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Full text of "Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen"

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Mx      JAHRBUCH 

PUR 

PSYCHOANALYTISCHE  UND  PSYCHO- 
PATHOLOGISCHE  FORSCHUNGEN. 


HERAUSGEGEBEN  VON 

Prof.  Dr.  E.  BLEULER    und    Prof.  Dr.  S.  FREUD 

IN  ZÜRICH,  IN   WIEN. 

REDIGIERT  VON 


Dr.  C.  G.  jung, 

PRIVATDOZENTEN  DER  PSYCHIATRIE  IN  ZÜRICH. 


n.  BAND. 


L  HÄLFTE. 


LEIPZIG    UND    WIEN. 
FRANZ  DEUTICKE. 

1910. 

Verlagfs-Nr.  1707. 


VERLAG  VON  FRANZ  DEÜTICKE  IN  LEIPZIG  UND  WIEN. 


Nachstehende  sieben  Werke,  welche  als  die  Dokumente  für 
den  Entwicklungsgang  und  Inhalt  der  Freudschen  Lehren  anzu- 
sehen sind,  werden,  wenn  auf  einmal  bezogen,  zum  Vorzugspreise 
von  M  30-—  =  K  36-—  (statt  M  36-50  =  K  43-80)  abgegeben: 

Studien  über  Hysterie. 

Von  Dr.  Jos.  Breuer  und  Prof.  Dr.  S.  Freud. 

Zweite  Auflage.  —  Preis  Ml-—  =  K  8-40. 

Die  Traumdeutung. 

Von  Prof.  Dr.  Sigm.  Freud. 
Zweite,  vermehrte  Auflage.  —  Preis  M  9- —  =  K 10-80. 

Drei  Abhandlungen  zur  Sexualtheorie. 

Von  Prof.  Dr.  Sigm.  Freud. 

Zweite  Auflage.  Preis  M  2-—  =  K  240. 

Sammlung  kleiner  Schriften  zur  Keurosenlehre. 

Von  Prof.  Dr.  Sigm.  Freud. 
I.  und  II.  Reihe.  —  Preis  k  M  5  —  =  K  6-—. 

Der  Wahn  und  die  Träume  in  W.  Jensens  „Gradiva". 

(Schriften  zur  angewandten  Seelenkunde.  I.  Heft.) 

Von  Prof.  Dr.  Sigmund  Freud  in  Wien. 

Preis  M  2-50  =  K  3-—. 

Der  Witz  und  seine  Beziehung  zum  Unbewußten. 

Von  Prof.  Dr.  Sigm.  Freud. 
Preis  Mh—  =  K  6-—. 

Über  Psychoanalyse. 

Fünf  Vorlesungen,  gehalten  zur  20jährigen  Gründungsfeier 

der  Clark  University  in  Worcester  Mass. 

Von  Prof.  Dr.  Sigm.  Freud. 

Preis  Ml—  =  K  120. 


JAHRBUCH-,  ^^ 


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FÜR  \fc.     V:-.        -J    V/   ./ 


PSYCHOANALYTISCHE  UNü  PSYCHO 
PATHOLOGISCHE  FORSCHUNGEN. 


HERAUSGEGEBEN  VON 

Prof.  Dr.  E.  BLEÜLEE    und    Prof.  Dr.  S.  FEEUD 

IN  ZÜRICH,  m   WIEN. 

REDIGIERT  VON 


Dr.  C.  G.  jung, 

PBIYATDOZENTEN  »ER  PSYCHIATRIE  IN  ZÜRICH. 


II.  BAND. 


I.  HÄLFTE. 


LEIPZIG    UND    WIEN. 
FRANZ  DEUTICKE. 

1910. 


Verlags-Nr.  1707 


Brack  Ton  Rudolf  M.  Rohrer  in  Brünu. 


Inhaltsyerzeiclmis 

der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Bandes. 


Seite 
Abraham:  Über  hysterische  Traumzustände 1 

Jung:  über  Konflikte  der  kindlichen  Seele 33 

Sadger:  Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen     .    59 

Pf  ister:  Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  und 

der  Versöhnung jo^ 

Freud:  „Über  den  Gegensinn  der  Urworte" I79 

Maeder:  Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken  .  185 

Riklin:  Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose 246 

Jung:  Randbemerkungen  zu  dem  Buch  von  Witteis:  Die  sexuelle  Not    .  312 
Jones:    Bericht  über    die    neuere    englische  und  amerikanische  Literatur 

zur  klinischen  Psychologie  und  Psychopathologie 316 

Neiditsch:   Über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Freudschen  Psychologie 

in  Rußland qa'j 

Assagioli:  Die  Freudschen  Lehren  in  Italien 34.9 

Jung:    Referate    über   psychologische  Arbeiten   schweizerischer  Autoren 

(bis  Ende  1909) 355 


Zusendungen  an  die  Redaktion  sind  zu  richten  an  Dr.  C.  0.  Jung, 

Küsnach-Züricli. 


über  hysterische  Trauinzustäiide. 

Von  Dr.  Karl  Abraham  (Berlin). 


In  einem  kürzlich  erschienenen  Aufsatz  „Über  traumartige  und 
verwandte  Zustände"  hat  Löwenfeld^)  eigentümliche,  bei  Neurotikern 
auftretende  Störungen  behandelt,  die  bisher  in  der  Literatur  keine  ge- 
nügende Würdigung  gefunden  haben.  Zur  Orientierung  zitiere  ich 
Löwenfelds  allgemeine  Beschreibung  dieser  Zustände, 

,,Die  Außenwelt  macht  nicht  den  gewöhnlichen  Eindruck,  das 
wohl  Bekannte  und  täglich  Gesehene  erscheint  verändert,  wie  un- 
bekannt, neu,  fremdartig,  oder  die  ganze  Umgebung  macht  den  Eindruck, 
als  sei  sie  ein  Phantasieprodukt,  ein  Schein,  eine  Vision,  In  letzterem 
Falle  besonders  ist  es  den  Patienten,  als  ob  sie  sich  in  einem  Traum 
oder  Halbschlaf  befänden,  hypnotisiert  oder  somnambul  seien,  und 
sie  sprechen  dann  auch  zumeist  von  ihren  Traumzuständen."  —  Der 
Autor  erwähnt  ferner,  daß  diese  Zustände  dem  Grade  nach  sehr  ver- 
schieden sein  können  und  in  der  Dauer  große  Schwankungen  auf- 
weisen, daß  sie  oft  mit  dem  Affekte  der  Angst  verknüpft  sind  und  daß 
sich  neben  ihnen  in  der  Regel  noch  andere  nervöse  Symptome  nach- 
weisen lassen. 

Löwenfeld  gründet  seine  Beschreibung  auf  eine  beträchtliche 
Anzahl  von  Krankengeschichten.  Ich  selbst  bin  bei  einer  ganzen  Reihe 
meiner  Patienten,  die  ich  psychoanalytisch  behandelte,  auf  diese  Zu- 
stände gestoßen.  Da  die  bisherigen  psychoanalytischen  Arbeiten  sich 
mit  den  Traumzuständen  noch  nicht  beschäftigt  haben,  so  teile  ich 
meine  hauptsächlichsten  Resultate  mit.  Sie  bilden  eine  Ergänzung 
derjenigen  Aufschlüsse,  die  uns  die  Psychoanalyse  über  das  Wesen 
der  anderen  episodischen  Erscheinungen  im  Krankheitsbilde  der  Hysterie 
gebracht  hat. 

1)  Zentralblatt  für  Nervenheilkunde,   1.   und  2.   Augustheft  1909. 
Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psychopathol.  Forschungen.    II.  •«■ 


2  Karl  Abraham. 

Ein  einfaches  Beispiel  möge  zunächst  zeigen,  bis  zu  welchem 
Grade  wir  das  Wesen  der  Traumzustände  zu  begreifen  vermögen, 
wenn  wir  von  der  Psychoanalyse  keinen  Gebrauch  machen.  Die  Ex- 
ploration eines  Patienten,  den  ich  nur  ein  einzelnes  Mal  in  der  allgemein 
geübten  Art  explorieren  konnte,  ergab  nach  der  hier  interessierenden 
Richtung  folgendes^): 

Beobachtung  A. 

Der  in  jugendlichem  Alter  stehende  Patient  A  neigt  zu  Tag- 
träumereien von  großer  Lebhaftigkeit.  Wie  er  angibt,  reizen  ihn 
namentlich  aktuelle  Ereignisse  zum  wachen  Träumen.  Die  Nachricht 
von  der  Entdeckung  des  Nordpols  z.  B.  gab  ihm  Anlaß  zu  der  Phantasie, 
er  wäre  an  einer  großen  Expedition  beteiligt.  Er  malte  sich  diese  mit 
allen  Einzelheiten  aus,  besonders  in  bezug  auf  seine  eigene  Tätigkeit. 
Derartige  Phantasien  nahmen  ihn  schon  seit  längerer  Zeit  fast  ganz 
in  Anspruch.  Er  brauchte  nur  etwa  auf  der  Straße  aus  der  Unterhaltung 
Vorübergehender  ein  Wort  wie  z.  B. ,, Zeppelin"  aufzufangen,  und  schon 
geriet  seine  Einbildungskraft  in  die  lebhafteste  Tätigkeit.  Haben  nun 
diese  Träumereien  eine  große  Intensität  erreicht,  so  fühlt  Patient  sich 
mehr  und  mehr  der  Wirklichkeit  entrückt.  Eine  traumhafte 
Benommenheit  kommt  über  ihn.  Dann  tritt  für  kurze  Zeit  eine  ,, Leere" 
im  Kopf  ein,  auf  welche  rasch  ein  lebhaftes  Schwindelgefühl  folgt, 
das  sich  mit  Angst  und  Herzklopfen  verbindet.  Patient  bezeichnet 
den  Zustand  bis  zum  Eintreten  des  Schwindelgefühles  als  lustvoll. 

Neben  diesen  Erscheinungen  bestehen  nervöses  Erbrechen, 
nervöse  Diarrhöen,  Anfälle  von  Kopfschmerz,  ferner  Reizbarkeit, 
Schreckhaftigkeit  usw. 

Der  mitgeteilte  Fall  —  und,  wie  sich  zeigen  wird,  auch  jeder 
der  folgenden  —  läßt  den  Zusammenhang  der  Traumzustände  mit 
den  Tagträumereien  ohne  weiteres  erkennen.  Ich  betone  diese  Tatsache, 
weil  Löwenfeld  ihr  keine  besondere  Beachtung  geschenkt  hat.  Die 
typische  Einleitung  des  Traumzustandes  bildet  ein  Stadium  der 
phantastischen  Exaltation,  dessen  Inhalt  ein  durchaus  indi- 
viduelles Gepräge  zeigt. 


1)  Die  Krankheitsfälle,  die  ich  im  folgenden  bespreche,  sind  in  alpha- 
betischer Reihenfolge  mit  den  Buchstaben  A  bis  F  versehen.  Alle  für  das  Ver- 
ständnis der  Sache  entbehrlichen  Angaben  über  Alter,  Beruf  und  sonstige  per- 
sönliche Verhältnisse  der  Patienten  habe  ich  fortgelassen. 


über  hysterische  Traumzustände.  3 

Es  folgt  der  Zustand  traumhafter  Entrückung^).  In  ihm  er- 
scheint den  Patienten,  wie  Löwenfeld  treffend  schildert,  die  ihnen 
wohlbekannte  Umgebung  unwirklich,  fremd,  verändert.  Sie  selbst 
fühlen  sich  ,,wie  im  Traum".  Die  Bezeichnung  ,, Traumzustand", 
die  von  vielen  Patienten  spontan  gebraucht  wird,  gründet  sich  auf  die 
phantastische  Gedankenrichtung  im  ersten  und  auf  die  Alteration 
des  Bewußtseins  im  zweiten  Stadium. 

Ich  unterscheide  weiter  ein  drittes  Stadium  der  Bewußtseins- 
leere. Es  wird  charakterisiert  durch  das  von  den  Patienten  bemerkte 
,, Stillstehen  der  Gedanken"  (auch:  ,, Leere  im  Kopf"  oder  ähnlich 
benannt). 

Den  Abschluß  bildet  ein  depressiver  Zustand,  dessen  wichtigstes 
Kennzeichen  der  Affekt  der  Angst  mit  seinen  gewohnten  Begleit- 
erscheinungen (Schwindel,  Herzklopfen  usw.)  bildet.  Die  meisten 
Patienten  beschreiben  überdies  Phantasien  von  depressivem  Charakter. 

Die  Abgrenzung  der  einzelnen  Stadien  gegeneinander  ist  nicht 
absolut  scharf.  Im  Gegenteil  lassen  sich  Übergänge  zwischen  ihnen 
erkennen.  Die  praktische  Brauchbarkeit  und  Wichtigkeit  der  Einteilung 
wird  erst  bei  der  Besprechung  der  genau  analysierten  Fälle  hervor- 
treten. Alsdann  wird  die  obige,  summarisch  gehaltene  Schilderung  der 
einzelnen    Stadien   auch   eine   ausgiebige  Vervollständigung   erfahren. 

Den  Höhepunkt  des  Zustandes  bildet  ohne  Zweifel  das  dritte 
Stadium.  Auf  ihm  findet,  sozusagen,  die  Peripetie  statt,  nicht  nur 
insofern,  als  die  phantastische  Produktion  beim  Eintritt  dieses  Stadiums 
eine  jähe  Unterbrechung  erfährt.  Von  ebenso  großer  Bedeutung  ist  es, 
daß  das  dritte  Stadium  die  Grenze  zwischen  zwei  entgegengesetzten 
Affektbesetzungen  bildet.  Es  ist  keine  spezielle  Eigentümlichkeit  des 
skizzierten  Falles,  daß  der  Traumzustand  bis  zum  dritten  Stadium  als 
lustvoll  geschildert  wird,  während  dem  letzten  Stadium  ein  starker 
Unlustaffekt  zugeschrieben  wird. 

Wir  vermögen  so  durch  die  Exploration  des  Patienten  mancherlei 
Kenntnisse  über  Vorstellungen  und  Gefühle  im  Traumzustand,  über  den 
auslösenden  Anlaß,  über  die  Schwankungen  des  Bewußtseins  zu  erhalten. 
Würden  wir  eine  Reihe  weiterer  Fälle  in  derselben  Weise  betrachten, 
so  könnten  wir  noch  dazu  gelangen,  die  individuelle  Mannigfaltigkeit 
in  den  genannten  Beziehungen  kennen  zu  lernen;  wir  würden  auch 
Löwenfelds  Angaben  über  die  Differenzen  in  bezug  auf  Intensität 

^)  Den  Ausdruck  „Entrückung"  entlehne  ich  von  Breuer  (cf.  Breuer 
und  Freud,  Studien  über  Hysterie,  Seite  191  der  2.  Auflage). 

1* 


4  Karl  Abraham. 

und  zeitliclie  Ausdehnung  der  Zustände  bestätigen  können.  Damit 
sind  wir  aber  an  der  Grenze  der  Erkenntnismöglichkeiten  angelangt, 
sofern  wir  uns  auf  das  dem  Patienten  Bewußte  als  einzige  Quelle 
unseres  Wissens  beschränken.  Unerklärt  bleibt  die  Ursache  des  Auf- 
tretens der  Traumzustände.  Im  allgemeinen  begnügt  sich  der  Neurotiker 
mit  wachen  Träumereien.  Es  bleibt  dunkel,  warum  diese  gelegentlich 
eine  Steigerung  zu  akuten,  anfallsähnlichen,  mit  einer  leichten  Alteration 
des  Bewußtseins  verbundenen  Zuständen  erfahren.  Unklar  bleibt  in 
ihrem  ganzen  Wesen  die  Entrückung,  speziell  das  Gefühl  des  Fremd- 
artigen, Unwirklichen.  Vollends  in  Dunkel  gehüllt  bleiben  die  temporäre 
Bewußtseinsleere  und  endlich  das  Auftreten  der  Angst  mit  ihren  Begleit- 
erscheinungen. Alle  diese  Erscheinungen  sind  überdies  der  individuellen 
Variation  unterworfen.  Jeder  einzelne  Fall  bietet  seine  Rätsel.  Ins- 
besondere die  Phantasien  des  Anfangsstadiums  (und  auch  die  des  Schluß- 
stadiums) sind  ohne  eingehende  Analyse  nur  in  ganz  beschränktem 
Umfange  verständlich. 

Den  Schlüssel  zur  Lösung  dieser  Rätsel  gibt  uns  die  Kenntnis 
vom  Phantasieleben  des  Neurotikers,  die  durch  die  psycho- 
analytischen Forschungen  gewonnen  wurde. 

Wir  haben  durch  Freud  gelernt,  daß  unsere  Phantasien  Ver- 
lautbarungen unserer  Triebe  sind.  Wünsche,  deren  Erfüllung  verhindert 
ist,  sucht  unsere  Einbildungskraft  als  erfüllt  oder  in  Erfüllung  begriffen 
darzustellen.  Beim  Neurotiker  ist  nun  das  gesamte  Triebleben,  sind  alle 
Partialtriebe  von  ursprünglich  abnormer  Stärke.  Gleichzeitig  ist  die 
Neigung  zur  Trieb  Verdrängung  besonders  groß.  Aus  dem  Konflikte 
zwischen  Trieb  und  Verdrängung  geht  die  Neurose  hervor.  Der  Viel- 
gestaltigkeit und  der  Macht  seines  Trieblebens,  der  Fülle  verdrängter 
Wünsche  entspricht  es,  daß  der  Neurotiker  ein  Phantast  ist. 
Er  neigt  darum,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  in  hohem  Grade  zur  Tag- 
träumerei; auch  sein  Schlaf  pflegt  reich  an  lebhaften  Träumen  zu  sein. 
Die  Triebkraft  seiner  verdrängten  Wünsche  ist  aber  so  gewaltig,  daß 
der  Neurotiker  mit  diesen  auch  dem  Normalen  eigenen  Ausdrucks- 
mitteln nicht  sein  Auskommen  findet.  Die  Neurose  selbst  steht  ganz  und 
gar  im  Dienste  dieser  Tendenzen.  Der  neurotische  Traumzustand  ist, 
wie  in  dieser  Arbeit  gezeigt  werden  soll,  nur  eines  der  mannigfachen 
Phänomene,  durch  welche  das  Heer  der  verdrängten  Wünsche  sich 
manifestiert. 

Der  Krankheitsfall,  aus  dessen  umfangreicher  Analyse  ich  das  zum 
Verständnis  der  Traumzustände  Notwendige  nun  zunächst  mitteile, 


über  hysterische  Traumzustände.  5 

eröffnet  klärende  Einblicke  in  das  Gewirr  der  einander  verstärkenden 
oder  unter  sich  widerstreitenden  Triebregnngen.  Die  Analyse  läßt  die 
alles  beherrschende  Bedeutung  der  Sexualphantasie  erkennen;  es  wird 
vollkommen  durchsichtig,  daß  die  bewußten,  dem  äußeren  Anscheine 
nach  nicht  sexuellen  Phantasien  durch  den  Prozeß  der  Sublimierung 
aus  sexuellen  Wünschen  hervorgegangen  sind.  Die  von  der  Zensur  zum 
Bewußtsein  zugelassenen  Phantasien  dienen  lediglich  zur  Vertretung 
verdrängter  Wünsche;  ihre  Triebkraft  haben  sie  von  den  letzteren 
entlehnt. 

Beobachtung  B, 

Der  Patient  B  leidet  an  einer  ungewöhnlich  schweren  Hysterie 
mit  Phobien  und  Zwangserscheinungen.  Seine  Angst,  allein  das 
Haus  zu  verlassen,  macht  ihn  seit  fünf  Jahren  zur  Ausübung  seines 
Berufes  und  überhaupt  zu  fast  jeder  sozialen  Betätigung  unfähig.  Neben 
schweren  Angstzuständen  treten  mit  großer  Häufigkeit  Traumzustände 
bei  ihm  auf. 

Den  ersten  derartigen  Zustand  erlebte  Patient,  wie  er  sich  erinnert, 
im  Alter  von  10  Jahren,  als  er  sich  einmal  zurückgesetzt  fühlte.  Es  be- 
mächtigte sich  seiner  ein  ,, Gefühl  des  Weltschmerzes",  dem  rasch 
Kontrastvorstellungen  folgten:  ,, später,  wenn  ich  erst  groß  bin,  werde 
ich  euch  schon  imponieren".  Er  geriet  dabei  in  eine  ekstatische  Be- 
geisterung und  empfand  eine  traumartige  Veränderung  seines  Bewußt- 
seins. Seither  führt  jede  Situation,  in  der  ihm  die  Überlegenheit  anderer 
und  seine  eigene  Tatenlosigkeit  besonders  zu  Bewußtsein  kommen,  einen 
Traumzustand  herbei.  Durch  seine  Lage  ist  er  also  zu  solchen  Zuständen 
fortwährend  disponiert.  Es  genügt  z.  B.,  daß  man  in  seiner  Gegenwart 
die  Tüchtigkeit  oder  die  Erfolge  eines  Altersgenossen  erwähnt;  sofort 
reagiert  er  mit  einem  Traumzustande.  Im  Laufe  der  Zeit  hat  sich  eine 
größere  Variabilität  in  bezug  auf  den  auslösenden  Anlaß  herausgebildet. 
Der  Anblick  weiblicher  Personen,  Theater,  Musik,  Lektüre  wirken  in 
diesem  Sinne,  indem  sie  bei  dem  Patienten  ehrgeizige  oder  erotische 
Phantasien  hervorrufen.  Weniger  leicht  verständlich  ist  schon  die 
auslösende  Wirkung,  welche  von  lebhafter  Körperbewegung  (z.  B. 
Gehen  auf  der  Straße)  oder  vom  Hören  starker  Geräusche  (z.  B.  Fahrt 
eines  Eisenbahnzuges  über  eine  Brücke)  ausgeht.  x\m  häufigsten  tritt 
der  Zustand  auf  der  Straße  ein. 

Alle  diese  Anlässe  rufen  zunächst  eine  lebhafte  Tätigkeit  der 
Phantasie  hervor  und  zugleich  den  Vorsatz,    mit  aller  Energie  an  der 


6  Karl  Abraham. 

Verwirklicliung  der  phantastisclien  Wünsche  zu  arbeiten.  Patient 
rührt,  wie  er  sich  ausdrückt,  seine  ganze  Willenskraft  auf.  Im  Mittel- 
punkte steht  immer  der  Gedanke,  dereinst  aus  der  Absonderung  hervor- 
zutreten und  aller  Welt  zu  imponieren.  Er  wird  einst  durch  großes 
Wissen  Aufsehen  erregen,  wird  als  Autor  eines  Dramas  vor  den  Vorhang 
gerufen  werden  und  aller  Blicke  auf  sich  ziehen ;  oder  er  wird  ein  Meister 
im  Schachspiel  werden  und  als  Simultanspieler  im  Cafe  von  Tisch  zu 
Tisch  gehen,  die  Figuren  ziehen  und  dabei  von  bewundernden  Menschen 
beobachtet  werden.  In  anderen  Fällen  erdenkt  er  sich  die  Idealgestalt 
eines  großen  Feldherrn,  hinter  der  er  seine  ehrgeizigen  Wünsche  ver- 
birgt. Die  energischen  Vorsätze  dokumentieren  sich  äußerlich  darin, 
daß  Patient  im  Zimmer  hastig  umhergeht,  oder  auf  der  Straße  einen 
Sturmschritt  anschlägt. 

Patient  selbst  bezeichnet  den  geschilderten  Vorgang  als  einen 
immer  höher  gehenden  ,, Enthusiasmus".  Dieser  geht  bald  und  un- 
merklich in  das  zweite  Stadium  über.  Die  Schilderung  des  Patienten 
ist  sehr  bezeichnend:  es  findet  eine  völlige  ,,Nachinnenkehrung"  statt, 
eine  Ausschaltung  aller  äußeren  Eindrücke.  ,,Man  verliert  beim  Phan- 
tasieren den  Boden  unter  den  Füßen."  Das  soll  heißen,  daß  er  die  Herr- 
schaft über  den  Flug  seiner  Gedanken  verliert  und  sich  völlig  vom 
realen  Boden  entfernt.  Nun  kommt  er  sich  wie  im  Traume  vor,  die  ganze 
Umgebung,  sogar  der  eigene  Körper  erscheint  ihm  fremd  und  es  treten 
Zweifel  an  dessen  wirklicher  Existenz  auf.  Alsbald  folgt  das  typische 
dritte  Stadium:  der  Gedankenstillstand.  Rasch  tritt  dann  der  Angst- 
affekt auf  und  leitet  das  vierte  Stadium  ein.  Patient  wird  von  Schwindel 
ergriffen;  er  hat  das  Gefühl,  daß  er  nicht  mehr  vorwärts  kommen,  die 
Beine  nicht  mehr  heben  kann,  als  wenn  er  gleitet,  fällt,  versinkt.  Diese 
Sensationen  sind  mit  höchster  Angst  verbunden.  Die  Menschen  erscheinen 
ihm  merkwürdig  groß;  dies  gilt  auch  von  den  ihn  umgebenden  Geg3n- 
ständen.  Er  selbst  kommt  sich  klein  vor,  hat  auch  den  Wunsch,  es  zu 
sein,  um  nur  nicht  gesehen  zu  werden;  er  möchte  ,,als  nichts  gelten, 
ganz  in  die  Erde  sinken".  Er  beschreibt  ferner  das  Gefühl,  als  müsse 
er  auf  allen  Vieren  kriechen,  um  nach  Hause  zu  kommen. 

Patient  bezeichnet  die  ersten  Stadien  als  lustvoll;  doch  tritt, 
wie  er  sich  ausdrückt,  schon  während  des  Enthusiasmus  eine  entgegen- 
gesetzte Nebenströmung  auf,  die  sich  zuerst  durch  ein  Kältegefühl 
bemerkbar  macht.  Wir  treffen  hier  auf  Parästhesien  und  vasomotorische 
Symptome  als  Begleiterscheinungen  des  Traumzustandes,  die  bisher 
nicht  genügend  beachtet  worden  sind.  Im  Stadium  der  Gedankenleere 


über  hysterische  Traumzustände.  7 

wird  das  Kältegefühl  intensiv.  Mit  der  Angst  setzt  manchmal  eine 
plötzliche  „Hitzewelle"  ein,  eine  Kongestion  nach  dem  Kopfe.  Macht 
die  Angst  schließlich  dem  Gefühle  der  Schwäche  Platz,  so  ist  das  Gefühl 
der  Kälte  stets  sehr  lebhaft;  zugleich  besteht  die  Sensation,  daß  Teile 
des  Körpers  abgestorben  seien. 

Das  Eintreten  eines  Traumzustandes  ist  dem  Patienten  wegen 
der  begleitenden  Lust  erwünscht.  Er  versucht  jedoch  manchmal,  bevor 
der  Höhepunkt,  d.  h.  die  Bev/ußtseinsleere,  erreicht  ist,  den  Vorgang 
zu  unterbrechen.  ,,Ich  will  mich  vom  Enthusiasmus  losreißen,  ich  ver- 
suche wie  aus  einer  Wolke  herauszukommen."  Der  Ausdruck  ,, Wolke" 
ist  zu  beachten;  er  deutet  das  Gefühl  einer  Umnebelung  des  Bewußt- 
seins, also  das  Traumhafte  an.  Bei  vorzeitiger  Unterbrechung  tritt 
Angst-  und  Schwächegefühl  ein. 

Das  letzte  Stadium  ist  bei  diesem  Patienten  sehr  protrahiert. 
Um  sich  von  der  Angst,  die  nicht  weichen  will,  zu  befreien,  bedient 
er  sich  eines  eigentümlichen  Mittels:  er  zündet  sich  eine  Zigarre  an. 
Übrigens  taucht  auch  schon  im  Stadium  des  Enthusiasmus  der  Wunsch 
zum  Rauchen  auf. 

Als  ich  auf  die  Analyse  seiner  Traumzustände  einging,  gab  mir  der 
Patient  spontan  die  Erklärung,  er  halte  diese  Zustände  schon  seit  langer 
Zeit  für  eine  Art  von  Vergeistigung  des  Sexualtriebes.  Unsere  Nach- 
forschungen sollten  diese  Auffassung  durchaus  bestätigen. 

Patient  gehört  zu  den  Neurotikern,  die  sich  in  früher  Kindheit 
der  Masturbation  ergeben  und  später  mit  ihrer  masturbatorischen 
Neigung  in  einem  steten  Kampfe  leben.  Die  Abgewöhnung  der  Onanie, 
oft  mißlungen  und  immer  wieder  versucht,  hat  dem  Patienten  die  be- 
kannten Enttäuschungen,  Selbstvorwürfe  und  hypochondrischen  Sorgen 
eingetragen.  Eine  Reihe  von  Symptomen  seiner  Neurose  steht  unter 
dem  determinierenden  Einfluß  dieses  Vorganges;  doch  soll  auf  diese 
hier  nicht  eingegangen  werden.  Der  Konflikt  zwischen  Wunsch  und  Ver- 
drängung hat,  wie  so  oft  in  der  Neurose,  seinen  Abschluß  in  einem 
Krompromiß  gefunden.  Der  Patient  hat  oft  für  längere  Zeit  auf  die 
Onanie  verzichtet.  Er  meidet  dann  die  körperliche  Selbsterregung 
mitsamt  ihrem  Endziel,  der  Ejakulation.  Für  eine  oberflächliche  Be- 
trachtung hat  er  damit  die  gewohnte  Sexualbetätigung  aufgegeben. 
Aber  sein  Unbewußtes  verlangt  eine  Ersatzbefriedigung,  deren  Wesen 
und  Ziel  dem  Bewußtsein  entgeht,  die  daher  ungehindert  von  hemmenden 
Einflüssen  vor  sich  gehen  kann. 


o  Karl  Abraham. 

Freud^)  hat  den  Nachweis  erbracht,  daß  gewissen  episodischen 
Erscheinungen  der  Hysterie  die  Bedeutung  einer  Ersatzbefriedigung 
für  die  aufgegebene  Masturbation  zukommt;  wir  müssen  später  dieser 
Anschauung  unsere  Aufmerksamkeit  zuwenden.  Eine  Ersatz- 
befriedigung in  dem  angegebenen  Sinne  ist  nun  auch  der 
Traumzustand.  Bevor  ich  diese  Auffassung  begründe,  muß  ich  noch 
erwähnen,  daß  der  Patient  besonders  neuerdings  den  Traumzuständen 
auch  zu  solchen  Zeiten  unterworfen  ist,  in  denen  er  dem  Drange  nach 
Masturbation  häufig  nachgibt.  Doch  spricht  dies  nur  scheinbar  gegen 
die  Auffassung  der  Traumzustände  als  Ersatzbefriedigung.  Denn  gerade 
zu  solchen  Zeiten  sind  lebhafte  Gegenvorstellungen  vorhanden,  die  den 
Patienten  hindern,  dem  Drange  ganz  ungehemmt  nachzugeben.  Die 
Triebstärke  ist  außerdem  so  groß,  daß  eine  volle  Befriedigung  schwer 
zu  erzielen  ist.  Auch  bei  häufiger  Ausübung  der  Masturbation  werden 
daher  Surrogate  nicht  entbehrhch.  Endlich  bilden  diese  selbst  eine 
Lustquelle  und  es  ist  bekannt,  wie  schwer  namentlich  der  Neurotiker 
eine  solche  wieder  aufgibt. 

Patient  hat  sich  in  der  frühen  Jugend  gewöhnt,  Tagträumereien 
nachzuhängen  und  auf  der  Höhe  lebhafter  Phantasietätigkeit  der  an- 
gesammelten Erregung  durch  Masturbation  Abfuhr  zu  verschaffen. 
Als  er  sich  von  der  Masturbation  zu  entwöhnen  suchte,  bedurften  die 
Tagträumereien  eines  andern  Abschlusses;  sie  bilden  seither  die  Ein- 
leitung zum  Traumzustand  wie  früher  zum  Masturbationsakt.  Das 
zweite  und  dritte  Stadium  —  Entrückung  und  Bewußtseinsleere  — 
entsprechen  der  steigenden  Sexualerregung  mid  ihrer  Ahme  im  Moment 
der  Ejakulation.  Das  Endstadium  mit  Angst  und  Schwäche  ist  un- 
verändert vom  masturbatorischen  Vorgang  herübergenommen;  diese 
Symptome  sind  mis  ja  als  jedesmalige  Folgen  der  Masturbation  bei 
Neurotikern  geläufig. 

Diese  Auffassung  bedarf  bezüglich  des  zweiten  und  dritten  Sta- 
diums noch  einer  weiteren  Begründung.  Ein  der  „Entrückung"  im  Traum- 
zustand analoges  Stadium  findet  sich  auch  im  masturbatorischen  Akt. 
Die  steigende  sexuelle  Erregung  führt  zu  einer  Absperrung  gegen  alle 
äußeren  Eindrücke.  Dieser  Vorgang  findet  sich  im  Traumzustande 
mehr  ins  Psychische  übersetzt.  Der  Patient  empfindet  eine  absolute 
,,Nachinnenkehrung".  Durch  diese  autoerotische  Abschließung  von  der 

^)  „Allgemeines  über  den  hj'sterischen  Anfall."  Zeitschrift  für  Psycho- 
therapie und  medizinische  Psychologie  1909,  auch  in  der  zweiten  Folge  der  „Kl. 
Schriften  zur  Neurosenlehre",  Deuticke,  Wien  1909. 


über  hysterische  Traumzustände.  9 

Außenwelt  erhält  er  das  Gefühl  der  Isoliertheit.  Er  „tritt  aus  der 
Gemeinschaft  heraus" ;  seine  Vorstellungen  versetzen  ihn  in  eine  andere, 
seinen  verdrängten  Wünschen  entsprechende  Welt.  So  groß  ist  die  Macht 
der  verdrängten  Wünsche,  wenn  sie  einmal  dem  Unbewußten  ent- 
steigen, daß  ihre  phantasierte  Erfüllung  als  Wirklichkeit,  die  Wirklich- 
keit aber  als  ein  nichtiges  Traumgebilde  erscheint.  Die  gesamte  Um- 
gebung, selbst  der  eigene  Körper,  erscheint  dem  Patienten  fremd  und 
unwirklich. 

Das  Gefühl  des  Isoliertseins  ist  vielen  Neurotikern  eigen,  die  sich 
zur  einsamen  Sexualbetätigung  von  der  Welt  zurückziehen.  Unser 
Patient  erinnert  sich  aus  der  frühen  Jugend  einer  von  ihm  bevorzugten 
Phantasie  von  einem  verborgenen  Zimmer,  das  irgendwo  im  Walde 
unter  der  Erde  versteckt  sei:  dahin  wünschte  er  mit  seinen  Phantasien 
zu  flüchten.  Der  Wunsch  machte  später  einer  Angst  Platz:  der  Angst, 
allein  im  geschlossenen  Räume  zu  sein,  die  ihn  noch  als  Erwachsenen 
beherrscht. 

Das  dem  dritten  Stadium  eigentümliche  Schwinden  der  Gedanken, 
die  Bewußtseinsleere,  entspricht  dem  mehr  oder  weniger  erheblichen 
,, Bewußtseinsentgang"  (Freud^),  wie  er  sich  besonders  ausgesprochen 
beim  Neurotiker  auf  der  Höhe  jeder  sexuellen  Erregung  einstellt. 
Gleichzeitig  setzt  ein  heftiges  Schwindelgefühl  oder  eine  andere,  dem 
Schwindel  ähnliche,  aber  schwer  zu  beschreibende  Sensation  ein.  Unser 
Patient  gibt  mit  Bestimmtheit  an,  daß  das  nämliche  Gefühl  bei  der 
Masturbation  im  Augenblicke  der  Ejakulation  eintrete.  Die  kurze, 
der  Entleerung  der  Sexualprodukte  entsprechende  Bewußtseinspause 
findet  sich  auch  im  hysterischen  Anfall. 

Nunmehr  ist  es  nicht  länger  verwunderlich,  daß  der  Traumzustand 
bis  zum  Stadium  der  Bewußtseinsleere  lustvoll  ist.  Er  verleugnet  dadurch 
nicht  seine  Herkunft  von  der  Masturbation,  die  bis  zu  dem  entsprechenden 
Stadium  lustvoll,  beim  Neurotiker  oft  die  lebhaftesten  Unlustgefühle 
nach  sich  zieht.  Sehr  interessant  ist  es,  daß  der  Patient,  wie  erwähnt, 
manchmal  den  Traumzustand  vorzeitig,  d.  h.  vor  dem  Eintritte  der 
Bewußtseinsleere  unterbricht.  Das  ist  gleichsam  ein  Versuch,  sich  die 
Traumzustände  abzugewöhnen.  Ganz  das  Gleiche  tun  Neurotiker 
sehr  häufig,  wenn  sie  sich  von  der  Masturbation  entwöhnen  wollen"^). 
Sie  sind  oft  der  Meinung,  der  Samenverlust  sei  das  eigentlich  Schädliche 

*)  ,, Allgemeines  über  den  hysterischen  Anfall",  1.  o. 

2)  Vgl.    hierzu   Rohleder,    Über   Masturbatio   interrupta.    Zeitschrift   für 
Sexualwissenschaft,   1908. 


10  Karl  Abraham. 

an  der  Masturbation  und  begnügen  sich  daher  mit  einer  vor  der  Eja- 
kulation abgebrochenen  Masturbation.  Sie  geben  sich  dann  der  be- 
ruhigenden Vorstellung  hin,  in  Wirklichkeit  nicht  masturbiert  zu  haben. 
Diesem  Sophismus  kann  man  bei  Nervösen  häufig  begegnen.  Den 
Verzicht  auf  die  Endlust  suchen  sie  durch  sehr  ausgiebigen  Vorlustgenuß 
wettzumachen.  Der  abschHeßenden  Angst  freihch  vermögen  sie  nicht 
zu  entgehen.  Die  zu  einer  gewissen  Höhe  angewachsene  Sexualerregung, 
der  die  Abfuhr  versagt  wird,  verwandelt  sich  in  Angst. 

Wenn  wir  nun  in  dem  Traumzustande  die  Ersatzbefriedigung 
für  eine  aufgegebene  Form  der  Sexualbetätigung  erkennen,  so  sind 
wir  doch  noch  entfernt  von  einem  vollen  Verständnis  seiner  Eigentüm- 
lichkeiten. Die  Phantasien  im  ersten  und  vierten  Stadium  sind  so  in- 
dividueller Natur,  daß  wir  sie  nur  aus  einer  genauen  Kenntnis  des  Trieb- 
lebens des  Patienten  werden  begreifen  können. 

Bei  dem  Patienten  haben  sich  in  der  dem  Psychoanalytiker  ge- 
läufigen Art  die  infantilen  Neigungen  in  solchem  Grade  auf  die  ihm  am 
nächsten  stehenden  Personen  fixiert,  daß  in  der  Pubertät  die  normale 
Ablösung  nicht  gelingen  konnte.  Es  handelt  sich  im  vorliegenden  Falle 
um  eine  ausgesprochen  bisexuelle  Fixierung.  Die  heterosexuelle 
Komponente  seiner  Libido  hat  zimi  Objekt  die  Mutter.  Ihr  gegenüber 
identifiziert  er  sich  mit  dem  (übrigens  verstorbenen)  Vater.  Mit  seiner 
homosexuellen  Komponente  hängt  er  dem  Vater  an  und  identifiziert 
sich  ihm  gegenüber  mit  der  Mutter.  So  spielt  er  in  der  Neurose  bald  den 
Vater,  bald  die  Mutter.  Im  allgemeinen  ist  das  Verhalten  des  Patienten 
als  ein  äußerst  passives  zu  bezeichnen ;  er  ergibt  sich  in  das  Elend  seiner 
Neurose.  Auch  seine  Liebe  zum  Vater,  der  eine  sehr  energische  Per- 
sönlichkeit war,  trägt  den  Charakter  der  Unterwerfimg  unter  eine 
unbedingt  überlegene  Person.  Patient  bietet  die  typische  Eifersucht 
des  Neurotikers,  die  sich  aus  seiner  Kindheit  erhalten  hat.  Als  Knabe 
betrachtete  er  den  Vater  als  seinen  Rivalen  bei  der  Mutter,  während  die 
Mutter  seiner  Neigung  zum  Vater  im  Wege  stand.  Daraus  ergaben  sich 
feindselige  Wünsche,  die  —  wie  so  oft  bei  neurotischen  Kindern  — 
in  der  Phantasie,  Vater  oder  Mutter  zu  töten,  gipfelten.  Diese  Äußerungen 
des  Sadismus  fanden  eine  intensive  Verdrängung.  Von  der  Fortdauer 
dieser  Wünsche  im  Unbewußten  legt  eine  große  Zahl  von  Träumen, 
in  denen  er  den  Tod  des  Vaters  oder  der  Mutter  erlebt,  Zeugnis  ab. 
Dazu  kommen  häufige  Tagesphantasien  der  gleichen  Art  sowie  plötzliche 
aggressive  Impulse.  Die  Vorstellung,  verbrecherisch  zu  sein,  sowie  eine 
Menge  psychischer  Zwangserscheinungen  beruhen  auf  jenen  verdrängten 


über  hysterische  Traumzustände.  11 

Regungen  und  auf  gewissen  Fällen  aggressiver  Betätigung  im  Kindes- 
alter und  in  der  Pubertät. 

Die  Aggressionsneigungen  wurden  in  weitem  Umfange  sublimiert. 
Sie  könnten  nun  Verwendung  finden  als  impulsive  Energie  und  als 
Neigung  zu  hochfliegenden  Plänen  auf  anderem  als  erotischem  Gebiet. 
Aber  dieser  Wall  genügt  nicht  gegen  eine  solche  Impulsivität  der  Triebe. 
Zu  ihrer  wirklichen  Unschädlichmachung  müssen  sie  geradezu  in  ihr 
Gegenteil  verkehrt  werden.  Die  gewalttätigen  Regungen  gegen  die 
Mutter  werden  ersetzt  durch  völlige  Passivität,  durch  eine  absolute 
Abhängigkeit  von  der  Mutter,  die  bei  dem  längst  erwachsenen  Pa- 
tienten fortdauert.  Er  ist  nun  gänzlich  an  sie  und  an  das  Haus  gefesselt 
wie  ein  kleines  Kind.  Dies  ist  die  wichtigste  Quelle  der  Angst,  die  ihn 
hindert,  allein  das  Haus  zu  verlassen.  Man  vermißt  diese  Abhängigkeit 
von  einer  bestimmten  Person  (oder  auch  von  mehreren)  in  keinem  Falle 
von  Straßenangst.  Der  Versuch,  sich  allein  vom  Hause  zu  entfernen, 
würde  eine  dem  Patienten  verbotene  Aktivität  in  sich  begreifen,  er 
würde  symbolisch  eine  Ablösung  von  der  Mutter  bedeuten  und  —  wie 
die  Analyse  ergibt  —  zugleich  eine  Hinwendung  nach  der  väterlichen 
(homosexuellen)  Seite.  Will  Patient  sich  von  den  heterosexuellen  Inzest- 
phantasien losreißen,  so  verfällt  er  den  homosexuellen,  die  wiederum 
vom  Bewußtsein  energisch  abgewiesen  werden.  Es  findet  also  eine 
umfassende  Triebunterdrückung  statt;  ihr  entspricht  die  besondere 
Heftigkeit  der  nervösen  Angst  in  unserem  Falle. 

Der  Patient  korrigiert  nun,  wie  jeder  Neurotiker,  die  unbefriedi- 
gende Wirklichkeit  mit  Hilfe  seiner  Phantasie.  Er  macht  von  diesem 
Mittel  besonders  dann  Gebrauch,  wenn  ein  äußerer  Anlaß  ihm  vor 
Augen  führt,  wie  sehr  er  sich  durch  seine  kindliche  Abhängigkeit  und 
durch  sein  passives  Verhalten,  namentlich  aber  durch  seinen  Hang  zur 
Masturbation  von  gesunden  Altersgenossen  unterscheidet.  Schon  als 
Knabe  litt  er  unter  diesem  Empfinden;  sein  heftiger  Wunsch  war  es, 
sein  zu  können  ,,wie  die  andern".  Er  quälte  sich  mit  Vorwürfen,  daß 
er  sich  durch  seine  Neigungen  von  den  ,, andern"'  entferne,  daß  er  dadurch 
unfähig  werde,  mit  jenen  zu  konkurrieren.  Besonders  peinigte  ihn  die 
Befürchtung,  den  anderen  lächerlich  oder  verächtlich  zu  erscheinen. 
Aus  diesen  Gründen  erklärt  sich  die  übermäßige  Empfindlichkeit 
für  eine  Zurücksetzung  gegenüber  ,, andern".  In  der  Zurücksetzung 
sah  er  ein  Zeichen  dafür,  daß  man  ihn  nicht  achte.  Das  mußte  alle  seine 
unterdrückte  Aktivität  in  Aufruhr  bringen.  Seine  ursprünglichen 
Aggressionsneigungen  hätten  ihn  auf  eine  Zurücksetzung  mit  einem 


12  Karl  Abraham. 

Gewaltakt  antworten  lassen.  Aber  sie  wurden  ja  frühzeitig  durch 
„Reaktionsbildung"  unschädlich  gemacht  und  wagten  sich  nur  noch 
als  geheime  Phantasien  hervor.  Auf  eine  Beeinträchtigung,  die  ihm 
seiner  Meinung  nach  zuteil  geworden  war,  reagierte  er  mit  sublimierten 
Alctivitätswünschen,  mit  Größenphantasien,  deren  Erfüllung  er 
in  die  Zukunft  verlegte:  ,,wenn  ich  nur  erst  einmal  erwachsen  bin  .  .  .  ." 

Je  mehr  Patient  heranwuchs,  um  so  mehr  trat  das  Gefühl  bei 
ihm  hervor,  er  bleibe  ein  Kind.  Es  entging  ihm,  daß  es  der  stärkste 
Wunsch  seines  Unbewußten  war,  diesen  kindlichen  Zustand 
zu  erhalten.  Sein  Bewußtsein  reagierte  darauf  mit  der  entgegen- 
gesetzten Tendenz.  Jeder  Traumzustand  diente  dem  Wunsch,  er- 
wachsen zu  sein.  Das  bedeutete  für  ihn  ein  Vielfaches:  unabhängig, 
selbständig,  energisch  zu  sein  (wie  der  Vater),  frei  von  der  ihn  be- 
heirschenden  Gewohnheit  und  vor  allem  fähig  zu  sexueller  Aktivität. 
Denn  die  Angst  vor  Impotenz  beherrscht  ihn  wie  jeden  Neurotiker, 
der  von  der  infantilen  Sexualbetätigung  und  von  den  Objekten  der 
infantilen  Sexualphantasie  nicht  lassen  kann. 

Mit  den  Größenphantasien,  die  wir  von  der  Sublimierung  ,, sadi- 
stischer" Regungen  ableiteten,  verbindet  sich  bei  dem  Patienten  regel- 
mäßig die  Vorstellung,  sich  vor  Zuschauern  hervorzutun,  aller  BHcke 
auf  sich  zu  lenken.  Sie  erklärt  sich  aus  der  Subhmierung  verdrängter 
Exhibitionswünsche.  Bei  Neurotikern,  die  einen  krankhaft  gesteigerten 
Ehrgeiz  aufweisen,  konnte  ich  stets  den  Nachweis  erbringen,  daß  in 
diesem  Charakterzuge  die  verdrängten  sadistischen  und  exhibitio- 
nistischen Wünsche  sich  gewissermaßen  einen  gemeinsamen  Ausweg 
suchen.  In  unserem  Falle  läßt  sich  nun  feststellen,  daß  es  in  der  Jugend 
wirklich  zu  sadistisch-exhibitionistischen  Handlungen  gekommen  ist, 
aus  denen  der  Patient  schwere  Selbstanklagen  herleitet.  Die  immer 
wieder  notwendige  Verdrängung  dieser  Triebe  ist  eine  stetige  Quelle 
der  Angst.  Er  vermag  z.  B.  nicht  die  Straßenbahn  zu  benutzen,  weil  oft 
plötzlich  der  Impuls  auftaucht,  vor  den  anwesenden  Personen  zu 
exhibieren  oder  auf  eine  weibhche  Person  einen  sexuellen  Angriff  zu 
machen.  Ähnliche  Impulse  treten  auch  sonst,  z.  B.  in  der  Unterhaltung 
mit  Frauen  auf.  Der  Sublimierungsprozeß  führt  nun  zu  einem  par- 
tiellen oder  gänzhchen  Verzicht  auf  das  ursprüngliche  Ziel  des  Ex- 
hibitionstriebes,  die  Entblößung.  Die  unerlaubte  Exhibition  wird  durch 
Phantasien  ersetzt,  die  sich  mit  einem  weit  harmloseren  Ziel  begnügen. 
Der  Patient  zieht  die  Blicke  der  Menschen  auf  sich,  aber  nicht  die  sexuell 
begehrenden  oder  neugierigen,   sondern   die  bewundernden   Bücke. 


über  hysterische  Traumzustände.  13 

Wir  hatten  verschiedenartige  Eindrücke  kennen  gelernt,  welche 
bei  dem  Patienten  zum  Auftreten  der  Traumzustände  Anlaß  geben. 
Ihre  Wirkung  beruht,  wie  wir  nunmehr  sagen  können,  darauf,  daß 
sie  Wünsche  der  sexuellen  Aggression  oder  der  Exhibition  bei  ihm 
wachrufen,  die  in  sublimierter  Form  zum  Ausdruck  gebracht  werden. 
Daß  der  Anblick  weiblicher  Personen  einen  Traumzustand  auslösen 
kann,  ist  nun  leicht  verständlich.  Wird  dem  Patienten  anderen,  tat- 
kräftigen Menschen  gegenüber  seine  Passivität  allzu  fühlbar,  so  korrigiert 
er  die  Wirklichkeit,  indem  er  sich  mit  Hilfe  seiner  Einbildungskraft 
zu  einem  sehr  aktiven  Manne  macht,  der  die  Aufmerksamkeit  auf 
sich  zieht.  Starke  Körperbewegung  kann  zur  auslösenden  Ursache 
dadurch  werden,  daß  sie  dem  Patienten  das  Gefühl  der  Alvtivität  gibt. 
Das  Poltern  eines  Eisenbahnzuges  erregt  in  ihm  den  Wunsch  nach 
Kraftentfaltung.  Auch  die  sich  nun  anschließenden  Phantasien  gehören 
ganz  in  das  Gebiet  der  erwähnten  Triebe.  Als  Simultan- Schachspieler 
im  Cafe  von  Tisch  zu  Tisch  zu  schreiten,  das  ist  allerdings  eine  be- 
sonders gute  Gelegenheit,  sich  den  Blicken  anderer  zu  exponieren. 
Das  Schachspiel  selbst  bietet  überdies  dem  Patienten,  wie  die  Analyse 
ergeben  hat,  vollauf  Gelegenheit  zur  Betätigung  sublimierter  Triebe. 
Daß  auf  dem  Brett  zwei  Parteien  kämpfen,  daß  man  angreift,  schlägt, 
die  feindliche  Stellung  zertrümmert  usw.,  das  sind  Vorstellungen,  die 
den  Patienten  seiner  eigenen  Aussage  nach  geradezu  faszinieren.  Er 
schwelgt  in  diesen  technischen  Ausdrücken;  er  befriedigt  in  einsamen 
Schachübungen  seinen  Aggresionstrieb. 

Während  die  phantasierte  Erfüllung  seiner  ehrgeizigen  Wünsche, 
d.  h.  die  Befriedigung  sublimierter  Triebe  mit  Gefühlen  der  Lust 
verbunden  ist,  weist  das  Schlußstadium  des  Traumzustandes  den 
entgegengesetzten  Affekt  der  Angst  auf.  Es  läßt  sich  nun  dartun, 
daß  auch  der  Inhalt  der  Phantasien  im  Schlußstadium  in 
einem  gegensätzlichen  Verhältnis  zum  Inhalt  der  einleitenden  Phan- 
tasien steht. 

Im  Beginne  des  Traumzustandes  erhebt  sich  der  Patient  aus  seiner 
habituellen  Passivität  zur  Aktivität.  Das  Schlußstadium  leitet  wieder 
zu  dem  alten  Zustande  hinüber.  An  Stelle  der  großen  Pläne  finden 
wir  jetzt  Mutlosigkeit  und  Niedergeschlagenheit.  Der  Patient,  der 
vorhin  voller  Kraftgefühl  war  und  in  Sturmschritt  verfiel,  fühlt  sich 
jetzt  schwach  und  in  seinen  Bewegungen  gehemmt.  Er  glaubt,  nicht 
mehr  vorwärts  kommen  zu  können  —  eine  treffende,  symbolische 
Charakteristik   seiner   tatsächlichen    Situation.    Er   wird   wieder   zum 


14  Karl  Abraham. 

kleinen  Kinde,  das  ja  nicht  allein  laufen  kann^).  Die  unbewußte  Ten- 
denz, die  den  infantilen  Zustand  aufiecht  erhalten  will,  hat  den  Sieg 
davongetragen.  Darum  kommt  Patient  sich  so  winzig  vor,  erscheinen  ihm 
Menschen  und  Dinge  so  groß^).  Wie  ein  Kind,  das  noch  nicht  laufen 
gelernt  hat,  möchte  er  auf  allen  Vieren  kriechen,  nach  Hause  zur 
Mutter.  Wollte  er  vor  wenigen  Augenblicken  noch  aller  Blicke  auf 
sich  lenken,  so  möchte  er  jetzt  verschwinden,  in  den  Boden  sinken, 
um  nur  nicht  gesehen  zu  werden. 

Das  sehr  intensive  Gefühl  der  Schwäche  im  vierten  Stadium 
ist  mehrfach  determiniert.  Es  bedeutet  zunächst  die  befürchtete  sexuelle 
Schwäche.  Nahm  Patient  im  Beginne  des  Traumzustandes  einen  Anlauf 
zur  kraftvollen  Aktivität,  so  fällt  er  nun  wieder  in  die  Passivität  zurück; 
es  fehlt  ihm  die  männliche  Kraft.  Das  Gefühl,  vor  Schwäche  nicht 
stehen  zu  können,  enthält  einen  symbolischen  Hinweis  auf  die  Im- 
potenz. Eine  weitere  Determinierung  für  diese  Hinfälligkeit  geben  die 
Todesphantasien,  die  ja  niemals  fehlen,  wenn  Aggressionspläne  gegen 
Angehörige  unterdrückt  werden  mußten.  Diese  Todesphantasien  des 
Schlußstadiums  stehen  in  einem  beachtenswerten  Gegensatze  zu  der 
energischen  Vitalität  im  einleitenden  Stadium. 

Aggressionstrieb  und  Exhibitionstrieb  sind  nun  wieder  der  Unter- 
drückung verfallen.  Aus  dem  zurückbleibenden  Zustand  der  Depression 
sucht  Patient  sich,  wie  erwähnt  wurde,  durch  Rauchen  einer  Zigarre  zu 
befreien.  Es  ist  aber  nicht  so  sehr  die  Nikotinwirkung,  der  die  De- 
pression allmählich  weicht.  Vielmehr  hat  auch  das  Rauchen  für  den 
Patienten  die  Bedeutung  einer  Ersatzbefriedigung.  Es  ist  ein  Zeichen 
der  Männlichkeit,  die  er  entbehrt^).  Das  Rauchen  ist  ihm  ein  Trost 
in  dieser  Situation. 

Die  vasomotorischen  und  parästhetischen  Begleiterscheinungen 
erfordern  ein  gesondertes  Eingehen.  Das  von  diesem  Patienten  (und 
wie  sich  zeigen  wird,  auch  von  anderen)  beschriebene  Hitzegefühl  gehört 
zu  den  normalen  Begleiterscheinungen  der  Sexualerregung;  es  wurde 


^)  Auf  die  anderweitigen  Determinierungen  des  ,, Gleitens"  und  ,,Fallens" 
will  ich  hier  nicht  eingehen. 


^^ 


*)  Dies  die  wichtigste  Ursache  des  als  „Makropsie"  beschriebenen  SjTnptoms. 
Ich  habe  es  in  ganz  gleicher  Weise  in  den  Angstanfällen  einer  Patientin 
beobachtet. 

3)  Ich  gehe  der  Kürze  halber  auf  die  anderen  Determinationen  des  Rauchens 
(Betätigung  der  Mundzone;  Identifikation  mit  dem  Vater)  nicht  näher  ein. 


über  hysterische  Traumzustände.  15 

aus  dem  masturbatorischen  Akt  in  den  Traumzustand  übernommen. 
Es  ist  bemerkenswert,  daß  Patient  auch  sehr  leicht  errötet;  sobald  er 
unter  Menschen  kommt,  tritt  seine  außerordentlich  erregbare  Sexual- 
phantasie in  Tätigkeit  und  äußert  sich  im  Körperlichen  durch  die  Hitze- 
welle. Es  kann  uns  nicht  verwundern,  daß  diese  kongestive  BlutweUe 
auch  die  Aktivitätsphantasien  des  Patienten  begleitet;  denn  letztere 
vertreten  ja  nur  unbewußte  Sexualphantasien. 

Schon  v/ährend  der  phantastischen  Exaltation  nimmt  der  Patient 
neben  der  aufsteigenden  Hitze  eine  ,, Unterströmung"  von  Kälte  und 
Angst  wahr.  Im  abschließenden  Stadium  der  Angst  ist  das  Kältegefühl 
vorherrschend.  Im  allgemeinen  also  tritt  das  Hitzegefühl  auf,  wenn 
Patient  sich  zur  sexuellen  Aktivität  aufschwingen  möchte,  während  das 
Kältegefühl  erscheint,  wenn  mit  der  Umwandlung  der  Triebregungen 
in  Angst  die  Verdrängungstendenz  wieder  die  Oberhand  gewinnt.  Das 
Blut  wird  nun  nicht  mehr  mit  der  vorherigen  Heftigkeit  nach  der  Peri- 
pherie getrieben.  Das  nun  einsetzende  Kältegefühl  ist  jedoch  noch 
anderweitig  determiniert.  Patient  fühlt,  wie  ihm  Körperteile  ab- 
sterben; er  glaubt,  im  nächsten  Augenblick  zusammenzubrechen, 
hinzuschwinden.  Es  kommt  also  im  vierten  Stadium  zu  einem 
symbolischen  Sterben,  welches  u.  a.  in  dem  Kältegefühl  seinen  Aus- 
druck findet.  Die  weiter  fortgesetzte  Analyse  ergibt  dann,  daß  auch 
dieses  Sterben  eine  doppelte  Bedeutung  hat.  Es  erhält  einen  besonderen 
Sinn  durch  die  vom  Patienten  befürchtete  Impotenz;  die  eigentliche 
Lebenskraft  fehlt  ihm. 

Dient  das  erste  Stadium  des  Traumzustandes  den  Phantasien 
von  der  kraftvollen  Männlichkeit,  so  weist  das  letzte  Stadium  eine  Ver- 
dichtung zweier  Vorstellungsreihen  auf,  welche  den  Männlichkeits- 
phantasien entgegengesetzt  sind:  1.  ein  Kind  bleiben  und  2.  sterben. 
Der  erwachsene  Mann  mit  seiner  energischen  Vitalität  steht  in  der 
Mitte  zwischen  Kindheit  und  Tod. 

Die  Traumzustände  dieses  Patienten  gewähren  uns  Einblicke 
in  den  Kampf  zwischen  Trieb  und  Verdrängung,  wie  er  sich  in  jeder 
Neurose  abspielt.  Verdrängte  Triebe  von  ursprünglich  abnormer  Stärke 
ringen  sich  vom  Unbewußten  los,  um  rasch  den  verdrängenden  Mächten 
wieder  zu  liegen.  Jeder  solche  Zustand  dieses  Patienten  stellt  eine 
Revolution  gegen  die  Neurose  dar,  freilich  eine  stets  vergebliche.  Schon 
der  nächste  Fall  wird  aber  zeigen,  daß  die  Traumzustände  nicht  bei  allen 
Patienten  die  nämliche  Tendenz  haben. 


16  Karl  Abraham. 

Beobachtung  C. 

Die  Traumzustände  entstehen  bei  der  Patientin  C  ebenfalls, 
wenn  sie  sich  durch  eine  aktuelle  Situation,  der  sie  nicht  entgehen  kann, 
gequält,  deprimiert,  erniedrigt  fühlt.  Ein  Gespräch  mit  peinlichem 
Inhalt  gibt  den  Anlaß,  oder  ein  körperliches  Übelbefinden.  In  dieser 
Beziehung  kommt  besonders  der  Menstruation  die  Rolle  des  aus- 
lösenden Anlasses  zu.  Die  Patientin  äußert:  , .Während  der  Periode 
geht  mir  jede  Realität  verloren."  Ganz  wie  bei  dem  vorigen  Patienten, 
findet  auch  hier  im  Traumzustand  eine  Isolierung  von  der  Außen- 
welt statt.  Man  könnte  nun  nach  Analogie  jenes  Falles  erwarten, 
der  Traumzustand  entführe  die  Patientin  der  quälenden  Wirklichkeit. 
Das  Gegenteil  trifft  zu.  Tatsächhch  versetzt  Patientin  sich  durch 
ihre  Phantasien  in  einen  Zustand  noch  größeren  Leidens,  in  absolute 
Passivität,  und  zieht  daraus  masochistischen  Lustgewinn.  Aus  ihrer 
Kindheit  ließen  sich  interessante  Details  über  wirkliche  masochistische 
Betätigung  mitteilen.  Aber  auch  jetzt  ist  diese  Triebrichtung  deutlich 
erkennbar.  Die  Patientin  versteht  es  nämlich,  ganz  wie  ich  es  auch  bei 
verschiedenen  anderen  Patienten  sah,  den  Traumzustand  auch 
willkürlich  herbeizuführen.  ,, Manchmal  verlockt  mich  etwas, 
den  Traumzustand  herbeizuführen",  Sie  rezitiert  zu  diesem  Zwecke  aus 
dem  Gedächtnis  eine  Stelle  aus  Hebbels  ,, Maria  Magdalena"  (III.  Akt, 
2.  Szene).  Es  sind  folgende  Worte  der  Klara: 

,,Ich  will  dir  dienen,  ich  will  für  dich  arbeiten,  und  zu  essen  sollst 
du  mir  nichts  geben,  ich  will  mich  selbst  ernähren,  ich  will  bei  Nachtzeit 
nähen  und  spinnen  für  andere  Leute,  ich  will  hungern,  wenn  ich  nichts 
zu  tun  habe,  ich  will  lieber  in  meinen  eigenen  Arm  hineinbeißen,  als  zu 
meinem  Vater  gehen,  damit  er  nichts  merkt.  Wenn  du  mich  schlägst, 
weil  dein  Hund  nicht  bei  der  Hand  ist  oder  weil  du  ihn  abgeschafft  hast, 
so  will  ich  eher  meine  Zunge  verschlucken,  als  ein  Geschrei  ausstoßen, 
das  den  Nachbarn  verraten  könnte,  was  vorfällt.  Ich  kann  nicht  ver- 
sprechen, daß  meine  Haut  die  Striemen  deiner  Geißel  nicht  zeigen  soll, 
denn  das  hängt  nicht  von  mir  ab,  aber  ich  will  lügen,  ich  will  sagen, 
daß  ich  mit  dem  Kopf  gegen  den  Schrank  gefahren  oder  daß  ich  auf  dem 
Estrich,  weil  er  zu  glatt  war,  ausgeglitten  bin,  ich  wills  tun,  bevor  noch 
einer  fragen  kann,  woher  die  blauen  Flecke  rühren.  Heirate  mich  — 
ich  lebe  nicht  lange.  Und  wenn's  dir  doch  zu  lange  dauert  und  du  die 
Kosten  der  Scheidung  nicht  aufwenden  magst,  um  von  mir  loszu- 
kommen, so  kauf  Gift  aus  der  Apotheke,  und  stell's  hin,  als  ob's  für 


über  hysterische  Traumzustände.  17 

deine  Ratten  wäre,  ich  will's,  ohne  daß  du  auch  nur  zu  winken  brauchst, 
nehmen  und  im  Sterben  zu  den  Nachbarn  sagen,  ich  hätt's  für  zer- 
stoßenen Zucker  gehalten  \" 

Die  Patientin  gerät,  wenn  sie  diese  typisch  masochistischen  Vor- 
stellungen in  sich  eingesogen  hat,  in  einen  Zustand  traumhafter  Ent- 
rückung. Sie  empfindet  als  lustvoll  einerseits  die  masochistische  Unter- 
werfung der  Klara,  mit  welcher  sie  sich  identifiziert,  andrerseits  ihre 
eigene  Isolierung  von  der  Welt.  Sie  betont  mit  großem  Nachdruck 
das  Lustvolle  dieser  Abgeschiedenheit;  in  ihren  Träumen  durchlebt  sie 
ähnliche  Situationen.  Die  Welt  ist  ihr  fern,  der  eigene  Körper  erscheint 
ihr  verändert,  die  eigene  Stimme  fremd.  ,,Der  Mensch,  der  da  spricht, 
ist  mir  ganz  fremd."  Um  die  Qual  noch  zu  erhöhen,  nehmen  alle  Dinge 
bizarre,  verzerrte  Formen  an,  so  daß  sie  an  Zeichnungen  von  Kubin 
erinnern.  ,, Alles  ist  grausamer,  schwärzer  als  in  Wirklichkeit."  Diese 
masochistischen  Phantasien  gipfeln  in  Vorstellungen  vom  Tode,  in  der 
Idee,  zum  Fenster  hinausspringen  zu  müssen  usw.  Nach  Überschreitung 
des  Höhepunktes  setzt  heftige  Angst  ein.  Dazu  gesellen  sich  angstvolle 
Vorstellungen,  die  entsprechend  der  momentanen  Lage  variieren. 
Macht  Patientin  z.  B.  auf  der  Straße  den  Zustand  durch,  so  hat  sie  das 
Gefühl,  sie  müsse  fallen,  sie  könne  nicht  allein  nach  Hause  gelangen, 
müsse  irgend  einen  beliebigen  Mann  ansprechen.  ,, Fallen"  und  „einen 
Mann  ansprechen"  sind  doppelsinnige  Ausdrücke.  Sie  charakterisieren 
nicht  nur  den  Zustand  der  Hilflosigkeit  und  Hilfsbedürftigkeit,  sondern 
sie  deuten  auf  die  bei  hysterischen  Frauen  so  häufigen,  aber  streng  geheim 
gehaltenen  Prostitutionsphantasien  hin^).  Patientin  empfindet  den 
Trieb,  sich  dem  ersten  besten  Manne  hinzugeben  und  hat  dies  zu  Zeiten, 
in  denen  Zustände  wie  die  geschilderten  häufig  auftraten,  wirklich  getan. 
Die  Prostitutionsgelüste  erscheinen  hier  nur  als  eine  spezielle  Form  des 
Masochismus;  sie  begreifen  für  die  Patientin,  die  im  allgemeinen  selbst- 
bewußt, ja  herrschsüchtig  ist,  die  tiefste  Erniedrigung  in  sich. 

Bei  dieser  Patientin  lernen  wir  auch  das  Vorkommen  sehr  pro- 
trahierter Traumzustände  kennen,  wie  ihrer  Löwenfeld  ebenfalls 
Erwähnung  tut.  Bei  manchen  Neurotikern  dauert  das  Gefühl,  in  einem 
Traum  befangen  zu  sein,  mitsamt  den  Zweifeln  an  der  Realität  der  Um- 
gebung durch  Monate  und  noch  darüber.  Patientin  litt  sehr  lange  unter 
dem  Eindruck,  alles  um.  sie  sei  nur  ein  Schauspiel,  sie  selbst  sei  körperlich 
tot,  sei  nur  ein  geistiges  Wesen,  das  die  wirkliche  Welt  beobachte, 

')  Diese  kommen  bei  der  Patientin  in  häufigen  Träumen  zum  deutlichsten 
Ausdruck,  desgleichen  in  verräterischen  Symptomhandlungen. 

Jalirbuch  für  psyohoanalyt.  u.  psychopathol.  Forschungen.     IL  2 


18  Karl  Abraham. 

ohne  mit  ihr  irgend  etwas  gemein  zu  haben.  Sie  erklärt,  dieser  lang- 
dauernde  Zustand  sei  eigentlich  eine  Qual  gewesen,  aber  eben  dadurch 
habe  er  ihr  den  Zugang  zu  Dingen  verschafft,  die  ihr  sonst  verschlossen 
geblieben  wären.  Diese  Zustände  gestatteten  es  der  Patientin,  sich  aus 
der  Welt,  die  ihre  Wünsche  unbefriedigt  ließ,  in  eine  Traumwelt  zu 
flüchten. 

Beobachtung  D. 

Der  noch  jugendUche  Patient  D  leidet  seit  seiner  Kindheit  an  einer 
schweren  Hysterie,  die  ihn  fast  vöUig  unsozial  macht.  Er  spricht  z.B.  mit 
anderen  Menschen  kaum  das  Nötigste  und  vermeidet  es,  in  Gegenwart 
Fremder  zu  essen,  weil  er  bei  jeder  solchen  Gelegenheit  schwere  Angst 
ausstehen  muß.  Schon  durch  seine  Art  zu  leben  schließt  er  sich  also  gegen 
die  Außenwelt  ab.  Dieser  Tendenz  dienen  auch  seine  Traumzustände. 

Das  Sonderlingsleben  eines  so  jungen  Mannes  ist  motiviert  durch 
eine  ganz  ausnahmsweise  starke  Fixierung  der  Libido  auf  die  nächsten 
Angehörigen.  Patient  ist  außerordenthch  fest  an  den  engen  Kreis  dieser 
Personen  gebunden;  jedes  Hinaustreten  aus  diesem  erregt  Angst.  Geht 
er  aus  dem  Hause,  will  er  Fremden  einen  Besuch  machen,  will  er  mit 
einem  Vorgesetzten  sprechen,  stets  tritt  Angst  ein.  Die  ungewöhnhch 
starke  Sexualphantasie  des  Kranken  hängt  an  seiner  Familie,  und  zwar 
sind  nicht  nur  seine  heterosexuellen  Wünsche  auf  Mutter  und  Schwester 
fixiert,  sondern  in  ganz  besonderem  Grade  beschäftigt  er  sich  in  homo- 
sexuell-masochistischem  Sinne  mit  der  Person  seines  Vaters.  Nähert 
sich  Patient  nun  irgend  einem  fremden  Menschen,  so  beschäftigt  sich 
seine  Sexualphantasie  sofort  mit  diesem.  Der  Versuch  einer  ,, Über- 
tragung" erfährt  aber  ebenso  rasch  eine  Unterdrückung.  Patient  wollte 
einen  Augenblick  lang  aus  dem  engen  Kreise  heraustreten,  aber  die 
Fixierung  seiner  Libido  auf  die  Angehörigen  ist  zu  stark,  und  so  folgt 
jedem  Versuche,  den  er  in  dieser  Richtung  unternimmt,  die  Angst 
auf  dem  Fuße. 

Die  erwähnten  sexuellen  Phantasien  bildeten  für  den  Patienten 
stets  die  Einleitung  zur  Masturbation.  Er  betreibt  nun  die  Mastvu'bation 
in  einer  raffinierten  Weise,  indem  er  nie  brüske  Manipulationen  an- 
wendet, sondern  im  Gegenteil  ganz  leichte,  dafür  aber  lange  fortgesetzte 
Eeize  appliziert  (leichtes  Zusammenpressen  der  Schenkel,  Mani- 
pulationen durch  die  Kleider  hindurch).  Unter  diesen  körperlichen 
Beizen  und  den  sie  begleitenden  Phantasien  tritt  nun  die  traumhafte 
Entrückung  ein.  Es  kommt  beim  Patienten  nie  zur  Ejakulation,  dagegen 


über  hysterische  Traumzustände.  19 

ZU  einem  sehr  ausgeprägten  Stadium  der  Bewußtseinsleere.  Wir  sehen 
in  diesem  Falle  die  Traumzustände  noch  in  ihrer  direkten  und  ursprüng- 
lichen Verknüpfung  mit  der  Masturbation.  Doch  treten  sie  auch  ganz 
spontan  auf,  und  zwar  namentlich  in  Anwesenheit  des  Vaters  des  Patien- 
ten. Dann  regen  sich  eben  jene  Phantasien,  denen  Patient  in  der  Ein- 
samkeit nachhängt.  Sie  leiten  jetzt  den  Traumzustand  wie  sonst  die 
Masturbation  ein. 

Jahrelang  hat  Patient  diese  für  ihn  in  hohem  Grade  lustvollen  Zu- 
stände während  des  Schulunterrichtes  genossen.  Er  war,  wie  seine  Lehrer 
bemerkten,  ohne  Teilnahme  für  den  Unterricht  und  meist  wie  geistes- 
abwesend. Ihn  beherrschten  eben  Phantasien,  die  vom  Unterrichte 
weit  abseits  lagen.  Wurde  er  nun  durch  eine  Frage  des  Lehrers  aus  seinem 
Dämmern  aufgescheucht,  so  trat  heftige  Angst  ein.  Im  Laufe  der  Jahre 
hat  sich  in  dieser  Hinsicht  bei  ihm  nichts  geändert.  Der  Traumzustand 
dient  ihm  auch  jetzt  dazu,  sich  in  völliger  Einsamkeit  abzuschließen. 
Er  ist  ganz  in  sich  gekehrt  und  es  fällt  ihm  schwer,  sich  auf  irgend 
etwas,  das  außerhalb  des  Kreises  seiner  Phantasien  liegt,  zu  kon- 
zentrieren. Befindet  der  Patient  sich  in  einer  ihm  unerwünschten 
Situation,  so  ruft  er  nicht  selten  den  Traumzustand  willkürlich  durch 
ein  einfaches  Mittel  hervor,  das  den  Abschluß  gegen  äußere  Eindrücke 
in  deutlichster  Weise  symbolisiert:  er  schließt  die  Augen.  Während  der 
psychoanalytischen  Sitzungen  schloß  er  die  Augen  stets,  wenn  wir 
auf  ein  Gebiet  kamen,  über  das  er  nicht  zu  reden  wünschte.  Dann  war 
es  unmöglich,  auch  nur  ein  Wort  aus  dem  Patienten  herauszubringen, 
der  wie  erstarrt  und  geistesabwesend  dasaß.  Als  ich  ihm  erklärte,  die 
Traumzustände  erforderten  ein  genaues  psychoanalytisches  Eingehen, 
trat  sofort  ein  Traumzustand  ein,  der  natürlich  ein  solches  Eingehen 
zunächst  unmöglich  machte.  Übrigens  ist  Patient  auch  imstande,  den 
Traumzustand  selbst  zu  unterbrechen.  Er  tut  dies  durch  einen  plötz- 
lichen Ruck  des  Kopfes. 

!,?;  Eine  besondere  Verwendung  findet  der  Traumzustand  noch,  wenn 
Patient  unter  einem  eigentümlichen,  psychisch  bedingten  Schmerz 
zu  leiden  hat.  Er  ruft  dann  durch  sexuell  erregende  Manipulationen 
den  Traumzustand  hervor.  Der  Schmerz  verwandelt  sich  dann  ganz 
allmählich  in  ein  Lustgefühl. 

Beobachtung  E. 

Auch  bei  dem  Patienten  E  begegnen  wir  einer  überaus  starken 
infantilen   Sexualübertragung  auf  beide  Eltern  und  vermissen  nicht 

9* 


20  Karl  Abraham. 

die  stets  zugehörigen,  vom  Bewußtsein  streng  abgelehnten  Todeswünsche. 
Diese  letzteren  waren  besonders  auf  die  Mutter  gerichtet,  durch  den 
Vorgang  der  Reaktionsbildung  aber  in  eine  übergroße  Anhänglichkeit 
von  durchaus  kindhchem  Charakter  verwandelt.  Dem  längst  erwachsenen 
Manne  kommt  es  noch  jetzt  sonderbar  vor,  daß  er  erwachsen  ist;  er  hat 
das  Gefühl,  eigentlich  noch  ein  Kind  zu  sein.  Es  ist  sehr  bemerkens- 
wert, daß  der  Tod  der  Mutter  bei  diesem  Patienten  den  ersten  Traum- 
zustand auslöste,  welcher  einen  sehr  protrahierten  Verlauf  nahm.  Patient 
hatte  viele  Monate  hindurch  beständig  das  Gefühl,  im  Traum  umher 
zu  gehen;  nur  die  Intensität  dieses  Gefühles  bot  große  Schwankungen. 
Ganz  spontan  äußert  Patient:  „Ich  kann  mir  die  Realität  nicht 
vorstellen,  wenn  ich  nicht  Seite  an  Seite  mit  ihr  (der  Mutter) 
bin."  An  die  Stelle  der  verdrängten  Phantasien,  die  sich  einst  gegen 
das  Leben  der  Mutter  gerichtet  hatten,  ist  also  im  Bewußtsein  die 
Vorstellung  getreten,  das  eigene  Leben  des  Patienten  hänge  vom  Leben 
der  Mutter  ab,  und  höre  auf,  wenn  das  ihrige  aufhöre.  Die  Todesphan- 
tasien haben  sich  gegen  den  Patienten  selbst  gekehrt.  Er  äußert 
weiter  wörtlich:  ,,Hand  in  Hand  damit  geht  die  Vorstellung  vom  Un- 
wert alles  Vorhandenen".  Mit  dem  Tode  der  Mutter  hat  die  Welt  auf- 
gehört, für  den  Patienten  Wert  zu  haben !  Seine  Libido  zieht  sich  zeit- 
weise  von  den  Dingen  zurück.  Nun  erscheint  ihm,  ganz  wie  wir  es  bei 
den  anderen  Kranken  sahen,  alles  fremd,  als  hätte  er  es  nie  gesehen. 
Die  Menschen,  mit  denen  er  spricht,  scheinen  ihm  gar  nicht  wirklich 
zu  existieren.  Alle  früheren  Erlebnisse  —  d.  h.  diejenigen,  welche  sich 
zu  Lebzeiten  seiner  Mutter  zugetragen  haben  —  sind  weit  von  ihm 
abgerückt:  ,, Rückwärts  hat  alles  etwas  Traumhaftes,  als  wäre  es  un- 
endlich lange  her." 

Der  geschilderte  Zustand  herrscht  auch  jetzt  öfter,  ohne  daß 
sein  Kommen  und  Gehen  dem  Patienten  besonders  auffällt.  Patient 
ist  auch  im  allgemeinen  imstande,  die  in  seinem  Berufe  notwendige, 
sehr  intensive  geistige  Arbeit  zu  leisten.  In  den  letzten  Jahren  sind  nun 
Traumzustände  von  kurzer  Dauer  und  akutem  Verlaufe  hinzugetreten. 
Sie  haben  eine  sehr  eigenartige  Entstehungsgeschichte. 

Patient  leidet  an  periodischen  Kopfschmerzen  von  quälendster 
Heftigkeit,  über  deren  Ursprung  später  einiges  erwähnt  werden  soll. 
Vor  ungefähr  3  Jahren  entschloß  er  sich,  die  Hilfe  eines  Nervenarztes 
in  Anspruch  zu  nehmen,  der  sich  speziell  mit  hypnotischer  Therapie 
beschäftigte.  Da  eine  Reihe  von  Versuchen  nicht  zu  einer  Hypnose  führte, 
gab  Patient  die  Behandlung  auf,  versuchte  nun  aber  selbst,  sich  in  einen 


über  hysterische  Traumzustände.  21 

von  dem  gewöhnlichen  abweichenden  Bewußtseinszustand  zu  versetzen, 
in  der  Hoffnung,  dadurch  den  Kopfschmerz  zu  verlieren.  Es  gelang  ihm 
eine  Anzahl  von  Malen,  einen  solchen  höchst  lustvollen  Zustand 
hervorzurufen,  den  er  selbst  als  eine  ,, Autohypnose"  auffaßt.  Der  Kopf- 
schmerz wurde  freilich  dadurch  nicht  beeinflußt. 

Patient  hat  den  Wunsch,  hypnotisiert  zu  werden,  auch  mir  wieder- 
holt und  auffallend  eindringlich  geäußert.  Die  Unterordnung  unter  den 
Willen  eines  andern  liegt  in  der  Richtung  seines  Masochismus.  Er  spricht 
es  selber  aus,  daß  sein  höchstes  Ideal  sei,  sich  vöUig  passiv  verhalten  zu 
können,  daß  er  es  als  eine  Qual  empfinde,  im  Leben  alle  seine  Energie 
anstrengen  zu  müssen.  Seine  Sexualität  bietet  unverkennbare  maso- 
chistische  Züge  in  Menge.  Lange  Zeit  masturbierte  er  unter  maso- 
chistischen  Phantasien,  bis  er  sich  unter  schweren  Kämpfen  halbwegs 
von  der  Masturbation  befreite.  Ein  für  das  Verständnis  der  Traum- 
zustände ausschlaggebendes  Symptom  der  sexuellen  Passivität  ist  aber 
seine  psychische  Impotenz.  Sie  ist  bei  dem  Patienten  in  der  gleichen 
Zeit  entstanden,  als  er  die  Traumzustände  hervorrief.  Patient  hat  sich 
übrigens,  wie  er  spontan  erklärt,  schon  früher  gewünscht,  sexuell  passiv 
sein  zu  können.  Er  möchte  sich  der  sexuellen  Lust  passiv  hin- 
geben können  wie  ein  Weib. 

Der  Traumzustand  bringt  die  Erfüllung  dieser  Ideale  unter  hoher 
Lust.  Dem  Wunsche  nach  dem  Ende  aller  Aktivität  entspricht  es,  daß 
Patient  sich,  um  den  Zustand  herbeizuführen,  mit  aller  Gewalt  darauf 
konzentriert,  nichts  zu  denken.  Sein  Leben  dient  im  allgemeinen 
der  angestrengten  Denkarbeit;  er  wünscht  das  Gegenteil  dieses  Zustandes 
herbei.  Wir  sahen  bereits  bei  den  anderen  Patienten  auf  der  Höhe  des 
Traumzustandes  eine  ,, Gedankenleere"  eintreten.  Im  vorliegenden 
Falle  finden  wir  ein  ganz  bewußtes  Tendieren  nach  diesem  Stadium, 
daß  ja  dem  Moment  der  höchsten  Lust  entspricht. 

Hören  wir  nun  die  eigene  Beschreibung,  die  der  Patient  unter 
den  Zeichen  eines  starken  Affektes  spontan  gegeben  hat;  sie  ist  uns 
nach  dem  Gesagten  ohne  weiteres  verständlich.  ,, Zuerst  ist  es  eine  An- 
strengung, wie  beim  sexuellen  Verkehr;  wenn  ich  es  jetzt  machen  wollte, 
ich  müßte  mich  hinlegen  und  müßte  arbeiten.  Es  ist  die  strengste  Kon- 
zentration darauf,  nichts  zu  denken.  Ich  schließe  die  Augen.  Nichts 
von  der  Außenwelt  darf  zu  mir  dringen.  Dann  kommt  das  kurze  Stadium 
der  Wonne,  der  vollständig  umgekehrten  Lebensgefühle,  die  größte 
physische  Veränderung,  die  ich  kenne.  Ich  glaube,  ich  kann  die  Worte 
nicht  extrem  genug  gebrauchen.  Das  kurze  Stadium  der  Lust  ist  doch 


22  Karl  Abraham. 

wie  eine  Unendlichkeit."  Auf  dem  Höhepunkte  des  Erreg ungs Vor- 
ganges —  als  einen  solchen  müssen  wir  ihn  bezeichnen  —  ist  das  Denken 
unterbrochen. 

Der  Patient  vervollständigt  seine  Schilderung  wie  folgt:  ,,Man 
hat  die  Idee  im  Leben,  als  wenn  alles  vorwärts  drängt;  ich  meine  z.  B. 
den  Blutkreislauf.  Mit  einem  Schlage  ist  alles  anders;  nun  ebbt  alles 
zurück,  als  wenn  es  nicht  mehr  vorwärts,  sondern  rückwärts  ginge. 
Es  ist,  als  wenn  ein  Zauber  in  Kraft  getreten  wäre.  Während  sonst 
alles  aus  dem  Körper  hinaus  will,  wird  es  nun  in  den  Körper  zurück- 
getrieben. Ich  strahle  nicht  aus,  sondern  ich  ziehe  ein."  Dann,  nach 
einer  kleinen  Pause  fortfahrend:  „Es  liegt  darüber  eine  absolute,  har- 
monische Ruhe,  eine  wohltuende  Passivität,  im  Gegensatze  zu  meinem 
wirklichen  Leben.  Die  Wogen  strömen  über  mich  hin.  Es  wird  etwas 
mit  mir  gemacht.  Wenn  der  Zustand  nicht  aufhörte,  würde  ich  mich 
bis  ans  Ende  der  Tage  nicht  bewegen." 

Diese  Traumzustände  dienen  dem  Patienten  dazu,  in  seiner  Phan- 
tasie uneingeschränkte  Lust  aus  sexueller  Passivität  zu  gewinnen. 
Er  möchte  ein  Weib  sein;  im  Traumzustand  erlebt  er  die  Erfüllung 
dieses  Wunsches.  Er  hat  vollkommen  recht,  wenn  er  von  der  „denkbar 
größten,  physischen  Veränderung"  spricht.  Eine  eingreifendere  Ver- 
änderung als  die  Verwandlung  in  ein  Wesen  des  andern  Geschlechtes 
kann  ja  nicht  erdacht  werden.  Für  den  Patienten  bedeutet  sie  nicht 
nur  eine  Veränderung  seines  Geschlechtes,  sondern  eine  Umkehrung 
seiner  gesamten  Lebensführung. 

Der  Wunsch,  Weib  zu  sein,  weist  uns  auf  die  homosexuelle  Trieb- 
komponente bei  dem  Patienten  hin.  Da  wir  von  der  intensiven  Über- 
tragung der  infantilen  Libido  auf  den  Vater  bereits  erfahren  haben, 
so  wird  die  Annahme  nahegelegt,  der  Patient  identifiziere  sich,  wenn 
er  ein  Weib  sein  will,  mit  seiner  Mutter,  um  beim  Vater  ihren  Platz 
einzunehmen.  Diese  Annahme  wird  gesichert  durch  die  Ätiologie  des 
schon  erwähnten  Kopfschnaerzes,  der  in  erster  Linie  der  Identifizierung 
des  Patienten  mit  seiner  Mutter  dient.  Die  Mutter  litt  schon  in  der 
Kindheit  des  Patienten  an  Anfällen  von  Kopfschmerz,  welchen  die 
seinigen  auffallend  gleichen.  Der  Kopfschmerz  der  Mutter  kam  stets 
mit  der  Periode;  sie  war  gleichzeitig  einige  Tage  lang  sehr  empfindlich 
gegen  jeden  Reiz  und  mußte  sich  vollkommen  schonen.  Auch  bei  dem 
Patienten  wiederholte  sich  der  Kopfschmerz  jahrelang  in 
vierwöchentlichen  Intervallen  und  dauerte  jeweilendrei  bis 
vier  Tage.  Patient  ist  während  des  Kopfschmerzes  äußerst  empfindlich 


über  hysterische  Traumzustände.  23 

gegen  jeden  Eeiz,  muß  die  Arbeit  aussetzen  und  einen  bis  zwei  Tage 
im  Bette  zubringen.  Patient  identifiziert  sich  also  durch  den  Kopfschmerz 
mit  seiner  Mutter.  Daß  er  eine  dunkle  Ahnung  von  diesem  Zusammen- 
hange hatte,  geht  daraus  hervor,  daß  er  in  der  ersten  Zeit  der  Behandlung 
einmal  scherzend  sagte:  ,,Ich  habe  augenblicklich  meine  Periode." 

Kopfschmerzanfälle  und  Traumzustände  dienen  bei  dem  Patienten 
der  Metamorphose  zum  Weibe.  Die  vierwöchentKche  Periode  und  die 
sexuelle  Passivität  sind  zwei  hervorragend  wichtige  Züge  im  Geschlechts- 
leben des  Weibes.  Patient  handelte  aus  einem  ganz  richtigen  Instinkt 
heraus,  als  er  den  Kopfschmerz  durch  den  Traumzustand  zu  vertreiben, 
oder  —  wie  wir  jetzt  richtiger  sagen  werden  —  zu  ersetzen  suchte. 
Denn  beide  dienen  ja  dem  gleichen  Ziele,  der  sexuellen  Passivität. 
Wäre  ihm  sein  Plan  gelungen,  so  hätte  er  eine  unlustvolle  Krankheits- 
erscheinung durch  eine  gleichsinnige  lustbetonte  ersetzt  gehabt. 
Daß  seine  Erwartvmg  enttäuscht  wurde,  vermögen  wir  freilich  auch  zu 
erklären.  Der  Kopfschmerz  beruht  eben  nicht  nur  auf  dem  einen  er- 
wähnten Motiv,  sondern  er  steht  noch  im  Dienste  anderer  verdrängter 
Wünsche,  die  durch  den  Traumzustand  keinen  adäquaten  Ausdruck 
gefunden  hätten.  Der  Traumzustand  konnte  daher  nur  neben  den 
Kopfschmerz,  nicht  aber  an  seine  SteRe  treten. 

Die  beabsichtigte  Unlustverhütung  ist  dem  Patienten  mißlungen ; 
aber  er  hat  eine  neue  Lustquelle  gewonnen.  Vermag  der  Traumzustand 
den  Patienten  auch  nicht  von  seinem  Schmerze  zu  befreien,  so  ent- 
schädigt er  ihn  doch  durch  eine  Lust,  die  ihn  den  ausgestandenen  Schmerz 
verwinden  läßt. 

Beobachtung  F. 
Übergänge  zwischen  Tagträumereien  und  eigentlichen  Traumzuständen. 

Ich  schließe  hier  ein  Fragment  einer  weiteren  Psychoanalyse 
an;  dieser  Fall  weist  keine  ausgesprochenen  Traumzustände  im  Sinne 
der  bisher  beschriebenen  auf,  macht  uns  aber  mit  einer  Art  Vorstufe 
zu  diesen  bekannt.  Er  demonstriert  in  besonders  einleuchtender  Weise 
die  Abkunft  der  Traumzustände  von  den  Wachträumen  und  überdies 
die  nahe  Verwandtschaft  zwischen  den  neurotischen  Traumzuständen 
und  den  nächtlichen  Träumen. 

Der  Patient  F  wird  von  gewissen,  häufig  wiederkehrenden  Phan- 
tasien in  so  hohem  Grade  beherrscht,  daß  er  sie  als  seine  ,, Zwangs- 
vorstellungen" bezeichnet.  Namentlich  Lektüre  gibt  ihm  die  An- 
regung zu  seinen  Träumereien.  Er  identifiziert  sich  sofort  mit  dem 
Helden  der  Erzählung.  ,,Wenn  ich  einen  Liebesroraan  lese,   glaube  ich 


24  Karl  Abraham. 

der  Held  zu  sein,  den  die  Frauen  umschwärmen."  In  Wirklichkeit 
ist  die  geschlechthche  Aktivität  des  Patienten  sehr  reduziert.  Neben 
den  erotischen  Träumereien  beschäftigen  den  Patienten  Größen- 
phantasien. Hat  er  von  gewissen  historischen  Persönlichkeiten  gelesen, 
so  kommt  die  Vorstellung,  er  sei  der  Held.  Er  durchlebt  dann  in  der 
Phantasie  die  Rolle  seines  Helden.  ,,Ich  lese  z.  B.  gern  von  Napoleon. 
Den  Jubel,  den  er  hörte,  empfinde  ich  auch."  Ja,  Patient  braucht  nur 
an  Jubel,  Ruhm  und  Beifall  zu  denken,  so  überläuft  ihn  ein  Schauern. 
Auch  Musik  (z.  B.  Militärmusik)  wirkt  begeisternd  auf  ihn  und  ruft 
ein  ,, Schauern"  hervor.  In  dem  Wachtraum,  der  durch  solche  erregenden 
Anlässe  ausgelöst  wird,  erlebt  der  Patient,  der  von  Beruf  Kaufmann 
ist,  wie  er  ein  bedeutender  oder  reicher  Mann  wird  ,,etwa  ein  Fabrikant 
wie  Krupp".  Er  malt  sich  dann  aus,  wie  er  gegen  seine  An- 
gestellten rücksichtslos  vorgehen,  ihnen  seinen  Willen 
aufzwingen  würde.  (Napoleon!)  Es  wird  ihm  schwer,  sich  von  diesen 
Vorstellungen  frei  zu  machen.  ,,Wenn  ich  die  Zwangsvorstellungen 
(=  Tagträume)  habe,  rezitiere  ich  ein  Gedicht,  um  mich  abzulenken, 
meist  die  ,Lorelei',  ,Heil  dir  im  Siegerkranz'  oder  ein  anderes  Gedicht 
aus  meiner  Schulzeit."  Er  muß  das  Aufsagen  solcher  Gedichte  aber  oft 
wiederholen,  ehe  er  die  Wirkung  erzielt. 

Im  Mittelpunkte  der  Phantasiegebilde  des  Patienten  steht  ent- 
weder ein  Sexualheld  oder  ein  rücksichtsloser  Despot  oder  Kriegsheld. 
Man  errät  unschwer,  daß  Patient  in  diesen  Wachträumen  diejenigen 
Wünsche  zu  befriedigen  sucht,  die  aus  der  ,, Verschränkung"  des  Sexual- 
triebes mit  dem  Aggressionstrieb  hervorgehen,  also  seine  ,, sadistischen" 
Regimgen. 

Patient  hat  im  allgemeinen  das  Gefühl,  als  erwecke 
er  nicht  den  Eindruck  der  Männlichkeit,  als  behandle  man 
ihn  wie  ein  Kind.  Dieses  Gefühl  beruht  auf  der  Unterdrückung  seines 
Sadismus.  In  seinen  Träumereien  wird  er  zum  energischen,  despotischen 
Manne,  um  sich  hernach  wieder  in  das  abhängige,  schwache  ,,Kind" 
zurück  zu  verwandeln.  Die  Gedichte  aus  der  Schulzeit  sind  geeignet, 
die  Phantasien  zu  unterbrechen,  weil  Patient  sich  durch  sie  in  die  Kind- 
heit zurückversetzt  fühlt.  Die  inhaltliche  Ähnlichkeit  der  Phantasien 
dieses  Patienten  mit  denjenigen  des  ausführlich  beschriebenen  Falles  B 
fällt  sofort  auf.  Die  Ähnlichkeit  erstreckt  sich  übrigens  noch  auf  ein 
besonderes  Symptom.  Bei  dem  Patienten  B  konstatierten  wir  eine 
auffällige  Neigung  zum  Erröten.  Patient  F  leidet  an  Erröten  und  aus- 
gesprochener Erythrophobie. 


über  hysterische  Traumzustände.  25 

Es  handelt  sich  in  diesem  Falle  nicht  um  Traumzustände  von  dem 
früher  geschilderten  Charakter,  denn  es  fehlt  die  Entrückung,  die  Be- 
wußtseinsleere und  die  nachfolgende  Angst.  Auch  der  Verlauf  ist  ein 
anderer.  Aber  es  handelt  sich  um  sehr  intensive,  über  das  Gewöhn- 
liche hinausgehende  Tagträumereien,  die  mit  dem  Traumzustände 
(sensu  strictiori)  einen  wichtigen  Zug  gemeinsam  haben.  Der  Patient 
verliert  während  des  Phantasierens  die  Herrschaft  über  seine  Gedanken ; 
er  kann  sie  nicht  ohne  weiteres  nach  seinem  Belieben  unterbrechen. 
Er  mußte,  ganz  wie  wir  es  bei  anderen  Patienten  sahen,  ein  Mittel  erfinden, 
um  die  Träumereien  unterbrechen  zu  können,  und  muß  von  diesem 
einen  ausgiebigen  Gebrauch  machen,  bevor  es  wirkt.  Besonders  ist  noch 
zu  erwähnen  die  große  visuelle  Lebhaftigkeit  der  Tagträumereien 
in  diesem  Falle;  sie  wird  noch  eine  genauere  Besprechung  finden. 

Der  gleiche  Fall  zeigt  nun  außerdem  sehr  schön,  daß  die  Tages- 
phantasien auch  die  Vorstufe  der  nächtlichen  Träume  bilden.  Der 
Patient  berichtet  über  einige  Träume,  die  seit  seiner  Kindheit  öfter 
wiederkehren.  In  einem  dieser  Träume  wird  er  im  Bett  von  einem 
bärtigen  Manne  überfallen.  Dieser  sticht  mit  einem  Dolche  auf  ihn  ein. 
Er  selbst  liegt  ruhig  da,  als  wären  ihm  die  Hände  gelähmt.  Er  erwacht 
aus  dem  Traum  mit  großer  Angst.  Noch  häufiger  wird  Patient  im  Traum 
von  einem  Löwen  verfolgt.  In  großer  Angst  schlüpft  er  schließlich 
durch  einen  Mauerspalt,  durch  welchen  der  Löwe  ihm  nicht  folgen  kann^). 
Der  Mann  mit  dem  (symbolischen)  Dolch  ist  der  Vater,  dessen  ,, Über- 
fall" auf  die  Mutter  der  Patient  als  kleiner  Knabe  beobachtet  hat. 
Der  Traum  verrät  den  verdrängten  Wunsch  des  Patienten,  beim  Vater 
die  Stelle  der  Mutter  einzunehmen.  Auch  der  Traum  vom  Löwen  gehört 
diesem  Komplexe  an. 

Forderte  ich  diesen  Patienten,  der  nur  kurze  Zeit  in  meiner  Be- 
handlung stand,  auf,  in  der  zur  Analyse  notwendigen  Weise  mitzuteilen, 
was  ihm  einfiele,  so  schloß  er  gewöhnlich  die  Augen  und  berichtete  über 
Bilder,  die  vor  seinen  Augen  erschienen.  Zu  dem  Traume  vom  Erdolcht- 
werden ließ  er  sich  folgendermaßen  vernehmen^):  „Ich  sehe,  wie  ein 
Mann  von  einem  andern  gestochen  wird.  Der  eine  liegt  auf  dem  Diwan, 
der  andere  kniet  auf  ihm  und  sticht  zu,  in  die  Brust.  Der  Liegende  hält 


1)  Ähnliche  perennierende  Träume  berichtet  auch  Patient  B.  Die  Änah'se 
solcher  Träume  habe  ich  aber  der  Darstellung  des  Falles  B  nicht  eingereiht,  um  die 
Übersicht  nicht  zu  erschweren. 

2)  Die  oben  gegebene  Deutung  des  Traumes  war  dem  Patienten  unbekannt, 
als  er  seine  Visionen  mitteilte. 


26  Karl  Abraham. 

mit  der  linken  Hand  die  rechte  des  Gegners  fest.  Der  Knieende  mag  etwa 
30  Jahre  alt  sein,  er  sieht  sehr  wild  aus,  hat  einen  dunkeln  Bart.  Der 
Liegende  ist  vornehm,  wie  von  altem  Adel,  er  hat  ein  Seidenwams 
mit  Spitzenkragen." 

Daß  diese  Bilder  den  erwähnten  perennierenden  Träumen  inhalthch 
gleichen,  ist  ohne  weiteres  ersichtlich.  Der  Liegende  ist  Patient  selber; 
er  liegt  übrigens  während  der  Vision  auf  dem  Diwan  in  meinem  Sprech- 
zimmer. Sehr  zu  beachten  ist  die  Form  der  Darstellung  durch  das 
Passivum:  ein  Mann  wird  von  einem  andern  gestochen.  Patient  selbst 
ist  das  Subjekt.  Der  Vater  war  zur  Zeit,  als  Patient  das  Schlafzimmer 
der  Eltern  teilte,  ungefähr  30  Jahre  alt  und  trug  einen  Bart.  Daß  Patient 
den  Liegenden  als  Adehgen  vornehm  ausstattet,  wird  aus  den  typischen 
Abkunftsphantasien^)  verständlich,  die  beim  neurotischen  Kinde 
mit  großer  Lebhaftigkeit  auftreten.  Das  Seidenwams  mit  Spitzenkragen 
hat  er  einem  über  dem  Diwan  hängenden  Bilde  entnommen  (der 
,, lachende  Kavaher"  von  Frans  Hals);  er  hatte  es  eifrig  betrachtet, 
bevor  er  die  Augen  schloß,  weil  es  den  infantilen  Vornehmheitskomplex 
traf.  Als  er  es  jetzt  nochmals  betrachtet,  bemerkt  er,  die  Kleidung  erinnere 
an  ein  vornehmes  Frauenkleid.  Das  Bild  hatte  also  noch  einen  weiteren 
Komplex  —  den  homosexuellen  —  berührt. 

Einen  Tag  später  produzierte  Patient,  wiederum  auf  dem  Diwan 
liegend,  noch  folgende  Visionen: 

..Ein  Zentaur  —  jetzt  kommt  ein  kleines  Kind  ...  ein  kleiner 
Zentaur  hinzu."  (Vater  und  Patient  selbst.  Zu  beachten  die  sexuelle 
Symbohk  im  Vergleiche  mit  dem  wilden  Zentauren  oder  dem  Hengst!) 

„Ein  Wettrennen  .  .  .  wie  die  Reiter  die  Hürde  nehmen."  (Die 
Rivalität  mit  dem  Vater.  Patient  hat  überhaupt  den  Charakterzug, 
den  Patient  B  bei  sich  selbst  als  ,,Wetteifergefülil"  bezeichnet.) 

,,Ein  gestürztes  Pferd  vor  einem  Wagen."  (Patient  gibt  an,  aaf 
dem  Wege  zu  mir  ein  gestürztes  Pferd  gesehen  zu  haben.  Die  tiefere 
Begründung  dieses  Bildes  liegt  in  den  typischen  Phantasien  vom  Tode 
des  Vaters^.) 


')  Vgl.  meine  Schrift  „Traum  und  Mythus"  (Seite  40)  sowie  Rank,  „Der 
Mythus  von  der  Geburt  des  Helden",  beide  in  „Schriften  zur  angewandten  Seelen- 
kunde", Wien,  F.  Deuticke. 

2)  Die  gleiche  Phantasie  vom  gestürzten  Pferde  habe  ich  kürzlich  wieder 
in  einem  andern  Falle  gefunden.  Ihre  Analj'se  bei  einem  Knaben  findet  man  in 
Freuds  „Analyse  der  Phobie  eines  fünfjährigen  Knaben"  in  Band  I  dieses  Jahr- 
buches. 


über  hysterische  Traumzustände.  27 

„Der  Mann  mit  dem  Helm,  das  Bild  von  Rembrandt."  (Dieses 
Bild  hängt  nicht  in  meinem  Zimmer;  es  ist  aber  ein  Lieblingsbild  des 
Patienten.  Der  Vater  des  Patienten  war  eine  große,  kraftvolle  Er- 
scheinung; er  hatte  zwei  Kriege  als  Gardist  mitgemacht.  Patient  hat 
den  Wunsch,  ein  Krieger  zu  sein  wie  der  Vater;  dieser  ist  auch  das  Vor- 
bild der  Napoleon-Phantasien.) 

Es  folgten  dann  noch  weitere  Erscheinungen  von  ähnlichem 
Charakter. 

Phantasien  aus  der  Kindheit  des  Patienten  geben  in  gleicher 
Weise  seinen  Wachträumereien  und  seinen  nächtlichen  Träumen  den 
Inhalt.  Sogar  die  halluzinatorischen  Bilder  sind  beiden  gemeinsam. 
Eine  der  ,, Traumarbeit"  analoge  psychische  Leistung  formt  auch  in  den 
Traumzuständen  aus  dem  verdrängten  (latenten)  Gedankenmaterial 
den  manifesten  Inhalt.  Ich  verweise  hier  nur  auf  die  ausgiebige  Ver- 
wendung der  Symbolik  sowie  auf  die  sehr  intensive  Verdichtungsarbeit. 
Wir  sind  zahlreichen  Beispielen  begegnet,  welche  zeigen,  daß  irgend 
ein  Detail  des  Traumzustandes  (und  dieser  selbst,  als  Ganzes  betrachtet) 
sehr  verschiedenen,  ja  entgegengesetzten  Phantasien  zum  Ausdruck 
dient. 

Träume  und  neurotische  Traumzustände  sind  nicht 
die  einzigen  Abkömmlinge  der  Tagträumereien.  Wir  können  ihnen 
zwei  weitere,  durch  eine  tiefergehende  Störung  des  Bewußtseins  aus- 
gezeichnete Gebilde  anreihen.  Aus  dem  Traum  geht  der  somnambule 
Traum  hervor;  in  ihm  setzt  der  Neurotiker  seine  Phantasien  in  mehr 
oder  weniger  komplizierte  Handlungen  um,  für  welche  er  später 
keine  Erinnerung  hat. 

Zu  den  Traumzuständen  stehen  in  ganz  analogem  Verhältnis 
die  ..hypnoiden  Zustände"  und  ,, Dämmerzustände".  In 
diesen  letzteren  finden  wir  Erscheinungen  wieder,  die  uns  von  den 
Traumzuständen  her  geläufig  sind;  ich  nenne  mit  den  Worten  Bre  uers^) 
die  ,, Entrückung",  das  ,, Verdämmern  der  umgebenden  Realität" 
und  das  ,,affekterfüUte  Stillestehen  des  Denkens".  In  den  Dämmer- 
zuständen werden  oft  komplizierte  Handlungen  ausgeführt.  Dem  Grade 
der  Bewußtseinsstörung  entspricht  die  den  Dämmerzuständen  folgende 
Amnesie;  den  von  uns  betrachteten  Traumzuständen  ist  diese  nicht 
eigentümlich. 


')    „Studien   über   Hysterie"   von   Breuer   und   Freud,    Seite    191   der 
2.  Auflage. 


28  Karl  Abraham. 

Diesen  episodischen  Erscheinungen  im  Krankheitsbild  der  Hysterie 
sind  noch  andere,  nahe  verwandte  Phänomene  anzureihen,  deren  Be- 
ziehungen zu  den  Tagträumereien  bereits  durch  frühere  Untersuchungen 
erwiesen  sind.  Ich  nenne  zunächst  die  hysterischen  Anfälle.  Fre  ud^)  hat 
kürzlich  seine  Anschauungen  von  ihrem  Wesen  in  sehr  knapper  Form 
zusammengefaßt.  Aus  seinen  Ausführungen,  auf  die  ich  schon  früher 
zu  verweisen  hatte,  zitiere  ich  einige  Stellen  wörtlich: 

,,Die  Erforschung  der  Kindergeschichte  Hysterischer  lehrt,  daß 
der  hysterische  Anfall  zum  Ersatz  einer  ehemals  geübten  und  seither 
aufgegebenen  autoerotischen  Befriedigung  bestimmt  ist."  Wir  sind 
durch  die  Analyse  der  Traumzustände  zu  analogen  Resul- 
taten gelangt. 

,,Die  Anamnese  der  Kranken  ergibt  folgende  Stadien:  a)  auto- 
erotische Befriedigung  ohne  Vorstellungsinhalt,  b)  die  nämliche  im 
Anschlüsse  an  eine  Phantasie,  welche  in  die  Befriedigungsaktion  aus- 
läuft, c)  Verzicht  auf  die  Aktion  mit  Beibehaltung  der  Phantasie,  d)  Ver- 
drängung dieser  Phantasie,  die  sich  dann  entweder  unverändert  oder 
modifiziert  und  neuen  Lebenseindrücken  angepaßt  im  hysterischen 
Anfalle  durchsetzt  und  e)  eventuell  selbst  die  ihr  zugehörige,  angeblich 
abgewöhnte  Befriedigungsaktion  wiederbringt.  Ein  typischer  Zyklus 
von  infantiler  Sexualbetätigung  —  Verdrängung  —  Mißglücken  der 
Verdrängung  imd  Wiederkehr  des  Verdrängten."  Die  ersten  drei 
Entwicklungsstadien  sind  also  dem  Traumzustand  und 
dem  hyste'rischen  Anfalle  gemeinsam. 

Der  Bewußtseinsverlust,  die  Absence  des  hysterischen  Anfalles 
geht  aus  jenem  flüchtigen,  aber  unverkennbaren  Bewußtseinsentgang 
hervor,  der  auf  der  Höhe  einer  jeden  intensiven  Sexualbefriedigung 
(auch  der  autoerotischen)  zu  verspüren  ist  ...  .  ,,Der  Mechanismus 
dieser  Absencen  ist  ein  relativ  einfacher.  Zunächst  wird  alle  Aufmerk- 
samkeit auf  den  Verlauf  des  Befriedigungsvorganges  eingestellt,  und  mit 
dem  Eintritte  der  Befriedigung  wird  diese  ganze  Aufmerksamkeits- 
besetzung plötzlich  aufgehoben,  so  daß  eine  momentane  Bewußtseins- 
leere entsteht.  Diese  sozusagen  physiologische  Bewußtseinslücke  wird 
dann  im  Dienste  der  Verdrängung  erweitert,  bis  sie  all  das  aufnehmen 
kann,  was  die  verdrängende  Instanz  von  sich  weist." 

Aus  gleichen  Anfangsstadien  hervorgegangen  und  den  gleichen 
Zwecken  dienend,  differieren  Traumzustand  und  hysterischer  Anfall 
in  den  Mitteln  der  Darstellung  und  meist  auch  im  Verhalten  des 

1)  Vgl.  Zitat  auf  Seite  8. 


über  hysterische  Traumzustände.  29 

Bewußtseins.  Während  die  Absence  im  Traunizustand  fast  stets  von 
kurzer  Dauer  ist,  namentlich  mi  Vergleiche  mit  der  Ausdehnung  der  an- 
deren Verlaufsstadien,  erweitert  sich  beim  hysterischen  Anfalle  die 
„Bewußtseinslücke '  je  nach  Bedarf.  Zur  Darstellung  der  verdrängten 
Phantasien  bedient  sich  der  hysterische  Anfall  des  ,, Reflexmechanismus 
der  Koitusaktion"  und  bewirkt  so  die  ,, motorische  Abfuhr  der  ver- 
drängten Libido".  Im  Traumzustande  spielt  sich  der  Vorgang  auf  dem 
Gebiete  der  Phantasie  ab,  wenn  wir  von  gewissen  motorischen 
Äußerungen  (wie  z.  B.  Veränderung  der  Körperhaltung  oder  des  Ganges) 
absehen,  die  zur  Koitusaktion  keine  Beziehung  haben. 

Nächst  den  motorischen  Anfällen  der  Hysterie  stehen  die  Angst- 
anfälle in  naher  genetischer  Beziehung  zu  den  Traumzuständen. 
Auch  in  dieser  Art  episodischer  hysterischer  Erscheinungen  haben  wir 
umgewandelte  sexuelle  Erregungsvorgänge  zu  erblicken^).  Ich  möchte 
hier  erwähnen,  daß  die  Patienten,  über  deren  Traumzustände  ich  aus- 
führlich berichtet  habe,  sämtlich  mehr  oder  weniger  häufig  auch  an 
Angstanfällen,  nicht  dagegen  an  motorischen  Anfällen  leiden.  Hier 
liegen  individuelle  Differenzierungen  im  Krankheitsbilde  vor,  in  die 
wir  noch  keinen  genügenden  EinbHck  gewonnen  haben. 

Ich  will  hier  erwähnen,  daß  Traumzustände  von  ganz  analoger 
Struktur  auch  bei  Geisteskranken  (Dementia  praecox)  vorkommen. 
Ihre  Entstehung  aus  den  Wachträumen  konnte  ich  kürzüch  bei  einem 
jungen  Hebephrenen  mit  Sicherheit  feststellen.  In  diesem  Falle  war 
der  Zustand  der  Entrückung  besonders  ausgesprochen;  in  den  Traum- 
zuständen schien  es  dem  Patienten,  ,,als  wäre  alles  nur  ein  Theater". 
Ich  erinnere  daran,  daß  im  Verlaufe  der  Dementia  praecox  auch  Dämmer- 
zustände vorkommen,  die  wichtige  Züge  mit  den  hysterischen  gemeinsam 
haben.  Traumartige  Zustände  von  protrahiertem  Verlauf  mit  besonderem 
Hervortreten  des  Fremdheitsgefühles  sind  von  W^ernicke,  Julius- 
burger u.  a.  Autoren  beschrieben  worden-). 

Die  analysierten  Fälle  gehören  sämtlich  zu  den  seh  weren  Psycho- 
neurosen.  Es  darf  daraus  aber  nicht  der  Schluß  gezogen  werden, 
daß  Traumzustände  bei  leicht  Neurotischen  nicht  vorkämen.  Sicherlich 


')  Vgl.  hierzu  Stekel,  Nervöse  Angstzustände  und  ihre  Behandung,  Berlin 
und  Wien,  Verlag  von  Urban  &  Schwarzenberg,  1908. 

2)  Ich  konnte  kürzlich  bei  einer  Patientin  eine  Serie  katatonischer 
Anfälle  beobachten.  Sie  wurden  durch  heftige  Kußbewegungen  des  Mundes  ein- 
geleitet und  stellten  im  Weiteren  unverkennbar  einen  sexuellen  Akt  dar.  Also 
axich  hier  Analogie  zum  hysterischen  Anfall. 


30  Karl  Abraham. 

ist  eine  große  Zahl  Leichtkranker  wie  Schwerkranker  mit  ihnen  be- 
haftet. Zur  Tagträumerei  neigen  sie  alle;  es  will  ihnen  nicht  gehngen, 
das  Heimweh]  nach  der  autoerotischen  Betätigung  ihrer  Kindheit  zu 
überwinden.  Die  einfachen  Wachträume  oder  die  von  diesen  ableit- 
baren komplizierteren  Gebilde  dienen  ihnen  dazu,  sich  zeitweise  aus  der 
Wirklichkeit  in  ihr  Kinderland  zu  flüchten.  Ist  ein  Individuum  zur 
Produktion  von  Tranmzuständen  disponiert,  so  genügt  ein  sehr  geringer 
Eeiz,  der  die  verdrängten  Komplexe  berührt,  zur  Hervorrufung  des 
Zustandes. 

Besonders  bei  leicht  Neurotischen  entziehen  sich  die  Traum- 
zustände oft  der  ärztHchen  Beobachtung,  oder  sie  werden  nicht  in  ihrer 
eigentlichen  Bedeutung  erkannt.  Nicht  selten  erklärt  z.  B.  eine  Pa- 
tientin dem  Arzt  —  und  zwar  keineswegs  nur  bei  der  Psychoanalyse  — , 
daß  sie  sich  von  ihm  hypnotisiert  fühle.  Das  ist  ein  durchsichtiges 
Phänomen  der  ,, Übertragung".  Die  Patientin  ist  unbewußt  dazu  bereit, 
sich  dem  Willen  des  Arztes  unterzuordnen,  d.  h.  bereit  zum  passiven 
Verhalten  gegenüber  einem  von  ihrem  Unbewußten  gewünschten  Angriff 
des  Arztes.  Ihre  Phantasie  bearbeitet  intensiv  die  Erfüllung  dieses 
Wunsches.  Es  kommt  dann  zur  traumhaften  Entrückung  und  zu  den 
bekannten  weiteren  Erscheinungen.  Die  Patientin  macht,  während  sie 
beim  Arzt  weilt,  einen  Traumzustand  durch.  Andere  Hysterische 
fühlen  sich  durch  die  Gegenwart  eines  beliebigen  Mannes  hypnotisiert. 
Ich  behandelte  eine  Patientin,  die  in  der  Straßenbahn  stets  von  Angst 
befallen  wurde.  Sie  hatte  das  Gefühl,  sie  werde  von  den  Blicken  eines 
beliebigen  ihr  gegenüber  sitzenden  Mannes  ,, durchbohrt".  Daraus  ging 
jedesmal  ein  Zustand  hervor,  den  sie  als  eine  Art  von  Hypnose  bezeich- 
nete und  der  mit  Angst  abschloß. 

Andere  neurotische  Mädchen  berichten,  daß  sie  mitten  im  Ge- 
spräche mit  einem  Manne  sich  plötzlich  entrückt  fühlen,  ihrer  eigenen 
Stimme  zuhören,  als  spräche  eine  Fremde.  Dann  tritt  die  ,, Gedanken- 
leere" ein,  der  schließlich  Angst  und  ein  Gefühl  der  Beschämung  folgt. 
Durch  die  Analyse  erfährt  man,  daß  solche  Individuen  sich  in  aus- 
giebiger Weise  mit  Tagträumereien  beschäftigen.  Besonders  lieben  sie 
es,  morgens  im  Bette  liegend  sich  den  Phantasien  hinzugeben.  Bei 
geeignetem  Anlaß  wird  der  Faden  dieser  Träumereien  wieder  auf- 
genommen und  es  folgen  dann  die  anderen  typischen  Stadien  des  Traum- 
zustandes. 

In  seiner  oben  zitierten  Abhandlung  hat  Freud  eine  gedrängte 
Übersicht  auch  über  Anlaß  und  Zweck  des  Auftretens  hysterischer 


über  hysterische  Traumzustände.  31 

Anfälle  gegeben.  Der  hysterische  Anfall  wird  assoziativ  hervor- 
gerufen, wenn  der  Komplex  durch  eine  Anknüpfung  des  bewußten 
Lebens  angespielt  wird;  organisch  wird  er  dann  hervorgerufen,  wenn 
die  Libido,  durch  äußere  oder  innere  Gründe  gesteigert,  keine  Abfuhr 
hat.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  in  der  Regel  beide  Anlässe  gleichzeitig 
vorhegen.  Die  nämlichen  auslösenden  Faktoren  wirken  auch 
bei  der  Entstehung  der  Traumzustände. 

Die  hysterischen  Anfälle  dienen  nach  Freud  zunächst  der  pri- 
mären Tendenz  der  Krankheit  (Flucht  in  die  Krankheit),  bilden 
also  eine  Tröstung  für  den  Patienten;  außerdem  stehen  sie  im  Dienste 
der  sekundären  Krankheitstendenzen,  wenn  das  Kranksein 
praktisch  nützt.  Von  den  Traumzuständen  läßt  sich  durchaus  das 
Nämliche  erweisen.  Ein  ausgezeichnetes  Beispiel  einer  Flucht  in  die 
Krankheit  bietet  der  Patient  E,  der  nach  dem  Tode  der  Mutter  in 
einen  langdauernden  Traumzustand  geriet-.  Daß  die  Traumzustände 
auch  einem  aktuellen,  praktischen  Zweck  dienen,  zeigt  jeder  einzelne 
der  mitgeteilten  Fälle.  Bei  mehreren  Patienten  stellt  sich  in  peinlicher 
Situation  der  Traumzustand  ,,wie  gerufen"  ein.  Besonders  aber  muß 
hier  angeführt  werden,  daß  manche  Patienten  ihn  bewußt  und  ab- 
sichtlich herbeirufen,  um  Unlustgefühlen  zu  entgehen  oder  Lust  zu 
gewinnen.  Man  wird  hier  wieder  an  die  genetischen  Beziehungen  der 
Traumzustände  zur  Onanie  erinnert;  auch  der  letzteren  bedient  sich 
der  Neurotiker  häufig  zum  Trost,  um  z.  B.  eine  Verstimmung  zu  be- 
seitigen. 

Gemeinsam  mit  dem  Traume  ist  den  neurotischen  Traumzuständen 
die  Funktion  der  Unlustverhütung^).  Aber  die  letzteren  dienen  darüber 
hinaus  auch  positiv  der  Lustgewinnung.  Der  Patient  B,  welcher  durch 
den  Traumzustand  aus  dem  Zustande  der  Passivität  entrückt  wird, 
entgeht  dadurch  nicht  nur  der  Unlust,  sondern  er  zieht  in  den  ersten 
Stadien  des  Vorganges  positive  Lust  aus  phantasierter  Aktivität. 

Ein  Wechsel  des  Sexualziels,  wie  er  in  den  Traumzuständen 
des  Patienten  B  stattfindet  ,  ist  nicht  die  Regel.  Es  gibt  einen  andern 
Typus,  der  z.  B.  durch  die  Patientin  C  vertreten  wird.  Die  Phan- 
tasien bewegen  sich  hier  in  der  Richtung  der  schon  herrschenden  Passi- 
vität. Den  masochistischen  Gefühlen  wird  hierdurch  eine  außer- 
ordentliche Intensität  verliehen. 

Die  Traumzustände  bieten  dem  Neurotiker,  ganz  wie  die  übrigen 
Phänomene  der  Neurose,  Ersatz  für  eine  ihm  versagte  Sexualbetätigung. 

1)  Vgl.  Freud.  Der  Witz.  Seite  154.  Deuticke,  Wien  1905. 


32  Karl  Abraham. 

Sein  Unbewußtes  macht  von  diesem  Surrogat  Gebrauch,  solange  die 
Befriedigung  bestimmter  Wünsche  ausbleibt.  Erfährt  dagegen  die 
Libido  eine  ausreichende  Befriedigung,  so  treten  die  Traumzustände 
zurück,  ja  sie  verschwinden  gänzlich.  Letzteres  geschah  einer  leicht 
neurotischen  Dame  meiner  Beobachtung,  sobald  sie  in  der  Ehe  sexuell 
befriedigt  wurde.  Bei  einem  jungen  Manne,  der  wegen  psychischer 
Impotenz  in  meiner  Behandlung  stand,  ging  die  ruhelose  Tätigkeit 
seiner  Sexualphantasie  auf  ein  normales  Maß  zurück,  als  er  wieder 
potent  wurde  und  eine  genügende  Befiiedigung  erzielen  konnte. 

Die  Analyse  der  Traumzustände  beweist  aufs  Neue  die  außer- 
ordentliche Fruchtbarkeit  der  Freudschen  Ideen.  Seit  es  eine  psycho- 
analytische Forschung  gibt,  sind  wir  nicht  mehr  darauf  beschränkt, 
die  Symptome  der  Neurosen  lediglich  zu  beschreiben,  ohne  zugleich 
ihr  Wesen  erfassen  und  ihr  individuelles  Gepräge  im  Einzelfalle  er- 
klären zu  können.  Wir  vermögen  die  Bedingungen  und  Motive  ihrer 
Entstehung  zu  begreifen,  die  in  ihnen  wirksamen  Triebkräfte  und  die 
in  ihnen  verborgenen  Tendenzen  aufzuzeigen.  Wir  vermögen  die 
individuelle  Eigenart  eines  Krankheitsfalles  zu  verstehen,  indem  wir 
nicht  nur  das  gegenwärtige  Triebleben  des  Neurotikers  berücksichtigen, 
sondern  seinen  verdrängten  Kindheitswünschen  nachforschen.  Denn 
sein  innerstes  Dichten  imd  Trachten  strebt  nach  der  Wiederholung 
infantiler  Befriedigungssituationen,  deren  Erinnerung  sein  Unbewußtes 
bewahrt. 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele. 

Von  Dr.  med.  et  jur.  C.  CJ.  Jung,  Privatdozent  der  Psychiatrie  an  der 

Universität  Zürich. 


Zu  der  Zeit,  wo  ich  die  Herausgabe  der  ersten  Hälfte  des  letzt- 
jährigen Jahrbuches  vorbereitete,  in  der  Freud  seine  denkwürdigen 
Mitteilungen  über  den  ,, kleinen  Hans"  machte,  erhielt  ich  von  einem 
der  Psychoanalyse  kundigen  Vater  eine  Reihe  von  Beobachtungen 
über  sein  damals  4 jähriges  Töchter chen. 

Diese  Beobachtungen  haben  so  viel  Verwandtes  und  Ergänzendes 
zu  den  Mitteilungen  Freuds  über  den  „kleinen  Hans",  daß  ich  es  mir 
nicht  versagen  konnte,  dieses  Material  auch  einem  weiteren  Publikum 
zugänglich  zu  machen.  Das  vielfache  Unverständnis,  um  nicht  zu  sagen 
die  Entrüstung,  mit  der  „der  kleine  Hans"  aufgenommen  wurde,  war 
mir  mit  ein  Grund  zur  Veröffentlichung  meines  Materials,  das  an 
Umfänglichkeit  dasjenige  des  ,, kleinen  Hans"  allerdings  nicht  erreicht. 
Immerhin  sind  darin  Stücke  enthalten,  welche  bestätigen  können, 
wieviel  Typisches  der  ,, kleine  Hans"  gebracht  hat.  Die  sogenannte 
wissenschaftliche  Kritik,  soweit  sie  überhaupt  Notiz  von  diesen  wich- 
tigen Dingen  genommen  hat,  ist  auch  diesmal  wieder  in  ein  zu  schnelles 
Tempo  geraten,  indem  man  immer  noch  nicht  gelernt  hat,  erst  nach- 
zuprüfen und  dann  zu  urteilen. 

Das  Mädchen,  dessen  Spürsinn  und  intellektueller  Lebhaftigkeit 
wir  die  folgenden  Beobachtungen  verdanken,  ist  ein  gesundes,  frisches 
Kind  von  temperamentvoller  Gemütsanlage.  Es  war  nie  ernstlich 
krank  gewesen,  auch  von  selten  des  Nervensystems  hatten  sich  nie 
irgendwelche  ,, Symptome"  bemerkbar  gemacht. 

Lebhaftere  systematische  Interessen  erwachten  bei  dem  Kinde 
etwa  um  das  dritte  Jahr;  es  begann  zu  fragen  und  Phantasiewünscho 
zu  äußern.    Die   nun  folgenden  Mitteilungen  müssen  leider  auf  eine 

Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psyohopathol.  Porsohungen.     II.  ö 


34  C.  G.  Jung. 


o* 


zusammenhängende  Darstellung  verzichten,  denn  es  sind  Anekdoten, 
die  ein  einmaliges  Erlebnis  aus  einem  ganzen  Zyklus  von  ähnlichen 
schildern  und  die  darum  nicht  wissenschafthch  systematisch,  sondern 
noveUistisch  beschreiben;  ein  Darstellungsmodus,  dessen  wir  bei  dem 
gegenwärtigen  Standpunkt  unserer  Psychologie  noch  nicht  entraten 
können;  denn  noch  sind  wir  weit  entfernt  davon,  in  allen  Fällen  das 
Kuriose  vom  Typischen  mit  unfehlbarer  Sicherheit  sondern  zu  können. 
Einmal,  als  das  Kind,  das  wir  Anna  nennen  wollen,  etwa  3  Jahre 
alt  war,  entspann  sich  zwischen  ihr  und  der  Großmutter  folgendes  Ge- 
spräch : 

Anna:  ,, Großmama,   warum   hast   du   so   verwelkte   Augen?" 
Großmutter:  ,,Weil  ich  halt  schon  alt  bin." 
Anna:  ,,Aber  gelt,  du  wirst  dann  wieder  jung." 
Großmutter:  ,,Nein,  weißt  du,  ich  werde  immer  älter  und  dann 
werde  ich  sterben." 

Anna:  ,,Ja  und  dann?" 
i         Großmutter:  ,,Dann  werde  ich  ein  Engel  — " 

Anna:  ,,Und  dann  wirst  du  wieder  ein  kleines  Kindchen?" 
Das  Kind  findet  hier  wülkommenen  Anlaß  zu  einer  vorläufigen 
Lösung  eines  Problems.  Schon  seit  längerer  Zeit  pflegt  sie  die  Mutter 
zu  fragen,  ob  sie  denn  nicht  einmal  eine  lebendige  Puppe  bekomme, 
ein  Kindchen,  z.  B.  ein  Brüderchen,  woran  sich  natürüch  die  Fragen  nach 
der  Herkunft  der  kleinen  Kinder  schlössen.  Da  solche  Fragen  nur  spontan 
und  unauffällig  auftraten,  so  maßen  die  Eltern  ihnen  keine  Bedeutung 
bei,  sondern  faßten  sie  so  leicht  auf,  wie  das  Kind  auch  zu  fragen  schien. 
So  erhielt  sie  eines  Tages  die  scherzhafte  Auskunft,  daß  die  Kinder  vom 
Storche  gebracht  würden.  Eine  andere,  etwas  ernsthaftere  Version  hatte 
Anna  sonstwie  gehört,  nämhch,  daß  die  Kinder  Engelchen  seien,  im  Himmel 
wohnen  und  dann  vom  Storche  heruntergebracht  würden.  Diese  Theorie 
scheint  der  Ausgangspunkt  für  die  Forschertätigkeit  der  Kleinen 
geworden  zu  sein.  Es  zeigt  sich  beim  Gespräche  mit  der  Großmutter, 
daß  die  Theorie  einer  ausgedehnten  Anwendung  fähig  ist;  nämlich 
es  läßt  sich  damit  der  peinHche  Gedanke  des  Sterbens  nicht  nur  in 
erleichternder  Weise  auflösen,  sondern  zugleich  auch  das  Rätsel  des  Ur- 
sprunges der  Kinder.  Anna  scheint  sich  zu  sagen:  Wenn  ein  Mensch 
stirbt,  so  wird  er  ein  Engel  and  dann  wird  er  ein  Kind.  Lösungen  dieser 
Art,  die  mindestens  zwei  Fliegen  auf  einen  Schlag  treffen,  pflegen  nicht 
nur  in  der  Wissenschaft  hartnäckig  festgehalten  zu  werden,  sondern 
können  auch  beim  Kinde  nicht  ohne  gewisse  Erschütterungen  rück- 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  35 

gängig  gemacht  werden.  In  dieser  einfachen  Auffassung  liegen  die 
Elemente  der  Reinkarnationslehre,  welche  —  wie  bekannt  —  noch  in 
MilHonen  von  Menschen  lebendig  ist. 

Wie  in  der  Geschichte  des  „kleinen  Hans"  der  Wendepunkt  die 
Geburt  eines  Schwesterchens  war,  so  ist  es  in  diesem  Falle  die  Ankunft 
eines  Brüderchens,  die  stattfand,  als  Anna  eben  4  Jahre  erreicht 
hatte.  Damit  wird  das  vorher  kaum  bewegte  Problem  der  Kinder- 
entstehung aktuell.  Die  Schwangerschaft  der  Mutter  blieb  zunächst 
anscheinend  unbemerkt,  d.  h.  es  wurde  nie  eine  Äußerung  des  Kindes 
in  dieser  Hinsicht  beobachtet.  Am  Abend  vor  der  Geburt,  als  sich  bei 
der  Mutter  schon  die  Wehen  zeigten,  befand  sich  das  Kind  im  Zimmer  des 
Vaters.  Der  Vater  nahm  sie  auf  die  Knie  und  fragte:  ,,Höre  mal,  was 
würdest  du  sagen,  wenn  du  heute  nacht  ein  Brüderchen  bekämest?" 
,,Dann  würde  ich  es  töten",  war  die  prompte  Antwort.  Der  Ausdruck 
, .töten"  sieht  sehr  gefährhch  aus,  ist  aber  im  Grunde  genommen  recht 
harmlos,  denn  ,, töten"  und  ,, sterben"  im  kindhchen  Sinne  heißt  nur 
aktiv  oder  passiv  entfernen,  wie  dies  übrigens  Freud  schon  mehrfach 
gezeigt  hat.  Ich  behandelte  einmal  ein  löjähriges  Mädchen,  bei  der  in 
der  Analyse  ein  mehrfach  wiederkehrender  Einfall  auftrat:  Schillers 
Lied  von  der  Glocke  fiel  ihr  ein;  sie  hatte  es  zwar  noch  nie  gelesen, 
sondern  nur  einmal  durchgeblättert  und  konnte  sich  nur  entsinnen, 
etwas  von  einem  ,,Dome"  gelesen  zu  haben.  An  weitere  Einzelheiten 
konnte  sie  sich  nicht  entsinnen.  Die  Stelle  lautet: 

„Von  dem  Dome 
Schwer  und  bang 
Tönt  die  Glocke 
Grabgesang  usw. 

Ach  die  Gattin  ist's,  die  Teure, 

Ach  es  ist  die  treue  Mutter, 

Die  der  schwarze  Fürst  der  Schatten 

Wegführt  aus  dem  Arm  des  Gatten"  usw. 

Die  Tochter  hebt  natürlich  ihre  Mutter  und  denkt  nicht  entfernt 
an  deren  Tod,  hingegen  hegt  die  Sache  gegenwärtig  so:  Die  Tochter 
muß  mit  der  Mutter  auf  5  Wochen  zu  Verwandten  reisen,  das  Jahr  zuvor 
war  die  Mutter  allein  gegangen  und  die  Tochter  (einziges  und  ver- 
wöhntes Kind)  bheb  allein  mit  dem  Vater  zu  Hause.  Leider  wird  heuer 
,,die  kleine  Gattin"  aus  dem  Arme  des  Gatten  ,, weggeführt",  während 
es  doch  dem  Töchterchen  heber  wäre,  wenn  die  ,, treue  Mutter'*  vom 

Kinde  schiede. 

3* 


36  C,  G.  Jung. 

„Töten"  im  Munde  eines  Kindes  ist  darum  eine  harmlose  Sache, 
besonders  noch,  wenn  man  weiß,  daß  die  Kleine  das  Wort  ,, töten" 
ganz  prorniscue  gebraucht  für  alle  möglichen  Arten  von  Zerstörung, 
Entfernung,  Vernichtung  usw.  Immerhin  ist  die  Tendenz  beachtenswert. 
(Vgl.  die  Analyse  des  ,, kleinen  Hans",  pag.  5.) 

Am  frühen  Morgen  erfolgte  die  Geburt.  Ein  Arzt  und  eine  Heb- 
amme waren  anwesend.  Als  alle  Reste  der  Geburt  sowie  sämthche 
Blutspuren  beseitigt  waren,  ging  der  Vater  in  das  Zimmer,  wo  Anna 
schhef.  Sie  erwachte,  wie  er  eintrat.  Der  Vater  teilte  ihr  die  Neuigkeit 
von  der  Ankunft  eines  Brüderchens  mit,  was  Anna  mit  erstauntem 
und  gespanntem  Gesichtsausdruck  aufnahm.  Der  Vater  nahm  sie  hierauf 
auf  den  Arm  und  brachte  sie  in  die  Wochenstube.  Die  Kleine  warf 
zuerst  einen  raschen  Blick  auf  die  etwas  blasse  Mutter,  dann  zeigte 
sie  etwas  wie  ein  Gemisch  von  Verlegenheit  und  Mißtrauen,  wie  wenn 
sie  dächte:  ,,Was  wird  jetzt  geschehen?"  (Eindruck  des  Vaters.)  Freude 
am  Neugeborenen  bezeugte  sie  so  viel  wie  keine,  so  daß  die  Eltern  etwas 
enttäuscht  waren  über  den  kühlen  Empfang.  Während  des  Vormittags 
hielt  sich  die  Kleine  auffallenderweise  von  der  Mutter  fern,  was  um 
so  mehr  auffiel,  als  sie  sonst  sehr  an  ihr  hängt.  Als  die  Mutter  aber 
einmal  allein  war,  lief  Anna  ins  Zimmer,  faßte  sie  um  den  Hals  und 
flüsterte  ihr  hastig  zu:  „Ja,  sterbst  du  jetzt  nicht?" 

Nun  wird  uns  ein  Stück  des  Konfhktes  in  der  kindhchen  Seele 
klar,  die  Storchtheorie  hat  offenbar  nie  recht  verfangen,  wohl  aber  die 
fruchtbare  Wiedergeburtshypothese,  nach  welcher  ein  Mensch  stirbt 
und  so  einem  Kinde  zum  Leben  verhilft.  Die  Mama  müßte  also  demnach 
sterben  —  wie  sollte  Anna  da  Freude  am  Neugeborenen  empfinden, 
gegen  das  sich  sowieso  schon  die  kindliche  Eifersucht  erhebt?  Darum 
muß  sie  sich  in  einem  günstigen  Moment  versichern,  ob  die  Mama  sterben 
muß  oder  nicht.  Die  Mama  starb  nicht.  Mit  diesem  glücklichen  Ausgang 
erleidet  aber  die  Wiedergeburtstheorie  einen  schweren  Stoß.  V/ie  soll 
von  jetzt  an  die  Geburt  des  Brüderchens,  die  Herkanft  der  Kinder 
überhaupt  erklärt  werden?  Da  war  nur  noch  die  Storchtheorie,  die  zwar 
nie  ausdrücklich,  aber  durch  die  Annahme  der  Wiedergeburt  implicite 
abgelehnt  wurde^).  Die  allernächsten  Erklärungsversuche  blieben  den 


^)  Man  kann  hier  die  Frage  aufwerfen,  warum  überhaupt  die  Annahme 
berechtigt  sein  soll,  daß  es  den  Ivindern  dieses  Alters  an  solchen  Theorien  gelegen 
sein  soll.  Darauf  ist  zu  antworten,  daß  Kinder  ein  intensives  Interesse  für  alles 
haben,  was  in  ihrer  Umgebung  sinnlich  Wahrnehmbares  passiert.  Es  verrät  sich 
dies  auch  durch  die  bekannten  endlosen  Fragen  nach  dem  Warum  und  Wozu  aller 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  37 

Eltern  leider  verborgen;  denn  das  Kind  kam  nun  auf  mehrere  Wochen 
zur  Großmutter.  Wie  aus  deren  Berichten  hervorging,  kam  mehrfach 
die  Storchtheorie  zur  Sprache,  natürlich  unterstützt  durch  die  Zu- 
stimmung der  Umgebung. 

Als  Anna  wieder  zu  den  Eltern  zurückkehrte,  zeigte  sie  im  Mo- 
mente des  Wiedersehens  mit  der  Mutter  wieder  jenes  verlegen-miß- 
trauische Benehmen  wie  nach  der  Geburt.  Der  Eindruck  war  beiden 
Eltern  deuthch,  jedoch  nicht  deutbar.  Das  Benehmen  gegenüber  dem 
Neugeborenen  war  sehr  nett.  Unterdessen  war  auch  eine  Pflegerin  ge- 
kommen, die  mit  ihrer  Ordenstracht  der  Kleinen  einen  großtn  Eindruck 
machte,  zuerst  allerdings  einen  höchst  negativen,  indem  sie  ihr  in  allem 
den  größten  Widerstand  entgegensetzte.  So  wollte  sie  sich  um  keinen 
Preis  abends  von  der  Pflegerin  entkleiden  und  zu  Bett  bringen  lassen. 
Woher  dieser  Widerstand  stammte,  zeigte  sich  bald  bei  einer  zornigen 
Szene  am  Bettchen  des  Brüderchens,  wo  Anna  die  Pflegerin  anschrie: 
,,Das  ist  nicht  dein  Brüderchen,  das  ist  meins."  AUmählich  versöhnte 
sie  sich  aber  mit  der  Pflegerin  und  begann  selber  Pflegerin  zu  spielen, 
mußte  eine  weiße  Haube  und  Schürze  haben  und  ,, pflegte"  bald  das 
Brüderchen,  bald  ihre  Puppen.  Eine  etwas  elegische,  träumerische 
Stimmung  im  Gegensatze  zu  früher  war  unverkennbar.  Oft  saß  Anna 
lange  unterm  Tisch  und  fing  an,  lange  Geschichten  zu  singen  und  zu 
reimen,  die  zum  Teil  unverständhch  waren,  zum  Teile  aber  Phantasie- 
wünsche über  das  Thema  ,, Pflegerin"  enthielten  („Ich  bin  eine  Pflegerin 
vom  grünen  Kreuz")  und  zum  Teil  waren  es  deutlich  schmerzliche 
Gefühle,  die  um  Ausdruck  rangen. 

Hier  begegnen  wir  einer  wichtigen  Neuigkeit  im  Leben  der  Kleinen : 
es  kommen  Träumereien,  sogar  Ansätze  zur  Dichtung,  elegische  An- 
wandlungen. Alles  Dinge,  denen  wir  sonst  erst  in  einer  späteren  Lebens- 
phase zu  begegnen  gewohnt  sind,  und  zwar  zu  jener  Zeit,  wo  der  jugend- 
liche Mensch  sich  anschickt,  die  Bande  der  Familie  zu  zerschneiden, 
ins  Leben  selbständig  hinauszutreten,  aber  innerlich  noch  zurück- 
gehalten  ist   durch   schmerzliche   Heimwehgefühle   nach   der   Wärme 

möglichen  Dinge.  Sodann  muß  man  die  Kultiirbrille  auf  einen  iloment  weglegen, 
wenn  man  die  Psychologie  des  Kindes  verstehen  will:  die  Geburt  eines  Kindes  ist 
d^jS  für  jeden  Menschen  schlechthin  wiclitigste  Ereignis.  Für  das  zivilisierte  Denken 
aber  hat  die  Geburt  viel  von  ihrer  biologischen  Einzigartigkeit  eingebüßt,  so  gut  wie 
die  Sexualität  überhaupt.  Irgendwo  muß  aber  doch  der  Geist  die  ihm  durch  die  Jahr- 
zehntausende eingeprägten  richtigen  biologischen  Schätzungen  aufbewahrt  haben. 
Was  ist  wahrscheinlicher,  als  dpß  dasKind  sie  noch  hat  und  zeigt,  bevor  der  Schleier 
der  Zivilisation  sich  über  das  primitive  Denken  legt? 


38  C.  G.  Jung. 

des  elterlichen  Herdes.  Zu  jener  Zeit  fängt  man  an,  das  Mangelnde 
mit  dichtender  Phantasie  zu  erschaffen,  um  den  Ausfall  zu  kompen- 
sieren. Aui  den  ersten  Blick  dürfte  es  paradox  erscheinen,  die  Psycho- 
logie des  4 jährigen  Kindes  der  des  Pubertätsalters  anzunähern:  die 
Verwandtschaft  liegt  aber  nicht  im  Alter,  sondern  im  Mechanismus. 
Die  elegischen  Träumereien  sprechen  es  aus,  daß  ein  Stück  Liebe,  das 
vorher  einem  realen  Objekte  gehörte  und  einem  solchen  gehören  sollte, 
introvertiert,  d.  h.  nach  innen,  ins  Subjekt  gewendet  ist  und  dort 
eine  vermehrte  Phantasietätigkeit  erzeugt^).  Woher  stammt  nun  aber 
diese  Introversion?  Ist  sie  eine  diesem  Alter  eigentümliche  psycho- 
logische Erscheinung    oder  verdankt  sie  ihre  Entstehung  einem  Kon- 

fhkt? 

Darüber  klären  uns  die  folgenden  Ereignisse  auf.  öfter  kommt 
es  vor,  daß  Anna  der  Mutter  nicht  gehorcht.  Sie  ist  trotzig  und  sagt: 
,,Ich  gehe  wieder  zur  Großmama!" 

Mutter:  ,,Dann  bin  ich  aber  traurig,  wenn  du  wieder  fortgehst." 

Anna:  ,,Ach,  du  hast  ja  das  Brüderchen!" 

Die  Wirkung  auf  die  Mutter  zeigt,  wohin  die  Kleine  mit  ihrer 
Drohung,  wieder  fortzugehen,  eigenthch  zielte:  sie  wollte  offenbar  hören, 
was  die  Mutter  zu  ihrem  Projekte  meint,  d.  h.  wie  sie  sich  überhaupt 
zu  ihr  stellt,  ob  nicht  vielleicht  das  Brüderchen  sie  doch  gänzhch  aus 
der  mütterlichen  Gunst  verdrängt  hat.  Man  darf  aber  nicht  ohne  weiteres 
dieser  kleinen  Schikane  Glauben  schenken.  Das  Kind  hat  ja  eigentlich 
sehen  und  fühlen  können,  daß  ihr  nichts  Wesentliches  an  der  Mutter- 
liebe abgeht,  trotz  der  Existenz  des  Brüderchens.  Der  Vorwurf,  den  sie 
der  Mutter  quasi  deshalb  macht,  ist  darum  ungerechtfertigt  und  verrät 
dies  dem  kundigen  Ohre  auch  durch  seinen  etwas  affektierten  Ton. 
Man  hört  ähnliche  Töne  häufig  auch  bei  Erwachsenen.  Ein  solch  un- 
verkennbarer Ton  erwartet,  nicht  ernst  genommen  zu  werden,  darum 

1)  Dieser  Vorgang  ist  überhaupt  typisch.  Stößt  das  Leben  auf  ein  Hindernis, 
kann  eine  Anpassung  nicht  geleistet  werden,  und  stockt  deshalb  die  Überführung 
der  Libido  ins  Reale,  so  findet  eine  Introversion  statt,  d.  h.  an  Stelle  des  Wirkens 
auf  die  Realität  entsteht  eine  vermehrte  Phantasietätigkeit,  deren  Tendenz  es 
ist,  das  Hindernis  zu  beseitigen,  wenigstens  zunächst  phantastisch  eine  Beseitigung 
herbeizuführen,  woraus  nach  einiger  Zeit  auch  eine  praktische  Lösung  hervor- 
gehen kann;  daher  die  übertriebenen  Sexualphantasien  der  Neurotiker,  welche 
die  spezifische  Verdrängung  zu  überwältigen  versuchen,  daher  die  typischen 
Phantasien  der  Stotterer,  daß  sie  eigentlich  großes  Rednertalent  besäßen.  (Daß 
sie  eine  gewisse  Anwartschaft  darauf  haben,  legen  uns  Adlers  gedankenreiche 
Studien  über  Organminderwertigkeit  nahe.) 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  39 

drängt  er  sich  verstärkt  auf.  Audi  den  Vorwurf  als  solchen  darf  die 
Mutter  nicht  ernst  nehmen,  denn  er  ist  bloß  der  Vorläufer  anderer 
und  diesmal  stärkerer  Widerstände.  Nicht  lange  nach  dem  vorhin 
mitgeteilten  Gespräche  trug  sich  folgende  Szene  zu: 

Mutter:  ,,Komm,  wir  gehen  jetzt  in  den  Garten!" 
Anna:  „Du  lügst;  paß  auf,  wenn  du  die  Wahrheit  nicht  sagst!" 
Mutter:  ,,Was  fällt  dir  ein?  Ich  sage  doch  die  Wahrheit." 
Anna:  ,,Nein,  du  sagst  die  Wahrheit  nicht." 
Mutter:  ,,Du  wirst  schon  sehen,  daß  ich  die  Wahrheit  sage,  wir 
gehen  jetzt  in  den  Garten." 

Anna:  ,,Ja  ist  das  wahr?  Ist  das  gewiß  wahr?  Lügst  du  nicht?" 
Szenen  dieser  Art  wiederholten  sich  einige  Male.  Diesmal  war  der 
Ton  ein  heftiger  und  eindringlicher  und  zudem  verriet  der  Akzent, 
der  auf  dem  ,, Lügen"  lag,  etwas  ganz  Besonderes,  das  aber  die  Eltern 
nicht  verstanden,  indem  sie  überhaupt  den  spontanen  Äußerungen 
des  Kindes  anfangs  zu  wenig  Bedeutung  beimaßen.  Sie  taten  damit 
nichts  anderes,  als  was  die  Erziehung  im  allgemeinen  ex  officio  tut. 
Man  hört  die  Kinder  im  allgemeinen  zu  wenig  an  und  behandelt  sie 
auf  jeder  Altersstufe  in  allen  Wesenthchkeiten  als  Unzurechnungsfähige 
und  in  allem  Unwesentlichen  werden  sie  zu  automatenhafter  Voll- 
kommenheit dressiert.  Hinter  Widerständen  hegt  immer  eine  Frage, 
ein  Konfhkt  und  zu  anderer  Zeit  und  anderer  Gelegenheit  hören  wir  auch 
davon.  Gewöhnlich  vergißt  man  aber,  das  Gehörte  mit  den  Wider- 
ständen in  Zusammenhang  zu  bringen.  So  stellte  Anna  zu  anderer  Zeit 
ihrer  Mutter  schwierige  Fragen: 

Anna:  ,,Ich  möchte  eine  Pflegerin  werden,  wenn  ich  groß  bin." 
Mutter:  ,,Das  wollte  ich  auch,  als  ich  noch  ein  Kind  war." 
Anna:  ,,Ja,  warum  bist  du  denn  keine  geworden?" 
Mutter:  ,,Nun  weil  ich  halt  eine  Mama  geworden  bin  und  so  habe 
ich  ja  auch  Kinder  zum  Pflegen." 

Anna:  (nachdenklich)  ,,Ja,  werde  ich  denn  eine  andere  Frau 
als  du?  Werde  ich  dann  an  einem  andern  Ort  wohnen?  Werde  ich 
dann  auch  noch  mit  dir  reden?" 

Die  Antwort  der  Mutter  zeigt  wieder,  wohin  eigenthch  die  Frage 
des  Kindes  zielt^):   Anna  möchte  offenbar  auch  ein  Kindchen  zum 

^)  Die  vielleicht  paradox  anmutende  Auffassung,  das  Ziel  der  kindlichen 
Frage  in  der  Antwort  der  Mutter  zu  erkennen,  bedarf  der  Erörterung.  Es  ist  eines 
der  größten  psychologischen  Verdienste  Freuds,  die  ganze  Fragwürdigkeit 
der  bewußten  Willensmotive  wieder  aufgedeckt  zu  haben.  Es  ist  eine  Folge 


40  CG.  Jung. 

„Pflegen"  haben,  so  wie  es  die  Schwester  Pflegerin  hat.  Woher  die 
Schwester  das  Kindchen  hat,  ist  ja  ganz  klar,  so  könnte  Anna,  wann 
sie  einmal  groß  ist,  auch  ein  Kindchen  bekommen.  Warmn  ist  denn 
die  Mama  keine  solche  durchsichtige  Pflegerin  geworden?  D.  h.  woher 
hat  sie  denn  das  Kind,  wenn  sie  doch  nicht  so  dazugekommen  ist  wie 
die  Schwester  Pflegerin?  So  wie  die  Schwester  ein  Kind  hat,  so  könnte 
Anna  auch  eins  haben,  aber  wie  das  in  Zukunft  anders  werden  soll, 
respektive  wie  sie  der  Mutter  im  Kinderbekoramen  ähnlich  werden 
könnte,  ist  nicht  abzusehen.  Daraus  ergibt  sich  die  nachdenkliche  Frage: 
,,Ja,  werde  ich  denn  eine  andere  Frau  als  du?"  Werde  ich  in  allen  Be- 
ziehungen anders  sein?  Mit  der  Storchtheorie  ist  es  offenbar  nichts, 
mit  dem  Sterben  ebensowenig,  also  bekommt  man  das  Kind  z.  B.  wie's 
die  Schwester  Pflegerin  bekommen  hat.  Auf  diesem  natürlichen  Wege 
könnte  sie  es  auch  bekommen,  aber  nun  die  Mutter,  die  keine  Pflegerin 
ist  und  doch  Kinder  hat?  So  fragt  Anna  von  ihrem  Standpunkte  aus: 
„Warumbist  du  denn  keine  Pflegerin  geworden?  "scilicet  hast  auf  einem 
klaren  Wege  ein  Kind  bekommen?  Diese  sonderbar  indirekte  Art  des 
Fragens  ist  typisch  und  dürfte  mit  der  Unklarheit  der  Problemerfassung 
zusammenhängen,  Avenn  man  nicht  etwa  eine  gewisse  „diplomatische 
Unbestimmtheit"  annehmen  will,  die  durch  ein  Ausweichen  vor  der 
direkten  Fragestellung  bedingt  wäre.  Wir  werden  später  einen  Beleg 
für  diese  Möghchkeit  antreffen. 

Wir  stehen  also  offenbar  vor  der  Frage:  ,,WoherkommtdasKind?" 
Der  Storch  hat's  nicht  gebracht,  die  Mama  ist  nicht  gestorben,  so  wie 
die  Schwester  hat  es  die  Mama  auch  nicht  bekommen.  Sie  hat  aber 
doch  früher  gefragt  und  vom  Vater  vernommen,  der  Storch  bringe 
die  Kinder;  das  ist  aber  entschieden  nicht  so,  darüber  hat  sie  sich  nie 
täuschen  lassen.  Also  lügen  Papa  und  Mama  und  alle  anderen  auch. 
Daher  erklären  sich  ungezwungen  ihr  Mißtrauen  bei  der  Geburt  und  ihre 
Vorwürfe  gegen  die  Mutter.  Es  klärt  sich  aber  noch  ein  weiterer  Punkt 
auf,  nämhch  die  elegische  Träumerei,  die  wir  auf  eine  partielle  Intro- 
version zurückgeführt  haben.   Nun  wissen  wir,   von  welchem  realen 


der  Triebverdrängung,  daß  die  Bedeutung  des  bewußten  Denkens  für  das  Handeln 
maßlos  überschätzt  wird.  P^  r  e  u  d  setzt  als  Kriterium  der  Psychologie  des  Handelns 
nicht  das  bewußte  IMotiv,  sondern  das  Resultat  (letzteres  aber  nicht  in  seiner 
physikalischen,  sondern  in  seiner  psychologischen  Wertung).  Diese  Auffassung 
läßt  das  Handeln  in  einem  neuen  und  biologisch  bedeutsamen  Lichte  erscheinen. 
Ich  verzichte  auf  Beispiele  und  begnüge  mich  mit  dem  Hinweis,  daß  diese  Auf- 
fassung für  die  Psychoanalyse  wesentlich  und  heuristisch  äußerst  wertvoll  ist. 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  41 

Objekt  Liebe  weggenommen  und  als  gegenstandslos  introvertiert 
werden  mußte,  nämlich  von  den  Eltern,  welche  sie  belügen  und  ihr 
die  Wahrheit  nicht  sagen  wollen.  (Was  muß  es  dann  sein,  wenn  man 's 
nicht  sagen  kann?  Was  geht  da  vor?  So  lauten  etwas  später  die  pa- 
renthetischen Fragen  des  Kindes.  Die  Antwort  ist:  „Das  muß  demnach 
etwas  zu  Verheimlichendes,  vielleicht  gar  etwas  Gefährliches  sein.)  Auch 
die  Versuche,  die  Mutter  zum  Sprechen  zu  bringen  und  mit  (verfäng- 
lichen?) Fragen  die  Wahrheit  herauszulocken,  mißlingt,  also  wird 
Widerstand  gegen  Widerstand  gesetzt  und  die  Introversion  der  Liebe 
beginnt.  Begreiflicherweise  ist  die  Sublimationsfähigkeit  eines 
4  jährigen  Kindes  noch  zu  spärlich  entwickelt,  ah  daß  sie  mehr  als  einige 
symptomatische  Dienste  leisten  könnte,  das  Gemüt  ist  also  auf  eine 
andere  Kompensation  angewiesen,  nämlich  auf  eine  der  schon  auf- 
gegebenen infantilen  Formen  der  Liebe-Erzwingung,  von  denen  die 
beliebteste  nächtliches  Geschrei  und  Herrufen  der  Mutter  ist.  Dies  war 
schon  im  ersten  Lebensjahr  eifrig  praktiziert  und  ausgenutzt  worden. 
Jetzt  kam  es  wieder,  und  zwar  entsprechend  der  Altersstufe  wohl 
motiviert  und  mit  rezenten  Eindrücken  ausstaffiert. 

Eben  war  nämlich  das  Erdbeben  von  Messina  geschehen  und 
man  sprach  bei  Tische  von  den  Ereignissen.  Anna  interessierte  sich  außer- 
ordentlich dafür  und  ließ  sich  namentlich  von  der  Großmutter  immer 
wieder  erzählen,  wie  der  Boden  gebebt  habe  und  die  Häuser  einstürzten, 
und  wieviel  Menschen  dabei  umgekommen  seien.  Von  da  an  datierte 
allabendliche  Angst,  sie  könne  nicht  allein  sein,  die  Mama  müsse  zu 
ihr  kommen,  bei  ihr  bleiben,  sie  habe  sonst  Angst,  das  Erdbeben  komme, 
das  Haus  falle  ein  und  erschlage  sie.  Tagsüber  ist  sie  auch  lebhaft  mit 
solchen  Gedanken  beschäftigt ;  wenn  sie  spazieren  geht  mit  der  Mutter, 
so  plagt  sie  sie  mit  Fragen :  „Wird  das  Haus  noch  stehen,  wenn  wir  wieder 
heimkommen?  Wird  Papa  noch  am  Leben  sein?  Ist  gewiß  kein  Erdbeben 
zu  Hause?  Oder  bei  jedem  Stein,  der  im  Wege  lag,  wurde  gefragt:  „Ist 
der  vom  Erdbeben?"  Ein  Neubau  war  ein  durch  Erdbeben  zerstörtes 
Haus  usw.  Schheßlich  schrie  sie  oft  nachts  auf,  das  Erdbeben  komme, 
sie  höre  es  schon  donnern.  Man  mußte  ihr  abends  feierhch  versprechen, 
daß  gewiß  kein  Erdbeben  komme.  Man  versuchte  verschiedene  Be- 
ruhigungsmittel, z.  B.  sagte  man  ihr,  es  gebe  nur  da  Erdbeben,  wo  es 
Vulkane  gebe.  Nun  mußte  ihr  aber  wieder  bewiesen  werden,  daß  die 
Berge  in  der  Umgebung  der  Stadt  gewiß  keine  Vulkane  seien.  Dieses 
Räsonieren  führte  das  Kind  allmählich  auf  einen  ebenso  starken  wie 
für  sein   Alter  unnatürlichen  Wissensdrang,   der  sich   darin   äußerte, 


42  C.  G.  Jung. 

daß  man  der  Kleinen  alle  geologischen  Bilder  und  Atlanten  aus  der 
Bibliothek  des  Vaters  holen  mußte.  Sie  durchstöberte  dann  die  Werke 
stundenlang  nach  Abbildungen  von  Vulkanen  und  Erdbeben  und 
fragte  endlos. 

Wir  stehen  hier  vor  einem  ganz  energischen  Anlauf  zur  Subli- 
mation der  Angst  in  Wissenschaftstrieb,  der  aber  zu  dieser  Lebenszeit 
als  entschieden  verfrüht  anmutet.  Wie  manches  begabte  Kind  aber, 
das  genau  am  gleichen  Probleme  leidet,  wird  an  dieser  unzeitigen 
Sublimation  aufgepäppelt,  gewiß  nicht  zu  seinem  Vorteile.  Denn  wenn 
man  Sublimation  in  diesem  Alter  begünstigt,  so  unterstützt  man  nur 
ein  Stück  Neurose.  Die  Wurzel  des  Wissenschaftstriebes  ist  die  Angst, 
und  die  Angst  ist  der  Ausdruck  einer  konvertierten  Libido,  d.  h. 
einer  nunmehr  neurotisch  gewordenen  Introversion,  die  in 
diesem  Alter  weder  nötig,  noch  für  die  Entwicklung  des  Kindes  günstig 
ist.  Wohin  dieser  Wissenschaftstrieb  in  letzter  Linie  zielte,  wird  ver- 
ständhch  aus  einer  Reihe  von  Fragen,  die  sich  fast  täglich  erhoben: 
„Warum  ist  S.  (ein  jüngeres  Schwesterchen)  jünger  als  ich?  Wo  ist 
denn  Fritzchen  (das  Brüderchen)  vorher  gewesen?  War  er  im  Himmel, 
was  hat  er  denn  dort  gemacht?  Warum  ist  er  erst  jetzt  und  nicht  schon 
früher  heruntergekommen?" 

Diese  Sachlage  gab  dem  Vater  den  Gedanken  ein,  die  Mutter 
solle  dem  Kinde  die  Wahrheit  über  die  Herkunft  des  Brüderchens 
bei  erster  bester  Gelegenheit  sagen. 

Dies  geschah,  als  Anna  sich  bald  darauf  wieder  einmal  nach  dem 
Storch  erkundigte.  Die  Mutter  sagte  ihr,  die  Geschichte  mit  dem  Storche 
sei  nicht  wahr,  sondern  Fritzchen  sei  in  der  Mama  gewachsen  wie  die 
Blumen  aus  der  Erde.  Zuerst  war  er  ganz  klein  und  dann  ist  er  immer 
größer  geworden  wie  die  Pflanzen.  Das  Kind  hörte  ohne  das  geringste 
Erstaunen  aufmerksam  zu  und  fragte  dann: 

5, Ja,  ist  er  denn  ganz  von  selbst  herausgekommen?" 

Mutter:  „Ja." 

Anna:  ,,Er  kann  ja  noch  gar  nicht  gehen." 

Das  jüngere  Schwesterchen:  ,,Dann  ist  er  halt  herausgekriecht." 

Anna  (die  Antwort  des  Schwesterchens  überhörend):  ,,Ja,  gibt  es 
denn  da  (auf  die  Brust  zeigend)  ein  Loch?  Oder  kam  er  aus  dem 
Munde?  Wer  ist  denn  aus  der  Pflegerin  herausgekommen?" 

Sie  unterbrach  sich  aber  selber  wieder  durch  Zwischenrufe:  ,,Nfcin, 
ich  weiß,  der  Storch  hat  das  Brüderchen  vom  Himmel  herunter- 
gebracht!" Dann,  bevor  die  Mutter  die  Fragen  beantworten  konnte, 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  43 

verließ  sie  das  Thema  und  verlangte  wieder  Abbildungen  von  Vulkanen 
zu  sehen.  Der  auf  diese  Unterredung  folgende  Abend  war  ruhig.  Die 
plötzhche  Aufklärung  nötigte  dem  Kinde  offenbar  eine  ganze  Reihe 
von  Einfällen  auf,  was  sich  in  einer  gewissen  Hast  der  Fragen  kundgab. 
Es  eröffneten  sich  neue,  unerwartete  Perspektiven,  sie  nähert  sich  rasch 
einem  Hauptproblem,  nämlich  der  Frage:  ,,Wo  ist  das  Kind  heraus- 
gekommen? Aus  einem  Loche  in  der  Brust  oder  aus  dem 
Munde?  Beide  Vermutungen  sind  geeignet  zu  fest  angenommenen 
Theorien.  Es  gibt  sogar  jung  verheiratete  Frauen,  die  noch  der  Theorie 
des  Loches  in  der  Leibeswand  und  des  Kaiserschnittes  huldigen,  was  eine 
ganz  besonders  große  Unschuld  ausdrücken  soll.  Natürhch  handelt  es 
sich  in  solchen  Fällen  wohl  immer  um  infantile  Sexualbetätigungen, 
welche  die  vias  naturales  später  in  Verruf  gebracht  haben,  und  beileibe 
nicht  etwa  um  Unschuld.  Man  sollte  sich  eigentlich  wundern,  woher  bei 
dem  Kinde  die  ungereimte  Idee  stammt,  es  gebe  ein  Loch  in  der  Brust, 
oder  die  Geburt  finde  durch  den  Mund  statt;  warum  denn  nicht  durch 
eine  der  natürlichen,  schon  vorhandenen  Öffnungen  des  Unterleibes, 
aus  denen  doch  tägUch  Dinge  herauswandern  ?  Die  Erklärung  ist  einfach : 
Die  Zeit,  wo  unsere  Kleine  durch  ein  erhöhtes  und  nicht  immer  den 
Anforderungen  der  Reinhchkeit  und  des  Anstandes  entsprechendes 
Interesse  für  die  beiden  Unterleibsöffnungen  und  deren  bemerkens- 
werte Produkte  die  Erziehungskünste  der  Mutter  herausforderte,  liegt 
noch  nicht  allzu  fern.  Damals  hatte  sie  zum  ersten  Male  die  Ausnahme- 
gesetze für  diese  Körperregion  kennen  gelernt  und  als  empfindsames 
Kind  bald  herausgemerkt,  daß  da  irgend  etwas  ,,tabu"  ist.  Dieses 
Gebiet  hat  daher  aus  jeghcher  Rechnung  auszufallen;  ein  kleiner  Denk- 
fehler, der  dem  4  jährigen  Kinde  wohl  zu  verzeihen  ist,  wenn  man  an 
alle  die  Leute  denkt,  die  trotz  schärfster  Brillen  nirgends  etwas  Sexuelles 
entdecken  können.  Insofern  reagiert  unsere  Kleine  viel  doziler  als  ihr 
jüngeres  Schwesterchen,  das  auf  dem  Gebiete  der  Kot-  und  Urin- 
interessen allerdings  Hervorragendes  leistete  und  dann  auch  beim 
Essen  ähnhche  Manieren  an  den  Tag  legte.  Ihre  Exzesse  bezeichnete 
sie  immer  mit  ,, lustig";  die  Mutter  aber  meinte:  „nein,  das  ist  nicht 
lustig"  und  verbot  ihr  den  Spaß.  Das  Kind  ging  anscheinend  auf  diese 
unbegreifhchen  Erziehungslaunen  ein,  bald  aber  zeigte  sich  seine  Rache. 
Wie  nun  einmal  ein  neues  Gericht  auf  den  Tisch  kam,  weigerte  es  sich 
kategorisch  mitzutun,  mit  dem  Bemerken,  ,,das  ist  nicht  lustig".  Von 
da  an  wurden  alle  Fremdartigkeiten  in  Speisen  abgelehnt  als  ,, nicht 
lustig". 


44  C.  G.  Junff 


ö* 


Die  Psychologie  dieses  Negativismus  ist  typiscli  und  unschwer 
zu  verstehen.  Die  Gefühlslogik  lautet  einfach:  „Wenn  ihr  meine  Künste 
nicht  lustig  findet  und  mich  zwingt  sie  aufzugeben,  dann  finde  ich 
auch  eure  Künste,  die  ihr  als  gut  anpreist,  nicht  lustig  und  werde 
nicht  mitmachen."  Wie  alle  kindlichen  (so  häufigen  Kompensationen 
dieser  Art),  geht  auch  diese  nach  dem  wichtigen  infantilen  Grundsatz: 
,,Es  geschieht  euch  schon  recht,  wenn's  mir  weh  tut." 

Kehren  wir  nach  dieser  Abschweifung  zu  unserem  Falle  zurück. 
Anna  hat  sich  einfach  dozil  erwiesen  und  sich  soweit  an  die  Kultur- 
forderungen angepaßt,  daß  sie  an  das  Einfachste  zuletzt  denkt  (wenig- 
stens so  spricht).  Die  an  die  Stelle  der  richtigen  gesetzten  unrichtigen 
Theorien  halten  jahrelang  an,  bis  einmal  von  auswärts  brüske  Auf- 
klärung erfolgt.  Es  ist  daher  kein  Wunder,  daß  solche  Theorien,  deren 
Entstehung  und  Festhaltung  sogar  von  Eltern  und  Erziehern  begünstigt 
wird,  später  in  einer  Neurose  zu  wichtigen  Symptomdeterminanten 
werden  oder  in  der  Psychose  zu  Wahnideen,  wie  ich  in  meiner  Psycho- 
logie der  Dementia  praecox  nachgewiesen  habe.  Was  jahrelang  in  der 
Seele  einmal  existiert  hat,  das  ist  auch  immer  irgendwie  da,  wenn  schon 
unter   anscheinend   anders   gearteten   Kompensationen   versteckt. 

Noch  bevor  aber  die  Frage,  wo  eigentlich  das  Kind  herauskommt, 
erledigt  ist,  drängt  sich  ein  neues  Problem  auf:  also  aus  der  Mama 
kommen  Kinder,  wie  aber  ist  es  bei  der  Pflegerin?  Ist  da  auch  jemand 
herausgekommen?  Und  nach  dieser  Frage  erfolgt  der  Abbruch:  ,,Nein, 
nein,  der  Storch  hat  das  Brüderchen  vom  Himmel  heruntergebracht." 
Was  ist  denn  Besonderes  daran,  daß  aus  der  Schwester  niemand  heraus- 
gekommen ist?  Wir  erinnern  uns,  daß  Anna  sich  mit  der  Schwester  iden- 
tifiziert hat  und  plant,  ebenfalls  später  Pflegerin  zu  werden,  denn  — 
sie  möchte  auch  ein  Kindchen  haben  und  so  wie  die  Schwester  könnte 
sie's  auch  bekommen.  Aber  jetzt,  wo  man  weiß,  daß  das  Brüderchen 
in  der  Mama  gewachsen  ist,  wie  ist  das  jetzt? 

Diese  bange  Frage  wird  rasch  abgewendet  durch  Rückkehr  auf  die 
eigentlich  noch  nie  geglaubte  Storch-Engeltheorie,  die  aber  nach  einigen 
Anläufen  doch  endgültig  aufgegeben  wird.  Es  schweben  aber  zwei  Fragen 
in  der  Luft;  die  eine  lautet:  ,,Wo  kommt  das  Kind  heraus?"  Die  zweite 
ist  bedeutend  schwieriger  und  lautet:  ,,Wie  kommt  es,  daß  die  Mama 
Kinder  hat,  nicht  aber  die  Pflegerin  und  die  Mägde?"  All  diese  Fragen 
meldeten  sich  zunächst  nicht  mehr. 

Am  folgenden  Tag  beim  Mittagessen  erklärte  Anna  anscheinend 
ganz  unvermittelt: 


über  Konflikte  der  kiudlichea  Seele.  45 

,,Mein  Bruder  ist  in  Italien  und  hat  ein  Haus  aus  Stoff  (Tuch) 
und  Glas  und  es  fällt  nicht  um." 

Wie  immer,  konnte  auch  diesmal  um  eine  Erklärung  nicht  gefragt 
werden,  denn  die  Widerstände  sind  zu  groß,  so  daß  sich  Anna  nicht 
fixieren  läßt.  Diese  einmalige,  wie  offiziös  anmutende  Erklärung  ist 
sehr  bedeutsam.  Schon  seit  zirka  einem  Vierteljahr  spannen  die  Kinder 
eine  stereotype  Phantasie  von  einem  „großen  Bruder",  der  alles  weiß, 
kann  und  hat,  an  allen  Orten  war  und  ist,  wo  die  Kinder  nicht  waren  und 
alles  tun  darf,  was  sie  nicht  dürfen.  Jede  hat  einen  solchen  großen  Bruder, 
der  große  Kühe,  Schafe,  Pferde,  Hunde  usw.  besitzt^).  Die  Quelle 
dieser  Phantasie  ist  nicht  weit  zu  suchen;  das  Modell  dazu  ist  der  Vater, 
der  so  etwas  zu  sein  scheint  wie  ein  Bruder  der  Mutter.  Auch  die  Kinder 
müssen  dann  einen  ähnlich  mächtigen  „Bruder"  haben.  Dieser  Bruder 
ist  sehr  mutig,  ist  gegenwärtig  im  gefährlichen  Itahen  und  bewohnt 
ein  unmöglich  gebrechliches  Haus,  und  das  fällt  nicht  um.  Damit  ist 
ein  für  das  Kind  wichtiger  Wunsch  realisiert:  das  Erdbeben  ist  nicht 
mehr  gefährlich.  Darum  hat  die  Angst  und  die  Phobie  wegzufallen 
und  sie  blieb  auch  weg.  Von  da  an  war  die  ganze  Erdbebenfurcht 
verschwunden.  Anstatt  daß  nun  abends  der  Vater  ans  Bettchen  ge- 
rufen wird,  um  die  Angst  zu  beschwören,  zeigt  die  Kleine  größere  Zärt- 
lichkeit und  bittet  den  Vater,  abends  sie  zu  küssen.  Um  die  neue  Lage 
der  Dinge  zu  erproben,  zeigte  der  Vater  der  Kleinen  neue  Abbildungen 
von  Vulkanen  und  Erdbebenwirkungen.  Anna  blieb  aber  kalt  und 
betrachtete  die  Bilder  gleichgültig:  ,,Das  sind  Tote!  Ich  habe  das  schon 
oft  gesehen."  Auch  die  Photographie  eines  Vulkanausbruches  hatte 
für  sie  gar  nichts  Anziehendes  mehr.  So  fiel  das  ganze  wissenschafthche 
Interesse  wieder  in  sich  zusammen  und  verschwand  so  plötzHch  wie  es 
gekommen  war.  In  den  nächsten  Tagen  nach  der  Aufklärung  hatte 
Anna  aber  auch  Wichtigeres  zu  tun;  sie  breitete  die  neugewonnenen 
Erkenntnisse  auf  ihre  Umgebung  aus,  und  zwar  folgendermaßen:  es 
wurde  zunächst  nochmals  ausführlich  konstatiert,  daß  Fritzchen  in  der 
Mama  gewachsen  sei,  ferner  sie  und  das  jüngere  Schwesterchen;  der 
Papa  aber  in  seiner  Mama,  die  Mama  in  ihrer  Mama  und  die  Mägde 
ebenfalls  in  ihren  respektiven  Müttern.  Durch  öfteres  Fragen  wurde 
die  Erkenntnis  auch  auf  die  Dauerhaftigkeit  ihrer  Wahrheit  geprüft, 
denn  das  Mißtrauen  der  Kleinen  war  in  nicht  geringem  Maße  geweckt 
worden,  so  daß  es  melirfacher  Bekräftigungen  bedurfte,  um  alle  Bedenken 


*)  Eine  primitive  Definition  der  Gottheit. 


46  C.  G.  Jung 


o" 


zu  zerstreuen.  Zwischenhinein  kam  es  öfter  vor,  daß  beide  Kinder  wieder 
die  Storch-  und  Engeltheorie  aufbrachten,  aber  in  wenig  glaub- 
würdigem Tone,  mit  etwas  singendem  Ton  auch  den  Puppen  vor- 
getragen. 

Im  übrigen  bewährte  sich  offenbar  das  neue  Wissen,  denn  die 
Phobie  bheb  weg. 

Nur  einmal  drohte  die  Sicherheit  in  Stücke  zu  gehen.  Etwa  8  Tage 
nach  dem  Momente  der  Aufklärung  blieb  der  Vater  einmal  wegen  einer 
Influenza  vormittags  zu  Bette.  Die  Kinder  Avußten  nichts  davon,  und 
Anna  kam  ins  Schlafzimmer  der  Eltern  und  sah  den  Vater  ungewohnter- 
weise im  Bette  liegen.  Sie  machte  wieder  ein  sonderbar  erstauntes 
Gesicht,  bheb  in  weiter  Entfernung  vom  Bette  stehen  und  wollte  sich 
nicht  nähern,  offenbar  wieder  scheu  und  mißtrauisch.  Plötzlich  platzte 
sie  mit  der  Frage  heraus:  ,,AVarum  bist  du  im  Bett,  hast  du  etwa  auch 
eine  Pflanze  im  Bauch?" 

Natürhch  mußte  der  Vater  lachen  und  beruhigte  sie,  daß  nämhch 
im  Papa  keine  Kinder  wachsen  könnten,  daß  überhaupt  die  Männer  keine 
Kinder  hätten,  nur  die  Frauen,  worauf  das  Kind  sofort  wieder  zu- 
trauhch  wurde.  Während  aber  die  Oberfläche  ruhig  blieb,  arbeiteten 
die  Probleme  im  Dunkeln  weiter.  Einige  Tage  später  erzählte  Anna 
wieder  beim  Mittagessen:  ,,Ich  habe  heute  Nacht  die  Arche  Noah  ge- 
träumt." Der  Vater  fragte  sie,  was  sie  denn  davon  geträumt  habe,  worauf 
Anna  lauter  Unsinn  antwortete:  In  solchen  Fällen  muß  man  einfach 
warten  und  aufpassen.  Richtig,  nach  einigen  Minuten  sagte  sie  zur 
Großmutter:  ,,Ich  habe  heute  Nacht  die  Arche  Noah  geträumt  und  da 
waren  viele  Tierchen  drin."  Darauf  trat  wieder  eine  Pause  ein,  dann 
begann  sie  die  Erzählung  zum  dritten  Male:  ,,Ich  habe  heute  Nacht 
die  Arche  Noah  geträumt  und  da  waren  viele  Tierchen  darin 
und  da  war  unten  ein  Deckel  daran,  der  ging  auf  und  die  Tier- 
chen fielen  alle  heraus."  Der  Kundige  versteht  die  Phantasie.  Die 
Kinder  besitzen  tatsächhch  eine  Arche,  jedoch  ist  die  Öffnung  ein  Deckel 
am  Dache  und  nicht  unten.  Es  wird  somit  zart  angedeutet:  Die  Ge- 
schichte mit  der  Geburt  aus  Mund  oder  Brust  stimmt  nicht ;  man  ahnt 
den  richtigen  Sachverhalt:  es  geht  nämlich  unten  heraus. 

