswahmehmung überhaupt. Wir
können ihn deshalb auch zum Kunstausdrucke iiir jede Art von
Wahrnehmungen gebrauchen, auch für solche, die nicht mehr
durch äufsere Sinneswerkzeuge stattfinden und Vorstellungen der
Einbildungskraft oder Gedanken heifsen. Bei allen diesen Vor-
gängen gewahren wir in dem Gegenstande jedesmal eine ganz
bestimmte Seinseigentümlichkeit, die wir kurz Seinsform oder
Form nennen wollen.
5. Wir beobachten an uns selbst gewisse Thätigkeiten, wo-
durch wir etwas hervorbringen, z. B. die Umwandlung der ge-
nossenen Nahrung in unseren eigenen Körper. Wir unterstellen
den physikalischen und chemischen Erscheinungen in unserem
Körper gewisse Kräfte in uns selbst, denen wir jene Thätigkeiten
zuschreiben. Wegen der eigentümlichen Wirkungen dieser Thätig-
keiten müssen wir sagen, dafs jene Kräfte selbst in uns wirksam
oder thätig sind. Anders scheint der Vorgang der Wahrnehmung
überhaupt zu sein. Als Vorgang in uns ist es eine Thätigkeit,
die in uns selber vor sich geht und auf irgend eine Weise von
uns selbst vorgenommen wird ; denn wir schreiben sie uns selbst
zu. So wie wir die physikalischen Naturerscheinungen als
Wirkungen bestimmter Kräfte auffassen, dürfen wir auch unsere
Wahrnehmungsthätigkeiten auf bestimmte Kräfte zurückführen.
Bei der Erkenntnis bringen wir aber den Gegenstand, nämlich
die wahrgenommene Seinsbestimmtheit, nicht ganz aus uns selbst
durch das blofse Denken hervor. Beim Sehen, bei dem darauf
folgenden Nachdenken über das Gesehene und der daraus ge-
wonnenen bestimmten Erkenntnis einer Seinsform, sind wir nicht
von der Anfsenwelt unabhängig. Wenn wir das gesunde Auge
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Die Natur der Erkenntnis. 261
beim Tageslichte öffnen, müssen wir den vorgehaltenen Gegen-
stand sehen; die Wahrnehmung hängt dann nicht mehr von
unserem Willen oder Belieben ab. Ebenso ist es beim Erkennen.
Wir können also nicht behaupten, dafs wir den Erkenntnisgegen-
stand subjektiv schaffen, sondern er selbst wirkt auf unsere Er-
kenntniskraft ein. Sie setzt das Vorhandensein eines Gregenstandes
schon voraus, ehe sie ihre Thätigkeit daran ausüben kann. Die
blofse Erkenn tniskrafl in uns kann auf verschiedene Gegenstände
angewendet werden, sie ist also an sich noch unentschieden zur
Ausübung dieser oder jener bestimmten Erkenntnis. Der Träger
der Erkenntnis in uns verhält sich also nur empfindend, auf-
nehmend, leidend im Gegensatze zu andern thätigen Kräften.
Aber dieser Zustand des Leidens ist kein Leiden im gewöhn-
lichen Sinne, der es mit der Vorstellung von Schmerz verbindet.
Es ist auch kein Leiden in jeder Beziehung: sondern es ist eine
Selbstbethätigung in uns, von innen, die aber ihre erste Anregung
von aufsen, nämlich vom Gegenstande, empfangen mufs. Der Gegen-
stand wird dabei von uns und in uns irgendwie aufgenommen.
Wir müssen dazu mitwirken, aber er befruchtet unsere Er-
kenntniskraft, reizt sie zu ihrer eigentümlichen Bethätigung an:
und in diesem Sinne ist die Erkenntniskraft nicht wirkend, son-
dern leidend, nämlich im Vergleiche mit andern Kräften.
6. Das Erkennen ist hiernach eine Veränderung in uns. Es
fallt daher unter den allgemeinen Begriff einer Bewegung. Dieser
Bewegungsvorgang läfst sich nach zwei verschiedenen Seiten
hin näher schildern. Von Seiten des Gegenstandes ist die Be-
wegung so zu verstehen, dafs der Gegenstand un uns herantritt;
und dabei verhalten wir uns leidend. Von Seiten der inneren
Selbstbestimmung und Selbstthätigkeit, welche dabei erfolgt, ist
die Erkenntnisbewegung eine Anziehung, die wir auf den Gegen-
stand ausüben, wodurch wir ihn in uns aufnehmen und uns an-
eignen. Daher unterscheidet sich der Erkenntnisvorgang wesent-
lich von jedem Strebevorgange durch die Richtung der beiden
in uns vorgehenden Bewegungen. Bei dem Streben nach etwas
gehen wir sozusagen zu dem Gegenstande unseres Verlangens
hin und treten aus uns heraus, bei dem Erkennen von etwas
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262 Der Erkenntnisgrand.
ziehen wir den Gegenstand der Erkenntnis zu uns heran und
nehmen ihn in uns auf. Das, wonach wir streben, ist im all-
gemeinsten Sinne etwas, was uns ergänzt, vervollständigt und
yervollkommnet, also ein Gut, weil es für uns gut ist. Das-
jenige, was wir erkennen, macht uns, wenn die Erkenntnis fertig
ist, mit dem erkannten Gegenstande gleichförmig, weil wir ihn
auf ganz eigentümliche Weise in uns aufgenommen haben und
jetzt in uns tragen. Sobald- wir die Seinsbestimmtheit des Gegen-
standes uns angeeignet haben, ist unsere Erkenntnis vollkommen
geworden und hat Wahrheit. Das Ende oder die Grenze des
Strebevorganges liegt daher nicht in uns, sondern in der be-
gehrten Sache selbst, zu der wir uns beim Begehi*en innerlich
hinbewegen. Das Gute liegt also im Gegenstande; und die Güte
ist ebenfalls nicht in uns, sondern in dem Gegenstande, welcher
gut genannt wird. Das Ende des Erkenntnisvorganges liegt
dagegen in uns selbst; denn es ist die Gleichförmigkeit unseres
Denkens mit dem erkannten Gegenstande: und diese Gleich-
förmigkeit heifst Wahrheit. Das W^ahre ist also, an sich be-
trachtet und im ursprünglichen Sinne gaMst, nur in einem
erkennenden Wiesen vorhanden.
7. W^eil das Erkenntnisvermögen an sich leidend ist, so
befindet es sich vor der wirklichen Erkenntnis noch im Zustande
der blofsen Möglichkeit, irgend einmal etwas zu erkennen. Von
Natur aus ist daher unsere Erkenntniskraft und somit unser Ich
noch eine leere Bildfläche oder ein Spiegel, in dem noch kein
bestimmtes Bild erscheint. Soweit aber unser wirkliches Er-
kennen überhaupt einen Gegenstand hat, tritt auch in uns ein
Gegenbild dieses äufseren Gegenstandes zutage. Dieses innere
Abbild oder Gegenbild des äufseren Gegenstandes verhält sich
beim Erkenntnisvorgange ähnlich wie das Spiegelbild bei dem
Sehen durch das Auge. Ohne ein solches Bild im Spiegel würden
wir darin den Gegenstand nicht abgespiegelt sehen. Der Gegen-
stand des Erkennens wird aber durch unser Erkennen allein
nicht verändert. Dennoch kommt beim Erkennen ein Abbild
von ihm in uns zustande, also ist dieses Abbild sachlich von
seinem ürbilde verschieden. Dieses Bild in uns, welches der
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Der ünterscliied zwischen den erkenntnisfähigen etc. 263
Ansdrack der erkannten Seinsbestimmtheit ist, nennt man eine
Idee des Gegenstandes; also mufs der Unterschied der Idee von
ihrem Gegenstande zugegeben werden. Was die Idee selbst
ihrem Sein nach ist, und wie sie in nns zustande kommt, werden
wir erst später untersuchen. An dieser Stelle hat diese Frage
keine Bedeutung. Es genügt uns, dafs die Idee auf irgend eine
Weise innerlich den äuCseren Gegenstand vergegenwärtigt. Die
Idee ist sachlich nicht der Gegenstand selbst, hat also ein von
ihm verschiedenes Dasein. So ist z. B. die Idee eines 1000 m
hohen Berges in uns nicht mehr wirklich 1000 m hoch. Hieraus
eröffnet sich uns ein Ausblick in eine ganz neue Welt, welche
physikalische Eigenschaften nicht besitzt. Wir können sie die
Welt des Gedachtseins, die ideale Welt in uns nennen: so sind
wir erfahrungsmäfsig beschaffen. Diese Thatsache steht auch
gegenüber dem Materialismus fest. Diese neue ideale Welt ist
deshalb, weil sie neben der körperlichen Welt vorkommt, noch
gar nicht übernatürlich: wir müssen uns eben gewöhnen, auf
Grund der Erfahrung Thatsachen und Diuge anzuerkennen, auch
wenn sie nicht körperlich iiusgedehnt sind.
§ 2.
Der Unterschied zwischen den erkenntnisfähigen und den
nicJUerkenntnisfähigen Wesen.
I. Die Erkenntnisthatsache gipfelt in der eigentümlichen
Einheit aus dem erkennenden Wesen und dem Erkenntnisgegen-
stande. Der Unterschied des erkennenden von dem nichter-
kenntnisfähigen Wesen ergibt sich aus der Natur jener Einheit
Die Aufnahme von Formen, d. h. von Seinsbestimmtheiten, ist
allen Wesen gemeinsam. Ein Ding kann andere Formen auf-
nehmen entweder infolge der Thätigkeit, welche diese Formen
selbst ausüben, oder infolge der Thätigkeit einer dritten Ursache,
wobei aus dem aufnehmenden und dem aufgenommenen Dinge
ein von beiden unterschiedenes drittes Ganzes zusammengesetzt
wird. Der erste Fall findet z. B. statt bei der Erwärmung von
Wasser. Das Wasser nimmt die Wärme auf wegen der Thätigkeit,
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264 Der Erkenntnisgrund.
welche die Wärme selbst auf die Natur des Wassers ausübt.
Dagegen nimmt der Stoff die besonderen Wesensformen, wodurch
er z. E. als Gold erscheint, nicht wegen seiner eigenen Thätig-
keit auf; sondern Stoff und Weaensform bilden zusammen ein
Drittes^ nämlich den im Sein fertigen Körper, der fiir unser
Denken von der blofsen Stofflichkeit und von der hinzutretenden
Wesensbestimmung verschieden ist. Dabei verhält der Stoff sich
nur leidend, und die Wesensform wird von ihm aufgenommen,
natürlich nur vermöge einer anderen bewirkenden Ursache; weil
eben die Wesensform durch sich selbst den Stoff in dem neuen
Ganzen zur Seinseinheit des Körpers erhebt. In diesem Falle
ist also das körperliche Ding, welches existiert und somit sich
weiter ursächlich bethätigt, weder der Stoff noch die Form,
sondern das neue aus beiden zusammengesetzte Ganze. In diesen
beiden Fällen ist die Aufnahme einer Seinsform in ein Subjekt
oder einen Träger so beschaffen, dafs ein wirkliches oder natür-
liches Sein zustande kommt. Die Seinsform, welche aufgenommen
wird, ist nachher wirklich die Form des aufnehmenden Subjekts
geworden-, sie gehört ihm ganz an und hört gerade damit auf,
die bestimmte Seinsform jenes anderen Dinges zu sein, indem
sie früher war. Wenn wir «. B. eine Zeichnung mit Farbe be-
malen, so wird diese individuelle Farbe eine bestimmte Seins-
form dieser Zeichnung, hört aber dadurch auf, die Farbeform
der Palette oder des Pinsels zu sein. Diese Weise der Aufnahme
dient nicht dazu, um das Subjekt selbst erkennend zu machen.
Damit der Erkenntnis Vorgang möglich wird, mufs das Subjekt
die ^Seinsform des zu erkennenden Gegenstandes allerdings auch
in sich aufnehmen, aber nur so, dafs es dabei seine eigene
frühere Seinsform beibehält und trotz derselben noch die Seins-
form des erkannten Gegenstandes sich aneignet. Nach den Er-
fahrungsthatsachen bei der Erkenntnis ist diese Aufnahme die
einzig mögliche Annahme, obwohl uns der Vorgang selbst jetzt
noch dunkel ist.
2. Das erkennende Wesen nimmt also den Erkenntnis-
gegenstand in -sich auf; aber aus beiden wird nicht etwas Neues,
was selbständig da wäre und wirken könnte und selbst die
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Der Unterschied zwischen den erkenntnisfahigen etc. 265
eigentliche Erkenntnis henrorbrächte. Ebensowenig ist es der
Erkenntnisgegenstand, der allein diese Yereinignog bewirkt;
sondern er bildet nur die Begrenzung für die eigene selbständige
Thätigkeit des erkennenden Wesens und verleiht daher dieser
Thätigkeit erst ihre wesentliche Eigentümlichkeit: denn nach der
Verschiedenheit des Gregenstandes richtet sich offenbar die Ver-
schiedenheit der Erkenntnis selbst. Es besteht also ein grofser
unterschied zwischen der Vereinigung, die zur wirklichen Er-
kenntnis tauglich ist, und der Vereinigung, die aus Stoff und
Wesensform hervorgeht In beiden Fällen kommt eine Einheit
zustande, also ein Ganzes. Aber dieses Ganze ist in beiden
Fällen durchaus verschieden; denn der Stoff, der eine Form in
sich aufnimmt, bleibt immer nur Stoff und wird niemals selbst
zur aufgenommenen Form. Dagegen wird bei der Erkenntnis
der Erkennende geradezu selbst der von ihm erkannte Gegen-
stand; weil der Erkennende eben den Gegenstand auf eine ganz
neue Weise in sich abgebildet oder aufgenommen hat. Die er-
kannte Einheit besteht also darin, dafs der Erkennende selbst,
aber in Bezug auf die Erkenntnis und nur soweit, das Erkannte
geworden ist Das lehrt Aristoteles, wenn er sagt, „dafs die
Seele selbst entweder der Wirklichkeit oder der Möglichkeit nach
beim Erkennen alle sinnlichen und geistig wahrnehmbaren Dinge
geworden isf Nur das erkenntnisfähige Wesen kann also in
sich den Stoff und die Form erheben, d. h. ihnen ein höheres
Sein verleihen, so dafs der Ei kennende im Erkennen zum Er-
kannten wird, und dafs dennoch jedes von ihnen bleibt, was
es ist. Die erkennenden Wesen unterscheiden sich also von den
nichterkennenden dadurch, dafs die nichterkennenden nur ihre
eigene Seinsform besitzen, während die erkenntnisiähigen Wesen
aus ihrer eigensten Natur dazu bestimmt sind, auch noch die
Seinsform eines anderen Dinges in sich zu haben.
3. Die Notwendigkeit dieses Unterschiedes läfst sich leicht
beweisen. Jedes Ding ist nur in soweit thätig, als es selbst schon
verwirklicht da ist Das, was erkannt wird, verleiht der Er-
kenntnis selbst ihre wesentliche Eigentümlichkeit Das erkennende
Wesen mufs aber von selbst seine eigene Thätigkeit hervorbringen
Jahrbuch für Philosophie etc. I. 18
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266 Dor Erkenntniagrund.
kÖDDen, denn sonst wäre sein Erkennen eben nicht sein eigenstes
Erkennen. Allen in ihrem eigentümlichen Sein vollkommenen
Wesen ist es aber gemeinsam, dafs sie selbst thätig wirken
können; also mufs auch das erkennende Wesen dem Gedachtsein
oder dem Erkanntsein die bestimmte Seinsweise yerleihen. Jedes
Ding ist ferner nm seiner eigenen Bethätigung willen da; deshalb
ist die Natur des erkenntnisfahigen Wesens von selbst innerlich
so beschaffen, dafs es sich entweder der Wirklichkeit oder
wenigstens der Möglichkeit nach selbst in den gedachten oder
erkannten Gegenstand verwandelt: und das heifst nichts anderes,
als das erkennende Wesen ist sowohl es selbst, als auch etwas
anderes von ihm Verschiedenes, während das nichterkenntnisfahige
Wesen nur auf sein eigenstes Sein ganz und gar beschränkt bleibt
4. Der Unterschied dieser beiden Arten von Wesen ist
offenbar ein Gattungsunterschied. Die nichterkenntnisfahigen
Wesen sind ganz und gar auf ihre eigene Seinsform beschrankt
Sie können sich allerdings andere Formen aneignen, werden aber
dadurch selbst ganz verwandelt Die erkenntnisfahigen Wesen sind
dagegen ihrem ganzen Sein nach weniger beschränkt; sie bleiben,
was sie sind, und werden dennoch beim Erkennen etwas anderes.
Ihre Aufnahmefähigkeit für fremde Formen ist daher an sich
gar nicht begrenzt; sie sind deshalb angelegt, im Erkennen alles
zu werden, besitzen also eine Anlage für das All der Dinge.
Sie tragen also schon in ihrer eigenen Natur als Anlage und
Bestimmung eine gewisse Unendlichkeit, die ft^ilich nur auf die
Erkenntnisthätigkeit sich bezieht und deshalb nicht schlechthin
die Unendlichkeit ist Hieraus folgt einmal, dafs die Erkenntnis
niemals durch die Kräfte der erkenntnisunfahigen Wesen geleistet
werden kann. Ferner folgt aus der Gattungsverschiedenheit
beider Wesen, dafs auch keine Artumwandlung des einen in
das andere möglich ist; denn es ist ein Unterschied, der das
ganze innerste Sein der beiden durchdringt So ist schon hieraus
der Materialismus und der aus ihm folgende Darwinismus grund-
sätzlich widerlegt
5. Die Natur des erkenntnisfahigen Wesens ist also unver-
gleichlich höher und vollkommener, dem Sein nach stärker nnd
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Der Unterschied zwischen den erkenntnisfähigen etc. 267
besser als die Natur des nichterkenntnislahigen Wesens ; und die
eigentümliche Thätigkeit des erkenntnisfahigen Wesens übertrifft
alle Leistungen des nichterkenntnislahigen Wesens. Das Erkennen
ist ein ganz innerer Vorgang des selbstthätigen Ich und hat
einen so grofsen Seinsgehalt, dafs wir jene Leistung im Vergleich
mit den Thätigkeiten der blofsen Körper als eine besondere
Lebensthätigkeit bezeichnen. Die Unendlichkeit, welche in der
Erkenntnisfahigkeit gegeben ist, zeigt sich auch darin, dafs alle
wahren Gregensätze, die sich in der Welt des wirklichen Seins
ausschliefsen, gleichzeitig und in höherer Einheit im erkennenden
Wesen vorhanden sein können; denn der Erkennende nimmt die
am meisten entgegengesetzten Dinge in sich auf. Das erkenntnis-
fähige Wesen ist daher eine Welt im Kleinen, weil es höher ist als
die übrigen Wesen und für ihre Erkenntnis gemacht ist. Darum
ist der Zweck seines Daseins ein höherer, es ist zur Herrschaft
geboren. Es besitzt grofse Einheit bei grofser Mannigfaltigkeit.
Es ist mit dem göttlichen Wesen innig verwandt Es kann über
sich selbst nachdenken und sich selbst wieder zum Gegenstande
seiner Erkenntnis machen. Sein Begehren, das dem Erkennen
von selber folgt, nimmt daher auch teil an der Unendlichkeit
des Erkennens selbst; weil ich alles erkennen kann, kann ich
auch zu allem mich innerlich hinneigen : und darin liegt die Wurzel
der Willensfreiheit und der freien Persönlichkeit. Darum mufs
auch der Natur mehr daran gelegen sein, ein einziges erkenntnis-
fahiges Wesen im Dasein zu erhalten, als alle niohterkenntnis-
fahigen Wesen zusammen: daher liegt in der Erkenntnisfahigkeit
auch die Wurzel der Unsterblichkeit. Weil das erkenntnisfahige
Wesen nicht auf sich beschränkt ist, sondern von Natur für
alles bestimmt ist und freies Begehren besitzt, so kann es auch
andere erkenntnisfahige Wesen zum Gegenstande seines Strebens
machen: und darin liegt die Wurzel des gesellschaftlichen Lebens
und der höchsten Zweckordnung der persönlichen Gemeinschaft.
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IS»
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DIE LITTERATUR ÜBER DIE THOMISTISCHE
PHILOSOPHIE SEIT DER ENCYCLIKA
AETERNI PATRIS.
Von Db. M. Schneid.
ili8 war eine kühne That, als Leo XIII. am 4. August
1879 in seiner Encyclika Aeterni Patris zur Restauration der
Philosophie des hl. Thomas in den katholischen Schulen auf-
forderte. Hätte der Papst einen Ausspruch ex cathedra gethan,
so hätte sich sofort die katholische Welt im gläubigen Gehorsam
gebeugt, aber auf dem Gebiete der Vernunft für die katholischen
Denker eine solche Forderung stellen, das war viel. Die That
war um so kühner, als in den wenigen katholischen Schulen, in
welchen die Philosophie gepflegt wurde, vielfache Uneinigkeit
herrschte und die katholischen Denker nicht selten sich auf das
heftigste befehdeten. War man ja gar oft nicht einmal in den
Grundfragen einig. Allein die alles besiegende Macht des Papst-
tums bewies sich auch diesmal siegreich! Die katholische Ge-
lehrtenwelt hat sich dem Worte des Stellvertreters Christi unter-
worfen, so schwer für manchen das Opfer war, Lehren aufgeben
zu müssen, die er auf der Schulbank eingesogen und für die er
ein ganzes Leben gewirkt und gestritten hatte. Und wenn wir
heute nach kaum sieben Jahren Umschau halten, müssen wir
mit Staunen und Dank gegen Gott bekennen, dafs die Zwecke
der Encyclika ihrer sicheren Erfüllung entgegen gehen.
Jahrbuch fOr Philosophie etc. I. 19
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270 Die Litteratur über die tliomistiscbe Philosophie etc.
Leo XIII. wollte zunächst die Einheit der katholischen
Denker erreichen; sie sollten sich wieder aaf gemeinsamem
Boden zu geroeinsamer Arbeit zusammenfinden. Wir können sagen,
dafs dieser grofsartige Zweck der Encyclika nahezu vollständig
erreicht ist. Auf dem ganzen katholischen Erdkreis wird in den
katholischen Schulen tast einstimmig die Lehre des Aquinaten
vorgetragen. Und nicht blofs im allgemeinen lehrt Thomas in
unseren Schulen wieder; seine Lehre wird auch in Detailfragen
wieder anerkannt. Es hat sich wohl schon seit den letzten drei
Decennien allmählich eine Rückkehr zum englischen Lehrer an-
gebahnt, allein die ausgesprochensten Anhänger desselben glaubten
schon genug gethan zu haben, wenn sie dem hl. Thomas in den
Hauptfragen beipflichteten. Wir erinnern nur an den um die
Repristination der Scholastik so hoch verdienten P. Kleutgen.
Manche Lehre des Aquinaten, wie z. B. die vom Individuations-
prinzip, verteidigt er schwankend; manch andere läfst er dahin-
gestellt, ob sie sich gegenüber der neueren Forschung noch halten
lasse. So hält er es fiir fraglich, ob man die Lehre von Materie
und Form auf die unorganischen Körper anwenden könne. Hat
doch selbst Zigliara in der ersten Auflage seiner Institutiones
diese Lehre nur für probabel erklärt. Andere nahmen die Doktrin
des hl. Thomas wohl an, aber sie suchten dieselbe umzudeuten.
Die Zahl derjenigen, welche, namentlich auf natur-philosophischem
Gebiete, die thomistische Körperlehre mit dem modernen Atomis-
mus und Dynamismus zu verbinden suchten, ist nicht gering.
Wir erinnern nur an die Namen Fredault, Bottalla, Ramiere,
Tongiorgi, Palmieri. Es gibt allerdings auch heute noch solche,
welche einzelne Lehren des hl. Thomas abzuschwächen und zu
modifizieren suchen, um sie mit dem modernen Denken in Ein-
klang zu bringen. Allein abgesehen davon, dafs ihre Anzahl
erheblich geringer geworden ist, kommt hier besonders in Betracht,
dafs sie hierbei im Greiste des hl. Thomas zu handeln glauben
oder wähnen, dafs seine Lehre in ihrem Sinne gedeutet werden
müsse; sie wollen Thomisten sein. Der Anschlufs an die Doktrin
des doctor angelicus ist nicht blofs ein allseitiger, sondern auch
ein engerer und entschiedener.
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Die Litteratur über die thomistische Philosophie etc. 271
Der hl. Vater will aber nicht blofs die katholischen Denker
«inig sehen, er will noch mehr; in ihren Händen soll die Weis-
heit des Aqninaten zur mächtigen Waffe werden, um die zahl-
losen Irrtümer der modernen Philosophie zu über-
winden; er erwartet von der Restauration der thomistischen
Philosophie geradezu die Rettung der Gesellschaft. Selbstver-
ständlich ist die Erreichung dieses Zieles nicht das Werk von
sieben oder zehn Jahren; allein soviel dürfen wir doch behaupten,
dafs sich die katholischen Denker allüberall an die gewaltige
Aufgabe gemacht haben. Sie begnügen sich nicht damit, die
Lehre des hl. Thomas blofs zum Verständnis zu bringen und zu
verbreiten, sie benutzen dieselbe auch zur Bekämpfung der in
ihrem Lande herrschenden Irrtümer, namentlich zur Bekämpfung
der in die katholischen Kreise eingedrungenen falschen Philo-
eopheme.
Seit dem Abfalle von der traditionellen christlichen Philo-
sophie im 16. Jahrhundert ist jedes Land je nach seiner geistigen
Eigenart mehr diesem oder jenem Irrtum anheimgefallen. In
Frankreich herrscht seit 300 Jahren der Cartesianismus, der auch
dem katholischen Denken und Fühlen in Fleisch und Blut über-
gegangen ist. In England ist es der Sensualismus und der
Positivismus, welche die geistige Welt gefangen halten, während in
Deutschland neben dem Materialismus der Idealismus aufs neue
aufleben will. In Italien will nach Überwindung des Ontolo-
gismus eines Gioberti der Rosminianismus dem hl. Thomas das Feld
streitig machen. Selbst in dem katholischen Spanien, in dem die
traditionelle Philosophie nie ganz unterging, hat der Aquinate in
der Philosophie des Krause einen nicht zu unterschätzenden
Gegner erhalten. Man mufs diese Verhältnisse im Auge behalten,
um die Schwierigkeiten zu würdigen, die der Realisierung der
Wünsche des hl. Vaters in manchen Ländern entgegenstanden
und die es erklärlich machen, wenn da und dort die Doktrin
des hl. Thomas noch wenig Fortschritte gemacht hat. Aber ge-
rade in anbetracht dieser Schwierigkeiten mufs man staunen,
dafs in den wenigen Jahren durch zahlreiche Schriften so viel
geschehen ist, dafs in katholischen Kreisen diese Irrtümer
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272 Die litteratur über die thomiatische Philosophie etc.
fiir immer gerichtet sind. Eine Ausnahme macht nur Italien^
woselbst die Schüler des Rosmini die letzten Austrengungea
machen, um die Doktrin ihres Meisters zu retten.
Leo XIIL will aber nicht blofs die Bekämpfung der Irr-
tümer, er will noch mehr den Weiterbau der katholischen
Wissenschaft. Nach ihm sind die Lehren des hl. Thomas so-
tief und so weit gefafst, dafs sie eine Unsumme von Wahrheit,
in ihrem Schofse tragen und darum jede Wahrheit, auf welchem
Gebiete sie sich finden möge, in sich aufzunehmen imstande sind.
Die heutigen Schüler des Aquinaten haben sich deshalb mit dem
siegreichen Angriff auf den Gegner nicht zufrieden gegeben, sie
haben auch auf diese Tiefe und Universalität der Doktrin ihre&
Meisters hingewiesen und nachgewiesen, dafs die alten Kate-
gorien ausreichen, um die neue Gedankenwelt in sich aufzu-
nehmen. Sie haben auf allen Gebieten Fühlung und Anknüpfung^
mit dem modernen Wissen gesucht und hergestellt; die reichen
Schätze äufserer und innerer Erfahrung, die minutiösesten Ana-
lysen und ausgebreitetsten Untersuchungen und Berechnungea
müssen zeigen, wie wahr des Papstes Wort ist, dafs alle mensch-
lichen Wissensgebiete Wachstum und Förderung hoffen dürfen,
wenn auf sie die wahren philosophischen Prinzipien des Aqui-
naten Einflafs üben — cunctae hnmanae disciplinae spem iu-
crementi praecipere plurimumque sibi debent praesidium poiliceri
ab hac, quae Nobis est proposita, disciplinarum philosophicaruna.
instauratione. So fängt das Senfkörnlein der Encyclika Aeterni
Patris bereits an, zum mächtigen Baum zu werden, unter dem
die übrigen Disciplinen ruhig und sicher zu neuem Leben sich
entfalten. Die alte wissenschaftliche Tradition lebt wieder auf
und die alten Folianten schütteln den hundertjährigen Staub ab
und verjüngen sich in der Berührung mit den Gedanken und
Bedürfnissen der neuen Zeit.
Wenn wir mit dem gröfsten Danke gegen Gott solche»
niederschreiben können, so schulden wir auch das zu nicht ge-
ringem Teile wieder Leo XIIL, der die Bewegung nicht blof&
eingeleitet hat, sondern ihr auch fortwährend kräftig zur Seite
gestanden ist. Die tüchtigsten Kenner der thomistischen Doktria
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Die litteratur fiber die thomistiscbe Philosophie etc. 273
hat er in der römischen Akademie zu einem philosophischen
Areopag vereinigt, der in seinen Publikationen in der Zeitschrift
Aeademia Romana den katholischen Denkern zeigt, wie man den
Aqntnaten zu erklären und zeitgemäTs zu yerwerten und weiter-
zubilden hat. Um das Verständnis und die Verbreitung dieser
Philosophie zu erleichtern, hat er mit grofsem Kostenaufwande
eine Neuausgabe aller Werke des hl Thomas durch seine Ordens-
genossen in Angriff nehmen lassen. Mündlich und schriftlich
hat er Bischöfe und einzelne Grelehrte angeeifert und ob ihrer
diesbezüglichen Leistungen belobt und geeignete Winke gegeben,
damit die richtige Bahn nicht yerlassen werde. Auf seine An-
regung hin entstanden allüberall thomasianische Akademien und
wissenschaftliche Gesellschaften, namentlich in Italien, die sich
für ihre Publikationen bereits vielfach eigene Organe gegründet
haben. Will sich unter der Firma des englischen Lehrers eine
falsche Autorität geltend machen, so entlarvt er sie; dociert in
einer seinem Einflüsse unterworfenen Schule ein noch so ver-
dienter Lehrer nicht im Geiste des Engels der Schule, so be-
seitigt er ihn. Kurz gesagt, ihm haben wir es zumeist zu danken,
wenn wir in solch kurzer Zeit soweit gekommen sind.
Man wird sagen, dafs diese Fortschritte lediglich innerhalb
des katholischen Denkens stattgefunden haben, aufserhalb des-
selben sei von einer Rücksichtnahme auf die thomistischen Lehren
nichts verspürbar. Wir geben zu, dafs die anfserkirchliche
Wissenschaft im grofsen Ganzen von dieser Bewegung bis jetzt
unberührt geblieben, wiewohl sich leicht Belege bringen liefsen,
dafs einzelne Forscher in einzelnen Fragen sich der alten Wissen-
schaft zugekehrt haben. Aber mag der positive Einflufs noch
so gering sein, in einer Beziehung hat die Sache der Scholastik
auch aufserhalb der Kirche grofsen Erfolg erzielt. Die Bestre-
bungen des hl. Vaters und die dadurch hervorgerufene reiche
Litteratur haben unsere Gegner veranlafst, sich den Mann
wenigstens etwas näher anzusehen, den sie bisher als den Aus-
bund von Formelkram, Snbtilitätssucht, Unwissenschaftlichkeit und
Obskurantismus verlästert haben, und siehe da, sie haben das
Gegenteil gefunden. Viele sind so ehrlich, dies o£fen einzugestehen.
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274 Die Litteratur über die thomistische Philosophie etc.
Bekannt sind die schönen Worte des Exministers Bonghi in Rom^
der in der Restauration der thomistischen Wissenschaft nicht
blofs für die Kirche, sondern auch für den Staat Vorteil er-
wartet Ebenso verurteilt Eucken, einer unserer tüchtigsten
Philosophen, das „leichtfertige Aburteilen*' über Thomas mit den
Worten: „Als dunkel, verworren und abstrus wird ausgerufen,
der in Wahrheit ein nüchternes Baisonnemeut und eine durch-
sichtige Darstellung, ein tüchtiges Bemühen um Präzision der
Begriffe und um übersichtlichen Gang der Entwicklung bietet.
Wie blofne Sache der Schule, wie ein Gehäuse klügelnden Scharf-
sinns, ja leerer Spitzfindigkeit wird behandelt, was in den Zu-
sammenhängen seiner Zeit erhebliche Interessen der Menschheit
vertrat und diesen Interessen mit hingebender Lebensarbeit diente.
Ein weitblickender und mildurteilender Denker, der überall nicht
auf Abstofsung, sondern auf Anknüpfung ausgeht, wird gelegent-
lich zum Fanatiker gestempelt/'^) Um andere derartige Äufse-
rungen eines A. Ferri, d'Erkole*) u. s. w. zu übergehen, sei nur
noch das Geständnis erwähnt, das der Prof. Ihcring in seinem
vortrefflichen Werke „Der Zweck im Recht" über den hl. Thomas
macht, nachdem er auf denselben aufmerksam gemacht worden
war. Er schreibt*): „Den Vorwurf der Unkenntnis kann ich
nicht von mir ablehnen, aber mit ungleich schwererem Gewicht
als mich trifft er die modernen Philosophen und prote-
stantischen Theologen, die es versäumt haben, sich die grofs-
artigen Gedanken dieses Mannes zunutze zu machen. Staunend
frage ich mich, wie war es möglich, dafs solche Wahrheiten,
nachdem sie einmal ausgesprochen worden waren, bei unserer
protestantischen Wissenschaft so gänzlich in Vergessenheit ge-
raten konnten? Welche Irrwege hätte sie sich ersparen können,
») Zeitschrift für Philosophie und philos. Kritik. Bd. 87. „Die Philo-
sophie des Thomas von Aqoino imd die Kultur der Neuzeit". Der inter-
essante Artikel stand zuvor in der Münchener Allg. Zeit, und ist jüngst
auch noch separat gedruckt worden.
') Vgl. J. Teismo filosofioo cristiano teoricaniente e storicamente
considerato con ispeciale riguardo a S. Tommaso. Torino 1884.
3) S. 161 d. 2. Aufl. 1886.
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Die Litteratur über die thomistische Philosophie etc. 275
wenn sie dieselben beherzigt hätte! Ich meinerseits hätte viel-
leicht mein ganzes Bach nicht geschrieben, wenn ich sie gekannt
hätte, denn die Grundgedanken, um die es mir zu thun
war, finden sich schon bei jenem gewaltigen Denker in voll-
endeter Klarheit und prägnantester Fassung ausge-
sprochen."
Wenn Ihering der protestantischen Theologie die Unkenntnis
der thomistischen Lehre zum besonderen Vorwurf macht, so ist
dies nur zu wahr; sie hat sich bisher am hartnäckigsten diesem
Studium widersetzt^ doch will es auch hier zu dämmern beginnen,
wie man beispielsweise aus dem Artikel „Luther und Thomas
von Aquin" in Luthardts Zeitschrift für „Kirchliches Wissen und
Leben"^) ersehen kann. Wenigstens finden sich daselbst nicht
mehr die üblichen Schimpfiaden, wenn auch sonst der Artikel
noch erstaunliche Unkenntnis des hl. Thomas verrät. Soviel
steht fest: an die Stelle der Mifsachtung von Seite unserer Gegner
ist eine gewisse Anerkennung und Hochachtung der scholastischen
Philosophie getreten; ein Umschwung, der nicht hoch genug an-
geschlagen werden kann, weil er die Voraussetzung ist fiir weiter-
greifenden positiven Einflufs auf die jetzt herrschende wissen-
schaftliche Strömung.
Um diesen Aufschwung neuen und frischen Geisteslebens
allseitig zu charakterisieren, müssen wir jedoch auch gestehen,
dafs leider auch die alten Streitfragen wieder erwacht sind,
welche die mittelalterliche und spätere Schule so sehr geschädigt
haben. Man denke nur an die gegenwärtige, heftige Polemik
zwischen Thomismus und Molinismus, der wir zwar manch gute
Arbeit über die praemotio physica und die diesbezügliche Lehre
des Aquinaten verdanken, die aber auch, wie die anderen Kon-
troversfragen, da und dort nicht wenig verstimmt hat. Unseres
Erachtens werden solche Streitfragen erst dann wieder fruchtbar
werden, wenn die neue Bewegung zu einem tieferen und all-
seitigen Verständnis der thomistischen Lehre gelangt ist. Wie
sehr es an solchem Verständnis noch fehlt, das beweisen gerade
0 Jahrg. 188Ö. S. 159 ff.
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276 Die litteratur über die thomistische Philosophie etc.
diese Schriften, in denen oft die gewöhnlichsten Schaltennini
falsch gefafst werden.^)
Wenn wir nach dieser allgemeinen Charakteristik daran
gehen, die seit der Encyclika Aeterni Patris erschienene Litte-
ratur aufzuführen, so könnte man uns den Vorwurf machen, dafs
eine solche Umschan noch verfrüht sei, da die kaum begonnene
Bewegung weder innerlich noch äufserlich zu einem abschliefsen-
den Punkte gekommen ist. Wir erwidern: Nach vielen Be-
mühungen ist endlich auch in Deutschland ein Organ zustande
gekommen, das ausschliefslich der Spekulation dienen will, und
zwar jener Spekulation, wie sie Leo XIII. in seinem denk-
würdigen Aktenstücke verlangt. Soll dasselbe in diese Bewegung
mit Erfolg eingreifen und iiir Deutschland ein Sammelpunkt der
thomistischen Bestrebungen werden, dann ist es unbedingt not-
wendig, dafs es sein Terrain vollkommen kenne und seinen
Lesern zeige, was bereits geschehen ist und was noch zu thun
erübrigt. Es mufs die diesbezügliche Litteratur vom Anfang in
sich aufnehmen, um mit Nutzen die folgende einreihen zu können«
Eben weil die Bewegung noch an keinem abschliefsenden Punkte
angelangt ist, werden wir auch keine bestimmten Richtungen
verzeichnen, sondern die einzelnen Werke mehr referierend auf-
fuhren, nur ihren gröfseren oder geringeren Wert im Auge be-
haltend. Wir knüpfen hierbei an unsere Artikel im „Litterar.
Hand weiser''^) an, welche die neuere thomist. Litteratur bis zur
Encyclika Aeterni Patris zusammenstellten, und gliedern, wie dort,
nach den verschiedenen philosophischen Disziplinen.
1. BinleUende Schriften.
Kaum hatte der hl. Vater seine Encyclika Aeterni Patris
erlassen, so antworteten ihm zahlreiche Zustimmungsadressen von
^) Will ja gerade aus diesem Grande C. M. Schneider die theologische
Summa ins Deutsche übertragen. Vgl. seine Einleitangsschrift ,,Die theo-
logische Summa. Ihre dogmatische und allgemein wissenschaftliche Be-
deutung", Kap. IV.
') „Die neuere thomistische Litteratur mit besonderer Berücksichtigung
der Philosophie." 5 'Artikel im Jahrg. 1881.
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Die Litteratur über die thomistische Philosophie etc. 277
Seite der Bischöfe und philosophisch-theologischer Lehranstalten.
Die katholischen Denker selber beeilten sich, dem Restaurator
der christlichen Philosophie persönlich ihren Dank zu sagen für
daB monumentale Aktenstück. Cornoldi beschreibt uns die denk-
würdige Audienz, welche die Vertreter der katholischen Gelehrten
am Todestage des Aquinaten 1880 hatten, und die dabei ge-
haltenen Reden in einer eigenen sehr lesenswerten Schrift.^) Nach
dieser Huldigung machten sie sich daran, das päpstliche Rund-
schreiben zu studieren und zu kommentieren, und in Bälde bil-
dete sich eine ganze Litteratur über dasselbe. Jedes Land
brachte eine oder mehrere diesbezügliche Arbeiten, in welchen
die Tragweite des weltbewegenden Aktenstücks, die Bedeutung
und Zeitgemäfsheit der Restauration der thomistischen Philosophie,
sowie einzelne Lehren des hl. Thomas, namentlich auf dem kos-
mologischen Gebiete, hervorgehoben sind. Wir brauchen diese
Litteratur nicht mehr zusammenzustellen , da die „Litt. Rund-
schau'' die bedeutenderen Leistungen bereits besprochen hat.')
Wir können sofort jene Arbeiten anfügen, die mit der Encyclika
und ihren Kommentaren in innigster Beziehung stehen, indem
sie entweder im allgemeinen bald die Schwierigkeiten der ge-
planten Restauration, bald die Bedeutung und Notwendigkeit der
Philosophie für die einzelnen Wissenszweige behandeln oder im
einzelnen über Begriff und Einteilung der Philosophie, ihr Ver-
hältnis zum Glauben, zu anderen modernen Theorien u. dgl. sich
verbreiten.
Es ist eine allbekannte Thatsache, dafs das Interesse für
philosophische Stadien in den letzten Jahrzehnten sehr erkaltet
ist. Brentano sucht für diese Thatsache die Erklärung zu
geben in seiner Schrift „Über die Gründe der Entmutigung
auf philosophischem Gebiete".*) Er glaubt einen Hauptgrund
darin zu finden, dafs die Philosophie bisher zu keiner Blüte
kommen konnte, weil die Naturwissenschaften noch im Argen
0 II sette marzo ossia i filosofi ai piedi di Leone XIII. ristoratore
della filosofia. Bologna 1880. p. 48.
•) Jahrg. 1884. Nr. 10.
«) Wien 1874.
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278 Die litteratar über die thomistische Philosophie etc.
lagen. „So lange die NaturwisBenschaft und jede ihrer Unter-
arten nicht reiche Knospen getrieben hatte, war für die Philosophie
die Zeit des Frühlings noch nicht gekommen. Nun aber, da
selbst die Physiologie kräftiger zu sprossen beginnt, fehlt es
nicht mehr an den Zeichen, welche auch für die Philosophie die
Zeit des Erwachens zu fruchtbringendem Leben ankündigen.''^)
Nach dem Empirismus eines Brentano hat es demnach noch
keine Philosophie gegeben, die bleibenden Wert hätte; sie mufs
erst mit Hülfe der ^Naturwissenschail geschaffen werden. Ganz
anders urteilen die katholischen Denker. Prof. L. Schütz schreibt
in seiner „Einleitung in die Philosophie'*, =^) die bald nach
dem Rundschreiben Aeterni Patris erschien, „dafs die Philosophie,
wie Hir die profanen oder weltlichen, so auch für die heiligen
oder kirchlichen Wissenschaften, namentlich für die letzteren
einen eminenten Wert besitze und dafs es heutzutage angezeigt,
ja notwendig sei, in den katholischen Schulen die Philosophie
im Greiste des hl. Thomas von Aquin zu restaurieren, zu repristi-
nieren". Diese beiden Gedanken des Vorworts liegen der ganzen
klar gearbeiteten Schrift zugrunde, welche den Wert, die Quellen
und Methode der Philosophie behandelt und damit schliefst, dafs
der Engel der Schule grofse Aussicht habe, von neuem der
„Fahnenträger zu sein in dem Kreuzzuge der Wahrheit gegen
die Lüge". Wenn auch nicht beabsichtigt, so gestaltet sich „Die
philosophische Wissenschaft'**) von E. Commer gleichwohl
zu einer glänzenden Widerlegung Brentano's. Auch er wül
das Mifstrauen gegen die Philosophie beseitigen und sucht die
Einwände auf, die gegen sie aus ihrem Umfang, aus ihrer Me-
thode, ihrer Erfindung, ihrem Lehramt und ihren Folgen erhoben
werden, aber er kommt ebenfalls zu dem entgegengesetzten
1) Ebend. S. 20.
2) Paderborn 1879. S. 14ö.
3) Die philos. Wissenschaft. Ein apologetischer Versuch. Berlin 1882.
S. 126. Die im Anhang beigefügten 232 Anmerkungen enthalten einen
kostbaren Schatz von litterarischem Material, treffenden Texten und höchst
sachgemäfsen Gedanken, so dafs wir nicht anstehen, sie so hoch zu schätzen,
wie den Text der Schrift.
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J
Die Litteratur über die tbomistieche Philosophie etc. 27^
Resultate: Die Philosophie ist nicht nur notwendig, sie trägt
auch den Charakter der Beständigkeit in sich, verknüpft mit
stetigem Fortschritt.
Einen allgemeinen, einleitenden Charakter hat auch das Werk
des M. Dornet de Vorges: ,,Essai de Metaphysique posi-
tiv e".M Der Verfasser, schon bekannt durch eine frühere gediegene
Arbeit,^) schreibt ebenfalls eine Apologie der Philosophie. Er
rechtfertigt eingehend ihren wissenschaftlichen Charakter, ihr
Objekt und ihre Methode; untersucht dann die Hauptbegriffe,
wie Substanz, Ursache, Zweck, Raum und Zeit, und schliefst mit
einer historisch-kritischen Erörterung über die Irrtümer in der
Philosophie, wie es komme, dafs jede Epoche eine neue Philosophie
erzeuge und es heute so viele verschiedene Systeme gebe, als es
Philosophen gibt. Der Verfasser geht allerdings von der Über-
zeugung aus, dafs es die Metaphysik des Aristoteles und seiner
Schüler im Mittelalter sei, welche bleibenden Wert habe und
die wieder erneuert werden müsse, und von diesem Hauch ist
auch sein frisch und interessant geschriebenes Werk getragen;
allein er glaubt, dafs diese Metaphysik in einigen Punkten mo-
difiziert werden müsse, wenn sie mit den Errungenschaften der
[Neuzeit in Einklang gebracht werden soll. Sans suivre servile-
ment cette philosophie, qui nous parait avoir besoin de quelques
modifications en vue des progres röalises depuis, nous la regar-
dons principalement en metaphysique general, comme un guide
excellent. Leider zählt M. Domet auch ganz essentielle Punkte
zn den modifikationsbedürt\igen, wie z. B. die Erkenntnis des
Wesens der Dinge, die er für unmöglich erklärt.^) Dadurch hat
er seine im besten Styl geschriebene Arbeit, die ihm als Staats-
mann alle Ehre macht, stark beeinträchtigt.
Im Anschlufs an den „essai de Metaphysique positive*' ver-
öffentlichte der unermüdliche Verteidiger thomistischer Doktrin
in Belgien , Van Weddingen, zwei historisch - kritische
*). Paris 1883. p. 444.
-) La Metaphysique en presence des sciences.
=«) Vgl. p. 74.
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280 Die Litteratur über die thomistische Philosophie etc.
Studien,^) deren erste „le mouvemest philosophiqne dans l'ecole
chr^tienne^' sich an das Werk von Dornet anlehnt und die seit
der Encyclika Aeterni Patris eingeleitete Bewegung charakteri-
siert; die zweite, „la restauration de la philosophie scolastique'*,
gibt kritische Bemerkungen zu dem Yortrefflichen Kommentar
des Kardinals Pecci, „de ente et essen tia", und bietet besonders
in den Noten viel litterar-historische Notizen.
Dieselben Gedanken, aber mit weniger wissenschaftlichem
Apparat, entwickelt Cornoldi in seiner Schrift „La riforma
della filosofia'V) welche eine gelungene Ergänzung bildet zu
der wiederholt aufgelegten früheren Arbeit „La conciliazione
della fede cattolica con la vera scienza",*) welche die Be-
deutung der thomistischen Philosophie im allgemeinen charakteri-
siert und dann im besonderen deren heilsamen Einflufs auf die
Naturwissenschaften und die Medizin betont. Mehr oder minder
ist der Inhalt aller Yorausgehenden Schriften zusammengefafst
und abgerundet enthalten in den „Grundlinien der Aufgabe
der Philosophie"*) von P. Haffner. Dieselben behandeln
in sehr anregendem und jedem Gebildeten zugänglichen Style
die Entwicklung des Begriffs der Philosophie, den Gegenstand
und die Methode der Philosophie, sowie die Ordnung der philo-
sophischen Untersuchungen und schliefsen mit der schönen Ab-
handlung: „Das Verhältnis der Philosophie zu der menschlichen
Bildung überhaupt".
Was die aufgeführten Werke im allgemeinen behandeln,
das wenden zwei kleine Arbeiten auf einzelne Gebiete an. In
einer sehr gründlichen Abhandlung 5) untersucht Limbourg,
S. J., den Begriff und die Einteilung der Philosophie mit be-
sonderer HerbeiziehuDg thomistischer Gedanken. Er findet, dafs
^) La restauration de la philosophie scolastique. Etudes critiques.
Bruxelles 1884. p. 63.
2) Bologna 1880. p. 162.
^) Bologna 1878. 2. edit p. 170.
*) Mainz 1881. S. 328.
^) Begriff und Einteilung der PhUosophie. Historisch-kritische Unter-
suchung. Innsbruck 1881. S. 61. (Separatabdruck aus der „Zeitschrift
für katholische Theologie".)
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Die littoratar über die thomistische Philosophie etc. 281
„durch zwei Jahrtausende uns alle zum Worte berechtigten
philosophischen Richtungen in wahrhaft imponierender Überein-
stimmung wesentlich die gleiche Begriffsbestimmung bieten'*.
Freilich wie sollte es auch anders sein; man müfste am mensch-
lichen Denken irre werden, wenn die erste Wissenschaft nach
Jahrtausenden nicht zu sagen vermöchte, was ihr Objekt und
ihre Aufgabe sei. In einer kleinen Arbeit') wendet Prof. N. Kauf-
mann in Luzern das von Thomas ausgesprochene Prinzip: „Quae-
Übet res perficitur per hoc, quod subditur suo superiori; sicut
corpus per hoc, quod vivificatur ab anima*' auf das erkenntnis-
theoretische, metaphysische und moralische Gebiet an und zeigt,
„dafs wirklich die Prinzipien des hl. Thomas eine Fülle von
Wahrheiten keimartig in sich schliefsen*', wie Leo XIII. lehrt.
2. NeuedUianen thomistischer Werke.
Der hl. Vater verlangt, dafs man die Weisheit des Aquinaten
an ihrer Quelle schöpfe oder wenigstens aus solchen Büchern,
die sich ungetrübt von der Quelle herleiten. Um dies zu können,
war es vor allem nötig, dafs uns die grofsartigen Leistungen des
Thomas und seiner echten Schüler wieder zugänglich würden.
Ich sage „wieder", weil einerseits viele dieser Schriften selten
geworden und nur um hohen Preis zu haben waren, anderer-
seits manches Werk in schlechter und korrupter Ausgabe vor-
lag, während wiederum manch andere wertvolle Arbeit nur im
Manuskript vorhanden ist. Es ist allerdings in den letzten
30 Jahren für die Verbreitung der Werke des englischen Lehrers
viel geschehen; wir haben zwei Gesamtausgaben erlebt, und
einzelne Schriften unseres Heiligen, namentlich seine beiden
Summen, haben sogar vielfache Neuauflagen erfahren. Allein was
die Verbesserung und kritische Sichtung des Textes anlangt,
bleiben fast alle diese Neudrucke hinter den Anforderungen un-
serer Zeit zurück. Zudem haben diese Ausgaben auch nicht die
^) Bedeutuug eines philosophischen Prinzips. Abhandlung, voigc-
tragen in der Thoraas-Akademie za Lazem. Separatabdruck aus „Katho-
lische SchweizerblätterS Jahrg. 1886.
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282 Die Utterattir über die thomistische Philosophie etc.
nötige Verbreitung gefunden. Wenn aber auch alle diese Aus-
gaben vollkommen gelungen wären und die gröfste Verbreitung
gefunden hätten, so genügte das nicht. Thomas bedeutet in der
Wissenschaft eine ganze Welt; auf ihn kann mau das Wort der
Schrift anwenden: Föns ascendebat de terra irrigans universam
fiuperficiem terrae. Um seine Weisheit zum Gemeingut der ge-
lehrten Welt zu machen und ihr den Einflufs auf alle Wissens-
gebiete zu sichern, genügt es nicht, lediglich seine Werke zu
verbreiten, sondern es müssen auch alle jene Schriften zugäng-
lich werden, in denen, wie in ebenso vielen Bächlein, die reine
Lehre erweitert und zeitgemäfs den Bedürfnissen der Jahrhunderte
angepafst, zu uns herabströmt. Nur so ist es ermöglicht, einen
Oesaratüberblick über diese geistige Welt zn erlangen und ihren
Wort und ihre Bedeutung vollständig zu würdigen. Dieser all-
seitige Blick über die vorzüglichen Leistungen aller Jahrhunderte
ist nicht nur unbedingt notwendig, wenn es zu einer Weiter-
führung der thomistischen Lehre kommen soll; in ihm Hegt auch
ein nicht zu unterschätzendes apologetisches Moment. Eine
Doktrin, die, gepflegt von den verschiedensten Geistern der ver-
schiedenen Nationen, in solcher Einheit und Beständigkeit viele
Jahrhunderte hindurch sich entwickelt und nach jeder Verdrän-
gung immer wieder zu neuem Leben erwacht, eine solche Doktrin
zählt nicht zu den vorübergehenden Theorien des Tages, sie
trägt den Stempel der Wahrheit; sie ist jene perennis philosophia,
die Leibniz so hoch pries.
Dieses Bedürfnis erkannte der tiefblickende Leo XIII. so-
fort und ging deshalb mit einer Gesamtausgabe der Werke
des englischen Lehrers^) voran, ut longe lateque fluat Ange-
lici doctoris excellens sapientia, qua opprimendis opinionibus per-
versis nostrorum temporum fere nihil est aptius, conservandae
veritati nihil efficacius.^) Schon 1882 erschien der erste Band,
1) Sancti Thomae Aquinatis doctoris angelici Opera
omnla jussu impensaque Leonia XIII. P. M. edita. Ad Codices manu-
scriptos cura et studio Fratrura Ordinis Praedicatorum. Bomae ex t}-pogr.
polygl. S. C. de Propag. Fide.
3) Aus dem Schreiben Leo XIII. an Kardinal de Lnca v. 15. Okt. 1879.
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Die Litteratur über die thomistische Philosophie etc. 283
die hierhergehörigen Aktenstücke, die Dissertation des B. de
Kubeis und die Kommentare zu Perihermeneias und den Analytica
Fosteriora enthaltend. Im Jahre 1884 beschenkte uns der Fleifs
der Söhne des hl. Thomas mit dem zweiten Bande, der die
Kommentare zu den acht Büchern der Physik brachte, und im
heurigen Jahre erschien der dritte Band mit den Kommentaren
zu de coelo et mundo, de generatione et corruptione et Meteoro-
logicorum. Zum Lobe dieser Aasgabe ist bereits so viel ge-
schrieben worden,^) dafs wir nichts weiter hier zu sagen brauchen,
als dafs dieselbe in jeder Beziehung, sowohl was die Textkritik
als die Ausstattung und die Brauchbarkeit anlangt, eine glänzende
genannt werden mufs. Dabei ist selbstverständlich, dafs, wie es
bei solchen Unternehmungen zu geschehen pflegt, jeder folgende
Band besser gearbeitet ist, als der vorhergehende.
In richtiger Erkenntnis des oben entwickelten Bedürfnisses
begnügte sich der hl. Vater mit der Gesamtausgabe nicht; er
versprach in dem cit. Schreiben auch die Herausgabe der Werke
der vorzüglichsten Interpreten des hl. Thomas. Conjunctim
vero edendas curabimus clarissimornm ejus interpretum, ut
Thomae de Vio Cardinalis Gajetani et Ferrariensis, lucubrationes,
qer quas, tanquam per uberes rivulos, tanti viri doctrina decurrit.
Bezüglich dieser beiden genannten Thomisten hat Leo XIII. aller-
dings sein Versprechen noch nicht einlösen können; dafür hat
er aber die Neuauflage der Summa des Alamannus*) ange-
regt, von der bereits der erste Band publiziert ist. Das Ver-
dienst des Alamannus liegt darin, dafs er die philosophischen
Lehren des hl. Thomas aus dessen zahlreichen Werken zu-
sammengetragen und zu einem systematischen Ganzen vereinigt
hat, so dafs wir in seiner Summa ein vollständiges philosophisches
Lehrgebäude des Aquinaten besitzen. Mit Recht kann der heil.
») Vgl. unsere Referate in „Litt. Rundschau" 1882, Nr. 24 u. 1884,
Nr. 24.
-) Summa philosophiae D. Thomae Aquinatis ex variis ejus
libris in ordinem Cursus philosophid accommodata a Cosmo Alamanno
S. J. Editio juxta alteram Parisiensem vulgatam adomata a Fr. Ehrle
et B. Felchlin S. J. Parisiis 1885.
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284 Die Litteratur über die thomistische Philosophie etc.
Vater in dem der Ausgabe vorgedrackten Breve sagen, dafs
man ans dieser Quelle die lautere Weisheit des Aquinaten
schöpfen könne.
Den Gedanken des hl. Vaters hat P. Fr. Ehrle aufge-
griffen und begonnen, eine ,,Bibliotheca Theologiae et Phi-
losophiae soholasticae" zu veröffentlichen. Dieselbe will
die vorzüglichen Werke sowohl aus den Anfangen der Scho-
lastik als auch aus der späteren Zeit, die selten geworden oder
gar nicht in den Druck kamen, herausgeben. Die genannte
Summa des Alamannus gehört bereits dieser Bibliothek an.
Aufserdem sind in rascher Aufeinanderfolge drei Bände der
Kommentare des Silv. Maurus zu den Werken des Aristoteles
erschienen,^) die in einem vierten Bande ihren Abschlufs finden.
Diese Bibliothek wird zwar in Paris verlegt und gedruckt, aber
man hat es durchaus nicht mit einer sogenannten pariser Aus-
gabe zu thun, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten leider
so oft erlebten, sondern alle bisherigen Editionen sind, was Papier^
Druck, Ausstattung, wissenschaftliche Einrichtung und Korrekt-
heit anlangt, aller Anerkennung wert. Dafs Ehrle mit der Aus-
gabe dieser Paraphrase abermals einen glücklichen Griff gethan
hat, bedarf keiner Erwähnung, da der Wert derselben bei allen
Kennern der Scholastik feststeht Mit Recht schreibt Liberatore
in der Vorrede zu den „Quaestiones philosophiae^', die 1876 zu
Paris neu, aber schlecht gedruckt worden sind: Qui vestigiis
Aristotelis et S. Thomae Aquinatis fideliter insistens, eorum doe-
trinam tam dilucide proposuit ac tam solide propugnavit, ut inter
principes scholae magistros jure sit habitus.
Als weitere Publikationen sind zunächst in Aussicht ge-
nommen aufser den philosophischen Werken von Avicenna und
Averroes die iur jeden Thomisten geradezu unentbehrlichen
„Quaestiones in IV. libros Sententiarum pro tutela
doctrinae S. Thomae'^ von dem Dominikaner J. Gapreolus,
^) Aristotelis Opera omnia, quae extant brevi paraphrasi et
litorae perpetao inhaerente expositioDe illastiata a Silv. Maaro, S. J. Editio
juxta Romanam anni 1658 denno typis descripta opera Fr. Ehrle, 8. J.
t. I. 188Ö. t. n. et III. 1886.
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Die litteratur über die thomistische Philosophie etc. 285
sowie der äufserst Belten gewordene Kommentar zu eben den-
selben Sentenzen von Peter de Taren tasia, ein Werk, das
früher allgemein verbreitet war. Wenn wir noch hinzufügen,
dafs auch der Kommentar ,,in priores III. libros Sent.", die
„Uuodlibeta" und „Opuscula" des Ägydius de Columna,
des getreuen Schülers des Aquinaten, sowie die Quodlibeta und
die Summa theologica des Heinrich von Gent eine Neuausgabe
erfahren sollen, dann können wir nur sehnlichst wünschen, es
möchten alle, welche für die Repristination der Scholastik be-
geistert sind, dieses hochwichtige Unternehmen unterstützen und
auf alle mögliche Weise fördern helfen.
Gehören diese Publikationen der späteren Scholastik an, so
hat der Präfekt der Gasanatensischen Bibliothek in Bom, P. Ma-
setti, einen der ersten Binge in der Kette thomistischer Tra-
dition zum ersten Male dem Drucke übergeben. Es ist dies
das Sechstagewerk des Tholomäus de Luka,^) des Beise-
gefahrten, Beichtvaters und Schülers des hl. Thomas, der sich
immer auf den praeclarissimus doctor frater Thomas stützt. Um
die Brauchbarkeit, ja Notwendigkeit solcher Publikationen zu
zeigen, erinnern wir, dafs vor nicht langer Zeit unter katholischen
Gelehrten heftig gestritten wurde, ob der hl. Thomas die Ein-
heit der substantialen Eorm im Menschen lehre. Wer das
Exaemeron des Tholomäus liest, kann darüber nicht im mindesten
Zweifel sein. Das Kap. IV des Traktates XII z. B. hat die
Aufschrift: Quomodo potest intelligi de forma substantiali sive
intrinseca, ubi probatur ex ipso textu Genesis esse tantum unam
formam in corpore humano. Es ist nur schade, dafs Masetti den
Schwierigkeiten nicht vollkommen gewachsen war, um einen
solchen Fund korrekter zu edieren.
Die vielen Ausgaben, welche die beiden Summen des eng-
lischen Lehrers in den letzten Jahren ^erlebt haben, fuhren wir
nicht an ; wir konstatieren nur, dafs dieselben sich wieder nahezu
1) Fr. Tholomaei de Luca Ord. Praed. St. Thomae Aqu. olim disci-
puli deinde episcopi Torcellani Exaemeron seu de opere sex diemm
tractatns. Addita auctoris vita. Senis 1880. pp. 239.
Jahrbach (ttr Philosophie ete. I. iO
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286 Die litteratar über die thomistische Philosophie etc.
in jeder Bibliothek der jungen Kleriker befinden. Die aufser-
ordentliche Wohlfeilheit derselben macht auch die Anschaffung
derselben so leicht. Dagegen können wir nicht unerwähnt lassen
die sehr gediegene und wohlfeile Ausgabe der Quaestiones
disputatae,^) welche der Prof. an der Gregorianischen Univer-
sität zu Rom, Michael de Maria, S. J., besorgt hat. Diese
editio ist um so wertvoller, als auch das Opusculum de ente et
essentia mit dem Eommentur von Cajetan hinzugekommen ist.
3. Die neuesten Kommentare tfunnisOscher Werke.
Als wir die neuere thomistische Litteratur bis zum Erlafs
des Bundschreibens zusammenstellten, konnten wir kaum etwas
von kommentatorischer Thätigkeit verzeichnen; es war eben noch
nicht die Überzeugung allgemein geworden, dafs es nicht genüge,
nur einige Lehren des hl. Thomas zu rezipieren, sondern dafs
sein ganzes Lehrgebäude repristiniert werden müsse. Diese Über-
zeugung ist durch das Wort des Papstes zum Durchbruch ge-
kommen, und darum finden wir die katholischen Denker eifrig
damit beschäftigt, sich das thomistische Lehrgebäude zum Ver-
ständnis zu bringen. Zu diesem Zwecke entstehen allüberall
wieder Kommentare zu den verschiedenen Werken des englischen
Lehrers. Wir notieren die hervorragenderen in nachfolgender
kurzer Skizze.
Eine vortreffliche Paraphrase „de ente et essentia'^')
verdanken wir dem Kardinal Pecci. Bekanntlich enthält dieses
Opuskulum, von Cajetan insigne genannt, die Grundbegriffe der
thomistischen Metaphysik, und darum ist sein Verständnis für
jeden wahren Schüler des Aquinaten unbedingt notwendig. Peccis
1) Quaestiones dispntatae; accedit über de ente et essentia com oom^
mentarüs B. D. D. Thomae de Yio Cajetani. 4 vol. Pansüs 1885. Der-
selbe hat aach das Opusc. v. Cajetan „De nominum analogia" neu drucken
lassen.
') Parafiasi e dichiarazione dell' opuscolo di S. Tommaso De ente
et essentia per Teminentissimo Card. Giuseppe Pecd. Borna 1882. pp. 156.
gr. 80.
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Die litteratur über die thomistische Philosophie etc. 287
höchst klar und fiir Anfänger geechriebener Kommentar erleich-
tert dieses Verständnis um so mehr, als er sich genau an Gajetan,
den unübertrefflichen Kommentator eben dieses Opuskulums, hält.
Ebenfalls für die studierende Jugend hat der wiederholt
durch Breven des hl. Vaters ausgezeichnete Thomist M. de
Maria die philosophischen und theologischen Opuskeln^)
des doctor angelicus so geordnet und erläutert, wie deren Ma-
terien in den Schulen behandelt werden. Der erste Band ent-
hält 30 philosophische Opuskeln, der zweite gibt die Schrifb de
regimine principum mit scharfsinnigen Bemerkungen, und der
dritte bietet 7 theologische Opuskeln. So vortrefflich die meisten
Bemerkungen sind, so könnten wir doch nicht alle vertreten.
Die Kommentare unserer Tage müssen sich von den früheren
dadurch wesentlich unterscheiden, dafs sie den veränderten Zeit-
verhältnissen Kechnung tragen. Mit Übergehung veralteter Dok-
trinen und überwundener Irrtümer müssen sie ganz besonders
jene Punkte ins Licht stellen, in denen die modernen Irrtümer
Widerlegung finden. In dieser Beziehung können wir den Kom-
mentar des Fr. Petronius zu der philosophischen Summa')
empfehlen, da er ihre Lehren benützt, um die Irrtümer der
Neuzeit darin zu beleuchten und zu entkräften. Das Wort des
Papstes bestätigt sich in voller Klarheit, dafs nämlich in Thomas
nicht blofs alle früheren, sondern auch alle späteren Irrtümer
widerlegt sind. Quam philosophandi rationem cum in erroribus
refutandis pariter adhibuerit, illud a se ipse impetravit, ut et
superiorum tempomm errores omnes unus debellarit, et ad pro-
iiigandos, qui perpetua vice in posterum exorituri sunt, arma
invictissima suppeditarit.
^) St. Thomae Aqu. doctoris angelid Opuscula philosophica et
theologica ad usum studiosae juventatis selecta et juxta ordiDem remm,
quae in scholiB tractantui, nunc primam digesta et ezacta. Aooedunt
quaestiones quodlibetales. Editio accurate cognita et nonnnllis
quaestionibas et scholiis aucta. 3 tomL Borna 1886.
*) In Sammam catholicae fidei contra gentües D. Thomae Aqu. eluci-
dationes, addita reoentioram errorum refutatione prindpüs Angelid ejoe-
dem innixa. Neapoli 1886. lib. I. et U,
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288 Die Litteratnr fiber die thomietische Philosophie etc.
Von der Summa theologica können wir gleichfalls zwei sehr
ausgezeichnete Kommentare anführen. Den ersten schrieb Galea
Luigi über die ersten 26 Quästionen des ersten Teiles.^) Es ist
dies ein Kommentar im eigentlichen Sinne des Wortes; der Ver-
fasser erklärt Wort für Wort, zieht die einschlägigen Texte aus
den anderen Werken des Aquinaten herbei und bleibt streng
dabei, dafs der hl. Thomas sich selber erkläre. Den zweiten
verfafste der unermüdliche Verteidiger und gefeierte Lehrer der
thomistischen Doktrin, Professor Franz Satolli.') Derselbe will
mit seinem grofsartigen Kommentar, der viele Bände umfassen
soll, nicht blofs die Lehre des Fürsten der Schule möglichst
klar darlegen und ihren tiefen Sinn entwickeln, er will auch
ihre Beziehungen zu den späteren Theologen und Philosophen
darstellen und namentlich nachweisen, wie die ganze christliche
Philosophie und Theologie in innigster Beziehung und engstem
Zusammenhang mit seiner Doktrin ist, so dafs der Aquinate in
der That als der Repräsentant der katholischen Wissenschaft,
als der Lehrer der ganzen Kirche erscheint. Dadurch ist der
Kommentar nicht blofs höchst zeitgemäfs, sondern er überragt
dadurch auch alle früheren und späteren Erklärungen der theo-
logischen Summa. Mit Recht hat Leo XIU. diese grofsartige
Arbeit in einem eigenen Breve mit den gröfsten Lobsprüchen
ausgezeichnet und diese Art der Kommentierung für die richtige
erklärt.
Eine Hauptaufgabe der Thomisten unserer Tage liegt darin,
die Naturphilosophie des Aquinaten mit der heutigen Natur-
wissenschaft auszusöhnen. Eine reiche Litteratur haben hierüber
die letzten Jahre gebracht, wie wir noch sehen werden. Dieses
Bedürfnis hat einen anderen, nicht minder hervorragenden Schüler
^) Dichiarazione delle prime ventisei questioni della Somma Teolo-
gica di S. Tommaso d'Aquino, estratta parola per parola dalle opere dello
Btesso Angelico Dottore. Malta 1879. Demselben Verfasser verdanken wir
auch eine brauchbare Arbeit über die Quellen mehrerer Opuskeln: ,,De fonti-
bus quorundam opusculorum S. Thomae Aquinatis*' Dissertatio. Melitao 1880.
') InSummam theologica{niDivi Thomae Aquinatis praelectio-
nes habitae in pontificio Seminario Bomano et CoUegio Urbano. tom. I.
Romae 1884. t. H. 1885 u. t. HI. 1886.
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Die litteratur über die thomistische Philosophie etc. 289
des englischen Lehrers, den schon öfters genannten und noch
oft zu nennenden F. Cornoldi yeranlafst, zwei Opuskeln mit
zeitgemärsen Kommentaren zn versehen, nämlich das Opusculum
de principiis natnrae^) und de mixtione elementorum.^)
In dem ersten Kommentar entwickelt er im Anschlüsse an den
Text des hl. Thomas ausfuhrlich und mit eingehender Berück-
sichtigung der Resultate der neuen Naturforschung die kosmo-
logischen Fragen und ganz besonders die Lehre Ton Materie
und Form, so dafs derselbe eine ganze Kosmologie enthält. Der
zweite behandelt die höchst schwierige Frage über das Ver-
bleiben der Elemente in der chemischen Mischung. Cornoldi
zieht alle hierhergehörigen chemischen Lehren herbei und zeigt,
dafs dieselben, soweit sie Ausdruck sicherer Erfahrung sind, der
thomistischen Lehre nicht widerstreiten.^)
Wenn wir yon der kommentatorischen Thätigkeit unserer
Tage reden, so dürfen wir die Zeitschrift „Divus Thomas''^) nicht
vergessen, welche sich die Erklärung der thomistischen Doktrin
zar speziellen Aufgabe gesetzt hat. Diesem Programm getreu
widmet sie den gröfsten Teil ihres Saumes bald der Erklärung
ganzer Schriften (wie z. B. der höchst ausführliche Kommentar
des Yinati „De unitate intellectus contra Averroistas^'), bald
über einzelne oder mehrere Quästionen der Summa theol. oder
einer anderen Schrift In dieser Beziehung hat sich der Divus
Thomas besonders dadurch zeitgemäfs erwiesen, dafs er solche
Quästionen dem Verständnisse zu erschliefsen suchte, die einem
besonderen Zeitbedürfnisse entsprechen, wie die erkenntnis-
theoretischen und psychologischen.
1) Dei prindpü fisico-razionali secondo S. Tommaso d^Aqmno. Com-
mentario dell* Opuscolo ,,De principüs naturae**. Bologna 1881. pp. 230.
*) La sintesi Chimica seccmdo S. Tommaso. „De mixtione elementomm".
2 edii Boma 1882. pp. 128.
') Ln Jahre 1877 hat er einen ebenso vortrefflichen Kommentar zu
der Schrift „De ploralitate formamm" veröffentlicht. Dieses Opusc. wird
jedoch als unecht betrachtet.
*) Divus Thomas. Commentariam inserviens Academiis et Lycaeis
Scholasticam sectantibus. Im Jahre 1880 gegründet, erscheint er jährlich
in 12 Nrn. zu Piacenza.
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290 Die Litterator über die thomistische Philosophie etc.
5 _
Wir dürfen die Kommentare nicht schliereen, ohne zweier
Schriften über die theologische Summa zu gedenken, die ziv^ar
nicht im eigentlichen Sinne kommentieren, aber gleichwohl das
Verständnis derselben im grofsen Ganzen fördern wollen. Die
eine^) zerlegt die ganze Summa in ein Schema und zeigt, ^e
in einem G-erippe, die Harmonie und den einheitlichen Bau der>
selben. Die andere will mehr den inneren Aufbau, das System
derselben und seine Tragweite und Bedeutung darlegen.^) Die
vortreffliche Arbeit kommt im allgemeinen zu demselben Resultat,
das Satolli bei den einzelnen Lehren stets erreicht, nämlich
dazu, „dafs ein jedes spätere christliche Lehrgebäude, möge es
ein originales oder eine Art Renaissance der Väterzeit oder des
Mittelalters sein, wenn anders es ein wahrhaft kirchliches sein
will, sich auf die ewigen und unverrückbaren Prinzipien aaf-
bauen mufs, die der Summa des hl. Lehrers zugrunde liegen.
Diese aber wird für alle Zeit dastehen als eines der grofsartigsten
und einheitlichsten Systeme christlicher Weltanschauung und
als eine wahre Summe oder Inbegriff natürlicher und
übernatürlicher Weisheit''.
4* Schriften Über die gesamte FhHoaophie.
Leo XIIL verlangt in seinem unschätzbaren Rundschreiben,
dafs die Bischöfe ganz besonders der studierenden Jugend die
thomistische Lehre in recht reicher und universeller Weise zu-
kommen lassen — nihil Kobis esse antiquius et optabilius, quam
ut sapientiae rivos purissimos ex angelico doctore jngi et prae-
divite Vena dimanantes, studiosae juventuti large copioseque uni-
^) Samma theologica St Thomae Doctoris Angelid ano schemate per
ordinem quaestionam exhibita cura et stadio P.A. Gualandi, 8. J. 2 edit. 1881.
*) Das System der theologischen Summa des. hl. Thomas y. Aqoin
von A. Portmann, Prof. d. Theol. Luzem 1886, 8. 79 in gr. 49, Portmann
hat auch eine kleine Abhandlung, „Die Erklärung des Sechstageweikes
nach Thomas von Aqoin" (Lazem 1882; Separatabdruck aus den „Monat-
rosen") verfafst, in welcher er die quaest. 66—75 der 8. Th. L kurz er-
klärt und besonders auf den teleologischen und symbolischen Charakter der
thomistischen Natnrauffassung aufmerksam macht
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Die litteratur über die thomistiscbe Philosophie etc. 291
versi praebeatis. Um solches zu erreichen, waren vor allem
Schulbücher nötig, welche die Elemente der gesamten Philosophie
klar und bündig darböten. Solcher Lehrbücher besafsen wir schon
vor der Encyklika Aeterni Patris mehrere und ihnen ist es zu-
meist zu danken, wenn die Worte des Papstes solch günstigen
Boden gefunden haben. Wir erinnern nur an die sehr gediegenen
Lehrbücher von Liberatore, Sanseverino, Stöckl, Gor-
noldi, Brin, Zigliara, Vallet,i) Schiavi,^) Egger,
Gonzalez. Obwohl dieselben in den letzten Jahren mehrfache
Auflagen erlebten, brauchen wir sie doch nicht zu besprechen,
da sie sich wenig verändert haben. Nur zwei haben eine nicht
unwesentliche Umarbeitung erfahren. Liberatore hat seine bahn-
brechenden Institutiones philosophicae^) derart verändert,
ita ut quasi novum opus existimandum sit, wie er in der prae-
fatio bemerkt. Abgesehen von der gröfseren Klarheit und knap-
peren Ausdrucks weise hat er besonders die Auktorität des heil.
Thomas durch fleifsige Citate und durch Umgestaltung mancher
Abhandlungen, namentlich in der Kosmologie, noch mehr zur Gel-
tung kommen lassen. Dasselbe that Abbe Bourquard mit dem
Lehrbuch des M. Brin,*) welches im Jahre 1880 bereits in mehr
als zwanzig Seminarien Frankreichs eingeführt war. Derselbe
arbeitete es abermals vollständig durch und fögte namentlich die
neueste Litteratur hinzu, so dafs dasselbe allen Anforderungen
des hl. Vaters vollkommen entspricht
Diese Lehrbücher sind in den letzten Jahren durch eine
grofse Anzahl vermehrt worden. Wir können nur einige hier
anführen, die uns von besonderem Werte dünken. Wir nennen
*) Praelectiooes philoeophicae ad mentem St. Thomae. 2 vol. 3. edit
Paris 1883. Vom hl. Vater speziell empfohlen.
*) Propedeutica allo stadio della fflosofia. Torino 1880. 2. edit.
») Institutiones philoeophicae P. Matthaei Liberatore, S. J. 2. vol.
Prima editio novae formae ad quam auctor superiores editiones redegit.
Prati 1881.
*) Phüosophia scholastica S. Thomae Aqainatis aactore P. M. Brin,
Presbyt S. Solpitü. Edit. tertia penitus recognita joxta Epistolam £n-
cyclicam Aeterni Patris carante DD. Bourquard in alma Universitate An-
degaveDsi magistro. 2 vol. Parisiis 1881.
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292 Die Litteratar über die thomistiBche Philosophie etc.
an erster Stelle die bald nach Erlar« der Encyklika erschienenen
f,Elementi di Filosofia tolti dalle opere di S. Tom-
mas o*' von Prof. Tomba in Faenza (1880), die kurz und bündig
die Haaptlehren des hl. Thomas für die Schule zusammenstellen.
Viel höher in jeder Beziehung stehen die sechs Bücher y,Prae-
lectionum Philosophiae Scholasticae brevis conspectus'^^)
von dem Professor Van der A a, S. J. in Löwen, weil derselbe
in strenger Schulmethode und scharfer Gliederung für den An-
fänger klar und präzis schreibt und trotz der Kürze der Dar-
stellung ein reiches Material bietet. In untergeordneten Fragen
weicht er allerdings vom Engel der Schule ab.
Was wir bei den meisten der bisher erschienenen Lehrbücher
der Philosophie vermifsten, ist das Zurückführen der thomistischen
Doktrin auf ihre Geburtsstätte in Aristoteles. Alle geben die tra-
ditionellen Definitionen und Axiome und Beweise, ohne sie aus
ihrer Quelle abzuleiten. Diesem Mangel hilft das „System
der Philosophie'' von Gommer') ab, das in vier Abteilungen
die ganze Philosophie, theoretische wie praktische, umfafst. Weil
es die christliche Spekulation in ihren Anfängen aufsucht, ist es
allerdings schwerer zu studieren, aber das Studium ist auch
fruchtbarer, indem es tieferen Einblick gewährt. Verwandt mit
Commers System ist aufser den Vorlesungen des scharfsinnigen
Prof. Schiffini,*) S. J., an der Gregorianischen Universität, das
Enchiridion philosophiae seu disciplina humanae rationis
ad scientiam veritatis comparandam von dem rühmlichst erwähnten
Satolli, von dem bis jetzt nur die Logik^j erschienen ist Das
in Vorlesungsform und mit den Worten des Aristoteles und
Thomas abgefafste Werk würde noch mehr zeitgemäfs werden,
0 Lovanü 1884—1886. Lib. L Logica; II. Ontologia; IIL Gosmologia;
IV. Psychologia inferior seu de vita organica; V. Psychologia superior seu
de vita intellectiva; VI. Theologia naturalis.
«) Münster 1883—1886.
*) Prindpia Phüosophica ad mentem Aqoinatis, quae in Pontificia
Universitate Gregoriana tradebat P. S. Schiffini, S. J. Torino. pp. 776.
Der I. Bd. eines vollständigen philos. Eursns.
«) Brunae 1884. pp. 268.
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Die Litteratar über die thomistiaohe Philosophie etc. 293
wenn es auf die Irrtümer Rücksicht nähme und späteren Ent-
wicklungen und Erweiterungen der thomistischen Lehre mehr
Rechnung trüge.
Diesen mehr för die Jugend eingerichteten Werken fugen
wir das auf fünf Bände angelegte Werk des Jesuiten Harper^)
in England bei. Harper ist der erste gewesen, welcher die
thomistische Lehre seinen englischen Landsleuten in schöner
Sprache und in reiner Form gibt. Er setzt sich in demselben
besonders die Bekämpfung des englischen Empirismus und Posi-
tivismus eines Darwin, Spencer, Stuart Mill u. s. w. zur Aufgabe,
weshalb ganz besonders die kosmologischen Fragen (im IL Bd.
1881 besonders die Lehre von Materie und Form) zur Erörterung
gelangen.
Zu den Werken über die gesamte Philosophie müssen wir
auch das „Thomas-Lexikon'^ des Prof. Schutz^) rechnen,
welches vollständiger als die gleichnamigen Werke von Reeb,
Mallinius und Signorello die in den beiden Summen vorkommen-
den termini technici erklärt, um „alle diejenigen, welche auf ihrem
Bildungsgänge der scholastischen Terminologie fern geblieben,
leicht und schnell, vieUeicht auch vollständig in das Verständnis
der Werke des Aquinaten einzuHihren'^
S. Schriften Über Logik und No^Uc.
Der Grundirrtum der neueren Philosophie liegt auf erkenntnis-
theoretischem Boden; er gipfelt in der Lehre, dafs die mensch-
liche Vernunft die alleinige Quelle aller Wahrheit und Wirklich-
keit sei. Leider wurzeln auch die neueren auf katholischem
Boden entstandenen Systeme des Ontologismus, Hermesianismus
und Güntherianismus mehr oder minder in diesem Irrtum, der
als seinen Gegenschlag den Traditionalismus erzeugte. Die An-
hänger der wiederauflebenden Scholastik hatten es deshalb zu-
nächst mit der Bekämpfung dieser Irrtümer zu thun, die an
^) The Metaphysics of the School.
*) Thomas-Lexikon, das ist Sammlung, Übersetzung und Erklärung
der in den Werken des hl. Thomas v. Aquin, insbesondere in dessen beiden
Summen vorkommenden termini technici. Paderborn 1881. S. 880.
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294 Die Litteratur über die thomistisciie Philosophie etc.
den Schriflteii eines Kleutgen, Liberatore, Zigliara, Cornoldi, Lepidi
und anderer siegreiche Gegner fanden nnd heutzutage in katho-
lischen Kreisen nahezu verschwunden sind. Dagegen hat sich ein
Sprosse des Ontologismus unter dem Aushängeschilde des Thomis-
mus bis zur Stunde erhalten und kämpft eben seinen letzten Ver-
zweiflungskampf — der Rosminianismus. Eine Anzahl von er-
kenntnis-theoretischen Schriften seit dem päpstlichen Rundschreiben,
namentlich in Italien, verdankt gerade diesem Kampfe seine Ent-
stehung. Aafser dem Prof. Valdameri, der schon in früheren Jahren
durch seine gediegene Schrift „L' odierno conflitto tra i
Rosminiani ed i Tomisti in ordine alla filosofia"
(Crema 1879. 2. edit.) die grofse Kluft zwischen Thomas und
Rosmini aufdeckte, nahm an diesem Kampfe Cornoldi durch
zahlreiche Werke Anteil. Das bedeutendste hiervon ist ,Jl
Rosminianismo sintesi dell' Ontologismo e del
Panteismo^' (Libri tre. Roma 1881), welches, namentlich für
Fachmänner geschrieben, die Verwandtschaft des Ontologismus
mit dem Pantheismus schlagend nachweist und damit auch die
innerste Natur des Roaminianismus aufzeigt Eine Ergänzung hier-
zu bildet das Schriftchen „Antitesi della dottrina di S.
Tommaso con quella del Rosmini", ^) in welcher Cornoldi im
einzelnen die Lehren des Rosmini denen des Aquinaten gegen-
überstellt und so ihren Gegensatz handgreiflich nachweist Ein
anderes Schritlchen') thut dasselbe gegenüber dem sensus fun-
damentalis der Rosminianer, die glauben machen wollen, der-
selbe sei identisch mit dem sensus communis des hl. Thomas.
Nicht direkt^ sondern mehr indirekt richtet sich die Schritt des
Prof. Tornatare, „De humanae cognitionis modo, ori-
gine ac profectu ad mentem S. Thomae Doctoris angelici^'^)
gegen die falsche Lehre des Rosmini über den Ursprung des
menschlichen Erkennens. An der Hand des Aquinaten löst er
0 Prato 1882.
*) Del senso commune e del senso fondamentale del Bosmini. Borna
1882. Hierher gehört auch von demselben Verfasser: Eosmini rispetto all'
insegnamento. Roma 1882.
s) Placentiae 1886. Separatabdrack aus „Divas Thomas'*.
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Die litteratnr über die thomistische Philosophie etc. 295
diese so schwierige and geradezu geheimnisvolle Frage in mög-
lichster Klarheit. Einige Jahre früher hat er ebenfalls die ganze
Tiefe der menschlichen Erkenntnis in der Entwicklung des thomi-
stischen Prinzips „quod potest cognoscere aliqua, oportet ut nihil
eorum habeat in sua natura'^ beleuchtet und die Grundfragen der
Noetik in ein neues Licht gestellt.^) Er hat namentlich die Im-
matcrialität der Seele auf Grund ihrer intellektuellen Erkenntnis
dem Materialismus gegenüber siegreich verteidigt.
Was Rosmini fiir Italien, das ist das Wiederaufleben des
Xantianismus für Deutschland; man will mittelst der Eantschen
Eategorieen namentlich den heutigen Materialismus überwinden.
Vergebliches Unterfangen^ als ob von dort die Heilung kommen
könnte, wo das Übel seinen Ursprung nahm. Eine wirksame
Bekämpfung des Materialismus gewährt nur die Rückkehr zu
der Erkenntnislehre des Aquinaten, welche allein uns die Ob-
jektivität unserer Erkenntnis garantiert. Leider können wir dies-
bezügliche Arbeiten in Deutschland nur in geringer Anzahl ver-
zeichnen. Hierher gehören zwei Schriften von Glofsner, deren
erste, „Der moderneldealismu s*^,^) sich die „Emancipation
von £ant'^ zur Aufgabe setzt und besonders dessen neuestes
Kind in der Erohschammerschen Phantasie-Philosophie bekämpfe.
Die zweite, „Das objektive Prinzip der aristotelisch-
scholastischen Philosophie, besonders des Albert
des Grofsen Lehre vom objektiven Ursprung der intel-
lektuellen Erkenntnis^) begründet mit besonderer Ent-
wicklung der Lehre vom intellectus agens die Objektivität un-
serer Erkenntnis. Während der Wert dieser Schriften in der
gediegenen Polemik liegt, gibt Otten in einer kleinen Schrift
^) Expositio Prindpü traditi a D. Thoma Aqainate ad naturam in-
vestigandam rei materialis et rei immaterialis. Placentiae 1882. p. 862.
') Der moderne Idealismus nach seinen metaphysischen und erkenntnis-
theoietischen Beziehungen sowie sein Verhältnis zum Materialismus mit be-
sonderer Berücksichtigung der neuesten Phase desselben. Münster 1880.
8. 119.
3) Begensburg 1880. Festschrift zum Albertns-JubUäum. 8. 95.
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296 Die Litteratur über die thomistische Philosophie etc.
einfach und klar die „Allgemeine Erkenntnislehre des
hl. Thomas in Kürze dargestellt'^^)
Ein Ableger des deutAchen Idealismus ist der Krause*
a n i s m u s in Spanien, der den Pantheismus durch seinen Panen
theismus verhüllen will. Während seine sonderbare, ja wunder-
liche Terminologie ihm in Deutschland wenig Anhänger yer-
schaffte, wird seine Philosophie in Spanien durch Ruiz, Gonzalez
Serrano und Sanz del Rio warm verfochten. Dieselben finden
jedoch in den ausgezeichneten Thomisten Gonzalez und Orti
7 Lara siegreiche Gegner. Letzterer bekämpft in seiner mit
Rücksicht darauf umgearbeiteten ,,L6gica'*^) die Kategorieen
und Erkenntnislehre des Krause.
Noch mehr als gegen den Idealismus hat die thomistische
Ideologie gegen die mechanische Naturauffassung unserer Tage
zu kämpfen, nach der all unser Erkennen nur ein Bewegungs-
vorgang materieller Teile bildet. Der Hauptkampf dreht sich
um die sinnliche Erkenntnis, um die Empfindung. Ist die Em-
pfindung nur ein physiologischer Vorgang oder enthält sie auch
etwas Suprasensibles, wie die alte Schule will? Im Einklang
mit der letzteren hat der Jesuit S e e w i s die thomistische Lehre
von der sinnlichen Erkenntnis^) mit spezieller Bezugnahme auf
die heutigen physiologischen Forschungsergebnisse ausfuhrlich
und vollständig behandelt. Ihm schliefsen sich an die Spezial-
Arbeiten von Pesch, „Das Weltphänomen",*) sowie von
Fontaine „De la Sensation et de la pens^e'*^) und die
Logik von Prof. Lefebure*) in Löwen, welche bald den Positi-
vismus, bald die physiologischen und psycho-physischen Theorieen,
bald die Kantsche Kategorieenlehre bekämpfen. Hierher gehört
auch die interessante Schrift von Prof. Lorinzelli, „Sulla
oggettivita della sensazione e sulla natura delle
1) Paderborn 1882. S. 124.
«) Madrid 1885. pp. 640. 6. edit
°) Della oonosoenza senBitiya. Prato 1881. pp. 559.
*) Eine erkenntnistheoretische Studie. Freiburg 1881. S. 137.
J^) Dissertation selon Saint Thomas, pp. 262.
0) Traito elementaire de Logique. Louvain 1885. pp. 336.
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Die litteratur über die thomistische Philosophie etc. 297
qualita sensibili,^) welche dem SubjektivismaB des Idea-
lismus, wie der Naturwissenschaft gegenüber die Objektivität
unserer äufseren Empfindungswelt begründet und besonders die
dagegen vorgebrachten Sinnestäuschungen einläfslich behandelt.
Nicht von Thomas ausgehend, sondern mitten in der modernen
Strömung der Philosophie, Physiologie und Psychophysik stehend,
wird Heman^) in seiner £ritik immer mehr der thomistischen
Ideologie entgegen getrieben, so dafs er bekennen mufs, „dafs
es in der Sache liegende Gründe sind, die dazu gedrängt haben,
so manche moderne Strömung durchkreuzend jener Quelle zu-
zusteuern, die dem Gesichtskreis des jetzigen Geschlechts fast
ganz entrückt, doch alle Bedingungen in sich trägt, um auch
für unser Denken noch zum befruchtenden Strome anzuwachsen'^
Das ist die Macht der Wahrheit, die schliefslich immer obsiegt!
6. Naturphilosophisehe Schriften.
Wenn es zu einer Restauration der thomistischen Wissen-
schaft kommen soll, dann mufs vor allem die Metaphysik des
Aquinaten zum Gemeingut der Denker werden. Wer in ihr nicht
zuhause ist, vermag nicht tief einzudringen in seine Werke» Seine
Naturphilosophie, Psychologie und natürliche Gotteslehre sind
nur Anwendungen seiner Metaphysik. In dieser Beziehung können
wir jedoch nicht viel Arbeiten verzeichnen. Aufser dem sehr
schätzbaren Werke des Jesuiten Regnon, „Metaphysique
des causes d' apres saint Thomas et Albert le Grand''
(Paris 1886), hat nur der Verfasser dieser Umschau die beiden
schwierigen Begriffe von Zeit und Raum^) einer einläfslicheren
Untersuchung unterzogen. An grofsartige metaphysische Lei-
stungen, wie es etwa die Disputationes Metaphysicae eines Suarez
^) Borna 1882. Separatabdr. der Zeitschrift L'Academia Bomana di
S. Tommaso d* Aqu. Nebenbei sei auch die treffliche Schrift des Bonito
, J)ella FUosofia dialettica, sao scopo ed importanza" (Siena 1881) erwähnt,
wdl sie durch das Bundschreiben Leo Xm. veranlafst, sich ganz und gar
im Ideengang des Aquinaten bewegt.
') Die Erscheinung der Dinge in der Wahrnehmung. Eine analytische
Untersuchung. Leipzig 1881. S. 170.
") Die philosophische Lehre von Zeit und Baum. Mainz 1886.
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298 Die litteratur über die thomi8ti8ch& Philosophie etc.
8ind, können wir noch nicht denken. Damit soll aber nicht
gesagt sein, dafs das thomistische Einmaleins nicht in Umlauf
gesetzt worden wäre. Die metaphysischen Grundbegriffe sind
nämlich teils in den philosophischen Lehrbüchern, teils, und dies
ist noch in gröfserem Mafsstabe der Fall, in den naturphiloso-
phischen Schritten behandelt. Die Naturphilosophie ist neben der
Erkenntnislehre jenes Gebiet, auf dem sich die Doktrin des Engels
der Schule vor allem als brauchbar erweisen mufs. Es mufs sich
zeigen, ob ihre Grundbegriffe noch ausreichen, um die Unsumme
des neuen naturwissenschaftlichen Materials unterzubringen. Es
mufs sich dies um so mehr zeigen, als nicht wenige katholische
Denker glaubten, in der Kosmologie hätte Thomas von den Neueren
zu lernen und nicht umgekehrt. Es hat sich jedoch schon in
dieser kurzen Zeit die Wahrheit des päpstlichen Wortes bewährt,
dafs die Naturwissenschaften von der thomistischen Philosophie
nicht nur keinen Nachteil, sondern grofsen Vorteil erfahren wer-
den — quibus investigationibus mirum quantam philosophia scho-
lastica vim et lacem et opem est allatura, si sapienti ratione
tradatur. Wir haben gerade auf dem kosmologischen Gebiete eine
namhafte Zahl von sehr gediegenen Leistungen anzuführen.
An den Satz der Encyklika anknüpfend, dafs Albertus
Magnus, Thomas und die anderen Scholastiker die Naturforschung
nicht vernachlässigt haben, zeigt Prof. Pfeifer^) die Beziehungen
zwischen Scholastik und modemer Naturwissenschaft auf und
findet dort harmonische Bande, wo unsere Gegner nur die gröfsten
Gegensätze sehen. Prof. Kaufmann^) weist an der Schöpfungs-
lehre nach, dafs die Naturphilosophie des Aristoteles durch den
Aquinaten eine Vervollkommnung erfahren hat. Noch tiefer geht
das in Rom sehr gerühmte Werk des Prof. am römischen Kolleg,
^) Harmonische Beziehungen zwischen Scholastik und modemer Natur-
wissenschaft mit spezieller Bücksicht auf Albertus Magnus, St. Thomas.