Es  vergingen  nun  mehrere  Wochen  ohne  bemerkenswerte  Ereig- 
nisse. Einmal  kam  ein  Traum  vor:  „Ich  habe  Papa  und  Mama 
geträumt,  die  seien  noch  lange  im  Studierzimmer  und  die  Kinder  seien 
auch  dabei." 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  47 

An  der  Oberfläche  findet  sich  ein  bekannter  Wunsch  der  Kinder, 
auch  so  lange  aufbleiben  zu  dürfen  wie  die  Eltern.  Dieser  Wunsch  wird 
hier  realisiert  oder  vielmehr  benutzt  zur  Maskierung  eines  viel  wichtigeren 
Wunsches,  nämlich  abends  dabei  zu  sein,  wenn  die  Eltern  allein 
sind,  natürlich  unschuldigerweise  im  Studierzimmer,  wo  die  Kleine 
ja  alle  die  interessanten  Bücher  gesehen  hat,  wo  sie  den  Wissensdurst 
stillte,  d.  h.  eigentlich  die  brennende  Frage  zu  beantworten  suchte, 
woher  das  Brüderchen  kam.  Wenn  die  Kinder  dabei  wären,  so  wüßten 
sie  es^). 

Wenige  Tage  darauf  ereignete  sich  ein  Angsttraum,  aus  dem  Anna 
mit  Geschrei  erwachte:  ,,Das  Erdbeben  kommt,  das  Haus  zittert  schon." 
Die  Mutter  geht  zu  ihr,  beruhigt  und  tröstet  sie,  es  komme  kein  Erd- 
beben, es  sei  alles  ruhig  und  alle  Leute  schlafen.  Worauf  Anna  in  drin- 
gendem Tone  sagte:  ,,Ich  möcht'  halt  den  Frühling  sehen,  wie 
alle  Blümlein  herauskommen  und  wie  die  ganze  Wiese  voll 
Blumen  ist  —  ich  möcht'  jetzt  halt  Fritzchen  sehen,  er  hat 
ein  so  liebes  Gesichtchen  —  was  macht  der  Papa?  —  was 
sagt  er?  (Die  Mutter  sagt:  ,,Er  schläft  und  sagt  nichts.")  Nun  bemerkt 
die  Kleine  mit  spöttischem  Lächeln:  ,,Er  wird  wohl  morgen  wieder 
krank  sein!" 

Dieser  Text  will  rückwärts  gelesen  sein.  Der  letzte  Satz  ist  nicht 
ernst  gemeint,  denn  er  wurde  in  spöttischem  Tone  vorgebracht :  als  der 
Vater  das  letzte  Mal  krank  war,  da  hatte  ihn  Anna  im  Verdacht,  er  habe 
,,eine  Pflanze  im  Bauche."  Der  Spott  will  also  wohl  sagen:  Morgen 
wird  der  Papa  wohl  ein  Kind  haben?  Doch  es  ist  nicht  ernst  gemeint, 
der  Papa  wird  kein  Kind  haben,  sondern  die  Mama  hat  bloß  Kinder, 
sie  wird  morgen  vielleicht  wieder  eins  haben  und  woher?  ,,Was  macht 
der  Papa?"  Hier  taucht  unverkennbar  eine  Formulierung  des  schwierigen 
Problems  auf :  Was  tut  eigentlich  der  Vater,  wenn  er  keine  Kinder  gebärt? 
Die  Kleine  möchte  gar  zu  gerne  Aufschluß  über  alle  ihre  Probleme 
haben,  sie  möchte  wissen,  wie  Fritzchen  zur  Welt  gekommen  ist,  sie 
möchte  die  Blümlein  sehen,  wie  sie  im  Frühling  aus  der  Erde  hervor- 
kommen und  diese  Wünsche  stecken  hinter  der  Erdbebenangst. 

Nach  diesem  Intermezzo  schlief  Anna  ruhig  bis  am  Morgen.  Am 
Morgen  befragte  sie  die  Mutter :  „Was  hast  du  denn  heute  Nacht  gehabt?" 


^)  Dieser  Wunsch,  sitzen  zu  bleiben  bis  in  die  tiefe  Nacht  bei  Vater  oder 
Mutter  spielt  später  in  der  Neurose  nicht  selten  eine  Rolle.  Der  gewöhnliche  Zweck 
ist:  den  elterlichen  Koitus  zu  verhindern. 


48  C.  G.  Juuff. 


o* 


Die  Kleine  hat  alles  vergessen  und  meint,  bloß  einen  Traum  gehabt  zu 
haben:  „Ich  habe  geträumt,  ich  könne  den  Sommer  machen 
und  dann  hat  jemand  einenKasperl  in  denAbtritt  hinunter- 
geworfen." 

Dieser  sonderbare  Traum  hat  offenbar  zwei  verschiedene  Sze- 
nerien, die  durch  ,,dann"  getrennt  sind.  Der  zweite  Teil  bezieht  sein 
Material  aus  einem  rezenten  Wunsche,  einen  Kasperl  zu  besitzen,  d.  h. 
eine  männliche  Puppe,  so  wie  die  Mama  ein  Bübchen  hat.  Jemand  wirft 
den  Kasperl  in  den  Abtritt,  man  läßt  sonst  andere  Dinge  in  den  Abtritt 
fallen.  So  wie  die  Sache  auf  dem  Abtritt,  so  kommt  auch  das 
Kindchen  heraus.  Wir  haben  hier  also  die  Analogie  zur  ,,Lumpf"- 
theorie  des  ,, kleinen  Hans".  Wenn  in  einem  Traume  mehrere  Szenen 
vorhanden  sind,  pflegt  jede  Szene  eine  besondere  Variante  der  Kom- 
plexbearbeitung zu  sein.  So  ist  hier  der  erste  Teil  nur  eine  Variante 
eines  mit  dem  zweiten  Teil  gemeinsamen  Themas.  Was  es  heißt,  ,,den 
Frühling  sehen",  oder  ,,die  Blümlein  herauskommen  sehen",  das  haben 
wir  oben  gesehen.  Jetzt  träumt  Anna,  sie  könne  den  Sommer 
machen,  d.  h.  bewirken,  daß  die  Blümchen  herauskommen,  sie  kann 
selber  ein  Kindchen  machen,  und  der  zweite  Teil  des  Traumes  sagt, 
so  wie  man  den  Stuhlgang  macht.  Hier  haben  wir  den  egoistischen 
Wunsch,  der  hinter  den  anscheinend  objektiven  Interessen  des  nächt- 
lichen Gespräches  liegt. 

Ein  paar  Tage  später  erhielt  die  Mutter  Besuch  von  einer  Dame, 
die  ihrer  Niederkunft  entgegensah.  Die  Kinder  achteten  scheinbar  nicht 
im  Geringsten  darauf.  Folgenden  Tags  aber  vergnügten  sie  sich  unter 
Anführung  der  Älteren  mit  einem  besonderen  Spiel:  Sie  hatten  sich 
alle  alten  Zeitungen  des  väterlichen  Papierkorbes  vorn  unter  die  Röcke 
gestopft,  so  daß  die  Absicht  der  Nachahmung  unverkennbar  war.  Nachts 
hatte  die  Kleine  wieder  einen  Traum:  ,,Ich  habe  eine  Frau  in  der 
Stadt  geträumt,  und  diehat  einen  ganz  dicken  Bauch  gehabt." 
Der  Hauptakteur  im  Traume  ist  immer  der  Träumende  selbst  unter 
irgend  einem  bestimmten  Aspekt;  so  findet  das  kindUche  Spiel  des 
Vortages  seine  völlige  Deutung. 

Nicht  lange  darauf  überraschte  Anna  ihre  Mutter  mit  folgendem 
Schauspiele :  Sie  hatte  sich  ihre  Puppe  unter  die  Röcke  gesteckt,  zog  sie 
langsam,  mit  dem  Kopfe  nach  unten,  hervor  und  sagte:  „Schau,  da 
kommt  jetzt  das  Kindchen  heraus,  es  ist  sc  hon  ganz  draußen." 
Damit  sagte  Anna  der  Mutter:  „Siehst  du,  so  fasse  ich  die  Geburt  auf, 
was  meinst  du  dazu?  Ist  das  richtig?  Das  Spiel  will  nämlich  als  Frage 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  49 

aufgefaßt  sein,  denn  wie  wir  später  sehen  werden,  mußte  sie  sich  noch 
eine  offizielle  Bestätigung  dieser  Auffassung  geben  lassen. 

Daß  die  Rumination  des  Problems  damit  nicht  etwa  beendet 
war,  zeigen  gelegentüche  Einfälle  während  der  folgenden  Wochen. 
So  wiederholte  sie  das  Spiel  ein  paar  Tage  später  mit  ihrem  Bären, 
der  die  Funktion  einer  besonders  geliebten  Puppe  hat.  Eines  Tages 
sagte  sie  zur  Großmutter,  indem  sie  auf  eine  Rose  zeigte: 
,, Siehst  du,  die  Rose  bekommt  ein  Kindchen."  Der  Groß- 
mutter wollte  diese  Meinung  nicht  recht  einleuchten;  Anna  deutete 
aber  auf  den  etwas  geschwellten  Kelch:  ,, Siehst  du,  hier  ist  sie  schon 
ganz  dick." 

Einmal  zankte  sich  Anna  mit  dem  Schwesterchen  und  letzteres 
rief  zornig:  ,,Ich  töte  dich!"  worauf  Anna  entgegnete:  ,,Wenn  ich  tot 
bin,  so  bist  du  ganz  allein,  dann  mußt  du  zum  heben  Gott  beten  um 
ein  lebendiges  Kindchen."  Und  schon  hatte  sich  die  Szene  verwandelt; 
Anna  war  der  Engel,  und  das  Schwesterchen  mußte  vor  ihr  knieen 
und  sie  bitten,  ihr  ein  lebendiges  Kindchen  zu  schenken.  So  wird  Anna 
zur  kinderspendenden  Mutter. 

Es  gab  einmal  Orangen  zum  Nachtisch,  Anna  verlangte  ungeduldig 
danach  und  sagte:  ,,Ich  nehme  eine  Orange  und  schlucke  sie  ganz 
hinunter,  ganz  in  den  Bauch  hinunter  und  dann  bekomme 
ich  ein  Kindchen." 

Wer  denkt  hier  nicht  an  die  Märchen,  wo  kinderlose  Frauen 
durch  Verschlucken  von  Früchten,  Fischen  oder  dergleichen  endlich 
schwanger  werden?^)  So  versuchte  Anna  sich  das  Problem  zu  lösen, 
wieso  die  Kinder  eigentlich  in  die  Mutter  hineinkommen. 
Damit  nimmt  sie  eine  Fragestellung  auf,  die  bis  jetzt  noch  nie  mit 
solcher  Schärfe  formuliert  wurde.  Die  Lösung  erfolgt  in  Form  eines 
Gleichnisses,  wie  solches  dem  archaischen  Denken  des  Kindes  eigen- 
tümlich ist.  (Das  Denken  in  Gleichnissen  besitzt  auch  noch  der  Er- 
wachsene in  der  unmittelbar  unter  dem  Bewußtsein  liegenden  Schicht. 
Die  Träume  bringen  die  Gleichnisse  an  die  Oberfläche,  ebenso  tut  es 
die  Dementia  praecox.)  Bezeichnenderweise  sind  sowohl  in  den  deutschen 
wie  in  zahlreichen  fremdländischen  Märchen  derartige  kindliche  Ver- 
gleiche recht  häufig.  Die  Märchen  sind,  wie  es  scheint,  die  Mythen  der 
Kinder  und  enthalten  darum  unter  anderm  auch  die  Mythologie,  die 


^)  Vgl.  R  i  k  1  i  n:  Wuiischerfüllung  ^und  Symbolik _im  Märchen.  F.  Deuticko, 
Wien. 

Jalirbuoh  für  psyohoanalyt.  u.  psyohopatbol.  Forschungen.    II.  4 


50  C.  G.  Jung. 

sich  das  Kind  über  die  sexuellen  Vorgänge  spinnt^).  Der  auch  auf  den 
Erwachsenen  wirkende  Zauber  der  Märchenpoesie  beruht  vielleicht 
nicht  zum  geringsten  Teil  darauf,  daß  in  unserem  Unbewußten  noch 
einige  der  alten  Theorien  lebendig  sind.  Man  hat  nämlich  eben  gerade 
dann  ein  besonders  eigenartiges  und  heimliches  Gefühl,  wenn  ein  Stück 
unserer  fernsten  Jugendzeit  wieder  angeregt  wird,  ohne  dabei  Be- 
wußtheit zu  erlangen,  sondern  bloß  einen  Abglanz  seiner  Gefühlsstärke 
ins  Bewußtsein  sendet. 

Das  Problem,  wieso  das  Kind  in  die  Mutter  hineinkommt,  ist 
schwer  zu  lösen.  In  den  Leib  kommt  doch  nur  das,  was  durch  den  Mund 
hineingeht;  es  ist  daher  zu  vermuten,  daß  die  Mutter  irgend  etwas  wie 
eine  Frucht  gegessen  hat,  die  dann  im  Leibe  gewachsen  ist.  Doch  nun 
kom.mt  eine  weitere  Schwierigkeit,  nämlich:  man  weiß  zwar,  was  die 
Mutter  hervorbringt,  nicht  aber,  wozu  der  Vater  gut  ist.  Es  ist  eine 
alte  Sparregel  des  Geistes,  daß  man  zwei  Unbekannte  gerne  zusammen- 
hängt und  bei  der  Lösung  der  einen  auch  die  andere  mitnimmt. 

So  befestigt  sich  beim  Kinde  sehr  rasch  die  Überzeugung,  daß 
der  Vater  bei  der  ganzen  Sache  irgendwie  beteiligt  ist,  und  zwar  be- 
sonders darum,  weil  am  Problem  der  Kinderentstehung  immer  noch  die 
Frage  offen  ist,  wieso  das  Kind  in  die  Mutter  hineinkommt. 

Was  tut  der  Vater?  Diese  Frage  beschäftigte  jetzt  Anna  aus- 

schheßlich.  Eines  Morgens  lief  die  Kleine  in  das  Schlafzimmer  der  Eltern, 

wo  die  Eltern  gerade  bei  der  Toilette  waren,  sprang  ins  Bett  des  Vaters, 

legte  sich  auf  den  Bauch  und  strampelte  mit  den  Beinen. 

Dazu  rief  sie:  „Gelt,  so  macht  der  Papa?"  Die  Eltern  lachten  und 

beantworteten  die  Frage  nicht,  da  ihnen  erst  nachher  ein  Licht  aufging 

über  die  mögliche  Bedeutung  dieser  Darstellung.  Die  Analogie  zu  dem 

Pferde  des  ,, kleinen  Hans",  das  mit  den  Füßen  ,, Krawall  macht",  ist 

überraschend. 

^)  Das  Märchen:  ein  Mythus  des  Kindes  ist  eine  zu  sehr  abgekürzte  De- 
monstration. Zunächst  ist  ja  die  Trägerin  des  Märchens  die  Mutter,  welche  die 
wirkhchen  Sexualverhältnisse  kennt  und  jedenfalls  nicht  bewußt  in  Symbolik 
übersetzt.  Auch  unbe^vußt  wird  es  jetzt  kaum  mehr  geschehen,  indem  die  Sym- 
bolik seit  Jahrhunderten  festliegt  und  überdies  schon  in  den  ältesten  Quellen  in 
fast  identischer  Form  nachgewiesen  werden  kann.  Viele  Symbole  kommen  zweifellos 
auf  dem  Wege  abergläubischer  respektive  vergessener  kultischer  Gebräuche 
ins  Märchen.  Obschon  sich  die  Deutung  im  einzelnen  Falle  irren  kann,  so  ist  doch 
der  Sexualcharakter  eines  wesenthchen  Teiles  der  Märchensymbolik  unzweifelhaft. 
Die  Entstehungszeit  der  Symbole  ist  ziemhch  früh  anzusetzen,  als  nämüch  noch 
infantil,  d.  h.  analogisch  gedacht  wurde.  Seit  jener  Zeit  sind  allerdings  wohl  nicht 
viel  mehr  als  100  Kulturgenerationen  vergangen. 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  51 

Mit  dieser  letzten  Leistung  schien  das  Problem  gänzlich  zu  ruhen, 
wenigstens  waren  die  Eltern  nicht  in  der  Lage,  entsprechende 
Beobachtungen  zu  machen.  Daß  das  Problem  gerade  hier  zum  Stillstand 
kam,  ist  nicht  zu  verwundern,  denn  man  ist  hier  wirklich  an  der 
schwierigsten  Stelle.  Zudem  weiß  man  aus  Erfahrung,  daß  nicht  all- 
zuviele  Kinder  schon  im  Kindesalter  diese  Grenze  überschreiten.  Das 
Problem  ist  fast  zu  schwer  für  den  kindlichen  Verstand,  denn  ihm 
fehlen  noch  viele  unerläßhche  Kenntnisse,  ohne  die  das  Problem  nicht 
gelöst  werden  kann.  Das  Kind  weiß  nichts  vom  Sperma  und  nichts 
vom  Koitus.  Die  eine  Möglichkeit  ist:  Die  Mutter  ißt  etwas,  denn  nur 
so  kann  etwas  in  den  Leib  kommen.  Doch  was  tut  der  Vater  dabei? 
Die  häufigen  Vergleiche  mit  der  Pflegerin  und  mit  anderen  ledigen 
Personen  waren  offenbar  nicht  umsonst.  Anna  mußte  daraus  schheßen, 
daß  die  Existenz  des  Vaters  von  Bedeutung  ist.  Aber  was  tut  er?  Der 
kleme  Hans  und  Anna  sind  der  Meinung,  es  müsse  etwas  mit  den  Beinen 
sein. 

Der  Stillstand  dauerte  etwa  5  Monate,  während  welcher  Zeit 
keine  phobischen  Symptome  und  keine  sonstigen  Anzeichen  von  Kpm- 
plexbearbeitung  vorhanden  waren.  Nach  Ablauf  dieser  Frist  kamen 
Vorzeichen  von  Ereignissen.  Annas  Familie  wohnte  damals  in  einem 
Landhause  an  einem  Gewässer,  wo  die  Kinder  mit  der  Mutter  baden 
durften.  Da  Anna  sich  fürchtete,  weiter  als  knietief  ins  Wasser  vorzu- 
dringen, setzte  sie  der  Vater  einmal  ins  Wasser,  was  aber  zu  einem 
großen  Geschrei  führte.  Abends  beim  Zubettgehen  fragte  Anna  die 
Mutter:  „Gelt,  der  Papa  hat  mich  ertränken  wollen?" 

Wenige  Tage  darauf  wieder  großes  Geschrei.  Sie  hatte  dem  Gärtner 
solange  vor  den  Füßen  gestanden,  bis  er  sie  schließlich  im  Scherze  in  eine 
eben  gegrabene  kleine  Grube  stellte.  Anna  fing  an,  jämmerhch  zu 
schreien  und  behauptete  nachher,  der  Mann  habe  sie  begraben  wollen. 

Zuguterletzt  erwachte  Anna  noch  einmal  nachts  mit  ängstlichem 
Schreien.  Die  Mutter  ging  zu  ihr  ins  Nebenzimmer  und  beruhigte  sie. 
Anna  hatte  geträumt:  „Eine  Eisenbahn  fahre  da  oben  vorbei  und 
falle  um".    ^' 

Wir  haben  also  auch  noch  die  Stellwagengeschichte  des  ,, kleinen 

Hans".  Diese  Vorfälle  zeigten  zur  Genüge,  daß  wieder  Angst  in  der  Luft 

war,  d.  h.  daß  wieder  ein  Hindernis  gegen  die  Übertragung  auf  die 

Eltern  sich  erhob  und  daher  ein  größerer  Teil  Liebe  in  Angst  konvertiert 

wurde.  Diesmal  richtet  sich  das  Mißtrauen  nicht  gegen  die  Mutter, 

sondern  gegen  den  Vater,  der  doch  die  Sache  wissen  mußte,  aber  nie 

4.* 


52  C.  G.  Jung. 

etwas  davon  verlauten  ließ.  Was  der  Vater  wohl  im  Schilde  führt  oder 
tut?  Dem  Kinde  erscheint  das  Geheimnis  als  etwas  sehr  Gefährliches, 
so  daß  man  sich  offenbar  des  Schlimmsten  von  seiten  des  Vaters  ver- 
sehen muß.  (Diese  kindliche  Angststimmung  gegen  den  Vater  sehen 
wir  im  erwachsenen  Alter  namentlich  bei  Dementia  praecox  wieder  in 
deutlichster  Weise.,  wie  überhaupt  diese  Geisteskrankheit,  als  ob  sie 
nach  psycho-analytischen  Prinzipien  handelte,  die  Decke  von  vielen 
unbewußten  Prozessen  wegzieht.)  Daher  kommt  Anna  auf  die  an- 
scheinend sehr  ungereimte  Vermutung,  der  Vater  wolle  sie  ertränken. 
Anna  ist  unterdessen  etwas  mehr  herangewachsen  und  ihr  Interesse 
für  den  Vater  hat  eine  besondere  Tönung  angenommen,  die  schwer  zu 
beschreiben  ist.  Die  Sprache  ermangelt  der  Worte,  um  die  ganz  be- 
sondere Art  zärtlicher  Neugier  zu  beschreiben,  die  aus  den  Augen  des 
Kindes  leuchtet. 

Es  dürfte  wohl  kein  Zufall  sein,  daß  die  Kinder  zu  dieser  Zeit  auch 
ein  hübsches  Spiel  trieben,  Sie  ernannten  die  beiden  größten  Puppen 
zu  ihren  Großmüttern  und  spielten  mit  ihnen  ,, Krankenhaus",  wobei 
ein  Gartenhäuschen  als  Spital  angenommen  wurde.  Dorthin  wurden 
die  Großmütter  gebracht,  interniert  und  über  Nacht  sitzen  gelassen. 
Die  ,, Großmutter"  in  diesem  Falle  erinnert  verzweifelt  an  den  ,, großen 
Bruder"  der  Vorzeit.  Es  scheint  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  ,, Groß- 
mutter" einfach  die  Mutter  vertritt.  So  fängt  also  die  Kleine  schon  an, 
die  Mutter  wegzuschaffen^).  Diese  Absicht  wird  ihr  erleichtert  dadiu'ch, 
daß  ihr  die  Mutter  wieder  Gelegenheit  zur  Mißachtung  gegeben  hat. 

Das  kam  folgendermaßen:  Der  Gärtner  hatte  eine  große  Fläche 
angelegt,  die  er  mit  Gras  besäte.  Anna  half  ihm  bei  dieser  Arbeit  mit 
viel  Vergnügen,  anscheinend  nicht  die  tiefe  Bedeutung  des  ,, kindischen 
Spieles"  ahnend.  Etwa  14  Tage  später  betrachtete  sie  oft  mit  Freuden 
das  hervorkeimende  junge  Gras.  Und  einmal  ging  sie  zur  Mutter  und 
fragte  sie:  ,,Sag  mir,  wie  sind  denn  die  Augen  in  den  Kopf  hinein- 
gewachsen?" 


^)  Die  Tendenz,  die  ]\Iutter  zu  beseitigen,  zeigte  sich  auch  bei  folgender 
Gelegenheit:  Die  Kinder  hatten  das  Gartenhaus  mit  ihren  Puppen  als  Wohnung 
bezogen.  Ein  wichtiger  Raum  des  Hauses  ist  bekanntlich  das  Klosett,  das  selbst- 
verständlich nicht  fehlen  durfte.  Dementsprechend  verrichteten  die  Kinder  ihr 
Bedürfnis  in  einer  Ecke  des  Gartenhauses.  Die  Mutter  konnte  natürlich  nicht 
umhin,  diese  Illusion  zu  stören,  indem  sie  dergleichen  Spiele  verbot.  Bald  darauf 
bekam  sie  die  Erklärung  zu  hören:  „Wenn  die  Mama  gestorben  ist,  dann  machen 
wir  alle  Tage  ins  Gartenhäuschen  und  ziehen  alle  Tage  die  Sonntagskleider  an." 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  53 

Die  Mutter  meinte,  das  wisse  sie  nicht.  Anna  erkundigte  sich  aber 
weiter,  ob  denn  der  liebe  Gott  das  wisse  und  der  Papa,  warum  der  liebe 
Gott  und  der  Papa  alles  wissen?  Die  Mutter  wies  sie  an  den  Vater, 
sie  solle  ihn  fragen,  wieso  die  Augen  in  den  Kopf  hineinwüchsen.  Einige 
Tage  darauf  war  die  ganze  FamiHe  beim  Tee  vereinigt,  man  hatte  die 
Mahlzeit  beendet  und  ging  nach  verschiedenen  Seiten  auseinander. 
Der  Vater  blieb  noch  etwas  bei  der  Zeitung  sitzen  und  Anna  war  auch 
geblieben.  Plötzhch  trat  sie  zum  Vater  und  fragte:  ,,Sag  mir,  wie  sind 
die  Augen  in  den  Kopf  hineingewachsen?" 

Vater:  ,,Die  sind  nicht  in  den  Kopf  hineingewachsen,  sondern 
sind  schon  von  Anfang  an  drin  und  mit  dem  Kopfe  gewachsen." 

Anna:  ,,Hat  man  die  Augen  nicht  gesetzt  (gepflanzt)? 

Vater:  ,,Nein,  sie  sind  halt  gewachsen  im  Kopfe  wie  die  Nase." 

Anna:  ,,Aber  sind  der  Mund  und  die  Ohren  auch  so  gewachsen? 
Und  auch  die  Haare?" 

Vater:  ,,Ja,  sie  sind  alle  so  gewachsen." 

Anna:  ,,Aber  auch  die  Haare?  Die  kleinen  Mäuschen  kommen  doch 
ganz  nackt  auf  die  Welt.  Wo  sind  denn  die  Haare  vorher?  Werden  nicht 
»Sämlein  dazu  gegeben?" 

Vater:  ,,Nein,  weißt  du,  die  Haare  kommen  schon  aus  so  kleinen 
Körnchen,  die  wie  Sämchen  sind,  aber  die  sind  schon  vorher  in  der  Haut 
und  es  hat  sie  niemand  gesät." 

Hier  gerät  nun  der  Vater  etwas  in  die  Klemme.  Er  ahnte,  wo  die 
Kleine  hinauswollte ;  er  wollte  deshalb  die  so  diplomatisch  eingeführte 
Samentheorie,  die  sie  in  glücklichster  Weise  der  Natur  abgelauscht 
hatte,  nicht  umstoßen  um  einer  einmahgen  falschen  Anwendung  willen, 
denn  das  Kind  sprach  mit  ungewohnter  Ernsthaftigkeit,  die  sich  Berück- 
sichtigung erzwang. 

Anna  (sichthch  enttäuscht,  mit  Betrübnis  im  Ton):  ,,Aber  wie 
ist  denn  der  Fritzchen  in  die  Mama  hineingekommen?  Wer  hat  ihn  denn 
hineingeklebt?  Und  wer  hat  dich  in  deine  Mama  hineingeklebt?  Wo  ist 
er  denn  herausgekommen? 

Aus  diesem  Sturm  plötzlich  entfesselter  Fragen  wählte  der  Vater 
zur  Beantwortung  zuerst  die  letzte:  ,, Denke  mal  nach,  du  siehst  doch, 
daß  der  Fritzchen  ein  Bub  ist ;  aus  Buben  gibts  Männer,  aus  den  Mädchen 
gibts  Frauen  und  nur  die  Frauen  können  Kinder  haben,  die  Männer  nicht. 
Jetzt  denke  mal,  wo  wird  der  Fritzchen  herausgekommen  sein?" 

Anna  (lacht,  freudig  erregt,  zeigt  auf  ihr  Genitale):  ,,Ist  er  da 
herausgekommen  ?" 


54  C.  G.  Jung. 

Vater:  „Ja  natürlich,  das  hast  du  doch  gewiß  auch  schon  ge- 
dacht?" 

Anna  (die  Frage  überhörend,  eilig) :  „Aber  wie  ist  denn  Fritzchen 
in  die  Mama  hineingekommen?  Hat  man  ihn  gesetzt  (gepflanzt)?  Hat 
man  denn  Sämlein  gesetzt?" 

Dieser  höchst  präzisen  Frage  konnte  der  Vater  nicht  mehr  aus- 
weichen. Er  erklärte  dem  Kinde,  das  mit  größter  Aufmerksamkeit 
zuhörte,  daß  die  Mutter  sei  wie  der  Boden  und  der  Vater  wie  der  Gärtner, 
der  Vater  gebe  die  Sämlein  und  bei  der  Mutter  wüchsen  sie  und  so 
entstehe  ein  Kindlein.  Diese  Antwort  befriedigte  sie  außerordentlich, 
sie  sprang  sofort  zur  Mutter  und  rief:  „Der  Papa  hat  mir  alles  erzählt, 
jetzt  weiß  ich  alles."  Was  sie  aber  alles  wußte,  erzählte  sie  niemandem. 
Folgenden  Tags  aber  wurde  die  neue  Erkenntnis  ausgespielt. 
Anna  ging  zur  Mutter  und  erzählte  ihr:  ..Denk  Mama,  der  Papa  hat  mir 
erzählt,  wie  Fritzchen  ein  Engelchen  war  und  vom  Storche  aus  dem 
Himmel  gebracht  wurde."  Die  Mutter  war  natürhch  erstaunt  und  sagte: 
„Das  hat  dir  der  Papa  ganz  gewiß  nicht  gesagt."  Worauf  die  Kleine 
lachend  wieder  davonsprang. 

Das  war  offenbar  die  Rache.  Die  Mutter  wollte  oder  konnte 
nicht  wissen,  wie  die  Augen  in  den  Kopf  hineingewachsen  sind,  sie 
weiß  am  Ende  auch  nicht  einmal  wie  Fritzchen  in  sie  hineingekommen 
ist.  Darum  kann  man  sie  ruhig  mit  der  alten  Geschichte  noch  einmal 
aufs  Eis  führen.  Sie  glaubt  es  vielleicht  doch  noch. 

Das  Kind  war  jetzt  beruhigt,  denn  seine  Erkenntnis  war  bereichert 
und  ein  schwieriges  Problem  gelöst.  Ein  noch  größerer  Vorteil  aber  war 
der  Umstand,  daß  sie  ein  intimeres  Verhältnis  zum  Vater,  das  ihre 
intellektuelle  Unabhängigkeit  nicht  im  geringsten  beeinträchtigte, 
gewonnen  hatte.  Dem  Vater  freihch  blieb  die  Unruhe,  es  war  ihm  nicht 
ganz  wohl  bei  dem  Gedanken,  daß  er  dem  47-2  jährigen  Kinde  ein  Ge- 
heimnis ausgeüefert  hatte,  welches  andere  Eltern  sorgfältig  hüten. 
Begreifhcherweise  beunruhigte  ihn  der  Gedanke,  was  Anna  wohl  mit  ihrem 
Wissen  anstelle.  War  sie  indiskret  und  beutete  sie  es  aus?  Sie  könnte 
ja  unschwer  ihre  Gespiehnnen  belehren  oder  Erwachsenen  gegenüber 
mit  Wonne  enfant  terrible  spielen.  Die  Befürchtungen  erwiesen  sich 
aber  als  gänzhch  grundlos.  Anna  ließ  nie  und  bei  keiner  Gelegenheit 
ein  Wort  darüber  verlauten.  Auch  war  mit  dieser  Aufklärung  eine 
völlige  Beruhigung  des  Problems  erzielt,  so  daß  keine  Fragen  mehr  vor- 
kamen.   Das  Unbewußte  allerdings  verlor   die  Rätsel   der  Menschen- 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  55 

Schöpfung  nicht  aus  dem  Blick.  Einige  Wochen  nach  der  Aufklärung 
erzählte  Anna  folgenden  Traum: 

„Sie  träumte,  sie  sei  im  Garten  und  mehrere  Gärtner  stehen  an 
den  Bäumen  und  urinieren,  dabei  ist  auch  der  Vater." 

Man  erkennt  das  von  früher  ungelöste  Problem:  wie  macht  es 
der  Vater? 

Zur  selben  Zeit  kam  ein  Schreiner  ins  Haus,  um  eine  wider- 
spänstige  Schublade  zu  reparieren;  Anna  stand  dabei  und  sah  zu,  wie 
er  sie  abhobelte.  In  der  Nacht  hatte  sie  folgenden  Traum: 

,,Der  Schreiner  hobelt  ihr  das  Genitale  ab." 

Der  Traum  läßt  sich  unschwer  dahin  deuten,  daß  Anna  sich  die 
Frage  vorlegt:  Geht  es  bei  mir?  Muß  man  nicht  etwas  Ähnliches  machen 
wie  der  Schreiner,  damit  es  geht?  Die  Annahme  deutet  darauf  hin, 
daß  dieses  Problem  der  unbewußten  Bearbeitung  augenblicklich  in 
besonderem  Maße  unterliegt,  weil  etwas  daran  unklar  ist.  Daß  dem 
so  ist,  zeigte  sich  bei  nächster  Gelegenheit,  die  jedoch  erst  einige  Monate 
später  eintrat,  als  sich  Anna  dem  fünften  Geburtstage  näherte.  Unter- 
dessen war  auch  das  jüngere  Schwesterchen,  Sophie,  in  diese  Fragen 
hineingewachsen.  Sie  war  zwar  zugegen  gewesen,  als  Anna  zur  Zeit  der 
Erdbebenphobie  aufgeklärt  wurde.  Sie  hatte  damals  sogar  eine  an- 
scheinend verständnisvolle  Zwischenbemerkung  gemacht  (vgl.  oben). 
Die  Aufklärung  war  aber  in  Tat  und  Wahrheit  von  ihr  damals  nicht 
verstanden  worden.  Das  zeigte  sich  bald  darauf.  Sie  bekam  Zeiten, 
wo  sie  in  vermehrtem  Maße  zärthch  war  mit  der  Mutter,  ihr  nicht  von 
der  Schürze  ging  und  zugleich  auch  recht  unartig  und  gereizt  war. 
An  einem  dieser  bösen  Tage  wollte  sie  die  Wiege  des  kleinen  Brüderchens 
umstoßen.  Die  Mutter  verwies  ihr  es,  worauf  sie  in  ein  großes  Geschrei 
ausbrach.  Plötzlich  mitten  im  lauten  Weinen  sagte  sie:  ,,Ich  weiß  ja 
gar  nicht,  woher  die  kleinen  Kinder  kommen."  Natürlich  wurde  ihr 
darauf  die  gleiche  Erklärung  zuteil,  wie  früher  ihrer  älteren  Schwester. 
Damit  beruhigte  sich  bei  ihr  das  Problem  anscheinend,  und  zwar  für 
mehrere  Monate.  Dann  kamen  wieder  Tage,  wo  sie  Aveinerlich  und 
schlechter  Laune  war.  Einmal  wandte  sie  sich  ganz  unvermittelt  an  die 
Mutter  mit  der  Frage:  ,,War  denn  Fritzchen  in  deinem  Bauche?" 

Mutter:  ,,Ja." 

Sophie:  ,,Hast  du  ihn  herausgedrückt?" 

Mutter:  ,,Ja." 

Anna:  (einfallend),  „Aber  unten  hinaus?" 


56  C.  Ct.  Jung. 

Sie  wendete  dabei  einen  kindlichen  Terminus  an,  der  ebensowohl 
für  Genitale  wie  für  Anus  gebraucht  wird. 

Sophie:  ,,Und  dann  hat  man  ihn  heruntergelassen?" 

Der  Ausdruck  „heruntergelassen"  stammt  von  dem  die  Kinder 
sehr  interessierenden  Mechanismus  des  Waterklosetts,  wo  man  die 
Exkremente  ,, herunter  läßt". 

Anna:  ,,Ja  war  denn  Fritzchen  Erbrochenes?" 

Anna  hatte  abends  infolge  einer  leichten  Verdauungsstörung 
Erbrechen  gehabt. 

Sophie  hat  nach  mehrmonatiger  Pause  einen  plötzlichen  Anlauf 
genommen  und  sich  noch  einmal  der  früheren  Aufklärung  versichert. 
Diese  nachträghche  Wiederversicherung  scheint  auf  Zweifel  hinzudeuten, 
die  sich  gegen  die  mütterliche  Erklärung  erhoben  haben.  Nach  dem 
Inhalte  der  Fragen  zu  schließen,  gingen  die  Zweifel  aus  von  der  un- 
genügenden Erklärung  der  Geburt.  Der  Ausdruck  „herausdrücken" 
wird  von  den  Kindern  für  den  Akt  der  Defäkation  verwendet.  Er  zeigt, 
welchen  Weg  die  Theorie  auch  bei  Sophie  nehmen  wird.  Ihre  weitere 
Bemerkung,  ob  man  Fritzchen  dann  ,, heruntergelassen"  habe,  zeigt 
eine  vöUige  Identifikation  des  Brüderchens  mit  dem  Exkrementum, 
die  so  weit  geht,  daß  sie  das  Scherzhafte  streift.  Anna  macht  darauf 
die  sonderbare  Bemerkung,  ob  denn  Fritzchen  ,, Erbrochenes"  ge- 
wesen sei?  Ihr  Erbrechen  am  Vorabende  war  ihr  sehr  eindrucksvoll 
gewesen.  Sie  hatte  seit  frühester  Kindheit  zum  ersten  Male  wieder 
Erbrechen  gehabt.  Das  war  ein  Weg,  auf  dem  Dinge  das  Körperinnere 
verlassen  können,  an  den  sie  bis  jetzt  offenbar  nie  ernsthch  gedacht 
hatte.  (Eigentlich  bloß  damals,  als  es  sich  um  die  Körperöffnung  handelte 
und  sie  an  den  Mund  dachte.)  Sie  lenkt  mit  ihrer  Bemerkung  von  der 
Exkrementtheorie  entschieden  weg.  Warum  rät  sie  nicht  gleich  auf  das 
Genitale?  Der  letzte  von  ihr  berichtete  Traum  gibt  uns  eine  Einsicht 
in  die  wahrscheinhchen  Gründe:  Am  Genitale  ist  etwas,  was  Anna  nicht 
versteht;  da  muß  noch  irgend  etwas  gemacht  werden,  damit  es  „geht". 
Vielleicht  ist  es  das  Genitale  gar  nicht?  Der  Samen  für  die  Kinder 
kommt  vielleicht  durch  den  Mund  in  den  Leib  so  wie  die  Speisen  und 
das  Kind  kommt  dann  heraus  wie  ,, Erbrochenes". 

Der  detailherte  Mechanismus  der  Geburt  ist  also  noch  rätselhaft. 
Anna  wurde  von  der  Mutter  wiederum  belehrt,  daß  das  Kind  tat- 
sächlich unten  herauskomme.  Nach  etwa  1  Monat  erzählte  Anna  plötzlich 
folgenden  Traum: 

„Ich  träumte,  ich  sei  im  Schlafzimmer  von  Onkel  und  Tante. 


über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  57 

Beide  lagen  im  Bette.  Ich  zog  dem  Onkel  die  Decke  herunter,  setzte 
mich  auf  seinen  Magen  und  ritt^)  darauf  herum." 

Dieser  Traum  kam  anscheinend  sehr  unvermittelt  heraus.  Die  Kinder 
waren  damals  für  mehrere  Wochen  in  den  Ferien  und  der  Vater,  der  durch 
Geschäfte  in  der  Stadt  festgehalten  war,  war  gerade  an  diesem  Tage 
zu  Besuch  gekommen.  Anna  war  besonders  zärtlich  mit  ihm.  Der  Vater 
fragte  sie  scherzend:  ,. Willst  du  heute  abend  mit  mir  in  die  Stadt 
reisen?"  Anna:  ,,Ja  und  dann  darf  ich  bei  dir  schlafen?"  Zugleich 
hängte  sie  sich  zärtlich  an  den  Arm  des  Vaters,  genau  in  derselben 
Weise,  wie  es  die  Mutter  gelegentlich  tut.  Wenige  Augenblicke  darauf 
erzählte  sie  den  Traum.  Sie  war  einige  Tage  vorher  bei  der  im  Traum^) 
erwähnten  Tante  zu  Gaste  gewesen.  Sie  hatte  sich  auf  jenen  Besuch- 
gang besonders  gefreut,  weil  sie  mit  Sicherheit  voraussetzte,  dort  zwei 
kleinen  Vettern  zu  begegnen,  für  welche  sie  ein  ungeheucheltes  Interesse 
an  den  Tag  legt.  Leider  waren  die  Vettern  nicht  dort,  worüber  Anna  sehr 
enttäuscht  war.  Irgend  etwas  in  der  gegenwärtigen  Situation  muß 
dem  Inhalte  des  Traumes  verwandt  sein,  damit  er  plötzlich  wieder 
erinnert  wird.  Ganz  klar  ist  die  Verwandtschaft  zwischen  dem  manifesten 
Trauminhalt  und  dem  Gespräch,  das  sie  mit  dem  Vater  geführt  hatte. 
Der  Onkel  ist  ein  schon  recht  alter  Herr  und  dem  Kinde  nur  aus  einigen 
seltenen  Begegnungen  bekannt.  Er  ist  im  Traume  eine  lege  artis  aus- 
geführte Ersetzung  des  Vaters.  Der  Traum  selber  schafft  einen  Ersatz 
für  die  Enttäuschung  des  Vortages:  sie  ist  im  Bette  des  Vaters.  Hier 
ist  das  tertium  comparationis  mit  der  Gegenwart.  Daher  wird  der  Traum 
plötzlich  wieder  erinnert.  Im  Traume  wird  ein  Spiel  wiederholt,  das  Anna 
oft  im  (leeren)  Bette  des  Vaters  ausgeführt  hatte :  nämlich  dieses  Reiten 
und  Strampeln,  im  Spiel  aber  auf  der  Matraze.  Aus  diesem  Spiele 
stammt  die  Frage:  Macht  der  Papa  so?  (Vgl.  oben.)  Die  aktuelle  Ent- 
täuschung ist,  daß  der  Vater  auf  ihre  Frage  antwortete:  ,,Du  darfst 
dann  allein  im  Nebenzimmer  schlafen."  Darauf  folgt  die  Erinnerung 
desjenigen  Traumes,  der  sie  schon  einmal  bei  einer  erotischen  Ent- 
täuschung getröstet  hatte.  Zugleich  bringt  der  Traum  eine  wesentliche 
Verdeuthchung  der  Theorie:  Es  geschieht  im  Bette  und  durch  die 
oben  geschilderte  rhythmische  Bewegung.  Ob  die  Bemerkung,  daß  sie 
sich  dem  Onkel  auf  den  Magen  setzt,  mit  dem  Erbrechen  etwas  zu 
tun  hat,  ist  noch  nicht  evident. 


')  Der   hierfür  gebrauchte   Dialektausdruck    (,,uf  und  abgjuckt")  ist  un- 
übersetzbar, er  heißt:  eine  in  senkrechtem  Sinne  schnellende  Bewegung  ausführen. 
^)  Der  Traum  war  ebenfalls  einige  Tage  alt. 


58  C.  G.  Jung. 

Soweit  reichen  die  bisherigen  Beobachtungen.  Anna  ist  jetzt 
etwas  über  5  Jahre  alt  und  weiß  schon,  wie  wir  gesehen  haben,  um  eine 
Reihe  der  wesentlichsten  sexuellen  Tatsachen.  Irgend  eine  schlimme 
Wirkung  dieser  Wissenschaft  auf  Moral  und  Charakter  war  nicht  zu 
bemerken.  Von  der  günstigen  therapeutischen  Wirkung  sprachen  wir 
schon.  Es  ergibt  sich  aus  dem  Mitgeteilten  auch,  daß  die  jüngere 
Schwester  offenbar  einer  für  sie  selbst  bestimmten  Aufklärung  bedarf, 
und  zwar  dann,  wenn  sich  bei  ihr  das  Problem  meldet.  Ist  es  noch  nicht 
reif,  so  nutzt  auch,  wie  es  scheint,  die  Aufklärung  nichts. 

Ich  bin  kein  Anhänger  der  sexuellen  Aufklärung  der  Kinder  in 
der  Schule  oder  überhaupt  irgend  einer  mechanischen  Generalaufklärung. 
Ich  bin  daher  nicht  in  der  Lage,  einen  positiven  und  allgemein  gültigen 
Ratschlag  zu  erteilen.  Ich  kann  nur  einen  Schluß  aus  dem  mitgeteilten 
Materiale  ziehen,  nämUch :  Man  sehe  einmal  die  Kinder  an,  so  wie  sie 
wirklich  sind,  und  nicht  wie  wir  sie  zu  haben  wünschen,  und  man  folge 
bei  der  Erziehung  den  Entwicklungslinien  der  Natur,  nicht  toten  Prä- 
skriptionen. Wenn  diese  Forderung  nicht  Phrase  sein  soll,  so  gibt  es  nur 
einen  Weg  der  Vollziehung,  und  das  ist  die  Psychoanalyse.  Was  sie 
leistet,  sieht  man  an  diesem   Stück  kindhcher  Geistesentwicklung. 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion 
mit  hysterischen  Absenzen. 

Von  Dr.  J.  Sadger,  Nervenarzt  in  Wien. 


Einleitung. 

Am  15.  Dezember  1908  wurde  mir  von  Prof.  Freud  ein  dänischer 
Graf  von  32  Jahren  zugewiesen,  den  sein  Berater,  Privatdozent  der 
Psychiatrie  und  Direktor  einer  Irrenanstalt,  dem  Professor  geschickt 
,,in  der  Hoffnung",  wie  es  im  Begleitschreiben  hieß,  ,,daß  Sie  ihm  helfen 
könnten".  Ich  zitiere  den  mitgegebenen  Brief:  ,,Der  Beruf  des  Patienten 
ist  die  Archäologie,  worin  er  Bedeutendes  geleistet  haben  soll.  Seine 
Geschichte:  Er  stammt  aus  einer  stark  degenerierten  Familie.  Vater 
Gutsbesitzer,  Eltern  sollen  zu  einer  trüben,  melancholischen  Stimmung 
neigen,  unmotivierte  ökonomische  Befürchtungen  hegen  usw.  Patient 
selbst  immer  schon  reizbar,  schüchtern,  zurückgezogen,  mitunter 
während  der  Kindheit  zornmütige  Acc^s,  wo  er  ganz  von  Sinnen  war, 
angeblich  bewußtlos  wurde,  ganz  blau  im  Gesicht.  Später  ausgesprochene 
Alkoholintoleranz  mit  atypischen  Rauschzuständen,  Automatismen, 
Dämmerzuständen,  Amnesie.  Als  Offiziersaspirant  einmal  ein  Anfall 
von  Bewußtlosigkeit  (epileptischer  Natur?).  Jetzt  häufig  kurzdauernde 
endogene  Zustände  trüber  und  reizbarer  Stimmung,  die  ich  als  epi- 
leptischer Natur  aufgefaßt  habe.  Immer  un  certain  goütpour  la  canaille. 
pour  la  crapule;  verkehrt  mit  allerlei  suspekten  Figuren,  Zirkusleuten, 
konnte  in  der  unkritischesten  Weise  gewissen  inferioren  Typen  seine 
Bewunderung  schenken,  sonst  in  seiner  Wissenschaft  sehr  kritisch  und 
originell.  Hat  immer  eine  starke  Abneigung  gegen  Homosexuelle  ge- 
fühlt und  konnte  es  niemals  aushalten,  in  einer  Gesellschaft  mit  solchen 
Personen  zusammen  zu  sein.  Gleichzeitig  hat  er  indessen  eine  gewisse 
Anziehvmg  an  Männer  konstatiert.  Der  weibliche  Körper  ist  ihm  nie 


60  .T.  Sadger. 

eigentlicli  schön  vorgekommen.  Immer  stark  sexuell,  seit  zwei  Jahren 
verheiratet  mit  einer  ehemaligen  Prostituierten.  Seine  homosexuellen 
Kegungen  immer  dunkel  und  halb  unbewußt  bis  vor  einigen  Wochen, 
wo  er  sich  in  einen  ganz  unbedeutenden  jungen  Mann  (Kellner)  ver- 
liebte, mit  dem  er  schon  verabredet  hatte,  nach  Ostende  zu  reisen, 
um  nimmer  zurückzukehren.  Als  er  mich  konsultierte,  gab  er  falsche 
Auskünfte  und  wollte  den  Namen  des  Geliebten  nicht  nennen,  der 
mir  dann  durch  seine  Frau  bekannt  wurde.  Trotz  ihrer  Antezedentien 
soll  diese  letztere  einen  günstigen  Einfluß  auf  den  Patienten  gehabt 
haben  und  ein  willensstarkes  imd  gutgesinntes  Weib  sein.  So  steht 
die  Sache  jetzt.  Um  eine  unmittelbare  Katastrophe  zu  vermeiden, 
habe  ich  ihn  staute  pede  zu  Ihnen  geschickt.  Ob  was  damit  anzufangen 
ist,  mag  fraglich  sein." 

Soweit  die  Anamnese  des  Arztes.  Ich  will  ergänzen,  daß  Patient 
mit  seiner  Frau  in  einem  uniegalisierten  Verhältnisse  lebte,  die  Eltern 
als  Bedingung  einer  Versöhnung  legitime  Eheschließung  verlangten, 
der  er  bislang  noch  immer  Widerstand  entgegengesetzt,  daß  endlich 
diese  Frau  nicht  bloß  eine  ehemalige  Dirne  war  —  als  solche  hatte 
sie  auch  schon  ein  Kind  mit  einem  andern  gehabt,  das  freilich  bald 
darauf  starb  —  sondern  obendrein  vorher  von  einer  Syphilis  ,, geheilt" 
worden  war.  Dann  weiters,  was  die  jüngere  Schwester  des  Patienten 
über  meine  Anfrage  betreffs  der  Mutter  und  deren  Verhältnis  zu  ihrem 
Sohne  etwas  später  schrieb.  Ihr  verhältnismäßig  günstiges  Urteil  über 
die  Mutter  erhält  dadurch  noch  besonderen  Wert,  daß  dieses  hoch- 
inteUigente  Mädchen  am  Bruder  sehr  hing  und  obendrein  aus  Verliebt- 
heit in  den  Vater  zur  Mutter  in  einem  direkt  feindseligen  Verhältnisse 
stand.  Ihre  Mitteilung  lautet: 

,, Mutter  stammt  aus  einer  sehr  angesehenen  und  wohlhabenden 
Gutsbesitzersfamilie.  Eltern  und  Geschwister  sehr  gesund.  Kummerlose, 
angenehme  Kindheit  und  Jugend.  Mutter  war  6  Jahre  hindurch  Hof- 
dame und  heiratete  mit  30  Jahren.  Bis  auf  eine  kurze  Unterbrechung 
hat  sie  immer  auf  unserem  Landgut  gelebt.  Sie  war  immer  von  vorzüglicher 
Gesundheit,  guten  Körperkräften  und  jugendlichem  Aussehen.  Doch 
hat  sie  mehr  weniger  an  Schlaflosigkeit  gelitten  und  ist  immer  etwas 
unruhig  gewesen.  Sehr  gute  Haushälterin  und  peinlich  ordentlich,  hat 
sie  sich  oft  über  Kleinigkeiten  geärgert  und  etwas  irritierend  und  de- 
primierend auf  Mann  und  Kinder  gewirkt.  Sie  ist  immer  die  Steuernde 
in  der  Familie  gewesen,  nicht  aber  auf  kräftige,  herrische  Weise,  sondern 
mehr  durch  Eigensinn  und  wegen  der  nachgebenden  Natur  ihres  Mannes. 


Ein  Fall  vou  multipler  Perversiou  mit  hysterischen  Absenzeu,  61 

Ihre  Kinder,  die  alle  empfindlich,  voll  Phantasie  und  Gefühl  waren, 
hat  sie  nie  recht  verstanden,  nicht  mit  ihnen  spielen  oder  sich  herzlich 
benehmen  können.  Sie  ist  gut  gebildet  und  begabt,  aber  ohne  spezielle 
Interessen  und  kommt  Fremden  etwas  kalt,  trocken  und  konventionell 
vor.  Im  Grunde  fühlt  sie  doch  sehr  tief,  was  man  freilich  äußerst  selten 
bemerken  kann.  Namentlich  ist  ihre  Natur  außerordentlich  zugeknöpft. 
Der  Patient,  ihr  einziger  Sohn,  ist  immer  ihr  Favorit  gewesen.  Er  war 
stets  ein  weichliches,  kränkliches  Kind.  Sie  hat  seiner  gewartet,  alle 
seine  Wünsche  erfüllt,  den  Vater  manchmal  gehindert,  eine  ebenso 
nötige  wie  ungewöhnliche  Bestrafung  auszuüben.  Die  Eltern  haben 
dem  Patienten  nur  die  größte  Freundlichkeit  und  Güte  bewiesen,  für 
ihn  pekuniäre  Opfer  gebracht,  aber  er  hat  nie  die  moralische  Stütze, 
Verstehen  und  Strenge,  die  ihm  am  nötigsten  waren,  be- 
kommen (von  der  Schwester  unterstrichen).  Gegen  die  Mutter  hat  er 
sich  immer  gefühllos  und  mehr  und  mehr  nonchalant  bewiesen,  während 
sie  sich  immer  nach  Freundlichkeit  von  ihm  gesehnt  und  über  die 
kleinste  Zärtlichkeit  sehr  gefreut  hat,  wie  auch  der  Vater.  Die  Heimat 
ist  ihm  stets  offen  geblieben,  auch  nach  der  Verbindung  mit  einer 
Person,  von  einem  Vorleben,  das  die  Eltern  und  besonders  die  Mutter 
natürlich  auf  das  höchste  schmerzen  und  aufregen  mußte.  Der  Patient 
hat  sich  in  dieser  Beziehung  sonderbar  gefühl-  und  rücksichtslos  be- 
nommen, hat  nicht  verstanden  oder  verstehen  wollen,  den  Wider- 
stand der  Eltern,  respektive  Mutter,  welche  er  für  altmodisch,  für  die 
neuen  radikalen  und  ,freien'  Ideen  absolut  unverständig  und  nur 
für  den  Schein  lebend  hält,  zu  brechen.  Einige  verzweifelte  Briefe 
der  Mutter  haben  ihn  sehr  empört  und  ihn  ihr  noch  mehr  entfremdet." 
Wie  aus  dem  Berichte  des  Psychiaters  hervorgeht,  legte  dieser 
das  Hauptgewicht  auf  die  Degeneration  und  die  Epilepsie,  während 
er  die  Homosexualität  nur  nebenbei  streifte,  weil  sie  just  damals  zum 
argen  Skandal  sich  auszuwachsen  drohte.  Sein  Urteil  lautete  ziemlich 
trostlos  und  noch  nach  sechs  Wochen  durchgeführter  Psychoanalyse, 
als  ich  schon  erkleckliche  Besserung  vermelden  konnte,  bekam  ich 
zur  Antwort:  „Wenn  Sie  ein  bißchen  Ordnung  in  diese  ungeordnete 
und  detraquierte  Psyche  hineinbringen  können,  dann  dürfen  Sie  mit 
Recht  auf  Ihr  therapeutisches  Können  stolz  sein."  Die  Psychoanalyse 
von  bloß  fünf  Monaten  —  länger  war  sie  aus  äußeren  Gründen  nicht 
durchführbar,  obwohl  ich  zwei  Jahre  veranschlagt  hatte  —  ergab 
bereits  deutUch,  daß  nicht  so  sehr  die  zweifellose  Degeneration  im  Vorder- 
grunde  des   Krankhcitsbildes   stand   oder   mindestens   dem   Kranken 


62  J.  Sadger. 


o^ 


weit  weniger  Beschwerden  machte,  als  die  Auswüchse  seiner  Vita 
sexualis.  Neben  der  schreienden  Homosexualität  erwies  sich  gar  bald, 
daß  die  für  das  Kind  normalen  geschlechtlichen  Perversionen  auch 
beim  Jüngling  und  Mann  noch  persistierten,  was  wohl  auf  die  schwere 
Belastung  zurückgeht.  Als  Krankheit  jedoch  empfand  er  nicht  sie  und 
die  anderen  Stigmen  der  Degeneration,  sondern  lediglich  deren  öftere 
Verschärfung  durch  akute  sexuelle  Schädlichkeiten,  sowie  die  angebliche 
Epilepsie.  Auch  die  letztere  empfing  durch  die  Psychoanalyse  verborgen 
geblieben  sexuelle  Deutung  und  völlige  Heilung.  Ehe  ich  das  alles  im 
einzelnen  ausführe,  will  ich  von  dem  Kranken  einen  kurzen 

Lebensabriß 

entwerfen.  Bis  zu  seinem  10.  Lebensjahre  wurde  er  auf  dem  Landgute 
seiner  Eltern  erzogen,  zuerst  von  diesen,  dann  fortlaufend  von  einem 
Kindermädchen,  zwei  Gouvernanten  und  einem  Hofmeister.  Mit  10  Jahren 
kommt  er  zum  Besuche  des  Gymnasiums  in  die  Hauptstadt,  wo  er 
bei  einem  Onkel  untergebracht  wird.  Nach  Absolvierung  der  Mittel- 
schule tritt  er  mit  18  Jahren  auf  Wunsch  seines  Vaters,  der  selber 
Offizier  gewesen,  in  dessen  früheres  Regiment  ein,  bleibt  aber  daselbst 
nur  3V2  Monate,  worauf  er  wegen  einer  angeblichen  Gehirnentzündung 
quittieren  mußte.  Da  sein  Interesse  schon  vorher  durch  den  Bruder 
des  Vaters  auf  Kostümkunde  und  Ptüstungen  gelenkt  worden  war, 
begann  er,  um  in  der  Rekonvaleszenz  eine  leichtere  Beschäftigung 
zu  haben,  an  der  Waff ensammlung  des  Museums  zu  arbeiten,  und  bezog 
dann  später  die  Universität,  wo  er  Kunst-  und  Kulturgeschichte  stu- 
dierte. Im  ersten  Jahre  der  Universitätszeit  hat  er  viel  gesoffen  und 
Hasard  gespielt  und  auch  seine  Intoleranz  gegen  Alkohol  gezeigt,  die 
zu  Dämmerzuständen,  ja  ausgesprochenem  Bewußtseinsverlust  führte. 
Dies  zügellose  Leben  währte  ein  Jahr,  dann  begann  er  sich  wieder  am 
Museum  zu  betätigen,  ernsthaft  zu  studieren  und  auch  am  politischen 
Leben  teilzunehmen,  wo  er  natürlich  Radikaler^ wurde.  Das  brachte 
auch  den  scheinbar  ersten  Konflikt  mit  seinem  Vater.  Als  Graf  aus 
aitadeligem  Hause  nämlich  hatte  er  eine  Einladung  zu  Hof  bekommen, 
auch  der  Vater  wünschte  sehnlichst,  er  möge  dorthin  gehen,  doch  er 
lehnte  ab,  angeblich  wegen  seiner  differierenden  politischen  An- 
schauung, und  trieb  es  absichtlich  zum  Bruche  mit  dem  Vater.  Da 
er  ein  Jahr  beim  Militär  verloren,  obendrein  seinen  Chef  (einen  Ver- 
wandten) öfter  am  Museum  vertreten  mußte  und  das  Studium  der 
Kulturgeschichte  sehr   mühsam   und  langwierig,    ward   er  27  Jahre, 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  63 

als  er  die  Universität  verließ  und  eine  Stelle  an  der  Waffensammlung 
des  Museums  annahm.   Hatte  er  von  den  Eltern  sich  schon  vorher 
derart  zurückgezogen,  daß  er  sie  nur  noch  zweimal  im  Jahre  besuchte, 
so  kam  es  mit  30  Jahren  zu  völligem  Bruche,  als  er  mit  einer  Pro- 
stituierten   einen    gemeinschaftlichen    Haushalt    begann    und    seinen 
Eltern,  die  sich  schließlich  mit  allem  zufrieden  geben  wollten,  nicht 
einmal  die  Konzession  einer  kirchlichen  Trauung  gewähren  mochte. 
Schon  früher,  von  der  Militärzeit  ab,  hatte  er  seinen  homosexuellen 
Neigungen  reichlich,    wenn  auch  nur  platonisch  gefrönt.    Kurz  vor 
seiner  Herreise  nach  Wien  jedoch  bestand  die  Gefahr,  daß  er  sich  mit 
einem  Kellner  arg  verplempere,  den  er  seit  14  Tagen  kannte  und  da  nur 
sieben  Mal  gesprochen  hatte.  ,,Je  öfter  ich  ihn  sah,"  erklärte  Patient 
gleich  in  der  ersten  Analysenstunde,  ,, desto  stärker  wirkte  er  auf  mich. 
Das  erste  Mal  gefiel  mir  sein  Aussehen  und  Wesen,  ich  habe  ihn  immer 
ansehen  müssen  und  mich  gleich  zu  ihm  hingezogen  gefühlt."  Er  begann 
ihn  auszufragen  nach  seinen  Verhältnissen,  Stellung,  ob  er  mit  seinem 
Berufe  zufrieden  sei,    und  rückte  endlich  mit  dem  Vorschlage  heraus, 
gemeinsam  mit  ihm  nach  Ostende  zu  reisen,  worauf  der  andere  bereit- 
willig einging.  Doch  da  kam  die  Ernüchterung.  Teils  hatte  die  Frau 
schon  Lunte  gerochen  und  sich  ins  Mittel  gelegt,  teils  drängte  sich 
ihm  selber  die  Erkenntnis  auf,  das  müsse  ein  schlechtes  Ende  nehmen, 
kurz  er  suchte  einen  Psychiater  auf,  der,  wie  wir  schon  wissen,  ihn 
samt  der  Frau  nach  Wien  expedierte.  Im  Verlaufe  der  hier  eingeleiteten 
Analyse  ergab  sich  nun,  daß  der  Kranke  nicht  bloß  die  vom  Psychiater 
vermeldeten  Symptome  der  Degeneration,  Alkoholintoleranz,  epilepsie- 
artigen Anfälle  und  Homosexualität  aufwies,  sondern  daneben  noch 
ein  reichbesetztes  Sexualprogramm,  von  dem  etwa  anzuführen  wären: 
eine  Reihe  von  Äußerungen  des  Autoerotismus,  wüe  Onanie,  Narzismus, 
eine  Art  von  Selbstkoitus,  will  sagen:  Versuche  und  Phantasien,  sich 
selbst  mit  dem  Membrum  in  den  After  zu  dringen,   einen  mächtigen 
Schautrieb  und  Exhibitionismus  und  eine  ganz  ungeheuerliche  Anal- 
erotik ;  dann  weiter  Statuenliebhaberei,   masochistische  und  sadistische 
Züge,  Selbstgeißelung,  pyromanische  Antriebe  und  eine  Dysuria  psy- 
chica.  Wie  man  sieht,  eine  ansehnliche  Musterkarte.  Von  dieser  will 
ich  die 

Homosexualität 

zuerst  vornehmen.  Als  ich  ihn  fragte,  was  er  denn  vom  Kellner  eigentlich 
ersehnte  und  wie  sein  Typus  beschaffen  sei,  kam  folgende  Antwort: 
,,Auch  wenn  ich  mit  ihm  gereist  wäre,  hätte  ich  eigentlich  nicht  ge- 


64:  J.  Sadfi^er 


o"- 


wüßt,  was  ich  mit  ihm  beginnen  solle.  Ich  wollte  nur  seine  Nähe,  eventuell 
mit  meiner  Hand  seine  Schultern  und  Oberarme  fassen.  Ich  glaube, 
das  allein  gewährte  mir  schon  sexuellen  Genuß.  Vielleicht  hätte  ich 
ihm  auch  die  Hoden  gestreichelt,  aber  nicht  den  Penis.  Es  wäre  mir 
genug  gewesen,  wenn  er  Erektionen  bekommen  hätte.  Bei  mir  kommt 
nämlich  alles  durch  die  Augen,  meine  meisten  und  stärksten  Gefühle, 
wenn  ich  etwas  sehe.  Es  hätte  mir  also  genügt,  seinen  Penis  steif  zu  sehen, 
ohne  ihn  anzurühren.  Doch  hätte  ich  gewünscht,  daß  der  Hodensack 
sich  unter  meiner  Hand  kontrahiere,  die  Hoden  dürfen  auch  nicht 
hängen  und  schlaff  sein,  hingegen  ist  eine  Erektion  nicht  unbedingt 
nötig."Als  ich  nach  weiteren  sexuellen  Strebungen  forsche,  meinte  er, 
zu  küssen  liebe  er  überhaupt  nicht,  wohl  aber  hätte  er  gern  den  Arm 
um  des  Kellners  Hüfte  geschlungen,  neben  ihm  zu  liegen  gewünscht, 
vor  allem  aber  hätte  ihn  verlangt,  von  hinten  und  unten  jenem  an  die 
Hoden  zu  greifen,  während  dieser  selber  ruhig  hege,  so  daß  er  alles 
sehen  könne.  ,,Das  aber  wäre  das  äußerste,  das  übrige  ist  ganz  asexuell, 
ich  wollte  ihn  nur  vergnügt  sehen.  Hätten  wir  zusammen  gereist,  so  wären 
wir  miteinander  spazieren  gegangen,  ich  hätte  ihm  Geologie  und  Kultur- 
geschichte vorgetragen  (was  vermutlich  dem  Kellner  besonderes  Ver- 
gnügen bereitet  hätte),  ihm  von  den  Wundern  der  Natur  erzählt,  wir 
hätten  zusammen  gespeist  und  wären  stets  bei  einander  gewesen,  so 
daß  ich  ihn  immer  hätte  ansehen  können."  Fassen  wir  einmal  kurz 
zusammen:  das  Auge  ist  ihm  der  wichtigste  Sinn,  die  Quelle  aller, 
auch  sexueller  Genüsse.  Den  Geliebten  wünscht  er  stets  anzusehen 
und  zu  bewundern,  ihn  zu  belehren,  ihm  an  die  Hoden  zu  greifen,  die 
stramm  sein  soUen  und  sich  unter  seiner  Berührung  kontrahieren. 
Endhch  besteht  auch  noch  der  Wunsch,  seine  Schultern  mit  den  Händen 
zu  umfassen. 

Die  Frage  nach  dem  Typus  beantwortet  er  so:  ,,Mich  ziehen  zwei 
Sorten  von  Menschen  an:  1.  Jünghnge  von  17,  18  Jahren,  das  ist  der 
wichtigste  und  behebteste  Typus,  und  2.,  aber  schon  erhebhch  weniger, 
Männer  von  25  bis  30  Jahren.  Die  Jünghnge  sollen  ein  wenig  weiblich 
sein,  mit  lebhaften,  fesselnden  Augen,  sonst  aber  still,  nur  die  Augen 
müssen  immer  lebhaft  sein,  doch  bloß  wenn  sie  auf  mich  gerichtet 
sind,  fesselnd  wie  Kehaugen,  ein  bißchen  wehmütig  dreinschauen 
und  an  meinem  Gesichte  hangen.  Homosexuell  darf  der  Jünghng  nicht 
sein,  weil  mich  alles  Unnatürliche  abstößt.  Ferner  muß  er  eine  kräftige 
Muskulatur  besitzen,  das  Weibliche  darf  nur  in  der  Haltung  zum  Ausdruck 
kommen,  d.  h.  er  darf  nicht  stramm  militärisch  auftreten,  eher  weiche 


'Ein  Fall  von  multijjler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  65 

Formen.  Auch  ein  wenig  Intelligenz  muß  da  sein  und  etwas  Aristo- 
kratisches in  den  feinen  Zügen  und  dem  Oval  des  Gesichtes."  Diesem 
Typus  gehört  auch  der  Kellner  an,  den  er  folgendermaßen  schildert: 
„Blond,  ein  wenig  bleich,  ovales  Gesicht,  sehr  schlank,  aber  nicht  zu 
groß.  Feine  Hände,  wenn  auch  nicht  so  lange  Finger,  als  ich  sonst 
wünsche  und  für  aristokratisch  halte.  Lichtgraue  Augen,  sehr  niedrige 
Schultern,  Hals  und  Rücken  ein  wenig  gebogen,  durchaus  nicht  mili- 
tärische  Haltung.   Besonders  zogen   mich   Gesicht  und   Haltung  an, 
die  Schultern  sind  nicht  mein  Typus,  schadeten  aber  in  diesem  Falle 
nichts.  Der  2.,  der  Männertypus,  zeigt  ein  gesundes  Aussehen,  muß 
blut-  und  kraftvoll  sein,  auch  sexuell  kraftvoll.  Ich  muß  annehmen 
können,  daß  ein  solcher  Mann  sehr  oft  mit  Weibern  sexuell  verkehrt. 
IntellektueU  braucht  er  nicht  hervorragend  zu  sein,  er  darf  sogar  den 
unteren  Schichten  angehören,  wenn   er  nm"  gut  gepflegt  ist.    Dieser 
Typus  reicht  vom  Offizier  bis  zum  Straßenbahnkondukteur."  Während 
er  für  den  1.  Typus  wirklich  Liebe  fühlt  und  z.  B.  in  Wien  nur  für  diesen 
empfindet,  hat  er  für   den   2.    nach   seiner   Behauptung    ,, eigentlich 
keine  Neigung,  sondern  nur  ein  lebhaftes  Interesse  mit  einem  Bei- 
geschmack von  Sexualität.  Es  interessiert  mich,  was  man  von  ihrem  Ge- 
sichte in  sexueller  Beziehung  ablesen  kann.  Nur  solche  Männer  in  diesem 
Alter  interessieren  mich,  die  einen  Drang  zum  weiblichen  Geschlechte 
haben,  was  ich  am  Gesichte  erkenne.  Solche  Männer  sehen  sehr  gesund 
aus,  haben  frohe  Augen  mit  kleinen  Furchen  in  den  Augenwinkeln^ 
scheinen  glücklich  zu  sein,  sind  niemals  düster  und  traurig  und  haben 
auch  Arbeitsenergie.  Sie  dünken  mich  den  idealen  Typus  von  Männern 
darzustellen,  sie  können  etwas  durchsetzen  und  dabei  habe  ich  noch 
ein  Nebengefühl  sexueller  Reizung.  Ich  wüßte  nichts  mit  ihnen  zu  machen, 
aber  ich  stelle  mir  immer  vor,  wie  dieser  Mann  ein  Weib  koitiert,  und  das 
reizt  mich,  ich  bekomme  selbst  Neigung  zu  koitieren". 

Zwischen  diesen  beiden  erstgenannten  Typen  scheint  keineÄhnlich- 
keit  zu  bestehen.  In  zwei  späteren  Sitzungen  jedoch  kam  eine  Reihe  von 
Ergänzungen  zutage,  die  jene  beiden  sehr  nahe  brachte.  Da  gab  Patient 
nämlich  folgendes  an:  ,,Die  einzelnen  Personen  des  1.  Typus  sind 
einander  gar  nicht  ähnlich.  Das  Gemeinsame  ist,  glaube  ich,  das  Jugend- 
liche, und  zwar  weniger  die  frische  Farbe  als  die  jugendlich-weiche  Haut. 
Die  entscheidende  Rolle  aber  spielen  die  Augen.  Ich  Hebe  sowohl  die 
großen  offenen  als  die  langen,  nicht  zu  viel  geöffneten.  Alle  müssen 
sie  leuchtend  sein,  Sehnsucht  muß  aus  ihnen  sprechen  und  Sinnlichkeit. 
Gerade  das  stark  leuchtende,  ein  wenig  feuchte  Augen  zieht  mich  an." 

Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psychopathol.  Forschungen.    II.  " 


66  J.  Sadger. 

Wie  sich  später  herausstellte,  hatte  er  gerade  solche  Augen  an  sich 
selber  beobachtet  als  er  sich  mit  15,  16  Jahren  im  Spiegel  studierte^). 
Ein  andermal  wieder  erzählte  er,  daß  es  in  den  Straßen  Wiens  von 
Jünglingen  des  1.  Typus,  besonders  Kadetten,  nur  so  wimmle  im  Gegen- 
satze zu  seiner  Heimat.  ,,Es  beschäftigt  mich  bei  diesen  Leuten  stets 
der  Gedanke:  Wie  stellt  sich  die  sexuelle  Frage  für  diesen  Mann,  quält 
ihn  geschlechtliches  Verlangen,  ist  es  schon  erwacht  oder  noch  nicht? 
Es  wäre  für  mich  von  großem  Interesse,  den  Roman  eines  solchen  ver- 
folgen zu  können,  wie  seine  geschlechtliche  Entwicklung  verläuft, 
seine  Liebe  zum  Weibe.  Denn  in  den  meisten  Fällen  glaube  ich,  daß 
es  alle  anderen  recht  machen,  nur  ich  selber  nicht,  und  ich  möchte 
auf  diese  Art  erfahren,  wie  ich  es  selber  anstellen  sollte.  Vielleicht 
trachte  ich  auch  zu  erfahren,  wie  ein  frecher  Mensch  geht,  sich  bewegt 
und  trägt,  um  selber  einen  so  frechen  Menschen  spielen  zu  können. 
Denn  ich  wünsche  nicht,  den  Menschen  zu  zeigen,  daß  ich  unglücklich 
bin.  Endlich  tragen  die  Kadetten  auch  Säbel  oder  Bajonett  zur  Schau, 
also  ihren  Penis." 

Am  15.  Tag  der  Analyse  machte  er  mir  noch  einen  3.  Typus 
namhaft,  den  sogenannten  ,, wissenschaftlichen",  von  dem  er  vier  Exem- 
plare liebte,  durchwegs  hochbegabte,  wissenschaftlich  hervorragende 
Männer,  sämtlich  blond  und  viel  (10  bis  30  Jahre)  älter  als  er,  von 
politischer  Gesinnung  liberal  bis  radikal.  ,,A11  diese  Leute  haben  ferner 
gesehen,  daß  ich  etwas  leisten  kann  und  mir  Mut  zugesprochen,  so 
daß  ich  wieder  Glauben  an  mich  gewann."  Mit  diesen  drei  Typen  sind 
aber  die  von  ihm  geliebten  Jünglinge  und  Männer,  deren  Zahl  Legion 
ist,  keineswegs  erschöpft.  Es  gibt  eine  Menge  von  Übergängen  sowie 
endlich  zwei  Männer,  die  in  keinen  der  genannten  Typen  passen:  Vater 
und  Onkel  Archäologen. 

Seiner  Homosexualität  bewußt  geworden  sei  Patient  erst  mit 
18  Jahren.  Früher  war  er  zwar  schon  homosexuell,  doch  ganz  unbewußt.  Er 
habe  nie  ein  Mädchen  begehrt  und  schon  mit  15  Jahren  den  männlichen 
Körper  für  schöner  angesehen  als  den  weiblichen.  Auch  beim  späteren 
Studium  der  Kunstgeschichte  fand  er  immer,  daß  die  männlichen 
Statuen  schöner  seien  als  die   weiblichen.     Ebenso   interessierte  ihn 


^)  Ich  wdll  hier  gleich  einfügen,  was  für  die  ganze  Analyse  gilt,  daß  ich, 
um  nicht  allzu  weitwendig  zu  werden,  nur  die  Resultate  der  Analyse  gebe,  nicht 
aber  den  Widerstand,  der  stellen-  und  zeitweise  äußerst  stark  war.  Ein  Irrtum 
wäre  es  zu  meinen,  daß  die  Behandlung  so  glatt  verlaufen,  als  sie  im  Texte  der 
Kürze  halber  dargestellt  wird. 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  67 

in  der  Kulturgeschichte  und  in  der  Tracht  der  Mann  mehr  als  das  Weib, 
männliche  Kostüme  mehr  als  weibliche.  ,,Ich  habe  nie  wie  die  meisten 
Schulknaben  ein  Mädchen  verehrt  und  bin  nie  mit  einer  gegangen.'' 
Hingegen  verhebte  er  sich  als  18 jähriger  Kadett  in  einen  17jährigen 
Kameraden  vom  1.  Typus.  „Er  hatte  so  wunderschöne  Augen  und 
Gesicht,  daß  ich  ihn  Heben  und  immer  anschauen  mußte.  Die  Augen 
waren  sehr  strahlend,  das  Gesicht  sehr  fein,  die  Haut  desselben  zart 
und  gut  gefärbt.  Diese  Liebe,  bei  der  ich  meiner  Homosexualität  mir 
zuerst  bewußt  ward,  währte  nur  zwei  Monate.  Dann  wurde  er  versetzt." 
Übrigens  hat  er  sich  ihm  gar  nie  zu  nähern  versucht,  so  daß  sich  nicht 
einmal  ein  derart  intimer  Verkehr  entspann  wie  mit  anderen  Kameraden. 
Dann  habe  er  noch  vor  dem  Kellner  sich  mit  25  Jahren  in  einen 
23  jährigen  Museumskameraden  verhebt,  der  mehr  dem  1.  Typus  als  dem 
2.  angehörte.  ,, Eigentlich  war  er  nicht  schön  und  hatte  auch  keine 
harmonischen  Züge,  wohl  aber  sehr  große,  starr  dreinbhckende  Augen, 
starke,  affenartige  Augenbrauenbogen  und  ein  sehr  intelhgentes 
Gesicht.  Mich  hat  eigenthch  sein  Wesen  angezogen.  Wir  waren  Kame- 
raden, hatten  dieselben  Interessen,  ganz  die  nämhchen  Ideen  und 
beide  gute  Augen.  Wir  studierten  alles  mit  den  Augen,  nicht  aus 
Büchern.  Ich  glaube,  wir  liebten  uns  gegenseitig.  Wir  lebten  zusammen, 
waren  alle  Tage  zusammen,  gingen  gemeinsam  überallhin,  kurz  wir 
waren  unzertrennliche  Freunde.  Ich  liebte  ihn,  saß  bei  ihm,  schlan» 
meinen  Arm  um  seine  Schultern  und  Taille,  zu  mehr  aber  kam  es  nicht. 
Denn  als  ich  merkte,  daß  ich  sexuelle  Neigung  zu  ihm  bekam,  sagte  ich 
ihm  es  und  daß  wir  uns  trennen  müßten,  was  dann  auch  geschah.  Das 
Ganze  dauerte  nur  einen  Herbst."  Die  Entstehung  dieser  sexuellen 
Neigung  beschrieb  er  so:  ,,Ich  hatte  das  Verlangen,  ihn  zu  heben,  nackt 
mit  ihm  zusammenzuliegen  in  einem  Bette.  Wir  badeten  auch  zu- 
sammen, wobei  ich  fortwährend  seinen  Körper  mit  den  Augen  ver- 
schlang. Ich  erinnere  mich  noch  an  seine  Brustwarzen,  die  sehr  groß 
waren,  größer  und  dunkler  als  sonst  bei  Männern;  ferner  an  seine  Mus- 
kulatur, besonders  seine  gut  ausgebildeten  Schultermuskeln, 
die  wie  Kugeln  an  den  Schultergelenken  lagen.  Hingegen 
haben  mich  die  Hoden  zu  jener  Zeit  noch  nicht  interessiert.  Eines 
Abends,  als  wir  im[^Variete  zusammen  saßen,  kam  es  mir  zum  Bewußt- 
sein, daß  ich  ihn  mehr  als  wie  einen  Freund  liebe,  daß  mit  meiner  Liebe 
etwas  Sexuelles  verbunden  sei.  Ich  glaubte,  wenn  wir  zusammenlebten, 
würden  wir  homosexuell  miteinander  verkehren,  wenn  ich  mir  auch 
nicht  klar  machte  wie.  Vielleicht  war  es  mir  mehr  darum  zu  tun,  daß  er 

5* 


68  J-  Sadger. 

mich  liebe,  mich  umarme  mid  küsse,  mir  die  Hände  streichle  und  den 
Körper,  mir  über  Schultern,  Brust  und  Rücken  streichle  und  mich  stark 
in  seine  Arme  presse.  Ich  weiß  nicht,  ob  ich  mir  das  Ganze  klar  machte, 
aber  es  lag  wohl  hinter  meinen  Gefühlen  für  ihn.  Es  erschien  mir  so 
abscheulich,  daß  ich  ihn  sexuell  liebte.  Wenn  es  zu  etwas  Geschlecht- 
lichem gekommen  wäre,  wäre  mir  die  Sache  so  abscheulich  erschienen, 
daß  es  sicher  zum  Bruche  geführt  hätte.  Deshalb  brach  ich  lieber  vorher, 
damit  ich  die  Eriimerung  rein  behielte.  Wir  sind  noch  jetzt  gute  Freunde. 
Dieser  Freund  hat  mich  auch  ganz  verstanden.  Wir  fürchteten  beide, 
daß  wir  uns  trennen  müßten,  wenn  es  zu  mehr  käme." 

In  all  diesen  drei  großen  Liebschaften  spielt  also  die  Hauptrolle 
das  Ansehen  und  Bewundern  des  Freundes  und  das  eigene  Bewundert- 
und  Gestreicheltwerden  durch  diesen  Freund.  Daneben  tritt  das 
Interesse  für  die  kugelförmigen  Schultermuskeln,  die  Brustwarzen 
und  später  für  die  Hoden  hervor,  sowie  das  Verlangen,  nackt  neben 
dem  Geliebten  zu  liegen.  Des  weiteren  ein  ausgesprochener  Abscheu 
vor  sexuellem  Verkehr-,  der  ihn  zu  vorzeitigem  Abbrechen  zwingt,  selbst 
bei  dem  KeUner. 

Bei  diesen  Harmlosigkeiten  sollte  es  nicht  bleiben.  Am  25.  Tag 
der  Analyse,  nachdem  er  sich  tagsvorher  an  Männern  verschiedenthch 
gereizt,  bekam  er  dann  nachts  sehr  starke  homosexuelle  Anfechtungen. 
Zuerst  Verlangen  nach  anderen  Männern,  zum  Schluß  nach  dem  Kellner. 
Was  er  zu  Hause  wegen  seiner  Flucht  nach  Wien  nicht  hatte  ausführen 
können,  begann  er  jetzt  in  der  Phantasie  auszuspinnen.  Wie  sie  ge- 
meinsam ihr  Reiseziel  wählten,  dort  telephonisch  Zimmer  bestellten, 
gemeinsam  soupierten,  er  ihn  ausfrage  usw.  Da  diese  Gedanken  ihn 
quälten,  weckte  er  die  Frau,  die  nun  auf  ihn  einsprach  und  ihn  zärtlich 
am  ganzen  Körper  streichelte,  wie  er  es  so  liebte,  vom  Kopf  bis  zu  den 
Füßen.  Diesmal  jedoch  wollte  nichts  verfangen,  ja  es  war  ihm  bei  ihren 
Liebkosungen  sogar,  als  empfinge  er  sie  vom  Kelhier.  Seine  Phantasie 
begann  nun  höher  zu  fhegen.  Er  malte  sich  aus,  wie  ihn  der  Kellner 
im  After  koitiere  und  ihn  dabei  gleichzeitig  mit  der  Hand  onaniere. 
Die  ganze  Zeit  über  fühlte  er  sich  nicht  wohl,  die  Phantasien  waren  ihm 
widerwärtig,  aber  sie  ließen  sich  doch  nicht  verscheuchen.  Endlich 
kam  er  zur  Ruhe,  nachdem  er  seine  Frau  halb  widerwillig  normal 

koitiert  hatte. 

Ich  möchte  zum  Schlüsse  noch  anführen,  daß  er  sehr  häufig  zu 
dreien  liebt  und  auch  wissenschaftlich  arbeitet,  im  Triumvirat  oder 
„Dreibund",  wie  er  sagt.  Das  war  schon  in  der  letzten  Gymnasialklasse 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  69 

so  und  beim  Militär,  noch  mehr  dann  in  der  Studenten-  und  Museums- 
zeit. Er  schafft  und  wirkt  am  besten  in  einem  Triumvirat  und  stets, 
wenn  er  etwas  durchführen  will,  geschieht  es  zu  dreien.  Ihm  fällt  dabei 
die  Rolle  des  heftig  Vorstürmenden  zu,  seine  Rede  führt  die  Sache 
im  allgemeinen  theoretisch  durch,  den  Kameraden  obliegt  es  dann, 
seine  Ideen  festzuhalten  und  auszuführen,  weil  er  als  echter  Schwer- 
belasteter nach  dem  ersten  Anstoß  sehr  schnell  ermüdet.  Auch  im 
Gespräche  und  in  Gesellschaft  liebt  er  die  Dreizahl  und  haßt  jede 
größere  Zusammenkunft,  angeblich  weil  bei  Dreien  die  Unterhaltung 
gemeinsam  sein  muß,  während  schon  bei  Vieren  sich  zwei  und  zwei 
zusammenfinden.  Die  Vorliebe  für  den  Dreibund  geht  soweit,  daß 
er  selbst  seine  Frau  ursprünglich  nur  zusammen  mit  einem  andern  je- 
weils Geliebten  besitzen  wollte,  ja  sogar  auch  jetzt  noch  den  Kitzel  ver- 
spürt, einen  Dritten  heranzuziehen.  Diese  Dreibundssucht  entstand, 
wie  er  meint,  durch  sein  Zusammenleben  mit  den  Schwestern.  In  der 
ganzen  Kindheit  bis  zum  10.  Jahre  waren  sie  seine  einzigen  Kameraden, 
der  ursprüngliche  Dreibund,  der  unter  anderm  auch  geschlossen  wurde 
zu  gemeinsamem  Auftreten  gegen  eine  verhaßte  Gouvernante.  Als 
treibendes  Motiv  für  einen  späteren  Dreibund  nennt  er  in  der  Analyse : 
,, Eigentlich  gefiel  es  mir  ganz  gut,  so  einen  kleinen  Herrscher  zu  spielen. 
Wäre  ich  allein  gewesen,  so  wäre  mir  vieles  nicht  gelungen."  Eine 
tiefere  Begründung  jenes  Dreibundes  werden  wir  späterhin  kennen  lernen. 
Nun  woUen  wir  uns  einmal 

>  die  Familie 

des  Patienten  besehen.  Nur  flüchtig  will  ich  hier  des  Onkel  Archäo- 
logen gedenken,  in  welchen  er  unzweifelhaft  verliebt  war,  wie  später 
in  einen  anderen  Mann,  der  diesem  in  einer  Reihe  von  Zügen  glich. 
Dieser  Onkel  war  auch  der  einzige  gewesen,  der  schon  in  der  Schulzeit 
seine  Kostümestudien  lobte  und  ihn  dabei  stets  unterstützte.  Seinem 
Einflüsse  ist  es  vornehmlich  zu  danken,  daß  Patient  sich  dem  jetzigen 
Berufe  zuwandte.  Seine  weitere  Bedeutung  werde  ich  später  noch 
wiederholt  zu  besprechen  haben. 

Nun  zu  dem  Vater.  Schon  im  Berichte  des  Psychiaters  stand 
die  Degeneration  der  Eltern  erwähnt,  zumal  ihre  Neigung  zu  trüben 
Stimmungen.  Nach  Angabe  des  Sohnes  leide  der  Vater  auch  an  Absenzen, 
die  er  mit  einem  Sturz  vom  Pferde  in  ursächlichen  Zusammenhang 
bringt.  Vor  diesen  Anfällen  —  drei  davon  habe  er  selber  beobachtet  — 
bekomme  der  Vater  oft  eine  Aura,  ein  Brummen  im  Ohre,  infolgedessen 


70  J.  Sadger. 

er  auch  schlechter  höre,  dann  stellten  sich  gewöhnlich  die  Absenzen 
ein,  doch  niemals  noch  ein  größerer  Anfall.  Diese  Absenzen,  dann  des 
Vaters  Gicht  und  sein  zeitweiliges  schlechtes  Sehen  und  Hören  hat 
der  Sohn,  wie  wir  späterhin  hören  werden,  hysterisch  imitiert.  Lange 
Zeit  war  der  Vater  für  ihn  ein  höheres  Wesen,  erst  in  den  letzten  Jahren, 
streng  genommen  erst  seit  seiner  Heirat  vor  zwei  Jahren,  begann  ihn 
Patient  mit  anderen  Menschen  zu  vergleichen.  Über  sein  Verhältnis 
zum  Erzeuger  bemerkt  er  folgendes:  ,,Im  Grunde  bewundere  ich  ihn, 
denn  er  ist  ein  sehr  arbeitsamer  und  tüchtiger  Mensch.  Früher  Offizier, 
hat  er  außerdem  noch  einige  Eisenwerke  geleitet.  Er  war  sehr  beschäftigt 
und  hatte  sehr  wenig  Zeit  für  uns  Kinder,  zumal  er  im  Dienste  der 
Eisenwerke  oft  für  lange  Zeit  verreisen  mußte.  Wir  liebten  den  Vater 
alle  sehr  und  waren  überaus  glücklich  und  froh,  wenn  er  von  der  Reise 
zurückkehrte.  Während  der  Schulzeit  lebte  ich  fern  von  ihm,  so  daß 
ich  ihn  eigentlich  gar  nicht  kannte  und  nie  so  ganz  intim  mit  ihm  wurde." 
In  späteren  Jahren  kam  dann  der  Zwist  wegen  der  Einladung  zu  Hofe. 
Im  Verlaufe  des  Streites  erklärte  der  Sohn,  fortab  für  sich  selber  sorgen 
zu  wollen,  während  der  Vater  nur  sehr  niedergeschlagen  wurde,  ohne 
ihm  ein  böses  Wort  zu  geben.  Tatsächlich  kam  jetzt  unser  Patient 
bloß  zweimal  jährlich  in  die  Heimat  und  nur  mit  dem  Onkel  Archäologen 
unterhielt  er  noch  familiäre  Beziehungen.  Der  letzte  und  schwerste 
Konflikt  mit  dem  Vater  datiert  von  der  Ehe  mit  der  Prostituierten, 
die,  legitim  zu  freien,  er  sich  beharrlich  aus  im  Grunde  nichtigen  Mo- 
tiven weigerte.  Der  Vater  wünscht  sehnlichst,  daß  alles  wieder  gut 
würde,  und  verlangt  nur,  von  der  Mutter  angestiftet,  die  offizielle 
Trauung.  Allein,  obgleich  es  ihm  selber  weh  tut,  mit  dem  Vater  nicht 
zusammenkommen  zu  können,  der,  wie  er  mit  Schrecken  wahrnehmen 
muß,  immer  mächtiger  altert,  obschon  er  ihn  ferner  trotz  aller  Streitig- 
keiten immer  mehr  bewundern  muß  als  echt  aristokratisch-vornehme 
Natur,  endlich  auch  sein  gutes  Herz  preist  und  rühmt,  das  ihn  treibe, 
den  Sohn  ganz  unaufgefordert  und  fast  überreichlich  mit  Geld  zu 
versehen,  verlangt  er  doch,  der  Vater  solle  den  ersten  Schritt  zur 
Versöhnung  tun.  Dabei  ist  es  ihm  vollständig  durchsichtig,  daß  der 
Streit  sich  nur  um  eine  Formalität  drehe,  und  gibt  er  selbst  zu,  seit 
seiner  Heirat  alle  Liebe  zum  Vater  geflissentlich  unterdrückt  zu  haben. 
,,Ich  war  herzlos  gegen  ihn,  suchte  ihn  niemals  auf,  er  mußte  immer 
mich  rufen.  Ich  habe  niemals  um  Geld  gebeten,  sondern  er  mußte  es  mir 
stets  anbieten.  Ich  bat  dann  ferner  auch  nicht  um  Versöhnung,  weil 
ich  ganz  sicher  Aveiß,  er  will  es  tun,  und  so  habe  ich  der  Sache  den  An- 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  71 

strich  gegeben,  als  sei  der  Bruch  stärker,  als  er  in  Wirklichkeit  war. 
Der  Vater  wolle  mich  gar  nicht  sehen."  Natürlich  liegen  die  Gründe 
des  Konfliktes  weitaus  tiefer,  denn  in  divergierender  politischer  oder 
sozialer  Anschauung  und  es  ist  sicher  kein  Zufall,  daß  er  gerade  infolge 
seiner  Ehe  so  gewaltig  ausbrach.  All  dies  wird  später  ausführliche 
Besprechung  finden  müssen. 

Im  Leben  des  Patienten  spielt  wie  bei  jeder  Homosexualität 
die  entscheidende  Rolle  aber  nicht  der  Vater,  sondern  die  Mutter. 
Sie  bezeichnet  der  Sohn  als  furchtbar  adelsstolz  und  bigott,  wenig 
intelligent  und  ohne  eigene  Meinung.  Dabei  lese  sie  fast  nichts,  so  daß 
sie  keine  neuen  Anschauungen  aufnehme.  Er  sei  von  jeher  ihr  Liebling 
gewesen  und  habe  sich  unter  den  Geschwistern  noch  am  besten  mit 
ihr  verstanden.  Alhnählich  jedoch,  so  mit  15,  16  Jahren  kam  die  Ent- 
fremdung, weil  er  sich  von  ihr  gar  nicht  mehr  verstanden 
fühlte  und  sie  kaum  mehr  ertrug.  Seit  dem  16.  Jahre,  da  er  eigene 
Interessen  bekam,  erinnert  er  sich  nicht,  je  intimer  mit  ihr  gesprochen 
zu  haben.  Noch  später  begann  er  sie  direkt  zu  hassen,  nachdem  er  an- 
geblich einsehen  gelernt,  daß  sie  alle  drei  Kinder  verkehrt  erzogen, 
d.  h.  nur  für  eine  christliche  Welt,  und  daß  alle  Schwierigkeiten  der 
Geschwister  nur  von  jener  religiösen  Erziehung  herrührten.  Diese  suche 
nur  das  Böse  im  Menschen  zu  unterdrücken,  nie  sein  Gutes  zu  fördern. 
Wie  sich  bald  herausstellte,  steckt  ein  anderer  begründeterer  Vorwurf 
hinter  diesen  Worten :  die  Mutter  habe  ihn  nämlich  sexuell  ganz  schlecht 
erzogen.  Nie  konnte  man  mit  ihr  wie  mit  anderen  Müttern  offen  über 
Erotisches  reden,  vom  Sexuellen  habe  sie  stets  ein  ganz  falsches  Bild 
gegeben,  jeder  außereheliche  Verkehr  erschien  ihr  als  sündig,  ja,  schon 
wenn  ein  junger  Mann  sich  einem  Mädchen  näherte  und  mit  ihm  scherzte, 
fand  sie  es  unrecht.  Nie  habe  sie  ihn  oder  die  Schwestern  gefördert, 
nie  er  bei  ihr  Verständnis  gefunden  wie  später  bei  zwei  fremden 
Frauen,  die  ihm  Zimmer  vermieteten,  mit  20  und  mit  23  Jahren.  Die 
hätten  nicht  bloß  ihre  Kinder  vernünftig  sexuell  erzogen,  sondern 
auch  ihn  selber  weit  besser  verstanden,  ihm  Mut  zugesprochen,  seinen 
Wert  erkannt,  während  die  eigene  Mutter  immer  erst  von  Fremden 
auf  solche  Dinge  aufmerksam  gemacht  werden  mußte.  Mit  ihr  könne  man 
über  gar  nichts  reden,  ganz  im  Gegensatze  zu  jenen  genannten  Frauen. 
Und  während  er  noch  mit  14  Jahren  derart  an  seiner  Mutter  hing, 
daß  ihr  Lob,  welches  sie  einem  Vetter  spendete,  ihn  zu  furchtbarer 
Eifersucht  entflammte  und  er  diesen  nicht  einmal  mehr  grüßen  wollte, 
so  sah  er  sie  jetzt  nur  mit  haßerfüllten  Augen  an.  Nachträglich  erwachten 


72  J.  Sadger. 

nun  schwere  Vorwürfe  gegen  sie,  die  er  bislang  gut  unterdrückt  hatte. 
Sie  sei  geistlos  und  beschränkt,  allzeit  an  Kleinigkeiten  und  Äußer- 
lichkeiten klebend.  Als  er  noch  nicht  einmal  5  Jahre  alt  war,  habe 
sie  ihn  schon  zu  Unrecht  bestraft,  später  wieder  ihre  Kinder  gequält 
und  ihnen  kein  Vergnügen  gegönnt.  Stets  wolle  sie  alles  selbst  diri- 
gieren. Auch  sei  sie  geizig  und  dabei  trotz  alles  Sparens  doch 
unökonomisch. 

Dieser  letztere  Vorwurf  gehört  schon  in  ein  sehr  wichtiges  Kapitel, 
den  bei  ihr  geradezu  klassisch  ausgebildeten  Analcharakter,  der  sich 
auf  Kosten  einer  gut  unterdrückten  Analerotik  bildet^).  Die  Mutter 
habe  sich  niemals  etwas  Ordentliches  vergönnt,  berichtet  der  Sohn. 
Wenn  sie  vom  Lande  in  die  Hauptstadt  kam,  ging  sie  nie  ins  Restaurant, 
sondern  aß  lieber  etwas  Kaltes  am  Büfett,  weil  dies  weniger  koste. 
Bei  Einkäufen  nehme  sie  immer  die  weitaus  schlechteren  Sachen,  wenn 
sie  nur  eine  Kleinigkeit  billiger  kämen.  Am  unerträglichsten  aber  sei 
ihre  Ordnungssucht  und  Pedanterie.  Jedes  Ding  müsse  seinen  bestimmten 
Platz  haben.  Wenn  z.  B.  drei  Bücher  auf  einem  Tische  liegen,  müsse 
immer  dasselbe  Buch  oben  oder  unten  liegen,  auch  wenn  sie  gleich 
groß  seien.  Abends,  wenn  alles  schlafen  gegangen,  gehe  sie  noch  ein 
paar  Stunden  herum,  um  alles  auf  den  richtigen  Platz  zu  stellen.  Wenn 
es  naß  war  oder  regnete,  war  ihr  alles  Vergnügen  an  einer  Reise  ver- 
dorben, weil  sie  immer  daran  dachte,  wie  die  Kleider  leiden  würden. 
Nun  noch  ein  paar  weniger  bekannte  Symptome.  ,, Mutter  hatte  wenig 
Vertrauen  zu  anderen.  Keiner  kann  es  ordentlich  machen.  Drum  wünschte 
sie  immer,  alles  selber  zu  tun,  und  wenn  sie  schon  andere  heranziehen 
mußte,  so  durften  sie  ihr  höchstens  Handreichung  leisten.  Die  eigent- 
liche Arbeit  machte  sie  stets  selbst,  was  alle  im  Hause  ohne  iVusnahme 
verdroß.  Man  wird  sehr  leicht  ungeduldig,  ja  zornig  gegen  die  Mutter, 
denn  alles  muß  nach  ihrem  Kopfe  gehen.  Zu  einer  Reise  entwirft  sie 
immer  ein  großes  Programm,  das  sie  buchstäblich  befolgt,  wenn  auch 
andere  viel  wichtigere  Dinge  dazwischen  kommen"^).  Endlich  noch  ein 
paar  Reste  der  schon  aufgezehrten  und  zur  Charakterbildung  ver- 
wendeten Analerotik,  wie  sie  besonders  durch  die  pflichtgemäße  Kinder- 
pflege wieder  geweckt  wurden.  ,,Sie  fürchtet  auch  immer  Darmkrebs  zu 
bekommen,  an  dem  ihre  Mutter  gestorben  war,  und  wendete  alle  mög- 

^)  Vgl.  S.  Freud,  „Charakter  und  Analerotik''  in  der  „Sammlung  kleiner 
Schriften  zur  Neurosenlehre",  2.  Folge,  1909,  Seite  132. 

2)  Zu  diesen  Sj-mptomen  sowie  den  nachfolgenden  vergleiche  meinen  Auf- 
satz   „Analerotik    und    Analcharakter",    „Die    Heilkunde",    Februar    1910. 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  73 

liehen  Mittel  gegen  Verstopfung  an.  Sie  wartete  stets  ängstlich  auf 
Leibesöffnung  und,  wenn  sie  einen  Drang  zu  verspüren  glaubte,  ließ 
sie  sofort  alles  liegen  und  stehen.  Sie  hat  sich  aber  nicht  bloß  selbst 
fortwährend  Irrigationen  gemacht,  sondern  diese  auch  in  größerer 
Zahl  ihren  Kindern  versetzt,  zumal  mir,  als  sie  entdeckte,  daß  ich 
Würmer  habe."  Daß  dies  nicht  bloß  therapeutische  Sorgfalt,  beweist, 
daß  sie  ihre  Kinder  möglichst  lange  noch  selbst  auf  den  Topf  setzte, 
auch  zu  großen  Geschäften,  und  daß  unser  Patient  noch  immer  von  der 
Mutter  abhängig  blieb,  als  alle  Kameraden  sich  längst  zur  analen 
Selbständigkeit  schon  durchgerungen  hatten. 

Ich  will  hier  eine  Episode  einflechten,  auf  welche  Patient  den 
Haß  gegen  seine  Mutter  zurückführt.  ,,Als  ich  mit  13  Jahren  sehr 
schwächlich  war  und  sehr  schlecht  aussah,  äußerte  der  Hausarzt  zur 
Mutter  die  Vermutung,  ich  onanierte,  sie  möge  mir  doch  einmal  ins  Ge- 
wissen reden.  Mutter  war  davon  so  überwältigt,  daß  sie  eines  Abends 
weinend  zu  mir  kam:  ,Du  sollst  dich  nicht  berühren,  das  ist  eine  große 
Sünde!'  Meinen  Protest,  ich  verstünde  nicht,  was  sie  meine,  ließ  sie 
nicht  gelten.  ,Du  verstehst  mich  sehr  wohl,  aber  du  willst  es  nicht  ver- 
stehen !'  Verschärft  wurde  mein  Verdruß  über  diese  Ungerechtigkeit, 
als  mir  ein  Vetter  später  mitteilte,  er  habe  wieder  durch  seine  Mutter, 
die  ihn  mit  Recht  wegen  Masturbation  zur  Rede  stellte,  von  meiner 
angeblichen  Onanie  vernommen,  d.  h.  meine  Mutter  hatte  der  seinigen, 
die  ihre  Schwester  war,  davon  gesprochen.  Das  ärgerte  mich  nun  außer- 
ordentlich, denn  das  hatte  mir  die  Mutter  verheimlicht."  Vielleicht 
nahm  er  sich  beides  auch  deshalb  so  zu  Herzen,  weil  der  Hausarzt  tat- 
sächlich Recht  gehabt  hatte.  Der  Junge  hatte  wirklich  schon  Onanie- 
gefühle gekannt,  d.  h.  beim  Seilklettern  in  der  Turnstunde  mehrmals 
Ejakulationen  bekommen,  gefolgt  von  einem  eigentümlich-angenehmen 
Gefühl,  ohne  die  Bedeutung  dieser  Vorgänge  zu  verstehen.  Als  er  dann 
später  mit  15,  16  Jahren  tatsächlich  zu  onanieren  begann,  da  merkte 
er  wohl,  daß  die  Mutter  ihm  nachspionierte,  namentlich  die  Leintücher 
morgens  untersuchte,  was  ihn  natürlich  nur  zu  vermehrter  Vorsicht 
spornte  und,  wie  er  vermeint,  auch  seinen  Haß  gegen  die  Mutter  weckte. 
,,Das  Vertrauen  hatte  ich  schon  früher  verloren,  damals  begann  vielleicht 
der  Haß  gegen  sie."  Ohne  die  Bedeutung  all  der  genannten  Faktoren 
zu  bestreiten,  ist  doch  zu  bemerken,  daß  dieser  Haß  durch  die  un- 
gerechte Beschuldigung  und  das  Nachspionieren  wohl  eine  neue  Nahrung 
erhielt  und  sie  zum  willkommenen  Anlaß  des  Bruches  genommen  wurden, 
daß  aber  jene  feindselige  Regung  weit  tiefer  wurzelt,  gleichwie  der 


74  J.  Sadger. 

Verdruß,    die   Mutter    habe   ihm    etwas    verheimlicht.    Doch    davon 

später. 

Es  blieben  noch  die  beiden  Schwestern  zu  besprechen.  Sie 
sind  unvermählt  geblieben,  haben  ihre  rote  Gesichtsfarbe  verloren  und 
sind  frühzeitig  gealtert,  trotzdem  dies  keineswegs  in  der  Familie  lag. 
Die  ältere  wurde  später  Krankenpflegerin  und  ist  wahrscheinlich 
homosexuell.  Sonst  ist  von  ihr  nichts  Besonderes  zu  sagen. 

Viel  wichtiger  ist  für  unseren  Patienten  die  jüngere  Schwester, 
die  eine  Reihe  pathologischer  Züge  aufweist.  Als  schwersten  Anfälle 
von  Bewußtlosigkeit  gleich  Vater  und  Bruder,    die  sich  seit  ihrem 
U.   Jahre  ganz  regelmäßig  wiederholen,   bei  angestrengter  Tätigkeit 
jede  Woche,  wenn  sie  weniger  arbeitet,  jegliches  Halbjahr.  Sie  dauern 
länger  als  bei  ihrem  Bruder,  oft  V2  Stunde,  bisweilen  geht  eine  Aura 
5  bis  10  Minuten  vorher.  „Im  geologischen  Institut  fand  man  sie  nicht 
selten  am  Boden  liegen  und,  wenn  sie  mit  jemand  geht,  fühlt  sie  es  oft 
kommen  imd  verlangt  eine  Droschke,  rasch  nach  Hause  zu  fahren." 
Krämpfe  und  Verziehen  des  Gesichtes  hat  unser  Patient  an  ihr  nie  ge- 
sehen.  Seit  etwa  zwei  Jahren  wird  sie  zeitweise  „durch  Nervosität" 
fast  blind,  was  sich  dann  wieder  gibt  imd  wohl  eine  Imitation  und 
Identifikation  mit  dem  heißgehebten  Vater  darstellt,    der  auch  stets 
über  schlechtes  Sehen  klagt.  Sie  war  als  Kind  recht   lange  arge  Ex- 
hibitionistin, die  bis  zu  10  Jahren  ganz  nackt  oder  nur  im  Hemdchen 
vor  allen  herumlief.  Als  unser  Patient  4  Jahre  zählte,  sah  er  sie  einmal 
mit  weit  gespreizten  Beinen  auf  dem  Topfe  urinieren.  Damals  erblickte 
er  zum  ersten  Male  das  weibliche  Genitale  an  der  Schwester,  das  ihm 
fortab  als  Muster  diente  für  alle  seine  diesbezüglichen  Vorstellungen 
und  Zeichnungen.    Die  Schwester  hatte  weiter  eine  lebhafte  Analerotik, 
saß  immer  sehr  lange  auf  dem  Kloset  und  drückte  als  Kind  ihre  kotbe- 
schmutzten Finger  an  den  Aborttapeten  ab.  Späterhin  nach  der  Subli- 
mierung  ward  sie  peinlich  sauber  und  verwendete  im  Übermaß  den 
Irrigator.  Früh  zeigte  sie  schon  den  Trotz  und  Eigensinn  des  Anal- 
charakters. „Was  sie  nicht  recht  fand,  tat  sie  nie,  auch  wenn  es  der 
Wunsch  der  Eltern  war.  Eine  Gouvernante  hatte  sie  einmal  wegen  einer 
Sache  bestraft,  die  sie  nicht  begangen.  Darauf  beleidigte  sie  die  Gouver- 
nante und  die  Eltern  verlangten,  sie  solle  sie  um  Verzeihung  bitten, 
wozu  sie  aber  nicht  zu  bringen  war.  Trotzdem  sie  einen  ganzen  Tag 
lang  in  ein  finsteres  Zimmer  eingesperrt  wurde,  erklärte  sie  doch,  sie 
tue  es  nicht,  und  setzte  ihren  Willen  durch.  Seit  meiner  frühesten  Kindheit 
steht  es  mir  vor  Augen,  was  für  einen  starken  und  guten  Charakter 


Ein  Fall  von  multiplei'  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  75 

sie  hat.  Auch  von  anderen  verlangte  sie  immer  ein  starres  Festhalten 
am  Rechte.  Sie  hat  mir  auch  allezeit  nicht  bloß  gepredigt:  ,ein  Mann, 
den  ich  schätzen  soll,  muß  ein  Charakter  sein !',  sondern  hatte  obendrein 
die  Theorie  vom  reinen  Mann,  d.  h.  der  Mann  müsse  völlig  rein  in  die 
Ehe  treten,  genau  wie  das  Weib^). 

In  ihrem  ganzen  Leben  hatte  sie  nur  eine  Puppe,  die  fünf 
Jahre  aushielt  und  zu  der  sie  eine  ganz  besondere  Liebe  hegte.  Sie  nahm 
sie  zu  sich  ins  Bett,  schlief  mit  ihr  und  spielte  mit  ihr  lieber  wie  mit  den 
Geschwistern.  Als  diese  Puppe  in  der  Schwester  10.  Lebensjahre  von 
einem  andern  zerschlagen  wurde,  trauerte  sie  ihr  tief  und  lange  nach 
und  wollte  keine  andere  mehr  haben.  Schon  als  Kind  war  sie  ein  kleines 
Original.  Sie  konnte  niemals  im  Wagen  fahren,  sonst  wurde  sie  krank. 
Ferner  spielte  sie  nicht  wie  andere  kleine  Kinder,  sondern  bloß  mit 
Naturgegenständen,  Steinen,  kleinen  Bäumen  u.  dgl.,  nicht  mit  Puppen. 
In  späteren  Jahren  setzte  sie  es  trotz  großen  Widerstandes  der  Mutter 
durch,  daß  sie  die  Gärtnerei  lernen  durfte  (aus  durchsichtigen  sexuellen 
Gründen^).  Ursprünglich  Lehrerin,  studiert  sie  jetzt  Geologie.  Ich  glaube, 
sie  lebt  überhaupt  nur,  weil  sie  Geologie  studiert,  sonst  wäre  sie  schon 
längst  zusammengebrochen.  Das  Leben  wäre  ihr  wertlos  und  da  hat 
man  keinen  Widerstand.  Daß  sie  Lehrerin  geworden,  ist,  glaube  ich,  nur 
unterdrückte  Liebe  zum  Mann  (sc.  Vater).  Auf  dem  Lehrerinnen- 
seminar fand  sie  übrigens  außerordentlich  viel  Liebe  von  Seiten  ihrer 
Kolleginnen.  Sie  hat  jetzt  auch  etwas  Männliches  im  Gesicht,  mindestens 
ist  es  ganz  und  gar  nicht  weiblich,  auch  abgesehen  von  der  sehr  hohen 
Stirne  und  der  sehr  kräftigen  Nase.  Es  ist  geradezu  verdorben  zu  heißen 
und  besteht  fast  nur  aus  den  ungeheuer  großen  Augen.  Jetzt  bringt 
ihr  dieselbe  homosexuelle  Neigung  und  Bewunderung  meine  Frau 
entgegen,  die  ihr  in  allem  nachzuahmen  trachtet,  was  gar  nicht  selten 


^)  Über  den  analen  Ursprung  dieses  Verlangens  vergleiche  meine  Studie 
„Analerotik  und  Analcharakter". 

^)  Man  denke  an  das  tägliche  Begießen,  an  die  Düngerhaufen,  an  die  aus 
Träumen  und  Hysteriesymptomen  gar  wohl  bekannten  Genitalsymbole  der  ver- 
schiedenen Blumen  und  Gemüsearten.  Zu  beachten  ist  natürlich,  daß  nicht  jeder 
Gärtnerei  eine  sexuelle  Bedeutung  zukommt.  Wer  mit  !•!  Jahren  zu  einem  Gärtner 
in  die  Lehre  eintritt,  macht  dies  nicht  anders  wie  ein  Schuster-  oder  Schneider- 
lehrling.  Ganz  anders  ist  es  selbstredend  zu  werten,  wie  ich  dies  schon  dreimal 
beobachten  konnte,  wenn  ein  candidatus  juris,  ein  Professursaspirant  oder  eine 
Lehrerin  von  unwiderstehlichem  Verlangen  gepackt  -wird,  sich  plötzlich  auf  die 
Gärtnerei  zu  werfen;  da  ließen  sich  immer  verborgene  sexuelle  Motive  aufdecken, 
die  jene  sonst  unbegreifliche  Leidenschaft  genügend  erklärten. 


76  J.  Sadger. 

meine  Eifersucht  weckt.  Früher  habe  ich  sehr  gut  mit  ihr  harmoniert, 
sie  hatte  großen  Einfluß  auf  mich  und  mir  über  vieles  die  Augen  geöffnet. 
Unter  anderm  auch  schon  mit  10  Jahren  über  die  Fehler  der  Mutter, 
die  sie  scheinheilig  hieß,  während  sie  den  Vater  leidenschaftlich  liebte, 
was  sich  periodenweise  steigerte." 

Interessant  ist  endlich,  daß  unser  Patient  mit  24  oder  25  Jahren 
direkt  Inzestgedanken  auf  sie  hatte.  ,,Es  regte  sich  nämlich  in  mir  der 
Gedanke,  ich  würde  ihr  einen  großen  Dienst  erweisen,  wenn  ich  sie 
koitierte,  weil  sie  eine  alte  Jungfer  zu  werden  begann  und  sichtbar 
verblühte  durch  den  Mangel  an  sexuellem  Verkehr.  Ich  wußte,  sie  würde 
nie  einen  Mann  finden,  der  ihr  rein  genug  wäre,  und  dachte,  mir  würde 
es  leichter  gelingen  als  einem  andern,  sie  zum  Koitus  zu  bewegen, 
weil  wir  einander  sehr  innig  liebten.  Ich  zeigte  ihr  einmal  ein  Buch, 
welches  von  der  Geschwisterehe  in  Alexandria  handelte,  und  daß  der 
Autor  meinte,  die  Rasse  werde  durch  sie  keineswegs  degeneriert,  sondern 
nur  die  Eigenschaften  fixiert."  Trotzdem  er  der  Ansicht  ist,  seine 
Schwester  habe  ihn  ganz  gut  verstanden,  sagte  sie  nichts  weiter,  sondern 
machte  ihm  Vorwürfe  über  seinen  Verkehr  mit  Prostituierten  und 
Zirkusdamen.  Sie  hatte  nämlich  damals  bei  einem  Besuche  die  Photo- 
graphie seiner  erstgeliebten  Prostituierten  gefunden.  Da  er  verzweifelte, 
ihre  ethischen  und  religiösen  Skrupel  beseitigen  zu  können,  gab  er  die 
Inzestgedanken  bald  wieder  auf. 

Beim  Studium  der  Urninge  ist  es  üblich,  nach 

homosexuellen  Zügen  in  der  Verwandtschaft 

zu  suchen.  Außerdem  lenkte  ich  beim  Salzburger  Psychoanalitischen 
Kongreß  die  Aufmerksamkeit  auf  die  häufige  Mischung  männ- 
licher und  weiblicher  Züge  bei  den  Allernächststehenden. 
In  unserem  Falle  ließ  sich  außer  dem  schon  bei  den  Schwestern  Er- 
wähnten noch  Folgendes  feststellen:  Der  Kranke  selber,  ein  Mann 
von  32  Jahren  und  182  cm  Höhe,  hat  noch  ausgesprochen  kindliche 
Züge,  dabei  ein  breites  Becken^)  und  ein  fettes  Gesäß.  Vater  und 
Schwester  sagten  immer,  erzählt  Patient,  ,,es  wäre  eine  Verwechslung 
gewesen,  ich  hätte  ein  Mädchen  werden  sollen".  Wenn  ich  mich  z.  B. 
als  Nonne  kleidete,  war  ich  eigentlich  schöner  als  meine  Schwester, 
hatte  eine  feinere  Haut  und  einen  kleineren  Mund  und  im  allgemeinen 
gehörten  die  weiblichen  Züge  mir  zu.   Der  Vater  ist  ausgesprochen 

^)  Deshalb  vermutlich  bewundert  er  an  Kadetten  besonders  das  schmale 
Becken. 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  77 

männlich,  hat  aber  als  Jüngling  und  Offizier  sehr  gerne  gestickt  und 
besorgt  noch  heute  bei  den  Jagden  das  Frühstück.  Von  der  Mutter 
ist  nichts  Besonderes  anzuführen.  Der  Onkel  Archäologe  wurde  schon 
in  der  Jugend  von  den  Brüdern  geneckt,  daß  er  lieber  bei  der  Mutter 
hocke,  statt  zu  jagen  oder  zu  reiten  wie  sie.  Auch  heute  noch  hat  er 
für  diese  Künste  keinen  Sinn,  desto  mehr  für  das  Hauswesen,  so  daß 
er  dem  Großvater  bis  ans  Lebensende  die  Wirtschaft  wie  eine  Hausfrau 
führte.  Von  höchst  sanfter  Gemütsart,  benahm  er  sich  auch  den  be- 
suchenden Kindern  der  Verwandten  gegenüber  wie  eine  Mutter.  Ein 
jüngerer  Bruder  des  Vaters  ist  kokett  im  Äußern,  schnürte  sich  als 
Leutnant  wie  eine  Frau  und  kräuselt  sich  die  Haare.  Ein  Onkel  mütter- 
licherseits ist  Haarfetischist,  die  älteste  Schwester  der  Mutter  hat 
ausgesprochen  männliche  Züge  und  trägt  nur  männlich  geschnittene 
Kleider.  Mehrere  Vettern  und  Cousinen  ersten  bis  dritten  Grades  sind 
homosexuell,  eine  Kousine  des  Vaters  ausgesprochene  Virago.  ,,Sie 
ist  wie  ein  alter  Junggeselle,  hat  auch  nicht  geheiratet,  spielt  mit  Vor- 
liebe männliche  Rollen  im  Schauspiele,  natürlich  auch  in  männlicher 
Kleidung,  und  liebt  es,  in  Gesellschaft  von  sexuellen  Dingen  zu  reden 
und  ältere  Leute  zu  skandalisieren". 

Heterosexuelles. 

Wenn  ich  bislang  fast  nur  die  Homosexualität  besprach,  so  ist 
doch  zu  beachten,  daß  auch  das  Weib  als  Se  :ualobjekt  unserem  Kranken 
nicht  fremd  war  und  beispielsweise,  währ<^.id  er  mit  dem  Kellner  durch- 
zugehen abredete,  er  gleichzeitig  mit  einer  gewesenen  Prostituierten 
in  stetem,  genußvollen  Sexualverkehre  lebte.  Wir  hörten  ferner  von 
seinen  bedeutsamen  heterosexuellen  Regungen  selbst  zu  streng  ver- 
pönten Geschlechtsobjekten,  z.  B.  von  der  Liebe  zur  Mutter,  die  beim 
14  jährigen  heftige  Eifersucht  entflammte,  und  von  Inzestgedanken 
auf  die  Schwester  noch  mit  24  Jahren.  Und  ich  werde  gar  bald  noch 
eine  Reihe  von  Fällen  anführen  können,  da  er  nach  einem  Weibe  ver- 
langte, so  daß  man  trotz  aller  gleichgeschlechtlichen  Velleitäten  den 
Patienten  doch  nur  als  bisexuell  bezeichnen  darf,  wenn  auch,  wie  in 
allen  gleichartigen  Fällen,  mit  vorwaltender  Triebrichtung  aufs  eigene 
Geschlecht. 

Ehe  ich  auf  seinen  Frauentyp  eingehe,  muß  ich  hier  eine  Persön- 
lichkeit nachtragen,  die  für  sein  Leben  von  tief  einschneidender  Be- 
deutung wurde:  das  Kindermädchen  nämlich.  ,,Sie  kam  in  unser  Haus," 
berichtet  Patient,  ,,als  ich  etwa  3  Jahre  zählte,  und  blieb  bis  zu  meinem 


/ö  J.  Sadfifer 


o^ 


17.  Jahre.  Allerdings  sah  ich  sie  zwischen  10  und  17  nur  im  Sommer. 
Sie  war  es,  die  mich  in  meiner  Kindheit  erzog,  und  nicht  die  Mutter. 
Von  meinem  3.  bis  6.  Jahre  schlief  sie  mit  mir  und  meinen  Ge- 
schwistern in  einem  Eaume,  vom  7.  ab  kam  ich  dann  gern  auf  ihr  Zimmer, 
ging  auch  gerne  mit  ihr  spazieren  und  darf  sagen,  daß  ich  sie  wirklich 
liebte.  Zu  meinen  frühesten  Erinnerungen,  vielleicht  schon  mit  3  Jahren, 
gehört,  daß  ich  sie  öfter  mit  Armen  und  Beinen  umschlang  (die  Armie 
um  ihre  Knie),  damit  sie  nicht  fortgehe.  Wahrscheinlich  hatte  ich  Angst, 
allein  zu  bleiben."  Bei  dieser  Umarmung  hatte  er  schon  damals  ein 
Spannungsgefühl  im  Kreuz,  das  uns  später  noch  als  sexuell  begegnen 
wird.  ., Gleichfalls  aus  der  nämlichen  frühen  Zeit  erinnere  ich,  daß  ich 
sie  ebenso  mit  Armen  und  Beinen  zu  umschlingen  pflegte,  wenn  ich 
von  ihr  auf  den  Topf  gesetzt  wurde."  Beide  Reminiszenzen  sprechen 
für  seine  Liebe  zu  ihr.  In  ganz  früher  Kindheit  sah  er  sie  auch  einmal 
ohnmächtig  werden,  als  sie  sich  in  den  Finger  geschnitten  hatte  und 
das  herausfließende  Blut  erschaute.  Endlich  noch  eine  bedeutsame 
Erinnerung  aus  dem  7.  oder  8.  Jahre.  ,, Morgens  gleich  nach  dem  Auf- 
stehen pflegten  wir  Geschwister  so  gebadet  zu  werden,  daß  sie  aus 
einem  großen  Schwämme  Wasser  über  Kopf  und  Körper  ausdrückte 
und  uns  dann  trocken  rieb.  Einmal  nun,  da  ich  aufrecht  stand, 
schwenkte  sie  meinen  Penis  hin  und  her,  was  mich  sehr  zornig  machte. 
Ich  riß  mich  los  und  verbot  es  ihr  streng,  behielt  jedoch  im  übrigen 
die  Sache  für  mich.  Was  sie  dazu  trieb,  weiß  ich  nicht.  Sie  war  vielleicht 
die  einzige  sinnliche  Person  in  meiner  Umgebung.  Als  Landmädchen 
hatte  sie  gesunde,  rote  Backen  und  große,  blaugraue,  sinnliche 
Augen." 

Ich  stellte  auf  dem  Salzburger  Tag  die  Behauptung  auf,  alle 
Invertierten  ohne  Ausnahme  zeigten  einen  sehr  früh  und  stark  auf- 
tretenden Sexualtrieb,  der  sich  vorerst  regelmäßig  nicht  dem  eigenen, 
sondern  dem  andern  Geschlechte  zuwende;  die  homosexuellen  Re- 
gungen seien  überhaupt  erst  ein  späteres  Stadium  und  fänden  die  Er- 
lebnisse mit  dem  andern  Geschlechte  für  die  homosexuellen  Ideale 
Verwertung;  hinter  den  männlichsten  Sexualidealen  jegliches  Urnings 
ließen  sich  ausnahmslos  weibliche  Urgeliebte  nachweisen. 

Wie  liegt  die  Sache  in  unserem  Falle?  Da  tritt  sehr  früh  und  vor 
einer  jeden  urnischen  Regung  die  Liebe  zum  Kindermädchen  auf,  das 
neben  noch  anderen  später  zu  nennenden  Mädchenidealen  sehr  wichtige 
Züge  zum  geliebten  Jünglingstypus  hergibt  und  allerlei  homosexuellen 
Wünschen.  Mit  5  bis  7  Jahren  taten  es  ihm  zwei  Schwestern  an.  Cousinen 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  79 

3.  Grades,  deren  ältere  zwei  Jahre  mehr  zählte  als  er^).  Sie  hatte  gleich- 
falls die  frische  Gesichtsfarbe,  daneben,  was  später  im  Jünglingstypus 
wiederkehrt,  ein  langes,  schmales,  ovales,  aristokratisches  Gesicht, 
Diese  Mädchen  gehörten  zu  den  wenigen  Gefährten,  mit  denen  er  als 
Kind  zu  spielen  in  die  Lage  kam.  Mit  8  Jahren  machten  wieder  zwei 
andere  Schwestern  sehr  starken  Eindruck  auf  sein  Herz,  wunderschöne 
und  allgemein  gefeierte  Cousinen  2.  Grades,  die  ihn  auch  sichtlich 
bevorzugten.  Auch  hier  zählt  die  ältere  zwei  Jahre  mehr  als  er. 
,,Ich  habe  sie  mindestens  stark  bewundert,  wahrscheinlich  aber  auch 
direkt  geliebt.  Ich  mußte  fortwährend  ihr  Aussehen  bewundern.  Ihr 
Gesicht  war  reizend,  blaugraue  bis  schwarze,  sinnliche  Augen,  schön 
geformte  rote  Lippen,  sehr  schmale,  schön  geformte  Augenbrauen. 
Sie  hatte  auch  eine  gewisse  männliche  Art,  genau  wie  ihre  Brüder, 
ja  noch  mehr  als  diese.  Die  sinnlichen  Augen  und  die  rote  Gesichtsfarbe 
des  Jünglingstypus  gehen  zweifellos  auf  sie  und  das  Kindermädchen 
zurück"^).  In  der  ersten  Gymnasialzeit  verliebt  er  sich  im  Hause  des 
Onkels  in  eine  Freundin  von  dessen  Tochter  mit  großer,  gerader,  grie- 
chischer Nase,  welche,  wenn  auch  nicht  regelmäßig,  im  Männert}^pus 
wiederkehrt.  Desgleichen  mit  13,  14  Jahren  in  ein  ebenso  altes  Mädchen 
mit  schwarzem,  wolligem  Haar,  was  die  Ursache  war,  daß  er  später 
in  einen  Jüngling  mit  ebensolchen  Locken  eine  Zeitlang  vergafft  war. 
Bei  all  diesen  Mädchen  handelte  es  sich  stets  nur  um  ganz  Platonisches, 
um  bloßes  Ansehen  und  Bewundern.  Doch  gestand  er  den  Kameraden 
und  seinen  Schwestern,  daß  er  jene  Mädchen  heiß  bewundere.  Dann 
folgt  eine  Pause  bis  zum  18.  Jahre,  wo  er  in  ein  hochadeliges,  doch  ultra- 
demokratisch tuendes  Mädchen  sich  zweifellos  verliebte,  wie  er  mit 
voller  Bestimmtheit  angibt.  Er  träumte  auch  von  ihr  und  findet  sie  noch 
heute  wunderschön.  Sie  hat  zuerst  soziales  Interesse  bei  ihm  geweckt 
und  aus  dem  kurz  vorher,  noch  als  Kadetten,  höchst  Adelsstolzen  einen 
Erzdemokraten  und  -radikalen  gemacht.  Am  bezeichnendsten  aber  ist 
ein  anderer  Punkt.  Als  er  sie  kennen  lernte,  war  sie  mit  einem  Kameraden 
von  ihm,  einem  Mediziner,  verlobt,  der  sie  später  auch  freite.  In  diesen 
verliebte  er  sich  nun  homosexuell  und  er  ist  jetzt  sein  Hausarzt.  Da 


^)  Dieser  Umstand,  der  noch  einmal  wiederkehrt,  weist  wohl  auf  seine 
um  zwei  Jahre  ältere  Schwester  hin,  an  der  er  in  der  Kindheit  und  Jugend  mehr 
hing  wie  an  der  jüngeren.  Er  zwischen  den  beiden  eigenen  Schwestern  ist  zweifellos 
Vorbild  für  diese  und  die  nächste  Verliebtheit. 

2)  PYeilich  werden  wir  für  die  sinnlichen  Augen  noch  ein  anderes  Vorbild 
kennen  lernen,  nämlich  —  ihn  selbst. 


80  J.  Sadffer. 


o'- 


fand  also  wieder  direkt  Übertragung  der  Neigung  statt  vom  geliebten 
Weib  auf  den  geliebten  Mann.  Allerdings  war  damals  schon  die  völlige 
und  definitive  Abkehr  von  der  Mutter  erfolgt.  Es  kamen  dann  noch  zwei 
Liebesaffären  ohne  tiefere  Bedeutung. 

Wie  man  sieht,  ist  die  Liste  der  Mädchenliebschaften  für  einen 
angeblich  Homosexuellen  wirklich  nicht  klein.  Und  was  ich  in  Salzburg 
als  Regel  aufstellte:  das  frühzeitige  intensive  Auftreten  des  Sexualtriebes, 
und  zwar  zunächst  immer  zum  andern  Geschlecht,  daß  ferner  hinter 
der  Liebe  zum  Mann  konstant  die  zu  Frauen  der  Kindheit  stecke, 
deren  Eigenschaften  im  homosexuellen  Ideale  dann  wiederkehren, 
dies  alles  findet  sich  auch  in  diesem  Falle  vollständig  bestätigt. 

Dies  Transskribieren  vom  Weibe  auf  den  Mann  tritt  selbst  in  seiner 
letzten  Zeit  in  einem  Zuge  deutlich  hervor.  Seit  etwa  8  Jahren  hat  er 
einen  Frauentyp,  der  ihn  fesselt.  Es  sind  16-  bis  ISjährige  Mädchen, 
sehr  lebhaft,  nicht  zu  groß  und  dick,  doch  ,,von  blutvollem  Aussehen" 
und  häufig  auch  mit  kleiner  Nase.  Verliebt  hat  er  sich  nun  freilich  nie 
in  ein  solches  Mädchen,  allein  er  spürte  ein  Verlangen  nach  dem  Koitus 
mit  ihr,  was  wohl  hinter  seinem  Literesse  steckte.  Häufiger  nun  als 
Mädchen  sieht  er  Jünglinge  dieses  Typus.  Bald  fesselt  ihn  der  männ- 
liche Typus  mehr,  bald  wieder  der  weibliche.  Auch  an  älteren 
Frauen  findet  er  mitunter  Gefallen,  doch  müssen  sie  dann  weit  jünger 
aussehen.  Seine  Frau  z.  B.  hatte,  als  er  sie  kennen  lernte,  direkt  ein 
kindliches  Aussehen  (also  genau  wie  er  selbst).  Übrigens  studiere  er 
auch  gern  seine  eigenen  Bilder  von  15  bis  25  Jahren^)* 

Ich  muß  hier  noch  ein  Kapitel  einflechten  über 

sein  Verhältnis  zu  den  Prostituierten. 

Als  ich  ihn  das  erste  Mal  danach  fragte,  erzählte  er  mir,  er  habe 
wie  soviele  Schwerbelastete  an  häufigen  Depressionen  gelitten  und  in 
solcher  Zeit  sei  er  ohne  sexuelles  Verlangen  zu  einer  Dirne  gegangen, 
nicht  um  mit  ihr  zu  verkehren,  sondern  bloß  um  mit  ihr  zu  schlafen. 
,,Ich  hatte  einen  Menschen,  mit  dem  ich  sprechen  konnte.  Zu  Kameraden 
kann  man  so  spät  in  der  Nacht  nicht  gehen.  Auch  findet  man  unter  den 
Prostituierten  oft  recht  intelligente.  Ich  war  übrigens  auch  bei 
ihnen  immer  monogam  und  suchte  stets  ein  und  dieselbe  auf. 
Eigentlich  wollte  ich  nur  mein  Herz  ausschütten  und  die  Zeit  tot- 
schlagen; zudem  konnte  ich  auch  nicht  schlafen,  denn  ich  litt  viel  an 

^)  Hier  schlägt  die  Sache  ebenso  wie  bei  der  Frau  direkt  in  den  Narzismus 
um,  wovon  ich  später  handeln  werde. 


Ein  Fall  von  multipler  Perversiou  mit  hysterischen  Absenzcn.  81 

Schlaflosigkeit.  Meist  verkehrte  ich  ja  sexuell  mit  ihnen,  aber  einige 
Male  ging  ich  direkt  nur  hin,  mit  ihnen  in  einem  Bette  zu  schlafen. 
Die  erste,  zu  der  ich  kam,  war  eigentlich  zu  dick  und  alt  für  meinen 
Geschmack  (sie  28,  ich  24),  aber  sie  war  sehr  intelligent  und  sehr  liebens- 
würdig zu  mir,   nicht   bloß   auf  das  Geld  erpicht   wie  andere  Dirnen, 
und  bedauerte  mich  auch.  Später  ging  sie  mit  einem  Varietekünstler 
davon  und  war  seitdem  verschollen."   So  erzählte  er,  wie  gesagt,  das  erste 
Mal  auf  meine  Frage.  In  der  nächsten  Stunde  aber  stellte  sich  heraus, 
daß  er  mir  nicht  die  volle  Wahrheit  gebeichtet  hatte.  Jene  Dirne  war 
nämlich  nicht  seine  erste,  sondern  die  fünfte.  Bis  zum  25.  Jahre  onanierte 
er  regelmäßig.  Doch  war  er  bis  dahin  schon  dreimal  bei  einer  Dirne 
gewesen,  immer  in  Begleitung  eines  Kameraden,  was,  wie  wir  später 
hören  werden,  seinen  bestimmten  Sinn  hat.  Das  erste  Mal,  noch  beim 
Militär,    ging  er  hin,    ohne  verkehren  zu  wollen,    das  zweite  Mal  mit 
19  Jahren  an  der  Universität,  schon  in  der  Absicht  zu  koitieren,  schützte 
sodann  aber  Krankheit  vor,   teils  aus  Furcht,   sich  aus  Unkenntnis 
zu  blamieren,  teils  daß  man  seine  Masturbation  nicht  entdecke.  Das 
dritte  Mal  mit  24  bis  25  Jahren  ging  er  wieder  mit  einem  Kameraden 
zu  einer  Dirne,  eigentlich  um  so  spät  noch  Bier  zu  trinken.  Die  Dirne 
war  aber  sehr  intelligent  und  gefiel  ihm.  Er  legte  sich  zu  ihr,  bekam  aber 
aus  Furcht  keine  Erektion.  Als  er  sie  einige  Wochen  später  wieder  auf- 
suchte, war  sie  verreist.  Er  meint,  das  zweite  Mal  hätte  er  sicherlich 
reüssiert.  Endlich  gelang  ihm  der  Koitus  wirklich  mit  25  Jahren  bei 
der  vierten  Dirne,  einem  jungen,  hübschen,  lächelnden  Mädchen,  das 
er  in  die  Höhe  hob,  ins  Bett  trug  und  sofort  koitierte.  Bei  der  ging  es 
auf  einmal  ganz  von  selbst,  angeblich  weil  er  gar  keinen  Ekel  vor  ihr 
empfand.  Sie  entsprach  bis  auf  die  Augen  seinem  Weibtypus.  Mit  dieser 
verkehrte  er  in  den  nächsten  14  Tagen  jede  oder  jede  zweite  Nacht,  war 
also  mit  einem  Schlage  sehr  potent.  „Das  Leben  begann  mir  sehr  gut  zu 
gefallen,  die  Arbeit  ging  mir  flott  von  der  Hand,  alles  schien  mir  hell  und 
licht."   Da  entdeckte  der  Aizt  plötzlich  einen  tuberkulösen  Spitzenka- 
tarrh an  ihm  und  schickte  ihn  aufs  Land.  Als  er  zurückkehrte,  war  die 
Dirne  weg,  was  ihn  sehr  unglücklich  machte.  Er  bot  alles  auf,  sie  auszu- 
kundschaften, ja  übernahm  sogar  eine  wissenschaftliche  Expedition  nach 
N.,  wo  er  sie  wiederzufinden  hoffte,  doch  ganz  vergebens.  Er  tröstete  sich 
dann  mit  Zirkus,  Variete  und  Masturbation,  allein  es  währte  ein  volles 
Jahr,  bis  er  wieder  zu  Prostituierten  ging.  Damals  begann  auch  seine 
Schlaflosigkeit.  Endlich  suchte  er  doch  eine  Dirne  auf,  um  mit  ihr 
zu  sprechen  und  bei  ihr  zu  schlafen.  Es  war  die  Gebildete,  von  der  er 

Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psychopathol.  Forschungen.     II.  6 


82  J.  Sadger 


o^ 


mir  gleich  zu  Anfang  als  der  ersten  sprach,  während  sie  in  Wahrheit  die 
fünfte  gewesen.  „Obwohl  sie  eigentlich  nicht  meinem  Typus  entsprach, 
so  verstand  sie  doch,  daß  ich  nicht  glücklich  sei,  und  war  gut  gegen 
mich.  Der  Koitus  mit  ihr  ging  ganz  gut,  freihch  nur,  weil  sie,  meinem 
Verlangen  entsprechend,  mich  koitierte,  während  ich  selber  passiv  blieb. 
Sie  mußte  das  Glied  einführen  und  die  nötigen  Bewegungen  machen, 
wenigstens  das  erste  Mal.  Weil  sie  mich  aber  , blasiert*  nannte,  tat  ich 
es  die  folgenden  Male  selber.  Diese  Dirne  benutzte  ich  einen  Monat, 
bis  sie  mit  einem  Varietekünstler  verreiste,  worauf  in  ihre  Wohnung 
eine  andere  Dirne  zog,  die  mir  wegen  ihrer  phänomenalen  Reinheit 
gefiel  und  mit  der  ich  einmal  im  Monate  verkehrte.  Das  Jahr  darauf 
endlich  lernte  ich  meine  jetzige  Frau  kennen." 

Ein  bezeichnend  Detail.  Nach  der  Rückkehr  von  N.,  wo  er  die 
geliebte  Dirne  vergeblich  gesucht,  trachtete  er  die  Inzestgedanken 
auf  die  Schwester  zu  realisieren,  von  denen  ich  oben  gesprochen  habe. 
Und  dieses  Verlangen  schwand  wieder  völlig,  als  er  Nr.  5,  die  intelhgente, 
ältere  Prostituierte  kennen  lernte  (Mutter  für  die  Schwester).  ,, Damals 
hatte  ich  sicher  ein  starkes  Bedürfnis  nach  weiblicher  Gesellschaft, 
der  ich  gänzlich  ermangelte.  Diese  Prostituierte  beruhigte  mich  sehr. 
Wenn  ich  nur  mit  ihr  sprach,  ging  meine  Nervosität  und  Unruhe  ganz 
weg.  Es  war  eigentlich  sehr  schön,  einer  sagen  zu  können,  daß  mir 
alles  so  traurig  schien.  Mir  war  damals  immer  so  traurig  zu  Mute." 

Fassen  wir  das  Vorstehende  zusammen,  so  wünscht  er  zunächst 
immer,  von  einem  Kameraden  zur  Dirne  geführt  zu  werden,  was  später 
als  auf  den  Vater  zurückgehend  erwiesen  werden  wird.  Anfangs  ist 
sein  Verlangen  nur,  neben  der  Dirne  zu  schlafen,  einen  Menschen  zu 
haben,  dem  er  sein  Herz  ausschütten  könne  und  der  ihn  versteht,  ihm 
liebevoll  entgegen  kommt,  bedauert  und  tröstet  und  der  ihn  endlich 
selber  in  die  Geheimnisse  der  Liebe  einführt,  all  das,  wie  ich  bpäter 
ausführen  werde,  von  der  Mutter  auf  die  Dirne  übertragen.  Nur  ein  einzig 
Mal  findet  er  vöüig  Genügen,  da  er  eine  Dirne  in  die  Höhe  hebt,  genau 
wie  er  es  früher  schon  mit  anderen  geliebten  Frauen  tat,  der  Mutter, 
Tante  und  dem  Kindermädchen.  Diese  eine  Dirne  trägt  er  dann  auch 
sofort  ins  Bett  und  bei  der  gelingt  der  Koitus  nicht  nur  zum  ersten  Male 
spielend,  sondern  obendrein  rasch  und  häufig  nacheinander.  Als  er  sie 
verloren,  beut  er  alles  auf,  sie  wiederzufinden,  versucht,  sich  bei  der 
Schwester  zu  entschädigen  und  hilft  sich  endlich  mit  Onanie.  Wenn 
er  für  sein  großes  Liebesbedürfnis  kein  entsprechendes  weibUches  Objekt 
bekommt,  ist  er  tief  deprimiert,  während  er  auf  der  andern  Seite,  da 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  83 

sein  Ideal  sich  vorübergehend  nahezu  erfüllt,  mit  einem  Male  alles 
rosig  und  licht  schaut.  Auch  warum  ihn  immer  just  eine  Dirne  trösten 
muß  und  warum  bloß  diese  sein  sexuelles  Ideal  zu  erfüllen  vermag, 
wird  uns  später  klar  werden. 

Was  nun  endlich  seine  Frau  betrifft,  so  gefiel  sie  ihm  gleich  das 
erste  Mal  sehr  gut.  Sie  war  jung,  von  frischer  Gesichtsfarbe  und  hatte 
sehr  gutmütige  Augen.  „Sie  liebte  mich  schon  als  Dirne",  erzählte  er 
später.   ,, Trotzdem  sie  um  ihres  Wesens  und  Auftretens  willen  sehr 
gefeiert  war  und  ich  ihr  eigentlich  gar  nichts  bieten  konnte,  bevorzugte 
sie  mich  doch,  was  ihr  schon  damals  meine  Dankbarkeit  erwarb.  Ich 
fühlte  mich  immer  wohl  bei  ihr,  mich  fesselte  gleich  beim  ersten  Zu- 
sammentreffen ihr  gutes  Wesen,  ihr  starkes  Rechtsgefühl,  ihre  Liebens- 
würdigkeit, dann  ihre  stille  Natur  und  endlich,  daß  sie  sich  immer 
geschmackvoll  kleidete.  Nachdem  er  ein  halbes  Jahr  mit  ihr  verkehrt 
hatte,  wurde  er  wegen  rezidivierenden  Spitzenkatarrhs  auf  ein  halbes 
Jahr  in  ein  Sanatorium  gesteckt,  wo  er  sich  in  eine  Gymnasiastin  ver- 
liebte, was  freihch  zu  keinen  Weiterungen  führte.  Nach  seiner  Rückkehr 
verkehrte  er  etwa  alle  zwei  bis  drei  Wochen  mit  seiner  jetzigen  Frau. 
1/^  Jahr  später  kam  es  fast  zum  Bruche,  als  er,  einer  momentanen  Laune 
folgend  und  weil  ihm  das  lebhafte  Wesen  der  Dirne  gefiel,  eine  der 
Kameradinnen   seiner   Frau   koitierte.   Es   bedurfte   der   Intervention 
und  der  ganzen  Überredungskunst  eines  Kameraden,  seine  Frau  wieder 
zu  versöhnen,  doch  stellte  sie  die  Bedingung,  er  müsse  sie  von  der 
Polizei  herausnehmen  und  für  sie  bürgen,  was  dann  auch  geschah,  worauf 
er  ihr  auch  eine  eigene  Wohnung  nahm.  Doch  war  er  damals  nicht 
ihr  einziger  Freund  —  dazu  langten  auch  seine  Mittel  nicht  — ,  sie  hatte 
vielmehr    jetzt  drei  solcher  Freunde  statt  der  vielen,   denen   sie  sich 
früher  hingeben  mußte.  Auch  hier  also  wieder  der  alte  Dreibund.  Bald 
aber  wurde  ihm  das  doch  zuwider  und  er  wünschte,  sie  solle  selber 
wählen.  Wenn  sie  einen  der  anderen  mehr  liebe  als  ihn,  wolle  er  zurück- 
treten. Damals  dünkte  ihn  nämlich,  ihr  gefalle  der  zweite,  ein  Kadett 
und  späterer  Offizier,  am  besten  von  den  Dreien.  Die  beiden  spielten 
wie    Kinder    zusammen     und    er    vermeinte,    sie    liebten    einander, 
was  er  nicht  stören  wollte.  Der  wahre  Grund  lag  natürlich  viel  tiefer: 
er  war  in  den  Kadetten  selber  verliebt,  der  in  seinen  späteren  Phan- 
tasien noch  lange  eine  große  Rolle  spielte.     Sooft   er  glaubte,  seine 
Frau    fühle    sich    bei    ihm    nicht    glücklich,    meinte    er,    sie    hätte 
besser  getan,  den    andern   zu    heiraten.    Damals  jedoch  reiste  dieser 
Kadett  bald  gänzlich  weg,  so  daß  er  seine  Frau  allein  gehabt  hätte.  Da 

6* 


84  J.  Sadger. 

kommt  nun  ein  anderer  merkwürdiger  Zug.  Unter  dem  Vorwande, 
er  habe  nicht  Zeit  genug  für  sie,  da  seine  Arbeiten  ihn  allzusehr  in 
Anspruch  nähmen,  veranlaßte  er  sie  selbst,  den  Dreibund  zu  erneuern 
und  sich  noch  einen  Freund  zu  nehmen,  einen  Artillerieleutnant,  der 
sie  auf  ihren  Spaziergängen  begleiten  sollte  —  worauf  er  natürlich 
wieder  eifersüchtig  ward.  Der  Leutnant  jedoch  begnügte  sich  mit  der 
Rolle  des  Kitters  und  Beschützers.  Endlich  entschloß  sich  unser  Patient, 
gemeinsamen  Haushalt  mit  ihr  zu  führen,  ohne  sie  aber  legitim  zu 
freien,  was  dann  die  Konflikte  mit  den  Eltern  setzte,  die  noch  während 
der  Analyse  nicht  zu  Ende  kamen. 

Belastung  und  Sexualität. 

AVir  haben  in  der  Einleitung  von  Zornanfällen  des  Kindes  gehört, 
des  weiteren,  daß  die  Eltern  Neigung  zu  Depressionen  haben.  Der  Patient 
erzählte  mir  nun  gleich  in  der  ersten  Analysenstunde:  ,,Ich  leide  an 
periodischen  Schwermutsanfällen  in  Zwischenräumen  von  1  bis  IV2  Mo- 
naten. Sie  können  schwerer  oder  leichter  sein,  währen  längstens  eine 
Woche,  bisweilen  aber  auch  nur  ein  paar  Tage.  Mitunter  sind  sie  so 
schwach,  daß  die  anderen  sie  gar  nicht  bemerken,  dann  aber  auch  wieder 
so  stark,  daß  ich  überhaupt  nicht  arbeiten  kann.  In  den  schwächeren 
Anfällen  bin  ich  etwas  behindert,  in  den  schwereren  fürchte  ich,  meinen 
Verstand  zu  verheren.  Fällt  finsteres,  nebeliges  Wetter  mit  meiner  Ver- 
stimmung zusammen,  so  macht  es  das  Ganze  noch  viel  schlimmer. 
Meine  Gedanken  stehen  dann  ganz  still,  ich  kann  gar  nichts  tun.  Es 
scheint  mir  ganz  ohne  Grund  zu  kommen.  (Auf  meine  direkte  Frage:) 
Ein  Zusammenhang  mit  meinen  homosexuellen  Neigungen  besteht 
nicht."  Dann  in  einer  späteren  Sitzung:  ,,Ich  kann  aus  ganz  gering- 
fügigen Anlässen  außerordentlich  zornig  werden,  was  vielleicht  mit 
meiner  Homosexuahtät  zusammenhängt.  So  kurz,  ehe  ich  nach  Wien 
kam  und  in  den  Kellner  noch  ganz  verliebt  war,  da  konnte  ich  meine 
Frau  in  der  Früh  absolut  nicht  vertragen.  Sie  schien  mir  immer  auf  dem 
Platze  zu  stehen,  wo  ich  gerade  stehen  wollte,  z.  B.  am  Waschtische, 
wenn  ich  mich  waschen,  oder  im  Badezimmer,  wenn  ich  mich  baden 
wollte." 

Wir  haben  nun  in  der  steten  Neigung  zur  Schwermut,  in  der 
Maßlosigkeit  der  Affekte,  z.  B.  des  Zornes  ,zwei  gut  gekannte'  typische 
Symptome  der  schweren  Belastung.  Bedeutsam  aber  ist,  daß  auch  das 
Angeborene,  die  pathologische  Gehirnanlage,  die  ich  als  ,, Belastung", 
andere  als  ,, Degeneration"  bezeichnen,   in  ihren  Symptomen  wesentlich 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  ^5 

verschlimmert  wird  durch  sexuelle  Faktoren.  Diese  erst  sind  es,  die  oft 
Form  und  Farbe  der  Symptome  bestimmen,  sie  auslösend  sich  ent- 
falten lassen.  Unser  Kranker  z.  B.  bringt  seine  Anfälle  von  Zorn- 
mütigkeit jetzt  mit  der  Homosexualität  in  Verbindung,  die  in  der 
Kindheit  stellten  sich  als  Wutausbrüche  heraus,  weil  er  bei  der  Mutter 
keine  Gegenliebe  gefunden  hatte.  Und  später  begann  er  spontan  zu  er- 
zählen, wenn  er  länger  als  vier  Tage  (sein  gewöhnliches  Intervall  zwischen 
zwei  Sexualakten)  mit  der  Frau  nicht  verkehre,  bekomme  er  regel- 
mäßig Depressionen,  die  nach  einem  Koitus  stets  besser  würden.  Auch 
aus  homosexuellen  Gründen  kamen  solche  Verstimmungszustände 
häufig.  Sobald  er  z.  B.  in  den  letzten  zwei  Jahren  (seiner  Ehezeit)  mit 
dem  geliebten  Vater  gesprochen  hatte,  wurde  es  ihm  stets  sehr  schwer, 
seine  Frau  zu  ertragen.  Ferner  ,,wenn  sie  mir  wehrte,  zu  ihr  zu  kommen, 
weil  sie  z.  B.  ihre  Menstruation  erwartete,  dann  wurden  wir  beide 
immer  nervös  und  es  kam  regelmäßig  zu  Streitigkeiten."  Diese  Ner- 
vosität wurde  immer  leichter,  wenn  er  ein  Weib  koitierte.  ,,Ich  weiß 
schon  seit  Jahren,  daß  ich  gegen  meine  Depressionszustände  zu  einer 
Prostituierten  gehen  muß,  dann  wird  es  besser,  und  dies  selbst  dann, 
wenn  ich  mit  ihr  gar  nicht  verkehrte,  sondern  bloß  mit  ihr  sprach  und 
mich  von  ihr  trösten  ließ",  was  offenbar  Erinnerung  an  die  Mutter  ist 
und  eine  aufgelegte  Wunscherfüllung. 

Weitere  Wurzeln  für  die  Depressionszustände  werden  wir  noch 
in  den  pseudoepileptischen  Anfällen  (gleichfalls  aus  sexuellen  Be- 
dingungen) und  in  der  Onanie  entdecken,  endlich  noch  darin,  daß,  wenn 
er  von  einem  Jüngling  erregt  ist,  er  mit  einem  Weibe  nicht  verkehren 
mag.  Nachdem  ich  ihm  schon  in  der  ersten  Analysenstunde  den  Zu- 
sammenhang zwischen  Homosexualität  und  Depression  aufgedeckt 
hatte,  erzählte  er  mir  schon  am  15.  Tage,  er  sei  jetzt  nicht  mehr  so  oft 
verstimmt  und  die  einzelnen  Depressionen  auch  nicht  mehr  so  arg. 
Er  könne  leichter  arbeiten  und  die  Anfälle  gingen  auch  rascher  vorüber. 
Unzweifelhaft  also  eine  Heilwirkung,  die  sich  späterhin  immer  noch 
mehr  vertiefte  und  nach  den  Regeln  der  Psychonalyse  den  supponierten 
Zusammenhang  untrüglich  erweist. 

Um  meine  Anschauung  noch  einmal  scharf  zu  präzisieren:  es 
herrscht  kein  Zweifel,  im  Gehirne  muß  etwas  Krankhaftes  angeboren 
sein,  was  wir  Belastung  oder  Entartung  heißen,  wenn  es  zu  so  schweren 
Symptomen  kommt,  wie  konstante  Neigung  zu  Depressionen  und 
stete  Maßlosigkeit  der  Affekte.  Das  ist  conditio  sine  qua  non.  Wird  doch 
ein  nur  halbwegs  normaler  Mensch  nicht  gleich  schwermütig,  weil  er 


86  J.  Sadger. 

vier  Tage  bei  keinem  Weibe  war.  Allein  neben  dieser  unerläßlichen 
Disposition,  der  angeborenen  Konstitution,  braucht  es  dann  immer 
noch  einer  Ursache,  die  jene  erst  in  Wirksamkeit  treten  läßt.  Diese 
scheint  mir  recht  häufig  gerade  die  sexuelle  zu  sein.  Um  ein  Beispiel 
aus  der  internen  Medizin  zu  geben:  ein  phthisischer  Habitus  oder  min- 
destens eine  Disposition  ist  unbedingt  nötig,  damit  ein  Mensch  von 
Tuberkulose  befallen  wird  und  sich  der  eingedrungenen  Keime  nicht 
mehr  zu  erwehren  imstande  ist.  Allein  es  kann  auch  der  schönste  Habitus 
zeitlebens  von  der  Phthise  verschont  bleiben,  wenn  der  Kochsche  Ba- 
zillus durch  Abhärtung  des  Körpers  oder  günstige  Umstände  nicht  zur 
Festsetzung  gelangen  kann.  Worauf  ich  besonders  hinweisen  möchte 
und  was  der  Nachprüfung  an  einem  recht  großen  Materiale  harrt,  das 
ist  der  Zusammenhang  zwischen  angeborener  Anlage,  der  Belastung 
also,  und  dem  begünstigend-auslösenden  Faktor  der  Sexualität.  Bisher 
ward  einseitis  stets  nur  das  erstere  Moment  betont.  Mich  will  nach 
meinen  Erfahrvmgen  bedünken,  daß  dem  Sexuellen  zumindest  in  einer 
Reihe  von  Symptomen  die  spezifisch  auslösende  Bedeutung  zukommt, 
zumal  bei  der  Neigung  zu  Depressionen,  vermutlich  aber  auch  bei  maß- 
losen Affekten. 

Nach  dieser  Abschweifung  wollen  wir  wieder  zu  unserem  Kranken 
zurückkehren  und  uns  um  die 

Erziehungseinflüsse 

umsehen,  die  erfahrungsgemäß  bei  jeglichem  Urning  von  ganz  be- 
sonderer Wichtigkeit  sind.  ,,Als  Kind  hatte  ich  gar  keinen  Kameraden", 
erzählt  Patient.  „Einen  solchen  bekam  ich  erst  in  einem  Vetter,  als  ich 
mit  10  Jahren  zu  meinem  Onkel  zog."  Doch  auch  mit  diesem  ent- 
spann sich  kein  dauerndes  Bündnis,  nur  einige  Betätigungen  der 
Analerotik,  so  daß  er  eigentlich  auch  von  10  bLs  15  Jahren  noch  ohne 
Kameraden  blieb.  ,,Ich  war  der  Sohn  eines  Grafen  und  die  Spiel- 
kameraden meiner  Kindheit  Söhne  von  Arbeitern  und  kleinen  Beamten, 
die  mir  deshalb  Respekt  entgegenbrachten.  Später  im  Gymnasium 
erwartete  ich  dasselbe  von  meinen  nunmehrigen  Kameraden,  wurde  aber 
nicht  mehr  so  respektiert.  Es  ist  eigentümlich,  daß  ich  um  diese  Zeit 
so  wenig  Freunde  hatte.  Ich  verkehrte  nur  mit  Cousins  und  Cousinen, 
eventuell  auch  deren  Freundinnen  und  hatte  auch  kein  Bedürfnis 
nach  Kameraden,  wohl  aber  nach  Beschützern,  d.  h.  Kameraden 
aus  älteren  Jahrgängen,  wohinter  sich  ein  gewisses  Begehren  nach 
Macht  barg.  Man  fühlt  sich  auch  so  sicher,  wenn  man  einen  solchen 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  87 

Beschützer  hat."  Dieser  Mangel  an  Kameraden  just  in  den  wichtigsten 
Kinderjahren  war  gewü3  von  einschneidender  Bedeutung  für  ihn  und 
hat  dann  sicher  die  spätere  Reaktion  gefördert,  d.  h.  seine  förmliche 
Kameradschaftssucht.  Ein  stetes  Verlangen,  zusammen  mit  Kameraden 
zu  leben,  durchzieht  von  den  höheren  Gymnasialklassen  ab  sein  ganzes 
Leben  und  bestimmt  sein  Handeln,  ja   selbst  seine  wissenschaftliche 
Tätigkeit  in  ausnehmender  Weise.   Seine  ganze  Kindheit  verlebte  er 
vornehmlich  in  Gesellschaft  von  Weibern,  die  fast  ausschließlich  seine 
Erziehung  leiteten  bis  in  die  höchsten  Gymnasialklassen  hinauf.  Das  erwies 
sich  nach  mehrfacher  Richtung  verhängnisvoll,  zumal  für  die  bei  unserem 
Patienten  so  früh  auftauchende  sexuelle  Neugier,  die  natürlich  von  den 
Frauen  vollständig  mißkannt  ward.  Teils  strebte  ihre  Erziehung  nämlich, 
das  Geschlechtliche  bei  ihm  ganz  zu  unterdrücken,    teils  gab  sie  ihm 
selber  unwissentlich  die  stärkste  Nahrung  aus  dem  weit  verbreiteten 
Vorurteile  heraus,    es  gäbe  für  das  Kind  keine  Sexualität.    Niemand 
sprach  ihm  vor  dem  15.  Jahre  von  Sexuellem,  ja,  es  wurden  etwaige 
Anbohrungen  des  Knaben  absichtlich   überhört  und  abgelehnt.  Erst 
als  er  zwischen  15  und  17  sich  selber  ältere  Kameraden  suchte,  erhielt  er 
von  diesen  geschlechtliche  Aufklärung,  freilich  auch  dann  noch  so  ungenau, 
daß  er  zumal  über  das  Exekutive  ganz  im  Dunkeln  tappte.  Dies  lernte 
er  nicht  eher  als  beim  Militär,  wo  die  Sitte  bestand,  daß  die  Älteren 
die  Jüngeren  zu  Dirnen  mitnahmen.  Im  Gegensatze  zu  dieser  absicht- 
lichen Fernhaltung  vom  Baume  der  Erkenntnis  stand  die  Erziehung 
im  Familienkreise.  Da  hatte  der  Vater  den  Wunsch  ausgesprochen, 
daß  man  gar  keinen  Unterschied  zwischen  den  Kindern  mache.  „Wir 
Geschwister  schliefen  die  längste  Zeit  im  selben  Zimmer,  ja  bis  zu 
meinem  16.   Jahre  badete  ich  sogar  zusammen  mit  den   Schwestern 
und  nach  dem  Bade  legten  wir  uns  alle  drei  in  die  Sonne.  Vater  hielt 
uns  Sommer  und  Winter  zum  Baden  an.  Als  wir  später  Ponies  erhielten, 
ritten  wir  auch  zusammen  und  meine  Schwestern  saßen  ebenso  zu  Pferde 
wie  ich."  Der  Vater  nahm  auch  jeden  Morgen  eine  Art  Bad,  und  zwar 
in  völlig  nacktem  Zustande,  wobei  der  Sohn  bis  zum  7.  Jahre  sich 
regelmäßig  als  Zuschauer  einfand.  Mit  der  gleichen  Unbekümmertheit 
wurden    auch    vor    ihm    die    verschiedenen    körperlichen    Funktionen 
verrichtet.  Nicht  nur,  daß  die  jüngere  Schwester  ihren  exhibitionistischen 
Gelüsten  ganz  unbehindert  fröhnte,  bis  zum  10.  Jahre  ganz  nackt  oder 
nur  im  Hemdchen  vor  den  Geschwistern  herumsprang,  ein  andermal 
wieder  in  unseres  Patienten  4.  Jahre  so  gespreizt  auf  dem  Topfe  saß, 
daß  dieser  ihre  Genitalien  ganz  offen  sah,  sondern  auch  die  Mutter 


88  .  J.  Sadger. 

setzte  sich  ganz  ungeniert  jeglichen  Morgen  im  bloßen  Hemd  vor  dem 
Sohne  auf  den  Topf.  Auch  bei  ihrer  Toilette  war  er  gewöhnlich  anwesend 
und  hatte  Gelegenheit,  stets  ihre  BrustanScätze  zu  schauen,  was  uns 
später  einläßlich  beschäftigen  wird.  Vom  Vater  wäre  nur  noch  zu  ver- 
melden, daß  er  eine  Zeitlang,  so  um  des  Patienten  5.  Jahr  herum,  sich 
viel  mit  seinen  Kindern  befaßte,  sie  überallhin  mitnahm,  ihnen  Sehens- 
würdigkeiten zeigte  und  einmal,  was  sehr  bedeutsam  wurde,  die  C4e- 
schwister  in  den  Zirkus  führte. 

Ehe  ich  dies  Thema  weiter  spinne,  muß  ich  auf  eine  besondere 
Veranlagung  unseres  Patienten  genauer  eingehen,  die  für  seine  ganze 
Entwicklung,  zumal  nach  nach  der  pathologischen  Seite  entscheidend 

geworden:  seine  enorme 

Schaulust. 

,,Mein  ganzes  geistiges  Leben  geht  durch  das  Auge",  erzählt  er 
einmal.  „Schon  als  Kind  las  ich  sehr  ungern,  übrigens  auch  jetzt  noch. 
Ich  las  auch  nicht  so  schnell  wie  andere  Menschen,  kann  aber  dafür 
um  so  mehr  von  Bildern  und  Gegenständen  sehen.  Obwohl  ich  fast  alle 
Weihnachten  Bücher  bekam,  las  ich  solche  nicht  eher,  als  bis  ich  15  Jahre 
alt  war.  Alles,  was  ich  gesehen  habe,  erinnere  ich  sehr  gut,  sonst 
aber  habe  ich  gar  kein  gutes  Gedächtnis.  Ziffern  z.  B.  merke  ich  nur 
mit  größter  Mühe,  selbst  meine  eigene  Telephonnummer  behielt  ich 
erst  nach  Monaten."  Auch  seine  Erinnerungen  sind  fast  ausschließlich 
visueller  Art.  Er  gibt  noch  selber  an,  daß  er  eine  besondere  Geschick- 
lichkeit habe,  alles  zu  sehen,  was  er  nicht  sehen  soll,  offenbar  zurück- 
gehend auf  Sexuelles,  das  er  frühzeitig  verbotenerweise  erblickte. 
Niemand  dürfe  den  mindesten  Toilettenfehler  haben,  ohne  daß  er  dies 
augenblicklich  wahrnehme  und  durch  seine  Miene  aller  Welt  verkünde, 
er  habe  es  bemerkt.  Ich  habe  noch  keinen  Menschen  gefunden,  bei  dem 
das  Auge  eine  so  ausgesprochen  erogene  Zone  war  wie  just  bei  ihm, 
es  ist  direkt  ein  Sexualorgan.  „Wenn  ich  etwas  geschlechtlich  Reizendes 
sehe,  so  spüre  ich  in  den  Augen  geradezu  ein  sexuelles  Gefühl.  Ein  ge- 
spanntes Gefühl  und  den  lebhaften  Wunsch,  es  mit  den  Augen  einzu- 
saugen, meine  Augen  treten  dabei  hervor."  Das  bemerkte  er  bereits 
mit  18  Jahren.  Auf  dieser  enormen  Augenhaftigkeit  fußt  mindestens 
großenteils  auch  seine 

frühzeitige  sexuelle  Neugier, 

die  zweifellos  auf  beide  Geschlechter  sich  richtet,  sowie  noch  andere 
sexuelle  Regungen.  Ich  erwähnte  bereits,  daß  er  mit  4,  5  Jahren  die 


Ein  Fall  voa  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  89 

Genitalien  seiner  Schwester  klaffend  erblickte,  als  diese  breit  auf  dem  Topfe 
saß,  und  daß  ihm  jene  fortab  als  Muster  für  entsprechende  Zeichnungen 
und  Phantasien  dienten.  Doch  der  Knabe  begann  gleichzeitig  über  die 
Verschiedenheit  der  Geschlechter  zu  reflektieren  und  machte  dem  Kinder- 
mädchen darüber  Bemerkungen.  Wir  vernahmen  dann  weiter,  er  habe 
die  Mutter  öfter  auf  dem  Topfe  urinieren  sehen.  Das  geschah  sogar  noch 
mit  14  Jahren,  wenn  er  wegen  Fiebers  im  Schlafzimmer  seiner  Eltern 
lag,  Sie  hieß  ihn  dann  höchstens  sich  abwenden,  was  ihn  aber  nicht 
hinderte,  doch  verstohlen  hinzuschauen.  Auch  hier  begann  er  zu  re- 
flektieren. Zumal  fiel  ihm  auf,  daß  man  beim  Urinieren  der  Weiber 
viel  mehr  höre  als  bei  dem  der  Männer.  Der  Mutter  Niedersetzen  auf  den 
Topf  im  bloßen  Hemde  ahmte  er,  wie  wir  noch  hören  werden,  in  späteren 
hysterischen  Absenzen  nach.  Wenn  sie  ferner  als  echter  Analcharakter 
sich  bei  Kotwetter  die  Röcke  furchtbar  hob,  so  schien  ihm  das  immer 
besonders  lächerlich,  weil  es  ihn,  wie  er  ausdrücklich  bemerkt,  an  die 
Mutter  auf  dem  Topfe  erinnert.  ,,Es  ist  ganz  dasselbe,  als  wenn  sie  sich 
auf  den  Topf  setzte." 

Aber  auch  an  direkt  geschlechtlichen  Regungen  fehlte  es  unserem 
Patienten  nicht.  Ich  sprach  schon  davon,  daß  er  das  Kindermädchen, 
später  auch  die  Mutter,  kräftigst  mit  i\jmen  und  Beinen  umschlang, 
angeblich  um  sie  so  am  Fortgehen  zu  hindern.  Nur  hatte  er  dabei  gleich- 
zeitig eine  Muskelspannung  im  Kreuz,  die  sich  später  als  ausgesprochen 
sexuell  erwies.  Noch  zwei  andere  Zeichen  für  die  geschlechtliche  Natur 
des  Umklammerns.  Als  er  in  späteren  Jahren  erfuhr,  daß  man  beim 
Koitieren  die  Weiber  nicht  mit  den  Beinen  umschlinge,  da  fühlte  er 
sich  mächtig  enttäuscht.  Auch  hatte  er  eine  ganz  merkwürdige  ,, Liebe" 
für  zylindrische  Gegenstände.  Z.  B.  für  einen  großen  zylindrischen  Ofen, 
den  er  häufig  inbrünstig  mit  Armen  und  Beinen  umschlang  (genau  wie 
mit  Kindermädchen  und  Mutter  vorher),  und  dann  mit  12  Jahren  sogar 
loszubrechen  und  aufzuheben  versuchte  (gleichfalls  die  nämliche  Ana- 
logie). Bei  diesem  Umschlingen  wirkt  die  Kraftleistung  und  Spannung  im 
Rücken  nach  den  Worten  des  Kranken  ausgesprochen  sexuell.  Ebenso 
spielte  er  schon  mit  3,  4  Jahren  mit  einem  großen,  zylindrischen  Kissen, 
das  über  die  Betten  der  Eltern  ging  und  das  er  häufig  und  innig  um- 
armte, so  innig,  daß  er  mit  dem  für  sein  Alter  viel  zu  großen  und  schweren 
Kissen  einfach  umfiel.  Endlich  gab  es  noch  eine  zylindrische  Kleiderpuppe 
der  Mutter,  auf  welcher  gewöhnlich  ein  Unterrock  hing.  ,,Auch  diese 
habe  ich  sehr  geliebt,  sie  auch  oft  umarmt  und  dasselbe  Gefühl  gehabt 
wie  beim  Umschlingen  des  Kindermädchens."  Ich  will  hier  ergänzen, 


90  J.  Sadffer 


o^ 


daß  wir  aus  der  Traiimsymbolik  sowie  aus  der  Deutung  hysterischer 
Symptome  längst  bereits  wissen,  daß  jeder  zylindrische  Gegenstand 
den  .Frauenleib  bedeutet.  Endlich  noch  einen  ausgesprochen  hetero- 
sexuellen Zug:  ,,Ich  war  auch  sehr  gern  bei  der  Mutter,  wenn  sie  sich 
anzog,  und  folgte  ihr  wie  ein  Hund",  erzählte  Patient,  ,, ebenso  wenn 
sie  morgens  in  ihr  Kleiderzimmer  ging.  Dabei  waren  ihre  Arme  bloß 
und  auch  der  obere  Teil  der  Brust  frei",  die,  wie  ich  hier  gleich  einfügen 
will,  sein  Interesse  derart  erregte,  daß  er  sie  auf  verschiedene  Weise 
nachahmte.  ,,Wenn  wir  strafweise  in  das  Kleiderzimmer  der  Mutter 
gesperrt  wurden,  so  liebten  wir  es,  um  die  Zeit  totzuschlagen,  uns  durch 
die  ganze  Kleidermasse  durchzudrängen.  Diese  hing  so  niedrig,  daß 
wir  förmlich  durch  sie  hindurchschwimmen  mußten.  Ich  bohrte  mich 
auf  diese  Art  förmlich  in  die  Kleider  der  Mutter  hinein.  Vielleicht  rührt 
daher  zum  Teil  auch  meine  Liebe  zum  Schwimmen  und  daß  es  für  mich 
als  kleines  Kind  ein  Lieblingsspiel  war,  in  dichtes  Gebüsch  hinein- 
zuspringen. Es  handelt  sich  immer  darum,  sich  durch  dichte  Dinge 
hindurchzudrängen.  Wasser  weckte  dann  das  nämliche  Gefühl  wie 
Gebüsch  und  Kleider". 

Neben  diesen  normalgeschlechtlichen  Regungen  fesselten  ihn 
auch  die  Genitalien  des  Mannes  sehr  früh,  vor  allem  des  Vaters,  die 
häufig  zu  sehen  ihm  äußerst  leicht  war.  Jeden  Morgen  nämlich  nahm 
der  Vater  in  einer  niedrigen,  größeren,  runden  Wanne,  die  mit  kaltem 
Wasser  gefüllt  war,  ganz  nackt  ein  Bad  in  solcher  Weise,  daß  er  ,,in 
Affenstellung"  —  auch  dies  wird  bedeutsam  wiederkehren  —  sich  nieder- 
kauerte und  dann  aus  einem  großen  Schwämme  Wasser  über  Brust  und 
Rücken  ausdrückte.  Bis  zum  7.  Jahre  wohnte  unser  Patient  jeden 
Morgen  diesen  Bädern  bei  und  freute  sich,  dem  Vater  zu  zeigen,  daß 
er  so  früh  aufstehe,  und  dessen  Lob  dafür  zu  ernten.  Als  es  später  zum 
Bruch  mit  dem  Vater  kam,  ward  es  ihm  bezeichnenderweise  schwer, 
am  Morgen  aufzustehen,  ,,weil  dies  doch  jetzt  gar  keinen  Sinn  mehr 
hatte".  ,Jch  hatte  ganz  sicher  ein  Interesse,  die  Genitalien  des  Vaters 
zu  sehen,  später  auch  die  des  Onkel  Archäologen,  dem  ich  beim  Baden 
gleichfalls  zuschaute."  Ein  andermal  wneder  berichtet  er,  wie  es  ihn 
verdroß,  wenn  der  Vater  —  in  Dänemark  badet  man  völlig  nackt  — 
beim  Hineingehen  in  das  Schwimmbassin  die  Hände  vor  seine  Geni- 
talien hielt.  ,,Ich  fand  dies  sehr  dumm,  denn  ich  wünschte  sie  zu  schauen, 
und  wenn  er  die  Hand  vorhielt,  sah  ich  zu  wenig.  Ich  konnte  auch 
absolut  nicht  verstehen,  warum  die  Tat  der  Söhne  Noahs  so  schlecht 
sein  sollte,  worin  da  eigentlich  die  Sünde  liege." 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  91 

Die  verbotene  Neugier  auf  die  Genitalien  des  Vaters  ist  auch 
mit  eine  Ursache  der 

Dysuria  psychica, 

an  welcher  Patient  noch  zu  Beginn  der  Analyse  litt.  Sie  trat  schon 
im  10.  Jahre  auf,  dann  später  beim  Militär,  wo  ihn  einmal  die  Ka- 
meraden fragten,  ob  er  vielleicht  Gonorrhoe  akquiriert  habe.  Das 
erste  Mal  mit  10  Jahren  hatte  der  Vater  beobachtet,  daß  er  lange  brauche, 
sein  Wasser  zu  lassen,  als  sie  beide  im  Walde  sich  zum  Urinieren  an- 
stellten, und  ihn  auch  gefragt.  Die  Ursache  war,  daß  er  damals  bereits 
den  Penis  des  Vaters  immerzu  ansah  und  darüber  ans  eigene  Urinieren 
vergaß.  Er  verglich  ihn  mit  seinem  eigenen  und  fahndete  besonders 
auf  Unterschiede  im  Aussehen  der  Vorhaut,  der  Form  und  Größe  der 
beiden  Membra.  Das  hat  er  auch  später  immer  bei  anderen  vergleichen 
müssen,  zumal  das  Verhältnis  zwischen  Eichel  und  Schaft.  Sowie  er 
sich  beobachtet  sieht,  wird  er  immer  ,, nervös"  und  kann  nicht  urinieren, 
in  der  Erinnerung  an  jenes  Ertapptwerden  durch  den  Vater,  als  er 
vor  lauter  eifrigem  Hinschauen  ans  Urinieren  vergaß,  nebenbei  bemerkt 
eine  typische  Wurzel  für  die  Dysuria  psychica^). 

Wenn  der  Knabe  dem  Vater  beim  Baden  zusah,  fiel  ihm  sehr  früh 
auf,  daß  dessen  Hoden  so  herabhingen,  viel  mehr  als  bei  Tieren,  und 
er  gab  sich  dann  selber  die  Erklärung,  bei  den  letzteren  wären  jene 
näher  am  Körper  befestigt,  damit  sie  die  Tiere  im  Laufen  nicht  hin- 
derten. 

Das  Interesse  für  die  Hoden 

ist  bei  unserm  Patienten  ausnehmend  entwickelt.  Daß  sie  ihn  um  so 
viel  mehr  anziehen,  als  etwa  das  Membrum,  erklärt  sich  zu  einem  Teil 
wohl  daraus,  daß  das  letztere  in  nicht  erigiertem  Zustand  bei  Nationen, 
welche  die  Beschneidung  nicht  üben,  hinter  dem  Präputium  fast  völlig 
versteckt  ist,  während  anderseits  die  Hoden  deutlich  hervortreten; 
dann  ferner,  daß  der  Kranke  als  richtiger  Voyeur  die  Kontraktion 
der  väterlichen  Testes  im  kalten  Bade  sehr  rasch  bemerkte.  Unter  den 
Wünschen  auf  den  geliebten  Kellner  lernten  wir  auch  den  befremdenden 
kennen,  ihm  von  hinten  und  unten  an  die  Hoden  zu  greifen.  Als  er  einmal 
der  Säuberung  eines  Knäbleins  zusah,  kam  ihm  ein  plötzlich  erleuch- 
tender Einfall  aus  der  eigenen  Kindheit  —  mit  dem  Griffe  von  hinten 
und  unten  an  die  Testikel  werden  ihn  selber  das  Kindermädchen,  noch 
früher  die  Mutter  gereinigt  haben,  wenn  er  sich  daran  auch  nicht  positiv 

1)  Die  letzten  Wurzeln  für  dieses  Symptom    liegen   freilich    viel    tiefer. 
Darüber  jedoch  ein  andermal. 


92  J'  Sadger. 

erinnert.  ,,Es  ist  mir  auch  gar  nicht  unangenehm,  wenn  man  mich 
fortwährend  an  den  Hoden  streichelt.  Als  ich  mit  25  Jahren  wegen 
Blinddarmentzündung  im  Spitale  lag,  wurde  ich  auch  auf  jene  Weise 
mit  feuchter  Watte  gereinigt,  und  diese  Methode  erschien  mir  außer- 
ordentlich rein,  viel  reinlicher  als  mit  Papier."  Man  sieht  also  deutlich, 
wie  hinter  seinem  homosexuellen  Verlangen  die  Identifizierung  mit 
Mutter  und  Kindermädchen  steckt  sowie  der  Wunsch,  als  Weib  dem 
Geliebten  die  infantile  Befriedigung  zu  gewähren.  Doch  fehlt  es  auch 
nicht  an  einer  auf  den  Mann  bezüglichen  W  urzel.  W  enn  der  Vater  nämlich 
in  hockender  Stellung  sein  kaltes  Bad  nahm  und  die  Hoden  ihm  herunter- 
hingen, verspürte  unser  Kranker  das  Gelüste,  sie  ihm  abzuschneiden, 
also  einen  ausgesprochenen  Kastrationswunsch,  hier  wie  in  allen  ähn- 
lichen Fällen  durch  die  Eifersucht  auf  die  Mutter  bedingt. 

Das  Interesse  für  Penis  und  Testikel  wäre  angeblich  erst  seit  1905 
bei  ihm  aufgetreten,  doch  stellte  sich  gar  bald  heraus,  daß  es  sich  seit 
damals  bloß  stärker  kund  tat.  In  Wirklichkeit  war  es  viel  früher  schon  da, 
vor  allem  bei  dem  seit  dem  11.  Jahre  betriebenen  Turnen  und  später 
beim  Onanieren  vor  dem  Spiegel.  Hatte  er  doch  bereits  als  kleiner 
Knabe  die  Wahrnehmung  gemacht,  wieviel  kleiner  seine  Hoden  und  sein 
Penis  waren  als  die  des  Vaters,  worauf  natürlich  der  Wunsch  entbrannte, 
dem  Vater  auch  hierin  gleich  zu  werden.  Als  er  mit  15  bis  16  Jahren  zu 
masturbieren  begann,  las  er  in  einem  Buche,  der  Onanist  sei  daran  kennt- 
lich, daß  die  Hoden  hängend  und  das  Membrum  im  Verhältnis  zu  ihnen 
allzu  groß  sei,  was  er  dann  sowohl  am  eigenen  Körper  wie  bei  jenen 
Leuten  im  Bade  bestätigt  fand,  die  er  für  Masturbanten  hielt.  Er  hatte 
auch  gelesen,  die  Kinder  von  Onanisten  würden  schwach  —  später 
beschuldigte  er  darum  den  Vater,  der  Masturbation  gefröhnt  zu  haben  — 
woraus  er  in  den  letzten  Jahren  die  Phantasie  entwickelte,  wenn  er 
einmal  einen  Knaben  bekäme,  so  würden  bei  diesem  Penis  und  Hoden 
zusammengewachsen  sein.  Förderung  erhielten  diese  Gedanken  noch 
durch  den  Umstand,  daß  er  von  Haus  aus  ein  sehr  schwächliches  Kind 
war,  bei  dem  die  Testes  natürlich  noch  stärker  herunterhingen.  Und 
seine  verschiedenen  gymnastischen  Übungen  verfolgten,  wie  er  sich 
selber  vorsagte,  hauptsächlich  den  Zweck,  seine  Muskulatur,  zumal  der 
Schultern,  zu  heben  und  zu  stärken,  in  Wahrheit,  wie  aus  einer  zweiten 
Determinierung  hervorgehen  wird,  um  die  Hoden  durch  Kräftigung 
der  Auf  hängemuskeln  minder  hängend  zu  machen.  In  den  letzten  Jahren 
konnte  er  nach  dem  Baden  befriedigt  feststellen,  daß  sein  Penis  und  seine 
Hoden  ganz  natürlich  aussähen  und  keine  Verschiedenheit  mehr  bestünde 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen. 


93 


zwischen  ilim  und  den  anderen,  wie  er  bei  seinen  vergleichenden  Studien 
früher  vermeinte.  Selbstredend  hatte  er  bei  diesen  Beobachtungen  sein 
Augenmerk  auch  darauf  gewandt,  unter  welch enUmständen  sich  die  Hoden 

kontrahierten.   Und  da  glaubte  er  gefunden  zu  haben,  daß  die  spontane 
Kontraktion  der  Testikel  einen  Beweis  der  höchsten  Potenz  darstelle. 
Sie  trete  ein,  wenn  man  Lust  zum  Verkehr  mit  dem  Weibe  habe,  nach 
dem  kalten  Bade  oder  wenn  man  sich  sehr  stark  und  wohl  fühle.  Er  habe 
auch  darum  das  Verlangen,  einem  Manne  an  die  Hoden  zu  greifen  und 
dessen  Kontraktionen  dabei  zu  verspüren,  weil  dies  ein  Beweis  sei, 
daß  der  Mann  für  ihn  etwas  empfinde.  Auch  an  sich  selber  habe  er  es 
versucht  und  da  gefunden,  daß  seine  Testes  sich  nur  nach  dem  Bade 
kontrahierten  oder  wenn  er  mit  einem  Weibe  verkehren  wolle.    Wenn 
er  sich  selbst  an  die  Hoden  greife,  so  wirke  dies  sehr  beruhigend  bei 
starker  sexueller  Erregung,  zumal  wenn  seine  Hände  recht  kalt  seien. 
Auch  beim  Zähnebürsten  lege  er  ganz  automatisch  die  Hand  an  die 
Testes,   angeblich  damit  sie  stille  hielten,  weil  beim  Bürsten  der  ganze 
Körper  in  Bewegung  gerate.  Desgleichen  stütze  er  die  Hoden  bei  Nacht, 
indem  er  sie  in  eine  Falte  seines  Hemdes  lege.  „Dies  alles  rührt  daher," 
gibt  er  einmal  zur  Erklärung  an,  „daß  meine  Hoden  mehr  hängen  als  bei 
Tieren  und  antiken  Statuen  und  ich  den  Wunsch  hatte,  sie  sollten  nicht 
so  hängen.  Als  ich  ferner  zum  Militär  kam,  hat  mir  ein  älterer  Verwandte 
geraten,  ein    Suspensorium  zu   tragen,    was  ich   aber  nicht  aushielt. 
Wohl  aber  erwachte  dadurch  der  Wunsch,  meine  Hoden  zu  stützen." 
Dies  seit  der  Kindheit  brennende  Interesse  für  seine  und  der 
andern  Testikel  verstand  sich  nicht  selten  sehr  gut  zu  verbergen.  So 
verliebte  er  sich  z.  B.  während  der  Analyse  in  einen  Photographen- 
gehilfen, an  dem  ihn  der  lange  und  rückwärts  ganz  schmale  Schädel 
anzog.    Diese    Schädelform   erinnerte   ihn   wieder   an   einen   geliebten 
Museumskameraden,  der  die  meisten  aristokratischen  Züge  zum  Typus 
lieferte.  ,,Bei  der  Frau  ist  der  Übergang  vom  Genick  zum  Hinterkopf 
fast  immer  häßlich.  Nur  bei  der  Cousine,  die  ich  mit  19  Jahren  liebte, 
war  er  auch  so.    Der  Photograph  gemahnte  mich  weiter  an  den  Kellner 
und  diese  schmale  Hinterseite,  das  Genick  mit  seinen  Sehnen  durch 
ihre  Form  —  an  die  Hoden."  Er  liebte  also  einen  Menschen,  der  seine 
Testes  offen  zur  Schau  trug.  Schon  mit  15,  16  Jahren  war  er  in  das 
Genick  eines  Knaben  verliebt,  der  auch  blond  war  und  dieselbe  ari- 
stokratische Form  des  Nackens  hatte,  doch  gelang  es  ihm  nicht,  jenem 
näher  zu  treten.  Noch  wahrscheinlicher  dünkt  ihn,  daß  er  vergrößerte 
Hoden  zu  sehen  wünschte.    Solche  aber  stellen  die  kräftige  Schulter- 


94  J.  Sadger. 

muskulatur  und  die  Wölbung  des  Deltoides  dar,  daher  sein  unablässiges 
Streben,  sie  durch  Gymnastik  kräftiger  zu  machen. 

Doch  auch  in  anderen  Körperpartien  findet  er  vergrößerte  Testes 
wieder.  Er  zeigte  z.  B.  schon  mit  4,  5  Jahren  ein  außerordentliches 
Interesse  für  die  Zulus,  deren  Abbildungen  er  in  einer  englischen  illu- 
strierten Zeitung  beim  Großvater  sah.  Nächst  dem  glänzend  schwarzen 
Körper  fesselten  ihn  ihre  kräftigen  Bewegungen  ,die  mächtige  Muskulatur 
des  Deltoides,  dann  ferner  —  sie  tragen  ja  alle  den  Lendenschurz  —  jenes 
frei  sichtbare  Stück  Gesäß,  das  in  die  Oberschenkelmuskulatur  übergeht, 
endlich  ihr  glattrasierter  Schädel.  Sie  lassen  das  Haar  nämlich  nur 
dort  stehen,  wo  katholische  Priester  die  Tonsur  besitzen.  Solche  glatt- 
rasierte Schädel,  die  er  ähnlich  auch  im  Zirkus  bei  Clowns  und  Pierrots 
entdeckte,  endlich  noch  die  Schädel  von  Totenköpfen,  die  er  immer 
wieder  mit  Vorliebe  zeichnete,  zogen  ihn  ebenso  wie  jenes  Stück  der 
Gesäßmuskulatur  deshalb  so  an,  weil  er  darin  immer  stark  vergrößerte 
Hoden  sah.  Ein  ähnliches  Interesse  für  kräftige  Testes,  auf  das  ich 
später  noch  zurückkommen  werde,  liegt  auch  zum  großen  Teil  seiner 
Liebe  für  Statuen  zugrunde.  Ebenso  hat  er  frühzeitig  die  Hoden  von 
Tieren,  besonders  Pferden  und  Hunden  mit  den  seinen  verglichen 
und  zumal  für  die  mächtigen  Organe  der  ersteren  eine  überaus  große 
Bewunderung  genährt.  Als  er  im  Heeresmuseum  ein  berühmtes  Schlacht- 
roß sah,  konnte  er  das  Verlangen  nicht  unterdrücken,  dessen  Hoden 
mit  den  Fingern  zu  untersuchen,  was  er  denn  auch  tat. 

Die  Kehrseite  der  Schaulust,  mit  dieser  im  Gegensatzpaar  un- 
löslich verbunden,  ist 

der  Exhibitionstrieb, 

d.  h.  das  Verlangen,  sich  nackt  zu  zeigen,  welches  unser  Patient  in  aus- 
gezeichneter Weise  aufwies.  Als  er  mit  4,  5  Jahren  die  Zulus  abgebildet 
sah,  drapierte  er  sich  mit  seinem  Nachthemd  als  ein  solcher  und 
stolzierte  in  der  Nachahmung  eines  Lendenschurzes,  also  fast  nackt, 
vor  Kindermädchen  und  Schwestern  herum.  Dann  spielte  er  auch 
Negerweib,  wie  er  es  gleichfalls  auf  Abbildungen  gesehen,  indem  er 
nach  dem  Baden  das  Leintuch  so  umschlug,  daß  es  oben  nur  bis  zu  den 
Brustwarzen  reichte,  unten  wieder  bis  zu  den  Knien.  Aus  der  frühesten 
Kindeszeit  bis  zum  6.  Jahre  erinnert  er  deutlich,  daß,  wenn  er  nach 
dem  Baden  in  der  Sonne  lag  und  ein  Dampfer  sich  näherte,  er  im  Adams- 
kostüm am  Ufer  herumtanzte.  Im  11.  Jahre  beim  Onkel  begann  er  mit 
einem  gleichaltrigen  Vetter  nackt  am  Trapez  Turnübungen  zu  machen. 
Zuhause  hatte  es  kein  solches  gegeben,  jetzt  aber  beim  Onkel  tat  er 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  95 

es  nicht  anders  als  unbekleidet,  angeblich  weil  er  mit  seinen  schwäch- 
lichen Armen  sich  leichter  nackt  aufziehen  könnte.  Die  Hüllenlosigkeit 
aber  nützte  er  des  weiteren  auch  dazu,  dem  Vetter  seinen  Anus  zu  zeigen, 
womit  er  natürlich  die  Absicht  verband,  dieser  solle  zur  Revanche  ihm 
auch  den  seinen  demonstrieren.  Mit  12,  13  Jahren  hatte  er  immer  den 
Wunsch,  bloß  Trikot  zu  tragen,  also  so  gut  wie  gar  nichts,  was  zum 
Teil  auf  den  Zirkusbesuch  in  der  Kindheit,  teils  darauf  zurückgeht, 
daß  er  schon  als  Knäblein  nackt  herumzustolzieren   pflegte   wie  seine 
Schwester.  Mit  15  Jahren  begann  er  sich  selber  nackt  zu  zeichnen, 
in  allen  möglichen  Stellungen,  wie  er  sich  im  Spiegel  bei  seinen  Turn- 
übungen beobachtet  hatte,  in  der  Regel  mit  erigiertem  Penis.  Als  Er- 
klärung   meint    er,    natürlich    beschönigend:    „Es    interessierte    mich 
immer,  meinen  eigenen  Körper  nackt  zu  zeichnen,  wahrscheinlich  damit 
ich  die  Fehler  wegbringe,  daß  z.  B.  die  Hüften  breiter  waren  als  meine 
Schultern  und  meine  Arme  kraftlos,  während  die  Beine  durch  ver- 
schiedenen Sport  sehr  entwickelt  waren.  Das  Zeichnen  war  mir  ein 
Mittel,  mich  selbst  zu  idealisieren."  Mit  etwa  24  Jahren  begann  er, 
gymnastische  Übungen  vor  dem  Spiegel  zu  treiben,  das  ganze  System 
Lingg,  natürlich  nackt,  um,  wie  er  sich  weismachte,  „zu  sehen,  daß 
er  die  Übungen  korrekt  ausführe".  Neben  dem  Zwecke,  die  Schulter- 
und  Oberarmmuskeln  zu  kräftigen  und  seine  Körperfehler  wegzubringen, 
betrieb  er  die  Gymnastik  noch  mit  dem  Gedanken:  ,, Jemand,  der  mich 
nackt  sähe,  sollte  meinen  Körper  schön  finden.  Den  unmittelbaren  Anlaß 
dazu  bot  ein  homosexueller  Malerkamerad,  mit  dem  ich  häufig  zusammen 
badete  und  in  den  ich  verliebt  war.  Dieser  bemerkte  einmal,  mein  Körper 
wäre  gut  gebaut,  nur  sollten  die  Schultern  ein  wenig  mehr  entwickelt 
sein.  Diese  Freiübungen,  die  ich  noch  jetzt  jeden  Morgen  nackt  vor  dem 
Spiegel  mache,  gehen  auf  den  Besuch  des  Zirkus  zurück.  Damals  war 
es  das  erste  Mal,  daß  ich  trikotgekleidete  Menschen  sah,  also  beinahe 
ganz  nackte  erwachsene  Menschen.  Einer,  ein  älterer  Mann,  lag  unten, 
einige  jüngere  standen  auf  seinen  Füßen.  Das  erinnerte  mich  an  den 
Vater."   ,,In  den  allerletzten  Jahren  pflegte  ich  mich  zu  Hause  im 
Sommer  ganz  nackt  auszuziehen,  unter  dem  Vorwande,  es  wäre  so 
gesund  für  die  Haut.  In  der  Universitätszeit  wieder  wusch  ich  mir  zu 
Mittag  immer  Gesicht  und  Hände,  zog  mich  aber  dazu  stets  völlig  aus." 
Der  Grund  hierfür  war,  daß  gewöhnlich  seine  Kameraden  mit  ihm  kamen, 
vor  denen  er  so  mit  Lust  exhibitionierte,  worauf  sie  gemeinsam  zum 
Essen  gingen. 

Am  sonderbarsten  aber  mutet  sein  akrobatisches  Trapezturnen 


96  J.  Sadger. 

an,   das  er  mit  15  und  16  Jahren  trieb,    wenn  er  sich  abends  vor  dem 
Schlafengehen   splitterfasern ackt    ausgezogen    hatte.    ..Das   war   ganz 
sicher  nur  eine  Art  sexuellen  Turnens,  eine  geschlechtliche  Befriedigung, 
Kraftleistung  zu  sexueller  Erregung.  Ich  geriet  auch  wirklich  in  solche 
und  bekam  Erektionen,   später  wurde  ich  dann  ruhiger.   Wenn  ich 
morgens  darauf  halb  erwachte,  so  kamen  mir  Träume  und  Phantasien 
merkwürdiger  Art.  Ich  hing  z.  B.  am  Reck,  den  Kopf  unten  und  mit 
erigiertem  Penis  und  so  drang  ich  in  das  Weib  ein,  ohne  es  sonst  mit  dem 
Körper  zu  berühren,  was  außerordentlich  schwer  sein  sollte."  Außerdem 
gab  es  da  noch  eine  Reihe  weiterer  stark  sadistisch  und  exhibitionistisch 
gefärbter  Phantasien,  die  zum  Teil  auf  den  Zirkusbesuch,  zum  Teil 
auf  die  Beschreibung  des  Schicksals  eroberter  Städte  im  30jährigen 
Kriege  zurückgingen  und  sich  tiefer  auf  Vater  und  Mutter  und  sein  Ver- 
hältnis zu  ihnen  zurückverfolgen  ließen.  Auf  diese  Punkte,  dann  ferner 
auf  andere  sadistisch-masochistische  Akte,  sowie  endlich  die  Selbst- 
geißelung gehe  ich  nicht  näher  ein,  weil  sie  im  Sexualbilde  des  Kranken 
von  geringem  Belang   sind  und  auch  ihre  Auflösung  in  den  fünf  Mo- 
naten Analyse  nicht  weit  gedieh. 
Mehr  ist  über  seine 

Verliebtheit  in  Statuen 

auszusagen,  über  welche  er  folgende  Angaben  macht:  ,,Mit  13,  14  Jahren 
konnte  ich  Statuen  nie  ansehen,  ohne  eine  wollüstige  Neugier  auf  die 
Hoden  zu  empfinden,  die  bei  ihnen  auch  nicht  hängen."  Mit  24  Jahren 
folgte  die  Verliebtheit  in  ein  hölzernes  Bild  im  Museum.  Damit  man 
nämlich  die  verschiedenen  Uniformen  studieren  könne,  wurden  dort 
Holzfiguren  aufgestellt,  die  mit  ihnen  bekleidet  sind.  In  eine  dieser 
Figuren,  einen  etwa  18jährigen  Kadetten  darstellend,  verliebte  er 
sich  nun.  Ihn  fesselten  besonders  das  rosige  Gesicht  und  die  eng- 
anliegenden Kleider  zumal  an  Achseln  und  Oberarmen.  Noch  früher, 
schon  mit  21  Jahren,  verliebte  er  sich  in  die  Photographie  des  David  von 
Michel  Angelo,  an  welcher  ihn  wieder  die  Muskulatur  der  Arme,  Brust, 
der  Innenseite  der  Oberschenkel  und  des  Knies  reizten.  Die  Musku- 
latur wirke  angeblich  deshalb  so  erogen,  weil  er  die  Männer  den  Weibern 
vorziehe.  Endlich  bekam  er  noch  in  der  Analysenzeit  ein  starkes  se- 
xuelles Verlangen,  als  er  in  einem  Buche  die  Abbildung  einer  antiken 
Statue  sah,  die  einen  etwa  20jährigen  Sieger  in  den  Olympischen 
Spielen  zeigte.  ,,Die  Statue  ist  schwarz  und  blank.  Wahrscheinlich 
erinnerte  mich  das  an  die  Zulus,  denn  die  Bronzefarbe  der  Statue  er- 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.  97 

scheint  auf  der  Abbildung  schwarz  wie  die  Zulus.  Der  starke  Wechsel 
von  Licht  und  Schatten  in  der  Bronze  läßt  die  Muskulatur  stärker  hervor- 
treten, besonders  Schultern  und  Taille.  Einer  der  Gründe,  weshalb  ich 
den  männlichen  Körper  dem  weiblichen  vorziehe,  ist,  daß  er  härtere 
Muskeln  besitzt."  Hier  sei  noch  eine  weitere  Erinnerung  des  Kranken 
eingeflochten:  ,, Als  Kind  spielte  ich  sehr  viel  mit  schwarzen,  hölzernen 
Kugeln,  die  an  den  vier  Ecken  des  Sophas  befestigt  waren.  Sie  staken 
in  kleinen  hölzernen  Zapfen,  die  ihrerseits  wieder  in  Löcher  des  Sofas 
stachen.  Ich  habe  nun  sehr  früh  die  Ähnlichkeit  dieser  Kugeln  mit  der 
weiblichen  Brust  entdeckt,  insbesondere  erinnerten  sie  mich  an  die 
schwarzen  Brüste  der  Kaffernweiber.  Ich  habe  diese  schwarzen  Sofa- 
kugeln an  meine  eigene  Brust  gesetzt  und  mich  so  vor  den  Schwestern 
und  dem  Kindermädchen  produziert  und  es  eine  Brust  genannt^)." 
Es  sei  hier  eingefügt,  daß  nach  meinen  psychoanalytischen  Erfahrungen 
sein  Interesse  für  Hoden,  das  ich  oben  berichtete,  zwar  primär  sein 
könnte,  gemeinhin  jedoch  nur  eine  Verschiebung  von  den  Mammae 
her  darstellt  oder,  noch  spezieller,  von  den  Brüsten  der  Mutter.  Darum 
auch  das  Interesse  für  Muskelwölbungen  an  den  verschiedensten  Körper- 
teilen. Dies  verdeckt  sehr  gut,  daß  hier  nur  Verschiebung  vom  Weibe 
auf  den  Mann  nach  der  Abkehr  von  ersterem  stattgefunden  hat. 

Die  Analerotik. 

Wir  haben  gehört,  daß  unser  Patient  von  Haus  aus  ein  schwäch- 
liches Kind  gewesen.  Dies  geht  wahrscheinlich  auf  einen  langwierigen 
Darmkatarrh  zurück,  der  bis  in  sein  zweites  und  drittes  Jahr  währte 
und  ihn  fast  an  den  Rand  des  Todes  brachte.  Ein  Umstand,  der  seine 
konstitutionelle  Veranlagung  nach  zwei  Richtungen  hin  zu  verstärken 
geeignet  ist.  Er  spornte  zunächst  die  ohnehin  hypertrophische  Analerotik 
durch  fortwährende  Reizung  der  Mastdarmschleimhaut  und  förderte 
zweitens,  wenn  wir  Czerny  glauben^),  das  Belastungssymptom  der  De- 

^)  Von  den  Zulus  rührt  auch  die  „Affenstellung"  her,  die  uns  später  noch 
beschäftigen  wird. 

^)  Nachdem  dieser  Autor  davon  gesprochen,  daß  der  gesunde  Säugling 
stets  heiter  und  froh  ist,  fährt  er  fort:  „Tatsächlich  ernst  sind  und  bleiben  aber 
Säuglinge,  welche  im  ersten  Jahre  krank  sind.  Ernährungsstörungen  selbst  leichterer 
Art  sind  schon  imstande,  ein  vorher  frohes  Kind  ernst  zu  maclien  ...  Ist  ein  Kind 
während  des  ganzen  ersten  Lebensjahres  oder  auch  noch  während  des  zweiten 
fast  ununterbrochen  durch  Ernährungsstörungen  und  Infektionen  in  seinem  Wohl- 
befinden gestört,  was  nicht  so  selten  der  Fall  ist,  so  erlangt  das  Kind  auch  später, 
Jahrbuch  für  psyohoanalyt.  u.  psychopathol.  Forschungen.    II.  7 


98  J.  Sadger. 

pressionsneigung.  Eine  der  frühesten  Erinnerungen  des  Grafen  ist, 
daß  er  ins  Bett  machte,  als  er  bei  Großvater  zu  Besuch  war.  Vielleicht 
bekam  er  infolge  des  anhaltenden  Darmkatarrhs  auch  seinen  Prolapsus 
recti,  den  ihm  zuerst  die  Mutter  reponierte,  was  er  jedoch  selber  bald 
ausführen  lernte^).  ,, Nachher  habe  ich  es  eigentlich  die  gan2;e  Zeit  über 
so  gemacht,  d.  h.  mit  dem  Finger  im  Rektum  hantiert,  auch  wenn  es  nicht 
gerade  notwendig  war.  Ja,  die  Rudimente  sind  noch  heute  da,  indem 
ich  nämlich,  wenn  im  Bette  Winde  abgehen  sollen,  den  Finger  in  den 
Anus  stecke,  damit  es  unhörbar  werde.  Schon  als  kleines  Kind  hatte 
ich  Lustgefühle,  wenn  ich  den  Prolaps  wieder  hineingab.  Hingegen 
genierte  es  mich  später,  mit  5,  6  Jahren  sehr,  wenn  es  einmal  wieder 
die  Mutter  tat,  ja  ich  hatte  geradezu  Abscheu  davor.  Das  hängt  vielleicht 
damit  zusammen,  daß  wir  als  Kinder  solchen  Abscheu  vor  den  Lavements 
hatten,  die  uns  Mutter  sehr  häufig  wegen  der  Spulwürmer  versetzte^). 
Verstärkt  wurde  die  Vorliebe  für  meine  Manipulationen  im  After, 
als  ich  mit  15  Jahren  von  Päderastie  las.  Eigentlich  war  sie  sehr  sym- 
pathisch geschildert,  wie  man  da  mit  einem  Jüngling  zusammen  jage, 
Ausflüge  mache,  gemeinsam  lebe  und  daß  es  für  den  Jüngling  in  vielen 
Fällen  nützlich  sei.  Bald  darauf  sah  ich  dann  auf  Kameen  die  Einführung 
des  Gliedes  in  den  After.  Ich  fühlte  dabei  eine  sexuelle  Erregung  im 
Gehirn.  Das  Ganze  erschien  mir  ausnehmend  interessant.  Ich  habe 
es  an  mir  mit  dem  Finger  nachzuahmen  versucht,  wobei  ich  ein  Wollust- 
gefühl und  Erektionen  bekam.  Ich  weiß  nicht,  ob  es  gleich  zu  Beginn 
war  oder  erst  später,  daß  ich  nach  Einführung  des  Fingers  onanierte. 

selbst  wenn  es  körperlich  alles  einholt,  was  es  durch  die  Krankheit  versäumt  hat, 
doch  nicht  die  gleichen  Charaktereigenschaften  wie  ein  Kind,  welches  dasselbe 
Lebensalter  hindurch  stets  gesund  war.  Es  bleibt  ernst  und  behält  eine  Über- 
empfindlichkeit gegen  viele  kleine  Reize,  durch  welche  sich  gesunde  Kinder  nicht 
ihre  humoristische  Stimmung  verderben  lassen",  Adolf  C  z  e  r  n  y  ,,Der  Arzt  als 
Erzieher  des  Kindes",  Wien  1908,  Deuticke. 

^)  Der  Wiener  Kinderarzt  Dr.  Josef  F  r  i  e  d  j  u  n  g  teilt  mir  mit,  daß 
nach  seinen  Erfahrungen  der  Prolapsus  ani  keine  rein  organische  oder  zufällige 
Erkrankung  sei,  sondern  wahrscheinUch  auf  analerotischen  Bewegungen  beruhe 
und  ein  gut  Teil  aktiven  Mittuns  des  Kindes  zur  Voraussetzung  habe.  Auch  T  h  i  e- 
m  i  c  h  machte  aufmerksam,  daß  Analprolapsus  häufig  eine  monosymptomatische 
Form  der  Kinderhysterie  sei. 

2)  Der  wahre  Hauptgrund  ist  natürlich  die  Reaktion,  die  Sexualverdrängung. 
Der  ,, Abscheu"  ist  die  Sühne  für  die  ehemals  empfundene  besondere  Lust,  als  die 
Mutter  den  Prolaps  reponierte.  Unterstützt  wurde  dieser  Abscheu  noch  durch  die 
Ungeschicklichkeit  der  Mutter  bei  der  Reposition,  die  ihrerseits  wieder  eine  Reak- 
tion auf  eigene  unterdrückte  Analerotik  war. 


Ein  Fall  von  multipler  Ferversion  mit  hysterisclien  Absenzen.  99 

Onanie  und  Päderastie  waren  nicht  immer  verbunden.  Ich  übte  auch 
bloße  Masturbation,  doch  wenn  ich  Päderastie  getrieben  hatte,  onanierte 
ich  danach  immer.  Das  erstere  tat  ich  etwa  zweimal  wöchentlich,  die 
Verbindung  beider,  v/elche  mir  den  größten  Reiz  gewährte,  etwa  zweimal 
in  drei  Wochen.  Mit  20  Jahren  oder  noch  später  dünkte  es  mich,  daß 
sich  infolge  der  Päderastie  meine  Nerven  beruhigten.  Wenn  ich  bloß 
masturbiert  hatte,  währte  der  Trieb  zum  Weibe  fort,  nach  der  Päderastie 
konnte  ich  eine  Woche  oder  länger  auf  das  Weib  verzichten." 

Es  ist  völlig  unmöglich,  seine  wenig  anmutende  Analerotik  in  solcher 
Vollständigkeit  wiederzugeben  wie  die  anderen  Äußerungen  seiner 
Sexualität.  Ist  sie  doch  sein  stärkst  entwickelter  Teiltrieb,  der  weitaus 
den  größten  Platz  beanspruchte.  Wollte  ich  alles  erschöpfend  erzählen, 
was  in  der  Analyse  vorgebracht  wurde,  so  brauchte  ich  mindestens 
ebensoviel  Raum,  als  ich  schon  beschrieb,  und  der  Leser  würde  zweifel- 
los in  die  Flucht  gejagt.  So  will  ich  denn  nur  die  Hauptpunkte  anführen 
und  gleich  vorausschicken,  daß  es  keine  Beschäftigung  mit  dem  Anus, 
Stuhl  und  den  Darmgasen  gibt,  die  der  Graf  nicht  auch  schon  aus- 
probiert hätte.  Ich  vermute,  daß  diese  Analerotik  in  einzelnen  Sym- 
ptomen bis  auf  die  Säuglingszeit  zurückgeht,  wenn  sie  auch  Patient 
zusammenhängend  erst  vom  5.  Lebensjahre  ab  entsinnt.  In  diesem 
Alter,  wahrscheinlich  aber  noch  aus  früherer  Zeit,  erinnert  er  aus- 
gesprochene Koprophagie.  Wenn  er  nämlich  beim  Abwischen  Kot- 
reste auf  den  Finger  bekam,  pflegte  er  sie  nachher  abzuschlecken.  Später, 
um  14  Jahre  herum,  folgte  eine  Periode,  da  er  alles  und  jedes  in  kleinsten 
Teilchen  zu  kosten  unternahm,  wobei  er  auch  Exkremente  nicht  ver- 
schonte. Dann  spielte  er  mindestens  als  5  jähriger  Knabe  schon  im  Garten 
mit  Lehm,  dem  er  mit  den  Händen  die  Form  von  menschlichen  Kot- 
klumpen gab.  Als  der  Gärtner  den  Lehmboden  mit  Sand  bestreute, 
war  er  lange  unglücklich.  Zwischen  5  und  7  Jahren  interessierten  ihn 
die  verschiedenen  Arten  von  Tierkot,  worauf  ihn  übrigens  sein  Vater, 
ein  passionierter  Jäger,  stets  aufmerksam  machte.  Auch  schmeckten 
ihm  kotähnliche  Bäckereien  besser  als  andere  und  pflegte  er  lange 
Zeit  Speisen,  die  besonders  gemundet  hatten,  hinterdrein  nochmals 
heraufzuwürgen,  was  er  bezeichnend  ,, Koterbrechen"  hieß. 

Ich  habe  schon  früher  davon  erzählt,  wie  lang  seine  Mutter  ihn 
von  der  analen  Selbständigkeit  abhielt,  so  daß,  als  z.  B.  mit  4,  5  Jahren 
seine  gleichaltrigen  Vettern  zu  Besuche  kamen,  diese  längst  schon 
gewöhnt  waren,  allein  hinauszugehen,  während  er  noch  immer  auf  den 
Topf  gesetzt  wurde.  Weitere  Verzögerung  setzte  eine  äußerst  unzweck- 


100  J.  Sadger. 

mäßige  Art  seiner  Oberhosen,  die  es  ihm  schwer  machte,  sie  allein  zu 
öffnen.  Drum  brauchte  er  lange  sowohl  beim  Stuhlgang  wie  Urinieren 
noch  von  anderen  Hilfe,  Mutter  oder  Kindermädchen,  was  um  so  be- 
deutsamer war,  als  er  beide  Verrichtungen  „direkt  intressant"  fand  und 
beide  ihm  besondere  Lust  gewährten.  Auch  als  Erwachsener  leistete 
er,  als  große  Stuhlmassen  abgegangen  waren,  sich  einst  den  Ausspruch: 
„Das  ist  so  schön,  als  wenn  man  von  einem  Kinde  befreit  worden  wäre !" 
Ich  will  noch  anfügen,  daß  ihm  in  verhältnismäßig  später  Kinderzeit 
noch  einzelne  Male  Menschliches  passierte. 

Frühzeitig  begann  er,  auf  den  Austritt  der  Fäzes  genau  zu  achten 
und  nach  den  verschiedenen  Gefühlen  im  Anus  Konsistenz  und  Farbe 
der  kommenden  Massen  zu  diagnostizieren.  Seit  dem  15.  Jahre  pflegte 
er  im  Klosett  den  Abgang  im  Spiegel  zu  kontrollieren,  wobei  ihm  das 
Herauspressen  der  Rektumschleimhaut  bei  starkem  Drücken  sowie 
das  nachfolgende  Zurückgehen  derselben  besonders  interessierte  und  ihn 
auch  ganz  an  Pferde  gemahnte.  Noch  früher,  bereits  mit  12  Jahren, 
liebte  er  Glaskugeln  in  den  After  zu  stecken  und  wieder  auszudrücken. 
Vorbild  hierzu  waren  wohl  die  nicht  seltenen  Temperaturmessungen, 
welche  die  Mutter  bei  ihm  als  Kind  stets  in  ano  vornahm,  noch  früher 
sodann  das  Auspressen  seiner  Rektumschleimhaut  in  den  ersten  Jahren, 
das  zum  Prolapse  führte. 

Ein  großes  Interesse  besaßen  für  ihn  schon  als  kleines  Kind  lange 
Gummirohre,  besonders  weil  man  aus  ihrer  Verwendung  ein  Geheimnis 
machte.  Ein  solches  hatte  die  Mutter  z.  B.  als  Spülapparat  für  ihre 
Vagina,  ein  zweites  der  Vater  für  seine  Lavements.  Als  nun  dem 
15 jährigen  Grafen  ein  langes  Gummirohr  mit  Ballon  geschenkt  ward, 
das  früher  als  Läuteapparat  gedient  hatte,  hub  er  nun  an,  sich  selber 
zum  Vergnügen  Lavements  zu  machen.  ,,Sie  erinnerten  mich  an  meine 
Lavements  in  frühester  Kindheit,  waren  aber  viel  angenehmer,  weil  ich  sie 
jetzt  selber  dirigierte.  Eine  Zeitlang  machte  ich  sie  jeden  Abend,  dann 
etwas  seltener,  als  ich  zu  masturbieren  begann.  Auch  in  den  letzten  Jahren 
war  es  mir  noch  angenehm,  mir  Lavements  zu  machen,  wenn  dies  auch 
nur  mehr  sporadisch  vorkam.  Auch  bevor  ich  Selbstpäderastie  ausführte, 
reinigte  ich  mir  zunächst  den  Mastdarm  durch  Wasserspülung,  dann 
erst  steckte  ich  den  Finger  hinein.  Das  trieb  ich  immerhin  jeden  zweiten 
oder  jeden  Monat  einmal.  Ich  glaube,  ich  versuchte  auch  einmal,  den 
Mastdarm  wieder  herauszubekommen  wie  in  der  Kindheit.  Ich  habe 
mir  den  Bauch  gepreßt  und  dabei  den  Finger  gegen  den  After  gedrückt, 
doch  gelang  es  mir  nicht.  Ob  ich  da  nicht  zu  reproduzieren  versuchte, 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        101 

wie  Pferde  defäzieren  und  dabei  der  Mastdarm  herauskommt,  was  ich 
bei  unseren  Ausfahrten  häufig  sah,  wenn  ich  beim  Kutscher  oben  am 
Bock  saß?" 

Zum  Schlüsse  noch  eine  merkwürdige  Beziehung.  Wenn  er  jetzt 
verstopft  ist  oder  nur  mit  Schwierigkeit  Stuhl  bekommt,  ist  er  verstimmt. 
Andererseits  hat  er  noch  gegenwärtig  einen  gewissen  Genuß  beim 
Stuhlabsetzen,  doch  bloß  wenn  eine  große  Masse  leicht  abgegangen. 
Früh  wartet  er  schon  ängstlich  auf  die  Entleerung  ganz  wie  die  Mutter. 
Bleibt  jene  aus,  so  fühlt  er  sich  den  ganzen  Tag  irritiert  und  muß  dann 
nachmittags  oder  abends  gehen,  soll  er  am  nächsten  Morgen  nicht 
Erektionen  bekommen.  Diese  Reizbarkeit  hat  infantile  Wurzeln. 
Zunächst  identifiziert  sich  Patient  mit  der  Mutter,  die  er  früher  so  heiß 
und  innig  geliebt.  Ferner  hatte  der  Vater  ihn  schon  von  seinem  7.  Lebens- 
jahre ab  stets  angehalten,  zu  einer  bestimmten  Stunde  hinauszugehen, 
,,dann"komme'es  von  selber".  Als  er  aber  mit  14  Jahren  dies  Geschäft 
auf  den  Abend  verlegen  wollte,  riet  ihm  der  Vater  davon  ab,  viel  besser 
sei  es  am  Morgen  zu  gehen.  Nun  war  er  dazumal  in  den  Vater  verliebt 
und  dessen  Worte  darum  autoritär.  Und  wenn  er  noch  jetzt  tagsüber 
irritiert  ist,  da  er  frühmorgens  nicht  zu  Stuhle  ging,  so  deshalb,  weil  er 
damit  das  Gebot  des  Vaters  übertrat. 
i.   Ig  Es  ist  uns  bisher  schon  zweimal  die 

Masturbation 

begegnet,  bei  der  Selbstpäderastie  wie  bei  den  Vorwürfen  gegen  seine 
Mutter.  Die  letztere  hatte  ihn  mit  12, 13  Jahren,  wie  ich  oben  erzählte, 
fälschlich  jenes  Lasters  bezichtigt.  Doch  hatte  er  tatsächlich  beim 
Seilklettern  ,,ein  eigentümliches  Gefühl"  verspürt,  ,,eine  Art  von 
Spasmus",  wie  später  bei  der  Ejakulation,  doch  ohne  jedweden  Samen- 
erguß. ,,Es  war  ein  kleines,  krampfhaftes  Gefühl,  ich  glaube  in  der 
Prostata  zwischen  Mastdarm  und  Glied."  Dies  Gefühl  nun  stellte  sich 
alle  fünf  Wochen  regelmäßig  ein,  wenn  im  Turnen  das  Klettern  an  die 
Reihe  kam.  Dann  aber  folgten  andere  Turnübungen  und  damit  eine 
Pause  von  1  bis  2  Jahren  ohne  jede  Reizvmg.  Mit  15  Jahren  sagte  ihm 
ein  Kamerad,  wenn  man  so  alt  wäre,  sollte  man  Erektionen  haben. 
Weil  nun  diese  nicht  von  selber  auftraten,  zog  er  das  Präputium 
auf  und  ab  und  war  sehr  erstaunt,  als  plötzlich  ein  Samenerguß  sich  ein- 
stellte. Auf  diese  Methode  kam  er  dadurch,  daß  ihm  ein  Kamerad 
schon  früher  gesagt  hatte,  da  vom  Koitus  die  Rede,  das  könne  man  auch 
mit  der  Hand  besorgen,  doch  sei  es  ungesund.   Jene  einmalige  Ma- 


102  J.   Sadaer 


ö 


sturbation  steht  ganz  isoliert.  Erst  mit  16  Jahren  begann  er  regelmäßig 
zu  onanieren,  und  zwar  jede  Woche  nach  dem  warmen  Bade.  Im  16. 
und  17.  Jahre  überhaupt  nur  nach  diesem,  also  bloß  einmal  wöchentlich, 
weil  er  immer  Erektionen  bekam,  sobald  er  das  Glied  im  warmen  Bade 
mit  Seife  wusch.  Erst  gegen  Ende  des  17.  Jahres  begann  er  das  Laster 
häufiger  zu  treiben,  dazu  bald  außer  der  Hand  noch  einen  Schwamm 
benutzend.  ,,Mir  scheint,"  gibt  er  zur  Erklärung  an,  ,,der  Schwamm 
gleicht  mehr  dem  Genitale  eines  Weibes."  Doch  auch  wenn  er  abends 
bei  einer  Dirne  gewesen,  pflegte  er  am  Morgen  des  folgenden  Tages 
mit  dem  Schwämme  zu  masturbieren.  ,, Vielleicht  war  mir  auch  der 
Schwamm  ein  reines  Weib,  Am  Tage  nach  dem  Koitus  erscheint  mir 
das  Weib  ganz  unausstehlich,  das  ist  auch  jetzt  noch  bei  meiner  Frau 
nicht  selten  der  Fall.  Da  scheint  sie  mir  alle  Schwächen  eines  Weibes 
zu  haben,  nicht  konsequent  zu  sein,  nur  an  Kleider  zu  denken  usw." 
Außer  mit  dem  Schwämme  begann  er  auch  mit  einem  Gummiring  zu 
masturbieren,  beide  wie  ein  weibliches  Genitale  brauchend.  Später 
jedoch,  um  das  20.  Jahr,  kehrte  er  wieder  zur  Handonanie  zurück 
(neben  dem  Schwammkoitus),  und  zwar  so,  daß  er  mit  beiden  Händen 
eine  Röhre  bildete,  in  welche  hinein  er  masturbierte. 

Um  diese  Zeit  hub  er  auch  vor  dem  Spiegel  zu  onanieren  an  oder 
eigentlich  vor  zweien,  um  alle  Körperbewegungen  beobachten  zu  können. 
Ihm  genügte  nicht,  die  Vorderseite  anzusehen,  er  wollte  sämtliche 
Körperbewegungen  von  allen  Seiten  schauen,  besonders  auch  von 
rückwärts.  Interessierte  ihn  neben  dem  Membrum  ja  doch  am  meisten 
das  Muskelspiel  des  Gesäßes.  Er  machte  nämlich  bei  dieser  Onanie 
die  gleichen  Bewegungen  wie  beim  Geschlechtsakt,"  indem  er  das  Mem- 
brum zwischen  den  beiden  Händen  fixierte,  während  sein  Körper  alle 
Zuckungen  eines  Koitus  ausführte.  Das  bloße  Auf-  und  Abziehen  übte 
er  nur,  um  rasch  fertig  zu  werden,  oder  wenn  ihm  die  Onanie  gar  zu 
abscheulich  schien  infolge  von  allzugroßem  Reiz.  Ebenso  im  Anfange 
der  Masturbation,  als  er  vom  Geschlechtsakte  noch  nichts  wußte. 
Doch  begann  er  mit  der  Koitusonanie  schon  in  der  letzten  Gymnasial- 
klasse, als  er  vernahm,  wie  der  Beischlaf  geübt  werde.  Er  hatte  auch 
gehört,  daß  die  weiblichen  Geschlechtsteile  wie  ein  Rohr  aussähen  — 
dies  wußte  er  von  der  Anatomie  —  worauf  er  mit  dem  Gummirohr 
zu  koitieren  begann. 

Wie  alle  Masturbanten,  hatte  auch  der  Graf  auf  der  einen  Seite 
Furcht,  seine  Onanie  zu  verraten,  auf  der  andern  Scheu  vor  ihren 
Folgen.   ,,Es  steckt  da  vielleicht  ein  wenig  von  der  kindlichen  Ver- 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        103 

achtung  der  Gymnasialkollegen  in  mir,  mit  der  sie  auf  den  Masturbanten 
herabsahen.  Zwei  meiner  besten  Freunde  erzählten  mir,  man  erkenne 
den  Onanisten  an  der  blassen  Gesichtsfarbe.  Sie  nahmen  einen  solchen 
auch  nicht  als  vollwertig,  was  man  in  diesen  Jahren  am  schmerzlichsten 
empfindet.  Die  ganze  Zeit  her,  von  jenen  Schuljahren  bis  zum  heutigen 
Tage,  habe  ich  gefürchtet,  man  könne  mir  die  Masturbation  absehen, 
zumal  ich  sie  neben  den  Manipulationen  am  After  bis  in  die  jüngste 
Zeit  hinauf  trieb,  und  war  auch  bestrebt,  von  Gesprächen  über  Onanie 
stets  abzulenken,  um  mich  nicht  zu  verraten."  Von  den  Folgen  lang- 
jähriger Masturbation  hatte  er  teils  richtige,  teils  absurde  Vorstellungen. 
Die  Onanisten  besäßen  hängende  Hoden  und  ein  im  Verhältnis  zu 
großes  Glied;  sie  schwitzten  sehr  leicht,  ihre  Kinder  seien  schwach 
und  durch  ein  verbildetes  Genitale  gebrandmarkt,  d.  h.  Testes  und 
Membrum  zusammengewachsen.  Endlich  studierte  er  von  16.  Jahre 
ab  sich  immer  im  Spiegel,  ob  er  Masturbationsveränderungen  zeige, 
um  diese  dann  besser  verbergen  zu  können. 

,,Je  älter  ich  wurde,  desto  mehr  erschien  mir  die  Onanie  als 
Priapuskult.  Wahrscheinlich  wurde  ich  da  beeinflußt  von  den  Kameen 
und  dem  belgischen  Maler 

F6licien  Rops. 

Mich  interessierte  bei  diesem,  daß  er  das  Glied  wie  ein  selbständiges 
Wesen,  genauer:  wie  ein  lebendes  Tier  darstellte.  Er  zeichnet  ihn  sehr 
häufig  als  Schlange,  die  sich  um  den  Körper  schlingt,  was  ich  nicht  nur 
nachzeichnete,  sondern  auch  in  Wachs  und  Lehm  modellierte.  Ehe 
ich  Rops  kennen  lernte,  hatte  ich  einmal  einen  Penis  gezeichnet,  von 
dem  meine  Kameraden  sagten,  ich  müsse  ihn  schöner  machen.  ,Vielleicht 
hast  du  ihn  nach  deinem  eigenen  Modell  gezeichnet.'  Drum  glaubte 
ich,  er  sei  nicht  normal,  nicht  so  lang  und  groß  wie  der  von  anderen." 
Ich  darf  hier  einfügen,  daß  ihn  wohl  just  dieser  schwer  empfundene 
Mangel  zu  Rops  hinführte,  der  ja  das  übergroße  Membrum  verherrlicht. 
„Rops  zeichnet  ja  auch  Menschen  mit  einem  schlangenartigen  Penis, 
der  sich  um  den  Körper  dreht,  in  der  Luft  wie  eine  Schlange  bewegt, 
erhebt  und  emporrichtet,  er  hat  dem  Penis  ganz  die  angriffsmäßige 
Stellung  gegeben.  Vielleicht  hatte  ich  auch  den  Wunsch,  mit  so  einem 
schlangenartigen  Penis  mich  selbst  zu  päderastieren.  Wenigstens  zeichnete 
ich  mit  25  Jahren  einen  Mann,  mit  so  schlangenartig  erigiertem  Glied. 
Zuerst  ging  er  über  den  Arm,  dann  längs  des  Rückens,  aber  noch 
in  der  Luft,  bis  er  schließlich  in  den  After  eindrang.  Rops  hat  mich 


104  J.  Sadger. 

deshalb  so  gefesselt,  weil  mir  vorkam,  er  drückt  das  Erotische,  was  die 
Menschen  imd  mich  im  Speziellen  plagte,  so  gut  aus,  daß  das  Erotische 
nämlich  ein  Leiden  sei.  All  seine  Menschen  und  Figuren  tragen  einen 
Leidenszug  im  Gesicht.  Das  stete  Geschlechtsverlangen  plagte  mich 
riesig,  besonders  in  der  letzten  Zeit,  ehe  ich  mit  dem  Weibe  zu  ver- 
kehren begann,  so  daß  ich  sogar  schon  daran  dachte,  mich  kastrieren 
zu  lassen,  bis  ich  hörte,  daß  auch  dies  nichts  helfe.  Ich  litt  besonders 
unter  erotischen  Phantasien.  Sowohl  Kameen  als  Ropsbilder  drehten 
sich  weniger  um  den  Koitus,  als  um  Bilder  vom  Penis.  Ich  hatte  immer 
Phantasien  von  riesenhaften,  schlangenartigen  Membris,  die  mir  gar 
keine  Ruhe  gaben,  mich  in  der  Arbeit  mid  im  Schlafe  störten.  Wenn 
ich  in  diesen  Phantasien  so  einen  Penis  sah,  habe  ich  an  meinen  eigenen 
gedacht,  ihn  angeschaut  und  dabei  kam  es  am  häufigsten  zur  Mastur- 
bation. Ich  hatte  natürlich  dabei  auch  den  Wunsch,  mein  Membrum 
solle  so  groß  werden.  Seitdem  ich  regelmäßig  mit  Weibern  zu  verkehren 
begann,  wurde  es  viel  besser.  Aber  wenn  ich  jetzt  meine  Morgenerektionen 
bekomme,  kehrt  auch  die  alte  Plage  wieder  und  damit  die  alten  Phan- 
tasien." Ich  weiß  von  anderen  Psychoanalysen,  daß  jenes  ungeheure 
Membrum,  welches  unser  Graf  sich  so  sehr  ersehnte  und  Rops  bildlich 
darstellte,  nichts  anderes  ist  als  das  Glied  des  Vaters,  welches  dem 
Kinde  stets  so  groß  erscheint  im  Verhältnisse  zum  eigenen,  noch  unent- 
wickelten. Heißt  doch  der  stete  W^unsch  jedes  Knaben,  groß  zu  sein, 
in  erster  Linie:  so  große  Genitalien  zu  bekommen,  wie  er  sie  immer 
am  Vater  bewunderte.  Unser  Graf  ergänzt  noch:  ,,Der  Läuteapparat, 
das  Gummirohr,  welches  ich  geschenkt  bekam  und  zu  überflüssigen 
Lavements  benutzte,  erinnerte  mich  gleichfalls  an  die  Ropsphantasien. 
Auch  Kondome  erregten  mich  sexuell,  weil  sie,  mit  Wasser  gefüllt  oder 
aufgeblasen,  das  Glied  so  vergrößerten." 

Sekundärer  Autoerotismus. 

Vorstehend  sind  wir  einem  neuen  Phänomen  begegnet,  für  das  ich 
nach  einem  mündlichen  Vorschlage  Freuds  die  Bezeichnung  ,, sekundärer 
Autoerotismus"  einführen  möchte.  Den  primären  zeigt  ja  ein  jegliches 
Kind^),  am  deutlichsten  in  der  Erscheinung  des  Ludeins  oder  Wonne- 
saugens. Aber  selbst  ein  Säugling,  welcher  nicht  ludelt,  führt  doch  aUes, 

^)  Ich  folge  in  der  Beschreibung  des  primären  Autoerotismus  sowie  seiner 
Umwandlung  in  der  Pubertät  Freuds  „Drei  Abhandlungen  zur  Sexualthorie", 
während  die  Ausführungen  über  sekundären  Autoerotismus  mein  geistiges  Eigen- 
tum sind. 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        105 

was  er  in  die  Hand  bekommt,  Spielzeug,  Finger  oder  irgendeinen  Gegen- 
stand, sofort  zum  Munde,  in  Erinnerung  an  die  primäre  Lust,  die  beim 
Trinken  an  der  Brust  oder  ihren  Surrogaten  ihm  während  seines  Erden- 
wallens  begegnete.  Also  ist  die  allererste,  in  der  Kindheit  wichtigste 
erogene  Zone  die  Lippenschleimhaut.  Eine  zweite  von  ebensolcher 
Bedeutung  und  angestammt  häufig  noch  mehr  verstärkt  scheint 
die  Schleimhaut  des  Anus,  welche  sowohl  bei  den  täglichen  Ent- 
leerungen als  den  häufigen  Darmkatarrhen  der  Kinder  ihre  ganz  be- 
sondere Reizung  erfährt.  In  der  Pubertät  nun  ordnen  sich  alle  erogenen 
Zonen,  die  genannten  wie  die  anderen,  dem  Primat  der  Genitalien  unter 
und  wird  der  Sexualtrieb,  der  bisher  vorwiegend  autoerotisch,  auf  ein 
fremdes  Sexualobjekt  gerichtet.  Die  Genitalien  werden  jetzt  die  eigent- 
lichen Lusterreger,  während  die  anderen  erogenen  Zonen,  mindestens 
normalerweise,  nur  gewisse  Vorlustbeiträge  liefern.  In  diesen  physio- 
logischen Entwicklungsgang  schiebt  sich  nun  nicht  selten  beim  Knaben 
eine  Zwischenepisode  ein,  die  zeitlich  frühestens  in  die  Vorpubertät 
fällt  —  in  unseren  Breiten  also  etwa  zwischen  10  und  13  Jahren  — • 
nicht  selten  aber  später,  in  den  Anfang  der  Reife.  Bezeichnend  für  diese 
Zwischenepisode  sind  folgende  Umstände.  Der  Trieb  ist  noch  immer 
autoerotisch  und  eines  fremden  Objektes  entbehrend.  Er  knüpft  des 
weitern  immer  an  erogene  Zonen  an,  genau  wie  beim  Kinde  und  bevor- 
zugt ebendieselben  Schleimhäute :  Lippen  und  After.  Insoweit  läuft  der 
sekundäre  Autoerotismus  dem  primären  parallel.  Hingegen  steht  bei 
ersterem  die  Vorherrschaft  der  Geschlechtsorgane  schon  endgültig  fest, 
so  daß  nur  die  einzige  Aufgabe  bleibt,  das  Membrum  zur  Schleimhaut 
der  haupterogenen  Zonen  zu  führen,  d.  h.  in  den  Mund  oder  Anus  zu 
stecken.  Dies  Kunststück,  das  eines  Schlangenmenschen  würdig  wäre, 
ist  natürlich  für  den  Knaben  nie  wirklich  ausführbar.  Er  kann  nur 
versuchen,  annähernd  oder  mit  Zuhilfenahme  fremder  Zwischenstücke 
seinen  Plan  zu  realisieren.  So  kannte  ich  einen  Burschen,  der  nach 
Monate  währendem  vergeblichen  Mühen,  seinen  Penis  nach  rückwärts 
bis  zur  erforderlichen  Länge  zu  dehnen,  endlich  eine  Eprouvette  an  der 
Glans  befestigte,  um  auf  diesem  Wege  sein  Ziel  zu  erreichen.  Ein  anderer 
quälte  sich  tagelang,  durch  allerlei  Verrenkungen  und  künstliche 
Stellungen  sein  Membrum  bis  in  den  Mund  zu  bringen.  Auch  unseren 
Grafen  stach  durch  Jahre  hindurch  das  Verlangen,  sich  selbst  zu  pädera- 
stieren,  und  da  dies  schlechterdings  unmöglich  war,  so  schwelgte  er 
mindest  in  solchen  Phantasien.  Ich  vermute,  daß  auch  die  Ropsschen 
Zeichnungen    gleichem    Streben    ihren    Ursprung    danken.    Doch    die 


106  J.  Sadger. 

Wünsctie  unseres  Grafen  sind  noch  komplizierter  und  heischen  eine 
genauere  Darstellung.  Zunächst  ersehnte  er  in  seiner  akrobatischen 
Zeit,  also  etwa  um  15  oder  16  Jahre,  seinen  Körper  so  stark  nach  vorn 
zu  biegen,  daß  er  sich  in  den  Penis  zu  beißen  vermöchte,  was  aber  natürlich 
niemals  gelang.  Noch  früher  schon  las  er  von  Hermaphroditen  und  dachte 
sofort,  ein  solcher  könne  dann  ,,von  sich  selber  ein  Kind  bekommen 
durch  Selbstbefruchtung".  Aber  erst  mit  17  erwachte  sein  Wunsch, 
sich  selbst  zu  päderastieren.  Er  stellte  sich  das  nicht  unmöglich  vor, 
wenn  man  nur  den  Rücken  stark  krümme  und  so  den  After  nach  vor- 
wärts biege.  Doch  steckt  hinter  diesem  bereits  in  Spätjahre  fallenden 
Verlangen  schon  der  Übergang  zum  fremden  Sexualobjekt,  d.  h.  der 
Wunsch,  von  einem  geliebten  Manne  päderastiert  zu  werden  in  der 
Lage  eines  begatteten  Weibes.  Bei  weiterer  Nachprüfung  ergab  sich 
sodann,  daß  dies  nur  Wiederholung  von  Kindheitseindrücken,  von 
rektalen  Temperaturmessungen  und  Kly stieren  durch  seine  Mutter  war. 
Also  neuerliche  Bestätigung  meines  früheren  Fundes,  daß  hinter  dem 
scheinbar  geliebten  Mann  bei  jeglichem  Urning  die  eigene  Mutter  und 
hinter  dem  päderastischen  Verlangen  die  Klystierspritze  oder  das 
Afterthermometer  nachweisbar  ist. 

Ehe  ich  meine  neuen  Anschauungen  über  Homosexualität  in  extenso 
darlege,  sei  noch  ein  Moment  ausführlicher  besprochen:  des  Patienten 

Sehnsucht  nach  sexueller  Aufklärung. 

In  dem  Leben  eines  jeglichen  Menschen  taucht  früher  oder  später, 
gewöhnlich  in  der  Kindheit,  längstens  jedoch  in  der  Pubertät  die  Sphinx- 
frage auf:  Woher  kommen  eigentlich  die  kleinen  Kinder?  Die  ersten, 
an  welche  man  sich  in  seiner  Unwissenheit  zu  wenden  pflegt,  sind 
Mutter  und  Vater.  Nur  sind  freilich  die  wenigsten  unter  diesen  willens 
oder  fähig,  mit  zarter,  kundiger,  vorsichtig  und  weise  leitender  Hand 
in  das  verpönte  Land  zu  führen.  Meist  werden  drum  die  Kinder  teils 
grob,  teils  ausweichend  abgefertigt,  so  daß  sie  schließlich  bei  iVlters- 
genossen,  dienstbaren  Geistern  oder  dem  allwissenden  Konversations- 
lexikon Aufklärung  suchen  und  endlich  auch  finden.  Dies  elterliche 
Versteckensspiel  ist,  von  welcher  Seite  immer  betrachtet,  verhängnisvoll 
zu  heißen.  Da  in  der  letzten  Zeit  über  diesen  Gegenstand  soviel  publi- 
ziert ward,  will  ich  mich  hier  auf  einzelnes  beschränken,  das  noch  wenig 
oder  gar  nicht  ins  Treffen  geführt  wurde,  zumal  die  Bedeutung  der 
mangelnden  sexuellen  Aufklärung  für  die  Entstehung  der  Neurosen 
und  Per  Versionen. 


Ein  Fn'l  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        107 

Zunächst  betrachtet  das  von  den  Eltern  nicht  aufgeklärte  Kind 
jene  Vorenthaltung  der  stets  wieder  erfragten  Geschlechtsbeziehungen 
als  Mangel  an  Vertrauen,  ja  sie  wird  zur  häufigsten,  allerbedeutsamsten 
Wurzel  der  Entfremdung  zwischen  Eltern  und  Sprößling,  ganz  besonders 
dort,  wo  sexuelle  Anziehung  nicht  entgegenwirkt,  wie  zwischen  Mutter 
und  Tochter,  Vater  und  Sohn.  Es  ist  sehr  ominös,  wenn  ein  Kind  seinen 
Eltern  ,, dahinter  kommt",  daß  sie  eheliche  Beziehungen  pflegten. 
Es  fühlt  sich  betrogen,  sein  Vertrauen  getäuscht  und  glaubt  ihnen 
fortab  überhaupt  nichts  mehr  ungeprüft,  weil  sie  es  in  diesem  wich- 
tigsten Punkte  belogen  haben.  Nicht  selten  rührt  auch  die  Aufklärung 
durch  Fremde  eine  arge  Lüsternheit  in  ihm  auf,  wenn  es  das  Geschlecht- 
liche nicht  schlankweg  ablehnt.  Hingegen  hängt  das  von  der  Mutter 
unterwiesene  Kind  an  dieser  stets  doppelt.  Im  ersteren  Falle  drängt 
sich  nicht  selten  der  häßliche  Gedanke  ans  Licht:  meine  Eltern  müssen 
sich  gut  amüsiert  haben,  wie  ich  gezeugt  ward.  Im  zweiten  läßt  es  sich 
leicht  zu  dem  Empfinden  lenken:  was  hat  die  Mutter  um  mich  gelitten 
bei  meiner  Geburt !  ein  Gedanke,  der  Liebe  und  Pietät  ausnehmend 
erhöht. 

Noch  einen  zweiten  Punkt  muß  ich  berühren.  Das  ewige  Ablehnen, 
ja  schroffe  Verpönen  alles  Geschlechtlichen  kann  bei  Mädchen,  besonders 
wenn  strenge  Verfolgung  der  Onanie  hinzutritt,  eine  dauernde,  lebens- 
lange sexuelle  Anästhesie  herbeiführen.  Ich  habe  gar  nicht  so  selten 
vernommen,  daß  solcheMädchen  sich  in  späteren  Jahren  bitter  beklagten, 
zu  Hause  hätten  sie  niemals  ein  Wort  in  den  Mund  nehmen  dürfen, 
das  auch  nur  entfernt  an  Geschlechtliches  streifte,  wie  Geburt,  Ent- 
bindung, Verhältnis  u.  dgl.  Wird  dann  noch  obendrein  die  Mastur- 
bation aufs  heftigste  verfolgt,  ohne  daß  man  doch  offen  über  alles  Sexuelle 
spräche,  so  können  stete  und  schwere  hysterische  Angstzustände, 
dauernde  Unfähigkeit,  beim  Koitus  irgend  Lust  zu  empfinden,  sowie 
ein  vergeblicher,  lebenslanger  Kampf  mit  der  Onanie  trotz  späterer 
Ehe  die  Konsequenz  sein.  Bei  Knaben  hinwieder  führt  oft  solches 
Vorgehen  entweder  zu  psychischer  Impotenz  mit  der  Milderung  bis- 
weilen, daß  sie  bei  der  käuflichen  Liebe  potent  bleiben,  in  anderen  Fällen 
aber,  bei  konstitutioneller  Disposition,  wenn  dann  noch  die  Abkehr 
von  der  Mutter  dazukommt,  zur  Homosexualität.  Wo  aber  wie  bei  den 
späteren  Neurotikern  ein  ungeheures  und  nicht  zu  ersättigendes  Liebes- 
bedürfnis vorhanden  ist,  das  natürlich  zuerst  auf  die  Eltern  sich  richtet, 
geschieht  es  nicht  selten,  daß  schon  in  der  Kindheit  oder  spätestens 
in  Pubertätsphantasien  von  diesen  verlangt  wird,  sie  mögen  ihr  Kind 


108  J.  Sadger. 

aktiv  in  die  Liebesgeheimnisse  einfüliren,  d.  h.  sie  an  ihrem  eigenen 
Leibe  über  alles  belehren.  Darauf  beruht  unter  anderem  auch  das  be- 
kannte Erlösermotiv  in  der  Kunst.  Die  Mutter  soll  ihren  Knaben  von 
der  Masturbation  befreien,  indem  sie  ihm  sich  selber  hingibt  (Freud). 
Und  da  naturgemäß  solche  Inzestphantasien  und  -wünsche  Verwirk- 
lichung nie  finden  können,  so  fühlen  sich  regelmäßig  solche  Kinder 
zu  wenig  oder  gar  nicht  geliebt,  obwohl  sie  sehr  häufig  Lieblingskinder 
und  vor  allen  Geschwistern  bevorzugt  werden. 

Ein  glänzendes  Beispiel  für  die  Folgen  verkehrter  Sesualerziehung 
ist  auch  unser  Graf.  Von  der  Pubertät  bis  zum  heutigen  Tage  heißt  der 
schwerste  Vorwurf,  welchen  er  gegen  seine  Mutter  erhebt,  sie  habe  ihm 
die  geschlechtliche  Aufklärung  versagt,  ja  selbst  dort,  wo  sie  sprach, 
ein  durchau.s  falsches  Bild  gegeben.  Und  wenn  er  ihr  den  heimlichen 
Brief  an  die  Tante,  worin  sie  von  seiner  Onanie  erzählte,  besonders 
krumm  nimmt,  so  steckt  die  Wut  über  ein  anderes  Heimlichtun  dahinter, 
ihr  Verhehlen  nämlich  der  sexuellen  Beziehungen  zwischen  Mann  und 
Weib.  ,,Was  sie  eigentlich  hätte  tun  sollen,  weiJ5  ich  nicht  zu  sagen", 
erzählte  Patient  in  der  Analyse,  ,, allein  das  Negative  empfand  ich  als 
Unrecht,  Drum  hab  ich  mich  von  ihr  nie  verstanden  gefühlt.  Nachher 
habe  ich  es  auch  von  Vater  als  unkameradschaftlich  angesehen,  daß 
er  mit  mir  so  gar  nicht  davon  sprach.  Erst  hätte  die  Mutter  aufklären 
sollen,  da  sie  es  nicht  tat,  dann  später  der  Vater,  Ihr  machte  ich  schon 
mit  16  Jahren  schwere  Vorwürfe,  dem  Vater  erst  mit  19,  20,  als  ich 
vernahm,  wie  andere  Väter  ihre  Söhne  aufklären,  ja  direkt  selber  zu 
Dirnen  führen.  Der  Mutter  wohl  wegen  der  Masturbation,  daß  sie  mir 
nicht  davon  geholfen  habe,  ja  mich  anfangs  sogar  noch  fälschlich  be- 
schuldigte und  mir  auch  obendrein  die  Vorstellung  einpflanzte,  der 
Verkehr  mit  dem  Weibe  sei  etwas  Unrechtes"^). 

So  wenig  Patient  in  der  ganzen  Analyse  mit  der  Sprache  heraus- 
rückte, was  er  eigentlich  für  sexuelle  Phantasien  auf  die  Mutter  hatte, 
gelegentlich  brach  doch  einiges  durch.  So  erzählte  er  einmal:  ,,Mir 
ist  die  Geschichte,  daß  die  Mutter  sich  vom  Sohne  begatten  läßt,  nie  un- 
geheuerlich erschienen.  Bei  Hunden  z,  B,  ist  das  ganz  gewöhnlich. 
Als  ich  mit  13  Jahren  im  Cornelius  Nepos  von  einem  solchen  Inzest 
las  und  daß  dies  eine  ungeheuerliche  Schande  sei,  erschien  mir  die 
Sache  sehr  wohl  begreiflich.  Doch  erinnere  ich  mich  nicht,  direkte  Koitus- 
gedanken auf  die  Mutter  gehabt  zu  haben."  —  ,,Aber,  als  sie  das  nicht 

^)  Auf  die  Lehren  der  Mutter  geht  auch  sein  anfänglicher  Abscheu  vor 
sexueller  Betätigung  bei  den  männlichen  Gehebten  zurück. 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        109 

erriet,  wurden  Sie  böse?"  —  „Ja,  das  ist  richtig.  Es  kommt  bei  mir 
sehr  häufig  vor,  daß,  wenn  man  meine  heimlichen  Gedanken  nicht 
errät,  ich  zornig  werde.  Das  könnte  auch  bei  Mutter  gewesen  sein.  Nur 
war  der  Gedanke  so  geheim,  daß  er  mir  selbst  nicht  bewußt  wurde." 
Daß  dies  keine  bloße  Hypothese  ist,  beweist  ein  Brief,  den  ich  von  ihm 
drei  Wochen  nach  beendeter  Analyse  erhielt.  Da  schrieb  er  nämlich: 
,,Ich  habe  mich  in  den  letzten  Tagen  in  meiner  Phantasie  auf  sexuellen 
Situationen  mit  meiner  Mutter  überrascht."  Ein  Näheres  freilich  wollte 
er  trotz  wiederholter  Anfragen  mir  nicht  angeben,  einfach  weil  er  mit  dem 
Mutterkomplex,  der  erst  in  die  letzten  Tiefen  hineinführt,  in  den 
fünf  Monaten  der  Analyse  und  auch  jetzt  noch  zurückhält. 

Wie  wenig  die  Eltern  in  der  Seele  ihrer  Kinder  zu  lesen  verstehen, 
sobald  Geschlechtliches  mit  im  Spiele  ist,  beweist  nachfolgende  Episode 
aus  des  Grafen  16.  Lebensjahre  schon  nach  dem  völligen  Bruch  mit  der 
Mutter.  Eines  Abends  ist  er  tief  deprimiert  und  bricht  in  heftige  Tränen 
aus.  Alles  sieht  er  düster,  er  tauge  zu  nichts,  die  Vorwürfe  wegen  der 
Onanie  erwachen.  Dabei  jedoch  läßt  er  geflissentlich  die  Türe  seines 
Zimmers  offen.  Wenn  der  Vater  vorbeigehe,  solle  er  ihn  weinen  hören, 
hereinkommen  und  ihn  liebreich  trösten.  Das  aUes  gelingt  nun  auch 
ganz  programmäßig.  Allein,  da  der  Vater  nach  dem  Grunde  seiner 
Tränen  fragt,  weiß  er  nur  zu  sagen,  die  Welt  erscheine  ihm  so  schwarz, 
er  wisse  nicht,  ob  er  zu  etwas  tauge.  Kein  Wort  jedoch  von  der  Mastur- 
bation und  seinen  anderen  sexuellen  Nöten.  ,, Der  Vater  sprach  mir  be- 
ruhigend zu,  doch  ich  hatte  das  Gefühl,  er  durchschaut,  daß  ich  Komödie 
spiele.  Ich  war  ja  wirklich  traurig,  aber  ich  spielte  noch  viel  mehr, 
als  ich  es  wirklich  war,  nur  um  Trost  zu  bekommen.  Vielleicht  habe 
ich  zuerst  auch  von  meiner  Onanie  zu  zprechen  gewünscht,  doch  da 
mit  den  ersten  Worten  des  Vaters  schon  die  Sorge  wegging,  unterheß 
ich  es  dann."  Trotzdem  sich  der  Vater  hier  eigentlich  ganz  korrekt 
benommen,  trug  ihm  der  Sohn  seinen  Mangel  an  intimerer  Seelenkenntnis, 
daß  er  seine  sexuellen  Nöte  nicht  durchschaute  und  sich  drum  auch 
keine  Mühe  gab,  ihm  herauszuhelfen,  zeitlebens  nach.  Er  hätte  ihn 
damals  zu  einer  vollen  Beichte  zwingen  müssen  und  ihn  dann  von  der 
Masturbation  befreien,  indem  er  ihn  selber  zum  Weibe  führte^).  Das 


^)  Ursprünglich  ist  da  natürlich  die  eigene  Mutter  gemeint,  bei  der  er  zu- 
sammen mit  seinem  Vater  den  primären  Dreibund  erreichen  wollte.  Charakteristisch 
ist  auch,  wie  er  seine  Frau  selbst  in  der  Ehe  immer  dazu  verleiten  möchte,  sich  noch 
einen  zweiten  Verehrer  zu  nehmen,  auf  den  er  dann  freiUch  ganz  regelmäßig  eifer- 
süchtig würde. 


110  J.  Sadger. 

ist  der  tiefste  Grund  seines  Hasses  gegen  den  Vater,  warum  er  es  nicht 
zu  einer  Versöhnung  kommen  lassen  will.  Und  bezeichnenderweise 
bricht  sein  Konflikt  mit  dem  Vater  aus  und  unterdrückt  er  geflissent- 
lich jede  Liebe  zu  diesem,  nachdem  er  endlich  eine  Frau  gefunden, 
die  seiner  Geschlechtsnot  wenigstens  in  heterosexueller  Beziehung 
für  die  Dauer  abhalf. 

Was  er  vergeblich  vom  Vater  erhofft,  besorgten  dann  schließlich 
beim  Militär  seine  Kameraden,  die  ihn  zu  einer  Dirne  führten.  Recht 
früh,  bereits  in  der  Pubertät,  quälte  ihn  der  Gedanke,  es  müsse  doch 
eine  Norm  existieren,  wie  der  Koitus  auszuführen  sei,  ja,  er  sammelte 
direkt  der  Kameraden  Aussprüche  über  den  Geschlechtsakt.  Endlich 
suchte  er  bis  in  die  jüngste  Zeit  immer  wieder  Männern  seines  2.  Typus 
ihr  sexuelles  Geheimnis  abzulauschen,  wie  man  beim  Weibe  zum  Erfolge 
gelange,   wie  ein  frecher  Mensch  sich  betragen  müsse.   Bei  denen  des 
I.Typus  jedoch,  die,  wie  wir  später  vernehmen  werden,  nach  dem  eigenen 
Ebenbilde  gewählt  sind,  plagte  ihn  die  Neugier:  wie  stellt  sich  für  diesen 
die  sexuelle  Frage,  ist  sein  Geschlechtsleben  schon  erwacht?  Daß  er 
endlich  bei  Prostituierten  landete  und  von  ihnen  wirkliche  Hilfe  bekam, 
ist  durchaus  begreiflich.  Wenn  er  stets  sexuelle  Aufklärung  wünschte 
und  direkte  Anleitung  zum  Verkehr,  wer  hätte  ihn  besser  unterrichten 
können?   Mit  Dirnen  konnte  er  jederzeit  über  Erotisches   sprechen, 
ihnen  alle  sexuellen  Nöte  klagen,    und  es  ist  bezeichnend,   daß  er  in 
seinen  Depressionszeiten  immer  wieder  hinging,  auch  wenn  er  gar  nicht 
verkehren  mochte.  Ihm  genügte,  mit  der  Dirne  zu  reden  und  sich  von 
ihr  Trost  zusprechen  zu  lassen    —    beides  vermutlich  ursprüngliche 
Wunschphantasien   auf  die  Mutter  —  damit  ,, seine  Unruhe  und  Ner- 
vosität weggehe".  Natürhch  bekommt  er  da  auch  gar  nie  eine  Erektion, 
so  wenig  wie  bei  der  eigenen  Mutter.  Immer  wußte  er  auch  Prostituierte 
zu  finden,  die  mindestens  taten,  als  liebten  sie  ihn  um  seiner  selber  willen. 
In  jeder  der  vielen,  die  er  aufsuchte,  besonders  jedoch  in  seiner  Frau, 
kehren  deutlich  die  Züge  der  Mutter  wieder,  ansonsten  waren  sie  für 
ihn  unbrauchbar.  Von  einer  der  Dirnen  verlangt  er  geradezu,  sie  möge 
aktiv   sein  Membrum   einführen  und  die  noch  nötigen   Bewegungen 
machen,  während  er  selber  ganz  ruhig  bleibe,  ein  Vorgehen,  das  er 
vermutlich  ursprünglich  in  seinen  Phantasien  von  der  Mutter  begehrt 
hatte.    Am  besten  jedoch  verkörpert  die  Frau  sein  Mutterideal,  teils 
wie  sie  wirklich  und  in  seiner  Phantasie  gewesen,  teils  wie  er  sie  ver- 
klärend geschaut.  Schon  als  Dirne  hatte  ihn  jene  bevorzugt,  obwohl 
er  ihr  gar  nichts  zu  bieten  vermochte,  ihn  also  um  seiner  selbst  willen 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        111 

geliebt,  und  alles  getan,  was  er  sich  erseHnte.  Obendrein  war  sie  in  er- 
wünschtem Gegensatze  zu  seiner  Mutter  stets  geschmackvoll  gekleidet 
und  liebenswürdig,  von  starkem  Rechtsgefühl  und  stillem  Wesen. 
Nur  eine  Dirne  endlich  vermochte  es  über  ihn  davon  zu  tragen.  Eine 
solche  wäre  ja  auch  seine  Mutter  selber  gewesen,  hätte  sie  nebst  dem 
Vater  auch  ihn  zu  ihrem  Geliebten  erklärt,  und  sowie  die  Mutter  vermag 
er  die  Frau  nur  mit  einem  zu  teilen,  in  welchen  er  verhebt  ist,  wie  schon 
als  Kind  und  primo  loco  in  seinen  Vater. 

Neue  Beiträge  zur  Theorie  der  Homosexualität. 

Die  dauernde  Neigung  zum  eigenen  Geschlecht  tritt  in  der 
Regel  und  jedenfalls  am  stärksten  in  der  Pubertät  zutage,  frühestens 
in  der  Vorpubertät,  für  unsere  Breiten  also  mit  10  oder  11  Jahren. 
Ein  mitunter  vermeldeter  früherer  Beginn  steht  jedenfalls  vereinzelt 
und  hat  seine  ganz  besonderen  Gründe.  Ausgelöst  wird  das  ständige 
homosexuelle  Empfinden  gewöhnlich  durch  ein  bedeutsames  Ereignis, 
das  die  Mutter  von  ihrer  bisherigen  Rolle  der  idealen  Helferin,  Lehrerin 
und  Erzieherin  für  immer  oder  mindestens  lange  verdrängte.  Solche 
Zufälle  sind  z.  B.  ihr  Tod  oder  schwere,  vielleicht  auch  entstellende 
Krankheit,  ein  Vermögenskrach  mit  folgender  schwerer  Neurose, 
die  zum  Aufenthalt  im  Sanatorium  zwingt,  eine  unzweckmäßige  Ver- 
folgung des  Sohnes  wegen  Onanie  und  dergleichen  Dinge.  Wem  dann 
der  werdende  Homosexuelle  sich  in  Liebe  zuwendet,  hängt  wieder  von 
äußeren  Umständen  ab.  In  selteneren  Fällen  dem  Vater  oder  älteren 
Männern,  am  häufigsten  gleichaltrigen  oder  etwas  älteren  Kameraden, 
die  ihn  jetzt  in  die  Liebe  tatsächlich  einführen,  wie  er  es  früher  von  der 
Mutter  erhofft.  Bezeichnend  ist  auch,  daß  in  den  homosexuellen  Idealen 
neben  den  Zügen  der  bisher  hetero-  wie  homosexuell  Geliebten^)  auch  die 
eigene  Person  ganz  deutlich  in  den  Vordergrund  tritt  und  in  einer 
Reihe  von  Eigentümlichkeiten  unzweifelhaft  Verwendung  findet.  Es  liegt 
recht  nahe,  hier  an  die  liebende  Bewunderung  zu  denken,  die  die  Mutter 
einst  ihrem  Knaben  schenkte^).  Er  flüchtet  dann  einfach  von  der  jetzt 
so  wenig  liebreichen  Mutter  zu  der,  die  ihn  einst  so  heiß  geliebt. 

Wir  sind  hier  bei  einem  ganz  neuen  Punkte,  der  für  die  Genese 
der  Inversion  mir  entscheidend  dünkt:    der  Weg  zur  Homosexuali- 

1)  Vgl.  hiezu  meine  frühere  Arbeit  ,,Zur  Ätiologie  der  konträren  Sexual- 
empfindung" 1.  c. 

2)  Ich  spreche  hier  nur  vom  männlichen  Urning,  weil  Analysen  vonUrninden 
noch  nicht  vorliegen.  Ich  selber  weiß  von  letzteren  nur  einzelne  leicht  auflösbare 
Züge. 


112  J.  Sadger 


o"- 


tat  führt  nämlich  stets  über  den  Narzismus,  d.  h.  die  Liebe 
zum  eigenen  Ich.  Das  konnte  ich  in  all'  meinen  Fällen  nachweisen 
und  auch  Freud  hat  mir  dies  über  meine  Frage  von  seinen  Urningen 
bestätigen  können.  Der  Narzismus  ist  nun  nicht  etwa  ein  vereinzeltes 
Phänomen,  sondern  eine  notwendige  Entwicklungsstufe  beim  Über- 
gang vom  Autoerotismus  zur  späteren  Objektliebe.  Die  Verliebtheit 
in  die  eigene  Person,  hinter  welcher  sich  die  in  die  eigenen  Genitalien 
birgt,  ist  ein  nie  fehlendes  Entwicklungsstadium.  Von  da  erst  geht  man 
später  zu  ähnlichen  Objekten  über.  Der  Mensch  hat  allgemein  zwei 
primäre,  ursprüngliche  Sexualobjekte  und  sein  weiteres  Leben  hängt 
davon  ab,  ob  und  bei  welchem  er  schließlich  fixiert  bleibt.  Für  den 
Mann  sind  diese  beiden  Objekte  die  Mutter  (beziehungsweise  erste 
Pflegerin)  und  die  eigene  Person.  Um  gesund  zu  bleiben,  muß  er  beide 
los  werden,  bei  ihnen  nicht  allzu  lange  verweilen.  Nur  kurze  Zeit  wird 
die  eigene  Person  durch  den  Vater  ersetzt,  weil  dieser  als  primärer 
Rivale  bei  der  Mutter  bald  wieder  in  feindliche  Stellung  einrückt. 
Hier  zweigt  die  Inversion  dann  ab  und  man  wählt  sich  die  neuen  Sexual- 
objekte nach  dem  eigenen  Vorbilde,  dem  wirklichen,  wie  dem  ideali- 
sierten. Der  Urning  kommt  von  sich  selber  nicht  los,  das  ist  sein  Ver- 
hängnis. Viel  besser  gelingt  ihm  die  Lösung  von  der  Mutter.  Diese  kann 
er  verdrängen,  indem  er  mit  ihr  sich  identifiziert,  wie  wir  von  den  Psycho- 
neurosen  her  wissen.  Mit  der  Liebe  zur  Mutter  verdrängt  er  auch  die 
Liebe  zum  weiblichen  Geschlechte  überhaupt  aus  einem  durchsichtigen 
Gedankengange:  wenn  schon  die  beste  unter  allen  Frauen  so  wenig 
taugt,  meine  eigene  Mutter,  wie  sollte  eine  andere  bestehen  können?^). 
Daß  aber  der  Urning  sich  mit  seiner  Mutter  identifiziert,  ist  an  zahl- 
reichen Zügen  gut  nachzuweisen.  Am  deutlichsten  daran,  daß  er  so  gern 
den  Geliebten  zu  belehren  trachtet,  nicht  selten  über  Dinge,  die  diesen 
überhaupt  nicht  interessieren.  So  wollte  z.  B.  unser  Graf  seinem  Kellner 
Geologie  vortragen  und  ihn  in  Kunstgeschichte  unterweisen.  Auch 
was  jeder  Urning  von  seiner  Mutter  einst  brennend  ersehnte,  Belehrung 
in  sexuellen  Dingen,  verlangt  er,  dem  Geliebten  später  zu  geben.  Wenn 
die  Invertierten  die  Reinheit  ihres  Tuns  betonen,  daß  sie  meist  den 
Freund  nur  ansehen  und  bewundern  wollen  oder  höchstens  ihn  streicheln, 
liebend  umfassen  und  herzlich  abküssen,    Grobsinnliches  aber  ihnen 


^)  Xicht  selten  kommt  es  kurz  vor  der  definitiven  Ablösung  zu  einer  per- 
turbatio procritica,  einem  besonders  starken  Auf  lodern  der  Liebe,  d.  h.  es  gehen  der 
Abwendung  von  der  Mutter  und  Hinneigung  zu  Freunden  sehr  lebhafte  Eifersuchts- 
regungen voraus,  da  die  Mutter  einen  anderen  Jungen  lobte. 


Eia  Fall  von  multipler  Perversioa  mit  hysterischen  Absenzen.        113 

ferne  liege,  so  ist  dies  zu  Anfang  gemeinhin  auch  wahr.  Sind  das  ja 
nichts  anderes  als  die  Liebesäußerungen  seiner  Mutter  in  des  Urnings 
frühesten,  glücklichsten  Tagen.  Allerdings  kommt  es  später  doch  immer 
zu  grellerer  Betätigung  der  Sinnlichkeit,  wie  es  nun  einmal  unvermeidlich 
ist.  Der  Urning  spielt  da  gewöhnlich  das  Weib,  so  den  Mann  verführt, 
mit  andern  Worten,  die  phantasierte  Mutter,  auch  nach  der  Ablösung 
sich  noch  immer  mit  ihr  identifizierend.  Ist's  doch  ein  unsterblicher 
Wunsch  jedes  Knaben,  die  Mutter  möge  ihn  ins  sexuelle  Leben  ein- 
führen, am  liebsten  natürlich  an  ihrem  eigenen  Leibe^). 

Ganz  kurz  noch  einige  ergänzende  Bemerkungen.  Die  meisten 
Urninge  sind  einzige  Kinder  oder  einzige  Söhne  und  erfahren  darum 
besondere  Zärtlichkeit  von  ihren  Müttern  und  gewöhnlich  auch  den 
anderen  Hausgenossen.  Das  ist  nun  keineswegs  ein  Glück  zu  heißen, 
schon  weil  es  die  Kinder  in  ihrem  Liebesverlangen  ganz  unersättlich 
macht  vmd  nach  der  spätem  Ablösung  von  der  Mutter  deren  Geschlecht 
in  toto  verwerfen  läßt.  Auch  kann  man  rein  erfahrungsgemäß  die  Regel 
aufstellen,  daß  Aufwachsen  in  einer  bloß  weiblichen  Umgebung  (der 
Vater  kommt  hier  nicht  in  Betracht)  für  beide  Geschlechter,  Knaben 
imd  Mädchen,  die  Inversion  befördert.  Der  Mann  wird  dadurch  zum 
Manne  hingedrängt,  das  Weib  zum  Weibe.  Woran  dies  liegt,  vermag 
ich  nicht  zu  sagen,  nur  die  Tatsache  selbst  ist  sicher  zu  belegen.  Beim 
Knaben  könnte  man  sich  schließlich  denken,  der  Mangel  an  Kameraden 

^)  Hier  seien  ganz  kurz  die  verschiedenen  Wünsche  des  Grafen  resümiert 
mit  den  entsprechenden  infantilen  Wurzeln.  Er  will  dem  Kellner  die  Hoden 
streicheln,  indem  er  von  hinten  und  unten  greift,  sowie  es  Mutter  und  Kinder- 
mädchen ihm  selber  einst  taten.  Die  Hoden  dürfen  nicht  hängen  oder  schlaff 
sein,  wie  er  es  so  lange  mit  Leid  an  sich  selber  beobachtet  hatte.  Das  Umfassen 
der  Schultern  und  kräftiger,  gewölbter  Muskelbäuche  ist  von  den  Brüsten  der 
Mutter  verschoben.  Die  beim  Geliebten  erwünschten  Augen  sind  direkt  seine 
eigenen,  teilweise  auch,  wie  er  einmal  ergänzte,  die  der  jüngeren  Schwester.  Das 
Streichen  über  Schultern,  Brust  und  Rücken  geht  auch  darauf  zurück,  daß  das 
Kindermädchen  ihn  so  nach  dem  täglichen  Morgenbade  abtrocknete.  Dies  Streicheln 
verlangte  er  später  auch  von  andern  Frauen.  Die  Bedeutung  der  Brustwarzen 
bei  einem  seiner  Erstgeliebten  erklärt  sich  aus  der  Erinnerung  an  seine  Älutter, 
das  Verlangen,  päderastiert  zu  werden,  aus  den  Lavements  und  den  rectalen  Tem- 
peraturmessungen. Wenn  er  sich  mit  23  Jahren  in  einen  Museumskameraden 
verliebt,  der  die  gleichen  Ideen,  die  gleichen  Interessen  besitzt  wie  er  und  ebenso 
vornehmlich  die  Augen  benutzt,  so  ist  dies  einfach  Verliebtheit  in  sich  selbst. 
Desgleichen  liebt  er  in  den  Kameraden  beim  Militär  und  auch  späterhin  immer 
wesentlich  sich  selber  mit  eirügen  Zügen,  die  von  weiblichen  Sexualobjekten 
übernommen. 

Jahrbuoli  für  psyohoanalyt.  u.  psyohopathol.  Forschungen.     II.  8 


114  J.  Sadger. 

lasse  ihn  solche  dann  doppelt  ersehnen,  beim  Weibe  jedoch  weiß  ich 
Erklärung  überhaupt  nicht  zu  geben. 

Um  zusammenzufassen,  was  meine  psycho-analytischen  Unter- 
suchungen über  die  Inversion  zutage  gefördert,  so  fand  ich  zunächst 
air  jenes  bestätigt,  das  ich  schon  in  einer  früheren  Arbeit  („Zur  Ätiologie 
der  konträren  Sexualempfindung"  1.  c.)  angeführt  habe.  Als  neue  Er- 
kenntnis, allerdings  bloß  an  männlichen  Homosexuellen  gewonnen, 
kann   ich  nachfolgende  Thesen  aufstellen: 

1.  Der  Urning  leidet  an  der  Abkehr  von  der  Mutter  (beziehungs- 
weise ersten  Pflegerin),  in  deren  Liebe  er  sich  schwer  getäuscht 
fühlt.  Er  verdrängt  die  Mutter,  indem  er  sich  mit  ihr  identifiziert.  Eine 
Reihe  typischer  Inversionszüge  geht  auf  diese  Identifikation  zurück, 
vor  allem  die  harmlosen  Liebesäußerungen,  sowie  das  Bestreben,  den 
Geliebten  zu  belehren  und  zu  unterweisen. 

2.  Der  Weg  zur  Homosexualität  führt  über  den  Narzismus,  d.  h. 
die  Liebe  zu  sich  selbst,  wie  man  tatsächlich  war,  oder,  idealisiert, 

gern  gewesen  wäre. 

3.  Im  Sexualideal  des  Invertierten  finden  sich  nicht  nur  Züge 
früherer  weiblicher  und  männlicher  Sexualobjekte,  sondern  noch 
vielmehr  des  eigenen  geliebten  Ichs. 

4.  Aufwachsen  ausschließlich  in  weiblicher  Umgebung  —  der 
Vater  kommt  hier  nicht  in  Betracht  —  befördert  die  Homosexualität 
beim  Manne  wie  beim  Weibe  aus  Gründen,  die  noch  nicht  genügend 
bekannt  sind.  Zudem  sind  Urninge  meist  einzige  Kinder  oder  einzige 
Söhne,  mit  aller  Verzärtelung,  welche  diesen  zukommt. 

5.  Unterstützt  wird  endlich  die  Inversion  durch  den  ,, nach- 
träglichen Gehorsam"  gegen  die  Worte  der  Mutter,  was  wieder  an 
die  mangelnde  sexuelle  Aufklärung,  ja  Abhaltung  von  allem  Geschlecht- 
lichen anknüpft.  Ich  fand  nicht  selten,  daß  die  Mutter  frühzeitig  ihren 
Kindern  —  dies  scheint  für  Knaben  wie  für  Mädchen  zu  gelten  — 
einen  selbst  ganz  harmlosen,  doch  freundschaftlicheren  Verkehr  mit  dem 
andern  Geschlechte  als  etwas  Unrechtes  und  Anstößiges  hinstellte, 
was  in  leider  nur  zu  buchstäblichem,  spätem  Gehorsam  die  Neigung 
zum  eigenen  Geschlechte  verstärkt. 

Theoretisches  über  den  ganzen  Fall. 

Ich  habe  bisher  die  Perversionen  des  Grafen  verfolgt,  die  man 
zusammenfassend  als  Fall  von  Infantilismus  bezeichnen  könnte.  Schon 
äußerlich  wies  der  32  jährige  Mann  ganz  deutlich  die  Gesichtszüge  eines 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.         115 

Kindes  auf.  Die  verschiedenen  Äußerungen  seines  Geschlechtstriebes 
zeigen  eminent  infantilen  Charakter.  Das  Kind  ist  ja  nach  dem  treffenden 
Ausspruch  Professor  Freuds  „polymorph  pervers".  Das  ist  nun  genau 
das  Bild  unseres  Grafen,  der  eigentlich  äußerst  wenig  sublimierte  und 
im  Grunde  dasselbe  Schwein  geblieben,  welches  er  als  Kind  physiologisch 
war.  Ausdrücklich  anzumerken  ist,  daß  er  seine  Perversionen  durchaus 
nicht  etwa  als  abnorm  empfand  und  sie  auch  keineswegs  aufgeben 
mochte.  Selbst  die  Homosexualität,  welche  ihn  in  Konflikt  mit  dem 
Strafgesetz  zu  bringen  drohte,  hat  ihn  subjektiv  nicht  sehr  gestört. 
Solcher  Infantilismus  der  Perversionen  ist  in  regierenden  Häusern, 
dem  höheren  Adel  und  in  alten  durch  Unzucht  stark  degenerierten 
Patrizierfamilien  keine  große  Seltenheit.  Doch  gelangen  sie  nur  wenig 
zur  Kenntnis  des  Arztes,  weil  solche  Menschen,  wenn  sie  nicht  just  im 
puncto  Inversion  das  Zuchthaus  streifen,  keinen  rechten  Impuls  haben, 
anders  zu  werden. 

Wir  sind  gewohnt,  daß  die  Perversionen  irgendwo  in  die  Neurose 
umschlagen.  Das  ist  auch  bei  unserm  Patienten  der  Fall,  der  außer  an 
Dysuria  psychica,  die  ihn  nur  wenig  belästigt,  noch  an 

Pseudoepileptischen  Zuständen 

leidet.  Epileptoide  Anfälle,  worunter  Ohnmächten  und  kleine  Ab- 
senzen zu  begreifen  sind,  bekam  er  —  ich  folge  da  seinen  frühesten 
Angaben  —  zum  ersten  Male  mit  16  Jahren,  dann  wiederholt  bis  zum 
18.,  das  Militär]  ahr  war  frei  bis  auf  einen  eigenartigen  hysterischen 
Anfall,  von  dem  ich  später  noch  reden  werde;  weiterhin  traten  sie  be- 
sonders häufig  im  ersten  Universitätsjahre  auf  nach  übermäßigem 
Alkoholgenuß,  doch  auch  in  der  späteren  Universitätszeit,  als  er  zu 
saufen  schon  aufgehört  hatte;  endlich,  wiewohl  viel  seltener,  in  den 
letzten  6  bis  7  Jahren,  seitdem  er  am  Museum  arbeitet,  das  jüngste 
Mal  vor  5  bis  6  Monaten.  Von  den  ersten  Anfällen,  die  angeblich  nach 
Überanstrengung  im  Gymnasium  sowie  bei  mathematischen  Klausur- 
arbeiten kamen,  berichtete  er  zu  Anfang  Folgendes:  ,,Es  wurde  mir 
finster  vor  den  Augen  und  ich  fiel  zu  Boden,  war  aber  nur  kurze  Zeit 
bewußtlos.  Nach  dem  Erwachen  sah  ich  zuerst  das  Licht,  dann  die 
Kameraden,  aber  alles  drehte  sich  vor  mir.  Es  war  eigentlich  ein 
sehr  angenehmes  Gefühl,  wenn  man  bewußtlos  wurde,  man 
fühlte  sich  so  beruhigt,  wie  wenn  man  schön  einschläft.  Ich 
konnte  es  auch  bei  starken  gymnastischen  Übungen  bekommen,  wenn 
ich  Hantel  hochstemmte,  daß  ich  zusammenstürzte  und  das  Bewußsein 


116  J.  Sadger. 

verlor".  Bald  kamen  spezialisiertere  Angaben.  Die  erste  Attaque  kam 
bei  einer  mathematischen  Klausurarbeit,  die  von  8  bis  1  Uhr  währte, 
und  zwar  gegen  Ende  dieser  Zeit,  als  er  merkte,  die  Sache  gehe  schief. 
,, Plötzlich  begann  ich  zu  taumeln,  ein  Kamerad  und  der  Lehrer  sprangen 
herzu,  hielten  mich,  damit  ich  nicht  falle,  und  reichten  mir  Wasser, 
worauf  ich  rasch  wieder  zu  Bewußtsein  kam.  Vorher  merkte  ich  gar 
nicht,  daß  ich  das  Bewußtsein  verlieren  werde.  In  der  nachträglichen 
Erinnerung  erscheint  es  mir  wie  ein  ruhiges  Einschlafen.  Mehr  weiß 
ich  von  diesem  ersten  Mal  nicht  zu  sagen,  wohl  aber  von  den  Ohn- 
mächten bei  den  gymnastischen  Übungen.  Damals  war  auch  ein  Ka- 
merad bei  mir,  in  den  ich  ein  wenig  verliebt  war.  Ich  machte  diese 
Übungen  und  fiel  dabei  zusammen.  Er  stürzte  auf  mich  zu  und  legte 
mich  auf  das  Sofa.  Alles  drehte  sich  vor  meinen  Augen,  aber  ich  war 
ganz  klar  dabei  und  hatte  volles  Bewußtsein.  Das  Ganze  währte  nur 
wenige  Sekunden,  nachher  fühlte  ich  mich  auch  ganz  gesund  und  ging 
mit  ihm  fort." 

Hier  tritt  uns  bereits  ein  ganz  merkwürdiger  Zug  entgegen.  Konnte 
man  bei  der  Klausurabsenze  noch  daran  denken,  sein  Unbewußtes 
habe  sie  darum  produziert,  um  einem  Nichtgenügend  zu  entgehen, 
so  fiel  dieser  Grund  hier  vollständig  weg.  Dafür  aber  zeigte  sich  ein 
homosexuelles  Leitmotiv,  von  einem  geliebten  Kameraden  aufgefangen 
und  in  die  Arme  genommen  zu  werden.  Es  stellte  sich  gar  bald  heraus, 
daß  solche  homosexuelle  Motive  bewußt  oder  unbewußt  auch  seinen 
früheren  Anfällen  nicht  fehlten.  Zunächst  bemerkte  er  in  einer  späteren 
Sitzung,  daß  nur  die  beiden  ersten  Ohnmächten  aus  Anlaß  mathe- 
matischer Klausurarbeiten,  die  er  auch  rasch  nacheinander  produzierte, 
von  selber  kamen;  später  rief  er  sie  mindestens  zweimal  absichtlich 
hervor,  weil  die  Sache  schief  ging.  Man  hatte  ihm  gesagt,  die  früheren 
echten  Absenzen  seien  gekommen,  als  er  vornüber  gebeugt  schrieb  und 
sich  dann  aufrichtete.  Also  probierte  er  jetzt  in  der  Verlegenheit,  ob 
sie  nicht  künstlich  zu  erzeugen  wären,  stemmte  die  Schultern  zurück 
und  die  Brust  heraus,  weil  er  derart  das  Blut  in  den  Kopf  heraufzupressen 
vermeinte,  und  richtig  gelang  es  ihm,  eine  Absenze  so  künstlich  zu  er- 
zeugen. Neben  diesem  eingestandenen  Grunde  war  sicher  noch  ein 
zweites  Motiv  vorherrschend,  wie  er  selber  angibt:  er  war  in  den  Mathe- 
matikprofessor verliebt.  Von  diesem  hatte  er  bei  der  ersten  Ohnmacht 
viel  Liebe  erfahren.  ,,Er  trug  mich  aus  der  Klasse,  nahm  seinen  eigenen 
Sessel  für  mich  heraus  und  flößte  mir  Wasser  ein.  Deshalb  vermutlich 
produzierte   ich    gerade    bei    ihm    die  Absenze,    um    das    wieder    zu 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        117 

erleben^)."  Das  Ganze  währte  nicht  einmal  eine  Minute  und  er  hatte  den 
Eindruck,  daß  seine  Kameraden  gar  nicht  an  die  Echtheit  dieser 
Ohnmächten  glaubten,  schon  deshalb,  weil  sie  einzig  und  immer  bloß 
bei  der  mathematischen  Klausurarbeit  kamen. 

»4  jiK^i-  Das  Militär  Jahr 

war,  wie  wir  oben  hörten,  von  Ohnmächten  frei.  Hingegen  erlebte  unser 
Patient     dazumal    einen    als    ,,  Gehirnentzündung"     diagnostizierten 
Zustand,    der  seinen  Abschied   vom  Militär   nach   sich  zog.    Voraus- 
zuschicken wäre,  daß  er  schon  früher,  zwischen  13  und  15,  wenn  er  sich 
schuldbewußt  fühlte,  z.  B.  wegen  Onanie  oder  schlechter  Schulnoten 
und  darum  deprimiert  war,  am  Abend  einen  griechischen  Wahnsinnigen 
mimte.    Hiezu  drapierte  er  sich  mit  dem  Bettlaken,  wobei  er  Schultern 
und  Arme  freiließ  —  also  ähnlich  wie  damals,  da  er  Negerweib  spielte, 
und  aus  analogen  sexuellen  Motiven  —  und  machte  sich  aus  Papier 
zwei  Flöten,  auf  welchen  er  blies.  ,, Einen  Toren  habe  ich  deshalb  ge- 
mimt, weil  ich  wußte,  daß  Geisteskranke  meinen,  sie  wären  Könige 
oder  große  Männer,  außerdem  sind  sie  noch  unverantwortlich,  mich 
konnte  also  keine  Schuld  mehr  treffen.  Doch  spielte  ich  das  nur  für 
mich  selbst,  in  einer  erträumten  Welt.  Beim  Militär  führte  ich  nun 
einmal  eine  andere  Komödie  auf.    Eines  Sonntags  hatte  ich  Kasern- 
arrest und  während  die  andern  in  die  Stadt  zu  Weibern  gingen,  mußte 
ich  mit  einem  Kameraden,  den  ich  nicht  leiden  mochte,  allein  in  der 
Kaserne  bleiben.  Obendrein  masturbierte  ich  zu  jener  Zeit  viel  weniger, 
was  mein  sexuelles  Verlangen  natürlich  noch  steigerte.  Wenn  man  mit 
vielen  Kameraden  zusammen  ist,  die  man  gut  leiden  mag,  spürt  man 
das  nicht  so.  Wir  saßen  also  beide  zusammen  und  er  wollte  sich  mit 
mir  unterhalten.  Ich  aber  spürte  eine  gewisse  Gereiztheit  gegen  ihn 
und  ein  Gefühl  von  Spannung  vorn  an  der  Stirnc.  Alles  erschien  mir 
so  unerträglich  und,  da  der  Mond  hereinschien,   erinnerte   ich   mich, 
daß   er   eine   gewisse   Rolle   beim    Ausbruche   von    Seelenkrankheiten 
spielen  soU,  und  mir  kam  der  Einfall,  Wahnsinn  zu  mimen.  Ich  wußte 
ganz  klar,  daß  ich  nur  Komödie  spielte,  konnte  es  aber  nicht  hindern. 
Mein  Gehirn  war  gespannt,  ich  war  sehr  nervös,  empfindlicher  für  alles 
und  so  deutete  ich  mit  der  Hand  auf  den  Mond  und  sagte  etwas  ganz 

^)  Man  begreift  auch  sehr  gut  das  angenehme  und  beruhigte  Gefühl,  wenn 
er  so  bewußtlos  wurde.  Dahinter  steckt  vermutlich  das  nämliche  Gefühl,  wenn  er 
ganz  klein  von  der  Mutter,  xAmme  oder  Kindermädchen  auf  den  Armen  getragen 
und  in  Schlaf  gewiegt  wurde. 


118  J.  Sadaer 


o' 


Unverständliches.  Dann  nahm  mich  das  Spiel  gefangen  und  ich  wußte 
nicht  mehr,  was  ich  tat.  Zuerst  sah  ich  noch  ganz  gut,  was  ich  machte, 
konnte  mich  aber  selbst  nicht  beherrschen.  Ich  habe  dem  Kameraden 
Angst  eingeflößt,  indem  ich  sinnlose  Worte  ausstieß.  Er  lief  um  den 
Unteroffizier,  ich  ihm  nach  in  den  Korridor,  wo  ich  meinen  Säbel  ergriff, 
und  als  dann  beide  zurückkamen,  hieb  ich  zuerst  auf  ihn  los,  hierauf, 
als  sie  zusperrten,  mit  dem  Säbel  auf  die  Türe.  Dann  kam  noch  mehreres 
dazu,  was  ich  nicht  mehr  erinnere,  endlich  floh  ich  in  mein  Zimmer 
unter  das  Bett  und  man  wagte  nicht,  sich  mir  zu  nähern.  Ich  lag  ganz 
still  unten,  allmählich  aber  verließen  mich  meine  Kräfte,  ich  ließ  meinen 
Säbel  fallen  und  so  zog  man  mich  hervor  und  brachte  mich  zu  Bette. 
Ich  lag  wie  ein  Toter,  mein  Körper  war  ganz  steif.  Ich  hatte  zwar  das 
Bewußtsein,  lag  aber  da  wie  bewußtlos.  Ich  hörte  gut,  was  man  sagte, 
konnte  aber  oder  wollte  nicht  antworten,  ich  weiß  nicht  recht  was, 
und  man  versuchte,  mich  auf  alle  mögliche  Weise  zu  beruhigen.  Ein 
kleiner  Trompeter  saß  neben  mir  und  hielt  meine  Hand,  die  die  seinige 
so  kräftig  umklammerte,  daß  er  sie  nicht  losbringen  konnte,  was  vielleicht 
eine  ganze  Stunde  währte.  Darnach  war  ich  so  müde,  daß  ich  wirklich 
das  Bewußtsein  verlor.  Man  brachte  mich  ins  Lazarett,  wo  ich  erst  am 
folgenden  Nachmittag  um  2  Uhr  erwachte,  ungeheuer  müde  und  kraft- 
los, so  daß  ich  nicht  einmal  dem  besuchenden  Vater  antworten  konnte. 
Ich  blieb  drei  Tage  im  Bette,  machte  eine  Bromkalikur  und  so  endete 
meine  militärische  Laufbahn." 

Aus  dieser  Schilderung  erhellt  ganz  deutlich,  wie  er  zu  Anfang 
mit  vollem  Bewußtsein  Komödie  spielt,  allmählich  aber  dann  das  Un- 
bewußte die  Herrschaft  an  sich  reißt  und  das  Bewußte  willenlos  folgt. 
Bezeichnend  ist  der  Satz:  ,,Ich  wußte  ganz  klar,  daß  ich  nur  Komödie 
spiele,  ich  konnte  es  aber  nicht  hindern."  Ebenso  spielte  er  zuerst 
den  Bewußtlosen,  bis  er  es  schließlich  tatsächlich  wurde.  Auslösendes 
Motiv  für  den  ganzen  Anfall  war  mangelnde  homosexuelle  Befriedigung, 
ja,  mehr  noch  geradezu  Widerwillen  gegen  den  einzigen,  der  sich  ihm 
bot.  In  einem  späteren  Nachtrag  bemerkte  er  hiezu:  ,,Ich  war  in  der 
Militärzeit  furchtbar  adelsstolz,  zumal  wenn  ich  getrunken  hatte. 
Jener  Kamerad  war  nun  der  einzige  Nichtadelige  und  es  war  mir  furcht- 
bar, gerade  mit  ihm  allein  sein  zu  müssen.  Außerdem  war  er  der  einzige 
Kamerad,  der  mich  noch  vom  Gymnasium  her  kannte".  In  der  Schule 
war  der  Graf  in  diesen  auch  verliebt  gewesen,  beziehungsweise  in  seine 
Kraft,  doch  ohne  Gegenneigung  zu  finden.  Ja,  als  er  einmal  Anschluß 
zu  einem  Dreibund  suchte,   wurde  er  direkt  zurückgewiesen.   Beim 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        119 

Militär  nun  mochte  er  ihn  gar  nicht  mehr  leiden,  um  so  minder,  als  jener, 
ein  ungewöhnlich  intelligenter  Offizier,  dabei  bürgerlich  war  und  oben- 
drein damals  mit  einer  Gonorrhoe  behaftet,  was  wieder  bewies,  daß  er 
schon  mit  Weibern  verkehrt  haben  mußte,  ein  Grund  des  Neides  für 
die  Kameraden. 

Alkoholintoleranz  und  alkoholische  Dämmerzustände. 

Im  ersten  Jahre  der  Universität  verkehrte  Patient  nur  mit  reichen 
Kameraden,  mit  denen  er  sich  einem  wüsten  Studentenleben  hingab, 
das  ihn  zum  Säufer  zu  machen  drohte.  Obendrein  zeigte  er  als  echter 
Schwerbelasteter  eine  ausgesprochene  Alkoholintoleranz  mit  Neigung 
zum  Bewußtseinsverlust.  Zumal  wenn  er  den  ersten  Becher  schnell  ex 
getrunken,  verlor  er  es  rasch.  Er  konnte  da  freilich  mit  den  Kameraden 
noch  weiter  Hazard  spielen,  wozu  es  ja  keines  Nachdenkens  bedurfte, 
oder  auch  von  einem  zum  andern  gehn,  um  Punsch  zu  trinken,  so  daß 
diese  nicht  das  Geringste  merkten.  Nur  trieb  er  dies,  wie  er  selber  angibt, 
ganz  automatisch,  ohne  sich  dessen  bewußt  zu  werden,  und  hatte 
auch  nachher  nicht  die  geringste  Erinnerung  daran,  so  daß  er  es  nur  aus 
den  Erzählungen  der  Kameraden  weiß.  Er  vermochte  sogar  eine  Rede 
zu  halten,  ohne  davon  nachträglich  überhaupt  zu  wissen.  Doch  bekam 
er  diese  Dämmerzustände  bloß,  sobald  er  das  erste  Glas  rasch  in  einem 
Zuge  leerte,  auch  verlor  er  das  Bewußtsein  nicht  auf  der  Stelle,  erst  ein 
Weilchen  später.  Hatte  er  zu  Anfang  nur  wenig  getrunken,  und  erst 
nach  und  nach  mehr,  so  wurde  er  überhaupt  nicht  benebelt.  Merkwürdig 
war,  daß  die  andern  gar  nicht  merkten,  er  sei  nicht  mehr  bei  sich.  Sie 
liebten  es  auch,  ihm  im  Übermaß  zu  trinken  zu  geben,  weil  er  dann 
sehr  lustig  wurde,  viele  Dummheiten  machte,  tanzte,  sang,  über  den 
Tisch  setzte,  ja,  sogar  auf  das  Dach  des  Hauses  kletterte  und  von  dort 
auf  ein  Nachbardach  sprangt).  Solcher  Dämmerzustände  dürfte  es 
in  jenem  Jahre  etwa  5  bis  7  gegeben  haben.  Gewöhnlich  wurde  er  zum 

1)  Schon  als  Knabe  von  5  Jahren  liebte  er  es,  sich  von  Erwachsenen  auf 
die  Schultern  heben  zu  lassen  und  so  höher  zu  stehen  als  alle  andern,  zumal  den 
Schwestern  überlegen  zu  sein.  So  tat  er  selbst  mit  10  Jahren  noch  gern.  Noch 
später  liebte  er  auf  Dächer,  hohe  Berge  oder  Bäume  zu  steigen.  In  der  Universitäts- 
zeit trieb  er  seine  Studien  aiji  liebsten  am  Dach,  angeblich  weil  er  da  ganz  allein 
sei  und  mehr  Freiheit  als  im  Zimmer  hätte.  Als  weitere  Erklärung  führt  er  noch 
an,  daß  er  gern  an  Erwachsenen,  namentlich  an  Kindermädchen  hinaufkletterte, 
von  anderen  wieder,  die  ihm  zu  groß  waren,  wie  der  Vater,  ließ  ersieh  heben.  Ähn- 
liche unbewußt-sexuelle  Motive  homo-  wie  heterosexueller  Art  'dürften  auch  dem 
Hinaufsteigen  auf  die  Dächer  bei  der  Mondsucht  zugrunde  liegen. 


120  J.  Sadger. 

Schlüsse  von  Kameraden  nach  Hause  gebracht,  was  ihm  als  Liebes- 
beweis besonders  wohl  tat,  entkleidete  sich  aber  immer  selbst.  Am 
nächsten  Morgen  war  er  wieder  ganz  klar,  erinnerte  jedoch  von  den 
Vorfällen  des  vergangenen  Abends  stets  nur  den  Anfang,  etwa  die  erste 
halbe  oder  Dreiviertelstunde,  dann  kam  ein  Moment,  wo  es  plötzlich 
abschnitt.  ,,Ich  habe  große  Anstrengungen  gemacht,  mir  das  Spätere 
zurückzurufen,  doch  gelang  es  mir  nie.  Ebensowenig  half  es,  wenn 
man  mich  durch  Erzählen  darauf  führen  wollte,  ich  konnte  mich  absolut 
nicht  erinnern." 

Nicht  lange,  so  stellte  sich  heraus,  daß  diese  alkoholischen  Dämmer- 
zustände im  ersten  Universitätsjahre  ihre  Vorläufer  in  der  Militärzeit 
hatten.  Da  liebten  es  die  älteren  Kameraden  nämlich,  ihn  mit  Wein 
besoffen  zu  machen,  weil  er  nicht  trinken  mochte  und  Widerstand 
leistete.  Sie  zwangen  ihn,  mit  jedem  von  ihnen  ein  Glas  zu  leeren, 
worauf  er  bezecht  war  und  erbrach,  ohne  doch  das  Bewußtsein  ein- 
zubüßen. ,,  Einmal  nur  gab  man  mir  ein  volles  Glas  Whisky  ohneWasser- 
zusatz,  worauf  ich  die  Besinnung  verlor  und  alles  austrank,  was  ich 
erblickte,  die  ganze  Flasche  Whisky.  Trotzdem  begab  ich  mich  noch 
allein  zu  Bett,  wie  man  mir  nachträglich  erzählte.  Ein  Kamerad  folgte 
mir  und  sagte:  ,Dort  kommt  ein  Offizier!'  worauf  ich  automatisch 
salutierte,  ohne  etwas  von  mir  zu  wissen."  Als  ich  einwendete,  es  sei 
doch  sonderbar,  daß  er  sich  im  Zustande  der  Bewußtlosigkeit  ins  Bett 
gelegt  habe,  statt  wie  sonst  ein  Besoffener  unter  den  Tisch  zu  fallen, 
das  scheine  einen  sexuellen  Sinn  zu  haben,  entgegnete  er,  für  den  Ka- 
detten sei  das  Bett  das  einzige  Territorium,  welches  er  beherrsche, 
ihm  dünke,  er  sei  in  sein  eigenes  Territorium  geflohn. 

Die  verschiedenen  Sorten  von  Alkohol  wirkten  auch  direkt  auf 
seine  Sexualität,  was  ein  wichtiges  Motiv  für  sein  Trinken  abgab. 
Kognak  z.  B.  dämpfte  sein  Verlangen,  zumal  mit  23,  24  Jahren,  da  er 
sehr  darunter  litt.  Das  einzige  Gedicht  in  seinem  Leben  schrieb  er  auf 
den  Kognak,  weil  dieser  ihn  vom  Weibe  befreite.  Hingegen  verstärkte 
etwas  später  mäßiger  Punsch-  und  Whiskygenuß  sein  Verlangen  nach 
diesem,  während  große  Quantitäten  oder  wenn  er  vom  Punsch  das 
erste  Glas  rasch  hinuntergegossen,  fünf  Jahre  zuvor  die  Dämmer- 
zustände herbeigeführt  hatten. 

Zum  Schlüsse  noch  eine  wichtige  Beziehung  des  Alkohols  zu 
sexuellen  Perversionen.  In  der  Gymnasialzeit  pflegte  Patient  im  Sommer 
eine  Unmenge  schwarzer  Kirschen  und  Beeren  zu  vertilgen,  oft  mehrere 
Liter  täglich.  ,,Ich  nahm  die  Hand  da  immer  ganz  voll  und  schluckte  alles 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        121 

auf  einmal  herunter.  Mich  dünkte  das  etwas  Symbolisches  zu  sein, 
denn  es  schmeckte  ja  nicht  mehr.  Es  könnte  dasselbe  sein,  wie  daß 
ich  später  soviel  trank,  und  das  auch  immer  mit  vollem  Munde,  besonders 
lichten  Punsch  und  eine  Unmenge  leichten  schwarzen  Bieres.  Eigen- 
tümlich war,  daß  mir  das  Verlangen  nach  dem  schwarzen  Biere  immer 
um  die  nämliche  Stunde  kam  (11  Uhr  vormittags)  und  daß  ich  selber 
in  den  Keller  ging,  es  mir  zu  holen.  Das  Bier  war  eigentlich  für  die 
Dienerschaft  bestimmt,  das  Kindermädchen  und  die  anderen.  Und  es 
muß  eine  symbolische  Bedeutung  gehabt  haben,  denn  ich  hatte  sonst 
gar  keinen  Durst.  In  den  letzten  Jahren  trank  ich  keinen  Alkohol  mehr, 
sondern  um  7  Uhr  große  Gläser  Limonade.  Ich  wünschte  eigentlich 
einen  Mundvoll  Flüssigkeit  hinunterzuschlucken.  Die  schwarzen  Früchte 
bedeuteten  wahrscheinlich  Kot,  die  Flüssigkeitsmengen  Jauche  aus  dem 
KuhstaUe,  die  aufgepumpt  wurde  und  die  wir  mit  demselben  Namen 
belegten  wie  das  Bier."  Also  eine  förmliche  Uro-  und  Koprophilie, 
Aber  auch  die  Stunden  seiner  Dipsomanie  sind  nicht  belanglos.  ,,11  Uhr 
ist  die  Klosettstunde  von  Vater  und  Mutter  nach  dem  zweiten  Frühstück. 
Ich  selber  liebte  ferner  in  Gläser  zu  urinieren,  wodurch  es  noch  wahr- 
scheinlicher wird,  daß  der  lichte  Punsch  Urin  bedeutet.  Ich  habe  also 
eigentlich  Urin  getrunken^).  Ein  solcher  ist  auch  die  Limonade,  deren 
täglichen  Genuß  ich  mir  von  meinem  jetzigen  Chef  angewöhnte,  in  den 
ich  verliebt  war.  7  Uhr  war  die  Zeit,  wo  auch  mein  Vater  Punsch  trank. 
Ich  bemerke  noch,  daß  ich  um  14  Jahre  herum,  als  ich  alles  auf  seinen 
Geschmack  hin  prüfte,  auch  Urin  und  Kot  schmeckte." 

Fassen  wir  alles  über  den  Alkohol  Gesagte  nochmals  zusammen, 
so  liegt  zunächst  der  Intoleranz  gegen  geistige  Getränke  sicher  eine 
Disposition  zugrunde  auf  dem  Fundament  einer  schweren  Belastung. 
Daneben  jedoch  spielt,  wie  ich  bereits  bei  des  Kranken  Schwermut 
und  Zornmütigkeit  nachwies,  das  Sexuelle  eine  wesentlich  mit- 
bestimmende, ja  geradezu  meist  die  auslösende  KoUe.  Er  trinkt,  um 
den  Drang  nach  dem  Weibe  zu  dämpfen,  und  gibt  sich  Exzessen  aus 
homosexuellen  Gründen  hin.  Boten  doch  letztere  die  erwünschte  Ge- 
legenheit, sich  vor  geliebten  Kameraden  zu  produzieren,  dann  von  ihnen 
nach  Hause  geleiten  zu  lassen,  was  sicher  ein  starker  Liebesbeweis, 
und  endlich  sogar  sich  vor  ihnen  vollständig  ausziehen  zu  können. 
Er  trank  dann  obendrein  nicht  selten  ohne  Durst  und  Genuß,  nur  um 


^)  Eine  Nachtragserinnerung  vom  142.  Analj'sentage:  ,,Wcnn  ich  in  der 
Museumszeit  deutsches  Bier  trank,  schien  es  mir  wie  Urin  zu  schmecken  und  ich 
schickte  es  unter  dem  Verwände  zurück,  es  sei  ein  schlechtes  Bier." 


122  J.  Sadger. 

große  Quantitäten  einer  Flüssigkeit  zu  schlucken,  die  ihm  den  Urin 
geliebter  Personen  symbolisierte. 

Wir  haben  die  epileptoiden  Zustände  bis  zum  ersten  Universitäts- 
jahre verfolgt.  Ich  hätte  nun  jene  anzuschließen,  die  in 

den  letzten  Jahren  der  Hochschule  und  in  der  Museumszeit 

sich  abspielten.  Die  ersteren  bekam  er  beim  Studieren  zu  Hause  ge- 
wöhnlich jeden  2.  oder  3.  Tag  zwischen  1  und  2  Uhr  nachmittags.  Es 
währte  stets  nur  ein  paar  Sekunden,  daß  er  ganz  geistesabwesend  war, 
was  er  darum  mit  Sicherheit  feststellen  konnte,  weil  er  mit  der  Uhr  vor 
sich  studierte.  Wenn  er  ein  langes  Wort  las,  konnte  der  Anfall  mitten 
im  Worte  einsetzen  und,  wieder  zu  sich  gekommen,  fuhr  Patient  in  der 
zweiten  Worthälfte  fort,  als  ob  nichts  geschehen.  Die  andern  merkten 
nie  etwas  davon.  Als  Ursache  könnte  er  höchstens  etwa  den  Hunger 
angeben,  weil  er  gewohnt  war,  um  2  Uhr  Tee  mit  Butterbrot  zu  nehmen. 
Kamen  diese  Absenzen,  dann  fühlte  er  sich  gar  nicht  wohl,  nach  dem 
Essen  aber,  das  ihm  eine  alte  Zimmerfrau  brachte,  um  vieles  besser. 
Auf  diese  Anfälle,  die  zu  analysieren  sich  mir  die  Gelegenheit  nicht  mehr 
bot,  will  ich  aus  diesem  Grunde  nicht  eingehen. 

Durchsichtiger  sind  die  Attaquen  der  Musoumszeit,  die  weniger 
regelmäßig  kamen  und  auch  viel  seltener,  dafür  aber  bis  in  die  Gegen- 
wart reichen.  Ich  will  dieselben  nicht  mehr  der  zeitlichen  Folge  nach 
ordnen,  sondern  nach  der  Klarheit  und  Verständlichkeit.  Ich  beginne 
zunächst  mit  den  kurzen  Absenzen,  die  seit  den  zwei  Jahren  seiner 
Ehe  beim  Lesen  nach  dorn  Mittagessen,  etwa  ein  Halbstündchen  nach 
beendeter  Mahlzeit,  aufzutreten  pflegten,  und  die  ich  am  besten  jenen 
der  späteren  Universitätszeit  anreihe.  Er  fühlte  da  plötzlich,  wie  es  ihm 
unmöglich  sei,  die  Augen  offen  zu  halten,  ohne  daß  er  aber  schläfrig 
wurde,  die  Lider  schlössen  sich  ganz  von  selbst  und  das  Bewußtsein 
schwand  für  1  bis  2  Sekunden.  In  einzelnen  Fällen  ging  dies  allmählich 
über  in  normalen  Schlaf,  weit  häufiger  jedoch  blieb  es  bei  jenen  kurzen 
Absenzen.  Die  Anfälle  schildert  der  Kranke  so:  ,,Wenn  jene  Zustände 
kommen  wollen,  so  lese  ich  zuerst  ganz  gut  und  mit  vollem  Verständnis, 
dann  auch  noch  gut,  doch  schon  ohne  Erinnerung,  was  ich  las,  so  daß 
ich  es  mir  hernach  noch  einmal  vornehmen  muß,  endlich  folgt  die  Ab- 
senze,  bei  welcher  sich  die  Augen  schließen.  Nach  dem  Erwachen  setze 
ich  beim  nämlichen  Worte  fort,  wo  ich  stehen  geblieben."  Die  Sache 
sieht  typisch  epileptisch  aus,  ohne  es  in  Wahrheit  aber  zu  sein.  Als  ich 
nämlich  nachforschte,   bei  welcher   Stelle  seiner  Lektüre  einmal  die 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        123 

Absenze  gekommen  war,  die  er  mir  als  Tagesereignis  angegeben  hatte, 
trat  Folgendes  ans  Licht :  Er  liest  nach  dem  Essen  immer  Wissenschaft- 
liches. Darin  ist  nun  sehr  oft  versteckt  Sexuelles  für  ihn  zu  finden. 
Er  las  z.  B.  von  mittelalterlichen  Trachten,  die  seine  besondere  Spe- 
zialität darstellen,  und  die  Illustrationen  wiesen  enganliegende  Hosen 
auf      mit     riesigen    Schamkapseln.      Gelangte    er     nun    weiter    zu 
asexuellen  Stellen,  z.  B.  den  Geschützen^),  dann  begann  die  Absenze. 
Solange  er  noch  vom  Sexuellen  las,  wie  etwa  jenen  Trachten,  verließ 
ihn  das  Bewußtsein  nie,  immer  erst  bei  dem  für  ihn  Nichterotischen. 
Dies  läßt  wohl  kaum  eine  andere  Deutung  zu,  als  daß  er  sich  in  die 
Bewußtlosigkeit  flüchtet,  weil  die  ihm  ei-möglicht,  noch  länger  im  Ge- 
schlechtlichen zu  schwelgen,  eventuell  beim  Übergang  in  den  Schlaf 
davon  zu  träumen.  Bezeichnend  ist  noch  ein  weiterer  Umstand.  Zu 
anderen  Malen  nämlich  bekommt  er  auch  wieder  Y2  Stunde  nach  dem 
Mittagessen  und  statt  der  Absenze — ^  f  ast  möchte  ich  sagen:  vicariirend 
—  ein  starkes  Verlangen,  mit  der  Frau  zu  verkehren-).    Auch  dies  be- 
stätigt die  erotische  Natur  jener  Abwesenheiten,  das  Flüchten  in  den 
sexuellen  Genuß,  wie  ich  es  bereits  vor  Jahr  und  Tag  an  dem  ersten 
analysierten  Fall  von  Pseudoepilepsia  hysterica  aufzuzeigen  vermochte^). 
Aber  jene  Absenze  ist  noch  determinierter.  Als  der  Graf  von  den  riesigen 
Schamkapseln  liest,  wird  mit  eins  die  Erinnerung  an  die  eigenen  ersten, 
so  unzweckmäßigen  Hosen  lebendig,  die  bei  jeder-  Notdurft  die  Mit- 
hilfe anderer  notwendig  machten.    Und  er  verliert  sich  in  die  Absenze, 
weil  sie  ein  erinnerndes  Schwelgen  bedeutet,  in  dem  die  Manipulationen 
geliebter  Personen  an  seinen  Genitalien  nochmals  zur  Gänze  ausgekostet 
werden.     Die     Möglichkeit     solcher    Phantasieschwelgereien     in     in- 
fantilen Perversionen  ist  wohl  auch  der  Grund,  weshalb  die  geschlecht- 
lichen Verirrungen  des  Grafen  just  in  puncto  Absenze  in  die  Neurose 
umschlagen.   Sonst  hatte  er  nicht  den  mindesten  Grund,  „nervös"  zu 
werden,  und  zeigt  auch,  abgesehen  von  der  Dysuria  psychica  und  dem 
hysterischen  Anfall  beim  Militär,  kein  einziges  Symptom,  das  über  die 
,, Belastung"  hinausgeht. 

^)  Für  andere  sind  gerade  Geschütze  ganz  ausgesprochene  Sexualsymbole. 

2)  Auffallend  ist  die  Häufigkeit  gewisser  Anfälle  und  neurotischer  Zustände 
nach  dem  Essen,  auch  abgesehen  von  unserem  Grafen.  Dafür  scheinen  doch  or- 
ganische Bedingungen  maßgebend  zu  sein,  die  natürlich  dann  symbolisch  um- 
kleidet werden.  Heranziehen  muß  man  auch  die  Tatsache,  daß  viele  Menschen 
nach  Tisch  das  Bedürfnis  sexueller  Betätigung  haben. 

3)  ,,Ein  Fall  von  Pseudoepilepsia  hysterica  psychoanalytisch  erklärt", 
Wiener  klinische  Rundschau,  Nr.   14 — 17,  1909. 


124  J.  Sadger. 

Komplizierter  und  neuartiger  sind  andere  Ursaclien  der  Absenzen. 
So  empfand  z.  B,  unser  Patient,  wie  er  ausdrücklich  angibt,  beim 
Dehnen  und  Recken  seiner  Arme  ,,ein  direktes  WoUustgefühl",  nicht 
selten  jedoch  kam  es  dazu,  daß  er  beim  Strecken  einenMoment  wie  geistes- 
abwesend ward,  also  wieder  ein  Zusammenhang  zwischen  Wollust 
und  Absenze.  Von  einem  ähnlichen  Konnex  erzählte  ich  schon  oben. 
Er  verlor  für  Augenblicke  das  Bewußtsein,  sowohl  beim  Hantelstemmen 
mit  16  Jahren,  als  wenn  er  beim  Lösen  mathematischer  Aufgaben 
sich  nach  längerem  angestrengten  Schreiben  aufrichtete  und  streckte, 
dabei  die  Rückenmuskeln  stärker  kontrahierte  und  den  Brustkorb 
weitete,  immer  natürlich  vor  geliebten  Personen.  Er  konnte  die  Ab- 
senzen auch  künstlich  erzeugen,  indem  er  Schultern  und  Arme  nach 
rückwärts  einzog  und  die  Brust  vorwölbte.  Noch  deutlicher  trat  die 
Bewußtseinstrübung  bei  plötzlichem  Aufrichten  aus  gebückter  oder 
hockender  Stellung  auf,  wie  z.  B.  dreimal  im  Museum,  da  er  Objekte 
auf  dem  Boden  untersuchte  und  sich  jäh  erhob.  Dann  ähnlich  auch 
am  54.  Tage  der  Analyse,  als  er  morgens  ,,in  Affenstellung"  am  Boden 
seine  Zeitung  las  und  sich  plötzlich  aufrichtete.  Er  verlor  da  zwar  das 
Bewußtsem  nicht  ganz,  wohl  aber  wurde  ihm  schwarz  vor  den  Augen 
und  er  wäre  zweifellos  umgefallen,  hätte  er  sich  nicht  gegen  den  Tisch 
gestemmt. 

Dieser  Anfall  hatte  eine  ganz  interessante  Vorgeschichte.  Zunächst 
erzählte  unser  Patient,  er  habe  am  vorhergehenden  Abend  mit  der  Frau 
verkehrt,  am  Morgen  aber  alles  vergessen,  um  den  Akt  nochmals  aus- 
üben zu  können,  da  er  rasche  Wiederholung  aus  Gesundheitsgründen 
perhorresziere.  Bezeichnenderweise  erinnerte  er  gut  die  Müdigkeit  der 
Frau,  weshalb  er  die  Sache  verschieben  wollte.  Daß  er  es  dann  aber 
trotzdem  getan,  war  ihm  beim  Erwachen  einfach  entfallen.  Allmählich 
erst  kam  ihm  alles  ins  Gedächtnis,  womit  das  bewußte  Verlangen  schwand. 
Jetzt  aber  ergab  sich  die  Schwierigkeit,  aufzustehen,  ja,  die  Augen  zu 
öffnen,  weil  kein  sexueller  Genuß  ihm  mehr  winkte.  Als  er  schließlich 
das  Bett  doch  verlassen  mußte,  ließ  er  sich  sofort  in  Affenstellung 
zusammenfallen,  wie  er  es  beim  Vater  und  den  Zulus  gesehen,  und  las 
so  die  Zeitung,  statt  sich  zu  waschen.  Sein  Lesen  betraf  charakteristischer 
Weise  die  Parteienbildung  in  der  Heimat,  die  aus  homosexuellen  Gründen 
ihn  fesselte,  weil  er  in  den  Führer  der  einen  Partei,  die  jetzt  zur  Regierung 
gelangen  sollte,  recht  lange  verliebt  war.  Da  reißt  ihn  ein  Wort  seiner 
Frau  heraus,  es  sei  schon  spät,  und  als  er  sich  stracks  aufrichten  will, 
kommt  die  Absenze.    ,,Ich  meine,  weil  ich  gezwungen  wurde,  von  der 


Bin  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.         125 

bequemen  Stellung  und  der  interessanten  Lektüre  wegzugehen,  und  dann 
obendrein  noch  die  sexuelle  Unbefriedigtheit." 

Der  Mechanismus  dieser  Absenze  ist  völlig  durchsichtig.  Zunächst 
das  Zurückdrängen  eines  starken  heterosexuellen  Verlangens,  dann 
Flüchten  in  die  Gleichgeschlechtigkeit,  indem  er  sich  durch  die  Affen- 
stellung mit  dem  Vater  identifiziert  und  obendrein  von  einem  andern 
geliebten  Manne  liest.  Als  ihn  die  Frau  nun  auch  da  verscheucht,  folgt 
eine  Absenze,  damit  er  wenigstens  noch  einen  Augenblick  bei  den  Ge- 
liebten und  vielleicht  auch  bei  Phantasien  mit  ihnen  verweilen  könne. 
Zur  Abwesenheit  just  beim  Aufrichten  kommt  ihm  spontan  ein  treffender 
Einfall :  er  selber  sei  ein  symbolisierter  Penis,  der  sich  plötzlich  erigiere. 
Tatsächlich  hat  er  schon  mit  15  Jahren  das  membrum  mit  dem  Ober- 
körper eines  Mannes  verglichen.  Auch  bei  anderen  Patienten  fand  ich 
bestätigt,  daß  die  Anfälle  bei  plötzlichem  Aufrichten  neben  dem  or- 
ganischen Teile,  der  ihnen  zweifellos  zukommt,  die  Phantasie  der 
Erektion  darstellen.  Diese  Kranken  schwitzen  dabei,  werden  rot, 
kurz  benehmen  sich  wie  ein  Penis. 

Eine  neue  Absenze  14  Tage  später  mit  anderer  Erklärung.  Wieder 
das  Hocken  auf  der  Erde  und  Benutzung  der  jetzt  gewonnenen  Erkennt- 
nis :  er  identifiziere  sich  mit  dem  Vater  und  strecke  sich  wie  ein  erigierter 
Penis.  Ob  wohl  die  Absenze  heute  kommen  wird  beim  plötzlichen  Auf- 
stehen? Und  wirklich,  sie  bleibt  auch  jetzt  nicht  aus,  nur  ist  sie  doch 
ein  wenig  verändert.  Zwar  wird  ihm  auch  diesmal  schwarz  vor  den 
Augen,  nur  ist  es  kein  Taumeln,  er  fühlt  bloß  deutlich,  daß  er  sich 
bald  stützen,  bald  halten  müsse.  Auch  kann  er  sich  in  der  gegenseitigen 
Lage  der  Dinge  nicht  gleich  zurechtfinden,  ein  Fenster  scheint  ihm 
höher  zu  stehen  als  das  entsprechende  zweite.  Doch  glaubt  er  nicht, 
daß  ein  anderer  die  Bewußtseinstrübung  erkenne.  Schwester  und 
Kameraden,  die  ihn  in  solchen  Anfällen  beobachteten,  erzählten  ihm 
hinterdrein,  seine  Augen  seien  offen  gestanden  und  hätten  gerollt. 
,,Es  gibt  überhaupt  nichts,  woran  man  die  kleinen  Absenzen  erkennen 
könnte,  wenn  nicht  an  den  Augen.  Das  Ganze  ist  sehr  ähnlich  dem 
Schaukeln  in  der  Kindheit,  bei  dem  die  Objekte  gleichfalls  bald  höher, 
bald  tiefer  stehen.  Auch  muß  man  bei  dieser  Lustbarkeit  sich  bald 
anhalten,  bald  wieder  stützen,  je  nachdem  man  kauert  oder  sich  auf- 
richtet. Und  das  Gefühl  beim  Zurückgehen  der  Schaukel,  da  der  Rücken 
nach  vorne  steht,  ist  ganz  identisch  mit  dem  Einschlafen  in  der  Absenze, 
welches  mir  immer  als  die  höchste  Wonne  erschien.  Wenn  man  nur 
so  in  die  Ewigkeit  einschlafen  könnte !  dachte  ich  öfters."  Wir  sehen 


126  J.  Sad^er 


ö^ 


also  deutlich,  wie  das  Lustgefühl  des  kindlichen  Schaukeins,  das  dem 
Sexuellen  mindestens  äußerst  nahe  steht,  bei  unserem  Kranken  aus- 
nehmend stark  ist,  ihm  geradezu  höchste  Wonne  gewährt,  die  er  in  den 
jetzigen  Bewußtseinstrübungen  einfach  wieder  aufsucht.  Bedenkt 
man  weiters,  daß  er  beim  Geschaukeltwerden  das  Gefühl  des  Zurück- 
fallens  für  identisch  erklärt  mit  dem  des  Einschlafens  in  der  Absenze, 
so  liegt  es  sehr  nahe,  an  das  Wiegen  des  kleinen  Kindes  durch  die  Mutter 
zu  denken,  wobei  jenes  tatsächlich  selig  einschläft.  In  einer  späteren 
Analysenstunde  behauptete  der  Kranke  geradezu:  ,,Das  Einschlafen 
in  der  Absenze  ist  für  mich  die  Befreiung  von  allem  Unangenehmen", 
sowie  ja  bekanntlich  kleine  Kinder  auch  jedes  Unbehagen  vergessen, 
sobald  es  gelingt,  sie  in  Schlaf  zu  lullen. 

Doch  auch  eine  gewisse  konstitutionelle  Verstärkung  des  Lust- 
gefühls beim  Geschaukelt-  und  Gewiegtwerden  dünkt  mich  wahrschein- 
lich. Nicht  bloß,  daß  das  erstere  für  ihn  ein  besonderes  Vergnügen  dar- 
stellte, von  dem  er  fast  nicht  genug  kriegen  konnte,  so  berichtet  er 
noch  von  Schwindel  mit  begleitender  starker  und  lebhafter  Lust- 
empfindung, wenn  er  sich  mit  ausgestreckten  Armen  um  sich  selber 
drehte  oder  beim  Blindekuhspiel  um  seine  eigene  Achse  gedreht  ward. 
Es  scheint,  daß  Schwindel,  ja  vielleicht  sogar  kurze  Bewußtseins- 
trübungen —  und  andere  traten  ja  niemals  auf  —  für  ihn  direkt  wollust- 
betont sind,  was  durch  die  Alkoholintoleranz ^)  noch  körperlich  unter- 
stützt wird,  andererseits  wieder  die  Neigung  zu  hysterischen  Absenzen 
wesentlich  fördert. 

Es  ist  uns  schon  mehrfach  ein  noch  nicht  erklärter  Umstand 
begegnet,  daß  der  Kranke  zuweilen  die  allergrößten  Schwierigkeiten 
hatte,  am  Morgen  aufzustehen,  ja  nur  die  Augen  zu  öffnen.  ,, Genoß 
ich  längere  Zeit  keine  sexuelle  Befriedigung,  so  nehmen  die  Schwierig- 
keiten des  Erwachens  außerordentlich  zu.  Ich  stehe  zwar  auf,  bin  aber 
doch  nicht  recht  wach,  es  scheint  mir,  als  ob  ich  fortwährend  schliefe, 
ich  bin  stets  wie  abwesend.  Dabei  kann  ich  noch  auf  Fragen  antworten, 
doch  nicht  selbständig  denken,  ja,  ich  sehe  nicht  einmal  gut,  auch 
wenn  ich  die  Augen  offen  habe.  Das  begann,  glaube  ich,  mit  18, 19  Jahren. 
Denn  beim  Militär,  wo  man  sehr  früh  aufsteht,  hatte  ich  gar  keine 
Schwierigkeiten,  weil  ich   auch  genügend  homosexuelle  Befriedigung 


^)  Das  war  schon  mit  9  Jahren  der  Fall,  als  er  beim  Diner  zum  ersten  Mal 
ein  wenig  Wein  genoß.  Beim  Aufstehen  fühlte  er  sich  nicht  recht  sicher,  mußte 
sich  auf  die  Stuhllehne  stützen  und  einen  Augenblick  warten,  bis  er  das  Gleich- 
gewicht wieder  erlangte. 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        127 

hatte.  Es  scheint  mir  sehr  wahrscheinlich,  daß  ich  in  diesen  Abwesen- 
heiten sexuelle  Phantasien  habe,  obwohl  ich  gar  nichts  davon  weiß, 
mir  davon  nicht  das  Mindeste  bewußt  ist."  —  „D.  h.  Sie  wollen  nicht 
ganz  bewußt  werden,  um  nicht  aufstehen  oder  arbeiten  zu  müssen, 
und  auf  diese  Phantasien  verzichten?"  —  „Ja,  ich  glaube,  ich  könnte 
erwachen.  Da  kehre  ich  doch  lieber  zu  den  unbewußten  Phantasien 
zurück.  Auch  habe  ich  bemerkt,  die  Absenzen  kommen  nie,  wenn  ich 
leicht  erwache  mit  dem  Gefühle,  gut  geschlafen  zu  haben,  sondern 
nur  nach  einer  unruhigen  Nacht,  wenn  es  mir  schwer  fällt,  mich  morgens 
zu  erheben."^) 

Eine  neue  Schwierigkeit,  aufzustehen,  ergab  sich,  als  heißere  Tage 
kamen.  Er  konnte  Arme  und  Beine  kaum  rühren  und  hatte  die  Em- 
pfindung, als  würde  er  etwas  in  den  Beinen  haben,  das  durch  Massage 
wegzubringen  wäre.  Die  Sommerhitze  führte  seine  Erinnerung  auf  die 
türkischen  (Heißluft-)  Bäder,  in  welchen  ihn  Diener  ganz  nackt  durch- 
massierten (also  Exhibition  vor  diesen)  und  ihm  obendrein  schmei- 
chelten, sein  Körper  sei  so  besonders  geschmeidig.  Wenn  er  sich  aus 
der  Ruhelage  dann  aufrichtete,  bekam  er  regelmäßig  kleine  Absenzen, 
angeblich  wegen  der  Hitze,  so  daß  er  taumelte  und  gegen  die  Wand 
sich  stützen  mußte.  Die  weitere  Nachforschung  ergab  nun  Folgendes: 
Solche  Heißluftbäder  besuchte  er  schon  vor  der  ersten  Ohnmacht  in  der 
Schule.  Wenn  ihn  die  Diener  massierten,  bekam  er  Erektionen,  die  erst 
auf  kalte  Douchen  weggingen.  Auch  sah  er  dort  viele  nackte  Männer, 
was  seine  Gelüste  wesentlich  erhöhte.  „Ich  glaube,  die  türkischen 
Bäder  waren  eine  Art  homosexueller  Befriedigung  für  mich,  namentlich 
die  Massage.  Und  nach  dem  Bade  wird  man  dann  nackt  in  den  Kotzen 
gepackt  und  schläft  eine  Weile." 

Es  blieben  noch  seine  künstlichen  Absenzen  zu  erklären,  die  er 
erzeugte,  indem  er  die  Schultern  nach  rückwärts  zog  und  den  Brust- 
korb vorwölbte.  Gedenken  wir  seines  mächtigen  Interesses  für  die  Hoden, 


1)  Hierzu  noch  folgende  Ergänzung  aus  einem  der  letzten  Analysentage: 
„Vor  zwei  Jahren  habe  ich  im  Pariser  Louvre  die  Abbildung  eines  Mönches  ge- 
sehen, dem  man  an  den  Augen  absah,  wie  schwer  ihm  die  Abstinenz  fiel.  Ich  fühlte 
dies  um  so  besser,  als  ich  gerade  zu  jener  Zeit  mit  derselben  Schwierigkeit  zu  kämpfen 
hatte,  weil  ich  meiner  Frau  versprochen,  ihr  auf  der  Pariser  Reise  treu  zu  bleiben. 
Die  Augen  des  Mönches  waren  förmlich  brennend  und  hatten  einen  Aus- 
druck von  Abwesenheit,  so  weltentrü_^ckt,  von  seiner 
Phantasie  beschäftig  t."  Auf  der  einen  Seite  also  Anknüpfung  an 
seine  eigenen  Absenzen,  andererseits  wieder  an  die  Vorstellung,  jungen  Männern 
an  den  Augen  ihr  sexuelles  Leben  absehen  zu  können. 


128  J.  Sadger. 

dahinter  jenes  für  die  weiblichen  Brüste,  erinnern  wir  uns  ferner  an 
sein  Neger weib- Spielen  schon  in  zartester  Kindheit,  so  wird  uns  die  Deu- 
tung nicht  allzuschwer  werden.  Bei  jener  künstlichen  Erzeugung  vonAb- 
senzen  spielt  er  ganz  einfach  die  eigene  Mutter,  wie  durch  das  Herunter- 
sinken in  die  Knie  beim  Aufstehen  am  Morgen.  Ich  will  hier  ergänzen, 
daß  er  in  der  hockenden,  der  ,, Affen" Stellung,  nicht  bloß  den  Vater 
und  die  Zulus  imitiert,  wie  ich  früher  schon  ausführte,  sondern  auch 
die  Mutter,  die  ganz  ungeniert  vor  dem  Sohne  auf  den  Nachttopf  ging. 
Dieser  hat  ja  dann  auch  viel  länger  als  üblich  in  weiblicher  Weise  auf  dem 
Topf  gesessen  und  empfindet  deutlich  bei  Schwäche  in  den  Beinen 
nach  schwerem  Aufstehen  den  Wunsch,  in  die  hockende  Stellung  zu 
verfallen,  sowie  er  sie  früher  bei  der  Mutter  gesehen.  Wieso  er  jedoch 
durch  bloßes  Zurückziehen  seiner  Schultern  und  Vorwölben  der  Brust 
Absenzen  willkürlich  zu  erzeugen  vermochte,  bedarf  der  Erklärung, 
die  ich  dann  später  versuchen  will.  Hier  will  ich  noch  anfügen,  daß  er 
in  die  Geistesabwesenheit  flüchtet,  nicht  bloß,  um  ungestört  und  länger 
im  Sexualgenusse  verharren  zu  können  und  sich  verschiedenen  erotischen 
Phantasien  hinzugeben,  sondern  auch,  um  alles  bergen  zu  können  vor 
der  Neugier  der  anderen.    Darum  dann  mit  seine  spätere  Furcht,  daß 
man  ihm  die  Absenzen  anmerken  könnte. 

Als  er  nach  diesen  verschiedenen  Aufklärungen  wieder  einmal 
in  hockende  Stellung  verfällt  und  sich  vornimmt,  beim  Aufrichten 
keine  Absenze  zu  bekommen,  gelingt  dies  tatsächlich,  nur  hat  er  dann 
hinterdrein  das  Gefühl,  als  wäre  jene  Absenze  jetzt  weggegangen,  als 
hätte  eine  Spannung  im  Kopfe  sich  gelöst.  Natürlich  ist  dies  Ver- 
schiebung nach  oben  und  die  Lösung  einer  Spannung  im  Kopfe  nichts 
anderes  als  die  Lösung  einer  Erektion.  Bezeichnend  ist  auch,  daß,  wenn 
es  ihm  schwer  fällt,  aufzustehen  und  er's  dennoch  tut,  er  alsbald  in 
hockende  Stellung  zusammenfällt,  weil  es  nach  seiner  spontanen  Er- 
klärung ihm  unmöglich  ist,  die  Beine  durch  längere  Zeit  ,, steif"  zu 
halten. 

Eine  gewisse  Bestätigung  erhielt  diese  Deutung  durch  eine  spätere 
Absenze,  die  abermals  nach  dem  Aufrichten  kam,  wieder  mit  dem 
Gefühl,  als  ob  eine  Spannung  im  Kopf  wegginge,  die  sich  jedoch  da- 
durch von  den  früheren  unterscheiden  ließ,  daß  er  seine  Augen  die 
ganze  Zeit  über  offen  halten  konnte.  ,, Auslösendes  Moment  für  die 
Spannung  im  Kopfe  war  gestern  ein  Brief  des  Vaters,  der  sich  um  die 
Versöhnung  drehte  und  mich  sehr  verdroß.  Hätte  ich  meinen  Zorn  auf 
irgendeine  Weise  auslassen  können,  so  wäre  die  Spannung  nach  meinem 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        129 

Empfinden  sofort  verschwunden.  Ich  hatte  auch  tatsächlich  den  leb- 
haften Wunsch,  den  Brief  des  Vaters  zu  zerreißen  und  zu  verbrennen. 
Ich  vergleiche  die  Spannung  mit  einer  Energie,  die  nicht  abgeführt 
werden  kann  (also  wieder  eine  Erektion,  die  zu  nichts  führt.  Anm. 
des  Autors).  Es  scheint  mir  auch,  daß  die  jetzige  Spannung  nichts 
anderes  als  Zorn  ist,  weil  ich  mich  beherrschen  muß.  Ich  bin  vom  Vater 
her  schon  sehr  jähzornig  und  habe  im  Gymnasium  meine  Zornes- 
äußerungen oft  absichtlich  übertrieben.  Ob  nicht  die  Absenze  über- 
haupt eine  Zornesäußerung  ist,  weil  ich  nicht  ruhig  sitzen  oder  liegen 
bleiben  darf,  obwohl  ich  doch  Frieden  und  Kühe  so  liebe?"  Das  spricht, 
wie  ich  ihm  vorhalte,  wieder  dafür,  daß  er  vor  der  Absenze  just  etwas 
Lustvolles  empfinde  oder  tue,  worin  er  dann  durchaus  verharren  wolle. 
Dies  könne  natürlich  nichts  anderes  sein  als  Sexuelles.  Nur  zu  be- 
greiflich werde  er  bei  jeder  Störung  böse  und  antworte  prompt  mit 
einer  Absenze,  die  dann  einen  Zornausbruch  markiere.  ,,Dies  muß 
ich  als  durchaus  richtig  zugeben.  Daß  ich  es  bekomme,  wenn  ich  mich 
aus  hockender  Stellung  aufrichte,  hat  noch  einen  Grund.  Die  hockende 
Stellung  ist  selber  ein  Sexualgenuß,  weil  da  der  Bauch  zusammen- 
gepreßt wird,  wie  wenn  Stuhl  herauskäme  (was  bei  seiner  starken  Anal- 
erotik schon  seit  der  Kindheit  mit  großen  Lustgefühlen  verbunden). 
Und  der  Zusammenhang  mit  dem  Zorn  erhellt  auch  daraus,  weil  ich 
im  Gymnasium,  wenn  ich  den  Zorn  übertrieb,  den  Atem  einhielt,  um 
das  Blut  so  in  den  Kopf  zu  pressen,  wodurch  ich  daselbst  eine  Spannung 
bekam,  wie  in  den  jetzigen  Anfällen.  Noch  früher  habe  ich  beim  Ma- 
sturbieren  und  später  beim  Orgasmus  des  Koitus  den  Atem  eingehalten, 
wodurch  mein  Gesicht  oft  dunkelrot  wurde.  Ich  erinnere  mich  sogar 
aus  der  Gymnasialzeit  noch  an  direkte  Übungen,  die  ich  anstellte, 
um  meinen  Atem  und  die  Bewegung  des  Herzens  beherrschen  zu  lernen, 
damit  man  mir  die  Masturbation  nicht  anmerken  könne". 

Das  nämliche  Motiv  führt  dann  zu  einer  andern  Beobachtung 
des  Kranken,  die  ihm  bei  den  Anfällen  Furcht  einjagte  und  zu  einer 
falschen  Erklärung  trieb.  Er  bemerkte  nämlich,  daß  nach  jeder  kurzen 
Bewußtseinstrübung  sein  Herz  viel  stärker  und  dabei  erheblich  langsamer 
schlage,  wie  etwa  ,,nach  einer  großen  Angst,  wenn  ich  erschrekt  wurde 
und  Furcht  hatte,  überrascht  zu  werden".  Natürlich  ist  dies  ursprünglich 
Angst  vor  Entdeckung  seiner  Masturbation  und  später  hinwieder, 
daß  man  den  Sexualgenuß  in  seinen  Absenzen  ihm  anmerken  könne. 
Auch  ist  man  ja  oft  bei  der  Onanie  auf  der  Höhe  des  Orgasmus  einen 
kurzen  Moment  wie  geistesabwesend.  Und  ich  glaube  ferner,  es  hängt 

Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psychopathol.  Forschungen.     II.  9 


130  J.  Sadger. 

die  Möglichkeit,  künstlich  Absenzen  zu  erzeugen  durch  Zurückziehen 
der  Schultern  und  Vorwölbung  der  Brust,  mit  seinen  Atemübungen 
zusammen,  in  welchen  er  ,,das  Blut  in  den  Kopf  hinaufpreßte",  richtiger 
den  venösen  Abfluß  hemmte,  was  bei  Disponierten  momentane  Ab- 
senzen herbeiführen  kann.  Er  wähnte  auch  durch  längere  Zeit,  die 
Ursache  seiner  Bewußtseinstrübungen  liege  in  einer  Gefäßverkalkung 
(er  leidet  nämlich  als  väterliches  Erbteil  an  sehr  erweiterten  Haut- 
venen) und  Berstung  eines  Blutgefäßes  im  Gehirn,  weil  ihm  bei  jedem 
plötzlichen  Aufrichten  aus  gebückter  Stellung  das  Blut  in  den  Kopf 
schoß.  Unterstützt  wurden  solche  Vorstellungen  dadurch,  daß  er  in 
seinem  4.  Lebensjahre  Zuschauer  war,  wie  sowohl  die  Mutter  als  das 
Kindermädchen  ohnmächtig  wurden,  da  sie  nach  einer  kleinen  Ver- 
letzung ihr  Blut  fließen  sahen,  und  er  sich  mit  beiden  geliebten  Per- 
sonen in  den  Symptomen  identifizierte.  Endlich,  was  noch  mehr  zur 
sexuellen  Ätiologie  zurückführt,  daß  ein  Verwandter,  der  in  späteren 
Jahren  ein  sehr  liebebedürftiges  Mädchen  freite,  sich  durch  allzugroße 
geschlechtliche  Anstrengungen  einen  Schlaganfall  zuzog,  mit  langem 
Bewußtseinsverlust,  halbseitiger  Lähmung,  Aphasie  und  Verblödung. 
Immer  und  überall  —  das  erweist  ein  jedes  der  angezogenen 
ätiologischen  Momente  —  ist  für  die  Absenzen  und  Bewußtseins- 
trübungen neben  dem  konstitutionellen  Faktor  der  sexuelle  wahrhaft 
entscheidend  und  jeglichen  Anfall  erst  auslösend.  Ja,  ich  möchte  sogar 
noch  präzisieren :  bestimmend  ist  immer  das  Bedürfnis  nach  Geschlechts- 
genuß und  dessen  Verlängerung  in  der  Abszenze  sowie  das  Schwelgen 
in  angeregten  Sexualgenüssen.  In  einzelnen  Fällen  liegt  dies  dermaßen 
auf  der  Hand,  daß  es  Patient  aus  freien  Stücken  selber  ergänzt.  So, 
als  er  z.  B.  einmal  abends  mit  der  Frau  verkehrt  hatte,  trotzdem  dann 
aber  am  folgenden  Morgen  die  Absenze  bekam.  ,,Mir  fehlte  der  homo- 
sexuelle Genuß,  den  ich  in  der  Bewußtseinstrübung  nunmehr  nach- 
holte." Ein  andermal  wieder  schlägt  er  seiner  Frau  den  Koitus  ab, 
weil  er  schon  morgens  genug  getan.  ,,Ich  hatte  selber  starkes  Verlangen, 
allein  mich  störte  die  Theorie.  Ich  hatte  ja  früher  meine  Absenzen  stets 
mit  dem  Geschlechtsverkehr  in  Verbindung  gebracht  und  fürchtete 
auch  das  Beispiel  des  Verwandten  mit  dem  Schlaganfall.  Drum  holte 
ich  die  ersehnte  Befriedigung  jetzt  in  der  Bewußtseinstrübung  nach." 

Theoretisches  über  Pseudoepilepsia  hysterica. 

In  einer  früheren  Studie  (vgl.  Anmerkung  3  auf  Seite  123)  führte 
ich  aus,  daß  sowohl  die  kurzen   Sinnes  Verwirrungen,  als  die  großen 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        131 

epüeptoiden  Ohnmächten  nichts  anderes  darstellten  als  ein  Flüchten 
des  Kranken  in  die  Sexualität  und  Unabhängigmachen  von  jeder 
störenden  Außenwelt,  mit  anderen  Worten  ein  Koitusäquivalent  wie 
vielleicht  die  hysterischen  Anfälle  überhaupt.  Das  trifft  auch  im  jetzigen 
Falle  durchaus  zu  und  ist  für  jede  Einzelattaque  im  Speziellen  nach- 
weisbar. Ich  habe  weiters  im  vorjährigen  Kasus,  bei  welchem  dann 
freilich  mehr  die  länger  währenden,  tiefen  Ohnmächten  mit  Zungenbiß 
im  Vordergrunde  standen,  eine  gewisse  Gewaltsamkeit  des  motorischen 
Apparates  supponiert,  die  sich  sonst  im  Beischlafe  auszutoben  pflege, 
hier  aber  den  einzelnen  Anfall  bestreite.  Diese  letztere  ergänzende 
Ätiologie  ist  nun  bei  unserem  dänischen  Grafen,  der  eigentlich  bloß 
an  ganz  kurz  währenden  Absenzen  leidet  und  obendrein  eine  starke 
familiäre  Disposition  besitzt,  nicht  aufrecht  zu  halten.  Fest  steht  nun 
freilich  auch  bei  diesem  Patienten  die  ausschließlich  sexuelle  Natur 
all  seiner  Attaquen,  daß  sie  Sinn  und  Zweck  und  Entstehung  lediglich 
dem  Bedürfnis  nach  Geschlechtsgenuß  danken:  Nur  scheint  mir  dies- 
mal weit  mehr  als  früher  das  Konstitutionelle  im  Vordergrund  zu 
stehen,  wofür  ja  einerseits  die  Alkoholintoleranz  anzuführen,  auf  der 
andern  Seite  die  bei  Vater  und  Schwester  unseres  Patienten  ja  noch 
viel  stärker  auftretenden  Dämmerzustände. 

Zu  diesem  konstitutionellen  Faktor  kann  ich  nur  sagen,  daß 
mir  drei  Hauptpunkte  aus  den  Symptomen  hervorzustechen  scheinen, 
Punkte,  die  einander  stützen  und  ergänzen.  Zunächst,  was  ein  Stigma 
schwerer  Belastung,  die  Maßlosigkeit  der  Triebe,  hier  vor  allem  des 
Geschlechtstriebes,  dann  eine  angeboren  verstärkte  Neigung,  das 
hemmende  Bewußtsein  auszuschalten,  endlich  Überwuchern,  erhöhte 
Ansprechbarkeit  und  verstärkte  Tätigkeit  des  Unbewußten  bei  besonders 
lebhaftem  Traum-  und  Phantasieleben.  Man  denke  an  die  Redensart 
,, etwas  bis  zur  Bewußtlosigkeit  treiben"  und  dann  auch  daran,  daß  bei 
vielen  Menschen  exzessive  Triebe  jede  Hemmung  des  Bewußtseins 
ausschalten  können.  Vor  allem  schwinden  nicht  wenigen  Individuen 
auf  der  Höhe  des  sexuellen  Orgasmus  wenn  auch  nur  vorübergehend 
die  Sinne.  Von  dieser  noch  fast  physiologischen  Erscheinung  bis  zur 
absichtlichen,  künstlich  erzeugten  Ausschaltung  des  Bewußtseins 
bei  disponierten  Pseudoepileptikern  ist  nur  ein  Schritt. 

Schlußbetrachtung. 

Nachdem  ich  vorstehend  Verlauf  und  Resultate  meiner  Psycho- 
analyse  abgehandelt  habe,   bleibt   noch   die   Frage  zu  beantworten: 


132  .1.  Sadger. 

was  ist  ihr  theoretischer  Gewinn  für  uns  und  der  praktische  Heilerfolg 
für  den  Kranken?  Theoretisch  ergab  sie,  zumal  für  die  Genese  der 
Inversion  nebst  voller  Bestätigung  von  schon  Bekanntem  eine  Reihe 
neuer,  bedeutsamer  Faktoren  und  solche  zum  Teil  auch  für  die  Statuen- 
liebhaberei,   den    Analcharakter,    Alkoholsucht    und    -intoleranz,    die 
verschiedenen  Formen  des  Autoerotismus  und  endlich  den  Zusammen- 
hang von  schwerer  Belastung  und  Sexualität.  Noch  höher  zu  werten 
war  der  Heileffekt  für  den  Patienten  selber.  Trotzdem  der  Fall  an 
Kompliziertheit  nichts  mehr  zu  wünschen  übrig  ließ,  die  Behandlung 
hingegen  kaum  ein  Viertel  der  angesetzten  Kurzeit    gewährt    hatte, 
der  Kranke  sich  darum  wichtige  Erinnerungen,  zumal  an  die  Mutter, 
zurückbehalten  konnte,  sind  doch  die  epileptiformen  Dämmerzustände 
vollständig  geschwunden  und  auch  die  Inversion  erfuhr    einen  ganz 
erklecklichen  Wandel.   Schon  während  der  Analyse  begann  er  seine 
Frau  ,,viel  mehr  zu  lieben"  als  je  vorher  und  Hand  in  Hand  damit  sein 
Interesse  für  junge  Leute  in  Uniform  etwas  abzuflauen.  Er  verkehrte 
spontan  mit  der  Frau  weit  häufiger  und  war  auch  nicht  mehr  hinterdrein 
,, nervös"  wie  in  früheren  Zeiten.  Wenn  er  in  Freuds  Büchern  von  weib- 
lichen Genitalien  las,  so  bekam  er  dabei  die  nämliche  sexuelle  Erregung 
wie   ehedem   bei   Erwähnung   der    Geschlechtsteile   überhaupt,    unter 
welchen  er  sich  bisher  stets  die  männlichen  vorgestellt  hatte.  Kameen 
erregten  ihn  gar  nicht  mehr.  Am  bezeichnendsten  jedoch  war  folgender 
Punkt.  Als  er  mit  seiner  Frau  nach  Wien  gekommen,  war  die  letztere 
auf  alle  jungen  Leute  zumal  in  Uniform  eifersüchtig,  gegen  Ende  der 
Behandlung  aber  kehrte  diese  Regung  sich  gegen  Personen  weiblichen 
Geschlechtes.    Bedenkt   man   die  außerordentliche   Feinfühligkeit   der 
Frau  in  allen  Liebessachen,  dünkt  solcher  Erfolg  mich  am  beweiskräftig- 
sten. Als  die  Kur  beendet  und  er  nach  Krakau  gereist  war,  wo  schon 
die  Mittelschüler  Uniform  tragen,  da  wurde  er  in  den  ersten  drei  Tagen 
durch  diese  Fülle  von  Uniformen  geschlechtlich  erregt  und  fand  dem- 
entsprechend, daß  seine  Frau  ihn  an  den  Studien  hindere.  Bald  aber 
machte  er  sich  selber  begreiflich,  daß  es  eigentlich  eine  urnische  Regung 
sei,  die  ihn  gegen  seine  Frau  aufbringe,  und  mit  dieser  Erkenntnis  war 
alles  vorüber.  Endlich  noch  ein  sehr  bezeichnender  Punkt.  Er  war  in 
die  Heimat  zurückgekehrt  und  hatte  Gelegenheit,  den  vormals  geliebten 
Kellner  zu  sehen.  Da  er  ihn  zum  ersten  Male  wieder  erblickt,  bemerkte 
er  auf  einmal,  dieser  sei  ,, verändert,  ein  wenig  verwachsen  und 
mager  geworden".  Nun  wäre  ja  denkbar,  daß  jener  in  der  Zeit  der  Ent- 
fremdung abgenommen  habe,  doch  daß  er  da  auch  noch  skoliotisch 


Ein  Fall  von  multipler  Perversion  mit  hysterischen  Absenzen.        133 

geworden,  ist  wohl  ausgeschlossen.  Dies  war  er  offenbar  auch  schon 
vorher,  nur  hatte  die  Liebe  des  sonst  so  scharfsichtigen  Patienten 
dafür  kein  Auge.  Kurz  nach  ^Beendigung  seiner  Kur  schrieb  mir 
Patient:  ,,Es  ist  gar  kein  Zweifel,  daß  ich  viel  besser  bin.  Auch  sagt 
meine  Frau,  ich  sei  verändert.  Selber  bemerke  ich,  daß  ich  im  Ver- 
hältnis zu  anderen  Menschen  viel  klüger  und  berechnender  bin  als  früher, 
da  die  sexuelle  Sympathie  eine  so  große  Rolle  spielte.  Ja,  ich  fürchte 
sogar,  daß  dies  in  Herzlosigkeit  übergehen  könne,  denn  ich  bin  ja  doch 
ein  arger  Egoist." 

Ich  glaube,  die  Wissenschaft  wie  unser  Graf,  sie  dürfen  mit  dem 
bisher  Erreichten,  obendrein  in  so  kurzer  Behandlung  Erzielten,  zu- 
frieden sein. 


Aiialytisclie  Uiitersuchungen  über  die  Psychologie 
des  Hasses  und  der  Yersölmimg. 

Von  Dr.  Oskar  Pflster,  Pfarrer  in  Züi-ich. 


Die  Psychanalyse  hat  sich  als  unentbehrliches  Forschungsprinzip 
um  eine  ganze  Anzahl  von  Wissenschaften  verdient  gemacht.  Nach  der 
Neurologie  besetzte  sie  die  Gebiete  der  Psychologie,  Kriminologie, 
Ästhetik,  Mythen-  und  Märchenforschung,  Pädagogik  und  Pastoral- 
theorie. 

Die  vorliegende  Abhandlung  möchte,  nachdem  es  mir  vergönnt 
gewesen  war,  das  Banner  der  Psychanalyse  auf  dem  Boden  der  Päda- 
gogik und  der  Pastoraltheorie  aufzupflanzen,  einen  Vorstoß  in  das 
Land  der  Ethik  wagen.  Freilich  kann  es  sich  noch  nicht  darum  handeln, 
die  ethischen  Kernfragen  dem  Scheinwerfer  der  neu  gewonnenen  heu- 
ristischen Methode  auszusetzen.  Daß  diese  auch  in  den  Prinzipien- 
fragen der  Sittenlehre  mitzureden  hat,  steht  außer  Zweifel.  Über  das 
monistische  oder  dualistische  Moralprinzip  z.  B.  kann  schon  heute  nicht 
mehr  zeitgemäß  verhandelt  werden  ohne  Kenntnis  der  Entdeckungen 
Sigmund  Freuds.  Ob  die  Ethik  allgemein  verbindliche  Pflichten 
oder  nur  gemeingültige  sittliche  Ideale  aufstellen  und  als  Pflicht- 
gebot individuell  verschiedene  Richtlinien  zur  bestmöglichen  Ver- 
wirklichung jener  Ideale  darbieten  soll,  oder  wie  es  sich  in  dieser  Hin- 
sicht sonst  etwa  verhalten  möge,  setzt  ebenfalls  genaue  Beherrschung 
des  psychanalytisch  gewonnenen  Tatbestandes  voraus. 

Vorläufig  scheint  es  angezeigt,  einer  induktiven  Verarbeitung 
des  sittlichen  Sachverhaltes  seine  Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  Auch 
als  Normwissenschaft  kann  sich  eine  moderne  Ethik  dieser  Aufgabe 
nicht  entziehen.  Die  Tage,  da  die  ,, reine  Vernunft"  die  Sittengebote 
konstruieren  sollte,  sind  vorüber.  Schon  die  allgemeine  Frage  nach  den 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       135 

Kennzeichen,  Bedingungen  und  Gesetzen  des  Sittlichen  ist,  wie  Lipps 
betont,  eine  psychologische  Tatsachenfrage^).  Deshalb  fußt  selbst  die 
spekulative  oder  metaphysische  Ethik  eines  AVundt  auf  der  empirischen 
Methode^)  so  gut  wie  die  am  Wohlfahrtsprinzip  orientierte  Sitten- 
lehre eines  Höffding^). 

Die  psychologische  Ergründung  ethischer  Phänomene  fällt  nicht 
nur  wegen  ihres  Objektes  in  die  Domäne  der  Ethik,  sondern  auch  darum, 
weil  die  Exploration  sehr  häufig  von  einer  bewertenden  Tätigkeit 
nicht  zu  trennen  ist.  Der  Sühnebegriff  z.  B.  ruht  offenbar  auf  dem 
Sühnebedürfnis,  welches  seinerseits  auf  unterschwellige,  durch 
Verdrängung  entstandene  Tatsachen  zurückgreift.  Bei  der  analytischen 
Behandlung  des  Dranges  nach  Sühne  nun  schwindet  unter  gewissen 
Bedingungen  der  Sühnetrieb  ebenso  zugunsten  eines  andern  Be- 
wußtseinsinhaltes, wie  etwa  die  Auffindung  der  unterschwelligen 
Ursachen  einer  Angstneurose  der  quälenden  Gemütslage  ein  Ende 
bereitet  und  eine  neue  einleitet.  In  anderen  Fällen  führt  ein  kleiner 
Schritt  von  der  psychologischen  Arbeit  zur  Lösung  ethischer  Probleme. 

Die  folgenden  Erörterungen  setzen  Kenntnis  der  Traumforschung 
voraus.  Ich  möchte  sie  gerne  jedem  Leser  vorenthalten,  der  nicht  durch 
gründliches  Studium  der  Freudschen  Traumdeutung  und  eigene  Ana- 
lysen die  Gesetze  des  subliminalen  Phantasielebens  kennen  gelernt  hat. 

Vortiemerkuiig. 

Max,  geboren  im  Februar  1894,  war  vom  Frühling  1905  an  während 
eines  Jahres  mein  Schüler  und  wies  sich  in  dieser  Zeit  als  intelligentes 
Bürschchen  aus.  Von  da  an  sah  ich  ihn  alle  zwei  Wochen  im  Jugend- 
gottesdienst, bis  ich  ihn  im  Mai  1908  in  den  Religionsunterricht  einer 
hier  nicht  näher  zu  bestimmenden  Schule  aufnahm.  Seine  Leistungen 
zählten  zu  den  besten  der  Klasse. 

Die  in  einem  früheren  Aufsatz"^)  geschilderte  Erkrankung  seines 
Bruders  Arno  gab  mir  anfangs  Oktober  1908  Einblicke  in  das 
gespannte  Verhältnis,  das  zwischen  fast  allen  Familiengliedern  bestand, 
und  in  die  Hysterie  der  Mutter.  Max  berichtete  mir  regelmäßig,  wie  es 
um  seinen  älteren  Bruder  stehe.  War  irgend  ein  Zwist  ausgebrochen, 

1)  Th.  Lipps,  Die  ethischen  Grundfragen,  4. 

2)  W.  Wandt,  Ethik 2,  14  f. 

3)  H.  Hoff  ding,  Ethik  2,  44  f. 

*)  Psychanalytische  Seelsorge    und    experimentelle  Moralpüdagogik.    Pro- 
testantische Monatshefte  1909,  Nr.  1. 


136  •  Oskar  Pfister. 

SO  wiißte  er  so  geschickt  die  eigene  Unschuld  und  das  Verlangen  nach 
Aussöhnung  herauszustreichen,  daß  ich  ihn  für  einen  netten  Jungen 
hielt,  dem  es  nur  an  Willenskraft  fehle,  um  ein  friedliebender  Mensch 
zu  sein.  j:\Jlerdings  bedauerte  ich,  daß  meine  zahlreichen  und  eindring- 
lichen Ermahnungen,  gegen  den  kranken  Bruder  ritterlich  zu  sein, 
keinerlei  nachhaltige  Wirkung  ausübten.  Auch  Ermahnungen  zu  Willens- 
übungen im  Sinne  F.  W.  Försters  fruchteten  wenig,  obwohl  es  dem 
Burschen   nicht  an   Geneigtheit  und  redlichen  Vorsätzen  fehlte. 

Am  12.  November  erzählte  er  mir,  Arno  habe  sich,  seit  er  in 
meiner  speziellen  Seelsorge  stehe,  innerlich  umgewandelt.  Sogar  seine 
Sprache  habe  sich  verändert.  Und  nun  platzte  Max  mit  der  Bitte  heraus, 
ich  möchte  auch  an  ihm  die  neue  Methode  erproben.  Er  rede  nicht  aus 
Neugierde.  Allein  er  fühle,  daß  er  oft  unter  einem  bösen  inneren  Zwang 
handle,  so  daß  er  nicht,  wie  er  möchte,  gut  sein  könne.  Es  sei  sein 
Wunsch,  gleich  seinem  Bruder  ein  neuer  Mensch  zu  werden. 

Erste  (vorbereitende)  Sitzung,  21.  November  1908. 

Max  gesteht  auf  mein  Befragen,  daß  er  sich  seit  4  bis  5  Jahren 
Unehrlichkeiten  zuschulden  kommen  lasse.  Am  14.  Februar  1907  sei 
er  überdies  durch  einen  Kameraden  zur  Onanie  verleitet  worden,  vor 
welcher  man  ihn  nicht  gewarnt  hatte.  Damals  sei  starke  Reue  über 
ihn  gekommen,  auch  haben  die  heftigen  Vorwürfe  über  Unehrlichkeit 
und  Grobheit  erst  jetzt  eingesetzt.  Die  Willenskraft  ließ  sehr  zu  wünschen 
übrig.  Erst  als  Max,  durch  meinen  Religionsunterricht  angeregt,  Willens- 
übungen vornahm,  z.  B.  nächtliches  Aufstehen  mit  Abwaschungen, 
früher  Beginn  der  Aufsätze,  wuchs  die  WiUensenergie,  aber  nur  wenig. 

Den  Vater  schilderte  Max  als  wohlgesinnt,  früher  gelegentlich 
zornig,  aber  weichherzig,  die  Mutter  dagegen  als  nervenleidend,  daher 
aufgeregt,  tadelsüchtig,  mitunter  kleinlich.  Arno  wollte  er  sehr  lieben; 
er  sehne  sich  danach,  gut  mit  ihm  zu  stehen.  Der  kleine  Bruder  war 
ihm,  wie  er  angab,  recht  lieb. 