Augsburg 1881. S. 99.
*) Yeryollkommnung der aristotelischen Naturphilosophie durch den
hl. Thomas v. Aquin. Separatabdruck. S. 24. Vgl. seine fleifjsige und
sachkundige Arbeit: „Die teleologische Naturphilosophie des Aristoteles und
ihre Bedeutung in der Gegenwart*'. Luzem 1883.
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Die litteratur über die thojoüstisohe Philosophie etc. 299
P. Uraburu, „De essentiali corporum constitutione*'. Er
Bucht besonders die thomistische Lehre mit der modernen Chemie
zu versöhnen und die Schwierigkeit bezüglich des Verbleibens
der Elemente in der Mischung zu heben. Indem er betont, dafs
der Atomismns und Dynamismus die Thatsache nicht erklären
können, dars der gemischte Körper ganz andere Eigenschaften
besitzt, als seine Elemente, findet er nur in der thomistischen
Lehre von der Substanzwandlung der Elemente eine genügende
Erklärung dieser Thatsache. Weniger die Naturwissenschaft be
rücksichtigend, sondern mehr die metaphysischen Grundbegriffe
(Akt und Potenz, Existenz und Wesenheit, Materie und Form,
Substanz und Accidenz) entwickelnd, hat der schon erwähnte
Domet de Vorges unter demselben Titel^) Hir die in der Philo-
sophie schon mehr Bewanderten in dem ihm eigenen glänzenden
Stil eine recht brauchbare Arbeit geliefert, die zu unserer Freude
seinen vollen Anschlufs an die Scholastik bekundet.
Zu einer wahren und weitergreifenden Versöhnung zwischen
Naturwissenschaft und Philosophie wird es jedoch erst dann
kommen, wenn die Männer der Naturforschung sich herbeilassen,
von der Lehre der scholastischen Naturphilosophie Notiz zu
nehmen, und wenn Männer, die auf beiden Gebieten zuhause
sind, sich zu Friedensstiftern hergeben. In dieser Beziehung
müssen wir die „Lezioni elementari'* (Bologna 1880) des
Physi^professors Rubbini sehr hoch schätzen^ weil hier ein
Fachmann die thomistische Naturauffassung seinen physikalischen
Lehren zugrunde legt Desgleichen können wir dem P. Drossel
nicht genug Dank wissen Hir sein Buch „Der belebte und
anbelebte Stoff nach den neuesten Forschungs-Ergeb-
nis sen'S') weil er ebenfalls als naturwissenschaftlicher Fachmann
und zugleich als Philosoph an die Lösung eines der schwierigsten
Probleme geht. Was ist Leben? Ist das Leben lediglich Pro-
dukt der kunstvoll kombinierten Stoffteilchen oder setzt es ein
eigenes Prinzip voraus? Drossel führt den Leser in das mil-
^) La Constitution de Tdtre soivant la doctrine Peripatetidenne.
Paris 1866. pp. 182.
*) Fieiburg 1888. S. 204.
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300 Die litteratur über die thomistische Philosophie etc.
unter detaillierteste heutige Forschungsmaterial, charakterisiert
die leblose und lebendige Welt nach diesen Forschungsergebnissen,
aber gerade diese Ergebnisse fuhren zu einer Lösung der obigen
Fragen im Sinne der Alten.
Diesen Arbeiten, die einzelne kosmologische Punkte behandeln
und zu denen wir auch die früher aufgezählten Kommentare von
Cornoldi rechnen, reihen wir die Werke über die gesamte Natur*
Philosophie an. An erster Stelle mufs das höchst verdienstvolle
Werk von Posch, S. J., aufgeführt werden, „Institutiones
philosophiae naturalis secundum principia S. Thomae Aqui-
natis'^^) welches alle naturphilosophischen Fragen mit Benutzung
der neueren Naturforschung streng wissenschaftlich für den Schul-
gebrauch zusammenstellt Ein Hauptverdienst liegt in der klaren
und ausführlichen Entwicklung der G-rundbegrifiEe von Natur,
Materie, Form, Zweck, Quantität, Qualität, Bewegung u. s. w.;
es enthält ein gut Stück der so notwendigen allgemeinen Meta-
physik. Die gleiche Aufgabe stellt sich die noch weiter angelegte
Kosmologie des Jesuiten de San,*) deren erster bisher erschie-
nener Teil von der Wesenheit, Quantität, Figur und Thätigkeit
der Körper handelt und die damit verwandten Kategorieen von Zeit
und Raum untersucht. Als zusammenfassend und die aufgeführten
Arbeiten in sich aufnehmend, mufs das grofsartige Werk von Posch,
„Die grofsen WelträtselV) betrachtet werden, das, für ein
breiteres Publikum geschrieben, all die grofsen Probleipe der
Natur und des gesamten Universums im Anschlufs an die alte
Naturphilosophie zu lösen unternimmt. Es ist dadurch der alten
Philosophie der gröfste Dienst erwiesen, weil Pesch in grofsen
Zügen und in umfangreichster Weise die alten Gedanken mit
den modernen Ergebnissen in Beziehung bringt und nicht nur
ihre Lebensfähigkeit erörtert, sondern auch dokumentiert, dafs
die Resultate moderner Forschung durch dieselben erst ihr rechtes
Verständnis und ihren wahren Wert erhalten.
1) Friburgi 1880. pp. 752.
«) Cosmologia. t. I. Lovanü 1881. pp. 606.
3) Dio grofsen Welträtsel. Philosophie der Natur. Allen denkenden
Naturfreunden dargeboten von T. Pesch, S. J. 2 Bde. Freiburg 1888 u. 1884.
Digiti
zedby Google
Die litteratar über die thomistische Philosophie etc. 301
7* Schriften über die I^chologie und Theodicee.
Die Psychologie geht parallel mit der Naturphilosophie. Je
nach der Auffassung des körperlichen Wesens richtet sich auch
die Auffassung über das Menschenwesen. Seit dem Abfall von
der Scholastik in der Kosmologie ist auch die Psychologie der
Tummelplatz aller möglichen Irrtümer geworden. Es wird aller-
dings noch lange anstehen, bis die psychologische Atmosphäre
wieder gereinigt wird und gesunde Ansichten in diesem für alle
Gebiete so notwendigen Zweige der Philosophie herrschend wer-
den. Seitdem jedoch in der Naturphilosophie die atomistische
und dynamistische Eörperauffassung, wenigstens auf katholischem
Gebiete, nahezu verschwunden ist, beginnt es auch in der psycho-
logischen Wissenschaft zu tagen. Besondere Verdienste gebühren
hierin dem Organ der medicinisch-philosophischen Akademie zu
Kom,^) welches seit dem Jahre 1876 mit Eifer und Geschick die
thomistischen Grundsätze in die Physiologie und Psychologie ein-
zuführen sucht Ihm sekundiert seit 1880 in sehr vortrefflicher
Weise die schon erwähnte Academia Romana, welche in
ihrem gleichnamigen Organ besonders die Hauptthemata der
Psychologie ausführlich und zeitgemäfs untersucht Einzelne dieser
Artikel sind separat erschienen, wie z. B. die treffliche Arbeit
von Prof. Lorenzelli: L' appetito e le sue distinzioni
secondo 1' Aquinate, confutazione del Darwinismo e del Posi-
tivismo (Roma 1883 pp. 68). Nicht zu vergessen sind die Ver-
dienste der Zeitschrift Civil ta Cattolica, welche namentlich
seit 1880 aus der Feder des unermüdlichen P. Gomoldi viele
psychologische Arbeiten gebracht hat, von denen auch mehrere
separat erschienen sind, wie z. B. L' intelletto agente (Roma
1883) und Della libertä umana. Dissertazione (Roma 1884).
Eine ihrem Verfasser alle Ehre machende Schrift bildet „La
SpiritualitÄ de 1' äme" von Prof. Dupont, die sich zumeist
gegen den Materialismus und Positivismus wendet In einer um-
fassenden Weise behandelt de la Bouillerie die gesamte tho-
1) La Bcienza Italiana. Periodico di FUosofia, Medicina e sdenze na-
turali pablicato dair academia filosofico-medica di S. Tommaso d*Aquino.
Jahrbuch für Philosophie etc. I. t\
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302 Die litteratur über die thomistische Philosophie etc.
mistiscbe Psychologie in dem uns leider nicht näher bekannten
Werke: L' homme, sa nature, son äme, ses facnltes et
sa fin d' apres la doctrine de St. Thomas d' Aqain (Paris 1880).
Über die natürliche Gotteslehre können wir wohl nicht
viele Arbeiten anführen, aber das, was seit der Encyklika über den
Gipfel der Philosophie geschrieben worden, ist vollkommen probe-
haltig. Wir nennen an erster Stelle den ersten Band der In-
stitutiones theologicae von P. Eleutgen,^) da derselbe
auch alle philosophischen Fragen aufgenommen hat Wir ziehen
diesen Band um so mehr hierher, als Eleutgen dieses Werk
nicht deswegen unternommen hat, wie er in seiner Widmung
an Leo XIII. schreibt, um den hl. Thomas unserer Zeit anzu-
passen, sondern vielmehr unsere Zeit durch die Lehre des Engels
der Schule zu heilen. Deshalb verspricht er, demselben nicht
blofs inhaltlich zu folgen, sondern auch in der Methode; er will
auch die Moral wieder in die Dogmatik aufnehmen.
An das leider unvollendet gebliebene Werk des seligen
Kleutgen reiht sich würdig an die Arbeit des Dr. C. M. Schneider
„Natur, Vernunft, Gott. Abhandlung über die natürliche
Erkenntnis Gottes, nach der Lehre des hl. Thomas von Aquin
dargestellt'',^) in welcher namentlich die fiinf thomistischen Gottes-
beweise in voller Klarheit und Tragweite sowohl der neueren
Philosophie als besonders der Naturwissenschafl gegenüber ent-
wickelt sind. Was hier mehr angedeutet ist oder gar nicht
behandelt werden konnte, das führt sein vierbändiges Werk,
„Das Wissen Gottes nach der Lehre des hl. Thomas von
Aquin'', ^) grofsartig und allseitig aus. Dasselbe verdankt zwar
sein Entstehen dem wieder heftig auflodernden Streit zwischen
Thomismus und Molinismus und gehört zunächst in die Theologie,
^) In usum Bcholaram. Praeter introductionem continens partem pri*
mam, quae est de ipso Deo. Batisbonae 1881.
») Gekrönte Preisschrift der Görres-Gesellschaft. Eegensb. 1883. S. 353.
«) L Bd. Das SelbstbewuTstsein Gottes. 1884. S. 483. II. Bd. Das
Wissen Gottes und die Geschöpfe im allgemeinen. 1885. 8. 587. lU. Bd.
Das Wissen Gottes und die besonderen Seinskreise im Geschöpf liehen. 1885.
S. 621. IV. Bd. Zasammenfassung des Ganzen. Das Traditionsprinzip.
1886. S. 55a
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Die litteratar über die thomistische Philosophie etc. 303
aber ee ist so philosophisch angelegt und zieht alle philoso-
phischen Grebiete aus alter und neuer Zeit herbei, dafs es die
natürliche Gotteslehre in ganz neuem Lichte erstrahlen läist.
Trotz seines polemischen Charakters zählt das Werk zu dem besten,
was die neuere Zeit in philosophischer und theologischer Bezie-
hung aufzuweisen hat
8* Schriften über NaturrecM^ Ästhetik und Geschichte
der FhUasophie»
In den Kämpfen um die Rechte und Freiheit der Kirche
hat man katholischerseits schon längst erkannt, welch gediegene
Waffen die Werke des Aquinaten bieten. Desgleichen hat die
neue Socialphilosophie, die von katholischen Denkern fleifsig kul-
tiviert wird, Anlafs gegeben, in der alten Wissenschaft, wenn
auch nicht Lösungen, so doch Lichtpunkte und Fingerzeige fiir
die neuen schwierigen Probleme zu suchen. Diesem doppelten
Bedürfnis verdanken wir seit einem Dezennium und besonders
seit dem päpstlichen Rundschreiben eine Anzahl von Werken
und viele Artikel in Zeitschriften.
An erster Stelle können wir recht brauchbare Lehrbücher
notieren. Wir nennen aas den letzten Jahren „Ethicae seu
philosophiae moralis rationes in tyronum commodum et
usum" von Th. Sukana (Tarracone 1884). Umfangreicher und
viel systematischer gearbeitet ist die „Synopsis Philosophiae
Moralis seu Institutiones Ethicae et Juris naturae
secundum principia philosophiae scholasticae praesertim St. Thomae,
Suarez et de Lugo methodo scholastica elucubratae" von dem Je-
suiten J. Costa-Rosetti.^) Dieses Werk behandelt vorzugsweise
die verschiedenen Systeme der heutigen Nationalökonomie, wie
das Merkantilsystem, Agrarsystem, Manchestertum, das sociali-
stische System und stellt ihnen gegenüber das konservative
System der christlichen Social-Politiker, welches er auf den scho-
lastischen Prinzipien aufbaut, wobei allerdings ein noch engerer
Anschlufs an den Aquinaten seinem Werke noch gröfsere Voll-
kommenheit verliehen hätte.
*) Oeniponte 1883. pp. 820.
21*
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304 Die litteratur über die thomistische Philosophie etc.
Noch höher müssen wir die „InstitutioneB Jaris nata-
ralis'^^) von Theod. Meyer, S. J. schätzen, von denen bis
jetzt nnr der erste, allgemeine Teil erschienen ist, weil dieselben,
genau dem geistigen Zustande der Anfanger angepafst, weniger
auf den umfang des Materials, als auf klare, systematische Dar-
stellung sehen. Das für Anfänger minder Wichtige ist in Ko-
rollarien von den Hanpttheaen, die eingehend, solid und doch
fafslich begründet sind, abgeleitet und kurz angedeutet
Wenden sich die genannten Lehrbücher an die Anfanger,
so haben andere Schriften bald einzelne Zeitfragen, bald die
Vertiefung und Weiterbildung dieser Fragen im Auge. In ersterer
Beziehung begründet eine in Neapel erschienene Schrift, „La
chiesa societa vera e perfetta secondo le teoriche di S.
Tommaso'^ (Napoli 1881), im Anschlufs an den hl. Thomas die
hierhergehörige Lehre des Syllabus. Polemisch gegen die mo-
dernen Bechtsanechauungen verwendet der Advokat A. Burri
den hl. Thomas in seiner Schrift „La teorie politiche di
S. Tommaso e il moderne diritto publico".*) Erwähnung
verdient auch die fleifsige Arbeit von Müller: „Etüde philo-
sophique sur le bonheur ou la doctrine de St. Thomas
sur le Bonheur mise ä la port^e des gens du monde'' (Namur
1886).
Der Engel der Schule hat zwar keine Schrift über das
Schöne hinterlassen, allein es ist selbstverständlich, dafs ein
Mann aus jenem Jahrhundert, in welchem die Kunst so hoch
stand, in seinen vielen Werken auch über die schöne Kunst
wertvolle Gedanken und Bemerkungen niedergelegt hat Es haben
deshalb in neuerer Zeit die katholischen Ästhetiker den hl. Thomas
fleifsig benutzt, wie z. B. Jungmann. In der letzteren Zeit sind
einzelne noch weiter gegangen und haben auf diesen thomisti-
schen Gedanken eine ganze Theorie des Schönen aufgebaut. Wir
^) Institutiones Juris naturalis seu philosophiae moralis universae se-
cundum prindpia S. Thomae Aquinatis ad usum scholarem. P. I. Jus
naturae generale continens Ethicam generalem et jus sociale in genere.
Friburgi 1886.
«) Roma 1884. pp. 157.
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Die litteratar über die thomistiscfae Philosophie etc. 305
erinnern nur an das Werk Yon Prof. Valensise in Neapel,
9,Deir Estetica secondo i principii dell' Angelico Dottore'V)
und noch mehr an die vortreffliche Schrift von Vallet, „L'id^e
dn bean dans la philosophie de Saint Thomas d'Aquin'',')
welcher es meisterhaft verstanden hat, mit Zuhülfenahme meta-
physischer nnd psychologischer Lehren des Aquinaten eine nahezu
komplete Ästhetik herzustellen.
Wenn wir schliefslich noch nach den geschichts-philoso-
phischen Arbeiten umsehen, so können wir leider nur sehr weniges
verzeichnen, was direkt in unser Referat fallt. Und doch mufs
auch die Geschichte der Philosophie in diese Bewegung ein-
treten. Aufser anderen Aufgaben mufs sie nachweisen, daüs die
Lehre des hl. Thomas nicht ein apartes und von der Entwick-
lung des christlichen Geistes losgelöstes System ist, sondern dafs
sie nur eine höhere Stufe der von den Vätern ausgehenden
Spekulation, mit einem Worte nur die traditionelle Philosophie
der Kirche ist Dieser Aufgabe wird nur die treffliche Schrift
des Löwener Professors Duppnt, „La philosophie de S. Au-
gustin'^,') gerecht, die zeigt, dafs die Scholastik nur die Frucht
ist von dem reichen Samen, den die Väter und besonders Au-
gustin mit vollen Händen ausgestreut haben, und nachweist, dafs
die Werke des hl. Thomas den Kommentar bilden zu den Ge-
danken des grofsen Bischofs von Hippo — Y identit^ des doc-
trines du Docteur de la grace et de 1' Auge de 1' Ecolo (p. 247;.
Indirekt gehören allerdings auch alle jene Werke hierher,
welche die Geschichte der Philosophie des Mittelalters, des
Prediger- Ordens u. s. w. behandeln, und zur Aufhellung der
vrissenschaftlichen Leistungen dieser glänzenden Jahrhunderte
ist in den letzten Jahren auf Anregung des für historische For-
schung, wie für tiefe Spekulation gleich begeisterten Papstes
viel geschehen. Man denke nur an das grofse Werk von
P. Denifle, „Die Universitäten des MittelaltersV) das
>) n. parte. Dell' arte in genere. 1880.
«) Paris 1883. pp. 864.
•) Louvain 1881. pp. 262.
*) Berlin 1885. S. 816.
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306 Die litteratar über die thomistiBche Philosophie etc.
geradezu monumental und einzig genannt werden mufs, oder an
das y,Archiv für Litteratur und Kirchengeschichte des
Mittelalters", welches ebenderselbe in Verbindung mit dem
P. Ehrle, 8. J. seit 1885 herausgibt und das kostbare Bei-
träge zur Biographie berühmter Scholastiker , zur Gelehrten-
geschichte des Prediger- Ordens u. s. w. bringt Wenn man
diesen ersten Band Yon Denifle und dieses Archiv durchblättert,
so erfährt man zu seinem Erstaunen, wie viel Irriges in biogra-
phischer Beziehung, in der Auffassung des Charakters des Prediger-
Ordens und rücksichtlich des Studien-Wesens dieser Periode seit
langer Zeit traditionell geworden ist und welch grofses Bedürfnis
solche Arbeiten sind.
ScMufs.
Wenn wir die aufgeführte Litteratur noohmal überschauen,
so müssen wir dieselbe nicht blofs in quantitativer Beziehung
bedeutend nennen, sondern noch mehr in qualitativer. Während
die vor Erlafs der Encyklika „Aetemi Patris'^ erschienenen thomi-
stischen Werke mehr die Lehre des Engels der Schule zu repro-
duzieren suchten, enthalten diese jüngsten Werke mehr Selb-
ständiges, bewegen sich viel sicherer und entschiedener auf dem
thomistischen Boden und streben die Weiterbildung und den
Ausgleich mit der modernen Denkwelt an. Ein Überblick
über diese litterarische Bewegung zeigt so recht die Grofsartig-
keit der thomistischen Lehre: keine Wahrheit ist ihr fremd;
alle wissenschaftlichen Errungenschaften der Neuzeit finden in
ihr Anknüpfungspunkte; keiner wahren Spekulation, gehe sie
noch so tief und noch so hoch, steht sie feindlich gegenüber.
Diese Universalität und Assimilationsfähigkeit verdankt die Lehre
des Aquinaten der aristotelischen Philosophie, die ihren Grund-
stock bildet Wie Aristoteles alles heidnische Wissen wie in
einem Brennpunkt gesammelt hat, und wie die mittelalterlichen
Lehrer dieser heidnischen Weltweisheit die Gedanken der Väter
und Theologen einverleibt haben, so gilt es nun zum dritten
Male, alle neuzeitlichen Forschungsresultate in diesen universalen
Wissensbau einzugliedern und lebensfähig zu machen.
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Die litterator über die thomistische Philosophie etc. 307
Aus eben dieser Litteratur ergibt sich aber auch nahezu
handgreiflich, dafs die thomistische Philosophie nicht eine besondere
philosophische Schule oder Richtung innerhalb des katholischen
Denkens repräsentiert, wie man bisweilen in katholischen Kreisen
noch hören kann, sondern dafs sie die traditionelle, katholische
Philosophie ist Wie könnte sie sonst der Papst allen katho-
lischen Schulen vorschreiben? Der Grund für eine solche Auf-
fassung liegt darin, dafs man zwischen Thomismus und Thomis-
mus nicht unterscheidet. Es gibt einen Thomismus, der nicht
nötig ist, um Thomist zu sein. Einzelne Schüler des Aquinaten
oder auch ganze Orden haben aus der Lehre des hl. Thomas
Konsequenzen gezogen, welche andere Schüler des grofsen Mei-
sters nicht ziehen zu müssen glaubten. Um das naheliegende
Beispiel zu erwähnen, so bestreiten sehr begeisterte Anhänger
des Aquinaten, dafs derselbe die praemotio physica gelehrt habe,
während die Dominikanerschule fast einstimmig solches behauptet.
Dieser Thomismus, der eine Summe solcher an der Peripherie
liegenden Wahrheiten konserviert und fortpflanzt, ist jedoch von
dem Thomismus, zu dem der hl. Vater verpflichtet, sehr ver-
schieden. Dieser letztere verlangt die Annahme der Grundlehren
auf erkenntnis- theoretischem und metaphysischem Gebiete; er
enthält den Grundstock dessen, was all die grofsen Meister des
Mittelalters gelehrt haben. Wer diesen Thomismus annimmt, der
denkt nicht blofs wie Thomas, der denkt auch wie Augustin,
Albert d. Gr., Bonaventura und wie die übrigen klassischen
Lehrer dieser Periode. Dieser Thomismus, um es wieder zu
sagen, ist nicht eine Richtung in der katholischen Philosophie,
sondern ist die katholische Philosophie selber.
Man hat bisweilen dem Vorgehen des Papstes den Vorwurf
gemacht, dafs er dem philosophischen Fortschritt hinderlich sei
und alles Denken auf ein vor 600 Jahren entstandenes Lehr-
gebäude zurückschraube. Allein ein oberflächlicher Blick auf diese
Anfange thomistischen Schaffens beweist, wie ernst es den katho-
lischen Denkern mit dem wissenschaftlichen Fortschritt ist Nicht
einer glaubt Genüge gethan zu haben, wenn er die Lehre des
doctor angelicus erfafst hat; alle streben weiter, alle sind bemüht.
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308 Die Litterator über die thomistische Philosophie etc.
den thomi8ti8chen Gedanken weiter zu tragen und anf ganz
neue Gebiete anzuwenden. Keiner denkt daran, als ob Thomas
die Philosophie schon vollendet hätte, alle sind der Überzeugung,
dafs noch viel, sehr viel zu thun ist.
Wir haben allerdings, und damit schliefsen wir unser Re-
ferat, noch keine Schule, allein wir sind auf dem Wege dazu.
Die eingeleitete litterarische Bewegung wird dahin auslaufen, dafs
in nicht zu weiter Ferne allüberall, wo die Kirche Philosophie
lehrt oder ihre Söhne sie lehren und schreiben, nur eine Phi-
losophie doziert wird, die allgemeine, die traditionell-katholische,
die Philosophie des Aquinaten!
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$^$$^r^f$^r$$$$^$^f$$$
DIE LEHRE DES HL. THOMAS
UND SEINER SCHULE
VOM PRINZIP DER INDIVIDÜATION.
EIN BEITRAG ZUM PHILOSOPHISCHEM VERSTÄNDNIS DER MATERIE.
Von Dr. M. GLOSSNER,
MITOLIKD DBR PHILOSOPHISCHEN AKADEMIE DES HL. THOMAS IM ROM.
II.
Metaphysische Begründung,
(Fortsetzung.)
Betrachten wir nanmehr die Konsequenzen des Standpunktes,
von welchem aus man die thomistische Lehre von der Entstehung
der intellektuellen Vorstellung durch eine Art von Vergeistigung
des Sinnlichen bekämpfen zu müssen glaubt.
Soll auf diesem Standpunkt die Geistigkeit der mensch-
lichen Seele festgehalten werden, so wird man genötigt sein,
schon das sinnliche Erkennen, überhaupt das Erkennen als sol-
ches für etwas rein Greistiges, der Seele ausschliefslich Eigenes
auszugeben. Mit dieser Annahme aber wird man offenbar in
cartesianische und Leibnitzsche Gedankenbahnen hineingezogen.
Auf Leibnitz speziell scheint diese neue Philosophie durch die
monadologische Auffassung des körperlichen Seins hingewiesen.
Betrachtet man nun sinnliches und intellektuales Erkennen als
gleichartig, wie es jener Standpunkt erfordert, so wird man nicht
umhin können, mit Leibnitz das sinnliche Erkennen für eine
verworrene Form des intellektuellen zu nehmen, wodurch sich
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310 Die Lehre d. hl. Thomas u. 8. Schule vom Prinzip der Indiyidaation.
die Körperwelt zu einem blofsen Phänomene gestaltet, hinter
welchem sich eine geistige Welt von Monaden als ihr wahres
Sein und Wesen birgt. Die Körper werden zu einfachen, gei-
stigen Wesen, oder wie sich dann ebenso gut umgekehrt sagen
läfst, die Geister — für die verworrene, sinnliche Auffassung —
zu körperlichen Wesen.
Dies die eine Seite des Bildes, die sich darstellt, wenn
wir jenes System der Philosophie in der Rücksicht nehmen, in
welcher es zur Annahme der Geistigkeit alles Erkennens sich
hingedrängt sieht.
Ein anderer Anblick bietet sich uns, wenn wir die Bildung
des Allgemeinbegriffs aus der sinnlichen Einzelvorstellung ins
Auge fassen. Von dieser Seite droht der Nominalismus mit sei-
nen Gefahren, des Empirismus, Kriticismus und transcendentalen
Idealismus, sofern die aus Einzelvorstellungen ohne wesentliche
Umgestaltung derselben gebildeten Begriffe die Erfahrung nicht
transcendieren, also zur Erkenntnis transcenden taler Objekte
nicht dienen können. Bogriffe nämlich, weiche aus der blofsen
Bearbeitung des aktuellen Inhalts der Sinnen Vorstellung ent-
springen, entbehren des selbständigen Erkenntnisgehalts und sind
daher in allen Fällen ungeeignet, über die Erfahrung hinauszu-
führen.
Als Endresultat aber erhalten wir jenes Schwanken zwischen
rationalistischem und empiristischem Idealismus, das sich fort-
erbende Übel der modernen Spekulation, entsprungen aus dem
Dualismus rationeller und sensualistischer Standpunkte, der Ver-
standes- und Sinneserkenntnis, die in unversöhnlicher Fehde sic{i
bekämpfen, seitdem das lösende Wort der aristotelisch -thomi-
stischen Psychologie dem philosophischen Bewufstsein verloren
Die Tragweite des vorliegenden Gegenstandes scheint ein
längeres Verweilen zu rechtfertigen. Nehmen wir daher den
Vorwurf der Zweideutigkeit, der in dem Ausdruck abstrakt liegen
soll, noch einmal auf, und suchen wir uns über die Geiatigkeit
der intellektuellen Vorstellungen in der klarsten, bestimmtesten
und gegen jedes Mi fs Verständnis gesicherten Weise auszusprechen.
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Noch einmal der Vorwurf der turpia aequivocatio. 311
Die Zweideutigkeit also soll darin liegen, dafs der Ausdruck
,,ab6trakt'' sowohl ,,frei von der Materie, immateriell'^ als auch
,,allgemein'' bedeutet, und bald dem Materiellen, Körperlichen,
bald dem Konkreten, Partikulären, Einzelnen entgegengesetzt
wird.
Dafs beides nicht durchweg zusammenfalle, ist einzuräumen;
denn es gibt Einzelnes, Konkretes, das nicht materiell, und Ab-
straktes, das nicht immateriell ist. Der einzelne Engel, Michael,
Baphael, ist ein Konkretes und doch immateriell. Farben, Töne,
Metalle, Pflanzen sind materiell, und doch in der Perzeption der
Sinne und des Verstandes abstrakt. Diese ihre Seinsweise in
sinnlicher und denkender Auffassung aber ist es, was für uns
in Betracht kommt, und es fragt sich, ob die in der Sphäre des
Begriffes auftretende Allgemeinheit die Immaterialität impliziert
Eine gewisse Abstraktion findet, wie wir sahen, bereits in
der Bethätigung der Sinne statt, eine unwillkürliche, notwendige,
sofern jeder Sinn sein eigentümliches Objekt, eine bestimmte,
sensible Qualität, getrennt von den übrigen, perzipiert. Diese
Abstraktion ist mit einer weiteren, durch die Natur des Er-
kennens selbst gebotenen yerbunden. Der Sinn nämlich nimmt
die Farbe, den Ton u. s. w. überhaupt nicht stofflich auf, denn
sonst müTsten sie in ihm mit der realen Quantität und weiterhin
mit allen anderen sensiblen Qualitäten existieren. Aus diesem
Grunde sagen die Scholastiker mit Recht, dafs die Sinne ihr
Objekt nicht materiell, sondern intentionell, d. h. in einem
immateriellen Bilde aufnehmen, und dafs dies in der Natur
des Erkennens liege. [Diese Immaterialität des Erkennens wird
auch von anderen Standpunkten, überhaupt von jeder Philosophie,
die den Namen verdient, anerkannt. L'^tendue intelligible re-
presente des espaces infinis, mais eile n'en remplit aucun: et
quoiqu^elle remplisse pour ainsi dire, tous les esprits, et se de-
couvre ä enx, il ne s'ensuit nullement que notre esprit seit spa-
oieux. II faudrait, qu^il le fnt infiniment, pour voir des espaces
infinis, s'il voyait par une union locale a des espaces localement
etendues. Malebranche, Entretiens sur la metaphysique. En-
tretien 2. n. VI.]
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312 Die Lehre d« hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip der Individuation.
Wir haben also bereits hier eine Abstraktheit, die mit Im-
materialitäty wenn auch unvollkommener, zusammenfallt.
Dieser Verg^eistigungsprozers nun setzt sich fort, und voll-
endet sich im Intellekt, insofern dieser die materiellen Dinge
nicht allein frei von der Materie, d. h. ohne wirkliche Ausdeh-
nung, Teilbarkeit u. s. w., sondern auch frei von den Bedingungen
materiellen Daseins und Erscheinens, Raum und Zeit oder Hier
und Jetzt, also frei von dem „Dieses*' in sich aufnimmt
Die Begriffsbildung ist demnach in der That nach peri-
])ateti8ch - scholastischer Auffassung ein Vergeistigungsprozefs.
Freilich ist sie dies nicht in dem rohen Sinne, den die Gegner
speziell dem Thomismus unterschieben, einer realen Verwandlung
der sinnlichen in die intellektuelle Vorstellung. Geringen Scharf-
sinns fürwahr bedarf es, um einzusehen, dafs die Dinge nicht
real vergeistigt werden, um in den Sinn und weiterhin in den
Verstand hintiberzu wandern. Der Vergeistigungsprozefs, von dem
wir reden, besteht in der stufenweise gröfseren Reinheit von
der Materie, durch welche die in den Erkenntnisvermögen durch
unmittelbare oder mittelbare Einwirkung der Objekte hervor-
gebrachten Erkenntnismedien sich auszeichnen. Indem die Sinne
durch Einwirkung der äufseren Gegenstände aus der Potenz in
den Akt übergehen, nehmen sie nicht irgend eine Realität von
aufsen auf, sondern die ihnen eigene Potenzialität gestaltet sich
zu einer, einerseits durch die beziehungsweise immaterielle Natur
des Sinnes, andererseits durch die eigentümliche Bestimmtheit
des aktuierenden Objektes modifizierten Aktualität [Immateriell
ist der Sinn als ein Erkenntnisvermögen; sofern er aber wesent-
liche Form eines körperlichen Organes und von diesem in seiner
Bethätigung schlechterdings abhängig ist, mufs er als materiell
bezeichnet werden.]
Wir können daher in einem gewissen Sinne das Leibnitz-
sche Wort uns aneignen, dafs die Monaden nicht Fenster haben,
durch welche die Dinge ein- und aussteigen. Denn so sehr die
Seele durch die Bildung der Species vervollkommnet und ge-
wissermafsen bereichert wird, so geht doch in sie aus den Dingen
nichts hinüber. Wenn irgendwo, so hat man in der Theorie vom
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Noch einmal der Vorwurf der turpis aeqnivocatio. 313
UrspruDg des menschlichen Erkennens die aristotelischen Be-
stimmungen üher Potenz und Akt, den Begriff des Werdens im
Auge zu behalten. Denn der allgemeine Begriff des Werdens
findet auch auf den Ursprung der menschlichen Erkenntnis An-
wendung, 80 grofs auch sonst der unterschied des realen Ent-
stehens und Vergehens von jenem reinen, yeryoUkommnenden
Übergang der Potenz in den Akt sein mag, wie er im Prozesse
des menschlichen Erkennens stattfindet.
Ebenso wenig als das sinnliche Erkennen vollzieht sich das
intellektuelle durch einen realen Übergang oder eine reale Ver-
wandlung des Erkenntnisobjektes oder seines Repräsentanten, des
Phantasmas. Vergeistigt wird dieses aussohliefslich in dem Sinne,
dafs das im Intellekte aufgenommene Erkenntnisbild ein geistiges
ist Allerdings wird die Potenzialität des Intellektes unter der
entfernteren Miteinwirkung des Objektes aktuiert, jedoch nicht
dadurch, dafs etwas aus dem Objekte in den Intellekt übergeht.
Wir sagen unter der entfernteren Miteinwirkung des Objektes;
denn der Einflufs desselben auf die Erzeugung der intellektuellen
Vorstellung ist nicht allein ein mittelbarer, der durch die Phantasie
geschieht, sondern auch der Phantasie selbst wird, wie wir früher
gesehen haben, nur ein sekundärer und instrumentaler Einflufs ein-
geräumt, insofern nämlich das Phantasma nur unter dem höheren
geistigen Impulse, der vom thätigen Intellekt ausgeht, auf die
Empfänglichkeit des geistigen Erkenntnisvermögens für das In-
telligible zurückzuwirken vermag.
Der Prozefs der Vergeistigung ist also in diesem Falle so
zu verstehen, dafs die intellektuelle Vorstellung aus jener werk-
zeuglichen Einwirkung der Phantasmen die bestimmte Ähnlichkeit,
den konkreten Begriff eines gegebenen Gegenstandes, aus der,
auf die Phantasmen gerichteten, Thätigkeit des intellectus agens
aber die geistige Seinsweise, die völlige Befreiung von der Materie
und den Bedingungen der materiellen Existenz schöpft.
Diese vollkommene Immaterialität nun eignet jeder allge-
meinen Vorstellung; denn sie ist dies eben dadurch, dafs in
ihr von dem Hier und Jetzt, den Bedingungen der Materialität
abstrahiert ist. Wollte man dies in Abrede stellen, und behaupten.
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314 Die Lehre d. hl. Thomae u. a. Schule vom Prinzip d. Individuation.
die allgemeine Vorstellang sei nur die verworrene Vorstellnng
einer Anzahl von ähnlichen Einzelobjekten, also derselben Gattung
wie die sinnliche Vorstellung angehörig, so wäre dies eben schon
der Standpunkt des Sensualismus, dem der konsequent verfolgte
Kominalismus nicht entrinnen kann.
Die wesentliche Verschiedenheit des Begriffes, mag es sich
um immaterielle oder materielle Objekte handeln, von der sinn-
lichen Vorstellung ist unbestreitbar. Man hat wohl nicht selten
das sogenannte Gremeinbild, die unbestimmte, schematische Vor-
stellung eines sinnenfalligen Gegenstandes, mit dem Begriffe ver-
wechselt. Gleichwohl ist der unterschied beider so einleuchtend,
dafs wir es nicht für notwendig halten, die unterscheidenden
Merkmale im einzelnen anzugeben. Besteht aber dieser Unter-
schied, und wird der Begriff aus der Vorstellung in dem Sinne
der aristotelisch-thomistischen Theorie abstrahiert, so sind wir
berechtigt, von einer Vergeistigung zu reden, und abstrakt, all-
gemein und immateriell als unzertrennliche und gegenseitig sich
implizierende Merkmale des Begriffs zu betrachten.
Wenn wir von sensualistischen Konsequenzen der nomina-
listischen Auffassung der Allgemeinbegriffe redeten, so wollen
wir uns nicht verhehlen, dafs für einen solchen Standpunkt die
Möglichkeit noch offen erscheint, fiir höhere, geistige Erkenntnisse
anderweitige Quellen, Intuition, Tradition u. dgl. in Anspruch
zu nehmen. Sollte jener Philosoph, der den Vorwurf der schimpf^^
liehen Zweideutigkeit gegen die thomistische Auffassung der
Abstraktion erhebt, geneigt sein, in diese Bahnen einzulenken?
Unseren bisherigen Bemerkungen über den Ausdruck „ab-
strakt'* haben wir noch beizufügen, dafs, wie einige Vertrautheit
mit den Schriften des hl. Thomas lehrt, jener Ausdruck nicht
blofs die ohne Materie aufgefafsten, oder' ohne eine solche sub-
sistierenden Formen bezeichne, sondern auch Formen, die über-
haupt ohne ein beschränkendes Subjekt gedacht werden oder
subsistieren. In diesem Sinne ist das Wort gebraucht, wenn
Thomas folgert, wie jede abstrakte Form eine sei, so sei auch
die abstrakte Form des Seins, d. i. das Sein als das Formalste,
und ebenso, das abstrakte Erkennen nur Eines. Im wesentlichen
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Der gemSfeigte Realiamus. 315
ist es dieselbe Folgerung, weDu aus der Freiheit eines reinen
Geistes von der Materie auf die spezifisohe Einzigkeit desselben
geschlossen wird. Die Berechtigung dieses letzteren Schlusses
glauben wir durch das Gesagte wenigstens insoweit nachgewiesen
zu haben, als er keineswegs auf einer Zweideutigkeit des Wortes
„abstrakt" begründet ist.
Haben uns die Einwendungen Palmieris zur psychologischen
Seite unseres Gegenstandes zurückgeführt, so werden wir nun-
mehr auch das outologische Fundament jenes Unterschieds von
geistigem Begriff und sinnlich-indivi dueller Vorstellung ins Auge
fassen müssen.
In der Frage nach der Realität der allgemeinen Wesen-
heiten bekennt sich der englische Lehrer zu den Grundsätzen
des sogen, gemäfsigten Realismus, der zwischen dem Nominalismus
Roscellins und des späteren Occam und dem Formalismus der
Skotisten die richtige Mitte inne zu halten sucht.
Dieser gemäfsigte Realismus nun wäre ohne festen Halt
und sicheres Fundament, wenn in materiellen Individuen, von
welchen wir die allgemeinen Wesenheiten aussagen, formelle und
individuelle Einheit in jedem Betracht zusammenfallen und selbst
nicht durch ihre beiderseitigen Grundlagen sich real unterscheiden
würden.
Dem gemäfsigten Realismus zufolge erfassen wir im allge-
meinen Begriffe das Wesen der Dinge, und ist demnach der
Inhalt des allgemeinen Begriffes in jedem Individuum verwirk-
licht, jedoch ohne die Form der Allgemeinheit, d. h. die Wesens-
identität gleichartiger Individuen ist nicht eine numerische, sondern
nur eine formelle oder spezifische, obgleich die numerisch -ver-
schiedenen Wesen durch numerisch einen Wesensbegriff gedacht
werden.
Soll nun trotz der numerischen Verschiedenheit der Wesen
doch ein und dieselbe Wesenheit in ihnen realisiei*t sein, so
mufs der Begriff ein objektiv reales Korrelat im Dinge selbst
besitzen. Dieses kann kein anderes sein als seine Form, aus
welchem Grunde denn auch die Form bei Aristoteles so häufig
als begriffliche Form bezeichnet wird, was ihm, wie wir sahen.
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31 6 Die Lehre des hl. Thomas a. s. Schule ▼om Prinzip d. Indiyidaaüon.
den Vorwurf zuzog, dafs er die begriffliche Wesenheit, die vom
Ganzen ausgesagt werde, mit der realen, individuellen Form,
die einen Teil des Ganzen bilde, verwechsle.
Nehmen wir nun an, der Grund der formalen (begrifflichen)
Einheit und der Grund der individuellen Einheit fallen zusammen,
und Form und Materie verbinden sich nicht blofs zu einer
Wesenheit, sondern seien real eins und dasselbe, so ist, scheint
es, der Nominalismus unvermeidlich. Unter jener Voraussetzung
nämlich entspricht dem allgemeinen Begriff keine Realität mehr
in den Dingen. Diese mögen durch äufsere Ähnlichkeiten den
Grund bieten, sie unter gemeinsamen Namen zusammenzufassen;
es besteht aber keine Einheit des Wesens mehr.
Allerdings: die realen Formen spezifisch-identischer Dinge
sind numerisch verschieden, aber es liegt dies nicht an den
Formen oder der Form als solcher, denn ihre numerische Ver-
schiedenheit stammt aus der Rückwirkung acciden taler Be-
stimmungen, der individualisierenden Bedingungen nämlich auf
das Wesen. Der Unterschied des Wesens vom Accidenz (der
quantitas signata) aber ist ein realer; folglich ist das Fundament
des allgemeinen Begriffs, nämlich die abgesehen von der be-
grenzten Quantität eine und dieselbe Wesenheit, ein reales.
Unser Gedanke wird in ein helleres Licht treten, wenn
wir auf die Gegensätze der skotistischen und nominalistischen
AulTassung der Uni versahen Rücksicht nehmen. Jene nimmt
eine Znsammensetzung des Allgemeinen mit dem Individuellen,
der einen im Begriffe aufgefafsten Wesenheit mit der Individual-
wesenheit (Häcceität) an. Diese leugnet nicht nur eine solche
Zusammensetzung, indem sie das Wesen als ein durchaus individu-
elles denkt, sondern läfst auch die Individualität nicht in einer
anderen Realität gründen als die formelle Einheit oder spezi-
fische Wesenheit Die richtige Mitte zwischen diesen extremen An-
sichten wird keine andere sein, als dafs einerseits die Zusammen-
setzung eines allgemeinen mit einem individuellen Elemente in
Abrede gestellt, andererseits aber doch ein realer Unterschied von
Wesenskonstitutiven behauptet wird, von denen das eine Grund
der formellen, das andere Grund der individuellen Einheit ist.
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Der gemäfsigte Realismus. 317
Im skotistischen Formalismas, den man nicht mit Unrecht
als einen Vorläufer des im Hegeischen und anderen modernen
Systemen hervorgetretenen extremen Realismus bezeichnet hat,
wird die Individualität als ein zur spezifischen Natur von aufsen
hinzutretendes Konstitutiv des konkreten 'Wesens auigefafst
Dieses setzt sich aus der spezifischen Natur und der Individualität
(der Diesheit oder Häcceität) zusammen. Die Materie erscheint
in diesem Systeme nicht als Grund der Begrenzung der Spezies
auf diese bestimmte Individualität neben anderen bestimmten
Individualitäten derselben Art, da die Spezies nach skotistischer
Ansicht in der Wirklichkeit ihre numerische Einheit behält, sondern
bildet vielmehr das objektiv-reale Äquivalent der logischen Gattung.
Aus dieser verschiedenen Autlfasung der Materie fliefsen die be-
kannten Difierenzen der thomistischen und skotistischen Lehre: die
Annahme einer gemeinsamen Materie tUr Körper- und Geisterwelt,
die Möglichkeit des Fürsichbestehens der körperlichen Materie
wenigstens durch göttliche Allmacht, indem ihr eine metaphysische
Aktualität zugeschrieben wird, endlich die Notwendigkeit eines
zu Form und Materie hinzukommenden besonderen Individuations-
prinzips, der Häcceität. Die logischen Momente des Begrifis ge-
stalten sich zu Konstitutiven realer Zusammensetzung.
Infolge seiner Auffassung der Materie erscheint dem Skotus
das Universum mit Einschlufs der Geisterwelt als eine Art von
organischem Ganzen, als ein Baum mit gemeinsamer realer Wurzel,
der materia prima. „Die Welt ist ein prächtiger Baum, dessen
Wurzel und Samengehäuse die erste Materie bildet, dessen
fiiefsende (fluentia) Blätter die Accidentien sind. Laub und Gezweig
sind die vergänglichen Geschöpfe, Blüte die vernünftige Seele
und Frucht von verwandter Natur und Vollkommenheit die eng-
lische Natur . . . Von dem Fundamente der gesamten Natur,
also der allerersten — primo prima — Materie ist wahr, dafs
im Fundamente der Natur nichts unterschieden ist. Die unmittel-
bare Wurzel aber scheidet sich in zwei Äste, den körperlichen
und geistigen. Die körperliche Schöpfung aber verzweigt sich
wieder in zwei Äste, die vergänglichen und unvergänglichen
Körper, und jene teilen sich wiederum in mannigfaltiger Weise . . .
Jahrbuch für Philoflophie etc 1. 22
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318 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schale yom Prinzip d. Individuation.
Auf diese Art erhellt, dafs die Einheit des üniyerBums die Ein-
heit im unbestimmten Prinzip oder in der ersten Materie in sich
schliefst/^ De remm princip. qu. 8. art 4. n. 30. Vgl. Werner,
der hl. Thomas yon Aquino I. 865.
In dieser Auffassung wird, wie gesagt, die Zusammensetzung
und Entwicklung des Begriffs auf die Dinge selbst übertragen,
und wenn Skotus dem Pantheismus entging, so y erdankt er
dies der glücklichen Inkonsequenz, die ihn y erhinderte, den
Grundsatz des Parallelismus der logischen und realen Ordnung
auf die transscendentalen, einfachen Begriffe des Seins, des Guten
u. s. w. anzuwenden und so alles Seiende als ein in sich
selbst sich gliederndes und entfaltendes Sein anzusehen.
In direktem Gegensatze gegen diese Parallelisierung der
logischen und realen Ordnung steht der Nominalismus, dem der
Begriff ein Gebilde des Verstandes ist, in welchem dieser eine
Mehrheit Ton ähnlichen Objekten zusammenfafst Objektives
Korrelat des Begriffs ist nach nominalistischer Ansicht nicht das
mehreren Individuen gemeinsame Wesen, sondern unmittelbar
diese Individuen selbst. Die Allgemeinheit des Begriffs ist keine
andere als die einer Kollektion, jeder Begriff ist KoUektivbegrifi.
Hieraus folgt, dafs das Individuum allein wahrhaft real sei,
und dafs es keine gemeinsame Natur gebe, der eine Realität im
wahren Sinne des Wortes zuerkannt werden dürfte. Individuelle
und formale Einheit müssen in dieser Ansicht als schlechthin
zusammenfallend gedacht werden, weshalb denn auch der konse-
quente Nominalismus die Begriffsbestimmung der Materie im
Sinne eines real von der Form verschiedenen, die individuelle
Einheit des Körpers begründenden Wesenskonstitutivs preiszu-
geben genötigt ist
Die empiristische Tendenz des Nominalismus ist wiederholt
hervorgehoben worden. Begriffe, die nur die Erscheinungen
registrieren und katalogisieren, nicht aber ins Wesen übergreifen,
sind nicht geeignet, zur Erschliefsung einer höheren übersinn-
lichen Welt zu dienen. Die Geschichte zeigt uns denn auch
den Nominalismus fast stets im Bündnis mit philosophischem
Skepticismus. Der Natur der Sache gemäfs tritt dies in der
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Der gemäfsigte Realismus. 319
Lehre von den BeweiseB für das Dasein Gottes, überhaupt in
der natürlichen Theologie am deutlichsten zu Tage. Wo das
Vertrauen in die Kraft der Vernunft erschüttert ist, werden
Glaube und Offenbarung angerufen, um in die Bresche einzu-
treten.
Führt der Nominalismus dahin, sowohl die aktuelle als poten-
zielle Realität der allgemeinen Wesenheiten zu negieren und
daher auch den Gedanken einer Kontrahierung der Form durch
die Materie oder die individuierende Funktion der letzteren von
sich zu weisen, so gilt auch umgekehrt, dafs die Verwerfung
einer solchen Beschränkung des Allgemeinen durch ein der ge-
meinsamen Natur in gewissem Sinne äufseres Prinzip, wie es die
quantitativ geschiedene Materie ist, die nominalistische Auffassung
der Allgemeinbegriffe nach sich zieht Denn ist das Allgemeine
auch nicht in dem Sinne objektiT real, dafs es durch ein nicht
schlechthin in ihm gelegenes, also teilweise accidentelles Prinzip
zum Individuum determiniert ist, so erscheint die Bildung eines
allgemeinen Begriffes im Sinne des gemäfsigten Realismus un-
möglich. Was nämlich schlechthin eins ist und in keiner Weise
aus einer Verbindung resultiert, kann auch aus einer solchen
nicht gelöst, nicht abstrahiert werden.
Um den Irrungen eines extremen Realismus zu entgehen,
sagt man, das Allgemeine sei nicht formell in den Dingen, habe
aber darin einen objektiv realen Grund, infolgedessen der Ver-
stand den allgemeinen Begriff nicht willkürlich, sondern objektiv«-
gesetzmäfsig bilde; es sei demnach ein Gedankengebilde mit
realem Fundamente — ens rationis cum fundamento in re.
Gut! Nur fragt es sich, welches dieses Fundament der
Objektivität unserer allgemeinen Begriffe sei. Wir können es
nur in der Zusammensetzung der nächsten Gegenstände unseres
Erkennens aus zwei Wesenskonstitutiven finden, die in ihrer
Verbindung beide individuell, sich dennoch so verhalten, dafs
das eine durch die Verbindung mit dem anderen kontrahiert,
individualisiert wird, und daher infolge der idealen — im mensch-
lichen Gedanken sich vollziehenden — Lösung dieser Verbindung
als ein Allgemeines sich darstellt.
82*
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320 Die I^hre d. hl. Thomas a. s. Schule vom Prinzip der Individuation.
Bestimmter noch enthüllt sieh uns dieses Fundament, wenn
wir beachten, dafs nicht die Materie überhaupt, sondern die
quantitativ begrenzte, Prinzip der Individuation sei. Denn wenn
nicht zwischen Natur und Individualität, so ist doch der Unter-
schied zwischen Natur und Quantität ein realer. Wird nun im
Übergange des im Element der (vorgestellten) Quantität weben-
den Sinnenbildes in die intellektuelle Vorstellung die Quantität
und mit ihr der aus ihr entspringende substantielle Modus der
Individuation abgestreift, so tritt die Natur in ihrer Reinheit,
d. h. die allgemeine Wesenheit hervor.
Nachdem wir gezeigt zu haben glauben, dafs die thomistische
Lehre vom Prinzip der Individuation die richtige Mitte zwischen
den falschen Extremen eines das Allgemeine hypostasierenden
Realismus und des dasselbe durchaus aufhebenden Nominalismus
einhält, wenden wir uns zu einer anderen, gelegentlich wohl
bereits berührten Frage, nämlich zu dem Verhältnis des körper-
lichen und geistigen Seins.
Wenn Leibnitz für geistige und körperliche Wesen das-
selbe Prinzip der Individuation aufstellt, so beruht es sicherlich
nicht auf einem blofsen Spiel des Zufalls, das den späteren Ur-
heber der Monadenlehre zu der Annahme führte, jedes Wesen
sei unmittelbar durch seine Natur individuiert Dem englischen
Lehrer zufolge gilt diese Individuationsweise nur von immate-
riellen Wesen, von reinen Formen. Diese bilden ihm aber eben-
soviele Arten als Individuen.
Der Artunterschied fallt in ihnen mit dem individuellen, die
formale mit der individuellen Einheit in jedem Betracht zusammen.
Auf die Stufe dieser Wesen nun werden die Elemente der Eörper-
welt, die Monaden, emporgehoben, und damit der wesentliche
(generische) Unterschied des Geistigen vom Körperlichen preis-
gegeben.
Leibnitz hätte folgerichtig behaupten müssen, dafs jede
Monade, wie ein Individuum, so auch ein Wesen eigener Art
repräsentiere. Er bezeichnet seine Monaden ausdrücklich als
Formen, Entelechien, die Zusammensetzung aber, die er in ihnen
annimmt, ist nicht eine reale, das Stoffliche an ihnen nicht ein
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Der Unterschied des geisti^i^n und körperlichen Seins. 321
Grnnd realer, kontinuierlioher Ausdehnang im Baume und 8ub-
Btantieller Yeränderiicfakeit, BOBdem Grund der Endlichkeit und
Beschränktheit der Monade. In jedem Falle ist diese Materie
nicht die individualisierende des hl. Thomas, und eher geeignet,
einen generischen Unterschied als einen blofs individuellen unter
den Monaden zu begründen. [S. .Th. I. qu. 50. art 4. Si tamen
Angeli haberent materiam nee sie possent esse plures Angeli
ejusdem speciei. Sic enim oporteret, quod principium distinctionis
unius ab alio esset materia, non quidem secundum quantitatem,
cum sint incorporei, sed secundum diversitatem potentiarum,
quae quidem diversitas materiae causat diversitatem non solum
speciei sed generis.]
Wir dürfen uns deshalb bezüglich der Übereinstimmung der
Leibnitzschen Annahme von Entelechien mit der aristotelischen
Theorie von Materie und Form keiner Täuschung hingeben. Die
Leibnitzsche Entelechie ist komplete Substanz, nicht konstitutives
Prinzip einer solchen. Der aus solchen Entelechien zusammen-
gesetzte Körper aber ist ein blofses Phänomen. Phänomenal sind
Ausdehnung, Baum, Bewegung, das räumliche Nebeneinander
und zeitliche Nacheinander. Das thomistische Individuations-
prinzip des hie et nunc ist hiermit eliminiert Der formbestimmte
und in diesem Sinne gedankendurchleuchtete, aber immerhin
körperlich-materielle Teil des Universums ist in eine Welt von
reinen Geistern aufgelöst, die in der verworrenen Erkenntnis-
weise der Sinne als Körper erscheinen. [Die Atomistik bleibt
bei der Erscheinung stehen, die Monadologie aber setzt, indem
sie sich von der Erscheinung zum Wesen zu erheben sucht, an
die Stelle des den Sinnen erscheinenden ein völlig verschiedenes
Weltbild. Wahr kann nur jene Theorie sein, die das sinnliche
Weltbild nicht zerstört, sondern aus seinem intelligiblen Grunde
erklärt.]
Die von Leibnitz [Opp. phil. p. 1 sequ.] für seine Ansicht vom
Prinzip der Individuation vorgebrachte Begründung ist keine
spezifische, sondern lehnt sich an Suarez [Vgl. Suarez, Disputat
Metaphysic. V.] und die Nominalisten an. Wir können darüber
hinweggehen, da wir die Widerlegung der Gründe des ersteren
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322 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip der Individuation.
später kennen lernen werden, die G-rnnde der letzteren aber zn
innig nüt ihrem Standpunkt in der üniversalienfrage zuBammen-
hängen, um nach dem hierüber Gesagten eine besondere Wür-
digang zu erfordern.
Wenn wir den Gedanken insinuieren, dafs die Anerkennung
der wahren, nicht blofs phänoipenalen Körperlichkeit der Dinge
die thomistische Lehre Ton der individualisierenden körperlichen
Materie erfordere, so dürfte hiergegen gerade aus dem Umstände
die Berechtigung zu einem entschiedenen Widerspruche abge-
leitet werden, dafs dieselbe Ansicht von der Individuation so
yerschiedenen Standpunkten, wie sie durch die Monadologie,
den Nominalismus, die Metaphysik des Suarez bezeichnet sind,
gemeinsam ist Oder leugnet Suarez den wesentlichen — gene-
rischen — Unterschied der Körper von den Geistern? Behaupten
denselben nicht vielmehr auch die Nominalisten aufs entschie-
denste? Wir gedenken nicht, jenes zu behaupten, oder dieses
in Abrede zu stellen. Dessenungeachtet glauben wir auf jenem
Zusammenhang bestehen zu müssen. Die Konsequenzen einer
falschen Lehre werden eben nicht immer sofort durchschaut und
gezogen. Es bedarf hierzu nicht selten einer langwierigen Ent-
wicklung. So gelangten denn die Abweichungen von dem nach
einem |streng6n Gesetze verlaufenden Linienzuge der aristote-
lischen Erkenntnistheorie und Ontotogie nur allmählich dahin,
ihre vollen Konsequenzen zu offenbaren. Auf den idealistischen
Keim in Suarez' Theorie vom Ursprung der Ideen wurde bereits
die Aufmerksamkeit gelenkt. Im Zusammenhange damit steht,
wie wir weiter sahen, die Annahme einer direkten Erkenntnis
des Einzelnen durch den Verstand. In diesem Punkte berührt
sich Suarez mit den Nominalisten, denen er jedoch in der Theorie
der Allgemeinbegriffe nicht mehr folgt. Immerhin zeigt sich in
jener Behauptung der Intelligibilität des Einzelnen das Suarez
und den Nominalisten mit Leibnitz gemeinsame Element: der
idealistische Zug, der die Grenzen von Verstand und Sinnlich-
keit verwischt und damit die subjektiven Fundamente für die
Unterscheidung zweier Welten, einer geistigen und körperlichen,
in Frage stellt Schwankend erscheint das Verhältnis bei Suatez,
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Der Unterschied des geistigen und körperlichen Seins. 323
indem VorstelluDg und Begriff noch als weBentlich verschieden
genommen werden, obgleich der Verstand beide umfafst, und
daher die intellektuelle Abstraktion nicht mehr in ihrem reinen
Begriff aufrecht erhalten wird. Entschiedener ist die nomina-
listische Stellung, sofern Begriff und Vorstellung als wesentlich
eins betrachtet werden, und dieser einen Perzeption kein anderes
für den natürlichen Menschen erkennbares Sein, als das sinnlich
individuelle gegenübersteht Der Nominalismus ist demnach
wesentlich empiristisch nach der einen Seite, skeptisch und
idealistisch nach der anderen. Die Abstraktion kann sich auf
nominalistischem Standpunkt nur mehr auf die Vorstellung be-
ziehen, deren aktuelle Momente in wechselseitiger Trennung auf-
gefafst werden. Wird der sinnliche Charakter der Vorstellung
betont, so schränkt sich die Erkenntnis auf das Körperliche ein;
zur Erfassung von Geistwesen aber mufs jede Vorstellung als
ungeeignet erscheinen; denn selbst Begriffe, in denen nach unserer
Ansicht durchaus keine Beziehung auf den Stoff enthalten ist,
wie die rein metaphysischen Begriffe des Seins, der Substanz,
des Lebens u. s. w. müssen dem Nominalisten als Termini gelten,
denen die oder eine Gesamtheit durch Erfahrung gegebener
Dinge entspricht.
Sofern dagegen auf die Vorstellung das Gewicht gelegt
wird, tritt für den nominalistischen Standpunkt, dem die Vor-
stellung das allein direkt Erkannte ist, die Wirklichkeit in
idealistische Feme zurück.
Angesichts dieser durch den Nominalismus eröffneten Per-
spektive begreift es sich, warum derselbe von der sogenannten
Neuscholastik des sechzehnten und der folgenden Jahrhunderte so
entschieden verurteilt wurde und in der katholischen Theologie,
deren Fundamente er untergräbt, nicht zur Herrschaft gelangen
konnte.
Unter den neueren Schriftstellern, die nicht allein in der
Bestimmung des Individuationsprinzips, sondern auch in der
monadologisch'vergeistigenden Auffassung der Xörperwelt den
Fufsstapfen des berühmten Urhebers der Monadologie folgen, ist
der von uns schon öfter erwähnte P. Palmieri zu nennen.
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324 Die Lehre d-. hl. Thomas u. 8. Schule vom Prinzip der Indinduation.
Palmieri behauptet zwar den wesentliohen Unterschied yon
Geist and Körper; denn die körperlichen Monaden sollen nicht
Erkenntnis- nnd Willenskräfte, sondern nar Anziehnngs- nnd
Abstofsungskräfte besitzen. Gleichwohl scheint uns Leibnitz einen
tieferen spekulativen Blick zu bewähren, wenn er seinen Mo-
naden ohne Ausnahme Vorstellungen und Begehrungen zugesteht.
Denn immaterielle Substanzen sind, wie der hl. Thomas mit aller
Bestimmtheit lehrt, notwendig geistige, d. h. erkennende und
wollende Wesen. Palmieris Monaden aber sind vollständige
Substanzen und hören auch in der Verbindung mit einander nicht
auf, es zu sein. Sie sind ferner einfach und immateriell, denn
es wird von ihnen jede Zusammensetzung sowohl aus integralen
Teilen, als auch aus Form und Materie negiert Palmieri ver-
wirft ausdrücklich den realen Unterschied von Materie und Form
und sieht hierin das auszeichnende Merkmal seines naturphilo-
sophischen Standpunktes im Gegensatze zum scholastischen.
[Gosmologia p. 132. Thes. 19 et sequentes.]
Das scholastische System beruht nach Palmieris Ansicht,
wie uns ein begeisterter Schüler des vormaligen römischen Pro-
fessors versichert [Zeitschritt: „Der Katholik", Jahrgang 1876,
zweite Hälfte, S. 24], auf einer Verwechslung der Begriffe von
Substanz und Natur. Die Naturen ändern sich. Dabei ändert
sich freilich auch irgendwie die Substanz, allein nicht so, dafs
ein ganz neues Element entsteht, sondern so, dafs die neue Sub*
stanz entweder aus anderen, bereits existierenden Substanzen
zusammengesetzt, oder von den Elementen, mit welchen sie früher
vereinigt war, getrennt wird. [A. a. 0. S. 25.] Es ist das die
mechanische Theorie des Werdens, in welcher mifsbräuchlich
Aggregate von Wesen als „Substanzen" und „Essenzen" be-
zeichnet werden, da sie doch nur accidentelle Verbindungen dar-
steilen, denen nur in einem weiteren und uneigentlichen Sinne
Wesenheit zugeschrieben werden kann, in welchem man etwa
auch vom Wesen einer Uhr, einer Fabrik u. s. w. spricht. Wer
begreift nicht, welche Rückwirkung diese mechanische Theorie
des Werdens auf die Auffassung der logischen und metaphysischen
Bedeutung des Begriffs ausüben müsse, und wie inkonsequent es
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Der Unterschied dee geistigen und körperlichen Seins. 325
sei, wenn der Begriff nooh als elDheitlicfae WeBenevorstellung
gefafst werden will, statt ihn nominalistisch in die Kollektion
der erfahrung^mäTsig yerbundenen Merkmale aufzulösen?
Die Elemente der Körper also^ versichert man uns, seien
Substanzen und die Körper somit Aggregate von Substanzen,
und zwar von einfachen Substanzen. Der angeführte Gewährs-
mann teilt uns folgenden Wortlaut der 23. These mit: „In dieser
Frage scheint Folgendes sicher: erstens, dafs die letzten Elemente
der Körper Substanzen sind, und zweitens, dafs es höchst wahr-
scheinlich ist, dafs die einfachen Sein (entia simplicia), welche
die Grundelemente des Ausgedehnten sind, vermöge der ihnen
innewohnenden Kräfte, auch die Grundelemente der körperlichen
Naturen sind." [A. a. 0. S. 27.]
Einfache immaterielle Substanzen aber sind, wie wir be-
merkten, nach thomistischer Lehre, erkennende und wollende
Wesen, Greister. „Die Immaterialität eines Dinges ist der Grund
davon, dafs es erkennend (res cognoscitiva) ist und der Weise
der Immaterialität entspricht die Weise der Erkenntnis. Die
Form nämlich ist durch die Materie beschränkt; je mehr dem-
nach eine Form in die Materie versenkt ist, desto weiter ist sie
davon entfernt, zu erkennen. Daher heifst es in den Büchern
von der Seele, dafs die Pflanzen nicht erkennen, wegen ihrer
Materialität. Der Sinn aber erkennt, weil er Formen (species)
ohne Materie aufnimmt, und in höherem Mafse der Intellekt,
weil er getrennt vom Stoffe und unvermischt ist." [S. Theol. I.
qu. 14. art. 1. c]
Wenn Palmieri nun gleichwohl den wesentlichen Unterschied
körperlicher Monaden von reinen Geistern aufrecht erhalten will,
und deshalb den einfachen Sein eine innerliche, immanente oder
Lebensthätigkeit abspricht [„Der Katholik", a. a. 0. S. 27], so
ersehen wir hierin eine dem Systeme durch die Thatsachen ab-
genötigte Konzession, mit der die spekulative Voraussetzung ein*
facher, immaterieller Substanzen im Widerspruche steht.
Vom Standpunkte der philosophischen Spekulation müssen
wir deshalb die konsequenter durchgebildeten monadologischen
Systeme Leibnitz und Herbarts höher stellen, als das System
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326 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip der Individuation.
Palmieris, der sioh den Genannten in dem Mafse annähert, in
welchem er sich von der Lehre des hL Thomas entfernt, von
deren Tiefe und geschlossenen Einheit der Gnindanschannngen
Palmieri auch nicht die leiseste Ahnung zu besitzen scheint.
Die generische Verschiedenheit der beiden grofsen Sphären
des Seins fährt zu einer verschiedenen Bestimmung des Indivi-
duationsprinzips. Die rein geistige Sphäre ist das Gebiet der
reinen Formen. Hier stellt jedes Wesen einen besonderen Ge-
danken, gewissermafsen einen eigenen Typus dar, ist eine Art
für sich, ein eigenartiges Wesen. Dagegen in der Sphäre des
körperlichen Seins erweist sich die Materie als ein Grund der
Zerstreuung und des yom idealen Gesichtspunkte indifferenten
Nebeneinanderseins gleichartiger Individuen.
In Anbetracht dieser Verschiedenheit sind nicht die mate-
riellen Individuen, sondern die letzten materiellen Arten, welche
die äufserste Grenze der Intelligibilität bilden, mit den reinen,
geistigen Formen in Vergleich zu bringen. Dafs wir deshalb
nicht Gefahr laufen, die reinen Geister zu blofsen „Abstraktionen'^
zu machen, glauben wir bereits hinreichend gegen Palmieri be-
wiesen zu haben.
Gleichwohl könnte man in der Art, wie der hl. Thomas
aus der Immaterialität der reinen Geister auf die Eigenartigkeit
ihrer Naturen schliefst, versucht sein, eine Lücke zu finden.
Sollte es sich denn nicht denken lassen, dafs es aufser der
Materie andere Gründe gebe, die einen individuellen Unterschied
innerhalb der Einheit der Art bewirken?
Der englische Lehrer selbst scheint diesen Mangel seiner
Beweisführung sogar ausdrücklich anzuerkennen, wenn er in der
Schrift von der Einheit des Intellektes gegen die Averroisten
bemerkt, dafs, gesetzt in der intellektuellen Natur liege kein
Grund individueller Vervielfältigung, eine solche doch durch
übernatürliche Ursachen bewirkt werden könne. In der That
liefs sich durch diesen Ausspruch der Kommentator der philoso-
phischen Summe [Ferrariensis in Summ. c. Gentiles l. 2. c. 93]
bewegen, die anderweitigen Texte, in welchen von der Unmög-
lichkeit einer numerischen Vielheit gleichartiger Wesen im
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Der UDterschied des geistigen und körperlichen Seins. 327
Geisterreiche die Rede ist, in einem abgeschwächten Sinne zu
erklären.
Nach unserem Dafürhalten lauten indes jene Stellen, in
welchen Thomas ex professo die vorliegende Frage erörtert, zu
bestimmt, als dafs an eine blofse Wahrscheinlichkeit oder an ein
nnr thatsächliches Verhältnis gedacht werden könnte. Was aber
die aus der antiaverroistischen Schrift angezogenen Worte be-
trifit, 80 macht Johannes vom hl. Thomas mit Recht aufmerksam,
dafs es sich hier ganz im allgemeinen um die Möglichkeit nume-
rischer Vervielfältigung der intellektuellen Natur, nicht aber
speziell um die getrennten Naturen, die reinen Geister handle.
[Job. a. S. Thoma, Gurs. theologicus t IV. De comparatione
Angelorum ad corpora (p. 586. Ed. Vives)]. Hierzu kommt,
dafs die gegnerische Behauptung, es könne, was in der Natur
einen zureichenden Grund nicht habe, auch nicht durch über-
natürliche Ursachen bewirkt werden, ebenso durch ihre Allge-
meinheit und Unbestimmtheit den berechtigten Widerspruch des
hl. Lehrers herausfordern mufste.
In der That läfst sich unschwer zeigen, dafs ein von der
Materie verschiedener Grund numerischer Vervielfältigung nicht
gedacht werden könne. Wenn die Skotisten auf die Häccei-
täten hinweisen, so liegt, wie derselbe Johannes v, hl. Thomas
mit Recht behauptet, hierin eine petitio principii, indem die An-
nahme von Häcceitäten einfach besagt, Gott könne in der Geister-
welt verschiedene Individuen derselben Art hervorbringen, ohne
dafs sie irgend einen Grund dieser numerischen Verschiedenheit
bezeichnet. Wenn andere die Verschiedenheit der Accidentien
oder der Natur, sofern sie aufnehmendes Prinzip, Quasimaterie
solcher Accidentien sei, zu demselben Behufe in Anspruch nehmen,
80 ist gegen diese daran zu erinnern, dafs die Individualität eine
Scheidung der Substanzen involviert, die den individuellen Acci-
dentien vorangehen mufs, also nicht durch sie konstituiert werden
kann. Die Accidentien bewirken die individuellen Unterschiede
und die numerische Vervielfältigung nicht, ohne dafs ein Material-
prinzip hinzugefügt wird, das substantiell geteilt werden kann.
Dann aber bezeichnen die verschiedenen Accidentien oder
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328 Die Lehre des hl. Thomas a. s. Schale vom Prinzip derlndividuation.
Eigentümlichkeiten die Verschiedenheit der Indiyidaen, ohne Bie
zu konstituieren. Daher ist nach Thomas nicht die Quantität
Prinzip der Indiyiduation/ sondern die materia quantitate
signata.
Wiederum andere bedienen sich des Theologumenons, daTe
die Natur des reinen Geistes, wie die des Menschen, für yer-
schiedene Subsistenzen und Existenzen, also auch für yerschiedene
Indiyiduationen empfanglich sei. Es ist dies mit Beziehung aaf
das Geheimnis der Inkarnation gesagt, das uns eine menschliche
Natur nicht in eigener, sondern in göttlicher Subsistenz snb*
sistierend zeigt. Hierauf ist zu erwidern, dafs eine solche Ver-
schiedenheit der Subsistenz die Individualität der Natur voraus-
setzt, also nicht geeignet ist, als Erklärungsprinzip individueller
Vervielfältigung einer Natur zu dienen.
Es läfst sich, also scheint es, ein der Wesenheit oder Natur
äufseres Prinzip nicht angeben, das die Forderung, eine blofs
numerische Verschiedenheit reiner Geistnaturen zu bewirken, er-
füllen könnte. Ist damit der Beweis vollständig erbracht?
Könnte es nicht doch einen uns unbekannten in den Schätzen gött-
lichen Wissens und göttlicher Macht yerborgenen Individuations-
grund geben? Diesem Zweifel gegenüber läfst sich sagen, dafs
der verlangte vollständige Beweis in der That geführt werden
könne. Der Grund der Individuation kann nämlich nur in der
Substanz gelegen sein. Wenn demnach ein Wesen nicht durch
seine Form individuiert ist, so bleibt nur das andere Wesens-
konstitutiv, die Materie als Prinzip numerischer Vervielfältigung.
Kann denn aber nicht eine Wesenheit aus mehreren Konstitutiven
resultieren? Keineswegs, denn nur Materie und Form, die sich
als Potenz und Akt in der Seinsgattung der Substanz yerhalten,
schliefsen sich zur Einheit der Substanz und des Wesens zu-
sammen. [Joh. a. Sancto Thoma 1. c. p. 594 sequ.]
Wie verhält es sich endlich mit der Indiyidualität jenes
Seins, das der menschliche Gedanke, den Gipfel metaphysischer
Forschung erklimmend, berührt, des unendlichen, göttlichen Seins?
Die Antwort auf diese Frage liegt in derselben Richtung,
in welcher wir den Unterschied geistiger und körperlicher
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Die Individualität des göttlichen Seins. 329
IndividnatioD gefunden haben. Wenn reine Geister unmittelbar
als konkrete Formen individuiert und wegen ihrer Immaterialität
numeriBcher Multiplikation unfähig, also in ihrer Art einzig
sind, so ist das göttliche Sein als reines aktualstes Sein, als das,
mit dem englischen Lehrer zu reden, absolut Formale, unmittelbar
und durch sich selbst schlechthin eins, (an numerisch verschie-
dene Naturen) unmitteilbar, individuell.
Weit davon entfernt, dafs die thomistische Lehre von der
individualisierenden Materie die Individualität des göttlichen Seins
gefährde und dem Monismus Vorschub leiste, wie man ihr in
unbegreiflichem Mifsverständnis vorgeworfen, ist vielmehr keine
Lehre in dem Mafse geeignet, die Individualität der göttlichen
Natur in das hellste Licht treten zu lassen, als die des heil.
Thomas. Dies wird sich uns zeigen, wenn wir auf das Verhältnis
reflektieren, in welchem der Monismus, oder, da diese Bezeich-
nung heutzutage ihre Bestimmtheit eingebtifst hat, der Pantheis-
mus zur Frage nach der individuellen Existenz der Dinge steht
Es kann kein schärferer Gegensatz gedacht werden, als die
thomistische Lehre von der Individuation und die monistische
oder pantheistische. Nach Thomas ist Gott das individualste,
unmitteilbarste, über jedem anderen erhabene Sein, und er ist
dies als der reinste Akt, als das wirklichste, vollkommenste
Sein, dem keinerlei Potenzialität, Unbestimmtheit oder Veränder-
lichkeit beigemischt ist Ihm steht als das unvollkommenste der
Stofi* gegenüber, der aus sich selbst blofse Möglichkeit, nur in
Verbindung mit einer bestimmenden und insofern verwirklichen-
den Form zu existieren vermag und aus diesem Grunde auch
nur in Verbindung mit einer solchen Form Gegenstand schöpferisch
hervorbringender göttlicher Thätigkeit sein kann. Daher vom
Stofie gesagt wird, er sei vielmehr miterschaffen — concreata -—
als erschaffen — creata.
In dem aus Form und Materie zusammengesetzten Sein aber
ist die Form durch die Verbindung mit der Materie mehr oder
minder den Gesetzen des Raumes und der Zeit verfallen und
daher auch in jener unvollkommenen Weise individuiert, welche
die Existenz gleichartiger, nur durch das hie et nunc sich unter-
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330 Die Ijehre des hl. Thomas u. s. Schule yom Priazip der Individuation.
scheidender, daher nach ihren individaellen Unterschieden dem
menschlichen Geiste nicht erkennbarer Formen gestattet. Die
Indi^iduation ist deshalb eine nm so nnyollkommenerey je mehr
eine Form in den Stoff versenkt ist, während dagegen der reine
Geist in einer viel vollkommeneren, das unendliche, göttliche Wesen
aber in der absolut vollkommensten Weise individuell ist, so
dafs es nicht nur, wie ein Individuum der Geisterwelt, Wesen
derselben Art, sondern auch Wesen derselben Gattung neben
sich ausschliefst und in absoluter Einzigkeit und Unmitteilbarkeit
als das kausal und repräsentativ alles Seiende umfassende und
überragende Sein sich darstellt
Auf dem Standpunkte des hl. Thomas, der kein anderer als
der des vernünftigen und christlichen Theismus ist, gilt demnach
der Grundsatz: Je vollkommener das Sein, desto vollkommener
die Individualität desselben.
Anders verhält es sich mit dem pantheistischen Monismus.
Indem dieser das schlechtbin Seiende, virtuell und eminent alles
Sein in sich Befassende und daher einer weitem Bestimmung
Unfähige mit dem von jedem Sein, auch dem unvollkommensten,
prädizierbaren, also unbestimmtesten Ens commune verwechselnd,
die Dinge zu Gott in das Verhältnis des Besonderen zum All-
gemeinen setzt: sieht er sich vor das unlösbare Problem gestellt,
zu erklären, wie aus der einen und einzigen Substanz die Viel-
heit der Wesen sich ablöse; und in den Widerspruch hinein-
getrieben, dafs jene Dinge, in welchen die Individuation die un-
vollkommenste ist, die sich also nach monistischen Grundsätzen
am wenigsten von der allgemeinen Substanz abgelöst haben, ihr
also am nächsten stehen, wovon man folglich erwarten sollte,
sie stünden auf der Stufenleiter der Wesen, weil dem Höchsten
am nächsten, auch selbst am höchsten, dafs diese, sage ich, die
unvollkommensten Wesen seien; während thatsächlich jene, in
denen die Individuation die vollkommenste ist, die sich also
von dem schlechthin Seienden, der Quelle des Seins am meisten
abgelöst und folglich ihr am fernsten stehen, unter allen übrigen
Wesen die vollkommensten sind, da man doch erwarten mufste,
dafs sie die unvollkommensten seien.
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Individuation und Monismus. 331
Gerade der föreichseiende im Denken und Wollen als
lebendigen Mittelpunkt reichster Thätigkeit sich erfassende und
besitzende Geist müfste auf pantheistischem Standpunkte als das
unTollkommenste aller Wesen, als das am wenigsteil berechtigte
und geradezu als ein nichtseinsollendes betrachtet werden.
Nicht in solcher Ablösung des Endlichen vom Unendlichen, wie
falschlich der Monismus annimmt, ist der Grund der Individuation
zu suchen. Vielmehr ist derselbe verschieden nach der Ver-
schiedenheit des individuierten Seins selbst.
Bei Gott liegt er in der Identität des Seins mit dem
Wesen; denn das Wesen, das durch sich selbst Sein ist, kann
auch nur ein einziges, jede Möglichkeit einer Vervielfältigung
aussohliefsendes sein.
Nach dem Bilde und der Ähnlichkeit des schlechthin Seien*
den aber sind durch die schöpferische Thätigkeit desselben im-
materielle Wesenheiten möglich und wirklich, die, jede in sich
eins und unmitteilbar, von allen anderen derselben Gattung ver-
schieden sind, reine Formen und als solche individuiert, also
nicht blofs numerisch, sondern formal von einander sich unter-
scheidend.
Aufserdem aber sind im göttlichen Sein Ähnlichkeiten be-
gründet und im göttlichen Verstände Ideen enthalten, die nur
im Stoffe Verwirklichung erlangen können, wie die Ideen von
Pflanzen, Tieren u. dgl., aus diesem Grunde aber einer nume-
rischen Vervielfältigung fähig sind: so dafs sie nicht als Wesen,
Naturen, Formen, wie die Intelligenzen unmittelbar durch sich
selbst, sondern durch ihre Aufnahme im Stoff, sofern dieser sie
auf das hie et nunc beschränkt, ünmitteilbarkeit und Individua-
lität besitzen.
Soweit nun die Individuation ihren Grund im Stoffe hat,
begreift es sich, dafs sie in dem Grade unvollkommener sein
müsse, in welchem eine Form der Potenzialität und Unvoll-
kommenheit des Stoffes näher steht.
Die Natur der Sache brachte es mit sich, dafs die Versuche,
die Thatsache der Individuation vom monistischen Standpunkte
zu erklären, insgesamt scheitern mufsten. In der neuesten Zeit
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332 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individuation.
ist ein solcher von dem bekannten Schriftsteller Eduard Ton
Hartmann gemacht worden. Wenn wir denselben berücksich-
tigen, 80 geschieht dies nicht, weil wir etwa der „Philosophie
des ünbewufsten" eine höhere innere Bedentnng beimessen, son-
dern wegen der bemerkenswerten Zugeständnisse, die wir kon-
statieren und registrieren zu sollen glauben.
Von vornherein wird in dieser Philosophie auf die Erklärung
der Individualität der Wesen (Substanzen) verzichtet. Denn was
dem gewöhnlichen Bewufstsein als eine Vielheit von Wesen gilt,
erscheint auf dem angeblich höheren Standpunkte des Monismus
als Täuschung. In der Frage nach dem Grunde der Individuation
könne es sich also nur um die Modi oder Erscheinungen des einen
Seins, nicht aber um Wesen handeln. Aber selbst die Indivi-
dualität der Modi sei bisher, versichert uns v. Hartmann, von
keinem Anhänger des Monismus erklärt oder abgeleitet worden.
Dies gelte von Spinoza wie von Hegel. Das System des letzteren
gebe sich in dieser Frage die schlimmsten Blöfsen. Er könne
schon die Vielheit als reale Erscheinung nicht erklären; denn
in der dialektischen Selbstentfaltung des Begriffes habe zwar
der Begriff der Vielheit, nicht aber die reale Vielheit Raum.
„Die reale Vielheit ist mehr als der Begriff der Vielheit,
es ist eine Summe von Individuen, deren keines dem anderen
gleicht, deren Jedes ein Dieses, ein Namenloses, Einziges ist
(gerade so wie ich ein Namenloser, Einziger bin), deren Idee
durch keinen Begriff zu erreichen ist, sondern nur durch An-
schauung.'' [Eduard v. Hartmann, Philosophie des Unbewufsten,
2. Aufl. S. 538 f.]
Der subjektive Idealismus aber (Kant, Fichte, Schopenhauer)
glaube genug gethan zu haben, wenn er die Vielheit in der Welt
als subjektiven Schein erklärt, entstehend durch die Formen
der subjektiven Anschauung, Baum und Zeit, unbekümmert darum,
dafs erstens die Schwierigkeit nur aus dem objektiven ins sub-
jektive Gebiet hinübergespielt ist, hier aber gerade so ungelöst
fortbesteht, als sie dort bestand, und dafs zweitens die Frage
unbeantwortet bleibt, wie denn dieses in seiner Art einzige, von
jedem ihm ähnlichen sich unterscheidende anschauende Individuum,
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Individuation und Monismus. 333
nach monistischen Prinzipien möglich sei, da entweder, wenn es
als eines unter vielen gefafst wird, die unverständliche reale
Vielheit in konsequenter Weise wieder eingeführt wird, oder
aber im anderen Ealle bei Annahme des Solipsismus wiederum
die Beschränktheit dieses selbsteinzigen anschauenden Subjekts
unbegreiflich bleibt. [A. a. 0. 8. 537.J
Dafs dieses Urteil viel des Zutreffenden enthält, kann nicht
bestritten werden, weshalb wir uns auch der Pflicht einer be-
sonderen Widerlegung der genannten Ansichten entbunden glauben.
Dagegen dürfte als ein für uns besonders wertvolles Zugeständnis
hervorgehaben werden, dafs alle diese Systeme in Eaum und
Zeit, oder, wie es Hegel so prägnant ausdrückt [S. oben S. 58 ff.],
in dem Hier und Jetzt die individualisierenden Bedingungen er-
blicken. Es liegt hierin ein Fingerzeig in der Richtung der
thomistischen Lehre; denn das reale Aufsereinander der Dinge
im Räume, dem die Bewegung und die Zeit folgen, kann in
Wahrheit. nur aus der Materie abgeleitet werden, so dafs die
individualisierenden Hier und Jetzt entschieden auf die materia
quantitate signata des hl. Thomas hinweisen. Sehen wir nun
aber zu, ob es der Philosophie des Unbewufsten besser als ihren
Vorgängerinnen gelungen, die Frage zu beantworten: Wie ist
Individuation nach monistischen Prinzipien möglich?
Wir erhalten hierauf folgende Antwort: „Die Individuen
sind objektiv gesetzte Erscheinungen, es sind gewollte Gedanken
des Unbewufsten oder bestimmte Willensakte desselben : die Ein-
heit des Wesens bleibt unberührt durch die Vielheit der Indi-
viduen, welche nur Thätigkeiten oder Kombinationen von gewissen
Thätigkeiten des einen Wesens sind." [Hartmann a. a. 0. S. 539.]
Um diese „allgemein gehaltene" Antwort „plausibel" zu
machen, geht unser Autor auf das Einzelne ein und sucht zu-
nächst den ersten Teil seiner Behauptung von den Atomen, in
denen er „Thätigkeiten des alleinen Wesens" siebt, zu erhärten.
Auf dem gegenwärtigen Standpunkte der naturwissenschall-
lichen Hypothesen sollen zwei Arten von Individuen niedrigster
Ordnung zu unterscheiden sein, nämlich Anziehungs- und Ab-
stofsungskräfte , deren Wirkungsrichtungen nur räumlich durch
Jahrbnch für Philosophie etc. I. 83
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334 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individuation.
AnBchanung unterscheidbar und versohieden seien. Die An-
schauung des Unbewufsten unterscheide sie ohne Begriff in ihren
räumlichen Beziehungen; denn das ünbewufste denkt nicht dis-
kursiv, sondern intuitiv, es denkt die Begriffe nur, insofern sie
in der Intuition als integrierende, aber unausgeschiedene Be-
standteile enthalten sind. [A. a. 0. S. 540.]
Daher könne es auch nicht auffallen, wenn unter den In-
tuitionen des Unbewufsten auch solche seien, aus denen sich für
das diskursive Denken keine Begriffe ausscheiden lassen. Es redu-
ziere sich also die Einzigkeit der Individuen auf die Verschieden-
heit und Einzigkeit der Vorstellungen, welche die Willensakte,
in denen sie bestehen, als Inhalt ertiillen, so dafs je einem Indivi-
duum je ein einfacher Willensakt entspreche. [A. a. 0. 8. 541.]
Wenn wir in der Darstellung dieser monistischen Theorie
von der Individuation hier Halt machen, so springen sofort eine
Reihe der gröbsten Unzukömmlichkeiten in die Augen. Auf den
Widerspruch gegen die Thatsachen der Erfahrung, nach welchen
nicht nur die Erscheinungen, sondern auch die Wesen verviel-
fältigt sind, wurde bereits aufmerksam gemacht. Er ist dem
Monismus in jeder Form wesentlich. Die Art und Weise aber,
wie die Materie, die als Prinzip oder, wie es weiterhin heifst,
als Medium der Individuation anerkannt wird, mit dem Willen
identifiziert wird, verdient eine etwas nähere Betrachtung.
Im Abschnitt „von den letzten Prinzipien" bringt unser
„Philosoph'' seinen ursprünglichen Willen in Parallele mit der
platonischen Materie, indem er einfach „das intensive Prinzip
der absoluten Veränderung" (Piatons Materie) in den Willen
„übersetzt". (A. a. 0. S. 685.)
Infolge dieser Eskamotage ist es ihm denn freilich ein
Leichtes, die Attribute der Materie auf den Willen zu übertragen
und diesen zum Medium der unvollkommensten Weise der Indi-
viduierung und zum Grunde der mangelnden Intelligibilität des
in das Hier und Jetzt herabgezogenen Seins zu erniedrigen.
Der Philosoph des Unbewufsten bedauert es, dafs die Ma-
terie nie als eine Kombination von Willensakten des Unbewufsten
verstanden worden sei, so dafs man das einzige Beispiel, wo
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Individuation und Monismus. 335
das YerständniB der Individuation 80 einfach sei, nicht zur Hand
gehabt habe. Jedoch ist dieses „einfache Beispiel" ein Knäuel
der handgreiflichsten Widersprüche und unverständlichsten Be-
hauptungen. Sind denn Eräfterichtungen Willensakte ? Setzen
nicht Richtungen den realen Raum, also reale Ausdehnung,
also real ausgedehnte, mit räumlich wirkenden Kräften begabte
Wesen^ also Individuen voraus?
Wille und Materie sollen darin übereinkommen, dafs sie
ihrer Natur nach unbewufst, eine begrifflich unfafsbare Schranke
des Realen bilden. Gesetzt dem wäre so, so könnten sie doch
ohne augenfälligen Faralogismus nicht identifiziert werden. In
Wahrheit aber ist der Wille nicht das „ewig Unbewufste", wie
es in einem gewissen Sinne und für menschliches Erkennen
allerdings die Materie ist, sondern wie alles Immaterielle durch
sieb selbst erkennbar und zwar wegen und in jener unzertrenn-
lichen Vereinigung, die ihn mit dem Intellekte verbindet, t^gl.
Sanseverinos Dynamilogia p. 95.]
Der Grundirrtum der Schopenhauer-Hartmannschen Philo-
sophie besteht eben darin, dafs sie jegliche Art von Streben,
ja selbst die der Form begrifflich vorangehende Empfänglichkeit
und Fotenzialität der Materie als ein Wollen, welches doch Er-
kenntnis, Vorstellung und zwar intellektuelle zur wesentlichen
Voraussetzung hat, auffafst und bezeichnet. Es gibt folglich
so wenig ein unbewufstes Wollen als es ein unbewufstes Er-
kennen gibt.
In der Hartmannschen Darstellung finden sich die Züge
der Wahrheit in seltsamer Entstellung. Denn die Behauptung,
dafs das individuierende Prinzip oder Medium materieller Natur
sei und deshalb dem diskursiven oder, wie wir sagen würden,
dem abstrahierenden und infolgedessen diskursiven menschlichen
Denken sich entziehe, ist vollkommen begründet, und es zeugt
von Scharfsinn, wenn v. Hartmann dem intuitiven göttlichen
Denken, das bei ihm freilich unter der verzerrten und wider-
sinnigen Gestalt des „ünbewufsten'^ auftritt, zugesteht, was er
dem abstrakt-begrifflichen menschlichen Denken abspricht: die
Erkenntnis des körperlich Individuellen. Die Idee im rein
23»
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n
336 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individuation.
geistigen Verstände nämlich äquivaliert, wie ans der hl. Thomas
belehrte, dem Dualismus der menschlichen Erkenntniskräfte. Nur
kann jene intuitive Erkenntnis gerade aus dem Grrunde keine
unbewufste sein, weil sie eine durchaus immaterielle, von Quan*
tität, Baum und Zeit absolut unabhängige ist. Einer solchen
Erkenntnis aber ist es wesentlich, eine in sich zurückgehende
oder genauer von vornherein bei und in sich seiende, d. i.
bewufste zu sein.
Ist nun die göttliche intuitive Erkenntnis, welche die
begrifflich-wesentliche und sinnlich individuelle in einem höheren
Geistesblick umfafst, eine rein geistige und bewufste, so kann
sie schon aus diesem Grunde, wenn wir auch von anderen Er-
wägungen absehen wollen, nicht immanenter Realgrand der
Individuation sein. Und sie kann dies nicht sein, auch wenn
man den Willen als ein das Ideale verwirklichendes Prinzip
zur Anschauung hinznbringt Es ist ein absoluter Widersinn,
dafs der einer rein geistigen Anschauung korrespondierende
Willensakt sich und die Idee materialisiere. Hier ist der Punkt,
wo an dem Probleme der Individuation der Hartmannsche
Monismus ebenso zerschellt, wie jeder andere. Der Philosoph
des ünbewufsten macht sich allerdings die Sache aufserordentlich
leicht. Wie bei Lotze und anderen erscheint auch bei ihm der
Übergang von der Einheit zur realen Vielheit als etwas höchst
Einfaches. Dabei wissen diese modernen Monisten sich den
Anschein zu geben, mit den Erfahrungswissenschaften im besten
Einklänge zu stehen. Mit einem kühnen Sprunge versetzen sie
sich aus dem Alleinen in die unendliche Vielheit der Atome,
Eraftcentren, Monaden oder wie sie diese bequemen Handhaben
einer mechanisch-mathematischen Weltbetrachtung sonst nennen
mögen. Im System v. Hartmanns vollzieht sich dieser Übergang
in der Weise, dafs der reine Wille sich in die realen Willens-
akte, die Willensakte aber in Atomkräfte umsetzen, die sich
dann ganz so verhalten, wie es für eine Philosophie mit „speku-
lativen Kesultaten nach naturwissenschaftlicher Methode'' [Dies
das Motto der Philosophie des Ünbewufsten] nur wünschenswert
sein kann. Der ausschliefslich mechanischen Atomistik gegenüber
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Individuation und Monismus. 337
ergibt sich dabei der Vorteil, nach BedürfniB sich zu erinnern,
dafs die Atome im G-rnnde nur verkappte Willensakte mit ein-
geBchachtelten Ideen seien, woraus zur Erklärung der Organismen
mit Einschlufs des Menschen mit seinem komplizierten Seelen-
leben nach Belieben Leben, Vorstellung, Bewufstsein u. s. w.
sich wie aus der leereu Tasche des Prestidigiateurs hervorholen
lassen.
Fahren wir in der Darstellung v. Hartmanns fort, so be-
zeichnet er teilweise mit Eecht die Verbindung von Raum und
Zeit als das individualisierende Prinzip oder Medium, und schliefst
sich hierin .an seinen Vorgänger Schopenhauer an. Nur war
dieser einerseits ehrlicher, andererseits konsequenter; ehrlicher,
da er die reale Vielheit nicht, wie v. Hartmann, einfach im Sinne
der modernen Naturforschung (dos physikalischen Atomismus)
eskamotiert; konsequenter, indem er aus einem geistigen oder
idealen Prinzip nicht eine reale Materialisierung in wirklichem
räumlich zeitlichen Dasein hervorgehen läfst, sondern Raum und
Zeit als Anschauungsformen im Sinne Kants betrachtet, also die
materielle Individuation als ein Nichtseiendes, als Schein und
Täuschung betrachtet.
Als Individuationsprinzip also kennzeichnet sich nach v. Hart-
mann unzweifelhaft die Verbindung von Raum und Zeit; denn die
begrifflich gleichen Atomkräfte unterscheiden sich nur durch die
verschiedenen räumlichen Beziehungen ihrer Wirkungen, uneigent-
lich und kurz gesagt durch ihre Orte: jedoch mit dem zur Ver-
vollständigung notwendigen Zusatz: in demselben Zeitpunkte, da
in und mit der Zeit der Ort eines Atoms wechseln kann; die
Individuation aber ist eine reale durch den Willen, während
die ideale Verschiedenheit und Einzigkeit der Atome aus der
Vorstellung stammt, [v. Hartmann, a. a. 0. S. 541.]
Diese Theorie weicht, wie v. Hartmanu ausfährt, in drei
Punkten von der Schopenhauerschen Ansicht ab; erstens darin,
dafs Schopenhauer zwar auch in Raum und Zeit das indivi-
duierende Prinzip oder Medium setze, dieselben aber in seine
unglückliche Anlehnung an Kant verrannt, nur als Formen der
subjektiven Gehirnanschaunng betrachte, da sie doch ebensowohl
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338 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individuation.
Formen der äofseren Wirklichkeit seien; zweitens kenne Schopen-
hauer keine Atonae, weshalb er auch bei der Individuation der
Materie gar nichts Bestimmtes denken könne, weil er nicht zu
sagen imstande sei, was Individuen der blofsen unorganischen
Materie seien. Drittens endlich weiche jene Theorie darin von
Schopenhauer ab, dafs dieser die organischen Individuen „naiver''
Weise als ebenso unmittelbare Objektivationen des Willens be-
trachte, wie V. Hartmann die Atomkräfte, während letzterer der
Naturwissenschaft folgend, sie durch Zusammensetzung der Atom-
kräfte entstehen lasse. [A. a. 0.]
In dieser Auseinandersetzung zeigt sich immer klarer, wie
in der v. Hartmannschen Auffassung der Individuation Falsches
und Wahres gemischt ist Dafs organisches Leben nur im Stoffe
möglich sei, ist einleuchtend. Ebenso ist zuzugeben, dafs das-
selbe im Stoffe nicht allein Existenz gewinnt, sondern auch in
ihm in jener Weise sich individualisiere, die ein Nebeneinander
von Individuen derselben Art gestattet und nach sich zieht.
Wenn aber v. Hartmann die Individualität oder numerische Ein-
heit des Organismus daraus ableiten zu können glaubt, dafs die
„erfafsten'' Atome Individuen seien, woraus folge, dafs auch der
organisch konstituierte Komplex dieser Atome und die aus-
schliefslich auf ihn gerichtete Thätigkeit des Unbewufsten einzig
sei [A. a. 0. S. 543. „Die erfafsten Atome sind Individuen,
d. h. jedes von ihnen ist einzig, folglich mufs auch der orga-
nisch konstituierte Komplex dieser Atome und die ausschliefslich
auf ihn gerichtete Thätigkeit des Unbewufsten, welche zusammen
das höhere Individuum ausmachen, einzig sein.''], so gibt er
sich einer Täuschung hin ; denn die Atome, die in der Zusammen-
setzung ihre Substantialität und spezifische Wesenheit behalten,
können nur einen Komplex von Wesen, nicht aber ein Wesen
konstituieren. Wo aber die formelle Einheit fehlt, da kann noch
weniger von einer individuellen Einheit und Einzigkeit geredet
werden.
Sofern also Schopenhauer in seiner Behauptung der unmittel-
baren Objektivation des Willens in den Organismen nur die
Wesenseinheit dieser gegenüber der „naturwissenschaftlichen"
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IndiTidaation und Monismus. 339
Zerfallung derselben in Atomkomplexe betonen wollte, ist er
gegen y. Hartmann zweifellos im Rechte. Wir geben also zwar
zn, dafs die Begriffe organischer Wesen im Stoffe das Medium
ihrer Individuation erlangen, keineswegs aber, dafs irgend ein
fertiger Stoff oder seine Bestandteile, die Atome, Moleküle, ihr
aktuelles Sein behalten, als solche in ihm fortbestehen. Der
Stoff ist uns kein rl, kein fertiges Wesen, sondern ein Wesens-
bestandteil, eine passive Potenz, zu der die „psychische Macht''
nicht äuiserlich, sondern als ein innerlich bestimmender, zum
vollen Wesen gestaltender zweiter Bestandteil hinzukommt.
Betrachten wir nun die Atomkräfte selbst, so sollen sie sich,
da sie einen aufser ihnen liegenden Stoff nicht mehr haben, in
dem sie sich individualisieren, nur durch ihre Orte unterscheiden.
Gegen diese Bestimmung erheben sich die gewichtigsten Be-
denken. Wie sollen wir uns die Atomkräfte denken? Als reine
immaterielle Kräfte und Kraitsphären? Wie soll aber solchen
ein Ort, eine bestimmte Richtung im Räume zukommen? Setzt
denn nicht der reale Raum, den v. Hartmann gegen Schopen-
hauer betont, die reale Quantität, die Ausdehnung, diese aber
eine ausgedehnte Substanz voraus? Von einer Individuierung
der Atomkräfte kann demnach nur dann die Rede sein, wenn
sie selbst als real ausgedehnt angesehen werden. Es ist daher
auch nicht exakt, von Raum und Zeit als den Prinzipien der
Individuation zu reden. Sie sind, wie uns der Aquinate belehrt,
Bedingungen, nicht aber die eigentliche Wurzel derselben.
Diese ist vielmehr in jenem der Substanz der Körper — denn
nicht die Individuation der Erscheinungen, sondern die der Sub-
stanzen ist zu erklären — angehörenden Etwas zu suchen, das
den Grund der räumlich zeitlichen, der Veränderlichkeit unter-
worfenen, nur bis auf einen in Intelligibilität nicht aufzulösenden
Rest intelligiblen Daseinsweise der Körper enthält, nämlich der
Materie. Diese aber als eine Kombination von Willensakten zu
fassen, ist schon im allgemeinen absurd, zur Erklärung der In-
dividuation aber insbesondere unzureichend, denn eine solche
Kombination kann kein Individuum im wahren Sinne konstituieren
und vermöchte es auch nicht als solches erkennbar zu machen.
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340 Die Lehre d. hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d, IndividuatioiL
wie ja auch die Erkenntnis der einzelnen Umstände, z. B. einer
zukünftigen Sonnenfinsternis, der Stellung des Mondes, der Erde
u. s. w. dieselbe nur im allgemeinen erkennbar macht, nicht aber
in ihrer individuellen Konkretheit, die nur dem Sinne zugänglich
ist. Ganz und gar ungenügend aber ist eine Kombination von
Willensakten zur Erklärung eben der materiellen, nur den Sinnen
zugänglichen Individualität, denn es ist schlechterdings unmöglich,
dafs Willensakte zu einer materiellen Welt sich gestalten, ja
auch nur als eine solche erscheinen. Die v. Hartmannsche
Theorie der Individuation sinkt daher in den Idealismus zurück
und zeigt Yerwandtschaft mit der neuplatonischen Auffassung
der Individualität als eines Aggregats der intelligiblen Acci-
dentien. Wenn Willensakte das Wesen der Körper ausmachen,
so kann das materielle Dasein der Dinge in Raum und Zeit nur
auf einem Scheine beruhen, der einer untergeordneten verworrenen
Betrachtungsweise angehört, auf dem höheren Standpunkt des
Gedankens aber verschwindet. Im Systeme v. Hartmanns wird
die Körperwelt ebensowenig begründet als in dem seines Vor-
gängers oder in irgend einem idealistischen System, viel-
mehr wird an die Stelle derselben etwas anderes gesetzt, und
zwar nicht etwa wie in der Leibnitzschen Philosophie lebendige
Geistwesen, sondern die leeren Abstraktionen einer potenziellen
Idee und eines potenziellen Willens. Wie in diese auch nur die
Vorstellung einer ausgedehnten Welt, geschweige denn die
Realität einer solchen, wie v. Hartmann will, kommen soll, ist
durchaus nicht abzusehen. Für diese Auffassung des Wesens
der Natur ist, wie gesagt, der Idealismus unvermeidlich. Ein
Wille, der allmächtige des persönlichen Gottes, kann transscendente
bewirkende Ursache einer Körperwelt, nicht aber immanente,
konstituierende einer solchen sein.
M
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DIE GRUNDLAGE FÜR DEN UNTERSCHIED DES
NATÜRLICHEN UND ÜBERNATÜRLICHEN
NACH THOMAS.
Von Dr. C. M. Schneider.
"lYleditationen über die Philosophie und Theologie
des hl. Thomas y. Aquin von Dr. Eduard Tersch, Prälat-
Scholastikus im Metropolitankapitel zum hl. Veit in
Prag. Erster Band. Einleitung und Meditationen über
die Philosophie des hl. Thomas. Zweiter Band. Medi-
tationen über die Theologie des hl. Thomas. Prag 18 85,
1886. Selbstverlag des Verfassers." 584 S. u. 636 S.
Vorliegendes Werk ist ein neuer Beweis, wie die Encyklika
des hl. Vaters Leos XIII. „Aeterni Patris" die von Liebe zur
ewigen Wahrheit erfüllten Herzen zum hl. Thomas und zu
seiner Lehre hingelenkt hat. Die Absicht des Herrn Verfassers
besteht darin, dafs die Leser angeregt werden, ,,über das System
des hl. Thomas und insbesondere über einzelne disputable Lehren
desselben nachzudenken, sich selbst ein Urteil zu bilden und auf
diese Weise das, was Thomas gelehrt, mit eigenem Verständ-
nisse zu erfassen (da nobis, quae docuit, intellectu conspicere).
Es wird nicht darauf ankommen, ob sie dann bei der Lehre des
hl. Thomas bleiben oder ob sie die in dem vorliegenden Buche
angedeutete Ansicht adoptieren oder ob sie sich selbst eine neue
Ansicht bilden, sondern darauf, dafs sie sich im eigenen Nach-
denken über die Lehren des Christentums, über Philosophie und
Theologie üben und auf diese Weise in der Wissenschaft der
Heiligen zunehmen." „Wie der hl. Thomas" (so 8. 38) „zur
Verarbeitung der sog. Vernunft Wahrheiten den besten und ver-
läfslichsten, damals auch am meisten geschätzten Philosophen des
Altertums, Aristoteles, zugrunde gelegt, ohne jedoch alles blind
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342 Die Gmndlage für den Unterschied des Natürlichen etc.
anzunehmen, was dieser gelehrt hat; . . . wie er znr Verarbeitung
der Offenbarungswahrheiten die Schriften der hl. Kirchenväter^
namentlich des hl. Augnstin, benutzt hat; — so mögen auch in
diesem Werke bei der philosophischen Bearbeitung der gesamten
katholischen Glaubenslehre vorzugsweise die Schriften des heil.
Thomas zugrunde gelegt, doch nach den Resultaten der eigenen
Meditation mit Rücksicht auf die eigenen Bedurfnisse und auf
die jetzt herrschenden philosophischen Ansichten verarbeitet und
dadurch der freundliche Leser dieser Meditationen angeregt
werden, darüber selbständig nachzudenken, das Wahre vom
Falschen zu unterscheiden und sich danach seine eigene Philo-
sophie oder spekulative Theologie zu bilden. Es sollen daher
in diesem Werke aus den Schriften des hl. Thomas die wichtigsten
Lehren dargestellt werden, zugleich soll aber das infolge dc&
eifrigen Studiums dieser Lehren und der eigenen selbständigen
Meditation gewonnene Resultat als eigene Verarbeitung des ge-
samten philosophischen und theologischen Materials, zusammen-
gestellt werden."
Mit diesen Worten charakterisiert der Verfasser selbst sein
ganz eigenartig angelegtes, den betrachtenden Geist in hohem
Grade anregendes Werk. Der Leser darf darin, vrie dies der Titel
anzudeuten schien, allerdings nicht die Anwendung der Lehre des
hl. Thomas auf das praktisch christliche Leben suchen und noch
weniger etwa eine Darlegung des thomistischen Lehrinhalts, wie
ihn die thomistische Schule bietet Das Werk ist vielmehr die
„kritische Sichtung des wissenschaftlichen Materials,
wie es in der summa C. G. und der theologischen Summa
niedergelegt ist, gemäfs den Regeln und Ergebnissen
der modernen Philosophie". Wir bestreiten durchaus nicht die
Berechtigung eines solchen Standpunktes. Wir sind am wenigsten
der Ansicht, man müsse blind die Autorität des Engels der Schule
verehren und alles, was er sagt, annehmen nur eben deshalb,
weil er es sagt. Es ist vielmehr unsere Überzeugung, dafs eine
solche blinde Verehrung weder nach der Meinung des hl. Thomas,
noch nach der Meinung der Kirche ist und auch nicht die Aus-
breitung der Lehre des Aquinaten befördert.
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Die Grandlage für den Unterschied des Natürlichen etc. 343
Denn Thonias selber trägt immer wahrhaft ängstlich Sorge,
dafs er für jede seiner Behauptungen Gründe beibringe; er
will somit nnr insoweit gelten als seine Gründe gelten. Der
Verbreitung und Anerkennung der von ihm befolgten Grund-
sätze aber kann es nur dienen, wenn Werke, wie das yorliegende,
den menschlichen Geist so zu sagen zwingen, die Beweisgründe,
welche Thomas anführt, recht tief zu erforschen. Er wird dann
schliefslich immer zur Überzeugung gelangen, dafs desto mehr
die siegende Gewalt dieser Gründe und somit der Grundsätze
des hl. Thomas wächst, je genauer der Wortlaut der thomisti-
sehen Texte geprüft und je konsequenter man sie auf die mo-
derne wissenschaftliche Richtung anwendet.
Wir thun dies dar an einem Beispiele, und zwar an einem
solchen, welches sich genau an den Kardinalpunkt des gesamten
Werkes des Herrn Prälaten Tersch anschliefst: wir meinen
die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen und
Übernatürlichen. Wir geben jedoch zuvörderst in Nr. 1 dem
Leser Gelegenheit, Kenntnis zu nehmen von dem reichen Inhalte
der „Meditationen^'.
I.
Nachdem der Verfasser auf die Schwierigkeiten einer gänz-
lichen Trennung der Philosophie von der Theologie, der Ver-
nunft von den Oifenbarungswahrheiten, aufmerksam gemacht, gibt
er in den ersten 157 Seiten eine Übersicht über das philoso-
phische und theologische System des hl. Thomas und stellt dem
gegenüber ein anderes System, welches er selbst aus den ,jetzt
herrschenden philosophischen Ansichten" geschöpft und das „als
eigene Verarbeitung des gesamten philosophischen und theologi-
schen Materials^' er „den Meditationen über die Lehren des heil.
Thomas zugrunde legen möchte'^
Darauf folgt im „ersten Teile'' die Auseinandersetzung der
Lehre des hl. Thomas; und zwar im „ersten Buche": „Von Gott
an und für sich", worin die Beweise des Daseins Gottes, die
Einfachheit, Vollendung etc. des göttlichen Wesens, sowie die
Erkenntnis und Benennung Gottes bebandelt werden. Im „zweiten
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344 Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc.
Buche" wird der Begriff der Schöpfung nach Thomas dargelegt,
die Dauer und der Unterschied der Kreaturen, die rein intel-
lektuelle Substanz und endlich der Mensch niit seinem Wissen
und Wollen. Das „dritte Buch" enthält die Lehre vom End-
ziele, von den menschlichen Handlungen, von den Leidenschaften,
den Zuständen, vom Gesetze und von der Gnade. Wir müssen
hier als nachahmenswert hervorheben, dafs der Verfasser sich
in der Darlegung dieser Lehre ganz und gar an Thomas hält
und fast nur mit den eigenen Worten des hl. Lehrers spricht.
Der Leser erhält einen rein objektiven Bericht, der ihn instand-
setzt, sich ein wahres Bild von der Lehre des Fürsten der Schule
zu machen. Er hat da kein Zerrbild vor sich, wie das leider zu
oft in ähnlichen Werken der Fall ist, wo der Autor seine eigene
Lehre vorträgt und durch einige hineingeworfene Stellen die
V^oraussetzung erweckt, als sei es die Lehre des hl. Thomas.
Der Verfasser trennt durchaus seine eigenen Ansichten von der
Darlegung der Lehre des Aquinaten. Es ist dies ein Vorzug,
welcher der aufrichtigen Absicht des Verfassers thatsächlich ent-
spricht; dahin nämlich zu wirken, dafs dem Leser ein selbständiges
Urteil ermöglicht werde.
Seine eigenen Ansichten bringt der Verfasser im folgenden
Teile, nämlich in den „Meditationen über die Philosophie des
hl. Thomas". Hier bespricht er den Wert der Beweise des
hl.. Thomas für das Dasein Gottes und den der modernen; z. B.
des geschichtlichen. Er geht ein auf das Wesen und die Voll-
kommenheiten Gottes und schliefst das erste Buch mit der
Meditation über das immanente Leben Gottes. Das zweite Buch
dieses Teiles beschäftigt sich mit den verschiedenen Stufen der
Geschöpfe; und das dritte behandelt kurz die menschlichen
Handlungen und schliefst ab mit der Vorsehung und der Gnade
Gottes.
Der zweite Band hat die Theologie des hl. Thomas zum
Gegenstande und richtet sich in der Methode ganz nach dem
ersten Bande. Bis Seite 292 wird objektiv die Lehre des heü.
Thomas berichtet über „Gott den Drei-Einen", über „den Aus-
gang der Kreaturen aus Gott", „die allgemeinen Moralprinzipien"
Digitized by VjOOQIC
Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc. 345
die besonderen Tagenden, den Erlöser und die Sakramente;
und es schliefst diese Abteilung ab ,,mit den letzten Dingen''.
Von S. 292 ab gibt der Verfasser seine eigenen Meditationen
über die Theologie des hl. Thomas, ,,reduziert alle Offenbarungs-
wahrheiten auf Gott den Drei-Einen'', und „d e duziert'' dann in
der folgenden Abteilung der Meditationen ,,alle Offenbarungs-
wahrheiten aus der Lehre von Gott dem Drei-Einen".
Der Leser wird aus dieser Inhaltsangabe schon entnommen
haben, wie wir mit Recht das Verhältnis des Natürlichen zum
Übernatürlichen als den Eardinalpunkt der ganzen Auseinander-
setzung bezeichnet haben. Nehmen wir also diesen Punkt für
unsere Besprechung speziell heraus, so haben wir die ent-
scheidende mafsgebende Richtschnur berücksichtigt, von der alles
Übrige abhängt. Welche Grundlage legt Thomas für den Unter-
schied zwischen Natürlichem und Übernatürlichem?
Haben wir diese Frage beantwortet, so wird sich leicht ergeben,
wie es bei weitem besser ist, die Folgerungen aus der Lehre des
hl. Thomas bis zum äufsersten hin zu ziehen und auf moderne
Irrtümer anzuwenden ; als dafs man der Ansicht folge, es müsse
an den Grundsätzen der thomistischen Lehre selber geändert, resp.
gebessert werden, damit sie die modernen Irrtümer überwinden
können. Es ist dies eben der Unterschied zwischen dem Vor-
gehen des hl. Thomas selbst und dem Vorgehen derer, die der
oben erwähnten Ansicht huldigen. Thomas hat nicht die Grund-
sätze des Aristoteles und die Lehren der Augustine, Gregore und
ähnlicher nur „als reines Material*' betrachtet; sondern er hat sie
durchaus anerkannt, sich ungescheut und ganz entschieden auf
den Boden derselben gestellt und hat aus ihnen selber heraus
gezeigt, indem er die letzten Folgerungen zog, wie in manchen
Punkten Aristoteles unrecht hatte. Wir erinnern blofs an die
Schöpfungsidee aus Nichts, wo er sich jedesmal, wenn er davon
spricht, den Aristoteles als Gegner hinstellt und auf dessen
Zeugnis stetig erwidert, die alten Philosophen hätten nicht kraft
konsequenter Benutzung ihrer eigenen Prinzipien sich
eine wahre Seins fülle vorzustellen bemüht, von der also
alles Sein in einem Dinge stammen müfste.
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346 Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc.
In der modernen Zeit folgt man häufig diesem Beispiele nicht.
Man möchte vielmehr sogleich die Grundsätze selber ändern, an-
statt ihre Kraft erst einmal zu erproben. Wir konnten im vorlie-
genden Werke des Herrn Prälaten Tersch an vielen Stellen die
richtigen Grundsätze des hl. Thomas anerkannt und verteidigt
finden. Hätte er sich der Kraft derselben vertrau ungs voll über-
lassen; er wäre nicht zu so manchen Besultaten gekommen, deren
Widerstreit mit der Lehre des hl. Thomas er selbst ofien ein-
gesteht und ,,mit den Bedürfnissen der neueren Zeit begründet'^
So hält Tersch zu unserer grofsen Genugthuung fest an dem
fundamentalen Grundsatze, veorauf Thomas seine ganze Philoso-
phie aufbaut; nämlich am wirklichen, realen Unterschiede zwi-
schen dem Wesen oder der Natur in jedem Geschöpfe und dem
thatsäch liehen Sein und Wirken. Gerade hier nun ruht die
tiefste Grundlage für den Unterschied des Natürlichen und Über-
natürlichen. Prüfen wir dies 1. von seiten Gottes; 2. von Reiten
des geschöpflichen Seins; 3. von seiten des Erkennens.
II.
1. Die Grundlage für den Unterschied zwischen Natürlichem
und Übernatürlichem von seiten Gottes.
Kardinal Newman macht in der Schrift, in welcher er seine
Umkehr zur katholischen Kirche schildert, gelegentlich die Be-
merkung, bei den theologischen Ansichten seien oft gerade die
extremsten die richtigen. Es gilt dies vor allem von der
wirkenden Kraft Gottes. Dieser kann niemals zu viel Ein-
flufs zugemessen werden auf das Geschöpfliche. Je mehr sie
einwirkt; desto vollkommener, freier, selbständiger mufs das Ge-
schöpfliche sein. Von nichts aufserhalb ihrer selbst kann sie
bestimmt oder bewegt werden. Nichts aufser sie selbst kann
ihr Bedingungen auflegen. Ihre rein thatsächliche innere Un-
endlichkeit oder Grenzenlosigkeit mufs zu allererst festgehalten
werden, wenn man die wahre Übernatürlichkeit des göttlichen
Wesens begründen will.
In der That! Kann das Feuer Kälte verursachen? Kann das
Auge hören, das Ohr sehen? Keineswegs. Warum nicht? Das
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Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc. 347
innere Wesen des Feuers ist dermafsen gebunden an die Wirkung
der Wärme, dafs keine andere Wirkung, geschweige denn die enir
gegengesetzte, von ihm ausgehen kann. Das innere Wesen des Auges
hat eine derartige Beziehung zum thatsächlichen Sehen, dafs das
Hören ausgeschlossen ist. Kann das Tier einen Menschen zeugen?
Nein; es zeugt nur wieder ein anderes Tier und zwar innerhalb
der nämlichen Tiergattung. Warum? Das Wesen ist gemeinschaft-
lich dem Zeugenden und dem Erzeugten. Das eine Wesen ist von
sich aus darauf angewiesen, ein anderes gleichartiges zu zeugen.
In allen diesen Fällen zeigt das innere Wesen auf ein ganz und
durchaus abgeschlossenes Bereich im Sein, dessen Gegenteil ihm
unzugänglich, von ihm ausgeschlossen ist. Es besteht da eine
durchaus von innen her notwendige Verbindung; z. B. zwischen Feuer
und warm, zwischen Auge und Sehen, zwischen Ohr und Hören.
Das Feuer macht nicht, dafs etwas ist; sondern nur, dafs es w arm
ist; das Licht macht nicht, dafs etwas ist; sondern nur, dafs es
hell ist; und so geht es weiter in allen ähnlichen Dingen.
Woher allein kann es nun stammen, dafs etwas ist? Da
müssen zuvörderst notwendig diese zwei Merkmale sich finden:
Erstens mufs diese Kraft einem Wesen zugehören, welches von
sich aus auf nichts Beschränktes mit Sotwendigkeit Bezug hat.
Denn hätte es zu dem einen beschränkten Sein notwendige Be-
ziehung, so wurde dessen G-egenteil von seiner Wirkung ausge-
schlossen werden müssen; dieses könnte also nicht Sein haben, da
Ja das Sein allen Dingen gemeinsam ist, also von einer Kraft
kommen mufs, die ebenso gut machen kann, dafs das Weifse ist
wie das Schwarze, die Wärme ebenso gut wie die Kälte, das
Leben ganz ebenso wie das Leblose. Also darf dieses Wesen,
dessen Kraft die wirkende Ursache des Seins ist, mit keinem
andern Wesen die geringste Wesensgemeinschaft haben, wie das
Feuer mit der Wärme, das Auge mit dem Sehen. Denn die ihm
entsprechende wirkende Kraft darf kein Sein von sich aus-
«chliefsen, als ob es nicht von ihm ausgehen könne.
Dann folgt aber das zweite Merkmal von selbst: Dieses
Wesen mufs über alle beschränkte Natur erhaben sein,
in keinem Verbände der Notwendigkeit darf es^ stehen; es muls
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348 Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc.
übernatürlich sein. Die geringste Beschränkung der wirkenden
Kraft also in Gott, mag sie kommen woher sie will, vorausgesetzt
nur dafs sie von aufsen kommt, nimmt Gott dem Herrn die Über-
natürlichkeit. Warum? Sie kann dann nicht auf Alles sich er-
strecken. Denn das Gegenteil der Beschränktheit in ihrer Wir-
kung käme ihr dann jedenfalls nicht zu. Wäre sie nach rechts
beschränkt, so könnte sie nicht nach links hin wirken. Wäre sie
nach unten beschränkt, so könnte sie nicht nach oben hin wirken.
Damit würde aber von selbst gesagt sein, dafs ihr innerliches
Wesen notwendige Beziehung hätte zu Äufserem, also mit dem-
selben in Wesensgemeinschafb stände, wie das Licht mit dem Hellen.
Demgemäfs könnte jedoch eine solche Kraft nicht Sein ver-
ursachen. Denn was auch immer sonst untereinander im direktesten
Gegensatze steht, kommt doch überein im Sein. Was aber an sich
von Natur auf einen bestimmten Bereich im Sein beschränkt ist,
das kann in keinem Falle verursachen, was allem Seinsbereich
ohne Schranken gemeinsam ist. Die wirkende Kraft in Gott
also, soll anders überhaupt etwas Sein haben, mufs einem Wesen
zugehören, das über alle Schranken der Natur erhaben ist und
notwendigerweise als Wesen mit nichts Gemeinschail hat, zu
nichts in Gegensatz steht, nur allein es selbst ist.
Ist ein Pianist von sehr beschränkten Fähigkeiten, so mufs
das Instrument, welches er spielt, ein sehr gut beschaffenes sein;
soll anders sein Spiel überhaupt in etwa anziehen. Nur eine
beschränkte Zahl der Instrumente wird seiner Kunst entsprechen.
Ist er aber von höchst bedeutenden Fähigkeiten, so gibt unter
seinen Fingern noch das schlechteste Instrument Zeugnis von
seiner Kraft und Geschicklichkeit. Die Zahl der Instrumente, soweit
sie diesen Namen überhaupt noch verdienen, ist unbeschränkt
im Vergleiche mit dieser Kunst. Letztere ist erhaben, sie ist
unabhängig mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der betreffenden
Art Instrumente. Die wirkende Kraft steht da immer in ihrer
Ausdehnung im direkten Verhältnisse zur innerlichen Kunst. Je
höher und erhabener die Kunst, desto weniger ist sie an Anderes
gebunden. Handelt es sich also um eine unendliche wirksame
Kraft, so ist deren Wesen absolut und ohne Schranken getrennt
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Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc. 349
Ton allem Wesen des Gewirkten. Und demgemäfs steht dies im
direktesten Verhältnisse: Die tjbernatürlichkeit des Wesens
Gottes und die ohne Grenzen wirkende Kraft Gottes. Wer
letzterer auch nur das geringste Sein als ihre Wirkung entzieht,
der kann das Wesen Gottes als ein schlechthin übernatür-
liches nicht mehr aufrecht halten. Er mufs die Zugänglichkeit
des göttlichen Wesens von seiten der Natur anerkennen.
In den theologischen und philosophischen Systemen der mo-
dernen Zeit kann man zwei Richtungen unterscheiden, die, schein-
bar einander entgegengesetzt, trotzdem den gleichen Abschlufspunkt
haben. Die einen beginnen mit dem zu entwickelnden Wesen
der Natur oder eines Vermögens; und wollen, dafs ein anfangs
reines Vermögen nach und nach Seinsfülle, Gott werde; zu ihnen
gehört Spinoza, Kant, Hegel, Fichte. Die andern beginnen mit der
thatsächlichen Seinsfülle, mit Gott; und lassen dessen Wesen
nach und nach sich mitteilen, so dafs da Gott recht eigentlich
am JEnde Kreatur wird, d. h. in notwendige Wesensverbindung
tritt mit anderem Sein. Es ist dies die scheinbar katholisierende
Richtung in der Wissenschaft, die Baaders, zum Teil Schellings;
und auch Günther kommt da nicht vorbei. Es ist ja klar, dafs
dies am Ende ganz dasselbe ist, Gott in das Bereich der Natur
ziehen ; oder die Geheimnisse, welche ihm als Wesen und zwar
als einem von der Welt notwendig getrennten Wesen zukommen,
der natürlichen Vernunft zugänglich machen. Die letztgenannte
Klasse von Philosophen möchte Gott verherrlichen. Aber anstatt
alles Geschöpfliche von seiner wirkenden Kraft allein unbe-
schränkt abzuleiten, stellen sie in ihrem Denken eine Brücke
her vom rein Kreatürlichen aus zum Wesen Gottes; und ver-
kleinern so auch seine, Gottes, wirkende Kraft.
Und doch hätte ihnen bereits die natürliche Umgebung der
sichtbaren Dinge die Wahrheit eröffnen können. Denn um so
dauerhafter, umfassender, durchdringender ist eine Kraft; je mehr
ihr Wesen in sich geeint und somit von der Wirkung getrennt bleibt.
Zünde in einem Ofen ein Feuer an; es wird wohl wärmen; —
aber sein Wesen teilt sich dem Zimmer mit; es vergeht selber,
während es thätig ist. Die Sonne da oben bleibt dagegen in ihrem
Jahrbach für Philosophie etc. I. 24
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350 Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc.
Wesen stets die gleiche; und keine Pflanze, die ihr Entstehen
den wärmenden Sonnenstrahlen verdankt, hat mit der Sonne das
geringste im Wesen der Gattung gemein. Dafür ist aber auch die
Sonnenkrafb im Wärmen ungemessen weiter, umfassender, wie die
des Feuers; sie ist eine ohne weiteres alle sichtbare Schöpfung durch-
dringende. Sage dasselbe vom Sein Gottes, was vom Leuchten
und Wärmen der Sonne gilt; und du hast eben auf Grund der
göttlichen wirkenden Kraft, deren Gegenstand in unbeschränkter
Weise das Sein ist, die notwendig vollständige Trennung des
göttlichen Wesens von aller Natur und dabei die tiefste Durch-
dringung seitens der göttlichen wirkenden Kraft mit Rücksicht auf
alles, was ist und sein kann. So nahe dem Geschöpfe die Kraft
Gottes ist, so ferne steht folgogemäfs seinem Wesen das göttliche.
Da liegt nun vor uns die zweifelloseste Quelle von allem
Übernatürlichen: das innere Wesen Gottes; — und damit
speziell lür die Offenbarung der i n n e r e Wi 1 le Gottes, der innerhalb
seiner selbst sein alleiniges Mafs hat. Denn ist das innere Wesen
Gottes aller Natur unzugänglich und mnfs es dies sein, weil eben
seine Krait alles Sein ohne Schranken verursacht; — so kann nur
der Wille Gottes, und zwar ohne allen weiteren Grund, die
Ursache für die übernatürliche Offenbarung sein. Wozu der
Mensch, abgesehen von diesem unmittelbaren Einflüsse des gött-
lichen Willens, gelangen kann, das steht mitten im Bereiche des
Natürlichen; mag dazu ein Mensch gelangen oder Millionen,
oder mag man es nur erreichen können.
So verhält es sich also mit der verursachenden Quelle der
übernatürlichen Offenbarung. Ihr Gegenstand bestimmt sich aus
dem Gesagten dahin, dafs, soweit etwas mit dem inneren Wesen
Gottes verbindet, soweit auch es übernatürlich ist.
Kann aber nun die einfache wirkende Krafl Gottes, soweit
sie die wesentlich von ihr geschiedenen Kreaturen wirkt, zum
Wesen Gottes führen? Nimmermehr. Das wäre einzig und allein
dann der Fall, wenn irgend eine solche Wirkung diese wirkende
Kraft erschöpfte; wie ich aus dem Lichte in etwa zur Kenntnis
der Sonne gelangen kann, denn diese Wirkung erschöpft gewisser-
mafsen die Natur der Sonne, ist wenigstens notwendig mit ihr
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Die Gnmdlage für den Unterschied des Natürlichen etc. 351
gegeben. Weil also diese wirkende Kraft Gottes eben wieder
unendlich, also unerschöpflich ist dem Nichts gegenüber; deshalb
besagt sie selbst es, dafs sie yon den Kreaturen aus wohl zum
Dasein der ersten Ursache fuhren kann, nicht aber zur Kenntnis
des göttlichen Wesens. Nur der „Sohn", welcher wesens-
gleich ist mit dem Vater, der das göttliche Sein erschöpf,
kann „erzählen, was yerborgen war vom Beginne der Welt an^.
Herr Tersch möge anstatt seines: „Satz", „Gegensatz", „Ver-
bindung" oder „Gleichsatz" sagen, wie dies Thomas in allen solchen
Fällen thut, „bestimmendes Vermögen", „bestimmbares Vermögen",
„wirkende Kraft", so wird er jedenfalls manche seiner Behaup-
tungen selbst zurückziehen. Denn eben die einfache Ausdrucks-
weise bei Thomas ist ein besonderes Mittel, um die Folgerungen
aus seinen Grundsätzen ohne Schwanken und mit möglichster Klar-
heit zu ziehen. Wir glauben kaum, dafs einzelne der meditationes
des Verfassers, wie über die Dreieinigkeit, die Schöpfuog, über
die Verbindung des natürlichen mit dem übernatürlichen Elemente
sich können aufrecht halten lassen; wenn man sie so streng
wörtlich nimmt, wie sie dastehen. Ganz ohne Zweifel sind sie
der Lehre des hl. Thomas nicht gemäfs. Wir wollen blofs eine
Stelle beispielsweise anführen, I. S. 142: „In dem dreieinigen
Leben Gottes ist demnach der Grund oder die Ursache des
Lebens des kreatürlichen Universums zu suchen, und zwar in Gott
Vater der Urgrund der Physis oder der Einheit und Allgemein-
heit, in Gott Sohn der Urgrund der Vielheit und Besonderheit
der Geisterwelt in ihrem Unterschiede von Gott, und im heil.
Geiste der Urgrund der Verbindung beider, nämlich der Vielheit
der Geister untereinander durch die Verbindung mit der Physis
und infolgedessen des wirklichen Lebens und Daseins in seiner
Vollendung, in der Wiedervereinigung mit Gott". Sollte der
Verfasser diese Ausdrucksweise nur als Appropriation be-
trachten, so ginge eine solche doch wohl zu weit.
Wenn der Herr Verfasser dann findet, dafs aus dem Geheim-
nisse der hl. Dreieinigkeit besonderes Licht auf das geschöpf liehe
Leben als solches falle und im allgemeinen auf die geschöpf-
liche Wirklichkeit gerade als Wirklichkeit, so hat er damit
24»
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352 Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc.
wiederam einen Beweis gegeben, wie ernst er es mit dem Stu-
dium des hl. Thomas meint, der gerade in seinem Traktat über
die Dreieinigkeit das wirkliche Leben der Kreatur mit der be-
stehenden Thatsächlichkeit des Gmndgeheimnisses der Offen-
barung verbindet. Weil jedoch Herr Tersch die moderne, zumal
Qünthersche Anschauungsweise, soweit freilich dieselbe nicht
offen oensuriert ist, gerne mitsprechen lassen will, entfernt er
sich in eben dem Mafse bei Besprechung des Geschöpflichen
recht weit von Thomas. Anstatt aber dadurch, wie er meint,
die Lehre des hl. Thomas den Bedürfiiisaen der gegenwärtigen
Forschung anzupassen, setzt er sich der Gefahr aus, den Unter-
schied zwischen Natürlichem und Übernatürlichem zu yerwischen.
Wer dagegen aus den Grundsätzen des hl. Thomas streng die
Folgerungen zieht, ohne daran modeln und bessern zu wollen,
gelangt dazu, das Fundament zwischen Natürlichem und Über-
natürlichem, auch Yom Geschöpflichen aus, recht fest zu legen.
2. Die Grundlage für den Unterschied zwischen Natürlichem
und Übernatürlichem vom Geschöpfe aus.
Können wir von einem übernatürlichen Geheimnisse den
inneren Grund angeben? Das sind^zwei Begriffe, die sich gegen-
seitig Yollständig ausschliefsen : Geheimnis und Schauen des
inneren Grundes. Die Geschöpfe selber nun geleiten zu dieser
Unvereinbarkeit.
So sehr dieselben auf das offenbarste zur Erkenntnis mit-
wirken, dafs übernatürliche Geheimnisse thatsächlich bestehen;
mit ebenso grofser Kraft leugnen sie, dafs diese Geheimnisse von
ihnen aus offenbar werden können. Oder wissen wir etwa den aus-
reichenden Grund davon, warum die Gattung „Mensch^* sich ge-
rade in so vielen und nicht mehr oder weniger Einzelwesen
vorstellt; warum es gerade, wenn wir so sagen wollen, eine Mil-
liarde Menschen gibt und nicht einen mehr oder weniger? Liegt
der Grund davon in der Gattung als dem inneren Wesensgrunde
des Menschen, als ob dieselbe nur in bestimmt so vielen Exem-
plaren bestehen könnte? Gewifs nicht. Von der Gattung aus kann
es ebenso gut einen Menschen geben wie ungezählte Millionen.
Die allgemeine Wesensgattung „Mensch" ist im Gegenteil dafür
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Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc. 353
in positivster Weise gleichgiltig. Sie sagt von sich aus, dafs
sie für alle Einzelheiten, wie Zeit, Ort, Zahl, Gewicht keinen
hinreichend bestimmenden Grund abgibt.
Oder liegt es etwa am Wesen „Mensch", dafs hier ein Mensch
grofsist, dort klein; hier weise, dort ein Thor; hier einen Tag, dort
hundert Jahre alt? Das Wesen „Mensch'' ist überall genau das
gleiche. Als einen Menschen bezeichnet man ebenso gut Alexan-
der d. Gr. oder Cäsar wie den Thersites oder einen beliebigen
Idioten. Am selben Orte, von denselben Eltern, zur selben Zeit
werden in den Einzelheiten verschiedene Menschen geboren.
Esau war durch und durch anders wie Jakob, obgleich sie als
Zwillinge zur Welt kamen. Nur aber, was einzeln ist, das
ist wirklich. Es existiert kein Mensch im allgemeinen, wie
Thomas oft bemerkt; sondern nur Sokrates, Plato, will sagen,
nur Menschen als einzelne existieren.
Was nun vom Menschen gesagt worden, das gilt von allen
Arten und Gattungen von Wesen. Innerhalb keines geschöpf-
lichen Dinges besteht ein hinreichender Grund dafür, dafs es
gerade dieses und nicht jenes in Wirklichkeit ist, nicht Sonne
anstatt Sandkorn; und dafs es gerade so grofs im einzelnen ist
und nicht um eine Linie gröfser oder kleiner. Also gerade für
sein wirkliches Sein trägt kein Geschöpf in sich einen Grund,
der uns lehrte, dafs dasselbe so und nicht anders sein müsse.
Wir können aber noch weiter gehen und sagen: im Bereiche
der ganzen Natur besteht kein ausreichender Grund, auch wenn
alle Naturkräfte zusammengenommen werden, dafs gerade eine
solche Wirkung im einzelnen erzielt wird und nicht eine andere;
immerdar spielt ja da der sogenannte Zufall eine grofse Rolle.
Und das ist ganz natürlich. Denn ich kann wohl vom Men-
schen im allgemeinen sagen, warum er zwei Arme, zwei Beine,
warum er Augen, Ohren, Vernunft, freien Willen hat; aber da-
mit gebe ich blofs wieder im allgemeinen den Grund an, warum
er so wirkt und nicht anders. Und der nämliche Fall tritt bei
allen ähnlichen Kräften ein. Im Gegenteil; je umfassender sie
sind, desto gleichgiltiger ersgh einen sie für alle Einzelheiten in
Zahl, Zeit, Ort, Gewicht, Mafs, Figur. Je wichtiger sie also sind
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354 Die Grundlage für den Unterechied des Natürlichen etc.
und je einschneidender sie wirken, desto weniger liegt in ihnen
der mafsgebende Grund für ihre Richtung auf das Einzelne, also
damit auch auf das Wirkliche. Wenn sie aber alle zusammen blols
den Grund in sich haben für ihre Wirkung im allgemeinen;
80 kann aus allen zusammen sich nicht der ausreichende Grund
ergeben für die Wirkung als eine präzis wirkliche, einzelne.
Deshalb nannte Schelling das Einzelne, Wirkliche das Ereuz
der Philosophie.
Denn gerade dieses Einzelne, Wirkliche trägt alles Allge-
meine; sei dies Wesenheit oder blofse Eigenschaft oder Krall. Es
gibt kein allgemeines Licht, was nicht in besonderen Verhältnissen
wäre. Es gibt keinen Menschen, der eine Vernunft nur im all-
gemeinen hätte und nicht einen bestimmten Grad der Vernunft.
Auf solch Einzelnes, Wirkliches richtet sich alle Thätigkeit der
allgemeinen Kräfte; es wird von diesen als Träger ihrer Wir-
kung vorausgesetzt. Ist deshalb hier ein Geheimnis? Ist alles
Wirkliche in der Natur ein Geheimnis? Durchaus nicht. Zum
Geheimnisse schlechthin gehört nicht nur, dafs dessen innerer
Grund für alles Äufserliche unzugänglich sei; sondern auch dafs
es ein „Heim'' sei für die menschliche Natur, dafs also die
menschliche Natur, bewufst oder unbewufst, darin eine Vollendung
finde und somit, wenn auch nur implicite, danach verlange.
Die Einzelheiten der uns umgebenden Wirklichkeit aber sind
gar nicht geeignet, den Grund dafür, dafs sie im Augenblicke
so sind und nicht anders, in sich zu haben. Denn was einen
Grund in sich hat, das besitzt dadurch Festigkeit, Dauer.
Alles Wirkliche als solches jedoch vergeht in der äufseren Erschei-
nung seiner Natur nach beständig; steter Wechsel begleitet es.
Festigkeit erhält es im Bereiche des Geschöpf liehen nur, soweit
es an der allgemeinen Gattungsstufe des betreffenden Dinges
teilnimmt, soweit es also dem allgemeinen Wesen „Mensch'',
„Stein", „Pflanze" etc. angehört und somit einen irgendwelchen
Grund für sein Dasein in sich hat. Die Vernunft nun hat von Natur
zum Gegenstande den Grund, das Allgemeine. Also ist es
gegen ihre Natur selbst, sich danach zu sehnen, den Grund för
diese Einzelheiten in den Geschöpfen kennen zulernen, in-
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Die Grandlage für den Unterschied des Natürlichen etr. 355
soweit dieser Gmnd in denselben selber wäre. Neugierde,
d. h. die Sacht, Einzelheiten als solohe zu wissen, ist ein Fehler,
ein Abfallen von der Würde der Vernunft. Wifsbegierde,
d. h. die Neigung, zu wissen, inwiefern die Einzelheiten von der
inneren allgemeinen Wesensform durchdrungen sind und darin ihre
begründende Richtschnur haben, ist ein Vorzug der Vernunft.
Ist also auch die Wirklichkeit als solche in der uns umgeben-
den Welt kein Geheimnis, so ist sie doch ein lebendiges sicheres
Zeugnis für den thatsächlichen Bestand eines wahrhaft übernatür-
lichen Geheimnisses. Sie trägt alle allgemeinen Kräfte hier im
Geschöpflieben, ist also wahrhaft die Grundlage aller übrigen ge-
schöpflichen Unterschiede; — kann sie deshalb überhaupt ohne
Grund sein, wenn sie auch denselben nicht in sich trägt? Dann
wäre eben alles Geschöpf liehe ohne Grund. Ihr mafsgebender hin-
reichender Grund sonach mufs aufs erhalb aller natürlichen Wirk-
lichkeit, aufserhalb aller natürlichen Vermögen und Kräfte, mufs
aufs erhalb aller geschöpf liehen Vernunft liegen, die ja nur immer
das Allgemeine, Notwendige zum Gegenstande hat. Dieser Grund
mufs in sich ganz frei, losgelöst sein von allem Andern. Er mufs
zuvörderst Einzelbestand sein, Wirklichkeit seinem Wesen
nach. Sonst könnte er nicht das Einzelne, Wirkliche als solches
begründen, sondern müfste wieder auf einen andern Grund sich
stützen; wie jede Wärme immer schliefslich ein Feuer voraus-
setzt, dem als solchem Wärme, nämlich wesentlich zukommt.
Und dann mufs dieser Grund zugleich durchaus allumfassend
sein; sonst würde er den Grund seines eigenen Bestandes nicht
innerhalb seiner selbst haben können.
Mit Notwendigkeit also weist schlechthin die geschöpfliebe
Wirklichkeit und somit die Grundlage alles geschöpflichen Seins
auf einen sie wirkenden Grund, dessen Wesen durchaus abge-
schlossen in sich ist. Denn sie hat ihrer Natur nach den Grund
ihres Einzelseins allgemein anerkanntermafsen nicht in sich. Also
mufs derselbe Grund aufserhalb aller geschöpflichen Wirklichkeit
bestehen, d. h. er mufe sich selber Wesen sein. Und darin liegt
dann der Unterschied zwischen der geschöpflichen Wirk-
lichkeit und der reinen Thatsächlichkeit des Schöpfers, dafs
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356 Die Gnmdlage für den Unterschied des Natürlichen etc.
1. jene den Grund in sich besitzt nur Hir die allgemeine Gat-
tungsstufe, der sie zugehört; damit aber selber es von sich ab weist,
nur in jener bestimmten Weise im einzelnen sein zu können wie
sie wirklich ist; — und dafs 2. das Wesen des Schöpfers in sich
selber mit Notwendigkeit Einzelbestand ist, somit an sich nie
anders im einzelnen sein kann. Sowie aber dieser Einzelbestand
in Ihm Wesen ist, d. h. allumfassend, allgemein; so kann Gott
in unbegrenzter Weise für Wirklichkeiten der Grund sein, etwa
wie das Feuer von sich aus unbegrenzt, ohne sich zu erschöpfen,
wärmen kann, da die W^ärme sein Wesen ist.
Das Übernatürliche scheidet sich also hier, auch vom Ge-
schöpfe aus, vom rein Natürlichen. Vom Übernatürlichen kann gar
kein innerer Grund angegeben werden, der nicht es selber wäre; es
hat keinen. Sein Bestand ist sein Grund. Dafs die Oflfenbarung
desselben einmal feststeht; die Existenz des Übernatürlichen,
das ist davon die einzige Rechtfertigung. Gründe angeben wollen
vom Übernatürlichen heifst ebensoviel, als es in den Bereich des
Natürlichen ziehen. Erleuchten kann es wohl, so viel ihm unter-
stellt wird ; beleuchtet werden kann es nur von sich selber. Ähn-
lich wie das einzeln Wirkliche als solches bereits im Geschöpfe,
weist das Übernatürliche dies von sich ab, dafs im Geschöpf-
lichen der mafsgebende Grund von ihm niedergelegt sei. Das
Wirkliche ist das Höchste im Bereiche des Geschöpfes, denn
selbst die gewaltigsten Naturkräfte sind nichts ohne das Wirkliche;
— deshalb weist das Wirkliche aufserhalb seiner selbst auf Gott
als seinen alleinigen hinreichenden, bestimmenden Grund. Das
Übernatürliche demnach ist über alle geschöpf liehe Wirk-
lichkeit; denn es hat keinen weiteren bestimmenden oder allge-
meineren Grund aufserhalb seiner selbst, es schliefst seinen Grund
in sich ein. Es ist deshalb von seiner Natur aus herrschend,
bestimmend, mafsgebend für alles Natürliche.
Das Wirkliche hier um uns ist kein Geheimnis. Denn
es bietet kein „Heim'' unserer Vernunft; schliefst es ja doch
den Grund als einen ihm innewohnenden, soweit es wahrhaft
wirklich, etwas Einzelnes ist, von sich positiv aus und damit zu-
gleich schliefst es aus die einzige Nahrung und die Kühe unserer
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Die Grundlage für den unterschied des Natürlichen etc. 357
Vernunft. Das Übernatürliche aber ist Geheimnis. Denn in
ihm ist eingeschlossen das wahre, trauteste „Heim" unserer Ver-
nunft, von dem aus sie nicht mehr nach aufsen zu schauen, nicht
mehr zu wandern braucht: der erste Grund des All leuchtet
darin, der Gegenstand alles Verlangens. Darum bilden die wahr-
nehmbare Grundlage des Übernatürlichen, welche zu deren '
Kenntnis fuhrt, auch immer gerade einzelne Thatsachen,
von denen keine weiteren allgemeinen Gründe angegeben werden
können: nämlich zuvörderst die reine Thatsächlichkeit Gottes,
dann die Thatsache der Erlösung, die Thatsache des Bestandes
der Kirche, die Thatsachen der Wunder und dgl. Das Wirk-
liche in der Natur dagegen hat zur geschöpf liehen Grundlage
in sich die Allgemeinheiten you Wesenheiten, Vermögen,
Kräfte; und seine Wirkung ist deshalb auch immer etwas noch
weiter Bestimmbares.
Herr Tersch hat offenbar den hl. Thomas mit Bezug auf den
eben entwickelten Punkt mifsverstanden. Denn er gibt dem
Stoffe die Charaktermerkmale der Einheit und Allgemeinheit und
macht ihn zum Gegenstande des begrifflichen Denkens, d. h.
des Abstrahierens; während er den Individuen die Vielheit und
Besonderheit zuschreibt und sie zum Gegenstande des geisti-
gen Erkennens, des Schauens macht. Obwohl nicht so klar,
wie bei andern Punkten, es erkennbar ist, ob der Verfasser diese
Anschauungsweise deqi heiligen Thomas vindiziert, so halten
wir doch darauf, bei der Wichtigkeit dieses Gegenstandes im
System des hl. Thomas, zu bemerken, dafs, sollte der Ver-
fasser sich darin auf Thomas berufen wollen, dafs er das so ver-
standene Allgemeine zum Objekt der vernünftigen Auffassung
macht, er jedenfalls das „Allgemeine" universale fiir gleich-
bedeutend mit „Unbestimmt" indistinctum genommen hat.
Es kann ja sein, dafs bei Thomas, wenn vorübergehend davon
die B/Cde ist, wie der Mensch zuerst das Unbestimmtere
auffafst, hie und da ebenfalls der Ausdruck universale gebraucht
wird. In der 85. Qu. dos ersten Teiles erklärt der hl. Lehrer
jedoch weitläufig, dafs dies im Sinne von „indistinctum" zu
verstehen sei.
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358 Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc
Denn, weit entfernt dafs die Vernunft nach Thomas im
Stoffe selbst ihren Gegenstand fände, mufs sie das Allgemeine
vom Stoffe loslösen, damit es in sie trete nnd sie vermittelst
dessen erkenne. Der Stoff ist immer das bestimmbare, im Zu-
stande des Vermögens befindliche Element; die Vernunft aber
'hat zum Gegenstände das, „was in bestimmtester Weise ist^^ Des-
halb sagt Thomas auch ausdrücklich: „das Individuum an und
für sich oder das Besondere könne ganz wohl direkter Gegen-
stand des vernünftigen Ericennens sein; nicht aber das stoffliche
Individuum oder das stoffliche Besondere'^ Er unterscheidet
also zwischen den geistigen Substanzen als Einzelwesen, und
den stofflichen. Denn jene haben dies, dafs sie Einzelwesen
sind, einzig und allein kraft dessen, dafs sie eine Wesensform in
sich tragen und dafs ihr Sein von Gott verursacht ist. Bei ihnen
unterscheiden sich nicht „Gattung" und „Einzelwesen'^, als ob
mehrere Einzelwesen in ein und derselben Gattung enthalten
wären. Der Grund für ihr Einzelbestehen ist mit in ihrer
allgemeinen Wesensform enthalten; und deshalb ist im selben
Grade ihr wirklicher Einzelbestand auch vernünftiger Erkenntnis-
gegenstand.
Das Wirkliche oder Einzelne im Stoffe aber hat es nicht
von dem allgemeinen Wesen in ihm, dafs es einzeln ist; z. B.
der einzelne Mensch hat es nicht von seiner allgemeinen Wesen-
heit „Mensch", dafs er ein einzelner, dieser und nicht jener ist;
von da her hat er vielmehr, dafs er dasselbe ist wie der
andere. Von diesem Einzelnen, Wirklichen als solchem also ist
im stofflichen Dinge keinerlei Grund vorhanden aufser im Stoffe
selber, der aber nur im allgemeinen das Einzelne begründet, dafs
nämlich das eine davon nicht das andere ist Und des-
halb führt uns gerade das Stoffliche in etwa leichter und
schneller zur Anerkennung eines selbständigen Grundes der
Schöpfung aufserhalb alles Geschöpf liehen; und somit zu einer
reich iliefsenden Quelle, um zu erkennen den Bestand von Über-
natürlichem. Dies wird uns noch eindringlicher die Erwä-
gung der besonderen Art und Weise unserer Erkenntnis
darthun.
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Die Grnndlage ffir den ünteTschied des Natürlichen etc. 359
3. Die Grundlage fdr den Unterechied des Natürlichen und
Übematärlichen von seiten der menschlich- vernünf-
tigen Kenntnis.
,yDiese Unterscheidung und Geltendmachung des Indivi-
duellen bei jedem einzelnen Menschen*', so Herr Tersch S. 161,
„gegenüber allen andern Individuen und dem Universellen der
Physis soll das charakteristische Prinzip und die philosophische
Grundlage dieser Meditationen sein; jeder einzelne Mensch soll
das gesamte Universum, das sinnliche und geistige, das wahr-
zunehmen er imstande ist, und seine Einwirkungen zwar in sich,
in sein eigenes Ich aufnehmen, es mit seinem Ich verbinden,
dann aber wieder sein Ich davon unterscheiden oder trennen
und zugleich unter Aufrechthaltung dieser Unterscheidung oder
Trennung damit wieder verbinden."
Sehen wir von dem „Universellen der Physis" ab, einem
Ausdrucke, der wegen seiner Unbestimmtheit im allgemeinen und
speziell noch wegen der nirgends im Werke genügend definierten
Physis zu wenig Halt bietet, und setzen wir dafür „den all-
gemeinen Wesenheiten und Vermögen"; so können wir diesen
Satz als die kurze Beschreibung der Aufgabe unseres Er-
kennens ganz wohl unterschreiben. Wir wollen nur näher ein-
gehen auf die Stellung des Individuellen oder Einzeln - Wirk-
lichen und des Allgemeinen zu unserer Erkenntnis; es wird
uns dies von der dritten Seite her zur Auffassung der Grund-
lage für den durchgreifenden Unterschied des Natürlichen und
Übernatürlichen hinleiten.
Es ist zu bedauern, dafs Herr Prälat Tersch bei Thomas
auf jenen Anteil an der menschlichen Erkenntnis zu wenig Rück-
sicht genommen hat, den dieser den Sinnen gibt. Er hätte in
diesem Falle dem hl. Kirchenlehrer nicht den Vorwurf gemacht,
als ob er zu viel dem rein begrifflichen Denken zuteile und
die Verbindung mit der Aufsenwelt vernachlässige. Bei Thomas
haben gerade die Sinne zum direkten Gegenstande und zur mafs-
gebenden Richtschnur ihrer Kenntnis das „Individuelle", das
Einzelne, Besondere, also die Wirklichkeit; und kraft dessen
nehmen sie in ihrer Weise Anteil an der vernünftigen Kenntnis.
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360 Die Grundlage für den unterschied des NatClrlicben etc.
In welcher Weise nun? Wir wollen es ganz kurz und präzis aus-
drücken: indem sie der Vernunft ihren Gegenstand vorbereiten
und gleichsam vorhalten. Aller Anteil der Sinne an der menschlich-
vernünfligen Xenntnis ist auf seiten des Gegenstandes-, nicht
auf Seiten des Mittels fiir die Erkenntnis. Nicht dafs die Sinne
ein Mittel sind, durch welches die Vemuntt wie etwa durch ein
Supplement ihrer Idee erkennt; nein, nach dieser Seite hin ist die
geistige Idee durchaus unabhängig und selbständig. Die Sinne sind
vielmehr für die Yeraunft, was das Gemälde für das Sehen, das
Buch für das Lesen ist. Das Gemälde ist durchaus kein Mittel,
um zu sehen vom Auge aus; dazu genügt das Lichtbild im Auge.
Das Buch macht in keiner Weise jemanden geeignet, dafs er
nun lesen kann ; dazu genügt die Fähigkeit zu lesen allein. Aber
ich kann nicht sehen, wenn kein sichtbarer Gegenstand da ist;
und ich kann nicht lesen, wenn keine Schrift vor mir sich findet.
Dabei sehe ich nur, insoweit der Gegenstand farbig ist; und ich
lese nur, soweit da etwas in verständlicher Weise Geschriebenes
vor mir liegt.
In dieser Weise gehören die Sinne wesentlich zum ver-
nünftigen Erkennen im Menschen; — nicht zwar wesen t lieh,
insoweit es auf die Richtschnur, auf das Mittel, um für die Er-
kenntnis geeignet zu sein, ankommt; sondern wesentlich, in-
soweit das Erkennen von der Vernunft aus kraft der Natur seinen
Gegenstand nicht mitsichbringt; — wie dies beim Engel der Fall
ist, dessen Natur oder Substanz selber eine Idee ist und somit etwas
unmittelbar geistig Erkennbares, sobald nur die Engel-Substanz
in Thätigkeit gesetzt ist; oder wie in unendlich höherem Grade
es bei Gotc geschieht, der seine eigene thatsächliche Erkenntnis
ist. „Das Phantasiebild", so Thomas oft, „ist für die Vernunft,
was die Farben für das Auge sind."
Sonderbare Erscheinung! Unser vernünftiger Geist wird
dann ruhig in seinem Forschen und gewinnt einen überzeugen-
den Stützpunkt für weiteres Denken, wenn er das Ergebnis
dieses Denkens, die abstrakte allgemeine Wahrheit, sich
klar machen kann an einem sinnlichen Beispiele. Versteht
der Lehrer exakter Wissenschaften es, seinen Schülern immer.
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Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc. 361
BO za sagen, handgreifliche Beispiele aus den sichtbaren Dingen,
aus der Wirklichkeit heraus zu geben, so werden diese seine
Schüler leicht Fortschritte machen. An einem Dreieck aus Holz,
aus Papier, aus Leinwand veranschaulicht der Mathematiker die
Lehrsätze über die abstrakte Dreiecksform. Thomas hat ja sogar
bei den Wahrheiten, die er über das höchste Geheimnis, die heil.
Dreieinigkeit, lehrt, die Gewohnheit, beinahe in jedem Artikel
Beispiele aus dem sinnlichen Leben zur Veranschaulichung zu
gebrauchen. Wie kommt das? Das an sich Grün d lose, was
also in sich der Vernunft keinerlei Grund vorlegt, dies soll dazu
helfen, die Vernunft zu befestigen in der rein geistigen Speku-
lation; jene Vernunft, deren Gegenstand eben nur der Grund ist?
Die Thatsache liegt vor; und die Erklärung ist bereits im
Vorhergesagten gegeben.
Die Vernunft erkennt wohl das direkt Wirkliche und Ein-
zelne, soweit die Sinne es vorhalten. Aber sie erkennt nicht
in der nämlichen Weise, wie die Sinne, unter der mafsgeben-
den Richtschnur des Einzelnen, Wirklichen. Sie erkennt die
Wirklichkeit unter der Richtschnur der allgemeinen Idee; soweit
nämlich diese bestimmte einzelne Wirklichkeit ein allgemeines
GattuDgswesen in sich trägt und darin ihren bestimmenden Grund
und die allgemeine Richtschnur ihres Seins sieht. Insoweit der
einzelne Mensch also mit allen andern Menschen das Menschsein
gemeinschaftlich hat und gemäfs diesem allgemeinen Grunde be-
stimmt ist, erkennt die Vernunft den einzelnen Menschen. Aber
ist deshalb das Einzelne als solches beim Menschen ohne allen
Grund? Das ist unmöglich. Denn wenn schon für das gemein-
same Menschsein ein bestimmender Grund vorhanden ist in der
Gattung und in der entsprechenden Idee; dann mufs ein solch
bestimmender ausreichender Grund auch da sein ftir die Grund-
lage selbst, auf der die Gattung in ihrem thatsächlichen Sein ruht,
für das Wirkliche nämlich. Wenn für einen Teil bereits ein mafs-
gebender Grund bestehen mufs, wie dies das Wesen in einem Dinge
ist, dann mufs ftir das Ganze als solches, für das Einzelwesen, so-
weit es Wesen, Vermögen, Fähigkeiten, Zustände, Thätigkeit u. dgl.
in sich enthält, auch ein bestimmender Grund da sein. Und kann
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362 Die Grundlage für den Unterschied des Natürlichen etc.
dieser Grund nicht innerhalb dieses Wirklichen als eines Wirk-
lichen sein, nun so mufs er aufsen sein. Wenn die Yei*nunft
sich beruhigt beim Wirklichsein der Dinge, wie es einmal ist,
trotzdem an sich die Sinne es vermitteln, so thut sie dies, nicht
weil die Sinne in diesem Wirklichsein ihren Gegenstand haben
und danach dieser letztere etwas Grundloses ist; — sondern
weil das Wirkliche, das die Sinne vorstellen, aus jenem ersten,
reinsten Wirklichen unmittelbar fliefst und darin seinen mafs-
gebenden Grund hat, was seinem Wesen nach Wirklichkeit
ist und demgemäfs den Grund in sich enthält für seine Wirk-
lichkeit sowie für die Wirklichkeit von Allem, was existiert
Zwei Mängel also hat die natürliche Vernunft; und sie selber
weist ihrer Natur gemäfs auf sie hin. 'Sie bringt 1. ihren Er-
kenn tnisgcgenstand nicht mit sich, sondern ist in der Yergegen-
wärtigung desselben auf die Sinne als diesbezügliche Werkzeuge,
die den Meister gleichsam den Stoff zutragen, durchaus angewiesen.
Und 2. ist ihr der Grund des Wirklichen als Wirklichen, des
Einzelnen als solchen unzugänglich, denn er ist nicht im allge-
meinen Wiesen des wirklichen Dinges vorhanden; und eine andere
Erkenntnisrichtschnur oder ein anderes Erkenntnismittel für die
Vernunft gibt es nicht im Bereiche des Geschöpflichen als das
Wesen in ihm. Da aber das Wirkliche die Grundlage ist für
alle Vermögen im einzelnen Dinge, so ist hier die Beschränkung
der Vernunft noch eine weit gröfsere wie im ersten Punkte.
Denn das Allgemeine sagt ihr nur, dafs noch endlos viele ein-
zelne Umstände und Verhältnisse es geben kann. Je mehr die
natürliche Vernunft das Allgemeine durchdringt, desto mehr offen-
bart sich ihr das Endlose. Das Feld ihrer natürlichen Thätigkeit
wird am Ende unübersehbar grofs. Man darf nur wirkliche
Fortschritte in einer Wissenschaft gemacht haben, so ist das erste
Ergebnis dieses, dafs man sieht, wie endlos viel noch übrig bleibt,
wenn man auch nur diese eine Wissenschaft vollkommen besitzen
wollte. Die Natur öffnet den Weg zum Endlosen, ohne dafs sie
jedoch jenen findet, der nicht dem Vermögen nach allgemein,
endlos ist; sondern dessen allgemeines, allumfassendes Wesen zu-
gleich notwendig einzelne Wi r k 1 i c h k e i t ist. Und warum kann sie
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Dio Grundla^^e für den unterschied des Natürlichen etc. 363
ihn, soweit es auf sein inneres Wesen ankommt, nicht finden?
Weil das Wirkliche ihr den Grund, weshalb es gerade so und nicht
anders ist, keineswegs offenbart; denn es enthält ihn nicht in sich.
Nur aber der Grund des Wirklichen, weshalb es so im einzelnen
ist und nicht anders, könnte zum Wesen der reinsten Wirklichkeit
tuhren; wie einzig und allein das Warme zum Feuer führt.
Danach bemifst sich von dieser Seite her der Unterschied
zwischen Natürlichem und Übernatürlichem folgendermafsen : Das
Übernatürliche bringt 1. seinen Gegenstand mit sich; nicht der
Sinne bedarf es, um ihn vorzustellen: „Der Lichtbringer'', sagt
Paulus, „leuchtet urplötzlich in dem innersten Herzen auf.*^ Die
Sinne können hier dienen, vorbereiten, veranschau-
lichen helfen. Aber den Gegenstand des Übernatürlichen tragen
sie in keiner Weise in sich; und in keiner Weise kann selbiger
aus dem Sichtbaren abstrahiert werden. Die Vernunft wird nach
der Seite ihres Gegenstandes hin selbständig. Im Über-
natürlichen beginnt 2. die Vernunft nicht mit allgemeinen Ideen
und Wesenheiten, um im absolut Endlosen zu enden ; — sondern
der thatsächlich Eine, von Sich aus rein Unendliche, das Mafs
und der Grund alles Endlichen in der Wirklichkeit und damit
ebenso das Mafs und der Grund alles Unendlichen dem Ver-
mögen und allgemeinen Wesen nach bestimmt die Vernunft ge-
mäfs dem endgiltig mafsgebenden Grunde; nicht wie im Bereiche
der Natur nach einem Grunde, der mit Rücksicht auf einen
andern noch weiter bestimmbar und vollendungsfähig ist.
Von diesen drei eben entwickelten Gesichtspunkten aus er-
hellt nun, wie das Natürliche vom Übernatürlichen scharf
geschieden ist; und wie die Natur selber die Grundlage für die
8kizzierung dieses Unterschiedes in sich enthält. Freilich besteht
die Offenbarung nicht ohne die Natur; aber keineswegs in einer
Weise, dafs man nicht mehr genau trennen könnte, was Natur,
was Offenbarung ist — wir sprechen von der Theorie — ; son-
dern vielmehr so, dafs die Natur immer jenes Element vorstellt,
welches durch das Übernatürliche für den letzten mafsgebenden
Zweck, der keiner weiteren Bestimmung mehr unterliegt, ge-
bührend vollendet wird.
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364 Die Grundlage fßr den Unterschied des Natürlichen etc.
Der VerfaBser der Meditationen scheint es nicht zu billi^en^
dafs Thomas sowohl in der summa G. G., wie in der summa theo-
logica von Gott her den Anfang macht. Es scheint ihm, ein ange-
messeneres Verfahren wäre es gewesen, wenn zuerst das Werk-
zeug für dieses Aufsteigen zu Gott, nämlich die Vernunft, in der
Art und Weise ihres Vorgehens zergliedert worden wäre. Mit Un-
recht ! Thomas geht durchaus logisch vor. Denn in weicher Weise
aliein kann die menschliche Vernunft in ihrer Natur und in ihrem
wissenschaftlichen Vorgehen ausreichend gekannt werden? Nur
vermittelst der Ursachen. „Wissen" heifst ja vermittelst der
Ursache erkennen. Will ich also vom inneren Wesen der Ver-
nunH wirklich etwas Zuverlässiges wissen, so mufs dies, um
objektiv wissenschaftlich zu sein, nicht vermittelst unbestimmter
Erfahrungen oder subjektiver Stimmungen und Gefühle geschehen,
sondern durch Anwendung der Ursachen auf die Vernunft: also
der wirkenden, formalen, materialen und Zweckursache. Gott ist
aber in jedem Sinne die erste aller Ursachen; denn selbst die
materiale Ursache, den zu vollendenden Stoff oder das allgemeine
Vermögen, schaift Er und für die formalen Ursachen in den Dingen
ist Er das Exemplar. Ein Absehen also von Ihm kann nur beispiel-
lose Verwirrung erzeugen in den Ansichten über die Vernunft.
Über Gott nun gewinne ich auf dem genannten Wege
keinerlei objektiv wissenschaftliche Ansicht. Denn Er hat
keine Ursachen; sein Wesen als die Formalursache in Ihm kenne
ich nicht. Also kann ich in dieser Weise keine zuverlässige
Kenntnis von Ihm erlangen. Nur das Wirkliche als Wirkung
von Ihm kann mich zur Erkenntnis seines Daseins fuhren.
Und da das Wirkliche gerade der erste direkte Gegenstand der
Vernunft ist, wenn auch unter dem Gesichtspunkte und der
Richtschnur des Allgemeinen, d. h. der Wesensgründe; das Wirk-
liche aber überall die Vernunft umgibt; — so wird sie wie von
selbst von der Wirkung zur ersten Ursache getragen und kann
dann, indem sie das Beschränkte und Beschränkende von ihr
entfernt, die Vollkommenheiten dieser ersten Ursache erforschen,
wonach ein Mafsstab gewonnen ist zur Beurteilung der geschöpf-
lichen Vermögen und Kräfte.
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Die Grundlage für den ünterBchied des Natürlichen etc. 365
Wir hätten gewiiDBcht, der Verfasser würde mit seinem tief-
frommen* Gemüte, das ihn bei jeder Gelegenheit zu den himm-
lischen Wahrheiten zieht, mit seiner Kenntnis der hl. Schrift und
der kirchlichen Gebräuche diese Meditationen ebenso behandelt
haben, wie er in einem kleinen Werkchen das Geheimnis der
hl. Dreieinigkeit behandelt hat. [Sancta Trinitas, unus Deus.
Vierzehn Vorträge, gehalten bei den Priesterexercitien in Eönig-
grätz Yon Dr. Eduard Tersch. Prag 1884 S. 274 Das ist ein
zum Herzen sprechendes, der Seele reichen Nutzen gewährendes
Büchlein. Tiefes Wissen ist hier vereint mit äufserst einfacher
Sprache. Die hl. Schrift ist mit den kirchlichen Lehrsätzen und
den Aussprüchen der hl. Väter in der erbauendsten Weise yer-
flochten. Wie aus vollem Herzen strömen da die Wasser heiliger
Wahrheiten. Ganz eigen ist diesen Exerzitien die Verbindung
der dogmatischen Wahrheiten mit den hl. Kult- Verrichtungen des
Priesters, so dafs bei dieser Lesung der Priester gleichsam in seiner
Praxis bleibt und sie würdig ausüben lernt, zugleich jedoch bis
zur erhabensten Begründung der heiligen rituellen Texte und Ge-
bräuche ohne Mühe, wie von selbst hinaufgeführt wird. Der
Verfasser wendet das Geheimnis der Dreieinigkeit an auf die
Schöpfung, die Erlösung, das Studium, die Seelsorge und das
Gebet des Priesters und schliefslich auf das heiligste Altars-
sakrament und die hl. Messe. Der Priester wird aus der Lek-
türe reichen Nutzen und bleibende Auferbauung schöpfen.] Wir
sagen, wir hätten gewünscht, er hätte seine „Meditationen" ebenso
behandelt und nicht ein fremdes Element hineingemengt, was
überall den Flug des Geistes stört. Es wird dem Verfasser
nicht gelingen, die Grundsätze der modernen, zumal der Günther-
sehen Philosophie, durch die Verbindung mit einigen Prinzipien des
hl. Thomas lebensfähig zu machen. Thomas mufs ganz genommen
werden oder nip h ts von ihm. Es braucht nicht bemerkt zu wer-
den, dafs der -Herr Verfasser das, was die Kirche von Günther-
schen Sätzen verworfen hat, ebenfalls ohne Umschweife verwirft.
Aber er möchte sich nicht gerne losreiCsen, möchten wir sagen^
vom Mechanismus der genannten Philosophie.
Jahrbach für Philosophie etc. I. *&
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VON DEM SEIENDEN.
Von Dr. Eug. Kaderävek.
l/as Seiende ist, was ist. Das Sein kann aber an dem
Seienden betrachtet werden, indem wir davon absehen, ob es
möglich oder wirklich ist. So erhalten wir das Seiende über-
haupt. Oder wir können im besondern das schlechthin Seiende
von dem in einiger Hinsicht Seienden unterscheiden; jenes ist
das Wirkliche, dieses das Mögliche. Folglich mufs die
Möglichkeit und Wirklichkeit des Seienden untersucht werden.
Schliefslich weil der Grund des Möglichen die Wesenheit, der
des Wirklichen die Wesenheit mit der Existenz ist, werden die
Wesenheit und die Existenz Gegenstand unserer Ab-
handlung sein.
Die Giltigkeit dieser Begriffe und die Richtigkeit dieser Ein-
teilung werden im Verlaufe der Untersuchung einleuchten. Vor-
läufig möge bemerkt werden, dafs die angedeuteten Begriffe im
allgemeinen Gebrauche sind, und dafs man z. B. die Tugend in
Bezug auf die körperliche Gesundheit für schlechthin gut, die
Gesundheit aber für relativ gut zu halten gewohnt ist. Indem
wir uns also auf die Erfahrung berufen, gewinnen wir einen
festen Ausgangspunkt
I.
Van dem Seienden Überhaupt.
Sobald die Vernunft des Menschen thätig zu sein beginnt,
ist der Begriff des Seienden überhaupt der erste, welchen sie
beim direkten Denken bildet. Wenn sie aber über ihre Denkakte
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Von dem Seienden überhaupt. 367
reflektiert, bo ist der Begriff des Seienden überhaupt die höchste
und letzte Stufe der die Begriffe verallgemeinernden Abstraktion.
Es handelt sich nun darum, diesen Begriff ontologisch zu erklären.
1. Der Begriff des Seienden überhaupt ist allgemein.
Denn er kommt allen Dingen zu, mögen sie wirklich oder blofs
möglich sein. In seinem Umfange ist jedoch das absolut
Nichtseiende nicht eingeschlossen, da dieses eine reine Ne-
gation des Seins überhaupt bedeutet. Es kann also das absolut
Nichtseiende, welches in gar keiner Beziehung irgend ein Seien-
des ist, nicht zugleich ein Seiendes sein. Daher gewinnen wir
den Begriff des absolut Nichtseienden nur dadurch, dafs wir in
unserem Denken das Seiende überhaupt rein negieren; denn
während das Seiende in sich erkennbar ist, ist das Nichtseiende
nur durch das Seiende erkennbar. Daraus ist aber auch er-
sichtlich, dafs der Begriff des Nichtseienden kein Begriff im
eigentlichen Sinne ist, da er jedes positiven Inhaltes entbehrt,
dafs er von uns nur nach Analogie eines Begriffes gedacht wird.
Jedoch im relativen Sinne kann Position und Negation,
Vorhandensein und Mangel des Seins in einem und demselben
Seienden vereinigt sein, so dafs dasselbe Seiende in einer Hin-
sicht als seiend, in anderer Hinsicht als nichtseiend, das Nicht-
seiende in einer Beziehung als nichtseiend, in anderer
Beziehung als seiend zu betrachten ist. Ein solcher Mangel
ist entweder rein negativ oder privativ. So z. B. ist die
Blindheit bei der Pflanze ein negativer Mangel, weil die Natur
der Pflanze das Vermögen zu sehen nicht nur nicht fordert,
sondern vielmehr ausschliefst; bei dem Menschen ist die Blind-
heit ein privativer Mangel, weil das Sehen zur Vollkommenheit
des Menschen gehört. Die Pflanze ist ein lebendes Wesen und
insofern ein Seiendes, aber sie hat nicht das Vermögen zu sehen
und insofern ist sie ein Nichtseiendes; der blinde Mensch ist als
Mensch, als ein vernünftiges Sinneswesen ein Seiendes, aber als
blinder Mensch ein Nichtseiendes. Auf ähnliche Weise ist Sein
und Nichtsein in einem und demselben Seienden verbunden, das
zwar eine vollendete Wesenheit besitzt, aber noch nicht jene
Vollkommenheit erlangt hat, welche es haben soll; so ist z. B.
25»
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368 Von dem Seienden.
ein Kind als solches ein Seiendes, als zukünftiger entwickelter
Mensch ein Nichtseiendes. Femer mofs auch das Accidenz
für ein Seiendes betrachtet werden, welches an und für sich,
Ton der Substanz losgetrennt, zu existieren nicht yermag und
darum ein Nichtseiendes zu nennen ist, welches aber, insofern
es der Substanz inhäriert, ein Seiendes ist. Schliefslich hat das
geschöpfliche Wesen sein eigenes Sein, ist darum ein Seien-
des zu nennen; insofern es aber in notwendiger Beziehung zu
einer änfsem Ursache steht^ zu dem Ideal, nach welchem es ge-
schaffen, der Macht, durch die es hervorgebracht, dem Zwecke,
für welchen es bestimmt ist^ ist es ein Nichtseiendes, da es,
Ton dem Absoluten losgerissen, kein Sein besitzt
Daraus ist ersichtlich, dafs der Begriff des Seienden über-
haupt keineswegs eine absolute Position des Seins, welche
jede Negation, jede Beziehung ausschliefst, verlangt; nur ein
Seiendes, nämlich das absolute Wesen, Gott, ist jedweder Ne-
gation, jeder notwendigen, zu seiner Wesenheit gehörenden Be-
ziehung auf ein anderes Seiende bar. Davor aber müssen wir
uns wohl hüten, das Seiende überhaupt mit dem absolut Seien-
den zu verwechseln.
2. Der Begriff des Seienden überhaupt ist ein unumgäng-
liches, notwendiges Prädikat aller Dinge, aber keineswegs
der des wirklich Seienden. Denn nur Gott ist notwendig ein
wirklich Seiendes, da er als das absolute Wesen keineswegs
nicht existieren kann; das geschöpf liehe Ding ist aber bedin-
gungsweise ein wirklich Seiendes, weil es einmal nicht existiert
hat und nun, da es existiert, auch nicht — existieren kann und
einmal nicht existieren wird. Dies kann z. B. von einem jeden
bestimmten, individuellen Tiere gesagt werden. Also ist das
Seiende überhaupt nicht zugleich absolut
3. Das Seiende überhaupt ist zwar nicht der Zahl nach
Eines, wohl aber ist jedes Seiende seinem Wesen nach
Eines, indem es in sich ungeteilt, von allen anderen geschieden
ist Wer diesen Unterschied nicht macht, identifiziert das Seiende
überhaupt mit Gott der im eminenten Sinne durch sich selbst
der Natur nach Einer, ein einziger ist
Öigitizedby Google
Von dem Seienden überhaupt. 369
4 Das Seiende überhaupt ist im logischen Sinne das
Einfachste, da dessen Begriff in seinem Inhalte nur ein Merk-
mal hat, in welchem keine Teile za unterscheiden sind. Diese
logische Einfachheit ist wohl zu unterscheiden nicht nur von dei
physischen Einfachheit, welche wir z. B. von der Seele aus-
sagen, sondern auch von der metaphysischen, welche dem
absoluten Wesen, Gott, eigen ist Darum ist das Seiende über-
haupt mit dem metaphysisch einfachen Wesen, welches nicht
blofs nicht aus physisch realen Teilen besteht, sondern in welchem
auch keine reale Distinktion zwischen metaphysischen Bestand-
teilen, wie z. B. zwischen Sein und Dasein, Wesenheit und At-
tribut, Substanz und Accidenz, Natur und Thätigkeit, obwaltet,
nicht zu yerwechseln.
5. Das Seiende überhaupt ist unbestimmt. Das mensch-
liche Denken gibt diesem Begriffe einen Inhalt weder aus ihm
selbst, noch aus sich selbst, sondern von aufsen, von den wirk-
lich existierenden Dingen. Als unbestimmt ist das Seiende über-
haupt weder ein reines Nichts, ein ganz und gar Nicht-
seiendes, noch das absolute Wesen. Das reine Nichts ist
nicht, kann also auch nicht bestimmt werden. Während ferner
das Seiende überhaupt, von dem unser Denken beginnt, weil es
logisch durchaus einfach ist, einer Bestimmung entgegen harrt
und wie wir es denken, auch nur in unseren Gedanken sein
kann, und während es durch die Bestimmung das, was es in
sich nicht enthält, erst bekommen mufs, um in der Wirklichkeit
dasein zu können: ist das absolute Wesen, der Anfang und die
Ursache der geschöpflichen Dinge, ohne Bestimmung zu denken,
insofern wir durch nichts, was wir von ihm denken, sein Wesen
begrenzen dürfen, als hätte es nur dieses oder jenes Positive
und Vollkommene und kein anderes; jedoch ist das absolute
Wesen keineswegs in dem Sinne ohne Bestimmung zu denken,
als wenn es der Bestimmtheit gebräche; es mufs nicht, um in
seiner Eigentümlichkeit für sich und von anderen unterschieden
dazusein, etwas, was es nicht hat, erhalten, sondern eben darin
besteht seine Eigentümlichkeit und eben dadurch ist es von dem
Seienden überhaupt verschieden, dafs es die unendliche Fülle
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370 Von dem Seienden.
alles Seins ist, der nichts weiter beigelegt, über die hinaus nichts
gedacht werden kann, und dafs es keine weitere Bestimmung
erhalten kann, während das Seiende überhaupt die Leere ist,
der nichts beigelegt ist, aber alles beigelegt werden kann. Von
dem Seienden überhaupt gelangt unser Denken zum absoluten
Wesen, indem es zuerst jenem ersten leeren Begriffe von den
wirklich existierenden geschöpf liehen Dingen Inhalt gebend diese
Dinge begrifflich erkennt, dann aber aus den geschöpf liehen
Dingen mittelst des Kausalitätsprinzips a posteriori das Dasein
ihres Urhebers, der ersten ursachlosen Ursache, erschliefst und
sein Wesen auf dem Wege der Ursächlichkeit, Verneinung und
unendlichen Steigerung bestimmt.
6. Das Seiende überhaupt kann nicht definiert werden.
Denn jede Definition geschieht durch Angabe logisch einfacherer,
weniger bestimmter Begriffe ; der Begriff des Seienden überhaupt
ist aber der logisch einfachste, der am wenigsten bestimmte^
60 dafs es keinen einfachem, weniger bestimmten Begriff gibt
Er bedarf aber auch keiner Definition, da er an sich der klarste
von allen ist und zur Erklärung aller übrigen Begriffe dient
Wenn aber eine reale Definition des Seienden überhaupt weder
möglich noch notwendig ist, so kann es doch wenigstens dem
Namen nach definiert werden. Auch hierin unterscheidet sich
das Seiende überhaupt von dem absolut Seienden, weil dieses
durch eine reale Definition dem Verständnis nahe gebracht wer-
den kann. Jedoch ist die reale Definition Gottes nur eine
analoge; denn Gott kann nicht so definiert werden, wie die
geschöpflichen Dinge, nämlich durch Angabe des nächsten Gat-
tungsbegriffes und der spezifischen Differenz, weil er weder als
untergeordnet noch als beigeordnet gedacht werden kann. Wie
entsteht nun die Definition Gottes? Der Begriff Gottes findet
sich bei allen Menschen, deren Vernunftthätigkeit gehörig ent-
wickelt ist, selbst bei jenen, welche seine Existenz leugnen.
Alle denken Gott als das höchste Wesen; das ist eine nominale
Definition. Von da ausgehend können wir das Dasein Gottes
aus unserer äufsem und innem Erfahrung vermittelst der logi-
schen Gesetze deduzieren; und so kommen wir zur Erkenntnis
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Von dem Seienden überhaupt. 371
Gottes als der ersten Ursache. Die erste Ursache könnte er
aber nicht sein, wenn er nicht aus sich wäre. Daraus ergibt
sich folgende Definition: Gott ist der aus sich Seiende. Diese
Definition hat die begriffliche Erkenntnis der geschöpflichen
Dinge zur Voraussetzung und zeigt, was Gott ist und wodurch
er sich you den geschöpf liehen Dingen unterscheidet; darum ist
sie ganz gewifs real. 8ie ist aber auch wesentlich, weil darin
das konstitutive Prinzip der göttlichen Wesenheit angegeben ist,
und weil daraus alle Attribute derselben entwickelt werden
können.
7. Der Begriff des Seienden überhaupt ist zwar der all-
gemeinste; aber er ist weder ein univoker Begriff, d. h.
ein solcher, welcher von mehreren Dingen in ganz gleichem
Sinne gebraucht und ausgesagt wird, wie z. B. der auf Schild-
kröten, Krokodile, Schlangen und Echsen bezogene Begriff des
Kriechtieres, noch ein äquivokes Wort, wie z. B. das von
dem Hahne und dem Franzosen gebrauchte Wort gallus. Er
ist vielmehr analog, und zwar insofern als was der gemein-
same Naifie des Seienden überhaupt aussagt, in allen Dingen
wirklich und auf eine weder ganz gleiche noch ganz verschiedene,
sondern nur ähnliche Weise ist, insofern als was der gemein-
same Name des Seienden überhaupt aussagt, seiner Natur in jed-
wedem, aber in Einem mit Vorzug und in den Übrigen mit Ab-
hängigkeit von diesem, und zwar nicht mit jeder beliebigen Abhän-
gigkeit, sondern mit jener, die das Dasein bedingt, sich vorfindet.
Diese Analogie heifst analogia secundum denominationem
propriam. Femer hat der Begriff des Seienden überhaupt zwar
eine Analogie mit einem Gattungsbegriffe und scheint der
höchste Gattungsbegriff zu sein, ist aber ein solcher dem
Wesen nach nicht, ist von einem eigentlichen Gattungs-
begriffe wesentlich verschieden. Denn jeder Gattungsbegriff
fafst verschiedene Artbegriffe unter sich, deren jeder aufser dem
Gattungsmerkmal eine von diesem verschiedene Bestimmung
haben mufs; nun gibt es nichts, was aufser den Begriff des
Seienden fiele; also kann zum Seienden keine von ihm ver-
schiedene Differenz hinzutreten. Darum heifst der Begriff des
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372 Von dem Seienden.
Seienden überhaupt transcendent Somit steht das Seiende über-
haupt aufser und über aller Gattung. — Auch in diesem
Punkte ist das Seiende überhaupt von dem absolutSeienden
wohl zu unterscheiden, weil dieses ganz und gar nicht allgemein,
sondern auf eine vorzügliche Weise indiyidual ist und insofern
transcendent zu nennen ist, als es sachlich und wesentlich
von den geschöpfliohen Dingen unterschieden und über alles,
was aufser ihm ist und gedacht werden kann, unendlich er-
haben ist.
8. Auf das Seiende überhaupt beziehen sich folgende a priori
evidente Grundsätze:
a) Wenn wir nur das Seiende überhaupt in Betracht ziehen,
so versteht sich von selbst, dafs jedes Seiende das ist, was es
ist, d. h. sein eigenes Sein hat Diesem ontologischen Grund-
satze der Identität entspricht der logische Grundsatz: Wenn
einem Subjekte eine Bestimmung in einer gewissen Beziehung
zukommt, dann mufs ihm dieselbe in jener Beziehung, in welcher
sie ihm wirklich zukommt, auch im Denken erteilt werden. Dieser
Grundsatz ist das höchste Prinzip einer jeden Wissenschaft.
Denn von dem Begriffe eines Gegenstandes geht man aus, um
seine wesentlichen Eigenschaften und alles, was sonst über ihn
gelehrt wird, wissenschaftlich zu begründen. Demnach liegt
jeder BeweisftLhrung, die eigentliches Wissen erzeugt, die Wahr-
heit des Urteiles zugrunde, in welchem von dem Gegenstande des
Begriffes die Merkmaie, aus denen er besteht, ausgesagt werden:
was eben den Grundsatz der Identität, dafs die Merkmale dem
Begriffe gleich sind, voraussetzt oder einschliefst
b) Stellen wir die Begriffe des Seienden überhaupt und des
absolut Nichtseienden zusammen, so ergibt sich der zweite Grund-
satz des Widerspruches: Kein Seiendes kann seines eigenen
Seins entbehren; denn es kann nicht zu gleicher Zeit und in
der nämlichen Beziehung seiend und nicht seiend sein, nicht zu
gleicher Zeit und in der nämlichen Beziehung eine Realität ein-
schliefsen und ausschliefsen. Kann aber ein und dasselbe nicht
zu gleicher Zeit und in der nämlichen Beziehung sein und nicht
sein, so ist immer nur das Eine von beiden möglich: entweder
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Von dem Seienden überhaupt. 373
68 ist oder es ist nicht; es hat entweder eine bestimmte Realität
oder es hat sie nicht Damm kann man mit dem Grandsatze
des Widerspruches den des ausgeschlossenen Dritten ver-
binden. Jedoch in yerschiedener Beziehung kann in einem und
demselben Dinge Sein und Nichtsein vereinigt sein ; das Positive
in dem Dinge ist seine Realität, das Negative der Mangel einer
andern Realität. Dem ontologischen Grundsatze des Wider-
spruches und des ausgeschlossenen Dritten entspricht dieser
logische Grundsatz: Wenn einem Subjekte eine Bestimmung
in einer Beziehung nicht zukommt, so mufs ihm diese Bestim-
mung in der Beziehung, in welcher sie ihm nicht zukommt, auch
im Denken abgesprochen und darf ihm nicht zu gleicher Zeit
und in derselben Beziehung zugeteilt werden; handelt es sich
um eine Bestimmung rücksichtlich eines Subjektes in unserem
Denken, so mufs diese Bestimmung dem Subjekte im Denken
entweder zugeteilt oder abgesprochen werden. Während der
Grundsatz der Identität bei direkter Beweisführung das
höchste Prinzip einer jeden Wissenschaft ist, bildet der Grund-
satz des Widerspruches mit dem des ausgeschlossenen
Dritten die Grundlage bei indirekter Beweisführung, welche
die Wahrheit der Sache aus der Unmöglichkeit ihres Gegenteils
darthut. Denn diese Beweisführung ruht immer auf dem Satze
des Widerspruches, weil erst dann die Unmöglichkeit von etwas
vollständig nachgewiesen ist, wenn man zur Folgerung geführt
wird, dafs ein und dasselbe zugleich sein und nicht sein würde.
Daraus aber geht hervor, dafs der Satz des Widerspruches mit
dem des ausgeschlossenen Dritten für den absolut höchsten ge-
halten werden kann, weil durch ihn auch jene Prinzipien selbst,
von denen es keine direkte Beweisführung geben kann, wenig-
stens indirekt bewiesen werden.
c) Daför, dafs einem Dinge eine Realität zukomme und nicht
vielmehr nicht zukomme oder umgekehrt, mufs immer ein hin-
reichender Grund vorhanden sein. Darum ist der Grundsatz
des hinreichenden Grundes: „Es gibt nichts ohne hinreichen-
den Grundes ein allgemeines Gesetz alles Seienden. Diesem
ontologischen Gesetz entspricht das logische Grundgesetz:
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374 Von dem Seienden.
Ohne hinreichenden Grund darf man im Denken einem Gegen-
stande eine Bestimmung weder zusprechen noch absprechen; ist
ein hinreichender Grund dafür gegeben, dafs eine Bestimmung
einem Subjekte zukommt, so mufs man sie yon ihm aussagen;
ist aber ein hinreichender Grund dafür gegeben, dafs eine Be-
stimmung einem Subjekte nicht zukommt, so mufs man sie ihm
absprechen. Auch das Prinzip vom hinreichenden Grunde ist
eine Grundlage der wissenschaftlichen Beweisführung.
Denn nur jenes Erkennen kann vollkommen genannt werden
und für eigentliches Wissen gelten, durch das die Wahrheit der
Sache aus ihrem Grunde erkannt wird; jene Beweisführung ist
wissenschaftlich, die, was zu beweisen ist, aus dem Grunde,
durch den es ist, darthut.
Diese drei ontologisohen Prinzipe sind Grundsätze alles
Seienden nicht nur insofern, als das Sein im Sinne von Realität
gefafst wird, sondern auch insofern, als es Existenz bedeutet
Entsprechen aber wirklich die ontologischen Grund-
sätze den logischen und umgekehrt? Ganz gewifs. Denn
wären die Gesetze unserer Vernunft nicht die der Natur, so
würden wir uns vergebens bemühen, sie ihr aufzudringen^ wären
die Gesetze der Natur nicht in unserer Vernunft, so vermöchten
wir nicht sie zu begreifen. Ferner ist unser denkender Geist
mit dem Körper zu einem Wesen verbunden, und der Eörper ge-
hört zur sichtbaren Natur; folglich mufs zwischen dem denkenden
Geiste und der sichtbaren Natur eine Harmonie herrschen, welche
jenes Entsprechen notwendig mit sich bringt Was ist aber die
Ursache, dafs einander entsprechende Gesetze im denkenden
Geiste und in der sichtbaren Natur sich vorfinden und dafs sie
in der intellektualen Erkenntnis sich vereinen? Beide haben
eine höhere, gemeinsame Ursache, eine Urvemunfl, die zugleich
Urkrafb ist, mit einem Worte Gott Übrigens hängt die Frage
über die Übereinstimmung der ontologischen Grundsätze mit den
logischen mit jener Frage innig zusammen, ob und wie die von
uns gedachten Wesenheiten der Dinge den wirklichen Wesen-
heiten derselben entsprechen. Darüber wird später die Bede
sein.
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Von der Wirklichkeit und Möglichkeit. 375
II.
Van der WirMichkeU und Möglichkeit.
In allen Gebieten des menschlichen .Wissens spricht man
vom Schlechthinigen nnd Kelativen, von dem, was in sich
betrachtet das ist, was es heifst, nnd von dem, was dnrch Be-
ziehung auf ein Anderes das ist, was es heifst Und dies ist
ganz natürlich, da die Dinge nicht blofs für sich, sondern auch
für einander sind, da sie einen gemeinsamen Ursprung und einen
gemeinsamen Zweck haben und bei aller V^erschiedenheit unter
sich dennoch sich zur Erreichung ihrer eigenen Vollkommenheit
wechselseitig unterstützen und in ununterbrochener Wirksamkeit
die einen für die anderen thätig sind. So fragt man z. B.: Was
ist der Regen an und för sich und was in Bezug auf den Erd-
boden? Was ist das Urteil an sich und was in Bezug auf den
Schlufs? Was ist ein Dreieck an sich und was in Bezug auf
ein Prisma? Was ist die Psychologie an sich und was in Bezug
auf die Pädagogik? Was ist die körperliche Gesundheit an sich
und was in Bezug auf die Tugend? Wir können sagen, dafs
diese Betrachtung allgemein und wesentlich ist Folglich können
wir sie auch auf das Seiende überhaupt ausdehnen und yom
schlechthin Seienden oder Wirklichen und vom relativ Seienden
oder Möglichen sprechen.
Bevor wir die Wirklichkeit und Möglichkeit untersuchen,
möge man uns eine doppelte Bemerkung erlauben. 1. Das
Schlechthinige ist mit dem Absoluten nicht identisch.