Über  sich  selbst  interpelliert,  rühmte  der  Knabe  sein  weiches 
Herz.  Beim  Anblick  eines  Armen  werde  er  sehr  gerührt.  Auffallend 
war  eine  gewisse  Todesfurcht  neben  ausgesprochener  Todessehnsucht. 
Er  bemerkte:  ,,Ich  wurde  einst  chloroformiert  und  erinnere  mich,  wie 
ich  entschwand.  Jetzt  denke  ich  oft  daran,  wie  es  wäre,  wenn  ich  sterben 
müßte,  wie  die  anderen  weinten.  Ich  träumte  schon  oft  vom  Tode  des 
Bruders  oder  der  Mutter.  Der  Betreffende  (so!)  liegt  dann  tot  im  Bette. 
Das  tut  mir  weh,  und  ich  denke,  ich  wäre  lieber  tot  und  gar  nicht  auf 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.        137 

der  Welt.  Ich  wollte,  meine  Stellung  zur  Mutter  wäre  besser.  Wenn 
sie  schilt,  so  mache  ich  meinem  Zorne  in  Grobheiten  Luft,  was  ich 
nie  in  ihrer  Gegenwart,  dagegen  nachher  in  der  Einsamkeit  sehr  bereue." 
Die  stereotypen  Träume  verraten,  daß  der  anscheinend  gut- 
mütige Bursche  Bruder  und  Mutter  tot  wünscht,  die  frevelhafte  Be- 
gierde aber  unterdrückt. 

I.  Komplexpliantasieii  im  Zeichen  des  Hasses. 

Zweite  Sitzung,  25.  November. 

Max  erzählt,  daß  er  seit  einem  Monat  nicht  mehr  onaniere  und  sich 
deshalb  wohler  fühle.  Auch  sei  sein  Denken  klarer  geworden.  Kom- 
pensationserscheinungen sind  bis  jetzt  nicht  wahrzunehmen. 

Am  Vorabend  hatte  er  mit  dem  kranken  Arno  Streit,  weil  er 
sich  bei  brennender  Lampe  entkleidete.  Der  Bruder  nannte  ihn  Quatsch- 
kopf, Wasserschädel  u.  dgl.  Max  benutzte  die  Gelegenheit  zur  Willens- 
übung und  schwieg,  was  ihn  nachher  freute.  Den  Wert  dieser  asketi- 
schen Verdrängung  werden  wir  alsbald  kennen  lernen. 

Da  ich  gewiß  war,  daß  der  Groll  gegen  den  Bruder  mit  peinlichen 
Erlebnissen  zusammenhing,  die  aus  der  Erinnerung  verdrängt  worden 
waren,  ließ  ich  mir  alle  Szenen,  die  durch  bloßes  Verhör  ins  Bewußtsein 
gezogen  werden  konnten,  ausführlich  mitteilen.  Natürlich  ergaben  sich 
zahlreiche  Prügeleien,  deren  letzte  2  bis  2^1^  Jahre  zurücklag.  Stets 
war  Max  der  leidende  Teil,  das  unschuldige  Lämmchen. 

Als  auf  diesem  Wege  nichts  mehr  hervorzuholen  war,  griff  ich  zum 
Assoziationsexperiment,  dem  ich  anfangs  das  Schema  von  Jung  zu- 
grunde legte,  um  aber  bald  nach  Jungs  und  Stekels  Vorgang  zur  freien 
Assoziatiönskette  überzugehen.  Ich  bin  ein  wenig  in  Verlegenheit, 
wie  ich  die  Ergebnisse  darstellen  soll.  Gebe  ich  den  Gang  der  Unter- 
suchung protokollarisch  wieder,  so  sind  kleine  Verwicklungen  nicht 
zu  vermeiden.  Trachte  ich  nach  säuberlicher  Ordnung,  so  fehlt  dem  Leser 
der  Einblick  in  meine  Arbeitsmethode.  Ich  wähle  daher  das  erstere 
und  begnüge  mich  damit,  Erklärungen  und  Nachträge  in  runden 
Klammern  anzuführen.  In  eckigen  Klammern  findet  der  Leser  meine 
an  den  Schüler  gerichteten  Worte. 

[Ich  werde  dir  jetzt  einzelne  Worte  zurufen.  Sofort  wird  dir  ein 
anderes  Wort  in  den  Sinn  kommen.  Du  teilst  es  mir  sogleich  mit,  auch 
wenn  es  dir  dumm  oder  häßlich  erscheinen  sollte. 


138  Oskar  Pfister. 

Kopf.]  Verstand.  Zwischenzeit  3,2  Sekunden.  [Was  fällt  dir  jetzt 
ein?]  Im  Kopf  ist  Verstand.  [Weiter!]  Leute  mit  verstörtem  Gesichte 
sind  irr.  Die  meisten  sind  unheilbar.  (Nachtrag  vom  29.  November:) 
Wenn  mein  Bruder  unheilbar  würde,  so  müßte  er  sterben.  (Arno  war 
infolge  von  Hysterie  geistesgestört.  Vgl.  Protestantische  Monatshefte 
1909,  Seite  13.  Max  verrät  wieder  seinen  verdrängten  Wunsch,  der  Bruder 
möchte  sterben). 

[Grün.]  Rot.  2  Sekunden.  Grün  ist  die  Farbe  der  Hoffnung. 

[Wasser.]  Leiche.  4  Sekunden.  Schiff,  ein  Ertrunkener.  Ich  sah, 
wie  ein  Ertrunkener  in  ein  Schiff  gezogen  wurde.  [Nenne  alle  Worte, 
die  dir  jetzt  in  den  Sinn  kommen!]  Baden,  schwimmen,  Bade- 
anstalt, Badewärter,  Grund,  Seegras,  Haifisch,  Erde,  Stein, 
Sprungbrett,  Luft,  Kette,  Balken,  Unterseeboot,  Mann- 
schaft, keine  Luft,  ertrunken,  Taucher,  Taucherglocke, 
Gold,  Strickleiter.  [Was  kommt  dir  jetzt  in  den  Sinn?]  Im  Kine- 
matographentheater  sah  ich  zwei  Taucher,  die  Gold  fanden.  Einer 
durchhieb  den  Luftschlauch  des  andern,  nahm  das   Gold  und  stieg 

empor. 

[Baden.]  Weil  mein  Bruder  viel  badet.  Ich  auch  sehr  gerne. 

[Schwimmen.]  Mein  Bruder  behauptet,  er  sei  vom  Sprungbrett 
aus  fast  bis  auf  den  Grund  getaucht.  Dies  macht  mir  einen  tiefen  Ein- 
druck. Es  schauert  einen  ganz.  Ich  tauchte  einmal  an  einer  weniger 
tiefen  Stelle  auf  den  Grund.  Das  Ertrinken  kommt  mir  in  den  Sinn. 
Ich  sah  im  Kinematographentheater,  wie  einer  ertrinkt. 

[Seegras.]  Man  kann  darin  hängen  bleiben.  Dies  passierte  mir 
einmal. 

[Erde.]  Der  Grund  des  Wassers.  Dunkelschwarz.  Das  Grab  im 
Busento.  (Nachtrag  vom  29.  November:) Darin  ist  einer  auf  einem Pfe-d, 
groß,  stramm,  bleich.  Es  ist  mein  Bruder. 

[Kette.]  Außen  an  der  Badeanstalt  beim  Fäßchen.  Ai-no  ging 
einmal  dort  in  die  Tiefe  und  blieb  etwa  10  m  unter  dem  Wasserspiegel 
mit  einem  Finger  hängen.  Er  sagte  dann,  er  halte  nicht  viel  vom  Leben, 
er  mache  gerne  lebensgefährliche  Sachen,  wie  Schleifenbahn  mit  dem 
Velo. 

[Unterseeboot.]  Ich  sah  auf  einem  Bilde,  wie  die  Mannschaft 
eines  solchen  erstickte.  (29. November  1908:)  [Kennst  du  jemand  davon?] 
Der  Kapitän  ist  Arno. 

[Taucher.]  Der  ertrinkende  Taucher  im  Kinematographentheater. 
Man  sieht  das  bleiche  Gesicht  durch  das  Glas.  Der  Mann  war  groß 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.        139 

und  schwarz.  Wir  bekamen  aus  einem  Panoptikum  eine  lebensgroße 
Wachsmaske,  die  einen  sterbenden  König  darstellte.  Die  Augen  waren 
nach  oben  gerichtet.  Arno  setzte  diesen  Kopf  einmal  auf  seine  Schultern 
und  schlug  ein  Leintuch  um  sich.  Da  sah  er  wie  ein  Geist  aus.  Ich  er- 
schrak sehr.  Der  sterbende  Taucher  erinnert  mich  an  jenes  Wachsbild. 
(Man  sieht  deutlich  die  Verdrängungsarbeit:  Max  meint  natürlich 
den,  der  in  der  Wachsmaske  steckt,  Arno,  läßt  aber  diese  Vorstellung 
nicht  aufkommen.) 

[Der  Mörder.]  Er  war  ein  kleinerer  Mann.  Sein  Gesicht  sah  man 
nicht.  Er  hatte  große  Furcht  vor  der  Einsamkeit  ( !)  und  weil  er  den 
andern  tötete.  [Bilde  eine  Reihe!]  Mitleid,  Strafe,  Kapitän,  sucht 
nach  dem  Mörder,  elektrisch  er  Stuhl,  Vergangenheit,  Himmel, 

Hölle,  Weltgericht,  Gott,  Abraham,  Lazarus,  der  reiche 
Mann,  Kluft,  Wasser,  Brüder,  Lazarus  auf  dem  Schemel 
bei  Gott,  die  Bitte  des  Reichen,  der  Mann,  der  sich  im  Himmel 
einen  Palast  wünschte,  mit  dem  Petrus  Mitleid  hatte,  der 
Mann  auf  den  Zehenspitzen,  der  durch  das  Astloch  schaut, 
das  Gottesreich.  (29.  November:)  Der  Mörder  ist  klein,  flink,  kurz- 
armig, habsüchtig,  geldgierig,  roh.  [Wer  ist's?]  Ja,  ich.  Das  bemerkte 
ich  schon  am  25.,  dachte  aber,  es  habe  keinen  Wert.  Ich  bin  doch  im 
gewöhnlichen  Leben  nicht  roh?  [Nein.  Aber  du  bist  das,  was  die  Sprache 
so  trefflich  „zwiespältig"  nennt.  Du  hegtest  schon  böse  Wünsche  und 
wolltest  sie  vertreiben.  Das  ist  dir  nicht  völlig  gelungen.  Daher  dein 
Groll,  dein  dunkler  Trieb  zum  Bösen.] 

(Die  ausführliche  Analyse  würde  uns  zu  weit  führen.  Hier  das 
Ergebnis :  Der  Mörder,  Max,  wird  auf  dem  elektrischen  Stuhl  (siehe  unten) 
hingerichtet,  tröstet  sich  indessen  durch  die  Hoffnung,  er  müsse  nicht 
wie  der  reiche  Mann  im  Gleichnis  Jesu  ewige  Höllenpein  dulden,  sondern 
werde  wie  der  Reiche  in  der  schönen  Erzählung  von  Volkmann-Leanders 
in  der  Hölle  ein  prächtiges  Schloß  voll  Gold  empfangen,  auf  den  Zehen- 
spitzen stehend  durch  ein  Astloch  den  Himmel  sehen  und  endlich  selig 
werden.   Im  Mann  auf  den  Zehenspitzen  erkennt  Max  deutlich  sich 

selbst.) 

[Was  hast  du  jetzt  gemerkt?]  Ich  bin  zu  habsüchtig,  und  doch 
ist  Arno  nicht  so  bevorzugt  wie  ich.  [Hast  du  jemals  mit  Wissen  deinem 
Bruder  den  Tod  gewünscht?]  Ganz  offen  gesagt:  Ich  mag  es  nicht 
hören,  wenn  mein  Bruder  sagt,  es  sei  ihm  gleichgültig,  wenn  er  ertrinke. 
Mit  10  Jahren  war  ich  einmal  dem  Ertrinken  nahe.  [Hat  dein  Bruder 
schon  gesagt:  Ich  bringe  dich  um?]  Ja,  aber  ich  nahm  es  nicht  für  wahr 


140  Oskar  Pfister. 

und  entgegnete  nichts  ähnliches.  Ich  bin  ganz  sicher,  daß  ich  Ai"no  nie 
tot  wünschte. 

[Stechen.]  Schmerz.  2,2  Sekunden, 

[Engel]  Gott.  1  Sekunde. 

[Lang.]  Straße.  2,4  Sekunden. 

[Schiff.]  Kapitän.  2,4  Sekunden.  Arno  will  Kapitän  werden. 

[Pflügen.]  Acker.  2,6  Sekunden. 

[Wolle.]  Strumpf.  2,2  Sekunden. 

[Freundlich.]  Freund.  2  Sekunden.  Jeder  soll  einen  Freund  haben. 
Brugger  ist  meines  Bruders  Freund,  auch  ein  wenig  der  meine. 

[Tisch.]  Decke.  2,6  Sekunden.  Auf  dem  Tische  wird  das  Mittag- 
essen eingenommen. 

(Man  sieht  aus  diesen  Beispielen,  daß  die  Assoziationen  zwar 
oft  wichtige  Vorstellungskomplexe  angeben,  allein  durch  das  neue 
Reizwort  wird  der  Eintritt  in  die  tieferen  Bewußtseinsschichten  oder  — 
auf  den  Namen  kommt  hier  wenig  an  —  in  die  heikleren  Regionen 
des  Unterbewußtseins  verwehrt.  Ich  kehre  darum  zur  freien  Kette 
zurück^). 

[Tisch,  Decke.]  Tischnachbar,  Fräulein,  Gesellschaft, 
Bier,  fünf  Gänge,  Caligula,  grausam,  verschwenderisch, 
Nero,  wenn  die  Römer  nur  einen  Kopf  hätten,  so  würde 
er  auch  diesen  abschlagen,  sagte  er  zu  seinen  Tischgenossen. 
Da  fragte  ihn  ein  Freund,  warum  er  lache.  Cäsarenwahn, 
Cäsar,  Brutus,  Cin na,  wurde  vom  Volke  zerrissen.  Die  übrigen 
waren  geflohen.  Pompejus,  Rom  von  Nero  verbrannt..., 
Eitelkeit,  Dichter,  Schauspieler.  —  Mit  mir  stirbt  ein  großer 
Mann,  Nero  war  sehr  feig.  Er  ließ  sich  von  seinem  Sklaven 
töten.  Dnjestr,  ich  weiß  nicht,  warum,  Fluß,  Rußland,  Zar, 
Moskau,  Kreml,  Kirche,  Ausrufer,  Halsweh,  Doktor,  Schmer- 
zen, Tod,  die  Verpflichtung,  die  Verantwortung  des  Doktors, 
seine  zerstörte  Praxis,  Student,  Bursche,  Herr  A.,  englisch. 

(Die  ersten  Assoziationen  beziehen  sich  auf  einen  vergnügten 
Ferienaufenthalt.) 


^)  Als  ich  die  Untersuchung  vornahm,  war  ich  mit  den  Feinheiten  der 
Jung  sehen  Assoziationsforschung  nur  so  weit  bekannt,  als  Publikationen  vor- 
lagen. Ich  möchte  nicht  unterlassen,  zu  bemerken,  daß  für  den  Kundigen  das 
schUchte  Assoziationsexperiment  nach  Jungs  Schema  sehr  viel  rascher  als  die 
freie  Kette  auf  alle  verschiedenen  Komplexe  hinweist  und  somit  der  Analyse 
Ansatzpunkte  verschafft. 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       141 

[Bier.]  Reizt  die  Geschlechtlichkeit.  Als  ich  einst  keines  bekam, 
verlor  ich  jeden  Reiz  zur  Onanie. 

[Fünf  Gänge.]  Soviel  erhielten  wir  eines  Tages. 

[Caligula.]  Lebte  auch  sehr  verschwenderisch  und  aß  viel.  (29.  No- 
vember:) Der  Name  interessiert  mich  viel  mehr  als  alles  andere.  (Er- 
klärung später.)  Ich  glaube,  er  war  der,  welcher  im  Cäsarenwahnsinn 
zwei  Tage  mit  Wagen  und  Pferden  über  eine  Brücke  fuhr.  Er  ist  groß 
und  hat  eine  schwarze  Nase.  Er  ist  mein  Bruder  (der  auch  geisteskrank 
war  und  übertrieben  viel  Velo  fährt.  Caligula  wurde  bekanntlich  er- 
mordet). 

[Grausam.]  Nero  lebte  auch  verschwenderisch  und  grausam. 
Er  war  auch  sehr  eitel.  Kürzlich  redeten  wir  von  ihm  in  der  Geschichte. 
Ich  las  einmal  ein  Sherlock-Holmes-Buch,  auf  welchem  Nero  mit  den 
lebenden  Fackeln  abgebildet  war.  Darin  wurde  geschildert,  wie  ein 
Maler  seinen  Gehilfen  an  ein  Kreuz  band  und  in  seinem  Atelier  ver- 
brennen ließ,  um  die  Züge  des  Sterbenden  zu  studieren  und  abzumalen. 
Ein  andermal  brachte  der  Bruder  des  Malers,  ein  Mann  mit  großem, 
schwarzem  Mantel,  großem  Schlapphut  und  Bockbärtchen  ein  Fräulein, 
das  der  Künstler  auch  verbrannte.  Das  zuerst  gefertigte  Bild  gewann  in 
der  Ausstellung  den  ersten  Preis.  Ein  Fräulein  besah  es  und  fiel  in 
Ohnmacht,  da  es  in  dem  verbrennenden  Jüngling  den  Bräutigam  er- 
kannte. Der  Maler  wurde  auf  dem  elektrischen  Stuhle  hingerichtet, 
sein  Bruder  kam  ins  Gefängnis.  (29.  November:)  Das  verbrannte 
Fräulein  war  eine  schöne  Blondine  mit  blauen  Augen.  [Einfall?]  Es 
ist  ein  Mädchen,  namens  Berta.  Arno  und  ich  rissen  sie  oft  umher, 
wobei  wir  aufgeregt  wurden.  Unsere  Liebeswerbungen  wies  sie  zurück, 
weshalb  Arno  wütend  auf  sie  wurde.  [Bilde  eine  Kette !]  Berta,  blond, 
schlank,  jetzt  kommt  mir  etwas  in  den  Sinn:  mein  Bruder  sah  sie 
einmal  beim  Waschen  unbekleidet. 

(Arno  ist  somit  der  Verbrecher,  der  am  Schlüsse  hingerichtet  wird, 
Max  sein  Bruder.  Beide  zerrten  jenes  Mädchen  umher.  Die  bei  der 
Toilette  betrachtete  Berta  wird  zum  brennenden  Modell,  das  vom 
Maler  studiert  wird.  Die  sexuelle  Brunst  wird  auf  das  Arno  und  Max 
gemeinsam  erregende  Sexualobjekt  transponiert.  Man  beachte,  daß 
ich  vergaß,  nach  dem  gekreuzigten  Gehilfen  zu  fragen.  Infolgedessen 
taucht  das  noch  nicht  völlig  herausgezogene  Material  sechs  Wochen 
später  (5.  Januar)  plötzlich  in  ganz  anderem  Zusammenhange  wieder  auf.) 

[Der  Bruder  des  Malers.]  Der  fliegende  Holländer. 

[Warum  er  so  lache.]  Caligula  lachte  höhnisch,   aber  er  dachte 


142  Oskar  Pfister. 

etwas  Gemeines.  (Arno  pflegt  zu  lachen,  wenn  er  mit  bösem  Gewissen 
redeti.) 

[Cäsar.]  König  von  Rom.  Empereur.  Cäsar  Brugger.  Cäsar  ist  der 
richtige  Vorname  des  Knaben,  an  den  ich  denke. 

[Brutus.]  Der  beste  Freund  meines  Bruders,  der  ihn  kürzlich 
zu  seinem  intimsten  Freund  erklärte.  Deswegen  bin  ich  auf  ihn  eifer- 
süchtig. (29.  November:)  Brutus  tötete  sich  selbst.  Brugger  macht  oft 
verwegene  Bergtouren.  Er  ißt  sehr  viel.  [Und  ^Vrno?]  Arno  wenig. 
(Wahrscheinlich  eine  Eifersuchtsphantasie:  Max  wünscht,  daß  Arno, 
weil  er  den  Bruder  verschmäht,  am  Freunde  so  schlechte  Erfahrungen 
mache,  wie  Cäsar  an  Brutus.  Beide  Freunde  werden  zweimal  iden- 
tifiziert: Cäsars  Name  geht  auf  Brugger,  Cäsars  Schicksal  als  eines 
Ermordeten  auf  Arno  (vgl.  auch  ,, Cäsarenwahnsinn").  Caligula  als 
wahnsinniger  Wagenlenker  repräsentiert  den  Bruder,  als  Vielesser 
dessen  Freund.) 

[Cinna,  wurde  vom  Volke  zerrissen.]  Unschuldig.  Keller,  ein  anderer 
Freund  Arnos,  wird  viel  geneckt,  ohne  es  zu  verdienen. 

[Pompe jus.]  War  ein  Herrscher.  Weiteres  weiß  ich  nicht.  Doch ! 
Die  Stadt  Pompeji  geht  mich  persönlich  nahe  an. 

(Die  Vorstellung  von  der  Ermordung  des  Pompejus,  hinter  dem 
natürlich  Max  als  Rivale  Cäsars,  Arnos  und  Bruggers  steckt,  wird 
so  recht  geschickt  abgeleitet.) 

[Eitelkeit.]  Kunstfahrer. 

[Neros  Eitelkeit.]  Mein  Bruder,  den  ich  schon  oft  für  eitel  hielt. 

[Dichter.]  Schiller,  Goethe,  Kraniche  des  Ibykus,  Homer,  Odyssee, 
Penelope,  Meer,  Schiff,  Untergang,  Insel,  Hungersnot  .  .  .,  Kinder  des 
Odysseus,  Kleid,  Frau,  Faden,  Nadel,  Schmerz,  Empfindungsnerven, 
Gehirn,  Bein,  Unglück,  Sanitätswagen,  .  .  .  Eisfeld,  Zollstraße,  H-'rn- 
erschütterung.  Arno  ist  Dichter,  er  macht  Verse. 

(Die  Analyse  kann  nicht  wiedergegeben  werden.  Die  Odyssee 
schildert  eine  schmerzliche  Familiengeschichte,  Arno  erlitt  vor  fünf 
Jahren  auf  dem  Eisfeld  eine  Hirnerschütterung  und  wurde  sanitäts- 
polizeilich nach  der  Zollstraße  verbracht.) 

[Schauspieler.]  Bühne,  Sängerin,  Gesang,  Ehre,  .  .  .  Fenster, 
See,  Himmel,  Tiefe.  Arno  wollte  einmal  Schauspieler  werden,  weil 
man  als  solcher  zu  Ehren  gelangen  kann.  (Nero  ist  eitel!)  Als  ich  einst 
Theater  spielte  und  ein  Mädchen,  das  ich  von  ferne  liebte,  anwesend 


*)  Protestantische  Monatshefte,  Seite  21. 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       143 

war,  wurde  ich  beim  Blick  auf  die  Straße,  wie  seit  einigen  Jahren  immer, 
wenn  ich  an  einem  Fenster  stehe,  von  Angst  befallen.  [Hast  du  denn 
schon  eine  starke  sexuelle  Aufregung  erfahren?]  Vor  fünf  Jahren  sah 
ich,  wie  im  Walde  einige  Kameraden  sich  entkleideten  und  aufeinander 
lagen.  Mein  Bruder  und  ich  taten  es  nicht,  gerieten  aber  in  Aufregung. 
[Damit  ist  vielleicht  deine  Furcht  vor  dem  Abgrunde  bereits  erklärt. 
Das  Mädchen  hat  die  früher  erregten  Triebe  aufgewühlt.] 

[Nero  ließ  sich  von  einem  Sklaven  töten.  Hinter  Nero  steckt  doch 
offenbar  dein  Bruder!]  Das  stimmt  ganz  genau  mit  meinen  Einfällen, 
aber  nicht  mit  meiner  wirklichen  Gesinnung.  (29.  November:)  [Be- 
schreibe den  Sklaven !]  Er  war  kleiner  als  Nero,  schwarz,  ein  Mulatte, 
nackt,  mittelfest,  hält  dem  Nero  einen  Dolch  an  die  Gurgel.  Er  muß 
auf  den  Zehen  stehen.  Ich  bin's !  (Ein  sehr  interessanter  Wachtraum ! 
Max  erscheint  auf  den  Zehen  stehend,  wie  in  der  Gestalt  des  reichen 
Mannes,  weil  er  als  solcher  der  ewigen  Höllenpein  entgeht.  Als  Mulatte, 
erscheint  er,  da  seine  heiß  begehrte  Berta  einen  Neger  heiratete,  der  auf 
den  verliebten  Arno  eifersüchtig  sein  könnte,  und  Max  gerne  in  dessen 
Lage  wäre,  teils  als  Ehemann,  teils  als  kräftiger  und  rachsüchtiger 
Verteidiger  seiner  Liebe.  Möglicherweise  hat  Max  das  Wort  des  Caligula : 
,,Wenn  die  Römer  doch  nur  einen  Kopf  hätten,  so  könnte  ich  sie  auf 
einmal  köpfen"'  dem  Nero  beigelegt,  um  die  Wollust  der  Rache  in  der 
Ermordung  lebhafter  zu  fühlen.  Der  Mörder  vollzieht  nur,  was  ihm 
vom  Ermordeten  selbst  zugedacht  und  aufgetragen  war  —  eine  recht 
findige  Beschwichtigung  des  Rachetriebes.  Der  Schnitt  in  die  Gurgel 
mag  auch  durch  den  wächsernen  Kopf  des  sterbenden  Königs  deter- 
miniert sein.) 

[Dnjestr,  ich  weiß  nicht,  warum.]  Wir  besprachen  diesen  Fluß 
unlängst  in  der  Geographiestunde.  Er  fließt  ins  Schwarze  Meer.  Jetzt 
kommt  mir  das  Tote  Meer  in  den  Sinn.  Es  ist  salzig,  Körper  schwimmen 
darin.  [Was  für  einen  Körper  siehst  du?]  Es  ist  ein  weißer  Leib,  ein 
Badender.  Es  ist  Arno.  Ich  sehe  ganz  deutlich,  daß  es  der  Leib  meines 
Bruders  ist.  Ich  sage  dies  Jiicht  etwa,  damit  es  stimme. 

[Zar.]  Oberherr.  Er  trägt  einen  Bocksbart  und  hat  Bomben  unter 
dem  Sitz.  Ein  Anarchist  schleicht  mit  einer  Lunte  hinzu  und  will  an- 
zünden, wird  aber  verhindert.  (Der  Leser  entschuldige,  wenn  das  Fol- 
gende konfus  klingt.  Er  wird  für  seine  Aufmerksamkeit  entschädigt 
werden.)  Die  Anarchisten  werden  gefangen,  kommen  nach 
Sibirien,  Hunger  leiden,  Kerker,  einzelne  auf  Sachalin, 
dort  eingeschlossen  in  Kerker  ohne  Fenster,  oft  geprügelt. 


144  Oskar  Pfister. 

für  die  Russen  ein  schönes  Schauspiel.  In  Sibirien  sieht  man 
oft  einen,  der  einen  Toten  mit  einer  Kugel  am  Beine  nach- 
schleppt. Der  andere  ist  schon  tot.  Ein  sibirischer  Flücht- 
ling, Terroristen,  Bomben,  Revolver,  Dolch,  Plan,  zur  Tür 
hinaus,  überfallen,  Weib,  vom  Sohne  des  Gouverneurs  be- 
gnadigt. Von  „Plan"  an  handelt  es  sich  um  ein  Kinematographen- 
bild,  das  ich  sah:  Unter  einer  Schar  überfallener  Terroristen  befand 
sich  ein  schönes  Weib,  das  auch  gefangen  genommen  werden  sollte. 
Der  Sohn  des  Gouverneurs  nahm  es  in  seine  Kutsche  auf  und  erlangte 
seine  Begnadigung.  Der  Vater  des  Mädchens  wollte  aber  die 
Ehe  mit  dem  Gouverneurssohne  nicht  zugeben.  Kaum  auf 
Bitten  der  Tochter  freigelassen,  versucht  der  Alte  den  Gou- 
verneur zu  erschießen.  Seine  Tochter  fängt  die  Kugel  auf 
und  wird  getötet. 

[Der  Zar  trägt  einen  Bocksbart,  ähnlich  wie  früher  der  Bruder 
des  Malers?]  Es  steckt  mir  noch  einer  mit  einem  Bocksbärtchen  im 
Kopfe.  Ich  weiß  nicht,  wer.  Doch!  Es  ist  ein  Herr  K.,  ein  Deserteur, 
der  überall  betrog.  Er  hatte  blaue  Augen.  Einmal  ließ  er  sich  den  Bart 
abschneiden. 

[Beschreibe  den  Zaren  noch  genauer !]  Er  ist  ein  großer,  schlanker 
Mann  mit  dunkeln  Augen  und  braunen  Haaren.  [Ist  es  dein  Vater?] 
Nein,  der  ist  groß  und  hager!  [Also  doch  wie  der  Vater?]  Mit  dem  stehe 
ich  jetzt  in  sehr  guter  Beziehung. 

[Schildere  den  Anarchisten!]  Er  ist  klein,  mittelfest,  trägt  hohe 
russische  Stiefel,  großen  Schlapphut,  braunen  Rock,  Schnäuzchen, 
duckt  sich,  will  gerade  den  Zünder  in  Brand  setzen,  da  kommt  plötzlich 
ein  Soldat  von  hinten,  schlägt  zu  und  macht  dem  Plan  ein  Ende. 
Ich  sah  einmal  ein  Bild  des  Zaren,  unter  welchem  Bomben  lagen.  [Und 
der  Anarchist?]  Ich  weiß,  wer  es  ist:  Ich  bin's.  Es  wird  mir  während 
dieser  Übung  wohler  zumute.  Gegen  meinen  Vater  habe  ich  nicht 
das  Geringste.  (Etwas  später:)  Arno  steht  noch  viel  schlechter  mit  dem 
Vater  als  ich. 

(Wie  erklärt  sich  das  Behagen?  Wenn  Max  seinen  Vater  liebt, 
sollte  er  sich  doch  eigentlich  als  Anarchist  unglücklich  fühlen.  Das 
Rätsel  löst  sich  einfach:  Der  Zar  bedeutet,  wie  Kaiser,  König  u.  dgl. 
fast  immer  den  Vater.  Auf  den  trifft  auch  die  große  und  schlanke  Figur 
einigermaßen  zu.  Und  doch  weigert  sich  der  Knabe,  noch  bevor  er  sich 
als  den  Attentäter  erkannte,  im  Zaren  den  Vater  zu  erblicken.  Erst 
später  entschließt  er  sich,  wie  wir  sehen  werden,  dazu.  Hinter  dem 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       145 

Zaren  steckt  eben  jener  Herr  K.,  der  sich  an  des  Vaters  Stelle  setzte, 
indem  er  mit  dessen  Frau  zum  Verdrusse  des  Wachträumers  ein  Ver- 
hältnis anstrebte.  In  der  Gestalt  des  Anarchisten  rächt  Max  seinen 
Vater.  Für  diese  Tat  sieht  der  Träumer  eine  verhältnismäßig  milde 
Strafe,  die  Verbannung  nach  Sibirien,  voraus.) 

[Durch  wen  wird  der  Anarchist  an  seinem  Unterfangen  ver- 
hindert?] Durch  einen  großen  Soldaten  mit  hohen  Glanzstiefeln,  grüner 
Uniform,  roter  Borte,  langem,  breitem  Schnurrbart.  Es  ist  Arno.  Er 
ist  groß,  trägt  Velostulpen  (dadurch  war  Caligula  =  Stiefelchen  mit- 
bestimmt) und  ein  grünes  Kleid.  Auch  besitzt  er  einen  Soldatenmantel 
mit  roten  Borten. 

Ich  weiß,  daß  in  mir  noch  viel  Böses  steckt.  Darum  werde  ich  oft 
so  jähzornig.  Als  ich  vier  Jahre  alt  war,  fiel  ich  oft  vor  Zorn  in  Krämpfe 
und  bekam  blaue  Lippen. 

Jetzt  kommt  mir  noch  etwas  in  den  Sinn:  Gewöhnlich,  wenn 
ich  denke,  daß  mein  Bruder  gestorben  ist,  so  erinnere  ich  mich  dessen, 
was  er  besitzt  (vgl.  Taucherszene).  Dann  sage  ich  mir,  diesen  Gedanken 
möge  ich  nicht  leiden  und  schiebe  ihn  weg. 

Ich  mache  diese  Übungen  ungeheuer  gern. 

Dritte  Sitzung,  29.  November. 

Gerne  wollte  ich  schon  jetzt  zur  Bearbeitung  der  bisherigen  Phan- 
tasien schreiten.  Allein  die  Assoziationen  der  vorangehenden  Kette 
und  besonders  die  Phantasie  vom  Zaren  sind  noch  zu  wenig  aufgeklärt. 
Ich  fahre  daher  in  meinem  etwas  abgekürzten  Protokoll  fort. 

Zu  Beginn  der  Besprechung  wurden  die  rätselhaft  gebliebenen 
Reaktionen  nachgeprüft.  Die  Befunde  habe  ich  an  den  betreffenden 
Orten  bereits  eingereiht. 

[Zar.]  Tot,  Mord,  Dolch,  Säbel,  Bomben,  groß,  fest,  Begleiter, 
Herr  K.,  Holzsoldat,  Gang,  Grube,  Thron,  nichts  weiter.  Der  Zar  war  in 
Lebensgefahr.  Er  sollte  mit  Dolch  und  Bombe  ermordet  werden.  Der 
Säbel  ragt  über  den  Kleineren,  der  sich  zu  Boden  duckt,  hinaus.  Der 
Soldat  oder  Offizier  schaut  nicht  auf  den  Kleinen.  Er  hat  es  auf  den  Zaren 
abgesehen,  weil  ,, Säbel"  zwischen  ,, Dolch"  und  ,, Bomben"  steht. 
Der  Soldat  erinnert  an  einen  Holzsoldaten.  Das  ganze  Bild  ist  be- 
wegungslos. 

Der  Kleine  duckt  sich  vor  Angst.  Ich  glaube  nicht,  daß  er  eine 
Lunte  anzünden  will.  Man  sieht  ihn  nicht  handeln.  Er  kauert  vor  dem 
Soldaten  zusammen.  Ja  ja,  es  ist  schon  wahr,  daß  ich  vor  Arno  etwas 

Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psyohopathol.  Forschungen.    II.  10 


146  Oskar  Pfister. 

wie  Furcht  empfinde.  Er  erhebt  gegen  den  Vater  Anklagen  und  haßt 
mich.  Der  Kleinere  kommt  mir  nun  nicht  mehr  als  Anarchist  vor. 
Ich  zweifelte  schon  früher  an  jener  Auslegung. 

(Im  Traumbilde  waren  zwei  getrennte  Gedanken  kunstvoll  in 
einem  einzigen  Gemälde  ausgedrückt:  Die  Rache  an  Herrn  K.,  dem 
Liebhaber  der  Mutter,  und  die  Furcht  vor  Arno  und  seinen  Angriffen 
auf  den  Vater.  Das  Bild  mußte  bewegungslos  erscheinen,  weil  bei  der 
leisesten  Handlung  das  Gebilde  zerbricht,  indem  das  Rachemotiv 
eine  andere  Bewegung  fordert  als  der  Furchtgedanke.  Die  Einfälle, 
die  sich  an  die  Apperzeption  des  Traumtableaus  anschließen,  verraten 
widerspruchsvolle  Schwankungen,  je  nachdem  sie  im  Zaren  Herrn  K. 
oder  den  Vater  vermuten.  Ersterem  gegenüber  ist  der  Gebückte  in  der 
Tat  ein  Anarchist,  letzterem  gegenüber  der  hilflose  Vasall,  der  sich 
selbst  fürchten  muß.  Dem  Feinde  des  Vaters  gegenüber  ist  Max  der 
Angreifer,  sofern  er  die  schnöde  Handlungsweise  dem  Vater  mitteilen 
wollte,  was  ihm  Arno  verwehrte. 

[Der  Attentäter  in  Sibirien.]  Er  ist  der  sibirische  Flüchtling, 
der  einen  Toten  schleift.  Er  trägt  nicht  ganz  ein  Bocksbärtchen  wie 
Herr  K.  Sonst  gleicht  er  ihm.  Er  ist  schwarz  und  besitzt  blaue 
Augen.  (Zuvor  hatte  Max  Herrn  K.  das  Bocksbärtchen  beigelegt, 
das  ihm  selbst  als  Malergehilfen  eignete.  Jetzt  identifiziert  er  seinen 
Feind  vollends  mit  sich  selbst :  Herr  K.  ist  nun  der  Attentäter,  der  mit 
Arno  an  derselben  Kette  festgeschmiedet  ist.  Ein  Grund  der 
Identifikation  liegt  ohne  Zweifel  darin,  daß  der  Knabe  selbst  die  Stelle 
des  Liebhabers  bei  der  Mutter  einnehmen  möchte.  Behilflich  war  auch 
der  Einfall:) 

Herr  K.  ging  einmal  bei  tiefstem  Schnee  über  einen  Paß,  kam  aber 
mit  dem  Leben  davon. 

Der  Tote  ist  von  ziemlich  langer  Gestalt,  sein  Gesicht  ist  ver- 
borgen, seine  Hände  sind  weiß.  (Vgl.  oben:  der  weiße  Körper  im  Toten 
Meere,  unten:  die  weißen  Knie.  Arno  hat  allerdings  auffallend  blassen 
Teint.)  Beide  sind  zusammengekettet.  Schade,  daß  ich  das  Gesicht 
nicht  sehe!  [Bilde  eine  Reihe!  Der  Tote.]  Brutus,  lachen,  schwarz, 
Schuhe,  Himmel,  Hölle,  Arno,  bleich  .  .  . 

[Brutus.]  Der  Freund  Arnos. 

[Lachen.]  Er  lacht  gerade. 

[Oben  hast  du  Brutus  und  deinen  Bruder  identifiziert.  Jetzt 
tust  du  es  wieder.  Das  Lachen  des  Brutus  vertritt  das  Arnos,  das  schon 
früher  vorkam. 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.        147 

Schuhe.]  Gewöhnliche  Militärschuhe.  (Himmel,  Hölle,  Arno 
wiederholen  den  Schluß  der  Taucherszene.) 

[Das  terroristische  Weib.]  Es  ist  die  Mutter,  die  Herr  K.  haben 
wollte. 

[Der  Sohn  des  Gouverneurs.]  Arno. 

[Der  Vater  des  Weibes.]  Herr  K. 

(Weil  Arno  die  dem  Vater  übermittelte  Anklage  gegen  die  Mutter 
hintertreiben  will,  verdächtigt  ihn  Max,  daß  er  die  Mutter  für  sich  haben 
wolle.  Diese  Vermutung  sprach  mir  mein  Analysand  auch  offen  aus. 
So  erklärt  es  sich,  daß  Arno  als  Sohn  des  Gouverneurs  mit  der  schönen 
Terroristin  (der  Mutter)  in  die  Kutsche  steigt  und  Begnadigung  vom 
Gouverneur  (Vater)  erfleht.  Das  Verhältnis  zwischen  der  Mutter  und 
Herrn  K.  hat  zur  Zeit  der  Analyse  bereits  ein  Ende  genommen.  Der  Be- 
werber hat  sich  als  Schwindler  herausgestellt,  die  Mutter  haßt  ihn. 
Er  ist  so  mit  Vater  und  Mutter  in  Konflikt  geraten.  Deshalb  ließ 
sich  das  Kinematographenbild  auf  die  Familienverhältnisse  des  Träumers 
anwenden,  obwohl  Herr  K.  als  Vater  des  Mädchens  sich  ungern  in  den 
Rahmen  fügt.  Viel  wird  immerhin  erreicht :  Arno  ist  der  unlauteren  Ab- 
sicht gegen  die  Mutter  bezichtigt,  letztere  wird  erschossen,  Herr  K. 
kann  seinem  Todeslose  nicht  mehr  entrinnen,  auch  wenn  es  nicht  aus- 
drücklich gesagt  wird.  Letztere  Unterlassung  führt  übrigens,  wie  wir 
sehen  werden,  zu  neuen  Mordphantasien,  da  der  peinliche  Eindruck, 
den  die  Untreue  der  Mutter  hervorrief,  noch  nicht  genügend  ausgeführt 
wurde.) 

[Moskau.]  Hauptstadt  von  Rußland,  durch  Napoleon  verbrannt, 
Kreml,  Burg  des  Zaren  usw.  Napoleon  war  großmütig.  Auf  St.  Helena 
nahm  er  einst  einer  schlafenden  Schildwache  das  Gewehr  aus  dem  Arme 
und  stand  selbst  Wache,  um  zu  beweisen,  daß  er  ein  gutes  Gewissen 
habe  und  nicht  fliehen  wolle.  Dies  sah  ich  kinematographisch  dargestellt. 
Auch  mein  Vater  weilt  auswärts  (vgl.  oben  „Odysseus").  Er  bestand 
immer  auf  seiner  Rechtschaffenheit.  Die  Schildwache  ist  der  gegen 
den  Vater  argwöhnische  Arno. 

[Kreml.]  Krim,  Krimkrieg.  Ein  Kinematographenbild:  Ein 
Sterbender  übergibt  einer  Frau  den  Ring  ihres  im  Krimkrieg  gefallenen 
Gatten.  Die  Frau  macht  ein  schreckliches  Gesicht,  wie  wenn  sie  ihn 
töten  wollte.  Der  Sterbende  ist  nicht  der  Gatte  der  Frau.  Dieser  ist 
vielmehr  auf  dem  Schlachtfelde  gestorben.  Der  Gefallene  ist  mein  Bruder. 
Der  Ring  geht  auf  das  Tagebuch,  welches  Arno  dem  Vater  übergab. 
Die  Mutter  hat  Arno  lieber  als  ihren  Mann,  darum  erscheint  der  Sohn 

10* 


148  Oskar  Pfister. 

als  ihr  Gatte.  Im  Tagebuche,  das  ein  Testament  darstellt,  steht,  daß 
Arno  über  den  Vater  besser  dachte  als  über  die  Mutter,  weil  Fehltritte 
bei  Männern  verzeihlicher  sind  als  bei  Frauen.  (Rache  an  der  Mutter, 
welcher  der  Sohn  mit  Verrat  lohnt,  sowie  am  Bruder,  der  im  Kriege 
stirbt.  Zu  ,, schreckliches"  G-esicht  vgl,   „Terroristin".) 

[Kirche.]  Pfarrer  P.  Sie  helfen  mir,  daß  es  besser  kommen  wird. 

[Ausrufer.]  In  einem  Kinematographentheater  sah  ich  auf  einem 
Turme  einen  Ausrufer  stehen.  Er  rief  Gebetstunden  aus.  Man  sieht  nur 
den  Turm.  Es  sieht  aus,  als  schwebte  er  in  der  Luft.  Ich  dachte,  er  werde 
bald  heiser  sein.  Man  sah  ihn  den  Mund  aufsperren,  aber  es  kam  kein 
Ton.  Die  Leute  blieben  alle  stehen  und  beteten.  Die  Pharisäer  stunden 
und  beteten.  Einigen  war  es  ernst.  Der  Ausrufer  ist  Pfarrer  P. 

[Halsweh.]  Der  Ausrufer  bekommt  es.  Mein  kleiner  Bruder  leidet 
jetzt  gerade  daran.  Es  kommt  schlimmer  mit  dem -Ausrufer,  so  daß 
man  den  Doktor  holen  muß.  Vielleicht  stirbt  der  Kranke,  vielleicht 
nicht.  Toter  Ausrufer,  Blödsinn,  armer  Kerl,  andere  Stellung,  Ver- 
zweiflung, Gehorsam,  Wirken,  Früchte  bringen. 

[Blödsinn.]  Es  ist  Blödsinn,  daß  der  Ausrufer  da  hinausfteigt 
und  daß  man  sich  vor  ihm  verbeugt. 

[Armer  Kerl.]  Der  Ausrufer,   dem  der  Hals  sicher  weh  tut, 

[Andere  Stellung.]  Er  nimmt  die  gleiche  Stellung  gewiß  nicht 
mehr  an.  (5.  Dezember:)  Er  sucht  eine  andere.  (Max  wußte,  daß  ich 
eine  Berufung  erhalten  und  abgelehnt  hatte.) 

(5.  Dezember.)  [Verzweiflung.]  Er  ist  verzweifelt  über  die  Wahl 
seiner  Stellung. 

(5.  Dezember.)  [Gehorsam.]  Wenn  der  Mann  ausruft,  so  beugen 
sich  die  Leute  und  beten. 

(5.  Dezember.)  [Früchte  bringen.]  Oft  nützt  dieses  Beten,  oft 
nicht.  Es  ist  Blödsinn,  daß  der  Ausrufer  so  die  Stunden  ausruft.  Die 
Leute  kennen  sie  selber.  Blödsinn  ist  auch  der  Ruf,  man  solle  brav 
sein.  Das  weiß  man  schon  selber. 

(29.  November.)  [Toter  Ausrufer.]  Grab,  Ausgrabung,  Wagen, 
Nick  Carter,  gefangen.  Wieder  ein  Büchlein:  Ein  Totengräber  grub 
immer  für  Studenten  Leichen  aus.  Einer,  der  zwölf  Löcher  im  Magen 
trug,  hatte  sich  dieses  Schicksal  nach  dem  Tode  nicht  gewünscht.  Da 
wurde  er  dennoch  ausgegraben.  Nick  Carter  stellte  sich,  als  wollte 
er  dem  Totengräber  helfen  und  fing  ihn  so.  Der  Tote  ist  mein  Vater, 
Arno  der  Totengräber,  weil  er  ihn  gleichsam  verkaufen  will,  und  ich 
bin  Nick  Carter. 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       149 

(Der  Ausrufer  ist  demnach  wieder  eine  Mischfigur,  zusammen- 
gefügt aus  dem  Vater  und  dem  Pfarrer.  Beide  stellen  ethische  For- 
derungen, die  Max  unangenehm  berühren.  Daß  besonders  der  Ana- 
lytiker im  Wachtraum  übel  mitgenommen  wird,  ist  eine  Übertragung 
im  Sinne  Freuds  (vgl.  Freud,  Bruchstück  einer  Hysterieanalyse. 
Monatsschrift  für  Psychiatrie  und  Neurologie,  Bd.  XVIII  (1905),  462 
bis  465  —  Sammlung  kleiner   Schriften  zur  Neurosenlehre,  2.   Folge, 

104  f.) 

(5.  Dezember.)  [(Lachend:)  Rede  ich  denn  im  Unterrichte  über 
lauter  selbstverständliche  Dinge?  Sage  ich  euch  immer,  wie  ein  lang- 
weiliger Moralprediger:  ,, Buben,  seid  doch  brav"?  Beschäftigen 
wir  uns  nicht  in  weihevollen  Stunden  viel  mit  religiöser  Dichtung  und 
Malerei?  Reden  wir  nicht  in  strammen  Diskussionen  über  moderne 
Probleme  und  Persönlichkeiten,  wie  sie  im  Lichte  des  Christen- 
tums erscheinen,  oder  über  Lebensfragen,  die  ihr  selbst  als 
brennend  mir  vorlegtet?]  (Max  sieht  sofort  den  tückischen  Streich  ein, 
den  ihm  seine  unterbewußte  Phantasie  spielen  wollte.  Daß  die  Ab- 
wendung der  nachteiligen  Übertragung  trotzdem  unvollständig  gelang, 
wird  sich  später  weisen.) 

(29.  November.)  [Doktor.]  Unser  Hausarzt.  Als  Arno  krank  war, 
wollte  es  lange  nicht  besser  werden.  Da  sagte  der  Arzt,  der  Kranke  müsse 
mehr  Wickel  umlegen,  sonst  würde  man  ihm,  dem  Arzte,  die  Schuld 
an  einer  Lungenentzündung  beilegen. 

[Schmerzen.]  Arnos. 

[Tod.]  Arno. 

[Die  Verpflichtung,  die  Verantwortung  des  Doktors,  seine  zer- 
störte Praxis.]  Die  Praxis  des  Arztes  wäre  zerstört,  wenn  Arno  gestorben 
wäre. 

[Student,  Bursche,  Herr  A.,  englisch.]  Man  wird  zuerst  Fuchs, 
dann  Bursche.  Herr  A.  erzählte  uns  in  der  Enghschstunde,  man  rufe 
unter  Studenten  oft  aus:  „Hat's  brav  gemacht,  hat's  brav  gemacht, 
drum  wird  er  auch  nicht  ausgelacht!"   So  weit  Max. 

Wir  fragen  zuerst  nach  den  Komplexen,  die  jenen  dunkeln  Drang 
zu  bösen  Regungen  hervorgerufen  haben. 

Vor  uns  steht  eine  nur  allzu  lange  Reihe  von  Phantasien, 
in  welchen  der  Träumer  sich  mit  brutalem  Sadismus  an  der  Qual  von 
verhaßten  und  doch  im  Grunde  geliebten  Menschen  weidete.  Mit  schauer- 
licher Ausdauer  malte  uns  Max  Bilder,  die  mit  häßlichen  und  darum 
verdrängten    Wünschen    zusammenhingen.     Dabei   kamen   Menschen, 


150  Oskar  Pfister. 

gegen  die  er  nur  Abneigung  empfand,  und  es  gibt  solche,  nicht  vor. 
Diese  auffallende  Erscheinung  könnte  allerdings  auch  mit  der  Art 
der  Einstellung  auf  die  das  moralische  Bewußtsein  hemmenden  Kom- 
plexe zusammenhängen.  Stellen  wir  nun  die  Phantasien  zusammen: 

Tabelle  A  (Phantasien  im  Stadium  des  Hasses). 

a)  Auf  Arno  bezogen  sich  folgende  Phantasien,  die  wir  öfters  als 
heimliche  Wünsche  entlarven  konnten: 

1.  Er  muß  an  unheilbarer  Geisteskrankheit  sterben. 

2.  Er  wird  als  Taucher  vom  Bruder  ermordet  und  beraubt. 

3.  Er  ertrinkt,  indem  er  bis  auf  den  Grund  taucht. 

4.  Er  ist  im  Busento  begraben. 

5.  Er  bleibt  an  einer  Kette  unter  Wasser  hängen. 

6.  Er  verunglückt  auf  dem  Velo  beim  Sturze  aus  der  Schleifenbahn. 

7.  Er  stirbt  als  Kapitän  eines  Unterseebootes. 

8.  Er  stirbt  in  der  Maske  eines  Königs. 

9.  Er  ist  Caligula  (der  im  Wahnsinn  rasend  auf  einer  Brücke  fährt 
und  ermordet  wird). 

10.  Er  ist  Nero,   grausam,   eitel,   wird  von  einem   Sklaven   erdolcht, 

11.  Er  ist  ein  Maler,  der  seinen  Gehilfen  und  sein  Modell  am  Kreuze 
lebendig  verbrennt  und  dafür  auf  dem   elektrischen  Stuhl   endigt. 

12.  Er  wird  als  Cäsar  vom  Freunde  getötet  (?). 

13.  Er  verunglückt  auf  dem  Eise. 

14.  Er  schwimmt  als  weiße  Leiche  im  Toten  Meere. 

15.  Er  will  den  Vater  (Zaren)  töten. 

16.  Er  wird  als  sibirischer  Flüchtling  tot  an  einer  Kette  geschleift. 

17.  Er  blamiert  sich  als  schläfrige  Schildwache  vor  Napoleon  (dem  Vater). 

18.  Er  liegt  tot  auf  dem  Schlachtfelde,  nachdem  er  sterbend  die  Mutter 
verriet. 

19.  Er  stiehlt  des  Vaters  Leiche. 

20.  Er  stirbt  an  Lungenentzündung. 

h)  Sich  selbst  behandelt  Max  in  folgender  Weise: 

21.  Er  macht  sich  als  Taucher  zum  Mörder  und  Räuber,  wird  gefangen, 
elektrisch  hingerichtet,  in  die  Hölle  verbannt,  zuletzt  in  den  Himmel 
aufgenommen. 

22.  Er  wird  als  Gehilfe  des  Malers  gefaeuzigt  und  verbrannt,  als  Bruder 
des  Malers  und  Gehilfe  zum  Mord  eingekerkert. 

23.  Er  wird  als  Fliegender  Holländer  gerettet  (undeutlich). 

24.  Er  wird  als  Pompejus  ermordet  (undeutlich). 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.        151 

25.  Er  ermordet  in  der   Gestalt  des  schwarzen   Sklaven   (Gatte  der 
Berta  und  reicher  Mann)  seinen  Bruder  als  Nero. 

26.  Er  versucht  als  Anarchist  Herrn  K.  zu  töten;  dieser  als  sein  Doppel- 
gänger kommt  als  Flüchtling  nach  Sibirien. 

27.  Er  entdeckt  als  Nick  Carter  den  Verkauf  der  Leiche  seines  Vaters, 
damit  den  Verrat  des  Bruders. 

c)  Dem  Vater  sind  gewidmet  die  Vorstellungen: 

28.  Er  wird  als  Zar  von  Arno  mit  dem  Tode  bedroht. 

29.  Er  wird  als  Gouverneur  vom  Verehrer  seiner  Frau  nach  einer  groß- 
mütigen Tat  beinahe  erschossen. 

30.  Er  macht  als  großmütiger  Napoleon  Arno  lächerlich. 

31.  Er  übergibt  als  Sterbender  einen  Ring,  der  für  ihn  ein  günstiges 
Zeugnis  von  Arnos  Seite  her  ablegt. 

32.  Er  liegt  mit  zwölffach  durchlöchertem  Magen  tot. 

d)  Von  der  Mutter  wird  geträumt: 

33.  Sie  wird  von  ihrem  Liebhaber  K.  erschossen,  ferner 

34.  von  ihrem  geliebten  Arno  sterbend  verraten. 

e)  Pfarrer  P. 

35.  Er  hilft,  daß  es  besser  mit  Max  wird  (keine  Phantasievorstellung). 

36.  Er   erscheint  als  blödsinniger  Ausrufer,    bekommt   Halsweh    und 
stirbt. 

f)  Die  Freunde  Arnos  kommen  übel  weg. 

37.  Brugger  (nachdem  er  Cäsar- Arno  getötet  hat)  wird  Selbstmörder. 

38.  Keller  wird  unschuldig  in  Stücke  gerissen. 

g)  Berta  fällt 

39.  vor  dem   Bilde  des  gekreuzigten   Bräutigams  in   Ohnmacht  und 

40.  wird  am  Kreuze  verbrannt. 
h)  Herr  K.  soll 

41.  als  Zar  in  die  Luft  gesprengt  werden,  kommt  nach  Sibirien  und  wird 

42.  als  Terrorist  zum  Mörder  an  seiner  Geliebten. 
i)  Der  Arzt  Arnos 

43.  verliert  seine  Praxis. 

Fast  alle  diese  Phantasien  drücken  offenbar  den  Haß  aus,  als 
dessen  Triebfedern  zu  erkennen  sind: 

1.  Rachedurst.  Würden  wir  die  Einfälle  tiefer  analysieren,  so 
zeigte  sich  an  manchem  Punkte  deutlich,  daß  der  böse  Wunsch  auf 
erlittene  Unbill  zurückgeht  und  durch  sie  mitdeterminiert  wird. 

2.  Habsucht.  (Der  räuberische  Taucher.) 

3.  Eifersucht 


152  Oskar  Pfister. 

a)  auf  Arno:  Seine  Freunde  enden  tragisch; 

b)  auf  die  Mutter:  Identifikation  des  Max  mit  ihrem  Liebhaber; 

c)  auf  Berta:  Max  als  mordender  Mulatte. 

Diese  Züge  verraten  neben  der  Stellung  zum  Vater  die  Anwesenheit 
von  Liebe. 

In  der  Betätigung  des  Hasses  zeigt  sich  aufs  deutlichste  sein 
sexueller  Faktor,  der  im  extrem  sadistischen  und  masochistischen 
Charakter  fast  aller  Phantasiebilder  zum  Ausdruck  kommt. 

Entschieden  sadistisch  bedingt  sind  die  Schilderungen  1  bis  19, 
21  bis  22,  25  bis  26,  32  bis  34,  36  bis  41. 

Masochistisch  gefärbt  sehen  wir  die  Einfälle  21  bis  22,  24  und  26. 

Auch  außerdem  finden  sich  sadistische  und  masochistische  Züge 
von  schwächerer  Ausprägung.  Ob  mit  den  Phantasien  deutliche  sexuelle 
Innervationen  verbunden  waren,  stellte  ich  nicht  fest.  Es  ist  jedoch  nicht 
daran  zu  zweifeln.  Jedenfalls  muß  der  Sexualität  bei  der  Ent- 
stehung und  Auswirkung  des  Hasses  ein  enormer  Einfluß 
zugeschrieben  werden.  •  ■ 

I  i\^  Wichtig  ist  die  Erscheinung,  daß  aus  dem  phantastischen  Material 
nur  ganz  wenige  gütige  Vorstellungen  aufsteigen,  und  zwar  nur  solche, 
die  gleichzeitig  der  Kache  dienen  (z.  B.  30  bis  31).  Nur  in  der  bewußten 
Reflexion  kommt  Sympathie  zur  Geltung.  Dies  mag  daher  rühren, 
daß  Max  auf  seinen  Haß  gegen  den  Bruder  eingestellt  war. 

Die  Psychologie  des  Hasses  stellt  uns  nun  vor  die  Frage:  Wann 
sind  diese  Phantasiegebilde  eigentlich  entstanden? 

Wir  beginnen  beim  spätesten  überhaupt  möglichen  Zeitpunkt, 
dem  des  Hersagens  der  ausgeführten  Phantasie.  Gegen  ihn  ist  ein- 
zuwenden, daß  schon  in  der  Assoziationskette  einzelne  Wortfolgen 
deutlich  die  ihnen  zugrunde  liegende  Phantasie  verraten,  z.  B.  keine 
Luft,  ertrunken,  Taucher,  Taucherglocke,  Gold.  Es  könnte  sich  höchstens 
fragen,  ob  einzelne  Wachträiime  in  der  Seele  des  Knaben  erst  nach  der 
Aussprache  des  Wortes,  aus  dessen  Apperzeption  sie  zuletzt  auftauchen, 
neu  geschaffen  wurden.  Sicher  ist  ja,  daß  im  Augenblicke,  da  das  Glied 
der  Reihe  ausgesprochen  wird,  oft  die  zugehörige  Phantasie  dem  Be- 
wußtsein fehlt,  z.  B.  ,,Dnjestr,  ich  weiß  nicht,  warum."  Allein  daß  im 
Unterbewußtsein  die  sadistische  Vorstellung  bereits  in  jenem  Moment 
vorhanden  war,  ergibt  der  Zusammenhang.  Die  vorangehende  Er- 
mordung Neros  hat  mit  dem  Dnjestr  nichts  gemein,  wohl  aber  der  Tod 
Neros  mit  der  hinter  ,, Dnjestr"  steckenden,  im  Toten  Meere  schwim- 
menden Leiche  Arnos. 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.        153 

Schon  die  Wortfolge  der  Keaktionsketten  ist  somit,  wie  wir  an 
vielen  anderen  Punkten  zeigen  können,  nur  unter  der  Annahme  er- 
klärlich, daß  die  bei  der  späteren  Exploration  ausgehobenen  Phan- 
tasien im  Augenblicke  der  Reihenbildung  schon  vorhanden  waren,  ohne 
bewußt  zu  sein.  Ein  einziges  Mal  schien  erst  während  der  analytischen 
Bearbeitung  der  Kettenworte  die  Phantasie  gestaltend  tätig  zu  sein. 
Es  war  damals,  als  der  am  Boden  kauernde  Anarchist  sich  in  den  Freund 
des  Zaren,  der  diesen  schützende  Soldat  sich  in  einen  Attentäter  ver- 
wandelte. Aber  gerade  da  ergab  die  Fortsetzung  der  Analyse,  daß  beide 
Gedankenzüge  bereits  jenem  Tableau  zugrunde  lagen,  weshalb  es  zur 
Bewegungslosigkeit  verurteilt  war. 

Wir  kommen  somit  zur  Überzeugung,  daß  im  Augenblick,  da  das 
Signal  des  assoziierten  Wortes  emporsprang,  die  ihm  zugehörige  Phan- 
tasie im  Unterbewußtsein  bereits  gegeben  war.  Seit  wann?  Wahrschein- 
lich öfters  ungefähr  seit  der  Zeit,  da  der  die  Szenerie  liefernde  Eindruck 
eintraf.  Daher  machten  jene  Bilder  einen  so  starken  Eindruck.  Oft 
aber  auch  wurde  möglicherweise  das  Bild  erst  später  zum  Träger  der 
grausamen  Gedanken.  Darum  blieb  es  haften.  Der  vorhandene  Komplex 
nahm  es  in  Empfang  und  wußte  sich  sogleich  oder  später  in  ihm  zu  ver- 
stecken und  zu  betätigen,  so  daß  er  in  seiner  Verhüllung  auf  den  Uni 
des  Reizwortes  desto  leichter  ins  Bewußtsein  aufsteigen  konnte,  während 
er  ohne  Verhüllung  wegen  seines  peinlichen  Charakters  nur  schwer  ins 
Bewußtsein  eingetreten  wäre,  öfters  wurde  auch  durch  ein  Erlebnis 
ein  entsprechendes  früheres  Bild  ausgelöst  und  dieses  jetzt  in  den 
Dienst  des  Komplexes  gestellt. 

Die    früheste    mögliche    Entstehungszeit    der    verschiedenen 
Phantasien  läßt  sich  somit  aus  folgenden  Daten  der  vorkommenden 
Beobachtungen  ableiten : 
Arnos  geistige  Umnachtung:  1908,  IX. 
Leiche  aus  dem  Wasser  gezogen:  1908,  Sommer. 
Kinematographenbild  der  Taucher:  1903  oder  1904. 
Hängenbleiben  im  Seegras:  1907. 
Grab  im  Busento:  1908,  X. 
Arnos  Abenteuer  mit  der  Kette:  1908,  VII. 
Unterseeboot  (Kinematographenbild):  1908,  IX. 
Erlebnis  mit  der  Wachsmaske:  1905. 

Die  Erzählung  vom  Reichen,  der  auf  den  Zehen  steht:   1907. 
Geschichte  vom  mörderischen  Maler:  1908,  I. 
Arno  prahlt  mit  seiner  Todesverachtung:  1908,  IX,  X. 


154  Oskar  Pfister. 

Max  ist  in  Gefahr  za  ertrinken:  1903. 

Ferienaufenthalt:  1908,  IX. 

Caligula  im  Geschichtsunterricht  behandelt:  1908,  XI  (3  Wochen  vor 

der  Sitzung). 
Nero  im  Geschichtsunterricht  behandelt:  1908,  VIII. 
Liebesgetändel  mit  Berta:  1904  bis  1907. 
Freundschaftsbund  zwischen  Arno  und  Brugger:  1908,  XI. 
Odyssee:  1908,  V. 
Arnos  Hirnerschütterung:  1903. 
Theatervorstellung:  1906. 

Dnjestr:  1908.  XI  (3  Wochen  vor  der  Sitzung). 
Das  Tote  Meer:  1906. 

Bild  des  Zaren  (Kinematographenbild) :  1908,  V. 
Der  Geschleifte  in  Sibirien:  1905,  V  und  später. 
Die  Tragödie  des  terroristischen  Weibes:  1907,  XI. 
Bruch  mit  Herrn  K.  (Erlebnis):  1908,  V. 
Napoleon  als  Schildwache  (Kinematographenbild):     1907,  XI. 

-^       ,      f  Geographiestunde:  1908,  XI  (eine  Woche  vor  der  Sitzung). 

Der  Sterbende  mit  dem  Ring  (Kinematographenbild) :  1908,  XI  (2  Tage 

vor  der  Sitzung). 
Der  Ausrufer  auf  dem  Turm  (Kinematographenbild):  1908,  V. 
Pfarrers  Berufung:  1908,  IV. 
Der  Leichenraub  (Nick  Carter):  1906. 
Arnos  Gefahr  in  Krankheit:    1908,    XI  (3  Wochen  vor  der  Sitzung). 

Angesichts  dieser  Daten  mußte  ich  meine  anfängliche  Meinung, 
die  sadistischen  Phantasien  bilden  eine  Kompensation  für  die  gehemmte 
masturbatorische  Sexualbetätigung,  fallen  lassen.  Immerhin  ist  es 
denkbar,  daß  die  Reproduktion  einer  so  großen  Menge  von  grausamen 
Vorstellungen  mit  der  Überwindung  der  Onanie  zusammenhängt. 
Man  vergesse  übrigens  nicht,  daß  am  Abend  vor  der  großen  Assoziations- 
kette die  Erbitterung  gegen  den  Bruder  unterdrückt,  also  nicht  ab- 
reagiert worden  war. 

Vierte  Sitzung,  5.  Dezember. 

[Von  der  langen  Kette  wollen  wir  noch  das  letzte  Wort  näher 
besehen,    nämlich : 

englisch.]  Indien,  England,  Doktor  Meier,  Schulknabe, 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       155 

Felsen,     Zylinder,     Felsenvorsprung,     Wasser,  .  .  ,      Schiff, 
Untergang,  Kapitän,  Land,  fertig. 

[Indien.]  Dort  wird  englisch  gesprochen.  Ich  sehe  ein  Kine- 
matographenbild :  von  zwei  Indern  prahlt  der  eine,  um  einem  Fräulein 
zu  imponieren.  Ein  Fischer,  der  nie  prahlte,  liebte  sie  auch.  Als  einst 
ein  Tiger  drohte,  lief  der  Prahlhans  immer  hintendrein  und  fürchtete 
sich.  Da  rettete  der  Fischer  das  Fräulein  vor  dem  gegen  sie  anspringenden 
Tiger,  den  er  in  ein  Netz  verwickelte.  Auch  der  Feigling  wurde  in  einem 
Netze  gefangen  und  durchgeprügelt.  [Wie  sieht  er  aus?]  Er  ist  ein 
Engländer,  trägt  Hut,  Bart,  Schnauz,  hohe  Gamaschen.  Wegen  der 
Gamaschen  wird  es  mein  Bruder  sein.  Der  Mann  war  eitel.  Er  wurde 
gleichsam  aus  seinem  Volke  herausgeworfen.  Auch  Arno  ist  eitel.  Nach 
seiner  Krankheit  wollten  ihn  zwei  Lehrer  nicht  mehr  aufnehmen. 

[Doktor  Meier.]  Er  erzählte  uns  von  England.  Einmal  berichtete 
er,  wie  drei  Schiffe  strandeten.  Der  Kapitän  blieb  auf  einem  der  Schiffe, 
damit  es  nicht  als  herrenlos  gekapert  werde.  Der  Kapitän  ist  immer  der 
gleiche.  Wenn  er  untergegangen  wäre,  so  hätte  das  Schiff  niemand 
gehört.  [Dachtest  du  in  jener  Geographiestunde  an  Arno?]  Nein,  gar 
nicht.  [Dachtest  du  vielleicht,  du  hättest  gerne  ein  herrenloses  Schiff 
angetroffen?]  Herr  Doktor  Meier  sagte,  wenn  man  das  Schiff  nicht  in 
Besitz  nehme,  so  hole  es  einfach  ein  anderer.  Ich  dachte,  dann  ginge 
ich  es  schnell  holen.  Ich  fragte  mich,  wie  lange  der  Kapitän  wohl  noch 
auf  dem  Schiffe  bleibe. 

[Schulknabe.]  In  England  haben  schon  die  Schulknaben  Zylinder 
an.  Einer  kletterte  auf  dem  Felsenvorsprungder  Ruine  Eegensburg 
in  die  Höhe,  kam  aber  nicht  hinauf.  Es  ist  mein  Bruder,  er  hat  sein  Ziel 
nicht  erreicht. 

Mitdem  dunkeln  Drang  steht  es  besser.  Es  ist  aber  noch 
mehr  da. 

(Max  bestätigt  somit  treffend  den  Eindruck,  den  die  Einfälle 
erwecken.) 

Zusammenstellung   der    in  der    vierten  Sitzung   produzierten 

Phantasien  über  dieBrüder: 

Sympathisches  Verhalten  zu  Arno: 
L  Er  wird  als  Prahlhans  auf  der  Tigerjagd  geprügelt. 
2.  Er  schwebt  als  Kapitän  in  Gefahr,  mit  seinem  Schiffe  unter- 
zugehen, damit  Max  es  erbe.  (Der  Wunsch,  daß  die  Katastrophe 


156  Oskar  Pfister. 

eintrete,  tritt  bei  Max  deutlich  hervor,  seine  Erfüllung  steht 
aber  aus.) 

3.  Er  kann  die  gefährliche  Ruine  nicht  erklimmen. 

Die  geschilderten  Phantasien  ergeben  ein  zunächst  für  die  Psycho- 
logie der  Rache  unseres  Analysanden,  aber  auch  für  gewisse  andere 
Personen  und  Komplexe  gültiges  Gesetz,  das  wir  in  die  Worte  kleiden: 

Der  verdrängte  Haß  bestimmter  Individuen  bildet 
aus  geeigneten  erlebten  oder  nur  vorgestellten  Erfahrungs- 
inhalten nach  den  Gesetzen  der  Traumarbeit  Phantasien, 
durch  welche  er  sich  vorstellungsmäßige  Befriedigung 
schafft.  Diese  Komplexbefriedigung  kommt  dadurch  zu- 
stande, daß  ein  auf  Schädigung  des  Gehaßten  gerichteter 
Wunsch  deutlich  oder  verhüllt  im  Inhalt  des  Wachtraumes 
als  verwirklicht  dargestellt  ist.  Die  sexuelle  Komponente 
des  Hasses  kommt  in  Form  des  Sadismus  und  Masochismus 
zum  Ausdruck.  Die  ,, Wollust  des  Hasses"  enthüllt  der  Analyse  ihr 
Geheimnis. 

Wie  weit  der  aus  den  Phantasien  abgeleitete  Satz  auf  andere 
Individuen  angewendet  werden  darf,  soll  uns  hier  nicht  weiter  be- 
schäftigen. Nur  beiläufig  bemerke  ich,  daß  ich  ähnliche  Erscheinungen 
bei  vielen  Personen  beobachtete,  während  andere  nichts  Ahnliches 
im  Wachzustande  produzieren,  womit  natürlich  nicht  gesagt  ist,  daß  die 
Phantasien  auch  subliminal  fehlen.  —  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  die 
angegebenen  Wachträume,  die  sich  bei  Max  oft  mit  obsedierender 
Aufdringlichkeit  einstellten,  als  Komplexfunktionen  anzusehen  sind, 
welche  die  Bedeutung  von  Sicherheitsventilen  für  das  menschliche 
Geistesleben   besitzen. 

II.  Komplexpliantasien  im  Zeichen  der  Versöliuung. 

Fünfte  Sitzung,  10.  Dezember. 

Max  hat  mit  seinem  Bruder  nach  langem,  durch  Mißtrauen  gegen 
Arnos  Entgegenkommen  bestärktem  Zögern  offen  geredet  und  sich  mit 
ihm  ausgesöhnt.  Die  knappe  Zeit  erlaubt  nur  eine  kurze,  oberflächliche 
Kette: 

[Max.]  Arno,  Haß,  Baum,  der  kleinste  Bruder,  Bücher,  Kette. 

[Arno.]  Mein  Bruder  ist  gut,  bleich  im  Gesicht.  Sein  Kleid  ist  grau. 

[Haß.]  Vorher  war  Haß  zwischen  uns,  jetzt  nicht  mehr. 

[Der  kleinste  Bruder.]  Der  Haß  auf  ihn.  Er  ist  neckisch,  aber  gut. 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       1 57 

[Baum.]  Ich  sehe  ihn  vor  Ihrem  Fenster. 

[Bücher.]  Bevor  ich  zu  Ihnen  kam,  rüstete  ich  meine  Bücher. 

[Kette.]  der  öVäJährige  Kleine  zerriß  mir  meine  Uhrkette. 

Zusammenstellung: 

a)  Urteil  über  Arno: 

1.  Er  ist  gut. 

2.  Er  ist  bleich. 

3.  Der  frühere  Haß  ist  verschwunden. 

b)  Urteil  über  das  Brüderchen: 

1.  Es  ist  gut,  aber  neckisch. 

2.  Es  zerriß  meine  Uhrkette. 

(Unterbewußte  Phantasien  treten  nicht  hervor,  vielleicht  weil  das 
Reizwort  zu  direkt  das  Wachbewußtsein  herausforderte.) 

Für  den  Erzieher  ist  wichtig  die  Beobachtung,  daß  nun  der  Groll 
gegen  das  Brüderchen,  wiewohl  er  kräftig  verdrängt  wurde,  hervortritt. 
Deswegen  das  Überspringen  von  den  Erinnerungen  zu  einem  visuellen 
Eindruck,  dem  Baum.  Hinter  der  Erinnerung  an  das  Einpacken  der 
Bücher  steckt  wieder  jener  Familienkomplex,  den  ich  dem  Leser  vor- 
enthalten muß. 

Sechste  Sitzung,  16.  Dezember. 

[Willst  d  u  heute  ein  beliebiges  Wort  nennen,  an  das  sich  eine  lange 
Kette  anschließen  soll?]  Ja,  Erde.  Es  spielt  sich  gewöhnlich  alles  auf 
der  Erde  ab. 

Erde,  Geheimnis,  Wasser,  Mond,  Atmosphäre,  Saturn, 
Erdball,  Splitter  (Pause),  Mars,  Menschen,  Verbindung  (Pause), 
Glut,  Eis,  Nordpol,  Schlitten,  Andree,  Grönland,  Walroß, 
Sonne,  Strahlen,  Mekka,  Indien,  Bahn,  Huber,  Moschee, 
Pantoffel, Reise,  blind,  Blödsinn,  Arbeit,  Belohnung,  Himmel, 
Schwester  und  Bruder,  Germanen,  Walhalla,  Eskimo,  Eisbär, 
Beil,  Schlitten,  Schiff,  eingefroren,  Andree,  fertig.    (3V2  Min.) 

[Erde.]  Erdkruste.  Sie  ist  dünn.  Darunter  glühende  Lava.  Welt- 
schmerz. Mein  Bruder  hatte  Weltschmerz.  (Arno  erzählte  mir  am  14.  De- 
zember, er  habe  mit  9  Jahren  eine  Erdkarte  oder  ein  Relief  gesehen; 
da  sei  ihm  Weltschmerz  aufgestiegen,  da  die  Erde  so  klein  sei.)  Auch 
ich  hatte  schon  Weltschmerz.  Gerade  jetzt.  Aber  weil  Sie  im  Religions- 
unterrichte davon  redeten,  wirkt  das  nicht. 


158  Oskar  Pfister. 

[Geheimnis.]  Die  Erde  birgt  Geheimnisse.  Das  Naturgeheimnis 
ist  eng  verbunden  mit  der  Religion. 

[Wasser.]  Das  Meer.  Meerschiff.  Das  Meer  birgt  auch  Geheimnisse, 
auch  Schätze.  Der  Taucher.  Meerfisch.  [Welcher  Taucher?]  Der  das 
Beil  hält.  (Feuchte  Augen.)  Das  andere  Bild,  der  sterbende 
Taucher,  ist  wie  von  einer  Wand  verdeckt,  einer  ganz 
schwarzen  Wand. 

[Mond.]  Eine  Fahrt  um  den  Mond.  Es  ist  ein  Kinematographen- 
bild.  Ein  Automobil  fuhr  durch  die  Alpen  und  Wolken  nach  dem  Mond. 
Dann  gab  es  ein  Wettrennen  auf  den  Saturn,  durch  die  Wolken  auf  die 
Erde.  Auf  einer  Straße  wird  das  Automobil  angehalten,  in  ein  Bett 
verwandelt,  um  die  Polizei  irrezuführen,  dann  wieder  zurückverwandelt, 
um  dann  zu  verschwinden.  Ich  komme  nicht  darauf,  was  alles  bedeutet. 
[Wer  sitzt  im  Automobil?]  Einer  in  einem  Hemde  mit  einer  großen  Brille, 
ungefähr  wie  Arno.  Neben  ihm  eine  Dame  mit  offenem  Haar,  auch  im 
Hemde  und  auch  mit  Brille.  [Wer  könnte  es  sein?]  Man  kann  es  wegen 
der  Brille  nicht  beschreiben.  [Haarfarbe?]  Hell.  [Größe?]  Ungefähr 
wie  Arno.  Es  könnte  Berta  sein,  ja  ja !  [Du  willst  also  nicht  mehr  auf  ihn 
eifersüchtig  sein?]  Dazu  muß  ich  mich  gar  nicht  anstrengen. 

[Die  Polizisten.]  Sie  wollen  nicht  ernstlich  verhaften,  sie  treiben 
nur  Scherz.  Beide  haben  krumme  Beine.  Der  Kleinere  hat  X-Beine 
und  kommt  gar  nicht  vorwärts;  er  trägt  einen  blonden  Schnurrbart 
und  sieht  aus  wie  ein  Hanswurst.  Ich  habe  keine  Ahnung,  wer  es  ist. 
Ich  kann  es  doch  nicht  sein.  [Am  Ende  ein  Lehrer  Arnos?]  Ei  natürlich ! 
Herr  Y.  wird  wegen  seiner  Kleinheit  und  seiner  X-Beine  ausgelacht, 
von  Herrn  Z.  heißt  es,  er  mache  0-Beine,  wenn  er  an  der  Reckstange 
hängt  (vgl.  die  zwei  Lehrer  der  4.   Sitzung). 

[Atmosphäre.]  Sie  wird  in  der  Höhe  immer  dünner.  Oft  werden 
Registrierballons  entsandt,  die  platzen.  Sie  haben  einen  Fallschirm. 
Sonst  fällt  mir  nichts  ein.  [Doch !]  Arno  möchte  gern  Luftschiffer  werden. 
Zeppelin. 

[Saturn.]  Rennbahn,  Automobilrennen.  Ich  sah  auf  einem  Kine- 
matographenbild,  wie  Automobile  sich  überschlugen  und  durch  eine 
Wand  brachen.  L.  ist  ein  berühmter  Fahrer.  Er  trägt  blonden  Schnurr- 
bart und  volles  Gesicht.  Ihm  ist  noch  nie  etwas  passiert.  Es  ist  mein 
Vater. 

[Erdball.]  Er  ist  ein  Splitter  der  Sonne.  Sonst  weiß  ich  nichts. 
Doch !  ,,In  Sphtter  fällt  der  Erdenball  einst  gleich  dem  Glück  von  Eden- 
hall." Der  junge  leichtsinnige  Lord  in  jenem  Gedicht  ist  schlank  wie 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.        159 

Arno.  Vor  einer  Woche  wünschte  sich  Arno  leichtsinnigerweise  einen 
Degenstock.  Ich  fand,  das  passe  nicht  für  ihn  und  wollte  es  ihm  sagen, 
unterließ  es  aber.  [Wie  ging  es  dem  Lord?]  Er  wurde  erstochen.  (Die 
sadistische  Phantasie  erhielt  sich,  weil  eine  Verdi'ängung  stattgefunden 
hatte.) 

[Mars.]  Man  versuchte  schon,  mit  Marsbewohnern  in  Verbindung 
zu  treten.  Auf  einem  Bilde  des  Mars  sah  ich  aber  keine  Leute. 

[Menschen.]  Zuluindianer.  So  nannte  ich  scherzhaft  einen 
Kameraden.  Bertas  Gatte  ist  ein  guter  Mensch.  Brutus  nannten  wir  auch 
oft  einen  Zulu. 

[Glut.]  Das  Lmere  des  Erdballs.  Vulkan,  Pompeji,  verschüttet, 
Menschenformen.  Man  gräbt  Teller  und  Gipsfiguren  aus,  Statuen, 
Bismarck,  weiße  Bilder,  nichts  mehr;  den  Ritter,  den  Sie  uns  auf  Dürers 
Bild  zeigten.  Der  Teller  trägt  ausgestemmte  Ornamente,  Kreise  und 
Spiralen.  Einen  solchen  Teller,  der  aus  Ägypten  stammte,  ließ  die 
Mutter  in  einer  Kellerecke  stehen.  Da  ging  ich  und  verkaufte  ihn  um 
zwei  Franken.  Dies  geschah  vor  vier  Jahren.  —  Bismarck  hatte  Willens- 
kraft. Er  trug  einen  abwärts  gebogenen  Schnurrbart.  Sie  sind  es. 
[St.  Georg  von  Dürer.]  Groß,  scharfe  Augen,  stramme  Beine,  gerade 
Haltung.  Wieder  Sie. 

[Eis.]  Letztbin  wurde  Andrees  Grab  angeblich  gefunden.  Er  wollte 
sein  Glück  versuchen  und  fuhr  mit  dem  Luftschiff  (Sic!)  hin.  Erw^oUte 
etwas  für  die  Wissenschaft  erobern  und  ging  dabei  unter.  Er  trug  einen 
heruntergebogenen  Schnauz.  Sie  sind  es.  Er  hatte  zwei  Gefährten, 
die  auch  umkamen.  Ich  kann  sie  nicht  beschreiben,  da  man  sie  nur 
aus  der  Ferne  sieht.  Sie  stellen  wohl  Arno  und  mich  vor.  [Sind  wir 
denn  an  ein  schlimmes  Ziel  gelangt?]  Im  Gegenteil.  Es  will  heißen, 
daß  Sie  vieles  erklärten  und  sich  um  uns  Mühe  gaben,  und  daß  es  später 
vielleicht  nichts  nutzt.  Hoffentlich  wird  es  aber  nicht  so  kommen. 
Es  ist  ja  unmöglich,  zu  vergessen,  was  Sie  mit  uns  besprachen.  Ich 
glaube,  es  steckt  auch  der  Gedanke  hinter  dem  Bilde,  daß  ich  wegen 
dieser  Besprechung  meine  Aufgaben  noch  nicht  machen  konnte. 

[Nordpol.]  Gehört  zu  Andree. 

Ich  spüj-e,  daß  die  Antworten  viel  leichter  kamen  als  früher,  weil 
jetzt  alles  abgeladen  ist. 

Siebente  Sitzung,  5.  Jänner  1909. 

Die  Stellung  zum  Bruder  ist  jetzt  tadellos.  ,,Ich  kann  Ihnen 
deswegen  nur  dankbar  sein."  Die  Beiden  sind  wirklich  ein  Herz  und  eine 


160  Oskar  Pfister. 

Seele  geworden  und  besprechen  gewisse  für  beide  höchst  peinliche 
Verhältnisse  brüderlich.  Von  den  Sherlock-Holmes-Geschichten  will 
Max  keine  Ahnung  mehr  haben,  „wiewohl  wir  noch  lange  nicht  alle 
behandelten".  —  Wir  setzen  die  begonnene  Analyse  der  Kette  fort. 

[Schlitten.]  Dolder  (guter  Schlittweg). 

[Grönland.]  Zürichbergstraße,  Schlitten,  Mädchen,  meine  Freundin, 
die  ich  aus  der  Ferne  liebe.  Ich  traf  auch  beim  Schlittenfahren  ein 
Mädchen,  dessen  Vater  eine  Grönlandexpedition  machen  will.  Dies 
geschah  aber  erst  vor  einigen  Tagen. 

[Walroß.]  Ich  habe  immer  den  bisher  unbefriedigten  Drang,  jemand 
lieb  zu  haben.  (Kompensation  für  den  Haß,  zugleich  seine  Ursache.) 
Jetzt  kommt  mir  ein  abenteuerliches  Büchlein  in  den  Sinn :  Ein  Matrose, 
namens  Klaus,  stand  auf  einer  Eisfläche.  Da  hackte  ein  Walroß  das 
Eis  unter  seinen  Füßen  auf.  Er  aber  packte  das  Tier  an  den  Zähnen 
und  drückte  es  nieder.  So  wurde  es  gerettet.  Der  kleine,  starke  Matrose 
bin  ich,  das  Ungetüm  die  von  mir  besiegte  Onanie. 

[Sonne.]  Himmelskörper.  Weltuntergang.  Nordlicht. 

[Strahlen.]  Fallen  über  die  ganze  Erde  bis  nach  Mekka. 

[Mekka.]  Teppich,  Perser,  Turban,  demütig,  blind,  glühender 
Stein,  tot,  fertig. 

[Teppich.]  Die  Perser  beten  auf  einem  Teppich  und  wallfahren 
nach  Mekka.  Einige  gehen  zu  Frauen,  die  glühende  Steine  haben,  und 
lassen  sich  ihre  Augen  verderben,  bis  sie  blind  sind,  um  sich  selber 
vor  Mohammed  zu  demütigen.  Dabei  starben  viele.  Aber  das  ist 
ja  gar  nicht  möglich,  an  ausgebrannten  Augen  zu  sterben.  Ich  weiß  nicht, 
was  dahinter  steckt.  [Siehst  du  solche  Perser?]  Ja,  einen  mit  einem 
Bocksbärtchen,  Turban,  Strohpantoffeln,  blauen  Augen.  [Siehst 
du  eine  solche  alte  Frau?]  Ja,  eine,  die  einer  Hexe  gleicht,  mit  glühenden 
Augen  und  herabhängenden  Haaren,  wie  bei  Aschenbrödel.  Es  ist  die 
Mutter  (vgl.  ihren  schrecklichen  Gesichtsausdruck  bei  der  Ringüber- 
gabe), der  Perser  ihr  Liebhaber,  Herr  K.  Ich  wünschte,  daß  er  sich 
an  ihr  die  Augen  verbrenne  und  verderbe. 

[Indien.]  (Muß  verschwiegen  werden.) 

[Bahn.]  Die  Verbindungsbahn  zwischen  Indien  und  Mekka.  Ich 
sehe  einen  Arbeiter,  der  Frondienste  leistet  und  nach  Mekka  zieht. 
Es  ist  der  nämliche  Perser  (Herr  K.).  (Weshalb  er  eine  Verbindung 
zwischen  Indien  und  Arabien  herstellen  soll,  kann  hier  nicht  erörtert 
werden.) 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       161 

[Huber.]  Mein  Lehrer.  Er  erzählte  von  seiner  Reise  nach  Karthago 
und  berichtete  von  mohammedanischen  Sektierern,  die  sich  selbst 
peinigten,  indem  sie  den  Kopf  herumwarfen,  sich  durch  die  Muskeln 
stachen  und  von  Schlangen  beißen  ließen.  Seine  Frau  wurde  dabei  ohn- 
mächtig. Nun  kommt  wieder  das  Bild  von  der  Blondine,  die  m  der 
Gallerie  das  Porträt  ihres  Geliebten  erblickt. 

Die  Sektierer  sind  braun  und  nur  mit  einem  Tuch  bekleidet.  Ich 
sehe  nur  einen  von  Ihrer  Größe.  Sie  sind  es.  Die  Sektierer  quälen  sich 
für  jemand  ab,  für  Mohammed,  für  Jesus. 

Die  Ohnmächtige  ist  Berta.  Der  Gekreuzigte  ist  mittelgroß,  ganz 
nackt,  etwas  fest,  nicht  so  sehr  schlank.  Er  ist  wie  der  Gekreuzigte 
auf  Dürers  Bild.  Den  Kopf  sehe  ich  nicht.  Es  ist,  wie  wenn  eine  schwarze 
Wand  darüber  wäre.  Der  Körper  ist  auffallend  weiß,  besonders  das  Knie, 
die  Muskeln.  Es  ist  Arno.  [Wir  vergaßen  früher  nachzuforschen,  wer  der 
gekreuzigte  Gehilfe  des  Malers  sei.]  Ich  kann  mich  unbedingt  nicht  mehr 
an  ihn  erinnern.  Er  sah  etwas  schauspielerhaft  aus,  machte  ein  ver- 
liebtes Gesicht,  trug  gebügelte  Hosen,  wie  eine  Art  Bureaustift.  Der 
Gekreuzigte  ist  mittelgroß.  Ich  kann  nicht  sagen,  daß  es  mein  Bruder  ist. 
Ich  glaube,  ich  bin 's. 

Unten  am  Kreuze  stehen  Mulatten.  Ich  sehe  nur  einen,  fühle  aber, 
daß  noch  andere  da  sind.  Der  eine  sitzt,  ein  Knie  hat  er  gebeugt  und 
sieht  zum  Kreuz  empor.  Es  ist  Pfarrer  P. 

Auch  Nero  kommt  hier  vor,  ich  sehe  ihn  aber  nicht.  Er  spielt 
auch  keine  Rolle.  Er  ist  mein  Vater. 

(Der  fanatische  Sektierer,  der  sich  um  eines  Höheren  willen 
mißhandelt,  bildet  somit  eine  gemilderte  Neuauflage  des  Ausrufers 
auf  dem  Turme. 

Berta  wird  ohnmächtig,  da  sie  in  dem  Gekreuzigten  den  Verlust 
des  Geliebten  sieht.  Wer  ist's?  Wahrscheinlich  eine  Mischfigur,  zu- 
sammengesetzt aus  Arno  und  Max.  Denn  beide  werden  von  Berta 
geliebt,  ihre  Verschmelzung  ergibt  eine  mittlere  Größe,  während  sonst 
Arno  groß,  Max  fast  immer  klein  auftritt.  Die  schwarze  Wand  über 
dem  Gesicht  entspricht  genau  der,  die  in  der  vorigen  Sitzung  den 
sterbenden  Taucher  verdeckte.  Die  Auslegung  der  Phantasie  mag  etwa 
so  lauten:  Die  früheren  Kreuzigungsszenen  im  Atelier  des  Malers  (A  11, 
22,  40)  erscheinen  ins  Erhabene  umgedeutet.  Freilich  spielt  noch  ein 
gewisser  Sadismus  und  Masochismus  mit,  aber  bereits  sublimiert, 
insofern  Max  das  Schicksal  seines  Bruders  teilt  und  das  Todeslos  Jesu 
übernimmt.  Das  weiße  Knie  entspricht  der  Gewohnheit,  kurze  Bein- 

Jahrbuoh  für  psychoanalyt.  u.  psycliopathol.  Forschungeu.     II.  11 


162  Oskar  Pfister. 

kleider  und  Strümpfe  zu  tragen.  Zu  Beginn  der  Phantasie  wird  die 
Frau  vor  dem  Sektierer,  der  sich  quälen  läßt,  also  dem  Pfarrer,  ohn- 
mächtig, wie  A  39  die  Geliebte  vor  dem  Bilde  des  vom  Maler  Ge- 
kreuzigten. Somit  ist  auch  von  seinem  Tode  die  Rede,  und  es  finden 
die  Brüder  mit  ihrem  Lehrer,  wie  früher  im  Wachtraum  von  Andree, 
ein  gemeinsames  heroisches  Ende. 

Weshalb  bin  ich  nun  zur  Rolle  des  Zuschauers  verurteilt  worden? 
Weshab  trete  ich  als  Mulatte  auf?  Da  Berta  dabei  steht,  ist  anzu- 
nehmen, daß  Max  mir  seine  Geliebte  als  Gattin  abgetreten  hat.  Die 
Anwesenheit  noch  anderer  Mulatten  fügt  aber  hinzu:  Jetzt  kann  sie 
haben,  wer  will.  (Vgl.  B  1-4:  Brutus  als  ,, Zuluindianer".)  Eine  kleine 
boshafte  Ironie  ist  unverkennbar.  Als  Zuschauer  könnte  ich  mich  über 
den  freiwilligen  Opfertod  der  Burschen  freuen.  Als  Mulatte  trage  ich 
aber  auch  das  Odium,  dieses  Ende  aus  Eifersucht  gewünscht  zu  haben 
und  mich  am  Anblicke  des  Gekreuzigten  vielleicht  sogar  zu  weiden, 
wie  seinerzeit  Arno  als  Maler  sich  am  Tode  seines  gelo-euzigten  Ge- 
hilfen erfreut.  Max  empfindet  die  Analyse  insgeheim  als  ein  wenig 
peinlich.  —  Der  Ausdruck  ,,auch  Nero"  erinnert  an  ,,die  brennenden 
Fackeln  des  Nero",  woselbst  Arno  als  Maler  die  Rolle  des  Zuschauers 
spielte.  Nehmen  wir  hinzu,  daß  Arno  auch  als  Nero  ausführlich  gekenn- 
zeichnet wurde  (grausam,  eitel.  Dichter,  Schauspieler),  so  werden  wir 
vermuten  dürfen,  daß  auch  jetzt  der  römische  Kaiser  den  Knaben 
repräsentiert,  zumal  der  Vater  außer  seiner  Würde  mit  Nero  nichts 
gemein  hat.  Der  Vater  kann  doch  dahinter  stecken,  indem  er  und  Nero 
sich  aussprachen  und  näher  kamen.  So  erklärt  sich  auch  die  Cnsichtbarkeit 
Neros.  Für  eine  wenig  beteiligte  Mischperson  mußte  keine  sichtbare 
Figur  geschaffen  werden.) 

[Moschee.]  Nichts.  Doch!  Der  Ausrufer  auf  dem  Turme.  Das 
Bild  entschwindet  mir,  wie  wenn  es  nicht  hervorkommen  wollte.  Wahr- 
scheinlich, weil  die  Geschichte  schon  mitgeteilt  ist. 

[Pantoffel.]  Herr  Huber  bestach  einen  Aufseher  und  betrat  in 
Pantoffeln  eine  Moschee.  Mit  Schlauheit  kommt  man  überall  durch. 

[Reise.]  Nach  Mekka.  Ich  sehe  wieder  die  Eisenbahn,  die  im 
Abendrot  durch  Afrika  fährt.  (Die  früher  erwähnte  Bahn  kam  von 
Indien  her.  Die  Erinnerung  an  Herrn  Hubers  Reise  hat  die  Szene  ver- 
schoben. Der  Komplex  des  Hasses  gegen  Herrn  K.  ist  noch  nicht  völlig 
abreagiert,  deswegen  erscheint  die  Bahn  noch  einmal,  er  ist  aber,  so 
kann  man  vielleicht  vermuten,  bald  erledigt,  darum  das  Abendrot.) 

[BKnd.]  Wieder  das  mit  dem  glühenden   Stein  (Herr  K.). 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.        163 

[Blödsinn.]  Es  ist  ein  Blödsinn,  sich  blenden  zu  lassen,  um  Gott 
besser  zu  gefallen.  (Bezieht  sich  vielleicht  noch  ein  wenig  auf  Pfarrer  P., 
der  mit  Herrn  K.  vermischt  wird,  vgl.  oben  „blödsinniger  Ausrufer".) 

[Arbeit.]  Man  sollte  lieber  arbeiten,  dann  gefällt  man  Gott  und 
erreicht  sein  Ideale. 

[Belohnung.]  Das  ist  dann  die  Belohnung  für  die  Arbeit. 

[Himmel.]  Man  braucht  sich  dann  nicht  vor  der  Hölle  zu  fürchten. 

[Schwester  und  Bruder.]  Die  Mohammedaner  stellten  sich  vor, 
Himmel  und  Erde  seien  Bruder  und  Schwester.  Zur  Strafe  wurden  sie 
auseinander  gerissen.  Ich  und  Arno.  (Homosexueller  Anklang.)  Wenn 
man  nicht  gegen  die  Hölle  kämpft,  so  wird  man  auseinander  geführt. 
(Ich  hatte  aus  der  australischen  Kosmogonie  erzählt,  Eegen  und  Tau 
bedeuten  die  Tränen,  welche  die  wegen  eines  Unrechtes  getrennten 
Geschwister  Himmel  und  Erde  aus  Sehnsucht  nacheinander  ver- 
gießen. Die  Liebe  zu  Arno  bricht  somit  hier  recht  kräftig  hervor.) 

[Germanen.]  Die  Germanen  glaubten  an  Walhalla. 

[Walhalla.]  Dort  werden  dem  verwundeten  Kitter  die  abgehaueneti 
Glieder  wieder  angesetzt.  Ich  sehe  ihn  nicht.  Höchstens  St.  Georg 
von  Dürer.  Er  und  sein  Pferd  tragen  Rüstung,  er  sitzt  stramm  im  Sattel, 
genau  wie  im  Bilde.  Das  Gesicht  sieht  man  nicht.  Der  Schnurrbart 
ist  schwarz.  [Das  reimt  sich  doch  nicht!]  Es  fiel  mir  eben  so  ein.  Die 
Figur  ist  schlank  und  groß.  Pfarrer  P.  Nein,  Sie  können  es  nicht  sein, 
ich  dachte  nicht  mehr  an  Walhalla.  (Es  handelt  sich  um  den  Bruder.) 
Auf  einem  Bilde  sah  ich  vor  1  bis  2  Jahren,  wie  zwei  Könige  miteinander 
tm-nierten.  Der  eine  von  ihnen,  Heinrich  IV.  von  Deutschland,  wurde 
an  der  Stirne  verwundet.  (Arno  hat  vor  etwa  zwei  Jahren  Max  absichtlich 
ein  Loch  in  den  Kopf  geschlagen.  Protestantische  Monatshefte  1909, 
21.  Die  Könige  sind  Arno  und  Max.)  Er  trug  ein  Bocksbärtchen,  aber 
kein  spitziges.  —  Jetzt  sehe  ich  wieder  ein  anderes  Bild,  auf  dem  das- 
selbe dargestellt  wird,  wieder  König  Heinrich,  aber  er  ist  ein  anderer, 
obschon  er  genau  gleich  aussieht.  Er  trägt  einen  Degen  in  der  Hand 
und  kämpft  gegen  fünf  oder  sechs  Feinde.  Er  ist  groß,  schlank,  seine 
Augen  sind  schwarz.  Er  sieht  ungefähr  aus  wie  der  Bruder  des  Malers. 
Ich  bin's. 

(Die  beiden  Könige  sind  Arno  und  Max.  Der  eine  von  ihnen, 
der  wegen  des  Bocksbärtchens  mit  dem  Gehilfen  des  Malers,  also  Max, 
zu  identifizieren  ist,  erscheint  zuerst  als  Verwundeter,  der  von  seinem 
Bruder,  dem  andern  König,  verletzt  wird,  sofort  aber  als  ein  anderer 
Mensch,  der  nicht  mehr  mit  dem  Bruder,  sondern  mit  fremden  Feinden 

11* 


164  Oskar  Pfister. 

siegreich  kämpft.  Dabei  hat  Max  die  Statur  des  Bruders  angenommen, 
um  sein  Einssein  mit  ihm  auszudrücken.) 

[Eskimo.]  Er  denkt  sich  das  Jenseits  als  Polarlandschaft  voll 
Eisbären. 

[Eisbären.]  Wo  sie  sind,  kann  man  prächtig  Schlitten  fahren. 

[Schiff.]  Eingefroren.  Andree  wollte  auch  in  der  Polargegend 
zu  landen  versuchen.  Ich  sehe  sein  Brustbild,  die  schwarzen  Augen,  den 
Schnurrbart,  die  energischen  Züge.  Es  ist  Pfarrer  P. 

(Der  scheinbar  in  der  Luft  schwebende  Ausrufer  verwandelt  sich 
in  den  unglücklichen  Luftschiffer.) 

[Es  fällt  mir  auf,  daß  dein  Bruder  nie  deutlich  hervortrat.]  Wir 
kommenebensogut  miteinander  aus,  daßgar  kein  Eindruck 
zurückbleibt.  Arno  ist  jetzt  sehr  artig  mit  allen.  Ich  bemerkte 
vorher  jeden  Tag,  daß  mich  etwas  drückte.  Ich  meinte,  es 
wäre  ein  Stein.  Jetzt  ist  dies  ganz  verschwunden.  Ich  fühle 
mich  als  andern  Menschen. 

Achte  Sitzung,  15.  Jänner  1909. 

Der  Versuch,  über  den  Sektierer  und  Heinrich^IV.'mehr  zu  er- 
fahren, mißlingt.  Max  berichtet:  ,,Es  wird  immer  schwieriger,  etwas 
zu  den  Worten,  die  ich  aneinander  füge,  zu  finden.  Es  geht  einfach 
nicht  mehr.  Es  ist,  wie  wenn  es  fertig  wäre.  Wir  haben  zwar  lange  nicht 
alle  aufregenden  Bilder  und  Bücher,  die  ich  kennen  lernte,  besprochen. 
Allein  sie  kommen  mir  nicht  mehr  in  den  Sinn.  Im  Anfang  hatte  ich 
das  Gefühl,  daß  die  Bilder  von  selbst  aus  mir  heraussprangen.  Natürlich 
ist  mir  dabei  wohl  geworden,  das  ist  klar.  Sobald  man  aber  denkt, 
es  sei  nicht  mehr  nötig,  ging  es  schwerer.  In  den  letzten  Stunden  war 
der  Drang  nach  Befreiung  nicht  mehr  so  stark,  darum  wurden  mir  die 
Antworten  unangenehm."  Daher  also  die  schlechte  Behandlung  des 
Analytikers ! 

Im  Wachbewußtsein  anerkennt  übrigens  der  Knabe  willig  den 
hohen  Wert  der  vollzogenen  Analyse. 

[Was  hast  du  bis  jetzt  aus  unseren  Beobachtungen  gelernt?]  Er- 
stens können  aufregende  Bücher  und  Kinematographenbilder  einen 
ganz  ruinieren.  Sie  laSsen  starke  Eindrücke  zurück,  die  man  fast  nicht 
mehr  aus  sich  heraus  bringt.  Der  geringste  Streit  in  der  Familie  ver- 
wandelt sich  unter  dem  Einflüsse  jener  Bilder  in  Gift  und  Galle,  so  daß 
der  Zwist  vergrößert  wurde.  [Kamen  dir  die  Bilder  während  des  Streites 
in  den  Sinn?]  Doch,  doch !  Nicht  im  Augenblicke  des  Streites,  aber  gleich 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.        165 

nachher.  Ich  sah  dann  gewöhnlich  Arno  als  ertrunken  oder  als  über- 
fahren. (Max  behauptet,  einmal  nach  Schluß  der  eigentlichen  Sitzung 
von  einem  Bahnwärterraädchen  erzählt  zu  haben,  das  überfallen  und 
auf  die  Schienen  gebunden,  aber  von  einem  Zugführer  gerettet  wurde. 
Ich  kann  mich  dieser  Phantasie  jedoch  nicht  entsinnen.  Die  Be- 
sprechungen während  der  Sitzung  wurden  wörtlich  nachgeschrieben.) 

Zweitens  habe  ich  gelernt,  daß  man  die  häßlichen  Bilder  nur  mit 
Hilfe  der  Analyse  entfernen  kann.  Letztere  ist  so  stark,  daß  die  Romane 
und  schauerlichen  Bilder  keine  Macht  mehr  haben,  um  zur  Lektüre 
der  Romane  und  zum  Besuche  der  Buden  zu  verführen. 

Drittens  weiß  ich  jetzt,  daß  es  doch  schön  ist,  wenn  man  in  Frieden 
und  ohne  Zwietracht  leben  kann.  Jetzt  habe  ich  Freude  an  der  Religion, 
an  den  Freunden  und  an  der  Schule.  Von  der  Onanie  weiß  ich  mich 
frei.  Ich  fühle  mich  jetzt  vollkommen  glücklich  und  leicht. 

Die  Phantasien  der  sechsten  und  siebenten  Sitzung  ordnen  wir  in 

Tabelle  B  (Phantasien  im  Stadium  der  Versöhnung). 

Sechste  Sitzung. 

a)  Phantasien  über  Arno: 

1.  Er  leidet  an  Weltschmerz  (keine  Phantasie). 

2.  Er  erscheint  als  sterbender  Taucher,  aber  hinter  einer  ganz  schwarzen 
Wand. 

3.  Er  erlebt  mit  Berta  zusammen  lustige  Abenteuer  im  Automobil 
und  wird  von  den  Lehrern  nur  angehalten,  nicht  bestraft. 

4.  Er  fliegt  in  einem  Ballon  auf,  welcher  platzt,  rettet  sich  aber  mit 
Hilfe  des  Fallschirmes. 

5.  Er  geht  als  Lord  von  Edenhall  unter. 

6.  Er  endet  an  der  Seite  Andrees  am  Nordpol. 

b)  Sich  selbst  bedenkt  Max  mit  folgenden  Einfällen: 

7.  Er  litt  an  Weltschmerz-  (Sympathie  mit  Arno,  keine  Phantasie). 

8.  Er  sieht  sich  noch  einmal  im  Bilde  des  Tauchers  als  den  Mörder 
seines  Bruders  (Tränen  im  Auge). 

9.  Er  sieht,  wie  ein  Teller,   den  er  entwendete,   ausgegraben  wird. 

10.  Er   geht   als   Gefährte   Andrees  und  seines   Bruders   zugrunde. 

c)  Phantasie  über  den  Vater: 

11.  Er  trägt  als  Autoraobihst  große  Siege  davon. 

d)  Von  der  Mutter  träumt  Max  in  dieser  Sitzung  nichts. 

e)  Pfarrer  P. 


166  Oskar  Pfister. 

12.  Er  wird  als  Bismarck-  und  St.-Georg-Statue  aus  den  Ruinen  von 
Pompeji  ausgegraben. 

13.  Er  findet  als  Andree  einen  ehrenvollen  Märtvrertod. 
/)  Arnos  Freund  Brutus 

14.  avanciert  zum  harmlosen  „Zuluindianer"  und  wird  damit  Bertas 
Gatten  gleichgesetzt. 

g)  Berta  besitzt  einen  guten  Gatten  (keine  Phantasie). 
h)  Arnos  Lehrer 

15.  werden  mit  krummen  Beinen  geschmückt. 

Siebente  Sitzung. 

a)  Bildliche  Darstellungen  Arnos. 

16.  Er  erscheint  als  Gekreuzigter  in  der  aus  ihm  und  Arno  zusammen- 
gesetzten Mischfigur,  sein  Kopf  ist  verdeckt.  Als  Nero  wohnt  er 
unsichtbar  der  Szene  bei. 

17.  Er  ist  der  Himmel  (oder  die  Erde)  und  weint  über  die  Trennung 
vom  Bruder. 

18.  Er  erscheint  als  St.  Georg  sowie  als  königlicher  Gegner,  der  in 
ritterlichem  Turnier  verwundet,  zu  glorreichem  Gefecht  aber  nicht 
mehr  nötig  ist,  da  andere  Partner  auftreten. 

b)  Erinnerungen  an  sich  selbst: 

18  a.  Er  traf  die  Tochter  eines  Grönlandfahrers. 
18  6.  (Indien.) 

19.  Er  überwindet  ein  Walroß  (Onanie). 

20.  Er  teilt  mit  Bruder  und  Pfarrer  den  Kreuzestod. 

21.  Er  weint  als  Erde  (oder  Himmel)  über  die  Ferne  des  Bruders. 

22.  Er  tritt  auf  als  mit  seinem  Bruder  harmlos  turnierender  und  siegreich 
kämpfender  König  Heinrich  IV. 

c)  Der  Vater  zeigt  sich  nicht  mehr  deutlich. 

23.  Seine  Anwesenheit  in  der  Gestalt  des  Nero  wird  nur  noch  gefühlt. 

d)  Die  Mutter 

24.  wird  zur  grausamen  Hexe. 

e)  Pfarrer  P.  wird  übel  hergenommen: 

25.  Er  peinigt  sich  seinem  Glauben  zulieb  als  brauner  Sektierer; 
vieUeicht  auch:  er  läßt  sich  blenden,  um  Gott  besser  zu  gefallen. 
(Identifikation  mit  Herrn  K.) 

26.  Er  tritt  als  Mulatte,  der  einer  Kreuzigung  zuschaut,  in  die  Rolle  des 
grausamen  Malers,  der  sich  am  Tode  seines  Opfers  weidet,  und 
(vielleicht)  in  die   Stellung  des   Gatten  der  geliebten  Berta. 


Analytische  Untersuchung'en  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       167 

27.  Er  erscheint  unklar  entschwindend  in  der  Figur  des  Ausrufers. 

28.  Er  wird  von  St.  Georg,  mit  dem  er  in  der  sechsten  Sitzung  iden- 
tifiziert worden  war,  unterschieden. 

29.  Er  gelangt  als  Andree  ins  Eskimojenseits. 

f)  Herr  K.  kommt  übel  davon: 

30.  Er  stirbt  an  geblendeten  Augen. 

31.  Er  leistet  Frondienste  beim  Bau  einer  Wüstenbahn. 
32  und  33.  Beides  klingt  nochmals  an. 

g)  Lehrer  Huber  wird  in  keine  Phantasie  einbezogen.  Es  ist 
lediglich  von  seiner  interessanten  Reise  sowie  seiner  Klugheit  und 
Energie  die  Rede. 

h)  Berta 
34.  erscheint  noch  einmal,  indem  sie  vor  einem  gequälten  religiösen 
Fanatiker  in  Ohnmacht  fällt,  wird  aber  durch  mehrere  Mulatten 
(Anspielung  auf  ihren  Ehemann)  entschädigt.  Ein  Trost  liegt  auch 
in  der  leisen  Anspielung  auf  ihre  Gleichsetzung  mit  Maria,  der  Mutter 
Jesu. 

III.  Die  psycliologischen  Yeräudernngeii 
bei  der  Versöhnung. 

I.  Bearbeitung  der  Phantasien. 

Wir    stellen    zunächst    die    Transformationen    der    Wachträume 
in  systematischer  Anordnung  zusammen, 

Tabelle  C  (Tropen  der  Transformation). 

A.  Veränderungen  auf  gleichbleibendem  Funktionsniveau. 
■     I.  Mit  Beibehaltung  der  früheren  Szene: 

a)  Derselbe  Deutlichkeitsgrad  mit  Konversion: 

A21.  Der  mordende  Taucher.  B  8.  Dasselbe  Bild;  Tränen. 

b)  Das  vorige  Bild  abgeschwächt: 

A36.  Der  Pfarrer  als  Ausrufer.         B27.  Entschwindend. 

II.  Mit  Veränderung  der  früheren  Szene: 

a)  Verhüllung  des  peinlichen  Bildes: 
A8.  Arno  als  sterbender  Taucher.      B2.  Hinter  einer  schwarzen  Wand. 


168 


Oskar  Pfister. 


h)  Abbruch  der  Phantasie  vor  dem  tragischen  Ausgang: 
A7.  Arno  als  sterbender  Kapitän.      Vierte  Sitzung  Nr,  2:   als  gefähr- 
deter Kapitän. 

c)  Verwandlung  der  tragischen  Figur  in  eine  ihr  ähnliche  nicht- 
tragische : 

A  4.  Arno  als  Alarich  im  Busento.      B  18.  Als  St.  Georg. 

A8.  Arno  als  sterbender  König.        B  18.  Als  turnierender  König. 

d)  Ersatz  der  früheren  schädlichen  Handlung  in  eine  ähnliche  mit 
harmlosem  Ausgang.  (Zugleich  Disjektion.) 


A  6.  Arnos  Sturz  aus  der  Schleifen 
bahn. 


B  4.  Arnos  Rettung  mit  Hilfe  des 

Fallschirmes. 
B  3.  Sein    Flug    um   Saturn   und 

auf   die  Erde   im  Automobil. 
e)   Verzeichnung  ins  Komische. 

a)  Umdeutung   der    unangenehmen  Erinnerung   in   eine  un- 
schuldige Karikatur: 
Vierte  Sitzung.  Die  Lehrer  wollen      B  15.  Sie  lassen  ihn   als   krumm- 
Arno  sitzen  lassen.  beinige  Polizisten  passieren. 

ß)  Derselbe  Vorgang  mit  Verdichtung. 

A  6.  Arno  als  Velofahrer  in  der 
Schleifenbahn. 

A  9.  Arno  als  toll  den  Wagen  len- 
kender Caligula. 


B  3.  Er  kreist  im  Automobil  um 
den  Mond. 


verun- 


A 13.  Arno  auf  dem  Eise 
glückt. 

16.  Als  Flüchtling  tot  in  Sibirien 
geschleift. 

23.  Max  als  fliegender  Holländer. 

26.  Als    mit    Arno    zusammen- 
geketteter sibirischer  Flüchtling 
in  Gestalt  des  Herrn  K. 

35.  Der  Pfarrer  als  blödsinniger 
auf  dem  Turme  in  der  Luft 
schwebender,  sich  in  guter  Ab- 
sicht verzehrender  Ausrufer. 


B.  Veränderungen  mit  Sublimierung. 

I.  Mit  Hilfe  der  Verdichtung. 

B  6.  Arno  stirbt  als  Begleiter  An- 
drees  in  eisiger  Gegend. 


10.  Max  endigt  neben  ihm  nach 
einem  Flug  durch  die  Luft. 


13.  Der  Pfarrer  geht  als  Märtyrer 
der  Wissenschaft  in  Gestalt 
eines  Luftschiffers  zugrunde. 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       169 


10.  Arno  als  Nero, 

11.  als  Maler,  der  seinen  Gehilfen 
und   sein   Modell   kreuzigt. 


22.  Max,  der  als  Gehilfe  des  Malers 

gekreuzigt  wird. 
25.  Max,  der  als  schwarzer  Sklave 

Nero  ermordet. 

39.  Berta,     die     als    Modell    ge- 
kreuzigt und 

40.  als     Betrachterin     des     ihren 
Bräutigam    darstellenden    Ge- 
mäldes   in    Ohnmacht    fällt. 


B  16.  Arno  ist  als  Nero  unsichtbarer 
Zeuge  einer  Kreuzigung,  er  ist 
also  nicht  vom  schwarzen  Skla- 
ven  (Max)   ermordet;    er   wird 

16.  ähnlich  dem  Heiland  und  ge- 
meinsam mit 

20.  Max  gekreuzigt. 


34.  Berta  fällt  vor  einem  sich  aus 
religiösen  Motiven  opfernden 
Fanatiker  nieder;  an  Stelle  des 
Fanatikers  erscheint  der  ge- 
kreuzigte Heiland,  so  daß  Berta 
das  Aussehen  der  Maria  erlangt. 

26.  Der  Pfarrer  übernimmt  als 
Mulatte  die  Rolle  des  sich  an  den 
Qualen  seines  Opfers  weidenden 
Malers  Arno,  als  Mulatte  die 
des  schwarzen  Sklaven  Max, 
der  den  Bruder  (Nero)  ermordet. 


II.  Mit  Hilfe  der  Disjektion. 


A35.  Der  Pfarrer  stirbt  als  blöd- 
sinniger, den  Mund  lautlos  öff- 
nender, auf  einem  Turme  schwe- 
bender Ausrufer,  indem  er  sich 
für  eine  törichte  Sache  wegwirft. 


B  12.  Der  Pfarrer  als  Bismarck, 
d.  h.  geistreicher,  kraftvoller 
Redner,  sowie 

13.  als  Luftschiffer,  der  sich  für 
die  Wissenschaft  opfert. 


Weitaus  die  meisten  Phantasien,  die  im  Stadium  des  Hasses 
(Tabelle  A)  hervorsprangen,  erfuhren  im  Zeichen  der  Versöhnung 
eine  rückläufige  Bewegung,  nämlich  bezüglich  Arnos  die  Nummern 
2  (2)1),  3,  4  und  5  (18),  6  (3,  4),  7  (Vierte  Sitzung,  2),  8  (18),  9  (3),  10  (16), 
11  (16),  12  (14),  13  (6),  14  (Fünfte  Sitzung,  a,  2),  16  (6). 

Unerledigt  blieben  einzelne  Teilstücke  in  9  (der  Wahnsinn),  10  (der 
braune  Sklave),  ferner  ganz  die  Nummern  1,  15,  17  bis  20. 

^)  Die  eingeklammerten  Zahlen  bezeichnen  die  korrespondierenden  Bilder 
in  Tabelle  B. 


170  Oskar  Pfister. 

Einige  dieser  Phantasien  wurden  später  umgearbeitet,  nämlich  1 
und  9  (der  Wahnsinn  Arnos).  (Siehe  unten,  Seite  175.)  Nr.  15, 17  und  19 
gingen  keine  Veränderung  ein,  weil  die  Stellung  zum  Vater  auch  nach  der 
Versöhnung  mit  dem  Bruder  ungünstig  blieb.  Aus  Nr.  17  wurde  nur  die 
Schläfrigkeit  der  Schildwache  zurückgenommen.  (Siehe  gleichfalls 
unten,  Seite  176.)  Der  braune  Sklave  (10)  geht  auf  Max  und  ist  dort  zu 
untersuchen.  Gänzlich  unbeachtet  scheinen  nur  die  Bilder  18  und  20 
zu  bleiben. 

Auch  auf  sein  eigenes  in  Wachträumen  beschriebenes  Geschick 
kommt  Max  meistens  zurück:  21  (8),  22  (16),  23  (10),  24  (schon  in  A. 
Pompejus  in  Pompeji  abgeschwächt.  Die  auf  der  Hand  liegende  Deutung 
muß  verschwiegen  werden),  25  (16),  26  (der  sibirische  Flüchtling)  (10). 
An  Stelle  des  braunen  Sklaven  (AlO)  erscheinen  zur  Abschwächung 
Brutus  als  „Zuluindianer"  (B  14),  der  Pfarrer  (26)  und  andere  Mulatten 
(26);  vielleicht  dient  auch  (B  9)  die  Ausgrabung  des  gestohlenen  Tellers 
dazu,  vom  Brudermord  aus  Habsucht  abzulenken.  Aus  26  restiert 
Max  als  Anarchist.  27  (Max  rettet  des  Vaters  Leiche)  konnte  nicht  um- 
gewandelt werden,  da  die  Stellung  der  Brüder  zum  Vater  ungefähr 
gleich  blieb. 

Der  Pfarrer  wurde  rehabilitiert:  36  (12,  13,  25,  27).  Allein  die 
antipathische  Übertragung  spricht  deutlich  aus  den  sublimierten 
Bildern.  Die  steigende  Erbitterung  des  subliminalen  Bewußtseins 
drückt  sich  darin  aus,  daß  seine  in  der  sechsten  Sitzung  vollzogene 
Identifikation  mit  St.  Georg  in  der  siebenten  Besprechung  zurück- 
genommen und  der  Ausrufer  ( A36)  zum  fanatischen  Sektierer  (B  25)  wird. 

Die  auf  die  Mutter  (A  33  bis  34),  Keller  (A  38),  Herrn  K. 
(A  41  bis  42)  und  den  Arzt  (A  43)  bezogenen  Vorstellungen  erfahren 
keine  erneute  Würdigung,  weil  der  ihnen  zugrunde  hegende  Komplex 
in  ungeminderter  Virulenz  verharrte. 

Dagegen  würdigt  der  Träumer  die  Berta  gewidmeten  Tableaux 
einer  Transformation:  39  (34),  40  (16,  20). 

Gänzlich  neu  gebildet  wurden  die  Phantasien: 

B  5.  Arno  stirbt  als  Lord  von  Edenhall.  Der  Grund  dieser  sadi- 
stischen Vorstellung  hegt  darin,  daß  Max  seinem  Bruder  den  Verdacht 
auf  Leichtsinn  verschwieg  (Verdrängung). 

B  9.  Max  sieht  die  Ausgrabung  eines  von  ihm  gestohlenen  Tellers. 
Ein  Zusammenhang  zwischen  dieser  Szene  und  den  Rachephantasien 
besteht  darin,  daß  Max  zuvor  als  habsüchtiger  Mörder  ( A  21)  und  lüsterner 
Erbe  auftrat  (Geständnisse  in  der  zweiten  Sitzung,  Schluß,  und  vierten 


Analytische  Untersuchuugen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       171 

Sitzung  a,  2).  Doch  liegt  hier  ein  relativ  selbständiger  Komplex  vor, 
erzeugt  durch  Eigentumsdelikte. 

B  19.  Max  bezwingt  ein  Walroß.  Hier  tritt  der  Masturbations- 
komplex  auf. 

B  17.  Die  Brüder  als  Himmel  und  Erde,  die  sehnsüchtig  umeinander 
trauern.  Vielleicht  ist  auch  dieses  Bild  nicht  ganz  neu,  sondern  eine 
Umwandlung  von  A2  und  21,  wonach  Arno  als  Mörder  in  der  Gestalt 
des  reichen  Mannes  in  die  Hölle  kommt.  Lazarus,  der  schon  in  der 
Assoziationsreihe  vorkommt,  wäre  natürlich  der  ausgeplünderte  Arno. 
Doch  erlaubte  der  Haß  damals  noch  nicht,  die  Vorstellung  der  himm- 
lischen Seligkeit  dieses  Lazarus  ins  Bewußtsein  treten  zu  lassen.  In  der 
Konsequenz  der  jetzt  produzierten  Szene  läge  also  die  harmloseTrennung 
der  Brüder  in  der  Höhe  (Himmel)  und  der  Tiefe  (Erde,  statt  Unterwelt). 

Bll.  Der  Vater  als  Automobilist  drückt  seine  Annäherung  zu 
dem  früher  von  ihm  innerlich  getrennten  Arno  aus,  somit  einen  neuen 
Gedanken.  Eine  Aussöhnung  der  beiden  hat  jedoch  nicht  stattgefunden, 
ihre  Gesinnung  ist  noch  ungefähr  dieselbe,  wenn  auch  die  Spannung 
gemildert  wurde. 

B24.  Die  Mutter  als  Hexe, 


drücken  den  gesteigerten  Haß  aus. 


B  30.  Herr  K.  als  von  ihr  geblendet 

und  umgebracht 
B  31  bis  33.  Herr  K.  als  Fronsklave 

Aus  den  angegebenen  Transformationen  und  Neubildungen 
können  wir  nunmehr  das  folgende  für  die  Psychologie  des  Hasses  und 
Versöhnung  wichtige  Gesetz  ableiten: 

Bei  Verschärfung  bedient  sich  der  Haßkomplex  zum 
Zwecke  der  Befriedigung  in  Wachphantasien  immer  neuer 
Bilder.  Ob  dies  nur  in  unserem  Schulfalle  oder  überhaupt  die  Regel 
ist,  läßt  sich  hier  nicht  entscheiden.  Weitere  Erfahrung  bejaht  die  Frage. 

Bei  der  Versöhnung  dagegen  kehren  die  früheren  Phan- 
tasien wieder,  jedoch  entweder  unverändert  verblaßt,  re- 
spektive von  Konversionszeichen  begleitet  oder  in  einer 
Umarbeitung,  welche  ihnen  nach  den  Gesetzen  der  Traum- 
bildung den  vormals  peinlichen  Charakter  durch  Umdeutung 
auf  gleichem  oder  sublimiertem   Funktionsniveau   nimmt. 

Sofern  wir  bei  dieser  Arbeit  das  Bestreben  erkennen,  die  früheren 
als  imstatthaft  und  bedauerlich  empfundenen  Wunschphantasien 
zurückzunehmen,  beobachten  wir  den  Einfluß  der  Reue. 


172  Oskar  Pfister. 

Die  Umarbeitung  der  Phantasien  nach  der  Versöhnung  hat  die 
Natur  einer  Kompensationsbildung.  Die  von  der  Analyse  aufgeklärten 
Haßträume  boten  Befriedigung,  indem  sich  in  ihnen  der  Rachedurst 
kühlte.  Das  Gewissen  konnte  keinen  Einspruch  erheben,  da  es  den  wahren 
Sinn  der  Charaden  nicht  verstund.  Durch  die  Analyse  belehrt,  verwirft 
es  die  ganze  Phantasie  und  damit  die  unterschwellige  Lustgewinnung, 
deren  Verlust  nun  gedeckt  werden  muß.  Dies  geschieht  dadurch,  daß 
der  Träumer  auf  die  einst  subliminal  lustvolle  Betätigung  zurückkommt 
und  durch  Umdeutung  usw.  vorgibt:  In  Wirklichkeit  war  es  nicht  so, 
wie  du  irrtümlich  aus  den  Phantasien  herauslasest,  sondern  so  und  so. 
Die  Versöhnungsphantasien  geben  sich  dem  Unterbewußtsein  als 
Berichtigung  früherer  Irrtümer,  und  zwar  die  gleichstufigen  durch 
einfache  Zerstörung  eines  nichtigen  Wahnes,  durch  Abschwächung 
oder  Parodierung,  die  sublimierten  durch  ideale  Überbietung.  Da  die 
Rachephantasie  aber  immerhin  dem  Rachetriebe  Befriedigung  bot, 
bedeutete  eine  nur  gleichstufige  Transformation  Preisgabe  einer  lust- 
vollen Betätigung.  Damit  kann  sich  der  psychische  Organismus  nicht 
zufrieden  geben.  Er  muß  einen  Ersatz  gewinnen.  Die  in  der  Versöhnung 
zutage  tretende  Sublimierung  erweist  sich  somit  als  eine  Kompen- 
sation,   die    im    Bedürfnis    der    Selbsterhaltung    begründet    liegt. 

Zu  den  mehrwertigen  Neubildungen  gehören  besonders  die  Vor- 
stellungen vom  Gekreuzigten  und  Andree.  Beide  enthalten  abermals 
sadistische  und  masochistische  Züge,  aber  in  einwandfreier  Ausprägung. 
Schön  ist's  ja,  daß  der  ehemalige  Gehilfe  zu  grausamem  Mord  sich  in 
der  Weise  Jesu  Icreuzigen  läßt,  erhebend,  daß  der  einstige  Terrorist 
sich  mit  dem  früheren  Spießgesellen  neben  Andree,  dem  Märtyrer 
der  Wissenschaft,  opfert  usw.  Allein  wir  verhehlen  uns  nicht,  daß  auch 
in  diesen  Reaktionen,  die  wir  als  Sühne  bezeichnen,  die  nämlichen 
Sexualkiäfte  liegen  wie  in  den  primären  Sadismen  und  Masochismen, 
nur  jetzt  sublimiert.  Von  hier  aus  erweist  sich  das  Sühnebedürfnis 
überhaupt  als  Kompensationserscheinung  auf  sublimiertem  Niveau. 
Bei  grausamer  Sühne  springt  die  sexuelle  Bedingtheit  nur  zu  deutlich 
in  die  Augen. 

2.  Die  Bedeutung  der  Phantasien  und  ihrer  Analyse 
für  das  sittliche  Verhalten. 

Um  die  Frage  zu  prüfen,  welche  Bedeutung  die  hervorgelockten 
oder  spontan  geäußerten  Wachträume  im  Gesamtleben  unseres  Ana- 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       173 

lysanden  besitzen,  erinnern  wir  daran,  daß  dieser  einerseits  angab, 
unter  einem  bösen  inneren  Drange  zu  stehen,  anderseits  die  unschönen 
Bilder  als  eine  aufdringliche  Belästigung  empfand.  Ohne  Zweifel  haben 
wir  es  also  mit  den  Manifestationen  verdrängter  Wünsche  zu  tun, 
die  wegen  ihrer  Verwerflichkeit  auf  der  Bildfläche  des  Klarbewußtseins 
nicht  erscheinen  durften,  und  zwar  spiegelt  sich  in  den  Phantasien 
der  Inhalt  jener  vor  dem  Gewissen  verborgenen  Begierden  mit  großer 
Deutlichkeit.  Noch  überzeugender  trat  dieser  symptomatische  Wert 
der  Wachträume  im  späteren  Verlaufe  der  Analyse  hervor,  als  Max 
mit  seinem  Bruder  ausgesöhnt  zu  sein  glaubte,  aber  eine  Reihe  neuer 
Mordphantasien  produzierte.   (S.  unten.) 

Wenn  nun  äußerer  oder  innerer  Zuspruch  den  Haß  bekämpfte, 
stellte  sich  der  böse  Trieb  dem  Angreifer  nicht  in  seiner  wahren  Gestalt. 
An  seiner  Stelle  befand  sich  eine  harmlose  oder  fatale  Episode  mit  un- 
bekannten Personen.  Durch  die  Allegorie  erlangte  somit  der  Komplex 
den  Vorteil,  sich  auswirken  zu  können,  ohne  der  Gefahr  des  Entdeckt- 
werdens ausgesetzt  zu  sein.  Meine  Ermahnungen  verfehlten  ihr  Ziel, 
weil  der  Komplex  nicht  bloßgelegt  wurde  und  die  Anklage  des  eigenen 
sittlichen  Bewußtseins  nur  auf  Beobachtung  einzelner  relativ  harm- 
loserer äußerer  Symptome,  lästiger  Erinnerungen,  bitterer  Gefühle, 
nicht  auf  Kenntnis  der  schwerwiegenden  subliminalen 
Delikte,  der  sadistischen  Rachewünsche,  fußte. 

Wie  die  Wachträume  den  Haß  in  sicherer  Hut  beschirmten, 
so  wußten  sie  ihn  zu  schüren.  In  erster  Linie  regten  grausame  Kine- 
matographenbilder  und  Schauergeschichten  den  Komplex  an  und 
reizten  sein  Gelüsten.  In  dieser  Wirkimg  ruht  die  größte  Gefahr  derartiger 
Elaborate  für  das  sittliche  Verhalten.  Aber  auch  harmlose  Bilder  aus 
dem  Unterrichte  in  Geschichte,  Geographie  und  Religion  mußten  sich 
zu  erwünschter  Speise  für  die  Haßbegierde  umformen  lassen.  So  mußte 
sich  denn  der  dunkle  Drang  mehr  und  mehr  ausbreiten  und  verstärken. 
Gleichzeitig  geriet  der  Rachsüchtige  in  immer  tiefere  Isolation. 
Er  bewahrte  das  Geheimnis  seines  glühenden  Hasses  mit  Hilfe  der  ob- 
sessionsartig auftretenden  als  unheimlich  betrachteten  Phantasien 
mit  immer  gesteigerter  Sorgfalt,  um  nicht  als  Scheusal  angesehen  zu 
werden.  Je  mehr  er  sich  nach  außen  abschloß,  desto  üppiger  wucherte 
seine  Libido  im  Sinne  des  Haßkomplexes.  Nach  Freud  liegt  die  Isolierung 
von  der  Welt  in  der  Tendenz  jeder  psychoneurotischen  Störung^).  Jung 

1)  Freud,  Bemerkungen  über  einen  Fall  von  Zwangsneurose.  Jahrbuch 
für  psychoanalytische  und  psychopathologische  Forschung,  Bd.   I,  410. 


174  Oskar  Pfister. 

faßt  in  einer  brieflichen  Mitteilung  diesen  Prozeß  in  die  Formel:  „Der 
Komplex  verhindert  Übertragungsmöglichkeit,  somit  psychologische 
Anpassung,  und  hemmt  auf  diese  Weise  den  Arterhaltungsinstinkt 
(Unterabteilung  Sozietätstrieb)  überhaupt;  er  isoliert  den  Menschen 
und  schafft  auf  dem  Wege  des  Circulus  vitiosus  introversio  libidinis." 
Die  Analyse  wirkte  gegenüber  den  Wachträumen  ebenso  wie 
gegenüber  den  Obsessionen,  Phobien,  hysterischen  Defekten  u.  dgl. 
Sie  zog  die  verdrängte  Vorstellung  in  ihrer  wahren  Gestalt  ins  Bewußt- 
sein, der  Eindruck  des  Analytikers  verstärkte  den  spontanen  Widerstand 
gegen  sie,  das  Kompromißgebilde  der  Phantasie  mußte  weichen,  da  es 
seinen  listig  verfolgten  Zweck  nicht  mehr  erfüllte.  Der  Haß  wurde 
dereagiert,  während  die  früheren  Ermahnungen  ergebnislos  hatten 
verlaufen  müssen.  Die  erhebliche  moralpädagogische  Wirkung  der 
Analyse  tritt  auch  hier  deutlich  hervor. 

Um  so  bemerkenswerter  ist  der  Umstand,  daß  die  früheren  Phan- 
tasien umgearbeitet  wurden.  Die  Kontinuität  des  geistigen  Lebens 
kommt  in  diesen  rückwärts  gewandten  Bemühungen  schön  zum  Ausdruck. 

Dieser  Sachverhalt  zeigt  aber  auch,  daß  der  Analyse  nm*  die 
negative  Aufgabe  zufällt,  vorhandene  Hemmungen  zu  beseitigen. 
Die  neue  Triebrichtung  muß  angebahnt  werden  durch  bereits  vor- 
handene Kräfte.  Wo  sie  fehlen,  kommt  das  Resultat  eines  neuen,  ethisch 
höherwertigen  Wollens  nicht  zustande.  Darum  hat  die  Analyse  bei 
ethisch  Imbezillen  nur  den  theoretischen  Wert,  ihre  Handlungsweise 
verständlich  zu  machen. 

Allein  schon  die  befreiende  Tätigkeit  der  Analyse  ist  bei  ethisch 
Normalen  von  großer  Bedeutung.  Neben  den  angegebenen  Wirkungen 
kommt  ganz  besonders  eine  in  Betracht.  Jung  beschreibt  sie  mit  dem 
Satz:  „Durch  Dereaktion  wird  Übertragung  geschaffen  und  so  das 
Individuum  wieder  in  die  Herde  aufgenommen.  Ein  gemeinsamer 
Komplex  ist  kein  Komplex  (geistliche  Orden,  Klöster  usw.).  Durch 
Mitteilung  wird  der  Komplex  uninteressant." 

Selbstverständlich  kann  die  Analyse  nicht  verhindern,  daß  neues 
traumatisches  Material  eintrifft  und  den  Haßkomplex  erneuert.  Allein 
es  wird  wenigstens  im  ethisch  gesund  beanlagten  Individuum 
durch  die  Mitteilung  an  einen  als  sittlich  geachteten  Hörer  die  Sehn- 
sucht nach  einem  von  Haß  gereinigten  Modus  vivendi  geschaffen. 
Ist  eine  solche  äquivalente  oder  supervalente  Kompensation  unmöglich 
oder  wird  sie  bald  gehemmt,  so  ist  an  Dauererfolg  nicht  zu  denken. 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.       175 

Im  Falle  Max  wurde  eine  erhebliche  Besserung  der  brüderlichen 
Beziehungen  erzielt.  Beide  Knaben  kamen  einander  innerlich  nahe. 
Eine  auffallende  Herzlichkeit  herrschte  einige  Wochen  oder  Monate 
vor.  Allein  mißliche  Familienverhältnisse,  Müßiggang,  schlechte  Gesell- 
schaft, Geldmangel,  die  Gereiztheit  der  Mutter,  die  eine  Denunziation 
von  Seiten  ihrer  Söhne  befürchtete,  und  andere  ungünstige  Faktoren 
schufen  eine  Atmosphäre,  die  den  Bund  der  Brüder  stören  mußte. 
Die  Stellung  zum  Analytiker  blieb  bis  zur  Stunde,  wie  die  Briefe  aus  der 
Ferne  verraten,  herzlich. 

Am  14.  und  15.  April,  am  24.  Mai  und  am  3.  Juli,  dem 
Tage  der  Abreise,  fand  sich  Gelegenheit  zu  analytischen  Besprechungen. 
Dabei  kam  der  Haß  wiederum  deutlich  zum  Vorschein,  besonders 
am  14.  April,  wiewohl  abends  zuvor  eine  neue  Versöhnung  ein- 
getreten war,  die  angeblich  alle  früheren  Friedensschlüsse  übertraf. 
Die  bösen  Wünsche  traten  jedoch  weit  zahmer  als  früher  auf:  Arno 
fällt  „vielleicht"  bei  einer  Schiffahrt  um,  wobei  er  oben,  Max 
unten  zu  liegen  kommt,  er  erscheint  als  Kapitän  eines  lecken 
Schiffes,  doch  ist  das  Bild  verwischt,  er  zeigt  sich  auf  einem 
Lift  (Anspielung  auf  den  Luftschiffer  Arno),  er  erscheint  ganz  weiß 
als  Gekreuzigter,  ferner  als  Mörder  des  Lords  von  Edenhall  (den  diesmal 
Max  repräsentiert,  also  Personenvertauschung),  als  Chauffeur  im  Auto- 
mobil, doch  ohne  Berta,  und  endlich  geht  er  mit  brennender  Zigarre 
in  den  Benzinkeller,  wobei  vielleicht  ein  Unglück  geschieht  und  vielleicht 
ein  Toter  unter  dem  Schutthaufen  liegt  (vgl.  B  12).  Dann  tritt  er  als 
Wilderer  an  der  Seite  seines  Spießgesellen  Max  auf.  (Beide  hatten 
in  der  Tat  etwas  entwendet.)  Die  Analyse  wm'de  aus  Zeitmangel  nur 
oberflächlich  aufgenommen. 

Tags  darauf  phantasierte  Max:  Das  Automobil  verschwindet 
hinter  einer  schwarzen  Wand,  im  versinkenden  Schiffe  sitzt  Arno  unten, 
Max  oben,  doch  erreicht  es  den  Strand  usw.  Sodann  setzt  eine  große 
Phantasie  ein,  in  welcher  ein  Astronom,  Mephistopheles,  ein  Edelknabe 
(das  Brüderchen)  und  Feen,  die  aus  den  Sternen  hervortreten,  eine  Szene 
aufführen.  Die  Analyse  dieses  Wachtraumes  konnte  in  Kürze  nicht 
durchgeführt  werden,  da  die  unklare  Situation  während  der  Besprechung 
wechselte  und  an  Farbe  verlor,  ähnlich  wie  Schlaf  träume  bei  längerer 
Analyse  verblassen,  öfters  schien  es,  als  sollte  in  der  Figur  des  Ge- 
lehrten oder  seines  Versuchers  die  Geisteskrankheit  Arnos  (A  1)  revoziert 
werden.  Max  spielte  dann  den  Braven,  der  den  vom  Bruder  dargebotenen 
Gifttrank  der  Verführung  zurückwies. 


176  Oskar  Pfister. 

Am  24.  Mai  erschien  Arno  beim  Reizwort  ,, Saturn"  als  verführt 
von  einem  ,,Satur"  oder  „Satan",  und  zwar  vom  Geschlechtsteufel, 
der  dann  auch  als  grüne  Schlange  vor  ihm  als  Naturforscher  auftrat. 
Doch  wurde  Arno  von  einem  Soldaten  gewarnt,  der  zuerst  die  Züge  des 
Pfarrers,  dann  deutlich  die  Arnos  annahm  (vgl.  A  17,  die  schläfrige 
Schild  wache).  Hierauf  erschien  er  zusammen  mit  Berta,  doch  nicht 
mehr  im  Hemde,  sondern  im  Sportskleid,  auch  nicht  mehr  so  zärtlich 
wie  früher,  bis  eine  schwarze  Wand  die  beiden  zudeckt. 

Sich  selbst  schilderte  Max  außerhalb  der  erwähnten  Bilder  als 
Graf  Zeppelin  (vgl.  B  10),  als  Bruder  des  unvorsichtigen  Rauchers 
(beides  am  15.  April).  Als  Naturforscher  will  er  sich  einer  Fee  nähern, 
doch  verwandelt  sie  sich  in  eine  alte  Hexe.  Dahinter  steckt  eine  Neigung 
zu  einem  Mädchen,  dessen  Mutter  sein  Tete-ä-tete  öfters  störte.  Das 
Bild  der  gewünschten  Schwiegermutter  wird  so  von  der  Mutter  her 
übernommen. 

Der  Vater  figurierte  als  Richter  über  die  beiden  Wilderer  (15.  April). 

Die  Freunde  kommen  als  Verführer  zum  Vorschein. 

Wir  begegnen  somit  auch  noch  einige  Monate  nach  der  Analyse 
den  Ausläufern  der  einst  quälenden  Phantasien.  Dies  fällt  um  so  mehr 
auf,  als  Max  erklärte,  die  früheren  Bilder  vergessen  zu  haben.  Man 
übersehe  nicht,  daß  eben  die  ganze  Analyse  von  Anfang  an  sehr  unvoll- 
ständig war  und  die  sekundären  Determinanten  großenteils  aufzustöbern 
unterließ.  Auch  konstelherte  die  Person  des  Analytikers  zugunsten 
der  alten  Gebilde.  Ferner  drängen  Triebhemmungen  —  in  diesem 
Falle  Störungen  der  brüderlichen  Liebe  —  immer  wieder  in  verlassene 
Kanäle  zurück.  Bevor  die  Analyse  durchgeführt  werden  konnte,  verreiste 
Max  für  immer. 

3.  Der  Wert  unserer  Untersuchung  für  die  ethische 
Beurteilung  des  Hasses  und  der  Versöhnung. 

Die  beiden  Begriffe,  deren  psychologische  Unterlage  wir  in  einem 
speziellen  Fall  zu  a.nalysieren  versuchten,  pflegen  in  den  Lehrbüchern 
der  Ethik  nicht  näher  geprüft  zu  werden.  Sogar  die  neueren  Werke 
von  Wundt,  Paulsen  und  Höffding  schweigen  sich  über  den  wichtigen 
Gegenstand  aus.  Und  doch  ist  es  eine  selbstverständliche  Aufgabe, 
die  für  das  individuelle  und  soziale  Leben  so  überaus  wichtigen  Vor- 
gänge ethisch  zu  bewerten.  Unsere  Arbeit  ermöglicht  uns,  wenn  auch 
nicht  überraschende  Neuheiten,  so  doch  empirisch  erhärtete  und  auf 


Analytische  Untersuchungen  über  die  Psychologie  des  Hasses  usw.        177 

sonst  meist  verborgene  Tiefen  der  Seele  zurückgreifende  Wertaussagen 
zu  geben. 

Für  die  ethiscbe  Würdigung  des  Hasses  kommen  folgende  Beob- 
achtungen in  Betracht: 

1.  Verarmung  der  Persönlichkeit  durch  einseitige 
Richtung  und  Festlegung  des  Interesses.  Der  Komplex  wendet 
das  Augenmerk  mit  monotoner  Hartnäckigkeit  den  Stoffen  zu,  die  ihm 
Beschwichtigung  gewähren  und  präpariert  sie  zum  Zwecke  der  Be- 
friedigung. Wir  sahen,  wie  die  verschiedensten  Lebensgebiete  vom 
Haß  beschlagnahmt  wurden,  um  ihn  zu  speisen. 

2.  Entgeistigung  der  Persönlichkeit  durch  wachsende 
Abhängigkeit  vom  dunkeln  Drang.  Die  Gefahr  nimmt  überhand, 
daß  der  Mensch,  teils  in  anhaltender  Mißstimmung,  teils  in  explosiven 
Entladungen  des  Jähzornes  seine  Unfreiheit  bezeuge.  Max  fühlte  diese 
unheimlichen  Gewalten  deutlich  in  ihrem  Zusammenhange  mit  den 
Phantasien. 

3.  Willenslähmung  durch  den  unentschiedenen  Wider- 
streit zwischen  dem  Hasse  einerseits,  der  Liebe  oder  Furcht 
anderseits.  Zur  Geltung  gelangt  Freuds  Satz:  ,, Steht  einer  inten- 
siven Liebe  ein  fast  ebenso  starker  Haß  bindend  entgegen,  so  muß  die 
nächste  Folge  eine  partielle  Willenslähmung  sein,  eine  Unfähigkeit 
zui*  Entschließung  in  all  den  Aktionen,  für  welche  die  Liebe  das  treibende 
Motiv  sein  soll*).", 

4.  Verflüchtigung  sittlicher  Energie  in  unproduktives 
Träumen.  Die  widerspenstigen  Bilder  vertreten  bei  unserem  Ana- 
lysanden wie  bei  der  Zwangsneurose  Taten.  Dadurch  wird  der  Hasser 
zum  Hamlet,  seine  Kraft  verpufft  in  bloßen  Wünschen. 

5.  Sadistische  und  masochistische  Sexualisierung  des 
Hasses.  Lidem  er  sein  Geheimnis  in  die  mannigfaltigsten  Erlebnisse 
hineinträgt,  breitet  sich  die  Vernichtungswut  im  seelischen  Organismus 
immer  weiter  aus. 

6.  Wachsende  Isolierung  der  Persönlichkeit.  Durch  die 
komplexbedingte  Involutio  libidinis  lebt  der  Haßerfüllte  niu-  noch 
sich  selber.  Der  Egoismus  ist  vom  Hasse  unabtrennbar.  Aber  auch 
die  in  der  involutio  begründete  pathogene  Tendenz  des  Hasses  tritt 
hervor.  Ethik  und  Neurosenlehre  verkünden  übereinstimmend  seine 
gesundheitsfeindliche   Natur.    Der    ganzen  Menschheit  gilt  daher  in 

^)  Freud,  Bemerkungen  über  einen  Fall  von  Zwangsneurose.  Jahrbuch 
T,  415. 

Jahrbuch  für  psyohoanalyt.  u.  psychopathol.  Forschungen.    II.  12 


178  Oskar  Pfister. 

seelenhygienischer  Hinsicht  Antigones  Wort:  „Nicht  mitzuhassen, 
mitzulieben  bin  ich  da."  Die  Neurologie  bestätigt  so  die  Forderung 
der  Ethik. 

Die  Versöhnung  gewinnt  aus  folgenden  Gründen  ethische  Be- 
deutung : 

1.  Die  im  Haß  gelegenen  die  Persönlichkeit  beraubenden 
Einflüsse  werden  aufgehoben. 

2.  Die  Persönlichkeit  wird  nicht  allein  in  den  Stand 
gesetzt,  neue  Inhalte  aufzunehmen,  sondern  auch  nach  dem 
Gesetze  der  Ersatzbildung  angespornt,  die  vom  Hasse  ge- 
schaffenen Mängel  zu  überkompensieren,  sei  es  auf  gleichem 
Funktionsniveau,  sei  es  durch  Sublimierung. 

3.  Indem  die  Versöhnung  darauf  ausgeht,  die  im  Haß 
geschaffenen  bösen  Wünsche  durch  sympathischeüberwertig 
zu  ersetzen,  tritt  gleichzeitig  an  die  Stelle  der  zuvor  be- 
günstigten sadistischen  Komponente  die  masochistische. 
Bei  gleichzeitiger  Sublimierung  entsteht  aus  diesemZurück- 
fluten   des    Rachetriebes    das    Bedürfnis,    Sühne    zu   leisten. 

Da  die  Versöhnung  auch  ohne  Analyse  das  geistige  Leben  in  die 
vom  Haß  benutzten  Kanäle  zurücktreibt  und  hier  die  frühere  Trieb- 
richtung umkehrt,  vollzieht  sie  unbewußt  die  Arbeit,  welche  der  Ana- 
lytiker zur  Beseitigung  aller  Psychoneurosen  anstrebt.  Anerkennen 
wir  in  Übereinstimmung  mit  unserer  Untersuchung  die  Versöhnung 
als  einen  Prozeß  im  Interesse  der  ethischen  Gesundung,  so  wird  uns 
diese  Übereinstimmung  in  dem  empirisch  erhärteten  Vertrauen  be- 
stärken, daß  die  Psychanaylse  ein  naturgemäßes  Mittel  zur  ethischen 
Seelentherapie  darstellt. 


„über  den  Oegeiisiiiii  der  Urworte." 

Referat  über  die  gleichnamige  Broschüre  von  Karl  Abel,  1884. 

Von  Signi.  Freud. 


In  meiner  „Traumdeutung"  habe  ich  als  unverstandenes  Ergebnis 
der  analytischen  Bemühung  eine  Behauptung  aufgestellt,  die  ich  nun 
zu  Eingang  dieses  Referates  wiederholen  werde^): 

,, „Höchst  auffällig  ist  das  Verhalten  des  Traumes  gegen  die  Kate- 
gorie von  Gegensatz  und  Widerspruch.  Dieser  wird  schlechtweg 
vernachlässigt.  Das  „Nein"  scheint  für  den  Traum  nicht  zu  existieren. 
Gegensätze  werden  mit  besonderer  Vorliebe  zu  einer  Einheit  zusammen- 
gezogen oder  in  einem  dargestellt.  Der  Traum  nimmt  sich  ja  auch  die  Frei- 
heit, ein  beliebiges  Element  durch  seinen  Wunschgegensatz  darzustellen, 
so  daß  man  zunächst  von  keinem  eines  Gegenteils  fähigen  Elemente  weiß, 
ob  es  in  den  Traumgedanken  positiv  oder  negativ  enthalten   ist."" 

Die  Traumdeuter  des  Altertums  scheinen  von  der  Voraussetzung, 
daß  ein  Ding  im  Traume  sein  Gegenteil  bedeuten  könne,  den  ausgiebig- 
sten Gebrauch  gemacht  zu  haben.  Gelegentlich  ist  diese  Möglichkeit 
auch  von  modernen  Traumforschern,  insofern  sie  dem  Traume  überhaupt 
Sinn  und  Deutbarkeit  zugestanden  haben,  erkannt  worden^).  Ich  glaube 
auch  keinen  Widerspruch  hervorzurufen,  wenn  ich  annehme,  daß  alle  die- 
jenigen die  oben  zitierte  Behauptung  bestätigt  gefunden  haben,  welche 
mir  auf  den  Weg  einer  wissenschaftlichen  Traumdeutung  gefolgt  sind. 

Zum  Verständnisse  der  sonderbaren  Neigung  der  Traumarbeit, 
von  der  Verneinung  abzusehen  und  durch  dasselbe  Darstellungsmittel 
Gegensätzliches  zum  Ausdrucke  zu  bringen,  bin  ich  erst  durch  die 
zufällige  Lektüre  einer  Arbeit  des  Sprachforschers  K.  Abel  gelangt, 
welche  1881  als  selbständige  Broschüre  veröffentlicht,  im  nächsten  Jahre 
auch  unter  die  ,, Sprachwissenschaftlichen  Abhandlungen"  des  Verfassers 
aufgenommen   worden  ist.   Das   Interesse  des   Gegenstandes   wird  es 

»)  Zweite  Auflage,  pag.   232,   im   Abschnitte  VI:   Die  Traumarbeit. 
2)  Siehe  z.  B.  G.  H.  v.  Schuber  t,  Die  Symbolik  des  Traumes,   vierte 
Auflage,  1862,  Kap:  2.  Die  Sprache  des  Traumes. 


180  Sigm.  Freud. 

rechtfertigen,  wenn  ich  die  entscheidenden  Stellen  der  Ab  eischen 
Abhandlung  nach  ihrem  voUen  Wortlaute  (wenn  auch  mit  Weglassung 
der  meisten  Beispiele)  hier  anführe.  Wir  erhalten  nämlich  die  erstaun- 
liche Aufklärung,  daß  die  angegebene  Praxis  der  Traumarbeit  sich 
mit  einer  Eigentümlichkeit  der  ältesten  uns  bekannten  Sprachen  deckt. 

Nachdem  Abel  das  Alter  der  ägyptischen  Sprache  hervorgehoben, 
die  lange  Zeiten  vor  den  ersten  hieroglyphischen  Inschriften  entwickelt 
worden  sein  muß,  fährt  er  fort  (pag.  4): 

,,,,In  der  ägyptischen  Sprache  nun,  dieser  einzigen  Reliquie  einer 
primitiven  Welt,  findet  sich  eine  ziemliche  Anzahl  von  Worten  mit  zwei 
Bedeutungen,  deren  eine  das  gerade  Gegenteil  der  anderen  besagt. 
Man  denke  sich,  wenn  man  solch  augenscheinlichen  Unsinn  zu  denken 
vermag,  daß  das  Wort ,, stark"  in  der  deutschen  Sprache  sowohl ,, stark" 
als  ,, schwach"  bedeute;  daß  das  Nomen  , .Licht"  in  Berlin  gebraucht 
werde,  um  sowohl  ,, Licht"  als  ..Dunkelheit"  zu  bezeichnen;  daß  ein 
Münchener  Bürger  das  Bier  ,,Bier"  nannte,  während  ein  anderer  das- 
selbe W^ort  anwendete,  wenn  er  vom  Wasser  spräche,  und  man  hat  die 
erstaunliche  Praxis,  welcher  sich  die  alten  Ägypter  in  ihrer  Sprache 
gewohnheitsmäßig  hinzugeben  pflegten.  Wem  kann  man  es  verargen, 
wenn  er  dazu  ungläubig  den  Kopf  schüttelt? ""  (Beispiele.) 

(Pag.  7):  ,, Angesichts  dieser  und  vieler  ähnlicher  Fälle  anti- 
thetischer Bedeutung  (siehe  Anhang)  kann  es  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, daß  es-in  einer  Sprache  wenigstens  eine  FüUe  von  Worten 
gegeben  hat,  welche  ein  Ding  und  das  Gegenteil  dieses  Dinges  gleich- 
zeitig bezeichneten.  Wie  erstaunlich  es  sei,  wir  stehen  vor  der  Tatsache 
und  haben  damit  zu  rechnen." 

Der  Autor  weist  nun  die  Erklärung  dieses  Sachverhaltes  durch 
zufälligen  Gleichlaut  ab  und  verwahrt  sich  mit  gleicher  Entschiedenheit 
gegen  die  Zurückführung  desselben  auf  den  Tiefstand  der  ägyptischen 
Geistesentwicklung : 

(Pag.  9):  ,,Nun  war  aber  Ägypten  nichts  weniger,  als  eine  Heimat 
des  Unsinnes.  Es  war  im  Gegenteil  eine  der  frühesten  Entwicklungs- 
stätten der  menschlichen  Vernunft  ....  Es  kannte  eine  reine  und 
würdevolle  Moral  und  hatte  einen  großen  Teil  der  zehn  Gebote  for- 
muliert, als  diejenigen  Völker,  welchen  die  heutige  Zivilisation  gehört, 
blutdürstigen  Idolen  Menschenopfer  zu  schlachten  pflegten.  Em  Volk, 
welches  die  Fackel  der  Gerechtigkeit  und  Kultur  in  so  dunkeln  Zeiten 
entzündete,  kann  doch  in  seinem  alltäglichen  Reden  und  Denken  nicht 
geradezu  stupid  gewesen  sein Wer  Glas  machen  und  ungeheure 


„über  den  Gegensinn  der  Urworte."  181 

Blöcke  maschinenmäßig  zu  heben  und  zu  bewegen  vermochte,  muß 
doch  mindestens  Vernunft  genug  gehabt  haben,  um  ein  Ding  nicht  für 
sich  selbst  und  gleichzeitig  für  sein  Gegenteil  anzusehen.  Wie  vereinen 
wir  es  nun  damit,  daß  die  Ägypter  sich  eine  so  sonderbare  kontra- 
diktorische Sprache  gestatteten  ?  ....  daß  sie  überhaupt  den  feindlichsten 
Gedanken  ein  und  denselben  lautlichen  Träger  zu  geben  und  das,  was 
sich  gegenseitig  am  stärksten  opponierte,  in  einer  Art  unlöslicher  Union 
zu  verbinden  pflegten?" 

Vor  jedem  Versuche  einer  Erklärung  muß  noch  einer  Steigerung 
dieses  unbegreiflichen  Verfahrens  der  ägyptischen  Sprache  gedacht 
werden.  ,,Von  allen  Exzentrizitäten  des  ägyptischen  Lexikons  ist  es 
vielleicht  die  außerordentlichste,  daß  es,  außer  den  Worten,  die  entgegen- 
gesetzte Bedeutungen  in  sich  vereinen,  andere  zusammengesetzte 
Worte  besitzt,  in  denen  zwei  Vokabeln  von  entgegengesetzter  Be- 
deutung zu  einem  Kompositum  vereint  werden,  welches  die  Bedeutung 
nur  eines  von  seinen  beiden  konstituierenden  Gliedern  besitzt.  Es  gibt 
also  in  dieser  außerordentlichen  Sprache  nicht  allein  Worte,  die  sowohl 
,, stark"  als  ,, schwach"  oder  sowohl  ,, befehlen"  als  ,, gehorchen"  be- 
sagen; es  gibt  auch  Komposita  wie  ,, altjung",  ,, fernnah",  ,, binden- 
trennen", ,,außeninnen"  ( ),  die  trotz  ihrer,  das  Verschiedenste 

einschließenden  Zusammensetzung  das  erste  nur  ,,jung",  das  zweite 
nur  ,,nah",  das  dritte  nur  „verbinden",  das  vierte  nur  „innen"  bedeuten. 
....  Man  hat  also  bei  diesen  zusammengesetzten  Worten  begriffliche 
Widersprüche  geradezu  absichtlich  vereint,  nicht  um  einen  dritten 
Begriff  zu  schaffen,  wie  im  Chinesischen  mitunter  geschieht,  sondern 
nur  um  durch  das  Kompositum  die  Bedeutung  eines  seiner  kontra- 
diktorischen Glieder,  das  allein  dasselbe  bedeutet  haben  würde,  auszu- 
drücken   " 

Indes  ist  das  Rätsel  leichter  gelöst,  als  es  scheinen  will.  Unsere 
Begriffe  entstehen  durch  Vergleichung.  ,,Wäre  es  immer  hell,  so  würden 
wir  zwischen  hell  und  dunkel  nicht  unterscheiden  und  demgemäß  weder 

den  Begriff  noch  das  Wort  der  Helligkeit  haben  können "  ,,Es 

ist  offenbar,  alles  auf  diesem  Planeten  ist  relativ,  und  hat  unabhängige 
Existenz,   nur  insofern  es  in  seinen  Beziehungen  zu  und  von  anderen 

Dingen  unterschieden  wird "  ,,Da  jeder  Begriff  somit  der  Zwilling 

seines  Gegensatzes  ist,  wie  konnte  er  zuerst  gedacht,  wie  koiuite  er 
anderen,  die  ihn  zu  denken  versuchten,  mitgeteilt  werden,  wenn  nicht 

durch  die  Messung  an  seinem  Gegensatz? "  (Pag.  15):  ,,,,Da  man 

den  Begriff  der  Stärke  nicht  konzipieren  konnte,  außer  im  Gegensatze 


182  Sigm.  Freud, 

zur  Schwäche,  so  enthielt  das  Wort,  welches  „stark"  besagte,  eine 
gleichzeitige  Erinnerung  an  ,, schwach",  als  durch  welche  es  erst  zum 
Dasein  gelangte.  Dieses  Wort  bezeichnete  in  Wahrheit  weder  , .stark" 
noch   ., schwach",   sondern   das  Verhältnis  zwischen  beiden,   und  den 

Unterschied  beider,  welcher  beide  gleichmcäßig  erschuf "   „„Der 

Mensch  hat  eben  seine  ältesten  und  einfachsten  Begriffe  nicht  anders 
erringen  können,  als  im  Gegensatze  zu  ihrem  Gegensatz,  und  erst  all- 
mählich die  beiden  Seiten  der  Antithese  sondern  und  die  eine  ohne 
bewußte  Messung  an  der  andern  denken  gelernt." 

Da  die  Sprache  nicht  nur  zum  Ausdruck  der  eigenen  Gedanken, 
sondern  wesentlich  zur  Mitteilung  derselben  an  andere  dient,  kann 
man  die  Frage  aufwerfen,  auf  welche  Weise  hat  der  „Urägypter"  dem 
Nebenmenschenzu  erkennen  gegeben,  ..welche  Seite  des  Zwitterbegriffes  er 
jedesmal  meinte?"  In  der  Schrift  geschah  dies  mit  Hilfe  der  sogenannten 
,, determinativen"  Bilder,  welche,  hinter  die  Buchstabenzeichen  gesetzt, 
den  Sinn  derselben  angeben  und  selbst  nicht  zur  Aussprache  bestimmt 
sind.  (Pag.  18):  „Wenn  das  ägyptische  Wort  ken  „stark"  bedeuten  soll, 
steht  hinter  seinem  alphabetisch  geschriebenen  Laut  das  Bild  eines 
aufrechten,  bewaffneten  Mannes;  wenn  dasselbe  Wort  , .schwach" 
auszudrücken  hat,  folgt  den  Buchstaben,  die  den  Laut  darstellen,  das 
Bild  eines  hockenden,  lässigen  Menschen.  In  ähnlicher  Weise  werden 
die  meisten  anderen  zweideutigen  Worte  von  erklärenden  Bildern 
begleitet."  In  der  Sprache  diente  nach  Abels  Meinung  die  Geste  dazu, 
dem  gesprochenen  Worte  das  gewünschte  Vorzeichen  zu  geben. 

Die  ,, ältesten  Wurzeln"  sind  es,  nach  Abel,  an  denen  die  Er- 
scheinung des  antithetischen  Doppelsinnes  beobachtet  wird.  Im  weiteren 
Verlaufe  der  Sprachentwicklung  schwand  nun  diese  Zweideutigkeit, 
und  im  Altägyptischen  wenigstens  lassen  sich  alle  Übergänge  bis  zur 
Eindeutigkeit  des  modern  en  Sprach  Schatzes  verfolgen ..,,,  Die  ursprünglich 
doppelsinnigen  W^orte  legen  sich  in  der  späteren  Sprache  in  je  zwei 
einsinnige  auseinander,  indem  jeder  der  beiden  entgegengesetzten 
Sinne  je  eine  lautliche  „Ermäßigung"  (Modifikation)  derselben  Wurzel 
für  sich  allein  okkupiert.""  So  z.B.  spaltet  sich  schon  im  Hieroglyphischen 
selbst  ken  („starkschwach")  in  ken  „stark"  und  kan  „schwach".  „Mit 
anderen  Worten,  die  Begriffe  die  nur  antithetisch  gefunden  werden 
konnten,  werden  dem  menschlichen  Geiste  im  Laufe  der  Zeit  genügend 
angeübt,  um  jedem  ihrer  beiden  Teile  eine  selbständige  Existenz  zu 
ermöglichen  und  jedem  somit  seinen  separaten  lautlichen  Vertreter 
zu  verschaffen." 


„über  den  Gegensinn  der  üiworte."  183 

Der  fürs  Ägyptische  leicht  zu  führende  Nachweis  kontradiktorischer 
Urbedeutungen  läßt  sich  nach  Abel  auch  auf  die  semitischen  und 
indoeuropäischen  Sprachen  ausdehnen.  ,,Wie  weit  dieses  in  anderen 
iSprachfamilien  geschehen  kann,  bleibt  abzuwarten;  denn  obschon 
der  Gegensinn  ursprünglich  den  Denkenden  jeder  Rasse  gegenwärtig 
gewesen  sein  muß,  so  braucht  derselbe  nicht  überall  in  den  Bedeutungen 
erkennbar  geworden  oder  erhalten  zu  sein." 

Abel  hebt  ferner  hervor,  daß  der  Philosoph  Bain  diesen  Doppel- 
sinn der  Worte,  wie  es  scheint,  ohne  Kenntnis  der  tatsächlichen  Phäno- 
mene aus  rein  theoretischen  Gründen  als  eine  logische  Notwendigkeit 
gefordert  hat.  Die  betreffende  Stelle  (Logic  I,  51)  beginnt  mit  den  Sätzen : 

,,The  essential  Relativity  of  all  knowledge,  thought  or  consciousness 
cannot  but  shov/  itself  in  language.  If  everything  that  we  can  know 
is  viewed  as  a  transition  from  something  eise,  every  experience  must 
have  two  sides;  and  either  every  name  must  have  a  double  meaning, 
or  eise  for  every  meaning  there  must  be  two  names." 

Aus  dem  ,, Anhang  von  Beispielen  des  ägyptischen,  indoger- 
manischen und  arabischen  Gestensinns"  hebe  ich  einige  fälle  hervor, 
die  auch  uns  Sprachunkundigen  Eindruck  machen  können :  Im  La- 
teinischen heißt  alt  US  hoch  und  tief,  sacer  heilig  und  verflucht,  wo 
also  noch  der  volle  Gegensinn  ohne  Modifikation  des  Wortlaute  besteht. 
Die  phonetische  Abänderung  zur  Sonderung  der  Gegensätze  wird 
belegt  durch  Beispiele  wie  clamare  schreien  —  clam  leise,  still;  siccus 
trocken  —  succus  Saft.  Im  Deutschen  bedeutet  ,, Boden"  heute 
noch  das  Oberste  wie  das  Unterste  im  Haus.  Unserem  bös  (schlecht) 
entspricht  ein  bass  (gut),  im  Altsächsischen  bat  (gut)  gegen  englisch 
bad  (schlecht);  im  Englischen  to  lock  (schließen)  gegen  deutsch 
Lücke,  Loch.  Deutsch  kleben  —  englisch  to  cleave  (spalten); 
deutsch  Stumm  —  Stimme  usw.  So  käme  vielleicht  noch  die  viel- 
belachte Ableitung  lucus  a  non  lucendo  zu  einem  guten  Sinn. 

In  seiner  Abhandlung  über  den  ,, Ursprung  der  Sprache"  (1.  c, 
pag.  305)  macht  Abel  noch  auf  andere  Spuren  alter  Denkmühen  auf- 
merksam. Der  Engländer  sagt  noch  heute,  um  ,,ohne"  auszudrücken 
,,without",  also  ,,mitohne"  und  ebenso  der  Ostpreuße.  „With"  selbst, 
das  heute  unserem  ,,mit"  entspricht,  hat  ursprünglich  sowohl  ,,mit" 
als  auch,, ohne"  geheißen,  wie  noch  aus,, withdraw"  (fortgehen),  ,,with- 
hold"  (entziehen)  zu  erkennen  ist.  Dieselbe  Wandlung  erkennen  wir 
in  dem  deutschen  ,, wider"  (gegen)  und  ,, wieder"  (zusammen  mit). 

Für  den  Vergleich  mit  der  Traumarbeit  hat  noch  eine  andere, 


184  Sigm.  Freud. 

höchst  sonderbare  Eigentümlichkeit  der  altägyptischen  Sprache  Be- 
deutung. „Im  Ägyptischen  können  die  Worte  —  wir  wollen  zunächst 
sagen,  scheinbar  —  sowohl  Laut  wie  Sinn  umdrehen.  Angenommen, 
das  deutsche  Wort  gut  wäre  ägyptisch,  so  könnte  es  neben  gut  auch 
schlecht  bedeuten,  neben  gut  auch  tug,  lauten.  Von  solchen  Laut- 
umdrehungen, die  zu  zahlreich  sind,  um  durch  Zufälligkeit  erldärt  zu 
werden,  kann  man  auch  reichliche  Beispiele  aus  den  arischen  und 
semitischen  Sprachen  beibringen.  Wenn  man  sich  zunächst  aufs  Ger- 
manische beschränkt,  merke  man:  Topf  —  pot,  boat  —  tub,  wait  — 
täuwen,  hurry  —  Ruhe,  care  —  reck,  Balken  —  klobe,  club. 
Zieht  man  die  anderen  indogermanischen  Sprachen  mit  in  Betracht, 
so  wächst  die  Zahl  der  dazugehörigen  Fälle  entsprechend  z.  B.:  capere 
—  packen,  rcn  —  Niere,  the  leaf  (Blatt)  —  folium,  dum-a 
d^v/xog — Sansc.  raedh,  müdha,  Mut,  Rauchen  —  Ru.s.s.  Kur-iti, 
kreischen  —  to  shriek  usw." 

Das  Phänomen  der  Laut  Umdrehung  sucht  Abel  aus  einer 
Doppelung,  Reduplikation  der  Wurzel  zu  erklären.  Hier  würden  wir 
eine  Schwierigkeit  empfinden,  dem  Sprachforscher  zu  folgen.  Wir 
erinnern  uns  daran,  wie  gerne  die  Kinder  mit  der  Umkehrung  des  Wort- 
lautes spielen,  und  wie  häufig  sich  die  Traumarbeit  der  Umkehrung 
ihres  Darstellungsmaterials  zu  verschiedenen  Zwecken  bedient.  (Hier 
sind  es  nicht  mehr  Buchstaben,  sondern  Bilder,  deren  Reihenfolge 
verkehrt  wird.)  Wir  würden  also  eher  geneigt  sein,  die  Lautumdrehung 
auf  ein  tiefer  greifendes  Moment  zurückzuführen'). 

In  der  Übereinstimmung  zwischen  der  eingangs  hervorgehobenen 
Eigentümlichkeit  der  Traumarbeit  und  der  vom  Sprachforscher  auf- 
gedeckten Praxis  der  ältesten  Sprachen  dürfen  wir  eine  Bestätigung 
unserer  Auffassung  vom  regressiven,  archaischen  Charakter  des  Ge- 
dankenausdruckes im  Traume  erblicken.  Und  als  unabweisbare  Ver- 
mutung drängt  sich  uns  Psychiatern  auf,  daß  wir  die  Sprache  des 
Traumes  besser  verstehen  und  leichter  übersetzen  würden,  wenn  vrir 
von  der  Entwicklung  der  Sprache  mehr  wüßten^). 

^)  Über  das  Phänomen  der  Lautumdrehung  (Metathesis),  welches  zur 
Traumarbeit  vielleicht  noch  innigere  Beziehungen  hat  als  der  Gegensinn  (Anti- 
these), vgl,  noch  W.  Meyer -Rinteln  in:  Kölnische  Zeitung,  7.  März  1909. 

^)  Es  liegt  auch  nahe  anzunehmen,  daß  der  ursprüngliche  Gegensinn  der 
Worte  den  vorgebildeten  Mechanismus  darstellt,  der  von  dem  Versprechen  zum 
Gegenteile  im  Dienste  mannigfacher  Tendenzen  ausgenützt  wird. 


Aus  der  psychiatrischen   Universitätsklinik  in  Zürich. 


Psycliologisclie  Uiitersiicliiingeii  an  Dementia 

praecox-Kranken. 

Von  Dr.  A.  Maeder,  1.  Assistenzarzt. 


I.  Aualyseii  Yon  zwei  Fälleii  Ton  Dementia  praecox 

(paranoide  Form). 

a)  Fall  J.  B. 

1.  Krankengeschichte. 

über  erbliche  Belastung  (bis  auf  den  Großvater  mütterliclierseits, 
der  Potator  war)  ist  nichts  bekannt.  Ein  Bruder  ist  gesund.  Der  Vater, 
der  Webermeister  war,  ist  an  Phthise  gestorben.  —  Patient  hat  drei  Kinder, 
alle  körperlich  etwas  schwächlich;    die  Frau  war  einige  Zeit  im  Lungen - 

Sanatorium  W. 

Patient  ist  in  B.  geboren  (1869)  und  aufgewachsen.  Er  erlitt  als  Junge 
ein  Trauma  (Schneeball  ins  rechte  Auge),  trägt  eine  Pupillendifferenz  und 
einen  Kornealfleck  davon.  Seit  längerer  Zeit  leidet  er  an  Konjunktivitis. 
B,  war  ein  intelligenter  Schüler.  Nach  zwei  Jahren  Sekundärschule  trat 
er  in  die  kaufmännische  Lehre.    1883  starb  seine  Mutter. 

B.  bekleidete  verschiedene  Stellen  als  Kommis,  wurde  für  eine  Zeit- 
lang Weber  in  einer  kleinen  Fabrik,  trieb  Politik  als  Sozialdemokrat.  Er 
half  bei  der  Gründung  einer  Nahriingsmittelgenossenschaft,  wurde  Sekretär 
derselben  und  gab  die  Stelle  als  Arbeiter  definitiv  auf.  Er  hatte  Bekannt- 
schaft mit  einer  Arbeiterin  gemacht,  verkehrte  sexuell  mit  ihr  und  mußte 
sie  heiraten.  Im  Jahre  1886  wurde  er  Kassier  mid  Einkäufer  im  Konsum- 
vereine W.,  dann  in  Z.,  1894  kam  er  nach  0.  in  eine  Handelsgesellschaft 
als  Buchhalter.  Sein  Bureauchef  spekulierte,  wurde  verdächtigt ;  die 
Prüfungskommission  konstatierte  große  Verluste  und  entließ  ihn  1897. 
Es  war  für  B.  eine  aufregende  Zeit.  Er  wurde  1897  zum  Bureauchef 
ernannt,  mußte  das  Geschäft  wieder  in  die  Höhe  bringen  und  einen  Prozeß 
gegen  den  Vorgänger  und  einige  Mitglieder  des  Verwaltungsratcs  führen, 
der  jahrelang  dauerte.  Die  Stelle  war  gut,  machte  aber  dem  Patienten 
viele  Sorgen.  Patient  war  daneben  Gemeinderat,  aktives  Mitglied  von  einem 
Turn-  und  speziell  Schützenverein;  er  war  angesehen  und  beliebt. 

Um  1900  wurde  Patient  aufgeregt,  schien  überanstrengt,  wurde  mehr 
und  mehr  eigentümlich  verschlossen.  1901  wurde  nachts  in  sein  Bureau 
eingebrochen  und  es  wurden  1800  Franken  gestohlen;  B.  beunruhigte  sich, 
meinte,  man  verdächtige  ihn,  mitgemacht  zu  haben;  er  hatte  Angst,  man 


186  A.  Maeder. 

arretiere  ihn,  es  seien  Männer  auf  der  Straße,  Polizisten,  die  auf  ihn  warten; 
in  der  Nacht  machte  er  Hausuntersuchungen  mit  seiner  Frau,  um  sich  zu 
überzeugen,  daß  man  das  Geld  nicht  heimtückisch  ins  Haus  gebracht  hatte, 
um  ihn  verdächtig  zu  machen.  Er  fing  an,  sich  vom  politischen  Leben 
zurückzuziehen,  ging  von  da  an  unregelmäßig  zur  Arbeit,  klagte  viel  über 
Kopfschmerzen  (an  der  Stirne,  am  Scheitel),  gab  den  Mitgliedern  des  Ver- 
waltungsrates ungern  Auskunft,  so  daß  er  deshalb  etwas  auffiel. 

Im  Sommer  1901  ging  er  zur  Kur  nach  Churwalden.  Im  Oktober 
desselben  Jahres  nach  Lugano  auf  Kat  des  Arztes,  Er  brauchte  daselbst 
ziemlich  viel  Geld,  sprach  vom  Ankauf  einer  schönen  Villa,  wozu  er  kein 
Kapital  besaß.  Er  war  in  der  Nacht  unruhig,  mußte  auf  Bitte  des  Wirtes 
abgeholt  werden. 

Dann  fing  er  plötzlich  an,  am  Sonntag  in  Zylinder  und  schwarzem 
Eock  in  die  Kirche  zu  gehen  und  ließ  für  seine  Eltern  schöne  Grabsteine 
setzen.  Er  schlief  ein  paar  Nächte  in  einem  sehr  teuern  Hotel.  Er  wurde 
der  Familie  gegenüber  sehr  gleichgültig,  ärgerte  sich  manchmal  über  die 
Frau,  was  früher  nie  der  Fall  war.  Er  war  bis  dato  ein  sehr  guter  Mensch 
gewesen;  jetzt  fing  er  plötzlich  an,  von  Scheidung  zu  sprechen;  er  müsse 
auf  höheren  Befehl  eine  andere  heiraten;  ,,Frau  und  Kinder  werden  dann 
eine  Pension  bekommen".  März  1902  schrieb  er  der  Königin  Wilhelmine 
und  bat  sie  um  eine  Stelle. 

Für  die  Louis  d'or  hatte  er  damals  einen  echten  Kultus,  wollte  kein 
Gold  mehr  ausgeben. 

Wegen  dieser  Wahnideen  und  der  zunehmenden  Gleichgültigkeit  der 
Familie  gegenüber,  der  Pupillendifferenz  usw.,  wurde  er  zwecks  Beobachtung 
mit  der  Diagnose  Progressive  Paralyse  in  der  Anstalt  interniert  (5.  Mai 
1902). 