Denn was in einer Ordnung ein schlechthin Seiendes ist, kann
in einer andern Ordnung ein relativ Seiendes sein; so z. B. ist die
körperliche Gesundheit in der physischen Ordnung schlechthin
gut, jedoch in der ethischen Ordnung relativ gut; die Tugend
ist in Bezug auf die körperliche Gesundheit schlechthin gut,
in Bezug auf Gott relativ gut. Das absolut Seiende ist aber nicht
notwendig für etwas anderes, von ihm ist aber alles, was wie
immer ist, abhängig; es hat nicht nur das Sein, sondern es ist
auch das Sein selbst; es ist das schlechthin Seiende im höchsten
Grade, auf unendliche Weise, im umfassendsten Sinne des Wortes.
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376 Von dem Seienden.
2. Hat Amtotelea in den Worten &6va(iiq und ivrsXixBia
ein Asyl der Unwissenheit eröffnet? Gibt es einen Unter-
schied zwischen dem Möglichen nnd Wirklichen? Kann
das, was nicht ist, sein, das, was ist, nicht sein? Und in welchem
Sinne? Die erste Frage rnnfs verneint, die zweite und dritte
bejaht werden. Aristoteles beweist die Richtigkeit seiner Unter-
scheidung, indem er sich aaf die Erfahrung beruft. Es ist nämlich
bekannt, dafs der Künstler seine Kunst besitzt, wenn er sie auch
nicht anwendet; dafs er sie nicht verliert, wenn er sie anzu-
wenden aufhört; dafs er sie nicht von neuem erhält, wenn er
sie anzuwenden • wieder anfangt. Es gibt also ruhende Ver-
mögen, und es mufs zwischen dem Vermögen und der ihm ent-
sprechenden Wirksamkeit ein Unterschied bestehen. Ebenso
verhält es sich mit dem Vermögen zu sehen, zu hören; wer
nicht sieht, könnte sehen, und wer sieht, könnte nicht ~ sehen.
Mit Aristoteles können wir über das Wirkliche und Mög-
liche Folgendes aus der Erfahrung entnehmen:
Überall bemerken wir Thätigkeit, d. h. ein Wirken, das
Veränderungen hervorbringt, auch bei lebenden Wesen, welche,
indem sie auf sich selbst verändernd einwirken, nicht ihrem
ganzen Wesen nach dabei thätig und leidend sind, sondern sich
wie anderes zu sich selbst verhalten. Dieses Wirken setzt ein
Prinzip voraus, ein Vermögen. Wir müssen aber hier ein dop-
peltes Vermögen unterscheiden: in dem Thätigen das Ver-
mögen zu wirken, d. h. den Grund, weshalb das Thätige auf
ein anderes verändernd einwirken kann, und in dem Leidenden
das Vermögen zu leiden, d. h. den Grund, weshalb das
Leidende die Einwirkung empfangen und verändert werden kann.
Dies anzunehmen fordert das Prinzip des zureichenden Grundes.
Durch wiederholte Thätigkeit wird das thätige Vermögen, wie
die Erfahrung lehrt, vervollkommnet; es ist also auch in Bezug
auf das thätige Vermögen das Wirken als Verwirklichung zu
bezeichnen, durch welche das Vermögen zum Wirken ausge*
rüstet wird. Wenn auch jene Verwirklichung in Bezug auf
die Thätigkeit, zu der sie ausrüstet, Vermögen ist, so heifst sie
doch die erste Verwirklichung, insofern sie das Vermögen
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Von der Wirklichkeit und Möglichkeit 377
YervoUkommnet; dieses Wirken, zn dem das Yennögeii ausge-
rüstet wird, heifst die zweite Verwirklichung. Jene Ver-
wirklichung oder Ausrüstung des Vermögens zum Wirken können
wir accidentelle Form, Fähigkeit (habitus) nennen. Neben
der aocidentellen Form haben wir auch eine substanziale
Form des Körpers, welche mit dem Worte Verwirklichung
bezeichnet werden kann; derselben entspricht die erste Materie
als leidendes Vermögen, als das Bestimmbare, als das Zu-
▼erwirklichende. Dafs die konstitntiTen Prinzipien alier Körper
die erste Materie und die substanziale Form sind, wird in der
peripatetischen Philosophie a posteriori nachgewiesen. Ich führe
als Beispiel solcher Beweise an, dafs Einheit und Ausdehnung,
Aktivität und Passivität jedem Körper als solchem zukommen;
Einheit und Ausdehnung können nicht ein und dasselbe zum
Prinzip haben, ebensowenig die Aktivität und Passivität, da Ein-
heit und Ausdehnung eine entgegengesetzte Tendenz haben und
Aktivität und Passivität zn einander im Gegensatz stehen; folg-
lich mufs die Einheit und Aktivität ein anderes Prinzip haben
als die Ausdehnung und Passivität. Endlich mufs in allen Dingen,
die sein und nicht-sein können, das Dasein als Verwirk-
lichung, die Wesenheit als Vermögen betrachtet werden;
darüber wird im dritten Abschnitte gehandelt.
Die Verwirklichung bedeutet also, 1. dafs ein Wesen handelt,
2. dafs es eine Fähigkeit, wodurch ein Vermögen zum Wirken
ausgerüstet wird, besitzt, 3. dafs es durch eine Form bestimmt
ist, 4. dafs es da ist. Dem entsprechend bezeichnet das Ver-
mögen, 1. dafs ein Wesen handeln kann, 2. dafs es eine Fähig-
keit, wodurch ein Vermögen zum Wirken ausgerüstet wird, be-
sitzen kann, 3. dafs es durch eine Form bestimmt werden kann,
4. dafs es da sein kann. Das erste Vermögen heifst aktiv, das
zweite und dritte subjektiv oder rezeptiv oder passiv, das vierte
objektiv. Auch die Logik spricht bei den Begriffen von Ver-
wirklichung und Vermögen; denn der Artbegriff besteht aus dem
Gattungsbegriffe und dem spezifischen Unterschiede, welche sich
zu einander verhalten wie Vermögen zur Verwirklichung, wie
Materie zur Form.
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378 Von dem Seienden.
Das vierte, objektive Yermögen, schliefst in sich die
innere und äufsere Möglichkeit. Die innere Möglichkeit
besteht darin, dafs etwas von innerem Widerspruche frei ist,
dafs etwas gedacht solche Merkmale besitzt, die einander nicht
widersprechen; die äufsere Möglichkeit besteht darin, dafs eine
Ursache da ist, welche dieses innerlich Mögliche in die Existenz
überzufuhren imstande ist. Diese beiden Möglichkeiten verhalten
sich zu einander in der Weise, dafs die innere absolut, die äufsere
relativ ist, weil etwas für die eine Ursache äufserlich möglich
sein kann, während es fiir eine andere nicht möglich ist. Femer
ist die innere Möglichkeit metaphysisch, die äufsere entweder
physisch oder moralisch; physisch möglich ist, was den physi-
schen Gesetzen nicht widerstreitet, was nach physischen Gesetzen
geschehen kann, — moralisch möglich, was der allgemein mensch-
lichen Sitte nicht widerstreitet, was nach allgemein menschlichen
Sitten geschehen kann. Das objektiv Mögliche ist wohl zu unter-
scheiden von dem reinen oder absoluten Nichts; denn
wiewohl jenes kein real Seiendes ist, so mufs es doch als ein
ideal Seiendes betrachtet werden. Das reine Nichts ist eine
gänzliche Negierung alles Seins und kann nicht an und für sich
gedacht werden, das objektiv Mögliche ist aber etwas Positives
und kann an und für sich gedacht werden; ein objektiv Mög-
liches wird von einem andern objektiv Möglichen unterschieden,
während es unmöglich ist, ein reines Nichts von einem andern
zu unterscheiden; schliefelich kann das objektiv Mögliche in die
reale Existenz übergeführt werden, während wir dasselbe von
dem reinen Nichts nicht behaupten können.
Zu dem objektiv Möglichen steht das objektiv Unmög-
liche im Gegensatz. Die innere oder absolute Unmöglich-
keit besteht im Nichtvorhandensein der innem oder absoluten
Möglichkeit, die äufsere oder relative Unmöglichkeit im
Nichtvorhandensein der äufsem oder relativen Möglichkeit So-
wie alles relativ Mögliche absolut möglich sein mufs, aber nidit
umgekehrt, so ist alles absolut Unmögliche auch relativ unmög-
lich, aber nicht umgekehrt Was von der Möglichkeit gilt, kann
auch auf die Unmöglichkeit bezogen werden; die absolute
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Von der Wirklichkeit und Möglichkeit. 379
Unmöglichkeit ist metaphysisch, die relative entweder physisch
oder moralisch. Ein Maler konzipiert im Geiste eine Idee, welche
keinen Widerspruch in sich tafst, und hat auch alle Mittel, die-
selbe darzustellen; in diesem Falle sprechen wir von innerer
und äufserer Möglichkeit. Jedoch die konzipierte Idee in einer
vollkommen adäquaten Weise äufserlioh darzustellen ist ihm
physisch unmöglich; physisch möglich, aber moralisch unmöglich
ist es, ein Bild zu verfertigen, welches das sittliche Geföhl
des Zuschauers direkt beleidigen würde. Ferner ist es meta-
physisch unmöglich, dafs ein Körper ohne Lebensprinzip lebe;
physisch unmöglich ist es, dafs der Planet sich von seinem Fix-
stern losreifse; moralisch unmöglich ist es, dafs der Mensch
seinem Wohlthäter mit schnödem Undank vergelte.
Die objektive Möglichkeit geht in Wirklichkeit
über, wenn etwas aufser den Verstand, der es denkt, und
aufser die Ursache, welche es der Potenz nach in sich schliefst,
versetzt wird, so dafs es für und in sich besteht. Über diese
Wirklichkeit wird später die Rede sein.
Mit der Unmöglichkeit hängt die Notwendigkeit zu-
sammen, insofern dasjenige notwendig ist, dessen kontradikto-
risches Gegenteil unmöglich ist. Ist dieses kontradiktorische
Gegenteil unter jeder Bedingung unmöglich, dann ist die Not-
wendigkeit eine absolute; die Existenz Gottes ist, wie später
gezeigt wird, absolut notwendig, da es unter keiner Bedingung
möglich ist, dafs Gott nicht existiere. Ist aber das kontradikto-
rische Gegenteil nur unter einer gewissen Bedingung unmöglich.
80 ist die Notwendigkeit blofs hypothetisch; diese Notwendig-
keit kommt den bereits existierenden geschöpflichen Wesen zu.
In einer andern Hinsicht wird die Notwendigkeit wie die Mög-
lichkeit eingeteilt in die metaphysische, physische und moralische.
Metaphysisch notwendig ist dasjenige, dessen kontradiktorisches
Gegenteil innerlich unmöglich ist; so mufs der Kreis rund sein.
Physisch notwendig ist dasjenige, dessen kontradiktorisches
Gegenteil nach physischen Gesetzen nicht geschehen kann; so
mufs Sauerstoff und Wasserstoff chemisch verbunden Wasser bil-
den. Moralisch notwendig ist dasjenige, dessen kontradiktorisches
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380 Von dem Seienden.
Gegenteil nach allgemein menschliohen Sitten nicht geschehen
kann; so mufs die Mntter ihr Kind lieben. Mit der Notwendig-
keit steht die Zufälligkeit oder Bedingtheit im Gegensatz;
denn zufallig ist dasjenige, dessen kontradiktorisches Gegenteil
ebensogut möglich ist wie es selbst Die absolute Notwendig-
keit schliefst alle Zufälligkeit aus, die hypothetische schliefst sie
ein, da das hypothetisch Notwendige unter gewissen Bedingungen
auch nicht existieren oder anders existieren kann.
Von dem Vermögen und der Verwirklichung gelten fol-
gende Sätze:
1. Das Vermögen kann nur durch die Verwirk-
lichung definiert werden; die Verwirklichung kann gar nicht
definiert werden. Denn was sich wesentlich auf etwas anderes
bezieht und davon spezifisch bestimmt wird, kann nur durch
dieses andere definiert und erklärt werden. Nun aber bezieht
sich das Vermögen wesentlich auf die Verwirklichung und wird
von derselben bestimmt. Ferner kann der einfachste und darum
allgemeinste Begriff nicht definiert werden. Nun aber hat der
Begriff der Verwirklichung den weitesten Umfang, weil jedes
Seiende entweder als wirklich oder als möglich betrachtet werden
mufs und weil das Mögliche durch das Wirkliche definiert
werden mufs. Folglich kann die Verwirklichung nicht definiert
werden, sie kann nur durch Beispiele, etymologische Ableitung
und Anwendung von Synonymen erklärt werden. Daraus siebt
man, dafs die Verwirklichung bekannter ist als das Vermögen,
dafs jene begrifflich früher ist als dieses.
2. Bei jenem Wesen, das einem Wechsel von Veränderungen
unterworfen ist, geht das Vermögen der Verwirklichung
zeitlich voran; jedoch im allgemeinen ist die Ver-
wirklichung wenigstens der Natur nach früher als das
Vermögen. Denn wenn ein veränderliches Wesen von einem
Zustande in einen andern übergeht, so mufs die Möglichkeit in
jenen Zustand überzugehen früher sein als der Zustand selbst
Wenn wir aber das Verhältnis allgemein ins Auge fassen, so
geht die Verwirklichung dem Vermögen voran, wenigstens der
Natur nach. Denn das Vermögen geht nicht von selbst in
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Von der Wesenheit und Existenz. 381
Wirklichkeit über, sondern wird von einem bereits wirklich
Seienden in Wirklichkeit übergeftihrt
3. Ein Ding ist insofern vollkommen, als es verwirk-
licht ist, insofern aber unvollkommen, als es zur Wirklichkeit
blofs angelegt ist.
4. Die in einer Beziehung reine Wirklichkeit kommt
jenem Wesen zu, das in dieser einen Beziehung vollkommen ist.
5. Ein Wesen, welches ganz und gar, in jeder Bezie-
hung wirklich, die mit keinem passiven Vermögen ver-
mischte Wirklichkeit selbst ist, mufs für durchaus und absolut
vollkommen gehalten werden.
6. Ein Wesen ist insofern aktiv, als es verwirklicht
ist, passiv insofern, als es zur Wirklichkeit blofs angelegt ist.
7. Ein veränderliches Wesen besteht aus Wirklich-
keit und Vermögen; ein unveränderliches Wesen ist
ganz und gar wirklich, in keiner Hinsicht zur Wirklich-
keit blofs angelegt Denn ein Wesen vrird insofern verändert,
als es in der Wirklichkeit das zu sein beginnt, wozu es vor
der Veränderung blofs angelegt war, oder hört in der Wirklich-
keit das zu sein auf, was es war, und beginnt, dazu blofs an-
gelegt zu sein, was es in der Wirklichkeit war. unveränderlich
ist aber jenes Wesen, welches irgend eine Verwirklichung weder
empfangen noch verlieren kann, welches weder ein passives Ver-
mögen noch eine blofse Anlage zur Thätigkeit besitzt; eine solche
Wirklichkeit schliefst natürlich die innere Möglichkeit ein. Aus
diesem Begriff der ünveränderlichkeit geht hervor, dafs ein un-
veränderliches Wesen eine absolut reine Wirklichkeit ist
m.
Von der Wesenheit und Existenz^
Die Untersuchung des Seienden überhaupt
führt uns zur Wesenheit und Existenz. Denn der
Begriff des Seienden überhaupt ist das erste Produkt der Ab-
straktion, welche durch die Erscheinung zum G-runde derselben
Jahrbuch fflr Philosophie etc. I. S6
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382 Von dem Seienden.
vorzudringen nnd diesen Grund für sich allein, ohne die Er-
scheinung festzuhalten sucht, welche den an sich intelligiblen
Grund der Erscheinung von dieser Erscheinung lostrennt und
ihn so durch sich selbst erkennbar macht. Dieser an sich in-
telligible Grund der Erscheinung ist die Wesenheit; der Gegen-
stand aber, welcher dem Sinne erscheint und welchem der an
sich intelligible Grund der Erscheinung zukommt, ist ein wirk-
lich existierendes, von unserem Denken unabhängiges Ding. So
sind wir zu den Begriffen der Wesenheit und Existenz gelangt
Aber auch dann, wenn wir den unbestimmten Begriff
des Seienden überhaupt näher bestimmen, sind wir an
dieWesenheit eines wirklich existierenden Dinges
angewiesen, weil wir den Inhalt der Begriffe weder aus dem
unbestimmten Begriffe des Seienden überhaupt, noch aus uns
selbst schöpfen, überall begegnen wir wirklich existierenden
Dingen mit ihren Wesenheiten.
Aber auch im zweiten Abschnitte, wo über Vermögen
und Verwirklichung gesprochen wurde, trafen wir die We-
senheit und Existenz. Denn die innere Möglichkeit ist
nichts anderes als die ideale Wesenheit eines Dinges, und die
äufsere Möglichkeit beruht auf der wirklichen Existenz einer Ur-
sache, welche das innerlich Mögliche in die Existenz überzu-
führen imstande ist.
Folglich sind wir berechtigt, über die Wesenheit und Exi-
stenz zu sprechen. Diese Untersuchung wollen wir nun anstellen
in der festen Überzeugung, dafs es wirklich existierende
Dinge gibt, welche ihre eigenen Wesenheiten haben, dafs wir
die Wesenheiten wirklich existierender Dinge zu erkennen im-
stande sind und auch einige Wesenheiten wirklich erkennen.
Diese Überzeugung kann uns der wirkliche und absolute
Zweifel nicht nehmen, weil dieser unnatürlich, widerspruchs-
voll und unmöglich ist Damit ist aber nicht gesagt, dafs man
einem philosophischen Dogmatismus huldigen soll. Denn wenn
auch der Geist des Menschen unter der Wahrheit steht, welche
ihn beherrscht und auch gegen seinen Willen gewifs macht, so
hat er doch ein ihm natürliches Bedürfnis, was er erkennt,
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Von der Wesenheit und Existenz. 383
durch Forschung auf die letzten Gründe zurück-
zuführen. Darum soll es unsere Aufgabe sein, auf den Grund
dieser Gewifsheit zu kommen und so dem natürlichen Bedürf-
nisse unseres Geistes gemäfs unsere Erkenntnis zu yervollkommnen,
ohne die objektive, von unserem Denken unabhängige Wahrheit
von dem Resultate unserer Forschung abhängig machen zu
wollen.
Was ist also zunächst die Wesenheit? Wesenheit
eines Dinges nennen wir den ihm immanenten, dasselbe bestim-
menden Grund, durch welchen es das bestimmte Ding ist, das
es ist; zur Wesenheit gehört die Einheit aller jener Momente,
durch welche ein Ding als das, was es ist, konstituiert wird.
Insofern die Wesenheit Prinzip der Thätigkeit ist, heifst sie
Natur. Wir unterscheiden die r e a 1 e Wesenheit von der idea-
len. Jene kommt einem Dinge zu, insofern es an und für sich
existiert; diese aber, insoferu es gedacht wird. Die reale Wesen-
heit ist zwar beharrlich, notwendig und unveränderlich, weil sie
in dem wirklichen Dinge das Erste und Bleibende ist^ das sich
nicht ändert, so lange das Ding als das, was es ist, existiert,
weil das wirkliche Ding dieselbe haben mufs, wenn es das sein
soll, was es ist; jedoch ist sie zeitlich, bedingt und veränderlich,
weil sie mit dem wirklichen Dinge entsteht und vergeht, mit
ihm dessen Zeitlichkeit, Bedingtheit und Vergänglichkeit teilt.
Allein von der idealen Wesenheit mufs die Beharrlichkeit, Not-
wendigkeit und Unvergänglichkeit im schlechthinigen Sinne be-
hauptet werden; sogar negativ ewig ist sie, weil sie an keine
Zeit, an keinen Ort gebunden ist, von allen zeitlichen und ört-
lichen Bedingungen absieht.
Wo bat nun die ideale Wesenheit ihren Grund?
In sich selbst gewifs nicht, da sie weder aus sich, noch an und
für sich existiert. Auch in dem wirklichen Dinge nicht, da es
zeitlich, bedingt und veränderlich ist Auch in unserem Denken
nicht, weil, wiewohl wir dieselbe denken, wir uns doch ganz
bestimmt bewufst sind, dafs wir sie nicht erschaffen, sondern
finden, und weil wir selbst zeitliche, bedingte und veränderliche
Wesen sind, so dafs wir keineswegs Urheber idealer, d. h.
»IS*
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384 Von dem Seienden.
anveränderlicher, notwendiger und negativ ewiger Wesenheiten
sein können. Es bleibt nns also nichts anderes übrig als ein
absolutes, d. h. unveränderliches, notwendiges und ewiges Wesen
anzunehmen, das wirklich existierend die idealen Wesenheiten
denkt, nach ihnen wirklich existierende Dinge erschaffen hat
und unsere Seele mit einem solchen Erkenntnisvermögen aus-
gerüstet hat, damit wir aus den wirklich existierenden Dingen
seine Gedanken, die idealen Wesenheiten nach Möglichkeit
herauslesen.
Zunächst also haben die idealen Wesenheiten ihren Grund
im göttlichen Intellekte; weil aber der göttliche Intellekt
sachlich von dem göttlichen Wesen selbst nicht verschieden ist,
so mufs der entfernte Grund der idealen Wesenheiten im
göttlichen Wesen selbst gesucht werden. Indem Gott
sich selbst denkt, wie er an sich ist» denkt er auch sich selbst,
wie er nach aulsen nachahmbar ist
Wie werden die idealen Wesenheiten von uns
gedacht und wie von dem absoluten Wesen? Der
Grund der von Gott gedachten Wesenheiten der Dinge ist die
göttliche Wesenheit; der Grund der von ans gedachten Wesen-
heiten der Dinge sind die wirklich elistierenden Dinge und die
Gottebenbildlichkeit unseres Geistes. Die göttlichen Gedanken
sind adäquate Vorbilder der Dinge, unsere Gedanken unadäquate
Nachbilder. Gott sind die individuellen Wesenheiten der Dinge
bekannt, uns aber die allgemeinen, denen wir Accidentien hin-
zudenken. Gott erfafst in einem Gedanken nicht nur seine eigene
absolute Wesenheit, sondern auch die Wesenheiten aller rela*
tiven, sowohl wirklich existierenden als auch blofs möglichen
Dinge; wir denken zwar auch die Wesenheiten nicht blofs wirk-
licher, sondern auch möglicher Dinge, aber nicht alle, nicht auf
einmal, nicht immer unmittelbar. Dieser Unterschied ist be-
gründet einerseits in der absoluten Wesenheit Gottes, anderseits
in der Relativität des menschlichen Geistes.
Wie verhalten sich die von uns gedachten
Wesenheiten zu den realen Wesenheiten der Dinge?
Es scheint, dafs unsere Begriffe von den Wesenheiten der wirk-
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Von der Wesenheit und Existenz. 385
liehen Dinge den realen Wesenheiten derselben nicht entsprechen,
da unsere BegriiFe allgemein, die realen Wesenheiten aber indi-
vidaell sind. Jedoch ist dieser Widersprach nur scheinbar. Denn
wir müssen zwischen dem Inhalte des allgemeinen Begriffes und
der Form der Allgemeinheit, welche der Begriff in unserem
Denken hat, wohl unterscheiden. Der Inhalt des allgemeinen
Begriffes ist objektiv real in allen Individuen, auf welche der
Begriff sich anwenden läfst, wohl nicht in der abstrakten Form,
in welcher wir ihn denken, sondern als konkretes Sein. Die
Form der Allgemeinheit erhält der Begriff erst durch unser
Denken, indem wir ihn auf alle Individuen, deren Wesenheit
sich in demselben offenbart, beziehen und alle diese Individuen
unter demselben zusammenfassen. Die Form der Allgemeinheit,
welche der allgemeine Begriff in unserm Denken hat, beruht
auf objektiver Grundlage, indem wir nur dann wirkliche oder
mögliche Individuen unter dem Begriffe zusammenfassen, wenn
wir erkennen, dafs der Inhalt des Begriffes in einer Mehrheit
von Individuen wirklich ist oder wenigstens wirklich sein kann.
Davon, dafs wir die Wesenheiten der Dinge allgemein denken,
liegt der Grund in der Vereinigung der Seele mit dem Körper;
denn infolgedessen stellt sich die Seele die Erscheinungen der
Körper unmittelbar und zunächst vor und abstrahiert dann von
dem Sinnlichen des Gegenstandes das Intelligible desselben, die
Wesenheit, welche den Erscheinungen zugrunde liegt; das Re-
sultat dieser Abstraktion kann nichts anderes sein als eine all-
gemeine intelligible Vorstellung.^
Die Verwirklichung der Wesenheit ist die Existenz.
Während die Wesenheit dasjenige ist, wodurch wir auf die
Frage antworten, was das Ding ist, bedienen wir uns des Wortes
Existenz, um auf die Frage zu antworten, ob es ist. um den
Begriff der Existenz näher kennen zu lernen, wollen wir die
realen Wesenheiten der Dinge der uns umgebenden Welt prüfen;
dann wollen wir auf die Existenz selbst schlielsen.
Die realen Wesenheiten der Weltdinge sind, wie wir aus
Erfahrung wissen, Veränderungen unterworfen, ver-
ursacht und bedingt; als solche setzen sie eine reale
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386 Von dem Seienden.
Wesenheit voraus, welche deinen Yeränderun^n unterworfen ist,
welche als die erste Ursache jener von keiner Ursache hervor-
gebracht ist, sondern den Grund ihres Daseins in sich selbst
hat, welche so existiert, dafs sie unter keiner Bedingung nicht
existieren kann, d. h. welche notwendig ist Nach dem Eau-
salitätsgesetze, welches eine unendliche Reihe von Veränderungen,
Ursachen und Zufälligkeiten ausschliefst, mufs ein solches ab-
solute Wesen, das Gott genannt wird, existieren.
Demnach haben die realen Wesenheiten der Weltdinge
ihren Grund in der realen Wesenheit Gottes. Jedoch
ist dieser Grund ein entfernter; wenn wir nach dem nächsten
forschen, so finden wir ihn in dem freien Willen Gottes.
Wie verhält sich nun die Wesenheit zur Existenz?
Es unterliegt keinem Zweifel, dafs die ideale Wesenheit sich
von der Existenz sachlich unterscheidet» sowie dafs der Mensch
zwischen der realen Wesenheit und der Existenz einen
logischen Unterschied machen kann. Es fragt sich aber, ob der
Unterschied nicht nur logisch, sondern auch real oder
Virtual ist. Um diese Frage zu beantworten, wollen wir, nach-
dem die reale Wesenheit Gottes bestimmt worden ist, das Ver-
hältnis der Wesenheit Gottes zu seiner Existenz erörtern und
dann auf den Unterschied der geschöpflichen realen Wesenheit
von der Existenz schliefsen.
Zwischen der realen Wesenheit Gottes und seiner
Existenz besteht kein Unterschied, weder ein realer noch
ein virtualer.
Denn 1. wenn etwas in einem Dinge ist, was mit dessen
Wesenheit nicht identisch ist, mufs es verursacht sein entweder
von den immanenten Prinzipien des Dinges oder von einem Dinge,
das aufserhalb liegt Dasselbe müfste der Fall sein, wenn wir
die Identität der göttlichen Wesenheit mit der Existenz leugnen
wollten. Es ist aber unmöglich, daüs die Existenz von den im-
manenten Prinzipien einer Wesenheit verursacht sei; denn kein
Ding vermag das Prinzip seiner Existenz zu sein, wenn es eine
verursachte Existenz hat Folglich müfste ein anderes Ding die
Existenz verursachen. Das kann aber von Gott nicht gesagt
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Von der Wesenheit und Existenz. 387
werden, weil er die erste bewirkende, ursachlose ürsaohe ist
Folglich mnfs die Wesenheit Gottes mit seiner Existenz iden-
tisch sein.
2. Die Existenz verhält sich zu der realen Wesenheit wie
die Verwirklichung zum Vermögen. In Gatt ist aber nichts
blofs angelegt; alles ist in ihm aktuell, er ist die mit keinem
passiven Vermögen vermischte Aktualität Folglich ist in ihm
die Wesenheit von der Existenz nicht verschieden.
3. Was Sein hat und nicht Sein ist, ist ein Seiendes durch
Mitteilung. Gott aber hat nicht blofs Sein, sondern ist das Sein
selbst; d. h. er hat seine Wesenheit aus sich, er ist sich seine
eigene Wesenheit Wenn nun die Existenz mit der Wesenheit
nicht identisch ist, so ist er ein Seiendes durch Mitteilung.
Dann ist er nicht das erste Seiende. Er ist aber wenigstens
der Natur nach, wenn nicht zugleich der Zeit nach, das erste
Seiende. Folglich ist seine Wesenheit mit der Existenz identisch.
Was das Verhältnis zwischen der geschöpflichen resr
len Wesenheit und der Existenz betrifft, behaupten einige,
dafs der Unterschied nicht blofs Virtual, sondern auch sachlich
ist, während andere ihn blofs für Virtual halten.
Die Verteidiger des realen Unterschiedes argumen-
tieren folgendermafsen : Gott allein ist als ein Seiendes das meta-
physisch einfachste Wesen, indem er das Sein selbst ist, indem
seine Wesenheit mit der Existenz identisch ist. Dem geschöpf-
lichen Wesen kommt aber diese Einfachheit, diese reine, lautere
Wirklichkeit, nicht zu; es besteht als Seiendes aus Vermögen
und Wirklichkeit Das Vermögen ist, wenn das Seiende in Betracht
kommt» die reale Wesenheit, die Wirklichkeit ist die Existenz.
Nun aber unterscheidet sich das Vermögen von der Wirklich-
keit sachlich, somit auch die reale Wesenheit von der Existenz.
Die virtuale Unterscheidung reicht nicht hin, um das veränder-
liche, hervorgebrachte und bedingte Wesen von dem unveränder-
lichen, ursachlosen und notwendigen Wesen scharf zu trennen,
so dafs die Gefahr nicht ausgeschlossen ist, das relative Wesen
mit dem absoluten zu verwechseln. Und fürwahr ist der Unter-
schied zwischen dem relativen und absoluten Wesen ein durch-
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388 Von dem Seienden.
greifender; er mufs angenommen werden, wenn wir beide Wesen
als Seiende betrachten, weil diese Betrachtung den Grand eines
jeden andern Unterschiedes betrifft. Zwar ist es schwierig, ja
sogar unmöglich, sich von dieser metaphysischen Zusammensetzung
aus zwei sachlich verschiedenen Teilen eine sinnliche Vorstellung
zu machen; jedoch kann uns dieser Umstand nicht hindern, etwas
als wahr anzunehmen, wofür der denkende Geist triftige Gründe
findet. Das Meiste, was in der menschlichen Wissenschaft vor-
kommt, ist von der Art, dafs wir uns davon keine sinnliche
Vorstellung machen können; trotzdem halten wir es für wahr.
Die Verteidiger des nur virtualen Unterschiedes
argumentieren wieder so: Die reale Wesenheit, welche ein wirklich
existierendes Ding hat, und welche von der objektiv möglichen,
idealen Wesenheit wohl zu unterscheiden ist, mufs etwas Wirk-
liches, Aktuales enthalten, wodurch sie eben eine reale Wesen-
heit ist, und was von ihr selbst nicht verschieden ist. Dieser
Seinsgrund ist identisch mit der Existenz; denn diese bewirkt,
dafs das objektiv Mögliche wirklich wird. Nur so kann die reale
Wesenheit von der objektiv möglichen unterschieden werden.
Ferner wenn die reale Wesenheit real oder wirklich ist, so ist
sie in der Wirklichkeit; aber in der Wirklichkeit sein heifst
soviel als existieren. Bei der geschöpflichen Wesenheit unter-
scheidet sich also die Existenz nicht sachlich von der realen
Wesenheit, sondern blofs virtuell, insofern als das geschöpfliche
Wesen das Sein durch Mitteilung besitzt und darum auch nicht
existieren mufs, während Gott so existiert, dafs er keineswegs
nicht existieren kann. Schliefslich müfste man die reale Wesen-
heit als ftir sich bestehend und die Existenz als hinzutretend
denken; dies ist aber unmöglich.
Diese zweite Ansicht stützt sich auf scheinbare
Gründe. Denn 1. wirklich kann die reale Wesenheit in einem
doppelten Sinne heifsen. Entweder ist sie schlechthin wirklich,
wenn man sie mit der idealen Wesenheit vergleicht, oder relativ
wirklich, wenn man sie auf die Existenz bezieht. Im zweiten
Falle ist sie ein subjektives oder rezeptives oder passives Ver-
mögen, welches durch die Existenz verwirklicht wird. Dieser
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Von der Wesenhät and Existenz. 389
üntenchied wird von den Verteidigern der zweiten Ansicht nicht
festgehalten.
2. Wenn die reale Wesenheit von der Existenz sachlich
unterschieden wird, wird sie nicht für identisch mit der idealen
Wesenheit erklärt Denn diese ist ein blofs objektives Vermögen,
jene ein subjektives Vermögen, welches die Existenz wie eine
Form in sich aufnimmt^ um als Seiendes vollendet zu sein.
3. Die reale Wesenheit hat einen ihr eigenen Seinsgrund,
durch welchen sie sich vom Nichts und darum von der objektiv
möglichen Wesenheit, welche physisch ein Nichts ist, unter-
scheidet. Daraus aber folgt noch nicht, dafs sie mit der Existenz
identisch ist Denn die Existenz bedeutet Verwirklichung; zwi-
schen der Verwirklichung und dem physisch Nicbtseienden steht
das subjektive Vermögen; die ideale, objektiv mögliche Wesen-
heit ist ein- physisch Nichtseiendes, die reale Wesenheit ein sub-
jektives Vermögen.
4. Was eigentlich hervorgebracht wird und durch Hervor-
bringung aus dem Zustande der objektiven Möglichkeit in die
Wirklichkeit übergeht, ist weder die reale Wesenheit allein,
noch die Existenz allein, sondern ein Ding, welches aus dem
subjektiven Vermögen oder der realen Wesenheit und aus der
Verwirklichung oder Existenz besteht Ähnlich verhält es eich
mit den zwei konstitutiven Prinzipien des unorganischen Körpers,
nämlich der ersten Materie nnd der substantialen Form. Die
erste Materie ist das Bestimmbare, die Potenz, die Form aber
das Bestimmende, die Verwirklichung. Keines von beiden, weder
die erste Materie allein, noch die Form aliein ist Körper; dieser
resultiert erst aus der Einheit beider. Keines von beiden hat
ein eigenes Fürsichsein; die Form des Körpers hat ihr Sein nur
in der Materie und die Materie kann nie ohne Form sein.
5. Die reale Wesenheit und die Existenz werden von den
Verteidigern des realen Unterschiedes nicht so gedacht, als ob
die eine von der andern getrennt bestehen könnte. Eine formale
Wirkung kann in einem Subjekte nicht übrig bleiben, wenn die
Form entfernt wird. Existieren ist aber eine formale Wirkung
der Existenz, welche blofs an einer realen Wesenheit ausgeübt
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390 Von dem Seienden.
werden kann. Somit kann weder die reale Wesenheit von der
Existenz, noch die Existenz von der realen Wesenheit als wirk-
lich getrennt gedacht werden. Diese richtige Ansicht läüst sich
mit einer andern nicht minder richtigen Ansicht vereinbaren.
Soll nämlich ein Ding existieren, so reicht es nicht hin, dafs es
als eine subjektive Potenz aufser der Ursache bestehe; es mufe
als etwas Wirkliches, als ein vollendet Seiendes aufser der Ur-
sache bestehen, mag es die Verwirklichung erhalten oder an und
für sich verwirklicht sein. Jenes Wesen, dessen Wesenheit an
und fiir sich verwirklicht ist, ist Gott; hingegen erhält die ge-
schöpfliche reale Wesenheit ihre Existenz, weshalb das geschöpf-
liche Wesen als zusammengesetzt aus Wesenheit und Existenz
zu denken ist.
6. Das geschöpfliche Ding besitzt die reale Wesenheit ganz
von der Zeit an, wo es hervorgebracht ist, weil sie unteilbar
ist; jedoch kommt demselben die ganze Existenz nicht in der-
selben Weise zu, weil sie sich ho zu sagen über die successive
Dauer ausbreitet. Dieser Umstand könnte nicht begriffen werden,
wenn der Unterschied nicht sachlich wäre.
7. Endlich ist, wie bereits erörtert worden, der reale Unter-
schied zwischen Gott und den geschöpflichen Dingen illusorisch,
wenn die reale Wesenheit dieser Dinge sich nur virtuell von
der Existenz unterscheidet. Zwischen Gott und den geschöpf-
lichen Wesen ist in jeder Hinsicht ein sachlicher Unterschied,
also auch wenn wir Gott und das Geschöpf als Seiende be-
trachten.
Daraus folgt, dafs die Gründe, welche die Verteidiger des
virtuellen Unterschiedes vorbringen, nicht stichhaltig sind.
Somit ist der reale Unterschied positiv und negativ
erwiesen«
^
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•^ «^ ^Sf^ •^ •ft «^ «1^ «^ %^ •f^ •ft •f^ «1^ «^
DIE LEIDENSCHAFTEN.
ABHANDLUNG
VOM
Dr. OTTEN,
PRl8B8 DES SEUINABIÜX LIBORlANDV EU PADRRBOBN.
§6.
Farmeile und fnaterieUe Seite der Leiden&dui/t.
Die biBherige Erörterung weist auf eine doppelte Seite der
Leidenschaft hin. Man unterscheidet in ihr den einfachen Akt
des Begehrens und die körperliche Änderung, oder mit anderen
Worten eine Bewegung (als operatio genommen) der Seele und
eine Bewegung (im eigentlichen Sinne) des Körpers. Beide geben
in ihrer innigen Verbindung den vollen Begriff der passio, doch
ist als die höhere leitende Seite der schlichte Begehrungsakt
anzusehen, die körperliche Veränderung als niedere Seite. Die
Scholastiker bezeichnen jene Seite sehr richtig als das Formelle
oder auch die Form der Passion, während die Alteration des
.Körpers die Stelle der Materie vertritt. „In den Leidenschaften
des sinnlichen Begehrens ist etwas als das Materielle zu be-
trachten, nämlich die körperliche Änderung, und etwas als das
Formelle, was sich auf Seiten des Begehrens befindet, wie beim
Zorne das Materielle die Entzündung des Blutes ums Herz oder
irgend etwas Derartiges, das Formelle aber das Streben nach
Rache." (Summ, theol. I. q. 20. a. 2.) Da die passio animalis
von der Seelenbewegung ausgeht, so ist der schlichte Akt die
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392 Die Leidenschaften.
Ursache des weiteren Prozesses. Der einfache Akt besteht in
einer Hinneigung zum Objekte (in der Hinneigung ist aber das
Gegenteil y die Flucht eingeschlossen, wie sich später ergeben
wird), und wird von diesem in Bezug auf die Richtung bestimmt.
Verschiedene Schattierungen, wie sie in dem Begriff des sinnlich
Guten oder Schlechten vorhanden sind, bewirken eine Verschieden-
heit des schlichten Begehrens. Kur in Bezug auf diesen Akt, die
formelle Seite der passio, kann von einem ähnlichen Akte des
Willens die Bede sein. Das Nähere hierüber bei der Frage nach
Einteilung der Fassionen. Was die materielle Seite der Leiden*
Schaft anbetrifft, so wird sie gewöhnlich bezeichnet als trans-
mutatio corporalis. Der Zusatz corporalis ist zu beachten, denn
Thomas kennt eine andere transmutatio, mit dem Attribute spiri-
tualis. Die Erklärung der körperlichen Veränderung beginne dem-
nach in negativer Weise, durch Ausscheidung der transmutatio
spiritualis. Die letztere kann nur ein körperliches Organ treffen,
das Instrument eines Seelenvermögens, wie das Auge. Weil aber
eine körperliche Veränderung in jedem Körper, sei er belebt oder
nnbelebt, vor sich gehen kann, so sind beim Organ einer Seelen-
thätigkeit beide Veränderungen möglich, die körperliche und die
geistige. „In zweifacher Weise kann ein Seelenorgan verändert
werden : zunächst auf Grund einer geistigen Veränderung (spiri-
tualis, auch intentionalis), insofern es die Intention (Form, Bild)
eines Gegenstandes aufnimmt. Das findet man wesentlich bei der
Thätigkeit des sinnlichen Erkenntnisvermögens; wie das Auge
vom sichtbaren Gegenstande beeinflufst (verändert) wird, nicht
um farbig zu werden, sondern um die Intention der Farbe za
empfangen.'^ (Summ, theol. I. II. q. 22. a. 2. ad 3.) „Die geistige
Veränderung findet statt ,*' sagt Thomas in Summ. theoL L q.
78. a. 3., „wenn die Form des verändernden Gegenstandes ihrem
geistigen (mehr oder weniger immateriellen) Sein nach in das
leidende Subjekt aufgenommen wird, wie die Form der Farbe
in die Pupille, die hierdurch nicht koloriert wird.'' Jener Frozefi»
also, wodurch auf ein Sinnesorgan lediglich zum Zweck des sinn-
lichen Erkennens eingewirkt wird, heifst geistige Veränderung
des Organs. Wieweit indessen, abgesehen vom Auge, nach der
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Formelle und materielle Seite der Leidenschaft. 393
Ijehre der Scholastiker bei eiDzelnen Sinnegorganen aafser der
^eisti^^en auch eine körperliche Veränderung eintritt, kann hier
übergangen werden. Die transmntatio corporalis (auch naturalie
genannt) wird an letzter Stelle erklärt : „Die Änderung ist eine
natürliche, wenn die Form des ändernden Wesens in das Leidende
ihrem natürlichen Sein nach eintritt, wie die Wärme in den er-
w'ärmten Gegenstand/' Eine Form, die dem natürlichen Sein
nach in einen Körper eintritt, teilt demselben ein neues, natür-
liches Sein mit, wonach der Körper auch benannt wird. Näherhin
ist die körperliche Veränderung eine Alteration, die Einführung
einer neuen Qualität, der Wechsel des körperlichen Zustandes. Im
allgemeinen beschreibt Thomas diese Alteration mit den Worten :
„Bei jeder Leidenschaft wird der Leidende in irgend einer Weise
ans seiner wesentlichen Lage oder seinem natürlichen Zustande
gebracht (trahitur extra suam oonditionem essentialem vel con-
naturalem dispositionem)/' (Summ. phil. L 89.) Der Ausdruck:
wesentliche Lage und natürlicher Zustand bedarf einer besonderen
Erklärung, weil leicht geltend gemacht werden könnte, ein wesen t-
lieber und natürlicher Zustand sei ohne Wesensänderung nicht
denkbar. „Eine Lage (oder ein Zustand) kann in doppelter Weise
natürlich und wesentlich genannt werden. Einmal, weil sie auf
wesentliche und natürliche Prinzipien mit Notwendigkeit folgt . . .
Zweitens, weil sie stets im Geleit der Wesenheit ist, falls das
Ding st'Jner Natur allein überlassen bleibt und kein Hindernis
dazwischentritt, wie der Besitz zweier Hände dem Menschen
natürlich ist. Der erste wesentliche Zustand kann dem Dinge
bei Fortbestand des Subjektes nicht entrissen, der Zustand aber,
welcher in der zweiten Weise wesentlich und natürlich heifst,
kann durch ein Hindernis oder ein änfseres Agens entfernt werden.
Ein Wesen kann Mensch sein, ohne sich im Besitze zweier Hände
zu befinden. Nach dieser zweiten Auffassung will der hl. Thomas
▼on wesentlichem Zustande sprechen. Deshalb fugt er nach den
Worten: der Leidende wird aus seiner wesentlichen Lage ge-
bracht — damit niemand dieselben Ton den Prinzipien der Wesen-
heit oder dem daraus notwendig Folgenden yerstände — hinzu,
gleichsam zur näheren Erläuterung: oder aus seinem natürlichen
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394 Die Leidenschaften.
Zastande, als wenn er sagen wollte : ich yerstehe unter wesent-
licher Lage jeden natürlichen (connatoralis) Znstand oder das-
jenige, w^ der sich selbst tiberlassenen Natur folgt, nach
Ausschlufs jedes Hindernisses. Das tiber geschieht in etwa bei
jeder Leidenschaft, weil der Körper infolge des Begehrungsaktes
entweder warm oder kalt wird, das Herz gegen den gewöhnlichen
Naturlaufsich zusammenzieht oder ausdehnt Es heifst: in etwa
(aliqualiter), nicht schlechthin (simpliciter) wird der Leidende aus
seiner wesentlichen Lage gebracht, weil er nicht gänzlich seines
natürlichen Zustandes beraubt wird, sondern nur nach irgend einer
Seite hin, indem z. B. der Zustand mehr als gewöhnlich gesteigert
oder Terringert wird (intenditur Tel remittitur)/' (Kommentar des
Franz von Ferrara zu Summ. phil. I. 89.) Der gewöhnliche körper-
liche Zustand, der an obiger Stelle als wesentlicher oder natür-
licher bezeichnet ist, besteht nach thomistischer Anschauung in
„einer gewissen Bewegung, welche sich vom Herzen aus in die
übrigen Glieder ergiefst. Diese Bewegung kommt der mensch-
lichen Natur nach einem bestimmten Mafse zu.'' (Summ. theoL
I. IL q. 37. a. 4.) „Der Anfang der körperlichen Bewegung wird
von der Bewegung des Herzens genommen." (A. a. 0. q. 17. a. 9.)
Und da jedes Prinzip nach seiner Art unbeweglich sein mufs, wird
auch der Herzbewegung die Fähigkeit abgesprochen, dem Willens-
impulse zu folgen, wie es bei den übrigen Gliedern der Fall ist
„Aristoteles sagt, unfreiwillig seien die Bewegungen des Herzens,
weil es nämlich infolge irgend einer Erkenntnis erregt wird, in-
sofern der Intellekt und die Vorstellungskraft etwas vorstellt, aus
dem die Leidenschaften der Seele, die Bewegerinnen dieses Glie-
des, erfolgen." (A. a. 0.) Die Bewegung des Herzens ist von der
Natur geregelt, eine bestimm teRichtung ist ihr vorgeschrieben
und ein bestimmtes Mafs festgesetzt. Diese Bewegung heifst
auch motio vitalis, weil sie mit dem liCben gegeben ist und fort-
dauert. Nach dem Gesagten kann die Änderung des körperlichen
Zustandes oder Veränderung in Bezug auf die Herzensbewegung
in doppelter Weise eintreten, nämlich so, dafs die Richtung selbst,
und dann, dafs ohne Änderung der Richtung das Mafs geändert
wird. Jene bedeutet eine Änderung der Art der Bewegung, weil
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Formelle und materielle Seite der Leidenschaft 395
die Bewegung von dem Objekte, auf das sie zielt, oder der Richtung
spezifiziert wird, diese nur eine Änderung der Quantität oder
Intensität. So spricht Thomas im angezogenen Artikel von
einer Leidenschaft, „die dem menschUchen Leben rücksichtlich
der Art der Bewegung widerstrebt (quantum ad speciem motus)'^
und von anderen, „welche der Lebensbewegung nicht in Bezug
auf die Spezies widerstreben, sondern bezüglich der Gröfse (se-
cundum quantitatem)/' „Wenn jene Bewegung (motio vitalis)
über das gewöhnliche Mafs hinausgeht, widerstreitet sie nach
dem Mafse der Gröfse, nicht aber bezüglich der Ähnlichkeit in
der Art; wenn aber der Frozefs dieser Bewegung verhindert
wird, widerstreitet sie dem Leben rücksichtlich der Art/' (A. a. 0.)
Weil ein gröfseres Leiden bei der Artänderung vorliegt, so jLommt
den Leidenschaften, die diese hervorrufen, mit gröfserem Rechte
der Name passio zu, als den übrigen, wo nur die Quantität der
Bewegung sich ändert. Darüber bemerkt Cajetan zu I. IL q.
22, a. 3. „Hierauf die Antwort, dafs im allgemeinen zuzugeben
ist, jede Leidenschaft der Seele sei mit einer Änderung ver-
bunden, die gegen den gewöhnlichen natürlichen Zustand ist
(cum praetematurali mutatione), weil die Bewegung des Herzens
gesteigert wird oder von ihrer natürlichen Zuständlichkeit abläfst
Gerade davon haben jene Thätigkeiten der Seele, die wir Leiden-
schaften nennen, ihren dem Begriffe entsprechenden Namen passio.
Weil jedoch unter derartigen (praetematurales) Veränderungen
ein weiter Spielraum ist, und die weniger ungünstige Veränderung
in Bücksicht auf die schlechtere den Charakter einer günstigeren
annimmt, deshalb werden jene Fassionen, welche sich einem
schlimmeren Zustande zuneigen, mit gröfserer Berechtigung Fas-
sionen genannt. Jene Veränderungen neigen sich aber zu einem
ungünstigeren Zustande, welche die materielle Seite (materia)
der Leidenschaften sind, die in der Flucht oder dem Zurück-
weichen bestehen, wie Furcht und Traurigkeit, viel eher, als jene
Veränderungen, welche die Materie bilden für die in der Ausdeh-
nung und dem Verfolgen (extensio et prosecutio) bestehenden Leiden-
schaften, wie Liebe und Freude.'' Nach der Lehre der Scholastiker
sind die eigentlichen Träger der körperlichen Veränderung die
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396 Die Leidenschaften.
80^^. Lebensgeister (spiritus vitales), aafserordentlich feine Körper-
teilchen, welche aus dem Blnte im Herzen durch einen Verfeine-
rungsprozefs gebildet, vermittels der Arterien den Körper durch-
eilen. Bio sind wohl zu unterscheiden von den seelischen Geistern
(spiritus animales), welche durch eine erneute Beinigung aus den
Lebensgeistern entstehen und den Sinnen dienen. Die Lebens-
geister sind zugleich der Sitz und die Übermittler der Lebens-
wärme, die im Herzen, „ihrem Ofen'' bereitet ist. „Die eigent-
liche Mitgift des LebensgBistes^', sagt Goudin, „ist zu glühen und
in ruheloser, fortdauernder Bewegung dahingerissen zu werden.''
Die gewöhnliche natürliche Bewegung dieser Lebensgeister ist
die vom Herzen nach den äufseren Gliedern hin; dieselbe wird
durch eine Ausdehnung (dilatatio) des Herzens gefördert. Eine
Hemmung derselben tritt ein durch eine Zusammenziehung (con-
strictio) des Herzens, so dafs hier eine ganz ungehinderte Be-
wegung nach den äufseren Gliedern hin nicht möglich ist. ,3'^<^^*
sichtlich der Begehrung^thätigkeit kommt die Zusammenziehung
und die Niederdrückung (aggravatio) auf eins hinaus; denn da-
durch, dafs die Seele niedergedrückt wird, so dafs sie nach den
äufseren Gliedern nicht frei vorschreiten kann, zieht sie sich zu
sich selbst zurück, gleichsam in sich zusammengezogen." (Summ,
theol. I. IL q. 37. a. 2. ad 2.) Dieser doppelte Vorgang der Aus-
dehnung und Zusammenziehung wird auch wohl öiaotolrj und
övöToXi] genannt Sei es der eine, sei es der andere Vorgang, er
bildet die eigentliche Materie der Leidenschaften. Mit Absicht
sage ich „eigentliche Materie"; denn eine Bemerkung des heil.
Thomas in Summ, theol. 1. IL q. 44. a. 1. ad 2. weist noch auf
eine andere körperliche Veränderung hin, die mit den Leiden-
schaften im Zusammenhang steht Darüber äufsert sich Cajetan
zu genanntem Artikel in folgender Weise: „In derartigen Leiden-
schaften (Cajetan meint Furcht, Schmerz, Schamgefühl und ähn-
liche, welche nach oben gegebener Erörterung eine Zusammen-
ziehung — constrictio — bedingen) finden sich zwei körperliche
Bewegungen, die erste von aufsen nach innen (also die constrictio),
die zweite von innen nach den unteren oder oberen Teilen. Die
erste ist jene Bewegung, welche gleichsam die Materie der
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Formelle und materielle Seite der Leidenschaft. 397
Leidenschaft; ist, die zweite ist eher eine Wirkung derselben.
Daher kommen Schmerz und Furcht in der Bewegung, welche die
materielle Seite der Leidenschaft bildet, überein, — bei beiden
Bewegung von aufsen nach innen — aber in der nachfolgenden
Bewegung unterscheiden sie sich. Denn auf den Schmerz folgt
eine Bewegung nach oben (vgl a. a. 0. ad 2), und sofern es
nötig ist, wie in der Antwort ad 2 des genannten Artikels ge-
sagt wird, zielt die nachfolgende Bewegung in der Furcht zu-
weilen nach unten. Das aber geschieht, sooft die Furcht bis zur
Kälte führt, welche die Lebensgeister verdichtet. Es tritt aber
nicht ein, wenn die Furcht nur mäfsig ist, wie beim Schamgefühl.
Weil nämlich in letzterem der Lebensgeist nach innen zusammen-
gezogen ist, und der Gegenstand der Furcht nur dem Begehren,
nicht aber auch der Natur widerstreitet, erfolgt keine der Natur
schädliche Kälte, und so ergiefst die Seele die Röte ins Gesicht.
Immer zwar findet bei der Furcht eine Zusammenziehung nach
innen statt, aber nicht immer kommt es bis zur verdichtenden
Kälte.'^ Die nachfolgende Bewegung wird von Thomas auch in
Summ, theol. I. IL q. 44. a. 3. ad 1. berührt, wenn er sagt: „So-
bald die W^ärme von den äufseren Teilen zu den inneren zurück-
^geleitet ist, vergröfsert sich innerlich die Wärme und besonders
nach unten hin, d. h. gegen das Ernährungs vermögen, und so
erfolgt nach Verzehrung der Feuchtigkeit Durst und zuweilen auch
solutio ventris et urinae emissio et quandoque etiam seminis vel
hujusmodi emissio superiluitatum propter contractionem ventris et
testicnlorum.'^ Vgl. noch a. a. O. q. 45. a. 4. ad 1. Mag in der
Ansicht der Scholastiker über die körperliche Veränderung auch
das eine oder andere auf Grund der neueren Forschungen un-
haltbar sein, das Zeugnis kann man ihnen nicht versagen, dafe
sie keineswegs ihr System, ohne die Erfahrung zu berücksichtigen,
aufgebaut, vielmehr alle vorliegenden, wenn auch spärlichen Be-
obachtungen verwertet haben.
Aus der Lehre über die formelle und materielle Seite der
Leidenschaften lassen sich mehrere Folgerungen ziehen.
I. Wie Materie und Form überhaupt einander entsprechen,
so besteht auch eine verhältnisgleiche Beziehung zwischen der
Jahrbuch fUr Philosophie etc. J. 27
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398 Die Leidenschaften.
materiellen und formellen Seite der Leidenschaft. Der schlichte
Bcgehrangsakt ist der körperlichen Änderung ähnlich und um-
gekehrt. „In den Leidenschaften der Seele ist gleichsam die
formelle Seite die Bewegung des Begehrung^vermögens selbst»
die materielle aber die körperliche Veränderung, von denen die
eine zur anderen in verhältnisgleicher Beziehung steht; deshalb
folgt der Art und Weise der begehrenden Thätigkeit entsprechend
eine körperliche Änderung. So bedeutet die Furcht rücksichtlich
der Seelenthätigkeit eine gewisse Zusammenziehung oder Ein-
engung, und nach Weise dieser dem seelischen Streben gebüh-
renden Zusammenziehung ergibt sich bei dieser Leidenschaft aaf
Seiten des Körpers eine Zusammenziehung der Wärme und der
Geister (Lebensgeister) nach innen.'' (Summ, theol. I. II. q. 44. a. 1.)
„Es ist bei allen Leidenschaften zu beachten, dafs die körperliche
Änderung, welche in ihnen die Stelle der Materie vertritt, zur
Bewegung des Begehrens, als der Form, sich gleichartig verhält,
wie die Materie in allen Dingen der Form angepafst ist/' (A. a. 0.
q. 37. a. 4.) Der Charakter der formellen Seite ist sonach gleich-
sam der körperlichen eingedrückt, so dafs aus sichtbarer körpfir-
Hoher Änderung auf die innere Leidenschaft geschlossen werden
kann. Eine bestimmte Art der ersteren ist ein äufserer Aus-
druck fiir eine ganz bestimmte Art des inneren Begehrens. Hier-
auf stützt sich eine zweifache Weise, die Leidenschaft zu erklären,
nämlich auf Grund der materiellen oder der formellen Seite.
Diese zweifache Weise der Definition wendet z. B. Thomas an
bei Erklärung der Leidenschaft des Zornes, indem er einerseits
sagt: „Der Zorn ist das Streben nach Rache", andererseits: „Der
Zorn ist die Entzündung des Blutes ums Herz''.
II.. Wie der Form eine bestimmte Ursächlichkeit bezügUch
der Materie zugeschrieben wird, deren Gestaltung sie herror-
bringt, so mufs auch ein ähnlicher Einflufs der Seelenthätigkeit
der Leidenschaft auf die körperliche Zuständlichkeit angenommen
werden. Ganz ausdrücklich bezeugt dieses Thomas: „Die geistige
Seelenbewegung ist von Natur Ursache für die körperliche Än-
derung." (Summ, theol. I. II. q. 37. a. 4. ad 1.) Wir unterschieden
oben Änderungen des körperlichen Zustandes, welche der natür-
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Formelle und materielle Seite der Leidenschaft. 399
liehen LebensbewegUDg widerBtreben, die also ihrer Art nach auf
eine Schädigung des Lebens hinauslaufen, andere, die an und fiir
sich in gleicher Richtung mit der gewöhnlichen Bewegung sich
halten, dadurch dem Menschen nach seinem leiblichen Wohle
zuträglich sind und höchstens durch eine zu starke Regung
schaden können. Deshalb haben wir, soweit unser Wille die
Leidenschaften hervorzurufen und zu bestimmen vermag, ein
Regulativ des körperlichen Zustandes. Es liegt in etwa in
unserer Macht, gerade diejenigen Leidenschaften zu wecken,
welche dem Menschen zuträglicher sind, diejenigen mehr zu
unterdrücken, durch die ein schädigender Einflufs auf die körper-
liche Zuständlichkeit veranlafst wird. Dem Menschen ist es
möglich, durch Regelung der Leidenschaften auf den Gesund-
heitszustand fördernd oder erhaltend einzuwirken. Liebe, Freude,
Verlangen uDterstützen ihrer Art nach die Natur des Körpers,
können nur wegen Übermafses schaden, andere Leidenschaften,
wie Furcht und Verzweiflung, wirken schlechthin schädigend,
und vor allem „die Traurigkeit, welche den Geist infolge eines
gegenwärtigen Übels niederdrückt''. (Summ, theol. I. IL q. 37.
a. 4.) Falls eine Leidenschaft den Zustand des Körpers in un-
günstigem Wechsel beeinflufst, ist es geraten, durch Wirkung
einer anderen Leidenschaft eine entgegengesetzte körperliche
Änderung hervorzurufen, so dafs der ungünstigen dadurch ein
Gegenmittel geboten wird. Diese Anschauung wird durch Thomas
vertreten. „Deshalb kann auf Seiten der ZustäAdlichkeit eines
Wesens jede Traurigkeit durch irgend eine Lust besänftigt
werden.'' (A. a. 0. q. 38. a. 1. ad 1.) Zu beachten ist hierbei,
dafs nach dem Aquinaten „jede Lust jeder Unlust wenigstens
dem genus nach entgegengesetzt ist". (A. a. 0.) Das ist näm-
lich dasselbe, als wenn der Gegensatz zwischen beiden in die
materielle Seite, die Zuständlichkeit des Körpers, gelegt wird;
denn nach den Scholastikern wird das genus der materiellen
Seite entnommen. Deshalb ist bei jeder Traurigkeit die Zu-
ständlichkeit des Subjekts dem Zustande entgegengesetzt, welcher
bei jeder Lust eintritt." (Summ, theol. I. IL q. 35. a. 4. ad 2.)
«7*
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400 Die Leidenschaften.
III. Die Materie mufs zur Aufnahme der Form disponiert
werden; doch sind die Dispositionen, obwohl von der gestalten-
den Form abhängig, dem Entstehungsprozesse nach als voraus-
gehende zu denken. Hier tritt eine Aufeinanderfolge der Ord-
nung, nicht der Zeit ein. Wenden wir diese Lehre der Scholastiker
auf die Leidenschaften an, so ist zwar die körperliche Änderung
die Folge des Begehrungsaktes. Aber es kann hier, und zwar
selbst der Zeit nach, eine Art Disposition vorhergehen, durch
welche der körperliche Zustand sich dem Einflüsse dieser oder
jener Leidenschaft leichter hingibt. Die körperliche Disposition
arbeitet somit den Leidenschaften gleichsam vor, so dafs man
wohl von einer körperlichen Anlage zu bestimmten Leidenschaften
sprechen kann. Wenn die Disposition des Körpers derartig ist,
dafs sie leicht in die Zuständlichkeit übergeht, welche dieser
oder jener Leidenschaft entspricht, dafs sie derselben gegenüber
leicht erregbar ist, dürfte von einer Anlage zur Leidenschaft die
Rede sein. „Aus dem Zustande des Fleisches'*, sagt Thomas in
Summ, theol. I. II. q. 77. a. 3 ad 2, „erheben sich in uns Leiden-
schaften, weil das sinnliche Begehren eine Kraft ist, welche eines
körperlichen Organs bedarf.'* Bei der Frage, inwiefern der Teufel
die Ursache der Sünde sein könne, antwortet derselbe unter
anderem: „Er kann die Ursache der Sünde sein nach Weise
jemandes, welcher vorher disponiert, indem er nämlich durch eine
gleichartige Erregung der Lebensgeister und Flüssigkeiten (gleich-
artig der Erregung, wie sie bei den betreffenden Leidenschaften
vor sich geht) einige mehr zum Zürnen oder zum Begehren (ad
concupiscendum) oder zu einer anderen Leidenschaft geneigt macht.
Denn es ist offenbar, dafs nach einer im Körper vorherrschenden
Disposition der Mensch mehr zur Konkupiscenz und zum Zorne
und derartigen Leidenschaften hinneigt** (de malo q. 3. a. 5).
Die eigentümliche Mischung der verschiedenen Bestandteile, aus
denen der Körper besteht, oder das sogenannte Temperament
(temperamentum, complexio) ist der Grund der Veranlagung zu
verschiedenen Leidenschaften. So „sind die Sanguiniker (san-
guinei) mehr zur Liebe geneigt.** (Sunun. theol. I. IL q. 48. a. 2.)
„Die Jünglinge haben wegen der Wärme ihrer Natur viele Lebens-
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Formelle und materielle Seite der Leidenschaft. 401
geister, und so erweitert sich in ihnen das Herz, ans der Er-
weiterung des Herzens aber ergibt sich, dafs jemand nach
Schwierigem strebt, und deshalb sind die Jünglinge mit Mut und
guter Hoffnung begabt." (A. a. 0. q. 40. a. 6.) „Der Mensch
ist zum Zorne geneigt, insofern er ein cholerisches Temperament
hat" (A. a. 0. q. 46. a. 5.) Jedoch darf nicht übersehen werden,
dafs niemals eine natürliche Anlage im Menschen besteht, welche
notwendig die Leidenschaft hervorriefe selbst gegen das Wider-
streben des Willens. „Im Menschen", vgl. Thomas a. a. 0. ad 1,
„kann auf seiten des Körpers eine natürliche Zusammensetzung
beobachtet werden, welche in bestimmten Schranken gemischt
ist. Auf Grund dieser Zusammensetzung hat der Mensch der
Art nach von Natur keinen Überreiz zum Zorne oder zu irgend
einer anderen Leidenschaft, nämlich infolge der Mischung. Die
übrigen lebenden Wesen haben nicht eine so beschaffene Zu-
sammensetzung, sondern vielmehr den Zustand einer extremen
Zusammensetzung und sind deshalb von Natur aus zum Über-
mafs irgend einer Leidenschaft veranlagt, wie der Löwe zur
Kühnheit, der Hund zum Zorne, der Hase zur Furcht." Weil
ferner „die Gröfse der Leidenschaft nicht allein von der Zugkraft
des Agens, sondern auch von der Empfindlichkeit des Leidenden
abhängt, da die leicht empfindlichen Dinge auch von geringen
einwirkenden Ursachen stark beeinfiufst werden" (Summ, theol.
I. IL q. 22. a. 3. ad 2), so trägt die beim Menschen vorhandene
körperliche Zuständlichkeit zur Heftigkeit einer Leidenschaft bei.
Eine grofse Empfindlichkeit der materiellen Seite, auch von ge-
ringer Seelenbewegung erregt zu werden, kann durch öftere
leidenschaftliche Vorkommnisse herbeigeführt werden. „Der
Philosoph sagt, dafs jemand, der in der Leidenschaft lebt, von
einer nur schwachen Vorstellung (a modica similitudine) in Er-
regung gesetzt wird." Darin liegt unter anderem begründet, dafs
die Heilung der Gewohnheitssünder so schwierig ist. Doch ist
eine derartige Heilung auch wohl von körperlicher Seite mit in
Angriff zu nehmen. Denn durch Einwirkung auf die körper-
liche Zuständlichkeit ist eine Beruhigung von Leidenschaften
möglich. „Dasjenige, welches in der körperlichen Natur den
Jahrbuch für Philosophie etc. I. SS
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402 Die Leidenschaften.
nattirlichen Zastand der Lebensbewegung wieder herbeifuhrt
widerstrebt der Traurigkeit nnd mildert dieselbl"./' (A. a. 0,
q. 38. a. 5.) So empfiehlt Thomas, gestützt auf diese Anschauung.
Schlaf und Bäder gegen die Leidenschaft der Traurigkeit und
beruft sich auf das Zeugnis des hl. Kirchenlehrers Augnstin.
(A. a. 0.) Dasselbe liefse sich auch als Heilmittel gegen den
Zorn empfehlen, „indem alle jene Dinge (in der Einwendung sind
Mittel gegen den Zorn angegeben) den Zorn verhindern, inso-
fern sie der Traurigkeit vorbeugen." (Summ. theo!. L IL 47.
a. 3. ad 3.)
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DIE TAO-LEHRE DES LAO-TSK
Von
Dr. HERMAN schell.
ü.
Inter allen Schriften, in welchen die religiöse Forschung^
des Menschengeistes aufserhalb des Kreises der alttestamentlichen
und neutestamentlichen Inspiration ihre mühsam errungenen Er-
gebnisse niedergelegt und der Zukunft als Vermächtnis überliefert
hat, wird wohl kaum eine zu finden sein, welche dem Büchlein
Lao-tses, dem Tao-te-king, den Primat streitig machen dürfte.
Das Interesse, welches die christliche Theologie den religiösen
Urkunden altheidnischen Benkens und Glaubens entgegenbringt^
ist zunächst das gemeinmenschliche Interesse an der Geistes-
entwicklung unseres Geschlechts hinsichtlich derjenigen Fragen,
welche immer die Fragen des menschlichen Herzens in seiner
individuellen Einsamkeit wie der Menschheit in ihrer unüberseh-
baren Verkettung gewesen sind: dieses Interesse, welches gemein-
menschlich ist, erwähnen wir zuerst, weil die Gnade der Natur
keinen Eintrag thut, weil die Offenbarung die Teilnahme für da&
menschliche Hingen nach Wahrheit und Gott nicht pietistisch
einengt, noch die Bereitwilligkeit mindert, dessen Erfolg und
Wert nicht blofs gerecht, sondern auch freudig zu würdigen.
Aufserdem ist es ein christliches, insbesondere ein katholisches
Interesse, welches sich den litterarischen Denkmälern der Beli-
gionsgeschichte zuwendet, vor allem jenen Schriften, welche für
ein gewisses Gebiet das Ansehen heiliger Schriften erlangt haben.
Jahrbuch für Philosophie etc. I. 29
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404 Die Tso-I^ehre des Lao-tse.
Die Gesetze der göttlichen Heilsthätigkeit, insbesondere der
Vorbereitung des Heiles, können infolge der Erweiterung unseres
religionsgeschichtlichen Wissens besser und sicherer erkannt
werden; sicherer, weil dieselben, von wenigen Gnindgesetzen
abgesehen, aus den Ausführungen des alten und neuen Testa-
mentes exegetisch exakt zu abstrahieren und durch die histo-
rische Wirklichkeit zu bewähren sind; besser, weil die Beweise
sich mehren, durch welche die religiöse Fähigkeit und die stille
Gnadenführung der gefallenen Menschheit in helles Licht gestellt
wird, jene Gnadenordnung, welche als besondere Providenz über
der kirchlichen Organisation steht, und jedem ohne Ausnahme
die gratia sufficiens ad salutem vermittelt. Wenn menschliche
Sympathie mit Freuden die edelsten Früchte menschlicher
Geistesentwicklung allenthalben sammelt, so hat die christliche
Nächstenliebe noch mehr Grund zur Befriedigung, wenn sie all-
zeit und überall die Lichtspuren jenes Logos findet, der jeden
Menschen erleuchtet hat und erleuchten wird, und zwar nicht —
umsonst: denn er ist nicht ein Licht kalter Aufklärung, non
quodcumque Yerbum, sed Verbum spirans Amorem.
Die Auffassung, welche Lao-tses Taote-king seitens der
europäischen Wissenschaft gefunden hat, ist so verschieden, dafs
dies von der systematischen Darstellung seiner Gedanken ab-
halten könnte: läuft man ja Gefahr, vergebens, d. h. mit Ideen
zu arbeiten, welche nicht diejenigen des Altmeisters, sondern des
Übersetzers sind. Allein ich unternahm es doch; einmal, weil
trotz aller Verschiedenheit in der Auffassung alle Übersetzer
darin übereinstimmen, dafs Laotse ein religiöser Denker yon der
höchsten Bedeutung sei, ein Urteil, das er ja schon dem ihn
besuchenden Konfutse abrang. Sodann ergab mir die Würdigung-
der Übersetzungen, dafs sie trotz der verschiedenen Wiedergabe
einzelner Hauptbegriffe bezüglich des Gesamtresultates keinen
Zweifel über den Geist des Systems lassen. Die Kraft des Geistes
und die Eonsequenz der Gedanken ist so grofs, dafs sie gewisser-
mafsen die Hülle des sprachlichen Ausdrucks sprengt. Ein ähnUcher
Vorzug ermöglichte einst auch der Scholastik das richtige Ver-
sUindnis der aristotelischen Schriften trotz ihres korrupten Textes.
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Die Tao-Lehre des Lao-tse. 405
Stanislas Julien verwarf nicht blofs die Deutung der ge-
lehrten Missionäre und Abel Remusats, welche in Tao den drei-
einigen Jehovah nach Begriff und Namen wiedererkennen wollten,
sondern erklärt: L'emploi et la definition du mot Tao excluent
toute idee de cause intelligente, et qu'il faut le traduire par
V^oie, en donnant ä ce mot une signiiication large et elevee, qui
repond au langage de ces philosophes, lorsqu'il parlent de la
puissance et de la grandeur du Tao. Lao-tseu represente le Tao
comme un etre depourvu d'action, de pens^es, de desirs ... cf.
Lao-tseu Tao-te-king, de livre de la voie et de la vertu . . . par
St. Julien. Pari» 1842. p. XIV. Ich will nicht auf den Wider-
spruch in der Frädikation des Tao in den citierten Sätzen hin-
weisen, sondern nur darauf, dafs die von diesem Vorurteil be-
gleitete Übersetzung Juliens vollauf genügt, um die von ihm
zugestandene Abstraktion: ,der Weg' zum theistischen Gottes-
begriS mittelst der logisch notwendigen Deutung der Attribute
fortzubilden. Es schliefst sich ja die Übersetzung Viktors von
Straufs (Leipzig 1870), nach welcher wir uns wegen ihrer un-
verkennbaren und anerkannten Vorzüge entweder unmittelbar
oder mit einzelnen Abänderungen auf Grund des beigefögten
wertvollen Kommentars in unseren Citaten richten, fast durchaus
an Julien an, und doch — wie ganz anders ist von vornherein
die Auffassung Lao-tses bei Straufs! Nicht blofs stellt er die
Bedeutung des Tab als Gottesnamens wieder her, sondern auch
die trinitarische Gottesidee und den Namen Jehovah nach Abel
Remusats und der Jesuitengelehrten Deutung.
Die Gewalt, welche Julien durch seine farblose Erklärung
dem Gedanken -Texte des Tao-te-king angethan, erschien Rein-
hold von Flänckner so unberechtigt, dafs er zur Ehrenrettung
des grofsen Lao-tse das Tao-te-king ,den Weg zur Tugend' aus
dem Chinesischen übersetzte und erklärte, Leipzig 1870, kurz
vor Straufs. Vielleicht ist es gerade der heftige Eifer, von
welchem sein Werk beseelt ist, was seine wissenschaftliche Oppo-
sition gegen Julien des Erfolges beraubte; — mir ein Beweis,
dafs die Übersetzung des 69. Kap. nach Julien in ihrem Ergebnis
doch nicht so haarsträubend ist, wie er sie p. XV nennt.
«9*
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406 Die Tao-Lehie des Lao-tee.
Den wichtigsten Gegensatz zwischen Julien und Straofe (auch
Ghalmers) einerseits, und Plänckner andererseits verursacht die
Übersetzung des you oej. Bei übereinstimmender Erklärung,
dafs es Nicht-thun oder ^on-agir bedeuten könne, behauptet
Plänckner, dafs diese Bedeutung zu Widersprüchen und zu Ge-
schmacklosigkeiten führe, und will, dafs es übersetzt werde:
,Ab8traktionen machen, sich mit dem Übersinnlichen, mit dem
Geist beschäfbigen^ L c. p. 26. Allein auch seine Übersetzung
befreit nicht von den Schwierigkeiten, welche er vermeiden will,
die eben jeder Übersetzung alter und fremdartiger Denkweise,
ja jeder Ausdrucksform des Denkens als solcher anhaften, und
die wir selber an unserer Terminologie nur deshalb nicht be-
merken, weil sie gewohnt ist Bei jeder Abstraktion mufs etwas
unterschieden oder negiert werden, und je schärfer diese Negation
(im Sinne der begrifflichen Unterscheidung) volkogen wird, desto
besser erföUt sie ihren Zweck. Ob wir das göttliche Wesen
nach der Ausdrucksweise der abendländischen, d. h. griechischen
Philosophie und christlichen Theologie als überwesentlich, das
göttliche Thun als identisch mit seinem unveränderlichen Wesen
bezeichnen, oder ob wir in der Weise des fernsten Morgenlandes
dasselbe als Nichtsein und Nichtthun zur begrifflichen Vorstellung
bringen: die Tendenz der logischen Operation ist beidemal die-
selbe; das Sein und Thun, wie wir es empirisch kennen, soll
bezüglich Gottes negiert werden. Dafs die Negation des Seins
und des Thuns jedoch keine vollständige sein und nur soweit
gehen dürfe, als die Unvollkommenheit, wird entweder — wie
in der uns geläufigen Terminologie — durch Vermeidung rein
negativer Ausdrücke, oder wie bei Lao-tse nach V. v. Straufs'
Übersetzung durch paradoxe Gegenüberstellung positiver Prädi-
kate verständlich gemacht. Dem ist Julien in seiner Erklärung
allerdings nicht gerecht geworden, da er, wie die chinesischen
Kommentatoren, Lao-tse für einen Lehrer des Quietismus hielt:
wie sehr {mit Unrecht, beweist seine eigene Übersetzung auch
ohne den sarkastischen Triumph Plänckners zu cap. 81. p. 423.
Wir wollen uns keineswegs in die sinologische Erörterung der
Etymologie von voü oey einlassen, können jedoch nicht unter-
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Die Tao-Lehre des Lao-tse. 407
lassen, aof die Schwierigkeiten hinzuweisen, in welche Plänckners
Übersetznng in dem ersten Satz von c. 37 und c. 48 gerät:
Während Julien übersetzt: Le Tao pratique constamment le Non-
agir et (pourtant) il n'y a rien qn'il ne fasse, paraphrasiertPlänckner
also : yDas Tao ist zwar ewig die höchste Abstraktion, der voll-
kommenste geistige Begriff, und dennoch gibt es nichts Seiendes,
nichts Materielles, was nicht durch dasselbe entstanden wäre^
Nicht blofs bietet das Immaterielle keine Schwierigkeit, um es
als wirkende Ursache zu denken, sondern es ist sogar dasjenige
Concretum, von welchem wir eigentlich allein die Idee der Ur-
sächlichkeit abstrahieren, indem wir unseres Wolle ns and seiner
Kraftwirkung bewufst werden. Bezüglich c. 48 cf. Julien p. 177 sq.
und Plänckner 1. c. p. 230 bzw. 233: ,Die höchste Abstraktion
(ist) jedoch nicht ein Nichtseiendes: — wahrhaftig! Erfafst man
das All jemals durch eine Non-Res? Da doch jenes (das All)
enthält die Res, (so ist's) nicht ausreichend, damit zu erfassen
das AU'.
Ob wir Ton der Übersetzung Juliens mit Non-agir ausgehen,
oder ob wir die Pläncknersche Bedeutung annehmen: das End-
resultat ist infolge der übrigen Prädikate die Notwendigkeit, eine
solche Thätigkeit zu verstehen, von welcher alle Unvollkommen-
hciten des Agere abgestreift sind, welche also im höchsten Grad
immateriell, geistig, ideal ist, wie Plänckner will. Dafs die Fest-
stellung der etymologischen Bedeutung jedoch äufserst wichtig
sei, wollen wir damit keineswegs bestreiten; die verschiedene
Bedeutung macht sich vor allem in der Politik des Buches
geltend, indem L. nach PI. mehr als liberaler, nach Jul. mehr
als konservativer Staatsmann erscheint.
In dem Folgenden geben wir eine systematische Zusammen-
stellung der Lehre und Ideen Lao-tses, nicht als ob wir den
logischen Aufbau des Tao-te-king bezweifelten, sondern um die-
selben nach jenen G-esichtspunkten zu ordnen, welche formell
wie sachlich für unsere Spekulation überhaupt und für die Wür-
digung Lao-tses insbesondere mafsgebend sind.
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408 Die Tao-Lehre des Laotse.
I.
SPEKULATIVE THEOSOPHIE.
§ 1. J>as höchste Wesen.
Es ist nicht der Weg dialektischer Beweise^ auf welchem
uns Lao-tse zu Tab hinführt: Grott ist ihm eine Thataache, in
deren Lichtfülle wir durch Vertiefung eindringen. Der erste
Versuch des menschlichen Denkens dieser ewigen Thatsache
gegenüber ist die Bestimmung des göttlichen Wesens; allein
schon hier erweist sich die Schärfe des endlichen Geistes als
zu stumpf. Gott kann nicht ausgesprochen werden; auch der
allgemeinste Name, derjenige des Seins, pafst nicht fiir ihn,
weil er von endlichen und beschränkten Dingen abgezogen ist,
und dieser Beschränktheit nicht ganz ledig werden kann. Daher
nennt ihn Laotse das Nichtsein oder den gewissermafsen Nicht-
seienden, die Leere, den Abgrund, den Namenlosen, den Stillen.
Die Verschiedenheit des göttlichen Wesens von der Welt ist so
grofs, dafs es über alle Kategorieen des endlichen Seins, welches
sich in Gattungen und Arten entfaltet, über alle Beschränkt-
heiten stofflicher, räumlicher und zeitlicher Existenz erhaben ge-
dacht werden mufs. Selbst von dem Begriff Wesen hat Gott
nur an sich, was derselbe an reiner Vollkommenheit besagt; Gott
ist überwesentlich im Sinne der griechischen Kirchenlehrer, actus
purus im Sinne der Scholastik, absolut nach moderner Termino-
logie. Daher kann er nicht begriffen und ausgesprochen werden.
,Tab, kann er ausgesprochen werden, ist nicht der ewige Tab.
Der Name, kann er genannt werden, ist nicht der ewige Name^
Indes soll die Namenlosigkeit in eigentümlicher Auszeichnung
demselben 1. Kapitel zufolge nur dem verborgenen Urgrund in
Tab zugeschrieben werden. ,Tab ist leer, und gebraucht er defs
(sc. seiner Wesenheit oder Leere), so wird er nie gefüllt (nach
Straufs^ Paraphrase: ,Tab ist leer, und dabei gebraucht er diese
Leere, um sie nämlich zu lullen, ohne dadurch selbst gefüllt zu
werden*. 1. c. p. 23.). Ein Abgrund, oh, gleicht er aller Wesen
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Das höchste Wesen. 409
Urvater . . . Tiefstill — gleichwie wenn er da wäre. Ich weifs
nicht, weBBen Sohn er ist. Er zeigt sich als des Herrn Vor-
gänger', c. 4. a. c. ,Taö der Ewige hat keinen Namen^ c. 32.
Unfähig, sein Wesen zu benennen, versuchen wir es, ihn nach
Reinen Eigenschaften zu bezeichnen; allein jede dieser Bezeich-
nungen fordert ihre Ergänzung bzw. Berichtigung durch eine
andere, und allesamt finden trotzdem nur analoge Anwendung,
c 25: ,Eb gab ein Wesen, unbegreiflich vollkommen, ehe denn
Himmel und Erde entstanden. So still! so übersinnlich! Es
allein beharrt und wandelt sich nicht Durch alles geht's und
gefährdet sich nicht. Man darf es ansehn als der Welt Mutter.
Ich kenne nicht seinen Namen ; bezeichne ich es, nenn' ich's Tab.
Bemüht ihm einen Namen zu geben, nenn' ich's grofs; als grofs
nenn' ich's überBchwenglich (d. h. die Kategorie der mefsbaren
Gröfse übersteigend); als überschwenglich nenn' ich's entfernt
(d. h. schlechthin über alles Sein und Denken erhaben); als
entfernt nenn' ich's zurückkehrend (weil es trotz seiner Erhaben-
heit allem immanent ist; getrennt durch seine Reinheit, nicht
durch örtliche oder ursächliche Geschiedenheit). Denn Tab ist
grofs, der Himmel ist grofs, die Erde ist grofs, der König ist
auch grofs. In der Welt gibt's viererlei Grofse, und der König
bleibt deren Einer. Des Menschen Richtmafs ist die Erde, der
Erde Richtmafs der Himmel, des Himmels Richtmafs Tab, Tabs
Richtmafs sein Selbst (Bei dem Zusammenhang der vier ana-
logen Gröfsen ist zu erwägen, dafs dem chinesischen Geiste Erde
und Himmel nicht blofs den physischen, sondern auch den ethi-
schen Kosmos bedeuten.) Sein Wesen ist einfach, unteilbar,
schliefst jede Komposition und Dekomposition, Zusammensetzung
und Zersetzung aus.
c. 14 b: ,Sein Oberes ist nicht klar, sein Unteres ist nicht
dunkel. Immer und immer ist er unnennbar und wendet sich
zurück ins Nichtwesen. Das heifst des GestaltloBen Gestalt, des
Bildlosen Bild; das ist gar unerfafslich. Ihm entgegnend, sieht man
nicht sein Haupt, ihm nachfolgend sieht man nicht seine Rückseite.'
Ein grofser Vorzug des Tao-te-king liegt darin, dafs sein
Verfasser die Notwendigkeit erkannte, die absolute Transcendenz
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410 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
des göttlichen Wesens mit seiner vollkommenen Immanenz in
der Welt zusammenzudenken. Wie aus c. 25 erhellt, durch-
dringt Gott alle Dinge, ohne von ihnen in seiner Reinheit ge-
trübt oder gefährdet zu werden; unveränderlich, wie er vor und
über der Welt ist, bleibt er es auch, insofern er die ganze Welt
erfüllt
Dafs er bewufster Geist und heiliger Wille ist, jedoch mit
Abstreifung der Beschränktheit des menschlichen Erkennens und
Strebens, beweisen die Gestaltung der Ideen sowie die ethi-
schen Eigenschaften, welche aus seiner Schöpfung und Vorsehung
hervorleuchten, cf. c. 21. 34. 51. 62,
§ 2. nie Wirksamkeit CfoUes.
Wie Gott seinem Wesen nach weder Sein (im empirischen
Sinne) noch Nichtsein ist, so ist auch sein weltschöpferiscbes
Wirken weder Thun noch Nichtthun. ,Taö ist ewig ohne Thun
und doch ohne Nichtthun', das erste, insofern die Thätigkeit ein
Bedürfnis voraussetzt und eine Veränderung bedeutet; das zweite,
weil ihm die Vollkommenheit des Thuns eignet und seinem ewigen
Wirken die thatsächliche Schöpfung entspricht. Sein Wirken ist
sein Wesen: ewige Ruhe und Vollkommenheit, ohne Übergang
vom Können zum Thun, vom Bedürfnis zur Befriedigung. Da
er reine Wirklichkeit und lautere Macht ist (c. 32), so ist seine
Wirksamkeit absolut, allumfassend, unwiderstehlich und doch
gewaltlos, weil erhaben über die Gegensätze, welche die Form
des endlichen Wirkens sind. Die Allwirksamkeit Gottes ist durch
keine endlichen Kategorieen physisch beschränkt, durch kein Be-
dürfnis und hierauf beruhende Selbstsucht ethisch beschränkt;
er ist die lautere Güte, welche in ihrem Wirken nicht sich sucht,
sondern sich selbst ihren Geschöpfen hingibt, und zwar in der
anspruchlosesten und demütigsten Weise sich der Natur der Ge-
schöpfe anschmiegend. Aus derselben ethischen Transcendenz
des göttlichen Wesens folgt desgleichen, dafs es als das alleinige
und allgemeine Gut (bonum universale) zu keinem besondem
Gut in Gegensatz treten kann, da alle nur Ausstrahlungen oder
Differenzierungen von ihm selber sind. Daher streitet Gott mit
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Die Wirksamkeit Gottes. 411
niemanden, darum wird ihm nicht gegrollt; als absoluter Geist
kann er seine unendliche Allmacht beherrschen, als absolute
Gute will er dem Schwachen aufhelfen, nicht durch die Wucht
seiner Allgewalt das Schwache erdrücken: er mäfsigt durch
Zurückhalten und Langmut den Glanz seiner Herrlichkeit und
die Macht seiner Gnade. Er ist klein und grofs zugleich; klein
und demütig wegen seiner Bedürfnis- und Anspruchslosigkeit,
grofs wegen seiner allbelebenben Güte. Hierfür citicrt er in
c. 4 den alten Vers:
,Er bricht seine Schärfe,
Streut aus seine Fülle,
Macht milde sein Glänzen,
Wird eins seinem Staube/
Er nennt diese Milde sogar Schwachheit; allein eine Schwachheit,
welche auf unendlicher Macht beruht.
G. 34: ,Der grofse Tao, wie er umherschwebt! (Julien: Le
Tao s'^tend partout; il peut aller a ganche comme ä droite.) Er
kann links sein und rechts. Alle Wesen verlassen sich auf ihn,
um zu leben, und er versagt nicht Ist das Werk vollendet,
nennt er's nicht sein. Er liebt und nährt alle Wesen und macht
nicht den Herrn. Ewig ohne Verlangen, kann er klein genannt
werden. Alle Wesen kehren sich (zu ihm), und er macht nicht
den Herrn, — er kann grofs genannt werden. Darum der heilige
Mensch nie den Grofsen macht, drum kann er seine Grofsheit
vollenden'. Aus dem Verhalten des vollkommenen Weisen, der
sich nach Gottes Urbild einrichtet, solle man die göttliche Weise
zu wirken entnehmen ; c. 8 : ,Der ganz Gute ist wie Wasser —
Wasser ist gut, allen Wesen zu nützen, und streitet nicht; es
bewohnt, was die Menschen verabscheuen, sc. die Tiefe — ; drum
ist er nahe an Tab. Im Wohnen ist er gut der Erde, im Herzen
gut dem Abgrund, im Geben gut der Menschenliebe, im Reden
gut der Wahrheit, im Herrschen gut dem Regiment, im Geschäft
gut der Geschicklichkeit, im Bewegen gut der Zeit. Er streitet
nicht, drum wird ihm nicht gegrollt.' c. 37 : ,Taö ist ewig ohne
Thun, und doch ohne Nicht-Thun. Wenn Könige und Fürsten
(das) zu beobachten vermöchten, alle Wesen würden von selbst
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412 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
sich umwandeln. Wandelten sie Bich um, und wollten sich auf-
thun, ich würde sie niederhalten mit des Namenlosen EinfachheiL
Des Namenlosen Einfachheit
Bringt auch Begehrenslosigkeit;
Begehrenslosigkeit macht ruhn
Und alle Welt von selbst das Rechte thun/
Das Geheimnis der göttlichen Allgewalt liegt in dem Verzicht
auf Anstrengung und Vielgeschäftigkeit, in ihrer Milde und Lang-
mut; so c. 32: ,Ta6, der Ewige, hat keinen Namen. Seine Ein-
faltiglichkeit (d. i. Sanftmut, Geduld, Ruhe und Gewaltlosigkeit),
wie zart sie auch ist, die ganze Welt wagt nicht sie dienstbar
zu machen. Wenn Fürsten und Könige vermöchten sie zu halten,
alle Wesen würden von selbst huldigen, Himmel und Erde sich
vereinigen, erquicklichen Tau herabzusenken; das Volk, niemand
geböte ihm, und von selbst wäre es rechtschaffen. — Der da
anhebt zu schaffen, hat einen Namen. Ist der Name denn bereits
da, so wolle man auch anzuhalten wissen. Wer anzuhalten weiik,
ist dadurch aufser Gefahr. Ähnlich ist Taos Sein in der Welt,
wie Bäche und Flüsse, die zu Strömen und Meeren werden/
Auch nicht der geringste Teil der göttlichen Wirksamkeit bleibt
erfolglos; all sein stilles Walten, so unbemerkt es im besonderen
ist, fliefst in seinen Einzelwirkungen nach weisem Plane zu einem
Ozean zusammen. Man gewinnt also den sichersten Erfolg tiir
sein eigenes Wirken, wenn man es mit dem göttlichen vereinigt,
und den tiefsten Einblick in die Weltgeschichte, wenn man sie
von Gott aus erforscht. ,Hält man sich an den Taö des Alter-
tums, um zu beherrschen das Sein der Gegenwart, so kann mau
erkennen des Altertums Anfange; das heifst Taös Gewebeaufzug'
(= die Verkettung der geschichtlichen Ursachen und Wirkungen),
c. 14 c. Eine ähnliche Auffassung von der Wirksamkeit Gottes
findet sich bei Plato und Aristoteles, indem das an sich Gute
durch seine Güte alles bewegt und erregt; sie ist in die Glaubens-
wissenschaft Augustins und Thomas^ aufgenommen und insbe-
sondere von der Augustinersohule zur Erklärung der göttlichen
Bewegung des freien Willens verwertet worden: Gott als der
allein Gute erwecke und fessle die Neigungen der Geschöpfe,
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Dio Wirksamkeit Gottes. 413
weil eben nur das Gute, also das Göttliche in allen Dingen zur
Begierde reizen kann. — In der hl. Schrift vergl. Sap. 7,30 — 8,1:
Laci comparata invenitur prior; illi enim succedit nox, sapien-
tiam autem non vincit malitia; (die Weisheit des göttlichen Wir-
kens kann keinen Gegner haben, weil sie keinen Gegensatz haben
kann, da ja alles ein Ausflufs ihrer Güte ist.) Attingit ergo
a fine nsque ad finem fortiter, et disponit omnia snaviter. c. 11,
22 sq. ... Sed misereris omnium, qnia omnia potes. 12, 1 sq.
... Ob hoc quod omnium Dominus es, Omnibus te parcere facis.
... Tu autem dominator virtutis cum tranquillitate judicas et cum
magna reverentia disponis nos; subest enim tibi, cum volueris,
posse. 12, 18.
Ihrem Inhalt nach ist die göttliche Wirksamkeit die Voll-
Ursache der Welt in Entstehen, Bestand und Vollendung. Als
Schöpfer ist Tab die Quelle ihres idealen wie ihres realen Seins;
der Schöpfer der Weltidee und aller in ihr beschlossenen Wesens-
bilder durch sein Denken, der Urheber ihrer thatsächlichen Exi-
stenz durch seinen Willen. Merkwürdig ist, dafs Lao-tse seine
Schöpfungslehre mit Emphase auf göttliche Belehrung zurück-
führt. ,Des leeren Vermögens Inhalt, nur Taö folget er nach.
Tab ist Wesen, aber unfafslich, aber unbegreiflich. Unbegreiflich!
unfafslich! in Ihm sind die Bilder. Unfafslich! unbegreiflich! in
Ihm ist das Wesen. Unergründlich! dunkel! in Ihm ist der
Geist. Sein Geist ist höchst zuverlässig. In Ihm ist Treue.
Von alters her bis jetzt verging sein Name nicht, dieweil er
allen Dingen den Anfang ausersieht. Woher weifs ich, dafs aller
Dinge Anfang also? Durch Ihn.* c. 21. cf. c. 1. 6. 52.
Gottes schöpferische Thätigkeit ruft die Dinge nicht blofs
ins Dasein, sondern umgibt und hegt sie mit mütterlicher Vor-
sehung. Lao-tse folgt nur einem sinnigen Gedanken des chine-
sischen Geistes, welcher den Himmelsherrn, den Schang-ti, wie
seinen irdischen Stellvertreter, den Himmelssohn, als Vater und
Mutter seiner Welt auffafst, wenn er Gottes Verhältnis zur Welt
als das einer Mutter zu ihrem pflegbedürftigen und hilflosen
Xinde darstellt.
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414 Die Tao-Lehre des Lao-tae.
Er selbst ist offenbar von der entsprechenden kindlichen
Gesinnung durchglüht, wenn er in c. 34 (s. p. 411) und c. 51 die
allwaltende Vorsehung also beschreibt: ,Ta6 erzeugt sie, seine
Macht erhält sie, sein Wesen gestaltet sie, seine Kraft Tollendet
sie: daher von allen Wesen keines, das nicht anbetete Tab und
verehrte seine Macht. Tabs Anbetung, seiner Macht Verehrung
ist niemandes Gebot und immerdar freiwillig. Denn Tab erzeugt
sie, erhält sie, zieht sie grofs, bildet sie aus, vollendet sie, reifet
sie, verpflegt sie, beschirmet sie. Erzeugen und nicht besitzen,
thun und nichts drauf geben, grofsziehn und nicht beherrschen, —
das heifst tiefe Tugend.' c. 51.
Gottes Weise ist es, sich der Schwachen erbarmend anzu-
nehmen. ,Des Himmels Verfahren, wie gleicht es dem Bogen-
spänner! Das Hohe erniedrigt er, das Untere erhebt er (das
Überflüssige mindert er, das ungenügende ergänzt er). Des
Himmels Verfahren ist: mindern das Überflüssige und ei^änzen
das Ungenügende. Des Menschen Verfahren ist nicht also; er
mindert das Ungenügende, um es dem Überflüssigen darzubringen.
Wer vermag Überflüssiges dem Reiche darzubringen? Nur wer
Tab hat. Daher der heilige Mensch thut und nichts draus macht.
Verdienstliches vollbringt und nicht dabei verweilt. Er wünscht
nicht seine Weisheit sehn zu lassen.' c. 77. Für die sittlich
freien Menschen ist Gott nicht minder barmherzig: er ist der
Erlöser von allem Übel für die Sünder, und die Vollendung alles
Guten für die Tugendhaften:
,Tab ist aller Wesen Zuflucht
Guter Menschen höchstes Gut
Nicht-guter Menschen Rettung.'
Anmutende Worte können erkaufen; ehrenhafter Wandel kann
noch mehr thun. Sind Menschen nicht gut, wie dürfte man sie
aufgeben? Darum setzte man einen Kaiser und bestellte drei
höchste Räte (sc. um die Schlechten von ihren Irrwegen durch
Gesetz und Gericht zurückzuHihren und zurückzuhalten). Mag
er auch haben, die da Nephrittafeln (aus Ehrfurcht vor dem
Kaiser zur Bedeckung des Mundes) emporhalten, und vor sich
nehmen ein Vierspann Rosse, — so ist es doch besser, still-
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Die Wirksamkeit Gottes. ' 415
sitzend weiterzukommeii in diesem Tab. Warum verehrten die
Alten diesen Tab? JS^icht, weil er durch täglich Suchen gefunden
wird und denen, die Schuld haben, vergibt? Darum ist er das
Köstlichste in aller Welt' c. 62. Deshalb ist er die Liebe und
Wonne seiner Geschöpfe, von allen geehrt und angebetet, ins-
besondere von dem besseren Gesohlechte der Urzeit, und zwar
mit freiwilliger Religiosität, da er sie nicht durch ausdrückliches
Gesetz gefordert hat
Nach Plänckner ist das Kgao, welches Tab für alle Menschen
ist, der Sndostwinkel des Hauses, die tiefste und dunkelste Stelle,
die hl. Opferstätte. ,Für alle Menschen, alle, ist das Tao etwas
ungemein Heiliges, Tiefes, die geweihte Stätte, ein hl. Asyl.
Dem edeln und rechtschaffenen Menschen gilt das Tao als das
höchste, kostbarste Heiligtum, und fiir den sündigen Menschen,
da wird es vielleicht in banger Stunde die einzige Hoffnung und
Zuveraicht, der letzte Rettungsanker sein.' c. 62 a. Während
auch ihm zufolge hier die sündentilgende Gnade Tabs gepriesen
wird, gibt er dem Schlufs des Kapitels eine Wendung wie Mat.
7, 21: ,Auf welche Weise verehrten denn aber die Alten das
Tao, wenn sie ihm nahten? !Nicht durch Worte noch Bitten
von selbst^ wird's erhalten, (sondern) habend Sünde (d. i. wenn
man Sünde auf dem Gewissen hat), durch Verlassen das Unrecht.'
oder bei anderer Lesart : ,Nicht durch tägliches Bitten von selbst
wird's erhalten, (sondern) habend Sünde, durch Verlassen (sie).
Deshalb ist das Tao der Welt Herrlichstes.' p. 306 u. 312.
Wie der Schöpfer, so ist Gott auch Ziel und Ende aller
Dinge: ,Zurückführung ist Tabs Bewegen, Schwachsein ist TabsGe-
pflegnis.* Julien übersetzt c. 40 : Le retour au non-etre (produit)
le mouvement du Tao. (C'est a dire: Des que les etres sont
retoumes au non-etre, le Tao leur donne (de nouveau) le mou-
vement vital.) — La faiblesse est la fonction du Tao. Toutes
les choses du monde sont neos de l'etre; Tetre est ne du non-
etre. Plänckner dagegen gibt den Sinn also wieder : ,So ist denn
alles, was entsteht und vergeht und wieder auflebt . . . nur durch
das Tao, und alle geistige Vermittlung geschieht durch das Tao.
Und sehen wir auch die Dinge auf dieser Erde auf physische
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416 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
Weise entstehen, ... so ist doch alles, was da ist, alles Materielle
durch das ewig Immaterielle, durch das Tao von Anfang her
entstanden.' Alle Wesen der Welt entstehen aus (bzw. in) dem
Sein. Das Sein entsteht aus dem Nichtsein; d. h. die einzelnen
Weltwesen entstehen durch Generation aus den kosmischen Ele-
menten; diese oder das kosmische Sein als G-anzes entsteht aus
der Aktion des — gewissermafsen — ^Nichtseienden == über-
seienden, Gottes, oder durch göttliche Erschaffung aus dem Nicht-
sein. Das Ziel, zu welchem alle Geschöpfe zurückstreben müseen,
ist Gott; aber seine zurückfuhrende Weltregiemng ist dabei so
schonend, dafs es scheint, als ob sie schwach sei, d. h. der ge-
bietenden und zwingenden Macht entbehre. Gott will eben mit
seiner Macht an sich halten, um der Selbstthätigkeit seiner Ge-
schöpfe freien Spielraum zu gewähren. Gleichwohl leidet die
vergeltende Gerechtigkeit Gottes nicht unter seiner Güte: ,De8
Himmels Weise ist : Er streitet nicht und weifs zu überwinden;
Er redet nicht und weifs Antwort zu finden ; Er ruft nicht und
man kömmt von selbst vor ihn; Langmütig, weifs er doch herbei-
zuleiten: Des Himmels Netz fafst weite Weiten, Klafft offen und
läfst nichts entfliehen.' c. 73 b. — Offenbar ist es der Gedanke
an Gott als das Alpha und Omega der Weltentwicklnng, wenn
Lao-tse auf ihn als auf den Schlüssel der Weltgeschichte hin-
weist: ,Hält man sich an den Tab des Altertums, um zu be-
herrschen das Sein der Gegenwart, so kann man erkennen des
Altertums Anfänge: das heifst Taos Gewebeaufzug.' c. 14. Haec
dicit Sanctus et Yerus, qui habet clavem David, qui aperit et
nemo claudit, claudit et nemo aperit: Scio opera tua. Apoc. 3,7 sq.
Ego sum Alpha et Omega, principium et finis, dicit Dominus
Deus, qui est et qui erat et qui venturus est, Omnipotens.
Apoc. 1, 8.
§ 3. Die inneren Unterschiede in GaU.
Lao-tse macht in den Kapiteln 1. 4. 6. 21. 32 einen deut-
lichen Unterschied zwischen zwei Personen in Gott; in c. 6
und 14 einen minder bestimmten, in c. 21 und 42 einen be-
stimmteren Unterschied zwischen drei innergöttlichen Potenzen.
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Die inneren Unterschiede in Gott. 417
Das erste Prinzip wird dadurch aasgezeichnet, dafs ihm das
Überseiende oder das Nichtsein, die Leere^ Abgründlich keit,
Namenlosigkeit und ürsprtinglichkeit sowohl hinsichtlich der
andern göttlichen Prinzipien als wie der Welt in besonderer
Weise zugeschrieben wird. Auch die Ewigkeit kömmt ihm eigen-
tümlich zu. ,Ta6, kann er ausgesprochen werden, ist nicht der
ewige Tab. Der Name, kann er genannt werden, ist nicht der
ewige Name. Der Namenlose ist Himmels und der Erde Urgrund;
der Namen-habende ist aller Wesen Mutter. Drum
,Wer stets begierdenlos, der schauet seine G-eistigkeit,
Wer stets Begierden hat, der schauet seine Aufsenheit.'
Diese beiden sind desselben Ausgangs (= Wesens) und ver-
schiedenen Namens (= verschiedene Personen). Zusammen heifsen
sie tief, des Tiefen abermal Tiefes, aller Geistigkeiten Pforte.' c. 1.
Der Ausdruck tschang, den V. v. Straufs mit ewig übersetzt
hat, kann auch mit unbewegt, unänderlich, nurbeständig, in sich
verharrend wiedergegeben werden. Der Tab, dem die Ursprüng-
lichkeit und Abgründlichkeit vorzüglich eignet, ist (nach c. 4)
leer. ,Tab ist leer (d. h. reines Sein), und gebraucht er defs
(nämlich seiner überseienden Wesenheit, um sie wirkend zu offen-
baren), so wird er nie gefüllt Ein Abgrund — oh, gleicht er
aller Wesen Urvater. ,£r bricht seine Schärfe, streut aus seine
Fülle, macht milde sein Glänzen, wird eins seinem Staube.' —
Tiefstill — gleichwie wenn er dawäre. Ich weifs nicht, wessen
Sohn er ist. (Er ist ohne Ursprung, ist vielmehr des Herrn
ewiger Ursprung.) Er zeigt sich als des Herrn Vorgänger.' c. 4.
Der Herr oder (Schang-)Ti der chinesischen Keichsreligion ist
offenbar der namenhabende Tab, welcher in einem näheren Sinne
als der Namenlose aller Wesen Vater und Mutter ist und erst
Herr wird, nachdem er als Schöpfer sein Reich ins Dasein ge-
rufen hat. Dafs der Namenlose des Herrn Vorgänger und letzterer
dem Urgründe nachfolge, sagt c. 21 nochmals: ,Des leeren Ver-
mögens Inhalt, nur Tab folget er nach.' Der Logos, welcher
der absoluten Gottesmacht ihren Ideeninhalt gibt, hat niemanden
vor sich als diesen ewigen Tab, dem er durch Ähnlichkeit wie
durch Ursprung als zweiter folgt. Auch der hl. Augustin behandelt
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418 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
die Frage, in welchem Sinne gesagt werden könne, der Vater
sei durch den Logos weise; nicht als ob derselbe die Formal-
Ursache der göttlichen Weisheit sei, sondern als ihre immanente
Offenbarung. Ähnliche Gedanken dürfte Lao-tse den Worten mit-
geben wollen.
Wenn unser Theosoph den namenhabenden Tab in beson-
derem Sinne als Weltschöpfer bezeichnet, so will er doch den
Namenlosen nicht davon ausschliefsen; vielmehr durchdringt und
beherrscht er die Welt von innen heraus, ohne dafs ihm eine
Macht zu widerstehen wagen dürfte. L. will dagegen das
Schwierige und Dunkle, ja das Unmögliche fühlbar machen^ wenn
man den Namenlosen erforschen wollte. Über denjenigen in Gott,
welcher als Namentragender die allmächtige Offenbarung seines
namenlosen Ursprungs ist, hinauszugehen, sei gefahrlich. Qui
scrutator est majestatis, obruetur a gloria. Prov. 25, 27. ,Tao,
der Ewige, hat keinen Namen. Seine Einfaltiglichkeit (= Milde,
Sanftmut, Langmut, welche das Wirken der unbesiegten und
begehrungslosen Ur-Sache auszeichnet), die ganze Welt wagt
nicht sie dienstbar zu machen . . . Der da anhebt zu schaffen,
hat einen Namen. Ist der Name denn bereits da, so wolle man
auch anzuhalten wissen. Wer anzuhalten weifs, ist dadurch aufser
Gefahr. Ähnlich ist Taos Sein in der Welt: wie Bäche und
Flüsse, die zu Strömen werden.' c. 32.
Wie sich aus den angeführten Stellen ergibt, werden dem
zweiten Prinzip folgende Propria beigelegt: Es sei des Ersteren
Inhalt und Fülle, des Gestaltlosen Gestalt, des Bildlosen Bild,
seines überseienden und daher namenlosen Wesens Offenbarung
und Name, weil selbst Namen habend; der Welt Schöpfer, Ur-
vater und Herr, des Anfangs Urheber (c. 21). Dem ersteren
Prinzip folgt es in der Ordnung des Ursprungs und Denkens
nach; denn es ist von ihm gezeugt (c. 42) — jedoch vor der
Welt, also vor der Zeit und selbst ewig, wenn auch dem Urgrund
die Ewigkeit (als Negation jeden Ursprungs) besonders eignet;
mit ihm eines Ausgangs, d. i. Wesens, aber verschiedenen
Namens. ,Zusammen heifsen sie tief, des Tiefen abermal Tiefes,
aller Geistigkeiten Pforte.' c. 1.
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Die inneren Unterschiede in Gott. 419
Letztere Worte enthalten bereits eine Andeutung des dritten
Prinzips in Gott, des ausströmenden Geistes. Obgleich aus-
strömend, bleibt er in Gott, weil er desselben überseienden
Wesens ist: »immer und immer ist er wie daseiend^ d. h. in
höherer Weise seiend als das Endliche. Er ist unsterblich; er
heifst das tiefe Weibliche; des tiefen Weiblichen Pforte heifst
Himmels und der Erde Wurzel, q, 6; durch ihn und seine all-
belebende Erfüllung der Welt scheint dem zweiten Prinzip, von
welchem er (nach c. 42 und yielleicht auch c. 1) in dessen Ein-
heit mit dem namenlosen Ta6 ausgeht, der Name Mutter aller
Schöpfung zuzukommen.^) c. 6: ,Der ausströmende Geist ist un-
sterblich; er heifst das tiefe Weibliche. Des tiefen Weiblichen
Pforte, die heifst Himmels und der Erde Wurzel': nämlich der
namenhabende Taö, der Schöpfer und Urvater aller Wesen, und
nach c. 1 und 42 der Ursprung oder die Pforte des ausströmen-
den Geistes. Straufs dagegen fafst des tiefen Weiblichen Pforte
im aktiven Sinn, so dafs Himmel und Erde die unerschöpfliche
Kraft und Lebensfulle, welche zugleich Leere (vielleicht nach
c. 5 so viel wie Unbestimmtheit) ist, von dem Geiste Taös
empfangen, durch welchen Taö der Urgrund der Welt und der
namenhabende Taö aller Wesen Schöpfer ist ,Immer und immer
ist er wie daseiend, und man braucht ihn mühelos.' Die letzte
Wendung des Gedankens hebt das überweltliche und göttliche
Wesen des Geistes hervor, welcher in metaphysischer Er-
habenheit in einem ganz anderen Sinne ist, als das Endliche,
aber trotzdem mühelos von allen Wesen als Lebensquelle ge-
braucht wird — als Gabe Taös. Der Theosoph Lie-tse, welcher
1) Zu Eü-8chin in c. 6 bemerkt Straafs: ,Das Schriftzeichen für kü
stellte Wasser dar, das durch einen Mund ausströmt and bedeutet einen
fortgeleiteten Quell, einen Berg- oder Waldbach, Rinnsal, Strombett, ge-
wöhnlich ein Thal. Wir haben den letssten Ausdruck gewählt (nämlich
ThaJgeist), erklären ihn aber durch das Thalwärtsgehen oder Ausfliejjsen.
Kü-schin ist demnach her ausfllefsende Geist* 1. c. p. 33. Da »Thalgeist*,
wie Straafs im Anschlufs an Julien übersetzt, ziemlich schwer verständlich
ist, so wählen wir den genaueren and klareren Ausdruck.
Jahrbueh für Philosophie etc. I. 80
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420 Die Tao-Lehre dos Lao-tse,
um 400 a. Chr. lebte, fährt dieseB Kapitel gleichtalU an und
zwar ,auB Hoang-tis Buch', jenes vorflutlichen mythischen Kaisers
(2697 — 2597), auf den sich die Tao^sse so gern als ihren Ur>
Patriarchen beriefen.
Von dem Geiste Taos wird wiederum in c. 21 gehandelt^
jedoch in einer Gedankenverbindung, welche Schwierigkeiten dar-
bietet. ,De8 leeren Vermögens Inhalt, nur Tab folget er nach. —
Tab ist Wesen, aber unfafslich, aber unbegreiflich. Unbegreiflich!
unfafslich! In ihm sind die Bilder (= die Ideen der Schöpfung).
Unfafslich, unbegreiflich! in ihm ist das Wesen. Unergründlich,
dunkel! in ihm ist der Geist. Sein (dieser) Geist ist höchst
zuverlässig. In ihm ist Treue. Von alters her bis jetzt verging
sein Name nicht, dieweil er allen Dingen den Anfang ausersieht
Woher weifs ich, dafs aller Dinge Anfang also? Durch Ihn!'
Straufs versteht unter den Bildern die Ideen der Dinge, unter
dem Wesen den Urstofi", soweit er als die reale Möglichkeit der
Körperwelt ein Gedankenprodukt des Schöpfers ist, unter dem
Geiste die belebende Kraft, welche die Ideen an und in dem
aufser Gott gesetzten Urstoff ausbildet. Hiemach wären die drei:
Bilder, Wesen und Geist nichts anderes als die drei Natur-
prinzipien, jedoch so, wie sie in Tab immanent sind. Straufs
selbst >gesteht, dafs unter dieser Voraussetzung in dem Texte
über den Geist ein Gedankenfortschritt von dem der Welt mit^
geteilten Lebensgeist zu dem Geiste, der in Tab bleibt^ und
als höchst zuverlässig und treu gepriesen wird, angenommen
werden müsse. Die Zuverlässigkeit sieht er darin, dafs er, der
Geist der Einigung, die Idee und ihr materielles Substrat einigen
und ineinanderbilden werde, indem er sie aus Gott infolge seiner
reinen Güte heraussetze und im Anfang der Zeit zu wirklicher
Existenz führe. — Ohne diese Erklärung des angesehenen Ge-
lehrten als unberechtigt zurückweisen zu wollen, scheint mir doch
der geforderte Gedankenfortschritt von dem geschöpf liehen Welt-
geiste auf den Geist in Tab um des Ausdrucks Khi-tsing willen
bedenklich. Letzterer kann nämlich sowohl mit ,dieser Geist'
als ,sein Geist' wiedergegeben werden, cf. Straufs a. a. 0.
p. 112.
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Die inneren Unterschiede in Gott. 421
Sollte Dicht in den drei AuBdröcken eine in Tab als dem
leeren Urwesen immanente Trias gemeint sein, welche insbe-
sondere auch in c. 51 erwähnt wird: ,Taö erzeugt sie, (seine)
Macht erhält sie, (sein) Wesen gestaltet sie, (seine) Kraft voll-
endet sie/ Freilich möchten wir unter der Macht den Urgrund
der Möglichkeit aller Dinge, unter dem Wesen die göttliche
Weisheit, die Gestalterin der Ideenwelt verstehen, -^ womit die
Nebeneinanderstellung des Wesens und der Bilder in c 21 nicht
stimmt. Allein, wenn es auch nicht gelingen sollte, in c. 51
eine Farallelstelle zu c. 21 nachzuweisen, würde doch der Kon-
text des letzteren Kapitels gröfsere Durchsichtigkeit und Einheit
gewinnen, wenn das Wesen, die Bilder und der Geist auf gött-
liche, nicht auf geschöpfliche Prinzipien bezogen werden. Die
Bilder wären die Ideenwelt, welche das göttliche Denken er-
zeugt, der Logos, Gottes Ebenbild und der Welt Urbild, des
Gestaltlosen und Bildlosen Gestalt und Bild; das Wesen in Gott
eben jene Macht, welche das ideal Gedachte aufser dem gött-
lichen Denken möglich macht, der Urgrund alles Seienden; der
Geist die von Tao ausströmende und doch in ihm bleibende
Lebenskraft, welche die reale und ideale Möglichkeit der Dinge
einigt und so die Welt zur Wirklichkeit vollendet. Diese Be-
ziehung auf das innere Mysterium Gottes läfst allein den wieder-
holten Ausruf der Verwunderung begreiflich erscheinen^ für den
der Gedanke an das Enthaltensein des Kosmos in der göttlichen
Intelligenz und Macht nicht ausreicht. Möglich wäre noch die
Auffassung, dafs das ganze Kapitel von dem namenhabenden
Tab und Weltschöpfer handle und dessen idealen Weltplan, dessen
realisierende Wesensmacht und dessen Geist als ausströmen-
des Lebensprinzip entwickelte. Allein auch in diesem Falle
wäre die Gedankeneinheit unmöglich, indem der Geist als aus-
gehendes Prinzip in anderer Weise die Schöpfung vermittelt,
als die Weltidee und Wesensmacht, welche nur innere Momente
des Weltschöpfers darstellen.
Die beiden Hauptfragen bleiben von der Deutung des eben
untersuchten Textes unberührt, die Fragen nämlich, ob Lao-tse
wirklich eine Trias von Potenzen in Gott angenommen habe,
80*
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422 Die Tao-Lehre des Jjao-tse.
oder ob diese Potenzen vielleicht kosmische Prinzipien seien,
welche durch irgendwelche Emanation noch teilweis mit Tao
zusammenhängen, wie sie andererseits der Welt angehören.
Ein derartiger Zweifel ist durch c. 42 ausgeschlossen; denn
dieses Kapitel spricht unzweideutig von einem göttlichen Lebena-
prozefs, der mit einer Dreiheit abschliefst, so zwar, dafs diese
Dreiheit dte überweltliche Ursache der Schöpfung, d. L aller
Wesen ist. ,Ta6 erzeugt Eins; Eins erzeugt Zwei; Zwei er-
zeugen Drei; Drei erzeugen alle Wesen. Alle Wesen tragen
oder stützen sich auf das Kuhende und umschliefsen das Thätige;
die vermittelnde Naturseele bewirkt die Vereinigung.^ a 42 a.
Der erste Satz ist das Uauptsymbol der Tao-Sekte, wenn auch
mit ganz fremdartigem Verständnis. — Julien übersetzt diesen
Teil von c. 42 also: Le Tao a produit un; un a produit deux;
deux a produit trois; trois a produit tous les etres. Tous les
etres fuient le calme et cherchent le mouvement. Un sonffle
immateriel forme Tharmonie. Sowohl Julien als Plänckner ver-
stehen unter den zwei das aktive Prinzip Yang und das ruhende
Prinzip Yn, unter dem dritten die Harmonie, Lebensseele, Natur.
Hiemach ist es schwer verständlich, wie Plänckner diese Trias
mit der Aufeinanderfolge der göttlichen Potenzen in c. 1. 4. 6. 21
vereinigen kann, wo die ewige Offenbarung des unsichtbaren Tab
nichts mit den zwei Prinzipien Yang und Yn gemein hat, viel-
mehr den göttlichen Geist in sich birgt, und auch nach seiner
Übersetzung von c. 6 überweltlich, weil unvergänglich bleibt.
Desgleichen scheint uns mit dieser Übersetzung der Pantheismus
deutlich gegeben, zumal bei Würdigung seiner Erklärung zu
c. 6. p. 36. Er übersetzt und erklärt c. 42 folgendermafoen:
,Das Tao schuf das Eine (d. h. der Wille wurde zur That, zur
Manifestation nach aufsen). Das Eine schuf die Zwei (d. i. den
Himmel, das männliche Prinzip, und die Erde, das weibliche
Prinzip). Diese Zwei erzeugten das Dritte (die Natur) und dies
Dritte erzeugte alles, was da lebt, vor allem den Menschen. Der
Menschennatur aber angemessen ist es, das Weibliche, die Erde
zu verlassen, und dem Männlichen, dem Himmel zuzustreben,
dessen göttlicher Odem ja alles belebte und die Harmonie des
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Die inneren Unterschiede in Gott. 423
Alls heryorrief/ — Diese Eosmogonie ist nicht blofs selbst dunkel,
sondern verdnnkelt auch die Idee des Schöpfers. Ein Wider-
sprach aber ist es, dafs der Mensch die Aufgabe habe, dem gött-
lichen Odem folgend, die Erde zu verlassen und dem Himmel
zuzustreben, da doch dieser Odem ebenso die Emanation der
Erde wie des Himmels ist, und die Erde nicht minder als der
Himmel die (wesenhafte?) Offenbarung des unsichtbaren Tao ist.
Entweder lehrte Lao-tse einen trinitarischen Theismus oder einen
naturalistischen Pantheismus; jedenfalls keinen abstrakten Theis-
mus. Mit Recht verwirft Straufs die herkömmliche chinesische
Auslegung, welche in dem Eins den Tao als Schöpfer, in dem
Zwei das thätige und ruhende Prinzip Tang und Yn, in dem
Drei die durch die !N^aturseele Khi (etymol. Odem, Lebensseele)
verbundenen Yn und Yang findet. Denn wie sollen diese Drei
alle Wesen erzeugen? Sie sind nach ihrer Verbindung durch
die betreffenden Naturseelen, oder wenn man eine allgemeine
Weltseele annehmen will, durch letztere bereits alle Dinge bzw.
das Universum. Selbst wenn wir den Gedanken Lao-tses mög-
lichst der chinesischen Naturphilosophie akkomodieren, dürfte er
nur sagen: die Zwei (Yn und Yang) erzeugen alle Dinge.
Straufs erkennt vielmehr in dem üreinen den durch sich
selbst aus der abstrakten Möglichkeit in (ewige) Wirklichkeit
gesetzten Gott, der sich dadurch, dafs er sich ins Nichtwesen
zurückzieht, zu einer Dyas differenziert ; unter dem Zweiten den
Damenhabenden Tab, des Ersten Fülle und Wesensoffenbarung;
unter dem Dritten den unsterblichen und überweltlichen Geist,
der aus den Tiefen jener göttlichen Dyas, aller Geistigkeiten
Pforte, hervorgeht. Die einzige Forderung, welche diese Aus-
legung stellt, ist för alle Erklärungen notwendig; dafs nämlich
der Zahlbegriff Zwei und Drei nicht in dem Sinne geprefst werde,
als ob die erste Zeugung zwei und die dritte drei Produkte er-
zielte; dann hätten wir nicht Drei als Ergebnis, sondern Sechs
oder Sieben. Auch darf der Ausdruck des Zeugens nicht so
ausgedeutet werden, dafs eine Selbsterzeugung der ersten Person
behauptet würde; sondern der Satz will besagen, zuerst sei die
Einheit Taös, nach der überzeitlichen Zeugungsthätigkeit des Einen
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424 Die Tao-Lehre des Lao-tee.
sei eine Zweiheit, infolge des produktiven Aktes dieser Zweiheit
sei die Dreiheit in Tab vollendet zu denken, jene Breiheit, welche
die schöpferische Weltnrsache ist Der Zweck dieser theologi-
schen Ausfuhrung scheint der zu sein, in dem Lebensprozels
Tabs das Urbild der physischen und ethischen Entwicklung zu
erweisen: dem namenlosen und verborgenen Urgrund der gött-
lichen Trias entspricht das Yn, welches die metaphysische Grund-
lage aller Wesen ist, sowie auf ethischem Gebiet die Selbst-
losigkeit und Demut, die Voraussetzung und der Anfang der
wahren Tugend. ,Was die Menschen hassen, ist: Verwaiste,
Wenigkeiten, Unwürdige zu sein, und (doch) machen es Könige
und Fürsten zu ihrer Bezeichnung. Denn ein Wesen — ,bald
nimmt's ab und nimmt doch zu, bald nimmt's zu und nimmt doch
ab.' Was andre lehren, das lehre ich auch (sc. den Fortschritt,
aber den wahren). Gewaltthätige, Halsstarrige erreichen nicht
ihren Tod. Ich will daraus einen Lehrgrund machen.' c. 42 b.
Nach air dem erhebt sich die Frage, wie es möglich ge-
wesen sein könne, dafs der chinesische Mystiker Lehren aus-
gesprochen habe, welche bezüglich der überweltlichen Erhaben-
heit Gottes ganz rein, und bezüglich der göttlichen Trinität dem
Dogma der Offenbarung so nahe sind. Lao-tse selbst gibt uns
Aufschlufs in c. 21. 70 und 14. Im ersterem beruft er sich für
seine Darstellung des ächöpfungsaktes, in c. 70 für seine Lehre
überhaupt auf Gott selbst, sei es, dafs er eine innere Erleuchtung
ordentlicher oder aufsergewöhnlicher Art, sei es, dafs er eine
prophetische Belehrung damit andeutet. In c. 14 dagegen legt
er der Gottheit einen Namen bei, den er zwar durch Deutung
der Silben nach Art chinesischer Wurzeln verständlich machen
will, jedoch selbst als einen Namen von unerforschlichem
Inhalt erklärt: Ji-hi-wei. ,Man schauet ihn, ohne zu sehen; sein
Name heifst Ji (= Gleich); man veminunt ihn, ohne zu hören;
sein Name heifst Ht (== Wenig); man fafst ihn, ohne zu be-
konunen; sein Name heifst Wei (=s Fein). Diese Drei können
nicht ausgeforscht werden; darum werden sie verbunden und
sind Einer.^ — P. Prömare, Montucci und Amyot, welche den
ersten Namen Khi aussprachen, glaubten in dem dreieinigen
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Die inneren Unterschiede in Gott. 425
Namen nur eine Hinweisung auf die göttliche Trinität zu finden,
nicht aber den Namen Jehovahs; erst Abel Remueat bewies,
dafs der erste Name Ji laute und dafs der ganze Name die
chinesische Wiedergabe des Offenbarnngsnamens sei. Es ergab
sich ihm als notwendige Voraussetzung die Thatsache einer
geistigen Beziehung zwischen Israel und China in oder vor dem
6. Jahrhundert. ,Gläcklicher weise ^ — schreibt M. Müller in
seinem Essay ,über falsche Analogieen in der vergleichenden Theo-
logie' (cf. Einleitung in die vergleich. Rel.-Wiss. Strafsb. 1874
p. 300) — ^dauerte der durch diese Übersetzung hervorgerufene
Schrecken nicht lange. Stan. Julien veröfient lichte im J. 1842
eine vollständige Übersetzung dieses schwierigen Buches und hier
sind alle Spuren des Namens Jehovah verschwunden. ,Die drei
Silben', schreibt er, ,welche A. Remusat als lediglich phonetisch
und der chinesischen Sprache fremdartig betrachtet, haben eine
sehr klare und leicht fafsliche Bedeutung, und sind von chine-
sischen Kommentatoren vollständig erklärt. Die erste Silbe J
bedeutet ohne Farbe, farblos; die zweite Hi ohne Laut oder
Stimme, lautlos; die dritte Wei ohne Körper. Die richtige Über-
setzung ist deshalb: ,Du suchst (das Tab, das Gesetz) und du
siehst es nicht: es ist farblos; du horchst und du hörst es nicht:
es ist stimmlos; du willst es berühren und erreichst es nicht:
es ist körperlos.' — Wenn also keine weiteren Spuren in der
chinesischen Litteratur entdeckt werden können, die auf eine
Verbindung zwischen China und Judäa im 6. Jahrh. v. Christi
Geburt schliefsen lassen, so kann uns schwerlich zugemutet werden
zu glauben, dafs die Juden diesen Namen, den sie sich kaum
getrauten in ihrem eigenen Lande auszusprechen, einem chine-
sischen Philosophen mitgeteilt hätten.' Würde Juliens Über-
setzung auf der lexikalischen Bedeutung der drei Silben beruhen,
so wäre es kaum möglich, seiner Erklärung die Berechtigung
abzusprechen; allein V. v. Straufs hat zu dem Kapitel 14 den
Nachweis geliefert, dafs dieselben im Chinesischen die betrefiende
Bedeutung von farblos, stimmlos und körperlos durchaus nicht
haben, sondern dieselbe von den [^Kommentatoren notgedrungen
empfingen, um sie einigermafsen verständlich zu machen. Das
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426 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
chinesische Lexikou kenne für ji, hi and wei nur die von Strauls
verwendete G-randbedeutang; ja die von Uo-schang-kung und
aDderen Kommentatoren, denen sich Julien anschlierst, ange-
nommene komme nicht einmal als abgeleitete vor. Sie gaben
eben den Silben denjenigen Sinn, welchen Lao-tse durch den
Vordersatz nahe legt, da sie den Zusammenhang zwischen den
drei Silben und den drei Erklärungen nicht verstanden. Aufser-
dem macht Straufs die Bestimmtheit geltend, mit welcher der-
selbe Lao-tse, welcher c. 25 schrieb, hier behaupte: ,Sein Name
heifst'; und die trotz der Übersinnlichkeit schwer verständliche
Erklärung, sie seien unerforschlich und müfsten zu einem einzigen
Namen verbunden werden. Der Kommentator luan-tse sacht die
behauptete ünerforschlichkeit folgendermafsen zu erklären : ,Diese
Drei sind im Grunde nur Eins. Die Menschen müssen diese
Namen gebrauchen, um zu sagen, dafs Tao den Sinnen des Ge-
sichts, Gehörs und Gefühls entgehe, durch die sie ihn suchen
wollen.* — Dieselbe Übersinnlichkeit kommt den Gedanken und
Wollungen, sowie allen Phänomenen wie der Substanz des mensch-
lichen Geistes zu, ohne dafs dieselbe gerade als Mysterium ver-
ehrt würde. Es ist also kein Grund vorhanden, warum Lao-tse
gerade nur drei Negativa hervorgehoben, und warum er diese
vereinigt und endlich noch als Mysterium bezeichnet habe.
Es bedürfte gerade nicht des Hinweises auf die Zerstreuung
der Israeliten infolge der assyrischen und babylonischen Erobe-
rung, um die Möglichkeit einer geistigen Berührung zwischen
Israel und China nahezulegen, denn der Fortschritt der Völker-
kunde mahnt mehr und mehr von der Anschauung ab, solche
Berührungen in früher Urzeit för unwahrscheinlich za halten.
Allein es ist doch wertvoll, sowohl bei 3. Keg. 9, 26 sq. die See-
fahrten der salomonischen Zeit stark betont, und bei Isaias 49, 12
den Namen Sinim, als bei den Chinesen di« Erinnerung an gei-
stige Einflüsse aus dem fernen Westen zu finden. Von letzteren
gibt Lie-tse (um 398 a. Chr.) die Kunde, es sei zur Zeit Mu-
wangs, eines Kaisers aus der Tscheu-Dynastie, welch er 1001 — 946,
also gleichzeitig mit Salomo (1018 - 978) regierte, aus einem Land
des äufsersten Westens ein Wundermann gekommen, der sich durch
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Die inneren Unterschiede in Gott. 427
seine anfeerordentlichen Thaten die höchste Verehrang des
Kaisers erworben und viele bekehrt habe. Wir denken um so
lieber an frühere Berührungen, da auch Lao*tse sich öfters auf
ein altes Buch (des mythischen Uoang-ti?) beruft; doch wollen
wir spätere, vielleicht persönliche Beziehungen des Altmeisters
zu versprengten Israeliten keineswegs minder wahrscheinlich
machen. Vielleicht ist selbst die Gedankenreihe, welche Lao-tse
zur Auslegung des Namens Jehovah benutzt, aus jener alten
religiösen Schrift entnommen. Wenigstens hält dies Straufs für
wahrscheinlich, indem Lie-tse von Taö im ersten Abschnitt seines
Buches die Worte anführe: ,Man schaut ihn, ohne zu sehen;
man vernimmt ihn, ohne zu hören, man fafst ihn, ohne zu be-
kommen.'
Doch sollte nicht heilige Scheu die Israeliten abgehalten
haben, einem fremden Manne den Offenbarungsnamen Jehovahs
anzuvertrauen? Diese rituelle Scheu dürfte späteren Zeiten ver-
wandter sein, als der weltlichen Grofsmachtsperiode des salomo-
nischen und des späteren Doppelrciches ; zudem waren so viele
Eigennamen Komposita des hl. Gottesnamens; endlich wird an-
genommen werden dürfen, dafs auch die ängstlichste Scheu, das '
Heilige den Unreinen preiszugeben, bei der Begegnung mit Gottes-
verehrern dem Eifer für Jehovahs Ehre gewichen sei.
Man könnte gegen die Annahme einer zu Lao-tse gelangten
Kenntnis der alttestamentlichen Offenbarung geltend machen, dafs
sie die trinitarische Gottesidee desselben nicht zu erklären ver-
möge, indem die Trinitätslehre eine Lehre des neuen Testa-
mentes sei.
Wer diese Schwierigkeit geltend macht, stellt sich natürlich
selbst vor die Aufgabe, die Idee der göttlichen Trias bei Lao-tse
auf eine causa sufüciens zurückzuführen*, denn da Lao-tse den
Gottesbegriff von der Vormischung mit der Welt rein bewahrt
und transcendental gedacht hat, läfst sich seine Gottestrias nicht
mit den pantheistischen Triaden des Brahmanismus oder anderer
pantheisierender Religionssysteme vergleichen. Wir halten es
durchaus für möglich, dafs die Kenntnis der Trinitätsidee zur
Zeit Salomons wie der Propheten das Denken gotterleuchteter
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428 Die Tao-I^ehre des Lao-tse.
Heiden von Palästina aus beeinflussen konnte und verweisen
hierfür auf unsere Austnhmngen in der Schrift : »Über das Wirken
des dreieinigen Gottes/ Mainz 1885. p. 53 sq. Es dient uns der
unleugbare Reflex der trinitarischen G-ottesauffassung in aufser-
israelitischen Schriften über den absolut überweltlichen Gott zur
Bestätigung, dafs die betreffenden alttestamentlichen Stellen trini-
tarisch verstanden werden wollen. Der Name Jehovah in Ver-
bindung mit dem Hinweis c. 21 u. 70 scheint uns das göttliche
Siegel zu sein, welches — unbeschadet der Genialität Lao-tses —
den Ursprung seiner reinen und übernatürlichen Gotteslehre, wie
einiger anderer seiner religiösen Ideen, die im folgenden Teile
zur Abhandlung kommen, insbesondere seiner Messiasidee und viel-
leicht auch der Verpflichtung zur Feindesliebe beurkundet.
Viktor von Straufs fühlt bezüglich der trinitarischen Gottes-
idee Lao-tses keine Notwendigkeit, eine Beziehung zwischen
Israel und China anzunehmen, indem er sie als eine Wahrheit
betrachtet, welche der Mensch vermöge seiner Geistesanlage
einigermafsen erreichen konnte. ,Mit freudiger Bewunderung wird
er (der Leser) bemerken, bis zu welcher reinen Höhe bei diesen
alten Taö-Bekennem die Erkenntnis der göttlichen Trinität be-
reits gelangt war, welche, weil sie der Notwendigkeit, nicht der
Freiheit Gottes angehört, auch in den höheren mythologischen
Religionen, wenn auch nur beschränkt und verworren, zum Aus-
druck gebracht war.* 1. c. p. 200. — Nach katholischer Lehre
ist die Dreieinigkeit Gottes, trotzdem sie zur Notwendigkeit seines
vollkommensten Wesens gehört, nur durch positive Offenbarung
erkennbar; die Spuren trinitarischer Auffassung wären demzu-
folge entweder auf Erinnerungen an die Uroffenbarung, oder
Einflüsse des alttestamentlichen Offenbarungskreises zurückzu-
führen, oder als nicht analoge und anders zu erklärende Speku-
lationen zu betrachten: letzteres z. B. in den alten heidnischen
Religionen, welche eine Göttertrias entweder in pantheistischem
oder mythologischem Sinne lehrten.
Schwieriger fühlt sich R. v. Pläuckner der von so vielen
Missionsgelehrten wie Sinologen vorgefundenen Trinitätslehre
Lao-tses gegenüber, indem er sich feierlich gegen den Schein
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Die inneren Unterschiede in Gott. 429
oder die Neigung verwahrt, in dem Tao-te-king Christliches vor
dem Christentum finden zu wollen. Er schreibt zu c. 1 : ,8chon
im vorstehenden ersten Kapitel wird ein sichtbares Tao von
einem unsichtbaren Tao unterschieden, und es wird sich weiter
zeigen, dafs das tschhäng-tao, das ewige Tao, also etwa die ewige
Gottheit, eine Trinität in sich vereint Diese Dreieinigkeit, ob-
schon der christlichen Idee analog, kann dennoch selbstverständ-
lich (600 Jahre vor Christus) nicht mit dieser identisch sein,
sondern das T&o in seiner Totalität oder seine Dreieinigkeit um-
faifit : 1. Den Himmelsherrn, den Ewigen, Erhabenen, den Schöpfer
Uinmiels und der Erde, den Unsichtbaren, das unsichtbare T&o;
2. das sichtbare Tao, die fort und fort schaffende Kraft der
Natur, die Natur selbst;
3. das Tao im Menschen. Ein reines, leidenschaftsloses
Gemüt kann das Tao erfassen, es kommt zur Erkenntnis, es wird
die Gottseligkeit (oder Tugend te) in uns erzeugt und immerhin
kann man sagen, der hl. Geist ist es, der über uns ausgegossen
wurde.^ p. 18. cf. p. 114 sq.
Hiermit hat Plänckner die Gefahr einer Trinitätslehre bei
LaO'tse so gründlich beseitigt, dafs er den wegen seiner reinen
Gotteserkenntnis so hoch gefeierten Altmeister (cf p. 100) zum
entschiedensten Pantheisten macht, wie bei dieser Auffassung aus
seiner Übersetzung der c. 4 und 6 unabweisbar erhellt. Wie
unterschiede sich denn Lao-tses Tab von dem vedantischen
Brahma oder Atman? Wie soll der Geist oder das Tab im
Menschen vermutet werden können, wenn Lao-tse nach Pläuckners
Übersetzung in c. 21 von Tab schreibt: ,Die ganze geschaffene
Natur und ihr Schaffen und Wirken ist nur eine Emanation des
Tao. Sie ist das Sichtbarwerden des Tao. Dieses, obgleich an
sich ein rein geistiges Wesen und durchaus immateriell, und
beides immateriell und geistig in vollendeter Weise, umfafst doch
alles Sichtbare; obgleich immateriell und geistig, schuf es doch
und sind in ihm alle Wesen. — Unbegreiflich und unsichtbar
wohnt aber in ihm ein erhabener Geist. Dieser Geist ist das
höchste und vollkommenste Wesen, denn in ihm ist Wahrheit,
Glaube, Zuversicht. Von Ewigkeit zu Ewigkeit wird sein
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430 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
unendlicher Ruhm nicht aufhören, denn in ihm vereinigt sich das
Wahre, Gute und Schöne im höchsten Grade der Vollendung. —
Wie aber kann ich wissen, dafs das Schöne, Wahre und Gute
in vollkommenster Weise sich in ihm vereinigt? — Bas weifs
ich von ihm selbst, dem Tao!' So weit der Text seiner Über-
setzung. ,Über dieses Kapitel könnte man wohl einen Folianten-
kommentar schreiben, enthält es doch in seinen wenigen Zeilen
eine ganze Welt von Ideen, Ideen tiefster philosophischer For-
schung über das uranfängliche Sein, über das höchste Wesen.
Den Folianten schreibe ich nicht, ich lasse mich nicht einmal
ein in Spekulationen, die gar zu leicht trügerisch werden können.
Trügerisch, weil man zu der Idee hingeführt werden kann,
hier Glaubenssätze vorznündeu, die sich nur im Christentum nach-
finden, spezieller im I. Kapitel des Johannes-Evangeliums. —
Trügerisch, weil dort — im Evangelium — in weiterer Folge
(im 14. Vers) die Aufklärung des Xoyog eine andere ist und
werden mufste. — Trügerisch, weil ein vorchristliches Christen-
tum ein Widerspruch ist. Ich habe dreimal das Trügerische
wiederholt und ausdrücklich hervorgehoben, und dennoch möchte
ich darnach fragen, ist es nicht ungemein auiFallend, im Täo-t8-
king die ganz eigentümliche Ausdrucks weise des Johannes-
anfangs vorzufinden?' p. 91. 92. cf. auch p. 307. Hiernach ist
Herr von Plänckner der Ansicht, die Ofienbarung der göttlichen
Dreieinigkeit habe erst durch Christus stattgefunden und ihre
erste biblische Beurkundung in Job. 1 empfangen, eine Ansicht,
welche als falsch erwiesen werden kann, ohne dafs die Gött^
lichkeit der Offenbarung und der übernatürliche Charakter des
Mysteriums irgendwelche Verdunkelung erführe. Eher wäre es
fremdartig, wenn der abschliefsende Vollender der Offenbarung
absolut neue und während des ganzen alten Testamentes nicht
vorbereitete Lehren gebracht bätte.
Sodann glaubt Plänckner im Hinblick auf Joh. 1, 14, Lao-tse
hätte mit der Erkenntnis der göttlichen Dreifaltigkeit auch den
Glauben an die Menschwerdung verbinden müssen: — eine > mir
unverständliche Konsequenz. Und doch erkennt er bei Lao-tse
schon hier im ersten Satz von c. 21 eine Annäherung an den
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Die ioneren Unterschiede in Gott. 431
johanneischen Gedanken, ja er findet in c. 78 u. 79 geradezu
(cf. p. 410) die Yerheifsang oder das Postulat der sichtbaren
Verkörperung Gottes in einem Menschen, um der Menschheit
König und Führer zu Gott zu werden. Zwar kämpft er auch
dort mit jenem Widerstreben, ein vorchristliches Christentum zu
finden, wie er wiederholt gesCbht ; cf. p. 396 sq. 405 sq. — allein
der Text hat gegen Ende des Buches, wie es scheint, stärkeren
Einflufs auf ihn gewonnen, als im Anfang. Und doch verhält
es sich mit dem Postulat eines gottmenschlichen Erlösers, welches
PI. bei Lao-tse findet, nicht anders als mit der Erkenntnis der
Dreipersönlichkeit Gottes : beide sind Mysterien der Ofienbarung,
ihren Lehrsätzen zufolge nur durch Offenbarung, nicht durch
Spekulation erreichbar.
Nicht nur kommt R. v. Plänckner mit sich selbst in Wider-
spruch, indem er so ängstlich die Trinitätslehre Lao-tses ab-
zuschwächen bemüht ist; es gelingt ihm nicht einmal, seinen
Zweck zu erreichen und als vorurteilsloser Forscher vor gläu-
bigen wie ungläubigen Kritikern zu erscheinen. Die objektive
Forschung hat rücksichtslos um etwaige Konsequenzen die That-
Sachen festzustellen, oder um bildlich zu sprechen, die Höhen,
welche sich zeigen, zu erklimmen, unbekümmert darum, wie die
Aussicht, bezw. Weltanschauung sich von dort oben herab ge-
stalten möge. Ist er ungläubig oder freireligiös, so darf ihn seine
etwaige subjektive Meinung nicht davon abhalten, etwa anders
belehrt zu werden; ist er gläubig, so weifs er, dafs es keine
Thatsachen gibt, welche mit der Glaubenswahrheit im Wider-
spruch stehen. Es ist ein beschränkter und kleinmütiger Glaube,
der für die Yeste Sions ängstlich besorgt, den Thatsachen, d. i.
den wissenschaftlichen Aussichtspunkten aus dem Wege geht;
diesem Glauben entspräche es allein, die Mauern um das heilige
Sion so hoch zum Himmel hinaufzufuhren, dafs niemand hinaus
und niemand herein schauen oder gehen könnte. Allein dieser
Glaube ist nicht der echte; der wahre Glaube weifs, dafs die
Ausbreitung und Vertiefung der menschlichen Wissenschaft eher
geeignet ist, noch bestehende scheinbare Schwierigkeiten aufzu-
hellen, als neue zu schaffen; er weifs, dafs es keine Höhe gibt,
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4r»?2 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
welche das Weltbild Lügen straft, das Gottes Oifenbarung vor
dem gläubigen Ange entrollt; er weifs aber anoh, dafs die wissen-
schaftliche Verarbeitung der göttlichen Wahrheit ein mensch-
licher und daher mangelhafter und einseitiger Versuch ist, dem
anendlichen Glaubensinbalt in wissenschaftlicher Form gerecht
zu werden. Die gläubige Forschung bleibt daher am Fufso der
Höhen nicht ängstlich stehen, sondern klimmt freudig hinauf,
eher an der Spitze — regina scientiarum — als notgedrungen
im Gefolge der weltlichen Wissenschaften, weil die göttliche
Lehre droben nur eine neue und grofsartige Bestätigung erfahren
kann, sie selber aber für ihren menschlichen Anteil an der theo-
logischen Wiedergabe des Göttlichen eine Berichtigung nicht
fürchten darf, sondern vielmehr wünschen und herbeiführen mufs.
Wenn die wissenschaftliche Forschung die Grenzmarken der be-
kannten Zone immer weiter in die Vergangenheit zurück und in
die unerforschte Ferne hinausrückt, so entstehen hieraus der
Theologie keineswegs neue Gefahren, wohl aber neue und viel-
leicht schwere Aufgaben: die Aufgabe vor allem, von entsprechend
erhöhtem Standpunkt das sich erweiternde Gebiet der Natur und
Geschichte zu betrachten, welches sich im Lichte der unveränder-
lichen Offenbarungswahrheit vor ihr ausdehnt
n,
PRAKTISCHE THEOSOPHIE.
§ 4. Das Wesen der waihren WeisheU.
Wie Johannes der Evangelist, an welchen die spekulative
und praktische Theosophie Lao-tses, sein stiller mystischer Sinn
und sein intransigenter Eifer gegenüber Confutse vielfach erinnern,
beschreibt der chinesische Altmeister die wahre Weisheit im
Gegensatz zur Klugheit und Begierlichkeit dieser Welt
Die Weisheit liegt im Nicht-thun und Nicht-reden, insofern
dasselbe die Gleichförmigkeit mit Gott besagt. Daher wurde
Lao-tse von den chinesischen wie europäischen Beurteilern zu-
meist für einen Quietisten gehalten. Allein mit Unrecht So
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Das Wesen der wahren Weisheit. 433
wenig Lao-tse den Tao zn einem Negativum machen wollte, in-
dem er ihn als Nicht-sein bezeichnet, so will er anch nicht nnter
seinem Ideal von Tugend und Weisheit passive Buhe und Un-
thätigkeit verstanden wissen.
Es ergibt sich dies zunächst aus seinen direkten Äufserungen.
Im 2. Kapitel erörtert Lao-tse, dafs es durchaus nicht notwendig
sei, die Gutheit des Guten und die Schlechtigkeit des Bösen den
Menschen lehrhaft zu beweisen; die thatsächlich vorhandenen
Gegensätze bringen das Gegensätzliche auch auf dem sittlichen
Gebiete hinlänglich zum allgemeinen Bewufstsein. Wenn trotz-
dem die Ül](ung des Guten nicht allgemein ist, so fehlt es eben
am Willen. Dieser wird nämlich mehr durch thatkräfUges Vor-
bild, als durch Worte beeinflufst. Daher meidet der Weise jenes
Thun, das fär die sittliche Hebung zwar viel Lärm macht, aber
wenig Erfolg bringt, wendet sich indes mit bereitwilligem Eifer
überall hin, wo der gute Wille zu keimen beginnt und seine
thatkräftige Hilfe einen guten Ort findet. Den Willen kann auch
das geschäftigste Thun nicht wecken, aber den erwachten guten
Willen kann liebevolle Hilfe mächtig fördern. ,Erkennen alle
in der Welt des Schönen Schön-Sein, dann auch das Häfsliche;
erkennen Alle des Guten Gut-Sein, dann auch das Nichtgute. Denn:
Sein und Nichtsein einander gebären:
Schwer und Leicht einander bewähren,
Lang und Kurz einander erklären,
Hoch und Niedrig einander entkehren,
Ton und Stimme einander sich lugen,
Vorher und Nachher einander folgen.
Daher der heilige Mensch bebarrt im Geschäft des Nicht-Thuns.
Wandel, nicht Rede, ist seine Lehre. Alle Wesen treten her-
vor und er entzieht sich nicht. Er belebt und hat nicht Er
thut und gibt nichts drauf. Er vollendet Verdienstliches und
besteht nicht darauf.
Weil er nicht darauf besteht.
Darum es ihm nicht entgeht.' c. 2.
,Wer thut im Lernen, nimmt täglich zu; wer thut in Tao,
nimmt täglich ab; nimmt ab und immer weiter ab, um anzulangen
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434 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
am Nicht-Thun. Er thut nicht, und doch ist er nicht unthätig.
Bekommt er das Beich, (so ist es) immer durch Nicht- Geschäf-
tigkeit. So lange einer Greschäftigkeit hat, verdient er nichts
das Reich zu bekommen/ c. 48. Wer sich selbst heiligt, wirkt
damit zur Heiligung seiner Umgebung. ,BsLui einer gut, wird
nicht abgerissen; verwahrt einer gut, kommt's nicht abhanden;
Kinder und Kindeskinder bringen ihm Opfer ohn' Aufhören.
Er fuhrt Ihn bei sich selber ein.
Dann hat sein' Tugend acht Gedeihn; «
Er führt Ihn ein in seinem Haus,
Dann fliefst sein' Tugend reichlich aus;
Er führt Ihn ein in seinem Ort,
Dann wächst sein' Tugend mächtig fort;
Er fuhrt Ihn ein in seinem Land,
Dann hat sein' Tugend Blütenstand;
Er führt im ganzen Reich Ihn ein,
Dann schliefst sein' Tugend alles ein.
Darum: an der Person prüft man die Personen, an dem Hause
prüft man die Häuser, an dem Orte prüft man die Örter, an dem
Lande prüft man die Länder, an dem Reiche prüft man das
Reich. — Woran erkenne ich, dafs das Reich also sei? — An
ihm.' — c. 54.
Sodann ergibt sich die Meinung L.'s aus der Darlegung,
die Weisheit gebe die beste Befähigung zum Herrscheramt, und
erziele ihre gröfsten Erfolge, wenn der weise oder hl. Mensch
zur Herrschaft berufen sei oder als öffentlicher Beamter ihren
Grundsätzen zur Wirklichkeit verhelfe. ,Ströme und Meere, wo-
durch sie vermögen der hundert Flüsse Könige zu sein, ist, dab
sie gut sich ihnen unterthun. Darum vermögen sie der hundert
Flüsse Könige zu sein. Daher der heilige Mensch, wünscht er
über dem Volke zu sein, mufs mit dem Worte sich ihm unterthun;
wünscht er dem Volke voranzugehen, mufs mit der Person sich
ihm nachsetzen. Daher der heilige Mensch oben bleibt, und das
Volk ist unbeschwert, voran bleibt, und das Volk ist unbeschädigt.
Daher alle Welt sich freut ihm zu gehorchen und es nicht müde
wird. Weil er nicht streitet, drum vermag keiner in der Welt
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Das Wesen der wahren Weisheit. 435
mit ihm zu streiten.* c. 66. ,Alle in der Welt nennen mich grofs
als einen vom Herkömmlichen Abweichenden. ^ Man sei nar grofs,
80 erscheint man als ein vom Herkömmlichen Abweichender.
Betreffs nicht vom Herkömmlichen Abweichender — lange sind
sie da, in ihrer ünbedentenheit. — Meinerseits habe ich drei
Schätze, bewahre und schätze sie hoch. Der erste heifst Barm-
herzigkeit, der zweite heifst Sparsamkeit, der dritte heifst Nicht-
Wagen im Reich voran zu sein. Barmherzigkeit, — drum kann
ich kühn sein; Sparsamkeit, — drum kann ich ausgeben; Nicht-
Wagen im Reich voran zu sein, — drum kann ich der Begabten
Oberster werden. Gegenwärtig verschmäht man Barmherzigkeit,
und doch ist man kühn, verschmäht Sparsamkeit, und doch gibt
man aus, verschmäht Zurückstehn, und doch ist man voran.
Zum Tode — ! Ist man barmherzig beim Kämpfen, dann siegt
man; beim Verteidigen, dann widersteht man. Wen der Himmel
retten will, den schützt er durch Barmherzigkeit.* c. 67. ,Wer
tüchtig ist Anführer zu sein, ist nicht kriegerisch; wer tüchtig
ist zu kämpfen, wird nicht zornig; wer tüchtig ist Gegner zu
überwinden, streitet nicht; wer tüchtig ist Leute zu gebrauchen,
ist ihnen unterthan. Das heifst die Tugend des Nichtstreitens;
das heifst die Kraft Leute zu gebrauchen; das heifst dem Himmel
gepaart sein, - des Altertums Höchstes.* c. 68.
Was Lao-tse durch den Ausdruck ,Nicht-thun* von der
Thätigkeit des Weisen ausschliefst, ist alles dasjenige, was dem
niederen und sinnlichen Teile des Menschen angehört: Leiden-
schaft und Ungestüm, Begierde und Selbstsucht, Selbstgeföllig-
keit, Werkheiligkeit und Tugendstolz. Der geistige und heilige
Wille will und handelt ohne diese sinnliche Aufregung und ohne das
engherzige Interesse des eigenen Ich: sein Wollen ist Ruhe, aber
nicht die träge Ruhe der Materie, sondern die Ruhe des Geistes,
der zielbewufsten Überlegung und Vorsehung, die Ruhe der Selbst-
beherrschung und Selbstverleugnung, und zwar bis zur Feindesliebe.
Dafs Lao-tse die Feindesliebe sowohl als Ideal wie als Forde-
rung hingestellt habe, ist aus c. 49 u, 63 gewifs; sie ist ihm ein
Bewähr der wahren Demut und Selbstentäufserung um des allein
Guten (Tab) willen. ^Der heilige Mensch hat kein beharrlich
Jahrbuch fQr PbUowphle etc. 1. 31
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436 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
(d. h. kein eigensinniges, hartnäckiges) Herz; aus der hundert
Gesohlechter Herzen macht er sein Herz. Den Guten behandle
ich gut, den Nichtgaten behandle ich auch gut. Tugend ist
Güte. Den Aufrichtigen behandle ich aufrichtig, den Nichtauf-
richtigen behandle ich auch aufrichtig. Tugend ist Aufrichtig-
keit. Der heilige Mensch ist in der Welt voller Furcht, dafs
er durch die Welt sein Herz verunreinige. Die hundert Ge-
sohlechter alle richten auf ihn Ohr und Auge. Dem heiligen
Menschen sind sie alle Kinder.' o. 49. «Das Thun sei Nichtthun,
das Geschätl Nichtgeschäfl, der Genufs Nichtgenufs, das Grofse
Kleines, das Viele Weniges. Vergilt Feindschaft mit Wohl-
thun. Unternimm das Schwere in seinem Leichtsein, thue das
Grofse in seinem Kleinsein; die schwersten Dinge der Welt be-
ginnen ja mit Leichtsein, die gröfsten Dinge der Welt beginnen
ja mit Kleinsein. Daher der heilige Mensch niemals das Grofse
thut, drum vermag er sein Grofses zu vollenden. Wer leichthin
verspricht, hält sicherlich selten. Wem vieles leicht ist, wird
sicherlich vieles schwer. Daher der heilige Mensch es wie schwer
behandelt, drum lebenslang nichts ihm zu schwer wird.^ c. 63.
Der Charakter der übernatürlichen Tugend liegt wohl nie-
mals in der Materie des Aktes, sondern in dem Motiv als solchem ;
obgleich wir die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit nicht be-
mängeln wollen, dafs L. die Verpflichtung zur Feindesliebe aus
dem alttestamentlichen Gesetze erkannt habe.^) (cf. Exod. 23, 4. 5:
^) Vgl. Manus Geeetzbuch 6, 91. 92: ,BrahmaneD, welche sich in
diesen vier Standen befinden, müssen beständig einen iDbegiiff von sehn
Pflichten sorgfältig erfüllen: Zufrieden sein, Böses mit Gutem vergelten,
die sinnlichen Lüste unterdrücken, sich unerlaubten Gewinn versagen, sich
reinigen, die Glieder im Zaum halten, die Schrift erforschen, den höchsten
Geist kennen, wahrhaftig sein, und sich nicht zum Zorn verleiten lassen.
Dies smd die zehn Teile ihrer Pflichtentafel.^ cf. 6, 48. Dhammapadam
3 — 6; 5: ,Denn nicht durch Feindschaft Feindschaften zur Buh* kommen
hier irgendwie; durch Nicht-Feindschaft zur Buh* sie gehn. Dies ist ein
ewiglicher Satz. Thoren, die es nicht einsehen: Wir sollen uns bezähmen
hier.* — 20. 95: ,Wer der Erde Tergleichbar duldsam ist ... . einem
solchen weitre Geburt nicht ist bestimmt.' 108: ,Wenn einer tausend um
tausend Männer besiegt in der Schlacht, — Und wer einzig sich selbst
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Das Wesen der wahren Weisheit. 437
Si occarreris bovi inimici tui ant aeino erranti^ reduc ad eum. 8i
yideris asinum odientis te jacere Bub onere, non pertransibiB,
Bed Bnblevabis cum eo. 9 : Peregrino molestus non eris. cf.
Job 31, 29: Si gavisiiB sum ad ruinam ejus, qni me oderat, et
exBultavi, qnod invenisset eum malum . . . Die Idee der
Feindefiliebe, welche sich hier für konkrete Fälle ausspricht,
findet sich Prov. 20, 22; 24, 17. 29; 25, 21. 22: 8i esurierit
inimicus tuns, ciba illum; si sitierit, da ei aquam bibere: prunas
enim congregabiB super caput ejus et Dominus reddet tibi,
grundsätzlich ausgesprochen.) Allein sie widerstrebt der ver-
wundeten Natur des menschlichen Willens doch so sehr, dafs
Lao-tses Forderung bald auf theologischen Widerstand stiefs;
denn sie war es gewifs, welche Anlafs zu der Frage eines Jün-
gers an Confutse gab: ,Jemand sprach: Mit Wohlthun vergilt
Feindschaft! Wie ist das? — Der Meister sprach: Womit ver-
gälte man dann Wohlthun? Mit Recht vergilt Feindschaft! Mit
Wohlthun vergilt Wohlthun!' Lünjü 14, 36 und Li-ki'32, 11,
wo aufserdem die furchtsame Besorgnis vor dem Feinde als Motiv
des ihm zugewandten Wohlthuns vermutet wird. Da diese Anti-
these die Thesis vof aussetzt und wohl kaum ein anderer als
LaotBe die Feindesliebe gelehrt haben dürfte, halten wir die
Übersetzung Plänckners für unrichtig: ,Aber er beschwichtigt
besiegt, dieser ist doch der Siegreichste.' — 133. 134. 184: »Nachsicht
trefflichste Basse, und Geduld höchstes Nirwana ist, dieses der Buddha
Vorschrift ist.* 223: »Durch Sanftmut man besieg' den Zorn, durch gute
(That) die böse; Den Geizigen durch Freigebigkeit, den Lügner durch
wahrhaftige Bede.' 281—233: Zorn im Thun, Beden und Sinnen soll unter-
drückt werden. 406: ,Wer Feindlichem nicht feindlich ist, mild gegen An-
greifende, ohne Gier unter Gierigen — einen solchen nenn* ich Brahmana.' —
Behauptete man zur Erklärung dieser erhabenen sittlichen Forderungen nach-
christliche Interpolationen, so wäre dies gewaltsam bzw. unmöglich; mehr-
fache Beeinflussungen durch biblische Sittenlehren vorauszusetzen, möchte
gekünstelt erscheinen: entweder hat also die menschliche Seele durch die
Erbsünde keine solche Verdunklung und Schwächung erfahren, dafs sie
aufser Stande war, die Pflichtmäfsigkeit der innerlichen Überwindung von
Hafs und Feindschaft theoretisch und praktisch anzuerkennen, oder ihre
Denk- und Willenskraft ist von der allen gewährten Geistesgnade bis zu
dieser Höhe sittlicher Selbstverleugnung innerlich gehoben worden.
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438 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
die Klagen und Bekümmernisse der Menschen dadurch, dafs er
ihre Herzen zur Tugend lenkt durch seine Tugend. Er voll-
bringt das Schwerste dadurch, dafs er die Menschheit bessert/ c. 63.
Die Beweggründe, mit welchen L. zur Übung einer so er-
habenen und widerstrebenden Tugend anspornt, sind folgende drei:
a) Das Vorbild Taös. Die Weisheit ist Gleichförmigkeit mit
Gott; ist der Wille ihm gleichförmig, so darf er nicht sein eigen
Selbst, nicht einmal sein eigenes Verdienst zum Motiv seiner
Tugend machen; in kindlicher Einfalt nimmt er an Tugend zu,
ohne dafs ihn der Gedanke an das eigene Ich dabei triebe oder
Tugendstolz befleckte, cf. c. 2. c. 8: ,Der ganz Gate ist wie
Wasser — Wasser ist gut, allen Wesen zu nützen, und streitet
nicht; es bewohnt, was die Menschen verabscheuen — ; drum
ist er nahe an Tab. Im Wohnen ist er gut der Erde, im Herzen
gut dem Abgrund, im Geben gut der Menschenliebe, im B.eden
gut der Wahrheit, im Herrschen gut dem Regiment, im Gesohäfl
gut der Geschicklichkeit, im Bewegen gut der Zeit Er streitet
nicht, drum wird ihm nicht gegrollt.' c. 31 : ,Die schönsten Waffen
sind Unglückswerkzenge, alle Wesen verabscheuen sie; drum
wer Tab hat, führt sie nicht. Ist der Weise daheim, dann schätzt
er die Linke; braucht er die Waffen, dann schätzt er die Rechte.
Waffen sind unglückswerkzenge, nicht des Weisen Werkzeuge.
Kann er nicht umhin und braucht sie, sind ihm Fried' und Ruh'
doch das Höchste. Er siegt, aber ungern. Es gern thun ist
sich freuen, Menschen zu töten. Wer sich freuet Menschen zu
töten, kann seine Absicht am Reich nicht erreichen. — Erfreu-
liche Handlungen bevorzugen die Linke, schmerzliche Handlungen
bevorzugen die Rechte. Der ünterfeldherr steht links, der Ober-
feldherr steht rechts; anzuzeigen, er stehe wie bei der Leichen-
feier. Wer viele Menschen getötet, mit Schmerz und Mitleid
bewein' er sie. Wer im Kampfe gesiegt, der stehe wie bei der
Leichenfeier.' c. 3L Die kriegerischen Tugenden gehören einer
niedrigeren Zone der Sittlichkeit an, deren üentrum die eigene
Persönlichkeit ist; jene Tugend, deren Mittelpunkt Tab ist, opfert
das persönliche Recht, um dessentwillen Fürsten und Völker Krieg
führen, c. 41. c. 73: ,Hat man Mut, zu wagen, dann tötet man;
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Das Wesen der wahren Weisheit. 439
liat man Mut, nicht zu wagen, dann läfst man leben. Dies Beides
ist bald nützlich, bald schädlich.
Was dem Himmel ist gehafs,
Wer erkennet, warum das?
Daher der heilige Mensch es für schwer hält Des Himmels
Weise ist:
Er streitet nicht, und weifs zu überwinden,
Er redet nicht, und weifs Antwort zu finden.
Er ruft nicht, und man kommt von selbst vor ihn.
Langmütig, weifs er doch herbeizuleiten.
Des Himmels Netz fafst weite Weiten,
Klafft offen, — und läfst nichts entfliehn.'
b) Die ruhige Energie des Greistes ist weit stärker als das
heilige Ungestüm des Menschen ohne Selbstverleugnung. ,Das
Schwere ist des Leichten Wurzel; das Ruhige ist des Unruhigen
Herr. Daher der heilige Mensch den ganzen Tag wandelt ohne
zu weichen von ruhigem Ernst Hat er gleich Prachtpaläste,
gelassen bewohnt er sie und verläfst sie ebenso. Wie aber,
wenn der Myriaden Wagen Gebieter um seinetwillen leicht nimmt
das Reich? Nimmt er's leicht, so verliert er die Vasallen; ist
er unruhig, so verliert er die Herrschaft.' c. 26. — ,Wa8 sich
einziehen will, hatte sich sicherlich ausgedehnt; was schwach
werden will, war sicherlich stark geworden; was fallen will,
war sicherlich aufgestiegen; was sich entreifsen will, hatte sich
sicherlich mitgeteilt Das heifst: Verborgenes wird klar. Weich
und Schwach überwindet Hart und Stark. Der Fisch darf die
Wassertiefe nicht verlassen; des Landes scharf Gerät, nicht darf
man es den Menschen zeigen.' c. 36. — ,Der Welt AUernach-
giebigstes überwältigt der Welt Allerhärtestes. Das Nicht-Seiende
durchdringt das Zwischenraumlose. Daraus erkenne ich des Nicht-
Thuns Vorteil — Des Nicht-Redens Lehre, des Nicht-Thuns
Vorteil, wenige in der Welt erreichen sie.* c. 43. — ,Name oder
Person, was ist näher? Person oder Besitz, was ist mehr? Er-
werben oder verlieren, was ist schlimmer? Daher
Wer zu sehr liebt.
Notwendig grofs drangibt;
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440 Dio Tao-Lehre des Lao-tee.
Wer viel begehrt^
Notwendig stark verliert.
Wer Genüge kennt.
Wird nicht geschändt;
Wer still kann stehn,
Wird der Gefahr entgeh n;
Kann dabei lange dauern/ (of. Mat. 16, 25. 26.) c. 44. —
,Ein grofs Land, das sich heninterläfst, ist des Reiches Band,
des Reiches Weib. Das Weib überwindet immerdar mit Rahe
den Mann; mit Ruhe ist es unterthan. Drum ein grofs Land,
ist es unterthan dem kleinen Lande, dann gewinnt es das kleine
Land; ein klein Land, ist es unterthan dem grofsen Lande, dann
gewinnt es das grofse Land. Drum etliche sind unterthan, um
zu gewinnen, etliche unterthan, um gewonnen zu werden. Ein
grofs Land überschreite nicht den Wunsch, die Menschen zu
verbinden und zu weiden; ein klein Land überschreite nicht den
Wunsch, einzutreten und den Menschen zu dienen. Erreichen
sie beide, jedes was es wünscht, so soll das grofse unterthan
sein.* c. 61. — ,Nichts in der Welt ist weicher und schwächer
denn das Wasser, und nichts, was Hartes und Starkes angreift,
vermag es zu übertreffen; es hat nichts, wodurch es zu ersetzen
wäre. Schwaches überwindet das Starke, Weiches überwindet
das Harte. Keinem in der Welt ist es unbekannt, und keiner
vermag es zu üben. Daher der heilige Mensch sagt:
Tragen des Lands Unreinigkeiten,
Das heifst voran beim Hirseopfer schreiten.
Tragen des Landes Not und Fein,
Das heifst des Reiches König sein. —
Wahre Worte wie umgekehrt.' c. 78.
Die gewaltsamen Kraftausbrüche im Natur- und Geistesleben
können nur kurze Dauer, aber keine Ausdauer haben, letztere
insbesondere nicht, weil sie der Besonnenheit hinsichtlich des
zu unternehmenden Werkes ermangeln. ,Wenig reden ist natur-
gemäfs. Wirbelwind währt keinen Morgen. Platzregen währt
keinen Tag. Wer macht diese? Himmel und Erde. Himmel
und Erde sogar können nicht länger, um wie viel weniger denn
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Das Wesen der wahren Weisheit. 441
der Mensch! Drum, wefs Thun mit Tab einstimmt, wird eins mit
Taö; der Tngendsame wird eins mit der Tugend. Der Ver-
derbte wird eins mit dem Verderbnis. Wer eins wird mit Tab,
auch Taö freut's, ihn zu bekommen; wer eins wird mit der
Tugend, auch die Tugend freut's, ihn zu bekommen; wer eins
wird mit der Verderbnis, auch die Verderbnis freut's, ihn zu
yerderben. Vertraut man nicht genug, erhält man kein Ver-
trauen.' c. 23. L. will damit sagen, es liege auch in der Natur
Gottes und der sittlichen Mächte, denjenigen, welche sie in sich
aufnehmen, Bestand und Ausdauer, oder Verwirrung und Ver-
derbnis zu bringen; was aber der Natur entspricht, das bewirkt
Freude. Andererseits würdigt die Weisheit im Gegensatz zu
der weltlichen Klugheit alle Schwierigkeiten, welche ein Werk
erschweren; indem der Weise sie unbethört durch eigenen Wunsch
würdigt, hat er ihnen von vornherein die Krafk benommen. ,Das
Buhende wird leicht gehalten, dem noch nicht sich Zeigenden
leicht zuvorgekommen, das Zarte leicht gebrochen, das Feine
leicht zerteilt. Thue das, wenn es noch nicht da ist; walte
dessen, wenn es noch nicht in Aufruhr ist. Ein umfangreicher
Baum entsteht aus haarfeinem Sprofs; ein neunstöckiger Turm
erhebt sich aus einem Häuflein Erde; eine Reise von tausend
Li (= ^/2o Meile) beginnt mit einem Schritt. — Wer thut, dem mifs-
rät; wer nimmt, der verliert. Daher der heilige Mensch nicht
thut, drum ihm nicht mifsrät, nicht nimmt, drum er nicht ver-
liert Das Volk, das ein Geschäft vornimmt, ist immer nahe am
Vollenden, und es mifsrät ihm. Sorgt man fürs Ende wie für
den Anfang, dann mifsrät kein Geschäft. Daher der heilige Mensch
begehrt nicht zu begehren, und nicht hochschätzt Güter schweren
Erwerbes ; lernet nicht zu lernen, und zurückhält, wo die meisten
Menschen übertreten; allen Wesen verhilft zu ihrer Freiheit, und
doch nicht wagt zu thun.' c. 64.
c) Die Ruhe verhält sich zur Bewegung, wie das Ziel zur
Entwicklung; also liegt das Ziel der sittlichen Entwicklung in
der Ruhe, nicht in der unruhigen Bewegung des Begehrens,
cf. c. 16. Daher mufs man sich von der Herrschaft der Sinn-
lichkeit befreien; denn von ihr geht die innere Unruhe aus.
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442 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
jErgreifen und voUgiefsen, — besser, das unterbleibt. Betasten
und schärfen, kann nicht lange währen. Füllt Gold und Edel-
gestein eine Halle, vermag es keiner zu hüten. Reich, geehrt
und hochmütig bescheert sich selbst sein Unglück. Verdienst-
liches vollendet, Buhm erlangt — sich selbst zurückziehen, ist
des Himmels Weg.* c. 9.
,Die fünf Farben machen des Menschen Aug' zu Raub,
Die fünf Töne machen des Menschen Ohren taub,
Die fünf Schmäcke machen des Menschen Mund verstört,
Feldjagd und Pferderennen machen des Menschen Herz bethört,
Und Schätze, schwer erreichbar, machen des Menschen Gang
verkehrt.
Deshalb des Heilgen Thun ist seine Brust,
Nicht Augenlust.
Drum läfst er das und ergreift dies.* c. 12.
,Gnade und Ungnade ist wie ein Fürchten;
Hoheit so grofse Plage wie der Körper.
Was heifst: Gnade und Ungnade ist wie ein Fürchten? Gnade
erniedriget: sie erlangen ist wie ein Fürchten, sie verlieren ist
wie ein Fürchten. Das heifst: Gnade und Ungnade ist wie ein
Fürchten. — Was heifst: Hoheit ist so grofse Plage wie der
Körper? Wir haben deshalb grofse Plagen, weil wir den Körper
haben. Sind wir erst ohne Körper, welche Plage haben wir?
Drum wer an Hoheit dem Körper das Reich gleichachtet, dem
kann man das Reich anheimstellen; wer an Liebe dem Körper
das Reich gleichachtet, dem kann man das Reich anvertrauen.'
c. 13. — ,Hat das Reich Tab, so behält man Gangrosse zur
Felddüngung; hat das Reich nicht Tao, so leben Kriegsrosse im
Auslande.
Kein gröfsrer Frevel, als Gelüst erlaubt zu nennen;
Kein gröfsres Unheil, als Genügen nicht zu kennen;
Kein gröfares Laster, als nach Mehrbesitz zu brennen.
Drum, wer sich zu genügen weifs, hat ewig genug.' c. 46.
Die weltliche Klugheit hat ganz entgegengesetzte An-
schauungen, indem sie das Gute durch Erregung der Begierlich-
keit und des Ehrgeizes bei den Beamten wie dem Volke zu ver-
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Das Wesen der wahren Weisheit. 443
wirklichen trachtet; das iet nach L/s Begriff von der wahren
Weisheit ebenso entfernt wie von dem Vorbild der göttlichen
Weltregierang und wie von dem Erfolg; denn die Beispiele der
Herrscher und der Grofsen werden von dem Volke nachgeahmt,
cf. c. 3: ,Nicht hochstellen die Weisen, macht das Volk nicht
hadern. Nicht hochschätzen Güter schweren Erwerbs, macht das
Volk nicht Diebstahl verüben. Nicht ansehen Begehrbares,, macht
das Herz nicht unruhig. Daher der heilige Mensch, welcher
regiert, leeret sein Herz, füllet sein Inneres, schwächet seinen
Willen, stärket sein Gebein. Immer macht er das Volk nichts
kennen, nichts begehren; macht er, dafs die, welche kennen,
nicht wagen zu thun. Thut er das Nicht-Thun, dann mangelt's
nicht am Regiment/ — c. 53 : , „Wenn ich hinreichend erkannt
habe, wandle ich im grofsen Tao; nur bei der Durchführung ist
dies zu fürchten: Der grofse Tab ist sehr gerade, aber das Volk
liebt die Umwege.*' — Sind die Paläste sehr prächtig: sind die
Felder sehr wüst, die Speicher sehr leer. Bunte Kleider an-
ziehn, scharfe Schwerter umgürten, sich füllen mit Trank und
Speisen, kostbare Kleinodien haben im Überflufs, das heifst mit
Diebstahl prahlen; wahrlich nicht Ta6 haben.'
Die Hingabe an die Begierden fuhrt bei dem Einzelnen zur
inneren Unruhe, bei der Gesellschaft zum Unfrieden. Denn die
Begierden haben die Einzelgüter zum Gegenstand, welche viel-
fach im Gegensatz zu einander stehen, und demzufolge geraten
auch die Begierden und die Begehrenden unter sich in Feind-
schalt. Dagegen hat das geistige Wollen das allgemein und an
sich Gute, Tab zu seinem Objekt, und ist infolgedessen über allen
Gegensatz und Zwiespalt des Endlichen und Einzelnen erhaben,
also Prinzip der Ruhe und des Friedens. Diesem Grundcharakter
des sittlichen WoUens und Wirkens entspricht es, dafs es nie-
manden widernatürliche Gewalt an thut; es ist ja auf Tao ge-
richtet, das höchste und allgemeinste Gut, welches alle Gegen-
sätze versöhnt, alle Bedürfnisse erfüllt, alle Naturen vollendet.
So macht es L. verständlich, wie gerade in der leidenschafts-
losen Ruhe, in dem Nicht-thun, der Erfolg und das Geheimnis
des sichersten Erfolges für das Thun liege. So c. 29—31. 43—45.
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444 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
yWer da trachten würde das Reich zu nehmen und es zu machen,
wir sehen es ihm nicht gelingen. Das Reich ist ein geistig Gefafs,
es kann nicht gemacht werden. Der Macher zerstört es, der
Nehmer verliert es. Denn ein Wesen —
Bald geht es vor, bald folgt es nach,
Bald bläst es warm, bald kalt darein.
Bald wird es stark, bald wird es schwach,
Bald steigt es auf, bald stürzt es ein.
Daher der heilige Mensch meidet das Übersteigen, meidet die
Überhebung, meidet die Gröfse.' c. 29. — ,Wer mit Tab beisteht
dem Menschenherrscher, nicht mit Waffen vergewaltigt er das
Reich. Sein Verfahren liebt auszugleichen. Wo Heerhaufen
lagern, gehn Disteln und Dornen auf. Grofser Kriegszüge Folge
sind sicherlich Notjahre. Der Gute siegt, und damit genug;
er wagt nicht zur Vergewaltigung zu greifen. Er siegt und ist
nicht stolz; siegt und triumphiert nicht; siegt und überhebt sich
nicht-, er siegt, und kann's nicht vermeiden; siegt und verge-
waltiget nicht
Was stark geworden ist, ergreist;
und das ist, was man Taö-los heifst.
Was Tab-los ist, das endet früh.' c. 30.
Dieselben Erwägungen machen L. zu einem entschiedenen Gegner
der Vielregiererei, des Polizei- und Militärstaates; indem diese
Fortschritt und Gemeinwohl gewissermafsen erzwingen wollen,
reizen sie zum Widerstand und ersticken im Keime die Neigung
des Volkes, selbstthätig die gemeinsamen Ziele zu fördern. ,Mit
Redlichkeit regiert man das Land, mit Arglist braucht man
Waffen, mit üngeschäftigkeit gewinnt man das Reich. Woher
weiTs ich, dafs dem also? Daher: Je mehr Verbote und
Beschränkungen das Reich hat, desto mehr verarmt das Volk;
je mehr scharf Gerät das Volk hat, desto mehr wird das Land
beunruhigt; je mehr Kunstfertigkeit das Volk hat, desto wunder-
lichere DiDge kommen auf; je mehr Gesetze und Verordnungen
kundgemacht werden, desto mehr Diebe und Räuber gibt es.
Darum sagt der heilige Mensch: Ich bin ohne Thun, und das
Volk bessert sich von selbst: ich liebe Ruhe, und das Volk wird
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Das Wesen der wahren Weisheit. 445
Yon selbst redlich; ich bin ohne Geschäftigkeit, und das Volk
i¥ird Yon selbst reich; ich bin ohne Begierden, und das Volk
wird Yon selbst einfach.* c. 57. — ,Wefs Eegierung recht trüb-
selig, dessen Volk kommt recht empor; wefs Regierung recht
durchspähend, dessen Volk yerföllt erst recht Unglück, — das
Glück beruht auf ihm! Glück, — das Unglück liegt unter ihm!
Wer kennt ihren Ausgang? — Ist jener nicht redlich, so werden
die Redlichen zu Schelmen, die Guten werden zu Heuchlern.
Des Volkes Verblendung, — ihr Tag währt lange! Daher der
heilige Mensch gerecht ist und nicht verletzend, bieder und nicht
beleidigend, ehrlich und nicht willkürlich, leuchtend und nicht
blendend.' c. 58. — »Regiert man die Menschen und dient dem
Himmel, so gleicht nichts der Sparsamkeit. Nur das Sparen,
das heifst zeitig versorgen. Zeitig versorgen heifst Wohlthaten
reichlich aufhäufen. Häuft man reichlich Wohlthaten, dann ist
nichts unüberwindlich. Ist einem nichts unüberwindlich, so weifs
keiner sein Äufserstes. Weifs keiner sein Äufserstes, so kann
er das Land haben. Hat er des Landes Mutter, so kann er
lange dauern. Das heifst tiefe Gründung, feste Wurzel; langen
Lebens, dauernden Bestehens Weg.' c. 59. ,Das Volk hungert,
weil seine Obrigkeit zu viel Abgaben verzehrt. Deshalb hungert
es. Das Volk wird schwer regiert, weil seine Obrigkeit zu thun
hat. Deshalb wird es schwer regiert Das Volk achtet den
Tod gering, weil es Lebensübermafs verlangt Deshalb achtet
es den Tod gering. Nur wer nichts um des Lebens willen thut,
ist weise gegen den, der das Leben hochschätzt' c. 75.
Aus all diesen Gründen geht die sittliche Grundforderung
der Weisheit auf Demut und Selbsten täufserung; ihre Bedeutung
findet L. in der Naturordnung versinnbildet, wo alles nach unten
talit und strömt: so fällt und strömt der Demut alles Gute —
Verdienst und Erfolg zu. Noch eigentümlicher ist das Bild,
welches er in c. 11 gebraucht, um den Wert der Demut, dieses
Nicht-seins durch Anspruchslosigkeit zu zeigen : alle Dinge seien
brauchbar infolge ihrer inneren oder äufseren Begrenztheit —
durch ihr (relatives) Nichtsein. ,Dreifsig Speichen trefien auf
eine Nabe: gemäfs ihrem Nichtsein ist des Wagens Gebrauch.
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4:46 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
Man erweicht Thon, um ein Geföfs zu machen: gemäfs seinem
Nichtsein ist des Geförses Gebrauch. Man bricht Thür und
Fenster, um ein Haus zu machen: gemäfs ihrem Nichtsein ist
des Hauses Gebrauch. Drum: das Sein bewirkt den Gewinn,
das Nichtsein bewirkt den Gebrauch/ c. 11. ,Wer sich auf den
Zehen erhebt, steht nicht fest, wer die Beine spreizt, schreitet
nicht fort. Wer sich ansiehet, leuchtet nicht; wer sich recht
ist, zeichnet sich nicht aus; wer sich rühmt, hat kein Ver-
dienst; wer sich erhebt, ragt nicht hervor. Er vor Taö —
heifst Abhub vom Essen, unanständig Gebaren. Jeder verab-
scheuet es. Drum wer Tao hat, hält es nicht so.' c. 24.
Es gibt nur eine Tugend, nämlich die religiöse Sittlichkeit,
die Weisheit in Gott. Die einzelnen und verschiedenen Tugen-
den sind nicht die wahre Tugend, sondern nur ihre äufsere Be-
kundung. Was die Tugenden allein zur Tugend macht, ist die
demtitige Hingabe an Tab; Tab und demütige Einfalt des Geistes
sind der Geist, der alle Tugenden innerlich zu einer Tugend
einigt. Wird die Tugend von diesem religiösen Grunde los-
gelöst, so sinkt sie stufenweis herab, zunächst zum Prinzip der
Humanität (z. B. der Loge); da jedoch nur mit selbstloser Opfer-
willigkeit und Hingabe des eigenen Interesses eine ernstliche
Förderung der Humanität zu erreichen ist, also unter Voraus-
setzung religiöser Opferwilligkeit, so sinkt die religionslose Hu-
manitätsmoral bald zur Gerech tigkeits- oder Rechtschaffenheits-
moral, und noch weiter zur Wahrung äufserer Gesetzlichkeit und
des Anstandes herab bei innerlich ungehemmter und heimlich
wirkender Selbstsucht. Doch immerhin fordert die Beobachtung
der äufseren Form oder die Moral der Bildung noch eine gewisse
Selbstbeherrschung; daher nennt sie L. die Blüte Taos, dessen
äufserliche Erscheinung; allein, wenn blofs Erscheinung, ohne
sittliche Wurde und Kraft, — eine Blüte ohne Frucht Schlimmer
ist jedoch die Gefahr, dafs die äufsere Bildung die innerlich
keimende Schlechtigkeit anständig verhülle und so das Erstarken
des Bösen erleichtere, ähnlich wie äufserliche Wissensbildung der
inneren Hohlheit zum Deckmantel dient. ,Hohe Tugend keine
Tugend, daher ist sie Tugend ; niedere Tugend unfehlbar Tugend,
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Das Wesen der wahren Weisheit 447
daher ist sie nicht Tugend. Hohe Tagend ist ohne Thun, und
68 ist ihr nicht ums Thun; niedere Tugend thut, und es ist ihr
ums Thun. Hohe Gerechtigkeit thut, und es ist ihr ums Thun.
Hohe Menschenliebe thut, und es ist ihr nicht ums Thun. Hohe
Anständigkeit thut, und entspricht ihr keiner, dann streckt sie
den Arm aus und erzwingt es. Darum: verliert man Tab, her-
nach hat man Tugend; verliert man die Tugend, hernach hat
man Menschenliebe; verliert man die Menschenliebe, hernach hat
man Gerechtigkeit; verliert man die Gerechtigkeit, hernach hat
man Anständigkeit. Diese Anständigkeit ist der Treu' und Red-
lichkeit Aufsenseite und der ünbotmäfsigkeit Beginn. Das äufser-
liche Wissen ist Tabs Blüte und der Unwissenheit Anfang. Daher
ein grofaer Mann bleibt bei seinem Inhalt und weilt nicht bei
seiner Aufsenseite; bleibt bei seiner Frucht und weilt nicht bei
seiner Blüte. Drum lasset er jenes und ergreift dieses/ c. 38.
Gedrungener und vollständiger hat wohl kein Autor den ordo vir-
tutis et virtutum dargestellt. — Wie notwendig die Einheit sei,
um ihren Begriff wahr zu machen, zeigt L. im folgenden Kapitel
in kosmologischer Betrachtung:
,Wa8 einstmals Einheit bekommen:
Himmel kriegte Einheit, damit Glast,
Erde Einheit, damit Ruh' und Rast,
Geister Einheit, damit den Verstand,
Bäche Einheit, damit vollen Rand,
Alle Wesen Einheit, damit Leben,
Fürst und König Einheit, um der Welt das rechte
Mafs zu geben.
Das bewirkt die Einheit:
Gäbe nichts dem Himmel Glast,
Würd' er, traun, zerschellen;
Gäbe nichts der Erde Rast,
Würde sie zerspellen;
Gab' den Geistern nichts Verstand,
Würden sie zerfliegen;
Füllte nichts der Bäche Rand,
Würden sie versiegen;
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448 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
Gäbe nichts den Wesen Leben,
Würden sie zerwallen;
Hätten Fürst und König nicht, um hoch und edel
Mafs zu geben,
Traun, sie würden fallen.
Darum macht das Edle das Geringe zu seiner Wurzel, «las Hohe
macht das Niedrige zu seiner Grundlage. Daher Fürsten und
Könige sich nennen Yerwaisete, Wenigkeiten, unwürdige. Machen
sie denn das Geringe zu ihrer Wurzel, oder nicht? Drum,
fertige Wagenstücke sind keine Wagen. Wer nicht will hoch
geschätzt werden wie ein Nephrit, wird gering geschätzt wie
ein Stein.' c. 39. Der zweite Teil des Kapitels baut hierauf
weiter, indem das innere Einheitsprinzip eben dasjenige ist, was
allen Dingen ihr Wesen , ihre Wahrheit und ihr Leben gibt:
Hir die Tugend ist es die Demut und Selbsten tau fserung nach
dem Vorbilde Taös (cf. c. 40), dem allein die Würde des ab-
soluten Zweckes gebührt. — Hieraus werden Kapitel, wie 18 u. 19,
verständlich. ,Wird der grofse Tab verlassen, gibt^s Menschen-
liebe und Gerechtigkeit. Kommt kluge Gewandtheit auf, gibt's
grofse Heuchelei. Sind die sechs Blutsfreunde uneinig, gibt's
Kindespflicht und Vaterliebe. Ist die Landesherrschaft in Ver-
fall und Zerrüttung, gibt's getreue Diener.' c 18. ,Las8et fahren
die Weisheit, gebet auf die Klugheit: des Volkes Wohlfahrt
wird sich verhundertfachen. Lasset fahren die Menschenliebe,
gebet auf die Gerechtigkeit: das Volk wird zurückkehren zu
Kindespflicht und Vaterliebe. • Lasset fahren die Geschicktheit,
gebet auf den Gewinn : Diebe und Räuber wird es nicht geben.
Diese drei anlangend —
Nimmt man den Schein nicht als genügend an.
Drum soll man haben, dran man halten kann;
Man zeige Lauterkeit, zieh' Einfalt an,
Sein Eignes mindre, wenig wünsche man.' c. 19.
Da L. das Paradoxe seiner von der Tiefe des innersten Wesens
der Dinge aus entwickelten Lehren und den Gegensatz zwischen
der landläufigen Weltklugheit und seiner Gottesweisheit fühlt,
so folgt in c. 20 eine aus wehmütiger Klage und bitterer Ironie
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Das Wesen der wahren Weisheit. 449
gewobene Keflexion über die Erfolglosigkeit seines persönlichen
Wirkens als Reformator. ,Wer das Lernen fahren läfst, hat
keinen Kammer. „Oh ja" und „Ja, ja", wie wenig unterscheiden
sie sich! Gut und Bös, wie sehr unterscheiden sie sich! Was
die Menschen fürchten, kann man nicht nicht-furchten. Die Ver-
finsterung, 0 dafs sie noch nicht aufhört! Die Menschen strahlen
vor Lust, wie wer einen Stier opfert, wie wer im Frühling
«ine Anhöhe ersteigt: — ich allein liege still, noch ohne An-
zeichen davon, wie ein E[indlein, das noch nicht lächelt; ich
schwanke umher, wie wer nicht hat, wohin er sich wendet. Die
Menschen alle haben Überflufs: ~ ich allein bin wie ausgeleert;
oh ich habe eines Stumpfsinnigen Herz! ich bin so verwirrt!
Die gewöhnlichen Menschen sind sehr erleuchtet: — ich allein bin
wie verfinstert Die gewöhnlichen Menschen sind sehr lauter: —
ich allein bin ganz trübe, vergessen wie das Meer, fortgetrieben,
wie wer nicht hat, wo er anhält. Die Menschen alle sind zu
gebrauchen: — ich allein bin tölpisch gleich einem Bauern. Ich
allein bin anders als die Menschen, aber ich ehre die nährende
Mutter (sc. den Schöpfer).' c. 20.
Die Welt findet an Tab und seiner Weisheit wenig Ge-
schmack, wie c. 35 und 70 schildern. Wie der Weise wegen
seiner Demut vor ihren Augen erscheint, zeigt c. 41 : ,Hören
Hochgebildete von Tao, werden sie eifrig und wandeln in ihm.
Hören Mittelgebildete von Tab, bald behalten sie ihn, bald ver-
lieren sie ihn. Hören Kiedriggebildete von Tab, verlachen sie
ihn höchlich. Lachten sie nicht, so genügte es nicht, um fär
Tab zu gelten. Denn aufrichtige Worte sind es:
Wer licht in Tab, ist wie voll Nacht,
Wer weit in Tab, wie rückgebracht,
Wer hehr in Tab, wie ungeschlacht,
Wer hoch an Tugend, wie ein Thal,
Wer grofs an Reinheit, wie voll Mal',
Wer reich an Tugend, wie am Nöt'gen kahl.
Wer fest an Tugend, wie in Schwanken,
Wer echt an Glauben, wie in Wanken, —
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450 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
1
Ein grofs Quadrat ohn^ Winkelflanken,
Ein grofs Grefafs, unfertig alt.
Ein grofser Klang, der schwach erschallt,
Ein grofses Bildnis ohn' Gestalt
Tab ist yerborgen, namenlos,
Doch Tab nur im Verleih'n nnd im Vollenden grofe/ c. 41.
Gerade deshalb, weil seine Worte Yon Gott stammen, und
die Pflichten, welche er der Menschheit vorhält, von Gott geboten
sind, findet L. kein williges Gehör. ,Meine Worte sind sehr
leicht zn verstehen, sehr leicht zu befolgen, — keiner in der Welt
vermag sie zu verstehen, keiner vermag sie zu befolgen. Die
Worte haben einen Urheber, die Werke haben einen Gebieter;
dieser nur wird nicht verstanden, deshalb werde ich nicht ver-
standen. Die mich verstehen sind wenige; demgemäfs werd' ich
geschätzt. Daher der heilige Mensch sich kleidet in Wolle nnd
birgt die Juwelen.' c. 70. Erinnern diese Vorwürfe nicht an die
ähnlichen Christi und der Propheten ? Derselbe Gedanke durch-
dringt den Epilog des Buches: ,Wahre Worte sind nicht an-
genehm; angenehme Worte nicht wahr. Wer gut ist, rede-
kiinstelt nicht-, wer redekünstelt, ist nicht gut. Wer erkennt,
ist kein Vielwisser; wer Vielwisser ist, erkennt nicht. Der heilige
Mensch sammelt nicht an: je mehr er für die Menschen ver-
wendet, desto mehr hat er; je mehr er den Menschen gegeben,
desto reicher ist er. Des Himmels Weise ist, wohlthun und
nicht beschädigen; des heiligen Menschen Weise, thun und nicht
streiten.' c. 81.