Er  war  bei  der  Aufnahme  orientiert  in  Zeit  und  Raum.  Die  Auf- 
fassung war  gut,  die  Merkfähigkeit  und  das  Gedächtnis  ebenso.  Eine 
Intelligenzprobe  bestand  er  gut.  Affektivität  abnorm:  gleichgültige 
Stimmung,  stumpfe  Euphorie.  Wahnideen  (er  sei  der  morganatische 
Mann  der  Königin  Wilhelmine,  habe  sie  mehrmals  in  Zürich  und  Umgebung, 
sogar  im  Eisenbahncoupe  3.  Klasse  getroffen.  Beziehungsideen.  Er  deutet 
alles  um,  bezieht  die  harmlosesten  Bemerkungen  auf  sich.  Größenideen: 
er  stamme  aus  der  Orleansfamilie;  sei  auch  ein  Sohn  von  Napoleon  I.; 
seine  Frau  stamme  aus  dem  katholischen  belgischen  Königshause.  Sinnes- 
täuschungen: Er  höre  Stimmen  von  ,, einem  Weibe",  habe  das  körperliche 
Gefühl  der  Anwesenheit  der  Königin  Wilhelmine.  —  Gab  frühere  Visionen 
zu  (beim  Tode  der  Mutter),  auch  später  in  0.  habe  er  in  der  Nacht  General- 
marsch blasen  hören;  er  sei  auf  den  Friedhof  gegangen,  habe  aber  nichts 
gesehen,  als  ein  leuchtendes  Ding  am  Grabsteine  seiner  Mutter,  es  sei  wie 
ein  Stern  gewesen.  Pupillendifferenz  vorhanden;  Reaktion  beiderseits 
prompt.     Körperlich   nichts   Abnormes,    außer   lebhaften    Sehnenreflexen. 

Er  wurde  am  10.  Juli  1902  als  ungebessert  entlassen  mit  der  Diagnose: 
Dementia  praecox  (paranoide  Form).  Zu  Hause  blieb  er  unbe- 
schäftigt, saß  die  längste  Zeit  in  seinem  Zimmer  mit  geschlossenen  Läden, 
aß  immer  für  sich;  in  den  letzten  Monaten  vor  der  zweiten  Internierung 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.       187 

(März  1903)  klagte  er  die  Frau  an,  sie  wolle  ihn  vergiften.  Er  wurde  der 
Frau  gegenüber  grob  und  gewalttätig,  sie  habe  es  mit  anderen,  habe 
heimlich  eine  Frühgeburt  einleiten  lassen,  zu  einer  Zeit,  wo  er  zur  Erholung 
weg  war  (bei  der  Frau  mußte  in  der  Tat  Abort  wegen  Tuberculosis  incipiena 
eingeleitet  werden).    Er  müsse  also  scheiden. 

Zweite  Aufnahme  am  17.  Juli  1903,  er  kommt  wieder  mit  der  Diagnose 
Progressive  Paralyse.  Körperlich  außer  der  schon  erwähnten  Pupillen- 
differenz keine  Abnormitäten.  Auffassung,  Merkfähigkeit,  Gedächtnis 
immer  noch  gut.  Keine  Demenz.  Wahnideen  (Größenideen,  Verfolgungs- 
ideen; über  letztere  wird  weniger  berichtet  als  über  die  Größenideen),  Er 
scheint  viel  zu  halluzinieren,  ,, studiert"  viel;  ist  zeitweise  sehr  aufgeregt. 
Patient  will  nicht  arbeiten,  steht  lange  am  Fenster  im  Wachsaale, 
spricht  viel  von  seinen  Kindern,  die  draußen  zu  leiden  haben  (er  ist  mit 
ihnen,  wenn  sie  ihn  besuchen,  meistens  zärtlich).  Sie  werden  draußen 
mißhandelt,  verfolgt,  wie  der  Vater  auch.  Patient  hält  die  Ärzte  für  „Fem- 
richter" (die  Verfolger  sind  zu  einer  Feme  organisiert). 

Im  Dezember  1903  behauptet  er,  es  habe  im  ärztlichen  Bureau  eine 
Sitzung  seiner  Richter  stattgefunden,  der  Direktor  der  Anstalt  sei  die 
untersuchende  Behörde.    Der  Bundesanwalt  K.  war  auch  dabei. 

Neulich  habe  er  einer  Sitzung  des  Schwurgerichtes  anwohnen  müssen, 
wo  man  behauptete,  er  habe  Homosexualität  getrieben. 

Er  wird  gegen  die  Ärzte  immer  ablehnender,  schimpft,  droht,  muß 
in  den  Wachsaal  versetzt  werden.  Im  Jänner  1904  behauptet  er,  es  habe 
soeben  eine  Versammlung  der  Ärzte  des  Kantons  stattgefunden  vor  dem 
Hause;  er  habe  die  Verhandlungen  verfolgen  können.  Der  Assistenzarzt 
W.  sei  vom  Vereine  ausgeschlossen  worden,  er  dürfe  nicht  mehr  Psychiatrie 
treiben.  Er  habe  auch  gehört,  daß  einer  seiner  Söhne  erschossen  werden  soll. 
Juni  1904.  Seine  Sache  sei  sehr  einfach,  wenn  man  nur  annehmen 
wolle,  daß  sein  echter  Name  „Bonaparte"  ist  und  Joh.  B.  nur  der  Name 
des  Pflegevaters  sei. 

Jänner  1905.  Äußert  viele  hypochondrische  Klagen;  man  injiziere 
ihm  alle  möglichen  Gifte;  er  habe  ,, Glanzaugen"  (der  sogenannten  Gens 
ulpia),  die  unter  dieser  Behandlung  zugrunde  gehen  (,,Chloridiniektionen"). 
—  „Es  werden  Messingscheiben  in  die  Augen  eingesetzt";  mit  einem  ,, Pro- 
tektor" wird  ihm  in  die  Augen  hineingeschossen;  er  versteckt  den  Kopf 
unter  das  Bettuch,  um  das  zu  verhindern.  Es  sei  ein  Verbrechen,  ihn  zurück- 
zuhalten, man  verhindere,  daß  er  dem  Volke  gezeigt  wird.  1906  wurde  er 
etwas  zugänglicher,  steckt  immer  aber  voll  von  Wahnideen,  hört  viel 
Stimmen.  Er  komme  nicht  mehr  heraus,  könne  seine  Erfindungen  nicht 
patentieren  lassen  usw.  Eine  Verschlechterung  trat  ein;  er  wurde  unruhig, 
mußte  nachts  in  der  Zelle  schlafen,  wo  er  sehr  viel  geplagt  wird;  er  kommt 
allmählich  von  den  besten  Abteilungen  auf  die  unruhigsten. 

1907  ist  er  schon  in  der  unruhigsten  Abteilung.  Im  August  1906 
wurde  ein  Detail  notiert,  das  erst  später  verständlich  sein  wird:  Bei  der 
Exstirpation  einer  Warze  führte  er  sich  ziemlich  wehleidig  auf,  spülte  die 
Stelle  viertelstundenlang  am  Brunnen. 

Jänner  1908.  Trotzdem  er  auf  der  Zellenabteilung  ist,  ist  es  gelungen, 


188  A.  Maeder. 

ihn  allmählich  zu  einer  regelmäßigen  Tätigkeit  zu  erziehen,  er  arbeitet 
acht  Stunden  auf  dem  Felde;  ist  für  die  Ärzte  wieder  etwas  zugänglicher 
geworden,  hält  aber  fest  an  seinen  Wahnideen.  In  den  freien  Stunden  steht 
er  allein  in  einer  Ecke  des  Zellenhofes,  mit  der  Mütze  dicht  vor  den  Augen. 
Er  ist  manchmal  sehr  gereizt,  manchmal  klagt  er  über  seine  Leiden :  häufig 
treibt  er  eine  eigentümliche  Gymnastik,  über  die  er  nie  Auskunft  geben  will: 
plötzlich  schwingt  er  die  beiden  Arme  nach  vorn  und  lacht  dabei;  oder  er 
steht  mit  gespreizten  Beinen  da,  gibt  sich  mit  der  rechten  Faust  rhythmisch 
wiederholte  Stöße  in  die  eine  oder  andere  Poplitealgrube,  so  daß  eine  plötz- 
liche unwillkürliche  Bewegung  des  Beines  im  Kniegelenk  erfolgt. 

Dieser  Status  muß  als  paranoide  Form  der  Dementia 
praecox  bezeichnet  werden. 

2.  Analyse. 

Nach  dieser  Krankengeschichte,  welche  nach  rein  klinischen 
Gesichtspunkten  geführt  ist,  wollen  wir  jetzt  versuchen,  die  Psycho- 
analyse des  Falles  darzustellen.  Sie  setzte  zu  einer  Zeit  ein,  wo  der 
Patient  noch  auf  der  unruhigen  Abteilung  war,  wurde  einige  Wochen 
fortgesetzt  bis  zu  dem  im  folgenden  dargestellten  relativen  Abschluß. 
Während  der  Untersuchungszeit  besserte  sich  der  Zustand  des  Patienten 
derart,  daß  er  in  einem  Sprunge  von  der  unruhigsten  auf  die  ruhigste 
offene  Abteilung  versetzt  werden  konnte,  auf  welcher  er  sich  jetzt 
noch  (nach  IV2  Jahren)  hält.  Über  den  möglichen  therapeutischen 
Wert  der  Untersuchungsmethode  will  ich  damit  nichts  gesagt  haben. 
Der  Parallelismus  der  beiden  Vorgänge  sei  nur  erwähnt. 

Die  Analyse  brachte  ein  sehr  großes  Material  ans  Licht,  welches 
ich  in  der  Darstellung  nur  um  zwei  Zentren,  der  Klarheit  wegen,  herum- 
gruppiert und  nur  zum  Teil  verwertet  habe.  Meine  Tätigkeit  beschränkt 
sich  darauf,  das  bruchstückweise  produzierte  Material  in  zusammen- 
hängender Darstellung  zu  geben,  was  in  diesem  Falle  möglich  erscheint, 
da  Patient  gute  Auskunft  gibt;  er  ist  intelligent,  hat  ein  gewisses  Inter- 
esse an  der  Analyse,  eine  ausgesprochene  Übertragung  auf  Ref. 

Daß  die  Analyse  lückenhaft  ist,  ist  selbstverständlich.  Der 
Fall  ist  nicht  frisch,  für  vieles  fehlen  objektive  Daten,  die  Technik  ist 
noch  mangelhaft  und  Patient  ist  eben  ein  Fall  von  Dementia  praecox, 
mit  dem  man  doch  nicht  den  gemütlichen  Rapport  einer  Hysterie  hat. 

Ergebnisse  der  Analyse. 

Das  letzte.,  wirklich  auslösende  Moment  der  Psychose  ist  bei  B. 
der  Einbruchdiebstahl  in  seinem  Bureau.  Von  diesem  Augenblicke 
an  wird  die  Krankheit  nach    außen  manifest,  speziell  durch  die  Ver- 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        189 

folgungsideen  und  Größenideen,  welche  vorher  nur  episodisch, 
isoliert  aufgetreten  waren  (der  Grabstein  der  Eltern,  das  Absteigen  in 
einem  Hotel  1.  Ranges  usw.).  Zu  dieser  Zeit  sind  namentlich  zwei  Vor- 
stellungskomplexe besonders  gefühlsbetont:  die  Macht  (das  Geld,  die 
hohe  Abstammung)  und  die  Sexualität  und  alles  was  damit  zu- 
sammenhängt. Dieselben  lassen  sich  jetzt  noch  nach  acht  Jahren 
ebenso  deutlich  nachweisen.  Die  Verfolgungsideen  und  Größenideen 
lassen  sich  bei  den  beiden  Komplexen  nachweisen :  es  wird  sich  im  Laufe 
der  Analyse  zeigen  lassen,  daß  zahlreiche  Verbindungsbrücken  diese 
sozusagen  parallel  verlaufenden  Vorstellungsreihen  miteinander  ver- 
binden. Sie  sind  nicht  scharf  abgegrenzt,  ihre  Trennung  ist  eher  künst- 
licher Natur,  aber  zwecks  bequemerer  Darstellung  gemacht  worden. 

A.  Komplex  der  Sexualität. 

Patient  ist  seiner  Frau  gegenüber  allmählich  (1901  bis  1902) 
indifferent  geworden,  er  sucht  sie  nur  selten  auf,  höchstens  einmal  im 
Monat  (objektive  Bestätigung  durch  Ehefrau),  ,,er  war  früher  viel 
eifriger".  ,,Die  Schwarzen  sind  sehr  schwer  zu  sättigen"  (gemeint 
sind  die  schwarzhaarigen  mit  dunkeln  Augen,  wie  die  Frau  von  B,;  er 
selbst  ist  blauäugig  und  dunkelblond  —  dieser  Umstand  spielt  eine 
wichtige  Rolle  in  der  späteren  Entwicklung  der  Wahnideen),  ,,sie  haben 
ein  heißes  Temperament".  Er  muß  eine  andere,  eine  Blondine  heiraten 
(die  erste  Andeutung  eines  Impotenzkomplexes,  er  bedarf  eines  neuen 
Reizes,  seine  Frau  verlangt  zu  viel).  Als  transitive  Form  dieses 
Wunsches  taucht  eine  Wahnidee  auf,  die  Frau  sei  ihm  untreu,  sie  habe 
heimlich  einen  Abort  einleiten  lassen.  Als  Bestätigung  der  Impotenz- 
befürchtung kann  die  Unfähigkeit  des  Patienten  gelten,  die  Zahl 
seiner  Kinder  richtig  anzugeben,  indem  er  immer  zu  viel  angibt;  einmal 
sagt  er  fünf,  dann  ,,eine  ganze  Menge  von  rassigen  und  nichtrassigen 
Kindern",  er  behauptet,  jedesmal  Zwillinge  gehabt  zu  haben  usw.  — 
er  hat  in  Wirklichkeit  drei  Kinder  gehabt.  —  Er  sagt,  ,,man  wolle  ihn 
ruinieren",  das  heißt  „direkt  impotent  machen"  (sein  eigener  Ausdruck); 
man  verfolgt  ihn  sexuell  und  mißhandelt  ihn  in  einer  grausamen 
Weise,  durch  Injektionen  von  Giften  in  die  Augen,  in  das  Abdomen, 
sogar  in  den  After,  man  will  den  ,, wunderbaren  Glanz"  seiner  Augen 
vernichten,  seine  Samendrüsen  ruinieren;  es  gibt  W^üstlinge  (wol- 
lüstige Männer  und  Weiber),  die  ihn  nachts  aufsuchen  und  ,, miß- 
brauchen"; im  verlorenen  Samen  könne  man  das  grüne  Gift  noch  nach- 
weisen.   Hier  taucht  der  Verdacht  auf,  es  könne  sich  zum  Teil  um 


190  A.  Maeder. 

homosexuelle  Verfolgungen  handeln:  Einspritzung  in  den  After, 
wollüstige  Männer  in  Träumen  und  Halluzinationen.  —  In  der 
Tat  erzählt  Patient,  wie  seine  Feinde  versucht  haben,  ihn  danach  zu 
erproben:  als  er  noch  zu  Hause  war  und  im  Bette  lag,  kam  es  vor, 
daß  irgend  welche  Wüstlinge  sein  Glied  steif  gemacht  haben  —  auf  eine 
geheime  Weise  — ,  dann  schickten  sie  seine  Frau  in  sein  Zimmer  (die 
Frau  gehört  aus  vielen  noch  zu  besprechenden  Gründen  zu  den  Ver- 
folgern), welche,  um  ihn  zu  verdächtigen,  einen  seiner  Knaben  gegen  sein 
Bett  zu  ihm  hinstieß.  ,,Es  wm'de  auch  von  meinen  Feinden  behauptet, 
daß  meine  Knaben  einen  syphilitischen  Ausschlag  am  After  und  an  den 
Augen  haben,  um  auf  diese  Weise  wahi'scheinlich  zu  machen,  ich  hätte 
sie  mißbraucht."  In  der  Anstalt  wurden  andere  Proben  gemacht ;  wenn  er 
im  Bad  ist,  werden  manchmal  nackte  Männer  ins  Badezimmer  geschickt, 
zur  Probe  ob  sein  Glied  steif  wird;  es  tritt  bei  ihm  allerdings  nicht  ein, 
,,eher  das  Gegenteil  vom  Erwünschten". 

(Es  stimmt,  daß  mehrere  Patienten  zu  gleicher  Zeit  nackt  im  Bade- 
zimmer   gebadet    werden,    B.    hat  daran  Beziehungsideen  geknüpft.) 

Folgendes  ist  auf  homosexuelle  Tendenzen  ebenso  verdächtig: 
Einmal  abends  wird  B.  allein  im  Privatzimmer  eines  Patienten  der- 
selben Abteilung  gefunden,  und  zwar  im  Bette.  Der  betreffende  Zimmer- 
besitzer ist  in  der  Anstalt  als  Homosexueller  bekannt  (deswegen  inter- 
niert) und  hat  sein  Zimmer  in  entsprechendem  Stile  dekoriert.  B.  be- 
hauptet, er  habe  die  Idee  gehabt,  er  bekäme  nachts  den  Besuch  einer 
hohen  Dame ;  dieses  Zimmer  habe  für  ein  Rendezvous  am  besten  gepaßt. 
Er  weiß  aber  auch,  daß  der  andere  ein  Invertierter  ist.  (Siehe  auch 
oben  die  Anklagen  vor  dem  Schwurgerichte  wegen  Homosexualität.) 

Sämtliche  Äußerungen  des  Patienten  über  sexuelle  Dinge  lassen 
sich  auf  irgend  einen  der  betonten  Punkte  zurückführen:  Polygame 
Tendenzen,  verdrängte  homosexuelle  Neigungen,  Impotenz- 
befürchtungen (diese  Elemente  sind  alle  mit  einem  +  oder  —  Zeichen 
versehen,  als  Verfolgungen,  kompensatorische  Wunscherfüllungen  usw.). 

In  diesem  Rahmen  spielt  sich  der  wesentliche  Inhalt  dieser  Psy- 
chose ab.  Es  liegt  mir  nun  ob,  die  Zusammenhänge  im  einzelnen  nach- 
zuweisen. 

Wir  gehen  von  den  hypochondrischen  Beschwerden  aus: 

B.  klagt  seit  vielen  Jahren  über  Schmerzen  im  Scheitel,  in  der 
Stirne,  speziell  in  den  Augen;  man  trifft  ihn  häufig  daran,  wie  er  sich 
förmliche  Augenspülungen  zuadministriert,  mit  gewöhnlichem 
Wasser,  seltener  mit  Milch  oder  gar  mit  Limonade,  die  er  einfach  übers 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken,        191 

Auge  löffelweise  gießt;  er  reibt  auch  viel  in  den  Augen;  hat  natürlich 
eine  hartnäckige  Konjunktivitis  bekommen.  Die  Schmerzen  rühren  von 
Vergiftungen  her,  von  Injektionen  von  „Grünsäure",  ,, Grüngift", 
Chloralhydrat,  Morphium,  Phosphor,  Schwefel  und  anderen  ,, grünen 
Giften".  Er  bemerkt  es,  wenn  nachts  wieder  etwas  gemacht  worden  ist, 
am  unscharfen  Sehen,  alles  ist  ,, schleierhaft",  der  Himmel  sieht  dann 
nicht  recht  blau  aus.  Wenn  er  gegen  das  Licht  durch  die  röhrenförmig 
geschlossene  Hand  hinschaut,  sieht  er  grüne  Farben,  die  aus  seinen 
Augen  ausstrahlen,  ,,das  sollte  nicht  sein".  Es  kommt  vom  grünen 
Gift  (daher  die  Spülungen).  Man  will  überhaupt  den  wunderbaren 
Glanz  seiner  blauen  Augen,  deren  ,, befruchtende  Strahlen,  welche 
nur  seiner  Rasse,  der  sogenannten  Gensulpia  angehören,  vernichten.*) 
Daß  die  Augen  bei  ihm  mit  der  Sexualität  assoziiert  sind,  wissen  v/ir 
schon.  Seine  Knaben  sollen  an  den  Augen  einen  syphilitischen  Aus- 
schlag haben,  der  von  sexuellem  Mißbrauche  herrührt.  Die  eingespritzten 
Gifte  kreisen  im  Körper  herum.  In  der  Ki'ankengeschichte  wurde 
notiert  zu  einer  Zeit,  wo  diese  Vergiftungsgeschichte  noch  nicht  bekannt 
war:  nach  der  Exstirpation  einer  kleinen  Warze  spülte  Patient  die 
Wunde  eine  Viertelstunde  lang  am  Brunnen.  Diese  Spülungen  zur 
Verdünnung  der  Gifte,  wie  er  selbst  sagt,  hat  er  ganz  systematisch 
angewandt.  Er  verlangte  auch  täglich  ein  Bad,  um  sich  von  den  fremden 
Stoffen  gründlich  reinigen  zu  können,  und  wenn  er  badet,  so  reibt  er 
sich  mit  Seife  energisch  ab.  Abreibungen  mit  Kampferspiritus  woUte 
er  auch  als  nervenreinigendes  Mittel.  Manchmal  trinkt  er  literweise 
Wasser;  er  ,,muß"  auch  onanieren,  um  die  Ausscheidung  durch  die 
Genitaldrüsen  zu  befördern.  Der  Samen  sei  häufig  grünlich  verfärbt; 
der  Urin  habe  zeitweise  eine  grünliche,  verdächtige  Farbe  oder  er  sieht 
wie  rosthaltig  aus.  Diese  grünen  und  syphilitischen  Gifte  werden  durch 
Injektion  in  die  Augen,  durch  den  Schädel,  in  das  Abdomen,  auch 
in  den  After,  selten  mit  der  Suppe  (,,als  Phosphate")  eingeführt;  er 
habe  auch  gesehen,  wie  ein  Wärter  eine  grüne  Flasche  manchmal  auf 
die  Abteilung  bringt.  Man  möchte  den  ganzen  Körper  ruinieren;  in 
der  Blase  sei  schon  eine  dicke  grüne  Kruste,  speziell  links;  der  linke 
Hoden  ist  schwarz  wie  Kohle.  Den  Anstoß  zu  dieser  Hodenveränderung 
gab  eine  Kontusion,  die  ihm  seine  eigene  Frau  beigebracht  habe.  Der 
Magen,  die  Milz,  die  linke  Niere,  überhaupt  alles  auf  der  linken  Seite, 
ist  angegriffen;  ,,das  Bedenkliche  ist  das,  daß  gerade  die  linke  Seite   die 

'■)  Siehe  die  Besprechung  der  Impotenzkompensation  und  der  Größenideen- 
Abstammung. 


192  A.  Maeder. 

positive  Seite  ist,  wegen  dem  Herzen,  von  dem  ja  die  Ausstrahlung 
ausgeht".  —  Alles  das  fühlt  er  in  sich ;  er  sieht  es  auch,  er  hat  die  Eigen- 
schaft, in  sein  Inneres  schauen  zu  können,  die  er  der  Doppelseitigkeit 
seiner  Gewebe"  verdankt  (?). 

Patient  leidet  viel  unter  Verfolgungen;  scharfe  Instru- 
mente werden  von  den  Feinden  gebraucht,  Messer,  Dolch,  Nadeln, 
Flobertgewehr,  Eevolver,  „Protektor";  gezielt  wird  nach  den  Augen, 
dem  Abdomen,  dem  Rücken  (speziell  nach  der  unteren  Partie,  in  den 
After).  Das  dauert  schon  viele  Jahre.  Jetzt  sind  es  Männer,  die  nachts 
mit  Instrumenten  ins  Zimmer  eindringen  und  manipulieren. 

Bei  weiblichen  Patientinnen  wissen  wir,  daß  Injektionen  häufig 
sexuell  aufgefaßt  werden,  bei  einzelnen  sogar  ganz  bewußt.  Die  Rolle  des 
Messers,  der  Pistole  usw.  als  Symbol  des  männlichen  Geschlechts- 
org an  es  ist  uns  ebenso  klar.  Handelt  es  sich  hier  um  etwas  Ähnliches 
bei  einem  männlichen  Patienten?  Das  Vorhandensein  der  homo- 
sexuellen Tendenzen  ist  oben  aus  ganz  anderer  Quelle  bewiesen 
worden. 

Die  Annahme  wird  immer  wahrscheinlicher,  wenn  wir  von  B. 
erfahren,  daß  die  Quälereien  meist  von  Pollutionen  begleitet  sind. 
B.  hat  vielfach  geglaubt,  er  habe  einen  Molch,  eine  Schlange  oder 
Würmer  im  After.  Solche  Phantasien  haben  Frauen  häufig,  mit  dem 
Unterschiede,  daß  die  betreffenden  Tiere  sich  bei  ihnen  in  der  Vagina 
oder  sonst  im  Leibe  befinden.  Die  Angabe,  er  habe  einige  Zeit  einen 
Molch  im  Darme  gehabt,  dessen  Abgang  sehr  schwer  war,  klingt  beinahe 
wie  eine  Entbindungsphantasie. 

Durch  die  Annahme  der  homosexuellen  Tendenzen  und  Ver- 
folgungen wird  in  unserem  Falle  verschiedenes  klar;  zuerst  der  für 
einen  Schizophrenen  auffallend  gute  gemütliche  Rapport  mit  dem 
untersuchenden  Arzte.  Der  adhäsive  Händedruck^)  war  an  sich  schon 
längst  verdächtig. 

In  seinen  Phantasien  zeigt  sich  eine  eigentümliche  Passivität; 
„es  wird  etwas  an  mir  gemacht";  ,, Wüstlinge  sättigen  ihre  Wollust  an 
mir"  usw.,  ferner  spricht  B.  sehr  rühmlich  von  den  ,,Stauffacherinnen", 
bekanntlich  einem  legendären  Typus  der  energischen  Frau,  die  ihren 
Mann   zum  Widerstände  .'gegen' die  Landvögte  ermutigt.    Zum  selben 

\  s,  :4'  *)  Siehe  bei  Epileptikern  die  Zurückführung  des  Symptomes  auf  die  homo- 
sexuelle Komponente  der  Libido,  M  a  e  d  e  r.  Die  Sexualität  der  Epileptiker, 
dieses  Jahrbuch,  I.  Band,  1909. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        193 

Gedankengange  gehört  die  Wahnidee,  daß  seine  Söhne  genau  wie  er 
mit  Messerhieben  in  den  Rücken  verfolgt  und  gemartert  werden; 
sie  werden  von  den  Feinden  in  der  Nähe  der  Anstalt  zurückgehalten; 
Patient  spürt  am  eigenen  Körper  alles,  was  an  den  Kindern  gemacht 
wird.  Durch  diesen  Transitivismus  scheint  er  sich  der  homo- 
sexuellen Neigung  zu  seinen  Söhnen  zu  entledigen.  Seine 
Feinde  machen  die    Quälereien,   mißbrauchen  die  Knaben,  nicht   er. 

Die  Verfolgung  ist  hier  wohl  im  wesentlichen  als  homosexuelles 
Attentat  aufzufassen. 

Die  Vergiftung  soll  die  psychische  Impotenz  des  Patienten 
erklären.  Wir  wissen  schon,  daß  seine  schwarzhaarige  Frau  in  der  letzten 
Zeit  vor  der  Internierung  keinen  Reiz  mehr  auf  ihn  ausübte:  ,,die  Natur 
ist  mir  dreimal  gekommen,  während  sie  bei  der  Frau  nur  einmal  kam" ; 
„die  Schwarzen  sind  überhaupt  nicht  zu  befriedigen,  sie  sind  zu  gierig". 
Sie  müsse  weg,  könne  einen  andern  heiraten,  er  werde  für  sie  finanziell 
schon  sorgen,  wenn  er  nur  selbst  eine  andere,  eine  Blondine  bekommt. 
In  der  letzten  Zeit  zu  Hause  hat  er  sich  sexuell  ,, geschont".  ,,Es  heißt 
nämlich  (eine  Stimme  sagt  es),  wenn  ich  eine  Frau  geschwängert  habe 
dann  bin  ich  impotent  geworden^)"'.  „Wenn  das  eintreten  sollte,  wäre 
es  ein  Unglück  für  die  ganze  Menschheit".  Die  ganze  Männlichkeit 
würde  zugrunde  gehen,  ja  sogar  die  ganze  organisierte  Welt;  man  weiß, 
daß  in  den  letzten  Jahren  die  Natalität  namentlich  in  Frankreich 
zurückgegangen  ist,  die  Reben  produzieren  auch  weniger,  ganz  speziell 
ist  die  Produktion  des  roten  Weines  (für  ihn  das  spezifisch  männliche) 
zurückgegangen".  Alles  das  ist  ihm  der  klarste  Ausdruck  der  sexuellen 
Verfolgungen,  welche  gegen  ihn  gerichtet  sind. 

Von  ihm  aus  geht  die  ,, befruchtende  Ausstrahlung"  in  der 
ganzen  Natur,  von  seinem  ganzen  Körper,  speziell  von  seinen  ,, wunder- 
baren Augen",  die  gleich  zwei  Magnetpolen  sind.  Diese  Strahlen  heißen 
die  Lebenslichtstrahlen  oder  elektromagnetische  Strahlen.  Sie  er- 
wecken die  ,, Geschlechtsliebe",  sobald  er  jemanden  nur  anschaut. 
Die  Frauen  verlieben  sich  sofort  in  ihn.  Es  sind  schon  viele  für  ihn 
bestimmt  worden,  meistens  Blondinen,  wie  die  Königin  von  Niederlande ; 
die  Ehe  wurde  bis  jetzt  durch  die  organisierten  Feinde  (die  Feme) 
verhindert.  Die  Strahlen  üben  eine  Anziehungskraft  nicht  nur  auf  die 
Frauen,  sie  erwecken  auch  die  Samenproduktion  in  den  Männern 
(Homosexualität),  noch  mehr,  sie  spielen  in  der  ganzen  Natur  eine  maß- 


^)  Man  sieht  daraus  den  teleologischen  Wert  psychischer  Erscheinungen. 
Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psychopathol.  Forschunejen.     II.  lo 


194  A.  Maeder. 

gebende  Rolle ;  die  Erde  zieht  ja  die  Sonne  zu  sicli  und  die 
Wirkung  ist  gegenseitig,  der  Mond  übt  eine  negative,  feminine  Wir- 
kung aus.  Ein  Beweis  dieser  Bestrahlung  von  der  Erde  aus  und 
nicht  von  der  Sonne  sieht  B.  darin,  daß  die  Alpen  nur  oben  an  der 
Spitze  ewigen  Schnee  haben,  das  heißt  weit  weg  von  ihm  und  nicht 
etwa  an  der  Basis. 

Alle  großen  Naturereignisse,  wie  Vulkanausbrüche,  Zyklone, 
Überschwemmungen  usw.  hängen  mit  dem  Zustande  seines  Körpers, 
speziell  mit  der  Ausstrahlung,  zusammen. 

Die  erste  derartige  Beobachtung  machte  er  noch  in  0.  Nachdem 
er  einige  Tage  deprimiert  war  und  unter  einem  schweren  Weinkrampf  e  — 
dessen  Ursache  Injektionen  in  das  Gehirn  waren  —  gelitten  hatte, 
merkte  er,  wie  es  plötzlich  hell  wurde,  im  Momente,  wo  er  sich  besser 
fühlte;  der  Himmel  wurde  klar,  schön  blau,  wie  seine  Augen.  Er 
erkannte  bald  darin  einen  innigen  Zusammenhang;  jetzt  weiß  er  mit 
Sicherheit,  daß,  wenn  nachts  an  seinen  Augen  ,, gepfuscht"  wurde,  das 
Wetter  am  Morgen  nicht  klar  ist;  man  kann  an  diesem  Tage  in  der 
Stadt  nicht  photographieren,  weder  der  Himmel  noch  seine  Augen  sind 
dann  blau.  Die  Sonnenflecken  hängen  mit  seiner  Augenverletzung 
zusammen.  Die  Irisflecken  entsprechen  den  Injektionsstichen,  die  Iris- 
flecken sind  aber  die  Sonnenflecken.  Er  untersuchte  seine  Jugend 
rückgreifend  danach  und  es  war  ihm  leicht  nachzuweisen,  daß  früher 
schon  viel  Auffallendes  passiert  war.  Z.  B.  als  er  sich  die  Tautropfen 
näher  ansah,  merkte  er  farbige  Strahlen,  „die  niu:  von  seinen  Augen 
ausstrahlen  konnten". 

Einmal  fiel  er  von  einem  Baume  auf  die  Nase  hinunter,  ,,es  war 
wie  wenn  eine  Lichtkugel  platzen  würde",  seit  der  Zeit  habe  er  ein  Gefühl 
des  Beißens  und  Brennens  in  den  Augen  gehabt. 

Mit  15  Jahren  traf  ihn  ein  Schneeball  ins  rechte  Auge.  Zu  der- 
selben Zeit  ereignete  sich  eine  furchtbare  Überschwemmung  in  ganz 
Europa  („der  Tränenfluß")  usw.  Alles  bis  in  die  Neuzeit  hinein  hängt 
mit  dem  Geschicke  seiner  Familie  zusammen;  z.  B.  die  Zerstörung  des 
Zeppelinschen  Luftschiffes  bei  der  Mainzprobefahrt  war  die  Reper- 
kussion  eines  Attentates  auf  seinen  Knaben  Hans.  Patient  untersucht 
fast  jeden  Tag  die  Zusammensetzung  seiner  Ausstrahlung,  um  die 
Intensität  der  Verwüstungen  zu  schätzen,  welche  in  der  Nacht  durch 
die  Mißhandlungen  entstanden  sind.  Er  macht  das  so,  daß  er  die  Hand 
zu  einer  Röhre  schließt  und  durch  sie  nach  der  Sonne  hinblickt.  Er 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Krauken         195 

sieht,  wenn  er  blinzelt,  farbige  Strahlen;  wenn  die  roten  und  blauen 
überwiegen,  steht  es  mit  ihm  gut,  das  sind  die  befruchtenden  Strahlen 
(dem  roten  und  blauen  Blut  entsprechend).  Sie  sind  „sozusagen  durch 
Elektrizität  zerstäubtes  arterielles  und  venöses  Blut".  Wenn  das  grüne 
überwiegt,  ist  die  Vergiftung  mit  dem  Grüngifte  (dazu  gehören  nach 
ihm  S,  P,  Cu,  As  usw.)  stark  gewesen. 

Es  ist  ganz  unmöglich,  ihm  das  Phänomen  begreiflich  zu  machen, 
er  kann  absolut  nicht  anerkennen,  daß  andere  Menschen  solche  Farben 
auch  sehen  können.  Die  anderen  können  es  nur  sehen  zur  gleichen  Zeit 
wie  er,  ,, durch  Übertragung". 

B.  kommt  sich  selbst  vor  wie  eine  kosmische  Macht  (ähnlich 
einer  Gottheit),  welche  befruchtet  und  belebt;  er  sagt  z.  B.  von  seinem 
Herzen,  daß  es  seine  Pulsationen  auf  alle  Uhren  der  Welt  überträgt; 
Störungen  im  Uhrwerke  gebe  es  nur,  wenn  bei  ihm  nachts  etwas  ge- 
pfuscht wirrde. 

B.  fürchtet  die  Konkurrenz  seiner  eigenen  Kinder,  alle 
Rassenkinder  müssen  sofort  von  ihm  entfernt  werden;  es  ist  nicht  mög- 
lich, es  ist  schädlich,  daß  zwei  Wesen  von  dieser  Beschaffenheit  zu- 
sammenleben, ,, wegen  der  Kreuzung  der  Lebenslichtstrahlen",  Patient 
selbst  genüge,  was  die  befruchtende  Kraft  anbelangt,  für  die  ganze 
Schweiz. 

Die  angeführten  Phantasien  des  Patienten  über  seine  außer- 
gewöhnliche Fruchtbarkeit  und  Kraft  bilden  eine  Kompen- 
sation seines  zunehmenden  Insuffizienzgefühles  im  se- 
xuellen Gebiete,  seiner  eintretenden  Impotenz,  sie  sind  klare 
Wunscherfüllungen, 

Diese  besondere  Fähigkeit  und  Potenz  gehört  seiner  ganzen  Rasse 
an,  von  der  später  noch  mehr  die  Rede  sein  wird;  ich  gebe  jetzt  nur  ein 
paar  Züge,  welche  in  diesen  Zusammenhang  hineinpassen.  Die  Rasse 
ist  die  ,,Urgens"  oder  ,,Gens  ulpia",  sie  besitzt  die  ,, Menschen- 
erzeugende Kraft,  sie  ist  der  Urtrieb  der  menschlichen  und  tierischen 
Erzeugungskraft".  „Gens  ulpia,  Genesis  gleich  Keimfähigkeit, 
Ulpia  oder  urgens  gleich  Ursprung  des  Geschlechtstriebes,  Ursache 
der  Lebensimpulse."  ,,Zum  Gens  ulpia  Geschlecht  gehören  ich,  meine 
Mutter,  einige  von  mir  erzeugten  Töchter  und  einige  andere  Frauen 
(z.  B.  Königin  Wilhelmine^).  Ich  bin  der  Fortpflanzer  der  Männer, 
die  männliche  Gens  ulpia  regt  auch  die  weibliche  Zeugungskraft  an." 

^)  Also  nur  Frauen. 

13* 


196  A.  Maeder. 

In  der  umgebenden  Natur  sieht  B.  einen  Beweis  seiner  sexuellen 
Funktion;  die  Früchte  an  den  Bäumen,  speziell  die  Äpfel  und  Birnen, 
die  Kirschen  und  Haselnüsse,  die  Hülsenfrüchte,  sind  nur,, Darstellungen 
sowie  Vervielfältigungen  seiner  eigenen  Genitalien",  ganz  speziell  die 
„Eichel  sei  wie  sein  Glied  geformt".  Daß  so  etwas  für  die  anderen 
Männer  auch  paßt,  kann  B.  nicht  verstehen;  er  kommt,  seiner  Ansicht 
nach,  allein  in  Betracht  (B.  ist  wieder  ein  Beispiel  eines  Schizophrenen, 
dem  die  Sexualsymbolik  ganz  bewußt  ist,  im  Gegensatze  zu  den 
Hysterischen^). 

Einmal  äußert  B.  den  Wunsch,  sich  mit  dem  Gartenbau,  nament- 
lich mit  dem  edlen  Obstbau  zu  beschäftigen;  er  wolle  sich  sogar,  wenn 
er  aus  der  Anstalt  herauskommt,  einen  großen  Obstgarten  anschaffen, 
den  er  liebevoll  pflegen  würde;  er  könne  dann  auf  jedes  soziale  Leben, 
auf  jede  höhere  Stellung  verzichten. 

Seit  einigen  Wochen  arbeitet  er  allein  fleißig  im  Obstgarten  der 
Anstalt.  Daß  dieser  Wunsch  auch  eine  Äußerung  seiner  Komplexe  ist, 
also  psychisch  genau  determiniert  ist,  können  wir  vermuten,  er  hat  uns 
gesagt,  das  ,, Kernobst"  sei  ein  Sinnbild  seiner  eigenen  Genitalien; 
wir  wissen  auch,  daß  B.  unter  einem  starken  Impotenzkomplexe  leidet. 
Die  Obstpflege  selbst  dürfte  also  symbolisch  gemeint  sein;  das  gibt  er 
ohne  weiteres  zu,  sobald  man  ihn  zur  Rede  stellt,  dieser  Gedanke  ist 
ihm  vollkommen  bewußt,  es  bedeutet  nichts  anderes  in  der  Logik  eines 
Dementia  Praecox  Kranken  als  die  Pflege  des  ,, edelsten  Teiles"  seiner 
Person. 

Die  Abwehr  der  Verfolgungen. 

Gegen  die  Verfolgungen  hat  Patient  eine  Anzahl  von  Abwehr- 
oder ,, indirekten  Verteidigungsmitteln",  wie  er  sie  selbst  nennt, 
erfunden.  Zuerst  die  Abwaschungen  und  Spülungen  der  Augen 
und  des  ganzen  Körpers,  welche  schon  oben  erwähnt  worden  sind,^) 
das  Vielwassertrinken  zwecks  Verdünnung,  die  Onanie  zur  Aus- 
scheidung der  in  den  Hoden  angesammelten  Gifte  —  eine  neue  Art 
Entschuldigung  des  Lasters  — ,  dann  die  sogenannte  Heilgymnastik: 
Patient  faßt  sich  selbst  plötzlich  am  Hinterhaupte  und  gibt  sich  einen 


^)  Er  sagt  z.  B.  ,,er  sei  von  den  schwarzen  Katzen  verfolgt  oder  den 
schwarzen  Weibern,  es  ist  gleich". 

2)  Einreibungen  mit  Kampferspiritus,  den  er  als  Nervem-einigungsmittel 
bezeichnete;  der  Kampfer  ist  als  Antaphrcdisiakum  im  Volke  bekannt.  Diese 
ganze  SjTuptomengruppe  gehört,  wie  man  jetzt  weiß,  zur  Onanieabwehr. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        197 

Stoß  nach  vorn;  „durch  Gefühlsübertragung  fallen  dann  seme 
Feinde  um" ;  oder  er  schnürt  sich  den  Hals  mit  dem  Taschentuch  ein, 
als  ob  er  sich  erdrosseln  wollte,  lacht  dabei,  wie  wenn  er  etwas  recht 
Gescheites  gemacht  hätte;  oder  er  hält  einen  kleinen  Taschenspiegel 
dicht  vor  die  Augen  oder  setzt  seinen  Hut  so  auf,  daß  er  die  Augen 
verdeckt.  „Durch  Übertragung  sehen  die  Feinde  auch  nicht  vor  sich 
und  wenn  sie  zufällig  eine  Treppe  hinuntergehen,  fallen  sie  um";  ,,68 
kommt  doch  hinzu,  daß  sie  immer  ein  Messer  in  der  Hand  haben,  um 
ihn  zu  quälen";  ,,man  kann  hoffen,  daß  das  Stürzen  ihnen  einmal 
verhängnisvoll  wird".  Das  erklärt  das  eigentümliche  Triumphlachen, 
das  einer  solchen  Handlung  regelmäßig  folgt. 

Ein  anderer  Trick  besteht  darin,  daß  er  sich  selber  rhymthische 
Faustschläge  in  die  Poplitealgegend  gibt,  um  eine  unwillkürliche  Beugung 
des  Beines  zu  provozieren,  welche  weiter  auf  die  Feinde  übertragen  wird, 
oder  er  streckt  plötzlich  den  Arm  nach  einer  bestimmten  Richtung  etc. 
Außer  den  schon  erwähnten,  hat  B.  noch  eine  ganze  Anzahl  anderer 
Verteidigungsmittel,  die  ich  nicht  alle  erwähnen  will.  Er  zieht  sich 
dazu  meistens  in  eine  Ecke  zurück,  führt  die  Handlung  mit  großem 
Ernste  aus,  sie  hat  den  Charakter  des  Automatischen  in  hohem 
Grade.  In  diesem  Falle  gibt  uns  die  Psychoanalyse  Aufschluß  über  den 
Sinn  dieses  katatonischen  Symptomes  par  excellence.  Hier  ist  die  Stereo- 
typie sicher  nicht  der  Ausdruck  einer  ,, psychomotorischen  Reizung", 
wie  die  gewöhnliche  Phrase  lautet,  sondern  ein  psychisch  genau  deter- 
minierter Akt,  eine  symbolische  Handlung^). 

In  das  Gebiet  der  Abwehr  gegen  die  Verfolgungen  gehören  noch 
die  Erfindungen  des  Patienten;  er  hat  hier  ein  Flugautomobil 
erfunden,  um  seinen  Feinden  zu  entschlüpfen,  wenn  sie  ihn  zu  sehr 
drängen.  Er  hat  ferner  neue  mächtige  Feuerwaffen  gezeichnet,  die 
er  patentieren  lassen  will.  Bei  der  Gelegenheit  erzählt  er,  daß  er  kui'z 
vor  der  Internierung  einen  Revolver  gekauft  und  Schießübungen  im 
Walde  gemacht  hatte,  um  die  Leute  zu  erschrecken.  Wir  wissen  übrigens, 

^)  Bei  einem  alten  Katatoniker,  dei-  seit  vielen  Jahren  die  Gewohnheit 
hat,  peinlich  genau  in  gerader  Linie  längs  einem  Striche  auf  dem  l\arkett  zu  gehen, 
konnte  ich  feststellen,  daß  diese  Eigentümlichkeit  vom  Patienten  selbst  als  ein 
Ausdruck  seines  Strebens  betrachtet  \vird,  „ein  besseres  Leben  anzufangen",  nicht 
vom  geraden  Wege  abzuweichen ;  er  hält  sich  auch  dementsprechend  immer  isoliert 
von  den  anderen,  da  er  sich  für  unwürdig  hält,  mit  den  ,,guten  Menschen"  zu  ver- 
kehren; sobald  jemand  in  die  Nähe  kommt,  deckt  er  sich  das  Gesicht  zu  und 
nimmt  eine  demütige  Stellung  ein.  „Er  sei  ein  alter  Narr,  der  nichts  Rechtes  sagen 
könne",  so  entschuldigt  er  sich  bei  jeder  an  ihn  gestellten  Frage. 


198 


A.  Maeder. 


daß  Patient  ein  sehr  guter  Schütze  war  und  viele  ersten  Preise  bei 
Schützenfesten  gewonnen  hat.  B.  begnügt  sich  damit  nicht,  sich  regel- 
recht gegen  die  Feinde  zu  verteidigen,  er  versucht  auch,  sie  mit  dem 
Wortwitz  und  mit  dem  Rebus  zu  treffen.  Z.  B.  trifft  ihn  Referent 
einmal  auf  der  Abteilung,  wie  er  eben  folgendes  Wort  mit  Nachdruck 
Silbe  für  Silbe  auszusprechen  versucht:  Die  Soziologen;  er  erzählt 
dann  lachend,  was  es  heißt :  Die  Sozi  oh !  logen !  (Die  Sozi  =  Gesellen 
sind  die  zm'  Feme  organisierten  Verfolger). 

Aus  dem  gleichen  Bedürfnisse  entsprang  folgender  Rebus,  den 
Patient  selbst  mit  allen  Details  zeichnete  und  erklärte: 


il 


(Satyrisches  Bilderrätsel.) 


Fortlaufend  gelesen  heißt  es:  Immunität  besser  für  Euch 
als  Unstrafbarkeit^);  der  Spruch  ist  an  die  Feinde  adressiert. 

Ich  will  gleich  bemerken,  daß  die  Komplexe  des  Patienten  sich 
sogar  in  den  Einzelheiten  verraten:  unter  dem  Worte  Im  stehen  noch 
die  Worte  Sac  und  Eier;  B.  liest  Isaak  Meier,  erzählt  dazu  die  Geschichte 
eines  I.  M.,  welcher  in  einem  Harem  überrascht  und  sofort  kastriert 
wurde  (Sac  Eier  =  Hodensack). 

1)  Das  Tier  soll  einen  Stier  darstellen,  im  Dialekt  „Muni"  genannt;  der 
Mann  ißt  =  ein  Esser;  4  =  für  (nach  Aussprache  der  Süddeutschen,  welche  wegen 
des  Katholizismus  zu  seinen  Verfolgern  gehören);  der  Baum  ist  eine  Eiche,  wird 
aus  obigem  Grunde  für  „Euch"  eingesetzt,  das  Boot  für  „Barke".  Immunität 
besser  für  Euch  als  Unstrafbarkeit. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        199 

Isaak  ist  ein  Jude,  der  zu  den  geldgierigen  Spekulanten,  die  ihn 

verfolgen,  gehört. 

Auffallend  ist  weiter  am  Stier,  daß  er  keinen  Hodensack  hat  und 
daß  er  den  Namen  Falb  trägt.  „Falb  reimt  mit  Kalb,  es  ist  der  Name 
des  Wetterpropheten,  welcher  behauptete,  etwas  vom  Wetter  zu  ver- 
stehen; er  ist  einer  meiner  ärgsten  Feinde."  Er  verdient  auch  kastriert 
zu  werden,  wie  der  Stier.  Man  erkennt  hier  den  I  m  p  ote  nz  komplex  des 
Patienten,  welcher  in  der  beständigen  Angst  lebt,  durch  die  spezifische 
Vergiftung  seine  sexuelle  Leistungsfähigkeit  zu  verlieren.  Der  erste 
Teil  des  Rebus  hat  noch  einen  dritten,  etwas  gezwungenen  Sinn. 
den  ich  nicht  ausführlich  mitteilen  will;  er  sagt  in  Substanz  seinen 
Feinden,  ,,sie  sind  alle  Stiere"^). 

B.  Komplex  der  Abstammung. 

Was  diese  Einteilung  des  Materials  in  die  Komplexe  der  Sexualität 
und  der  Abstammung  Künstliches  hat,  braucht  kaum  hervorgehoben 
zu  werden;  sie  geschieht  aus  rein  äußerlichen  Gründen,  der  Übersicht- 
lichkeit wegen. 

Wir  wissen,  daß  die  eigentliche  Psychose  im  Anschlüsse  an  den 
Diebstahl  im  Bureau  des  Patienten  ausgebrochen  ist.  Es  haben  wahr- 
scheinlich schon  ziemlich  lange  vorher  isolierte  Symptome  bestanden. 
Von  diesem  sozusagen  traumatisch  wirkenden  Momente  an  fühlt  sich 
B.  ungemütlich. 

„Man  verdächtigt  ihn",  „er  werde  beobachtet",  er  wagt  sich  nicht 
mehr  hinaus  in  der  Angst,  daß  die  Polizisten,  welche  auf  ihn  lauern, 
ihn  auf  der  Straße  abfassen;  er  geht  unregelmäßig  zur  Arbeit.  „Man 
meint",  er  mache  mit  den  Feinden  des  Geschäftes  mit;  das  gestohlene 
Geld  sei  wahrscheinlich  bei  ihm  versteckt.  Er  stellt  in  der  Nacht  Haus- 
untersuchungen mit  der  Frau  an.  Der  Zustand  wird  unhaltbar,  die 
Beobachtung  geschieht  mit  allen  Schikanen  der  modernen  Wissenschaft, 
mit  der  sogenannten  ,,Midtiplex  Camera  obscura"  (?)  und  mit  dem 
Phonophotograph  usw.  Es  wird  alles  registriert.  Eine  Zeitlang  durfte 
man  zu  Hause  nur  flüstern,  zuletzt  überhaupt  nicht  mehr  reden,  nur 
schreiben.  Der  höchste  Grad  des  Raffinements  war  die  Photographie 
der  Gedanken  im  Gehirne  vor  ihrer  Entstehung  selbst. 

Alles  das  ist  das  Werk  einer  Bande  von  Feinden,  welche  sich 


1)  ,,VVenn  man  sie  in  Muni  verwandeln  täte,    würden  sie  Kälber   erzeugen 
können". 


200  A.  Maeder. 

ZU   einer  Feme  organisiert  haben,  um  ihn  in  seiner  Karriere  zu  ver- 
hindern. 

Diese  große  Gesellschaft  besteht  hauptsächlich  aus  zwei  Gruppen 
von  Menschen,  aus  den  Roten  und  aus  den  Schwarzen.  Die  Roten 
sind  die  geldgierigenKap italisten  und  Spekulanten,  „welche  aber 
im  Essen  und  im  Geschlechtsverkehr  ebenso  unersättlich  sind".  Der 
Vorgänger  des  Patienten  als  Bureauchef  der  Firma  hatte  viel  spekuliert, 
Patient  mußte  gegen  ihn  und  einige  Mitglieder  des  Verwaltungsrates 
von  Instanz  zu  Instanz  einen  Prozeß  führen,  welcher  jahrelang  an- 
dauerte und  sehr  aufregend  war.  Das  Geschäft  ward  dadurch  stark 
geschädigt,  konnte  nur  mit  großer  Mühe  wieder  in  die  Höhe  gebracht 
werden.  B.  war  ein  aktives  Mitglied  der  sozialdemokratischen  Partei 
gewesen,  er  war  als  Mitglied  des  Gemeinde-  und  Schulrates  und  als 
Präsident  von  verschiedenen  Vereinen  sozial  sehr  tätig.  Das  lieferte 
ihm  offenbar  Material  zu  dieser  Art  von  Verfolgung.  Die  Schwarzen 
sind  die  Jesuiten,  die  Konservativen,  sie  sind  geizig,  neidisch,  sie 
gönnen  sich  selbst  nicht  einmal  das  Essen.  Sie  erregen  den  Geschlechts- 
trieb zu  wenig.  An  dieser  bestimmten  Stelle  kommt  B.  regelmäßig  auf 
seine  Fra u  zu  sprechen  und  dann  auf  seinen  Vater.  Wie  die  Erfahrung 
zeigt,  ist  bei  der  Dementia  praecox  das  Nebeneinander  in  den 
Assoziationen  sehr  häufig  gleich  einer  Identifikation  der  derart 
angeführten  Objekte;  also  hier  Vater  =  Frau.  Es  trifft  hier  auch 
zu;  Vater  und  Frau  werden  in  der  Tat  mit  genau  den  gleichen  Aus- 
drücken charakterisiert.  Sie  waren  beide  ,, schwarzhaarig  und 
schwarzäugig,  geizig,  neidisch  und  lungenkrank".  Das  sind  die  Eigen- 
schaften, welche  wir  von  den  schwarzen  Verfolgern  überhaupt  kennen 
(bis  auf  die  Lungenkrankheit).  Dazu  paßt  noch,  daß  die  Frau  katholisch 
ist  (die  Jesuiten  von  oben).  Aus  verschiedenen  Angaben  wissen  wir 
mit  Sicherheit,  daß  die  Frau  zu  den  Verfolgern  gehört,  sie  hantiert 
mit  einem  Messer,  droht  ihm,  sobald  er  mit  Blondinen  spricht.  (Die 
Mutter  B."s  war  blond  und  blauäugig  wie  Patient  selbst.)  Es  war  theore- 
tisch aus  obigen  Gründen  zu  vermuten,  daß  der  Vater  auch  zu  den 
Schwarzen  gehört;  B.  machte  spontan  keine  Angaben  darüber.  Bei 
der  ersten  Frage  kam  die  Bestätigung.  Patient  vermutet,  daß  sein  Vater, 
der  vor  zirka  zwanzig  Jahren  gestorben,  wieder  auf  die  Welt  ge- 
kommen ist  bei  den  Ausgrabungen  zwecks  Umbauten  im  Friedhofe 
seiner  Vaterstadt.    Er  hat  sich  leider  bei  der  Feme  engagieren  lassen. 

Es  ist  interessant,  jetzt  schon  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
daß  sämtliche  Eigenschaften  der  zahDosen  Feinde,  der  Roten  und  der 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        201 

Schwarzen  zusammen  charakteristische  Züge  der  Frau  und  des  Vaters 
des  Patienten  sind.  Sie  sind  schwarz,  geizig  und  gierig  (in  Geld  und 
Geschlechtsgeniiß),  neidisch,  Jesuiten  (katholisch),  erregen  den  Ge- 
schlechtstrieb zu  wenig  usw.  Im  Gegensatze  dazu  scheinen  alle  Eigen- 
schaften der  erwünschten  Geliebten  und  der  phantasierten  ,, Rassigen 
Kinder"  dem  Typus  der  Mutter  des  Patienten  anzugehören;  sie  war 
blond,  hatte  blaue  Augen  wie  er  selbst;  die  Königin  der  Niederlande, 
an  die  er  sich  in  einem  Brief  gewendet  hatte  (in  der  Krankengeschichte 
steht  noch  eine  authentische  Antwort  des  holländischen  Ministers  des 
Äußern)  und  einige  andere  hohe  Damen,  mit  welchen  Heiraten 
auf  diplomatischem  Wege  geplant  worden  waren,  sind  Beispiele 
davon. 

Aus  objektiven  Angaben  wissen  wir  auch,  daß  B.  seine  Mutter 
dem  Vater  immer  vorgezogen  hatte,  daß  sie  in  ihrem  Gemüte  und 
Charakter  viel  Ähnlichkeit  mit  ihm  hatte.  Er  soll  sie  mit  großer  Opfer- 
freude bis  zum  Tode  gepflegt  haben  (1883),  wo  er  die  Vision  eines  Engels, 
seines  „Schutzengels",  gehabt  hat. 

Den  Vater  nennt  er  konsequent,  ohne  sich  je  zu  versprechen,  den 
,, Stiefvater"  oder  „Herr  B.";  er  spricht  immer  in  wenig  günstigem  Tone 
von  ihm  („er  ist  nicht  gerade  dumm  gewesen,  aber  gehässig  und  geizig"), 
im  Gegensatze  zu  der  Mutter. 

Auf  die  Grundlage  dieser  infantilen  Einstellung  baute  sich  bei 
B.  allmählich  ein  kompliziertes  System  von  Größen-  und  Verfolgungs- 
wahnideen. B.  fing  an,  sich  für  Stiefsohn  des  Vaters  B.  zu  halten.  Zu 
jener  Zeit  litt  Patient  viel  unter  physikalischen  Verfolgungen  aller  Art, 
sein  Gedankengang  war,  nach  seinen  eigenen  Angaben  folgender:  Wenn 
ich  nur  der  B.,  Buchhalter  und  Protestant  wäre,  würden  mich  die 
Jesuiten  und  Geldmenschen  nicht  derart  verfolgen,  ,,es  müßte  den 
Kapitalisten  gleich  sein,  ob  ein  gewöhnlicher  B.  lebt  oder  nicht;  ich  muß 
mehr  als  ein  gewöhnlicher  Mensch  sein". 

Seine  Mutter,  eine  geborene  Kündig,  sei  die  Königin  Anna, 
der  Name  Kündig  sei  nur  eine  Verstümmelung  von  König^).  Der  echte 
Vater  ist  der  französische  König  Louis  Philippe  d' Orleans;  B.  sei  ein 
Abkömmling  der  Bourbons-Bonaparte-Orleans  (den  Widerspruch  sieht 
er  nicht,  auch  nicht,  nachdem  man  ihn  darauf  aufmerksam  gemacht 
hat).    Als  Beweis  dafür  erzählt  er,  daß  es  in  seiner  Jugend  hieß,  der 


^)  König  =  altertümlich  Künig  —  davon  Kündig. 


202  A.  Maeder. 

Großvater  mütterlicherseits  sei  in  fransösischem  Dienste  in  Paris  ge- 
standen, man  zeigte  noch  einen  adeligen  Degen  von  ihm.  ,,In  Wirklich- 
keit war  ein  Mitglied  des  Herrscherhauses  von  Frankreich,  man  wagte 
es  nur  nicht  zu  sagen  wegen  der  Verfolgung".  Dieser  Wahn  gibt  uns  die 
Erklärung,  warum  B.  die  „Louis  d'or"  immer  mit  sich  trug  und  sie  nie 
ausgeben  wollte.  Einmal  sogar  war  er  in  Geldverlegenheit;  er  hatte 
iöO  Franken  in  Gold  bei  sich,  weigerte  sich,  davon  Gebrauch  zu  machen 
und  wollte  die  Frau  zwingen,  ihre  goldene  Uhr  zu  versetzen,  ,,die  Wappen 
seiner  Familie  kann  man  doch  nicht  abgeben^) !" 

Wir  verstehen  jetzt,  warum  er  einen  kostbaren  Grabstein  seinen 
Eltern,  zwanzig  Jahre  nach  ihrem  Tode,  in  den  Friedhof  setzte. 

Seine  Familie  nennt  er  die  St.  Johannes familie  (er  heißt  selbst 
Johann,  seine  Mutter  hieß  x\jina);  ein  Bindeglied  zwischen  der  könig- 
lichen Familie  Orleans  und  ihm  ist  die  Jean ue  d'Arc  oder  die  Jungfrau 
von  Orleans.  Der  Urvater  des  ganzen  Geschlechtes  ist  der  Erzengel 
Gabriel,  welcher  seinerzeit  auf  dem  Himalaja  wohnte,  sich  aber  mit 
seinen  Flügeln  nach  dem  Kaukasus  transportierte,  dort  als  Prometheus 
auftrat,  dann  nach  Griechenland,  wo  er  Zeus  und  Apollo  erzeugte,  nach 
Palästina,  wo  Johannes  der  Täufer  zur  Welt  kam,  welcher  „der  eigent- 
liche Ehemann  der  heiligen  Madonna  und  der  Vater  Christi"  war,  dann 
weiter  nach  dem  Westen:  nach  Frankreich  (die  Orleans),  nach  England, 
das  sogenannte  Engelland  usw.  Der  erste  der  schwarzen  Bande  war 
Kain,  Abel  war  der  erste  Blonde  der  Johannesfamilie. 

Patient  ist  mit  seinen  rassigen  Kindern  eines  der  Endglieder  dieser 
großen  Familie.  Die  ehelichen  Kinder  mit  der  ,, schwarzen  Ehefrau" 
sind  nicht  rassig  bis  auf  den  letzten  im  Jahre  1900  Geborenen,  welcher 
Hans  (Johannes)  genannt  wurde;  er  ist  in  der  Tat  der  einzige  Blonde ; 
die  anderen  sind  brünett  bis  schwarz,  ,,sie  gehören  der  Frau  allein"  und 
werden  nicht  anerkannt.  Eine  Eigenschaft  charakterisiert  die  Johannes- 
familie, das  ist  außer  dem  blonden  Haar  und  den  blauen  Augen^),  der 
besondere  Glanz  der  Augen;   wir  haben  dies   schon  im  ersten  Teil 


^)  Es  ist  dem  Referenten  aufgefallen,  daß  B.  immer  von  Mark  und  nicht 
Franken  spricht,  was  bei  uns  nicht  üblichist;  er  sagte  z.  B.  „ich  verdiene  5000 Mark" 
statt  5000  Franken;  zur  Rede  gestellt  erklärte  er,  er  vermeide  den  Ausdruck 
Franken  absichtlich,  „da  es  ge^visse  Leute  gibt,  welche  meinen,  unter  Franken 
seien  die  blonden  blauäugigen  Einwohner  von  Frankreich  gemeint  und  ich  sollte 
zu  ihrem  Kaiser  ernannt  werden." 

2)  Bei  den  Verfolgungen  sagten  wir  schon,  daß  die  Augen  bei  B.  mit  der 
Sexualität  assoziiert  sind. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        203 

angetroffen  unter  dem  Namen  der  Lichtaugen  der  Gens  ulpia. 
Diese  Strahlen  haben  eine  kosmische  Bedeutung,  sie  sind  die  Träger  der 
Fruchtbarkeit  überhaupt,  sie  bedingen  die  Anziehung  und  Bewegung 
der  Himmelskörper  (Gravitation  usw.). 

Es  ist  für  Patienten  kein  Zufall,  daß  der  erste  Meridian  durch  Paris 
geht,  es  ist  ja  die  Stadt  seiner  Ahnen,  seiner  königlichen  Familie^). 

3.  Zusammenfassung. 

Wichtig  für  die  spätere  Entwicklung  der  Psychose  ist  die  Ein- 
stellung des  Patienten  als  Kind  seinen  Eltern  gegenüber.  Die 
Mutter,  eine  Blondine  mit  blauen  Augen^),  steht  ihm  von  jeher  am 
nächsten ;  sie  scheint  auf  das  Gemüt  ihres  Sohnes  stark  gewirkt  zu  haben. 
Er  wollte  sie,  als  er  noch  Junggeselle  war,  zu  sich  nehmen,  als  sie  tödlich 
erkrankte.  Nach  dem  Tode  soll  er  eine  Vision  von  ihr,  als  Schutzengel, 
gehabt  haben. 

Der  Vater  war  sch%¥arz  (Augen  und  Haare),  Webermeister  in 
einer  großen  Fabrik,  wie  der  Bruder  unseres  Patienten.  J.  B.  scheint 
ihn  nicht  besonders  geliebt  zu  haben:  ,,er  war  nicht  gerade  dumm, 
aber  neidisch,  geizig,  schwarz  und  lungenkrank".  Wir  wissen  von 
objektiver  Seite,  daß  das  Verhältnis  zwischen  den  beiden  nie  sehr 
innig  war.    Trotzdem  muß  der  Vater  auf  den  Sohn  einen  ziemlichen 


' )  Wie  weit  die  Assimilationstendenz  des  Komplexes  bei  unserem  Patienten 
geht,  ersehen  wir  noch  aus  folgendem  Detail :  Patient  zeigt  dem  Referenten  bei  der 
Visite  eine  Abbildung  aus  einem  Buche,  das  sich  auf  der  Abt-eilung  befindet.  Es  ist 
ein  allegorisches  Bild.  In  der  Luft  schweben  eine  Frau  (irgend  eine  mythologische 
Divinität)  und  ein  Knabe  mit  einer  brennenden  Fackel.  Unterhalb  derselben 
auf  der  Erde  befinden  sich  auf  der  Seite  der  Frau  ein  Löwe,  rechts  ein  Adler- 
Patient  deutet  spontan  das  Bild  folgendermaßen.  Die  Frau  ist  die  Jungfrau  von 
Orleans,  unter  ihr  sei  der  Löwe,  ein  goldner  Löwe,  ein  o  r  Hon  oder  O  r  1  e  a  n. 
Der  Junge  sei  ein  St.  Johannes;  die  brennende  Fackel,  das  Feuer,  beweise  es  zur 
Genüge  („Johannisfeuer"),  der  Adler  sei  ein  Zeichen  der  königlichen  Abstammung. 
Aus  diesem  Beispiele  sieht  man  sehr  schön,  wie  bei  den  Schizophrenen  das  Innen- 
leben eine  Überbetonung  zeigt:  die  eigenen  Wünsche  und  Befürchtungen  stören  die 
Wahrnehmungen,  diese  Kranken  schauen  die  Außenwelt  mit  Gläsern  eigener 
Fabrikation,  deren  Zusammensetzung  von  ihrem  Vorleben  und  von  ihrem  Streben 
abhängt;  das  wahrgenommene  Bild  wird  durch  die  Unvollkommenlieit  der  Gläser 
verzerrt. 

2)  Patient  hat  auch  blaue  Augen;  er  war  blond,  er  ist  jetzt  brünetter  als 
früher,  was  er  auf  die  Vergiftung  zurückführt. 


204  A.  Maeder. 

Eindruck  gemacht  haben.  J.  B.  hatte  eine  vollständige  kaufmännische 
Lehre  hinter  sich,  als  er  sich  plötzlich  entschloß,  ohne  äußeren  Grund, 
Weber  zu  werden  wie  der  Vater.  Einen  anderen  Grund  sehen  wir  darin, 
daß  er  sich  eine  Frau  wählte,  welche  er,  allerdings  nachträglich,  mit 
genau  den  gleichen  Ausdrücken  beschreibt  wie  den  Vater^),  allerdings 
fügt  er  noch  hinzu:  unersättlich  und  katholisch.  Patient  führt  ein 
tätiges,  relativ  erfolgreiches  Leben.  Die  Psychose  bricht  kurz  nach  dem 
40.  Lebensjahre  aus;  sie  beginnt  mit  einem  ausgesprochenen  Beziehungs- 
wahn, dessen  Inhalt  ursprünglich  an  Ereignisse  der  letzten  Jahre  im 
Geschäfte  anknüpfen.  Episodisch  treten  Verfolgungs-  und  Größen- 
ideen auf,  welche  sich  allmählich  systematisieren.  Es  kommt  gradatim 
bei  B.  zu  einer  Einteilung  des  psychischen  Materials  (aus  der  Ver- 
gangenheit wie  aus  der  Jetztzeit)  in  zwei  große  Gruppen:  Größen- 
wahn und  Verfolgungswahn.  Es  ist  interessant,  jede  Gruppe  getrennt 
zu  betrachten. 

Die  mütterlichen  Züge,  welche  wir  oben  erwähnt  haben,  werden 
zu  den  typischen  Zügen  einer  besonderen  Rasse,  der  ,,Gens  ulpia". 
Zuerst  gibt  es  nur  weibliche  Mitglieder  außer  B.  selbst^),  und  zwar 
die  Mutter,  die  blonde  Königin  von  Niederlande  (mit  der  er  sich  mor- 
ganatisch verehelicht  glaubt)  und  einige  starke  Blondinen.  Von  der 
Mutter  kommt  er  durch  eine  Klangassoziation  auf  eine  glorreiche 
Ahnentafel  (von  Anna  Kündig  auf  Königin  Anna,  Johanna  von  Orleans 
usw.),  die  durch  sämtliche  Königsfamilien  der  Welt  bis  auf  Johannes 
den  Täufer,  Abel,  Prometheus  und  den  Erzengel  Gabriel  zurückgeht. 
Die  Familie  heißt  die  St.  JohannisfamiUe  (Patient  heißt  Johann,  die 
Mutter  Anna).  Alles  Große  und  Gute  auf  der  Erde  ist  von  ihr  geleistet 
worden.  Die  Erdgröße  reicht  aber  nicht  aus.  Die  Augen  des  J.  B., 
welche  aus  zahlreichen  Gründen^)  eine  Zentralstelle  einnehmen,  werden 
zu  kosmischen  Gebilden;  sie  befruchten  durch  ihre  Ausstrahlung  die 
ganze  Welt,  sie  enthalten  die  Kraft  der  Gravitation,  sie  sind  der  Himmel 
selbst. 


^)  Vgl.  Jung:  Die  Bedeutung  des  Vaters  für  das  Schicksal  des  Einzelnen. 
Deuticke,  Wien  1909. 

^)  Dann  sah  er  es  ein  und  gründete  eine  männliche  Gens  ulpia,  zu  der 
außer  ihm  selbst  seine  rassigen  Knaben  gehörten. 

3)  Die  Verteilung  der  Augenfarben  in  der  Familie,  die  Verletzungen  der 
Augen  in  der  Jugend,  die  Beobachtung  der  schillernden  Tautropfen,  die  Macht  des 
Blickes  in  der  Liebe  usw. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        205 

Zur  zweiten  Gruppe  gehören  die  Verfolger  des  Kranken  —  zuerst 
sind  es  vage  Gestalten,  welche  ihn  in  der  denkbar  grausamsten  Art 
quälen,  mit  allen  möglichen  Instrumenten  und  Giften  mißhandeln 
(der  ganze  physikalische  Verfolgungswahn).  Allmählich  präzisiert 
sich  die  Art  der  Verfolgung,  welche  zum  guten  Teil  symbolischer  Art 
ist,  die  Verfolgung  ist  hauptsächlich  eine  sexuelle,  und  zwar  ganz 
speziell  eine  homosexuelle.  Die  Hauptziige  der  Feinde  sind  der  Frau 
des  Kranken  und  seinem  eigenen  Vater  entnommen  (im  Gegensatze 
zu  den  Zügen  der  Mutter);  die  Mitglieder  der  Feme  sind  schwarze 
und  rote  Menschen,  von  einer  besonderen  Gierigkeit  und  Unersättlich- 
keit in  sexueller  und  finanzieller  Beziehung  wie  ihre  Modelle.  Sie  wollen 
B.  vollständig  ruinieren,  wogegen  er  sich  wehrt  so  gut  er  kann,  durch 
die  Erfindung  eines  komplizierten  Systems;  er  greift  sogar  zum  Witz 
und  Rebus.  Der  Wahn  dehnt  sich  allmählich  auf  alles  das  aus,  was 
für  ihn  negativ  gefühlsbetont  ist  (Klerikalismus,  Konservatismus, 
Sozialdemokratie  usw.),  schließlich  kommt  er  auf  Satan  selbst,  die 
Personifikation  des  Bösen.  Schließlich  ist  aus  dem  ursprünglichen 
individuellen  Konflikte  bei  B.,  welcher  in  der  Familienkonstellation 
angelegt  war,  ein  abstrakter  Kampf  des  Guten  gegen  das  Böse  ge- 
worden. 

4.  Anhang. 

Nachdem  die  Psychoanalyse  zu  diesem  soeben  mitgeteilten 
relativen  Abschlüsse  gekommen  war,  habe  ich  das  Jungsche  Asso- 
ziationsexperiment mit  dem  Patienten  gemacht,  um  den  Lesern  zu 
zeigen,  wie  es  erlaubt,  sich  in  aller  Kürze  eine  Übersicht  der  psychi- 
schen Konstellation  der  Versuchsperson  zu  verschaffen.  Es  wurden 
100  Assoziationen  aufgenommen.  Das  wahrscheinliche  Mittel  der 
Reaktionszeit  war  ^Vs  Sekunden.  Ich  werde  im  folgenden  die 
50  ersten  Assoziationen  kurz  besprechen,  mich  nur  bei  denjenigen 
aufhalten,  welche  besondere  Komplexmerkmale  (im  Sinne  Jungs) 
aufweisen^). 

1)  Unterstrichen  werden  nur  die  Reaktionen  mit  Komplexraerkmalen 
(lange  Reaktionszeiten,  Reproduktionsstörungen  usw.).  In  Klammern  (  )  sind 
Bemerkungen  der  Experimentators.  (W)  =  Wiederholung  des  Reizwortes 
durch  die  Versuchsperson,  -f  =  richtige  Reproduktion. 


206 


A.  Maeder. 


Nr. 

Reizwort 

Reaktion 

Zeit 

Reproduktion 

1 
2 

Kopf 
grün 

Hals 
blau 

11 
12 

+ 
,,gelb,  malen" 

(Die  Reproduktionsstörung  spricht   für    eine  GefüMsstörung ;    die  Gifte, 
mit  denen  man  ihn  traktriet,  sind  alle  grün) 


8 

9 

(Er 

10 
11 
12 
13 
14 
15 


Wasser 


smgen 

Tod 

lang 
Schiff 

Zahlen 
Fenster 


Feuer 


dichten 

lebendig 
kurz 
Meer 


17 

16 

7 

6 

11 


,, tragen",  dann  4-j>Wie  Feuer, 

und   Wasser   sein,    wenn  man 

Feinde  hat"  (Verfolgung) 

schön?  Fürs  Vaterland, 

früher  (gesungen). 

-I- 

+ 
Luftschiffe,  selbst  konstruiert 


(Siehe  oben  unter  seinen  Entdeckungen) 


Schulden 
Nische 


11 
9 


+ 
Scheibe,  Türe 


steht  sehr  viel   vor  Fenstern    und  Türen    und    halluziniert,  es   wird 
immer  von  draußen  gerufen,  Verfolgung) 


freundlich 

Tisch 

Fragen 

Dorf 

kalt 

Stengel 


häßHch 

Stuhl 

Antworten 

Stadt 

warm 

wachsen 


7 
12 
9 
9 
6 
17 


Bank,  dann 

+ 

+ 
+ 


(lächelt)  Zuckerstengel 
Samenstengel   usw., 
sogar  menschliche  S- 
(Stengel  also  Penis  symbol) 


16  I     Tanzen     |     ja  (W.)  sehen     |    50    |  + 

(Am  Tage  vorher  war  Tanz  in  der  Anstalt.)  ,,Es  gab  da  Patientinnen,  die 
meinten  ich  würde  sie  heiraten"  (er  hat  nur  zugesehen,  nicht  mitgetanzt). 
Als  ledig  früher  viel  getanzt.  (Charakteristisch  ist,  daß  er  einige  Patien- 
tinnen anführt,  welche  sich  immer  erotisch  benehmen  und  welche  ihn 
offenbar    gereizt   haben,    deswegen  wird  dieser  Wunsch  transitiv) 


17 
18 


See 
krank 


Berg 
gesund 


9 
11 


+ 
aussehen,   werden,   ich  selbst 


(Schließlich  Reproduktion  richtig) 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        207 


Nr. 

Reizwoi-t 

Reaktion 

Zeit 

Reproduktion 

19 

Stolz 

Stein 

9 

+ 

20 

kochen 

essen 

7 

4- 

21 

Tinte 

schreiben 

11 

+  in  die  Tinte  geraten 

22 

bös 

gut 

11 

+ 

23 

Nadel 

stechen 

27 

oder  Stücke  meinetwegen  -\- 
Verfolgung.    „Das  sind  eckige 
Worte  zu"  beantworten  (lacht) 

(Der  Komplex    der    Verfolgung    drückt    sich    nicht    nur  in   der   langen 

Eeaktionszeit,  sondern  auch  in  dem  subjektiven  Tone  der  Reproduktion 

aus;  das  sind  typische  Affektäußerungen) 

24  I  schwimmen  |  stehen  |      8    |  fahren 

(Vielleicht  eine  Perseveration  von  der  letzten  Reaktion?) 


25 
26 


27 


28 


Reise 
blau 


machen 
färben 


6 
16 


rot 


Die  Augen,  bei  mir 
sehr  wichtig! 
(Größenidee  der  Abstammung  und  Verfolgung) 


Lampe 
sündigen 


zünden 


viel  (lacht)  oder 
wenig 


12 


14 


-f-  Ja,  es  ist  ein  Verbum,  es 
wird  dem  Leben  verglichen 
-\-  Vorwürfe  über  die  Abwehr- 
gymnastik, sie  kann  Un- 
schuldige auch  treffen 
(Siehe  Kapitel  über  die  Abwehr) 


29  Brot  essen  6  -|~ 

30  reich        sein  oder  machen?     25  werden 

(Größenidee,   man  weiß,  daß   er   aus   einem  Herrscherhause  stammt,    in 

Hotel  I.  Klasse  absteigt  usw.) 

31  Baum  Pflanze  21      -(-  ich  möchte  mich  dem  Obst- 

baue (edlen  Obst)  widmen 
(Wir  haben  schon  die  symbolische  Bedeutung  dieses  Wunsches  besprochen) 


32 


stechen 


88 


+ 


(W.?)  ja  mit  dem 

stechen !  meiden 

(Verfolgung,    der  Mechanismus    mit  dem   Spritzen  ist   oben  auseinander 

gesetzt  worden) 


33 
34 


Mitleid 
gelb 


haben 
werden 


6 
21 


grün,  welk,  die  Blätter  und 
Menschen  vor  Ärger 
(HypochondrischeWahnideen  im  Anschluß  au  dieVerf  olguugen  und  Quälereien) 


+ 


208 


A.  Maeder. 


Nr. 

Reizwort 

Reaktion 

Zeit 

Reproduktion 

35 

Berg 

Tal 

17 

-f-  über  Berg  und  Tal  wandern, 

lieber  (als  hier  in  der  Anstalt 

bleiben) 

36 

sterben 

leben 

17 

-f-  das  Letzte;  solche  Gedanken 
(Selbstmord)  schon  gehabt 

37 

Salz 

Kocbsalz  oder 

Essen 

18 

+  Nähr-  und  Giftsalze 
(Vergiftung) 

38 

neu 

alt 

14 

-f-  geboren 

39 

Sitte 

Gebräuche 

24 

was  mit  einer  Person  alles 
geschehen  ist 

40 

41 
42 
43 
44 

45 


46 
47 


(Sexuelle  Attentate  auf  ihn) 


beten 

Geld 

dumm 

Heft 

verachten 

Finger 


teuer 
Vogel 


arbeiten 

(motor.  Unruhe) 

bekommen 

werden 

schreiben 

(Unruhe  in  den 

Händen)  niemand 

Ring 


kekommen 

(lacht)  frißt  oder 

stirbt 


12 

9 

9 

7 

73 

22 


9 
22 


+ 

+ 

+ 

+ 
+  als  die  Feinde  (bedeutender 

und  begreiflicher  Affekt!) 
-f-  neulich  für  den  Tanzabend 
(in  der  Anstalt)  habe  ich  den 
Ehering  verlangt,  damit  die 
Frauen  wissen,  ich  sei  schon 
verheiratet 

+ 
-f-   humoristisch 


(Macht  ein  Komplexgesicht,   es  hat  offenbar  Beziehungen  zwischen  ihm 
und  den  Feinden,  nach  der  Mimik  zu  schließen) 


-\-   (war  er) 
4-  ich 


48  fallen                  lassen  7 

49  Buch                   halter  7 

50  ungerecht             beurteilt,  17 

beurteilen 

(Er   ist  unzufrieden,  seit  so  vielen  Jahren  in  der  Anstalt  eingesperrt  zu 
bleiben,  die  Feme  hat  ihn  ungerecht  abgeurteilt) 

Die  Besprechung  dieser  50  Assoziationen  wird  genügen,  um  zu 
zeigen,  wie  die  Komplexe,  welche  wir  im  Laufe  der  Psychoanalyse 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        209 

allmählich  kennen  lernten  im  Experiment  zum  Ausdrucke  kommen, 
das  System  der  Verfolgung,  die  Abwehr  mit  der  sexuellen  Betonung 
des  ganzen,  die  Größenideen  usw.  konstellieren  den  Patienten  in  klarer 
Weise  und  rufen  die  typischen  affektiven  Störungen,  welche  unter  der 
Form  der  Komplexmerkmale  aufgezeichnet  sind. 

b)  Fall  F.  R. 
1.  Krankengeschichte. 

F.   R.,  Schlosser,    von    Zürich,    ledig,    reformiert,    geb. 
8.  März  1869. 

F.  R.  ist  erblich  belastet:  Der  Großvater  mütterlicherseits  war  ein 
,, kurioser  Mensch",  die  Mutter  war  acht  Jahre  in  der  Irrenanstalt.  (Para- 
noia?) Drei  Geschwister  derselben  waren  Psychopathen.  Zwei  Geschwister 
des  Patienten,  sehr  ehrgeizig,  ,, fühlen  sich  zu  Höherem  bestimmt".  Der 
Vater  des  F.  R.  war  Lehrer  in  der  Realschule,  ein  Bruder  des  Patienten 
ist  Zeichenlehrer. 

R.  lernte  frühzeitig  sprechen  und  gehen.  Eine  gewisse  Debilität 
wurde  in  den  letzten  Jahren  der  Primarschule  (in  der  Klasse  des  Vaters), 
namentlich  aber  in  der  Sekundärschule  bemerkbar,  im  speziellen  in  der 
französischen  Sprache  versagte  er.  (Siehe  später:  die  Bedeutung  dieser 
Tatsache  in  der  Psychose;)  er  kam  schlecht  nach,  verlor  bald  den  Mut, 
entschloß  sich  ,,aus  Liebe  zur  Botanik",  wie  er  in  seiner  Biographie  sagt, 
für  die  Gärtnerei.  Nach  einem  Jahre  gab  er  das  schon  wieder  auf  und 
wurde  1884  Schlosserlehrling.  Als  Knabe  soll  er  aufgeregt,  jähzornig 
gewesen  sein,  kam  mit  dem  Bruder  schlecht  aus,  wollte  ihn  einmal  mit 
9  Jahren  erwürgen,  war  mit  seinen  Eltern  bös,  ließ  sich  nichts  sagen,  soll 
einmal  die  Stiefmutter  geschlagen  haben,  als  sie  ihn  ermahnen  wollte. 
Er  war  körperlich  auch  schwach,  machte  mit  15  Jahren  einen  schweren 
Lungenkatarrh  durch.  Nach  der  Lehrzeit  nahm  er  einen  Kurs  als  Maschinist 
und  Heizer. 

1888-  ging  er  auf  Wanderschaft,  reiste  durch  die  Schweiz,  Süd- 
deutschland ;  wollte  mit  25  Franken  nach  Paris,  konnte  wegen  Mangel  an 
Geld  nicht  einmal  über  die  Grenze  und  kam  schließlich  wieder  in  die  Heimat 
zurück.  Er  soll  sich  nirgends  lange  Zeit  aufgehalten  haben,  kam  nicht  vor- 
wärts, erwies  sich  als  unfähig  bei  selbständigen  Arbeiten,  war  mehr  als 
Handlauger  tätig,  bekam  vielfach  Streit  mit  seinen  Meistern,  lief  einfach  weg. 

Die  letzten  zwei  Jahre  vor  der  Internierung,  die  1895  erfolgte,  blieb 
er  zu  Hause,  versah  nur  Aushilfsdienst.  Es  traten  allmählich  deutliche 
Zeichen  von  Geisteskrankheit  auf,  die  der  Familie  auffielen;  er  war  jäh- 
zornig, warf  mehreremals  ein  Messer  oder  eine  Gabel  dem  Bruder  und  der 
Stiefmutter  ins  Gesicht,  war  alkoholintolerant,  fing  an  zu  gestikulieren, 
für  sich  zu  reden;  er  verlangte  das  Geld,  das  ihm  seine  verstorbene  Mutter 
hinterlassen  haben  soll,  sagte,  ,,die  Haushaltung  könnte  ohne  ihn  nicht 

Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psyohopathol.  Forschungen.     U.  14 


210  A.  Maeder. 

bestehen",  er  müsse  eine  reiche  Frau  heiraten,  welche  einen  „theologischen 
Herzfehler"  habe,  der  liebe  Gott  habe  es  ihm  am  Karfreitage  gesagt.  Es 
bestehe  eine  Allianz  gegen  ihn.  Sein  Vater  habe  an  ihm  gepfuscht,  sonst 
-^äre  er  ein  großer  Kanzelredner  geworden,  die  Welt  gehe  Ende  der  neun- 
ziger Jahre  zugrunde,  wenn  sie  (die  Verwandten  oder  Eltern)  vorher  nicht 
,, große  Zofinger"  werden. 

Er  nahm  körperlich  und  geistig  rapid  ab,  wurde  am  23.  März  1895 
in  die  Anstalt  gebracht. 

Diagnose:  Originäre  Paranoia. 

Resume:  Wir  haben  es  mit  einem  wenig  gebildeten,  scheinbar 
unbegabten  Manne  zu  tun,  welcher  von  einer  nicht  ungebildeten 
Familie  stammt.  In  selbständiger  Stellung  hat  er  überall  versagt. 
Er  ist  körperlich  schwach,  nervös,  ist  arm  und  sehr  häßlich  (siehe  später). 

Es  wird  im  folgenden  interessant  sein,  diese  Daten  mit  dem  Inhalt 
seines  Wahnes  zu  vergleichen. 

In  der  Psychose  lernen  wir  einen  ganz  anderen  Menschen  kennen. 
Die  Krankengeschichte  fängt  mit  folgender  Angabe  des  Patienten  an: 

,,Ich  habeFreude  an  der  Kultur  und  habe  mir  darüber  Poesie  gemacht. 
Ich  fühle  mich  unglücklich,  daß  ich  Schlosser  geworden  bin  und  nicht  ein 
Bauer.  Ich  habe  in  der  letzten  Zeit  nachgedacht,  wie  ich  es  einrichten  würde 
—  alles  was  mir  gefällt,  würde  ich  mir  anschaffen.  In  dieser  Weise  habe 
ich  mir  Pläne  im  Kopfe  bezeichnet  und  nachstudiert"  und:  ,,seit  drei 
Vierteljahren  höre  ich  Stimmen,  die  mich  ärgern,  necken,  mit  Nadeln 
stechen,  kneifen,  indem  sie  meinen,  ich  hätte  sie  beleidigt  und  sei  mit  ihnen 
grob  gewesen"  (mit  wem  denn?),  ,,das  ist  eine  Allianz,  ich  höre  ihre  Stimmen, 
sie  sind  hell  und  tönen  wie  kindliche  Sprache". 

,,Es  hat  mich  aufgeregt,  ich  bin  taub  geworden  (taub  =  zornig),  es 
war  mir  zu  dumm  geworden,  ich  habe  sie  zusammengeschimpft.  Es 
hat  aber  nichts  genutzt,  sie  haben  wieder  angefangen.  Ich  weiß,  woher 
alles  das  kommt,  aber  ich  habe  keine  Beweise  dafür.  Es  sind  noble 
Leute,  die  sich  von  mir  verletzt  fühlen  usw.  Es  ist  die  Allianz  Contesse, 
Zürich.  Leute  von  der  Bahnhofstraße  (die  größte  Straße  der  Stadt!).  B.  ist 
der  Präsident  der  Allianz,  von  der  Union  der  noblen  Leute,  die  ihre  Positive 
auf  die  Volksseite  auslassen,  insofern  sie  beleidigt  werden.  Das  sind 
die  Kapitalisten  usw.  Ich  glaube  sie  gesehen  zu  haben,  wie  sie  nachts  in 
mein  Zimmer  gekommen  sind.  Ich  habe  dann  das  Licht  angezündet,  konnte 
aber  niemanden  wahrnehmen  usw."  ,, Manchmal  habe  ich  auch  einen  be- 
sonderen Geschmack  im  Munde,  als  ob  ein  kleines  Tierchen  mir  auf  die 
Zunge  gemacht  hätte." 

Im  Laufe  der  Beobachtungszeit  wurden  ähnliche  und  andere  Hallu- 
zinationen konstatiert,  z.  B.:  E.  ist  beim  Abwischen  auf  der  Abteilung; 
plötzlich  wirft  er  die  Bürste  weg,  aufgeregt,  ,,das  ist  unerlaubt",  er  nimmt 
sein  Notizbuch  aus  der  Tasche  und  schreibt:  ,, unerlaubte  Störung  durch 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken,       211 

die  Madonna";  oder  er  beklagt  sich,  daß  man  mit  den  Fingern  in  sein  Ge- 
hirn „langt". 

Aus  diesen  wenigen  Angaben  entnimmt  man  schon  Verschiedenes, 
was  später  eine  große  Bedeutung  im  Wahnsystem  des  Patienten  nehmen 
wird:  Patient  ist  mit  seiner  Lage  nicht  zufrieden,  in  der  Phantasie 
st-ellt  er  sich  die  Sachen  ganz  anders  vor.  Er  wird  verfolgt  von  noblen 
Leuten  der  Bahnhofstraße,  es  sind  die  reichen  Kapitalisten.  Man  macht 
etwas  heimtückisch  an  ihm,  er  v\ärd  geplagt. 

Die  moderne  Diagnose  würde  lauten  Dementi  apraecox  (paranoide 
Form). 

2.  Analyse. 

A.  Die  Terfolgiiugeii,  hypochoudrischeu  Klagen 
iiud  die  Insufflziouzgefülile. 

,,Im  Jahre  1894  hat  man  mich  nervös  gemacht,  der  Satan  hat 
meine  Leitorgane  weggenommen  und  die  seinigen  dafür  gegeben; 
ich  bemerkte  das,  weil  mich  der  Leitstrom  im  Gehirn,  Hinterkopf 
sowie  im  Leibe  gezupft  und  gerupft  hat.  Die  Leitorgane  des  Satans 
waren  galvanisiert  und  schadeten  mir  dadurch,  daß  sie  einen  Anzug 
an  meinen  Nerven  verursachten;  im  Blute  fühlfe  ich  eine  schnelllere 
Zirkulation  sowie  eine  Erhitzung.  Ich  bekam,  so  die  Glieder- 
sucht, es  biß  mich  am  ganzen  Körper,  überall  Stechen  und  Kitzeln. 
Satan  ärgerte  mich  tief  und  teilweise  lächerlich,  weil  er  nicht  höflich 
sein  wollte  mit  meiner  kleinen  Exzellenz  von  Jeremia."  Später  ändert 
sich  die  Darstellung  etwas:  ,,Mein  Kopf  ist  nicht  mehr  in  Ordnung, 
es  ist  etwas  weggenommen  worden,  es  wurde  von  den  großen  Herren 
gepfuscht  (starker  Affekt  dabei),  es  war  unanständig  (auf  die  Frage 
was?  —  Sperrung  ....),  ein  lustiger  Schund  (lacht  läppisch),  ich  war 
früher  in  gewissen  Dingen,  im  Fach  Schlosserei  und  Regierungswesen 
sehr  geschickt,  jetzt  ist  das  kaput  gegangen.  Man  muß  Nerveneinlagen 
und  Anschlüsse  machen,  für  die  Nerven  des  Verstandes,  der  Vernunft, 
es  ist  ein  Konfessivnerv  herausgenommen  worden  (konfessiv 
heißt  für  den  Patienten  „vom  täglichen  Leben",  „was  man  für  das 
Alltagsleben  braucht"),  es  sind  auch  ,, Störungen  der  Destillation  des 
Blutes,  des  Kreislaufes,  Hoch-  und  Niederdruck  aufgetreten";  die 
ganze  „Menschheitsrechnung"  oder  die  Fähigkeit  des  Menschen  zu 
rechnen  hat  eingebüßt.  Man  muß  neue  Einlagen  machen;  man  kann 
sie  aus  dem  „Kasten  der  Optik  der  Lage"  nehmen  (siehe  später 
über  den  Sinn  des  Ausdruckes).    ,,Das  kann  der  Gerechte  machen,  die 

Gerechtigkeit,  das  höhere  Wesen,  die  Optik"  (Optik  wird  immer  an 

14* 


212  A.  Maeder. 

Vorstellungen  wie  Hohes,  Wissenschaftliches,  Zahlen  und  Rechnen  usw. 
assoziiert),  ,,es  ist  eigentlich  eine  Medizinalfachsache,  gehört  zur  Dok- 
torurie,  diese  hohen  Herren  sind  lauter  Heilande,  eine  Gesellschaft 
von  lauter  Ärzten". 

Die  Art  der  Verfolgung  hat  etwas  Unbestimmtes,  sie  wird  nicht 
immer  gleich  beschrieben,  der  älteste  Feind  scheint  der  Satan  selbst 
zu  sein,  den  Patient  in  seiner  ,, Kunstsprache"  eine  galvanische 
Optik  nennt,  womit  er  ausdrücken  will,  ,,er  sei  galvanisch  wie  Zink, 
er  sei  aus  einem  andern  Fleisch  wie  wir,  er  habe  einen  andern  Stoff 
und  andere  Tinktur;  es  heißt  galvanisch  oder  magnetisch,  weil  es  einen 
, Anzug'  hat;  er  kann  einen  besser  anlocken  und  festhalten";  Optik 
hängt  mit  der  eigentümlichen  Beschaffenheit  der  höheren  ,, wissent- 
lichen" Wesen  zusammen,  es  ist  das  feine,  hohe,  im  intellektuellen 
Gebiete  das  schwierige,  schwer  verständliche,  wie  die  Optik  selbst  — 
für  einen  Schlosser  mit  recht  mittelmäßiger  Primarschulbildung.  — 
Der  Satan  ist  auch  der  ,,Amphie"  und  hat  einen  sexuellen  Charakter 
(Schamreaktion  dabei),  ,,er  rupft  und  zupft  an  einem,  zieht  an  der 
Glocke,  will  das  Wärlein^)  (beides  ihm  bewußte  Penissymbole)  in 
die  Hand  nehmen".  Bei  dieser  Erzählung  hat  Patient  immer  das  gleiche 
läppische  Lachen  und  bringt  in  diesem  Zusammenhange  immer  die 
Ausdrücke  ,, Schund  treiben",  , .lustige,  junge  oder  g'spassige  Leute". 
Diese  sexuelle  Verfolgung  geschieht  manchmal  sogar  seitens  Frauen; 
beim  Anblick  eines  Madonnabildes  sagt  er:  ,,es  ist  eine  hohe  wissen- 
schaftliche Person,  so  wie  Schulen,  Lehrerin  usw. ;  sie  hat  uns  geneckt, 
es  war  eine  Lügnerin  und  hat  beim  Lebenswerk  die  Glocke  abgenommen" 
(siehe  später  über  das  Lebenswerk,  man  merke  sich  nur  die  Wieder- 
holung des  Ausdruckes  ,,die  Glocke"  und  den  Satz  aus  seinem  Notiz- 
buche in  der  Anamnese:  unerlaubte  Störung  durch  die  Madonna), 
,,sie  ist  mein  Mütterlein"   usw. 

Es  gibt  nach  des  Patienten  Angaben  weibliche  Teufelinnen  oder 
,, Satanine",  die  den  ,, Schamschlitz"  seitlich  (Hüften)  haben.  Der 
Gerechte  ist  der  Heiland,  manchmal  der  hebe  Gott,  er  ist  der  Be- 
schützer des  Patienten,  welcher  sich  sogar  als  das  ,,Neveutchen"  (Neffe) 
vom  Heiland  gibt.  Trotzdem  erlaubt  er  sich  ausnahmsweise  (,,er  hatte 
zu  viel  gesoffen")  in  dem  Gehirn  unseres  F.  R.  zu  ,, pfuschen",  „er 
langt  allerdings  nur  an  den  Kopf". 

Es  gibt  noch  viel  mehr  Feinde  als  diese,  eine  ganze  Bande,  welche 
mehr  oder  weniger  organisiert  ist,  es  sind  Neidische  zum  Teil.    ,,Die 

^)  Wärlein  =  Diminutiv  von  Ware,   Dialektausdruck  für   Genitale. 


Psychologische  Untersuchungen  au  Dementia  praecox-Kranken.        213 

Feinde  waren  ein  Raufvolk,  ein  gewisser  Haß  gegenüber  höheren  und 
besseren  Personen  und  Justiz,  gegen  Ratspersonen  usw. ;  ich  hatte  viele 
Anhänger  und  Freunde,  war  auf  höheren  Posten,  Emanuel  und  Zar 
und  Napoleon  von  Frankreich;  es  hatte  sie  geneckt  wegen  meiner 
besseren  Geschäfte,  sie  hatten  einen  Haß  auf  uns,  weil  wir  gescheit  und 
und  reiche  Leute  waren,  sie  konnten  nicht  dulden,  daß  wir  so  waren." 
An  einer  andern  Stelle  erfahren  wir,  daß  alle  noblen  Leute  zu  einer 
Allianz  sich  vereinigt  hatten  und  ihre  „Positive  auf  die  Volksseite 
ausließen".  Die  Positive  auslassen  heißt  nach  F.  R.  das  Faust- 
recht  ausüben,  schlagen,  prügeln,  ,,sie  protestierten,  daß  jemand  an- 
genehmer sei  oder  besser  rechnen  könne".  Das  Rechnen  scheint 
bei  Patienten  besonders  gefühlsbetont  zu  sein,  wie  die  Optik,  das  spielt, 
wie  wir  noch  sehen  werden,  bei  der  Entwicklung  seiner  „Kunstsprache" 
eine  große  Rolle.  Patient  klagte,  namentlich  im  Anfang  der  Krankheit, 
viel  über  sehr  peinliche  Körperhalluzinationen,  welche  er  auf  „Schläge 
und  Prügel  seitens  seiner  Umgebung  zurückführte,  er  war  selbst  mehrere- 
mal  gewalttätig,  offenbar  um  abzuwehren.  Vielfach  kamen  die  Miß- 
handlungen nicht  nur  von  den  vornehmen  ,, Allianzleuten",  sondern 
von  den  Cortez  Preglia,  große  Männer  mit  aufgekrempelten  Ärmeln, 
wie  Athleten,  Bauersleute,  Rüeblibubeni),  sie  sind  meistens  kecke, 
frische,  schöne,  junge  Leute.  Diese  lustigen,  etwas  bösartigen  Leute 
haben  auch  mit  kleinen  Messern  hantiert,  gekratzt  und  geschnitten 
und  geklemmt,  es  war  so  etwas  Nationalhässiges,  weil  ich  nicht 
immer  dienen  konnte  mit  Geldern  und  Waren  in  der  Agadations- 
zeit"  (offenbar  Agitation,  es  wird  nämlich  daran  assoziiert,  ,,wenn  das 
Volk  stürmisch  war"). 

Dicht  an  die  Verfolgungsideen  schließen  sich  die  hypochondri- 
schen Vorstellungen  und  sonstige  Insuffizienzgefühle. 

Er  war  und  ist  noch  krank,  zum  Teil  soll  es  sich  um  eine  Er- 
schöpfung durch  Überanstrengung  handeln,  ,,war  zu  müde  wegen  der 
Geschäfte  in  Groß-Winterthur"  (Groß  ist  sein  Ausdruck;  er  hat  eine 
Zeitlang  dort  als  Schlosser  gearbeitet,  hielt  sich  für  den  Fabrik- 
besitzer; zum  Teil  ist  die  Gliedersucht  schuld,  für  welche  er  freiwillig 
in  die  Anstalt  gekommen  sein  will;  die  Schmerzen  in  den  Gliedern  be- 
stehen teilweise  jetzt  noch,  er  hat  z.  B.  das  Gefühl,  in  die  große  Zehe 
werde  etwas  hin  eingestochen  usw.,  es  ist  nur  ein  euphemistischer  Aus- 


^)  Rüebli  =  Deminutiv  von  Rübe,  Dialektausdruck  für  Penis. 


214  A.  Maeder. 

druck  für  die  physikalische  Verfolgung.  Die  Verwüstungen 
durch  die  Mißhandlung  sind  sehr  ausgedehnt  und  bedenklicher  Natur; 
Patient  hat  sogar  jetzt  Einsicht,  daß  das  Leiden  nicht  nur  körperlicher, 
sondern  auch  intellektueller  Natur  sei.  Das  Pfuschen  in  das  Hirn 
und  den  ganzen  Körper  hat  zu  einer  Abschwächung  des  Blutes  und  der 
Zirkulation  und  Destillation  usw.  geführt,  wie  er  sagt,  zu  einer  Ab- 
nahme des  Verstandes,  der  ,, Menschheitsrechnung"  oder  Fähigkeit 
des  Menschen  zu  rechnen.  Die  ,, Leitorgane"  sind  durch  Herausnahme 
von  v/ichtigen  Bestandteilen,  Nerven  und  Adern,  Blut,  schwer  ge- 
schädigt. 

Die  Aufzählung  derselben,  welche  alle  mit  eigenen  Ausdrücken, 
die  der  besonderen  Anatomie  des  Kranken  entstammen,  behaftet  sind, 
werden  wir  auf  später  verschieben,  um  dieses  ganze  System  einiger- 
maßen einheitlich  zur  Darstellung  zu  bringen. 

,,Ich  bin  ein  ganz  verrückter  Kerl  geworden,  habe  mich  auf- 
geregt, man  hat  mir  viel  Ärgernis  und  Halluzinationen  gemacht,  der 
Kopf  muß  jetzt  vergrößert  werden,  damit  er  kompetenter  wird  und  mehr 
normaler,  man  muß  die  Einlagen  wieder  hereintun,  das  macht  ein 
gewisser  Arzt,  der  alle  Doktorereien  studiert  hat."  ,,Mein  Kopf  ist 
nicht  in  Ordnung,  es  ist  ein  Gesundheitsproblem,  mit  mangelhaften 
Bestandteilen  kann  der  Mensch  nicht  gesund  sein;  diese  Sache  wird 
in  Vernunitsanstalten  (L-renanstalten)  gemacht,  wo  , Korrektur  ge- 
nommen' wird,  das  ist  der  Ab  wag." 

B.  Die  Kompensationen  (WunsclierfüUuugen). 

Wir  haben  in  der  Anamnese  konstatiert,  daß  Patient  aus  einfachen 
Kreisen  kommt,  der  Vater  war  Lehrer,  die  Stiefmutter  hielt  ein  alko- 
holfreies Restam'ant.  Der  Kranke  selbst  hat  eine  sehr  unvollständige 
Bildung  genossen,  kam  im  ersten  Jahre  der  Sekundärschule  nicht  mehr 
nach.  Er  ist  körperlich  schlecht  gewachsen,  von  jeher  schwächlich 
(sogar  tuberkulös),  hat  ein  häßliches  Aussehen.  Nach  einem  miß- 
lungenen Versuche  bei  einem  Gärtner  wurde  er  Schlosser,  brachte  es 
bis  zu  einem  wenig  tüchtigen  Gesellen,  der  überall  in  Konflikt  mit  den 
Meistern  kam,  sich  nirgends  bewährte.  Mit  einem  Worte:  das  Schicksal 
hat  ihn  schlecht  behandelt;  Patient  sorgt  in  der  Psychose  für  reich- 
liche Kompensation,  die  Ungerechtigkeit  wird  in  der  Phantasie 
durch  Wunscherfüllung  korrigiert. 

Zuerst  kommen  die  infantilen  Wünsche  an  die  Reihe,  man 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.       215 

sei  reich,  ein  Prinz  oder  ein  Heiliger,  und  wenn  man  aus  einer  Lehrer- 
familie stammt,  wird  man  dazu  noch  ein  Gelehrter.  In  der  Tat  erzählt 
Patient:  ,,Ich  war  ein  Großfürst  von  Gappflihaus,  hatte  Residenzen 
in  Frankreich,  Italien  und  Rußland  usw.,  ich  hatte  viele  Anhänger 
und  Freunde,  war  früher  auf  hohen  Posten,  fürstlichen  und  königlichen 
Posten,  Emanuel  und  Zar  und  Napoleon  von  Frankreich  usw.,  ich  war 
auch  Friedensrichter,  Großrat,  Bundesrat  und  Genieoffizier  der  8.  Divi- 
sion." Er  verkehrt  nur  mit  Exzellenzen.  Von  seinen  Feinden,  den  Cortex 
Preglia,  sagt  er:  ,,Es  sind  so  junge  Leute,  die  nicht  mit  Exzellenzen 
frequenzieren  und  nicht  im  Anstand  zu  leben  wissen".  Er  redet 
den  Aizt  auch  mitten  im  Gespräch  als  ,, Ehrwürdige  Exzellenz"  an.  F.  R. 
hat  noch  einen  andern  Titel,  der  eine  eigene  Schöpfung  ist,  er  gibt  sich 
für  den  Bilderbuchherr  aus.  Das  Bilderbuch  ist  eine  Landschaft, 
es  besteht  aus  Städten,  Wiesen,  Wäldern  und  Flüssen,  das  heißt  aus 
Landschaften;  ein  Bilderbuch  ist  eine  Sammlung  von  Bildern.  Bilder- 
buchherr heißt  auch  Staatsherr,  der  Ausdruck  ist  der  sogenannten 
Exzellenzsprache  entnommen,  es  ist  eine  ,, verbesserte  Sprache  für 
Leute  der  Union  und  besserer  Stände"  (die  Sprache  wird  in  einem  be- 
sonderen Kapitel  besprochen  werden). 

Unser  Kranke  ist  noch  mehr,  er  ist  das  ,,Neve  utchen"  oder 
,,der  Sohn  der  rechten  Linie  des  Heilandes",  er  steht  in  direktem 
Verkehr  mit  dem  Gerechten,  welcher  sich  allerdings  manchmal  erlaubt, 
in  seinem  Gehirn  zum  ,, Schund"  zu  pfuschen.  Patient  brüllt  ihn  dann 
als  Kamel  an.  Er  ist  dem  Heiland  unterworfen,  ist  zeitweise  der  Christus 
selbst.  ,,Ich  komme  von  Privatdozent  auf  Bankdoktor,  dann 
geht  es  hinauf  in  den  Offiziersgrad"  usw.  Als  Privatdozent  bildete  er 
sich  im  ,, Schloßfach"  und  als  Mechaniker  aus.  Bankdoktor  ist  ein 
,,devisiv.er  Herr  oder  ein  Finanzherr".  Devisiv  kommt  immer 
in  diesem  Zusammenhange,  hat  mit  Geld  und  Reichtum  zu  tun,  ,,es 
ist  finanzielle  Sache"  (ob  es  mit  Defizit  und  Devise  (Börse!)  zu- 
sammenhängt, können  wir  nicht  sagen,  es  scheint  nicht  unwahrscheinlich). 
,,Ich  habe  Groß-Winterthurgeschäft  (die  industriellste  Stadt  der  Ge- 
gend), die  Werkstätten,  alle  großen  Geschäfte  unter  mir,  ich  bin  von 
den  Fürsten  der  aktiv,  wir  sind  Frehnaurer"  usw.,  ,,wir  sind  in  der 
Union,  heimatlisches  Mitglied,  es  sind  wissenschaftliche,  geschäft- 
liche Leute  (Leute,  welche  Geschäfte  machen),  die  Union  ist  nur 
Geschäftssache,  Offerte,  Geschäfte,  heimatländische  Geschäfte,  kon- 
struktionell".  Alles  Assoziationen,  welche  mit  seiner  früheren  Be- 
schäftigung zusammenhängen. 


216  A.  Maeder. 

Der  Ausdruck  Privatdozent  ist  uns  früher  schon  begegnet; 
er  tritt  häufig  auf,  ebensosehr  wie  Schule,  Schulkinder,  Lehrer  usw., 
noch  häufiger  ist  ,, wissentliche  und  wissenschaftliche  Personen" .  ,,Der 
Präsident  der  Union  ist  eine  wissentliche  Person."  Ein  Beweis,  daß 
das  Wissen  und  die  Bildung  und  alles,  was  drum  und  dran  hängt,  bei 
ihm  sehr  gefühlsbetont  ist.  Er  ist  der  Sohn  und  der  Bruder  von  Lehrern, 
hat  selbst  keine  rechte  Bildung  genossen,  wünscht  es  natürlich  um  so 
mehr.  Dies  erklärt  uns  bis  zu  einem  gewissen  Grade  seine  Preziosität, 
welche  immer  der  Ausdruck  einer  gewissen  Unzufriedenheit  mit  der 
sozialen  Lage  und  eines  Strebens  nach  Höherem  ist.  Der  Ausdruck 
Dozentwage,  den  er  braucht,  um  eine  gute  Wage  (Apothekerwage) 
zu  benennen,  charakterisiert  diese  Tendenz  sehr  deutlich;  es  ist  etwas 
Besseres,  ,,für  bessere  Leute",  wie  es  sonst  heißt.  Von  denÄrzten  spricht 
er  auch  immer  in  großer  Ehrfurcht ;  diejenigen  welche  ihn  gesund  machen 
werden,  haben  alle  ,, Doktorereien"  studiert,  es  sind  lauter  Heilande 
usw.,  er  legt  große  Hoffnung  auf  sie.  (Siehe  später  den  Brief:  Und  Acla- 
miert  Das!) 

In  einem  Gebiete  muß  er  noch  erwartungsgemäß  kompensieren, 
in  demjenigen  der  normalen  Sexualbefriedigung.  Wir  haben 
schon  zur  Genüge  erwähnt,  daß  er  arm,  schwächlich  und  besonders 
häßlich  ist,  von  der  Jugend  an  ein  Sonderling,  der  natürlich  ledig 
bleiben  mußte.  In  der  Phantasie  schafft  er  sich  genügenden  Ersatz. 
,, Meine  Frau  ist  Königin  von  Italien,  sie  heißt  Anna  (wie  die  Schwester), 
sie  ist  schön  und  jung,  es  sind  aber  noch  viele  andere,  Italienerinnen, 
Schweizerinnen  und  Französinnen;  ich  habe  große  Freundinnen,  stolze 
schöne  Frauen.  In  jedem  Staate  habe  ich  eine  Hofdame,  von  meinem 
konfessiven  Hause  (konfessiv  heißt  Wohnhaus,  alles  was  mit  dem 
täglichen  Leben  zusammenhängt),  es  sind  alles  Lonsche  Damen,  das 
sind  vornehme  Personen,  wie  Volkslehrerinnen  und  Vorsteherinnen 
der  Exzellenzen"  (Lonsche  ist  überhaupt  alles,  was  von  noblen  Leuten 
gemacht  wird  oder  ihnen  gehört,  wie  z.  B.  die  Fassade  der  Anstalt  und 
die  schönen  Bäume  vor  dem  Eingang  —  Fassadebäume).  Wir  wissen 
schon,  daß  die  Madonna,  welche  mit  der  Mutter  identifiziert  wird  (siehe 
oben,  sie  ist  mein  Mütterlein),  sich  erlaubt,  ihn  am  Glied  zu  fassen, 
worüber  er  sich  entsetzt  und  im  Notizbüchlein  schreibt;  allerdings 
ist  das  Entsetzen  vielleicht  nicht  ganz  echt,  die  Erzählung  wird  immer 
begleitet  von  einem  läppischen  Lachen,  manchmal  von  Gesten,  die 
eine  andere  Einstellung  im  Unbewußten  vermuten  lassen. 


PsychologiBche  Untetractangen  an  Dementia  praeeo^-Kranken.       217 

Das  Kosmische.  Das  sogenannte  „Lebenswerk". 

Bei  Besprechung  der  hypochondrischen  Vorstellungen  haben  «^ 
auf  die  besonderen  anatomischen  Vorstellungen  des  Pafenten  hm- 
!!wiesen  welche  Wer  im  Zusammenbange  besprochen  werden  wollen. 
Durcr  eirn  eigentümlichen  Mechanismus  der  Projekfaon  w„d  der 
Kö  t  d  s  PatiLten  zu  einem  wichtigen  Te.l  des  Weltalls  noch  mehr, 
der Zper,  zusammen  mit  dem  Apparat  zur  Herstellung  der  Gesundheit, 
wird  selbst  zum  Weltall').  . 

F  E  war  Schlosser  und  hat  nur  Volksschulbüdung,  seme  ana- 
tomischen Vorstellungen,  welche  in  seiner  Psychose  eme  so  große 
Boüe  spielen,  hat  er  aus  seinem  Fache  geschöpft.  D.e  Hauptbestand- 
^ae  de's  Kö;pers  sind  Nerven  und  Adern,  die  Nerven  werden  w.ed,e 

Adern  als  Bohren  aufgefaßt,  da  sie  ^^  J^^"^"8./'7"-  "^'   '  Z 
Mechanismus  im  Leibe  und  Gehirn  besteht  aus  Baderchen  und  Kr» 
chen  (Orthodix)  und  beweglichen  Flügelchen  (Zyklon  genannt   von 
Sender  Form  /),   aus  einigen  Hebeln,  Hahnen  «-    ^nscWuss» 
Die  Funktion   dieser  Maschine  reduziert  sich   auf   •<^"^^^*"!^'   "^ 
ftmation,   Hm-   und  Her-,   Hoch-   und  Niederdruck".    D-  Nerven- 
system ist  ziemlich  kompliziert,  es  enthält  ^e.torgane  oder  Le  t 
nerven     Kondukteur-    oder   Kontrollnerven,    welche    aUe    ent 
;  elenden  Funktionen  dienen;  die  Leistungsfähigkeit  des  Menschen 
hängt  von  der  Größe  und  Dicke  dieser  Nerven  ab.   Ferner  enthalt  de. 
Kopf  einen  „Sägenerv",  eine  kleine  Säge  in  einer  Hülse    dei  Mensch 
^t  dalit  vo   Konflikten  geschützt,   „die  Hindernisse  werden  so  gelost 
und  beiderseits  auf  die  Seite  getan."  Die  „Stellina"  smd  Nerven  und 
Idern,  welche  in  den  Kopf  das  Vernunft-  und  das  Eechnung  blu 
namentlich  („das  hat  jeder  Gesunde,  sonst  könnte  er  gar  nicht  arbeiten 
führen;  dieses  Blut  heißt  auch  Blut  des  Wissens  .m  Gegensätze  zum 
Kraftblut",  welches  für  die  körperliche  Arbeit  und  für  die  Be- 
legung ist.    Der  Konfessivnerv  dient  zum  Hausleben,   zum  all- 
täglichen Leben.    Wichtig  für  den  Zusammenhang  ist  ie  Existenz 
eiL  „Blutexaminiernerven  oder  Eßkort,  für  Destillation  und 
Inhalt  im  Hinterkopf,  er  sorgt  für  eine  gewisse  Normalität,  für  einen 
gewissen  Grad  von  Steigerung  und  Kraft". 

Ebenso  direkt  aus  der  Technik  entnommen  ist  der  Olgenerv 
ein  ;:.leischnerv,  damit  es  keinen  Brand  und  keine  Materie  (=  Eiter) 

^Tsfehe  die  .-Analyse  dos  J.  B.,  wo  d,-vs  kosmiseho  Element  auch  eine  be. 
deutende  Rolle  spielt. 


218  A.  Maeder. 

gibt  an  den  Rundungen,  innerhalb  der  Gelenke,  an  den  Hautfalten, 
zwischen  den  Fingern,  genau  wie  das  öl  für  die  Maschine".  (,,01ge" 
Derivat  von  Öl?)  --  .-llfl 

Vv^enn  Ermüdung  in  einem  bestimmten  Organ  eintritt,  wird  es  ein- 
fach abgeschraubt  und  durch  ein  anderes  ersetzt.  Der  Kopf,  sogar  die 
., Büste",  die  ganze  Figur,  können  abgenommen  und  ersetzt  werden. 
Patient  will  mindestens  5000  Ersatzfiguren  haben,  dazu  einzelne  ,, spe- 
ziell für  den  Sonntag".  Wenn  man  krank  ist,  sind  entweder  durch  Ab- 
nutzung oder  böswillige  Absichten  einzelne  Teile  beschädigt.  Es  wird 
z.  B.  gepfuscht,  geritzt,  geklemmt  oder  gedrückt.  Die  Hauptkunst 
in  der  Heilkunde  besteht  dann  darin,  richtige  Einlagen  herzustellen. 
Manchmal  werden  sie  an  einem  unrichtigen  Ort  eingelegt  oder  absicht- 
lich miteinander  verwechselt,  „auf  das  Geratewohl  eingesetzt".  Un- 
angenehme Störungen  der  Zirkulation  können  auftreten,  ,,wenn  zwei 
Hähne,  zwei  Hebelhähne,  Destillatioushähne  aufgemacht  werden, 
es  übt  Einfluß  auf  die  Zii'kulation,  an  einem  Orte  gab  es  Anzug,  es  ist 
bei  mir  eine  gewisse  Nervosität  eingetreten  auf  den  Kondukteur  und 
Konduktor  der  Vernunft,  ich  bin  schwach  im  Kopf  geworden".  Die 
Einlagen  müssen  immer  bereit  sein,  ,,in  Bereithaltung  sein,"  wie  er 
sich  ausdrückt;  sie  sind  in  einem  Kasten  enthalten,  ,,im  Kasten 
der  Optik  der  Lage,"  einem  Fachkasten",  wo  alle  ,, zarten  Organe 
für  die  guten  Leute,  für  die  Exzellenzen"  enthalten  sind;  sie  werden 
in  den  besseren  Häusern,  in  den  schönen  Villen  eingelegt.  Optik  hängt, 
wie  oben  schon  einmal  erwähnt  wurde,  mit  den  ,, hohen  wissenschaft- 
lichen Sachen"  zusammen,  wie  Algebra,  Dinge,  zu  deren  Verständnis 
unser  Schlosser  sich  nie  aufschwingen  konnte;  es  bedeutet  auch  für  ihn 
das  Zarte,  Feine,  ,, jedes  zarte  Stück  Organ,"  der  Augapfel,  das  Trom- 
melfell, das  sind  alles  optische  Sachen i). 

Die  Optik  der  Lage  ist  die  bessere  Lage,  die  den  wertvollen  Gegen- 
ständen gehört.  Ein  interessantes  Detail,  das  die  naive  Denkweise  des 
Patienten  wiedergibt:  die  optischen  Sachen  bei  den  besseren  Leuten 
sind  aus  kostbaren  Stoffen,  z.  B.  aus  Silber,  Elfenbein,  Pergament. 
Diese  Synthese  genügt  F.  R.  nicht,  er  versucht,  sich  den  Stoffwechsel 
und  den  Heilungsvorgang  etwas  plastischer  vorzustellen  und  kommt 
zu  folgenden  phantastischen  VorsteUlungen.  Das  vorrätige  Blut  (Kraft- 
und  Vernunftblut)  ist  in  einem  großen  Gefäß  enthalten  (der  sogenannte 

^)  Bei  der  Schreibmaschine  (Referent  registriert  alles  mit  der  Maschine) 
sind  die  Buchstaben  ,, Optik",  „es  gehört  zu  den  Rechnungen  und  feineren  zarten 
Gegenständen". 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        219 

Kubik  aus  Zinksilber),  ein  Reservoir,  welches  sich  im  Himmel  befindet 
und  mit  dem  Körper  durch  unsichtbare  Leitungen  kommuniziert  — 
genau  wie  das  Wasserreservoir  eines  Dampfkessels  —  (es  sind  noch 
ähnliche  Systeme  für  Wasser  und  Luft  vorhanden);    die  Kraft  und 
Gesundheit  kommen  so  in  den  Menschen  hinein,  und  zwar  durch  die 
Vermittlung  eines  Blutverteilungsapparates  und  von  Anschlüssen. 
Der  kostbare  Apparat  trägt  den  Namen  Balance  oder  Wage,  da  er 
zur  Verteilung  von  Blut  und  Wasser  dient.    Der  Prozeß  der  Heilung 
(durch  die  Verteilungen)  heißt  „der  Ab  wag".  Die  Anschlüsse  sind 
lange  Röhren,  welche  in  der  Luft  hängen  wie  Stränge,  Nerven  und 
Adern;  Patient  zeigt  dabei  Gas-  und  Wasserleitungen  auf  der  Abteilung, 
welche  dazu  gehören  sollen,  er  ladet  den  Referenten  ein;  in  den  Keller 
hinunter  zu  gehen,  da  sehe  man  am  besten,  was  das  große  Werk,  das 
Lebenswerk  sei,  kleine  Kubiks  seien  auch  vorhanden  und  Hähne- 
anschlüsse.    „Das  Lebenswerk  ist  der  Lihalt   aller  korporaturrecht- 
lichen  Nerven,  Adern,  Figuren,  Büsten;  es  ist  ein  kombiniertes  Werk 
in  Vertikalen  (Vertikale  =  Bestandteile)."  Es  stellt  sich  aber  heraus, 
daß  die  Verfolgungen,  von  denen  oben  berichtet  wurde,  nicht  nur  gegen 
den  Patienten  gerichtet  waren  und  sind,  sondern  gegen  das  Lebens- 
werk selbst,  „es  wurden  meine,  unsere  Organe  geprügelt,  meine  Brust 
gedrückt,"  ,,die  Glocke  am  Lebenswerk  abgenommen".  Die  Identi- 
fikation von  F.  R.  mit  dem  Lebenswerke  wird  vollständig,  er  merkt 
an  sich  selbst  die  Schädigungen,  welche  an  dem  großen  Werke  verübt 
werden.     Wenn   geritzt   oder   gekratzt   wird   an   irgend  einer   Röhre, 
empfindet  er  das  als  Nervenschmerz,  alles  was  im  Keller  und  sonst  an 
der  großen  Maschine  gemacht  wird  (z.  B.  bei  Reparaturen  in  der  Anstalt)- 
ist  einer  Verletzung  seines  Körpers  gleichgestellt;  er  ist  das  Lebens- 
werk selbst.   Die  früheren  Prügelszenen  mit  den  „Cortez  Preglia", 
die  wir  bei  den  Verfolgungen  besprochen  haben,    werden  als  Schädi- 
gungen der  Teile  der  großen  Maschine  aufgefaßt;  die  einzelnen  Teile 
werden    gestampft,    gedrückt,    herausgenommen.     Die    strangartigen 
Röhren,  welche  von  der  Wage  herunterhängen,  sind  verlegt  worden, 
sie  hängen  jetzt  schief  oder  wurden  so  gedreht,  daß  der  Abfluß  nicht 
mehr  richtig  ist,  es  kommt  bei  ihm  dann  zu  Verdauungsstörungen  usw. : 
,,die  Verdauungsorgane  sind  wie  eine  Schnur  verdreht  worden,  man 
muß  sie  wieder  gerade  machen  usw.,  es  war  Krieg  draußen". 

Hier  sehen  wir  den  Mechanismus  der  Projektion  in  Tätigkeit. 
Der  eigene  Körper  wird  hinausprojiziert  in  die  Welt,  alle  Wirkungen 
auf  das  kosmische  System  sind  auch  Wirkungen  auf  das  Individuum. 


220  A.  Maeder. 

Schließlich  läßt  sich  alles  auf  zwei  Komponenten  zurückführen:  der 
Patient  selbst  mit  dem  lieben  Gott,  der  er  selbst  auch  ist  (mit  allem 
was  drum  und  dran  ist,  Lebenswerk  usw.),  auf  der  andern  Seite  die 
Feinde,  die  starken,  aber  gemeinen  Feinde,  welche  es  mit  dem  Satan 
haben,  der  Teufel  selbst.  Also  der  Kampf  des  Bösen  gegen  das  Gute, 
Es  lag  mir  sehr  daran,  durch  ausführliche  Darstellung  zu  zeigen, 
daß  trotz  der  anscheinenden  Verblödung  doch  eine  ganz  beträchtliche 
Geistesarbeit   vom   Patienten   geleistet   wird. 

C.  Sprachueubilduiigeii.^) 

Bevor  ich  auf  das  Allgemeine  eingehe,  will  ich  ein  Schriftstück 
des  Patienten  mitteilen,  das  auf  meine  Veranlassung  im  Juni  1908  ab- 
gefaßt wurde.  Der  Auftrag  lautete:  Der  Patient  soll  dem  Referenten 
einen  Brief  schreiben.    Dieser  Brief  lautete  folgendermaßen: 

,,Und  Aclamiert  Das! 

Baldiger  Einholung  Einhallt  for  Weitere  Zerrüttung!  Auf's  Dasein, 
böse  oder  gar  auch  Arm  In  Organen!  Güpfeli:  Eckrundungen,  schlimme 
Krankheit  Gibt.  Organe  Noch  Alle  zu  Zart  und  kurz  und  klein  Also !  Ein- 
holung ! ! !  Einziger  bedarf.  Stegenbilderbuch !  Büstenfigurwechsel  Und 
Der  Abwag.  Der  Olgenhalltbehaltwaag.  In  Hausbordiev  Zwischen  und 
Sibill  Garsche  zwischen  Wand  und  Lebens  Werk!  Fom  Stammblut  Und 
Der  In  Wand  7?  tel  Cedur  Stellina  Obere  2.  Der  Körperkraft,  abwägen  Das 
Normahlieren  blutstand  Und  Innere  74  üg  Und  Verdauung.  Aller  Eß  und 
Trink  Wahren.  Und  Kopffergrößerung.  Aster  5,4  Igräk  Ipsilong  Sennjahl 
und  AUfabeet.  Anschlüsse  Lonsche  4  Mitt  Eßkort  Confesiev  Nerv  2—4 
Adern  Hinderkopf  Und  Eßkort  leib  Abwägen.  Weitere  Sachen  Inn  Stück 
Dingen  sind  bereit !  In  Nerven  Adern  Belege  und  Fertikahl  Consequente ! ! !! 
Und  In  Prima  die  Dinge !  Fleisch !  Sache !  Asterchen !  Die  Prima.  Ferzeieu 
Sie  Geerter  Herr  Drr.  Für  Hülfsfertikahle  Ist  Unser  In  Schwererträglicher 
Zeit.  Der  ganze  Bruderkranz  Arm  An  diesen  Bedingungen.  Und  Also  fer- 
tikahl bereit ! ! !  Achtungsfollst.  !  lange  bemüt  und  Geduld  bheb !  Und  Er- 
erbietig.  Die  Verungglükten  Und  bitte  Die  Herrn  hoch  Ererbietig  Wenn 
Sie  Das  gesetzt  Dingung  Nicht  Selbst  Die  Machenschaft  bleiben  können. 
Um  den  Stabs  Arzt,  auf  Prompte  Sache. 

Oder  Aller  Seehligen  Jeremia  Tellegramm! 
Dankvoll ! : 

! Sekretär!  F.  R." 


^)  Ein  Teil  dieses  Kapitels  ist  verwendet  worden  für  einen  Aufsatz:  La 
langue  d'un  aliene.  Analyse  d'un  cas  de  glossolalie,  in  den  Archives 
de  Psychologie,  T.  IX,  1910. 


Psychologische  Untersuchungen  au  Dementia  praecox-Kxanken.        221 

Im  folgenden  werde  ich  versuchen,  eine  Art  Übersetzung  des 
Briefes  zu  geben.  Zum  voraus  bemerke  ich  aber,  daß  nicht  alles  restlos 
übersetzt  werden  kann,  es  ist  wahrscheinlich  überhaupt  nicht  ganz  in 
die  Sprache  des  Normalen  übersetzbar.  Viele  der  Neologismen  drücken 
Begriffe  aus,  die  nur  in  einer  schwer  dissoziierten  Psyche  entstehen 
können.  Immerhin  hat  das  Ganze  einen  bestimmten  Sinn,  der  mit 
den  in  den  obigen  Abschnitten  mitgeteilten  Wahnideen  übereinstimmt. 
Der  Patient  will  uns  damit  etwas  sagen. 

Die  Technik,  die  angewandt  wurde,  um  diese  Wortbildungen  zu 
studieren,  war  folgende:  Freies,  zwangloses  x4.ssoziieren,  jedes  Wort 
für  sich  genommen,  wie  Jung  es  angewandt  hat  in  seinem  Fall  St., 
der  in  seiner  ,, Psychologie  der  Dementia  praecox"  dargestellt 
ist.  Diese  Methode  war  aber  in  unserem  Falle  nicht  immer  genügend. 
Ich  ließ  darum  den  Patienten  vorgehaltene  Gegenstände,  Bilder  be- 
schreiben, ließ  ihn  vorgelesene  Geschichten  nacherzählen,  und  auf 
diese  Weise  kam  ich  auf  den  Sinn  von  mehreren  Neologismen,  die  mir 
bei  der  ersten  Methode  nicht  klar  geworden  waren. 

Übersetzung: 

,,Das  sei  gesagt!  (lautgesagt, akklamiert).  Halt  vorder  weiteren 
Zerrüttung  (meiner  Gesundheit),  der  frühere  Zustand  muß  bald  ein- 
geholt (wiedererreicht)  werden.  Es  ist  eine  Frage  des  Lebens  oder  des 
Todes;  böse  steht  es  mit  mir,  ich  bin  gar  arm  an  Organen  geworden^). 
Die  Gelenke  und  Verzweigungen  der  Nerven  und  Adern  (Güpfeli)  sind 
krank,  es  ist  eine  schlimme  Krankheit^).  Meine  Organe  (die  frisch  ein- 
gelegten) sind  noch  alle  zu  zart  und  kurz  und  klein,  also  vorwärts ! 

Allein  notwendig sind:    der  Wechsel  der  Büste  und  Figui-^) 

und  die  richtige  Verteilung  der  Kraft.  Diese  Heilung  durch  den  Abwag, 
,,das  macht  ein  Doktor"*).  Der  Apparat  (die  Wage)  befindet  sich 
oben  in  der  Luft  im  Stegebilderbuch.  Und  endlich  ist  notwendig  die 
Verteilung  der  Flüssigkeit,  —  öl  — ,  gegen  den  Brand^) Man 

^)  Man  erinnere  sich  an  die  Theorie  der  herausgenommenen  ,, Einlagen". 

^)  Anderswo  als  Eckenbrand,  Brand  an  den  Gelenken,  Hautfalten  usw. 
bezeichnet. 

^)  Wir  wissen,  daß  Patient  glaubt  durch  Ersatz  von  schlechten  Organen 
durch  neue  könne  man  wieder  gesund  werden. 

*)  Der  Abwag  ist  der  Prozeß  der  Behandlung  durch  richtige  Verteilung 
des  Blutes  und  Wassers  auf  der  Balance  ( =  Wage). 

^)  O  1  g  e  entspricht  in  seiner  Wirkung  dem  Ö  1  in  einer  Mascliine,  es  wirkt 
gegen  die  Reibung  und  die  Erhitzung. 


222  A.  Maeder. 

muß  die  Körperkraft  messen,  den  Blutstand  wieder  herstellen^),  ebenso 
muß  die  Verdauung  für  alle  Speisen  hergestellt  sein.  Dann  muß  der 
Kopf  vergrößert  werden  (was  für  ihn  eine  Besserung  bedeutet),  bis  zu 
einer  gewissen  Größe,  die  ,,Aster"-Größe.  Als  Einlagen  kommen  dann 
hinein  die  Nerven  oder  Organe  für  das  Rechnen  ( Ygrec  und  Ypsilon), 
für  das  bessere  Sprechen  (das  Alphabet  ist  die  ,, Reihe  der  besseren 
Worte^) ,  für  das  Handeln  und  „Bestreben' '  und  die ,, positiven  Leistungen' ' . 
Die  Anschlüsse  an  das  Lebenswerk  müssen  ,,lonsche"  sein  (das  heißt: 
wie  bei  den  Großen,  Exzellenzen,  Gesunden).  Es  müssen  die  Blut- 
examiniernerven (Eßkortnerv)  für  den  Kopf  und  den  Leib, 
welche  für  einen  gewissen  Grad  von  Normalität  des  Blutes  sorgen, 
eingelegt  werden,  ebenso  der  Konfessivnerv  (der  Nerv  des  Haus- 
und Alltagslebens  überhaupt).  Diese  Sachen,  Einlagen  usw.,  sind  alle 
parat,  mit  allen  ihren  Bestandteilen  (Vertikalen).  Sehr  wichtig 
(konsequente)  ist,  daß  alles  erster  Qualität  und  richtiger  Größe  sei. 
Verzeihen  Sie,  Herr  Dr.,  die  Inanspruchnahm-e  Ihrer  Hilfe.  Es  ist 
für  uns  eine  schwierige  Zeit.  Unsere  armen  Brüder^)  sind  schwach  in 
Gesundheit.  Es  sei  also  alles  bereit  (Komponente,  Elemente),  Achtungs- 
vollst !  Ich  bin  sehr  lange  bemüht  und  noch  geduldig !  Wir  Verunglückte 
bitten  noch  die  hochgeehrten  Herren,  wenn  Sie  die  Behandlung  nicht 
übernehmen  können^),  einen  Stabsarzt  zu  rufen;  es  ist  eine  dringende 
Sache;  oder  auch  dem  seligen  Propheten  Jeremia  ein  Telegramm 
schicken^).    Mit  bestem  Dank.  Der  Sekretär  F.  R. 

Durch  die  Unklarheiten  des  Schizophrenen  erkennt  man  doch 
einen  Faden;  er  bittet  also  um  ärztliche  Hilfe,  zeigt  die  Fehler  seines 
Körpers  und  Geistes  an,  gibt  einen  Wink  für  die  Therapie  nach  seiner 
Auffassung.  Einen  Einwand  will  ich  zum  voraus  beantworten;  man 
könnte  behaupten,  die  Assoziationen  des  Patienten  an  die  einzelnen 
Neubildungen  seien  akzidentelle.  Es  stimmt  aber  nicht.  Im  Laufe  der 
letzten  16  Monate  habe  ich  häufig  kontrolliert  und  immer  wieder  gefragt, 
aber  jedesmal  die  Übereinstimmung  konstatiert.  Die  täglichen  Bruch- 
stücke von  Gesprächen,  welche  ich  mit  dem  Patienten  auf  der  Abteilung 
führe,  haben  immer  den  gleichen  Inhalt;  die  Gedanken  und  Phantasien 

^)  Normalieren  heißt:  gesund  machen. 
2)  Patient  stellt  sich  alles  das  rein  mechanisch  vor. 
^)  Die  Partei  Gottes  und  die  seinige. 

*)  Macheuschaft  heißt  das  ,, Rezeptmachen",  also  die  ärztliche 
Behandlung. 

^)  Patient  hält  sich  für  einen  Deszendenten  von  Jeremias. 


Psycbologisclie  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        223 

des  Patienten  beschäftigen  sich  beständig  mit  den  Feinden,  die  ihn 
krank  gemacht  haben,  mit  den  Mitteln,  wieder  gesund  zu  werden,  mit 
seiner  früheren  und  aktuellen  Größe,  wie  in  diesem  Briefe  auch.  Die 
Neologismen  sind  nicht  willkürlich,  sie  kommen  nur  bei  Kom- 
plexstellen vor.  Über  ganz  gleichgültige  Dinge  spricht  F.  R.  in  unserer 
gewöhnlichen  Sprache,  freilich  nur  wenn  man  mit  ihm  nach  längeren 
Bemühungen  einen  leidlich  guten  Rapport  hat.  Ich  gebe  im  folgen- 
den eine  sehr  unvollständige  Liste  der  Neologismen,  nach  dem  Inhalt 
der  Komplexe  geordnet:  Das  Lebenswerk  mit  der  Balance,  wo 
der  Prozeß  des  Abwages  (Verteilung  der  Kraft)  stattfindet.  Dazu 
die  zahlreichen  Anschlüsse  (Mandr  ees)  an  die  ,, Büste"  und  Figur, 
durch  welche  das  Kraft-  und  Vernunftblut  in  den  Kopf  gelangen, 
wo  sich  die  oberen,  zum  Rechnen  dienenden  Nerven  (Stellina)  be- 
finden, die  reichverzweigten  Nerven  und  Gefäße  (Cedur),  der  Eßkort- 
nerv  (zur  Untersuchung  der  Blutzusammensetzuug  =  Blutexami- 
niernerv), derKonfessivnerv,  welcher  bei  der  gewöhnlichen  Tätig- 
keit des  Gehirns  in  Anspruch  genommen  wird.  In  der  Korporation 
(Körper)  sind  verschiedene  zarte  Organe  enthalten,  wie  das  Zyklon, 
das  sich  wie  Flügelchen  (z.  B.  in  einem  Uhrwerke)  bewegt,  die  Ortho- 
dixen,  kleine  Krönchen  aus  Elfenbein  usw.  Aus  einer  Vorratskammer 
(Kubik)  stammt  das  Blut,  das  in  die  Menschen  verteilt  wird.  Wie 
in  jedem  zusammengesetzten  (aus  Vertikalen  =  Bestandteilen 
bestehenden)  Werke  unterscheidet  man  im  Lebenswerke  die  Optik, 
die  feineren,  zarten,  komplizierten,  mit  hohem  Wissen  konstruierten 
Gegenstände  von  den  gröberen  (Agreablen),  welche  ,,etwa3  kor- 
pulentes", massives  an  sich  haben.  (In  einer  Uhr  ist  z.  B.  die  Schale 
die  Agreable,  während  der  schöne  Zeiger,  das  feine  Räderwerk  ., optische 
Sache"  ist.) 

Das  Bilderbuch  ist  ein  Land,  ein  Reich,  die  Erde  z.  B.  ist  eines; 
Patient  ist  deren  Bilderbuchherr.  Es  besteht  aus  Proteriat 
(manchmal  unsicher  ,, Proletariat"  ausgesprochen)  und  aus  den  Wiesen, 
Feldern,  Wäldern  und  Flüssen  usw.  Das  Proteriat  selbst  ist  die  Stadt 
mit  der  nächsten  Umgebung,  welche  reich  an  Gärten  ist;  Gärten  für 
das  Gemüse,  das  Obst  und  für  die  zarteren  und  Luxuspflanzen.  Er 
unterscheidet  verschiedene  Arten  Erde,  je  nach  Farbe  (Tang  =  teint) 
und  Verwendung;  Strablizierte^)  (bearbeitete)  Erde,  Ovensive 
Erde;    ABC  und  Alphabet  heißen  auch  diejenigen  Teile,  wo  die 


1)  Von  Strapazen. 


224  A.  Maeder. 

Treibhäuser   in   Reihen   (in   Kategorien)    nebeneinander   aufgestellt 
sind,  Beetreihen  oder  Beetreigen  usw. 

Wir  wissen,  daß  F.  R.  mit  15  Jahren  die  Absicht  hatte,  Gärtner 
zu  werden,  daß  er  sogar  1  Jahr  als  solcher  in  der  Lehre  war.  ,,Ich  hatte 
Freude  an  der  Kultur,  habe  mir  darüber  Poesie  gemacht.  Ich  fühle 
mich  unglücklich,  daß  ich  ein  Schlosser  und  nicht  ein  Bauer  geworden 
bin"  sagte  er  bei  seiner  Aufnahme  in  die  Anstalt  vor  zirka 
15  Jahren. 

Mit  19  Jahren  ist  er  ,,in  die  Nation"  (auf  die  Wanderschaft) 
gegangen,  in  die  Kometarlinie  (das  heißt:  in  die  weite  Welt,  aber 
nicht  in  gerader  Linie).  Er  will  ein  devesiver  Herr  (reicher  Herr) 
und  Bankdirektor  geworden  sein,  er  sei  sogar  sehr  reich  (conce).  Jetzt 
hat  er  sich  auf  sein  ,,Dolis"  gelegt  (Ruhe,  Ferien,  Dolis  heißt  auch 
friedlich;  alte  Herren  im  Saal,  im  Leseartikel  —  welche  lesen  —  sind 
ganz  dolis).  Ob  es  mit  dem  französischen  ,,douce",  ,,dulcine"  zusammen- 
hängt, konnte  ich  nicht  ausfindig  machen.  F.  R.  verkehrt  nur  mit 
Longe  oder  lonschen  Herren  und  Damen  (vom  französichen  long?) 
,,es  hängt  von  der  Größe  und  Länge  ab",  ,, trifft  bei  vornehmen 
Leuten  zu." 

Die  Feinde,  das  Raufvolk  bilden  eine  ,, Allianz",  eine  organisierte 
Bande;  lonsch  sind  diese  nicht;  dafür  ist  die  ärztliche  Direktion  der 
Anstalt  lonsch,  ebenso  die  Fassadenbäume  (vor  der  Anstalt),  die  großen 
Bände  in  der  Bibliothek  (Referent  unterhält  sich  in  der  Bibliothek  mit 
dem  Patienten).  Ocoliev  sind  die  feinen  Leute,  die  auf  der  Seite  der 
Exzellenzen  stehen  und  ,,zart  sind",  welche  zu  einem  sagen  ,,s*il  vous 
plait"  oder  ein  ,,so  sehr"  und  welche  ,,sehr  höflich  in  Ange- 
nehmung"  sind. 

Sibille  bezieht  sich  auf  das  ,, Fremde,  Mysteriöse,  Entfernte", 
hat  meistens  noch  einen  etwas  heimtückisch-befremdenden  Charakter- 
zug; Sibill  ist  z.  B.  das  ,, fremde  Land,  wo  ,,die  früheren  Götter"  gelebt 
haben,  Neptun  und  die  Meeressibillen ;  es  hat  in  sich  etwas  Verdorbenes, 
Ungesundes.  ,,Li  Früchten  sind  die  Sibillen  schöne  aber  giftige  Äpfel" 
(„wie  der  falsche  Apfel  im  Paradies");  Sibille  auf  Wohnung  bezogen 
charakterisiert  die  Labyrinthe  im  Altertum,  eine  Reihe  von  Zimmern 
(Kamerationen)  hintereinander  mit  komplizierten  Schlössern,  ver- 
wickelten Gängen,  wo  Schätze  aufbewahrt  werden.  Gotik  oder 
gotisch  hat  (wie  oben  Sibille)  einen  sehr  weiten  Sinn;  es  bezieht 
sich  auf  den  Stil  in  der  Baukunst  und  Dekoration  überhaupt;  eine 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        225 

korinthische  Säule  ist  für  ihn  ebenso  gotisch  wie  das  Ulmer  Münster; 
es  heißt  einfach  Stil,  und  kommt  in  einem  andern  Zusammenhange 
nicht  vor.  „Wenn  ich  meine  Positive  hatte"  heißt:  wenn  ich  ärgerlich 
war;  „seine  Positive  auslassen"  ist  soviel  wie  „Faustrecht  ausüben". 
Topotiv  ist  der  Druck,  die  Forcierung;  in  der  Mechanik  der  Druck 
eines  Kolbens  in  einer  Pumpe;  beim  Menschen  ,,wenn  man  die  Kraft 
braucht",  „die  Faust  macht"  (das  Wort  kam  zum  ersten  Male  heraus 
beim  Assoziationsexperiment    als  Antwort  auf  das  Reizwort  „bös"). 

Brojon  (vom  französischen  Brouillon?)  ist  ein  dickes  Buch, 
wo  die  Rezepte,  welche  man  nicht  im  Kopf  behalten  kann,  geschrieben 
werden,  es  ist  sauber,  rein  usw. 

Bemerken  möchte  ich  noch,  daß  eine  Anzahl  von  Worten  in  den 
Schriften  von  F.  R.  immer  wieder  vorkommt,  mit  allen  denkbaren  und 
unmöglichen  Prä-  und  Suffixen,  es  sind  dies  unter  anderen:  Halt 
(Inhalt,  Einhalt,  Behalt,  Vorbehalt  Vorhalt  usw.),  Fach,  Artikel, 
Padent  (Patent),  Prima,  Prozent,  Rechnen  (Verrechnungen, 
Zurechnung,  Berechnung),  Einsehen  haben,  Lehrfach,  wissent- 
lich, Gelehrte,  Alphabet,  alle  gefühlsbetonten  Begriffe,  alle 
Komplexwörter. 

Diese  Sprache  wird  vom  Patienten  Sa  11  i schür-  oder  Ex- 
zellenzsprache genannt.  Sie  ist  das  Organ  der  Union.  Es  sei  die 
Bildungssprache  oder  die  kompetente  Sprache^),  die  Sprache  der 
vornehmen  Leute,  der  geschäftlichen  Leute  (es  heißt:  Leute,  welche 
Geschäfte  machen,  große  Kaufleute),  alle  wissentlich  (also  gelehrt) 
in  Fach  Rezept  und  Schule,  „für  bessere  Stände",  sie  sei  „klassisch". 
Interessant  ist  ferner,  daß  Patient,  als  Referent  anfing  mit  ihm 
etwas  eingehender  zu  sprechen  (vor  zirka  IV2  Jahr),  bei  jedem 
neuen  Worte,  sobald  es  einen  fremden  Klang  hatte,  wie  Vertikale, 
Nation,  Proteriat,  Observatorium  usw.,  mit  einem  gewissen  über- 
legenen Lächeln  fragte:  „Verstehen  Sie  das?".  Damit  ist  auch 
die  psychologische  Determinierung  der  Schöpfung  einer  solchen 
Sprache  gegeben.  Patient  will  seiner  vornehmen  Abstammung  und 
Art,  seiner  Bildung,  seiner  Macht  einen  eigenartigen,  ich  möchte 
beinahe  sagen,  einen  esoterischen  Charakter  geben;  diese  künst- 
liche Sprache  entspringt  dem  Bedürfnisse,  sich  vor  den 
andernen  auszuzeichnen.  Man  sieht  beim  Überblicken  des  Wort- 
schatzes,   daß  die  meisten  Ausdrücke  sich    auf    noble  oder  seltene, 

1)  Im  Gegens<atze  zum  gewöhnlichen  Deutsch,  „das  ein  Patois  ist". 

15 

Jahrbuch  für  psyohoanalyt.  u.  psychopathol.  Forschungen.  II. 


226  A.  Maeder. 

schätzenswerte  Eigenschaften  beziehen.    Das  ganze   hat  einen  naiven 
kindischen  Charakter^). 

Die  Bevorzugung  der  Fremdwörter  französischen  Ursprunges 
ist  ohne  weiteres  klar:  Das  Französische  gilt  in  dem  Kreise,  dem  F.  K. 
angehört,  als  vornehm ;  es  kommt  hinzu,  daß  unser  Patient  diese  Sprache 
nicht  beherrscht;  wir  haben  erfahren,  daß  er  in  der  Sekundärschule 
gerade  in  diesem  Fache  versagte  und  daß  er  sich  auf  der  Wanderschaft 
nur  3 — 4  Wochen  in  der  französischen  Schweiz  aufhielt.  Das  Nicht- 
erreichte,  beim  Vorhandensein  eines  Bildungskomplexes  (er  stammt 
aus  einer  Lehrerfamilie!),  wird  leicht  als  etwas  Vornehmes  betrachtet. 
Es  trifft  auch  hier  zu.  Patient  sagt  Balance  statt  Wage,  Union  usw. 
Die  deutschen  Wörter  selbst  müssen  eine  originelle  Wendung,  ein  in- 
dividuelles Gepräge  erhalten,  man  spricht  von  ,, Dingung",  ,,Doktor- 
urie".  Die  Verstümmelung  hängt  zum  Teil  mit  der  Unwissenheit  des 
Patienten  zusammen;  er  sagt  ,,Agadation"  für  Agitation,  ,,frequen- 
zieren"  für  frequentieren,  ,,Proteriat"  für  Proletariat;  schließlich 
wendet  er  Ausdrücke  in  einem  ihm  besonderen  Sinne  an,  ohne  sich 
um  den  gewöhnlichen  Sinn  der  Worte  zu  kümmern,  z.  B.  spricht  er  von 
Korporation  wie  wenn  es  ,,der  gesamte  Körper"  wäre,  von  ,, Zurech- 
nungsfähigkeit" als  Fähigkeit  zu  rechnen  usw.  Diese  Art  Verdich- 
tung verwendet  er  viel,  sie  trägt  sehr  dazu  bei,  der  Sprache  von  F.  K. 
einen  sonderbaren   unverständlichen   Charakter  zu  geben. 

Die  Sprache  ist  also  der  Umgebung  überhaupt  nicht  angepaßt. 
Man  kann  sie  nicht  ohne  weiteres  verstehen,  was  ihm  ganz  gleich  ist, 
er  hat  sie  ja  nur  für  sich  selbst  geschaffen.  Er  schreibt  nur  sich  selbst 
und  den  fingierten  Feinden  und  Freunden;  er  allein  versteht  sie;  er 
spricht  fast  ununterbrochen,  aber  in  Monologen;  er  hat  nie  das  Be- 
dürfnis sich  mit  anderen  zu  unterhalten,  er  gestikuliert  im  Korridor 
mit  dem  Besen  (er  hilft  die  Hausordnung  auf  der  Abteilung  machen), 
ohne  sich  durch  Vorübergehende  stören  zu  lassen.  Spontan  hat  er 
Referenten  noch  nie  angesprochen. 


^)  Referent  hat  einen  Epileptiker  gekannt,  der  aus  ungebildeten  Kreisen 
stammte,  dessen  Bruder  aber  in  einem  Kloster  eine  hohe  StoUe  einnahm;  der 
Patient  war  schon  sehr  dement,  wenig  produktiv  und  tätig,  hatte  daneben  kom- 
pensatorische Wahnideen,  er  hielt  sich  für  einen  hohen  Propheten,  für  einen  Aus- 
erwählten. Er  brauchte  auch  viele  eigene  Ausdrücke,  welche  meistens  aus  ver- 
zierten deutschen  Wörtern  stammten,  wie  ,,Gedünnerigung"  und  ,,Gedickerigung" 
für  dünner  und  dicker  werden,  die  „Wärmigung"  für  Wärme;  er  sei  von  seinen 
Eltern  „beschafferet  worden",  offenbar  auch  ein  Ausdruck  seiner  Eitelkeit. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        227 

Seine  Eitelkeit  drückt  sich  nicht  nur  in  der  Geziertheit  der 
Neologismen,  sondern  auch  in  der  Satzbildung  aus.  F.  R.  drückt  sich 
möglichst  gelehrt,  abstrakt  und  pompös  aus.  Er  gibt  z.  B.  folgende 
Legende  zu  einer  Abbildung,  welche  einen  Bauer  darstellt,  der  einem 
Metzger  ein  Rind  anbietet:  „Ein  Viehhändler  in  Angebot  von 
Viehstand".  Von  zwei  Menschen,  welche  an  einem  Schlagbaume 
Halt  machen  müssen,  sagt  er:  „Die  Menschen,  die  da  warten,  sind 
Anhaltleute/'  Ein  Magnet  (Referent  zeigt  ihm  einen  solchen)  ist  für 
Kraftanzug  oder  Materialhebung.  Er  sieht  das  Bild  der  betenden 
Jungfrau  von  Orlean:  „Das  ist  eine  Gnadenfigur,  die  wäre  im  Gebet, 
es  war  eine  Fürstin."  Eine  Machenschaft  heißt:  die  Fähigkeit,  etwas 
zu  machen,  Rezepte  zu  schreiben  z.  B. 

Wie  aus  all  dem  hervorgeht,  ist  seine  Sprache  aus  einem  bestimmten 
Bedürfnisse  entsprungen:  Die  Neologismen  drücken  meistens  neue 
Begriffe  (eigene  Anatomie  und  Pathologie)  oder  für  unseren  Kranken 
besonders  gefühlsbetonte  Vorstellungen  aus.  Alle  Wunscherfüllungen 
(Wissenschaft,  Reichtum,  Adel,  Macht)  sind  reichlich  vertreten.  Die 
neue  Sprache  ist  ein  Instrument,  um  die  wenig  systematisierten  Wahn- 
ideen  darzustellen^). 

D.  Die  sogeuaimte  Yerblöduug. 

F.  R.  ist  über  15  Jahre  in  der  Anstalt.  Er  hält  sich  seit  vielen 
Jahren  auf  der  offenen  Abteilung  mit  vielen  anderen  chronischen  Pa- 
tienten zusammen.  Er  wird  bei  der  Hausordnung  beschäftigt,  ist  immer 
allein ;  wenn  unbeschäftigt,  füllt  er  Hefte  mit  Notizen,  welche  er  nie- 
mandem zeigt.  Er  spricht  halblaut  fast  ununterbrochen,  antwortet 
auf  seine  Stimmen,  erteilt  Befehle  in  die  Luft,  gestikuliert.  Dem  Anstalts- 
leben gegenüber  bleibt  er  vollständig  gleichgültig,  er  macht  nie  eni 
Fest  mit;  er  geht  früh  ins  Bett,  liegt  viel  tagsüber  während  der  freien 
Zeit  auf  einer  einsamen  Bank.  Man  trifft  ihn  nie  im  Hofe.  Spontan  hat 
er  nie  etwas  zu  fragen,  auch  nie  zu  klagen.  Er  dreht  sich  nicht  einmal 
um,  wenn  ein  Arzt  vorbeigeht.  Er  lebt  mitten  in  einer  Gruppe  von  über 
30  Patienten  wie  ein  Einsiedler.  Auf  Fragen  erhält  man  von  ihm  Ant- 
worten in  einer  sonderbaren,  unverständlichen   Sprache.  Wenn 

^)  Ein  eingehenderes  Studium  dieser  Sprache  werde  ich  später  noch  ver- 
öffentlichen, wo  ich  einen  Anschluß  an  die  Xenoglossie  und  Glossolalie  zu  finden 
versuchen  werde.  Bei  allen  diesen  Fällen  von  „sekundären  Sprachen"  spielen 
das  Affektleben  und  das  Infantile  eine  große  Rolle.  Der  Nachweis  der  s  c  h  i  z  o- 
phrenen  Reaktionsweise  läßt  sich  bis  in  die  Einzelheiten  leisten. 

15* 


228  A.  Maeder. 

man  nach  dem  Sinn  dieser  Ausdrücke  fragt,  antwortet  er  gleich  unver- 
ständlich, spricht  davon  in  einem  selbstverständlichen  Tone,  wie  wenn 
jedermann  ihn  verstehen  sollte.  Allen  Einwendungen  zum  Trotz  bleibt 
er  dabei,  daß  man  ihn  verstehen  müsse.  Er  sieht  ziemlich  vernach- 
lässigt aus,  hat  einen  befremdenden  Blick.  Kurz,  er  bietet  das  klassische 
Bild  einer  Dementia  praecox  mit  ausgebildeter  Verblödung. 

Die  in  den  obigen  Abschnitten  mitgeteilten  Dokumente  lassen 
uns  schon  vermuten,  daß  es  mit  der  Verblödung  bei  tieferem  Eingehen 
nicht  so  schlimm  steht.  Patient  hat  im  Gegenteil  den  Beweis  einer 
gewissen  intellektuellen  Tätigkeit  und  Produktivität  ge- 
liefert. Er  hat  sich  mit  mangelhafter  Schulbildung,  mit  den  Erfah- 
rungen eines  Schlossergesellen  eine  menschliche  Anatomie  und  Pathologie 
auf  seine  V/eise  konstruiert,  wozu  seine  Wahnideen,  namentlich  der 
physikalische  Verfolgungswahn,  ihn  geführt  haben.  Daß  ,, seine  Wissen- 
schaft" unserer  Anatomie  nicht  ebenbürtig  ist,  können  wir  dem  armen 
Kranken  nicht  übel  nehmen.  Seine  neue  Sprache  zeigt  auch  den  Ver- 
such, sich  vor  den  anderen  herauszuheben,  mit  gebildeteren  und  sozial 
höher  stehenden  Leuten  zu  verkehren.  Es  ist  ein  mißglückter  Versuch, 
aber  doch  das  Zeichen  einer  gewissen,  wenn  auch  verfehlten  Produk- 
tivität. 

Die  Phantasietätigkeit  ist  sehr  ausgesprochen,  sie  hat  die 
ganze  Aufmerksamkeit  des  Patienten  auf  sich  [  gelenkt.  Im  Vergleiche 
dazu  ist  ihm  die  Außenwelt  blaß,  farblos  und  wenig  des  Interesses 
würdig.  Wenn  es  gelingt,  seine  Aufmerksamkeit  auf  ein  Objekt  zu 
konzentrieren,  läßt  sich  folgendes  konstatieren:  Vorgelesene  Fabeln 
ist  er  imstande  richtig  zu  reproduzieren;  die  Moral  versteht  er  gut,  er 
drückt  sie  meistens  mit  eigenen  Worten  aus,  ein  Zeichen  seiner  guten 
individuellen  Auffassung.  ,,Der  Adler  und  die  Schildkröte" 
resümiert  er  folgendermaßen:  ,,Die  Schildkröte  bestritt  das  Fliegen. 
Der  Adler  gab  seinen  Beweis,  daß  man  Flügel  haben  müsse,  wenn  man 
fliegen  wolle;  wenn  er  sie  gehen  ließ,  konnte  sie  nicht  (in  der  Luft) 
bleiben.  Die  Schildkröte  war  durch  ihren  Eigensinn  betrogen."  Die 
Schatzgräber  erzählt  er  auch  gut,  etwas  geziert:  ,,Der  Vater  hatte 
ein  Vermächtnis  gemacht  in  Weinbergen.  Die  Söhne  haben  gegraben, 
um  dem  Schatz  nachzukommen.  Das  Bebauen  war  wichtig"  usw. 

Referent  ließ  ihn  eine  große  Anzahl  von  Abbildungen  erklären. 
Er  zeigte  sich  geschickt  und  nicht  so  unwissend,  wie  eigentlich  erwartet 
wurde.  Er  wußte  z.B.,  daßMenhirs  ,, Steine  aus  alten  Gräbern"  sind; 
er  konnte  die  meisten  wilden  Tiere,  die  gezeigt  wurden,  erkennen  und 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        229 

benennen.  Einiges  wurde  im  Sinne  seiner  Komplexe  assimiliert  und 
gedeutet,  z.  B.  die  Sanduhr  als  „physikalischer  Apparat  für  Unter- 
suchungen, ob  etwas  giftig  sei".  Napoleon  mitten  in  seinem  Offiziersstab 
wurde  sofort  erkannt.  Ein  Stiergefecht  wird  folgendermaßen  be- 
schrieben: ,,Ein  Stier  ist  in  einem  spanischen  Stiergefecht  gefallen; 
das  ist  die  Fassade  (er  meint  damit  die  Estrade,  das  Podium),  die  Maul- 
tiere ziehen  es." 

Zum  ,, Spiel  der  Wellen"  von  Böcklin  gab  er  folgenden 
Kommentar:  ,,Eine  Meeressibille  und  Fische  in  Optik  (also  besonderer 
vornehmerer  Art),  sie  haben  früher  gelebt,  diese  Wesen,  haben  ver- 
steckt gelebt,  sie  waren  nicht  so  rein  und  gesund  im  Körper  und  in  der 
Figur;  sie  konnten  deswegen  nicht  gut  tun,  sind  sündhaft,  schwarz 
(moralisch  gemeint).  Sie  schwimmen  wie  Fische;  es  (das  Bild)  ist 
lustig,  und  zwar  imposant,  sinnbildlich.  Solche  Leute  konnten  sich 
auf  Erden  nicht  gut  halten,  sie  hatten  alle  Seuchen,  Pocken,  Syphilis. 
Der  Mann  (zeigt  eine  Figur)  ist  dekoriert  (mit  Blumen);  es  ist  ein  Sinn- 
bild aus  der  romantischen  Zeit,  eine  Schwimmpartie,  eine 
Unterhaltung    mit    Spässen. 

Zum  Bild  ,,Die  Gefilde  der  Seligen"  von  Böcklin  sagt  er: 
,,Eine  Landschaft,  ein  Schwanenteich  in  der  Landschaft,  ein  gleich- 
namiges (=  gleiches)  Bild  wie  das  andere  (siehe  oben),  die  anderen 
waren  im  Meer.  Es  ist  im  Bade,  lustige  Leute,  etwas  familiäres,  ein 
Sibillheer  (zeigt  den  Kentaur);  (die  Insel:)  ein  Garten,  ein  Venusgarten 
oder  Sibill venusgarten."  Ein  symbolisches  Bild  der  Hoffnung  (Watts) — 
als  eine  Frau  mit  einer  Harfe  auf  der  Erdkugel  sitzend  dargestellt  — 
beschreibt  er:  ,,Es  ist  ein  Globus,  ein  Sinnbild,  eine  Weibsperson  darauf, 
sie  spielt  Harfe;  erfreuliches  Zeichen,  eine  Jahreszeit,  vielleicht  die 
Wendung  des  Jahres  usw." 

Literessant,  aber  für  diese  Mitteilung  zu  ausführlich,  wäre  seine 
lange  detaillierte  Erzählung  von  Wilhelm  Teil,  welche  sozusagen 
ganz  konfabuliert  ist  und  weitgehende  Identifizierung  des  Patienten 
mit  dem  Landvogt  Geßler  und  seiner  Feinde  mit  Wilhelm  Teil  zeigt^). 

Referent  erlaubte  sich  nach  der  Erzählung  die  Bemerkung,  er  kenne 
eine  ganz  andere  historische  Darstellung  von  Teil,  wo  von  einem  Hute, 
der  gegrüßt  werden  sollte,  die  Rede  ist  und  so  weiter.  Darauf  erwiderte 
F.  R.:  ,,Das  kann  ich  auch,  es  ist  Guillaurne  Teil,  den  Sie  meinen."  Er 
erzählte  es  mir  nachträglich  im  ganzen  korrekt,  mit  wenigen  erfundenen 

^)  Überall  wo  Störungen  der  Auffassung,  überall  wo  Neologismen  vor- 
kommen, sind  Ich- Beziehungen,  Komplexe  im  Spiel. 


230  A.  Maeder. 

Einzelheiten.  Dies  halte  ich  für  sehr  wichtig ;  wenn  man  es  nicht  beachtet, 
kann  man  sehr  irregeführt  werden  und  die  Urteilskraft  des  Patienten 
sehr  unterschätzen.  Bei  den  ersten  vorgelesenen  Geschichten,  die  R. 
mir  erzählte,  geriet  er  in  eine  vage  phantasierte  Erzählung,  mit  der 
ich  nicht  zurecht  kam.  Ich  war  zuerst  geneigt  anzunehmen,  die 
Schwierigkeiten  des  Textes  seien  für  die  Intelligenz  des  Kranken  zu 
groß  und  glaubte  schon  meine  Vermutung  der  Debilität  des  Patienten 
bestätigt,  welche  ich  nach  seinem  Vorleben  (schon  in  der  Schule)  als 
sehr  wahrscheinlich  hingestellt  hatte  (man  sehe  nach  die  Anamnese 
im  Anfang  der  Analyse,  welche  vor  acht  Monaten  niedergeschrieben 
wurde).  Eine  geduldige  Prüfung,  die  Wiederholung  der  Versuche  zeigte 
aber  mit  Sicherheit,  daß  es  sich  um  einen  Aufmerksamkeitsfehler 
handelte.  Im  Laufe  der  zahlreichen  und  langen  Sitzungen  mit  dem 
Patienten  lernte  ich  einsehen,  daß  für  R.  die  Außenwelt  wenig  Interesse 
bietet,  daß  die  Innenwelt,  die  Phantasie,  seine  ganze  Aufmerksamkeit 
auf  sich  konzentriert.  Ich  konnte  mich  zuglaich  überzeugen,  daß  keine 
Demenz  im  eigentlichen  Sinne  besteht,  sondern  eine  einseitige  kom- 
plexmäßige Phantasietätigkeit  ohne  Fühlung  mit  der 
Wirklichkeit.  Das  Innenleben  überwiegt  so  sehr,  daß  die  ständige 
Anpassung  an  die  äußeren  Verhältnisse  fehlt.  Von  Außen  sieht  dann 
das  Treiben  des  Kranken  unbegreiflich  und  namentlich  blöd  aus. 

Die  krankhafte  Phantasietätigkeit  mit  innerer  Ablenkung  wird 
wahrscheinlich  in  der  Sekundarsch ale  aufgetreten  sein  und  die  Debilität 
vorgetäuscht  haben.  Besonders  bemerkenswert  scheint  in  diesem  Falle  die 
Produktivität,  die  aktive  (konstruktive)  Phantasietätigkeit  des 
Patienten  zu  sein.  Sie  steht  in  einem  gewissen  Gegensatze  zu  seiner 
Bildung  und  Begabung;  letztere  steht  jedenfalls  nicht  über  der  Norm. 

Wahrscheinlich  sollte  auf  diesen  Unterschied  bei  psychiatrischen 
Untersuchungen  mehr  geachtet  werden;  es  will  uns  scheinen,  daß  dies 
zum  Verständinsse  von  scheinbar  paradoxen  Erscheinungen  bei  Im- 
bezillen (höhere  Imbezille?)  verhelfen  könnte.  Einschränkend  muß 
aber  hinzugefügt  werden,  daß  die  Produktivität  eines  Schizophrenen 
eine  eigenartige  Prägung  trägt,  sie  ist  nicht  an  die  äußeren  Verhältnisse 
angepaßt  und  dadurch  meistens  unnütz,  ,, unbrauchbar''.  Diese 
Kranken  sind  asoziale  Typen  par  excellence. 

E.  Zur  Psychogeiiese. 

Ich  halte  es  nicht  für  möglich  in  diesem  Falle  einen  vollständigen 
Zusammenhang    zwischen    allen    Krankheitserscheinungen    zu    geben, 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Krauken.        231 

die  Entwicklung  von  der  Kindheit  bis  zum  jetzigen  Zustande  klar- 
zulegen. Es  fehlt  eine  detaillierte  objektive  Anamnese  und  die  Einsicht 
in  die  intimeren  Familienverhältnisse.  F.  R.  ist  derart  in  seine  Phanta- 
sien versunken,  daß  er  nicht  imstande  ist,  sich  vollständig  an  unsere 
Fragen  anzupassen  und  sie  entsprechend  klar  zu  beantworten.  Viel- 
leicht käme  man  weiter  mit  einem  gründlicheren  Studium  seiner  Sprache, 
die  ich  bisher  nur  soweit  verfolgt  habe,  als  es  für  das  Verständnis  der 
Hauptzüge  der  Psychologie  unseres  Patienten  absolut  notwendig  war. 
Mit  den  gewoimenen  Dokumenten  läßt  sich  aber  doch  eine  Art  Gerüst 
aufstellen.  Die  Beziehungen  zwischen  dem  Milieu,  im  weitesten 
biologischen  Sinne  —  Einwirkung  auf  das  Individuum  ab  ovo  —  und 
dem  Inhalt  der  Psychose  sind  demonstrierbar. 

Der  Vater  R.s  war  Lehrer  in  Z.;  er  war  ein  stattlich  gebauter  ge- 
sunder Mann,  ,,ein  guter  Bürger"  und  „strenger  Herr".  Er  wird  auf 
den  Sohn  einen  starken,  ja  imponierenden  Eindruck  gemacht  haben. 
R.  sagt  an  einer  Stelle  ,,man  führte  mich  heim  zum  Vater,  zum  Herrn 
Lehrer",  anderswo  spricht  er  vom  „Lehrvater".  Daß  er  für  ihn  eine 
besondere  Liebe  empfunden  hätte,  läßt  er  nirgends  durchblicken. 
Der  Vater  soll  ziemlich  hart  und  grob  gewesen  sein.  Das  verhinderte 
aber  nicht,  daß  sein  Einfluß  auf  den  Sohn  bedeutend  war.  Sicher  ist 
es,  daß  die  außergewöhnliche  Achtung  des  Schlossergesellen  für  die 
Wissenschaft,  für  das  Gelehrte  vom  Vater  stammt.  Patient  hält  sich 
selbst  für  einen  Dozenten,  für  einen  ,, wissentlichen"  (=  viel  wissenden) 
Herrn.  In  der  Exzellenzsprache  spielt  das  ,, Lehrfach"  eine  große 
RoUe^).  Der  Wunsch,  eine  eigene  Sprache  zu  sprechen,  welche  für  die 
Vornehmen  und  Gelehrten  bestimmt  ist,  die  Geziertheit  derselben, 
sind  Beweise  dafür. 

Das  Verhältnis  des  Patienten  zum  lieben  Gott  und  zum  Heiland 
(er  ist  sein  Sohn,  manchmal  sein  ,,Neveutchen",  manchmal  auch  der 
Heiland  selbst),  läßt  die  Vermutung  aufkommen,  daß  es  sich  um  eine 
Umformung  des  Verhältnisses  des  Sohnes  zum  Vater  handelt,  was  sich 
in  vielen  Fällen  deutlich  nachweisen  läßt;  im  speziellen  sind  wir  auf 
solches  Material  nicht  gestoßen,  möchten  aber  nichts  daraus  folgern. 
Bei  der  Mutter  läßt  sich  nämlich  nachweisen,  daß  sie  das  Abbild  der 
Madonna  geliefert  hat,  ja  daß  sie  die  Madonna  selbst  ist. 

Von  seiner  Mutter  sagt  uns  Patient,  sie  sei  ,,zart  und  fein",  ,,kränk- 

')  In  der  Autobiographie  schreibt  er  über  seine  Schulbildung:  „unser 
Fachasterfleiü  (Aster  heißt  groß),  immer  das  Gute  beantwortet,  etwas,  Prima!, 
ein  Gewisses  in  Darstellungen!" 


232  A.  Maeder. 

lieh  und  fromm"  gewesen,  was  objektiv  nachweisbar  ist,  da  sie  in  un- 
serer Anstalt  interniert  war  und  hier  an  einer  Lungentuberkulose  starb. 
Laut  Krankengeschichte  war  sie  ein  ,, geziertes  Dämchen",  das  stunden- 
lang beten  konnte.  Die  Stiefmutter,  welche  der  Patient  erhielt,  ist  im 
Gegenteil  eine  starke,  feste  Person.  Sämtliche  Züge  der  beiden  finden 
sich  bei  den  idealen  Figuren  wieder,  für  welche  F.  R.  in  der  Psychose 
schwärmt.  Das  Wörterbuch  der  ,,Sallischursprach3"  ist  sehr  reich 
an  Ausdrücken,  um  das  Feine,  Zarte,  Vornehme  auszudrücken;  von 
der  Madonna  sagt  R.,  sie  sei  ,,eine  wissenschaftliche  Person,  wie 
eine  Lehrerin,  sie  ist  mein  Mütterlein  gewesen",  ,,sie  hat  uns  geneckt, 
sie  hat  die  Glocke  am  Lebenswerk  genommen,  sie  hat  mit  dem 
V/ärlein  gespielt"  usw.  (man  erinnert  sich  an  die  Notiz  in  seinem 
Hefte:  ,, unerhörte  Störung  durch  die  Madonna",  was  mit  großer 
Entrüstung  geschrieben  wurde);  von  den  ,,Lonschen  Damen",  ,, Hof- 
damen" usw.  wurde  im  Abschnitte  über  die  Kompensationen  schon 
genügend  berichtet,  es  sind  die  zahlreichen  Geliebten,  welche  die 
Prägung  der  ersten  infantilen  Liebesobjekte  (Mutter  und  Stief- 
mutter) erhalten  haben. 

Hier,  wie  bei  allen  anderen  Neurotikern  und  Psychotikern,  welche 
eingehend  analysiert  werden,  läßt  sich  die  polymorph  perverse  Anlage 
(Freud),  die  sexuelle  Polyvalenz^)  feststellen;  R.  hat  z.  B.  ,,in 
jedem  Staat  eine  schöne  Hofdamf";  die  homosexuelle  Komponente 
fehlt  auch  nicht,  und  zwar  befindet  sie  sich  in  der  Verdrängung  (siehe 
diesen  Mechanismus  im  theoretischen  Teil,  siehe  auch  daselbst  die  Be- 
deutung des  Vaters  für  die  Entstehung  der  passiven  Verfolgung). 
R.  wird  homosexuell  verfolgt;  es  wird  etwas  an  ihm  von  jungen 
Leuten  und  den  Cortez  Preglia,  den  Athleten  gemacht,  an  seinem  Ge- 
schlechtsteile gespielt  usw.  Im  allgemeinen  ist  bei  ihm  das  Sexuelle 
unter  Symbolen  stark  verdeckt. 

Einige  Elemente  spielen  in  der  Psychose  eine  große  Rolle,  deren 
Ursache  nicht  bei  den  Eltern  zu  finden  ist;  ganz  besonders  gefühls- 
betont sind  der  Gartenbau,  die  Landwirtschaft  und  namentlich  die 
Maschinentechnik,  man  erinnere  sich  an  das  ,.Proteriat  imBilderbuche^)," 


^)  Siehe  Maeder,  Die  Sexualität  der  Epileptiker.  Dieses  Jahrbuch,  I.  Band, 
1.  Hälfte. 

*)  In  einer  Arbeit  über  die  Sprache  des  Patienten  werde  ich  auf  eine  Erzählung 
des  Patienten  über  Wilhelm  Teil  zu  sprechen  kommen,  in  welcher  aus  Teil  ein 
Kartoffel-  und  „Rüben"dieb  gemacht  wird.  Es  wird  sich  zeigen,  daß  Patient 
sieh  mit  dem  Landvogte  Geßler  identifiziert  hat,  dem  die  „Rüebü"  gestohlen 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        233 

an  das  Lebenswerk  mit  den  Anschlüssen  usw.  Es  haben  in  der  Jugend 
ausgesprochene  Interessen  für  den  Gartenbau  und  die  Technik  be- 
standen; F.  R.  wurde  ja  nach  der  Schule  zu  einem  Gärtner  in  die  Lehre 
geschickt  („ich  hatte  Freude  an  der  Kultur",  ,,aus  Liebe  zur  Botanik" 
usw.);  nach  einem  Jahre  trat  er  aus  uns  unbekanntem  Grunde  bei  einem 
Schlosser  in  die  Lehre;  die  tiefere  Determinante  dieser  Zuneigung 
läßt  sich  nachträglich  nicht  mehr  aufklären.  Die  meisten  Wünsche, 
welche  in  der  Psychose  zur  Erfüllung  gelangen  (Größenideen)  und  die 
wir  ausführlich  in  einem  besonderen  Abschnitte  beschrieben  haben, 
sind  infantile  Wünsche  oder  Wünsche,  welche  aus  der  sozialen 
Stellung  des  Kranken  entspringen,  welche  zu  einer  maßlosen  Wuche- 
rung ohne  Korrektur  und  Zensur  gediehen  sind. 