Bereits hat uns L. in den letzteren Worten an die weitere
Frage erinnert, welches der rechte Weg zur Gottesweisheit sei?
Ohne jede Verhüllung des Gegensatzes, der ihn von der welt-
lichen Bildung auch hierin trennt, erklärt der Altmeister, die
Vermehrung des äufseren Wissens und der äufseren Geschäftig-
keit führe nicht zur Weisheit hin, sondern von ihr ab; nur durch
Verinnerlichung, durch Vertiefung des Denkens und B«inigung
des Willens gelange man zu ihr. Er schildert diesen Weg po-
sitiv an den Guten der Urzeit: ,Die Guten des Altertums, die
da Meister worden sind, waren fein, geistig und tief eindringend.
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Das Wesen der wahren Weisheit. 451
Verborgen, konnten sie nicht erkannt werden. Weil sie nicht
erkannt werden können, so mühe ich mich sie kenntlich zu
machen. — Behutsam waren sie, wie wer im Winter einen Flufs
überschreitet; vorsichtig, wie wer alle Nachbarn furchtet; zurück-
haltend wie ein Gast; zergehend wie Eis, das schmelzen will;
einfach, wie Rohholz; leer, wie ein Thal; undurchsichtig wie
getrübtes Wasser. — Wer kann das Trübe, indem er es stillt,
allmählich klären? Wer kann die Ruhe, indem er sie verlän-
gert, allmählich beleben? Wer jenen Taö festhält, wünscht nicht
gefüllt zu sein; ist er nur nicht gefüllt, so kann er mangelhatl
sein und modern unvollendet.^ c. 15. ,Bei den grofsen Königen
wufsten die Unterthanen, sie hätten sie. Deren Nachfolger liebten
und lobten sie. Deren Nachfolger fürchteten sie. Deren Nach-
folger verachteten sie. Vertraut man nicht genug, erhält man
kein Vertrauen. Wie vorsichtig ihre kostbaren Worte! Ver-
dienstliches ward vollbracht, Unternehmungen gelangen, und alle
hundert Geschlechter sagten: wir sind frei/ c. 17. Es gibt eine
Gelehrsamkeit, welche zur Zerstreuung und Minderung der Er-
kenntnis fuhrt, und andererseits eine weise Einfalt: ,Nicht aus-
gehend zuf Thür, kennt man die Welt; nicht ausblickend durchs
Fenster, sieht man des Himmels Weg. Je weiter man ausgeht,
desto weniger kennt man. Weshalb der heilige Mensch —
Nicht hingebt, und kennt,
Nicht sieht, und benennt,
Nicht thut, und vollendt.* c. 47.
,Wer thut im Lernen, nimmt täglich zu (äufserlich) ; wer thut
in Tab, nimmt täglich ab (aber innerlich zu), nimmt ab und
immer weiter ab, um anzulangen am Nicht-thun.' c. 48. c. 56.
c. 71. c. 81. — Es ist keine Förderung der Tugend und Wohl-
fahrt des Volkes, wenn man einseitig und übermäfsig das Viel-
wissen fördert und zu materiellem Kulturstreben anregt: nütz-
licher für wahre Bildung und wahres Glück ist Einfachheit des
Unterrichts und Zufriedenheit mit wenigem, cf. c. 3. — ,Die vor
alters rechte Thäter Taos waren, klärten damit das Volk nicht
auf; sie wollten es damit einfach erhalten. Das Volk ist schwer
regieren, wenn es allzuklug ist. Durch die Klugheit das Land
Jnhrbiioh fHr Philosophie etc. I. ^i
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452 Die Tao-Lelire des Lao-tse.
regieren, ist des Landes Verderben; nicht durch die Klugheit
das Land regieren, ist des Landes Segen. Wer dies Beides
weifs, ist auch ein Musterbild. Immerdar sich bewufst sein des
Musterbildes, das heifst tiefe Tugend. Tiefe Tugend ist ab-
gründig, ist unerreichbar, ist mit den Wesen in Widerspruch;
dann aber kommt sie zu grofser Nachfolge.' c. 65. 72. In c. 80
gibt uns L. einen Blick in die Schul- und Lesewut seiner Zeit
wie in die patriarchalische Vorzeit, welche nur die Knotenschrift
und daher keine Vielleserei kannte, und zugleich das idyllische
Bild seines friedlichen Idealstaates: ,Eine8 kleinen Landes weniges
Volk — mache, dafs es das Rüstzeug you zehn Aldermännem
habe, und nicht gebrauche; mache, dafs das Volk ungern sterbe,
und doch nicht in die Ferne auswandere; obgleich es Schiffe
und Wagen hat, sie nicht zu besteigen habe; obgleich es Panzer
und Waffen hat, sie nicht anzulegen habe; mache, dafs das Volk
wiederum Schnüre knote, und sie gebrauche: — so ist ihm suis
seine Speise, schön seine Kleidung, behaglich seine Wohnung,
lieb seine Sitte. Das Nachbarland ist gegenüber zu sehen, der
Hühner und Hunde Stimmen sind gegenüber zu hören, und das
Volk erreicht Alter und Tod, ohne hinübergekommen ztf sein.' c. 80.
Plänckner fafst die beiden Kapitel 65 und 80 geradezu entgegen-
gesetzt auf und läfst L. mit bitterem Sarkasmus die politische
Tendenz zurückweisen, welche die Volksverdummung bzw. die
Verhinderung des Fortschrittes als die Bedingung einer geordneten
Staatsverwaltung und glücklicher sozialer Verhältnisse empfiehlt
und sich hierfür auf das Vorbild der Alten beruft. Allein seine
Auslegung wird dem Altmeister nicht gerecht. Denn das Ziel
des Lao-tse, die Erhebung der Volksmassen wie der Fürsten zu
idealer Seelengröfse, insbesondere gegenüber den sog. irdischen
Gütern — Genufs, Besitz, Macht oder Ehre — kann unmöglich
durch die Mittel der Volksaufklärung und des Fortschrittes
erreicht werden: beide sind in erster Linie auf die Mehrung
des empirischen und technischen Wissens und Könnens gerichtet
und fördern naturgemäfs die realistische und materialistische
Lebensrichtung. Der Grund liegt nicht in der Sache selbst,
sondern in der gröfseren Neigung des Menschen, sein Wesen
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Der heilige Mensch, das persönliche Ideal der Weisheit. 453
und Wirken nach aufsen zu zerstreuen, als für die eigene innere
Durchbildung zu sammeln; sodann in der Beschränktheit der
menschlichen Anlage, welche es schwer macht, den äufseren Fort-
schritt so zu pflegen, dafs der innere Fortschritt nicht blofs nicht
aufgehalten wird, sondern gleichen Schritt hält Es ist eben
Thatsache, dafs die allgemeine Schulbildung im Lesen die Yiel-
leserei befördert; diese aber wendet sich durchschnittlich nicht
der belehrenden, sondern der unterhaltenden Litteratur zu; und
selbst die gelehrte Lesewut erdrückt das eigene Denken, nicht
allein beim Volke, dessen selbständige Geistesreflexion zur Spruch-
weisheit fuhrt, sondern auch bei den Gebildeten und Gelehrten.
Folgt hieraus die Rückkehr zur alten Einfachheit? Mit
nichteo! denn die Fortschritte des äufseren Lebens sind unauf-
haltsam und bringen nur Schaden, wenn um ihretwillen die
idealen Lebensaufgaben geringgeschätzt und Ternachlässigt wer-
den; sie stellen also die Aufgabe, die innere Denk- und Willens-
kraft in gleichem Mafse zu pflegen, damit sie das vermehrte
Material verarbeite und in den Dienst der unvergänglichen Güter
stelle.
Auch historisch läfst sich Plänckners Auslegung nicht recht-
fertigen. Die alten Kaiser, welche als die allbekannten Muster-
bilder eines echten Regenten erwähnt werden, huldigten nicht
dem Prinzip der Volksverdummung, sondern der Volksbildung
und des materiellen Fortschrittes; Tao, Schün und Tu sind
nach dem Schuking und Meng-tse III u. IV die Förderer der
Technik wie der Bildung gewesen. Witt hätte man sich also
in dem Sinne der Fläncknerschen Übersetzung auf ihre Prinzipien
zu gunsten der Reaktion berufen können? Wie hätte Lao-tse,
den man ja traditionell in China als Mystiker und Verächter
weltlichen Fortschrittes charakterisierte, gegen seine Zeit den
Vorwurf mystischer Tendenzen erheben können?
§ 5, ner heUige Mensch, das persönliche Ideal der Weisheit.
Lao-tse schildert die Weisheit nicht nur durch die abstrakte
Entwicklung und Gegenüberstellung der sittlichen Gleichförmig-
keit mit Tab und der Klugheit dieser Welt, sondern mit einer
82»
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454 Die Tao-Lehre des Lao-tae.
deutlichen Vorliebe an dem heiligen Menschen, dessen Bild ihm
aus dem besseren Altertum vie eine schöne Erinnerung erscheint,
den er aber auch für die Zukunft erhofft, als den erfolgreichen
Lehrmeister der Weisheit fiir die ganze Welt. Oft versteht L.
unter dem heiligen Menschen jeden, der eine gewisse Stufe
der grundsätzlichen Verinnerlichung und Seelenruhe erklommen
hat; an anderen Stellen läfst er merken, dafs seine Schilderung
von dem Verfahren und Schicksal des heiligen Menschen ihre
Züge von seinem eigenen Charakter- und Lebensbild entnimmt;
so c. 49. 57. 67. 70. Diese menschliche Vollkommenheit kann
und soU natürlich, wie sie im Altertum edle Vertreter fand,
auch furderhin das Ziel aller Gottesfreunde sein; allein in einem
gewissen Sinne denkt sich L. den heiligen Menschen als Einen,
der mit Vorzug diesen Namen verdient, und dasjenige, wornach
die heiligen Menschen im gewöhnlichen Sinne oft vergeblich
strebten, unfehlbar und allenthalben verwirklicht. Dadurch gibt
L. auch den bestimmtesten Unterschied zwischen einem Weisen,
wie er selbst war, und dem Weisen an : ihm wie manchen andern
blieb der Erfolg auch in kleinem Kreise versagt, jenem gelingt
es. c. 67. 70. Die Gründe des unfehlbaren Erfolges liegen in
der Vollkommenheit des heiligen Menschen, welche absolut ist.
Vor allem ist es seine äufserste Demut und Milde, seine
vollkommene Selbsten täufserung, was seinem Vorbild, seinem
Wort und Werk den unbeschränktesten Erfolg sichert ,Wenn
krumm, so werd' es vollkommen; wenn ungleich, so werd' es
gerade; wenn vertieft, so werd' es ausgefüllt; wenn zerrissen,
so werd' es neu; wenn wenig, so werd' erreicht; wenn viel, so
werde verfehlt — Daher der heilige Mensch umfafst das Eine,
und wird der Welt Vorbild. — Nicht sich siebet er an, drum
leuchtet er; nicht sich ist er recht, drum zeichnet er sich aus;
nicht sich rühmet er, drum hat er Verdienst; nicht sich erhebt
er, drum ragt er hervor. — Weil er nicht streitet, drum kann
keiner in der Welt mit ihm streiten. — Was die Alten sagten:
Wenn krumm, so werd' es vollkommen, sind es denn leere
Worte? Ein wahrhaft Vollkommener, — und man kehrt dahin
zurück.' c. 22. Die letzten Sätze machen es sehr wahrscheinlich,
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Der heilige Mensch, das persönliche Ideal der Weisheit 455
dafs die Erwartung L/s eine positive war^ Yielleicht gestützt auf
überlieferte Messiashoffnungen, welche sich an die verklärte Ge-
stalt des Königs Wen-wang anlehnten, wie manche Elogien des
Schi-king bestätigen. Von rationalisierenden Theologen, wie
Meng-tse, wurde diese Erwartung polemisch zurückgewiesen.
Meng-tse sagte: ,Die Gesamtheit der Leute erwartet einen König
Wen, um dann eine aufweckende Anregung zu empfangen; Weise,
welche sich von der Menge unterscheiden, wecken sich selber
auf, ohne gerade auf einen König Wen zu warten/ Meng-tse YII.
p. 1. c. 10. Natürliche und kindliche Einfalt ohne Hochmut,
Selbstsucht und Tendenz ist dem heiligen Menschen eigen und
gibt seinem anspruchslosen Wirken universale Bedeutung: so dafs
sich die Bedürftigen der ganzen Menschheit in seinem Herzen,
wie die Bäche in dem Strombett vereinigen. ,Wer seine Mann-
heit kennt (= Kraft besitzt), an seiner Weibheit hält (= und
trotzdem sanftmütig bleibt, fortiter in re, suaviter in modo), Der
ist das Strombett (^ die Zuflucht) aller Welt: Die stäte Tugend
nicht entföllt. Und wieder kehrt er ein zur ersten Kindheit (d. i.
zum inneren und äufseren Frieden dieser Erstlingszeit des Lebens).
Wer seine Helle kennt, sich in sein Dunkel hüllt, Ist aller Welt
ein Musterbild. Ist er der Welt ein Musterbild: Die stäte Tugend
bleibt sein Schild (wörtlich: seine beharrliche Tugend verfehlt
[ihr ZielJ nicht): Und wieder kehrt er ein ins Unbefangene
(sc. jenes Zustandes, in welchem man nicht ängstlich und mühsam
nach Zielen strebt, sondern ohne schwierige Berechnung und
Mittel sich des erfüllten Zweckes unbefangen freut). Wer seine
Hoheit kennt, und hält Demütigung, Ist aller Welt Thalniederung
(= Zuflucht und Sammelplatz). Ist er der Welt Thalniederung,
dann stäter Tugend ist genung, Und wieder kehrt er ein zur
ersten Einfalt. Die Einfalt (oder Das Rohholz) wird zerstört
und dann wird man brauchbar. Wendet der heilige Mensch sie
an, dann wird er der Beamten Oberster; denn er regiert grofs-
artig (nach grofsen Gesichtspunkten im Gegensatz zu kleinlicher
Engherzigkeit) und verletzt nicht.^ c. 28.
Die Charakterzüge des isaianischen Gottesknechtes nach Jes.
11 u. 50, 4 sq. zeichnet c. 56: ,Der Wissende redet nicht; der
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456 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
Redende weifs nicht. Seine Ausgänge schlieft er, Macht zu
seine Pforten ; Er bricht seine Schärfe, Macht milde sein Glänzen,
Wird eins seinem Staube (mit dem Geringsten seiner Brüder,
cf. ps. 109). — Das heifst tiefes Einswerden. (Die so innige
und segensreiche Einigung des heiligen Menschen mit dem Ge-
schlechte der Yon ihm Bekehrten ist nur möglich durch die
Einigung mit Taö.) Darum (weil mit Tab vereinigt) ist er (der
hl. Mensch) unzugänglich für Anfreundung, unzugänglich ttir Ent-
fremdung, unzugänglich für Vorteil, unzugänglich für Schaden,
unzugänglich Hir Ehre, unzugänglich för Schmach. Darum wird
er von der ganzen Welt geehrt* — Der Charakterzug von Jes.
50, 4 und 53 wird mit einer Analogie zu Mat. 5, 39 sq.: Ego
autem dico vobis: Non resistere malo, sed si quis te percusserit
in dexteram maxillam tuam, praebe illi et alteram; et ei qui
vult tecum judicio contendere, et tunicam tuam tollere, dimitte
ei et pallium, als übermenschliche Selbstverleugnung gezeichnet
c. 79: ,Ver8Öhnt man grossen Groll, so bleibt (bei dem Ver-
söhnten) sicherlich Groll übrig. Wie kann man (sc. auch dies)
gut machen? Daher der heilige Mensch übernimmt den linken
Vertrag (in alter Zeit wurde auf die linke Seite die übernommene
Verpflichtung, auf die rechte die erlangte Berechtigung ge-
schrieben), und nicht eintreibt vom andern. Wer Tugend hat,
besorgt den Vertrag; wer keine Tugend hat, besorgt das Aus-
zehnten. Des Himmels Tao hat keine Günstlinge; immerdar gibt er
dem guten Menschen.' Die Unzugänglichkeit für persönliche Gunst
und Ungunst, die Erhabenheit über die Kleinlichkeit und Vor-
urteile, welche auch die besten menschlichen Herrscher nicht
erreichen, eignet ihm, dem idealen König und Ebenbild Taos,
wie uns sowohl Jesaia 11 u. 12, als Lao-tse c. 5. 28. 56—58. 79
sein Charakterbild zeichnen. ,Himmel und Erde haben keine
Menschenliebe; sie nehmen alle Wesen für einen Heu-Hund. Der
heilige Mensch hat keine Menschenliebe; er nimmt das' Volk für
einen Heu-Hund. Was zwischen Himmel und Erde, wie gleicht
es dem Blasbalg! Er ist leer und doch unerschöpflich, er regt
sich, und umsomehr geht heraus. Viel Worte meist in Nichts
verrinnen; Und besser, man bewahrt es innen.' c. 5
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Der heilige Mensch, das persönliche Ideal der Weisheit. 457
Da der heilige Mensch Meister der Herzenskunde und der
Bekehrung ist, so neigt er sich in Milde und Geduld zu den
Sündern herab.
,£in guter Wandrer läfst nicht Fufsspurmäler,
Ein guter Sprecher macht nicht Kedefehler,
Ein guter Rechner braucht nicht Kechenmarkenzähler,
Ein guter Schlielser braucht nicht Schlofs noch Riegel,
und dennoch ist nicht aufzulüpfen,
Ein guter Binder schlinget keine Knoten,
und dennoch ist nicht loszukntipfen.
Darum der heilige Mensch ist immer ein guter Helfer der Men-
schen, drum yerläfst er keinen Menschen; immer ein guter Helfer
der Geschöpfe, drum yerläfst er kein Geschöpf. Das heifst
herrlich leuchten. Drum ist der gute Mensch des nichtguten
Menschen Erzieher; der nichtgute Mensch des guten Menschen
Schatz. Nicht ehren seinen Erzieher, nicht lieben seinen Schatz,
ist bei aller Klugheit grofse Verblendung. — Das heifst bedeutsam
und geistig.' c. 27. Er kennt keine pharisäische Härte gegen
die Sünder; alle sind seine Kinder. ,Der heilige Mensch hat
kein beharrliches (d. i. hartes, unbeugsames, tugendstolzes) Herz;
aus der hundert Geschlechter Herzen macht er sein Herz. Den
Guten behandle ich gut, den Nichtguten behandle ich auch gut.
Tugend ist Güte. Den Aufrichtigen behandle ich aufrichtig, den
Nichtaufrichtigen behandle ich auch aufrichtig. Tugend ist Auf-
richtigkeit. Der heilige Mensch ist in der Welt voller Furcht,
dafs er durch die Welt sein Herz Yerunreinige. Die hundert
Geschlechter alle richten auf ihn Ohr und Auge. Dem heiligen
Menschen sind sie alle Kinder.' c. 49.
Er erüillt daher die Idee des chinesischen Königtums, welches
die irdische Vorsehung sein und in hohepriesterlicher Stellver-
tretung die Schuld des gesamten Volkes vor dem Höchsten auf
sich nehmen und abtragen soll, in ausgezeichneter Vollkommen-
heit. ,Daher der heilige Mensch sagt: Tragen des Landes ün-
reinigkeiten. Das heifst voran beim Hirseopfer schreiten; (nämlich
das Amt eines Hohepriesters erfüllen, als welcher der Kaiser
das Opfer der Erde ,Sche' am Feste der Sonnenwende dem
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^58 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
HimmelBherrn darzubringeD hatte.) Tragen des Landes Not und
Pein, Das heifst des Landes König sein/ c. 78. Die isaianische
Charakteristik dieser Verse wird noch weniger zweifelhaft, wenn
wir sie mit Plänckner also übersetzen: , Darum sagt auch der
Weise: Er trägt (duldet, nimmt auf sich, kleidet sich in) des
Reiches Staub, — dieser heifst aller Geisterscbaren Herr. Er
trägt des Reiches Elend, dieser heifst der Welt König. — Die
Worte, wie paradox sie auch klingen mögen, enthalten dennoch
eine tiefe Wahrheit.* c. 78.
Der Erfolg seines Wirkens ist sicher, cf. c. 56. 66, und
der Segen seiner Herrschaft allgemein, nämlich die allgemeine
Verbreitung der Weisheit und Begierdelosigkeit, und damit des
Friedens und des Glückes. Indem er die Harmonie im Herzen
und der Gesinnung herstellt, schafft er Frieden unter den Men-
schen, aber auch Einklang zwischen der Natur und den Menschen,
oder vielmehr der in der Natur waltenden Vorsehung und den
Bedürfnissen der in sich geordneten Menschheit. ,Wer dem
Geist die Seele unterordnet (oder nach Julien : L'ame spirituelle
doit Commander a Täme sensitive. Si Thomme conserve Tunite,
elles pourront rester indissolubles.) und Einheit umfangt, kann
ungeteilt sein. Bezwingt er das Seelische bis zur Nachgiebig-
keit, kann er wie ein Kindlein sein. Reinigt und öffnet er den
tiefen Blick, kann er ohne Schwachheit sein. Liebt er das Volk
und regiert er das Land, kann er ohne Thun sein. Die Himmels-
pforten öffnen sich oder schliefsen sich, er kann (sorglos wie) das
Vogelweibchen sein. Lichthell alles durchdringend, kann er un-
wissend sein. Er belebt und ernährt, belebt und hat nicht, thut
und gibt nichts drauf, erhält und beherrscht nicht. Das heifst
tiefe Tugend.' c. 10. 46. Seine Wirksamkeit erstreckt sich noch
weiter; denn er stellt auch die Haimonie zwischen der höheren
Geisterwclt und dem Mensch engeschlechte her. ,Man regiere ein
grofses Land, wie man kleine Fische kocht (ohne Gewalt und
Heftigkeit). Waltet man mit Tao des Reiches, so geistern seine
Manen nicht. Wenn nicht seine Manen nicht geistern, so ver-
letzt ihr Geistern die Menschen nicht. Wenn nicht ihr Geistern
die Menschen nicht verletzt, so verletzt doch der heilige Mensch
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Die Unsterblichkeit des ewigen Lebens. 459
die Menschen nicht. Sie beide verletzen miteinander nicht, denn
die Tugend verbindet und eint sie.* c. 60. cf. c. 54. 46. Nach
der Übersetzung Flänckners fallt die Beziehung auf eine eigent-
liche Geisterwelt; indes bleibt der Gedanke, dafs mit der Ent-
fernung der Sünde die eigentliche Ursache des Unglücks ver-
nichtet wird, dafs demnach die Regierung der Menschheit durch
den vollkommenen Weisen zum Segen und Heil der Welt fuhren
mufs. ,Sünde (hat) jener, der Menschengeist, nicht der Himmels-
geist. Jener, der Himmelsgeist, nicht schadet den Menschen.
Der Weise auch nicht schadet den Menschen. Jene beiden ver-
einigt miteinander nicht schaden, demnach die himmlische Tugend
sich vereinigend zusammenströmen. — Nicht so?*
Höchst einfach sind die Mittel, durch welche der heilige
Mensch die Weisheit und seine Friedensherrschaft allenthalben
verbreitet: es ist sein eigenes Beispiel und dasjenige seiner Diener,
cf. c. 3. 54. 55. Denn wer Ta5 ganz und gar bei sich selber
einfuhrt, ^ihrt ihn damit in der ganzen Welt ein. Im Hinter-
grunde steht offenbar der Gedanke, dafs es nur dem Heiligen
schlechthin, nicht den vielen, welche nach Weisheit und Heilig-
keit sti'eben, gelinge, das göttliche Urbild vollkommen in sich
selbst zu verwirklichen.
§ 6. IHe UnaterblicMeeit des ewigen Lebens.
Die Weisheit führt zum ewigen Leben, die weltliche Klug-
heit zum Tode. Um das ewige Leben zu gewinnen, mufs man
zum Ursprung des Lebens zurückkehren, ein Weg, welcher
zweierlei Forderungen einschliefst. Das Erste ist, sich von der
Eitelkeit, Vergeblichkeit und dem Ungenügen der menschlichen
Erkenntnis, Strebsamkeit und Thätigkeit zu übei-zeugen und sich
derselben zu entäufsern. Die eigene Krankheit zu fiihlen, ist
schon der Beginn der Genesung; die Schrecken des Todes und
— wenn c. 74 diese Hindeutung enthält — des Gerichtes wirken
den Anfang des wahren Lebens, wie sie das Ende des taolosen
Lebens bedeuten. Wenn man sein eigenes endliches Wesen
zam Mittelpunkt seines Lebens macht, so mufs sich dieses not-
wendig erschöpfen; nur durch Überwindung des eigenen Selbst,
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460 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
nur dadurch, dafs man nicht für sich lebt, entgeht man dem
Absterben. ,Der Himmel ist dauernd und die Erde bleibend.
Himmel und Erde können deshalb bleibend und dauernd sein,
\7eil sie nicht sich selbst leben. Drum können sie bleiben und
dauern. Daher der heilige Mensch hintansetzt sein Selbst, und
selbst vorankommt; sich äufsert seines Selbst, und selbst bewahrt
wird. Etwa nicht, weil er nichts eigen hat? Drum kann er
sein Selbst Tollenden.' c. 7. 45. ,Wer sich zu genügen weife,
hat ewig genug.' c. 46. Eine Analogie findet L. darin, dafs
Weich und Zart Lebensgefährten (propria des zum Leben Er-
wachenden), Hart und Stark Todesgefahrten (propria des Ster-
benden) sind. ,Der Mensch tritt ins Leben weich und schwach;
er stirbt hart und stark. Alle Wesen, Kräuter und Bäume treten
ins Leben weich und zart, sie sterben vertrocknet und dürr.
Darum: Hart und Stark ist Todesbegleiter, Weich und Schwach
ist Begleiter des Lebens. Daher ein Kriegsheer, ist es stark
(durch Stolz und Unlenksamkeit), dann siegt es nicht Ein Baum,
ist er stark, dann ist er geliefert. Stark und G-rofs bleibt unten,
Weich und Schwach bleibt oben/ a 76. Der Gedanke L.'s ist
wohl der: Weil das Harte und Starke sich gegen den beleben-
den Einflufs von aufsen verschliefst, stirbt es ab, während das
Weiche und Zarte durch seine demütige Empfänglichkeit in seiner
Lebenskraft gefördert wird. So schliefst Selbstsucht und Stolz
die Seele von der Quelle ihres Lebens ab, oder verleitet, sie
nicht dort zu suchen, wo sie unversieglich quillt, bis sie an der
eigenen Armut und Selbstgerechtigkeit stirbt. — , Ausgehen zum
Leben ist Eingehen zum Sterben. Des Lebens Gesellen sind
dreizehn, des Sterbens Gesellen dreizehn. Lebt der Mensch, so
regt er der tödlichen Stellen (Gründe) auch dreizehn. Warum
das? Wegen seiner Lebenslust Übermafses. Denn wir hören:
Wer das Leben zu erfassen weifs, geht geradezu ohne zu fliehn
vor Nashorn und Tiger; geht in ein Kriegsheer, ohne anzulegen
Panzer und Waffen. Das Nashorn hat nicht, wo es sein Hom
einstofse, der Tiger hat nicht, wo er seine Klauen einschlage,
Waffen haben nicht, wo sie mit ihrer Schneide eindringen. Warum
das? Weil er keine tödliche Stelle hat.' c. 50. Dafs das phar-
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Die Unsterblichkeit des ewigen Lebens. 461
macam immortalitatlB, welches L. hier gegen den natürlichen und
gewaltsamen Tod empfiehlt, nichts mit Zaubertränken u. dgl.
gemein hat, wie die Tao-sse meinen, lehrt der Text selbst zur
Genüge. Derjenige erfafst das wahre Leben, der die Nichtigkeit
dieses Lebens und seiner Klugheit durchschaut. ,£rkennen das
Nicht-Erkennen (des gelehrten Vielwissens) ist das Höchste. Nicht
erkennen das Erkennen ist Krankheit Wen nur die Krankheit
kränkt, der ist dadurch nicht krank. Der heilige Mensch ist
nicht krank, weil ihn seine Krankheit kränkt. Daher ist er
nicht krank.' c. 71. ,Fürchtet das Volk nicht das Furchtbare,
dann kommt das Furchtbarste. Keinem sei zu eng seine Woh-
nung, keinem zu beschränkt sein Leben! Macht man sich^s nur
nicht zu beschränkt, dann ist's auch nicht beschränkt. Daher
der heilige Mensch sich selbst erkennt, nicht sich selbst an-
siehet; sich selbst liebt, nicht sich selbst hochschätzt Drum läfst
er jenes und ergreift dieses.' c. 72. Sowohl äufsere Bedrückung
wie ungezügelte Begierde machen das Leben zur Last und nehmen
der irdischen wie göttlichen Strafgerechtigkeit ihre bessernde
Furchtbarkeit ,Fürchtef das Volk nicht den Tod, wie will man
es mit dem Tode schrecken ? Wenn man macht, dafs das Volk
stets den Tod fürchtet, und wir können den, der Schreckliches
thut, ergreifen und töten: wer wagt es? Immerdar gibt's einen
Blutrichter, der da tötet Wenn man anstatt des Blutrichters
tötet, das heifst anstatt des Zimmermanns behauen. Wenn man
anstatt des Zimmermanns behauet, bleibt selten die Hand un-
verwundet' c. 74. Während die chinesischen Ausleger im An-
schlufs an die Ideen des vorherigen Kapitels unter dem Blut-
richter die Vergeltung des Himmels verstehen, hält dies Straufs
für mehr fromm als richtig, zumal im Hinblick auf den Schlufs-
satz, der deutlich eine Schwäche der von Konfutse zugelassenen
Blutrache aufdecke. Allein es scheint uns L. auf jede geordnete,
gesetzliche, also Taö-mäfsige Strafvergeltung hinzuweisen, sowohl
die des Staates, als diejenige Taös selbst Dann wird es ver-
ständlicher, warum der ernste und der Ewigkeit zugewandte
Theosoph die Furcht vor dem Tode so wichtig und wert hält
Hiermit stimmt auch Flänckners Übersetzung: ,Wenn ein Volk
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462 Die Tao-Lehre des Lao-tse.
keine Todesfurcht kennt, wie kann man ein solches durch Todes-
strafen schrecken wollen? Wenn dahin gelangen (sc. dafs) das
Volk beständig fürchtet den Tod, — und macht dann ungeheuer*
liches — wir könnten ergreifen und töten es — wer so ver-
messen? Ewig gibt es einen höhern Richter, der die zu Töten-
den tötet. Jeder andere, der an Stelle des alleinigen Herrn
über Leben und Tod die Todesstrafe auszusprechen sich anmafsen
wollte, würde dem gleichen, der anstatt des Zimmermanns die
Zimmeraxt führen wollte. Wohl wenige wird es geben, die sich
dabei nicht die eigene Hand verwundeten.'
Von einem anderen Gesichtspunkte aus schildert L. die
lebensfrohe Sicherheit des harmonisch geordneten Menschen, der
seiner Begierden durch Abtödtung Meister geworden ist. ,Wer
in sich hat der Tugend Fülle, gleicht (an Herzensfreude und be-
gierdeloser Lebenslust) dem neugeborenen Kinde : Giftig Gewürm
sticht es nicht, reifsende Tiere packen es nicht, Raubvögel stofsen
es nicht. Die Knochen sind schwach, die Sehnen weich, und
doch greift es fest zu. Ovjtoß yiyvoiöxet t^p t<5v yvvatxiDV
avÖQoöv XB ovfifii^iP' xalrot ro alöolov oxvexat öjtSQfjtaroq jrc-
QiOOeia, Den ganzen Tag schreiet es, und doch wird das Schluchzen
nicht heiser, aus Fülle des Einklangs.
Den Einklang kennen, heifst Ewigkeit;
Das Ew'ge kennen. Erleuchtetheit;
Voll leben, heifst ünseligkeit;
Das Herz ins Seelische (d. i. in die Naturseele und ihre Triebe)
legen. Kräftigkeit.
Was (in sinnlichem Begehren) stark geworden ist, ergreist.
Und das ist, was man Taö-los heifst.
Was Tab los ist, das endet früh.' c. 55.
(ianz anders ist das Ende derjenigen, welche dem eingeschlagenen
Wege der Selbstverleugnung folgend, auch die zweite positive
Forderung erfüllen und Gott als den Ursprung alles Lebens und
Lichtes und aller Vollendung erkennen, um sich ihm mit ganzer
Seele in kindlicher Weise hinzugeben. Die Ruhe der Ewigkeit,
welche der Gottselige findet, ist die Ruhe der Vollendung, der
vollbrachten Aufgabe, der Rückkehr aus der Fremde. ,Wer
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Die Unsterblichkeit des ewigen Lebens. 463
erreicht hat der Entäiifserung Gripfel, behauptet unerschütterliche
Kühe. Alle Wesen miteinander treten hervor, und wir sehen sie
wieder zurückgehen. Wenn sich die Wesen entwickelt haben,
kehrt jedes zurück in seinen Ursprung. Zurückgekehrtsein in den
Ursprung heifst ruhen. Ruhen heifst, die Aufgabe erfüllt haben.
Die Aufgabe erfüllt haben, heifst ewig sein. Das Ew'ge kennen,
heifst erleuchtet sein. Das Ewige nicht kennen, entsittlicht und
macht unglücklich. Wer das Ewige kennt, ist umfassend; um-
fassend, daher gerecht; gerecht, daher König; König, daher des
Himmels; des Himmels, daher Taos; Taös, daher fortdauernd:
er büfst den Körper ein ohne Gefährde.' c. 16.
Der Lebensgi'und, welchen man durch den Besitz Taös in
sich aufgenommen hat, überwindet den leiblichen Tod und alle
Zeit. ,Wer andre kennt, ist klug; wer sich selbst kennt, ist
erleuchtet. Wer andre überwindet, bat stärke; wer sich selbst
überwindet, ist tapfer. Wer sich zu genügen weifs, ist reich;
wer tapfer vorgeht, hat Willen. Wer seinen Ort (d. i. seine
Grundlage, Tab) nicht verliert, dauert fort; wer stirbt und doch
nicht verlischt, hat Lebenslange.^ c. 33.
,Wer's grofse Bild festhält.
Zu dem kommt alle Welt,
Kommt — und da ist kein Weheklagen,
Nur Frieden, Ruh', Behagen.
Bei Musik und Leckereien steht der vorbeigehende Fremde still;
geht Tab hervor aus dem Munde : (dann hat man kein Interesse,
dann heifst's:) Wie ungesalzen! der ist ohne Geschmack! —
(und trotz der weltlichen Gleichgiltigkeit gegen Gott ist er das
höchste Gut und die Quelle unvergänglicher Wonne:) Ihn an-
schauen genügt dem Geiste nicht, ihn vernehmen genügt dem
Gehör nicht. Ihn brauchen (Deo uti et frui) kann kein Ende
finden.' c. 35.
Wer sich mit seiner ganzen Seele Gott hingibt und in Wahr-
heit sein Kind wird, verliert beim Sterben die Grundlage seines
Lebens nicht; wohl aber sammelt der Weltliche in seinem Herzen
nur eitle Güter an, welche den Sterbenden verlassen, und ver-
nachlässigt diejenigen, welche er ewig behalten könnte. ,Die
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464 Die Tao-Ijehre des Lao-tse.
Welt hat einen Urgrund; der ward aller Wesen Matter. Hat
man seine Mutter gefunden, so erkennt man dadurch seine Kind-
Schaft. Hat man seine Xindschaft erkannt und kehrt zurück zu
seiner Mutter (im Sterben), so ist des Leibes Untergang ohne
Gefahr. (Basile übersetzt: usque in finem vitae, Julien: jusqu'a
la fin de sa vie il ne pourra etre sauve, was beides keinen Sinn
gibt.) ,,8chliefst man seine Ausgänge, macht zu seine Pforten
(d. i. bei innerlicher Gottversenkung) , so ist des Leibes Ende
ohne Sorge.'' Öffnet man seine Ausgänge, fördert man seine
Anliegen (gibt man sich den irdischen Interessen hin), so ist
man bei des Leibes Ende ohne Rettung. Auf das Kleine (die
von der Welt gering geschätzten Güter der Seele) sehen, heifst
erleuchtet sein; Weichheit (= Demut) bewahren, heifst stark
sein. Braucht man seine Klarheit (d. i. seine höhere, geistige,
gottebenbildliche Anlage), und kehrt zurück zu seinem Licht
(Gott), so verliert man nichts bei des Leibes Zerstörung. Das
heifst Ewigkeit anziehen.^ c. 52.
Dies ist die Lehre des ehrwürdigen Lao-tse, in ihrem Ge-
samtbild wohl kaum der Abschwächung durch philologische Ver-
besserung des übersetzten Textes ausgesetzt. Bezüglich der
Frage nach dem Ursprünge scheint uns der Name Jehovahs und
seine eigene Andeutung die Eichtung nach Israel hin anzugeben,
und zwar scheint uns das Buch des Propheten Isaja, insbesondere
der zweite Teil desselben hinreichend, um alle übernatürlichen
Elemente seines Lehrsystems zu erklären. Doch schliefsen wir
deshalb die Überiieferung aus der Urzeit nicht aus, umsoweniger,
als Lao-tse sich so häufig und gerade in den auffallendsten Lehren
auf sie beruft. Dieser Strom kann entweder in gerader Linie —
sind ja Fo-hi, der Erfinder der Schriftzeichen, dieser geheimnis-
vollen Hüllen des Gedankens, und Hoang-ti, die älteste Autorität
der Tao-Sekte, vermutlich nichts anderes als die vom subjektiven
Standpunkte der chinesischen Mythe nationalisierten Patriarchen
der vorflutlichen Urzeit, — oder durch seitliche Abflüsse vom
Offenbarungsgebiet — sei es durch die Weiterverbreitung bibli-
scher Texte oder biblischer Ideen seinen Lauf nach China ge-
nommen haben. Wie es sich indes mit der historischen Ver-
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Die Tao-Lehre dos Lao-tse. 465
mlttluDg Yerhalten möge, der metaphysische Ursprung der Tao-
Lehre ist fons sapientiae Yerbum Dei in excelsis (£c1us. 1. 5),
von dem geschrieben steht: Ego Sapientia effndi flumina. Ego
qnasi trames aquae immensae de fluvio, ego quasi fluvii dioryx
et sicut aquaeductus exivi de paradiso. Dixi: Rigabo hor-
tum meum plantationum et inebriabo prati mei fructum. Et ecce
factuB est mihi trames abundans, et fluvius meus appropinquayit
ad mare, quoniam doctrinam quasi antelucanum illumino omnibus,
et enarrabo illam usque ad longinquum. Eclus. 24, 40 — 44.
I
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DIE LEHRE DES HL. THOMAS
UND SEINER SCHULE
VOM PRINZIP DER INDIVIDÜATION.
EIN BEITRAG ZUM PHILOSOPHISCHEN VERSTÄNDNIS DER MATERIE.
Von Dr. M. GLOSSNER,
MITGLIED DBB PHILOSOPHISCHEN AKADEMIE DES HL. THOMAS IN BOM.
IL
MettMphyaische Begrilndung.
(Schlufs.)
Der Vorwurf, den der Philosoph des Unbewufsten gegen
Schopenhauer erhebt, dafs dieser infolge der Verwerfung der
Atome nicht zu sagen wisse, was die Individuen im unorganischen
seien, gibt uns zu weiteren Erwägungen Anlafs. Ist nämlich die
Materie Grund der Individuation, so erklärt es sich, warum diese
in den körperlichen Dingen in dem Grade unvollkommen ist, in
welchem die Form in die Materie versenkt ist. Am unvoll-
kommensten individualisiert sind demnach die unorganischen
Körper, und es ist hier oflb schwer oder unmöglich zu sagen,
wo das eine Individuum aufhört und das andere anföngt.
Ist der Flufs, der Wasserfall, der See ein Wasserindividuum?
Ist es der abgesonderte, abgerundete Tropfen? Wenn es Mole-
küle gibt, die sich als gesonderte, diskrete Thätigkeitscentren
und Eigenschaftssubjekte gegen einander abgrenzen, so wäre
freilich diesen der Charakter der Individualität zuzuerkennen.
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UnTolIkommenheit der materiellen Individuation. 467
In jedem Falle scheint in diesem Gebiete die Individualisierung
ausschliefslich durch die Unterbrechung des kontinuierlichen
Zusammenhanges des Gleichartigen, durch mechanische Teilung
hergestellt zu werden.
Nach Aristoteles ist ein unorganischer Körper eins, wenn
ein an sich seiender räumlicher Zusammenhang seiner Teile besteht;
ein solcher aber ist vorhanden, wenn die Bewegung nicht nur zufäl-
liger-, sondern notwendigerweise eine ist; diese Einheit ist dem-
nach nicht da vorhanden, wo blofse Berührung stattfindet. Eben-
sowenig da, wo die Einheit der Form fehlt. Die Einheit der
Substanz, bemerkt derselbe, beruht entweder auf dem räumlichen
Zusammenhang, oder auf der Form oder dem Begriff. Daher
auch ein Körper, der eine räumlich zusammengesetzte Grölse
ist, nicht schlechthin als eins zu bezeichnen ist, wenn er kein
Ganzes bildet, d. h. nicht eine Form hat. [Metaph. Y. c. 6.
1016 b. 9. sequ.] Endlich heifst es, Einheit der Zahl finde dann
statt, wenn die Materie eine ist [L. c. b. 32.], wozu der heil.
Thomas bemerkt: „Die Materie nämlich, sofern sie unter be-
stimmten (signatis) Dimensionen besteht, ist Grund der Indivi-
duierung der Form. Durch die Materie kommt es deshalb dem
Singulären zu, der Zahl nach eines, von Andern Geschiedenes
zu sein. [S. Thom. Comm. in Metaph. c. V. lect. VI. Vives tom. 24.
p. 537.]
Liefse sich, wie gesagt, die Existenz von Molekülen oder
gleichartigen letzten Bestandteilen nachweisen, so müfsten diese
als die Individuen im Bereiche des unorganischen angesehen
werden. Jene ünvollkommenheit aber, die wir als der materiellen
Individualität anklebend bezeichneten, würde auch in ihnen sich
finden. Denn der aktuellen Ausdehnung unterworfen, wären sie
wenigstens nach der Seite der Quantität und Materie fortgesetzter
Teilung zugänglich, da einer solchen nur die Form, also der
Grund der spezifischen Einheit, nicht aber die Materie, also der
Grund der individuellen Einheit, ein Hindernis entgegenstellen
würde. Die blofse, mechanische Teilung also würde die indivi-
duellen Substanzen vervielföltigen. Jedes Molekül wäre der
Wirklichkeit nach eine, der Möglichkeit nach viele Substanzen.
Jahrbuch fttr Philosophie etc. I. 3$
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468 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individaation.
Dagegen können Atome im Sinne abeolut der Teilung wider-
strebender Seinsprincipien und Eigenschafbecentren nicht die letzten
Bestandteile und eigentlichen Individuen im Unorganischen bilden.
Denn entweder fehlt ihnen wahre, kontinuierliche Ausdehnung,
in welchem Falle die räumliche Existenz der Dinge mit allen
Erscheinungen realer Kohäsion und Adhäsion ins Gebiet sub-
jektiver Phänomenalität zurücktreten würde, oder es wird jenen
Elementen des Körperlichen wahre Ausdehnung zugeschrieben,
in welch' letzterem Falle die Erklärung sich nicht mit ihnen
befriedigen dürfte, da der Grund der Ausdehnung von dem Grunde
der Einheit, dem Quellpunkt der Eigenschaften und Kräfte unter-
schieden werden mufs, womit wir zu unserer Unterscheidung
des Grundes der spezifischen oder formalen von dem Grunde
der individuellen Einheit und weiterhin zur Materie als Prinzip
der körperlichen Individuation zurückgeführt werden. Denn das
Prinzip der realen Ausdehnung und Teilbarkeit enthält den Grund
der Yervielföltigung des Gleichartigen in Raum und Zeit.
Wenn im Unorganischen ausschliefslich das diskrete Für-
sichbestehen des Gleichartigen Grund der Individuation ist, und
deshalb die Schwierigkeit besteht, die diskreten Bestandteile des
phänomenalen Körpers aufzuzeigen, um zu den wahren individuellen
körperlichen Substanzen zu gelangen, so verhält es sich schon
anders mit den Organismen. In ihnen gewinnt die Form bereits
das Übergewicht über die Materie und hebt sie auch für die
Erscheinung durch die organische Gliederung in scharfer Son-
derung von ihrer Umgebung ab. Vollkommener als in den un-
organischen Dingen ist daher die Individuierung in der Pflanzen-
welt Durch die bestimmte Scheidung von Wurzel, Stamm und
Zweig, von Blatt, Blüte und Frucht stellt sich jede Pflanze als
gesondertes Individuum neben ihres Gleichen dar. Gleichwohl
hat man, wenn auch ohne zureichenden Grund, gezweifelt, ob
der ganze Baum oder ein jeder Ast an ihm als ein individuelles
Wesen zu betrachten sei. Das Wahre ist, dafs auch hier noch jene
den unorganischen Körpern eigene Unvollkommenheit der Indivi-
dualität in einem gewissen Mafse sich findet, derzufolge mecha-
nische Teilung die Vervielfältigung der Substanzen in derselben
1
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ÜnTollkommenheit der materiellen Individaation. 469
Art bewirkt. Die Pflanze ist demnach der Wirklichkeit nach
numerisch eine, der Möglichkeit nach numerisch viele Substanzen.
[Vgl. Pesch, die grofsen Welträtsel I. S. 460. „Bei der Pflanze
fehlt jedes Bewufstsein. Aber nicht minder klar wie beim Tiere
erkennen wir den einen das Ganze umspannenden Plan, nach
welchem der Organismus von innen heraus sich aufbaut und
auf Produktion des Samens für ein neues Wesen derselben
Spezies ausgeht. Aus einheitlicher Zweckrealität heraus ent-
wickeln sich die zu einander gehörigen Teile. Die sich später
entfaltende Harmonie aller Teile ist, wie in einem Keime, ur-
anfönglich vorhanden."]
Jener Zweifel aber schwindet völlig, wenn wir auf der
Stufenleiter der lebendigen Wesen zum Tiere emporsteigen.
Hier begegnet uns nicht blofs ein eigenartiger Typus, der durch
die Einheit in der Mannigfaltigkeit selbst für die Erscheinung
io Zeit und Raum dem Stofi* das Gepräge selbständigen Ftirsich-
seins aufprägt, sondern es zeigt sich überdies im sinnlichen
Bewufstsein ein selbständiges, den Stoff überragendes, wenn
auch an ihn gebundenes Centrum, durch welches ein Individuum
jedem anderen derselben Art in sinnlich bewufster Scheidung
gegenübertritt. Auf dieser Stufe genügt deshalb die mechanische
Teilung zur Konstituierung für sich bestehender Individuen der
gleichen Art nur mehr in jenen Fällen, in welchen die Organi-
sation, und daher auch die Bewältigung des Stoffes durch die
Form eine sehr unvollkommene ist. In den höheren tierischen
Organismen aber geschieht die numerische Vervielfältigung in
keiner Weise mehr durch blofse mechanische Teilung, wenn
auch durch Einführung der Form in den Stoff auf dem Wege
der Zeugung: denn in Bezug auf alle körperlichen Wesen bleibt
es wahr, dafs die Materie durch die in ihr begründete Zer-
streuung und Yeräufserlichung der Form in Raum und Zeit
Prinzip der numerischen Vervielfältigung ist. [Nur im Sinne
dieser Unvollkommenheit der materiellen Individuation läfst sich
von einer Relativität des Individualitätsbegriffs reden;
denn in ihr allein liegt der Grund der Schwierigkeit, in gewissen
Fällen zu bestimmen, was Individuum sei, ob z. B. der Polypenstock
»3»
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470 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip d. Individuatton.
oder der einzelne Polyp. Vgl. Peach a. a. 0. 8. 461. Gregen
den Yersnch, diese Schwierigkeit im pantheistischen oder ato-
mietisohen Sinne auBzubeaten, wird daselbst mit Recht bemerkt,
dafs es eine eigentümliche Wissenschaftlichkeit wäre, wenn man
das Vorhandensein von wirklicher Einheit nnd Vielheit über-
haupt deshalb leugnen wollte, weil sich hier nnd da die Unter-
scheidung derselben unserer Kenntnisnahme entzieht.]
Am vollkommensten ist die Individuation vollzogen im
Menschen, der sich im überorganischen Selbstbewufstsein, das
jede Möglichkeit einer Teilung und Mitteilung ausschliefst, als
selbständigen Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens erfafst
Und dies ist in dem Mafse der Fall, dafs man zweifeln könnte,
ob nicht die Form oder das Wesen, worin das Selbstbewufstsein
wurzelt, als ein eigenartiges Wesen, d. h. als ein solches, in
welchem formale und individuelle Einheit zusammenfallen, zu
betrachten sei. Diese Annahme wäre in der That geboten, wenn
im Begriff der Menschenseele von der möglichen und natur*
gemäfsen Verbindung mit dem Stoffe abgesehen werden könnte.
Wegen dieser Verbindung aber resultiert aus der intellektiven
Seele und dem von ihr informierten Körper ein Wesen, das
durch den gleichen Artbegriff mit anderen aufgefafst wird, in
welchem also der G-rund der individuellen von dem G-runde der
formalen Einheit verschieden ist.
Es liegt nahe, an die zuletzt gemachte Bemerkung die
Widerlegung des Einwandes anzuknüpfen, der von jeher als der
gewichtigste, ja als geradezu entscheidend gegen die thomistische
Lehre vom Prinzip der Individuation betrachtet worden ist Ist
der Leib, so wird gefolgert, Grund der Individualität der Menschen-
seele, so hört mit der Trennung vom Leibe die Seele auf, eine
individuelle Existenz zu besitzen. Nimmt man nun an, dafs das
Allgemeine als solches nicht bestehen könne, so bedeutet das
Aufhören der Individualität der Seele geradezu ihre Vernichtung.
Läfst man aber die Subsistenz des Allgemeinen zu, so tritt die
Seele im Tode in den Schofs desselben zurück, wie sie sich
durch Zeugung und Geburt daraus abgelöst hat I)ie vielen
Seelen werden so wieder zu einer Seele, und von einer persön-
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Die Indiiidaalität der menschl. Seele. Individaelle Unsterblichkeit. 471
licheD, unBterblichen Fortdauer nach dem Tode würde in diesem
wie in jenem Falle — der Vernichtung — nicht die Rede sein
können.
Auf diese Schwierigkeit haben die Peripatetiker auf ver-
^ichiedene Weise zu antworten gesucht Wir brauchen uns in-
dessen nicht mit Avicenna [Brentano, Die Psychologie des Ari-
stoteles ü. s. w. S. 9. Anm. 23.] auf unbekannte Qualitäten,
durch welche die Seele im Jenseits individualisiert werde, noch
auch auf die fortdauernden Spuren des diesseitigen individuell
gestalteten Seelenlebens zu berufen. Die richtige Fährte zeigt
uns vielmehr der englische Lehrer, der den obigen Einwurf
in folgender Fassung gibt: Wenn die menschlichen Seelen ge-
mäfs der Vervielfältigung der Körper sich vervielfältigen, so
können die Seelen nach erfolgter Auflösung nicht in ihrer
Vielheit fortbestehen. Von zweien wird daher eines folgen:
entweder wird die menschliche Seele aufhören zu existieren
oder es wird nur eine Seele übrig bleiben, was der Ansicht
jener zu entsprechen scheint, die nur das allen Menschen Ge-
meinsame als unsterblich betrachten, sei dies nun der thätige
Verstand, wie Alexander meint, oder mit diesem zugleich —
wie Averroes lehrt — der mögliche Verstand. [Contra Gent
l. II. c. 80.]
Die Lösung der Schwierigkeit lautet: Die Einheit einer
Bache hängt von einer anderen, mit welcher sie in natürlichem
Zusammenhange steht, ebenso ab, wie das Sein. Ist dieses
Produkt jenes naturgemäben Zusammenhanges, so wird auch
Einheit oder Vielheit in Abhängigkeit von diesem Zusammen-
hange stehen. Nun ist aber die menschliche Seele eine in ihrem
Sein vom Stoffe unabhängige Form, folglich werden zwar die
Seelen mit der Vervielfältigung der Körper mitvervielföltigt,
jedoch nicht so, dafs die Vervielfältigung der Körper Grund der
Vervielfältigung der Seelen ist [L. c. c. 81 n. 1. Ostensum est
autem, quod anima humana est forma secundum suum esse
a materia non dependens. Unde seqnitur, quod multiplicantur
quidem animae secundum quod multiplicantur corpora; non tarnen
multiplioatio corporum erit causa multiplicationis animarum.]
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472 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schule yom Prinzip d. Indiyidaation.
Scheint nioht toit dieser Lösung der Schwierigkeit Thomas
die- Lehre vom Individuationsprinzip wenigstens in der Anwendung
auf den Menschen zurückzunehmen? Denn das Aufgenommen-
sein der Form im Stoffe soll ja gerade Grund ihrer Individuation
sein. Wird also geleugnet, dafs der Grund der Vervielfältigung
der Seelen in den Leibern liege, so scheint nioht mehr der Stoff
den Grund der Individualität der Seele zu bilden, sondern diese
vielmehr unmittelbar durch sich selbst individualisiert zu sein.
Es scheint so, aber es ist eben nur Schein. Die prägnante
Kürze, deren sich Thomas in der angeführten Antwort bedient,
nötigt uns, in der Absicht, seinen Gedanken vollkommen zu er-
fassen, etwas weiter auszuholen.
Dasjenige, was durch die Materie individualisiert wird, und
zwar so, dafs es als ein individuelles Wesen neben anderen
individuellen Wesen der gleichen Art — wirklichen oder mög-
lichen — besteht, ist eben das Wesen, die Form, der Inhalt
des Artbegriffs. Wir sagen: das Wesen, nicht das Allge-
meine, die Form, ohne nähere Bestimmung, ob metaphy-
sische oder physische, denn das spezifische Wesen ist weder
allgemein noch individuell, vielmehr gegen beide Bestinunungen
indifferent, und es hängt durchaus von der Immaterialität der-
selben — des Wesens und der Form — ab, ob metaphysische
und physische Form zusammenfallen, und ob das Wesen an sich
ein individuelles oder nur durch die Verbindung mit der Materie
ein solches ist
Demnach werden wir mit Beziehung auf das Menschenwesen
sagen müssen: Ohne Stoff, konkret gesprochen, ohne verleiblicht
zu sein, wäre das Menschen wesen, vorausgesetzt, dafs es in
dieser immateriellen Seinsweise existieren könnte, nnr ein Wesen
im Sinne des platonischen Menschen an sich. Die menschliche
Natur, wie sie im Begriffe aufgefafst wird, wäre in dieser Uypo-
stasierung nur eine. Nun kann aber die menschliche Natur in
dieser immateriellen Weise nicht existieren, denn zu ihrer Ver-
wirklichung wird ein Organismus, werden vegetative und sensi-
tive Organe erfordert, die offenbar nur im Stoffe bestehen können.
Um mit Aristoteles zu reden, Mensch und Menschsein ist nicht
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Die Individualität der mensohl. Seele. [Individuelle Unsterblichkeit. 473
dasselbe. Soll also das Menscbsein, die menschliche Natur Wirk-
lichkeit erlangen, so wird dies nicht in einem physisch einfachen
Wesen, in einer reinen|Form, sondern nur in einem physisch —
aus Form und Stoff — zusammengesetzten Wesen geschehen
können.
Eben deshalb aber wird eine solche Natur Wirklichkeit in
einer Mehrheit solcher Wesen gewinnen, denen die begriffliche
Wesenheit gemeinsam ist, die sich also nicht spezifisch, sondern
nur individuell unterscheiden.
Betrachten wir jetzt genauer die Form, die reale, physische
Form, durch welche |der Begriff — das metaphysische Wesen —
des Menschen verwirklicht wird, und fragen wir uns, wie sie
beschaffen sein müsse, um jenen Begriff im Stoffe zu verifizieren.
Die Wesensdefinition des Menschen ist die eines vernünftigen
Sinnenwesens •— animal rationale. Um eine solche Wesenheit
zu verwirklichen, mufs die den Stoff gestaltende Form, eine von
ihm dem Sein nach unabhängige, für sich subsistierende,
wenngleich zur Verbindung mit ihm bestimmte sein. In dieser
Unabhängigkeit vom Stoffe, in diesem Fürsichsein der Wesens-
form des Menschen oder der menschlichen Seele liegt der Grund
ihrer Unsterblichkeit, und zwar ihrer persönlichen, indivi-
duellen Fortdauer. Denn diese bestimmte Form, die Menschen-
seele, gewinnt durch die Verbindung mit dem Stoffe nicht ihr
Sein, wohl aber liegt in dieser Verbindung der Grund dafür,
dafs das Wesen, welches sie als Form bestimmt, mit anderen
Wesen unter einen gemeinsamen Wesensbegriff fallt.
In jenem Einwand verbirgt sich dasselbe Mifsverständnis,
das wir bei einer anderen Gelegenheit rügen mufsten. Die
Lehre von der individualisierenden Materie wird so ausgelegt,
als ob angenommen würde, dafs sich ein Allgemeines mit einem
Besonderen verbinde. Diese Auffassung mag allenfalls auf die
platonisierende Ansicht von den Häcceitäten zutreffen. Die Theorie,
die wir verteidigen, hat einen ganz anderen Sinn. Die Ver-
wirklichung des Begriffs findet statt durch Einfuhrung der Form
in den Stoff, die eine bewirkende Ursache voraussetzt, welche
je nach der Beschaffenheit der Form eine geschöpf liehe sein
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474 Die Lehre des hl. Thomas a. s. Schule Tom Prinzip d. IndividnatioiL
kann, oder die angeschaffene, schöpferische sein mofs. Handelt
es sich um die Erzeugung vegetativer oder sensitiver Wesen
durch Ursachen derselben Art, so genügt die geschöpfliche Ui^
Sache, weil hier Formen in Frage kommen, die in ihrem Sein
und Wirken an den Stoff gebunden sind und daher, um den
bekannten scholastischen Ausdruck zu gebrauchen, aus der Po-
tenzialität des Stoffes edaziert werden können. Handelt es sich
dagegen um die Erzeugung eines Menschen, so genügt die
Kausalität der menschlichen Erzeuger nicht und erscheint ein
schöpferisches Eingreifen der ersten Ursache erforderlich, weil
die Wesensform des Menschen, die menschliche Seele an sich
subsistent ist und die Potenzialität der Materie überragt, also
auch nicht durch Aktuierung dieser Potenzialität zum Dasein
gebracht werden kann.
Sollte der angeführte Einwand wirksam sein, so müfste er
lauten: Ist die menschliche Natur durch den Stoff individuali-
siert, so hört sie infolge der Trennung vom Stoffe auf zu exi-
stieren oder als individuelle zu existieren. Wer sieht nichts dafs
der Einwand in dieser Fassung jeden Sinn verliert? Denn wie
keine reale Zusammensetzung, so findet auch keine reale Trennung
von Natur und Individualität statt. Allerdings hört die mensch-
liche Natur mit dem Tode dieses Menschen auf, in diesem In-
dividuum oder als diese individuelle Natur dazusein, aber ihre
physischen Bestandteile dauern fort, der eine, der Leib, in
neuen Wesensformen, der andere, die Seele, in ihrem reinen
Fürsichsein, weil sie nicht, wie andere Formen, in ihrem Sein
und spezifischen Wirken vom Stoffe abhängig ist Denn man
beachte wohl: das Vergehen anderer Formen ist nicht eine
Bückkehr ins Allgemeine und der Grund ihres Vergehens nicht
der Verlust der Individualität durch Trennung von der Materie,
sondern der Mangel an eigener Subsistenz, die wesenhafte Ab-
hängigkeit vom Stoffe : hierin allein liegt der Grund, warum jene
Formen im Umgestaltung^prozefs des Stoffes durch wirkende
Ursachen entstehen und vergehen, während die menschliche
Seele in individueller Existenz, getrennt vom Stoffe, beharrt.
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Individuelle Unsterblichkeit 475
Warum aber, fragt man, hält der hl. Thomas eo enteohiedeu
fest an der Behauptung, dafs auch die abgeschiedene Seele in
ihrer Beziehung auf den Leib diese bestimmte individuelle
Seele sei? [Summa c. gent. I. c. Hujus modi commensurationes
remanent in animabus, etiam pereuntibus corporibus.] Aus dem
einfachen Grunde, weil ohne diese Beziehung auf eine bestimmte
Leiblichkeit die menschliche Seele — weder schlechthin nicht,
noch auch nicht individuell, sondern ein Individuum eigener
Art wäre, wie der reine Geist. Die Beziehung auf die
Leiblichkeit also ist nicht schlechthin Grund der Individualität
der Seele, sondern der Grund, dafs sie — und auch dies nur
indirekt oder, wie der technische Ausdruck der Scholastiker
lautet — reduktiv, zur Spezies Mensch gehört, eine mensch
liehe Seele, ein neben anderen gleichartigen Seelen wesen be-
stehendes Individual Wesen ist.
Nunmehr werden wir jene Antwort des englischen Lehrers,
dafs mit den Körpern, aber nicht durch die Körper die Seelen
vervielfältigt werden, vollkommen verstehen und mit seiner Lehre
von der individualisierenden Materie vereinbar finden; denn in
den Körpern liegt nicht der Grund, dafs die Seelen vervielfältigt
werden, sondern der Grund, dafs die mit den Körpern verviel-
fältigten — durch Schöpfung entstandeneu — Seelen in Ver-
bindung mit den Körpern Wesen konstituieren, die mit anderen
unter den gemeinsamen Artbegriff fallen, also von diesen nicht
spezifisch, sondern nur numerisch sich unterscheiden.
Die voranstehenden Erörterungen und Bestimmungen mögen
manchen steril, abstrakt, „scholastisch'' erscheinen, aber sie sind
unvermeidlich, wenn man nicht in unwissenschaftlicher Resignation
den eigentlich philosophischen und spekulativen Fragen aus dem
Wege gehen will.
Man glaube indes ja nicht, dafs die Frage nach dem Grunde
der Individuation sich einfacher löse, wenn man auf den Stand-
punkt der Monadologie oder des Atomismus sich stellt Jene
setzt an die Stelle der Körper Aggregate einfacher Substanzen,
geistiger Wesen. Dieser aber ist genötigt, wenn das ausgedehnte
Atom nicht gleichgiltig in seine Teile auseinanderfallen soll, in
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476 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale yom Piinzip d. IndiWduation.
ihm einen zusammenfassenden Grund der Einheit anzunehmen
und so den Dualismus von Stoff und Form, dem er entgehen
will, wieder einzufuhren. Weder Monadologie aber noch Ato-
mismus sind imstande, die Individualität eines Organismus zu
begreifen, da ein äufserlicher Inbegriff von Individuen kein neues
Individuum, kein „Individuum höherer Art" geben kann, wenn
man nicht mit Worten spielen will. Wenn ein Aggregat von
Individuen ein Individualwesen bilden soll, warum nicht gleich
das All, die „Panspermie" der Atome, so dafs auch von dieser
Seite die Extreme — Alleinslehre und Allvielheitslehre sich
berühren? [Man hat gefragt, ob denn Einfachheit etwas so Voll-
kommenes sei, dafs mau sie nicht den Elementen des Körper-
lichen zuschreiben dürfe? Gewifs, die Einfachheit des Punktes,
der Materie, des logischen Seins (ens commune) ist etwas sehr
unvollkommenes. Dagegen die Einfachheit eines für sich be-
stehenden Seins, einer Substanz, ist etwas so Vollkommenes,
dafs sie nichts Greringeres als die — Unendlichkeit selbst im-
pliziert. Bedeutet die Einfachheit Freiheit von der Materie, so
ist die betreffende Substanz ein Geistwesen; bedeutet sie über-
dies Freiheit von jeder Art der Potenzialität — auch der des
Wesens zum Dasein, so ist sie unendliches Sein — ens a se.]
Rekurriert man auf den einheitlichen Zweck, so müfste
auch eine Maschine als ein individuelles Wesen angesehen werden.
Ist aber die Maschine dies nicht trotz ihrer zweckmäfsigen Ge-
stattung, so wird der Zweck, der den Organismus als indivi-
duelles Wesen konstituieren soll, als substantielle Form bestimmt
werden müssen, welche die an sich gleichgiltig zerfallenden Teile
des Stoffes zur Einheit des Wesens verbindet. Das Resultat
ist ein Individualwesen, das ^seine Wesensbestimmtheit oder for-
male Einheit der organisierenden Form, sein individuelles Dasein
in Zeit und Raum dem unter bestimmten Quantitätsverhältnissen
existierenden Stoffe verdankt. Mit einem Worte: auch die
Betrachtung der Organismen führt uns zur thomistischen Lehre
von der individualisierenden materia signata zurück.
Sollte es uns gelungen sein, den Sinn dieser Lehre voll-
kommen klar zu stellen, gegen jedes Mifsverständnis zu sichern
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Die ÜnvoUkominenheit der Materie. 477
und die feinen Fäden blofs zu legen^ mit welchen sie sich durch
das Gesamtgewebe der psychologischen und metaphysischen
Probleme hindnrchsohlingt?
Wenn wir das gewonnene Resultat überschauen, so erscheint
es als merkwürdig, dafs ein und dasselbe Prinzip, die Materie,
das Allgemeinste und 'das Besonderste in den körperlichen Dingen
verknüpft. Die aristotelische Logik belehrt uns, dafs die Gat-
tung eines körperlichen Wesens nach der Materie, seine Differenz
nach der Form zu bestimmen sei. Die aristotelische Ontotogie
aber sagt uns, dafs auch der Grund der Individualität körper-
licher Dinge in der Materie gelegen sei. Dafs diese Behaup-
tungen keinen Widerspruch enthalten, davon haben wir den
Grund in der Un Vollkommenheit und Potenzialität der Materie
zu suchen. Die logische Gattung, das potenziale Element des
Begriffs, liegt der Materie näher, als das aktuale, formgebende
derselben. Oder, genauer gesprochen, im Wesensbegriff sind
diese Unterschiede unbeschadet seiner vollkommenen Einfachheit
vorhanden, weil er von der materiellen Realität der Dinge abs-
trahiert ist Dieselbe Potenzialität der Materie enthält auch
den Grund, warum die darin aufgenommene Form verunendlicht>
begrenzt und in der Weise individualisiert ist, dafs Individuen
von spezifisch gleicher Form, d. i. derselben Art, neben einander
existieren können. Dieselbe ünvollkommenheit der Materie er-
klärt auch die psychologische Thatsache, dafs der Intellekt nicht
das Einzelne, Individuelle nach seinem eigentümlichen Wesen,
sondern nur das mehreren Individuen Gemeinsame, die allge-
meine Wesenheit, die Art zu erkennen vermag. Denn, indem
der menschliche Verstand in der Erkenntnis der Dinge von ihnen
abhängig ist, vermögen diese nur durch die Form, nicht durch
das Stoffliche an ihnen auf den Verstand einzuwirken. Infolge-
dessen erkennt dieser nur die Form der materiellen Dinge, die
Materie aber nach Analogie der Form, also überhaupt das All-
gemeine oder die aus der materiellen Beschränkung entbundene,
reine Wesenheit. Die individuellen Unterschiede aber oder
die aus der Materie entspringenden, durch das Hier und Jetzt
bedingten und darin sich offenbarendoD substantiellen Modalitäten,
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478 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schule yom Prinzip d. Individuatioo.
welche die Individuen aU solche konstituieren, gehen für den
abstrahierenden menschlichen Verstand verloren.
Alle Schwierigkeit konzentriert sich demnach in dem Begriff
der Materie, diesem geheimnisvollen, flüssigen, aalgleichen Dinge,
das dem Verstände in dem Augenblicke, in welchem er es zu
ergreifen strebt, zu entschwinden scheint:^ in dem Begriffe der
Materie, die zwar ii^end etwas sein soll, aber doch nichts Form-
bestimmtes, kein rl, kein ytoiov, kein xoCov, nichts, was direkt
unter eine der zu unterscheidenden Gattungen des Seienden
fallt; eine Realität, die sich als bestimmbares Prinzip der Sub-
stanz auf diese Kategorie reduzieren soll, wie die Einheit als
Prinzip der Zahl, der Punkt als Prinzip der Linie auf die Kate-
gorie der Quantität sich reduzieren; ein in sich Mögliches und
Unbestimmtes, nur in Verbindung mit der Form Wirkliches, das
in allen Körpern Grund der Ausdehnung und Teilbarkeit, in den
substantiell veränderlichen aber Grund solcher das Wesen
selbst ergreifender mauDigfaltiger Bestimmbarkeit sein soll.
Eine eingehendere Erörterung und Verteidigung des ari-
stotelischen Begriffs der Materie, als sie in der bisherigen Dar-
stellung selbst enthalten ist, zu geben, liegt aufserhalb unserer
Aufgabe. Wir werden uns mit einigen apologetischen Bemer-
kungen, welche die Realität der passiven Potenz, der ontolo-
gischen Voraussetzung des naturphilosophischen Begrifiis der
Materie betreffen, begnügen. Diesen aber wollen wir die Ex-
positionen voraussenden, welche die Lehre von der individuali-
sierenden Materie in der thomistischen Schule im Kampfe gegen
Skotus und andere erhalten hat.
Wir hoffen uns dadurch den Dank aller derjenigen zu er-
werben, welche Sinn für spekulative Untersuchungen besitzen
und der Arbeit abstrakten Denkens nicht aus dem Wege gehen:
Bedingungen, die wir als unerläfslich für alle betrachten müssen,
die sich mit der Frage nach dem Prinzip der Individuation be-
schäftigen und dieselbe einer befriedigenden Lösung zufuhren
wollen.
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Cajetan Über die materia signata. 479
IIL
IHe Theorie der indMduaUHerenden Materie in der
„Sehuie des hL Thamaa^^.
Als Vertreter der thomistischen 8ohule wählen wir uns zwei
durch treues Festhalten an der Lehre, tiefes Eindringen in den
Sinn des Meisters und eigene eminente spekulative Begabung
hervorragende Jünger des englischen Lehrers: Cajetan und
den schon öfter genannten Johannes vom hl. Thomas.
Der Kommentator der theologischen Summe, Kardinal Ca-
jetan, spricht sich über den Sinn der materia signata in
seinem Kommentar zur Schrift des hl. Thomas de ente et es-
sentia ausfuhrlich aus. Er berührt zunächst eine zwischen den
Anhängern der thomistischen Lehre obwaltende Differenz der
Ansichten über die materia signata. Die Einen nämlich be-
trachten Materie und Quantität als Teilursachen der Indivi-
duation und repartieren derart zwischen beiden, dafs ihnen die
Materie als Prinzip der Inkommnnikabilität, die Quantität als
ti-rund der Teilung und Unterscheidung von allem anderen gilt
Andere dagegen — longe melius — sehen die materia signata,
nicht die materia quanta oder das Aggregat der Materie und
Quantität, als Grund der Inkommunikabilität und Teilung zugleich
an. Diese letztere Ansicht sucht Cajetan als die allein der
wahren Meinung des englischen Lehrers entsprechende und zu-
gleich sachlich begründete nachzuweisen.
Die materia signata bedeutet soviel als die eigene Materie
des Individuums oder die einer bestimmten Quantität, bestimmter
Raumverhältnisse fähige Materie. Denn diese bestimmte Materie
ist ein innerer Bestandteil dieses bestimmten Individuums, z. B.
des Sokrates, und wäre in seine Definition aufzunehmen, wenn
das Individuum definiert werden könnte. Wir müssen uns näm-
lich denken, dafs ein individuelles Agens, z. B. dieser Samen
die Materie sofort (continuo) fUr eine einzuführende Form in der
eigentümlichen Weise gestaltet, dafs, wie menschlicher Samen
die Materie fUr eine menschliche Seele geeignet macht, so dieser
Samen für diese Seele.
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480 Die Lehre des bl. Thomas n. s. Schale vom Prinzip d. Individnation.
Wie aber diese Materie diese Form erfordert, so steht sie
auch in bestimmter Beziehung zn diesen Quantitätsverhältnissen.
Allem nämlich, was in der Natur besteht, sind die Gröfsen- und
Wachstumsverhältnisse bestimmt. Insofern also die Materie diese
Materie ist durch ihre Kapacität für bestimmte Quantitätsver-
hältnisse, ist sie materia signata. Daher spricht der hl. Thomas
nicht von der Materie mit gewissen Dimensionen, sondern unter
gewissen Dimensionen, und anderswo sagt derselbe, dafs die
Materie, wie sie in der Hinordnung auf die Form im allgemeinen,
nämlich die Total- und Partialform, den generischen Unterschied
der himmlischen Körper von den unteren (sublunarischen) be-
gründe, [Nach aristotelisch -scholastischer Ansicht unterscheidet
sich die irdische von der himmlischen Materie dadurch, dafs sie
successiv für verschiedene Formen, die sich folglich als Fartial-
formen verhalten, empfanglich ist Die Potenzialität der himm-
lischen Materie dagegen ist durch eine Form (Totalform) in der
Weise aktuiert, dafs sie jede andere^ successiv eintretende Form
ausschliefst] ebenso auch durch die Hinordnung auf diese oder
jene Quantität den numerischen Unterschied in den materiellen
Dingen bewirke. Die materia signata bedeutet also nicht ein
Aggregat von Materie und Quantität, sondern bezeichnet direkt
(in recto) die Materie, und nur indirekt (in oblique) die Quan-
tität, wie die Potenz der Materie direkt auf diese, indirekt
aber auf die Form sich bezieht, weil sie nur durch die Form
definierbar ist
Diese Fassung der thomistischen Lehre empfiehlt sich, ohne
dafs es einer weitläufigen Begründung bedürfte. Denn Materie
und Quantität stehen nicht auf gleicher Linie in der Bewirkung
der numerischen Unterschiede. Die geschiedene Quantität näm-
lich kann sich offenbar nur als Bedingung der individualisie-
renden Funktion eines substantiellen Prinzips verhalten, da
die Individuation der Substanz zn erklären ist
Wir übergehen daher die eingehende Beweisiiihrung Caje-
tans und heben nur einige Antworten hervor, welche er auf die
besonders von Skotus gegen die materia signata erhobenen Ein-
wendungen und Schwierigkeiten gibt. Die Quantität, so lautet
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Cajetan über die materia signata. 481
eine dieser Schwierigkeiten, kann nicht Grand der signatio der
Substanz sein, da diese in der Ordnung der Natur der Quan-
tität selbst vorangeht, und das Spätere nicht Grund und Ursache
des Früheren, oder auch ein und dasselbe — die materia signata
— nicht Früheres und Späteres zugleich sein kann. Hierauf
also erwidert Cajetan, das Verursachte könne Ursache seiner
Ursache sein in einer anderen Gattung des Yerursachens.
Wirklich verhalte sich die materia signata als Materialursaohe
der Quantität, diese aber hinwiederum als Formalursache der
materia signata. Die Ursachen nämlich sind, wie Aristoteles lehrt,
einander gegenseitig Ursachen. In diesem Sinne könne denn auch
ein und dasselbe zugleich früher und später sein als ein anderes.
Auf die Frage aber, wie man denn diese Kausalität der
Quantität näher zu denken habe, rekurriert Cajetan auf den kon-
kreten Prozefs des Werdens, in welchem durch die bewirkende
Ursache die Materie in Abhängigkeit von dieser bestimmten
Quantität gesetzt, dieser Quantität fähig gemacht wird. Auf
diese Art konkurriert die Quantität, zur Bestimmung (signatio)
der Materie, als Akt, wegen dessen gerade diese Empfänglich-
keit eintritt. Es verhält sich also das Agens als wirkende, die
Materie als aufnehmende, die Quantität als bestimmende form-
gebende Ursache der Individualität oder Signation der Materie.
Durch die Keimkraft, die Kraft des Wachstums, ist z. B. die
Dimension eines Baumes als durch eine wirkende Ursache be-
stimmt und damit die Materie und weiterhin das Ganze nach
Form und Materie individualisiert.
Ein anderer Einwurf wird geradezu aus dem Satze selbst
geschöpft, auf welchem die Theorie von der individualisierenden
Materie beruht, nämlich dafs in den Körpern der spezifische
Unterschied durch die Form, der numerische durch die Materie
begründet werde. Verhält sich nämlich nach dem zuletzt Ge-
sagten die Quantität als Form und Akt, so bewirkt sie jenem
Grundsatz zufolge nicht blofs einen numerischen, sondern einen
spezifischen Unterschied. Ist dies aber nicht der Fall, so fallt
jener Grundsatz und damit der ganze Bau, auf welchem die Lehre
von der individualisierenden materia signata errichtet ist.
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482 Die Lehre des hl. Thomas u. 8. Schule vom Prinap d. Indindaation.
Die Antwort wird in der Distinktion des formalen Unter-
schiedes von dem Unterschiede der Formen gesucht Verschiedene
Quantitäten sind verschiedene Formen, jedoch nicht formal ver-
schieden, nnd begründen in ihrer Sückwirknng anf die Materie
nicht einen formalen, sondern numerischen Unterschied.
Quantität und Materie gehören, so wird schliefslich einge-
wendet, verschiedenen Kategorieen an; jene ist etwas Acciden-
telles, diese aber (per reductionem) Substanz, die signatio ma-
teriae also etwas Substantielles. Wie kann nun ein Accidens
den Grund einer substantiellen Bestimmung, nämlich der Multi-
plikation von Substanzen enthalten?
Es hindert nichts, erwidert Cajetan, dafs die Beding^ung
einer substantiellen Folge in einem andern Prädikament liege;
denn obgleich die Substanz jedem andern Prädikament voran-
gehe, so könne doch ein Accidens, sofern es sich als Akt und
Form verhalte, genau unter diesem Gesichtspunkte, der Substanz
vorangehen. Die Richtigkeit dieser Antwort zeigt die einfache
Thatsache der mechanischen Teilung, die sich als Bedingung der
Multiplikation der Substanzen, keineswegs aber als Konstitutiv
derselben verhält, nicht etwas Substantielles, sondern Acciden-
telles ist. [De Ente et Essentia. Gomment Thomae de Yio Caie-
tani sup. cap. II. Venet. 1588 p. 8. sequ.]
Die Erklärungen und Unterscheidungen Gajetans sind auch
für die späteren Thomisten mafsgebend geblieben.
Wie wir bereits in der Einleitung gesehen haben, stellt
Johannes vom hl. Thomas vor allem fest, dafs in den körper-
lichen Dingen der Grund der formalen Einheit nicht mit dem
Grunde der individuellen Einheit zusammenfalle, dafs deshalb
auch nicht die Wesenheit als solche das Prinzip der Individuation
sein könne. „Zur Individuation eines materiellen Dinges 'wird
nicht blofs eine in sich ungeteilte Einheit erfordert^ sondern eine
solche, die auch von jedem anderen Individuum innerhalb der-
selben Art geschieden ist. Da nämlich die materielle Natur der
Existenz in mehreren Individuen iahig ist, so mufs das Indivi-
duationsprinzip nicht nur die Anforderung erfüllen, von den In-
dividuen einer anderen Art zu unterscheiden, sondern auch von
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Johannes vom hl. Thomas gegen Suarez. 483^
denen der eigenen Art, folglich mufs die Individuation aus einem
BO beachaffenen Prinzip fliefsen, daCs es einen sabstantiellen ohne
einen essentiellen oder formalen Unterschied begründe. Denn
sie ist nicht der formalen Einheit entgegengesetzt und hebt die-
selbe nicht auf .... ihr Grand kann daher auch nicht in einem
wesentlichen Prädikate liegen, weil sonst ein wesentlicher und
nicht blofs individueller Unterschied resultieren würde. [Job.
a Sancta Thoma, Philos. Naturalis 1. c. p. 52 a.] Anderseits
aber darf doch der Grund der Individuation nicht aufserhalb
der Substanz gesucht werden; liegt er also nicht im Wesen und
der das Wesen konstituierenden Form, so kann er nur in dem
andern Konstitutiv der körperlichen Substanz, in der Materie
gelegen sein. [Ergo oportet id reducere ad aliquod principium,
quod qnidem pertinet ad substantiam rei, nee tarnen essentialem
et formalem divisionem faciat, solam ergo faöiat materialem, quia
formalis non est, licet formas ipsas et quidditates materialiter di-
vidat, atque adeo non potest procedere ex entitate formae, ut
constituit unitatem formalem et essentialem, ut facit officium for-
mae, sed quatenus ei adjungitur aliquid, quod sine distinctione
formali faciat distinctionem formarum. L. c]
Die von Suarez hiergegen erhobenen Einwendungen lassen
sich trotz des bestechenden Scheines, womit sie vorgebracht werden,
beantworten. Denn wenn behauptet wird, nicht die Materie, als
das unbestimmte, potenziale, sondern die Form als das be-
stimmende, aktuale, eigne sich zum Individuationsprinzip, so wird
die Materie im Stande der Potenzialität und Unbestimmtheit ver-
wechselt mit derselben im Stande der Verwirklichung, die sie
allerdings durch die Form besitzt. Prinzip der Individuation
aber ist die Materie in diesem letzten Stande. „Der Akt (das
Verwirklichende) unterscheidet formell (bewirkt den Wesens-
unterschied); die Inkommunikabilität^ das Individuellsein (neben
anderen Individuen derselben Art) aber entspringt aus der
Materie als ihrem Prinzip, vorausgesetzt, dafs diese im Akt
ist durch ihre Form, weil es ohne Form keine aktuale Materie,
also auch keine aktuale Individuation gibt Aber dies ist nur
eine begleitende Bedingung der Individuation (requiritur con-
Jahrbuch für PhUosopbie etc. 1. 84
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484 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individuation.
■oomitanter et propter exietentiam) und ee iBt deshalb die Form
nicht Wurzel und eigentlicher Grund der Individuation, insofern
diese den Modus des individuellen Unterschiedes ausdrückt
[Actus est, qui distinguit formaliter, sed modus distinguendi
materialiter, et incommunicabiliter est ex parte roateriae, ut ex
principio, supponendo tarnen, quod materia sit in actu per formam,
quia sine forma non datur individuatio in actu, sed hoc requi-
ritur concomitanter et propter existentiam, non quia forma sit
radix seu ratio propria individuationis, ut praecise dicit moduin
distinctionis individualis. L. c. p. 56 b.]
Die Individuation ist nämlich nicht ein Wesenskonstitutiv,
sondern ein Modus der Wesenheit und gehört zur metaphysi-
schen Btufe (dem gradus metaphysicus oder der metaphysischen
Wesenheit, d. h. dem einheitlichen und einfachen Inbegriff der
intelligiblen Bestimmungen eines Wesens) nicht als konstituieren-
des, sondern als modifizierendes Prädikat, sofern sie überhaupt
^Is Prädikat zu bezeichnen ist. Denn mehr als die Weise (ratio)
des Prädikats kommt ihr die des Subjektes, das alles andere im
Individuum ist, zu.
Damit erledigt sich ein anderer Einwand des Suarez, dafs
die Individuation zur Linie des Prädikaments (wonach die In-
dividuation der Substanz eine substantielle, die des Accidens
«ine accidentelle ist) und zum metaphysischen Grade gehöre,
d. h. die letzte Seinsbestimmtheit bilde und deshalb, wie alle
anderen metaphysischen Grade, aus demselben ungeteilten Sein
(entitas) und derselben Form fliefse und sich von ihnen nicht
reell, sondern nur intellektuell (per intellectum i. e. ratione) unter-
scheide. Es bedürfe also zur Individuation und individuellen
Einheit keines hinzukommenden Prinzips, sondern wie etwas
durch sich reales Sein ist, so auch diese reale und individuelle
Einheit.
Dieser Einwand also erledigt sich, wenn man die Indivi-
duation als substantiellen Modus fafst, der zwar demselben Sein
wie die übrigen metaphysischen Grade oder Wesensbestimmungen,
aber nach einem andern Verhalten angehört, nämlich mit Be-
ziehung auf gewisse Accidentien (dem hie et nunc, der bestimmten
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Johannes vom hl. Thomas gegen Suarez. 485
Quantität oder Signation der Materie), von denen die Indivi-
dnation abhängt. Jenes eine Sein aber, woraus die Individuatiou
fliefst, ist nicht die Teilform (forma partialis, physica), die den
Grund der übrigen metaphysischen Grade enthält, sondern es
genügt als solche die Form des Ganzen, z. B. die menschliche
I^atur (humanitas), die auch die Materie oder das Prinzip der
ünroitteilbarkeit in sich schliefst, und ebenso wird nach jenem
Verhalten des einheitlichen Seins oder der Form, nicht wie sie
die Beschaffenheit der Wesenheit, sondern die Beziehung der
ünmitteilbarkeit ausdruckt, der individuelle Grad genommen und
kommt demnach dieser nicht, wie gegen Skotus festzuhalten ist,
gänzlich von aufsen, sondern von demselben Sein, wie die übrigen
metaphysischen Grade, jedoch nach einem verschiedenen Ver-
halten und mit Beziehung auf etwas von aufsen Hinzukommendes.
[L. c. p. 55.]
Mit anderen Worten: Aus der Teilform und Materie ent-
springt ein Wesen, eine Entität, die Form des Ganzen, die in
dieser Verwirklichung genommen, als ein einheitliches Sein spe-
zifisch und individuell bestimmt ist. Indem aber dieses einheit-
liche Sein aus der Verbindung realer Bestandteile, der Teilform
und der Materie resultiert, ist seine spezifische Bestimmtheit auf
jene, seine individuelle auf diese, sofern sie in bestimmten
Quantitäts Verhältnissen besteht, zurückzuführen.
Wir knüpfen hieran zwei Reflexionen. Die eine betriff't
die Bestimmung der Individualität als eines Modus. Wäre näm-
lich die Individualität ein Konstitutiv der Wesenheit, wie andere
metaphysische Grade, z. B. die Animalität oder Rationalität im
Wesen des Menschen, so wäre nicht abzusehen, wie denn im
Prozefs der Abstraktion eine solche Bestimmung sich sozusagen
verflüchtige, während dieses Verschwinden des Individuellen er-
klärlich erscheint, wenn die Individualität der Form auf einer aus
ihrer Verbindung mit der Materie resultierenden Modifikation beruht.
Die zweite Bemerkung betrifft die Natur der Materie. Die
thomistische Lehre nämlich vom Prinzip der körperlichen Indi-
viduation steht und fallt mit der Begriffsbestimmung der Materie
als passiver Potenz in der Gattung der Substanz. Denn ist die
84«
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486 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip d. IndividaatioD.
Materie nicht Potenz^ sondern an sich aktuelles Sein, so kann
sie mit der Form nicht mehr wahrhaft ein Sein bilden. [Ex
diversis acta existentibus non fit aliquid unum per se. S. Th.
quaest. disp. (tom. 14. Viv. p. 112). Vgl. Caj. in S. Th. 1. qu. 76 a. 3.]
In dieser Voraussetzung würden Materie und Form nicht
mehr ein individuelles Wesen konstituieren, in welchem der
Grund der Individualität von dem Grunde der spezifischen Be-
stimmtheit verschieden wäre.
Wenn daher Leibnitz [Erdmann, Leibnit. Opp. philos. p.2.]
gegen die Unterscheidung, die Körper seien numerisch eins per
suam entitatem, sed non totam, bemerkt: „Da beide Teile (Form
und Materie) numerisch eins seien, so würde, wenn die inneren
Prinzipien des Einen und Seienden wie Ganzes und Teil sich
unterscheiden, folgen, daCs auch das Eine und Seiende wie Ganzes
und Teil sich unterscheiden, ja dafs das Sein über das Eins
etwas hinzufüge;" so läTst derselbe aufser acht, dafs die Prin>
zipien der spezifischen Wesenheit und der numerischen Einheit
sich nicht wie Ganzes und Teil, sondern wie Teile verhalteu,
die sich zur Einheit des Seins zusammen schliersen, das seine
Wesensbeschaffenheit besitzt nach dem einen Teil, der Form,
seine individuelle Einheit und zeiträumliche Getrenntheit aber
auf Grund des anderen Teiles, der Materie.
Auf einen weiteren Einwurf, dafs Accidentien, da sie die
einheitliche Substanz, in der sie wurzeln, voraussetzen, nicht
Grund der substantiellen Einheit sein können, wird geantwortet,
die Quantitätsverhältnisse odeV die individuellen Accidentien seien
nicht die eigentliche Wurzel oder der Formalgrund der Indivi-
duation der Substanz, sondern nur Bedingungen ihrer Ausübung
oder aktuellen Bethätigung. Denn ohne die wirkliche Teilung
und bestimmte, abgegrenzte Quantität ist die Materie vielmehr
Grund der allgemeinen oder generischen Bestimmungen der
Wesenheit, in welchem Sinne gesagt wird, dafs im Wesensbegriff
die spezifischen Bestimmungen von der Form, die generischen
von der Materie genommen werden.
In der Frage nach der Individuation der materiellen Dinge
liegt nämlich, was nicht entschieden genug betont werden kann.
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Johannes vom hl. Thomas gegen Snarez. 487
das entscheidende Moment in dem Grande der Existenz oder
der Möglichkeit einer Mehrheit von Individuen derselben Art.
Denn nur dieser Grund schliefst die Möglichkeit jeder weiteren
Eommunikation aus und ist deshalb ausschliefslich das wahre
Prinzip des individuellen, unmitteilbareu Seins oder der Indivi-
duation. Nun kann aber jener Grand der Multiplikabilität der
Art nur in der Materie liegen, da diese allein, soviel an ihr ge-
legen, der intelligiblen Bestimmtheit entbehrt. Also ist die Materie
Prinzip der Individnation. Um aber die individuierende Funktion
zu üben, ist es notwendig, dafs sie existiere, und zwar unter
bestimmten Quantitätsverhältnissen existiere; dies aber leistet ihr
die Form. So ist die Form und sind die Quantitätsbestimmungen
Bedingungen, nicht aber Grand der Individnation.
Dafs die Form nicht dieser Grand in materiellen Wesen
sein könne, ertiellt aus dem vom hl. Thomas wiederliolt ausge-
sprochenen Grundsatz, die Form sei Grand der spezifischen Ein-
heit, die Materie Grand der individuellen Vervielfältigung. Als
Prinzip der Spezies in den materiellen Dingen ist die Form
Prinzip von Etwas, das Mehreren mitgeteilt werden kann, also
als solche (prout stat snb conceptu formae) nicht Prinzip der
Individnation. Vielmehr mufs zur Form ein anderes Prinzip
hinzukommen, wodurch sie nnmitteilbar wird. Denn besitzt sie
diese ünmitteilbarkeit durch sich selbst, so ist sie nicht mate-
rielle, einen Stoff informierende Form. Ist sie aber dies, so hat
sie die ünmitteilbarkeit nicht aus sich selbst, sondern aus der
Materie. Folglich ist diese Prinzip der Individuation. [Joh.
a S. Th. L. c. p. 58. Aus St. Thomas vgl. Cent. gent. 1. II
c. 93 n. 2. Comm. in Metaph. lect. IV. (Edit. Vives p. 130.)
In IL Sentent. dist. III. qu. I. art. IV.]
Dasselbe leuchtet ein, wenn man die Natur der Form und
die Natur der Materie betrachtet; denn im Begriffe der Form
liegt es, mitgeteilt und aufgenommen zu werden, im Begriffe der
Materie aber, Subjekt der Mitteilung zu sein und aufzunehmen.
Endlich ist die Form Grand der Differenz und des formellen
Unterschiedes, während der Unterschied der Individuen ein ma-
terieller ist, also zu seiner Grundlage mehr die Materie hat als
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488 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip d. Individaation.
die Form. Zwei Individuen nämlich unterscheiden sich nicht
wesentlich (quidditativ), obgleich sie Substanzen sind, weil alle
wesentlichen Prädikate, die in dem einen sind, auch in dem an-
deren sich finden. Sie würden sonst nicht an der untersten und
letzten Spezies teilnehmen, wenn sie in irgend einem wesent-
lichen Prädikate sich unterscheiden, da gerade die wesentlichen
Prädikate die Natur der Spezies konstituieren. Wie also inte-
grale Teile, z. B. Haupt, Hände, FüTse eines lebendigen orga-
nischen Granzen an derselben Form partizipieren und daher nicht
im Wesen, sondern materiell sich unterscheiden, obgleich sie zur
Gattung der Substanz gehören, so auch Individuen; denn zur
Entstehung solcher genügt die Trennung integraler Teile oder
die Lösung ihres kontinuierlichen Zusammenhanges. Wenn also
diese weder so lange sie ein £ontinuum bilden, noch wenn ihre
Kontinuität aufgehoben ist, sich wesentlich unterscheiden, da die
Aufhebung der Kontinuität für sich allein nicht etwas Wesent-
liches und ein quidditatives Prädikat, sondern nur die Materie
und Quantität, folglich keine formelle Teilung, wenn auch eine
Teilung der Form und Substanz betrifft, so kann auch diese Unter-
scheidung (der Individuen nämlich) nicht aus der Form, sofern
sie das Greschäffc der Form vollzieht, d. h. sofern sie formell
(wesentlich, quidditativ) trennt und unterscheidet, entspringen,
sondern nur aus etwas anderem aufser der Form. Denn die
Form teilen oder unterscheiden nicht nach der formalen Distink-
tion, heifst sie teilen, nicht insofern sie die Funktion der Form
übt, sondern nach etwas zu ihr Hinzukommendem, was nicht
Form ist oder nicht die Funktion der Form übt. Wie aber die
Materie nicht Grund der formalen Distinktion ist, obgleich sie
diese empfangt, so auch umgekehrt: obgleich die Form nach
einer nicht formalen Unterscheidung geteilt wird und diese in
sich aufnimmt, so kann die Unterscheidung doch nicht in der
Form selbst ihren Grund haben, sondern in dem andern Wesens-
bestandteile, der Materie. [L. c. p. 58. 59.]
Halten wir hier einen Augenblick inne! Die vorangehenden
Erklärungen unseres Kommentators mögen viele heutzutage nicht
nach ihrem Geschroacke finden und als abstrakt, dürr, wenn
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Teilang der Form and formelle Teilung. 48^
nicht als wunderlich und grillenhaft von sich weisen. Der bis-
ins Heiligtum der Theologie eingedrungene Positivismus hat una
bereits zu sehr der abstrakten, begrifflichen Erörterungen ent-
-wohnt Spekulative Untersuchungen sind uns ,,dtirre Heide^' oder
gelten, was der schlimmste aller Vorwürfe ist, als scholastisch. In
aUem yerlangen wir die Farbe und Form des sinnlich Anschau-
lichen. Selbst in den sogenannten Geisteswissenschaften ist ea
nur philologische und historische Gelehrsamkeit, was unserer
Beachtung würdig erscheint Allenfalls noch in der Form der
Zahl, des Mathematischen, findet das Abstrakte Gnade. Und
doch werden wir uns des Sinnes und Kerns der Wirklichkeit
durch Messen, Zählen und Wägen so wenig als durch Anschauung
bemächtigen. Das Wirkliche zu verstehen wird uns nur durch
Denken gelingen. Element alles Denkens aber ist der Begriff.
Jede wissenschaftliche Untersuchung ist daher mehr oder minder
abstrakt Mögen dies also jene Erörterungen immerhin sein,
wenn sie nur wahr und . das Verständnis der Erscheinungen in
Natur und Geist zu fördern geeignet sind. Nun ist aber das
entschieden der Fall. Denn will man sich weder dem Begriffs-
absolutismus eines extremen Realismus noch dem begrifflosen
Nominalismus ergeben, so wird man an den Unterscheidungen
des Allgemeinen und Hesonderen, des Wesenhaften und Zufal-
ligen, des Substantiellen und Accidentellen festhalten müssen.
Man wird einerseits die Substantialität des Individuellen nicht
leugnen dürfen und andererseits doch zugeben müssen, dafs alles,.
was wir vom Wesen desselben erkennen, ihm mit anderen ge-
meinsam, also allgemein ist So wird man notwendig auf die
Yon Johannes vom hl. Thomas mit Recht urgierte Unterscheidung
der „Teilung der Form" von der „formellen Teilung" geführt;
denn die Formen sind individuell und dennoch Grund des All-
gemeinen: scheinbar entgegengesetzte Bestimmungen, die sich
nur unter der Voraussetzung vereinigen lassen, dafs der Grund
der Individualität nicht in der (materiellen) Form als solchen, son-
dern in der mit ihr zur Wesenseinheit verbundenen Materie liegt.
Unleugbar sind diese Unterscheidungen dem Geiste der ari-
stotelischen Philosophie, die von dem Bestreben beseelt ist, die:
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490 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip d. Individuation.
Forderungen der Wissenschail, die auf das Allgemeine geht, mit
der Existenz des Einzelnen in Einklang zu setzen, entsprechend.
Der Widerspruch, den man darin finden wollte, dafs der Stagirite
das Einzelne wie das Allgemeine als wesentlich, substantiell be-
trachtet und daher das Letztere, die begrifflichen Bestimmungen
der Substanz als ovöla ösvr^Qa bezeichnet, löst dich, wenn m^n
in der individuellen Substanz den Grund des Allgemeinen von
dem Grunde des Individuellen, mit anderen Worten, das Prinzip
der formellen Einheit, die Form, von dem Prinzip der indivi-
duellen Scheidung und Vervielfältigung, der Materie, zu unter-
scheiden versteht.
Dafs der Grund der Individuation, fahrt Johannes vom heil.
Thomas in seiner Auseinandersetzung fort, auch nicht in irgend
einer accidentellen Form gelegen sein könne, ist einleuchtend,
da die Individuation der Substanzen eine substantielle ist, das
Substantielle aber seine Wurzel nur in der Substanz selbst haben
kann. Das Prinzip der Individuation mufs also im Wesen, wenn
auch in einem Bestandteile desselben liegen, der, indem er die
Individuation berührt, die Spezies unberührt läfst.
In den Fehler, den Grund der Individuation aufserhalb der
Wesenheit zu suchen, verfiel Skotus. Die skotistische Häcceität
kann indessen in einem zweifachen Sinne verstanden werden:
nämlich entweder in dem Sinne der individuellen Differenz oder
in dem eines von aufsen zur spezifischen Natur hinzutretenden
Prinzips der Individuation. W^enn Skotus nichts anderes sagen
wollte, als dafs die Natur formell durch die individuelle Differenz
individualisiert werde, so enthält seine Behauptung etwas Selbst-
versländliches, berührt aber den Punkt der Schwierigkeit nicht;
denn in der vorliegenden Frage handelt es sich darum, ob die
Individualität ebenso wie die übrigen metaphysischen Bestim-
mungen aus der einen Form resultiere oder einen anderen Grund
innerhalb oder aufserhalb der Wesenheit habe. Im zweiten
Falle aber, d. h. wenn die Häcceität einen aufserhalb der Wesen-
heit liegenden Individuationsgrund bedeuten soll, könnte das als
„Diesheit" bezeichnete Sein (entitas) wiederum als ein substan-
tielles oder accidentelles gefafst werden. Gesetzt, man nähme
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Die skotistischen Hacceitäten. 491
letzteres an, so werden sich abermals zwei mögliche Fälle dar-
bieten. Jenes die Individualität konstituierende Accidens könnte
ein eigentümliches und notwendiges oder ein allgemeines und
zufälliges sein. Beides aber ist unmöglich. Denn die eigentüm-
lichen Accidentien (propria) fliefsen aus der gemeinsamen Natur
und kommen folglich jeder so beschafTenen Natur zu; die allge-
meinen Accidentien aber können vorhanden oder nicht vorhanden
sein und sich verändern unbeschadet der Individualität ihres
Subjektes. Betrachtet man aber jene .,Diesheit'' als etwas Sub-
stantielles, 80 ist sie entweder ein eigentümliches Sein oder eine
Modifikation eines Seins. Wenn das Erstere, so kann sie sich
von der Substanz der Sache selbst nicht unterscheiden, also auch
nicht von aufsen kommen und die skotistische Ansicht würde in
dieser Fassung in die Meinung derjenigen zurückfallen, denen
jede Substanz unmittelbar durch sich selbst individuell ist. Nimmt
man aber das Zweite an und denkt sich die Individuation als
substantiellen Modus, so mufs sie, falls sie wesentlich und natür-
lich sein soll, in der Substanz selbst wurzeln. Als solche Wurzel
aber haben wir die Materie, nicht eine von aufsen hinzutretende
„Diesheit" anzusehen. [L. c. p. 56 sequ.]
Der Grund individueller Vervielfältigung kann demnach nur
in der Wesenheit selbst, und zwar in dem bestimmbaren Kon-
stitutiv derselben, der Materie liegen.
Diese aber vermag ihre individuierende Funktion nur inso-
fern sie unter einer bestimmten Quantität existiert, auszuüben.
Wir sehen uns hiermit vor die im Bisherigen mehr nur gestreifte
Frage gestellt, in welchem Sinne die quantitativ bestimmte Ma-
terie — materia quantitate signata — als Individuationsprinzip
zu betrachten sei.
Die an dieses zu stellende Anforderung nämlich geht nicht
blofs dahin, Einheit, sondern auch Unmitteilbarkeit zu begründen
und die Substanz in der Weise zu vervielfältigen, dafs eine sub-
stantielle, nicht aber wesentliche, essentielle Unterscheidung ent-
stehe. Dieses vermag aber nicht die Form als solche, wohl aber
die Materie zu leisten, nicht zwar in der ihr, abgesehen von der
Form, eigenen Indifferenz und Potenzialität, sondern unter dem
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492 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Sofaale vom Prinsip d. Individaation.
Zeichen einer bestimmten Quantität — ut determinata et si-
gnata.
Die signatio materiae geschieht nicht formell durch die
Quantität, sofern sie (accidentelle) der Materie inhärierende und
dieselbe aSizierende Form ist, sondern durch die innere Hin-
ordnung der Materie auf die Quantität als teilende und
trennende Form. Als bestimmte accidentelle Form nämlich
setzt die Quantität das individuelle Ganze voraus, kann also in
diesem Betracht nicht Prinzip der Individuation sein.
Es liegt aber kein Widerspruch darin, dafs ein und das-
selbe — in unserem Falle die begrenzte, abgeteilte Quantität —
in verschiedenen Beziehungen das Frühere und Spätere zugleich
sei : das Frühere nach der Seite der Geteiltheit und Abgegrenzt-
heit, zu welcher die Materie wesentlich hingeordnet und durch
welche Hinordnung sie Prinzip der Individuation ist: das Spätere^
insofern sie Form ist, d. h. dem aus Form und Materie bestehen-
den Ganzen eine bestimmte Beschaffenheit gibt, Grund und
Träger weiterer accidenteller Bestimmungen der Farbe und
übrigen sensiblen Qualitäten ist.
In der näheren Bestimmung dieser Hinordnung weichen die
Anhänger der thomistischen Schule unter einander ab. Gleich-
wohl fällt es nicht schwer, die richtige, der wahren Meinung
des Meisters selbst entsprechende Spur zu finden. Überflüssig
erscheint die Annahme eines besonderen der Materie inhärieren-
den substantiellen Modus^ durch welchen diese in Hinordnung
auf eine bestimmte Quantität bestünde. Die Materie bedarf eines
solchen nicht, um Wurzel der Individuation überhaupt zu sein;
denn hierzu genügt es, dafs sie letztes Subjekt ist, was ihr
durch ihre eigene Katur, nicht durch einen besonderen Modus
zukommt. Ebensowenig aber bedarf es eines solchen, um sie
zur Aufnahme dieser bestimmten Quantität zu befähigen. Denn
das diese und andere Accidentien oder Formen aufnehmende Sub-
jekt ist hierzu ebenfalls durch sich selbst, ohne einen beson-
deren Modus befähigt Auch würden dieselben Schwierigkeiten
rekurrieren, nämlich ob dieser Modus durch die Materie oder
durch sich selbst individualisiert sei.
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Die materia qaaatitate signata. 493
Die Einordnung der Materie auf die Quantität iat demnach
präsia auf die Trennung und Teilung der letzteren zu beziehen
und diese Trennung als Bedingung zu betrachten, tou der die
aktuelle, individualisierende Funktion der Materie abhängt, nicht
aber als Grund der Individuation.
Die Behauptung, dafs die Materie wurzelhaft durch die
Quantität signiert — bestimmt — sei, oder insofern individuali-
siere, als sie Wurzel einer bestimmten Quantität ist, darf dem-
nach nicht 80 verstanden werden, als wäre die Materie iur sich
allein Wurzel und Träger* der Quantität Denn diese entspringt
aus dem Ganzen und inhäriert dem Ganzen. Vielmehr ist jene
Behauptung ausschliefslich auf die Teilung und Trennung der
das Ganze informierenden Quantität zu beziehen. Dadurch, dafs
das Ganze in quantitativer Begrenzung besteht, entspringt aus
der Materie jene Ungeteiltheit und Unmitteilbarkeit desselben,
durch die es individuelle Substanz einer gewissen Art neben
anderen wirklichen oder möglichen derselben Art ist. [L. c.
p. 60 sequ.]
In Übereinstimmung mit dieser Exposition steht, was der
hl. Thomas von der sigoatio der Materie lehrt Während in
keinem anderen Accidens aufser der Quantität ein eigentlicher
Grund der Teilung liegt, tragen ebendeshalb die Dimensionen
einen gewissen Grund der Individuation nach der bestimmten
Lage, insofern diese eine Differenz der Quantität ist, an sich.
Daher hat die Quantität einen doppelten Individuationsgrund,
von denen der eine, wie es für jedes Accidens der Fall ist, aus
dem Subjekte stammt, der andere aber aus ihr selbst, insofern
sie eine bestimmte Lage besitzt, wegen deren wir noch mit Ab-
straktion von der sinnlichen Materie diese Linie und diesen Kreis
uns vorstellen können.
Daher sind es auch nicht die bestimmten Dimensionen als
solche, welche die Materie zur signata machen, denn diese sind
veränderlich und verändern sich nicht selten, ohne dafs das In-
dividuum ein anderes wird; vielmehr kommen sie in anderer
Weise, nämlich nur als Dimensionen überhaupt in Betracht; denn
obgleich die vorhandenen Dimensionen immer nur bestimmte sein
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494 Die Lehre des hl. Thomas tt. s. Schale vom Prinzip d. Individaation.
können, wie auch die Farbe nur als Weife oder Schwarz u. s. w.
existieren kann, so sind sie doch Bedingung der IndiTiduation
nur als unbestimmte Dimensionen, d. h. die getrennte und in
ihrer Rückwirkung auf die Materie trennende und unterscheidende
Quantität ist, abgesehen von ihren bestimmten Dimensionen, Grund
der Signation der Materie und Bedingung der Ausübung ihrer
individualisierenden Funktion.
Wenn demnach der hl. Thomas die signatio materiae auf
die unbestimmte Quantität znrückföhrt, so meint er damit die
Quantität, sofern sie die Teilung und getrennte Lage bewirkt,
und in dieser von den bestimmten Dimensionen der Quantität
unabhängigen Rücksicht wird gesagt, die Quantität bezeichne
die Materie, indem sie durch Teilung die Bedingung setzt, die
erforderlich ist, damit die Materie ihre ünmitteilbarkeit that-
sächlich ausübe.
Der Zirkel aber, der darin liegen soll, dafs die Quantität
ihre Bestimmtheit aus dem Ganzen, die Materie inbegriffen,
schöpfe, die Materie selbst aber diese bestimmte sein soll durch
die quantitas signata, verschwindet, wenn man erwägt, dafs etwas
nach verschiedenen Beziehungen Ursache und Wirkung sein könne,
ein falscher Zirkel aber nur dadurch entstehe, dafs ein und das-
selbe in der nämlichen Beziehung als Ursache und Wirkung,
Bedingendes und Bedingtes zugleich behauptet wird. Die Quan-
tität geht der Bestimmtheit der Materie voran als Disposition
und in genere causae materialis, und dieses nur insofern sie ge-
trennt ist und trennend, nicht aber sofern sie in bestimmten
Dimensionen vorhanden das Ganze informiert. Nur in dieser
letzteren Beziehung, also in genere causae formalis (d. i. als
actu informierend) ist sie das Spätere und selbst durch die
bestimmte und substantiell informierte Materie bestimmt.
Obgleich nämlich die Quantität .nie anders als in bestimmten
DimeuBionen mit einer bestimmten Begrenzung und Gestalt wirk-
lich ist, so ist doch die Formalität und Beziehung der Quantität,
inwiefern sie teilend und unterscheidend ist, eine andere, als
inwiefern sie bestimmend und informierend sich verhält, und das
Erste, wodurch die Materie zur Form disponiert wird, ist das
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Die materia quantitate sigaata. 495
Geteilt- und Getrenntsein von jedem anderen Teile oder jeder
anderen Materie, die von jener Form unter den konkreten Um-
ständen nicht informiert werden kann, und unter dem Gesichts-
punkte dieser Trennung wird in der Materie die Quantität
der substantiellen Form vorausgedacht durch ein Voraus (prio-
ritas) der Disposition, obgleich dieselbe Quantität unter dem
Gesichtspunkte accidenteller Information die Wesensform zur
Voraussetzung hat und nur mittels derselben dem iSubjekte zu-
kommt
Und es liegt nichts Ungereimtes darin, dafs dieselbe (acci-
dentelle) Form unter verschiedenen Beziehungen und Gesichts-
punkten der Wesensform vorangehe und ihr folge. Die Ursachen
nämlich sind sich gegenseitig Ursachen und was nach der einen
Kücksicht Wirkung ist, ist nach der andern Ursache. So ist
auch die Quantität Wirkung und Ursache zugleich in Bezug auf
die individuelle Materie. Die Materie nämlich nimmt diese sin-
gulare Quantität nicht auf, bevor sie selbst siogulär und bestimmt
ist, andererseits aber geht die Quantität, inwiefern sie Materie
von Materie scheidet, der Individuation ihres Subjektes voran
als eine notwendige Bedingung, dafs die Materie ihre und des
Ganzen substantielle Unmitteilbarkeit gegen jede andere Materie
bethätige. [L. c. p. 63 sequ.]
Versuchen wir, dasselbe mit wenigen Worten zu sagen.
In unserer Frage handelt es sich um die Individualität von
Wesen, die spezifisch mit anderen identisch und numerisch davon
verschieden sind. Eine derartige numerische Vervielfältigung
von Substanzen setzt die Quantität voraus und beruht präzis auf
der Teilung derselben. Durch die quantitative Teilung hat die
Substanz ihr Hier und weiterhin, da das Hier der Grund der
Beweglichkeit, die Zeit aber das Mafs der Bewegung ist, ihr
jetzt. Es ist aber ein Hier und Jetzt der Substanz. Die
Substanz selbst ist in Baum und Zeit. Der letzte und eigent-
liche Grund des Hier und des Jetzt mufs also in der Substanz
gelegen sein, und zwar da, wo auch die Wui*zel der Quantität
liegt: in der Materie. Denn obgleich das Ganze Träger ist der
bestimmten Quantität, so kommt ihm doch die Quantität auf
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496 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individiiation.
Grund der Materie zu. Denn infolge dieser ist der Körper im
Räume ausgebreitet und der Teilung unterworfen.
Hinwiederum, um die yerschiedenen Gesichtspunkte zu-
sammenzufassen, liegt der Grund der mangelnden Intelligibilität
in der Quantität und der durch sie signierten Materie, denn
diese sind es, die im Abstraktions- oder Vergeistigungsprozesse
abgestreift werden.
Es zeigt sich somit, dafs in der Lehre von der materia
quantitate signata alle in der Theorie vom Grunde der Indivi-
duation in Betracht kommenden Bestimmungen zu einem harmo-
nischen Ganzen sich vereinigen.
Kehren wir zur Exposition unseres Gewährsmannes und
Führers zurück, so halten wir es für überflüssig, ausdrücklich
zu bemerken, dafs es sich um ein sachliches Früher oder Später,
nicht um ein zeitliches handelt, wenn die Quantität als Grund
und Folge der bestimmten Materie bezeichnet wird. Wie die
integralen Teile des Organismus zumal, aber in einem wechsel-
seitigen Kausalnexus bestehen, indem die vegetativen Organe
durch die sensitiven und umgekehrt bedingt sind, so bestehen
auch die Teile des metaphysischen Ganzen, Substanz und Acci-
dentien in gegenseitiger Abhängigkeit, indem die Accidentien
(die bestimmte Quantität) einerseits als Disposition für die wesent-
liche Beschaffenheit der Substanz, andererseits aber als hinzu-
kommende der Substanz inhärierende Fonnen sich verhalten.
Ein anderes Beispiel läfst sich mit Johannes vom hl. Thomas
aus dem Verhältnis der Seele zu ihren Kräften entnehmen.
Die sensitiven Seelenvermögen nämlich verhalten sich einerseits
dispositiv für das intellektive Seelenleben und setzen andererseits
dieses selbst in seiner Substanzialität voraus, da es keine mensch-
lichen Sinne ohne Rationalität gibt und dieselben Sinne aus der
intellektiven Seele als der Formalursache des ganzen mensch-
lichen Seins fliefsen.
Endlich läfst sich auf das Verhältnis der Organisation zur
Seele hinweisen ; denn die (vollendete) Organisation ist einerseits
'Wirkung der Seele, andererseits Disposition für dieselbe.
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Die uMteiia qaantitate fflg&ftta. 497
Schliefslich ist noch ein Einwand zu berühren. Die Teilung
oder Trennung der Quantität ist etwas Accidentelles; wie kann
die Individualität der Substanz, die, wie wiederholt zugestanden
wurde, etwas Substantielles ist, von ihr auch nur wie von einer
Bedingung abhängen? Und wenn die getrennte Quantität, obgleich
nur Bedingung der Individuation, doch als Prinzip derselben be-
zeichnet wird, warum nicht auch die Form, die ja ebenfalls als
Bedingung für die individualisierende Funktion der Materie an-
erkannt worden ist?
Auf den ersten Teil dieses Einwandes erwidern wir^ es
hindere nichts, dafs ein Accidens Bedingung einer substantiellen
Bestimmung sei. Durch die Thätigkeit, die etwas Accidentelles
ist, werden substantielle Veränderungen hervorgebracht. Mecha-
nische Einwirkung scheidet eine Substanz in zwei Substanzen,
•ein Individuum in zwei oder mehrere Individuen, eben weil jenes
Accidentelle nur als Bedingung einfliefst, der eigentliche Grund
der substantiellen Multiplikation aber in der Substanz, genauer
der Materie, ihrer Indifferenz, Potenzialität und ünvoUkommen-
heit gelegen ist.
Was den zweiten Teil des obigen Einwandes betrifft, so
«teht die Teilung der Quantität, die quantitas signata, in einer
wesentlich anderen Beziehung zur individualisierenden Funktion
der Materie als die Form. Denn diese fliefst auf die Indivi-
duation selbst nicht ein, ist vielmehr Grund der spezifischen oder
formalen Einheit und wird selbst durch die Aufnahme in die
Materie individuiert. Die Form kommt nur als Grund der Ak-
tuierung oder Verwirklichung der Materie, also indirekt üir die
Bethätigung ihrer individualisierenden Funktion in Betracht. Die
Teilung der Quantität dagegen, oder des getrennten Fürsichseins
des Körpers als dieses Quantum, in dieser bestimmten Lage, in
diesem bestimmten Verhältnis zu Raum und Zeit, ist direkte
Bedingung für jene individualisierende Funktion, indem ein Körper
als Individuum einer Art neben anderen Individuen derselben Art
auf dem substantiellen Grund seines materiellen und der
accidentellen Bedingung seines quantitatiy räumlichen und im
Ranme getrennten Daseins existiert [L. c. p. 66 sequ.]
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498 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individuation.
IV.
JHe BotenziaUUU der MaieHe.
Die Schwierigkeiten, welche die thomiBtiBche Lehre vom
Individuationsprinzip sowie die anderweitigen damit zusammen-
hängenden Lehrpunkte weniger dem Benken als dem „Vorstellen*'
darbieten, konzentrieren sich in dem Begriffe der Materie als
einer realen Potenz.
Dafs hierin der ,ySpringende Punkt'' Hege, dessen waren sich
die Scholastiker, speziell die Thomisten, von jeher vollkommen
bewufst.
Wie uns K. Werner berichtet, so reduziert sich nach des
Thomisten Guerinois Behauptung der Gegensatz zwischen seiner
Schule und den Skotisten lediglich auf die Grund differenz, ob es
zwischen dem ens actuale und dem ens mere possibile noch ein
Mittleres gebe, welches als ens reale denkbar ist. Hat man die
Denkbarkeit einer potentia realis passiva erwiesen, so lallt eine
Menge von gegnerischen Einwendungen von selbst hinweg. [Karl
Werner, Der hl. Thomas von Aquin. Bd. III. S. 259.]
Dafs die reale passive Potenz nicht blofs denkbar, sondern
angesichts der Thatsache des Werdens, Geschehens denknot-
wendig sei, erleidet für uns keinen Zweifel.
Speziell die Materie kann nur als ein potenziales Sein be-
grififen werden. Als Wurzel der Ausdehnung, der Passivität,
der realen Teilbarkeit, substantiellen Veränderlichkeit, als Grund
der relativen Intelligibilität und numerischen Multiplizität [der
körperlichen Dinge ist sie notwendig als Potenz, nicht als Akt
zu 'bestimmen. Wer diesen Begriff der Materie verwirft, hat
nur zwei Wege vor sich: entweder bei der realen Ausdehnung
stehen zu bleiben, ohne nach ihrem Grunde zu forschen, was
einem Verzicht auf die Philosophie gleichkommt, oder die Aus-
dehnung als ein nur iür den „Zuschauer'', die vorstellende Mo-
nade bestehendes Phänomen zu betrachten.
Fragt man aber nach dem Grunde der Ausdehnung, so wird
man, um nicht in diesen phänomenalistischen Standpunkt zurück-
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Der Begriff der passiven Potenz. 499
zufallen, anfser der Zusammensetzung aus integralen Teilen,
eine von dieser ganz und gar verschiedene nur begrifflich
bestimmbare Zusammensetzung in den Körpern annehmen müssen :
nämlich die aus zwei substanziellen Konstitutiven, von denen
das eine den Grund der Aktivität, positiven Beschaffenheit, In-
telligibilität, das andere den Grund der Passivität, räumlichen
Beschränktheit, relativen Nichtintelligibilität des Körpers enthält,
der eine bestimmender Akt, Entelechie, der andere bestimmbare
Potenz ist. Denn nur Akt und Potenz können sich zur Ein-
heit des Seins und Wesens verbinden.
Auf dasselbe Resultat hat uns die Erklärung der Thatsache
der eigentümlichen Weise körperlicher Individuierung gefuhrt.
Denn ein und dasselbe Sein kann einen verschiedenen Grund
seiner formalen, spezifischen und seiner individuellen Einheit nur
dann haben, wenn in ihm zwei Wesenskonstitutive, inkomplete
Substanzialprinzipien verbunden sind, die sich wie Akt und Potenz
verhalten und daher fähig sind, ein Sein und Wesen zu kon-
stituieren.
Von ganz hervorragender Bedeutung erscheint diese Begriffs-
bestimmung der Materie für die Auffassung des physischen orga-
nischen Lebens, indem sie gestattet^ das Leben als eine wesen-
hafte und substanzielle Bestimmung der organischen Körper zu
fassen, ohne genötigt zu sein, eine sogenannte Lebenskraft an
fertige unorganische Substanzen anzuheften, oder in hylozoistische
oder mechanistische Vorstellungen zu verfallen. Aus diesem
Grunde ist denn auch der aristotelische Seelenbegriff zu allen
Zeiten ein Gegenstand der Bewunderung für die wahrhaft grofsen
denkenden ^Naturforscher gewesen.
Endlich lehrt ein Vergleich zwischen den einander extrem
entgegengesetzten Standpunkten des Idealismus (Intellektualismus)
und Materialismus, als deren klassische und typische Vertreter
Piaton und Demokrit zu betrachten sind, dafs die aristotelische
Auffassung, indem sie die Materie als potenziales Sein bestimmt,
die Mitte einhält zwischen dem platonischen Begriff derselben,
wonach sie blofse Privation, ein Nichtseiendes und INichtsein-
soUendes ist, und der extrem realistischen Bestimmung, in welcher
Jahrbach für PhUosophie eto. I. S5
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500 Die Lehre des hL Thomas u. s. Schale vom Prinzip d. Individuation.
sie als ein an sich wirkliches nnd snbsistierendes Sein gilt, also
auf eine Höhe emporgeschraubt wird, die nur dem geistigen
Sein gebührt.
Indes gerade um den Begriff des Potenzialen Seins drehen
sich noch heutzutage die zahlreichen Einwendungen, die man von
verschiedenen Standpunkten aus gegen die aristotelisch-schola-
stische Auffassung der Materie glaubt erheben zu müssen. Aus
diesem Grunde wird sich die Verteidigung des aristotelischen
Begriffes der Materie auf den höheren und umfassenderen Stand-
punkt der Ontologie oder der Erörterung der Grundbegriffe
stellen müssen, wenn sie in entscheidender und überzeugender
Weise geführt werden soll. Der Begriff einer substanziellen
Potenzialität hat den einer realen Potenz überhaupt zur Voraus-
setzung. Es handelt sich daher um den Nachweis der Objek-
tivität oder objektiven Giltigkeit dieses Begriffes. [Von diesem
Standpunkt behandelte der Verfasser die logisch-ontologischen
Voraussetzungen des aristotelischen Begriffes der Materie in der
Abhandlung: „Über die objektive Bedeutung des aristotelischen
Begriffes der realen Möglichkeif (Jahresbericht der philosophisch.
Sektion der Görres-Gesellschaft für das Jahr 1883.)] Diesen
Ausdruck des „Geltens*', dessen sich ein in neuester Zeit viel
genannter und von manchen sehr gefeierter Philosoph bedient
hat, um darin, wie er glaubt, den unvergänglichen Sinn der
platonischen Ideenlehre zu fassen [Lotze, Logik. Leipzig 1874.
S. 502.], nehmen wir auch für uns in Anspruch, wenn man uns
mit der Frage bestürmt, was denn diese reale Potenz, die sich
in allem Geschöpf liehen findet, sei? Wir antworten: Das mög-
liche Sein läfst sich nicht anschauen, es ist weder Sauer- noch
Wasserstoff, weder Atom noch Monade, aber es ist objektiv, es
gilt Die Annahme seiner Realität ist nicht das Produkt eines
excessiven Realismus, nicht auf gleiche Linie zu setzen mit der
Behauptung der Realität des formell Allgemeinen, das allerdings
von blofs logischer, nicht von realer ontologischer Bedeutung ist
Das real Mögliche also gilt! Es gilt nicht allein im Logi-
schen, sondern auch im Realen, in Geist und Natur. Denn schon
die Natur des Geschaffenen verhält sich zur Existenz wie die
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Der ontologische Standpunlct. 501
Potenz zum Akt Und wiedernm verhält sich das Erkenntnis-
▼ermögen des menschlichen Geistes, obgleich an sich ein aktuelles
Sein, doch als Potenz zum intelligiblen 8ein, und geht dasselbe
in der „objektiv realen'^ Ordnung, indem es das Wissen erwirbt,
aus der Potenz in den Akt über, nicht durch ein eigentliches
Leiden, unter Verlust von Formen, sondern indem es durch das
Intelligible, zu dem es in Möglichkeit ist, aktuiert, vervoll-
kommnet wird.
Wenn dieses Werden im menschlichen Geiste auf einer
accidentellen Potenzialität beruht, so mufs das Entstehen materieller
Wesen aus vorhandenem Stoffe, das Wort im Sinne der materia
secunda genommen, in einer substanziellen Potenzialität begründet
sein. Denn soll nicht alles Werden in der blofsen Ortsveränderung
an sich unveränderlicher Elemente oder schliefslich in dem sub-
jektiven Verhalten vorstellender Kräfte zu einander bestehen,
sondern ein wahres Werden, Entstehen und Vergehen von Wesen
angenommen werden, so mufs in der „objektiv realen Ordnung''
ein Übergang aus der substanziellen Potenzialität zur substantiellen
Aktualität stattfinden. Die so geforderte substanzielle Potenzia-
lität, die Grundlage des Entstehens materieller Wesen aus dem
Stoffe, ist es, was wir Materie, materia prima, nennen.
Mit dieser Methode einer ontologischen Behandlung und
Begründung naturwissenschaftlicher Fragen und Lösungen stellen
wir uns allerdings in dem Streite, der früher oder später, wenn
die von den Fortschritten der Empirie geblendete und einge-
schüchterte Philosophie ihre Fassung wiedergewonnen haben wird,
darüber entbrennen wird und entbrennen mufs, wem der Primat
in der Wissenschaft gebühre, ob der Physik, beziehungsweise der
Mathematik, oder der Metaphysik, auf die Seite der Metaphysik.
Denn auch der Versuch, der Mathematik diesen Primat einräumen
und, was auf dasselbe hinauskommt, metaphysische Fragen mit
Hilfe mathematischer Formeln lösen zu wollen, statt Sinn und
Tragweite dieser selbst durch Denken zu rechtfertigen, mufs
als ein durchaus verfehlter bezeichnet werden.
Gegen unser Verfahren, den Begriff der Materie ontologisch
durch Zurückführung auf oberste Begriffe und Grundsätze der
36»
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502 Die Lehre des hl. Thomas a. s. Schale Tom Prinsip d. Individaation.
Vernunft auf seinen wahren Gehalt für das menschliche Erkennen
zu prüfen, hat man geglaubt vom theologischen Standpunkt aus
Protest erheben zu sollen. ,,Die Wahrheit von dem Dasein und
den Eigenschaften Gottes, die Lehre von der Schöpfung aus nichts
und von dem Werden und Vergehen der Dinge wären schlecht
verteidigt, wenn sie auf dem einzigen Grund der objektiven Be-
deutung der reellen Möglichkeit begründet wären/' [Tübinger
theolog. Quartalschrift. 1885. S. 56 f.] Sehen wir zunächst da-
von ab, dafs diese Worte unsere Meinung keineswegs richtig
wiedergeben, so ist jener angeblich theologische Protest in Wahr-
heit weniger dies, als vielmehr ein Protest im 19 amen der mo-
dernen Naturforschung oder noch genauer im Interesse des
physikalischen und chemischen Atomismus, und im Sinne einer
atomistisch- teleologischen Philosophie gegen den aristotelisch-
thomistischen Begriff der Materie. [A. a. 0. S. 21. 22.J Eine
etwas befremdende Erscheinung: ein Theologe, der im Namen
der Empirie gegen ein Philosophumenon sich ausspricht, das Jahr-
hunderte hindurch die mächtigsten Geister beherrschte und auch
heutzutage noch vielen den Schlüssel zur Lösung bedeutsamer
und schwieriger Probleme zu enthalten scheint. Doch warum
soll es dem Theologen benommen sein, an die solide Basis der
Empirie zu erinnern, auf welcher heutzutage die einzige mög-
liche Philosophie sich erheben mufs? [A. a. 0. S. 56.] Nicht
blofs heutzutage, sondern zu allen Zeiten mufste die Philosophie
auf der so festen als breiten Basis der Erfahrung sich aufbauen,
wenn sie wahre Philosophie sein wollte, und dieser Grundsatz
hat in keiner Schule noch so unbestritten Geltung behauptet,
als in der peripatetischen. Freilich war man in dieser Schule
auch immer eingedenk eines anderen nicht minder unumstöfs-
lichen Grundsatzes, dafs die Wissenschaft bei den Thatsachen
nicht stehen bleiben dürfe, sondern nach dem den Erscheinungen
zu Grunde liegenden Wesen, sowie nach den letzten Gründen
der Dinge und ihrer Veränderungen forschen müsse, und dafs
dies nur, da die Thatsachen sich nicht von selbst deuten, mit
Hilfe der Prinzipien der Vernunft als einer zweiten selbständigen
Erkenntnisquelle geschehen könne.
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Die Denkbarkeit der Materie. 503
Für diesen philosophiBchen Standpunkt ist nun freilich seit
Bacon und Descartes, noch mehr aber seit Kant das Ver-
ständnis verloren gegangen. Die Folgen liegen zu Tage, indem
sich die Philosophie einerseits in Positivismus, der ratlos vor dem
Chaos der sinnlichen Wahrnehmungen steht, anderseits in einem
subjektivistischen Pantheismus, der im gleichförmigen Äther der
Vernunftidee verschwimmt, verloren hat.
Stellt man sich dagegen auf den aristotelischen Standpunkt
der Vemunftforschung über die Thatsachen der Erfahrung, so
fallt vor allem der Einwand zu Boden, den man aus der vor-
geblichen Undenkbarkeit, im Grrunde nur ün vors teil bai'keit, der
„thomistischen^' Materie entnehmen will. Denn wer möchte zweifeln,
dafs dies die eigentliche Meinung sei, wenn geklagt wird, „die
thomistische Materie als ein Mittelding zwischen Sein und Nichts,
als eine Realität, die nicht existieren kann'* (?), sei „nicht nur
der Vorstellung unzugänglich, sondern auch kaum begreiflich, ja
schwer denkbar"? [A. a. 0. S. 20.]
Wollte man konsequent verfahren, so müfste man nicht blofs
die „Denkbarkeit'' der realen Potenz, sondern jedes metaphysi-
schen Begriffes, des Seins, der Ursache u. s. w., ja jedes Be-
griffes überhaupt in Abrede stellen, denn die von Kant, dessen
Einflufs die Greister noch immer in einem fast unglaublichen
Mafse beherrscht, eingeführte Ansicht, Begriffe ohne Anschauung
seien leer, führt folgerichtig zur sensualistischen Behauptung, dafs
alle Begriffe nur Worte und Zeichen seien, deren wir uns der
# Einfachheit wegen zur Zusammenfassung ähnlicher oder ver-
bundener Erscheinungen bedienen. Wenn alles, was schwierig
und „kaum" denkbar ist, über Bord zu werfen ist, dann wird
es bald nichts mehr geben, was in der Wissenschaft und der
Erkenntnis fest stünde. Denn wie dem Sensualisten der allge-
meine Begriff undenkbar ist, so finden Kritizismus und Skepti-
zismus den Gedanken selbst absurd, dafs irgend eine Vorstellung
einem Gegenstand ähnlich sei und ihn „vorstellig" machen solle.
Die Materie im aristotelischen Sinne wird wohl denkbar
sein, wenn sie gedacht werden mufs, wenn die Thatsachen zur
Bildung jenes Begriffes zwingen. Nach unserer Ansicht ist dies
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504 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale Tom Pzinzip d. Individaation.
der Fall. Der Theologe der Tübinger Qaartalschrift bestreitet
es, und zwar aus naturwissenschaftlichen Gründen. Ist denn aber,
tragen wir, die Sache vom Standpunkt auch nur der modernen
Naturwissenschaft schon ausgemacht? So lange Naturforscher
von der Bedeutung eines Tyndall [A. a. 0. S. 22. Anm.:
„Naville verwirft die Definition der Materie von Tyndall, wonach
sie der Anfang und die Fähigkeit (Möglichkeit) aller Formen
und aller Qualitäten des Lebens wäre'' u. s. w.], Harms [All-
gemeine Encyklopädie der Physik und Chemie. Band I, philo-
sophische Einleitung.], du Bois-Reymond [Die Grenzen des
Naturerkennens. Leipzig 1882. S. 21.], v. Bär [Studien aus dem
Gebiete der Naturwissenschaften. St Petersburg 1876. S. 254,
Anm.] u. 8. w. den aristotelischen Begriff von der Materie oder
seinen Naturbegriff, von welchem die Auffassung der Materie als
Potenzialität in genere substantiae unzertrennlich ist, adoptieren oder
wenigstens dem Atomismus nur einen relativen Wert zugestehen,
müssen wir uns entschieden dagegen verwahren, dafs man von
philosophischer und theologischer Seite uns die atomistische
Theorie als eine ausgemachte naturphilosophische Wahrheit auf-
oktroyiere.
Mit Recht ist von den Aristotelikern der jüngsten Zeit be-
merkt worden, dafs durch die scholastische Theorie keineswegs
der Gebrauch der Atomistik in Physik und Chemie als unzu-
lässig ausgeschlossen werde, und die hingegen von dem Tübinger
Theologen vorgebrachten Einwendungen müssen als durchaus
verfehlt bezeichnet werden. Ja, zum Zwecke des Messens, Zählens •
und Wagens ist die Annahme des Atoms so notwendig als die
Zurückführung des Kontinuierlichen auf das Diskrete, der Xrüm-
mungsverhältnisse auf die Yerhältnisse gerader Linien in der
Mathematik, um jene dem Kalkül zu unterwerfen. Aber damit
ist man noch weit davon entfernt, das Atom in seiner fingierten
Diskretheit als Existenz und als das wahre Wesen der Körper
erwiesen zu haben.
Genau gesprochen kann zwischen der empiristischen Ato-
mistik, für welche das Atom Korpuskel, d. h. ein kleiner Körper
mit allen oder den meisten Eigenschaften der Körper ist, und
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Die Denkbarkeit der Materie. 505
der Theorie des Stagiriten kein Widerstreit bestehen, da sie sich
in ganz verschiedenen Sphären bewegen, jene im Gebiete der
Erscheinung, diese aber in dem des Ansich oder Wesens, das
der Erscheinung zn Grunde liegt. Unvereinbar ist die aristote-
lische Theorie nur mit dem sog. philosophischen Atomismus, der
das Atom, mag er ihm äufserlich Kräfte anheften oder nicht, als
aktuelles, unteilbares und unveränderliches Prinzip alles körper-
lichen Seins betrachtet
Abgesehen von anderen in diesem Begriff liegenden Ab-
surditäten, widerspricht die Annahme der Aktualität und Form-
bestimmtheit des Atoms der Natur des Körpers. Denn nur der
Geist ist als reine Form actus purus, und auch dieser nur re-
lativ, nicht absolut, da sein Wesen zum Sein in Potenz ist Die An-
nahme der wesentlichen TJnveränderlichkeit des Atoms aber steht
in Widerspruch mit der thatsächlichen Wesenseinheit organischer
nnd chemisch zusammengesetzter Körper, denn die Zusammen-
setzung aus unveränderlichen Bestandteilen, die als komplete
Wesen und Substanzen existieren, kann keine andere als eine
äufserliche und accidentelle sein. Wie will man also der von
uns angenommenen, im Wesen des Körpers gelegenen Potenzia-
lität entgehen?
Dafs Körper verändernd auf einander einwirken, ist eine
unbestreitbare Thatsache, die der Philosophie das sogenannte
Problem der Wechselwirkung zur Lösung aufgibt Nicht blofs
Körper aber, auch Leib und Seele sollen auf einander wirken.
Bekannt sind die mifslungenen Versuche des Occasionalismus,
der prästabilierten Harmonie, zu denen sich in neuester Zeit der
Lotzesche gesellte, der die Wechselwirkung der einfachen Atome
oder Monaden aus dem substanziellen Bande der göttlichen Im-
manenz ableitet Die ungereimteste Vorstellung ist ohne Zweifel
diejenige, welche die Bewegung von Atom zu Atom über-
springen läfst
Die aristotelische Ontolog^e löst die Schwierigkeit einfach
durch die Begriffe von Akt und Potenz. Die Körper stehen in
realer Wechselwirkung, weil sie infolge ihrer Form sich thätig,
infolge der Materie sich leidend verhalten. Leib und Seele aber
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506 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. IndividaatioiL
vrirken nicht wie getrennte Substanzen auf einander, sondern
Terhalten sich als Form und Materie in der Einheit des durch
sie konstituierten Wesens. Die Wechselwirkung besteht in diesem
Falle zwischen den Vermögen untereinander und den Organen,
nicht aber zwischen Leib und Seele selbst
Reine Geister aber wirken als reine Formen, ohne zn leiden,
berühren durch ihre Kraft, ohne ihrerseits berührt zu werden.
Wie sollen wir dagegen eine reale Wechselwirkung zwischen
Atomen oder Monaden denken? Möge uns der Tübinger Theo-
loge auf diese Frage eine befriedigende Antwort geben!
Im philosophischen Systeme des Aristoteles und des heil
Thomas steht der Begriff der Materie nicht isoliert. Die Be-
hauptung, dafs das potenziale Sein Realität besitze, beschränkt
sich nicht auf die Materie. Dieser Philosophie zufolge ist; nicht
nur im Logischen das Besondere im allgemeinen, der Schlufs*
satz in den Prämissen der Potenz nach enthalten, sondern auch
der Begriff der Potenz nach im Wahrnehmungsbild, die allge-
meine Nalur der Potenz nach im Individuum, die Vorstellung
der Potenz nach im vorstellenden Vermögen des Subjekts. Noch
mehr, die Kontingenz des kreatürlichen Daseins, die Zufälligkeit
des Geschehens im Zusammentreffen von einander unabhängiger
Ursachen, die Freiheit des menschlichen Handelns, all das beweist
dem Stagiriten, dafs das Reale durch den Begriff des Wirklichen
nicht erschöpfend gedacht werde, mit anderen Worten die ob-
jektive „Giltigkeit" des möglichen Seins. [8. Eleutgen, Philo-
sophie der Vorzeit. Bd. II. Vom Sein. III. Vom wirklichen und
möglichen Sein. S. 99 ff. (der 1. Aufl.).]
Diese Ausdehnung des möglichen Seins über die verschie-
densten und bedeutsamsten Probleme gemahnt uns aufs neue
der Abwehr „extremer Folgerungen für die theologische Wissen-
schaft^*, welche der Tübinger Theologe gegen uns richten zu
müssen geglaubt hat. Die Wahrheiten von dem Dasein Gottes
u. s. w. sollen schlecht verteidigt sein, wenn sie auf dem einzigen
Grund der objektiven Bedeutung der realen Möglichkeit be-
gründet wären. Auf dem einzigen Grund! Dieses haben wir
nicht behauptet. Die teleologischen, moralischen, geschichtlichen
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Die objektive Geltung des möglichen Seins. 507
Grundlagen und Schrittsteine unserer Gotteserkenntnis anzutasten,
ist uns nie in den Sinn gekommen. Dafs aber diese Gottes-
erkenntnis in der Art auf jene Voraussetzung der objektiven
Giltigkeit des Mögliehen begründet sei, dafs sie miteiander stehen
oder fallen, dies ist allerdings unsere Meinung, und wir halten
es für ein Leichtes, dieselbe zur Evidenz zu erheben.
Wenn diejenigen Recht behalten sollen, nach welchen der
Begriff des Möglichen nur eine subjektive Betrachtungsweise der
Dinge ohne reale Grundlage enthält, dann ist eben nur das Wirk-
liche möglich, d. h. alles, was ist, ist notwendig. Damit ist die
Eontingenz der Dinge und die wissenschaftliche. Basis für den
Schlufs auf einen Schöpfer der Dinge eliminierL
Gesetzt, die Kontingenz und Potenzialität der Dinge wären
nicht nur nicht der einzige, sondern auch nicht ein zureichen-
der Grund für jene Wahrheiten des Daseins Gottes und Ge-
schaffenseins der Dinge, so könnte dennoch die Leugpiung ihrer
Kontingenz und Potenzialität die Aufhebung der genannten Wahr-
heiten als unvermeidliche Konsequenz nach sich ziehen.
Das Dach des Hauses ruht nicht allein auf dem Fundamente,
sondern noch auf anderweitigen Stützen; gleichwohl wird es mit
diesen zusammenstürzen, wenn man dem Ganzen das Fundament
entzieht.
Kein besonnener Philosoph, wenigstens kein scholastischer,
wird behaupten, dafs das principium contradictionis die positive
und einzige Quelle aller Yernunftwahrheiten sei; gleichwohl steht
ebenso unleugbar fest, dafs mit der Aufhebung jenes Prinzips
der Bau der menschlichen Wissenschaft so vollständig destruiert
würde, dafs darin kein Stein auf dem anderen bliebe.
Mit der Objektivität des möglichen Seins aber verhält es
sich so, dafs ihre Leagnung den Schlufs vom kontingenten auf
das (durch sich) notwendige, von dem beweglichen auf ein un-
bewegtes und unbewegliches Sein unmöglich macht, ihre Aner-
kennung aber dem Theismus der Vernunft die erforderliche wissen-
schaftliche Grundlage bietet.
Der kosmologische Beweis für Gottes Dasein, der allen
anderen zur unumgänglichen wissenschaftlichen Voraussetzung
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508 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale yom Prinup d. Individuatioii.
dient, beruht auf dieser Grundlage. Mag von der Thatsache der
Bewegung, oder dem Eausalznsammenhangey oder der Kontingenz
der Dinge, oder von den yerschiedenen Graden, in welchen diese
am Sein und Guten partizipieren, der Ausgangspunkt genommen
werden: immer und immer wieder ist es die objektive Giltigkeit
des Möglichen, wodurch die Festigkeit der vorausgesetzten That-
sache wissenschaftlich sicher gestellt ist
Was die Bewegung betrifft, so wird zwar von derselben
„theologischen" Seite her behauptet, Galilei habe die aristote-
lischen Bewegungsgesetze beseitigt, „indem er das Streben der
schweren und leichten Körper nach unten und oben zur Kühe
durch die allgemeinen Fallgesetze und den Übergang von der
Ruhe zur Bewegung, von der potentia zum actus durch das
Gesetz der Trägheit ersetzte.*' [Tübinger Quartalsch. S. 10.]
Wie der aristotelische Begriff der Bewegung als Übergang
von der Potenz in den Akt durch das Gesetz der Trägheit beseitigt
sein soll, erscheint uns noch unverständlicher, als wenn etwa
die Behauptung aufgestellt würde, seit Galilei und I^ewton sei
die Metaphysik durch Mathematik überflüssig gemacht worden.
So viel wir verstehen, besagt das Trägheitsgesetz, dafs ein Körper
durch sich selbst seinen Znstand nicht ändern, also aus der Kühe
nicht in Bewegung und aus der Bewegung nicht in Ruhe sich vei^
setzen könne. Nach dieser Seite war den scholastischen Ari-
stotelikern das Trägheitsgesetz nicht unbekannt, soweit es nämlich
auf den allgemeinen Prinzipien der Veränderung beruht. Um
aber aus einem Zustande in den anderen versetzt werden zu
können, mufs der Körper zu dem letzteren in Potenz sein, es
wird also in ihm irgend eine passive Potenz vorausgesetzt Wir
fragen demnach, in welchem Sinne denn durch das Trägheits-
gesetz der allgemeine aristotelische Begriff der Bewegung ersetzt
worden sei?
In der Auffassung, die der Bewegung von unserem Gegner
der scholastischen Kosmologie gegeben wird, wäre ein wahrer
Unterschied von Bewegung und Ruhe und damit freilich auch
ein Übergang vom Möglichen zum Wirklichen überhaupt nicht
mehr anzunehmen und alle Bewegung relativ. Wer sieht indes
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Der koemologische Beweis für das Dasein Crottes. 509
nicht, dafs damit die Bewegung in ein subjektives Phänomen ver-
wandelt wird? Denn wenn *es keine absolute, sondern nur rela-
tive Bewegung gibt, so ist die Bewegung eben nur für den
„Zuschauer'^
„Es gibt'^ behauptet der Tübinger Theologe, „im Universum
überhaupt keine absolute Ruhe. Die scheinbare Ruhe ist wie die
Ausgleichung entgegengesetzter Bewegungsantriebe, jeder Körper
hat in sich ein Prinzip der Bewegung, ^ein und bewegtes Sein
sind gleich ursprünglich.'' [A. a. O. S. 10.]
Von welcher Art dieses Bewegungsprinzip sei, ob aktiv oder
passiv, ob beides zugleich, unterläfst man uns zu sagen. Die
sich ausgleichenden Bewegungsantriebe aber können i^ir aktive
sein. Wir stünden damit auf dem Standpunkte des Dynamismus,
der Theorie der entgegengesetzten Kräfte, die sich gegenseitig
binden, jener Theorie, die, indem sie die Ruhe und den Über-
gang von der Ruhe zur Bewegung im einzelnen leugnet, über
das gesamte Weltall das Leichentuch einer absoluten Ruhe breitet.
Diese Bewegungslehre steht im W^iderspruche mit den That-
sachen der Erfahrung, wie mit den Prinzipien der Vernunft; denn
jene zeigen uns ein wirkliches Leiden und Verändertwerden der
Dinge, diese aber lehrt uns, dafs eine reale, wenn auch relative
Bewegung immer die absolute des einen der Relationsglieder zur
Voraussetzung haben müsse. Wäre dem nicht so, so würde, wie
gesagt, alle Bewegung auf subjektivem Scheine beruhen.
Die aristotelische Erklärung der Bewegung als Übergang
von der Potenz in den Akt umfafst jede Art von Veränderung.
Wir fragen deshalb, ob dieser Bewegungsbegriff nur für die ört-
liche oder für jede Art von Bewegung durch die moderne Be-
wegungstheorie beseitigt worden sei? Mit anderen Worten: ist
der Tübinger Theologe gewillt, alle Veränderung auf örtliche
Bewegung zurückzuführen? Dies hiefse die äufsersten Konse-
quenzen des monadologisch- oder atomistisch-mechanischen Stand-
punktes ziehen. Was uns betrifft, so gestehen wir zwar zu, dafs
es keine Veränderung ohne örtliche Bewegung gebe, nehmen
aber aufserdem qualitative und quantitative Veränderungen, so-
wie ein wahres Entstehen und Vergehen von Substanzen an.
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510 Die Lehre dea hl. Thomas u. 8. Schale vom Prinzip d. Indiyidnatioii.
In jeder solchen Veränderung aber findet Bewegung, d. h. Über-
gang von der Potenz in den Akt statt. Ja selbst der mensch-
liche Geist ist insofern der B(iwegung unterworfen, als er das
Wissen nicht von Haus aus besitzt, sondern in Bezug auf das-
selbe aus der Potenz in den Akt übergehL
Bleiben wir für einen Augenblick bei der örtlichen Be-
wegung stehen, so ist die scholastische Theorie vielleicht doch
nicht so grundlos, als manchem scheinen möchte; und könnte die
Lehre von dem natürlichen Ruheort der Körper einen Kern tiefer
Wahrheit in sich bergen. Die aristotelische Bewegungslehre ist
vorwiegend physikalisch und nimmt auf die konkreten Eigen-
schaften der Körper Rücksicht, die der modernen aber mathe-
matisch, von diesen Eigenschaften abstrahierend. In der letzteren
werden nur die Quantitäten oder Massen in Betracht gezogen,
und die Form und Zweckbeziehung der Dinge aufser acht ge-
lassen. Dafs diese Theorie grofse Erfolge erzielte, ist unleugbar;
dafs sie alle Rätsel gelöst und die Beziehungen der Weltkörper
zur vollen Klarheit gebracht habe, kann mit Grund nicht be-
hauptet werden. Die wahre Natur und die wahren Ursachen
der Bewegung sind naturwissenschaftlich noch nicht ergründet
und mathematisch überhaupt nicht zu ergründen. Über den Sinn
und die endgiUige Bedeutung der Attraktion ist das letzte Wort
nicht gesprochen und wird dasselbe von der empirischen und
mathematischen Naturforschung überhaupt nicht gesprochen werden.
Wenn es nach dem Gesagten nicht blofs relative, sondern
absolute Bewegung gibt, und wenn die Bewegung nicht allein
in der Vorstellung erkennender Wesen, sondern in objektiver
Realität besteht, so ist die Annahme realer Ausdehnung, strikter
Kontinuität und damit die Existenz an sich ausgedehnter Sub-
stanzen unvermeidlich. Denn die Monaden oder Kraftpunkte mögen
einen verworrenen subjektiven Schein von Ausdehnung, mit nichten
aber können sie reale Ausdehnung oder gar ein ausgedehntes
Wesen erzeugen. Wahre Ausdehnung aber setzt ein unvoll-
kommenes, potenzielles, zerstreuendes Konstitutiv in der ausge-
dehnten, in der Ausdehnung aber doch sich behauptenden und
einheitlichen Substanz voraus. Irgendwie ist diese Wahrheit
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Der kosmologische Beweis für das Dasein Gottes. 511
Beibat im Dynamismas, der die zerstreneDde, centrifugale der
koncentrierendeDy centripetalen Kraft entgegensetzt, anerkannt.
Aber nicht blofs setzen Kräfte Substanzen voraus, denen sie in-
härieren und können Substanzen nicht Produkt von Krätlen sein :
sondern überdies ist das, was zerstreut, nicht Kraft, aktive
Potenz, sondern im Gegenteil passive Potenz, und weil nicht
Ausflufs, sondern Bestandteil der Substanz, substanzielle Potenz.
In dieser aber liegt der Grund jeder, insbesondere auch der ört-
lichen Bewegung.
Fassen wir das über Bewegung Gesagte zusammen, so ist
dieselbe ohne die reale Giltigkeit des Möglichen undenkbar und
der aristotelische Beweis, der die Thatsache der Bewegung in
dem Sinne des Übergangs von der Potenz in den Akt zur Basis
nimmt, um sich zur Existenz eines ersten Bewegens, der in keiner
Weise in Potenz, sondern durchaus Akt, actus purus ist, zu er-
heben, erscheint durch keinerlei Ergebnisse moderner Natur-
wissenschaft erschüttert.
Hinwiederum, eliminiert man die reale Bewegung, den Über-
gang vom Möglichen zum Wirklichen, so föllt die Basis jenes
Schlusses auf einen transzendenten Bewegungsgrund hinweg.
Dasselbe läfst sich zeigen, wenn der Ausgangspunkt vom
Kausalzusammenhange, und ebenso, wenn er von der Kontingenz
der Dinge genommen wird.
Denn da die Wirkung in der Ursache der Möglichkeit nach
enthalten ist, so gibt es keinen wahren Kausalzusammenhang,
wenn das Mögliche nichts weiter als ein Verstandesbegriff ohne
objektive Geltung ist.
Nicht minder wird die Kontingenz der Dinge aufgehoben,
wenn man die objektive Bedeutung jenes Begriffes negiert; denn
kontingent ist, was nicht blofs nach subjektiver Betrachtung,
sondern an und für sich, und von menschlicher Auffassungsweise
unabhängig sein oder nicht sein kann, also zum Sein in Mög-
lichkeit ist.
Damit ist jedoch keineswegs gesagt, dafs diese Möglichkeit
überall eine passive und noch weniger, dafs sie eine substanzielle
sein müsse; denn etwas anderes ist die Möglichkeit, etwas anderes
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512 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale yom Prinzip d. Individnation.
der Grund derselben. Der Grund eines möglichen Seins kann
sowohl in einer aktiven und passiven Potenz zumal, als auch,
wie das in der Schöpfung der Dinge der Fall ist, in der aktiven
Potenz — der göttlichen Schöpfermacht — allein liegen. In
allen Fällen aber ist die Möglichkeit eine objektive in dem oben
angegebenen Sinne, und die Verwirklichung, wo sie stattfindet,
ein Übergang vom Möglichen zum Wirklichen, mag nun die
Möglichkeit als sachliches oder zeitliches Prius zu denken sein,
und zwar ein nicht blofs gedachter, sondern in der objektiv-
realen Ordnung sich vollziehender Übergang.
Da sich den Peripatetikern der Schlufs auf eine erste trans-
zendente Ursache unmittelbar aus der Thatsache der Bewegung
und des Kausalzusammenhanges ergab, so konnte ihnen die Frage
nach dem zeitlichen Anfang der Bewegung, oder wie sich die
Scholastiker ausdrückten, der Neuheit der Welt (novitas mundi)
als eine untergeordnete erscheinen. Aristoteles spricht sich dar-
über in verschiedenem Sinne aus. In den Topiken rechnet er
sie zu den „wegen der Gröfse des Gegenstandes kaum zu lösen-
den Problemen'' [Top I, 11. 104 b. 16.]; in den physikalischen
Schriften aber sucht er die Anfangslosigkeit der Bewegung aas
apriorischen Gründen zu erweisen.
Der hl. Thomas widerlegt die von dem Stagiriten vorge-
brachten Scheingninde, vertritt aber seinerseits die Ansicht, dafs
auch das Gegenteil, der Anfang der Bewegung, sich nicht mit
zwingenden Gründen erhärten lasse. Merkwürdigerweise be-
gegnen wir in dieser Frage auf Seite des Aquinaton seinen sonst
unermüdlichen Gegner, den doctor subtilis, Skotus. Um von der
thomistischen Schule zu schweigen, so hält auch Suarez den
Anfang der Welt vom philosophischen Standpunkte für unerweia-
lich. [Methaphys. disputat. Disp. 20. Sect. 6.]
Dieses Verhältnis, versichert man uns, habe sich ange-
sichts der modernen Naturforschung geändert, und was vordem
als sekundäre Frage galt, sei nunmehr zur Hauptfrage geworden.
„Die Frage**, so läfst sich unser Theologe vernehmen, „konzen-
triert sich für uns dahin, ob dieses bewegte Sein, das wir im
der Zeit wahrnehmen, als anfangslos nachzuweisen sei oder nichi
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Der Anfang der Bewegung. 513
Läfst sich der Beweis erbringen, dals die Bewegung einen An-
fang genommen hat, so folgt daraus notwendig, dafs für die Be-
wegung und das Sein der Dinge eine aufserweltliche Ursache
und ein Anfang angenommen werden mufs/' [Tübinger Quartalsch.
a. a. 0. S. 10.]
Dieser Beweis nun soll mittels des Clausiusschen Gesetzes,
demzufolge die ganze Entwicklung der Welt einem Endzustand
zustrebt, in welchem Gleichheit der Temperatur herrscht und
alle Bewegung aufhört, wirklich erbracht sein. Daraus nämlich,
dafs dieser Endzustand in gegebener Zeit eintrete, müsse ge-
folgert werden, dafs auch die Entwicklung eine gegebene Zeit
gedauert und somit einen Anfang genommen habe. [A. a. 0. S. 13.]
Wir wollen den Wert und die apologetische Brauchbarkeit
dieses BÄsonnements, dessen wir uns wohl selbst gelegentlich
zur Verstärkung des kosmologischen Argumentes bedient haben
[Lehrbuch der katholischen Dogmatik nach den Grundsätzen des
hl. Thomas. Kegensburg 1874. Band I. S. 35.], dahin gestellt
sein lassen. Indes scheint uns die naturwissenschaftliche Grund-
lage desselben nicht völlig gesichert. Wir sind daher auch weit
entfernt, darin einen Ersatz für die aligemeineren und minder
„konkreten" Erörterungen des hergebrachten kosmologischen Ar-
gumentes zu erblicken. Auch dürfte die Bedeutung, die ihm
allenfalls zukommen möchte, nicht darin liegen, dafs es den An-
fang des Seins oder auch nur der Bewegung erweise, als viel-
mehr in der Hindeutung auf ein übermechanisches und über-
materielles Bewegungsprinzip, das Grund des Lebens, der
Distinktion der Dinge, der Ordnung ist. Auch dem Theologen
der Tübinger Quartalschrift scheint das nicht entgangen zu sein,
wenn er sich dahin ausspricht, der möglichen „ewigen'' Welt
bliebe nur das Chaos übrig.
Wir glauben deshalb zu dem Schlüsse berechtigt zu sein,
dafs die Basis, die der Tübinger Theologe für den wissenschaft-
lichen Theismus aus der modernen Physik entnehmen will, eine
viel schwankendere ist, als jene, welche wir ihm mit der Vor-
zeit in der „objektiven Bedeutung des real Möglichen^' gegeben
haben. Denn dafs das Mögliche sich nicht selbst verwirkliche.
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514 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip d. IndiTidaation.
ist jedem Verstände einleachtend; gehen also die Dinge in der
objektiv-realen Ordnung aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit
über, so ist die Existenz einer transzendenten und reinen Wirk-
lichkeit erwiesen: ein Beweis, der von naturwissenschaftlichen
Tagesmeinungen und Hypothesen unabhängig ist.
Verstehen wir unseren Theologen recht, so dürfte er selbst
dem „naturwissenschattlichen'' Argument für den zeitlichen Anfang
der Bewegung mit Rücksicht auf den Ursprung der Dinge durch
Schöpfung nur den Wert einer Hypothese zuerkennen. Wir
glauben dies aus seiner Äufserung entnehmen zu sollen, dafs alle
christlichen Philosophen und Theologen von der Schöpfung ans
nichts ausgehen. [A. a. 0. S. 7.] Da sich unser Autor, wenn
nicht zu den Philosophen, doch sicher zu den Theologen rechnet,
müssen wir annehmen, dafs auch er von der Schöpfung aus
nichts „ausgehe''. [A. a. 0. 8. 56: „Diese Disziplin (die Philo-
sophie ist gemeint) überlasse ich gerne ihren besonderen Ver-
tretern/' Diese Bescheidenheit ist nicht die unsrige. Wir sind der
Überzeugung, dafs der wissenschaftliche Theologe philosophieren
müsse und diese Disziplin nicht ihren besonderen Vertretern
überlassen dürfe. Thatsächlich philosophiert auch der Tübinger
Theologe und wählt der Scholastik gegenüber seinen philoso-
phischen Standpunkt — in der Empirie.]
Die Behauptung, dafs die christlichen Philosophen von der
Schöpfung aus nichts ausgehen, können wir nur mit einer wesent-
lichen Einschränkung, beziehungsweise Unterscheidung acceptieren.
Es ist die bekannte Unterscheidung von äufserer leitender Norm
und innerem zur Wissenschaft gehörenden Prinzip. Glaubens-
sätze können für den Philosophen und die Philosophie jenes,
nicht aber dieses sein. Wir halten nun allerdings dafür, dafs
die Schöpfung aus nichts, wenn auch in den Offenbarungsinhalt
aufgenommen, dennoch nicht zu den spezii fischen Lehren, den
eigentlichen tieheimnissen des Christentums, zähle, sondern zu-
gleich eine strikt erweisbare Vernunfbwahrheit bilde. Dies ist die
übereinstimmende Lehre der klassischen Scholastik. Und in der
That bliebe der Vernunft und Philosophie, wenn sie die Schöpfung
aus nichts nicht von ihren eigenen Prinzipien aus beweisen
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Die Schöpfung aus nichts eine beweisbare Wahrheit. 515
könnte^ nur die Wahl zwischen PantheismuB, Dualismas und
SkeptiziBinns.
Die Schöpfung aus nichts kann nicht Prinzip für den Philo-
sophen sein. Denn die Philosophie hat von unmittelbar evidenten
Wahrheiten der Vernunft und Erfahrung auszugehen, und nichts
Ton dem als Prinzip oder sicheres Resultat aufzunehmen, was nicht
an sich selbst evident oder aus evidenten Wahrheiten abgeleitet ist.
Mit Gioberti aber zu behaupten, dafs die Schöpfung aus nichts eine
unmittelbar evidente Vemunfbwahrheit sei — ens creat existentias
— liegt sicherlich auch nicht im Sinne des Tübinger Theologen.
Nicht Prinzip, wohl aber leitende Norm sind die Wahrheiten
der Offenbarung für den christlichen Philosophen. Eine solche
Norm bietet ihm insbesondere das Kreationsdogma, indem es einer-
seits als Prüfstein zur Beurteilung und Verurteilung falscher Ver-
hältnisbestimmungen Gottes zur Welt dient, anderseits aber die
Richtung und das Ziel der Forschung bestimmt und durch An-
gabe des Facits den Kalkül erleichtert, oder, ohne Bild gesprochen,
durch Angabe der zu beweisenden Wahrheit den Weg zur Auf-
findung der Beweise selbst ebnet
Mag daher auch die sich selbst überlassene Vernunft [Es
ist hier nicht der Ort, auf die Streitfrage über den Kreatianismus
des Aristoteles einzugehen; dafs die Schöpfung aus nichts in
der Konsequenz der aristotelischen Metaphysik liege, scheint uns
durch Albert den Grofsen und den hl. Thomas aufser allen Zweifel
gestellt zu sein. Ebenso aber halten wir dafür, dafs in den
aristotelischen Schriften sich nichts finde, was in einem jener
Lehre ungünstigen Sinne gedeutet werden müfste. Vgl. „Ka-
tholik'^ 1884 (Novemberheft).] sogar in ihren hervorragendsten Ver-
tretern die Schöpfung aus nichts nicht zu voller Erkenntnis und
klarer Aussprache gebracht haben, so bildet dieser Umstand doch
kein Hindernis, dafs dieselbe in die Kraftsphäre der Vernunft und
Vemunftwissenschaft falle; denn es liegt kein Widerspruch darin,
dafs die gefallene Natur das Höchste, was ihr in theoretischer Be-
ziehung erreichbar ist, nicht ohne höhere göttliche Hilfe erreiche.
Die Unterscheidung der religiösen Wahrheiten in solche,
die der Offenbarung spezifisch eigen sind, und in solche, die,
Jahrbuch für Philosophie etc. I. SC
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516 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individuation.
wenn auch mit Schwierigkeit, von der VernunH; erkannt werden
können, erscheint als eine unumgänglich notwendige, wenn die
falschen Annahmen des Tradition alismus, der Theosophie und
Glanbensphilosophie vermieden werden sollen. Daher ist diese
Unterscheidung für den Theologen geradezu eine Lebensfrage;
denn die Vermischung des Natürlichen und Übernatürlichen ist
immer tür die Theologie, nicht für die Philosophie verhängnisvoll
geworden, indem der unaustilgbare metaphysische Drang der
menschlichen Vernunft notwendig dazu treibt, das Geglaubte auch
zur Erkenntnis bringen zu wollen. Beruhen also alle religiösen
Wahrheiten gleichmäfsig auf Glauben, so wird man sich ver-
sucht fühlen, alle gleichmäfsig zum Wissen erheben zu wollen.
Es wäre uns ein Leichtes, diese Behauptung durch Beispiele aus
der allernächsten Vergangenheit zu beleuchten.
Dem Tübinger Theologen ist es darum zu thun, die „extremen*^
Folgerungen unseres Standpunktes für die theologische Wissen-
schatl abzuwehren. [Tübinger Quartalschrift a. a. 0. 8. 56.] Wir
haben nun allerdings erklärt, dafs die Leugnung der Objek-
tivität des möglichen Seins den Eleatismus nach sich ziehe. Man
kann noch weitar gehen und behaupten, dafs es ohne Anerken-
nung der objektiven Giltigkeit des Möglichen weder eine wissen-
schaftliche Theologie noch eine wissenschaftliche Philosophie gebe
und geben könne. Wie kann doch, wird man fragen, an einem
so kleinen Dinge so Grofses hängen? Warum denn nicht? Oder
was ist einfacher und unscheinbarer als der Satz des Wider-
spruches^ Und doch, wer ihn leugnet, wirft den ganzen Bau
menschlichen Wissens über den Haufen. Es gibt eben gewisse
Begriffe und Wahrheiten, die ihrer Allgemeinheit wegen nicht
aufgehoben werden können, ohne zugleich alle anderen Wahr-
heiten in ihren Ruin mit hineinzuziehen. Denn hier wie sonst
ist es leichter niederzureifsen als aufzubauen, und die Leugnung
einer Wahrheit kann die Vernichtung auch solcher nach sich
ziehen, die aus ihr allein nicht positiv bewiesen werden können.
Zu diesen Wahrheiten eben gehört die des möglichen Seins.
Wer sie streicht, hat damit auch das reale Werden, die Eontingenz,
die Freiheit und alles, was drum und dran hängt, gestrichen.
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Der theologische Standpunkt. 517
Man glaubt gegen extreme Folgerungen unserer Lehre vom
theologischen Standpunkte protestieren zu sollen, und doch
fordert gerade dieser die objektive Realität des Möglichen sowohl
im apologetischen als auch in seinem eigenen innersten Interesse.
Au der Schwelle der Theologie begegnet uns der Begriff
Gottes als reinster Akt, dem gegenüber alles geschaffene Sein
als ein aus Akt und Potenz zusammengesetztes erklärt wird.
In diesem Begriff erblicken die Theologen mit Recht den
entschiedensten Protest gegen Emanatismus, Pantheismus, Theo-
sophismus: die notwendige Voraussetzung für die wissenschaft-
liche Schöpfungslehre, da aus dem göttlichen, schlechthin unge-
mischten, absolut aktualen Sein nichts auf andere Weise als durch
absolute Setzung — Schöpfung aus nichts — hervorgehen kann.
Werfen wir dann einen flüchtigen Blick in das Innere der
Theologie, so setzen die übernatürlichen Wirkungen Gottes, so-
wohl die Wunder als auch die Gnadenwirkungen, in den Seelen
eine gewisse Empfänglichkeit oder Potenzialität voraus, die von
den scholastischen Theologen Potenz des Gehorsams genannt
wird, und als passive Potenz bestimmt werden mufs, wenn nicht
die Teilnahme am göttlichen Sein und Leben, die übernatürliche
Gotteskindschaft, das Licht der Gnade und Herrlichkeit als eine
Blüte reiner Menschlichkeit erscheinen und an die Stelle des
Christentums und seiner übernatürlichen Ordnung der Humanis-
mus des neunzehnten Jahrhunderts gesetzt werden soll.
Nicht allein an den Begriff der realen Möglichkeit, speziell
der passiven Potenz, knüpft sich ein vitales Interesse der
Theologie, sondern auch der prinzipielle und methodische Stand-
punkt, von welchem wir seine Objektivität verteidigen, nämlich
der des Begriffes im Unterschiede von dem der Anschauung,
bildet eine Lebensfrage der christlichen Theologie. Zwar fehlte
es nicht an Versuchen, den Geist der neueren Philosophie auch
in die Theologie einzufuhren und den scholastischen „Begriffs-
standpnnkt" durch den der „Idee" oder der Verbindung der
Vorstellung mit dem Begriff zu ersetzen. Diese Versuche aber
mufsten an der Natur der Dinge scheitern« Nach christlicher
Auffassung gehört der Standpunkt der Anschauung der jenseitigen
S6*
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518 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. ludividuation.
Theologie an. Die Theologie des DiesseitB aber ist, wenn sie nicht
das Geistige auf das Niveau des Sinnlichen herabziehen^ oder,
dieser Gefahr aasweichend, nur in Bildern und Symbolen sich be-
wegen will, auf die Sprache des abstrakten Begriffs angewiesen:
womit wir nicht ein Begreifen der Geheimnisse, ein Zurückfuhren
derselben auf den Inhalt der Vernunft, sondern die begriffliche
Fassung nach der Norm der Geheimnisse selbst ausdrücken wollen.
So wenig wir jedoch gewillt sind, die vermeintlich „extremen'^
Folgerungen, die sich fdr Theologie und Philosophie aus der
Leugnung der Objektivität des Potenzbegriffes ergeben sollen,
einzuschränken, so müssen wir uns doch gegen ein Mifsver-
ständnis verwahren. Unsere Meinung ist nicht, dafs jene Folge-
rungen aus der Verwerfung der substanziellen Potenzialitat der
Materie, sondern dafs sie aus der Leugnung der Objektivität oder
objektiven Giltigkeit des möglichen Seins überhaupt entspringen.
Wir wollten diejenigen, welche den Begriff der Materie als Potenz
aus dem Grunde bestreiten, weil in ihm das mögliche Sein wie
ein reales behandelt werde, auf die Konsequenzen hinweisen, zu
welchen die Behauptung führt, dafs nur dem aktualen, nicht aber
dem Potenzialen Sein Realität zukomme. Man mag den fttig*
liehen Begriff aus anderen Gründen bestreiten: ihn von dem onto-
logischen Standpunkt der Nichtrealität des Potenzialen bekämpfen,
ist gefahrlich, doppelt gefahrlich für den Theologen.
Aber auch die philosophische Bedeutung des real Mög-
lichen ist eine eminente. Jene beiden metaphysischen Grund-
prinzipien, denen die aristotelische Metaphysik den gröfsten Raum
widmet, beruhen mittelbar oder unmittelbar auf diesem Begriffe.
Der eine nämlich besagt, dafs jede Veränderung, jeder Übergang
aus der Potenz in den Akt einen Akt, d. h. eine Wirklichkeit zur
notwendigen Voraussetzung habe und nichts sich durch sich selbst
aktuiere oder verwirkliche, und hängt somit unmittelbar mit der
objektiven Geltung des potenziellen Seins zusammen. Das andere
Grundprinzip aber, das sog. principium contradictionis, glaubt der
Stagirite nur mit Hilfe des Unterschiedes des möglichen und
wirklichen Seins gegen die aus der Thatsaohe der Veränderung
und Bewegung geschöpften Einwendungen verteidigen zu können.
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Der hl. Aogastiii über den Begriff der Materie. 519
y,DtL» Seiende nämlich wird in doppeltem Sinne gebraucht, so
dafs in gewisser Hinsicht allerdings etwas aus dem Nichtseienden
entstehen kann, in anderer Hinsicht aber nicht, und dafs das-
selbe gleichzeitig ein Seiendes und Nichtseiendes sein kann; nur
hat das Seiende nicht beidemale dieselbe Bedeutung. Denn poten-
ziell kann derselbe Gegenstand gleichzeitig das Entgegengesetzte
sein, aktuell aber nicht/' [Metaph. I. 5. 1009 a. 32 squ.]
Für diejenigen, welche trotz all' dieser Gründe darauf be-
harren, dafs der Begriff einer realen und substanziellen Potenz
für sie schlechterdings unfafslich sei, steht noch ein Weg offen.
Es ist der, den der hl. August in nach seinem eigenen Ge-
ständnis mit Erfolg eingeschlagen. Vor allem aber empfehlen
wir diesen Weg den Theologen. Oder wem, wenn nicht diesen,
werden wir die Worte: „Wohlan betet! betet um Erleuchtung 1^'
zurufen dürfen, ohne befürchten zu müssen, dafs unser Bat mit
Hohn zurückgewiesen werde?
„Hast nicht du, o Herr, diese Seele, die dir bekennt, be-
lehrt? Hast nicht du ihr gezeigt, dafs, bevor du diesen gestalt-
losen Stoff bildetest und unterschiedest, derselbe nichts war,
nicht Farbe, nicht Gestalt, nicht Körper, nicht Geist, und doch
auch nicht ein völliges Nichts? Es war eine gewisse Form-
losigkeit ohne jegliche Bestimmtheit der Art und Gestalf [Nonne
tu, Domine, docuisti hanc animam, quae tibi confitetur? Nonne
tu, Domine, docuisti me, quod, priusquam istam informem mate-
riam formares atque distingueres, non erat aliquid, non color,
non figura, non corpus, non spiritus, non tamen omnino nihil?
Erat quaedam informitas, sine ulla specie. Üonfess. 1. XII. c. III.]
„Wenn ich aber, o Herr, alles mit Mund und Feder ge-
stehen soll, was du mich über diesen Stoff gelehrt hast, so habe
ich ihn zuvor, wenn ich seinen Namen, von solchen, die ihn selbst
nicht verstanden, vernahm und nicht verstand, mit mannigfaltigen
und unzähligen Formen gedacht. Häfsliche und grauenvolle
Formen schwebten in verwirrter Ordnung der Seele vor, inunerhin
aber Formen, und ich nannte dies formlos, nicht wegen Erman-
gelung jeder Form, sondern weil es eine solche hatte, von deren
ungewohnter und unziemlicher Erscheinung mein Sinn sich ab-
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520 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schule vom Prinzip d. Individuation.
gestofsen und die menschliche Schwäche sich verwirrt föhlta
Was ich aber wirklich dachte, war nicht durch Beraubung jeder
Form, sondern nur im Vergleich zu geformteren und schöneren
Dingen formlos. Und doch forderte die Vemunfb, dafs ich alle
Reste jeder Form hinwegnehme, was ich aber nicht vermochte.
Denn ich glaubte eher, das sei überhaupt nicht, was jeder Form
entbehre, als dafs ich etwas zwischen der Form und dem nichts
dachte, ein weder Geformtes noch nichts, ein Formloses fast —
nichts. Da hörte ich auf, meinen von den Bildern geformter
Körper erfüllten und sie nach Willkür verändernden Greist zu
befragen, und richtete meine Gedanken auf die Körper selbst,
indem ich ihre Veränderlichkeit betrachtete, wie sie aufhören zu
sein, was sie waren, und anfangen zu sein, was sie nicht waren.
Und ich vermutete, dafs dieser Übergang von Form zu Form
durch ein gewisses Formloses, nicht aber durch ein völlige»
Nichts geschehe, verlangte aber, nicht blofs zu vermuten, son-
dern zu wissen. Und wenn Wort und Griflfel alles, was du mir
von dieser Frage erklärt (enodasti), gestehen sollten, welcher
Leser wird es in die Länge zu fassen vermögen? Und dennoch
wird mein Herz nicht aufhören, dir Ehre und Lobpreis für das
zu widmen, wofür Worte nicht ausreichen. Die Veränder-
lichkeit nämlich der wandelbaren Dinge ist selbst
aller Formen fähig, in welche das Veränderliche
sich verwandelt. Und was ist diese? Ist sie Geist, ist
sie Körper oder irgend eine Art oder Form des einen oder
anderen? Wenn gesagt werden könnte, sie ist ein Nichts-Etwas
und ist es wiederum nicht, so würde ich dies sagen, und doch
war sie schon irgendwie, um diese sichtbaren und geordneten
Gestalten aufzunehmen.'' [L. c. cap. VI.]
So der grofse heilige Augustin. War das Licht, das ihm
geworden, ein Irrlicht? Dann haben die gröfsten Geister vor und
nach ihm einem Irrlicht nachgejagt. Wer möchte es behaupten?
Getrost! Der augustinische Begriff der Materie ist auch jetzt noch
haltbar, ja der allein haltbare und wird es für alle Zukunft bleiben.
Die Lehre von der Fotenzialität der Materie ist nicht blofs
von eminenter, theoretischer Bedeutung, sondern auch von prak*
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Ethische Konsequenzen. 521
tischer Fruchtbarkeit, fiir das YerständDiB nämlich der sittlichen
und sozialen Ordnung.
Die soziale Ordnung baut sich auf dem Grunde der ein-
fachsten Gesellschaft, der ehelichen, auf, die auf der Gemein-
schaft der Geschlechter beruht, und wird durch die unsicht-
baren Bande der sittlichen Tugend zusammengehalten.
Aristoteles wendet auf das Verhältnis der Geschlechter die
Begriffe von Akt und Potenz an. Nach seiner Ansicht verhalten
sich Mann und Weib wie Form und Materie, im Physischen
wie im Ethischen. Das Weib steht der Natur und damit auch
der Materie, der Mann der Form und der Vernunft näher. Der
natürliche Unbestand, die empfängliche Bildsamkeit des Weibes,
das Veränderliche, Launenhafte, durch Zufölligkeiten Bestimm-
bare seines Wesens erhält naturgemäfs Mafs und festen Bestand
durch den Mann, der selbst von der Vernunft beherrscht, seiner-
seits aktuierend und formgebend in der Familie zur Herrschaft
bestimmt ist, nicht zu einer despotischen, sondern politischen,
wie sie einem Herrscher über Freie geziemt.
Der moderne Naturalismus emanzipiert mit der Materie, die
ihm das wahrhaft Seiende ist, auch das Weib und entfesselt die
in ihm schlummernde Naturgewalt, die nun ihrerseits der Herr-
schaft über die Vernunft sich bemächtigt und den Mann sittlich
entnervt und mit sich in den Abgrund der regellos wogenden
unbeständigen Leidenschaften herabzieht. Mit dem Naturalismus
verbindet sich die Poesie in der Vergötterung des emanzipierten
Weibes, um es zuletzt, nachdem sie es in der Form des „ewig
Weiblichen*' auf den Altar erhoben, als einen abstofsenden Pfuhl
aller Gemeinheit und aller Laster auf den Pranger zu stellen:
ein litterarisches Spiegelbild von dem Übergange des Zeitgeistes
aus dem Rausche eines unwahren Idealismus zu einer nicht
minder unwahren und unnatürlichen, sogenannten ,,realistischen''
Ernüchterung, die ebenso tief unter die wahre Wirklichkeit herab-
sinkt, als jener darüber hinwegfliegl^
Wie in dem besprochenen Falle, so spielt auch in der rich-
tigen Bestimmung des Verhältnisses der Vernunft und des Willens
zu den Affekten der Sinnlichkeit, d. h. im Begriff der ethischen
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522 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip <L Indindiiatioii.
Tugend die Auffassung der Materie als des an sich unbestimmten
und potenziellen Seins eine entscheidende Rolle. Losgerissen von
diesem ontologischen und psychologischen Fundamente bleibt die
aristotelische Tugendlehre ein unverständliches Rätsel. &egen
die bekannte, zum Sprichwort gewordene, aristotelische Erklärung
der ethischen Tugend als der richtigen Mitte zwischen zwei Ex-
tremen — in medio virtus — ist der Vorwurf einer änfserlichen,
mechanischen Auffassung erhoben worden. Nichts kann unge-
rechter sein. Das Mechanische und Mathomatische des aristote-
lischen Tugendbegriffes bildet nur ein untergeordnetes Moment
desselben, das aus dem Elemente oder Stoffe, in welchem die
sittliche Tugend sich ausgestaltet, stammt Diesen Stoff nämlich
bilden die Affektionen des sinnlichen Teiles, denen einerseits
das Unbestimmte und Mafslose, nach entgegengesetzten Richtungen
Ausschweifende der Materie anhaftet, die aber doch anderer-
seits der Vernunft teilhaft sind, insofern sie nämlich nach dem
ihnen immanenten psychischen Element des Erkennens und Be-
gehrens durch die Vernunft bestimmt und geleitet werden können.
Daher ist auch die ethische Tugend, von der jener Tugendbegriff
streng genommen allein gilt, nur nach einer Seite Mitte, näm-
lich nach dem ethisch zu gestaltenden Elemente, worin sie webt
und waltet, oder der Sinnlichkeit [Daher ihre Definition: %§^g
jtQoaiQBXtxTi (leöorriToci xijq otQOq fifiäq iv yöiot xal XvxijQOtc,
Eth. Eudem. II, 10. 1227 b. 8.] Nach der anderen Seite aber
ist sie vielmehr ein Höchstes und Äufserstes, sofern sie nämlich
ihre Norm in der Vernunft, dem Schönen {xaXov = bonum
honestum) besitzt [Eth. Nie. II, 6. 1107 a. 7. — Ganz im Sinne
des Stagiriten spricht sich der hl. Thomas über die ethische
Tugend aus: Dicendum, quod virtus moralis bonitatem habet ex
regula rationis: pro materia autem habet passiones et operationes:
si ergo comparetur virtus moralis ad rationem, sie secundum id
quod rationis est, habet rationem extremi illius, quod est con-
formitas; excessus vero et tiefectus habent rationem alterius ex-
tremi, quod est difformitas. Si vero consideretur virtus moralis
secundum suam materiam, sie habet rationem medii, in quantum
passionem reducit ad regulam rationis: unde Philosophus didt
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Die sittliche Tagend. 523
in 2 £th.: Virtns secandam substantiam medietas est, in qnantnm
regala yirtntis ponitur circa propriam materiam: secundum Opti-
mum autem et bonom est extremitas, scilioet secundum confor-
mitatem rationis. S. Th. 1. 2. qu. 64 art. 1 ad 1.]
Würde Aristoteles das Zuwenig und Zuviel, zwischen denen
sich die Tugend als Mitte bewege, in jenem mechanischen Sinne,
den man ihm wohl zur Last gelegt hat, verstanden haben, so
würde sich die Absurdität ergeben, dafs z. B. der Ehebrecher
als tugendhaft zu bezeichnen wäre, so lange er im Ehebrechen
MaTs hielte. Das Mafs der Tugend ist vielmehr das der Ver-
nunft, nicht der subjektiven, im Sinne Kants und der Anhänger
der „autonomen'', subjektivistischen Moral, sondern die objektive,
die durch das Objekt bestimmte innere Güte und VerDunftgemäfH-
heit der Handlung; die richtige Mitte ist daher eine mora-
lische, nicht eine mechanische, das heifst nach dem Verhältnis
zum Schönen, zum Gute der Vernunft bestimmt^)
Tapfer z. B. ist nicht derjenige, der sein Leben weder zu
viel, noch zu wenig aufs Spiel setzt, sondern derjenige, der es
um des Schönen, des seiner selbst willen zu Achtenden und zu
Liebenden thut.^)
Die Sache, das Ziel, die Norm der Vernunft sind es, die
den Begriff des Tugendhaften wesentlich bestimmen^) und daher
auch, soweit die Tugend ihren Sitz in den nicht an sich ver-
nünftigen, wohl aber der Vernunft empfänglichen Vermögen hat,
diesen ihr Gepräge, nämlich das des Mafsvollen, von jeder Aus-
schweifung nach rechts und links, von den Fluktuationen des
materiellen Daseins in schlaffem Zurückweichen und übermütigem
Aufschäumen sich ferne Haltenden aufdrückt. Das Unbeständige,
Veränderliche, des Mafses Entbehrende, zwischen Gegensätzen
Schwankende, und zugleich des Mafses Bedürftige hat aber seinen
1) *Ev (ABaoxtiTi ovaa ry nQoq ^/Jiäg, dpiafzivtj (forte wQiOfihy
Bonitz) Xoyt^ xal wq &v 6 tpQOvtfjLoq o^iastsv, Eth. Nie. IL 6. 1106. b. 36.
•) *0 fihv ovv a 6eX xal ov Svexa vnofiivwv xal g>oßovfievoq xal
<iq M xal avs, 6/ioiwq 6h xal ^f^ätv, dv^pfioq, L. c. 8, 10. 1116. b. 17.
Ol fihv ovv dvÖQeXoi 6ia xb xaXov ngavxovai. Ib. 8, 11. 1116. b. 80.
•) *H xvQia d()exti ov ylverai ävsv ^povi^osfoq; ov fxovov xaxa rhv
OQ^ov löyov, dk).& xal fXBxa xov o^d^ov koyov. Eth. Magn. 2, 3. 1200 a. 4.
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524 Die Lehre des hl. Thomas u. s. Schale vom Prinzip d. Individaation.
Grand in der Materie; denn, wie Nikolaus von CnBa sagt, wegen
der darin überwiegenden materiellen Möglichkeit befindet sich
alles Sinnliche in einem beständigen Schwanken. [De docta igno^
rantia 1. 1. c. 11.]
Aus ihr stammt demnach das Mechanische und Mathema-
tische im Begriff der ethischen Tugend als der Mitte zweier
Extreme. Nur ein unnatürlicher Dualismus, der Greist und Ma-
terie, Seele und Leib als zwei vollkommene Substanzen neben
einander bestehen und in eine rein äufserliche Verbindung treten
läfst, kann das „Mechanische'^ in dem erklärten Sinne aus dem
Begriff der sittlichen Tugend streichen wollen.
Wenn wir unsere Ansicht von der Materie in einem kurzen
und endgiltigen Ausdruck zusammenfassen sollen, so scheint uns
denjenigen, die nicht blofs bei den Erscheinungen stehen bleiben
und mit dem B.echnen, Wägen und Messen, wozu der Atomismus
der empirischen Disziplinen allenfalls ausreichen mag, sich be-
gnügen, sondern den Erscheinungen auf den Grund gehen und
das Seiende auch „verstehen*' wollen, nur ein zweifacher Weg^
sich zu eröffnen: entweder diese vor den Sinnen in Raum und
Zeit sich ausbreitende Erscheinungswelt mit allen ihren Un Voll-
kommenheiten als ein trügerisches Spiel der „Maja'S als einen
subjektiven Schein, den sie dann irgendwie, so gut es eben geht^
erklären mögen, zu betrachten, und das Wesen der Materie in
die Negation und Privation zu setzen; oder in den Körpern einen
Realgrund der Wandelbarkeit und relativen Nichtintelligibilität
anzunehmen, der begrifflich nicht anders als im Sinne des Ari-
stoteles und des hl. Augustin gefafst werden kann, nämlich als
ein zwischen der Wirklichkeit und dem Nichts schwebendes
Sein: ein Begriff, der selbst unwandelbar ist, und wie wir
wenigstens nicht zweifeln, eine Periode überdauern wird, in
welcher untergeordnete wissenschaftliche Standpunkte eine un-
gerechtfertigte Herrschaft über die Königin der natürlichen
Wissenschaften, die Metaphysik, sich angemafst haben, eine Herr-
schaft, die früher oder später gestürzt werden wird und mufs,
weil sie gegen die Natur der Dinge ist. Denn die Herrschaft
gebührt nicht den Sinnen, sondern der Vernunft.
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^f#$$$$$$$^r$$^r$$$t$$
DER AKT IST FRÜHER ALS DIE POTENZ.
EIN WICHTIGES PRINZIP DER ARISTOTELISCH-
THOMISTISCHEN PHILOSOPHIE.
ABHANDLDNa ÜBER DIE BEDEUTUNG DESSELBEN.
Von Kanonikus NIKOLAUS KAUFMANN,
PHOF. DBB PHILOSOPHIE AM LTCISUM IN LÜZEBN, XITOUKD DER BT. THOMAS-
AKADEMIE DASELBST.
Lu'm wahres philosophisches System ist vergleichbar einem
großartigen Kunstwerk der Architektur. Wie z. £. ein gotischer
Dom, auf ein sicheres Fundament und auf die Strebepfeiler ge-
stützt, als herrliches Denkmal menschlicher Kunst sich erhebt,
so steht jenes System, auf feste Prinzipien gegründet, als präch-
tiges Monument menschlichen Denkens vor uns da. Was das
Fundament und die Strebepfeiler fiir den gotischen Dom, das
sind die Grundsätze für die philosophische Wissenschaft. Ist
die Grundlage schwach, so stürzt der Bau zusammen; sind die
Prinzipien nicht sicher, mit Gewifsheit festgestellt, so wird sich
ein System vor dem Forum der Wahrheit nicht halten können.
Ein auf solides Fundament gegründeter Bau dagegen trotzt den
Unbilden der Witterung, er dauert Jahrhunderte hindurch, während
so manches Irdische schnell vergeht. Ähnlich besteht dauerhaft
ein auf wahre Grundsätze aufgebautes philosophisches Lehr-
gebäude, trotz aller Angriffe der Gegner, trotz allem Wechsel
und Schwanken menschlicher Meinungen. — Einem herrlichen
gotischen Dom aus dem 13. Jahrhundert vergleichbar ragt das
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528 Der Akt ist früher als die Potenz.
System des hl. Thomas von Aquin in unsere Zeit hinein.
Der sog. Humanismus unternahm einen erbitterten Kampf gegen
die Scholastik; ebenso der neuere Pantheismus, Matenalismus etc.
Aber während Systeme sich im bunten Wechsel folgten, während
80 manche Lehre, die sich pompös angekündet hatte, schnell
wieder vom Schauplatz verschwand, hat die Lehre des hl. Thomas
alle Stürme überdauert; sie findet gerade in der Gegenwart
wieder erneute Anerkennung.
Der grofse Vorzug der thomistischen Lehre ist nun beson-
ders in ihren Prinzipien zu suchen. Der grofse Förderer der
Wissenschaft, Se. Heiligkeit Papst Leo XIIL, spricht sich in
seiner herrlichen Encyklika „Aeterni Patris'' folgendermafsen dar-
über aus: „Illud etiam accedit, quod philosophicas conclusiones
angelicus Doctor speculatus est in rerum rationibus et prin-
cipiis, quae quam latissime patent, et infinitarum
fere veritatum semina suo velut gremio conclu-
dunt, posterioribus magistris opportune tempore
et uberrimo cum fructu aperienda. Quam philosophandi
rationem cum in erroribus refutandis pariter adhibuerit, illad
a se ipse impetravit, ut et superiorum temporum errores omnes
unus debellarit et ad profligandos, qui perpetua vice
in posterum exorituri sunt, arma invictissima sup-
peditarif — Der Abfall von diesen Grundsätzen hat sich
an gewissen Systemen der neueren Philosophie sehr gerächt,
viele Irrtümer herbeigeführt Zeigen wir das an einem Beispiel:
Ein Hauptprinzip des hl. Thomas in der Erkenntnislehre ist der
Satz „cognitum est in cognoscente per modom cognoscentiB."
(vd. de veritate qu. 8. art 3. S. th. L qu. 94. a. 2. I. IL
qu. 5. a. 5. II. IL qu. 23. a. 6. S. cont. Gent IL 98.)i) Die
1) cf. Liber de cnusis § 7. dieses Prinzip ist untergeordnet einem
allgemeineren, welches ebenfalls im L. de causis § 0 and im Syston dee
hl. Thomas de potontia qu. 3. a. 3. obj. 1. S. th. H. H. qu. 23. a. 6. ad 1
sehr verwertet wird: „Quidquid recipitur, per modum recipientis recipitur.''
cf. ,,Die pseudo-aristotelische Schrift über das reine Gute, bekannt unter
dem Namen über de causis*', bearbeitet von Dr. Otto Bardenhewer, Freib.
i. 6. Herder 1882.