Sie  sind  alle  echte  Kompensationen;    der  Patient  leistet  sich 
in  der  Phantasie  alles  das,  was  die  Natur  ihm  verweigert  hat.    In  der 
Anamnese  haben  wir  geschrieben:  „Wir  haben  es  mit  einem  wenig  ge- 
bildeten, scheinbar  unbegabten  Manne  zu  tun,  welcher  von  einer  nicht 
ungebildeten  Familie  stammt,  er  hat  in  selbständiger  Stellung  überall 
versagt,  er  ist  körperlich  schwach,  nervös;  er  ist  arm  und  sehr  häßlich." 
In  der  Psychose  haben  wir  im  Gegensatze  dazu,  mit  einem  Dozenten  und 
Herrn  zu  tun,  der  eine  höchst  vornehme  esoterische  Sprache  spricht 
mit  vielen  abstrakten  Ausdrücken,  der  nur  mit  wissenschaftlich  ge- 
bildeten Leuten  zu  tun  haben  will.  Er  ist  der  Besitzer  der  großen  Winter- 
thurer  Werke,  das  Haupt  des  Staates  und  der  Erde;  alles  gehorcht  ihm,  er 
stammt  von  Gott  selbst.    Er  ist  enorm  reich  (Bankdoktor  und  ein  de- 
vesiver  Herr);   „ich  war  zu  charmant,  zu  galant  und  schön";  er  wurde 
ein  Objekt  des  Neides.    Kein  Geringerer  als  der  Teufel  selbst  fing  mit 
ihm  den  Krieg  an,  schickte  gegen  ihn  seine  Bande,  die  mächtige  Allianz, 
ein  ganzes  Raufvolk.    Der  Kampf  schwillt  an  zu  einem  Kampf  der 
höchsten  Macht  gegen  den  Teufel.    F.  R.  gewinnt  also  eine  kosmische 
Bedeutung,  das  Sunmaum  der  Größenidee  überhaupt.    Sein  gesunder, 
kräftiger  Körper  wurde  durch  sonderbare  ,, Manöver"  stark  geschädigt. 
Jetzt  liegt  er  krank  bei  uns.  Die  physikalische  Verfolgung  nimmt 
einen  eigenartigen  Charakter  dadurch  an,  daß  der  Körper  des  Patienten 
in  die  Welt  hinaus  projiziert  und  mit  ihr  identifiziert  wird;  der  Kampf 
gegen  ihn  heißt  soviel  wie  der  Kampf  des  Bösen  mit  dem  Guten^). 

werden.  Dahinter  stecken  selbstverständlich  Symbole,  welche  die  Eigenart  der 
Erinnerungstäuschung  „einer  so  populären"  Erzählung  erklären. 

^)  Ich  mache  auf  die  ähnlichen  Resultate  der  Analyse  J.  B.  aufmerksam. 


IL  Tlieoretisclies.  Über  die  Mecliaiiismen. 
a)  Über  die  Entstehung  des  Verfolgungswahnes. 

I.  Aus  der  Analvse  des  ersten  Falles  J.  B.  entnehmen  wir  folgendes: 
Zu  einer  Zeit,  wo  die  Frau  des  Kranken  wegen  einer  beginnenden  Lungen- 
tuberkulose in  einem  Sanatorium  in  Bebandlung  stand,  erhielt  sie  von 
ihm  einen  Brief,  in  dem  er  ganz  unerwartet  von  Scheidung  sprach, 
und  zwar  mit  der  Motivierung,  er  könnte  durch  die  Krankheit  der  Frau 
angesteckt  werden.  Später  teilte  er  mit,  er  sei  zu  etwas  Höherem  berufen. 
Interessant  ist,  an  dieser  Stelle  auf  eine  Erinnerungstäuschung 
aufmerksam  zu  machen.  J.  B.  behauptet  nämlich  jetzt,  die  Behörde  habe 
damals  Schritte  getan,  um  ihn  von  seiner  Frau  zu  trennen,  man  habe  eine 
andere  Ehe  ,,auf  diplomatischem  Wege"  für  ihn  in  Aussicht  gehabt. 
Die  Verantwortlichkeit  für  diesen  Schritt  —  die  Scheidung  —  schiebt 
er  unbewußt  auf  die  Behörde. 

Die  Ehefrau  ging  selbstverständlich  auf  seinen  Vorschlag  nicht 
ein.  Bei  ihm  traten  allmählich  neue  Gedanken  auf;  sie  sei  ihm  untreu, 
habe  heimlich  abortiert.  In  Wirklichkeit  verhielt  es  sich  so,  daß  der 
Abort  wegen  Tuberkulosis  incipiens  eingeleitet  wurde.  Das  Verhältnis 
zwischen  dem  Ehepaar  wurde  immer  gespannter  (man  erinnere  sich  an 
die  Anekdote  mit  der  goldenen  Uhr,  die  er  versetzen  wollte).  J.  B.  be- 
hauptete schließlich,  die  Frau  verfolge  ihm,  sie  hantiere  mit  Waffen 
um  ihn  herum,  sie  habe  sich  in  die  Feme  aufnehmen  lassen.  Er  wurde 
grob,  mißhandelte  sie,  bis  er  interniert  wurde. 

Die  Untersuchung  hat  uns  das  Vorhandensein  von  ausgesprochenen 
polygamen  und  homosexuellen  Tendenzen  bei  B.  gezeigt, 
Tendenzen,  welche  freilich  nicht  zur  Betätigung  kamen.  In  der  Psychose 
treten  sie  in  den  Vordergrund,  sie  veranlassen  Patienten  sogar  zu  Taten. 

Der  Brief  an  das  Ministerium  des  Äußeren  in  Amsterdam,  hinter 
dem  die  Idee  steckte,  die  junge  Königin  sei  für  ihn  bestimmt. 

Zu  dieser  Expansion  ist  ihm  die  Ehefrau  ein  Hindernis.  Nur 
dadurch,  daß  sie  existiert,  schon  rein  passiv^)  ist  sie  für  seine  Ent- 

^)  Die  Frau  des  Patienten  ist  eine  selten  brave  und  treue  Person.  B.  ist  seit 
9  Jahren  interniert,  sie  besucht  ihn  jetzt  noch  zwei-  bis  dreimal  im  Monat,  trotzdem 
er  ihr  gegenüber  völlig  gleichgültig  ist.  Sie  kann  kaum  mit  ihrer  Arbeit  ihre  Familie 
durchbringen  und  bringt  es  noch  fertig,  etwas  zu  sjDaren,  um  ihrem  Manne  in  der 
Anstalt  bessere  Kleider  zu  verschaffen. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        235 

Wicklung  ein  Widerstand.   Dies  erklärt  uns  die  Genese  und  Progres- 
sion der  Wahnideen  gegen  sie. 

Der  Mechanismus  der  Entstehung  dieser  Verfolgungsidee  scheint 
folgender  zu  sein:  Es  besteht  primär  beim  Patienten  ein 
Trieb  zur  Tätigkeit,  zur  Expansion  nach  einer  bestimmten 
Richtung.  Von  außen  wirkt  ein  Hindernis  hemmend  darauf. 
Dieser  passive  Widerstand  wird  vom  Ich  als  ein  aktiver 
Widerstand  empfunden,  er  wird  sozusagen  beseelt,  er 
wird  zu  einer  aggressiven  Macht  umgewandelt. 

Daß  ein  passiver  Widerstand  sehr  leicht  als  eine  feindliche  Macht 
aufgefaßt  wird,  sehen  wir  aus  dem  Verhalten  der  meisten  Anstalts- 
patienten dem  Direktor  gegenüber.  Er  ist  derjenige,  welcher  in  letzter 
Instanz  die  Patienten  in  der  Anstalt  zurückhält  und  sie  nicht  entlassen 
will.  ,,Er  muß  ein  Interesse  daran  haben,  er  ist  ein  F  ind."  Die  Direk- 
toren werden  auch  entsprechend  gehaßt. 

Diese  Reaktionsweise  ist  nicht  bloß  für  den  Verfolgungswahn 
charakteristisch,  sie  ist  eine  ganz  allgemeine  Reaktionsweise. 
Ich  verweise  auf  das  Verhalten  der  Kinder.  Wenn  ein  Kind  den  Kopf 
an  den  Tisch  anschlägt,  wird  es  sofort  mißmutig  und  schlägt  den  Tisch, 
indem  es  sagt:  ,,Du  böser  Tisch!''  Rein  infantil  oder  nur  infantil  ist 
diese  Art  auch  nicht.  Wir  wissen  aus  der  Geschichte,  daß  Xerxes  das 
unruhige  Meer  mit  Ketten  schlagen  ließ.  Bei  den  Griechen  wurden  von 
den  Senatoren  alle  leblosen  Gegenstände,  welche  ohne  menschliche 
Intervention  den  Tod  eines  Menschen  verursacht  hatten,  aus  dem 
Land  entfernt  und  verbannt.  Horatius  verdammt  in  einem  Liede  den 
Baum,  der  ihn  fast  erschlug.  Der  Indianer  beißt  den  Stein,  an  dem  er 
sich  stieß.  Ähnliches  kann  man  auch  bei  Tieren  beobachten. 

Diese  Belebungstendenz  gehört  zum  Animismus,  wie 
Tylor  es  genannt  hat,  oder  allgemein  ausgedrückt  zum  Anthro- 
pismus. 

Die  Belebung  (oder  Beseelung)  des  Hindernisses  (oder 
Widerstandes)  ist  ein  primitiver  und  allgemeiner  Reak- 
tionstypus; er  hat  höchst  wahrscheinlich  eine  biologische  Be- 
deutung und  dient  zur  Verteidigung  des  Individuums.  Sie 
ermöglicht  die  Reaktion  auf  die  Aktio^).    Ob  diese  Art  der  Entstehung 


^)  Ein  einfaches  Bild  des  Vorganges  gibt  uns  das  Verhalten  eines  senkrecht 
auf  einen  Spiegel  fallenden  Lichtstrahles.  Der  zurückgeworfene  Strahl  scheint 
von  einer  Lichtquelle  jenseits  des  Spiegels  auszustralilen. 


236  A.  Maeder, 

der  Verfolgung  rein  vorkommt  ist  schwer  zu  sagen  und  an  sich  wenig 
wahrscheinlich.  Sie  kombiniert  sich  vielfach  mit  der  jetzt  zu  besprechen- 
den Art,  welche  Freud  zuerst  mit  voller  Klarheit  formuliert  hat. 

IL  Wir  gehen  wieder  von  der  Analyse  des  ersten  Falles  aus. 
Es  bestehen  bei  J.  B.  unzweifelhaft  homosexuelle  Tendenzen.  In 
der  Psychose  ist  die  Homosexualität  hinter  der  Verfolgung  versteckt. 
Er  wird  von  einer  gierigen  Bande  von  roten  und  schwarzen  Menschen, 
von  Wüstlingen  verfolgt,  die  ihn  mißbrauchen  und  sexuell  schädigen 
(sein  physikalischer  Verfolgungswahn).  Durch  welchen  psychologischen 
Mechanismus  ist  aus  dieser  homosexuellen  Tendenz  eine  passive  Ver- 
folgung entstanden? 

Ein  Beispiel  einer  Phantasie,  die  ich  von  einem  gesunden,  jungen 
Manne  habe,  scheint  mir  diese  Genese  plastisch  zu  schildern : 

Ein  junger  Mann  sieht  ein  schönes  Weib.  Es  taucht  in  ihm  der 
Wunsch  auf,  sie  zu  besitzen.  Dieser  Gedanke  wird  als  unanständig 
bewußt  verdrängt.  Kurz  darauf  tritt  plötzlich  die  Phantasie  auf,  das 
Weib  kommt  auf  ihn  zu,  will  ihn  sexuell  angreifen;  sie  reizt  ihn  so, 
daß  er  nachgibt  und  sie  überwältigt. 

Unser  Kranker  hat  deutliche  homosexuelle  Neigungen;  in  seinen 
paranoiden  Phantasien  erleidet  er  homosexuelle  Attentate.  Es  liegt  sehr 
nahe  anzunehmen,  daß  die  Umwandlung  des  aktiven  Triebes  in  ein 
passives  Erleiden,  unter  dem  Einflüsse  der  Verdrängung  wie  im 
obigen  Beispiele,  stattgefunden  hat,  wobei  die  Verdrängung  nicht  als 
ein  x-beliebiges  Deus  ex  machina  zu  betrachten  ist;  sie  wird  nichts 
anderes  sein,  als  das  durch  die  Erziehung  und  das  Gesellschaftsleben 
auferlegte  System  der  Hemmungen^). 

Freud  hat  diesen  Mechanismus  der  Verfolgung  vor  vielen 
Jahren  schon  deutlich  formuliert:  Ein  bestimmter  Wunsch  (z.  B.  die 
Liebe  zu  einer  Frau)  taucht  auf,  welcher  der  Verdrängung  unterliegt, 
er  erscheint  unter  einer  veränderten  Form  als  Verfolgung  durch 
diese  Frau  mit  pathologischem  Affekt  wieder.  Anders  ausgedrückt 
lautet  es:  Der  Wunsch  des  Ich  wird  auf  das  Wunschobjekt  projiziert 
und  kommt  auf  das  Ich  zurück.  Es  ist  eine  Projektion  oder  ein 
Transitivismus.  Dieser  hat  für  das  Ich  den  Wert  einer  Entlastung. 
Die  Verbindung  dieses  uneingestehbaren  Wunsches  mit  dem  Ich  ist 
damit  abgebrochen.   Der  Wunsch  ist  sozusagen  ,, de  personalisiert"; 

^)  Vielleicht  ist  eine  Komponente  der  Verdrängung  direkt  biologischer 
Art,  eine  organisch  bedingte  Abwehr  gegen  die  Überschreitungen  und  Perver- 
sitäten.  Siehe  Freud:   Drei  Abhandlungen  zur  Sexualtheorie.   Deuticke,   1905. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.       237 

das  Ich  kann  dafür  nicht  mehr  verantwortlich  gemacht  werden.  Der 
Patient  erlebt  auf  diese  Weise  rein  passiv.  Nur  wer  aktiv  tätig  ist,  ist 
verantwortlich.  Der  Transitivismus  kann  als  eine  Schutzmaßregel 
gegen  unangenehm  gefühlsbetonte  Bewußtseinsinhalte  aufgefaßt 
werden!).  Die  Phantasie  selbst  ist  eine  Art  Ersatz  und  ist  beim  Nor- 
malen von  einem  Lustton  begleitet. 

Die  Tatsache,  daß  die  Projektion  auf  das  Wunschobjekt  ge- 
schieht, ist  besonders  erwähnenswert.  Im  ersten  Mechanismus  der 
Verfolgung  hatten  wir  festgestellt,  daß  irgendein  Hindernis  der 
Expansion  der  Ausgangspunkt  der  Verfolgung  werden  kann.  Die  Be- 
anspruchung des  Wunschobjektes  in  diesem  zweiten  Typus  stimmt  mit 
der  häufigen  Beobachtung,  daß  die  Verfolgung  bei  Paranoiden  gerade 
von  früher  angeschwärmten  Personen  ausgeht  oder  von  solchen,  welche 
auf  den  Patienten  irgendeinen  Reiz  ausgeübt  haben.  Wenn  man  von 
jemanden  viel  erwartet  hat,  was  sich  nie  realisiert,  ist  man  leicht  geneigt, 
den  Mißerfolg  auf  den  schlechten  Willen  oder  auf  die  feindliche  Ein- 
stellung des  Betreffenden  zu  schieben.  Wie  hoch  die  Ansprüche  von 
vielen  Paranoiden  an  ihre  Mitmenschen  sind,  was  sie  alles  von  ihnen 
erwarten,  weiß  jeder  Psychiater  zur  Genüge.  Die  Enttäuschung  muß 
entsprechend  den  Erwartungen  groß  sein2).  Mit  dieser  Projektion 
hängt  es  wahrscheinlich  zusammen,  daß  die  Kranken  immer  meinen 
man  wisse  ganz  genau,  was  sie  denken  und  wünschen,  ohne  daß  sie  sich 
auszusprechen  brauchen. 

Der  Mechanismus  der  Projektion  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  nicht 
spezifisch  für  den  Verfolgungswahn  der  Paranoiden;  er  ist  beim  Nor- 
malen sozusagen  vorgebahnt.  Er  gibt  den  Schlüssel  zur  Erklärung  des 
Eifersuchtswahnes  der  Alkoholiker,  wie  Bleuler  und  seine 
Schüler  es  getan  haben  (siehe  namentlich  K.  Abraham:  Die  psycho- 
logischen Beziehungen  zwischen  Sexualität  und  Alkoholismiis,  Zeitschr. 
f.  Sexualwissenschaften  1908).  Beim  Paranoiden  ist  der  begleitende 
Affekt  (zum  guten  Teile  Angst)  von  besonderer  Intensität.  Der 
Transitivismus  hat  aus  diesem  Grunde  nicht  mehr  die  einfache  Bedeu- 

^T^  Reaktionsweise  erinnert  sehr  an  das  Verhalten  der  Kinder,  welche 
wenn  angeklagt,  die  gleiche  Klage  an  den  Kläger  sofort  zurückgeben  Franzosisch 
heißt  es  z.  B.  slhr  einfach:  „Yoleur!"  -  „Voleur  toi-meme!"  Auf  das  Spiel  der 
Retourkutsche  hat  uns  Freud  wiederholt  aufmerksam  gemacht. 

2)  In  diesem  Zusammenhang  paßt  es  vielleicht  daran  zu  erinnern,  daß 
es  aus  der  Alltagspsychologie  zur  Genüge  bekannt  ist,  wie  Haß  und  Liebe  inn.g 
verbunden  sind.  Ein  neutrales  Wesen  kann  weder  geliebt  noch  gehaßt  werden. 


238  A.  Maeder. 

tung  einer  Entlastung  und  Schutzmaßregel  wie  beim  Gesunden.  Er  ist 
eine  mißlungene  (pathologische)  Schutzmaßregel.  Freud  hat 
durch  seine  Auffassung  der  Angst  als  verdrängte  „Libido"  eine  Er- 
klärung dieses  pathologischen  begleitenden  Affektes  ermöglicht. 
Interessant  ist,  daß  bei  chronischen  Fällen  der  begleitende  Affekt 
nicht  mehr  rein  ist ;  er  wird  ein  Mischaffekt,  in  dem  man  aus  der  Mimik 
leicht  die  negative  und  positive  Komponente  unterscheiden  kann. 
Die  Mitteilungen  von  J.  B.  und  F.  R.  waren  von  einem  solchen  Misch- 
affekt begleitet,  in  dem  eine  sehr  deutliche  läppische  Komponente 
herauszumerken  war;  sie  kam  immer  an  den  kritischen  Stellen  zum 
Ausdruck,  wo  speziell  über  die  Mißhandlung  an  den  Genitalien  erzählt 
wurde.  Es  ist  das  Stadium  der  Krankheit,  in  welchem  wieder  Kom- 
promisse mit  der  Außenwelt  gemacht  werden  und  die  Verdrängung 
etwas  nachgibt. 

Verallgemeinerung  des  Verfolgungswahnes.  Wir  haben 
die  Entstehung  des  Verfolgungswahnes  geschildert,  oder  vielmehr  nur 
des  Kernes  desselben.  (Ob  andere  als  die  zwei  beschriebenen  Mechanis- 
men wirken,  mag  dahingestellt  bleiben.)  Wie  geschieht  der  Wachs- 
tum, die  Verallgemeinerung?  Es  kommt  allmählich  zu  einer  Einteilung 
der  Assoziationen,  je  nach  dem  Gefühlston  derselben,  und  zwar  gilt 
das,  für  die  neuen  Eindrücke  wie  für  die  Vergangenheit.  J.  B.  erweitert 
die  Bande  der  Verfolger  allmählich  bis  auf  den  Beginn  der  Weltgeschichte. 
Das  erste  Mitglied  der  Feme  war  Kain.  Die  letzten  Ereignisse  wie  das 
Unglück  des  Zeppelinschen  Ballons  werden  assimiliert  und  im  Sinne 
des  Wahnes  als  Verfolgung  gedeutet.  Die  Ausdehnung  der  Verfolgung 
von  der  Frau  auf  die  Feme  ist  sehr  bezeichnend.  Er  schildert  sie  wie 
eine  gierige,  unersättliche,  leidenschaftliche,  schwarze  und  geizige 
Person.  Alle  diese  Eigenschaften  werden  den  vermeintlichen  Feinden  zu- 
geschrieben, deren  Kreis  sich  immer  mehr  erweitert.  Das  Schwarze  ist 
nicht  nur  das  Symbol  des  Bösen  (Dunklen)  und  Leidenschaftlichen 
(die  Rasse  der  Dunkelhaarigen,  die  Südländer,  zu  deren  Typus  seine 
Frau  in  Wirklichkeit  gehört,  sie  stammt  aus  Frankreich),  es  wird  aus- 
gedehnt auf  die  Katholischen  (die  Frau  ist  katholisch),  die  Jesuiten, 
die  ,, Ultramontanen"  und  Konservativen.  Schwarz  und  rot  sind  ihm 
die  Farben  des  Teufels,  der  Unterwelt,  die  ihn  plagt  und  verfolgt.  Das 
Rote,  Feurige,  Blutige  (die  Gierigen,  Unersättlichen)  wird  ausgedehnt 
auf  die  Freimaurer,  die  Liberalen,  und  speziell  auf  die  Sozialdemo- 
kraten und  Anarchisten.  Früher  hat  er  mit  ihnen  lebhaft  sympathisiert; 
es  paßt  aber  nicht  mehr  in  die  jetzige  Konstellation,  namentlich  wegen 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        239 

der  Größonphantasien.  Er  gerät  in  die  Verdrängung  wegen  des  nicht 
mehr  passenden  Gefühlstones. 

Mit  einem  Worte :  alles  was  ein  Unlustgef ühl  enthält  oder  hervor- 
rufen kann,  wird  in  die  Kategorie  der  Bösen  und  Feindlichen  eingereiht. 
Bei  der  Besprechung  der  Größenideen  werden  wir  sehen,  daß  alles  was 
gut  und  erhaben  ist,  zur  „Gens  ulpia",  zur  blonden  Rasse  von  Abel  bis 
zum  Patienten  selbst  gehört. 

Die  Abspaltung  der  negativ  gefühlsbetonten  Vorstellungen  und 
ihre  Projektion  nach  außen,  hat  für  das  Ich  den  Wert  einer  Entlastung 
und  einer  Einengung. 

b)  über  die  Entstehung  des  Größenwahnes, 

Der  an  Dementia  praecox  Erkrankte  sperrt  sich  allmählich  von 
der  Umgebung  ab,  er  verliert  immer  mehr  den  Rapport  mit  der  Außen- 
welt; der  feine  Gefühlskontakt  mit  den  Mitmenschen  geht  gradatim 
zugrunde  1).  Beim  Normalen  besteht  ein  steter  Austausch  zwischen 
Individuum  und  Außenwelt.  Er  gibt  nach  außen  und  empfängt  von 
außen.  Für  irgend  etwas,  sei  es  das  Weib,  die  Politik,  die  Religion,  der 
Sport,  das  Bier,  hat  er  ein  Interesse,  das  ihn  zu  einer  gewissen  Tätigkeit 
bringt.  Der  Schizophrene  büßt  das  alles  allmählich  ein.  Die  Welt  wird 
für  ihn  leer;  er  gibt  ihr  immer  weniger  von  sich,  empfängt  von  ihr  nur 
das  AUernötigste. 

Daß  das  innere  Leben  bei  den  Kranken  nicht  still  steht,  haben 
uns  die  Untersuchungen  der  letzten  Jahre  gezeigt;  die  obigen  Ana- 
lysen sind  ein  neuer  Beleg  dafür.  Es  kommt  allmähhch  zu  einem  mehr 
oder  weniger  manifesten  Größenwahn,  der  sich  auf  alles  bezieht, 
was  mit  dem  Patienten  zusammenhängt.  Er  ist  von  einem  wunder- 
baren Körperbau,  enorm  kräftig,  er  versteht  und  weiß  alles.  J.  B. 
rühmt  „den  wunderbaren  Glanz"  seiner  Augen,  die  Macht  seines  Blickes, 
welcher  die  Liebe  überall  weckt,  seine  Potenz,  welche  auf  die  Männ- 
lichkeit der  ganzen  Welt  einwirkt.  F.  R.  sagt  von  sich  „ich  war  zu 
charmant,  zu  galant  und  schön".  Kurz  jeder  hält  sich  für  den  Herr- 
lichsten der  Herrlichen. 

Wie  ist  das  zu  erklären?  Eine  einfache  Hypothese  ermöglicht 
diese  beiden  Tatsachen  zu  vereinigen.  Sie  lautet:  Durch  die  Ablehnung 
der  Außenwelt,  durch  Zurückhaltung  des  geistigen  und  gemütlichen 
Verkehres  mit  ihr  muß  eine  Retention  entstehen.  Der  Tätigkeitstrieb, 
der  Trieb  nach  Expansion  wird  zurückgehalten,  er  wird  introvei- 

^)  Siehe  Jung,  Psychologie  der  Dementia  praecox.  Marhold,  Halle,  1907. 


240  A.  Maeder. 

tiert^),  er  appliziert  sich  anstatt  auf  die  Objekte  der  Außenwelt  auf 
das  Ich.  Daher  das  lebhafte  innere  Leben,  daher  die  Überbetonung 
der  eigenen  Person ,  welche  zu  den  Groß  enideen  führt  (Überbesetzung 
des  „Ich"  Freuds)^).  Die  eigene  Person  rückt  in  den  Vordergrund 
des  Interesses,  die  Eindrücke  der  Außenwelt  sind  nur  schwach  besetzt; 
dadurch  wird  die  objektive  Korrektur  immer  schwächer.  Die  Selbst- 
überschätzung wächst  maßlos  und  ungehemmt.  Alle  unbefriedigt 
gebliebenen  Wünsche  der  Vergangenheit  und  der  Jetztzeit 
werden  aufgefrischt  und  gelangen  in  der  Phantasie  zur  Erfüllung. 

Die  Wiederaufnahme  der  infantilen  Regungen  (Jung  hat  sie  mit 
dem  bildlichem  Ausdruck  der  ,, Rückstauung  in  die  infantilen  Kanäle" 
treffend  bezeichnet)  ist  in  unseren  analysierten  Fällen  leicht  nach- 
weisbar. J.  B.  ist  in  der  Psychose  König  und  zur  gleichen  Zeit  Kaiser 
von  Frankreich;  der  Wunsch  ist  sicher  infantilen  Ursprunges,  speziell 
für  einen  Schweizer.  Sein  Großvater  hatte  im  französischen  Militär- 
dienste in  Paris  gestanden,  und  hatte  einen  ,, adeligen"  Degen  heim- 
gebracht. Es  wurde  darüber  viel  gesprochen  in  der  Kindheit  des 
Patienten.  Daran  knüpfen  die  Phantasien  an.  F.  R.  spricht  in  der 
Psychose  eine  esoterische,  abstrakte  Sprache,  er  verkehrt  viel  mit  Ge- 
lehrten. Als  Kind  war  er  in  der  Schule  debil,  er  versagte  schon  sehr 
früh.  Für  ihn,  als  Sohn  eines  Lehrers,  muß  es  eine  peinliche  Lage 
gewesen  sein.  Der  Drang  nach  Bildung  muß  damals  in  den  Phantasien 
eine  Rolle  gespielt  haben.  Seine  Vorliebe  für  die  Kultur  und  die  Technik, 
welche  vom  späteren  Datum  ist,  drückt  sich  in  der  Psychose  in  üppigen 
Phantasien  aus,  genau  wie  die  infantilen  Regungen.  Die  Impotenzbe- 
fürchtung von  J.  B.,  welche  zu  der  uns  bekannten  maßlosen  Kom- 
pensation gelangt,  stammt  aus  den  vierziger  Jahren  des  Patienten. 

Die  Psychose  sorgt  für  eine  gewisse  Kompensation;  die 
Phantasie  leistet  einigermaßen  den  Ersatz  für  die  stiefmütterliche 
Behandlung  durch  das  SchicksaP).  Der  Weg  ist  im  Infantilen  vorgebahnt; 

^)  Vgl.  Jung,  Über  Konflikte  der  kindlichen  Seele.  Dieses  Jahrbuch, 
II.  Band,  1.  Heft. 

2)  Die  verschlossenen  Naturen,  welche  noch  nicht  einen  pathologisch  zu 
nennenden  Grad  erreicht  haben,  zeigen  schon  eine  Andeutung  dieser  Überbesetzung. 

^)  Gerade  bei  solchen  pathologischen  Äußerungen,  -wie  die  der  Phantasie 
in  einer  Psychose  wird  man  instand  gesetzt,  die  biologische  Bedeutung 
vieler  Vorgänge  zu  erfassen.  Daß  dies  (Funktion  des  Surrogats)  die  einzige  Be- 
deutung der  Phantasie  sei,  glauben  wr  nicht;  die  Verwertung  der  Theorie  des 
Spiels  von  K.  G  r  o  o  s  (Die  Spiele  der  Tiere,  Die  Spiele  des  Menschen)  ermöglicht 
neue  Einblicke,  auf  die  wir  hier  nicht  eingehen  können. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranken.        241 

denn  Größenideen  sind  andeutungsweise  bei  jedem  Kinde  vorhanden. 
Der  Vater  eines  jeden  ist  .,der  Starke,  der  Gute,  der  Reiche",  in  einem 
Worte  gesagt  ,,der  Held'".  Er  ist  für  das  Kind  ein  Ideal.  Die  Korrektur 
kommt  allmählich  mit  der  Erfahrung,  mit  den  Enttäuschungen  und 
den  Vergleichen.  Es  ist  interessant  zu  sehen,  wie  alles  das  wieder  auf- 
genommen wird  beim  Paranoiden,  wie  es  rückläufig  koordiniert  wird. 
Die  Bildung  der  Größenideen  von  J.  B.  über  seine  Augen  ist  sehr  cha- 
rakteristisch für  den  Vorgang.  Der  Ausgang  in  der  Psychose  ist  durch 
die  Augenfarbe  gegeben,  welche  ein  Merkmal  für  die  Einteilung  der 
Menschen  in  zwei  Kategorien  liefert.  Rückläufig  werden  alle  früheren 
Erfahrungen  aus  der  Vergangenheit  geholt  und  zum  Ausbaue  benutzt, 
wie  das  Funkensehen  beim  Fallen  aufs  Gesicht,  die  Beobachtungen 
der  schillernden  Tautropfen  usw. 

Exteriorisation.  Wir  möchten  noch  einen  besonderen  Mecha- 
nismus des  Größenwahnes  zeigen,  der  eine  wesentliche  Rolle  spielt.  Wir 
wissen,  daß  J.  B.  seine  Augen  im  weitgehenden  Maße  mit  dem  Himmel 
identifiziert  (siehe  oben  die  Erklärungen  der  Überschwemmungen,  der 
Sonnenflecken) ;  was  im  Himmel  geschieht,  geschieht  an  seinen  eigenen 
Augen.  Das  an  den  Bäumen  hängende  Obst  betrachtet  er  als  Ver- 
vielfältigung seiner  Genitalien.  Der  zweite  Fall,  F.  R.  empfindet  jedes 
Manipulieren  an  den  Gas-  oder  Wasserleitungen  als  eine  Reizung 
seiner  Nerven  und  Gefäße.    Er  ist  selbst  das  ,, ganze  Lebenswerk". 

Wir  haben  es  in  beiden  Fällen  mit  einer  eigenartigen  ,, Projektion" 
zu  tun.  Die  Patienten  finden  in  ihrer  Umgebung  Teile  von  ihrem 
eigenen  Körper  wieder.  Esist  zueiner,,Exteriorisation"gekommeni). 
Die  dem  Wahn  wichtigen  Organe  (Genitalien  und  Augen  bei  J.  B.) 
werden  exteriorisiert.  Der  Vorgang  ist  wahrscheinlich  fortschreitend. 
Schließlich  werden  die  Kranken  durch  diese  besondere  Erweiterung 
ihres  Ich  zu  einer  kosmischen  Macht.  [J.  B.  wird  zur  Gravitationskraft, 
zum  befruchtenden  Prinzip  in  der  Natur.]  Das  Ich  enthält  die  ganze 
Welt,  mit  Ausschluß  der  Verfolger.  Damit  ist  der  Gipfel  des  Größen- 
wahnes und  der  Egozentrizität  erreicht.  Der  Kranke  lebt  in  einer  Welt, 
die  er  mit  seinen  Komplexen  belebt  hat.    Sein  Standpunkt  hat  sich 


^)  Der  Ausdruck  stammt  aus  dem  Okkultismus.  Man  hat  behauptet,  es  sei 
möglich  die  Hautsensibilität  eines  bestimmten  Mediums  auf  ein  Objekt,  das  in  einer 
gewissen  Entfernung  des  Mediums  stand,  zu  übertragen.  Man  sprach  von  der 
,, Exteriorisation",  der  Sensibilität.  Die  Behauptung  hat  sich  als  falsch  erwiesen. 
Das  Envoütement  (Behexen)  beruht  auf  dieser  Hypothese.  Der  Begriff  ist  uns 
aus  der  Traumanalyse  bekannt. 

Jahrbuch  für  psyohoanalyt.  u.  psychopathol.  Forschungen.     II.  It) 


242  A.  Maeder. 

etwas  geändert.  Früher  hat  er  die  Außenwelt  abgelehnt,  sie  war  für 
ihn  leer.  Allmählich  hat  er  seine  Umgebung  nach  seinen  eigenen  Wün- 
schen belebt,  er  tritt  wieder  in  einen  gewissen  Verkehr  mit  ihr.  In  der 
Tat  sind  viele  Patienten  in  diesem  Endstadium  brauchbare  ,,  Automaten" 
in  den  Anstalten;  sie  werden  bei  allen  möglichen  Hausarbeiten  ver- 
wendet. Es  tritt  eine  gewisse  bedingte  Anpassung  ein;  sie  schließen 
ein  Kompromiß  ab^).  Man  erinnere  sich  an  die  Tätigkeit  von  J.  B. 
im  Obstgarten. 

Die  Exteriorisation  ist  für  das  Ich  eine  Erweiterung,  im 
Gegensatze  zum  Transitivismus,  der  eine  Einengung  bedeutet.  Diese 
beiden  Mechanismen  spielen  in  der  Psychologie  der  Dementia  praecox 
eine  wichtige  Rolle. 

Wir  kommen  zu  dem  Schlüsse,  daß  in  unseren  beiden  Fällen  die 
Verfolgungs-  und  Größenideen  unabhängig  voneinander  ent- 
standen sind.  Gemeinsam  ist  ihnen  aber  in  letzter  Instanz  der  Aus- 
gangspunkt aus  dem  Triebleben,  sie  entstehen  alle  aus  den  freien 
oder  verdrängten,  nach  Verwirklichung  ringenden  Wünschen. 

c)  Schlußbemerkungen, 

Unsere  Analysen  haben  mit  Deutlichkeit  gezeigt,  wie  in  der  Psy- 
chose alle  Symptome  in  Zusammenhang  mit  einigen  ge- 
fühlsbetonten Vorstellungskomplexen  stehen,  wie  sie  direkt 
als  Folgen  oder  Wirkungen  derselben  zu  betrachten  sind.  Es  zeigt  sich, 
daß  der  Inhalt  der  Psychose  streng  individuell  determiniert 
ist,  daß  aber  die  Mechanismen  bei  den  Patienten  die  gleichen 
sind;  daß  die  Motive  zum  Handeln  relativ  wenig  zahlreich 
sind,  und  daß  die  meisten  dem  Triebleben  der  infantilen 
Zeit  angehören. 

Es  besteht  bei  diesen  paranoiden  Kranken  noch  eine 
lebhafte  geistige  Tätigkeit  konstruktiven  Charakters,  welche 
sich  im  paranoiden  System  zeigt.  Eine  eingehende  Untersuchung  mit 
Berücksichtigung  der  psychoanalytischen  Methode  erlaubt  den  Schluß, 
daß  die  Zerfahrenheit  im  chronischen  Stadium  bloß  vorgetäuscht  ist, 
daß  von  Verblödung  im  eigentlichen  Sinne  wie  bei  einer  or- 
ganischen Geisteskrankheit  nicht  die  Rede  sein  kann.  Die 
Patienten  denken  im  Gegenteil  noch  sehr  lebhaft;  sie  sind  imstande, 

^)  Bleuler  berichtet  über  einen  Fall  eines  Kranken,  der  seit  Jahren 
in  der  Abwaschküche  tätig  war,  der  aus  dem  Wasserstrahle  am  Hahn  die 
Stimmen  der  Nixen  hörte  und  dadurch  so  gefesselt  war. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praeeox-Kranken.        243 

wenn  sie  sich  zusammennehmen,  relativ  komplizierte  Bilder  zu  be- 
schreiben und  zu  deuten  und  Erzählungen  wiederzugeben.  Eine  Haupt- 
fehlerquelle ist  die  mangelhafte  Applikation,  die  schlechte  Fähig- 
keit sich  zu  konzentrieren.  Der  Experimentator  muß  einen  solchen 
gemüthchen  Rapport  mit  dem  Patienten  im  Laufe  der  Untersuchung 
gewinnen,  daß  er  vermag,  die  Komplexe  des  Patienten  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  auszuschalten  (siehe  das  Beispiel  der  Tellgeschichte 
bei  F.  R.). 

Die  sogenannte  Verblödung  ist  nur  ein  Schein.  Die  Tätig- 
keit des  Patienten  ist  an  die  Außenwelt  nicht  genügend 
angepaßt;  sie  geht  von  innen  heraus  und  erfährt  die 
Korrektur  nicht,  welche  die  Fühlung  mit  der  Außenwelt 
mit  sich  bringt. 

Es  kommt  beim  Patienten  zu  einer  Konzentrierung  des  Affekt- 
lebens um  die  wenigen  Fragen,  welche  ihn  persönhch  stark  interessieren 
(Komplexe!),  das  übrige  ist  ihnen  blaß  und  bedeutungslos. 

Die  Kranken  leben  in  einer  Traumwelt,  in  welcher  sie  ihre 
unerfüllten  Wünsche  der  Kindheit  und  zum  Teil  der  Jetztzeit 
zur  Erfüllung,  ja  noch  mehr,  zu  einer  krankhaften  Kompen- 
sation gelangen  lassen.  Aus  diesem  Grunde  tragen  die  Wahn- 
ideen vielfach  einen  eigenartigen  Charakter,  der  mit  den  Patienten, 
wie  sie  vor  uns  stehen,  scharf  kontrastiert.  Dieser  Traum  ist  für  den 
Patienten  so  gefühlsbetont,  daß  er  das  Interesse  für  die  Außenwelt 
verliert^). 

Ob  die  Unfähigkeit,  sich  an  die  wechselnden  Verhältnisse  der 
Außenwelt  anzupassen  (welche  von  kompensatorischen  Phantasien 
begleitet  ist),  oder  ob  das  Vortreten  der  Innenwelt  mit  sekundärer 
Vernachlässigung  der  Realität  primär  ist,  ist  eine  offene  Frage;  die 
erste  Hypothese  einer  gewissen  primären  Unzulänglichkeit  hat  vieles 
für  sich;  sie  ist  ein  Versuch  einer  biologischen  Erklärung  der 
Phänomene^);  wir  glauben,  daß  die  Psychiatrie  danach  trachten 
sollte,  allmählich  eine  Naturwissenschaft  zu  werden,  eine  besondere 
Disziplin  der  biologischen  Pathologie. 

Diese  beiden  Psychoanalysen  haben  uns  einen  Einblick  in  die 
Entwicklung  des  Individuums  und  der  Krankheit  gegeben.  Wir  sind 
von  dem  Einflüsse   des  Milieu  und  der  Konstellation  in  der 

^)  Vgl.  Jung,  Der  Inlialt  der  Psychose.  Deuticke,  Leipzig  und  Wien,  1908. 
^)  Siehe  die  Definition  der  Krankheit  von  Ribbert   in  „Das  Wesen  der 
Krankheit".  Bonn,  1909. 

16* 


244  A.  Maeder. 

Familie  ausgegangen.  Es  ließ  sich  nachweisen,  daß  der  Vater  und 
die  Mutter  in  beiden  Fällen  einen  ganz  bestimmten  Einfluß  ausübten, 
der  für  die  spätere  Entwicklung  des  Knaben  maßgebend  wurde.  Die 
spätere  Geschmacksrichtung  läßt  sich  auf  infantile  Einflüsse 
zurückführen,  die  Berufswahl,  die  Sympathien  und  Antipathien 
(welche  unter  anderem  bei  der  Wahl  der  Frau  maßgebend  sind),  ge- 
wisse Tendenzen,  wie  bei  F.  R.  ein  echter  ,, Bildungstrieb",  alles  das  zeigt 
sich  durch  die  Prägung  seitens  der  Eltern  in  den  ersten  Lebens- 
jahren für  immer  fixiert.  Das  Milieu  beim  Erwachsenen  wirkt  auch 
bestimmend  auf  den  Inhalt  von  einzelnen  Symptomen;  man  denke  an 
die  Anatomie  und  Physiologie  des  Schlossergesellen  F.  R.,  an  die  be- 
sondere Art  der  Kompensation  in  den  Größenideen,  welche  eine  reich- 
liche Erfüllung  der  Wünsche  eines  durch  das  Schicksal  schlecht  be- 
handelten Menschen  hervorgerufen  hat  (der  häßliche,  arme,  schwächliche 
F.  R.  wird  in  der  Psychose  ein  ,, charmanter,  schöner,  kräftiger,  reicher, 
mächtiger"  junger  Mann). 

Interessant  ist  ferner,  daß  der  Übergang  des  Normalen  zum 
Pathologischen  nicht  scharf  abgegrenzt,  sondern  im  Gegenteil  fließend 
ist;  es  gibt  keine  wirkliche  Kontinuitätstrennung;  die  Psychose 
arbeitet  nicht  nach  prinzipiell  neuen  Mechanismen  (daß  sie 
sich  ohne  Mechanismen  entwickelt;  daß  die  Symptome  ohne  nähere 
Determinante,  aufs  Geratewohl  auftreten,  wird  wohl  kein  Psychiater 
mehr  annehmen,  der  eine  naturwissenschaftliche  Bildung  genossen 
hat),  sie  verwertet  auch  kein  besonderes,  eigenes  Material,  sie  schöpft 
aus  der  früheren  Erfahrung  und  wählt  nach  Komplexgründen  aus 
der  Gegenwart^).  Die  Triebkräfte  des  normalen  Handelns  (Selbst- 
erhaltungstrieb, Sexualtrieb,  mit  seinem  zahlreichen  Partialtriebcn) 
wirken  in  der  Psychose  fort.  Wahrscheinlich  ist  ihr  Zusammeiispiel 
—  die  Synergie  —  gestört. 

Unser  Standpunkt  läßt  sich  durch  den  Ausdruck  psycho- 
genetisch  charakterisieren.  Die  Psychiatrie  ist  auf  dem  Wege,  eine 
erklärende  Wissenschaft  zu  werden,  sie  war  bis  jetzt  eine  be- 
schreibende Wissenschaft.  Zuletzt  möchte  ich  einschränkend  noch 
bemerken,  daß  ich  in  dieser  Arbeit  das  Konstruktive,  die  neuen  Ge- 
sichtspunkte hervorgehoben  habe,  ohne  immer  auf  die  vorhandenen 

^)  Der  Spieltrieb  sogar  bleibt  in  der  Psychose  erhalten  und  wird  durch  die 
Komplexe  alimentiert,  wie  J.  B.  in  seinen  Rätselbildern  und  seiner  Abwehr- 
gymnastik gezeigt  hat.  Siehe  auch  F.  Chalewsky,  Heilung  eines  hyster.  Bellens  durch 
Psychoanalyse.  Zentralblatt  für  Nervenlieilkunde,  1909. 


Psychologische  Untersuchungen  an  Dementia  praecox-Kranlien.        245 

Lücken  hinzuweisen ;  es  ist  bewußt  geschehen.  Wenn  man  zu  einem  neuen 
Gesichtspunkte  gekommen  ist,  muß  man  zuerst  alles  unter  diesem  neuen 
Gesichtswinkel  anschauen;  erst  nachher  soll  die  Kritik  ihr  Werk  an- 
fangen, sonst  sterilisiert  sie  jede  Regung  ab  ovo. 

Um  die  Übersichtlichkeit  der  Darstellung  beizubehalten,  habe 
ich  eine  Auswahl  des  Materials  der  Psychoanalyse  getroffen ;  die  meisten 
Punkte  könnten  besser  belegt  werden,  ich  habe  es  für  unnötig  ge- 
halten^). 

^)  Die  hier  entwickelten  Gedanken  stützen  sich  auf  die  Grundanschauungen 
von  Freud  und  von  der  sogenannte  nYZ  üricher  Schul  e.^Vieles  ist  schon 
in  der  Literatur  niedergelegt,  namentlich  in  den  Arbeiten  von  Freud  und  Jung, 
Mehreres  verdanke  ich  mündlichen  Mitteilungen  von  Bleuler  und  Jung,  •j 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose. 

Von  Dr.  F.  Rikliuj  Nervenarzt,  kant.  Inspektor  für  Irrenpflege,  Zürich. 


Ich  hatte  Gelegenheit,  während  mehreren  Wochen  einen  Zwangs- 
neurotiker zu  beobachten,  über  dessen  Analyse  ich  in  der  psychoana- 
lytischen Vereinigung  in  Zürich  berichtet  habe.  Dabei  kamen  mir 
die  Ausführungen  Freuds  über  die  Zwangsneurose  an  der  Versamm- 
lung in  Salzburg,  Frühjahr  1908,  sehr  zugute.  Freuds  Vortrag  lag 
damals  das  gleiche  Material  zugrunde  wie  in  seiner  Arbeit  ,, Bemer- 
kungen über  einen  Fall  von  Zwangsneurose"  im  soeben  er- 
schienenen II.  Teil  des  ,, Jahrbuches",  Bd.  I.  Die  Lektüre  dieser  pracht- 
vollen Abhandlung  hat  in  mir  die  Bedenken,  die  ich  gegen  die  Ver- 
öffentlichung meiner  Untersuchung  hatte,  verstärkt;  deren  UnvoU- 
kommenheit  ist  mir  allzusehr  bewußt;  ferner  ist  die  Analyse  unvoll- 
ständig, da  sie  aus  äußeren  Gründen  nach  kurzer  Zeit  eine  Unter- 
brechung erleiden  mußte;  das  erschwert  die  Durchleuchtung  des 
komplizierten  Gebildes  noch  mehr. 

Was  mich  dennoch  zur  Veröffentlichung  bestimmt,  ist  der  Fall 
an  sich  und  eine  Keihe  von  Gebilden,  die  wir  trotz  der  Unfertigkeit 
der  ganzen  Analyse  verstehen  können.  Ich  hoffe,  später  den  Fall  auch 
theoretisch  vollständiger  aufklären  zu  können. 

Ich  erhielt  die  unbeschränkte  Vollmacht,  das  Material  zu  ver- 
werten. 

Die  uneingeschränkte  Erlaubnis  zur  Publikation  wird  ergänzt 
durch  das  Vorhaben  des  Patienten,  auch  seinen  Leib  der  Wissenschaft, 
dem  Seziermesser,  zu  opfern  und  ihn  dereinst  einer  Anatomie  zu  schen- 
ken. Dieser  Zug  an  unserem  Kranken  wurzelt  ebensosehr  in  seinen 
,, Komplexen  '  wie  die  Wahl  der  Philosophie  als  Universitätsstudium 
und  die  Auswahl  seiner  Kollegien,  in  denen  solche  über  Philosophie, 
Ethik   und    Geographie   vorwiegen. 


Aus  dei-  Analyse  einer  Zwangsneurose.  247 

Er  ist  zwanzig  Jahre  alt,  körperlich  zart,  von  keinem  Sport 
gestählt,  der  Habitus  noch  etwas  infantil;  s<  ine  Bewegungen  sind 
bedächtig  und  ungeschickt.  Ich  sah  von  ihm  eine  Photographie  aus 
dem  fünften  Jahr  und  es  fiel  mir  auf,  wie  merkwürdig  v/enig  er  sich 
im  Grunde  genommen  seither  verändert  habe.  Dort  sah  er  zart,  aber 
sehr  geweckt  aus.  Das  ist  er  auch  jetzt;  nur  liegt  über  der  Persönlich- 
keit eine  Unfreiheit,  Unsicherheit  und  ein  Ausdruck  von  Enttäuschung. 
Die  seelischen  Infantilismen,  die  seelische  Unsicherheit  der  Zwangs- 
neurose, die  Phobie  vor  der  Berührung  von  Gegenständen,  welche  ihm 
als  ,, infiziert"  galten,  die  Enttäuschung  an  der  Wirklichkeit,  an  der 
Welt,  wie  sie  ist  und  die  damit  zusammenhängende  Tendenz  der 
Regression  ins  Infantile  malen'sich  deutlich  in  seinem  Gehaben.  Er 
ist  liebenswürdig  und  liebebedürftig.  Die  Übertragung  gelingt  leicht; 
doch  machen  sich  oft  große  Widerstände  geltend,  aus  denen  der  Kranke 
sichtlich  einen  Lustgewinn  bezieht;  er  versteht  es,  den  Arzt  mit  den 
Widerständen  zu  quälen. 

Er  fühlte  sich,  mit  seinem  seelischen  Kram  und  Spielzeug,  mit 
seinen  Leiden  unverstanden  und  vereinsamt,  ungemein  erleichtert, 
einen  Arzt  zu  finden,  der  die  Vorgänge  in  seiner  Seele  überhaupt  be- 
greifen will,  nachdem  er  vorsichtig  sondiert  hatte,  ob  man  ihn  nicht 
verlachen  werde.  Dann  eröffnet  er  seine  Geheimnisse  mit  großer 
Pietät,  nachdem  er  sie  bisher  wie  einen  jungfräulichen  Schatz  gehütet 
hatte.  Namentlich  sind  es  die  Produkte  seiner  wundersamen  Tag- 
träumereien und  Phantasien,  welche  er  mit  Sorgfalt  entschleiert,  und 
seine  Leiden,  welche  er  wirkungsvoll  darstellt. 

Im  Aufbau  der  Neurose  und  ihrer  Symptome  liegt  ein  ungemeiner 
Aufwand,  eine  große  Leistung;  er  hat  ihm  auch  einen  großen  Teil 
seiner  Zeit  und  seines  Daseins  geschenkt.  Ich  habe  den  Eindruck,  es 
bereite  ihha  Genuß  und  Behagen,  einem  Kenner  seine  Raritätensamm- 
lung zeigen  und  Wollust  und  Entsetzen  seines  Lebensromans  dabei 
wieder  durchkosten  zu  können.  Dank  der  unverkennbaren  maso- 
chistischen  Tendenz,  die  sich  anscheinend  breiter  macht  als  die  sadi- 
stische, scheint  er  auch  aus  dem  Peinlichen  Lust  zu  schöpfen,  sofern 
es  gelungen  ist,  nicht  nur  das  scheinbar  Peinliche,  sondern  auch  das 
wirklich  Peinliche  ans  Licht  zu  ziehen. 

Neben  den  Widerständen  zeigte  sich  eine  große  Wißbegierde, 
die  der  Analyse  notwendig  großes  Interesse  entgegenbrachte.  Er 
bedauerte  lebhaft  die  Unterbrechung  der  Behandlung,  den  Verlust 
der  angenehmen  und  interessanten  Unterhaltung! 


248  F.  Riklin. 

An  der  Unterbrechung  war  Patient  in  erster  Linie  selbst  schuld: 
es  gab  zwar  mehrere  einwandfreie  Gründe,  im  kommenden  Semester 
in  eine  andere  Universitätsstadt  überzusiedeln;  aber  es  spielte  dabei 
besonders  der  Wunsch  mit,  den  Winter  in  einer  Landschaft  zu  ver- 
bringen, die  das  Milieu  seiner  Tagträumereien  widerspiegelte,  und 
dieser  Sehnsucht  opferte  er  auch  die  Aussicht,  möglichst  bald  durch 
die  Analyse  von  seiner  anscheinend  qualvollen  Krankheit  befreit  zu 
werden.  Die  Tendenz,  in  der  Krankheit  zu  bleiben  und  den  darin  ge- 
botenen Gewinn  auszukosten,  hält  somit  der  anderen,  dem  Wunsche 
gesund  zu  werden,  noch  reichlich  die  Wage;  die  Nachteile  der  Krank- 
heit haben  den  jungen  Patienten  noch  nicht  mürbe  gemacht. 

Der  folgende  Traum,  welcher  die  Behandlung  inaugurierte, 
dem  somit  große  Bedeutung  zukommt,  klärt  uns  noch  weiter  über 
die  Art  der  Übertragung  und  die  Verwertung  der  analytischen  Be- 
handlung durch  den  Patienten  auf. 

Er  hatte  sich  aus  dem  Grausen  seiner  bisherigen  Stadtwohnung 
geflüchtet  und  ein  Zimmer  in  einem  benachbarten  Dorfe  bezogen. 
Von  dieser  Flucht  aufs  Land  hoffte  er  eine  Verminderung  seiner  Pho- 
bien und  anderseits  kam  er  so  in  die  Nähe  von  Dr.  Jung,  dem  er  sich 
anvertrauen  wollte. 

In  seiner  Anschauung  mußte  sein  Arzt  übrigens  unverheiratet 
sein  und  durfte  keine  Kinder  haben,  die  Entdeckung  des  ulegenteils 
war  eine  unerwartete,  fast  unangenehme  Überraschung  und  daß  auch 
ich  verheiratet  bin,  erwies  sich  für  den  Gang  der  Analyse  als  eine 
folgenschwere  Tatsache. 

Dr.  Jung  wies  den  Kranken  an  mich.  In  der  Nacht  oder  amMorgen 
vor  der  ersten  Konsultation  träumte  er  nun  folgendes: 

Er  stellt  sich  die  Konsultation  zum  voraus  vor;  er  sitzt  bei  mir 
und  erzählt  seine  Leidensgeschichte.  Da  verändert  sich  allmählich 
die  Szene:  Statt  daß  er  mir  erzählt,  verwandelt  er  sich  in  das  Objekt 
einer  masochistischen  und  exhibitionistischen  Phantasie:  er  ist  un- 
bekleidet an  einen  Pfahl  oder  Baum  geschnallt,  wehrlos,  und  zwar  so, 
daß  er  den  Baum  umarmen  muß,  und  dann  wieder  mit  dem  Rücken 
an  denselben  gebunden  ist.  Der  Traum  kennzeichnet  genügend  die 
Auffassung  der  Analyse  und  die  Art  der  Übertragung.  Patient  scheint 
übrigens  ein  Traumstück  unterschlagen  zu  haben;  er  sagt  nicht,  wer 
ihn  bindet  und  quält;  wir  dürfen  annehmen,  daß  es  sich  nicht  nur  um 
eine  Exhibition  des  Leidens  handelt;  denn  Patient  hat  zahlreiche, 
ganz  entsprechende  Phantasien,  wo  es  der  Vater  ist  (respektive  die 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  249 

im  Vater  verkörperten  Tendenzen  der  Eltern^),  der  ihn  mißhandelt 
oder  mit  Qual  droht,  Phantasien,  wo  er  seinem  Diener  befiehlt,  ihn  wehr- 
los zu  machen,  zu  binden,  einzugraben  (er  war  dabei  immer  nackt)  und 
so  die  Drohungen  des  Vaters  in  der  Phantasie  zu  realisieren.  Der  Arzt 
wird  also  mit  dem  Vater  identifiziert,  es  wird  ihm  auch  dessen  Rolle 
zugeteilt.  Die  Analyse  ergibt  aber  noch,  daß  eine  der  frühesten  Szenen, 
welche  dieser  masochistischen  Tendenz  Nahrung  boten,  in  sehr  früher 
Kindheit  stattfand  und  sich  im  Sprechzimmer  eines  Arztes  abspielte. 
Er  wurde  wegen  Plattfüßen  und  anderer  kleinerer  Gebrechen  zum 
Orthopäden  gebracht  und  mußte  sich  dort  ausziehen.  Es  waren  eine 
Reihe  orthopädischer  Apparate  im  Zimmer  und  Nebenzimmer  und  die 
Mutter  drohte,  wenn  er  nicht  artig  sei,  werde  er  zur  Strafe  an  solche 
Apparate  geschnallt.  Er  stellte  sich  die  Folterung  durch  den  Arzt 
lebhaft  vor  und  empfand  dabei  eine  Wollust,  die  er  sich  in  Zukunft 
durch  Ausmalung  ähnlicher  Situationen  wieder  zu  verschaffen  suchte. 

Wir  dürfen  wohl  annehmen,  daß  die  Szene  beim  Orthopäden 
nicht  die  ursprünglichste  ist,  welche  zur  Qualeinstellung  führte.  Es 
fehlen  uns  vorläufig  genauere  Anhaltspunkte.  Patient  sagt,  daß  er 
als  Knabe  immer  von  der  Mutter  geprügelt  worden  sei,  nicht  vom 
Vater;  und  doch  scheint  die  Szene  beim  Orthopäden  eine  frühere 
mit  dem  Vater  irgendwie  zu  decken. 

Wir  haben  noch  weitere  Gründe  zu  der  Annahme,  daß  dem 
Masochismus  ein  alter  Sadismus,  wenn  wir  das  so  bezeichnen  wollen, 
vorausgeht,  eine  alte  Auflehnung  gegen  Vater  oder  Mutter,  oder  beide, 
und  eine  Umgestaltung  des  Unterliegens  in  Genuß. 

Durch  die  spätere  Jugendzeit  hindurch  bis  in  die  letzten  Jahre 
geht  ein  Zug  von  Zerstörungswut,  der  sich  darin  äußerte,  daß  er,  wenn 
ihm  ein  kleines  Unternehmen  mißlang,  z.  B.  ein  Tintenklecks  auf 
ein  schön  beschriebenes  Zettelchen  fiel  oder  sonst  eine  Vollendung 
nicht  erreicht  wurde  in  eine  kleine  Raserei  geriet  und  die  Zerstörung 

^)  Der  Kampf  gegen  die  Macht  und  Autorität  der  Eltern  konzentriert  sich 
gewöhnlich  im  Vaterkomplex  des  Sohnes.  Die  männliche  Gottheit  entwickelt  sich 
aus  dem  Vaterkomplex.  So  kann  es  nach  meiner  Meinung  kommen,  daß  auch  von 
der  Mutter  her,  sofern  cüe  Mutter  an  der  Macht-  und  Autoritätswirkung  beteiligt 
ist,  Einflüsse  kommen,  die  im  Vaterkomplex  abgehandelt  werden. 

Ein  Patient,  ein  Pole,  schöpfte  aus  der  Revolution  gegen  die  Eltern  die  Mo- 
tive zur  Revolutionsbetätigung  auf  politischem  Gebiete.  Er  ist  sich  über  diesen 
Zusammenhang  ganz  klar.  Dabei  ist  Polen  in  seinen  Vorstellungen  das  Mutter- 
land, nicht  das  Vaterland.  Die  Autorität  verkörpert  sich  im  V  a  t  e  r.  Von  der 
Mutter  wiU  sich  der  neurotische  Sohn  zunächst  nicht  befreien.  ,'' 


250  F.  Riklin. 

fortsetzte;  dadurch  opferte  er  aber  etwas,  das,  wie  wir  sehen,  für  ihn 
einen  großen  Wert  hatte.  Und  bei  diesem  ganzen  Vorgange  kam  eine 
Wollust  über  ihn,  die  seit  der  Pubertät  zum  Orgasmus  führen  konnte. 

Eine  Serie  von  Opferhandlungen  zeigt  nicht  mehr  deutlich  das 
Wutmotiv,  das  Mißlingen,  sondern  es  wird  nur  noch  etwas  Liebes  ge- 
opfert zugunsten  eines  andern  geliebten  Objektes  und  aus  dem  Opfer- 
schmerz der  masochistische  Genuß  geschöpft,  der  später  immer  leicht 
zum  Samenerguß  führt. 

Ein  weiterer  Grund  ist  eine  weitgehende  Verdrängung  des 
Analerotischen,  d.  h.  in  der  Zwangsneurose  sehen  wir  die  sukzessive 
Darstellung  des  positiven  Analerotismus  und  dessen  Verdrängung. 
Und  in  den  masochistischen  Phantasien  stellt  er  die  Qual  dar  in  irgend- 
einer Form,  in  welchem  ilim  von  den  Eltern  Strafe  angedroht  worden 
war,  z.  B.  Gebunden-  und  Eingewickeltwerden;  dabei  finden  wir  auch 
die  Qual  der  Züchtigung. 

Die  Art  der  Übertragung  auf  den  Arzt,  welche  in  diesem  Inau- 
guraltraum  sich  kennzeichnet,  ruft  den  Vergleich  mit  den  Über- 
tragungsträumen weiblicher  Kranker. 

Diese  bekommen  ein  Kind  von  ihm,  mit  oder  ohne  Zensur,  d.  h. 
mit  oder  ohne  Vergewaltigung  (im  Sinne  des  Witzes,  wo  das  im  Walde 
ihres  Geldes  beraubte  ältere  Fräulein  zum  Räuber  sagt:  Ja,  und  wo 
bleibt  denn  die  Vergewaltigung?) 

Unser  Patient  ersetzt  das  weibliche  Analvsenübertragungs- 
Verhältnis  eben  einfach  durch  eine  Vergewaltigung  durch  einen  Mann, 
den  Arzt  (ehedem  Vater?). 

Der  Arztübertragung  der  weiblichen  Patienten  wird  wohl  ebenso 
eine  Vaterübertragung  vorausgehen. 

Sich  selbst  drängt  der  Patient  durch  diesen  Traum  in  die  Rolle 
des  Weibes. 

Lebensgeschichte: 

Patient  ist  1889  in  einem  Städtchen  nahe  der  Landeshauptstadt 
geboren.  Er  ist  das  einzige  Kind;  die  Mutter  soll  eines  Myoms  wegen, 
das  sich  in  der  Schwangerschaft  ausgebildet  habe,  seither  unfruchtbar 
geblieben  sein;  diese  Kenntnis  erhielt  Patient  in  seinen  Pubertäts- 
jahren durch  Andeutungen.  Beide  Eltern  leben;  der  Vater  ist  15  Jahre 
älter  als  die  Mutter. 

Die  Schilderungen  des  Patienten  von  seinen  Eltern  geschehen, 
wie   er  selbst  sagt,  in  einer  besonderen  Beleuchtung.    Er  will  ganz 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  251 

objektiv,  sachlich  beschreiben;  in  dieser  versuchten,  forcierten  Sach- 
lichkeit, für  deren  Darstellung  leider  zu  wenig  Raum  ist, 'liegt  gerade 
das  Besondere. 

,,Ich  bin  ganz  sachlich  im  Urteil  über  meine  Eltern.  Ich  liebe 
sie  genau  so,  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  als  den  Hund  zu  Hause. 
Wenn  ich  heim  komme,  bin  ich  zärtlich  mit  dem  Hunde,  tändle,  spiele 
mit  ihm,  kneife  und  knete  ihn.  Genau  so  mache  ich  es  mit  meinem 
Vater." 

Patient  erzählt,  wie  er  den  Hund  heranlocke  mit  den  Worten: 
,,Komm,  Foxerl,  komm  zur  Qual",  und  dann  beginnen  diese  Lieb- 
kosungen des  Hundes,  den  er  auf  den  Rücken  legt,  knetet,  oder  an  den 
Beinen  über  den  Teppich  schleppt.  Den  Vater  quälte  er  in  der  gleichen 
Weise,  wenn  er  am  Morgen  noch  zu  Bette  lag,  oder  beim  Mittags- 
schlafe, und  freute  sich,  wenn  er  schrie  oder  piepte. 

Patient  hat  eine  große  Freude,  diese  etwas  kindischen  Dinge 
zu  erzählen.  Er  rächt  sich  sadistisch  am  Vater  in  einer  Form,  die 
keine  schlimmen  Folgen  für  ihn"  hat. 

,, Geistig  stehe  ich  meinen  Eitern  genau  so  nahe  wie  dem  Hund." 
In  dieser,  durch  eine  Auflehnung  gegen  die  Eltern  beruhenden  Über- 
treibung ist  doch  etwas  Wahres.  Sie  stehen  ihm  seelisch  nicht  nahe; 
seine  Auflehnung  hat  sehr  früh  begonnen,  so  früh  sozusagen  wie  sein 
Wissensdrang;  und  was  von  den  Eitern  verboten  worden  wäre,  das 
rettete  er  in  große  Phantasien,  die  ihm  als  rein  und  heilig  galten.  In 
dieses  geistige  Leben  hatten  die  Eltern  keinen  Einblick. 

,, Meinen  Vater,  über  dessen  Physis  ich  sonst  wenig  zu  sagen 
weiß  —  er  war  immer  gesund  —  halte  ich  für  recht  unintelligent.  Er  ist 
Richter.  Ich  halte  ihn  für  einen  miserablen  Richter;  zu  Hause  hat  er 
keinen  Gerechtigkeitssinn;  daraus  muß  ich  schließen,  daß  er  auch  in 
seinem  Berufe  so  ist.  Er  ist  ungeheuer  gutmütig,  Phlegmatiker,  mit 
einem  Stich  ins  Melancholische.    Es  vergehen  Monate,  bis  er  lacht." 

Dieser  Ausschnitt  ist  vielsagend  für  die  gegenwärtige  Stellung 
des  Sohnes  zum  Vater.  Wir  erkennen  klar  eine  Auflehnung,  den 
revolutionären  Kampf,  der  zur  Ablösung  führen  sollte. 

Der  Vater  wird  als  unwissend  hingestellt  —  wahrscheinlich 
eine  Rache  dafür,  daß  er  dem  Sohn  zu  bestimmter  Zeit  gewisse  Kennt- 
nisse vorenthielt,  sich  unwissend  stellte;  und  als  ungerecht,  weil  die 
väterliche  Autorität  dem  Sohn  Hemmnisse  entgegenstellte,  die  er 
nun  zu  überwinden  sucht.  Er  ist  im  Zweifel,  welcher  Tendenz  er 
endgültig  folgen  will :  ob  der  kindlichen  Befriedigung  von  Liebkosungen 


252  F.  Riklin. 

mit  sadistiscliem  Zug,  oder  ob  er  erwachsen  sein  will,  ob  er  sich  vom 
Vater  ablösen,  befreien  will.  In  der  Vaterübertragung  liegen  Liebe  und 
Haß;  der  Haß  erleichtert  die  Vorbereitungen  zur  Übertragung  auf 
neue  Objekte. 

Zwischen  die  beiden  Tendenzen  stellt  Patient  eine  Zwangs- 
zeremonie, zu  welcher  der  Hund,  der  in  diesem  Zusammenhange  den 
Vater  vertritt,  das  Mittelglied  abgibt.  Unter  dem  Vor  wände,  der 
Hund  habe  Würmer,  mit  welchem  man  sich  infizieren  könnte,  dehnt 
er  einen  aus  einer  andern  Quelle  hergeleiteten  Waschzwang  auf  alles 
aus,  was  mit  dem  Hunde,  d.  h.  mit  den  Eltern  in  Berührung  kommt. 
Der  Hund  ist  der  Liebling  der  Mutter,  er  darf  auf  dem  Bette  und  dem 
Sofa  liegen,  also  sind  die  Eltern  mit  Wurmeiern  (analer,  d.  h.  anal- 
erotischer Abkunft)  infiziert. 

Er  knetet  also  den  Bauch  des  Vaters  oder  des  Hundes;  da  aber 
diese  Objekte  infiziert  sind,  erfolgt  darauf  eine  gründliche  Wasch- 
prozedur; die  infantile  ,,  Seh  weinerei",  welche  durch  die  wohl  ver- 
wertete Symbolik  des  Hundes  ausgezeichnet  dargestellt  ist,  ist  nur 
gestattet  durch  die  nachfolgende  Zwangsabsolution.  Mit  dieser  Wa- 
schung quält  er  seine  Eltern  wieder,  denen  er  ruhig  sagt,  er  habe  sie 
zwar  lieb,  aber  sie  seien  ihm  ein  Gegenstand  des  Grausens  und  Ekels. 
Er  weidet  sich  nun  an  der  Indignation  des  Vaters  und  den  Tränen- 
strömen der  Mutter. 

Von  der  Mutter  sagt  er,  sie  sei  aufgeregt,  von  einem  Extrem 
der  Stimmung  ins  andere  fallend,  übermäßig  zärtlich  und  ungehemmt 
zornig.  Sie  verhätschelte  den  Sohn,  ohne  ihn  später  intellektuell  zu 
verstehen.  Er  erinnert  sich  an  Fälle,  wo  er  schon  als  kleiner  Bub 
von  6  bis  7  Jahren  ganz  ungerecht  gezüchtigt  wurde. 

Die  Anschauungen  in  der  Familie  waren  äußerst  konventionell. 
Man  sah  sehr  auf  das  Urteil  der  anderen  Leute  und  tat  nichts,  was 
geläufigen  Vorurteilen  vor  den  Kopf  stieß. 

Über  natürliche  Dinge  wurde  nie  gesprochen.  Als  der  Sohn  z.  B. 
ins  Ausland  studieren  ging  —  was  eine  große  Umwälzung  bedeutete  — 
fühlte  man  sich  verpflichtet,  ihn  sexuell  aufzuklären,  was  ja  schon 
längst  anderwärts  geschehen  war.  Jeder  schob  diese  schwere  Eltern- 
pflicht dem  andern  zu  und  die  Aufklärung  geriet  sehr  komisch.  Man 
sprach  vom  Leben  und  seinen  Gefahren  und  daß,  falls  ,, gewisse" 
Krankheiten  eintreten,  man  heutzutage  nicht  zu  verzweifeln  brauche. 
Das  weitere  übertrug  man  dem  Onkel  Apotheker,  der  es  derber  be- 
sorgte und  dem  angehenden   Studenten  zum  Abschied  ein  kleines 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  25d 

Paket  mit  Schutzmitteln  in  die  Hand  drückte  —  übrigens  ganz  über- 
flüssigerweise. In  den  ersten  Universitätsferien  amüsierte  er  sich  dann 
damit,  diese  Geräte  mit  Wasser  zu  füllen  und  die  Mutter  damit  zu 
entsetzen ! 

Zu  den  Beziehungen  zwischen  Sohn  und  Mutter  ist  zu  bemerken, 
daß  direkte  Inzestphantasien  vorhanden  sind.  Ferner,  daß  er  immer 
den  Wunsch  hatte,  die  Mutter  beim  An-  und  Auskleiden  zu  sehen, 
wobei  sie  in  späteren  Jahren  die  Entrüstete  spielte  und  ihn  mit  dem 
Onkel  Apotheker  verglich,  der  seine  Schwestern  jeweilen  durch  ähn- 
liche Überraschungen  erschreckt  hatte.  Sie  liebte  es,  ihre  Füße  zu  zeigen ; 
dann  trieb  sie  einen  Kult  mit  seinen  Füßen,  und  nannte  sie  infantil 
,,Futi'\  Darunter  verstand  aber  Patient  selbst  ,,ein  ekelhaftes  Wort" 
und  wenn  das  Dienstmädchen  am  Morgen  hereinkam  und  das  hörte, 
war  es  ihm  äußerst  peinlich;  es  mußte  auch  etwas  anderes  darunter 
verstehen.  [Es  gehört  dies  zu  den  Beziehungen  zwischen  FLißfetischis- 
mus  und  Sexualorganen.] 

In  seinen  Phantasien  treibt  Patient  dann  selber  einen  Kult  mit 
seinen  Füßen. 

Es  fanden  auch  Ringkämpfe  statt,  in  denen  die  Mutter  immer 
unterlag  und  in  eine  Ecke  gedrängt  wurde.  Er  verfolgte  sie  als  Schlange 
(,, Jetzt  kommt  die  Schlange"),  Salamander,  Gespenst,  das  wie  ein 
Frosch  hüpfte  und  sie  erschreckte. 

Er  nannte  diese  bedeutsamen  agressiven  Spiele  ,,Ilomps"  oder 
bezeichnete  die  Tätigkeit  mit  ,, Samen  der  Verwirrung  streuen".  Nach- 
her hatte  er  oft  moralischen  Katzenjammer.  Es  ist  uns  leicht,  den 
Sinn  dieser  Spiele  mit  dem  sadistischen  Zuge,  als  Abkömmlinge  von 
Inzestvorstellungen  zu  entlarven. 

Die  Mutter  trieb  mit  ihm  bis  in  die  neuere  Zeit  das  ,, Poperl- 
spiel" oder  den  ,, Poperlkultus".  Es  war  ein  ausgesprochener  Analzonen- 
kultus,  den  ich  nicht  näher  zu  beschreiben  brauche  und  der  sich  auch 
noch  dem  erwachsenen  Sohne  gegenüber  erhalten  hatte,  unter  dem 
Schutze  des  mütterlichen  Rechtes  auf  intime  Zärtlichkeiten^^den 
Kindern  gegenüber.  Dieses  von  der  Konvention  anstandslos  be- 
willigte Recht  dehnte  ]sie  auch  dahin  aus,  daß  sie  ihm  mit  Vergnügen 
intime  Zimmerdienste  wie  einem  kleinen  Kinde  besorgte,  auch  als  er 
schon  groß  war  und  daß  sie  die  Gelegenheiten  dazu  geradezu  pro- 
vozierte. 

Der  Sohn  bekam  mit  der  Zeit  das  Gefühl  dafür,  daß  diese  Aus- 
dehnung des  infantilen  Analzonenkultus  nicht  mehr  passe;    aber  er 


254  f>.  Riklin. 

verzichtet  doch  nicht  gerne  darauf.  Und  darum  erfindet  die  Neurose 
den  gleichen  Ausweg  wie  beim  Vater :  Sie  läßt  diese  Kulte  gewähren,  aber 
da  die  Mutter  den  Hund  mit  den  Würmern  liebkost,  erfolgt  eine  Wasch- 
prozedur dagegen.  Der  Analzonenkult  erhält  im  Symbol  des  Hundes 
mit  den  Würmern  seine  Abwehr  durch  den  Waschzwang,  dessen  Her- 
kunft, wie  wir  sehen  werden,  abzuleiten  ist  aus  einem  Reinigen,  Ab- 
waschen des  Unreinen,  mit  einer  Verschiebung  vom  Psychischen  ins 
Körperliche.  Was  unrein,  schmutzig  im  konventionell-ethischen  Sinne 
ist,  soll  reingewaschen  werden  durch  eine  körperliche  Waschung,  eine 
Verschiebung,  welche  in  den  symbolischen  Waschungen  in  den  Kulten 
bereits  stattgefunden  hat  („die  Hände  in  Unschuld  waschen";  Taufe; 
das  „Lavabo"  in  der  Messe).  Aber  der  Begriff  „rein"  und  „unrein" 
wird  beim  Zustandekommen  des  Waschzwanges  noch  in  einem  andern 
Sinne  gebraucht:  ,, Unrein"  sind  die  sadistischen  und  andern  Lieb- 
kosungen der  Eltern  und  durch  eine  Verallgemeinerung,  was  von  den 
Eltern  herkommt.  „Rein"  sind  seine  infantil-erotischen  und  späteren 
erotischen  Phantasien,  die  er  vor  den  Eltern  verborgen  hält,  für  sich 
behält;  es  war  ihm  furchtbar  peinlich,  wenn  er  irgendein  Zettelchen 
verlor,  in  welchem  etwas  von  diesen  Phantasien  stand. 

Durch  diese  doppelte  Herkunft  des  Begriffes  ,,rein"  und  „unrein", 
im  Sinne  der  konventionellen  Anschauungen  (der  Eltern)  und  gegen 
die  Eltern  kann  es  kommen,  daß  gewisse  Dinge  in  seinen  Phantasien 
„rein"  sind,  welche  im  Zusammenhange  mit  den  Drohungen  der  Eltern 
„unrein"  sind.  Überdies  ist  der  Begriff  ,,rein"  auf  erotischem  Gebiete 
ja  den  weitesten  Schwankungen  unterworfen,  was  dem  Streben  der 
Zwangsneurose,  Unsicherheit  zu  haben  und  Entscheidungen  aufzu- 
schieben,  außerordentlich  passend  vorkommen  muß. 

Im  Begriffe  ,,rein"  aus  der  einen  und  andern  Herkunft  liegt 
das,  daß  die  wirkliche  erotische  Betätigung  am  Objekt  im  Gegensatz 
zur  Betätigung  in  der  Phantasie  abgelehnt  wird.  Dazu  gehören:  die 
Manipulationen  an  den  Eltern  und  am  Hunde,  der  wirkliche  Sexual- 
verkehr, (wirklich  im  Gegensatze  zum  Vorkommen  in  der  Phantasie), 
das  sexuelle  Berühren  des  Objektes  der  Liebe,  die  Masturbation. 

Der  Waschzwang  erfährt  eine  Ausdehnung  auf  alles,  was  von 
zu  Hause  kommt,  auch  auf  die  Briefe,  die  er  zuerst  mit  Interesse  liest. 

Die  Würmertheorie  beruht  gleichfalls  auf  einer  Verschiebung. 
Die  Infektionstheorie  ist  nur  für  die  Oberfläche.  Die  hunde- 
mäßige Art,  wie  das  Tier  zu  AVürmern  kommt,  ist  das  Wesentliche, 
dem     die    Abwehr,      welche     eine     der  Affektquellen    des  Wasch- 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  255 

Zwanges  bildet,  gilt  dem  „Hundebrauch".  (Belecken  des  Afters,  ,, tie- 
rische" Art  der  Hunde.) 

Im  ,,Himdeb rauch"  tritt  uns  vor  allem  die  Analerotik  ent- 
gegen. Der  ,, Poperlkult"  beweist  uns,  daß  sie  auch  von  der  Mutter 
geradezu  gezüchtet  wurde.  Im  Übertragungstraume,  wo  Patient 
sich  nicht  allein  von  vorn,  sondern  auch  von  hinten  quälen  läßt,  haben 
wir  neue  Beweise.  Die  Wurmeier  treten,  wie  wir  später  sehen  werden, 
in  eine  Linie  mit  Spermatozoen^).  Das  Gequältwerden  von  vorn 
wird  in  einer  andern  Phantasie  —  im  Kampfe  mit  dem  Schlaf  —  dar- 
gestellt durch  schmerzhaftes  Einführen  eines  Katheters  in  die  Harn- 
röhre. Fügen  wir  hinzu,  daß  Patient  ausgesprochen  ästhetisch  ist, 
auch  von  erotischen  Bildern  nur  ästhetisch  einwandfreie  liebt,  die 
anderen  verabscheut,  so  vermögen  wir  durch  den  Waschzwang  hin- 
durch die  verdrängten  infantilen,  analerotischen  Wünsche  zu  erkennen, 
die  Patient  in  der  Analyse  noch  nicht  angebracht  hat.  Der  Zwang 
setzt  erst  später,  in  der  Vorpubertät  ein,  richtet  sich  in  seiner  Haupt- 
front gegen  das  Sexuell- Gemeine.  Aber  während  es  nicht  allzuschwer 
war,  dies  bew^ußt  zu  machen,  hat  die  Analyse  die  infantilen  Quellen 
erst  teilweise  aufgedeckt. 

Wir  sind  von  der  Darstellung  der  Verhältnisse  im  Elternhause 
mitten  in  die  Zwangssymptome  und  Phobien  hineingeraten. 

Indem  ich  im  Programme  weiterfahre,  möchte  ich  ein  Beispiel  an- 
führen, wie  merkwürdig  der  Knabe  das  ,, brutale  Spielverderben" 
durch  den  Vater  abreagierte. 

Mit  einem  Kameraden  hatte  er  abgemacht,  jedesmal,  wenn 
die  Eltern  (hauptsächlich  betraf  es  den  Vater)  sie  in  ihren  Spielen 
stören,  brutal  unterbrechen  oder  verständnislos  schimpfen,  solle  in 
Gegenwart  des  Beleidigers  laut  das  Wort  ausgesprochen  werden: 
,,Mq",  ,,Emque".  Das  Wort  wurde  also  da  angewendet,  wo  wir  etwa 
einen  maskierten  Fluch  erwarten  könnten.  Der  Sprachgebrauch  pflegt 
Fluchworte,  deren  Analyse  oft  haarsträubende  sexuelle  Schmähungen 
zutage  fördert,  durch  verschiedene  Methoden:  Abkürzung,  Verball- 
hornung, Verschiebung  usw.  so  abzuschwächen,  daß  ihre  Bedeutung 
dem,  der  sie  ausspricht,  gar  nicht  mehr  bewußt  wird.  So  kann  man  die 
in  ihrer  Bedeutung  schlimmsten  Fluchabkürzungen  im  Munde  der 
gesitteten  Dame  in  bester  Gesellschaft  hören.  Wir  besitzen  in  der 
Schweiz  z.  B.  Kose-Adjektiva,  die  ursprünglich  schlimme  Flüche  waren. 

^)  Darin  liegt  eine  starke  Verdrcängung  der  Inzestwünsche,  welche  er  als 
Kind  mit  infantilen  und  jetzt  mit  erwachsenen  Anschauungen  hat. 


256  F.  Riklin. 

Freud  hat  in  seiner  erwähnten  letzten  Arbeit  ähnliclie  Formeln 
analysiert,  wie  das  ,,Emque''  unseres  Patienten;  nur  stammen  sie 
dort  aus  Anfangsbuchstaben  von  Gebeten,  in  die  sich  zwangsmäßig 
die  Negation  eines  guten  Wunsches  einmischt,  und  die  als  Wort  ge- 
lesen,  einen   neuen   bedeutsamen   Inhalt   bekommen. 

,,Emque"  ist  eine  Abkürzung  von  ,, Marterqualen". 

Als  Fluch  heißt  das:  „Du  sollst  Marterqualen  erdulden!"  Welche 
Marterqualen  gemeint  sind,  können  wir  leicht  erraten;  wir  haben  sie 
bei  der  Analyse  des  Übertragungstraumes  und  später  kennen  gelernt. 

Im  Anwendungsritus  von  ,,Emque"  liegt  aber  eine  Übertreibung 
des  Leides,  das  dem  Knaben  durch  die  ,,Brutalisierung"  zugefügt 
wird.  Die  Brutalisierung  wird  als  Erduldung  der  Marterqualen  ge- 
deutet, von  denen  der  Knabe  wunschhaft  phantasiert.  Sadistische  und 
masochistische,  männliche  und  weibliche  Sexualphantasien  sind 
also  am  Aufbau  des  „Emque"  beteiligt. 

In  der  Anwendung  liegt  eine  durch  die  Furcht  vor  dem  Vater 
durch  die  Abkürzung  und  Symbolisierung  abgeschwächte  Auflehnung 
gegen  die  Autorität.  Es  ist  eine  Form,  dem  Vater  zu  sagen,  er  sei 
ein  brutaler,  dummer  Kerl,  ohne  daß  es  der  Vater  versteht  und  sich 
rächen  kann.  .  ;    |25 

,,Emque"  ist  ein  Geheimnis  der  Knaben;  sie  wissen  etwas,  was 
der  Vater  nicht  weiß.  Sie  hänseln  ihn  damit,  sie  sagen,  daß  sie  das  Ge- 
heimnis ganz  gut  wissen,  das  ihnen  die  Eltern  vorenthalten,  von  dem 
sie  heucheln,  sie  wissen  nichts  davon. 

Das  wird  uns  klar,  wenn  wir  erfahren,  daß  der  Kamerad  im 
Bunde  der  ist,  welcher  den  Patienten  kurz  vorher  in  das  große  Ge- 
heimnis von  der  Herkunft  der  Kinder  eingeführt  hatte,  das  sie  vor 
den  Eltern,  die  nichts  davon  verlauten  lassen  wollten,  geheimhalten 
mußten.  ,,Emque"  heißt  also:  ,,Wir  wissen  es  schon;  wenn  ihr  weiter 
die  Naiven  spielen  wollt,  wünschen  wir  euch  viel  Vergnügen." 

Bezeichnend  ist  die  Verwendung  einer  Formel,  deren  Inhalt 
in  archaischer  Darstellung  das  sagt,  was  der  Kleine  in  den  ersten 
Kinder  jähren  schon  einmal  wußte  und  was  durch  die  Mitteilung  des 
Kameraden  von  neuem  entdeckt  wurde. 

Wir  ergänzen  die  Beweisführung  durch  die  Erzählung  des  Kran- 
ken, wie  er  gerade  in  jener  Zeit  in  den  Besitz  weiterer  Kenntnisse  über 
das  große  Geheimnis  zu  kommen  suchte. 

Als  er  als  kleiner  Bub  einmal  ein  Buch  mit  anatomischen  Abbil- 
dungen erwischte  und  die  Mutter  um  Aufklärung  bat,  machte  sie  ihm 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  257 


Angst  und  schreckte  ihn  mit  dem  Knochenmann,  dem  Tod.  Dieser 
Schrecken  vor  dem  natürlichen  Baue  und  den  Verrichtungen  des 
menschlichen  Organismus,  durch  die  Mutter  hervorgerufen,  haftet 
jetzt  noch  nachwirkend  am  Patienten  und  liefert  Material  zu  Abwehr- 
bildungen gegen  die  Sexualität  als  Wirklichkeit. 

Wir  haben  also  infantil-sexuelle  Wünsche  (infantile  Inzest- 
wünsche), die  verdrängt  sind;  nun  kommen  von  der  Mutter  her  neue 
Verdrängungen  gegen  die  neuen  Wünsche  und  Ziele  der  erwachsenen 
Sexualität,  die  so  nachhaltig  sind,  daß  er  nicht  zum  definitiven  Ziele 
gelangt  und  eine  Regression  in  die  Phantasie  vollzieht,  wo  er  Orgien 
feiert  und  wieder  auf  den  Inzest  mit  der  Mutter  regrediert.  Diese 
Inzestphantasien  gab  Patient  in  der  Analyse  ziemlich  bald  geheimnis- 
voll preis;  die  jetzigen  Vorstellungen  fußen  nicht  mehr  auf  infantilen 
Sexualtheorien,  sondern  auf  den  in  der  Vorpubertät  neuerv.'orbenen, 
richtigen  Vorstellungen. 

Als  Patient  in  meiner  Bibliothek  einmal  ein  illustriertes  Lehr- 
buch der  Geburtshilfe  erwischte,  überkam  ihn  ein  neues  Grausen  vor 
der  Roheit  der  menschlichen  Physiologie  in  ihrer  Wirklichkeit  und 
bestärkte  ihn  in  seinem  —  ohnmächtigen  —  Kampf  gegen  die  Kinder- 
zeugung. 

Aber  zur  Zeit  des  ,,Emque"  überwog  der  Wissenstrieb  und  die 
Neugier.  Vom  Vater  erhielt  er  die  Erlaubnis,  das  Konversations- 
lexikon zu  gebrauchen,  wenn  er  über  ihm  unbekannte  Dinge,  die  sich 
ihm  in  der  Lektüre  aufdrängten,  Aufschluß  haben  wollte.  Aber  er 
mußte  die  Wörter  auf  einen  Zettel  schreiben  und  der  väterlichen 
Zensur  unterbreiten.  Da  brauchte  er  denn  die  List,  daß  er  sich  Wörter 
mit  dem  Anfangsbuchstaben  M  zusammenstellte,  um  die  Zensur  zu 
hintergehen  und  den  Band  M  benutzen  zu  können,  wo  er  das  Geheim- 
nis des  Menschen  und  der  Menschwerdung  erfahren  konnte. 

Im  Werdegang  des  Normalen  und  des  Neurotikers  interessiert 
uns  besonders,  wie  er  sich  von  der  infantilen  Erotik  ablöst,  wie  er  das 
erste  Sexualobjekt,  die  Mutter,  verläßt,  um  sich  neuen  Objekten 
zuzuwenden  und  das  definitive  Ziel  zu  erreichen.  Wir  werden  sehen, 
wie  wenig  diese  normale  Entwicklung  unserem  Kranken  bis  jetzt 
gelungen  ist,  welche  Versuche  er  gemacht  hat.  In  der  neuen,  zweiten 
Verdrängungsperiode,  welche  in  der  frühen  Pubertät,  genährt  durch 
die  infantile,  einsetzt,  wird  er  an  der  normalen  Übertragung  auf  neue 
Objekte  durch  die  Abwehr  der  realen  Erotik  gehemmt,  und  so  kommt 
es  zu  einer  Regression  in  die  Phantasie,  wo  es  ihm  gelingt,  ziemlich 

Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psychopathol.  Forsohungeu.     II.  •''' 


258  F.  Riklin. 

ungehemmte  Orgien  zu  feiern;  aber  auch  auf  diesen  Schauplatz  ver- 
folgt ihn  der  Streit  der  Zwangsantagonismen.  Überdies  pendelt  seine 
Libido  zwischen  zwei  Gebieten;  bald  kultiviert  er  in  der  Phantasie 
seine  Holden,  die  er  in  der  Wirklichkeit  kennt,  bald  wendet  er'sich 
großen  Phantasien  und  Tagträumereien  zu,  in  denen  die  Wirklichkeit 
eine  noch  untergeordnetere  Rolle  spielt. 

Mit  7V2  Jahren  (1896/97)  sah  er  ein  schönes  Mädchen,  das  ein 
Fahrrad  besaß.  Es  war  mindestens  15  bis  16  Jahre  alt.  (Wir  erkennen 
die  Wirkung  des  Mutterkomplexes ;  die  Mutter  war  zur  Zeit  seiner  Geburt 
21  Jahre  alt.)  Er  schloß  es  für  kurze  Zeit  in  seine  Gedanken  ein.  Zu 
gleicher  Zeit  liebte  er  schon  ein  anderes  Mädchen,  dem  wir  bald  be- 
gegnen werden  (Lilly),  und  spielte  gern  mit  ihm.  Er  glaubte  damals 
noch  an  den  Storch. 

1899  liebte  er  zwei  Knaben;  er  trieb  einen  Kultus  mit  deren 
Namen,  schrieb  sie  überall  hin  und  schnitt  die  Anfangsbuchstaben 
in  die  Rinde  der  Bäume,  wie  Liebende  tun.  Sonst  geschah  nichts; 
aber  der  Namenkultus  gelangte  später  in  seinen  Tagträumereien  zu 
größerer  Bedeutung, 

Er  phantasierte  sich  darin  u.  a.  als  Vater  mit  vielen  Kindern, 
an  die  er  alle  schönen  und  bedeutungsvollen  Namen  bringen  mußte, 
welche  er  sammelte. 

1899/1900  kam  die  sexuelle  Aufklärung  durch  den  erwähnten 
Kameraden.  Nun  kannte  er  die  Herkunft  der  Kinder.  Den  Zeugungs- 
vorgang lernte  er  erst  etwas  später  kennen.  Einmal  kam  er  spontan, 
ohne  äußeres  Zutun,  zur  Pubertätsmasturbation  mit  Samenerguß, 
und  nun  war  ihm  auf  einen  Schlag  alles  klar,  was  beweist,  daß  er  es 
eben  schon  früher  wußte.  Dann  kamen  noch  ergänzende  Aufklärungen 
durch  Kameraden  hinzu.  (Nach  anderen  Angaben  müssen  wir  an- 
nehmen, daß  die  Masturbation  erst  im  Herbste  1903  auftrat.  Wir 
haben  in  der  Zwischenzeit  noch  Liebesverhältnisse  mit  infantilen 
Befruchtungstheorien . ) 

Wir  haben  keine  sicheren  Bestätigungen  für  infantile  Mastur- 
bation; aber  einzelne  Erinnerungen  an  Verbote  der  Mutter  und  des 
Arztes,  nicht  mit  dem  Gliede  zu  spielen. 

Und  doch  finden  wir  eine  starke  Abwehr  gegen  die  Pubertäts- 
masturbation im  Waschzwang,  den  wir  kennen  lernen  werden.  Wir 
ahnen  vorläufig,  durch  die  Ausdehnung  des  Waschzwanges  auf  den 
Hund,  den  Zusammenhang  zwischen  erster  und  zweiter  Verdrängung, 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  259 

zwischen  dem  Material,  das  durch  die  Wurmeier  repräsentiert  wird, 
und  dem  Sperma. 

Durch  das  Verschlucken  der  Wurmeier  bekommt  man  übrigens 
Würmer;  eine  Phantasie  respektive  eine  Phobie,  durch  Verschlucken 
von  Sperma  schwanger  zu  werden,  spukte  noch  im  Anfang  der  Analyse 
in  der  Bitte  des  Patienten,  ich  möchte  ausdrücklich  bestätigen,  daß 
dies  nicht  der  Fall  sein  könne.  Die  Geburt  hätte  in  beiden  Fällen  nach 
der  ,,Lumpf" '-Theorie  des  kleinen  Hans,  durch  den  Anus  respektive 
die  Kloake,  stattzufinden.  (Freud,  Analyse  der  Phobie  eines  fünf- 
jährigen Knaben.) 

Wurmeier  und  Spermatozoen  sind  Kinder.  Der  Gedanke, 
nach  erfolgter  Masturbation  in  einem  Schwärme  von  Kindern  zu 
liegen,  ist  dem  Patienten  peinlich.  So  macht  Patient  die  Keime  zum 
Endprodukte  und  hat  die  Möglichkeit,  Geburten  auf  dem  analen  und 
genitalen  Weg  darzustellen,  und  für  die  Befruchtung  bleiben  ihm 
außer  der  Oraltheorie  noch  zwei  Wege  übrig;  der  anale  Weg  und  einer 
nach  der  Kathetrisierphantasie.  Eine  glänzende  bisexuelle  Ver- 
wertung^). 

Unmittelbar  nach  der  definitiven  sexuellen  Aufklärung  hatte 
er  einen  seiner  bedeutsamen  Träume.  Er  kehrte  selbst  auf  dem  natür- 
lichen Wege  in  den  Schoß  seiner  Mutter  zurück.  Aber  an  die  Einzel- 
heiten dieser  Rückkehr  erinnert  er  sich  nicht  ganz  genau.  Sicher  handelt 
es  sich  um  einen  Inzesttraum,  der  sich  später  in  den  Phantasien  noch 
deutlicher  darstellt.  Zweitens  aber  hat  er  in  dieser  Darstellung,  als 
Pendant  der  Vergrößerung:  Sperma-Kind,  eine  Verkleinerung  vor- 
genommen: er  wird  zum  Wurm,  Penis  oder  Sperma. 

Im  Herbst  1901,  12 jährig,  kam  Patient  mit  der  Mutter  nach 
dem  Süden  wegen  einer  Bronchitis  fibrinosa.  Da  hatte  er  im  Fe- 
bruar 1902  einen  weiteren  bedeutsamen  Traum. 

Er  lag  in  der  Situation  eines  Kranken  oder  Verwundeten,  unter 
Verwertung  einer  Heldenphantasie  (Freischarenheld)  zu  Bette.  Da 
kommt  ein  kleines  Mädchen  (Lilly),  das  er  zu  Hause  wohl  gekannt, 
aber  noch  kaum  geliebt  hatte,  an  sein  Lager,  pflegt  ihn  voller  Zärt- 
lichkeiten und  umarmt  ihn,  gleichwie  die  Mutter  bisher  getan  hatte. 

Wir  lesen  aus  dem  Traume,  daß  er  die  Mutter,  sein  erstes  Sexual- 
objekt,  durch  das  Mädchen  ersetzt  und  daß  er  die  Rolle  des  Helden, 

1)  Zur  Kathetrisierphantasie  des  „  Schlaf kampfes":  Seine  rohen  Kameraden, 

die  er  in  der  Pubertätszeit  kennen  lernte,  pflegten  sich  auch  kleine  Gegenstände 

in  die  Harnröhre  zu  stecken. 

17* 


260  F.  Eiklin. 

wie  im  Märchen  und  Mythos,  antritt;  aus  der  Krankheit  des  schwäch- 
lichen'Knaben  macht  der  Traum  eine  Verwundung  des  Helden. 

Das  Mädchen  ist  jenes,  mit  dem  er  zu  Hause  vorher  etwa  gespielt 
hatte,  und  wird  zur  ersten  Geliebten  (nach  der  Mutter)  erhoben.  Er  ist 
von  da  an  heftig  verliebt  in  das  Kind. 

Um  diese  Zeit  begann  der  Schnurrbart  zu  wachsen. 

Wenn  er  sich  an  diesem  Kurorte  auch  von  verschiedenen  Frauen 
und  Mädchen  den  Hof  machen  ließ,  so  freute  er  sich  jetzt  doch  sehr 
auf  das  Wiedersehen  mit  der  kleinen  Freundin  im  Frühjahre  1902. 
Einige  Wochen  nach  der  Kückkehr  wurden  aber  die  Beziehungen 
vorläufig  abgebrochen.  Angestellte  ihres  Vaters  machten  ihr  den  Hof; 
er  wurde  zuerst  eifersüchtig  und  gab  dann,  zurückgesetzt,  den 
Posten  auf. 

Einmal  befürchtete  er,  das  Mädchen  könnte  durch  seine  Liebe 
schwanger  geworden  sein.  Er  war  in  seinen  Sexualtheorien  noch  un- 
sicher und  schloß  aus  den  Gesetzesbüchern  seines  Vaters,  wo  von 
Kindern  die  Rede  war,  welche  aus  einem  Liebesverhältnis  hervor- 
gehen, durch  seine  bloße  Liebe  könnte  schon  etwas  geschehen  sein. 
[„Allmacht  der  Gedanken".] 

Die  Unsicherheit  in  der  Befruchtungstheorie  kann  vielleicht 
schon  der  Zwangsneurose  zugeschrieben  werden.  Wir  finden  auch  eine 
Unsicherheit  des  Gedächtnisses  (vgl.  Freud,  Bemerkungen):  so  in 
der  Zeitbestimmung  des  Masturbationsbeginnes  (1900  bis  1903).  Eine 
andere  Unsicherheit  über  den  Befruchtungsvorgang  haben  wir  er- 
wähnt, die  trotz  aller  Aufklärung  im  20.  Jahr  sich  noch  bemerkbar 
machte  (Selbstbefruchtung  auf  oralem  Wege  durch  Sperma,  das  beim 
Masturbieren  durch  die  Hand  übertragen  werden  könnte). 

Durch  die  Phantasie,  das  geliebte  Mädchen  könnte  von  ihm 
schwanger  sein,  wird  dessen  Muttervertretung  ja  vollends  gesichert. 

Im  Sommer  1902  war  wieder  eine  kleine  Liebe,  um  die  andere 
zu  vergessen. 

Im  Herbste  1902  trat  sie  aber  zurück.  Er  las  da  zum  erstenmal 
eine  Beschreibung  von  Ozeanien,  was  von  der  allergrößten  Be- 
deutung wurde,  zum  äußeren  Ausgangspunkte  von  Tagträumereien, 
die  sich  über  Jahre  erstrecken  und  die  wir  kurz  die  Inselphanta- 
sien  nennen  wollen,  und  die  um  Weihnachten  1902  zur  größten  Ent- 
faltung kamen. 

Der  Sommer  1903  brachte  daneben  wieder  eine  kleine  Liebe 
zu  einem  Mädchen  im  Hause,  älter  als  er  (P.).  Als  er  einmal  Kleider 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  2b  1 

im  Korridor  hängen  sah,  mußte  er  sich  gewaltsam  zurückhalten,  um 
nicht  die  Bluse  zu  küssen. 

Im  Herbste  1903  kam  er  zur  weiteren  Schulung  in  ein  Konvikt 
in  ein  kleines  Städtchen,  wohin  er  täglich  mit  der  Eisenbahn  fuhr 
zwei  Stationen  weit. 

Es  ist  ein  wichtiger  Wendepunkt  in  seinem  Leben. 

Kurz  vorher  war  er  zum  erstenmal  zum  Masturbieren  gelangt. 
Er  erzählt  davon  mit  Hemmungen.  Auch  das  Zeugungsproblem  wurde 
ihm  da  klar.  In  der  Konviktszeit  trieb  er  die  Masturbation  weiter, 
wenn  auch  sehr  mäßig. 

Bald  begann  auch  der  Waschzwang,  den  wir  im  Zusammen- 
haiige  durchnehmen.  Wir  wollen  nur  betonen,  daß  er,  wie  wohl  fast 
immer  wo  er  auftritt,  der  Masturbation  auf  dem  Fuße  folgte.  Im 
Konvikte  fehlte  es  nicht  an  sexuellen  und  schmutzigen  Gesprächen. 
Ein  Gartenpavillon  hieß  der  ,,Schv7einekongreß'',  v/eil  man  da  zu 
solchen  Eeden   und  Witzen  zusammenkam. 

Der  Patient  benutzte  geschickt  das  Wüste,  Garstige  der  Konvikts- 
erlebnisse,  um  daran  den  Waschzwang  anzuhängen. 

Genauer  besehen,  ist  das  Grausen  auf  Grund  des  Hundemotivs 
das  erste.  Es  führte  aber  noch  nicht  selbständig  zum  Waschzwang; 
daneben  grauste  ihn,  auch  sehr  früh,  vor  Käse  u.  dgl.  Aber  erst  durch 
das  Hinzutreten  der  Masturbation  kam  es  zur  Ausbildung  des  Wasch- 
zwanges. 

Zur  Ausbildung  der  Verdrängung  in  der  Pubertät  half  noch  die 
erwähnte  Art  bei,  mit  der  man  zu  Hause  den  natürlichen  Dingen  und 
der  Aufklärung  gegenüberstand  und  all  dies  als  garstig  und  ver- 
werflich hinstellte. 

Man  entdeckte  die  Spuren  von  Pollutionen  und  Masturbation 
in  seinem  Bette.  Es  gab  garstige  Szenen.  Die  Mutter  machte  eine 
drohende,  strenge  Miene. 

Der  Vater  sagte:  Du  leidest  an  einer  schrecklichen  Krankheit 
usw.  Patient  war  empört,  denn  die  Masturbation  stand  ja  im  Zu- 
sammenhange mit  den  geheimen  ,, reinen"  Phantasien.  Er  hatte  sich 
nie  getraut,  um  Aufklärung  anzufragen.  So  wurde  ihm  neuer  Schrecken 
vor  den  körperlichen  Äußerungen  der  Sexualität  eingejagt.  Er  hatte 
regelmäßig  Gewissensbisse,  masturbierte  1904  monatelang  gar  nicht 
(arbeitete  dafür  die  Inselphantasien  auf  der  einen,  Abwehrsymptome 
auf  der  andern  Seite  aus),  und  erst  1905  begann  er  die  Sache  intensiver 


262  F.  Riklin. 

zu  betreiben;  das  hing  zusammen  mit  der  Vertiefung  der  Liebe  zum 
Mädchen  aus  dem  Traume. 

Im  J.  1904,  wo  sich  der  Waschzwang  ausbildete,  geschab  nichts 
Ernstliches  im  Verlieben.  Alle  sogenannten  Liebesverhältnisse  hatten 
überhaupt  nichts  Tätiges,  Agressives  —  es  passierte  nichts,  auch  keine 
Geständnisse,  Küsse  oder  ähnliches  kamen  vor.  Im  Herbste  1904 
nahm  er  Tanzstunden  (15  Jahre  alt).  Da  gab  es  eine  Verliebtheit, 
die  einige  Monate  dauerte;  sie  soll  von  Seite  des  Patienten  ,,ganz  rasend" 
gewesen  sein.  Sie  war  ein  schwächliches  Mädchen,  eine  Maurermeisters- 
tochter, was  man  daheim  sehr  unstandesgemäß  fand.  Ein  Zug,  wo  er 
gegen  die  Vorurteile  der  Eltern  trotzt  und  kämpft,  geht  überhaupt 
durch  die  Unternehmungen  des  Patienten  und  weckt  in  ihm  Sym- 
pathien zum  gewöhnlichen  Volke,  wenn  auch  nur  als  Symptom. 

Während  dieser  Zeit  treten  die  Insel-  und  Paradiesphantasien 
zeitweise  zurück,  um  im  Winter  1905/06  wieder  stark  aufzublühen. 
Er  wollte  einmal  daheim  durchbrennen,  weil  er  Schule  und  Haus 
unerträglich  fand,  um  auf  seine  Phantasieinsel,  sein  Paradies,  sein 
Jugendland,  zu  seinen  Jugendträumen  zurückzufliehen. 

Der  Kern  des  Gedankens  war  die  Wiederaufnahme  eines  Wun- 
sches, einer  Phantasie  aus  der  Zeit,  wo  die  Inseltagträumereien  aufs 
lebhafteste  einzusetzen  begonnen  hatten.  Er  wollte  zu  jener  nackten 
Samoanerin  fahren,  deren  Bild  zu  Weihnachten  1902  diese  Phantasien 
entfesselt  hatte. 

Zur  Zeit  der  Fluchtgedanken  im  17.  Jahre  wurde  sie  oft  ersetzt 
durch  das  Mädchen  aus  dem  Traume. 

Der  Plan  war  folgender:  Er  wollte  mit  den  Eltern  oder,  wie  auch 
schon,  mit  einem  Lehrer  eine  Bergreise  machen  und  einen  Absturz 
fingieren,  um  unbemerkt  fortreisen  zu  können. 

In  der  Flucht  wäre  auch  eine  Rache,  eine  Qual  für  die  Eltern 
gelegen.  Er  dachte  an  eine  spätere  Rückkehr  im  Triumphe  und  Ver- 
söhnung voll  Rührung. 

Die  Inselphantasien  wurden  unter  diesem  Projekt  etwas  reali- 
sierbarer gestaltet,  sie  verloren  am  Ursprünglichen,  Phantastischen. 

Zu  den  Fluchtvorbereitungen  gehörten  auch  körperliche  Übungen, 
um  sich  für  die  Strapazen  zu  stählen.  Er  trieb  sie  bis  zur  Erschöpfung, 
der  Arzt  konstatierte  m.  W^.  eine  nervöse  Herzerkrankung  und  diese 
Krankheit  gab  dem  Patienten  Gelegenheit,  seinen  Fluchtplan  nicht 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  263 

ausführen  zu  können  oder  müssen,  denn  man  pflegte  ihn  liebevoll, 
es  bestanden  wieder  gute  Beziehungen  zu  den  Eltern^). 

So  haben  sich  gerade  an  diesem  Punkte  die  gegensätzlichen 
Tendenzen,  wie  es  bei  der  Zwangsneurose  üblich  ist,  nacheinander 
geäußert,  der  Sieg  blieb  der  ursprünglichen  Tendenz,  der  Rückkehr 
zu  den  Eltern. 

Indem  er  das  Zimmerturnen  bis  zur  Erschöpfung  trieb,  folgte 
er  alten  Wegen  zur  Lustgewinnung. 

In  der  wehrlosen  Erschöpfung  empfindet  er  Wollust  wie  in  den 
Phantasien  vom  Gebunden-,  Eingegraben-,  Überwältigt-  und  Gequält- 
werden. 

Das  Zimmerturnen  wurde  zum  gleichen  Zwecke  schon  früher 
geübt,  spätestens  zu  Beginn  der  „Inselphantasien",  und  immer  wurde 
die  Ermüdung  mit  Wollust  empfunden;  er  turnte  mit  entblößtem 
Körper. 

Im  Turnen  realisiert  er  die  wollustige  Marter  durch  ortho- 
pädische Apparate. 

Man  ist  auch  von  diesen  Erscheinungen  aus  veranlaßt,  hinter 
dem  großen  Spiel  der  Befreiung  von  den  Eltern  und  dem  Unterliegen, 
welches  selber  ein  Unterliegen  unter  ihrer  Liebe  und  unter  ihrer  Gewalt 
in  sich  schließt,  ein  altes  Vorkommnis  zu  suchen,  einen  wirklichen 
Kampf  des  kleinen  Buben  gegen  Vater  oder  Mutter,  in  welchem  er 
aber  unterlag  und  irgendwie  gebändigt  wurde.  Dieser  Vorgang  müßte 
zurückdatiert  werden  vor  die  Konsultation  beim  Orthopäden. 

Noch  jetzt  muß  er  ab  und  zu,  wenn  ihn  Eltern  und  Neurose, 
besonders  das  sogenannte  ,, Ichproblem"  drücken,  sagen:  ,,Ich  sehe, 
ich  muß  doch  auf  meine  Insel,  um  dort  ganz  einsam  zu  leben." 

Dieser  phantastische  Gedanke  darf  natürlich,  so  ernst  er  im 
Moment  ausgesprochen  wird,  nur  in  seinem  Wert  als  Symptom- 
äußerung aufgefaßt  werden. 

Die  Tanzstundenliebe  war  sein  Trost,  wenn  der  Schul-  und 
Sexualekel  des  Konvikts  ihn  zu  arg  plagte.  Er  dachte  viel  an  seine 
Liebe  und  masturbierte.  Auch  sonst  war  der  Gedanke  der  sexuellen 
Vereinigung  mit  ihr  oft  da  und  tröstete  ihn.  Von  der  Mama  ließ 
er  sich  gern  erzählen,  es  sei  doch  ein  liebes  Mädchen.  Aber  es  wurde 
ihm  untreu  (sie  wußte  jedenfalls,  daß  er  sie  anschmachtete!)  und  ging 
sogar  mit  einem  Metzgerburschen.  Da  war  es  fertig. 

^)  Ein  Kranker  wollte  sich  mit  einem  Revolver  ernsthaft  verwunden,  um 
wieder  die  Liebe  der  Mutter  zu  erlangen. 


264  F.  Riklin. 

Jetzt  erinnerte  er  sich  wieder  Lillys,  des  Mädchens  aus  dem 
Traume,  der  alten  Liebe,  ging  oft  zu  ihr  hinüber  und  verlebte  die 
schönsten,  id3'llischen  Stunden.  Zur  Beruhigung  sei  aber  gleich  wieder 
betont,  daß  gar  nichts  passierte.  Patient  meint  nur:  ,,Sie  dürfte  es 
immerhin  gemerkt  haben,  daß  ich  in  sie  verliebt  war." 

So  oft  er  hingegen  masturbierte,  war  sie  in  seine  Phantasie  ein- 
geschlossen und  lag  in  seinen  Armen.  Er  war  zwischen  15  und  16 
Jahren.  In  der  Schule  ging  es  schlecht,  und  er  malte  sich  allerhand 
Berufe  aus,  die  er  ausüben  könnte,  um  bald  zu  heiraten;  Marineoffizier, 
Seeaspirant  usw.,  Eerufsarten,  in  denen  seine  Insel-  und  Helden- 
phantasien abfärbten.  Er  wäre  natürlich  zu  schwächlich  gewesen.  Er 
trat  sogar  in  die  Realschule  über,  um  dort  schneller  abschließen  zu 
können  als  am  Gymnasium. 

Das  ging  bis  ins  Jahr  1906,  bis  zur  Zeit  des  Fluchtplanes. 

Die  Fluchtpläne  gaben  den  Anlaß  zur  Gründung  seines  ,, Mu- 
seums", dessen  Inhalt  wir  noch  kennen  lernen  werden. 

Vor  der  Abreise  ins  Sanatorium,  wo  er  auf  den  Rat  des  Arztes 
sich  von  seiner ,, nervösen  Herzerkrankung''  erholen  und,  wie  Patient  sagt, 
eine  Mastkur  ,, erdulden"  sollte,  wollte  er  eine  Entscheidung  mit  Lilly, 
dem  Traummädchen,  herbeiführen.  Aber  bei  jedem  Anlaufe  zum 
Sprechen  fiel  ihm  das  Herz  in  die  Hosen.  Beim  letzten  Besuche  bat 
er  um  die  Erlaubnis,  ihr  das  schreiben  zu  dürfen,  was  er  ihr  gern  sagen 
wollte.  Als  er  doch  versuchte,  ein  Liebesgeständnis  hervorzupressen, 
bekam  er  eine  Erektion  und  mußte  sich  deswegen  höchst  unhelderhaft 
in  gebückter  Stellung  zurückziehen.  Aus  dem  Sanatorium  schrieb 
er  ihr  bald  einen  Liebesbrief  mit  den  üblichen  vieldeutigen  Wen- 
dungen. Die  Antwort  lautete  allgemein,  unbestimmt.  Patient  sah  ihre 
Mutter  dahinter.  Ihre  Antwort  auf  seinen  zweiten  Brief  enthielt  nach 
seinem  Vorschlag  eine  geheime  Zusage  durch  die  Art  der  Schlußformel, 
während  der  Inhalt,  der  die  mütterliche  Zensur  passierte,  nichts- 
sagend war. 

Nach  Hause  zurückgekehrt,  machte  er  ihr  einen  Besuch;  als 
er  von  Liebe  reden  wollte,  wurde  die  Angelegenheit  durch  die  Antwort: 
,,Du  wirst  es  doch  nicht  ernst  meinen,  du  bist  ja  noch  so  jung"  usw. 
erledigt.  Er  wagte  nicht  mehr  davon  zu  sprechen,  vergoß  daheim  einige 
Tränen  und  fühlte  sich  auf  einmal  ganz  wohl  und  frei.  Im  Frühjahr 
1907  endlich  schrieb  er  ihr,  nach  dem  noch  längere  Zeit  ein  kleinerer 
Briefwechsel  stattgefunden  hatte,  den  letzten  Abschiedsbrief. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  265 

Zwischenhinein  kam  es  noch  zu  verschiedenen  kleineren  Ent- 
flammungen, die  nichts  Besonderes  an  sich  haben. 

Im  Sanatorium  lernte  er  ein  reiferes  Mädchen  kennen.  Sie  wußte 
den  Einsamen  ans  Licht  zu  ziehen.  Sie  war  intelligent,  was  ihn  lockte, 
hatte  aber  zum  Teil  ganz  andere  Ideale.  Die  Korrespondenz  mit  ihr 
dauert  bis  jetzt  an.  Sie  enthält  einen  komischen  Wechsel  von  An- 
ziehung und  Abstoßung.  Einmal  verlobte  sie  sich  mit  einem  Offizier, 
aber  nach  einem  Jahre  ging  es  wieder  aus,  und  nun  teilt  sie  mit  dem 
Patienten  die  Ideen  gegen  die  Eltern  und  gegen  das  Kinderkriegen, 
die  wir  im  „Traktat"  wiedersehen  weiden. 

Noch  einen  Liebeshandel  müssen  wir  erwähnen,  in  den  Patient 
wider  seinen  Willen  geriet. 

Nach  dem  Konvikte,  von  1906  an,  wohnte  Patient  zuerst  bei 
den  Großeltern  in  der  Stadt,  wo  er  seine  Studien  fortsetzte.  Dann 
bezog  er  ein  Zimmer  bei  einfachen  Leuten.  Diesen  Wirtsleuten  gegen- 
über zeigt  er  von  da  ab  die  Liebe  und  Verehrung,  die  er  den  Eltern 
nicht  schenken  kann.  Es  sind  Ersatzeltern.  Wieder  sein  demo- 
kratischer revolutionärer  Zug.  Gegenüber  wohnte  eine  junge  Magd; 
ein  frisches  ,,Apferr'.  Er  bekam  Anwandlungen  von  Kühnheit  und 
Eitelkeit,  und  lenkte  ihre  Aufmerksamkeit  durch  Blicke  und  gelispelte 
Worte  auf  sich,  ohne  bestimmte  Absicht,  daß  sie  es  hören  sollte. 
„Wie  lieb"  flüsterte  er  beispielsweise.  Im  Juli  1908  sollte  er  dann 
ins  Ausland  fahren.  Da  fing  er  den  drohenden  Verlust  ihres 
Anblickes  zu  bedauern  an.  Er  schien  zu  bemerken,  daß  sie  in  ihn 
verliebt  sei. 

Im  Dezember  1908  schrieb  ihm  seine  Wirtin,  das  „Apferl"'  lasse 
herzlich  grüßen.  Er  war  erstaunt  und  geängstigt.  Um  abzulenken, 
schrieb  er  zurück,  auch  im  Ausland  gebe  es  nette  Apferl.  Aber  als  er 
an  Weihnachten  heimkam,  erfuhr  er  erst  die  ganze  Geschichte. 

Das  Apferl  hatte  es  sehr  ernst  genommen,  hatte  Tränen  ver- 
gossen, sich  erkundigt,  wohin  er  verschwunden  sei,  gebeten,  den 
jungen  Herrn  an  Weihnachten  sprechen  zu  können.  Ihm  war  es  pein- 
lich, diese  Liebesbrunst  durch  seinen  Leichtsinn  angefacht  zu  haben. 
Endlich  gab  es  eine  Zusammenkunft:  Das  unschuldige,  harmlose 
Landmädel  erklärte  ihre  unendliche  Liebe  zum  jungen;^Herrn  und 
schwor  ihm  ewige  Treue.  Der  Held  bekam  fürchterliche  Gewissens- 
bisse und  in  der  Verwirrung  sagte  er  zwar  nicht  ja,  ließ  aber  doch  noch 
Raum  für  Hoffnungen  und  streichelte  ihr  Wänglein  und  Händlein,  Das 


266  F.  Rikliu. 

war  seine  agressivste  Tat  sinnlicher  Liebe  in  seinem  Leben^).  Er  be- 
merkte noch,  er  könne  nichts  Bestimmtes  sagen.  Außerdem  habe  er 
allerhand  Zeug  im  Kopf,  vielleicht  würde  er  bald  überschnappen  und 
erst  wenn  er  über  diese  Fragen  sicher  sei,  könne  er  sich  entscheiden. 

Übrigens  war  seine  Liebesflamme  schon  erloschen.  Sie  sah  in 
ihrem  Sonntagsputz,  enggeschnürt,  komisch  aus  und  stieß  ihn  eher  ab. 

An  allen  Liebeshändeln  des  Kranken  fällt  uns  auf,  wie  wenig 
agressiv  er  ist,  wie  wenig  die  Liebe  in  Taten  sich  äußert.  Um  so  aus- 
schweifender ist  der  Patient  in  der  Phantasie. 

Immerhin  sind  Versuche  zur  normalen  Objektiiebe  vor- 
handen. 

Zwischenhinein  kehrt  sich  aber  die  psychische  Tätigkeit  ab- 
wechselnd wieder  intensiv  der  Ausgestaltung  von  besonderen  Phan- 
tasien und  Tagträumereien  zu,  in  welchen  die  in  der  Wirklichkeit 
vorhandenen  Geliebten  und  die  Objektliebe  ganz  zurücktreten.  Es 
ist  dies  das  Gebiet,  wohin  er  sich  vor  den  Eltern  und  vor  der  Liebe 
zu  neuen  Objekten  rettet. 

Ich  habe  noch  nachzutragen,  daß  Patient  schon  1902  irgendeine 
kleine  Entzündung  der  Harnröhrenmündung  hatte.  Er  empfand  den 
kitzelnden  Reiz  an  der  Glans  angenehm. 

Mitte  Juli  1903,  also  noch  vor  dem  Eintritte  ins  Konvikt,  bekam 
er  starkes  Jucken  in  der  Genitalsphäre ;  als  er  sich  kratzte  und  zwickte, 
kam  es  auf  einmal  zu  einer  Ejakulation.  Auf  diese  Ejakulationen  war 
er  auf  der  einen  Seite  sehr  stolz,  auf  der  andern  knüpfte  er  Abwehr- 
handlungen daran.  In  der  Abwehr  liegt  auch  die  Elternwirkung. 

In  ähnlicher  Weise  ist  er  stolz  auf  eine  andere  Leistung,  die 
Defäkation;  es  ist  fast  überflüssig,  zu  sagen,  daß  er  an  Verstopfung 
leidet.  Manchmal  führte  die  Reizung  des  Mastdarmes  dabei  zu  gleich- 
zeitigem Samenerguß. 

Ähnliches  geschah  ihm  bei  anderen  Gelegenheiten,  wo  die  Si- 
tuation weit  autoerotischer  ist.  Einmal  geschah  es  beim  Lesen  von 
Rousseaus  Bekenntnissen,  an  der  Stelle  wo  erzählt  wird,  wie  die  bisher 
mütterliche  Freundin  seine  Geliebte  wird. 

Dann  noch  unter  anderen  Umständen:  wenn  er  opfern  soll. 
Einmal  wollte  er  vor  dem  Verreisen  einem  Kinde  Briefmarken  ver- 
schenken, die  er  früher  sehr  geschätzt  hatte ;  bei  dieser  Opferhandlung 

^)  ',,In  die  Wängleia  kneifen"  ,  ist  ihm  eine  angenehme  Vorstellung;  er 
stellt  es  im  Gespräch  und  im  Traame  dem  Kneifen  ins  Gesäß  gegenüber,  eine 
Vorstellung,  die  ihm  widerlich  ist. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  267 

kam  es  zu  einer  Ejakulation.  Ebenso,  als  er  einmal  versuchte,  den 
Waschzwang,  der  weitgehend  analysiert  war,  zu  opfern,  indem  er 
ein  zu  Boden  gefallenes  Buch,  statt  es  zuerst  zu  waschen,  unter  den  Arm 
nahm  und  sogar  an  sich  preßte. 

Er  gestaltet  das  Opfern  zur  Lustquelle,  zur  Hingabe  (vgl.  die 
frühere   Auseinandersetzung  über   Opfern   und  Masochismus). 

Mit  15  bis  17  Jahren  hatte  er  eine^Zeitlang  Angst,  er  sei  eine  Miß- 
geburt, oder  die  männliche  Kraft  sei  verloren  gegangen,  er  sei  ein 
Eunuch  geworden,  die  Hoden  seien  bei  verschiedenen  Gelegenheiten 
jedenfalls  gequetscht  worden. 

Die  Befürchtung  wich  der  Aufklärung  durch  einen  Arzt,  daß 
das  Frenulum  ein  normales  Gebilde  sei.  Die  zweite  verlor  sich  selbst 
wieder  durch  den  tatsächlichen  Gegenbeweis.  Längere  Zeit  mußte 
er  sich  durch  Innervation  der  willkürlichen  Muskulatur  des  Penis 
den  Beweis  konstruieren,  daß  die  Funktionen  in  Ordnung  seien. 

Ähnliche  Entmannungsmotive  scheinen  auch  bei  anderen  Neuro- 
tikern  vorzukommen  und  bei  gewissen  Kulten  im  Altertum  zu  Ehren 
der  weiblichen  Gottheit  in  die  Tat  umgesetzt  worden  zu  sein.  Sie 
dürfen  vielleicht  als  Strafen  für  die  Lizestphantasien  angesehen 
werden  (Jung).  ;  .: 

Der  Waschzwang. 

Patient  teilt  die  Hauptgruppen  seiner  neurotischen  Symptome 
in  vier  bis  fünf  ,, Krankheiten"  ein. 

Die  Neurose  hat  ihren  Charakter  als  Leiden,  als  Qual  erst  mit 
Beginn  und  im  Verlaufe  der  Pubertätszeit  angenommen.  Erst  da 
setzen  die  Zwänge  ein.  Erst  da  wird  das  Leiden  zur  Qual,  die  er  sogar 
als  Ganzes  wieder  in  sein  masochistisches  System  aufnimmt;  das  ist 
selbst  wieder  ein  Widerstand  gegen  die  Heilung. 

Das  eine  dieser  Leiden  ist  die  „Grausopathie",  die  Qual  des 
Grausens. 

Der  Patient  beschreibt  ein  Martyrium  und  dauert  einem  furchtbar. 
Aber  es  ist  so  komisch,  nach  der  Analyse  dieses  Leidens  gibt  er  seine 
Wascherei  nicht  auf,  er  kann  die  liebgewordene  und  wohldurchdachte 
Gewohnheit  nicht  aufgeben,  und  sagt  schließlich:  Ja,  das  ist  auch 
gar  nicht  das  Schlimmste,  damit  könnte  man  sich  wohl  abfinden,  aber 
das  Schlimme  sind  meine  anderen  Leiden,  die  Willensschwäche  und 
namentlich  das  Ichrätsel! 

Das  Leiden   begann  1904   im  Konvikte,  wo  er  Externer  war. 


268  F.  Riklin. 

Die  Mitschüler  waren  rechte  Schweine,  trieben  ekelhafte  Dinge  und 
machten  sich  ein  Vergnügen  daraus,  ihm  allerhand  Scheußlichkeiten 
anzutun.  Sie  fuhren  ihm  mit  den  Händen  im  Gesichte  herum,  und  ihm 
grauste  vor  diesen  schmutzigen  Händen  (NB.  mit  denen  sie  z.  B. 
masturbiert  hatten  !).  Einmal  warf  ihm  einer  zu  Boden  —  er  war  ja  der 
schwache  Prügelknabe  —  und  er  kam  mit  dem  Gesichte  auf  den  Boden 
zu  liegen,  vor  dem  ihm  grauste,  denn  es  war  gerade  beim  Abort.  Oder 
in  der  Pause  wurde  ihm  Nasensekret  in  ein  Buch  hineinpraktiziert 
oder  hineingespuckt.  Oder  man  entwendete  ihm  heimlich  das  Taschen- 
tuch, und  als  er  es  suchte,  gab  man  es  ihm  zurück  mit  dem  Bescheid, 
es  sei  btim  Vetter  so  und  so  gewesen,  was  hieß,  man  habe  es  zu  ekel- 
haften Manipulationen  benutzt.    Der  Vetter  X  ist  der  Penis. 

Nun  grauste  ihm  vor  diesen  Büchern,  welche  die  schmutzigen 
Gesellen  in  der  Hand  gehabt  hatten.  Zu  Hause  trachtete  er  die  ver- 
grausten Schulsachen  von  den  anderen,  den  Lieblingsbüchern,  ab- 
zusondern, sie  zu  isolieren.  Mußte  er  sie  benutzen,  so  arbeitete  er  wie 
ein  Arzt  mit  infiziertem  Material,  stülpte  die  Rockärmel  zurück  und 
wusch  sich  nachher  die  Hände;   vorher  rührte  er  nichts  anderes  an. 

Vom  Momente,  wo  er  mit  den  vergrausten  Schulbüchern  von 
zu  Hause  fortging,  bis  er  sie  abends  wieder  an  ihren  Isolierplatz  legen 
konnte,  war  er  sich  selbst  ein  Gegenstand  des  Ekels  und  zu  Hause 
nahm  er  eine  große  Waschung  vor,  auch  der  Kleider,  wo  sie  mit  ver- 
ekeltem Material  in  Berührung  gekommen  waren. 

Die  Eltern  hatten  kein  Verständnis  für  seine  Not,  sagten  paper- 
lapap,  das  sei  gesund. 

Und  das  Dienstmädchen  kümmerte  sich  gar  nicht  um  seine 
Isoliermethode  und  stellte  die  infizierten  Bücher  in  Eeih  und  Glied 
zwischen  die  reinen,  behandelte  sie  mit  dem  gleichen  Staublappen 
und  so  wurde  alles  infiziert,  bevor  er  mit  peinlicher  Genauigkeit  alle 
vergrausten  Blätter  und  Flächen  mit  medizinischer  Gewissenhaftigkeit 
(er  benutzte  sogar  eine  Lysollösung)  hatte  abwaschen  können.  Das 
erfüllte  ihn  mit  Entsetzen.  Das  infizierte  Material  stapelte  sich  auf, 
von  Zeit  zu  Zeit  gab  es  zeitraubende  Generalwaschungen,  aber  er 
konnte  dem  Übel  gar  nicht  Meister  werden. 

Das  Studium  in  den  vergrausten  Büchern  und  in  der  vergrausten 
Schule  konnte  nicht  gedeihen  und  über  den  schlechten  Noten  erhob 
sich  zu  Hause  großer  Lärm.  Übrigens  klagt  Patient,  daß  man  ihn 
überhaupt  nie  zu  Gründlichkeit  und  Ausdauer  angeleitet  habe. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  269 

Er  mußte  beständig  sorgen,  daß  ihm  die  reinen  Sachen  nicht 
vergraust  wurden. 

Vom  Hunde  mit  den  Würmern  her  leitet  sich  eine  zweite  Quelle 
von  Infektion  und  Waschprozeduren.  Diese  Wurzel  haben  wir  schon 
kennen  gelernt.  Durch  den  Hund  wurde  ihm  auch  die  Mutter,  v/elche 
diesen  ins  Bett  nahm,  vergraust;  dann  alles,  was  mit  zu  Hause  zu- 
sammenhing. 

Patient  konnte  sich  nicht  mehr  aufs  Sofa  setzen,  weil  der  Hund 
dort  zu  liegen  pflegte,  weil  sonst  seine  Hosen  durch  Wurmkeime  infiziert 
wurden.  Er  hatte  ein  unangenehmes  Gefühl,  wie  wenn  er  auf  einer 
frischlackierten  Bank  gesessen  v/äre,  nur  daß  der  Lack  keine  Infektions- 
keime in  sich  birgt.    Er  maßte  dann  auch  die  Hosen  waschen. 

So  zog  die  angebliche  Infektionsfurcht,  mit  Bakterienfurcht 
vergleichbar,  immer  größere  Kreise. 

Der  Ekel  hatte  sich,  m.  W.  wie  der  Ekel  vor  dem  Hunde,  zeit- 
weise auch  auf  Käse  u.  dgl.  ausgedehnt,  wovon  die  Eltern  gerne  aßen ; 
doch  kam  die  Waschzwangabwehr  erst  von  der  Masturbation  her 
auch  auf  dieses  Gebiet  herüber. 

Überhaupt  sind  die  Phobien  und  Zwänge  nicht  konsequent  durch- 
geführt. 

Einzelne  gab  er  selbst  wieder  auf;  z.  B.  wollte  er  eine  Zeitlang 
alles  Geld,  was  er  von  Hause  bekam,  waschen;  da  sagte  ihm  eine  ganz 
richtige  Überlegung,  das  Geld,  das  er  von  andern  Leuten  bekomme, 
müsse  mindestens  ebenso  unappetitlich  und  infektiös  sein;  und  er 
dehnte  diese  Abwehrzeremonie  nicht  weiter  aus. 

Der  Geldwaschzwang  deutet  selbst  wieder  daraufhin,  daß  wir 
eine  starke  und  alte  Analerotikverdrängung  vor  uns  haben;  er  hängt 
ja  zusammen  mit  dem  Hundemotiv. 

Der  Kranke  betonte  mehrfach,  wenn  ihn  der  Arzt  einmal  rund- 
weg energisch  für  seinen  Blödsinn  ausschimpfen  würde,  könnte  seine 
Grausopathie  vergehen;  auch  wenn  man  ihn  hypnotisieren  würde. 
Beides  wären  Überwältigungsmethoden,  die  er  in  seiner  masochi- 
stischen  Bearbeitung  verschiedener  Gebiete  wieder  aufnimmt. 

Patient  hatte  ferner  einem  Freund  Bücher  geliehen,  der  später 
an  Tuberkulose  starb.  Diese  Bücher  wurden  nun  auch  ein  Quell 
des  Grausens,  aber  durch  gründliche  Waschung  verschwand  diese 
Einzelphobie. 

Aber  in  der  letzten  Zeit  dehnte  sich  das  Grausen  noch  weiter  aus. 

Da  ist  einmal  der  Straßenboden  und  die  Hausmauern.  Nimmt 


270  F.  Riklin. 

ihm  der  Wind  den  Hut  vom  Kopfe,  so  ist  die  Sache  durch  einfaches 
Putzen  nicht  erledigt,  es  muß  eine  große  Waschprozedur  folgen. 

Es  schweben  ihm  alle  die  S  put a  vor,  die  auf  die  Straße  kommen ; 
es  ist  weniger  Furcht  als  Ekel;  besonders  graust  ihm  vor  den  Sputa, 
welche  mit  Nasensekret  vermischt  sind,  das  durch  den  Rachen  in 
die  Mundhöhle  aspiriert  wird. 

Er  denkt  —  welch  ein  widerlicher  Gedanke !  —  an  die  vielen 
ßettleintücher,  die  in  der  Frühe  aus  den  Fenstern  ausgeschüttet 
werden,  die  schmierigen  Leute,  die  darin  gelegen  sind,  daß  ihm  das 
Ausgeschüttete  auf  den  Kopf  fallen  könnte.  Darum  muß  er  in  der  Frühe 
in  der  Mitte  der  Straßen  gehen,  und  die  engen  alten  Gassen  zu  durch- 
schreiten ist  ihm  besonders  peinlich.  Denn  da  wohnen  nach  seinem  Sinn 
Prostituierte,  die  ihm  der  Gipfel  alles  Grausens  sind. 

Geht  er  auf  die  Straße  und  jemand  geht  vor  ihm  her  und  spuckt 
aus,  und  der  Wind  zieht  gegen  ihn,  so  bemächtigt  sich  des  Patienten 
dasDaimonion,  und  sagt  ihm : ,,  Vielleicht  bist  du  doch  getroffen  worden", 
wenn  es  auch  unmöglich  war.  ,,Wer  weiß,  ob  der  Mensch  nicht  Sy- 
philis hatte  oder  Tuberkulose  oder  so  etwas."  Und  es  zwingt  ihn 
zu  Hause  zu  einer  Waschprozedur. 

Er  hat  einen  Ekel  vor  Türklinken,  weil  da  alle  schmutzigen 
Hände  daran  kommen.  Zur  Verdeutlichung  will  ich  sofort  sagen,  daß 
es  die  schmutzigen  Hände  sind,  mit  denen  die  Genitalien  berührt 
worden  sind,  Hände  welche  masturbiert  haben. 

Wir  haben  durch  die  Reihenfolge  dieser  Darstellung,  die  der 
Patient  selbst  in  der  Erzählung  innegehalten  hat,  den  Kreis  um  die 
Wurzel  der  Grausopathie  immer  enger  gezogen. 

Zeitlich  beginnt  die  Phobie  mit  dem  Masturbieien.  Der  Ekel 
richtet  sich  zuerst  gegen  die  Konviktskameraden,  ihre  schmutzigen 
Masturbantenhände  und  ihre  Sekrete. 

An  der  Peripherie  der  Phobie  stehen  sozusagen  die  ansteckenden 
Krankheiten,  z.  B.  Tuberkulose  und  Syphilis  (Patient  ist  über  die 
Naturgeschichte  dieser  Übel  nur  laienhaft  orientiert). 

Aber  die  Nosophobie,  welche  dem  Waschzwange  den  Des- 
infektionscharakter verleiht,  ist  wieder  nur  Tünche.  Dahinter  steht 
der  Ekel  vor  Sekreten,  Sputum,  Nasensekret,  Urin  und  Kot  und  dem 
Genitalsekret  im  Zentrum. 

Das  Sputum  ist  auch  nur  mehr  vorgeschoben;  ihn  ekelt  vor 
den  Sputa,  die  Nasensekret  enthalten.    Und  zwischen  Nasen-  und 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  271 

Genitalsekret,  Sperma,  bestehen  enge  Zusammenhänge,  nicht  nur  bei 
unserem  Falle,  sondern  genau  gleich  auch  bei  anderen. 

Beides  sind  Sekrete.  Wir  müssen  auch  an  den  Verlegungs- 
mechanismus denken.  Unter  den  menschlichen  Sekreten  haben  sie 
unter  sich  die  größte  Ähnlichkeit. 

Die  Nase  hat  mit  dem  Sperma  noch  einen  Zusammenhang 
durch  den  Geruchsinn.  Ein  Hysteriker  z.  B.  bekam  immer  Nies- 
krämpfe; zuerst  bei  der  Masturbation,  dann  bei  seinen  Exzessen 
mit  Frauenzimmern.  Die  Nasenspezialisten  mühten  sich  sehr  um  den 
eigentümlichen  nervösen  Katarrh. 

Ähnlich  war  es  bei  unserem  Patienten  und  er  sagte  mir  selbst, 
daß  diese  enge  Assoziation  zwischen  Nasen-  und  Genitalsekretion 
sich  bei  ihm  sofort  gebildet  hatte. 

In  der  Nosophobie  wird  die  Syphilis  erwähnt.  Die  Übertragung 
wird  sowohl  als  Infektion  durch  Sputum  respektive  Nasensekret  ge- 
dacht, als  auch  durch  Ausschütteln  der  Leintücher  der  Prostituierten 
und  anderer  Leute. 

Die  Syphilis  ist  ,,die  geheime"  SexuaLkrankheit;  genaue  Kennt- 
nisse hatte  der  junge  Mann  ja  darüber  nicht,  als  der  Abwehrzwang 
sich  auf  Grundlage  der  Phobie  bildete  (die  Phobie  ist  das  Primäre). 
Sie  mischte  sich  mit  den  dunkeln  Vorstellungen  der  entsetzlichen 
Krankheit,  von  der  der  Vater  drohend  sprach,  als  man  Samenflecken 
in  seinem  Bette  entdeckte.  Hier  liegt  ein  Grund,  warum  die  Phobie 
eine  Krankheit,  Bakterien-,  und  Ansteckungsfurcht,  entwickelte. 
Im  Ansteckungsgedanken  liegt  der  Ekel.  Von  den  ausgebeutelten 
Leintüchern  kamen^nicht  etwa  bloß  Syphiliskeime,  sondern  Patient 
dachte  an  Sperma;  und  hier  berühren  sich  die  beiden  Bilder:  Samen- 
flecken in  seinem  Leintuch  —  Masturbation  —  geheime  Krankheit 
und  ausgebeutelte  Leintücher  von  syphilitischen  Prostituierten  (als 
konzentrierter  Ausdruck  von  Leuten  mit  Sexualverkehr  oder  Sperma- 
produktion). 

Als  ein  Destillat  der  Phobie  bleibt  Spermaphobie  zurück,  die 
der  Wurmeierphobie  an  der  Seite  steht.  Deren  vielsinnige  Bedeutung 
haben  wir  schon  teilweise  kennen  gelernt. 

Aber  wie  es  für  die  Zwangsneurose  charakteristisch  ist:  Auf  der 
einen  Seite  ist  er  stolz  auf  die  Mannbarkeit,  empfindet  Genuß  in  der 
Masturbation,  hat  Vaterphantasien,  auf  der  andern  Seite  kommt 
aus  einer  alten  Quelle  und  genährt  von  neueren  Zuflüssen  von  Motiven 
die  Verdrängung  und  überflutet  die  gleichen  Gebiete.    Alle   Quellen 


272  F.  Rikliu. 

aber  lassen  sich  von  den  Beziehungen  zu  den  Eltern  und  Wirkung  der 
Eltern  herleiten. 

Patient  will  wie  ein  gewissenhafter  Syphiliskranker  nicht  heiraten 
wegen  des  sogenannten  ,, Ichproblems",  mit  dem  er  niemand  infizieren 
will;  er  will  es  auch  nicht  auf  die  Kinder  vererben.  Beides  im  Gegen- 
satze zum  Wunsche,  das  zu  tun,  womit  man  die  Übertragung  der 
Krankheit  bewerkstelligt  (wir  haben  nur  die  gleiche  Verschiebung 
von  Syphilis  auf  Sperma  und  Koitus  vorzunehmen,  welche  Patient 
im  Aufbaue  der  Phobie  und  des  Waschzwanges  verwendet)  und  Kinder 
zu  bekommen^). 

In  der  Phobie  liegt  auch  die  Verdrängung  des  Wunsches,  selbst 
befruchtet  zu  werden  (Furcht  vor  Befruchtung  durch  Sperma  per  os). 

Die  Zwangshandlung  wird  teilweise  zur  Zeremonie.  Das 
Waschen  wird  im  Laufe  der  Zeit  nicht  mehr  gründlich  besorgt,  es  ist 
auch  unmöglich,  es  wird  zum  Zeremoniell  und  Symbol,  vrie  in  den 
Kulten. 

Der  Waschzwang  ist  ein  symbolisches  Reinmachen. 

Die  mit  der  Masturbation  befleckten  Objekte  müssen  getrennt 
werden  von  den  reinen.  Die  reinen  sind  z.  B.  seine  Lieblingsbücher 
und  alle  Gegenstände,  an  die  sich  liebe  Erinnerungen  knüpfen.  Die 
Waschung  bringt  das  Infizierte  mit  dem  Reinen  wieder  zusammen. 

In  der  Religionspsychologie  geschieht  die  Entsündigung  oft  durch 
das  Blut;  das  Blut  Christi  wäscht  von  den  Sünden  rein.  Blut  ist  aber 
wieder  ein  Samensymbol  (Goethes  Schöne  Seele).  Blut  macht  ja  Flecken. 
Als  religiöses  Heilmittel  aber  befleckt  es  nicht  mehr  wie  die  Sünde 
(die  häufig  mit  der  Masturbation  identifiziert  wird),  sondern  reinigt. 

Dadurch,  daß  die  Masturbation  und  mit  ihr  die  Zeugung  mit 
Phobie  und  Zwang  belegt  wird,  macht  sich  Patient  zum  Feind  des 
Kinderzeugens.  Dieses  Motiv  bildet  einen  Hauptinhalt  seines  Trak- 
tates: ,,De  parentibus."  Damit  verbindet  er  den  Kampf  gegen  die 
Eltern,  in  welchem  er  sich  durch  diese  Verdichtung  der  Motive  selbst 
wieder  trifft. 


^)  Ein  anderer  Zwangsneurotiker  konstruierte  auf  Grund  eines  einmaligen 
Bordellbesuches,  bei  dem  er  völlig  impotent  war,  eine  Ansteckungsphobie,  wobei 
er  aber  fürchtete,  er  werde  alle  möglichen  Menschen  mit  Syphilis  oder  anderen 
Krankheiten  anstecken,  oder,  in  Verschiebungen  und  Variationen  dieser  Idee, 
mit  Mäusegiftweizen,  der  sich  in  seinen  Taschen  befinden  könnte,  oder  mit  Grün- 
span usw.  vergiften.  Wir  dürfen  dahinter  den  Wunsch  vermuten,  mit  allen  das 
zu  tun,  womit  man  gewöhnlich  Syphiüs  überträgt. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  273 

Er  verurteilt  das  an  sich,  was  er,  wie  die  Eltern,  selbst  tun 
möchte,  und  bisexuell  an  den  Eltern  tun  möchte,  wie  er  es  in  seinen 
infantilen  Phantasien  darstellt. 

Die  „Grausopathie"  und  den  Waschzwang  möchte  ich  nach 
dieser  theoretischen  Abhandlung  noch  etwas  illustrieren. 

Z.  B.  fuhr  er  mit  der  Eisenbahn  und  wollte  sich  die  Zeit  durch 
interessante  Lektüre  vertreiben.  Er  geht  durch  den  Wagen  und  muß 
die  Klinke  der  Türe  berühren,  welche  sich  neben  dem  Abort  befindet. 
Die  Hand  ist  infiziert.  Er  kann  nun  das  Buch,  das  rein  und  ihm  lieb 
ißt,  nicht  aus  der  Tasche  nehmen,  und  die  Freude  auf  die  Lektüre 
ist  verdorben.  Beim  nächsten  Halt  entdeckt  er  einen  Brunnen  und 
kann  die  Hände  waschen.  Aber  eine  Stunde  lang  hatte  er  infiziert 
dasitzen  müssen  und  konnte  nichts  machen. 

Im  Hause  des  Arztes  ist  glücklicherweise  nichts  infiziert,  es  ist 
rein,  auch  die  Türklinken  machen  nichts. 

Der  Zwang  verekelt  das  Leben;  es  sei  eine  Komödie  und  oft 
habe  er  versucht,  kopfüber  in  den  Dreck  zu  springen,  auf  infizierte 
Bänke  zu  sitzen,  unreine  Bücher  zu  berühren.  Aber  es  half  nichts, 
und  die  Wascherei  wurde  ob  dieser  Unvorsichtigkeit  nur  komplizierter. 

Es  ekelt  ihn  vor  den  Fliegen,  die  sich  auf  alles  setzen,  in  der  Stadt 
mehr  als  auf  dem  Lande;  aber  auch  dort  mußte  er  zu  seinem  Schreck 
gewahren,  daß  sie  auf  unappetitlichem  Material  herumspazieren  können. 
Das  verdirbt  ihm  die  freie  Natur,  di.^  Landschaft,  an  der  er  so  gewaltig 
hängt,  weil  sich  daran  „reine"  infantile  Tagträume  knüpfen. 

Einmal  wusch  er  die  Hände  an  einem  Brünnlein  auf  der  Alp; 
glaubte  sich  gereinigt  und  steckte  die  Hände  in  die  reinzuhaltenden 
Kocktaschen.  Da  sah  er,  weiter  oben,  wie  das  Brünnlein  aus  einem 
unreinen  Graben  mit  Abfällen  herkam;  nun  waren  auch  die  Taschen 
infiziert,  und  er  hatte  den  ganzen  Sonntagnachmittag  mit  Wasch- 
prozeduren zuzubringen.  So  geht  unendlich  viel  Zeit  verloren,  die  ihn 
an  besseren  Leistungen  hindert. 

Die  Außenseite  der  Kleider  ist  unrein;  der  Kopf  ist  unrein,  die 
Strümpfe  und  Schuhe  sind  unrein,  weil  sie  mit  dem  Boden  in  Berührung 
kommen.  Das  Bett  ist  unrein,  weil  die  Wirtsleute  die  nötigen  Vor- 
sichtsmaßregeln nicht  anwenden.  Also  ist  auch  die  Körperober- 
fläche durch  Berührung  mit  der  Bettwäsche  unrein.  So  kommt  es 
beim  Ankleiden  zum  kompliziertesten  Waschzeremoniell. 

Rein  an  ihm  ist  schließlich  nur  noch  der  virtuelle  Raum  zwischen 
Innenseite   der  Ober-   und  Außenseite  der  Unterkleider.   Rein  sind 

Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psyohopathol.  Forschungen.    II. 


274  F.  Riklin. 

ferner  alle  Taschen,  in  denen  er  jene  Gegenstände  steckt,  welche  ihm 
lieb  sind  (z.  B.  Bücher,  Notizen).  Schließlich  auch  die  Hände  nach  der 
Waschung. 

Wenn  Patient  auf  der  Reise  übernachten  muß,  so  wird  die  Innen- 
fläche des  Bettes  mit  Packpapier  ausgelegt,  damit  er  nicht  direkt 
mit  dem  Leintuche  in  Berührung  kommt.  Da  muß  einem  einfallen, 
unwillkürlich  auch  an  Bettunterlagen  für  kleine  Kinder  zu  denken. 
Eine  große  intellektuelle  i\.rbeit  wird  geleistet,  um  den  fort- 
währenden Kampf  zwischen  rein  und  infiziert  zu  führen,  auszuklügeln, 
Methoden  auszuarbeiten. 

Die  Zwangsneurose  gleicht  darin  den  paranoiden  Fällen  von 
Dementia  praecox,  wo  um  die  Halluzinationen  herum  scharfsinnige 
Erklärungs-,  Deutungs-  und  Abwehrsysteme  aufgebaut  werden. 

Natürlich  nimmt  das  alles  Zeit  und  Denkarbeit  in  Anspruch, 
wodurch  ein  großer  Ausfall  an  zweckmäßiger  Leistung  und  Arbeits- 
fähigkeit entsteht.  Bei  den  Paranoiden  entsteht  durch  diese  Arbeit 
und  Introversion,  welche  viel  absoluter  ist  als  bei  der  Zwangsneurose, 
der  Eindruck  der  Verblödung. 

Das  Grausen  erstreckt  sich  auf  alles,  was  mit  der  Analzone 
zusammenhängt,  auch  bei  den  von  ihm  geliebten  Wesen,  geht  also 
gegen  Kot  und  Urin;  es  ist  ihm  furchtbar  peinlich,  sich  diese  Dinge 
im  Zusammenhange  mit  seinen]^Frauen  denken  zu  müssen;  auch  die 
Vorstellung  einer  Popoexhibition  ist  ihm  unangenehm,  aber  er  hat  sie. 
Diese  Vorstellungen  kommen  dann  als  Inhalt  von  Zwangs- 
gedanken, die  wir  in  einem  besonderen  Abschnitt  erwähnen 
müssen  (Fäzes  einer  Frau). 

Er  findet  es  entsetzlich  anzusehen,  wenn  jemand  eine  Kellnerin 
in  die  Hüfte  kneift;  aber  er  tut  es  z.  B.  in  einem  Traum:  er  geht  hinter 
einem  Mädchen  her,  und  im  Moment,  wo  er  es  einholt,  schiebt  sich 
ein  anderer ,  der  bekannte  andere  des  Traumes,  dazwischen  und  kneift 
das  Mädchen  in  den  Popo. 

Halten  wir  das  zusammen  mit  seiner  infantilen  Verstopfung, 
der  Lust  an  der  Defäkation,  der  Behandlung  des  Hundes,  die  er  nicht 
lassen  kann,  aber  mit  Waschzwang  umgibt,  dem  Poperlkultus  durch 
die  Mutter,  der  sich  aus  der  Säuglingszeit  kontinuierlich  bis  in  die 
Gegenwart  erstreckt,  so  sehen  wir,  daß  eine  ausgesprochene  und  aus- 
gedehnte Analerotik  vorhanden  ist,  mit  dem  Spiel  von  Wunsch  oder 
Lust  und  Verdrängung,  das  bei  der  Zwangsneurose  mit  ihrer  Un- 
sicherheit und  ihrem  Zweifel  besonders  charakteristisch  ist. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  275 

In  der  Hauptsache  geht  die  Analzonenverdränguug  gegen  das 
Erwachsene,  erwachsenen  Frauen  gegenüber,  während  das  Unbewußte 
—  Zwangsgedanken,  Traum  —  diese  Analerotik  beim  Erwachsenen 
sucht. 

Vielleicht  hängt  das  wieder  mit  der  Mutterübertragung  zu- 
sammen. 

Um  das  Kapitel  Analerotik  vorläufig  zu  erledigen,  erwähne 
ich  an  dieser  Stelle  noch  gewisse  Reizempfindungen,  die  in  die  Anal- 
gegend verlegt  werden:  beim  Schaukeln,  beim  Schwindelgefühl  auf 
einem  Berge,  oder  z.  B.  beim  Stehen  auf  einer  Platte  oder  einem  Gitter, 
das  irgendeine  Tiefe  oder  Grube  bedeckt,  auch  zum  Schwindelkom- 
plexe gehörend.  Dann  beim  Ansehen  einer  geschnürten  erwachsenen 
Frau,  z.  B.  seiner  Hauswirtin  oder  jener  verliebten  Magd  im  Sonntags- 
staat. Da  bekommt  er  ein  Gefühl  von  Kleben  in  der  Analgegend, 
wie  er  es  etwa  beim  Schwitzen  hatte,  mit  Assoziationen  von  Fleisch- 
extrakt und  Gewürz.  Er  fühlt  sich  in  die  im  Mieder  eingepreßte 
Frau  ein. 

Diese  Empfindungen  alle  gehen  mehr  oder  weniger  auch  auf 
die  Genitalzone  über,  sind  auch  assoziiert  zum  unangenehmen  Gefühl, 
das  er  hat,  wenn  er,  wie  er  sich  ausdrückt,  im  Sperma  liegt.  Die  Wurzel 
dieser  Gefühle  reicht  wohl  ganz  tief  in  die  erste  Kindheit  zurück.  Diese 
Gefühle  sind  jetzt  alle  stark  unlustbetont  '  respektive  enthalten  ein 
Gemisch  von  Unlust  und  Lust,  aber  mit  Vorwiegen  der  ersteren. 

Er  unterscheidet  dies  Gefühl  der  Analfläche  deutlich  von  sexueller 
Erregung  der  Genitalzone.  Es  ist  etwas  anderes. 

Es  kommen  ihm  auch  Gedanken  an  ein  dickes  Dienstmädchen 
in  der  eigenen  Familie,  bei  deren  Anblick  er  ähnliches  fühlte;  es  kommen 
Gedanken  an  allerhand  flüssige  Ausscheidungen,  auch  an  Krusten 
von  Wunden,  an  das  Schwarze  unterm  Nagelrand.  Es  verbindet  sich 
mit  diesem  Gefühl  ein  Zusammenschaudern  und  er  bekommt 
Gänsehaut. 

Zur  Zeit,  wo  er  im  Konvikt  war  und  die  Gegenstände  zu  Hause 
in  reine  und  unreine  schied,  entstanden  die  Pesthöhle  und  das  Heilig- 
tum. Die  Pesthöhle  war  der  Ort  für  die  unreinen  Gegenstände,  das 
Heiligtum  enthielt  die  liebsten,  die  reinsten  Dinge  und  Dokumente. 
Zwischenhinein  bildete  sich  ein  System  von  Abstufungen  und  ver- 
schiedenen Reinheitsgraden  wie  in  Dantes  Hölle  oder  im  christlichen 
Himmel.  Diese  feineren  Nuancen  wurden  später  wieder  fallen  gelassen. 


18 


276  F.  ßiklin. 

Das  Heiligtum  ist  sozusagen  die  notwendige  zwangsneurotische 
Ergänzung  zum  Waschzwangkomplex. 

Das  Heiligtum  oder  Museum  begann  sich  so  zu  bilden,  daß  er 
das  Liebste  besonders  sorgfältig  aufhob,  Gegenstände,  Zettelchen, 
Märchenbücher  usw.,  an  die  sich  Kindheitserinnerungen  knüpften. 
Diese  waren  also  besonders  heilig. 

Dieses  Aufsparen  und  Sammeln  von  Sächelchen  und  Zettelchen 
als  das  Kostbarste  und  Wertvollste  ruft  den  Vergleich  mit  den 
Märchenkostbarkeiten,  die  auf  einer  Verschiebung  von  Analprodukt, 
dem  Wertlosesten,  auf  Gold,  das  Wertvollste  beruht  und  von  dorther 
aus  einer  infantilen  Quelle  seinen  Wert  bezieht. 

Hier  ist  ein  Ursprung  des  Sammeltriebes.  Und  bei  unserem 
Zwangskranken  mit  der  Analverdrängung  ist  die  Sammlung  infantiler 
Schätze  ja  vollständig  am  Platze. 

Zur  Zeit  als  er  nach  Ozeanien  flüchten  wollte,  konnte  er  sich 
von  diesen  liebsten  Dingen  nicht  trennen  und  er  sammelte  sie  in  eine 
kleine  Holztruhe,  die  er  mitzunehmen  dachte.  Seither  lagen  sie  da 
drin  wohlverwahrt  und  als  er  die  Universität  bezog,  nahm  er  die  Kas- 
sette immer  mit  sich  von  einer  Wohnung  in  die  andere  und  hütete  sie 
am  sorgfältigsten.  Er  umgab  das  Heiligtum  mit  ganz  besonders  sorg- 
fältigen Waschzeremonien;  er  bestrebte  sich,  dieses  kleine  Mu- 
seum um  keinen  Preis  besudeln  zu  lassen.  Lieber  wollte  er 
das  ganze  Leben  im  Ekel  und  Dreck  verbringen  und  die  übrigen 
Reinigungs versuche  fahren  lassen,  als  das  kleine  Museum  preisgeben! 

,,Ekel  und  Dreck"  haben  wir  nicht  allein  auf  Verdrängung  des 
Genitalen,  sondern  namentlich  auch  des  Analen  zu  beziehen. 

Wir  sehen,  welch  einen  Affektbetrag  er  in  dieses  Museum  legt. 

Vor  Angst,  daß  etwas  Unreines  hineinkomme,  wagte  er  es  die 
letzten  zwei  bis  drei  Jahre  überhaupt  nicht  mehr  zu  öffnen. 

Als  er  zum  letztenmal  ein  Objekt  hineinlegte,  zog  er  zuvor  sein 
Hemd  aus,  damit  nicht  mit  einem  Kleidungsstück  etwas  Unreines 
hineinkomme ! 

Ich  will  meine  Gedanken  zu  diesem  heiligen  Akte  nicht  äußern, 
um  nicht  von  mir  aus  etwas  hineinzulegen,  was  nicht  darin  ist. 

Ich  will  nur  auf  den  Zusammenhang  der  Nacktheit  mit  anderen 
autoerotischen  Nacktkulten  und  Phantasien  aufmerksam  machen, 
deren  Abschluß  dieser  Akt  bildete.  Damit  war  auch  symbolisch  die 
letzte  Erinnerung  aus  dem  Jugendparadies  im  Heiligtume  aufgehoben 
und  begraben. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  277 

Wenn  wir  aus  diesem  Akte  schließen,  daß  beim  Patienten  in 
der  Nacktheit  die  größte  Reinheit  lag,  und  daß  diese  glückliche  Periode 
nun  definitiv  abgeschlossen  war,  so  gibt  uns  die  weitere  Analyse  recht. 
Es  war  auch  die  intensivste  Reinigung! 

Das  Museum  wurde  angelegt,  als  ihm  die  Jugend,  das  Infantile, 
zu  entschwinden  drohte,  die  er  nicht  preisgeben  wollte. 

Inhalt  des  Museums.  Inselphantasien. 

Ich  wagte  anzudeuten,  daß  ich  mich  für  den  Inhalt  des  Heilig- 
tums außerordentlich  interessiere  und  daß  Patient  bei  mir  ein  pietät- 
volles Verständnis  dafür  erwarten  dürfe.  Er  versprach  mir  das  Heilig- 
tum zu  bringen,  was  ich  für  eine  außerordentliche  Ehre  halten  mußte, 
denn  kein  Mensch  außer  mir  hatte  bis  dahin  einen  Blick  hineinwerfen 

dürfen. 

Nach  mehrmaligem  Vergessen  brachte  er  es  endlich  mit.  Vor 
der  Eröffnung  mußte  ich  ihm  eine  kleine  feierliche  Handwaschung 
gestatten  und  mit  zurückgestülpten  Rockärmeln  und  gewaschenen 
Händen,  die  sonst  nichts  berühren  durften,  wurde  zuerst  der  Deckel 
gehoben,  dann  die  Hand  nochmals  gewaschen  und  die  Herausnahme 
der  Objekte  konnte  beginnen. 

Ich  mußte  mir  vorkommen  wie  ein  trockener  Staatsbeamter, 
der  in  der  Sakristei  eines  säkularisierten  Klosters  eindringt,  um  die 
Inventarisation  der  geweihten  kostbaren  Kultgeräte  vorzunehmen. 
Ich  schicke  voraus,  daß  die  Kassette  nun  einige  Zeit  bei  mir 
blieb,  bis  die  Inventarisation  erledigt  war.  In  den  folgenden  Be- 
sprechungen wurden  keine  Zeremonien  mehr  vorgenommen.  Wenn 
Patient  auch  bei  jedem  Gegenstande  lange  in  liebendem  Gedächtnisse 
verweilte,  so  gab  es  keine  Waschschranken  mehr,  und  die  Gegenstände 
durften  herumliegen  und  in  die  Hand  genommen  werden,  wenigstens 
in  meinem  Hause,  das  ja  immerhin  nicht  als  unrein  galt. 

So  wurde  das  Heiligtum  und  sein  Kult  aufgehoben,  Patient  ge- 
dachte endgültig  darauf  zu  verzichten  —  ich  schlug  ihm  vor,  diejenigen 
Objekte,  die  nicht  an  und  für  sich  wertvoll  waren,  in  den  Flammen 
eines  reinen  Feuerleins  aufgehen  zu  lassen.  Was  geschehen  ist,  weiß  ich 
nicht  ganz  bestimmt;  die  Märchenbücher  habe  ich  jetzt  noch  leihweise 
zur  Lektüre;  er  wollte  etwas  bei  mir  zurücklassen. 

Die  Aufhebung  des  Heiligtums  war  ein  kleiner  therapeutischer 
Fortschritt. 


278  F.  Riklin. 

Der  Inhalt  des  Kofferchens  erinnerte"  ein  wenig  an  die  Samm- 
lungen, welche  manchmal  bei  Patienten  mit  Dementia  praecox  zu  finden 
sind.  Es  waren  viele  Zettelchen  mit  Notizen,  gedruckte  Ausschnitte, 
Bildchen  u.  dgl.  darin,  als  fast  armselige  Dokumente  für  Ideen  und 
Phantasien. 

Aber  es  besteht  doch  ein  wichtiger  Unterschied.  Es  ist  keine 
Ideenarmut,  die  Bedeutung  der  Notizen  und  Dokumente  ist  leicht 
verständlich;  die  Sammlung  hat  einen  richtig  infantilen  Charakter, 
aber  die  Zeugen  der  Vergangenheit  sind  noch  lebendig  und  sprechen 
noch,  es  sind  nicht  öde,  kalte  Trümmer  aus  einer  in  die  Tiefe  versun- 
kenen Gedankenwelt. 

Man  hat  den  Eindruck,  jeder  Knabe  könnte  einmal  so  etwas 
gesammelt  haben  —  es  ist  uns  nichts  Unbekanntes,  wir  fühlen  uns 
dieser  Welt  noch  verwandt  —  während  uns  die  Sammlungen  von 
schizophrenen  Patienten  schon  fremd  sind ;  erst  die  Analyse  kann  ihnen 
wieder  Sinn  und  Wärme  einhauchen. 

Das  Museum  ist  reich  an  Aufschlüssen  über  die  ganze  Kindheits- 
zeit bis  in  die  Pubertät  heinein.  Dort  schließt  sie  ab. 

In  diesem  Kästchen  ist  die  Jugendzeit  des  Patienten  verschlossen, 
begraben  und  verwahrt  gewesen,  alles  Liebe  aus  dieser  ganzen  Epoche, 
alle  lieben  Erinnerungen,  die  ganze  Auto-  und  Phantasieerotik. 

Von  der  konnte  er  sich  nicht  trennen  und  schleppte  sie  behutsam 
mit  sich  herum  und  doch  brachte  er  es  dazu,  sie  abzuschließen.  Es 
wird  der  große  Versuch  gemacht,  erwachsen  zu  werden.  Aber  er  gelingt 
nur  halb. 

Die  Sehnsucht  geht,  auch  in  den  Zukunftsphantasien,  immer 
wieder  zurück  ins  Paradies  der  Jugend,  auf  die  Insel  der  Seligkeit. 

Die  Besprechung  des  Museumsinhaltes  gibt  uns  Gelegenheit, 
die  infantile  Autoerotik  der  ersten  Kindheit  und  die  Inselphantasien 
der  zweiten  Kindheit  und  Pubertät  durchzunehmen. 

Im  Museum  finden  wir  einmal  Photographien  der  Eltern,  be- 
sonders der  Mutter  und  eine  Photographie  des  Patienten  selbst  aus  dem 
fünften  Jahr. 

Er  legte  sie  damals  hinein  —  als  er  glaubte,  es  bei  den  Eltern 
nicht  mehr  aushalten  zu  können  —  und  fliehen  wollte !  Es  gibt  keine 
bessere  Symbolik  für  das  Verhalten  des  Elternkomplexes  derNeurotiker, 
vom  mißlungenen  Ablösungsversuche. 

Dann  kommen  mehrere  Märchenbücher;  beim  Herausheben 
verweilt  er  nochmals  mit  großer  Andacht  bei  ihnen. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  279 

Weiter  ein  Bilderbuch  mit  einem  sogenannten  „Goldenen  ABC". 
Beim  Buchstaben  G  ist  die  Jagd  nach  dem  Glück  primitiv  dargestellt, 
das  Glück  ein  Zirkuswesen  in  engem  Trikot,  das  wie  ein  Hermes  dem 
nachjagenden  Publikum  enteilt.  Diese  Dame  weckte  bereits  im  fünf- 
jährigen Knaben  erotische  Lust,  ebenso  darauf  Nixen  und  Najaden 
in  den  bekannten  Bildern  mit  Märchenfiguren  in  früheren  Jahrgängen 
der  ,, Fliegenden  Blätter". 

Diese  Beschauungstendenz  hatte  er  auch  der  Mutter  gegenüber; 
wir  erfahren,  daß  sie  gerne  ihre  nackten  Füße  zeigte  und  daß  er  sie 
gerne  im  Neglige  sah  und  später  liebte,  Witze  über  ihre  nackten  Arme 
zu  machen,  wobei  sie  halb  entrüstet  tat  und  ihn  mit  dem  Onkel  Max 
verglich,  der  die  Schwestern  früher  gern  zum  Erröten  gebracht  hatte. 

Jagd  nach  dem  Glück,  Najaden  und  Nixen  und  ähnliche  Abbil- 
dungen liebte  er  aber  schon  lange  vor  der  bewußten  sexuellen  Auf- 
klärung, die  erotischen  Phantasiebilder  von  nackten  Mädchen  fallen 
in  die  Zeit  nach  derselben. 

Wendepunkt  war  die  Weihnacht  1902,  in  der  Vorpubertät,  im 
Beginne  der  Aufklärung,  fast  ein  Jahr  vor  der  Masturbation  der 
Pubertät. 

Da  sah  er  in  einem  geographischen  Werk  das  Bild  einer  nackten 
Samoanerin,  für  das  er  in  Glut  geriet  und  die  zum  großen  Wunsch- 
objekt seiner  Inselphantasien  wurde,  die  bereits  seit  einigen  Monaten 
im  Gang  waren. 

Im  Museum  befinden  sich  noch  eiiie  Reihe  von  Frauenbildnissen. 
Ebenso  trägt  er  noch  solche  herum  in  seiner  Brieftasche,  die  im  Grunde 
genommen  ein  zweites  Heiligtum  ist,  das  ebenfalls  mit  viel  Sorgfalt 
umgeben  wird.  Wir  kommen  darauf  beim  Abschnitte:  ,, Willens- 
schwäche und  Ethik"  zurück. 

Da  sind  Sachen  wie  ,,Jeune  fille  laborieuse,  La  cruche  cassee 
V.  Creuze,  Isadora  Duncan,  eine  Plakatfigur  von  einer  Ausstellung: 
ein  reifes  Weib  mit  entblößter  Brust;  eine  Reihe  Reproduktionen 
von  Skulpturen,  z.B.  eine  nackte  Psyche  usw.  Ich  möchte  diese  Bilder 
in  zwei  Gruppen  bringen:  die  mit  sanften,  feinen,  zarten  Zügen,  ohne 
Exhibition  und  die  sinnlichen,  reifen,  unverhüllten  Frauen,  oder  die 
wenigstens  auf  ihn  diesen  Eindruck  machen.  Diese  Bilder  stammen 
aus  den  Pubertätsjahren  und  reichen  bis  in  seine  Gegenwart  hinein. 

Im  ganzen  hat  er  wie  erwähnt  keinen  schlechten  Geschmack; 
er  ist  entschieden  ästhetisch,  auch  in  seiner  Sprache. 

Einmal  (1903/04)  fand  man  zu  Hause  solche  erotische  Bilder 


280  F.  Riklin. 

und  Postkarten  von  ihm,  und  es  gab  ein  großes  Geschrei.  Später 
kaufte  er  wieder  einmal  ähnliche  Bilder  zur  Befriedigung  seiner  Schau- 
lust und  trug  sie  mit  schlechtem  Gewissen  im  geheimen  herum.  Da 
ereignete  sich  ein  merkwürdiger  Vorfall: 

Eines  Nachmittags  blieb  die  Mutter  sehr  lange  aus,  es  wurde 
ihm  bange;  vielleicht  hatte  sie  Selbstmordgedanken,  weil  sie  hie  und 
da  solche  Äußerungen  in  der  Erregung  machte.  Er  geriet  in  eine  furcht- 
bare Heulerei,  die  Mutter  fand  ihn  am  späten  Abend  in  Tränen. 

In  dieser  Angst,  die  Mutter  zu  verlieren,  sagte  ihm  eine  Stimme: 
,, Entweder  deine  Mutter  oder  die  Karten  mit  deinen  Weibern  mußt 
du  opfern !"  Er  opferte  die  Karten,  warf  sie  in  den  Ofen  und  so  wurde 
ihm  die  Mutter  am  Abend  wieder  geschenkt ! 

Dies  Ereignis  gehört  in  den  Zusammenhang  von  zwei  Gruppen 
von  Erscheinungen:  Opferhandlungen  mit  stark  masochistischem 
Einschlag  und  anderseits  zu  der  Gruppe:  Zwangsgedanken,  Zwangs- 
impulse (inneren  Stimmen,  Schwüren). 

Beides  muß  noch  besonders  im  Zusammenhange  dargestellt 
werden. 

Das  Museum  beherbergt  eine  Menge  kleiner  Landschafts- 
bilder; an  den  Richterschen  Märchenbildern  waren  es  die  Land- 
schäftchen,  welche  ihn  anzogen,  die  Figuren,  die  immerhin  das  Wesent- 
liche an  der  Richterschen  Kunst  sind,  hätte  er  lieber  weggewünscht. 
Er  hatte  da  einige  Lieblingsbildchen  in  Bechsteins  Märchenbuch,  die 
er  sich  durch  Buchzeichen  merkte.  Die  Vorliebe  für  Richter  und  Pocci 
mit  ihrer  Kindlichkeit  ist  ja  ganz  in  Ordnung.  Daneben  sind  Land- 
schaften auf  Ansichtskarten  vorhanden  oder  Ausschnitte  aus  illu- 
strierten Kalendern  oder  Zeitschriften.  Die  infantileren  haben  noch 
zum  Teil  silberumrandete  Bäume,  einen  silbernen  Mond  u.  dgl.  Im 
ganzen  ist  aber  die  i\.uswahl  ganz  geschmackvoll. 

Wir  finden  im  Museum  drei  Fläschchen  mit  Wasser,  das  aus  drei 
verschiedenen  Seen  stammt,  die  er  in  verschiedenen  Ferienaufent- 
halten landschaftlich  genossen  hatte.  Er  hebt  sie  mit  Liebe  heraus, 
denkt  an  alle  die  schönen  Erinnerungen,  denkt  voll  Sentimentalität, 
daß  da  drin  auch  ein  Quantum  jener  frischduftenden  Seeluft  ein- 
geschlossen sei ! 

Bei  der  Aufhebung  des  Museums  will  er  das  Wasser  jedes  Fläsch- 
chens  wieder  in  den  See  ausgießen,  aus  dem  er  es  entnommen  hat. 
Nun  fehlt  bei  einem  Fläschchen  die  Etikette,  und  er  weiß  nicht  mehr, 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  281 

in  welchen  See  er  es  entleeren  muß.  Das  ist  für  den  Zwangsneurotiker 
ein  Haken,  an  dem  er  Zweifel  und  Qual  einhängen  kann, 

Freud  sagt,  daß  von  den  Zwangsneurotikern  an  allen  Stellen 
der  Ungewißheit  Zweifel  angesiedelt  werde,  und  da  gebe  es  natürliche 
Lücken  in  unserm  Denken,  wo  wir  nichts  mehr  Sicheres  wissen,  bei  der 
Unsicherheit  des  Gedächtnisses,  der  Unsicherheit  unserer  Herkunft 
und  der  Unsicherheit  des  Jenseits,  des  Todes. 

Wir  kommen  darauf  zurück  beim  Ichrätsel. 

Der  Landschaftskult  ist  der  Vorläufer  der  Inselphantasien. 
Er  wirkt  jetzt  noch  im  Patienten  nach.  Er  muß  in  Universitätsstädten 
studieren,  die  seinen  landschaftlichen  Idealen  entsprechen.  Er  opferte 
dieser  Idee  sogar  die  Vollendung  der  Analyse,  weil  ihm  Zürich  im 
Winter  nicht  genügend  entspricht,  trotzdem  die  Behandlung  durch 
die  Analyse  in  seiner  Überzeugung  die  einzige  ist,  zieht  er  den 
Landschaftskult  vor. 

Im  Landschaftskult  hegt  er  seine  seligen  Kindheitserinnerungen, 
namentlich  die  Ferien,  welche  dem  Stadtkind  wie  ein  paradiesisches 
Sichausleben  vorkamen.  Das  waren  die  Aufenthalte  in  der  freien 
Natur,  die  er  voll  Wonne  genoß,  es  waren  die  Ferien  mit  der 
Mutter! 

Nicht  umsonst  ist  die  Wunschinsel,  die  sich  aus  der  Landschafts- 
liebe entwickelt,  u.  a.  auch  das  Wunschland,  wo  er  Ferien  hat,  nichts 
tun  muß,  und  der  Lektüre  seiner  Lieblingsbücher  sich  widmen  kann. 
Es  gibt  dort  eine  Lieblingsbibliothek. 

Und  nicht  umsonst  empfand  er,  als  er  einmal  die  Zwangsvor- 
stellung hatte,  die  Eltern  seien  gestorben  —  weil  die  übliche  ,, Brief- 
sekretion", wie  er  es  nennt,  14  Tage  lang  ausblieb  (man  sieht  den  starken 
Zusammenhang  mit  den  Eltern  in  diesem  häufigen  Briefwechsel) 
eine  Mischung  von  Angst  und  Befriedigung,  letztere  im  Gedanken, 
mit  dem  ererbten  Gelde  auf  die  Wunschinsel  ziehen  zu  können,  um 
seinen  Liebhabereien  zu  leben.  Diese  Gedanken  kamen  besonders, 
wenn  er  sich  für  eine  bestimmte  Berufstätigkeit  entscheiden  sollte. 
Da  hätte  er  lieber  Ferien  mit  Versenkung  in  die  Jugendphantasien. 

In  den  bildlichen  und  wirklichen  Landschaften  äußert  sich  eine 
Vorliebe  für  Pfützen  und  Sümpfe.  Sie  geht  ebenfalls  in  die  frühe 
Kindheit  zurück,  hauptsächlich  spielte  es  im  Jahre  1898/99  (im  9.  bis 
10.  Jahr).  Es  fesselte  ihn  das  geheimnisvolle  Wunder,  wo  das  Wasser 
sich  mit  der  Erde  vermischt! 

Es  dürfen  auch  Jauchepfützen  sein.   Halten  wir  das  zusammen 


282  F.  Riklin. 

mit  unseren  Kenntnissen  über  die  Analerotik  des  Patienten,  so  dürfen 
wir  dieser  Lust  ein  sehr  hohes  Alter  geben. 

In  der  Landschaftsliebe  spricht  sich  der  Gegensatz  aus  zwischen 
freier  Natur  und  Kultur,  zwischen  Freiheit  der  natürlichen  Triebe 
und  Verdrängung.  Ich  habe  diese  Symbolik,  die  im  Grunde  uns  allen 
geläufig  ist,  in  den  Phantasien  von  Neurotikern  mehrmals  in  der 
feinsten  Ausarbeitung  kennen  gelernt. 

So  ist  es  bei  unserem  Patienten,  Die  Bedeutung  der  Sumpf- 
vorliebe scheint  mir  leicht  zu  verstehen. 

Eine  weitere  Aufklärung  dafür  erhalten  wir  aus  dem  Bericht, 
daß  er  als  kleiner  Bub  —  er  konnte  zwar  schon  lesen  —  von  Moor-  und 
Schlammbädern  hörte.  Die  Empfindung,  die  er  beim  Sumpfkultus 
hatte,  war  zwar  nicht  ganz  gleich.  Der  Gedanke,  ganz  in  weichem 
Schlamm  liegen  zu  müssen,  erfüllte  ihn  mit  Wollust,  mit  der  gleichen 
masochistischen  Wollust,  welche  die  Vorstellung  vom  wehrlos  Ein- 
gegrabensein, wehrlos  Gebundensein  auslöste.  Man  ist  versucht, 
die  Anfänge  aller  dieser  Lüste  beim  Wickelkinde  zu  suchen. 

Die  Moorbadphantasie  war  so  mächtig,  daß  er  aus  einem  Kalender 
ein  Inserat  herausschnitt,  welches  Reklame  für  Moorbäder  machte 
und  die  Adresse  einer  Drogerie  angab,  die  Schlamm  für  solche  Bäder 
lieferte!  Dieses  Papierchen  aber  wurde  als  Dokument  dem  Museum 
einverleibt. 

Bedeutungsvoll  als  Vorläufer  für  die  Inselphantasie,  scheint 
mir,  ist  eine  Landschaftsvorstellung,  die  meines  Wissens  zuerst  als 
Traum  auftrat  und  nachher  eine  Lieblingsvorstelllung  wurde.  Das 
war  im  Herbste  1901  und  Frühjahr  1902,  also  ein  Jahr  vor  dem  Aus- 
bruche der  eigentlichen  Inselphantasien: 

Da  war  ein  Schloß,  mit  unterirdischem  Ausgang  in  einen  langen 
Kanal,  mit  Mündung  im  Ufer  eines  Gewässers;  man  kann  mit  einem 
Boote  hineinfahren  in  diesen  dunklen  Gang.  An  der  Mündung  steht 
Gebüsch. 