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Der Akt ist früher als die Potenz. 521)
Gegenstände gewinnen nach dieser Lehre eine ideale Existenz
im Erkennenden; sie werden in den Erkenntnisbildem des er-
kennenden Subjektes nachgebildet, ohne dafs dieses mit jenen
Objekten real identisch wäre. Die Scholastik erkannte es wohl,
dafs in der Erkenntnis eine Verähnlichung zwischen dem Er-
kannten und dem Erkennenden stattfinden müsse, und sprach
diese Wahrheit in jenem Satze aus. Allein der neuere deutsche
Idealismus von Kant an ging weiter, er verliefs jenen Grundsatz
und stellte im Anschlufs an Cartesius die Lehre auf von der
Identität des Denkens und des Seins. Diese Lehre ist der Grnnd-
irrtum jener Philosophie; dieselbe führte konsequent zu den pan-
theistischen Irrtümern eines Fichte, Schelling, Hegel etc. Hätte
z. B. Hegel jenes Prinzip berücksichtigt und zugleich die Lehre
des hl. Thomas, dafs das Sein dem Endlichen und Unendlichen
nur im analogen Sinne zukomme, so hätte er nie den so irrtums-
Yollen Pantheismus gelehrt.
Soll die Philosophie gedeihen, so mufs sie zu jenen Prin-
zipien zurückkehren. Gerade das ist die Hauptaufgabe der tho-
mistischen Bewegung in der Gegenwart, eine Aufgabe, die ihr
durch die obgenannten Worte des hl. Vaters klar vorgezeichnet
ist. Die St. Thomas- Akademie in Luzem, deren Präsident zu sein
der Verfasser gegenwärtig die Ehre hat, betrachtete es immer
als besonders wichtig, jene Grundsätze zu verteidigen, ihre Frucht-
barkeit nachzuweisen, sie zu verwenden zur Widerlegung mo-
derner Irrtümer. Das ist auch, wie wir aus dem Programm
ersehen, die Hauptaufgabe, welche diese zur Freude aller Ver-
ehrer des hl. Thomas neugegründete Zeitschrift sich gesetzt hat.
„Verständigung über die grofsen philosophischen
Fragen auf dem Boden der aristotelischen Prin-
zipien anzubahnen; die Grundsätze der Lehre des
hl. Thomas von Aquin klar darzulegen/' In Erfüllung
derselben wird das philosophische Jahrbuch nicht nur zum Wohle
der Kirche, sondern auch zum Wohle des Staates arbeiten.
„Rectam solidamque doctrinam propugnantes non modo Eccle-
siae, sed et ipsi socielati civili non leve emolumentnm afferanf'
(Worte aus dem Breve S. S. Leonis XIII. d. 14. Jan. 1882 ad
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530 Der Akt ist früher als die Potenz.
Sodales Acad. S. Thoroae Luceroensis). — Wir wollen nnn, dem
Programm dieser Zeitachriit entsprechend, ein solches Prinsip
behandeln. Dasselbe lautet: „actus (simpliciter) prior quam po-
tentia" S. Theol. I. qu. 3. a. 1. et'. Aristotel. Metaphys. IX, 8:
„jtQOTSQOP kviqrfua övpdfiBoig iOTiv^*.^) Potenz und Akt sind
bekanntlich zwei der wichtigsten Grundbegriffe der aristotelisch-
thomistischen Philosophie, und der aus jenen Begriffen kombinierte
Satz nimmt eine sehr wichtige Stelle in derselben ein. Wir haben
jenes Prinzip auch erwähnt in unserer Arbeit: „Die teleologische
Naturphilosophie des Aristoteles und ihre Bedeutung in der
Gegenwarf 1883. Luzern. Gebr. Räber. Allein wir haben da-
bei einfach auf Met. IX, 8 verwiesen, ohne eine nähere Analjrse
jenes Kapitels, sowie der verwandten Ausfuhrungen in Met. V, 11
und IX, 9 zu geben. — In einer Anmerkung haben wir sodann
angedeutet, dafs das in Rede stehende Prinzip sich zur Wider-
legung des Darwinismus verwenden lasse, ohne dieses näher
nachzuweisen. Beides möchten wir in dieser Abhandlung nach-
holen. Dieselbe schliefst sich so organisch an jene Arbeit an,
bietet aber andererseits Neues, die Resultate der seither ge-
machten SpezialStudien über jenen Grundsatz.
Wir wollen L seine Begründung und Verwertung in der
Lehre des Aristoteles und des hl. Thomas nachweisen, sodann
U. daraus die Konsequenzen ziehen, um moderne
Irrtümer, nämlich die pantheistischen und mate-
rialistischen Evolutionstheorieen, speziell den
Darwinismus, zu widerlegen.
I.
A. Zeigen wir zunächst, wie Aristoteles den genannten Satz
in seinem System begründet hat. Eine tiefere Begründung
gibt er in Met. IX, 8; dieses ganze Kapitel handelt ex professo
1) Der Verfasser hat ein anderes Prinzip, „quaolibet res perficitur per
hoc, quod subditur suo superiori** S. Theol. II. 11. qu. 81. a. 7 behandelt
in der Zeitschrift ^^Katholische Schweizer-ßlätter für Wissenschaft, Kanst
und I-*cben.*' 4. Heft. 1886. Luzern. Gebr. Raber.
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Der Akt ist früher als die Potenz. 531
über das Prinzip „xqotsqop hfiQyeia övvä/xecig löTir". Bevor
wir jedoch auf die bezüglichen Erörterungen näher eingehen^
wollen wir zunächst die Begriffe betrachten^ aus welchen jener
Satz gebildet ist
1. Die Begriffe hiQyeia und ävvafug betreffend beschränken
wir uns auf folgende Bemerkungen: Verwandt mit dem Aus-
druck iviQYBia ist die Bezeichnung IvreXixsia. Der Stagirite
gebraucht auch die Bezeichnung ivrsXix^ia jtQcixrj, so z. B. in
der Definition der Seele als Wesensform des Körpers „y)vxfj
icritf ivreXixBia ^ JtQcorr] Ocifiarog gyvCixov öwaiiei ^a)fjv
ixovTog'^ (de anima 11^ 1). Wir gewinnen den Eindruck, dafs
Ar. bezüglich der ivreXixBia unterscheidet zwischen der kpreXi-
Xsia XQcirr] (actus primns), der vollendeten Wirklichkeit eines
Dinges, und der ivigyeia (actus secundus), der aus dieser W^irk-
lichkeit hervorgehenden Thätigkeit. Jedoch hält Ar. nicht streng
an dieser Unterscheidung fest, sondern gebraucht die Ausdrücke
ivrsXixBia und hviQyBia meistenteils gleichbedeutend, auch im
erstgenannten Sinne. So können wir den Ausdruck iviQysia
bald mit „Wirklichkeit", bald mit „Thätigkeit" übersetzen, (cf.
Schwegler, Kommentar zu Metaphys. XI, 9. S. 221 ff.) Wir
werden jedoch gewöhnlich den Ausdruck „Akt" gebrauchen, so-
wohl in der einen, als in der anderen Bedeutung. — Der ter-
minus ävvafjitg (potentia) kann bald mit „Möglichkeit" (potentia
passiva), bald mit „Vermögen" (potentia activa), „Kraft" über-
tragen werden. In ersterer Beziehung jedoch nicht nur im Sinne
einer blofs logischen, sondern realen Potenz. Durch die Lehre
von der realen Potenz hat Ar. den Pantheismus der Eleaten
überwunden. Vergl. über die hohe Bedeutung derselben die
Abhandlung von Dr. Glossner im Jahresbericht der philosophi-
schen Sektion der Görres-Gesellschaft, 1883: „Die objektive Be-
deutung des aristotelischen Begriffes der realen Möglichkeit."
Wir werden gewöhnlich den Ausdruck „Potenz" gebrauchen. —
Die Begriffe Möglichkeit und Wirklichkeit, Potenz und Akt können
wir übrigens am besten verstehen, wenn wir die Lehre vom
AVerden betrachten. Das Werden vollzieht sich, wie Ar. z. B.
in der Metaphysik ausführt, in Gegensätzen „aus etwas zu etwas".
Jahrbnch für Philosophie etc. I. 37
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«')32 Der Akt ist früher als die Potenz.
Dazu ist vorausgesetzt, a) das, woraus etwas wird, ein Substrat,
b) das, wozu etwas wird, das bestimmende Prinzip. Jenes nennt
der Stagirite vXt], Materie, letzteres elöog, Form. Der Materie
kommt nur die Möglichkeit zu, etwas zu werden. Zu einem be-
stimmten Sein wird sie erst durch die Wesensform, welche Wirk-
lichkeit ist {kvTsXixsia ütQoirrj), z. B.: Der Keim der Pflanze
besitzt erst die reale Möglichkeit, eine Pflanze zu werden. In
der vollständig entwickelten Pflanze ist diese Möglichkeit in die
Wirklichkeit übergegangen, in derselben ist die Materie durch
die vollkommene Wesensform bestimmt. So verhalten sich die
zwei Prinzipien des Werdens, Materie und Form, wie Möglich-
keit und Wirklichkeit, Potenz und Akt
Den Begrifif jiqotsqov erörtert Ar. eingehend in Met. V, 11.
„Einiges wird früher oder später genannt, sofern es in jedem
Gebiete des Seins ein Erstes und einen Anfang gibt. Früher
nämlich ist, was einem bestimmten Anfang näher
steht, mag nun dieser schlechthin und durch die !Natur, oder
relativ oder örtlich oder beliebig durch etwas bestimmt sein.''
To lyyvxBQOV ccqx^Q rivog wQiö/divrjg, i} ajtXSg xal r^ gjvCsi,
f} jcQog rl rj Jtov 7/ vjto tlv(x>v. Der Stagirite unterscheidet so-
dann verschiedene Weisen des „Früher", a) xcfxä toxov, dem
Orte nach früher ist das, was einem entweder von Natur (gwöw),
wie z. B. Mitte und Ende, oder zufallig {ptQog xö xvxov) be-
stimmten Orte näher steht; das Entferntere dagegen ist später,
b) Anderes ist früher der Zeit nach (xaxä XQOVOv). Hin-
sichtlich der Vergangenheit ist das vom Jetzt Entferntere früher,
z. B. die trojanischen Kriege früher als die modischen. Hinsicht-
lich der Zukunft wird das früher genannt, was dem Jetzt näher
Hegt, sofern wir nämlich das Jetzt als Erstes und als Anfang
setzen, c) Anderes ist früher der Bewegung nach (xara
xlvt]öip). Dasjenige ist früher, was dem ersten Bewegenden
näher steht. Auch dieser Anfang ist schlechthin Anfang, d) xarä
övva/iiv, dem Vermögen nach. „Und zwar ist das Frühere das
dem Vermögen nach Überwiegende und Mächtigere: ein solches
ist aber dasjenige, von dessen Vorsatz {jcQoalQsCtg) ein Anderes,
und zwar das Spätere in der Art notwendig abhängig ist, dafs
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Der Akt ist früher als die Potenz. 533
•es nicht bewegt ist, wenn daB Entere nicht bewegt und bewegt
ist, wenn dasselbe bewegt. Hier ist der Vorsatz Anfang.^' e) An-
deres wird der Ordnung nach früher genannt, xara rd^iv.
,,Dasjenige, was von einem Bestimmten nach einem gewissen
Verhältnisse absteht, so ist der Nebenmann früher als der Dritte
in der Reihe/' f) Anderes wird der Erkenntnis nach (yvcioei)
früher genannt, und zwar als schlechthin (ct^XtSg) Früheres.^)
„Allein es ist bei diesem Erüheren das dem Begriff {xazä tov
Xoyov) und das der Sinneswahrnehmung (xaxä r^v ala&rjCiv)
Frühere zu unterscheiden. Begrifflich ist das Allgemeine früher,
für die sinnliche Erkenntnis das Einzelne. Dem Begriffe nach
ist auch die Eigenschaft früher als das Ganze, z. B. das Ge-
bildete früher als der gebildete Mensch; denn der Begriff ist
nicht vollständig ohne den Teil. Obwohl freilich andererseits
das Gebildete nicht sein kann ohne ein Subjekt, das gebildet
ist'', d. h. die allgemeinen Merkmale sind als die den Begriff
^) Hier sei etwas bemerkt über den Ausdruck anXcSg, Die Bezeich-
nung yjinXwg xal rj ^aei^* wird im Eingang dieses Kap. gegenübergestellt
dem „tj TiQoq ti rj vno zivwv". Eine ähnliche Gegenüberstellung finden
wir IX, 8. Dort unterscheidet er das schlechthiD, der Natur nach Ver-
gängliche {anXwg 6h to xax* ovalav), von dem xazd zi Vergänglichen, was
in gewisser Beziehung korruptibel ist, z. B. dem Ort, der Quantität oder
Qualität nach. Aus dem können wir schliefsen: anXwg, schlechthin, an
und für sich, absolut früher ist das, was der Natur, dem Wesen nach
früher ist. Nun zeigt Ar. IX, 8, dafs der Akt dem Wesen nach früher
ist als die Potenz. So darf ganz im aristotelischen Sinne gei^agt worden:
„Der Akt ist schlechthin früher als die Potenz**, obschon der Stagirite in
der Formulierung dieses Prinzips IX, 8 das anXmq nicht ausdrücklich bei-
fügt. Z. B. in gewisser Beziehimg, was das Werden numeiisob ein und
desselben Dinges betrifft, geht der Zeit nach die Potenz dem Akt vorher;
so ist der Same vor der Pflanze. Aber vor dem Samen ist die vöUent-
wickelte Pflanze, von der jener stammt. So geht an und für sich, dem
Wesen nach, absolut, abgesehen von jenem accidentelien Umstände, der Akt
der Potenz voraus. — Femer: Ar. hebt oben hervor, dafs das der Bewe-
gung und Erkenntnis nach Frühere änXwq früher ist. Nun zeigt er IX, 8
u. 9., dafs der Akt der Bewegung und Erkenntnis nach früher ist als die
Potenz, ergo. — Die Scholastiker fügten das simpliciter {anXiög im Unter-
schiede zu secundum quid seaza zi) bei Nennung des Prinzips ausdrticklicli
bei, z. B. S. Thomas, vd. unten.
37»
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534 Der Akt ist früher als die Potenz.
bildenden Momente früher als der aus ihnen gebildete einzelne
Begriff, g) Femer werden früher genannt die Eigenschaften
des Früheren (rcov ^goti^v xädt^). So ist die Geradheit
früher als die Glätte, weil die erstere eine grundwesentliche
Eigenschaft der Linie, die letztere eine solche Eigenschaft der
Fläche ist. h) Der 1^ a tur und dem Wesen nach (xarä g>vöcr
xai ovclav) früher ist dasjenige, was ohne ein Anderes sein
kann, während nicht umgekehrt das Letztere ohne das Erstere —
eine Unterscheidung, der sich Flato bediente. Da aber das Sein
vielartig ist, so ist zuerst das Subjekt (ro vxoxelfisvov) und
die Einzelsubstanz (7} ovOia cf. Met. VIL). i) Endlich erörtert
Ar. die Begriffe „früher'' und „später'' noch in Bezug auf Potenz
und Akt. „Das Eine ist nämlich der Möglichkeit nach, das Andere
der Wirklichkeit nach früher. Potentiell ist z. B. die halbe Linie
finiher als die ganze, der Teil früher als das Ganze, die Materie
früher als das Einzelding, in Wirklichkeit aber später, denn erst
w^enn das je zuletzt Genannte sich auflöst, gelangt das Andere
zur Wirklichkeit. In gewisser Weise läfst sich alles
was man früher und später nennt, auf diesen Unter
schied der Möglichkeit und Wirklichkeit zurück-
führen."
2. Betrachten wir nun nach diesen Begriffsbestimmungen die
Erörterung in Met. IX, 8. Gleich im Eingang bemerkt Ar. mit
Hinweis auf das im Met, V, 11 Gesagte: „Aus dem, was schon oben
über die verschiedenen Bedeutungen des „Früher" gesagt worden
ist, ergibt sich, dafs der Akt früher ist als die Potenz." Sodann
präzisiert er diese Thesis näher dahin : „Früher nun als die Potenz
ist der Akt dem Begriffe, wie dem Wesen nach; der Zeit
nach ist er es in gewisser Beziehung, in gewisser Beziehung nicht'*
jtQOTSQa köTiv fi Ivlgyeia xai Xoyw xai ry ovöla, XQ^^'^ ^ ^^^'
fisp cSc, eöTi ä' cog ov, a) „Dafs er dem Begriffe nach früher
ist, ist klar: denn das Potentielle ist nur dadurch potentiell, dafs
es aktuell sein kann: ich nenne z. B. baukundig denjenigen, der
zu bauen, sehfähig denjenigen, der zu sehen, sichtbar dasjenige,
was gesehen zu werden vermag. Dieselbe Bewandtnis hat es
mit dem Übrigen, und es ist somit notwendigerweise der Begriff
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Der Akt ist früher als die Potenz. 535
und die Erkenntnis des Aktuellen früher, als der Begriff und
die Erkenntnis des Potentiellen, b) Der Zeit nach früher ist
das Aktuelle, sofern es vorher thätig ist, um ein der Wesens-
form {t(p bXöh, spezifisch), aber nicht der Zahl nach {aQi&fjiw,
numerisch) Identisches (ro avro) hervorzubringen. Ich meine
dieses so : Früher als dieser bestimmte Mensch, der schon aktuell
vorhanden ist, oder als dieses Getreide und dieser Sehende ist
der Zeit nach die Materie und die Sonne und das Sehvermögen,
welche zwar potentiell Mensch, Getreide und Sehendes sind,
jedoch noch nicht aktuell. Aber früher wieder als dieses Mög-
liche ist der Zeit nach ein anderes Wirkliches, woraus das
Potentielle geworden ist: denn aus dem Potentiellen wird das
Aktuelle immer vermittelst eines Aktuellen: so wird der Mensch
aus dem Menschen, der Gebildete durch einen Gebildeten —
immer infolge eines ersten Bewegenden. Das Bewegende aber
ist schon aktuell.''
c) Nachdem der Stagirite so nachgewiesen hat, dafs die
Wirklichkeit der Möglichkeit in Beziehung auf die Zeit und, wie
er beiiugt, dem Werden nach vorausgeht (xarä yivBöiv xai
XQOvov), zeigt er, dafs der Akt der Potenz auch dem Wesen
nach (ovola) vorhergeht. Den Gedankengang der bezüglichen
etwas diffizilen Argumentation hebt der hl. Thomas von Aquin
in seinem Kommentar zu Met. IX, Lekt. 4 (ed. Yives) S. 84
sehr klar und übersichtlich hervor: „Postquam Philosophus osten-
dit, quod actus est prior potentia ratione et tempore quodam-
modo, hie ostendit, quod sit prior secundum substantiam: quod
est superius tertio propositum. Et dividitur in partes duas. In
prima ostendit propositum rationibus sumptis ex bis, quae quando-
que sunt in potentia, quandoque in actu; in secunda vero per
comparationem sempitemorum, quae semper sunt actu, ad mobilia,
quae quandoque sunt in potentia, quandoque in actu, ibi „At
vero magis proprie''. Et quia esse prius secundum substantiam
est esse prius perfectione, perfectio autem attribuitur
duabus cansis, scilicet formae et fini; ideo duabus rationibus
in parte prima utitur ad propositum ostendendum. Quarum prima
sumitur ex parte formae. Secunda ex parte finis, qnae ponitur
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536 Der Akt ist früher als die Potenz.
ibi : „Et quia omne ad prinoipiam vadif Dicit ergo primo qaod
non solnm actus est prior potentia et ratione et tempore ,,Bed
snbBtantia*' id est perfectione. Nomine enim sabstantiae
Gonsuevit forma Bignifioari, per quam aliquid est
perfectum/' Grehen wir nun nach dieser Übersicht auf die
einzelnen Argumente ein, und zwar zunächst auf diejenigen, welche
sich auf das Vergängliche beziehen. Das auf die Wesens-
form (forma) bezügliche lautet: ,,Das dem Werden (r^ yspicei}
nach Spätere ist früher der Form nach (reo elÖBi, forma sub-
stantialis, Wesensform) und der Wesenheit nach (or<J/a), wie der
Mann früher als der Knabe und der Mensch früher als der Same.
Denn das Eine hat schon die Wesensform, das Andere nicht'^
Thomas bemerkt hierzu im unmittelbaren Anschlufs an die oben
citierte Stelle: „Et hoc quidem primum apparet tali ratione: quia
ea, quae sunt posteriora in generatione, sunt „priora secundum
substantiam^' id est ,,perfectione'', quia generatio semper procedit
ab imperfecto ad perfectum, sicut vir est posterior generatione
quam puer, nam ex puero fit vir, et homo posterius generatione
quam Sperma. Et hoc ideo, quia vir et homo jam habent speciem
perfectam, puer autem et sperma nondum. Cum igitur in eodem
secundum numerum actus generatione et tempore sit posterior
potentia, ut ex superioribus patet, sequitur quod actus sit prior
potentia substantia et ratione." (Vergl. was oben in Betreff der
Identifizierung des Aktes mit der Form gesagt wurde.) Zur
gröfseren Klarheit dürften noch folgende Bemerkungen dienen:
Wenn auch Ar. hier nicht, wie im folgenden Argument, den
Begriff „Prinzip, agx^" ausdrücklich erwähnt, so ist doch diese
Stelle nur mit diesem Begriff verständlich. Die vollentwickelte
Wesensform z. B. des Mannes ist als das Vollkommene Prinzip.
Denn je nach Annäherung an dieselbe wird das im Werden Be-
griffene weniger oder mehr vollkommen genannt Da nun das-
jenige früher ist, was einem Prinzip näher steht und das Prinzip
das Früheste, das Erste ist, so ergibt sich die Priorität des
Aktes aus einem neuen Gesichtspunkt: Der Akt ist als Wesens^
form der Vollkommenheit nach früher als die Potenz.
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Der Akt ist früher als die Potenz. 537
Betrachten wir nun die teleologisch so wichtige Ausrührung
über die Priorität des Aktes als Zweck. (Das Wort ivegysia
^rd im Folgenden teils im Sinne von Thätigkeit genommen,
teils im Sinne von Wesensform, vollendeter Wirklichkeit ivts-
Xix^ia XQoirrj). „Femer weil alles Werdende einem Prinzip und
einem Zweck zustrebt. Denn der Zweck ist Prinzip und des
Zweckes wegen ist das Werden. Zweck aber ist der Akt und
dieses wegen hat man die Potenz.'^ xal ort ajtap hjt agxfjp
ßa6lC,6i ro yiyvofievov xal riXog. agxn Y^lq to ov ivexa, rov
riXavq d* ^vsxa rj yipeaig' riXog 6^ fi hiQysia xal xovrov
XaQiv fj Svvaiiiq Xafißdptcai. ,,Denn nicht um das Sehvermögen
zu besitzen, sehen die lebendigen Wesen, sondern um zu sehen,
besitzen sie das Sehvermögen.'' Thomas bemerkt hierzu: „Dicit
ergo primo, quod omne quod fit vadens ad finem, vadit ad quod-
dam principium. Nam finis, cujus causa fit aliquid, est quoddam
principium. Est enim prius in intentione agentis, quia ejus
causa fit generatio. Sed actus est finis poteniiae: ergo actus
est prior potentia, et principium quoddam ejus.'' Thomas hebt
hier ganz im Sinne des Stagiriten die ideelle Priorität des
Zweckes hervor, cf. Met. XII, 6; de anima III, 4; de part.
an. I, 1, wo er nachweist, dafs der Zweck als Begriff der
Anfang ist in Natur und Kunst; ferner ibid. II, 1, wo er zeigt,
dafs das, was der Entstehung nach das Letzte ist, nämlich der
erreichte Zweck, dem Begriffe resp. der Absicht nach das Erste
bildet. So wird rücksichtlich des Zweckes das Letzte zum Ersten
(finis est primum in intentione et ultimum in executione). Seh wegler
bemerkt in seinem Kommentar S. 179 zum genannten Argument:
„Der Mittelbegriff dieses Schlusses ist agx^ ' ro ziXog (^ kviif-
yBia) ist aQXTj (Prinzip) des Werdenden oder Potentiellen: nun
ist aber die aQxfl immer das Früheste oder Erste: folglich ist
die kviqrfBia als aQx^l früher als das im Werden Begriffene oder
die &6vafjiig,'^ — An das genannte Argument, in welchem iveo-
ysia offenbar aus den angeführten Beispielen zu schliefsen, im
Sinne von Thätigkeit und &vvafiig im Sinne von Vermögen
(potentia activa) genommen ist, schliefst Ar. ein anderes an, in
welchem die kviqr/Bia mit der Wesensform {kvxeXixua J(Q(6t7j)
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538 Der Akt ist früher als die Potenz.
und als solche mit dem Zweck des Werdens identifiziert wird,
während die Materie als potentia passiva gedacht wird. Im
übrigen ist das Argument gleichartig wie das vorhin genannte.
„Ferner ist die Materie potenziell, weil sie zur Form hinstrebt,
ist sie aber aktuell, dann besitzt sie die Form.'' sri ^ vif] iöri
övrdfjiei, ort IXd-ot av elg ro elöog ' oxav de y kvsQyela ?} xors
hv T<p ttdu loxlv." Die Wesensform ist der immanente Zweck
eines Dinges, cf. Met. V, 4 „Form und Wesenheit sind das Ziel
des Werdens." Met. V, 24 „riXoq //ev yäg eOrc ?/ f^OQ^^' und
VIII, 4; de generat. an. 1, 1: „Wesenheit und der Zweck sind
dasselbe." cf. Phys. II, 7. In der letzteren Stelle hebt er her-
vor, dafs Form, bewegende Ursache und Zweck oft in eins zu-
sammenfallen, so dafs schliefslich die von Ar. unterschiedenen
vier Ursachen auf Materie und Form reduziert werden, cf. de
anima II, 4.^) — Der Stagirite fiihrt noch andere Argumente
an, um zu zeigen, dafs die ivi^yEta xiXog und als solche das
Prius ist. Jedoch das Angeführte dürfte genügen, um die Sache
klar zu machen.
Betrachten wir nun die Argumentation, in welcher Ar. mit
Hinweis auf das Unvergängliche den Satz begründet, dafs
der Akt der Potenz dem Wesen nach vorausgeht. Der Sinn
des bezüglichen Argumentes ist folgender: Das Ewige, Unver-
gängliche ist aktuell, ohne Beimischung der Potenz und ist
gerade dadurch unvergänglich. Das Korruptible aber schliefst
die Möglichkeit (potentia passiva) zu Entgegengesetztem (Sein
1) Mit dem Satze: Der Akt ist als Zweck früher als die Potenz, ist
der andere Satz verwandt: Das Ganze ist vor dem Teile, siehe z. B.
Polit. I, 2. Das Ganze ist z. B. beim Organismus eben die vollentwickelte
Form und diese ist Zweck. Zwar ist wohl der Entstehung nach der Teil
vor dem Ganzen, aber die Idee des Ganzen, der vollentwickelten Form,
ist vor dem einzelnen Teüe und beherrscht die Entstehung des Dinges.
Zwar entsteht z. B. wohl zuerst dieser, dann jener Teil, bis schliefslich
die ganze Pflanze da ist; aber im Keime derselben ist schon das Ganze
der Anlage, dem Plane nach enthalten; weil die und die Pflanze als End-
resultat werden soll, deshalb nimmt die Entwicklang den und den Verlauf;
die vollentwickelte Form als Zweck ist ideell vor der Ausbildung des ein-
zelnen Teiles da und beherrscht die Entwicklung.
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Der Akt ist früher als die Potenz. 539
nnd Nichtsein) in sich and ist dadurch vergänglich, sei es schlecht-
hin, dem Wesen nach (äxXcog de ro xax ovclav) oder bezie-
hungsweise (xora Tt)\ nämlich dem Ort, der Qnantität oder
Qualität nach. Nun ist aber das Ewige dem Wesen nach früher
als das Vergängliche. Also ist der Akt vor der Potenz. Thomas
bemerkt hierzn: „Sempiterna comparantur ad corruptibilia sicut
actus ad potentiam. Nam sempiterna, inqaantum hnjnsmodi, non
sunt in potentia; corruptibilia vero, inquantum hujusmodi, in po-
tentia sunt Sed sempiterna sunt priora corruptibi]ibus substantia
et perfectione, hoc enim manifestum est. Ergo actus est prior
substantia et perfectione/' — Ar. hebt bei dieser Argumentation
noch besonders hervor, dafs der Akt bedeutender, vorzüglicher
(xvQicot^Qfoq) ist als die Potenz. Das Unvergängliche ist offenbar
vorzüglicher als das Vergängliche. Nun verhalten sich beide
wie reiner Akt zur Potenz. Also hat insofern der Akt höhere
Bedeutung. Durch diese Bemerkung leitet Ar. über zum folgen-
den 9. Kapitel, in welchem er den genannten Satz nach anderen
Gesichtspunkten auch bezüglich des Vergänglichen eingehend
begründet.
„Dafs aber der Akt auch besser und schätzenswerter ist als
eine tüchtige Potenz, geht aus Folgendem klar hervor, ozi 6e
xäi ßeXrlcov xa\ rifiKDriga rrjg OJtovöalag 6vvdiisa>g ^ iviqyHa
bx rävÖB dfjXov, Im Gebiet des Potentiellen trägt ein und das-
selbe die Möglichkeit in sich zum Entgegengesetzten, z. B. dem-
selben, von dem die Möglichkeit, gesund zu sein, ausgesagt wird,
wird auch die Möglichkeit, krank zu sein, zugeschrieben. Denn
ein und dieselbe Möglichkeit geht auf das Gesund- und Krank-
sein, auf das Ruhen und Sichbewegen, das Bauen- und Nieder-
reifsen, das Gebautwerden und Einstürzen. Die Möglichkeit des
Entgegengesetzten ist also zugleich vorhanden, das Entgegen-
gesetzte aber selbst unmöglich. Und auch der Akt kann nicht
zugleich stattfinden, z. B. das Gesund- und Kranksein. Daher
mufs notwendig das Eine von beiden das Gute sein. Bei der
Potenz aber kann ebensogut beides stattfinden, als keines von
beiden. Folglich ist der Akt besser." Der Sinn dieses Argu-
mentes ist folgender: Was nur potentiell gut ist, ist zugleich
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540 Der Akt ist früher als die Potenz.
potenziell bös, z. B. was möglicherweise gesund ist^ kann auch
möglicherweise krank sein. So sind beim Menschen zugleich
beide Möglichkeiten vorhanden. Der Potenz des Guten ist so
die Möglichkeit des Bösen beigemischt. Hingegen was aktuell
gut ist, kann nicht zugleich aktuell krank sein. Das aktuell
Gute enthält also das Gute ohne Beimischung des Bösen. Folg-
lich ist der Akt (des Guten) besser als die Potenz desselben. —
Am Schlüsse des Kap. begründet Ar. den Satz noch von einem
anderen Gesichtspunkte: ,,Die mathematischen Figuren findet man
durch den Akt; nämlich durch Teilung findet man sie. Waren
sie schon geteilt, so wären sie sichtbar: so aber sind sie nur
potentiell darin enthalten . . . (Folgen Beispiele). So ist klar^
dafs man das Potentielle findet, indem man es zur Aktualität
fortführt Und zwar deswegen, weil das Denken Aktualität ist
Aus der Aktualität ergibt sich also die Potenzialität und aus
diesem Grunde erkennt man, indem man thätig ist Denn der
Entstehung nach ist das einzelne Aktuelle später." — In diesem
Argument wird gezeigt, dafs der Akt Erkenntnisgrund für
die Potenz ist Man teilt eine Figur, um ihr geometrisches Wesen
zu erkennen, um zu wissen, was potenziell darin enthalten ist
{6vpäfisi ivvxaQXBi)* Teilen aber ist Aktualisieren. Durch Ak-
tualität also wird das Potenzielle erschlossen, gewissermafsen
produziert (Ig hiqr/elaq tj övvafiig); folglich ist die hfBQysuz
besser als die Potenz, (cf. Schwegler 1. c. S. 184). Thomas
schliefst seinen Kommentar zu diesem Argument folgendermafsen:
Sic igitur concludit Philosophus manifestum esse, quod quando
aliqua reducuntur de potentia in actum, tunc invenitur earum
veritas. Et hujus est, quia intellectus actus est. Et ideo ea
quae intelliguntur oportet esse actu. Propter quod ex actu co-
gnoscitur potentia. Unde facientes aliquid actu cognoscunt, sicut
patet in praedictis descriptionibus. Oportet enim quod in eodem
secundum numerum posterius secundum ordinem generationis et
temporis sit actus quam potentia, ut supra dictum est'' — So
beweist Ar. scharfsinnig die Sätze: Der Akt ist früher als die
Potenz und besser als diese. Daraus ergibt sich nun in streng
logischer Schlufsfolgerung der namentlich in naturphilosophischer
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Der Akt ist früher als die Potenz. 541
Beziehung sehr wichtige Satz: ^^Das Vollkommene ist der
Natur nach früher als das Unvollkommene/' ro yaQ re-
Xbiov JtQOTiQOV xy qyvOBi tov axBXovq. de coelo I, 2.^)
B. Zeigen wir nun nach der Darlegung der tieferen Be-
gründung des in Rede stehenden Prinzips, wie Ar. dasselbe in
seinem System verwertet, welche Konsequenzen er
daraus gezogen hat.
1. Gestützt auf das genannte Prinzip, gibt Ar. als höchsten
Abschlufs seiner Metaphysik einen sehr wichtigen Beweis
für die Existenz Gottes, nämlich den sog. Bewegungs-
beweis. Diesen deutet er an in dem gleichen Kapitel, in welchem
er so eingehend den oben genannten Satz begründet, in Met.
IX, 8: „Der Zeit nach geht immer ein Akt dem anderen voran
bis zum Akt des ewigen ersten Bewegers'^ tov XQ^^^'^ ^^^
XQoXanßavu iviQysia hiQa jtQO krigag %(og r^q rov äel xi-
vavvrog jtQwxcog. Gott, der selbst unbewegte erste Beweger,
ist reine Entelechie ohne Potenz. Der reine Akt ist das
schlechthin Erste, derselbe geht aller Potenzialität und
Aktualität des Beweglichen, Veränderlichen voran, cf.
Met. XI, 9, in welcher Stelle er die Annahme einer unendlichen
Reihe bewegender Ursachen ad absurdum führt, namentlich aber
die sehr eingehenden Erörterungen im XII. Buch der Metaph.
Kap. 6 flf. cf. Phys. VIII, 6. Wir haben den Bewegungsbeweis
des Ar. dargestellt in unserer Arbeit: „Die teleologische Natur-
0 Am Schlüsse dieser Erörterungen über die Art und Weise, wie Ar.
den Satz: „Der Akt ist früher als die Potenz**, begründet, sei noch einiges
bemerkt über deu benutzten Text und die Kommentare. Der griechische
Text ist derjenige der Bekkerschen Ausgabe resp. der £dition der Berliner
Akademie, den Schwegler seiner Ausgabe unverändert zu Grunde legt. Der
Kommentar von Schwegler hat uns namentlich in philologischer Beziehung
gute Dienste geleistet zur Eruierung des Sinnes. Bezüglich der Übertra-
gung haben wir seine Übersetzung zu Bäte gezogen, ohne jedoch derselben
immer zu folgen, wir sind oft davon abgewichen. — Sdir lernten wir be-
sonders bei diesem Anlasse auch den Kommentar des hl. Thomas schätzen.
Der Doctor angelicus versteht es in bewunderungswürdiger Weise, auch in
die dunkelsten Argumente des griechischen Denkers lichtvolle Klarheit zu
bringen.
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542 Der Akt ist frfiher als die Potenz.
Philosophie des Ar.'' 8. 33 ff.^) — Bekanntlich hat sich in
neuerer Zeit eine Streitfrage gebildet über die aristotelische Lehre
vom Verhältnis Gottes, des ersten Bewegers, zur Welt Über
die bezüglichen Kontroversen zwischen Dr. Zeller und Dr. Bren-
tano einerseits, Dr. Stöckl und Dr. Rolfes andererseits haben wir
uns ausgesprochen in einer besonderen Abhandlung: „Veryoll-
kommnung der aristotelischen Naturphilosophie durch den heil.
Thomas von Aquin.^' Kathol. Schweizer-Blätter. Luzem 1885,
Heft 4 u. 5.
2. Wie in den höchsten Fragen der Metaphysik (der ersten
Philosophie), so verwertet Ar. das in Rede stehende Prinzip be-
sonders auch in der Begründung seiner teleologischen Natur-
Philosophie. Namentlich wird jener Satz sehr verwendet in der
teleologisch so wichtigen Schrift über die Teile der Tiere,
jcsqI ^(pcov fiOQlwp. Wir haben in unserer früher genannten
Abhandlung über teleolog. die Naturphilos. des Stagiriten dieses
eingehend gezeigt. Da wir uns zur Aufgabe gesetzt haben, im
zweiten Teil die Darwinsche Theorie speziell auf dem Gebiete
der Zoologie mit Hülfe jenes Priozips zu widerlegen, ist es an-
gezeigt, hier nicht nur einfach auf jene Arbeit zu verweisen,
sondern die hauptsächlichsten Sätze an dieser Stelle ebenfalls
anzuführen. Von besonderer Wichtigkeit ist das erste Buch ge-
nannter Schrift, welches nach neueren Forschungen eine
allgemeine Einleitung in sämtliche naturhistorischen
Schriften enthält, also ursprünglich wohl nicht an dieser
Stelle eingereiht war. In demselben wird, gestützt auf That-
sachen, die Lehre verteidigt, dafs der Akt namentlich
als Zweck früher ist als die Potenz, resp. dafs der
1) Den Begriff Bewegung definiert Ar. in der Metaph. XI, 9: „rr/r
Tov dvvdfxei y rotovrov iativ ivipyeiav" cf. Phys. HI, 1: „ij xov dv-
vdfjtei ovTog ^vreAe/tea, jy zoiovrov, xlvrjalq iativ,*^ cf Phya. V, 1. Ge-
rade aus diesem Beispiele zeigt sich deutlich, dafs der Stagirite, wie froher
bemerkt wurde, die Ausdrücke ^vTsXi/jia und ivspyeia gleichbedeutend
gebraucht, cf. die eingehenden ErörteruDgen über den aristotel. Begriff der
Bewegung in unserer Arbeit: „Der Beweis des bl. Thomas von Aquin für
<lie Existenz eines transcendenten ersten Bewegers der Welt, eine Wider-
legung des modernen Materialismus." Luzem, „Monat-Rosen" 1882.
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Der Akt ist früher als die Potenz. 54ä
Zweck eine ideelle Priorität hat. cf. Met. IX, 8. Führen
wir einzelne ÄuCserungen an. 1. Kap. ,,Zadem da wir in Bezug
auf die natürliche Erzeugung mehrere Ursachen wahrnehmen,
wie die, weshalb etwas ist (den Zweck) und die, woher der An-
fang der Bewegung kommt, mufs in Bezug auf diese bestimmt
werden, welche die erste und welche die zweite ist; als die
erste erscheint aber die, welche wir mit dem Ausdrucke
„Zweck'' bezeichnen; denn diese ist Begriff, der Begriff aber
ist der Anfang sowohl in den Kunstgegenständen als auch in
den Naturgebilden. Hat nämlich durch die Vernunft oder durch
die Wahrnehmung der Arzt die Gesundheit und der Baumeister
das Haus bestimmt, so können sie die Begriffe und die Ursachen
des Einzelnen, was sie thun, angeben und warum es so gemacht
werden soll; noch mehr tritt aber der Zweck und die Schön-
heit in den Werken der Natur hervor als in denen der
Kunsf Ar. weist nach, dafs in der Natur wie in der Kunst
eine Hinordnung von Mitteln zu bestimmten Zwecken stattfindet,
wobei die ideelle Priorität des Zweckes vorhanden ist Von den
Kunsterzeugnissen sagt er: „Zuerst mufs dieses geschehen und
in Bewegung gesetzt werden, sodann jenes, und auf diese Weise
weiter bis zum Ziel oder Zweck, weshalb ein Jedes wird und
ist; auf dieselbe Weise verhält es sich auch mit den Natur-
erzeugnissen . . .'' „Weil nämlich die Gesundheit oder der Mensch
so beschaffen ist, mufs notwendig dieses sein oder geschehen
sein, dagegen mufs nicht, weil dieses ist oder geschah, jenes
notwendig sein oder werden." Femer: „Weil die Gestalt des
Hauses eine solche ist oder weil das Haus so beschaffen, ent-
steht es auch so; denn die Entstehung ist des Wesens
wegen und nicht das Wesen der Entstehung wegen
(;} ycLQ yiviOK; ivexa tTJg ovöiag loxlv, aXi ovx ^/ oiota tvtxa
rfjq YBve08cog)f weshalb Empedocles, wenn er sagt, dafs bei den
Tieren vieles vorhanden sei, weil es der Zufall bei der Ent-
stehung so gewollt habe, und dafs z. B. der Rückgrat sich auf
solche Weise verhalte, weil er beim Werden zufällig gebrochen
sei, nicht richtig spricht. Er verkennt zuerst, dafs der bildende
Same, welcher ein solches Vermögen hat, vorhanden sein müsse.
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544 Der Akt ist früher als die Potenz.
sodann dafs das Erzeugende nicht nur dem Begriffe, son-
dern auch der Zeit nach früher vorhanden war. Denn
der Mensch erzeugt den Menschen, so dafs, weil jener ao be-
schaffen ist, bei diesem die Entstehung so ausfallt'' . . . „Daraus
folgt nan, wenn der Mensch von solcher Beschaffenheit ist, ea
mufs auch notwendig die Entstehung auf diese Weise und so
beschaffen ausfallen. Deshalb entsteht von den Teilen zuerst
dieser und dann jener, und auf diese Weise verhält es sich mit
allen Naturgebilden.'' So betont Ar. mit Entschiedenheit der
einseitig mechanischen Naturerklärung gegenüber, welche die Lehre
von der Zweckursache vernachlässigt, die Teleologie. Jene Natur-
auffassung, welche nur stoffliche und bewegende Ursachen an-
nimmt, sagt: „Weil zufällig oder durch blinde Notwendigkeit das
und das geworden ist, folgt jetzt dieses daraus." Ar. betont aber
die Zweck-, die Zielstrebigkeit: „Weil der und der Zweck
erreicht werden soll, deshalb geschieht dieses und dieses.^' Der
Stagirite bemerkt, dafs ein Zimmermann es besser mache, als
die Vertreter der einseitig mechanischen Naturauffassung: „Denn
er wird sich nicht damit begnügen, zu sagen, dafs dieses hohl,
jenes aber flach wurde, weil das Werkzeug darauf fiel, sondern
auch, weil er einen solchen Hieb führte, und wird die Ursache
sagen, warum, weil nämlich ein der Gestalt nach so und so
Beschaffenes entstehen sollte.^) Ar. findet die Naturforschung
1) Ar. gibt zwar zu, dafs in der Natur auch Zufälle vorkommen.
Er bezeichnet die Materie als Grund des Zufalles {avfißeßrjxoq, t6 and
Tvxijg, T avTOfiaxov). (cf. über diesen Begriff unsere Abhandlung über die
teleolog. Natui-philos. des Ar. S. 22.) Wird aber gefragt, ob etwa die Zweck-
ordnung in der I^atur dadurch entstanden sei, dafs von den zufälligen Er-
zeugnissen gerade nur die lebensfähigen sich erhielten, so antwortet Ar.
Phys. II, 8: „Es ist aber unmöglich, dafs dieses sich so verhalte; denn
dieses und alles in der Natur geschieht entweder immer so oder doch
meistenteils tc5v 6* dnb rvzfjg xal rov aito/zdrov ovSiv" cf. de codo
II, 8. „Es waltet in dem von Natur aus Bestehenden nicht der Zufall, und
was tiberall und allen Dingen zukömmt, ist nicht das Zufällige.'* Femer:
,,ovösv yocQ dg itv'/e noiel rj <pvatg,^^ Wir sehen: Nach Ar. ist die Herr-
schaft der Form über die Materie, das Zweckmäfsige in der Natur, die
allgemeine Kegel; der Zufall ist nur eine Ausnahme von dieser Begel. cf.
de part. an. III, 2.
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Der Akt ist früher als die Potenz. 545
beBonders deshalb so wertvoll, weil auch in den unscheinbarsten
Dingen die Zweckmärsigkeit „etwas Wunderbares sich findet'^
Die Hinordnung der Naturdinge zu bestimmten Zwecken betont
er besonders auch am Schlüsse des Kap. 5 des 1. Buches: ,,Da
aber jedes Werkzeug zu einem Zweck bestimmt ist und auch
jeder einzelne der Körperteile zu einem Zwecke dient, der Zweck
aber eine Thätigkeit ist, so mufs auch der ganze Körper eines
vollendeten Zweckes wegen gebildet sein; denn das Sägen ist
nicht der Säge wegen da, sondern die Säge wegen des Sägens;
denn das Sägen ist irgend eine Nutzanwendung, so daCs auch
der Körper der Seele wegen da ist und die Teile desselben der
Verrichtungen wegen, wozu ein jeder geschaffen ist."
An das erste Buch der Schrift über die Teile der Tiere
schliefst sich nach den neueren Forschungen die Tiergeschichte
an, während das zweite und die folgenden Bücher der Schrift
über die Teile der Tiere der Tiergeschichte folgen. Diese Bücher
«teilen über die in der Tiergeschichte festgestellten Thatsachen
philosophische Keflexionen an, namentlich vom Standpunkte der
Teleologie. Sehr wichtige Grundsätze spricht er aus im IV. Buch:
„Die Natur macht aber die Organe für die Verrichtung, jedoch
nicht die Verrichtung für die Organe" {xä r oqyava JiQog ro
eoyov ri qjvCiq noul, aXi ov ro sgyov JtQOQ rä oQyava), IV, 12.
Er illustriert das durch folgende Beispiele: „Es sind unter den
Vögeln auch manche langbeinige, zwar deshalb, weil sie in
Sümpfen leben . . . weil sie also keine Schwimmvögel sind, sind
sie auch nicht ganzfufsig (d. h. sie haben keine Seh wimmfufse) ;
weil sie aber auf nachgiebigem Boden leben, so sind sie lang-
beinig und langzehig und die Mehrzahl von ihnen hat an den
Zehen mehrere Biegungen." cf. IV, 13: „Die Fische haben aber
keine herabhängende Glieder, weil ihre Beschaffenheit nach
dem Begriffe ihres Wesens zum Schwimmen einge-
richtet ist, da die Natur nichts Überflüssiges und nichts um-
sonst thut." Ar. hat also nicht die Ansicht, als bilde sich erst
allmählich das Organ durch Thätigkeit, durch Anpassung; nein,
das Organ ist von Anfang fertig da und zu seinem Zwecke, zur
Thätigkeit, entsprechend eingerichtet, cf. de generat. an. IV, 1:
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546 Der Akt ist früher als die Potenz.
,,Dic Natar gibt aber einem jeden zugleich das Vermögen {öv-
pa/iiv) und das Werkzeug (oQyavov), weil es so zweckmäfsiger
ist." cf. de respir. cp. 17. „Und die Bildung dßs Gliedes
ist ursprünglich so beschaffen, nicht ein künstlich er-
worbener Zustand" (xal i] xov fiOQiov avöraoig i^ «W7?
roiavTfi^ aXXä fi^ i^ixtyrov xt jtd&og).^)
Ar. verwendet dann den Satz y,actu8 prior quam potentia''
mit dem verwandten „Das Ganze ist vor dem Teile", besondere
auch in der Lehre von der embryonalen Entwicklang des
einzelnen Organismus, vd. de generat. an. II, 4: „Denn auch
bei den Samen der Pflanzen ist deren Anfang in ihnen selbst
vorhanden; sobald dieser nun gesondert worden ist, da er vor-
her nur der Anlage nach darin war, wird von ihm aus das
Stengelchen und die Wurzel entsendet: diese aber ist es, womit
die Pflanze Nahrung nimmt, denn sie bedarf der Zunahme. Ebenso
sind zwar in dem Keime des Tieres gewissermafsen alle
Teile der Anlage nach enthalten, der Anfang aber ist der
Entwicklung am nächsten, und daher wird zuerst das Herz in
Wirklichkeit gesondert." Besonders aber begründet Ar. jene
Sätze durch das Beispiel von dem Ei und der Henne. Wird
gefragt: Welches ist früher, das Ei oder die Henne, antwortet
Ar. nach dem Satze „actus prior quam potentia": Was die Ent-
stehung numerisch ein und desselben Einzelnen betriffii, ist zwar
freilich zunächst das Ei, welches potentiell eine Henne ist Aber
vor jenem Ei ist die Henne, von der das Ei kommt. Von ganz
besonderer Bedeutung ist aber, wie Ar. die obgenannten Sätze
beleuchtet am Beispiele von der Entwicklung des Küchleins
aus dem Hühnerei liist. an. VI, 3. —
So hat der grofse griechische Denker das in Rede stehende
Prinzip eingehend metaphysisch begründet und gezeigt, dafs der
Akt der Potenz dem Begriife, der Zeit und dem Wesen nach
1) Das inlxTtjTov ist dem öx\u(pvxov entgegengesetzt. Das letztere
bedeutet : natürlich, angeboren, was mit der Natur gegeben ist. Das ini-
xTfjTov aber bezeichnet, dafs etwas erst durch Thätigkeit erworben mrd;
deshalb können wir fibersetzen „kfinstlich" im Unterschiede zum Natür-
lichen.
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Der Akt ist früher als die Potenz. 547
vorausgeht, in letzterer Beziehung besonders als intendierter
Zweck. Ferner hat er dasselbe verwertet in seiner Lehre von
Gott, dem ersten Beweger, und in der teleologischen Natur-
philosophie. Jeder Leser hat gewifs den Eindruck gewonnen,
dafs jenes Prinzip im aristotelischen System eine sehr hervor-
ragende Stelle einnimmt.
C. Allein nicht nur der grofse griechische Denker, sondern
in späterer Zeit auch die christlichen Philosophen haben jenes
Prinzip immer festgehalten, namentlich in der Lehre von Gott,
dem Schöpfer und ersten Beweger, der als reiner Akt
(actus purus) vor allen Kreaturen existiert und der
letzte Grund der Möglichkeit und Wirklichkeit alles
Geschaffenen ist. Namentlich hat der Fürst der Scholastik,
der grofse Interpret des Stagiriten, der hl. Thomas von A quin,
nach dem Vorgang des Arist. den genannten Satz in seinem
System sehr verwertet. Wie jener, so verwendet der Aquinate
dasselbe zunächst in seinem Beweis für die Existenz Gottes als
des ersten Bewegers der Welt, vd, S. Th. L qu. IL a. 3.
(Vergl. unsere früher erwähnte Arbeit, in welcher wir dieses
Argument des hl. Thomas eingehend erörtert haben.) Wer diesen
Beweis aufmerksam betrachtet, dem leuchtet sofort ein, dafs die
ganze Argumentation, namentlich die Ausführung über die Haupt-
sätze: „omne quod movetur oportet ab alio moveri'' und „hie non
est procedere in infinitum'' sich durchaus auf den Satz stützt:
„actus prior quam potentia.*' — Im Anschlufs an den Bewegungs-
beweis verwertet Thomas diesen Satz femer S. Th. L qu. III:
„De Dei simplicitate." Art. 1: „Utrum Dens sit corpus." c. a.
„Respondeo dicendum absolute Deum non esse corpus-, quod
tripliciter ostendi potest." — Unter diesen drei Gründen fuhrt er
die zwei folgenden an: „1. Quia nullum corpus movet non motum,
ut patet inducendo per singula. Ostensum est autem supra
(qu. IL a. 3), quod Dens est primum movens immobile. XJnde
manifestum est, quod Dens non est corpus. 2. Quia necesse est
id quod est primum ens, esse in actu, et nuUo modo in potentia.
Licet enim in uno et eodem quod exit de potentia in actum
prior sit tempore potentia quam actus, simpliciter tamen prior
Jahrbuch für Philosophie etc. I. 38
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548 Der Akt ist früher als die Potenz.
est actus quam potentia; quia quod est in potentia non re*
ducitur Id actum, nisi per ens actu. Ostensum est autem supra
(quaest. praec. a. 3), quod Deus est primum ens. Impossibile
est igitur, quod in Deo sit aliquid in potentia. Omne autem
corpus est in potentia, quia continuum inquantum hujusmodi, di-
yisibile est in infinitum. Impossibile est igitur Deum esse corpus.^'
cf. S. cont. Gent. I. cap. 16: ,,Q,uod in Deo non sit potentia
passiva.'' Im vorhergehenden Kap. hat Thomas bewiesen, daTs
Gott ewig ist. Im 16. Kap. schliefst er an diesen Beweis an:
,,Si autem Deus aeternus est, necesse est ipsum non esse in
potentia. Omne enim id, in cujus substantia admisoetur potentia,
secundum id quod habet de potentia, potest non esse; quia quod
potest esse, potest non esse. Deus autem secundum se non potest
non esse, quum sit sempiternus; in Deo igitur non est potentia
ad esse.
Adhuc, quamvis id, quod quandoque est in potentia, quando-
que in actu, prius sit tempore in potentia quam in actu, tarnen
simpliciter actus est prior potentia; quia potentia non
eduoit se in actum, sed oportet quod educatur in actum per ali-
quid quod sit in actu. Omne igitur quod est aliquo modo in
potentia habet aliquid prius se. Deus autem est primum ens et
prima causa ut ex supradictis patet; non igitur habet in se ali-
quid potentiae admixtum.'' — Das Gesagte mag genügen, um
einleuchtend zu machen, dafs der englische Lehrer nicht nur
etwa implicite das in Rede stehende Prinzip verwertet, sondern
es auch ausdrücklich erwähnt und demselben grofsen Wert
beilegt.^)
1) In unserer Aibeit: „Vervollkommnnng der aristotelischen Nata]>
Philosophie durch den hl. Thomas von Aquin" haben wir hervorgehoben,
daÜB Thomas die teleologische Naturphilosophie des Arist. vervollkommnet
hat. vd. den teleologischen Gottesbeweis 8. Th. I. qu. U. a. 3. — Wenn
der Stagirite die ideelle Priorität des Zweckes betont, im Anschlufs an den
Satz : actus prior quam potentia, so gibt Thomas diesem Gedanken die höchste
Vollendung durch die Lehre von den ewigen Ideen Gottes, in welchen
die ganze Zweckordnung der Natur präformiert ist. vd. S. Theol. I. qu. 15.
a. 2.
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Der Akt ist früher aU die Potenz. 549
n.
Betrachten wir die Geschichte der neueren Philosophie, so
erkennen wir, dafs wohl einerseits die Tradition der aristotelisch-
thomistischen Lehre sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat,
dafs aber andererseits auch philosophische Richtungen auftraten,
welche schroff mit jener Überlieferung brachen. Hatte schon
eine einseitige Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert die grofs-
artige Entwicklung der christlichen Philosophie des Mittelalters
ignoriert, ja zu derselben sich in Opposition gestellt, so wichen
gewisse neuere Systeme vollends von der Geistesrichtung der
aristotelisch-scholastischen Philosophie ab. Diese sind einerseits
der Idealismus von Gartesius und Kant an, andererseits der ein-
seitige Empirismus, der sich schliefslich zum krassen Materia-
lismus gestaltete. Indem man die Fühlung mit den grofsartigen
Systemen des Stagiriten und der grofsen Denker des Mittelalters
verlor, kam auch die Kenntnis und Würdigung jenes Prinzips,
das die Grundlage jener bildet, abhanden, des Satzes „actus
simpliciter prior quam potentia". Welches war die Folge davon?
Antwort: Die betreffenden Richtungen verfielen in die
krassen Irrtümer der pantheistischen und materiali-
stischen Evolutionstheorien. Man fiel in jene Irrtümer der
vorsokratischen Philosophie zurück, welche Aristoteles längst
widerlegt hatte. (Pantheismus der Eleaten und einseitig mecha-
nische Naturerklärung des Empedocles und der Atomisten.) Wie
überhaupt der moderne Pantheismus und Materialismus sich sehr
verwandt sind, so ist ihr gemeinsamer Grundirrtum die Lehre,
dafs die Welt ohne Einflufs des Schöpfers und transzendenten ersten
Bewegers durch allmähliche Evolution aus einem zu-
nächst unbestimmten Substrat entstanden sei. Was den
neueren Pantheismus betriiR, existiert z. B. nach Hegel als das
Erste der absolute Begriff. Dieser ist zunächst reines, inhalt-
loses Denken, reines Sein-Nichts. Nun geht er einen dialektischen
Prozefs ein, gewinnt so Inhalt und determiniert sich selbst nach
und nach zu allem Sein und zu allem Denken. — Die letzten
Ausläufer des pantheistischen deutschen Idealismus, die Lehren
88*
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550 Der Akt ist früher als die Potenz.
Schopenhauers (vd. sein Werk: „Die Welt als Wille und Yor-
stellung^') und Eduard v. Harttnann (vd. seine „Philosophie des
Unbewufsten'') schliefsen sich an Hegel an, setzen aber an die
Stelle des absoluten Begriffs den Ur willen. Dieser ist zu-
nächst, so wird gelehrt, etwas rein Potentiales, ein „leeres Wollen",
das dann zum aktuellen Wollen übergeht. So entsteht die Welt
als allmähliche Objektivation des Urwillens. — Der Materialismus
betrachtet als das Erste die an sich unbestimmte, rein potentiale
Materie, als der sich allmählich durch fortschreitende Evolution
der Kosmos entwickelt hat.
Betrachten wir diese Evolutionstheorien, die Grundirr-
tümer unserer Zeit, näher, so zeigt sich deutlich, dafs die-
selben auf einem Satz basieren, welcher der peripatetischen Phi-
losophie kontradiktorisch entgegengesetzt ist, nämlich auf der Be-
hauptung: Die Potenz ist schlechthin vor dem Akc, die
Potenz ist das schlechthin Erste. Nun hat aber Aristo-
teles und im Anschlufs an ihn der hl. Thomas von Aquin, wie
im ersten Teile gezeigt wurde, das entgegengesetzte Prinzip mit
Grewifsheit festgestellt: „Der Akt ist schlechthin früher als die
Potenz; der reine Akt ist das schlechthin Erste.^' Da nun nach
den Regeln der Logik von zwei kontradiktorisch entgegenge-
setzten Sätzen nicht beide wahr, aber auch nicht beide falsch
sein können, die Wahrheit des letztgenannten Prinzips aber
durchaus festgestellt ist, so dürfen wir a priori schliefsen:
Durch dieses Prinzip sind alle modernen pantheisti-
schen und materialistischen Evolutionstheorien zum
vorneherein widerlegt, dieselben fallen als unhaltbar
dahin. So zeigt sich auch in diesem Falle die tiefe Wahrheit
des von Se. Heiligkeit Leo XIIL ausgesprochenen Satzes, dafs
der hl. Thomas unbesiegbare Waffen gegeben habe, um die Irr-
tümer auch späterer Zeiten zu widerlegen.
Doch wollen wir es bezüglich der matenalis tischen Evo-
lutionstheorie, welche gegenwärtig so viele Anhänger hat, nicht
bei dieser aprioristischen Widerlegung bewenden lassen, sondern
auch induktiv a posteriori zeigen, dafs der betreffenden Lehre
gegenüber das aristotelische Prinzip sich als wahr erweist Dieser
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Der Akt ist früher als die Potenz. 551
Grandsatz ist seit Jahrhunderten von den gröfsten Denkern ver-
teidigt worden; es ist im Besitzstande der Wahrheit und bleibt
darin, bis die Gegner induktiv das Gegenteil bewiesen haben.
Dieser Gegenbeweis fehlt aber durchaus. Die einzelnen Lehren,
uuf welche sich jene materialistische Theorie stützt, sind folgende:
1. Die Kant-Laplacesche Theorie; 2. die Lehre von der Urzeugung;
3. die Darwinische Deszendenztheorie. Durch diese Hypothesen
glaubt man die Lehre von einer Schöpfung der Welt überflüssig
gemacht zu haben.
1. Was nun zunächst die Kant-Laplacesche Theorie
betrifil, welche bekanntlich die Entstehung des Sonnensystems,
speziell der Erde aus dem XJrgasball nachzuweisen sucht, so kann
dieselbe nicht erklären, was sie erklären will, ohne Annahme
eines Schöpfers. Sie ist, insofern sie die Lehre von der Schöpfung
ausschliefst, durchaus unhaltbar. Yergl. Gutberlct, Theodicee
S. 88 ff. und 8. 15 ff. An letzterer Stelle fuhrt der in der mo-
dernen Natnrwissenschaft und in der Philosophie sehr bewanderte
Gelehrte, ausgehend z. B. von der Trägheit der Materie, den
Aggregatszuständen u. s. w., durch konsequent logische Schlufs-
folgerung den Beweis, dafs die Materie nicht notwendig und ewig
existiert, sondern von dem absoluten Geist aus nichts geschaffen
ist. — So wenig als die Existenz des Urgasballes ohne Annahme
des Schöpfers, ebensowenig kann die Theorie den Ursprung der
Bewegung desselben, den Anfang der Evolution, befriedigend
erklären ohne Annahme des transzendenten ersten Bewegers.
Dieses haben wir eingehend nachgewiesen in unserer schon er-
wähnten Abhandlung über den Bewegungsbeweis des hl. Thomas.
S. 19 ff. Wir haben in dieser Abhandlung überhaupt gezeigt,
dafs die materialistischen Erklärungsversuche för den Ursprung
der Bewegung unhaltbar sind. W^ir können zwei Arten der-
selben unterscheiden. Die Einen behaupten: Die Bewegung ist
den Atomen der Materie notwendig und ewig. Die Anderen aber
nehmen an, die Materie sei ursprünglich im Zustande der Buhe
gewesen und zufallig später in Bewegung übergegangen. Die
Unhaltbarkeit dieser beiden Theorien gibt uns einer der hervor-
ragendsten Naturforscher der Gegenwart zu, Prof. Dr. Du Bois-
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552 Der Akt ist früher als die Potenz.
EeymoDd. Er verwirft die Annahme eines transzendenten ersten
Bewegers, „eines supernataralistischen Anstofses'*, erklärt dann
aber den Ursprung der Bewegung von diesem Standpunkte aus
als ein ungelöstes und unlösbares Welträtsel. Würde
er einen der obgenannten Erklärungsversuche, die er ohne Zweifel
wohl kennt, als stichhaltig erachten, so hätte er gewifs dieses
Geständnis nicht abgelegt. In seinem Vortrag: „Die sieben
Welträtsel", 1882, bemerkt er 8. 76: „Wir sehen Bewegung
entstehen und vergeben; wir können uns die Materie in Buhe
vorstellen. Die Bewegung erscheint in der Materie als etwas
Zufalliges. Unser Xausalitätsbedürfnis fühlt sich nur befriedigt,
wenn wir uns vor unendlicher Zeit die Materie ruhend und
gleichmäfsig im unendlichen Baume verteilt denken. Da ein
supernaturalistischer Anstofs in unsere Begriffswelt nicht pafst,
fehlt es dann am zureichenden Grunde für die erste
Bewegung. Oder wir stellen uns die Materie als von
Ewigkeit bewegt vor. Dann verzichten wir von vorn-
herein auf Verständnis in diesem Punkte. Diese Schwie-
rigkeit erscheint mir transzendent." — Wir haben in
jener Abhandlung gezeigt, dafs „ein supernaturalistischer Anstofs^'
in ansere Begriffswelt pafst, dafs der aristotelisch-thomistiBche
Bewegungsbeweis die einzig befriedigende Lösung der Frage nach
dem Ursprung der Bewegung ist. Da nun, wie oben gezeigt
wurde, dieser Beweis auf den Satz: „actus simpliciter prior quam
potentia" sich stützt, so ist damit auch gezeigt, dafs derselbe
durchaus im Besitzstande der Wahrheit bleibt, resp. zur Wider-
legung der materialistischen Lehren vom Ursprung der Bewegung
dient. — So ist die Kant-Laplacesche Theorie durchaus unhalt-
bar, wenn sie als materialistische Evolutionstheorie verwertet
wird, um die Lehre von einem Schöpfer und ersten Beweger
auBzuschliefsen. — Jedoch auch an und für sich, naturwissen-
schaftlich betrachtet, ist dieselbe nicht über alle Bedenken er-
haben. Gutberiet bemerkt darüber in seiner Naturphilosophie
S. 132: „Naturwissenschaftlich hat die Hypothese vieles für sich,
aber auch nicht geringe Bedenken gegen sich. Man
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Der Akt ist früher als die Potenz. 553
kommt bereits davon zurück, sie als gesicherte Theorie
hinzustellen/'
2. Noch schlimmer ist es mit der materialistischen Lehre
von der Urzeugung (generatio aequivoca) bestellt, welche lehrt,
die ersten Organismen auf der Erde seien zufällig aus unorga-
nischen Stoffen ohne Einflufs des Schöpfers und ersten Bewegers
entstanden. Eine Urzeugung im Sinne des modernen Materia-
lismus ist, da das Unorganische und Organische wesentlich
verschieden sind, nach dem Xausalitätsgesetz durchaus unmög-
lich. Das Unorganische kann nie adäquate Ursache des Orga-
nischen sein.^) Einzig die Lehre von der Erschaffung der
ersten Organismen ist eine befriedigende Beantwortung der be-
treflfenden Frage. — Der genannten Theorie fehlt auch jede natur-
wissenschaftliche Begründung, da, wie z. B. Pasteur durch seine
interessanten Experimente nachgewiesen hat, kein einziger Fall
einer Urzeugung in der Natur konstatiert werden kann. Vergl.
die sehr interessanten bezüglichen Ausiührnngen von Dr. Gut-
beriet in seiner Naturphilosophie S. 136 ff. cf. seine Abhandlung:
„Über den Ursprung des Lebens** im Jahresbericht der Sektion
(ur Philosophie der Görres-Gesellschaft, 1883.
3. Endlich sucht die materialistische Evolutionstheorie die
Entstehung der verschiedenen Arten der organischen Welt, den
Menschen inbegriffen, mit Hülfe des Darwinismus so zu er-
klären, dafs die Lehre von einem Schöpfer ausgeschlossen wird.
Die ganze Formenmannigfaltigkeit der organischen Welt, so wird
gelehrt, ist durch allmähliche Transmutation im Kampf ums Dasein
aus wenigen Urorganismen, vielleicht aus einer einzigen Urform
entstanden. Zwar hat Darwin ursprunglich in seinem Werke:
„Die Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzenreich durch
natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen
im Kampfe ums Dasein** den Schöpfer nicht durchaus geleugnet,
wie dieses von Seite jener geschieht, welche seine Theorie im
*) Freüich haben Aristoteles, der hl. Augustinus und der hl. Thomas
von Aquin auch eine Art generatio aequivoca angenommen, aber durchaus
nicht im Sinne des modernen Materialismus.
Digiti
zedby Google ^
554 Der Akt ist früher als die Potenz.
Sinne des Materialismus resp. Atheismus ausbeuteten und noch
ausbeuten. Er bemerkt im genannten Werke : „Es ist wahrlich
eine grofsartige Ansicht, dafs der Schöpfer den Keim alles
Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder auch nur einer ein-
zigen Form eingehaucht habe und dafs, während dieser Planet
den strengen Gesetzen der Schwerkraft folgend^ sich im Kreise
schwingt, aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe
immer schönerer und vollkommenerer Wesen entwickelt hat und
noch fortentwickelt." Deutsche Übersetzung von Dr. Bronn, Stutt-
gart 1860. S. 494. Diese uns vorliegende Übersetzung ist nach
der zweiten Auflage des Originals bearbeitet. Wie wir jedoch
aus dem Werke von Dr. Reusch, ,,Bibel und Natur", entnehmen
8. 334, hat Darwin in späteren Auflagen die genannte Stelle
weggelassen, weil man ihn getadelt hatte, dafs er den „penta-
teuchischen" Ausdruck von einer Urform, der zuerst „das Leben
eingehaucht wurde", gebraucht habe. — Jedoch nimmt Darwin
auch in jener ursprünglichen Lehre nach Art und Weise des
englischen Deismus nur einen schöpferischen Einflufs an bezüg-
lich der Entstehung des ersten Organismus, weil er sich diese
nicht anders erklären konnte. Den ersten Organismus voraus-
gesetzt, wird die Genesis der ganzen Zweckordnung der orga-
nischen Wesen, welche als Thatsache zugegeben wird, durch
Darwin aus einer Reihe von Zufällen erklärt, ohne An-
nahme einer intelligenten Ursache. „Die Lehre von der
natürlichen Zuchtwahl durch den Kampf ums Dasein ist nichts
Geringeres als die endgiltige Beantwortung des grofsen Problems:
Wie können zweckmäfsig eingerichtete Formen der Organisation
ohne Hülfe einer zweckmäfsig wirkenden Ursache entstehen?
Wie kann ein planvolles Gebäude sich selbst aufbauen ohne
Bauplan und ohne Baumeister" sie! So hat sich der begeistertste
Darwinianer in Deutschland, Prof. Häckel, ausgesprochen in seinem
Vortrag : „Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck",
gehalten auf der 55. Naturforscherversaromlung zu Eisenach 1882.
Aber gerade insofern diese Theorie die Lehre von einem schöpfe-
rischen, intelligenten Urheber der Zweckordnung negiert, schliefst
dieselbe „ungeheuerliche Absurditäten" in sich, wie Gutberiet
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Der Akt ist früher als die Potenz. 555
bemerkt. Derselbe weist in der Theodicee S. 27 ff. (vgl. „^Natur
und Offenbarung" Bd. 17) durch Wahrscheinlichkeitsrechnung
nach, dafs die Wahrscheinlichkeit für das zufallige Entstehen
der namentlich auf dem organischen Gebiete so zweckmäfsigen
Naturordnung = 0 ist. Also ist der Darwinismus unhaltbar,
cf. Theodicee S. 41 und Metaph. S. 128 ff. An letzterer Stelle
beweist Gr. eingehend den Satz: ,,Die Ordnung ist das Werk
einer Intelligenz."
Jedoch abgesehen davon, ist die Darwinische Theorie von
der Entstehung der Arten an und für sich, vom natur-
philosophischen und naturwissenschaftlichen Stand-
punkt als unhaltbar zu bezeichnen. Wir setzen die-
selbe als bekannt voraus, abstrahieren daher von einer eingehen-
den Darstellung derselben. Auch beabsichtigen wir hier nicht
eine erschöpfende Widerlegung der Theorie zu geben. An solchen
fehlt es, Gott Lob, heutzutage nicht; z. B. hat Gutberiet in seiner
Naturphilosophie eine treffliche allseitige Widerlegung gegeben.
Vgl. die tief durchdachte Schrift von Dr. Hertling: „Die Grenzen
der mechanischeu Naturerklärung.** Ferner die Schrift des be-
rühmten Naturforschers P. Secchi: „Die Gröfse der Schöpfung"
und die vorzügliche „Naturphilosophie" von P. T. Posch u. s. w.
Das Eigenartige unserer Abhandlung ist, zu zeigen, wie schon
oben hervorgehoben wurde, dafs das Prinzip „actus prior quam
potentia" den materialistischen Evolutionstheorien gegenüber im
Besitzstand der Wahrheit bleibt, dafs die Gegner nicht das Gegen-
teil beweisen können. Speziell dem Darwinismus gegenüber soll
gezeigt werden, dafs die hauptsächlich auf jenem Prinzip basie-
rende teleologische Naturerklärung die richtige ist und bleibt.
Zu diesem Zwecke dürften folgende Erörterungen genügen: Darwin
nimmt zwar auch eine gewisse Zweckmäfsigkeit der Organismen
an, insofern diese den äufseren Lebensverhältnissen angepafst
sind. Allein er nimmt den Zweck nicht als Prinzip, als
Ursache in der Natur an, sondern nur als Thatsache, als Re-
sultat rein mechanischer Vorgänge. Er negiert die
Zielstrebigkeit der Natur, die ideelle Priorität des
Zweckes, die Intention desselben. Z. B.: Das Auge ist
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556 Der Akt ist früher als die Potenz.
nicht von einer intelligenten zwecksetzenden Ursache nach einem
bestimmten Plane zum Zwecke des Sehens fertig gebildet worden,
sondern weil als schliefsliches Resultat einer Reihe von Zuföllen
und Anpassungen an die äufseren Lebensverhältnisse allmählich
ein so beschaffenes Organ im Kampf ums Dasein entstanden ist, dient
es jetzt zum Sehen. So hat Darwin die rein mechanische
Naturerklärung auf das organische Gebiet über-
tragen. Seine Theorie von der Entstehung der Arten stützt
sich, näher betrachtet, hauptsächlich auf folgende Sätze: a) Aus
einem zufällig entstandenen Ansatz bildet sich allmählich in ver-
schiedenen Übergängen durch Gebrauch, durch Anpassung
an die äufseren Lebensverhältnisse im Kampf ums Dasein das
einzelne Organ. Infolge der Korrelation der einzelnen Teile des
Organismus zieht die Veränderung eines Teiles die der anderen
mit sich. So entsteht durch verschiedene Zwischenstufen schliefs-
lieh ein neuer Organismus, resp. eine neue Art. Nicht die Ak-
tualität der Art ist das schlechthin Frühere, sondern etwas, da8
sich nur potentiell zur Art verhält, b) Die Entwicklung schreitet
vom Niederen zum Höheren fort; das Unvollkommene ist.
vor dem Vollkommenen. Die niederen Organismen sind
vor den höheren. Diese stammen von jenen ab. Die Übergangs-
formen sind als unvollkommene Organismen vor den vollkommen
entwickelten Arten. — Diese Sätze sind, wie leicht einleuchtet,
diametral entgegengesetzt dem aristotelischen Prinzip: „actus
simpliciter prior quam potentia'' und dem daraus abgeleiteten
Grundsatz: „Das Vollkommene ist vor dem Unvoll-
kommenen." Nun die Frage: Welche Auffassung ist durch
die von der neueren Naturwissenschaft festgestellten Thatsachen
begründet? Wir antworten: Nicht die Darwinistische,
sondern die aristotelische wird durch die Induk-
tion auch der neueren Forschungen bestätigt.^;
>) Diese Thesis bezieht sich freilich nur auf die grundlegenden Prin-
zipien der aristotelischen Naturphilosophie, nicht auf alle Naturerklärongen
des Stagiriten im einzelnen, welche vielfach durch die neueren Forschungen
berichtigt wurden. — Wir fügen noch folgende Bemerkung bei : Auch Ari-
stoteles spricht von einem Kampf ums Dasein in der Tierwelt, ohne jedoch
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Der Akt ist Mher als die Potenz. 557
a) Betrachten wir zanächst den übrigens schon von Lainarck
in der ^^Philosophie zoologique'^ ausgesprochenen Satz : Die Thätig-
keity der Gebrauch bildet allmählich in Anpassung an die äuTseren
Lebensyerhältnisse das Organ. Der Gebrauch kann zwar manche
Organe yergrörsern, aber die Übertragung der Analogie auf die
Ausbildung ganzer Organe ist, wie Gutberiet 1. c. heryorhebt,
unberechtigt Zudem ist es ein unlogischer circulus vitiosus, zu
sagen: Das Organ ist für die Thätigkeit da, und andererseits:
Die Thätigkeit selbst hat das Organ gebildet. Trendelen-
burg weist diesen Zirkel nach in seinen „Logischen ünter-
suchungen^', im Abschnitt, welcher in sehr trefflicher Weise vom
„Zweck" handelt (2. Bd. 3. Aufl. 1870). S. 27: „Wäre z. B.
das Auge, indem es sich bildet, dem Lichte zugekehrt: so würde
man zunächst yermuten, dafs sich der berührende Lichtstrahl
dieses edle Organ zubereitece. In der Kraft des Lichtes würde
man die wirkende Ursache vermuten. Aber das Auge bildet
sich im Dunkel des Mutterleibes, um geboren dem Lichte zu
entsprechen. Ebenso ist es mit den übrigen Sinnen. Zwischen
dem Lichte und dem Auge, zwischen dem Schall und dem Ohr,
zwischen dem Festen und der Mechanik der Bewegungsorgane
u. 8. w. zeigt sich eine vorherbestimmte Harmonie.
Denn ohne dafs sie eine Gemeinscbatit hatten, treten sie plötzlich,
und zwar nicht indem sie werden, sondern nachdem sie geworden
sind, in die innigste Gemeinschaflb. Das Licht hat nicht das
Gesicht erregt, noch der Schall das Ohr, noch das Element, in
welchem sich das Geschöpf bewegen soll, die Bewegungswerk-
zeuge; aber die Organe sind für diese Erscheinungen da. Der
Zirkel offenbart sich deutlich. Das Organ fallt mit
seiner Thätigkeit unter die wirkende Ursache; aber mit seinem
zweckverkündenden Baue unter das Gesetz seiner eigenen Wir-
kung. Das Auge sieht, aber das Sehen selbst hat das Auge gebaut.
daraas die Konsequenzen zu ziehen wie Darwin, vd. Tiergeschichte IX, 2:
„In den Kampf geraten übrigens die Tiere miteinander, wenn sie sich an
denselben Orten aufhalten und mit denselben Dingen ihr I/eben fristen; ist
nämlich die Nahrung selten, so kämpfen auch die zu derselben Gattung
gehörenden miteinander** u. s. w.
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558 Der Akt ist früher als die Potenz.
Die Füfse gehen, aber das Gehen selbst hat die Gelenke der
Etifse gerichtet. Die Organe des Mundes sprechen, aber die
Sprache selbst, die ^Notwendigkeit der Gedankenänfserung, hat
sie von vornherein beweglich gebildet Dieser Zirkel ist der
Zauborkreis der einfachen Thatsache; und die prästabilierte Har-
monie scheint auf eine die Glieder zusammenfassende Macht hin-
zuweisen, in welcher der Gedanke dasAundO ist." —
Der gleiche Zirkel zeigt sich, wenn wir bedenken, dafs manche
Organe nur zweckmäfsig sind in Beziehung auf andere. So be-
merkt Gutberiet in seiner Naturphilosophie, Abschnitt: „Der
Kampf ums Dasein kann die Weiterbildung der organischen
Formen nicht erklären", S. 163: „Die breiten und gefurchten
Zähne der Pflanzenfresser wären nicht zweckmäfsig, wenn nicht
dem Tier auch der Magen zur Verdauung und die Gedärme zur
Absorbierung der Kost eingerichtet wären. Gleichfalls sind die
Eingeweide nur zweckmäfsig in Bezug auf die Zähne des Wieder-
käuers. Der Kampf ums Dasein mufs also erst das eine Organ
züchten, um dem anderen durch den Vorteil, den es bieten soll,
Überlegenheit und Bestand zu sichern, zugleich aber vor diesem
anderen, in Bezug auf das es allein dem Individuum Vorteile
gewährt, schon gezüchtet haben. Das ist aber eine offen-
bare Zirkelbewegung."^) — Sehr tritt die relative Zweck-
mäfsigkeit auch hervor, z. B. in den Organen für den Befruch-
tungsprozefs. So sind die Staubgefäfse zweckmäfsig in Beziehung
anf die Stempel, die Beschaffenheit des Insekts in Beziehung auf
die Pflanze, welche es befruchten soll. Hier zeigt sich „in der
Anpassung pflanzlicher und tierischer Formen eine solche durch-
greifende überraschende, von der scharfsinnigsten Berechnung
zeugende Zweckmäfsigkeit, dafs auch kein Fäserchen, kein Farben-
fleckchen, keine auch noch so leichte Biegung eines Blumenblattes
von dem wunderbaren Plane des Ganzen ausgeschlossen zu sein
1) Gutberiet weist in dem genannten Abschnitt auch durch Wahr-
scheinlichkeitsrechnung nach, dafs die Wahrscheinlichkeit für das zufällige
Eintreffen so vieler Bedingungen, welche nach Darwin zur Bildung eines
Organs, eines einzelnen Organismus im Kampfe ums Dasein notwendig
waren, unendlich klein =» 0 ist.
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Der Akt ist frflher als die Potenz. 559
scheint.'^ Herthold: „Die Herrschaft der Zweckmäfsigkeit in der
Natur." Vereinsschrift der Görres-Gesellschaft. 1877. S. 2b. Er
weist dieses Dach an zwei interessanten Beispielen. Berthold
zeigt, dafs nie in den betreffenden Fällen eine Befruchtung hätte
stattfinden können, wenn nnr das Geringste gefehlt hätte, z. B.
gewisse Härchen, wenn die Anpassung nicht von Anfang an
nach einem bestimmten Plane fertig gewesen wäre, dafs also
diese Anpassung nicht darwinistisch durch Übergangsformen er-
klärt werden kann. So werden auch durch die neueren For-
schungen die dem Prinzip „actus prior quam potentia'^ verwandten
Sätze des Aristoteles bestätigt: „Die Natur macht aber die Or-
gane tur die Verrichtung, jedoch nicht die Verrichtung für die
Organe'^ und „die Bildung des Gliedes ist ursprünglich so be-
schaffen, nicht ein künstlich erworbener Zustand."
Noch mehr: Wie früher gezeigt wurde, weist Ar. nach, dafs
der Akt als Zweck eine ideelle Priorität hat, welche Darwin
negiert. „Das im Kampf ums Dasein Nützliche überlebt." Durch
diesen Satz will Darwin die, wie er selbst zugibt, in der Natur
thatsächlich vorhandene Zweckmäfsigkeit erklären, diesen Satz
setzt er an die Stelle der aristotelischen Lehre von der Ziel-
oder Zweckstrebigkeit. Nun bildet sich aber das Organ nach
Darwin nur nach vielen Übergängen. Bei all' diesen Übergängen
kann man nicht von einem Überleben des Nützlichen reden. Denn:
Was nützt im Kampf ums Dasein ein erst werdendes Auge, oder
ein erst werdender Magen? Die Übergangsformen können nur
nützlich genannt werden in Hinsicht auf das in der Zukunft voll-
kommen auszubildende und so für die Thätigkeit taugliche Organ,
also insofern sie Mittel zum Zweck sind. Ohne Annahme
der Zielstrebigkeit kann demnach der Darwinismus nicht einmal
das erklären, was er erklären will. Eine Zielstrebigkeit findet
aber nur insofern statt, als der Zweck eine ideelle Priorität hat.
Selbst Eduard von Hartmann, ein Philosoph, dessen pan-
theistische Weltanschauung mit den Evolutionstheorien des mo-
dernen Materialismus im übrigen in enger Beziehung steht, be-
merkt in seiner „Philosophie des Unbewufsten", 8. Aufl. 1878,
I. Band, S. 37, in dem Abschnitt: „Wie kommen wir zur
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560 Der Akt ist früher als die Potenz.
Annahme von Zwecken in der Natur?" „Der Darwinismus leugnet
die Naturzweckmäfsigkeit zwar nicht als Thatsacbe, aber als
Prinzip und glaubt die Thatsache als Resultat geistloser Kau-
salität begreifen zu können, — als ob die Kausalität selbst etwas
anderes wäre als eine uns nur thatsächlich (nicht prinzipiell von
innen heraus) erkennbare logische Notwendigkeit, und als ob
die Zweckmäfsigkeit, die aktuell erst nach längerer Vermittlung
als Resultat zutage tritt, nicht schon von Anfang an das
Prius dieser Vermittlungen als Anlage oder Prin-
zip hätte sein müssen/'^) — Verwandt mit der aristotelischen
Lehre von der ideellen Priorität des Zweckes ist der Satz: „Das
Ganze ist vor dem Teil, der Teil ist für das Ganze gedacht/'
Gerade die neueren Forschungen auf dem Gebiete der Embryologie,
welche durch mikroskopische Beobachtungen so grofse Fortschritte
gemacht haben, bestätigen die aristotelischen Gedanken, speziell
auch in der Hauptsache seine Lehre von der Entwicklung des
Hühnereies. Dieselben haben deutlich nachgewiesen, dafs im
Keim der Pflanze und im Ei des Tieres der Plan des Ganzen
gegeben ist und nach diesem Plane die einzelnen Teile sich
difierenzieren und entwickeln, resp. die Idee des Ganzen die
Entstehung der Teile beherrscht.
b) Betrachten wir nun den anderen Hauptsatz des Darwi-
nismus näher: „Das Unvollkommene ist vor dem Vollkommenen."
Bei der Prüfling dieses Satzes sind von entscheidender Bedeutung
die Resultate der Paläontologie. Diese Resultate sind nun aber
dem Darwinismus so wenig günstig, dafs Gutberiet schreibt:
„Die Paläontologie vernichtet den DarwinismuB^,
nachdem er schon in einem vorhergehenden Abschnitt gezeigt
1) Besonders verteidigt Hartmann die teleologische Naturerklärung in
dem Abschnitt: .^Das Unbewufste im Instinkt.** Er führt sehr frappante
teleologische Thatsachen aus dem Gebiete der Zoologie an und zeigt, dafs
dieselben nicht mechanisch, sondern nur aas dem Einwirken eines geistigen
Prinzips erklärt werden können. Wir brauchen nur an die Stelle seines
„unbewafsten Urwillens** die Lehre vom transzendenten Schöpfer zu setzen,
so haben wir eine treffliche Verteidigung der Teleologie. Diesen Eindruck
haben wir beim Studium dieses Abschnittes gewonnen.
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Der Akt ist früher als die Potenz. 561
hat: ,,Der Darwinismus ist eine Hypothese von änfserst geringer
Wahrscheinlichkeit/' Zunächst die Frage : Lassen sich jene Über-
gänge in den geologischen Schichten nachweisen, in welchen nach
Darwin der neue Organismus, resp. die neue Art gebildet wurde?
Antwort: Nein. Man hat keine solche Übergänge nachweisen
können, sondern in den ältesten Schichten finden sich gleich voll-
ständig ausgebildete, scharf von einander abgegrenzte Arten, und
doch, da offenbar die Anzahl dieser Übergänge viel zahlreicher
wäre, als die Anzahl der ausgebildeten Arten, so wäre die Wahr-
scheinlichkeit für das Überleben derselben viel gröfser als be-
züglich der vollkommenen Formen. Es kann nicht eingewendet
werden, die unvollkommenen Übergangsformen seien durch die
vollkommeneren Formen im Kampf ums Dasein verdrängt worden,
denn nach dieser Voraussetzung müfsten jetzt nur die relativ
höchsten Organismen in der Natur sich finden, während die That-
sachen zeigen, dafs gerade die niedrigsten Organismen sehr zahl-
reich vorkommen und seit sehr langer Zeit neben den höheren
Organismen fortexistieren. — Freilich wird im allgemeinen ein
Fortschritt vom Niederen zu dem Höheren bei den Organismen
während der geologischen Perioden beobachtet, allein folgt daraus,
dafs die höheren aus den niederen sich entwickelt haben? Keines-
wegs. Die Thatsachen sprechen vielmehr gegen eine allmähliche
Ausbildung der Arten und Gattungen. Nach Darwin vollzieht
sich der Übergang in so allmählicher Vanation, dafs 14000 Jahre
notwendig wären, um eine neue Species zu bilden. Nun zeigt
sich gleich in der ältesten Flora und Fauna eine so reiche Welt
von Organismen, dafs an eine Abstammung derselben von ein-
ander nicht gedacht werden kann. Gleich von Anfang treten
Repräsentanten aller gröfseren Abteilungen auf: Infusorien, Weich-
tiere, Gliedertiere, Wirbeltiere, Kryptogamen etc., und zwar sind die
einzelnen Spezies scharf ausgeprägt und von einander verschieden.
Einzelne Gruppen treten in späterer Zeit ohne alle Vorläufer
ganz unvermittelt auf, wie die Farn, und gleichzeitig an den
entlegensten Orten. Gewöhnlich tritt eine neue Gattung schon
mit einer grofsen Fülle von Arten auf. Es gibt Fälle, wo eine
Gruppe mehrere Zwischenglieder nach ihrem Erlöschen in einer
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562 Der Akt ist früher als die Potenz.
späteren wieder zum Vorschein kommt, (vd. Gutberiet, Natur-
philosophie.) 80 wird, selbst vorausgesetzt, dals die höheren
Formen wirklich später aufgetreten sind als die niederen, doch
das aristotelische Prinzip „actus prior quam potentia'^ in dem Sinne
von der Geologie bestätigt, dafs gleich in die ältesten Schichten
die darin vorkommenden Arten vollkommen ausgebildet, aktuell
auftreten und nicht unvollkommene organische Gebilde,
die nur potentiell zu den mit der Zeit vollkommen zu
entwickelnden Organismen sich verhalten w^ürden. Übri-
gens ist jene Voraussetzung nur im grofsen und ganzen richtig.
Im einzelnen kommt es oft vor, dafs vollkommenere Typen vor
den unvollkommenen erschienen, z. B. von den Trilobiten er-
schienen zuerst die mit vielgUederigem Thorax, die einfacheren
folgten erst in der zweiten Fauna. Es kommt sogar vor, dafs
die niederen Organismen sich erhalten haben, während die voll-
kommeneren untergegangen sind. Der einfach gebaute Nautilus
und der Papier-Nautilus haben sich bis heute erhalten, während
die wohlgebauten Ammoniten untergegangen sind. Die Calamiten,
Lepidodendren u. s. w. leben zusammen mit den minder ent-
wickelten und verschwanden, während das tiefer Stehende er-
halten blieb, cf. Hagemann, Metaphysik. Der Verfasser citiert
in seiner trefflichen Widerlegung der darwinistischen Theorie
unter anderem auch Aussprüche zwei der hervorragendsten Palä-
ontologen der Neuzeit, nämlich Barrande (Trilobites 1871) und
Göppert, welche Aussprüche für den Darwinismus vernichtend
sind. (Vergl. auch zur Widerlegung des Darwinismus die be-
treffende vorzügliche Abhandlung im Werke von Dr. Keusch:
„Bibel und Natur.") So ist die Lehre Darwins von der Ent-
stehung der Arten durchaus unhaltbar. Immerhin hat jedoch seine
Lehre von der Variabilität eine gewisse Berechtigung, was die
Entstehung der Varietäten und Rassen innerhalb der Arten be-
trifft.
Da der darwinistischen Theorie im allgemeinen die induktive
Begründung fehlt, so mufs auch die Übertragung derselben auf
die Menschen zum vornherein als unhaltbar bezeichnet werden.
Übrigens hat Darwin selbst in seinem Werke über die Ent-
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Der Akt ist früher als die Potenz. 563
stebuDg der Ärteo die Theorie noch nicht ausdrücklich auf den
Menschen angewendet Der berühmte Naturforscher Virchow
sagt hierüber in seinem auf dem 13. Anthropologischen Kongrefs
gehaltenen Vortrag 1882, „Darwin und die Anthropologie": „In
seinem Buche (er meint obgenanntes Werk) steht nicht viel von
generatio aequivoca und nicht viel von der Entwicklung des
Menschen aus dem Tiere. Erst nachher hat er diese Frage in
Angriff genommen und in dieser Beziehung sind es gerade
unsere deutschen Kollegen gewesen, welche vorwärts
und vorwärts drängten, bis sie dahin gekommen waren, die
zweite Frage in eine Art von notwendigem Zusammenhang mit
der Lehre vom Transformismus zu bringen. Es hat selten
Perioden gegeben, wo so grofse Probleme auf so leicht-
sinnige, ich möchte sagen thörichte Weise behandelt
worden sind." — Übrigens, selbst wenn die Darwinische Theorie
auf dem Gebiete des Pflanzen- und Tierreiches richtig wäre,
dürfte sie doch nicht auf den Menschen übertragen werden, auch
wenn man nur zunächst die anatomische und physiologische Seite
betrachtet, vd. Reusch „Bibel und Natur", Abschnitt „Mensch
und Tier". Er citiert S. 90 einen Ausspruch des grofsen Ana-
tomen Aeby aus seinem Werke: „Die Schädel formen", in welchem
sich dieser Gelehrte entschieden gegen den Darwinismus erklärt.
Noch unhaltbarer zeigt sich jene Übertragung, wenn wir die
psychische Seite betrachten. Denn in dieser Beziehung ist
zwischen Mensch und Tier ein wesentlicher, nicht blofs gra-
dueller Unterschied vorhanden. Eine Abstammung des Menschen
vom Tier ist daher absolut unmöglich. Siehe den näheren
Nachweis in der trefflichen Schrift von Dr. Wieser: „Mensch
und Tier."i) —
*) Was die Geschichte der Menschheit betrifiPt, wird das ari-
stotelische Prinzip: „Das Vollkommene ist vor dem Unvollkommenen" glän-
zend bekräftigt. Die neueren religionsgeschichtlichen Forschangen haben
die Lehre der Bibel bestätigt, dals der Mensch im Anfang in einem sehr
vollkommenen Zustande war, während später die Degeneration eintrat, und
eine Begeneration durch die Erlösung von Seite des Gottmenschen Jesus
Christus.
Jahrbneh fOr Philosophie etc. I. 89
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564 Der Akt ist früher als die Potenz.
Wir stehen am Schlüsse unserer Abhandlung. Die Unter-
suchung des zweiten Teiles hat gezeigt, dafs das von Aristoteles
und dem hl. Thomas von Aquin so scharfsinnig begründete und
verwertete Prinzip „Actus simpliciter prior quam potentia" mit
den verwandten Sätzen von der neueren Wissenschaft nicht um-
gestofsen, sondern bestätigt wird. Den materialistischen
Evolutionstheorien fehlt der induktive Beweis, wäh-
rend jenes Prinzip denselben för sich hat. So bleibt das-
selbe im Besitzstande der Wahrheit und wir dürfen nun a fortiori
sagen: Durch dieses Prinzip sind alle jene Theorien widerlegt.
Speziell was den Darwinismus betrifft, ist die auf jenem Satz
beruhende aristotelische Schrift über die „Teile der Tiere" zur
Widerlegung wie gemacht. — Wir schliefsen mit einer mora-
lischen Nutzanwendung: Wollen wir andere Menschen intellek-
tuell und ethisch erziehen, die betreffende Potentialität zur Ak-
tualität übernihren, so müssen wir selbst die betreffenden
Vollkommenheiten vorher aktuell besitzen. Wollen wir
speziell andere möglichst wirksam von der Wahrheit der grofs-
artigen aristotelisch- thomistischen Lehre überzeugen, so mufs die-
selbe zuerst unser geistiges Eigentum sein, müssen wir selbst
bestrebt sein, zu einer möglichst hohen Aktualität der betreffen-
den Kenntnisse zu gelangen.
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