Als  Vorläufer  für  die  Inselphantasie  ist  dieses  sexualsymbolische 
Bild  so  wichtig  wie  jener  Traum  vom  kleinen  Mädchen,  der  ihn  plötz- 
lich zum  Verliebten  machte.  Der  letztere  Traum  fällt  in  den  Winter 
1901/02,  wird  also  von  dieser  Symbolphantasie  zeitlich  umrahmt. 

In  den  Inselphantasien  und  in  den  Bildchen,  welche  er  als  Do- 
kumente zu  denselben  aus  Kalendern  und  Zeitschriften  herausschnitt 
und  dem  Museum  einverleibte,  kehrt  dieses  Bild  in  zahlreichen  Vari- 
anten wieder.    Fast  immer  eine  Bucht  mit  einer  Hütte,  einem  Schlosse 


Aus  dei'  Analyse  einer  Zwangsneurose.  283 

oder  ähnliches  im  Hintergrund,  und  ein  Boot  oder  Schifflein.  Er  hat 
auch  eine  Menge  Abbildungen  von  Häuschen,  Hütten  und  Schlössern 
gesammelt,  die  nach  seinem  Sinne  waren. 

Im  Herbste  1902  sah  er  das  Buch,  das  der  äußere  Ausgangs- 
punkt zu  den  Inselphantasien  abgab.  Es  beschrieb  die  Weltumseglung 
eines  Engländers  und  enthielt  viele  Abbildungen  von  Koralleninseln, 
einsamen  Atollen  im  Stillen  Ozean.  Patient  beschäftigte  sich  sehr 
mit  diesen  Inseln,  namentlich  mit  den  Bildchen  und  wählte  sich  seine 
Leibinseln  aus,  die  nach  seinem  Sinne  waren.  Die  Hauptleibinsel 
hieß  Rotuma. 

In  diesen  Anfangsphantasien  und  in  den  späteren  spielt  natürlich 
der  Reisetrieb,  der  Wunsch  nach  Abenteuern  und  der  Knabenehrgeiz 
eine  wichtige  Rolle,  und  je  schlechter  es  in  der  Schule  ging,  um 
so  schöner  wurden  die  Pläne.  Er  dachte  sich  zuerst  als  Staatsmann, 
als  Revolutionär  (gegen  den  Absolutismus  des  Vaters!),  der  seine 
Monarchie  umwälzte,  neu  einteilte  und  den  Provinzen  schöne  Namen 
gab.  Mit  seinem  Freunde  schrieb  er  ein  Bardeigesetz  (sie!).  Dann 
wurde  er  ein  Garibaldi  des  Meeres.  Daraus  wurde  später  der  Wunsch 
Seeoffizier  zu  werden,  darum  der  Übertritt  aus  dem  Gymnasium 
usw.,  dessen  weitere  Motive  wir  erwähnten.  Die  übertriebenen  kör- 
perlichen Übungen  vor  der  geplanten  Flucht  hängen  auch  damit 
zusammen.  Er  genoß  dabei  masochistisch  die  Erschöpfung.  Der 
Wunschheld  unterlag ;  aber  in  den  Inselphantasien  hat  er  sich  noch 
vielfach  ausgelebt. 

Dann  dachte  er  sich  wieder  als  großen  Weltweisen  mit  Lieblings- 
büchern, auch  auf  der  Insel,  und  sein  Philosophiestudium  wird  wohl 
hier  einen  Vorläufer  haben. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  aber,  daß  sein  philosophisches  Haupt- 
werk, das  ,, Traktat",  das  er  mit  großem  Aufwände  an  Zeit  und  unter 
Hintansetzung  der  Studien  immer  weiter  ausarbeitet,  vom  Kinder- 
problem handelt,  sich  gegen  die  Kinderproduktion  wendet,  so  dürfen 
wir  die  Quelle  aller  philosophischen  Bestrebungen  dort  suchen,  wo 
dieses  Problem  zum  erstemal  auftaucht,  in  den  ersten  Kinderjahren. 

Zu  Weihnachten  1902  kam  dann  das  Bild  der  Samoanerin, 
einer  Tänzerin  des  Königs  X.,  in  einem  Buche  über  Länderkunde,  mit 
genaueren  Inselbeschreibungen. 

,, Dieses  Weib  machte  mich  ganz  verrückt;  ich  machte  mir  para- 
disiesche  Phantasien,  wo  ich  mit  diesem  Weib  allein  war.  Ich 
umarmte    sie    wohl  in    Gedanken,    umschlang    und    küßte    sie.    Ich 


284  F.  Riklin. 

glaube     nicht,    daß   deutliche  Vorstellungen   von  sexuellem  Verkehr 
da  waren. 

Wenn  nun  die  Eltern  fort  waren,  habe  ich  mich  auch  nackt 
entkleidet.  Es  war  da  ein  Turnapparat,  der  baumelte  an  einer  Tür 
herum,  da  machte  ich  meine  Kunststücke.  Es  ist  mir  etwas  unange- 
nehm, darüber  zu  erzählen  — ;  es  fiel  mir  erst  dieser  Tage  wieder  alles 
ein  — ;  ich  hatte  auch  Hanteln,  und  eben  diese  Ermüdung  —  da  war 
die  Sache  die,  ich  war  nackt,  turnte  mit  den  Hanteln,  dachte  mir, 
wie  schön  es  wäre,  das  auf  einer  einsamen  Insel  in  der  freien  Natur 
zu  machen,  wo  niemand  dich  sieht;  aber  es  war  ein  deutlich  maso- 
chistischer  Einschlag  dabei,  in  diesem  Gefühle  der  Erschöpfung,  der 
Ermüdung.  Richtig,  da  fällt  mir  noch  was  ein  —  es  ist  so  entfernt  — 
möglicherweise  ist  es  auch  gar  nicht  der  Fall  gewesen, 
ich  kann  es  nicht  beschwören,  aber  doch  bin  ich  überzeugt,  daß  es 
sich  so  verhalten  hat:  Eines  Abends,  als  die  Eltern  fort  waren,  glaube 
ich  in  ein  anderes  Zimmer  gegangen  zu  sein,  unbekleidet,  aufs  Sofa, 
band  mir  die  Füße  zusammen,  machte  kunstvolle  Knoten  in  der  Er- 
wartung, wenn  vielleicht  die  Eltern  kämen  .  .  .  . !  Ich  wollte  nicht 
erwischt  werden;  aber  an  der  Lust  war  das  Gefühl  der  Gefahr  be- 
teiligt, das   Gefühl  des  Wehrlosseinwollens." 

,,Das  allererste  war  das  Bedürfnis,  barfuß  herumzugehen.  Abends, 
wenn  die  Eltern  fort  waren,  spazierte  ich  so  herum.  Ich  stellte  mich 
auch  vor  den  Spiegel.  Ich  legte  eine  Tabelle  an,  auf  der  ich  die  Daten 
dieser  Exkursionen,  dieser  Spaziergänge  aufnotierte.  Das  ganze  geht 
in  dieser  Form  frühestens  auf  den  Herbst  1899  zurück."  (10  Jahre 
alt.)  Auf  der  Tabelle,  die  im  Museum  aufbewahrt  wurde,  notierte 
er:  Nudis  pedibus  ambulavi:  darunter  die  Daten,  an  welchen  es 
geschehen  war. 

Er  sah  auch,  wie  die  Heiligenstatuen  und  Bilder  in  der  Kirche, 
z.  B.  Maria,  mit  wallenden  Gewändern  dargestellt  wurden,  welche 
auf  die  bloßen  Füße  fallen  und  diese  halb  bedecken.  Das  ahmte  er  nach, 
mit  irgendwelchen  Kleidungsstücken,  und  hatte  ein  Wohlgefallen 
daran,  wie  die  Füße  hervorsahen. 

Diese  Dinge  alle  kamen  in  der  Inselzeit  ebenfalls  zur  vollen 
Entfaltung. 

Er  machte  gern  Spaziergänge  zu  einem  kleinen  Föhrenhain  mit 
etwas  Buschwerk.  Der  Hain  hatte  etwas  Atollartiges,  war  ringförmig, 
mit  einer  kleinen  Wiese  in  der  Mitte.  ,,Wenn  der  Wind  durch  die  Bäume 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  285 

rauschte,  hat  es  mich  ganz  bezaubert;  da  habe  ich  mich  dort  besonders 
gern  den  Inselphantasien  hingegeben." 

Nun  ging  es  los,  lichterloh.  Er  dachte  sich  mit  der  nackten 
Samoanerin  auf  einer  polynesischen  Leibinsel.  Die  Phantasien  nahmen 
schwer  überhand,  erstickten  die  Schulinteressen,  namentlich  später 
im  Konvikt. 

Das  war  aber  noch  fast  ein  Jahr  vorher,  und  vor  der  Mastur- 
bation. 

Es   entwickelte   sich   eine   ganz     auffallende   Sublimierung     in 

Geographie. 

Er  schaffte  Landkarten  und  geographische  Bücher  an,  suchte 
sich  Leibinseln  heraus,  kaufte  eine  stumme  Karte  und  zeichnete  die 
Leibinseln  ein. 

Immer  mehr  Inseln  lernte  er  kennen,  ihre  Form,  Lage,  Größe, 
Vegetation,  Kultur.  Er  sammelt  eine  Unmenge  geographischer  Ab- 
bildungen, hauptsächlich  von  Inseln  oder  dann  Festlandsbuchten. 
Alles  kommt  später  ins  Heiligtum. 

Die  Insel  ist  der  Schauplatz,   auf  dem  sich  alle  Wünsche  und 
Pläne  des  Knaben  in  der  Phantasie  verwirklichen.  Sie  ist  das  Paradies. i) 
Da  erfüllt  sich  alles:  er  kann  entsprechend  seinen  infantilerotischen 
Phantasien  nackt  herumgehen,  entsprechend  seinen  masochistischen 
Gelüsten  sich  von  einem  Diener  bis  zum  Halse  eingraben  lassen.  Er 
verwirklicht  seine  ehrgeizigen,  männlichen  Pläne :  bald  lebt  er  als  Wilder, 
körperlich  kräftig,  einsam,  fern  von  allem  Zwang  und  Kultur,    bald 
ist  er  ein  Fürst,  ein  Zivilisator,  verbreitet  Kultur  nach  seinem  Sinne, 
führt  die  Post  ein,  baut  Eisenbahnen,  bald  wohnt  er  in  der  Hütte 
nach  Art  der  Eingeborenen,  bald  läßt  er  ein  Landhaus  oder  Schloß 
am  Ende  der  Bucht  aufbauen.  Die  Phantasie,  als  Lokomotivführer 
zu  fahren,  kollidierte  einmal  mit  der  Fürstenidee;  er  überlegte,  daß  er 
nicht  wohl  Fürst  und  Lokomotivführer  zusammen  sein  konnte.    Bei 
der  Einrichtung  der  Post  wäre  den  Briefmarken  die  größte  Aufmerk- 
samkeit  zuteil  geworden.  Das  Museum  enthielt  Lieblingsmarken,  die 
als  Vorbilder  dienen  sollten.  Wir  finden   da    entweder  Marken  mit 
hübschen   Landschaften   oder   Frauenbildnisse:    eine   junge   Königin 
Viktoria  von  England  und  die  Königin  Wilhelmine   als  Mädchen! 
Das  war  die  Hauptsache  an  der  Postphantasie.  Zahllos  sind  die  kleinen 

1)  Ein  junger  Masturbant  phantasierte  sich  mit  einem  geliebten  Mädchen 
auf  eine  fruchtbare  Oase  in  der  Wüste. 


286  F.  Eiklin. 

Zettelchen  im  „Museum'",  welche  alle  diesePhantasien  dokumentieren, 
Sammlungen  von  Häusern  samt  Ausstattungen. 

Ich  erinnere  an  den  Angstgedanken,  den  Eltern  sei  etwas  zu- 
gestoßen, als  er  länger  als  gewöhnlich  keine  Nachricht  erhielt,  ver- 
bunden mit  dem  anderen  Gedanken :  Dann  kann  ich  erben,  muß  keinen 
Beruf  wählen,  sondern  kann  auf  die  Insel  fahren  und  in  meiner  Biblio- 
thek sitzen. 

Auf  der  Insel  gab  es  auch  eine  Art  Kirche,  mit  Mittag-  und 
Abendgeläute.    Das  gehörte  zu  den  Fürstenphantasien. 

Er  dachte  sich  auch  einen  Kult  der  Freiheitsgöttin;  die  Brief- 
marke mit  der  Königin  Viktoria  als  Mädchen  hätte  als  Vorbild  für 
eine  Statue  dieser  Göttin  dienen  sollen. 

Verschiedene  von  seinen  Flammen  dachte  er  sich  auch  etwa 
auf  der  Insel  als  Geliebte.  Andermal  war  er  einsam,  allein ;  manchmal 
waren  nur  Eingeborene  um  ihn,  manchmal  ein  bis  zwei  Freunde. 

Aus  einem  botanischen  Buche  machte  er  pflanzengeographische 
Notizen.  Es  fehlt  auch  nicht  ein  Verzeichnis  der  zu  pflanzenden  Bäume-. 
Auf  Zettelchen  standen  alle  nötigen  Details  für  die  Ausrüstung,  mit 
Hinweis  auf  Kataloge  von  Spezialgeschäften.  Ein  Proviantverzeichnis. 
Eine  Hausapotheke  sollte  auch  da  sein;  er  machte  ein  Verzeichnis 
der  Mittel,  die  ihm  aus  eigener  Anschauung  bekannt  waren. 

Ein  Verzeichnis  von  Büchern,  eine  Art  Testament  über  die  Ver- 
wertung derselben  nach  seiner  Flucht. 

Eine  Variation  der  Inselphantasie  in  der  zweiten  Blütezeit  be- 
stand darin,  daß  er  auch  an  eine  Flucht  in  eine  einsame  Gegend  im 
Gebirge  dachte ;  dahin  hätte  er  sich  wenigstens  doch  Zeitungen  kommen 
lassen  können;  er  macht  da  in  der  späteren  Zeit  bereits  wieder  Kom- 
promisse mit  der  Kultur.  Von  zu  abonnierenden  Blättern  ist  ebenfalls 
ein  Verzeichnis  da. 

Er  dachte  auch  zeitweise,  in  der  späteren  Zeit,  daß  er  bei  der 
Flucht  von  zu  Hause  nicht  auf  die  Wunschinsel  fliehen,  sondern  als 
Bauernknecht  untergehen  würde.  Es  gäbe  auf  dem  Totenbett  eine 
Wiedererkennungsszene  mit  einem  alten  Freunde — oder  mit  den  Eltern. 

Im  ersten  Teile  dieser  tragischen  Phantasievariante  entdecken 
wir  ein  Motiv,  das  wir  aus  den  Märchen  kennen. 

Die  ganze  Variante  stammt  aus  einer  Erzählung  von  Adalbert 
Stifter. 

Gewöhnlich  ist  der  Abschluß  der  Phantasie  beim  Patienten 
ein  anderer:  Er  wird  ein  reicher  Mann  auf  der  Insel,  kehrt  einmal 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  287 

zurück  und  gibt  sich  der  ersten  Geliebten  beim  Tanze  plötzlich  zu 
erkennen. 

Oder  er  kehrt  mit  der  Samoanerin  heim. 

Die  Verzeichnisse  sind  möglichst  vollständig.  Patient  hat  Angst, 
irgend  etwas  zu  vergessen.  Dieses  Ausassoziieren  bis  in  die  letzten 
Glieder  der  Kette,  bis  in  alle  Winkel,  bis  in  alle  Zweiglein  ist  sehr 
bedeutsam.   Darum  die  vielen  Zettelchen  und  Verzeichnisse. 

Es  wird  dies  nicht  bloß  bei  den  Komplexphantasien  der  Zwangs- 
neurotiker so  sein,  sondern  auch  bei  denen  der  Gesunden. 

Im  Museum  liegt  auch  ein  Verzeichnis  von  Ortschaftsnamen,  für 
die  zu  gründenden  Städte  und  Dörfer.  Die  Namen  waren  zum  Teil 
vom  Patienten  selbst  gemacht,  mit  spanischem  und  italienischem 
Klang;  teils  kannte  er  sie  von  seinem  Aufenthalte  am  Gardasee  her 
(Sommer  1902).    Da  hatte  er  ja  die  schönen  langen  Ferien  gehabt. 

Er  hat  ja  überhaupt  einen  Namenkultus  ausgebildet;  er  hat  als 
Garibaldi  von  Österreich,  als  Revolutionär,  das  Land  neu  eingeteilt 
und  den  Provinzen  wohlklingende  Namen  verliehen,  ähnlich  wie  es  der 
andere  Eroberer,  Napoleon,  gemacht  hat.  Hier  werden  die  Namen 
aus  der  Sprache  des  schönen  Landes  genommen,  wo  sich  Patient  wie 
in  einem  Paradies  hatte  enthalten  können,  bei  den  Franzosen  stammen 
sie  aus  dem  römischen  Altertum;  indem  die  Revolution  auf  die  Zeit 
der  Republik  als  Vorbild  zurückgriff,  Napoleon  in  seiner  Weiterent- 
wicklung das  römische  Weltreich  Wiederaufleben  ließ. 

Der  Namenkultus  schaffte  auch  die  Namen  für  die  Kinder  in  den 
Vaterphantasien. 

Früher  waren  die  Namen:  Stephan,  Konstantin  beliebt,  später 
kamen  sie  ihm  plump  vor.  An  ihrer  Stelle  wurden  die  Namen:  Adrian, 
Balduin,  Marius  gewürdigt.  Das  ging  noch  weiter  bis  in  die  letzte  Zeit, 
wo  unter  anderen  Nicander  besonders  beliebt  war.  Obwohl  ihm  jetzt 
das  ganze  komisch  vorkommt.  Von  Mädchennamen  galten  vor  allem 
Mathilde,  auch  Dorothea. 

,,Ich  wußte  nicht,  wie  es  anstellen,  um  alle  Namen  anzubringen; 
ich  mußte  einfach  soviele  Kinder  haben."  Der  Kultus  mit  den  Eigen- 
namen ist  nach  dem  eigenen  Vergleiche  des  Patienten  genau  dasselbe, 
wie  wenn  Kinder  mit  Puppen  spielen. 

Die  Anfänge  gehen  bei  ihm  in  die  frühe  Knabenzeit  zurück. 
1903  kam  ein  besonderer  Datenkultus,  ein  Komplexkalender, 
dazu;    er  begann  im  Jänner  und  Februar,    als  die  Lisclphantasie  im 


288  F.  Riklin. 

üppigsten  Saft  war.  Etwas  haben  wir  schon  gesehen  beim  ,,Nudis 
pedibus  ambulavi". 

Er  wollte  gewisse  Festtage  im  Kalender  auf  der  Insel  einführen : 
Die  ganze  Inselphantasie  mahnt  uns  ja  oft  an  die  Geschichte  von 
Robinson,  ohne  daß  diese  als  Vorbild  diente.  Aber  wir  wissen  ja,  warum 
jene  Kulturgeschichte  des  Menschen  bei  den  Knaben  so  beliebt 
ist.  Nur  hat  unser  Patient  die  Erotik  nicht  vergessen,  wie  Daniel 
Defoe. 

,,Ich  griff  zuerst  nach  beliebigen  Daten,  die  ich  zusammenstellte, 
z.  B.  20.  Jänner,  12.  Februar,  5.  August.  Aber  die  Auswahl  war  doch 
nicht  beliebig,  es  war  ein  ästhetisches  Interesse  an  ihrer  Zusammen- 
stellung beteiligt.  Es  ging  nach  gewissen  Regeln;  genau  weiß  ich  sie 
nicht  mehr.  Mir  erschienen,  offenbar  aus  der  frühesten  Kindheit  her, 
die  Zahlen  und  Buchstaben  in  bestimmten  Farben,  z.  B.  auch  die 
Wochentage. 

Ebenso  haben  die  Monatsnamen  Farbenassoziationen.  Manches 
mag  vom  mehrfarbigen  Blockkalender  stammen.  Die  dunkle  Farbe 
des  Montags  mag  damit  zusammenhängen,  daß  er  mir  sehr  unsym- 
pathisch war,  weil  man  wieder  in  die  Schule  gehen  mußte. 

Übrigens  war  auch  der  Sonntag  unsympathisch ;  da  mußte  man 
in  einem  lächerlichen  Aufzug  mit  den  Eltern  spazieren  gehen." 

Ein  Einfluß  kommt  auch  aus  dem  goldenen  ABC-Buch  der  Kind- 
heit, wo  die  Buchstaben  als  Wesen,  als  Individuen  erscheinen. 

Bei  den  Zahlen  tritt  ebenfalls  eine  gewisse  Personifikation  ein, 
es  gibt  Arme,  Beine  usw. 

Der  Datenkultus  ging  also  in  der  Inselzeit  zuerst  nach  gewissen 
Farbenharmonien  der  Monats-  und  Tagesziffern  ,, Schließlich  fiel  mir 
ein,  daß  ich  ja  verschiedene  wirkliche  Daten  hatte,  die  sich  großaitig 
verwenden  ließen,  Daten  von  meinen  Spaziergängen,  Ausflügen, 
Begebenheiten.  Viele  dieser  Daten  konnte  ich  so  noch  erforschen,  aus 
den  Ausgabebüchern  Papas  und  ähnlichen  Urkunden. 

So  gab  es  im  Frühjahre  1903  schon  Andachten,  fast  jede 
Woche,  manchmal  fielen  auf  einen  Tag  mehrere  Erinnerungsfeiern 
zusammen  aus  verschiedenen  Jahren.  Der  eigentliche  Kultus  war  in 
vollem  Gange  1904,  und  da  kam  fortwährend  Neuerlebtes  dazu.  Das 
wurde  sofort  in  den  neuen  Kalender  aufgenommen,  um  im  nächsten 
Jahre  seine  erste  Erinnerungsfeier  zu  bekommen.  Die  Feier  bestand 
in  einem  Darandenken,  in  der  andachtsvollen  Wiedervergegenwärtigung 
dieser  Begebenheiten  in  allen  einzelnen  Punkten.  Jeder  Augenblick 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  289 

davon  wurde  wieder  erinnert,  alles  was  an  jenem  Tage  zur  gleichen 
Zeit  geschehen  war. 

Hatte  ich  einen  solchen  Festtag  aber  vergessen,  so  war  große 
Verzweiflung;  es  gab  etwas,  das  fast  ein  Gebet  an  den  lieben  Gott 
war.  er  möchte  die  Zeit  etwas  zurückdrehen,  oder  es  gab  eine  Abwehr- 
bewegung: ,,hm,  hm.'' 

Diese  Abwehrbewegung  ist  sehr  bedeutsam,  wir  werden  bei 
der  Schilderung  der  Zwangseinfälle  darauf  zurückkommen. 

Hier  erscheinen  sie  beim  Vergessen,  dort  bei  Zwangsein- 
fällen. 

Diese  Kalenderphantasien  sind  etwas  Großartiges.  Wohl  kennen 
wir  ja  die  Erinnerungsfeier  Hysterischer;  was  sind  sie  aber  gegen 
diese  mit  der  höchsten  Liebe,  mit  der  größten  Libidobesetzung  ins 
Feinste  ausgearbeiteten  Gebilde  der  Zwangsneurose! 

Da  liegt  wohl  gerade  ein  Hauptunterschied.  Meines  Wissens 
feiert  die  Hysterie  hauptsächlich  die  Unglückstage  ihrer  Liebe 
und  sucht  nach  etwas  Besserem;  die  Zwangsneurose  feiert  die  Fest- 
tage, ganz  autoerotisch;  aber  sie  ist  nicht  so  geizig  wie  die  Dementia 
praecox,  welche  ihre  Mysterien  in  die  Tiefen  des  Unbewußten  verlegt, 
aus  denen  wir  nur  ab  und  zu  ein  grelles  Fortissimo  heraushören,  sondern 
sie  gibt  uns  ein  wohlorganisiertes,  gut  und  liebevoll  ausgestattetes 
Festspiel,  eine,  allerdings  autoerotische,  Symphonie.  Es  wird  etwas 
aufgeführt  für  sich  und  zuhanden  des  Zuschauers  oder  Zuhörers,  wohl 
durchdacht,  stark  intellektualisiert.  Er  bringt  ein  Produkt  an  die 
Oberfläche,  stellt  es  am  Schaufenster  aus ;  aber  es  ist  nicht  verkäuflich 
und  nicht  zum  Verkaufe  bestimmt,  oder  nur  schwer. 

Der  Datenkult  lehrt  uns  aber  noch  mehr.  Vergleichen  wir  einmal 
diesen  Kalender,  diesen  individualistischen,  autoerotischen,  mit 
unserem  allgemein  gültigen.  Da  ist  ein  großer  Unterschied.  ^Unser 
Patient  hat  den  Kalender  des  Mikrokosmos,  unser  Kalender  ist  der 
des  Makrokosmos.  Beide  sind  historische  Kalender.  Aber  beide  grün- 
den sich  auf  die  Natur.  Im  Mikrokosmischen  wird  die  Wiederkehr 
der  autoerotischen  und  infantilen  Naturereignisse  gefeiert,  im  Makro- 
kosmischen die  Wiederkehr  des  Tages  und  der  Sonne.  Dort  werden 
stille  Andachten  verrichtet,  hier  heidnische  Feste  gefeiert. 

In  der  Phantasie  gelingt  ihm  die  Ablösung  von  den  Eltern,  in 
der  Wirklichkeit  nur  sehr  unvollkommen;  in  der  Phantasie  gelingt 
ihm  die  Übertragung  auf  andere  Frauen,  sogar  in  üppigster  Weise, 
in  der  Wirklichkeit  bleibt  sie  ganz  rudimentär. 

.Tahi-buoh  für  psyclioaualyt.    u.  psychopathol.  Forschuugeii.   II.  l" 


290  F.  Riklin. 

Die  Inselphantasie  ist  ein  einziges,  großes,  schönes  und  nament- 
lich darstellbares  autoerotisches  Gebilde. 

Die  Produktivität  war  Schwankungen  unterworfen.  So  ist  ein 
Zurückfluten  etwa  im  Jahre  1904  zu  konstatieren.  1905/06,  als  er  zu 
fliehen  dachte,  trat  sie  wieder  in  den  Vordergrund.  Der  Rückgang 
1904  fällt  zusammen  mit  Masturbation  und  der  zweiten  Liebe.  Das 
zweite  Aufleben  fällt  in  die  Zeit  nach  der  totalen  Aufklärung  (respek- 
tive Wiederaufklärung).  Sie  trat  mehr  oder  weniger  zurück,  wenn 
eine  neue  Flamme  auf  dem  Plan  erschien,  und  dauerte  im  wesentlichen 
bis  zur  Zeit,  wo  er  das  letzte  Dokument  dem  Museum  einverleibte, 
wo  er,  bildlich  gesprochen,  mit  der  Jugend,  der  infantilen  Erotik  ab- 
zuschließen sucht,  bis  zur  Zeit,  wo  er  einen  ernsthaften  Fluchtplan 
macht,  den  er  durch  hysteriforme  Gegenerscheinungen  vereitelt, 
um  sich  wieder  mit  den  Eltern  abzufinden.  Er  kommt  dann  ins  Sana- 
torium, lernt  die  Jüdin  kennen :  wieder  ein  Übertragungsversuch  nach 
außen.  Aber  auf  diesem  neuen  Boden  gedeiht  nun  wieder  eine  neue 
Phantasiepflanze,  das  Traktat  „De  parentibus" ;  in  den  darin  aus- 
gesprochenen Ideen  stimmen  die  Jüdin  und  er  überein.  Das  Traktat 
ist  nicht  mehr  infantil,  es  ist  etwas  reifer,  scheinbar  philosophischer, 
Patient  ist  vom  Revolutionär,  Krieger,  Wilden  und  Fürst  zum  Philo- 
sophen durchgedrungen. 

Es  ist  ihm  wichtiger  als  seine  Studien.  Er  hält  große  Stücke 
darauf.  Es  ist  sein  philosophisches  Werk;  er  forderte  mich  auf,  logische 
Lücken  daran  zu  suchen;  wenn  ich  sie  nachweisen  könne,  dann  wolle 
er  mir  glauben,  daß  er  auf  dem  Holzwege  sei.  Der  Versuch,  das  ganze 
als  ein  Symptomprodukt  hinzustellen,  dem  ein  großer  philosophischer 
Wert  abgehe,  verursachte  einen  bedeutenden  Widerstand  gegen  mich, 
verstärkt  durch  die  Tatsache,  daß  ich  Vater  sei  und  daher  sowieso  in 
der  Frage  keinen  objektiven  Standpunkt  mehr  einnehmen  könne. 
Wenn  er  aber  meine  kleine  Tochter  sah,  meinte  er:  Ja,  da  seien 
allerdings  alle  seine  Gedanken    entwaffnet,    am  Ende   könnte   doch 

er  unrecht  haben ! 

Er  gab  das  Traktat,  wie  das  Museum,  ungern  frei.  Er  hegte  und 
pflegte  es  innig,  verschwendete  seine  Zeit  daran  statt  zu  studieren, 
änderte  und  feilte  daran  herum,  schrieb  es  ab,  machte  Kopien  davon, 
und  dachte  im  geheimen  an  Publikation,  Verbreitung  desselben,  an 
eine  Propaganda.  Er  fürchtete,  ich  als  Vater  könnte  bei  der  Lektüre 
und  dessen  Richtigkeit  vielleicht  erkennen  müssen  und  würde,  da  ich 
schon  Vater  sei,  unglücklich  werden. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  291 

Das  Traktat  lautet  in  der  Fassung  von  1909: 

Über  Elterngötzendienst  und  Kindergeneration. 

Je  wichtiger  das  Amt  eines  Menschen,  je  verantwortungsvoller 
sein  Beruf,  desto  strenger  sind  die  Forderungen,  die  an  seine  Vor- 
bildung hiezu  gestellt  werden;  allein  beim  Elternberuf  ist  es  anders: 
Da  ist  gar  keine  Vorbereitung  nötig;  jeder  Tropf  und  Trottel,  jede  Gans 
und  Trine  können  ihn  ausüben. 

Zwei  Individuen,  Mann  und  Weib,  mögen  noch  so  beschränkt, 
unwissend,  willensschwach,  charakterlos  usw.  sein,  deren  Trauschein 
betrachtet  die  Geseilschaft  als  genügenden  Befähigungsausweis  zur 
Kindererziehung.  Dazu  werden  sie  Pächter  des  Niesichirrenkönnens 
und  Immerrechthabens  ihren  Kindern  gegenüber,  welches  Rechts- 
bewußtsein in  der  stereotypen  Form^el :  ,,Ich  dulde  keinen  Widerspruch" 
seinen  schönsten  Ausdruck  findet. 

Das  Kind  wird  ohne  seinen  Wunsch  und  Willen  ins  Leben  ge- 
stoßen. Hat  es  nun  irgendeine  Verpflichtung  den  Individuen  gegen- 
über, die  es  in  die  Welt  hinein  gezerrt  haben,  wo  seiner  tausendfältiges 
Leid  wartet,  wo  seiner  auf  Schritt  und  Tritt  Kampf,  Unfreiheit  und 
Zwang  harren,  trotzdem  es  hier  nichts  weniger  als  ein  zudringlicher 
Eindringling  ist?  Nein,  es  hat  im  Gegenteil  einen  durch  nichts  zu 
verwirkenden  Anspruch  auf  unbegrenzte  Entschädigung  ihrerseits, 
wenn  ihm  das  aufgenötigte  Dasein  mißfällt,  in  welches  einzutreten  es 
sich  oft  gar  gründlich  überlegen  würde,  wäre  es  vor  seiner  Mensch- 
werdung mit  Voraussicht  und  Vernunft  begabt  und  ihm  freigestellt, 
sich  um  den  Scharen  der  Sterblichen  beizugesellen  oder  nicht. 
Durch  sein  unfreiwilliges  Eintreten  ins  Dasein  erwirbt 
sich  das  Kind  geradezu  ein  Recht  auf  Glück. 

Sich  gerne  in  eine  Art  von  halbgöttlichem  Nimbus  hüllend, 
haben  es  die  Eltern  verstanden,  bisweilen  ihren  Kindern  mit  nicht 
wenig  Würde  und  Feierlichkeit  die  Tatsache  ihrer  Urheberschaft 
an  ihnen  in  Erinnerung  zu  bringen,  mit  Worten  wie  ,,Wir  haben  dir 
das  Leben  geschenkt"  u.  dgl.  Die  Eltern  erheischen  also  Dankbarkeit 
für  ein  gar  nicht  erbetenes,  für  ein  aufgenötigtes  Geschenk,  Statt 
einzusehen,  daß  sie  selbst  keineswegs  Schöpfer,  sondern  nur  Werkzeuge 
der  Schöpfung,  der  Natur  sind,  die  sich  bei  ihrer  Verwendung,  eben- 
so wie  das  Tier,  nicht  der  mindesten  geistigen  Anstrengung  zu  unter- 
ziehen brauchen,  geschweige  Scharfsinn  an  den  Tag  zu  legen  hatten, 

19* 


292  F.  Riklin. 

tun  sie,  als  ob  sie  Erzeuger  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  wären, 
und  geberden  sich  wie  Erfinder,  die  sich  ihres  Werkes  rühmen. 

Was,  im  doppelten  Sinne  des  Wortes,  jeder  Hund  und  jeder 
Esel  fertig  bringt,  das  an  sich  soll  Grund  zu  Respekt  und  Ehr- 
furcht sein! 

Ähnlicher  Bedeutung  sind  die  häufigen  ausdrücklichen  Auffor- 
derungen zur  Dankbarkeit,  besonders  für  Auf-  und  Erziehung.  Es  ist 
nur  ihre  natürliche  Pflicht  und  Schuldigkeit,  dem  so  unschuldig  ins 
Leben  Gestoßenen  schwimmen  zu  helfen  wohin  es  will,  und  wenn  es 
einmal  seine  Vernunft  brauchen  kann,  mit  allem  zu  versehen,  was  dazu 
nötig  ist.  Sie  können  dadurch  überhaupt  nur  einen  Bruchteil  ihrer 
Schuld  an  das  Kind  abzahlen;  an  das  Kind,  das  in  das  Leben  hinein- 
gestoßen wurde  und  schon  das  Angebinde  des  Endlichsterbenmüssens 
empfangen  hat. 

Er  führt  weiter  aus:  Die  Eltern  haben  eine  unendliche  Schuld. 
Es  ist  ein  großer  Egoismus  von  ihnen ;  sie  wollen  die  Vater-  und  Mutter- 
freuden genießen,  darum  die  Kindermacherei. 

Zu  den  Gründen  des  Kindermachens  gehört  auch  die  unbe- 
wußte Freude  am  Monarch-  und  Untertanenspiel,  dummes  Selbst- 
gefühl, Fortpflanzung  des  eigenen  Namens,  die  Idee,  ein  Scherflein 
an  den  Militarismus  beizutragen.  Es  ist  kein  Anlaß,  ihnen  zu  danken. 
Es  ist  ein  Größenwahn  und  Leichtsinn  von  ihnen. 

Die  Beteiligten  stehen  gewöhnlich  unter  dem  Tiere,  da  letzteres 
sich  über  die  Fortpflanzung  keine  Gedanken  machen  kann,  wohl  aber 
der  Mensch.  Es  ist,  wie  wenn  man  ein  Sekret,  einen  Kaktus  ge- 
macht^) hätte  und  sich  dessen  rühmte!  Nicht  nur  Dumme,  sondern 
auch  geistig  Höherstehende  stellen  sich  ohne  weiteres  dem  Perpe- 
tuum mobile^)  der  Kinderfabrikation  und  als  Gebärmaschinen  zur 
Verfügung. 

Er  schließt  seine  Betrachtung  damit,  daß  zwar  alle  diese  Über- 
legungen nicht  beachtet  würden,  die  Losung  sei:  ,, Frisch,  froh,  frei  an 
die  Kindermacherei",  und  die  Natur  lache  sich  ins  Fäustchen  dazu. 

Es  ist  Schopenhauersche  Philosophie  im  Traktat. 

Patient  ist  stolz  darauf,  daß  man  ihm  keine  logischen  Fehler 
im  Traktat  nachweisen  könne  und  trachtet  es  so  zu  verbessern,  daß 
dessen  Logik  absolut  zwingend  und  beweisend  sei. 

^)  Das  Bild  entspricht  einer  infantilen  Gebärtheorie. 

2)  Die  Geisteskranken  beschäftigen  sich  oft  mit  dem  Perpetuum-mobile- 
Problem;  es  leitet  sich  meist  vom  gleichen  Gedanken  her. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose. 


293 


Dadurch  will  er  beweisen,  daß  die  Natur,  d.  h.  der  Sexualtrieb, 
Unrecht  hat.  Diesen  Gedanken  habe  ich  bei  einem  andern  Zwangs- 
neurotiker auch  getroffen,  der  ihn  ebenfalls  logisch  zu  entwickeln 
suchte  und  dabei  einen  Triumph  über  die  Natur  errungen  zu  haben 

glaubte. 

Leider  hat  die  Logik  nicht  recht;  „die  Natur  lacht  sich  ins 
Fäustchen",  und  den,  der  sich  gegen  sie  auflehnt,  straft  sie;  sie  macht 
ihn  zum  Einsamen,  und  uns  ist  in  der  Einsamkeit  nicht  wohl,  auch 
wenn  wir  zehnmal  recht  hätten  und  die  Gescheitern  wären. 

Die  Zwangsneurotiker  suchen  ihre  Probleme,  wie  hier  Patient 
im  Traktat,  zu  intellektualisieren,  auf  ein  Gebiet  zu  locken,  wo  es 
schwerer  ist,  den  Irrtum  nachzuweisen.  Da  suchen  sie  ihre  Unsicher- 
heit zu  sichern. 

Wir  sehen  im  „Traktat"  den  Kampf  gegen  die  Eltern  und  ;die 
Autorität;  sie  sind  in  ihm  übermächtig,  verhindern  die  genügende 
Übertragung  auf  neue  Objekte,  auf  die  Gegenwart.  Die  Thesen  sind 
revolutionär,  lehnen  sich  gegen  die  Autorität  auf.  Der  Erfolg  ist  auf 
dor  einen  Seite  ungenügend,  die  Ablösung  gelingt  doch  nicht  recht; 
sie  gelingt  aber  besser  als  z.  B.  bei  der  Dementia  praecox. 

Das  Traktat  geht  in  seiner  Eevolution  zu  weit.  Sie  bekämpft 
den  Naturtrieb,  ein  ohnmächtiges  Beginnen.  Es  geht  gegen  die  All- 
macht und  Autorität  der  Natur,  die  ja  auch  wieder  in  den  Eltern 
sichtbar  waltet;  der  Kranke  fühlt  sich  von  ihr  schlecht  behandelt, 
verlangt  [unbegrenzte^  Entschädigung,  macht  maßlose  Genuß- 
ansprüche. 

Der  Kampf,  die  Verdrängung,  geht  gegen  die  Arterhaltung, 
gegen  die  Kinder erzeugung,  damit  auch  wieder  gegen  die  Eltern. 
Damit  geht  er  auch  gegen  seine  Inzestgedanken,  verdrängt  sie.  Und 
eine  weitere  Unterströmung  geht  gegen  den  eigenen  Fortpflanzungs- 
trieb. Und  damit  ist  er  gerade  wieder  eine  Waffe  gegen  die  Ablösung 
von  den  Eltern  geworden;  denn  diese  bestände  gerade  darin,  daß  er 
auf  ein  neues  Objekt  der  Liebe  übertragen  würde,  daß  er  Kinder  be- 
kommen möchte. 

In  dieser  Unterströmung  entdecken  wir  auch  den  Kampf  gegen 
die  Masturbation ;  er  faßt  sie  ja  als  eine  große  Kinderproduktion  auf, 
wie  wir  gesehen  haben. 

„Ich  hatte  tatsächlich  auch  Kindergedanken ;  der  Namenkultus  — 
—  aus  der  Inselzeit  —  spielte  da  mit.  Ich  hatte  6  Knaben-  und  6  Mäd- 
chennamen zu  besetzen.  Wie  das  Geld  haben  für  gar  so  viele  Kinder^ 


294  F.  Riklin. 

Denn  ich  wollte  keinen  Namen  unbesetzt  lassen.  Noch  1907  sah  ich 
mich  als  Vater;  hatte  Gedanken,  wie  man  es  anstellen  könnte,  einen 
Buben  zu  bekommen  statt  eines  Mädels.  Ganz  ernsthaft  sind  die 
Gedanken  gegen  die  Kinder  erst  vor  einem  Jahre  aufgetreten,  weil 
mich  das  Ichrätsel  so  stark  packte,  wie  noch  nie. 

Neben  den  Mädchenbildnissen  im  Museum,  die  früheren 
kindlich,  die  späteren  sinnlich,  findet  sich  auch  eins  mit  einem  Mann 
und  einem  Knäblein,  entsprechend  den  Vaterphantasien,  die  bis 
Frühjahr  1908  dauerten  und  dann  mit  Entschiedenheit  aufhörten. 

Auf  der  Insel  dachte  er  sich  oft  als  Vater  mit  einem  Knäblein 
zu  dieser  Zeit  nur  einem  einzigen  —  offenbar  wie  es  bei  ihm  zu  Hause 
war  —  und  da  wußte  er  eben  nicht  recht,  wie  es  anfangen,  daß  es  nur 
eins  gäbe. 

Wir  entdecken  somit  im  Traktat  das  ganze  tolle  Spiel  der  Gegen- 
sätze, wie  es  fast  nur  bei  der  Zwangsneurose  sich  äußert,  und  das  ganze 
Gebäude  droht  beim  Anblick  eines  Kindes  zusammenzustürzen! 

In  der  Masturbation  und  in  den  Phantasien,  im  Autoerotismus, 
gestattet  er  sich  aber  alles,  was  er  im  Traktat  verbietet. 

Durch  die  mehr  oder  weniger  gut  angestellte  Propaganda  des 
Traktates  sucht  er  sich  zu  verallgemeinern. 

Wie  es  bei  einem  Zwangsneurotiker  nicht  anders  geht,  hat  unser 
Patient  ein  System  von  Geboten,  und  als  Gegensatz  dazu  eine  soge- 
nannte Willensschwäche. 

Aus  den  Klagen  über  Willensschwäche  greifen  wir  eine  besonders 
heraus,  die  Klage,  daß  er  immer  vergesse,  die  Uhr  aufzuziehen. 

Ich  glaube  es  steht  in  der  ,, Psychopathologie  des  Alltagslebens", 
daß  diese  Symptombehandlung  manchmal  in  der  Bedeutung  vorkomme, 
es  lohne  sich  nicht,  den  neuen  Tag  zu  erleben. i) 

Bei  unserem  Kranken  drückt  es  vielleicht  den  ersten  dieser 
Gedanken  aus.  ohne  daß  ich  danach  besonders  geforscht  hätte.  Aber 
er  äußerte  oft,  daß  seine  Willensschwäche  u.  a.  der  Lebensunlust^ent- 
springe.  Jeder  neue  Tag  komme  unerwünscht,  bringe  ja  nur  neue 
Qualen.  Darum  möge  er  auch  morgens  nicht  aufstehen.  Der  Jammer 
über  diese  Schwäche  nimmt  einen  breiten  Raum  ein. 

Aber  das  Vergessen,  die  Uhr  aufzuziehen,  birgt  noch  einen 
andern  Gedanken:  Er  sagte  mir,  als  wir  auf  den  Inhalt  seiner  Brief- 
tasche zu  sprechen  kamen: 

1)  In  den  „Bemerkungen"  erwäht  Freud,  daß  manche  Zwangsneu- 
rotiker die  Uhr  nicht  aufziehen,  um  die  neurotische  Unsicherheit  zu  pflegen. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  295 

Gleichwie  ich  immer  vergesse,  die  Taschenuhr  aufzuziehen, 
genau  so  vergesse  ich  immer  die  ethischen  Gebote  zu  lesen,  welche 
ich  in  meiner  Brieftasche  aufbewahre !  Brieftasche  und  Uhr  befinden 
sich,  um  eine  Vorstellung  aus  der  topographischen  Anatomie  herüber- 
zunehmen,  in  der  gleichen  Schicht,  im  Räume  zwischen  der  äußersten 
und  zweitäußersten  Kleiderschicht  (ich  verweise  auf  die  Wichtigkeit 
dieser  Vorstellung  bei  unserem  Kranken),  beide  links,  beide  in  einer 
Tasche.  Der  Impuls,  die  Brieftasche  oder  die  Uhr  herauszunehmen, 
löst  in  beiden  Fällen  einen  ganz  ähnlichen  Komplex  von  Bewegungen 
des  rechten  Armes  und  der  Hand  aus.  Es  findet  nur  eine  kleine  Ver- 
schiebung vom  Brieftaschen-  auf  den  Uhrenkomplex  statt. 

Die  Brieftasche  ist  ein  weiteres  kleines  Heiligtum.  Die  Rock- 
taschen müssen  rein  gehalten  werden,  weil  man  darin  reine  Sachen, 
Bücher  u.  dgl.  herumträgt.  Die  Brieftasche  nun  wird  wie  das  Mu- 
seum mit  einem  besonderen  Waschzauber  umgeben.  Denn  was  sie 
enthält,  ist  ebenso  heilig,  wie  der  Inhalt  des  Museums.  Lange  Zeit  z.  B. 
trug  und  trägt  er  darin  gewisse  Mädchenbildnisse  herum. 

Ebenso  also  ein  Extrakt  von  ethischen  Geboten  und  die  vergißt, 
er,  auzusehen,  wie  es  nach  seiner  Meinung  nötig  wäre.  Ich  wunderte 
mich  über  diese  infantile  Art  der  Selbsterziehung.  Und  doch  finden 
wir  diesen  Sport  gar  oft  beim  Kinde,  und  viele  Asketiker  empfehlen 
sie  ja  und  nehmen  sie  ernst.  Ich  erwähne,  daß  Patient  Ethik  als  ,, Sym- 
ptomkolleg" gehört  hat. 

pDen  letzten  Anlaß  zur  Sammlung  ethischer  Grundsätze  gab  ein 
Sprüchlein,  daß  sich  als  Zwangsgedanke  festsetzte,  jetzt  aber  ganz 
überwunden  ist. 

„Zwei  Elemente  bilden  die  Welt,  Dummheit  und  Schlechtigkeit 

innig  gesellt." 

,,Es  war  natürlich  eine  Reaktion  gegen  den  Vater"  bemerkt 
Patient  ausdrücklich.  Die  nähere  Analyse  fehlt  noch  und  somit  die 
tiefere  Begründung  der  ganzen  Sammlung.  Ein  Gebot  heißt:  ,, Erkenne 
dich,  beherrsche  dich,  veredle  dich."  Das  Beherrschen  ist  im 
Försterschen  Sinne  gedacht.  ,,Man  macht  sich  was  vor,  man  macht 
anderen  etwas  vor,  man  läßt   sich  von  anderen  was  vormachen." 

Das  geht  wiederum  gegen  die  Eltern;  wir  finden  den  Eltern- 
komplex also  auch  in  den  ethischen  Sprüchen  vertreten  und  die  Eltern 
bekämpft. 

Ein  anderes  Postulat  heißt:  ,, Wahres,  Gutes,  Schönes."'  Bei 
der  Auswahl  der  Gebote  und  ethischen  Forderungen  ist  wichtig,  daß 


296  F.  Riklin. 

Patient  teils  den  Standpunkt  des  Vaters  aus  Bequemlichkeit  ein- 
nimmt, teils  unter  den  Nachwirkungen  der  Vorwürfe  seiner  Mutter 
steht. 

Zum  Teil  stammen  die  in  der  Brieftasche  geborgenen  Grundsätze 
aus  Schopenhauers  Grazian  (Balthasar  Grazians  Handorakel 
der  Weltklugheit,  übersetzt  von  Schopenhauer). 

,, Nicht  leicht  glauben  und  nicht  leicht  lieben." 

,,Sich  nicht  in  den  Personen  täuschen." 

,, Aufmerksamkeit  auf  sich  im  Reden." 

„Ohne  zu  lügen  nicht  alle  Wahrheit  sagen." 

,,Nie  dem  Rechenschaft  geben,  der  sie  nicht  gefordert  hat." 

,,Über  den  Feind  gut  reden." 

„Zu  widersprechen  verstehen." 

,, Nicht  dem  ersten  Eindruck  angehören." 

,,Das  Letzte  behalte  bei  uns  nicht  allemal  recht." 

„Die  Gemütsart  derer,  mit  denen  man  zu  tun  hat,  begreifen"  usw. 

„Diese  Prinzipien  machten  mir  zwar  keine  großen  Beschwerden. 
Ich  spielte  gerne  den  einzig  Gescheiten  mit  dieser  Weisheit.  Es  war 
Eitelkeit,  wie  die  Freude  an  schönem  Stehkragen  und  Handschuhen, 
weil  ich  noch  mit  Mädchen  zu  tun  hatte.  Es  ist  eine  Spielerei,  eine 
Phantasie  des  Jünglings,  der  Feldherr,  Staatsmann  und  zuletzt  Ge- 
lehrter sein  will."  Es  handelt  sich  also  noch  nicht  um  typische 
Zwangsneurosengebote. 

Hingegen  traten  Zwangsgedanken  bei  ihm  auf,  am  meisten  in 
der  Konviktszeit ;  sie  setzten  aber  schon  früher  ein,  traten  aber  später 
wieder  in  den  Hintergrund. 

Seine  religiöse  Erziehung  war  sehr  lax  und  erlaubte  ihm,  die 
Dogmatik  frühzeitig  abzustreifen. 

Nebenbei  erzählt  er,  daß  die  erste  Kommunion  von  ihm  in  be- 
merkenswerter Weise  empfunden  wurde:  ,,Ich  war  wie  verrückt; 
es  war  mir  zumute  wie  einer  Frau  zur  Zeit  der  Empfängnis." 

Bald  nachher  entledigte  er  sich  allmählich  des  Glaubens,  den 
er  kennen  gelernt  hatte ;  aber  es  blieb  noch  ein  großer  Glaube  an  die 
Autorität,  welche  er  in  den  folgenden  Jahren  —  im  Kampfe  gegen 
die  Eltern  und  revolutionären  Heldenphantasien  —  ebenfalls  ab- 
zustreifen versuchte.  Zur  Zeit,  wo  er  vor  der  Autorität  noch  so  große 
Ehrfurcht  hatte,  war  ihm  z.  B.  der  Eid  etwas  Großes  und  Furchtbares. 

Da  hatte  er  Zwangseinfälle  in  Form  eines  Eides,  z.  B.:  ,,Das 
erste  Mädchen,  welches  dir  begegnet,  wirst  du  heiraten."  oder:  „Ich 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  2J7 

schwöre,  dieses  Mädchen  zu  heiraten."  Er  geriet  darüber  in  große 
Aufregung:  „Die  gefällt  mir  ja  gar  nicht;  jetzt  hast  du  einen  Schwur 
getan,  und  mußtjden  nun  halten  und  diesem  Mädchen  nachlaufen; 
sonst  wirst  du  meineidig!"  Die  ersten  Male  ging  er  noch  zur  Beichte 
mit  diesen  Skrupeln  und  erhielt  die  erlösende  Erklärung,  daß  diese 
Schwüre  nicht  alle  Bedingungen  und  Merkmale  eines  richtigen  Eides 
erfüllen  und  daher  keine  Pflicht  nach  sich  ziehen,  sie  zu  halten. 

Wir  sehen  diese  Eide  entstehen  auf  Grund  der  Unsicherheit 
der  Objektwahl;  in  der  Eidesformel  drückt  sich  die  Tendenz  aus,  die 
von  der  Mutter,  der  infantilen  Liebe,  sich  befreien  und  ihn  zwingen 
will,  mit  der  Macht  des  Eides,  der  sichersten  und  kräftigsten  Bestä- 
tigung, neue  Ziele  zu  suchen.  Aber  im  Grunde  genommen  weiß  er, 
daß  es  doch  kein  Eid  ist,  und  läßt  sichs  vom  Beichtvater  bestätigen, 
daß  er  ihn  nicht  halten  muß.  So  ist  er  der  Sache  enthoben  und  kann 
in  seinen  infantilen  Neigungen  weiterleben. 

Unser  Fall  kennzeichnet  sich  dadurch,  daß  er  der  Mutter  noch 
gar  kein  bestimmtes  Objekt  gegenüberstellen  kann,  sondern  nur  im 
allgemeinen  zwischen  Mutter  (respektive  Eltern)  einerseits  und  einer 
ganzen  Reihe  von  Mädchen  respektive  Frauen,  d.  h.  anderen  Sexual- 
objekten, dem  Sexualziele  des  Erwachsenen,  schwankt. 

Dazwischen  liegen  die  großen  Phantasien  mit  einem  deutlichen 
SublimJerungsversuche. 

Ein  anderer  Zweifel,  welcher  im  ,, Ichprobleme"  abgehandelt 
wird,  ist  der  Zweifel  an  sich  selbst,  die  Frage,  warum  er  ,,ich"  ist  und 
nicht  ein  anderer.  Wahrscheinlich  ist  es  die  große  Unsicherheit  sich 
und  der  Welt  gegenüber,  ein  Ausfluß  der  Unsicherheit  in  der  Liebe, 
welche  zu  folgender  Zwangserscheinung  Anlaß  gab. 

Er  mußte  täglich  mit  der  Eisenbahn  eine  kurze  Strecke  fahren, 
um  ins  Konvikt  zu  gelangen.  Er  kannte  auf  der  Strecke  jedes  Brück- 
lein, jeden  Baum  und  Bach  ganz  genau.  Zu  dieser  Zeit,  wo  durch 
den  Eintritt  der  Geschlechtsreife  der  Zweifel  zwischen  infantiler  und 
erwachsener  Sexualität  am  größten  waren,  wo  alles  anders  wurde^), 
da  fing  er  an,  auf  dem  Wege  sich  zu  denken  und  allmählich  laut  ^u 
murmeln:  ,,  Jetzt  kommt  das  Brücklein;  jetzt  kommt  das  Wässerlein  !" 

1)  Man  beobachtet  oft  bei  Dementia  praecox,  daß  den  Kranken  „alles 
anders",  falsch,  oder  unsicher  vorkommt;  als  unzweideutiger  Ausdruck  des  Ge- 
dankens: Es  ist  alles  anders,  als  es  sein  sollte,  nämlich  in  meiner  Liebe. 
Die  ganze  Welt  ist  dann  anders,  bei  jedem  Haus  und  Baum  taucht  die  Frage 
auf:  Ist  denn  das  wirklich  dieses  Haus  oder  dieser  Baum? 


298  F.  Riklin. 

Diese  zwangsweise  Verifikation  wurde  immer  lästiger,  und  er  fing  an, 
den  lästigen  Zwangsgedanken  mJt  einem  unwilligen  Kopf-  und  Achsel- 
zucken und  einem  Räuspern  ,,Mh,  mh"  abzuschütteln. 

Eine  Reihe  von  Zwangsgedanken  haben  den  Inhalt:  Wenn 
das  und  das  eintritt,  so  stirbt  dein  Vater  oder  die  Mutter. 

Deutlich  ist  der  Sinn  in  dem  schon  erwähnten  Falle,  wo  eine 
innere  Stimme  die  Alternative  stellt:  Entweder  opferst  du  deine 
Weiber,  d.  h.  deine  Frauenbildnisse,  die  du  im  geheimen  bei  dir  trägst, 
oder  deine  Mutter  kehrt  nicht  zurück. 

Und  nachdem  er  die  Bilder  im  Feuer  geopfert  hat,  kehrt  die 
Mutter,  um  die  er  sich  geängstigt  hat,  gleichsam  infolge  seines  Willens, 
die  anderen  zu  opfern,  zurück. 

Ein  Beispiel  von  Aberglaube  und  ., Allmacht  der  Gedanken" 
des  Zwangsneurotikers  (vgl.  Freud,  Bemerkungen).  Beizufügen  ist, 
daß  man  früher  einmal  dergleichen  erotische  Bilder  bei  ihm  entdeckt 
und  ihn  dafür  geschmäht  hatte. 

Solche  Zwangsbefürchtungen  traten  mit  Vorliebe  ein,  wenn  er 
von  den  Eltern  weg  war. 

Zur  Zeit  der  ersten  Trennung  von  den  Eltern,  es  war  auf  einer 
ziemlich  weiten  Reise,  dachte  er  beim  Einschlafen:  ,,Wer  weiß,  ob 
jetzt  nicht  dein  Vater  gestorben  ist."  Das  Telegramm,  das  seinen  Tod 
melden  würde,  könnte  um  7  Uhr  da  sein.  Große  Angst.  Als  um  7  Uhr 
kein  Telegramm  eintraf,  quälte  ihn  der  Gedanke  weiter  mit  der  An- 
nahme: .,Aber  er  könnte  auch  erst  eine  Stunde  später  gestorben  sein, 
und  nur  darum  ist  das  fatale  Telegramm  noch  nicht  angekommen." 
Oder  er  machte  einen  Ausflug  in  eine  Gegend,  wo  er  selten  hinkam. 
Da  sagte  z.  B.  eine  innere  Stimme: 

,,Wenn  du  dieses  Haus  wiedersiehst,  ist  deine  Mutter 
gestorben"  oder  ,,dann  ist  dein  Vater  gestorben."  Oder  eine 
Stimme  sagte:  ,,Du  wirst  sterben  am  so  und  sovielten  eines 
bestimmten  Jahres";    z.  B.  hieß  es  eine  Zeitlang  ,,im  Jahre  1947". 

Leider  fehlt  noch  die  besondere  Analyse  dieser  Beispiele.  Es  wird 
auch  ein  Zusammenhang  mit  dem  Datenkult  vorhanden  sein,  denn 
dort  wehrte  er,  in  gleicher  Weise  wie  solche  Zwangsgedanken,  das 
Vergessen  wichtiger  Daten  ab  mit  ,,Mh,  mh." 

Die  Beispiele  ließen  sich  um  eine  ganze  Reihe  vermehren. 

Es  kamen  noch  andere  Zwangsgedanken  mit  dem  Charakter 
der  Schwüre;  in  der  ersten  Zeit  hatten  diese  Einfälle  überhaupt  den 
Wert  von  Eingebungen  einer  höheren  oder  dämonischen  Macht.    Da 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  299 

waren  plötzliche,  ekelhafte  Einfälle.  Patient  kann  sie  angeblich  nicht 
mehr  genau  erinnern  und  gibt  ein,  wie  er  sagt,  als  Typus  gewähltes 
Beispiel:  Wenn  er  eine  Frau  vorbeigehen  sah  oder  am  Haus  einer 
Dame  vorbeikam,  mußte  er  sich  plötzlich  die  Exkremente  derselben 
vorstellen. 

Diese  Einfälle  v;urden  mit  heftigem  Abwehrhüsteln  und  Be- 
wegungen des  Abschütteins  begleitet. 

Das  Beispiel  unterliegt,  wie  er  selbst  zugibt,  einer  Zensur,  die 
uns  vermutlich  noch  Schlimmeres  verheimlicht;  dieses  Schlimmere 
besteht  wahrscheinlich  in  analerotischen  Inzestphantasien,  wofür 
wir  bereits  eine  Reihe  von  Anhaltspunkten  haben.  Denn  hinter  den 
Gestalten  anderer  Damen  finden  wir,  wie  Patient  selbst  sagt,  fast 
immer  die  Mutter. 

Andere  Male  waren  auch  andere  Vorstellungen  der  Inhalt  dieser 
Einfälle :  der  Urin,  die  Genitalien  von  Frauen,  die  er  liebte.  Ich  wieder- 
hole, daß,  obwohl  er  in  bestimmten  Zusammenhängen  mit  Lust  vom 
Sexualverkehr  mit  seinen  geliebten  Mädchen  träumte,  in  anderen, 
wahrscheinlich  in  Verbindung  mit  Mutter-  und  Analphantasien, 
eine  große  Verdrängung  dieser  Vorstellungen  vorhanden  war.  Nament- 
lich Verdrängung  der  Analvorstellungen :  aus  dieser  alten  Verdrängung 
brechen  sie  als  Zwangsgedanken  hervor.  Der  Gedanke  ,,inter  urinas 
et  faeces",  der  Anblick  von  Frauen,  die  sich  bückten,  oder  die  ge- 
schnürt waren,  war  ihm  ekelhaft.  Beim  Anblicke  geschnürter  Körper 
hatte  er  Empfindungen  von  Kleben  an  den  Sitzteilen  und  Vorstellungen 
von  Gerüchen,  Suppenwürze  u.  dgl. 

Bezeichnenderweise  bekam  er  bei  der  Schilderung  grotesker 
oder  ekelhafter  Situationen  zwangsartige  Lachkrämpfe,  über  die 
er  sich  schämte  und  die  er  als  Beweis  seiner  Blödheit  anführte. 

Zur  Zeit  als  er  im  Konvikt  war  und  das  Grausen  schon  im  Tun 
war,  etwa  mit  I4V2  Jahren,  klärte  ihn  ein  Kamerad  auch  über  die 
Prostitution  auf,  die  später  ja  fast  ins  Zentrum  des  Wanschzwanges 
rückte. 

Im  Städtchen,  wo  sich  das  Konvikt  befand,  zeigte  ihm  der  Ka- 
merad das  Frauenzimmer,  von  dem  es  hieß,  sie  sei  eine  Hure.  Er  hatte 
eben  seine  Enthüllung  gemacht,  so  kam  sie  an  ihnen  vorbei  und  streifte 
den  Ärmel  des  Patienten.  Großes  Grausen.  Und  das  ekelhafte  Wort 
wollte  ihm  nicht  aus  dem  Sinn.  Z.  B.  sagte  öfter  einmal  eine  Stimme: 
Wenn  du  bei  diesem  Hause  vorübergehst  oder  beim  nächsten  Schul- 
gottesdienst eben  durch  die  Türe  in  die  geweihte  Kirche  trittst,  oder 


300  F.  Riklin. 

wenn  du  der  und  der  Dame  begegnest  so  wirst  du  das  Wort  „Hure" 
denken.  („Das  ist  die  Hure'',  hatte  der  Ausdruck  des  Kameraden 
gelautet.)  Er  war  voller  Angst,  wenn  er  die  genannten  Orte  passieren 
mußte,  und  es  gab  ein  heftiges  Abwehrhüsteln. 

Noch  deutlicher  offenbarte  sich  die  zwanghafte  Assoziation 
zwischen  (sexuell)  Heiligem  und  (sexuell)  Verdrängtem,  Ekelhaftem 
am  nächsten  Beispiele. 

Einmal  fuhr  man  in  die  Ferien  aufs  Land  (ins  Paradies,  ins  un- 
schuldige Gebiet  der  Infantilerotik).  Die  Stimme  sagte:  Im  Momente, 
wo  du  wegfährst,  wirst  du  jenes  Wort  aussprechen  und  im  Momente, 
wo  du  zurückkommst,  wirst  du  wieder  ,,Hure"  sagen.  Der  ganze 
schöne  Sommer  mit  allen  seinen  Ausflügen  wird  da  eingeklammert 
sein  zwischen  die  ekelhaften  Worte,  wird  dadurch  entweiht,  entheiligt, 
verunreinigt  werden. 

Richtig,  im  Momente  der  Wegfahrt  muß  er  sagen :  Hure !  Bei 
der  Rückkehr  vergaß  er  darauf,  und  erst  nach  dem  Aussteigen  fiel  es 
ihm  ein.  Da  war  der  entscheidende  Moment  glücklich  verpaßt,  und  der 
böse  Geist  hatte  das  Nachsehen,  denn  die  Bedingungen,  unter  denen 
die  reinen  Ferientage  dem  Ekel  verfallen  wären,  waren  nicht  ein- 
gehalten worden. 

In  der  Gruppe  von  Zwangsgedanken,  welche  sich  mit  dem  Tode 
der  Eltern,  beispielsweise  der  Mutter,  befassen,  kommen  die  Zweifel 
der  Objektwahl  zum  Ausdruck.  Das  Haßmotiv  gegen  die  Eltern, 
speziell  die  Mutter,  verstärkt  die  Tendenz,  neue  Objekte  zu  suchen. 

Ein  großer  Gegensatz  ergibt  sich  zwischen  ihm  und  den  Eltern 
dadurch,  daß  vom  Elternkomplexe  aus  eine  große  Verdrängung  seiner 
Sexualität  stattfindet.  Als  er  ganz  klein  war,  wurde  ihm  das  Spielen 
mit  dem  Penis  unter  schweren  Drohungen  untersagt.  Vielleicht  war 
es  die  Inzestverdrängung,  genährt  durch  die  Behandlung  durch  die 
Eltern,  welche  ihn  veranlaßten,  in  der  Betätigung  der  maso- 
chistischen  und  sadistischen  Triebkomponente  einen  Ausweg  zu 
suchen.  Die  verständnislose  Sexualverdrängung  durch  den  Eltern- 
komplex half  dazu  auch,  seine  Sexualentwicklung  vor  ihnen  zu 
verbergen.    So  kam  er  dazu,   seine  Phantasien  ängstlich   für  sich  zu 

behalten. 

Wenn  er  seine  Spaziergänge  mit  nackten  Füßen  machte  oder 
die  Drohung  der  Eltern,  wenn  er  nicht  artig  sei,  werde  er  vollständig 
eingewickelt,  eingebunden  und  wehrlos  gemacht,  in  eine  Wollust- 
phantasie verarbeitete  und  sich,  nackt  auf  dem  weichen  Sofa  liegend, 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose. 


301 


die  Füße  kunstvoll  zusammenband,  so  machte  er  das  immer  für  sich 
im  geheimen;  der  Gedanke,  die  Eltern  könnten  ihn  ertappen,  wurde  in 
wohllüstiges  Entsetzen  verarbeitet. 

Einmal  entdeckte  man  ein  Zettelchen,  auf  welchem  er  eine  solche 
Qualsituation  inbrünstig  beschrieben  hatte  —  aus  der  Zeit  vor  der 
Pubertät.  Es  war  ihm  entsetzlich.  Die  Eltern  schimpften  ihn  zwar 
nicht,  da  sie  dem  Phänomen  ratlos  und  mitleidig  gegenüberstanden. 
Sondern  es  plagte  ihn  furchtbar  der  Gedanke,  die  Eltern  wissen  nun 
seine  Geheimnisse,  diese  werden  überhaupt  bekannt,  und  bis  m  die 
neueste  Zeit  war  es  ihm  eine  Qual,  daß  dieses  Zettelchen  sich  nicht 
wiederfand.  Der  Affekt  stammt  wohl  nicht  allein  vom  Verrate  dieses 
G  ^eimnisses  her,  sondern  aus  der  Angst,  die  anderen,  schlimmeren 
Geheimnisse  könnten  verraten  werden. 

(In  den  „Bemerkungen"  von  Freud  findet  sich  der  Zwangs- 
glaube des  Patienten,  die  Eltern  wissen  alles,  was  er  denke.)  Von  den 
Eltern  her  findet  ferner  eine  Verdrängung  aller  Masturbation  statt. 
Die  infantile  wird  zwar  geleugnet,  aber  die  Drohungen,  an  die  sich 
Patient  erinnert,  sprechen  doch  dafür,  daß  sie  da  gewesen  war. 

Die  Dokumente  für  die  Inselphantasien  hatte  er  zu  Hause  immer 

sorgfältig  verschlossen. 

Im  Gegensatze  zu  den  Eltern  sind  diese  Dinge  rein;  auf  der 
andern  Seite  werden  ungefähr  die  gleichen  Dinge  zu  unreinen,  wenn 
sie  unter  der  Wirkung  des  Elternkomplexes  und  im  gleichen  Sinne 

betrachtet  werden. 

Aus  diesem  Verhältnisse  zum  Elternkomplex  entsteht  wieder 

ein  Gegensatzpaar. 

Der  Kampf  mit  dem  Schlafe. 

„Die  Schlafkrankheit"  des  Patienten  ist  nicht  alt,  datiert  erst 
seit  Winter  1908/09.  Aber  die  Elemente,  die  sich  früher  zu  einem  an- 
genehmen Erlebnisse,  jetzt  zu  einer  unangenehmen  Krankheit,  einem 
Kampf  gestaltet  haben,  sind  alt.  Nachdem  das  Leiden  den  Patienten 
durch  Wochen  und  Monate  belästigt  hatte,  trat  es  wieder  zurück,  um 
einige  Wochen  vor  dem  Beginne  der  Analyse  meuchlings  sich  wieder 

einzustellen. 

Die  Wiederkehr  geschah  auf  merkwürdige  Weise.  Wir  sind  zwar 
mit  dieser  seltenen  Art  der  Komplexe,  ihren  bevorstehenden  Besuch 
oder  ihre  Rückkehr  anzukünden,  aus  der  Psychologie  des  Unbewußten 
bereits  bekannt. 


302  F.  Riklin. 

Es  kam  ihm  eines  Abends  plötzlich  der  Gedanke:  Nun,  dieses 
Leiden,  diese  Angst  vor  dem  Schlafe  hast  du  jetzt,  Gott  sei  Dank, 
schon  lange  verloren  !  Und  durch  diesen  Einfall  war  er  plötzlich  wieder 
mitten  in  diesem  unerwünschten  Hexenzauber  drin. 

Das  Warum  dieser  Wiederkehr  ist  mir  noch  unbekannt ;  vorläufig 
weiß  ich  auch  noch  nicht,  wie  das  erste  Auftreten  motiviert  ist. 

,,Es  bringt  mich  ganz  herunter.  Wenn  ich  mich  also  abends 
niedergelegt  habe,  so  senkt  sich  der  Schlaf  auf  mich  hernieder,  wie  es 
sich  gehört.  Dann  kommt  aber  ein  Daimonion,  das  mir  eine  große 
Angst  vor  dem  Moment  des  Einschlafens  einjagt.  Also  ringe  ich  in 
entsetzlichem  Kampfe  mit  einem  Wesen,  das  ja  mein  guter  Freund 
sein  will,  bis  er  mich  schließlich  übermannt,  überwältigt  (man  beachte 
wohl  diese  bildlichen  Ausdrücke),  und  ich  dann  bis  spät  in  den  Morgen 
hinein  schlafe. 

Ich  bekomme  also  Angst  vor  dem  Einschlafen.  Nun  suche  ich 
Gedanken,  die  mich  gerade  beschäftigen,  zu  verfolgen  und  auf  diese 
Weise  den  Schlaf  abzuwehren  (also  wie  einen  wüsten  erotischen  Ge- 
danken ?  Der  Referent),  damit  er  ja  nicht  kommt.  Sobald  ich  zu  unter- 
liegen scheine,  wird  schnell  ein  anderer  Gedanke  aufgegriffen  und  ver- 
folgt. So  geht  es  in  einer  Wellenbewegung,  bald  bin  ich  wach,  bald 
drohe   ich   zu   unterliegen. 

Es  ist  nicht  eine  gewöhnliche  Schlaflosigkeit;  im  Gegenteile, 
ich  habe  Überfluß  an  Schlafbedürfnis.  Ich  bin  schlaftrunken  von 
V29.Uhr  an.  Beim  Abendessen  oder  beim  Nachhausegehen  taumle  ich 
schon  vor  Schlaf. 

Wenn  ich  mich  in  diesem  Dämm^erzustande  ohne  weiteres  auf 
das  Sofa  niedersinken  lasse,  schlafe  ich  sofort  ein  mit  einem  herr- 
lichen Schlafe,  wenn  ich  keine  Schlafvorbereitungen  vornehme.  Mache 
ich  aber  die  üblichen  Manipulationen,  kleide  ich  mich  aus  und  nehme 
die  vielerlei  Hantierungen  vor,  so  wird  dadurch  der  Schlaf  vollkommen 
weggescheucht,  und  wenn  ich  mich  jetzt  ins  Bett  lege,  bin  ich  wach 
und  es  bemächtigt  sich  meiner  das  Daimonion  und  der  geschilderte 
Kampf  beginnt. 

Ich  muß  sagen,  daß  ich  schon  als  kleiner  Junge,  aber  selten  aus 
Neugier,  auf  den  Moment  des  Einschlafens  lauerte;  der  Versuch 
mißlang  natürlich ;  es  war  aber  dann  nur  die  Angst,  welche  wohl  auch 
der  Gesunde  bekommt  vor  diesem  seltsamen  Phänomen. 

Einige  Zeit  nachdem  ich  die  Masturbation  kennen  gelernt  hatte, 
da  hatte  ich  jeweilen  ein  unglaubliches  Schlafbedürfnis  jeden  Abend, 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  303 

etwa  gegen  6  Uhr.  Es  war  im  Zusammenhange  mit  jenen  Turnübungen, 
wo  ich  die  Ermüdung  wollüstig  genoß  und  wo  ich  mich  nackt  auf  das 
Sofa  legte,  mit  gebundenen  Füßen.  Ich  fiel  jeweilen  einfach  auf  den 
Divan  hin  und  hätte  man  mich  nicht  geweckt,  so  hätte  ich  dort  bis 
zum  Morgen  weitergeschlafen.  Man  weckte  mich  dann,  führte  mich 
halbschlafend  zu  Bette,  und  ich  schlief  gleich  wieder  ganz  ein.  Mit- 
unter aber,  wenn  es  eine  große  Schelte  gab  wegen  meiner  Faulheit, 
wurde  ich  ganz  wach  und  konnte  zuerst  nicht  schlafen ;  aber  es  ging 
bald;  ich  hatte  damals  noch  keine  Angst  vor  dem  Schlafe.  Zu  Hause 
wurde  mir  dies  Verhalten  nämlich  als  Faulheit  ausgelegt :  Du  geratest 
ganz  dem  Vater  nach,  sagte  die  Mama  und  lärmte,  weil  der  Vater  ein 
schläfriger  Mensch  ist  und  fast  immer  die  Augen  zu  hatte. 

Dieses  Einschlafen,  d.  h.  der  Zustand  vor  dem  eigentlichen  Schlafe 
Überwundenwerden  war  mir  immer  etv/as  Herrliches.  Also  gerade 
das  Gegenteil  von  jetzt.  Es  war  etwas  wie  Fieberschauer,  aber  sehr 
angenehm. 

Diese  Müdigkeit  ist  im  Prinzip  auch  heute  da,  wenn  auch  erst 
etwas  später  am  Abend.  Aber  jetzt  kommt  das  Daimonion  und  ich 
kann  nicht  mehr  die  Freuden  von  früher  genießen.  An  und  für  sich 
ist  sie  mir  immer  noch  wohlig,  in  ganz  elementarer  Weise. 

Zu  Hause  war  es  immer  ein  ganz  weicher  Diwan.  Aber  auch 
wenn  ich  jetzt  aus  Angst  vor  dem  Kampfe  das  Zubettegehen  aufschiebe 
und  z.  B.  zur  Kreuzkirche  hinauf  spazierte  und  mich  auf  einer  Bank 
niederließ,  so  schlief  ich  ohne  Kampf  fest  ein  und  wachte  erst  auf, 
wenn  um  10,  11  oder  12  Uhr  die  Turmglocke  mich  durch  ihre  vielen 
Stundenschläge  weckte. 

Es  ist  da  auch  eine  gewisse  Angst  vorhanden  vor  dem  Allein, 
und  im  Dunkelnschlafen.  Wenn  ich  früher  etwa  die  Schlaf  angst 
hatte,  so  bat  ich  jeweilen  Mama,  an  mein  Bett  zu  sitzen,  und  wenn  ich 
wußte,  daß  sie  so  lange  dablieb,  schlief  ich  ruhig  und  rasch  ein. 

Der  Schlafkampf  ist  erst  aufgetreten,  seitdem  ich  unter 
fremden  Leuten  bin;  zwischenhinein  verschwand  er  wie  gesagt 
auch  wieder;  ich  bekam  heraus,  daß  es  in  der  Zeit  war,  wo  er  energisch 
auf  die  Maturität  hinarbeiten  mußte." 

Es  fehlt  ihm  jemand,  der  ihn  lieb  hat,  seit  er  von  zu  Hause 
fort  ist!  Zu  Hause  kam  das  Problem  nur  selten,  und  dann  rief  man 
eben  die  Mutter. 

Er  ist  also  ein  großes  Kind  geblieben.  Er  gesteht,  daß  er  eben 


304  F.  Riklin. 

doch  gern  daheim  wäre,  trotzdem  er  angeblich  die  Eltern  nicht  anders 
als  den  Hund  liebt !  Und  auch  den  liebt  er  ja  zu  streicheln ! 

Wäre  die  Mutter  da  am  Bette  oder  statt  ihr  jemand  anderer, 
um  ihn  zu  liebkosen,  dann  wäre  es  gut. 

Er  sucht  also  Heilung  in  der  Übertragung  auf  die  Mutter  oder 
eine  Nachfolgerin  derselben;  solange  die  Geliebte  fehlt,  ist  die  Krank- 
heit da. 

Die  Krankheit  ist  aber  gerade  eine  Revolution,  eine  Ablehnung 
dieser  infantilen  Übertragung. 

Früher  ließ  er  sich  gerne  vom  Schlafe  vergewaltigen,  mit  Wollust. 
Durch  die  Masturbation  als  etwas  Aktives  wurde  anderseits  die  Wol- 
lust des  Überwältigtwerdens,  der  Ermüdung  als  etwas  Passives 
ausgelöst. 

Jetzt  tritt  der  Gegensatz  auf.  Er  kämpft  gegen  die  Überwältigung, 
wie  er  gegen  den  Vater,  die  Elternvergewaltigung  kämpft.  Aber  gerade 
durch  den  Kampf  wird  die  Überwältigung  ja  noch  vertieft,  ausgebaut. 

Er  ist  das  Weib  in  diesem  Kampfe  wie  dann,  wenn  er  sich  die 
Füße  bindet  usw. 

Der  Kampf  gegen  den  Schlaf  ist  ein  Kampf  gegen  einen  Freund, 
den  man  doch   lieb  hat. 

Immer  wieder  sehen  wir  das  Spiel  der  Gegensatzpaare  im  gleichen 
Objekte;  wir  haben  es  eben  mit  einer  Zwangsneurose  zu  tun,  wo  es 
am  tollsten  zugeht,  mit  dem  Zweifel  an  der  AVurzel. 

Hinter  dem  Gedanken  des  Überwältigtwerdens  vom  Schlafe 
ist  der  Gedanke  an  dessen  Bruder,  den  Tod.  Er  hat  die  Todesangst 
des  neurotischen  V/eibes. 

Es  ist  Sexualangst,  wenn  auch  das  Problem  durch  eine  gewisse 
Übertragung  ins  Abstrakte  stark  intellektualisiert  ist.  Es  steckt  auch 
die  Angst  des  Kindes  darin,  das  sich  ohne  Mutter  fürchtet. 

Im  Schlafkampfe  nimmt  er  die  früheren  Scheltszenen  der  Eltern 
und  dadurch  den  Kampf  gegen  dieselben  wieder  auf.  Darum  kommt  der 
Kampf  nicht,  wenn  er,  wie  damals,  auf  dem  Sofa  liegt,  sondern  wenn 
er  wieder  aufstehen,  wach  werden,  sich  auskleiden  und  ins  Bett 
legen  muß. 

Das  Sofa  ist  nicht  ohne  Bedeutung.  Da  kann  er  einschlafen, 
und  zwar  angekleidet.  Früher  lag  er  auch  auf  dem  Sofa,  zur  Inselzeit, 
in  den  masochistischen  Phantasien.  Damals  nackt!  Jetzt  kommt 
der  Kampf,  wenn  er  ausgezogen  schlafen  soll,  aber  im  Bett ! 

Beim  Kampfe  gegen  das  Einschlafen  hat  er  Schmerzen  im  Kreuz 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  305 

und  in  den  Knien  —  er  hat  genau  die  gleichen  Empfindungen,   wenn 
auo.    schwächer,  bei  oder  nach  der  Masturbation. 

vVenn  er  masturbiert  hat,  klagt  er  am  andern  Tage  über  eine 
Schwache,  die  in  die  Knie  verlegt  wird.  Er  fragt,  ob  er  keine  Ent- 
zündung' bekomme !  Er  kümmert  sich  auch  um  sein  Zyanometer.  Das 
sind  die  blauen  Ringe  um  die  Augen,  als  Zeichen  zunehmender  Krank- 
heit. Man  sieht  zwar  keine.  Es  steckt  da  noch  ein  Stück  jenes  Aus- 
spruches vom  Vater  darin,  er  leide  an  einer  geheimen,  verderblichen 
Krankheit. 

Also  sehen  wir  wieder,  wie  der  Schlafkampl  erotisch  aufgefaßt 
wird.  Noch  mehr:  der  Patient  teilt  uns  mit,  daß  es  ihm  dann  sei,  wie 
wenn  ihm  eine  entsetzliche  Operation  bevorstehen  würde,  eine  Injektion 
oder  ein  Katheterismus ! ! 

Früher,  zu  Hause,  wenn  er  auf  dem  Sofa  einschlief,  kam  ein 
wohliges  Zittern  über  ihn.  Das  hat  er  auch  jetzt  wieder,  sofern  er  auf 
dem  Sofa  einschläft.  Es  kam  im  bekannten  merkwürdigen  Winter 
1903/04. 

Im  Schlafbedürfnisse  ahmt  er  dem  Vater  nach,  er  meint,  es 
ererbt  zu  haben.  Im  Kampfe  gegen  das  Einschlafen  kämpft  er  gegen 
den  Vater! 

Andere  Vorstellungen  beim  Schlaf problem : 

Es  ist  das  schreckliche  Unbekannte,  in  das  man  hineingestoßen 
wird.  Dies  Gefühl  kam  stärker  und  sicherer  erst  im  Winter  1907/08 
und  hängt  enge  mit  dem  Ichproblem  zusammen. 

An  solchen  Stellen  wird,  wie  Freud  sagt,  bei  der  Zwangsneurose 
am  meisten  Zweifel  angesiedelt. 

Das  erotische  Problem  wird,  in  intellektualisierter  Form,  an 
solchen  abstrakteren  Objekten  abgehandelt. 

Noch  einige  Angaben  zum  Schlafkampfe. 

Beim  Schlaf  kämpfe  kommen  keine  erotischen  Phantasien. 
WennTräume  und  erotische  Phantasien  kommen,  wache  der 
Kranke  gleich  auf,  weil  er  spüre,  daß  da  der  Schlaf  eintreten  wolle. 

Der  Schlafkampf  werde  verschwinden,  wenn  er  z.  B.  nach  Hause, 
in  die  Ferien,  auf  den  Fauteuil  komme.  Wenn  er  mit  den  Kleidern 
gleich  aufs  Bett  liegen  könnte,  würde  er  ganz  gut  schlafen.  Wenn  er 
sich  aber  ausziehen  müßte  und  aufs  Sofa  legen,  würde  der  Schlaf- 
kampf auch  da  sein. 

„Der  Schlaf  ist  der  Bruder  des  Todes.  Ich  bin  wie  ein  Dachdecker, 
der  stürzt,  sich  noch  anklammern  kann,  aber  vergebens  ruft. 

Jahrbuch  für  psychoanalyt.  u.  psj-chopathol.  Forschungen.   11.  ■^^ 


306  F.  Riklin. 

Ich  horchte  auch  mit  Angst  auf  die  Atemzüge  des  Vaters,  in  der 
Furcht,  es  könnte  ihn  der  Schlag  treffen.  Wenn  ich  ihn  nicht  atmen 
hörte,  mußte  ich  aufstehen  und  sehen,  ob  etwas  los  sei. 

Im  Februar  1908  packte  mich  ein  ganz  eigenartiger  Pessimismus, 
nachdem  ich  Nirwana  gelesen  hatte.  Da  kam  die  Wollust  des  Pessi- 
mismus über  mich,  die  Freude,  mich  hineinzufühlen  und  zu  leiden, 
und  da  konnte  ich  gut  einschlafen;  es  war  einige  Wochen  nach 
dem  Beginn  des  Schlaf  kämpf  es.  Schopenhauer  sagt,  der  angenehmste 
Moment  sei  der  des  Einschlafens  und  der  unangenehmste  der  des 
Erwachens." 

Diese  gute  Reaktion  dauerte  leider  nur  ein  Paar  Wochen. 

Unser  Patient  beschreibt  also  in  wunderbarer  Weise  die  Be- 
ziehungen zwischen  Schlaf,  Tod  und  Sexuahtät. 

Das  Ichrätsel. 

Das  Ichrätsel  steht  in  naher  Beziehung  zum  Schlaf problem. 
Aber  es  ist  weniger  leicht  zu  verstehen,  weil  es  am  unvollständigsten 
analysiert  ist,  und  weil,  nachdem  die  anderen  Erscheinungen  aufge- 
klärt waren,  Patient  dieses  Hauptboilwerk  seiner  Neurose  nicht 
aufgeben  wollte,  denn  sonst  hätte  er  am  Ende  diese  selbst  aufgeben 
müssen.  Hier  bildete  er  schließlich  den  Hauptwiderstand  gegen  die 
Analyse  aus,  natürlich  auf  dem  philosophischen  und  metaphysischen 
Gebiete,  wo  es  am  schwersten  ist,  dem  Zweifel  beizukommen. 

Wir  haben  ein  weiteres  Beispiel  vor  uns,  daß  die  Zwangsneuro- 
tiker es  lieben,  ihr  erotisches  Problem  und  ihre  Gegensätze  auf  Fragen 
zu  verschieben,  welche  allen  Spitzfindigkeiten  ausgesetzt  sind,  wo 
möglichst  viel  Unsicheres  ist.  Außer  den  metaphysischen  werden  z.  B. 
gewisse  schwierige  Probleme  der  Physik  und  Chemie  zum  Tummel- 
platz der  Gegensätze  ausgewählt.  Einiger  Widerstand  kam  schon 
bei  der  Besprechung  des  Traktates ;  da  wurde  ich  als  Vater  schon  teil- 
weise mit  dem  Vater  identifiziert  und  es  mußte  also  auch  gegen  mich 
gekämpft  werden.  Es  reizte  ihn  zum  Widerstand,  als  ich  das  Traktat 
nicht  als  vollwertig  gelten  lassen  wollte. 

Beim  Ichproblem  rückte  er  immer  sparsamer  mit  dem  Material 
heraus,  es  wollte  ihm  nichts  mehr  einfallen,  und  er  suchte  sich  aus  dem 
Gefechte  herauszuziehen,  indem  er  immer  anderes  vorbrachte  und  die 
Besprechung  des  Ichproblems  gegen  den  Schluß  der  Zeit  hinschob, 
die  uns  für  die  Analyse  bis  zu  seiner  Abreise  noch  zur  Verfügung 
stand. 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  307 

„Das  andere  mögen  Sie  meinetwegen  alles  auseinander  lesen, 
dem  Ichproblem  werden  Sie  niemals  ganz  beikommen,  das  Ichrätsel 
werden  wir  nie  lösen."  So  redete  er  bald,  nachdem  ich  ernsthaft  ver- 
suchte, dieser  Festung,  die  ja  auch  nicht  außer  der  Welt  war,  sondern 
innert  der  Grenzen  der  menschlichen  Psychologie  lag  und  auf  den 
assoziativen  Zufahrtsstraßen  erreicht  werden  mußte,  näher  zu 
kommen. 

,,Ich  vergleiche  meinen  Geist  mit  einem  Zimmer,  darin  ist  eine 
Nische,  von  einem  Vorhang  bedeckt.  Dahinter  ist  etwas  ganz  Schreck- 
liches, Furchtbares,  das  mich  zur  Verzweiflung  bringt,  wenn  ich  den 
Blick  hinwende  (meinem  Vergleiche  mit  dem  verschleierten  Bild  von 
Sais  stimmt  er  sofort  zu). 

Aber  ich  bin  in  diesem  Zimmer  eingesperrt,  kann  nicht  heraus, 
und  nun  bin  ich  gewohnt,  mit  diesem  unheimlichen  Dinge  zu  leben; 
ich  kann  lange  Zeit  nicht  hinschauen,  aber  täglich  muß  ich  denken, 
daß  dieses  unheimliche  Etwas  da  ist.  Manchmal  aber  treibt  es  mich 
doch  hin,  und  dann  muß  ich  die  entsetzlichsten  Qualen  ausstehen, 
und  bin  überzeugt,  daß  ich  da  wirklich  am  Überschnappen  bin. 

Dieses  Ichrätsel  hat  mich  schon  als  kleiner  Bub  geplagt, 
aber  lange  nicht  wie  heute.  Einmal,  ich  war  sicher  noch  nicht  10  Jahre 
alt,  wußte  ich  schon  nicht  wo  aus  und  ein,  war  verzweifelt,  suchte 
nach  Aufklärung  bei  den  Eltern.  Aber  sie  glotzten  mich  verständnis- 
los an,  als  hätte  ich  chinesisch  geredet,  und  sagten:  Na  ja,  du  wirst 
später  mit  denkenden  Menschen  reden,  und  die  werden  dich  über  alles 
aufklären  können  u.  dgl. 

Die  Frage  kann  ich  nicht  klären,  weil  ich  sie  unmöglich  dar- 
stellen kann. 

Ein  zweites  Bild:  Wenn  ich  noch  an  den  lieben  Gott" glauben 
würde,  der  jeden  Menschen  schafft  und  ihm  die  Seele  einbläst,  so  müßte 
ich  annehmen,  er  hätte  sich  bei  meiner  Erschaffung  geirrt  und  aus 
Versehen  ein  Paar  Tropfen  falscher  Substanz  in  die  Masse  fallen  lassen, 
Substanz,  die  nicht  für  Menschen  bestimmt  war,  sondern  für 
Engel  oder  ähnliche  Wesen^). 

Ich  habe  eine  große  Hemmung,  anderen  Menschen  das  Ichrätsel 
mitzuteilen,  denn  wenn  sie  es  verstehen,  müssen  sie  ja  unglücklich 
werden. 

(Das  Gleiche  sagte  er  mir  beim  Vorlesen  des  Traktates.) 


1)  Ein  Größengedanke.    Solche  finden  sich  öfter  bei  Zwangskranken. 

20* 


308  F.  Riklin. 

Der,  dem  ichs  mitteile,  wird  von  demselben  Ungeheuer  geplagt 
sein  wie  ich ;  lieber  will  ich  es  allein  tragen  und  allein  daran  zugrunde 
gehen.  Es  ist  das  Rätsel  aller  Rätsel. 

Aber  ich  wäre  beruhigt  zu  erfahren,  daß  andere  Menschen  dasselbe 
haben,  daß  ich  nicht  der  einzige  bin,  der  das  hat. 

Ich  versuche  zu  schildern,  Sie  werden  lachen  über  den  Blödsinn. 

Also,  Sie  sehen  Ihren  Körper,  Bauch,  Hände,  Füße,  Arme  und 
Beine,  aber  die  Anschauung  ist  beschränkt.  Wenn  Sie  die  Augen  aus- 
renken, sehen  Sie  noch  Nase,  Schulter,  Augenbrauen.  Aber  weiter 
gehts  nicht."  (In  einem  kleinen  Anfall  von  Verzweiflung) :  ,,Mir  kommt 
es  so  fürchterlich,  so  komisch,  so  unheimlich,  so  schrecklich  vor,  das 
Verhältnis  von  mir  zur  Welt.  Ich  zur  Welt,  ich  und  die  Weltmenschen, 
ich  und  die  Geschöpfe,  denen  stehe  ich  gegenüber,  ich,  ich;  ja  ich 
komme  einfach  nicht  weiter."  (Ist  erregt.)^) 

,,Es  müßte  notwendig  sein,  um  mich  zu  verstehen,  daß  jemand 
Ähnliches  erlebt  hätte,  und  das  glaube  ich  nicht. 


^)  Ich  konnte  dem  Kranken  an  einem  Beispiele  aus  meiner  frühen  Jugend 
zeigen,  daß  ich  auch  ein  Ichproblem  hatte. 

Als  ich  etwa  5  Jahre  alt  war  —  der  Zeitpunkt  läßt  sich  noch  ziemhch  genau 
bestimmen  —  packte  mich,  ich  weiß  leider  nicht  mehr  in  welchem  Zusammen- 
hange, das  Problem  vom  Ende  der  Welt.  Ich  stellte  mir  die  Erde  flächenhaft  vor, 
umgeben  von  Wasser.  Aber  dies  Wasser  mußte  doch  ein  Ende  haben.  Also  stellte 
ich  mir  vor,  es  sei  von  einer  undurchsichtigen  Bretterwand  umgeben.  Da  mußte 
ich  mich  aber  weiter  fragen,  was  hinter  dieser  Wand  sei.  Wieder  Wasser?  Ich 
fand  keinen  Ausweg  und  lief  in  großer  Angst  weinend  zur  Mutter  und  klammerte 
mich  an  sie,  ohne  ihr  jedoch  sagen  zu  können,  was  mich  plage. 

Da  war  auch  das  Problem:  Ich  und  die  Welt.  Das  Weltproblem,  die  Unsicher- 
heit über  die  Welt,  löst  sich  auf  durch  die  Erklärung  der  Bretterwand;  ich  fand 
sie  erst  zur  Zeit,  als  ich  mich  mit  Psychoanal j- se  beschäftigte ;  das  Bild,  das  ich  mir 
als  kleiner  Knabe  gemacht  hatte,  bUeb  mir  immer  in  genauer  Erinnerung,  aber  erst 
jetzt  wurde  mir  plötzlich  einmal  klar,  woher  die  Bretterwand  stammt:  In  meiner 
Geburtsstadt  war  ein  großer  Weiher,  der  im  Sommer  als  Badeanstalt  diente.  An 
seinem  einen  Ende  war  damals  eine  Mädchenbadeanstalt  eingebaut,  zu  der  ein 
Steg  vom  Ufer  hinführte.  Diese  Mädchenbadeanstalt  war  umgeben  von  einer 
hohen,  undurchsichtigen  Bretterwand,  mit  der  meine  Bretterwand,  welche  die 
Grenze  der  Welt  darstellte,  identisch  war.  Das  große  Problem  reduzierte  sich 
zur  wichtigen  Frage:  Was  ist  liinter  jener  Bretterwand?  Darum  die  Angst 
und  die  Anklammerung  an  das  Sichere,  die  geliebte  iMutter!  Auch  eine  kleine 
Regression!  Seither  habe  ich  noch  andere  Ichprobleme  kennen  gelernt. 

Ein  Knabe  hatte  das  Problem:  Warum  bin  ich  ich  und  nicht  dieser  Stein  da? 
Der  Stein  lag  da,  wo  der  Knabe  oft  den  Mädchen  beim  Baden  zusah  und  dann 
weggeschickt  wurde.  (Beispiel  von  Jung.) 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose.  309 

Ich  kann  deswegen  nicht  heiraten,  da  immer  dieser  Daimon  als 
dritter  zwischen  meiner  Frau  und  mir  wäre,  und  der  Frau  könnte 
ich  es  nicht  mitteilen  oder  nicht  klarmachen,  da  es  mir  auch  nicht 
klar  ist,  oder  sie  würde  unglücklich,  oder  die  Kinder  könnten  es  ja 
von  mir  erben !  Also  mache  ich  es  wie  ein  gewissenhafter  Syphilis- 
kranker, der  sich  vor  dem  Verkehr  und  der  Liebe  zu  Mädchen 
hüten  muß. 

Wenn  ich  am  Ichrätsel  überschnappe,  so  werden  Sie  mich  als 
Geisteskranken  mit  der  Idee  finden,  ich  sei  der  Weltgeist,  in  mir 
manifestiere  sich  die  Gottheit^).  Als  ich  noch  ein  kleiner  Knirps  war, 
hatte  ich  ein  Paar  Kameraden,  also  A  und  B,  und  ich  war  der  S.  Ich 
konnte  nicht  begreifen,  warum  ich  gerade  der  S  war  und  nicht  der 
A  oder  B. 

Im  elften  Jahre  lehnte  ich  am  Fenster  bei  Bekannten,  ganz  nahe 
bei  mir  stand  ein  Mädchen  der  Familie.  Da  war  es  mir  entsetzlich, 
warum  ich  ich  sei,  nicht  aus  mir  heraus  könne,  warum  ich  nicht  das 
andere  sei,  sondern  ich. 

Wenn  es  nicht  bessert,  muß  ich  doch  auf  die  Insel,  abgesondert 
für  mich  als  einsamer  Naturmensch!"  (Also:  Wenn  mein  Sexualpro- 
blem sich  nicht  löst,  muß  ich  zurück  ins  Infantile!) 

„Ich  bin  dadurch  auch  gehindert,  mich  ganz  darüber  auszu- 
sprechen, weil  ich  fürchte,  daß  Sie  da  etwas  Irriges  aufschnappen, 
z.  B.  aus  der  letzten  Bemerkung. 

Es  packt  mich  namentlich  im  Finstern,  im  Bette,  wenn  ich 
allein  bin.  Wenn  ich  nur  ein  anderes  Geschöpf  hätte,  an  das  ich  mich 
halten  könnte,  das  mich  beruhigen  würde.  Es  ist  ähnlich  wie  beim 
Schlafproblem. 

Das  Festhalten  aller  lieben  Sächelchen  aus  der  Kindheit 
im  Museum  hängt  auch  damit  zusammen,  daß  sie  aus  einer  Zeit  stammen 
wo  ich  noch  nicht  besessen  war  vom  bösen  Geist,  wo  ich  noch  kein 
Ichrätsel  hatte. 

Ich-  und  Schlafproblem  kombinierten  sich,  wenn  ich  an  das 
Hinübergestoßenwerden  ins  Unbekannte  dachte.  Das  Ichrätsel  konnte 
mich  stärker  quälen,  das  Dunkel  im  ganzen  Weltall.  Einmal 
wird  im  Weltall  doch  alles  Licht  auslöschen- 

^)  Im    Gegensatz    zur    Höchsten    Vereinsamung    des  Introvertierten  eine 
Identifikation   mit  dem  Kosmos,  ähulicli  dem  Paranoiden,  über  den  Honegge 
am  Kongreß  in  Nürnberg  berichtet  hat. 


310  F.  Riklin. 

Gestern  z.  B.  hat  es  mich  gepackt,  schrecklich,  ich  hatte  weinen 
mögen,  und  gerade  jetzt  packt  es  mich  wieder."  (Weint  verzweifelt.) 
]>|j>  „Letzten  Winter,  als  ich  mich  mehr  und  mehr  mit  Philosophie 
abgab,  las  ich  Mach  und  Avenarius.  Es  ist  ganz  unheimlich.  Es 
machte  mir  Angst  und  bange,  wie  wenn  mir  der  Boden  unter  den 
Füßen  weggezogen  würde.  Die  Unendlichkeitsvorstellungen  machten 
mir  bange. 

Es  ist  eben  das  Unheimliche:  Ich  hatte  niemand  mehr:  Zuerst 
der  Zusammenbruch  der  Eltern,  dann  des  lieben  Gottes.  Dieses 
Niemandenhaben,  auch  keinen  Gott,  bei  dem  man  Trost  finden  könnte, 
dieses  Trostlose  ist  schrecklich.  Was  tauscht  man  gegen  den  früheren 
Glauben  ein?  Das  Ichrätsel  ist  verbunden  mit  dem  Wachsen  über 
die  Eltern,  welche  die  Autorität  waren.  Durch  die  sexuelle  Aufklärung 
sanken  sie  zu  Menschen  herab,  ja  darunter.  Und  dann  kam  der  liebe 
Gott  an  die  Reihe. 

Genau  wie  es  mit  dem  Ich  ist,  so  läßt  sich  eine  Erweiterung 
machen  zum  Wirrätsel.  Es  ist  im  Prinzip  das  gleiche.  Das  Wirrätsel 
wird  zu  einem  Heimaträtsel. 

Ich  versuchte  mir  Photographien  zu  verschaffen  von  mir,  wo 
ich  nicht  allein  war,  sondern  mit  Schulkameraden.  Dann  wurde  es  mir 
etwas  klarer,  aber  nicht  ganz.  Ich  sah,  daß  ich  doch  unter  den  anderen 
als  normaler  Mensch  figurierte. 

Ich  dachte  mir  das  Ichrätsel  auch  im  Zusammenhange  mit  dem 
Tod,  und  das  waren  Gedanken,  die  mich  beim  Schlafengehen  packten. 
Wenn  es  eine  Unsterblichkeit  gibt,  würde  ich  vielleicht  noch  im  Jen- 
seits mit  meinem  merkwürdigen  Ich  herumgehen;  also  wäre  ich  im 
Jenseits  doch  unglücklich.  Anderseits  wie  unangenehm,  wenn  es 
keine  Unsterblichkeit  gibt,  wenn  alles  fertig  ist. 

Dann  kam  die  geschilderte  Nirwanazeit,  wo  es  vorübergehend 
besser  war. 

Ich  habe  Angst  vor  der  Lösung  des  Ichrätsels,  Angst,  ich  könnte 
dann  sterben  oder  verrückt  werden.  Wie  beim  verschleierten  Bild 
von  Sais. 

Es  schnürt  mir  die  Kehle  zu,  ich  bin  daran,  in  Tränen  auszu- 
brechen. 

Es  fiel  mir  als  Kind  ganz  plötzlich  ein ;  ich  glaubte  noch  an  den 
lieben  Gott  (mit  10  bis  11  Jahren).  Zu  jener  Zeit  erhörte  er  aber  noch 
meine  Gebete  wie  jene  anderen,  wo  ich  ihm  in  der  Schule  anflehte,  daß 
ich  nicht  drankomme." 


I 


Aus  der  Analyse  einer  Zwangsneurose,  311 

Im  „Ichrätsel",  an  einem  abstrakten  Problem,  kann  der  Zweifel 
am  besten  „angesiedelt"  werden,  ist  die  Unsicherheit  am  größten. 
Der  Kranke  spricht  damit  aus,  daß  wir  der  Welt  gegenüber  nur  sicher 
sind,  wenn  es  auch  in  unserer  Liebe  der  Fall  ist. 

Zum  Unterschiede  von  anderen  Fällen  konnte  ich  bei  unserem 
Kranken  keine  zweite  „Religion"  finden,  in  welche  er  sich  flüchten 
kann;  er  bedauert  aber  diesen  Mangel  und  die  Unsicherheit  ist  ihm 
um  so  beschwerlicher. 

Unser  Fall  ist  in  seinem  ganzen  Wesen  bedeutend  infantiler 
als  der  von  Freud  in  den  „Bemerkungen"  dargestellte.  Wohl  schwankt 
er  auch  zwischen  den  alten  Objekten  der  Übertragung  und  neuen. 
Aber  diese  neuen  haben  sich  noch  gar  nicht  in  einer  Hauptperson 
kristallisiert;  er  hat  noch  gar  keine  ernsthaften  Versuche  gemacht; 
die  Regression  ist  viel  stärker.  Gegenwärtig  arbeitet  er  noch  am 
„Traktat"  in  neuer  Auflage;  der  Inhalt  ist  wesentlich  milder,  er  rechnet 
nicht  mehr  auf  dessen  große  Macht  und  Wirkung,  die  ursprünglich 
auf  ein  Aufhören  jeder  Kinderzeugung  zielte.  Doch  ist  es  immer 
noch  sein  philosophisches  Hauptwerk. 

Er  gibt  sich  durch  seine  Krankheit  Mühe,  die  Wahl  eines  neuen 
Objektes  und  die  Ablösung  von  den  Eltern,  aufzuschieben.  Einmal 
sprach  er  davon,  die  ganze  Krankheit  zu  opfern,  wie  er  es  mit  anderen 
lieben  Dingen  auch  tat  oder  zu  tun  versuchte.  Er  zeigt  dadurch, 
daß  er  die  Neurose  mit  ihrer  reichen  intellektuellen  Ausarbeitung 
liebt,  sie  ist  sein  Lebenswerk.  Er  kostet  auch  ihre  Vorteile,  wählt 
sich  schöne  Aufenthalte,  die  seinen  Phantasien  entsprechen,  schafft 
sich  aus  der  Qual  Lust  usw.  Aber  eine  Unsicherheit  hindert  ihn  wieder 
an  diesem  Opfer;  er  wisse  nicht,  ob  er  dann  das  andere  bekomme 
nämlich  ein  Weib,  das  er  lieben  könne. 

In  diesem  Zweifel  gleicht  seine  Zwangsneurose  der  Dementia 
praecox,  welche  die  Übertragung  auf  neue  Objekte  überhaupt  kaum 
versucht  und  gänzlich  ins  Infantile  zurückkehrt.  Der  Zwangsneurotiker 
hat  aber  mehr  Rapport  zur  Wirklichkeit,  mehr  Objektliebe,  indem  seine 
Phantasieelaboration  sorgfältiger,  darstellbarer,  verständlicher  ist  und 
durch  ihre  Intellektualisierung  sich  charakterisiert. 

Ich  schließe  meine  Ausführungen  ab  mit  der  Bitte,  man  möge 
bei  der  Unvollkommenheit  der  Darstellung  die  Schwierigkeit  des 
Problems  und  die  Unfertigkeit  der  Analyse  berücksichtigen. 


Eaiidbemerkuugeii  zu  dem  Buch  Ton  Witteis: 

Die  sexuelle  XotM. 

Von  Dr.  C.  G.  Jung'  (Kiisnach-Zürich). 


Das  Buch  ist  mit  ebenso  viel  Leidenschaft  als  Intelligenz  ge- 
schrieben. Es  spricht  von  der  Frage  der  Fruchtabtreibimg,  der  Sy- 
philis, der  Familie,  vom  Kind,  von  Frauen  und  Frauenberuf.  Sein 
Motto  lautet:  ,,Die  Menschen  müssen  ihre  Sexualität  ausleben,  sonst 
verkrüppeln  sie."  Dem  Sinne  dieses  Satzes  entsprechend  erhebt 
Witteis  seine  Stimme  für  die  Befreiung  der  Sexualität  in  weitem 
Umfang.  Er  spricht  eine  Sprache,  die  man  selten  hört,  die  Sprache 
der  schonungslosen,  fast  fanatischen  Wahrhaftigkeit,  die  unerfreuhch 
in  den  Ohren  klingt,  allen  Scheinbarkeiten  und  Kulturlügen  die  Maske 
vom  Gesichte  reißen  möchte.  Es  steht  mir  nicht  an,  die  ethischen 
Tendenzen  des  Verfassers  zu  beurteilen;  die  Wissenschaft  hat  bloß 
diese  Stimme  zu  hören  und  schweigend  festzustellen,  daß,  wie  immer, 
auch  dieser  Rufer  nicht  allein  steht,  sondern  ein  Führer  ist  für  viele, 
die  diesen  Weg  zu  gehen  sich  anschicken,  daß  es  sich  um  eine  Bewegung 
handelt,  deren  Quellen  unsichtbar  fließen  und  deren  Strömung  fast 
mit  jedem  Tage  höher  schwillt.  Die  Wissenschaft  hat  den  Wahrheits- 
gehalt des  Beweismaterials  zu  prüfen  und  zuzuwägen  und  —  zu  ver- 
stehen. Das  Buch  ist  Freud  gewidmet  und  basiert  in  vielem  auf  der 
von  Freud  gegründeten  Psychologie,  welche  in  ihrem  Kerne  die  wissen- 
schaftliche Rationalisierung  eben  dieser  Bewegung  unserer  Zeit  ist. 
Man  verwechsle  die  beiden  Dinge  aber  nicht  miteinander:  dem  Sozial- 
psychologen ist  und  bleibt  die  Bewegung  ein  intellektuelles  Problem, 
dem  Sozialethiker  aber  ist  sie  eine  Aufforderung,  der  Witteis  in  seiner 
Art  nachkommt,    andere  versuchen  es  auf  andere  Weise.    Man  höre 

Verlag  C.  W.  Stern.  Wien  und  Leipzig,  1909,  207  Seiten. 


Randbemerkungen  zu  dem  Buch  von  Witteis:  Die  sexuelle  Not.       31iJ 

sie  alle.  Nirgends  ist  so  sehr  wie  hier  die  Ermahnung  am  Platze,  sich 
des  enthusiastischen  Beifalles  einerseits  zu  enthalten  und  anderseits 
nicht  blindwütig  dagegen  anzurennen,  sondern  sich  leidenschaftslos 
klar  zu  machen,  daß  das,  worüber  sich  draußen  die  Menschen  streiten, 
auch  ein  Kampf  in  unserm  eigenen  Innern  ist.  Denn  man  muß  sich 
doch  endlich  die  Erkenntnis  zu  eigen  machen,  daß  die  Menschheit  nicht 
eine  Anhäufung  getrenntester  Individualitäten  ist,  sondern  einen  so 
hohen  Grad  von  psychologischer  Gemeinschaftlichkeit  besitzt,  daß  das 
Individuelle  daneben  bloß  wie  eine  leise  Variation  erscheint.  Wie  sollen 
wir  aber  gerecht  über  diese  Sache  urteilen,  wenn  wir  uns  nicht  em- 
gestehen  können,  daß  es  auch  unsere  Frage  ist?  Wer  dies  sich  selber 
bekennen  kann,  der  wird  auch  bei  sich  zuerst  die  Lösung  versuchen, 
und  so  bahnen  sich  überhaupt  die  großen  Lösungen  an. 

Es  steckt  noch  ein  zu  großes  Stück  Zirkusschaulust  in  den  Menschen, 
wenn  sie  so  gar  begierig  sind,  immer  gleich  wissen  und  entscheiden 
zu  wollen,  wer  endgültig  Recht  oder  Unrecht  hat.  Wenn  man  die  Fun- 
damente und  Hintergründe  seines  Denkens  und  Handelns  untersuchen 
gelernt  und  einen  recht  tiefen  und  heilsamen  Eindruck  davon  emp- 
fangen  hat,   wieviel  unbewußte  biologische  Zweckdienlichkeit  unsere 
Logik  beugt,  dann  vergeht  einem  die  Lust  an  Gladiatorenkampf  und 
öffentlicher  Disputation,  man  macht  es  in  und  mit  sich  selber  aus. 
Dabei  bewahrt  man  sich  die  Perspektive,  die  unserer  Zeit,    der  em 
Nietzsche  als  bedeutendes  Omen  voraufging,   besonders  von  Nöten 
ist.    Witteis  wird  gewiß  nicht  allein  bleiben,    er   ist  nur  einer  der 
ersten  und  einer  von  vielen,  die  aus  den  Schächten  dieser  wahrhaft 
biologischen    Psychologie    Freuds    „ethische"   Folgerungen    herauf- 
bringen werden,  vor  denen  das  bisher  „Gute"  bis  ins  Mark  erschauern 
wird.  Wie  ein  witziger  Franzose  einmal  bemerkte,  geht  es  den  Moralisten 
am  schlechtesten  von  allen  Erfindern,  denn  ihre  Neuigkeiten  können 
stets  nur  Immoralitäten  sein.    Das  ist  lächerlich  und  traurig  zugleich, 
denn  es  zeigt,  wie  unzeitgemäß  unser  Moralbegriff  geworden  ist:  es 
mangelt  ihm  das  Beste,  was  modernes  Denken  errungen  hat,  nämlich 
das  biologische  und  das  historische  Bewußtsein.  Dieser  Mangel 
an  Anpassung  muß  ihn  über  kurz  oder  lang  zu  Falle  bringen,  und  nichts 
wird  seinen  Fall  aufhalten.  Ich  muß  hier  an  ein  weises  Wort  von 
Anatole  France  erinnern:   „Bien  que  le  passe  leur  montre  des  droits 
et  des  devoirs  sans  cesse  changeants  et  mouvants,  ils  se  croiraient  dupes 
s'ils  prevoyaient  que  l'humanite  future  se  ferait  d'autres  droits,  d'autres 
devoirs  et  "d'autres  dieux.  Enfin,  ils  ont  peur  de  se  deshonorer  aux  yeux 


314  C.  G.  Jung. 

de  leurs  contemporains  en  assumant  cette  horrible  immoralite  qu'est 
la  morale  future.  Ce  sont  lä  des  empecliements  ä  recherclier 
l'avenir."  Hier  liegt  der  Schaden  unseres  altertümlichen  Moralbegriffes : 
er  trübt  den  Blick  für  Neuerungen,  die,  wenn  noch  so  zweckmäßig,  doch 
immer  notwendigerweise  das  Odium  der  Immoralität  mit  sich  führen. 
Aber  gerade  hier  sollten  unsere  Augen  hell  und  weitblickend  sein :  die 
Bewegung,  von  der  wir  oben  sprachen,  das  Drängen  nach  Reformation 
der  Sexuabnoral,  ist  keine  Erfindung  einiger  Nachtwandlergehirne, 
sondern  eine  Erscheinung,  die  mit  den  großen  Allüren  einer  Naturmacht 
auftritt.  Hier  frommt  kein  Argumentieren  und  Tüfteln  über  moralische 
Existenzberechtigung,  das  Klügste  ist  immer  anzuerkennen  und  das 
Beste  daraus  zu  machen.  Das  fordert  rauhe  und  schmutzige  Arbeit. 
Das  Buch  von  Witt  eis  gibt  einen  Vorgeschmack  von  dem  Kommenden, 
der  viele  erschrecken  und  abschrecken  wird.  Der  lange  Schatten  dieses 
Schreckens  wird  natürlich  auf  die  Freud  sehe  Psychologie  fallen,  der 
man  vorwerfen  wird,  der  Nährboden  für  alle  Unholde  zu  sein.  Gegen 
diesen  Vorwurf  möchte  ich  sie  jetzt  schon  in  Schutz  nehmen.  Unsere 
Psychologie  ist  eine  Wissenschaft,  der  man  höchstens  vorwerfen  kann, 
daß  sie  das  Dynamit  erfunden  hat,  mit  dem  auch  der  Terrorist  arbeitet. 
Was  der  Ethiker,  der  Praktiker  überhaupt  damit  anfängt,  geht  uns 
nichts  an,  und  wir  mischen  uns  auch  nicht  darein.  Es  wei-den  sich  viele 
Unberufene  herzudrängen  und  die  größtmöglichen  Tollheiten  damit 
anstellen,  auch  das  kann  uns  nicht  berühren.  Unser  Ziel  ist  einzig  und 
allein  die  wissenschaftliche  Erkenntnis,  die  sich  um  das  Getümmel, 
das  sich  um  sie  erhebt,  nicht  zu  kümmern  hat.  Sollten  dabei  Religion 
und  Moral  in  Stücke  gehen,  um  so  schlimmer  für  sie,  wenn  sie  nicht 
mehr  Haltbarkeit  besitzen.  Erkenntnis  ist  auch  eine  Natur- 
macht, die  mit  innerer  und  unaufhaltsamer  Notwendigkeit  ihres  Weges 
geht.  Auch  da  gibt  es  kein  Vertuschen  und  Unterhandeln,  sondern  nur 
ein  bedingungsloses  Annehmen. 

Diese  Erkenntnis  identifiziert  sich  aber  nicht  mit  den  wechselnden 
\  orschlägen  der  Praktiker ;  daher  kann  sie  auch  nicht  mit  morahschem 
Maßstabe  gemessen  werden.  Man  muß  dies  merkwürdigerweise  laut 
sagen,  weil  es  heute  noch  Leute  mit  Anspruch  auf  Wissenschaftlichkeit 
gibt,  die  ihre  moralischen  Bedenklichkeiten  sogar  auf  wissenschaftliche 
Erkenntnisse  ausdehnen.  Wie  jede  rechte  Wissenschaft  steht  auch 
die  Psychoanalyse  jenseits  aller  Moral,  sie  rationalisiert  das  Unbewußte 
und  fügt  so  die  vorher  autonomen  und  unbewußten  Triebkräfte  in  die 
seelische  Hierarchie.    Der  Unterschied  von  vor  und  nachher  ist  der. 


Randbemerkungen  zu  dem  Buch  von  Wiltels:  Die  sexuelle  Not.       315 

daß  der  Mensch  nun  wirklich  auch  das  sein  will,  was  er  ist  und  nichts 
mehr  der  blinden  Fügung  des  Unbewußten  überläßt.  Der  sich  sofort 
erhebende  Gegengrund  der  Unmöglichkeit,  nämlich,  daß  dann  die 
Welt  aus  ihren  Fugen  ginge,  ist  der  Psychoanalyse  in  erster  Linie  zu 
überweisen;  sie  hat  das  Wort,  aber  nur  unter  vier  Augen,  denn  diese 
Angst  ist  eine  Individualangst.  Genug,  das  ideale  Ziel  der  Psycho- 
analyse ist  ein  Zustand  der  Seele,  wo  das  Sollen  und  Müssen  durch  ein 
Wollen  ersetzt  ist,  wo  man,  wie  Nietzsche  meint,  nicht  nur  Herr 
über  seine  Laster,  sondern  auch  über  seine  Tugenden  ist.  Insofern  die 
Psychoanalyse  also  rein  rational  ist  —  und  sie  ist  es  'ihrem  ganzen 
Wesen  nach  — ,  ist  sie  weder  moralisch  noch  antimoralisch  und  gibt 
weder  Präskriptionen  noch  sonstige  ,,Du  sollst".  Das  ungeheure  Füh- 
rungsbedürfnis der  Masse  wird  allerdings  viele  dazu  zwingen,  den  Stand- 
punkt des  Psychoanalytikers  aufzugeben  und  mit  ,, Verschreiben"  an- 
zufangen. Der  eine  wird  Moral,  der  andere  ,, Ausleben"  verschreiben. 
Beide  dienen  der  Masse  und  gehorchen  den  Strömungen,  welche  die 
Masse  umtreiben.  Die  Wissenschaft  steht  darüber  und  leiht  die  Macht 
ihrer  Waffen  dem  Christen  sowohl  wie  dem  Antichristen.  Wissenschaft 
ist  bekanntlich  nicht  konfessionell. 

Ich  habe  noch  kein  Buch  über  die  Sexualfrage  gelesen,  das  mit 
solcher  Härte  und  Unbarmherzigkeit  die  heutige  Moral  zerreißt  und 
trotzdem  in  den  Hauptstücken  so  wahr  ist;  eben  deshalb  verdient 
Witt  eis  gelesen  zu  werden,  aber  auch  viele  der  anderen,  die  über  das- 
selbe schreiben,  denn  nicht  das  einzelne  Buch  ist  das  Wichtige,  sondern 
ihr  gemeinsames  Problem. 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerika- 
nische Literatur  zur  klinischen  Psychologie  und 

Psychopathologie. 

Von  Ernest  Jones.    M.  D.  (London.)  Demonstrator  of  Psychiatry,  University 

of  Toronto,  Canada. 

(Übersetzt  von  Dr.  W.  Stockmayer,  Assistenzarzt  der  Kgl.  Universitätsklinik 
für  Gemüts-  und  Nervenkrankheiten,  Tübingen.) 


I.  Einführung. 

In  der  klinischen  Psychologie  und  Psychopathologie  gab  es  in  den 
angelsächsischen  Ländern  vier  getrennte  Bewegungen.  Die  beiden, 
die  ihren  Anfang  in  England  nahmen,  sind,  insofern  man  den  weiteren 
Fortgang  in  Betracht  zieht,  soviel  wie  tot;  die  beiden  amerikanischen 
sind  auf  der  Höhe  ihrer  Wirksamkeit.  An  der  Spitze  dieser  Bewegungen 
stehen  die  Namen  von  Braid  beziehungsweise  von  F.  W.  H.  Myers, 
von  Morton  Prince  und  von  Adolf  Meyer.  In  Verbindung  mit 
Braid  muß  man  die  Namen  seiner  Vorgänger  Elliotson  und  Es- 
daile  besonders  erwähnen,  mit  dem  zweiten  die  von  Gurney,  Pod- 
more,  William  James  und  Hyslop,  mit  dem  dritten  Boris  Sidis, 
Putnam,  Coriat,  Courtney,  Linenthal  und  Taylor  und  mit  dem 
vierten  August  Hoch  und  Macfie  Campbell. 

Der  ersten  dieser  Bewegungen,  die  von  1840  ab  datiert  werden 
kann,  verdanken  wir  direkt  das  Meiste  unserer  modernen  Kenntnisse 
des  Hypnotismus.  Braids  Werk  war  die  Inspiration  für  Azam, 
Broca  und  Velpeau  und  indirekt  einigermaßen  für  Lieb ault,  von 
dem  die  Schule  von  Nancy  und  sozusagen  alle  anderen  heutigen  Schulen 
des  Hypnotismus  in  Europa  herstammen.  Es  ist  jedoch  wenig  zu  Braids 
Werk  hinzugefügt  worden.  Der  Hypnotismus  wird  in  England  vom 
Ärztestand  noch  scheel  angesehen  und  mehr  noch  in  Amerika,  obwohl 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.      317 

es  viele  Ärzte  in  ersterem  Lande  gibt,  wie  namentlich  Milne  Bram- 
well,  Lloyd  Tuckey,  Woods  und  Kingsbury,  und  einige  im 
letzteren,  wie  Quackenbos  und  andere,  die  sich  seiner  Ausübung 
widmen. 

Die  zweite  Bewegung,  die  am  meisten  in  den  achtziger  Jahren 
zuerst  in  England  und  dann  in  Amerika  blühte,  brachte  eine  Menge 
wertvoller  Experimentalarbeiten  über  posthypnotische  Suggestion, 
Halluzinationen,  automatisches  Schreiben,  Kristalloskopie  usw.  her- 
vor. Dies  ist  so  ziemlich  alles  in  den  ,,Proceedings  of  the  Societies  for 
Psychical  Research"  veröffentlicht.  Von  Anbeginn  jedoch  wandte 
man  solchen  Gegenständen  wie  Hellsehen,  Telepathie,  Tischklopfen  usw. 
großes  Interesse  zu  und  in  den  letzten  Jahren  haben  die  spiritistischen 
Gesichtspunkte  alle  anderen  beherrscht.  Die  ausgesprochene  Tendenz 
der  Mitglieder  zum  Spiritismus  bewirkte  zu  einem  großen  Teil,  daß 
ihre  Arbeiten  über  andere  Gegenstände  in  Mißkredit  kamen,  und  ist 
eine  von  vielen  Ursachen,  warum  in  England  die  klinische  und  prak- 
tische Psychologie  noch  kühl  aufgenommen  wird. 

Die  dritte  Bewegung  wurde  vor  ungefähr  zwanzig  Jahren  durch 
Morton  Pri nee  eingeleitet;  die  Mehrzahl  der  veröffentlichten  Arbeiten 
ist  jedoch  weniger  als  ein  halbes  Dutzend  Jahre  alt  und  erst  innerhalb 
dieser  Zeit  hat  er  einige  beachtenswerte  Anhänger  erlangt.  Obgleich 
diese  Bewegung  viele  unabhängige  Züge  hat,  verdankt  sie  viele  ihrer 
Inspirationen  einerseits  der  experimentellen,  nichtspiritistischen  Arbeit 
der  zweiten,  vorher  erwähnten  Bewegung  und  anderseits  den  Unter- 
suchungen der  Pariser  Schule,  besonders  denen  von  Pierre  Janet. 

Die  vierte  Bewegung  ist  noch  neueren  Datums  und  weist  direktere 
Beziehungen  zum  Kontinent,  besonders  zur  Freudschen  Schule  auf. 
Sie  befaßt  sich  hauptsächlich  mit  den  psychopathologischen  Problemen 
der  Psvchiatrie. 

Der  vorliegende  Bericht  nimmt  hauptsächlich  auf  die  Ver- 
öffentlichungen der  letzten  drei  Jahre  Bezug.  Eine  große  Anzahl  von 
Arbeiten,  häufig  ohne  jeden  Wert,  sind  in  dieser  Zeit  erschienen  und 
in  dem  nachher  gegebenen  Verzeichnis  findet  nur  ungefähr  ein  Zehntel 
der  Veröffentlichungen  Erwähnung;  es  ist  zu  hoffen,  daß  das  Ver- 
zeichnis alle  besseren  Arbeiten  über  den  Gegenstand  in  sich  schließt. 
Viele  ausgezeichnete  Arbeiten  wurden  während  dieser  Zeit  von  fremden 
Autoren,  insbesondere  von  Bechterew,  Claparede,  Janet,  Jung, 
Pick,  Sollier  und  Soukhanoff,  in  angelsächsischen  Zeitschriften 
veröffentlicht,  jedoch  sind  diese  hier  nicht  inbegriffen,  da  sie  keiner 


318  Ernest  Jones. 

angelsächsischen  Schule  entstammen.  Arbeiten  über  den  Gegenstand 
des  Hypnotismus,  der  Sexuologie,  der  Religions-  und  der  sozialen 
Psychologie  sind  ebenfalls  ausgeschlossen,  um  Platz  zu  sparen.  Viele 
der  besten  Arbeiten,  die  irgend  über  die  beiden  letzteren  Gegenstände 
gemacht  worden  sind,  waren  amerikanisch;  es  kann  auf  einen  Bericht 
über  die  neuesten  amerikanischen  Arbeiten  über  Religionspsychologie 
in  der  Zeitschrift  für  Religionspsychologie  1909,  Bd.  III,  H.  3,  ver- 
wiesen werden.  Der  führende  angelsächsiche  Autor  in  der  Sexuologie 
ist  Havelock  Ellis,  dessen  Arbeiten  in  Deutschland  besser  als  sonst 
irgendwo  bekannt  sind. 

Ein  Wort  mag  über  die  Haltung  gesagt  werden,  die  in  angel- 
sächsischen wissenschaftlichen  Kreisen  der  klinischen  Psychologie 
gegenüber  vorherrscht.  Dies  ist  in  England  und  in  Amerika  ganz  ver- 
schieden. Im  ersteren  Lande  wird  der  Gegenstand  mit  kühler  Anti- 
pathie betrachtet  und  soweit  der  Verfasser  unterrichtet  ist,  wurde  auch 
nicht  eine  wissenschaftliche  Untersuchung  darüber  ausgeführt;  weniger 
als  ein  Zehntel  der  Arbeiten,  auf  die  hier  Bezug  genommen  ist,  wurden 
in  englischen  Zeitschriften  veröffentlicht.  In  Amerika  anderseits  be- 
steht für  diesen  Gegenstand  ein  weitverbreitetes  Interesse,  obgleich 
dessen  Wert  durch  die  oberflächlichen  und  unkritischen  Ansichten, 
die,  ausgenommen  in  einem  vergleichsweise  kleinen  Kreise,  allgemein 
vorherrschen,  bei  weitem  das  Gleichgewicht  gehalten  wird.  Im  ame- 
rikanischen Ärztestande  ist  die  Bereitwilligkeit,  einen  psychogenetischen 
Ursprung  gewisser  Krankheiten  anzunehmen,  viel  ausgedehnter  als  im 
englischen  und  auch  die  Laien  nehmen  in  diesem  Lande  sehr  großes 
Interesse  an  den  Problemen,  wie  aus  der  Popularität  solcher  Bücher 
wie  Addington  Bruces  „The  riddle  of  Personality",  Hudsons 
„Psychic  Phenomena"  und  Waldsteins  „The  Subconscious  Seif"  usw. 
augenscheinlich  wird. 

Wer  die  Absicht  hat,  die  eine  oder  andere  der  Arbeiten,  auf  die 
hier  verwiesen  wird,  persönlich  zu  studieren,  sei  ausdrücklich  daran 
erinnert,  daß,  weil  der  in  dieser  Übersicht  davon  gegebene  Bericht  auf 
des  Autors  individuelle  Beurteilung  gegründet  ist,  er  wohl  kaum  ganz 
unparteiisch  ist,  obwohl  der  Autor  sich  soviel  wie  möglich  bestrebt, 
unparteiisch  zu  sein.  Die  Darstellungen  werden  ferner  notwendig 
unvollständig  und  gekürzt  sein,  so  daß  die  Gefahr,  die  Ansichten 
der  betreffenden  Autoren  zu  entstellen,  besonders  schwer  zu  ver- 
meiden ist. 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.       319 

II.  Kasuistik,  Symptomatologie,  Diagnose  und  Therapie. 

In  der  Symptomatologie  der  Hysterie  sind  über  den  Gegenstand 
der  Blindheit  und  anderer  Abnormitäten  des  Sehens  wertvolle  Beiträge 
von  Baird  (5),  Diller  (40),  Gradle  (59),  Onuf  (114)  und  Parker 
(116)  geliefert  worden,  über  den  hysterischer  iVifektionen  des  Gehörs 
vonHolmes(70)und  Mc.Bride(96),  Fälle  von  hysterischem  Mutismus 
sindvonHudson-Makuen(72),  J.K.  Mitchell  (109)  und  Oettinger 
(113)  verzeichnet  worden  und  von  Aphasie  durch  Le  Kerr  (93).  Es 
wird  festgestellt,  daß  Hemianopsie  niemals  bei  Hysterie  vorkommt, 
eine  Ansicht,  die  von  Mills  (106)  ebenfalls  unterschrieben  wird.  Studien 
über  den  Gans  ersehen  Symptomenkomplex  wurden  von  Diller  und 
Wright  (41),  Frost  (54)  und  Ruggles  (143)  veröffentlicht;  der  erst- 
genannte (42)  und  Wood  man  (191)  haben  auch  nützliche  klinische 
Erörterungen  über  hysterische  Geistesstörungen  beigesteuert.  Allge- 
mein besteht  die  Ansicht,  daß  der  Gansersche  Symptomenkomplex 
nicht  pathognomonisch  für  Hysterie  sei  und  daß  die  Hysterie  bei  Anstalts- 
fällen vergleichsweise  selten  gefunden  wird.  Detaillierte  Untersuchungen 
über  den  Gegenstand  der  Hysterie  bei  Kindern  mit  vielen  erläuternden 
Fällen  wurden  von  Hecht  (63)  und  Thomas  (166)  veröffentlicht; 
er  ist  von  einem  rein  klinischen  Gesichtspunkte  behandelt.  Hoovers 
(71)  Kennzeichen  der  hysterischen  Paraplegie  besteht  im  Fehlen  des 
normalen  Abwärtsdrückens  der  Ferse,  wenn  der  Kranke  das  andere 
Bein  vom  Bett  erhebt.  Ich  habe  einen  Fall  von  Hysterie  veröffentlicht 
(77),  der  in  vier  verschiedenen  Stadien  seiner  Entwicklung  wahre 
taktile  Aphasie  (in  Claparedes  Sinn),  Asymbolie,  Tastlähmung  und 
Anästhesie  zeigte.  Ich  habe  auch  gezeigt  (81),  daß  die  gangbare  Ansicht, 
die  hysterische  Hemiplegie  befalle  vorzugsweise  die  linke  Seite,  allein 
auf  Bri  quets  Meinung  gegründet  ist;  in  den  seit  1880  veröffentlichten 
Fällen  sind  die  beiden  Seiten  mit  gleicher  Häufigkeit  befallen.  In  den 
zwei  weiteren  Abhandlungen  (78,  80)  wird  gezeigt,  daß  Allochirie  ein 
pathoguomonisches  Symptom  von  Hysterie  ist ;  früher  ist  es  mit  andern 
Störungen,  die  in  organischen  Krankheiten  vorkommen  können,  ver- 
mengt worden.  Dyschirie  ist  eine  Affektion  des  ,,chirognostischen 
Sinnes",  wovon  es  drei  Formen  gibt:  1.  Achirie,  wobei  der  Kranke 
keine  Kenntnis  von  der  Seite  eines  Reizes  hat,  2.  Allochirie,  wobei  er 
ihn  auf  den  genau  entsprechenden  Punkt  auf  der  entgegengesetzten 
Seite  bezieht,  und  3.  Synchirie,  wobei  er  ihn  auf  beide  Seiten  bezieht. 

Deaver  (36)  und  Williams  (182)  zeigen  die  Wichtigkeit  der  psy- 
chischen Faktoren  in  Fällen  von  Magenneurose  und  Cannon  (16) 


320  Ernest  Jones. 

befaßt  sich  mit  dem  selben  Gegenstände  vom  Standpunkte  des  Phy- 
siologen>us,  indem  er  sich  auf  die  Arbeiten  Pa  wlo  ws  und  anderer  über 
psychische  Einflüsse  in  Verbindung  mit  der  Magensekretion  bezieht. 
Weir  Mitchell  (111)  hat  einen  Fall  unter  dem  Titel  „Motorische 
Ataxie"  veröffentlicht  und  Script ure  (152)  einen  unter  dem  Titel 
„Schriftstottern",  die  augenscheinlich  Beispiele  von  Angsthysterie 
sind. 

Janets  Konzeption  derPsychasthenie  hat  in  Amerika  großes 
Ansehen  und  der  nosologische  Status  dieser  Krankheit  ist  allgemein 
angenommen.  „Orthodoxe"  Darlegungen  über  den  Gegenstand  sind 
von  Blumer  (7),  Collins  (22),  Courtney  (31)  und  Donley  (49) 
gegeben  worden;  von  diesen  ist  Courtneys  Beschreibung  die  voll- 
ständigste und  präziseste.  Donley  (43,  45)  hat  einige  Fälle  von  dem 
veröffentlicht,  was  Prince  1891  miter  dem  Ausdruck  „Assoziations- 
neurose" beschrieb.  Damit  ist  ein  Symptomenkomplex  gemeint,  der 
in  verschiedenen  Krankheiten  vorkommen  kann,  wo  das  Symptom 
(z.  B.  Furcht)  wieder  hervorgerufen  wird,  so  oft  der  Kranke  eine  Er- 
fahrung durchlebt,  die  mit  der  Gelegenheit,  wobei  das  Symptom  zuerst 
auftrat,  assoziiert  ist;  zum  Beispiel  kann  ein  Kranker,  der  einmal  auf 
einem  Kirchhofe  erschreckt  worden  ist,  einen  Schreck  erleiden,  so  oft 
er  irgend  etwas  begegnet,  das  mit  einer  Kirche  assoziiert  ist.  Der  Kranke 
ist  gewöhnlich  davon  befreit,  wenn  er  sich  vollständig  erinnert  und  über 
das  ursprüngliche  Erlebnis  redet. 

Eine  Versammlung  der  neurologischen  Sektion  der  königlichen 
Gesellschaft  für  Medizin  in  London  am  30.  Januar  1908,  bei  der  Buz- 
zard,  Collier,  Guthrie,  Harris,  Head  und  Ormerod  sprachen, 
war  einer  Diskussion  des  Tics  gewidmet.  Sie  folgte  den  Eichtlinien,  die 
von  Cruchet,  Meige  und  Feindel  gelegt  sind  und  es  wurde  nichts 
neues  vorgebracht.  Prince  (125)  hat  einen  schweren  Fall  von  mul- 
tiplen Tics  beschrieben  und  äußert  die  Ansicht,  daß  das  Symptom  die 
Manifestation  eines  dissoziierten  Automatismus  sei,  der  der  Wirk- 
samkeit einiger  unterbewußter  psychischer  Vorgänge  zuzuschreiben 
sei;  deren  Natur  konnte  er  nicht  bestimmen. 

Spiller  (162)  bringt  einen  interessanten  Artikel  über  den  Gegen- 
stand der  psychasthenischen  Anfälle  von  dem  Typus,  der  be- 
sonders von  Oppenheim  beschrieben  wurde,  und  erörtert  die  Diagnose 
zwischen  diesen  und  ,,narkoleptischen"  Anfällen.  Mit  Bezug  darauf 
beschrieb  ich  einen  Fall  (79),  bei  dem  es  durch  Erforschung  der  unter- 
bewußten, mit  dem  Anfalle  verknüpften  Erinnerungen  möglich  war, 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.       321 

die  Diagnose  Hysterie  zu  stellen;  er  stellt  die  „niassive"  Zerlegung 
(Disaggregation)  der  Hysterie  der  „molekularen"  Zerlegung  der  Psych- 
asthenie  gegenüber.  Putnam  undWaterman  (139)  haben  ebenfalls 
die  Differentialdiagnose  zwischen  epileptischen  und  hysterischen  An- 
fällen von  einem  psychologischen  Standpunkt  erörtert  und  Camp  (16), 
Hecht  (64)  und  Taylor  (163)  haben  andere  Bedingungen  chronischer 
„Narkolepsie"  beschrieben.  Coriat  (25,  27)  konnte  eine  Verbindung 
zwischen  ,, nächtlicher  Lähmung"  (Weir  Mitchells  Symptomenkom- 
plex) und  unterdrückten  unbewußten  Erinnerungen  peinlicher  Er- 
fahrungen verfolgen;  er  hat  fünf  Fälle  davon  beschrieben  und  bringt 
gute  Gründe  dafür  vor,  es  als  eine  psychische  Kundgebung,  als  einen 
„wiederauftauchenden  psychischen  Zustand"  (recurrent  mental  state) 
zu  betrachten. 

Für  den  Gegenstand  mehrfacher  Persönlichkeiten  wurde 
in  Amerika  durch  Princes  Untersuchung  eines  Falles  dieser  Art,  der 
im  Jahre  1906  in  sehr  ausführlicher  Darstellung  veröffentlicht  wurde 
(126),  großes  Interesse  erweckt.  Er  ist  einer  der  bestbeobachteten 
Fälle  der  Art,  der  aufgezeichnet  wurde,  und  ist  so  wohl  bekannt,  daß 
eine  Beschreibung  davon  hier  nicht  notwendig  ist.  Das  Buch  ist  rein 
beschreibenden  Charakters  und  wird  im  Jahre  1910  von  einem  andern 
Band  gefolgt  werden,  worin  die  theoretischen  Gesichtspunkte  über 
den  Gegenstand  behandelt  werden  sollen.  In  einem  Buche,  auf  das 
sogleich  noch  einmal  hingewiesen  werden  wird  (154),  veröffentlichte 
Sidis  einen  Fall  von  doppelter  Persönlichkeit  und  seither  ist  eine  An- 
zahl ähnlicher  Fälle  von  Angell  (63),  Coriat  (26),  Dewey  (39),  Foy 
(63),  Gaver  (56)  Gordon  (57),  Hyslop  (73)  und  anderen  verzeichnet 
worden.  Hyslops  Fall  zeigte  eine  unterbewußte  Erfindung  einer 
Marssprache,  ähnlich  der  von  Mlle.  Helene  Smith  erfundenen,  die 
wahrscheinlich  auf  die  Kenntnis  von  Flournoys  Buch  gegründet  ist. 
Aufsätze  über  Fälle  von  ambulatorischem  Automatismus  sind  von 
Courtney  (30),  Lloyd  (95)  und  Patrick  (117)  veröffentlicht  worden ; 
in  der  erst  erwähnten  Arbeit  erörtert  Courtneydie  Differentialdiagnose 
zwischen  den  verschiedenen  Krankheiten,  bei  denen  dieser  Zustand 
auftreten  kann. 

Die  Zahl  von  Arbeiten,  die  über  Psychotherapie  veröffentlicht 
wurden,  ist  sehr  groß  und  die  Qualität  vieler  davon  ist  sicherlich  gering. 
Sozusagen  alle  europäischen  Schulen  sind  in  Amerika  vertreten.  So 
vertritt  Barker  (6)  D  ejerines  Methode  der  Isolierung  usw.,  Jelliffe 
(75,  76)  die  „Überredungsmethode"  von  Dubois,  Williams  (170, 

Jahrbuch  für  psyclioanalyt.  u.  psychopathol.  Forechungen.   II.  "*■ 


322  Ernest  Jones. 

187  usw.)  die  von  Babinski  usvy.,  Prince  und  Coriat  (132)  halten 
dafür,  daß  es  keinen  Unterschied  zwischen  Überredung  und  Suggestion 
gebe.  Sie  stützen  sich  bei  der  Behandlung  insbesondere  darauf,  daß 
sie  den  Ursprung  des  Symptoms,  hauptsächlich  in  der  Hypnose,  soweit 
als  möglich  zurückverfoigen,  es  seiner  unangenehmen  Assoziationen 
entkleiden  (Janets  Erfindung)  und  eine  neue  Gruppe  angenehmer 
Assoziationen  substituieren.  Der  Hypnotismus  wird  im  allgemeinen 
in  Amerika  nicht  wohlwollend  angesehen.  Putnam  (134,  135)  vertritt, 
was  er  die  ,, Nebengeleise" -Methode  nennt,  vermittels  derer  das  Interesse 
des  Kranken  für  die  Gesundheit  und  nutzvolle  geistige  Beschäftigung 
nachdrücklich  erweckt  wird.  Er  hat  in  dem  Allgemeinen  Hospital 
von  Massachusetts  eine  interessante  Abteilung  für  ,, soziale  Arbeits- 
leistung" ins  Leben  gerufen,  so  daß  die  Kranken  soweit  als  möglich 
in  eine  gesündere  und  anregendere  Umgebung  gebracht  werden  können. 
Von  Putnam  (137),  Schwab  (149)  und  anderen  wird  auf  die  Ver- 
bindung der  psychotherapeutischen  Behandlung  mit  dem  ,, sozialen 
Bewußtsein"  Nachdruck  gelegt.  Eine  andere  und  originellere  psycho- 
therapeutische Methode  ist  die  von  Sidis  (159)  ersonnene  und  von  ihm 
,,Hypnoidisation*'  genannte;  sie  ist  von  Do  nie  y  (47)  und  anderen  in 
umfassender  Weise  angewandt  worden.  Sie  wird  in  Verbindung  mit 
den  anderen  Arbeiten  von  Sidis  im  nächsten  Abschnitt  erörtert  werden. 
Münsterberg  (112)  hat  ein  sehr  interessantes  und  brauchbares  Buch 
von  allgemeinem  Charakter  veröffentlicht,  erörtert  aber  im  einzelnen 
keine  besonderen  Methoden.  Am  6.  Mai  1909  hielt  die  amerikanische 
therapeutische  Gesellschaft  ein  ,,S}Tnposion"  über  Psychotherapie. 
Die  dort  gehaltenen  Vorträge  sind  unter  dem  Titel  ,, Psychotherapie" 
in  Buchform  veröffentlicht  worden;  dieses  begreift  neben  den  vorher 
aufgezählten  Arbeiten  49,  84,  131,  159,  165,  172  eine  von  Gerrish 
in  sich  über  den  therapeutischen  Wert  der  hypnotischen  Suggestion 
und  eine  von  Putnam  über  die  Beziehung  der  Charakterbildung  zur 
Psychotherapie. 

Die  Emmanuel-  und  andere  religiöse  Bewegungen,  die  sich 
mit  Psychotherapie  beschäftigen,  haben  in  ärztlichen  Kreisen  viel 
Erörterung  hervorgerufen;  gegen  ihre  ärztlichen  Übergriffe  wurde  von 
Colli ns  (23),  Farrar  (52)  undWitmer  (190)  nachdrücklich  Einspruch 
erhoben.  Die  Beziehung  zwischen  religiösen  und  ärztlichen  Bestrebungen 
ist  in  dieser  Hinsicht  von  Putnam  (138)  und  anderen  abgegrenzt 
worden.  In  diesem  Zusammenhange  mag  eine  interessante  Abhandlung 
von  Waddle  (170)  über  Wunderheilungen  erwähnt  werden. 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw. 


323 


III.  Allgemeine  Psychopathologie. 
Wir  können  mit  einigen  der  Werke  von  Morton  Pri  nee  beginnen, 
der  unstreitig  die  führende  angelsächsiche  Autorität  in  der  „abnormen 
Psychologie"  ist.  Sein  erstes  Buch  „Die  Natur  des  Geistes  und  die 
Automatismen  des  Menschen",  das  im  Jahre  1885  veröffentlicht  wurde, 
war  dazu  bestimmt,  eine  panpsychische  Theorie  zu  entwickeln.  Er  hat 
sein  Interesse  für  ähnliche  Probleme  beibehalten  und  sein  letztes  Werk 
(130)  befaßt  sich  hauptsächlich  mit  der  Beziehung  der  bewußten  zur 
unterbewußten  Seelentätigkeit  und  dieser  beiden  zur  unbewußten 
Gehirntätigkeit.  Wie  vorher  erwähnt  wurde,  hat  er  eine  sehr  große 
Zahl  interessanter  Beobachtungen  über  Fälle  von  mehrfacher  Persön- 
lichkeit gemacht  und  er  formuliert  seine  Schlüsse  über  unterbewußte 
Prozesse  hauptsächlich  im  Lichte  solcher  Fälle.  Für  deren  Studium 
benutzt  er  direkte  Beobachtung,  Hypnose,  automatisches  Schreiben, 
Kristalloskopie    und    verschiedene    speziell    ersonnene    Experimental- 

methoden. 

Princes   Arbeiten  über  das  Unterbewußte  mögen   in  Ver- 
bindung mit  denen  anderer  Autoren  betrachtet  werden;  seine  An- 
sichten sind  speziell  in  einer  Reihe  von  Arbeiten  über  das  Unbewußte 
(130)  entwickelt    und  in   einem  Berichte  über  ein  „Symposion"    zur 
Frage  des  Unterbewußten   im   Journ.   of  Abn.   Psychol.,   April  und 
Juni   1907,  veröffentlicht.    In  der  Einleitung  zu  diesem  Symposion 
definiert  er  die  sechs  Hauptbedeutungen,  in  denen  der  Begriff  des 
Unterbewußten  zu  verschiedenen  Zeiten  angewandt  wurde:     1.   Die 
Randzone  verminderter  Aufmerksamkeit,  die  in  irgendeinem  gegebenen 
Augenblicke  außerhalb  des  Brennpunktes  des  Bewußtseins  ist;  2.  aktive, 
dissoziierte  Vorstellungen,  über  die  das  Subjekt  gar  nicht  unterrichtet  ist ; 
3.  zusammengesetzte  Zustände  mit  Selbstbewußtsein,  die  vom  Haupt- 
bewußtsein gesondert  sind  und  einen  beträchtlichen  Teil  jedes  normalen 
und  abnormen  Geistes  bilden;  4.  alle  möglichen  Erinnerungen  mit  Ein- 
schluß sowohl  der  aktiven,  dissoziierten,  in  der  zweiten  Definition  er- 
wähnten Zustände  und  aller  bewußt  gewesenen  Erfahrungen,  die  jetzt  un- 
wirksam sind  und  in  einem  gegebenen  Augenblicke  der  Wiedererweckung 
fähig  sind  oder  nicht ;  5.  ein  „unter  der  Schwelle  liegendes"  Behältnis,  das 
das  Hauptbewußtsein  einbegreift,  aus  dem  das  persönliche  Bewußt- 
sein als  Nebenstrom  fließt;    6.    die  unbewußte  Gehirntätigkeit.    Die 
vierte  Definition  ist  von  Sidis,  die  fünfte   von  F.  W.  H.  Myers  an- 
genommen.   In  diesem  Symposion  nennt  Münsterberg  die  dritte, 
zweite  und  sechste  vorher  gegebene  Definition  resp.  die  Definition  des 

21* 


324  Ernest  Jones. 

Laien,  des  Arztes  und  des  Psychologen;  er  tritt  für  die  letztgenannte 
ein  und  behauptet,  daß  all  die  Tatsachen,  die  zugunsten  des  Begriffes 
des  Unterbewußten  angerufen  werden,  angemessener  und  einfacher 
durch  die  physiologische  Hypothese  erklärt  würden.  Auch  Ribot 
neigt,  in  einem  kurzen  Beitrag,  zur  selben  Ansicht.  Jastrow  scheint,  so- 
wohl in  dieser  Versammlung  als  in  einem  speziell  dem  Gegenstande  ge- 
widmeten Buche  (74),  eine  ähnliche  Stellung  einzunehmen,  aber  infolge 
der  Dunkelheit  der  Sprache,  in  der  es  abgefaßt  ist,  ist  Verfasser  nicht 
in  der  Lage,  seinen  Standpunkt  zu  verstehen  und  somit  darzustellen. 
Janet  beschränkt  den  Begriff  ,, Unterbewußt"  auf  die  zweite  vorhin 
gegebene  Bedeutung  und  betrachtet  jede  Dissoziation  als  abnorm. 
Pri  nee  trennt  die  gewöhnlich  ,, unterbewußt"  genannten  Erscheinungen, 
z.  B.  wie  der  Begriff  von  Sidis  gebraucht  wird  und  auch  die  in  Freuds 
Unbewußtem  einbegriffenen,  scharf  in  zwei  fundamental  verschiedene 
Gruppen,  die  er  ,, Mitbewußt"  und  ,, Unbewußt"  nennt.  Mitbewußte 
Vorstellungen  sind  gleichbedeutend  mit  Janets  Unterbewußtem 
und  sind  psychische  Zustände,  die  von  der  Hauptpersönlichkeit  ab- 
getrennt sind.  Das  Subjekt  ist  oft  von  ihrer  Gegenwart  nicht  unter- 
richtet, aber  manchmal,  wie  in  dem  Fall  einer  Obsession,  ist  es  dies. 
So  ist  für  Pri  nee  nicht  Mangel  an  Unterrichtetsein  das  wahre  Kri- 
terium von  Mitbewußtsein,  sondern  Unabhängigkeit  und  automatische 
Tätigkeit,  die  vom  Subjekt  nicht  beherrscht  werden  kann.  Und  weiter : 
,,Das  Bewußtsein  kann  so  rudimentär  sein,  daß  es  nichts  von  Gewahr- 
werden, von  einem  Selbst,  von  Intellekt  oder  Willen  enthält."  Er 
hält,  namentlich  gegen  Münsterberg  und  Ribot,  die  psychische 
Natur  dieser  Zustände  kräftig  fest  und  stützt  diese  Ansicht  durch  eine 
Reihe  meist  überzeugender  Argumente  und  geistreicher  Experimente 
(129,  130,  133  und  J.  Ab.  P.  Juni  1907).  Unbewußte  Prozesse 
anderseits  sind  nicht  psychisch,  sondern  physiologisch.  Sie  werden 
in  zwei  Untergruppen  geteilt:  a)  zerebrale  Nervenorganisationen  und 
Rückstände  der  Funktionstätigkeit,  die  als  Bewußtsein  kund  wird; 
b)  spinale  und  Ganglienorganisationen  und  Rückstände  der  Funktions- 
tätigkeit, die  als  physiologisches  Gedächtnis  kund  wird;  es  kann  jedoch 
keine  scharfe  Linie  zwischen  diesen  beiden  gezogen  werden.  ,,Rein 
physiologische  Prozesse  können  sich  in  Akten  von  ebenso  intelligentem 
Charakter  kundtun,  wie  ihn  die  bewußten  Prozesse  aufweisen."  Pri  nee 
gebraucht  den  Ausdruck  ,, Schlafendes  Bewußtsein"  (Dormant  con- 
sciousness),  um  jene  physiologischen  Rückstände  zu  bezeichnen,  in 
welche  psychische  Komplexe  übergehen,  wenn  sie  außerhalb  der  Seele 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  nsw.       325 

sind.  ,,Das  Unbewußte,  mehr  als  das  Bewußte,  ist  es,  was  der  wichtige 
Faktor  in  der  Persönlichkeit  und  der  Intelligenz  ist.    Das  Unbewußte 
ist  der  Speicher  unserer  Seele.    Das  Geheimnis  unserer  Stimmungen, 
unserer  Antriebe,  unserer  Intelligenz,  unserer  Errungenschaften,  unserer 
Haltungen,  unserer  Urteile  und  unserer  Fähigkeiten  muß  in  seinen 
Dispositionen,  die  es  aufbewahrt  hat,  gefunden  werden."  Diese  schlafen- 
den Erinnerungen  können  der  willkürlichen  Reproduktion  fähig  sein 
oder  nicht;  wenn  nicht,  können  sie  fähig  sein,  durch  die  Anwendung 
einer  speziellen  Technik  (Hypnotismus  usw.)  zurückgerufen  zu  werden. 
Dagegen  ,, können  dissoziierte  schlafende  Komplexe,  die  durch  keine 
Mittel  zur  bewußten  Erinnerung  erweckt  werden  können,  als  eine  un- 
abhängige, mitbewußte  Vorstellung  zur  Wirksamkeit  erweckt  werden." 
,,Wenn  der  Begriff.Unbe wüßt  nicht  auf  Mitbewußt  beschränkt  wird, 
entsteht  große  Verwirrung  und  eben  dieser  Verwirrung  unterliegt  die 
Psychopathologie  der  Freud  sehen  und  der  Zürcher  Schule".  Prince 
kritisiert  Freud  und  Jung  lebhaft,  daß  sie  den  Unterschied  zwischen 
mitbewußter  und  unbewußter  Wirksamkeit  so  ,, unbestimmt"  ließen: 
,, Freuds  Theorien  werden  durch  Mängel  sehr  beeinträchtigt,  die  eine 
Folge  seiner  gänzlichen  Vernachlässigung  und  Unvertrautheit  mit  den 
Methoden  und  den  Ergebnissen  der  experimentellen  Psychologie  zu 
sein  scheinen.    Wenn  wir  gesunde  Grundsätze  aufstellen  sollen,  denen 
die  Mechanismen  der  Psyche  unterliegen,  so  müssen  wir  die  Ergebnisse 
aller   Untersuchungsmethoden,   der   experimentellen   so   gut   wie   der 
klinischen,  in  Wechselbeziehung  bringen  und  die  Resultate,  die  von 
allen  kompetenten  Forschern  erhalten  wurden,  gehörig  in  Erwägung 
ziehen."  Seiner  Kritik,  in  der  er  hauptsächlich  Jung  zitiert,  ist  nicht 
leicht  zu  folgen,  besonders  da  er  den  Begriff  ,, Komplex"  in  einem  spe- 
ziellen und, ihm  zugehörigen  Sinne  gebraucht.   Die  Hauptkritik  scheint 
sich  gegen  Freuds  Konzeption  der  Wirksamkeit  des  Unbewußten 
zu  richten.    Prince  behauptet,  daß  Freuds  Tatsachen  ohne  Anrufen 
dieser  Konzeption  auf  zweierlei  Weise  erklärt  werden  können.    Einer- 
seits kann  die  Reizung  eines  unbewußten  Komplexes  (z.  B.  im  Asso- 
ziationsversuche) diesen  veranlassen,  als  eine  mitbewußte  Vorstellung 
zu  wirken,  in  welchem  Falle  keine  unbewußte  und  rein  physiologische 
Gehirntätigkeit  vorliegt,  wie  er  meint,  daß  Freud  es  glaube.  Anderseits 
kann  ein  gegebener  Komplex,  der  gereizt  worden  ist,  zerspalten  worden 
sein,  so  daß  der  Affekt  sekundär  an  eine  indifferente  Vorstellung  ange- 
heftet worden  ist.  So  kann  ein  gegebenes  Reizwort  einen  peinlichen  Affekt 
wachrufen,  nicht  weil  der  zugrunde  liegende  Komplex  zu  wirksamer 


326  Ernest  Jones. 

Tätigkeit  gereizt  wurde,  sondern  weil  der  Affekt,  der  ursprünglich  mit 
dem  Komplex  verknüpft  war,  sekundär  an  eine  assoziierte  Vorstellung 
geheftet  wurde,  die  durch  das  Reizwort  dargestellt  wird;  in  diesem 
Falle  tritt  der  zugrunde  liegende  Komplex  nicht  in  Wirksamkeit  und  ist 
an  der  Äußerung  des  Affektes  nicht  beteiligt,  obgleich  er  historisch 
an  dessen  Genese  beteiligt  gewesen  sein  kann. 

Prince  scheint  die  Tätigkeit  mitbewußter  Vorstellungen  nur  als 
bewiesen  anzunehmen,  wenn  diese  experimentell  demonstriert  werden 
können  und  er  hat  eine  große  Zahl  von  Beispielen  veröffentlicht,  bei 
denen  er  dies  mit  Hilfe  des  automatischen  Schreibens,  der  Kristallo- 
skopie und  anderer  Methoden  getan  hat.  Die  Grundsätze  der  Disso- 
ziation und  des  Automatismus  dissoziierter  Vorstellungen  sind  die 
beiden  Dinge,  worauf  er  in  der  Psychopathologie  (124)  das  meiste 
Gewicht  legt.  Er  hat  jedoch  keinen  der  aktuellen  Mechanismen  erklärt, 
durch  deren  Vermittlung  diese  dissoziierten  Vorstellungen  zur  Wirk- 
samkeit kommen.  Über  den  Gegenstand  der  vielfachen  Persönlichkeit 
hat  er  jüngst  neben  dem  vorher  erwähnten  Buche  (126)  eine  sehr 
interessante  Abhandlung  (128)  geschrieben,  die  die  gewöhnliche  Hysterie 
mit  diesem  Zustande  vergleicht.  Er  betrachtet  alle  Fälle  von  Hysterie 
als  eine  forme  fruste  der  vielfachen  Persönlichkeit  und  betont,  daß 
in  keinem  der  beiden  Fälle  irgendeine  Amnesie  notwendig  vorliegt. 
Die  Abhandlung  enthält  eine  tabellarische  Übersicht  von  zwanzig  der 
best  verzeichneten  Fälle  vielfacher  Persönlichkeit  und  es  wird  gezeigt, 
daß  man  in  einigen  davon  (z.  B.  Feiida  X)  mit  Unrecht  von  dem  neu- 
auftretenden Zustand  dachte,  er  bedeute  die  Entwicklung  einer  neuen, 
höheren  Persönlichkeit,  während  er  in  Wirklichkeit  die  Synthese  zweier 
Hälften  der  Persönlichkeit  bedeutete,  von  denen  die  eine  vorher  seit 
der  Kindheit  im  Zustande  der  Untätigkeit  gewesen  war^). 

Das  erste  Buch  von  Sidis,  Die  Psychologie  der  Suggestion,  1897, 
befaßte  sich  ebenfalls  mit  der  Frage  des  Unterbewußten,  was  er  in 
dem  vierten  früher  gegebenen  Sinne  definiert;  es  enthält  viele  originelle 
und  interessante  Gedanken,  die  jedoch  hier  nicht  in  Betracht  gezogen 
werden  können.  Sein  zweites  Buch,  Psychopathologische  Unter- 
suchungen über  psychische  Dissoziation,  1902,  ist  ein  Bericht  über 
experimentelle  Beobachtungen  an  Amnesien,  Anästhesien,  ,, rückläufige 
psychische  Zustände",  ,,Disaggregation",  motorischen  Automatismen 
usw.;    es  wird  gezeigt,  daß  die  Anfälle  bei  psychischer  Epilepsie  die 

^)  Vgl.  Jung,  Zur  Psychologie  und  Pathologie  sogenannter  okkulter 
Phänomene.  Mutze,  Leipzig,  1902. 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw,       327 

Äußerung  dissoziierter  psychischer  Zustände  sind.  Sidis  hat  jüngst 
eine  Reihe  umfassender  Aufsätze  über  die  Gegenstände  der  Wahr- 
nehnaung  und  Halluzination  beigesteuert.  In  einem  davon  (157) 
behauptet  er,  daß  Vorstellungs-  und  Wahrnehmungsprozesse  in  ihrer 
Natur  von  Grund  aus  verschieden  seien;  eine  Vv^ahrnehmung  unter- 
scheidet sich  von  einem  Bilde  darin,  daß  sie  Intensität  hat,  das  Merk- 
mal der  Gegenständlichkeit  trägt,  unmittelbare  Erfahrung  ist  und 
darin,  daß  ihre  Reproduktion  unabhängig  vom  Willen  ist.  Er  teilt  die 
Elemente  einer  Wahrnehmung  in  zwei,  primäre  und  sekundäre,  Sinnes- 
elemente; die  ersteren  entstehen  aus  der  direkten  Reizung  eines  Sinnes- 
organs von  der  Außenseite  her,  die  letzteren  aus  der  Ausstrahlung 
dieses  physiologischen  Prozesses  auf  andere  Sinnesflächen.  So  sieht 
man,  wenn  man  einen  Tisch  anblickt,  die  Farbe,  Form  usw.  (primäre 
Sinneselemente),  aber  man  sieht  auch  die  Festigkeit,  das  Gewicht  usw. 
(sekundäre  Sinneselemente).  In  dieser  Arbeit  und  in  einer  vorher- 
gehenden (153)  behauptet  er,  daß  Halluzinationen  rein  sinnlich  in 
ihrer  Natur  seien  und  sich  von  normalen  Wahrnehmungen  darin  unter- 
scheiden, daß  die  primären  Sinneselemente  dissoziiert  seien  und  so  vom 
Bewußtsein  nicht  erfaßt  würden,  während  die  sekudären  Sinnes- 
elemente die  Halluzination  bilden;  alle  Halluzinationen  sind  die  Folge 
peripherer  Reize,  die  mit  der  Tendenz  zu  psychischer  Dissoziation  auf 
ein  Subjekt  wirken.  Die  Halluzinationen,  die  in  der  Hypnose  sug- 
geriert werden,  sind  anderseits  nach  Sidis  (155)  von  echten  Hallu- 
zinationen gänzlich  verschieden;  sie  sind  keine  Wahrnehmungen, 
sondern  Bilder  und  sollten  richtiger  Täuschungen  genannt  werden. 
In  einer  andern  Reihe  von  Aufsätzen  (158)  handelt  Sidis  über  den 
Gegenstand  des  Schlafes.  Unter  Einteilung  der  Erklärungen  in  phy- 
siologische, pathologische,  histologische,  psychologische  und  biologische 
tritt  er  nachdrücklich  für  die  letztgenannte  ein  und  stimmt  in  der  Be- 
trachtung des  Schlafes  als  eines  aktiven  Schutzinstinktes  mit  Clapa- 
rede  überein.  Er  berichtet  über  eine  Anzahl  von  Experimenten,  die 
an  niederen  Tieren  (Fröschen,  Meerschweinchen  und  Hunden)  und  an 
Kindern  mit  Hilfe  von  monotoner  Reizung,  Bewegungsbeschränkung 
und  Fernhaltung  äußerer  Eindrücke  ausgeführt  wurden.  Er  sieht  in 
einem  gewissen  halbwachen  Zustande,  den  er  ,,hypnoidar'  nennt, 
den  anfänglichen  biologischen  Zustand,  aus  dem  heraus  sich  beides,. 
Schlaf  und  Hypnose,  später  entwickelt  hat.  Der  Hypnoidalzustand, 
der  von  Bremauds  Faszinationszustand  und  Foreis  Hypo- 
taxie  nicht  verschieden  zu  sein  scheint,  liegt  zwischen  dem  w^achen 


328  Ernest  Jones. 

Zustand  einerseits  und  der  Hypnose  anderseits  in  der  Mitte.  Er  wird 
durch  die  Anwendung  monotoner  Reizung  (z.  B.  den  Schall  eines 
Metronoms)  herbeigeführt,  während  das  Versuchsobjekt  in  einem 
Zustande  der  Erschlaffung  ist  und  ist  ein  unstabiler,  fließender 
Zustand.  Im  Hvpnoidalzustand  entscheidet  es  sich,  ob  Schlaf  oder 
Hypnose  folgen  wird.  Der  Schlaf  unterscheidet  sich  von  der  Hypnose 
wesentlich  darin,  daß  die  psychomotorischen  Schwellen  höher  als 
im  Normalzustande  sind  (d.  h.  psychomotorische  Tätigkeiten  sprechen 
auf  Reize  weniger  an),  während  sie  in  der  Hypnose  niedriger 
sind;  in  dem  Hypnoidalzustand  tritt  eine  Wiederverteiluug  der 
Schwellen  ein. 

Die  jüngste  Arbeit  von  Sidis  über  Psychopathologie  ist  in 
seinem  dritten  Buche  (154)  enthalten  und  in  einer  Reihe  von  Aufsätzen, 
die  ,,  Studien  über  Psychopathologie"  (156)  betitelt  sind.  Er  gebraucht 
eine  sehr  spezielle  Sprache  in  der  Erklärung  davon,  wie  ,, schwindende 
Momente",  ,, rückläufige  psychomotorische  Zustände",  ,, Moment- 
bewußtsein" und  bezieht  sich  auf  mehrere  verschiedene  Zustände  wie 
hypnoid,  hypnoidisch,  hypnoidal,  hypnagogisch,  hypnoleptisch,  hypna- 
pagogisch,  hypnonergisch  usw.  Das  Buch  enthält  eine  wertvolle  Samm- 
lung von  Beispielen  mehrfacher  Persönlichkeit  und  schließt  neben  an- 
deren, persönlich  beobachteten  einen  Bericht  des  berühmten  Falles 
Hanna  ein.  Dies  war  eine  Kranke  mit  tiefer  und  totaler  retrograder 
Amnesie,  sogar  für  die  Bedeutung  alltäglicher  Gegenstände  wie  Nah- 
rungsmittel und  Kleidung,  und  Sidis  gibt  einen  interessanten  Bericht 
über  die  Ordnung,  in  der  die  wieder  zum  Leben  erweckten  Erinnerungen 
aufleuchteten  und  stufenweise  zusammengefügt  wurden.  Dazu  fügt 
er  eine  Anzahl  von  Betrachtungen  über  die  theoretischen  Ansichten 
über  die  Beschaffenheit  und  die  verschiedenen  Arten  der  abnormen 
psychischen  Zustände.  Sidis  hat  eine  große  Erfahrung  im  Studium 
psychischer  Amnesien,  Anästhesien,  Synthesen  und  anderer  Typen 
von  Dissoziation.  Dissoziierte  psychische  Tätigkeiten  begreifen  für  ihn 
einen  großen  Teil  der  Psychopathologie  in  sich,  aber  in  der  Betrachtung 
der  Genese  davon  gibt  er  sich  mit  solchen  Faktoren  wie  psychisches 
Trauma,  Affekt,  Eindruck  usw.  zufrieden ;  die  Wunschseite  der  Phäno- 
mene ist  kaum  in  Betracht  gezogen.  In  ähnlicher  Weise  hat  er  keinen 
der  Mechanismen  aufgedeckt,  durch  die  diese  dissoziierten  Tätigkeiten 
sich  äußern.  Rückläufige  motorische  Zustände  ist  der  Name,  den  er 
den  Symptomen  der  Zwangsneurose  und  der  psychischen  Epilepsie 
gibt;  diese  führt  er  auf  die  Äußerungen  unterbewußter  Tätigkeiten 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.       329 


^o 


zurück  (er  gebraucht  „unterbewußt"  ungefähr  im  selben  Sinne  wie 
Freuds  Unbewußtes). 

Sidis  legt  der  Anwendung  des  Hypnoidalzustandes  große  thera- 
peutische Wichtigkeit  bei  (154,  156,  159).  In  diesem  Zustand  erhält 
der  Kranke  zu  unterbewußten  Erinnerungen  Zugang,  die  auf  andere 
Weise  schwierig  zu  erreichen  sind,  aber  Sidis  behauptet,  daß  das  bloße 
Bewußtmachen  davon  an  sich  unwirksam  sei.  Die  Wirksamkeit  des 
Hypnoidalzustandes  liegt  vielmehr  in  der  dadurch  ermöglichten  Ent- 
bindung einer  Fülle  potentieller  unterbewußter  Energie;  diese  ent- 
bundene Energie  bewerkstelligt  eine  Synthese  der  vorher  dissoziierten 
psychischen  Zustände,  die  nun  an  die  Oberfläche  kommen^). 

In  einer  Arbeit,  die  gemeinsam  mit  Prince  und  Linenthal 
geschrieben  ist  (161),  behandelt  Sidis  die  Pathologie  der  Hysterie 
im  Licht  eines  gegebenen  Falles.  Es  wird,  mit  Janets  Methoden,  ge- 
zeigt, daß  die  hysterische  Anästhesie  in  Wirklichkeit  nur  eine  psychische 
Anästhesie  ist  und  daß  unterbewußt  eine  Hyperästhesie  vorliegt.  Halb 
epileptiforme  Anfälle  wurden  in  der  Hypnose  auf  ihr  erstes  Auftreten 
bei  Gelegenheit  eines  schweren  Schrecks  zurückverfolgt,  obwohl  keine 
Erklärung  darüber  gegeben  wird,  warum  dieses  besondere  Symptom 
daraus  gefolgt  haben  sollte.  Wenn  der  Kranke  sich  zu  erinnern  fähig 
war,  daß  er  in  den  Anfällen  die  schreckhafte  Erfahrung  wieder  durch- 
lebte, hörten  sie  auf.  Man  kommt  zum  Schlüsse,  daß  hysterische  Sym- 
ptome die  Äußerung  der  automatischen  Tätigkeit  einer  unterbewußten 
Gedankengruppe  sind,  wobei  in  diesem  Falle  die  Dissoziation  durch  den 
Schreck  bewerkstelligt  worden  ist.  ,, Dissoziation  und  Automatismus 
sind  die  zwei  grundlegenden  Vorgänge  bei  der  Hysterie." 

Coriat  (24,  28)  berichtet  über  mehrere  Fälle,  bei  denen  er  durch 
experimentelle  Methoden  imstande  gewesen  ist,  die  Erinnerungen,  die 
bei  alkoholischer  Amnesie  und  unter  anderen  Bedingungen  verloren 
gegangen  waren,  wieder  zu  bringen ;  bei  der  Erörterung  des  Mechanismus 
der  Amnesie  zieht  er  den  Prozeß  der  Verdrängung  nicht  in  Betracht. 
Verrall  (169)  hat  einen  ausgezeichneten  Bericht  über  automatisches 
Schreiben,  das  sich  in  ihr  selbst  entwickelt  hatte,  gegeben.  In  einer 
Anzahl  von  Aufsätzen  (80,  86,  89)  erörtere  ich  die  Pathologie  der 
Dyschirie  im  allgemeinen  und  d^r  Allochirie  im  besonderen.  Bei  der 
gewöhnlichen  Form  der  hysterischen  Anästhesie  werden  nur  die  neu 
eintreffenden  Empfindungen  dissoziiert,  bei  der  selteneren  Form  (De- 

^)  Vgl.  die  Arbeit  von  Bezzola,  die  in  diesem  Bande  des  Jahrbuches 
referiert  ist. 


330  Emest  Jones. 

personalisation)  kommt  eine  Amnesie  für  die  früheren  Erinnerungen 
an  den  fraglichen  Körperteil  dazu.  Wenn  die  letzteren  und  nicht  die 
ersteren  dissoziiert  sind,  ein  seltenes  Vorkommnis,  das  ich  ,, paradoxen 
Typus  von  Spaltung"  nenne,  so  entsteht  Dyschirie,  zuerst  in  ihrer 
einfachsten  Form,  der  Achirie.  Empfindungen,  die  durch  Reizung  eines 
solchen  Teiles  wachgerufen  werden,  haben  sechs  charakteristische 
Merkmale,  die  ich  unter  den  Begriff  ,,phriktopathisch"  gruppiere  (83). 
Allochirie  ist  ein  sekundäres  Ergebnis ;  es  wird  eine  teleologische  Hypo- 
these aufgestellt,  die  ihr  Vorkommen  als  eine  irrtümliche  Assoziation 
erklärt,  die  der  Funktion  dient,  die  verlorenen  Körpererinnerungen 
wieder  zu  befähigen,  vom  Bewußtsein  erfaßt  zu  werden.  Es  wird  über 
eine  detaillierte  Untersuchung  zweier  Fälle  berichtet  (86),  von  der 
anzunehmen  ist,  daß  sie  Janets  „Bildhypothese"  der  Allochirie 
widerlegt. 

Mehrere  Autoren  haben  die  Pathologie  der  Hysterie  erörtert. 
Wood  man  (191)  erklärt  Janets  Ansichten  im  Lichte  von  sechsund- 
zwandzig  persönlich  verzeichneten  Fällen.  W^iliiams  (175,  176,  179, 
180,  183,  184,  187,  189)  ist  ein  eifriger  Anhänger  von  Babinskis  An- 
sichten und  hat  sie  in  einer  Anzahl  kurzer  Aufsätze  erklärt.  Mills  (108) 
tritt  für  viele  von  Babinskis  Ansichten  ein,  die  er  als  sehr  fruchtbar 
betrachtet,  denkt  aber  nicht,  daß  sie  Ja  nets  Dissoziationstheorie  wider- 
sprechen. Er  hält  dafür,  daß  physisches  Trauma  und  Gemütserregung 
so  gut  wie  Suggestion  wirksam  sind  und  glaubt,  daß  vasomotorische 
Symptome  aus  der  Hysterie  hervorgehen  können,  wie  es  Edgeworth 
tut  (51).  Der  cum  (37)  bestreitet  Babinskis  Ansichten  durchaus 
und  erklärt  die  Hysterie  auf  seine  eigene  hier  nicht  näher  zu  behandelnde 
Weise.  Dana  (34)  betrachtet  die  hysterischen  Symptome  als  Anzeichen 
einer  „Abnutzung  der  psychischen  Maschinerie,  eine  Folge  einiger 
Stoffwechselzelldegenerationen,  die  durch  einen  teratologischen  Defekt 
hervorgebracht  werden."  Savill  (147),  der  in  London  die  führende 
Autorität  auf  dem  Gebiete  der  Psychoneurosen  ist,  hält  daran  fest,  daß 
die  Hysterie  eine  Krankheit  des  sympathischen  Nervensystems  sei(  !)i). 

Zu  einer  neuen  Klassifikation  der  Psychoneurosen  sind 
mehrere  Versuche  gemacht  worden.  Dana  (33)  beschränkt  den  Aus- 
druck Hysterie  auf  die  schweren  Fälle  mit  ausgesprochenen  körper- 
lichen Symptomen  und  teilt  die  Psychoneurosen  ein  in  1.  Neurasthenie, 
2.  abortive  Fälle  der  größeren  Psychosen  (z.  B.  manisch-depressives 
Irresein),     3.   Phrenasthenie,   die   einschließt    a)   die  große  Hysterie, 

^)  Das  Ausrufungszeichen  ist  Anmerkung  der  Redaktion. 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.       331 

b)  hypochondrische  Psychasthenie  (gewöhnlich  als  Hysterie  diagno- 
stiziert), c)  obsessive  Psychasthenie.  Dercum  (37)  teilt  sie  in  1.  Neur- 
asthenie, 2.  neurasthenoide  Zustände,  3.  symptomatische  Neur- 
asthenie, 4.  Hysterie,  5.  Hypochondrie.  Walton  (171)  gruppiert 
alle  Fälle  von  Tic,  Hypochondrie,  Neurasthenie,  kleiner  Hysterie, 
folie  du  doute  und  milden  manisch-depressiven  Richtungen  unter  den 
Begriff  ,, obsessive  Psychose",  indem  er  das  Obsessionsmerkmal  als  das 
zugrunde  liegende  auffaßt. 

Auf  die  psychische  Seite  der  Neurasthenie  wird  Gewicht  ge- 
legt von  Donley  (44),  Drummond  (49),  Lane  (91),  J.  K.  Mitchell 
(110)  und  anderen;  Lane  zieht  in  Betracht,  daß  irgendeine  depressive 
Gemütsbewegung  und  nicht  Überarbeitung  die  Ursache  der  Neur- 
asthenie sei.  Savill  (145)  schreibt  die  Neurasthenie  Toxinen  zu,  die  von 
den  Zähnen  und  den  Eingeweiden  absorbiert  wurden  (!)^).  Courtney 
(31)  betrachtet  die  Psychasthenie  als  eine  forme  fruste  von  petit 
mal(!)i)  nahe  verwandt  der  Epilepsie.  Es  braucht  kaum  gesagt  zu 
werden,  daß  auf  die  sexuelle  Genese  von  keinem  Autor  Bezug  genommen 
wird.  Booth  (8)  behauptet,  daß  der  Coitus  interruptus  eine  wichtige 
Ursache  der  Psychoneurosen  sei,  aber  er  zeichnet  kein  klares  Bild  von 
den  resultierenden  Symptomen. 

Die  erste  von  Adolf  Meyers  Arbeiten,  auf  die  verwiesen  ist  (99), 
ist  ein  langes  und  sympathisch  gehaltenes  Referat  über  Bleulers 
Affektivität,  Suggestibilität  und  Paranoia;  er  tritt  einer  irgend  über- 
dogmatischen Trennung  der  affektiven  und  intellektuellen  Funktionen 
entgegen.  In  dieser  wie  in  seinen  anderen  Arbeiten  benützt  Meyer 
seinen  Einfluß  kräftig  und  nachhaltig  zur  Unterstützung  der  Wichtig- 
keit des  psychogenetischen  Gesichtspunktes.  Zwei  Umstände 
jedoch  machen  es  schwierig,  über  seine  Arbeiten  zu  referieren  oder  eine 
richtige  Würdigung  ihrer  Bedeutung  zu  geben:  erstens,  weil  er  seinen 
Einfluß  hauptsächlich  im  persönlichen  Lehren  oder  in  Diskussionen 
bei  Versammlungen  ausgeübt  hat,  und  zweitens,  weil  seine  Veröffent- 
lichungen über  den  Gegenstand  keine  Einzelarbeiten  in  sich  begreifen, 
sondern  entweder  in  Bemerkungen  über  verschiedene  deutsche  Arbeiten 
in  der  Form  eines  Referates  zusammengefaßt  sind  oder  in  abgekürzten 
Berichten  von  Vorträgen,  die  er  auf  Versammlungen  hielt.  Seine 
Arbeiten  sind  in  ihrem  Charakter  sehr  allgemein  und  befassen  sich  nicht 
technisch  mit  konkreten  Mechanismen  der  Psychogenese.  Wer  also 
nur  von  seinen  Publikationen  wüßte,  wäre  einer  Unterschätzung  der 
Wichtigkeit  seines  Einflusses  ausgesetzt.  Die  Hauptsätze,  die  er  ent- 


332  Eruest  Jones. 

wickelt,  sagen:  daß  es  von  größter  Bedeutung  ist,  einen  allgemein 
biologischen  Standpunkt,  besonders  im  Gegensatze  zu 
dem  histologischen,  anzunehmen  und  abnormePhänomene 
als  verschiedene  Formen  der  Reaktion  auf  die  Umgebung 
zu  beurteilen.  Indem  er  von  der  Dementia  praecox  spricht, 
sagt  er:  ,,Die  Symptome  erscheinen  als  vollkommen  natürliche  Folgen 
nicht  von  abstrakten  und  ganz  unbewiesenen  annehmbar  gemachten 
Autointoxikationen  oder  nur  durch  Fragmente  histologischer  Kenntnis, 
sondern  von  Funktionsgewohnheiten  und  psychischer  Tätigkeit,  die 
zum  Teil  eine  Aussicht  auf  Korrektur  offenlassen.  —  Das  allgemeine 
Prinzip  ist,  daß  viele  Individuen  nicht  imstande  sind,  auf  unbegrenzte 
Elastizität  im  gewöhnlichen  Gebrauche  gewisser  Gewohnheiten  der 
Ausgleichung  zu  rechnen;  diese  Instinkte  werden  durch  andauernde 
falsche  Anwendung  untergraben  und  die  feine  Balance  der  psychischen 
Ausgleichung  und  ihres  materiellen  Substrates  muß  in  umfassender 
Weise  von  einer  Aufrechterhaltung  eines  gesunden  Instinktes  und 
Reaktionstypus  abhängen.  —  Zuerst  besteht  vielleicht  nur  ein  Übermaß 
stellvertretender  Reaktionen,  wie  sie  auch  beim  Normalen  vorkommen, 
ein  Ausweichen,  zerstreutes  und  verwirrtes  Hinweggehen  über  die 
Schwierigkeiten,  Geheimtuerei,  anstatt  einer  freien  Ventilation  und 
Korrektur  durch  Anschluß  an  die  Tätigkeiten  des  Normalen  eine  Ge- 
wohnheit von  sich  selbst  entschuldigender  Sorglosigkeit  und  Mangel 
an  Bestimmtheit  durch  hypochondrische  Klagen  über  oder  Bekritteln 
an  anderen,  oder  die  Gewohnheit,  über  Schwierigkeiten  durch  phan- 
tastische Gedanken,  oder  bloßes  Beten  oder  Nachsinnen  oder  andere 
Hilfsmittel  hinwegzukommen,  die  in  der  Regel  allmählich  über  ein 
individuelles  Mißgeschick  hinweghelfen,  usw.''  Er  stimmt  in  den 
Schlüssen  mit  Bleuler  überein  (105),  der  sich,  wie  er  sagt,  in  der  Be- 
trachtung der  Paralyse  als  des  obligaten  Paradigmas  der  Psychosen 
mitKräpelin  einverstanden  erklärt;  dieÄtiologie  der  Dementia  praecox 
faßt  er  als  einen  Konflikt  der  Instinkte  und  Gewohnheiten  zusammen. 
Er  legt  in  der  Psychopathologie  besonderes  Gewicht  auf  ,, abnorme 
Wege  in  der  Befassung  mit  den  Verhältnissen  des  Lebens  und 
auf  die  Tendenz  zu  falschen  Ausgleichungen"  und  beschreibt  (105) 
sechs  Reaktionstypen  von  Störung:  1.  Die  Reaktionen  organischer 
Störungen,  2.  delirante  Zustände  mit  traumähnlichen,  phanta- 
stischen Erlebnissen,  Halluzinationen,  besonders  des  Gesichts,  mit 
mangelhafter  Orientierung,  3.  die  wesentlich  affektiven  Reaktionen, 
4.    paranoische   Entwicklungen,     in    sechs    Graden,     5.    substitutive 


Beriebt  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.       333 

Störungen  vom  Typus   der  Hysterie  und  Psycliasthenie,    6.  Defekt- 
und  Entartungstypen, 

Macfie  Campbell,  ein  Assistent  Meyers,  hat  Meyers  An- 
sichten über  die  Dementia  praecox  in  einer  sehr  klaren  Arbeit  (15)  dar- 
gestellt und  gibt  einen  Bericht  über  fünf  Fälle;  die  Psychose  ist  ,,der 
Höhepunkt  einer  langanhaltenden  Periode  von  ungesunden  biologischen 
Ausgleichungen  bei  Individuen,  die  konstitutionell  geneigt  sind,  ihren 
Schwierigkeiten  in  einer  inadäquaten  Weise  zu  begegnen."  August 
Hoch  (67,  68)  legt  ebenfalls  großes  Gewicht  auf  die  Psychogenese  in 
den  Psychosen;  zur  Dementia  praecox  (69)  teilt  er  mit,  daß  er  in  50% 
der  Fälle  ein  klares  Hervortreten  einer  besonderen  ,,Abgesperrtheit" 
in  den  persönlichen  Eeaktionen  vor  dem  Ausbruche  der  Krankheit 
gefunden  habe.  Ricksher  (141)  hat  Sterns  Aussagemethoden  bei 
Dementia  praecox  angewandt  und  findet,  daß  die  Fähigkeit,  die  Reize 
zu  reproduzieren,  direkt  von  der  Fähigkeit,  die  Aufmerksamkeit  zu 
konzentrieren,  abhängt. 

Campbell  (15),  Donley  (46),  Hart  (62),  Meyer  (99,  103,  104, 
105)  und  Putnam  (136)  behandeln  die  Beziehung  ^philosophischer 
Konzeptionen  zur  Psychiatrie.  Meyer  (104)  definiert  die  Seele 
als  ,,ein  zureichend  organisiertes  Leben,  das  in  Tätigkeit  ist".  Harts 
Arbeit  ist  besonders  klar  und  eindringend.  Er  entwickelt  den  Standpunkt, 
der  von  Ostwald,  Mach  und  besonders  Karl  Pearson  vertreten 
wird,  und  unterscheidet  klar  zwischen  den  empirischen  Konzeptionen 
des  wissenschaftlichen  Idealismus  und  den  absoluten  Ansichten  ver- 
schiedener metaphysischer  Schulen.  Seine  Bemerkungen  über  die 
praktische  Anwendung  dieser  Prinzipien  auf  die  Forschungsprobieme 
in  der  Psychiatrie  und  seine  Kritik  der  materialistischen  Ansichten, 
die  in  psychiatrischen  Kreisen  im  Umlaufe  sind,  verdienen  besonders 
gelesen  zu  werden. 

IV.  Psychoanalyse. 

In  der  englischen  Literatur  habe  ich  nur  eine  Erwähnung  von 
Freuds  Arbeiten  und  keine  von  denen  Jungs  finden  können;  in 
Amerika  anderseits  ist  eine  beträchtliche  Anzahl  von  Arbeiten  über  den 
Gegenstand  erschienen.  Die  Psychoanalyse  wird  in  den  meisten  Arbeiten 
über  Psychotherapie  erörtert,  obwohl  sie  in  zwei  neuen,  ausführlichen 
Referaten  über  den  Gegenstand,  von  Mills  (106)  und  Münsterberg 
(112),  nicht  erwähnt  wird.  Die  Arbeiten  können  in  drei  Gruppen  geteilt 
werden,  je  nachdem  sie  Freuds  Ansichten  unterstützen,  oder  bei  der 


334  Ernest  Jones. 

eingenommenen  Haltung  ihr  Urteil  aufschieben  oder  indifferent  sind 
oder  ihnen  entgegenstehen. 

Zur  ersten  dieser  Gruppen  gehören  A.  A.  Brill  und  Verfasser. 
Vier  Arbeiten,  die  Freuds  Ansichten  erklären,  sind  veröffentlicht 
worden,  eine  von  Brill  (12)  und  drei  vom  Verfasser  (84,  88,  90);  sie 
enthalten  nichts,  was  den  Lesern  des  Jahrbuches  nicht  vertraut  wäre. 
In  einer  Arbeit  über  die  Psychopathologie  des  Alltagslebens  (11)  ver- 
zeichnet Brill  eine  interessante  Sammlung  von  einigen  zwanzig  Bei- 
spielen, die  Freudsche  Prinzipien  erläutern.  Eines  davon  möge  an- 
geführt sein:  Während  Brill  an  einen  Kranken  dachte,  für  den  er  sich 
sehr  interessiert  und  auf  dessen  Fall  er  einen  großen  Teil  seiner  Zeit  ver- 
wandt hatte,  fand  er  sich  nicht  imstande,  sich  an  des  Kranken  Namen 
zu  erinnern  und  er  beschloß,  eine  Selbstanalyse  zu  machen.  Der  Fall 
war  ungewöhnlich  und  nachdem  er  sich  sehr  dabei  angestrengt  hatte, 
schrieb  er  für  die  Veröffentlichung  einen  Bericht  davon.  Gerade  als 
dieser  fertig  war,  teilte  ihm  sein  Chef  mit,  daß  er  selbst  den  Fall  bei 
einer  Versammlung  öffentlich  bekannt  zu  machen  wünsche,  was  er  zu 
Brills  großem  Verdrusse  tat;  der  Chef  war  jedoch  im  letzten  Augen- 
blick verhindert,  den  Vortrag  persönlich  zu  halten.  In  einer  fünf- 
stündigen Analyse  füllte  Brill  über  zwei  Dutzend  Seiten  mit  der  Auf- 
zeichnung der  freien  Assoziationen,  die  ihm,  jedoch  zuerst  vergebens, 
kamen.  Er  bemerkte  dann,  daß  zwei  Gedanken,  die  anscheinend  nicht 
mit  dem  Gegenstande  verknüpft  waren,  ihm  immer  wiederkamen. 
Der  erste,  der  ihm  achtundzwanzigmal  öfter  als  irgendein  anderer  wieder- 
kam, war  eine  lebhafte  Erinnerung  einer  aktuellen  Szene,  in  der  sein 
Chef  auf  ein  Kaninchen  (,,rabbit")  geschossen,  es  aber  gefehlt  hatte. 
Während  er  über  diese  Erinnerung  nachdachte,  tauchte  der  Namen 
des  Kranken,  der  gesucht  wurde,  plötzlich  auf;  er  war  Lapin  (Kanin- 
chen). Die  Szene  hatte  das  Mißlingen  seines  Chefs  beim  ,, Schießen 
des  Kaninchens"  symbolisch  ausgedrückt.  Der  andere  Gedanke,  der 
immer  wiederkam,  war  der  Name  eines  andern  Kranken  Appen- 
zeller, der  an  derselben  Krankheit  wie  der  erste  litt  und  der  erste  Teil 
von  dessen  Namen  phonetisch  nahe  an  das  französische  Wort  Lapin 
erinnert.  In  einem  kurzen  Vortrage  (82),  der  auf  dem  Salzburger  Kon- 
gresse (1908)1)  gehalten  wurde,  gibt  Verfasser  einen  Bericht  über  die 
Mechanismen  der  Rationalisierung  und  der  ,, Ausflucht",  wodurch 
eine  Person  eine  plausible  Erklärung  für  eine  gegebene  Meinung  oder 
Tätigkeit  erfindet,  die  in  Wirklichkeit  durch  irgendeinen  unbewußten 

^)  Private  Zusammenkunft  der  Anhänger  der  Freudschen  Lehre. 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.       335 

Vorgang  determiniert  wurde.  Über  vier  Fälle  sind  psychoanalytische 
Berichte  veröffentlicht  worden,  zwei  von  Brill  (9,  10)  und  zwei  vom 
Verfasser  (85,  87).  Brills  Fälle  waren  solche  von  Dementia  praecox, 
die  im  Burghölzli  untersucht  worden  waren;  die  anderen  zwei  waren 
resp.  Hysterie  mit  vollständigem  Verluste  der  persönlichen  Erinnerungen 
und  manisch-depressives  Irresein.  Aus  einleuchtenden  Gründen  ist  es 
unmöglich,  sie  hier  zu  beschreiben. 

In  die  zweite  Gruppe  können  fünf  Arbeiten  gerechnet  werden. 
Diese  begreifen  einen  kurzen  Bericht  von  Co  Hins  (21)  über  psycho- 
analytische Behandlung  in  sich,  worin  keine  Meinung  über  ihre  Vor- 
züge ausgedrückt  ist,  einen  allgemeinen  Bericht  über  Komplexe  von 
White  (173),  eine  Arbeit  von  Petersen  (122),  worin  eine  Seite  für 
die  Beschreibung  von  Freuds  Ansichten  über  Psychoanalyse,  Träume, 
Geistesstörung  und  Alltagsleben  gegeben  ist,  und  zwei  Arbeiten  von 
Putnam  (135)  beziehungsweise  von  Linenthal  und  Taylor  (94), 
worin  ein  Bericht  über  Versuche,  die  Psychoanalyse  anzuwenden,  ge- 
geben wird.  Die  letzteren  zwei  Arbeiten  sympathisieren  im  ganzen  und 
es  werden  mehrere  Fälle  verzeichnet,  in  denen  jedoch  die  Psychoanalyse 
von  einer  sehr  elementaren  Art  ist. 

Die  dritte  Gruppe  ist  die  größte.  Die  Berichte,  die  über  die  Psycho- 
analyse gegeben  werden,  sind  sehr  kurz,  nehmen  gewöhnlich  weniger 
als  eine  Seite  ein  und  sind  oft  entstellt,  wie  z.  B.  in  Colli  ns  Arbeit  (21), 
wo  gesagt  wird,  Freud  (dort  durchweg  Freund  genannt)  stütze  sich 
auf  den  Hypnotismus,  oder  in  der  Scotts  (150),  wo  gesagt  wird,  daß  ,,die 
normale  Reaktion  einer  Gemütsbewegung  in  willkürliche  Abwehr- 
bewegungen konvertiert  sei,  die  dann  noch  als  Tics  vorhanden  seien'". 
Die  gegnerischen  Kritiken  sind  selten  in  persönlichem  Tone  geschrieben 
und  sind  offensichtlich  auf  Unwissenheit  über  den  Gegenstand  ge- 
gründet. Princes  Kritik  der  Ansichten  Freuds  über  das  Unbewußte 
sind  früher  erwähnt  worden;  er  bestreitet  (131),  daß  die  therapeutischen 
Erfolge  der  Psychoanalyse  dem  Bewußtmachen  unterdrückter  psychi- 
scher Prozesse  zu  verdanken  seien,  denn  ,,wenn  auch  nichts  dazu 
getan  wäre,  würde  der  Kranke  sie  doch  nicht  ertragen  und  sie  wieder 
ausstoßen".  Die  Erfolge  sind  der  allgemeinen  Re-Edukation,  der  Ein- 
führung neuer  Ideen  und  Gefühle  in  die  Komplexe  zu  verdanken. 
Pierce  Clark  (19)  sagt:  ,,Freuds  Methode  ist  von  großem  Vorteil 
bei  Hysterischen,  aber  sie  ist  bei  den  allgemeinen  Störungen  der  klei- 
neren Neurosen  nicht  ausgedehnt  verwendbar,  bis  die  sexuelle  Idee 
eliminiert  ist."   Allen  (1)  faßt  in  genau  denselben  Worten  zusammen. 


336  Ernest  Jones. 

die  offensichtlich  von  Clark  entlehnt  sind;  bei  der  Beschreibung  der 
Methode  erklärt  er,  „der  Arzt  sollte  ein  Mann  von  Moralität,  gleichwohl 
(sie)  ein  Mann  von  Welt  sein".  Coiirtney  (32)  sagt,  Freud  habe  eine 
idee  fixe  über  den  Gegenstand  der  Sexualität;  er  fügt  hinzu:  ,,Die 
Theorie  paßt  nur  auf  einen  gewissen  ungesunden  Typus,  bei  dem  irgend- 
ein ungewöhnliches  Ereignis  in  der  Sexualsphäre  zu  Hysterie  führen 
kann.  Es  gibt  äußerst  wenig  Fälle,  bei  denen  nicht  Erziehung  und 
Umgebung,  verbunden  mit  des  Individuums  eigener  Kraft  der  Hemmung, 
einen  vor  den  Gefahren  schützen,  die  die  ,, Entäußerung"  des  Instinktes 
in  einigen  seiner  Formen  begleiten  können."  Edes  (50)  sagt:  ,, Freuds 
Methode  führe  einen  Zustand  vertrauender  Zuversicht  herbei,  der 
durch  lange  fortgesetztes  und  sorgfältiges  Fragen  hervorgerufen  werde. 
Dieses  weitläufige  Fragen  hat  die  fast  sichere  Folge,  Vorstellungen 
von  eben  der  Art  einzupflanzen  und  lebendig  zu  machen,  von  denen  es 
wünschenswert  ist,  sie  los  zu  werden."  Schwab  (149)  sagt,  die  Freud- 
sche  Behandlung  sei  nutzlos,  weil  es  zweifelhaft  sei,  ob  es  so  etwas  wie 
unterbewußte  Tätigkeit  gebe.  Die  ungereimtesten  Kritiken  sind  jedoch 
die  von  Dercum  (38),  Savill  (147)  und  Scott  (150). 

Jungs  Arbeiten  sind  in  Amerika  weiterhin  bekannt  als  die 
Freuds  und  allgemeiner  akzeptiert;  es  findet  sich  sozusagen  keine 
Gegenkritik.  Unter  den  günstigen  Referaten  darüber  mögen  erwähnt 
sein  die  von  Meyer  (Psychol.  Bull.  1905,  p.  241;  1906,  p.  275;  1907, 
p.  196;  1908,  p.  273),  Kirby  (do.  1907,  p.  197;  1908,  p.  270),  Hoch 
(J.  Ab.  P.  Juni  1906,  p.  95),  Coriat  (do.  Juni  1908,  p.  137),  Kar  pas 
(do.  Dez.  1908,  p.  366),  Hart  ( Journ.  of  Ment.  Sc.  1908).  Die  Arbeiten 
von  Bleuler,  Riklin,  Wehrlin  und  Binswanger  sind  hier  ebenfalls 
inbegriffen.  Demonstrationen  und  Erläuterungen  seiner  Assoziations- 
methode sind  veröffentlicht  worden  von  Baile  y  (4),  Henke  und  Eddy 
(65),  Scripture(151),  Town(168)  undYerkesundBerry(191),  die 
alle  seine  Resultate  und  Schlüsse  bestätigen.  Peterson  (119,  120) 
hat,  in  beiden  unabhängig  und  in  Verbindung  mit  Script ure  (123) 
Erläuterungen  zur  psychogalvanischen  Methode  gegeben.  Prince 
und  Peterson  (129,  133)  haben  diese  Methode  angewandt,  um  die 
Existenz  mitbewußter  Vorstellungen  zu  beweisen.  Sidisund  Kalmus 
(160)  haben  in  zwei  Arbeiten,  die  sich  anfänglich  nicht  mit  psycho- 
gischen  Problemen  befaßten,  einen  Bericht  über  Experimente  gegeben, 
die  nach  ihrer  Behauptung  zeigen,  daß  der  psycho-galvanische  Reflex 
nicht  die  Folge  irgendeiner  Änderung  im  Körperwiderstand  ist,  sondern 
von  unabhängigen  Strömen,  die  durch  die  affektive  Störung  entstehen; 


I 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.      337 

Prince  (130)  akzeptiert  ihre  Resultate.  Coriat  (29)  findet,  daß  die 
affektiven  Störungen  bei  der  Assoziationstätigkeit  leichter  durch  ein 
Anwachsen  der  Pulsfrequenz  entdeckt  würden,  die  am  besten  beobachtet 
würde,  während  der  Kranke  im  Hypnoidalzustande  sei. 

Im  ganzen  ist  die  Freudsche  Bewegung  in  Amerika  in  einem 
hoffnungsvollen  Stadium,  Mehrere  hervorragende  Autoritäten  haben 
Freuds  Ansichten  sozusagen  in  ihrer  Gesamtheit  akzeptiert,  obwohl 
sie  bis  jetzt  noch  keine  Arbeiten  in  diesem  Sinne  publiziert  haben; 
unter  diesen  mögen  erw^ähnt  sein  Stanley  Hall  (Präsident  der  Clark 
University),  Hart  (Long  Grove  Asylum,  London),  Adolf  Meyer  (Pro- 
fessor der  Psychiatrie,  Johns  Hopkins  University),  Put  na  m  (Professor 
der  Neurologie,  Harvard  University)  und  August  Hoch  (Direktor 
des  pathologischen  Institutes,  New  York).  Zwei  Ereignisse  des  ver- 
gangenen Halbjahres  werden  in  dieser  Richtung  hoffentlich  beitragen, 
nämlich  die  Vorlesungen,  die  Freud  und  Jung  an  der  Clark  Uni- 
versity, Worcester,  Mass.,  hielten  und  die  Veröffentlichung  einiger 
gesammelter  Schriften  Freuds  und  von  Jungs  Psychologie  der 
Dementia  praecox,  in  Übersetzungen  von  Brill.  Es  ist  daher  jetzt 
schon  zu  erwarten,  daß  das  nächste  Jahr  einen  beträchtlichen  Fort- 
schritt in  der  Bewegung  bringen  wird. 


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11.  Ibid.  A  Contribution   to   tbe  Psycbopathology  of  Everyday  Life. 

Psycho-tberapy.  1909.  Art.  IX. 

12.  Ibid.  Freud's  Conception  of  tbe  Psycbo-neuroses.  N.  Y.  Academy  of 

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M.  S.,  Feb.  1908.  P.  168. 

22.  Ibid.  Psycbastbenia.  N.  Y.  M.  J.  Feb.  15,  1908.  P.  297. 

23.  Ibid.  Tbe  General  Practioner  and  functional  nervous  Diseases.  J.  A. 

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24.  Coriat.  Tbe  experimental  Syntbesis  of  tbe  dissociated  Memories  in 

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26.  Ibid.  Tbe  Lowell  Gase  of  Amnesia.  J.  Ab.  P.  Aug.  1907.  P.  93. 

27.  Ibid.   Some  furtber  Studies  on  nocturnal  Paralysis.  Dec.  5,   1907. 

P.  751. 

28.  Ibid.  Tbe  Mecbanism  of  Amnesia.  J.  Ab.  P.  April  1909.  P.  1.  Aug. 

P.  236. 

29.  Ibid.  Gertain  Pulse  Reactions  as  aMeasure  of  tbe  Emotions."  J.  Ab.  P. 

Oct.  1909.  P.  261. 

30.  Courtney.  On  tbe  clinical  Differentiation  of  tbe  various  Forms  of 

ambulatory  Automatism.   J.  Ab.  P.  Aug.  1906.  P.  123. 

31.  Ibid.   Psycbastbenia:  its   Semeiology  and  nosologic   Status  among 

mental  Disorders.  J.  A.  M.  A.  Feb.  29,  1908.  P.  665. 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.       339 

32.  Ibid.  The  Genesis  and  Nature  of  Hysteria.  A  Conflict  of  Theory. 

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33.  Dana.  The  Limitation  of  Hysteria.  Amer.  Neur.  Assoc.  June  1906. 

J.  N.  M.  D.  Nov.  P.  717. 

34.  Ibid.  The  Limitation  of  the  Term  Hysteria,  with  a  Consideration  of 

the  Nature  of  Hysteria  and  certain  allied  Psychoses.  J.  Ab.  P.  Feb. 

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35.  Ibid.  Psychotherapy.  J.  N.  M.  D.  June  1908.  P.  389. 

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38.  Ibid.  An  Aualysisof  psychotherapeuticMethods.  Therap.  Gaz.  May  15, 

1908.  P.  305. 

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41.  Diller  and  Wright.  A  Study  of  hysterical  Insanity  with  an  especial 

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Gases.  Amer.  Neur.  Assoc.  May  1908.  J.  N.  M.  D.  Jan.  1909.  P.  25. 

42.  Ibid.  The   differential   Diagnosis   between   hysterical  Insanity   and 

Dementia  praecox ;  with  Report  of  an  illustrative  Gase  of  hysterical 
Insanity.  A.  J.  I.  Oct.  1909.  P.  253. 

43.  Donley.  Three  Gases  of  Association  Neuroses,   with  Remarks  on  its 

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44.  Ibid.  On  Neurasthenia  as  a  Disintegration  of  Personality.  J.  Ab.  P. 

June  1906.  P.  55. 

45.  Ibid.    A  further  Study  of  association  Neuroses.  J.  Ab.  P.  Jime  1907. 

P.  45. 

46.  Ibid.  Neurasthenia.  Its  Relation  to  Personality.  N.  Y.  M.  J.  Dec.  28, 

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47.  Ibid.  The  clinical  Use  of  Hypnoidization  in  the  Treatment  of  some 

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48.  Ibid.  Obsessions  andassociatedGonditions  in  so-calledPsychasthenia. 

J.  Ab.  P.  June  1909.  P.  171. 

49.  Drummond.  The  mental  Origin  of  Neurasthenia.  B.  M.  J.  Dec.  28, 

1907.  P.  1813. 

50.  Edes.  The  present  Relations  of  Psychotherapy.  J.  A.  M.  A.  Jan.  9, 

1909.  P.  92. 

51.  Edgeworth.  On  hysterical  paroxysmal  Oedema.    Quarterly  Journ. 

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J.  Ab.  P.  Aug.  1909.  P.  201. 

54.  Frost,  Hysterical  Insanity  —  Report  of  a  Gase  presenting  Ganser's 

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55.  Ibid.  Neurasthenie  and  psychasthenic  Psychoses.    A.  J.  I.  Oct.  1909. 

P.  259. 

22* 


340  Ernest  Jones. 

56.  Gaver.  A  Gase  of  alternating  Personality  characterized  chiefly  by 

ambulatory  Automatism  and  Amnesia,  with  Results  of  hypnotic 
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58.  Ibid.  Hysteria:    Nature  of  tbe  Malady.    N.  Y.  M.  J.  Aug.  10,  1907. 

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80.  Ibid.  The  Precise  Diagnostic  Value  of  AUochiria.  Brain.  Vol.  XXX. 

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Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.       341 

81.  Ibid.  The  Side äff ected by  hysterical Hemiplegia.  Rev.  neurol.  Mar.  15, 

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82.  Ibid.  Rationalisation  in  Everyday  Lue.  J.  Ab.  P.  Aug.  1908.  P.  161. 

83.  Ibid.  The  Significance  of  Phrictopathic  Sensation.  J.  N.  M.  D.  July 

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100.  Ibid.  Fundamental   Gonceptions   of   Dementia   praecox.   B.  M.  J. 

Sept.  29,  1906.  P.  757. 

101.  Ibid.    Fundamental  Gonceptions  of  Dementia  praecox.  N.  Y.  Neur. 

Soc.  Oct.  2,  1906.  J.  N.  M.  D.  May  1907.  P.  331.  Disc. 

102.  Ibid.  The  Relation  of  psychogenic  Disorders  to  Deterioration.  Boston 

Soc.  of  Psychiatry.  Nov.  15.  1906.  J.  N.  M.  D.  June  1907.  P.  401. 
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103.  Ibid.  Misconceptions  at  the  Bottom  of  ,,Hopelessness  of  all  Psycho- 

logy".  Psychol.  Bull.  June  1907.  P.  170. 

104.  Ibid.  The  Role  of  the  mental  Factors  in  Psychiatry.  A.  J.  I.  July 

1908.  P.  39.  Disc. 


342  Ernest  Jones. 

105.  Ibid.  The  Problems  of  mental  Reaction-t}^es,  mental  Causes,  and 

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107.  Ibid.   The   differential   Diagnosis    of   grave   Hysteria    and    organic 

Disease  of  the  Brain  and  spinal  Cord,  especially  Disease  of  the  pa- 
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110.  Ibid.  Diagnosis  and  Treatment  of  Neurasthenia.  Bull,  of  the  Johns 

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111.  Weir  Mitchell.  Motor  Ataxy  from  Emotion.   Philad.   Neur.    Soc. 

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113.  Oettinger.     A    Gase   of   recurrent   autohypnotic    Sleep,   hysterical 

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114.  Onuf.   Spasm  of  the  Apparatur  of  binocular  Fixation  and  super- 

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their  Pathogenesis.  J.  Ab.  P.  Oct.  1907.  P.  155. 

115.  Packard.  The  Feeling  of  Unreality.  J.  Ab.  P.  June  1906.  P.  69. 

116.  Parker.  The  visual  Fields  in  Hysteria,  illustrated  by  a  Study  of  50 

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120.  Ibid.     The  Galvanometer  in  Psychology.  N.  Y.  Neur.  Soc.  Nov.  12, 

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121.  Ibid.     The  Seat  of  Gonsciousness.  N.  Y.  Neur.  Soc.  Oct.  6,  1908. 

J.  Ab.  P.  Dec.  1908.  P.  307.  J.  N.  M.  D.  Feb.  1909.  P.    97. 

122.  Ibid.     Some  new.  Fields  and  Methods  in  Psychology.  N.  Y.  M.  J. 

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125.  Ibid.  Gase  of  multiform  Tic  including  automatic  Speech  and  pur- 

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126.  Ibid.  The  Dissociation  of  a  Personality.  1906. 


Bericht  über  die  neuere  englische  und  amerikanische  Literatur  usw.       343 

127.  Ibid.  Tbe  Psychology  of  sudden   religious  Conversion.    J.   Ab.   P. 

April  1906.  P.  42. 

128.  Ibid.    Hysteria   from   tbe  Point  of  View  of  dissociated  Personality. 

J.  Ab.  P.  Oct.  1906.  P.  170,  and  Bost.  J.  Oct.  4  and  11, 1906.  Pp.  372 
and  407. 

129.  Ibid.    Experiment  to  determine  co-conscious  (Subconscious)  Ideation. 

J.  Ab.  P.  April  1908.  P.  33. 

130.  Ibid.      The  Unconscious.  J.  Ab.  P.    Oct.  1908.    P.  261.  Dec.  1908. 

P.  335.  Feb.  1909.  P.  391.  April  1909.  P.  36. 

131.  Ibid.     Tbe    psycbological   Principles  and   Field  of  Psychotberapy. 

J.  Ab.  P.  June  1909.  P.  72. 

132.  Prince  and  Coriat.  Cases  illustrating  tbe  educational  Treatment 

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133.  Prince  and  Peterson.  Experiments  in  psycho-galvanic  Reactions 

from  co-conscious  (subconscious)  Ideas  in  a  Gase  of  multiple  Perso- 
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by  special  Students  of  tbe  Subjects.  Bost.  J.  1904.  P.  179. 

135.  Ibid.  Eecent  Experiments  in  tbe  Study  and  Treatment  of  Hysteria 

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Metbod  of  Treatment  by  ,,Psycbo-analysis".  J.  Ab.  P.  April  1906. 
P.  26. 

136.  Ibid.  The  Bearing  of  Philosophy  on  Psychiatry,  witb  special  Refe- 

rence  to  tbe  Treatment  of  Psycbastbenia.  B.  M.  J.  Oct.  20,  1906. 
P.  1021. 

137.  Ibid.  Tbe  Treatment  of  Psycbastbenia  from  tbe  Standpoint  of  social 

Consciousness.  A.  J.  M.  S.  Jan.  1908.  P.  77. 

138.  Ibid.     The  Service  to  nervous  Invalids  of  tbe  Physician  and  tbe  Mi- 

nister. Harvard  Theolog.  Rev.  April  1909. 

139.  Putnam    and    Waterman.  Certain    Aspects    of    tbe    differential 

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146.  Ibid.  Lectures  on  Hysteria.  1909. 

147.  Ibid.  The  Psychology  and  Psycbogenesis  of  Hysteria,  and  the  Role 

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344  Ernest  Jones. 

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160.  Boris  Sidis  and  Kalmus.    A  Study  of  galvauometric  Deflections 

due  to  psycho-physiological  Processes.  Psychol.  Rev.  Sept.  1908. 
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161.  Sidis,  Prince  and  Linenthal.  Contribution  to  the  Pathology  of 

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anesthesia,  with  clonic  convulsive  Attacks  simulating  Jacksonian 
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163.  E.  W.  Taylor.  A  Case  of  Somnolentia.  Bost.  J.  1905.  P.  398. 

164.  Ibid.  Attitüde  of  the  medical  Profession  toward  the  psychothera- 

peutic Movement.  Bost.  J.  Dec.  19,  1907.  P.  843.  J.  N.  M.  D.  June 

1908.  P.  401. 

165.  Ibid.  Simple  Explanation  and  Re-education  as  a  therapeutic  Method. 

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166.  J.  J.  Thomas.  Hysteria  in  Children.  Amer.  Neur.  Assoc.  May  1907. 

J.  N.  M.  D.  April  1908.  P.  209. 

167.  Ibid.  Some  Aspects  of  Psychotherapy.  Bost.  J.  Jan.  7,  1909.  P.  7. 

168.  Town.  Association   Tests   in   practical   work  for  the   Insane.    The 

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171.  Walton.  The  Classification  of  Psycho-neurotics,  and  the  obsessinal 

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175.  Ibid.  The  Role  of  the  Physician  in  producing  or  maintaining  Mala- 

dies  produced  by  the  Imagnination.  Amer.  Med.  Aug.  1908.  P.  367. 

176.  Ibid.  Considerations  as  to  the  Nature  of  Hysteria,  with  their  appli- 

cation  to  the  Treatment  of  a  Gase.    Internat.   Clinics.  Oct.  1908. 
P.  44. 

177.  Ibid.  The  differential  Diagnosis  of  functional  from  organic  Palsies. 

Arch.  of  Diagnosis.  Oct.  1908. 

178.  Ibid.  The  Elements  of  Diagnosis  between  spasmodic  Movements  of 

the  Face  and  Neck.    Virginia  Med.  Semi-Monthly.  Oct.  9,  1908. 

179.  Ibid.  Recent  Advances  regarding  Hysteria  in  Eelation  to  traumatic 

Neurosis.  Monthly  Cyclopaedia  and  Med.  Bull.  Nov.  1908. 

180.  Ibid.  The  present  Status  of  Hysteria.  N.  Y.  M.  J.  Jan.  9,  1909.  P.  53. 

181.  Ibid.  The  differential  Diagnosis  between  Neurasthenia    and    some 

Affections  of  the  nervous  System  for  which  it  is  often  mistaken. 
Arch.  of  Diagnosis.  Jan.  1909. 

182.  Ibid.  Mental  Causes  in  bodily  Disease:  the  most  frequent  Cause  of 

the  Origin  of  „nervous  Indigestion".  J.  Ab.  P.  Feb.  1909.  P.  386. 

183.  Ibid.  The  Trend  of  the  clinicalConceptof  Hysteria.  Bost.  J.  March25, 

1909.  B.  364. 

184.  Ibid.  The  Clarification  of  our  Concepts  concerning Hysteria.  Monthly 

Cyclopaedia  and  Med  Bull.  Mar.  1909.  Canadian  Journ.  of  Med.  and 
Surg.  May  1909.  P.  278. 

185.  Ibid.  The  Importance  for  Research  and  Treatment  of  distinguishing 

clinical  Types  among  psycho-neurosis.  J.  Ab.  P.  April  1909.  P.  32. 

186.  Ibid.  The  psychological  Bases  of  Inebriety.  N.  Y.    M.  J.  April  24, 

1909.  P,  833. 

187.  Ibid.  The  Difference   between   Suggestion   and  Persuasion   —  the 

Importance  of  the  Distinction.   Alienist  and  Neurologist.  May  1909. 
P.  158. 

188.  Ibid.  Psychoprophylaxis  in  Childhood.  J.  Ab.  P.  1909.  P.June  181. 

189.  Ibid.  The  traumatic  Neurosis  and  Babinski's  Conception  of  Hysteria. 

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191.  Wood  man.   General  Considerations  as  to  the  Nature  and  Relatiou- 

ships  of  Hysteria.  J.  N.  M.  D.  Jan.  1908.  P.  23.  Feb.  P.  77.  March. 
P.  153. 


346  Ernest  Jones. 

192.    Yerkes  and  Barry.  The  association  reaction  Method  of  mental 
Diagnosis.  Amer.   Journ.  of  Psychol.   Jan.  1909.  P.  22. 

Wegen  des  Raumes  ist  von  folgenden  Abkürzungen  Gebrauch  ge- 
macht worden: 

A.  J.  I.  =  American  Journal  of  Insanity.  A.  J.  M.  S.  =  The  American 
Journal  of  the  Medical  Sciences.  Bost.  J.  =  The  Boston  Medical  and  Surgical 
Journal.  B.  M.  J.  =  British  Medical  Journal.  Disc.  =  Discussion.  J.  A. 
M.  A.  =  The  Journal  of  the  American  Medical  Association.  J.  Ab.  P.  = 
Journal  of  Abnormal  Psychology.  J.  N.  M.  D.  =  J  ournal  of  Nervous  and 
Mental  Disease.  L.  =  Lancet.  N.  Y.  M.  J.    =   New  York  Medical  Journal. 


11 


über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Freudschen 
Psychologie  in  Rußland. 

Von  .T.  Neiditsch  (Berlin). 


Die  russische  Fachliteratur  hat  sich  bis  vor  kurzem  mit  der  von 
Freud  inaugurierten  Psychologie  gar  nicht  beschäftigt.  Erst  1908 
fing  man  an,  das  Interesse  diesen  neuen  Forschungen  zuzuwenden. 
Schon  vor  einiger  Zeit  ist  die  kleine  Ausgabe  der  Traumdeutung,  die 
Freudsche  Schrift  über  den  „Traum",  ins  Russische  übersetzt  worden. 
Als  einer  der  ersten  hat  Dr.  Ossi  pow  von  der  Moskauer  psychiatrischen 
Universitätsklinik  eine  ausführliche  Berichterstattung  über  die  Freud- 
schen Forschungen  veröffentlicht  unter  dem  Titel:  ,,Die  psychologischen 
und  psychopathologischen  Anschauungen  von  S.  Freud  in  der  deutschen 
Literatur  des  Jahres  1907."  Darin  finden  sich  Eeferate  über  die  wich- 
tigsten Arbeiten  Freuds  mit  Randbemerkungen  versehen.  Mehreres 
davon  ist  in  sehr  zustimmendem  Tone  gehalten.  Aus  dem  kritischen  Teile 
und  aus  den  Schlußfolgerungen  gewinnt  man  aber  den  Eindruck,  daß 
der  Autor  einigen  fundamentalen  Punkten  der  Freudschen  Lehre 
noch  nicht  voll  beistimmen  kann,  so  äußert  er  sich  z.  B.  folgendermaßen : 
,,F.  hat  auch  eine  besondere  Theorie  des  Sexualgefühles  aufgestellt. 
Ich  habe  dieser  Theorie  nicht  soviel  Aufmerksamkeit  geschenkt,  weil 
die  Freudschen  Ansichten  nicht  viel  verlieren,  auch  wenn  man  seine 
Überzeugung  über  die  Allmächtigkeit  der  Sexualität  nicht  teilt." 

In  einem  sehr  ausführlich  und  anerkennend  gehaltenen  Artikel 
über  ,,Die  Psychologie  der  Komplexe  und  des  Assoziationsexperimentes 
in  den  Arbeiten  der  Züricher  Klinik"  kommtDr.  Ossipowzum  Schlüsse, 
daß  die  von  Freud  beeinflußte,  rein  psychologische  Richtung  der  Zü- 
richer Schule  eine  notwendige  Ergänzung  bilde  zu  den  Hauptmethoden 
psychiatrischer  Forschung,  der  anatomischen  und  klinisch-nosologischen. 
Selbstverständlich  macht  ein  Kritiker  auch  energische  Opposition 
gegen  die  Freudsche   Sexual theorie,  indem  er  dieselben  Einwände 


348  J.  Neiditsch. 

vorbringt,  die  in  der  deutschen  Literatur  schon  reichlich  niedergelegt 
sind.    Auch  der  Ton  der  Kritik  ist  der  übliche. 

Eine  Rezension  über  „Die  diagnostischen  Assoziationsstudien 
von  Jung"  veranlaßte  Dr.  A.  Bernstein,  Privatdozent  der  Psychiatrie 
in  Moskau,  sich  über  seine  Stellung  zu  Freud  zu  äußern:  ,, Durch  seine 
Assoziationsstudien  hat  Jung  die  Frage  des  unbewußten  Seelenlebens 
auf  experimentellen  Boden  gestellt.  Ich  muß  hinzufügen,  daß  die  Ex- 
perimente der  Züricher  Schule  der  Lehre  Freuds  über  Hysterie  und 
Zwangsneurose  noch  mehr  Überzeugung  verleihen,  jener  Lehre,  welche 
noch  immer  mit  dem  Skeptizismus  der  meisten  Psychiater  zu  kämpfen 
hat.  Jung  ist  ein  feuriger  Anhänger  Freuds,  und  ich  glaube,  daß  seine 
Experimente  und  Beobachtungen  ihm  dazu  auch  das  volle  Recht  geben." 

In  einem  andern  Artikel  ,,Über  Form  und  Inhalt  psychischer 
Störungen"  kommt  Bernstein  wieder  auf  Freud  zu  sprechen:  ,,Es 
ist  das  Verdienst  von  Freud,  uns  den  Weg  gezeigt  zu  haben  zum  Ver- 
ständnisse der  menschlichen  Psyche.  Die  Psychoanalyse  deckt  die 
Ursache  verschiedener  psychopathologischer  Symptome  auf  und  er- 
öffnet so  den  Weg  zu  einer  rationellen  symptomatischen  Psychotherapie, 
welche  die  Stelle  solcher  empirischer  Panazeen  wie  die  Hypnose,  die 
Suggestion  einnehmen  wird.  Die  Erfolge  der  psychoanalytischen  Therapie 
bei  Hysterie,  Phobie  und  Zwangsneurose  sind  ja  zur  Genüge  bekannt." 

In  zustimmender  Weise  äußert  sich  Dr.  Pownizki  (Petersburg) 
über  Stekels  Buch  ,, Nervöse  Angstzustände".  Er  sagt:  ,,St.s 
Buch  ist  eine  sehr  schöne  Demonstration  von  klinischen  Fällen,  die  nach 
der  Methode  Breuer-Freud  behandelt  worden  sind.  St.s  Erfahrungen 
stimmen  mit  den  unsrigen  überein  und  verdienen  die  größte  Aufmerk- 
samkeit der  Psychopathologie."  Pownizki  selbst  hat  sechs  Fälle  von 
Hysterie  und  Zwangsneurose  mit  Erfolg  behandelt.  Die  Fälle  sind  bis 
jetzt  aber  nur  in  einer  vorläufigen  Mitteilung  kurz  dargestellt  worden 
und  sollen  später  ausführlich  veröffentlicht  werden. 

Die  obigen  Mitteilungen  erwähnen  so  ziemlich  alles,  was  bis 
dahin  (Mitte  1909)  über  Freudsche  Psychologie  in  Rußland  publiziert 
wurde.  Im  allgemeinen  steht  die  russische  Fachliteratur  der  Sache 
noch  recht  teilnahmslos  und  fremd  gegenüber,  wenn  schon  vielerorts 
von  Einzelnen  viel  darüber  diskutiert  wird.  Daß  aber  das  Interesse 
mächtig  zu  wachsen  beginnt,  zeigt  die  von  der  Moskauer  Neuropatho- 
logisch-psychiatrischen  Gesellschaft  gestellte  Preisaufgabe:  ,,Die 
Psychoanalyse  und  ihre  Bedeutung  für  die  Nervenkrankheiten." 


1 


Die  Freudsclien  Lehren  in  Italien. 

Von  Dr.  Robei'to  0.  Assagioli  (Florenz). 


Merkwürdigerweise  haben  die  Freudschen  Lehren  in  Italien 
noch  kein  großes  Interesse  erregt,  obgleich  meines  Erachtens  der 
italienische  Geist,  dank  seiner  Lebhaftigkeit  und  Feinheit,  den  scharf- 
sinnigen Denkoperationen  der  Psychoanalyse  zugänglich  sein  sollte. 
Die  Ursachen  solcher  Vernachlässigung  lassen  sich  jedoch  aus  der  gegen- 
wärtigen Lage  der  psychiatrischen  Forschungs weise  in  Italien  begreifen. 

Man  kann  sagen,  daß  im  großen  und  ganzen  die  italienischen 
Forscher  auf  diesem  Gebiete  in  zwei  Hauptgruppen  zerfallen.  Die 
erste  folgt  einer  Richtung,  welche  man  als  klinische  bezeichnen  kann 
und  die  sich  mit  der  S}Tnptomatologie  und  Klassifikation  der  Psy- 
chosen befaßt.  Die  andere  verfolgt  im  Gegenteile  die  anatomische 
Richtung  und  beschäftigt  sich  hauptsächlich  mit  histologischen  und 
biochemischen  Fragen.  So  kommt  es,  daß  die  eigentliche  psycho- 
pathologische  Forschung  einer  ziemlichen  Vernachlässigung  anheim- 
gefallen ist,  bis  auf  einige  spezielle  Gebiete,  wie  die  Mediumnität  und 
geistige  Abnormitäten  bei  Kindern;  letzteres  wegen  seines  besonderen 
praktischen  Interesses. 

In  den  letzten  drei  Jahren  jedoch  sind  zwei  ziemlich  eingehende 
Studien  über  die  Freudschen  Lehren  erschienen,  welche  hoffen  lassen, 
daß  diese  Forschungen  in  Italien  einer  ernsten  und  unparteiischen  Be- 
urteilung unterzogen  werden,  so  daß  man  ihre  Ergebnisse  benutzen 
kann,  ohne  deshalb  sich  einer  voreiligen  und  gefährlichen  Begeisterung 
hinzugeben  und  auch  ohne  ihnen  die  Feindseligkeit,  das  Vorurteil  und 
die  leidenschaftlichen,  verständnislosen  Kritiken  entgegenzubringen, 
welche,  besonders  in  Deutschland,  dem  Ernste  und  dem  Fortschritte 
der  psychopathologischen  Forschung  Abbruch  getan  haben. 


350  Roberto  G.  Assasrioli 


o' 


Der  erste  italienische  Versuch  über  die  Freudsche  Lehre  wurde 
von  Dr.  Luigi  Baroncini  veröffentlicht  in  der  Rivista  di  psico- 
logia  applicata  (B.  IV,  1908.  Nr.  3),  unter  dem  Titel:  ,,I1  fonda- 
mento  e  il  meccanesimo  della  psico-analisi"  (Grundlage  und  Mechanismus 
der  Psychoanalyse).  Baroncini  gibt  in  erster  Linie  eine  Übersicht 
über  die  Hauptpunkte  der  Freudschen  Ideen,  wobei  er  jedoch  haupt- 
sächlich jene  der  ersten  Periode  in  Betracht  zieht.  Dann  folgt  eine 
Zusammenstellung  der  von  Jung  in  seiner  ,, Psychologie  der  Dementia 
praecox"  geäußerten  Ansichten  und  zum  Schluß  einige  Notizen  über 
die  Technik  der  Psychoanalyse.  Die  angefügten  kritischen  Betrach- 
tungen Baro  ncinis  sind  zwar  kurz,  aber  treffend  und  den  besprochenen 
Lehren  entschieden  zustimmend,  wie  aus  folgender  Stelle  erhellt: 
„Eine  Kritik  dieser  verschiedenen  wichtigen  psychologischen  Auf- 
fassungen zu  liefern  bietet  keine  Schwierigkeit,  wenn  man  sich  gegen 
den  einen  oder  anderen  einzeln  genommenen  Punkt  wendet,  wenn 
man  die  geringfügigen  Widersprüche  in  den  Details,  welche  nicht  zu 
leugnen  sind,  hervorhebt,  und  damit  die  ganze  Theorie  über  den  Haufen 
zu  werfen  glaubt.  Aber  dergleichen  Kritiken  kommen  den  Erfindern 
selbst  nicht  unerwartet;  sie  wissen,  daß  sie  nichts  Definitives  hervor- 
gebracht haben,  sie  glauben  nicht,  das  ganze  Gebiet  erschöpft,  alle 
Zweifel  und  alle  Schwierigkeiten  beseitigt  zu  haben." 

,,Der  eigentliche  Hauptpunkt  der  Freudschen  Untersuchungen 
besteht  Inder  neuen  Methode,  welche  Freud  für  das  Studium  der  psy- 
chischen Phänomene  ausgedacht  hat,  und  welche  in  seinen  Händen  und 
denen  Jungs  eine  reiche  Ernte  glänzender  Erfolge  ergeben  hat.  Will  man 
also  diese  psychologische  Auffassung  vernichten,  so  muß  erst  der  Beweis 
erbracht  werden,  daß  die  psychoanalytische  Methode  auf  falscher 
Grundlage  ruht  und  deshalb  kein  Zutrauen  verdient,  oder  aber  daß 
die  von  ihr  gelieferten  Ergebnisse  in  keinerlei  Weise  mit  den  bisherigen 
Erfahrungen  der  Psychopathologie  in  Einklang  zu  bringen  sind.  In 
jedem  Falle  soll  man^'^selbst  prüfen,  beobachten  und  experimentieren 
in  der  von  Freud  angegebenen  Richtung  und  mit  seinen  Mitteln. 
Aber  den  verdrängten  Komplexen  ihren  Wert  abzusprechen,  nur  weil 
sie  zu  anthropomorph  aufgefaßt  werden,  oder  weil  sie  zu  mechanisch 
wirken,  oder  weil  man  die  Methode  ihrer  Auffindung  für  nicht  beweis- 
kräftig (insofern  alle  von  ihr  ans  Licht  geförderten  Phänomene  nur 
ein  Produkt  der  Suggestion  und  der  Erwartung  sein  sollen)  und  über- 
dies für  unmoralisch  hält  —  dies  alles  behaupten  wollen  ohne  vorher 
experimentell  geprüft  zu  haben,  scheint  uns   mit    wissenschaftlicher 


Die  Freudachen  Lehren  in  Italien.  351 

Strenge  unvereinbar  und  ungerecht  gegen  die  Urheber  jener  kühnen 
Auffassung,  der  sie  seit  so  viel  Jahren  all  ihren  Scharfsinn  und  ihre 
Arbeit  weihen." 

Ein  weiterer  Autor,  der  sich  mit  der  Freudschen  Theorie  be- 
schäftigt hat,  ist  Dr.  Gustavo  Modena.  Er  hat  zuerst  eine  kurze 
Übersicht  derselben  im  Giornale  di  psichiatria  clinica  e  tecnica 
manicomiale  (1907,  Nr.  4,  S.  759)  und  dann  später  in  der  Rivista 
sperimentale  di  freniatria  (B.  XXXIV,  1908,  Nr.  3 — 4)  eine 
Abhandlung  veröffentlicht  unter  dem  Titel:  „Psicopatologia  ed  etio- 
logia  dei  fenomeni  psiconeurotici  (Contributo  alla  dottrina  di  S.Freud)". 

Der  Verfasser  hebt  die  Mannigfaltigkeit  und  Kompliziertheit 
der  Freu  dschen  Untersuchungen  hervor.  Er  teilt  die  Arbeiten  der  Freud- 
schen  Psychologie  in  drei  Hauptgruppen:  In  der  ersten  behandelt  er 
,, Die  Arten  und  Erscheinungen  der  Hysterie  im  Lichte  der  Ergebnisse 
der  Psychoanalyse".  In  der  zweiten  ,,Die  sexuelle  Frage  und  der  Einfluß 
der  Sexualität  in  der  Ätiologie  der  psychoneurotischen  Erscheinungen", 
wobei  er  eine  weitläufige  Zusammenfassung  der  ,,Drei  Abhandlungen 
zur  Sexualtheorie"  gibt.  In  der  dritten  beschreibt  er  ,,Die  psycho- 
analytische Methode  und  Therapie."  Darauf  folgt  eine  Zusammen- 
stellung der  verschiedenen  Ansichten  über  die  Freudschen  Ideen,  der 
zustimmenden  sowohl  als  absprechenden,  wobei  er  sich  mißbilligend 
über  die  Weise  äußert,  in  welcher  die  Diskussion  geführt  wurde.  „Wenn 
wir  die  ausgedehnte  Literatur  über  diesen  Gegenstand  überblicken, 
(schreibt  er),  so  finden  wir,  daß  sich  die  heftige  Polemik  zwischen  einer 
hartnäckigen  Opposition  und  einer  blinden  Hingebung  an  die  Lehren 
hin  und  her  bewegt.  Für  die  letztere  ist  jeder  Ausspruch  ein  Dogma, 
für  die  erstere  ist  jeder  Schluß  falsch  und  unhaltbar.  Einen  Mittelweg 
scheint  es  nicht  zu  geben.  Aber  eine  Lehre  wird  nicht  von  der  Kritik 
und  der  Antikritik  gestürzt  oder  bewiesen;  nur  fortgesetzte  Beobach- 
tungen und  der  unparteiische  Austausch  von  Erfahrungen  und  Ideen 
können  die  Meinungsunterschiede  beseitigen,  Zweifel  und  Unsicher- 
heiten tilgen  und  Fehler  und  falsche  Schlüsse  aufdecken." 

Modena  fügt  eine  Reihe  von  kritischen  Bemerkungen  bei  und 
liefert  auch  einige  bestätigende  Beiträge. 

Was  die  bekanntlich  so  oft  beanstandete  libidinöse  Bedeutung 
des  ,, Ludeins"  (Lullen)  betrifft,  bemerkt  er:  ,,Es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  daß  diese  Gewohnheit  mit  angenehmen  Empfindungen  verbun- 
den ist,  weil  sie  zu  den  Mitteln  gehört,  die  von  den  Ammen  angewandt 
werden,  um  die  Kinder  zu  beruhigen.   Daß  sie  mit  erotischen  Enipfin- 


352  Roberto  Gr,  Assagioli. 

düngen  zusammenhängt,  wird  von  der  Tatsache  bestätigt,  daß  viele 
Kinder  gleichzeitig  mit  dem  Ludein  am  Finger  oder  am  Arme  die 
Sexualorgane  berühren.  Ich  selbst  habe  zwei  solchejFälle  beobachtet, 
und  einer  meiner  Kollegen,  ein  tüchtiger  Kinderarzt,  teilte  mir  mit, 
daß  er  in  seiner  langen  Erfahrung  mehrere  Male  Gelegenheit  hatte, 
dieses  Phänomen  zu  beobachten." 

Mode  na  stimmt  auch  dem  Begriffe  der  Verdrängung  bei:  ,,Eine 
genaue  psychologische  Analyse  der  Kranken,  auch  wenn  sie  den  von 
Freud  gegebenen  Vorschriften  der  Psychoanalyse  nicht  folgt,  genügt 
oft,  um  im  Hintergrunde  des  neurotischen  Zustandes  die  Abwehr- 
tendenz eines  Komplexes  bloßzulegen,  welcher  als  Trauma  gewirkt  hat 
und  zu  einem  augenscheinlichen  psychischen  Konflikte  Anlaß  gibt. 
Letzterer  offenbart  sich  in  psychischen  Erscheinungen  bei  der  Zwangs- 
neurose oder  mittels  der  Konversion  in  körperlichen  Symptomen, 
wie  zum  Beispiel  in  der  Hysterie." 

Was  die  zwei  Krankheitsgruppen  anbelangt,  welche  Freud  als 
Angstneurosen  und  Psychoneurosen  unterscheidet,  sagt  Mode  na,  daß 
das  von  Freud  für  diese  Klassifikation  gewählte  ätiologische  Kriterium 
noch  nicht  hinreichend  sicher  ist,  aber  fügt  hinzu:  ,,Die  Erfahrung 
bestätigt,  daß  diese  von  Freud  beschriebenen  Formen  der  Angstneu- 
rosen bestehen ;  und  die  Literatur  über  dieselben  liefert  viele  und  wichtige 
Beiträge.  Bei  der  Untersuchung  der  Psychoneurosen  vom  klinischen 
Standpunkte  aus  werden  gleichfalls  viele  Berührungspunkte  und 
Analogien  zwischen  Hysterie  und  Zwangsvorstellungen  bemerkbar, 
welche  Freuds  Ideen  teilweise  rechtfertigen."  Weitere  Auseinander- 
setzungen widmet  Mode  na  dem  Problem  der  biochemischen  Grundlage 
der  Sexualität,  anschließend  an  Freuds  Äußerungen  über  den  Sexual- 
stoffwechsel. In  Anbetracht  der  Tatsache,  daß  hierüber  (d.  h.  über 
die  ,, Neurosenchemie")  faktisch  so  gut  wie  nichts  bekannt  ist,  ver- 
zichten wir  auf  ein  ausführliches  Referat  der  Modenaschen  Ansichten. 
Wir  verweisen  dafür  auf  das  Original. 

Wir  wollen  hinzufügen,  daß  Modena  die  italienische  Über- 
setzung der  ,,Drei  Abhandlungen  zur  Sexualtheorie"  und 
verschiedene  kleine  Berichte  für  die  Rivista  sperimentale 
di  Freniatria  vorbereitet. 

Professor  Sancte  de  Sanctis  (Rom)  hat  in  den  Folia  Neuro- 
biologica  (B.  IL  6.  S.  673)  ein  Referat  in  deutscher  Sprache  über 
Baroncinis  Schrift  gebracht,  in  welchem  er  die  Gelegenheit  benutzte. 


Die  Freudschen  Lehren  in  Italien.  353 

seine  eigene  Meinung  über  die  Freudsche  Lehre  folgendermaßen  zu 
äui3ern : 

„Meinerseits  schätze  ich  seit  langem  das  Talent  Sigmund 
Freuds,  mit  dem  ich  öfter  Briefwechsel  pflog,  und  von  Jung,  den 
ich  persönlich  kenne,  kann  ich  sagen,  daß  er  äußerst  gewissenhaft  ist 
und  mit  bewundernswürdigem  Enthusiasmus  arbeitet.  Man  kann  daher 
nicht  ironisch  oder  gleichgültig  dem  gegenüberstehen,  was  Freud  mit 
Jung  auf  dem  Gebiete  der  auf  die  Geistespathologie  angewandten 
Psychologie  geschaffen  haben  und  schaffen.  Die  Neigung,  dem  Ur- 
sprünge der  psychopathologischen  Erscheinungen  näher  zu  treten, 
zeugt  sicher  von  einem  großen  Scharfsinne.  Ziehe  ich  ferner  meine 
persönliche  Erfahrung  heran,  so  kann  ich  behaupten,  daß,  richtig  ge- 
handhabt, die  angeführten  Methoden  große  Vorteile  für  die  Erkenntnis 
der  Psyche  des  Individuums  und  für  die  Ermittlung  des  Ursprungs 
der  psychopathologischen  Erscheinungen  und  der  anormalen  Merk- 
male bieten.  Nur  muß  man  sich  an  die  Tatsachen  halten  und  in  einen 
unnützen  Teleologismus  zu  verfallen  vermeiden.  Es  scheint  mir  außer 
allem  Zweifel  zu  stehen,  daß  viele  psychopathologische  Erscheinungen 
ihren  logischen  und  psychologischen  Ursprung  nicht  unter  der  Schwelle 
des  Bewußtseins  haben,  sondern  daß  sie  einfach  auf  physiologischer 
Grundlage  stehen,  indem  sie  plötzlich  durch  Unterbrechung  von  inter- 
zerebralen Beziehungen  und  durch  Entstehung  von  automatischen 
Bewegungen  oder  Taten  verursacht  werden,  die  mit  dem  früheren 
Seelenleben  der  betreffenden  Individuen  gar  nichts  zu  tun  haben. 

Was  die  Methode  der  Psychoanalyse  und  der  Assoziationen 
betrifft,  so  hat  mich  die  persönliche  Erfahrung  folgendes  gelehrt: 

1.  Bei  der  Untersuchung  der  Individuen  mit  den  genannten 
Methoden  kann  man  in  ihnen  nichts  Neues,  nicht  schon  im  Bewußtsein 
Vorhandenes  [und  somit  durch  das  freiwillige  Geständnis  der  Indi- 
viduen zu  Erfahrendes]  auffinden, 

2.  Zuweilen  findet  man  tatsächlich  unter  der  Schwelle  des  Be- 
wußtseins Vorstellungsgruppen  und  Gefühle,  die  dem  Bewußtseinsinhalt 
fremd  sind ;  aber  die  Gegenwart  dieser  Vorstellungen  und  Gefühle  kann 
meistens  durchaus  nicht  die  krankhaften  oder  anormalen  Erscheinungen 
der  Untersuchten  erklären,  und  es  führt  nur  in  einer  kleinen  Minderzahl 
der  Fälle  die  Erforschung  des  Unterbewußtseins  zu  der  Auffindung  der 
Ursache  der  psychopathologischen  Erscheinung. 

Es  folgt  daraus,  daß  es  unzulässig  wäre,  eine  Lehre  der  Hysterie 
einzig  auf  die  Ergebnisse  der  Psychoanalyse  und  der  Assoziations- 

Jabrbuch  für  psyclioanalj  t.  u.  paychopathol.  Forschungen.  II.  23 


354  ßoberto  G.  Assagioli. 

methode  zu  gründen.  In  der  Tat  hat  Freud  nacli  Beobachtung  einer 
größeren  Zahl  von  Patienten  seine  Schlüsse  allmählich  verändern  müssen. 
Und  so  ist  der  Umstand  beachtenswert,  daß  diese  Veränderung  dex 
Freudschen  Lehre  in  einer  immer  weniger  restriktiven  Deutung  der 
Erscheinungen  besteht.  Vorläufig  bleibt  in  der  Freudschen  Lehre 
die  Bedeutung  der  Sexualität  bei  der  Entstehung  der  Hysterie 
und  die  Tatsache,  daß  diese  im  präpuberalen  Leben  ihren  Ursprung 
hat.  Diese  zwei  ätiologischen  Tatsachen  können  im  allgemeinen 
angenommen  werden.  Es  bleibt  aber  meiner  Ansicht  nach  noch  die 
Art  und  Weise  unaufgeklärt,  wie  die  hysterischen  Erscheinungen 
ausbrechen." 

Ohne  die  Behauptungen  de  Sanctis  im  einzelnen  bestreiten 
zu  wollen,  erlaube  ich  mir  zu  bemerken,  daß  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  der  Grund  seiner  so  wenig  befriedigenden  Kesultate  mit  der  psy- 
choanalytischen Methode  in  dem  Mangel  an  Geduld  und  Ausdauer 
gesucht  werden  muß.  Überhäuft  mit  vielerlei  Arbeiten  und  Literessen 
hat  de  Sanctis  sich  die  speziellen  Anforderungen  nicht  vergegen- 
wärtigt, welche  die  Technik  der  Psychoanalyse  stellt,  und  hat  die  mühe- 
volle Arbeit  zu  bald  aufgegeben,  um  positive  Ergebnisse  verzeichnen 
zu  können. 

Diese  Bemerkung  soll  die  Verdienste,  die  sich  de  Sanctis 
um  die  Förderung  der  psychologischen  Forschung  in  Italien  erworben 
hat,  nicht  bemängeln. 

Prof.  Bianchi  (Neapel)  hat  sich,  meines  Wissens,  in  seinen 
Schriften  nur  ein  einziges  Mal  über  die  Freudschen  Ideen  geäußert, 
dann  aber  in  höchst  bestimmter  Weise.  Denn  in  seinem  Lehrbuch 
der  Psychiatrie  (S.  532)  bespricht  er  das  Verhältnis  zwischen 
Sexualität  und  Hysterie  und  fügt  hinzu:  ,,  .  .  .  in  dieser  Beziehung 
bin  ich  nicht  nur  geneigt  den  Ideen  Freuds  über  die  Wichtigkeit 
der  ins  Unbewußte  übergegangenen  sexuellen  Bilder  für  die  Ent- 
stehung der  Hysterie  beizupflichten,  sondern  ich  hege  gar 
keinen  Zweifel  darüber." 

Der  Verfasser  dieses  Referates  hat  bis  jetzt  nur  eine  Schrift 
veröffentlicht,  in  welcher  die  in  den  „Drei  Abhandlungen  zur 
Sexualtheorie"  enthaltenen  Ideen  zusammengefaßt  und  einer 
kurzen  Kritik  unterzogen  worden  sind,  und  weiter  einen  Bericht 
über  die  II.  Psychoanalytische  Vereinigung  in  Nürnberg.  Seine 
ausführliche  Doktordissertation  über  die  Psychoanalyse  ist  noch 
nicht  erschienen. 


Die  Freudseben  Lebren  in  Italien.  355 

Der  Umstand,  daß  eine  derartige  Dissertation  ihm  aus  eigenem 
Antrieb  von  einem  Professor  vorgeschlagen  wurde,  der  zu  den 
entschiedenen  Anhängern  der  anatomischen  Richtung  gehört,  ist  ein 
Zeichen  dafür,  daß  die  Psychoanalyse  sich  in  Italien  vielleicht  wird 
verbreiten  können,  ohne  in  den  offiziellen  Kreisen  der  systematischen 
,, Zensur"  zu  begegnen,  welche  anderwärts,  obwohl  vergeblich,  die 
Psychoanalyse  aus  dem  ihr  zukommenden  Platz  im  wissenschafthchen 
Bewußtsein  zu  verdrängen  versucht  hat. 


23* 


Referate  über  psyeliologische  Arlbeiteii 
seliweizeriseher  Autoren  (bis  Ende  1909). 

Zusammengestellt   von  Dr.   C.   G.   Jang,   Privatdozent  der  Psychiatrie 

an  der  Universität  Zürich. 


Diese  Sammlung  enthält  unter  anderem  alle  diejenigen  Arbeiten 
der  Züricher  Schule,  welche  sich  entweder  direkt  mit  Psychoanalyse 
befassen  oder  dieselbe  wesentlich  berühren.  Arbeiten  sonstigen  klini- 
schen oder  psychologischen  Inhaltes  der  genannten  Schule  sind  weg- 
gelassen. Die  Arbeiten  Abrahams,  auch  die,  die  in  Zürich  entstanden 
sind,  finden  sich  referiert  im  Jahrbuche  1909.  Einige  Arbeiten  deutscher 
Autoren,  welche  sich  den  Ergebnissen  der  ,, Diagnostischen  Assoziations- 
studien" annähern,  sind  parenthetisch  angemerkt.  Die  Berücksichti- 
gung der  kritischen  und  oppositionellen  Literatur  ist  leider  unmöglich, 
solange  die  Wissenschaftlichkeit  unserer  Forschungsprinzipien  von  der 
Kritik  in  Frage  gestellt  wird. 

Bezzola  (Schloß  Hard,  Ermatingen)i):  Zur  Analyse  psychotraumalischer 

Symptome. 

Journ.  f.  Psychol.  und  Neurol,  Band  VIII,  1907. 

Verfasser  steht  noch  ganz  auf  dem  Boden  der  Traumatheorie. 
Sein  Verfahren  entspricht  bis  ins  einzelne  der  Breuer-Freuds chen 
Methode,  die  als  „Kathartische"  bezeichnet  wurde.  Von  der  späteren 
Methodik  hat  Verfasser  noch  keine  richtige  Vorstellung.  Er  empfiehlt 
eine  Modifikation,  die  er  Psychosynthese  nennt.  Er  geht  dabei 
von  folgender  Basis  aus:  ,, Jedes  psychisch  wirksame  Erlebnis  gelangt 
in  Form  von  dissoziierten  Erregungen  der  Sinnessphäre  zu  unserem 
Bewußtsein.  Um  zum  Begriffe  zu  werden,  müssen  diese  Erregungen 

^)  Vormals. 


Referate  über  psycliolog.  Arbeiteu  schweizerischer  Autoren  usw.       357 

unter  sich  und  mit  dem  Bewußtsein  assoziiert  werden.  Infolge  der 
Bewußtseinsenge  aber  kann  dieser  Prozeß  nicht  völlig  stattfinden,  ge- 
wisse Komponenten  bleiben  im  Unbewußten  oder  werden  falsch  asso- 
ziiert bewußt.  Die  Psychosynthese  besteht  nun  darin,  daß  diese  ver- 
einzelten bewußten  Bestandteile  durch  Nachempfindung  so  lange 
verstärkt  werden,  daß  die  damit  unterbewußt  assoziierten'' Kompo- 
nenten sich  neu  beleben,  wodurch  die  nachträgliche  Entwicklung  des 
ganzen  Ereignisses  zum  Bewußtsein  stattfindet  und  die  Lösung  der 
psychotraumatischen  Symptome  erfolgt."  Eine  Reihe  von  Fällen  stützen 
diese  Theorie.  Natürlich  sind  sie  mit  totaler  Blindheit  für  den  eigent- 
lichen psychosexuellen  Untergrund  dargestellt.  Das  Schlußwort  enthält 
einen  Angriff  auf  die  Freudsche  Sexualtheorie  mit  dem  üblichen 
nervösen  Ton  und  den  entsprechenden  Argumenten. 

Binswanger  siehe  Jung:  Diagnost.  Assoc.  stud.,  XI.  Beitrag. 

Bleuler  (Zürich):  Freudsche  Mechanismen  in  der  Symptomatologie  von 
Psychosen. 

Psychiatr.-Neurol.  Wochenschrift,  1906. 

Sammlung  von  Auflösungen  von  Symptomen  und  Zusammen- 
hängen in  verschiedenen  psychotischen  Zuständen. 

Bleuler  und   Jung:    Komplexe   und   Krankheitsursache   bei   Dementia 
praecox. 

Zentralbl  f.  Nervenheilkunde  u.  Psychiatrie,  XXXI. Jahrg., 
1908,  S.  220. 

Die  Autoren  versuchen  gegenüber  der  Mey ersehen  Kritik  der 
Jungschen  Dementia-praecox-Lehre  ihren  Standpunkt  in  der  Frage 
der  Ätiologie  klarzulegen.  Zunächst  wird  festgestellt,  daß  die  neue 
Auffassung  keine  ätiologische,  sondern  eine  symptomatologische  ist. 
Die  Fragen  der  Ätiologie  sind  verwickelt  und  kommen  in  zweiter  Linie. 
Bleuler  unterscheidet  streng  zwischen  dem  physischen  Krankheits- 
prozesse und  der  psychologischen  Determination  der  Symptome,  welch 
letzterer  er  keine  ätiologische  Bedeutung  in  Ansehung  des  Krankheits- 
prozesses beimißt.  Demgegenüber  hält  Jung  sich  die  Frage  der  ideo- 
genen  Ätiologie  offen,  indem  bei  physischen  Krankheitsprozessen 
dem  physischen  Affektkorrelat  eine  ätiologisch  bedeutsame  Rolle  zu- 
fallen kann. 


358  C.  G.  Jung. 

Bleuler:  Affektivität,  Suggestibilität,  Paranoia. 

Halle,  Carl  Marhold,  1906. 

Das  Buch  Bleulers  über  die  Affektivität  bedeutet  einen  groß- 
zügigen Versuch  einer  allgemeinen  psychologischen  Beschreibung  und 
Definition  der  affektiven  Vorgänge,  in  die  er  die  Feststellungen  der 
Freudschen  Psychologie  in  Umrissen  einzureihen  sucht.  Die  Auf- 
fassung der  Aufmerksamkeit  und  der  Suggestibilität  als  Spezialfälle 
oder  Teilerscheinungen  der  Affektivität  ist  eine  wohltuende  Verein- 
fachung in  der  babylonischen  Sprachen-  und  Begriffsverwirrung  der 
heutigen  Psychologie  und  Psychiatrie.  Wenn  auch  nichts  Endgültiges 
damit  geschaffen  sein  wird,  so  ermöglicht  uns  hier  Bleuler  doch  eine 
einfache  und  der  Erfahrung  entsprechende  Art  der  Auffassung  kom- 
plizierter Seelenvorgänge.  Das  hat  die  Psychiatrie  dringend  nötig,  denn 
der  Seelenarzt  ist  gezwungen  mit  komplizierten  psychischen  Größen 
zu  denken  und  umzugehen.  Bis  wir  solches  aber  einmal  von  der  ex- 
perimentellen Laboratoriumspsychologie  bekämen,  könnten  wir  ruhig 
noch  100  Jahre  warten.  Auf  den  gleichen  Boden  der  Affektivität 
stellt  Bleuler  ein  ungemein  wichtiges  Kapitel  der  Psychiatrie,  nämlich 
die  Einsetzung  der  paranoischen  Idee ;  indem  er  nämhch  in  vier  Fällen 
nachweist,  daß  ein  affektbetonter  Vorstellungskomplex  die  Wurzel 
der  Wahnidee  ist. 

Der  Eeferent  begnügt  sich  mit  dieser  allgemeinen  Skizzierung 
des  Inhaltes  und  seiner  Tendenz.  Das  reichhaltige  Detail  des  Buches 
eignet  sich  nicht  für  ein  kurzes  Referat.  Man  kann  sagen,  daß  Bleulers 
Buch  das  Beste  ist,  was  wir  dato  an  allgemeiner  Beschreibung  elemen- 
tarer Affektpsychologie  besitzen.  Die  Lektüre  ist  darum  jedermann, 
ganz  besonders  dem  Anfänger  warm  zu  empfehlen. 

Derselbe:  Sexuelle  Abnormitäten  der  Kinder. 

Jahrbuch  der  Schweiz.   Gesellschaft  für  Schulgesundheits- 
pflege, IX.  Jahrg.,  1908,  p.  023. 

Verfasser  schildert  in  allgemein  verständlicher  Weise  die  sexuellen 
Per  Versionen,  die  bei  Kindern  in  Betracht  kommen.  Es  wird  vielfach 
auf  die  Freudsche  Psychologie  Bezug  genommen.  Verfasser  befür- 
wortet die  sexuelle  Aufklärung  der  Kinder,  jedoch  nicht  in  der  Form 
der  Massenaufklärung  in  der  Schule,  sondern  zu  Hause  unter  takt- 
voller Auswahl  des  Momentes  durch  die  Eltern. 

Derselbe  siehe  Jung:  Diagnost.  Assoc.  stud.,  V.  Beitrag. 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       359 

Bolte   (Bremen):    Assoziationsversuche   als   diagnostisches  Hilfsmittel. 

Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie,  Bd.  64,  1907. 

Verfasser  weist  die  Verwendbarkeit  des  Assoziationsexperimentes 
zu  diagnostischen  Zv.'ecken  nach.  Er  ist  in  der  Lage,  den  Grundanschauungen 
der  ,, Diagnostischen  Assoziationsstudien"  im  wesentlichen  beipflichten  zu 
können.  Einige  interessante  Beispiele  machen  die  Gedanken  seiner  Arbeit 
recht  anschaulich. 

Chalewsky  (Zürich) :   Heilung  eines  hysterischen  Bellens  durch  Psycho- 
analyse. 

Zentralblatt  für  Nervenheilkunde  und  Psychiatrie, XX.  Band, 
1909. 

Eine  kurze  und  durchsichtige  Symptomanalyse  bei  einem  13  jähr. 
Mädchen,  die  an  hysterischem  Husten  (,, Bellen")  litt.  Nachts  vor  dem 
Tage  der  Erkrankung  Traum:  ,,sie  wird  mit  ihrer  Schwester  Bella 
im  Walde  überfallen,  ihrer  Schwester  wird  der  Bauch  aufgeschnitten, 
sie  selber  bösen  Hunden  vorgeworfen."  Sie  hat  schon  längst  Hunde- 
phobie.  Folgenden  Tags  erschrickt  sie  über  eine  Blutlache  und  be- 
kommt sofort  das  ,, Bellen",  das  mit  der  Analyse  verschv/indet.  Maeder. 

Claparede  (Genf):    Quelques  mots  sur  la  definition  de  l'hysterie. 

Archives  de  Psychologie,  Tome  VIT,  1908,  p.  169. 

Verfasser  kritisiert  mit  großem  Geschicke  die  von  Babinski 
inaugurierte  neuere  Hysterieauffassung.  Im  Schliißkapitel  gibt  C. 
seine  eigene  Auffassung  respektive  Grundlagen  zu  einer  Auffassung, 
die  aber  selber  noch  in  einer  Reihe  von  Fragezeichen  besteht.  Er  an- 
erkennt die  Wichtigkeit  der  Freudschen  Verdrängung  und  mißt  ihr 
eine  biologische  Bedeutung  bei.  Den  psychoanalytischen  Widerstand, 
den  er  durch  eigene  Erfahrung  kennen  gelernt  hat,  nennt  er  eine  Abwehr- 
reaktion. Ähnlich  faßt  er  den  Globus,  Erbrechen,  Ösophagusspasmen, 
Lüge  und  Simulation  usw.  auf.  In  den  körperlichen  Symptomen  er- 
blickt er  eine  Wiederbelebung  anzestraler  Reaktionen,  die  ehemals 
nützlich  waren.  So  faßt  C.  den  hysterogenen  Mechanismus  als  eine 
Tendance  ä  la  reversion,  zum  Atavismus  in  der  Reaktionsweise.  Dafür 
scheinen  ihm  der  Infantilcharakter  und  die  ,, Disposition  ludique" 
die  Spieltendenz  zu  sprechen.  Seinen  Erörterungen  fehlt  der 
nötige  empirische  Boden,  den  man  sich  eben  nur  mit  Psychoanalyse 
erwirbt. 


360  C.  G.  Junff. 


&• 


Eberschweiler  (Zürich):   Untersuchungen  über  die  sprachliche    Kom- 
ponente der  Assoziation. 

Züricher  Dissertation,  1908. 

Erschienen    in    der   Allgemeinen    Zeitschrift    für    Psychia- 
trie,   1908.  f; 

Es  handelt  sich  um  eine  ebenso  mühsame  wie  sorgfältige  Unter- 
suchung, die  Verfasser  auf  Veranlassung  des  Referenten  unternommen 
hat.  Für  die  Komplexpsychologie  ist  ein  Ergebnis  von  besonderem 
Interesse:  Es  zeigte  sich,  daß  im  Assoziationsexperimente  sogenannte 
Vokalsequenzen  vorkommen,  d.  h.  daß  einige  aufeinanderfolgende 
Reaktionen  denselben  Akzentvokal  besitzen.  Untersucht  man  nun 
diese  ,, Perseverationen"  auf  das  Zusammentreffen  mit  Komplex- 
merkmalen, so  zeigt  es  sich,  daß,  bei  einem  durchschnittlichen  Total- 
gehalte von  0"36  Komplexmerkmalen  pro  Reaktion,  auf  ein  Wort  der 
Vokalsequenz  0*65  Komplexmerkmale  fallen.  Nehmen  wir  die  den 
Vokalsequenzen  vorausgehenden  zwei  Assoziationen  ohne  Klang- 
verwandtschaft, so  ergibt  sich  folgende  Reihe: 

a)  Assoziation  ohne  Vokalsequenz  O'IO  Komplexmerkmale. 

b)  Assoziation  ohne  Vokalsequenz  0'58  Komplexmerkmale. 

I.  Beginn  der  Vokalsequenz  (Assoziation,  deren  Akzentvokal  in 
der  folgenden  Reihe  perseveriert)  0*91  Komplexmerkmale. 
IL  Glied   der  Vokalsequenz  0*68  ,, 

III.  Glied  der  Vokalsequenz  0*10  ,, 

IV.  Glied  der  Vokalsequenz  0*05  ,, 

Z.  Assoziation  mit  neuem  Akzentvokale  0*42  Komplexmerkmale. 

Man  sieht  also,  daß  nach  Komplexstörungen  eine  entschiedene 
Neigung  zu  Klangperseverationen  vorhanden  ist,  eine  für  den  Me- 
chanismus des  Klangwitzes  und  des  Reimens  wichtige  Fest- 
stellung. 

Flournoy  (Genf):  Des  Indes  ä  la  Planete  Mars.  Etüde  sur  un  cas  de 
somnambulisme  avec  glossolalie. 

III.  Edition.  Paris,  F.  Alcan  et  Geneve,  Ch.  Eggimann  et 
Cie.,  1900. 

Derselbe:  Nouvelles  observations  sur  un  cas  de  somnambulisme  avec 

glossolalie. 

Archives  de  Psychologie,  Tome  I.,  1901. 

Die  großzügigen  und  überaus  bedeutsamen  Arbeiten  Flournoys 
über  einen  Fall  von  hysterischem  Somnambulismus  bringen  ein  auch 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       361 

für  die  Psychoanalyse  wertvolles  Beobachtungsmaterial  über  Phantasie- 
systome,  das  allgemeine  Beachtung  verdient.  Bei  der  Darstellung  des 
Falles  nähert  sich  F.  auch  explizite  gewissen  Freudschen  Auffassungen, 
wenn  schon  die  neueren  Gesichtspunkte  Freuds  auf  das  Werk  keine 
Anwendung  mehr  finden  konnten. 

Frank  (Zürich) :  Zur  Psychoanalyse. 

Festschrift  für  Forel.  Journal  für  Psychologie  und  Neurologie, 

Band  XIII,  1908. 

Nach  einer  kurzen  historischen  Einleitung  basiert  auf  die  Breuer- 
Freudschen  Studien,  drückt  Verfasser  sein  Bedauern  aus,  daß  Freud 
ohne  Angabe  seiner  Gründe  die  ursprüngliche  Methode  verlassen  habe. 
(Eine  aufmerksame  Lektüre  der  folgenden  Schriften  Freuds  findet 
bald  heraus,  warum  die  vollkommene  Technik  der  unvollkommenen 
ursprünglichen  vorgezogen  wird.  Referent.)  Verfasser  selbst  beschränkt 
sich  auf  das  ursprüngliche  kathartische  Verfahren  verbunden  mit 
Hypnose,  und  seine  kasuistischen  Mitteilungen  zeigen,  daß  er  mit  einer 
praktisch  anwendbaren  und  wertvollen  Methode  arbeitet,  welche  ent- 
schieden lohnende  Erfolge  aufzuweisen  hat.  Dadurch  wird  der  unver- 
meidliche Angriff  auf  die  Freudsche  Sexualitätslehre  auf  mildere 
Töne  gestimmt;  Verfasser  fragt:  ,, Warum  sollten  von  den  vielen 
Affekten,  mit  denen  die  Psyche  ausgestattet  ist,  nur  die  sexuellen  zu 
Störungen  Veranlassung  geben,  oder  sollte  gar  der  Sexualaffekt  die 
Wurzel  aller  anderen  Affekte  sein?"  (Die  Sexualität  in  den  Neurosen 
wurde  nicht  a  priori  erfunden,  sondern  empirisch  gefunden,  und  zwar 
durch  Anwendung  der  Psychoanalyse,  was  etwas  anderes  ist  als  das 
kathartische  Verfahren.  Der  Referent.)  Verfasser  wendet  die  Psycho- 
analyse nicht  an,  weil  ,,dem  Praktiker  nicht  die  Pflicht  Überbunden 
werden  kann,  in  jedem  Falle  lediglich  aus  theoretischen  Gründen  die 
Psychoanalyse  bis  zum  letzten  Ende  aller  Enden  durchzuführen". 
(Diese  Pflicht  existiert  nirgends,  wohl  aber  muß  man  aus  praktischen 
Gründen  weiter  als  1895  gehen,  denn  wenn  die  damalige  Methode  alles 
geleistet  hätte,  so  hätte  man  keine  Nötigung  gehabt,  weiter  zu  gehen.) 
Verfasser  gewann  den  Eindruck,  daß  Freud  die  Hypnose  und  die  Sug- 
gestion wohl  theoretisch,  keineswegs  aber  praktisch  völlig  beherrscht 
hat.  ,,Ich  kann  mir  sein  stetes  Wechseln  der  Methoden  nur  daraus 
erklären,  daß  er  als  Theoretiker  durch  seine  nicht  genügend  ein- 
gehenden Behandlungen^)  in  Hypnose  und  unbefriedigenden 

*)  Vom  Referenten  gesperrt. 


362  C.  G.  Jung. 

Resultate^)  immer  wieder  nach  neuen  Methoden  ausging"  usw. 
„Freud  hat  diese  Methoden  trotz  seiner  Erfolge^)  verlassen" 
sagt  der  Verfasser  etwas  weiter  oben.  Bei  diesem  Widerspruche  ist  zu 
erwähnen,  daß  Frank  sowohl  Freuds  spätere  Werke  als  auch  die  Ar- 
beiten anderer  Autoren  und  der  Züricher  Klinik  völlig  übergeht, 
sonst  könnte  er  nicht  behaupten,  und  zw^ar  1908,  daß  die  kathartische 
Methode  und  ihre  Eesultate  ,, unbeachtet"  blieben  und  nur  ,, vereinzelte 
Nachprüfungen"  stattfanden. 

(Ref.  kann  sich  nicht  enthalten,  darauf  hinzuweisen,  wie  einfach 
man  sich  über  diese  anscheinend  schwierigen  Fragen  orientieren  kann. 
Wenn  also  z.  B.  ein  Autor  vor  dem  Probleme  steht,  warum  Freud 
wohl  die  Hypnose  aufgegeben  habe,  dann  setze  er  einen  Brief  auf  an 
Herrn  Prof.  Freud  und  erkundige  sich.  Ref.  insistiert  auf  diesen  Punkt, 
weil  es  überhaupt  das  Grundübel  der  deutschen  Psychiatrie  ist,  daß 
man  sich  nie  verstehen,  sondern  nur  mißverstehen  will.  In  diesen 
Dingen  muß  man  sich  persönlich  auseinandersetzen  zur  Ab- 
kürzung aller  unnötigen  Schwierigkeiten  und  Mißverständnisse. 

Würde  dieser  Grundsatz,  der  z.  B.  in  Amerika  volle  Geltung  hat, 
einmal  in  unseren  Landen  anerkannt,  so  müßten  sich  nicht  so  viele 
sonst  hochverdiente  Autoren  mit  Kritiken  blamieren,  die  dazu  noch 
gelegentlich  in  einem  Tone  gehalten  sind,  der  von  vornherein  jede  Er- 
widerung unmöglich  macht.) 

Fürst  siehe  Jung:  Diagnost.  Assoc.  stud.,  X.  Beitrag. 

Hermann  (Galkhausen):  Gefühlsbetonte  Komplexe  im  Seelenleben  des 

Kindes,  im  Alltagsleben  und  im  Wahnsinn. 

Zeitschrift  für  Kinderforschung,  XIII.  Jahrg.,  p.  129 — 143. 

Allgemein  verständliche  Einführung  in  die  Komplexlehre  und  ihre  An- 
wendung auf  die  verschiedenen  normalen  und  pathologischen  Seelen- 
zustände. 

Isserlin   (München):    Die   diagnostische  Bedeutung    der    Assoziations- 
ve-  suche. 

Münchner  Medizinische  Wochenschrift,  Nr.  27,  1907. 

Mehrere  wesentliche  Ergebnisse  der  Züricher  Assoziatiousstudien 
werden  in  dieser  kritischen  Darstellung  als  bestehend  anerkannt.  Wo  die 
Freudsche  Psychologie  aber  anfängt,  hört  die  Billigung  des  Verfassers  auf. 


1)  Idem. 

2)  Idem. 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       363 

Jung  (Zürich):  Zur  Psychologie  und  Pathologie  sogenannter  okkulter 
Phänomene.    Eine  psychiatrische   Studie. 

Verlag  Oswald  Mutze,   Leipzig,  1902. 

Neben  vielen  klinischen  und  psychologischen  Erörterungen  über 
das  Wesen  des  hysterischen  Somnambulismus  enthält  die  Schrift  die 
ausführlichen  Betrachtungen  über  einen  Fall  spiritistischer  Mediumnität. 
Die  Persönlichkeitsspaltung  wird  aus  den  Tendenzen  der  infantilen 
Persönlichkeit  abgeleitet  und  als  Wurzeln  der  Phantasiesysteme  werden 
sexuelle  Wunschdelirien  aufgedeckt.  Unter  den  Beispielen  neurotischer 
Automatismen  findet  sich  ein  Fall  von  Kryptomnesie,  den  Verfasser 
in  Nietzsches  Zarathustra  entdeckt  hat. 

Derselbe:  Ein  Fall  von  hysterischem  Stupor  bei  einer  üntersuchungs- 
gefangenen. 

Journal  für  Psychologie  und  Neurologie,  Bd.  I,  1902. 

In  einem  Falle  von  sogenanntem  Ganser  -  Raeckeschem  Däm- 
merzustande weist  Verfasser  die  pathologische  Absicht,  den  Krank- 
heitswillen, die  Freudsche  Verdrängung  des  Unlustbetonten  und  das 
Wunscherfüllungsdelir  nach. 

Derselbe:    Die    psychopathologisehe    Bedeutung    des    Assoziationsex- 
perimentes. 

Archiv  für  Kriminalantrophologie,  22.  Bd.,  p.  145. 

Allgemeine  Einleitung  in  das  Assoziationsexperiment  und  die 
Komplexlehre. 

Derselbe:    Experimentelle  Beobachtungen    über    das    Erinnerungsver- 
mögen. 

Zentralbl.  f.  Nervenheilk.  u.  Psychiatrie,  XXVIII.  Jahrg., 

1905,  p.  653. 

Verfasser  teilt  hier  das  von  ihm  eingeführte  Reproduktions- 
verfahren mit.  Wenn  man  nach  Vollendung  eines  Assoziations- 
experimentes die  Versuchsperson  prüft,  ob  sie  sich  bei  jedem  einzelnen 
Reizworte  der  früher  gegebenen  Reaktion  richtig  entsinnt,  so  stellt  sich 
heraus,  daß  das  Vergessen  in  der  Regel  bei  oder  unmittelbar  nach 
Komplexstörungen  stattfindet.  Es  ist  also  ein  „Freudsches  Vergessen'". 
Das  Verfahren  ergibt  praktisch  wertvolle  Komplexmerkmale. 


364  C.  G.  Jung. 

Derselbe:  Die  Hysterielehre  Freuds.  Eine  Erwiderung  auf  die  Aschaffen- 
burgsche  Kritik. 

Müncliner  Medizinische  Wochenschrift,  Nr,  47,  1906. 
Wie  der  Titel  andeutet,  eine  polemische  Schrift,  welche  versucht, 
es  dem  Gegner  nahe  zu  legen,  sich  einmal  mit  psychoanalytischer 
Methode  näher  zu  beschäftigen  und  dann  zu  urteilen.  Die  Schrift  hat 
heute  nur  mehr  historischen  Wert,  als  sie  den  Ausgangspunkt  der, 
wir  können  sagen,  nunmehr  blühenden  Bewegung  der  Freudschen 
Psychologie  markiert. 

Derselbe:  Die  Freudsche  Hysterietheorie. 

Monatsschrift  für- Psychiatrie  und  Neurologie,  Bd.  XXIII, 

Heft  4,  p.  310. 

Es  handelt  sich  um  ein  Referat,  zu  dem  Verfasser  vom  Vorstande 
des  internationalen  Kongresses  für  Psychiatrie  in  Amsterdam  1907 
aufgefordert  worden  ist.  Die  auf  das  Elementarste  sich  beschränkenden 
Ausführungen  entsprechen  dem  damaligen  Erkenntnisniveau  des 
Verfassers,  das  sich  seither  natürlich  durch  wachsende  Erfahrung 
wesentlich  verändert  hat.  Die  Freudsche  Lehre  wird  historisch  ent- 
wickelt in  ihrer  Wandlung  von  der  kathartischen  Methode  zur 
Psychoanalyse.  Dabei  wird  versucht,  die  Denkmöglichkeit  der  psycho- 
analytischen Prinzipien  darzustellen  in  möglichster  Annäherung  an  das 
in  der  Wissenschaft  bereits  Bekannte.  Als  Illustration  der  psychoanaly- 
tischen Hysterieauffassung  wird  ein  schematisch  reduzierter  Fall  von 
Hysterie  demonstriert.  Die  Schlußformulierungen  lauten  (abgekürzt): 
Auf  konstitutionellem  Boden  erwachsen  gewisse  vorzeitige  Sexual- 
betätigungen von  mehr  oder  weniger  perverser  Natur.  Zur  Pubertäts- 
zeit erhält  die  Phantasie  eine  durch  die  infantile  Sexualbetätigrng 
konsteUierte  Richtung.  Die  Phantasie  führt  zur  Bildung  von  Vor- 
stellungskomplexen, die  mit  dem  übrigen  Bewußtseinsinhalte  unver- 
einbar sind  und  darum  der  Verdrängung  unterliegen.  In  diese  Ver- 
drängung wird  die  Übertragung  der  Libido  auf  eine  geliebte  Person 
mit  hineingezogen,  woraus  der  große  Gefühlskonfhkt  entsteht,  der 
dann  die  Veranlassung  zum  Ausbruche  der  eigentlichen  Krankheit  gibt. 

Derselbe:  Associations  d'id6es  familiales.  (Avec  5  graphiques.) 
Archives  de  Psychologie,  Tome  VII,  1907. 
Verfasser    hat    am   Für  st  sehen  Materiale   (siehe    unter    ,, Dia- 
gnostische Assoziationsstudien")  Berechnungen  über  die  durchschnitt- 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       365 

liehe  Differenz  der  Assoziationstypen  angestellt.  Die  Ergebnisse  werden 
hier  rechnerisch  und  graphisch  dargestellt. 

Derselbe:  L'analyse  des  Reves. 

Annee  psychologique,  publice  par  Alfred  Binet.  Tome  XV, 
1909.  p.  160. 

Verfasser  versucht  in  kurzen  Zügen  die  Grundlagen  der  Freud- 
schen  Traumdeutung  darzustellen.  Als  Material  dienen  eine  Reihe  von 
Beispielen  eigener  Erfahrung. 

Derselbe:  Über  die  Psychologie  der  Dementia  praecox.   Ein  Versuch. 
Verlag  Karl  Marhold,  Halle  1907. 

Die  Schrift Jzerfällt  in  fünf  Kapitel: 

I.  Kritische  Darstellung  theoretischer  Ansichten  über  die  Psycho- 
logie der  Dementia  praecox,  die  bis  zum  Jahre  1906  in  der  Literatur 
sich  vorfanden,  besprochen.  Es  ergibt  sich  daraus,  daß  allgemein  eine 
ganz  zentrale  Störung  angenommen  wird,  die  bei  den  verschiedenen 
Autoren  mit  ganz  verschiedenen  Namen  belegt  wird,  außerdem  er- 
wähnen einige  Autoren  die  ,, Fixierung"  und  die  ,, Abspaltung  von 
Vorstellungsreihen".  Freud  hat  zum  ersten  Male  den  psychogenen 
Mechanismus  einer  paranoiden  Demenz  klargelegt. 

II.  Der  gefühlsbetonte  Komplex  und  seine  allgemeinen  Wirkungen 
auf  die  Psyche.  Es  wird  eine  akute  und  eine  chronische  Komplex- 
wirkung unterschieden,  worunter  die  unmittelbare  und  langanhaltende 
Bearbeitung  der  Komplexinhalte  verstanden  ist. 

III.  Der  Einfluß  des  gefühlsbetonten  Komplexes  auf  die  Wertig- 
keit der  Assoziation. 

Hier  wird  in  detaillierter  Weise  der  Einfluß  des  Komplexes  auf 
die  Assoziation  geschildert,  wobei  ein  Hauptakzent  auf  das  biologische 
Problem  der  Komplexbearbeitung  in  ihrer  Beziehung  zur  psycho- 
logischen Anpassung  an  die  Umgebung  gelegt  wird. 

IV.  Dementia  praecox  und  Hysterie.  Eine  Parallele. 

In  diesem  Kapitel  wird  eine  möglichst  eingehende  Schilderung 
der  Ähnlichkeiten  und  der  Unterschiede  der  beiden  Krankheiten  gegeben. 
Die  Schlußformulierung  ergibt: 

Die  Hysterie  enthält  in  ihrem  innersten  Wesen  einen  Komplex, 
der  nie  ganz  überwunden  werden  konnte.  Potentia  ist  aber  die  Uber- 
windungsmöglichkeit  vorhanden. 


366 


C.  G.  Jung. 


Die  Dementia  praecox  aber  enthält  einen  Komplex,  der  nie  über- 
wunden werden  kann,  und  der  sich  deshalb  dauernd  fixiert. 

V.  Analyse  eines  Falles  von  paranoider  Demenz   als  Paradigma. 

Es  handelt  sich  um  einen  sogenannten  verblödeten  alten  und 
absolut  typischen  Fall  mit  massenhaften  Neologismen,  die  sich  ana- 
lytisch befriedigend  erklären  ließen  und  den  Inhalt  der  vorausgehenden 
Kapitel  bestätigen. 

Das  Buch  ist  ins  Englische  übersetzt  von  Peters on  und  Brill  mit 
einer  längeren  Einleitung  der  Übersetzer.  Der  Titel  der  englischen  Aus- 
gabe ist: 

C.  G.  Jung:  The  Psychology  of  Dementia  praecox. 

Nervous  and  mental  disease  series  No.  3. 

Authorized  Translation  with  an  introduction  by  Frederick  Peter- 
sen M.  D.  and  A.  A.  Brill  Ph.  B.,  M.  D.    New  York,  1909. 

Jung:  Diagnostische  Assoziationsstudien.  Beiträge  zur  experimentellen 
Psychopathologie. 

Herausgegeben  von  Dr.  C.  G.   Jung.  I.   Bd.  Verlag  von 
J.  A.  Barth,  Leipzig,  1906. 

Dieser  Band  enthält  eine  Auswahl  von  Arbeiten  aus  der  Züricher 
Khnik  über  Assoziation  und  Assoziationsexperiment,  die  zuvor  einzeln 
im  Journal  für  Psychologie  and  Neurologie  erschienen  sind. 
Abgesehen  vom  psychologischen  Standpunkte  kommt  diesen  Arbeiten 
auch  ein  praktisch-ärztliches  Interesse  zu,  indem  sich  aus  diesen  Unter- 
suchungen das  diagnostische  Assoziatio  nse  xperiment  entwickelt 
hat,  ein  Experiment,  das  uns  rasch  und  sicher  über  die  jeweiligen  wich- 
tigsten Komplexe  aufklärt.  Diese  diagnostische  Anwendung  kommt 
in  allererster  Linie;  von  sekundärer  und  für  sehr  viele  Fälle  noch 
unsicherer  diagnostischer  Bedeutung  ist  das  Experiment  in  seiner 
Anwendung  als  klinisch-differentialdiagnostisches  Hilfsmittel. 

Vorwort:  von  Prof.  Bleuler:  Über  die  Bedeutung  von  Asso- 
ziationsversuchen, p.  1 — 6. 

Die  sprachUche  Assoziation  ist  eines  der  wenigen  experimentell 
faßbaren  Gebilde.  Die  Ausbeute  derartiger  Versuche  läßt  viel  erwarten, 
denn  in  der  Assoziationstätigkeit  spiegelt  sich  das  ganze  psychische 
Sein  der  Vergangenheit  und  der  Gegenwart  mit  allen  seinen  Erfahrungen 
und  Strebungen.    Sie  ist  ein  ,, Index  für  alle  psychischen  Vorgänge, 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       367 

den  wir  nur  zu  entziffern  brauchen,  um  den    ganzen  Menschen    zu 
kennen." 

I.  Beitrag.    C.    G.   Jung    und    Fr.    Riklin    (Zürich):    Experimentelle 
Untersuchungen  über  Assoziationen  Gesunder,  p.  7 — 145. 

Dieser  Arbeit  liegt  das  Bestreben  zugrunde,  ein  großes  Material 
von  Assoziationen  geistig  Gesunder  zu  sammeln  und  darzustellen. 
Die  Arbeit  soll  über  die  in  der  Breite  des  Normalen  vorkommenden 
Möglichkeiten  unterrichten.  Um  das  umfangreiche  Material  zahlen- 
mäßig darzustellen,  bedurfte  es  eines  Einteilungsschemas  respektive 
der  Erweiterung  und  Verbesserung  des  bereits  vorhandenen  Kraepelin- 
Aschaf  f  enburgschen  Schemas.  Das  von  den  beiden  Autoren  adoptierte 
System  ist  nach  logisch-sprachlichen  Gesichtspunkten  gegliedert  und 
vermittelt  einen  wenn  auch  unvollkommenen,  so  doch  für  die  vor- 
liegenden Zwecke  genügenden,  zahlenmäßigen  Ausdruck.  Zunächst 
wurde  die  Frage  bearbeitet,  ob  und  was  für  Typen  der  Reaktionsweise 
im  normalen  Zustande  vorkommen.  Es  ergab  sich,  daß  gebildete  Ver- 
suchspersonen durchschnittlich  einen  flacheren  Reaktionstypus  auf- 
weisen als  die  Ungebildeten;  sodann  ergaben  sich  zwei  gesonderte 
Haupttypen,  die  indessen  mit  allen  Graden  der  Abstufung  ineinander 
übergehen:  ein  sachlicher  und  ein  egozentrischer  Typus.  Ersterer 
reagiert  mit  wenig  iVnzeichen  von  Gefühlen,  letzterer  mit  vielen  Ge- 
fühlsanzeichen. Vom  praktischen  Standpunkte  aus  ist  namentlich 
letzterer  Typus  interessant ;  er  zerfällt  in  zwei  weitere  Unterabteilungen : 
in  den  sogenannten  Konstellations-  respektive  Komplexkonstel- 
lationstypus und  in  den  Prädikattypus.  Ersterer  Typus  sucht 
ötarke  Gefühle  zu  verdrängen,  letzterer  sucht  sie  zu  zeigen. 

Ermüdung,  Schläfrigkeit,  Alkoholintoxikation,  Manie  verflachen 
den  Reaktionstypus.  Diese  Verflachung  beruht  in  erster  Linie  auf  der 
Störung  der  Aufmerksamkeit  in  diesen  Zuständen. 

Dieses  läßt  sich  dadurch  erweisen,  daß  man  durch  eine  besondere 
Versuchsanordnung  die  Aufmerksamkeit  spaltet  und  unter  dieser  Be- 
dingung dann  das  Assoziationsexperiment  vornimmt.  Diese  Ex- 
perimente ergaben  bestätigende  Resultate. 

II.  Beitrag.  K.  Wehrlin  (Zürich):  Über  die  Assoziationen  von  Im- 
bezillen und  Idioten,  pag.  146 — 174. 

Verfasser  referiert  über  die  Ergebnisse  seiner  Assoziationsver- 
suche  an    13  Imbezillen.   Die   Assoziationen   der  meisten   Schwach- 


368  C.  G.  Jung. 

sinnigen  zeigen  einen  bestimmten  Typus,  den  sogenannten  Defini- 
tionstypus.   Charakteristische  Reaktionen  dieser  Art  sind: 

Winter:  besteht  aus  Schnee. 

Singen:  besteht  aus  Noten  und  Gesangbüchern. 

Vater:  Mitglied  neben  der  Mutter. 

Kirsche:  Eine  Gartensache.  Usw. 

Die  Imbezillen  zeigen  somit  eine  bis  aufs  äußerste  gesteigerte 
Einstellung  auf  die  intellektuelle  Bedeutung  des  Reizwortes.  Daß 
dieser  Typus  gerade  bei  intellektuell  Schwachen  vorkommt,  ist  cha- 
rakteristisch. (Vgl.  unten  die  Arbeit  von  Frl.  Dr.  Fürst.) 

III.  Beitrag.  C.  G.   Jung:  Analyse  der   Assoziationen  eines  Epilep- 

tikers, p.  175—192. 

Die  Assoziationen  dieses  Epileptikers  zeigen  deutlichen  Defini- 
tionstypus von  schwerfälligem,  umständlichem  Charakter,  der  sich 
besonders  in  Bestätigung  und  Ergänzung  der  eigenen  Reaktion 
äußert, 

Z.  B.  Obst:  das  ist  eine  Frucht,  eine  Obstfrucht; 
stark:  bin  kräftig,  das  ist  stark; 
lustig:  ich  bin  lustig,  ich  bin  fröhlich. 

Außerdem  findet  sich  eine  außerordentliche  Menge  gefühlsbetonter 
egozentrischer  Beziehungen,  die  un verhüllt  ausgesprochen  werden. 
Im  übrigen  ergeben  sich  einige  Anzeichen,  die  vermuten  lassen,  daß 
dem  epileptischen  Gefühlston  ein  besonders  perseverierender  Charakter 
zukommt. 

IV.  Beitrag.  C.  G.  Jung:  Über  das  Verhalten  der  Reaktionszeit  beim 

Assoziationsexperiment,  p.  193 — 228. 

Die  Untersuchung  beschäftigt  sich  mit  der  Erforschung  der  bisher 
unbekannten  Gründe  für  die  abnorme  Verlängerung  gewisser  Reak- 
tionszeiten. 

Die  Ergebnisse  sind  folgende: 

Gebildete  reagieren  durchschnittlich  rascher  als  Ungebildete. 
Die  Reaktionszeit  der  weiblichen  Versuchspersonen  ist  durchschnittlich 
beträchtlich  länger  als  die  der  männlichen.  Die  grammatische  Qualität 
des  Reizwortes  hat  einen  bestimmten  Einfluß  auf  die  Reaktionszeit, 
ebenso  die  logisch  sprachliche  Quahtät  der  Assoziation.  Die  über 
dem  wahrscheinlichen  Mittel  liegenden  Reaktionszeiten 
sind  zum  größeren  Teile  verursacht  durch  Interferenz 
eines    sehr    oft    nicht    bewußten    (verdrängten)    Komplexes. 


Referate  über  psycbolog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       369 

Sie  sind  daher  ein  wichtiges  Hilfsmittel  zur  Auffindung  eines  verdrängten 
Komplexes.  Diese  Tatsache  ist  belegt  durch  zahlreiche  Beispiele  von 
Analysen  derartig  konstellierter  Assoziationen. 

V.  Beitrag.  E.  Bleuler:  Bewußtsein  und  Assoziation,  p.  229 — 257. 

Die  Arbeit  befaßt  sich  mit  literarischen  und  kasuistischen  Nach- 
weisen zu  der  Tatsache,  daß  sich  ,,in  der  Beobachtung  keine  Grenze 
zwischen  bewußt  und  unbewußt  ziehen"  lasse  und  daß  die  gleichen 
funktionellen  Gebilde  und  Mechanismen,  die  wir  im  Bewußtsein  finden, 
auch  außerhalb  desselben  nachzuweisen  sind,  und  von  da  aus  unsere 
Psyche  ebensowohl  beeinflussen  wie  die  analogen  bewußten  Vorgänge. 
,,Es  gibt  in  diesem  Sinne  unbewußte  Empfindungen,  Wahrnehmungen, 
Schlüsse,  Gefühle,  Befürchtungen  und  Hoffnungen,  die  sich  von  den 
gleichbezeichneten  bewußten  Phänomenen  einzig  und  allein  durch  das 
Fehlen  der  Bewußtheitsqualität  unterscheiden."  B.  weist  besonders 
auf  die  Fälle  mehrfacher  Persönlichkeit  hin  und  bemerkt,  daß  man  nicht 
bloß  von  einem  Unbewußten  reden  könne,  sondern  daß  vielmehr  eine 
nahezu  unendliche  Anzahl  von  verschiedenen  unbewußten  Gruppie- 
rungen möglich  sei.  Die  Gruppierung  der  Erinnerungselemente  zu  den 
verschiedenen  Persönlichkeiten  geschieht  ausnahmslos  unter  dem 
maßgebenden  Einflüsse  von  Affekten. 

B.  betrachtet  die  Bewußtheitsqualität  als  etwas  Nebensächliches, 
indem  psychische  Vorgänge  nur  unter  gewissen  Bedingungen  bewußt 
zu  sein  brauchen,  nämlich  nur  dann,  wenn  sie  eine  Assoziation  eingehen 
,,mit  denjenigen  Vorstellungen,  Empfindungen,  Strebungen,  die  im 
gegebenen  Momente  unsere  Persönlichkeit  ausmachen". 

VI.  Beitrag.  Jung:    Psychoanalyse    und    Assoziationsexperiment. 

p.  258—281. 

Die  Arbeit  steht  noch  stark  unter  dem  Einflüsse  der  ursprüng- 
lichen Breuer- Fr eudschen  Neurosenlehre,  also  der  Lehre  vom  psy- 
chischen Trauma.  Das  neurotische  Symptom  ist  im  wesentlichen  ein 
Symbol  für  verdrängte  Vorstellungskomplexe.  Das  Assoziations- 
experiment enthüllt  uns  in  seinen  gestörten  Reaktionen  diejenigen 
Worte  und  Dinge,  welche  direkt  auf  den  unbekannten  Komplex  führen. 
Insofern  kann  das  Experiment  eine  wertvolle  Hilfe  bei  der  Analyse  sein. 
Diese  Möglichkeit  wird  an  einem  praktischen  Beispiele,  einem  Falle  von 
Zwangsneurose,  erörtert.  Die  Zusammenstellung  der  gestörten  Reak- 
tionen zu  einer  Legende  ergibt  das  Vorhandensein  eines  ausgedehnten 
erotischen  Komplexes,  der  eine  Reihe  von  individuellen  Bestimmungen 

Jahrbuch  für  psjchoanalyt.  u.  psychopathol.  Forachungeu.   II.  "4 


370  CG.  Jung. 

enthält.  Auf  diese  Weise  ist  ein  tiefer  Einblick  in  die  aktuelle  Persön- 
lichkeit ermöglicht;  die  nachfolgende  Psychoanalyse  erwies  die  Be- 
rechtigung der  durch  das  Assoziationsexperiment  geweckten  Erwar- 
tungen, so  daß  der  Schluß  sich  rechtfertigt,  daß  nämlich  das  Asso- 
ziationsexperiment den  Komplex,  der  zunächst  hinter  den  neurotischen 
Symptomen  liegt,  der  Erforschung  zugänglich  macht.  Jede  Neurose 
enthält  einen  das  Assoziationsexperiment  wesenthch  beeinflussenden 
Komplex,  dem  man  auf  Grund  zahlreicher  Erfahrungen  eine  kausale 
Bedeutung  einräumen  muß. 

Die  Beiträge  VII  bis  XII  sind  jetzt  im  II.  Bande  der 
Diagnostischen  Assoziationsstudien   gesammelt  erschienen. 

VIII.  Beitrag.  Riklin    Franz    (Zürich):     Kasuistische    Beiträge    zur 
Kenntnis  hysterischer  Assoziationsphänomene. 

p.  1—30. 

Verfasser  untersucht  die  Assoziationsphänomene  bei  acht  Hy- 
sterischen und  kommt  zu  folgenden  Ergebnissen: 

Im  Vorgerdrunde  des  hysterischen  Reaktionstypus  stehen  mehr 
oder  weniger  selbständig  wirkende  Vorstellungskomplexe  von  großem 
Affektwerte,  deren  Entfaltung  weit  mächtiger  zu  sein  scheint,  als  bei 
Gesunden.  Der  oder  die  Komplexe  beherrschen  den  Reaktionstypus 
fast  ausschließlich,  so  daß  die  Assoziationsversuche  von  Komplex- 
störungen ganz  durchsetzt  sind.  Die  Domination  durch  einen  Komplex 
ist  die  Hauptsache  hysterischer  Psychologie,  und  wohl  alle  Svmptome 
lassen  sich  aus  dem  Komplex  direkt  ableiten. 

VIII.  Beitrag.  Jung:  Assoziation,  Traum  und  hysterisches  Symptom, 
p.   31—66. 

Die  Arbeit  unternimmt  es,  an  einem  Falle  von  Hysterie  den  ero- 
tischen Komplex  in  seinen  verschiedenen  Erscheinungsweisen  zu  be- 
schreiben und  zu  determinieren.  Zuerst  wird  durch  die  Analyse  der 
Assoziationen  die  Konstellation  durch  den  erotischen  Komplex  er- 
wiesen, dann  werden  die  Wandlungen  des  Komplexes  in  einer  Traum- 
serie analysiert  und  schließlich  wird  der  Komplex  auch  als  Grundlage 
der  Neurose  dargestellt.  Der  Komplex  hat  bei  der  Hysterie  eine  ab- 
norme Selbständigkeit  und  neigt  zu  einer  aktiven  Sonderexistenz, 
welche  die  konstellierende  Kraft  des  Ichkomplexes  progressiv  herab- 
setzt und  vertritt.  Dadurch  wird  allmählich  eine  neue  Krankheits- 
persönlichkeit geschaffen,  deren  Neigungen,  Urteile  und  Entschlüsse  nur 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       371 

in  der  Richtung  des  Kr ankheits willens  gehen.  Durch  die  zweite  Per- 
sönlichkeit wird  der  normale  Ichrest  aufgezehrt  und  in  die  Rolle  eines 
sekundären  (beherrschten)  Komplexes  gedrängt. 

IX.  Beitrag.  C.  G.  Jung:     Über    die    Reproduktionsstörungen    beim 

Assoziationsexperiment.  ; 

p.  67—76. 

Die  Arbeit  beschäftigt  sich  mit  der  oben  besprochenen  Repro- 
duktionsmethode. x4.n  Hand  eines  größeren  pathologischen  Materials 
wird  nachgewiesen,  daß  in  der  Hauptsache  die  mangelhaft  reprodu- 
zierte Assoziation  eine  Reaktionszeit  besitzt,  die  über  dem  Mittel  des 
ganzen  Versuches  liegt,  auch  zeigt  sie  durchschnittlich  mehr  als  doppelt 
soviel  Komplexmerkmale  als  eine  richtig  reproduzierte  Assoziation. 
Woraus  hervorgeht,  daß  die  Reproduktionsstörung  auch  ein  Merkmal 
ist  für  die  Interferenz  eines  Komplexes. 

X.  Beitrag.  Fürst  Emma  (Schaff hausen):   Statistische  Untersuchungen 

über  Wortassoziationen  und  über  familiäre  Übereinstimmung  im 
Reaktionstypus  bei  Ungebildeten. 
p.   77—112. 

Es  wurden  bei  24  Familien  mit  zusammen  100  Versuchspersonen 
Assoziationsversuche  aufgenommen.  In  dieser  Arbeit  werden  vorder- 
hand bloß  die  Resultate  der  Bearbeitung  von  9  ungebildeten  Familien 
mit  37  Versuchspersonen  dargestellt.  Die  mühsame  Bearbeitung  des 
übrigen  Materials  ist  noch  nicht  beendigt.    Es  ergibt   sich  folgendes: 

Die  Männer  neigen  etwas  mehr  zu  äußeren  Assoziationen  als  ihre 
Frauen,  ebenso  die  Söhne  etwas  mehr  als  ihre  Schwestern.  547o  der 
Versuchspersonen  weisen  ausgesprochene  prädikative  Einstellung  auf, 
und  zwar  überwiegen  die  Frauen.  Die^Tendenz  zur  Bildung  von  Wert- 
prädikaten ist  im  Alter  größer  als  in  der  Jugend;  bei  Frauen  beginnt 
die  entsprechende  Tendenz  vom  40.  Jahre  und  bei  Männern  vom  60.  an. 
Verwandte  haben  eine  Tendenz  zur  Übereinstimmung  im  Reaktions- 
typus, zur  Assoziationskonkordanz.  Die  beste  und  gleichmäßigste 
Übereinstimmung  findet  zwischen  den  Eltern  und  ihren  gleichgeschlech- 
tigen Kindern  statt.  H  f'-V?;  ■ 
XL  Beitrag.  Binswanger  L.  (Kreuzungen):  Über  das  Verhalten  des 
psychogalvanischen    Phänomens    beim    Assoziationsexperiment. 

p.  113—195.  ]^9  =^  M    ' 

Der  aus  dem  psychologischen  Laboratorium  des  Burghölzli  her- 
vorgegangenen Arbeit  liegen  30  Assoziationsversuche  an  23  gebildeten 

24* 


372  C.  G.  Jung 


o* 


und  ungebildeten  gesunden  Versuchspersonen  zugrunde,  die  während 
des  Experimentes  in  einen  elektrischen  Stromkreis  von  sehr  geringer 
Intensität  eingeschaltet  waren.  Der  I.  Teil  bringt  zunächst  einen  histo- 
rischen Überblick  über  die  Literatur  des  p.  g.  Ph.  bis  1906,  behandelt 
sodann  eingehend  die  Versuchsanordnung,  Technik  und  Registrier- 
methode der  eigenen  Versuche.  Auf  die  Entstehungsbedingungen  des 
p.  g.  Ph.  wird  nur  kurz  eingegangen.  Verfasser  weist  dabei  dem  Schweiß- 
drüsensystem  eine  hervorragende  Rolle  zu,  äußert  sich  aber  sehr  reser- 
viert über  die  näheren  physiologischen  und  physikalischen  Vorgänge. 
So  viel  scheint  ihm  aber  aus  seinen  Versuchen  hervorzugehen,  daß  es 
sich  um  sehr  feine  physikalische  Vorgänge  handeln  muß  und  um  solche, 
..deren  Ablauf  fortwährend  von  Zentralorgan  beherrscht,  gefördert 
oder  gehemmt  werden  kann".  Von  psychischen  Vorgängen  sah  Verfasser 
nur  affektive  Vorgänge  auf  das  p.  g.  Ph.  einwirken.  Hierauf  gründet 
sich  die  Brauchbarkeit  des  Phänomens  beim  Assoziationsexperiment. 
Im  II.  Teile  sind  vier  Versuche  in  extenso  wiedergegeben.  Im 
Anhange  befinden  sich  die  zugehörigen  instruktiven  Kurven  mit  den 
in  Stäbchenform  registrierten  Galvanometerausschlägen,  unter  denen 
auf  einer  Horizontalen  die  Reaktionszeiten  markiert  sind.  Die  Analyse 
der  einzelnen  Reaktionen  wird  eingehend  und  mit  Hilfe  der  Freud  sehen 
Technik  durchgeführt.  Das  Hauptergebnis  dieser  Versuche  ist  der 
Nachweis,  daß  den  Komplexreaktionen  in  den  meisten  Fällen  ,,zu  lange", 
d.  h.  über  dem  wahrscheinlichen  Mittel  des  Gesamtversuches  Liegende 
Ausschläge  entsprechen,  wodurch  der  zu  lange  Ausschlag  als 
wertvolles  neues  Glied  in  die  Reihe  der  Komplexmerkmale 
eintritt.  Wichtig  ist  ferner  die  Unterscheidung  zwischen  der  Asso- 
ziationskurve (Veraguth)  und  den  Komplexkurven,  d.  h.  solchen 
Abschnitten  der  Assoziationskurve,  die  sich  auf  deren  Gesamtverlauf 
als  sekundäre  WeUen  abheben.  Das  Studium  des  Verhaltens  der  Kom- 
plexkurven ist  dem  Verfasser  wertvoll  zur  Beurteilung  des  affektiven 
Typus  der  Versuchspersonen.  Verfasser  bespricht  eingehend  den  ab- 
fallenden Schenkel  der  Komplexkurve  und  dessen  Beziehungen  zu  der 
abfallenden  Kurve,  die  man  erhält  bei  einem  unabhängig  vom  Ex- 
perimente bestehenden  starken  Affekt  sowie  bei  innerer  und  äußerer 
Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  vom  Experimente  (die  beigegebenen 
Tafeln  illustrieren  diese  Verhältnisse).  Durch  hier  nicht  näher  wieder- 
zugebende Überlegungen  kommt  er  zu  folgendem  Resultate:  ,,Ein 
bestehender  Komplex  (Daueraffekt,  Dauerkonzentration  auf  etwas 
anderes  als  die  Experimentreize)  hemmt  die  psychische  Verarbeitung 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       373 

des  Reizes.  Er  bleibt  assoziations-  und  gefühlsarm.  Aus  dem  Mangel 
an  neuen  Affekten  ergibt  sich  der  Mangel  an  neuen  Innervationen  und 
daher  auch  das  Verschwinden  der  Ausschläge.  Daß  die  Kurve  all- 
nicählich  absinkt,  erklärt  sich  daraus,  daß  der  akute  Affekt  allmählich 
erlischt,  wohingegen  die  durch  den  Affekt  geschaffene  Henimungs- 
einstellung  noch  längere  Zeit  anhält."  Da  das  Absinken  der  Galvano- 
meterkurve der  Ausdruck  der  Zunahme  des  elektrischen  Leitungs- 
widerstandes der  Versuchsperson  (im  wesentlichen  der  Haut)  ist, 
lassen  sich  diese  Verhältnisse  auch  so  ausdrücken :  Der  el.  L.  w.  der 
Versuchsperson  nimmt  überall  da  ab,  wo  es  zu  einem  Zuwachs  an 
Innervationen  kommt,  hingegen  zu,  wo  eine  Hemmung  oder  ein  Wegfall 
an  Innervationen  eintritt  (in  der  Ruhe,  im  Schlafe,  bei  rein  intellektueller 
geistiger  Arbeit,  bei  dauernder  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit). 

Im  III.  Teile  werden  die  Beziehungen  zwischen  Ausschlag  und 
Reaktionszeit  eingehend  gewürdigt  und  die  Ursachen  erläutert,  die  zu 
einer  auffallenden  Diskrepanz  in  dem  Verhalten  der  beiden  Komplex- 
merkmale führen  können.  Intellektuelle  und  sprachliche  Gründe  wirken 
hier  mit,  vor  allem  aber  die  Perseveration,  deren  große  Rolle  beim 
Assoziationsexperimente  überhaupt  in  der  Arbeit  klar  zutage  tritt. 
Ein  besonderes  Augenmerk  richtet  Verfasser  auf  das  sehr  interessante 
Verhalten  der  Ausschläge  bei  den  Klangassoziationen,  wobei  er  zu  dem 
Ergebnis  gelangt,  daß  ein  bei  einer  Klangreaktion  auftretender  zu  langer 
Ausschlag  auf  eine  tiefere  inhaltliche  Verknüpfung  der  beiden  Klang- 
assoziationen hinweist,  die  aber  oft  im  Unbewußten  liegt  und  durch 
Psychoanalyse  aufgedeckt  werden  muß.  Daß  verdrängte  Komplexe 
auf  das  p.  g.  Ph.  einzuwirken  vermögen,  wird  an  einigen  Beispielen 
klar  zu  machen  versucht. 

Der  IV.  Teil  enthält  umfassende  und  in  fünf  Tabellen  nieder- 
gelegte Berechnungen  über  Ausschläge  und  Reaktionszeiten  bei  den 
vier  Gruppen  der  gebildeten  und  ungebildeten  Männer  und  Frauen. 
Hauptergebnisse:  ,,Die  Differenz  zwischen  dem  wahrscheinlichen 
und  dem  arithmetischen  Mittel  der  Ausschläge  ist  ein  sichereres  Kri- 
terium für  die  Emotivität  der  V.  P.  als  die  Differenz  zwischen  beiden 
Mitteln  der  Reaktionszeiten."  ,,In  allen  vier  Gruppen  von  Ver- 
suchspersonen entsprechen  den  zu  langen  Reaktionszeiten 
auch  zu  lange  Ausschläge.  In  allen  vier  Gruppen  nimmt 
die  Größe  des  Ausschlages  mit  der  Zahl  der  Komplexmerk- 
male zu.  Nur  die  Komplexlehre,  die  aus  dem  Auftreten 
der  Komplexmerkmale   auf   das  Vorhandensein    einer  ge- 


374  C.  G.  Jung. 

fühlsbetonten   Vorsteliungsmasse    schließt,    gibt    uns    das  i 

Verständnis  für  diese  Beobachtung."  Binswanger. 


Mit  der  tatbestandsdiagnostischen  Anwendung  des  Asso- 
ziationsexperimentes befassen  sich  folgende  Arbeiten  der  Züricher 
Klinik: 

Jung:  Die  psychologische  Diagnose  des  Tatbestandes. 

Verlag  von  Karl  Marhold,  Halle,  1906. 

Allgemeine  Darstellung  und  Auffassung  des  Experimentes.  Praktische 
Anwendung  bei  einem  Diebstahl. 

Derselbe:   Le  nuove  vedute  della  Psicologia  criminale.  Contributo  al 
metodo  della  „Diagnosi  della  conoscenza  del  fatto". 

Rivista  di  Psicologia  applicata.  Anno  IV,  p.  287 — 304. 

Praktische  Anwendung  bei  einem  konkreten  Diebstahle  mit  mehreren 
Verdächtigen. 

Stein  Philipp  (Budapest):  Tatbestandsdiagnostische  Versuche  bei  Unter- 
suchungsgefangenen. 

Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane, 
1909. 

Die  Arbeit  beschäftigt  sich  mit  Untersuchungen  über  konkrete  Tat- 
bestände bei  Schuldigen,  Verdächtigen  und  Unwissenden.  Das  Material 
wurde  teils  in  der  psychiatrischen  Klinik,  teils  im  Untersuchungsgefängnisse 
in  Zürich  gewonnen  und  hat,  weil  es  aus  der  lebendigen  Wirklichkeit  der 
Kriminalpraxis  hervorgeht,  ein  besonderes  Interesse. 


Jung:  Der  Inhalt  der  Psychose. 

Freuds  Schriften  zur  angewandten  Seelenkunde.  III.  Heft, 
1908.  Franz  Deuticke,  Leipzig  und  Wien. 

Die  Arbeit,  ein  akademischer  Vortrag,  beschäftigt  sich  mit  der 
großen  Veränderung  in  der  psychologischen  Auffassung  der  Psychosen, 
welche  die  Einführung  der  Freud  sehen  Psychologie  gebracht  hat.  In 
allgemein  verständlicher  Weise  wird  zuerst  die  Schwenkung  von  der 
anatomischen  Betrachtungsweise  zu  der  psychologischen  dargestellt; 
sodann  wird  an  Hand  einer  Reihe  von  konkreten  Fällen  der  psycho- 
logische Aufbau  der  sogenannten  Dementia  praecox  in  Umrissen  wenig- 


Referate  über  psycliolog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       375 

stens  geschildert.  Die  Schrift  will  nichts  als  eine  orientierende  Einleitung 
in  die  modernen  Probleme  der  psychologischen  Psychiatrie  sein. 

1909  ist  die  Schrift  auch  in  russischer  und  polnischer  Sprache 
erschienen. 

Jung:  siehe  Bleuler  und  Jung.; 

Ladame  (Genf):  L'association  des  id^es  et  son  utilisation  comme  m6thode 
d'examen  dans  les  maladies  mentales. 

L'encephale,   Journal  mensuel   de  Neurologie   et  de  Psy- 
chiatrie, Nr.  8,  1908. 

Möglichst  objektive  Darstellung  der  Ergebnisse  der  Assoziations- 
studien. 

Derselbe:  Arehives  de  Psychologie,  Tome  IX.  1909,  p.  76. 

:  Referat  über  Jungs  Psychologie  der  Dementia  praecox. 

L.  stellt  mit  ziemlicher  Ausführlichkeit  den  Inhalt  dar,  enthält 
sich  der  Kritik  und  fügt  nur  am  Ende  folgenden  Passus  bei:  ,, Bemerken 

wir  zum  Schlüsse,  wie  fruchtbar  Versuche  dieser  Art sind.  Nach 

ihrer  Lektüre  ist  es  unmöglich,  sich  geistig  wieder  aufs  Ohr  zu  legen 
und  gelassen  oder  flüchtig  die  zahkeichen  Dementia-praecox-Kranken, 
die  unsere  Asyle  bevölkern,  zu  betrachten.  Man  fühlt  sich  unwider- 
stehlich gedrängt,  etwas  anderes  hinter  den  banalen  Symptomen  der 
Psychosen  zu  suchen,  das  Individuum  zu  entdecken  und  seine  normale 
und  abnorme  psychische  Persönlichkeit." 

Alph.  Maeder  (Zürich):   I.  Contributlons  ä  la  Psychopathologie  de  la 
via  quotidienne. 

(Arehives  de  Psychologie  Tome  VI.) 

Derselbe :  II.  Nouvelles  contributlons  ä  la  Psychopathologie. 
(Arehives  de  Psychologie  Tome  VII,) 

I.  Eine  Anzahl  von  einfachen  Analysen  von  Versprechen,  Ver- 
gessen, Vergreifen,  nach  Freud,  bei  welchen  eine  verdrängte,  negativ 
gefühlsbetonte  Vorstellung  nachweisbar  ist. 

II.  Verfasser  zeigt  an  der  Hand  von  Beispielen  die  Arten  des  Ver- 
gessens  durch  ,, Isolation",  ,, Derivation";  er  bespricht  das  ,, Abreagieren 
(decharge  emotionnelle)  unter  Benutzung  des  Begriffes  des  Kom- 
plexes, Andeutungen  von  ,, Dissoziation"  werden  beim  Normalen 
nachgewiesen,  wie  die  Mechanismen  der  ,, Verlegung"  der  affektiven 
,, Irradiation"  und  der    „Identifikation".    Verfasser  macht    auf    die 


376  C.  G.  Jung. 

,,Automatismes  musicaux"  aufmerksam,  auf  die  indirekten  Aus- 
drucksmittel des  Unbewußten;  er  betont  dann  die  Fruchtbarkeit 
dieses  Grenzgebietes  der  Psychopathologie. 

Derselbe:  Essai  d'interpretation  de  quelques  röves. 

(Archives  de  Psychologie,  Tome  VI.) 

Einleitend  eine  kurze  Darstellung  der  Freudschen  Theorie  der 
Traumdeutung  und  der  Psychoanalyse.  Es  folgen  vier 
eigene  Traumanalysen  als  Illustration.  Verfasser  zeigt  mit  Beispielen, 
daß  die  gleichen  Symbole  in  Träumen,  Legenden,  in  der  Mytho- 
logie im  gleichen  Sinne  häufig  angewandt  werden.  (Speziell:  Notice 
sur  le  serpent,  le  chien,  l'oiseau,  le  j ardin,  la  maison,  la  boite.) 

Derselbe:  Die  Symbolik  in  den  Legenden,  Märchen,  Gebräuchen  und 
Träumen. 

■    '"  (Psychiatrisch-Neurologische  Wochenschrift,  X.  Jahrg.)]    ; 

Das  Denken  in  Symbolen  ist  eine  niedrige  Stufe  der  Asso- 
ziation (die  Ähnlichkeit  zur  Gleichheit  erhöht),  es  ist  ein  häufiger  Prozeß 
der  unbewußten  Tätigkeit  (deswegen  die  Rolle  in  Träumen,  Hallu- 
zinationen, Wahnideen,  auch  in  den  Gedichten) :  Beispiele  von  epilepti- 
schen Dämmerzuständen.  Die  Assimilationstendenz  des  Sexualkomplexes 
und  die  Entstehung  der  Symbole.  Deutung  des  Fisches  als  Sexual- 
symbol gibt  den  Schlüssel  zur  Erklärung  vieler  Gebräuche,  Volks- 
glauben (Fisch  am  Freitag,  der  Aprilfisch  —  Aprilscherz,  das  Spiel 
am  Aschermittwoch  . . .),  Legenden  und  Märchen  (Grimm:  Die  goldenen 
Fische). 

Derselbe:  Une  voie  nouvelle  en  Psychologie. 

(Freud  et  son  ecole)  Coenobium  Lugano-Milano,  1909. 

Allgemein  orientierender  Aufsatz  über  die  Freudsche  Psychologie 
(mit  Ausschluß  der  Psychopathologie).  Die  Psychoanalyse  ermöglicht 
durch  Aufdeckung  der  unbewußten  Motivierung  eine  einheitliche  Auf- 
fassung des  Denkens  und  Wirkens  eines  Menschen. 

Zuerst  werden  die  Störungen  der  unbewußten  Tätigkeit 
beim  Gesunden  an  Hand  eigener  Analysen  besprochen.  Die  Störungen 
sind  aufzufassen  als  Ausdrucksmittel  des  Unbewußten,  als  Verrat  von 
uneingestandenen  Tendenzen.  Der  allmähliche  Übergang  ins  Patho- 
logische wird  überall  betont.  Der  Traum  steht  im  innigen  Zusammen- 
hange mit  den  aktuellen  Konfhkten  des  Individuums,  er  gibt  eine 
Lösung  des  Unbewußten,  welche  später  häufig  angenommen  wird 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       377 

und  zur  Verwirklichung  gelangt.  Die  Konflikte  entstehen  zum  Teil 
unter  dem  Drucke  des  Kulturlebens.  Folgt  eine  ausführliche  Traum- 
analyse. 

Im  III.  Abschnitte  werden  die  Symbole  im  Traume,  in  den 
Halluzinationen,  Erzählungen  und  Legenden  und  in  der  Sprache  be- 
handelt. Das  Symbol  ist  eine  besondere  Form  der  Gedankenassoziation, 
welche  durch  das  unscharfe  charakterisiert  ist;  vage  Analogien  wurden 
als  Gleichheit  betrachtet.  Es  ist  wahrscheinlich  für  das  Unbewußte 
typisch ;  es  hat  etwas  Infantiles  und  Primitives.  Symbolik  in  der  Volks- 
sprache (Rabelais,  Folklore),  in  den  Legenden,  in  der  Sprache  der 
Wilden  —  Form  der  Assoziationen  bei  der  Ermüdung,  im  Abaissement 
du  niveau  mental,  in  den  Symptomhandlungen  bei  abgelenkter  Auf- 
merksamkeit, im  Traume  und  in  den  Psychosen  und  Neurosen. 

Derselbe:  A  propos  des  Symboles. 

Journal  de  Psychol.  normale  et  pathologique,  Paris,  1909. 
Der  Aufsatz  enthält  im  wesentlichen  das  gleiche' wie  der  III.  Ab- 
schnitt der  Broschüre:  Une  voie  nouvelle  en  psychologie.    Er  ist  eine 
polemische   Schrift  gegen  Leroy  (Paris).  Die   Symbole  müssen  das 
Objekt  des  wissenschaftlichen  Studiums  sein,  Maeder. 

Müller  Hermann  E.  (Zürich):   Beiträge  zur  Kenntnis  der  Hyperemesis 
Gravidarum. 

Dissertation    aus   der    Universitätsfrauenklinik   in   Zürich. 

Gedruckt    im   X.   Jahrg.    der  Psychiatr.-Neurol.  Wochenschrift. 

Auf  Grund  einer  aufmerksamen  klinischen  Beobachtung  einer 

Reihe  von  Hyperemesisf allen  kommt  Verfasser  zu  folgenden  Schlüssen : 

1.  Der    Vomitus    matutinus    gravidarum    ist    ein    psychogenes 
Symptom. 

2.  Die  Hyperemesis  ist  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  psychogen. 
Obschon  Verfasser  keine  vollständige  Analyse  beibringt,  so  hat 

er  doch  in  mehreren  von  seinen  Fällen  einen  psychologischen  Einblick 
ermöglicht.  Überall  nimmt  Verfasser  Rücksicht  auf  die  Ansichten 
der  Freudschen  Schule. 

Derselbe:  Ein  Fall  von  induziertem  Irresein  nebst  anschließenden  Er- 
örterungen. 

Psychiatrisch-Neurologische  Wochenschrift,  XI.  Jahrg. 
Ein  Fall  von  abergläubischer  Exaltation  bei  einem  religiös  über- 
spannten Frauenzimmer  führte  bei  einer  Hysterika,  die  mit  der  Kranken 


378  C.  G.  Jung. 

zusammen  lebte,  auf  Grund  des  , .gleichen  ätiologisehen  Anspruches" 
zu  einer  Induktion  der  Psychose. 

Die  Heranziehung  der  Freudschen  Analytik  gestaltet  die  Fälle 
recht  hübsch  und  durchsichtig. 

Pfister   Oskar,   Dr.,  Pfarrer  (Zürich):  Wahnvorstellung  und  Sehüler- 
selbstmord.    Auf  Grund  einer  Traumanalyse  beleuchtet. 

Schweizerische  Blätter  für  Schulgesundheitspflege  (Expe- 
dition: Orell  Füßli  in  Zürich),  1909,  Nr.  1. 

Derselbe:    Psychoanalytische     Seelsorge   [und    experimentelle    Moral- 
pädagogik. 

Protestantische  Monatshefte  (Leipzig,  Heinsius  Nachf.), 
1909,  Nr.  1. 

Derselbe:  Ein    Fall    von    psychoanalytischer    Seelsorge    und    Seelen- 
heilung. 

Evangelische  Freiheit,  Monatsschrift  für  die  kirchliche 
Praxis  in  der  gegenwärtigen  Kultur  (Mohr,  Tübingen),  1909, 
Nr.  3—5. 

Die  drei  Arbeiten  schildern  einige  Erstlingsversuche,  die  Psycho- 
analyse im  Dienste  der  Pädagogik  und  Theologie,  speziell  der  Seelsorge, 
zu  verwerten. 

Der  erstgenannte  kleine  Aufsatz  berichtet  von  einem  13V2iährigen 
Knaben,  der  infolge  eines  Traumes  sechs  Monate  lang  der  Verzweiflung 
und  schließlich  dem  Suizidium  nahe  war.  Die  heftigen  Erregungen, 
welche  ihm  die  Besprechung  sexueller  Gegenstände  mit  der  Schwester 
verursachte,  verdichteten  sich  nämlich  in  dem  kurz  zuvor  von  Mastur- 
bation geheilten  Burschen  zum  Traume,  er  habe  mit  ihr  Inzest  be- 
gangen, und  zur  Zwangsvorstellung,  dem  Traume  müsse  Wirklichkeit 
zugrunde  liegen.  Selbst  offene  Aussprache  mit  der  durchaus  ehrbaren 
Schwester  vermochte  keine  völlige  Beruhigung  zu  schaffen,  bis  drei 
Jahre  später  die  Analyse  den  Wahn  vertrieb. 

In  der  zweiten  Ai-beit  sucht  der  Verfasser  den  Nachweis  zu  liefern, 
daß  viele  ethische  und  rehgiöse  Defekte  vollständig  konform  den  hy- 
sterischen Leiden  entstanden  sind  und  überwunden  werden  können. 
Um  ein  anschauliches  und  übersichtliches  Beweismaterial  zu  erhalten, 
bedient  er  sich  des  Assoziationsexperimentes  von  Jung,  wobei  er  jedoch 
nach  jeder  Reaktion  sogleich  die  Analyse  vornimmt.  Das  Verfahren 
entbehrt  der  künstlerischen  Feinheit,  welche  der  freien,  individuell 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       379 

angepaßten  Psychoanalyse  einen  so  hohen  ästhetischen  Reiz  verleiht. 
Allein  die  Assoziationsmethode  empfahl  sich  trotz  ihres  etwas  plumpen 
und  mechanischen  Charakters  durch  zwei  Vorzüge:  1.  Sie  kann  in 
primitiver  Form  von  jedem  Beliebigen  angewandt  werden,  wenn  auch 
das  tiefere  Verständnis  der  gewonnenen  Reaktionen  ein  gründliches 
Studium  der  Jungschen  Assoziationsforschung  und  genaue  Kenntnis 
der  Traumsymbole  wünschbar  erscheinen  läßt.  2.  Sie  ermöglicht 
eine  statistische  Kontrolle  der  Komplexvorgänge. 

Bewegen  sich  die  beiden  beleuchteten  Arbeiten  vorwiegend  auf 
dem  Gebiete  der  Pädagogik,  so  führt  der  dritte  Aufsatz  auf  das  der 
Pastoration.  Geschildert  v>ärd  die  Heilung  eines  lOYgjährigen  Jüng- 
lings, der  seit  beinahe  vier  Jahren  an  der  Zwangsvorstellung  litt,  er 
müsse  nach  einem  nutzlosen,  moralisch  verwerflichen  Leben  im 
Irrenhaus  enden.  Seit  einem  Jahre  waren  die  Impulse  zum  Selbst- 
mord bis  zum  Entschluß  vorgedrungen.  Reichliches  hypochondrisches 
Brüten  rief  regelmäßig  Kopfschmerzen  hervor.  In  die  Domäne  des 
Pfarrers  gehörte  der  Fall  darum,  weil  der  im  Geist  des  freien 
Protestantismus  [erzogene  Jüngling  sich  trotz  der  energischen  Ein- 
sprüche seiner  kritischen  Vernunft  mächtig  zum  Katholizismus  hin- 
gezogen fühlte  und  einen  förmlichen  Madonnenkultus  trieb.  Die 
abnormen  Erscheinungen  lagen  begründet  in  häuslichen  Verhältnissen 
und  Szenen,  die  eine  innere  Ablösung  von  Vater  und  Mutter  be- 
wirkten. Die  Zwangsbefüchtungen  um  die  eigene  Zukunft  gingen,  um 
nur  die  wichtigste  der^ vielen  Bedingungen  zu  nennen,  aus  Drohungen 
des  Vaters  hervor.  In  Madoima  und  der  ehrwürdigen  Gestalt  eines 
Bischofs  fand  der  Kranke  Surrogate  für  Mutter  und  Vater.  Die 
Heilung  gelang  in  wenig  Besprechungen  und  hielt  bis  jetzt  (Juni)  an. 

Die  besprochenen  Studien  wollen  andeuten,  welche  enorme 
Bedeutung  die  Psychoanalyse  für  den  Lehrer  und  Pfarrer  besitzt.  Sie 
möchten  zeigen,  daß  nicht  nur  die  erzieherische  Behandlung  des 
kranken,  sondern  auch  die  des  gesunden  Menschen  infolge  der  Freud- 
schen  Neurosenlehre  eine  gründliche  Umgestaltung  erfahren  muß. 
Es  ist  aber  auch  höchste  Zeit,  daß  das  grausame  und  oft  verderbliche 
Herumknien  auf  der  Kindesseele,  das  Würgen  und  Pressen  des  Ge- 
mütes der  Erwachsenen  ein  Ende  nehme  und  die  Einsicht  erwache, 
daß  nicht  die  Knebelung,  sondern  die  Befi'eiung  des  Erziehers  edelste 
Aufgabe  bildet,  wenn  auch  selbstverständlich  die  ernste  Zumutung, 
die  Verdrängung  am  richtigen  Orte  das  notwendige  Komplement  der 
Analyse  bildet.    Diese  Erkenntnis  wird  um  so  gewisser  zum  Siege  gc- 


380  C.  G.  Jung. 

langen,  je  überzeugender  der  Nachweis  gelingt  —  und  er  gelingt  heute 
schon  in  Hunderten  von  Fällen !  —  daß  die  Analyse  milde  und  schnell 
die  schönsten  erzieherischen  Ziele  erreicht,  wo  die  Askese  und  Dressur 
mit  ihrer  Quälerei  und  Selbstquälerei  nur  Not  und  Verzweiflung  hervor- 
rufen, daß  die  Analyse  das  Gemüt  sittlich  kräftigt,  reinigt,  heiligt,  wo 
die  kirchliche  Autorität  nur  zermalmt  und  die  herkömmliche  Praxis 
im  Geiste  des  freien  Protestantism.us  wirkungslos  abprallt.      Pfister. 

Pototzky  (Berlin):   Die  Verwertbarkeit  des   Assoziationsversuches  für 
die  Beurteilung  der  traumatischen  Neurosen. 

Monatsschrift  für  Psychiatrie  imd  Neurologie,  Bd.  XXV,  p.  521. 

Verfasser  machte  bei  zwei  Fällen  von  Unfallneurose  das  Assoziations- 
experiment. Bei  dem  einen  Falle  ergab  sich  ein  überwiegendes  Vortreten 
des  Rentenkomplexes,  bei  dem  andern  ein  auffallendes  Nichthervortreten 
des  gleichen  Komplexes,  woraus  prognostische  Folgerungen  abgeleitet  werden. 

Riklin  (Zürich) :  Hebung  epileptischer  Amnesien  durch  Hypnose. 

Journal  für  Psychologie  und  Neurologie,  I.  Bd.,  Heft    5 

und  6,  1903. 

Die  Verwandtschaft  epileptischer  und  hysterischer  Amnesien 
wird  dadurch  erwiesen,  daß  Verfasser  imstande  war,  durch  Hypnose 
die  Amnesien  Epileptischer  aufzuheben.  In  der  Arbeit  sind  auch  Asso- 
ziationsexperimente von  klinisch-diagnostischem  Interesse  berichteti 

Derselbe:  Zur  Anwendung  der  Hypnose  bei  epileptischen  Amnesien.  ^ 
Journal   für   Psychologie   und   Neurologie,  IL  Bd.,    1903. 

J.  A.  Barth,  Leipzig. 

Enthält  die  Darstellung  eines  weiteren  Falles  mit  epileptischen 
Absenzen,  mit  Aufklärung  der  Amnesie,  wobei  wir  jetzt  natürlich 
den  Mangel  einer  Analyse  des  Absenzeninhaltes  bedauern.  Patient 
streichelte  in  den  Absenzen  liebevoll)  eine  Katze,  manchmal  auch 
eine  Ziege.  Seither  wurde  m.  W.  in  Erfahrung  gebracht,  daß  diese 
im  Anfalle  dargestellte  Szene  ein  Bruchstück  eines  infantilerotischen 
Erlebnisses  ist. 

Jung  und  Riklin:   Untersuchungen  über  die  Assoziationen  Gesunder. 

Siehe  Jung:  Diagnostische  Assoziationsstudien.  I.  Beitrag. 

Riklin:  Zur  Psychologie  hysterischer  Dämmerzustände  und  des  Ganser- 
schen  Symptoms. 

Psychiatrisch-Neurologische  Wochenschrift,     Jahrg.     1904, 
Nr.  22. 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       381 

Ganser  hat  das  Symptom  des  Vorbeiredens  bei  hysterischen 
Dämmerzuständen  klinisch  beschrieben.  In  der  Folge  wurde  der  Be- 
griff des  Gans  er  sehen  Symptoms  von  den  Autoren  (namentlich  Raecke) 
bald  enger,  bald  weiter  verstanden.  Ferner  bildete  sich  die  Ansicht  aus, 
es  knüpfe  sich  ausschließlich  an  den  Ausbruch  hysterischer  Dämmer- 
zustände bei  Untersuchungsgefangenen.  Die  psychologische  Verwandt- 
schaft des  hysterischen,  Ganserschen  Vorbeiredens  mit  dem  Mecha- 
nismus der  Simulation  drängte  sich  gerade  aus  diesem  Umstände  den 
verschiedenen  Autoren  auf;  erst  Jung  (Ein  Fall  von  hysterischem 
Stupor  bei  einer  Untersuchungsgefangenen;  Journal  für  Psychologie 
und  Neurologie,  Bd.  I,  1902)  verpflanzte  das  Problem  auf  den  Boden 
Freudscher  Psychologie,  von  dem  aus  die  richtige  Wertung  und 
Deutung  des  Symptoms  und  des  Zustandes  möglich  war. 

Die  vorliegende  Arbeit  berichtet  über  vier  Fälle  von  hysterischem 
Dämmerzustande  mit  dem  Ganserschen  Symptom.  Davon  ist  nur  einer 
in  der  Untersuchungshaft  aufgetreten,  die  drei  andern  nicht.  Die  psy- 
chische Lage  des  Untersuchungsgefangenen,  der  in  die  Enge  getrieben 
wird,  falsche  Antworten  gibt,  leugnet,  und  in  der  höchsten  Bedrängnis 
in  einen  Dämmerzustand  gerät,  und  in  den  Symptomen  dieses  Zustandes 
erst  noch  die  ,, automatisierte  Simulation",  das  Nichtwissen  und  Nicht- 
verstehen,  nachdrücklich  hervorkehrt,  wird  damit  nur  zu  einem  Spezial- 
fälle. Die  allgemeine  Situation  beim  Ausbruch  eines  Ganserschen 
Dämmerzustandes  ist  die,  daß  ein  peinliches  Ereignis  bei  seinem  Eintreten 
durch  Verdrängung  ins  Vergessen  gestoßen  wird,  wegen  seiner  In- 
kompatibilität mit  dem  übrigen  Bewußtseinsinhalte.  Das  Motiv  des 
Nichtwissens  oder  NichtwissenwoUens  produziert  das  Symptom  des 
Vorbeiredens.  Die  Orientierungsstörung  erweist  sich  als  Wunsch, 
nicht  über  die  gegenwärtige  Lage  orientiert  zu  sein.  Im  Dämmer- 
zustande wird  das  Nichtwissen  auch  durch  kompensatorische  Wunsch- 
phantasien ersetzt.  Die  auffallende  ,, Einengung  des  Bewußtseins" 
dient  dazu,  die  unerträgliche  Vorstellung  abzuspalten  und  einzelne 
zensurierte,  wunschhafte  Situationen  aufkommen  zu  lassen. 

Derselbe:  Analytische    Untersuchungen   der   Symptome   und    Assozia- 
tionen eines  Falles  von  Hysterie.  (Lina  H.) 

Psychiatrisch-Neurologische  Wochenschrift,  1905,  Nr.  46. 
Die  Analyse  stammt  in  der  Hauptsache  aus  dem  Jahre  1902/03 
und  betrifft   eine   typische,   schwere  Konversionshysterie.    Als  theo- 
retisches und  technisches  Vorbild  dienten  damals  noch  die  ,, Studien 
über  Hysterie".    Das  therapeutische  Resultat  muß  als  recht  gut  be- 


382  C.  G.  Junff 


o* 


trachtet  werden;  denn  die  Patientin  ist  auf  ihre  körperlichen  Symptome 
seither,  also  in  6 — 7  Jahren,  nur  noch  ausnahmsweise  zurückgekommen  ; 
wohl  aber  hat  sich  eine  ethisch  mangelhafte  Persönlichkeit  enthüllt. 
Heutzutage  hätte  man  vielleicht  nicht  mehr  den  Mut  und  die  Lust, 
eine  Persönlichkeit  von  so  wenig  Wert  und  Entwicklung  und  mit  so 
wenig  Zukunftshoffnungen  zu  analysieren.  Der  Erfolg  ist  darum  um  so 
höher  anzuschlagen.  Das  Hauptmoment  des  Erfolges  war  die  Über- 
tragung auf  den  Arzt.  Während  der  Verfasser  das  Abreagieren  für 
nicht  genügend  fand,  um  den  therapeutischen  Erfolg  zu  erklären,  ging 
ihm  die  Kenntnis  des  Wesens  der  Übertragung  noch  ab. 

Zur  Zeit  der  Analyse  war  der  Verfasser  auch  mit  der  Traum- 
deutung noch  zu  wenig  bekannt,  als  daß  er  daraus  hätte  Nutzen  für  die 
Analyse  ziehen  können. 

Es  wurden  die  Symptome  in  ihrem  Aufbaue  analysiert  und  eine 
Reihe  von  psychischen  Traumata  entziffert ;  die  frühe  Kindheit  kommt 
noch  zu  kurz;  hingegen  wird  an  Hand  der  Analyse  der  Entstehungs- 
mechanismus körperlich  hysterischer  Beschwerden  vielfach  nachgewiesen. 

In  einem  experimentellen  Teile  werden  die  Assoziations- 
versuche mitgeteilt.  Es  war  damals  noch  von  großer  Bedeutung, 
nachzuweisen,  daß  im  Assoziationsexperimente  die  gleichen  Mechanis- 
men arbeiten  wie  bei  der  Herstellung  hysterischer  Erscheinungen,  und 
die  Gesetze  der  Komplexwirkungen  im  Experiment  die  gleichen  sind 
wie  bei  Gesunden,    nur  daß  sie  in  verstärkter  Deutlichkeit  auftreten. 

Ein  Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  dem  Assoziationsmechanismus 
beim  Zustandekommen  der  Konversion  und  der  Theorie  des  Abrea- 
gierens.  Der  Verfasser  empfand  damals  Lücken  zwischen  Theorie  und 
tatsächlichen  Erscheinungen,  welche  seither  durch  die  Einschaltung 
der  Begriffe  Übertragung,  Libido  und  der  Kenntnis  der  infantilen 
Sexualität  reichlich  ausgefüllt  worden  sind. 

Derselbe:  Die  diagnostische  Bedeutung  von  Assoziationsversuchen  bei 
Hysterischen. 

Vortrag  an  der  35.  Versammlung  des  Vereines  schweizerischer 
Psychiater  1904  in  St.  Urban.  Referate  im  Jahresberichte  des 
Vereines  und  in  der  Psychiatrisch-Neurologischen  Wochenschrift, 
Jahrg.  1904,  Nr.  29. 

Derselbe :  Kasuistische  Beiträge  zur  Kenntnis  hysterischer  Assoziations- 
phänomene. 

Siehe  Jung:  Diagnostische  Assoziationsstudien.  VIL  Beitrag. 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       383 

Derselbe:   Über  VersetzungsbesseruRgen. 

Psychiatrisch-Neurologische    Wochenschrift,    Jahrg.    1905, 
Nr.  16—18. 

Die  Eröffnung  der  Neubauten  der  züricherischen  Pflegeanstalt 
Rheinau  gab  Gelegenheit  zu  beobachten,  in  welcher  Weise  die  Ver- 
setzung Geisteskranker  von  einer  Anstalt  in  eine  neue  einwirkt.  Die 
Beobachtungen  beziehen  sich  in  der  Hauptsache  auf  85  Patienten, 
welche  der  Verfasser  vorher  im  Burghölzli  bereits  kennen  gelernt  hatte. 
Die  Besserung  wurde  bei  mehr  als  der  Hälfte  der  Fälle  beobachtet. 

Zur  Anpassung  an  die  Wirklichkeit  hilft  die  größere  Bevregungs- 
freiheit.  Dann  vor  allem  die  Arbeitstherapie.  Sie  bedeutet, 
namentlich  bei  der  häufigsten  Krankheit,  der  ,, Dementia  praecox", 
ein  Herausziehen  aus  der  Introversion,  eine  Übertragung  auf  die  Wirk- 
lichkeit. Um  die  Verarbeitung  des  neuen  Milieus  durch  diese  Kranken 
zu  demonstrieren,  setzt  der  Verfasser  in  Kürze  die  psychologische  Be- 
deutung einer  Reihe  der  wichtigsten  Erscheinungen  bei  der  genannten 
Krankheit  auseinander  (Negativismus;  Sperrungen;  Wunscher- 
füllung in  den  Wahnideen:  Dienstmädchenpsychosen;  Fruchtbar- 
keitsideen, Fruchtba.rkeitssymbole ;  Personen  verkennung  im  Sinne  der 
Komplexe;  religiöse  Wahnideen  als  Übersetzung  erotischer;  Wunsch- 
phantasien in  den  paranoiden  Ideen;  ihre  Ausarbeitung,  Verdichtung, 
Stereotypisierung,  Besetzung  des  motorischen  Apparates  durch  Kom- 
plexautomatismen) . 

Am  besten  wirkt  die  Übung  und  Beschäftigung  normal  gebliebener 
Vorstellungskomplexe  und  Funktionen.  In  diesem  Sinne  wirken  auch 
die  frühe  Entlassung,  möglichster  Ersatz  der  Bettbehandlung,  welche 
die  Introversion  und  das  ,, Träumen"  der  Dementia  praecox  begünstigt, 
durch  Arbeitstherapie,  welche  sie  nach  außen  hin  zieht. 

An  zwei  Krankengeschichten  wird  kurz  nachgewiesen,  wie 
die  Introversion  zustande  kommt,  wo  die  Übertragung  nach  außen 
nicht  gelingt,  und  wie  da  der  Prozeß  viel  weiter  geht  als  eine  einfache 
reparatorische  Wunscherfüllung  in  der  Phantasie  nötig  machen  würde. 
Im  zweiten  Falle  konnte  auch  die  versuchte  wirkliche  Wunscherfüllung 
die  Introversion  nicht  mehr  aufhalten,  aus  dem  Unbewußten  meldeten 
sich  Selbstvernichtungsideen,  denen  der  Kranke  durch  Suizid  erlag. 

In  etwa  der  Hälfte  der  Fälle  hatte  die  Versetzung  keinen  wahr- 
nehmbaren Einfluß. 

Eine  Reihe  von  kurzen  Krankengeschichtsauszügen,  nach  ana- 


384  C.  G.  Jung. 

ly tischen    Gesichtspunkten    wiedergegeben,    dient    zur    Illustrierung 
der  Versetzungserscheinungen. 

Derselbe:   Beitrag   zur  Psychologie   der   kataleptischen  Zustände   bei 
Katatonie. 

Psychiatrisch-Neurologische  Wochenschrift,  1906,  Nr.  32 — 33. 
Es  gelang,  mit  einem  Katatoniker  mitten  in  einem  schweren 
kataleptischen  Zustand  in  Kontakt  zu  kommen  und  einiges  von  dem 
zu  erfahren,  was  in  diesem  Zustande  in  ihm  vorging.  Aus  der  Anamnese 
erwähnen  wir,  daß  der  Zustand  nach  vierjährigem  Bestände  der  Psy- 
chose einsetzte.  Diese  äußerte  sich  zuerst  in  autoerotischer  Selbst- 
vergrößerung seit  dem  18.  Jahre.  Er  suchte  die  reiche  Tochter  eines 
Verwandten  zu  erobern,  in  vollständiger  Verkennung  der  Möglichkeit, 
sie  zu  gewinnen.  Trotz  einer  Abweisung  wiederholte  er  unbeirrt  seine 
Anträge.  Zur  Zeit  der  Aufnahme  in  die  Anstalt  waren  schon  katalep- 
tische  Symptome  da;  daneben  ein  beharrliches,  uneinsichtiges  zur  Türe 
Hinausdrängen,  um  zur  Cousine  zu  kommen. 

Der  Zustand  des  Kranken  ist  etwa  folgendermaßen  zu  skizzieren : 
Der  Katalepsie  liegt  geradezu  eine  Tendenz  zu  schlafen,  ,,ein  Toter 
zu  sein",  zugrunde;  das  mußte  aus  den  Äußerungen  der  Patienten  ent- 
nommen werden.  Der  Erfolg  dieser  Tendenz  ist  ein  ähnlicher  wie  beim 
natürlichen  Schlafe,  gleicht  aber  noch  mehr  dem  hypnotischen  Schlafe. 
Die  Tendenz  entspringt  einem  Motive,  nämlich  der  Verdrängung  eines 
Komplexes,  einem  Vergessenswunsche. 

Im  vorliegenden  Falle  gelang  das  Durchbrechen  dieser  Schlaf- 
tendenz, aber  nicht  vollständig,  so  daß  während  einer  im  Grunde  ge- 
nommen sehr  adäquaten  Affektäußerung,  z.  B.  Weinen  über  die  '^.b- 
solute  Hoffnungslosigkeit,  die  Geliebte  zu  erreichen,  in  Mimik  und 
Haltung  eine  sonderbare  Resultante  zwischen  Affektäußerung  und 
Schlaftendenz  zu  bemerken  ist.  Die  beiden  Komponenten  teilen  sich 
manchmal  auch  in  die  Gesichtshälften:  einseitiges  Weinen;  einseitiges 
Offenhalten  der  Augen:  Offenhalten  der  Augen  bedeutet  Rapport  mit 
dem  Untersucher,  Schließen  der  Augen:  Abbruch  des  Rapportes,  Ob- 
siegen der  Schlaf-  respektive  Vergessenstendenz. 

Durch  die  ganze  Exploration  hindurch  perseveriert  der  Gedanke: 
Ich  heirate  Emma  C.,  oder:  Ich  liebe  Emma  C.,  und  der  andere,  der 
die  Schlaftendenz  als  Schutzfaktor  unterhält,  der  in  der  Antwort  der 
Cousine  besteht:  ,,Von  der  Zukunft  soUst  du  nichts  erwarten." 

Leicht  geschieht  es,  daß  Patient  wunscherfüllende  Situationen 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.      385 

gestaltet,  die  Geliebte  vor  sich  glaubt,  ihr  entgegengeht,  sie  umarmen 
will,  die  Geliebte  durch  anwesende  Personen  (Arzt,  Wärter)  sub- 
stituiert (Personen verkennung),  alles  immerhin  durch  den  Schleier 
des  kataleptischen  Schlafes  hindurch. 

Durch  diesen  Schleier  hindurch  nimmt  man  ganz 
adäquate,  tiefe  Affektäußerungen  wahr. 

Die  Verwertung  der  Fragen  und  die  Reaktionsweise  gehen  nach 
den  Gesetzen  der  Komplexreaktionen  in  Assoziations versuch. 

Die  Beobachtung  legt  es  nahe,  den  katatonen  Erscheinungen 
bei  Dementia  praecox  im  allgemeinen  eine  analoge  Bedeutung  zu 
unterschieben,  wie  sie  im  beschriebenen  Falle  besteht. 

Derselbe:   Über  Gefängnispsychosen. 

Psychiatrisch  -  Neurologische    Wochenschrift,  XI.   Jahrg., 
Nr.  30—37. 

Ein  Versuch,  die  Bilder  der  Haftpsychosen  nach  den  Ergebnissen 
der  Psychoanalyse  zu  erklären  und  zu  gruppieren.  Die  Haft  ist  eine 
psychologische  Situation,  welche  bei  verschiedener  Anlage  im  dia- 
gnostischen Sinne  doch  mehr  oder  weniger  einheitliche  psychologische 
und  pathologische  Reaktionen  auslöst. 

Derselbe:  Psychologie  und  Sexualsymbolik  der  Märchen. 

Psychiatrisch  -  Neurologische   Wochenschrift,    IX.    Jahrg., 

Nr.  22—24. 

Einige  Beispiele  aus  der  größeren  Arbeit:  ,, Wunscherfüllung 
und  Symbolik  im  Märchen." 

Derselbe:  Wunscherfüllung  und  Symbolik  im  Märchen. 

Schriften    zur    angewandten    Seelenkunde,    herausgegeben 
von  Freud,  2.  Heft.  Leipzig  und  Wien,  F.  Deuticke,  1908. 

Die  Märchenanalyse  ergibt  meistens  eine  Verdichtung  mehrerer 
Sagen,  das  Ganze  präsentiert  sich  in  einem  infantilisierten  Gewände 
und  enthält  meistens  eine  offen  zutage  liegende  Wunscherfüllung. 
Im  Märchen  werden  die  gleichen  sexual-psychologischen  Grundfragen 
abgehandelt,  wie  in  der  Neurose,  und  die  analytische  Technik  zu  ihrer 
Erschließung  ist  dieselbe. 

Die  Philologen  sagen  uns,  daß  die  Sagen  und  Märchen  überall 
entstehen  können,  und  daß  das  Auftreten  eines  ähnlichen  Motivs  an 
verschiedenen  Orten  nicht  ohne  weiteres  eine  Wanderung  des  Märchens 
von  einen  Ort  zum  andern  beweist.    Vielmehr  haben  wir  überall  die 

.Tahrbuch  für  psychoanalyf.  u.  psyohopatliol.  Porsohungen.   II.  25 


386  C.  G.  Junff. 


o* 


gleiche  Psychologie,  also  auch  die  gleichen  Motive  für  Sagen  und 
Märchen. 

Der  Verfasser  durchgeht  zuerst  eine  Reihe  von  Formen,  in  welche 
sich  die  Wunschgebilde  kleiden:  Wunschtraum,  Wunschgestalten  der 
Dichter,  Wunschgebilde  in  Kulten  und  Bräuchen  und  in  den  Psychosen. 
Wunschbildungen  sind  die  Zaubergaben,  welche  die  menschliche  Un- 
zulänghchkeit  vervollkommnen.  Zugleich  sind  sie  Verkörperungen 
oder  Sinnbilder  von  psychischen  Kräften,  die  der  Sexualität  entspringen. 

Im  Sinne  des  Wunsches  sind  die  Handelnden  Könige  und  Königs- 
kinder, Helden  oder  andere  gewaltige  Wesen ;  es  ist  eine  Übertragung 
der  Menschenschicksale  ins  Königliche  und  ins  Heldenhafte. 

Der  Ursprung  vieler  Märchenfiguren  bedarf  übrigens  einer  weiteren 
Forschung  und  Analyse. 

Typische  Wunscherfüllungsmärchen  sind  Stiefmuttermärchen 
und  die,  wo  sogenannte  ,, Ellbogenkinder",  Schwächlinge,  die  Helden 
sind.  Die  körperliche  oder  geistige  Schwäche  ist  manchmal  nur  ein 
Verwandlungsstadium  des  Helden. 

Die  Stiefmuttermärchen  sind  ein  Spezialfall  der  Märchen  mit 
erotischer  Wunscherfüllung,  die  Stiefmutter  eine  spezielle  Figur  der 
Nebenbuhlerin,  besonders  der  Mutter  der  Heldin. 

Ein  Kapitel  ist  der  Symbolik  im  allgemeinen  gewidmet.  Es 
werden  die  Merkmale  und  das  Zustandekommen  von  Symbolen  er- 
läutert, das  Vorkommen  der  Symbole  in  den  verschiedensten  Gebieten 
besprochen.  Im  Märchen  werden  ausgiebig  Symbole  verwendet; 
um  sie  richtig  zu  deuten,  müssen  wir  sie  mit  denen  des  Traumes  und 
der  Neurosen  vergleichen;  manchmal  ist  auch  eine  Analyse  möglich 
durch  Vergleichung  möglichst  vieler  Märchen,  Mythen,  in  denen  es  in 
bestimmten  Zusammenhängen  erscheint.  So  ist  eine  richtige  Deutung 
möglich.  Eine  weite  Ausdehnung  auf  allen  Gebieten  hat  die  Sexual- 
symbolik; ausgiebig  verwertet  wird  die  Schlange  als  phallisches 
Symbol.  Verschiedene  Sexualsymbole  können  promiscue  in  ähnlicher 
oder  gleicher  Bedeutung  vorkommen:  Schlange,  Drache,  Dämon, 
Teufel,  Eiese,  Ungeheuer.  Es  erklärt  sich  diese  Möglichkeit  aus  dem 
Wesen  der  Sexualverdrängung.  Die  verdrängte  Sexualität  kann  in 
verschiedenen  Gewandungen  dargestellt  werden.  Die  Märchen  ,,Oda 
und  die  Schlange"  und  ,,Der  Froschkönig  und  der  eiserne  Heinrich" 
erhalten  durch  die  Substitution  der  Sexualsymbole  eine  klare  Deutung. 
Der  Frosch,  Zweige  von  fruchtbringenden  Bäumen,  große  Tiere  wie: 
Bär,  Löwe,  Stiere,  Böcke,  Hunde,  Vögel  werden  als  männliche  Sexual- 


Referate  über  psycholog.  Arbeiten  schweizerischer  Autoren  usw.       387 

Symbole  verwendet.  Ihre  Verwandlung  durch  die  Erlösung  in  der  Liebe 
bevreist  dies  deutlich. 

Eine  Reihe  von  Märchen  stellen  die  individuelle  Sexualentwick- 
lung dar,  wenn  die  Deutung  vollkommen  ist:  Die  Übertragung  auf 
Vater  und  Mutter  (ödipusproblem),  die  Nachwirkung  des  Vater-  und 
Mutterkomplexes,  den  Ablösungskampf,  der  endlich  zum  Ziele  führt. 

Ausgiebig  verwertet  wird  der  Versuchsmechanismus,  besonders 
die  ,, Verlegung  nach  oben",  die  Substitution  der  Genitalzone 
durch  die  Mundzone,  namentlich  in  den  infantilen  Befruchtungs- 
theorien. Die  Befruchtung  durch  Essen  oder  Verschlucken  von  Tieren 
und  Gegenständen,  welche  den  Phallus  oder  Sperma  symbolisieren: 
Fisch,  Schlange,  Rübe,  Kerne  von  Früchten  kommen  in  vielen  Märchen 
vor;  aus  dieser  Zeugung  geht  ein  Held  hervor;  fast  immer  war  die 
Mutter  der  Helden  vorher  unfruchtbar,  die  Befruchtung  wird  zum 
Wunder;  die  Zeugung  durch  Götter  und  Dämonen  in  verschiedener 
—  sexualsymbolischer  —  Gestalt  ist  eine  weitere  Form  der  Mensch- 
werdung des  Helden.  Die  Schwangerschaft  wird  im  Märchen  vom 
„Bärchen  und  die  drei  Ritter"  dargestellt  durch  die  Inkubation  einer 
Rübe  im  Ofen. 

Das  Inzestmotiv  (ödipusmotiv)  wird  in  verschiedenen  Mär- 
chen ausführlich  behandelt. 

In  der  Geschichte  des  jungen  Tobias  ist  ein  Märchenbeispiel, 
wo  das  sadistische  Motiv:  das  grausame  Umbringen  aller  Männer, 
die  nicht  einen  bestimmten  Zauber  durchbrechen,  in  Verbindung  ge- 
bracht ist  mit  dem  Vaterkomplex.  Die  Verfolgung  im  Märchen 
(Stiefmutter,  Drache  usw.)  ist  gewöhnlich  das  Bild  des  Kampfes  gegen 
Vater-  und  Mutterkomplex;  die  Stiefmutter  ist  die  eigene  Mutter, 
die  durch  die  Zensur  so  dargestellt  wird. 

Die  Arbeit  wird  dokumentiert  durch  eine  Reihe  von  Beispielen 
aus  verschiedenen  Märchensammlungen  und  anderen  Quellen.      Riklin. 

Schnyder  (Bern):  Definition  et  Natura  de  1' Hysterie. 

Congres  des  medecins  alienistes  et  Neurologistes  de  France 
et  des  pays  de  Langue  Frangaise. 

XVir^'^e  Session.   Geneve-Lausanne,   1907.   Geneve   1907. 
Die  Arbeit  berücksichtigt  die  Lehrmeinungen  einer  umfangreichen 
Literatur.    Unter  den  Referaten  findet  sich  auch  eine  objektive  Dar- 
stellung des  Breuer  -  Freudschen  Standpunktes,  sowie  der  Komplex- 
lehre.   Die  modernen  Gesichtspunkte  lehnt  Schnyder  ab.  ,,Les  idees 

25* 


388  C.  G.  Jung. 

de  Freud  ?t  de  ses  partisans  representent  certainement  une  contri- 
bution  importante  ä  la  Solution  du  probleme  de  Thysterie.  Ou  peut 
reprocher  au  savant  viennois  d'introduire  dans  la  conception  psycho- 
logique  de  Thysterie  une  mecanisation  arbitraire,  de  s'appuyer  sur  des 
hypotheses  assurement  ingenieuses,  mais  d'un  caractere  trop  subjectif 
pour  pouvoir  pretendre  ä  une  valeur  scientifique  incontestable." 

SchwarzwaW  (Lausanne) :  Beitrag  zur  Psychopathologie  der  hysterischen 
Dämmerzustände  und  Automatismen. 

Journal  für  Psychologie  und  Neurologie,  Bd.  XV,  1909. 

Es  handelt  sich  um  einen  Fall  von  psychogenem  Dämmerzustand, 
in  welchem  der  Kranke  Feuer  an  sein  Haus  legte.  Das  Material  ge- 
stattet mehrere  psychologische  Einblicke  in  den  Mechanismus  der  Tat 
und  des  Falles  überhaupt.  Die  Infantilgeschichte  ist  leider  unvoll- 
ständig; Verfasser  tut  aber  Unrecht  daran,  auf  die  Geschichte  der 
Infantilentwicklung  ganz  zu  verzichten.  Die  Kindheit  des  Patienten 
ist  für  die  Entstehung  einer  späteren  Neurose  von  größter  Bedeutung, 
zum  mindesten  von  ebenso  großer  Bedeutung  wie  die  Aktualmomente, 
wenn  nicht  von  viel  größerer. 

Eine  weitere  Vertiefung  seiner  psychoanalytischen  Technik  wird 
den  Autor  von  der  Richtigkeit  dieser  Anschauung  überzeugen.  Der 
Traum  vom  ,, kleinen  Däumling",  den  der  Kranke  einige  Tage  vor  der 
Brandstiftung  hatte,  ist  sehr  bedeutsam  und  weist  schon  durch  sein 
Material  auf  eine  energische  Determinierung  der  Tat  durch  Kindheits- 
erinnerungen hin.  Das  ist  der  Aufmerksamkeit  des  Autors  entgangen. 
Die  Kindheitsanalyse  und  die  richtige  Bewertung  ihrer  Resultate  ist 
allerdings  eines  der  schwersten  Stücke  der  psychoanalytischen  Technik, 
deren  Erwerbung  jedem  Anfänger  recht  schwer  fallen  muß. 


Am  30.  und  31.  März  1910  fand  in  Nürnberg  die  II.  Psychoana- 
lytische Vereinigung  statt,  welche  eine  private  Zusamme^\kunft  der 
Psychoanalytiker  verschiedener  Länder  darstellt.  Bei  diesem  Anlaß 
wurde  die  „Internationale  psychoanalytische  Vereinigung"  gegründet. 
Als  Vorsitzender  wurde  Dr.  C.  G.  Jung  und  als  Sekretär  Dr.  Fr,  Riklin 
gewählt, 

Anfragen  sind  an  Herrn  Dr,  Fr.  Riklin,  Neumünsterstraße  34, 
Zürich  V.,  zu  richten. 


VERLAG  VON  FRANZ  DEUTIGKE  IN  LEIPZIG  UND  WIEN. 


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für  Studierende  und  Ärzte 
von  Professor  Dr.  Alexander  Pilcz. 

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Dr.  £mi]  Raimann, 

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I.  Heft:  Der  Wahn  und  die  Träume  in  W.  Jensens  „Gradiva".  Von  Prof. 

Dr.  Signi.  Freud  in  Wien.    Preis  M  2-50  =  K  3  — . 
II.  Heft:  Wnnscherfüllung  und  Symbolik  im  Märchen.    Eine  Studie  von 
Dr.  Franz  Rikliu,  Sekundararzt  in  Rheinau  (Schweiz). 
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Psychiatrie  in  Zürich.    Preis  M  1-25  =  K  1-50. 

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logischen Mythendeutung.   Von  Otto  Rank.  — 
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PSYCHO- ANALYTICAL 
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New  Cavendish  St.I.ondoii,  W.I